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Full text of "Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene"

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Zeitschrift  für 
pädagogische 
ohycholgie 
Pathologie  und 
hygien 


herman  walter 


verlagsbuchhand 


g.m.b.h 


Boston 
Medical  Library 


8  The  Fenway 


Zeitschrift 

für 

Pädagogische  Psychologie, 

PatMoaie  und  fjyaiene. 

Herausgegeben 

von 

Ferdinand  Kemsies  und  Leo  Hir»chlaff. 


IV.  Jahrgang. 


BERLIN  S.W. 

Hermann  Walther,  Verlagsbuchhandlung  0.  m.  b.  H. 

1902. 


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Inhalt  des  4.  Jahrganges. 
1902. 
A.  Abhandlungen. 

Seite 

Peter  Jessen,  Die  Erziehung  zur  bildenden  Kunst  1  — 10 

Oswald  Körte,  Gedanken  und  Erfahrungen  über 

musikalische  Erziehung   11 — 38 

Leo  Hirschlaff,  Über  die  Furcht  der  Kinder  II    .  39—56 

III  .  141—156 
Albert  Liebmann,  Die  sprachliche  Entwicklung 

geistig  zurückgebliebener  Kinder   97 — 120 

Albert  Moll,    Der   Einfluss  des  grossstäd tischen 

Lebens  und  des  Verkehrs  auf  das  Nervensystem  I  121 — 134 

II  22Q-247 

Karl  Losch  hörn,  Uber  Kompensationen  bei  der 

Beurteilung  der  Schuler   135—140 

Ferdinand  Kemsies,  Die  Entwickelung  der  Päda- 
gogischen Psychologie  im  19.  Jahrhundert  I    .  197 — 211 

II    .  342-355 

III    .  473-484 
Hildegard  Wegscheider-Zieglcr,  Erfahrungen  im 
Gymnasialunterricht   für  Mädchen  als  Beitrag 
zur  Frage  der  gemeinschaftlichen  Erziehung  der 


beiden  Geschlechter  212-222 

Marx  Lobsien,  Memorieren   293 — 306 

Fritz  Feilcke,  Zur  Frage  der  Organisation  der  Volks- 
schule in  Mannheim  .  .  .  .  .  .  .  .  ,  ,  307  341 


Karl  Loschhorn,  Einige  Worte  über  die  gemein- 
same Erziehung  der  beiden  Geschlechter  .    .    .  223 — 228 

Ernst  Mally  und  Rudolph  Ameseder,  Zur  expe- 
rimentellen Begründung  der  Methode  des  Recht- 

schreib-Unterrichtes   381 — 441 

Heinrich  Fischer,  Geographische  Spaziergänge  .  442 — 452 


- 


—    IV  — 


Seite 

Paul  Johannes  Müller,    Das  Rettigsche  Schul- 


banksystem   453 — 461 

Hans  Zimmer,- Gedanken  über  die  Herausgabe  der 

pädagogischen  Klassiker   462 — 472 

B.  Sitzungsberichte. 

Verein  für  Kinderpsychologie 
an  Berlin 

Körte,  Gedanken  und  Erfahrungen  über  musika- 
lische Erziehung  157—160 


Lieb  mann,  Die  sprachliche  Entwickelung  und  Be- 
handlung geistig  zurückgebliebener  Kinder  .    .  160 — 161 

Wegscheider-Ziegler,  Erfahrungen  beim  Gym- 
nasialunterricht für  Mädchen,  als  Beitrag  zur 
Frage  der  gemeinsamen  Erziehung  beider  Ge- 
schlechter ,  ,  ,  .    .    .    .  248— 24Q 

Gierin g,  Uber  die  Entwickelung  des  Augenmasses 

bei  Kindern   250—251 

Dessoir,  Über  Kinderpsychologie  im  18.  Jahrhundert  509 — 510 

Vogt,  Über  die  Markreifung  der  Grosshirns  .    .    .  510—511 

Psychologische  Gesellschaft 
zu  Berlin. 

Vortragsplan  für  das  Sommersemester  1902    .    .    .  161 — 162 


Gramzow,  Der  Kampf  um  die  Weltanschauung 

251- 

-254 

M.  Dessoir,  Über  die  Bedeutung  von  Quantität  und 

Intensität  für  den  ästherisrhen  Eindruck 

254- 

-256 

A.  Moll,  Über  ärztliche  Ethik  

257- 

-259 

Abraham  und  v.  Hornbostel,  Über  ostasiatische 

Musik  

356- 

-358 

Schumann  ,  Zur  Psychologie  der  Raum  Wahrnehmung 

485—487 

Arbeitsplan  für  das  Wintersemester  1902/03    .    .  . 

488- 

-489 

Diamandi,  Rechenkünstler  aus  Paris  

489- 

-490 

Th.  Flatau,  Über  phonographische  Schrift   .    .  . 

490- 

-491 

Lehmann,  Über  den  Unterricht  in  der  Psychologie 

auf  höheren  Schulen   491 — 495 

Stern,  Die  Ethik  der  Epikureer  und  ihre  Wider- 
legung   496—500 

Feilchenfeld,  Zur  Analyse  der  Augenbeweguugen  500 


-    V  - 


Seile 

Vierkandt,  Die  subjektiven  Grundlagen  der  Über- 
zeugung   501—503 

Verein  für  Schulgesundheitspflege 
211  Berlin. 

Sammelbericht   503—506 

Verein  für  Kinderforschung 
zu  Jena 

IV.  Versammlung  des  Vereins  in  Jena   358 — 35Q 

Psychologische  Gesellschaft 
zu  Breslau. 

Jahresbericht  1901/02    506—508 

Arbeitsplan  für  das  Winterseraester  1902/03    .    .    .  508—509 

C.  Berichte  und  Besprechungen. 

A.  Baer,  Der  Selbstmord  im  kindlichen  Lebensalter       57 — 62 
Karl  T.  Fischer,  Der  naturwissenschaftliche  Unter- 
richt in  England»  insbesondere  in  Physik  und 

Chemie    62-65 

Ratgeber  zur  Einführung  der  erziehlichen  Knaben- 
handarbeit   65-66 

W.  S'tern,  Zur  Psychologie  der  Aussage     ....  162 — 166 
W.  Weygandt,  Die  Behandlung  idiotischer  und  im- 
beziller Kinder  in  ärztlicher  und  pädagogischer 

Beziehung   166 — 169 

Die  deutsche  Schule   I   169—177 

II   275-281 

Natur  und  Schule   177—180 

Paul  Warncke,  Fritz  Reuter,  woans  hei  lewt  un 

schrewen  hett   .  .  .  .  .  ,  ,  .  .  ,  ,  ,  lfiQ 

Aug.  Messer,  Die  Reformbewegung  auf  dem  Gebiete 

des  preussischen  Gymnasial  wesens  von  1882 — 1901  180 — 183 

Fritz  M  au  thn  er,  Bei  träge  zu  einer  Kritik  der  Sprache  183 — 191 
Th.  Benda,  Die  Schwachbegabten  auf  den  höheren 

Schulen    259—263 

Paul  Joh.  Muller,  Moderne  Schulbänke    ....  263—264 

J.  Türkheim,  Zur  Psychologie  des  Willens    .    .    .  264 — 267 

N.  M.  Butler,  Religionsunterricht  in  der  Erziehung  267 — 269 


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-  VI 

Ed.  Claparede,  La  Psychologie  dans  ses  rapports  s*1*« 

avec  la  m&lecine   269—273 

Hans  Cornelius,  Grundsätze  und  Lehraufgaben  für 

den  elementaren  Zeichenunterricht   273 — 275 

Ed.  Claparede,  Nouvelle  Classification  des  associa- 

tions  d'idee   359—362 

IVe  Congrfes  International  de  Psychologie:  Mlle  Marie 
de  Manaceine,  sur  les  sentiments  et  les  sensations 

et  leurs  differences  fondamentales   362 — 364 

A  Netchaeff,  Zur  Frage  über  Gedächtnisentwicke- 
lung bei  Schulkindern   364 — 366 

F.  Chaillons,  Du  Traitement  des  viciations  par  l'&iu- 

cation  I  ,  ,  ,  ,  ,  ,  .  ,  .  .  .  ,  .  ,  ,  365-— 366 

II  

H.  Krause,  Die  Prügelstrafe   366 

P.  v.  Gizycki,  Der  neue  Adel   366—389 

E.  Crem  er,  Die  poetischen  Formen  der  deutschen 
Sprache  nach  ihrer  historischen  Entwickelung 
und  ihrem  Wesen  dargestellt  und  an  zahlreichen 

Beispielen  erläutert   369 — 370 

W.  Kinkel,  Johann  Friedrich  Herbart,  sein  Leben 

und  seine  Philosophie   511 — 512 

IVe  Congres  International  de  Psychologie  (Forts.)    .  512 — 516 

R.  Lehmann,  Erziehung  und  Erzieher   516—517 

A.  Spitner,  Die  pädagogische  Pathologie  im  Seminar- 

untericht  .  ,  ,  ,  ,  .  ,  ,  .  ,  ,  .  ,  ,  .  518— 519 

Jahrbuch  der  Schweiz.  Ges.  f.  Schulgesundheitspflege  519 — 526 
O.  Weissenfeis,   Kernfragen   des   höheren  Unter- 
richts N.  F.    526-527 

Fr.  Förster,  Der  Untericht  in  der  deutschen  Recht- 
schreibung vom  Standpunkte  der  Herbartschen 

Psychologie  betrachtet   528—529 

H.  Hoppe,  Die  Thatsachen  über  den  Alkohol    .    .  530—531 

A.  Möller,  Die  Geisteskrankheiten  etc   531 — 532 

Berger,  Kreisarzt  und  Schulhygiene  

K.  Roller,   Das  Bedürfnis  nach  Schulärzten  für 

höhere  Lehranstalten  

R.  Landau,  Nervöse  Schulkinder   532 — 534 

W.  Strohmayer,  Die  Epilepsie  im  Kindesalter    .  534 — 535 


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-  VII 


D.  Mitteilungen. 


Kultusminister  a.  I).  Dr.  Bosse  und  der  Religions- 


67- 

-76 

Die  neuen  Lehrpläne  der  Gymnasien  

76 

-80 

Professor  v.  Liszt  und  die  Reform  des  Strafrechts  . 

191- 

-1Q8 

Der  neue  Unterrichtsplan  für  die  Berliner  Gemeinde- 

281- 

-285 

cpn  1 1 1  #*n 

i.  ijei     i_j  s» l  Ii  -  v3  1 1  o s  c  Ii  e l  Ii ,    ein    \\  oiusLiiiiiecKcnties 

536- 

-538 

Leberthranpräparat  

Über  Theinhardts  Hyeiama  .  -  

>  <* 

538 

-542 

Uber  das  Problem  der  Frauenbildung'  

542- 

543 

Das  Kiuderschutzgesetz  nach  den  Beschlüssen  der 

543- 

-546 

E.  Bibliotheca  pädo-psychologica: 

81 

-96 

I  

II  

196 

III  

286- 

-292 

IV  

371— 

-380 

V/VI  

547- 

553 

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(Pathologie  und  Hygiene. 

Herausgegeben 
von 

Ferdinand  Kemsies  und  Leo  Hirschlaff. 


Jahrgang  IV.  Berlin,  Februar  1902.  Heft  l. 


Die  Erziehung  zur  bildenden  Kunst. 

Vortrag,  gehalten  am  3.  Mai  1901  im  Verein  für  Kinder- 
psychologie zu  Berlin 

Peter  Jessen. 
Bericht  von  Leo  Hirschlaff. 

Meine  Damen  und  Herren! 

Wenn  ich,  dem  Wunsche  Ihres  verehrten  Herrn  Vor- 
sitzenden folgend,  heute  Abend  vor  Ihnen  über  die  Erziehung 
zur  bildenden  Kunst  sprechen  will,  so  steigen  mir  starke 
Bedenken  auf,  ob  die  Art  der  Behandlung  dieses  Themas,  wie 
ich  sie  zu  geben  imstande  bin,  für  Ihren  Kreis  genügen  werde. 
Mein  Arbeitskreis  ist  die  praktische  Kunstförderung ;  Ihr  Zweck 
dagegen  ist  die  Wissenschaft  vom  Kinde,  zu  der  ich  für  meine 
Person  nichts  beitragen  kann.  Ich  kann  mich  daher  nur 
darauf  beschränken,  zu  berichten,  was  in  der  Praxis  begonnen 
worden  ist,  und  was  wir  von  den  Ansprüchen,  die  gerade  die 
heutige  Lage  der  verschiedenen  Künste  stellt,  in  der  Erziehung 
der  Kinder  verwirklicht  sehen  möchten. 

Sie  wissen  alle,  dass  heute  zur  That  zu  werden  beginnt 
was  die  grossen  Pädagogen  von  jeher  gefordert  haben  und 

Zettschrift  für  pädagogische  Psychologie,  P.thologie  und  Hygiene.  1 


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PeUr  Jessen. 


wofür  sie  zum  Teil  auch  die  Wege  wiesen:  dem  Kinde 
Anteil  zu  geben  an  der  Kunst  Freilich  für  die  bildende 
Kunst  ist  ausserhalb  des  Kindergartens  nicht  gar  viel  erreicht 
worden.  Waren  doch  die  Pädagogen  und  Lehrer  bisher  in  das 
Wesen  der  bildenden  Kunst  nur  selten  eingedrungen;  sie 
näherten  sich  der  Kunst  verstand esgeraäss  von  der  Aesthetik 
her  oder  historisch  von  der  Kunstgeschichte  her.  Die  Kunst- 
gelehrten und  Künstler  überliessen  die  Kunst  in  der  Schule 
dem  „Schulmeister",  der  selbst  den  Zeichenunterricht  in  Fesseln 
geschlagen  hat,  ohne  die  rechte  Empfindung  für  die  Kindes- 
seele und  ihre  Anlage  zur  Kunst  Doch  finden  sich  auch  in 
der  älteren  Litteratur  einzelne  gute  Ratschläge  zerstreut  Ich 
erwähne  z.  B.  eine  Broschüre  des  Dr.  Weismann,  der  im 
Jahre  1864  an  der  Musterschule  in  Frankfurt  wirkte;  und  be- 
sonders einen  Aufsatz  von  dem  Archäologen  Bernhard  Stark, 
betitelt:  Kunst  und  Schule;  Jena  1848  (citiert  bei  Weismann). 
Hier  finden  Sie  folgende  vortrefflichen  Worte:  „Nicht  zu 
Künstlern,  noch  viel  weniger  zu  Kunstrichtern  wollen  wir 
unsere  Schüler  ausbilden.  Aber  die  Sinne  wollen  wir  Ihnen 
öffnen  für  die  Welt  der  Kunst  und  so  zugleich  die  allseitige 
Auffassung  der  Natur  und  ein  warmes  Anschliessen  an  das 
Allgemein-Menschliche  ihnen  möglich  machen". 

Indessen,  Ernst  gemacht  wurde  mit  diesen  Forderungen 
erst  seit  etwa  einem  Jahrzehnt;  und  zwar  ging  der  Anstoss 
dazu  von  Kunstgelehrten  aus.  Dr.  Georg  Hirth  gebührt 
das  Verdienst  in  einer  1888  erschienenen  Schrift:  „Ideen 
über  Zeichenunterricht  und  künstlerische  Berufsbildung"  als 
einer  der  ersten  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  auf  dieses 
Problem  gelenkt  zu  haben.  Vielfache  Anregungen  verdanken 
wir  dem  Dr.  Langbehm,  der  1891  in  seinem  „Rembrandt 
als  Erzieher"  uns  das  Künstlerische  als  Bestandteil  der  Kultur 
nahe  brachte.  In  breiterem  Rahmen  ist  die  künstlerische 
Erziehung  der  deutschen  Jugend  zuerst  von  Prof.  Dr.  Konrad 
Lange  in  Tübingen,  einem  Kunsthistoriker,  in  einem  1893 
erschienenen,  sehr  wertvollen  Werke  behandelt  worden. 
Seine  anregende  Wirkung  beruht  darauf,  dass  er  nicht  nur 
Kunstkenner  war,  sondern  zugleich  einen  Blick  für  das 
Kind  und  die  Pädagogik  hatte.  Das  Verdienst,  die  praktische 
Kunstpflege  in   der  Schule   nicht  nur  zuerst    zur  Sprache 


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Die  Erziehung  tur  biLUndtn  Kuvt. 


gebracht,  sondern  in  Thaten  umgesetzt  zu  haben,  gebührt 
Prot  Alfred  Lichtwark,  dem  Direktor  der  Hamburger 
Kunsthalle,  der  früher  selbst  Volksschullehrer  war.  Freilich 
konnte  kaum  eine  andere  Persönlichkeit  gefunden  werden,  die 
für  diesen  Zweck  geeigneter  war.  Hatte  doch  Lichtwark 
schon  im  Jahre  1886  sein  Museum  zur  Lehrstatte  der  Kunst- 
förderung  gemacht.  Davon  ausgehend  zog  er  auch  die  Kinder 
in  den  Bereich  der  künstlerischen  Lehrthätigkeit;  und  er  er- 
zielte durch  sein  Verständnis  für  die  Kinderseele  und  durch 
sein  organisatorisches  Talent  ein  Zusammenwirken  des  Kunst- 
förderers und  der  Lehrer,  die  ihm  Vertrauen  entgegenbrachten. 
Im  Anschluss  an  einen  Vortrag,  den  Lichtwark  im  Jahre 
1887  hielt,  bildete  sich  eine  Vereinigung,  deren  Ziel 
die  künstlerische  Erziehung  des  Kindes  bildete.  Ueber  diese 
ganze  Entwicklung  orientiert  am  besten  das  Buch:  „Versuche 
und  Ergebnisse  der  Lehrerveieinigung  für  die  Pflege  der 
künstlerischen  Bildung  in  Hamburg". x)  Dieses  Werkchen,  das 
für  den  geringen  Preis  von  2  M.  im  Buchhandel  erhältlich  ist, 
birgt  eine  reiche  Fülle  von  Stoff  und  Genuss  in  sich.  Was  es 
besonders  empfehlenswert  macht,  ist  die  Thatsache,  dass  es  an 
die  erwähnten  Probleme  praktisch,  nicht  theoretisierend  heran- 
geht Wenn  wir  es  durchblättern,  so  erfüllt  uns  Respekt 
vor  dem  Ernst  der  Leistungen,  die  uns  hier  entgegentreten.  In 
der  Einleitung,  die  von  Lichtwark  geschrieben  ist,  betont 
dieser,  dass  es  galt,  „die  ganze  Frage  aus  dem  Bereiche  un- 
fruchtbaren Geredes  zu  entfernen,  indem  man  sie  praktisch  in 
Angriff  nahm".  Und  wenn  Sie  mir  gestatten  wollen,  auch  den 
weiteren  Inhalt  des  Werkes  in  kurzen  Umrissen  zu  skizzieren, 
so  möchte  ich  neben  anderen  folgende  Abschnitte  besonders 
hervorheben:  Das  Zeichnen  des  Kindes  in  der  Schule;  die 
Kurse  der  Zeichenlehrer:  der  Handfertigkeitsunterricht;  Bilder- 
bücher und  Bilderschmuck,  und  anderes  mehr.  Auch  den 
Vortrag,  den  der  Dichter  Otto  Ernst  (Schmidt)  im  Jahre 
1896  gehalten,  finden  Sie  in  dem  Büchlein  wiedergegeben. 

Alle  diese  Bestrebungen  sind  Ihnen,  meine  Damen  und 
Herren,  nicht  neu.  Sie  haben  davon  gehört  anlasslich  der  Aus- 
stel!  ungi  n^ic  Kunst  im  Leben  des  Kindes";  und  Sie  haben 

')  2.  Auflage.   Alfred  Janssen.    Hamburg  1901. 


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4 


Peter  J^sen. 


das  Gebiet,  dass  recht  eigentlich  Ihren  Verein  angeht,  schon 
durchgearbeitet  in  einem  Vortrage  des  Herrn  Dr.  Pappen  heim 
über:  „Kinderzeichnungen".  Ihre  weitere  Arbeit  auf  diesem 
Gebiete  ist  eben  deshalb  um  so  wichtiger,  als  alle  Besserung 
hinsichtlich  dieser  Bestrebungen  anknüpft  an  das  tiefere  Ver- 
ständnis der  Kindesseele.  Nur  in  gemeinsamer  Arbeit  der  Pä- 
dagogen, und  zwar  der  Praktiker  wie  der  Theoretiker  auf  der 
einen,  und  der  Kunstförderer  auf  der  anderen  Seite,  wird  das 
Ziel  zu  erreichen  sein.  Freilich,  theoretisch  begründen  lassen 
sich  diese  Ansprüche  der  Kunst  nicht  Wir  wissen,  dass  die 
Künstler  die  Kunstgesetze  geben:  die  Theorie  folgt  und  wechselt 
Daher  ist  es  berechtigt,  heute  die  künstlerische  Erziehung  des 
Kindes  an  die  heutige  Kunst  anzuschliessen.  Die  Schule  soll 
ja  ans  Leben  anknüpfen;  und  andererseits  wünschen  wir  unserer 
Kunst  und  unseren  Künstlern  ein  Volk  zu  bereiten.  Nun  be- 
findet sich  aber  unsere  Kunst  in  rastloser  Arbeit,  ja  die  Baukunst 
und  das  Kunstgewerbe  sogar  in  einer  Krisis.  Die  Arbeit  des 
19.  Jahrhunderts  genügt  uns  nicht  mehr;  wir  suchen  neue 
Grundlagen  auch  für  das  Kunsthandwerk  und  die  Kunst  Dieser 
Umstand  muss  sich  natürlich  auch  in  der  neuen  Erziehung  zur 
Kunst  wiederspiegeln.  Wir  dürfen  keines  der  Elemente  der 
Kunst  und  des  Kunstgenusses  dabei  vernachlässigen.  Ich 
wünschte,  ich  könnte  Ihnen  darüber  eine  Untersuchung  geben, 
wie  sie  Herr  Professor  Stumpf  über  die  Elemente  des  Genusses 
der  Musik  angestellt  hat,  um  diese  Gedanken  auch  Arbeiter- 
kreisen näher  zu  bringen  und  zu  erläutern;  noch  ist  diese  Auf- 
gabe für  das  Gebiet  der  bildenden  Kunst  nicht  genügend  gelöst 
worden1). 

Inbezug  auf  die  einfachen  sinnlichen  Elemente  des  Wohl- 
gefallens gilt  es,  1)  die  Farben  sowohl  einzeln,  wie  auch  in 
ihrem  Zusammenhange  am  Ornamente  wie  am  Gemälde  auf- 
fassen zu  lehren;  2)  die  räumlichen  Verhältnisse,  den  Rhythmus, 
die  Symmetrie,  den  Wechsel  und  den  Kontrast,  die  Grundlagen 
der  „Komposition"  dem  Verständnisse  des  Kindes  näher  zu 
bringen.  Dies  kann  geschehen  sowohl  im  Gemälde  und  an 
der  Natur,  wie  auch  in  dem  eigensten  Gebiete  dieser  Formen- 
kunst, an  der  Dekoration,  dem  Geräte,  der  Baukunst.  Gemeinsam 

')  Vergl.  jetzt  das  inzwischen  erschienene  Werk  von  Konrad  Lange, 
„Das  Wesen  der  Kunst".    Berlin,  Grotesche  Buchhandlung. 


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/>i    Erstehung  zur  bildenden  Katis: 


ist  allen  diesen  Elementen»  dass  sie  uns  nicht  als  freie  Kom- 
binationen begegnen  wie  in  der  Musik,  sondern  vielmehr  ge- 
bunden an  Gegenstande  und  bedingt  durch  einen  praktischen 
Zweck,  ein  Programm.  Denn  vor  allem  Schmuck  hat  der 
Künstler  die  Aufgabe  des  Zweckes,  des  Programmes  zu  er- 
füllen. Dieser  Gesichtspunkt  muss  gerade  heute  betont  werden, 
wo  man  vielfach  vergisst,  welche  harte  Arbeit  der  Künstler  zu 
leisten  hat,  ehe  er  an  die  eigentlich  künstlerischen  Probleme  seiner 
Aufgaben  herangehen  kann.  Hier  erhebt  sich  die  Frage:  ist  die 
Freude  an  der  Erfüllung  des  Zweckes  eine  blosse  Sache  des  Ver- 
standes oder  ein  ästhetischer  Faktor?  Es  ist  schwer  diese  Frage 
exa^t  zu  entscheiden.  Aber  mir  scheint,  dass  ein  ästhetischer 
Gennss  zustande  kommt.  Sprechen  wir  doch  selbst  bei  Rechen- 
aufgaben von  einer  „eleganten"  Lösung  und  empfinden  darüber 
ein  Wohlgefallen,  das  wir  ästhetisch,  künstlerisch  nennen  dürfen. 
Zu  dieser  Bedingung  der  Erfüllung  des  Zweckes  treten  noch 
die  Bedingungen  des  Materiales  und  der  Technik.  Wie  gross 
die  Schwierigkeiten  der  Beherrschung  dieser  Faktoren  sind, 
erweist  sich,  um  ein  Beispiel  herauszugreifen,  vielleicht  am 
besten  an  der  französischen  Keramik.  Jedenfalls  gehören  auch 
die  Losungen  dieser  Schwierigkeiten  in  das  Gebiet  des  Schönen. 
Nun  kommt  aber  zu  allen  diesen  Bedingungen  als  Hauptsache: 
die  Kunst  als  Nachahmung  und  Deutung  der  Natur.  Ist  doch 
die  Kunst,  die  auf  der  Natur  beruht,  für  viele  die  eigentliche 
„Kunst".  Hier  sind  die  grössten  Ansprüche  zu  stellen;  hier  liegen 
die  Hauptprobleme  für  die  Kunst  in  der  Erziehung  des  Kindes 

Welche  Ansprüche  darf  und  muss  man  nun  an  Schule  und 
Hans  stellen? 

Betrachten  wir  zunächst  die  Ansprüche  bezüglich  der  Farbe. 
Sie  ist  lange  das  Stiefkind  der  deutschen  Kunst  gewesen.  Und 
doch  ist  eine  volle,  frische,  gesunde  Farbe  das  erste  Element 
des  künstlerischen  Genusses.  Die  neueren  Franzosen,  fast  um 
eine  Generation  vorangehend,  haben  hier  den  Anfang  gemacht. 
Auch  die  deutschen  Maler  sind  ihnen  gefolgt,  wenn  auch  zum 
Teile  noch  unter  dem  Widerspruche  des  Publikums.  Hier  kann 
eine  konsequente  Erziehung  des  Farbensinnes  einsetzen,  wie 
sie  Lichtwark  in  einem  jüngst  erschienenen  Buche  skizziert 
hat  Ich  glaube,  dass  man  auch  dem  kleinen  Kinde  in  den 
Bilderbüchern  einfache  klare  Farben  geben  sollte.  Sicherlich 


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Peter  jfesseti. 


können  die  Kinder  sehr  früh  die  Farben  zwar  nicht  be- 
nennen, wohl  aber  sehend  unterscheiden.  Die  Fortschritte 
der  Technik  in  den  graphischen  Künsten  erlauben  uns,  dieser 
Forderung  gerecht  zu  werden,  besonders  durch  die  farbige 
Lithographie.  Sie  ist  das  Hauptmittel,  um  künstlerische  Wand- 
bilder zu  schaffen.  In  England  hat  man  den  ersten  Anfang 
nach  dieser  Richtung  hin  gemacht  (Fitzroy  Picture  Society), 
wie  /.  B.  eine  Darstellung  der  vier  Jahreszeiten  von  H.  Sumner 
zeigt,  die  freilich  zunächst  noch  etwas  Trockenes  an  sich  hat- 
Weiter  ist  Henri  Ri viere  in  Frankreich  gegangen,  indem  er 
die  Heimat,  Frankreich  und  besonders  Paris,  in  mehreren  Serien 
zur  Ausstellung  brachte,  die  vom  Künstler  direkt  auf  den  Stein 
gezeichnet  wurden.  Denn  das  ist  eine  wesentliche  Bedingung: 
Künstlerische  Originalarbeiten  zu  diesem  Zwecke  zu  gewinnen. 
Wir  Deutschen  haben  neuerdings  die  ausländischen  Anregungen 
aufgenommen.  Die  Herren  Voigtländer  und  Teubner  in 
Leipzig  haben  die  besten  Künstler  Deutschlands  in  den  Dienst 
der  Sache  gestellt.  Aber  die  Bilder  allein  thun  es  nicht.  Wie 
sollen  wir  den  Sinn  für  die  Farben  wecken,  wenn  wir  die  Kinder 
den  halben  Tag  lang  in  Räume  einsperren,  die  nichts  von 
frischer  Farbe  zeigen?  Daraus  ergiebt  sich  die  Forderung, 
auch  unsere  Schulräume  in  entsprechender  Weise  auszugestalten, 
uud  im  Anstrich  der  Schulräume  der  Farbe  mehr  Platz  zu  ge- 
währen. Hin  schwieriges  Problem  bietet  die  zweckmässige 
Anwendung  der  Farben  im  Zeichenunterricht.  Hier  sind  noch 
mancherlei  Versuche  erforderlich.  Man  wird  daneben  die 
Kinder  zur  Beobachtung  der  Farben,  z.  B.  gelegentlich  des  Be- 
suches von  Naturwissenschaftlichen  Museen,  auch  unmittelbar 
anleiten  können,  wie  es  Lichtwark  zum  ersten  Male  versucht 
hat  Die  Farbenpracht  der  Schmetterlinge,  die  Farbenkreise 
der  primitiven  Völker  und  vieles  andere,  selbst  Stoffe  und 
Tapeten  bieten  Material  zu  geeigneten  Uebungen  dieser  Art. 
Niemals  aber  soll  man  Farben  „lehren".  Denn  an  die  „Farben- 
lehre44 glauben  wir  selbst  nicht  mehr. 

Wir  kommen  zu  den  Elementen  des  Genusses  der  Form: 
Rhythmus,  Bewegung,  Contrast  u.  s.  t  Sie  behaupteten  bisher 
einen  breiten  Raum  im  Kindergarten,  Spiel  und  Zeichnen. 
Aber  wir  haben  ihre  Bedeutung  bisher  überschätzt,  wir  haben 
uus  damit  überfüttert    Wir  können  heute  den  ornamentalen 


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Die  Erziehung  zur  bildenden  Kunst. 


7 


Faktoren  nur  noch  beschränkte  Geltung  beimessen.  Selbst 
gegen  die  Forderungen  der  Symmetrie  sind  wir  misstrauisch 
geworden,  seitdem  wir  uns  eingehender  mit  der  japanischen 
Kunst  beschäftigt  haben,  die  bekanntlich  sehr  hoch  steht,  ohne 
auf  dieses  formale  Element  Rücksicht  zu  nehmen.  Auch  in 
Europa  hat  die  Symmetrie  in  den  eigenartigsten  ornamentalen 
Kunstepochen  nur  bedingt  gegolten,  wie  im  Rokoko  und  bei 
den  Meistern  der  Spätgothik.  Solche  vermeintlich  ewigen 
Formgesetze  erweisen  sich  bei  näherem  Zusehen  häufig  als 
sehr  angreifbar.  Wir  sollten  uns  deshalb  nicht  unnötig  daran 
binden  und  dürfen  sie  im  Unterrichte  getrost  mehr  zurück- 
stellen, als  es  bisher  üblich  war.  Gerade  die  Freunde  des 
Kunstgewerbes  raten  dazu. 

Die  Kinder -Psychologie  und  die  Pädagogik  werden  uns 
dabei  unterstützen,  da  das  langwierige  Zeichnen  geometrischer 
Ornamente  erfahrungsgemäss  das  Kind  langweilt  und  ihm  die 
Lust  zu  diesem  Fache  überhaupt  nimmt.  Das  bisherige 
Zeichnen  ist  grossenteils  ein  Kreuzungsprodukt  des  Schul- 
meisters und  des  Kunstgewerblers  im  üblen  Sinne  des  Wortes. 
Wenn  wir  vor  den  vielen  Ornamenten  warnen,  so  gilt  das 
auch  für  Ornamente  aus  Naturblättern;  auf  Flachrauster  legen 
wir  selbst  für  Mädchenschulen  keinen  grossen  Wert  Aber  auch 
das  plastische  Ornament  aus  Gips  erscheint  uns  für  den  Kunst- 
unterricht nicht  zweckmässig,  da  es  nicht  geeignet  ist,  in  die 
Kunst  als  Ganzes  einzuführen.  Die  gothische  Krabbe,  das 
jonische  Kapital:  was  erzählen  sie  uns  von  der  Kraft  und 
Wucht  des  Ganzen?  Die  Architektur  muss  ganz  auders,  als 
es  an  der  Hand  solcher  Bruchstücke  möglich  ist,  geschildert 
werden.  Was  macht  die  Baukunst  aus?  Das  Ganze,  die  Raum- 
bildnng,  die  Massen,  die  Gruppen,  das  Programm,  der  Zweck! 
Abbildungen,  Photographien  helfen  hier  nicht  viel.  Wir  müssen 
die  Kinder  heran-  und  hineinführen  in  gute,  den  künstlerischen 
Anforderungen  entsprechende  Gebäude,  damit  sie  den  Zusammen- 
hang zwischen  innen  und  aussen  selbst  zu  schauen  und  zu 
empfinden  lernen.  Vor  allem  müsste  das  Schulgebäude  selbst 
nach  künstlerischen  Ansprüchen  ausgestaltet  werden.  Statt 
der  üblichen  geistlosen  Kasernenbauten  sollte  man  Gebäude 
und  Räume  von  interessanter  Gestaltung  erstehen  lassen,  die 
bei  aller  Einfachheit  den  Kindern  doch  als  Muster  an  Klarheit» 


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Petet  Jessen. 


Zweckmässigkeit  und  Raumschönheit  imponieren.  Zu  diesem 
Zwecke  gilt  es,  die  besten  Künstler  heranzuziehen.  Wir  dürfen 
uns  freuen,  dass  diese  Einsicht  jetzt  weithin  wächst.  München 
hat  begonnen,  jetzt  ist  u.  a.  auch  Berlin  durch  Baurat  Hoff- 
mann energisch  auf  den  Plan  getreten. 

So  lange  es  an  Gebäuden  noch  fehlt,  möge  man  den  Raum- 
sinn zunächst  einmal  am  Kleinen  pflegen,  am  Gerät 

Man  gebe  den  Kindern  statt  der  toten  Gipsornanunte 
zum  Zeichnen  Geräte  aus  echten  Stoffen,  etwa  aus  den  ver- 
schiedenen Epochen  der  Kunstentwicklung,  z.  B.  ein  griechisches 
Gefäss,  einen  mittelalterlichen  Leuchter  oder  Abendmahlskelch 
Stücke  bester  kunsthandwerklicher  Arbeit  der  betreffenden 
Zeiten.  Dabei  berücksichtige  man  stets  die  Ansprüche  des 
Materials  und  der  Technik;  beide  sollen  echt  sein  und  nach 
ihrem  Wesen  benutzt  werden.  So  können  die  Kinder  zugleich 
eingeführt  werden  in  die  Kenntnis  der  Materialien  und  der 
Arbeitsweisen.  Holz,  Thon,  Porzellan,  Bronce,  Kupfer,  Schmiede- 
eisen: aus  dieseu  Mateiialien  schaffe  man  neue  Modelle  und 
verbanne  den  Gips,  der  bisher  die  Alleinherrschaft  hatte.  Die 
Ornamentensucht  ist  die  eigentliche  Krankheit  des  bisherigen 
Kunstunterrichts. 

Alle  diese  Werk bedingun gen  der  Kunst  werden  am  besten 
gefördert  durch  die  selbstthätige  Handarbeit  der  Kinder,  durch 
die  werkthätige  Uebung  von  Hand  und  Auge.  Das  beste  Material 
dafür  ist  das  Holz;  brauchbar,  aber  schwieriger  ist  das  Metall; 
auch  Pappe  lässt  sich  verwenden.  Die  Freunde  der  Kunst 
haben  sich  stets  zum  ernsthaften  Handfertigkeits  -  Unterricht 
bekannt. 

Ich  habe  bei  diesen  Fragen  länger  verweilt,  weil  sie  mir 
nahe  liegen  und  weil  sie  bisher  weniger  betont  worden  sind. 
Nun  aber  komme  ich  zu  dem  wichtigsten  Problem  der  künst- 
lerischen Erziehung:  die  Kunst  im  Verhältnis  zur  Natur.  An- 
geregt durch  die  Arbeit  unserer  Künstler,  ist  unsere  Einsicht 
über  diese  Frage  erfreulich  gewachsen.  Wir  wissen,  dass  man 
dem  Künstler  nicht  gerecht  wird  durch  den  Verstand  und  das 
Urteil,  nicht  durch  die  Empfindsamkeit,  sondern  indem  man 
seine  Arbeit  mitfühlt,  nachschafft,  an  sich  erlebt.  Wir  müssen 
die  Kinder  lehren,  künstlerisch  zu  schauen,  wie  die  Künstler 
selbst.    Der  bildende  Künstler  sieht  die  Formen  und  Farben, 


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Ihe  hrxthuHK  zur  biUUnden  Kunst. 


9 


sie  prägen  sich  seinem  Gedächtnis  ein,  er  weiss  das  Eigentüm- 
liche, für  sein  Kunstwerk  Nötige  zu  packen,  weiss  auszuwählen, 
abzustossen,  zu  kombinieren,  er  fasst  auf,  gestaltet  und  er- 
findet, aber  immer  auf  Grundlage  der  Natur.  So  gilt  es,  auch 
die  Kinder  zu  lehren,  künstlerisch  zu  schauen  wie  er,  nicht 
zum  Gestalten,  sondern  zum  Nachgestalten,  Nachempfinden, 
Vergleichen.  Wir  müssen  sie  lehren,  die  Natur  zu  beobachten 
und  mit  den  Kunstwerken  zu  vergleichen,  um  einzudringen  in 
die  Genialität  und  die  Eigenart  der  Künstler,  sei  es  im  engeren 
Anschluss  an  die  Natur  wie  bei  Menzel,  sei  es  nach  der  Seite 
des  Gemütes  wie  bei  Thoma,  sei  es  in  freierer  Anlehnung  an 
die  Natur  bis  zu  den  höchsten  Schöpfungen  der  Phantasie,  wie 
bei  Böckliu  und  Klinger. 

Dazu  gehört  freilich  vor  allem  und  zuerst,  dass  die  Kinder 
lernen,  überhaupt  genau  zu  sehen;  dass  wir  ihre  Blindheit  und 
Zerstreutheit  bekämpfen.  Dazu  ist  jede  Anschauungsübung 
dienlich,  jeder  Unterricht,  der  die  Sinne  schärft,  das  Auge 
konzentriert  und  die  Kindesseele  nicht  durch  Begriffe,  sondern 
durch  anschauliche  Vorstellungen  bereichert.  Darüber  hinaus 
aber  gilt  es,  das  eigentliche  künstlerische  Sehen  zu  üben.  Hier 
gilt  es,  nicht  nur  die  Elemente  aufzufassen,  die  der  Künstler  für 
sein  Gesamtbild  verwertet  (die  Formen  und  Farben  an  sich), 
sondern  auch  ihre  Zusammen  Wirkung,  die  Farben  in  der  Natur, 
die  Lichtwirkung,  die  Formen  des  Lebens,  Ruhe  und  Bewegung, 
kurz  alles  das,  was  beim  Künstler  zusammenkommt,  um  das 
„Bild",  die  „Lichtgleichungu  zu  bilden.  Dazu  ist  der  Zeichen- 
unterricht die  richtigste  Stelle.  Aber  unser  Ziel  lässt  sich 
durch  das  Umrisszeichnen  mathematischer  Körper  aliein  nicht 
erreichen.  Das  Regelmässige  kann  nur  eine  Vorübung  zu  der 
Natur-Annäherung  sein,  wenn  auch  diese  Annäherung  auf  den 
einzelnen  Stufen  der  Kindeserzi«-hung  zunächst  nur  unvoll- 
kommen sein  wird.  Atich  muss  man  die  Auffassungskraft  der 
Kinder  durch  Gedächtniszeichnen  zu  stärken  sucheu.  Ebenso 
sollte  die  freie  Wiedergabc  von  Beobachtungen  oder  Einfällen, 
die  Lust  am  Fabulieren,  geübt  werden,  wenn  wir  dazu  natur- 
gemäss  auch  nur  einen  kleinen  Teil  des  Unterrichtes  gewähren 
können.  Jedenfalls  sollten  wir  uns  hüten,  die  Produkte  solcher 
Uebungen  pedantisch  zu  sezieren,  am  wenigsten  mit  Rücksicht 
auf  den  Schulinspektor  oder  auf  die  Schulausstellungen.  Um 


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10 


Peter  Jessen. 


den  vielen  Forderungen  unserer  Zeit  gerecht  zu  werden,  muss 
allerdings  der  Zeichenlehrer  ein  doppelter  Künstler  sein:  ein 
Meister  seiner  Kunst  und  ein  Künstler  im  Lehren. 

Neben  den  Zeichenübungen  werden  geeignete  Uebungen 
in  der  Kunstbetrachtung  von  Nutzen  sein,  wie  sie  Lichtwark 
in  seinem  anregenden  Buche  geschildert  hat  Dabei  muss  aber 
stets  anschaulich  verfahren  werden:  man  vermeide  alles,  was 
„Wissen"  heisst,  auch  die  eigentliche  Kunstgeschichte,  da  sie, 
das  lebendige  Kunstempfinden  meist  mehr  hemmt  als  fordert. 
Den  Stoff  zu  dieser  Kunstbetrachtung  liefern  die  Wandbilder, 
die  Museen,  die  künstlerische  Natur-Anschauung,  die  auch  dem 
Kinde  zugänglich  gemacht  werden  kann. 

Der  Anfang  aller  dieser  Bestrebungen  muss  es  sein,  dass 
die  Lehrer  selbst  die  richtige  Auffassung  der  Kunst  gewinneu. 
Die  Lehrer  müssen  für  die  echte  Kunst  gewonnen  werden. 
Dass  dieses  Ziel  erreichbar  ist,  zeigt  das  Vorbild  von  Hamburg, 
wo  diese  Aufgabe  durch  das  neidlose  Zusammenarbeiten  von 
Lehrern,  Künstlern  und  Kunstförderern  der  Lösung  näher  ge- 
führt worden  ist.  Auch  Sie,  meine  geehrten  Damen  und  Herren 
werden  diese  Bestrebungen  fördern  können,  wenn  Ihre  wertvollen 
Untersuchungen  stets  im  Geiste  echter  Kunst  geführt  werden. 
In  diesem  Sinne  das  Interesse  zu  wecken,  sollten  meine  Aus- 
führungen einen  bescheidenen  Beitrag  bilden. 

Anm.:  Seit  dem  Mai  v.  J.  sind  alle  Fragen  der  künstlerischen  Er- 
ziehung auf  dem  Kunsterziehungstage  in  Dresden  erörtert  worden.  Der 
Bericht  über  die  Vorträge  und  Verhandlungen  ist  im  Verlage  von  R.  Voigt- 
lander in  Leipzig  erschienen  (Preis  1  M.). 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikalische 

Erziehung. 


Vortrag,  gehalten  am  3.  Januar  1902  im  Verein  für 
Kinderpsychologie  zu  Berlin. 

Von 

Oswald  Körte. 

Ich  habe  die  Ehre,  Ihnen  über  musikalische  Erziehung 
vortragen  zu  dürfen.  Einen  gewissen  Rechts-Titel  zu  diesem 
Unterfangen  erblicken  Sie  vielleicht  mit  mir  in  dem  Um- 
stände, dass  ich  glücklicher  Vater  von  7  gesunden  Kindern 
beiderlei  Geschlechts  bin,  deren  musikalischer  Erziehung  seit 
ihrer  frühesten  Jugend  ich  mich  einigermassen ,  wenn  auch 
durchaus  nicht  methodisch  und  nur  sehr  lückenhaft  gewidmet 
habe,  lückenhaft  infolge  Mangels  an  Zeit  und  auch  an  klarer  Er- 
kenntnis des  Notwendigen.  Erst  mit  der  Praxis  habe  ich 
einige  Erfahrungen  gesammelt  und  mir  eine  Art  von  System  ge- 
bildet; diese  Erfahrungen  nun  und  meine  Gedanken  über  das, 
was  ich  musikalische  Erziehung  nenne,  bitte  ich,  so  geringfügig 
sie  auch  erscheinen  mögen,  Ihnen  mitteilen  zu  dürfen,  ohne 
dass  ich  den  Anspruch  mache,  dass  dieselben  auf  die  allgemeine 
Praxis  übertragbar  seien. 

Nicht  über  Schul-Musik  spreche  ich,  obwohl  dieselbe  in 
den  Rahmen  meines  Vortrags  hineingehören  dürfte;  sondern 
ich  beabsichtige  nur  die  allgemeine  Musikerziehung  zu  be- 
handeln, die  häusliche  und  in  letzter  Linie  die  des  Privat- 
unterrichts. 

Während  über  Schul  -  Musik  seit  den  Tagen  Pestalozzis 
unendlich  viel  geschrieben  worden  ist,  liegt  über  allgemeine 
musikalische  Kinder-Erziehung  weniger  litterarisches  Material 
vor.  Eine  der  neueren  Publikationen  —  unter  manchen 
anderen  —  möchte  ich  besonders  hervorheben,  weil  sie  sich 


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Oswald  Kurte. 


in  ausgiebigster  Weise  der  Ergebnisse  bedient,  die  die  neuere 
Physiologie  und  Psychologie  geliefert  hat:  B.  Widmaun? 
Gehör-  und  Stimmbildung,  Leipzig,  C.  Merseburger  1899.  Ich 
begrüsse  diese  Schrift  insbesondere,  als  sie  mit  meinen  eigenen 
Erfahrungen  in  vielen  wesentlichen  Punkten  übereinstimmt.1) 
Nach  meinen  Beobachtungen  ist  das  Verständnis  für  die 
Frage  nach  dem  Wesen,  dem  Weshalb  und  dem  Wie  der 
musikalischen  Erziehung  auch  in  den  gebildeten  Schichten  der 
Gesellschait  ziemlich  gering.  Vielen  erscheint  sie  überhaupt 
bedeutungslos,  und  dies  hängt  wiederum  mit  der  modernen  Musik- 
Auffassung  auf  das  engste  zusammen.  Ks  ist  eine  alte,  zum  Ueber- 
druss  wiederholte  Klage,  dass  unser  heutiges  Musiktreiben  das 
Interesse  der  Kunst  oder  wenigstens  das  der  Künstler  in  hohem 
Masse  fördere,  das  ethische  Moment  dagegen  so  gut  wie  ganz 
vernachlässige;  dass  von  einer  musikalischen  Erziehung  über- 
haupt nicht,  sondern  nur  von  technischem  Unterricht  die  Rede  sei, 
und  dass  der  Staat  eingreifen  müsse,  um  uns  vor  den  kultur- 
feindlichen Schäden  des  unverständigen  Musikmachens  zu 
schützen.  Weun  ich  nun  auch  nicht  so  weit  gehe,  nach  der 
Polizei  zu  rufen,  so  muss  ich  doch  sagen:  In  der  That,  die 
Art  und  Weise,  wie  man  heute  Musik  treibt,  lässt  die  engen 
und  innigen  Beziehungen  zwischen  Kunst  und  Leben,  zwischen 
Musik  und  geistiger  wie  sittlicher  Bildung  nur  allzusehr  in 
den  Hintergrund  treten.  Freilich,  auch  heute  verfehlt  die 
Musik  der  Meister  nicht  ihren  beseligenden,  erhebenden  Ein- 
druck auf  die  Hörer,  besonders  auf  die  Jugend.  Aber  nur  ein 
verschwindender  Teil  des  Volkes  wird  solcher  Kunstgenüsse 
teilhaftig.  Die  grosse  Masse  lebt  entweder  ohne  Musik  oder 
mit  schlechter  Musik.  Das  erstere  dürfte  unter  gewissen  Ge- 
sichtspunkten vorzuziehen  sein;  das  letztere  aber  ist  natur- 
gemässer,  als  ein  Beweis  der  grossen  Macht,  die  die  Welt  der 
Töne  über  die  Seele  des  Menschen  ausübt  Nun,  so  lange  es 
Unterschiede  der  Bildung  giebt,  wird  die  musikalische  Kost 
der  Mehrzahl  die  den  niedrigeren  Instinkten  entgegenkommende 

>)  Auf  die  Abhandlung  „Die  Tonp9ychologie,  ihre  bisherige  Ent- 
wicklung und  ihre  Bedeutung  für  die  musikalische  Pädagogik",  von 
Max  Meyer,  in  dieser  Zeitschrift,  Jahrgang  I,  Heft  2,  4,  5,  Bei  hier  be- 
sonders hingewiesen.  Der  Verfasser  bespricht  darin  unter  Anderem  die 
Erziehung  des  Gehörs  zum  ästhetischen  Genuas  der  Kunstmnsik. 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikalische  Erziehung.  13 


sein  und  bleiben;  man  kann  wohl  sagen,  dass  der  weniger 
Gebildete  oder  der  Unvermögendere  ein  gewisses  Anrecht  auf 
den  Leierkasten  und  den  Gassenhauer  hat.  Ein  gewaltiges, 
allgemeines  Bedürfnis  nach  Musik  beherrscht  die  besser  ge- 
stellten Klassen  und  treibt  die  Familien  der  Städte,  aber  auch 
solche  der  Dörfer  dazu,  ihre  Töchter  wenigstens  im  Klavier- 
spiel ausbilden  zu  lassen. 

Indes,  der  technische  Unterricht  —  auf  welchen  Instru- 
menten es  immer  sei  —  fällt  nicht  unter  den  Begriff  des- 
jenigen, was  ich  musikalische  Erziehung  nenne.  Letztere  muss 
nach  meiner  Anschauung  unter  einem  weit  höheren  Gesichts- 
punkt aufgefasst  werden.  Jede  ideale  Erziehung  zielt  auf  die 
harmonische  Entwicklung  aller  der  Anlagen,  die  die  Natur  dem 
Menschen  gab,  zu  einem  solchen  Grade,  dass  sie  ihm  Waffen 
werden  im  Kampfe  des  Lebens,  Mittel  zu  sicherem  Urteil, 
Wegweiser  zu  edlem  Genuss  der  Schönheit  Es  handelt  sich 
hierbei  also  nicht  nur  um  die  Ausbildung  der  Verstandes- 
Anlagen,  sondern  auch  um  die  der  Sinne,  deren  Pflege  viel- 
leicht noch  nicht  die  ihnen  zukommende  Berücksichtigung 
gefunden  hat.  In  Beziehung  auf  das  Gehör  stellt  freilich  der 
Schulgesang  das  Bestreben  dar,  diesem  Sinne  schon  in  der 
Jugend  eine  gewisse  Uebung  angedeihen  zu  lassen.  Aber,  — 
mag  die  Schule  hierin  wenig  oder  viel  leisten  —  das  eine 
scheint  mir  zweifellos:  die  Pflege  der  Musik  und  des  Gehörs 
ist  heute  keinesfalls  eine  Bedingung  der  Erziehung,  sondern 
mehr  oder  weniger  ein  zufälliges  Anhängsel,  ein  geduldetes 
Aschenbrödel;  und  der  Grund  dazu  scheint  mir  darin  zn 
liegen,  dass  das  Wesen  der  Musik  als  Bildungs-Element  noch 
lange  nicht  allgemein  erkannt,  geschweige  denn  anerkannt  ist. 
Man  kann  in  dieser  Hinsicht  eher  von  einer  Geringschätzung 
der  Musik  seitens  der  Gebildeten,  als  von  einer  Ueberschätzung 
reden,  so  stark  auch  das  viele  Musikmachen  und  Konzerte- 
besuchen dagegen  zu  sprechen  scheint.  Ja,  man  wirft  der 
Musik  sogar  schädliche  Einflüsse  vor:  Entnervung,  Zeitver- 
geudung, Verflachung,  —  Vorwürfe,  die  nur  gerechtfertigt  sind 
gegenüber  dem  musizierenden  Subjekt,  wenn  es  seine  Nerven 
und  seine  Zeit  dem  Übermass  an  Technik  zum  Opfer  bringt. 

Die  Natur  gab  uns  Töne  und  Rhythmen  und  dazu  die 
Fähigkeit,  sie  zu  empfinden  und  wiederzugeben.    Was  ist  ein- 


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Osvald  Körte. 


facher,  natürlicher,  als  diese  Handhabe  zu  nützen,  um  auf  eine 
so  angenehme  Weise  uns  mit  unseren  Kindern  in  Ueber-. 
einstimraung  zu  setzen  und  dabei  unmerklich,  aber  sicher,  auf 
die  Entwicklung  nicht  nur  ihres  Gehörsinnes,  sondern  auch 
ihres  Willens  und  ihres  Seelenlebens  einzuwirken?  Die  musi- 
kalische Erziehung  begreift  eben  nicht  allein  das  rein  Musika- 
lische an  sich,  sondern  sie  dient,  wie  wir  sehen  werden,  auch 
den  allgemein  erzieherischen  Bedürfnissen,  da  sie  sich  ebenso 
an  den  Willen  des  Kindes,  wie  an  sein  Gefühl  wendet  Ueber- 
dies  fördert  die  Ausbildung  der  Gesangsstimme  gleichzeitig  die 
der  Sprechstimme;  die  Entwicklung  rhythmischen  Schwunges 
kommt  eben  so  sehr  der  Musik  wie  der  Sprache  und  dem 
Körper  zugute,  und  die  Ausbildung  gesunden  Geschmackes 
und  eines  einfachen  Gefühlslebens,  deren  Pflege  sich  unser  ge- 
wöhnliches Musiktreiben  nicht  eben  durchgehends  rühmen  darf, 
entspringt  einer  musikalischen  Erziehung,  wie  ich  sie  verstehe, 
unmittelbar.  Mit  einem  Wort:  Erziehung  zur  Musik  und  Er- 
ziehung durch  Musik  laufen  mit  einander  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  parallel,  bestimmen  sich  gegenseitig.  Gut 
hörende,  scharf  empfindende,  gesund  fühlende  Menschen  sind 
für  das  Leben  wie  für  die  Kunst  gleich  brauchbar;  beide,  Kunst 
wie  Leben,  ziehen  daher  aus  einer  verständigen  musikalischen 
Erziehung  die  gleichen  Vorteile. 

Ein  Teil  solcher  Erziehung  kann  von  der  Familie  über- 
nommen werden,  vorausgesetzt,  dass  dieselbe  dieser  Aufgabe 
gewachsen  ist,  und  würde  jedenfalls,  allgemeiner  durchgeführt, 
eine  gar  nicht  hoch  genug  anzuschlagende  Unterlage  für  die 
Schulmusik  darbieten.  Selbstverständlich  muss  sich  der  Er- 
zieher, der  sich  damit  befasst,  von  dem  Gefühl  für  das  dem 
kindlichen  Vermögen  Zuträgliche,  für  das  Natürliche  leiten 
lassen,  neben  einem  gewissen  eigenen  musikalischen  Ver- 
ständnis. Dann  wird  auch  von  einer  Ueberreizung  des  Kindes 
nicht  die  Rede  sein.  Die  beste  Probe  auf  das  Exempel  ist 
übrigens  der  Gemütszustand,  die  seelische  und  körperliche  Ver- 
fassung des  Kindes:  bleibt  es  dabei  fröhlich,  naiv,  kindlich, 
gesund,  so  ist  man  sicher  auf  dem  richtigen  Wege. 

Bevor  ich  nun  auf  die  Einzelheiten  der  Erziehung  eingehey 
bitte  ich  einen  Blick  auf  das  ganz  kleine,  noch  unentwickelte 
Kind  werfen  zu  dürfen  und  der  Frage  näher  zu  treten,  welche 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikalische  fCrnehung. 


15 


Anlagen  dasselbe,  wenn  es  normal  ist,  für  die  Musik  mit  auf 
die  Welt  bringt. 

Der  bekannte  Arzt  und  Musikschriftsteller  Billroth  spricht 
in  seinem  interessanten  Werk:  „Wer  ist  musikalisch?*  an  einer 
Stelle  aus,  dass  den  Menschen  (und  auch  einigen  Tieren)  eine 
mehr  oder  weniger  bewusste  Fähigkeit  für  das  Auffassen 
rhythmischer  Bewegungen  angeboren  sei.  An  einer  anderen 
Stelle  bestreitet  er  freilich  die  allgemein  verbreitete  Annahme, 
als  sei  jedem  Menschen  das  Gefühl  für  Rhythmus  angeboren. 
Da  er  sich  für  seine  Beweisführung  auf  eigene  militärische  Er- 
fahrungen und  auf  Umfragen  bei  österreichisch -ungarischen 
Regimentern  stützt,  so  darf  ich  vielleicht  bezüglich  dieses 
Punktes  auf  eigene  Beobachtungen  zurückgreifen.  Die  Be- 
gabung für  taktmässiges  Marschieren  zeigt  sich  naturgemäss 
bei  den  Rekruten  sehr  verschieden.  Wohnen  Sie  aber  einer 
Rekrutenbesichtigung,  drei  Monate  nach  der  Einstellung,  bei, 
so  nehmen  Sie  wahr,  dass  die  Leute  nunmehr  —  mit  ver- 
schwindenden Ausnahmen  —  imstande  sind,  ohne  Musik  in 
Abstanden  hintereinander  einzeln  5  bis  10  Minuten  lang  in 
absolutem  Gleichschritt  zu  marschieren,  so  dass  man  mit  der 
Uhr  in  der  Hand  auf  eine  ganz  bestimmte  Zahl  von  Schritten 
in  der  Minute  rechnen  kann.  Freilich,  eine  Unsumme  von 
Arbeit,  Geduld,  disziplinaren  Mitteln  aller  Art  ist  aufgewendet 
worden,  um  ungleiche  Anlagen  zu  gleichen  Leistungen,  nämlich 
Durchschnittsleistungen,  zusammen  zu  sch weissen.  Wäre  aber 
nicht  eine  gewisse  Beanlagung  für  Rhythmus  und  Symmetrie 
vorhanden,  wie  lehrte  die  Armee  den  Soldaten  so  stehen  und 
gehen,  wie  er  eben  steht  und  geht,  wenn  er  ausgebildet  ist 
Und  so  komme  ich  zu  dem  Schlüsse,  dass  gerade  die  militä- 
rische Erfahrung,  wenigstens  in  der  deutschen  Infanterie,  der 
vorherrschenden  Annahme  einer  Allgemeinbefähigung  für 
Rhythmus  nicht  widerspricht,  abgesehen  natürlich  von  den 
verhältnismässig  geringen  Ausnahmen,  die  man  unter  die 
Anomalien  zählen  darf. 

Freilich  ist  Rhythmus  nun  doch  noch  etwas  anderes,  als 
blosses  Element  der  Takt-Gliederung.  Rhythmus  ist  auch  Fluss 
in  b  sonderem  Sinne,  Schwung,  Differenzierung  des  Wesent- 
lichen vom  Unwesentlichen,  Zusammenfassen  des  Zusammen- 
gehörigen.   Und  in  diesem  Sinne  wird  man  allerdings  sagen 


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16 


Onoalt/  Körte. 


können:  Die  Reizbarkeit  des  Organismus  für  die  feineren 
Empfindungen  des  Rhythmus  weist  bei  verschiedenen  Kindern 
und  Menschen  sicher  ganz  erhebliche  Grade  der  Verschiedenheit 
auf.  Jeder  macht  ja  die  Erfahrung,  dass  es  schwerere,  unbeweg- 
lichere, steifere,  dickflüssigere  Naturen  giebt,  im  Gegensatz  zu 
sensibleren,  leichteren,  biegsameren,  bei  denen  das  Ticken  und 
und  Klopfen  des  Rhythmus  sich  infolge  der  nervöseren  Be- 
schaffenheit des  Organismus  fühlbarer  macht;  bei  denen  seelischer 
und  körperlicher  Schwung  sich  schon  im  zartesten  Alter  an 
dem  feinen  Rhythmus  ihrer  gesamten  Lebens-Bethätigungen  zu 
erkennen  giebt  Ganz  dasselbe  scheint  der  Fall  zu  sein  be- 
zuglich des  Vermögens,  Töne  zu  unterscheiden  und  sie  in  Be- 
wegungen umzusetzen,  sie  zu  innervieren.  Auch  hier  sind  die 
Anlagen  erfahrungsgemäss  sehr  verschieden.  Aber  wir  statuieren 
doch  gleicherweise  bezüglich  der  Verstandes-Anlagen  nicht  etwa 
spezifische  Unterschiede,  sondern  nur  solche  des  Grades,  und 
errichten  das  Gebäude  der  Erziehung  auf  der  Grundlage  eines 
gewissen  allgemeinen  Befähigungs-Durchschnitts  Ich  selbst 
verzeichne  bei  meinen  Kindern  ausserordentliche  Unterschiede 
des  Gehörs  und  des  rhythmischen  Sinnes.  Die  Annahme  liegt 
also  nahe:  Keime  —  wenn  auch  noch  so  geringfügige  —  musi- 
kalischer Beanlagung  scheinen  jedem  normalen  Kinde  in  die 
Wiege  gelegt  worden  zu  sein. 

Conipayre"  betont  in  seiner  „Entwickelung  der  Kindes- 
seele" die  frühe  Empfänglichkeit  des  Kindes  für  Ton-Eindrücke, 
eigentlich  schon  von  den  ersten  Tagen  an,  insbesondere  für 
harmonische,  wohllautende  Töne,  und  er  bezeichnet  den  Gehörs- 
sinn als  denjenigen,  der  zuerst  den  dunklen  Sinn  für  Ordnung, 
Regelmässigkeit  im  Kinde  wachruft.  Ausdrücklich  spricht  er 
nur  von  dem  Kinde  schlechthin,  also  von  dem  normalen,  nicht 
etwa  von  einem  solchen,  das  besonders  musikalisch  ist. 

Jede  Mutter  nun,  die  sich  ihres  Kindes  freut,  sucht  bewusst 
oder  unbewusst  die  ersten  Willens-Aeusserungen  desselben  durch 
allerhand  Einwirkungen  zu  unterstützen,  zu  fördern.  In  erster 
Linie  dadurch  scheint  ja  das  Kind  sprechen  zu  lernen,  dass  es 
den  Klang  der  Mutter-Sprache  empfindet  und  die  Sprach-Be- 
wegungen,  die  es  beobachtet,  nachahmt  Sehr  bald  unter- 
scheidet es  stärkere  und  schwächere  Töne,  höhere  und  tiefere, 
und  erkennt  an  diesen  Merkmalen,  wie   am  Rhythmus,  am 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikalische  Erüehung. 


17 


Accent  der  Sprache  den  Träger  derselben  vielleicht  noch  eher 
als  durch  das  Gesicht  Das  sind  nun  schon  Entwicklungs- 
Keime  musikalischer  Natur.  Aber  auch  die  Freude  des  Kindes 
am  Ton,  sei  es  ein  gespielter  oder  ein  gesungener,  ist  all- 
gemeiner Beobachtung  zugänglich.  Ferner  zeigt  das  Kind 
Interesse  an  periodischen  Schällen,  an  dem  knackenden  Geräusch 
des  hin-  und  hergehenden  Pendels  der  Wanduhr,  wobei  es  auf- 
fallt, wie  das  Kind  zuerst  sich  abmüht,  mit  den  Augen  und 
dem  Kopfe  den  einzelnen  Bewegungen  zu  folgen,  bis  die 
Empfindung  daraus  eine  zusammengesetzte,  rhythmische  heraus- 
gefunden hat  Später  ahmt  das  Kind  diese  Pendel-Rhythmik 
durch,  anfangs  hilflose,  Finger-Bewegungen  nach.  Auch  das  inter- 
essierte Aufhorchen  auf  das  Ticken  einer  Taschenuhr  scheint 
darauf  hinzudeuten,  dass  deren  regelmässige  Anschläge  gewissen 
Rhythmen  des  noch  ganz  sinnlich  empfindenden  Wesens 
entsprechen. 

Sollte  es  nun  nicht  möglich  sein,  in  ähnlicher  Weise  wie 
den  übrigen  Lebens-Aeusserungen,  auch  den  musikalischen  In- 
stinkten des  Kindes  entgegen  zu  kommen?  Schon,  wenn  die 
Mutter  mit  dem  kleinen  Kinde  in  einer  modulierenden  Stimme 
spricht,  die  unwillkürlich  Tonhöhe  und  Klangfarbe  dem  Empfinden 
desselben  anpasst;  oder  wenn  auch  die  unmusikalische  Mutter 
sich  instinktiv  zu  einer  Art  beschwichtigenden  Singens  ver- 
anlasst fühlt,  kommt  sie  dem  sinnlichen  Bedürfnis  des  Kindes 
nach  Klang,  nach  Musik  direkt  entgegen.  Ich  habe  jedoch 
auch  die  Erfahrung  gemacht,  dass  die  bewusste  absichtliche, 
Benutzung  des  musikalischen  Interesses  des  Kindes  nach  einiger 
Zeit  aktive  musikalische  Bethätigung  desselben  zur  Folge  hatte. 
Der  Vorgang  dabei  ist  der  wie  beim  ersten  Sprechcnlernen 
oder,  —  man  kann  es  auch  so  bezeichnen  —  wie  beim  Ab- 
richten eines  Singvogels.  Das  Kind  sieht  den,  der  ihm  eine 
kleine  Melodie  vorsingt,  mit  grossen  Augen  an  und  beobachtet 
offenbar  die  Bewegungen  des  Mundes  Aber  freilich  dauert 
der  Prozess  der  inneren  Reproduktion  und  der  Uebertragung 
auf  die  Kehlmuskeln  längere  Zeit.  Wohl  bewegen  sich  die 
Lippen  des  Kindes  manchmal,  als  wollten  sie  sich  zum  Ton 
öffnen,  aber  erst  viel  später  und,  nach  meiner  Erinnerung, 
meist  dann,  wenn  das  Kind  sich  selbst  überlassen  daliegt, 
kommi  plötzlich  ein  kleines  „Tönchen",  so  ein  Vogel-Zwitscher- 

Zetochrift  für  pädagogische  Psychologie.  Pathologie  und  Hygiene.  2 


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18 


OntalJ  A'-rfe. 


ton,  zum  Vorschein.  Dies  ist  die  erste  Einstellung  des  kleinen 
Kehlkopfes  auf  eine  bestimmte  Tonhöhe,  der  erste  musikalische 
Ton.  Aber  wiederum  verstreicht  von  hier  an  bis  zur  Wieder- 
gabe verschieden  hoher  Tone  und  eines  Melodie-Bruchstückes 
eine  getaume  Weile.  Wohl  mögen  auch  hier  bisweilen  jene 
Zustände  von  Aphasie  eintreten, .  die  man  in  der  Sprachentwick- 
lr.ng  so  oft  beobachtet. 

Leider  habe  ich  die  Einzel- Beobachtungen  dieser  ersten 
Sing- Versuche  meiner  Kinder  nicht  genauer  aufgezeichnet. 
Dazu  fehlte  mir  unter  anderem  ein  wirklich  wissenschaftliches 
Interesse.  Immerhin  zeigen  meine  Notizen,  die  bis  20  Jahre 
zurückreichen,  wie  sehr  ich  schon  damals  von  der  Ansicht  ge- 
leitet war,  dass  gewisse  Einwirkungen  imstande  seien,  mu- 
sikalische Keime  zu  wecken,  und  deshalb  ist  vielleicht  die  Mit- 
teilung einiger  dieser  schriftlichen  Erinnerungen  von  einigem 
Wert.  Bezüglich  meines  ersten  Kindes,  eines  Knaben,  notierte  ich 
damals,  in  seinem  2.  Lebensjahre :  „Auffallende  Liebe  für  Musik 
liess  sich  von  Anfang  an  nicht  verkennen.  Viel  mag  dazu  bei- 
getragen haben,  dass  ich  dem  Kinde  von  frühesten  Tagen  an 
vorgesungen  und  vorgespielt  habe.  Dabei  schlief  es  zuerst 
meist  ein."  Ich  unterschied  bei  dein  16  Monate  alten  Knaben 
die  Melodie  „Backe,  backe  Kuchen",  die  er  zwar  uoch  nicht  wirklich 
sang,  aber  doch  trällerte.  Mit  2  Jahr  4  Monaten  sang  er  „Stille 
Nacht,  heilige  Nacht"  mit  dem  Text  der  ersten  Strophe.  Auch 
machte  er  sich  in  dieser  Zeit  gern  eine  kleine  Melodie  selbst 
zurecht,  wobei  er  einen  meist  wunderlichen  Text  unterlegte. 
Aehnlich  unser  zweites  Kind,  ein  Mädchen,  das  mit  einem  Jahre 
„Backe,  backe  Kuchen",  mit  16  Monaten  „Heil  Dir  im  Sieger- 
kranz" und  „Ich  natt'  einen  Kameraden"  mit  gut  zu  verstehendem 
Text  sang.  Das  letztere  ist  mir  noch  heute  sehr  merkwürdig, 
aber  die  Aufzeichnungen  lassen  keinen  Zweifel  darüber  zu. 
Unser  drittes  Kind,  wiederum  ein  Mädchen,  machte  uach  meinen 
frühesten  Aufzeichnungen  von  Anfang  an  deu  Eindruck  sehr 
geringer  musikalischer  Begabung.  Dies  zeigte  sich  in  den 
Jahren,  da  sie  anfing,  mit  'hren  älteren  Geschwistern  zu 
singen,  darin,  dass  sie  immer  „zwischen  durch"  sang  und  keinen 
Ton  richtig  zu  treffen  wusste.  Meine  Notizen  konstatieren  aber 
von  Etappe  zu  Etappe  eine  Zunahme,  eine  Entwicklung,  die 
ich  auf  nichts  anderes  zurückführen  kann,  als  auf  den  gemein- 


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Gedanken  und  Erfahrungen  üb<  r  tnusikalische  Erziehung, 


10 


schaftlichen  Gesang,  das  öftere  Hören  der  Musik.  Aehnliche 
Erfahrungen  machte  ich  bei  meinen  jüngeren  Kindern ;  überall 
erhebliche  Unterschiede  der  Begabung,  aber  Fortschritte  durch 
Uebung.  Die  Kinder  erziehen  sich  auch  hier,  wie  in  anderen 
Dingen,  gegenseitig.  Sicher  würde  man  diejenigen  meiner 
Kinder,  die  auch  heute  noch,  im  Alter  von  16  und  12  Jahren 
an  Ton-Urteil  oder  rhythmischem  Gefühl  den  anderen  unter- 
legen sind,  zu  den  sogenannten  Unmusikalischen  rechnen,  hätten 
sie  nicht  von  zartester  Jugend  auf  gute  musikalische  Eindrücke 
erhalten  und  wären  sie  nicht  genötigt  worden,  sich  selbst  musi- 
kalisch zu  bethätigen.  Diese  Eindrücke  reichen  aber  bis  in  das 
zweite  Lebensjahr  mindestens  zurück. 

Indes  möchte  ich  nicht  missverstanden  werden.  Ich 
empfehle  nicht  etwa  eine  musikalische  Treibhaus-Kultur  des 
Wickelkindes;  davor  habe  ich  mich  bewusster  und  ausge- 
sprochener Weise  gehütet  Trotzdem  bin  ich  der  Ansicht 
dass  es  durchaus  gerechtfertigt  und  natürlich  erscheint,  wenn 
die  Mutter  die  der  Entwickelung  des  Tonsinns  günstigsten  Be- 
dingungen schafft.  Reichtum,  Mannigfaltigkeit,  Lebendigkeit 
und  Frische  der  frühesten  Klang-Eindrücke  bewirken  gewiss, 
wie  B.  Widmann  sehr  treffend  bemerkt,  den  Gegensatz  zu 
der  Stumpfheit  und  der  Schwerfälligkeit  des  Gehörssinns,  mit 
dem  die  Schule  so  oft  zu  ringen  hat 

Freilich  hatte  ich  solche  Kinder  nicht  unter  den  Händen, 
bei  denen  in  Folge  absoluten  Mangels  an  musikalischen  Anlagen 
jeder  Versuch,  sie  zum  Singen  zu  bringen,  scheitert  Wie  gross 
die  Anzahl  solcher  musikalisch  Hoffnungslosen,  absolut  oder 
partiell  Tonblinden  ist,  entzieht  sich  meiner  Kenntnis.  Dies 
hindert  mich  indes  nicht,  sogenannte  „unmusikalische"  Kinder 
mit  der  verstohlenen  Frage  zu  betrachten:  Was  ist  in  der 
voraufgegangenen  Zeit  geschehen,  um  etwaige,  wenn  auch 
noch  so  geringe,  musikalische  Keime  zu  wecken,  zu  entwickeln? 

Es  giebt,  wie  ich  wohl  weiss,  in  der  Schule  Kinder,  die 
im  Gesänge  immer  nur  einen  und  denselben  Ton  heraus- 
bringen können,  die  sogenannten  Brummer.  Aber  die  Fest- 
stellung, ob  die  Ursachen  dieser  Erscheinung  nur  in  einem 
absoluten  Mangel  an  Gehör  liegen  oder  aber  pathologisch  zu 
erklären  sind,  ist  nicht  so  einfach,  namentlich  für  einen  Lehrer, 
der  keine  oder  nur  geringe  musikalische  Vorkenntnisse  be- 


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20 


OswaU mKötle. 


sitzt.  Im  Übrigen  gehen  die  statistischen  Angaben  der 
Lehrer  selbst  hierüber  sehr  weit  auseinander.  Während  der 
eine  Fachmann  über  das  störende  Vorkommen  vieler  Brummer 
klagt,  versichert  der  andere  das  Gegenteil.  Sehr  interessant 
war  mir  das  Urteil  des  Herrn  Professor  A.  Holländer, 
der  läglich  eine  grosse  Anzahl  von  Mädchen  aller  Berufs- 
klas.sen  in  der  hiesigen  Victoria-Schule  im  Singen  unterrichtet: 
er  bezeichnete  das  Vorkommen  von  Brummern  als  eine  ver- 
hältnismässige Seltenheit.  Die  Verschiedenheit  der  Beobachtung 
kommt  zum  Teil  wohl  daher,  dass  der  Grad  des  Verständnisses 
gegenüber  dieser  Erscheinung  nicht  überall  ein  gleicher  ist 
So  wurde  z.  B.  mein  ältester  Junge,  von  dem  ich  erzählte, 
dass  er  mit  etwa  2*/4  Jahren  schon  ein  Weihnachtslied  sang 
und  sich  kleine  Melodien  machte,  als  er  auf  die  Schule  kam, 
vom  Lehrer  —  vermutlich  weil  er  aus  irgend  welchen  Gründen 
nicht  mitsang  —  auf  die  Bank  der  Brummer  verwiesen,  wo- 
raus meine  Fürsprache  ihn  demnächst  wieder  befreite.  Im 
Übrigen  verweise  ich  in  dieser  noch  ungelösten,  die  Physiologen 
sehr  interessierende  Frage  auf  die  Untersuchungen  Ed.  Engel's, 
die  er  in  einem  Bericht  über  den  Stimm-Umfang  sechsjähriger 
Kinder  an  den  Badischen  Obei  schulrath  niedergelegt  hat 
(1889,  Hamburg.) 

Ich  nehme  nun  an,  das  Kind  sei  in  das  Alter  gekommen, 
wo  es  wie  ein  reines  Gefäss  die  Einflüsse  der  Erziehung  auf- 
zunehmen bereit  ist,  also  in  das  4.  bis  5.  Lebensjahr.  Wie 
kann  sich  die  musikalische  Erziehung  nunmehr,  d.  h.  bei 
Kindern  von  etwa  5  Jahren  an,  verhalten? 

Der  Mensch  ist  von  der  Natur  zur  Äuserung  musikalischer 
Stimmungen  zunächst  auf  ein  einziges,  aber  freilich  auch  das 
beste,  Instrument  hingewiesen,  seine  eigene  Stimme.  Nun  er- 
scheint es  mir  immer  sehr  merkwürdig,  dass,  während  wir 
Denken  und  Sprechen  als  etwas  selbstverständlich  mit  einander 
Verbundenes  oder  sogar  als  Ein  und  dasselbe  betrachten,  im 
Musikleben  des  Einzelnen  das  seelische  Bedürfnis  nach  musi- 
kalischer Äusserung  so  verhältnismässig  selten  mit  dem  Singen 
verbunden  ist  Zum  Teil  muss  das  seinen  Grund  haben  in 
einer  Unterschätzung  des  Geschenks,  das  uns  die  Natur  in  der 
örtlichen  Vereinigung  von  Ton-Empfindung  und  Ton- Erzeugung, 
oder  wenigstens  in  einer  sehr  nahen  Nachbarschaft  oder  Ver- 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikaUncht-  Erziehung. 


21 


wandtschaft  Beider  und  der  dazu  bestimmten  Organe  verlieh; 
und  dies  mag  wiederum  die  Thatsache  erklären,  wesshalb  wir 
nicht  eigentlich  ein  singendes  Volk,  sondern  ein  viel  mehr 
spielendes  geworden  sind,  dass  unsere  Finger-Muskeln  mehr 
leisten  als  unsere  Kehlkopf- Muskeln,  und,  eine  Folge  davon  — 
dass  die  grosse  Menge  mehr  zuzuhören  als  zu  hören  Und,  in 
weiterer  Folge,  zu  urteilen  im  Stande  ist.  Weun  Eltern  «in 
auffallendes  musikalisches  Talent  an  ihrem  fünfjährigen  Kinde 
entdecken,  ist  vielfach  die  erste  Frage  die:  Welches  Instrument 
soll  nnser  Kind  lernen?  Musikalisch  sein  und  ein  Instrument 
spielen  scheint  bei  den  Meisten  in  eine  und  dieselbe  Vorstellung 
zusammen  zu  fliessen,  obgleich  es  doch  hervorragend  musika- 
lische Leute  giebt,  die  nie  ein  Instrument  angerührt  haben, 
oder  die  dazu  deshalb  nicht  imstande  sind,  weil  ihnen  nur 
die  Fähigkeit  der  Uebertragung  durch  die  Finger-Muskeln  auf 
Tasten  oder  Saiten  fehlt.  Ich  würde  die  Frage  so  stellen: 
Welche  Wege  schlage  ich  ein,  um  die  musikalischen  Anlagen 
einmal  für  das  Leben,  dann  für  die  Musik  am  sichersten  und 
schnellsten  zu  entwickeln?  Und  ich  beantworte  sie  dahin: 
Entwickelt  erst  Tonsinn,  Intervallsinn,  Melodie-  und  Harmonie- 
sinu,  Rhythmensinn  vermittelst  des  natürlichen  Organs,  das 
das  Kind  erhalten  hat,  der  Stimme.  Es  ist  eine  viele  hundert 
Jahre  alte,  von  uns  leider  meist  nicht  beachteteRegel,  dass  der 
Weg  zur  Musik,  auch  zum  Instrumenten-Spiel  über  den  Gesang 
geheu  solle,  oder  wie  sich  der  einsichtige  Forke  1  in  seiner 
Geschichte  der  Musik  (um  1800)  ausdrückt:  „Die  Singekunst 
ist  die  beste  Vorbereitung  zur  Erlernung  eines  musikalischen 
Instruments."  Die  Lektüre  der  darauf  bezüglichen  Bemerkungen 
(Band  II,  59  u.  ff.)  kann  nicht  warm  genug  empfohlen  werden. 
Keineswegs  aber  sollte  man  sich  verleiten  lassen,  aus  dem 
Umstände,  dass  sehr  begabte  Kinder  auch  ohne  Kenntnis  des 
Gesanges,  ohne  selbst  zu  singen,  auf  Instrumenten  oft  Erstaun- 
liches leisten,  zu  folgern,  dass  das  Singen  für  die  musikalische 
Erziehung  entbehrlich  sei.  Immer  muss  man  sich  die  Tausende 
von  Kindern  und  Erwachsenen  vor  Augen  halten,  deren  Spiel, 
namentlich  Klavierspiel,  unsere  Nerven  und  Geduld  reizen, 
und  deren  angeborenes  natürliches  Empfinden  durch  eben  dieses 
unverständige  Musikmachen  in  eine  durchaus  verkehrte  Rich- 
tung gedrängt  wird. 


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22 


OswaU  Kört*. 


Wie  aber  vollzieht  sich  denn  die  erziehliche  Wirkung  des 
Gesanges  auf  das  Gehör?  Offenbar  kommt  in  diesem  Prozesse 
dem  empfundenen  Tone  oder  Klange  ein  inneres  Vermögen 
entgegen,  denselben  zu  reproduzieren  und  nun  von  sich  aus 
wieder  in  Bewegungen  umzusetzen,  die  diesem  Tone  entsprechen. 
Fast  möchte  man  meinen,  die  Reproduktion,  oder  das  sich 
daraus  entwickelnde  Ton-Gedächtnis  sei  nichts  auderes,  als 
eben  diese  Bewegungen  selbst,  was  gewisse  Psychologen  ja  von 
dem  Gedächtnis  im  allgemeinen  annehmen.  Freilich  ist  das 
die  bedeutendsten  Denker  beschäftigende  Problem:  ob  mit  jeder 
Ton-Vorstellung  notwendigerweise  eine  Kehlkopfs-Innervation 
verbunden  sein  müsse,  noch  ungelöst;  aber  die  Art,  wie  das 
Kind  singen  lernt,  ist  für  mich  doch  ein  starker  Hinweis 
darauf,  welch  grosse  Wichtigkeit  der  Gesang  für  die  Erziehung 
des  Ton-Bewusstseins  haben  muss.  Die  Ton-Vorstellung,  — 
darüber  ist  ja  wohl  kaum  ein  Zweifel,  —  vergesellschaftet  sich 
gern  mit  oder  orientiert  sich  an  Muskel-Bewegungen,  an  einem 
inneren  Mitsingen,  das  C.  Stumpf  in  seiner  „Tonpsychologie44, 
wie  folgt,  beschreibt:  „Die  Kehlkopf-Empfindungen  tragen 
den  Charakter  von  Muskel-  oder  auch  Tastempfindungen 
und  rühren  von  fühlbaren  Spannungen  und  Verschiebungen 
au  und  in  diesen  Organen  her.  Dass  wir  den  Kehlkopf  gern 
zu  Hilfe  nehmen,  (  —  beim  Vorstellen  von  Tönen  — )  begreift 
sich  genugsam  aus  der  steten  Bereitschaft  dieses  Instruments.14 

Die  stete  Bereitschaft  des  Kehlkopfes,  das  ist  in  unserer 
Frage  der  springende  Punkt  Ob  ein  Kind  Töne,  Tonfolgen, 
Rhythmen  so  empfindet  und  reproduziert,  vorstellt,  wie  ich 
sie  empfinde,  darüber  kann  ich  mich  nur  dadurch  vergewissern, 
dass  es  mir  diese  Töne  und  Rhythmen  wieder  zurückgiebt, 
und  das  einzige  Instrument  dazu  ist  eben  die  Stimme.  Und 
wiederum:  das  Kind  selbst  kann  zu  einem  Vergleich,  zu  einem 
Ton- Urteil  nur  dann  gelangen,  wenn  es  dem  einen  Teile  des 
Ver^leichs-Objekts,  nämlich  dem  empfundenen,  den  zweiten 
Teil,  den  reproduzierten,  in  seiner  eigenen  Stimme  gegenüber- 
stellt. Daher  erscheint  es  mir  einleuchtend,  dass  Gehör- 
bildung und  Stimmbildung  oder  Singen,  inneres  wie  äusseres, 
in  der  musikalischen  Erziehung  Hand  in  Hand  gehen  müssen, 
und  dass  der,  der  mit  Fingermuskel  -  Bewegungen  beginnt, 
anstatt  mit  denen  der  Siug-Organe,  ein  ebenso  natürliches  wie 


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Geplanten  und  Erfahrungen  iitter  tnusikalische  Erziehung. 


23 


einflussreiches  Mittel  der  Erziehung  vernachlässigt  und  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle,  statt  Bildung  des  Gehörs  und  des  Ton- 
Urteils,  Verbildung  und  Abstumpfung  erzielt.  Denn  man  kann 
Jahre  lang  ein  Instrument  spielen,  ohne  fähig  zu  werden, 
Musik  blos  durch  das  Gehör  zu  verstehen,  und  die  Folge 
davon  ist  jenes  mechanische  Musikmachen,  das  jedenfalls  nicht 
einen  Zuwachs,  eher  wohl  eine  Verminderung  an  Lebenskraft 
darstellt. 

Ich  will  nun  versuchen  zu  schildern,  wie  ich  —  allerdings 
in  sehr  bescheidenem  Masse,  durchaus  nicht  methodisch  und 
leider  sehr  lückenhaft,  versucht  habe  und  noch  versuche,  bei 
meinen  Kindern  im  Alter  von  5  Jahren  aufwärts  Ton  -  Em- 
pfindung und  Ton- Vorstellung  zu  fördern. 

Der  Nachahmungstrieb  und  die  sinnliche  Freude  des  Kindes 
am  Klange  spielen  auch  hierbei  eine  Rolle.  Die  Arbeit  aber, 
welche  die  kleinen  Köpfe  zu  leisten  haben,  wird  wesentlich 
erleichtert  durch  eine  Dosis  Humor,  für  den  das  Kind  so 
empfänglich  ist.  Die  Grundlage  solcher  Uebungen  bleibt  das 
Kinder-  und  Volkslied  mit  seiner  einfachen  Tonalität,  sowie 
der  Choral.  Man  braucht  sich  nicht  vor  öfterer  Wiederholung 
der  Kinderlieder  zu  scheuen;  sie  sind  eigentlich  unabnutzbar, 
lassen  sich  übrigens  durch  kleine  dynamische  und  rhythmische 
Schattierungen  immer  wieder  neubelebeu.  Auch  handelt  es 
sich  ja  gerade  um  die  Einprägumj  bestimmter  Melodiegänge, 
behufs  Bildung  des  Melodie-Gedächtnisses,  um  eine  Art 
Suggerieren  von  Kehlkopf-,  Zungen-,  Lippen-Gefühlen,  an 
denen  die  Psyche  des  Kindes  sich  orientieren,  mit  denen  sie 
dann  zu  anderen  Bewegungen  fortschreiten  kann 

Nun  singen  wir  gemeinschaftlich  am  Klavier,  teils  indem 
ich  vorsinge  uud  die  Kinder  nachsingen,  oder  indem  wir 
zusammen  singen.  Die  begleitenden  Harmonien  des  Klaviers 
unterstützen  nach  meiner  Erfahrung  das  Auffassungs- Vermögen 
der  Kinder  für  Melodie  und  Intervall;  nur  muss  man  die  Vor- 
sicht üben,  nicht  stark  zu  spielen,  sondern  möglichst  leise, 
mehr  andeutend,  als  füllend;  einmal  um  den  Klavierton  nicht 
zum  Hauptton  zu  machen,  der  den  Gesangston  überdeckt;  dann 
um  das  Kind  durch  die  instrumentale  Stütze,  auf  die  es  sich 
gern  verlässt,  nicht  zu  verwöhnen.  Den  Text  sage  ich  immer 
in  kurzen  Abschnitten   vorher  an  —  soweit  er  nicht  ganz  be- 


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Orwald  Körte. 


kannt  ist  — ,  damit  das  Kind  keine  zu  grosse  Arbeit  für  das 
Wort-Gedächtnis  habe.  Der  Text  erweckt  Interesse  und  er- 
leichtert die  Innervation  des  Tons.  Das  Vorsprechen  geschieht 
möglichst  scharf  artikuliert,  damit  die  Kinder  immer  an  die 
Pflicht  gemahnt  werden,  selbst  gut  auszusprechen.  Viel  hilft 
dabei,  wenn  ihre  Augen  an  den  Lippen  des  Erziehers  hängen; 
aber  bekanntlich  verliert  sich  diese  so  schätzenswerte  Ge- 
wohnheit mit  jedem  Jahre  mehr,  weil  das  Kind  nach  und 
nach  an  jener  naiven  Gläubigkeit  von  Mund  zu  Mund,  von 
Auge  zu  Auge  einbüsst,  in  dem  Masse  wie  die  Selbständigkeit 
wächst,  in  diesem  besonderen  Falle  das  Interesse  am  Nach- 
lesen des  Textes  oder  der  Noten.  Vor  gewissen  Fehlern  muss 
man  sich  hüten:  nämlich  selbst  zu  stark  zu  singen  und  die 
Kinder  stark  singen  zu  lassen.  Abgesehen  von  den  Gefahren 
für  die  Stimme  erschwert  ein  zu  starker  Ton  das  Heraushören 
der  vielen  Intonations-Fehler;  es  ist  unglaublich,  welchen 
Selbsttäuschungen  man  dann  unterliegen  kann. 

Die  absolute  Tonlage  des  Liedes  muss  der  Durchschnitts- 
Stimmlage  der  Kinder  entsprechen.  Je  höher  die  erstere,  desto 
grösser  ist  auch  die  Neigung  des  Detonierens,  in  diesem  Falle 
des  Herabziehens  des  Tons.  Man  muss  also  imstande  sein,  be- 
liebig zu  transponieren,  was  auch  für  andere  Zwecke  wertvoll  ist. 
Zu  dieser  Fähigkeit  muss  sich  ferner  eine  einigermassen  edle 
eigene  Tongebung  gesellen  und  eine  gewisse  Beherrschung 
der  Tonalität. 

Was  nun  die  Erziehung  zum  „Reinsingen"  angeht,  so  war 
es  mir  eine  Zeit  lang  fraglich,  was  man  denn  unter  Reinsingen 
zu  verstehen  habe;  im  Laufe  der  Zeit  bin  ich  aber  doch  zu 
der  Ansicht  zurückgekommen,  dass  es  einen  mathematischen 
Richterstuhl  hierüber  nicht  giebt,  sondern  nur  ein  allgemeines 
Gefühl  aller  derer,  die  bei  der  Empfindung  einer  Intonation 
ein  Lustgefühl,  bei  derjenigen  unreiner  Intonation  ein  Unlust- 
gefühl  haben.  Weder  der  Kunstgesang,  noch  die  Instrumental- 
Musik  entscheiden  sich  bezüglich  der  den  einzelnen  Tonhöhen 
einer  Skala  zuständigen  Intonation  für  ein  gewisses  Stimmungs- 
Prinzip,  etwa  für  das  pythagoräische  oder  das  sogenannte  natür- 
liche, wohl  aus  dem  Grunde,  weil  die  Psyche  sich  nicht  auf 
mathematisch  abgezirkelte  Punkte  einstellen  lässt.  Immerhin 
haben  wir  für  unsere  Zwecke  in  einem  gut  gestimmten  Klavier, 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikalische  Erziehung. 


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trotz  seiner  Temperatur,  einen  ausreichenden  Ton-Messer.  Ich 
gehöre  nicht  zu  den  Fanatikern,  die  das  Klavier  aus  dem 
Gesangs-Unterricht  deshalb  verbannt  wissen  wollen,  weil  es 
angeblich  das  Gefühl  für  Ton-Reinheit  verderbe,  und  die  dafür 
dem  Gesauglehrer  auf  Schulen  die  Violine  in  die  Hand  drücken. 
Die  Violine  rein  und  dabei  mit  gutem  Klang  zu  spielen  ist 
nicht  Jedermanns  Sache,  und  man  kann  von  Glück  sagen, 
wenn  man  auf  ihr  so  reine  Tonstufen  erzielt,  wie  auf  dem 
Klavier.  Letzteres  hat  aber  ausserdem  den  Vorzug  der  leichteren 
Handhabung  und  einer  Haltung  des  Lehrers,  die  ihm  ermög- 
licht, dabei  auch  auf  die  Singenden  selbst  zu  achten;  und 
endlich  giebt  es  willig  und  leicht  die  Harmonie  her.  Freilich 
raüsste  der  Lehrer  zugleich  Klavierstimmer  sein.  Ich  meine 
also:  es  ist  für  die  Praxis  viel  erreicht,  eigentlich  alles,  wenn 
die  Kinder  so  rein  singen  lernen,  wie  das  Klavier  angiebt 
dann  aber,  und  das  ist  das  Interessante  und  Wunderbare  daran, 
klingt  der  Gesang  ohne  Klavier  noch  viel  reiner  und  infolge 
dessen  lieblicher  als  mit  Klavier,  oder  ist  reiner  als  der  des 
Klaviers,  —  das  Wesen  und  der  Vorzug  des  a  capella-Gesangs. 

Ich  habe  gefunden,  dass  jedes  Kind,  auch  das  dafür  besonders 
begabte,  erst  zu  reiner  Stufenbildung  thatsächlich  erzogen  werden 
inuss.  Namentlich  bei  aufsteigenden  Gängen  macht  es  nach 
meinen  eigenen  Erfahrungen  und  den  Mitteilungen  einiger  mir 
bekannter  Lehrerinnen  Schwierigkeiten,  die  6.  und  7.  Stufe 
der  Leiter  rein  zu  bekommen.  Auch  ist  es  nicht  ein  und  das- 
selbe: Töne  zu  empfinden  und  sie  in  Muskel-Bewegungen  um- 
zusetzen, sie  zu  innervieren.  Bei  manchen  Kindern  scheint  eine 
gewisse  Scheu,  ein  „Genieren"  dieser  Thätigkeit  hinderlich  zu 
sein.  Bei  anderen  ist  das  Hindernis  vielleicht  physiologisch 
begründet.  Oft  sagen  Kinder:  Ich  weiss  schon,  wie  es  klingen 
soll,  ich  kann  es  nur  nicht  so  herausbringen.  Sache  der  Uebnng 
ist  es,  diese  Unfähigkeit  oder  Sehen  zu  überwinden,  die  Ueber- 
setzung  von  Ton-Empfindung  in  Muskel-Bewegungen  zu 
fördern,  wobei  Gehör-  und  Stimm-Bildung  gleichzeitig  profitieren. 
Freilich,  bei  gewissen  Naturen  mögen  die  Hindernisse  unüber- 
windlich sein;  doch  mache  ich  auch  in  dieser  Hinsicht  darauf 
aufmerksam,  dass  sich  solche  Schwierigkeiten  bei  jüngeren 
Kindern  vermutlich  weit  leichter  beheben  lassen,  als  bei  älteren, 
bei  denen  namentlich   das  Moment  der  Scheu   eher  zunimmt 


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2b 


Oswald  Kör  Ii'. 


als  abnimmt,  ein  Motiv  mehr,  mit  dem  Singen  in  frühen  Jahren 
zu  beginnen. 

In  der  vom   Kinde  zu  leistenden  musikalischen  Arbeit 

—  Ton-Empfindung,  Reproduktion,  Innervation,  Vergleich, 
Urteil,  Innehalten  des  Rhythmus,  Aussprache,  Atmen  —  liegt 
eine  Summe  von  Bildungs-Elementen  sowohl  musikalischer  als 
allgemein  erzieherischer  Natur.  Man  kann  sie  zusammenfassen 
unter  dem  Begriff:  Schule  des  Willens  in  einer  ganz  eigen- 
tümlichen, reizvollen  Form,  in  Begleitung  eiuer  heilsamen  Be- 
einflussung des  Gemütslebens.  Das,  was  das  Kind  zuerst 
gleichsam  spielend  und  unbewusst  an  eigenem  Material  her- 
giebt,  modelt  sich  unter  der  Hand  des  Erziehers  zu 
Aeusserungen  und  Erfolgen  bewussten  Wollens,  indem  das 
Kind  schliesslich  die  betreffenden  Thätigkeiten  direkt  durch 
den  Willen  regeln  lernt;  eine  Beobachtung,  die  den  Physiologen 
und  Psychyologen  längst  bekannt  ist. 

Das  ganze  Wesen  des  Kindes  soll  sich  in  den  —  übrigens 
recht  kurz  zu  messenden  —  Uebungen  auf  den  inneren  Vor- 
gang konzentrieren;  ich  halte  darauf,  dass  hierbei  die  ab- 
lenkenden Bewegungen,  wie  Spielen  mit  den  Händen,  Weg- 
wenden des  Kopfes,  Umherblicken,  unterbleiben.  Dass  ein  Kind 
die  Spannung  des  Lauschens,  des  Horchens  leistet,  sieht  man 
ja  sofort  seinem  Ausdruck  an,  vielfach  auch  an  der  leichten 
Oeffnung  des  Mundes.  Vergleicht  man  damit  den  Ausdruck 
der  Zerstreuung  bei  mechanisch  klavierübendeu  Kindern,  so 
kann  man  kaum  im  Zweifel  sein,  wo  das  Plus  an  Kraft  und 
Erfolg  zu  suchen  ist.  Nicht  unwichtig  ist  auch  die  Beob- 
achtung der  Wirkung,  welche  namentlich  bei  den  jüngeren 
Kindern  die  nach  verschiedenen  vergeblichen  Versuchen  endlich 
gefundene  Uebereinstimmung  des  eigenen  Tons  mit  dem  vor- 
gesungenen oder  aufgegebenen  Tone  des  Vaters  oder  der  Mutter 
oder  des  Erziehers  hervorruft.  Da  nämlich  in  diesem  glück- 
lichen Alter  das  Kind  meist  unerschütterlich  glaubt,  dass  der 
Aeltere  das  Rechte,  das  Gute  weiss  und  thut,  so  ist  solche 
Uebereinstimmung  nicht  nur  musikalisch  von  Wert,  sondern 

—  so  geringfügig  das  erscheinen  mag  allgemein  erzieherisch, 
moralisch. 

Tonleitern  lasse  ich  nicht  singen,  obwohl  ich  ihre  Vorzüge 
nicht  verkenne   und  auch  der  Ansicht  bin,  dass  sie  für  einen 


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Gctüinhrn  und  Erfahrungen  über  musikalische  Erziehung. 


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eigentlich  methodischen  Unterricht  unentbehrlich  sind.  Immer- 
hin enthalten  die  Lieder  das  Material  der  ersten  aller  Leitern, 
nämlich  der  Dur-Tonleiter  und  helfen  schon  an  sich,  durch 
den  Schwung  der  Melodie  zu  einer  genügenden  Erziehung  des 
Gehörs  mit,  während  die  technische  Leiterübung  dieses 
Schwunges  ermangelt.  Thatsächlich  hört  man  denn  von  ganz 
jungen  Kindern  plötzlich  eine  Tonleiter  singen,  ohne  dass  sie 
je  geübt  wurde.  Die  Treff-Reinheit  lässt  sich  eben  auch  noch 
auf  andere  Weise  anerziehen.  Die  Intonations-Fehler  resultieren 
zum  grossen  Teil  aus  einem  Versagen  der  Aufmerksamkeit, 
einem  ganz  natürlichen  Nachlassen  der  Spannung,  die  sich 
eben  in  einem  Nachlassen  der  Sing-Organe,  namentlich  der 
Stimmbänder  kundgiebt;  worin  mir  die  Erklärung  dafür  zu 
liegen  scheint,  dass  das  Detonieren  in  der  grössten  Mehrzahl 
der  Fälle  mehr  mit  Zu  tief-  als  mit  Zu  hoch  singen  identisch 
ist.  Ueberall  in  der  Erziehung,  so  auch  hier,  tritt  an  uns  die 
Forderung  heran,  die  naive  Spielseligkeit  des  Kindes  in  wirk- 
liche Arbeit,  in  Thätigkeit  umzusetzen;  und  es  kommt  darauf 
an,  hierfür  die  geeigneten  Mittel  zu  finden. 

Eine  vortreffliche  Handhabe,  dem  Nachlassen,  der  Unacht- 
samkeit entgegen  zu  wirken,  fand  ich  in  der  musikalisch  von 
Alters  her  berühmten  Cheironomie,  deren  sich  übrigens  die 
Solfeggisten  in  England  in  ausgedehntem  Masse  bedienen- 
Eine  leichte  Handbewegung  von  unten  nach  oben,  vor  der 
Stelle,  wo  erfahrungsmässig  ein  Nachlassen,  ein  Herabziehen 
oder  ein  Nichterreichen  der  verlangten  Tonhöhe  stattfindet, 
lenkt  die  Aufmerksamkeit  der  Kinder,  durch  Mitwirkung  der 
Raum-Vorstellung,  auf  den  anzustrebenden  Punkt,  bereitet  die 
betreffende  Ton-Vorstellung  vor  uud  bewirkt  die  nötige  An- 
spannung bei  der  Innervation.  Mit  solchem  einfachen  Zeichen 
habe  ich  überraschende  Erfolge  erzielt,  mehr  noch  als  durch 
das  blosse  Vorsingen,  da  es  sich  hierbei  oft  mehr  um  Mangel 
an  Aufmerksamkeit,  an  Willen,  als  an  Gehör  zu  handeln 
scheint.  Freilich  muss  mau  sich  auch  hier  um  ein  Zuviel 
hüten,  da  man  sonst  die  ganze  Stimmung  wider  Willen  um  ein 
erhebliches  hinaufschrauben  kann. 

Auf  einzelne  Fälle  bin  ich  aufmerksam  geworden,  in  denen 
Kinder  erfahrungsmässig  an  Spannung  nachlassen,  nämlich  bei 
der  Ton -Wiederholung  und  bei  länger  auszuhakendem  Ton, 


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OswaM  Körle. 


namentlich  wenn  diesem  ein  tieferer  Ton  folgt.  Bei  aufmerk- 
samem Hören  merkt  man  vielfach,  wie  im  ersteren  Falle  der 
Wiederholungston  nicht  genau  in  der  Höhe  des  vorangehenden 
eingesetzt  wird,  während  im  letzteren  Falle  der  Ton  ganz  all- 
mählich mit  dem  natürlichen  Decrescendo  sinkt.  Wenn  man 
das  etwa«  karrikiert  nachahmt,  lachen  die  Kinder  und  werden 
darauf  aufmerksam.  Uebrigens  interessiert  alles  dies,  wie  ich 
weiss,  die  Kinder  sehr,  noch  mehr  die  jüngeren  als  die 
älteren,  die  sich  schon  über  manches  erhaben  fühlen, 

Bekanntlich  fällt  es  den  Kindern  leichter,  diatonische  Gänge 
wie  C  D  E  F  G  zu  singen,  als  Sprünge  wie  zum  Beispiel  C  G. 
Solange  aber  solche  Sprünge  im  Schwünge  der  Melodie  ge- 
sungen werden,  bereiten  auch  hie  keine  erheblichen  Schwierig- 
keiten, wie  beispielsweise  der  von  den  Alten  so  gefürchtete 
Tritonus  F  H  in  dem  Licde  „O  Tannebaum44  von  den  Kindern,, 
auch  den  kleinsten,  anstandslos  intoniert  wird.  Aber  etwas 
anderes  ist  es,  wenn  man  solche  Intervalle  für  sich,  eben  als 
einzelne  Intervalle  singen  lässt.  Diese  Fähigkeit  der  lebendigeu, 
klaren  Intervall- Vorstellung  und  entsprechenden  Innervation 
ist  aber  für  die  Erziehung  musikalischen  Denkens  von  grösster 
Bedeutung.  Ohne  dieselbe  bliebe  das  Singen  ein  rein 
mechanisches  Nachbeten.  Auch  die  begabteren  meiner  Kinder 
sind  oft  nicht  imstande,  nach  einem  kurzen  tonalen  Vorspiel 
eine  viel  gesungene,  ganz  bekannte  Melodie  auf  dem  richtigen 
Tone,  dem  Anfangstcme,  anzusingen.  Singt  man  oder  spielt 
man  dann  nicht  selbst  mit,  so  erlebt  man  es,  dass  der  Einsatz 
der  Stimmen  entweder  ganz  ausbleibt  oder  nur  von  einer  ver- 
einzelten Stimme  gewagt  wird,  die  sich  dann  meist  ob  ihrer 
Isoliertheit  erschrocken  in  ihres  Nichts  durchbohrendes  Gefühl 
zurückzieht  Analoge  Erscheinungen  bietet  der  Gesang  un- 
geschultcr  Chöre,  bei  denen  nur  gewisse  bewährte  Stützen  die 
Einsätze  liefern,  und  das  Intonieren  des  Chorals  in  der  Kirche 
nach  dem  Orgel- Vorspiel,  wo  der  Einsatz  vielfach  nur  von  der 
Minderzahl  geschieht,  auch  wenn  es  sich  um  eine  bekannte 
Melodie  handelt.  Die  Gründe  dafür  sind  entweder  Scheu  oder 
Unaufmerksamkeit,  Mangel  an  Konzentration  oder  gänzliche 
Unfähigkeit  zu  singen,  oder  aber  das  Unvermögen,  das  ver- 
langte Anfangs-Intervall  aus  der  tonalen  Grundstinunuuyr  des 
Vorspiels  herauszusondern,    festzuhalten,    auszudrücken.  Die 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikalische  Ernehun^. 


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Gemeinde  steigt  also  sozusagen  stationsweise  in  den  Zug  des 
Chorals  ein. 

Erziehung  kann  nun  für  die  Bildung  von  Intervall- Vor- 
stellungen viel  thun;  und  gerade  diese  Anfangs-Intonation  ist 
solange  man  nicht  methodisch  nur  Intervalle  singen  lässt  - 
nach   meiner   Erfahrung  sehr  fruchtbringend,  zumal  sie  die 
Kinder  lebhaft  interessiert.    Während  des   kurzen  Vorspiels, 
das  Intonations  -  Stimmung   neben  seelischer  Stimmung  (am 
Sonntag  beim  Choralsingen)  erzeugen  soll,  verlange  ich  Auf- 
merksamkeit, Aufhorchen  auf  die  Grundstimmung.    Das  Vor- 
spiel enthält  zweckmässig  das  Anfangs- Motiv  des  Chorals  oder 
Liedes,  vielleicht  etwas  verschleiert,  und  eine  kräftige  Kadenz, 
die  die  Tonart  sicher  kennzeichnet,  auch  wohl  die  absicht- 
liche  häufigere   Betonung  des   Anfangs-(Ansinge-)Tons.  Die 
Kinder  müssen  der  Frage  gewärtig  sein:  „Welches  Lied,  welcher 
Choral  kommt?',  und  der  Aufforderung  an  den  Einzelnen,  allein 
anzusingen.    Beides  setzt  eine  gewisse  Willens-Spannung  vor- 
aus: den  Prozess  der  Erinnerung  und  den  der  gesuchten  Ton- 
Vorstellung  und  Vorstellungs-Bewegung.    Dabei  macht  mau 
auch  bei  den  beanlagtesten  Kindern  die  merkwürdigsten  Er- 
fahruugen,  selbst  in  den  geläufigsten  Melodien.    Beginnt  das 
Lied  beispielsweise  mit  der  Quinte  (als  Auftakt)  oder  mit  der 
Terz,  während  das  Vorspiel,  wie  meistens,  auf  dem  Grundton, 
der  Tonika,   schloss,   so   übt   diese   letztere   eine   grosse  An- 
ziehungskraft auf  die  Psyche  des  Kindes  aus  und  zerstört  ent- 
weder die  Vorstellung  des  richtigen  Tones,  wenn  sie  überhaupt 
vorhanden  war,  oder  lässt  diese  Vorstellung  überhaupt  nicht 
aufkommen.    Der  Einsatz  erfolgt  dann  fälschlicherweise  mit 
dem  Grund  ton.    Derselbe  Vorgang  des  Sichlei  tenlassens  voll- 
zieht sich  anscheinend  bei  allen  denen,  die  nicht  zwei  oder 
mehrere  Melodien  gegen  einander  empfinden  können,  woraus 
sich  die  Wichtigkeit  solcher  einfachen  Uebuugen  nicht  nur  für 
den  Einzel-Gesang,  sondern  auch  für  den  mehrstimmigen  er- 
geben dürfte.    Nebenbei  bemerkt,  ist  mir  immer  aufgefallen, 
dass  Kinder  sich  im  mehrstimmigen  Gesänge  ganz  besonders  zu 
der  höher,  d.  h.  über  der  ihrigen  liegenden  Melodie  hingezogen 
fühlen  und  in  dieselbe  hineingeraten,  ein  Zeichen,  dass  unsere 
Musik-Empfindung,  die  die  Melodie  meist  in  die  Höhe  verlegt, 
doch  eine  der  Natur  entsprechendere  ist.  im  Gegensatz  zu  der 


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Or.vaU  KörU. 


mehr  kunstmässigeti  Musik  -  namentlich   früherer  Zeiten 
die  die  Melodie,  als  Tenor,  in  die  Mitte  legte. 

Zu  grösserer  Uebung  pflege  ich  diese  Ansinge-Uebungen  auf 
verschiedenen  Tonstufen  zu  wiederholen,  so  zuerst  auf  C,  dann 
auf  Cis,  auf  B,  auf  Dis  u.  s.  w.,  und  ich  habe  oft  die  Freude, 
dass  auch  ganz  kleine  Kinder,  wie  ein  Junge  von  5l/2  Jahren 
in  solchen  Fällen  ganz  allein  auf  dem  richtigen  Einsatztone 
intoniert.  Auch  während  des  Liedes  oder  Chorals,  namentlich 
bei  den  Haltern  desselben,  höre  ich  ab  und  zu  plötzlich  auf 
und  verlange  Weiterintonieren  des  Einzelnen,  um  mich  zu 
überzeugen,  ob  er  nicht  nur  mechanisch  singt,  sondern  mit 
lebendiger  Vorstellung  der  Verbindung  des  Kommenden  mit 
dem  Vergangenen,  eine  Uebung,  die  ich  als  sehr  wirksam  ge- 
funden habe.  Zur  Erziehung  der  Empfindung  für  Melodie 
gegen  Melodie  wähle  ich  zuerst  den  Weg,  für  meine  Person 
eine  beliebige  Gegen  -  Melodie  zwischen  durch  zu  singen,  zu- 
nächst ganz  leise,  da  die  Kinder  dadurch  anfangs  in  ihren 
eigenen  Vorstellungen  leicht  gestört  werden;  nach  und  nach 
gewöhnen  sie  sich  an  die  ihnen  entgegenlaufenden  Tongänge 
so,  dass  sie  bald  —  allerdings  mit  Unterschied  -  imstande 
sind,  nun  auch  selbst  Melodie  gegen  Melodie  zu  empfinden  und 
auszudrücken.  Aber  zu  selbständiger  Führung  von  Gegen- 
Melodien  ohne  Noten,  rein  aus  der  eigenen  Vorstellung  heraus, 
ist  doch  mehr  erforderlich,  nämlich  mindestens  lebendiges 
Empfinden  oder  aber  begriffliches  Erfassen  der  Tonalität 

Auch  in  diesen  Hebungen  spielt  die  Scheu  gewisser 
Naturen  vor  dem  Allei Usingen  eine  Rolle,  und  ich  kann  nur 
immer  wiederholen,  dass  deswegen  der  Gesang  nicht  früh 
genug    -  cum  grano  salis  —  beginnen  kann. 

Bei  sehr  fein  empfindenden  Gehören  genügt  übrigens  schon 
das  blosse  Lauschen  auf  einen  tiefen  Grundklang,  also  beispiels- 
weise auf  das  C  des  Klaviers,  um  den  Ansingeton  (Quinte,  Terz, 
Tonika)  zu  finden,  indem  derselbe  aus  den  Obertönen  analysiert 
wird.  Eines  meiner  Kinder,  ein  allerdings  musikalisch,  nament- 
lich auch  rhythmisch  sehr  begabter  Knabe  von  1*U  Jahren, 
ist  dazu  bei  einiger  Anleitung  ohne  weiteres  imstande. 

Es  ist  nun  hier  nicht  der  Ort,  auf  alle  die  Einzelheiten 
einzugehen,  die  ich  für  die  Erziehung  des  Tonbewusstseins  bei 
Kindern  für  erspriesslich  halte,  abgesehen  davon,  dass  das 


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GeiianJbitr  und  l\> fahruti^cn  üb<  i  musii-nltsJu'  Erziriiunj;. 


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Sache  der  persönlichen  Disposition  ist.  Nur  andeuten  möchte 
ich,  dass  auch  das  ästhetische  und  das  (iefühlsmoraent  in  dem 
Singen  von  Kinderliedern  auf  seine  Rechnung  kommen  kann, 
indem  man  das,  was  in  ihnen  an  Freude,  Wehmut,  Klage, 
Jubel  verborgen  liegt,  durch  entsprechende  rhythmische  und 
dynamische  Varianten  zur  grossen  Freude  der  Kinder  zum 
Ausdruck  bringt.  Auch  Echo- Wirkungen  verfehlen  nicht  den 
Zauber  ihres  Reizes  auf  das  Kindergemüt  Im  übrigen  ergeben 
sich  aus  dein  klar  erkannten  Zwecke  und  einer  gewissen,  nicht 
sehr  hoch  anzuschlagenden  musikalischen  Befähigung  des  Er- 
ziehers die  Mittel  von  selbst. 

Was  das  spezifisch  Technische  der  Stimmbildung  anlangt, 
so  betrachte  ich  dieselbe  für  ein  so  zartes  Alter  eigentlich  mehr 
im  Sinne  der  Prophylaxe,  als  in  dem  der  methodischen  Aus- 
bildung. Es  handelt  sich  ja  —  das  muss  betont  werden  — 
nicht  um  Stimmbildung  zu  künstlerischem  Zwecke,  sondern  nur 
um  die  Herstellung  der  für  Sprech-  nnd  Singstimme  günstigsten 
Bedingungen,  indem  Beide  auf  ein  und  denselben  Funktionen 
des  Kehlkopfes  und  der  angrenzenden  Organe  beruhen;  nur 
dass  diese  sich  beim  Gesang  auf  gewisse  feste  Stufen  einstellen 
müssen  und  die  Atembewegung  eine  stärkere,  ich  möchte 
sagen  langatmigere  ist.  Gewiss  unterscheidet  man,  wie 
B.  Widmann  einmal  sagt,  ärmere  und  reichere  Stimmen,  aber 
Stimmarmut  ist  noch  lange  nicht  Stirn mlosigkeit;  und  wir 
wissen,  dass  im  Kunstgesang  oft  arme  Stimmen  durch  richtige 
Behandlung  überraschend  an  Kraft  und  Ausdrucksfähigkeit  ge- 
winnen. Aber  auch  schon  durch  solche  einfachen,  natürlich 
und  verständig  geleiteten  Uebungen  werden  die  Organe  sicher 
gekräftigt  und  gebildet.  Die  Hebung  der  Stimmarmut,  wie 
überhaupt  der  Aussprache,  ist  gewiss  eine  Aufgabe  von  ebenso 
ästhetischer  wie  ethischer  Bedeutung.  Vielleicht  lenkt  die 
Schule  noch  mehr  als  bisher  ihr  Augenmerk  auf  diesen  Punkt, 
da  geistige  Bildung  an  sich  nicht  viel  ausrichtet  ohne 
jene  gewinnende  und  überlegene  Gabe  der  Verständlichkeit, 
Deutlichkeit,  Klarheit,  Bestimmtheit,  Kraft,  Rhythmenfähig- 
keit des  Sprachorgans,  die  den  Menschen  zu  einer  „Persön- 
lichkeit" stempelt.  Vielfach  kann  man  noch  die  Erfahrung  bei 
Schulakten  machen,  dass  ganze  Reihen  von  Schülern  beim 
Rezitieren  von  Gedichten  fast  gar  nicht  zu  verstehen  sind,  eben 


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32 


OrwaUl  Ktrtt. 


weil  sie  ihre  Stimmen  nicht  zu  gebrauchen  lernten.  Aber  das 
Haus  kann  und  tnuss  der  Schule  hierin  vorarbeiten.  Alle  ein- 
sichtigen Eltern  halten  darauf  bei  ihren  Kindern  von  frühester 
Jugend  an,  doch  ist  es  mir  nicht  zweifelhaft,  dass  der  Gesang, 
auch  der  einfachste,  richtig  angefasst,  ein  besonders  geeignetes 
Hilfsmittel  hierfür  ist,  weil  er  die  Konzentration  der  Aufmerksam- 
keit auf  kurze  Zeitmomente  und  auf  ganz  bestimmte,  leicht 
erkenubare  Bewegungen  fordert  und  gewährleistet. 

Ueber  Aussprache  ist  viel  und  Bedeutendes  geschrieben 
worden.  Ich  will  mich  darauf  beschränken  zu  erwähnen,  dass 
die  Gewohnheit  gewisser  Kinder,  durch  die  Zähne  zu  sprechen, 
wobei  von  einem  richtigen  Arbeiten  des  Ansatzrohres  und 
der  Atmung  nicht  die  Rede  sein  kann,  grade  durch  Singen 
leicht  zu  beheben  ist.  Ich  habe  wenigstens  bei  einem  meiner 
Kinder  diese  Erfahrung  gemacht  Manche  Kinder  näseln.  Wenn 
pathologische  Ursachen  im  Spiele  sind,  sind  sie  freilich  nur 
pathologisch  zu  entfernen.  Gegen  das  vorübergehende  Näseln 
dagegen,  beispielsweise  bei  gewissen  Vokalen,  wie  E  und  A, 
namentlich  in  Verbindung  mit  dem  Schluss-R,  wobei  sich  eine 
schmutzige  Farbe  der  Vokale  bemerkbar  macht,  lässt  sich  beim 
Singen  mauches  thun;  insbesondere  dadurch,  dass  man  den 
falschen,  unedlen  Klang  karrikierend  wiedergiebt,  was  immer 
grossen  Eindruck  macht  und  das  Klang-Urteil  durch  Vergleich 
mit  einem  besseren  Klang  hervorruft.  Bekanntlich  fällt  auch 
das  „Vornesprechen"  den  Kindern,  wie  manchem  Erwachsenen, 
schwer;  aber  wenn  irgendwo,  so  ist  beim  Gesang  Gelegenheit, 
hierauf  hinzuwirken,  indem  hier  die  gute  Wirkung  des  Vorne- 
sprechens im  Gegensatz  zum  „Gurgeln"  durch  die  sehr  merk- 
liche Verschiedenheit  des  Klanges  am  greifbarsten  in  die  Er- 
scheinung tritt. 

Die  Innehaltung  eines  mässigen  Ton  -  Umfanges  ist  anzu- 
empfehlen. Die  Litteratur  über  die  Grenzen  desselben  ist 
neuerdings  durch  exakte  Untersuchungen  (Engel,  Paulsen)  an 
Wert  gestiegen.  Im  Uebrigen  bezieht  sich  meine  Vorsicht 
mehr  auf  die  Gesamt  -  Höhenlage  des  Liedes,  als  auf  vor- 
übergehende Ueberschreitungen.  Sonst  würde  man  eine  Anzahl 
beliebter  und  einfacher  Kinder-  und  Volkslieder  überhaupt 
»icht  singen  lassen  können.  Man  soll  darin  auch  nicht  allzu 
ängstlich  sein.    Viel  schädlicher  ist  das  Herausschreien,  Heraus- 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musiA'altwhe  Erziehung. 


33 


pressen  des  Tons,  eine  Gefahr,  die  mit  der  Zahl  der  ge- 
meinschaftlich singenden  Kinder  erfahrangsuiässig  zunimmt 
In  diesem  Sinne  halte  ich  das  dreistimmige  Qiorsingen  von 
Tausenden  von  Kindern,  so  grossen  Beifall  es  hier  in  Berlin 
seiner  Zeit  hatte,  ganz  abgesehen  von  Bedenken  allgemein  er- 
ziehlicher Natur,  nicht  für  nachahmenswert 

Bezuglich  der  Atmung  kann  ich  mich  kurz  fassen.  Ich 
suche  auch  hier  möglichst  das  Natürliche  auf  und  merke  an 
dem  Unnatürlichen,  namentlich  der  Haltung  und  des  Aus- 
druckes, wo  Fehler  sich  einschleichen.  B.  Widmann  bemerkt 
sehr  richtig,  dass  Rot  werden,  Zucken  der  Augenbrauen,  Schulter- 
ziehen Anzeichen  falscher  und  schädlicher  Atein-Bewegungen 
siud.  Ich  beschränke  mich  darauf,  die  Kinder  zu  ruhigem, 
nicht  hastigen  Einatmen  und  zu  sparsamer  Verausgabung  des 
Atems  anzuhalten.  Wohl  giebt  es  Gesangslehrer  von  ,Beruf, 
die  gegen  das  zu  früh  geübte  Singen  sind,  weil  sich  das  Kind 
namentlich  in  Kindergarten  —  allerlei  Stimmfehler  ange- 
wöhnt, und  man  kann  nur  wünschen,  dass  gerade  diese  In- 
stitute hierauf  ein  wachsames  Auge  haben  möchten.  Sonst 
aber  geht  die  Meinung  der  verschiedensten  Autoritäten  dahin, 
dass  ein  verständiger  Gesang  in  dem  Alter,  wo  die  Organe 
noch  bildungsfähig  sind,  diesen  Organen  sowohl  wie  der  körper- 
lichen Entwicklung  nur  förderlich  sei,  und  ich  kann  mich 
dieser  Ansicht  nur  anschliessen ;  sie  scheint  mir  viel  mehr  für 
sich  zu  haben,  als  die  analqge,  weit  verbreitete  Anschauung, 
map  müsse  Finger -Uebungen  möglichst  schon  vom  5.  oder 
6.  fLebensjajue  ab  beginnen,  weil  sonst  die  Finger  später  zu 
steif  für  das  Klavierspiel  würden. 

Was  nun  die  Erziehung  zu  rhythmischem  Empfinden  anbe- 
trifft, so  genügt  für  die  ersten  Zwecke  die  Schulung  des  Sinnes 
für  die  einfachsten  Verhältnisse  des  geraden  und  ungeraden 
Taktes  und  für  dje,  wenn  auch  unbewusste,  Betonung  des  guten 
Taktteils,  was  sich  im  Singen  des  Kinder-  oder  Volksliedes 
vqn  selbst  ergiebt.  Freilich  schleichen  sich,  nameutlich 
wenn  mehrere  zusammensingen,  gewisse  Nachlässigkeiten  der 
Rhythmisierung  ein,  die  man  leicht  überhört.  Aus  ganz  ein- 
fach rhythmisierten  Stellen  werden  dann  uqklare,  ver- 
schwommene Qebi|4e.  Man  tluit  gut,  recht  leise  und  lang- 
sam singen  zu  lassen  und  an  den  bedenklichen  Stellen  lieber 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene  3 


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34 


Onvald  KörU. 


zu  scharf  zu  rhythmisieren,  als  zu  weich.  Die  Schulung- 
rhythmischen Sinns  hat  aber  neben  dem  rein  musikalischen 
auch  noch  einen  anderen  Wert:  sie  weckt  und  mehrt  das  für 
das  Leben  so  wesentliche  Gefühl  für  Straffheit,  Schwung  und 
Symmetrie.  Hierzu  dient  aber  ausser  dem  Gesang  auch  der 
Tanz,  in  Verbindung  mit  ersterem  (Bewegungs-Spiel,  Tanzlied) 
und  ohne  jenen  (Rund tanz).  Rhythmische  Vorstellungen  müssen 
vorhanden  sein,  um  rhythmische  Körper-Bewegungen  ausfuhren 
zu  können;  man  kann  sich  aber  auch  vielleicht  denken,  dass 
umgekehrt  eine  Rückwirkung  der  letzteren  auf  die  ersteren, 
also  eine  Wechselwirkung,  stattfindet  Der  Tanz  ist  eben  wohl 
nur  als  Umsatz  von  Vorstellungen  schwingender  Art  iu  schwin- 
gende Bewegungen  anzusehen,  verbunden  mit  Erhaltung  des 
Gleichgewichts,  der  Symmetrie  und  Betonung  der  Haupt- 
Accente.  Schon  Kinder  unter  2  Jahren  fassen  Tanz-Bewegungen 
auf,  wie  mein  ältester  Sohn,  der  mit  1  Jahr  10  Monaten,  als  er 
zu  gehen  anfing,  sich  auch  schon  im  Polkaschritt  versuchte; 
und  auch  die  rythmisch  minderbegabten  meiner  Kinder  lernten 
durch  Gewöhnung  allmählich  den  Tanz  verstehen  und  tanzen, 
der  ihnen  zuerst  so  schwer  fiel,  den  Walzer,  den  Dreiviertel- 
oder Sechsachtel-Takt-Tanz. 

Auch  hier  überwindet  sich  die  Scheu  in  frühester  Jugend 
weit  besser,  als  in  späteren  Jahren.  So  manches  Kind  sieht 
man  am  Kindertanz  nicht  teilnehmen  oder  verlegen  umher- 
stehen, weil  ihm  die  Gelegenheit  dazu  gefehlt  hat  Der  Tanz 
mit  seinem  Seele  und  Körper  in  Schwung  setzenden  Rhythmus 
wird  für  die  Ausbildung  vielleicht  noch  zu  wenig  geachtet, 
wie  unsere  Erziehung  ja  überhaupt  den  Geist  gegenüber  dem 
Körper,  als  scheinbar  minderwertigem  Teil  unseres  Wesens, 
ungebührlich  bevorzugt  Nicht  minder  schätzbar  ist  die  er- 
frischende, das  Gemüt  belebende  Wirkung  des  Tanzes;  es  ist 
nichts  erfreulicher,  als  der  Anblick  einer  fröhlichen  Kinderschar, 
die  sich  im  Bewegungs-Spiel  oder  am  Rundtanze  vergnügt 
Dies  führt  uns  auf  den  gewaltigen  Einfluss  der  Musik  auf  das 
Gemütsleben,  nicht  nur  der  Kinder,  sondern  der  Menschen 
überhaupt 

Es  wäre  unnütz,  denselben  erst  umständlich  nachweisen  zu 
wollen.  Erfrischend  redet  davon  Luther  in  seiner  Lobrede 
über  die  Musik,  und  was  Gutes  je  darüber  gesagt  wurde,  mag 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikalische  Erziehung. 


35 


man  beispielsweise  in  ForkeTs  Geschichte  der  Musik  und  in 
manchen  anderen  Schriften  nachlesen.  Mir  scheint  es  hier 
aber  wichtig-,  besonders  auf  folgendes  hinzuweisen:  Musik  ist 
Sprache  des  Herzens,  Offenbarung  dessen  was  die  Seele  bewegt; 
mit  diesen  Aeusserungen  aber  ist  die  menschliche  Stimme 
so  innig  verknüpft,  dass  es  mir  immer  unfasslich  erscheint, 
weshalb  so  viele  Menschen  so  viel  Musik  machen,  ohne 
zu  singen.  Es  ist  in  der  That  höchst  bemerkenswert, 
wie  das  Kind,  das  singen  kann,  bei  allen  möglichen  Ge- 
legenheiten seine  Seele  in  Tönen  auslöst;  wie  es  singt,  wenn 
es  spielt,  wenn  es  sich  so  recht  wohl  fühlt;  und  man  kann 
aus  dem  Wegbleiben  solcher  Gewohnheit  oder  aus  dem 
Wiederauftreten  derselben  Schlüsse  ziehen  auf  gewisse 
ungünstige  oder  günstige  Veränderungen  des  Gemütszustandes. 
Je  mehr  nun  dem  Kinde  an  gesundem,  kräftigem  musikalischem 
Empfinden  aus  der  Kinderstube  in  das  Leben  mitgegeben 
wird,  desto  weniger  zugänglich  wird  es  der  unklaren  Gefühls- 
Schwärmerei,  die  man  so  häufig  antrifft,  wo  sich  die  Erziehung 
vom  Natürlichen  abwandte.  Auch  in  dieser  Hinsicht  hat  das 
rein  technische,  mechanische  Fingerspiel  seine  Gefahren,  die 
ich  als  allgemein  bekannt  hier  nicht  auseinander  zu  setzen 
brauche. 

Alles,  was  ich  im  Vorstehenden  als  musikalisch  erzieherisch 
bezeichnete,  bezog  sich  einzig  und  allein  auf  das  Empfinden, 
das  Reproduzieren  und  Wiedergeben  musikalischer  Eindrücke, 
ohne  jegliche  Forderung  des  verstandesmässigen  Begreifens. 
Aber  auf  jener  ersten  Grundlage  der  Erziehung,  —  mag  sie 
nun  so  gehandhabt  werden,  wie  ich  sie  verstehe,  oder  auf  eine 
andere,  zweckmässigere  —  kann  sich  eine  begriffliche  Erziehung 
zu  rein  musikalischen  Zwecken  aufbauen,  und  ich  würde  eine 
solche  Jedem  empfehlen,  der  eine  wirklich  erspriessliche 
musikalische  Durchbildung  des  Kindes,  nicht  nur  eine  rein 
technische  wünscht. 

Auch  der  Verstand  hat  seinen  Anteil  an  der  musikalischen 
Arbeit:  Der  Schüler  soll  sich  mit  der  Grammatik  der  Musik 
beschäftigen  und  ihre  einfachsten  Gesetze  verstehen,  nicht 
blos  empfinden  lernen.  Die  Ziele  dieser  begrifflichen  Erziehung 
sind  also:  Eindringen  in  die  Tonalitat,  verstandesgemässes  Er- 
lassen der  Intervalle,  der  Beziehungen  zwischen  Melodie  und 


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3». 


Harmonie,    des    Rhythmus;    Erziehung-    zur  Selbständigkeit 
musikalischen  Denkens  und  Urteilens,  im  Gegensatz  zur  Un- 
selbständigkeit der  mechanischen  Ablichtung;  Befreiung  vou 
der  Sklaverei  der  Noten,  und  doch  dabei  Kenntnis  des  modernen 
Noten-Systems.    Klingt  das  auch  so,  als  handele  es  sich  um 
ganz  unerhörte  Dinge,  so  ist  man  doch,  wenn  man  genauer 
zusieht,  erstaunt,  wie  einfach  sie  sind.    Denn  die  Elementar 
Gesetae  der  Musik,  der  Harmonie,  der  Tonalitat  sind  in  der 
That  höchst  einfach  und  werden  von  Kindern,  dde  lesen  und 
schreiben  können,  und  deren  Fähigkeit,  abstrakt  zu  denken 
nicht  zu  gering  ist,  mit  einer  bemerkenswerten  Leichtigkeit 
aufgefasst. 

Ein  Spieler,  der  mechanisch  ein  Instrument  spielen  lernte, 
ist  hilflos,  wenn  das  Gedächtnis  ihn  verlässt  Sogenanntes 
ästhetisches  Verständnis  nützt  ihm  da  nichts.  Er  ist  ausser 
Stande,  das  Fehlende  aus  dem  Verstände  zu  reproduzieren. 
Er  ist  nicht  frei,  muss  sich  an  jede  Note  klammern,  die  auf 
dem  Papier  oder  in  seinem  Kopfe  steht,  stolpert  über  die  ein- 
fachste Transposition,  kann  nicht  die  kleinste  Kadenz  spielen 
ohne  Noten,  ihn  müsste  denn  eine  intuitive  Begabung  dazu 
befähigen.  Ein  Spieler  dagegen,  der  in  den  Vorhof  der  Musik- 
theorie, eben  in  die  Elementar-Grammatik,  eingetreten  ist,  wird 
andern  zwar  an  Fingerfertigkeit  und  Bewältigung  technischer 
Schwierigkeiten  vielleicht  nachstehen,  im  Verständnis  und  in 
der  Beherrschung  eines  wenn  auch  kleinen  Gebietes  der  Ton- 
kunst aber  wesentlich  überlegen  sein.  Er  wird  denken,  wo 
der  andere  nur  tastet,  er  wird,  wenn  auch  nur  in  beschränktem 
Rahmen,  frei  schalten,  wo  jener  nur  immer  nachbetet 

!Ich  suchte  lange  nach  einem  solchen  Unterriehl  für 
Kinder,  einem  "Musik -Unterricht,  nicht  blos  einem  rein 
technischen  Instrumental-Unterricht.  Da  aber  das  Bedürfnis 
hiernach  nicht  eben  gross  ist,  und  eine  entsprechende  Lehre 
sieh  nicht  leicht  bezahlt  macht,  so  beschränkt  sich  die  gewöhn- 
liche Privatlehre  immer  noch  allenthalben  und  in  der  •Mehr- 
zahl auf  das  rein  Technische.  Dieses  —  abgesehen  von  dem 
theoretischen  Fach-Unterricht  —  beherrscht  den  musikalischen 
Markt 

Aber  Ansätze  zum  Fortschritt  in  dieser  Beziehung  sind 
vorhanden.    Ich  selbst  lasse  zwei  Kinder  in  einer  hiesigen 


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Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikalische  Erziehung. 


Musikschule1),  die  meinen  Anschauungen  entspricht  und  sich 
auch  bereits  ehrenvoller  Anerkennung  erfreut,  unterrichten. 
Aber  eins  muss  dabei  festgehalten  werden:  Die  erste  notwendige 
Grundlage  dieser  höheren  Stufe  musikalisch-grammatikalischer 
Erziehung  ist  die  zum  Hören  und  zur  Bildung  des  Ton-Urteils 
durch  den  Gesang.  „Tanto  perfectior  organicus  est  musicus, 
quanto  plura  in  vocali  confecit  spatiau  (Lippius,  Disput  II  de 
musica,  um  1600),  dieser  Ausspruch  lässt  sich  meines  Erachtens 
auf  jede  musikalische  Erziehung,  auch  die  dilettantische,  ohne 
Ausnahme  anwenden:  Musik  und  insbesondere  Instrumenten- 
Spiel  wird  am  sichersten  und  fruchtbringendsten  erlernt  auf 
der  Grundlage  des  Gesangs. 

Noch  einen  Punkt  möchte  ich  berühren.  Man  wird  mit 
Recht  fragen:  Wer  in  aller  Welt  soll  und  kann  die  häusliche 
Musik-Erziehnng  in  dem  von  mir  angedeuteten  Sinne  leisten? 
Berufspflichten,  Mangel  an  eigener  musikalischer  Bildung,  er- 
schweren neben  manchen  anderen  Dingen  eine  regelmässige, 
ernste  Beschäftigung  mit  der  Musikpflege  im  Hause.  Von 
den  der  höheren  Bildung  entlegeneren  Massen  der  menschlichen 
Gesellschaft  ganz  zu  schweigen. 

Ich  könnte  diese  Frage  einfach  damit  beantworten,  dass 
es  sich  hier  rein  um  die  theoretische  Frage  handelte,  welche 
Ziele  sich  das  Ideal  musikalischer  Erziehung  zu  stecken  habe, 
unbekümmert  um  die  andere  Frage,  wie  sie  von  der  All- 
gemeinheit zu  erreichen  seien.  Ideale  Erziehung  ist  ja  über- 
haupt nur  denen  zugänglich,  die  nicht  von  der  Mühe  und  Last 
des  Lebens  voll  in  Anspruch  genommen  oder  niedergedrückt 
sind.  Darauf  kann  ich  also  nicht  näher  eingehen.  Nur  so  viel 
möchte  ich  sagen:  Je  höher  die  Auffassung  von  den  Zielen 
der  Erziehung  in  den  dazu  fähigen  und  vermögenden  Schichten 
der  Gesellschaft  ist,  um  so  tiefer  dringt  die  Bildung  in  die 
unteren  Schichten  ein.  Und  in  Beziehung  auf  die  Musik: 
Wenn  der  Gedanke  grössere  Kreise  ergreift,  dass  Musik  nicht 
nur  ein  blosses  Mittel  der  Zerstreuung  oder  vorübergehenden 
Genusses  ist,  sondern  eine  Kraft  in  sich  birgt,  an  der  gesunden 
Entwicklung  der  menschlichen  Fähigkeiten  mitzuwirken,  dann 
werden  sich  vielleicht  die  Frauen  der  Musik,  in  solchem  Sinne 

>)  Schweriner  Musikschule  von  Frau  Dr.  Luis«-  Krause,  Berlin  W. . 
Tauenzienstrasse  23. 


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38 


Oswald  Kört*. 


aufgefasst,  in  erhöhtem  Masse  zuwenden.  Es  eröffnet  sich  hier 
ein  neuer  Ausblick  für  die  Frauenfrage. 

Freilich  müssten  die  Frauen  und  Töchter  dann  dem  so 
weit  verbreiteten  Ehrgeiz  entsagen,  es  den  Virtuosen  auf  dem 
Instrument  gleich  zu  thun.  Nur  ein  Viertel  oder  ein  Sechstel 
der  Zeit,  die  auf  Fingerübungen  verwandt  wird,  genügt,  um 
in  die  Grammatik  einzudringen,  einfache  tonale  Gesetze  em- 
pfinden und  handhaben  zu  lernen,  sich  die  Fähigkeiten  an- 
zueignen zu  transponieren,  Kadenzen  zu  bilden,  etwas  zu  prälu- 
dieren, mit  einem  Worte:  am  Strande  des  Ton-Meeres  in  seinem 
bis  auf  den  Boden  durchsichtigen  Wasser  frei  und  ungezwun- 
gen sich  tummeln  zu  können,  ohne  sich  auf  die  hohe  See 
hinauszuwagen.  Erst  wenn  diese  Entsagung  eintritt,  wenn 
solche  Ziele  höher  stehen,  als  die  Bewältigung  der  „Appassionata" 
oder  —  einige  Stufen  tiefer  —  des  „Gebets  der  Jungfrau*4, 
wird  es  auch  um  die  musikalische  Erziehung  der  Jugend 
besser  stehen. 

Freilich  befinden  wir  uns  da  noch  in  einem  Zirkel;  denn 
erst  muss  sich  wiederum  die  Lehre  bilden,  durch  die  jene 
Fähigkeiten  und  Kenntnisse  erworben  werden  können,  so  ein- 
fach und  gleichsam  selbstverständlich  sie  auch  erscheinen  mögen. 

Goethe  bezeichnet  einmal  —  in  den  Wanderjahren  —  die 
Musik,  von  der  „gleichgebahnte  Wege  nach  allen  Seiten  laufen," 
und  im  besonderen  den  Gesang  als  Element  der  Erziehung.  Wer 
diese  so  reizvolle  Stelle  nachliest,  wird  inne  werden,  dass  dort 
dem  Gesänge  in  der  Erziehung  eine  Stellung  und  eine  Wir- 
kung zugesprochen  wird,  die  weit  über  das  hinweggeht,  was 
ich  für  sie  in  Anspruch  nehmen  zu  müssen  glaubte.  So  ge- 
heimnissvoll und  phantastisch  diese  gleichsam  geträumte  Er- 
ziehung auch  erscheint  —  denkt  man  ernster  darüber  nach, 
so  ist  die  ihr  zu  Grunde  liegende  Idee  durchaus  unverwerf- 
lich. Doch  wir,  die  wir  von  ihr  so  himmelweit  entfernt  sind, 
werden  froh  sein,  wenn  einmal  der  Gedanke  Allgemeingut 
wird,  dass  Musik  und  Erziehung  nur  der  Vereinigung  bedürfen, 
um  sich  gegenseitig  die  allerbesten  Dienste  zu  leisten. 


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üeber  die  Furcht  der  Kinder. 


Von 

Leo  Hirschlaff. 
II 

Nach  diesen  allgemeineren  und  meist  theoretischen  Aus- 
einandersetzungen wird  es  nützlich  sein,  einige  besonders 
häufige  und  charakteristische  Formen  der  Furcht  einer  näheren 
Betrachtung  zu  unterziehen.  In  erster  Reihe  mögen  hier  die 
Erscheinungen  der  Furcht  bei  Tieren  eine  Besprechung  finden, 
die  zwar  nicht  streng  zu  dem  gewählten  Thema  gehören,  die 
aber  doch  so  genau  studiert  und  zum  Teil  sogar  experimentell 
geprüft  sind,  dass  sie  sehr  wohl  zum  Vergleiche  herangezogen 
werden  können,  zumal  ja  Tiere  und  junge  Kinder  sich  in 
manchen  Beziehungen  auf  einer  ähnlichen  seelischen  Ent- 
wicklungsstufe befinden.  Schon  Mosso,  dessen  Anschauungen 
wir  bereits  mehrfach  zu  erwähnen  Gelegenheit  hatten,  weist 
darauf  hin,  dass  die  Kaninchen  sehr  deutliche  Anzeichen  von 
Furcht  verraten,  wenn  sie  in  irgend  einer  Weise  gestört  oder 
attaquiert  werden:  sie  ducken  sich,  verkriechen  sich  in  die 
dunkelste  Ecke  ihres  Käfigs  und  zeigen  eine  eigentümliche 
Erweiterung  der  Blutgefässe  in  den  Ohrlappen,  die  sich  als 
Hitze  und  Rötung  der  betreffenden  Teile  leicht  nachweisen 
lässt  Während  Schiff  diese  Erscheinungen  als  eine  Eigen- 
tümlichkeit der  Kaninchenohren  beschreibt,  die  auf  dem  Vor- 
handensein eines  accessorischen  Herzens  daselbst  beruhe,  weist 
Mosso  mit  Recht  nach,  dass  es  sich  um  eine  Folge  von  Ge- 
räuschen und  Gemütsbewegungen  handele,  die  hier  einen  be- 
sonders markanten  Ausdruck  finden.  Ebenso  kann  man  auch 
im  Hahnenkamme  ein  Erblassen  und  Erröten  infolge  von 
Gemütsbewegungen  wahrnehmen;  während  bei  Hunden  z.  B. 
Veränderungen  des  Rhvthmus  der  Atmung:  in  solchen  Fällen 


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40 


Leo  Hirschlaff. 


konstatiert  werden  können.  Eine  besonders  charakteristische 
Form  von  Furchterscheinungen  bei  Tieren  ist  von  Athanasius 
Kircher  im  Jahre  1646  eingehend  beschrieben  worden.  In 
einer  Schrift:  „De  imaginatione  gallinae"  schildert  er  das  be- 
rühmte „experimentum  mirabile",  wonach  eine  Henne,  der  man 
einen  Kreidestrich  über  den  Schnabel  gezogen  hat,  nachdem 
man  sie  eine  kurze  Zeit  am  Boden  niedergedrückt  gehalten 
hat,  lange  Zeit  in  der  gleichen  Stellung  verharrt,  wie  in  einer 
hypnotischen  Erstarrung.  In  der  That  galt  dieses  Experiment, 
das  sich  sehr  leicht  realisieren  lässt,  lange  Zeit  als  das  klassische 
Beispiel  einer  Tierhypnose,  wie  noch  Czermak  im  Jahre  1872 
behauptete,  während  Preyer  nachwies,  dass  es  sich  vielmehr 
um  eine  Wirkung  des  Schreckens,  eine  Kataplexie,  handelt 
In  der  gleichen  Weise  sind  wohl  auch  die  ähnlichen  Er- 
scheinungen bei  Hunden,  Fröschen,  Krebsen,  Schlangen,  Robben 
aufzufassen,  die  nach  einer  plötzlichen  und  unerwarteten  Er- 
regung stundenlang  in  einer  noch  so  ungewohnten  Stellung 
verharren,  ohne  irgendwelche  Lebenszeichen  von  sich  zu  geben. 
Verworn,  der  geniale  Jenenser  Physiologe,  hat  kürzlich  diese 
sog.  Tierhypnosen  näher  studiert  und  gefunden,  dass  es  sich 
um  eine  Reflexhypertonie  des  Rückenmarkes  infolge  unerwarteter, 
schreckhafter  Eindrücke  handelt.  Auch  die  Frage,  ob  die 
Furcht  eine  ererbte  oder  erworbene  Erscheinung  sei,  ist  bei 
Tieren  studiert  worden.  Preyer,  Romanes  u.  a.  erklären  die 
Furcht  der  Tiere  für  ererbt,  wie  z.  B.  die  Furcht  der  Tiere 
vor  dem  Feuer,  während  Sully  und  Perty  geneigt  sind,  hierin 
mehr  ein  instinktives  Zurückschrecken  vor  dem  unbekannten,  als 
ein  Erschrecken  vor  bekanntem  Unheil  zu  sehen.  Spalding  da- 
gegen spricht  direkt  von  der  angeborenen  Erinnerung  des  Erb- 
feindes, die  die  Hennen  zwingen  soll,  vor  dein  herannahenden 
Raubvogel  zu  flüchten  und  sich  zu  verstecken. 

Interessant  ist  in  dieser  Beziehung  ein  Experiment,  das 
Spalding  anstellte,  um  seine  Anschauung  zu  beweisen.  Er  nahm 
eine  Brut  von  wochenalten  Hühnchen  und  Hess,  während  sie 
auf  der  Wiese  um  die  Henne  piepsten,  einen  Falken  steigen. 
Sofort  verkrochen  sich  die  Hühnchen,  während  die  Henne  auf 
den  Falken  losstürzte:  beide  hatten  noch  keinen  Raubvogel 
gesehen.  Als  er  das  gleiche  Experiment  anstellte,  aber  statt 
des  Falken  Tauben  aufsteigen  Hess,  verhielten  sich  die  'tiere 


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Ueber  die  Furcht  iUr  Kinder. 


41 


vollständig  ruhig  und  teilnahmslos.  Wenn  man  geneigt  sein 
möclrte,  hieraus  •  den  Schluss  von  der  Erblichkeit  der  Furcht 
zu  riehen,  so  beweisen  neuere,  sorgfaltiger  und  kritischer 
angestellte  Experimente  das  Gegenteil.  Charles  Fere,  dem 
unermüdlichen  und  vielseitigen  Forscher,  gebührt  das  Ver- 
dienst, diese  Frage  experimentell  entschieden  zu  haben.  Von 
der  Erfahrung  ausgehend,  dass  bei  der  erwachsenen  Henne  der 
Anblick  eines  Raben,  der  sie  heftig  anzugreifen  pflegt,  die 
charakteristischen  Zeichen  der  Furcht  hervorbringt,  setzte  Fere 
Küchlein,  die  in  der  Couveuse  künstlich  ausgebrütet  und  auf- 
erzogen waren,  auf  einen  Tisch,  an  dessen  einem  Ende  ein 
Rabe  angebunden  war.  Was  geschieht?  Beim  ersten  Male 
nähern  sich  die  Küchlein  dem  Raben  zutraulich  oder  sie  greifen 
sogar  ihrerseits  das  viel  stärkere  Tier  an,  wie  Fere  in  mehreren 
Fällen  experimentell  nachweisen  konnte.  Erst  wenn  sie  die 
Schnabelhiebe  des  Raben  am  eigenen  Leibe  kennen  gelernt 
hatten,  gewöhnlich  sogar  erst  nach  zweimaliger  Erfahrung, 
waren  die  Küchlein  gewitzigt.  Damit  dürfte  die  Legende  von 
der  erblichen  Uebertragung  der  Furcht,  d.  h.  der  Furchtvor- 
stelluncfen  als  solcher,  einwandsfrei  widerlegt  sein. 

An  zweiter  Stelle  möchten  wir  die  Furcht  vor  Krankheiten 
und  vor  dem  Tode  erörtern,  da  diese  zu  den  häufigsten  und 
best-studierten  Erscheinungsformen  der  Furcht  gehören.  Scott 
hat  mit  Hilfe  der  Methode  der  Fragebogen  die  Krankheiten 
festgestellt,  die  von  den  Kindern  am  meisten  gefürchtet  werden. 
Bei  der  Untersuchung,  die  sich  auf  12^  Fälle  erstreckte,  fand 
er  als  Objekte  der  Krankheitsfurcht:  Windpocken  in  30%, 
Kieferklemme  in  28%,  Auszehrung  in  27°/«,  Wut  in  21%, 
Eisenbahn-Unfälle  in  18%,  Diphtherie  in  16%,  Ertrinken  in  15%, 
Feuer  in  12%,  Aussatz  in  8%,  Erdbeben  in  7%,  Windstürme 
in  4°/o,  Blitz  in  6%  Lungenentzündung  in  6%  Krebs  in  5°/g, 
Gelbes  Fieber  in  5%,  Weltuntergang  in  4%  Furcht  allein 
übrig  zu  bleiben  in  2%  der  Fälle.  Die  Intensität  dieser  1  Be- 
fürchtungen war  folgende:  am  meisten  gefürchtet  waren  die 
Windpocken  mit  18%,  sodann  Aussatz,  Wut  und  Auszehrung 
mit  je  7%,  Kieferklemme  mit  5%,  Diphtherie  mit  4%,  Krebs  und 
Gelbes  Fieber  mit  3%,  Eisenbahn-Unfälle,  Ertränken  und  Feuer 
mit  je  2%,  Erdbeben,  Stürme,  Weltuntergang  mit  je  1%.  In 
beiden  Aufzählungen  werden  die  Windpocken  an  erster  Stelle 


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42 


Leo  Hirschlaff. 


genannt,  merkwürdiger  Weise;  denn  bekanntlich  verlauft  diese 
leichteste  aller  Erkrankungen  stets  gutartig,  in  kurzer  Zeit  und 
ohne  wesentliche  subjektive  Beschwerden.  Auch  sonst  bieten 
die  gegebenen  Aufstellungen  keineswegs  das  Bild,  das  man 
a  priori  etwa  erwartet  hätte.  Deshalb  ist  es  doppelt  interessant, 
etwas  über  die  Gründe  zu  erfahren,  die  in  den  einzelnen  Fällen 
für  die  Entstehung  der  Furcht  von  den  Kindern  selbst  oder 
deren  Lehrern  und  Eltern  angegeben  werden.  Als  solche 
werden  genannt:  gehörte  Erzählungen  (Zeitungen,  Bibel  etc.) 
in  14°/o;  Isolation  in  10°/o;  Werden  wie  die  niederen  Tiere  in  7%; 
verunstaltende  Merkmale  in  6%;  Ersticken  in  6%;  Verhungern 
in  5%;  sicherer  Tod  in  3°/o;  zukünftiges  Leben  in  1  °/o  der 
Fälle.  Bei  der  Besprechung  der  allgemeinen  Entstehungs- 
bedingungen der  Furcht  werden  wir  auf  diese  Tabelle  zurück- 
kommen. 

Eine  sorgfältige,  auf  psychologischen  Ueberlegungen 
basierende  Analyse  der  Todesfurcht  haben  wir  Ferrero  zu 
danken.  Der  Mensch,  sagt  Ferrero,  ist  das  einzige  Wesen,  das 
weiss,  dass  er  sterben  muss.  Beim  normalen  Menschen  findet 
sich  aber  der  Gedanke  an  den  Tod  nicht,  ebensowenig  die 
Todesfurcht;  oder  aber  er  hat  die  Idee  des  Todes,  aber  nicht 
die  Furcht  vor  dem  Tode.  Daher  kommt  es,  dass  Kunst  und 
Religion  den  Tod  darstellen  und  verwerten,  ohne  deshalb  un- 
angenehm zu  werden.  Diese  Unfähigkeit  der  Todesidee,  beim 
gesunden  Menschen  Furcht  zu  erwecken,  ist  nach  Ferrero  ein 
charakteristisches  Beispiel  für  die  Mitwirkung  der  Organ- 
empfindungen an  unserer  Stimmung  und  unseren  Gefühlen. 
Diese  Organempfindungen  sind  allerdings  immer  nur  dann 
deutlich,  wenn  pathologische  Reize  einwirken.  Im  normalen 
Zustande  sind  sie  sehr  schwach.  Trotzdem  beeinflussen  sie 
stets  unsere  Ideenbildung  und  unser  Gefühlsleben  in  hohem 
Grade.  So  sind  z.  B.  diejenigen,  die  von  Kraft  und  Gesundheit 
strotzen,  des  Mitleids  wenig  fähig,  weil  sie  sich  bei  dem  Vor- 
herrschen ihrer  Organ empfindungen  keine  intensive  Vorstellung 
von  der  Schwäche  bilden  können.  Dieser  Widerstreit  der 
organischen  Empfindungen  und  der  Vorstellungen  bedingt  auch, 
dass  man  in  der  Jugend  mit  der  Vorstellung  des  Todes 
keine  Furcht  verbindet  Die  körperliche  Gemeinempfindung 
der  Kraft  und  Gesundheit  hindert  das  Lebhafterwerden  der 


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lieber  die  Furcht  der  Kinder. 


43 


Bilder,  die  mit  dem  Tode  verknüpft  sind.  Die  abstrakte  zahlen- 
mässige  Wahrscheinlichkeit  des  Todes  spielt  im  allgemeinen 
keine  Rolle  bei  der  Todesfurcht;  z.  B.  bei  den  Matrosen  und 
Bergleuten.  Freilich  gelten  die  vorstehenden  Erörterungen  nur 
für  den  gewöhnlichen  Lauf  des  Lebens.  Bei  besonderer  Ge- 
legenheit oder  einer  wirklichen  Gefahr  gegenüber,  wie  z.  R.  im 
Kriege,  beim  Duell  oder  beim  Selbstmord,  treten  Momente  völlig 
anderer  Art  in  Wirksamkeit  Je  unerwarteter  und  je  gewalt- 
samer eine  derartige  Situation  auftritt,  desto  mehr  wird  im 
allgemeinen  durch  den  Choc  das  Nervensystem  bis  zur  Gefühl- 
losigkeit affiziert,  sodass  die  Idee  des  Todes  nicht  von  Furcht 
begleitet  ist 

Ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  beim  Kranken.  Der 
chronisch  Kranke  zeigt  gewöhnlich  keine  Todesfurcht,  sondern 
Lebenshoffnung.  Das  treffendste  Beispiel  dieser  Art  bietet  der 
Phthisiker,  dessen  Optimismus  und  Euthanasie  hinlänglich 
bekannt  sind.  Die  Entstehung  dieser  Hoffnung  ist  nach  Ferrero 
vielleicht  analog  zu  setzen  derjenigen  der  Gegenvorstellungen, 
wie  sie  bei  Geisteskranken  beobachtet  werden  können,  z.  B.  bei 
Reichen,  die  sich  arm  wähnen  und  umgekehrt,  bei  Frommen 
und  Moralischen,  die  sich  mit  Gewissensbissen  plagen  u.  dergl. 
mehr.  Bei  akuten  Erkrankungen  zeigt  das  Verhalten  der 
Kranken  der  Idee  des  Todes  gegenüber  keine  gesetzmässige 
Regelmässigkeit. 

Für  manche  Menschen  ist  der  Gedanke  an  den  Tod  ein 
Vergnügen,  eine  Annehmlichkeit,  nach  der  sie  infolgedessen  — 
nicht  aus  Lebensüberdruss  —  streben.  Darauf  ist  wohl  das 
Verbrennen  der  Witwen  bei  den  Indern  zurückzuführen;  denn 
als  die  Engländer  diesen  Brauch  verbieten  wollten,  sträubten 
sich  die  Frauen  gegen  dieses  Verbot.  Auch  bei  uns  ist  es 
häufig  die  Liebe,  die  den  Tod  angenehm  erscheinen  lässt  Zwei 
Liebende  geben  sich  gemeinsam  den  Tod,  wenn  sie  sich  im 
Leben  nicht  vereinigen  können;  dabei  verliert  der  Tod  jeden 
Schrecken  für  sie,  ebenso  wie  sie  nicht  selten  auch  den  Zurück- 
bleibenden weniger  als  ein  Gegenstand  des  Mitleides,  als  viel- 
mehr der  Bewunderung  erscheinen.  Ferner  erscheint  der  Tod 
manchmal  angenehm,  um  eine  Rache  ausführen  zu  können. 
Bei  den  Tasmaniern  z.  B.  töten  sich  die  Frauen,  um  ihre 
Männer  zu  ärgern  und  sich  an  ihnen  zu  rächen.  Das  Harakiri 


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44 


Leo  JItrscklaff. 


der  Japaner  und  Chinesen  ist  bekannt.  Bei  den  Aryanern  in 
Indien  besteht  folgende  Sitte:  wenn  ein  Schuldner  nicht  be- 
zahlen will,  bittet  der  Gläubiger,  wenn  alles  andere  fruchtlos 
ist,  einen  Brahmanen,  sich  auf  dessen  Thürschwelle  nieder- 
zulassen und  zu  drohen,  d  dort  verhungern  werde,  wenn 
jener  die  Schuld  nicht  bezahle.  Da  es  für  ein  Verbrechen  gilt, 
einen  Brahmanen  zu  töten,  so  soll  dieses  Mittel  von  unfehl- 
barer Wirkung  sein. 

Bei  manchen  Nervenkranken  wird  der  Selbstmord  aus- 
geführt, um  den  Ueberlebenden  Gewissensbisse  zurückzulassen, 
z.  B.  bei  eifersüchtigen  Liebenden;  auch  bei  Kindern,  die  die 
Eltern  für  ihren  Widerstand  gegen  irgend  eine  Neigung  bestrafen 
wollen.  Ferner  kommt  der  Selbstmord  aus  Eitelkeit  bei 
Hysterischen  zuweilen  vor.  Ein  junges  Mädchen  meiner 
Bekanntschaft  erschoss  sich  aus  Furcht,  dass  ihre  Schönheit 
mit  der  Zeit  Einbusse  erleiden  könnte.  Bei  den  alten  Römern 
galt  es  bei  Gelegenheit,  ebenso  wie  noch  heute  beim  Militär, 
für  eine  Ehre  zu  sterben,  z.  B.  im  Felde.  Auch  aus  religiösem 
Fanatismus  und  aus  politischen  Motiven  wird  nicht  selten 
Selbstmord  geübt;  siehe  die  Sekte  der  Babisten  in  Indien 
n.  s.  f. 

Was  geht  aus  allen  diesen  Thatsachen  hervor?  fragt  Ferrero. 
Und  die  Antwort  lautet:  Das  Gesetz  der  Associationen  allein 
vermag  die  Erklärung  dieser  Erscheinungen  zu  bieten.  Die 
Associationen  können  den  psychologischen  Wert  aller  Dinge 
umändern.  „Eine  Empfindung,  eine  Bewegung,  eine  Vorstellung, 
ein  Gedanke,  eine  Erinnerung  können  angenehm  oder  unangenehm 
werden  je  nach  der  Qualität  und  Quantität  der  geistigen 
Associationen,  die  sich  daran  knüpfen". 

Von  der  gleichen  Anschauung  ausgehend,  behauptet  Ferrero, 
dass  der  Tod  an  sich  überhaupt  niemals  unangenehm  sei,  sondern 
vielmehr  indifferent,  und  dass  er  seine  Schrecken  erst  künstlich 
erhalte  durch  die  Associationen,  die  sich  daran  knüpfen.  Er 
weist  dabei  auf  das  ruhige  Gesicht  der  überzeugten  Selbstmörder 
hin,  eine  Thatsache,  die  wohl  auf  andere  Weise  befriedigender 
erklärt  werden  könnte,  und  er  schliesst  daraus,  sowie  aus 
einigen  speziellen  Beobachtungen  an  Kranken,  die  freilich  auch 
nicht  viel  tT eberzeugendes  an  sich  haben:  „II  est  delicieux  <\*t 
sen  aller.44    Wenn  dieser  Satz  auch  nur  geteilte  Zustimmung 


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lieber  die  Furcht  der  Kinder. 


linden  dürfte,  so  ist  es  immerhin  interessant  zu  konstatieren, 
zu  welch  entgegengesetzten  Auffassungen  die  wissenschaftliche 
Argumentation  fähren  kann. 

Im  Gegensatze  zu  den  eben  zitierten  Beobachtungen  finden 
sich  in  der  alteren  Litteratur  eine  grosse  Anzahl  von  Fällen, 
in  denen  Furcht  und  Entsetzen  unmittelbar  tötliche  Folgen 
hervorbrachten.  So  berichtet  Haller  von  einigen  Delinquenten, 
die  sogleich  starben,  als  ihnen  das  Todesurteil  verkündet  wurde. 
Montaigne  erzählt,  dass  ein  Edelmann  bei  der  Belagerung  von 
St.  Paul  so  sehr  von  Furcht  ergriffen  worden  sei,  dass  er,  ohne 
im  geringsten  verwundet  zu  sein,  plötzlich  tot  zu  Boden  stürzte. 
Tissot  u.  a.  'führen  eine  Reihe  von  Fällen  an,  in  denen  vor 
oder  nach  schmerzhaften  Operationen  die  Kranken  lediglich 
aus  Angst  gestorben  seien;  gerade  wie  wir  noch  heute,  trotz 
des  Fortschrittes  der  medizinischen  Technik  schwere  Ohn- 
mächten, plötzlichen  Herzstillstand  und  andere  bedrohliche 
Erscheinungen  in  solchen  Situationen  erleben.  Aehnliche,  wenn 
auch  minder  deletäre  Wirkungen  bringt  die  Furcht  vor  Krank- 
heiten hervor,  die  zum  Teil  ja  auf  der  Furcht  vor  dem  Tode, 
manchmal  aber  auch  einzig  und  allein  auf  dem  Abscheu  vor 
körperlichen  Leiden  oder  vor  dem  gefürchteten  Uebel  beruht. 
Iktkannt  ist  die  Wirkung  solcher  Krankheitsbefürchtungen  zur 
Zeit  von  Epidemien;  man  kann  mit  Sicherheit  annehmen,  dass 
die  Ansteckungsgefahr  durch  die  Schwächung  des  Organismus, 
wie  sie  die  übertriebene  Furcht  im  Gefolge  hat,  in  nicht  un- 
erheblichem Masse  erhöht  wird.  -Endlich  soll  aber  auch  nicht 
unerwähnt  bleiben,  dass  die  Furcht  auch  in  gewissen  Fällen 
als  ein  psychisches  Heilmittel  gerühmt  werden  kann.  Besonders 
hysterische  Erscheinungen,  wie  z.  B.  Krämpfe,  Stimmlosigkeit 
und  Lähmungen,  können  nicht  selten  durch  Erregung  von 
Furcht  zum  plötzlichen  Verschwinden  gebracht  werden,  wie 
schon  Boerhaave  berichtet  und  nach  ihm  unzählige  Male  fest- 
gestellt worden  ist  'Die  bekannte  Thatsache,  dass  auch  der 
heftigste  Zahnschmerz  bisweilen  plötzlich  aufhört,  wenn  der 
^Kranke  des  Zahnarztes  ansichtig  -wird,  dürfte  in  das  gleiche 
Gebiet  gehören.  Liegt  doch  die  Erklärung  nahe,  dass  durch 
die  Blutkongestion,  die  durch  den  Angstaffekt  nach  den  inneren 
Organen  zustande  kommt,  die  Hyperämie  der  entzündeten  Teile 
gemässigt  wird. 


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46 


Leo  Hirschlatt'. 


Als  ein  weiteres  typisches  Beispiel  eines  wohlcharakteri- 
sierten Furchtzustandes  mochten  wir  die  Schüchternheit  und 
die  Errötungsfurcht  anfuhren,  um  so  mehr,  als  diese  Zustände 
weitaus  am  häufigsten  am  Ende  des  Kindesalters  beim  Ueber- 
gang  zum  erwachsenen  Alter  beobachtet  werden  oder  doch 
wenigstens  in  ihrer  Entstehung  fast  stets  bis  zu  diesem  Zeit- 
punkte zurückverfolgt  werden  können.  Da  ich  selbst  Gelegen- 
heit hatte,  eine  grössere  Reihe  von  solchen  Fällen  zu  sehen 
und  genau  zu  beobachten,  so  sei  es  mir  gestattet,  bei  diesem 
Gegenstande  ein  wenig  länger  zu  verweilen.  Im  normalen 
Zustande  stellt  das  Erröten,  wie  Burckhardt  wohl  mit  Recht 
behauptet,  eine  der  schönsten  Ausdrucksbewegungen  dar.  Es 
kommt  bei  einer  Reihe  von  Affekten  als  Begleiterscheinung 
vor,  hauptsächlich  aber  ist  es  als  eine  allgemeine  Bescheiden- 
heitsreaktion aufzufassen,  wie  Baldwin  sagt  Ueber  die  Ursache 
des  Errötens  verdanken  wir  Mosso  die  besten  Aufschlüsse.  Er 
erklärt  das  Erröten  als  Folge  einer  Ernährungsstörung  der 
Organe  und  des  Gehirns,  die  durch  die  Gemütsbewegungen 
hervorgerufen  und  sodann  durch  vermehrten  Blutzufluss  aus- 
geglichen wird.  Dabei  sind  es  nicht  die  allmählichen,  sondern 
vielmehr  die  raschen  Veränderungen,  die  plötzlichen  Ein- 
wirkungen, die  die  tiefstgehenden  Erschütterungen  bedingen. 
Je  nach  dem  Lebensalter  und  der  Erregbarkeit  der  vasomo- 
torischen Nerven  ist  eine  verschiedene  Tendenz  zum  Erröten 
vorhanden.  Da  sich,  wie  Mosso  nachgewiesen  hat,  */&  der  ge- 
samten Blutmenge  des  Organismus  im  Kopfe  befindet,  so  ist 
es  leicht  verständlich,  dass  hier  der  Blutzufluss  am  stärksten 
und  deutlichsten  ist  Bringt  man  nach  dem  Vorgange  von 
Mosso  einen  Menschen  auf  eine  Horizontalwage,  so  dass  der 
Körper  sich  im  Gleichgewicht  befindet,  so  lässt  sich  leicht 
nachweisen,  dass  bei  jeder  geringsten  Gemütsbewegung  das 
Blut  in  den  Kopf  strömt:  die  Füsse  werden  leichter,  der  Kopf 
schwerer.  Diese  Erscheinungen,  die  bei  jedem  normalen 
Menschen  vorhanden  sind,  erfahren  unter  besonderen  Um- 
ständen eine  krankhafte  Steigerung,  wie  wir  es  z.  B.  bei 
der  Errötungsfurcht,  Erythriophobie1)  sehen,  einer  Krankheit,  die 
in  die  Gruppe  der  nervösen  Angstzustände  einzureihen  ist, 

')  Die  gebräuchlichen  Namen :  Erythrophobie,  Ereuthophobie,  Ereuthosis 
scheinen  mir  sprachlich  fehlerhaft  gebildet  zu  sein. 


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Ueber  die  Furcht  der  Kinder. 


47 


zu  denen  z.  B.  auch  die  allgemein  bekannte  Platzangst  gehört. 
Pitres  und  Regis,  die  eine  vortreffliche  Einzelstudie  über  die  Er- 
rötungsfurcht  geliefert  haben,   unterscheiden  3  Stadien  dieses 
Leidens:  1)  die  Erythriophobia  simplex,  bei  der  die  Kranken 
keine  weiteren  Veränderungen  zeigen,  als  eine  auffallende  Leich- 
tigkeit zu  erröten,  ohne  dass  seelische  Abnormitäten  sich  dazu 
gesellen  j  2)  die  Erythriophobia  emotiva.  wobei  die  Kranken 
ebenfalls  häufig  erröten,  aber  sich  dadurch  bedrückt  und  be- 
lästigt fühlen;  3)  die  Erythriophobia  obsessiva,  wo  das  Erröten 
der  Gegenstand  einer  Zwangsvorstellung,  einer  Zwangsangst 
bildet,  die  die  Kranken  unaufhörlich  beschäftigt  und  peinitrt. 
Uebereinstimmend  gilt  von  allen  3  Formen,  besonders  aber 
von    der  schwersten   Form,   dass   das   männliche  Geschlecht 
häufiger  betroffen  erscheint,  als  das  weibliche.    Wie  weit  die 
Depression  geht,  unter  der  in  schweren  Fällen  die  Kranken 
leiden,  beweist  ein  Beispiel   von  Pitres,  wo  der  Kranke  dem 
Arzte  das  Verlangen  stellte,  dass  man  ihm  beide  Carotiden 
unterbinde,  um  sein  Erröten  zu  beseitigen.     Man  that  ihm 
scheinbar  den  Willen,  indem  man  ihm  die  rechte  Carotis  zn 
unterbinden  vorgab.    Zu  diesem  Zwecke  wurde  ihm   in  der 
Narkose  ein  breiter  Schnitt  am  Halse  gemacht.    Nach  kurzer 
Zeit  jedoch  verlangte  er  die  Unterbindung  der  zweiten  Carotis 
und  dann  sogar  die  Herausnahme  und  Auswechslung  des  Ge- 
hirnes, dessen  Schwäche  seine  Krankheit  verschulde.  Ich  selbst 
habe  eine  Reihe  schwerer  Formen  dieses  Leidens  gesehen,  in 
denen  die  Kranken  ernstlich  an  den  Selbstmord  dachten  oder 
sich  dem  profusen  Alkoholmissbrauch  in  die  Arme  warfen,  um 
die  Qualen  ihres  Zustandes  zu  betäuben.    Im  übrigen  unter- 
scheiden sich  meine  Erfahrungen  von  denen  der  französischen 
Autoren  sehr  wesentlich  darin,  dass  diese  niemals  eine  Besserung 
dieses  Leidens  gesehen  haben  wollen;  ich  selbst  habe  bei  einer 
geeigneten   Psychotherapie  fast  stets   eine   Beseitigung  der 
Beschwerden  der  Kranken  feststellen  können.    Was  die  Ent- 
stehung des    Leidens   anbetrifft,    so   behaupten   Pitres  und 
Regis,  dass  bei  den  echten  Erythriophoben  die  Neigung  zum 
Erröten  angeboren  und  ererbt  sei,  eine  Auffassung,  der  wir 
keineswegs  zustimmen  können.    Schon  während  der  Kindheit 
zeige  sich  diese  Neigung,  während  das  Gefühl  der  Verwirrung 
darüber  erst  in  der  Pubertät  entstehen  soll.    Dann  erst  trete 


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4S 


bei  den  neurasthenischen  und  neuropathischen  Individuen  die 
fixe  J.dee  zu  diesem  Gefühlskomplexe  hinzu.    Erröten,  Gefühl 
der  Verwirrung  oder  Verlegenheit,  und  fixe  Idee  oder  Zwangs- 
vorstellung sind  demnach  die  drei  Elemente,  die  zu  dem  Zu- 
standekommen der  JErythriophobie  mitwirken.  Bei  der  leichten 
Form  ist  nur  das  vasomotorische,  bei  der  mit;telschweren  Form 
das  vasomotorische  und  affektive,  bei  der  schwersten  Form  .das 
vasomotorische,  affektive  und  intellektuelle  Moment  ausgeba^et. 
Ganz   scharf  sind  diese  Unterscheidungen  nach  meiner  pr- 
falirung  freilich  nicht.    Es  giebt  schwere  fälle,  in  denen  das 
vasomotorische  Element  völlig  fehlt;  andererseits  wird  jUs 
intellektuelle   Moment  im   Grunde  auch  bei  den  leichteren 
Formen  niemals  vermisst,  wenn  es  auch  bei  den  schweren 
Fällen  mehr  in  den  Vordergrund  treten  mag.  Ueber  die  theo- 
retischen Konsequenzen,  die  Pitres  und  Hegis  aus  ihren  Beob- 
achtungen ziehen,  ist  bereits  oben  gesprochen  worden;  es  sei 
gestattet,  einige  Bemerkungen  über  das  Heilverfahren  anzu- 
fügen, das  bei  diesen  Störungen  mit  Erfolg  angewendet  werden 
Hann.    Ich  pflege  in  allen  ausgeprägten  Fällen  der  Krankheit, 
bei  denen  das  Gemüt  der  Patienten  in  ausgedehntem  Jdasse 
beteiligt  ist,  zunächst  gemeinsam  mit  dem  Kranken  eine  psycho- 
logische Analyse  der  Krankheitserscheinungen  vorzunehmen, 
bei  der  ich  mich  bemühe  nachzuweisen,  dass  die  Hauptstor^ng 
nicht  im  Erröten,  auch  nicht  in  der  Idee  des  Errötens,  sondern 
vielmehr  in  den  Gemütserscheinungen  zu  suchen  ist,  #e  sich 
an  diese  Vorgänge  anknüpfen.  Sodann  gehe  ich  den  Ursachen 
dieser  depressiven  Qemütsvorgänge  nach,  wiederum  in  gernein- 
sainer,  meist  schriftlicher  Arbeit  mit  de,m  Patienten;  diese 
Untersuqhung  erstreckt  sich  auf  die  Vorstellungen,  Auffassungen 
und  Urteile,  die  bewusst  oder  uubewusst  als  Ursachen  den 
Mprper  analysierten  Affektstönmgeu  zu  Gründe  liegen.  Pen 
-Schluss  bildet  dann  eine  sachliche  Kritik  über  die  Berechtigung 
der  aufgefundenen  Zusammenhänge  und  darauf  ^us^nd  eine 
.Reihe  yon  Uebungen,  in  denen  das  theoretisch  Erkannte  prak- 
tische Anwendung  findet.    Ich  verfüge  über  ca.  20  F^lje,  in 
denen  das  kritisierte  Verfahren,  das  cjemn£chst  an  anderer  Stelle 
ausführlich  veröffentlicht  werden  soll,   befriedigende  .Erdige 
anzuweisen  hatte.    Ich  ziehe  aus  diesen  Erfolgen  den  umge- 
kehrten Schluss,  wie  Pitres  und  Regis.    jährend  fliese  Äu- 


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Ueber  Jü  Furcht  Jcr  Kinder. 


49 


toren  der  Gemütsbewegung  als  solcher  die  bedeutsamste  Rolle 
bei  dem  besprochenen  Leiden  vindicieren  möchten,  ebenso  wie 
sie  bei  jedem  Affekte,  getreu  der  James- Lange'schen  Theorie, 
den  emotionellen  Faktor  für  den  primären  und  das  Wesen  des 
Affektes  bezeichnenden  halten,  gehe  ich  von  der  Auffassung 
aus,  dass  das  intellektuelle  Moment,  nämlich  das  Urteil,  das  in 
jedem  eigentlichen  Affekte  nachweisbar  ist,  das  Primäre  und 
Wesentliche  des  Vorganges  darstellt,  durch  dessen  therapeu- 
tische Beeinflussung  die  sekundäre  emotionelle  Störung  beseitigt 
-wird.  Freilich  besteht  dieses  intelektuelle  Moment  nach  meiner 
Auffassung  nicht  in  der  Idee  des  Errötens,  die  ich  mit  Pitres 
und  Regis  für  nebensächlich  halte,  sondern  vielmehr,  wie  an- 
gedeutet, in  den  Urteilen  und  Schlüssen,  die  sich  an  die  Em- 
pfindung des  Errötens  anknüpfen  und  die  danu  ihrerseits  das 
Gefühl  der  eigenen  Minderwertigkeit  verursachen. 

Verwandt  mit  dem  Bilde  der  Errötungsfurcht,  besonders 
mit  derjenigen  Form,  die  man  wegen  des  Fehlens  des  vaso- 
motorischen Momentes  als  Erythriophobia  sine  Erythriasi  be- 
zeichnen könnte,  ist  die  Schüchternheit,  die  von  Dugas  in  einer 
vortrefflichen  Monographie  bearbeitet  worden  ist.  Die  Schüch- 
ternheit, timidit£,  ist  nach  Dugas  eine  Furchtsamkeit,  die  durch 
Personen  hervorgerufen  wird,  sei  es  nun  durch  einzelne  Per- 
sonen, oder  durch  den  fasciuierenden  Anblick  der  Menge  beim 
Reden,  in  Gesellschaft  etc.  Sie  beruht  auf  einer  augenblick- 
lichen Störung  des  Willens,  der  Intelligenz  und  des  Gemütes. 
Die  Willensstörung,  gaucherie,  äussert  sich  entweder  als  Läh- 
mung des  Willens  und  der  Bewegungen,  ähnlich  wie  bei  der 
Platzangst,  wo  der  Betroffene  thatsächlich  ausser  staude  ist,  einen 
freien  Platz  zu  überschreiten.  Ebenso  tritt  bei  vielen  Personen 
beim  Durchschreiten  eines  grossen,  erleuchteten  Saales  unter 
zahlreichen  Blicken  eine  Art  Beweguugshemmung  auf,  ver- 
gleichbar einer  Fascinaiion,  die  durcli  die  Blicke  der  andereu 
ausgeübt  wird.  Ein  typisches  Beispiel  dieser  Schüchternheit 
bietet  Rousseau,  wie  er  selbst  in  seiuen  Confessiouen  erzählt. 
In  anderen  Fällen  äussert  sich  die  Willensstörung  nicht  als 
einfache  Hemmung  oder  Lähmung,  sondern  als  Incoordination 
der  Bewegungen,  wodurch  Stottern,  Stammeln,  ungeschickte 
und  besonders  ausfahrende  Bewegungen  zustande  kommeu. 
In  jedem  Falle  ist  demnach  eine  Schwächung  des  Willens  ge- 

Zritschritt  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  4 


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50 


Leo  Hirschlaf. 


geben,  die  entweder  zur  Hemmung  oder  zur  Agitation  führt 
Die  Störung  des  Verstandes,  stupidite,  tritt  auf  als  totale  Läh- 
mung der  geistigen  Functionen,  die  den  Eindruck  der  Geistes- 
abwesenheit erweckt,  oder  als  partielle  Stupidität,  d.  h.  als  Zer- 
streuung der  Aufmerksamkeit,  Unordnung  und  gestörter  Zu- 
sammenhang der  Gedanken,  Mangel  an  intellectueller  An- 
passung u.  s.  f.  Bekanntlich  äussert  sich  diese  Schüchternheit 
auch  sehr  häufig  in  der  Schule;  nicht  wenige  Kinder  werden 
für  stupide  und  geistesarm  gehalten,  die  thatsächlich  nur  in- 
folge Schüchternheit  der  Geistesgegenwart  ermangeln.  Auch 
hierfür  bietet  I.  I.  Rousseau  ein  klassisches  Beispiel.  Die  Stö- 
rung des  Gefühlslebens  oder  des  Gemüts  bei  der  Schüchtern- 
heit erscheint  als  Stupeur,  Betäubung  oder  Betroffenheit  Sie 
kann  wiederum  eine  totale  sein,  wobei  das  Gefühl  der  inneren 
Oede  und  Leere  vorhandenst &4 $d^>«in e  partielle,  demistu- 
peur,  wobei  ein  Cha£>^  entgegengesi^ber  Gefühle  und  ein 
Schwanken  von  einern  Extrem^  ¥^3a,H%e  s'cn  bemerkbar 
macht  So  können  wir  demnach  die  Scl*itfhternheit  definieren 
als  eine  momentane,  vorübergehende^  Hgjrfmung  oder  Störung 
der  Functionen,  die  ii  TT  iili  j  Vlrffi  fa^Mi  M  ImiIiii  oder  unvoll- 
kommenen Ablauf  der  Handlungen,  der  Gedanken,  der  Gefühle. 
Die  Hauptsache  bleibt  aber  auch  bei  diesem  Erscheinungs- 
complex  das  Bewusstsein  der  vorhandenen  Störungen  und  das 
Leiden  darunter.  Interessant  sind  die  ebenfalls  von  Dugas 
analysierten  Beziehungen  der  Schüchternheit  zur  Sympathie.  Der 
Schüchterne  hat  das  Bewusstsein,  dass  er  die  Sympathie  der 
anderen  nicht  erzwingen  kann  und  auch  selbst  nicht  mit  ihnen 
sympathisieren  kann;  und  er  leidet  darunter.  Die  Schüchtern- 
heit ist  also  auch  ein  unbefriedigtes  Bedürfnis  der  Sympathie, 
un  besoin  de  Sympathie  trompe.  Mit  Recht  erinnert  Dugas 
an  den  geheimnisvollen  Nervenstrom  oder  die  soziale  mag- 
netisation,  die  sich  von  einem  Individuum  auf  das  andere  fort- 
pflanzt und  die  bewirkt,  dass  man  alle  Gemütsbewegungen  der 
anderen  mitempfindet  Metaphysisch  gesprochen  könnte  man 
von  der  Schüchternheit  sagen,  sie  sei  das  momentane  Gefühl 
der  Unmitteilbarkeit  der  Monaden,  le  sentiment  aigu  de  l'in- 
communicabilite  des  monades.  Wir  sind  gegen  einander 
abgeschlossen  und  doch  immerwährend  bestrebt,  in  ein- 
ander einzudringen   und  uns  selbst  zu  erkennen  zu  geben; 


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lieber  die  Furcht  der  Kinder. 


51 


das  Gefühl  der  Unfähigkeit  hierzu  liegt  der  Schüchternheit 
zugrunde. 

Die  Wirkung  der  Schüchternheit  erstreckt  sich  auf  die 
gleichen  Functionen,  wie  die  Ursachen  dieser  Störung.  Der 
Einfluss  der  Schüchternheit  auf  den  Verstand  zeigt  sich  in 
der  Neigung,  sich  gegen  andere  abzuschliessen  und  seinen 
eigenen  Gedanken  zu  leben.    Dadurch  wird  der  Schüchterne 
Egoist,  Idealist,  Utopist.    Im  Traume  und  in  der  Speculation 
ehrgeizig,  kühn  und  subtil,  ist  er  im  Handeln  resigniert  und 
unschlüssig  und  ermangelt  der  praktischen  Lebenserfahrung. 
Auf  diese  Weise  kommt  das  Bild  eines  Originals  zustande, 
wie  auch  Tarde  treffend  bemerkt.    Auch  das  Gemütsleben  des 
Schüchternen  zeigt  die  Richtung  zum  Originellen.  Der  Schüch- 
terne fühlt  für  sich  allein,  er  verbirgt  seine  Gefühle  aus  Furcht, 
dass  man  sich  über  deren  Natur  oder  ihre  Nuancen  aufhalten 
könnte;  und  er  zeigt'  deswegen  für  den  oberflächlichen  Be- 
trachter ein  schwer  zugängliches  Herz.    Dabei  ist  er  nicht 
eigentlich  von  Natur  zurückhaltend;  er  wünscht  im  Gegenteil 
sich  mitzuteilen,  aber  er  will  nicht,  dass  man  ihn  verkenne. 
Dass  durch  diese  stete  Gewohnheit,  seine  Gefühle  in  sich  ein- 
zuschliessen,  diese  selbst  mit  der  Zeit  verändert  und  sonderbar 
werden,  dürfte  leicht  verständlich  sein.    Endlich  das  Willens* 
leben  des  Schüchternen.  Der  Schüchterne  überlegt  seine  Hand- 
lungen genau  im  Kopf :  sobald  es  zur  Ausführung  kommt,  ver- 
passt  er  den  richtigen  Moment  oder  handelt  ungeschickt  und 
gegen  seine  Absichten.  Zuweilen  auch  ist  er  heftig  und  masslos 
im  Handeln,  gleichsam  als  wolle  er  sich  für  seine  Aboulie  rächen. 
So  häuft  er  z.  B.  einen  Zorn  in  sich  auf  und  lässt  ihn  bei  einer 
geringfügigen    Gelegenheit    ausbrechen.    Bei  dieser  Disso- 
ciation  des  Seelenlebens  ist  es  begreiflich,  dass  der  Schüchterne 
unverstanden  bleibt  und  sich  unverstanden  fühlt.  Dafür  schafft 
er  sich  eine  subjektive  Existenz,  die  nur  in  seiner  Einbildung 
besteht.    Daher  resümiert  Dugas  mit  Recht :    Die  von  der 
Schüchternheit  ganz  frei  sind,  sind  glücklich,  aber  mittelmässig. 
Wer  die  Schüchternheit  überwunden  hat  und  auf  diese  Weise 
sicher  geworden  ist,  ist  am  besten  daran.  Man  muss  die  Schüch- 
ternheit besiegen,  aber  es  ist  gut,  dass  man  sie  zu  überwinden 
hat.    Zwar  macht  die  Schüchternheit  den  Träger  dem  prak- 
tischen Leben  unangemessen,  aber  sie  ist  auch  eine  Prädispo- 

4* 


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52 


Leo  Htrschloff, 


sition  zur  Einbildungskraft  und  zur  künstlerischen  Phantasie. 
Denn  nur  die  Kunst  kann  dem  Schüchternen  die  Möglichkeit 
geben,  seine  Fähigkeiten  zu  entfalten.  Daher  findet  sich  be 
sonders  unter  Künstlern,  Poeten,  Schriftstellern  die  Schüchtern- 
heit besonders  häufig:  Virgil,  Horaz,  Tasso,  Constant,  Michelet 
und  Amiel  sind  Beispiele  dafür.  Die  Schüchternheit  erzeugt 
nicht  das  Talent,  aber  sie  treibt  den  Künstler  auf  die  Wege 
der  Einbildungskraft.  Sie  ist  nicht  die  Quelle,  wohl  aber  häufig 
die  Gelegenheitsursache  der  Inspiration. 

Wie  wichtig  solche  Erkenntnisse  auch  für  das  Studium 
und  die  Erziehung  der  Kindesseele  sind,  erweist  sich  am  besten, 
wenn  man  sich  daran  erinnert,  dass  die  Schüchternheit  geradezu 
eine  typische  und  unveräusserliche  Eigenschaft  des  kindlichen 
Seelenlebens  ist,  die  in  verschiedenen  Entwicklungsstadien  des- 
selben unverkennbar  in  die  Erscheinung  tritt.  Ja,  sie  ist  sogar 
eine  der  ersten,  selbständigen  Seelenregungen,  die  wir  bei  dem 
heranwachsenden  Säuglinge  konstatieren,  wenn  wir  sehen,  wie 
er  beim  Herannahen  fremder  Personen  den  Blick  abwendet 
und  seinen  Kopf  hinter  dem  Nacken  der  vertrauten  Person, 
die  ihn  auf  dem  Arme  trägt,  zu  verstecken  sucht.  In  der 
Folge  verändert  sich  freilich  dies  Verhalten  bald,  sodass  man 
wohl  mit  Baldwin  folgende  Stufen  in  der  Entwicklung  der  kind- 
lichen Schüchternheit  feststellen  kann:  Im  ersten  Jahre  zeigt 
sich  eine  primäre  oder  organische  Schüchternheit,  besonders 
gegen  fremde  Personen,  meist  verbunden  mit  den  Aeusserungen 
der  instinktiven  Furcht.  Es  folgt  darauf  eine  Periode  starker 
sozialer  Tendenz,  die  mit  Duldung  und  Vorliebe  für  Fremde 
verknüpft  ist.  Im  dritten  und  den  späteren  Jahren  kehrt  dann 
die  Schüchternheit  wieder  zurück,  aber  jetzt  ohne  Beimischung 
jener  instinktiven  Furcht,  als  blosse  Verschämtheit,  die  auf 
eine  mehr  minder  bewusste  Kritik  des  eigenen  Ich  und  ein  Sich- 
messen an  anderen  zurückzuführen  ist.  Inwieweit  eine  solche 
Eigenschaft  nützlich,  inwiefern  sie  schädlich  wirken  kann, 
werden  wir  unten  zu  untersuchen  haben. 

Den  Schluss  dieser  Casuistik  der  Furchtzustände  möge 
eine  kurze  Besprechung  einiger  anderen  krankhaften  Befürch- 
tungen bilden,  wie  sie  häufig  als  Symptome  von  Nervenleiden 
und  Geisteskrankheiten  beobachtet  werden.  Eine  Erscheinung 
dieser  Art,  die  fast  ausschliesslich  bei  Kindern  sich  vorfindet, 


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lieber  die  Furcht  der  Kinder. 


53 


ist  der  sogenannte  nächtliche  Schrecken  der  Kinder,  pavor 
nocturnus.  Es  handelt  sich  dabei  um  nächtliche  Anfälle  von 
Angstzuständen,  die  mit  Zittern,  Herzklopfen  und  Schweiss- 
ausbruch, öfters  auch  mit  Schreien  einhergehen.  Als  Ursache 
dieser  Zustände,  soweit  sie  nicht  durch  ein  epileptisches  Leiden 
bedingt  sind,  was  manchmal  schwer  zu  entscheiden  ist,  können 
inbetracht  kommen:  schreckhafte  Träume,  Gespenstersehen, 
Furcht  vor  der  Dunkelheit  oder  dem  Mondlicht,  Erinnerungen 
an  frühere  unheimliche  Eindrücke  und  ähnliches  mehr.  In 
einigen  ausgeprägten  Fällen  dieser  Art  fand  ich  als  Ursache 
die  Gewohnheit  des  Alkoholgenusses  bei  den  Kindern,  nach 
deren  Abstellung  die  Erscheinungen  sofort  und  dauernd  ver- 
schwanden. Auch  das  nächtliche  Bettnässen  der  Kinder,  Enu- 
resis nocturna,  ein  sehr  lästiges  und  häufig  recht  hartnäckiges 
Leiden,  beruht  wie  F6re*  sehr  treffend  bemerkt,  nicht  selten 
auf  solchen  nächtlichen  Schreckzuständen,  sei  es  dass  dieselben 
mehr  körperlicher  Art  sind,  ähnlich  der  Herzbeklemmung  bei 
der  sogenannten  Herzangst,  Angina  pectoris;  sei  es,  dass  sie 
mehr  psychischer  Natur  sind  und  auf  schreckenerregenden 
Träumen  oder  Halluzinationen  beruhen. 

In  der  Lehre  von  den  Geisteskrankheiten  bildet  die  Furcht 
eine  der  häufigsten  und  mächtigsten  Gemütsbewegungen.  Ab- 
gesehen von  den  Zwangsbefürchtungen  der  Neurastheniker  und 
Hysterischen,  die  unten  noch  ausführlicher  besprochen  werden 
sollen,  bildet  die  Angst  ein  charakteristisches  Symptom  vieler 
und  häufig  gerade  der  schwersten  Geistesstörungen.  Sie  findet 
sich  z.  B.  bei  den  melancholischen  Psychosen  des  Rückbildungs- 
alters, häufig  verbunden  mit  der  sogenannten  Praekordialangst, 
d.  h.  einer  Empfindung  von  Druck  und  Beklemmung  in  der 
Herzgegend ;  ferner  in  den  Depressionszuständen  des  zirkulären 
Irreseins,  in  den  Dämmerzuständen  der  Epileptiker,  in  den 
Delirien  der  Alkoholiker  und  bei  den  Paralytikern.  Diese 
Affekt- Illusionen  kommen  nach  Krafft-Ebing  zustande  teils 
durch  den  Mangel  an  Aufmerksamkeit,  teils  durch  die  Mangel- 
haftigkeit der  Wahrnehmungen,  häufig  auch  durch  beide  Mo- 
mente gleichzeitig.  Die  Genauigkeit  der  Wahrnehmung  dieser 
Kranken  wird  gestört  durch  ihr  Vorstellungsleben,  das  durch 
einen  bestimmten  Gedankenkreis  praeoccupiert  ist.  „Die  im 
Apperzeptionsorgane  ankommende  Sinneserregung  löst  eine 


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54 


Uo  Hirschlaf 


.vohl  der  Stimmung,  nicht  aber  der  Realität  entsprechende 
Vorstellung  mit  begleitendem  Sinnesbilde  aus,  die  als  vermeint- 
liche Wahrnehmung  nach  aussen  projiziert  wird,  ohne  dass  der 
Betreffende  seinen  Irrtum  gewahr  würde."  Auch  durch  die 
physikalisch  bedingte  Unvollkommenheit  der  Sinnes- 
empfindungen.  z.  B.  in  der  Dämmerung,  kann  die  Deutlichkeit 
der  Eindrücke  getrübt  und  Affekt- Illusionen  hervorgerufen 
werden.  Dass  bei  den  Furchterscheinungen  der  kleinen  Kinder 
der  gleiche  Faktor  in  Frage  kommt,  liegt  auf  der  Hand;  denn 
die  Sinneseindrücke  der  Kinder  entwickeln  sich  ja  erst  allmäh- 
lich zu  der  Exaktheit,  die  wir  am  Erwachsenen  beinahe 
als  selbstverständlich  anzusehen  geneigt  sind.  Krafft- Ebing 
spricht  deshalb  und  mit  Recht  von  den  Urteils-Delirien  der 
kleinen  Kinder. 

Fast  in  noch  höherem  Grade  als  bei  den  erwähnten  Geistes- 
krankheiten findet  sich  die  Angst  als  Symptom,  häufig  sogar 
als  wichtigstes  Symptom  der  einfachen  sog.  Nervosität.  Sie 
kann  in  zweierlei  Formen  auftreten:  i)  als  diffuse  und  dauernde 
ängstliche  Erregung;  2)  als  systematisierter  Angstzustand,  der 
nur  bei  besonderen  Gelegenheiten  auftritt.  Zu  der  ersten 
Gruppe  gehören  die  hypochondrischen  Formen  der  Neurasthe- 
nie; zu  der  zweiten  Gruppe  zahlen  die  Platzangst  oder  Agora- 
phobie, die  von  Westphal  im  Jahre  1872  zum  ersten  Male  mono- 
graphisch beschrieben  wurde,  ferner  die  Furcht  vor  dem  Blitze, 
Astrophobie,  die  Furcht  vor  der  Einsamkeit,  Monophobie,  die 
Furcht  vor  Tieren,  Zoophobie,  die  Furcht  lebendig  begraben 
zu  werden,  Taphophobie  und  unzählige  andere  Phobieen  mehr. 
Auch  der  Aberglaube  und  manche  spiritistischen  Anschauungen 
dürften  in  dieses  Gebiet  gehören.  Eine  Reihe  ausgewählter 
Fälle  dieser  Krankheitszustände  ist  von  Raymond  und  Janet 
eingehend  beschrieben  worden,  mit  besonderer  Berücksichti- 
gung ihrer  Entstehung;  es  würde  zu  weit  führen,  an  dieser 
Stelle  näher  hierauf  einzugehen.  Wie  verbreitet  aber  derartige 
Phobieen  sind,  möge  aus  der  Thatsache  erhellen,  dass  es  ein 
Leichtes  ist,  aus  der  Geschichte  eine  Menge  von  Beispielen 
grosser  Persönlichkeiten  zu  zitieren,  denen  solche  Furchtzu- 
stände eigentümlich  waren.  So  wird  von  Erasmus  berichtet, 
dass  ihm  ein  Gericht  Linsen  einen  heillosen  Schrecken  einzu- 
flössen vermochte.    Scaliger  hatte  Angst  vor  Brunnenkresse; 


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Udier  die  Furcht  der  Kinder. 


55 


Pierre  Bayle  wurde  ohnmächtig,  wenn  er  das  Wasser  aus  einem 
Hahn  fallen  hörte.    Bacon  zeigte  sich  von  Furcht  erfüllt  bei 
Sonnen-  und  Mondfinsternissen;  König  Jakob  II.  zitterte  beim 
Anblick  eines  blossen  Degens;  der  Herzog  von  Epernon  verlor 
das  Bewusstsein  beim  Anblick  eines  Eselsfüllens  u.  s.  w. 

Bezüglich  der  Platzangst  möge  es  gestattet  sein,  einige 
Experimente  nachzutragen,  die  von  Mills  angestellt  wurden  zur 
Prüfung  der  oben  besprochenen  Behauptung  Hall's,  dass  dieses 
Krankheitssymptom  eine  atavistische  Erscheinung  sei,  ebenso 
wie  die  Kiemenspalten,  die  zuweilen  am  Halse  des  Menschen 
auftreten  und  von  unseren  schwimmenden  Vorfahren  ererbt 
sein  sollen.  Mills  fand,  wenn  man  experimentell  junge  Tiere 
an  den  Rand  einer  Anhöhe  bringt,  dass  z.  B.  Schildkröten  davon 
■wegstreben,  während  Frösche  darauf  zu  hüpfen  bestrebt  sind; 
eine  Thatsache,  die  sich  mit  der  Theorie  Hall's  nicht  verein- 
baren lässt. 

Ich  möchte  diesen  Abschnitt  nicht  verlassen,  ohne  eines 
Gesichtspunktes  zu  gedenken,  der  von  Lombroso  in  die  Dis- 
kussion geworfen  worden  ist,  und  der  geeignet  ist,  die  soziale 
Bedeutung  der  Furcht  in  ein  helleres  Licht  zu  setzen.  Lom- 
broso hat  mehr  geistreich  als  wissenschaftlich,  die  Behauptung 
aufgestellt,  der  Misoneismus,  die  Neophobie,  die  Furcht  vor 
dem  Neuen  regiere  die  Welt ;  dies  sei  das  Gesetz  der  Trägheit 
in  der  moralischen  Welt.  Die  Mehrheit  sei  neophob,  nur  die 
Minderheit  der  Genies,  der  Narren  und  der  Verbrecher  sei 
neophil.  Nach  ihm  prägt  sich  der  Misoneismus  in  allem  aus: 
in  den  Gewohnheiten,  Gesetzen,  Institutionen,  Sprachen.  Das 
Kind  erschrickt  vor  dem  bärtigen  Gesicht,  nicht  etwa  weil  es 
unangenehme  Empfindungen  in  ihm  hervorruft,  sondern  aus 
Furcht  vor  dem  Neuen.  Der  Wilde  ist  von  Natur  neugierig; 
sobald  aber  die  Zivilisation  ihm  naht,  wird  er  scheu  und 
furchtsam,  ebenso  wie  die  Kinder,  die  ursprünglich  neophil 
angelegt  durch  die  Erziehung  zur  Neophobie  gelangen.  Das 
Studium  der  toten  Sprachen,  die  Bewunderung  alter  Ruinen, 
die  Kriegsbudgete  u.  s.  w.  gehören  in  das  Gebiet  des  archäo- 
logischen Misoneismus  nach  Lombrosos  Auffassung,  ebenso  wie 
das  Streben  nach  Symmetrie,  das  Festsetzen  von  Gewichts-  und 
Masseinheiten  ein  Ausdruck  des  konstitutionellen  Misoneismus 
sein  soll.    Daraus  folgt  nach  Lombroso,  dass  das  Streben  nach 


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56 


Leo  Hirschlatf. 


Fortschritt  kein  physiologisches  Phänomen  der  Menschheit 
ist,  sondern  ein  krankhaftes  Symptom  einzelner  Individuen, 
der  Genies  oder  Monomanen.  Erst  nach  Jahrhunderten,  wenn 
die  Neuerung  allgemeine  Zustimmung  gefunden  hat,  wird  der 
Fortschritt  physiologisch.  Das  Streben  nach  Fortschritt,  be- 
sonders je  unvermittelter  und  heftiger  es  auftritt,  ist  also  nach 
Lombroso  ein  antisoziales  Faktum:  der  Misoneismus  ist  der 
physiologische  Charakterzug  der  Menschheit,  der  Philoneismus 
ein  pathologischer  Charakterzug  des  Individuums. 

Es  ist  unendlich  leicht,  das  Unsinnige  in  dieser  Beweis- 
führung und  diesen  Ergebnissen  zu  erkennen.  Es  ist  daher 
überflüssig,  auf  die  Einwendungen  einzugehen,  mit  denen  Fe"re 
und  besonders  Merlino  die  Behauptungen  Lombrosos  widerlegt 
haben.  Und  doch  ist  dieser  Gedanke  geeignet,  anregend  zu 
wirken,  wenn  auch  zum  Teil  in  ganz  entgegengesetzter  Rich- 
tung, ähnlich  wie  dies  so  häufig  bei  den  voreiligen  Verall- 
gemeinerungen Lombrosos  sich  gezeigt  hat.  Es  ist  sicher,  dass 
die  Furcht  ein  sozialer  Faktor  von  eminenter  Bedeutung  ist, 
der  neben  dem  Hunger  und  der  Liebe  vielleicht  die  am  meisten 
ausschlaggebende  Rolle  in  der  feineren  Ausgestaltung  unseres 
persönlichen  und  gesellschaftlichen  Lebens  spielt  Diese  That- 
sache  ist  den  Ethikern  und  Soziologen  lange  bekannt  gewesen, 
bevor  der  feinfühlige  Nietzsche  sie  zum  Ausgangspunkte  einer 
meist  parodoxen  Kritik  machte.  In  unseren  Schlussbetrachtungen 
werden  wir  auf  dieses  Thema  zurückkommen. 

(Schluss  folgt.) 


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Berichte  und  Besprechungen. 

  « 


A.  ßaer,  Dr.,  Geh.  Sanitätsrat  in  Berlin.  Der  Selbstmord  im 
kindlichen  Lebensalter.  Eine  sozial-hygienische  Studie. 
Leipzig  1901.    84  S.    2  Mark. 

Der  Selbstmord  tritt  im  menschlichen  Leben  mit  bestimmter  Gesetz- 
mässigkeit auf;  selten  im  jugendlichen  Alter,  wo  die  Lebensbedingungen 
einfach  sind,  ebenso  selten  im  Alter  über  6<)  Jahre,  da  in  dieser  Zeit  bereits 
die  Energie  abnimmt.  Wie  steht  es  genauer  mit  der  Häufigkeit  der  Kinder- 
selbstmorde,  und  welches  sind  die  Motive  zu  diesen? 

Einige  Forscher  haben  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  die  Jugend- 
beteiligung am  Selbstmorde  in  neuerer  Zeit  in  beunruhigender  Weise  zu- 
genommen hat.  Da  diese  Behauptung  sich  gewöhnlich  aaf  selbst  zusammen- 
gestellte und  nicht  genügend  kontrollierte  Statistiken  Httitzt,  so  legt  Baer 
seinen  Beobachtungen  die  offizielle  Statistik  zu  Grunde,  von  der  er  jedoch 
sagt,  dass  sie  noch  viel  Lückenhaftes  enthält,  weil  viele  Fälle  verheimlicht 
werden,  dass  sich  aber  aus  ihr  hochwichtige  Fragen  beantworten  und 
korrekte  Schlussfolgerungen  ziehen  lassen.  Aus  den  amtlich  statistischen 
Angaben,  die  er  für  die  Periode  von  1869—1898  inkl.  zur  Vergleichung  zu- 
sammenstellt, führt  er  für  Preussen  folgende  Ergebnisse  an. 

Innerhalb  der  30  Jahre  sind  an  Selbstmord  gestorben: 


Im  Alter 
von 

Anzahl  In 
der  Periode 
186») — 1898 

Knaben 

Mädchen 

Im 

jährlichen  ; 
Durchschnittj 

Knaben 

MIdchen 

0-10 

93 

71 

20 

3.1 

2.4 

0,7 
11.3 

10-15 

1615 

1273 

342 

53.8 

42.5 

1708 

1346  362 

1 

56.0 

44,9 

12.0 

In  dem  ganzen  Zeitraum  haben  sich  also  1708  Kinder  im  Alter  bis  zu 
15  Jahren  das  Leben  genommen  oder  jährlich  56,9  im  Ganzen.  Das  männ- 
liche Geschlecht  ist  beteiligt  mit  78,91  •/,„  das  weibliche  mit  21,09%;  oder 
auf  4  Knaben  kommt  1  Mädchen. 


Eine  unverkennbare  Zunahme  zeigt  Verfasser,  indem  er  diese  Zahlen, 
in  den  einzelnen  Perioden  gegenübergestellt,  vergleicht.  Es  sind  an  Selbst- 
mord gestorben  im  jährlichen  Durchschnitt: 


Periode 

Im  Alter  von 

0—10  Jahren 

10-15  Jahren 

Zusamme 

n 

5  jährig 

Knaben 

Mädchen 

Knatxn 

Mädchen  zusammen 

zusammen 

Knaben 

Mädchen 

zusammen 

2,2 

0.6 

2.8 

29.4 

M 

35.4 

31,6 

6,6 

38,2 

1S74-1876 

2,4 

1,2 

3.6 

30,8 

8.4 

39,2 

33,2 

9.6 

42,8 

1879—1883 

3,2 

0.4 

3.6 

47,4 

13,8 

61,2 

50,6 

14.2 

64,6 

2,2 

0.8 

3.0 

42,2 

14,0 

56,2 

44,4 

14.S 

59.2 

1  «39—1893 

1.8 

1.0 

2,8 

55,6 

13.4 

69,0 

57,4 

14,4 

71,8 

1884—1898 

2.8 

2.8 

49,2 

12,8 

62,0 

52,0 

12,8 

64,* 

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58 


Berichte  und  Besprechungen. 


Die  Killderselbstmorde  sind  demnach  in  den  Jahren  von  1869 — 189« 
im  jährlichen  Durchschnitt  von  38  auf  65  gestiegen.  Im  Alter  von 
0- 10  Jahren  ist  ein  Ansteigen  nicht  bemerkbar,  wohl  aber  in  dem  Alter 
von  10—15  Jahren;  die  Zunahme  ist  bei  beiden  Geschlechtern  nicht  gleich- 
massig,  vielmehr  beim  weiblichen  etwas  grösser  als  beim  männlichen. 

Baer  zeigt  dann  aus  den  getroffenen  Zusammenstellungen,  wie  die 
Häufigkeit  der  Gesamtselbstmorde  und  die  der  Kinderselbstmorde  in  der 
angegebenen  Zeit  in  absoluter  Zahl  einzeln  und  zu  einander  sich  verhalten: 


1  jähriEer 

Selbstmorde 

Durchschnitt  in  der 

in  der  Oesamtbevölkerung 

im  Alter  bis  zu  15  Jahren 

Periode 

nünnlich 

weiblich 

zusammen 

männlich   |  weiblich 

zusammen 

18»- 1873 

2333 

596 

?929 

31,6 

6,6 

38,2 

1873—1878 

3157 

700 

3857 

33,2 

Q,6 

1879—1883 

4139 

964 

5103 

50,6 

14,2 

64,8 

1884-1888 

4701 

1184 

5886 

44,4 

14,8 

59,2 

1889-1893 

4836 

1252 

60SH 

57,4 

14,4 

71,8 

1893-189« 

5086 

1345 

6431 

52,0 

12,8 

64.8 

Die  Gesamtselbstmorde  haben  sich  von  18<>9— 1898  mehr  als  verdoppelt, 
und  zwar  mehr  bei  der  weiblichen  ab)  bei  der  männlichen  Bevölkerung;  die 
Zunahme  der  Kinderselbstmorde  dagegen  h>t  etwas  geringer.  Indessen 
zeigt  diese  Zusammenstellung,  dass  die  Zunahme  der  allgemeinen  Selbst- 
morde keineswegs  eine  gleiche  Zunahme  der  Kinderselbstmorde  in  derselben 
Periode  und  in  demselben  Geschlechte  bedingt 

Einen  Einblick  in  die  Genese  der  Kinderselbstmorde,  in  das  rätselhafte 
Dunkel  ihrer  Motive  gestatten  25  vom  Verfasser  genauer  dargestellte  Fälle , 
die  er  durch  Einzelsammlung  gewonnen  hat.  Unter  diesen  waren  17  Knaben 
und  8  Mädchen  und  zwar  in  nachstehendem  Alter: 

3%  Jahr:    1  Knabe.  —  Mädchen 

9  n  2 


■  i  „  a 

»IV.      n  1 

12  „  2 

13  „  1 
»4  „  2 
15  4 

Alter  unbekannt:  1 

Es  sind  mehr  wie  das  doppelte  Knaben  als  Mädchen  vertreten:  die 
e röteren  mit  68  °/0  und  die  letzteren  mit  32  %.  Während  von  den  16  Knaben 
4  in  dem  Alter  bis  zu  10  Jahren  stehen,  d.  h.  25%,  ist  dieses  Verhältnis 
bei  den  Mädchen  12,50%;  im  Alter  von  10  —  12  inkl.  ist  das  Verhältnis 
31,25%  bei  den  Knaben  und  12,50°/«  bei  den  Mädchen;  im  Alter  von 
13-15  inkl.  43,75  %  bei  den  Knaben  und  75%  bei  den  Mädchen.  Die 


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HtTtchtt  uttti  Besprechungen. 


59 


Neigung  zum  Selbstmord  tritt  bei  den  Knaben  früher  auf  als  bei  den 
Mädchen;  dagegen  nehmen  sich  im  Alter  von  13 — 15  Jahren  mehr  Mädchen 
das  Leben  wie  Knaben.  Interessant  Ist  die  Wahl  der  Todesart  der  25 
jugendlichen  Selbstmörder.  Den  Erhängungstod  haben  6  Knaben  und  kein 
Mädchen  gewühlt ;  der  Tod  durch  Erschiessen  war  nur  gebraucht  von  2  Knaben. 
I>en  Sturz  aus  dem  Fenster  haben  5  Knaben  gewählt  und  6  Mädchen;  er- 
tränkt haben  sich  4  Knaben  und  1  Mädchen.  Den  Tod  durch  Verbrennung 
hat  eiu  geisteskrankes  Mädchen  gewählt. 

Erhängen:  o  Knaben  35,29°/.;  -  Mädchen  -  — 

Sprung  a.  d.  Fenster:  T,       „  -  29,41%;  6        „  —  75,00  % 

Erschiessen:  2       „  —  11,76%:  —        „  —  — 

Ertränken:  4       „  =  23.53  %:  1         „  =*  12.50% 

Unter  den  Motiven  steht  die  Furcht  vor  Strafe  obenan.  Von  1b  Knaben 
haben  sich  aus  diesem  Motiv  9  das  Leben  genommen  und  4  Mädchen;  Geistes- 
krankheit war  bei  3  Knaben,  schlechte  Behandlung  war  bei  1  Knaben  und 
:  Scham  vor  Schande  war  bei  1  Knaben  die  Ursache; 
Jähzorn  bei  1  Mädchen  und  verletztes  Ehrgefühl  bei  1  Knaben;  Spass  (?)  bei 
1 


Furcht  vor  Strafe:     bei    '»Knaben     5o,25  %;  bei    4  Mädchen  =  66,67  % 

Geisteskrankheit:         „    3  „  =  18,75%:  „    —  =  — 

Schlechte  Behandlung:  „1  „  —  6,25  %;  „1  „      =  16,66% 

Scham  vor  Schande:    „     1  „  =  6,25%:  „    —  =  — 

Jähzorn:                         —  „  =       —  .,      1  ,.       —  16,66% 

Ehrgefühl:  „1  „  -=   6.25%:  ,,  — 

(?):                     ,.     1  „  -    0,25%:  „  - 

In  dem  2.  Abschnitt  behandelt  der  Verfasser  die  Ursache  zum  Kinder- 
aelbstmord  und  bezeichnet  die  Urteile  und  selbst  auch  nur  die  Vermutungen 
über  die  Deutungen  des  Selbstmordmotivs  als  ungemein  schwierig  und 
unsicher.  Denn  um  einen  klaren  Einblick  in  dieses  Dunkel  zu  gewinnen, 
inüssten  wir  die  Eigenschaften  und  Beschaffenheit  der  Eltern  und  Ver- 
wandten, das  Vorleben,  die  Entwicklung  und  die  Eigenschaften  des  jugend- 
lichen Selbstmörders  genau  kennen.  Immerhin  kann  man  beim  Kinde  die 
Momente  in  Erwägung  ziehen,  welche  in  seiner  Konstitution,  in  seiner 
individuellen  Organisation  liegen,  und  die,  welche  ausserhalb  desselben  ihre 
Einflüsse  geltend  machen.  Zu  der  ersten  Gruppe  gehört  die  Geistesstörung, 
deren  Folge  der  Selbstmord  sehr  häufig  ist.  Diese  zeigt  sich  nicht  gelten 
'bei  Kindern  in  ganz  geringen  Absonderheiten  und  Besonderheiten  des 
Charakters,  in  bizarren  Aeusserungen  ihres  Empfindens  und  Verhaltens. 

Die  Zahl  der  geisteskranken  Kinder  ist  in  Freussen  nicht  gering. 
Vnter  den  in  den  Jahren  1886—1888  in  den  preussischen  Irrenanstalten  auf- 
genommenen 40076  Kranken  waren  im  Alter  von  unter  15  Jahren  1332.  Unter 
den  von  iier  offiziellen  Statistik  angegebenen  979  Selbstmördern  im  Alter 
von  unter  15  Jahren  in  der  15 jährigen  Periode  vou  1884 — 1898  inkl.  waren 
79  Geisteskranke  =»  8,07%;  das  Prozentverhältnis  wird  aber  erheblich 
grosser,  wenn  man  die  Zahl  der  sogenannten  „unbekannten  Ursachenu 


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60 


Belichte  und  Besprechungen. 


von  der  Gesamtsumme  abzieht.  Letztere  betrug  351  —  36%.  Von  den. 
628  Fällen,  deren  Ursachen  ermittelt  waren,  kommen  demnach  79  auf 
Geisteskranke,  d.  i.  12,58%.  Ein  viel  häufigeres  Motiv  ist  die  minder- 
wertige Organisation,  wobei  man  vor  allem  an  die  psychopathische  Minder- 
wertigkeit zu  denken  hat,  die  zum  grössten  Teil  in  der  Abstammung  und 
Vererbung  beruht.  Denn  schlimme  Folgen  kann  die  Abstammung  von 
Familien  haben,  in  welchen  Geistesstörungen  oder  andere  Krankheiten  des 
Nervensystems  heimisch  sind,  oder  sonstige  Momente,  die  das  geistige  Leben 
der  Nachkommenschaft  in  schädlicher  Weise  beeinflussen,  wie  nahe  Bluts- 
verwandtschaft, starke  Ungleichheit  des  Alters  der  Gatteu  oder  Trunksucht. 
Als  letztes  inneres  Motiv,  das  beim  Kinde  zum  Selbstmord  führen  kann, 
nennt  der  Verfasser  einen  krankhaften  Affekt,  der  sich  in  einer  inneren 
Schmerz-  und  Unlustempfindung,  einer  schwer  bedrückten  Gemüts-  und 
Seelenstimmutig  kundgiebt.  Auf  die  Grundlage  eines  solchen  Affeks  sind 
die  meisten  Selbstmorde  im  Kindesalter  zurückzuführen.  Kinder,  die  durc  h 
körperliche  Krankheit,  langandauernde  Schmerzen  viel  leiden  und  erdulden 
die  durch  schlechte  Behandlung  und  Misshandlung  grausamer  Eltern  ge- 
martert werden,  die  die  schweren  Sorgen  und  den  Kummer  der  Eltern  mit- 
empfinden, die  viel  Entbehrungen  und  Hunger  ertragen,  werden  häufig  aus 
geringfügigem  Anlass  sich  dem  traurigen  Dasein  gewaltsam  entziehen. 
Bei  noch  vielen  andern  tritt  die  Verstimmung  und  Verzweiflung  in  einer 
mehr  akuten  Weise  auf.  Androhung  und  Erwartung  einer  Strafe,  die 
Schande  über  ein  begangenes  Verbrechen  werden  plötzlich  die  Ursache  zum 
Selbstmord.  Von  aussen  her  beeinflussen  das  Leben  des  Kindes  die  sozialen 
Verhältnisse.  In  den  ärmeren  wie  in  den  reichereu  Bevölkeruugsklassen 
tritt  der  Kindesselbstmord  in  gleicher  Stärke  auf.  Bei  der  ärmeren  Be- 
völkerung sind  es  schlechte  Erziehung,  gesundheitliche  Missstände,  Hunger 
und  Entbehrung,  welche  das  kindliche  Gemüt  umdüstern-,  bei  den  reicheren 
Gesellschaftsklassen  Wohlleben,  Ueppigkeit,  frühzeitige  Gewöhnung  an 
Theater,  Tanz  und  äusseres  Gesellschaftslebon,  wodurch  die  Kinder  in  den 
Zustand  der  Frühreife  und  mit  dieser  in  krankhafte  Empfindlichkeit  ge- 
langen. 

Da  die  meisten  Selbstmorde  im  schulpflichtigen  Alter  geschehen,  so 
könnte  man  leicht  geneigt  sein,  eine  schwere  Anklage  gegen  die  Ein- 
richtigungen  der  Schule  zu  erheben.  Allein  von  hervorragenden  Aerzteu 
und  Pädagogen  ist  der  Beweis  erbracht,  dass  der  Schulunterricht  auf  krank- 
hafte Kinder  wohl  schädigend  einwirkt,  dass  er  dagegen  körperlich  und 
geistig  gesunden  Kindern  nur  einen  fördernden  Einfluss  geben  kann.  So 
sind  in  den  meisten  Fällen  nicht  die  Umstände  und  Verhältnisse,  die  mit 
der  Schulzucht  verbunden  sind,  die  wirklichen  Ursachen  zum  Kinderselbst- 
morde, sondern  sie  sind  nur  die  scheinbaren  begleitenden  Erscheinungen, 
wahrend  die  thatsächlichen  Ursachen  in  einer  angeborenen  geringen  psy- 
chischen Leistungsfähigkeit  und  in  einer  angeborenen  Neigung  zn  Nerven- 
und  Geisteskrankheiten  zu  suchen  sind. 

In  den  Jahren  1883 — 1886  töteten  sich  Schüler  aus  nachstehenden 
Ursachen : 


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Bericht*  und  Besprechungen. 


61 


Ursache 

Knaben 

Schuten 
M  idelun 

Niedere 
Knaben 

Schulen 
Madchen 

t-xamcnsiurcni,    nicnivcr >ci/uiigt    nicm  er- 

standenes f~'xarncn 

15 

1 

1 

s 

-j 

B 

1 

Zerwürfnisse  ir.it  tirn  Fltrrn  bc/w    I  chrxrr 

2 
* 

fjeWrinktw  Fhrcwi? 

1 1 
1 1 

7 

i 

Furcht  vor  Strafe 

1 

1 

l 

45 

23 

l 

J  14U  IC    W1W(    UJl»UIUJ^S     I>1  I1A11UI  11  Mg    .       .  . 

1 

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o 

J 

2 



6 

II 

1 

12 

2 

i 

_  ,  . 

1 

t 
■ 

Religiöse  Schwärmerei 

- 

1 

1 

4 

1 

1 

5 

1 

5 

1 

7 

Sonstige  Oründe  

2 

2 

Unbekannte  Veranlassung  

15 

59 

12 

Summa 

» 

'  1 

163 

47 

Besonders  interessant  sind  die  Fälle  aus  den  höheren  Schulen.  Wenn 
als  Ursachen  zum  Kinderselbstmorde  „Geisteskrankheit,  Lebensüberdruss, 
unglückliche  Liebe",  angeführt  werden,  so  werden  die  Schüler,  die  Bich 
aus  diesen  Gründen  das  Leben  nehmen,  höchstwahrscheinlich  mit  angeerbt 
belastenden  Defekten  behaftet  gewesen  sein  und  durch  die  Anforderungen 
der  Schule  dann  schwere  Schädigung  erlitten  haben.  Erwähnung  verdienen 
besonders  die  nachstehenden  Beispiele:  In  Br.  hat  sich  im  Mär-?  185H  ein 
14jährige8  Mädchen,  £.  v.  B.,  erschossen.  Ein  mit  Bleistift  von  ihr  be- 
schriebenes Blatt  enthielt  die  Worte:  „Liebe  Mutter!  Dieso  Welt  ist  nicht 
mehr  für  mich,  ich  mnss  sterben.  Sollte  der  erste  Schuss  nicht  troffen,  so 
bin  ich  unglücklich  .  .  .  Sollte  M.  (Schwester)  den  W.  heiraten,  so  wünsche 
ich  ihr  von  ganzem  Herzen  Glück.  Meine  wenigen  Sachen,  namentlich 
auch  meine  Schlittschuhe,  vermache  ich  meiner  Schwester.  Ich  möchte 
gern  im  weissen  Kleide  mit  glutt  gekämmten  Haaren  begraben  werden,  in 
der  Hand  auf  der  Brust  die  Bibel  und  das  Gesangbuch.  Wenn  es  geht, 
eo  wünsche  ich  an  der  Seite  meines  Vaterg  zu  liegen.  Wenn  Du  mir  ver- 
zeihen kannst,  so  verzeihe  mir.  Adieu!14 

Im  Januar  1897  fanden  Vorübergehende  hinter  einem  kleinen  aufge- 
lassenen Friedhofe  in  Wien  ein  ungefähr  12 jähriges  Mädchen  im  Schnee 
kauernd  halb  erstarrt  auf.  Man  bemühte  sich,  das  Mädchen  zu  Bich  zu 
bringen,  was  auch  gelang.  In  ihrer  Manteltasche  fand  sich  ein  Schreiben, 
welches  das  Kind  an  seine  Eltern  gerichtet  hatte.  In  diesem  Briefe  heisst 
es  wörtlich:  „Liebe  Eltern!  Mich  freut  das  Leben  nicht  mehr,  obwohl  ich 
«ret  12  Jahre  alt  bin.  Der  Eduard  geht  jetzt  immer  mit  der  Mali,  sie  ist 
Hausmeisters  Tochter  und  bekommt  einmal  viel  Geld.  Ich  habe  nichts  und 
bekomme  auch  nichts;  darum  will  ich  sterben.  Ich  will  erfrieren  und 
schlafend  sterben.  Ich  möchte  am  Baumgartner  Friedhof  begraben  werden, 


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62 


da  ich  da  wenigstens  Hoffnung  habe,  auch  einmal  dort  zu  liegen,  wo 
Eduard  hinkommen  wird,  wenn  er  einmal  stirbt.  Verzeiht  Eurer  unglück- 
lichen Tochter  Marie".  In  einem  engeren  Zusammenhang  mit  der  höheren 
Schale  stehen  sicher  Motive,  wie  „Examens furcht",  „Nichtversetzung",  „nicht 
bestandenes  Examen".  Hier  werden  die  anstrengenden  Vorbereitungen  zu 
Prüfungen,  die  überflüssigen  Zensuren  eine  grosse  Schuld  an  den  Nerven  - 
Störungen  haben.  Eine  oft  schlimme  Wirkung  bei  Kindern  hat  auch  die 
Bedeutung,  welche  das  heutige  Familienleben  dem  Fortkommen  des  Kindes 
in  der  Schule  beimisst.  Da  wird  mit  Ungestüm  verlangt,  da&s  sich  der 
Schüler  mehr  anstrenge,  unbekümmert  darum,  ob  er  auch  die  Fälligkeit 
habe;.  Daraus  entstehen  dann  Motive,  wie  „gekränkter  Ehrgeiz",  „verletztes 
Ehrgefühl",  „unwürdige  Behandlung".  Auch  die  .Furcht  vor  Strafe",  die 
ein  starkes  Kontingent  zum  Kinderselbstmorde  stellt,  wird  nicht  immer  im 
Zusammenhange  mit  der  Schule  stehen,  vielmehr  mit  dem  Ehrgeiz  der 
Eltern,  die  den  Kindern  schwere  Strafen  androhen.  Es  begehen  auch 
Kinder  Selbstmord  lediglich  ans  Angst  vor  den  Anforderungen  des  Schul- 
unterrichtes, aus  Furcht  vor  Strafe  für  nicht  angefertigte  Arbeiten;  doch 
gebührt  gewiss  der  Erziehung  in  der  Familie  mindestens  derselbe  Anteil 
an  den  Kinderselbstmorden,  wie  der  Schule.  Darum  lässt  der  Verfasser  am 
Ende  seiner  interessanten  Ausführungen  die  Aufforderung  an  Eitern  und 
Lehrer  ergehen,  die  körperlichen  und  geistigen  Fähigkeiten  der  Kinder  früh- 
zeitig zu  erforschen,  und  nach  diesen  die  Grundsätze  der  Erziehung  einzu- 
richten. 

Berlin.  W.  Krause. 


Der  naturwissenschaftliche  Unterricht  in  England,  insbe- 
sondere in  Physik  und  Chemie.  Von  Dr.  Karl  T.  Fischer, 
Privatdozent  und  I.  Assistent  für  Physik  an  der  Königl. 
Technischen  Hochschule  zu  München.  Mit  einer  Uebersicht 
der  englischen  Unterrichtslitteratnr  zur  Physik  und  Chemie 
nnd  18  Abbildungen  im  Text  und  auf  3  Tafeln.  Druck  und 
Verlag  von  B.  G.  Teubner,  Leipzig  und  Berlin.  1901.  VIII.  u. 
94  S.  gr.  H.  geb.  M.  3,60. 

In  dem  vorliegendem  Werke  hat  der  Verfassor  die  während  eines 
zweimaligen  längeren  Aufenthalts  in  England  durch  persönliche  Anschauung 
gewonnenen  Erfahrungen  über  die  englische  Unterrichtsmethode  in  den 
Naturwissenschaften  niedergelegt. 

Nach  kurzen  einleitenden  Bemerkungen  über  das  englische  Schul- 
weseu  im  allgemeinen,  welches  sich  von  unserm  unvorteilhaft  dadurch 
unterscheidet,  dass  es  nicht  einheitlich  organisiert  ist,  giebt  der  Verfasser 
ein  Unterrichtsdiagramm  der  Schulen  Manchesters,  führt  dann  die  von  ihm 
besuchten  Städte  und  Schulen  auf  und  kommt  schliesslich  zu  dem  Haupt- 
teil seines  Werkes,  der  „Ergebnisse  meiner  Unterrichtsstudien"  überschrieben 
ist.  Zunächst  wird  hier  die  Frage:  „In  welchem  Umfange  werden  Natur- 
wissenschaften gelehrt?"  behandelt.  Während  in  England  wie  bei  uns 
formaler  und  Sprachunterricht  früher  durchaus  im  Vordergrunde  standen, 


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63 


haben  die  Naturwissenschaften  in  den  letzten  6—10  Jahren  nach  und  in  nicht 
unerheblichem  Umfange  in  den  verschiedenen  Schulen  Eingang  gefunden, 
so  dasa  es  heute  kaum  eine  bessere  englische  Anstalt  giebt,  die  nicht  Ab- 
schnitte aus  Physik,  Chemie,  Geologie  und  Geographie  oder  Botanik  in  ihren 
Ijehrplan  aufgenommen  hätte. 

An  den  „EJementary  Schools"  und  den  berühmten  vier  Public  Schools 
xu  Eton,  Harrow,  Rugby  und  Cbeltenham  erkennt  man  dem  naturwissen- 
schaftlichen, experimentellen  Unterrichte  eine  solche  Bedeutung  zu,  das» 
man  die  Schüler  und  Schülerinnen  schon  im  Alter  von  11  bis  12  Jahren 
einfache  physikalische  und  chemische  Versuche  ausführen  lässt.  Ueber  die 
Ausdehnung  des  Physik-  und  Chemieunterrichtes  an  den  einzelnen  Schulen 
triebt  uns  der  Verfasser  durch  ausführliche  Lehrprogramme  genauen  Auf- 
schluss.  Eine  weite  Verbreitung  haben  die  Schülerwerkstätten  an  den 
englischen  Anstalten  gefunden,  Ihr  Zweck  ist  Hand,  Auge  und  Körper 
zu  üben  und  nach  Mass  und  Zeichnung  Holzarbeiten  ausführen  zu  lassen. 

Die  englischen  Schulen  sind  weniger  nach  Systemen  eingerichtet, 
ml»  mit  Rücksicht  auf  jeweilige  Bedürfnisse  und  nach  Mass^abe  unmittel- 
barer Erfahrung.  So  nehmen  die  meist  städtischen  Technical  Schools  weit- 
gehende Rücksicht  auf  die  Industrie  des  Bezirkes,  in  dem  sie  liegen.  Den 
Bedürfnissen  einzelner  Gegenden  tragen  auch  die  in  neuester  Zeit  in  land- 
lichen Distrikten  mehrfach  errichteten  Agricultural  Schools  Rechnung.  An 
vielen  wird  Physik  und  Chemie  in  gut  eingerichteten  Laboratorien  gelehrt. 
Werkstätten  für  Holz  und  Metall  sorgen  für  die  praktische  Ausbildung. 
Auffallig  ist.  dass  an  vielen  der  höheren  —  unsern  Lateinschulen  ent- 
sprechenden —  Anstalten  andere  Zweige  der  Naturwissenschaften  als  Physik 
und  Chemie,  wie  z.  B.  Botanik  und  Zoologie,  weniger  gepflegt  werden, 
als  man  erwarten  sollte.  In  den  besseren  Schulen  ist  Biologie  eingeführt 
and  zwar  auch  wieder  experimentell. 

Die  Organized  Science  Schools  bieten  vorzugsweise  gründlichen  und 
lehrplan  massig  fortschreitenden  Unterricht  in  den  Naturwissenschaften. 
Den  an  ihnen  eingeführten,  von  berufenen  Männern  sehr  gut  durchgear- 
beiteten Lehrplan  für  Physik  und  Chemie  giebt  der  Verfasser  wieder. 

Ebenso  wie  an  den  Elementar-  und  Mittelschulen  der  naturwissenschaft- 
liche Unterricht  ganz  erheblich  an  Interesse,  Ausdehnung  und  Durchbildung 
gewonnen  hat,  ist  auch  an  den  Hochschulen  auf  diesem  Gebiet  ein  nicht 
geringerer  Fortschritt  zu  beobachten.  «England  ist  sehr  darauf  bedacht,  höhere 
technische  Unterrichtsanstalten  zu  schaffen,  nachdem  es  eingesehen  hat, 
wie  weit  ihm  Deutschland  in  dieser  Hinsicht  voraus  war.  Zwar  musste 
Balfour  im  Jahre  1896  noch  sagen,  dass  „„Deutschland  nicht  weniger  als 
•echs  grosse  elektrotechnische  Institute  besitze,  welche  nn vergleichlich 
besser  als  irgend  ein  ähnliches  in  England  wären"",  doch  sieht  man  an  dem 
Ton,  der  in  der  allerletzten  Zeit  bezüglich  dieses  Punktos  angeschlagen 
wird,  dass  England  rasch  den  deutschen  Fortschritten  nachzukommen  glaubt". 
„Während  wir  in  Deutschland  an  den  Hochschulen  die  ersten  und  vorzüg- 
lichsten Laboratorien  für  Physik  und  Chemie  hatten  und  schon  seit  den 
frühesten  Zeiten  selbständige  Untersuchungen  von  unseren  Studierenden 
ausführen  Hessen,  besitzen  englische   Hochschulen  grössere  Laboratorien 


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64 


für  selbständige  Untersuchungen  der  Studenten  erst  seit  wenigen  Jahren,"' 
dosgleichen  werden  in  England  elementare  Praktika  erst  seit  viel  kürzerer 
Zeit  abgehalten  als  bei  uns. 

Zwei  vorzüglich  ausgeführte  Tafeln,  die  eine  eine  Ansicht  und  die  Grund- 
risse des  neuen  physikalischen  Laboratoriums  von  Owens  College  in  Manchester, 
die  andere  zum  Vergleich  den  Grundriss  der  Technischen  Hochschule  in 
München  darstellend,  geben  uns  ein  Bild  von  dem  Umfange  eines  neueren 
englischen  Physiklaboratoriums. 

Nach  einem  kurzen  Abschnitt  über  die  „Gründe  für  die  Zunahme  des 
naturwissenschaftlichen  Studiums  in  England",  in  dem  besonders  der  er- 
zieherische Wert  der  Naturwissenschaften  —  speziell  der  Physik  und 
Chemie  —  betont  wird,  bespricht  der  Verfasser  eingehend  die  Methode  de« 
Unterrichts.  Charakteristisch  ist  es,  dass,  so  verschieden  auch  die  Arten 
und  Ziele  der  englischen  Schulen  sind,  die  Methode  des  naturwissenschaft- 
lichen Unterrichts  bei  allen  die  gleiche  ist.  Es  wird,  wie  an  unsern 
deutschen  Hochschulen,  den  Schülern  Gelegenheit  gegeben,  ihr  Wissen 
durch  praktische  Uebungen  zu  vertiefen.  „In  England  hat  man  diese 
Methode,  die  neben  der  Vorlesung  mit  rciu  rezeptiver  Thätigkeit  der 
Schüler  Selbstbetätigung  und  eigenes  Schaffen  in  den  praktischen  Uebungen 
verlangt,  noch  erheblich  weiter  auf  niederere  Schulen  ausgedehnt  und 
zu  Gunsten  des  Praktikums  verändert.  Wo  immer  ich  in  England  eine 
Schule  besuchte,  ist  stets  dort,  wo  Physik  oder  Chemie  gelehrt  wurde,  ein 
physikalisches  und  chemisches  Laboratorium  für  die  Schüler  vorhanden 
gewesen,  wenn  auch  mit  bescheidener  Ausstattung,  gleichviel  ob  die  Schule 
Elementar-,  Mittel-  oder  Hochschule  war.  Ja  im  Gegenteil,  der  praktische 
Unterricht,  d.  h.  das  eigene  Experimentieren  des  Schülers,  wurde  für  desto 
nötiger  erachtet,  je  jünger  der  Schüler  war  und  je  einfacher  der  zu  be- 
wältigende Stoff.  Je  weiter  die  Schüler  fortgeschritten  sind,  um  so  grösseren 
Umfang  nimmt  der  rein  theoretische  Unterricht  an ;  in  den  höhereu  Spezial- 
vorlesungen  der  Unvereität  Cambridge  wird  kein  Experiment  mehr  vor- 
geführt, je  mehr  aber  die  Vorlesung  die  Grundlagen  und  die  Begriffe  zu  ent- 
wickeln hat,  um  so  stärker  tritt  das  Experiment  in  den  Vordergrund.  Der 
in  den  Elementarvorlesungen  behandelte  Stoff  wird  in,  parallel  zur  Vorlesung 
laufenden  praktischen  Uebungen  vom  Studenten  jeweils  einige  Tage  nach 
der  Vorlesung  gründlich  verarbeitet". 

Die  Organized  Schools  of  Science  und  in  neuester  Zeit  auch  die 
Elementarschulen  gehen  in  der  Betonung  der  Wichtigkeit  der  Einführung 
physikalischer  und  chemischer  Grunderscheinungen  durch  Schülerversuche 
60  weit  als  irgend  möglich. 

Die  Ziele  dieser  Unterrichtsmethode  sind  in  der  Forderung  ausge- 
sprochen: „Man  solle  den  Schülern  nicht  nur  von  Dingen  erzählen  oder 
Dinge  zeigen,  sondern  man  solle  in  ihnen  die  Fähigkeit  entwickeln,  Auf- 
gaben selbst  durch  das  Experiment  zu  lösen  —  d.  h.  man  solle  sie  darauf 
hinleiten,  selbst  zu  „„entdecken"",  und  zwar  sollten  ihre  Entdeckungen 
in  enger  Beziehung  zu  den  Gegenständen  und  Erscheinungen  des  täglichen 
Lebens  stehen."  Dies  ist  in  kurzem  der  Inhalt  der  von  Prof.  H.  E.  Armstrong 
im  Jahre  1884  zuerst  öffentlich  vertretenen  „Heuristischen  Methode".  Im 


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Belichte  und  Besprechungen. 


65 


folgenden  fuhrt  Dr.  Fischer  einige  die  Methode  erläuternde  Abschnitte  aas 
den  von  der  Incorporated  Association  of  Headmasters  aufgestellten  Lehr- 
pl&nen  an.  Durch  die  Einführung  der  heuristischen  Methode  ist  „die  Not- 
wendigkeit der  Verbindung  von  praktischem  Unterricht  mit  Experimental- 
vortrfigen  erwiesen  worden,  und  es  hat  sich  als  Brauchbarstes  herausgestellt, 
rein  theoretischen  Unterricht  mit  Demonstrationen  und  individueller 
Thätigkeit  der  Schüler  zu  verbinden,  und  zwar  so,  dass  in  möglichst  engem 
Anschluss  an  Demonstrationen  und  den  theoretischen  Unterricht  von  den 
Schülern,  auch  von  den  jüngsten.  Versuche  im  Praktikum  ausgeführt 
werden . 

Im  weiteren  spricht  der  Verfasser  von  der  Ausbildung  der  Lehrer 
von  den  Lehrbüchern,  den  Lehrmittelsammlungen  und  schildert  darauf  ein- 
gehender die  englischen  Schülerlaboratorien  und  Schälerwerkstätten.  Eine 
Tafel  und  mehrere  Skizzen  veranschaulichen  diese  Einrichtungen  vortrefflich. 

Die  folgenden  kürzeren  Abschnitte  belehren  uns  über  die  Erfahrungen, 
die  man  in  England  mit  der  praktischen  („heuristischen")  Unterrichts- 
methode machte,  über  die  Ansichten  von  Engländern  über  deutsche 
Unterrichtsmethoden  und  über  die  in  Deutschland  herrschenden  Anschau- 
ungen von  der  in  England  eingeführten  Methode  des  Physik-  und  Chemie- 
unterrichtes. 

Berlin.  *  Wilhelm  Eirbler 


Ratgeber  zur  Einführung  der  erziehlichen  Knabeuhandarbeit. 

Herausgegeben  vom  Deutschen  Verein  für  Knabenhandarbeit. 

Leipzig.    Druck  und  Kommissionsverlag  von  Frankenstein 

A  Wagner.    1902.   120  S. 
Die  vom  Deutschen  Verein  für  Knabeuhandarbeit  unter  Mitwirkung 
namhafter  Sachverständigen  herausgegebene  Schrift  wird  durch  einen  kurzen 
Ueberblick  über  die  zwanzigjährige  Thätigkeit  des  Vereins  eingeleitet.  Sie 
ist  ans  dem  Bedürfnis  heraus  entstanden,  in  gedrängter  Form  alles  Wesent- 
liche seiner  Bestrebungen  zusammenzufassen,  das  Verständnis  und  Interesse 
an  diesen  Bestrebungen  anzuregen  und  denen,  welche  den  letzteren  prak- 
tisch näher  treten  wollen,  zweckmässige  Batschlage  zu  geben.    Die  Schritt 
enthält  'im  zweiten  Teile  äusserst  lehrreiche  Ausführungen  über  die  Be- 
deutung der  Knabenhandarbeit  im  allgemeinen.    Der  erste  Abschnitt  dieses 
Teiles  behandelt  „Die  Knabenhandarbeit  und  die  Erziehung",  der  folgende 
,.Die  Knabenhandarbeit  und  die  volkswirtschaftlichen  und  sozialen  Aufgaben 
unserer  Zeit"  Uberschriebene  betont  die  Bedeutung  der  technischen  Fähig- 
keiten, des  manuellen  Geschickes  in  dem  wirtschaftlichen  Daseinskampfe 
Deutschlands  mit  seinen  Konkurrenten.    Er  macht  darauf  aufmerksam,  dass 
die  Intelligenz  allein  den  Sieg  nicht  erzwingen  kann,  dass  der  findige,  ge- 
lenke,  flinke  Arbeiter  die  Truppe  bildet,  auf  die  es  ankommt.  da«s  wir  daher 
um  unserer  Zukunft  willen  ein  handfertiges  Volk  und  um  eines  solchen 
Volkes  willen  eine  handfertig  geübt«  .lugend  brauchen.    Wie  hoch  gerade 
unsere  Konkurrenten,  die  Franzosen,  Engländer.  Amerikaner  den  Nutzen 

Zeitschrift  für  pSdagr^i-^li«:  I'-vcholo-io,  l'athoKvic        Ihvunr.  * 


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66 


üirichtf  und  Hcsprtchunzen. 


dieser  Forderaug  anschlagen,  zeigt  die  Energie,  zeigen  die  bedeutenden 
Mittel,  mit  denen  sie  den  Arbeiteunterricht  aufgegriffen  und  gefördert  haben 
und  zwar  mit  dem  aasgesprochenen  Zweck,  die  Erwerbefähigkeit  ihrer 
Nation  zu  steigern.  Der  innerste  Beweggrund  für  die  Freunde  der  Hand- 
arbeit ist  der,  den  Schaffensmut,  die  Kraft  und  Lust  zur  That,  die  in  jedem 
Knaben  steckt  und  die  heute  —  vor  allem  in  unserm  unseligen  Stadtleben 
—  ertötet  und  missleitet  wird,  zu  erhalten  und  zu  stärken,  sie  zur  nützlichen, 
erfrischenden  Arbeit  zu  leiten.    Welche  edle,  bedeutungsvolle  Aufgabe! 

Weitere  Abschnitte  sind  betitelt:  „Die  Knabenhandarbeit  auf  dem 
Lande,  Die  Knabenhandarbeit  und  die  Erziehung  zu  Kunst  und  Hand- 
werk, Die  Knabenhandarbeit  und  Hygiene". 

Ein  dritter  Teil  belehrt  una  über  die  Geschichte  der  Knabenhandarbeit, 
über  cuV  Aufgaben  und  die  Organisation  des  Vereins  und  über  den  gegen- 
wärtigen Stand  des  Knabenhandarbeitsunterrichte«  in  Deutschland  und  im 
Auslande    Schliesslich  bringt  er  die  einschlägige  Litteratur. 

Den  praktischen  Anweisungen  ist  der  vierte,  bei  weitem  umfangreichste 
Teil  gewidmet.  Er  giebt  Auskunft  über  die  geeigneten  Lehrgegenstände, 
Ijehrgänge  und  die  entsprechende  Methode  der  für  Schülerwerkstätten  und 
Erziehungsanstalten  geeigneten  Unterrichtsfächer  der  Knaben handarbeit. 
Heber  den  Betrieb  derselben  auf  dem  Lande,  die  Herstellung  von  Lehr- 
mitteln ( Schulhandfertigkeit),  die  Einrichtungen  und  Kosten  der  Werkstätten, 
die  Ausbildung  von  Lehrern  erteilt  er  sachgemässe  Anleitung.  Mit  der 
Einführung  der  Knabenhandarbeit  in  die  Volksschule  und  ihrer  praktischen 
Durchführung  als  Unterrichtsgegenstand  nach  den  verschiedenen  Methoden, 
mit  der  Handarbeit  als  Lehrgegenstand  im  Seminar  und  in  der  Seminar 
Uebung8schule  beschäftigen  sich  die  folgenden  Abschnitte.  Die  Schrift 
schliosst  mit  Ratschlägen  für  die  Knabenhandarbeit  in  besonderen  Anstalten, 
in  der  Hilfsschule,  der  Taubstummen-  und  Blindenanstalt  und  im  Knabenhort. 

Man  muss  diese  anregenden,  gedankenreichen  Ausführungen  gelesen 
haben,  und  man  wird  von  der  grossen  erzieherischen  Bedeutung  des  Knaben- 
handarbeitsunterrichtes Überzeugt  werden.  Sicherlich  wird  die  Schrift  viele 
Behörden,  Korporationen,  Gemeinden  und  Lehrer  zur  Förderung  dieser 
segensreichen  Bestrebungen  anregen  und  dem  Deutschen  Verein  zahlreiche 
neue  Freunde  zuführen. 


Berlin. 


Wilhelm  Eichler. 


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Mitteilungen 


Kultusminister  a.  D.  Dr.  Bosse  und  der  Religions- 
unterricht in  den  Volksschulen. 
Ein  Brietwechsel  mitgeteilt  von  Wilhelm  Meyer- M  ar  kau. 

Der  Religionsunterricht  in  nnsern  Volksschulen  bedarf  der  Reform. 
Dag  ist  in  Fachkreisen  oft  behauptet  worden.  Aber  trotz  aller  pädagogischen 
Oründe  bleibt  es  gerade  in  diesem  Unterrichtsfache  beim  Hergebrachten. 

Da  wird  es  nun  weit  Aber  Fachkreise  hinaus  interessieren,  dass  selbst 
«in  strenggläubiger  Mann  wie  Kultusminister  Bosse  sich  den  Gründen  für 
«ine  Verminderung  der  Stoffmenge  im  Religionsunterrichte  nicht  verschloss. 
Ich  würde  es  für  ein  Unrecht  halten,  wollte  ich  die  Briefe,  die  der  Heim- 
gegangene  über  diesen  Gegenstand  mit  mir,  dem  einfachen  Volksschullehrer 
wechselte,  in  meinem  Pulte  vergraben  liegen  lassen.  Nicht  die  Sucht  also, 
öffentlich  meinen  Namen  neben  den  des  Staatsministers  gestellt  zu  sehen, 
treibt  mich,  diese  Briefe  drucken  zu  lassen,  sondern  ich  möchte  einer  von 
mir  wiederholt  vertretenen  wichtigen  Sache  einen  Dienst  erweisen.  Und 
das  vermögen  die  Briefe  des  Kultusministers  ganz  entschieden. 

Minister  Bosse  leitete,  als  er  noch  Direktor  im  Reichsamte  des  Innern 
■war,  in  seinen  Mussestunden  die  „Monatsschrift  für  deutsche  Beamte",  an 
der  ich  mitarbeitete.  Dadurch  trat  ich  zu  ihm  schon  damals  in  nähere  Be- 
ziehungen. So  auch  kam  es,  dass  ich  ihm  nach  seiner  Entlassung  als 
Kultusminister  meine  kleine  Schrift  „Sozialdemokratische  Jugendschriften* 
Bonn.  Soennecken)  zugehen  Hess.  Diese  Zusendung  wurde  Veranlassung 
dem  Briefwechsel  über  unsern  Religionsunterricht  in  Volksschulen,  den 
ich  nunmehr  folgen  lasse.    Der  eiste  Brief  des  Staatsministore  a.D.  lautete: 

Kaiserin  Augustastr.  57.  7.  November  18**9. 
Geehrter  Herr  Meyer! 
Empfangen  Sie  meinen  herzlichsten  Dank  für  die  neue  Freundlichkeit, 
die  Sie  mir  durch  die  Uebersendung  Ihres  Vortrags  über  Sozialdemokratische 
Jugendschriften  erwiesen  haben.     Ich  habe  ihn  mit   dem  lebhaftesten 
Interesse  gelesen.    Kann  ich  mich  auch  nicht  mit  jedem  Satze  identifizieren 
—  Sie  selbst  setzen  das  ja  auch  bei  Ihren  Zuhörern  nicht  voraus  — ,  so 
bin  ich  doch  völlig  einverstanden  mit  der  von  Danen  so  lichtvoll  darge- 
stellten und  quellenmässig  belegten  Grösse  der  Gefahr  und  mit  der  von 
Ihnen  in  erster  Linie  der  Volksschule  zugewiesenen  Aufgabe,  diese  Gefahr 
mit  Aufbietung  aller  Kraft  und  aller  vernünftigen  pädagogischen  Mittel  zu 
bekämpfen.    Wie  durch  Ihre  freundliche  Postkarte  aus  Holland1),  so  fühle 

»)  Ich  erfuhr  Bosses  Entlassung  erst  einige  Tage  später  auf  einer 
Bootsfahrt  von  Amsterdam  nach  dem  Eiland  Marken  und  hatte  ihm  dann 
sofort  vom  Schiffe  aus  eine  Karte  geschrieben,  die  ich  ohne  Namen  mit 
der  Unterschrift  „Ein  preussischer  Volksschnllehrer"  abgehen  Hess.  M.-M. 

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68 


Mitteilungen. 


ich  mich  auch  durch  diesen  Vortrag  mit  Ihnen  in  Anknüpfung  an  unsere 
früheren  litterarischen  Beziehungen  nahe  verbunden  und  bleibe  mit  be- 
sonderer Hochachtung  Ihr  dankbar  ergebener  Dr.  Bosse. 

Auf  dieses  Schreiben  antwortete  ich  Duisburg,  12.  November  18^8: 
Exzellenz!  Der  warme  Ton.  der  aus  Ew.  Exzellenz  Brief  mir  entgegen- 
klingt, lässt  es  mich  wagen,  das  folgende  an  Sie  zu  schreiben 

Eine  ernste  Sache,  die  mir  lange  auf  dem  Herzen  liegt,  und  deren 
Erörterung  für  einen  tief  unten  in  der  Beamtenhierarchie  stehenden  Volks- 
schullehrer  nicht  ohne  alle  Gefahr  ist,  möchte  ich  Ew.  Exzellenz  znr  hoch- 
geneigten Beurteilung  unterbreiten, 

Ew.  Exzellenz  können  sich  nach  Ihrem  Briefe  nicht  mit  jedem  Satze 
meiner  Sozialdemokratischen  Jngendschrüten  identifizieren,  was  Sie,  als  von 
mir  vorher  eingesehen,  ganz  richtig  voraussetzen.  Zu  diesen  öatzen  rechne 
ich  wohl  mit  Recht  diejenigen  über  den  Religionsunterricht. 

Ich  komme  je  länger  desto  mehr  zu  der  Ueberzeugung.  das*  des 
religiösen  Lehr-  und  Lernstoffes  für  die  Kinder  in  unseren  Volksschulen 
viel  zu  viel  ist,  und  dass  darum  in  pädagogisch  verkehrter  Weise  Religions- 
unterricht gegeben  werden  muss.  Jahr  für  Jahr  bekommt  das  Kind  die- 
selben biblischen  Geschichten  in  konzentrischen  Kreisen  vorgeführt,  und 
immer  wieder  muss  es  diese  Geschichten  nacherzählen.  Der  Lehrer  kann 
den  Stoff  kaum  ausser! ich  bewältigen.  Worauf  läuft  es  denn  im  biblischen 
Geschichtsunterrichte  vorzugsweise  hinaus?  „Erzähle!"  „Sa^e  den  Sprach, 
den  Vers  auf!"  Das  ist  nicht  «ölten  die  Ivosung  bei  Revisionen.  Und  deren 
hat  ein  preussiseber  Lehrer  bei  der  hier  zu  Lande  engen  Aulsicht  nach 
meiner  vielleicht  unbescheiden  zu  nennenden  Meinung  auch  zuviel:  zuviel, 
weil  für  diese  Revisionen  zuviel  ge — arbeitet  werdeu  muss.  Wir  Lehrer 
an  Volksschulen,  wo  hausliche  Nachhilfe  kaum  vorkommt,  könneu  im 
Religionsunterrichte  vor  lauter  Erzählen  und  Aufsagenlassen  nicht  Zeit  ge- 
winnen, den  Stoff  geistig  zu  vertiefen;  Wort-  und  Sacherklärungen  müssen 
vielfach  genügen.  Da  müsste  Abhilfe  geschaffen  werden.  Dass  dies  nicht 
durch  noch  mehr  Religiousstunden  geschehen  kann,  ist  jedem  vorurteils- 
freien Fachmann  klar.  Und  da  meine  ich,  man  solle  einen  erheblichen 
Teil  der  biblischen  Geschichten  des  Alten  Testamentes  vom  Lehrplane  der 
Volksschule  streichen.  Eine  knappe  Begründung  dieser  Forderung  enthält 
ja  mein  Vortrag  schon;  aber  ich  möchte  Ew.  Exzellenz  mit  Direr  jrütigen 
Erlaubnis  wenigstens  noch  einen  neuen  Grund  unterbreiten. 

Als  ich  seiner  Zeit  800  Fremdwörter  aus  unseren  Volksschuilesebü  ehern 
zusammenstellte,  erregte  das  in  Fachkreisen  ein  gewisses  Aufsehen;  eine 
so  hohe  Zahl  hatte  man  nicht  für  möglich  gehalten.  Jetzt  habe  ich  über 
200  vorzugsweise  hebräische  Namen  aus  einem  jetzt  vielerorts  eingeführten 
Biblischen  Geschichtsbuche  von  Armstroff  zusammengestellt,  die  ich  mir 
beizulegen  erlaube.  Wer  hat  wohl  für  möglich  gehalten,  dass  wir  unsern 
deutschen  Volksschülern  zumuthen,  so  viele  Namen  einer  fremden  Vor- 
geschichte sich  einzuprägen?  Dazu  finden  sich  darunter  Namen,  über  deren 
Vorkommen  im  Zusammenhange  der  betreffenden  biblischen  Geschichte  kaum 
alle  Theologen  sofort  Auskunft  zu  geben  vermögen.  Macht  es  ein  Kind 
besser  —  denn  darauf  sollte  doch  im  Religionsunterricht  ganz  besonders 


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Mitteilungen. 


69 


Gewicht  gelegt  werden  —  wenn  es  Ahab  nnd  Aha«,  Ahimelech  nnd  Abi- 
melech,  Abiram  nnd  Abarim,  Elieaer  nnd  Eleaser  n.  8.  w.  u.  8.  w.  unter- 
scheiden kann?  wenn  es  von  Moabitern  nnd  Medianitern,  Amalekitern  nnd 
Ammonitern  nnd  ähnlichen  Völklein  zn  erzählen  weiss  n.  dgl.  mehr?  Es 
wäre  fiber  Gebühr  unbescheiden,  wollte  ich  mich  noch  weiter  hierüber  aus- 
lassen. Ich  fühlte  indessen  das  Bedürfniss,  vor  Ew.  Exzellenz  meine  Ansicht 
mit  diesem  bislang  wohl  kaum  irgendwo  vorgebrachten  Grunde  zu  belegen. 

Wenn  es  nicht  anmassend  ist,  so  möchte  ich  Ew.  Exzellenz  ehrerbietigst 
bitten,  in  Kreisen,  die  sich  dafür  interessieren,  die  Angelegenheit  auch  nach 
dieser  Seite  hin  gelegentlich  zur  Sprache  zu  bringen,  damit  so  durch 
TJrtheile  von  hüben  und  drüben  Klarheit  über  diese  Dinge  nnd  gegenseitige 
Verständigung  angebahnt  werde.  Wir  wollen  ja  oben  und  unten,  rechts 
wie  links  alle  das  beste  des  Volkes  zu  fördern  suchen,  und  da  thut  in  allen 
Schichten  noth,  da  es  einer  des  andern  Ansichten  ohne  Leidenschaftlichkeit 
pröft  und  beurtheilt.  Darum  anch  habe  ich  es  gewagt,  in  di'-ser  Weise 
nnd  über  eine  anscheinende  Aeusserlichkeit  an  Exzellenz  zu  schreiben. 

Ehrerbietigst  Meyei  -Markau. 

Wenige  Tage  spater  erhielt  ich  folgendes  Schreiben: 

Berlin  W.,  Kaiserin  Augusrastr.  57,  H>.  November  1899 
Sehr  geehrter  Herr  Meyer! 

Dire  Annahme,  dass  mein  Vorbehalt  bezüglich  meiner  Zastimmung 
zu  Diren  ..Sozialdemokratischen  Jugendschriften4*  sich  auf  den  Religions- 
und biblischen  Geschichtsunterricht  bezog,  ist  zutreffend.  Mit  dem  höchsten 
Interesse  habe  ich  jetzt  in  Ihrem  Briefe  vom  14.  d.  M.  die  näheren  Aus- 
führungen über  Ihre  Gedanken  bezüglich  einer  anderen  Gestaltung  des 
Religionsunterrichts  gelesen.  In  den  Zielen  sin  wir  danach  ganz  einig, 
während  ich  bezüglich  der  Mittel  und  Wege  nicht  durchweg  mitkommen 
kann  und  die  Sache  etwas  anders  ansehe  wie  Sie.  Das  Ziel  ist  uns  beiden 
Der  Religionsunterricht  soll  nicht  etwas  Aeusserliches,  Gedächtnissmässiges 
bleiben,  er  hat  nur  wirklichen  Werth,  soweit  er  das  Kind  religiös  anfasst, 
religiös  anzieht.  Nun  mag  ja  in  verschiedenen  Volksschulen  die  Methode1 
unverständig  sein  und  noch  unverständiger  gehandhabt  werden,  aber  im 
Grunde  wollen  doch  auch  die  allgemeinen  Bestimmungen  nichts  anderes 
erreichen,  als  was  Sie  und  ich  wollen.  In  diesem  Punkte  stund  der  alte 
Geheime  Rath  Schneider  völlig  korrekt.  Nun  klagen  Sie,  dass  bei  Ihnen  im 
Westen  im  Religionsunterricht  zu  viel  des  Erzählens  und  des  Aufsagen- 
könnens getrieben  und  gefordert  werde.  Ja,  das  ist  eben  ein  Fehler  der 
Methode,  den  ein  treuer  und  gescheidter  Lehrer  —  auch  jedem  verbohrten 
Revisor  zum  Trotz  —  unter  allen  Umständen  vermeiden  muss.  Ihr  Brie! 
mit  mir  eine  betrübende  Versäumnis«  ins  Gewissen,  die  icli  noch  nach- 
holen zu  können  hoffte.  Ich  habe  nämlich  im  Westen,  also  am  Rhein,  in 
Nassau  und  Westfalen  leider  nur  äusserst  wenig  Volksschulen  gesehen  und 
revidiert.  Es  mag  sein,  dass  bei  Ihnen  die  Schulau  i  Sichtsorgane  anspruchs- 
voller sind  bezüglich  des  den  Kindern  einznprägenden  biblischen  Stoffes  als 
bei  uns  und  im  Osten.  Ich  habe  öBtlich  der  Elbe  doch  mindestens  in 
o(X>  Volksschnlklassen  biblische  Geschichte  gehört.  Ich  kann  nur  sagen, 
dass  ich  zwar  nicht  immer  befriedigt  gewesen  bin  —  es  gab  auch  da  me- 


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70 


Mitteilungen. 


chanischen  Kram  geuug  und  übergenug  -,  aber  im  grossen  und  ganzen 
war  die  Sache  doch  richtig  aufgezogen.  Nirgends  habe  ich  eine  zu  weite 
Umgrenzung  des  Stoffes  gefunden.  Nirgends  wurde  von  den  Schulrathen 
und  von  den  Kreisschulinspektoren  zu  eingehendes  Detail,  z.  B.  aus  der 
jüdischen  Geschichte  verlangt.  Im  alten  Testament  kehrte  immer  wieder: 
Schöpfungsgeschichte,  Sundenfall,  Sindrluth,  Noah,  Abraham,  Moses,  Joseph, 
David  und  Goliath,  Salomos  Urtheil,  Absalon  und  etwa  noch  die  Ge- 
schichte von  dem  armen  Naboth  und  Ahab.  Diese  ausgewählten  Geschichten 
wurden  ebenso  wie  das  neue  Testament  durchschnittlich  angemessen,  jed<  n- 
fails  besser  als  in  meiner  Jugendzeit  behandelt,  und  einige  Landschulen 
habe  ich  gefanden,  wo  Lehrer  und  Kinder  in  der  —  ich  kann  es  nicht 
anders  nennen  —  fröhlichen  Wärme  echt  religiösen,  tbatkraftigen  Empfindens 
oder  vielmehr  in  dem  richtigen  Ausdruck  dieses  Empfindens  geradezu 
Ideales  leisteten.  Dem  gegenüber  habe  ich  es  immer  bedauert,  wenn  sich  das 
berechtigte  Verlangen,  den  Religionsunterricht  zu  einer  gemüth-  und  herz- 
bildenden Unterweisung  auszugestalten  in  einer  Form  äusserte,  die  vielfach 
zu  der  Auffassung  führte,  es  werde  bei  uns  zu  viel  Werth  auf  die  Religion 
gelegt,  man  müsse  die  Religion  aus  dem  Lehrplan  der  Volksschulen  ganz 
oder  doch  fast  ganz  ausschalten.  Weder  Sie  noch  ich  wollen  das;  aber 
ich  bin  nicht  sicher,  ob  nicht  die  Sozialdemokraten  sagen  werden:  Herr 
Meyer-Markau  hat  überzeugt  und  überzeugend  ausgesprochen,  dass  dt-r 
Religionsunterricht  in  der  Volksschule  nichts  taugt. 

Ich  hatte  vor,  die  „AUg.  Bestimmungen"  durch  eine  Kommission,  der 
einige  gescheidte  Lehrer  angehören  sollten,  revidieren  und  vereinfachen 
zu  lassen.  Denn  Einfachheit  ist  das  Siegel  der  Richtigkeit,  meistens  sogttr 
der  Grösse.  Das  mögen  nun  meine  Nachfolger  thun.  Die  mir  gesandten 
300  iremdeu,  meist  hebräischen  Namen  aus  Armstroff  sind  ja  sehr  charak- 
teristisch, aber  Sie  werden  mir  zugeben,  dass  ein  vernünftiger  Lehrer  dieso 
300  Namen  keineswegs  den  Kindern  einprägen  wird.  Von  den  29  der  erst*  n 
Längsreihe  sind  höchstens  neun  für  den  bibl.  Geschichtsunterricht  nöthig. 
von  der  zweiten  Längsreihe  nur  vier,  und  ähnlich  steht  es  mit  den  anderen. 

Ich  bin  ja  kein  Fachmann.  Ich  habe  uur  immer  versucht,  mir  über 
Fragen  dieser  Art  mit  Rücksicht  auf  die  ungeheure  Verantwortung,  die 
mir  oblag,  klar  zu  weiden.  .Sachlich  sind  wir  ja  einig;  mein  Vorbehalt 
betraf  nur  Form,  Methode  und  Ausdrucks  weise. 

Jedenfalls  danke  ich  Ihnen  für  Ihre  Aussprache  und  Ihr  Vertrauen 
sehr  herzlich  und  bleibe  Lhnen  in  aufrichtiger  Hochachtung  treu  verbunden 
als  Ihr  ergebener  Bosse. 

Mehr  als  zwei  Monate  später  wandte  ich  mich  nochmals  an  den 
Minister: 

Duisburg,  den  21'  Dezemlwr  1899 
Exzellenz!  Die  Befürchtung,  Ew.  Exz-llenz  als  rechthaberisch  zu 
erscheinen,  hat  mich  bis  heute  zaudern  lassen,  Ihnen  nochmals  über  den 
Religionsunterricht  zu  schreiben.  Aber  je  öfters  ich  Ew.  Exzellenz  Briet* 
durchlese,  desto  mehr  bedauere  ich.  weniger  klar  mich  ausgedrückt  zu 
haben.  Mit  Ew.  Exzellenz  Erlaubnis  bin  ich  deshalb  so  frei,  auf  ihren 
hochgeschätzten  Brief  näher  einzugehen. 


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Mitteilungen. 


71 


Exzellenz  sprechen  die  Vermuthung  ans.  da*«  die  Methode  in  vielen 
Volksschulen  beim  Religionsunterricht  unverständig  sein  und  unverständig 
gehandhabt  werden  möge.  Verzeihen  Ew.  Exzellenz:  nicht  die  Methode 
ist  unverstandig,  sondern  die  amtlichen  Vorschriften  über  die  Stoffmenge 
sind  nicht  angemessen.  Der  theologische  Fachgelehrte  redet  aus  allen  mir 
bekannt  gewordenen  Stoffverteilungsplanen,  und  jeder  Fachmann  —  das 
ist  menschlich  —  möchte  aus  seinem  Gebiete  möglichst  viel  in  die  Schule 
hineingebracht  wissen.  Hätten  beispielsweise  Aerzte  denselben  Ein  Hast»  auf 
das  niedere  Schulwesen  wie  die  Geistlichen,  so  würden  wir  Lehrer  unter 
einer  Stofflast  in  Anthropologie,  und  in  Naturkunde  überhaupt,  zu  seufzen 
haben.  Der  Fachgelehrte  verliert  den  Maßstab  für  das,  was  von  seinen 
vielseitigen  Kenntnissen  wirklich  kinderleicht  und  von  Kindern  stofflich 
zu  bewältigen  möglich  ist.  An  jenem  Morgen,  an  dem  Dir  geschätzter 
Brief  ohne  mein  Wissen  schon  in  meiner  Wohnung  lag,  hatte  ich  im 
vierten  Schuljahre  das  Lied  „Nun  danket  alle  Gott"  mit  vorwiegend 
Arbeiterkindern,  deren  Sprache  niederrheinisches  Platt  ist,  zu  behandeln. 
Es  widerstrebte  meinem  pädagogischen  Gewissen,  die  Strophen,  in  Kurze 
erklärt,  zum  Lernen  aufzugeben;  es  ist  das.  trotzdem  wir  stofigeplagten 
Schulmeister  oft  nicht  anders  handeln  können,  schlimmer  als  Thierqu/llerei, 
weil  die  reinste  Kinderquälerei.  Ich  habe  vorgesprochen  und  vorgesprochen, 
erklärt  und  wieder  erklärt,  an  die  Wandtafel  geschrieben,  „und  noch  jetzund 

gethan"  zuerst,  dann  in  8trophe  3  „jetzund  und  immerdar",  und  die 

Schwächsten  haben  es  weder  sprachlich  noch  inhaltlich  begreifen  können. 
Wohl  dreiviertel  Stunden  hat  es  gedauert,  durch  Vor-  uud  Nachsprechen 
eine  einzige  der  Strophen  einzuprägen.  Und  anderen  Morgens  ging's  doch 
wieder  nicht  bei  allen  Schülern.  Bei  dieser  Art  der  Schulthätigkeit  hätten 
Exzellenz  zugegen  sein  müssen;  da  offenbarte  sich,  wie  uns  Volksschul- 
lehrern ja  stundlich,  der  nicht  scharf  genug  zu  bekämpfende  „didaktische 
Materialismus".  In  dreiviertel  Stunden  eine  Strophe!  Und  was  schreibt 
mir  die  P»  nsenverteilung  für  die  vier  Religionsstunden  betreffender 
Woche  vor? 

Hochzeit  zn  Kana. 
Speisung  der  5«HX>. 
Petri  Fischzug. 
Jesus  stillet  den  Sturm. 
Die  Werke,  die  ich  thue 
Reich  wird  der  arme  Mann  — 
Er  kennt  die  rechten  Freudenstunden  — 
Wir  sahen  seine  Herrlichkeit 
Tischgebete,  i!) 
Nun  danket  alle  Gott 
Der  Segen  des  Herrn  macht  reich  — 
Wer  mir  will  nachtuigen  — 
Ach  bleib  mit  deiner  Gnade  1  o. 
Mir  ist  gegeben  alle  Gewalt  — 
( beschichten  und  die  meisten  Spruche,  auch  Liedstrophen  werden  freilich 
vom  vorigen  Jahre  her  wiederholt.  Aber  da  tritt  wieder  ein  neuer  pädagogischer 


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72 


Mitteilungen. 


Revisorenunverstand  zu  Tage:  „Die  Kinder  sollen  den  Stoff  immer  präsent 
haben !"  Als  ob  die  Kleinen  das  alles  ein  Jahr  lang  und  langer  zu  behalten 
vermöchten,  was  alles  im  Laufe  eines  Schuljahres  an  sie  herangebracht 
wird!  An  den  Stoffen  soll  die  geistige  Kraft  des  Kindes  geübt  werden: 
das  sollte  bis  auf  gewisse  Ausnahmen  ihr  Schulzweck  sein.  Die  Jungen 
tragen  die  Leitern,  an  denen  sie  klettern  lernen,  doch  nicht  auch  stets  mit 
sich  herum!  Allein  bei  Wissensstoffen  verlangt  der  Durchschnittsrevisor 
das  geistige  Klettergerüst,  den  Stoff,  stets  präsent,  und  hapert's  damit,  so 
geht's  wohl  wie  neulich  in  einer  Nachbarstadt,  wo  die  armen  Würmer  des 
ersten  Schuljahres  den  Kreisschulinspektor,  der  ein  „Studierter44  ist,  die 
Fragen  nach  den  sechs  Tagewerken  der  Schöpfungsgeschichte  nicht  be- 
antworten konnten,  und  der  Lehrer  zur  Strafe  ein  Protokoll  unterschreiben 
mus^te. 

Exzellenz  meinen,  der  Lehrer  müsste  den  „Fehler  der  Methode44  des 
vielen  Aufsagen lassens  dem  verbohrtesten  Revisor  zum  Trotz  vermeiden. 
Was  würde  die  Folge  für  den  Lehrer  sein?  Massregelung!  .Dagegen 
giebt's  den  Beschwerdeweg  an  die  höhere  Instanz!44  „Glauben  Sie  doch 
nicht  ,  dass  der  Minister  anders  entschiede  als  die  Regierung!44  ist  mir  mehr 
als  einmal  vom  Vorgesetzten  gesagt  worden,  und  es  hat  noch  jedesmal 
gestimmt. 

Exzellenz  wollen  sich  nach  beifolgender  Stoffvertheilung  einmal  über- 
zeug-n,  wie  wir  in  unsern  Volksschulen  die  Kinder  mit  Religionsstoff 
geistig  zu  erdrücken  haben.  Ich  weise  z.  B.  hin  auf  die  Wochen  27  und  30 
des  vierten  Schuljahres  und  bitte,  dazu  das  beiiolgende  biblische  Geschichts- 
buch gütigst  zur  Hand  nehmen  zu  wollen!  Da  werden  Exzellenz  sehen, 
dass  sich  unter  der  Ueberschrift  „  Krankenheilungen4'  vier  Geschichten  ver- 
bergen, so  dass  in  jener  Woche  ausser  Sprüchen  und  Liedern  sechs  Ge- 
schichten zu  —  —  behandeln  sind.  In  der  30.  Woche  sind 's  gar  sieben 
Gleichnisse,  jedes  einzelue  der  Behundlung  ist  ein  bis  zwei  Stunden  werth. 
Ich  könnte  aus  der  Pensenvertheilung  noch  mehr  Belege  für  meinen 
pädagogischen  Widerwillen  siegen  diese  geistige  Wurststopf methode  an- 
führen, doch  Exzellenz  finden  solche  selber  in  Hülle  und  Fülle.  Exzellenz 
könnten  auf  den  Gedanken  kominon,  als  wollte  ich  nur  den  Religions- 
unterricht in  Duisburger  evangelischen  Schukm  als  einen  verkehrten  hin- 
stellen. Durchaus  nicht!  Unser  Schulinspektor  ist  ja  wirklicher  Fachmann 
und  liissi  uns  in  diesen  Dingen,  soviel  er  kann,  noch  so  eiuigermassen  frei 
gewähre:!.  Nein,  so  wie  in  Duisburg,  so  ist's  überall  im  Lande,  im  Osten 
sowohl,  wie  auch  in  Berlin.  Es  würde  nach  Klatsch  aussehen,  wollte  ich 
anfuhren,  was  mir  einer  der  Duisburger  Theilnehmer  an  dem  von  Ew. 
Exzellenz  (auch  so  recht  zur  Freude  von  uns  Lehrern)  eingerichteten 
Universitätskursus,  für  Volksschullehrer  von  der  vorigjährigen  amtlichen 
Erfahrung  eines  berliner  Amtsgenossen  erzählte,  b-  i  dem  der  Geistliche  im 
.  Migionsunterriehte  hospitiert  hatte. 

Exzellenz  machen  sich  Vorwürfe,  Schulen  des  Westens  nicht  revidiert 
zu  haben,  loh  bin  sicher,  Exzellenz  hätten  auch  hier  aus  dem  Alten 
Testament  von  Abraham,  Moses  und  was  Exzellenz  aus  den  Schulen  des 
Osten  ,  ort'nhren,  vernommen.    Als  Exzellenz  Falk  seiner  Zeit  hier  war. 


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Mitteilungen. 


73 


■wurde  eigens  eine  Volksschule  geweisst  and  als  kleine«  Potemkinsches  Dorf 
in  Stand  gesetzt,  was  übrigens  hierorte  kaum  nÖtbig  gewesen  wäre;  in  diese 
Schale  wurde  der  Herr  Minister  geführt.  Wenn  der  Herr  Minister  kommt, 
so  sind  alle  Revisoren  von  der  Regierung  bis  untan  hin  natürlich  einmttthig 
des  Bestrebens,  dem  höchsten  Vorgesetzten  nur  Einwandfreies  vorzuführen. 
Da  verfallt  man  nicht  auf  abstossende,  das  Gefühl  der  Kinder  abstumpfende 
Stoffe,  wie  die  Massenabsehlaohtung  der  Baalspriester  u.  dgl. 

Beim  Revidieren  überhaupt  —  ich  spreche  jetzt  allgemein  —  klingt 
Aufsagen  von  Sprüchen  und  Liedern  niemals  nach  den  Kinderthränen,  die 
so  oft  daran  kleben,  sondern  dem  Lehrer  nur,  sobald  die  Kinder  nicht 
bombensicher  im  Aufsagen  sind,  nach  Nasen. 

Ew.  Exzellenz  Zeugniss  über  den  Religionsunterricht  in  den  von  Ihnen 
revidierten  Schulen  ehrt  nicht  nur  meine  betreffenden  Amtsgenoasen,  sondern 
den  ganzen  Lehrerstand,  und  das  um  so  mehr,  wenn  man  sich  vergegen- 
wärtigt, welche  unnöthigen  stofflichen  Schwierigkeiten  wir  zu  überwinden 
haben.  Das  Urtheil  lässt  mich  wieder  den  grossen  Verlust  schmerzlich 
ermessen,  den  Preussens  Volksschullehrer  durch  Ew.  Exzellenz  Abgang 
erlitten  haben.  Mich  aber  lässt  Ihr  ganzer  Brief  vor  mir  selber  in  einem 
mir  peinlichen  Lichte  erscheinen.  Warum  habe  ich  nicht  den  Math  gehab  t 
einmal  offen  Exzellenz  meine  Ansichten  über  den  Religionsunterricht  zu 
unterbreiten!  Vielleicht  wäre  mein  geringes  Wort  doch  nicht  ganz  angehört 
verhallt.  Ich  hätte  auch,  das  sehe  ich  jetzt  ein,  Ew.  Exzellenz  ruhig  sagen 
dürfen,  dass  ich  allemal  dann,  wenn  ich  die  Herrschalt  der  Geistlichen 
über  die  Schule  von  Geistlichen  mit  der  religiös-sittlichen  Erziehung  der 
Jagend  begründen  höre,  auch  der  Ansicht  nicht  ernstlich  habe  wider- 
sprechen können,  der  Religionsunterricht  würde  neben  dem  Schulunterricht 
am  besten  von  den  Geistlichen  ertheilt.  Dann  hätten  die  Herren  die  Arbeit, 
und  Arbeit  von  unten  an  bringt  Einsicht  in  die  Arbeitsschwierigkeiten; 
ist  auch  nicht  so  angenehm  wie  herrschen.  Das  Volk  freilich,  das  fährt 
bester  dabei,  wenn  die  pädagogisch  geschulten  Lehrer  den  Religionsunter- 
richt ertheilen.  Warum  sie  aber  darum  nun  auch  unter  geistlicher  amtlicher 
Aufsicht  stehen  müssen,  vermag  ich,  Exzellenz  verzeihen,  nicht  einzusehen. 
«Jammerschade  auch,  dass  Ew.  Exzellenz  Plan,  die  allgemeinen  Bestimmungen 
zu  revidieren,  nicht  ausgeführt  wurde!  Der  Geist  der  allgemeinen  Be- 
stimmungen ist  ja  gut;  aber  ihre  Ausleger  traten  gegenüber  deu  Regulativen 
zu  weit  auf  das  andere  Endo  des  Brettes.  Die  allgemeinen  Bestimmungen 
bringen  bei  einseitiger  Auslegung  zu  viel  des  Wissensstoffes  an  die  Kinder. 

„Da  liefert  der  Meyer- Markau  ausser  deu  Sozialdemokraten  auch  noch 
den  Ultramontanen  Wasser  auf  ihre  Mühle!"  Doch  nicht!  Exzellenz 
werden  Uberzeugt  sein,  dass  ich  es  anders  als  diese  meine.  Und  nun  die 
31 K)  hebräischen  Namen!  Armstroff  bringt  übrigens  sicher  nicht  mehr,  eher 
weniger  als  andere  biblische  Geschichtsbücher.  Den  Knecht  Abrahams  zum 
Beispiel  benamst  er  ja  nicht  einmal.  Ew.  Exzellenz  richtige  pädagogische 
Einsicht  würden,  das  beweist  mir  die  angeführte  Auswahl  —  9  und  3  von 
je  *9  —  auch  hier  „die  Einfachheit  als  Siegel  der  Richtigkeit"  angeordnet 
haben,  wenn  jene  Revision  der  allgemeinen  Bestimmungen  zu  Stande  ge- 
kommen wäre.  Aber  ich  muss  Ew.  Exzellenz  darin  widersprechen,  dass  die 


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74 


.\f ittrilungen . 


Namen  nicht  eingeprägt  würden.  Nicht  reihenweise,  nicht  sygteniatiach- 
vokabelgemäss,  nein!  aber  der  Stoff  hängt  ja  daran,  man  kann  ihn  ja  im 
Unterricht  gar  nicht  davon  loslösen.  Und  so  lernen  unsere  deutschen 
Bauern-  und  Bärgerkinder  im  Schweisse  ihres  Angesichts  die  300  alttesta- 
mentlichen  Namen  mit,  um  sie  glücklicherweise  nach  der  Schulzeit  bald 
wieder  zu  vergessen.  Als  ob  man  einem  guten  nahrhaften  Essen  Kiesel- 
steine zusetzen  müsste,  damit's  besser  bekomme!  Die  Namen  charakterisieren 
nach  meiner  Meinung  so  recht  den  Einfluss  des  theologischen  Fachgelehrten - 
thnms  auf  die  Volksschule. 

Verzeihen  Exzellenz  hochgeueigtest  meine  Derbheit,  so  bitte  ich  recht 
sehr;  sie  ist,  wenn  auch  nicht  schön,  so  doch  —  das  brauche  ich  wohl  nicht 
besonders  zu  versichern  —  ehrlich  der  Sache  wegen  Und  dies  wird  mich, 
so  wage  ich  zu  hoffen,  bei  Ew.  Exzellenz  in  etwa  entschuldigen.  Ehr- 
erbietigst Meyer- Markau. 

Dr.  Bosse  erwiderte  alsbald: 

Berlin  W.,  Kaiserin  Augustastr.  57,  1.  Dezember  1899. 
Sehr  geehrter  Herr  Meyer-Markau! 

Haben  Sie  vielen  Dank  für  Ihren  ausführlichen  Brief  vom  29.  v.  M. 
Er  interessiert  mich  in  hohem  Grade,  und  ich  habe  mehr  daraus  gelernt» 
als  aus  vielen  Vorträgen  von  Ministeriairathen.  Sie  brauchen  sich  wirklich 
nicht  zn  entschuldigen.  Ich  bin  Ihnen  vielmehr  dankbar  verpflichtet.  Ich 
bedauere  mit  Ihnen,  dass  wir  zu  dieser  Aussprache  über  eine  so  wichtige 
pädagogische  Frage  erst  so  spät  gekommen  sind,  zu  spat,  nm  unmittelbare 
praktische  Folgen  daran  zu  knüpfen.  So  wird  unsere  Au-ss^ruclie  o  «.r 
richtiger  Ihre  Aussprache  gegen  mich  vor  der  Hand  wohl  nur  einen  aka- 
demischen Werth  haben.  Ich  hoffe  aber,  dass  Sie  die  Mühe  nicht  gereuen 
wird,  denn  schliesslich  ist  kein  Wort  ganz  vergeblich,  das  —  sei  es  auch 
nur  einem  einzelnen  Mitmenschen  gegenüber  —  der  Wahrheit  dient.  Die 
Hevision  der  Allg.  Bestimmungen  auch  nach  der  ven  Ihnen  behandelten 
Seite  hin  wird  und  muss  kommen,  und  da  die  Vorbereitungen  dazu  längst 
eingeleitet  sind,  so  wird  es  hoffentlich  nicht  allzu  lange  dauern,  bis  man 
von  dem  Fortgange  auch  nach  aussen  hin  etwas  merkt.  Wenn  sich  nur 
der  rechte  Mann  imvMiiüsterinm  findet,  der  die  Sache  mit  Ernst  und  Un- 
befangenheit anfasst.  Der  Minister  wird  dann  von  selbst  hellhörig  werden 
und  zum  Abschluss  treiben.  Ich  kann  ja  jetzt  —  schon  aus  Gründen  des 
Taktes  —  wenig  dazu  thun,  zumal  ich  für  dieses  besondere  Gebiet 
weder  Fachmann  noch  Autorität,  sondern  lediglich  ein  Lernender  und  Di- 
lettant bin. 

Mit  gröbstem  Interesse  habe  ich  die  mir  übersandte  „Vertheüung  des 
religiösen  Lehrstoffes"  und  auch  den  Stoffverteilungsplan  für  Heimatkunde 
und  Geographie  durchgesehen.  Fast  noch  mehr  interessiert  mich  das  Ann- 
stroffsche  Religionsbuch,  das  mir  ausserordentlich  gefällt.  Ich  habe  es  hier 
behalten,  bitte  Sie,  mir  das  nicht  übel  zu  nehmen,  und  füge  den  Preis  mit 
85  Pf.  in  Briefmarken  bei.  Ebenso  schliesse  ich  die  Stoffverteilungspläne 
wieder  an.  Ich  nehme  keinen  Anstand  anzuerkennen,  dass  auch  mir  die 
Stofffülle,  deren  Verarbeitung  den  Kindern  und  dem  Lehrer  vorgeschrieben 
ist,  für  die  Schule  zu  reichlich  erscheint,  so  dass  Zeit  und  Kraft  nicht  aus- 


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MittsÜUN'Ctt. 


75 


reichen,  uxn  alles  zu  bewältigen  und  das  jetzt  bemessene,  an  sich  gewiss 
wünschenswerthe  Ziel  am  erreichen.  Soweit  ich  es  verstehe,  Hesse  sich  der 
Stoff  der  bibl.  Geschichte  und  der  Kirchenlieder  recht  wohl  noch  weiter 
einschränken.  Ihr  religiöser  Stoff  vertheilungsplan  ist  in  diesem  Umfange 
selbst  bei  einem  so  ansprechenden  Hilfsmittel,  wie  es  das  Armstroffsche 
Religionsbuch  ist,  auch  von  einem  geschickten,  eifrigen  und  gewissenhaften 
Innrer  nicht  vollständig  zu  blasen.  Ich  glaube  auch  nicht,  dass  er  in 
▼ollem  Umfange  geblasen  wird.  Das  erscheint  mir  nur  bei  einer  ganz  un- 
natürlichen Forderung  möglich,  und  darunter  mttsste  dann  das  religiöse 
Leben  der  Kinder  und  des  Lehrers  Schaden  leiden.  Gewiss  wird  vieles  v<m 
dam,  was  das  Kind  gedachtnissmassig  lernen  muss,  seine  Frucht  erst  später 
tragen,  und  Sie  selbst  lassen  ja  in  dieser  Beziehung  „einige  Ausnahmen  - 
zu,  aber  auch  hier  gilt  das:  sit  modus  in  rebus,  sint  certi  denique  fines 
Ihr  Beispiel,  das  Lied:  „Nun  danket  Alle  Gott",  ist  sehr  bezeichnend.  Dasl 
Lied  müssen  die  Kinder  kennen  und  auswendig  wissen,  aber  es  ist  zum  The 
ausserordentlich  schwer  für  die  Kinder  und  zwar  nicht  bloss  das  „und  noch 
jetzund  gethan",  so  namentlich  im  dritten  Verse  das  „als  der  ursprünglich 
war**.  Ich  weiss  das  noch  aus  meiner  eigenen  Jugend.  Ebenso  einleuchtend 
ist  Ihr  Hinweis  auf  den  Abschnitt  „Krankenheilungen",  zu  denen  bald  nsch- 
her  noch  „die  anderen  Krankenheilungenu  hinzukommen.  Kurz,  ich  erkenne 
an:  Weniger  wäre  mehr!  Auch  das  gebe  ich  zu,  dass  der  revidierende 
Minister,  auch  wenn  der  Lehrer  nicht  schwindelt,  nicht  gerade  alle  Holprig- 
keiten des  Weges  zu  sehen  bekommt,  wenn  er  auch  leicht  merken  wird, 
ob  ihm  etwas  „voi  gemacht"  wird,  «der  ob  es  sich  um  reelle  Wirklichkeit 
handelt  Ich  habe  überall  teils  selbst  gefragt,  teils  durch  den  mich  be- 
gleitenden Schulrath  oder  Ministerialrath  fragen  lassen,  und  wir  haben  einzelne 
Lehrer  damit  recht  trocken  gesetzt;  aber  im  Grossen  und  Ganzen  staune 
ich  jetzt  erst  recht  darüber,  was  trotz  alledem  und  alledem  in  der  preussischen 
Volksschule  geleistet  wird.  Ich  selbst  habe  die  Volksschule  noch  in  der 
vorregulativischen  Zeit  besucht,  und  wenn  auch  Einzelnes  verkehrt  war, 
ich  habe  doch  ein  abgerundetes  Wissen  der  biblischen  Geschichten  und  des 
Katechismus  mitgenommen,  für  das  ich  noch  heute  dnnkbar  bin. 

Aber  wie  gesagt:  Vorwärts  müssen  wir.  Und  wir  werden  auch  in 
Ihrem  Sinne  vorwärts  kommen,  wie  wir  denn  gegeu  frühere  Zeiten  doch 
ein  gut  Stück  schon  vorwärts  gekommen  sind.  Die  Wahrheit  —  auch  die 
pädagogische  —  setzt  sich  schliesslich  durch 

Der  Gedanke,  den  Religionsunterricht  der  Kirche  zu  überlassen,  hat 
viel  Einleuchtendes.  Möglich,  ja  wahrscheinlich,  dass  es  schliesslich  uueh 
bei  uns  dazu  kommt.  Die  Kirche  selbst  wird  allmählich  dahin  drängen. 
Ich  habe  nur  ein  Hauptbedenken  dagegen:  für  den  Lehrer,  namentlich  in 
den  einfacheren  Landschulen,  wäre  es  ein  grosser  Verlust.  Er  verliert  den 
erziehlichen  Einfluss  in  dem  pädagogisch  wichtigsten  Fache.  Seine  ganze 
Stellung  zum  Volksleben  wird  geändert,  und  seine  ganze  soziale  Stellung 
erleidet  Einbusse.  Dass  die  Schulaufsicht  allmählich  fachmännisch  werden 
wird,  glaube  ich  auch.  Mit  einem  Male  ist  das  aber  schon  aus  finanziellen 
Gründen  zu  erreichen  zur  Zeit  nicht  möglich.  Aber  auch  sonst  lässt  sich, 
wenn  man  unsere  kirchliche  Entwicklung  nicht  gar  zu  pessimistisch  ausieht, 


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76 


Mitteilungen. 


manches  gegen  die  forcierte  Beschleunigung  dieses  Prozesses  sagen.  Allein 
dieses  grosse  und  schwere  Gebiet  können  wir  ja  brieflich  nicht  annähernd 
erschöpfend  behandeln. 

Immerhin  ist  es  mir  eine  Freude  gewesen,  von  einem  eifrigen,  ein- 
sichtigen und  erfahrenen  Lehrer  ein  wenig  tiefer  in  diese  wichtigen  Fragen 
eingeweiht  und  zu  weiterer  Prüfung  angeregt  worden  zu  sein,  als  es  mir 
in  der  siebenundeinhalbjährigen  Zeit  meiner  Wirksamkeit  im  Unterrichts- 
ministerium beschieden  gewesen  ist.  Haben  Sie  nochmals  herzlichen  Dank 
dafür!  ich  bleibe  Ihnen  in  der  Liebe  zur  Volksschule  mit  aufrichtiger 
Hochschätzung  treu  verbunden.  Ihr  ergebener  Bosse. 

(Nach  der  Vossischen  Zeitung.) 


Die   neuen   L  e  h  r  p  1  ä  n  e  der  Gymnasien. 

Die  Einführung  der  neuen  Lehrpläne  in  den  höheren  Schulen  Preussen* 
wird  zumeist  mit  Anfang  des  Winterhalbjahres  ins  Werk  gesetzt.  In  Berlin 
wurden  die  Schüler  vielfach  vor  Beginn  der  jetzigen  Herbstferien  mit  den 
bevorstehenden  Aenderungen  vertraut  gemacht.  Als  neu  wurde  insbesondere 
hervorgehoben,  dass  auf  den  Gymnasien  von  dem  in  Unter-  und  Ober- 
tertia, sowie  in  Untersekunda  neben  dem  Griechischen  gestatteten  E  r 
satzunterricht  regelmässig  je  drei  Stunden  dem  Englischen  zuzu- 
weisen sind,  während  die  übrigen  Stunden  dem  Französischen,  dem  Rechnen, 
der  Mathematik  und  den  Naturwissenschaften  zu  gute  kommen.  Die  Ein- 
richtung dieses  Ersatzunterrichtes  bedarf  jedoch  der  ministeriellen  Geneh- 
migung. Sonst  ist  der  Regel  nach  Englisch  gleich  dem  Hebräischen  wahl- 
frei von  Obersekunda  ab.  Mit  Genehmigung  des  Ministers  kann  in  den 
drei  oberen  Klassen  das  Englische  anstatt  des  Franzosischen  als  verbind- 
licher Unterric '  t  eingeführt  werden:  das  Französische  wird  in  diesem  Falle 
wahlfreier  Lchrgegenstand. 

Ein  besonderes  Interesse  in  den  neuen  Lehrplänen  und  Lehraufgaben 
füt  die  höheren  Schulen  in  Preussen  nimmt  naturgemäss  der  Unterricht  in 
den  alten  Sprachen  in  Anspruch.  Vor  allem  der  lateinische  Unterricht 
als  dasjenige  Lehrfach,  das  für  alle  Reformvorschläge  von  jeher  in  erster 
Reihe  stand,  und  mit  dem  namentlich  in  neuerer  Zeit  am  meisten  experi- 
mentiert wurde.  Eben  weil  die  Methode,  nach  der  dieser  Unterricht  bis  in 
die  neueste  Zeit  erteilt  wurde,  die  grössten  Rückständigkeiten  aufwies  und 
eine  Belastung  der  Schüler  und  Lehrer  mit  sich  brachte,  die  durch  die 
Unterrichtsergebnisse  keineswegs  wettgemacht  wurde  und  obenein  die  Aus- 
dehnung und  Vertiefung  des  Wissens  der  Schüler  auf  anderen  Gebieten  d-s 
Unterrichts  beschränkte. 

Nach  den  Experimenten  der  letzten  Jahre  ist  es  interessant   zu  sehen, 
wie  man  in  den  neuen  Lehrplänen  der  Lösung  der  „lateinischen  Frage 
n^her  zu  kommen  sucht: 

Für  die  Gymnasien  sind  die  lateinischen  U^nterrichts- 
stunden  um  sechs  Wochenstunden  vermehrt  worden.  Das  bedeutet 
gegen  den  bisherigen  Lehrplan  (seit  1892)  einen  Zuwachs  von  neun  Wochen- 


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Mitteilungen. 


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stunden;  allerdings  lag  es  seit  1895  in  der  Hand  der  Direktoren,  die  Zahl 
der  1892  festgesetzten  Stunden  um  wöchentlich  drei  zu  vermehren,  doch 
haben  von  dieser  Befugnis  nur  wenige  Anstaltsleiter  Gebrauch  gemacht. 
Gegenüber  dem  Plan  von  1882  weist  der  neue  Lehrplan  neun  Wochenstunden, 
gegenüber  den  Plänen  von  1837  und  1856  sogar  achtzehn  Stunden  weniger 
auf.  Trotz  der  Vermehrung  gegenüber  dem  1892  er  Lehrplan  sind  die 
Lchraufgaben  nicht  wesentlich  vermehrt  worden,  das  allgemeine  Lehrzkl 
bleibt  ziemlich  dasselbe  wie  1892:  gefordert  wird  ein  durch  sichere  gram- 
matische Schulung  gewonnenes  Verständnis  der  bedeutenderen  römischen 
Klassiker  und  dadurch  Einführung  in  das  Geistes-  und  Kulturleben  des 
Altertums.  In  den  Bestimmungen  über  die  lateinischen  Uebersetzungs- 
ubungen  tritt  allerdings  eine  Erhöhung  der  Ansprüche  zu  Tage:  eine  etwas 
grössere  Anzahl  Skripta  wird  gefordert,  und  zugleich  werden  an  den  Schüler 
grössere  qualitative  Anforderungen  gestellt.  Die  häuslichen  und  Klasse n- 
übersetzungen  der  obersten  Klassen  sollen  iortan  „an  die  Denkthätigkeit 
solche  Ansprüche  stellen,  dass  ihre  Uebertragung  als  selbständige  Leistung 
gelten  kann";  sie  sollen  also  nicht,  wie  es  bisher  üblich  war,  sozusagen 
eine  Rückübersetzung  aus  kurz  vorher  in  der  Klasse  oder  zu  Hause  Ge- 
lesenem sein. 

Die  Schullektüre  hat  gegen  1892  eine  Erweiterung  erfahren:  die  philo- 
sophischen und  rhetorischen  Schriften  Ciceros  sind  wieder  zugelassen.  Da- 
gegen fällt  die  Verpflichtung  der  Schüler  zur  Privatlektüre  fort. 

Für  die  Realgymnasien  bringt  der  neue  lateinische  Lehrplan  gegen 
über  dem  von  1892  eine  Vermehrung  von  sechs  Wochenstunden  —  von 
Untertertia  ab  wöchentlich  je  eine  Stunde  mehr.  Die  Tertia  hat  fortan  also 
fünf  lateinische  Unterrichtsstunden  in  der  Woche,  die  Sekunda  und  Prima 
\  :er.  Der  Erhöhung  entsprechend  sind  auch  die  Anforderungen  an  die 
Schüler  etwas  vermehrt:  für  Untertertia  bis  Obersekunda  war  bisher  Cicero 
.  Bellum  gallicum"  die  einzige  Prosalektüre,  erst  die  Prima  hatte  sich  mit 
leichteren  Stücken  aus  Livius  und  Cicero  zu  beschäftigen.  Jetzt  soll  schon 
die  Obersekunda  „unter  Umständen"  sich  an  Curtius.  Livius  oder  Cicero 
machen,  und  für  Prima  kommen  neben  Livius  ausser  den  bisher  von  Ciceros 
Schriften  allein  zugelassenen  Catilinarien  noch  andere  leichtere  Reden 
Ciceros.  ferner  Abschnitte  aus  Tacitus'  Germania  inhetracht:  in  der 
poetischen  Lektüre  ausserdem  neben  der  bisher  auf  dem  Lehrplane  stehen- 
den Aeneis  auch  leichte  Horaz-Oden. 

Vermindert  sind  dagegen  die  sprachlichen  Uebungen  an  den  Real- 
gymnasien: Die  1802  bis  Oberprima  angesetzten  schriftlichen  LTcbungen" 
feilen  fortan  schon  in  Obersekunda  fort.  Von  Obersekunda  ab  werden  nur 
schriftliche  Uebersetzungcn  aus  dem  Lateinischen  gefordert,  und  in  Prima 
werden  grammatische  Erörterungen  nur  auf  Fälle  beschränkt,  wo  sie  bei 
der  Lektüre  sich  als  notwendig  erweisen.  Dagegen  soll  das  Ucbungsbuch, 
das  bisher  nur  bis  Obertertia  benutzt  wurde,  noch  in  Untersekunda  gebraucht 
werden. 

Die  Ziele  des  griechischen  Unterrichts  sind  in  den  neuen  Lehrplänen 
erheblich  enger  gesteckt  als  in  den  Plänen  von  1892.  Wurde  damals  als  Lehr- 
ziel   das   „Verständnis    der    bedeutenderen    klassischen    Schriftsteller  der 


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78 


Alituilungm. 


Griechen"  gefordert,  so  begnügt  stell  der  tieue  Lehrplan  mit  einer  „auf 
amreichendc  Sprachkenntnisse  gegründeten  Bekanntschaft  mit  einigen  nach 
Inhalt  und  Form  besonders  hervorragenden  Litteraturwerken  und  mit  der 
dadurch  erfolgenden  Einführung  in  das  Geistes-  und  Kulturleben  des  grie- 
chischen Altertums". 

Im  einzelnen  ist  über  den  griechischen  Lehrplan  zu  bemerken: 
Im    griechischen  Unterricht   vor  allem  zu  erwähnen,    ist  die 
Bestimmung  über  die  Beseitigung  unnützer  Formalien.    Es  scheint  in  der 
That,  dass  sich  diese  Bestimmung  nur  auf  die  Beseitigung  unnützen  sprach- 
lichen Lehrstoffs  bezieht,  nicht  auch  auf  die  völlige  Beseitigung  der  über 
flüssigen  Accentlehre;  bezüglich  der  letzteren  wird  nur  insofern  eine  Er- 
leichterung gewährt,  als  der  neue  Lehrplan  vorschreibt,  dass  „Fehlern  gegen 
die  Accentlehre  bei  Beurteilung  der  in  der  Klasse  anzufertigenden  Ueber 
Setzungen  in  das  Griechische  eine  entscheidende  Bedeutung  nicht  berzu 
lepen"  sei. 

Die  hier  erwähnten  Ucbersetzungcn  ins  Griechische  werden  neben  den 
schriftlichen  Uebersetzungen  aus  dem  Griechischen  jetzt  —  im  Gegensatz 
zu  den  Lehrplänen  von  1892  —  wieder  für  Obersekunda  und  Prima  ein- 
geführt. 

In  der  Auswahl  der  Lektüre  wird  den  Lehrern  fortan  freiere  Hand 
gelassen  werden  als  bisher.  Nur  die  Xenophon- Lektüre  erfährt  eine  Ein- 
schränkung; die  Xenophon- Lektüre  soll  mit  der  Untersekunda  abgeschlossen 
werden,  so  dass  die  18JJ2  der  Obersekunda  zugewiesenen  Memorabilicn 
entweder  der  Untersekunda  zufallen  oder  ganz  unberücksichtigt  bleiben. 

Erweitert  dagegen  wird  die  Auswahl  bei  der  Lektüre  des  Thukydidei. 
des  Demosthencs.  des  Piaton  und  der  Tragiker;  neben  Sophokles  wird  auch 
Enripidcs  genannt;  von  Thukydides.  Demosthcnes  und  Plato  sollen  auch 
schwierigere  Stücke  gelesen  werden;  ferner  soll  den  Gymnasiasten  durch 
ein  Lesebuch  die  Bekanntschaft  mit  anderen  Werken  der  griechi<»chen  Litte- 
rat nr  vermittelt  werden. 

Die  Homer- Lektüre  im  Urtext  soll,  wie  bisher,  durch  Heranziehung 
guter  Uebersetzungen  ergänzt  werden,  wo  sich  das  als  nötig  erweist;  das 
selbe  gilt  auch  von  den  sophokleischen  und  euripidischen  Tragödien.  Die 
Bestimmung.  Ibas  und  Odyssee  sollten  möglichst  ganz  gelesen  werden,  ist 
durch  eine  andere  ersetzt,  wonach  ein  Kanon  der  regelmässig  zu  lesenden, 
der  nicht  zu  lesenden  und  der  freizustellenden  Abschnitte  aus  beiden  Epen 
aufgestellt  werden  soll. 

Die  Bestimmung,  dass  die  Lehrer  zu  griechischer  Privatlektürc  an- 
regen sollen,  ist  völlig  weggefallen.  Nicht  mit  Unrecht;  die  Schüler,  die 
zu  privater  Lektüre  Neigung  haben,  folgen  dieser  Neigung  auch  ohne  An- 
regung des  Lehrers:  wo  keine  Neigung  vorhanden  ist.  kann  auch  die  An- 
regung des  Lehrers  nicht  viel  nutzen. 

Die  Vorschriften  für  den  deutschen  Unterricht  erweitern  zu- 
nächst das  grammatische  Pensum  der  Unter-  und  Mittelklassen.  In  Quinta 
und  Quarta  soll  der  Interpunktionslehre,  die  in  Quarta  zum  Abschlu&s 
lcommen  soll,  grössere  Sorgfalt  gewidmet  werden. 


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Mitteilungen. 


79 


Das  Mittelhochdeutsche  soll  fortan  wieder  grössere  Berücksichtigung 
finden.  Nicht  in  der  Weise,  dass  es  grammatisch  behandelt  würde,  wohl 
aber  sollen  Abschnitte  aus  dem  Nibelungen-  und  Gudrunliede,  sowie  Ge- 
richte Walthers  v.  d.  Vogelweide  auch  im  Urtext  gelesen  werden.  In  den 
1. ehrplanen  von  1892  fand  sich  bereits  eine  ahnliche  Bestimmung,  während 
die  Lehrpläne  von  1882  das  Mittelhochdeutsche  überhaupt  nicht  in  Er- 
wähnung thaten. 

Erweitert  soll  auch  die  Lektüre  der  deutschen  Klassiker  werden.  In 
den  Oberklassen  soll  neben  „Götz".  „Egraont"  und  ..Iphigenie"  wenn  mög- 
lich auch  „Tasso"  gelesen  werden;  ausser  Lessingscher  soll  ferner  auch 
Goethesche  Dichtung  und  Wahrheit  —  und  Schillersche  Prosa  berück- 
sichtigt werden.  Aus  der  Litteratur  nach  (»oethes  Tode  wird  unter  anderem 
für  den  Lehrplan  empfohlen  Grillparzcrs  „Sappho"  oder  „Das  goldene 
Vliess"  und  Heyses  ..Colberg'  .  Schillers  „Glocke"  und  der  „Teil"  sollen 
fortan  nicht  mehr  die  Obertertia,  sondern  die  Untersekunda  beschäftigen, 
ebenso  wird  Lessings  „Minna"  und  Goethes  „Hermann  und  Dorothea" 
nicht  mehr  in  Untersekunda,  sondern  in  Obersekunda  zur  Lektüre  benutzt 
werden.  Ausserdem  sollen  bei  den  Gymnasien  Shakcspearesche,  bei  den 
Realanstalten  griechische  Dramen  in  Uebersetzungen  gelesen  werden. 

Mit  dem  deutschen  Unterricht  sind  in  den  oberen  Klassen  bekanntlich 
auch  freie  Vortrage  der  Schüler  verbunden.  Gegenüber  früheren  An 
Weisungen  über  die  Vorbereitung  solcher  Vorträge  heisst  es  jetzt:  „Solche 
Berichte  dürfen  nie  in  ein  Aufsagen  auswendig  gelernter  Auisätze  ausarten, 
sondern  haben  in  den  Schülern  allmählich  die  Fähigkeit  herauszubilden,  festem 
Wissen  und  klare  Anschauungen  in  freier  Rede  schlicht  und  angemessen 
vs  iederzugeben." 

Schliesslich  sei  noch  erwähnt,  dass  auch  die  philosophische 
Propädeutik,  die  seit  Jahren  aus  dem  Lehrplan  der  Prima  aus- 
Kt: schieden  war.  wieder  zu  Ehren  kommen  soll:  die  Behandlung  der  Grund- 
lagen der  Logik  und  der  empirischen  Psychologie  wird  in  den  neuen  Lehr- 
planen als  wünschenswert  bezeichnet.  Die  Provinzialschulkollegicn  können 
in  sprachlich  gemischten  Bezirken  das  Deutsche  in  Sexta  und  Quinta  um  je 
<!ine  Stunde  verstärken:  ferner  können  sie  an  allen  Realanstalten  die  für 
Französisch  und  Englisch  angesetzten  Stunden  gegen  einander  vertauschen 
lassen,  vorausgesetzt,  dass  eine  derartig  Abweichung  durch  die  I^ge  des 
Schulortes  und  seine  Verkehrsvorhältnisse  gerechtfertigt  erscheint,  und  dass 
di»  Erreichung  des.  allgemeinen  Lehrzieles  in  beiden  Kathern  auf  die  Dauer 
nicht  beeinträchtigt  wird. 

Im  evangelischen  Religionsunterricht  wird  eine  Erweiterung 
und  Vertiefung  des  kirchengcschichtlichen  und  dogmatischen  Wissens  der 
Schüler  angestrebt.  In  dem  kirchengeschichtlichen  Unterricht  der  Primen 
sollen  ausser  dein  bisherigen  Pensum  noch  behandelt  werden:  germanische 
Missionen,  Mönchstum,  Scholastik,  Mystik,  Gegenreformation,  Rationa- 
lismns,  Union  fSchleiermacher).  das  Wichtigste  über  die  Verfassung  der 
evangelischen  Landeskirche  Preusscns,  die  Veranstaltungen  der  äusseren 
und  inneren  Mission  (Wichern.  Fliedner».  Was  die  Dogmatik  angeht,  so 
s«  II  der  Erklärung  der  Confessin  Augustana  nicht  blos  eine  Einleitung  über 


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Mitteilungen. 


die  drei  alten  Symbole  vorangeschickt,  sondern  auch  ein  Hinweis  auf  die 
übrigen  Symbole  der  christlichen  Hauptbekenntnisse  angeschlossen  werden. 
Auch  auf  die  Belehrung  der  Schüler  über  die  UnterscheidungslehTen  der 
Konfessionen  wird  mehr  Gewicht  gelegt.  In  den  Angaben  über  das  all- 
gemeine Lehrziel  für  den  Religionsunterricht  findet  sich  unter  anderen  ein 
neuer  Satz,  der  von  der  Schuljugend  der  Schulen  verlangt,  sie  solle  sich 
später  befähigt  erweisen,  durch  lebendige  Beteiligung  am  kirchlichen  Ge- 
mcindeleben  einen  ihrer  Lebensstellung  entsprechenden  heilsamen  Einfluss 
innerhalb  unseres  Volkslebens  auszuüben. 

Die  Bestimmungen  über  den  katholischen  Religionsunterricht  sind  die- 
selben geblieben,  wie  sie  in  dem  Ministerialerlaß  vom  9.  Januar  1893  fest- 
gestellt wurden.  Sie  unterscheiden  sich  von  den  bis  dahin  —  seit  1882  —  in 
Geltung  gewesenen  und  auch  in  den  Lehrplänen  von  1892  nicht  abgeänderten 
Bestimmungen  durch  eine  Hervorhebung  der  Apologetik. 

Von  den  sonstigen  Bestimmungen  bemerken  wir  noch:  Zu  den 
Klassenarbeiten  treten  in  Zukunft  für  die  Mittel-  und  Oberstufe  im 
Deutschen,  in  den  fremden  Sprachen,  in  der  Geschichte  und  Erdkunde,  so- 
wie in  den  Naturwissenschaften  kurze  Ausarbeitungen  über  eng- 
begrenzte, im  Unterricht  durchgenommene  Abschnitte,  sie  sind  von  dem 
Fachlehrer  durchzusehen  und  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Angemessen- 
heit des  Ausdrucks  zu  beurteilen.  Mit  aller  Entschiedenheit  soll  einer  ein- 
seitigen Wertschätzung  des  sogenannten  Extemporales  entgegengetreten 
werden. 

Durch,  richtige  Beschränkung  und  Einteilung  des  Lehrstoffes  im  Gc 
Schichtsunterricht  der  Oberprima  soll  für  die  Abiturienten  eine  eingehende 
Behandlung  der  deutschen  Geschichte  des  19.  Jahrhunderts 
Resichert  werden.  Endlich  sind  die  Direktoren  verpflichtet,  dahin  zu  wirken, 
dass  namentlich  diejenigen  Schüler,  welche  sich  der  Technik,  den  Natur- 
wissenschaften, der  Mathematik  oder  der  Medizin  zu  widmen  gedenken,  vom 
wahlfreien  Zeichenunterricht  (von  Untersekunda  ab)  fleissig  Gebrauch 
machen. 

Um  an  den  Gymnasien  eine  Ueberburdung  der  Schüler  zu  ver- 
hüten, soll  daran  festgehalten  werden,  da^s  derselbe  Schüler  in  der  Regel 
nur  an  dem  wahlfreien  neusprachlichen  oder  an  dem  hebräischen  Unterrichte 
teilnehmen  darf,  und  dass  eine  Beteiligung  an  beiden  Fächern  vom  Direktor 
nur  ausnahmsweise  gestattet  werden  kann.  Für  die  Provinz  Hannover  bleibt 
es  bezüglich  des  allgemein  verbindlichen  Charakters  des  englischen  Unter- 
richts bei  dem  bisherigen  Zustande. 

Besondere  Gesichtspunkte  sind  für  die  Hausarbeit  aufgestellt,  bei 
der  mehr  als  bisher  die  körperliche  und  geistige  Entwickclung  der  Schüler 
beachtet  werden  soll.  Bei  richtiger  methodischer  Behandlung  des  Unter- 
richts ist  es  möglich,  einen  nicht  unerheblichen  Teil  der  bisherigen  schrift- 
lichen Hausarbeit  in  die  Schule  zu  verlegen.  Es  soll  im  allgemeinen  darauf 
Bedacht  genommen  werden.  das<.  normale  mittlere  Leistungsfähigkeit  der 
Schüler  vorausgesetzt,  eine  Ueberburdung  nicht  stattfindet  und  an  jedem 
Tage  ausreichend  Zeit  zur  Erholung  bleibt. 

(Nach  d.  Herl.  Tagebl.). 


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Bibliotheca  pädo-psychologica. 


Geschichte  und  Theorie  der  Erziehung  und  des  Unterrichts,  Methodik  der 
Lehrfächer,  Schulorganisation  in  Programmen,  Abhandlungen  und  Inaug.- 
Dissertationen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Jahre  1898/99. 

Abbott,  Osmer:  Das  System  der  englischen  Lehrerbildung  dargestellt  und 

beurteilt.    Jena  1898:  B.  Vopelius.    (VII.  114  S.)    8*  Diss. 
Aebert,  Bernhard:     Ueber    individuelle    und    sociale    Erziehung  nach 

Schleiermacher.    Breslau  1898:  E.  Peterson.    (96  S.)    8»  Diss. 
Adams,  H.  B.:    Public  Educational  Work  in  Baltimore.  Baltimore:  Johns 

Hopkins  Press,  1899.    8*.  58  S. 
Allen.  E.  E.:  The  Education  of  Defectives.    Education  in  the  United 

States,  1900,  II,  713—815. 
Alons,  W.:  Het  projectieteekenen.    Gron.,  J.  B.  Wolters,  1900.    8\  47  S. 
Altschul,  Th.:  Hypnotismus  und  die  Suggestion  im  Leben  und  in  der 

Erziehung.    Prag:  Haerpfer,  1900.    kl.  8'.  70  S. 
Amati,  A. :  Di  alcuni  provvedimenti  per  un  migliore  indirizzo  educativo 

delle  scuole  secondarie.    R.  Istituto  Lombardo,  Rendiconti,  Serie  II, 

Vol.  XXXIII,  Fase.  XVII-XIX,  1026—1037  u.  1191—1202. 
Andreae,  C:  Ueber  die  psychologische  Bildung  des  Pädagogen.  Die 

Dtsch.  Schule  III.  (1899),  1. 
Arendt,  J.:  Von  den  Grenzen  des  Könnens.    Organ  d.  Taubst' Anst  in 

Deutschld..  1899.  Jahrg.  45,  11  u.  12;  1900.  Jahrg.  46,  1. 
Arendt,  J.:  Wege  und  Mittel  (aus  der  Praxis  des  Sprachunterrichts). 

Organ  der  Taubst'Anst.  in  Deutschld.,  1900,  Jahrg.  46,  5. 
Asbach,  Jul[ius],  Dr.,  Dir.:  Die  Napoleonische  Universität  in  Düsseldorf 

1812/13.    (32  S.)    4'.    Düsseldorf,  k.  G.,  P  1B99. 
Atkinson,  Fr.  W.:  How  can  the  Public  High  School  Reach  Individuais?. 

The  School  Review,  The  Univcrsity  of  Chicago  press,  Sept.  1900. 
Azelius,  J.  E.:    Uppfostran  i  Alten.    Växjö  1898:  Nya  Växjöbladets 

tryckeri.    (14  S.)    4°  Progr. 
Baas,  B.:   Uit  de  methodiek.    Een  drietal  paedagogische  opstcllar.  Gron.* 

P.  Noordhoff,  1900.   gr.  8°,  4  u.  60  S. 
Bach,  Joseph,   Dr.,  Dir.:   Homerische  Syntax.     Für  d.  Schulgebraucb 

zsgest.   (55  S.i  8*.   Strassburg  i.  E.,  bischöfl.  G.  an  St.  Stephan,  P  1899. 
Baenitz,  M[oritz],  Prof.:    Text  einer  zusammenhängenden  griechischen 

Lektüre  für  das  ganze  Jahr  der  Untertertia.    (32  S.)    8*.  Schneide- 

mülil.  k.  G.  OP  1899. 
Ball:     Das  Schulwesen  der  böhmischen  Brüder.    217  S.    Berlin  1898: 

Gärtner. 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  and  Hygiene.  6 


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32  BMioÜuca  pddo-psychologica. 

Ball  tnger,  J.:  The  Public  Libraries  and  the  Schools,  an  Experiment, 
School  Children  in  the  Public  Libraries,  a  Sequel.  London: 
Sotheran,  1899.  8». 

Bang,  N.  H.:  Oversigt  over  Opdragelsens  og  Skolens  Historie.  Kjoc- 

bcnhavn:  Nordiske  Forlag  1899.    (188  S.)  8*. 
Baron,  [Ern.st],  Dr.,  Dir.:  Mitteilungen  über  die  .Reformschulen',  speziell 

über  die  Einrichtung  einer  solchen  an  der  städtischen  Realschule  in 

Görlitz.    (S.  3—11.)    4*   Görlitz,  st.  R,  OP  1899. 
Barnett,  P.  A.:    Common  Sense  in  Education  and  Teaching.  London: 

Longmans,  1899.    8*.  334  S. 
Bauch,  Gustav:    Aktenstücke  zur  Geschichte  des  Breslauer  Schulwesens 

im  16.  Jahrhundert.    Breslau,  er.  RH.  OP  1898. 
Bauer,  [Carl],  Prof.,  Dir.:    I.  Beschreibung  des  neuen  Schulgebäudes. 

II.  Bericht  über  die  Einweihung.    (S.  37—61.)    4*.    Meerane  i.  S.,  R 

u.  PG,  OP  1899. 

Baumann,  F.:  Zehn  Jahre  Arbeitsunterricht.  Bericht  über  die  zehn- 
jährige Thätigkeit  der  städtischen  Knaben-Handarbeitsschule  in 
Hildesheim.    Hildcsheim:  H.  Hehnke,  190t».    8»,  f2  S. 

Bawden.H.  H.:  A  Study  of  Lapses.  Psychol.  Review,  Monogr.  Suppt. 
No.  14,  1900.  8*.  122  S. 

Bayr,  Emanuel:  Die  Einführung  der  Hygiene,  Volksgesundheitslehre,  als 
obligatorischen  Lehrgegenstand  in  den  Gewerbeschulen.  Ztschr.  f. 
Schulgesundheitspflege  XIII.  1. 

Becker,  K.:  Der  gewerbliche  und  kaufmännische  Unterricht  in  Eng- 
land. Ztschr.  f.  Ausländisches  Unterrichtswesen  v.  Wychgram. 
V.  Jahrgang,  2.  Heft. 

Beller,  [Emil]:  Die  ersten  drei  Jahre  des  französischen  Unterrichts  in 
der  Realschule  nach  dem  Lehrbuche  von  Plötz-Kares.  (S.  1 — 18.) 
4*.    Bielefeld,  st.  R ,  P  1899. 

Benjamin,  Heinrich:  Der  erziehende  Unterricht  in  der  einklassigen 
Volksschule  besonders  in  Preussen.  E.  pädag.  Problem.  Königs- 
berg Pr.:  B.  Teichert  1899.    (60  S.)  8* 

Bergemann,  P.:  Aphorismen  zur  sozialen  Pädagogik.  1899.  71  S.  1  M. 
Leipzig:  Hahn. 

Bernhard,  Julius  Adolf:  Mitteilungen  zur  Geschichte  des  (Vitzthum- 
schen)  Gymnasiums.  (Rückblick  bei  Gelegenheit  d.  Feier  d.  Ueber- 
ganges  d.  Schule  in  die  städtische  Verwaltung.)  (S.  45-.51.)  4*. 
Dresden:  Vitzthumschcs  G.,  OP  1899. 

Bieck:  Zur  Frage  der  Zulassung  der  Realschulabiturienten.  Aerztl. 
Vereinsbl.  f.  Deutscht.  1900.  XXIX,  324— 325. 

Biermann,  E. :  Körperliche  Erziehung  im  schulpflichtigen  Alter.  Drei 
hygien.  Skizzen.    Langenberg:  J.  Joost  1899.    gr.  8*.   32  S.  u.  1  Tafel. 

Bode,  Paul:  Ucbcr  die  Umgestaltung  des  Vorgartens  des  Schulhauses 
zu  einem  kleinen  botanischen  Garten.  (S.  21—22).  4*.  Frank- 
furt a.  M.:  Adlcrflycht-S.  (Rm.  VS).  OP  18P9. 

Boenisch,  Richard:  Beiträge  zur  Heimatskunde  am  Gymnasium  zu 
Loebschütz.  Mit  3  Kartcnsk.  (30  S.)  8°.  Loebschütz,  k.  kath.  G, 
OP  1899. 


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83 


Böttcher,  A. :  Die  Entwicklung  des  Schulturnens  in  Hannover  seit 

1890.    Monatsschr.  f.  d.  Turnwesen,  1900,  XIX,  12,  354—363. 
Boettcher,  Carl,  Dr.,  Dir.:  Die  Lehrpensa  der  Oberrealschulklassen 
IIB,  IIA  und  I.    Nach  den  auf  den  Vorschlägen  d.  Fachlehrer  be- 
ruhenden Beschlüssen  d.  Fachkonferenzen.    ([Köpft.:]  Verteilung  der 
Lehrpensa  d.  Oberrealschulklasscn  Untersekunda,  Obersekunda,  Prima 
im  Französischen,  Englischen,  in  d.  Mathematik,  Physik,  Chemie  u. 
Mineralogie.)  (S.  1—6.)  4*.  Königsberg  i.  Fr.,  k.  RG  a.  d.  Burg,  OP  1899. 
Boettcher,  Carl,  Dr.,  Dir.:     Die  Umwandlung  des  Realgymnasiums 
in  eine  Oberrealschule.    (S.  12—14.)    4°.    (Vgl.  Progr.  1893.)  Königs- 
berg i.  Pr.,  k.  RG  auf  d.  Burg,  OP  1899. 
Boettcher,  Carl,  Dr.,  Dir.:  Verzeichnis  der  seit  1837  veröffentlichten 
Programm- Abhandlungen.    (2  ungez.  S.)  4°.    (Vgl.  Progr.  1895—98.) 
Königsberg  i.  Pr.,  k.  RG  auf  d.  Burg,  OP  1899. 
B  ö  h  m  e  1 ,  Otto,  Prof. :  Die  philosophische  Grundlage  der  pädagogischen 
Anschauungen  des  Comenius.    (S.  9—30.)    4*.    (Soll  fortgesetzt  wer- 
den.)   Marburg,  OR,  Festschr.  1899. 
Bohn,  Heinrich:    Die    geographische    Naturaliensammlung    des  Doro- 
theenstädti sehen  Realgymnasiums  und  ihre  Verwendung  beim  Unter- 
richt.   T.  1.    (24  S.)    4°.    Berlin,  Dorotheenstädt.  RG,  OP  1899. 
Bolton:   Secondary  School  System  of  Germany.    New  York:  D.  Applcton 

and  Co..  1900,  12*.  19  u.  398  S. 
Brachmann,  Friedrich:    Johann  Hübner,  Johannei  Rector  1711 — 1731. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  deutschen  Litteratur.    (32  S.)  4\ 
Hamburg,  Gelehrten-S.  d.  Johanneums,  P  1899. 
Bradley,  M.:    Water  Colors  in  the  School-Room.    Springneid  Mass., 

Milton  Bradley  Co.,  1900,  12',  63  S. 
Braun,  Philipp,  Dir.,    Dr. :    Der    Marbacher    Schillcrverein    und  die 
Hanauer  Gymnasiasten.    iS.  19—22.)    4*.    Hanau,  k.  G,  vordem  die 
Hohe  Landes-S,  P  1899. 
Brause,  Albert:   Johann  Gottfried  Stallbaum.   Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Thomasschule  in  der  ersten  Hälite  des  19.  Jahrhunderts.    II.  Th. 
(Forts,  d.  P.-Beil.  1897.)    Leipzig,  Thomas-S.  (st.  G.),  OP  1898. 
Brause,  Albert,  Prof.  Dr.:    Johann  Gottfried  Stallbaum.    Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  d.  Thomasschule  in  d.  ersten  Hälfte  d.  19.  Jahrhunderts. 
T.  3  [Schluss].    (42  S.)    4°.    (Schluss  d.  P-Beil.  1897/98.)  Leipzig, 
Thomas-S.  (st.  G.),  OP  1899. 
B  roere,  R.:    De  opvoeding  in  de  lagere  school.    Haarlem,  H.  D.  Tjeenk 

Willink  k  Zoen,  1899,  8\  101  cn  2. 
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T.  J.  Mc.  Cormack.  Associates:  E.  C.  Hegeler  and  Mary  Carus. 
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Die  dritte  Turnstunde  an  den  höheren  Lehranstalten  in  Preussen.  Mon'schr. 

f.  d.  Turnwesen,  Berlin,  1900,  XIX,  2,  33-41. 
Die  organische  Eingliederung  der  Heimat-  und  Stammesgeschichte  in  die 

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Mit  e.  Bildn.  Diesterwegs.     Langensalza:  F.  G.  L.  Gressler  1899. 

(VIII,  360  S.)    1  Bd.  8.    Klassiker  der  Pädagogik,  Bd.  10. 
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Dole,  C.  F.:   The  problcm  of  dutv:  a  study  of  the  philosophy  of  conduet. 

N.-York,  T.  J.  Crowell  &  Co.,  1900.    12",  38  S. 
Do  mini  eis,  S.   De:     Idee  per  una  scienza  delP  edueazione.  Turin, 

G.  B.  Paravia  e  Co.,  11)00.    16°,  404  S. 
Dören  well,  K.:    Der  deutsche  Aufsatz  in  den  unteren  und  mittleren 
Klassen  höherer  Lehranstalten,  sowie  in  Mittel-  und  Bürgerschulen. 

Ein  Handbuch  für  Lehrer.    II.  Teil.   3.  verm.  u.  verbess.  Aufl.  Han- 
nover 1898:  C.  Meyer. 
Dören  well:    Der  deutsche  Aufsatz  in  den  höheren  Lehranstalten.  II. 

332  S.    Hannover  u.  Berlin  1899:  C.  Meyer. 
Dost,  M.:     Die  Meinhold-Kempterschen  Bilder  und  ihre  Verkörperung 
durch  Modelle  im  Dienste  des  Anschauungsunterrichts  der  Schwach - 
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1900,  1  v..  2. 

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J.  Muusscs,  1900.    gr.  8°,  12  u.  480  S. 
Dresser,  H.  W.:     Education  and  the  Philosophita!  Ideal.  N.-York 

Putnam,  1900.    12",  5  u.  255  S. 
D  u  g  a  r  d  ,  M. :    De  l'education  moderne  des  jeunes  filles.    Paris,  Colin 

et  Co.,  1900.    16",  92  S. 
Dunker,  Conrad:    Schulversuche  mit  der  Influenz-Elektrisiermaschine. 

Physikalisch-praktische    Untersuchungen.     (S.    1—15.)    4*.  Haders- 
leben, k.  G.  [Johanneum],  P  1899. 
Eckert,  A.:    Der  erziehende  Religionsunterricht  in  Schule  und  Kirche. 

E.  Beitr.  z.  Pädagogik  u.  Katechctik.    Berlin:  Renther  &  Reichard, 

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deutschen  Satzlehre.    Wien,  1898.    (21  S.)    «•  Progr. 

Ehle,  Carl,  Rekt.:  Geschichtliches  (über  die  Knaben-Volksschulen  der 
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vor  Schulstralen?  II.  Nie'  t  versetzt!  lEin  Brief.)  III.  Fortbildung. ) 
(S.  3— 6.)    8°.    Quedlinburg.  Knaben-Volks-Schulen,  P  1898. 

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OP  1899. 

Engel,  Ernst:    Das  erste  Schuljahr.    Gekrönte  Preisschrift  d.  Diesterweg- 

Stiftung.    Ein  Beitrag  aus  d.  Schule  für  d.  Schule.    Berlin:  L.  Oeh- 

migke.  1899.    (79  S.)  8\ 
Engel,  F.:     Nikolaj  Iwanowitsch    Lobatschefsky.     Zwei  geometrische 

Abhandlungen.    Leipzig  1899:  Tcubner. 
Engelien  u.   Fechncr:     Deutsches   Lesebuch.     Neubearbeitung,  Ausg. 

B.,  II.  u.  III.    Berlin  1899:  W.  Schultze. 
En  tz,  Heinrich:    Kanon  der  am  Gymnasium  zu  Thorn  zu  erlernenden  Ge- 
schichtszahlen.    [2:1   Oberstufe.    (29  S.     (Schluss  d.  P-Beil.  1897.) 

Thorn,  k.  G.  m.  RG,  P  1899. 
Erdmann,  H.:    Anleitung  zur  Darstellung  chemischer  Präparate.  Ein 

Leitfaden  für  den  praktischen  Unterricht  in  der  anorganischen  Chemie. 

2.  Aufl.  mit  15  Abb.    Frankfurt  a.  M.f  1899:  Bechhold. 
Ernst,  Jul.:    Bilder  aus  der  Geschichte  der  Pädagogik  für  katholische 

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Erster  Jahresbericht  der  deutschen  Schulgemeinde  in  Madrid,  erstattet  in 

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Reuther  4  Reichard. 
Faggi,  A.:    Nota  pstcologica  suIl'  idea  di  numero.    Pavia,  Frat.  Fusi, 

1899.   8\  3  S. 

Falkenroth,     Stadtbaumeister:      Die     neue    Turnhalle     des  Real- 
gymnasiums.    [Beschreibung.]     (S.  14 — 16.)     4".     Iserlohn,   RG  u 
R,  P  1899. 

Fath:  Wegweiser  zur  deutschen  Literaturgeschichte.  90  S.  Würzburg. 
1899:  Stahel. 

Fcchhcimer,  Samuel  S.:  Ueber  die  Bedeutung  Ruskins  für  das  Leben 
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Fischer,  A.  S.:  Der  Kindergarten.  Theoret.-praktisches  Handbuch- 
Wien,  Holder,  1900,  5.  Aufl.  gr.  8°,  IV  u.  182  S.  m.  2  Holzschn.  u. 
28Taf. 

Fischer,  Eduard:  Ueber  Potenzen  mit  imaginären  Exponenten.  Bei- 
träge zum  math.  Unterrichte  an  höheren  Lehranstalten.  (25  S.)  4\ 
[Forts,  d.  P-Beil.  1895.]    Berlin,  Friedrichs-G.,  OP  1899. 

Fischer  K. :  Geschichte  des  deutschen  Volksschullehrerstandes.  Zwei 
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1900.    12*.  462  S. 

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Fleischmann:  Lehrbuch  der  Zoologie.  Nach  morphogenetischen  Ge- 
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baden: Kreidcl. 

Foltz,  O.:  Die  Ethik  und  das  Ziel  der  Erziehung.  Pädagog.  Blätter 
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/{ibitoUuca  pddo-psychologica. 


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biblischen  Geschichte  (2  Bände).    Pädagogische  Bibliothek  Band  XX. 

gr.  8*.    Hannover  1898:  C.  Meyer. 
Friedrich,  Johann:  Friedrich  Eduard  Beneke,  ein  Gedenkblatt  zu  seinem 

100.  Geburtstage,   gr.  8°,  66  S.   Wiesbaden  1898:  Behrend. 
Fritsche,  R.:  Die  deutsche  Geschichte  in  der  Volksschule.     354  S. 

II.  Teil.    3.  Aufl.    Altenburg  1898:  Pierer. 
Fröhlich,  G. :    Die  Klassiker  der  Pädagogik.    Langensalza,  Schulbuchh. 
Fröhlich,  G.:    Die  wissenschaftliche  Pädagogik  Herbart— Ziller— Stoys. 

Wien  u.  Leipzig:  A.  Pichler.    6.  Aufl.  1896.    243  S.    2,80  M. 
Fuchs:    „Hermann  u.  Dorothea",  betrachtet  von  einem  pädagogischen 

System. 

Fuss,  K.:    Die  Natur  und  ihre  Glieder  in  Lied,  Sage,  Märchen  und  Fabel. 

Nürnberg  1898:  Korn'sche  Buchhandl. 
Fulda.  Kurt,  Prof. :    Nil  admirari.    Betrachtungen  u.  Erläuterungen  zu 

Horaz,  Epistel  1,  6.    (S.  3—16.)    4".     [Ant.  u.   F.]     Herford,  ev. 

Friedrichs-G..  P  1899. 
Gallina,  Johann:     Ferialreisen    mit  Studenten.      Mähr.-Trübau  1898. 

(20  S.)   8*.  Progr. 

Gauger,  Franz:  Wörterbüchlcin  der  Kunstsprache  des  Gerätturnen* 
(Jahn— Eiselen—  Spiess— Wassmannsdorff).  Th.  II.  Stralsund,  RG. 
OP  1898. 

Gayetot,  A.:  Les  effets  moraux  de  la  gymnastique.  Mon.  des  insti- 
tuteurs  prim.,  1900,  497—502. 

Gedanken  über  den  Gesangunterricht.   Päd.  Ztg.  XXVIII.  18. 

Gehrig,  A.:    Block  zu  Entwürfen  und  Beurtheilungcn  von  Lehrproben 
Ein  theor.-prakt.  Hilfsmittel  z.  Gebrauch  in  Lehrer-  u.  Lehrerinncn- 
Bildungsanstalten     sowie     in     pädagog.  Fortbildungs-Konferenzen. 
2.  Aufl.    Hannover,  Berlin:  C.  Meyer  1899.    (38  Bl.)  8*. 

Geissler:  Der  erste  Chemieunterricht.  Ein  methodisches  Schulbuch 
mit  geordneten  Denkübungen.    77  S.    Leipzig  1898:  Möschke. 

Genau,  A. :  Rechenbuch  für  Lehrerseminare.  1.  Band:  für  die  Unterstufe 
d.  Seminare,  sowie  für  Praparandcnanstalten.  6.  verm.  u.  verb.  Aufl. 
224  S.    Gotha  1898:  Thienemann. 

Gerini,  G.  B.:  Gli  scrittori  pedagogici  italiani  del  secolo  deeimo-settimo. 
Turin:  G.  B.  Paravia  e  Co.,  1900.    16°,  VIII  u.  260  S. 

G  e  r  1  a  n  d  ,  E.:  Kurzer  Abriss  der  darstellenden  Geometrie.  Mit  26  lithogr. 
Tafeln.    Leipzig  1899:  Teubner. 

Gerland,  E.,  u.  F.  Traumüller:  Geschichte  der  physikalischen  Experi- 
mentierkunst.   Mit  425  Abb.    Leipzig  1899:  Engelmann. 

Gerstberger,  Herrn. :  Ist  eine  besondere  Jugendlektüre  berechtigt, 
und  welche  Anforderungen  sind  an  eine  gute  Jugendschrift  zu  stellen  T 
([Umschlagt.:]  Ueber  Jugendlektüre.)  (S.  27—35.)  [Ant.  u.  F.) 
Bromberg,  st.  mittlere  Mädchcn-S.,  OP  1899. 

Geschichtszahlen,  zusammengestellt  für  das  Gymnasium  in  Mühl- 
hausen i.  Thür.    Mühlhauscn  i.  Thür.,  G  u.  KPG,    OP  1898. 


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90  Bibliothci  a  pädo'psychologüa. 

Gcsenius,  F.  W. :  Kurzgefasste  englische  Sprachlehre,  bearbeitet  vor 
Prof.  Dr.  Regel.    250  S.    Halle  1898:  Gesenius. 

G  i  1 1  e  ,  Albert,  Dir.  Dr. :  Eltern  und  höhere  Schule  in  Ems.  Ansprache  in 
d.  Schlussfeier  am  21.  März  1899.  (S.  3-7.)  4*.  Bad  Ems,  RPG.  P  1899. 

Giroud,  G.:  Cempuis.  Education  integrale;  coeducation  des  sexes. 
d'apres  les  documents  oflicicls  et  les  pubiieations  de  I'etablissement. 
Paris:  Schleicher  freres.  1900.    8°,  XX  u.  395  S. 

Glatzel,  Emanuel:  Geschichte  und  Organisation  der  Königlichen  Fach- 
schule für  technische  Chemie  und  Hüttenkunde  in  Breslau.  Breslau. 
OR,  k.  Baugewerk-S.  u.  Maschinenbau-S.,  OP  1898. 

Gl  ose  r,  M.:  Grundzüge  der  allgemeinen  Arithmetik  für  die  dritte  Klasse 
der  österreichischen  Realschulen.    4.  Aufl.    Wien  1899:  Holder. 

Glöser,  M.:  Lehrbuch  der  Arithmetik  für  die  erste  u.  zweite  Klasse  der 
österreichischen  Realschulen.    4.  Aufl.    Wien  1899:  Pichler. 

Göhl:     Lehrgespräche  im  Zeichenunterricht.    Leipzig  1898:  Wunderlich. 

G  o  e  r  t  h  :  Friedrich  Dittes  in  seiner  Bedeutung  für  Mit-  und  Nachwelt 
144  S.    Leipzig  1899:  Klinkhardt. 

G<  ebel,  Heinrich,  Prof.  Dr.,  stellv.  Dir.:  Die  Berechtigungen  des  Real- 
gymnasiums. (S.  3—6.)  4°  .  [F.]  (Vgl.  Progr.  1893.)  Coblenz,  st.  RG. 
P  1899. 

Goettc,  Rudolf:  Die  Kulturgeschichte  des  Mittelalters  im  Unterricht. 
(S.  3—18.)    4'  [F.]    Spremberg.  RPG,  P  1899. 

G  o  d  r  y  c  z  ,  J. :  Essays  on  the  Foundation  of  Education.  Lansing,  Mich. : 
Lawrence  and  Van  Buren  Printing  Co.,  1000.    168  S. 

Goldmann,  Theodor,  Dir.  Prof.  Dr. :  Ueber  den  Ausbau  der  Schule 
zum  Vollgymnasium.  (S.  8—9.)  4".  Friedberg,  grossh.  Augustiner-S. 
(G  u.  R)  nebst  VS,  OP  1899. 

Grabs,  H. :  Einiges  über  Anschauen  und  Denken  in  ihrem  Verhältnis 
zu  einander.    Die  deutsche  Schule.    III.  (1899).  12. 

Gramzow,  Otto:  Fricdr.  Eduard  Beneke  als  Vorläufer  der  pädago- 
gischen Pathologie.  Ein  Gedenkblatt  zum  hundertjährigen  Geburtstag 
des  Philosophen.  Beiträge  zur  pädag.  Pathologie  Heft  4.  Gütersloh 
1898:  Bertelsmann. 

Greifeid,  Oskar:  Festspiele  für  Schule  u.  Bühne.  Berlin,  XL  R,  OP  1898. 

Greyerz,  O.  v.:    Die  Mundart  als  Grundlage  des  Deutschunterrichts 
Bern:  Schmid  &  Franckc,  1900.    8",  31  S. 

Gronau,  Arthur,  Dir.  Dr. :  Zur  Geschichte  des  Königlichen  Gymnasiums 
in  Elbing.  1.    (S.  3—14.)   4'.    Elbing,  k.  G,  P  1899. 

Groscurth,  F. :  Das  Fremdwort  in  der  lateinlosen  Schule.  (S.  1 — 44.) 
4*.  Hamburg,  Unterrichts-Anstalten  d.  Klosters  St.  Johannis,  HM 
u.  Sm  f.  Lehrerinnen  an    HM.  OP  1899. 

Gross:  Botanischer  Formcnschatz.    Stuttgart  1898:  J.  Hoffmann. 

Grosse,  Emil:  Zu  Goethe.  Eine  Zusammenstellung  für  d.  Schul- 
gebrauch.   (88  S.)   8*.    Königsberg  i.  Pr.,  k.  Wilhelms-G..  P  1809. 

Grosse,  Hermann:  Zum  deutschen  Unterricht.  Greifenberg  L  P. 
(S.  3—12.)    4'.    Greifenberg  i.  P..  k.  Friedrich-Wilhelms-G,  OP  1899 


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BMiotheca  pädo-psycholoftca. 


91 


Grossmann,  Friedrich:  Herder  und  die  Schule.  (17  S.)  4".  Berlin: 
Erste  R.  [HB],  OP  1899. 

Grünes,  J.:  Rede  an  die  Schüler  zur  Feier  des  50jährigen  Regierungs- 
Jubiläums  S.  Maj.  des  Kaisers  Franz  Josef  I.    Progr.  Reichenberg 

1899.  (13  S.)  8«. 

Grunewald.  Theodor:  Wie  erhält  sich  der  Lehrer  den  idealen  Schwung 
und  die  Begeisterung  für  seinen  Beruf?  2.  erweit.  Aufl.  Hannover, 
Berlin:  C.  Meyer  1899.    (43  S.)  8*. 

Gruber,  H.:  Pädagogische  Irrtümer  in  Schule  und  Hau*.  Essen: 
G.  D.  Baedeker.  1900.    8°,  72  S. 

Gnericke,  Hermann  von:  Zum  deutschen  Unterricht  in  der  Unter- 
Sekunda  [SchlussJ.  (S.  3-15.)  4°.  (Schluss  d.  P-Beil.  1898.)  Memel. 
k.  Luisen-G.,  P  1899. 

Gunning,    Wz.:     Paedagogische    Schoolreizen.     Amst.,  W.  Versluys. 

1900.  gr.  8*,  83  S. 

Gut:  Das  geometrische  Zeichnen  (Planimetrische  Konstruktionen).  Wies- 
baden 1898:  Bechtold. 

Gut:  18  Wandtafeln  zum  geometrischen  Zeichnen.  Wiesbaden  1898: 
Bechtold. 

Gut,  J.:  XXIV.  Bericht  über  das  evangel.  Lehrerseminar  in  Unterstras> 
bei  Zürich.    Progr.    Unterstrass  1898.    (40  S.»  8*. 

H  aastert,  Heinrich  Friedrich,  Prof. :  Zur  Geschichte  des  Hagener 
Realgymnasiums.    (42  S.)   4'.    [F.]    Hagen  i.  W.,  RG  u.  G,  OP  1899. 

Habenicht,  B.:  Erleichterungen  im  geometrischen  Unterrichte,  be- 
sonders des  ersten  Jahres.  Unterrichtsbl.  \.  Mathem.  u.  Naturw.  V 
(1899),  5  u.  6. 

Hache,  Richard,  Dir.:  Bericht  über  die  Feier  des  25jährigen  Bestehens 
der  Anstalt.    (S.  10—12.)   4\    Löbau  Wpr.,  k.  PG,  OP  1899. 

Hacks,  Jakob,  Dirigent  Dr.:  Die  Gründung  und  Eröffnung  der  Städti- 
schen Realschule  zu  Kattowitz.  (S.  8—11.)  4°.  Kattowitz,  st.  R,  P  1899 

Häpke,  Ludwig,  Prof.  Dr.:  Das  Mikroskop  in  der  Realschule.  (S.  3 — 12.) 
4*.    Bremen,  R  in  d.  Altstadt,  OP  1899. 

H  ahnel,  Paul:  Geschichte  des  Königlichen  Konvikts  zu  Glatz.  (30  S.)  4". 
Glatz,  k.  kath.  G,  OP  1899. 

Half  mann,  Hermann,  Dir.  Dr.:  Bemerkungen  mit  Proben  zu  einem 
neuen  Hilfsbuch  für  den  Religionsunterricht  etc.  (S.  3 — 17.)  4" 
[ Umschlagt.  1    Eisleben,  st.  R.,  OP  1899. 

Hall,  R.  B.:  The  Education  of  the  Laity  upon  Sexual  Matters:  Whcn 
Shall  They  be  Taught  and  to  What  Extent?  Am.  J.  of  Obstetr.. 
Nov.  1900. 

Hammer,  Ph.:    Die  Erziehung   der   weiblichen    Jugend.  Paderborn: 

Bonifacius-Druckerei,  1900.    1?,  56  S. 
Hammerschmidt,  Franz:    Zur  Geschichte  der  Leibesübungen  in  den 

Franckeschen  Stiftungen.    (S.  1—30.)    4°.    Halle  a.  S.,  RG  u.  OR  d. 

Franckeschen  Stiftungen.    Festschrift  1898. 
Hanschmann,  AI.  Br.:     Friedrich  Fröbel.    Die  Entwickclung  seiner 

Erziehungsidee  in  seinem   Leben.     Dresden:   Bleyl  4  Kaemmerer, 

1900.   3.  Aufl.    gr.  8*.  XX  u.  535  S. 


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92  BibUotheca  pädo-fisychologica. 

Hanus,  Paul  H.:  Educational  aims  and  educational  values.  211  S.  New- York 

1899:  Macmillan  Company. 
Hardeland  :    Die  katechetische  Behandlung  des  kleinen  Katechismus 

Luthers.    320  S.    Berlin  1899:  Reuther  &  Reichard. 
H  a  r  d  y  ,  T.  M. :    How  to  Train  Children's  Voices.    For  School  Teachers 

and  Conductors  of  Pupil-Teachers*  and  Ladies*  Choirs.  London: 

Curwen,  1899.  8*.  64  S. 
H  a  r  g  i  1 1 ,  C.  W. :    Science  and  the  new  education.     The   Journal  of 

Pedagogy,  January  1899.    Syracuse,  N.  Y.,  U.  S.  A. 
Harms,  H.:    Vaterländische  Erdkunde.    3.  Aufl.    360  S.  Braunschweig 

1899:  Wollermann. 

Harris,  W.  T.:  Psychologie  foundations  of  education.  London  1898: 
Arnold. 

Harrison,  Carter  H.:  Report  of  the  educational  commission  of 
Chicago.    XVI.,  248  S.    Chicago  1899. 

Hart  mann,  O.:    Stilkunde.    Leipzig  1898:  Göschen. 

Harz,  K.  E.:  Lehrbuch  der  anorganischen  Chemie  für  Mittelschulen. 
Mit  59  Abb.  u.  1  Spektraltafel.    Erlangen  1899:  Palm  &  Enke. 

Hasselbach,  H.:  Leitfaden  für  die  analytisch-chemischen  Uebungen 
an  Realschulen.    Mit  6  Figuren.    Wien  1899:  Denticke. 

Ritt  v.  Hauers,  J.  J.  S.:  Symbola  heroica,  moralia  critica  nobili  juven- 
tuti  consecrata.  II.  Theil,  Schluss.  Veröffentlicht  von  H.  Muzik. 
Wien  1898.   (78  S.)   8"  Progr. 

Hauptmann,  F.:  Methodik  des  Unterrichts  in  der  Naturlehre.  2.  Aufl. 
Wien  1899:  Holder. 

Hausen:  Die  deutsche  Rechtschreibung  in  ausgeführten  Lektionen. 
62  S.    Flensburg  1899:  Westphalen. 

Hausberg,  Heinrich:  Bericht  über  die  mit  den  Primanern  unter- 
nommene Herbstreise  nach  Thüringen.  (S.  75 — 78.)  4".  Lübeck, 
Katharineum,  OP  1899. 

H  a  u  s  c  h  i  1  d  ,  Gustav  Richard,  Prof. :  Beiträge  zu  einem  Quellenlese- 
buche für  die  Kirchengeschichte.  (S.  III-XLII.)  4'.  Frank- 
furt a.  M.,  Goethe-G.,  P  1899. 

Hecke,  G.:  Systematisch-kritische  Darstellung  der  Pädagogik  J.  Lokev 
129  S.    2,40  M  .  Gotha:  F.  A.  Perthes,  1898. 

Heeger,  Robert:  Die  körperliche  Ausbildung  und  Erziehung  unserer 
Jugend  an  den  höheren  Schulen.   8',  36  S.    Leipzig  1898:  Strauch. 

Heesch,  Gustav:  Ueber  Fehler,  welche  erfahrungsgemäss  von  deutscheu 
Schülern  bei  Erlernung  des  Englischen  am  häufigsten  gemacht  wer- 
den.  (S.  1—21.)   4°.   Bergedorf  bei  Hamburg,  Hansa-S.,  OP  1899. 

Heidrich,  Rudolf,  Prof.,  Dir.:  Lehrplan  für  den  evangelischen  Reli- 
gionsunterricht in  Sekunda  und  Prima.  (23  S.)  8*.  [F.]  (Schluss  d. 
P-Beil.  1894.  95  u.  98.)    Nakel,  k.  G.f  P  1899. 

Heidsiek,  D. :  Das  Taubstummenbildungswesen  in  den  Vereinigten 
Staaten  Nord-Amerikas.  Breslau,  M.  Woywod,  1899.  gr.  8*.  II.  82  S. 

Heil  mann,  K.:  Psychologie  mit  Anwendung  auf  Erziehung  und  Schul- 
praxis.   3.  verb.  Aufl.    Leipzig,  Dürr,  1899. 


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fhftUothcca  pädo-psychologica 


03 


Heinrich,  J.r    Gedanken  über  das  Turnen  an  den  höheren  Schulen 
Preussens  und  Vorschläge  zur  Hebung  desselben.    Ztschr.  f.  Turnen 

u.  Jugendspiel,  Jahrg.  9,  No.  12. 
Heinz  c,  W.:    Die  Geschichte  für  Lehrerseminare.  —  Ein  Hülfs-  und 

Lesebuch.    3  Teile.    Hannover  1898:  C.  Meyer. 
Held,  Herrn.,   Kreisbatiinsp. :     Baubeschreibung  (des  neuen  Gymnasial 

gebäudes).    (S.  17-22.)   4°.    Münster  i.  W.,  k.  Paulinischcs  G,  P  189!>. 
Hedwig.  Paul,  Prof.  Dr.:     Erklärende    Beiträge    zur  Dichterlektüre. 

(21  S.)     4'.    Berlin,  Fünfte  st.  R  [HB],  OP  1899. 
Henke,  Oskar,  Dir.:    Aus  den  Lchrplänen  des  Gymnasiums  in  Bremen. 

Heft  6:  Zum  Unterricht  in  der  philosophischen  Propädeutik.    T.  1. 

(S.  27—31.)  4*.    (Forts,  d.  P-Beil.  1894—93.)    Bremen,  G,  P  1899. 
Hennig,  C.   R.:     Lerne  gesundheitsgemäss  sprechen.     Uebungen  zur 

Pflege  der  Sprechorgane,  nebst  kurzer  Einführg.  in  d.  Wesen  d.  Sprech- 
kunst.   Wiesbaden:  J.  F.  Bergmann  1899.    8".  69  S. 
Henry,  V.:    Die  experimentelle  Pädagogik  der  Gegenwart,  ihre  Methoden 

und  ihre  Ziele.    Wjestnik  Wospitanja  1899  No.  2.    (Angez.  Ztschr.  f. 

Schgespfl.)  XII.  4. 

Hcppner,  O.:    Vom  erziehenden  Unterricht.    Päd.  Ztg.  XXVIII  (18991 

No.  39. 

Herberger  k  Döring:  Theorie  u.  Praxis  der  Aufsatzübungen  im  5.  u. 
6.  Schuljahre.    2.  Aufl.  130  S.    Dresden  1899:  Bleyl  Je  Kämmerer. 

Herding  &  Hahn:  Elemente  der  Expcrimentalchemie.  96  S.  Ham- 
burg u.  Leipzig  1898:  L.  Voss. 

Herrmann,  Paul:  Lektionarium  für  das  Schuljahr  1899/1900.  (S.  54—55.) 
4*.    Torgau,  G,  OP  1899. 

Herrmann,  R.:  Elemcntarmethodische  Behandlung  der  Logarithmen 
und  ihrer  Anwendungen.    Gotha  1899:  Thienemann. 

Hertzberg:  A.  H.  Francke  und  sein  Hallisches  Waisenhaus.  Halle 
1898  (Waisenhaus). 

Hesse,  R.:  Bilder  aus  der  brandenburgisch-preussischen  u.  deutschen 
Geschichte  nebst  einem  Vorkursus.  Für  den  Gebrauch  im  ersten 
Geschichtsunterricht    3.  Aufl.    Hannover  1898:  C.  Meyer. 

Heussncr,  Friedrich.  Dir.  Dr.:  Zur  Einführung  unserer  Schüler  in  die 
Kasseler  Bildcrgallerie,  2.  [Rembrandt].  (S.  3—  14.)  4'.  [F.]  (Forts, 
d.  P-Beil.  1898.)    Cassel,  k.  Fricdrichs-G,  P  1899. 

Heydner,  G.:  Zur  Geschichte  u.  Theorie  des  Lesebuches.  Die  deutsche 
Schule    III.  (1899).  2. 

Hieronymus:  Herbarts  Regierung  und  Zucht.  (27  S.)  Berlin, 
Buchh.  d.  dtsch.  Lehrerzeitung,  1897. 

Hins  dal  e.  B.  A.:  The  Art  of  Study:  a  Manual  for  Teachcrs  and  Student« 
of  the  Science  and  Art  of  Teaching.  New  York,  Amer.  Book  Co., 
1900.    12",  3  u.  2C6  S. 

Hissbach.  Carl,  Dr.:  Zur  Behandlung  der  Sprachgeschichte  im  deut- 
schen Unterricht.  T.  2.  (S.  3—54.)  8'  [F.].  (Schluss  d.  P-Beil.  1897.) 
Weimar,  grossh.  Lehrer-Sm.  OP  1899. 


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94  Hibliotheca  pädo-psychologica. 

Hörschelmann,  v.:  Bemerkungen  zum  geographischen  Unterricht 
Blätter  für  Taubstummenbildung  XII.  14/15. 

Hodermann,  Max,  Dr. :  Xenophons  Wirtschaftslehre  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte socialer  Tagesfragen  betrachtet  (36  S.)  8°.  Wernige- 
rode, fürstlich  Stolberg'sches  G.,  P  1899. 

Höf  er,  Otto:  Lied  zur  Gedächtnisfeier  der  Schule  für  den  Fürsten  Bis- 
marck.   (S.  51.)   4*.    Dresden,  Wettiner  G.,  OP  1899. 

H  o  e  h  n  c  ,  Adolf,  Prof.  Dr. :  Chronik  der  ersten  25  Jahre  des  Wohlauer 
Gymnasiums.  (36  S.)  4°  [F.  u.  Ant.]  WoWau,  k.  G.,  Festschr.  1898 
(1899  No.  220.) 

Hörschelmann,  C.  von :  Bemerkungen  zum  geographischen  Unter- 
richte.   Bl.  f.  Taubst'bildg.,  1899,  XII.  14-16. 

Hohmann,  L.:  Geschichte  der  Pädagogik.  Die  Grundwissenschaften 
der  Pädagogik.  Allgemeine  Pädagogik  u.  Didaktik.  Die  Mittel- 
schullehrer- u.  Rektoratsprüfung  1.  Reihe  1.  Heft.    Breslau  1898:  Hirt 

Hoffmann,  H.:  Deutsche  Bühnenaussprache  —  das  Vorbild  muster- 
haften Sprechens.  Org.  cL  Taubstummenanst.  in  Deutschland,  1900. 
46,  2  u.  3. 

H  o  f  f  m  a  n  n  ,  Otto  Adalbert,  Dr.,  [ehem.  Vorstand  d.  Altertums-Museums 
d.  Stadt  Metz]:  Gymnasium  und  Museum.  Zur  Verwertung  unsrer 
Landesaltertümer  für  d.  Gymnasialunterricht;  erläutert  an  d.  gallo- 
römischen  und  fränkischen  Beständen  d.  Metzer  städt.  Sammlungen. 
(40  S.)   4'.    Metz,  L,  P  1899. 

Holloway,  H.:  The  Singing  Voice  of  Boys:  Hints  for  Clergymen, 
School  Teachers  and  Amateur  Organists.  London,  Simpkin,  1899. 
2nd  cd.   8*,  60  S. 

H  o  1 1  o  n  ,  Q.  A.  R.:  The  Mind  in  the  Treatment  of  Disease.   Calif.  M.  J.. 

1900,  XXI,  1-3;  102— 10Ü. 
Howard,  F.  E.:    The  Child- Voice  in  Singing  Treated  from  a  Physio- 

logical  and  a  Practica!  Standpoint  and  Especially  Adapted  to  SchooU 

and  Choirs.    New  rev.  ed.    New  York,  Novello  Ewer  k  Co.,  1900 

16°,  138  S. 

Hüll  er,  Friedrich  August:  Natur-  und  Gesellschaftsprinzip  in  Rousseaus 
Pädagogik.   Leipzig-Plagwitz  1898:  E.  Stephan.  (VII.  129  S.)   8".  Diss. 

Hüttmann,  Jastram,  Marten:  Weltkunde.  Leitfaden  der  Geographie, 
Geschichte  u.  Naturkunde  für  Mittelschulen  u.  mehrklassige  Volks- 
schulen.   18.  Aufl.  mit  99  Abb.    400  S.    Hannover  1899:  Hellwing. 

Huth,  Georg:  Jacques  Dubois,  Verfasser  der  ersten  latein-französischen 
Grammatik.  [1531].  (S.  3—24.)  4*.  Stettin,  k.  Marienstifts-G,  OP  1899. 

Huther,  A.:  Die  psychologische  Grundlage  des  Unterrichts.  Sammig. 
von  H.  Schiller  u.  Th.  Zic'  en.  II.  6.  Berlin.  Reuther  k  Reichard.  1F93. 

Ignetjeff,  W.:  Einfluss  der  Examina  auf  die  Gesundheit  der  Schüler. 
Wjestnik  Wospitanja  Nov.  1899. 

Ignotus  :  Over  welke  middelen  kan  de  onderwijzer  beschikken  om  srtijf- 
hoofdige  en  wederspannige  leerlingen  tot  gehoorzaamheid  te  brengen. 
Lager  onderw.,  1900,  113—121. 


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BMiotheca  pädo-psychologica. 


9f, 


Jacobi,  Georg  Heinr.,  Prof.  Dr.,  Dir.:  Zur  Geschichte  der  Realschule 
mit  Progymnasium  zu  Reichenbach  i.  V.  in  dem  ersten  Halbjahr- 
hundert ihres  Bestehens  1849—1899.  (50  S.)  8'.  Reichenbach  i.  V., 
R.  m.  PG,  Festschr.  1899. 

J  acobs,  J.  F.:  Nouveau  manuel  des  jardins  d'enfants  suivant  la  methode 
de  Frederic  Froebel.    Namur,  Ad.  Wcstnael-Charlier,  1900.    8°,  256  S. 

Jahn:  Ethik  als  Grundwissenschaft  der  Pädagogik.  2.  Aufl.  Leipzig: 
Dürr,  1899. 

Jahn,  M.:  Psychologie  als  Grundwissenschaft  der  Pädagogik.  Leipzig: 
Dürr'sche  Buchh.,  1897.    413  S. 

1.  Jahresverzeichnis  der  an  den  deutschen  Universitäten  erschienenen  Schriften 

vom  Jahre  1897/98. 

2.  Jahresverzeichnis  der  Schweizer  Universitätsschriften  von  1897/98. 

3.  Neuerwerbungen  auf  dem  Gebiet  der  Psychologie  u.  Pädagogik  von  1899. 
Januschke,  Hans:    Geschichtliches  über  die  Realschule.    Teschen  18!>8. 

(47  S.)    8*.  Progr. 

Jebb,  R.  C.:  Humanism  in  Education.  London:  Macmillan,  1899.  8*,  44  S. 
Jonas,  Richard,  Dir.  Prof.    Dr.:     Stoffe    zum    Uebersetzen    aus  dem 

Deutschen  ins  Lateinische  in  Obersekunda,  Reihe  3.  (19  S.)  8*.  [F.]  Fts. 

d.  P-Beil.  1895  u.  98.)    Krotoschin,  k.  Wilhelms-G,  OP  1899. 
Jordan,  Reinhard,  Prof.  Dr.:    Beiträge  zur  Geschichte  des  städtischen 

Gymnasiums  in  Mühlhauscn  i.  Thür.  4.    (48  S.)  8".    (Forts,  d.  P-Beil. 

1895-97.)    Mühlhausen  i.  Thür.,  G  u.  RPG,  OP  1899. 
J  o  u  r  d  a  n  -  Folkmitt:    Ueber  verschiedene  Schriften  für  Blinde  und  ihre 

Vergleichung  hinsichtlich  ihrer  Form  und  Ausdehnung,  sowie  de.-» 

Raumes,  welchen  sie  einnehmen.    Blindenfrcund,  1899,  XIX,  3 — 5. 
Jousset,    A.:      Ecoles    de    sourds-muets.      Methode    des  exccrcice-. 

acoustiques.    Tournai:  Decallonne-Liogre,  1900.    8°,  180  S. 
Jung,  August,  Dir.  Dr.:    Bericht  über  Bau  und  Einweihung  des  neuen 

Gymnasialgcbäudes.  (S.  22—25.)  4°.  Neustadt  Ob.-Schl.,  k.  G,  OP  1899 
Just:    Praxis  der  Erziehungsschule.    III.    Heft  1.    Altenburg:  Piercr. 
Kaemmel,  Otto:    Verzeichniss  der  seit  1867  den  Jahresberichten  de» 

Nicolaigymnasiums  beigegebenen  Abhandlungen.    Leipzig,  Nicolai-G  . 

OP  1898. 

K  an  tat  vid  invigningen  af  Lunds  nya  lärovcrkshus  den  12  Nov.  18%  ai 
Bengst  Jn.  Bergqvist,  satt  i  musik  af  Henrik  Möller,  Klaverutdra« 
Lund  1898.    4*.  11  S.  Progr. 

Kaphahn,  Karl,  u.  Gustav  Lange:  Lehrplan  für  Volksschulen  mit  einem 
bis  sechs  Lehrern.  4.  Aufl.,  nach  d.  neueren  Bestimmungen  umgearh 
Breslau:  F.  Hirt  1899.   (30  S.)  8». 

Kasten,  Herrn.:    Lehrpläne  der  Handelsschule  in  Bremen.    (16  S.)  4* 
Bremen,  Handels-S.,  [Abteil,  d.  Haupt-S.],  P  1899. 

Katter,  Friedrich:    Das  mathematische  Lehrpensum  der  Unter-Sekunda 
T.  2.  (S.  45—64.)  8«.  (Forts,  d.  P-Beil.  1897.)    Putbus,  k.  Pd.,  OP  1899. 

Kehrbach,  K.:  Das  gesamte  Unterrichtswesen  in  den  Ländern  deutscher 
Zunge.  Jahrg.  I.  H.  6—15.  viertelj.  3  Hefte  zu  5  M.  Berlin:  J.  Harr- 
witz, 1898. 


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% 


fhbliotheca  pädo-psychologica. 


Kehrbach,  IC:  Texte  und  Forschungen  zur  Geschichte  der  Erziehung 
und  des  Unterrichts  in  den  Landern  deutscher  Zunge.  Berlin:  Har- 
witz  Nachfolger,  1897.    H.  I.   2  M. 

Keller,  Julius:  Denken  und  Sprechen  und  Sprachunterricht  Eine 
Studie  zur  Frage  nach  der  formalen  Bildung.  (49  S.)  4\  Lörrach, 
grossh.  G  u.  RPG.,  MP  1899. 

Kern  er,  J.:  Die  Naturlehre  in  der  Taubstummenschule.  BL  f.  Taubst- 
Bildung,  1899,  XII,  7. 

Kerssenbroch,  Herrmannus  a:  A.  Ratio  studiorum  scholae  Monaste- 
riensis  saeculi  XVI.  (1551).  B.  Leges  cholae  Monasteriensis  (1574). 
Münster  i.  W.,  k.  Paulinisches  G.,  Festschr.  1898. 

Kilp,  G.:  Organisation  der  Städtischen  Fortbildungsschule  zu  Essen. 
Essen,  st.  Fortbildungs-S.  u.  Fachkl.    P  1898. 

Klatovsky,  Karl:  Rückblick  auf  die  ersten  fünfundzwanzig  Jahre  der 
k.  k.  Staatsrcalschule  in  Teschen.  Teschen  1898.   (S.  49—116.)  8'  Progr. 

Klatt,  P.:  Ein  Beitrag  zum  Anschauungsunterricht.  Bl.  f.  Taubst- 
Bildung,  1899,  XII,  10. 

Kl  au  sing,  Friedrich,  Dr.,  Dir.:  Lehrplan  für  den  französischen  Unter- 
richt in  Sexta,  Quinta.  Quarta  im  Anschluss  an  Plattners  Lehrgang. 
(V,  43  S.)   8'.    M. Gladbach,  st.  OR,  OP  1899. 

Kleber,  Paul,  Dr.:  Die  Behandlung  des  lutherischen  Katechismus  in  den 
höheren  Schulen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  neuesten  Re- 
formvorschlage. (S.  3—33.)  4"  [Umschlagt.]  (Als  Vortrag  geh.  auf 
d.  8.  Versammlung  evang.  Religionslehrer  an  höheren  Schulen 
Schlesiens  zu  Ostern  1898  in  Breslau.    Löwenberg  i.  Schi.,  R,  OP  1899. 

Kleinschmidt,  A.:  Karl  Kehr.  „Grosse  Erzieher".  III.  Band.  8*, 
112  S.    Leipzig  1898:  Voigtländer. 

Klencke:  Die  Mutter  als  Erzieh,  ihrer  Töchter  u.  Söhne  zu  phys.  o. 
sittl.  Gesundheit.    Kummer.  Leipzig,  1899.  6". 

Klipstein,  August,  Dir.  Prof.  Dr.:  Kurzer  Berieht  über  das  fünfund- 
zwanzigjährige Bestehen  der  Anstalt  (Ostern  1874  —  Ostern  1899). 
(S.  10-25.)   4  °.    Freiburg.  Schi.,  st.  R.,  P  1899. 

Knabe,  Karl,  Dir.  Dr.:  Die  Oberrcalschule  zu  Marburg.  Ein  Wort  zur 
Einweihung  ihres  neuen  Gebäudes  am  10.  X.  1899.  (S.  3—7.)  4'. 
Marburg.  OR,  Festschr.  1899. 

Knuth:    Franckes  Mitarbeiter.    Halle  1898  (Waisenhaus). 

Koch,  K. :  Die  Erziehung  zum  Mute  durch  Turnen,  Spiel  und  Sport 
Die  geistige  Seite  der  Leibesübungen.  Berlin:  R.  Gärtner,  1900. 
8',  224  S. 

Koch,  Karl,  Prof.:  Zerlegbare  Modelle  für  Kristallographie  und  Sphärik 
und  andere  Gebiete.    (11  S.)  4*.    Cannstatt,  k.  G,  P  1899. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Schriftlettung:  F.  Kemsies,  Berlin  NW..  Piulstr.  33  und  L.  Hirschlatt,  Berlin  W.,  Lfitzov«tr.85b. 
Verlag  von  Htrraann  Walther,  Verlagsbuchhandl.,  O.  m.b  H..  Berlin  SW.,  Kommandantenstr.  14. 
Druck:  Deutsche  Buch-  und  Kunstdruckerei,  O.  m.b.  H.,  Berlin  SW.,  Friedrichs«-.  16.. 


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Zeitschrift 

für 

Pädagogische  Psychologie, 

IPafyologlt  und  «jygient. 

Herausgegeben 
Ferdinand  Kemsies  und  Leo  Hirschlaff. 


Jahrgang  IV.         Berlin,  April  1902.  Heft  2. 


Die  sprachliche  Entwicklung  und  Behandlung 
geistig  zurückgebliebener  Kinder/) 

Vortrag,  gehalten  am  7.  Februar  1902  im  Verein  für  Kinder- 
psychologie zu  Berlin. 

Von 

Al.bert  Liebmann. 

M.  D.  u.  H.  Wenn  ich  mir  gestattete,  hier  vor  Ihnen 
über  die  sprachliche  Entwicklung  und  Behandlung  geistig  zu- 
rückgebliebener Kinder  zu  sprechen,  so  bin  ich  mir  durchaus 
bewusst,  dass  die  Forschungen  über  dies  Gebiet  noch  keines- 
wegs abgeschlossen  sind.  Es  liegen  zwar  eine  grosse  Reihe 
trefflicher  Arbeiten  vor,  aber  es  sind  noch  manche  wichtige 
Probleme  zu  lösen.   Besonders  sind  die  Ursachen,  auf  welchen 


*)  VgL  meine  Arbeiten:  1)  Untersuchung  und  Behandlung  geistig 
zurückgebliebener  Kinder.  Berlin  1898.  2)  Vorlesungen  über  Sprachstörungen. 
5  Hefte.  Berlin  1898—1900.  3)  Geistig  zurückgebliebene  Kinder.  Archiv 
für  Kinderheilkunde.  1899.  A)  Aetiologie  des  Stotterns,  Stammelns,  der 
Hörstummheit  und  des  Polterns.  Archiv  für  Laryngol.  1899.  5)  Sprach- 
störungen und  Sprachentwicklung.  Neurol.  Centraiblatt  1900.  6)  Agram- 
matismus.  Archiv  für  Psychiatrie  1900.  7)  Sprachstörungen  geistig 
zurückgebliebener  Kinder.  Berlin  1901.  8)  Sprache  schwerhöriger  Kinder. 
Bresgen'sche  Sammlung  1901. 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  1 


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98 


Albtrt  Lübmann. 


die  geistigen  und  sprachlichen  Defekte  dieser  Kinder  beruhen, 
zum  Teil  noch  recht  dunkel. 

In  manchen  Fällen  finden  wir  ja  bestimmte  Anomalien 
des  Schädels  und  Gehirns  z.  B.  Mikrocephalie,  Makrocephalie, 
Hydrocephalus  u.  s.  \v.  In  anderen  Fällen  dagegen  ergiebt 
aber  eine  körperliche  Untersuchung  nichts  Besonderes.  Im 
allgemeinen  ist  man  sehr  geneigt,  solche  Fälle,  bei  denen  sich 
die  genannten  Schädel-  oder  Hirnanomalien  finden,  ungünstiger 
zu  beurteilen.  Das  ist  jedoch  keineswegs  für  alle  Fälle  richtig. 
Denn  es  giebt  viele  Kinder  ohne  körperlichen  Befund,  die 
sich  schlechter  entwickeln,  als  Kinder  mit  anscheinend  recht 
ungünstigen  Schädeldeformitäten.  Und  ich  glaube,  dass 
mancher  Fall  von  Mikrocephalus  oder  Makrocephalus  oder 
Hydrocephalus  sich  schliesslich  noch  ganz  gut  entwickelt  hätte, 
wenn  man  nicht  mit  vorschnellem  Pessimismus  auf  jede  päda- 
gogische Einwirkung  verzichtet  hätte. 

Was  nun  die  sprachliche  Entwicklung  der  geistig  zu- 
rückgebliebenen Kinder  betrifft,  so  kann  man  mit  gewissen 
Einschränkungen  sagen,  sie  geht  denselben  Weg  wie  die  der 
normalen  Kinder,  aber  es  erfolgt  ein  Stillstand  auf  einem 
frühen  Standpunkt  der  kindlichen  Sprachentwicklung.  Wollen 
wir  also  die  sprachliche  Entwicklung  normaler  Kinder  verstehen, 
so  müssen  wir  uns  zunächst  die  sprachliche  Entwicklung 
normaler  Kinder  vergegenwärtigen. 

Nach  Kussmaul  kann  man  drei  Stadien  der  normalen 
kindlichen  Sprachentwicklung  unterscheiden.  Erstens  das 
Stadium  der  Urlaute. 

Schon  am  Ende  des  ersten  Vierteljahres  beginnen  die 
meisten  Kinder  allerlei  seltsame,  unartikulierte  Laute  hervor- 
zubringen, die  sog.  U  r  1  a  u  t  e  ,  die  noch  keine  Aehnlichkeit 
mit  unseren  Sprachlauten  haben,  sondern  sich  als  Grunzen, 
Quieken,  Schmatzen  und  Schnalzen  darstellen.  Wie  das  Kind 
mit  den  Händchen  und  Füsschen  zappelt  und  strampelt,  so 
wird  es  von  demselben  Thätigkeitsdrang  getrieben,  die  ge- 
schilderten, merkwürdigen  Urlaute  zu  produzieren.  Erst  all- 
mählich erstarken  die  akustischen  Fähigkeiten  des  Kindes  so 
weit,  dass  es  imstande  ist,  aus  den  Worten  der  Erwachsenen 
einzelne  Laute  und  Silben  herauszuhören  und  sich  diese  zum 


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Die  sprach!.  Entwickl.  u.  Behandl.  geistig  turück gebliebener  Kinder. 


Vorbilde  weiterer  Uebungen  zu  nehmen.  Das  Kind  kommt 
so  in  das  zweite  Stadium  der  Sprachentwicklung,  in  dem 
sich  die  Urlaute  zu  unseren  wirklichen  Sprachlauten 
umbilden.  In  dieser  Zeit  vergnügt  sich  das  Kind  stundenlang 
damit,  allerlei  Laute  und  Silben  oder  gar  Wörtchen  in  endloser 
Weise  zu  wiederholen.  Gutzmann  weist  mit  Recht  darauf 
hin,  dass  den  Kindern  diese  Sprachübungen  Vergnügen  machen 
und  dass  manche  Kinder  gerade  deshalb  nicht  zu  sprechen 
anfangen,  weil  ihnen  diese  Lust  der  Lautnachahmung  fehlt. 

Die  Kinder  lernen  nicht  gleich  alle  Laute.  Meist  fehlen 
noch  längere  Zeit  die  Laute  k  und  g,  f,  r,  ss,  s,  sch,  ch 
und  1  werden  dann  vorläufig  ausgelassen  oder  durch  ähnliche 
ersetzt.  Beispiele:  Für  „Kaffee"  sagt  ein  Kind  in  diesem 
Stadium  etwa  „tappe44  oder  „appe",  für  „Willy  „billi44,  für 
„Suppe"  „duppe"  etc.  So  macht  jedes  Kind  eine  Periode 
physiologischen  Stammeins  durch.  Doch  ist  diese 
Zeit  bei  den  meisten  Kindern  nur  kurz.  Die  motorischen 
und  acustischen  Fähigkeiten  entwickeln  sich  meist  so 
schnell,  dass  die  Sprache  sehr  bald,  wenn  auch  nicht  völlig 
korrekt,  so  doch  verständlich  wird. 

Bemerkenswert  ist,  dass  im  zweiten  Stadium  der  Sprach- 
entwicklung noch  die  Verbindung  zwischen  dem 
Worte  und  dem  betreffenden  Vorstellungs- 
inhalt fehlt.  Die  Wahrnehmungen  der  Kinder  sind  noch  zu 
blass  und  ungenau,  um  sich  zu  Vorstellungen  und 
Begriffen  zu  verdichten  und  der  Bezeichnung  durch  Worte 
zu  bedürfen.  Erst  im  Anfange  des  zweiten  Lebensjahres 
pflegen  die  geistigen  Fähigkeiten  sich  so  weit  zu  heben,  dass 
die  Wahrnehmungen  intensiver  und  schärfer  werden,  dass  eine 
reichere  Vorstellungsthätigkeit  entsteht  und  dem  Kinde  so  das 
Verständnis  zunächst  wenigstens  für  eine  Anzahl  von  Worten 
heraufdämmert.  Je  mehr  Worte  das  Kind  versteht,  um  so 
stärker  wird  der  Anreiz,  mit  den  eigenen  Sprachorganen  diese 
Worte  nachzuahmen  und  sie  dann  zur  Bezeichnung  der  eigenen 
Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  zu  gebrauchen.  So  reift 
das  Kind  dem  dritten  Stadium  der  Sprachentwicklung 
entgegen,  in  dem  es  mit  den  ausgesprochenen  Worten  einen 
bestimmten  Sinn  zu  verknüpfen  beginnt.  Im  Anfange  dieses 
Stadiums  spricht  das  Kind  in  „Satzworten",  d.  h.  es  ist 

t* 


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IOO 


noch  nicht  imstande,  durch  die  komplizierten  Mittel  der 
Grammatik  und  Syntax  einen  Gedanken  in  klarer,  eindeutiger, 
korrekter  Weise  auszudrücken,  sondern  es  spricht  in  lapidarem 
Stil  nur  ein  Wort,  dessen  präziser  Inhalt  erst  aus  der  ge- 
samten Situation,  aus  dem  Tonfall  der  Stimme  und  begleitenden 
Gesten  konstruiert  werden  muss.  Ich  nenne  einige  Beispiele: 
Auf  dem  Tische  liegen  Bilder,  die  sich  die  Erwachsenen  und 
die  älteren  Geschwister  ansehen.  Das  Kind  hebt  verlangend 
die  Arme  zum  Vater  empor  und  ruft  in  bittendem  Tone :  „Papa". 
Offenbar  will  das  Kind  sagen :  „Papa  heb'  mich  in  die  Höhe". 
Ein  anderes  Mal  ist  das  Kind  in  der  Stube  und  hört  draussen 
im  Gange  einen  festen,  sicheren  Schritt  und  eine  tiefe  männ- 
liche Stimme.  „Papa",  ruft  es  freudig  und  klascht  in  die 
Hände.  Das  Kind  meint  offenbar:  „Papa  ist  nach  Hause  ge- 
kommen." Allmählich  erst  schreitet  das  Kind  weiter  in  der 
Sprachentwicklung  fort  und  beginnt  mehrere  Worte  zu  einem 
lockeren  Gefüge  zu  vereinen,  häufig  ganz  ohne  Flexion 
oder  doch  mit  verstümmelten  Formen.  Auch  diese  Wort- 
konglomerate entbehren  ohne  die  begleitenden  Umstände  noch 
des  prägnanten  Inhaltes.  So  können  die  Worte:  „Spazieren 
gehen"  etwa  bedeuten:  „Ich  will  spazieren  gehen"  oder:  .,ich 
bin  spazieren  gegangen"  oder:  „Papa  geht  oder  wird  spazieien 
gehen"  u.s.w. 

Bemerkenswert  ist,  dass  in  diesem  Stadium  die  Vor- 
stellungsthätigkeit  des  Kindes  im  ganzen  noch  nicht  immer 
so  intensiv  und  präzis  arbeitet,  als  dass  das  Kind  zum  Aus- 
drucke seiner  Gedanken  schon  des  ganzen  komplizierten 
Apparates  unserer  reich  gegliederten  formalen  Sprache  be- 
dürfte. Man  kann  durch  einfache  Experimente  nachweisen, 
dass  das  Kind  zu  dieser  Zeit  selbst  den  Inhalt  ganz  kleiner 
einfacher  Sätze  noch  nicht  immer  präzis  auffassen  kann.  Meist 
erst  im  Laufe  des  dritten  Lebensjahres  oder  gar  noch  später 
pflegt  die  Intelligenz  und  damit  auch  das  Sprach  Verständnis 
derart  zuzunehmen,  dass  das  Kind  nunmehr  das  Bedürfnis 
fühlt,  für  seinen  Gedankenreichtum  sich  eines  adaequaten  Aus- 
drucksmittels in  Gestalt  unserer  grammatisch  und  syntaktisch 
korrekten  Sprache  zu  bedienen.  Im  Anfange  sind  natürlich 
noch  grosse  Schwierigkeiten  zu  überwinden.  Doch  verschwinden 
die  merkwürdigen  Flexionsformen,  die  ungeschickte  Phraseo- 


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Dü  spracht.  Entwükl.  u.  Bf  Mandl.  geistig  zurückgebliebener  Kinder.  I0I 

logie  und  die  unlogische  Gliederung  der  Sätze  allmählich 
durch  den  Einfluss  der  Umgebung. 

Sobald  nämlich  das  Kind  im  Besitze  einer  einigermassen 
deutlichen  und  korrekten  Sprache  ist,  beginnt  es  die  Um- 
gebung mit  unzähligen  Fragen  zu  bestürmen  und  ihr  alle  seine 
kleinen  Beobachtungen  mitzuteilen.  Meist  steht  das  kleine 
Plappermäulchen  den  ganzen  Tag  nicht  still.  Indem  die 
Umgebung  die  vorgelegten  Fragen  beantwortet  und  die  mit- 
geteilten Beobachtungen  nach  Inhalt  und  Form  korrigiert,  so 
vermehrt,  verbessert  und  vertieft  sie  das  Wissen  des  Kindes 
und  feilt  seine  Sprache  zurecht  in  Bezug  auf  richtigen  Aus- 
druck und  korrekte  grammatische  und  syntaktische  Formen. 
Welchen  ausserordentlichen  Gewinn  in  Bezug  auf  geistige  und 
sprachliche  Ausbildung  das  Kind  aus  diesen  scheinbar  un- 
wichtigen Unterhaltungen  zieht,  ersieht  man  erst  aus  solchen 
Fällen,  wo  eine  schwer  verständliche  Sprache  den  geistigen 
Verkehr  mit  dem  Kinde  hemmt. 

Wir  kommen  nun  zu  der  sprachlichen  Entwick- 
lung geistig  zurückgebliebener  Kinder. 

Die  Sprachstörungen  geistig  zurückgebliebener  Kinder 
können  primär  oder  sekundär  sein. 

Primär  sind  die  Sprachstörungen  dann,  wenn  entweder 
organische  Abnormitäten  (Gehörherabsetzung,  Lähmungen, 
Geschwülste  etc.)  oder  funktionelle  Mängel  die  Sprache 
unverständlich  machen,  den  Patienten  von  der  Umgebung 
isolieren  und  so  seine  geistige  Entwicklung  hemmen. 

Sekundär  sind  die  Sprachstörungen,  wenn  sie  auf  det 
geistigen  Inferiorität  des  Patienten  beruhen. 

Wir  betrachten  zunächst  die  sekundären  Sprach- 
störungen. 

Die  häufigste  sekundäre  Sprachstörung  ist  die  Stumm- 
heit. Die  meisten  dieser  Patienten  reden  nicht,  weil  sie  uns 
nichts  zu  sagen  haben. 

Ganz  stumm  pflegen  die  Patienten  übrigens  nicht  zu  sein. 
Sie  produzieren  jene  eigentümlichen  U  r  1  a  u  t  e ,  die  wir  oben 
als  erstes  Stadium  der  Sprachentwicklung  beschrieben 
haben. 

Wir  können  diese  stummen  Kinder  in  drei  Gruppen  ein- 
teilen. 


102 


Albert  Lübmann. 


Die  ersten  sitzen  apathisch  stundenlang  auf  der 
Stelle,  wohin  man  sie  gesetzt  hat.  Blöden  Blickes  starren  sie 
ins  Leere.  Selbst  starke  optische  oder  akustische  Reize 
erregen  ihre  Aufmerksamkeit  wenig  oder  gar  nicht.  Das 
Sprachverständnis  fehlt.  Auf  intensive  Gefühls- 
reize reagieren  sie  mit  wüstem  Geschrei  und  schlagen  wütend 
um  sich.  Bald  zupfen  sie  sinnlos  an  ihren  Kleidern  oder  irgend 
welchen  Gegenständen  stundenlang  herum,  bald  vernichten  sie 
zornig  alles,  was  ihnen  in  die  Hand  kommt  oder  schleudern  es 
von  sich.  Sie  würden  verhungern,  wenn  man  sie  nicht  fütterte. 
Die  Stummheit  dieser  Patienten  ist  nur  das  Spiegelbild  ihrer 
geistigen  Oede. 

Andere  Kinder  wieder  sind  recht  agil.  Sie  toben  wild 
durch  das  Zimmer  oder  wälzen  sich,  mit  Händen  und  Füssen 
um  sich  stossend,  auf  der  Erde  herum.  Häufig  reagieren  sie 
selbst  auf  starke  Reize  nicht.  Bisweilen  aber  gelingt  es  ihre 
Aufmerksamkeit  auf  Sekunden  zu  erregen.  Doch  fehlt  den 
Patienten  die  Gabe  der  Konzentration ;  in  wilder  Flucht  wendet 
sich  ihre  Aufmerksamkeit  bald  diesem,  bald  jenem  zu,  ohne 
irgendwo  verweilen  zu  können.  Infolgedessen  sind  ihre  Wahr- 
nehmungen zu  blass  und  ungenau,  als  dass  sich  Vorstellungen 
und  Begriffe  bilden  könnten.  Sprachverständni's  ist 
meist  nicht  vorhanden  oder  doch  nur  für  einige  wenige  Worte. 
Ihre  spontane  Sprache  besteht  meist  nur  aus  Urlauten. 
Oefter  sind  auch  schon  einige  richtige  Sprachlaute  vorhanden. 
Manche  Kinder  können  auch  schon  die  Namen  der  Eltern  und 
Geschwister  nennen,  allerdings  nur  in  stammelnder  unverständ- 
licher Form. 

Die  dritte  Gruppe  endlich  macht  einen  weit  günstigeren 
Eindruck.  Ihr  Benehmen  ist  verständiger.  Sie  sind  aufmerk- 
samer und  haben  ein,  wenn  auch  nur  sehr  unvollkommenes, 
Sprachverständnis.  Aber  sie  sprechen  nicht.  Meist  verhin- 
dert eine  kolossale  Ungeschicklichkeit  der  Sprachorgane  diese 
Patienten  am  Sprechen. 

Die  Kinder  der  zweiten  und  dritten  Gruppe  sind  natürlich 
prognostisch  günstiger  zu  betrachten.  Man  kann  in  den  meis- 
ten Fällen  darauf  rechnen,  durch  eine  planmässige  Therapie 
ihnen  die  Sprache  zu  verschaffen  und  ihre  geistigen  Fähig- 
keiten soweit  zu  verbessern,  dass  sie  mit  Erfolg  unterrichtet 


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Die  spracht.  Entuhckl.  u.  ßehandl.  geistig  zurückgebliebener  Kinder. 


werden  können.  Bei  der  ersten  Gruppe  ist  die  Prognose  weit 
zweifelhafter,  doch  sind  auch  in  diesen  Fällen  öfter  durch  Ge- 
duld und  Ausdauer  Erfolge  zu  erzielen. 

Was  nun  die  Behandlung  der  Stummheit  betrifft,  so 
darf  man  bei  den  meisten  Kindern  nicht  etwa  sogleich  mit 
Sprachübungen  beginnen.  Diese  stossen  bei  den  meisten 
Patienten  auf  kolossalen  Widerstand. 

Die  Kinder  haben  eben  zu  wenig  Interesse  für  die 
Sprache,  weil  ihnen  die  den  Worten  zu  gründe  liegenden  Vor- 
stellungen und  Begriffe  fehlen  und  sie  häufig  sogar  die 
betreffenden  Wahrnehmungen  noch  gar  nicht  gemacht 
haben.  Ferner  erfordert  das  Sprechen  auch  eine  zu  grosse 
Anstrengung  und  Aufmerksamkeit,  die  diese  Pa- 
tienten nicht  aufbieten  wollen  oder  können. 

In  solchen  Fällen  muss  man  den  Patienten  erst  Inter- 
esse für  die  Dinge  und  Vorgänge  der  Umgebung  ein- 
pflanzen und  muss  besonders  durch  eine  Schulung  der  akus- 
tischen, optischen,  taktilen  und  motorischen 
Fähigkeiten  die  Intelligenz  des  Patienten  soweit  fördern, 
dass  er  von  selbst  den  Versuch  macht  zu  sprechen. 

Es  ist  sehr  vorteilhaft,  wenn  man  zu  diesem  Zwecke  bei 
jedem  einzelnen  Patienten  einen  genauen  Status  seiner 
zentralen  Fähigkeiten  aufnimmt.  Ich  untersuche  das 
Hören,  Sehen,  Riechen,  Schmecken,  den  Tast-,  Druck-, 
Temperatursinn,  das  Schmerzgefühl,  die  Geschicklichkeit  der 
Körper-  und  Handmuskulatur,  die  spontane  Sprache,  die  Fähig- 
keit des  Nachsprechens.  Auf  diese  Weise  findet  man  bei 
jedem  Patienten  ganz  bestimmte  Defekte  heraus,  die  je  nach 
der  Art  und  dem  Grade  des  Falles  verschieden  sind.  Auf 
die  Technik  der  Untersuchung  kann  ich  hier  nicht  näher  ein- 
gehen. 

Die  Defekte,  die  man  am  häufigsten  findet,  sind: 
In  der  akustischen  Sphäre:  Mangelhaftes  Unter- 
scheidungsvermögen für  Töne  und  Geräusche.  Mangel- 
haftes Sprach  Verständnis.  Manche  Kinder  haben  über- 
haupt kein  Sprach  Verständnis.  Andere  verstehen 
einige  wenige  Worte.  Wieder  andere  verstehen  zwar 
einzeln  gesprochene  Worte,  können  aber  den  Inhalt  selbst 
ganz  kleiner  Sätze  durchaus  nicht  auffassen. 


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104 


Albert  LUbmann. 


In  der  optischen  Sphäre  findet  man :  Die  Unfähigkeit, 
Farben,  Formen  und  Bilder  zu  erkennen,  sowie 
Grössen-,  Raum-  und  Lageunterschiede  zu  machen. 
Manche  Kinder  erkennen  nicht  einmal  die  gewöhnlichsten 
Gebrauchsgegenstände.  Andere  können  Gegenstände  nicht  im 
Bilde  erkennen.  Oefter  werden  Bilder  nur  in  isolierten  Dar 
Stellungen  erkannt,  die  immer  nur  einen  Gegenstand  enthalten. 
Auf  grossen  zusammenhängenden  Bildern  mit  vielen 
Gegenständen  wird  nichts  herausgefunden. 

Der  Tastsinn  ist  meist  sehr  wenig  ausgebildet.  Selbst 
ganz  bekannte  Gegenstände  können  bei  verbundenen  Augen 
meist  nicht  durch  den  Tastsinn  erkannt  werden. 

Ebenso  wenig  werden  auch  nur  grobe  Gewichts-  und 
Temperatur  - Differenzen  unterschieden. 

Das  Schmerzgefühl  pflegt  auffallend  herabgesetzt 
zu  sein. 

Der  G  a  n  g  ist  meist  sehr  ungeschickt.  Viele  dieser  Kinder 
gehen  überhaupt  nicht  ohne  Unterstützung.  Manche  schwanken 
beim  Gehen  bedenklich  und  stürzen  nach  wenigen  Schritten 
zu  Boden.  Die  allereinfachsten  Freiübungen  können  oft  nicht 
nachgeahmt  werden. 

Die  Hände  sind  meist  von  unglaublicher  Ungeschicklich- 
keit. Selbst  die  allergewöhnlichsten  Verrichtungen  des  täg- 
lichen Lebens  gelingen  diesen  Kindern  nicht. 

Hat  man  nun  im  einzelnen  die  betreffenden  Defekte  heraus- 
gefunden, so  sucht  man  durch  möglichst  lebendige  Demonstra- 
tionen dem  Kinde  die  fehlenden  Fähigkeiten  beizubringen.  Bei 
jeder  Demonstration  wird  das  betreffende  Wort  mehrmals  deut- 
lich und  scharf  artikuliert  ausgerufen,  ohne  dass  man  aber 
das  Kind  zunächst  zum  Nachsprechen  auffordert. 

Man  zeigt  z.B.  dem  Kinde  die  Gegenstände  des  Zimmers 
in  möglichst  lebendiger  Weise,  um  das  Interesse 
des  Kindes  zu  erregen.  Man  rückt  den  Tisch  von  seinem 
Platz.  Man  legt  den  Stuhl  auf  die  Erde,  entlockt  den  Gegen- 
ständen allerlei  Geräusche,  nimmt  Bilder  und  Figuren  herunter, 
zieht  Vorhänge  auf  und  nieder,  lässt  die  Uhr  schlagen,  lässt 
den  Wasserhahn  laufen  u.  s.  w.  Solche  Demonstrationen 
machen  den  Kindern  ein  grosses  Vergnügen  und  sie  beginnen 
sich  bald  für  die  betreffenden  Namen  zu  interessieren. 


Die  spracht.  EntwüM.  u.  Behandl.  geistig  tu  rück  gebliebener  Kinder.  105 


Ferner  zeigt  man  den  Kindern  Bilder.  Für  die  g  e 
wohnlichen  Bilderbücher  sind  die  Kinder  meist  nicht 
zu  erwärmen.  Auch  sind  in  den  Bilderbüchern  auf  einem 
Blatt  immer  verschiedene  Gegenstände  und  es  ist  schwer,  die 
Aufmerksamkeit  fies  Kindes  gerade  auf  einen  Gegenstand 
zu  konzentrieren.  Am  besten  greift  man  selbst  zum  Pinsel 
und  malt  mit  wenigen  kunstlosen  Strichen  gewöhnliche  Ge- 
brauchsgegenstände in  kolossalen  Dimensionen  auf.  Auf  jedes 
Blatt  kommt  immer  nur  ein  Gegenstand.  Jedes  Blatt  wird 
mit'  bunten  grellen  Farben  bemalt.  Solche  Bilder  machen 
den  Kindern  sehr  grosse  Freude. 

In  ähnlicher  Weise  werden  die  anderen  Sinnesthätigkeiten 
durch  passende  Demonstrationen  angeregt.  Auch  für  die  Aus- 
bildung der  körperlichen  Geschicklichkeit  wird  gesorgt. 

So  gelingt  es  oft  bald,  den  Kindern  Interesse  für  die  Sprache 
beizubringen.  Und  sie  fangen  häufig  von  selbst  an,  die  ge- 
hörten Worte  wiederzugeben,  zunächst  natürlich  in  unverständ- 
licher stammelnder  Weise. 

Es  ist  sehr  interessant  zu  beobachten,  wie  bei  solchen 
Kindern  die  Sprache  allmählich  entsteht.  Ich  will  daher  zwei 
solche  Fälle  ausführlicher  mitteilen. 

Ich  hatte  einen  4  jährigen  Knaben  in  Behandlung,  der  im 
zweiten  Lebensjahre  an  Gehirnentzündung  gelitten  hatte.  Es 
war  ein  wildes,  unbändiges  Kind,  körperlich  gut  entwickelt, 
ohne  besondere  somatische  Erscheinungen.  Seine  spontane 
Sprache  bestand  nur  aus  den  Urlauten  und  aus  dem  Laute  ä. 
Zum  Nachsprechen  war  er  garnicht  zu  bewegen.  Seine  Auf- 
merksamkeit war  nur  durch  Musik  und  grelle  Lichteffekte  zu 
erregen,  auch  für  diese  nur  momentan.  Im  übrigen  kümmerte 
es  sich  um  nichts,  sondern  tobte  sinnlos  schreiend  umher.  Für 
Spielsachen  oder  Bilderbücher  hatte  er  keinen  Sinn.  Was  man 
ihm  in  die  Hand  gab,  warf  er  wütend  fort.  Ueberhaupt  war 
der  Knabe  stets  sehr  reizbar  und  fing  bei  der  allergeringsten  Ver- 
anlassung, oft  auch  ohne  solche,  fürchterlich  an  zu  schreien 
und  um  sich  zu  schlagen  und  war  durch  nichts  zu  beruhigen. 

Durch  die  geschilderten  Demonstrationen  gelang  es  mir 
bald,  das  Interesse  des  Knaben  zu  erregen  und  er  fing  auch 
bald  an,  Versuche  zum  Nachsprechen  zu  machen.  Im  Anfang 
war  freilich  zwischen  den  Worten,  die  er  produzierte  und  den 


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Albert  Liebmann. 


vorgesprochenen  auch  nicht  die  geringste  Aehnlichkeit  zu  ent- 
decken. Die  Worte  waren  nicht  konstant,  häufig  an  ver- 
schiedenen Tagen  anders. 

Ich  nenne  einige  Beispiele:  hadda  hadda  (schiff),  gega 
(pfeife),  akkahakka  (scheere),  bibibeba  (Schmetterling),  pupu 
oder  attaatta  (löffei),  nga  (pferd),  naja  (vogel),  haka  (pflaume), 
gigi  (apfel),  ha  (stuhl),  gaga  (rübe),  eika  (schuh),  hutthutt 
(wiege),  nanich  (löwe)  etc. 

Allmählich  wurde  das,  was  der  Knabe  nachsprach,  den 
vorgesprochenen  Worten  ähnlicher.  Z.  B.  atte  (apfel),  kuku 
(kugel),  tiebe  (wiege),  bella  (bett),  gi  (ziege),  ni  (milch),  herr 
(stern),  papapei  (papagei),  etc.  etc.  etc. 

Endlich  sprach  der  Knabe  etwa  so  wie  Kinder  in  der 
physiologischen  Periode  des  Stammeins.  Damals 
schied  er  aus  äusseren  Gründen  aus  der  Behandlung,  hat  aber 
seitdem  weitere  Fortschritte  gemacht. 

In  vielen  Fällen  ist  die  Sprache  eines  geistig  zurück- 
gebliebenen Kindes,  wenn  die  Stummheit  zu  weichen  beginnt, 
von  vornherein  deutlicher  als  in  dem  eben  geschilderten  Falle. 

Ein  3V3  jähriger  Knabe,  der  vorher  nur  einige  wenige 
Sprachlaute  produziert  hatte,  wurde  von  mir  durch  die  ge- 
schilderten Demonstrationen  bald  zum  Sprechen  gebracht.  Die 
Worte,  die  er  nachsprach,  waren  nicht  konstant.  Wiederholte 
man  ein  Wort  mehrmals  hintereinander,  so  sprach  der  Knabe 
das  Wort  jedesmal  anders.  Im  ganzen  sind  aber  die  nachge- 
sprochenen Worte  den  vorgesprochenen  ziemlich  ähnlich. 

Ich  nenne  einige  Beispiele  dieser  Sprache: 
du  (zu),  tü-e  (thür),  ha  (hahn),  dade  (gabel),  puppe  (r),  bei 
(auf)  ,  du  (buch),  ba  oder  da  (haus),  dada  (dame),  be  (pfeife), 
tatte  (tasse),  nida  (leiter),  du  (hund),  be  oder  bebe  (bett),  albe, 
haupa,  appe  (äffe),  balde  oder  bade  (wagen),  bi  (tisch),  u  (kuh), 
didall  (spiegel),  atte  (katze)  etc. 

Wenn  nun  auch  die  Kinder  anlässlich  der  Demonstra- 
tionen Worte  in  ihrem  Jargon  nachsprechen,  so  sind  sie 
meist  einer  systematischen  Sprachtherapie  noch  un- 
zugänglich. Viele  Kinder  beharren  längere  Zeit  mit  beispiel- 
losem Eigensinn  darauf,  keine  Laute  oder  Silben  nach- 
zusprechen. Sie  sprechen  zunächst  nur  Worte  nach  und  auch 
diese  nur,  wenn  es  gelingt,  für  die  betreffenden  Dinge  oder 


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Die  sprach}.  Entwickl.  u.  liehandl.  geistig  zurückgebliebener  Kinder.  iqj 

Vorgänge  ihr  Interesse  zu  erregen.  Manchmal  dauert  es 
Wochen  oder  gar  Monate  lang,  bevor  man  imstande  ist,  durch 
eine  systematische  Sprachtherapie  den  Kindern  die  fehlenden 
Laute  und  Lautverbindungen  beizubringen. 

Diese  Sprachtherapie  selbst  stösst  auf  die  grössten 
Schwierigkeiten.  Spontan  lernen  die  Kinder  nur  wenige  Laute. 
Anweisungen,  wie  sie  ihre  Sprachorgane  für  die  einzelnen 
Laute  einstellen  sollen,  fruchten  nichts.  Teils  verstehen  die 
Kinder  diese  Anweisungen  nicht,  teils  können  sie  sie  mit  ihren 
ungeschickten  Sprachorganen  nicht  befolgen.  Man  muss  daher 
die  Laute  zunächst  durch  Kunstgriffe  an  den  Sprachorganen 
der  Patienten  hervorrufen,  bis  sie  sie  endlich  von  selbst  lernen. 
Auf  diese  Kunstgriffe  komme  ich  noch  zurück. 

Eine  weitere  Schwierigkeit  aber  entsteht,  wenn  es  sich 
darum  handelt,  die  Silben  zu  Worten  zusammenzu- 
fügen. Viele  Patienten  scheinen  überhaupt  nicht  kurz  hinter- 
einander zwei  verschiedene  Silben  perzipicren  zu  können,  denn 
sie  wiederholen  immer  noch  die  erste  Silbe,  wenn  man  ihnen 
schon  mehrmals  die  zweite  vorgesprochen  hat. 

Häufig  treten  eigenartige  Assimilationen  auf,  indem 
sich  besonders  die  Anfangskonsonanten  der  aufeinander  folgen- 
den Silben  gegenseitig  anzupassen  suchen.  So  spricht  ein 
Kind  für  bade:  „babe"  oder  „dade",  indem  es  die  Laute  auf 
dieselbe  Artikulationsstelle  zu  bringen  sucht.  Oder  das  Kind 
spricht  für  „made" :  „mame"  oder  „dade",  indem  es  beide  Laute 
als  Nasenlaute  oder  beide  Laute  als  Verschlusslaute  spricht. 
Oder  endlich  das  Kind  spricht  für  „tasse"  :  „tatte"  oder  „ssasse", 
indem  es  nur  Verschlusslaute  oder  nur  Reibungslaute  bildet. 

Wenn  man  den  Kindern  die  Worte  in  Silben  getrennt 
vorspricht,  so  pflegen  die  Assimilationen  auszubleiben.  Das 
ist  denn  auch  der  Weg,  den  man  wählen  muss,  um  die  Worte 
einzuüben.  In  manchen  Fällen  muss  man  Wochen  oder  Monate 
lang  die  Worte  in  Silben  getrennt  vorsprechen,  bis  die  Kinder 
sie  im  Zusammenhang  wiederholen  können. 

Wenn  die  Kinder  endlich  imstande  sind,  die  Worte  korrekt 
nachzusprechen,  so  pflegt  ihre  spontane  Sprache 
noch  sehr  undeutlich  zu  sein,  weil  ihnen  vielfach  die  richtigen 
Klangbilder  fehlen.  Es  bedarf  neuer  Uebungen,  um  den 
Kindern  diese  zu  verschaffen.    Man  kann  dies  durch  häufige 


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Albtrt  Lübmann. 


Demonstationen  von  Bildern  erreichen,  indem  man  die  Kinder 
übt,  die  betreffenden  Personen,  Gegenstände,  Vorgänge  etc. 
richtig  zu  bezeichnen.  Wenn  es  angängig  ist,  erreicht  man  eine 
baldige  Besserung  der  spontanen  Sprache  durch  einen  passen- 
den Leseunterricht. 

Schliesslich  laborieren  die  Kinder  noch  lange  Zeit  an  hart- 
näckigem Agrammatismus,  d.  h.  sie  sprechen  ohne 
grammatische  und  syntaktische  Formen.  Aus  jedem  Satze 
wählen  sie  immer  nur  2—3  besonders  prägnante  Worte  aus, 
meist  Substantiva,  dann  aber  auch  Verba  und  stellen  diese 
ohne  Flexion  und  Ordnung  nebeneinander;  die  übrigen  Wort- 
arten (Artikel,  Hülfszeitwörter,  Pronomina,  Zahlwörter,  Prä- 
positionen u.s.w.)  werden  ausgelassen.  Diese  agrammatischen 
Sätze  sind  meist  wegen  ihrer  Vieldeutigkeit  ziemlich  unverständ- 
lich. Ich  gehe  später  noch  näher  auf  den  Agrammatismus 
und  seine  Behandlung  ein. 

Das  ist  in  grossen  Zügen  die  Pathologie  und  Therapie 
der  Stummheit. 

Viele  geistig  zurückgebliebenen  Kinder  nun  sind  nicht 
stumm,  sondern  sie  lernen  von  selbst  sprechen.  Sie  er- 
werben eine  Anzahl  von  Sprachlauten,  die  sie  auch  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  mit  einander  zu  Silben  und  Worten  ver- 
binden können.  Aber  die  Sprachentwicklung  kommt  sehr  bald 
zum  Stillstand,  etwa  in  dem  Stadium,  das  wir  als  physiolo- 
gisches Stammeln  bezeichnet  haben.  Diese  Kinder  stammeln 
sehr  hochgradig.  Stammeln  ist  nicht  zu  verwechseln  mit 
Stottern.  Beim  Stottern  wird  die  Rede  nur  durch  un- 
geordnete Bewegungen  der  Atmungs-,  Stimm-  und  Artikulations- 
muskulatur unterbrochen.  Der  Stammler  hingegen  verfügt 
nicht  über  alle  Laute  und  Lautverbindungen.  Das  Stammeln 
geistig  zurückgebliebener  Kinder  unterscheidet  sich  in  wesent- 
lichen Punkten  von  dem  Stammeln  normaler  Kinder.  Den 
geistig  zurückgebliebenen  Kindern  fehlen  nicht  nur  viele  Laute, 
sondern  sie  wenden  auch  die,  die  sie  korrekt  bilden  können, 
nicht  immer  an  der  richtigen  Stelle  an  oder  gebrauchen  sie 
geradezu  promiscue.  In  willkürlichster  Weise  werden  die 
Worte  umgemodelt  durch  Auslassung  oder  Umstellung  von 
Lauten  oder  durch  regellosen  Ersatz  der  fehlenden  Laute. 
Besonders  bei  Konsonantenverbindungen  pflegen  die  Patienten 


Die  spracht.  EntvncJtl.  u.  Behandl.  geistig  zurückgebliebener  Kinder.  IOO, 


mit  souveräner  Willkür  die  Worte  umzuändern.  Die  Assimi- 
lationen der  Laute,  auf  die  ich  schon  in  den  oben  geschilderten 
Fällen  hinwies,  nehmen  bei  diesen  Patienten  besonders  gro- 
teske Formen  an.  Häufig  erleichtern  sich  auch  die  Patienten 
die  Sprache  durch  freie  Worterfindungen  oder  durch  eigen- 
artige Umschreibung  schwieriger  Worte.  Selbstverständlich 
ist  auch  die  formale  Sprache  dieser  Kinder  ohne  Regel  und 
Gesetz. 

Zur  Illustration  führe  ich  ein  Beispiel  an: 

Ein  6  jähriger  Patient  hatte  erst  im  3.  Lebensjahre  sprechen 
gelernt.  Seine  Sprache  war  immer  undeutlich,  selbst  für  die 
Eltern  kaum  verständlich.  Den  Eltern  fiel  immer  die  kolossale 
geistige  Trägheit  des  Knaben  auf. 

Die  Untersuchung  ergab  folgendes: 

Das  Sprach  Verständnis  des  Patienten  für  einzelne 
Worte  ist  ziemlich  gut  ausgebildet.   Für  S  ä  t  z  e  mangelhaft. 

Bilder,  auch  grosse  zusammenhängende  Darstellungen 
werden  erkannt,  aber  ausserordentlich  langsam  und  erst  nach 
vielen  Verwechselungen.  Einfache  Formen;  wie  Kreuz,  Drei- 
eck, Viereck,  Kreis  etc.  werden  richtig  erkannt.  Farben-, 
Grössen-,  Raum-,  Lageunterschiede  werden  nur  ganz  unvoll- 
kommen gemacht. 

Tastgefühl  wenig  entwickelt. 

Hochgradige  Ungeschicklichkeit  der  Hände.  Träger,  zag- 
hafter, ungeschickter  Gang.  Der  Knabe  spricht  spontan  meist 
nur  in  „Satzworten"  oder  in  losen  Wortgefügen  ohne 
Flexion. 

Gegenstände  bezeichnet  er  folgendermassen :  du  (hut),  oto 
(ofen),  datt  (bett),  döb  (bild),  tat  (stock),  tita  (tinte),  apte  (uhr), 
te  (scheere),  tu  momm  (Kanne:  „zur  Milch"),  ti  titt  (Wagen, 
„für  ein  Kind"),  pupp  (tisch),  at  (messer),  tu  au  (gabel,  „zum 
essen"  ?),  Ii  au  (schlüssel,  „schliesst  auf"),  up  (blume),  titidi 
(giesskanne),  dup  (kirsche),  nanna  (mädchen),  det  (besen),  ot 
au  (mütze,  „Kopf  auf",  „ist  auf  dem  Kopfe"),  de  atta  atta 
(Kutsche  ,  „hottehotte"  ?),  lulu  (rübe),  de  bo  ha  (Kaffeemühle, 
„was  wir  auch  haben"),  op  (brot). 

Ich  gebe  noch  einige  Proben,  wie  der  Patient  nachspricht. 

„bibi"  (diebe),  „mame"  (dame),  „minte"  (dumme),  „tite" 
(tote),  „matte"  (nette),  „a  de  ale"  (kanne),  „meime"  (beine), 


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HO 


Albert  Lübmann. 


„but"  (dumm),  „bitt"  (kipp),  „bidi"  (biege),  „naut"  (blau), 
„meit"  (blei),  „matte"  (klappe),  „mutte"  (suppe),  „motte" 
(schnecke),  „ede"  (zähne)  etc. 

Der  Knabe  lernte  in  7  Monaten  deutlich  in  Sätzen  sprechen. 

Was  die  Therapie  dieser  Stammler  anbetrifft,  so  muss 
man  zunächst  den  Kindern  diefehlendenLaute  beibringen. 
Dies  geschieht  vermittelst  der  oben  erwähnten  Kunstgriffe. 
Ich  schildere  einige  dieser  Kunstgriffe  näher,  weil  sie  hier 
nicht  nur  zur  Erzeugung  der  Laute,  sondern  auch  zur  Ver- 
meidung der  Lautassimilationen  in  Betracht 
kommen.  B  und  P  kann  man  dadurch  erzeugen,  dass  man  die 
Lippen  des  Patienten  leicht  zusammendrückt  und  sofort  wieder 
loslässt,  wobei  das  Kind  aufgefordert  wird,  stark  auszuatmen. 
D  und  T  erhält  man  in  ähnlicher  Weise,  indem  man  bei  ge- 
öffneten Lippen  vom  Unterkicferwinkel  aus  die  Zungenspitze 
des  Patienten  an  die  oberen  Zähne  anpresst.  Für  K  und  G 
drückt  man  die  vordere  Backenhaut  durch  die  Kieferäste  hin- 
durch auf  die  Zungenspitze;  lässt  man  bei  dieser  Stellung  die 
Kinder  ein  T  oder  D  machen,  so  wird  infolge  der  Fixierung 
der  Zungenspitze  daraus  von  selbst  k  oder  g.  Aehnliche  Kunst- 
griffe wendet  man  zur  Erzeugung  der  anderen  Laute  an. 
Instrumente  kann  man  dabei  fast  immer  ganz  entbehren. 

Bei  den  meisten  geistig  zurückgebliebenen  Kindern  dauert 
es  einige  Zeit,  bevor  sie  die  Laute  von  selbst  erlernen.  Wenn 
sie  sie  aber  erlernt  haben,  wenden  sie  dieselben  oft  nicht 
immer  richtig  an,  infolge  der  erwähnten  Assimilationen.  Man 
muss  dann  durch  die  geschilderten  Kunstgriffe  die  Assimila- 
tionen verhindern.  Sagt  z.  B.  ein  Kind  für  „böte":  „dote", 
so  drückt  man  bei  Beginn  des  Wortes  die  Lippen  des  Patienten 
zusammen  und  zwingt  das  Kind  ein  B  zu  machen.  Sagt  ein 
Kind  für  „Kaffee" :  „Taffe",  so  fixiert  man  durch  Druck  der 
Backenhaut  die  Zungenspitze  und  erzwingt  so  die  Artikulation 
des  K. 

Bei  allen  derartigen  Stammlern  kann  man  auf  einen  hart- 
näckigen Agrammatismus  rechnen. 

Es  giebt  drei  Grade  des  Agrammatismus: 
i.Grad:     Es   können  überhaupt  keine  Sätze  weder 
spontan  gebildet  noch  nachgesprochen  werden.  Die 
spontane  Rede  dieser  Kinder  besteht  nur  aus  einzelnen 


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Dü  spracht.  Enhvielcl.  u.  Kchandl.  geistig  zurückgebliebener  Kinder.  m 

* 

Worten,  die  flexionslos  neben  einander  gestellt  werden.  Spricht 
man  diesen  Kindern  einen  kurzen  einfachen  Satz  vor,  z.  B. : 
„Das  ist  ein  Buch4',  so  können  sie  ihn  nicht  im  Zusammenhang 
wiedergeben,  auch  nicht,  wenn  man  ihn  ein  Dutzend  mal 
wiederholt. 

2.  Grad:  Spontan  werden  ebenfalls  keine  Sätze  ge- 
bildet, sondern  die  Worte  werden  meist  flexionslos,  mitunter 
auch  in  ganz  sonderbaren  Flexionsformcn  ohne  syntaktischen 
Zusammenhang  aneinander  gereiht.  Beim  Nachsprechen 
kommen  wenigstens  manche  kleinere  Sätze  zustande,  meist 
allerdings  noch  in  unvollkommener  Flexion.  Sobald  man  aber 
einiger  massen  kompliziertere  Sätze  vorspricht, 
versagen  die  Kinder  völlig.  Z.  B.  für:  „ich  habe  das  Buch 
in  der  Hand*'  wird  nachgesprochen:  „Das  Buch  Hand  haben" 
oder:  ,,Ich  Buch  Hand"  etc.  Der  Satz:  „Das  Buch  liegt  auf 
dem  Tisch"  wird  folgendermassen  wiedergegeben :  „Buch  Tisch 
liege"  oder:  „Das  Buch  ein  Tisch"  etc. 

In  der  spontanen  Rede  pflegen  diese  Kinder  bei  Sub- 
stantiven, Adjektiven  und  Pronomina  weder  Numerus,  noch 
Casus,  noch  Genus  zu  unterscheiden.  Bei  Verben  wenden  sie 
meist  den  Infinitivus  oder  die  erste  Person  Singularis  Prä- 
sentis  an. 

Beim  Nachsprechen  treten  rudimentäre  Flexionen  auf 
und  es  werden  auch  Unterschiede  im  Genus  gemacht,  doch 
sind  die  meisten  Flexionsformen  noch  falsch  und  das  Genus 
wird  meist  verwechselt.  Z.  B.  „Gung  nach  der  Fenster  ich." 
„Die  Bücher  ist  grosse  rot."    (Die  grossen  Bücher  sind  rot.) 

3.  Grad:  Es  wird  spontan  in  Sätzen  gesprochen, 
aber  der  Ausdruck,  die  Syntax  und  die  Flexion  ist  derart  ver- 
schroben, dass  man  Mühe  hat,  den  Sinn  der  Sätze  zu 
verstehen.  Oft  finden  seltsame  W'ortverwechselungen  statt,  be- 
sonders werden  Worte  ähnlichen  Klanges  und  Präpositionen 
miteinander  vertauscht.  Beispiele  spontaner  Rede:  „Der 
Hund  hinter  der  Sonne  log  schlaf te."  (Der  Hund  lag 
in  der  Sonne  und  schlief.)  „Das  Kind  esste  der  Suppe  nicht, 
lag  den  Loeffel  weg." 

Die  Agrammatiker  der  ersten  und  zweiten  Klasse  sprechen 
deswegen  nicht  in  korrekten  Sätzen,  weil  ihre  Wahrnehmungen 
in  vielfacher  Hinsicht  zu  ungenau  sind,  um  ein  brauchbares 


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112 


sllbert  Liebmann. 


Material  zur  Begriffsbildung  zu  liefern.  Daher  haben  viele 
Worte  für  diese  Kinder  keinen  rechten  Sinn,  indem  sie  die  be- 
treffenden Wahrnehmungen  entweder  garnicht,  oder  nur  unvoll- 
kommen gemacht  haben.  Ob  z.  B.  ein  Buch  auf,  unter, 
in,  vor,  hinter  oder  neben  dem  Spind  liegt,  macht  für 
diese  Agrammatiker  wenig  Unterschied;  sie  sagen  immer  nur 
„Buch  Spind",  weil  sie  die  völlig  genaue  räumliche  Beziehung 
zwischen  Buch  und  Spind  im  einzelnen  Falle  nicht  wahrnehmen. 
Deswegen  sind  auch  diese  Patienten  garnicht  imstande,  einen 
diesbezüglichen  Auftrag  prompt  auszuführen. 

Neben  dem  angeborenen  Intelligenzdefekt  trägt  zu  der 
schlechten  Sinneswahrnehmung  dieser  Kinder  auch  ihre 
motorische  Ungeschicklichkeit  bei. 

Die  meisten  Agrammatiker  haben  erst  im  2.  bis 
3.  Lebensjahre  laufen  gelernt.  Viele  bleiben  in  dieser  Fertig- 
keit noch  lange  Zeit  sehr  ungeschickt,  sodass  sie  überhaupt 
nicht  ohne  Unterstützung  gehen  können.  Die  meisten  bleiben 
da  sitzen,  wo  man  sie  hingesetzt  hat,  und  sind  jahrelang  nur 
imstande,  ihre  Sinneswahrnehmungen  an  der  allernächsten  Um- 
gebung zu  machen. 

Auch  die  meist  hochgradige  Ungeschicklich- 
keit der  Hände  ist  stark  an  der  unvollkommenen  Sinnes- 
wahrnehmung beteiligt.  Um  ein  vollkommenes  Bild  mancher 
Gegenstände  zu  gewinnen,  muss  man  sie  ergreifen,  umwenden, 
auseinandernehmen,  öffnen,  beklopfen,  betasten,  wägen  etc., 
alles  Bewegungen,  die  den  ungeschickten  Händen  dieser  Agram- 
matiker garnicht  oder  nur  unvollkommen  gelingen  wollen. 
Daher  bleiben  diesen  Patienten  ausserordentlich  viele  Wahr- 
nehmungen, die  gesunde  Kinder  beim  „Spielen"  mit  den  Gegen 
ständen  machen,  völlig  fremd. 

Auch  die  ungenügende  Geschicklichkeit  der 
Sprachmuskulatur  trägt  zur  Entstehung  des  Agrammatis- 
mus  bei.  Denn  alle  die  feinen  Endungen,  Vorsilben,  Redu- 
plikationen und  Ablautungen,  die  die  Deklination  und  Konju- 
gation erfordern,  vermögen  die  ungeschickten  Sprachorgane 
nicht  auszuführen. 

Endlich  macht  auch  die  unverständliche  Sprache 
der  Agrammatiker  eine  Belehrung  in  Bezug  auf  Inhalt 
und  Form  ihrer  Rede  unmöglich,  sodass  sie  auch  deswegen  in 


Die  spracht.  Entwickle  u.  Behandl.  gmtig  eurück gebliebener  Kinder. 

ihrer  geistigen  Entwicklung  noch  mehr  zurückbleiben  und  eine 
korrekte,  grammatische  Sprache  nicht  erwerben. 

Bei  der  dritten  Art  von  Agrammatismus  wird  im  Cftgen- 
satz  zu  den  beiden  ersten  auch  spontan  in  flektierten  Sätzen 
gesprochen.  Die  Abweichung  vom  normalen  besteht  hier: 
i.  in  einer  sehr  sonderbaren  Phraseologie,  2.  in  eigentümlichen 
Flexionen,  3.  in  einem  unvollkommenen  Satzbau,  indem  Worte 
ausgelassen  oder  an  unrichtiger  Stelle  gebracht  werden. 

Diese  Art  von  Agrammatismus  findet  man  bei  älteren 
Kindern,  eventuell  auch  bei  Erwachsenen.  Diese  Patienten 
haben  jahrelang  schwer  gestammelt.  Als  sie  allmählich  deut- 
lich sprachen,  blieb  der  Agrammatismus  bestehen,  teils  wegen 
des  Intelligenzdefektes,  teils  wegen  der  jahrelangen  Unmöglich- 
keit die  Sprache  in  formaler  Beziehung  zu  verbessern. 

Die  Therapie  des  Agrammatismus  ist  häufig 
recht  schwierig.  Man  muss  im  einzelnen  Falle  durch  detaillierte 
Untersuchung  sämtlicher  zentraler  Fähigkeiten  die  Art  und 
den  Grad  der  zentralen  Defekte  genau  feststellen  und  den 
Kindern  durch  geeignete  Demonstrationen  in  natura  oder  in 
effigie  die  fehlenden  Begriffe  beibringen.  Der  Inhalt  jeder 
Demonstration  wird  in  einem  kurzen  Satz  zusammengefasst, 
den  die  Kinder  dann  zunächst  Wort  für  Wort  wiederholen 
müssen.  Durch  derartige  tägliche  Uebungen  kommen  die 
meisten  Patienten  bald  dahin,  die  Demonstrationen  durch 
spontane,  korrekte  Rede  zu  erklären. 

Wir  kommen  nun  zu  der  dritten  Form  von  sekundärer 
Sprachstörung  bei  geistig  zurückgebliebenen  Kindern.  Das 
sind  gewisse  Fälle  von  Stottern  und  Poltern,  die  auf 
einer  Disharmonie  zwischen  mechanischer  und  formaler  Sprache 
beruhen,  worauf  auch  Berkhan,  Cöen,  Gutzmann, 
Kussmaul,  Treitel  und  andere  hinweisen.  Diese  Kinder 
sind  recht  wenig  intelligent,  geistig  träge  und  sehr  unaufmerk- 
sam. In  der  Auswahl  ihrer  Worte  sind  sie  recht  unglücklich. 
Häufig  werden  verwandte  Begriffe  miteinander  konfundiert. 
Oft  lockt  auch  eine  Klangverwandtschaft  irgend  ein  Wort  ganz 
anderen  Sinnes  dem  Patienten  auf  die  Zunge.  Bei  zusammen- 
gesetzten Ausdrücken  verschlingen  sich  häufig  die  Bestand- 
teile zweier  verschiedener  Phrasen  zu  einem  merkwürdigen 
Gebilde.    Mit  der  grammatischen  Formenlehre  stehen  diese 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  and  Hygiene.  2 


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IM 


Patienten  stets  auf  dem  Kriegsfusse,  aber  nicht  etwa  wie  es 
sonst  bei  ungebildeten  Personen  vorkommt.  Ihre  Flexionen 
sind  vielmehr  eigentümlich  verschroben.  Die  Architektur  der 
Sätze  bizarr,  oft  ohne  Gesetz  und  Regel. 

Diese  formalen  Mängel  nun  haben  auf  die  motorische 
Sprache  einen  üblen  Einfluss.  Indem  die  Patienten  fort- 
während mit  dem  Ausdruck  ringen,  nach  den  richtigen 
Flexionen  suchen  und  mit  vieler  Mühe  einen  Satz  zurecht  zu 
zimmern  versuchen,  gerät  die  Rede  fortwährend  ins  Stocken 
und  die  Koordination  der  Sprachbewegungen  wird  gestört. 
Wenn  eine  ererbte  Disposition  vorliegt  oder  gewisse  Schäd- 
lichkeiten (Traumen,  Infektionskrankheiten,  psychische  An- 
steckung) auftreten,  entwickelt  sich  auf  der  Basis  dieser  Ko- 
ordinationsstörung leicht  Stottern.  In  anderen  Fällen  be- 
wirkt das  minutenlange  Zweifeln  und  Stocken,  dass  der  Patient, 
nachdem  er  endlich  das  Richtige  gefunden  zu  haben  glaubt, 
in  sinnloser  Hast  den  Satz  herausstösst.  Bei  dieser  Schnellig- 
keit kracht  der  Satz  gewissermassen  in  allen  Fugen  ausein- 
ander, die  Worte  und  Laute  scheinen  auseinander  zu  bersten 
und  die  Trümmer  wirbeln  wild  durcheinander,  sodass  häufig 
ein  ganz  sinnloses  Kauderwelsch  entsteht.  Diese  hastige, 
schwerverständliche  und  durch  merkwürdiges  Versprechen  aus- 
gezeichnete Sprache  nennt  man  Poltern.  Kombiniert  sich 
nun  gar  das  Poltern  mit  Stottern,  so  entsteht  bei  diesen 
geistig  zurückgebliebenen  Kindern  ein  seltsames  Gemisch  von 
logischem  und  grammatischem  Unsinn  und  mechanischer 
Sprachstörung. 

Ich  möchte  einige  Beispiele  anführen  von  7— 11  jährigen 
Kindern.  Ich  werde  jedoch  dabei  das  Stottern  nicht  markieren 
und  werde  auch  langsamer  und  deutlicher  sprechen,  als  es 
die  Patienten  selbst  vermochten.  Besonders  mache  ich  auf  das 
seltsame  „Versprechen"  dieser  Patienten  aufmerksam,  das 
scheinbar  regellos  ist,  in  Wirklichkeit  aber  bestimmten  Gesetzen 
folgt,  worauf  auch  M e r n i g e r  und  Mayer,  Gutzmann, 
Tr eitel  u.  a.  hinweisen. 

In  den  nachfolgenden  Beispielen  finden  sich:  1.  Ver- 
tauschungen von  gleichbetonten  Konsonanten,  z.  B.  „ge- 
bragen" (begraben),  „auf  einer  wrünen  giese"  (auf  einer  grünen 
Wiese). 


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Die  sprachL  EntwicH.  u.  Btkandi.  geistig  turückgebUebentr  Kinder. 

2.  Kommen  Anticipationen  von  Lauten,  Silben  und 
Worten  vor:  Z.  B.  „reifle  Aepfel"  (reife  Aepfel),  „und  ihr 
sagtete  sie  zu  ihr"  (und  sie  sagte  zu  ihr). 

3.  beobachtet  man  Nachklänge  „er  lauf  ihr  naf"  (er 
lief  ihr  nach),  „nicht  leichten"  (nicht  leiden). 

Ich  lasse  nunmehr  einige  ausführliche  Beispiele  folgen: 
„Er  gusste  (wusste)  mit  Madel  (Nadel)  und  Faden  gut 
gutzugehen"  (gut  umzugehen).    „Ein  Kauma  reitete  Ma  ja 
Jahmar  na  Haus  (Ein  Kaufmann  ritt  vom  Jahrmarkt  nach 
Hause). 

..Bald  daro  sagte  die  Mann  zu  dem  sagte  der  Frau  der 
Mann  zu  dem  der  Frau"  (Bald  darauf  sagte  der  Mann  zu 
<ler  Frau). 

„Ein  krei  reicher  Knabe  gung  gang  in  einem  Dor 
spazier"  (ging  in  einem  Dorf  spazieren). 

„Au  der  Frömde  hehrte  ma  Keitschen  Peitschenknall"  (Aus 
<ler  Ferne  hörte  man  P.). 

„Der  Junge  schneidet  schreidet  (schreibt)  auf  (in) 
•dem  Buch." 

„A  b  e  s  aber  (als  es  aber)  dunkel  werde,  flüpte  (schlüpfte) 
-der  Zerg  (Zwerg)  fort." 

„D  e  r  (die)  Königin  fach  (sprach)  zu  ihm :  „Hieist  (heisst) 
Du  vielleicht  ?" 

„Der  Stiefmutter  lass  (liess)  schönen  für  ihre  Tochter 
Kleiner  machen  (schöne  Kleider  für  ihre  Töchter  machen)." 

„Friedri,  Pröni  von  Keussen,  Kröni  von  Peussen,  König 
von  Preussen,  marschir  du  Böhmen.  Er  reitete  einen  Husar- 
fizier,  Husarenfozier,  Husarenunterfizier,  Husarenunteroffizier 
vorau  und  mechs  sechs  Mann  (er  ritt  mit  einem  Husarenunter- 
offizier und  sechs  Mann  voraus). 

Die  Therapie  dieser  Fälle  hat  ein  doppeltes  Ziel,  näm- 
lich die  Beseitigung  der  mechanischen  und  der  formalen 
Störung.  Für  die  Behandlung  des  Stotterns  bedarf  es  der 
lierkömmlichen  Atmungs-,  Stimm-  und  Artikulationsübungen 
nicht.  Man  kann  viel  leichter  das  Stottern  dadurch  beseitigen, 
dass  man  die  Patienten  zunächst  einige  Tage  mit  gedehnten 
Vokalen  sprechen  lässt.  Sie  sind  dann  bald  imstande,  kleine 
Sätze  in  normaler,  fliessender  Sprache  zu  wiederholen.  Ebenso 
sind  für  die  Beseitigung  des  Polterns  Artikulations-  oder 

2* 


Albert  Liebmann. 


Leseübungen  zwecklos.  Man  lässt  die  Kinder  vielmehr  zunächst 
ganz  einfache,  allmählich  kompliziertere  Sätze  nachsprechen. 
Schliesslich  folgen  bei  Stotterern  und  Polterern  Uebungen  in 
freier  Rede. 

In  manchen  Fällen  kombiniert  sich  bei  geistig  zurück- 
gebliebenen Kindern  das  Stottern  mit  dem  Stammeln. 
Das  primäre  pflegt  das  Stammeln  zu  sein.  Die  Kinder 
haben  vermöge  ihrer  geringen  Intelligenz  nur  undeutlich 
sprechen  gelernt.  Tritt  dann  eine  der  oben  genannten  Schäd- 
lichkeiten auf,  so  kombiniert  sich  mit  dem  Stammeln  noch 
Stottern.  Da  auch  die  formale  Sprache  dieser  Kinder  noch 
nicht  vollendet  ist,  resultiert  eine  sehr  schwer  verständliche 
Sprache,  die  ohne  Kunsthilfe  meist  stationär  bleibt. 

Ich  gebe  ein  solches  Beispiel  von  einem  ausserordentlich 
unaufmerksamen,  geistig  trägen,  5  jährigen  Kinde. 

„tretre  kröchin  kokokoffel"  (die  Köchin  schält  Kartoffeln). 

„fi  fi  fische  katsche  maus"  (die  Katze  frisst  eine  Maus). 

„kokokob  pepetatatoffel"  (in  dem  Korb  sind  Kartoffeln). 

„bbbu  is  ei  Mäche"  (das  Mädchen  hat  ein  Buch). 

„frifrifritscher  ist  schnrell  rau  geschrei"  (der  Kutscher  ist 
schnell  rauf  gestiegen). 

„safesassaschafe  ist  sofa"   (zum  Schlafen  ist  das  Sofa). 

„da  da  das  is  Slo  un  Sto"  (das  sind  Soldaten  mit  Stöcken, 
d.  h.  Gewehren). 

Beim  Nachsprechen  von  Sätzen  ist  die  Störung  in 
diesem  Falle  nur  wenig  geringer.  Beim  Nachsprechen 
von  Worten  tritt  das  Stottern  ganz  zurück.  Dagegen 
werden  die  Worte  gestammelt  und  zwar  mit  willkürlichen 
Veränderungen,  die  noch  dazu  beliebig  wechseln.  Z.  B.  für 
„mühe"  sagt  das  Kind  „müde"  oder  „müge",  für  „bäume" 
„beute"  oder  „bräume";  „heute"  sagt  sie  richtig;  dagegen  für 
„hüte"  „düte".  „Made"  sagt  sie  richtig,  dagegen  für  „mode" 
„gode"  oder  „bode".  Für  „hacke"  sagt  sie  „packe"  oder 
„happe".    Für  „böcke"  sagt  sie  „lippe"  oder  „hippe". 

Alle  diese  Worte  werden  schliesslich  richtig  gesagt. 

Schwierigere  Worte  dagegen  mit  Konsonantenverbin- 
dungen (z.  B.  bl,  kl,  sp,  st,  schw  etc.  und  kompliziertere 
Verbalformen  (z.  B.  „gelobt",  „gewesen"  etc.)  kann  die  Patientin 


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Die  spracht.  EtUuricU.  u.  Behandl.  geistig  zurückgebliebener  Kinder.  nj 

nur  nachsprechen,  wenn  man  die  Worte  in  Silben  zerlegt  vor- 
spricht. 

Die  B  e  h  a  n  d  1  u  n  g  hat  in  solchen  Fällen  zunächst  dafür 
zu  sorgen,  dass  das  Kind  einzelne  Worte  korrekt  nach- 
sprechen kann.  Dann  kommen  kleinere,  endlich  grössere 
Sätze  he*ran.  Zur  Vermeidung  des  Stotterns  ist  vor  allem 
darauf  zu  achten,  dass  die  Kinder  nicht  auf  diesen  Fehler 
fortwährend  aufmerksam  gemacht  werden. 

Wir  haben  bisher  die  sekundären  Sprachstörungen 
geistig  zurückgebliebener  Kinder  besprochen,  die  als  Folge 
des  geistigen  Mankos  zu  betrachten  sind. 

Nunmehr  gehen  wir  zu  den  primären  Sprachstörungen 
geistig  zurückgebliebener  Kinder  über.  In  diesen  Fällen  ist 
das  Zurückbleiben  der  geistigen  Entwicklung  auf  die  u  n  d  e  u  t  - 
licheSpracheder  Patienten  zurückzuführen.  Solche  Kinder 
pflegen  an  hochgradigem  Stammeln  zu  laborieren.  In  vielen 
Fällen  ist  das  Stammeln  organischer  Natur  und  beruht 
dann  meist  auf  Gaumen  defekten,  Gaumensegel- 
lähmungen, Behinderungen  des  Gaumensegels 
durch  Nasenrachen  tu  moren  oder  auf  hochgra- 
diger Herabsetzung  des  Gehörs.  In  anderen  Fällen 
sucht  man  vergebens  nach  einer  organischen  Ursache  und 
muss  sich  begnügen,  eine  funktionelle  Störung  der 
Sprachorgane  anzunehmen.  Charakteristisch  für  alle  diese 
Patienten  ist,  dass  sie  sehr  viele  Laute  garnicht  aussprechen 
können  oder  sie  in  unverständlicher  Weise  verstümmeln.  Die 
undeutliche  Sprache  beraubt  diese  Kinder  des  Mittels,  sich 
durch  Fragen  die  reichen  Erfahrungsschätze  der  Erwachsenen 
zu  erschliessen,  und  verhindert  auch  die  Umgebung,  die  Mit- 
teilungen der  Kinder  nach  Inhalt  und  Form  zu  korrigieren. 
Endlich  aber  macht  das  hochgradige  Stammeln  den  Kindern 
auch  das  Flektieren  der  Worte  unmöglich  und  hemmt  ihre 
logische  Entwicklung.  Wenn  das  hochgradige  Stammeln 
längere  Zeit  anhält,  bleiben  auch  vön  Haus  aus  ganz  intelligente 
Kinder  oft  in  ihrer  geistigen  Entwicklung  erheblich  zurück.  Die 
von  der  Einschulung  erhoffte  Besserung  pflegt  meist  nicht 
einzutreten.  Die  Aeusserungen  der  Kinder  bleiben  in  der  Schule 
unverstanden.  Die  Kinder  machen  einen  recht  t  h  ö  r  i  c  h  • 
ten  Eindruck,  sie  lernen  nichts  und  man  ist  leider  oft 


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n8 


Albert  LUbmann. 


geneigt,  sie  für  „idiotisch"  2u  halten.  In  manchen  Fällen 
wird  die  Sprache  noch  vor  der  Einschulung  deutlich.  Aber 
es  bleiben  noch  einige  der  sekundären  geistigen 
Defekte  bestehen.  Besonders  fand  ich  Defekte,  der  optischen 
undtaktilen  Sphäre,  insbesondere  mangelhafte  Unterscheidung 
von  Formen-,  Grössen^,  Raum-  und  Lage- Verhältnissen.  Infolge 
dessen  wird  es  diesen  Kindern  sehr  schwer,  lesen  und  rechnen 
zu  lernen. 

Am  grössten  sind  die  sekundären  intellektuellen  Defekte 
bei  den  hochgradig  schwerhörigen  Kindern.  Hier 
handelt  es  sich  nicht  nur  um  eine  expressive,  sondern 
auch  um  eine  irnpressive  Sprachstörung.  In  Bezug  auf 
die  letztere  täuschen  sich  oft  die  Eltern,  ja  auch  bisweilen  die 
Aerzte.  Die  Eltern  sind  häufig  der  Meinung,  dass  diese  Kinder 
alles  verstehen,  und  die  Aerzte  glauben  den  Eltern  bis- 
weilen, wenn  sie  bei  der  Untersuchung  finden,  dass  die  Kinder 
die  ihnen  laut  vorgesprochenen  Worte  verstehen.  Im  täglichen 
Leben  wird  aber  leider  mit  den  schwerhörigen  Kindern  nicht 
so  deutlich  gesprochen.  Daher  bleibt  ihr  Wortschatz  oft  ausser- 
ordentlich gering  und  sie  erwerben  infolge  dessen  auch  viele 
der  allergewöhnhchsten  Begriffe  nicht.  Besonders  die  Be- 
zeichnungen für  viele  Thätigkeiten  und  Eigenschaften,  sowie 
für  räumliche  und  zeitliche  Verhältnisse  mangeln. 

Interessant  ist  es  zu  untersuchen,  wie  diese  schwerhörigen 
Kinder  dem  Mangel  an  Worten  abzuhelfen  suchen.  Meist 
ersetzen  sie  das  fehlende  Wort  durch  ein  anderes  das  in 
irgend  einer  Beziehung  zu  dem  ersteren  steht. 

So  tritt  für  ein  fehlendes  Substantiv  oft  ein  anderes 
ein,  das  einen  verwandten  Begriff  bezeichnet,  z.  B.  für 
„Wagen"  „Pferd",  für  „Feder"  „Tinte".  Häufig  wird  auch 
die  Bezeichnung  eines  Teiles  für  die  des  Ganzen  gebraucht, 
z.  B.  für  „Wagen"  „Rad",  oder  für  „Fenster"  „Haus".  Manch- 
mal treten  auch  die  Bezeichnungen  der  einzelnen  Teile 
für  einander  ein;  so  wird  für  „Fenster"  gesagt:  „Thür".  Oft 
wird  auch  für  ein  fehlendes  Substantivum  das  ent- 
sprechende Verb  um  oder  ein  Adjektiv  gesetzt,  das  eine 
besonders  hervorstechende  Eigenschaft  bezeichnet;  z.  B.  für 
„Blume"  „rieche",  für  „Scheere"  „schneide",  für  „Suppe" 
„heiss",  für  „Himmel"  „hoch".    Ferner  werden  Dinge,  die 


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Die  spracht.  Entwickl.  u.  Behandl.  geistig  turück gebliebener  Kinder. 


eine  gewisse  äussere  Aehnlichkeit  miteinander  haben, 
oft  mit  demselben  Wort  benannt ;  z.  B.  wird  das  „Barometer" 
als  „Uhr",  die  „Kochmaschine"  als  „Ofen",  das  „Sofa"  als 
.,Stuhl",  die  „Zeitung"  als  „Buch"  bezeichnet. 

Sehr  häufig  werden  auch  völlig  differente  Gegenstände 
mit  demselben  Wort  benannt,  wenn  ihre  Namen  eine  nur 
ganz  entfernte  Klangähnlichkeit  haben ;  so  wird  z.  B. 
Schirm",  „Fisch"  und  „Tisch"  als  „Tisch"  bezeichnet. 

Die  Zahl  der  V  e  r  b  e  n ,  über  die  hochgradig  schwerhörige 
Kinder  verfügen,  beträgt  oft  kaum  ein  Dutzend.  Diese  müsseri 
dann  zur  Bezeichnung  aller  möglichen  ähnlichen  Thätig- 
keiten  herhalten;  z.  B.  wird  oft  für  Ortsbewegungen  wie 
„gehen",  „laufen",  „springen",  „fahren",  „reiten",  das  eine 
Wort  „gehen"  gesetzt,  für  „schreiben"  wird  gesagt  „malen", 
für  „trinken"  „essen"  etc.  Viele  Kinder  suchen  sich  dadurch 
zu  helfen,  dass  sie  für  das  fehlende  Verbum  ein  ent- 
sprechendes Substantivum  oder  Adjektiv  um  ge- 
brauchen, z.  B.  für  „waschen"  „Wasser",  für  „putzen"  „blank". 

Mit  Adjektiven  pflegt  es  noch  weit  dürftiger  zu  stehen, 
als  mit  Substantiven  und  Verben.  Von  Adverbien  fand  ich 
häufig  nur  die  Worte  „oben"  und  „unten". 

Präpositionen  und  Zahlwörter  fehlen  oft  gänzlich. 
Immer  ist  Agrammatismus  vorhanden. 

Natürlich  reicht  für  einigermassen  regsame  Kinder  diese 
wortarme  Lautsprache  zum  Ausdruck  ihrer  Gedanken  und 
Wünsche  nicht  aus  und  sie  nehmen  dann  instinktiv  die 
Zeichensprache  zu  Hilfe,  in  der  manche  eine  eigenartige 
Fertigkeit  haben.  Diese  Zeichensprache  vermag  natürlich 
einigermassen  kompliziertere  Gedanken  nicht  auszudrücken. 

Die  Behandlung  der  primären  Sprachstörungen  ist 
meist  nicht  besonders  schwierig.  Zunächst  sind  die  etwaigen 
organischen  Ursachen  der  Störung  nach  Möglichkeit 
zu  beseitigen.  Dann  werden  die  einzelnen  Laute  und  Laut- 
verbindungen, endlich  Worte  eingeübt.  Da  diese  Patien- 
ten intelligenter  sind,  geht  die  Behandlung  rascher  und  leichter, 
als  bei  den  früher  geschilderten  Patienten.  Beim  Einüben 
der  Sätze  sucht  man  auch  die  aufgefundenen  Defekte  zu  be- 
seitigen. 


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120 


Albert  Lübmann. 


Die  Behandlung  hochgradig  schwerhöriger  Kinder 
macht  am  meisten  Schwierigkeiten,  da  diese  Patienten  die 
gewöhnliche  Umgangssprache  nicht  hören.  Bei  diesen  Kindern 
nimmt  man  am  besten  die  Schrift  zu  Hilfe,  um  die  mangel- 
haften Klangbilder  durch  Schriftbilder  zu  ergänzen.  Wenn 
diese  Kinder  lesen  gelernt  haben,  ist  man  imstande,  ihnen 
vieles  mitzuteilen,  was  sie  sonst  nur  ungenau  verstehen  würden. 
Allmählich  lernen  diese  Kinder  auch  das  Gesprochene  am 
Munde  ablesen  und  das  unvollkommen  Gehörte  auf  diese 
Weise  zu  ergänzen.  Endlich  gelingt  es  auch  durch  geeignete 
Hörübungen  das  Gehör  zu  schärfen. 


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Der  Einfluss  des  grossstädtischen  Lebens  und 
des  Verkehrs  auf  das  Nervensystem. 

Von 

Albert  Moll. 

Im  Gegensatz  zu  jenen  Fortschritten  der  Hygiene,  die  zu  einer 
Verminderung  mancher  Krankheiten,  z.  B.  der  Pocken  und  des 
Typhus,  geführt  haben,  steht  die  scheinbare  oder  wirkliche  Zunahme 
anderer,  z.  B.  des  Krebses  und  der  Blinddarmentzündung,  die,  noch 
vor  verhältnismässig  wenigen  Jahren  zu  den  selteneren  gerechnet, 
heute  nicht  nur  als  schwere,  sondern  auch  als  häufig  auftretende 
Geissein  das  Leben  zahlreicher  Menschen  bedrohen,  wobei  aller- 
dings noch  nicht  mit  Sicherheit  entschieden  ist,  ob  diese  Krank- 
heiten früher  nur  seltener  erkannt  wurden  oder  thatsächlich  seltener 
waren.  Ich  will  aber  nicht  vom  Krebs  und  von  der  Blinddarm- 
entzündung sprechen,  d.  h.  Krankheiten,  die  zwar  das  Leben  so 
manches  rüstigen  Menschen  vorzeitig  vernichten  oder  doch  ge- 
fährden, die  aber  weit  zurücktreten,  wenn  wir  die  grosse  Zahl  der 
Opfer  betrachten,  die  die  Erkrankung  eines  der  wichtigsten  Organ- 
systeme, des  Nervensystems,  fordert,  zumal  wenn  wir  hierher  nicht 
nur  die  Nervenkrankheiten  im  engeren  Sinn,  z.  B.  Nervenschwäche, 
Hysterie,  Epilepsie,  Nervenentzündung,  Rückenmarksschwind- 
sucht, sondern  auch  die  Geisteskrankheiten  rechnen,  in  denen  wir 
•  ja  nur  die  Aeusserungen  bestimmter  Gehirnaffektionen,  d.  h.  gleich- 
falls Nervenkrankheiten  sehen.  Wenn  auch  manches  Nerven- 
leiden keine  Bedeutung  in  dem  Sinne  gewinnt,  dass  es  das  Leben 
sichtbar  abkürzt,  so  sind  doch  die  Qualen,  die  dem  Kranken  und 
der  Umgebung  erwachsen,  oft  weit  grösser  als  bei  manchen  Krank- 
heiten, die  in  kürzerer  oder  längerer  Zeit  das  Leben  bedrohen. 

Wenn  man  nach  den  Ursachen  fragt,  die  für  die  wirkliche 
oder  scheinbare  Zunahme  der  Nervenkrankheiten  verantwortlich 
zu  machen  sind,  so  wird  fast  immer  als  eine  der  wesentlichsten 


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122 


Albcrl  Moll. 


die  heutige  Civilisation  und  das  Anschwellen  der  grossstädtischen 
Bevölkerung  angeführt,  und  es  wird  mit  Vorliebe,  um  dies  zu  be- 
weisen, auf  die  gesunden  Nerven  der  früheren  Generationen,  ferner 
der  heutigen  Kleinstädter  und  Landbewohner  hingewiesen. 

Ob  die  Zahl  der  Nervenkrankheiten  thatsächlich  so  sehr  an- 
steigt, könnte  nur  durch  zuverlässige  Statistiken  entschieden  wer- 
den. Sicher  ist  es,  dass  nicht  nur  Nervenkrankheiten  zu  allen  Zeiten 
bestanden  haben,  sondern  dass  die  Klagen  über  die  Zunahme  der 
Nervenkrankheiten  durchaus  nicht  etwa  erst  aus  den  letzten  Jahren 
oder  Jahrzehnten  herrühren.  Je  mehr  ich  die  Fachlitteratur  aus 
dem  Ende  des  18.  Jahrhunderts  gelesen  habe,  um  so  klarer  wurde 
es  mir,  dass  die  gleiche  Klage  bereits  mindestens  ioo  Jahre  alt  ist1). 
Einzelne  Werke,  die  über  ioo  Jahre  alt  sind,  könnten  ebenso  gut 
heute  geschrieben  sein,  und  einzelnen  Ursachen,  die  man  heute 
anführt,  wie  Genusssucht,  Zunahme  des  Luxus,  sitzende  Lebens- 
weise, geistige  Ueberanstrengung,  künstliche  Verkürzung  de9 
Schlafes,  wurde  bereits  1750*)  die  Verantwortung  für  die  Zu- 
nahme der  Nervenkrankheiten  beigemessen. 

Dass  aber  die  Nervenkrankheiten  nicht  nur  vereinzelt  —  das 
bestreitet  ja  niemand  —  sondern  in  grosser  Zahl  bereits  vor 
mehreren  Jahrhunderten  aufgetreten  sind,  das  lehren  uns  die 
grossen  psychischen  Epidermen,  die  wir  im  Mittelalter  und  den 
späteren  Jahrhunderten  finden  —  ich  erinnere  nur  an  die  Geissler, 
an  die  Tanzseuche,  den  sogenannten  Tarantismus,  der  im  15.  Jahr- 
hundert in  Italien  herrschte,  an  den  grossen  Veitstanz.  Ich  er- 
innere weiter  an  die  epidemische  Hysterie  der  Ursulinerinnen  in 
Loudun,  an  die  der  Bewohner  des  Stiftes  in  Paderborn,  des  Klosters 
von  Lottviers"),  an  die  zeitweise  aufgetretenen  Massenvisionen, 
an  die  epidemische  Zoanthropie  u.  s.  w.  Nicht  nur  aus  den  Be- 
schreibungen, sondern  auch  aus  bildlichen  Darstellungen,  die  wir 
z.  B.  Peter  Breughel  verdanken,  können  wir  mit  Sicherheit  heute 
schliessen.  dass  es  sich  oft  um  typische  Nervenkrankheiten,  be- 
sonders um  Hysterie,  handelte.   Diese  Krankheit  müssen  wir  auch 


*)  Vgl  8.  A.  Tfssot,  Abhandlung  von  dem  Nerven  und  ihren  Krank- 
heiten. Uebersetzt  von  Weber.  1.  Baad.  Wintert  hur  und  Leipzig  1781. 
8.  IV. 

«)  z.  B.  von  Cheyne.   Vgl.  Tis»ot.    1.  Bd.   S.  449. 
')  Viele  Einzelheiten,  s.  bei  Perty,  die  mystischen  Erscheinungen  der 
menschlichen  Natur,  Leipzig  und  Heidelberg  1872,  S.  361  ff. 


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Der  Einfluss  d.  grossstädt.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  123 

bei  tau  senden  und  abertausenden  von  Frauen  annehmen,  die  als 
Hexen  angesehen,  den  Flammentod  erlitten,  jedenfalls  ist  die  An* 
nähme  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  dass  es  bereits  früher  Zeiten 
gegeben  hat,  wo  der  Prozentsatz  der  Nervenkranken,  auf  die  Be- 
völkerung berechnet,  sehr  bedeutend,  wenn  auch  vielleicht  etwas 
geringer  war  als  heute.  Genau  können  wir  aber  diese  letztere 
Frage  nicht  entscheiden,  da  uns  die  Statistik  hierbei  natürlich 
im  Stich  lässt. 

Selbst  für  die  neuere  Zeit,  z.  B.  die  letzten  fünf  Jahrzehnte, 
besitzen  wir  genauere  Zählungen  kaum;  höchstens  noch  für  die 
Geisteskranken.  Wie  wenig  zuverlässig  aber  diese  Zählungen  sind, 
ergiebt  »ich  daraus,  dass  die  Zunahme  der  Geisteskrankheiten  nicht 
ohne  Widerspruch  anerkannt  wird.  Es  wurde  eingewendet,  die  Zu- 
nahme sei  nur  eine  scheinbare,  indem  man  die  Geisteskranken  sorg- 
fältiger zähle  und  vor  allem  öfters  als  früher  in  Irrenanstalten 
brächte,  wo  naturgemäss  jeder  Kranke  auch  gezählt  wird.  Es 
kommt  hinzu,  dass  man  früher  noch  ängstlicher  als  heute  das  Be- 
stehen einer  Geisteskrankheit  in  der  Familie  verheimlichte ;  wurde 
doch  vor  noch  nicht  langer  Zeit,  wer  aus  der  Irrenanstalt  als  geheilt 
entlassen  wurde,  auch  von  Aufgeklärten  ebenso  gemieden,  wie  ein 
aus  der  Strafanstalt  Entsprungener,  und  wurden  doch  früher  noch 
weit  mehr  als  heute  diese  unglücklichsten  unserer  Mitmenschen  von 
rohen  Gemütern  zur  Zielscheibe  des  Spottes  gewählt.  Von  anderer 
Seite  wird  ferner  angenommen,  dass  die  bessere  Pflege,  die  die 
Geisteskranken  heute,  besonders  in  den  Irrenanstalten,  hätten,  ihnen 
durchschnittlich  ein  längeres  Leben  verbürgte  als  früher,  und  dass 
demgemäss  der  Prozentsatz  der  Geisteskranken  unter  der  gesamten 
Bevölkerung  schon  aus  diesem  Grunde  höher  sein  müsse  als  früher. 
Ja  es  ist  sogar  schon  eine  prozentuale  Abnahme  der  Geisteskrank- 
heiten berechnet  worden.  Nach  Mayo-Smith  war  die  Zahl  der 
Geisteskrankheiten,  die  in  Irrenanstalten  der  Vereinigten  Staaten 
1881  behandelt  wurden,  56205,  1889  hingegen  97535,  das  heisst  es 
lag  eine  Vermehrung  um  73  Prozent  vor.  Hingegen  soll  im  Jahre 
1880  die  Zahl  von  Geisteskrankheiten  auf  eine  Million  Einwohner 
1833, 1890  nur  1697  betragen  haben1),  dass  heisst,  es  hätte  sogar  eine 
prozentuale  Abnahme  stattgefunden.    Die  Statistiken,  die  allein 


»)  TheEncyclopedia  of  social  refonn,  edited  by  Blies,  New- York  and 
London  1897,  S.  734. 


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I24 


Albert  Moll. 


einen  sicheren  Beweis  für  die  Zunahme  der  Geisteskrankheiten 
geben  könnten,  sind,  wie  man  ersieht,  so  vieldeutig,  dass  wir  einst- 
weilen aus  ihnen  höchstens  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit 
auf  die  Zunahme  der  Geisteskranken  im  allgemeinen  schlie3sen 
können. 

Vergleichen  wir  nun  die  Verhältnisse  von  Stadt  und  Land,  so 
sind  zuverlässige  Statistiken  nur  in  ganz  geringer  Zahl  vorhanden. 
Der  Statistiker  von  Mayr  hat  die  Verhältnisse  für  Bayern  unter- 
sucht, wie  ich  einem  Aufsatz  von  Ranzow  entnehme.  Es  sind  ver- 
glichen mit  einander  die  Personen,  die  in  unmittelbaren  Städten, 
und  solche,  die  in  Bezirksämtern  geboren  wurden,  wo  die  Land- 
bevölkerung vorwiegt.  Auf  ioooo  in  unmittelbaren  Städten  Ge- 
borene kommen  13,65  Blödsinnige  und  18,54  Irrsinnige,  zusammen 
32,19,  in  Bezirksämtern  aber  15,33  Blödsinnige  und  8,81  Irrsinnige, 
zusammen  24,14 ;  das  heisst :  obschon  prozentual  die  Blödsinnigen 
auf  dem  Lande  vorwiegen,  ist  die  Gesamtzahl  der  Geisteskranken 
doch  wesentlich  ungünstiger  für  die  Stadt.  Zuverlässige,  eindeutige 
vergleichende  Statistiken  für  die  sonstigen  Nervenkrankheiten,  die 
uns  über  das  Verhältnis  von  Stadt  und  Land  aufklären  könnten, 
fehlen  fast  ganz,  und  es  wird  die  stärkere  Beteiligung  der  Stadt 
gewöhnlich  nach  den  subjektiven  Eindrücken  und  Erfahrungen 
einzelner  Personen,  besonders  der  Aerzte,  angenommen. 

Hier  liegt  aber  eine  wesentliche  Fehlerquelle.  Wir  müssen 
festhalten,  dass,  da  in  der  Stadt  mehr  Nervenärzte  und  durch- 
schnittlich überhaupt  mehr  Aerzte  wohnen,  es  hier  für  den  Nerven- 
kranken wesentlich  leichter  ist,  einen  Arzt  aufzusuchen,  als  auf  dem 
Lande.  Man  wird  sich  daher  nicht  wundern  können,  dass,  da  die 
Bequemlichkeit  eine  Rolle  spielt,  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  der 
Nervenkranke  gesehen  wird,  in  der  Grossstadt  wesentlich  grösser 
ist  als  auf  dem  Land,  wo  er  die  Befragung  des  Arztes  vermeidet, 
weil  oft  genug  eine  weitere  Reise  hierzu  notwendig  ist.  Durch 
diese  Thatsache  wird  an  sich  sehr  leicht  der  Eindruck  eines  Ueber- 
wiegens  der  Nervenkranken  in  der  Grossstadt  hervorgerufen  oder 
verstärkt,  während  dieses  nur  scheinbar  der  Fall  ist.  Ich  bestreite 
aber  nicht,  dass  an  sich  ein  gewisses  Ueberwiegen  der  Nerven- 
krankheiten in  den  Grossstädten  auch  thatsächlich  besteht.  Nur 
glaube  ich,  dass  der  Unterschied  zwischen  Grossstadt  und  Land 
oft  genug  überschätzt  wird.    Dass  die  Grossstadt  etwas  mehr  be~ 


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Der  Emßuss  des  grosutädt.  Lebens  u.  <L  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem,     \  25 


lastet  ist,  als  das  Land,  lässt  sich  aber,  wie  ich  glaube,  oft  sehr  ein- 
fach erklären  und  zwar  bei  Berücksichtigung  von  Verhältnissen, 
die  vielfach  übersehen  werden,  während  man  sehr  oft  zu  Ungunsten 
der  Grossstadt  auf  bestimmte  Faktoren,  z.  B.  Alkoholismus,  Sitt- 
lichkeitsverhältnisse, Gewicht  legt,  denen  bei  einem  Vergleich 
zwischen  Stadt  und  Land  eine  nur  geringe  Bedeutung  beizumessen 
ist,  deren  starke  Hervorhebung  und  Betonung  aber  die  Grossstadt 
in  allgemein  ethischer  Beziehung  zu  Ungunsten  des  Landes  und  der 
Kleinstadt  herabwürdigt.  Im  Gegensatz  zu  dieser  Auffassung  bin 
ich  der  Meinung,  dass  es  sehr  bedeutende  Kulturfaktoren  sind,  die 
die  Grossstadt  belasten  und  bei  deren  Einwohnern  eine,  wie  zu- 
gegeben werden  soll,  etwas  erhöhte  Disposition  zu  Nervenkrank- 
heiten schaffen.  Um  dies  zu  begründen,  ist  es  notwendig,  einige 
Ursachen  zu  betrachten,  die  auf  die  Entstehung  von  Nervenkrank- 
heiten einen  deutlichen  Einfluss  ausüben,  und  dabei  zu  erwägen, 
inwiefern  hier  ein  Unterschied  zwischen  Grossstadt  und  Land  her- 
vortritt. 

Beschreiten  wir  diesen  Weg,  so  werden  wir  finden,  dass  manche 
Ursachen  weit  mehr  in  der  Stadt  einwirken,  als  auf  dem  Lande. 
Wir  werden  unter  den  oft  angenommenen  Ursachen  von  Nerven- 
krankheiten, die  für  unsere  Frage  wichtig  sind,  zuerst  die  Berufs- 
stellung, die  Beschäftigung  und  Lebensweise,  dann  den  Familien- 
stand, die  Erziehung,  die  allgemeinen  hygienischen  Verhältnisse 
(Nahrung,  Wohnung,  Alkoholismus,  Sittlichkeit)  betrachten  und 
hierbei  Stadt  und  Land  mit  einander  vergleichen.  Ich  werde  mich 
aber  wesentlich  an  die  Grossstädte  halten,  da  sie  ganz  besonders 
den  Gegensatz  zum  Lande  zeigen,  am  Gegensatz  solche  Einflüsse 
aber  am  besten  klar  werden,  und  ausserdem  die  Verhältnisse  für 
andere  Städte  hieraus  leicht  abzuleiten  sind.  Was  die  Grossstadt 
betrifft,  so  will  ich  hier  schon  bemerken,  dass  man  darunter  nicht 
dasselbe  verstehen  darf,  wie  unter  dem  Wort  grosse  Stadt.  Bei 
Volkszählungen  oder  Berufszählungen  werden  als  Grossstädte  ge- 
wöhnlich Städte  bezeichnet,  die  100000  oder  mehr  Einwohner 
haben.  In  dem  allgemeinen  kulturellen  Sinn  bezeichnet  aber 
Grossstadt  etwas  anderes.  Um  diesen  Begriff  anzuwenden  ist  ein 
gewisses  geschlossenes  Ganze  notwendig.  Es  ist  erforderlich, 
dass  man  kulturelle,  geistige,  soziale  Zentren  hat ;  die  Einwohner- 
zahl allein  macht  die  Grossstadt  nicht  aus. 

Betrachten  wir  zunächst  den  wesentlichsten  Punkt,  der  für 


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Alberl  Moll. 


die  Nerven  der  Grossstädter  inbetracht  kommt,  nämlich  die 
Berufsstellung.  Es  sind  durchaus  nicht  alle  Berufsklassen 
in  gleichem  Masse  bei  den  Nervenkrankheiten  beteiligt,  was  man 
ohne  weiteres  verstehen  wird,  wenn  man  bedenkt,  dass  zwar  einer- 
seits jedes  Organ  durch  vermehrte  Leistung  gekräftigt  werden 
kann,  andererseits  aber  auch  die  Gefahr  besteht,  dass  es  zu  starken 
Anforderungen  unterliegt.  So  werden  wir  begreifen,  dass,  wo  das 
Gehirn  und  sonstige  Nervensystem  zu  einer  vermehrten  Leistung 
gezwungen  ist,  einerseits  zwar  eine  stärkere  Entwickelung  folgen 
kann,  andererseits  aber  auch  die  Möglichkeit  einer  häufigeren  Er- 
krankung dieses  Organs  oder  Organsystems  besteht.  Dann  wer- 
den wir  es  auch  verstehen,  dass  beispielsweise  die  Nervenschwäche 
verhältnismässig  häufig  die  Kopfarbeiter  befällt.  Bei  der  Nerven- 
schwäche sind  Kopfarbeiter ,  wie  Beamte,  Lehrer,  Kaufleute, 
Bankiers,  Künstler,  Journalisten,  Schriftsteller,  Dichter,  in  er- 
heblich höherem  Masse  beteiligt,  als  die  Handarbeiter.  Besonders 
die  fortgesetzte  ununterbrochene  Hirnarbeit,  die  ohne  Erholungs- 
pausen und  ohne  dem  Körper  die  notwendige  Bewegimg  zu  schaffen 
ausgeübt  wird,  ist  gefährlich.  Wenn  nun  noch  dazu,  wie  bei  vielen 
Journalisten,  Postbeamten  usw.,  eine  aufreibende  Nachtarbeit  oder, 
wie  bei  produktiven  Künstlern,  die  Inanspruchnahme  der  Phantasie 
oder  die  geisttötenden  Uebungen  der  Klavier-  und  Violinspieler  hin- 
zukommen, so  werden  diese  Gefahren  noch  vergrössert,  und  eine 
ganz  besonders  grosse  Zunahme  müssen  sie  da  erfahren,  wo  fort- 
dauernd starke  Erregungen  auftreten,  wie  dies  bei  Spekulanten 
und  Börsenbesitchern  der  Fall  ist.  Der  sie  auf  der  Börse  umgebende 
laute  Lärm,  die  Angst  und  Erwartung  stellen  besondere  Gefahren 
dar.  Ebenso  muss  die  fortwährende  Sorge,  etwas  zu  versehen,  dem 
Nervensystem  schaden.  Hierauf  ist  es  zurückzuführen,  dass  Be- 
amte in  verantwortlichen  Stellungen,  auch  wenn  sie  nicht  durch 
übermässig  lange  Arbeitszeit  in  Anspruch  genommen  sind,  oft  ein 
Opfer  der  Nervenschwäche  werden.  Damit  erklärt  sich  auch,  wes- 
halb viele  Examenskandidaten,  z.  B.  Herren,  die  vor  dem  Referen- 
dar- oder  Assessorexamen  stehen,  so  oft  die  Nervenärzte  aufsuchen, 
teils  um  von  ihnen  behandelt  zu  werden,  teils  um  von  ihnen  ein 
Zeugnis  zu  erbitten,  durch  das  sie  einen  Aufschub  des  Prüfungs- 
termins erlangen  wollen.  Diese  Examenskandidaten  sind  durch 
Nachtarbeit  und  Furcht  vor  der  Prüfung  besonders  gefährdet,  zu- 
mal, da  manche  unter  ihnen  bereits  in  der  Studentenzeit  durch  vieles 


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Der  Emßuss  J.  grossstädt.  Lebens  *.  d.  Verkehrs  auf  <L  Nervensystem.      \  27 

Kneipen  am  Tage  und  bei  Nacht  ihre  Widerstandsfähigkeit  ge- 
schwächt haben. 

Zwar  sind  auch  unter  den  Muskelarbeitern  Nervenkrankheiten 
nicht  unbekannt,  ja  weit  häufiger,  als  man  gewöhnlich  annimmt. 
Wir  haben  festzuhalten,  dass  bei  jeder  Muskelarbeit  das  Nerven- 
system beteiligt  ist.  Ohne  Nerven  können  die  Muskeln  nichts 
leisten.  Da  aber  beim  gewöhnlichen  Handarbeiter  die  Thätigkeit 
des  Nervensystems  nicht  eine  derartig  intensive  und  anstrengende 
ist,  wie  beim  Kopfarbeiter,  so  lässt  sich  die  häufigere  Beteiligung 
der  letzteren  bei  den  Nervenkrankheiten  begreifen.  Gefährdet  sind 
die  Muskelarbeiter  besonders  da,  wo  bestimmte  Schädlichkeiten 
inbetracht  kommen,  die  das  Nervensystem  zu  schädigen  geeignet 
sind.  Hierher  gehört  z.  B.  eine  zu  lange  Arbeitszeit,  da  je  stärker 
die  Ermüdung  wird,  um  so  mehr  der  Wille  auf  die  Nerven  wirken 
muss,  die  Ermüdung  zu  bekämpfen  oder  zu  unterdrücken.  So 
können  wir  auch  zahlreiche  Fälle  von  Nervenschwäche  in  der  Haus- 
industrie beobachten,  die  nicht  nur  in  der  Grossstadt,  sondern  auch 
in  den  kleinen  Städten  und  auf  dem  Lande  stark  entwickelt  ist. 
Wo  eine  anstrengende  Hausindustrie  geübt  wird,  wo  Männer, 
Frauen  und  Kinder,  um  den  kärglichen  Lohn  zu  erwerben,  nicht 
nur  den  Tag.  sondern  auch  einen  Teil  der  Nacht  in  engen,  schlecht 
gelüfteten  Räumen  arbeiten,  da  finden  wir  jene  elenden,  blutleeren 
Körper  mit  allen  Symptomen  der  Nervenschwäche  in  grösster  Zahl 
vertreten.  Ueberhaupt  kommen  viele  Fälle  inbetracht,  wo  die 
Nacht  nicht  hinreichend  dem  Schlaf  dient  oder  der  Schlaf  durch  die 
Art  der  Arbeit  ein  unregelmässiger  wird.  Hiermit  hängen  wohl 
viele  Fälle  von  Nervenschwäche,  beispielsweise  bei  Kellnern  und 
Strassenbahnbeaniten  in  den  Grossstädten  zusammen.  Ebenso  sind, 
wie  Möbius  l)  mit  Recht  betont,  besonders  jene  Arbeiter  gefährdet, 
die  mit  Präzisionsarbeiten  beschäftigt  sind,  wo  die  Kostbarkeit  des 
Materials  oder  die  Feinheit  der  Arbeit  eine  besondere  Anstrengung 
des  Nervensystems  erfordert.  Wie  man  daraus  ersieht,  sind  auch 
bei  der  Arbeit  selbst  für  die  sogenannten  Muskelarbeiter  Gefahren 
vorhanden,  nur  treten  sie  nicht  mit  der  Häufigkeit  wie  bei  den 
Kopfarbeitern  auf,  und  man  wird  daher  begreifen,  dass  die  letzteren 
prozentualer  ein  weit  höheres  Kontingent  zu  den  Nervenkrank- 
heiten liefern. 


»)  Möbius,  Neurologische  Beiträge.   2.  Heft.   Leipiig  1894,  S.  76. 


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I28  ******  Moll. 

Wie  sehr  der  Beruf  bei  den  Geisteskrankheiten  eine  Rolle 
spielt,  dafür  möge  eine  Statistik,  die  sich  auf  die  männliche  Bevölke- 
rung Sachsens  bezieht,  kurz  erwähnt  sein.  Sie  wird  uns  zeigen,  wie 
die  sogenannten  liberalen  Berufe  bei  den  Geisteskrankheiten  er- 
heblich höher  beteiligt  sind,  als  ihrer  Zahl  entspricht.  Es  waren 
die  liberalen  Berufe,  wie  ich  Ranzow  entnehme,  an  der  männlichen 
Bevölkerung  Sachsens  mit  5,01  Prozent  beteiligt,  stellten  aber 
allein  zu  den  Melancholikern  12,9  und  zu  den  Wahnsinnigen  14.79 
Prozent,  und  auch  die  weiblichen  Angehörigen  der  liberalen  Berufe 
waren  prozentual  erheblich  höher  beteiligt,  als  nach  der  Bevölke- 
rungszahl ihnen  zukam.  Nach  von  Mayrs  Statistik  kamen  in  Bayern 
auf  je  10  000  Angehörige  der  liberalen  Berufe  14,47  Irrsinnige,  auf 
10  000  Angehörige  der  Landwirtschaft  nur  6,55. 

Halten  wir  die  höhere  Beteiligung  der  Hirnarbeiter  bei  den 
Nervenkranhkeiten  fest,  so  muss  sich  hieraus  eine  bedeutende  Be- 
lastung der  Grossstadt  ergeben,  weil  die  Hirnarbeiter  in  der  Gross- 
stadt prozentual  erheblich  stärker  vertreten  sind  als  in  der  Klein- 
stadt oder  auf  dem  Lande.  Einen  Anhaltspunkt  für  diese  Thatsache 
geben  uns  die  Berufszählungen.  Ich  möchte  hier  die  Berufszählung, 
die  im  Deutschen  Reich  am  5.  Juni  1882  stattfand,  zu  Grunde  legen, 
und  zwar  deshalb,  weil  ihre  Resultate  bereits  besser  verarbeitet  sind, 
als  die  der  Berufszählung  vom  Jahre  1895. 

Im  Deutschen  Reiche  gab  es  damals  15  Grossstädte  *),  worunter 
Städte  mit  über  100000  Einwohnern  verstanden  wurden.  Exakter 
wäre  es  vielleicht,  von  grossen  Städten,  statt  von  Grossstädten,  zu 
reden,  da  der  Begriff  Grossstadt,  wie  wir  sahen,  nicht  allein  von 
der  Einwohnerzahl  abhängt.  Betrachten  wir  zunächst  die  ersten 
beiden  Grossstädte,  Berlin  und  Hamburg,  und  die  beiden  letzten, 
Nürnberg  und  Strassburg,  so  werden  wir  finden,  wie  diejenigen 
Berufsklassen,  die  ganz  wesentlich  zu  Nervenkrankheiten  disponiert 
sind,  nicht  nur  absolut,  sondern  auch  relativ  in  den  kleineren  Gross- 
städten wesentlich  abnehmen.  Von  den  hierfür  inbetracht  kom- 
menden Berufsarten  wollen  wir  nur  die  folgenden  wählen.  Erstens 
Personen,  die  sich  durch  Musik,  Theater  und  Schaustellungen  ihren 
Unterhalt  verdienen;  zweitens  diejenigen,  die  als  Schriftsteller 


»)  Statistik  des  deutschen  Reiches,  neue  Folge.  Band  3:  Berafa- 
statdstik  der  deutschen  Grossstadte  nach  der  allgemeinen  Berufszählung 
vom  5.  Juni  1882,  Berlin  1884. 


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Der  Einßuss  d.  grossslädt.  Lebens  ».  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  129 


Zeitungsredakteure,  Korrespondenten,  als  Privatgelehrte  und  in 
ähnlichen  Stellungen  ihren  Erwerb  finden;    drittens  diejenigen, 
die  im  Geld-  und  Kredithandel  beschäftigt  sind.   Bei  diesen  Berufs- 
arten giebt  es  so  viele  Neurastheniker,  dass  es  leichter  sein  würde, 
solche,  als  Leute  mit  gesunden  Nerven  zu  finden.    Betrachten  wir 
die  erste  dieser  drei  Klassen,  das  heisst  jene,  deren  Angehörige 
mit  Musik  oder  beim  Theater  beschäftigt  sind,  so  gehörten  zu  ihr 
damals  in  Berlin  3410,  in  Hamburg  1141,  in  Nürnberg  229,  in 
Strassburg  104  Einwohner.   Vergleichen  wir  Berlin  mit  Strassburg; 
ersteres  hatte  damals  gegen  1  200000,  letzteres  etwas  über  100000 
Einwohner.    Während  Berlin  bei  gleichem  Prozentsatz  wie  Strass- 
burg nur  etwa  1250  Personen  beim  Theater  und  mit  Musik  be- 
schäftigen durfte,  waren  es  in  Wirklichkeit  3410.  d.  h.  beinahe  die 
dreifache  Zahl.   Nehmen  wir  die  zweite  Klasse,  d.  h.  die  Schrift- 
steller, Zeitungsredakteure,  Privatgelehrtcn  usw.,  so  ergiebt  sich 
für  Berlin  damals  die  Zahl  2125,  für  Hamburg  431,  für  Nürnberg  29, 
für  Strassburg  69  Personen,  d.  h.  wenn  wir  mit  Berlin  Nürnberg 
vergleichen,  das  damals  ebenfalls  den  12.  Teil  der  Einwohner  von 
Berlin  hatte,  so  ergiebt  sich,  dass  es  nicht  den  12.,  sondern  nur  den 
73-  Teil  der  als  Schriftsteller,  Zeitungredakteure  usw.  beschäftigten 
Personen  im  Vergleich  zu  Berlin  in  sich  schloss.    Bei  demselben 
Prorentsatz  hätte  Berlin  nur  346  Schriftsteller  und  Redakteure  be- 
schäftigen dürfen ;  es  waren  aber  mehr  als  2000.    Gehen  wir  weiter 
und  betrachten  wir  den  Geld-  und  Kredithandel,  so  lebten  von  ihm 
in  Rerlin  damals  5589  Personen,  in  Hamburg  11 54,  in  Nürnberg 
264,  in  Strassburg  262.   Vergleichen  wir  Berlin  mit  Nürnberg,  das 
den  12.  Teil  der  Einwohner  hatte,  so  ergiebt  sich,  dass  es  trotzdem 
nur  den  21.  Teil  der  Personen  in  diesem  Berufe  beschäftigte  wie 
Berlin.  Bei  gleichem  Prozentsatz  durfte  Berlin  nur  3168  in  diesem 
Beruf  beschäftigen,    statt    der    thatsächlich    vorhandenen  5589. 
Rechnen  wir  nun  diese  drei  Berufsklassen,  die  beim  Geld-  und 
Kredithandel,  Musik  und  Theater,  als  Schriftsteller  und  Zeitungs- 
redakteure ihren  Erwerb  finden,  zusammen,  so  ergiebt  sich,  dass 
in  Nürnberg  damals  522,  in  Berlin  aber  n  124  Personen  in  diesen 
das  Nervensystem  so  überaus  schädigenden  Berufen  beschäftigt 
waren,  d.  h.  es  waren  in  Berlin  etwa  5000  mehr  Leute,  die  diesen 
Berufen  angehörten,  als  hier  hätten  wohnen  müssen,  wenn  der 
Prozentsatz  derselbe  gewesen  wäre  wie  in  Nürnberg.    Und  dann 
bedenke  man,  dass  Nürnberg  auch  eine  grosse  Stadt  ist,  wo  diese 

Zeitschrift  Wr  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  3 


Albert  Moll 


Berufsklassen  verhältnismässig  stärker  vertreten  sind  als  auf  dem 
Lande  und  in  der  Kleinstadt.  Man  berücksichtige  ferner,  dass  es 
sich  hier  nur  um  drei  Berufsarten  unter  den  Hirnarbeitern  handelt, 
und  dass  eine  ganze  Reihe  anderer  gleichfalls  das  Nervensystem 
bedrohender  Berufe  hier  gar  nicht  mitgerechnet  sind.  Man  denke 
an  die  im  Erziehungs-  und  Unterrichtswesen  Beschäftigten,  ferner 
an  die  Kaufleute  und  Postbeamten  —  im  Waren-  und  Produkten- 
handel, im  stehenden  Geschäftsbetriebe  waren  damals  in  Berlin 
52  825  Personen  thätig,  im  Post-  und  Telegraphenbetriebe  5549  — 
so  wird  man  die  enorme  Belastung  beispielsweise  Berlins  in  dieser 
Beziehung  ohne  weiteres  erkennen.  Noch  deutlicher  wird  die  Zahl 
der  als  Hirnarbeiter  in  den  das  Nervensystem  aufreibenden  Berufen 
beschäftigten  Personen  der  Grossstadt,  wenn  wir  die  betreffenden 
Zahlen  in  den  damaligen  15  Grossstädten  zusammennehmen  und 
mit  der  gesamten  Zahl  im  Reich  vergleichen.  Der  Geld-  und 
Kredithandel  war  damals  in  den  Grossstädten  7,1  mal  stärker  ver- 
treten, als  dem  Reichsdurchschnitt  entsprach ;  das  Versicherungs- 
gewerbe 6,i  mal  stärker,  Schriftstellerei,  Musik  und  Schaustellungen 
zusammen  5,3  mal  stärker,  Civil*,  Staats-,  Hofdienste  und  Rechts- 
pflege zusammen  2,5,  Post-  und  Telegraphendienst  2,7  mal  stärker, 
Bildung,  Erziehung  und  Unterricht  1,7  mal  stärker  als  der  Reichs- 
durchschnitt ergeben  würde  *)  Was  solche  Zahlen  zu  bedeuten 
haben,  braucht  man  sich  nur  an  einem  Beispiel  klar  zu  machen.  In 
allen  15  Grossstädten  waren  damals  13  313  Personen  beim  Geld- 
und  Kredithandel  beschäftigt,  während  es  nach  dem  Reichsdurch- 
schnitt nur  etwa  2000  hätten  sein  dürfen.  In  Berlin  waren  5589  bei 
dieser  Berufsart  thätig;  nach  dem  Reichsdurchschnitt  durften  es 
nur  etwa  700  sein.  Dass  seit  jener  Berufszählung  von  1882  die  Ver- 
hältnisse nicht  günstiger  geworden  sind,  liegt  auf  der  Hand,  d.  h. 
es  müssen  in  einer  Grossstadt  wie  Berlin  mehr 
Nervenkranke  und  Geisteskranke  vorkommen, 
als  dem  R  e  i  c  h  s  d  u  r  c  h  s  c  h  n  i  1 1  entspricht,  weil 
die  am  meisten  gefährdeten  Berufe  dort  nicht 
nur  absolut,  sondern  auch  relativ  am  meisten 
vertreten  sind. 

Nun  haben  wir  zweifellos  auch  in  den  Mittelstädten,  Klein- 


»)  Seifarth,  Die  Berufsstatistik  des  deutschen  Reiches.  Heidelberg 
1902,  S.  71. 


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Der  Emfiuss  d,  grossstddi.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  1^1 

Städten,  in  den  Landstädten  und  auf  dem  Lande  häufig  das  Nerven- 
system schädigende  Berufe.  Präzisionsarbeiten  werden  z.  B.  viel- 
fach in  Landstädten  ausgeführt.  Wenn  man  aber  die  Berufe  in 
verschiedene  Klassen  teilt,  je  nachdem  sie  in  der  Grossstadt,  Mittel- 
stadt, Kleinstadt,  Landstadt  oder  auf  dem  Lande  vorwiegen  oder 
keinen  dieser  Charaktere  tragen,  so  wird  man  ohne  weiteres  zu- 
geben müssen,  dass  die  für  das  Nervensystem  schädlichsten  Berufs- 
arten der  Grossstadt  zufallen. 

Mit  der  Berufsfrage  hängt  wohl  auch  wenigstens  teilweise  die 
starke  Beteiligung  der  jüdischen  Bevölkerung  bei  den  Nervenkrank- 
heiten zusammen,  da  sich  diese  ganz  besonders  der  Hirnarbeit  zu- 
wendet und  hierbei  die  grossen  Städte  aufsucht.  Sie  stellt  einen 
hohen  Prozentsatz  unter  den  Nervenkranken,  besonders  den  Neu- 
rasthenikern,  Hysterikern  und  auch  bei  der  vielleicht  oft  auf  ner- 
vöser Basis  beruhenden  Zuckerkrankheit,  was  an  sich  nicht  ver- 
wundern kann,  wenn  wir  bedenken,  dass  sie  besonders  stark  beim 
Handel  und  Gewerbe  vertreten  sind,  unter  den  Rechtsanwälten, 
Aerzten,  Bankiers  usw.  Ob  ausserdem  noch  vererbte  Einflüsse 
und  angeborene  Dispositionen  zu  Nervenkrankheiten  hinzukommen, 
und  ob  besonders  die  häufig  angeschuldigte  Inzucht,  d.  h.  die  Ehe 
Blutsverwandter,  bei  ihnen  eine  Rolle  spielt,  das  ist  fraglich. 

Es  wird  oft  auch  angenommen,  dass  der  Konkurrenzkampf 
in  der  Grossstadt  lebhafter  sei,  und  dass  infolgedessen  hier  das 
Nervensystem  eher  gefährdet  sei,  als  auf  dem  Lande  und  in  der 
Kleinstadt.  Ich  glaube,  dass  dies  in  mancher  Beziehung  ein  Irr- 
tum ist.  Der  Konkurrenzkampf  ist  auf  dem  Lande  und  in  der 
kleinen  Stadt  nicht  geringer  als  in  der  Grossstadt.  Der  Grossstädter 
nimmt  oft  einen  solchen  Unterschied  irrtümlich  an.  Wenn  er  zur 
Sommerszeit  seine  Heimat  verlassen  hat  und  bei  einer  Wanderung 
über  die  Berge  in  der  Ferne  ein  Dörfchen  oder  Städtchen  liegen 
sieht,  das  aus  dem  Grün  der  Bäume  hervorblickt,  so  preist  er  die 
friedliche  Lage  jenes  Ortes,  und  er  kann  es  sich  dann  nicht  vor- 
stellen, dass  dort  ähnliche  Kämpfe  stattfinden  können,  wie  in  seiner 
grossstädtischen  Heimat.  Wer  aber  eine  Zeitlang  in  solchem  Orte 
lebt,  erkennt  sehr  bald,  dass  das  Friedliche  nur  Täuschung  war,  dass 
menschliche  Leidenschaften,  Neid,  Missgunst,  Hass,  Eifersucht  an 
dieser  scheinbaren  Stätte  des  Friedens  ganz  ebenso  hausen,  wie 
in  der  unruhigen  Grossstadt,  dass  ebenso  wie  in  dieser  auch  dort 
die  Menschen  einander  befehden,  dass  Egoismus,  Ehrgeiz,  Hab- 

3# 


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»32 


Albert  Atoll. 


sucht  auch  dort  die  Triebfedern  des  Handelns  sind.  Ein  Irrtum 
ist  es,  anzunehmen,  dass  auf  dem  Lande  der  Konkurrenzkampf 
weniger  wüte,  als  in  der  Grossstadt ;  nur  sind  es  andere,  zum  Teil 
bereits  besprochene  Faktoren,  z.  B.  die  Berufsstellung,  die  Viel- 
seitigkeit der  geistigen  Interessen,  die  schädigend  auf  das  Nerven- 
system des  Grossstädters  wirken. 

Nicht  nur  die  der  Grossstadt  eigentümlichen  Berufsarten 
kommen  für  die  Nerven  der  Einwohner  inbetracht,  sondern  auch 
die  Beschäftigung  und  das  Leben  ausserhalb 
des  Berufes.  Jemand,  der  nur  die  nächsten  Bedürfnisse  des 
Magens  und  sonstigen  Körpers  kennt,  wird  natürlich  seine  geistigen 
Kräfte  und  sein  Nervensystem  viel  weniger  anstrengen  und  ge- 
fährden, als  wer  sich  an  allerlei  Kämpfen  und  Fragen  beteiligt, 
mögen  es  politische,  soziale,  wissenschaftliche  oder  künstlerische 
sein.  Es  wird  gerade  hierauf  die  oft  angenommene  Zunahme  der 
Geisteskrankheiten  bei  den  civilisierten  Völkern  zurückgeführt. 
Wenn  es  wahr  ist.  dass  mit  der  Zunahme  der  (Zivilisation  auch  die 
Geistes-  und  Nervenkrankheiten  zunehmen,  dass  bei  den  uncivili- 
sierten  Völkern  Geisteskrankheiten  garnicht  oder  fast  garnicht  vor- 
kommen, so  könnte  man  sich  dies  wohl  erklären.  Wir  brauchen 
nur  an  die  Berichte  jener  zu  denken,  die  eine  Zeitlang  aus  der  civili- 
sierten Gesellschaft  entfernt  waren,  Jahre,  ja  Jahrzehnte  mitten 
unter  Naturvölkern  lebten  und  später  wieder  zu  civilisierten  Völkern 
zurückkehrten.  Ein  Amerikaner,  der  lange  Zeit  unter  einem 
Indianerstamm  lebte,  erzählte,  als  er  später  wieder  zurückkehrte, 
dass  er  nach  der  Befriedigung  der  materiellen  Bedürfnisse  in  einen 
absoluten  Stumpfsinn  verfallen  sei  und  an  nichts  gedacht  habe. 
Und  ein  Franzose,  der  durch  einen  Schiffbruch  zu  einem  wilden 
Stamme  geriet  und  von  ihm  aufgenommen  wurde,  erzählt  in  ähn- 
licher Weise,  dass  ihm  jeder  Gedanke  fehlte,  der  sich  nicht  auf  die 
tierischen  Triebe  bezog.1)  Jedenfalls  dürfen  wir  annehmen,  dass 
eine  Gefährdung  des  Nervensystems  am  ehesten  bei  starker  An- 
spannung desselben  eintreten  muss.  Dass  diese  aber  in  der  Gross- 
stadt durchschnittlich  grösser  ist,  als  auf  dem  Lande,  wird  sich  nicht 
gut  in  Abrede  stellen  lassen.  Schon  in  anscheinend  unbedeutenden 
Dingen  zeigt  sich  der  Unterschied.  Der  häufigere  Wohnungs- 
wechsel, der  Lärm  der  Strassenbahn,  die  fortwährende  Vorsicht, 

*)  Ball,  Lecons  ror  les  maladles  mentales.  2.  me  ed.  Paris  1890,  S.  371 


Der  Einßuss  d.  groustädl.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  133 


die  der  Grossstädter  anwenden  inuss,  beispielsweise  bei  Strassen- 
kreuzungen  und  anderen  mehr  oder  weniger  gefährlichen  Situa- 
tionen, die  grössere  Eile,  die  bei  den  beträchtlichen  Entfernungen 
oft  nötig  ist,  allerlei  damit  verbundene  Erregungen,  z.  B.  das  oft 
vergebliche,  nervös  machende  Warten  auf  die  Strassenbahn  und 
ähnliches  müssen  bei  weniger  Widerstandsfähigen  zu  einer  schnellen 
Abnutzung  der  Nerven  führen,  besonders  im  Zusammenhang  mit 
anderen  Schädlichkeiten  und  Gefahren,  die  ich  zum  teil  schon  be- 
sprochen habe.  Es  darf  ferner  gesagt  werden,  dass  in  der  Gross- 
stadt die  geistigen  Interessen  durchschnittlich  feiner  und  viel- 
seitiger sind,  als  in  der  Kleinstadt  und  auf  dem  Lande,  woraus 
jedoch  nicht  der  Grossstädter  ein  Recht  herleiten  darf,  auf  die 
Kleinstädter  und  Landbewohner  verächtlich  herabzusehen.  Wir 
haben  weiter  zu  bedenken,  dass  gerade  nach  der  Grossstadt  viele 
Leute  gezogen  werden,  die  höhere  geistige  Interessen  haben,  weil 
sie  sie  hier  eher  befriedigen  können.  Wenn  nun  solche  Leute  in 
grosser  Zahl  die  Grossstadt  aufsuchen,  und  wenn  wir  bedenken, 
dass  geistig  regsame  Leute  weit  mehr  zu  Nervenschwäche.  Gehirn- 
erweichung und  anderen  Nervenleiden  disponiert  sind  als  geistig 
indifferente,  so  wird  die  Belastung  der  grossstädtischen  Bevölkerung 
erklärlich,  ohne  dass  man  aber  deshalb  das  Recht  hätte,  der  Gross- 
stadt an  sich  in  der  Form,  wie  es  oft  geschieht,  eine  Schuld  beizu- 
messen. Die  Verwandtschaft  zwischen  Geistesstörung  und  Genie 
ist  keine  Schrulle  Lombrosos,  sie  ist  nicht  künstlich  konstruiert 
worden,  mag  auch  manche  Uebertreibung  vorgekommen  sein.  Der 
Vollständigkeit  halber  will  ich  allerdings  noch  bemerken,  dass  zu 
den  Leuten,  die  von  der  Grossstadt  angezogen  werden,  auch  aller- 
lei problematische  Naturen,  oder,  wie  es  der  französische  Irrenarzt 
Ball  nennt,  catilinarische  Existenzen,  männlichen,  aber  auch  weib- 
licher. Geschlechts  kommen,  die  in  der  Grossstadt  die  Zahl  der 
Degenerierten  vermehren. 

Die  vorhergehenden  Ausführungen  gelten  auch  für  das  weib- 
liche Geschlecht.  Dass  manche  Bauerndirnc  gesündere  Nerven 
hat,  als  die  grossstädtische  Dame,  bestreite  ich  nicht.  Ob  aber  die 
grossstädtische  Lehrerin  weniger  nervös  ist  als  die  der  Kleinstadt, 
erscheint  mir  noch  sehr  fraglich,  und  für  sicher  halte  ich,  das«  man 
ebensoviel  Nervenschwäche,  besonders  in  der  Hausindustrie  weib- 
licher Personen  auf  dem  Lande  und  in  der  Kleinstadt,  wie  in  der 
t»rossstadt  findet.    Ebenso  bestreite  ich,  dass  in  den  Kreisen  auf 


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13* 


Albtri  M oll . 


dem  Lande  und  in  den  kleinen  Städten,  wo  geistige  Interessen  und 
höhere  Bildung  bestehen,  Frauen  und  Mädchen  kräftigere  Nerven 
haben,  als  man  sie  in  der  Grossstadt  beim  weiblichen  Geschlecht 
findet.  Wenn  so  häufig  manchen  Zerstreuungen,  z.  B.  den  modernen 
Theaterstücken,  der  modernen  Litteratur  und  der  Musik  die  Zu- 
nahme der  Nervosität  in  der  Grossstadt  zugeschrieben  wird,  so 
findet  hier  eine  Verwechselung  der  Begriffe  statt.  Die  Frauen 
werden  nicht  nervös,  weil  sie  ihre  litterarischen  und  sonstigen  Be- 
dürfnisse auf  diese  Weise  befriedigen,  sie  haben  vielmehr  ein  feiner 
organisiertes,  oft  vielleicht  auch  pathologisches  und  deshalb  mehr 
sensibles  Nervensystem,  und  dieses  verlangt  nach  der  Befriedigung 
durch  die  betreffende  geistige  Speise.  Es  wäre  oft  viel  bedenklicher, 
wenn  man  dem  hier  bestehenden  Bedürfnis  hemmende  Schranken 
entgegenstellte.  Jedenfalls  kann  man  beobachten,  dass  auf  dem 
Lande  vielfach  ganz  gleiche  Bedürfnisse  bestehen,  und  dass,  wo 
dies  der  Fall  ist,  auch  dieselben  Bücher  wie  in  den  Grossstädten 
gelesen  werden,  mit  dem  einzigen  Unterschiede,  dass  dies  einige 
Wochen  oder  Monate  später  als  hier  geschieht. 

Dass  jedenfalls  die  Versagung  geistiger  Speise  nicht  vor 
Nervenleiden  schützt,  dafür  spricht  die  Thatsache,  dass  bei  den 
dem  grossstädtischen  Leben  entrückten  Frauen  der  orientalischen 
Harems  Hysterie  und  Nervosität  weit  verbreitet  sind.  Dr.  Castro, 
der  Leiter  der  Irrenanstalten  in  Konstantinopel,  sagte  mir  zwar, 
dass  im  Orient  bei  Männern  und  Frauen  verhältnismässig  weniger 
Geisteskrankheiten  vorkämen  als  bei  uns,  und  er  führte  dies  auf 
das  Fehlen  des  europäischen  aufregenden  Gesellschaftslebens 
zurück.  Demgegenüber  weiss  ich  aber  von  verschiedenen  Aerzten 
und  Aerztinnen  orientalischer  Harems,  dass  Hysterie  und  Neu- 
rasthenie in  ihnen  eine  ganz  gewöhnliche  Erscheinung  ist. 

Natürlich  meine  ich  nicht  etwa,  dass  die  Lektüre  nicht  mit- 
unter schädliche  Folgen  hat ;  nur  gegen  Uebertreibungen  wende 
ich  mich.  Auch  das  gesellschaftliche  Leben  ist,  wie  ich  hier  be- 
merke, keineswegs  ohne  Bedeutung,  und  besonders  wirkt  in  der 
Grossstadt  oft  die  Verwertung  der  Nacht  zu  Vergnügungen  und 
geselligen  Zusammenkünften  schädlich.  Dies  bezieht  sich  besonders 
auf  jene  Personen,  Männer  und  Frauen,  die  den  Tag  für  an- 
strengende Thätigkeit  verwerten  müssen. 

(Fortsetzung  folgt.) 




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Ueber  Kompensationen  bei  der  Beurteilung 

der  Schüler. 

Von 

Karl  Löschhorn. 

In  §  Ii  der  neuesten  Ordnung  der  Reifeprüfung  an  den 
neunstufigen  höheren  Schulen  und  §  4  der  Bestimmungen  über 
die  Versetzung  der  Schüler  an  den  höheren  Lehranstalten  in 
Preussen  wird  hervorgehoben,  dass  bei  Schülern,  die  nach  ihrer 
Persönlichkeit  und  geistigen  Entwicklung  besondere  Berück- 
sichtigung verdienen,  über  unzureichende  Leistungen  in  dem 
einen  oder  anderen  der  nicht  ausdrücklich  für  die  Kompensation 
als  geeignet  bezeichneten  Fächer  hinweggesehen  werden  kann, 
wenn  nach  dem  Urteile  der  Lehrer  die  Persönlichkeit  und  das 
Streben  des  Schülers  seine  Gesamtreife  gewährleistet  Bei  den 
Bestimmungen  über  die  Versetzbarkeit  der  Schüler  wird  hinzu- 
gefügt, dass  bei  der  Beurteilung  auch  auf  die  Leistungen  in 
den  verbindlichen  nichtwissenschaftlichen  Unterrichtsfächern 
entsprechende  Rücksicht  genommen  werden  kann.  Es  wird  dabei 
angenommen,  dass  der  Schüler  auf  der  nächstfolgenden  Stufe 
das  Fehlende  nachholt,  auch  muss  das  Schlussprädikat  „un- 
genügend" in  einem  Hauptfache  mindestens  durch  „gut"  in 
einem  anderen  Hauptfache  ausgeglichen  werden.  Man  sieht 
also,  dass  die  Schulaufsichtsbehörden  in  verhältnismässig  recht 
weitgehender  Weise  Kompensationen  zulassen  und,  wie  in 
meinem  Artikel:  „Einige  Worte  über  die  Beibehaltung  der 
sogenannten  Versetzungsprüfungen",  Zeitschrift  für  pädagog. 
Psychol.  und  Pathologie,  III.  Jahrg.  1901  bemerkt  ist,  dieser 
Weg,  wonach  die  Lehrer  stets  die  ganze  Persönlichkeit  des  zu 
versetzenden  oder  zu  examinierenden  Schülers  ins  Auge  zu 
fassen  haben,  als  der  allein  richtige  bezeichnet  werden  muss. 


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Karl  Löschhorn. 


Eine  andere  Frage  ist  allerdings  die,  ob  nicht,  wie  bisher 
fast  immer  geschehen,  thatsächlich  doch  nur  die  der  Natur  der 
Sache  nach  am  nächsten  liegenden  Kompensationen,  also  der 
alten  oder  an  den  Realanstalten  der  neueren  Sprachen  einerseits 
und  der  Mathematik  andererseits  zur  Anwendung  gebracht 
werden  oder  ob  man  z.  B.  auch,  wie  durchaus  wünschenswert 
erscheinen  dürfte,  das  gesamte,  so  weite  und  interessante  Ge- 
biet der  Naturwissenschaften  für  diesen  Zweck  mitbenutzen 
wird,  zumal  bereits  die  Physik  an  Oberrealschulen  in  dieser 
Hinsicht  als  zulässig  bezeichnet  ist 

Wenn  man  erwägt,  dass  es,  streng  genommen,  gar  kein 
einzelnes  Fach  giebt,  das  man  zum  unbedingten  Masstabe  geistiger 
Reife  machen  kann,  dass  die  grössten  Geister,  wie  Liebig,  der 
sich  während  seiner  ganzen  Schulzeit  einen  grossen  Dummkopf 
nennen  lassen  musste,  oft  die  schlechtesten  Schüler  gewesen 
und  stets  nur  durch  ausschliessliche,  von  frühster  Jugend  an 
geübte  Konzentration  auf  ein  von  ihnen  selbst  erwähltes  Haupt- 
fach, ja  in  ihrem  späteren  Leben  und  besonders  gegenwärtig 
lediglich  durch  fortwährende  Beschäftigung  mit  einer  einzigen 
Disziplin  eines  Hauptwissensgebiets  zu  Ansehen  und  Berühmtheit 
gelangt  sind,  so  Hegt  es  nicht  fern,  alle  näheren  Bestimmungen 
über  die  Möglichkeit  der  Kompensation  überhaupt  zu  beseitigen 
und  jedes  Fach,  vor  allem  die  Naturwissenschaften,  wie  an 
Oberreal-,  Gewerbe-  und  rein  technischen  Schulen,  selbst  das 
wissenschaftlich  betriebene  Zeichnen  in  den  oberen  Klassen, 
ähnlich  wie  bei  der  einjährig-freiwilligen  Prüfung  zur  Aus- 
gleichung ungenügender  Leistungen  auf  der  einen  Seite  gegen 
mindestens  gute  auf  der  anderen  für  geeignet  zu  erklären. 

Bei  dieser  Gelegenheit  können  wir  nicht  umhin  hervor- 
zuheben, dass  der  Unterricht  in  der  Mathematik  gegenüber 
allen  anderen  in  höheren  Lehranstalten  getriebenen  Fächern, 
wie  es  scheint,  noch  am  wenigsten  Vorteil  von  der  neuen 
Methodik  gehabt  hat,  was  um  so  schmerzlicher  zu  bedauern  ist, 
als  auch  noch  in  unseren  Tagen,  wie  von  jeher,  am  häufigsten 
ungenügende  Gesamtleistungen  in  diesem  Fache  mit  guten  in 
den  alten,  bezw.  neueren  Sprachen  kompensiert  werden  müssen. 
Während  nun  der  früher  an  Gymnasien  ziemlich  vernachlässigte 
Unterricht  in  den  Naturwissenschaften  sich  auf  Grund  des  jetzt 
allgemein  üblichen,  durchweg   auf  Anschauung  beruhenden 


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lieber  Kompensationen  bei  tier  Beurteilung  der  Sehüler. 


«37 


Verfahrens  verhältnismässig  sehr  leicht  erteilen  lässt  und  gerade 
deswegen  jetzt  den  Schülern  weit  mehr  Interesse  einflösst  als 
ehedem,  auch  die  Leisttingen  in  ihnen  sich  überall  bedeutend 
gebessert  haben,  wird  der  ihm  verwandte  in  der  Mathematik 
noch  vielfach  in  der  alten  scholastisch-abstrakten  Weise,  d.  h. 
in  der  Art  erteilt,  dass  man  die  Schüler  vorgetragene  Lehrsätze, 
Regeln  und  Formeln  auswendig  lernen  lässt,  ein  Unfug,  der 
dem  Wesen  der  Mathematik  gänzlich  fremd  ist    Die  Prüfungs- 
ordnung könnte  ruhig  die  Benutzung  von  Fonnelbüchern,  nicht 
nur  die  der  Logarithmentafel  gestatten.    Noch  thorichter  ist 
es,  von  den  Schülern  das  Auswendiglernen  ganzer  Beweise  und 
der  Art,  wie  Formeln  abgeleitet  werden,  zu  verlangen.  Man 
kann  vollständig  damit  zufrieden  sein,  wenn  ein  Schüler  die 
Formeln,  Lehrsätze  und  Beweise  überhaupt  versteht  richtig 
anwendet  und  eine  grössere,  die  Verstandesthätigkeit  besonders 
in  Anspruch  nehmende  Aufgabe,  bei  der  sich  z.  B.  die  Auf- 
stellung ihres  Ansatzes  nicht  sogleich  von  selbst  ergiebt,  sondern 
erst   durch  einiges  Nachdenken  und  Kombinieren  gefunden 
werden  kann,  richtig  durchführt,  selbst  wenn  er  dabei  ver- 
schiedene Rechenfehler  gemacht  haben  sollte.    Dividieren  und 
Wegschaffen  der  Brüche,  namentlich  in  Gleichungen  werden 
stets  schwierige  Operationen,  deren  Ausführung  grosse  Auf- 
merksamkeit erfordert,  bleiben,  auch  werden  immer  selbst  geübte 
Rechner  in  ihrem  Uebereifer  vergessen,  bei  der  Minusklammer 
die  Vorzeichen  umzukehren  und  dadurch  das  ganze  Resultat 
falsch  gestalten.    Bekannt  ist,  dass  die  grössten  Mathematiker 
oft  mehr  Rechenfehler  machen,  als  ein  kleiner  Schüler  und  die 
berühmtesten  Männer  nicht  selten  schlechter  wie  eine  Höker- 
frau rechnen  und  ganz  ungenügende  Mathematiker  sind,  wie 
dann  selbst  das  hervorragendste  Genie  irgendwo  eine  schwache 
Seite  hat    Diese  Erscheinungen  zeigen  aufs  deutlichste,  dass 
jeder   Mechanismus   vom  Schulunterricht  zu   verbannen  ist. 
Mechanisch,  d.  h.  ohne  jedes  Verständnis  der  Gründe  rechnen 
kann  der  beschränkteste  Kopf  und  die  sogenannten  Rechen- 
künstler sind  geistig  fast  immer  unbedeutende  Menscheu.  Man 
gebe  daher  in  den  Lehrstunden  alle  Rechenspielereien  auf,  so 
verschiedene  beliebte  Gleichungen   wie  die  von  den  beiden 
Boten,  die  mit  ungleicher  Schnelligkeit  von  derselben  oder  einer 
in  einer  bestimmten  Entfernung  von  der  ersteren  gelegenen 


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•38 


Karl  Löschhorn. 


Stadt  ausgehen  und  sich  nach  gewissen  Zeiten  treffen  sollen, 
dem  Brunnen,  der  von  verschiedenen  Rohren  gespeist  wird  und 
endlich  voll  werden  soll,  dem  Alter  des  Grossvaters,  Vaters 
und  Sohnes,  der  Vergleichung  des  Vermögens  mehrerer  Personen, 
aber  auch  die  ganze  Permutations-  und  Variationsrechnung,  mit 
ihren  Aufgaben,  wie  vom  Verändern  der  Plätze  bei  Tische  u.  a., 
nicht  minder  die  meisten  geometrischen  Konstiuktionsaufgaben, 
ausser  denen,  die  auf  den  vier  Grundaufgaben,  dem  Ziehen  von 
parallelen  Linien  und  den  wichtigsten  geometrischen  Oertern 
beruhen,  übe  aber  desto  mehr  im  praktischen  Leben  wirklich 
vorkommende  Fälle,  die  sich  mit  leichter  Mühe  durch  Gleichungen 
lösen  lassen.  Nicht  nur  Anschaulichkeit,  sondern  auch  möglichst 
wenig  Beweise  sei  der  Grundsatz  unserer  heutigen  Mathematik, 
lehrer.  Am  allerwenigsten  beweise  man  in  der  Geometrie 
Lehrsätze,  deren  Richtigkeit  jeder,  der  seine  fünf  Sinne  bei- 
sammen hat,  insbesondere  ein  normales  Auge  besitzt,  aus  der 
Figur  selbst  sofort  erkennen  kann.  Man  übe  vielmehr  haupt- 
sächlich die  Berechnung  des  Inhalts  der  ebenen  Figuren  und 
Körper  und  erhebe  die  so  interessante  und  so  leichte  Trigono- 
metrie, die  Wissenschaft  der  Feldmesser,  die  im  praktischen 
Leben  von  unberechenbarer  Wichtigkeit  ist,  zur  Hauptdisziplin. 
Auch  empfiehlt  es  sich,  das  vielfach  nur  nebenbei  und  zwar 
als  „geistiges  Amüsement"  betriebene  Verwandeln  von  Figuren 
im  Unterricht  mehr  zu  betonen  und  dafür  einen  Teil  der  Aehnlich- 
keitslehre,  die  lediglich  in  dem  Satz  vom  goldenen  Schnitt  und 
die  darauf  beruhende  Konstruktion  des  regulären  Zehnecks 
ausläuft,  aber  auch  der  Sätze  von  den  drei  Höhen  eines  Drei- 
ecks, den  drei  Transversalen  aus  den  Winkelspitzen  eines 
Triangels  nach  den  Mitten  der  Gegenseiten  und  des  ptolemäischen 
Lehrsatzes  durchaus  nicht  entbehren  kann,  ferner  die  Sätze  von 
der  Lage  der  geraden  Linien  gegen  einander  und  gegen  Ebenen, 
sowie  von  der  Lage  der  Ebenen  gegen  Ebenen  und  den 
trügerlichen  Ecken  mit  Ausnahme  der  wichtigsten  fallen  zu 
lassen.  Es  genügt  so  ziemlich,  aus  den  letztgenannten  Kapiteln 
nur  den  Neigungs-  und  Flächenwinkel,  bezw.  die  Scheitel-  und 
Polarecke  nebst  dem  Begriff  der  Symmetrie  zu  erklären.  Aus 
dem  durchzunehmenden  Pensum  kann  man  auch  recht  wohl 
die  ganze,  durch  die  neuesten  Lehrpläne  wieder  eingeführte 
Proportionslehre  ausser  den  Regeln  über  die  Entstehung  einer 


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lieber  Kompensationen  bei  der  Beurteilung  der  Schüler. 


Proportion  aus  zwei  gleichen  Produkten  und  die  Aufsuchung 
des  vierten,  bezw.  bei  der  stetigen  Proportion  des  mittleren 
Gliedes,  die  ganze  Lehre  von  den  negativen  und  Bruchpotenzen, 
irrationalen  und  imaginären  Wurzeln  mit  Ausnahme  der  be- 
treffenden Begriffsbestimmungen  und,  wie  schon  oben  erwähnt, 
die  Perrautations-  und  Variationslehre  streichen,  aber  die  Haupt- 
satze über  die  Reihen  beibehalten.  Ganz  zu  entbehren  sind 
auch  alle  Beweise  der  Richtigkeit  der  elementaren  Summen- 
und  Differenzenformeln,  die  selbst  bei  Kamply  noch  durch- 
geführt sind,  in  Unter-Tertia,  alle  nicht  oder  niemals  aufgehenden 
Aufgaben  aus  der  Division  von  Polynomen,  die  Lehre  von  den 
natürlichen  Logarithmen,  die  nur  in  der  höheren  Analysis  An- 
wendung findet,  und  den  Exponentialgleichungen.  Was  eine 
diophantische  Gleichung  ist,  ist  dagegen  an  leichten  Beispielen 
zu  erklären. 

Im  allgemeinen  muss  der  Schüler  überall  erkennen,  dass 
das  Rechnen  mit  Buchstaben  auf  denselben  Gesetzen  beruht, 
wie  das  Rechnen  mit  Zahlen,  ja  in  den  meisten  Fällen  noch 
einfacher  ist  als  dieses.  Alsdann  wird  auch  der  Unbegabteste 
dem  gewöhnlich  den  Schülern  schwer  verständlichen  Unterrichte 
in  der  Arithmetik  leicht  folgen,  während  zu  viele  Beweise  ihn 
schliesslich  dahin  bringen  werden,  dass  er  das  elementarste 
praktische  Rechnen  wieder  verlernt.  So  hat  man  denn  auch 
jetzt  eingesehen,  dass  die  angewandte  Mathematik  viel  wichtiger 
ist,  als  die  reine,  wie  ja  denn  auch  die  neueste  Oberlehrer- 
prüfungsordnung diese  beiden  Gebiete  mit  Recht  trennt.  Jeden- 
falls wird  man,  da  nach  Ausscheidung  oder  höchstens  ganz 
allgemeiner  Behandlung  aller  oben  erwähnten  Teile  nur  die 
einfachsten  aber  wichtigsten  und  für  das  praktische  Leben  be- 
sonders nützlichen  Abschnitte  der  ganzen  Mathematik,  übrig 
bleiben,  viel  seltener  als  bisher  in  die  Notwendigkeit  kommen» 
gute  sprachliche  Leistungen  zur  Kompensation  mit  ungenügenden 
mathematischen  heranziehen. 

Sollte  ein  Schüler  aber  wirklich  absolut  unfähig  sein,  auch 
nur  die  oben  bezeichneten  Kapitel  aus  der  Arithmetik  und 
Geometrie  zu  verstehen,  dabei  jedoch  in  den  Sprachen,  be- 
sonders in  den  alten,  oder  selbst  in  allen  anderen  Fächern  gute, 
ja  stellenweise  ausgezeichnete  Leistungen  aufweisen,  so  ist  der- 
selbe entschieden  als  ein  sehr  tüchtiger  Mensch  anzusehen. 


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140 


Karl  Loschhorn. 


Non  omnia  possumus  omnes.  Die  ganze  Persönlichkeit,  bei 
höheren  Staatsprüfungen  namentlich  die  Entscheidung  darüber, 
ob  er  wissenschaftlich  überhaupt  für  seinen  künftigen  Beruf 
oder  das  von  ihm  erstrebte  Staatsamt  befähigt  ist  oder  nicht, 
gebe  den  Ausschlag  bei  jeder  Versetzung  und  Prüfung.  Man 
versetze  jeden  Schüler  und  lasse  jeden  Kandidaten  durch 
die  Examina,  der  diesen  allgemeinen  Anforderungen  entspricht 
und  in  keinem  einzigen  Fache  geradezu  bodenlos  unwissend 
ist,  gestatte  dabei  alle  von  uns  geschilderten  Kompensationen 
und  gehe  von  dem  Grundsatze  aus,  dass  zu  jedem  wissenschaft- 
lichen Gegenstande  ein  gleicher  „Verstand  und  rechter  Sinn" 
gehört  und  dieser  sich  mit  wenig  Kunst  selber  vorträgt  Alles 
auf  mechanisches  Anlernen  beruhende  Wissen  gelte  bei  der 
Beurteilung  gleich  Null,  denn  Freunde  eines  breiten  encyklo- 
pädischen  Wissens,  das  sich  nur  durch  fortgesetztes  Auswendig- 
lernen erwerben  lässt  und  meist,  wie  es  gewonnen  ist,  so  zerrinnt, 
sind  nie  selbständige  Denker  oder  gar  produktiv  geworden, 
vielmehr  stets  handwerksmässige  Arbeiter  und  beschränkte 
Köpfe  gebliebea 


■ 


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Ueber  die  Furcht  der  Kinder. 


Von 

Leo  Hirschlaff. 
III. 

Wenn  wir  uns  der  früher  gegebenen  Definition  der  Furcht 
erinnern  als  eines  Unlustgefühles,  das  sich  auf  die  Erwartung 
einer  drohenden  Gefahr  gründet,  so  werden  wir  bei  der  Be- 
trachtung der  Entstehungsbedingungen  dieses  Affektes,  ebenso 
wie  auch  früher  schon,  die  normale  von  der  pathologischen 
Furcht  unterscheiden  müssen.  Die  normale  Furcht,  die  ja  eine 
unveräusserliche  Eigenschaft  der  menschlichen  Seele  ist,  ent- 
spricht in  ihrem  Grade  und  in  ihren  Aeusserungen  der  Grösse 
der  zu  erwartenden  Gefahr;  sie  beruht  auf  einer  zuverlässigen 
Erkenntnis  und  angemessenen  Wertung  des  bevorstehenden 
Uebels.  Zu  ihren  Entstehungsbedingungen  gehören  offenbar 
drei  Momente:  i.  eine  drohende  Gefahr,  2.  die  Beurteilung 
und  Erkenntnis  derselben,  3.  die  hierauf  folgende  körperliche 
und  seelische  Reaktion  des  sich  Fürchtenden.  Wenn  eines 
dieser  drei  Momente  eine  Aenderung  erfährt,  ohne  dass  die 
beiden  anderen  Momente  sich  gleichzeitig  vermindern  oder  ver- 
stärken, so  ist  damit  der  Thatbestand  der  pathologischen  Furcht 
gegeben.  Die  Entstehungsbedingungen  der  übertriebenen, 
krankhaften,  pathologischen  Furcht,  die  uns  hier  ja  an  erster 
Stelle  interessiert,  können  demnach,  eine  gegebene  Gefahr  von 
bestimmter  Grösse  vorausgesetzt,  in  äussere  und  körperliche, 
andererseits  in  innere  und  seelische  Bedingungen  eingeteilt 
werden,  je  nachdem  sie  geeignet  sind,  die  Reaktion  des  sich 
Fürchtenden  oder  die  Beurteilung  der  zu  erwartenden  Gefahr 
in  abnormer  Weise  zu  beeinflussen.  Ich  möchte  der  folgenden 
Betrachtung  diese  Einteilung  zugrunde  legen,  ohne  sie  freilich 


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Leo  Hirschla/f. 


im  einzelnen  streng  durchzuführen,  da  sonst  vielfach  eng  Zu- 
sammengehöriges getrennt  werden  müsste. 

Unter  den  körperlichen  Entstehungsbedingungen  der 
Furcht  figuriert  in  erster  Reihe  die  körperliche  Beschaffenheit 
und  Reizbarkeit  des  sich  Fürchtenden.  Der  kräftige,  gesunde 
Körper  reagiert  auf  die  Erwartung  eines  drohenden  Uebels 
im  Vollgefühle  seiner  Kraft  und  seiner  Verteidigungsmittel; 
der  schwächliche,  kränkliche,  abnorm  reizbare  unterliegt  der 
zu  gewärtigenden  Unlust,  ohne  den  ernstlichen  Versuch  des 
Widerstandes  ins  Auge  zu  fassen.  Daher  kommt  es,  dass 
schwächliche  und  kränkliche  Kinder  weit  häufiger  die  Erschei- 
nungen der  Furcht  zeigen,  als  robuste  und  gesunde  Naturen. 
Gerade  wie  ja  auch  bei  den  Erwachsenen  die  Neurastheniker, 
Hysterischen  und  Hypochonder  das  Heer  der  Furchtsamen  und 
Aengstlichen  bilden,  da  ihr  Nervensystem  auf  alle  Reize  in 
gesteigertem  Masse  reagiert.  Unter  den  Momenten,  die  be- 
sonders geeignet  sind,  die  körperliche  Konstitution  der  Kinder 
zu  schwächen  und  somit  die  Entstehung  von  Furchtzuständen 
zu  begünstigen,  sollen  als  wichtigste  genannt  sein:  i.  die 
Heredität,  2.  die  Ernährung,  3.  der  Alkohol,  4.  der  Mangel 
an  körperlicher  Uebung  und  Ausbildung,  5.  gewisse  Krank- 
heiten. 

Dass  der  Inhalt  der  Furchtvorstellungen  als  solcher  nicht 
vererbt  werden  kann,  dürfte  nach  den  früheren  Ausführungen 
keinem  Zweifel  mehr  unterliegen.  Dagegen  lässt  sich  nicht 
leugnen,  dass  die  Disposition  zur  übertriebenen  Furcht  und 
ihren  Begleiterscheinungen  erblich  übertragen  werden  kann, 
da  ja  die  Körperkonstitution  eines  Menschen  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  abhängig  ist  von  der  Körperkonstitution  seiner 
Eltern.  Gesunde  und  kräftige  Eltern  erzeugen  im  allgemeinen 
gesunde  und  kräftige  Kinder;  kränkliche  und  nervenschwache 
Eltern  werden  dagegen  mehr  Aussicht  haben,  kränkliche  und 
nervenschwache  Kinder  zur  Welt  zu  bringen  und  daher  auch 
die  körperliche  Disposition  zu  übertriebenen  Furchtzuständen 
ihren  Nachkommen  zu  vererben.  Die  Vererbung  der  Körper- 
konstitution ist  freilich  nach  meiner  Auffassung  keineswegs 
so  gesetzmässig  und  unausweichlich,  wie  man  im  allgemeinen 
annimmt.  Ich  halte  es  für  erwiesen,  dass  der  Vererbung  in 
der  Pathologie  vieles  zur  Last  gelegt  wird,  was  ohne  sie  be- 


Ucber  die  Furcht  der  Kinder. 


friedigender  erklärt  werden  kann.  Wenn  nervenschwache  Eltern 
nervenschwache  Kinder  haben,  so  ist  damit  nicht  ohne  weiteres 
gesagt,  dass  die  Nervenschwäche  der  Kinder  von  den  Eltern 
ererbt  ist.  Sie  kann  vielmehr  und  wird  in  den  meisten  Fällen 
mindestens  zu  einem  guten  Teile,  erworben  sein,  da  man  an- 
nehmen darf,  dass  die  verkehrten  Lebensgewohnheiten  und 
die  unhygienische  Lebensweise  im  weitesten  Sinne  des  Wortes, 
die  so  häufig  die  Nervenschwäche  der  Eltern  verschuldet  hat, 
von  diesen  auch  den  Kindern  übermittelt  wird.  So  lange  die 
weitreichenden  Einflüsse  der  Hygiene  und  Erziehung  auf  das 
körperliche  und  seelische  Wohl  unserer  Kinder  noch  so  wenig 
exakt  erforscht  und  bekannt  sind,  wird  man  in  der  Beurteilung 
des  hereditären  Momentes  in  der  menschlichen  Pathologie 
weit  vorsichtiger  sein  müssen  als  bisher,  um  nicht  zu  einem 
voreiligen  Pessimismus  und  einem  verhängnisvollen  pädago- 
gischen, bezw.  therapeutischen  Nihilismus  zu  gelangen. 

Dass  die  Ernährung  eines  Menschen  einen  grossen  Einfluss 
auf  seine  Körperkonstitution  ausübt,  ist  bekannt.  Alle  Schädi- 
gungen, die  in  dieser  Beziehung  zu  konstatieren  sind,  werden 
deshalb  auch  geeignet  sein,  zur  Entstehung  der  Furchtzustände 
beizutragen.  Blasse,  blutarme,  schlecht  genährte  Kinder,  aber 
auch  durch  überreichliche  und  allzu  reizhafte  Kost  verweich- 
lichte Kinder  unterliegen  erfahrungsgemäss  den  Wirkungen  der 
Furcht  eher  als  gut  und  zweckmässig  ernährte  Kinder.  Es 
ist  unnötig,  auf  diese  Faktoren  im  einzelnen  näher  einzugehen. 
Ein  einziges  Moment  jedoch  verdient  in  dieser  Beziehung  be- 
sonders hervorgehoben  zu  werden ;  es  betrifft  den  Alkohol- 
genuss  der  Kinder.  Man  mag  über  den  Gebrauch  alkoholischer 
Getränke  beim  Erwachsenen  denken,  wie  man  will;  man  mag 
die  Forderung  der  absoluten  Abstinenz  alkoholischer  Getränke 
für  den  Erwachsenen  für  übertrieben  halten  oder  nicht :  darüber 
kann  ein  Zweifel  nicht  obwalten,  dass  jedes  alkoholische  Ge- 
tränk, von  medicamentösen  Verordnungen  natürlich  abgesehen, 
für  Kinder  unbedingt  schädlich  und  verwerflich  ist.  Dass  es 
aber  auch  gerade  Furchtzustände  sind,  die  nicht  selten  auf 
Alkoholgenuss  zurückgeführt  werden  können,  dafür  noch  einige 
Beispiele.  Vor  einigen  Jahren  hatte  ich  Gelegenheit,  einen 
Fall  von  Schlafwandeln  bei  einem  7  jährigen  Kinde  zu  be- 
handeln.   Das  Kind  schlief  im  Bette  des  Vaters;  mitten  aus 


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Leo  Hirschlaß. 


dem  tiefsten  Schlafe  heraus  erhob  es  sich  und  wandelte  in? 
Schlafe  umher,  nicht  selten,  wenn  es  unbemerkt  blieb,  die 
vier  Treppen  des  Hauses  hinunter  bis  zur  Strasse,  bis  es  durch 
Anrufen  und  Berühren  geweckt  wurde.  Nach  dem  Erwachen 
gab  das  Kind  an,  schreckhafte  Gestalten  und  Bilder  im  Traume 
gesehen  zu  haben,  die  es  zu  seiner  Wanderung  veranlassten. 
Bei  der  Anamnese  des  Zustandes,  der  den  Eltern  grosse 
Sorge  einflösste  und  der  schon  mehrfach  erfolglos  behandelt 
worden  war,  stellte  ich  fest,  dass  die  kleine  Patientin  täglich 
bei  der  Abendmahlzeit  Bier  zu  trinken  erhielt.  Ich  untersagte 
diese  Gewohnheit,  und  ohne  jede  andere  Behandlung  erwies 
sich  das  Kind  vom  selben  Tage  an  geheilt.  Auch  jetzt  noch, 
nach  über  zwei  Jahren,  sind  die  Störungen  nicht  wieder  auf- 
getreten. In  einem  anderen  Falle  von  Pavor  nocturnus  bei 
einem  12  jährigen  Mädchen  verloren  sich  die  nächtlichen 
Schreck-Anfälle  ebenso  prompt,  als  ihr  die  Teilnahme  an  den 
Weissbier-Gelagen  der  Eltern  untersagt  wurde.  Auch  bei  den 
schwereren  Störungen,  die  der  Alkoholmissbrauch  herbeiführt, 
wie  beim  Delirium  tremens  sind  ja,  wie  wir  bereits  oben  erwähnt 
haben,  Furcht-Erscheinugcn  und  schrecken-erregende  Halluci- 
cinaiionen  diejenigen  Symptome,  die  das  Krankheitsbild  be- 
herrschen. Ja  sogar  ein  Autor,  Marcel,  hat  bereits  im  Jahre  1847 
die  Behauptung  aufgestellt,  dass  das  Alkoholdelir  nichts  anderes 
sei  als  die  F  olge  der  Furcht  vor  den  durch  den  Alkohol  herauf- 
beschworenen phantastischen  Erscheinungen ;  ähnlich  den  Auf- 
regungszuständen  bei  der  hallucinatorischen  Paranoia,  bei  denen 
die  Patienten  aus  Furcht  vor  den  hallucinatorisch  auftretenden 
Sinneserscheinungen  sich  zu  verkehrten  und  destruktiven  Hand- 
lun&;'n  hinreissen  lassen.  Bei  alkoholisierten  Hunden  hat 
Hodge  ähnliche  Erscheinungen  nachgewiesen. 

Auf  den  Einfluss  der  körperlichen  Uebungen  auf  die  ge- 
sundheitliche Konstitution  der  Kinder  muss  auch  in  diesem 
Zusammenhange  hingewiesen  werden.  Die  Schulhygieniker  sind 
nicht  müde  geworden,  immer  und  immer  wieder  zu  betonen,  dass 
neben  der  geistigen  und  sittlichen  Erziehung,  die  die  Aufgabe 
der  Schule  bildet,  auch  die  körperliche  Ausbildung  der  Kinder 
nicht  vernachlässigt  werden  dürfe.  Turnen,  Baden,  Schlitt- 
schuhlaufen, Spiel  und  Sport  in  frischer,  freier  Luft:  das  sind 
diejenigen  Faktoren,  deren  Vernachlässigung  zur  Schwächung 


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Ueber  die  Furcht  der  Kinder. 


der  Konstitution  der  Kinder  führt  und  somit  zu  den  Entstehungs- 
bedingungen der  Furcht  gerechnet  werden  muss.  Mens  sana  in 
corpore  sano. 

An  letzter  Stelle  sollen  gewisse  Krankheiten  als  Ursachen 
der  schwächlichen  Körperkonstitution  der  Kinder  kurz  genannt 
werden.  Alle  langwierigen  Krankheiten,  die  die  Kräfte  der 
Patienten  verzehren,  die  Nahrungsaufnahme  erschweren,  mit 
länger  andauerndem  Fieber  oder  mit  Blutverlusten  einhergehen, 
sind  in  dieser  Beziehung  zu  berücksichtigen.  In  erhöhtem  Masse 
wird  natürlich  die  Disposition  der  Kinder  zu  Furchtzuständen 
begünstigt  durch  die  sog.  funktionellen  Nervenkrankheiten,  von 
denen  die  Neurasthenie,  Hysterie,  Epilepsie  bei  Kindern  nicht 
eben  selten  sind.  Die  oben  bereits  erwähnte  Untersuchung 
Binet's  über  den  Zustand  der  Gesundheit  der  mit  Furcht  be- 
hafteten Kinder  führte  zu  dem  gleichen  Ergebnis.  Um  nicht 
unvollständig  zu  sein,  muss  hinzugefügt  werden,  dass  die  Reiz- 
barkeit und  Konstitutionsschwäche,  die  zu  Furchterscheinungen 
disponiert,  nicht  immer  eine  allgemeine  und  dauernde  zu  sein 
braucht,  sondern  nicht  eben  selten  auch  nur  vorübergehend 
oder  partiell  in  die  Erscheinung  tritt,  etwa  in  Zuständen  vor- 
übergehender Uebermüdung  und  Erschöpfung  oder  aber  nur 
bestimmten  Gegenständen  oder  Situationen  gegenüber.  So 
giebt  es  z.  B.  kräftige  und  gesunde  Naturen,  die  in  jeder  Be- 
ziehung mutig  und  furchtlos  sind,  aber  vielleicht  vor  Spinnen 
oder  vor  einer  zahnärztlichen  Operation  eine  heillose,  patholo- 
gische Furcht  empfinden.  Meistens  handelt  es  sich  freilich  bei 
der  Entstehung  solcher  Fälle  um  die  Mitwirkung  anderer 
Faktoren,  auf  die  wir  später  näher  eingehen  werden. 

Unter  den  äusseren  Bedingungen,  die  zur  Entstehung  der 
Furcht  beitragen  können,  müssen  ferner  genannt  werden:  die 
Dunkelheit  und  die  Einsamkeit.  In  der  Dämmerung  und  in 
der  Nacht  sind  unsere  Sinneswahrnehmungen  beschränkt  und 
unzuverlässiger.  In  der  Einsamkeit  überfällt  uns  besonders  in 
der  Kindheit,  ein  Gefühl  der  Hilflosigkeit,  wobei  uns  unsere 
Abhängigkeit  von  anderen  zum  Bewusstsein  kommt.  Auch  unge- 
wohnte und  fremdartige  Situationen  könnten  hierher  gerechnet 
werden.  Jedoch  treten  wir  hiermit  schon  in  das  Gebiet  der 
inneren  und  seelischen  Entstehungsbedingungen  der  Furcht 
ein,  die  wir  nunmehr  erörtern  wollen. 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  4 


146 


Leo  Hirtchla  ff. 


Zu  den  seelischen  Ursachen  der  Furchtzustände  gehören  in 
erster  Reihe  die  Mängel  der  Sinneswahrnehmung  und  Aufmerk- 
samkeit, der  Mangel  an  Uebung  und  Erfahrung,  der  Mangel 
an  Wissen  und  Erkenntnis.  Ebenso  wie  durch  die  Dunkelheit, 
durch  Nebel  und  andere  physikalische  Faktoren  die  Sinnes- 
wahrnehmungen beeinträchtigt  werden  können,  kann  dies  auch 
durch  innere  Momente  bedingt  sein,  sei  es  dass  es  sich  um 
Defekte  oder  mangelhafte  Ausbildung  der  Sinnesorgane,  sei 
es  um  Fehler  der  zentralen  Funktionen  des  Aufmerkens,  Auf- 
fassens, Beobachtens  handelt.  Wie  sehr  dieser  Faktor  bei  der 
Entstehung  der  Furchterscheinungen  beteiligt  sein  kann,  haben 
wir  bereits  bei  der  Analyse  der  Furcht-Hallucinationen  der 
Geisteskranken  gesehen.  Wer  in  Gedanken  versunken  und 
geistesabwesend  auf  der  Strasse  geht,  wird  leicht  bei  einem 
ungewohnten  Geräusche  oder  Anblicke  erschrecken,  weil  die 
abgelenkte  Aufmerksamkeit  ihn  nicht  zur  sofortigen,  richtigen 
Auffassung  des  Sinneseindruckes  gelangen  lässt  und  weil  eine 
plötzliche,  unvorbereitete,  unerwartete  Sinneswahrnehmung  das 
Seelenleben  heftiger  alteriert.  Zerstreute,  fahrige  und  unauf- 
merksame Kinder  erschrecken  daher  oft  und  leicht. 

Der  Mangel  an  Uebung  und  Erfahrung  ist  eine  häufige 
Ursache  der  Furcht.  Wer  keine  Gelegenheit  hat,  das  Leben 
kennen  zu  lernen  und  Erfahrungen  zu  sammeln,  wer  zurück- 
gezogen und  mit  sich  selbst  allein  aufwächst  und  lebt,  wird 
weniger  Widerstandskraft  gegenüber  ungewohnten  Situationen 
an  den  Tag  legen  als  derjenige,  der  gewöhnt  ist,  aus  eigener 
Kraft  sich  im  Leben  zurecht  zu  finden.  Daher  fürchten  sich 
Kinder  leichter  als  Erwachsene,  Frauen  leichter  als  Männer. 
Das  tritt  auf  jedem  Gebiete  zu  Tage.  Wer  zum  ersten  Male 
ein  Bergwerk  besucht,  wilde  Tiere  kennen  lernt,  sich  im 
Schwimmen  unterrichtet,  auf  See  fährt  und  dergl.  mehr,  em- 
pfindet Beklemmungen  und  Befürchtungen,  die  sich  später 
infolge  der  Gewohnheit  verlieren.  Auch  bei  der  Errötungs- 
furcht,  von  der  wir  oben  ausführlich  gehandelt  haben,  ist  der 
Mangel  an  Uebung  im  Umgange  mit  Menschen  eine  der  wesent- 
lichsten Entstehungsbedingungen. 

Der  Mangel  an  Wissen  und  Erkenntnis  lässt  der  Entstehung 
der  Furcht  ebenfalls  einen  breiten  Spielraum.  Wer  die  Ent- 
stehung und  das  Wesen  des  Blitzes,  des  Donners,  der  Sonnen- 


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Ueber  die  Furcht  t&rr  KmJer. 


Finsternis  kennt,  ist  im  allgemeinen  gesichert  gegen  übertriebene 
Furchtvorstellungen,  die  sich  auf  solche  Natur-Ereignisse  be- 
ziehen. Die  Bazillenfurcht  tritt  am  schlimmsten  auf  bei  denen, 
die  noch  nie  einen  Bazillus  gesehen  und  von  dem  Wesen  und 
der  Bedeutung  desselben  unzutreffende  Vorstellungen  haben. 
Auch  der  Aberglaube,  die  Furcht  vor  Gespenstern  und  der 
Spiritismus  entstehen  leichter  bei  ununterrichteten  als  bei  natur- 
wissenschaftlich gebildeten  Personen.  Denn  nichts  begünstigt 
die  Entstehung  dieser  Erscheinungen  mehr  als  der  Mangel 
positiver  Kenntnisse,  an  deren  Stelle  irrtümliche  Vorstellungen 
und  Phantasiegebilde  treten. 

Den  negativen  Erfahrungen  und  sonstigen  intellektuellen 
Erscheinungen  stehen  die  positiven  Erfahrungen  gegenüber,  die 
als  Ursachen  der  Furcht  Vorstellungen  anzuschuldigen  sind.  Alle 
ungünstigen  und  widrigen  Einflüsse  und  Erlebnisse  sind  unter 
Umständen  geeignet,  die  Disposition  zur  Furcht  zu  erhöhen. 
Schreckhafte  Erlebnisse  und  überstandene  Gefahren,  schmerz- 
hafte und  gefährliche  Erkrankungen,  unglückliche  Lebens- 
schicksale u.  s.  f.  gehören  hierher.  Hall  erzählt  von  einem 
jungen  Mädchen,  das  ein  Telegramm  mit  der  Nachricht  des 
plötzlichen  Todes  ihres  Vaters  erhalten  hatte,  und  das  von  da 
an  bei  jedem  eintreffenden  Telegramme  von  heftigster  Furcht 
ergriffen  wurde.  Auch  die  bekannte  Redensart:  gebranntes 
Kind  scheut  das  Feuer,  ist  in  diesem  Zusammenhange  zu  ver- 
stehen. Aber  auch  Kinder,  die  in  ärmlichen  und  gedrückten 
Verhältnissen  aufwachsen  oder  einer  schlechten  Behandlung 
von  seiten  der  Eltern  oder  Erzieher  ausgesetzt  waren,  behalten 
nicht  selten  als  Folge  solcher  positiven  Erfahrungen  eine  ver- 
minderte seelische  Widerstandsfähigkeit.  Unter  Umständen 
wird  auch  die  Prügelstrafe  in  der  Schule  eine  solche  uner- 
wünschte Einschüchterung  und  Furchtsamkeit  der  Kinder  her- 
vorrufen. 

Viel  mehr  aber  als  die  wirklich  durchlebten  Erfahrungen 

und  Schrecknisse  tragen  die  durch  Erzählung  und  Lektüre 

übermittelten  zur  Entstehung  der  Furcht  bei.'   Mit  Recht  sagt 

Mosso:  „Wer  ein  Kind  erzieht,  trägt  die  Verantwortung  für 

dessen  Gehirn.    Alles,  was  er  ihm  Hässliches  sagen  wird,  die 

Bitterkeiten,  die  Schreckbilder  sind  ebenso  viele  Splitter,  die 

er  dem  Kinde  im  Fleische  zurücklässt  und  welche  demselben 

4- 


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Leo  Hit schlaff. 

als  lebenslängliche  Wunden  verbleiben."  Mutter,  Amme,  Magd 
und  Diener  sollten  deshalb  minder  wetteifern,  das  Gemüt  der 
heranwachsenden  Kinder  durch  den  beliebten  Wau-Wau,  den 
Werwolf,  Popanz,  Zauberer,  den  schwarzen  Mann,  durch  die 
Märchen  von  Hexen  und  bösen  Geistern  und  unzählige  andere 
Dinge  in  Schrecken  zu  versetzen.  In  seinem  vortrefflichen, 
ironischen  Krebs-Büchlein  empfiehlt  deshalb  Salzmann  als 
promptes  Mittel,  Kindern  Furchtsamkeit  und  Abscheu  anzuer- 
ziehen :  „Suche  dein  Kind  zu  bereden,  dass  die  harmlosen  Tiere 
giftig  wären.  Erzähle  deinen  Kindern  recht  viel  von  Gespen- 
stern. Stelle  dich  selbst,  sobald  ein  Gewitter  aufsteigt,  fein 
ängstlich  an,  so  werden  sich  deine  Kinder  bald  nach  dir  selbst 
bilden.  Beschreibe  ihnen  den  Tod  als  das  schrecklichste  der 
Uebel."  Auch  Niemeyer  macht  die  verkehrte  Erziehung  ver- 
antwortlich als  Hauptursache  für  die  Entstehung  der  Furcht- 
samkeit der  Kinder:  „Unzählige  Kinder  werden  furchtsam  ge- 
macht und  verschüchtert.  Die  unschädlichsten  Dinge,  z.  B. 
Dunkelheit,  Alleinsein,  Frösche,  Spinnen,  Insekten,  Leichname, 
Skelette  werden  ihnen  als  gefährlich,  mithin  als  furchtbar  vor- 
gestellt; Dinge,  die  schädlich  werden  können,  lehrt  man  sie 
bloss  fürchten,  statt  ihnen  Mittel  dagegen  zu  geben.  Selbst 
vor  Menschen  lehrt  man  sie  sich  scheuen,  bringt  sie  beiseite, 

jagt  sie  fort,  wenn  Fremde  kommen  und  schilt  dann, 

wenn  sie  menschenscheu  und  blöde  sind !  Das  Zufürchtemachen 
wird  wohl  gar  als  Erziehungsmittel  gebraucht!"  Dass  dieser 
Furchtfetischismus,  d.  h.  die  Gewohnheit,  die  Phantasie  der 
Kinder  durch  Ammenmärchen,  schreckhafte  Erzählungen  (z.  B. 
von  Hölle  und  Teufel)  und  verkehrte  Lektüre  (Hintertreppen- 
und  Schauerromane)  mit  Furchtvorstellungen  anzufüllen,  eine 
der  wichtigsten  Ursachen  der  Furcht  ist,  geht  auch  aus  der 
oben  gegebenen  Tabelle  Scott's  über  die  Entstehung  der  Todes- 
furcht hervor,  in  der  als  erste  Rubrik  in  i4pCt.  der  Fälle  ge- 
hörte Erzählungen,  Zeitungen,  Bibel  etc.  aufgeführt  werden. 

In  Zusammenhang  mit  dieser  Thatsache  muss  der  An- 
steckung der  Furcht  gedacht  werden.  Binet  zählt  dieselbe  zu 
den  wesentlichsten  Entstehungsbedingungen  der  Furchtzu- 
stände. Sowohl  während  der  Gefahr  durch  Gesten,  Ausdrucks- 
bewegungen etc.,  aber  auch  indirekt  durch  furchterzeugende 
Schilderungen  kann  die   Furcht  angesteckt  und  verbreitet 


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lieber  die  Furcht  der  Kinder. 


I49 


werden.  E  i  n  Feigling  auf  dem  Schlachtfelde  kann  die  Nieder- 
lage und  Flucht  eines  ganzen  Heeres  verschulden.  In  einer 
Schweizer  Schule  ereignete  sich  vor  wenigen  Jahren  eine  förm- 
liche Furchtepidemie.  Ein  Kind,  das  an  Krämpfen  litt,  wurde 
mitten  im  Schulunterricht  von  einem  Krampfanfall  ergriffen :  in 
der  Folge  traten  bei  allen  Kindern  der  Klasse  ähnliche  Krampf- 
erscheinungen auf,  offenbar  durch  Schreck  und  physische  An- 
steckung verursacht.  Auch  in  der  häuslichen  Erziehung  der 
Kinder  erweist  sich  dieses  Moment  recht  häufig  von  grosser 
Bedeutung.  Furchtsame  Eltern  haben  furchtsame  Kinder,  nicht 
weil  ihre  Furcht  sich  vererbt,  sondern  weil  ihr  schlechtes  Bei 
spiel  zur  Nachahmung  und  Ansteckung  Veranlassung  giebt. 

Unter  den  seelischen  Entstehungsbedingungen  der  Furcht 
müssen  schliesslich  auch  diejenigen  erwähnt  werden,  die  auf 
dem  Gebiete  der  Urteilskraft  und  des  Charakters  liegen. 

Eine  Furcht  kann  der  Grösse  der  vorliegenden  Gefahr  nur 
dann  angemessen  sein,  wenn  der  sich  Fürchtende  ein  richtiges 
Urteil  über  die  Gefahr  und  über  die  Wahrscheinlichkeit  ihres 
Eintretens  besitzt;  wobei  ein  aktuelles  und  ein  potentielles  Urteil 
unterschieden  werden  mögen,  je  nachdem  das  Urteil  nur  im 
Momente  der  Gefahr  oder  dauernd  fehlt.  Im  ersteren  Falle 
haben  wir  es  mit  einem  Mangel  an  Geistesgegenwart  oder  Be- 
sonnenheit zu  thun,  der  durch  irgend  eine  der  vorher  geschil- 
derten Faktoren  bedingt  sein  kann.  Interessanter  und  wichtiger 
ist  der  zweite  Fall  der  länger  andauernden  Urteilsbehinderung 
gegenüber  einer  bestimmten  Gefahr.  Wenn  wir  fanden,  dass 
die  Unfähigkeit,  die  Sinneseindrücke  präzise  aufzufassen,  als 
eine  Entstehungsursache  der  Furcht  anzusehen  sei,  so  muss 
hier  darauf  hingewiesen  werden,  dass  eine  solche  Unfähigkeit 
nicht  nur  auf  dem  Gebiete  der  Perzeption  und  Apperzeption, 
sondern  auch  auf  dem  Gebiete  der  Urteilsbildung  gelegen  sein 
kann.  Denn  zur  Wahrnehmung  eines  drohenden  Uebels  oder 
einer  Gefahr  gehört  allemal  ein  wenn  auch  noch  so  elementares 
Urteil  darüber,  dass  die  betreffende  Erscheinung  für  uns  eine 
übelbedeutende  oder  gefährliche  sein  werde,  sowie  dass  ihr 
Eintreten  wahrscheinlich  oder  bevorstehend  sei.  Wer  nicht 
imstande  ist,  ein  solches  Urteil  schnell  und  richtig  zu  voll- 
ziehen, wird  infolge  der  Urteilstäuschungen  und  -Illusionen 
häufiger  der  Furcht  ausgesetzt  sein  als  derjenige,  dessen  Urteils- 


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Leo  Hirschlaff. 


bildung  sich  präzise  vollzieht.  Darum  spricht  Krafft-Ebing  mit 
Recht  von  den  Urteils-Delirien  der  kleinen  Kinder,  die  infolge 
Urteilstäuschung  einen  Schatten  für  ein  Gespenst  nehmen  und 
so  fort.  Wer  am  hellerlichten  Tage  auf  belebter  Strasse 
spazieren  geht  und  dabei  fürchtet,  von  einem  Räuber  oder 
Mörder  angefallen  zu  werden,  dem  fehlt  das  richtige  Urteil 
über  die  äusserst  geringe  Wahrscheinlichkeit  einer  solchen 
Eventualität.  Wer  da  fürchtet,  von  einem  Schritt  fahrenden 
Wagen,  den  er  von  weitem,  vielleicht  aus  einer  Entfernung 
von  1 500  Schritten  herannahen  sieht,  überfahren  zu  werden, 
der  vermag  die  Grösse  der  ihm  drohenden  Gefahr  nicht  exakt 
zu  beurteilen.  Wer  bei  jeder  Eisenbahnfahrt  einen  Zusammen- 
stoss  fürchtet,  hat  keinen  Einblick  in  die  Unwahrscheinlichkeit 
einer  solchen  Vorstellung  und  ähnliches  mehr.  Von  sehr  grosser 
Bedeutung  in  dieser  Hinsicht  ist  auch  der  nicht  immer  genügend 
gewürdigte  Zusammenhang  zwischen  Sprache  und  Urteils- 
bildung. Einem  präzisen  Urteil  entspricht  eine  präzise  sprach- 
liche Bezeichnung;  eine  übertriebene  Benennung  hat  daher 
in  der  Regel  eine  verkehrte  Urteilsbeeinflussung  zur  Folge, 
selbst  da,  wo  sie  eine  solche  nicht  bereits  zur  Ursache  hatte. 
Wer,  wie  viele  junge  Mädchen,  aber  auch  Knaben  und  Er- 
wachsene, gewöhnt  ist,  jeden  Schmerz  als  rasend,  jede  Angst, 
die  er  empfindet,  als  wahnsinnig,  jede  unangenehme  Sinnes- 
empfindung als  abscheulich  und  ekelhaft  zu  bezeichnen,  der 
wird  gegenüber  diesen  selbstgeschaffenen  Superlativen  leicht 
das  objektive  Urteil  einbüssen  und  zu  übertriebenen  Furchtvor- 
stellungen und  Furchthandlungen  gelangen.  Es  ist  mir  mehr 
als  einmal  gelungen,  einem  Neurastheniker  z.  B.  mit  Erfolg 
nachzuweisen,  dass  er  nicht,  wie  er  ursprünglich  behauptete, 
wahnsinnige  Kopfschmerzen  habe,  die  ihn  am  Arbeiten  hin- 
derten, sondern  dass  er,  am  gewöhnlichen  Sprachgebrauche 
gemessen,  lediglich  eine  unangenehme  Empfindung  von  Druck 
und  Benommenheit  im  Kopfe  hätte,  die  das  Arbeiten  freilich 
weniger  angenehm,  aber  bei  weitem  nicht  zur  Unmöglichkeit 
machte.  Wie  leicht  lässt  man  den  Mut  sinken,  nachdem  man 
eine  unangenehme  Erscheinung  durch  eine  übertriebene  sprach- 
liche Bezeichnung  mit  dem  kleidsamen  Gewände  einer  höchst 
möglichen  Intensität  ausstaffiert  hat ! 

Die  Fehlerhaftigkeit  der  Urteilsbildung  kann  sich  aber  noch 


Ut-ber  du  furcht  Jtr  Kinder. 


in  anderer  Weise  äussern,  und  zwar  in  dem  unzureichenden 
Urteil  über  sich  selbst  und  seine  eigene  Bedeutung.  Soweit 
dabei  die  Selbstverkleinerung  und  die  dadurch  bedingte  Zagheit 
des  Charakters  in  Frage  kommt,  wollen  wir  die  Erörterung 
bis  auf  später  verschieben.  Hier  möge  nur  die  übertriebene 
Selbstbeurteilung,  die  Selbstvergrösserung,  besprochen  werden, 
die  z.  B.  auf  dem  Gebiete  der  Schüchternheit  und  Errötungs« 
furcht  eine  recht  grosse  Rolle  spielt.  Wie  Balduin  und  Moses 
hervorgehoben  haben,  ist  dem  Schüchternen  durchaus  nicht 
immer  ein  minderwertiges  Denken  von  sich  selbst,  seiner 
eigenen  Person  eigen,  sondern  die  Schüchternheit  kann  nicht 
selten  der  Ausdruck  einer  sich  in  den  Vordergrund  drängenden 
Vorstellungsreihe  von  der  erhöhten  Bedeutung  der  eigenen 
Person  sein.  „Der  Schüchterne  bringt  in  seinen  Vorstellungen 
seine  Person  in  den  Vordergrund,  wo  sie  garnicht  oder  kaum 
in  Betracht  kommt.  Dem  Schüchternen  wohnt  ein  Stück  Selbst» 
gefälligkeit  inne,  wenn  er  seine  Person  für  wunder  wie  wichtig 
für  die  Beobachtenden  hält.  Und  diese  Selbstgefälligkeit  wird 
bei  aufmerksamer  Beobachtung  am  wenigsten  dort  vermisst 
werden,  wo  die  Schüchternheit  am  grössten  ist."  Achnlich  bei 
der  Errötungsfurcht,  bei  der  die  Beobachtung,  die  die  eigene 
Person  von  Seiten  der  Umgebung  findet,  von  den  Kranken 
gewöhnlich  überschätzt  wird. 

Schliesslich  sind  es  gewisse  Charaktereigenschaften,  die  zur 
Entstehung  der  Furcht  disponieren.  Ein  ausgebildetes  Kraft- 
bewusstsein,  das  lebendige  Gefühl  der  eigenen  körperlichen  und 
seelischen  Widerstandfähigkeit  ist  sicherlich  das  beste  Schutz- 
mittel gegen  übertriebene  Befürchtungen.  Wo  es  fehlt,  da  ist 
der  fruchtbarste  Boden  für  die  Furcht  bereitet.  Verunstaltende 
Merkmale  und  Gebrechen,  hässliches  Aussehen,  geringe  körper- 
liche und  geistige  Leistungsfähigkeit,  lasterhafte  Neigungen,  wie 
die  Onychophagie  und  die  Masturbation  verringern  das  Selbst- 
vertrauen der  Kinder  und  erhöhen  daher  ihre  Neigung  zur 
Aengstlichkeit.  Ebenso  macht  eine  übertrieben  strenge,  lieb- 
lose oder  harte  Behandlung  nicht  selten  die  Kinder  feige,  mut- 
los und  unentschlossen.  Auch  anhaltendes  Unglück,  widrige 
Schicksalsschläge  und  dergl.  vermindern  das  Selbstvertrauen. 
Temperament  und  Weltanschauung  endlich  tragen  das  ihrige 
dazu  bei.   Der  Melancholische,  ebenso  wie  der  Pessimist  unter- 


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Leo  Hirschla  t  t  '. 


liegt  den  Befürchtungen  eher  als  der  Sanguiniker  und  der 
Optimist. 

Aus  dem  Studium  der  Entstehungsbedingungen  der  Furcht 
ergeben  sich  leicht  die  Vorschläge,  die  zur  Verhütung  und 
Heilung  der  Furchtzustände  gegeben  werden  können.  Es  ist 
daher  überflüssig,  hierauf  im  einzelnen  einzugehen ;  sonst  müss- 
ten  beinahe  alle  Forderungen  einer  natur-  und  vernunftgemässen 
Erziehung  an  dieser  Stelle  herangezogen  werden.  Es  dürfte 
genügen,  die  Hauptgesichtspunkte  noch  einmal  in  Erinnerung 
zu  bringen.  Zur  Verhütung  und  Heilung  der  Furcht  ist  er- 
forderlich: i.  eine  weitgehende  körperliche  Pflege  und  Er- 
ziehung, die  alle  Schädigungen  des  Körpers  vermeidet  und  die 
Ausbildung  der  körperlichen  Kraft  und  Gewandtheit  fördert; 
2.  eine  gediegene  geistige  Bildung  und  Erziehung,  die  die 
Beobachtungsgabe  der  Kinder  schärft  und  ihnen  besonders  auf 
naturwissenschaftlichem  Gebiete  diejenigen  Kenntnisse  ver- 
mittelt, die  der  Entstehung  des  Aberglaubens  etc.  entgegen 
zu  wirken  geeignet  sind;  3.  die  Vermeidung  aller  derjenigen 
Umstände,  die  furchterzeugend  wirken  können,  als  da  sind: 
das  eigene  schlechte  Beispiel  der  Furchtsamkeit,  schreckhafte 
Erzählungen  und  Drohungen,  überstrenge  Behandlung  und 
Prügelstrafe,  endlich  die  Ueberhitzung  der  kindlichen  Phantasie 
durch  unzweckmässige  Lektüre,  Theater-Aufführungen  u.  s.  f.; 
4.  die  Pflege  der  exakten  Urteilsbildung  und  der  Präzision 
des  sprachlichen  Ausdruckes ;  5.  die  Pflege  des  Selbstvertrauens, 
eventl.  durch  progressive  Gewöhnung  an  mutiges  Handeln  durch 
Spiele,  Turnen  und  sportliche  Uebungen,  sowie  durch  geeignete 
Belehrung  und  Lektüre.  Von  besonderer  Wichtigkeit  sind  die 
beiden  letzten  Punkte.  Zumal  die  Urteilsbildung,  die  scharfe 
Kritik,  die  sich  auf  die  Aussendinge,  aber  auch  auf  sich  selbst 
erstrecken  soll,  ist  ein  Gegehstand,  auf  den  m.  E.  heutzutage 
noch  zu  wenig  Gewicht  gelegt  wird.  Wenigstens  habe  ich 
gerade  diesen  Faktor  wirksam  gefunden,  wenn  es  galt  Furcht- 
zustände der  Kinder  oder  der  Erwachsenen  psychotherapeutisch 
zu  beeinflussen.  Die  Erziehung  zur  exakten  Urteilsbildung  sollte 
daher  auch  schon  in  der  Schule  ein  erstrebenswertes  Ziel  sein, 
zumal  sie  sich  durch  leichtfassliche  logische  und  psychologische 
Belehrungen,  die  an  passender  Stelle  dem  Unterrichte  eingefügt 
werden  könnten,  relativ  leicht  erzielen  lässt.  Auch  die  Selbst- 


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Ueber  die  Furcht  der  Kinder. 


153 


erkenntnis,  die  den  früheren  Philosophen  als  Ideal  der  mensch- 
lichen Weisheit  erschien,  ist  mit  Unrecht  von  der  Tagesordnung 
der  Erziehungs-Aufgaben  zurückgetreten.  Diese  intellektuali- 
stische  Auffassung,  die  heute  vielen  befremdlich  erscheinen 
mag,  ist  doch  auch  früher  schon  bei  der  Bekämpfung 
der  Affekte  vertreten  worden.  So  schreibt  Descartes  in 
seinen  „Passions  de  Tarne":  „Pour  exciter  en  soi  la 
hardiesse  et  öter  la  peur,  il  ne  suffit  pas  d'en  avoir  la  volonte, 
mais  il  faut  s'appliquer  ä  consideVer  les  raisons,  les  objets  ou 
les  exemples  qui  persuadent  que  le  p£ril  n'est  pas  grand ;  qu'il 
y  a  toujours  plus  de  sürete"  en  la  defense  qu'en  la  fuite;  qu'on 
aura  de  la  gloire  et  de  la  joie  d'avoir  vaincu,  au  lieu  qu'on 
ne  peut  attendre  que  du  regret  et  de  la  honte  d'avoir  fui,  et 
choses  semblables."  Und  noch  deutlicher  drückt  sich  Feuchters- 
ieben in  seiner  Diätetik  der  Seele  aus,  indem  er  sagt:  „Es 
giebt  kein  wirksameres  und  herrlicheres  Mittel,  die  Affekte 
zu  zähmen,  als:  ihr  Verständnis.  Wenigstens  lässt  sich  inner- 
halb der  Grenzen  unserer  Macht  kein  anderes  erdenken:  denn 
darin  einzig  besteht  die  Macht  unseres  Geistes:  klare  Ideen 
zu  bilden." 

Ich  möchte  meine  Ausführungen  nicht  schliessen,  ohne 
noch  einmal  auf  die  pädagogische,  ethische  und  soziale  Be- 
deutung der  normalen  Furcht  hinzuweisen,  nachdem  wir  die 
krankhaften  Befürchtungen  und  ihre  Bekämpfung  in  so  aus- 
führlicher Weise  abgehandelt  haben.  Denn  im  allgemeinen 
betrachtet,  sagt  v.  Lenhossek  mit  Recht,  gehört  die  Furcht 
durchaus  zu  den  notwendigen  und  nützlichen  Regungen  des 
Gemüts;  erst  sofern  sie  in  Affekt  oder  Leidenschaft  ausartet, 
führt  sie  zu  höchst  nachteiligen  Verhältnissen  der  gemütlichen 
Sphäre  des  Menschen.  „Wenn  die  Hoffnung  ein  unentbehr- 
liches Element  des  Lebens  ist,  so  muss  es  die  Furcht,  als  der 
entgegengesetzte  Pol  des  Gemütlichen,  nicht  minder  sein ;  denn 
alle  Kräfte  der  moralischen  und  physischen  Welt  wirken  durch 
Opposition :  der  Schmerz  giebt  dem  Vergnügen,  die  Traurigkeit 
der  Freude  und  die  Furcht  der  Hoffnung  ihr  Dasein.  Furcht 
und  Hoffnung  sind  die  zwei  vorzüglichsten  moralischen  Trieb- 
federn des  Menschen;  ohne  diese  könnte  er  seine  psychische 
und  sittliche  Vollkommenheit  nie  erreichen  und  erhalten;  und 
ohne  Vorhersehung  künftiger  Uebel,  ohne  Furcht  vor  drohenden 


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154 


Leo  HirSchlafi. 


Schmerzen,  könnte  er  selbst  seine  physische  Existenz  nicht  be- 
haupten." In  dem  gleichen  Sinne  bemerkt  auch  Hall:  ,, Furcht 
ist  jeder  tierischen  und  menschlichen  Seele  wesentlich.  Es 
giebt  nichts  allgemeineres.  Es  giebt  niemanden  ohne  Furcht, 
auch  nicht  diejenigen,  die  emphatisch  alle  Furcht  von  sich 
weisen  und  die  Psychologen,  die  den  Prozentsatz  der  sich 
Fürchtenden  registrieren  und  dabei  nur  denken  an  den  Choc 
oder  die  akute,  panische  Furcht  oder  spezielle  physische  Angst- 
zustände etc.,  aber  nicht  an  die  feineren  Formen,  wie  die  Furcht 
vor  Gott,  vor  Schande,  vor  Misserfolg  in  den  höchsten  Zielen, 
für  sich  oder  andere."  —  „Nicht  nur  fürchtet  sich  jedermann, 
sondern  jedermann  muss  sich  fürchten.  Das  pädagogische 
Problem  ist  nicht  die  Furcht  zu  eliminieren,  sondern  sie  den 
wirklichen  Verhältnissen  anzupassen.  Bald  muss  die  Furcht 
reduziert  und  gemässigt  werden,  bald  muss  sie  verfeinert  und 
und  veredelt  werden.  Ohne  den  Furcht-Apparat  in  uns,  was 
für  ein  Reichtum  von  Motiven  würde  verloren  sein  1"  In  diesem 
Sinne  sind  die  feineren  und  edleren  Formen  der  Furcht  auch  als 
Erziehungsmittel  anzuwenden,  ebenso  wie  sie  unser  sittliches 
und  soziales  Verhalten  bestimmend  beeinflussen  und,  entgegen 
Nietzsche,  immerdar  beeinflussen  sollen.  Aristoteles  sagt:  „man 
lerne  in  angemessenem  Verhältnis  die  Dinge  fürchten,  die  wert 
sind,  gefürchtet  zu  werden."  Mit  anderen  Worten:  man  schaffe 
den  Menschen  eine  klare  Einsicht  in  die  Rangordnung  der 
Güter  und  Uebel  des  Lebens;  dann  werden  die  roheren  und 
krankhaften  Formen  der  Furcht  verschwinden  und  den  edleren 
und  berechtigten  Arten  der  Furcht  wird  das  Feld  geebnet  sein. 


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Ueber  die  Furcht  der  Kinder. 


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'56 


Leo  Hirschlaff. 


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Stumpf,  C:    Ueber  den  Begriff  der  Gemütsbewegung.    Ztachr.  für 

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Sitzungsberichte 


Verein  für  Kinderpsychologie  zu  Berlin. 

Sitzung  vom  3.  Janaar  1902. 
Beginn  81/«  Uhr. 

Vorsitzender :  Herr  Stampf. 
Schriftführer:  Herr  Hirschlaff. 

Der  Vorsitzende  eröffnete  die  Sitzung  mit  einem  herzlichen  Nachruf 
für  den  am  ersten  Weihnachtstage  verstorbenen  Professor  Pappenheim, 
der  unsren  Verein  mit  begründete  und  sich  seit  vielen  Jahren  um  die  Sache 
der  Kinder  durch  sein  Eintreten  für  die  Fröbel'schen  Kindergarten  verdient 
gemacht  hat.   Sodann  hält  Herr  Körte  den  angekündigten  Vortrag: 

„Gedanken  und  Erfahrungen  über  musikalische  Erziehung". 

Der  Vortrag  ist  bereits  unter  den  Originalbeiträgen  dieser  Zeitschrift 
zum  Abdruck  gelangt. 

Diskussion: 

Herr  Stumpf  dankt  dem  Vortragenden  für  seine  gedankenvollen  und 
erfahrungsreichen  Darlegungen.  Angesichts  solcher  Studien  muss  man  dem 
Redner  Glück  wünschen  zu  dem  reichen  Materiale,  das  er  in  seiner  eigenen 
Familie  vorfand.  Aber  auch  der  Familie  gebührt  ein  Glückwunsch,  dass 
ßie  für  ihre  Anlagen  und  Befähigungen  einen  so  geschickten  und  verständnis- 
vollen Förderer  gefunden.  Ich  selbst  muss  mir  eigentlich  in  dieser  Be- 
ziehung Vorwürfe  machen.  Ich  habe  allerdings  auch  weniger  Material  zu 
meiner  Verfügung;  aber  ich  habe  mich  immer  mehr  für  die  Unmusikalischen 
als  für  die  Musikalischen  interessiert,  weil  mir  die  Unmusikalischen  merk- 
würdiger waren.  Was  die  Anlagen  betrifft,  eine  noch  nicht  gelöste  Frage, 
60  muss  man  eine  aktive  und  eine  passive  Anlage  unterscheiden.  Man  kann 
wohl  imstande  sein,  Töne  zu  empfinden,  aber  noch  nicht,  sie  richtig  in 
Bewegung  umzusetzen.  Bei  zweien  meiner  Kinder  habe  ich  ein  recht  gutes 
Tongedächtnis  beobachten  können,  aber  keine  Anlagen  zu  musikalischer 
Ausführung.  Leider  habe  ich  allerdings  auf  das  Singen  zu  wenig  Gewicht 
gelegt,  obwohl  ich  anerkenne,  dass  dies  eigentlich  geschehen  müsste,  wie 
der  Herr  Vortragende  mit  Recht  hervorgehoben  hat.  Auch  bei  den  Un- 
musikalischen kann  man  jedenfalls  auf  die  Gehörserziehung  viel  Wert  legen 
und  grossen  Erfolg  darin  erzielen.  Auch  die  begriffliche  Erziehung  des 
Tonverständnisses,  von  der  der  Herr  Vortragende  gesprochen  hat,  scheint 
mir  sehr  wichtig,  zumal  ja  die  Verhältnisse  ausserordentlich  leicht  zu 
lehren  sind. 

Herr  Fiat  au:  Wenn  es  richtig  ist,  womit  der  Herr  Vortragende 
schloes,  dass  das  Gebiet  der  musikalischen  Erziehung  ein  Gebiet  ist,  von 


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Sitzungsberichte. 


wo  aus  Wege  nach  allen  Ländern  der  Erziehung  führen,  so  wird  es  Ihnen 
verzeihlich  erscheinen,  wenn  ich  auf  meinem  Wege  des  Arztes  und  Summ- 
physiologen durch  ein  Dezennium  spezieller  Arbeit  in  dieses  Gebiet  hinein- 
gekommen bin.  Ich  bin  zum  Teil  zu  ganz  ähnlichen  Ergebnissen  gelangt 
wie  der  Herr  Vortragende,  wenigstens  in  den  Hauptpunkten.  Ich  mochte 
nur  einiges  Abweichende  hervorheben.  Der  Herr  Vortragende  wünscht 
ausgesprochenermassen  die  Pflege  des  Gesanges  zu  steigern.  Das  könnte 
Wunder  nehmen,  wenn  man  bedenkt,  dass  im  Gegenteil  gerade  die  In- 
strumentalmusik in  den  letzten  Jahren  und  Jahrzehnten  besondere  Pflegt; 
und  Ausdehnung  erfahren  hat.  Die  Gründe  für  diese  Erscheinung  zu  finden 
ist  schwer;  über  ihre  Berechtigung  wird  man  nur  urteilen  können,  wenn 
man  sich  erinnert,  dass  sich  in  den  letzten  Jahren  unserer  Erkenntnis  ein 
ganz  neues  Gebiet  erschlossen  hat,  die  Lehre  von  den  Stimm  Störungen  der 
Sünger  als  solcher.  Ein  ganzes  pathologisch  -  anatomisches  Museum  von 
solchen  Störungen  lasst  sich  sogar  heutigen  Tages  bereits  aufstellen,  sodass 
es  im  gegebenen  Falle  nicht  immer  leicht  ist,  zu  sagen,  woher  das  Schrei- 
singen stammt.  Dazu  ist  es  nötig,  die  Gesetze  der  Tonführung  zu  be- 
herrschen und  vor  allen  Dingen  einen  Ueberblick  über  die  ungeheure 
Litteratur  zu  besitzen,  die  Uber  diesen  Gegenstand  sich  angesammelt  hat. 
Ist  doch  unsere  Physiologie  der  Stimme  bereits  so  weit,  dass  wir  allgemein 
geltende  Gesetze  der  Stimme  aufstellen  können,  oder  wenigstens  in  pro- 
phylaktischem Sinne  hierzu  Stellung  nehmen  können.  Von  welcher  her- 
vorragenden praktischen  Bedeutung  diese  Thatsache  ist,  dürfte  leicht  er- 
sichtlich sein.  In  diesem  Zusammenhange  möchte  ich  an  die  ministerielle 
Verordnung  erinnern,  dass  die  Hypertrophie  der  künstlerischen  Ausbildung 
nicht  gefordert  werden  solle,  dass  vielmehr  das  Chorsingen  im  allgemeinen 
in  der  Schule  zu  bevorzugen  sei.  Nun  bilden  sich  aber  gerade  beim  Chor- 
singen in  einer  erschreckend  grossen  Zahl  von  Fällen  Störungen  heraus,  die 
bis  zum  Verlust  der  Stimme  gehen.  Neben  der  Ungenauigkeit  und  der 
Gene  ist  zum  Verständnis  dieser  Störungen  auf  eine  allgemeine  Bewegung» 
hemmung  aufmerksam  zu  machen.  Wir  müssen  deshalb  die  Pädagogen  von 
der  Schuld  an  diesen  Störungen  entlasten  und  vielmehr  eine  rein  physio- 
logische Ursache  znr  Erklärung  heranziehen.  Es  ist  das  freilich  nicht  leicht 
auseinander  zu  setzen:  ich  will  versuchen,  meine  Anschauungen  wenigstens 
andeutungsweise  zu  erläutern.  Unsere  Stimmorgane  üben  die  Funktion  des 
Gesanges  nur  zum  Luxus  aus.  Nun  lässt  es  sloh  aber  zeigen,  dass  eine 
Beihe  von  Bewegungen  existieren,  die  sehr  natürlich  sind  und  trotzdem 
den  Gesetzen  der  Tonführung  genau  entgegengesetzt  verlaufen.  Diese 
retrograden  Bewegungen  der  Stimmorgane  rinden  sich  besonders  bei  primi- 
tiven Reflexen  und  Affektzustanden.  Verfolgt  man  diesen  Gegensatz  in  die 
genaueren  Details,  bo  thut  sich  eine  ganz  neue  Welt  der  praktischen  und 
theoretischen  Phonetik  vor  unseren  Augen  auf.  Die  preussische  Unter- 
richwverwaltung  hat,  wie  mir  bekannt  ist,  deshalb  bereits  die  ersten  Schritte 
in  dieser  Beziehung  gethan,  indem  sie  Einrichtungen  geschaffen  hat,  die 
Lehrer  über  diese  Verhältnisse  zu  belehren.  Es  besteht  also  die  berechtigte 
Hoffnung,  dass  wir  dadurch  auf  diesem  Gebiete  an  Einsicht  und  Erfolgen 
weiter  kommen.    Aus  einer  solchen  Methodik  wird  sich  ergeben,  wie  man 


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Sitzungsberichte. 


vom  leichteren  zum  schwereren  vorgeht  and  wie  man  diese  Missstände  ver- 
meidet, die  in  der  Schule  vorkommen.  Es  giebt  jedenfalls  heutzutage  eine 
grosse  Anzahl  von  Lehrern,  die  selbst  nicht  richtig  sprechen  können  und 
die  infolgedessen  auch  in  der  Stimmerziehung  nichts  ausrichten  können. 
Die  Verurteilung  der  instrumentalen  gegenüber  der  vokalen  Musik  möchte 
ich  nicht  jzanz  zugeben.  Mindestens  ist  ein  Unterschied  zu  machen  zwischen 
den  Instrumenten,  bei  denen  der  Ton  vorgebildet  ist  und  solchen,  bei  denen 
er  durch  eigene  Mitwirkung  des  Ausführenden  zustande  kommt. 

Herr  Marbitz:  Ich  habe  Gelegenheit  gehabt,  in  der  Schule  einige 
Beobachtungen  an  schwach  musikalischen  Kindern  zu  machen.  Ich  fand 
auf  der  Unterstufe  21%  gute,  37%  ziemlich  gute,  42%  ganz  schlechte 
Singer;  in  der  Mittelklasse  (IVO)  dagegen  36  %  gute,  42%  ziemlich  gute 
und  nur  22%  schwache  Sänger.  In  der  Oberstufe  endlich  bildeten  die 
guten  Sänger  die  Hälfte  der  Klasse.  Bei  den  schwachen  Sängern  lassen 
sich  manche  Erfahrungen  sammeln.  Z.  B.  findet  man,  dass  die  nachge- 
sungenen Töne  stets  in  einem  harmonischen  Verhältnisse  zu  den  vor- 
gesungenen oder  vorgespielten  Tönen  stehen.  Vielfach  igt  es  die  Zag- 
haftigkeit, die  die  Kinder  verhindert  den  richtigen  Ton  zu  erzeugen.  Aber 
auch  ein  anderer  Grund  kommt  in  Betracht.  Denn  gerade  die  geistig  Rück- 
ständigen und  kränklichen  Kinder  gehören  zu  den  schlechten  Sängern. 
Jedenfalls  muss  bei  solchen  Kindern,  die  noch  keine  musikalische  Bildung 
genossen  haben,  mit  den  einfachsten  Dingen  angefangen  werden,  z.  B.  mit 
dem  Nachsingen  eines  Tones  oder  eines  Intervalle«  oder  dergleichen,  aber 
nicht  gleich  mit  ganzen  Melodien  und  Liedern;  denn  diese  Thätigkeit  ist 
zu  kompliziert.  Auch  mit  kleinen  harmonischen  Uebungen  habe  ich  den 
Versuch  gemacht,  und  ich  glaube,  es  ist  mir  durch  einige  besondere  Mass- 
nahmen gelungen,  damit  weiter  zu  kommen.  Wenigstens  habe  ich  fast  gar* 
keinen  Brummer  mehr  unter  meinen  Schülern. 

Herr  Stumpf:  Ich  möchte  Herrn  Flatau  auf  seine  letzte  Bemerkung 
erwidern,  dass  ich  die  Instrumente,  die  den  Ton  selbst  bilden,  nicht  zurück- 
stellen möchte  hinter  den  anderen,  bei  denen  der  Ton  von  dem  Spielenden 
erzeugt  wird.  Ich  würde  sogar  geneigt  sein,  das  Klavier  in  Bezug  auf  die 
musikalische  Erziehung  vorzuziehen.  Denn  das  wichtigste  ist  die  Ein- 
fuhrung in  die  Harmonie  der  Tonwelt,  zu  der  das  Klavier  immer  noch  am 
geeignetsten  erscheint. 

Herr  Flatau:  Ich  würde  Herrn  Marbitz  sehr  dankbar  sein  für  die 
Angabe,  worauf  sein  Kunstgriff  beruht,  durch  den  er  so  schöne  Erfolge  bei 
den  harmonischen  Uebungen  seiner  Schüler  erzielt. 

Herr  Marbitz:  Auf  der  Dreiklangs-Methode  mit  untergelegtem  Text. 

Herr  Flatau:  Zur  Erwiderung  auf  die  Bemerkung  des  Herrn  Stumpf 
möchte  ich  meinen,  dass  die  Frage,  ob  Klavier  oder  Saiteninstrument  für 
die  musikalische  Erziehung  vorzuziehen  sei,  doch  nicht  so  einseitig  ent- 
schieden werden  kann,  da  beide  ihre  Vorzüge  haben.  Bei  der  vokalen  Aus- 
bildung könnte  man  auch  die  begriffliche  Ausbildung  der  Musik  fördern. 
Ich  selbst  habe  wenigstens  an  mir  selbst  solche  Erfahrungen  gemacht. 

Herr  Fischer:  Ich  wollte  zu  den  Versuchen,  über  die  Herr  Marbit 


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Sitzungsberichte. 


berichtet  bat,  eine  kurze  persönliche  Anmerkung  machen.  Mein  Vater,  ein 
Arzt,  sehr  musikalisch,  Sohn  eines  Berliner  Musikers,  der  den  Knabengesang 
an  den  Berliner  Schulen  mit  begründet  hat,  hat  sich  viele  Mühe  gegeben, 
die  gesangliche  Ausbildung  seiner  Kinder  zu  fördern.  Freilich  war  ich 
selbst  leider  ein  unglückseliges  Objekt  für  solche  Bemühungen.  Aber  ich 
kann  nur  konstatieren,  dass  die  Ausbildung  bei  mir  nur  auf  dem  Wege  der 
begrifflichen  Erziehung  gelungen  ist,  wobei  allerdings  keine  Texte  zugrunde 
gelegt  wurden,  sondern  von  Tönen  und  Intervallen  ausgegangen  wurde. 
Ich  halte  deshalb  gerade  diese  Dreiklangsübungen  für  sehr  geeignet. 

Frl.  Droescher:  Ich  möchte  dem  Herrn  Vortragenden  meinen  Dank 
aussprechen  als  Vertreterin  der  Fröbel'schen  Erziehungsvereine.  Die  Er- 
fahrungen des  Herrn  Vortragenden  bestätigen  unsere  Erziehungsmethoden 
in  der  trefflichsten  Weise.  Gerade  im  Kindergarten  spielt  ja  die  Musik  eine 
hervorragende  Holle.  Nur  möchte  ich  darauf  hinweisen,  dass  anstatt  des 
Tanzes,  den  der  Herr  Redner  empfahl,  das  Fröbel'sche  Bewegungsspiel 
sich  als  noch  nützlicher  und  wirksamer  erweisen  möchte. 

Herr  Körte:  Der  letzten  Bemerkung  der  verehrten  Vorrednerin 
stimme  ich  durchaus  bei.  Ich  danke  allen  Rednern  der  Diskussion  für 
das  rege  Interesse,  das  sie  meinen  Ausführungen  bezeugt  haben. 

Scbluss  der  Sitzung  10  Uhr. 


Sitzung  vom  7.  Februar  1902. 
Beginn  8^  Uhr. 

Vorsitzender:  Herr  H  e  u  b  n  e  r. 
Schriftführer :  Herr  Hirschlaff. 

Herr  Liebmann  hält  den  angekündigten  Vortrag: 

„Die  sprachliche  Entwickelung  und  Behandlung  geistig  zurück- 
gebliebener Kinder". 

Der  Vortrag  findet  sich  unter  den  Originalien  dieser  Zeitschrift  ab- 
gedruckt. 

Diskussion: 

Herr  Heubner  dankt  dem  Vortragenden  für  seinen  interessanten 
und  lehrreichen  Vortrag.  Er  knüpft  daran  die  Frage,  wie  es  mit  der  Be- 
handlung jener  eigentümlichen  Fälle  stehe,  die  ihm  mehrfach  vorgekommen 
seien,  bei  denen  die  Kinder  wie  ein  Echo  alle  möglichen  Dinge  nach- 
sprechen, ohne  das  geringste  Verständnis  dafür  zu  haben. 

Herr  Liebmann:  Diese  Kinder,  deren  Störung  man  als  Echolalie 
bezeichnet,  haben  kein  Sprachverständnis,  sei  es  für  Worte,  sei  es  für  Sätze 
und  Zusammenhänge.  Meist  geschehen  diese  Wiederholungen  zudem  in 
agrammatischer  Form. 

Herr  Heubner:  Meine  Frage  bezog  sich  eigentlich  auf  noch  etwas 
andere  Fälle,  und  zwar  auf  Fälle  von  versatilen  Kindern,  die  ihre  Auf- 
merksamkeit auf  nichts  konzentrieren  können  und  keinen  Betriff  von  der 
Umgebung  haben,  trotzdem  aber  imstande  sind,  gewisse  Worte  nach- 
zusprechen.  Derartige  Fälle  hat  z.  B.  auch  Heller  in  Wien  beschrieben» 


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SittungsberichU. 


161 


Herr  Liebmann:  Aach  solch«  Fälle  lassen  sich  mit  Erfolg  behandeln, 
indem  man  den  Kindern  ein  gewisses  Sprach  Verständnis  dnrch  die  ge- 
schilderten Demonstrationen  beibringt. 

Herr  Kemsies:  Mir  sind  in  meiner  pädagogischen  Praxis  einige  Fälle 
vorgekommen,  wo  die  Sprachentwickelong  erst  sehr  spät  zustande  kam. 
z.  B.  im  sechsten,  siebenten  oder  achten  Jahre,  trotzdem  die  Intelligenz 
dieser  Kinder  gut  entwickelt  war.  Redner  zitiert  mehrere  Beispiele.  Alle 
diese  Kinder  waren  gnt  imstande,  sich  mit  abstrakten  Gegenständen  zu  be- 
schäftigen. Es  findet  sich  also  bei  ihnen  eine  hervorragende  Intelligenz 
zugleich  mit  einer  bedeutenden  Sprachhemmung. 

Herr  Liebmann:  In  solchen  Fällen  handelt  es  sich  mehr  am  eine 
Ungeschicklichkeit  der  Sprachmaskalatar  als  am  einen  Intelligenzdefekt. 
Die  geistigen  Defekte  sind  hier  nur  sekundär  und  verschwinden,  sobald  die 
Kinder  ordentlich  sprechen  lernen.  Wenn  Kinder  längere  Zeit  nicht 
sprechen,  holen  sie  allerdings  die  geistige  Entwickelang  schwer  oder  gar 
nicht  mehr  ein. 

Herr  Heubner:  Derartige  Kinder  sprechen  wahrscheinlich  innerlich. 
Man  kann  die  Eltern  solcher  Kinder  gewöhnlich  vertrösten  auf  eine  spätere 
ganz  normale  Entwickelung  der  Sprache  der  Kinder.  Die  Begriffe  sind 
hier  entwickelt;  nur  die  Assoziation  der  Klangbilder  mit  den  Bewegungs- 
bildern ist  gehemmt  oder  nicht  vorhanden. 

Schluss  der  Sitzung  9  Uhr  20  Minuten. 


Psychologische  Gesellschaft  zu  Berlin. 

Vortragsplan  für  das  Sommersemester  1902. 

8.  Mai.    Dr.  O.  Gramzow:  Der  K?mpf  um  die  Weltanschauung. 

22.  Mai.     Prof.    Dr.    M.    Dessoir:   Quantität    und  Intensität  im 

ästhetischen  Eindruck. 
5.  J  u  n  i.    D  r.  A.  M  o  1 1.   TJeber  ärztliche  Ethik. 

19.  J  u  n  i.    D  r.  0.  A  b  r  a  h  a  m  und  Dr.  E.  von  Hornbostel:  Ueber 

ostasiatische  Musik  (mit  phonographischen  Demonstrationen). 
10.  J  u  1  i.     Privatdozent   Dr.  F.    Schumann:    Demonstrationen  zur 
Raum  Wahrnehmung. 

Die  Sitzungen  der  Psychologischen  Gesellschaft  werden  gewöhnlich 
an  zwei  Donnerstagen  jedes  Monats  im  Hörsaal  des  Botanischen  Instituts, 
Dorotheenstrasse  5,  abgehalten  und  beginnen  um  7  Uhr.  Gastweise  Teil- 
nahme ist  zweimal  im  Jahre  gestattet. 

Die  Tagesordnung  wird  regelmässig  in  der  Vossischen  Zeitung,  in 
der  Pädagogischen  Zeitung,  in  den  „Berliner  Anzeigen"  des  Herrn  Grosser 
and  an  schwarzen  Brett  des  Psychologischen  Instituts  angezeigt.  Die 
einzelnen  Sitzungsberichte  werden  fortlaufend  in  der  Zeitschrift  für  päda- 
gogische Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene  abgedruckt  und  den  Mit- 
gliedern zur  Verfügung  gestellt.  Ausserdem  erhalten  die  Mitglieder  die 
„Schriften  der  Gesellschaft  für  psychologische  Forschung4'. 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  5 


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IÖ2  Sitzungsberichte. 

Alle  Anfragen  und  Mitteilungen  sind  zu  richten  an  den  derzeitigen 
Vorsitzenden,  Herrn  Dr.  Theodor  S.  Flatau,  Berlin  W.,  Potsdamer- 
strasse 113,  Villa  3.  Ueber  die  Bedingungen  der  Mitgliedschaft  erteilen  die 
Satzungen  Auskunft  (Semesterbeitrag  4  M.) 


Berichte  und  Besprechungen. 


L.William  Stern,  Privatdozent  der  Philosophie  an  der 
Universität  Breslau.  Zur  Psychologie  der  Aussage. 
ExperimentelleUntersuchungenüberErinnerungs- 
treue.  Mit  3  Bildern.  Berlin  1902.  J.  Guttentag,  Ver- 
lagsbuchhandlung, G.  m.  b.  H.  56  8. 

Die  vorliegende  Abhandlung  soll  einen  ersten  Beitrag  zur  Bearbeitung 
eines  Problems  der  angewandten  Psychologie  liefern.  Es  handelt  sich  um 
das  psychologische  Phänomen  der  Treue  bezw.  Untreue  der  Erinnerung. 
Da  als  Anwendungsgebiet  der  Ergebnisse  der  Untersuchungen  in  erster 
Linie  die  Rechtspflege  in  Betracht  kommt,  wurde  die  Arbeit  auch  zunächst 
in  einer  juristischen  Zeitschrift  veröffentlicht.  Von  den  selbstverständlichen 
Beziehungen  zur  Psychologie  ganz  abgesehen,  verzweigt  sich  die  Au- 
wendungsmöglichkeit  der  folgenden  Versuche  noch  nach  anderen  Seiten 
hin:  zur  Pädagogik,  zur  Psychiatrie,  zur  Erkenntnistheorie  und  wissen" 
schaftlichen  Methodologie.  Um  nun  auch  diesen  nicht  juristischen  Fach- 
kreisen die  Arbeit  zugänglich  zu  machen,  wurde  die  vorliegende  Sonder- 
ausgabe veranstaltet. 

Zwar  war  der  ursprüngliche  Zweck  der  nachfolgenden  Untersuchungen 
zunächst  ein  theoretisch-psychologischer,  doch  trat  im  Laufe  der  Versuche 
ihre  praktische,  insbesondere  juristische  Verwertungsmöglichkeit  mehr  und 
mehr  hervor;  schienen  sie  doch  geeignet  den  Weg  zu  weisen  zur  Beant- 
wortung der  für  die  praktische  Rechtsübung  wichtigen  Frage:  „inwiefern 
die  Durchschnittsaussage  des  normalen  einwandfreien  Zeugen  als  eine 
korrekte  Wiedergabe  des  objektiven  Thatbestandes  betrachtet  werden  könne." 

Unter  Gedächtnis  wird  ganz  allgemein  die  Thatsache  verstanden,  das* 
Eindrücke,  die  irgend  wann  einmal  der  Psyche  zugeführt  worden  sind,  in 
späterer  Zeit  nachzuwirken  vermögen.  Nach  der  Art  aber  wie  sich  dies 
Nachwirkungen  äussern,  unterscheidet  man  sehr  verschiedene  Funktionen 


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fletuhte  und  llesfirechuwrn 


de?  Gedächtnisses:  das  Wiedererkennen,  das  Auswendigkönnen,  die  Phantasie 
und  endlich  die  Erinnerung,  welche  eine  bestimmte  Verbindung  einzelner 
im  Gedächtnis  vorhandener  Elemente  bewusst  in  einen  bestimmten  Zeit- 
punkt  der  Vergangenheit,  da  sie  als  Eindrucke  aufgenommen  wurden, 

zurück  proj  iziert. 

In  dem  letzten  Jahrzehnt  hat  die  experimentelle  Psychologie  auch  das 
Gedächtnis  ihrer  Methode  zu  unterwerfen  gesucht.  Doch  hatten  alle  diese 
Untersuchungen  nur  eine  der  oben  genannten  Geduchtnisfnnktionen  zum 
Gegenstande:  den  Prosess  des  Lernens  und  seine  Folge,  das  Ausweudig- 
können.  Der  Verf.  stellte  sich  nun  die  Aufgabe,  eine  vom  Experiment 
bisher  noch  weniger  berührte  Seite  des  Gedächtnisses:  die  Erinnerungs- 
fähigkeit, zu  prüfen. 

Das  Spezifikum  der  Erinnerung  ist,  wie  schon  eben  angedeutet,  „die 
bewusste  Beziehung  einer  Gedächtnisvorstellung  auf  einen  bestimmten,  an 
einem  Zeitpunkte  der  Vergangenheit  dagewesenen  objektiven  Thatbestand.- 
Der  ideelle  Zweck  der  Erinnerung  ist  der,  die  vergangene  Wirklichkeit  zu 
fixieren,  gewesenes  reales  Sein  in  gegenwartiges  gewußtes  Sein  zu  ver- 
wandeln.   Es  fragt  sich  nun,  ob  die  Erinnerung  auch  diesen  ideellen  Zweck 
erfällt,  ob  ihr  Inhalt  wirklich  Wahrheit,  d.  h.  Kopie  einer  vergangenen 
realen  Thatsächlichkeit  ist?  Zwar  glaubt  es  der  gesunde  Menschenverstand 
im  allgemeinen,  doch  kann  er  nicht  umhin,  die  Lückenhaftigkeit  der  Kopie  zu- 
zugeben ;  denn  die  Thatsache  des  Vergessens  ist  zu  aufdringlich,  als  dass  sie 
übersehen  werden  könnte.  Man  wird  sogar  bald  bemerken,  dass  das  Vergessen 
die  Regel,  die  Erinnerung  die  Ausnahme  ist;  nur  verschwindend  wenige 
von  den  Eindrücken,  die  man  durch  Tag  und  Jahr  und  Jahrzehnt  in  sich 
aufnimmt,  sind  lebensfähig  in  der  Weise,  dass  sie  später  als  Erinnerungs- 
bilder wieder  auftauchen  können.   Das  teilweise  oder  gänzliche  Ausfallen, 
das  allmähliche  Schwächerwerden  der  Erinnerungsbilder  bis  zum  völligen 
Schwinden  wird  also  zugegeben;  dagegen  nimmt  die  gemeine  Meinung  für 
das  was  überhaupt  erinnerbar  ist,  ohne  weiteres  Uebereinstimmung  mit  der 
Wahrheit  an.    Obwohl  jeder  schon  an  sich  gelegentlich  die  Erfahrung  ge- 
macht hat,  dass  Erinnerungen,  „aut  die  er  hätte  schwören  mögen",  sich  als 
Fälschungen  erwiesen,  betrachtet  man  solche  Erfahrungen  meist  doch  nur 
als  Kuriositäten,  als  ganz  exzeptionelle  Schwächen,  und  vertraut  im  allge- 
meinen nach  wie  vor  mit  gleicher  Unbedenklichkeit  auf  die  Richtigkeit 
seiner  Erinnerungen. 

•Bedenklicher  wird  man  schon,  wenn  man  bei  andern  auf  gefälschte 
Erinnerungen  stösst.  Da  drängen  sich  die  zahllosen  Unwahrheiten  der 
Kinder  auf,  die  Gasconaden  der  Aufschneider,  die  Diskrepanzen  in  den 
Schilderungen,  welche  mehrere  Zuschauer  von  derselben  Scene  geben,  und 
dann  vor  allem  jenes  verwirrende  Chaos,  in  welches  uns  oft  die  gericht- 
lichen Aussagen  von  Parteien  und  Zeugen  stürzen  — -  ein  Chaos  von  Wider- 
sprüchen, welches  uns  mit  höchster  Evidenz  lehit,  dass  hier  zahllose  Un- 
richtigkeiten gesagt  werden  müssen,  welches  uns  aber  um  so  unfähiger 
macht,  zu  erkennen,  wie  denn  die  objektive  Wirklichkeit  ausgesehen 
haben  mag. 

5* 


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164 


Berichte  und  Besprechungen. 


Trotz  dieser  Fülle  feststellbarer  Erinnenmgsfalschungen,  die  eine  vielleicht 
noch  grössere  Fülle  unkontrollierbarer  ahnen  lassen,  bleibt  die  herrschende 
Anschauung  dennoch  dabei  stehen,  dass  das  Normale  und  Natürliche  die 
Übereinstimmung  von  Aussage  und  Wirklichkeit  ist;  sie  sucht  daher  jede 
Nichtübereinstimmung  mit  aussergewöhnlichen  Gründen  zu  erklären,  von 
denen  vor  allen  zwei  wieder  und  wieder  vorhalten  müssen;  die  bewusste 
böswillige  bezw.  grob  fahrlässige  Lüge  und  die  pathologische  Unwahrheit. 

Nun  ist  ja  die  Alternative:  „„strafbare  oder  pathologische  Unwahrheit  ?MM 
—  bequem  und  einfach,  aber  reicht  sie  auch  aus?  Die  herrschende  An- 
schauung glaubt  wie  erwähnt,  diese  Frage  im  allgemeinen  bejahen  zu  können ; 
aber  es  ist  doch  schon  eine  nicht  ganz  unbedeutende  Minorität,  die  sie 
verneint  Viele,  die  aus  beruflichen  oder  sonstigen  Interessen  der  Rechts- 
pflege ihre  Aufmerksamkeit  zuwandten,  haben  schon  längst  die  Überzeugung 
ausgesprochen,  dass  moralische  und  medizinische  Einwandlosigkeit  keine 
Gewähr  für  die  Richtigkeit  der  Erinnerungstreue  bieten.  Man  vermutete 
die  Existenz  einer  normalen  psychologischen  Un Wahrhaftigkeit;  man  wies 
hin  auf  die  mannigfachen  Quellen  für  solche  normalen  Erinnerung»* 
fälschungen:  schlechte  Beobachtung,  starke  Phantasie,  Auto-  und  Fremd- 
suggestion, Verwechselung  von  Autopsie  und  Hörensagen,  Gemütsbeteiligung, 
Beeinflussung  durch  richterlichen  Fragen  usw.  Aber  es  blieb  hier  bei  Ver- 
mutungen und  instinktiven  Überzeugungen ;  man  ahnte  die  Tragweite  dieser 
normalen  Täuschungen,  doch  fehlte  es  bisher  völlig  an  einem  zwingenden 
Nachweis  und  einer  exakten  Kontrolle  ihrer  Existenz,  ihres  Umfangs,  ihrer 
Besch  all  enheit  und  ihrer  Ursachen." 

Nun  vermag  aber  das  psychologische  Experiment  durch  die  Konfron- 
tation der  objektiven  Wirklichkeit  mit  der  Erinnerungsaussage  über  sie  diese 
exakt«  Kontrolle  zu  erbringen.  Zu  diesem  Zweck  sind  Erinnerungsbilder 
über  Thatbestände  zu  erzeugen,  die  nicht  wie  die  meisten  Daten  des  realen 
Leben,  mit  dem  Moment  einmaliger  Wahrnehmung  unwiederbringlich  dahin, 
sondern  dauernd  fixiert  oder  fixierbar  sind  und  daher  mit  der  Aussage  direkt 
verglichen  werden  können.  Als  solche  Thatbestände  bezeichnet  der  Verf. 
Bilder,  die  gezeigt,  Texte,  die  vorgelegt  werden.  Will  man  seinen  Unter- 
suchungen „Vorgänge"  zu  Grunde  legen,  so  wäre  an  den  Kinematographien 
zu  denken,  oder  an  Theaterscenen,  für  deren  Verlauf  das  Textbuch  nachher 
den  Vergleichsmassstab  bietet. 

Die  folgende  Darstellung  gilt  den  bei  Bildern  erzielten  Erlebnissen. 
Bei  seinen  Versuchen  verfügte  der  Verf.  im  ganzen  über  ein  Material  von 
33  Personen  -.  25  Herren  und  8  Damen.  Bei  30  von  ihnen  konnten  die  durch 
drei  Wochen  sich  erstreckenden  Versuche  vollständig  durchgeführt  werden. 
Die  Prüflinge  gehörten  sämtlich  den  gebildeten  Ständen  an.  Die  Herren 
waren  mit  Ausnahme  eines  Zeichenlehrersfund  eines  43  jährigen  Mathema- 
tikers Studenten  verschiedener  Fakultäten  im  Alter  von  18—24  Jahren. 
Von  den  8  Damen  waren  5  Hörerinnen  an  der  Universität.  Als  Ob- 
jekte, über  welche  die  Aussagen  zu  machen  waren,  benutzte  der  Verl', 
drei  gedruckte  Schwarz- Weiss -Bilder,  deren  Reproduktionen  der  Arbeit  bei- 
gegeben sind. 


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Berichte  und  Besprechungen, 


»65 


Für  die  Wahl  der  Bilder  war  bestimmend,  dass  sie  einen  möglichst 
entlegenen  Ursprang  hatten,  und  daher  voraussichtlich  den  Prüflingen  noch 
nicht  unter  die  Augen  gekommen  waren,  dann  aber,  dass  sie  verschiedene 
Schwierigkeiten  enthielten  in  Bezug  auf  die  Fülle,  die  Deutlichkeit  und  den 
inneren  Zusammenhang  der  Einzelheiten.  Mit  den  Bildern  wurden  zwei 
Serien  von  Experimenten  angestellt,  die  der  Verf.  als  Hauptversuch 
und  Beeidigungsversuch  unterscheidet.  Im  Hauptversuch  wurde  jedes  Bild 
3 ,  Minuten  lang  der  Versuchsperson  zur  Betrachtung  ausgehandigt  und  sie 
dann  aufgefordert,  es  sofort  zu  beschreiben.  Diese  von  jeder  Person  über 
jedes  Bild  unmittelbar  nach  der  Beobachtung  gemachte  Aussage  nennt  der 
Verf.  primäre  Aussage.  Ausserdem  wurden  im  Laufe  der  folgenden  drei 
Wochen  noch  Wiederholungsaussagen  („sekundäre  Aussagen11)  gefordert, 
sodass  von  30  Personen  270  Aussagen  vorlagen. 

An  diesen  Hauptversuch  schloss  sich  dann  bei  dem  grössten  Teil  der 
Versuchspersonen  noch  ein  Nachvereuch  —  Beeidigungsversuch  —  an,  der 
in  gewisser  Weise  die  Zuverlässigkeit  der  beeideten  Aussagen  kontrollieren 
Bolite.  Nach  einer  Reihe  von  Wochen  beschrieben  die  Versuchspersonen 
die  drei  Bilder  noch  einmal  aus  dem  Gedächtnis.  Nachdem  dies  geschehen, 
fügte  der  Verf.  die  Forderung  hinzu:  „Ich  bitte  Sie,  an  dieser  Niederschrift 
dasjenige  zu  unterstreichen,  was  Sie,  wenn  es  sich  um  eine  gerichtliche 
Aussage  handelte,  beschwören  würden44.  Die  Zahl  dieser  Aussagen  beläuft 
sich  auf  63. 

Nach  einem  kurzen  Bericht  über  die  Art,  in  der  der  Verf.  das  so 
gewonnene  Material  bearbeitet  hat,  kommt  er  zu  dem  Hauptergebnis  seiner 
Versuche.  Unter  der  Annahme,  dass  die  Ergebnisse  nicht  als  unmittelbarer 
Ausdruck  für  das  durchschnittliche  Mass  der  im  praktischen  Leben  vor- 
kommenden ErinnerungTsfehler  anzusehen  sind,  sondern  als  untere  Grenze, 
als  Minimum  von  Fehlern,  das  unter  besonders  günstigen  Umständen  erzielt 
werden  kann,  fasst  er  das  Hauptergebnis  in  folgenden  Worten  zusammen: 

„Ausser  den  beiden  bisher  vorwiegend  beachteten  Sphären  der 
Erinnerungsfälschung  —  der  schuldhaiten  (Lüge,  bezw.  grobe  Fahrlässigkeit) 
und  der  pathologischen  Störung  —  giebt  es  ein  breites  Gebiet  der  normalen 
psychologischen  Erinnerungsfehler,  das  nach  Umfang  und  Bedeutung  bisher 
beträchtlich  unterschätzt  wurde.  Diese  normalen  Täuschungen  sind  nicht 
etwa  allein  auf  Rechnung  affektiver  Beteiligung  oder  suggestiver  Be- 
einflussung zu  setzen;  vielmehr  ist  ein  bestimmter  Grad  der  Fehlerhaftigkeit 
von  vornherein  als  normales  Merkmal  auch  der  nüchternen  und  ruhigen, 
selbständigen  und  unbeeinfiussten  Durchschnittserinnerung  zuzuschreiben. 
Die  fehlerlose  Erinnerung  ist  nicht  die  Regel,  sondern  die  Ansnahme.  — 
Und  selbst  der  Eid  ist  kein  Schutz  gegen  Erinnerungstäuschungen.44 

In  dem  folgenden  Abschnitte  bringt  der  Verf.  einige  Aussagen  in 
wörtlichem  Abdruck  und  lässt  dann  den  Thatsachenberlcht  über  Quantität 
und  Qualität  der  Fehler  folgen.  In  dem  „Fehlerstatistik44  ü beschriebenen 
Teile  werden  die  Resultate  in  folgenden  Sätzen  zusummenget'asst: 

„Die  Fehlerhaftigkeit  der  Aussage  über  ein  Erlebnis  nimmt  kontinuierlich 
je  grösser  der  Zeitraum  zwischen  beiden  Momenten  ist.    An  eiuem 


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i66 


Berichte  und  Besprechungen. 


bestimmten  Zeitpunkt  nach  dem  Erlebnis  ist  die  Aussage  um  so  weniger 
fehlerhaft,  je  häufiger  in  der  Zwischenzeit  die  Erinnerung  aufgefrischt 
worden  war.  ■ —  Die  Frauen  vergessen  weniger,  aber  sie  verfalschen  mehr. 
Die  Vergesslichkeit  der  Frauen  verhält  sich  also  zu  der  der  Männer  wie  2 :  3t 
die  Unzuverlässigkeit  ihrer  Aussagen  aber  wie  4 :  3.  Der  neunte  Teil  des 
beeidigten  Inhalts  einer  Aussage  ist  falsch.  Der  beeidigte  Teil  einer 
Männeraussage  enthält  durchschnittlich  2,1,  der  einer  Frauenaussage 
dagegen  4,8  (also  mehr  als  doppelt  so  viel)  falsche  Angaben.'4 

Im  weiteren  erörtert  der  Verf.  eingehend  die  Fehlerarten  —  Aus. 
las? ungen,  Zusätze  and  Umgestaltungen  —  und  die  Fehlerquellen,  bei  denen 
er  zwischen  Auifassungs-  und  Erinnerungsfehlern  unterscheidet. 

Das  Hauptresultat  der  Versuche,  der  Nachweis  einer  starken  Fehler- 
haftigkeit veranlasst  den  Verf.,  die  beiden  Fragen  aufzuwerfen:  Ist  eine 
Besserung  des  konstatierten  Mangels  möglich?  Wird  durch  den  konstatierten 
Mangel  die  Würdigung  und  Behandlung  der  Erinnerungsaussagen  beeinflusst? 
Beide  Fragen  finden  eingehende  Besprechung.  Anhangsweise  berichtet  der 
Verf.  noch  über  einen  von  ihm  angestellten  Versuch,  der  geeignet  ist,  den 
Satz  „fama  crescit  eundo44  experimentell  zu  erhärten.  In  einem  zweiten 
Anhange  beschreibt  er  die  von  dem  französischen  Psychologen  Alfred  Bin  et 
zur  Untersuchung  der  Beeinflussung  von  Kinderaussagen  durch  Fragen 
ausgeführten  Versuche. 

Berlin.  Wilhelm  Eichler. 


Weygandt,  Wilhelm,  Dr.  phil.  et  med-,  Privatdozent  an  der 
Universität  Würzbnrg:  Die  Behandlung  idiotischer  und  im- 
beziller Kinder  in  ärztlicher  und  pädagogischer  Beziehung. 
Mit2  Abbildungen.  Würzburg.  A.  StubersVerlag.  (C.  Kabitzsch). 
1900.    103  S.  2,50  Mk. 

„Die  Schrift  hat  zunächst  nur  die  Aufgabe,  dem  Pädagogen  alles  das, 
was  von  ärztlicher  Seite  Brauchbares  zur  Behandlung  der  Idiotie  und 
Imbecillität  geboten  wird,  in  verständlicher  Weise  darzustellen,  und  anderer- 
seits auch  dem  Arzt  die  wichtigsten  und  wertvollsten  Seiten  der  pädagogischen 
Behandlungsweise  übersichtlich  vorzuführen.  Nach  einer  kurzen  historischen 
Uebersicht  über  den  angeborenen  Schwachsinn  giebt  der  Verfasser  in  dem 
zweiten  Teil  seiner  Einleitung  eine  Definition  der  Idiotie  und  Imbecillität 
„als  eines  Zustandes,  der  auf  Grund  einer  Unterbrechung  in  der  Ent- 
wickelung  des  Trägers  der  psychischen  Erscheinungen  vor  der  Geburt 
oder  in  den  ersten  Lebensjahren  entstanden  ist.44  Als  Ursachen  nennt  er 
hereditäre  Belastung,  Alkoholismus  der  Eltern,  angeborene  Syphilis,  krank- 
hafte Einflüsse  auf  die  Mutter  während  der  Schwangerschaft,  vor  allem 
Krankheiten  der  ersten  Lebenszeit,  wie  Typhus,  Blattern,  Scharlach,  zuweilen 
Diphtherie,  Influenza,  Masern  und  Rotlauf;  dann  auch  die  Encephalitis, 
Hydrocephalie  und  Eklampsie  des  Kindesalters;  ausserdem  kommen  noch 
Fälle  vor,  die  sich  nicht  in  die  angeführten  Gruppen  unterbringen  lassen. 


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Bericht*  und  Jiesprtchungen. 


167 


W.  unterscheidet:  a)  Bildungsuniähige  Idioten,  solche,  die  in  ihren  elementaren 
Funktionen  so  gestört  sind,  das*  sie  entschieden  hinter  dem  jungen  Tier 
zurückbleiben,  b)  Bildungsfähige  Idioten,  die  in  zwei  Typen  geschieden 
werden:  die  Energetischen,  deren  Aufmerksamkeit  nur  mit  grösster  Mühe 
zu  reizen  ist,  und  die  in  stets  gleichgültiger  Stimmung  verharren;  die 
erethischen,  bei  denen  die  Aufmerksamkeit  leichter  zu  wecken  ist,  die  aber 
«•ehr  leicht  abgelenkt  werden,  c)  Die  Imbecillen,  die  auch  in  anergetische 
and  erethische  geteilt  werden ;  erstere  sind  gleichgiltig,  täppisch,  heiterer 
Stimmung  nnd  können  es  zu  einiger  Fertigkeit  bringen;  letztere  dagegen 
sind  schwerer  zu  behandeln.  Sie  passen  wohl  auf  alles  recht  gut  auf,  ver- 
tagen aber,  wenn  man  ihre  Aufmerksamkeit  kurze  Zeit  anspannen  will, 
d)  Piflerentialdiagnostisch  davon  zu  trennen  sind  die  „Fülle,  bei  denen  nach  oder 
während  einer  im  ganzen  normalen  Entwickelang  des  Intellekts  und  meist 
auch  der  gemütlichen  Sphäre  allmälüich  krankhafte  Neigungen  und  Triebe 
auitreten,  die  den  Willen  dauernd  oder  zeitweilig  beherrschen  können." 

In  dem  Hauptteil  „Behandlung4*  giebt  der  Verfasser  Anweisungen  zur 
Vorbeugung  der  Idiotie  und  Imbecillität.  Der  Arzt  muss  die  Erblichkeit 
durch  Verhütung  von  Heiraten  mit  Geisteskranken  oder  stark  belasteten 
Personen,  auch  zwischen  Blutsverwandten  möglichst  einzuschränken  suchen, 
die  Schwangerschaft  bei  Frauen  in  belasteten  Familien  überwachen,  auch 
bei  solchen,  die  schwachsinnige  Kinder  zur  Welt  gebracht  oder  durch 
Hirnkrankheiten  und  Krämpfe  verloren  heben.  Vor  allem  muss  der  Kampf 
gegen  starken  Alkoholgenuss  mit  aller  Macht  geführt  werden.  In  der 
ursächlichen  Behandlung  der  Idiotie  und  Imbecillität  ist  der  Arzt  fast 
machtlos;  auch  in  der  operativen  Behandlung  ist  er  noch  im  Stadium  des 
Versuchs.  Bei  der  symptomatischen  Behandlung  muss  der  Chirurg  gegen 
alle  die  in  Begleitung  der  angeborenen  Geistesschwäche  auftretenden 
Bildungshemmungen  nach  Möglichkeit  vorgehen,  so  die  Hasenscharte,  den 
Wolfsrachen,  das  angewachsene  Zungenbändchen,  die  Phimose  u.  s.  w. 
beseitigen,  ferner  auch  die  etwa  im  Nasenranm  vorhandenen  Wucherungen 
oder  Polypen  entfernen.  Bei  der  überaus  wichtigen  Ernährungsfrage  ist 
ein  geschicktes  Individualisieren  am  Platse;  nicht  minder  sorgfältige 
Berücksichtigung  verlangen  Stuhlverhaltung  und  Schwäche  der  Aiterschliess- 
muskeln.  auch  die  häufig  bei  Idioten,  zuweilen  bei  Imbecillen  auftretenden 
Krämpfe  und  Lähmungen.  Sinnesstörungen,  wie  Blindheit  oder  Sehschwäche, 
Gehörsschwäche  oder  Taubheit,  müssen  einem  geeigneten  Arzte  zur  Begut- 
achtung vorgeführt  werden. 

Die  wichtigste  Aufgabe  der  psychischen  Behandlung,  die  ausschliesslich 
dem  Pädagogen  zukommt,  ist  die  Entwickelung  der  Aufmerksamkeit.  Da 
muss  beobachtet  werden,  welcher  Sinn  des  Kindes  am  meisten  der 
Erregung  zugänglich  ist.  Ist  der  am  besten  entwickelte  herausgefunden, 
dsnn  kann  man  ihn  durch  komplizierte  Heize  erregen  und  andere 
Sinnessphären  mitberühren. 

Die  Aufmerksamkeit,  die  nach  einer  Richtung  hinneigt,  wird  dann 
auch  für  andere  Sinnesgebiete  miterregt.  Wichtig  ist  die  Entwickelung 
der  Sinnesthätigkeit.   Den  Gesichtssinn  reizt  man  durch  starke  Helligkeits- 


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i68 


Berichte  und  Besprechungen. 


unterschiede  und  intensive  Farbeneindrücke.  Für  Gehörsreize  sind  die 
Idioten  zugänglicher  als  für  Gesichtsreize.  Sie  lieben  flotte,  rhytmische 
Töne  und  zeigen  zuweilen  sogar  ein  gutes  Musikgedächtuis.  Geschmack 
und  Geruch  spielen  eine  unwichtige  Rolle  bei  der  Erziehung  der  schwach- 
sinnigen Kinder,  während  die  Entwickelung  der  Hautsinnesthätigkeit  eine 
eingehende  Berücksichtigung  verlangt.  Der  Tastsinn  muas  geübt  werden 
durch  Berühren  von  weichen  und  harten,  rauhen  und  glatten,  auch  von 
schweren  und  leichten  Gegenständen.  Das  Verständnis  für  Formen  prägt 
man  dem  Kinde  durch  Befühlen  von  verschieden  gestalteten,  runden  und 
eckigen  Gegenständen  ein.  Verständnisvolle  und  wohlwollende  üeber- 
wachung  verlangt  dann  die  motorische  Sphäre.  Stehen,  Gehen  und  Laufen 
erfordern  besondere  Sorgfalt.  Zur  Uebung  des  Gedächtnisses  muss  der 
Erzieher  alle  einstudierten  Bewegungen  solange  wiederholen  lassen,  bis  sie 
dem  Kinde  zur  Gewohnheit  geworden  sind.  Das  Gedächtnis  ist  ausser- 
ordentlich schwankend.  Melodiegedächtnis  begegnet  man  häufig,  zuweilen 
auch  einem  überraschenden  Zahlengedächtnis.  Als  den  bedeutendsten  Punkt  in 
der  Erziehung  ist  die  Sprache  anzusehen,  die  sich  oft  auf  einer  überaus 
tiefen  Stufe  zeigt  Zunächst  muss  der  Drang  nach  lautlichen  Aeusserungen 
geweckt,  dann  müssen  die  Bewegungen  des  Mundes  vorgemacht  werden. 
Bei  den  ArtikulationsübuDgen  empfiehlt  der  Verfasser  die  Regeln  von 
Seguin:  1.  zunächst  sind  Konsonanten,  dann  Vokale  zu  lehren;  2.  zuerst 
müssen  die  aus  einem  Konsonanten  und  einem  Vokale  zusammengesetzten 
Silben  gesprochen  werden;  3.  die  Lippenbuchstaben  müssen  den  übrigen 
vorangehen;  4.  einzelne^Silben  sind  schwerer  auszusprechen  als  wiederholte 
Silben.  Mit  allen  diesen  Massnahmen  sind  die  ersten  Grundlagen  zur 
Erziehung  des  schwachsinnigen  Kindes  gelegt.  Manche  von  ihnen  werden 
schon  auf  früher  Stufe  zurückbleiben,  andere  dagegen  sich  noch  weiter 
entwickeln,  vielleicht  aber  auf  diesem  oder  jenem  Gebiete  Schwächen 
aufweisen. 

Die  fernere  Erziehung  hat  sich  dann  nach  drei  Richtungen  besonders 
zu  bethatigen:  einmal  sollen  bestimmte  elementarische  Kenntnisse  erworben 
werden,  dann  sind  die  komplizierten  Willens-  und  Gefühlsreize  zu  beauf- 
sichtigen und  möglichst  auszubilden,  und  schliesslich  soll  durch  das  Erlernen 
einfacher  Fertigkeiten  der  Grundstock  für  eine  später  nutzbringende  Be- 
schäftigung gelegt  werden.14 

Der  elementare  Unterricht  muss  sich  besonders  auf  Anschauung,  Fonnen- 
sinn,  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen,  auch  auf  Gesang  und  Turnen  er- 
strecken. Die  Anschauung  übt  man  an  Naturgegenständen,  wie  Hausgeräte, 
Bäume,  Gemüse,  Blumen,  Früchte  u.  s.  w.  Dabei  können  dann  Fragen 
gestellt  werden:  wie  erhält  man  Korn,  Mehl,  Brot?  woher  kommt  der 
Kleiderstoff?  woher  die  Wolle?  von  wem  wird  das  Ei  gelegt?  welches 
Tier  giebt  die  Milch?  u.  s.  w.  Den  Sinn  für  Formen  entwickelt  man  an 
Modellen :  Kreis,  Viereck,  Dreieck ;  später  Oval,  Rechteck,  Achteck.  Aeusserst 
schwierig  ist  der  Unterricht  im  Schreiben  und  Lesen.  Zur  Erlernung  der 
Buchstaben  sind  bewegliche  sehr  ratsam,  die  allmählich  zu  Silben  und  Wörtern 
zusammengesetzt  werden  können.    Beim  Rechnen  benutzt  man  am  besten 


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Berichte  und  Besprechungen. 


169 


kleine  Ktigelchen  wie  an  der  Rechenmaschine,  auch  das  Abzählen  an  den 
Fingern  ist  eine  gute  Unterstützung.  Gleichzeitig  mit  diesem  Unterricht 
muM  auch  die  Unterweisung  in  Gesang  und  Turnen  beginnen.  Während 
dieser  erzieherischen  Thätigkeit  ist  die  Entwicklung  der  Willens-  und 
Gemütssphäre  des  Zöglings  sorgsam  zu  tiberwachen.  Die  Gemütsbewegungen 
bei  den  Idioten  gehen  nicht  besonders  tief;  ausserordentlich  schwer  sind 
komplizierte  Gefühle  zu  erregen.  Dagegen  wird  nicht  selten  gewisse  An- 
hänglichkeit an  den  Erzieher  beobachtet  werden.  Mitgefühl,  Dankbarkeit, 
Trauer  wird  man  ebenso  vergeblich  anstreben  wie  etwa  ein  vollentwickeltes 
Selbstbewusstsein.  Bedeutsam  für  das  weitere  Fortkommen  der  Schwach- 
linnigen  ist  der  Handfertigkeitsunterricht  Der  Erzieher  muss  seinem 
Zögling  neben  den  Schulkenntnissen  auch  einige  Fertigkeiten  beibringen, 
die  dieser  einmal  praktisch  verwerten  kann.  Hierher  gehört  bereits  das 
Ankleiden,  Waschen,  Kämmen,  Zuhaken,  Schnüren  u.  s.  w.;  dann  das 
Hantieren  mit  Scheere  und  Nadel,  Stricken,  Häkeln  und  Sticken.  Ferner 
sollen  die  schwachsinnigen  Kinder  auch  häusliche  Arbeit  wie  Bettmachen, 
Zimraerputzen,  Kehren,  Bürsten,  Kleiderreinigen  verrichten,  in  späteren 
Jahren  auch  grobe  Arbeit  wie  Kohlentragen,  Waschenden  a.  s.  w.  Noch 
spater  sind  sie  womöglich  auf  dem  Felde  und  in  der  Werkstatt  zu  be- 
schäftigen. 

Zum  Schlüsse  bringt  der  Verfasser  ein  eingehendes  Verzeichnis  der  be- 
stehenden Anstalten  für  schwachsinnige  Kinder  und  eine  kurze  Charakte- 
risierung der  besonderen  Art  und  Einrichtung. 

Berlin.  W.  Krause. 


Die  deutsche  Schule.  Monatsschrift.  Herausgegeben  im  Auftrage 
des  deutschen  Lehrervereins  von  Robert  Rissmann.  Jahrgang  III. — V. 
-  Berlin,  Leipzig,  Wien  1899—1901.     Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 

Die  verdienstvolle  Zeitschrift  bedarf  keiner  neuen  Empfehlung  an  dieser 
Stelle.  In  Lehrerkreisen  dürfte  sie  durch  die  Gediegenheit  und  Vielseitigkeit 
ihres  Inhaltes  wohl  genügend  bekannt  sein.  Die  vorliegenden  drei  Jahrgänge 
bringen  eine  grosse  Zahl  von  Abhandlungen,  Mitteilungen  und  Litteratur- 
berichten.    Auf  einige  der  Aufsätze  soll  hier  kurz  eingegangen  werden. 

Jahrgang  1899. 

Es  interessiert  zunächst  eine  Arbeit :  Ueber  die  psychologische 
Bildung  des  Pädagogen,  von  C.  Andreae,  Kgl.  Seminardirektor 
in  Kaiserslautern.  Wir  stimmen  dem  Verfasser  bei,  wenn  er  für  den  Päda 
gegen  eine  psychologische  Bildung  als  unerlässlich  fordert.  Gerade 
auf  dem  Gebiete  des  Unterrichts  spielt  die  Psychologie  eine  bedeutsame 
Rolle,  umsomehr  ist  es  zu  verwundern  und  zu  bedauern,  dass  sie  dort  erst 
so  wenige  Wurzeln  geschlagen  hat.  Ein  Segen  würde  der  gesamten  Schul- 
jugend erwachsen,  wenn  endlich  dem  oft  recht  unpsychologischen  Verfahren 
im  Unterricht  die  Flügel  beschnitten  und  von  den  Lehrenden  die  Aneignung 


170 


Berichte  und  Besprechungen, 


eines  psychologischen  Wissens  nicht  nur  gewünscht,  sondern  direkt  ver- 
langt würde.  Viel  weniger  könnte  dann  an  den  Kindern  gesündigt  werden, 
der  Unterricht  würde  sich  fruchtbarer  gestalten,  viele  Dinge,  wie  Intelligenz, 
Leistungsfähigkeit,  individuelle  Eigentümlichkeiten  der  Schüler  etc.,  würden 
zutreffender  beurteilt  und  in  Rechnung  gestellt. 

Was  nützt  es,  dass  man,  wie  Verfasser  treffend  bemerkt,  „Fragen  wie 
z.  B.  von  den  Bedingungen  der  Aufmerksamkeit,  von  dem  Erwerbe  neuer 
Kenntnisse,  von  der  Verknüpfung  der  Vorstellungen,  oder  wie  die  Abstraktion 
vorzubereiten  und  zu  unterstützen,  wie  die  Gedächtnisfunktion  zu  erleichtern 
sei  etc.,  in  der  pädagogischen  Presse  immer  und  immer  behandelt  findet,  wenn 
man  den  Ergebnissen  derselben  im  Unterricht  in  keiner  Weise  Rechnung 
trägt? 

Diesen  Uebelstand  fühlen  wir  mit  Andreae  mit  und  können  nur  wünschen, 
dass /er  recht  bald  im  Interesse  der  Gesamtheit  verschwinde! 

Ein  anderer  Aufsatz  in  demselben  Heft  von  E.  Linde  handelt :  ,.V  o  n 
derWichtigkeitdesAnschauensgegenüberdemDenke  n." 
Verfasser  hat  sich  die  Aufgabe  gestellt,  nachzuweisen,  dass  der  Anschauung 
als  solcher  nicht  in  Verbindung  mit  dem  Denken,  im  Unterricht  ein  weit 
höherer  Wert  beizumessen  sei,  als  man  gewöhnlich  zu  thun  pflegt. 

Bei  seiner  Beweisführung  geht  L.  vom  alltäglichen  Leben  aus,  wendet 
sich  dann  der  Kunst,  der  Religion,  der  Philosophie,  der  Moral  und  schliess- 
lich der  Wissenschaft  zu  und  sucht  an  ihnen,  vornehmlich  für  die  ver- 
schiedenen Disziplinen  der  Wissenschaft,  den  Wert  der  blossen  Anschauung 
darzulegen. 

Wenn  dem  so  sei,  meint  er,  müsse  auch  in  der  Schule  die  Anschauung 
mehr  respektiert  werden :  Besonders  ist  ihm  die  Formalstufentheorie  ein 
Dorn  im  Auge,  nach  welcher  Anschauungs-  und  Denkprozess  immer  aufein- 
ander folgen  soll.  Weiter  bezeichnet  es  L.  als  einen  Irrtum,  „wenn  man 
auf  allgemeine  Begriffe,  Grundsätze,  Regeln,  Gesetze  u.  s.  w.  als  auf  ein 
Wissen  über  dem  gewöhnlichen,  konkreten  Wissen  glaubt  hinarbeiten  zu 
müssen,  wie  es  bei  der  sogenannten  Herausarbeitung  des  Systems  geschieht, 
und  zu  diesem  Zwecke  einen  umständlichen  Abstraktionsprozess  ins  Werk 
setzt."  Ebenso  sei  es  fehlerhaft,  ,,wenn  man  den  konkreten  Stoff,  die  An- 
schauungen, lediglich  als  Unterlage  für  die  Begriffsbildung  betrachte, 
anstatt  dass  man  ihn  wegen  der  ihm  innewohnenden  Fülle  zu  schätzen  wisse." 

Uns  scheint  Linde  mit  seinen  Forderungen  ein  wenig  zu  weit  gegangen 
zu  sein.  Freilich  darf  nicht  geleugnet  werden,  dass  wir  in  vielen  Punkten 
ganz  seiner  Ansicht  sind,  doch'  sind  wohl  hier  und  dort  in  seinen  Ausführungen 
ihm  Irrtümer  mit  unterlaufen.  Der  Leser  dieses  Artikels  verabsäume  es 
nicht,  hierzu  auch  die  in  Heft  12  desselben  Jahrganges  unter  dem  Titel:  „Einiges 
über  Anschauen  und  Denken  in  ihrem  Zusammenhange",  gemachten  Be- 
merkungen zu  beachten. 

Mit  den  „Aufgaben,  Quellen  u.  Methoden  der  Kinder- 
forschung" beschäftigt  sich  eine  Arbeit  von  Marx  Lobsien,  die.  wenn 
sie  auch  keinen  wesentlichen  neuen  Beitrag  zu  diesem  Thema  liefert,  immer 


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Hcnchtt  und  HcsptechuHgcH. 


171 


hin  lesenswert  erscheint,  insbesondere  für  diejenigen,  welche  der  Kinder- 
psychologie ferner  stehen. 

Unkindliches  im  Kinderlied e.  Unter  diesem  Titel  erklärt 
Ü.  Kunt z  den  Fröbelschen  Spielliedern  energisch  den  Krieg.  Fröbel  selbst 
nennt  er  „den  gross ten  Sünder  unter  den  Dichtern  der  Mutter-  u.  Koselieder;" 
seine  Lieder  bezeichnet  er  als  durchaus  verfehlt.  Was  er  zu  tadeln  daran 
findet,  ist  der  Kathederton,  den  Fröbel  in  denselben  anschlägt.  Mit  Aus- 
nahme zweier  Lieder  („In  der  Hecke  auf  dem  Aestchen"  und  „Ich  öffne  jetzt 
mein  Taubenhaus")  seien  die  Mutter-  und  Koselieder  unkindlich,  von  vor- 
zeitiger Moral  und  Philosophie  durchtränkte  Verse,  die  dem  Kindesalter 
durchaus  unverständlich  erscheinen.  Er  führt  einige  Proben  an  und  stellt 
sie  in  eine  Parallele  mit  den  Koseliedern,  die  der  Volksmund  geschaffen. 

Ebenso  wenig  Gnade  finden  vor  dem  Verfasser  auch  die  in  den 
Kindergärten  so  beliebten  Beschäftigung*-  und  Bewegungsspielliedcr  sowie 
die  lyrischen  Lieder,  deren  Hauptgegenstände  das  Geistliche  und  Weltliche 
bildet.  Zahlreiche  Beispiele  sollen  die  Mängel  derselben  kennzeichnen  und 
den  wahren  Wert  unserer  Volkslieder,  die  jeder  Künstelei  entbehren,  dem 
Leser  deutlicher  vor  Augen  führen.  Seme  Betrachtungen  schliesst  K.  mit 
der  Aufforderung,  zum  Volksliede  zurückzukehren. 

Recht  "beachtenswert  erscheint  ein  Aufsatz  von  Max  Wagner,  der  d  i  e 
Organisation  der  Volksschule  auf  psychologischer 
Grundlage  betrifft. 

Aus  den  Statistiken  unserer  Kommunalschulcn  geht  hervor,  dass  leider 
ein  recht  erheblicher  Prozentsatz  der  Schüler  (nahezu  40pCt.)  das  Ziel 
dieser  Anstalten  nicht  erreicht.  Verfasser  versucht  in  seinen  Ausführungen 
darzulegen,  wie  diesem  Uebelstande,  der  sicherlich  eine  nicht  zu  unter- 
schätzende  Gefahr  für  unser  Volk  bedeutet,  am  besten  gesteuert  werden 
könne. 

Zu  diesem  Zwecke  verlangt  er  eine  Organisation  des  einzelnen  Schul- 
körpers  in  vertikaler  und  horizontaler  Richtung.  Gemäss  der 
achtjährigen  Schulzeit  hält  er  das  Achtklassensystem  für  das  geeignetste. 
In  betreff  einer  Organisation  in  horizontaler  Richtung  (Parallelsystem)  macht 
W.  eine  Reihe  von  Vorschlägen,  die  wir  in  Kürze  hier  mitteilen: 

1.  Eine  gründliche  ärztliche  Untersuchung  der  in  die  Schule  eintretenden 
Kinder,  inbezug  auf  Körperlänge,  Gewicht,  Brustumfang,  Ernährungs- 
zustand ^Blutarmut),  Knochengerüst  (Rückgratsverkrümmung),  Mus- 
kulatur, Hautfarbe,  Auge,  Ohr,  Nase  und  Rachen  ist  dringend  ge- 
boten. Etwaigen  Degenerationszeichen,  die  auf  geistige  Abnormität 
deuten,  Krankheiten,  wie  Skrophulose,  Rachitis,  Tuberkulose  und 
Krämpfen  etc.,  muss  Rechnung  getragen  werden. 

Das  Resultat  der  Untersuchung  soll  durch  eine  Gesundheitszensur 
ausgedrückt  und  bei  der  Verteilung  in  die  Parallelklassen,  berück- 
sichtigt werden. 

2.  Man  lege  den  Eltern  gedruckte  Fragen  zur  gewissenhaften  Beant- 
wortung vor,  welche  über  das  Vorleben  der  Zöglinge  —  Erziehung, 


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172 


Beruhte  und  Hesprechungen. 


Zeit  des  Laufen-  und  Sprechenlernens,  Krankheiten,  Charaktereigen- 
schaften, Neigungen  etc.  —  Aufschluss  verschaffen  sollen. 

3.  Ausserdem  wird  eine  Analyse  des  kindlichen  Gedankenkreises  ge- 
fordert. 

4.  Bei  der  Verteilung  in  die  Parallelklassen  wird  nach  dem  Prinzip 
verfahren:  „Die  Kinder  mit  den  ungünstigsten  Vorbedingungen  ge- 
hören der  Abteilung  mit  der  niedrigsten  Klassenfrequenz  an.  Die 
Klasse  der  Gruppe  mit  .den  besten  Grundlagen  hat  die  stärkste  zu 
sein.  Wünschenswert  ist  es.  dass  auch  deren  Schülerzahl  30  nicht 
überschreitet. 

5.  Die  Kinder  werden  zwei  Jahre  hindurch  von  ein  und  demselben 
Lehrer  unterrichtet  und  planmässig  beobachtet;  die  Ergebnisse  dieser 
Beobachtungen  sind  in  die  'Personallisten  der  Schüler  einzutragen. 

6.  Nach  Ablauf  des  zweiten  Schuljahres  erfolgt  auf  Grund  der  erhaltenen 
Aufzeichnungen  eine  abermalige  Scheidung. 

7.  Schliesslich  wird  nach  dem  vierten  Jahre  noch  einmal  in  obiger 
Weise  verfahren. 

8.  Bis  zum  Ende  des  vierten  Schuljahres  haben  die  nebeneinander, 
stehenden  Klassen  (VIII— V)  denselben  Plan;  der  Unterschied 
in  den  Parallelklassen  liegt  nur  in  der  Art  der  Darbietung. 

Eine  Organisation  der  Volksschule  in  diesem  Sinne  lässt  deutlich  Vor- 
teile  erkennen;  wünschenswert  wäre  es,  dass  die  angeführten  Vorschläge 
an  massgebender  Stelle  gebührende  Beachtung  fänden. 

Einer  zweiten  Arbeit  von  iE.  Linde  müssen  wir  an  dieser  Stelle  noch 
gedenken ;  sie  betrifft  das  Fibelproblem,  das  bis  jetzt  noch  immer 
nicht  vollkommen  gelöst  ist.  Verschiedene  Versuche  sind  ja  in  neuester 
Zeit  gemacht  worden,  um  einer  Lösung  näher  zu  kommen.  So  auch  der- 
jenige von  Stöwesand  in  seinem  „Lesebuch  der  Kleinen"  (Magdeburg  I8f>9, 
Klotz),  welches  den  Ausgangspunkt  der  äusserst  interessanten  Betrachtungen 
Lindes  bildet.  Obgleich  L.  diese  Fibel,  die  „nach  der  vereinigten  Schreib- 
lese- und  Normalmethode,  den  Grundsätzen  der  Phonetik  und  mit  Berück- 
sichtigung der  Schwachbegabten"  bearbeitet  ist,  seine  Anerkennung  im 
vollsten  Masse  zollt,  kann  er  doch  nicht  umhin,  auch  deren  Fehler  Er- 
wähnung  zu  thun. 

Nach  Linde  würden  wesentliche  Schwierigkeiten  des  Fibelproblems  durch 
die  Einführung  einer  auf  der  Phonetik  basierenden  vereinfachten  Recht- 
schreibung und  durch  das  Kleinschreiben  der  Substantive  beseitigt  werden. 

Die  Hauptschwierigkeit  aber  könnte  nur  dann  fallen,  wenn  den  Schülern 
die  Fibel  nicht  wie  bisher  schon  im  ersten,  sondern  erst  im  zweiten  Schul- 
jahre in  die  Hand  gegeben  würde,  nachdem  sie  geistig  gereifter,  im  Nach- 
denken geübt  und  mit  einem  weiteren  Anschauungskreis  ausgestattet  wären. 

Jahrgang  1900. 

An  der  Schwelle  des  nenen  Säknlums  dürfen  die  „Stimmen  zum  Schul- 
programm des  XX.  Jahrhunderts  (vgl.  Heft  2 — 12)  von  allgemeinem  Interesse 
sein.   Eine  Anzahl  berufener  und  maasgebender  Persönlichkeiten  sind  für 


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*73 


diesen  Aufsatz  gewonnen  worden;  ihre  Anregungen  wollen  wir  liier  kurz 
wiederholen. 

Als  erster  nimmt  der  ehemalige  Kultusminister  Dr.  R.  Bosse  das 
Wort.  Ein  solches  Programm  in  einigen  wenigen  Sätzen  festzulegen,  weist 
er  als  unmöglich  von  der  Hand ;  er  begnügt  sich  mit  einigen  aphoristischen 
Bemerkungen,  die  für  die  Schule  der  Zukunft  Beachtung  verdienen.  Sie  sind 
ausschliesslich  theoretischer  Natur;  vornehmlich  geht  Bosse  in  seinen  Aus- 
führungen auf  das  von  vielen  so  lebhaft  geforderte  Schulgesetz  ein.  Dieses, 
meint  der  Minister,  könne  nur  durch  Kodifikation  einer  Anzalü  von  Spezial- 
gesetzen, die  noch  je  nach  der  Massgabe  der  Dringlichkeit  des  Bedürfnisses 
zu  schaffen  seien,  erwachsen,  wenn  es  allen  Wünschen  und  Hoffnungen, 
die  man  daran  knüpft,  gerecht  werden  soll.  Missbilligend  spricht  sich  Ver- 
fasser im  weiteren  über  die  Unmenge  von  Anordnungen  und  Instruktionen 
aus,  die  der  Entwicklung  des  Schulwesens  mehr  schaden  als  nützen,  indem 
sie  zu  geistloser  und  einförmiger  Schablonenwirtschaft  fuhren.  Er  plaidiert 
dafür,  dass  jeder  tüchtigen  Lehrkraft  das  rechte  Mass  individueller,  freier 
Wirksamkeit  zugesichert  werde. 

Von  eminent  praktischem  Werte  sind  die  Ausführungen  des  bekannten 
Universitätsprofessors  W.  Bein  in  Jena,  der,  die  Schwierigkeit  seiner  Auf- 
gabe sehr  wohl  erkennend,  es  unternimmt,  auf  Grund  langjähriger,  auf- 
merksamer Beobachtung  der  Entwicklung  unseres  Schul-  und  Bildungs- 
wesens ein  Programm  in  Grundzügen  aufzustellen. 

Er  geht  von  dem  Gedanken  aus,  dass  eine  Förderung  unseres  Schul- 
wesens nur  durch  einen  einheitlichen  Plan  zu  erwarten  sei.  Gemäss  der 
Einteilung  unseres  Volkes  in  drei  grosse  Arbeitschichten,  verlangt  er  eine 
dreifache  Vorbildung.  Als  gemeinsame  Unterlage  für  alle  Klassen  diene 
der  Kindergarten  und  die  allgemeine  Volksschule,  welche  letztere  vom 
sechsten  bis  zehnten  Jahre  zu  besuchen  sei.  Alsdann  möge  eine  Trennung 
erfolgen.  1.  Zöglinge,  welche  einen  der  niederen  Erwerbszweige,  sei  es  als 
Tagelöhner,  Fabrikarbeiter,  Handwerker,  Bauer  oder  als  Unterbeamter,  er. 
greifen  wollen;  besuchen  die  Volksschule  weitere  vier  Jahre.  Ihr  schliesst 
sich  ein  obligatorischer  Unterricht  auf  den  allgemeinen  Fortbilduugs- 
oder  unteren  Fachschulen  (Handwerker-,  Ackerbauschulen)  an.  2.  Die- 
jenigen Schülern  und  Schülerinnen,  welche  sich  einem  mittleren  Berufe 
zu  widmen  gedenken,  bietet  ein  5— 6jähriger  Besuch  einer  Realschule  bezw. 
Mädchen-Mittelschule  und  im  Anschluss  daran  eine  mittlere  Fachschule 
«Technikum  Handels-,  Kunst-,  Gewerbe-,  Forst-  oder  Bergbauschule)  die  ge- 
eignete Vorbildung. 

3.  Für  die  höheren  Berufe  (Grosskaufmaun,  Grossindustrie,  höheres 
Beamtentum,  Militär,  Gelehrten  tum)  kommen  schliesslich  die  Oberreal- 
schulen, Realgymnasien  und  Gymnasien  (ü  jähriger  Kursus)  und  die  höheren 
Fachschulen  (Lehrerseminar,  Akademie,  Polytechnikum,  Universität)  in 
Betracht. 

Die  „Erziehungsschulen",  unter  denen  R.  die  Volksschulen  in  ihren 
oberen  Klassen,  Realschule,  Oberrealschule,  Realgymnasium  und  Gymnasium 
versteht,  sollen  neben  Vermittelung  von  Kenntnissen  und  Fertigkeiten,  die  auf- 


174 


Berichte  und  Besprechungen. 


klärend  wirken  and  nutzbringend  auf  die  Fachschulen  vorbereiten,  vor  allem  in 
Verbindung  mit  dem  Hanse  für  die  Gemüts-  nnd  Charakterbildung  ihrer 
Zöglinge  Sorge  tragen.  Dieses  kann  aber  nur  durch  Verkleinerung  der 
einzelnen  Klassen  erreicht  werden. 

Praktischen  und  sittlichen  Nutzen  verspricht  sich  der  Verfasser  von 
einem  obligatorischen  Fortbildungsunterricht  für  unsere  Volksschuler, 
die,  einmal  der  Aufsicht  der  Lehranstalt  nicht  mehr  unterstellt,  nur  zu 
leicht  den  Versuchungen  zum  Opfer  fallen,  verwildern  und  die  Bahn  des 
Verbrechens  betreten. 

Auf  dem  Gebiete  des  Volksschulwesens  verlangt  R.  durchgehende 
Fachaufsicht,  wie  sie  bereits  im  höheren  Schulwesen  besteht.  Auch  er- 
scheint ihm  die  Errichtung  eines  besonderen  Unterrichtsministeriums 
dringend  geboten.  In  der  vielfach  erörtertem  Berechtigung^ frage  unserer 
höheren  Lehranstalten,  steht  er  auf  selten  derjenigen,  welche  eine  Gleich- 
berechtigung anstreben. 

In  Anbetracht  des  gesundheitschädigenden  Einflusses  der  Examina 
beiürwortet  er  den  Fortfall  der  Abiturientenprtifungen  und  hält  es  für 
ratsamer,  die  Entscheidung  über  die  Reife  der  einzelnen  Schüler  dem 
Lehrerkollegium  anheimzustellen.  Die  Berechtigung  zum  einjährigen  Dienst 
solle,  wenn  überhaupt  beibehalten,  nur  nach  Absolvierung  einer  Vollanstalt 
erteilt  werden. 

Was  schliesslich  die  Lehrerbildung  angeht,  so  wird  für  die  Volks - 
schullehrer  ein  Ausbau  der  Allgemeinbildung,  für  die  akademischen  Lehrer 
eine  Vertiefung  in  die  Pädagogik  angeregt.  Zu  diesem  Zwecke  sollte  auch 
von  den  Universitäten  durch  Errichtung  von  pädagogischen  Lehrstühlen 
etwas  gethan  und  mit  dem  antiquierten  Vorurteil,  dass  Pädagogik  blosse 
Technik  und  keine  Wissenschaft  sei,  gebrochen  werden. 

Auf  demselben  Standpunkte  wie  Rein  steht  auch  Professor  Friedrich 
Paulsen.  Er  kann  dem  von  ereterem  entworfenen  Programm  nur  zu- 
stimmen als  einem  Plane,  welcher  ausnehmend  geeignet  erscheint,  in  Zu- 
kunft der  Schule  als  Grundlage  zu  dienen.  Er  geht  die  von  Rein  ange- 
führten Punkte  der  Reihe  nach  durch,  die  von  ihm  hier  und  dort  noch  aus- 
geführt und  erweitert  werden.  Wir  heben  einiges  ans  diesem  Aufsatze 
hervor.  Paulsen  ist  der  Ansicht,  dass  die  Ausbildung  der  allgemeinen  Fort- 
bildungsschule nnd  des  niederen  Fachschulwesens  nicht  nur  eine  bedeutende, 
sondern  die  grösste  Aufgabe  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  sei.  Wenn- 
schon er  die  Beibehaltung  der  Gymnasialseminare  empfiehlt,  meint  er,  dass 
Seminar-  und  Probejahr  thunlichst  zusammenzulegen  und  dafür  nur  ein 
Jahr  (anstatt  der  üblichen  zwei)  anzusetzen  sei.  Neben  einem  eigenen 
Unterrichtsministerium,  das  unabhängig  vom  Ministerium  der  geistlichen 
Angelegenhelten  ist,  regt  er  auch  die  Einsetzung  eines  Landesschalrats  als 
oberste  Instanz  neben  ereterem  an,  welcher  sich  aus  dem  Lehrkörper  aller 
Stufen  zusammensetzt.  Schliesslich  sagt  P.,  und  wir  glauben  mit  ihm  noch 
viele  andere,  sei  auch  eine  Aufbesserung  der  Lehrergehälter  durchaus  er- 
wünscht und  der  allgemeinen  Sache  förderlich. 


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Berichte  und  ftesprechungen. 


175 


Der  Vorsitzende  des  deutschen  Lehrervereins,  Leopold  Clausnitzer' 
erblickt  die  wichtigste  Aufgabe  der  Zukunft  In  der  Gründung  einer  all- 
gemeinen Volksschule,  welche  in  den  ersten  Jahren  Kinder  aller  Stünde 
umfasst,  um  so  einen  organischen  Zusammenhang  zwischen  Volks-  und 
höherer  Schule  einerseits  herbeizuführen,  andererseits  aber  auch  um  den 
Standesdünkel  ein  wenig  zu  unterdrücken. 

Bedenken  mancher  Eltern,  dass  ihre  Schutzbefohlenen  in  der  Volks- 
schule durch  die  Berührung  mit  Kindern  aus  den  unteren  Schichten  der 
Bevölkerung  Schaden  an  Leib  und  Seele  nehmen  könnten,  weist  C.  zurück, 
da  die  Erfahrung  gelehrt,  dass  in  den  höheren  Lehranstalten  nicht  weniger 
schiechte  Elemente  zu  finden  sind,  die  schädlichen  Einfluss  auf  ihre  Mit- 
schüler ausüben  können. 

R.  Baumann,  Professor  in  Böttingen,  halt  gleichfalls  eine  allgemeine 
Elementarschule  für  wünschenswert,  in  der  neben  konfessionellem  Religions- 
unterricht, die  klassische  Litteratur  unseres  Volkes,  die  Naturwissenschaften, 
der  Handferti^keitsunter rieht  und  das  Zeichnen  vornehmlich  gepflegt  werden 
•ollen.  Die  Lehrkräfte  an  diesen  Anstalten  werden  ihre  Ausbildung  wie 
früher  auf  den  Seminaren  erhalten,  welche  ihren  Abschlnss  in  einem  ein- 
jährigen Universitätsstitdium  finden  möge. 

Auf  den  höheren  Schulen  tritt  Verfasser  für  Verminderung  des 
lateinischen  und  griechischen  Unterrichts  ein.  In  hygienischer  Beziehung 
stellt  er  5  tägliche  Unterrichts-  und  3  Arbeitsstunden  als  Maximum  dessen 
auf,  was  unsern  Schülern  zugemutet  werden  kann.  Die  Anstellung  von 
Schulärzten.  Einführung  von  Ruhetagen,  Abschaffung  des  Abiturienten- 
examens sind  ebenfalls  Punkte,  welche  in  gesundheitlichem  Interesse  Be- 
achtung verdienen. 

Höheren  Mädchenschulen,  die  zum  Besuch  der  Universitäten  berechtigen 
sollen,  steht  B.  nicht  abgeneigt  gegenüber.  Mit  Paulsen  verlangt  er  einen 
Oberunterrichtsrat  (Landessohulrat)  aus  30  -40  Mitgliedern  aller  Lehrkörper, 
der  einem  besonderen  Unterrichtsministerium  zur  Beratung  unterstellt  ist. 

D.  Dr.  K.  Schneider,  Wirklicher  Geh.  Oberregierungsrat  in  Berlin, 
bespricht  in  Heft  7  zunächst  die  Bedenklichkeiten,  welche  ein  Schulgesetz 
ev.  zur  Folge  haben  kann,  und  wendet  sich  dann  der  Unterrichtsminister- 
frage zu,  die  er  au9  mancherlei  Gründen  bejaht 

In  wenig  erfreulicher  Welse  läset  sich  Prof.  Uphues  in  Halle  über 
die  Leistungen  unserer  Gymnasien  ans,  bei  denen  er  einen  stetigen  Rück- 
gang konstatiert.  Er  fordert,  dass  in  Zukunft  der  Pflege  der  alten 
Sprachen  mehr  Zeit  gewidmet  werde  und  dass  die  Lehrer  mit  dem  Schüler 
von  vornherein  in  elementarster  Weise  Lateinisch  und  Griechisch  sprechen. 
In  Betreff  der  Schulaufsicht  erklärt  er  sich  gegen  eine  Umgestaltung  derselben. 

Prof.  E.  Bernheim  in  Greifswald  formuliert   seine  Wünsche  in 
folgenden  Sätzen: 

1.  Zur  Herbeiführung  eines  unserer  Zeit  und  unserer  Nation  würdigen 
Schulprogramms  ist  es  erforderlich,  dass  die  nationale  Bedeutung 
eines  einheitlichen  Unterrichts wesens  allgemeiner  erkannt  und  als 
allgemeines  Interesse  empfunden  werde. 


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176 


Berichte  und  Besprechungen. 


2.  Die  einseitige  Auffassung  der  Unterrichtsfragen  lediglich  von  den 
Sonderinte r essen  einzelner  Schulgattungen  und  Bildungsgrade  ans 
muss  im  nationalen  Gesatntinteresse  überwunden  werden;  den  Refonn- 
bestrebungen  der  technischen  Kreise  ist  daher  mit  ehrlicher  Würdigung 
der  technischen  Interessen  beizupflichten,  soweit  sie  nicht  gegen  die 
übrigen  Bildungsinteressen  Verstössen,  und  es  ist  unter  gebührender 
Wahrung  der  letzteren  ein  Gleichgewicht  technisch-realer  und  technich- 
humanistischer  Bildung  in  der  Unterrichtsorganisation  zu  erstreben. 

3.  Das  innere  Organisationsprinzip,  welches  ein  solches  Gleichgewicht 
ermöglicht,  ist  die  Differenzierung  des  Unterrichts  in  fakultativer 
Auswahl  der  Lehrfächer  bezw.  der  Bildungskurse,  nicht  nur  in  ver- 
schiedenen Schulgattungen,  sondern  auch  innerhalb  des  Lehrplanes 
jeder  Schule  von  den  Volksschulen  an  bis  zu  den  Hochschulen  in 
steigender  Mannigfaltigkeit  der  Auswahl,  doch  überall  unter  Fest- 
halten eines  gewissen  Masses  von  gemeinsamem  Bildungsstoff,  wie  es 
für  das  nationale  und  soziale  Leben  erforderlich  ist. 

Bemerkenswert  ist  auch  der  Beitrag,  den  J.  Tews  zu  obigem  Thema 
liefert.  Mit  der  gegenwärtigen  Theorie  und  Praxis  der  Unterrichtsarbeit 
vollauf  zufrieden,  hält  er  eine  Bestimmung  des  Lehrstones  für  wünschens- 
wert und  geboten.  Er  meint  ferner,  dass  das  XX.  Jahrhundert  berufen 
sei,  die  Volkselnheitschule  von  der  Grundklasse  der  Volksschule  bis  zum 
letzten  Semester  der  Universität  zu  schaffen.  Im  Anschluss  daran  setzt  er 
einen  einheitlich  gegliederten  Lehrerstand  mit  derselben  Vorbildung  voraus, 
sodass  der  Elementarlehrer  auch  die  Möglichkeit  habe,  in  späteren  Jahren 
an  den  Universitäten  zu  dozieren. 

Den  alten  Begriff  der  Erziehung  und  Bildung  bringt  er  zu  Falle  und  ersetzt 
ihn  durch  einen  andern,  indem  er  sagt,  dass  die  Schule  einen  Bildungsabschluss 
nicht  erzielen  könne  und  nicht  erzielen  solle,  sondern  vielmehr  in  ein  ge- 
wisses Tempo  und  eine  gewisse  Richtnng  der  Entwicklung  hineindrängen, 
die  erst  mit  dem  organischen  Verfall  des  erzogenen  Wesens  aufhöre.  Zur 
Realisation  dieser  Idee  empfiehlt  er  eine  systematische  Vereinigung  der  schon 
bestehenden  Unterrichts-  und  Vortragskurse,  öffentlichen  Vorträge,  Volks- 
unterhaltungsabende, Volksbibliotheken,  Lesehallen,  Museen  und  anderen 
gemeinnützigen  Institutionen.  Besonders  aber  sei  in  dem  Programm  einer 
doppelten  Fachbildung  der  heranreifenden  weiblichen  Generation  als  Mutter 
und  Berufsarbeiterin  Rechnung  zu  tragen. 

Die  interessanten  Ausführungen  C.  Andreaes,  der  zuletzt  das  Wort 
ergreift,  gipfeln  in  nachstehenden  fünf  Hauptforderungen: 

1.  Errichtung  von  Ministerien  für  Erziehungs-,  Unterrichts-  und 
Bildungsangelegenheiten. 

2.  Pflege  der  Pädagogik  auf  den  Hochschulen. 

3.  Ausbildung  aller  Lehrer  auf  den  Universitäten. 

4.  Einheitliche  Nationalbildung. 

5.  Möglichste  Einschränkung  der  Prüfungen. 

Aus  der  Zahl  der  übrigen,  recht  lesenswerten  Abhandlungen  der  Zeit- 
schrift seien  folgende  besonders  hervorgehoben: 


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Berichte  und  Besprechungen.  ijy 

E.  v.  Sallwtirk:  Die  pädagogische  Geschichte  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts in  Deutschland  (Heft  5). 

W.  Wilke:  Ueber  die  Grenzen  des  menschlichen  Anschauungsver- 
mögens. 

J.  Tews:  Die  allgemeine  Volksschule  und  die  höhere  Mädchenschule. 
H.  F.  Walsemann:  Vom   psychischen  Bilden  überhaupt  und  dem 
Verblaasen  der  Erinnerungsbilder  im  besonderen. 

Hans  Koch. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Natur  und  Schule.  Zeitschrift  für  den  gesamten  naturkund- 
lichen Unterricht  aller  Schulen.  Herausgegeben  von  B.  Lands- 
berg in  Alienstein  O.-Pr.,  0.  Schmeil  in  Magdeburg  und 
B.  Schmid  in  Bautzen.  1.  Band.  1.  und  2.  (Doppel -)Heft. 
Mit  14  Text  -  Abbildungen.  B.  G.  Teubner.  Berlin  und 
Leipzig.  1902.    112  S. 

Eine  Zeitschrift  zu  schaffen,  die  allein  dem  naturkundlichen  Unter- 
richte dient  und  den  Schulbetrieb  aller  seiner  Fächer  mit  gleichem  Interesse 
behandelt,  die  die  Einheitlichkeit  seiner  Ziele  im  Auge  behält  und  zu  deren 
Erreichung  ihre  ganze  Kraft  einsetzt,  die  es  sich  angelegen  sein  lässt,  die 
naturwissenschaftlichen  Errungenschaften,  seien  es  bedeutsame  Erkenntnisse, 
sei  es  die  aus  ihnen  fliessende,  dem  Bildungsideale  unserer  Zeit  entsprechende 
Weltanschauung,  der  Schule  zuzuführen  —  das  ist  der  Plan  der  Herausgeber 
bei  Begründung  der  vorliegenden  Zeitschrift. 

In  „Natur  und  Schule"  versprechen  die  Herausgeber  die  einzelnen 
Disziplinen  der  Naturwissenschaften  gleichmässig  zu  berücksichtigen.  So 
sollen  in  Zoologie  und  Botanik  die  anatomisch -morphologischen  und 
systematischen,  sowie  die  biologischen  und  physiologischen  Fragen  gleich 
eingehende  Behandlung  finden;  in  Physik,  Chemie  und  Mineralogie  soll 
sowohl  die  theoretische  als  auch  die  praktische  (technische)  Seite  zur 
Geltung  kommen,  üeber  die  neuesten  Forschungsergebnisse  und  Frage- 
stellungen zu  berichten,  neben  der  intellektuellen  und  moralischen  auch  der 
künstlerischen  Erziehung  unserer  Jugend  Rechnung  zu  tragen,  sind  weitere 
Aufgaben.  In  dem  Abschnitt  „Bücherbesprechungen"  soll  die  Zeitschrift 
insofern  eine  gewisse  Vielseitigkeit  aufweisen,  als  sie  möglichst  alle  auf  natur- 
wissenschaftlichem Gebiete  erscheinenden  und  für  die  Schule  nutzbar  zu 
machenden  wissenschaftlichen  Werke,  in  erster  Linie  aber  alle  bedeutenderen, 
unmittelbar  für  die  Schule  bestimmten  Bücher  in  Betracht  ziehen  wird. 
Entsprechend  soll  verfahren  werden  in  dem  Abschnitt  Zeltschriftenschau, 
sowie  bei  Berichten  über  Schulprogramme,  Versammlungen  usw.  Gute 
Abbildungen,  welche  sowohl  für  den  Lehrer,  als  auch  für  den  naturkund- 
lichen Unterricht  von  Wichtigkeit  sind,  sollen  nach  Möglichkeit  beigegeben 
werden.  In  einem  „Sprechsaal"  endlich  soll  Gelegenheit  zu  Anfragen 
didaktischer  oder  wissenschaftlicher  Art  und  zur  Diskussion  geboten  werden. 
Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  6 


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178 


Berichte  und  Besprechungen. 


Dies  sind  kurz  die  Aufgaben,  welche  sich  die  neue  Zeitschrift  nach 
der  Ankündigung  der  Herausgeber  stellt.  Aue  dem  Inhalt  des  1.  u.  2.  Heftes 
erwähnen  wir  die  Abhandlungen.  B.  Schmid:  Die  Entwicklung  der  Natur- 
wissenschaften im  19.  Jahrhundert,  ihr  Einnues  auf  das  Geistesleben  und 
die  Aufgaben  der  Schule.  F.  Penisen :  Die  Biologie  im  Unterrichte  der 
höheren  Schulen.  E.  Wagner:  Über  das  Zeichnen  im  naturgeschichtlichen 
Unterricht.  F.  Pfuhl:  Der  Pflanzengarten  an  der  höheren  Lehranstalt  — 
seine  Verwertung,  Anlage  und  Pflege.  J.  Walther:  Die  Geologie  in  der 
Schule.  P.  Matschie:  Neuere  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  Süuge- 
tierkunde. 

In  den  kleinen  Mitteilungen  veröffentlicht  O.Schmeil:  Zwei  Unterrichts- 
proben aus  der  Blütenbiologie.  B.  Landsberg  berichtet  Uber:  Das  Okapi, 
Ocapia  Johnstoni,  Ray- Lankaster.  Weiter  finden  sich  Aufsätze  über: 
Grösse  der  Tiere,  über  die  atmosphärische  Strahlenbrechung  des  Lichtes  und 
des  Schalles,  über  Industrie  und  Schule  u.  a.  Lehrmittelschau,  Besprechungen, 
Ver8ammlungsberichte,  Sprechsaal,  Programm-,  Zeitschriften- und  Bücherschau 
tiberschriebene  Abschnitte  bilden  den  Schluss.  Der  Aufsatz  von  Paulsen 
„Die  Biologie  im  Unterrichte  der  höheren  Schulen"  verdient  aus  mehreren 
Gründen  eine  Besprechung. 

„Wir  haben  begründete  Hoffnung,  es  werde  nicht  mehr  lange  dauern, 
bis  die  Forderung  anerkannt  wird ,  dass  jeder  gebildete  Mann  ein  grosses 
Stück  Biologie  kennen  muas,  um  diejenige  Stellung  einzunehmen,  die  für 
die  Beurteilung  der  Welt  erforderlich  ist."  Dieses  Wort,  das  Virchow  auf 
der  Schulkonferenz  des  JahreB  1900  sprach,  und  das  auf  der  vorjährigen 
79.  Versammlung  der  Naturforscher  und  Ärzte  zu  Hamburg  ein  vielstimmiges 
Echo  fand,  stellt  Prof.  Paulsen  an  den  Anfang.  Der  Ton  aller  Äusserungen, 
welche  die  von  dem  hochverdienten  Direktor  des  Naturhistorischen  Museums 
zu  Hamburg,  Prof.  Kraepelin,  angeregte  Verhandlung  „über  die  gegenwärtige 
Lage  des  biologischen  Unterrichts  an  den  höheren  Schulen"  hervorrief,  war  eine 
herbe  Verurteilung  jener  Vernachlässigung,  die  der  biologische  Unterricht  zur 
Zeit  au  allen  unseren  höheren  Schulen,  an  den  Realanstalten  wie  an  den 
Gymnasien,  erfährt.  Die  Hamburger  Verhandlungen  liefen  in  die  Auf- 
stellung von  neun  Thesen  aus,  in  denen  die  Durchführung  des  biologischen 
Unterrichts  durch  alle  Klassen  der  höheren  Schulen  als  eine  dringende 
Notwendigkeit  bezeichnet  wird. 

Aus  den  Gründen  für  diese  Notwendigkeit,  die  in  den  Verhandlungen 
von  einer  Reihe  hervorragender  Fachmänner  entwickelt  wurden,  hebt  Prof. 
Penisen  nur  den  hervor,  dass  „ohne  Biologie  kein  Verständnis  der 
philosophischen  Probleme  und  ihrer  Lösungen'4  möglich  ist.  Er  kommt  zu 
der  Folgerung:  „die  Schule,  die  auf  den  biologischen  Unterricht  Verzicht 
thut,  verzichtet  auf  den  interessantesten  und  wichtigsten  Teil  natur- 
wissenschaftlicher Erkenntnis,  den  Teil,  an  dem  die  Naturwissenschaften 
am  unmittelbarsten  mit  den  letzten  und  allgemeinsten  Fragen  menschlichen 
Erkennens  sich  berühren.  Sie  verzichtet  damit  zugleich  auf  den  Teil  der 
Naturwissenschaften,  dem  das  lebendigste  und  spontanste  Verlangen  der 
zum  Nachdenken  erwachenden  Jugend  entgegenkommt.    Wie  leidenschaft- 


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Iterichte  und  Besprechungen. 


179 


lieh  das  Interesse  für  diese  Fragen  in  dem  Lebensalter  des  Aufwachens  des 
spekulativen  Triebes  ist,  weiss  jedermann,  der  mit  der  Jugend  in  Berührung 
steht:  die  Aufnahme  des  entwicklungsgeschichtlichen  Gedankens  aus  irgend 
welchen,  wie  immer  getrübten  Quellen  wird  ziemlich  regelmässig  die  Ein- 
leitung dieses  Lebensabschnittes  ausmachen. 

Wie  kommt  es,  dass  bei  dieser  auf  der  Hand  liegenden  Wichtigkeit 
der  Sache  ein  biologischer  Unterricht,  abgesehen  von  dem  naturhistorischen 
Unterricht  auf  Unter-  und  Mittelstufe,  ein  eigentlich  biologischer  Unterricht, 
wie  er  erst  auf  der  Oberstufe  möglich  wäre,  ein  Unterricht,  der  die  inneren 
Lebensfunktionen  und  die  allgemeinsten  Verhältnisse  des  Lebens  zum 
Gegenstand  hätte,  auf  unseren  Schulen  bisher  fehlte  und  auch  in  Zukunft 
fortfahren  wird  zu  fehlen?  Denn  auch  die  neuen  Lehrpläne  von  1901  lassen 
es,  von  einem  Punkt  abgesehen,  bei  dem  alten  Stande. 

Von  den  verschiedenen  und  verschiedenartigen  Hemmnissen,  die  der 
Durchführung  des  biologischen  Unterrichts  auf  der  Oberstufe  entgegen- 
stehen, hebt  der  Verfasser,  von  anderen  z.  B.  der  Schwierigkeit  seiner 
methodologischen  Gestaltung  absehend,  nur  den  Mangel  an  Zeit  und  seine 
Gefährlichkeit  hervor.  Dem  ersten  Bedenken,  dem  Zeitmangel,  gegenüber 
macht  der  Verfasser  geltend,  dass  es  nach  seinem  Dafürhalten  möglich 
wäre,  „in  einem  Jahreskursus  in  der  Prima  mit  zwei  wöchentlichen  Stunden 
die  Hanptthatsachen  der  Biologie  so  weit  zur  Anschauung  zu  bringen  und 
die  Hauptprobleme  so  weit  zu  entwickeln,  als  es  in  Absicht  auf  die  Fragen 
der  Philosophie  und  Weltanschauung  erforderlich  wäre."  Seiner  Meinung 
nach  lassen  sich  die  wichtigsten  Dinge  schon  in  einer  Reihe  von  Vorträgen, 
die  ausserhalb  des  eigentlichen  Schulkursus  blieben,  vielleicht  in  Nachmittags- 
oder Abendstunden,  deren  Besuch  wahlfrei  wäre,  behandeln.  Dann 
würde  keine  Ueberbürdungsklage  stattfinden  können  und  ebensowenig  eine 
Beschwerde  über  Gewisaensbeängstigung  durch  Darwinismus  und  ähnliches. 
Uud  an  Wirksamkeit  würde  eine  solche  freiere  Form  des  Unterrichts 
hinter  der  Durchführung  eines  neuen  obligatorischen  Unterrichtsfaches 
vielleicht  nicht  zurückbleiben." 

Ueber  den  zweiten  Punkt,  die  Gefährlichkeit,  führt  Prof.  Paulsen 
u.  a.  folgendes  aus:  „Durch  die  ganzen  Verhandlungen  des  Hamburger  Tages 
ging  die  Empfindung,  das»  es  hohe  Zeit  sei.  mit  dem  System  der  Schul- 
heuchelei zu  brechen  und  endlich  dem  absurden  Gegensatz  Moses  contra 
Darwin  ein  Ende  zu  machen.  In  der  That,  es  ist  von  höchster  Wichtigkeit, 
dass  die  Schule  zu  dieser  Anschauung  ein  vernünftiges  Verhältnis  gewinnt. 
Die  Entwicklungslehre  überhaupt  vor  den  Schülern  zu  sekretieren,  nun,  es 
iebt  ja  niemand  mehr,  der  das  für  möglich  hält:  auf  tausend  Wegen  findet 
sie  Eingang,  hat  sie  längst  auch  jenseits  der  Kreise  der  Gymnasien  Eingang 
gefunden.  Die  Schule  muss  das  endlich  anerkennen,  sie  muss  davon  reden, 
der  pädagogische  cant,  womit  wir  an  der  Sache  mit  bösem  Gewissen  vorüber- 
schleichen, zerstört  das  Vertrauen  und  vernichtet  den  Glauben." 

Endlich  weist  der  Verfasser  darauf  hin,  wie  der  Lehrer  die  Bekannt- 
schaft mit  diesem  so  wichtigen  und  in  die  Zeit  so  tief  eingreifenden 
Oedankenkreis  seinen  Schülern  zu  vermitteln  haben  würde  und  schliesst 

6' 


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i8o 


Berichte  und  Besprechungen. 


seine  Betrachtungen  mit  der  Aufforderung  an  Herrn  Direktor  Kraepelin, 
der  die  Anregung  zu  der  in  der  That  unerläßlichen  Forderung  eines 
biologischen  Unterrichts  gegeben  hat,  nun  auch  den  Weg  zur  Erfüllung 
des  Bedürfnisses  zu  zeigen.  — 

Berlin.  Wilhelm  Eichler. 


Fritz  Reuter,  woans  hei  lewt  un  schrewen  hett.   Verteilt  von 
Paul  Warncke.  Mit  nägen  Biller.  311  Seiten.  Biographische 
Volksbücher  No.  56—63.   R.  Voigtländers  Verlag  in  Leipzig. 
Ungebunden  2  Mark,  gebunden  2  Mark  25  Pf. 
Ein  sympathisches,  willkommenes  Buch,  das  unter  den  vortrefflichem 
„Biographischen  Volksbüchern"  des  Voigtländerschen  Verlages,  sowie  in  der 
ganzen  Reuter  -  Litteratur  einen  hervorragenden  Platz  einnimmt  und  der 
reiferen  Jugend  willkommen  sein  wird!   Vor  allen  anderen  Biographien  des 
grossen  Dichters  zeichnet  es  sich  in  eigenartiger  Weise  dadurch  aus,  dass 
e6  in  dem  jedem  Deutschen  kräftig  anmutenden  Mecklenburgisch  geschrieben 
ist.   Die  Darstellung  ist  lebendig  und  lebenswahr.   Alle  vorhandenen  Quellen 
hat  der  Verfasser,  übrigens  selbst  ein  Mecklenburger,  offenbar  in  der  er- 
giebigsten Weise  benutzt,  daneben  auch  die  erst  vor  kurzer  Zeit  veröffent- 
lichten Briefe  Reuters  an  seinen  Vater.   Durch  Vergleichung  der  einzelnen 
Quellen  bringt  er  manche  Thatsachen,  die  noch  in  keiner  Reuter-Biographie 
zu  finden  sind.   Von  den  wohlgelungenen  Abbildungen,  darunter  neben 
einigen  anderen  seltenen  Bildnissen  ein  vortreffliches  Portrait  des  Dichters 
selbst,  interessiert  uns  vor  allem  die  markige  Gestalt  des  Onkel  Bräsig. 

Berlin.  W.  Krause. 


Aug.  Messer,  Die  Reformbewegung  auf  dem  Gebiete  de» 
preussischen  Gymnasialwesens  von  1882  bis  1901.  Leipzig, 
Teubn'er.  1901. 

Dieser  „historische"  Rückblick  auf  die  Reformbewegungen  der  letzten 
zwanzig  Jahre  ist  insofern  interessant  und  wertvoll,  als  er  überall  die 
letzten  Gründe  für  die  verschiedenen  umstrittenen  Ansichten  aufzuzeigen 
versucht  und  dabei  psychologische  Exkursionen  zu  machen  genötigt  ist,  die 
in  ihrem  Für  und  Wider  auch  für  die  Zukunft  beachtenswerte  Winke  ent- 
halten. Die  Schwankungen,  die  der  Lehrplan  der  preussischen  Gymnasien 
im  Verlaufe  des  letzten  Jahrhunderts  gezeigt  hat,  haben  ihren  eigentlichen 
Grund  in  der  Ueberfülle  der  Bildungsstoffe,  die  er  teils  von  vornherein, 
teils  im  Laufe  der  Zeit  in  sich  aufnahm,  also  in  dem  „Prinzip"  der  all- 
gemeinen Bildung,  das  von  der  breiten  Öffentlichkeit  laut  gefordert  wurde. 
Einerseits  sollten  die  Gymnasien  nicht  den  klassischen  Boden  unter  den 
Füssen  verlieren,  andererseits  jedoch  allem  Wissenswürdigen  der  Gegenwart 
Rechnung  tragen.  Dieser  Dualismus  in  der  Bildung  und  die  Forderung 
der  wechselseitigen  Beziehung  der  Unterrichtsfächer  aufeinander  wurden 


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Herkhte  und  Besprechungen. 


181 


geit  1*75  durch  Bonitz  als  oberster  Leitbegriff  der  Reorganisation  hingestellt. 
Die  Klagen  über  üeberanstrengung  der  Schüler,  über  Abwendung  der 
J  ugend  von  dem  nationalen  Leben  und  der  Kultur  der  Gegenwart,  über 
das  Berechtigungsmonopol  der  Gymnasien  u.  a.  führten  seit  den  80er  Jahren 
zu  immer  lebhafteren  Diskussionen  und  schliesslich  zu  Abänderungen  der 
Lehrverfassung.  Die  Vertreter  einer  durchgreifenden  Reform  verlangten 
«inen  lateinlosen  Unterbau  in  allen  3  Arten  höherer  Lehranstalten,  wie  er 
in  Altona  erprobt  war.  Das  Lateinische  mit  seinem  Reichtum  an  Formen 
sei  für  die  Sextaner  zu  schwer  und  biete  ihnen  zu  abstrakte  Stoffe.  In 
beider  Hinsicht  sei  das  Französische  geeigneter,  das  zugleich  eine  natür- 
liche Methode  der  Spracherlernung  gestatte,  wobei  die  praktische  An- 
schauung, die  unbewusste  Aneignung,  das  Lernen  nach  Analogieen,  die 
Entwickelung  des  Sprachgefühls  mitwirken.  Dagegen  erklärten  nun  freilich 
die  Gymnasien,  das  Lateinische  sei  für  einen  aufgeweckten  Sextaner 
keineswegs  zu  schwer,  er  habe  seine  Freude  an  dem  Erlernen  der  Formen, 
und  sein  Gedächtnis  sei  leistungsfähig ;  anders  allerdings  der  Tertianer,  der 
bereits  nach  Inhalt  verlange.  Ferner  spreche  für  das  Lateinische  die 
naive,  ehrliche  Art  der  Gedankenausprägung  in  dieser  Sprache,  die  der 
kindliehen  Art  so  nahe  liege.  Daas  hier  die  natürliche  Methode  der  Sprach- 
erlernung nicht  anwendbar  sei,  empfehle  das  Lateinische  gerade  als 
Anfangsstoff  für  wissenschaftliches  Arbeiten.  Auf  der  Dezember-Konferenz 
1890  wurde  auch  behauptet,  dass  man  mit  der  Vorausnähme  des  Franzö- 
sischen an  einigen  Orten  ungünstige  Erfahrungen  gemacht  habe;  seien 
doch  die  Formenlehre  und  die  Syntax  des  Französischen  nach  der  Ansicht 
vieler  ebenso  schwierig  als  die  des  Lateinischen.  Wenn  man  ausserdem 
die  unteren  Klassen  entbürde,  so  müsse  das  notwendig  zu  einer  Ueber- 
bürdung  in  den  mittleren  Klassen  führen.  Wenn  der  lateinlose  Unterbau 
schulpolitisch  ein  Mittel  sei,  die  Organisation  der  höheren  Schulen  den 
Forderungen  des  Lebens  anzupassen,  so  frage  es  sich  doch,  ob  dies  je  die  Absicht 
des  Gymnasiums  sein  dürfe.  Das  Lateinische  habe  jedenfalls  Anspruch  auf 
allgemeingiltige  Wertschätzung;  es  sei  notwendig  für  jede  tiefere  historische 
Auffassung  und  ein  unentbehrlicher  Bestandteil  der  allgemeinen  Bildung; 
es  sei  didaktisch  wertvoll,  weil  es  dem  Schüler  eine  relativ  einfache  Kultur- 
welt vorführe;  es  sei  „formal  bildend"  durch  Erziehung  zur  sprachlichen 
Genauigkeit,  ferner  ethisch  und  ästhetisch  wirkungsvoll. 

Im  Anschluss  an  das  Programm  der  Reformfreunde  stellten  dagegen 
M.mner  wie  Göring,  Lange,  Güssfeld  Forderungen,  die  alle  bestehenden 
Verhältnisse  ignorierten  und  aus  den  bestehenden  Schulen  eigenartige 
deutsch-nationale  Erziehungsstätten  machen  wollten,  in  denen  zugleich  der 
körperlichen  und  ästhetischen  Bildung  ein  breiter  Raum  gewährt  würde. 

Der  fernere  Streit  konzentrierte  sich  um  die  Frage  der  formalen  Bil- 
dung; darunter  verstand  und  versteht  man  etwa  eine  solche,  die  sich  von 
der  Materie,  an  der  sie  erworben  wurde,  gewlssermassen  loslöst  und  sich 
einer  andern  Materie  gegenüber  fruchtbar  geltend  macht.  Sie  wird  ge- 
wöhnlich als  eine  Eigenschaft  des  Verstandes  —  dieser  als  Seelenvermögen 
gedacht  —  betrachtet,  die  durch  Uebung  in  höherem  oder  geringerem  Grade 


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Berichte  und  Besprechungen. 


sich  erwerben  lässt.  Vom  Standpunkt  der  Association  spsychologie  oder  des 
Herbartschen  Vorstellungsmechanismus  aas  wird  ihre  Existenz  allerdings 
geleugnet,  hier  giebt  es  nur  materiale  Bildung,  d.  h.  Vorstellungen  und 
Vorstellungeverbindungen,  die  an  bestimmten  Wissensgebieten  haften.  Will 
man  jedoch  der  Thatsache,  „dass  Uebung  den  Meister  macht",  psychologisch 
gerecht  werden,  so  muss  man  nach  Messer  einer  mittleren  Grundanschauung 
folgen,  indem  man  nicht  nur  die  seelischen  Inhalte,  sondern  daneben  auch 
die  seelischen  Akte  oder  die  realen  Vorgänge,  denen  die  Inhalte  ihr  Dasein 
verdanken,  berücksichtigt.  Diese  zuständlichen  Bedingungen  der  Inhalte 
kann  man  als  Vermögen  bezeichnen,  die  teils  als  ruhende,  teils  als  auf 
Reize  wartende  Kräfte  zu  fassen  sind,  ev.  als  formale  Anlagen.  Die  Ver- 
standesthätigkeit  hat  man  als  Analyse  and  Synthese  znsammengefasst,  nach 
beider  Richtung  ist  der  Verstand  ganz  gewiss  steigerungsfähig. 

Die  bildende  Wirkung  des  fremdsprachlichen  Unterrichts  bezieht  sich 
auf  zwei  Dinge,  auf  das  Sprechen  und  das  Denken;  jenes  wird  klarer  bewusst 
und  logischer,  freilich  niemals  bei  der  natürlichen  Spracherlernuug,  sondern 
nur  beim  Gebrauch  der  grammatischen  (=  wissenschaftlichen)  Methode.  Ob 
nun  aber  die  alten  Sprachen  den  modernen  an  logischem  Charakter  über- 
legen  und  darum  für  die  logische  Schulung  wertvoller  sind,  dürfte  sich 
kaum  mit  mathematischer  Genauigkeit  feststellen  lassen.  Der  logische 
Bildungswert  der  Sprachen  tritt  in  den  Uebersetzungsübnngen  deutlich  zu 
Tage,  und  man  erkennt  ihren  förderlichen  Einfluss  auf  die  intellektuelle 
Erziehung. 

Da  die  einseinen  Sprachen  den  Erfahrungsinhalt  in  verschiedener 
Weise  ausdrücken,  die  Dinge,  ihre  Eigenschaften  und  Beziehungen  nach 
andern  Merkmalen  ansehen  und  gliedern,  so  wird  beim  Eindringen  in  eine 
fremde  Sprache  der  Gedanke  von  dem  sprachlichen  Ausdruck  getrennt, 
und  daher  werden  die  Merkmale  jedes  Begriffes  bewusster  erfasst;  dazu 
kommt,  dass  die  ganze  geistige  Struktur  verschiedener  Völker:  Gemüts- 
zustände, innere  Vorgänge,  sittliche  und  schönheitliche  Ideale,  stark  von 
einander  differieren,  sodass  nicht  nur  eine  Uebersetzung  der  Worte,  sondern 
zugleich  ein  Hineinversetzen  in  andere  geistige  Prozesse  nötig  ist.  Wenn 
beim  Uebersetzen  in  die  fremde  Sprache  vielleicht  noch  das  gedächtnis- 
mässige  Wissen  stark  zur  Geltung  kommt,  so  findet  jedenfalls  beim  Her- 
übersetzen eine  strenge  analytische  und  synthetische  Thätigkeit  statt,  ein 
wirkliches  wissenschaftliches  Arbelten,  durch  welches  der  Sinn  jedes  Satzes 
mühsam  festgestellt  werden  muss. 

Die  Folgerungen,  die  man  aus  den  Erörterungen  namentlich  über  den 
altsprachlichen  Unterricht  für  die  Gestaltung  des  höheren  Schulwesens  zog, 
ergaben  sich  nicht  mit  logischer  Notwendigkeit,  sondern  Hessen  viel  Sub- 
jektives erkennen.  Manche  wollten  die  innere  Verfassung  der  Gymnasien 
und  ihre  äussere  Rechtsstellung  unter  allen  Umstünden  wahren,  andere 
traten  gerade  als  Freunde  der  klassischen  Bildung  für  Gleichberechtigung 
sämtlicher  9klassigen  Anstalten  ein,  noch  andre  verlangten  eine  das  Gym- 
nasium und  Realgymnasium  verschmelzende  höhere  Einheitsschule  mit  Bei- 
behaltung des  Griechischen.   Auf  diese  Folgerungen  hier  näher  einzugehen 


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muss  Bich  Referent  versagen.  Die  Dezemberkonferenz  vorn  Jahre  18(>0  und 
die  Lehrpläne  von  1892  und  1901  brachten  den  Gymnasien  eine  starke  Be- 
schränkung des  klassischen  Unterrichts  und  nahmen  ihnen  zugleich  das 
Berechtigungsmonopol,  beides  durch  das  Eingreifen  des  Trugers  der  Krone. 
Ein  Urteil  über  Wert  und  Bedeutung  dieser  Veränderungen  abzugeben, 
hegt  weder  in  dem  Sinne  dee  Verfassers  noch  des  Referenten,  da  eben  zu 
viele  subjektive  Momente  dabei  mitspielen.  Die  Zukunft  wird  die  sichere 
Entscheidung  darüber  bringen,  ob  und  wieviel  antike  Beimischungen  zu 
unseren  modernen  Bildnngsstoffen  notwendig  erscheinen,  um  eine  zeit- 
gemässe  allgemeine  Bildung  zusammenzusetzen,  die  der  Wissenschaft  und 
dem  praktischen  Leben  in  gleicher  Weise  an  gute  kommt.  Bi«  dahin  wird 
die  Darstellung  der  erlebten  Meinungen  und  Kampfe  in  der  erschöpfenden 
und  objektiven  Art  Messers  vielfach  zur  Orientierung  dienen  können. 

-s. 


Fritz  Mauthner:  Beiträge  zu  einer  Kritik  der  Sprache.  I.  Bd.: 
Sprache  und  Psychologie.  Stuttgart,  J.  G.  Cotta  Nachf. 
1901.    657  S.   M.  12.— 

Verf.,  der  sich  als  Journalist  und  Dichter  einen  geachteten  Namen 
geschaffen  hat,  versucht  in  diesem  gross  angelegten  Werke,  seinen  dialek- 
tischen Scharfsinn  und  seine  staunenswerte  Belesenheit  der  Diskussion 
eines  bedeutsamen  wissenschaftlichen  Problemes  nutzbar  zu  machen.  So 
anerkennenswert  der  Fleiss  ist,  mit  dem  der  Verf.  in  jahrzehntelanger 
mühseliger  Sammelarbeit  ein  weitschichtiges  Material  aufgehäuft  und  mit 
zahllosen  geistreichen  Bemerkungen  durchsetzt  und  aneinander gesch weisst 
hat,  so  ist  doch,  an  dem  kritischen  Massstabe  wissenschaftlicher  Leistungen 
gemessen,  der  Gewinn  dieses  Werkes  nicht  annähernd  so  gross,  als  man 
nach  der  aufgewandten  Mühewaltung  erhoffen  möchte  und  als  der  Verf. 
selber  in  begreiflichem  Ueberschwange  der  Begeisterung  erhofft;  zumal  sich 
M.  nicht  nur  über  die  Bedeutung,  sondern  auch  über  die  Originalität  seiner 
Paradoxieen  vielfach  Illusionen  unterworfen  zeigt. 

Der  Gedankengang  des  Werkes,  dessen  systematischer  Zusammenhang 
ungewöhnlich  viel  zu  wünschen  übrig  lässt  und  dessen  Durchsichtigkeit 
durch  eine  Unzahl  von  Abschweifungen  und  Abweichungen,  Wiederholungen 
und  Widersprüchen  in  erheblichem  Masse  getrübt  wird,  soll  im  folgenden 
kurz  extrahiert  werden. 

Im  ersten  Teile  der  umfangreichen  Arbeit  wird  das  Wesen  der  Sprache 
behandelt  „Die  Sprache"  ist  ein  Abstraktum,  dem  nichts  Wirkliches  ent- 
spricht Der  Begrill'  „Sprach vermögen"  ist  überflüssig  und  absurd.  In  Wirk- 
lichkeit existieren  nur  die  Individuais  prachen,  die  als  Ausübung  der  Sprach- 
thätigkeit  seitens  der  einzelnen  Menschen  zum  Zwecke  gegenseitiger  Ver- 
ständigung aufzufassen  sind.  Niemand  kennt  seine  Muttersprache  völlig,  da 
die  dem  Volke  gemeinsame  Sprache  nur  zwischen  den  Menschen,  nur  „in 
der  Luft"  existiert.  Die  Kenntnis  fremder  Sprachen  ist  noch  weniger 
möglich. 


184 


Beruhte  und  Besprechungen. 


Die  Sprache  ist  kein  Gebrauchsgegenstand  und  kein  Werkzeug,  sondern 
sie  ist  ihr  Gebrauch  selbst.  Sie  ist  Gemeineigentum  und  als  solches  bis 
heute  die  einzige  Einrichtung  der  Gesellschaft,  die  wirklich  schon  auf 
sozialistischer  Grundlage  beruht.  Auch  die  Erkenntnis  ist  eine  soziale  Er- 
scheinung, wie  die  Werturteile  der  Ethik  und  der  Aesthetik  beweisen.  Die 
Entwicklung  alles  Denkens  ist  auf  den  Kampf  ums  Dasein,  auf  biologische 
Notwendigkeit,  auf  die  Not  des  Individuums  zurückzuführen.  Die  Gemein- 
samkeit unserer  Sinnesdaten,  die  im  Grunde  genommen  zufalliger  Natur 
sind,  beruht  daher  ebenso  wie  die  Allgemeingültigkeit  unseres  Denkens 
auf  der  Verwandtschaft  aller  Organismen.  DaB  Wissen  ist  ein  Gesellschaf  ts- 
spiel,  dem  die  Sprachkritik  nur  eine  neue  kleine  Spielregel  hinzufügen  soll. 

Alle  Worte  sind  Metaphern.  Trotzdem  ist  die  Macht  der  Worte  ausser- 
ordentlich gross,  wie  die  Beispiele  der  Hypnose,  des  menschlichen  im  Gegen- 
satze zum  tierischen  Geschlechtstriebe,  ferner  das  Wort  „Tugend"  beweisen. 
Die  suggestive  Gewalt  der  Worte,  die  uns  alle  in  ihren  Bann  zwingt,  spielt 
im  realen  Leben  eine  oft  verkannte,  ausschluggebende  Bolle. 

Andererseits  leisten  die  Worte  ungemein  häufig  der  Entstehung  von 
Missverständnissen  Vorschub.  Die  Unzulänglichkeit  der  Sprache  in  dieser 
Beziehung  erklärt  sich  aus  ihrer  Entwicklung,  die  ein  Altern  der  Worte 
und  Begriffe  zuwege  bringt.  Je  abstrakter  die  Worte,  desto  missverständ- 
licher. Daher  spricht  und  versteht  kein  Mensch  die  Sprache  des  anderen. 
Die  vielbeklagte  Synonym ie  ist  nicht  die  Ursache  dieses  Missverstehens. 
Der  Staat  sollte  sich  scheuen,  die  Kinder  zum  Erlernen  sinnleerer  Begriffe 
zu  zwingen,  wie  es  so  häufig  in  der  Schule  geschieht.  Alle  geistige 
Thätigkeit  der  besten  Denker  besteht  in  der  verbesserten  Definition  der  von 
ihnen  gebrauchten  abstrakten  Worte. 

Der  Wert  der  Sprache  ist  nicht  mit  teleologischen  Phrasen  zu  be- 
stimmen. Die  Frage  muss  lauten,  ob  die  menschliche  Sprache  ein  nütz- 
liches Werkzeug  für  die  Welterkenntnis  sei.  Diese  Frage  muss  verneint 
werden.  Das  wirkliche  Wissen  eines  Menschen,  die  Erkenntnis  der  Wirk- 
lichkeit kann  durch  die  Sprache  niemals  bereichert  werden,  da  alle  ver- 
meintlichen sprachlichen  Erkenntnisse  sich  in  tautologischen  Formen  be- 
wegen. Höchstens  spiegelt  uns  die  Sprache  in  „f rechen«  Abstraktionen 
eine  Erkenntnis  vor,  die  sich  aber  bei  näherer  Betrachtung  als  eine 
Illusion,  als  ein  Windhauch  erweist. 

Dagegen  ist  die  Sprache  ein  hervorragendes  Kunstmittel:  nicht  Er- 
kenntniswerte, sondern  lediglich  künstlerische  Stimmungen  vermag  sie  zu 
vermitteln.  Schon  die  Enge  des  Bewusstseins,  die  uns  nur  2—3  Worte 
gegenwärtig  zu  halten  gestattet,  schliesst  eine  wissenschaftliche  Erkenntnis 
aus.  Wir  können  zwei  Sätze  nicht  miteinander  vergleichen,  also  auch 
nicht  ihren  wissenschaftlichen  Wert  prüfen,  weil  wir  sie  nicht  zugleich 
denken  können.  Es  giebt  also  keine  Wort -Wissenschaft,  da  der  Begriffs- 
inhalt der  Worte  in  stetem  Wandel  begriffen  ist  und  vermöge  der  Enge 
unseres  Bewusstseins  nicht  auf  die  Dauer  festgehalten  werden  kann.  Es 
giebt  nur  eine  Wort-Kunst,  die  Poesie.  Poesie  ist  Sinnenreiz  durch  Worte, 
und  zwar  sollte  sie  nicht  durch  sinnlose,  sondern  durch  möglichst  anschau- 


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■ 

Bericht*  und  Besprechungen. 


liehe  Worte  wirken,  in  der  Epik  ebenso  wie  in  der  Lyrik  und  Dramatik. 
Selbst  die  Zusammenfassung  der  Einzelvorstellungea  zu  sogenannten  All- 
gemein Vorstellungen  ist  die  That  eines  dichterischen  Genies.  Der  metapho- 
rische Charakter  der  Sprache  setzt  ihrer  Anschaulichkeit  allerdings  eine 
Grenze.  Maeterlinck's  Poesie  ist  ein  Beweis  für  die  Wertlosigkeit  der 
Sprache.  Durch  Worte  lassen  sich  weniger  Anschauungen  als  Stimmungen 
vermitteln ;  im  Grunde  genommen  gewilhrt  auch  die  poetische  Sprache  niemals 
Anschauung,  sondern  immer  nur  Bilder  von  Bildern  von  Bildern.  Tote 
Metaphern  sollte  auch  die  poetische  Sprache  vermeiden.  Ais  Kronzeuge  für 
den  Kunstwert  der  Sprache  wird  im  Gegensatze  zu  Lessing  und  Schiller 
besonders  Goethe  aufgeführt,  während  die  Thätigkeit  der  Journalisten  und 
der  Massenmenschen  als  „Schwatzvergnügen"  gebrandmarkt  wird. 

Trotzdem  die  Worte  nichts  Reales  sind,  können  sie  doch  zu  Handlungen 
begeistern  oder  verführen. 

Der  Wortaberglaube  spielt  im  gemeinen  Leben  und  in  der  Wissenschaft 
eine  grosse  Rolle.  Götter  sind  Worte.  Worte  sind  Götter,  nur  Götter. 
Die  sogenannten  Religionen  sind  die  abgelebten  Formen  der  vergangenen 
Weltanschauungen,  deren  gegenwärtige  Form  sich  als  Wissenschaft  brüstet- 
Ausserhalb  der  Kritik  der  Sprache  giebt  es  in  der  ganzen  Geistesarbeit 
unserer  Gegenwart  nichts  Wissbares.  Die  Artbegriffe  des  gewöhnlichen 
wissenschaftlichen  Schwätzens  müssen  als  mythologische  Figuren  erkannt 
werden. 

Denken  ist  Sprechen.  Es  giebt  kein  Denken  ohne  Sprechen,  das 
heisst  ohne  Worte.  Es  giebt  gar  kein  Denken,  es  giebt  nur  Sprechen. 
Sowohl  die  Thätigkeit  des  Verstandes,  das  Ausdeuten  der  Sinneteindrticke, 
wie  auch  die  Thätigkeit  der  Vernunft  ist  an  die  Worte,  die  Sprache  ge- 
knöpft oder  vielmehr  mit  ihr  identisch.  Schon  die  einfachste  Selbst- 
beobachtung lehrt,  dass  das  Denken  immer  ein  inwendiges  Vergleichen  von 
Erinnerungszeichen  ist,  ebenso  wie  die  Sprache,  soweit  sie  wirklich  ist,  aus 
Bewegungszeichen  besteht.  Das  vorsprachliche  Denken  ist  ein  Beobachten, 
ein  allmähliches  Sammeln  von  Aehnlichkeiten,  ein  Aufmerken,  ein  Einüben 
der  Gedächtnisbahn,  das  so  lange  fortgesetzt  wird,  bis  die  neue  Bekanntschaft 
das  Bedürfnis  erzeugt,  sie  durch  ein  Zeichen  festzuhalten.  Das  letzte  Wort 
in  dieser  Frage  kann  allerdings  von  der  Sprachkritik  nicht  gesprochen 
werden.  Sofern  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  ungenau  schon  als 
Denken  bezeichnet  werden,  giebt  es  jedenfalls  ein  Denken  ohne  Sprechen. 
Denken  als  Assoziation  von  Empfindungen  oder  Wahrnehmungen  mit  Vor- 
stellungen oder  von  Vorstellungen  untereinander  kann  aber  niemals  ohne 
Sprache  stattfinden. 

„Um  sich  zu  verständigen,  haben  die  Menschen  sprechen  gelernt  Die 
Kultursprachen  haben  die  Fähigkeit  verloren,  den  Menschen  über  das 
Gröbste  hinaus  zur  Verständigung  zu  dienen.  Es  wäre  Zeit,  wieder  schweigen 
zu  lernen." 

Der  zweite  grössere  Abschnitt  des  Werkes  betitelt  sich:  Psychologie 
der  Sprache  und  Sprache  der  Psychologie. 


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l86  Berichte  und  Besprechungen. 

Eine  Wissenschaft  von  der  Seele  kann  es  nicht  geben,  weil  sich 
unsere  Sinnesorgane  nicht  nach  innen  wenden  lassen,  weil  wir  keine  Sinnes- 
organe für  unsere  „Seele"  haben ;  darum  bestrebt  sich  die  neuere  Psychologie 
physiologisch  zu  werden.  Physiologie  kann  aber  niemals  Psychologie  sein. 
Die  mögliche  Fragestellung  für  die  Psychologie  ist  noch  nicht  gefunden. 

Die  „Seele"  ist  ein  leeres  Wortgespenst.  Das  beweist  die  Geschichte 
des  Seelenbegriffes.  Die  Lehre  vom  Parallelismus  ist  eine  reine  Wort- 
macherei.  Nach  dem  Sitz  der  Seele  zu  fragen,  ist  absurd.  Ob  man  Tieren 
und  Pflanzen  eine  Seele  zusprechen  will,  ist  Sache  des  Sprachgebrauches; 
prinzipiell  ist  ihre  Organisation  der  des  Menschen  analog  zu  setzen. 

Der  Kausalbegriff  ist  mit  der  Lehre  vom  Parallelismus  nicht  zu  ver- 
einigen. Das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Energie  ist  mit  Stumpf  auch  auf 
dag  geistige  Gebiet  anwendbar».  .Der  Begriff  der  auslösenden  Ursache  ist 
nicht  geeignet,  die  Schwierigkeiten  der  Aequivalenz  zwischen  Physischem 
und  Psychischem  ans  der  Welt  zu  schaffen.  Der  Parallelismus  ist  zu  ver- 
werfen. Das  „Ignorabimus"  Du  Bois-Reymond's  ist  eine  Anmassung.  Dxr 
schlichter  Sinn  ist,  wie  die  sprachliche  Analyse  des  Wissensbegriffes  ergiebt: 
„wir  werden  den  Uebergang  des  Körperlichen  in  das  Seelische  niemals 
gesehen  haben." 

Die  psychologische  Terminologie  besteht  aus  lauter  Wortfetischen  und 
Personifikationen.  Die  Seelenvercnögen  treiben  noch  immer  ihr  verstecktes 
Spiel  in  der  sogenannten  Seelenlehre,  das  heisst  in  der  Lehre  vom  Nerven- 
kreislauf. Mitleid,  Liebe,  Ortssinn,  Empfindung,  Gefühl  und  WÜle  sind 
solche  Gespenster,  die  je  eher,  je  lieber  aus  der  Wissenschaft  hinausgeworfen 
werden  sollten. 

Das  Verhältnis  der  sogenannten  Seele  zu  den  Sinnen  ist  durch  den 
sensuali8ti6chen  Satz  gekennzeichnet  worden:  es  ist  nichts  im  Intellekte, 
was  nicht  vorher  in  den  Sinnen  war.  In  Wahrheit  sind  auch  unsere  Sinne 
nur  Zufallssinne;  für  Töne,  Wärme,  Licht  sind  sie  empfindlich,  aber  der 
Unzahl  der  dazwischenliegenden  Schwingungen  sind  sie  zufälligerweise 
nicht  angepasst.  Alle  Sinnesempfindungen  sind  daher  normale  Sinnes- 
täuschungen, unfähig,  die  Wirklichkeit  zu  erkennen.  Ebenso  wie  die  durch 
die  konkreten  Substantivs  ausgedrückten  Dinge  keine  objektive  Wirklichkeit 
haben,  ebenso  wie  die  Verba  nur  Symbole  des  wirklichen  Geschehens  sind, 
ebenso  sind  auch  die  Adjektiva,  die  die  Eigenschaften  der  Dinge  bezeichnen 
sollen,  in  Wahrheit  nur  normale  Täuschungen,  veränderliche  subjektive  Er- 
scheinungen. Alle  unsere 

gegründet.  Die  Projektion  unserer  Sinneseindrücke  nach  aussen  ist  bedingt 
durch  die  Erinnerung  an  frühere  Sinneseindrücke,  die  uusera  Verstand, 
dus  heisst  unsere  Sprache,  die  Ursache  aller  Wirkungen  nach  aussen  ver- 
legen lässt. 

Die  Idee  der  Zufallssinne  lässt  sich  schon  bei  Lessing  nachweisen,  der 
vielleicht  durch  Leibniz  und  Spinoza  dazu  angeregt  wurde.  Bei  Nietzsche 
findet  sie  sich  schon  klar  ausgesprochen.  Aber  Nietzsche  war  zu  eitel, 
auch  zu  sehr  Dichter  und  Unmoraltrompeter,  als  dass  er  eine  Sprachkritik 
hätte  schaffen  können.  Die  Ausbildung  der  jetzt  gegebenen  Sinne  ist  darauf 


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Berichte  und  Besprechungen. 


zurückzuführen,  dass  irgend  ein  relativ  zufälliger  Umstand  die  Aufmerk- 
samkeit der  Organismen  just  auf  diese  Schwingungszahlen  gerichtet  hat. 
An  elektrischen  Erscheinungen  hatte  der  Naturmensch  kein  Interesse ;  des- 
halb haben  wir  keinen  besonderen  Elektrizitätssinn.  Die  Amöbe  zeigt  uns 
den  Urzustand  des  Seelenlebens;  für  sie  ist  die  Welt  ein  Chaos  von 
Schwingungskreuzungen.  Aufmerksamkeit  oder  Interesse  ist  der  Faktor, 
der  aus  diesem  Urzustand  die  heutigen  Sinnesorgane  hat  entstehen  lassen, 
die  nicht  nur  einzeln  als  solche  zufällig  beschränkt  sind,  sondern  auch 
jedes  innerhalb  seiner  eigenen  Provinz  die  gleichen  zufälligen  Be- 
schränkungen erkennen  lassen.  Das  interessierende  Moment  liegt  in  der 
Leichtigkeit  der  Einübung,  in  der  Bequemlichkeit  des  Wiedererkt-nnens 
oder  Vergleichens,  da  ja  alles  Denken  auf  Vergleichen  von  Sinneseindrücken 
zurückzuführen  ist.  Auch  die  Wellenschwingungen,  die  wir  der  Welt  das 
Ding  an  sich  zuschreiben,  sind  übrigens  nur  Metaphern,  und  zwar  Metaphern 
von  Sinneseindriieken. 

Allem  unserem  Denken  ist  Subjektivität  und  Relativität  eigen.  All 
unser  vermeintliches  Erkennen  ist  vergleichendes  Klassifizieren  auf  Grund 
von  Aehniichkeiten.  Gleichheit  giebt  es  nirgends  in  der  Welt:  auf  der 
Aehnlichkeit  und  ihrer  Ueberschätzung  beruht  die  Möglichkeit,  Vorstellungen 
zu  Begriffen  m  verbinden. 

Wie  das  Urphänomen  der  Wirklichkeit  das  Beharren  ist,  so  ist  das 
Beharren  der  einmal  aufgenommenen  Sinneseindrücke  das-  Urphünomen 
alier  geistigen  Thätigkeit.  Das  Gedächtnis,  das  ja  auch  nach  Hering  eine 
allgemeine  Funktion  der  organischen  Materie  ist,  ist  daher  der  SchliUsel 
für  alle  Rätsel  der  Sprache  und  des  Seelenlebens.  Jede  Erinnerung  ist  eine 
Aktion,  und  zwar  eine  Bewusstseinsänderung,  welche  zwei  Nervenzustünde 
vergleicht.  Das  Gedächtnis  hat  überall  die  Tendenz,  ein  automatisches  Ge- 
dächtnis, also  eine  Art  Instinkt  zu  werden ;  zuerst  bewusst,  das  heisst  mit 
einem  gewissen  Aufwände  von  Arbeit  erworben,  wird  es  durch  unzählige 
Wiederholungen  schliesslich  unbewus6t  zum  ererbten  Instinkte  in  den  Nerven- 
bahnen. Dabei  ist  nicht  das  Gedächtnis  als  solches  eine  Wirklichkeit,  sondern 
nur  die  einzelnen  Erinnerungsakte.  Die  Einzelerinnerungen  enthalten  sehr 
häufig  ein  Zeitmoment;  sie  unterliegen  den  Gesetzen  der  Assoziation.  Ja, 
Gedankenassoziationen  und  Gedächtnisthätigkeiten  sind  identische  Erschei- 
nungen. Jede  Psychologie  muss  deshalb  Associationspsychologie,  oder 
anders  ausgedrückt,  Psychologie  der  Sprache  sein.  Erinnerung  ist  aber  nicht 
nur  das  bewusste  Denken,  sondern  jede  Uebung,  jede  vegetative  Funktion 
des  Organismus,  jede  Vererbung  beruht  darauf.  Da  auch  das  stille  Denken 
sich  nicht  ohne  lühlbare  Wortartikulationen  vollzieht,  so  ist  Denken  und 
Sprechen  nicht  anderes  als  Bewegungserinnerung.  Unsere  Sprache  besteht 
also  nicht  aus  Schall-,  sondern  aus  Bewegungsempfindungen ;  ebenso  wie  «Jas 
Urphänomen  der  körperlichen  Welt  Bewegungen  sind.  Wirklichkeitswelt 
und  Erkenntniswelt  führen  auf  den  gleichen  Vorgang  der  Bewegung  zurück, 
der  allerdings  für  uns  auch  nur  ein  Wort  bedeutet.  Das  Wesen  des  Ge- 
dächtnisses ist,  dass  es  unzuverlässig  ist,  indem  es  Aehnliche6  gleich  setzt, 
ebenso  wie  dies  bei  der  Begriffsbildung  der  Fall  ist.    Hierin  gleicht  das 


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i88 


Berichte  und  Besprechungen. 


Gedächtnis  der  biologischen  Erblichkeit,  bei  der  die  Anpassungen,  das  heisst 
die  Fehler  der  Erblichkeit,  schliesslich  zur  Quelle  jedes  Fortschrittes  werden. 
Ohne  Vergessen  gäbe  es  kein  Gedächtnis,  kein  Denken,  keine  Sprache. 
Abstraktion  ist  nichts  weiter  als  Vergessen,  als  ein  Ausscheiden  oder  Ent- 
fernen von  verdauten  Empfindungen.  Da  das  bewussto  Gedächtnis  auf 
einem  Hemmungsvorgang  beruht,  sofern  der  glatte  Lauf  der  Nervenprozesse 
einen  Ruck  erfährt,  so  sind  die  unbewussten  Apperzeptionen  leicht  ver- 
ständlich. Der  Fortschritt  des  menschlichen  Denkens,  das  heisst  die  Ent- 
wickelung  des  menschlichen  Sprachschatzes,  ist  demnach  nichts  als:  das 
durch  Entgleisungsstösse  veranlasste  Bemerken  von  Unterschieden  zwischen 
ähnlichen  Dingen,  das  Wahrnehmen  der  Verschmelzungsfehler,  das  Erkennen 
der  Begriffsmängel  und  endlich  die  resignierte  Anwendung  zusammen- 
fassender Begriffe,  trotz  dieser  erkannten  Mängel.  Weltanschauung  ist  eine 
bestimmte  Richtungsgewohnheit  der  Assoziation;  Individualität  nichts 
weiter  als  der  Sprachschatz  eines  Individuums. 

Bei  jeder  Thätigkelt  der  Aufmerksamkeit  wird  Arbeit  geleistet.  In 
Wirklichkeit  ist  die  Aufmerksamkeit  nichts  anderes  als  die  Empfindung 
einer  Anstrengung.  Talent  ist  Aufmerksamkeit.  Zerstreutheit  entsteht 
entweder  aus  Interesse  oder  aus  Interesselosigkeit  und  ist  nichts  weiter  als 
eine  subjektive  Auffassung  desselben  Vorganges,  der  der  Aufmerksamkeit 
zu  Grunde  liegt.  Der  Bewusstseinszustand  im  Traume  und  in  der  Hypnose 
ist  als  gesteigerte  Aufmerksamkeit  aufzufassen.  Am  letzten  Ende  ist  Auf- 
merksamkeit gleich  Anpassungsarbeit  des  Gedächtnisses.  Die  Aufmerksamkeit, 
auch  die  sogenannte  willkürliche,  ist  immer  unfrei,  ebenso  wie  der 
Wille  unfrei  ist.  Urteilen  und  Schliessen  kommt  zustande,  dadurch 
dass  wir  unsere  Aufmerksamkeit  über  die  Begriffe  hinbewegen  und 
bald  auf  die  eine,  bald  auf  die  andere  Seite  einer  tautologischen 
Gleichung  achten  und  Wert  legen.  Alle  Wahnsinnsformen  sind  Ge- 
dächtniskrankheiten. Genie  ist  eine  seltene  Gehirneigenschaft,  nach 
der  Erinnerungen  selbständig  wuchern,  gewissermassen  Neubildungen 
erzeugen.  Da  das  Gedächtnis  eine  Funktion  der  organischen  Materie  ist, 
so  muss  jede  Psychologie  panpsychistisch  sein. 

Der  Zustand,  der  in  den  Bahnen  der  sensiblen  Nerven  durch  Einübung 
entsteht,  ist  das  Gedächtnis.  Der  Zustand,  der  durch  die  Einübung  in 
der  motorischen  Nerven  entsteht,  ist  die  Gewohnheit.  Bewusstsein  ist 
auch  der  anorganischen  Natur  zuzuschreiben.  Bewusstsein  und  Gedächtnis  ist 
identisch,  synonym.  Enge  des  Bewusstseins  sollte  besser  Enge  des  Ge- 
dächtnisses heissen.  Die  Philosophie  des  Unbewussten  ist  abzulehnen,  da 
Hartmann  unbewusst  und  unbekannt  verwechselt. 

Verstand  ist,  mit  Schopenhauer,  die  Ausdeutung  der  Sinneseindrücke, 
das  Verstehen  der  Aussenwelt  durch  die  Sinne.  Vernunft  ist  das  sogenannte 
Urteilen  und  Schliessen  durch  Begriffe,  das  Spiel  der  Worte,  das  soge- 
nannte Denken.  Die  Wissenschaft  kann  nur  durch  den  Gebrauch  des 
Verstandes  weiter  kommen,  niemals  durch  Worte,  durch  Vernunft.  Ziffern 
sind  keine  Begriffe. 

Selbstbewusstsein  ist  ein  überflüssiges  Wort.  Es  ist  identisch  mit  dem 


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Bericht*  und  Besprechungen. 


189 


Ichgefühl.  Dm  Ich  ist  die  Summe  aller  ererbten  and  erworbenen  Be- 
wegungserinnerungen. 

An  der  Erkenntnis  der  Wirklichkeitswelt  müssen  wir  für  immer  ver- 
zweifeln, trotzdem  wir  an  ihre  Existenz  glauben.  Die  "Wissenschaft  bezieht 
sich  immer  nur  ani  die  Welt  der  Erscheinungen.  Erkenntnistheorie  ist 
gleich  Sprachkritik,  welche  die  einzige  Wissenschaft  ist.  Objektive  Wahr- 
heit ist  nicht  möglich;  sie  ist  ein  metaphysischer  Begriff. 

Philosophie  als  Selbsterkenntnis  des  menschlichen  Geistes  ist  unmög- 
lich, wie  überhaupt  jedes  bleibende  System  unmöglich  ist.  Nur  in  be- 
scheidenem Sinne  als  ein  überlegenes  und  vergleichendes  Zusammenfassen 
leitender  Gedanken  der  Einzelwissensehaften  ist  Philosophie  möglich.  Im 
Grunde  genommen  kann  sie  nichts  weiter  sein  als  kritische  Aufmerksamkeit 
auf  die  Sprache.  Befreiung  von  der  Sprache  muss  das  letzte  Ziel  der 
Philosophie  und  der  Sprachkritik  sein. 

Haben  wir  versucht,  in  dieser  Weise  in  möglichst  engem  Anschlüsse 
an  den  Autor  ein  Bild  seiner  Ausführungen  zu  geben,  so  möchten  wir  der 
Gerechtigkeit  halber  hinzufügen,  dass  dieses  Bild  nur  ein  schematisches 
und  ungenaues  sein  kann,  einmal,  weil  um  die  reproduzierten  Gedanken- 
gange sich  ein  tippiges  Gewinde  zahlloser,  in  allen  Farben  schimmernder 
Gedankenblüten,  geistreicher  Apercus  und  vager  Paradoxleen  rankt;  sodann 
aber,  weil  diese  Gedankengänge  selbst  häufig  eine  weitgehende  Unklarheit,  Zer- 
fahrenheit und  Sprunghaftigkeit  aufweisen,  die  ihre  getreue  Wiedergabe  er- 
schwert. Was  den  sachlichen  Gehalt  des  Werkes  betrifft,  so  ist  zunächst  die 
Stellung  des  Problemes  rückhaltlos  anzuerkennen.  Es  ist  unbedingt  notwen- 
dig, immer  und  immer  wieder  darauf  hinzuweisen,  dass  die  Wissenschaft  sich 
hüten  muss,  abstrakte  Begriffe  zu  hypostasieren  und  der  logisch- 
grammatischen Bedeutung  der  Worte  einen  ontologischen  Sinn  unter- 
zuschieben. Obwohl  dieser  Gedanke  nicht  etwa  von  M.  zuerst  gefaxt 
worden  ist,  sondern  in  der  Geschichte  der  Philosophie,  besonders  aber  in 
der  neueren  Psychologie  glücklicherweise  immer  wieder  betont,  wenn  auch 
häufig  nicht  gebührend  berücksichtigt  worden  ist.  Abgesehen  von  diesem 
leitenden  Grundgedanken,  besteht  die  Lehre  M.'s  zum  Teil  aus  allbekannten 
und  der  Wissenschaft  geläufigen  Erkenntnissen,  zum  anderen  Teile  aus 
phantastischen,  weit  über  das  Ziel  hinausschiessenden  Paradoxieen  auf  der 
Basis  einer  Popularphilosophie,  für  die  Darwin,  trotz  alles  Leugnens,  der 
Tagesheilige  ist.  Dass  „die  Sprache",  „die  Seele",  „das  Bewusstsein",  „der 
Wille",  „die  Aufmerksamkeit"  etc.  leere  Abetrakta  sind,  dass  alle  Worte 
konventionelle  Symbole  und  Metaphern  sind,  dass  eine  Erkenntnis  der 
transcendentalen  Welt  prinzipiell  unmöglich  ist:  alle  diese  und  viele 
andere  Behauptungen  des  Verfassers  sind  Gemeinplätze  der  Wissenschaft, 
die  in  wissenschaftlichen  Sonntags-Feuilletons  verbreitet  werden  sollten, 
aber  nicht  mehr  in  gelehrten  Büchern  umständlich  begründet  zu  werden 
brauchen.  Trotzdem  ist  die  Folgerung  unberechtigt,  dass  die  Wissenschaft, 
aufhören  sollte,  sich  der  Sprache  zu  bedienen.  Metaphysische  Wahrheiten 
verlangen  wir  heutzutage  weder  von  der  Philosophie,  noch  von  irgend 
einer  anderen  Wissenschaft.    Wir  begnügen  uns  vielmehr  in  allen  Wissen 


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190 


Berichte  und  Besprechungen. 


Schäften  mit  der  Erforschung  des  Zusammenhanges  der  Erscheinungen. 
Denn  nur  die  Erscheinungswelt,  in  der  wir  leben,  hat  Interesse  für  uns; 
und  zwar  nicht  nur  das  Interesse  der  Verdauung,  der  Vermehrung  und 
der  Eitelkeit  (!),  wie  M.  meint,  sondern  vielleicht  doch  noch  eine  Reihe 
anderer,  ernsterer  Interessen.  Dabei  vergessen  auch  wir  nicht,  dass  die 
Erscheinungswelt  nur  ein  Bild  der  Wirklichkeit  ist,  und  ein  unvollkommenes 
und  lückenhaftes  dazu.  Aber  sie  ist  nicht  blosser  Traum;  und  es  ist  keine 
leere  Illusion,  den  konventionellen  Symbolen,  mit  deren  Hilfe  wir  uns 
über  die  Erscheinungswelt  orientieren  und  verstandigen,  einen  gewissen 
realen  Wert  beizulegen.  Auch  unsere  Geldmünzen  haben  nur  konventionellen, 
symbolischen  Wert;  trotzdem  bedienen  wir  uns  ihrer,  um  reale  Wirkungen 
zu  erzielen.  Erst  wenn  wir  den  symbolischen  Charakter  der  Begriffe  und 
des  Geldes  vergessen  und  ihnen  eine  absolute,  transzendentale  Wertung 
supponieren,  erst  dann  fallen  wir  in  Irrtümer  und  Missverständnisse.  A-peu- 
pres  ist  gewiss  niemals  gleich  absolut,  aber  es  ist  auch  niemals  gleich  Null. 
Wenn  also  auch  unser  Erkennen  und  unsere  Sprache  sich  der  Wirklichkeit 
Immer  nur  asymptotisch  nähern  kann,  so  ist  doch  auch  diese  Annäherung  von 
praktischem  und  wissenschaftlichem  Werte.  Man  vergleiche  das  berühmte 
Kind  und  die  nicht  minder  berühmte  Badewanne. 

In  einigen  Einzelheiten  seiner  Ausführungen  zeigt  der  Verf.  eine 
Beobachtungsgabe  und  eine  analytische  Befähigung  von  überraschender 
Höhe.  So  sind  besonders  im  zweiten  Teile  des  Werkes  eine  Reihe  von 
Bemerkungen  enthalten,  die  der  Psychologie  nur  zur  Bereicherung  dienen 
können;  wie  z.  B.  ein  Teil  der  Ausführungen  über  das  Gedächtnis,  die  Auf- 
merksamkeit, das  Ich  und  anderes  mehr.  Andererseits  freilich  hält  sich 
H.  nicht  frei  von  den  Fehlern,  die  er  anderen  nachweist.  Er  giebt  statt 
sachlicher  Erwägungen  allzu  häufig  kühne  Analogieen  und  Wort- Analysen. 
Und  es  entlockt  dem  kritischen  Le6er,  den  M.  sich  wünscht,  manches 
ironische  Lächeln,  wenn  er  zusieht,  wie  M.  an  Stelle  eines  Wortfetisches, 
den  er  bekämpft,  mit  feierlichem  Pomp  und  Getöse,  nicht  ohne  begrüssende 
Ansprachen  und  formvollendete  Toaste,  einen  auf  neu  aufgearbeiteten 
Wortpopanz  setzt.  Die  vielgeliebten  Zufallssinne,  die  Darwinsche  Ver- 
erbungsmythe, das  Hering'sche  Gedächtnisgespenst  sind  solche  Popanze, 
auf  die  M.  wortabergläubisch  —  wie  die  Kellner  und  Narren,  würde  M. 
sagen  —  sein  System  gründet,  um  sich  freilich,  ein  echter  Satiriker,  hinter- 
her selbst  deswegen  zu  bespötteln.  Ist  das  nicht  „schlimm",  „böse", 
„schmerzlich",  „traurig",  „furchtbar",  „schreckenerregend",  „verzweifelt", 
„entsetzlich"? 

In  der  Form  seiner  Ausführungen  hat  sich  M.  noch  mehr  als  im 
Inhalte  derselben  Nietzsche  zum  Vorbild  genommen,  von  dem  er  ja  auch 
die  Konfusion  des  genetischen  und  des  kritischen  Gesichtspunktes 
gläubigen  Sinnes  übernommen  hat  In  der  That  ist  seine  Sprache  eigen- 
artig und  anziehend,  vielfach  sogar  blendend  und  faszinierend.  Zwischen- 
durch freilich  laufen  grobe  und  tadelnswerte  Geschmacklosigkeiten,  wie 
2.  B.  wenn  er  auf  die  Religion  oder  auf  die  Majestätsbeleidigungen  zu 
sprechen  kommt  oder  besonders,  wenn  er  die  abweichenden  Meinungen 


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Berichte  und  Ilesprechungen. 


anderer  Schriftsteller  bekämpft.  Es  wäre  leicht,  in  dieser  Hinsicht  eine 
Blätenlese  ans  M.'s  Werk  zusammen  zu  stellen,  gegen  die  der  „Häringsalat" 
Börne  s  wie  ein  Lehrbuch  der  Komplimente  erscheint.  Wenn  die  Sprache 
eines  Menschen  wirklich  das  Wesen  seiner  Individualität,  nicht  nur 
eine  symptomatische  Begleiterscheinung  derselben  wäre,  so  sind  die 
Konsequenzen  aus  dieser  Thatsache  für  Herrn  Manthner  recht  beschämend. 

Im  ganzen:  eine  Kritik  der  Sprache,  die  fruchtbringender  sein  sollte 
als  diejenige  M/s,  miisste  weniger  Sprache  und  mehr  Kritik  enthalten; 
eine  Forderung,  die  freilich  nur  für  denjenigen  Sinn  hat,  der  entgegen  M. 
Sprechen  und  Denken  nicht  für  identisch  hält. 

Leo  Hirschlaff. 


Mitteilungen. 

Professor  v.  LIszt  und  die  Reform  des  Straf  rechts. 

Der  Straf rechtslehrer  an  der  hiesigen  Universität  Geh.  Justizrat  Fianz 
v.  Liszt  hielt  in  der  Internationalen  Vereinigung  für  vergleichende  Rechts- 
wissenschaft einen  Vortrag  über  die  auf  der  Tagesordnung  des  nächsten 
Juristentages  stehende  Frage,  ob  eine  Keform  unseres  Strafgesetzbuchs  not- 
wendig sei  und  nach  welchen  Grundsätzen  seine  Umgestaltung  erfolgen 
müsse.  Dabei  wurde  die  Kriminalität  der  Kinder  besonders  beleuchtet. 
Dass  unser  Strafgesetzbuch,  dessen  baldige  Revision  schon  bei  seiner  Ent- 
stehung allseitig  ins  Auge  gelaust  wnrde,  unserem  heutigen  Rechtsbewusstsein 
nicht  mehr  entspricht  und  den  Bedürfnissen  unseres  Rechtslebens  nicht  mehr 
gerecht  wird,  dass  es  also  sozialethisch  uud  sozialpolitisch  veraltet  ist,  diese 
Ueberzetigung  hat  sich  mit  steigender  Klarheit  unserem  Volke  aufgedrängt. 
Innerhalb  des  Verbrechertums  haben  sich  im  Zusammenhang  mit  unserem 
ganzen  sozialen  Leben  grosse  Veränderungen  vollzogen.  Und  zwar  beziehen 
sich  diese  Veränderungen  nicht  nur  auf  das  gewerbsmässige ,  sondern  auch 
auf  das  nichtgewerbsmässige  Verbrechertum.  Es  sind  die  „Minderwertigen", 
die  Neurastheniker,  die  unter  dem  Einfluas  des  Alkoholmissbrauchs,  des  ver- 
schärften Kampfes  ums  Dasein  , .vermindert  zurechnungsfähig*' Gewordenen, 
die  dem  nichtgewerbsmässigem  Verbrechertum  unserer  Tage  den  Stempel 
aufdrücken.  Das  bürgerliche  Recht  gestattet  ein  staatliches  Eingreifen  hier 


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192 


Mitteilungen. 


nur  dem  Alkoholiker  gegenüber,  das  Strafrecht  erweist  sich  allen  diesen 
Gruppen  gegenüber  als  völlig  machtlos.  Mit  seiner  schroffen  Scheidung  der 
Zurechoungs-  und  Unzurechnungsfähigen  paast  es  nicht  für  eine  Zeit,  in 
der  die  Falle  verminderter  Zureebnungsfähigkeit  in  bisher  unbekannter  Zahl 
und  Gemeingefährlichkeit  auftreten.  Nicht  anders  liegt  es  bei  dem  jugend- 
lichen Verbrechertum.  Die  Entwicklang  der  Industrie,  der  Fabrikbetrieb 
haben  das  Kind  im  schulpflichtigen  Alter  der  Sorgfalt  der  Familie  beraubt, 
es  in  das  Erwerbsleben  hinausgestossen  und  damit  einen  früher  ungeahnten 
Umfang  und  eine  erschreckende  Gefährlichkeit  der  Verwahrlosung  hervor- 
gerufen. Das  Bürgerliche  Gesetzbuch  hat  mit  seiner  Gestaltung  der  Fürsorge- 
erziehung und  seinen  Eingriffen  in  die  väterliche  Gewalt  dem  Rechnung  ge- 
tragen. Das  Straf  recht  ist  auch  hier  steril  und  der  neuen  Erscheinung 
gegenüber  machtlos  geworden.  Seine  Umgestaltung  ist  also  notwendig. 
Sie  ist  aber  auch  möglich.  Mag  bei  dem  jetzigen  Reichstag  die  Gefahr  der 
Rtickwärtsre  vidierung  vorliegen,  die  Vorarbeiten  werden  Jahre  erfordern, 
und  dann  können  die  Verhältnisse  günstiger  sein.  Für  jetzt  handelt  es  sich 
nur  darum,  den  ganzen  Juristenstand  aufzurufen  zur  Inangriffnahme  der 
Vorarbeiten,  und  hieran  können  die  Vertreter  der  beiden  einander  gegen- 
überstehenden wissenschaftlichen  Richtungen  der  klassischen  wie  der 
modernen  Schule,  in  gleicher  Weise  mitwirken.  Ja,  ohne  diese  Verständigung 
unter  ihnen  ist  das  künftige  Strafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  un- 
möglich. Es  handelt  sich  nicht  um  wissenschaftliche  Meinungen,  sondern 
um  eine  Gesetzgebungsarbeit  Deterministen  und  Indetermi  nisten,  sie  beide 
erkennen  die  Verantwortlichkeit  an.  Dies  aber  genügt  für  den  Gesetzgeber. 
Ganz  gleichgiltig  für  ihn  ist  es,  wie  jede  der  beiden  Schulen  wissenschaftlich 
die  von  ihr  statuierte  Verantwortlichkeit  rechtfertigt  und  ob  sie  dies  über- 
haupt thut.  Nimmt  die  klassische  Schule  die  bedingte  Verurteilung  an,  so 
verschlägt  es  nichts,  wie  sie  diese  von  dem  Standpunkt  des  Vergeltungs- 
gedankens aus  begründet. 

Steht  die  Notwendigkeit  der  Reform  ausser  Frage,  ist  auch  ihre  Mög- 
lichkeit gegeben,  so  fragt  es  sich  weiter:  Wie  zu  Werke  gehen?  Dabei 
werden  wir  nicht  ignorieren  dürfen,  was  in  anderen  Ländern  an  neuen 
Gesetzen  und  neuen  Entwürfen  zu  Tage  gefördert  ist.  Für  eine  Vereinigung 
für  Rechtsvergleichung  bietet  sich  hier  ein  reiches  Feld  der  Bethätigung. 
Die  erste  grundlegende  Aufgabe  der  Reform  muss  sein  die  Verständigung 
über  das  Straf ensystem  des  künftigen  Gesetzbuchs.  Dabei  ist  anzuknüpfen 
an  das  Strafensystem  des  geltenden  Rechts  und  testzuhalten  an  zwei  Haupt- 
forderungen: Der  erziehenden  Behandlung  der  Besserungsfähigen  und  der 
Sicherung  der  Gesellschaft  gegenüber  den  unverbesserlichen  und  gemein- 
gefährlichen Verbrechern.  Was  die  erziehende  Behandlung  der  Besserungs- 
fähigen, insbesondere  der  Jugendlichen  anbelangt,  so  ergiebt  sich  als  erster 
Grundsatz  die  Heraufsetzung  der  bisherigen  Altersgrenze  der  Strafmündigkeit 
von  12  auf  14  Jahre.  Gegen  diese  Forderung  hat  sich  vor  wenigen  Tagen 
im  Reichstage  der  Staatssekretär  des  Reichsjustizamts  ausgesprochen,  indem 
er  auf  die  hohen  Ziffern  der  Kriminalität  von  Kindern  zwischen  12  und 
14  Jahren,  sowie  die  dabei  zu  Tage  getretene  verbrecherische  Intensität 


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M:tteüungen. 


*93 


hinwies  und  betonte,  dass  nur  ein  Zehntel  onter  den  der  That  UeberfÜhrten 
wegen  mangelnder  Einsicht  in  die  Strafbarkeit  der  Handlung  freigesprochen 
»i.  Hätta  der  Staatesekretär  mit  dem  Schluss,  den  er  ans  deü  von  ihm 
angegebenen  Zahlen  zog.  Recht,  dann  müssten  wir  das  Strafmündigkeitsalter 
sogar  herabsetzen.  Denn  schon  beim  10jährigen  Kinde  zeigt  sich  oft  der- 
selbe HanjLj  znr  Kriminalität  wie  beim  12jährigen  und  unter  den  jugendlichen 
Diebesbanden,  die  der  Staatssekretär  erwähnte,  sind  Sicher  auch  Kinder  von 
0  und  10  Jahren  begriflen.  Aber  beweisen  nicht  gerade  die  Ausführungen 
des  Staatssekretärs  lediglich  unsere  Anschauungen?  Wir  haben  stets  gesagt, 
dass  wir  auf  Grund  des  geltenden  8trafrechts  nicht  erreichen,  was  wir  er- 
reichen wollen,  dass  sich  schon  im  frühesten  Kindesalter  solche  sittliche 
Verwilderung  vielfach  zeigt,  dass  der  spätere  Berufsverbrecher  zumeist 
senon  in  frühester  Jugend  bestraft  war,  dass  intensivere  Massregeln  ein- 
treten müssen.  Daher  wollen  wir  dem  Richter  das  Recht  geben,  bis  zum 
14.  Jahre  die  eingreifende  Massregel  der  staatlich  überwachten  Erziehung 
anzuordnen.  Und  zwischen  dem  14.  und  21.  Jahre  soll  der  Richter  in  jedem 
einzelnen  lalle  völlig  frei  prüfen  dürfen,  ob  Strafe  oder  staatlich  überwachte 
Erziehung  zu  erfolgen  hat.  Die  Feststellung,  Welche  das  geltende  Recht 
vorschreibt,  eh  der  Jagendliche  die  zur  Erkenntnis  der  8  traf  barkeit  erforder- 
liehe Einsicht  besessen  hat,  und  die  damit  dem  Richter  gegebene  Richt- 
schnur für  die  Von  ihm  anzuordnenden  Massregeln  kommt  mithin  in  Weg- 
fall. Wir  wollen  deü  Richtet  von  der  Fessel,  nur  das  intellektuelle  Moment 
berücksichtigen  zu  dürfen,  befreien  und  lediglich  massgebend  sein  lassen, 
ob  die  Besserung  dnrch  Fürsorgeerziehung  noch  zu  erwarten  ist,  oder  ob 
die  Verhängnng  der  Strafe  unvermeidlich  erseheint.  In  den  ty.«  Fällen,  in 
denen  nach  des  Staatssekretärs  Angabe  von  dem  Richter  wegen  mangelnder 
Einsicht  der  Jugendlichen  nicht  gestraft  worden  ist,  sondern  Erziehtin gs- 
massregeln  verhängt  wurden,  hat  sich  der  Richter  sicher  mehr  von  ver- 
ständigen sozialpolitischen  Erwägungen  als  juristischen  Gesichtspunkten 
leiten  lassen.  Dass  Raub,  Diebstahl  u.  s.  w.  strafbar  sind,  werden  auch 
diese  Kinder  alle  gewusst  haben.  Ihnen  fehlte  dagegen  die  sittliche  Reife, 
und  dieser  Mangel  wurde  verständigerweise  durch  Erziehung,  nicht  durch 
Strafe  zu  ergänzen  versucht.  Dass  dem  Richter  damit  ein  zu  weiter  Spiel- 
raum gewährt  wird,  brauchen  wir  nicht  zu  befürchten.  Man  denke  nur 
daran,  dass  die  lex  Heinze  dem  §  362  des  Strafgesetzbuchs  die  Fassung 
gegeben  hat,  dass  sogar  die  Polizei  jetzt  bestimmen  darf,  ob  sie  eine  Dirne 
in  das  harte  Arbeitshaus  oder  in  eine  Besserungsanstalt  oder  in  ein  so  ganz 
anders  und  milder  geartetes  Magdalenenstift  unterbringen  will.  Und  da 
sollte  man  Bedenken  tragen,  dem  Richter  die  von  uns  geforderten  Befugnisse 
einzuräumen  ? 

Der  Staatssekretär  hat  dann  auch  von  der  bedingten  Verurteilung 
gesprochen  und  erwähnt,  dass  nur  in  etwa  67  v.  H.  der  Fälle,  In  denen 
man  von  der  bedingten  Begnadigung  Gebrauch  gemacht  habe,  sich  ein 
günstiges  Resultat  ergeben  habe.  Aber  auch  dies  ist  nicht  beweisend.  Wenn 
unter  zwei  Millionen  Verurteilungen,  die  alljährlich  im  Deutschen  Reiche 
stattfinden,  nur  etwa  8000  Mal  die  Wohlthat  der  bedingten  Begnadigung 
Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie.  Pathologie  und  Hygiene.  7 


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194 


Mittelungen 


gewährt  wird,  also  zehnmal  weniger  als  in  dem  kleinen  Belgion,  wenn  man 
weiter  erwägt,  dass  die  Massregel  bei  den  Uebertretungen  so  gut  wie  aus- 
geschlossen ist,  hier  also  der  Arme,  der  die  Geldstrafe  nicht  zahlen  kann, 
rettungslos  ins  Gefängnis  wandern  moss,  so  wird  man  zugeben  müssen,  dass 
die  geringe  Zahl  der  Fälle  und  die  Art,  in  der  von  der  bedingten  Begnadigung 
bei  uns  bislang  Gebrauch  gemacht  wird,  einen  Einfluss  auf  den  Gang  der 
Kriminalität  unmöglich  ausüben  kann.  Es  kommt  hinzu,  dass  bei  uns  die 
neue  Massregel  wesentlich  nur  bei  jugendlichen  Uebelthätern  Anwendung 
findet,  während  wir  sie  gerade  für  Erwachsene  fordern.  Nur  hier  kann  sie 
eine  Wirkung  haben.  Auf  das  Kind  wirkt  das  in  Zukunft  drohende  Straf- 
übel nicht  so,  dass  der  psychologische  Effekt,  den  die  in  der  Ferne  winkende 
Vollstreckung  zweier  Strafen  im  Falle  der  Begehung  einer  neuen  Strafthat 
hervorbringen  soll,  erreicht  werden  kann.  Dazu  vergisst  das  Kind  zu  leicht. 
Für  den  Erwachsenen  dagegen  hat  die  Massregel  einen  Zweck.  Die  Richtig- 
keit dieser  Auffassung  ergiebt  sich  gerade  auch  aus  dem  von  der  Reichs- 
regierung uns  mitgeteilten  Zahlen.  Hamburg,  dass  die  bedingte  Begnadigung 
auch  für  Erwachsene  eintreten  lässt  und  am  weitherzigsten  in  ihrer  An- 
wendung ist,  hat  die  günstigsten,  Baden,  das  am  rigorosesten  vorgeht,  die 
ungünstigsten  Zahlen.  Aus  diesen  Gründen  werden  wir  jetzt  gegenüber 
den  Ausführungen  des  Staatssekretärs  auf  die  reichsrechtliche  Regelung  der 
bedingten  Verurteilung  und  die  Umgestaltung  der  Gesetzgebung  betreffend 
die  Jugendlichen  das  Hauptgewicht  legen  müssen.  Für  diese  ist  folgende 
These  vorzuschlagen:  Jugendlichen  vom  14.  bis  21.  Lebensjahr  gegenüber 
ist.  soweit  nicht  Fürsorgeerziehung  eintritt,  Gefängnisstrafe  von  zwei  bis 
fünf  Jahren  als  Besserungsstrafe,  eventuell  mit  anschliessender  Fürsorge- 
erziehung anzuwenden.  Zwei  Jahre  muss  das  Minimum  sein,  da  sich  in 
kürzerer  Zeit  eine  bessernde  Wirkung  nicht  erzielen  lässt. 

Was  die  unverbesserlichen  und  gemeingefährlichen  Verbrecher  anbelangt, 
so  wurzelt  unsere  Hauptforderung  in  dem  Verlangen  auf  energische  Sicherung 
der  Gesellschaft  gegen  diese.  Gegen  gewerbsmässige  Verbrecher  hat 
Zuchthaus  nicht  unter  fünf  bezw.  nicht  unter  zehn  Jahren  einzutreten. 
Gemeingefährliche  Verbreeher,  die  wegen  Unzurechnungsfähigkeit  frei- 
gesprochen oder  wegen  verminderter  Zurechnungsfähigkeit  zu  milderer 
Strafe  verurteilt  werden,  sind,  und  zwar  erstero  sofort,  letztere  nach 
Verbüssung  der  Strafe,  durch  den  Strafrichter  in  Heil-  oder  Pflegeaustalten 
zu  verweisen.  Nur  so  lässt  sich  d^r  Zustand  vermeiden,  in  dem  wir  uns 
heute  befinden.  Unser  geltendes  Strafrecht  versagt  gegenüber  den  Fällen, 
in  denen  die  Zurechnungsiähigkeit  ausgeschlossen  oder  vermindert,  die 
Gemeingefährlichkeit  aber  ganz  wesentlich  erhöht  ist.  Es  kennt  hier  nur 
die  Wahl  zwischen  völliger  Freisprechung  oder  schwerer  Bestrafung.  Beides 
entspricht  weder  unserem  Gerechtigkeitsgefühl  noch  den  Grundsätzen  der 
Zweckmässigkeit.  Das  Strafensystem  wird  sich  hiernach  überaus  einfach 
gestalten.  Die  Deportation  scheidet  für  uns  aus.  Vor  der  Wiedereinführung 
der  Prügelstrafe  schützt  uns  auf  absehbare  Zeit  das  Ehrgefühl  unseres 
deutschen  Heeres.  Die  Zahl  der  Freiheitsstrafen  vermindert  sich  um  die 
Haft,  sodass  übrig  bleiben  die  beiden   möglichst  voneinander  zu  unter- 


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MitUüungen. 


l9S 


scheidenden  Freiheitsstrafen,  Besserungsstrafe  oder  Gefängnis  mitprogressivem 
Strafvollzug  und  die  Sicherungsstrafe  oder  Zuchthaus.  Die  Geldstrafe 
ist  umzugestalten  in  Gemässheit  der  Vorschlage  der  internationalen 
kriminalistischen  Vereinigung. 

In  der  Diskussion  erklärten  sich  sämtliche  Redner  mit  den  Vorschlägen 
Liszt's  einverstanden.  Gehelmrat  Professor  Kahl  erkannte  ebenfalls  die 
Notwendigkeit  der  Reform  des  Strafgesetzbuches  an,  schon  wegen  der  heute 
herrschenden  Inkongruenz  zwischen  Strafrecht  und  Zivilrecht.  Auch  alles, 
was  Liszt  sonst  über  die  Mängel  des  heutigen  Strafrechts  gesagt  habe,  sei 
durchaus  zu  billigen.  Er  habe  auch  richtig  diejenigen  Akkorde  angeschlagen, 
welche  die  Anhänger  der  Vergeltungstheorie  im  Strafrecht  zur  Mitarbeit  in 
dem  von  Llszt  gewünschten  Sinne  befähigten.  Denn  in  der  That,  es  handele 
sich  nicht  um  einen  Streit  der  Schulen,  und  daher  seien  die  Bedenken  des 
Mttncbener  Professors  Birkmeyer,  ebenfalls  eines  Gegners  der  modernen 
Richtung,  gegenstandlos,  so  weit  es  sich  um  ein  Zusammenarbeiten  auf 
legislativem  Gebiete  handele.  Endlich  erklärt  sich  Kahl  auch  völlig 
einverstanden  mit  der  von  Liszt  in  seinem  Vortrag  zwar  nicht  behandelten, 
aber  in  seinem  Gutachten  für  den  Juristentag  eingehend  begründeten  These: 
„Für  Bestimmung  der  Strafe  nach  Art  und  Mass  ist  in  erster  Linie  nicht 
der  äussere  Erfolg  der  That,  sondern  die  verbrecherische  (antisoziale) 
Gesinnung  des  Thäters  ausschlaggebend."  Auch  die  Anhänger  der  ver- 
geltenden Gerechtigkeit  müssen  sich  durchaus  damit  einverstanden  erklären, 
dass  ein  schwerer,  verhängnisvoller  Fehler  unseres  Gesetzes  in  der  über- 
triebenen Schätzung  des  äusseren  Erfolges  der  That  und  in  der 
Nichtberücksichtigung  der  inneren  Gesinnung  des  Thäters  liegt.  Die 
Individualisierung  nach  der  psychologischen  Seite  hin  ist  in  weit  höherem 
Masse  als  bisher  geschehen  ist,  zu  fordern.  Mit  grosser  Schärfe  wendet 
sich  auch  der  vortragende  Rat  im  Ministerium  des  Innern,  Krohne,  gegen 
das  geltende  Recht.  Auf  einem  der  internationalen  Geiängniskongresse 
habe  ein  geistreicher  Franzose  gesagt:  Es  gebe  drei  Clous  im  Straf  recht: 
die  Jugendlichen,  Vagabnnden  und  die  Rückfälligen.  Allen  drei  Gruppen 
gegenüber  hat  unser  geltendes  Recht  gründlichst  versagt.  Unter  lebhafter 
Zustimmung  der  Versammlung  wies  dies  Redner  aus  der  Fülle  seiner  grossen 
praktischen  Erfahrungen  an  der  Hand  reichen  Materials  nach.  An  der 
Debatte  beteiligte  sich  ausserdem  noch  im  Sinne  des  Vortragenden  Stadtrat 
Münsterberg  unter  besonderem  Hinweis  auf  die  Behandlung  der  Bettler 
und  Vagabunden.  (Nach  der  Voss.  Ztg.) 


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Bibliotheca  pädo-psychologica, 

Geschichte  und  Theorie  der  Erziehung  und  des  Unterrichts,  Methodik  der  Lehr- 
fächer, Schulorgan isatiort  in  Programmen,  Abhandlungen  und  Inaug.-Dissertationeu 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Jahre  1898/99. 

Fortsetzung. 

Koch,  Lothar,  Dr.:    Bericht  über  die  Abhaltung  des  2.  Cyklus  von  kunst- 

gctchichtlichen  Vorträgen  am  Gymnasium  zu  Bremerhaven.  (S.  14—18.) 

(Vgl.  Progr.  1898.)    Bremerhaven,  G  u.  R,  OP  1899. 
Köberlin,  Karl,  Dr.,  Prof.:    Rektor  M.  Hier.    Andreas  Mertens  und 

das  Gymnasium  bei  St.  Anna  in  Augsburg  in  den  letzten  Jahrzehnten 

de»  18.  Jahrhunderts.  (84  S.)  8*.  Augsburg,  k.  h.  G  bei  St.  Anna,  P  189». 
Köbnke,  H.l    Hamburgs  Schulwesen.    Eine  Sammlung  von  Gesetzen 

und  Verordnungen.    Hamburg:  Boysen  1900.   gr.  8°,  VI  u.  184  S. 
Kolbing,  Direktor  P.:     Bericht  des  theologischen  Seminariums  der 

Brüdergemeinde  in  Gnadenfeld  von  den  Studienjahren    1897/98  u 

1898/99.    Leipzig  1899)  Fr.  Jansa.   8°,  120  S. 
Kohlfchiuidt,  Emil :    Zar  Methodik  des  Unterrichts  der  allgemeine» 

Erdkunde  in  den  drei  oberen  Klassen  der  Realschulen.   (S.  3 — 25.)  4*. 

(F.)   Gotha,  st  R,  OP  1899. 
Keoitka,  J.:    Sittliche  Erziehung.    Aus  dem  Niederländ.  übers,  von 

E,  Müller.   Leipzig:  E,  Wunderlich,  1899.  8'. 
Korn  eck,  Gottfried:    Geschichte    der    höheren    Unterrichtsanstalt  zu 

Kempeft  in  Posen.   1.  T.:  Vorgeschichte  1837—1865.   Kempen  (Poseur, 

st.  PG,  OP  1898. 

Korten,  Ernst:  Ratgeber  für  Schulaufführungen.  (76  S.)  8*.  Elber- 
feld, OR,  OP  1899. 

Kossraann,  R.:  Die  Zulassung  der  Realschul- Abiturienten  zur  ärzt- 
lichen Prüfung.    Berl.  Aerzte-Corr,,  1900,  V,  89—92. 

Kramm,  Emil,  Dir.  Dr.:  Die  Feier  der  Einweihung  des  neuen  Schul- 
hauses. (Umschlagt.:  ...Im  Zusammenhang  hiermit  der  Umriss  der 
Geschichte  der  Anstalt.)    (S.  4—22.)    4*.    Saarlouis,  PG,  P  1899. 

Krause,  F.:  Der  Staat  als  Erzieher.  Päd.  Ztg.  XXVIII  (1899)  No.  43. 
43,  45. 

Kroiss.  K.:  Zum  naturkundlichen  Unterricht  in  der  Taubstummenschule. 
Organ  der  Taubst-Anst  in  Deutschld.,  1900,  Jahrg.  46,  8. 

Kühnel,  J. :  Lehrprobcn  aus  dem  Anschauungsunterricht  mit  metho- 
discher Begründung.    158  S.    Leipzig  u.  Berlin  1899:  J.  Klinkhardt. 

Kuhn:  Die  Lehrerpersönlichkeit  Ha  erziehenden  Unterricht.  (32  S.» 
Leipzig  1898:  H.  Haacke. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Schriftleirung:  F.  Kerns i es,  Berlin  NW.,  Paulstr.  33  und  I..  H i  rschlaf  f ,  Berlin  W.,  Lützovstr. 85b. 
Verlag  von  Hermann  Walther,  Verlagsbuchhandl.,  O. m.b.H.,  Berlin  SW.,  Kommandantenst.  14. 
Druck:  von  Deutsche  Buch-  und  Kunstdrnckerci  G.m.b.H.,  Zossen— Berlin  SW.  48. 


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-T  ~    —  —    —     -  -        =^-~  "  •  -"  -   » 

Jahrgang  IV.  Berlin,  Juni  1902.  Heft  3. 


Die  Entwickelung  der  Pädagogischen  Psychologie 

im  19.  Jahrhundert. 

von 

Ferdinand  Kemsics. 
I. 

Unter  den  Faktoren,  die  die  Entwicklung  einer  heran- 
wachsenden Generation  massgebend  beeinflussen,  nimmt  die 
Erziehimg  —  d.  i.  die  bewusste  Hinienkung  der  Jugend  auf 
bestimmte  Lebensziele,  die  Erfüllung  ihres  Geistes  mit  wert- 
vollem Wissen,  sittlichen  Massstäben  und  treibenden  Ideen, 
die  Einübung  mannigfacher  Fertigkeiten,  die  Gewöhnung  an 
pflichttreue  Arbeit  und  soziales  Handeln,  wie  sie  nach  einem 
festen  Plane  über  eine  lange  Reihe  von  Jahren  angestrebt 
wird  —  den  ersten  Platz  ein.  Mögen  die  materiellen  und 
geistigen  Bedingungen,  die  umgebende  Natur,  das  Familien- 
und  Volksleben,  der  Zeitgeist,  auf  die  man  als  mitwirkende 
Faktoren  oft  hinweist,  der  Erziehung  spezielle  Aufgaben  stellen ; 
mögen  sie  ihr  heitere  oder  düstere  Farbentöne  verleihen ;  mögen 
sie  den  Individuen  ein  mehr  gleichartiges  oder  verschieden- 
artiges Gepräge  geben :  die  planvolle,  technisch  geleitete 
Bildungsarbeit  im  Dienste  der  Individuen  bringt  allein  jene 
geistig  und  sittlich  starken  Persönlichkeiten  zur  Reife,  deren 
unser  modernes  Kulturleben  in  immer  steigendem  Masse  be- 

Zeitxhrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  1 


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Ferdinand  Kcituies. 


darf.  Das  Gelingen,  der  Einfluss  und  die  Macht  der  Erziehung 
wird  aber  durch  die  Vorstellungen  garantiert,  die  wir  von  den 
Zwecken  und  ferner  von  den  Mitteln  und  Wegen,  die  zu  jenen 
hinführen,  besitzen;  sie  gehören  also  zwei  getrennten  Wissens- 
gebieten, Ethik  und  Psychologie,  an.  Die  Ethik  schliessen 
wir  in  diesem  Rückblicke  aus  und  wenden  uns  nur  der  psycho- 
logischen Seite  der  Erziehung  zu.  Die  Psychologie  beschäftigt 
sich  mit  der  Erforschung  der  gesamten  seelischen  Zustände 
und  Vorgänge;  da  die  Pädagogik  es  nur  mit  ejncm  Teile  der- 
selben, und  zwar  mit  der  Entwickelung  und  Erziehung  der 
Kindesseele,  zu  thun  hat,  so  lässt  sich  in  praktischer  Absicht 
dieser  Teil  isolieren  und  unter  der  Bezeichnung  „Pädagogische 
Psychologie"  gesondert  behandeln.  Wenn  dies  auch  erst  in 
neuerer  Zeit  geschehen  ist,  so  liegen  doch  die  Anfänge  dieser 
Spezial Wissenschaft  verhältnismässig  weit  zurück,  und  es  wird 
daher  von  Interesse  sein,  ihre  Entwickelung  im  vergangenen 
Jahrhundert  kennen  zu  lernen,  das  in  bezug  auf  Praxis  und 
Schulorganisation  ein  ausserordentlich  reiches  und  fruchtbares, 
in  bezug  auf  Theorie  ein  grundlegendes  genannt  werden  kann. 
Freilich  wird  dieser  Versuch  einem  Unternehmen  von  program- 
matischem Aussehen  gleichen.  Denn  es  wird  sich  nicht  nur 
darum  handeln,  alle  Fäden  blosszulegen,  die  hier  zu  einem 
neuen  Gewebe  verknüpft  werden  sollen,  sondern  der  Fach- 
mann wird  nicht  umhin  können,  auch  über  das  Muster  des 
Gewebes  sich  zu  äussern,  d.  h.  prinzipiell  Stellung  zu  nehmen 
zu  den  Problemen,  Methoden  und  Ergebnissen. 

Die  alte  und  oft  wiederholte  Forderung,  dass  die  Päda- 
gogik sich  als  Wissenschaft  auf  Ethik  und  Psychologie  stützen 
müsse,  ist,  man  könnte  sagen,  das  Dogma  des  vorigen  Jahr- 
hunderts gewesen,  und  wir  stehen  noch  heute  unter  dem  Banne 
desselben.  Es  erscheint  uns,  wenn  wir  die  letzten  Entwickelungs- 
phasen  der  Pädagogik  an  uns  vorüberziehen  lassen,  beinahe 
unbegreiflich,  dass  man  den  sachlichen  Zusammenhang  zwischen 
pädagogischen  Massnahmen  und  einer  Reihe  von  Kenntnissen 
aus  dem  seelischen  Geschehen  leugnen  könne,  sehen  wir 
doch  den  Einfluss  psychologischer  Denkweise  auf  Theorie 
und  Praxis  der  Erziehung  überall  in  steigendem  Masse  sich 
geltend  machen.  Die  Pädagogen  aus  der  Pestalozzi-Kant'schen 
Schule,  Herbart,  Beneke  und  deren  Jünger  suchen  die  Be- 


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Die  Emtwickclung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  19,  Jahrh.  199 


gründung  des  pädagogischen  Verfahrens  immer  wieder  in  der 
Psychologie,  und  es  gelingt  ihnen,  Gesichtspunkte  und  Leit- 
sätze für  die  Schularbeit  aufzustellen,  die  diejenigen  von  Co- 
menius  und  Rousseau  hervorragend  erweitert  haben,  —  trotz- 
dem ihre  psychologischen  Lehren  nicht  frei  von  Spekulation 
waren  und  von  der  heutigen  Forschung  weit  überholt  sind. 
Die  Hygiene  des  Schulalters  und  die  Heilpädagogik  verlangen 
unter  allen  Umständen  moderne  psychologische  Methoden  für 
Diagnose  und  Therapie. 

Nichtsdestoweniger  ist  nun  in  dem  Streit  um  den  prak- 
tischen Wert  der  Kinderpsychologie,  der  bis  auf  die  Grundlagen 
der  Pädagogik  zurückführt,  die  Ansicht  hervorgetreten,  dass 
die  Versuche  und  Anregungen  Herbarts,  Erziehungs-  und  Unter- 
richtsfragen durch  die  Psychologie  zu  lösen,  ein  grober  Irrtum 
gewesen  seien,  dass  die  Pädagogik  vielmehr  ihre  eigentüm- 
lichen Regeln  befolge  und  Mittel  besitze,  die  in  jahrhunderte- 
langer Erfahrung  gefunden  seien,  und  die  mit  der  Psychologie 
nichts  zu  thun  haben.  Diese  Abhängigkeit  des  einen  Gebietes 
von  dem  andern  sei  schon  deshalb  unmöglich,  weil  wir  z.  Zt. 
noch  keine  fertige  Psychologie  haben,  wie  ja  auch  Herbart 
wohlweislich  schrieb,  „dass  die  psychologische  Pädagogik  bis 
jetzt  ein  frommer  Wunsch  sei,  ebenso  wie  die  Psychologie, 
worauf  sie  fussen  müsste."  Eher,  sagt  man  daher,  sei  umgekehrt 
die  Psychologie  in  der  Lage,  von  der  Pädagogik  zu  profitieren. 

Die  durch  den  tiefen  Stand  der  Seelenforschung  veran- 
lasste Selbstkritik  Herbarts  kann  aber  unmöglich  gegen  seine 
prinzipielle  Stellung  zur  Sache  und  gegen  seine  ganze  Lebens- 
arbeit ausgespielt  werden.  War  er  es  doch  gerade,  der  die 
seelischen  Gesetzmässigkeiten,  die  der  Erzieher  bei  seiner  Be- 
rufsarbeit benutzt,  zu  einem  grossen  System  zusammcnfasste, 
worin  Münsterberg1)  die  eigentliche  pädagogische  Grösse  Her- 
barts sieht,  während  R.  Lehmann2)  in  seiner  Schrift  „Erziehung 
und  Ei  zieher"  es  als  nebensächlich  betrachtet  und  dagegen  das 
allgemein  Menschliche,  das  Gefühlsmässige  und  unmittelbar 
Anschauliche  in  Herbarts  Lehren  hervorgehoben  sehen  möchte. 
Jenes  Bekenntnis,  dass  unser  psychologisches  Wissen  lücken- 


*)  Educational  Review.    New  York.    Oct.  18'>8. 
*)  Berlin.    Weidmannsche  Buchhandlung.  1901. 

1* 


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200 


Ferdinand  Ktmsits. 


haft  ist,  das  dem  grossen  Manne  so  wohl  ansteht,  traf  weder 
für  ihn,  noch  trifft  es  für  unsere  Zeiten  in  dem  Umfange  zu, 
wie  es  oben  interpretiert  wird.  Wir  befinden  uns  heute  mitten 
in  einer  neuen  Epoche  der  Seelenlehre,  die  durch  Herbart  in- 
auguriert ist,  sie  ist  seit  Dezennien  aus  einer  spekulativen 
eine  „thatsachenreiche"  Wissenschaft  geworden  und  ist  heute 
nicht  nur  in  allernächste  Nähe  der  mit  seelischen  Thatsachen 
operierenden  Pädagogik  gerückt,  sondern  das  frühere  Verhältnis 
zwischen  beiden  ist  wesentlich  verändert,  der  sachliche  Zusam- 
menhang der  beiden  Disziplinen  in  ein  neues  Licht  gesetzt; 
sie  leiht  der  Pädagogik  nicht  mehr  bloss  ein  Relief,  sie  tritt 
heuristisch  in  sie  ein.  Es  kann  keinenfalls  zugegeben  werden, 
dass  die  Seelenforschung,  die  sich  exakter  naturwissenschaft- 
licher Methoden  befleissigt,  von  der  mit  ganz  rohen  Mitteln 
erworbenen,  unzuverlässigen  und  unkontrollierten  pädago- 
gischen Erfahrung  ohne  weiteres  grossen  Nutzen  ziehe,  wenn 
wir  auch  einräumen  wollen,  dass  diese  die  Probleme  heraus- 
wachsen lässt.  Die  grossen  Grundfragen,  die  alles  Detail  der 
Erziehungspraxis  berühren,  wie  die  über  Veranlagung  und  Bild- 
samkeil, Gewöhnung  und  Charakter,  Aufmerksamkeit  und 
Interesse,  über  das  Verhältnis  von  Anschauungen  zu  Begriffen, 
über  Rezeptivität  und  Spontaneität,  über  Individualitäten  und 
Typen  u.  v.  a.,  die  in  pädagogischen  Lehrbüchern  abgehandelt 
zu  werden  pflegen,  gehören  heute  vor  das  Forum  der  Fach- 
psychologen. Die  geschilderte  gegnerische  Ansicht  kann  also 
nur  dahin  führen,  die  natürlichen  Grenzen  und  Beziehungen 
zwischen  den  beiden  Arbeitssphären  möglichst  unklar  zu  machen 
und  die  wissenschaftliche  Erörterung  pädagogischer  Probleme 
von  Grund  aus  zu  verhindern. 

Indem  sie  aber  wenigstens  zugiebt,  dass  Beobachtungen, 
Begriffe  und  Regeln  auch  für  die  Erziehungspraxis  Sinn  und 
Bedeutung  haben,  sticht  sie  immerhin  vorteilhaft  von  der  Prä- 
tension des  reinen  Praktikers  ab,  der  ganz  ohne  diese  Dinge 
glaubt  auskommen  zu  können,  obwohl  er  sie  thatsächlich,  wenn 
auch  unbewusst,  stets  im  Gebrauch  hat.  Denn  er  unterscheidet 
nicht  nur  praktisch  Vorstellungen  von  Gemütserregungen  und 
Willensäusserungen,  sondern  er  beobachtet  auch  seelische  Pro- 
zesse, wie  Gedächtnis  und  Phantasie,  Kombinationen,  Urteils- 
und Schlussbildungen  und  richtet  danach  die  „Methode"  ein. 


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Die  Entwicklung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  201 

Er  sucht  das  Interesse  des  Zöglings  zu  fesseln,  seine  Auf- 
merksamkeit zu  erregen,  seinen  Charakter  zu  ergründen.  Es 
ist  selbstverständlich,  dass  die  ganze  Welt-  und  Lebensan- 
schauung des  Erziehers,  die  durch  Beruf,  Vorbildung, 
Denkungsart,  Lebenserfahrungen  bedingt  sind,  und  in  denen 
psychologische  Kenntnisse  in  grösserer  Zahl  enthalten  sind,  ihn 
beständig  leiten  und  seine  Praxis  beeinflussen.  Es  ist  ebenso 
selbstverständlich,  dass  solche  allgemeinen  Kenntnisse,  wie  sie 
das  unmittelbare  Leben  produziert,  sehr  verschieden  ausfallen 
werden,  deshalb-  auf  Allgemeingiltigkeit  keinen  Anspruch  er- 
heben und  zu  einer  wissenschaftlichen  Erkenntnis  im  besten 
Falle  nur  Anfänge  bieten  können.  Aber  der  reine  Praktiker, 
der  Vulgärpädagoge,  kann  sich  heute  dem  Erfahrungskreis 
nicht  mehr  entziehen,  der  als  Niederschlag  der  unter  psycho- 
logischen Gesichtspunkten  seit  Pestalozzi  weitergeführten 
Theorie  und  Praxis  angesehen  werden  muss.  Da  diese  vorzugs- 
weise auf  die  Förderung  der  Methode  gerichtet  war,  so  steht 
der  Berufspädagoge  hier,  ohne  es  vielleicht  zu  wissen  und 
zu  wollen,  auf  den  Schultern  Pestalozzis.  Auch  gerät  er  unaus- 
bleiblich in  moderne  psychologische  Fragestellungen,  sobald 
er  sich  über  sein  Thun  und  Lassen  strenge  Rechenschaft  ab- 
zulegen beginnt. 

Eine  neue  Ansicht,  mit  der  wir  uns  abzufinden  haben,  be- 
streitet der  Psychologie  jeden  direkten  Einfluss  auf  die  Päda- 
gogik, giebt  aber  einen  indirekten  zu  und  will  brauchbare  psy- 
chologische Begriffe  und  Sätze  in  der  Erziehungspraxis  ange- 
wendet wissen,  diese  soll  durch  das  Medium  psychologischer 
Begriffe  hindurchgehen.  So  Münsterberg  und  James.  Der 
Lehrer  soll  sich  ein  wissenschaftliches  System  wie  das  Herbarts 
zu  eigen  machen  oder  mit  der  modernen  Psychologie  in  ihren 
Grundzügen  vertraut  sein.  Doch  soll  er  die  Kinder  nie  als  psy- 
chologische Objekte  ansehen,  sondern  stets  als  ethische  Per- 
sönlichkeiten, die  sich  selbst  nach  Ideen  und  nach  Interessen 
bestimmen,  die  er  deuten  und  bewerten  muss.  Psychologische 
Untersuchungen  sollen  allerdings  auch  stattfinden,  aber  nicht 
im  Rahmen  der  Schule  und  Schularbeit,  sondern  ausgeführt 
von  Spezialisten  in  eigenen  Laboratorien,  wie  wir  eines  in  der 
Stadt  Antwerpen  besitzen. 

Man  könnte  sich  mit  diesen  Vorschlägen  Münsterbergs  wohl 


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202 


Ferdinand  Ketnsüs. 


einverstanden  erklären,  wenn  zwischen  Theoretikern  und  Prak- 
tikern der  Pädagogik  ein  prinzipieller  Unterschied  bestände, 
wenn  nicht  schon  heute  die  Praxis  der  wissenschaftlich  den- 
kenden und  arbeitenden  Pädagogen  direkt  in  die  Theorie  ein- 
mündete, wenn  psychologische  Untersuchungen  für  die  Zwecke 
der  Erziehung  nicht  schon  seit  langer  Zeit  von  Praktikern  mit 
gutem  Erfolge  angestellt  würden.  Diese  waren  aber  und  sind 
zukünftig  nur  dann  möglich,  wenn  mit  der  ausschliesslich  ethi- 
sierenden  Richtung  der  Praxis,  der  Münsterberg  das  Wort  redet, 
gänzlich  gebrochen  wird.  Sie  ist  in  der  Geschichte  der  Päda- 
gogik nicht  vorteilhaft  gekannt,  sie  versagt  überall  da,  wo 
wir  auf  stärkere  Schwierigkeiten  stossen  und  sachliche  Einhilfe 
notwendig  wird,  sei  es  auf  intellektuellem,  sei  es  auf  ethischem 
Gebiet.  Es  muss  jeder  Lehrer  neben  dem  ethischen  Interesse 
in  erster  Reihe  auch  den  psychologischen  Blick  für  das  Seelen- 
leben des  Zöglings  haben,  er  muss  ein  Verständnis  dafür  er- 
werben, wie  es  sich  aufbaut  und  aus  einfachen  seelischen  Ge- 
bilden zusammensetzt,  er  muss  seine  Richtung  zum  voraus  er- 
kennen können,  d.  h.  er  muss  Verständnis  für  genetisch-  und 
analytisch-psychologische  Betrachtungen  haben.  Er  soll  dem 
Seelenleben  der  Schüler  nicht  blos  als  Schematiker,  als  Schul- 
meister, als  Lehrer,  sondern  als  fleissiger  Beobachter,  als  For- 
schender, als  Lernender  gegenüberstehen  und  die  hierzu  not- 
wendigen Fertigkeiten  mitbringen ;  dem  logisch  -  kombina- 
torischen Verfahren  in  der  Methodik  soll  sich  die  psychologische 
Analyse  als  Correctiv  zugesellen. 

Eine  letzte  Ansicht  fordert  für  die  Seelenforschung  einen 
massgebenden  direkten  und  indirekten  Einfluss  auf  Wissen- 
schaft und  Praxis  Ider  Pädagogik  im  Sinne  Herbarts.  Das  päda- 
gogische Problem  ist  ihr  in  letzter  Instanz  ein  psychologisches; 
jede  spezielle  Frage  aus  der  Didaktik  oder  der  Willensbildung, 
aus  der  geistigen  Hygiene  oder  der  Lehrverfassung  soll  eine 
psychologische  Beantwortung  erfahren  und  auf  diese  Weise 
allein  einwandfrei  gelöst  werden  können.  Von  diesem  Stand- 
punkt aus  kann  erst  die  Erziehung  als  Lebensmacht  garantiert 
werden,  die  der  Staatsmann,  der  Philosoph,  der  Pädagogiker 
für  seine  Ideen  in  den  Dienst  stellen  mag. 

Um  sich  in  dem  Widerstreit  der  Meinungen  ein  zutreffendes 
Urteil  zu  bilden,  wird  man  daher  unter  allen  Umständen  gut 


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Die  Entvaickeiung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  lg.  Jahrh,  203 


thun,  sich  in  der  Geschichte  der  Pädagogik  zu  orientieren,  und 
kein  Abschnitt  derselben  dürfte  für  unsere  Zwecke  lehrreicher 
sein  als  das  verflossene  Jahrhundert.  In  ihm  verliess  die  Päda- 
gogik ein  für  allemal  jenen  naiven  Standpunkt,  der  den  Blick 
auf  die  gegebenen  Lebens-  und  Erziehungsziele  nur  von  den 
traditionellen  Lehr-  und  Lernmethoden  aus  gewährte;  sie  be- 
freite das  Kind  von  den  Fesseln  des  äusserlich-mechanischen 
Verfahrens,  von  der  Zwangsjacke,  in  die  sie  es  gesteckt  hatte ; 
ihre  stehende  Forderung  wurde:  Rückkehr  zur  Natur,  Beob- 
achtung der  naturgemässen  Entwickelung  des  Kindes  und  natur- 
gemässes  Verfahren  bei  seiner  Bildung  und  Leitung.  Die 
Erziehung  soll  die  innere  Natur  des  Kindes  treffen,  sie  soll 
seinen  natürlichen  Entwickelungsgang  nicht  beeinträchtigen,  sie 
soll  ihn  daher  vorerst  festzustellen  suchen,  sie  soll  die  seelischen 
Fähigkeiten  in  der  richtigen  Aufeinanderfolge  und  in  dem 
richtigen  Masse  in  Anspruch  nehmen. 

Die  Gabe  der  unmittelbaren  Beobachtung  des  kindlichen 
Seelenlebens  durch  sympathisierenden  Verkehr  mit  dem  Zög- 
ling, durch  Anlehnung  an  seine  Anschauungs-,  Denk-  und 
Sprechweise,  durch  Sichhineinversetzen  in  seine  Welt  der  Ge- 
fühle, Interessen  und  Strebungen,  sowie  die  Gabe  der  Er- 
findung geeigneter  erzieherischer  Massnahmen  für  engere  oder 
weitere  Zwecke  wird  wegen  ihrer  instinktiven  oder  intuitiven 
Art  als  besonderes  Talent,  als  pädagogischer  Takt,  bezeichnet 
und  gerühmt;  er  wird  im  19.  Jahrhundert  von  dem  berufs- 
mässigen Erzieher,  dem  Erziehungskünstler,  als  eine  Grund- 
fähigkeit gefordert.  Freilich  sind  zu  diesem  Takt  noch  manche 
wertvolle  Beigaben  als  Begleiterscheinungen  erwünscht  oder 
sogar  notwendig:  ein  breites  Wissen,  logische  Auffassungs- 
gabe, aesthetisches  Empfinden,  moralisch  -  gesellschaftliche 
Haltung,  Kurzum,  der  Erziehungskünstler  muss  eine  grosse 
Persönlichkeit  sein. 

An  die  gelingende  Praxis  grösseren  Stils  setzt  sich  bald 
eine  Wissenschaft  an,  die  einerseits  die  Aufgaben,  anderer- 
seits die  Erfolge  und  Misserfolge  der  Erziehungskunst  aus 
ihren  Beziehungen  zu  den  angewendeten  Methoden  und  Mitteln 
kritisch  untersucht,  dabei  auch  Fehlerquellen  und  Störungen 
in  Rechnung  bringt ;  die  es  ferner  gestattet  infolge  des  Einblicks 
in  die  kausalen  Zusammenhänge  Wege,  Mittel  und  Aufgaben 


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204 


Ferdinand  Kemsüs. 


abzuändern  und  den  Verhältnissen  besser  anzupassen.  Diese 
Wissenschaft  steht  der  Tradition  und  jedem  mehr  oder  minder 
dogmatischen  Verfahren  kritisch  gegenüber,  sie  giebt  den 
zahlreichen  Personen,  die  den  Takt  des  Künstlers  in  grossem 
Masse  nicht  besitzen,  eine  genaue  begriffliche  Anleitung,  durch 
die  sie  ihn  teilweise  erwerben  und  möglichst  vollständig  er- 
setzen können.  Sie  erhebt  den  Anspruch  auf  Allgemeingiltig- 
keit.  Sie  hat  jedoch  wie  der  pädagogische  Takt  ihren  natür- 
lichen Beziehungs-  und  Drehpunkt  im  Kinde. 

Ihre  Probleme  gehören  daher  der  Psychologie  zu,  und  sie 
wird  in  schwierigen  Fällen  Anschluss  und  Auskunft  bei  ihr 
suchen.  Zunächst  konnte  jedoch  die  noch  stark  metaphysisch 
gefärbte  Seelenlehre  der  pädagogischen  Praxis  die  gewünsch- 
ten Dienste  nicht  leisten,  auch  war  das  Interesse  der  Psycho- 
logen mehr  durch  die  allgemeinen  Fragen  der  eigenen  Wissen- 
schaft in  Anspruch  genommen,  als  durch  das  Detail  der  er- 
zieherischen Praxis,  sodass  der  Pädagoge  auf  sich  selbst  und 
seinen  engeren  Erfahrungskreis  angewiesen  blieb.  Wenn  er 
es  versuchte,  die  Begriffsaufstellungen  und  die  Methoden  der 
Psychologie  aufzunehmen,  so  geschah  es  oft  nicht  in  vorsichtig 
kritischer  Weise;  andererseits  wird  es  begreiflich,  dass  er  sich 
hier  und  da  autokratisch  von  ihr  abwendete. ,  Die  Pädagogische 
Psychologie  war  noch  nicht  geboren,  aber  es  war  eine  Päda- 
gogik im  Entstehen,  die  sich  wissenschaftlich  nannte  —  eine 
psychologische  Pädagogik,  deren  leitendes  Prinzip  schon  bei 
Ratichius  und  Comenius  deutlich  ausgesprochen  war :  ,,Sie  soll 
ihre  Regeln  nicht  nur  aus  dem  zu  lehrenden  Objekt,  sondern 
auch  aus  der  Natur  des  Zöglings  ableiten."  Wir  können  jedoch, 
ohne  auf  Widerspruch  zu  stossen,  behaupten,  dass  eigentlich 
erst  Pestalozzi  an  der  Schwelle  des  19.  Jahrhunderts  diese 
Idee  klar  erkannte  und  verfolgte,  indem  er  die  harmonische 
Entwickelung  aller  Anlagen  und  Kräfte  im  Menschen  durch 
psychologisch  geordnete  Mittel  anstrebte,  wodurch  er  —  wie 
man  sagt  —  die  Erziehung  zum  Teil  mechanisierte. 

Mit  dem  Auftreten  der  modernen  Psychologie  zeigt  sich 
auch  in  der  Pädagogik  ein  stärkerer  empiristischer  Zug,  und 
es  entwickelt  sich  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts,  ohne  dass 
dies  einen  Bruch  mit  der  Vergangenheit  bedeutet,  als  Grund- 
wissenschaft für  die  Psychologische  Pädagogik  —  die  Päda- 


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Die  Entwükelung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  19.  Jahrh. 


205 


gogische  Psychologie,  die  die  Bausteine  für  jene  herbeizu- 
schaffen und  die  Fragen  derselben  in  moderner  Weise  und  in 
exaktem  Sinne  zu  beantworten  unternimmt.  Wie  ihr  Name 
ausdrückt,  steht  sie  in  der  Mitte  zwischen  den  beiden  Wissens- 
gebieten und  kann  von  beiden  Seiten  aus  in  Angriff  genommen 
werden;  die  Pädagogik,  die  durch  ihre  praktischen  Fragen 
oft  in  Verlegenheit  gesetzt  wird,  hat  offenbar  ,das  lebhaftere 
Interesse  an  ihrem  Zustandekommen.  Sie  verfährt  analytisch, 
während  die  Pädagogik  synthetisch  vorgeht.  Sie  versucht  sich 
in  der  Anwendung  von  statistischen  und  experimentellen  Me- 
thoden zur  Aufklärung  der  Thatbestände. 

Man  kann  das  Ergebnis  dieser  historisch-kritischen  Ein- 
leitung in  dem  Satze  zusammenfassen :  Das  Schicksal  der  Päda- 
gogischen Wissenschaft  im  19.  Jahrhundert  ist  mit  dem  der  Psy- 
chologie auf  das  engste  verknüpft  gewesen.  Bei  Besprechung 
der  einzelnen  Epochen  wird  man  diese  Behauptung  immer  von 
neuem  bestätigt  finden. 

I.  Epoche. 

Am  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  finden  wir  zwei  Männer 
am  Ausbau  der  pädagogischen  Theorie  beteiligt,  die  aus  ver- 
schiedenen Richtungen  kommend  sich  in  ihren  grundlegenden 
Ansichten  vereinigten:  Kant1)  und  Pestalozzi,2)  jener  von  der 
Philosophie  aus,  dieser  von  der  Pädagogik  her. 

Obwohl  Kant  weder  die  Psychologie  als  Wissenschaft  an- 
erkannt noch  eine  pädagogische  Psychologie  oder  eine  syste- 
matische Pädagogik  geschrieben  hat,  sind  seine  philosophischen 
Lehren  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Pädagogik  geblieben. 
Standen  sie  doch  in  innerer  Verwandtschaft  zu  den  Lehren 
Pesta  lozzis,  die  es  vielen  Kantianern  leicht  machte,  das  prak- 
tische Werk  Pestalozzis  mit  dem  wissenschaftlichen  Geiste  der 
kritischen  Philosophie  aufzunehmen  und  fortzuführen. 

Was  ist  das  wahre  Wesen  und  die  wahre  Bestimmung  des 

')  Max  Jahn,  Der  Einfluss  der  Kantischen  Psychologie  anf  die  Pä- 
dagogik als  "Wissenschaft.    Inaug.-Diss.    Leipzig.  1875. 

Anton  Barger,  Ueber  die  Gliederung  der  Pädagogik  Kants.  Inaug.- 
Diss.  Jena.  1889. 

2J  Wilhelm  Bauer.  Die  psychologischen  Grundanschauungen  Pesta- 
Jozzig.  Inaug.-Diss.   Jena.  1880. 


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2(36 


Ferdinand  Kemstts. 


Menschen?  Wie  kann  er  zu  ihr  hingeführt  werden?  Wie  ist 
er  zu  der  heutigen  Kulturstufe  aufgestiegen?  Dies  sind  die 
Fragen,  denen  beide  Forscher  nachgehen,  und  die  sie  in 
gleichem  Sinne  beantworten.  Der  Mensch  besitzt  neben  der 
Anlage  zur  Tierheit  auch  die  zur  Vernunft.  Jene  leitet  ihn  auf 
seinen  frühen  Entwickelungsstufen  durch  Instinkte  und 
Triebe,  mit  dem  Hervortreten  der  letzteren  gewinnen  die  Kräfte 
des  geistig-sittlichen  Lebens  allmählich  Ueberhand.  Jedes  Indi- 
viduum wird  mit  dieser  Doppelnatur  geboren,  deshalb  bedarf 
es  der  Erziehung,  seine  niederen  Triebe,  (die  Sinnlichkeit) 
müssen  gehemmt,  seine  höheren  Kräfte  (Verstand  und  Ver- 
nunft) gestärkt  werden.  Drei  höhere  Vermögen  besitzt  die 
Seele :  Erkennen,  Fühlen  und  Wollen.  Während  man  noch  im 
18.  Jahrhundert  mit  Aristoteles  zwei  seelische  Kräfte  annahm, 
wird  hauptsächlich  durch  Kants  Einfluss  im  19.  Jahrhundert 
diese  Dreiteilung  durchgeführt.  Sie  findet  sich  auch  bei  Pesta- 
lozzi, er  unterscheidet :  die  sittliche,  intellektuelle  und  die  Kunst- 
kraft. Da  die  Anlagen  und  Kräfte  der  menschlichen  Natur 
immanent  sind,  so  entfaltet  die  Erziehung  nur  die  Keime,  sie 
schafft  nichts  absolut  Neues,  und  der  Unterricht  hat  nur  einen 
formalen  Wert.  Pestalozzi  wollte  nur  die  Geisteskräfte  an- 
regen, das  Wissen  wollte  er  auf  das  Naheliegende  beschränken  ; 
aber  er  wollte  eine  freie,  allgemein  menschliche  Bildung  für 
jedermann ;  er  wollte  durch  sie  die  Menschheit  auf  eine  höhere 
Stufe  erheben  und  sie  ihrem  Idealzustande  näherführen. 
Die  Anlagen  sind  proportionierlich  (Kant)  oder  naturgemäss 
(Pestalozzi)  zu  entwickeln  und  zwar  so,  dass  nicht  blos  Dressur, 
sondern  wirkliche  Aufklärung  des  Zöglings  herbeigeführt  wird 
(Kant),  oder  dass  der  Zögling  innerlich  vollendet  ist  (Pestalozzi). 
Jede  dieser  Kräfte  wird  wesentlich  durch  das  einfache  Mittel 
ihres  richtigen  Gebrauchs  naturgemäss  entfaltet.  Die  Natur 
des  Menschen  liefert  selbst  das  Gesetz  für  ihre  Entwickelung 
oder  die  Methode.  Dieser  Gedanke,  der  von  Pestalozzi  mit 
Konsequenz  verfolgt  wird,  ist  das  fruchtbare  Prinzip  und  der 
Angelpunkt  der  psychologischen  Pädagogik.  Er  findet  sich  in 
einer  solchen  Deutlichkeit  weder  bei  Kant,  noch  vorher  bei 
Comenius  oder  Rousseau. 

Auf  dem  Wege  der  Anschauung  unterrichtet  die  Natur 
den  Menschen  von  seiner  Geburt  an,  aber  sie  führt  diese  An- 


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Du:  EntwickeluHg  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  207 


schauungen  ohne  Plan  und  Ordnung,  im  verworrenen  Zustande 
vor.  Die  Kunst  hat  nun  einzuschreiten  und  das,  was  die  Natur 
zerstreut  und  in  verwirrten  Verhältnissen  vorführt,  im  engen 
Kreis  und  in  regelmässigen  Reihenfolgen  zusammenzustellen. 

Alle  Erkenntnis  geht  von  der  Anschauung  aus,  ^diese  ist 
jedoch  nicht  ein  passives  Hinnehmen,  sondern  ein  selbstthätiges 
Aufnehmen.  Die  Anschauung  wird  durch  psychologisch  ge- 
ordnete Uebungen  auf  moralischem,  ästhetischem  und  intel- 
lektuellem Gebiet  fortgeführt.  Zur  Ausbildung  des  Erkennt- 
nisvermögens lässt  Pestalozzi  die  ausgewählten  Gegen- 
stände einzeln  aus  der  Nähe  und  mit  Aufmerksamkeit  an- 
schauen und  benennen,  dann  ihre  Eigenschaften  in  der 
Beschreibung  auffassen  und  die  Definitionen  bilden ;  die 
elementaren  Arten  der  Auffassung  sind :  Zählen,  Messen, 
Sprechen,  —  eine  Einteilung,  die  freilich  noch  roh  und 
unzureichend  ist.  Man  soll  beim  Leichtesten  in  dieser  Weise 
anfangen  und  es  zum  Abschluss  bringen,  dann  ^urch  lücken- 
loses Fortschreiten  weniges  zu  dem  Gelernten  hinzusetzen.  Es 
erübrigt  sich  an  dieser  Stelle  auf  die  Erkenntnistheorie  Kants 
einzugehen,  nur  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  dass  Kant 
das  Prinzip  der  Anschaulichkeit  schärfer  formuliert  und  gründ- 
licher bewiesen  hat  als  Pestalozzi,  letzterer  jedoch  dasselbe 
Prinzip  sorgfältiger  für  die  Erziehung  verwertet  hat.1) 

Eine  solche  naturgemässe  Uebung  des  Intellekts  hat  zu- 
gleich eine  erziehliche  Wirkung,  sodass  Unterricht  und  Er- 
ziehung eng  zusammengehören,  eine  Idee,  die  seitdem  in  der 
Pädagogik  herrschend  geblieben  ist.  Bei  Kant  tritt  eine  über- 
greifende Wirkung  des  einen  Seelenvermögcns  auf  das  andere 
ebenfalls  in  der  Pädagogik  und  in  der  Sittenlehre  hervor. 
Durch  Selbstthätigkeit  zur  freien  Selbstbestimmung  im  kate- 
gorischen Imperativ. 

Das  Religiös-Sittliche  entkeimt  bei  Pestalozzi  in  der 
sinnlichen  Liebe  des  Kindes  zur  Mutter,  sie  erhebt  sich  zur 
menschlichen  Liebe  und  zum  menschlichen  Glauben,  schliesslich 
zur  christlichen  Liebe  und  zum  christlichen  Glauben.  Daher 
sollen  die  sittlichen  Anschauungen  und  Aeusserungen  an  die  täg- 
lichen häuslichen  Auftritte  und  an  die  Umgebungen  des  Kindes 

1)  cf.  Max  Jahn.    1.  c. 


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208 


Ferdinand  Kcmsits. 


anknüpfen.  Darauf  folgen  sittliche  Uebungen  in  Selbstüber- 
windung und  Anstrengung,  endlich  die  Bewirkung  einer  sitt- 
lichen Ansicht  durch  Vergleich  der  Rechts-  und  Sittlichkeits- 
verhältnisse. Pestalozzi  wollte  seinem  ABC  der  Anschauung 
eine  sittliche  Elementarbildung,  sowie  ein  ABC  der  Kunst  an 
die  Seite  stellen,  kam  aber  über  Anfänge  hier  nicht  hinaus. 

Nach  Kant  muss  das  Kind  diszipliniert,  d.  h.  seine  na- 
türliche Wildheit  muss  bezähmt  werden.  Darauf  bringt  man 
ihm  Begriffe  bei  von  dem,  was  gut  oder  böse  ist.  Endlich  sucht 
man  einen  Charakter  zu  gründen,  d.  h.  die  Fertigkeit  nach 
Maximen  zu  handeln.  Als  kindliche  Haupttugenden,  die  dabei 
mitwirken,  nennt  er  Gehorsam  und  Wahrhaftigkeit. 

Pestalozzis  Kunstkraft  ist  vor  ihrer  Anlage  nur  Kunst- 
anlage oder  Kunstsinn,  ihre  Bildung  geht  von  .der  Uebung  der 
Sinne  und  der  Glieder  aus.  Es  handelt  sich  jedoch  nicht  um 
ästhetische  Bildung,  sondern  um  Gewandtheit  im  Gebrauche 
der  Glieder  und  Geschicklichkeit  in  der  Anfertigung  der  täg- 
lichen Arbeiten. 

Ein  psychologischer  Gesichtspunkt,  der  als  solcher  weder 
bei  Kant  noch  bei  Pestalozzi  deutlich  hervorgehoben  ist,  der 
aber  als  ethischer  Fundamentalsatz  bei  beiden  auftritt  und  direkt 
in  die  pädagogische  Theorie  eingeht,  ist:  die  Berücksich- 
tigung des  Individuums.  Wenn  auch  Pestalozzi  einen  sozial- 
pädagogischen Ausgang  nimmt,  so  laufen  doch  schliesslich 
alle  Massnahmen  der  Erziehung  im  Individuum  gleichsam  cen- 
tripetal  zusammen ;  von  ihm  sollen  dann  wieder  sittliche  Kräfte 
in  die  Lebensgemeinschaft  zurückströmen.  Die  Sozialpädagogik 
geht  durch  die  Individualpädagogik  hindurch.  Dieser  Gedanke 
in  Verbindung  mit  dem  ganzen  System  liess  Pestalozzis  Päda- 
gogik damals  den  Weg  nach  Preussen  finden  und  in  ihr  eine 
Haupt-  und  Staatssache  erkennen.  Derselbe  Gesichtspunkt  frei- 
lich erfreute  sich  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  nicht  mehr  der- 
selben Beliebtheit. 

Eine  Reihe  von  Nachfolgern  Kant-Pestalozzis  versuchte 
nun  aus  der  Meister  Lehren  eine  genauere  und  einheitlichere 
Erziehungstheorie  zu  gewinnen.  Einige  Kantianer  mühten  sich 
zunächst  mit  der  kritischen  Frage  ab,  welches  die  Bedingungen 
einer  wissenschaftlichen  Pädagogik  seien  ? 


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Die  Entwickclmng  der  Pädagogischen  Psychologie  im  19.  Jahrh.  209 


In  Niethammers  philosophischem  Journal  finden  wir  fol- 
gende Aufstellung:  Die  Erziehung  bestehe  in  Anwendung  ge- 
wisser Regeln,  und  die  Theorie  der  Erziehungskunst  müsse 
die  Regeln  beweisen,  d.  h.  sie  aus  angenommenen  und  evidenten 
Voraussetzungen  herleiten.  Die  Theorie  der  Erziehungskunst 
sei  Wissenschaft,  und  wer  behaupte,  dass  die  Erziehung  keiner 
Wissenschaft  bedürfe,  der  halte  entweder  alle  vorhandenen 
pädagogischen  Maximen  für  evident  durch  sich  selbst  oder  be- 
haupte, man  dürfe  nach  Maximen  handeln,  deren  Richtigkeit 
und  Notwendigkeit  man  nicht  einsieht.  Ueber  die  ein- 
schlägigen Versuche  findet  man  zahlreiche  Angaben  in  Poelitz: 
Erziehungswissenschaft  aus  dem  Zwecke  der  Menschheit  und 
des  Staates  praktisch  dargestellt,  Leipzig  1806,  worin  er  alles, 
was  seit  der  totalen  Erschütterung  der  Schulphilosophie  für 
eine  wissenschaftliche  Begründung  und  vollständige  Revision 
der  Pädagogik  geschehen  ist,  schildert. 

Die  Pestalozzianer  geraten  vollständig  in  die  Terminologie 
und  das  Fahrwasser  der  abstrahierenden  Philosophie  Kants, 
sobald  sie  ihren  pädagogischen  Lehren  einen  wissenschaft- 
lichen Ausbau  zu  geben  versuchen.  Da  handelt  es  sich  um 
Bildung  der  äussern  Sinne,  des  innern  Sinnes,  der  produktiven 
Einbildungskraft,  des  Gedächtnisses,  des  Verstandes,  der  Ge- 
fühle der  Lust  und  Unlust,  der  Vernunft  etc.,  als  typischer 
Vertreter  dieser  klassifizierenden  Pädagogen  kann  Harnisch 
angesehen  werden.  Dagegen  drang  schöpferisch  in  die  Tiefe 
der  pädagogischen  Praxis  ein  Diesterweg,  der  Methodiker  des 
Elementarunterrichts ;  er  stellt  einen  gewissen  Abschluss  des 
Pestalozzischen  Ideenkreises  dar.  Das  Bildungsziel  formuliert 
er  als :  Selbstthätigkeit  im  Dienste  des  Wahren,  Guten  und 
Schönen,  wodurch  zugleich  das  wichtigste  psychologische  Mo- 
ment hervorgehoben  ist.  Seine  methodischen  Grundsätze  und 
erzieherischen  Maximen  bilden  kein  zusammenhängendes 
System,  sie  sind  eklektisch  der  Erfahrung  entsprungen,  eben 
deshalb  äusserst  wertvoll. 

Neben  ihm  verdient  Fröbel  hervorgehoben  zu  werden, 
Fröbel  wollte  den  Kindern  noch  vor  dem  schulpflichtigen  Alter 
eine  ihrem  Wesen  entsprechende  Bildung  verschaffen;  als 
Mittel  dazu  erkennt  er  das  Spiel,  das  dem  Thätigkeitstriebe  des 
Kindes  die  geeignete  Befriedigung  und  Nahrung  verschafft. 


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210 


Ferdinand  Keinsies. 


Aus  dieser  freischaffenden  Bethätigung  ergiebt  sich,  wenn  sie 
zweckmässig  geleitet  wird,  die  erste  harmonische  Vorbildung 
des  Kindes;  sie  entwickelt  naturgemäss  alle  physischen  und 
psychischen  Kräfte.  In  der  planmässigen  Ausgestaltung  dieses 
Erziehungsmittels  schuf  Fröbel  die  Spielgaben  und  die  nach 
ihm  benannten  Fröbel'schen  Beschäftigungen.  Fröbel  lässt  die 
entwickelnde  Erziehung  des  Menschen  mit  der  That  beginnen, 
die  ja  auch  in  der  Geschichte  des  Menschengeschlechts  das 
Primäre  ist,  an  das  sich  erst  als  Secundäres  das  Besinnen  an- 
schliesst. 

Die  Wirkung  der  Pestalozzischen  Gedankenarbeit  auf  die 
bestehende  Praxis  war  eine  unglaubliche. 

Die  mechanischen  Lese-,  Schreib-  und  Rechenübungen  ver- 
wandeln sich  im  Laufe  weniger  Decennien  in  Arbeiten  zur 
Menschenbildung,  von  innen  heraus  sollen  jetzt  alle  Seelen- 
kräfte des  Kindes  entwickelt  und  an  den  einfachsten  Wissen- 
stoffen gestaltet  werden.  Jeder  Lehrgegenstand  gewinnt  einen 
bestimmten  Zweck  und  Wert  in  der  allgemeinen  Bildungsauf- 
gabe; diese  wiederum  bestimmt  die  Stoffauswahl  und  Stoff- 
verteilung, das  unterrichtliche  Verfahren  auf  den  verschiedenen 
Stufen  und  die  Hilfsmittel,  so  dass  die  darbietende  Arbeit  des 
Lehrers  und  die  aneignende  des  Schülers  in  ihrem  Ineinander- 
greifen mit  Notwendigkeit  auf  das  Erziehungsziel  hinführen. 
Die  Lehrart  besteht  nicht  mehr  im  Vorsagen  und  Hersagen, 
in  einem  mechanischen  Anlernen,  sondern  bildet  sich  um  zur 
vortragenden,  entwickelnden,  katechetischen  und  heuristischen. 
Wir  können  den  vollständigen  Umschwung  der  pädagogischen 
Denkweise  erst  recht  verstehen,  wenn  wir  die  1794  heraus- 
gegebene preussische  Volksschulordnung  nachlesen,  in  der  als 
Ziele  der  Volksschule  festgesetzt  sind :  Fertigkeit  im  richtigen 
und  deutlichen  Lesen,  einige  Fertigkeit  leserlich  und  ortho- 
graphisch zu  schreiben,  einige  Uebung  in  den  gemeinsten  zum 
Hauswesen  nötigen  Rechnungen,  hinlängliche  Uebung  im 
kleinen  Katechismus  Lutheri,  Bekanntschaft  mit  der  Bibel,  ein 
Vorrat  auswendig  gelernter  guter  Lieder.  Es  wird  nicht  ge- 
stattet mit  Zurücksetzung  jener  Hauptstücke  Gegenstände  der 
Naturgeschichte,  Geographie  etc.  mit  den  Kindern  vorzuneh- 
men. Mit  der  Errichtung  eines  eigenen  Ministeriums  für  den 
Kultus  und  den  Unterricht  im  Jahre  18 17  kam  durch  Alten- 


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Die  Entwickelung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh. 


211 


stein  Geist  und  Leben  in  die  Schule,  zwar  blieb  der  Religions- 
unterricht die  Hauptsache,  doch  wurde  jetzt  ausser  Lesen, 
Schreiben,  Rechnen  auch  Naturkunde,  Geographie  und  Ge- 
schichte auf  den  Lehrplan  gesetzt. 

Die  formale  Bildung,  die  wir  als  den  prägnantesten 
Ausdruck  der  Pestalozzischen  Unterrichtsweise  und  als  Kon- 
sequenz der  Vermögenstheorie  ansehen  dürfen,  ist  etwa  in  der 
Art  zu  denken,  dass  sie  einen  Energievorrat  darstellt  oder 
eine  latente  Kraftfülle,  die  den  Träger  zu  den  verschiedensten 
Leistungen  auch  in  einer  ihm  fremden  Materie  befähigt.  Sie 
zeigt  sich  nicht  nur  in  der  Sprachfertigkeit,  sondern  auch  in 
der  erleichterten  logisch-kombinatorischen  Auffassung  neuer 
Probleme  und  Gedankengänge.  Die  formale  Bildung  ist  dem- 
nach von  dem  Stoffe,  an  dem  sie  erworben  wurde,  als  ab- 
gelöst zu  betrachten. 

Gegen  dieses  formale  Bildungsprinzip,  das  den  historischen 
Bildungsstoffen  und  dem  Wissen  und  Glauben  gegenüber  stark 
betont  und  gefährlich  erschien,  richtete  sich  die  politische 
Reaktion  in  Preussen,  die  ihren  Ausdruck  in  den  Regulativen 
von  1854  fand.  Das  formale  Prinzip,  das  den  psychologischen 
Gesichtspunkt  zum  leitenden  machte,  wurde  eingedämmt,  und 
an  seine  Stelle  wieder  das  materiale  Lernprinzip  gesetzt.  Die 
formale  Bildung  sollte  sich  durch  Verständnis  und  Uebung 
des  berechtigten  Inhalts  von  selbst  ergeben,  die  inhaltreichen 
realistischen  Fächer  wurden  jedoch  enge  begrenzt.  In  den 
Seminarien  durfte  kein  System  der  Pädagogik  gelehrt  werden; 
die  Anweisung  zu  einer  guten  Unterrichtsmethode  sollte  sich 
aus  dem  Unterricht  des  Lehrers  von  selbst  ergeben,  sie  hatte 
keinen  selbständigen  Wert  mehr.  — 

(Fortsetzung  folgt.) 


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Erfahrungen  im  Gymnasialunterricht  für  Mädchen 
als  Beitrag  zur  Frage  der  gemeinschaftlichen 
Erziehung  beider  Geschlechter. 

Vortrag  im  Verein  für  Kinderpsychologie  zu  Berlin 
gehalten  am  2.  Mai  1902 

von 

Hildegard  Wegscheider-Ziegler. 

Die  Erfahrungen,  die  ich  Ihnen  heute  vorlege,  sollen 
in  keiner  Weise  den  Anspruch  auf  Allgemeingiltigkeit  machen ; 
beruhen  sie  doch  im  wesentlichen  nur  auf  der  einjährigen 
Thätigkeit  an  einer  Familienschule  mit  gymnasialem  Unter- 
richt, die  seit  Ostern  1901  besteht.  Aber,  da  alle  bisher  be- 
stehenden Gymnasial  -  Lehranstalten  für  Mädchen  ihre  Pro- 
gramme nur  in  der  Form  kurzer  Prospekte  herausgegeben 
haben  und  nur  die  Frankfurter  Gymnasialkurse  eine  einiger- 
massen  ausführliche  Berichterstattung  über  den  Unterrichts- 
erfolg  einführten,  scheint  mir  ein  erster  Versuch,  die  Resultate 
des  Experiments  auch  psychologisch  auszubeuten,  als  An- 
regung nötig.  Denn  nur  psychologische  Einzelbeobachtungen 
könnten  ja  imstande  sein,  eine  wissenschaftliche  Grundlage  für 
die  Frage  des  gemeinschaftlichen  Unterrichtes  beider  Ge- 
schlechter zu  schaffen. 

Die  von  mir  beobachtete  Gymnasialklasse  hat  sich  im  Lehr- 
plan möglichst  nach  dem  Vorbilde  der  bestehenden  Reform- 
gymnasien, speziell  nach  dem  Reformgymnasium,  das  in  Char- 
lottenburg unter  der  Leitung  des  Herrn  Direktor  Zernecke 
besteht,  gerichtet.  Die  Klasse  wurde  mit  16  Schülerinnen  er- 
öffnet. Das  Durchschnittsalter  war  12  Jahr  und  4  Monate; 
die  Schülerinnen  hatten  vorher  die  vierte  Klasse  einer  höheren 
Töchterschule  ganz  oder  zur  Hälfte  absolviert.  Trotzdem  war  die 
Vorbildung  sehr  ungleichmässig.  Mehrere  Mädchen  waren  z.  B. 
noch  ganz  im  Unklaren  über  die  Bedeutung  der  Brüche,  andere 
waren  im  Bruchrechnen  schon  leidlich  geübt,  einige  wussten 
vom  Wachsen  der  Pflanzen,  vom  Bau  der  Tiere  noch  nicht 


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Erfahrungen  im  Gytnnasialunterricht  für  Mädchen.  213 


einmal  das  Elementarste,  während  andere  einen  bestimmten 
Wissensstoff  und  allerlei  eigene  Beobachtungen  mitbrachten, 
u.s.w.  Daher  durfte  das  Pensum  des  ersten  Jahres  nicht  um- 
fangreich sein,  damit  Zeit  blieb,  Lücken,  die  im  Laufe  der  Zeit 
sichtbar  wurden,  gleich  gründlich  auszufüllen.  Es  kam  weniger 
darauf  an,  viel  Stoff  schon  in  diesem  ersten  Jahre  zu  bewäl- 
tigen, als  vielmehr  die  Klasse  zu  einheitlicher  Arbeit  anzuleiten. 

Der  Lehrgang  bis  zur  (humanistischen)  Reifeprüfung  war 
auf  7  Jahre  berechnet,  unsere  Klasse  entsprach  also  der  Quarta 
des  Reformgymnasiums.  Doch  haben  wir,  um  für  später  vor- 
zuarbeiten, 4  Stunden  wöchentlich  Latein  gegeben,  und  da- 
durch wenigstens  e  i  n  Fach  geschaffen,  das  allen  Schülerinnen 
neu  war,  so  dass  sie  ihre  Kräfte  gleichmässig  daran .  üben 
konnten.  Herr  Direktor  Zernecke  hatte  die  Liebenswürdigkeit, 
den  Lehrenden  unserer  Familienschule  die  Erlaubnis  zu  unbe- 
schränktem Hospitieren  an  seinem  Gymnasium  zu  geben,  wo- 
durch zum  ersten  Male  in  Deutschland  wissenschaftlich  ge- 
bildete Lehrerinnen  den  Betrieb  eines  humanistischen  Gym- 
nasiums näher  kennen  lernten.  Diese  Besuche  hatten  den  Zweck, 
uns  in  die  Unterrichtsmethoden  der  Gymnasien  einzuführen. 
Es  lag  jedoch  nahe,  nun  auch  Vergleiche  zwischen  den  beiden 
Schulen  zu  ziehen.  Die  Zahl  der  Schüler  war  in  unserer  Klasse 
etwa  die  gleiche,  wie  in  der  Untertertia  des  Gymnasiums.  Der 
erste  überraschende  Eindruck  jedoch,  den  wir  Lehrerinnen  alle 
beim  ersten  Besuche  des  Gymnasiums  erhielten,  war  der  der 
strammen  äusseren  Zucht.  Im  Vergleich  damit  erschien  unsere 
Klasse  leicht  zur  Unruhe  geneigt,  und  wenn  auch  in  gut  ge- 
leiteten Stunden  eine  Neigung  zum  Schwatzen  oder  Lachen 
nach  wenigen  Monaten  gänzlich  verschwunden  war,  so  ist  eine 
ähnliche  militärische  Ordnung,  wie  sie  in  allen  Klassen  des 
Charlottenburger  Reformgymnasiums  herrscht,  bei  uns  bis  jetzt 
nicht  einführbar  gewesen.  Dabei  muss  ich  betonen,  dass  von 
den  16  Schülerinnen  des  ersten  Jahres  eigentlich  nur  eine  ein- 
zige nicht  absolut  willfährig  und  mit  Interesse  bei  der  Sache 
war.  Die  anderen  waren  und  sind  bis  heute  ersichtlich  aufs 
Aufrichtigste  bemüht,  den  Wünschen  ihrer  Lehrer  und  speziell 
der  Lehrerinnen  inbezug  auf  Disziplin  nachzukommen ;  aber  es 
ist  ihnen  fast  unmöglich,  Vorstellungsverbindungen,  die  vom 
strikten  Gange  des  Unterrichts  abseits  führen,  sofort  zu  unter- 

Zeitxhritt  für  pidagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  2 


214 


Hildegard  Wegscheider-Ziegler. 


brechen,  und  viel  schwerer  als  die  Knaben  versagen  sie  es 
sich,  solche  Reihen  bis  zum  lösenden  Schlüsse,  dem  Aus- 
sprechen des  Gedankens,  fortzuführen.  In  den  Knabenklassen 
habe  ich  dagegen  öfter  bemerkt,  dass  die  Schüler  ein  Ver- 
sprechen des  Lehrers,  sogar  eine  falsche  Korrektur,  die  einem 
Kameraden  vielleicht  eine  schlechte  Note  eintrug,  still  ertrugen, 
nur  ein  Aufblitzen  des  Auges  verriet,  dass  sie  das  Versehen 
bemerkt  hatten.  In  der  Mädchenklasse  hat  die  äussere  Dressur 
wenig  genützt.  Gelang  es,  die  Ehrfurcht  vor  dem  Stoffe  oder 
das  Interesse  daran  so  stark  zur  allgemeinen  Stimmung  zu 
machen,  dass  jedes  nicht  dazugehörige  Wort  als  pietätlos  er- 
schienen wäre,  so  hatte  der  Lehrer  gewonnenes  Spiel;  und 
ich  muss  sagen,  dass  das  nicht  eben  schwer  war. 

Aehnliche  Unterschiede  zeigten  sich  bei  der  Ordnung  der 
Pausen.  Unser  Klassenzimmer  liegt  im  dritten  Stock  eines 
Schulhauses,  in  dem  sich  noch  einige  Knabenvorschulklassen, 
eine  Sexta  und  seit  Ostern  eine  Quinta,  ausserdem  6  Mädchen- 
schulklassen befinden.  Wenn  das  Wetter  irgend  erträglich  ist, 
werden  die  Schülerinnen  nach  jeder  Stunde  für  10 — 15  Minuten 
in  den  Hof  geschickt;  die  kleinen  Sextaner,  deren  Zimmer 
dem  unsrigen  gegenüberlag,  und  die  Quintaner,  die  über  unse- 
rem Zimmer  unterrichtet  werden,  waren  schon  14  Tage  nach 
Beginn  des  Schuljahres  vollkommen  gedrillt  und,  von  Fällen 
direkten  Ungehorsams  abgesehen,  gingen  sie,  ohne  ein  Wort 
zu  sprechen,  im  Gänsemarsch  die  Treppen  hinauf  und  hin- 
unter, sassen  pünktlich  beim  Klingelzeichen  auf  ihren  Plätzen; 
und  ob  der  Lehrer  nun  genau  zur  Minute  mit  dem  Unterricht 
begann,  ob  er  einige  Minuten  später  eintrat,  stets  fand  er  eine 
absolut  ruhige  und  auf  die  planmässige  Stunde  vorbereitete 
Klasse. 

Besonders  die  Herren  Lehrer  haben  im  ersten  Schuljahre 
immer  wieder  darüber  klagen  müssen,  dass  eine  ähnliche  Ruhe 
in  unserer  Mädchenklasse  nicht  zu  erzielen  war.  Nach  langem 
Sträuben  meinerseits  musste  denn  auch  eine  Konferenz  be- 
schliessen,  dass  ein  geradezu  drakonisches  Strafsystem  zur  Be- 
kämpfung dieses  Mangels  an  Disziplin  eingeführt  werde. 

Der  Erfolg  war  ein  sehr  allmählich  wirkender.  Aber  ein 
unerwarteter  Nebenerfolg  zeigte  sich :  von  dem  Augenblick  an, 
in  dem  die  Schülerinnen  in  mir  die  Vertreterin  dieses  äusseren 


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Erfahrunren  im  G ' vmnastalunttrruht  für  Mädchen 


215 


Straf systemes  sahen,  war  die  Ordnung  innerhalb  meiner  Unter- 
richtsstunden zwar  äusserlich  etwas  straffer,  die  hingebende 
Aufmerksamkeit  jedoch  nicht  entfernt  mit  dem  vergleichbar, 
was  ich  vorher  einfach  dadurch  erreicht  hatte,  dass  ich  den 
Stoff  wirken  Hess. 

Rein  äusserlich  möchte  ich  noch  bemerken,  dass  die  Lehrer 
der  Tertien  der  Gymnasien  das  Aufstehen  der  Schüler  bei 
jeder  Frage  und  ein  möglichst  strammes  Stehen  während 
ihrer  Beantwortung  für  ein  wichtiges  Disziplinarmittel  halten, 
während  wir  nach  verschiedenen  Versuchen  uns  entschliessen 
mussten,  um  der  grösseren  Ruhe  und  Sammlung  der  Mädchen 
willen  sie  während  der  ganzen  Dauer  des  Unterrichtes  sitzen 
zu  lassen. 

Diese  Erfahrungen  über  verschiedenartige  Handhabung 
und  Wirksamkeit  disziplinarischer  Massregeln  würden,  so 
scheint  es  mir,  schon  an  und  für  sich  ein  Bedenken  für  ge- 
meinschaftlichen Unterricht  von  Knaben  und  Mädchen  in  den 
mittleren  Klassen  höherer  Lehranstalten  ergeben.  Die  Knaben 
würden  von  ihrer  Straffheit  und  Zucht  verlieren,  wenn  man 
den  Mädchen  ihre  freiere,  lockere,  mehr,  von  Impulsen  ge- 
leitete Art  ungeschmälert  Hesse.  Wollte  man  aber  den  Mäd- 
chen den  Knabengymnasialdrill  aufpfropfen,  so  könnte  leicht, 
wie  meine  Erfahrung  zeigt,  der  Erfolg  der  sein,  dass  die  innere 
Frische  und  Anteilnahme  am  Stoff  und  das  zutrauliche  Ver- 
hältnis zur  Persönlichkeit  der  Lehrenden  sich  abschwächte. 

Wichtiger  als  diese  Fragen  der  Disziplin  sind  natürlich 
die  Fragen  des  Unterrichtes  selber.  Als  kompetenter  Richter 
kann  ich  hier  nur  vom  deutschen  L'nterricht,  dem  Sprach- 
unterricht und  den  Geographie-  und  Geschichtsstunden  sprechen. 
Im  Uebrigen  muss  ich  mich  auf  die  Mitteilungen  der  Lehrkräfte 
in  den  Konferenzen  verlassen. 

Im  Deutschen  hatten  wir  seit  Ostern  1901  das  Lesebuch 
von  Hopf  und  Paulsieck  für  Quarta,  seit  1902  das  von  Muff  für 
Untertertia  eingeführt,  und  ich  habe  mich  möglichst  an  den  darin 
angedeuteten  Lehrgang  gehalten.  Die  Stoffe,  die  den  Knaben 
darin  geboten  werden,  die  sich  also  doch  nach  langjähriger 
Erfahrung  als  besonders  geeignet  und  anregend  bewiesen  haben, 
haben  meine  Mädchen  nur  stellenweise  gefesselt.  Vor  allen 
Dingen  ist  es  mir  nicht  gelungen,  sie  wirklich  in  die  Welt 

2* 


216 


Hildegard  Wegscheider-Ziegier. 


der  Uhlandschen  Balladen  so  einzuführen,  dass  sie  sich,  wie 
das  doch  wohl  bei  Knaben  der  Fall  ist,  ohne  weiteres  darin 
heimisch  fühlten.  Es  ist  z.  B.  nicht  möglich  gewesen,  den 
Kindern  die  Empfindung  zu  geben,  dass  Graf  Eberhard  der 
Greiner  recht  hatte,  als  er  nach  der  Reutlinger  Schlacht  zwischen 
sich  und  seinem  Sohne  das  Tafeltuch  entzweischnitt.  Gerade 
die  sittlich  fein  empfindenden  unter  meinen  Schülerinnen  konnten 
diese  Zurücksetzung  der  väterlichen  Gefühle  hinter  die  ritter- 
lichen nicht  fassen,  und  in  der  ganzen  Klasse  habe  ich  keine 
genügende  Antwort  auf  die  Frage  finden  können:  Was  Ul- 
rich denn,  um  die  Befriedigung  des  Vaters  zu  verdienen,  hätte 
thun  müssen.  Als  ich  nach  längerer  Besprechung  den  Inhalt 
der  Ballade  „Die  drei  Könige  zu  Heimsen"  in  einem  Klassen- 
aufsatz niederschreiben  Hess,  ist  zwar  die  allgemeine  historisch- 
soziale Einleitung,  die  die  Verhältnisse  klar  machen  soll,  den 
Mädchen  durchschnittlich  gut  gelungen,  aber  die  Grundidee 
des  Dichters,  die  manche  in  der  Disposition  als  Schluss  des 
Aufsatzes  versprochen  hatten,  hatte  keine  von  ihnen  erfasst, 
und  sie  ist,  wenn  überhaupt,  so  zu  flachster  Sprüchwörter- 
weisheit  herabgedrückt  erschienen. 

Andererseits  waren  die  Erfahrungen  im  deutschen  Gram- 
matikunterrichte geradezu  vorzügliche.  Obgleich,  wie  es  dem 
Lehrgang  der  Töchterschulen  entspricht,  50  Prozent  im  Anfange 
des  Schuljahres  nicht  einmal  sicher  in  der  Bestimmung  der 
Kasus  waren,  habe  ich  doch  nach  3monatlichem  Unterricht 
die  Funktion  der  einzelnen  Satzteile  dermassen  in  das  Ver- 
ständnis der  Schülerinnen  einführen  können,  dass  z.  B.  die 
grammatische  Erklärung  des  lateinischen  Gerundivum  gar  keine 
Schwierigkeiten  machte,  und  dass  die  Infinitivkonstruktion,  die 
Konjunktivsätze  und  die  Gesetze  der  Zeitfolge  fürs  Deutsche, 
wie  in  einfachster  Form  fürs  Lateinische  und  Französische,  ein 
fester  Besitzstand  meiner  Schülerinnen  geworden  sind.  Von 
Anfang  an  hatten  alle  Schülerinnen  eine  ganz  besondere  Vor- 
liebe für  die  deutschen  Grammatikstunden,  das  Analysieren 
komplizierter  Satzverbindungen  wurde  stets  mit  allgemeinster 
Anteilnahme  der  ganzen  Klasse  an  der  Wandtafel  vorgenom- 
men, und  der  beste  Beweis  für  den  Ernst,  mit  dem  die  Schüle- 
rinnen die  grammatischen  Unterweisungen  aufnahmen,  liegt 
vielleicht  in  der  Thatsache,  dass  die  in  der  Lektüre  vorkommen- 


Erfahrungen  im  Gymnasialunterricht  für  Mädchen. 


217 


den  Unregelmässigkeiten  im  Gebrauch  des  deutschen  Kon- 
junktiv und  der  häufige  falsche  Gebrauch  von  „wurde"  im 
Konditionalsatz  stets  bemerkt  und  verbessert  wurden.  Bei  dem 
allen  mögen  Sie  bedenken,  dass  nach  dem  Lehrplan  für  Deutsch 
nur  3  Stunden,  für  Latein  4  und  für  Französisch  nur  2  Stunden 
angegesetzt  waren,  weil  wir  die  Absicht  hatten,  dieses  Ein- 
führungsjahr  möglichst  wenig  zu  belasten. 

Freilich  war  die  Beherrschung  der  lateinischen  Formen- 
lehre ein  hartes  Stück  Arbeit  für  Lehrer  und  Schüler,  und  noch 
immer  habe  ich  einige  unsichere  Kantonisten,  die  sofort  den 
Mut  verlieren,  wenn  länger  als  5  oder  6  Minuten  nach  Verb- 
formen gefragt  wird,  oder  wenn  40  bis  50  Verba  der  dritten 
Konjugation  in  bunter  Reihenfolge  schnell  abgefragt  werden. 
Das  schnelle  Antworten,  die  Schlagfertigkeit,  die  Unbeküm- 
mertheit um  etwaige  Nebenvorstellungen,  wie  ich  sie  bei  den 
Knaben  beobachten  konnte,  ist  mir  stets  beneidenswert,  aber 
immer  nur  annähernd  erreichbar  erschienen.  Als  fördernd  hat 
sich  uns  im  lateinischen  Unterricht  neben  dem  stets  durch- 
geführten Hinweis  auf  die  deutsche  Grammatik  die  Rücksicht 
auf  den  im  Französischen  erworbenen  Wortschatz  erwiesen. 
Neue  Vokabeln  werden  stets  mit  Interesse  daraufhin  geprüft,  ob 
sie  irgendwelche  Verwandtschaft  mit  dem  Französischen  auf- 
weisen. Dem  Lehrer  blieb  nur  die  Aufgabe,  zurückzuhalten; 
niemals  bedurfte  es  des  Antreibens. 

Im  Wiedererzählen  durchgenommener  Stoffe  waren  die 
Schülerinnen  im  Anfang  des  Schuljahres  sehr  ungleichmässig 
vorbereitet ;  während  einige,  die  älter  sind  als  der  Durch- 
schnitt der  Klasse,  die  viel  mit  Erwachsenen  zusammen  sind, 
oder,  wie  2  meiner  Schülerinnen,  schon  ausländische  Schulen 
durchgemacht  hatten,  gern  und  verhältnismässig  fliessend  er- 
zählten, konnten,  die  meisten  einen  eigenen  Ausdruck  für 
Dinge,  die  im  Zusammenhang  vorgetragen  waren,  nur  schwer 
finden,  ja  sie  waren  nicht  einmal  daran  gewöhnt,  zusammen- 
hängende Vorträge  von  10 — 20  Minuten  Länge  überhaupt  zu 
apperzipieren.  Zwei  Schülerinnen  einer  Berliner  Privatschule 
bezeichneten  mit  dem  Namen  „Aufmerksamkeit"  einen  Zustand 
friedlichen  Halbschlummers  in  der  vorgeschriebenen  Schul- 
haltung, aus  dem  sie  sich  nur  aufrafften,  wenn  es  sich  um 
Gedrucktes  oder  Geschriebenes  handelte;  eine  Wiederholung 


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218 


HtUUsard  WegscheicUr-Zügler. 


eines  vom  Buche  unabhängigen  Wortes  des  Lehrers  war  eine 
unerfüllbare  Aufgabe.  Um  sie  zu  intensiverer  Aufmerksamkeit 
anzuregen,  habe  ich  im  ersten  halben  Jahr  den  Geschichts- 
unterricht ohne  jedes  Lehrbuch  erteilt.  Der  Lehrplan  schrieb 
die  griechische  Geschichte  vor  ;  ich  habe  für  die  Zeit  von  der 
mykenischen  Kulturepoche  an  bis  zum  peloponnesischen  Kriege 
etwa  20  Geschichtszahlen  diktiert,  im  übrigen  habe  ich  ver- 
langt, dass  die  Schülerinnen  das  in  der  Stunde  gründlich  und 
ausführlich  durchgenommene  und  eingeübte  ohne  Hilfe  irgend 
eines  Buches  in  der  folgenden  Stunde  wiedererzählten.  Bei 
einigen  setzte  es  Thränen.  sie  konnten  ohne  Buch  nicht  arbeiten, 
andere  wurden  trotzig  und  weigerten  sich  direkt,  solche  vom 
Buch  unabhängige  Arbeit  zu  leisten;  auch  Väter,  die  beim 
Arbeiten  hatten  helfen  wollen  und  sich  wahrscheinlich  ohne 
Erfolg  bemüht  hatten,  aus  der  Tochter  Munde  zu  erfahren, 
was  denn  erzählt  worden  sei,  Hessen  um  Angabe  des  Buches 
bitten,  nach  dem  ich  mich  richtete;  schliesslich  versuchten  sie 
es  alle,  die  Arbeit  selbständig  zu  leisten,  und  es  ging.  Es  ging 
so  gut,  dass  ich  am  Ende  des  I.  Halbjahres  einen  unvor- 
bereiteten Aufsatz  über  die  Perserkriege  schreiben  Hess,  der  in 
der  Hälfte  der  Fälle  gut  ausfiel,  und  eine  Selbständigkeit  der 
Auffassung  beweist,  wie  ich  sie  gerade  in  politischen  Dingen 
bei  Mädchen  kaum  erwartet  hatte. 

Auch  sonst  ist  mir  aufgefallen,  dass  die  Mädchen  politi- 
schen und  sozialen  Stoffen  mehr  Verständnis  entgegenbrachten 
als  der  Kriegsgeschichte ;  während  ihnen  noch  heute  sogar 
der  trojanische  Krieg  langweilig  erscheint,  den  ich  ihnen  doch 
in  ziemlich  enger  Anlehnung  an  die  Ilias  möglichst  warm  ans 
Herz  gelegt  hatte,  benutzen  sie  jede  Gelegenheit,  um  ihre  Lehrer 
über  soziale  Fragen  auszuhorchen.  So  fragte  mich  ein  Mäd- 
chen, welcher  Partei  die  Grachen,  von  denen  ihr  die  Ge- 
schichtslehrerin erzählt  hatte,  wohl  heute  angehören  würden, 
und  Alle  waren  glücklich,  als  ich  am  Ende  des  ersten  Schul- 
jahres ein  paar  Geschichtstunden  dazu  verwandte,  ihnen  die 
deutsche  und  preussische  Verfassung  klar  zu  machen.  Ich 
glaube,  dass  wenige  unter  ihnen  sind,  die  nicht  lebhaft  wün- 
schen würden,  einmal  an  den  Wahlen  zu  Reichs-  und  Landtag 
teilnehmen  zu  dürfen.  LTnd  doch  weiss  ich  mich  frei  von  jeder 
unschulgemässen  Agitation  in  Dingen  der  Frauenfrage  und 


Erfahrungen  im  GytnnasüüunUrricht  für  Mädchen. 


219 


Politik;  ich  habe  ihnen  nur  eine  kurze  Uebersicht  über  die 
Paragraphen  der  Verfassung  gegeben,  die  die  Rechte  und 
Pflichten  der  Bürger  festsetzen,  und  die  Form  der  Regierung 
behandeln. 

Ich  fürchte,  dass  es  sehr  schwer  sein  wird,  den  Kindern 
die  Schlachtenschilderungen  des  Cäsar,  zu  denen  wir  in  den 
nächsten  Monaten  übergehen  müssen,  interessant  zu  machen  ; 
und  wie  ich  meine  Mädchen  kenne,  sind  sie  anders  als  durch 
eigenes  Interesse  überhaupt  schwer  zu  leiten.  Dagegen  werden 
ihnen  —  davon  bin  ich  überzeugt  —  die  Volksverhältnisse 
der  Gallier  und  deren  stets  lebendiger  Widerwille  gegen  die 
Römerherrschaft  sympathisch  und  interessant  erscheinen. 

Sehr  wichtig  für  die  Erziehung  schien  gerade  in  dem  Ent- 
wicklungsalter, in  dem  sich  viele  unserer  Schülerinnen  befinden, 
der  naturwissenschaftliche  Unterricht.  Nachdem  die  äusseren 
Verhältnisse  uns  gezwungen  hatten,  den  botanischen  Unterricht 
anfangs  noch  in  die  Hände  einer  tüchtigen,  aber  nur  semina- 
ristisch vorgebildeten  Lehrerin  zu  legen,  haben  wir  jetzt  einen 
Oberlehrer  für  diese  Stunden  gewonnen. 

Der  Lehrplan  dieses  Sommers  verlangt  die  Elemente  der 
Anatomie  und  Physiologie  der  Pflanzen,  und  lässt  diese  Be- 
handlung an  die  Betrachtung  der  Kryptogamen  anschliessen. 
Ich  halte  es  für  einen  ganz  besonders  glücklichen  Umstand, 
dass  der  naturwissenschaftliche  Lehrer  unserer  Klasse,  mit 
wissenschaftlicher  Selbstverständlichkeit  die  Vorgänge  der 
Fortpflanzung  an  den  Pflanzen  dargestellt  hat,  und  dass  er 
auch  die  üblichen  klaren  Ausdrücke  für  diese  Verhältnisse 
nicht  vermieden  hat.  Bei  einem  Gange  durch  die  Warmhäuser 
des  Botanischen  Gartens  konnte  ich  die  Erfahrung  bestätigen, 
die  er  selbst  gemacht  hatte:  Keinem  der  Mädchen  war  bei- 
dieser  Betrachtung  der  Gedanke  eines  Vergleichs  dieser  Ver- 
hältnisse der  Pflanzenwelt  mit  den  menschlichen  gekommen; 
aber  wir  können  hoffen,  dass  so  ohne  ihr  Wissen  ihnen  für 
spätere  Tage  eine  Grundlage  gegeben  ist,  auf  der  sie  die 
tiefsten  und  heiligsten  Geheimnisse  des  menschlichen  Lebens 
in  dem  reinen  Lichte  natürlicher  Betrachtung  erschauen 
können.  Wenn  der  Plan  der  Stadt  Charlottenburg  und 
der  kürzlich  vom  Berliner  Stadtschulrat  ausgeführte  Plan 
eines   schon  mit   dem    12.    Lebensjahre   beginnenden  Real- 


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Hildegard  WegscheicUr-ZUgler. 


gymnasiums  für  Mädchen  zur  Wirklichkeit  würde,  so 
wäre  damit  auch  dem  naturwissenschaftlichen  Unterricht 
ein  breiteres  Feld  gegeben.  Und  ich  muss  sagen,  dass 
ich  das  für  ausserordentlich  günstig  halte.  Denn  die  geistige 
Entwicklung  begabter  Mädchen  gerade  in  der  grossen  Stadt 
ist  oft  so  einseitig  auf  litterarische  und  menschlich-moralische 
Fragen  gerichtet,  dass  auf  dieser  Seite  eine  Hypertrophie  er- 
zielt wird,  während  das  Vermögen  klarer  Anschauung  der  ge- 
gebenen Verhältnisse  dabei  leicht  vernachlässigt  wird.  Trotz- 
dem wäre  es  bedauerlich,  da  auch  die  Gymnasialkurse  für 
Frauen  unter  Leitung  des  Herrn  Direktor  Wychgram  von  Ok- 
tober ab  das  Abiturium  der  Realgymnasien  als  ihr  Ziel  auf- 
stellen, wenn  Berliner  Mädchen  nicht  wenigstens  an  einer 
Stelle  Gelegenheit  zu  humanistischer  Vorbildung  gegeben  wird. 

Vom  mathematischen  Unterricht  kann  ich  wenig  urteilen: 
Ein  bewährter  älterer  Oberlehrer  hatte  ihn  im  ersten  Jahr  ge- 
leitet. Er  fand  eine  sehr  ungleichmässig  vorbereitete  Klasse, 
und  seine  Zeit  gestattete  ihm  keine  anderen  Unterrichtsstunden, 
als  die  von  12— i,  die  bekanntlich  kaum  je  gute  Resultate 
ermöglichen.  Die  seit  April  1902  bei  uns  arbeitende  Ober- 
lehrerin hält,  soweit  sie  bis  jetzt  urteilen  kann,  die  Schülerinnen 
für  durchaus  befähigt  und  sehr  stark  interessiert  für  mathe- 
matische Fragen.  Nichts  wesentlich  vom  Gewöhnlichen  ab- 
weichendes konnten  wir  auf  dem  Gebiete  des  Gesang-Unter- 
richts, des  Turnens  und  auch  des  Zeichnens,  das  wir  möglichst 
intensiv  betrieben  haben  und  das  von  gutem  Erfolg  begleitet 
war,  bemerken. 

Sehr  bedeutsam  scheinen  mir  unsere  Erfahrungen 
auf  dem  Gebiete  der  körperlichen  Erziehung  für  die 
Frage  der  „Coeducation".  In  den  Wintermonaten  1901/02  sind 
beinahe  die  Hälfte  unserer  Schülerinnen  in  die  Entwickelung 
zur  Geschlechtsreife  eingetreten.  Es  war  das  eine  grosse  Schwie- 
rigkeit für  ruhige  Fortführung  des  Unterrichtes.  Nicht  nur, 
dass  diese  Kinder  hie  und  da  den  Unterricht  versäumen  mussten, 
sie  waren  auch  vielfach  so  erregt,  an  anderen  Tagen 
wieder  so  niedergedrückt,  dass  ich  z.  B.  die  Angst  der  latei- 
nischen Extemporalien  der  Klasse  beinahe  8  Wochen  lang 
nicht  aufbürden  durfte,  wollte  ich  nicht  höchst  gefährliche 
Störungen  im  nervösen  Gleichgewicht  einiger  Schülerinnen  her- 


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Erfahrungen  im  GymnasialunUrrkht  für  Mädchen. 


221 


vorrufen.  Es  kam  und  kommt  noch  immer  alles  darauf  an  — 
den  Mädchen  die  Schule  zu  einer  Stätte  ganz  ruhigen  und  all- 
mählichen Fortschreitens  und  ganz  gleichmässig  verteilter  An- 
strengung zu  machen.  Sowie  durch  ein  zufälliges  Zusammen- 
treffen ein  Tag  etwas  mehr  als  das  gewöhnliche  Mass  an 
Schularbeit  forderte,  war  die  geistige  Frische  einiger  Mädchen 
gestört,  kurz  es  musste  der  ganze  Schulgang  stets  gerade  auf 
die  körperlichen  Zustände  der  Mädchen  Rücksicht  nehmen. 
Während  man  nach  der  allgemeinen  Meinung  der  Schulmänner 
durch  kräftige  Bewegung  und  starkes  körperliches  Ausarbeiten 
den  Knaben  diese  Entwickelungsjahre  erleichtert,  ist  es  die 
Aufgabe  der  sorgfältigen  Mädchenerziehung,  ängstlich  ein  Zu- 
viel an  körperlicher  Bewegung  zu  vermeiden,  ohne  doch 
körperliche  Schlaffheit  und  Trägheit  zu  befürworten.  Das 
Springen  im  Turnunterricht,  starke  Üebungen,  welche  die 
Bauchmuskulatur  anstrengen,  mussten  ausgesetzt  werden,  und 
die  Schulspaziergänge  mussten  so  kurz,  aber  auch  so  häufig 
stattfinden,  dass  kein  Kind  dadurch  ernstlich  gefährdet  werden 
konnte,  und  keine  Mutter  ihrem  Liebling  den  grossen  Schmerz 
anzuthun  brauchte,  die  Teilnahme  aus  gesundheitlichen  Grün- 
den zu  versagen.  Eins  aber  ist  uns  denn  auch  gelungen,  keine 
unserer  kleinen  Schaar  ist  uns  untreu  geworden,  keine  hat 
ihre  frischen  Farben  verloren,  und  keine,  so  glaube  ich  ohne 
Selbsttäuschung  sagen  zu  können,  würde  wünschen,  noch  im 
Rahmen  der  Töchterschule  zu  stehen.  Freilich  ist  der  Weg 
noch  weit  bis  zum  Ziel,  noch  beinahe  6  Jahre  stehen  uns 
bevor.  Aber  wenn  wir  diese  6  Jahre  wirklich  dazu  anwenden 
könnten,  eine  speziell  weibliche  Methode  des  gymnasialen  Unter- 
richtes anzubahnen,  so  hätten  wir,  meine  ich,  ein  redlich  Teil 
mitgearbeitet  an  einer  der  grössten  Kulturaufgaben  unserer 
Zeit,  und  ich  möchte  auf  ein  Wort  des  Geheimrat  Wätzold 
zum  Schluss  hinweisen,  dem  ich  mich  vollständig  anschliesse: 

„Nicht  Egalisierung,  sondern  Differenzierung  ist  das  höhere 
Prinzip  in  der  Kultur.  Mädchen  sind  aber  keine  Knaben,  sie 
lernen  und  verarbeiten  ganz  anders.  Mögen  sie  dasselbe  lernen, 
aber  falsch  ist  es  auf  jeden  Fall,  sie  von  vornherein  dasselbe 
in  derselben  Weise  zu  lehren.  Der  gemeinsame  Unterricht 
gleicht  nicht  die  verschiedenartigen  Methoden  aus,  sondern 
die  Erfahrung  zeigt,  dass  die  Mädchen  immer  der  Knaben- 


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222 


Hildegard  Wegsckeider-ZügUr. 


schulmethode  dabei  unterworfen  werden.  Zudem  sind  denn 
bloss  Mädchenschulen  reformbedürftig  und  nicht  auch  Knaben- 
schulen? Soll  deren  Vielgestaltung  auch  künstlich  auf  die 
Mädchenschulen  übertragen  werden?  Der  Knabe  muss  min- 
destens das  Einjährigenzeugnis  erreichen,  es  ist  also  bei  ihm 
ein  „Muss",  das  beim  Mädchen  im  wesentlichen  wegfällt." 
Warum  sollte  die  Erziehung  der  Mädchen  sich  die  Vorzüge 
dieser  grösseren  Freiheit  ihrer  gesellschaftlichen  und  sozialen 
Stellung  entgehen  lassen? 


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Einige  Worte  über  die  gemeinsame  Erziehung 
der  beiden  Geschlechter. 

Von 

Karl  Löschhorn. 

Als  wackerer  Vorkämpfer  für  die  Sache  der  Koedukation 
hat  sich  bereits  mehrfach  der  Leiter  der  Hamburg-Hohenfelder 
Einheitsschule  Dr.  L.  Bornemann  bewährt;  er  hat  das  schwie- 
rige Thema  auch  vom  pädagogischen  Standpunkte  aus  in  der 
Hamburgischen  Schulzeitung  189S.  6.  Jahrg.,  Nr.  2  und  10 
beleuchtet  und  namentlich  zahlreiche  ähnliche  Stimmen,  die 
er  zwecks  Unterstützung  seiner  Bestrebungen  gesammelt  hat, 
daselbst  angeführt.  Mit  Riecht  betrachtet  er  a.  a.  O.  Nr.  2, 
S.  10  auf  Grund  der  praktischen  Erfahrungen,  die  er  in  seiner 
Schule  mit  der  gemeinschaftlichen  Erziehung  beider  Ge- 
schlechter gemacht  hat,  die  Einführung  der  Koedukation  als 
narurgemässe  Folge  der  Hinaufschiebung  des  Lateinunterrichts 
in  die  Oberklassen.  Hierbei  bezieht  er  sich  zutreffend  auf  die 
feststehende  Thatsache,  dass  auf  Empfehlung  des  Professors 
der  klassischen  Philologie  Gustavson  schon  im  Jahre  1882  in 
Helsingfors  beschlossen  wurde,  den  lateinischen  Sprachunter- 
richt erst  auf  den  oberen  Stufen  des  Nya  svenska  lärsverket 
zu  beginnen. 

Im  Jahre  1888/89  erschien  zu  Hamburg  als  Heft  45  der, 
Deutschen  Zeit-  und  Streitfragen  das  gediegene  Schriftchen 
von  B.  Brons,  einem  Emdener  Kaufmann,  ,, Gemeinsame  Er- 
ziehung beider  Geschlechter  an  den  höheren  Schulen" ;  das- 
selbe handelt  von  den  einschlägigen  Verhältnissen  in  Skandi- 
navien, Finland  und  den  Vereinigten  Staaten.  Auf  letztere 
insbesondere  bezieht  sich  Waetzoldts  sehr  beachtenswerter 
Artikel  „Koedukation"  in  der  deutschen  Zeitschrift  für  aus- 
ländisches LTnterrichtswesen,  Oktober  1895,  S.  26  -36,  aus 
welchem  erhellt,  dass  in  den  Vereinigten  Staaten  eine  gemein- 


224 


Karl  Löschhorn. 


same  Erziehung  beider  Geschlechter  in  allen  Arten  von 
Schulen,  d.  h.  von  der  Elementarschule  bis  zur  Universität 
hinauf  vorherrscht;  er  meint  jedoch,  dass  sich  auch  dort, 
wenigstens  allmählich,  infolge  des  Rückganges  der  Zuwande- 
rung und  des  Wettbewerbs  der  Frauen  im  Erwerbsleben  eine 
Rückwirkung  einstellen .  werde. 

Billigung  verdienen  entschieden  auch  die  von  Bornemann 
zitierten  Aeusserungen  von  Dr.  Max  Brahn  in  der  Zeitschrift 
für  Schulgesundheitspflege  1897,  S.  397:  „Die  Teilung  nach 
Geschlechtern  findet  heute  kaum  mehr  Verteidiger,  weder 
auf  pädagogischer  noch  auf  medizinischer  oder  physiologischer 
Seite"  und  vom  Redakteur  der  Review  of  Reviews  W.  T.  Stead 
vom  15.  Januar  1898:  The  conventional  antipathy  which  exists 
in  many  quarters  against  educating  boys  and  girls  in  one 
school  is  the  great  barrier  to  securing  the  best  education 
either  for  boys  or  for  girls;  und  The  are  „games"  evenings, 
varying  from  serious  chess  to  merry  blind  man's  buff ;  magic- 
lantern,  lectures  are  given  by  the  staff  and  friends,  or  occasio- 
nally  the  seniors  will  present  one  of  Shakespeare's  plays, 
reading  the  parts,  but  still  showing  sufficient  knowledge  to 
interest  the  onlookers. 

Bekannt  ist.  dass  in  Stockholm  die  Samskola  des  Rektors 
Palmgren  schon  lange  besteht  und  sehr  Tüchtiges  leistet, 
ebenso  die  sehr  stark  und  zwar  fast  nur  von  Kindern  der 
besten  Stände  besuchte  Schule  der  Frau  Ragna  Nielsen  in 
Christiania,  wie  Bornemann  a.  a.  O.  2,  S.  10  ebenfalls  hervor- 
hebt. Auch  in  Dänemark  findet  sich  bereits  das  Prinzip  der 
Koedukation,  nämlich  an  einer  öffentlichen  Schule,  der  Stadt- 
schule zu  Kolding,  und  einer  Privatanstalt,  der  des  Fräulein 
Adler  in  Kopenhagen,  die  Bornemann  nennt.  Am  allerwich- 
tigsten  für  die  Beurteilung  der  Streitfrage  dürfte  aber  die  That- 
sache  sein,  dass  die  öffentliche  Schule  in  Norwegen  schon 
seit  1897  den  Grundsatz  der  samskole  oder  foelleskole  an- 
genommen und  praktisch  durchgeführt  hat.  Schliesslich  wollen 
wir  noch  nach  Bjornemanns  Angabe  das  ihm  kurz  vor  der  Ver- 
öffentlichung seines  ersten  Artikels  zugegangene  Gutachten  des 
Professors  der  Philologie  an  der  Universität  Kopenhagen 
Dr.  A.  B.  Drachmann  wiedergeben.  Es  lautet :  Ich  unterrichte 
selbst  seit  Jahren  junge  Mädchen  nach  dem  Schulplan,  der 


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Einige  Worte  über  d.  gemeinsame  Ermehung  d.  beiden  Geschlechter.  225 

für  Knaben  gemacht  ist,  und  habe  gefunden,  dass  die  Mädchen 
den  Unterrichtsstoff  etwas  leichter  bewältigen  als  die  Knaben; 
doch  mag  das  daran  liegen,  dass  sie  durchgängig  etwas  älter 
sind  und  fleissiger  arbeiten.  Jedenfalls  bin  ich  gewiss,  dass 
der  Unterricht  leichter  von  statten  geht.  Von  besonderer  Be- 
fähigung für  die  eine  oder  die  andere  Seite  des  Stoffes  habe 
ich  nichts  verspürt.  Natürlich  sind  einige  Mädchen  mehr  für 
die  sprachlichen,  andere  mehr  für  die  mathematischen  Fächer 
veranlagt,  ganz  wie  es  bei  den  Knaben  der  Fall  ist:  aber  in 
dem  numerischen  Verhältnis  dieser  beiden  Gruppen  habe  ich 
keinen  Unterschied  von  den  Knaben  bemerkt.  Dass  wir  in 
der  Schule,  wo  ich  thätig  bin,  nicht  ganz  wenige  für  Mathe- 
matik besonders  begabte  Schülerinnen  gehabt  haben,  möchte 
ich  für  einen  Zufall  halten.  Wenn  ich  einen  Unterschied  kon- 
statieren sollte,  so  würde  ich  ihn  etwa  so  formulieren:  die 
Mädchen  lernen  am  ehesten  leichter;  sie  sind  stetiger  bei  der 
Arbeit;  ihre  Auffassung  ist  lebhafter,  sie  empfinden  stärker 
oder  äussern  ihre  Empfindung  stärker  bei  dem,  was  ihnen  ge- 
boten wird ;  sie  sind  überhaupt  weicheres  und  leichteres  Material 
für  die  Bearbeitung  der  Schule.  Aluf  der  anderen  Seite  sind 
sie  weniger  kritisch  und  weniger  selbständig  in  der  Auffassung ; 
der  Unterricht  macht  auf  sie  keinen  so  tiefen  Eindruck  wie 
auf  die  Knaben,  und  es  fällt  ihnen  selten  ein,  die  gewonnenen 
Kenntnisse  oder  Anregungen  für  selbständige  Weiterbildung 
zu  verwerten.  Dies  ist  auch  insofern  richtig,  als  gerade 
Knaben  gern  irgend  ein  Problem  aus  dem  Wissensgebiet, 
für  das  sie  vorwiegend  Interesse  haben,  immer  wiederholt  zu 
lösen  versuchen,  Mädchen  dagegen  fast  nie. 

Wo  der  junge  Mann  von  dem  Unterricht  eines  bestimmten 
Lehrers  eine  Epoche  in  seinem  Leben  datiert,  da  bleibt  dem 
jungen  Mädchen  meist  nur  eine  angenehme  Erinnerung. 

Es  dürfte  zunächst  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  Mäd- 
chen ausser  für  alte  Sprache  und  die  abstrakteren  Gebiete  der 
Mathematik  dieselben  Fähigkeiten  haben  wie  Knaben ;  auch 
ist  dies  von  den  hervorragendsten  Kennern,  wie  Waetzoldt  u.  a. 
niemals  bestritten  worden.  Ferner  steht  fest,  dass  Mädchen 
im  allgemeinen  fleissiger  und  ernster  beim  Unterricht  sind  als 
Knaben,  letztere  aber  das  einmal  geistig  Erarbeitete  und  Ge- 
lernte nicht   so  schnell   wieder  vergessen  als  erstere.  Das 


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226 


hauptsächlichste  Bedenken,  das  immer  und  immer  wieder 
gegen  die  Einführung  der  Koedukation  vorgebracht  wird,  ist, 
dass  die  Sittlichkeit  beider  Geschlechter  dadurch  gefährdet 
werde;  gesagt  wird  dies  unaufhörlich,  zu  beweisen  ist  es  nie. 
Es  ist  vielmehr  allgemein  bekannt,  dass  z.  B.  an  den  Uni- 
versitäten Berlin  und  Breslau,  also  an  den  grössten  Preussens, 
gerade  durch  das  Zusammenstudieren  der  beiden  Geschlechter 
ein  ausserordentlich  reger  Wetteifer  erweckt  und  die  feine 
Sitte  unter  den  Studierenden  nur  gefördert  ist.  Zu  Flirt  und 
Tändeleien  treffen  sich  die  beiden  Geschlechter  auf  der  Uni- 
versität nicht,  wie  |man,  namentlich  in  Berlin,  im  Gebäude  selbst 
täglich  beobachten  kann.  Die  Studentin  versäumt  fast  nie  ein 
Kolleg,  ausser  wenn  sie  ernstlich  krank  ist,  und  denkt  über- 
haupt nur  an  die  Arbeit,  die  ihrem  künftigen  Berufe  dient; 
auch  der  Student  geht  nicht  auf  intime  Annäherung  an  seine 
Kollegin  oder  Kommilitonin,  wie  er  sie  zu  nennen  pflegt,  aus. 
Dieselben  guten  Erfahrungen  hat  man  überall  gemacht,  wo 
die  Koedukation  bereits  besteht;  Takt,  Anstand,  Feinheit  hat 
bei  den  gemeinschaftlich  mit  Mädchen  unterrichteten  Knaben, 
selbst  wenn  sie  in  den  sogenannten  Flegeljahren  standen,  nur 
gewonnen,  wobei  allerdings  nicht  zu  vergessen  ist,  dass  sich 
die  Koedukation  in  den  romanischen  Ländern  wegen  des 
früheren  Eintritts  der  Reife  und  der  dort  herrschenden 
grösseren  Sinnlichkeit  der  Mädchen  weniger  empfehlen  möchte. 
Doch  käme  es  in  dieser  Beziehung  einmal  auf  einige  ernsten 
Versuche  an ;  allzu  pessimistisch  braucht  man  entschieden  auch 
hier  nicht  die  Sache  anzusehen. 

Man  sollte  doch  stets  bedenken,  dass  die  Familie,  in  der 
sich  Eltern  und  Geschwister  täglich  und  fast  stündlich  be- 
rühren, die  ursprünglichste  gottgewollte  Gemeinschaft  ist,  und 
wer  sollte  Gott  widerstreben  wollen?  Dazu  kommt,  dass  auch 
alle  staatlichen  Grundlagen  zunächst  auf  ihr  beruhen  und  die 
Schule  fast  in  allen  Kulturstaaten  eine  Einrichtung  des  Staates 
und  nicht  mehr,  wie  im  Mittelalter,  der  Kirche  ist.  Werden 
nicht  die  Arsten  erziehlichen  Eindrücke  von  den  Kindern  in 
der  Familie  gewonnen  und  weckt  der  Umstand,  dass  zahlreiche 
Kinder,  die  keine  Geschwister  anderen  Geschlechts  haben,  in 
ihnen  nicht  vielfach  ganz  verkehrte  Vorstellungen  vom  wirk- 
lichen Leben,  namentlich  dem  Leben  im  grossen  staatlichen 


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Einigt  Worte  über  d.  gemeinsame  Erziehung  d.  beiden  Geschlechter.  227 

Ganzen  ?  Werden  nicht  auch  in  deutschen  und  gerade  besonders 
in  preussischen  Landschulen,  die  nur  einen  Lehrer  haben, 
nicht  selten  gleichaltrige  Knaben  und  Mädchen  auch  jetzt 
noch  gemeinschaftlich  oder  wenigstens  räumlich  vereinigt  unter- 
richtet, ohne  dass  man  jemals  Klagen  über  gröbere  sittliche 
Ausschreitungen  derselben  gehört  hat,  mit  denen  Eltern,  welche 
den  sogenannten  besseren  Familien  angehören,  ohne  irgend 
welche  richtige  Sachkenntnis  sofort  bei  der  Hand  sind,  wenn 
man  dies  Thema  nur  irgendwie  anschneidet  ?  Nun  ist  es  sehr 
interessant,  dass  gerade  bei  unseren  Urahnen,  den  alten  Deut- 
schen, wo  jede  Familie  gewissermassen  einen  Staat  für  sich 
bildete,  die  Frauen  hochangesehen  waren,  während  den  hoch- 
gebildeten Hellenen  die  Frau,  die  sich  in  die  yvraixcorlTig 
zurückziehen  musste,  als  Sklavin  galt.  So  herrschte  denn  auch 
die  grösste  Sittenreinheit  bei  den  Deutschen,  die  grösstc  Sitten- 
losigkeit  bei  dem  Hauptkulturvolk  des  Altertums,  den  Griechen. 
Aehnlich  steht  es  mit  den  Ländern,  wo  die  gemeinschaftliche 
Erziehung  beider  Geschlechter  schon  in  grösserem  Umfange 
durchgeführt  ist ;  gerade  sie  zeichnen  sich  durch  verhältnis- 
mässig grosse  Sittlichkeit  aus.  Die  saneta  hilaritas  der  Vor- 
läufer der  Reformation  und  besonders  Luthers,  des  Volks- 
mannes, der  eine  musterhafte  Ehe  führte  und  alle  Tage  mit 
seinem  Sohn  Hans  und  seiner  Tochter  Magdalene  den  Ka- 
techismus behandelte,  also  auf  heutige  Lebensverhältnisse  über- 
tragen, die  Jugendfröhlichkeit,  welche  auf  dem  angenehmen 
Gefühl  beruht,  seine  Pflicht  gethan  zu  haben  und  sittlich  rein 
dazustehen,  wird  gerade  durch  die  Koedukation  erworben. 

Man  sage  auch  nicht,  dass  die  Mädchen  nicht  folgerichtig 
denken  können,  während  doch  keine,  auch  nicht  die  geringste 
geistige  Entwickelung  ohne  Verstandesthätigkeit  denkbar  ist, 
jede  Verstandesthätigkeit  aber  auf  einfachen  logischen  Gesetzen 
beruht.  Ja  sie  würden  gerade  zur  exakten  Denkfähigkeit  schon 
sehr  früh  mittels  der  Koedukation  erzogen  werden,  auch  könnte 
man  die  Frauenfrage,  die  schon  dreissig  Jahre  lang  unendlich 
viel  Staub  aufgewirbelt  hat,  mit  einem  Schlage  lösen,  wenn 
man  viele  Koedukationsanstalten  errichtete,  und  die  erziehe- 
rischen Resultate  derselben  einige  Zeit  hindurch  aufmerksam 
verfolgte.  Man  würde  bald  finden,  dass  beide  Geschlechter 
im  allgemeinen  dasselbe  zu  leisten  vermögen,  zumal  wenn  man 


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228 


Karl  Löschhorn. 


nicht  einseitig  nur  Herbartsche  Erziehungsmaximen  zu  Grunde 
legte,  sondern  das  Kraft-  und  Leistungsgefühl  der  Lernenden 
auch  durch  Kants  kategorischen  Imperativ  zu  stärken  suchte. 
Ein  fröhliches  Kraftgefühl  zu  erwecken  sei  jedes  Pädagogen 
ernstes  Bestreben ;  die  Schüler  gewinnen  es  sensim  sine  sensu, 
wenn  der  Lehrer  stets  sich  in  edler,  reiner  Kindlichkeit,  wie 
einst  Christus  zu  den  Kindern,  in  frischem,  unbefangenen  Ver- 
kehr zu  ihnen  herablässt.  und  selbst  noch  einmal  „klug  wie 
ein  Kind"  wird. 


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Der  Einfluss  des  grossstädtischen  Lebens  und 
des  Verkehrs  auf  das  Nervensystem. 

Von 

Albert  Moll. 

(Fortsetzung  und  Sehldes.) 

Betrachten  wir  nächst  dem  Beruf  und  der  Beschäftigung  den 
Familienstand  in  der  Grossstadt  im  Vergleich  zum  Lande. 
Es  dürfte  bekannt  sein,  dass  man  die  Ehe  mitunter  als  ein  Mittel 
gegen  hysterische  und  andere  Krankheitserscheinungen,  besonders 
beim  weiblichen  Geschlecht,  empfiehlt.  Häufig  wird  allerdings,  wie 
ich  bei  dieser  Gelegenheit  einschalte,  dieser  Rat  leichtfertig  ohne 
Berücksichtigung  der  konkreten  Verhältnisse  und  der  seelischen 
Individualität  gegeben,  und  so  ist  es  zu  erklären,  dass,  wie  mir  von 
einer  Reihe  Fällen  bekannt  ist,  das  schwerste  Unheil,  nicht  nur 
baldige  Ehescheidung,  sondern  auch  Selbstmord  die  Folge  solcher 
unüberlegten  schablonenmässigen  Ratschläge  geworden  ist.  An- 
dererseits aber  wird  vielfach  bekundet,  dass  Neurasthenie  häufiger 
bei  Ehelosen  sei,  was  man  auf  deren  unregelmässige  Lebensweise 
zurückführt.  Ich  halte  aber  diese  Behauptung  an  sich  für  zweifel- 
haft. Hingegen  wollen  wir  festhalten,  dass  der  Prozentsatz  der 
Geisteskranken  unter  den  Unverheirateten  grösser  ist  als  unter 
Verheirateten,  und  zwar  auch  dann,  wenn  wir  Kinder  unter  15  Jahren 
ohne  weiteres  von  der  Statistik  ausschliessen.  Nach  einer  vor 
längerer  Zeit  von  Marce  erschienenen  Statistik  *),  die  den  Zeitraum 
von  zehn  Jahren  berechnete,  ergab  sich,  dass  unter  den  Geistes- 
kranken Frankreichs  61,80  Prozent  unverheiratet  waren,  während 
unter  der  gesunden  Bevölkerung  die  Unverheirateten  nur  36,74 
Prozent  bildeten.  Es  ist  hier  allerdings  noch  ein  Unterschied 
zwischen  dem  weiblichen  und  männlichen  Geschlecht  zu  machen, 
indem  das  männliche  ungünstiger  dasteht,  was  den  Einfluss  der 

')  Toulouse,  Les  Causes  de  la  folie,  Paris  1896,  S.  83. 
Zeitschrift  für  pädagogisch«  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  3 


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230  *****  Moü. 

Ehelosigkeit  betrifft.  Mehrere  Umstände  spielen  hierbei  eine  Rolle, 
besonders  der,  dass  der  Mann  durchschnittlich  später  heiratet  als 
das  Weib,  das  heisst  es  wird  beim  Manne  mitunter  die  Geistes- 
krankheit schon  zum  Ausbruch  kommen,  ehe  er  das  Heiratsalter 
erreicht  hat,  und  es  wird  ihm  dadurch  die  Ehe  abgeschnitten, 
während  sich  beim  weiblichen  Geschlecht  beispielsweise  zahlreiche 
Geisteskrankheiten  auch  in  dem  Alter  zwischen  zwanzig  und  dreissig 
Jahren,  d.  h.  nach  der  Verheiratung,  entwickeln,  so  dass  die  be- 
treffende Frau  in  der  Statistik  als  eine  Verheiratete  gezählt  wird. 
Wenn  wir  aber  den  Unterschied  zwischen  beiden  Geschlechtern 
ausser  Betracht  lassen  und  die  gesamte  Bevölkerung  betrachten, 
so  ergiebt  sich  ein  prozentuales  Ueberwiegen  der  Unverheirateten. 
Selbstverständlich  darf  man  aus  diesen  Zahlen  keine  falschen 
Schlüsse  ziehen,  weil  ja  viele  Leute  durch  die  Geisteskrankheit  an 
der  Heirat  verhindert  werden,  mithin  die  Ehelosigkeit  nicht  die 
Ursache,  sondern  die  Folge  der  Geisteskrankheit  ist.  Wenn  wir 
aber  trotzdem  in  der  Ehelosigkeit  etwas  finden,  was  zur  Geistes- 
krankheit disponiert,  so  liegt  hierin  eine  Belastung  zu  Ungunsten 
der  Grossstadt,  da  in  ihr  verhältnismässig  mehr  Ehelose  leben,  als 
in  der  Kleinstadt  und  auf  dem  Land.  Lassen  wir  alle  Personen,  die 
unter  sechzehn  Jahre  alt  sind,  ausser  Betracht  und  legen  wir  für  das 
Deutsche  Reich  die  Berufszählung  vom  14.  Juni  1895  zu  Grunde, 
so  ergiebt  sich,  dass  damals  von  den  über  15  Jahre  alten  Personen 
im  ganzen  Reich  53,76  Prozent,  in  den  Grossstädten  aber  nur 
49,96  Prozent  verheiratet  waren.1)  Offenbar  ist  dieser  Unterschied 
zwischen  der  Grossstadt  und  dem  Land  grossenteils  dadurch  be- 
dingt, dass  der  Grossstädter  zu  seinen  sozialen  Beziehungen  die 
Ehe  nicht  so  notwendig  braucht,  wie  der  Kleinstädter  und  Land- 
bewohner, dass  er  durch  die  vielen  geistigen  Anregungen,  die  ihm 
ausserhalb  des  Hauses  geboten  werden,  mehr  als  der  Kleinstädter 
auf  das  Eheleben  verzichten  kann.  Die  Unterschiede  zwischen 
49,96  und  53,76  Prozent  mögen  klein  erscheinen.  Die  Statistik 
rechnet  aber  mit  grossen  Zahlen,  und  wenn  man  die  genannten 
richtig  verwertet,  so  ergiebt  sich  eine  sehr  bedeutende  Belastung 
zu  Ungunsten  der  Grossstadt.  Wenn  in  den  Grossstädten  nur 
49,96  Prozent  Verheiratete  statt  53,76  Prozent  Verheiratete  leben, 


»)  Ranchberg,  Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  deutschen  Reich, 
vom  14.  Jnni  1895.   Berlin  1901,  S.  37. 


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Der  Einfluu  d.  grossstddt.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  231 


so  ergiebt  sich  für  die  Grossstadt  mit  einer  Million  Einwohner 
bereits  ein  den  Durchschnitt  übersteigender  Ueberschuss  der  Un- 
verheirateten um  40000,  das  heisst  eine  Zahl,  wie  sie  zur  Be- 
völkerung einer  Mittelstadt  genügt.  Und  wenn  wir  dann  auf  diese 
40000  die  darauf  entfallende  Zahl  von  Geisteskranken  berechnen, 
so  muss  eine  Verschiebung  zu  Ungunsten  der  Grossstadt  eintreten. 

Auch  die  Erziehung  und  besonders  das  Schulwesen  der 
Grossstadt  ist  als  Ursache  für  die  häufigeren  Nervenkrankheiten 
in  ihr  angesehen  worden.    Es  wird  sehr  häufig  von  einer  Schüler- 
nervosität gesprochen,  ja  man  hat  bereits  eine  Ueberbürdungs- 
psychose,  das  heisst  eine  Geisteskrankheit,  die  durch  Schulüber- 
bürdung  entstehe,  konstruiert.    Die  Schulüberbürdungsfrage  ist  ja 
seit  einigen  Jahren  sehr  populär.    Es    ist    bequem  und 
erfordert  auch  im  grossen  und  ganzen  weniger 
Mut,   die  Schule    und   die  Lehrer  anzugreifen, 
als  den  Eltern  die  Wahrheit  zu  sagen,  welch'  letzteren 
es  schmeichelt,  wenn  man  für  ihre  Lieblinge  so  sehr  eintritt,  wenn 
man  die  gute  Entwickelung  dem  Einfluss  der  Eltern,  alle  Fehler 
aber  der  Schule  zuschiebt.    Es  kann  unter  diesen  Umständen  nicht 
verwundern,  dass,  abgesehen  von  den  zahlreichen  ernsten  For- 
schern —  ich  brauche  nur  Kemsies  in  Berlin,  Kraepelin  in  Heidel- 
berg zu  erwähnen  —  die  Schulüberbürdung  ein  beliebtes  Tummel- 
feld zahlreicher  Phrasenhelden  wurde.    Wenn  ich  nun  auch 
deren  Uebertreibungen,  durch  die  die  Kinder  in  bedenklichster 
Weise  gegen  Lehrer  und  Schule  aufgestachelt  werden,  für  sehr 
beklagenswert  halte,  zumal  da  hierbei  eine  Verweichlichung  der 
Kinder  eintreten  muss,  so  soll  damit  nicht  behauptet  werden,  dass 
in  der  Schule  alles  ideal  ist.    Besonders  wird  man  zugeben  müssen, 
dass  der  Hygiene  in  der  Schule  der  Grossstadt   einige  spezielle 
Schwierigkeiten  erwachsen.    Die  grossen  Entfernungen  zwischen 
Haus  und  Schule,  die  besonders  für  die  Schüler  höherer  Schulen 
bestehen,  machen  die  Aufstellung  des  Stundenplanes  schwieriger 
und  lassen  die  Stunden  nicht  immer  in  der  Weise  einteilen,  wie  es 
in  der  kleinen  Stadt  möglich  ist.   Freie  Stunden  zwischen  den  Schul- 
stunden lassen  sich  nicht  mit  der  Leichtigkeit  immer  so  ausnützen, 
wie  es  wünschenswert  ist,  weil  sie  durch  den  weiten  Weg  von  der 
Schule  nach  dem  Elternhaus  und  umgekehrt  ausgefüllt  werden. 
Daher  kommt  es,  dass  die  Schüler  oft  abgehetzt  und  in  grösster 
Eile  die  Mahlzeiten  einnehmen,  abgesehen   davon,   dass  durch 

3* 


232 


Albert  Moll. 


früheres  Aufstehen  ein  Teil  des  Schlafes  fortfällt.  Es  kommt  hin- 
zu, dass  in  der  Grossstadt  die  Beziehungen  zwischen  Elternhaus 
und  Schule  durch  die  sozialen  Verhältnisse  schwieriger  sind, 
während  in  der  kleinen  Stadt  eine  gelegentliche  Aussprache  zwischen 
Eltern  und  Lehrern  leichter  ist.  Die  Erregung  und  Furcht  vor 
der  Versetzungszeit  ist  daher  oft  grösser,  während  in  der  Klein- 
stadt der  Betreffende  durch  die  nähere  Berührung  von  Schule  und 
Haus  vorher  vorbereitet  wird. 

Dürfen  also  auf  der  einen  Seite  die  Nachteile  der  Grossstadt- 
schule nicht  verschwiegen  werden,  so  muss  doch  andererseits  betont 
werden,  dass  vielleicht  die  Schule  an  der  Nervosität  der  Kinder 
einen  weit  geringeren  Anteil  hat,  als  andere  Verhältnisse. 

Wir  wissen,  dass  Kinder  nervenkranker  oder  geisteskranker 
Ekern  besonders  zu  Nerven-  und  Geisteskrankheiten  geneigt  sind. 
Und  da  Eltern  mit  solchen  belastenden  Krankheiten  in  der  Gross- 
stadt verhältnismässig  häufiger  sind,  als  in  der  kleinen  Stadt  und 
auf  dem  Lande,  wird  man  begreifen,  dass  in  jener,  zumal  in  den 
höheren  Schulen,  auch  mehr  belastete  Kinder  vorkommen  müssen. 
Und  was  den  Einfluss  nervöser  Eltern  betrifft,  so  spielt  nicht  nur 
die  Belastung  eine  Rolle,  sondern  auch  die  psychische  Infektion. 
Kinder,  die  fortwährend  ihre  Mutter  über  Kopfschmerzen  und 
schwache  Nerven  klagen  hören,  denen  andauernd  die  von  Zwangs- 
vorstellungen geplagte  Mutter  deren  Inhalt  vorerzählt,  indem  sie 
z.  B.  klagt,  sie  werde  in  kurzem  geisteskrank,  sie  könne  nicht  mehr 
lange  leben,  sie  könne  nicht  mehr  gesund  werden,  sie  könne  diesen 
oder  jenen  Weg  nicht  mehr  allein  gehen,  müssen  naturgemäss  in 
derselben  Weise  infiziert  werden,  wie  man  dies  bei  anderen 
psychischen  Erscheinungen  sieht.  So  lange  Kinder  abends  Restau- 
rants besuchen  dürfen,  wo  sie  Stunden  der  Nacht  durchwachen,  so 
lange  man  Kinder  in  alle  möglichen  Vergnügungslokale  mit  ihren 
Eltern  ziehen  und  dort  eine  künstliche  Frühreife  heranzüchten  sieht, 
so  lange  man  für  Kinder  Bälle  veranstaltet,  so  lange  unmusikalische 
Kinder  zu  Hause  stundenlang  mit  Klavierspielen  und  ähnlichen 
nerventötenden  Dingen  geplagt  werden,  so  lange  wird  man  recht 
vorsichtig  sein  müssen  mit  den  Anschuldigungen  gegen  die  Schule. 

Man  hat,  um  die  grössere  Nervosität  der  Kinder  der  Grossstadt 
zu  beweisen,  auch  auf  die  Kinderselbstmorde  hingewiesen,  die  sehr 
oft  der  Ausfluss   einer  Geisteskrankheit   oder   doch  überreizter 


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Der  Einfluss  d.  grossstädt.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  233 


Nerven  sind.  Siegert1)  versuchte  zu  beweisen,  dass  in  industrie- 
reichen Gegenden  und  in  Grossstädten  verhältnismässig  die  meisten 
Kinderselbstmorde  gefunden  würden.  Die  hierfür  vorhandenen 
Zahlen  sind  aber  viel  zu  gering,  um  mit  Sicherheit  ein  Urteil  fällen 
zu  lassen.  Und  es  hat  ein  anderer  Autor,  Bär2)  in  Berlin,  mit 
grösserer  Kritik  als  andere  die  betreffenden  Zahlen  geprüft.  Mit 
Recht  erklärt  er,  es  fehlten  ausreichende  Beweise  dafür,  dass  in 
Gegenden  mit  ausgedehnter  Industrie  und  in  den  Städten  Kinder- 
selbstm.»rde  häufiger  vorkommen  und  mehr  zunehmen  als  in  land- 
wirtschaftlichen Bezirken  und  auf  dem  Lande.  Freilich  ist  die 
Zahl  der  Kinderselbstmorde  in  Berlin  —  um  diese  Stadt  als  Bei- 
spiel zu  wählen  —  verhältnismässig  grösser,  als  in  vielen  anderen 
Gegenden  Preussens,  wo  sie  besonders  in  den  Provinzen  Posen, 
Westfalen  und  Rheinland  sehr  klein  ist.  Aber  grösser  als  in  Berlin, 
wo  auf  440  350  Einwohner  ein  Kinderselbstmord  kommt,  ist  der 
Prozentsatz  in  der  Provinz  Schlesien,  in  der  Provinz  Brandenburg 
und  besonders  in  der  Provinz  Sachsen,  wo  die  Zahl  die  höchste  in 
ganz  Preussen  ist  und  bereits  auf  224879  Einwohner  ein  Kinder- 
sclbstmord  fällt.  Der  Versuch,  die  Kinderselbstmorde  zum  Beweis 
dafür  heranzuziehen,  dass  die  Grossstadt  das  Nervensystem  be- 
sonders gefährdet,  muss  als  missglückt  angesehen  werden. 

Vorbedingung  für  ein  gesundes  Nervensystem  ist  eine  gesunde 
Beschaffenheit  der  anderen  Organe.  Es  ist  daher  für  ein  gesundes 
Nervensystem  eine  gute  Pflege  des  Körpers  notwendig,  wozu  be- 
sonders die  Ernährung,  die  Wohnung,  Gelegenheit  frische  Luft  zu 
schöpfen,  Bäder,  Bewegung  gehören,  und  was  dies  betrifft,  so  liegen 
die  hygienischen  Verhältnisse  in  der  Grossstadt  nicht  immer  so 
ungünstig,  wie  man  so  oft  annimmt. 

Von  Hygienikern  wird  mitunter  geklagt,  die  Ernährung  der 
Städter  werde  dadurch  mangelhaft,  dass  die  Nahrungsmittel  erst 
durch  viele  Zwischenhändler  gingen  und  dadurch  Verfälschungen 
erleichtert  würden,  während  dem  Landbewohner  die  Nahrung 
in  dem  ursprünglichen  Zustande  zugänglich  sei.  Hiergegen 
ist  erstens  einzuwenden,  dass  die  Nahrungsmittel  in  der  ursprüng- 
lichen Form  durchaus  nicht  immer  die  gesünderen  sind.  Zweitens 
haben  sich  mit  der  Zunahme  des  Handels  die  Unterschiede  zwischen 


*)  Siegert,  Dss  Problem  der  Kinderselbstmorde.  Leipzig  1893,  S.  64. 
*)  Bär,  Der  Selbstmord  im  kindlichen  Lebensalter.  Leipzig  1901,  8. 40. 


234 


Albert  Moll. 


Stadt  und  Land  erheblich  verringert.  In  der  Schweiz  wird  gegen- 
wärtig viel  weniger  Milch  am  Orte  der  Produktion  genossen  als 
früher,  da  sie  in  die  grossen  Molkereien  gebracht  und  dort  für  die 
Herstellung  von  allerlei  anderen  Nahrungsmitteln  (Käse,  Butter) 
verwertet  wird1),  so  dass  der  Landbewohner  oft  ebenso  auf  den 
Kauf  der  bereits  verarbeiteten  Nahrungsmittel  angewiesen  ist,  wie 
der  Städter.  Jedenfalls  hat  der  Verkehr  es  bewirkt,  dass  die  not- 
wendigen Nahrungsmittel  dem  Grossstädter  schneller  und  in 
besserem  Zustande  zugeführt  werden  als  früher. 

Zur  Pflege  des  Körpers  gehört  auch  eine  gute  Wohnung,  und 
es  bietet  in  dieser  Beziehung  das  Land  gegenüber  der  Stadt,  und 
besonders  der  Grossstadt,  anscheinend  manche  Vorteile.  Die 
Mietskasernen  der  Grossstadt,  wo  zahlreiche  Personen  zusammen- 
gepfercht sind,  wo  dasselbe  Zimmer  gleichzeitig  als  Wohn-,  Speise- 
und  Schlafzimmer  für  eine  ganze  Familie  dient,  sind  Beispiele  hier- 
für. Aber  man  überschätze  in  dieser  Beziehung  nicht  die  Ver- 
hältnisse auf  dem  Lande,  wo  oft  genug  ebenfalls  zahlreiche  Menschen 
in  engen  Räumen  zusammen  wohnen.  Und  wenn  auch  der  Land- 
bewohner mehr  Gelegenheit  hat,  frische  Luft  zu  erhalten  als  der 
Städter,  besonders  der  Grossstädter,  so  ist  doch  vielleicht  nirgends 
das  Vorurteil  gegen  frische  Luft  grösser  als  auf  dem  Lande.  Nicht 
nur  im  Winter  sind  in  den  Bauernstuben  die  Fenster  eng  ge- 
schlossen, sondern  auch  im  Sommer  vermeiden  viele  Landbewohner 
eine  Durchlüftung  ihrer  Wohnungen  anscheinend  aus  Grundsatz. 
Daher  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass  Krankheiten,  die  man  neben 
schlechten  Ernährungsverhältnissen  den  engen  ungünstigen  Wohn- 
räumen zuschreibt,  z.  B.  die  englische  Krankheit,  auf  dem  Lande 
keineswegs  seltener  beobachtet  wird,  als  in  den  Grossstädten. 

Es  kommt  ferner  hinzu,  dass  gerade  in  neuerer  Zeit  die  hygie- 
nischen Anforderungen  an  die  grösseren  Häuser  in  den  Gross- 
städten strenger  geworden  sind.  In  dieser  Beziehung  ist  es  be- 
merkenswert, dass  dieselbe  Stadt,  wo  zuerst  die  modernen  Riesen- 
häuser gebaut  wurden,  Chicago,  mit  seinen  fast  dreissigstöckigen 
Häusern,  zuerst  eine  Reaktion  dagegen  wieder  eintreten  Hess,  und 
dass  nicht  nur  wegen  der  Feuersgefahr,  sondern  ganz  besonders  aus 
hygienischen  Gründen  wesentliche  Beschränkungen  eingeführt  sind, 


>)  Grotjahn,  Der  Alkoholismus.   Leipzig  1898,  S.  282. 


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Der  Einßuss  d.  grossstädt.  Lebens  u.  <L  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  235 

wenn  auch  die  gegenwärtig  dort  noch  zugelassene  Höhe  von  zehn 
Stockwerken  bei  Neubauten  das  Ideal  nicht  darstellen  dürfte. 

Allerdings  hat  es  der  Landbewohner  beim  Verlassen  seiner 
Wohnung  leichter,  frische  Luft  zu  atmen,  als  der  Grossstädter,  dem 
oft  auch  auf  der  Strasse  eine  mit  Kohlenstaub,  Russ  und  sonst  ver- 
unreinigte Luft  entgegenweht.   Sieht  man  doch  schon  in  der  Ferne, 
wenn  man  sich  einer  Grossstadt  nähert,  gewöhnlich  einen  Dunst- 
kreis um  diese  herum  gelagert,  und  sollen  doch  die  Nebel,  wie  die 
Statistik  behauptet,  in  den  Grosssädten  viel  häufiger  sein  als  auf 
dem  Lande,  während  hier  die  durchschnittliche  Zahl  der  Stunden, 
wo  die  Sonne  scheint,  vorwiege.   Andererseits  darf  nicht  vergessen 
werden,  dass  man  gerade  in  Grossstädten  in  neuerer  Zeit  mehr  und 
mehr  die  hygienischen  Anforderungen  schätzen  lernt.    Die  Nach- 
teile, die  die  Grossstadt  herbeiführt,  zwingen  die  Einwohner  zu 
einer  mehr  sozialen  Fürsorge.    Die  Rücksicht  auf  das  Allgemeine 
wird  durch  Zwangsmassregeln,  denen  sich  der  Einzelne  unterwerfen 
muss,  gefördert,  und  so  werden  doch  zahlreiche  Nachteile  ausge- 
glichen. Eis  wird  z.  6.  in  Städten  heute  mehr  auf  Anlage  freier  Plätze 
und  auf  hinreichende  Breite  der  Strassen  gesehen,  um  dem  Licht 
und  der  Luft  den  Zutritt  zu  gestatten,  während  in  Städten  früherer 
Jahrhunderte  bei  der  Enge  der  Strassen  kaum  ein  Sonnenstrahl 
oder  frischer  Luftzug  die  Einwohner  erquickte.    Es  kommt  hinzu, 
dass  die  Kanalisation,  wie  sie  in  den  meisten  Grossstädten  gegen- 
wärtig durchgeführt  wird,  nicht   nur   den  Infektionskrankheiten 
wehrt,  sondern  auch  sonst  für  die  Verbesserung  der  Luft  sorgt, 
während  uns  auf  dem  Lande  mitunter  Düfte  entgegenwehen,  die 
schwerlich  von  Rosen  und  Jasmin  herrühren. 

Auch  die  Reinigung  des  Körpers  ist  in  den  Städten  durch- 
schnittlich besser  als  auf  dem  Lande.  Selbst  Hugo1),  ein  Autor,  der 
schwere  Angriffe  gegen  die  Verwaltung  der  Grossstädte  richtet, 
erkennt  an,  dass  in  diesen  eine  Besserung  eingetreten  sei,  aller- 
dings nicht  durch  die  Städteverwaltungen,  sondern  zum  grossen 
Teil  durch  die  Agitation  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Volksbäder. 
Während  der  Oberbürgermeister  von  Göttingen,  Merkel,  noch  im 
Jahre  1886  behaupten  konnte,  dass  an  den  bei  weitem  grössten 
Teil  der  Berliner  Jugend,  namentlich  den  weiblichen  Teil,  abge- 
sehen von  Gesicht  und  Händen  während  ihrer  Schulzeit  kein  Tropfen 


i)  C.  Hugo,  Die  deutsche  Städteverwaltung,  Stuttgart  1901,  3.  220. 


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Albert  Moll. 


Wasser  käme,  ist,  wie  Hugo  zugiebt,  in  Berlin  und  den  anderen 
Grossstädten  eine  langsame  Besserung  zu  beobachten.  Anderer- 
seits mussten  sich  im  Deutschen  Reiche  noch  im  Jahre  1900 
721  Orte  mit  3000  bis  50000  Einwohnern  und  einer  gesamten  Be- 
völkerung von  über  4  Millionen  ohne  Warmbadeanstalten  behelfen. 
Hugo  fügt  hinzu,  dass  man  sich  danach  ein  Bild  machen  könnte, 
welche  Zustände  auf  dem  Lande  herrschen  mögen,  wo  erst  in 
neuester  Zeit  einzelne  Molkereigenossenschaften  für  Badegelegen- 
heiten zu  sorgen  beginnen. 

Sehen  wir  also,  dass  einerseits  in  den  grossen  Städten  für  die 
Pflege  des  Körpers  nicht  immer  so  schlecht  gesorgt  ist,  wie  man 
annimmt,  und  dass  in  mancher  Hinsicht  das  Land  trotz  einiger 
Vorzüge  nicht  besser  dasteht,  so  geht  dasselbe  auch  aus  anderen 
Umständen  hervor,  die  einen  gewissen  Massstab  für  die  körperliche 
Konstitution  abgeben,  ich  meine  die  Sterblichkeit  im  allge- 
meinen und  die  Resultate  der  Rekrutenaushebung.  Was 
die  Sterblichkeit  im  allgemeinen  betrifft,  so  zeigt  zwar  die  Stati- 
stik, dass  in  vielen  Städten  die  Sterblichkeit  verhältnismässig  gross 
ist.  Dass  man  aber  mit  Anschuldigungen  gegen  die  Grossstadt  vor- 
sichtig sein  muss,  ergiebt  sich  u.  a.  daraus,  dasss  die  Sterblichkeit 
in  Berlin  seit  10  Jahren  geringer  ist,  als  dem  Gesamtdurchschnitt 
aller  über  15,000  Einwohner  zählenden  Städte  Deutschlands  ent- 
spricht. Was  den  zweiten  Punkt,  die  Rekrutenaushebung  betrifft, 
so  ist  es  immerhin  bemerkenswert,  dass  z.  B.  in  Paris  verhältniss- 
mässig  mehr  Rekruten  als  diensttauglich  befunden  werden,  als  in 
dem  Departement  Seine  inferieure1).  Offenbar  beeinflusst  die 
Grossstadt  viel  weniger  die  körperliche  Beschaffenheit  als  ein  an- 
derer Faktor,  der  oft  irrigerweise  mit  der  Grossstadt  verwechselt 
wird,  nämlich  die  Industriearbeit,  die  in  der  That  oft  eine  hohe  Ge- 
fahr darstellt. 

Damit  will  ich  etwa  nicht  sagen,  dass  die  Verhältnisse  in  allen 
Grossstädten  ideal  liegen.  Im  Gegenteil.  Ich  erinnere  nur  an  die 
so  geringe  Zahl  der  Spielplätze,  die  beispielsweise  in  Berlin  der 
Jugend  zur  Verfügung  stehen.  Während  in  London  und  in  nächster 
Nähe  der  Stadt  zahllose  Platze  vorhanden  sind,  die  Gelegenheit  zu 
freier  Bewegung  geben,  fehlt  es  hier  in  Berlin  daran  noch  sehr. 


>)  Harald  Westergaard,  Die  Lehre  von  der  Mortalität  und  Morbilitat. 
2.  Auflage.  Jena  1901,  S.  459. 


Der  Einfiuss  d.  grossstädt.  Lebern  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  237 


Wenn  hier  ein  Platz  frei  wird,  so  wird  zunächst  ein  schönes  Projekt 
ausgearbeitet  für  gärtnerische  Anlagen,  anstatt  dass  man  sich  ein- 
mal die  Frage  vorlegt,  ob  nicht  einfache  Rasenplätze  vorteilhafter 
wären,  wo  man  natürlich,  wie  in  London,  der  Jugend  die  Erlaubnis 
giebt,  den  Rasen  zu  betreten  und  sich  frei  auf  ihm  zu  tummeln.  Die 
mit  schönen  Anlagen  versehenen  Plätze  ähneln  zum  Teil  den 
Stühlen,  bei  denen  man  es  als  Hauptzweck  betrachtet,  nicht  eine 
bequeme  Sitzgelegenheit  zu  schaffen,  sondern  ein  Schaustück. 

An  dieser  Stelle  muss  ich  auch  des  Alkohols  gedenken,  der 
nicht  selten  Ursache  mancher  Nerven-  und  Geisteskrankheiten,  z.  B. 
der  Nervenschwäche,  der  Nervenentzündung,  des  Schwachsinns, 
Walinsinns  und  speziell  des  Delirium  tremens.  Nach  Annahme 
Einzelner  wird  der  Alkohol  in  Grossstädten  in  grösseren  Mengen 
und  häufiger  genossen,  als  auf  dem  Lande.  Um  das  Ueberwiegen 
der  schädlichen  Folgen  des  Alkoholgenusses  in  der  Grossstadt  zu 
beweisen,  hat  man  die  Statistik  zu  Hilfe  genommen.  Man  hat  bei- 
spielsweise bei  den  Sektionen  die  Fälle  gezählt,  wo  Herzaffektionen 
als  Todesursache  anzusehen  waren ;  man  hat  dann  festgestellt,  dass 
die  tötlichen  Herzaffektionen  in  einzelnen  Städten  grösser  waren  als 
in  anderen,  und  hat,  da  Herzaffektionen  öfters  durch  Alkoholmiss- 
brauch bewirkt  werden,  hieraus  auf  die  Beteiligung  am  Alkoholis« 
mus  geschlossen,  wobei  man  gerade  einzelne  Grossstädte  besonders 
belastet  fand.  Mit  solchen  Statistiken  kann  man  freilich  alles  be- 
weisen. 

Der  Industriearbeiter,  so  sagte  man  weiter,  neigt  mehr  dazu, 
Alkohol  während  der  Arbeit  und  in  den  Arbeitspausen  zu  geniessen, 
al$  der  landwirtschaftliche,  und  da  auf  dem  Lande  mehr  diese,  in 
den  Sädten  mehr  die  Industriearbeit  überwiegt,  so  hat  man  auch 
hieraus  auf  eine  grössere  Belastung  der  Städte  beim  Alkoholismus 
geschlossen.  Hierbei  muss  aber  der  Irrtum  ausgeschaltet  werden, 
*ls  ob  dadurch  die  Grossstädte  besonders  betroffen  würden,  wie 
man  mitunter  annimmt,  da  gerade  die  Industriearbeiter  beispiels- 
weise in  Mittelstädten  und  in  Kleinstädten  einen  grösseren  Prozent- 
satz der  Einwohner  ausmachten,  als  in  den  Grossstadten.  Es  ist 
mitunter  in  sehr  entwickelten  Grossstädten  die  Industrie  prozen- 
tualiter  erheblich  weniger  vertreten,  als  in  anderen  Bezirken.  Wäh- 
rend bei  der  Berufszählung  von  1895  in  Berlin  beispielsweise  von 
!°oo  Einwohnern  4354  in  der  Industrie  beschäftigt  waren,  steigt 
die  Zahl  im  Rheinland  auf  514,7,  in  Westfalen  auf  533,6,  im  König- 


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Albert  Moll. 


reich  Sachsen  auf  580,4,  in  Reuss  jüngere  Linie  auf  590,7  und  in 
Reuss  ältere  Linie  sogar  auf  677.*) 

Die  Verwechselung  von  Grossstädten  und  Industriestädten  be- 
ruht zum  grossen  Teil  darauf,  dass  durch  die  Entwickelung  der 
Industrie  im  letzten  Jahrzehnte  eine  ganze  Reihe  Städte  aus  Mittel- 
städten Grossstädte  geworden  sind,  das  heisst  im  Sinne  der  Sta- 
tistik, wo  man  als  Grossstädte  diejenigen  Städte  bezeichnet,  die 
mehr  als  100000  Einwohner  haben.  Solche  Städte  werden  aber 
durch  Zuzug  der  Industriearbeiter  nicht  zu  wahren  Grossstädten,  da, 
wie  wir  gesehen  haben,  das  Wesentliche  der  Grossstadt  das  Be- 
stehen von  geistigen  und  kulturellen  Centren  ist. 

Immerhin  wird  man  in  der  Grossstadt  bestimmte  Gründe  für 
den  grossen  Alkoholgenuss  bei  den  Arbeitern  mitunter  finden,  wo- 
bei aber  wesentlich  der  Alkoholgenuss  ausserhalb  der  Arbeitszeit 
in  Betracht  kommt.  Schlechte  Wohnungsverhältnisse  lassen  mit- 
unter dem  grossstädtischen  Arbeiter  das  Wirtshaus  als  willkom- 
menen Aufenthaltsort  erscheinen.  Die  weiten  Wege,  die  dem  Gross- 
städter, wenn  er  die  Arbeit  vollendet  hat,  den  Genuss  der  Natur 
versagen,  begünstigen  gleichfalls  das  Wirtshausleben.  Hinzu 
kommt,  dass  auch  die  lebhaftere  Beteiligung  der  grossstädtischen 
Bevölkerung  an  politischen  und  sozialen  Bewegungen  zum  Alkohol- 
genuss führt,  weil  leider  fast  alle  derartigen  Zusammenkünfte  im 
Wirtshaus  stattfinden. 

Ob  aber  nicht  andere  Umstände  den  Alkoholgenuss  auf  dem 
Lande  soweit  begünstigen,  dass  dadurch  jene  grossstädtischen  Miss- 
stände ausgeglichen  werden,  scheint  mir  noch  fraglich.  So  z.  B. 
ist  wohl  nirgends  der  Alkoholgenuss  grösser,  als  da,  wo  Bauern 
selbst  Hausbrennerei  betreiben.2)  weil  sich  von  diesen  zahlreichen 
Centren  aus  der  Alkohol  gewöhnlich  rapide  fortpflanzt.  Und  dass 
bei  den  Sonntagsvergnügungen  auf  dem  Lande  weniger  Alkohol 
verbraucht  wird,  als  in  der  Stadt,  kann  kaum  behauptet  werden. 
Es  muss  auch  festgehalten  werden,  dass  beispielsweise  in  Ober- 
schlesien, Posen,  Ostpreussen,  wo  doch  das  Städteleben  und  sicher- 
lich die  Grossstadt  ganz  zurücktritt,  eine  ganz  enorme  Verelen- 
dung durch  den  Alkohol  herbeigeführt  worden  ist.8)    Und  endlich 

*)  Heinrich  Battenberg,  Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen 
Reich  vom  14.  Juni  1895.   Berlin,  S.  68. 

•)  Grotjahn  I.  c.    S.  226. 

»)  Rosenfeld,  Der  Einflosä  des  Alkohols  auf  den  Organismus.  Wies- 
baden 1901,  S.  239. 


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Der  Emßuss  <L  grossstddt.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  239 

ist  lehrreich,  dass  der  amerikanische  Arbeiter,  der  wesentlich  ein 
grossstädtischer  oder  doch  städtischer  Arbeiter  ist,  prozentualiter 
erheblich  weniger  für  den  Alkohol  verwendet,  als  der  deutsche.  Es 
giebt  der  amerikanische  Arbeiter  nur  3,7  Prozent,  der  deutsche 
0,1  Prozent  seiner  Einnahmen  für  den  Alkohol  aus1) 

Wesentlich  mehr  als  durch  alle  anderen  Gründe  wird  der  An 
beiter  durch  die  Verführung,  die  von  den  sogenannten  besseren 
Klassen  gegeben  wird,  zum  Trinken  veranlasst,  da  sich  erfahrungs- 
gemäss  viele  Sitten  von  oben  nach  unten  fortpflanzen.  Dies  kann 
man  ruhig  zugeben,  wenn  man  auch  nicht  auf  dem  Standpunkt 
steht,  dass,  weil  einzelne  Leute  durch  den  Alkohol  gefährdet  sind, 
nun  alle  die  Verpflichtung  hätten,  dem  Alkohol  ganz  zu  entsagen. 
Und  wenn  wir  das  Beispiel,  das  von  den  höheren  Klassen  den 
Arbeitern  gegeben  wird,  betrachten,  und  dabei  die  höheren  Gesell- 
schaftsklassen des  Landes  und  der  Stadt  mit  einander  vergleichen,' 
so  fehlt  einstweilen  jeder  Beweis  dafür,  dass  dem  Bewohner  der 
Grossstadt  diese  Gefahr  mehr  droht,  als  dem  Landbewohner,  wo 
den  höheren  Gesellschaftsklassen  der  Alkoholgenuss  zum  grossen 
Teil  die  Genüsse  der  Grossstadt,  Theater  und  Konzerte  ersetzen 
muss. 

Es  werden  häufig  die  s  i  1 1 1  i  ch  e  n  Verhältnisse  angeführt, 
wenn  es  gilt,  die  Ursachen  für  die  grössere  Nervosität  der  Gross- 
städter zu  nennen.  Indessen,  wie  ich  glaube,  mit  Unrecht.  Zwar 
bietet  die  Grossstadt  manches,  was  der  Kleinstadt  und  dem  Lande 
fehlt.  Aber  es  muss  festgehalten  werden,  dass  manche  hierher 
gehörige  Zerstreuungen  der  Grossstadt  nicht  für  deren  Bewohner, 
sondern  mehr  für  die  Fremden,  d.  h.  gerade  viele  Kleinstädter  und 
Landbewohner  bestimmt  sind.  Dass  man  jedenfalls  mit  der  Klage 
über  die  sittlichen  Verhältnisse  gerade  der  Grossstadt  etwas  vor- 
sichtiger sein  muss,  geht  ferner  aus  den  gewissenhaften  von  den 
Herren  Pastoren  Wittenberg,  Hückstädt,  Wagner«)  veröffent- 
lichten Untersuchungen  über  die  sittlichen  Verhältnisse  unter  den 
Landbewohnern  hervor,  Untersuchungen,  die  ich  durch  manche  mir 
bekannte  Einzelheiten  ergänzen  könnte.  Und  wenn  man  weiter 
an  die  keineswegs  so  sittliche  Zeit  der  Minnesänger  denkt  und 
berücksichtigt,  dass  im  Mittelalter  überhaupt,  wo  es  so  gut  wie 


l)  Grothjan  1.  c.   S.  292. 

*)  Die  geschlechtlich-sittlichen  Verhältnisse  der  evangelischen  Land- 
bewohner im  Deutschen  Reiche.    2  Bände.   Leipzig  1895  und  1896. 


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Albert  MoU. 


keine  Grossstädte  gab,  und  auch  noch  in  den  ersten  Jahrhunderten 
der  Neuzeit,  wo  das  Grossstadtleben  sehr  zurücktrat,  die  sittlichen 
Verhältnisse  in  Europa  sicherlich  nicht  besser  gewesen  sind,  als 
heute,  so  wird  man  mit  Schlussfolgerungen  zu  Ungunsten  der 
Grossstadt  vorsichtiger,  als  der  oberflächliche  Beobachter,  der  ent- 
weder nur  das,  was  er  von  anderen  gehört  hat,  nachspricht,  oder 
doch  ohne  Vergleichungen  seine  Behauptungen  aufstellt. 

Wenn  man  auch,  wie  ich  im  Vorhergehenden  auseinander- 
setzte, gewisse  Schäden  der  Grossstadt  für  das  Nervensystem  nicht 
in  Abrede  stellen  kann  und  zugiebt,  dass  auf  dem  Lande  durch- 
schnittlich etwas  weniger  Nervenkranke  seien  als  in  der  Stadt,  so 
ist  es  doch  ein  Irrtum,  eine  so  scharfe  Trennung  von  Stadt  und 
Land  zu  machen,  wenn  man  die  Verbreitung  der  Nervenkrankheiten 
erörtert.  Die  Berufsklassen,  die  in  der  Grossstadt  das  Haupt- 
kontingent der  Nervenkranken  stellen,  thuen  dies  auch  auf  dem 
Lande,  wo  sie  allerdings  nicht  nur  absolut,  sondern  auch  relativ 
schwächer  vertreten  sind. 

Wenn  wir  dies  alles  berücksichtigen,  können  wir  das  Dogma 
von  den  gesunden  Nerven  der  Kleinstädter  und  der  Landbewohner 
ebenso  zu  den  Märchen  rechnen,  wie  die  Erzählung  von  der  Un- 
schuld vom  Lande.  Es  ist  ein  Irrtum,  die  Nervenkrankheiten  all- 
gemein für  ein  Produkt  der  Grossstadt  zu  erklären.  Aehnliche 
Irrtümer  sind  oft  vorgekommen.  Früher  war  es  fast  ein  Dogma, 
dass  die  Tuberkulose  mit  der  Höhenlage  des  Ortes  abnehme,  wäh- 
rend man  später  fand,  dass  gerade  einzelne  hochgelegene  Gegenden, 
z.  B.  das  Berner  Oberland,  eine  weit  höhere  Mortalitätsziffer  für 
diese  liefere  als  die  Ebene.  Lange  Zeit  nahm  man  an,  dass  die 
Hysterie  nur  bei  Frauen  vorkomme;  man  stellte  mit  Rücksicht 
hierauf  allerlei  Theorien  auf,  als  diese  plötzlich  durch  die  That- 
sache  widerlegt  wurden,  dass  man  die  Hysterie  recht  häufig  auch 
bei  Männern  beobachtete.  Ganz  allgemein  war  die  Annahme,  dass 
die  Augen  der  Kulturvölker  schlechter  seien,  als  die  der  Natur- 
völker, bis  schliesslich  genaue  Vergleiche  das  Irrige  dieser  Auf- 
fassung ergaben.  Man  ging  oft  von  vorgefassten  Meinungen 
aus,  anstatt  zunächst  das  thatsächliche  Material  zu  prüfen.  Ebenso 
zeigt  die  Erfahrung,  dass,  entgegen  der  Annahme  mancher,  das 
Land  und  die  kleinen  Städte  auch  recht  viele  Nerven-  und  Geistes- 
kranke hervorbringen,  wenn  auch  ein  gewisses  Ueberwiegen  der 
Grossstadt  nicht  in  Abrede  gestellt  werden  soll. 


Der  Einßuss  d.  grossttädt.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  241 

Man  hat  in  neuerer  Zeit  vielfach  die  Zunahme  des  Verkehrs 
als  die  Ursache  des  Anschwellens  der  Grossstädte  betrachtet.  Dies 
ist  insofern  richtig,  als  sich  die  Grossstädte  zum  grossen  Teil  durch 
Zuzug  von  aussen  entwickelt  haben.  Wer  aber  in  dieser  Verkehrs- 
steigerung eine  Schädigung  sieht,  wird  doch  zugeben  müssen,  dass 
auch  der  Verkehr  es  ist,  der  die  Nachteile  der  Grossstadt  wesent- 
lich mindert.  Ich  meine  hier  natürlich  nur  den  Verkehr,  der  die 
Grossstadt  mit  der  Aussenwelt  verbindet;  auf  den  Verkehr  inner« 
halb  der  Stadt  selbst  gehe  ich  hier  nicht  ein,  obwohl  bereits  von 
anderer  Seite  auf  eine  hygienische  Umgestaltung  des  Verkehrs 
innerhalb  der  Stadt  hingewiesen  wurde. 

Was  den  sonstigen  Verkehr  betrifft,  so  ist  er  es,  der  dem 
Grossstädter  vieles  bringt,  was  er  für  das  Leben  und  die  Gesundheit 
seiner  Nerven  braucht.  War  der  Verkehr  der  Menschen  und  auch 
der  Handelsverkehr  im  Altertum  nur  auf  verhältnismässig  kleine 
Bezirke  beschränkt,  und  durchkreuzte  er  später,  wo  Genua  und 
Venedig,  sowie  die  Hansa  Roms  Stelle  übernahmen,  doch  im  We- 
sentlichen nur  die  Binnenmeere,  so  haben  schon  die  Entdeckungs- 
reisen hierin  eine  Aenderung  bewirkt,  indem  sie  den  interkonti- 
nentalen Verkehr  entwickelten.  Aber  gerade  unsere  Zeit  ist  es, 
die  nicht  nur  eine  quantitative  Steigerung,  sondern  auch  eine 
enorme  Beschleunigung  des  nationalen,  internationalen  und  inter- 
kontinentalen Verkehrslebens  bewirkte.  Dadurch,  dass  immer  mehr 
Länder  an  dem  Tauschhandel  teilnehmen  und  sich  auch  der  binnen- 
ländische Verkehr  immer  weiter  steigert,  sind  die  ungünstigeren 
Ernährungsverhältnisse,  die  etwa  die  Grossstadt  gegenüber  dem 
Lande  bietet,  ausgeglichen  worden.  Eisenbahnen,  Dampfschiffe, 
Telegraph  und  Telephon  haben  hierzu  beigetragen. 

Aber  nicht  nur  die  Waren  werden  so  dem  Städter  schnell  zu- 
gänglich gemacht,  sondern  er  selbst  ist  durch  den  Verkehr  und 
besonders  durch  dessen  Beschleunigung  in  die  Lage  versetzt, 
schneller  der  Stadt  zu  entfliehen,  wenn  ihn  hygienische  oder  andere 
Gründe  hierzu  drängen.  Das  Aufblühen  der  Vororte  ist  durch  den 
starken  Verkehr  und  besonders  durch  dessen  Beschleunigung  er- 
möglicht worden,  und  wer  den  Tag  über  aus  Berufsgründen  in  der 
Grossstadt  arbeiten  muss,  der  Kopf-  und  Muskelarbeiter,  kann  des 
Abends  die  Vorteile  des  Land-  und  Kleinstadtlebens  geniessen. 

Und  weit  mehr  noch  ist  dem  gesteigerten  Verkehr  zu  danken. 
Er  kommt  auch  darin  dem  Grossstädter  zu  Hilfe,  dass  man  durch 


242 


Albert  Moll. 


ihn  längere  Zeit  dem  schädlichen  Einfluss  des  grossstädtischen 
Lebens  entfliehen  kann,  wie  dies  ja  die  vielen  Bade-  und  sonstigen 
Reisen  beweisen. 

Freilich  ist  das  Reisen  keine  Erfindung  der  Neuzeit.  Bade- 
orte gab  es  schon  zu  des  alten  Roms  Zeiten.  In  späteren  Jahr- 
hunderten spielten  die  vielen  Pilgerreisen  nach  dem  heiligen  Lande 
eine  grosse  Rolle,  und  es  gab  schon  vor  mehreren  Jahrhunderten 
nicht  nur  Wegekarten  und  Reisebeschreibungen,  sondern  auch 
Reiseanweisungen.  Trotzdem  kann  man  behaupten,  dass  der  mo- 
derne Verkehr  gar  nicht  mit  dem  früheren  zu  vergleichen  ist.  Um 
1763  herum  fuhr  von  London  nach  Edinburgh  nur  einmal  monat- 
lich ein  Stage-coach,  die  volle  acht  Tage  zur  Zurücklegung  der 
Entfernung  brauchte.1)  Auch  wenn  wir  die  geringe  Einwohnerzahl 
der  damaligen  Zeit  berücksichtigen,  ist  dieser  minimale  Verkehr 
dem  heutigen  nicht  vergleichbar.  Gerade  durch  die  Steigerung  des 
Verkehrs  ist  dem  Grossstädter  das  Reisen  ermöglicht  und  so  Ge- 
legenheit gegeben,  nach  des  Jahres  Arbeit  wieder  frische  Kraft  für 
seine  Nerven  zu  schöpfen. 

Ich  möchte  bei  dieser  Gelegenheit  auf  eine  andere  Wirkung 
des  Verkehrs  hinweisen,  obwohl  sich  gerade  in  dieser  Beziehung 
eine  Aenderung  der  bisherigen  wissenschaftlichen  Auffassung  vor- 
zubereiten scheint.  Es  ist  bekannt,  dass  die  engere  Inzucht,  das 
heisst  die  Ehen  Blutsverwandter  oft  für  die  Nachkommenschaft 
schädliche  Folgen  haben,  dass  geisteskranke,  besonders  idiotische 
und  taubstumme  Kinder  verhältnismässig  häufig  aus  solchen  Ehen 
hervorgehen. 

Allerdings  haben  neuere  Forscher  behauptet,  dass  die  Ehe 
Blutsverwandter  an  sich  keineswegs  verderbliche  Folgen  für  die 
Nachkommenschaft  habe.  Lorenz  s)  weist  darauf  hin,  dass  sich  die 
Ptolemäer  seit  dem  Feldherrn  Alexanders  des  Grossen  im  grossen 
und  ganzen  auf  dem  Prinzip  der  Geschwisterheiraten  fortpflanzten, 
und  dass  trotzdem  viele  Generationen  hindurch  irgend  welche  Ent- 
artungserscheinungen nicht  nachgewiesen  werden  könnten.  Einen 


*)  Günther,  Allgemeine  Kulturgeschichte.   Zürich  und  Leipzig  1897 

S.  273. 

»)  Lorenz,  Lehrbuch    der  gesamten  wissenschaftlichen  Genealogie. 
Berlin  1898,  S.  473. 


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Der  Emfluss  d.  grossstädt.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  tL  Nervensystem.  243 

weiteren  Beweis  liefern  uns,  wie  Reibmayer1)  lehrt,  nicht  nur  viele 
wilde  Stämme  auf  verkehrsentrückten  Inseln,  sondern  auch  die  Be- 
wohner entlegener  Gebirgsthäler  der  Schweizer  Urkantone,  Tirols 
und  Schottlands,  wo  sich  die  Bevölkerung  trotz  naher  und  durch 
ungezählte  Generationen  dauernder  Inzucht,  stets  geistig  und  kör- 
perlich gesund  erhalten  hat.  Ein  besonderes  Beispiel  dieser  nicht 
verhängnisvollen  Inzucht  ist  das  Grödenerthal  in  Tirol.  Und  schon 
vor  längerer  Zeit  hat  der  französische  Irrenarzt  Ball*)  auf  ähnliche 
Erscheinungen  hingewiesen.  Er  bezieht  sich  u.  a.  auf  eine  Schar 
von  17  Eskimos,  die  so  weit  von  den  übrigen  Menschen  entfernt 
lebte,  dass  sie  sich  für  die  einzigen  Bewohner  der  Erde  hielten,  und 
es  scheine  sicher,  dass  diese  Schar  aus  naher  Inzucht  hervorge- 
gangen war.  Ball  weist  auf  das  Ormonts-Thal  hin,  wo  die  Inzucht 
so  gross  war,  dass  jeder  Einwohner  denselben  Namen  hat,  nämlich 
Aviolat.  Dennoch  aber  fände  sich  hier  nichts,  was  auf  Entartung 
hinwiese. 

Trotz  dieser  kaum  bestreitbaren  Thatsachen  scheint  es  sicher, 
dass,  wenn  in  solchen  Ehen  von  Blutsverwandten  erblich  belastende 
Krankheiten  vorgekommen  sind  —  und  dies  ist  oft  der  Fall  — 
die  Nachkommenschaft  auf  das  Ernsteste  gefährdet  ist,  und  dass  die 
Zuführung  von  frischem  Blut  dann  das  einzige  Mittel  darstellt,  die 
Gefahren  auszuschalten.  Und  was  kann  in  dieser  Beziehung  gün- 
stiger wirken,  als  der  Verkehr?  Wenn  auch,  wie  gesagt,  einzelne 
Dörfer  existieren,  wo  zahlreiche  Ehen  Blutsverwandter  bestanden 
und  bestehen,  ohne  dass  etwa  die  Nachkommenschaft  erkrankt  ist, 
so  wird  doch  andererseits  ein  starkes  Auftreten  des  Kretinismus  und 
der  Idiotie,  sowie  der  verschiedenen  Grade  von  Schwachsinn  in 
vielen  verkehrslosen  Gegenden  gefunden  und  oft  auf  das  Fehlen 
frischen  Bluts  zurückgeführt.  Viele  Erfahrungen  bestätigen  die 
Richtigkeit  dieser  Annahme,  z.  B.  die  Degeneration  in  einzelnen 
Bezirken  der  Bretagne,  der  Vendee,  aber  auch  in  einzelnen  Be- 
zirken des  deutschen  Sprachgebietes.  Wo  dies  der  Fall  ist,  ist  die 
Bevölkerung  dem  Untergange  geweiht,  wenn  sie  sich  von  dem 
Verkehr,  dem  einzigen  Mittel  der  Regeneration,  fernhält.  Wenn 
also  auch  einerseits  der  Verkehr  manche  Dörfer  entvölkert  hat, 
indem  die  Einwohner  nach  den  Städten  und  bconders  nach  den 


!)  Reibmayr,    Inzucht  und  Vermischung  beim  Menschen.  Leipzig 
und  Wien  1898,  S.  102. 
3)  1.  c.    S.  373. 


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Albert  Moll. 


Grossstädten  gezogen  wurden,  so  ist  es  doch  andererseits  wiederum 
der  Verkehr  —  mag  er  Zuzug  von  aussen  bewirken  oder  den  Weg- 
gang der  Eingeborenen  herbeiführen,  —  der  allein  imstande  ist,  das 
Fortbestehen  vieler  Familien  zu  sichern  und  ihre  Degeneration  zu 
verhindern. 

Berücksichtigen  wir  das  alles,  so  sehen  wir,  dass  der  Verkehr, 
der  eine  Vorbedingung  für  das  Anschwellen  der  Grossstädte  war, 
auch  gleichzeitig  das  Heilmittel  darstellt  für  die  hieraus  erwach* 
senden  Gefahren.  Wäre  dies  aber  auch  nicht  der  Fall,  so  hätte 
man  trotzdem  kein  Recht,  in  der  Weise,  wie  es  oft  geschieht,  Vor- 
würfe gegen  die  heutigen  Grossstädte  zu  erheben.  Die  Zunahme 
des  städtischen,  besonders  des  grossstädtischen  Lebens  ist  ein 
notwendiges  Produkt  der  modernen  Entwickelung.  Wie  einst  der 
Staat  Rom  nur  durch  die  Bedeutung  der  Urbs  Roma  blühen  konnte, 
so  muss  in  neuerer  Zeit  die  starke  Zunahme  des  Handels,  der  immer 
neue  Objekte  in  sein  Bereich  zieht,  und  die  Notwendigkeit,  ihn  zu 
konzentrieren,  ferner  der  Drang,  auch  für  geistige,  soziale,  kultu- 
relle Bestrebungen  der  Völker  mehr  und  mehr  Mittelpunkte  zu 
schaffen,  zur  Entwickelung  der  Grossstädte  beitragen.  Für  die 
Städte  im  allgemeinen  kommt  noch  der  Aufschwung  der  Industrie 
hinzu.  So  ist  es  erklärlich,  dass  beispielsweise  im  Deutschen  Reich 
innerhalb  von  drei  Jahrzehnten  eine  wesentliche  Veränderung  statt- 
gefunden hat.  Vor  etwa  dreissig  Jahren  lebte  hier  nur  etwas 
mehr  als  ein  Drittel  der  Bevölkerung  in  der  Stadt ;  heute  sind  etwa 
die  Hälfte  der  Deutschen  Stadtbewohner  und  noch  grösser  ist  der 
Prozentsatz  in  England.  Wenn  bei  dieser  Entwickelung  auch  der 
Eine  oder  der  Andere  unterliegt  und  die  veränderte  moderne  Kul- 
tur manches  Individuum,  sei  es  an  Nervenkrankheiten,  sei  es  an 
anderen  Leiden,  vorzeitig  zu  Grunde  gehen  lässt,  so  dürfen  wir 
auch  hieraus  nicht  übertriebene  Anschuldigungen  herleiten.  Die 
Menschenopfer,  die  eine  neue  Entwickelung  forderte,  sind  oft  weit 
grösser  gewesen,  als  die  der  modernen  Grossstadt.  Man  denke  nur 
an  die  Völkerwanderung,  die  nicht  nur  eine  politische,  sondern 
auch  eine  wirtschaftliche  Bewegung  war,  hervorgegangen  aus  dem 
Streben  der  Germanen,  der  Uebervölkerung  durch  Gewinnung 
neuen  Bodens  im  Westen  und  im  Süden  ihrer  bisherigen  Wohn- 
sitze zu  wehren.  Das  Rittertum,  eine  der  wichtigsten  Kultur- 
erscheinungen des  Mittelalters,  das  die  edelsten  Eigenschaften  der 
Deutschen  förderte,  das  Schutz  den  Schwachen,  Greisen,  Kindern 


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Der  Einßuss  d.  grossstädt.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  245 

und  Frauen  schaffte,  das  für  die  Kranken  oft  hingebend  sorgte, 
das  unzählige  Thränen  trocknete,  hat  trotzdem  auch  viele  Opfer 
verschlungen.  Als  die  Städteentwickelung'im  späteren  Mittelalter 
begann,  trat  der  schwarze  Tod,  die  Pest  auf,  und  man  nimmt  an, 
dass  gerade  durch  das  enge  Beieinanderwohnen  der  Menschen  da- 
mals innerhalb  von  wenigen  Jahren  Millionen  und  Millionen  dahin- 
gerafft wurden.  Wie  viele  Opfer  haben  die  Kolonisation  und  die 
Weltreisen  verlangt!  Kann  man  ernstlich  leugnen,  dass  eine  der 
segensvollsten  Erfindungen,  die  Buchdruckerkunst,  viele  uner- 
wünschte und  traurige  Folgen  nach  sich  gezogen  hat?  Und  sehen 
wir  uns  in  der  neueren  Zeit  um.  Die  Befreiung  der  Sklaven  in  den 
Südstaaten  Nordamerikas  hat  unverschuldet  viele,  viele  Leute  da^ 
mals  plötzlich  an  den  Bettelstab  gebracht  und  hat  nicht  nur  Skla- 
venbesitzer schwer  geschädigt.  Auch  die  Industrie  fordert  täglich 
ihre  Opfer.  So  auch  die  moderne  Entwicklung  des  städtischen 
und  grossstädtischen  Lebens.  Ebenso  wenig  aber,  wie  der  schwarze 
Tod  es  verhindern  konnte,  dass  sich  das  Städtewesen  weiter  ent- 
wickelte, ebenso  wenig  werden  die  erwähnten  Gefahren  die  Ent- 
wickelung  der  Grossstadt  hindern,  und  wenn  man  die  Opfer  auch 
beklagen  mag,  so  wird  andererseits  der  Nutzen,  der  der  Gesamt- 
heit erwächst,  Trost  gewähren. 

Besonders  muss  diesen  Standpunkt  der  Rassenhygieniker  ein- 
nehmen. Wer  die  Verbesserung  der  Rasse  und  der  zukünftigen 
Generation  als  das  höhere  Ziel  ansieht,  wird  bei  allem  Mitgefühl 
für  den  Einzelnen  die  geforderten  Opfer  leicht  bringen,  da  er  in 
den  Unterliegenden  nur  die  weniger  Widerstandsfähigen  erblickt. 
Soweit  frühzeitiger  Tod  den  Schwächeren  dahinrafft,  sieht  der 
Rassenhygieniker  darin,  die  Darwinsche  Theorie  weiter  verfolgend, 
einen  erwünschten  Ausleseprozess,  da  das  Ueberleben  der 
Widerstandsfähigen  die  Möglichkeit  bietet,  die  Fortpflanzung 
nur  der  Stärkeren  zu  sichern  und  so  auf  dem  Wege  der  Ver- 
erbung die  zukünftige  Generation  zu  verbessern.  Der 
Rassenhygieniker  befürchtet  aber  auch  in  den  Fällen,  wo  dem 
Nervenkranken  durch  längeres  Leben  die  Möglichkeit  der  Fort- 
pflanzung beschieden  ist,  nicht  immer  eine  Verschlechterung  der 
Rasse,  da  die  Erfahrung  lehrt,  dass  keineswegs,  wie  irrtümlich  im 
Volke  so  oft  angenommen  wird,  jede  Nervenkrankheit  die  Nach- 
kommenschaft durch  erbliche  Belastung  gefährdet.  Wo  dies  aber 
der  Fall  ist,  hilft  sich  die  Natur  schliesslich  selbst,  indem  diese 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  and  Hygiene.  4 


246 


Albert  Moll. 


Widerstandsunfähigen  zwar  noch  eine  oder  zwei  Generationen  her- 
vorbringen, dann  aber ^der  Stamm  endgiltig  zur  Unfruchtbarkeit 
verurteilt  und  dem  Aussterben  geweiht  ist. 

Lassen  wir  aber  die  letzteren  Erwägungen  ausser  Betracht 
und  nehmen  wir  ruhig  an,  dass  durch  die  Entwickelung  des  städti- 
schen und  grossstädtischen  Lebens  Manches  Nerven  Schaden  lei- 
den, so  darf  man  dem  auch  sonst  keine  übertriebene  Bedeutung  bei- 
messen.   Wenn  wir  uns  nach  gewissen  Hygienikern  richten  wür- 
den, müsste  alles  der  Auflösung  verfallen,  was  in  irgend  welcher 
Form  der  Gesundheit  gefährlich  werden  kann.     Ein  Teil  der 
Schutzmassregeln,  die  diese  Herren  verlangen,  lässt  sich  anders 
nicht  durchführen.  Was  haben  diese  doktrinären  Hygieniker  schon 
alles  für  schädlich  erklärt!   Messer  und  Gabel,  Telephon  und  Mün- 
zen, Tinte,  Bücher,  Kleidung,  Schule  und  Kirche  u  s.  w.  Würden 
sich  die  Hygieniker  lediglich  darauf  beschränken,  praktisch  durch- 
führbare Massregeln  vorzuschlagen,  so  wäre  hiergegen  natürlich 
garnichts  einzuwenden;  aber  unähnlich  einem  Pettenkofer,  dem 
Begründer  der  modernen  Hygiene,  betrachten  einzelne  es  nicht 
als  ihre  Hauptaufgabe,  die  Gefahren  abzustellen  und  zu  verhüten, 
wo  dies  praktisch  möglich  ist.    Indem  sie  immer  neue  Gefahren 
suchen,  übertreiben  sie  diese  und  schlagen  mitunter  zu  deren  Be- 
kämpfung Massregeln  vor,  die  schlimmer  sind,  als  das  Uebel. 
Aufgabe  des  Hygienikers  ist  es,  Menschen  vor  Krankheiten  zu 
schützen.    Wenn  man  ab  er  die  Ursachen  moderner 
Nervosität  allgemein  betrachtet,  so  darf  unter 
ihnen  keineswegs  die  doktinäre  Hygiene  über- 
seh e  n  w  e  r  de  n.   In  dem  Bestreben,  da  oder  dort  einem  Bazillus 
den  Weg  zu  versperren,  oder  eine  Erkältung  zu  verhüten,  werden 
Gefahren  dem  Volke  vorgegaukelt,  die  vielleicht  theoretisch  be- 
stehen, praktisch  aber  kaum  ins  Gewicht  fallen.  Und  dadurch  wird 
eine  Beängstigung  und  eine  Nervosität  erzeugt,  die  man  besonders 
in  den  Häusern  beobachten  kann,  wo  eine  Krankheit  eingezogen 
ist  und  man  andere  oft  in  ganz  unzweckmässiger  Weise  vor  An* 
steckung  zu  schützen  sucht.    Auch  in  Beziehung  auf  die  Gross- 
städte haben  die  Uebertreibungen  von  Hygienikern  bereits  unnötige 
Beängstigung  geschaffen.    Diese  Herren  gehen  von  der  ganz  fal- 
schen Auffassung  aus,  dass  die  Gesundheit  Selbstzweck  sei, 
und  vergessen,  dass  vom  Standpunkt  des  Staates  ebenso  wie  von 
dem  der  Moral,  die  Gesundheit  nur  das  Mittel  zur  Arbeit  und  zu 


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Der  Emfluss  d.  grossstädt.  Lebens  u.  d.  Verkehrs  auf  d.  Nervensystem.  247 

nützlicher  Thätigkeit  darstellen  soll.  Wir  müssen  mitunter  die 
Gesundheit  sowohl  im  privaten,  wie  im  öffentlichen  Leben  an  zweite 
Stelle  rücken,  und  es  ist  jedenfalls  besser,  dass  gelegentlich  die 
Gesundheit  eines  Menschen  gefährdet  werde,  als  dass  er  recht 
hygienisch  jede  Stunde  des  Tages  verbringt.  Wie  der  Schlemmer 
der  Sklave  seines  Magens  ist,  so  ist  der  Mensch,  der  so  leben 
würde,  der  Sklave  der  Hygiene.  Unfruchtbar  ist  er  für  jede 
ernstere  Arbeit  und  Leistung,  und  wie  es  hier  mit  dem  Einzelnen 
geht,  so  geht  es  auch  mit  der  Gesamtheit,  die  sich  aus  den  Ein- 
zelnen zusammensetzt.  Dies  wollen  wir  auch  bei  der  Würdigung 
der  Grossstadt  bedenken.  Man  soll  selbstverständlich  versuchen, 
die  Nachteile  der  Grossstadt  zu  mindern.  Man  soll  aber  nicht,  wie 
es  so  oft  geschieht,  das  Objekt  des  Kampfes  verschieben.  Man 
soll,  um  ein  triviales  Beispiel  zu  wählen,  nicht  gegen  die  Rosen 
kämpfen,  weil  sie  Dornen  haben.  Soweit  man  aber  die  Nachteile 
der  Grossstadt  nicht  beseitigen  kann,  ist  es  besser,  wir  nehmen 
sie  mit  in  Kauf,  verzichten  aber  auch  nicht  auf  die  grossen 
Kulturfaktoren,  die  die  Entwickelung  der  Grossstadt  herbeiführen 
mussten. 

Selbstverständlich  liegt  es  mir  vollkommen  fern,  mit  meinen 
Ausführungen  etwa  die  Kleinstadt  oder  das  Land  irgendwie  herab- 
setzen zu  wollen.  Wie  im  menschlichen  Organismus  nicht  ein 
Organ  beliebig  als  das  wichtigste  bezeichnet  werden  kann,  so 
dürfen  wir  auch  im  Gesellschaftsorganismus  nicht  ungerechter 
Weise,  wie  es  so  oft  geschieht,  einzelne  seiner  Teile  zum  Nachteil 
anderer  bevorzugen.  Jeder  Teil  ist  zum  Gedeihen  des  Ganzen 
notwendig.  Wenn  wir  diesen  Grundsatz  festhalten,  werden  wir 
aber  auch  die  Grossstadt  weder  als  etwas  sittlich  oder  sozial  Minder- 
wertiges noch  als  eine  pathologische  Erscheinung  der  Gegenwart 
betrachten  dürfen.  Der  Kampf  gegen  die  Grossstädte  an  sich 
ist  vielmehr  ein  Kampf  gegen  die  bedeutendsten  Kulturfaktoren 
der  Gegenwart. 


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Sitzungsberichte. 
Verein  für  Kinderpsychologie  zu  Berlin. 

Sitzung  vom  2.  Mai  1902. 
Beginn  8V4  Uhr. 

Vorsitzender:  Herr  Stumpf. 
Schriftführer:  Herr  Hirschlatt. 

Der  Vorsitzende  eröffnet  die  Sitzung  und  begründet  in  längeren  Aus- 
führungen den  Plan,  in  Zukunft  neben  den  wissenschaftlichen  Vortragen 
und  Diskussionen  innerhalb  des  Vereines  wissenschaftliche  Arbeiten  zu 
organisieren.  Er  regt  infolgedessen  an,  zur  Bearbeitung  spezieller  Themata 
Gruppen  der  einzelnen  Interessentenkreise,  der  Lehrer,  Aerzte  und  Mütter 
zu  bilden.  Es  folgt  der  angekündigte  Vortrag  der  Frau  Wegscheider- 
Ziegler: 

„Erfahrungen  beim  Gymnasialunterricht  für  Mädchen,  als  Bei- 
trag zur  Frage  der  gemeinsamen  Erziehung  beider  Geschlechter.14 

Der  Vortrag  ist  unter  den  Original  beitragen  dieser  Zeitschrift  in  extenso 
abgedruckt. 

Diskussion: 

Herr  Stumpf  dankt  der  Rednerin  für  den  wertvollen  und  ausge- 
zeichneten Vortrag.  Es  sei  erfreulich,  dass  im  Kreise  des  Vereins,  der  in 
erster  Linie  theoretische  Ziele  verfolgt,  doch  auch  einmal  wichtige  Fragen, 
die  sich  mit  der  Praxis  berühren,  von  berufener  und  sachverständiger  Seite 
erörtert  worden  seien.  Die  Vortragende  habe  die  feinen  Differenzen  nicht 
übersehen,  die  nach  der  natürlichen  Konstitution  der  beiden  Geschlechter 
in  diesen  Verhältnissen  obwalten  müssen  und  für  die  getrennte  Erziehung 
sprechen.  Einer  Bewegung,  die  in  solcher  Weise  geleitet  würde,  könne 
man  nur  Glück  wünschen.  Dass  neben  den  humanistischen  Mädchen- 
Gymnasien  auch  Real-Gymnasien  für  Mädchen  eingerichtet  werden  sollen, 
erscheine  ihm  besonders  zweckmässig. 

Herr  Kemsies:  Die  Frau  Vortragende  hat  den  Lehr-Personen  mit 
ihren  Ausführungen  zweifellos  grosse  Freude  bereitet;  haben  wir  doch  alle 
ein  fortlaufendes  Interesse  an  diesen  Dingen.  Die  Frage  der  Coeducation 
ist  in  Amerika  ja  schon  gelöst  worden.  Aber  die  dortigen  Verhältnisse 
dürften  nicht  massgebend  sein  für  unsere  Verhältnisse.  In  Bezug  auf  die 
Forderung  der  Differenzierung  möchte  ich  mich  der  Vortragenden  anschliessen. 
Bezüglich  des  Massstabes  dagegen,  nach  dem  die  Leistungen  der  Schüler  und 
Schülerinnen  beurteilt  werden  sollen,  möchte  ich  einiges  hinzufügen.  Zu- 


Sitzungsberichte, 


249 


nächst  über  den  Gesichtspunkt  der  Disziplin.   Die  Verhältnisse  der  Disziplin 
bei  den  Quartanern,  die  hier  ja  zum  Vergleich  in  Betracht  kommen,  sind 
nach  meinen  Erfahrungen  nicht  so  ideale,  wie  die  Vortragende  schilderte; 
beim  Reformgymnasium  mag  das  vielleicht  besser  sein.    In  manchen  Fächern 
tritt  dies  besonders  hervor,  wie  bei  der  Geographie  etc.    Auch  die  Verbält- 
nisse der  Aufmerksamkeit  dürften  bei  den  Knaben  und  Mädchen  einiger- 
massen  gleich  sein.    Was  die  einzelnen  Fächer  anbetrifft,  so  arbeiten  die 
Knaben  umgekehrt  wie  die  Madchen  lieber  in  einer  Fremdsprache,  als  in 
der  deutschen  Sprache,  deren  Verhältnisse  ihnen  vertraut  sind.  Lateinische 
Verbformen  dürfen  auch  in  der  Knabenschule  nicht  länger  als  zehn  Minuten 
abgefragt  werden;  sonst  tritt  auch  hier  leicht  Ermüdung  ein.    In  Bezug 
auf  den  mathematischen  Unterricht  würde  ich  gern  erfahren,  wie  die  Mädchen 
so  leicht  die  mathematischen  Aufgaben  verstehen  und  lösen,  während  bei 
den  Knaben  immer  höchstens  drei  gute  Mathematiker  in  einer  Klasse  sitzen, 
von  denen  die  anderen  abschreiben.   Anatomie  und  Physiologie  der  Pflanzen 
gehören  wohl  kaum  zum  Pensum  der  Untertertia. 

Frau  Wegscheider-Ziegler:  Das  Alter  der  Mädchen  gegenüber  den 
Knaben  der  betreffenden  Klasse  dürfte  ziemlich  entsprechend  sein.  Die 
Disziplin,  sowohl  im  Unterricht,  wie  auch  in  den  Pausen,  ist  doch  bei  den 
Knaben  straffer  als  bei  den  Mädchen.  Dies  bestätigten  auch  sämmtliche 
Herren  in  der  Konferenz.  Was  die  mitgeteilten  Daten  über  den  Mathematik- 
Unterricht  anbelangt,  so  ist  ja  in  der  That  zunächst  das  Verhältnis  der 
Madchen  zu  den  Knaben  in  dieser  Beziehung  etwas  autlallend.  Indessen 
muss  man  bedenken,  dass  bei  den  Mädchen  eine  ganz  andere  Auswahl  in 
Bezng  auf  die  Begabung  von  den  Eltern  getroffen  wird.  Daher  vielleicht 
der  Unterschied.  Was  das  Abfragen  der  lateinischen  Verbformen  angeht, 
so  muss  ich  sagen:  in  den  Gymnasien  werden,  soviel  ich  selber  gehört  habe, 
dieselben  Verbformen  hintereinander  mehr  als  zehn  Minuten  abgefragt,  häufig 
fünfzehn  bis  achtzehn  Minuten.  Dies  ist  für  Mädchen  jedenfalls  eine  zu 
grosse  Anstrengung.  Bei  der  Anatomie  und  Physiologie  der  Pflanzen  werden 
natürlich  nur  die  einfacheren  Vorgänge  in  der  Entwicklung  der  Pflanzen 
vorgenommen;  diese  jedoch  unter  vollem  Verständnis  und  Interesse  der 
Mädchen. 

Herr  Kern si es:  Es  wäre  mir  interessant  zu  erfahren,  wie  es,  im 
Gegensätze  zur  blossen  Association  und  Reproduktion,  mit  der  Kombinations- 
thätigkeit  der  Schülerinnen  steht,  z.  B.  in  der  Mathematik  oder  beim  Ueber- 
setzen  aus  dem  Lateinischen  ins  Deutsche. 

Frau  Wegscheider-Ziegler:  Darüber  kann  ich  noch  kein  kompetentes 
Urteil  haben.  Selbst  die  wenigen  positiven  Erfahrungen,  die  ich  hierüber 
gemacht  habe,  würde  ich  zunächst  noch  nicht  wagen,  als  psychologisches 
Material  zu  verwerten. 

Herr  Stumpf:  Mit  meinen  Erfahrungen  vom  Katheder  aus  stimmt 
*>ehr  wohl  die  Behauptung  der  Vortragenden  überein,  dass  das  weibliche 
Geschlecht  eine  besondere  Begabung  und  ein  besonderes  Interesse  für  die 
rein  formalen  Beziehungen  zeigt,  z.  B.  für  formal-logische  Distinctionen. 

Schluss  der  Sitzung  9»',  Uhr. 


250 


$  f  t4  f%  ^  s    p^t^  fr  * 


Sitzung  vom  6.  Juni  1902. 
Beginn  8V4  Uhr. 

Vorsitzender:  Herr  Stumpf. 
Schriftführer:  i.  V.  Herr  Pf  angst. 

Nach  einigen  einleitenden  geschäftlichen  Bemerkungen  des  Herrn 
Vorsitzenden  hielt  Herr  Giering  den  angekündigten  Vortrag: 

„Ueber  die  Entwicklung  des  Augenmasses  bei  Kindern.1' 

Der  Vortrag  wird  später  in  dieser  Zeitschrift  veröffentlicht  werden. 

Diskussion: 

Herr  Stumpf  dankt  dem  Vortragenden  iür  die  anregenden  Aus- 
führungen über  seine  zwar  noch  nicht  abgeschlossenen,  aber  schon  jetzt 
vielversprechenden  mühevollen  Versuchsreihen.  Sie  werden  nicht  nur  für 
das  Verständnis  der  räumlichen  Auffassung  bei  Kindern,  sondern  auch  bei 
Erwachsenen  Nutzen  bringen. 

Herr  Dessoir  weist  darauf  hin,  dass  der  Titel  des  Vortrages  „Ueber 
die  Entwicklung  des  Augenmasses  bei  Kindern"  insofern  nicht  ganz 
zutreffe,  als  ja  eine  Entwickelung  in  der  Hauptsache  nicht  stattzufinden 
scheine.  Er  macht  ferner  darauf  aufmerksam,  dass  mit  Nutzen  Ergänzungs- 
experimente vorgenommen  werden  könnten,  z.  B.  mit  weissen  Linien  auf 
schwarzem  Untergrunde  (wie  auf  der  Wand-  und  Schieiertafel).  Endlich 
betont  er,  dass  der  Wert  dieser  ausgezeichneten  Untersuchungen  gerade  in 
ihren  paradoxen  Ergebnissen  zu  sehen  sei;  das  Ergebnis  in  Bezug  auf  die 
Tiefendimension  überrasche  am  meiBten. 

Herr  Giering  erwidert,  dass  er  seine  Versuche  nicht  in  der  von  dem 
Herrn  Vorredner  erwähnten  Richtung  habe  ausdehnen  können,  ohne  deren 
ohnehin  schon  grosse  Zahl  ins  Unermessliche  zu  steigern.  Einige  Stich- 
proben mit  weissen  Linien  auf  schwarzem  Grunde  könne  er  immerhin 
anstellen. 

Herr  Stumpf  halt  es  auch  zunächst  für  rätlich,  sich  auf  Schwarz  auf 
weiss -Versuche  zu  beschränken,  da  diese  Art  der  Darstellung  doch  der  im 
gewöhnlichen  Leben  üblichen  entspreche  und  bei  den  vorliegenden  Unter- 
suchungen vor  allem  ein  möglichst  inniger  Anschluss  an  die  Praxis  be- 
absichtigt sei.  Die  sichere  Tiefenschätzung  bei  monocularem  Sehen  erscheine 
auch  ihm  merkwürdig. 

Herr  Fla  tau  betont  die  Notwendigkeit,  dass  der  Apparat,  mit  dem 
die  Tiefenversuche  angestellt  würden,  ganz  geräuschlos  arbeite,  da  sonst 
Gehörwahrnehmungen  leicht  als  Kriterium  für  das  Tiefenurteil  herangezogen 
werden  könnten. 

Herr  Giering  erwidert,  dass  diese  Vorsicht  auch  immer  angewandt 
worden  sei,  dass  übrigens  die  Kinder  nicht  in  dem  Masse  wie  Erwachsene 
die  Tendenz  zeigten,  solchen  Geräuschen  als  mittelbaren  Kriterien  ihre  Auf- 
merksamkeit zuzuwenden. 

Herr  Schumann  erinnert  daran,  dass  die  schlechtere  monoculare 
Tiefenschätzung  Erwachsener  mit  deren  geringerer  Accommodationsiähigkeit 
zusammenhängen  könne.    Das  Thema  scheint  ihm  insofern  ganz  richtig 


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Sitzungsbericht*. 


251 


gewählt,  als  eich  doch  eine  Entwickelang  in  einem  wichtigen  Punkte  gezeigt 
habe,  nämlich  hinsichtlich  der  Schätzung  leerer  Distanzen.  Es  fehle  den 
Kindern  vielleicht  noch  die  Fähigkeit,  eine  Punktdistanz  zur  Einheit  zu- 
Herr Stumpf  würde,  wenn  sich  gsx  keine  Ent Wickelung  in  der 
Grössen-Schätzung  der  Kinder  zwischen  6  und  14  Jahren  gezeigt  hätte, 
dieses  Resultat  gerade  für  besonders  interessant  halten.  Es  sei  allerdings 
paradox,  das«  die  thatsächlich  beobachtete  Entwickelung  so  gering  sei,  und 
gebe  praktisch  zu  denken,  vor  allem  für  den  Zeichen- Unterricht.  Es  frage 
sich  endlich,  ob  bei  Schätzung  so  geringer  Distanzen  eine  Accommodations- 
Aenderung  stattfinde  und  ob  sie  auch  empfunden  werde? 

Herr  Schumann  zweifelt  nicht  an  so  feiner  Accommodation  des  kind- 
lichen Auges;  diese  braucht  jedoch  durchaus  nicht  als  solche  empfunden 
zu  werden. 

Herr  Stumpf  macht  noch  auf  die  Wichtigkeit  einer  genauen  pjcho- 
logischen  Analyse  der  einzelnen  Versuchsbedingungen  aufmerksam.  Es  sei 
z.  B.  eine  ungleich  grössere  Anforderung,  2  Teile  einer  Strecke  auf  ihre 
Gleichheit  hin  zu  beurteilen,  als  2  untereinander  gezeichnete  Parallele. 
Diese  Ungleichheiten  drückten  sich  ja  auch  in  den  Resultaten  der  einzelnen 
Versuchsreihen  deutlich  genug  aus. 

Herr  Giering  erwidert  auf  eine  Anfrage,  dass  die  Bevorzugung  des 
Urteils  „grösser"  auch  von  Binet  und  Henri  gefunden  worden  sei.  Eine 
Erklärung  hätten  diese  jedoch  nicht  beigebracht. 

Herr  Kemsies  hält  folgende  Erklärung  für  möglich:  Das  Bild  der 
zuerst  gesehenen  Strecke  könne  sich  in  der  Reproduktion  verkleinern,  und 
es  erscheine  dann  die  an  zweiter  Stelle  gesehene  Strecke  natürlich  grösser. 
Es  frage  sich,  ob  bei  diesen  Versuchen  die  subjektiven  Bedingungen  ge- 
nügend berücksichtigt,  d.  h.  Aufmerksamkeit  und  Interesse  immer  constant 
gehalten  und  die  Ermüdung  ausgeschlossen  worden  seien. 

Herr  Giering  betont,  dies  sei  geschehen.  Uebrigens  würden  die 
Versuche  so  rasch  ausgeführt,  dass  von  einer  Ermüdung  während  einer 
Versuchsreihe  keine  Rede  sein  könne. 

Schluss  der  Sitzung  9«/4  Uhr. 


Psychologische  Gesellschaft  zu  Berlin. 

Sitzung  vom  15.  Mai  1902. 
Beginn  7»  Uhr. 

Vorsitzender:  Herr  Flatau,  dann  Herr  Dessoir. 
Schriftführer:  Herr  Pfungst. 

Nach  einigen  geschäftlichen  Mitteilungen  des  Vorsitzenden,  spez.  unter 
Hinweis  auf  die  Bibliothek  der  Gesellschaft,  hält  Herr  Gramsow  den  an- 
gekündigten Vortrag: 


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252 


Sitzungsberichte. 


Der  Kampf  um  die  Weltanschauung. 
Der  Vortragende  brachte  einen  Abschnitt  ans  einem  in  der  Entstehung 
begriffenen  Buche:  „Philosophie  des  Zweckes41  zur  Darstellung.  Nachdem 
er  die  historische  Entwicklung  des  Zweckbegriffs,  dessen  Geltung  und  Be- 
kämpfung gekennzeichnet  hatte,  gelangte  er  zur  Unterscheidung  von  vier 
Arten  der  Zweckmässigkeit.  Diese  sind:  die  absolute  oder  transzendente, 
die  relative,  die  reziproke  und  die  immanente  Zweckmassigkeit.  Der  Vor- 
tragende vertritt  den  Standpunkt  der  immanenten  Teleologie.  Die  Betrach- 
tung der  Natur  und  des  sozialen  Lebens  kann  bei  der  heute  vorherrschenden 
mechanistischen  Auffassung  nicht  stehen  bleiben.  Der  denkende  Mensch 
sehnt  sich  nach  einem  Himmelsstriche,  wo  er  sich  als  freie  selbstbewusste 
Persönlichkeit  empfinden  darf.  Deshalb  ist  das  Problem,  das  Eduard  von 
Hartmann  metaphysisch  behandelt  hat,  das  dringendste  der  heutigen  Phi- 
losophie. Dieses  Problem  verlangt  die  Verbindung  des  mechanistischen 
Prinzips  mit  dem  teleologischen  Prinzip.  Dass  das  philosophische  Denken 
sich  anschickt,  die  dadurch  gegebene  Richtung  einzuschlagen,  zeigt  die 
moderne  philosophische  Litteratur.  Der  Vortragende  weist  vornehmlich 
hin  auf  Christoph  v.  Sigwart,  Otto  Stock  und  Beinke.  Es  kommt  darauf  an, 
den  formal  notwendigen  Zweckbegriff  mit  einem  Inhalt  zu  fallen.  Aue 
erkenntnis-theoretischen  Gründen  muss  von  der  Bestimmung  des  Welt- 
zweckes abgesehen  werden.  Wohl  aber  können  wir  aus  unserer  natur- 
wissenschaftlichen und  soziologischen  Erkenntnis  heraus  zu  einer  Feststellung 
des  Lebenszweckes  schreiten.  Dass  Lebenszweck  und  Weltzweck  identisch 
sind,  lägst  6ich  wohl  ahnen,  aber  vorläufig  nicht  beweisen.  Als  Lebenszweck  ist 
die  Selbsterhaltung  des  Lebens  anzusehen.  Die  Selbsterhaltung  hat  für  die 
Kulturmenschheit  einen  wesentlich  erweiterten  und  vertieften  Sinn  erhalten. 
Der  Lebenszweck  ist  durch  den  Lebenstrieb  gegründet.  Eine  „Philosophie 
des  Zweckes4*  hat  nun  die  Aufgabe,  die  Wirksamkeit  des  Lebenszweckes 
in  typischen  Erscheinungen  des  Lebens  nachzuweisen.  Zu  diesen  typischen 
Erscheinungen  gehört  aach  der  Kampf  um  die  Weltanschauung.  Die 
Weltanschauung  ist  Sache  des  erkennenden  Menschen.  Aber  der  nie 
rastende  Kampf  um  sie  beweist,  dass  die  menschlichen  Gemeinschaften  an 
der  Weltanschauung  ihrer  Glieder  auf  das  lebhafteste  interessiert  sind.  Das 
Interesse  der  Gemeinschaft  und  alle  seine  auf  Kontrolle  und  Bekämpfung 
gerichteten  Aeusserungen  finden  ihre  Begründung  in  dem  Zwecke  der  Selbst- 
erhaltung. Aber  das  tiefste  Motiv  ist  der  immanente  Lebenszweck  des 
Individuums,  in  dem  der  Zweck  der  Gemeinschaft  seine  Wurzeln  hat. 
In  der  Hauptsache  sind  drei  Typen  des  Kampfes  um  die  Weltanschauung 
zu  unterscheiden:  der  Kampf  zwischen  Glauben  und  Wissen,  zwischen 
Idealismus  und  Realismus,  zwischen  Optimismus  und  Pessimismus 
Der  Kampf  zwischen  Glauben  und  Wissen  ist  nur  in  beschränktem  Masse 
lebenfordernd;  allein  die  Religionen  erweitern  den  Zweck  des  Menschen- 
daseins, so  dass  der  Kampf  in  der  Meinung  ausgefochten  wird,  er  liege  im 
Interesse  der  Lebenserhaltung.  Idealismus  und  Realismus  sind  beide  nur 
besondere  Formen  der  Hingabe  an  das  Leben  und  seinen  Zweck;  aber  der 
typische  Idealist  ist  infolge  seiner  gefälschten  Auffassung  der  Wirklichkeit 
in  Gefahr,  sich  selbst  und  fremdem  Leben  zu  schaden.   Der  Kampf  zwischen 


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Sitzungsberichte. 


253 


Optimismus  and  Pessimismus  geht  hervor  aus  der  sinnlosen  Fragestellung: 
Ist  die  Welt  gut  oder  schlecht?  Wissenschaftlich  ist  die  pessimistische 
Weltausicht  unhaltbar.  Auch  E.  v.  Hartman n's  psychologischer  oder  hedo- 
nistischer Beweis  ist  misslungen  und  kann  nie  gelingen.  Allein  berechtigt 
ist  die  Frage,  ob  die  Menschen  in  der  Mehrzahl  zu  optimistischen  oder 
pessimistischen  Stimmungen  neigen.  Auf  Grund  der  Theorie  der  Gefühls- 
töne und  Empflndungsquali taten  laset  sich  der  Nachweis  führen,  dass  die 
Menschen  vorwiegend  zum  Optimismus  neigen.  Auch  aus  der  Temperamenten- 
lehre ergiebt  sich,  dass  eigentlich  nur  ein  Temperament,  das  melancholische, 
pessimistischen  Grundton  hat.  Endlich  ist  ein  Beweis  der  Vorherrschaft 
des  Optimismus  in  dem  immer  erneuten  Kampfe  des  Lebens  gegen  die 
pessimistischen  Anschauungen  und  asketischen  Forderungen  der  Religionen 
zu  erblicken.  Der  Pessimismus  ist  im  allgemeinen  lebenschädigend,  aber  für 
den  geborenen  Pessimisten  hat  er  den  Wert  einer  lebenerhaltenden  Lehre 
und  Stimmung. 

Diskussion. 

Herr  Baerwald  betont,  dass  der  Selbsterhaltungstrieb  des  Systems 
in  erster  Linie  nicht  ein  Trieb  des  Individuums  als  Gesellschaftswesen,  sondern 
des  Individual-Ich  sei.  Die  Beteiligung  des  Urteilswillens  an  jeder  aeeeptierten 
Ansicht  engagiert  das  Ich  dafür,  macht  seinen  Selbsterhaltungstrieb  dafü  r  rege. 
Man  opponiert  dem  am  stärksten,  was  nicht  den  überkommenen,  sondern 
selbsterarbeiteten  Ansichten  widerspricht. 

Herr  Wilh.  Stern  hebt  hervor,  dass  die  Frage,  ob  der  Optimismus 
oder  der  Pessimismus  berechtigt  sei,  so  lange  wissenschaftlich  nicht  be- 
antwortet werden  könne,  also  Sache  der  Gemütsbeschaffenheit  des  Einzelnen 
und  seiner  individuellen  Erfahrung  d.  h.  seiner  Erlebnisse  sei,  bis  der 
Nachweis  gelinge,  ob  die  Gesamtsumme  der  Lust  die  der  Unlust,  oder 
umgekehrt  die  Gesamtsumme  der  Unlust  die  der  Lust  überwiege. 
Er  verweist  in  dieser  Beziehung  auf  die  Darlegung  Gustav  Theodor 
Fechners  in  seiner  „Vorschule  der  Aesthetik".  Dieser  sagt,  dass  ein 
eigentlich  mathematisches  (unstreitig  nur  psychophysich  mögliches)  Mass 
der  Intensität  der  Lust  und  Unlust  sich  erst  im  Zusammenhang  mit  einer 
Erkenntnis  der  allgemeinen  Grundursache  von  Lust  und  Unlust  finden 
lasse,  und  dass  es  sich  bis  dahin  nur  um  Schätzung  von  mehr  oder  weniger 
handeln  könne. 

Herr  Gumpertz  erinnert  daran,  dass  Unlustgefühle  Vorstellungen 
verknüpfen  und  sogar  auf  den  Empfindungsinhalt  einwirken  können.  Ferner 
wendet  er  sich  gegen  die  Anschauung,  dass  die  Gemütsverfassung  des 
Phlegmatikers  zum  Pessimimus  keine  Verwandtschaft  habe.  Er  verweist 
vielmehr  auf  die  Analoga  in  der  Psychopathologie.  Grade  das  Fehlen  jeder 
Handlungstendenz  und  der  Gefühlston  der  Apathie  sei  ja  auch  dem 
extremen  Pessimisten,  dem  indischen  Büsser,  eigen. 

Herr  Gramzow  erwidert  Herrn  Baerwald,  dass  er  ebenfalls  die 
Meinung  ausgesprochen  habe,  das  Individuum  sei  unter  dem  Einfluss  seines 
immanenten  Zweckes  die  eigentlich  treibende  Macht  im  Kampfe  um  die 
Weltanschauung.   Alles,  was  das  Individuum  für  die  Gemeinschaft  erstrebe, 


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Sitzungsberichte. 


wolle  es  letzten  Endes  doch  für  sich  selbst.  Brentanos  Theorie  des  Urteils- 
willens, zu  der  er  hier  keine  prinzipielle  Stellang  nehmen  wolle,  spreche 
nicht  gegen,  sondern  für  seine  Anschauungen.  —  Herrn  Wilh.  Stern  ent- 
gegnet der  Vortragende,  dass  er  die  Behauptung:  „die  Welt  ist  gut",  für 
ebenso  dogmatisch  nnd  unbeweisbar  halte,  wie  die  gegenteilige  Behauptung: 
„die  Welt  ist  schlecht"  Berechtigt  ist  and  bleibt  aber  darum  doch  die 
Trage,  ob  die  Menschen  in  ihrer  Mehrheit  zum  Optimismus  oder  zum  Pes- 
simismus neigen?  Die  Beantwortung  dieser  Frage  ist  möglich  und  die  Be- 
zugnahme auf  die  gute  oder  schlechte  Beschaffenheit  der  Welt  kann  dabei 
völlig  ausgeschaltet  werden.  —  Herrn  Gumpertz  gegenüber  weist  der  Vor- 
tragende darauf  hin,  dass  man  streng  unterscheiden  müsse  zwischen  Gefühls- 
ton und  Qualität  der  Empfindung.  Erweise  sich  scheinbar  ein  Gefühlston  als 
weckendes  Prinzip  bei  der  Reproduktion  der  Vorstellungen,  so  sei  mit  diesem 
Gefülüston  eine  uns  angenehme  Qualität  unmittelbar  verbunden.  Die  Re- 
produktionshilfe  sei  dann  die  Qualität  als  notwendige  Eigenschaft  der  Emp- 
findung, nicht  aber  der  Gefühlston  an  sich.  Es  giebt  eben  nur  zwei  Gefühls- 
töne, von  denen  jeder  in  gradueller  Verschiedenheit  auftritt  Der  Gefühlston 
der  Lust  weckt  ebenso  wenig  wie  der  der  Unlust;  dazu  haben  beide  zu 
allgemeinen  Charakter:  Psychisch  Erkrankte  und  Anomale  kommen  für 
die  Frage,  ob  mehr  Menschen  zum  Optimismus  oder  zum  Pessimismus  neigen, 
nicht  in  Betracht.  Diese  Frage  kann  nur  in  Bezug  auf  die  allgemein  als 
normal  Betrachteten  erörtert  werden.  Der  Mangel  an  Bewegungstendenz 
ist  kein  Beweis  für  pessimistische  Veranlagung.  Wenn  auch  der  Optimist 
fast  immer  den  Willen  zur  Bethätigung  und  das  Gefühl  der  Kraft  hegt, 
so  ist  damit  doch  die  umgekehrte  Thatsache  nicht  erwiesen,  dass  jemand, 
dem  der  Thätigkeitswille  mangelt,  unbedingt  Pessimist  sein  muss. 

Schluss  der  Sitzung  9  Uhr. 


Sitzung  vom  29.  Mai  1902. 

Beginn  7  Vi  Uhr. 

Vorsitzender:  Herr  Th.  S.  Fla  tau. 
Schriftführer:  Herr  Pf  angst. 

Herr  M.  Dessoir  hält  den  angekündigten  Voitrag: 

Ueber  die  Bedeutung  von  Quantität  und  Intensität  für  den 

ästhetischen  Eindruck. 

Nachdem  dei  Vortragende  die  Begriffe  Quantität  und  Intensität  kurz 
erläutert  und  die  Gründe  dargelegt  hatte,  aus  denen  sie  bisher  in  der 
Aasthetik  vernachlässigt  waren,  schilderte  er  das  Verhältnis  verschiedener 
ästhetischer  Systeme  zum  quantitativen  Faktor.  Die  Inhaltsästhetik,  die 
den  Wert  des  Kunstwerks  von  dem  ihm  innewohnenden  Gehalt  abhängig 


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Sit  zun  rsberich  te. 


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macht,  muse  Nachdruck  darauf  legen,  dass  die  äussere  Qrösee  eines  Kunstwerks 
der  inneren  Grösse,  d.  h.  der  sachlichen  Bedeutsamkeit  des  Inhaltes  angemessen 
sei.  Die  Lehre  vom  ästhetischen  Schein  gelangt  zu  einer  anderen  Problemstellung, 
indessen  nur  um  sie  abzulehnen :  da  die  Kunst  es  ausschliesslich  mit  dem  Sinnes- 
schein zu  thun  hat,  so  könne  ihr  die  thatsächliche  Grösse  und  Stärke  der  dem 
Schein  zu  Grunde  liegenden  Dinge  ganz  gleichgiltig  bleiben.  In  Wahrheit 
aber  berücksichtigen  z.  B.  die  bildenden  Künste  unter  andern  wirklichen 
Eigenschaften  eines  Objekts  auch  seine  quantitativen,  zumal  seine  Schwere- 
verhältnisse. Der  Formalismus  endlich  hat  gleichfalls  die  absolute  Grad- 
stärke von  Kunstbestandteilen  für  ästhetisch  bedeutungslos  erklärt  und  bloss 
den  quantitativen  Zusammenhang,  die  Proportionalität  der  einzelnen 
Teile  zu  einander  untersucht. 

Es  ist  indessen  der  ästhetische  Eindruck  nicht  nur  von  Formen  und 
Verhältnissen,  sondern  auch  von  dem  Massstabe  im  Ganzen  abhängig.  Was 
den  Kölner  Dom  vor  seinen  verkleinerten  Nachbildungen,  vor  Modellen  und 
Photographien,  auszeichnet,  ist  die  bestimmte  Ausdehnung  von  so  und  so 
viel  Metern;  das  Bequiem  von  Berlioz  wäre  nicht,  was  es  ist,  ohne  die  Ge- 
walt des  Chors  und  Orchesters,  ohne  das  Fortissimo.  Grössen  wecken  als 
solche  bestimmte  Gefühle.  Innerhalb  gewisser  Grenzen  sind  diese  Quanti- 
tätsgefühle ästhetisch;  so  ist  z.  B.  die  Ueberraschung  künstlerisch  zulässig^ 
schwerlich  aber  ihre  Steigerung:  der  Schreck.  Die  genaue  Angabe  der 
Grenzen  ist  unmöglich,  weil  die  Quantität  einer  neu  eintretenden  Vor- 
stellung wesentlich  abhängt  von  der  Disposition  oder  Vorbereitung  des  Be- 
wusstseins.  Trotzdem  lässt  sich  aus  der  Geschichte  aller  Künste  zeigen, 
nach  welchen  Prinzipien  thatsächlich  in  verschiedenen  Zeiten  der  Bezirk 
umgrenzt  worden  ist. 

Nachdem  der  Vortragende  diese  Grundsätze  ausgeführt  und  auf  zwei 
leitende  Gedanken  gesammelt  hatte,  zeigte  er,  dass  vielfach  quantitative 
und  intensive  Unterschiede  zur  Abtrennung  von  Kunstformen  innerhalb 
einer  Gattung  verwendet  worden  sind.  (Novelle  und  Roman  u.  8.  w.)  Er 
verfolg; e  alsdann  das  gleiche  Moment  auf  dem  Gebiet  der  ästhetischen 
Kategorien,  wo  das  Zierliche  und  das  Erhabene  die  deutlichsten  Beispiele 
bilden.  Zum  Erhabenen  gehört  nicht  nur  eine  relative  Mächtigkeit  und 
Ausdehnung,  sondern  auch  eine  absolute  Grösse,  die  die  Vorstellung  der 
Unendlichkeit  nahe  legt. 

Eine  abschliessende  Betrachtung  versuchte  dann,  die  gesamte  Kunst 
als  ein  Intensitätsphänomen  philosophisch  verständlich  tu  machen.  Wenn 
es  erlaubt  ist,  Möglichkeit,  Wirklichkeit  und  Notwendigkeit  als  Steigerungen 
gegen  einander  aufzufassen,  so  kann  das  Verhältnis  der  Kunst  zur  Wirklich- 
keit auf  Intensitätsunterschiede  sowohl  erkenntnistheoretisch  als  auch  meta- 
physisch zurückgeführt  werden. 

Discussion: 

Herr  Pfungst  glaubt,  dass  bei  einer  verkleinerten,  nicht  farbigen 
Reproduktion  eines  Gemäldes  weit  weniger  die  Aenderung  der  absoluten 
Grösse,  als  die  Aenderung  der  Farbe  und  insbesondere  die  Art  des  Re- 
produktions-Verfahrens von  Bedeutung  sei.   Er  erläutert  dies  an  Werken 


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von  Rembrandt,  Böcklin  und  Segantini.  Dass  die  absolute  Grösse  als  solche 
GefQbie  erwecke,  könne  nicht  bezweifelt  werden,  doch  seien  assoziative 
Momente  (Kölner  Dom,  Pyramiden),  sowie  das  Verhältnis  zur  Umgebung 
anlösbar  damit  verbanden.  Wenn  uns  schliesslich,  ein  Alter  von  100  Jahren 
ehrwürdig,  ein  solches  von  3  Jahren  aber  —  wiewohl  neben  einem  Insekten- 
leben von  ungeheurer  Dauer  —  nicht  so  erscheine,  so  habe  das  mit  absoluter 
Zeitgrösse  wohl  wenig  zu  thun.  Wir  urteilen  relativ  zum  durchschnittlichen 
Menschenleben;  der  Vergleich  mit  dem  Leben  einer  Fliege  kommt  niemand 
in  den  Sinn. 

Herr  Gramzow  ist  nicht  ganz  überzeugt,  dass  Quantität  und  Intensität 
die  ihnen  zugeschriebene  Bedeutung  ausnahmslos  haben.  Er  weist  hin  auf 
Spangenberg's  „Zug  des  Todes",  dessen  Ausdehnung  in  keiner  Weise  an- 
gethan  erscheinen  könnte,  einen  starken  Eindruck  hervorzurufen.  Und 
doch  wissen  wir,  dass  gerade  dieses  Bild  einen  ungewöhnlich  starken  Ein- 
druck hervorbringt.  Es  scheint  also,  als  wenn  nicht  das  unmittelbar  Dar- 
gestellte die  Stärke  des  Eindrucks  allein  bestimmt;  Bondern  dass  vornehmlich 
die  Vorstellungs-  und  Gedanken  reihen,  die  in  dem  Beschauer  erweckt  werden, 
dazu  mitwirken.  Damit  wäre  aber  die  Frage  nach  der  Quantität  und 
Intensität  zurückgeführt  auf  die  Fundamentaltrage  der  Aeethetik:  „giebt 
es  eine  reine  Kontemplation,  das  interesselose  Anschauen,  wie  es  Kant  und 
Schopenhauer  behaupteten,  oder  ist  die  Anschauung  eines  Kunstwerkes  von 
einer  Meditation  begleitet,  in  der  ein  Interessenkomplex  des  Beschauers  zur 
Geltung  kommt,  so  in  dem  ästhetischen  Eindruck  ein  Glücksversprechen 
(une  promesse  de  bonheur  nach  Nietzsche)  zu  uns  redet? 

Herr  Feld  hält  den  Schreck  an  sich  nicht  für  ästhetisch  zulässig, 
weil  er  ein  Attentat  auf  unser  Nervensystem  bedeute.  Wo  er  jedoch  einen 
integrierenden  Bestandteil  des  Kunstwerkes  bilde,  da  könne  er  äusserst 
wirksam  sein.  Der  Bedner  erläutert  dies  durch  ein  Beispiel  aus  der 
Ouvertüre  zum  „Wildschütz".  —  Eine  räumlich  kleine  Nachbildung  kann 
sehr  wohl  lapidar  wirken,  wenn  nur  die  Umgebung  entsprechend  ver- 
kleinert wird.  Es  büsst  z.  B.  der  Zeus  von  Otricoli  nichts  von  seinem 
machtvollen  Eindruck  ein,  sobald  die  Darstellung  der  Umgebung  (etwa  eine 
anbetende  Menge)  in  gleichem  Verhältnisse  an  der  Verkleinerung  teilnimmt. 

Herr  Th.  S.  Fla  tau  bezweifelt  nach  seinen  Wahrnehmungen,  dass  der 
Schreck  so  allgemein  als  ästhetisch  unzulässige  GrefühUwirkung  bezeichnet 
werden  dürfe.  Er  halte  es  gerade  in  der  dramatischen  Kunst  für  möglich, 
den  Zustand  der  Erschütterung  in  voller  Absicht  herbeizuführen  und  aus- 
zunützen. 

Herr  Dessoir  bemerkt  in  seinem  Schlusswort,  dass  die  meisten  in 
der  Diskussion  erhobenen  Bedenken  in  der  Ansicht  wurzeln,  der  Vortrag  habe 
die  Bedeutung  andrer  Momente  als  des  quantitativen  und  intensiven  herab- 
setzen wollen.  In  Wahrheit  sei  es  seine  Absicht  gewesen,  aus  methodo- 
logischen Gründen  die  andern  Momente  von  derp  Darstellung  auszuschli essen; 
wenn  sie  nun  teilweise  doch  erwähnt  worden  sind,  so  begrnsse  er  das  als 
eine  wertvolle  Ergänzung. 

Schluss  der  Sitzung  9  Uhr  20  Minuten. 


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Sitzungsberichte. 


257 


Sitzung  vom  12.  Juni  1902. 

Beginn:  7*°  Uhr. 

Vorsitzender:  Herr  Th.  S.  Fla  tau. 
Schriftführer:  Herr  Pf  angst. 

Herr  Moll  hält  den  angekündigten  Vortrag: 

Über  ärztliche  Ethik. 

Wenn  wir  eine  ärztliche  Ethik  begründen  wollen,  so  müssen  wir  von 
dem  ausgehen,  was  allgemein  ethisch  ist.  Mit  den  Moralprinzipien  unserer 
Moralphilosophen  kommen  wir  nicht  zum  Ziel,  selbst  nicht  mit  den  viel 
Überzeugendes  darbietenden  Ausführungen  Wilhelm  Stern's,  der  das  Opfer 
&19  das  Kriterium  des  Ethischen  betrachtet.  Eine  Sonderethik  giebt  es  für 
den  Arzt  nicht.  Nur  bietet  sein  Beruf  mitunter  Konflikte  dar.  die  iür 
andere  Berufsklassen  nicht  bestehen.  Die  Konflikte  werden  um  so  grosser, 
je  weiter  wir  des  Arztes  Thätigkeit  umgrenzen.  In  dem  eigentlichen  Beruf 
des  Arztes  bietet  insbesondere  auch  die  in  neuerer  Zeit  sich  mehr  und  mehr 
Bürgerrecht  erwerbende  Psychotherapie  Anlass  zu  Konflikten.  So  giebt  es 
ja  einzelne,  die  gegen  die  Behandlung  mit  Hypnose  oder  Suggestion  den 
Einwand  erheben,  es  sei  dies  keine  wissenschaftliche  Behandlungsmethode. 
Ja  es  verdiene  diese  Behandlung  im  Interesse  der  Arzte  überhaupt  nicht 
den  tarnen  einer  ärztlichen  Behandlungsmethode.  Würden  wir  aber  die 
Suggestion  von  der  ärztlichen  Behandlung  ausschliessen,  so  müssten  wir  alle 
lediglich  psychisch  wirkenden  Konsilien  ausschliessen,  und  noch  mehr  die 
Konsilien,  von  denen  weder  ein  psychischer  noch  ein  somatischer  Nutzen 
zu  erwarten  ist.  Von  andern  Einwänden  kommt  besonders  der  in  Betracht, 
dass  gewisse  psychische  Mittel  an  sich  unsittlich  seien;  beispielsweise  ist 
dieser  Einwand  gegenüber  der  Täuschung  des  Klienten  zu  berücksichtigen. 
Indessen  haben  wir  festzuhalten,  dass  es  in  Wirklichkeit  nicht  so  zugeht, 
wie  in  der  Theorie,  wo  man  die  Lüge  als  unsittlich,  die  Wahrheit  als  sitt- 
lich bezeichnet.  Es  giebt  vielmehr  Handlungen,  von  denen  wir  bei  Berück- 
sichtigung der  praktischen  Verhältnisse  nur  sagen  können,  sie  seien  relativ 
unsittlich  oder  relativ  sittlich.  Oft  genug  entscheidet  der  Zweck  bei  einer 
Handlungsweise  darüber,  ob  sie  im  einzelnen  Falle  sittlich  oder  unsittlich 
ist.  So  liegt  es  auch  mit  der  Frage  der  Täuschung  des  Klienten.  Nur  der 
Doktrinäre  wird  die  Täuschung  des  Klienten,  wenn  es  sich  etwa  um  die 
Kettung  seines  Lebens  handelt,  verworfen;  jeder  vernünftige  Praktiker  wird 
sie.  wenn  ein  so  hohes  Ziel  dabei  erreicht  wird,  billigen.  Wann  der  Arzt 
unter  diesen  Umständen  das  Recht  zur  Täuschung  hat.  hängt  von  dem 
Nutzen  ab,  den  er  davon  erwartet.  Im  allgemeinen  kommt  man  auch  in  der 
ärztlichen  Praxis  mit  der  Wahrheit  oft  viel  weiter,  als  mit  einer  Täuschung, 
die  in  zahlreichen  Fällen  nur  einen  scheinbaren  Nutzen  gewährt,  indem  sie 
auf  kurze  Zeit  dem  Klienten  eine  angenehme  Situation  schallt,  um  ihn 
nachher  desto  herber  zu  enttäuschen.  Ganz  besonders  hat  der  Arzt  dann 
die  Pflicht,  die  Wahrheit  zu  sagen,  wenn  der  Klient  ihn  nicht  aufsucht, 
um  von  ihm  behandelt  zu  werden,  sondern  um  von  ihm  ein  Urteil  über 
seinen  Körperzustand  zu  erhalten.    Diese  private  Sachverständigenthätigkeit 


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Sit zun  gsbe richte. 


muss  ebenso  wahrhaft  sein,  wie  die  vor  Gericht  oder  vor  einer  anderen 
Behörde  geübte. 

Weit  wichtiger  als  die  direkten  Einwände  Regen  die  Psychotherapie 
ist  aber  der  Umstand,  dass  in  der  Medizin  der  Wert  der  Psychologie  noch 
so  sehr  unterschätzt  wird.  Schon  der  eine  Umstand,  dass  ans  die  Psycho- 
logie die  Einheit  des  Menschen  lehrt,  würde  sich  gegen  die  Auswüchse  des 
modernen  Spezialistentums  nutzbringend  verwerten  lassen.  Denn  wenn 
auch  der  Organspezialist  sehr  oft  an  dem  Organ  durch  seine  Behandlung 
eine  Besserung  herbeiführt,  so  wird  doch  dabei  in  vielen  Fallen  die 
gesamte  Persönlichkeit,  der  gesamte  Organismus,  und  besonders  die 
Psyche  geschädigt,  und  zwar  mitunter  schon  dadurch,  weil  damit  die 
Suggestion  krank  zu  sein  erzeugt  wird.  Auch  die  Hygiene  übersieht 
den  Wert  der  Psychologie  in  bedenklichem  Masse.  Überall  schnüffeln 
manche  Hygieniker  heute  nach  Gefahren.  Sie  schildern  sie  und  suchen 
Abhilfe  zu  schaffen,  vergessen  aber  dabei,  dass  die  Erzeugung  von  so  viel 
Ängstslichkeit  oft  genug  einen  unermessllchen  Schaden  für  den  Menschen 
bewirkt.  Fort  und  fort  in  der  Angst  vor  Bazillen  zu  leben,  macht  die 
Leute  seelisch  krank,  und  vielleicht  haben  die  Bakterien-Monomanen  in 
dieser  Beziehung  mehr  geschadet  als  genützt.  Auch  die  übertriebene  Furcht 
vor  der  erblichen  Belastung,  wie  wir  sie  heutzutage  finden,  zeigt  uns,  wie 
bedenklich  eine  Ignorierung  der  psychischen  Individualitat  des  Menschen 
ist.  Immer  mehr  wächst  die  Angst  der  Leute,  durch  eine  Heirat  zur  Er- 
zeugung degenerierter  Nachkommen  beizutragen.  Immer  mehr  glauben 
Eltern,  wenn  ihre  Kinder  etwas  nervös  sind,  durch  übertriebene  Aengstlich- 
keit,  insbesondere  auch  durch  Anschuldigungen  gegen  die  Schule,  durch 
Forderung  von  Vorrechten  für  die  Kinder  in  der  Schule,  Nutzen  zu  bringen. 
In  Wirklichkeit  untergraben  sie  damit  die  Widerstandsfähigkeit  des  Kindes, 
dem  sie  von  Jugend  auf  suggerieren,  dass  es  ein  schwächliches  Kind  sei, 
das  vor  allen  Gefahren  des  Lebens  behütet  werden  müsse,  anstatt  ihm 
möglichst  die  Überzeugung  einzuimpfen,  dass  es  seinen  eigenen  Willen 
kräftigen  müsse,  um  den  Unbilden  des  Lebens  widerstehen  zu  können. 

Diskussion: 

Herr  Th.  S.  Flatau:  Mit  den  Bestrebungen  des  Herrn  Vortragenden, 
die  ein  bisher  brachliegendes  Gebiet  kultivieren,  stimmt  es  gut  zusammen, 
daas  in  neuerer  Zeit  unter  den  Lehrgegenständen  für  das  praktische  Aus- 
bildungsjahr der  Ärzte  auch  die  ärztliche  Pflicht-  und  Sittenlehre  immer 
häufiger  genannt  wird.  Freilich  möchte  es  sich  empfehlen,  ihre  Lehren 
schon  den  Studierenden  in  mehr  einheitlicher  und  eindrucksvoller  Form 
mitzugeben,  als  es  unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  des  klinischen 
Unterrichtes  geschieht.  Im  Einzelnen  bittet  Herr  Flatau  den  Redner,  noch 
auf  die  Frage  der  allgemeinen  Narkose  in  leichteren  operativen  Fällen  ein- 
zugehen, sowie  die  Frage  des  Versuches  mit  neuen  Mitteln  und  Methoden 
auf  glaubwürdige  Berichte  und  ohne  eigene  Erfahrung  vom  ärztlich-ethischen 
Gesichtspunkte  zu  erläutern. 

HerrWilh.  Stern  bemerkt  folgendes:  Der  Herr  Vortragende  hat  in 
seinem  Vortrage  auch  das  von  mir  in  meinem  Werke  „Kritische  Grund- 


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Sitzungsbericht*. 


259 


legung  der  Ethik  als  positiver  Wissenschaft1*  als  allgemeines  Kennzeichen 
oder  Kriterium  der  sittlichen  Handlungen  hingestellte  grössere  oder  ge- 
ringere Opfer  erwähnt.  Er  ist  der  Meinung,  dass  dieses  Kriterium  der 
sittlichen  Handlungen  zwar  viel  für  sich  habe.  Es  lasse  einen  aber  bei  der 
praktischen  Anwendung  auf  die  ärztliche  Ethik  z.  B.  in  dem  Falle  im  Stich, 
in  welchem  ein  Arzt,  der  eine  grosse  Familie  zu  ernähren  hat,  vor  die 
Frage  gestellt  wird,  ob  er  die  Pflicht  habe,  das  Opfer  zu  bringen,  unbe- 
mittelte Kranke  unentgeltlich  zu  behandeln.  Die  Antwort  lautet,  dass  es 
sich  hier,  wie  sehr  oft  auf  dem  Gebiete  der  Pflichtenlehre  und  wie  auch 
in  anderen  Fallen  der  Herr  Vortragende  selber  hervorgehoben  hat,  um  eine 
Kollision  der  Pflichten  oder  einen  Pflichtenstreit  handelt,  der  eine  richtige 
Abwägung  nötig  macht.  Darum  hat  sich  auch  Aristoteles  verleiten  lassen, 
als  das  Wesentliche  bei  der  Bestimmung  des  näheren  Wesens  der  sittlichen 
Tugend  die  Mitte  zwischen  zwei  Extremen  zu  bezeichnen,  was  aber  nicht 
richtig  ist.  Also  eine  Abwägung  je  nach  Stand,  Alter,  Geschlecht  und 
anderen  Verhältnissen  wird  im  einzelnen  praktischen  Falle  den  Ausschlag 
geben  müssen,  ob  ein  Opfer  zu  bringen  ist  oder  nicht,  d.  h.,  ob  die  Hand- 
lung vom  sittlichen  Standpunkte  aus  geboten,  demnach  Pflicht  ist,  oder  nicht. 

Herr  Moll:  Was  die  Ausfuhrungen  des  Herrn  Stern  betrifft,  so 
befindet  sich  ja  dieser  vollkommen  mit  mir  im  Einklang.  Die  Frage  des 
Herrn  Flatau  möchte  ich  dahin  beantworten,  dass  ich  dem  Arzt  nicht 
das  Recht  gebe,  ein  lebensgefährliches  Mittel  gegen  eine  nicht  lebens- 
gefährliche Krankheit  anzuwenden,  wenn  er  nicht  hierzu  durch  den  Pati- 
enten legitimiert  ist.  Dies  gilt  besonders  für  die  Chloroformnarkose.  Dem 
Patienten  wird  man  das  Recht  geben  müssen,  zur  Erreichung  eines  hohen 
Zieles  sich  einer  geringen  Lebensgefahr  zu  unterwerfen,  da  dies  ihm  im 
Leben  bei  zahlreichen  anderen  Gelegenheiten  gestattet  wird.  Schliesslich 
ist  jede  Eisenbahn-  oder  Dampfschiffahrt  mit  einer  gewissen  Lebensgefahr 
verknüpft;  nur  zwingen  die  praktischen  Verhaltnisse  mitunter  dazu.  Und 
diesen  Grundsatz  werden  wir  auch  in  der  ärztlichen  Praxis  anwenden  müssen. 
Was  die  Anwendung  neuer  Heilmittel  betrifft,  so  ist  diese  nur  dann  statt- 
haft, wenn  hinreichende  Untersuchungen,  besonders  an  Tieren  oder  an 
Menschen,  die  sich  dazu  freiwillig  bereit  erklärt  haben,  vorausgegangen  sind. 

Sckluss  der  Sitzung:  9  Uhr. 


Berichte  und  Besprechungen. 


Theodor  Benda,  Dr.  med.  Die  Schwachbegabten  auf  den 
höheren  Schulen.  Nach  einem  Vortrag,  gehalten  im 
Berliner  Verein  für  Schulgesundheitspflege.  Sonder-Ab- 
druck  aus  „Gesunde  Jugend",  II.  Jahrgang,  1./2.  Heft. 
Leipzig  und  Berlin,  Druck  und  Verlag  von  B.  G.  Teubner. 
1902.    0.60  Mk. 


Berichte  und  Besprechungen. 


Der  Vortragende  beleuchtet  vom  medizinischen  Standpunkt  die  An- 
forderungen, welche  die  heutigen'  Lehrpläne  an  unsere  Schüler  stellen,  und 
findet,  da>8  sie  auf  die  Fähigkeiten  der  Mehrzahl  von  ihnen  nicht  genügend 
Rücksicht  nehmen.  Denn  trotz  Nachhilfeunterricht,  trotz  Anwendung  anderer 
Zwangsmittel  verlassen  40%  die  Schule,  ohne  die  Berechtigung  zum  ein- 
jährigen Dienst  erlangt  zu  haben.  Nur  den  Hoch-  und  Vielseitigbegabten 
ist  es  vergönnt,  das  Ziel  in  der  vorgeschriebenen  Zeit  zu  erreichen.  Doch 
auch  bei  ihnen  werden  die  Anstrengungen  der  Schulzeit  schädlich  auf  die 
Gesundheit  einwirken.  Sind  doch  gerade  unsere  besten  Schüler  sehr  häufig 
von  schwacher  Konstitution,  erblich  belastet  und  nervös  veranlagt.  Ist  es 
doch  eine  merkwürdige  Thatsache,  dass  die  Musterschüler  vielfach  im 
späteren  Leben  den  Erwartungen,  die  man  an  sie  geknüptt  hat,  nicht  ent- 
sprechen. Sie  erheben  sich  nicht  über  das  Niveau  des  Mittelmassigen  oder 
werden  von  schwerer  Nervenschwäche  heimgesucht,  die  es  ihnen  unmöglich 
macht,  irgend  welche  Position  zu  erlangen.  Am  wenigsten  gefährdet  wird 
die  Gesundheit  der  Schüler,  die,  wohl  begabt,  nicht  Lust  zum  Arbeiten 
haben,  sich  aber  auf  ihre  Begabung  und  Geistesgegenwart,  verlassen  und 
sich  sozusagen  durch  die  Schule  „hindurchschwindeln*. 

Zu  weit  mehr  Bedenken  dagegen  geben  in  gesundheitlicher  Beziehung 
die  Mehrzahl  der  Schwachbegabten  Anlass.  Benda  teilt  sie  in  2  Kategorien: 
die  in  pathologischem  Sinne  Schwachbegabten,  d.  h.  die  Schwachsinnigen, 
und  die  nnr  verhältnismässig,  d.  h.  nur  für  die  Anforderungen  der  Schule 
zu  schwach  Begabten.  Zu  den  letzteren  gehört  der  Dnrchschnittsschttler, 
ferner  der  ganz  individuell  Veranlagte,  der  wohl  in  der  Schule  infolge 
Widerstreit  zwischen  seinen  Anlagen  und  den  Anforderungen  minderwertige 
Leistungen  aufweist,  ohne  dass  man  ihn  als  absolut  minderwertig  bezeichnen 
könnte.  Eine  andere  Kategorie  sind  die  Schüler,  die  in  einem  Fache 
glänzende  Fähigkeiten  zeigen,  in  einem  andern  Fache  dagegen  wenig  leisten« 
Dann  findet  man  Schüler,  die  hochbegabt  sind,  doch  auf  der  Schule  nicht 
gut  fortkommen,  weil  die  Eigenart  ihres  Geistes  sich  dem  mechanischen 
St  hulbetrieb  nicht  anzupassen  vermag,  z.  B.  Bismarck.  Bei  anderen  tritt 
die  geistige  Entwickelung  erst  verspätet  ein,  nimmt  dann  aber  einen  un- 
geahnten Aufschwung.  Man  denke  nur  an  Pestalozzi,  Alexander  v.  Humboldt 
und  Darwin.  Auch  körperliche  Unzulänglichkeiten  und  Fehler  der  Sinnes- 
organe sind  oft  die  Ursache  zu  schlechten  Leistungen. 

Die  wirklich  Schwachbegabten  setzen  sich  aus  Schwachsinnigen  höheren 
Grades  —  sie  werden  schon  in  der  Vorschule  ausgemerzt  — ,  aus  Schwach- 
sinnigen leichteren  und  leichtesten  Grades  und  aus  den  sogenannten  psycho- 
pathischen Minderwertigkeiten  zusammen.  Unter  den  letzteren  findet  man 
vielfach  glänzend  begabte  Schüler,  dann  solche,  die  sich  durch  leichte  Er- 
müdbarkeit, Sprnnghaftigkeit  des  Denkens,  Unfähigkeit,  die  Aufmerksamkeit 
zu  konzentrieren  und  verringerte  Willensenergie  auszeichnen;  bei  anderen 
zeigt  sich  eine  Schwäche  auf  moralischem  Gebiet;  das  sind  die  Wider- 
spenstigen, die  bösartig  Faulen. 

Am  besten  erkennt  man  die  Wichtigkeit  der  Unterschiede  in  den 
natürlichen  Anlagen  der  Schüler,  wenn  man  sich  klar  macht,  welch  eine 


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Berichte  und  Besprechungen. 


261 


Ueberlast  von  Arbeit  diese  Ungeeigneten  zu  überwältigen  haben.  Neben 
einem  5— 7 ständigen  Unterricht  in  den  höheren  Klassen  haben  sie  noch 
3 — 4  Stunden  auf  die  häuslichen  Aufgaben  zu  verwenden.  Dazu  kommt 
bei  vielen  der  Nachhilf  Unterricht,  ferner  häufig  fakultative  Stunden,  Musik- 
unterricht u.  s.  w.  Solche  enorme  Inanspruchnahme  des  jugendlichen  Ge- 
hirns kann  nicht  spurlos  an  den  Schülern  vorübergehen.  Grosse  Beachtung 
verdient  auch  die  seelische  Beteiligung  des  Schülers.  Die  fortwahrenden 
Misserfolge,  die  Kränkungen  des  Ehrgefühls,  die  trübe  häusliche  Atmo- 
sphäre, vor  allem  das  niederdrückende  Gefühl  der  eigenen  Unzulänglichkeit 
müssen  nachteilig  auf  ein  empfängliches  Kindergemüt  wirken. 

Was  kann  zur  Abhilfe  dieser  Uebelstände  geschehen?  Vom  hygienischen 
Standpunkt  fordert  Benda  vor  allem:  Energische  Herabsetzung  der  Lehr- 
ziele. Um  sie  durchzuführen,  schlägt  er  grössere  Spezialisierung  der  An- 
stalten und  Verringerung  des  Gedächtniskrames  vor.  Vielleicht  könnte  die 
allgemeine  Bildung  mit  der  Untersekunda  abschliessen  und  die  oberen 
Klassen  in  eine  Zwischenstufe  zwischen  Schule  und  Universität  verwandelt 
werden.  Die  Unterrichtsgegenstände  wären  wahlfrei;  es  brauchten  nur  die 
betrieben  zu  werden,  die  für  den  späteren  Beruf  vorbereiten.  Hier  sollten 
die  jungen  Leute  auch  die  Grundbegriffe  der  Pädagogik,  Volkswirtschafts- 
lehre, Gesundheitslehre  und  Gesetzeskunde  kennen  lernen.  Doch  eine  solche 
Entlastung,  so  giebt  Benda  selbst  zu,  ist  in  der  nächsten  Zeit  nicht  zu  er- 
warten. Sie  ist  auch  sicherlich  schwer  durchzuführen,  will  man  nicht  die 
pädagogischen  Forderungen  schädigen.  Im  Gegenteil,  die  Ansprüche  werden 
sich  immer  vermehren.  Denn  eine  Verfeinerung  der  Lehrmethode  stellt  er- 
höhte Anforderungen  an  die  Aufmerksamkeit  der  Schüler,  die  Wissensgebiete 
erweitern  sich,  und  mit  ihnen  auch  das  Material  zu  den  Schulrächern. 

Leichter  dagegen  ist  eine  Herabsetzung  der  Schülerzahl  durchzuführen, 
wodurch  auch  eine  Verminderung  der  Stundenzahl  erzielt  wird.  Ferner 
empfiehlt  Benda  die  Einführung  von  Neben-  und  Hilfsklassen,  die  den 
Einzelunterricht  ersetzen  sollten,  der  sonst  nur  den  Bemittelten  zugänglich 
ist.  Mit  allem  Nachdrucke  verlangt  er,  dass,  wer  in  diesen  Nebenklassen 
als  für  die  wissenschaftliche  Bildung  unfähig  befunden  wird,  im  eigensten 
Interesse  von  der  höheren  Schule  ausgeschlossen  werden  sollte. 

Berlin.  W.  Krause. 


Zu  dem  gleichen  Thema  schreibt  uns  unser  Mitarbeiter,  Herr  Direktor 
Dr.  Karl  Löschhorn: 

Der  Berliner  Nervenarzt  Dr.  Benda  hat  vor  kurzem  im  Berliner  Verein 
für  Schulgesundheitspflege  einen  hochinteressanten  Vortrag  über  die  schwach- 
begabten  Schüler  unserer  höheren  Lehranstalten  gehalten  und  denselben 
auch  im  Druck  erscheinen  lassen.  Verfasser  hat  darin  gezeigt,  dass  der 
Durchschnittsschüler  den  in  den  neuen  Lehrplänen  gestellten  Anforderungen 
zu  genügen  durchaus  nicht  imstande  ist,  am  allerwenigsten,  wenn  daneben, 
wie  es  thatsächlich  oft  der  Fall  ist,  seine  häuslichen  Verhältnisse  ungünstig 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  5 


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Berichte  und  Besprechungen. 


sind.  Ueberhaupt  empfiehlt  es  sich  dringend,  auch  in  Zukunft  das  hie  und 
da  schon  angeschnittene  Thema  über  den  jedesmaligen  Einfluss  der  Häus- 
lichkeit auf  die  Leistungen  und  die  Gesamtentwicklung  der  Schüler  immer 
noch  gründlicher  zu  untersuchen  und  diese  Untersuchungen  auch  einmal 
auf  die  Feststellung  des  Einflusses  der  Lebensweise  der  Studierenden  auf 
den  Erfolg  ihres  Studiums  auszudehnen,  sowie  das  vorgeschriebene,  praktisch, 
keineswegs  mehr  zu  empfehlende  frühe  Schlafengehen  und  frühe  Aufstehen, 
der  Alumnen  in  den  alten  Fürsten-,  Kloster-  und  Domschulen,  welches 
notorisch  eine  grosse  Schläfrigkeit  in  den  Nachmittagsstunden  bei  den 
Schülern  erregt  und  sie,  da  ihr  ganzes  Anstaltsleben  nach  der  Uhr  geregelt 
ist,  zur  Hast  und  Ueberanspannung  ihres  Gehirns  antreibt,  mitzuberück- 
ßichtigen.  Namentlich  dürfte  das  Aufstehen  aller  Alumnen,  sogar  der 
Tertianer,  um  5  Uhr  früh,  selbst  im  Winter,  und  die  obligate  Arbeitsstunde 
aller  dieser  Schüler  von  6—7  Uhr  vor  Beginn  des  Vormittagsunterrichts 
sich  als  wenig  zeitgemäss  mehr  erweisen,  natürlich  auch  das  Schlafengehen, 
aller  Alumnen,  selbst  zwanzigjähriger  Primaner,  um  */4  9  Uhr  nach  Art  der 
Hühner.  Dasselbe  findet  erstens  viel  zu  früh  nach  dem  Abendessen  statt 
und  entzieht  den  beteiligten  Schülern  auch  die  zur  Sammlung  und  Privat- 
lektüre so  notwendige  freie  Zeit.  Dazu  kommt,  dass  sie  noch  am  Abend 
von  den  Anstrengungen  des  Tages  meist  so  aufgeregt  sind,  dass  sie  erst 
mehrere  Stunden  später  wirklich  einschlafen  und  bereits  wieder  aufstehen, 
müssen,  wenn  sie  sich  noch  im  besten  Schlafe  befinden.  Welcher  ehemalige 
Alumnus  erinnert  sich  nicht  noch  gern  des  Sonntages,  des  sogenannten 
„Ausschlai'etages",  an  dem  man  eine  Stunde  länger  als  sonst  ausruhen  durfte! 

Auf  der  anderen  Seite  steht  fest,  dass  es  sehr  viele  Schüler  höherer 
Lehranstalten  giebt,  welche  unter  den  drückendsten  Verhältnissen  leben,  ja 
sich  oft  genug  kaum  genügend  ernähren  können.  Sie  müssen  ferner  nicht 
selten  in  dem  einen  Raum,  welcher  während  des  ganzen  Tages  allen, 
Familienmitgliedern  zum  alleinigen  Aufenthaltsorte  dient,  ihre  Schularbeiten 
machen,  bei  deren  Anfertigung  sie  vielfach  durch  den  Lärm  jüngerer,  oft 
noch  ihrer  Beaufsichtigung  mitunterstellter  Geschwister  gestört  werden. 
Viele  solcher  Schüler  müssen  ausserdem  noch  sehr  zahlreiche  Privatstunden 
erteilen  und  mit  dem  pekuniären  Ertrage  derselben  ihre  Angehörigen  unter- 
stützen, ja  mit  ernähren  helfen;  sie  müssen  die  Privatschüler  aufsuchen, 
dabei  nicht  selten  verschiedene,  ganz  entfernte  Stadtteile  durchlaufen,  wor- 
unter ihr  Körper  stark  leiden  kann.  Es  stellen  sich  bei  solchen  fortwährend 
abgehetzten  Schülern  schon  früh  häufig  genug  asthmatische  Beklemmungen 
ein,  die  ihnen  das  Sprechen  und  mittelbar  dadurch  ihr  ganzes  weiteres  Fort- 
kommen erschweren,  denn  „der  Vortrag  macht  des  Redners  Glück",  d.  h. 
besonders  des  Theologen,  aber  auch  unter  gewissen  Umständen  des  Juristen 
und  des  höheren  Lehrers.  Erwägt  man  nun,  wieviel  Zeit  einem  solchen, 
beständig  in  Aufregung  befindlichen  Schüler  zu  einer  rationellen  Anfertigung 
seiner  Schularbeiten,  die  die  grösste  geistige  Sammlung  verlangt,  bleibt  — 
wahrlich,  man  wird  sich  oft  über  schnell  hingeworfene  Arbeiten  und  mangel- 
hafte Fortschritte  solcher  armen  Schüler  nicht  wundern  können.  Dabei 
wollen  wir  noch  garnicbt  einmal  in  Betracht  ziehen,  dass  solche  bedauerns- 
werten jungen  Leute  gar  keine  Müsse  oder  Gelegenheit  finden  können,  sich 


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Strickte  und  Besprechungen. 


263 


auch,  nur  die  einfachsten  Regeln  der  für  das  weitere  Fortkommen  so  not- 
wendigen gesellschaftlichen  Bildung  anzueignen.   Wenn  sie  auch  durch  un- 
weigerliche Pflichterfüllung  selbst  unter  äusserst  erschwerenden  Umständen 
ihren  Charakter  stählen,  was  allerdings  nicht  hoch  genug  angeschlagen 
werden  kann,  so  tritt  doch  bei  jedem  Menschen  und  besonders  bei  einem  in 
der  körperlichen  und  geistigen  Entwicklung  begriffenen  Schüler  einmal  ein 
Augenblick  ein,  wo  die  Natur  ihr  Recht  verlangt  und  gebieterisch  aueruft: 
„Bis  hierher  und  nicht  weiter!'*  Solche  armen  Schüler  lernen  auch  zu  früh 
den  sozialen  Gegensatz  der  Stunde  kennen,  was  nur  zu  ihrem  Nachteil 
dienen  kann.   Denken  wir  uns  nun  daneben  den  Sohn  reicher  Eltern,  die 
ihm  nicht  den  geringsten  Wunsch  versagen;  er  speist  täglich  an  wohl- 
besetzter Tafel,  hat.  ein  eigenes  Arbeitszimmer,  alle  erlaubten  und  uner- 
laubten Hülfsmittel  zum  Lernen  und  Anfertigen  häuslicher  schriftlicher 
Arbeiten,  alle  gewünschten  unterhaltenden  Bücher  werden  ihm  angeschafft: 
er  wird  möglichst  früh  in  alle  Gesellschaften  mitgenommen,  besucht  Konzerte 
und  Theater  nach  Herzenslust,  macht  sich  über  seine  armen  Mitschüler 
lustig,  die  er  mit  den  Bedienten  seines  elterlichen  Hauses  vergleicht  — 
welch'  ein  Unterschied !   Beide  Arten  von  Schülern  sollen  den  Anforderungen 
der  Schule  gentigen  und  doch  —  was  müsste  man  alles  bedenken,  um 
schwächere  Leistungen  beider,  wenn  eie  plötzlich  einmal  bemerkbar  werden 
sollten,  psychologisch  zu  erklären! 

Wollstein  (Posen).  Karl  Löschhorn. 


Paul  Joh.  Müller,  Moderne  Schulbänke.  Vortrag,  gehalten  auf 
der  Versammlung  der  Polytechnischen  Gesellschaft  zu 
Berlin.  Sonderabdruck  aus  dem  „Polytechnischen  Central- 
blatt."  1902.  Berlin-Tempelhof,  Schulhaus-Verlag.  0,60  Mk 
Der  Vortrag  giebt  einen  Ueberblick  über  die  Forderungen,  die  man  im 
Interesse  der  Hygiene  an  eine  gute  Schulbank  stellen  mnss,  und  Uber  die 
Versuche,  die  schwierige  Aufgabe  praktisch  zu  lösen.  Zwei  Postulate  muss 
jede  hygienisch  zweckmässige ^itzeinrichtung  erfüllen:  sie  muss  sicher  und 
bequem  Bein.  Sicher  wird  man  sitzen,  wenn  der  Schwerpunkt  des  Körpers 
genügend  unterstützt  ist;  bequem,  wenn  der  Ermüdungszustand  möglichst 
weit  hinausgeschoben  wird.  Kurz  und  treffend  erörtert  der  Vortragende 
die  Punkte,  wann  diesen  beiden  Forderungen  genügt  ist.  Eine  grosse  An- 
zahl von  Schulbankkonstruktionen  ist  gemacht  worden:  Kloppsitze,  Pendel- 
sitze, Schiebesitze  und  Drehsitze,  ferner  das  Schiebepult  und  das  Klapppult; 
doch  bal  ?n  sie  sich  nicht  bewährt,  und  man  ist  wieder  zur  festen  Schulbank 
zurückgekehrt,  und  zwar  zur  zweisitzigen,  die  allein  bei  Anwendung  des  Fuss- 
brette« und  des  an  den  Aussenseiten  verkürzten  Sitzbrettes  dem  Schüler 
die  Möglichkeit  giebt,  beim  Aufstehen  seitlich  in  den  Zwischengang  zu 
treten.  Die  Minus-  oder  PlusdiiFerenz  spielt  nach  dem  Vortragenden  nicht 
die  Rolle,  die  man  ihr  gewöhnlich  zuerkennt.  Er  bespricht  dann  die  Be- 
ziehungen zwischen  Schulbankanordnung  und  Ventilation  und  geht  kurz 

5* 


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Berichte  und  Besprechungen. 


auf  die  interessanten  Untersuchungen  von  Suck  ein,  aus  denen  sich  ergiebt, 
dass  sich  auf  den  Mittelplätzen  mehrsitziger  Bänke  die  Kohlensäure  stärker 
anhäuft  als  an  den  Ecken.  Berücksichtigung  verdient  auch  die  Tempe- 
rierung der  Schulstnbe.  Es  ist  bekannt,  dass  der  Fussboden  eine  niedrigere 
Temperatur  aufweist  als  die  Zimmerluft,  sodass  der  Schüler  im  Widerspruch 
zu  der  Regel  sitzt:  Kopf  kalt,  Füsse  warm.  Diesen  Uebelstand  beseitigt 
das  bereits  erwähnte  Fussbrett.  .Eine  der  wichtigsten  Fragen  der  Schul- 
hygiene ist  die  Beseitigung  des  Staubes.  Um  eine  gründliche  Säuberung 
des  Klassenzimmers  zu  erzielen,  empfiehlt  der  Vortragende  Bänke,  die  ent- 
weder zum  Hin-  und  Herschieben  frei  auf  den  Boden  gestellt  oder  seitlich 
umgelegt  werden  können. 

Zum  Schluss  seien  noch  die  trefflichen  Abbildungen  erwähnt,  die  das 
Verständnis  für  die  interessanten  Ausführungen  erleichtern. 

Berlin.  W.  Krause. 


Türkheim,  Dr.  J.    Zur  Psychologie  des  Willens.  Stahel'sche 
Verlags.anstalt  in  Würzburg.    181  S.    2,40  M. 

In  seinem  Buche  „Zur  Psychologie  des  Willens"  versucht  der  Verf. 
eine  selbständige  Lösung  dieses  wichtigen,  aber  auch  äusserst  schwierigen 
Problems  der  Psychologie.  Im  Anschluss  an  eine  Zusammenstellung  der 
Definitionen  des  Begriffes  .Willen",  die  einige  neuere  Forscher  gegeben 
haben,  weist  er  zunächst  nach,  dass  mehrere  dieser  Definitionen  ganz  un- 
zutreffend, alle  aber  nicht  erschöpfend  sind,  dass  sie  sämtlich  den  Begriff 
des  Willens  zu  eng  fassen,  da  sie  nur  diejenige  Form  des  Willens  berück- 
sichtigen, die  man  „Absicht",  „Vorsatz",  „Entschluas"  nennt.  Dieses  sind 
jedoch  nur  Unterarten,  Varietäten  eines  allgemeinen  Willens.  Es  ist  ein 
Unterschied  zwischen  Willen  im  weiteren  und  im  engeren  Sinne  zu  machen. 
Der  Entschluss  ist  die  höchste  uns  bekannte  Unterart  des  allgemeinen 
Wollens.  Nur  mit  Hilfe  des  Wissens,  dieser  ausschliesslich  dem  Menschen 
zukommenden,  wunderbaren  Fähigkeit,  ist  es  möglich,  dass  sich  das  all- 
gemeinere Wollen  in  einen  Entschluss  verwandele.  „Wollen  im  engeren 
Sinne,  sich  entschliessen,  sich  vornehmen,  beabsichtigen,  heisst:  „sich  als 
Ursache  eines  zukünftigen,  einstweilen  nur  vorgestellten  Geschehens  oder 
Unterlassens  wissen".  Die  vom  Verf.  gegebene  Definition  des  Wollens  im 
weiteren  Sinne  lautet:  „Wille  ist  derjenige  Zustand  der  Seele,  der  jedem 
psychischen  Geschehen  notwendig  voraufgehen  muss."  Der  zu  Entschluss 
und  Handlung  führende  Seelenznstand  wird  „Motiv"  oder  „Beweggrund" 
genannt.  Wir  thun  nichts  ohne  einen  solchen  Beweggrund  und  vermögen 
alle  unsere  Handlungen  zu  motivieren,  d.  h.  den  Seelenzustand  anzugeben, 
der  uns  zu  ihrer  Ausführung  veranlasste.  Jedes  Motiv  führt  notwendig 
zu  einer  Handlung  oder  zur  Unterlassung  einer  solchen.  Der 
psychische  Zustand,  der  unserm  Willen  voraufgeht,  der  ihn  bedingt 
und  ihm  seinen  Inhalt  giebt,  heisst  Gefühl.  Ohne  ein  bestimmtes 
Gefühl  ist  der  Wille  zu  einer  bestimmten  Handlung  nicht  denkbar.  Sobald 


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He  rieh  te  u  n  d  lies  f>  ret  hun  Pen 


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aber  die  Handlung  vollendet  ist,  verschwindet  das  Gefühl,  es  hört  auf  zu 
sein  und  zu  wirken.  Von  diesem  Standpunkt  aus  betrachtet,  erscheint  der 
Mensch  als  das  Werkzeug  seiner  Gefühle;  seine  Handlungen  sind  ihm  nicht 
Selbstzweck,  sondern  erfolgen  nur,  weil  er  Bich  eines  treibenden,  drängenden 
Gefühls  entä assern  will.  So  oft  wir  wollen,  so  oft  wir  zu  einer  bestimmten 
Handlung  entschlossen  sind,  immer  können  wir  mit  Sicherheit  ein  Gefühl 
in  uns  bezeichnen,  das  unsern  Bewegungsapparat  gerade  nach  der  einen 
bestimmten  Richtung  hin  in  Thätigkeit  versetzt.  Wir  kennen  nun  zwei 
Arten  von  Gefühlen,  die  Lust-  und  die  Unlust-Gefühle.  Als  Lust  bezeichnen 
wir  denjenigen  Zustand,  dem  wir  unserer  Natur  nach  zustreben,  den  wir 
festzuhalten  suchen;  dagegen  ist  Unlust  derjenige  Seelenzustand ,  den  los- 
zuwerden, zu  ertöten  wir  stets  bestrebt  sind.  Da  nun  aber  jedes  Gefühl, 
sofern  es  Motiv  wird,  den  Menschen  zwingt,  sich  seiner  zu  entledigen,  so 
ergiebt  sich  mit  Notwendigkeit,  dass  diejenigen  Seelenzustände  oder  Motive, 
die  eine  Willkürhandlung  auszulösen  erforderlich  oder  im  Stande  sind, 
sämtlich  aus  der  Reihe  der  Unlustgefühle  stammen.  Ein  Lustgefühl  kann 
seiner  innersten  Natur  nach  niemals  sich  in  Handlung  umsetzen ;  denn  indem 
wir  handeln,  würden  wir  es  vernichten,  und  wenn  wir  es  nicht  mit  aller 
Kraft  und  gegen  alle  Widerstände  festzuhalten  suchten,  so  wäre  es  eben 
kein  Lustgefühl.  Die  allgemeinste  Bezeichnung  aller  unangenehmen,  lästigen 
Gefühle  ist  das  Wort  „Schmerz"  oder  „Schmerzgefühl".  Indem  der  Verf. 
den  Begriff  „Schmerz"  verallgemeinert,  versteht  er  darunter  jeden  psychischen 
oder  Gemütszustand,  den  wir  los  sein  möchten.  Im  weiteren  zeigt  er  an 
Beispielen  die  Identität  des  Motivs  mit  dem  Schmerzgefühl.  Die  physio- 
logischen Bedürfnisse  der  Nahrungsaufnahme  und  der  Ausscheidungen  sind 
uns  als  Schmerzen  bewusst,  Hunger  und  Durst  thun  weh,  die  niederen 
Körperfunktionen  vermögen  wir  nur  unter  den  heftigsten  Schmerzen  zu 
unterdrücken.  Aber  auch  alle  höheren  sittlichen  und  unsittlichen  Regungen, 
wie  z.  B.  das  Pflichtgefühl,  der  Ehrgeiz,  der  Wissonstrieb,  die  Neugierde 
u.  s.  w.  müssen  als  schmerzliche  Regungen  der  Seele  bezeichnet  werden. 
Man  vergegenwärtige  sich  nur,  wie  irgend  eine  übernommene  Verpflichtung 
einen  gewissenhaften  Menschen  quält,  wie  sie  ihm  alle  Ruhe  raubt  und 
ihn  von  jeder  anderen  Beschäftigung  abzieht,  wie  unbehaglich  ihn  schon 
der  Gedanke  stimmt,  dass  ein  dazwischen  tretendes  Ereignis  ihn  an  der 
Erfüllung  hindern  könnte;  man  beachte,  dass  der  Ehrgeizige  den  Drang  nach 
öffentlicher  Anerkennung  und  Auszeichnung  als  etwas  unendlich  Quälendes 
empfindet,  das  mit  Gewalt  zur  Befriedigung  treibt,  und  man  wird  diese 
Zustände  unbedenklich  in  die  Reihe  der  Unlustgefühle  einordnen.  —  Psycho- 
logisch sind  alle  Gefühle,  sofern  wir  uns  ihrer  entledigen  wollen,  gleichwertig; 
ihnen  allen  ist  etwas  Spannendes,  Quälendes,  Krampfartiges  eigen.  Sie  sind 
alle  nur  Schattierungen  und  Abstufungen  der  einen  grossen  Grundempfindung 
Unlust  oder  Schmerz. 

Das  Vorhandensein  eines  bestimmten  Seelen  Vermögens,  Wille  genannt, 
gilt  den  älteren  Psychologen  und  den  Laien  als  voUbegrtindete  Thatsache. 
Nach  der  üblichen  Annahme  verläuft  der  psychische  und  psychomotorische 
Vorgang  beim  Zustandekommen  einer  Handlung  in  der  Reihenfolge:  Motiv, 
Wille,  Bewegung.    Der  Verf.  bemüht  sich  dagegen,  im  Einverständnis  mit 


266 


Berichte  und  Besprechungen. 


der  modernen  Psychologie  nachzuweisen,  dass  es  einen  Willen  in  dem  früher 
angenommenen  Sinne  als  besondere  Seelenkraft,  einen  einheitlichen,  ab- 
strakten Willen  oder  ein  Willensvermögen  gar  nicht  giebt,  sondern  dass 
nur  einzelne  zusammenhangslose,  sich  gegenseitig  fördernde  oder  hemmende 
Willensregungen  vorhanden  sind.  In  den  folgenden  Paragraphen  führt  T, 
die  physiologischen,  psychologischen  und  logischen  Bedenken  an,  die  gegen 
die  Dreizahl  Gefühl,  Wille,  Handlung  sprechen  und  zeigt,  dass  das  Wesen 
des  Willens  bei  den  drei  uns  bekannten  Formen  des  Handelns,  den  Reflex-, 
Trieb-  und  Entschlußs-Handlungen  stets  dasselbe  ist,  nämlich  Unlust  oder 
Schmerz,  und  dass  nur  die  Beteiligung  des  Intellekts  eine  immer  umfang- 
reichere wird.  Die  höchste  menschliche  Leistung  und  die  einfachste 
automatische  Bewegung  des  niedrigsten  Tieres  6ind  ihrem  Wesen  nach  ganz 
gleichartig;  denn  beides  sind  Willenshandlungen.  Beide  sind  durch  den 
nämlichen  seelischen  Vorgang,  durch  ein  Gefühl,  einen  Schmerz,  einen  Willen, 
veranlasst.  — 

Auf  den  Zusammenhang  zwischen  Schmerz  und  Willen  haben  auch 
schon  andere  Forscher  —  Schopenhauer,  M.  v.  Frey  —  aufmerksam  gemacht. 
Während  nach  T.  alle  Motive  zu  den  Schmerzgefühlen  zu  zählen  sind,  und 
jedes  Schmerzgefühl  seiner  Natur  nach  Motiv  werden  kann,  kommt  der 
Psychologe  Rehmke  zu  dem  entgegengesetzten  Ergebnis.  Da  die  Wundtsche 
Auffassung  des  Willens  wesentlich  von  der  vom  Verf.  vertretenen  abweicht, 
hält  sich  T.  für  verpflichtet,  seine  Ansicht  Wundt  gegenüber  in  einem 
besonderen  Abschnitte  am  Schlüsse  des  ersten  Teils  seines  Buches  zu  ver- 
teidigen. 

Die  Ausführungen  im  zweiten  Teil  seiner  Arbeit  hat  der  Verf.  „Wille 
und  Seele"  überschrieben.  Er  handelt  hier  eingehend  von  den  Gefühlen 
im  allgemeinen,  ihrem  Sitz  und  Ursprung,  ihren  Beziehungen  zum  übrigen 
Bewusstseins-Inhalt,  ihrer  Einteilung  und  ihren  unterscheidenden  Merk- 
malen, vom  Kampf  der  Gefühle  und  der  Willensfreiheit.  Er  kommt  zu 
dem  Schluss,  dass  jede  einzelne  Wollung,  jedes  einzelne  Schmerzgefühl, 
jedes  einzelne  Motiv  —  drei  Namen  für  einen  und  denselben  Begriff  —  mit 
dem  gesamten  Intellekt  und  dem  gesamten  motorischen  Apparat  in  un- 
mittelbarem Zusammenhang  steht  und  wiederum  durch  die  entsprechenden 
intellektuellen  Vorgänge  zur  Wirksamkeit  gebracht  werden  kann,  dass  somit 
jedes  Gefühl  Vorstellungsreihen  wie  auch  Bewegungsreihen,  d.  h.  Handlungen 
auszulösen  vermag.  Weiter  folgert  er,  dass  ein  solcher  unmittelbarer 
Zusammenhang  der  Gefühle  unter  einander  nicht  nachweisbar  ist  und  eine 
Gemütserregung  erst  immer  vermittelst  Einleitung  geistiger  Vorgänge  ein 
zweites  Gefühl  ins  Bewusstsein  zu  heben  vermag.  In  dem  Kampf  der 
Gefühle  entscheidet  nur  die  Stärke.  Das  stärkere  Gefühl  wird  stets  zuerst 
Motiv  und  setzt  sich  in  Handlung  um.  Der  uralten  Frage,  ob  der  Wille 
frei  oder  unfrei  ist,  giebt  der  Verf.  die  genauere  Fassung:  Können  wir 
wollen  oder  müssen  wir  wollen?  und  beantwortet  sie  in  dem  letzteren 
Sinne,  indem  er  die  Willensfreiheit  unbedingt  verneint. 

Weitere  Abschnitte  haben  den  Charakter,  seine  Herkunft,  seine  Be- 
ziehung zum  Lebenslauf  zum  Gegenstand.  Entscheidend  für  die  Anwesenheit 
bestimmter  Charakterzüge  oder  Eigenschaften  ist  vor  allen  Dingen  das 


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Berichte  und  Besprechungen. 


267 


Vorhandensein  oder  Fehlen  entsprechender  Gefühle  von  genügender  Stärke. 
Die  Kenntnis  der  Zahl,  der  Art  nnd  der  Stärke  der  am  Anfbau  eines  indi- 
viduell bestimmten  Charakters  beteiligten  Gefühle  genügt  aber  noch  nicht 
zum  Verständnis  des  fertigen  Charakters,  da  dieser  Eigenschaften  aufweist, 
die  nicht  durch  primäre  Gefühlsregungen  bedingt  werden.  Dagegen  lässt 
sich  jeder  gegebene  Charakter  einigermassen  in  seine  Bestandteile  zerlegen, 
wenn  man  annimmt,  dass  das  physiologische  Verhalten  der  Gefühle  nicht 
in  allen  Seelen  dasselbe  ist,  wobei  unter  Physiologie  der  Gefühle  ihre  ver- 
schiedenartige Reaktion  den  sie  treffenden  Reizen  gegenüber  zu  verstehen 
ist.  Die  Thatsache,  dass  es  dem  Erzieher  unmöglich  ist,  den  jugendlichen 
(Charakter  umformend  zu  beeinflussen,  dass  die  Erziehung  ausser  Stande 
ist,  vorhandene  Gefühle  und  Eigenschaften  auszurotten  und  fehlende  ein- 
zuimpfen, nötigt  zu  der  Annahme,  dass  der  Charakter  nicht  anerzogen,  sondern 
angeboren  ist.  „Der  Mensch  bringt,  wie  das  Tier,  seinen  Charakter  in  der 
Anlage  mit  auf  die  Welt;  im  Säugling  sind  schon  alle  Keime  vorgebildet, 
die  in  ihrer  Ausbildung  den  Mann  dereinst  fördern  und  schädigen,  zieren 
und  verunstalten  werden.  Das  Leben  liefert  nur  die  äussern  Reize,  auf 
die  jede  Seele  in  ihrer  Weise  antwortet;  es  schafft  keine  Charaktere,  sondern 
entfaltet  und  entwickelt  sie  nur."  Da  aber  der  Charakter  des  Kindes  nichts 
Abgeschlossenes,  Fertiges  ist,  so  ist  der  Einflnss  der  Erziehung  auf  seiue 
Ausgestaltung  doch  nicht  ganz  zu  leugnen.  Mit  dem  wachsenden  Organismus 
entwickelt  auch  er  sich.  Ganze  Gruppen  von  Gefühlen,  das  Mitleid,  der 
Erwerbs-  und  der  Geschlechtstrieb,  das  Ehrgefühl  und  viele  andere  reiten 
erst  allmählich  aus  und  verdrängen  andere  Regungen.  Das  Gesetz  der 
Vererbung  gilt  auch  für  alle  seelischen  und  geistigen  Eigenschaften.  Was 
ein  Kind  an  körperlichen,  geistigen  und  Charakter-Eigenschaften  besitzt, 
sein  Leben  und  sein  Wesen  dankt  es  den  Eltern.  Auch  der  Verbrecher 
wird  als  solcher  geboren.  Er  selber  ist  ganz  unschuldig  an  seinem  Charakter. 
Die  Eigenschaften,  die  er  einmal  besitzt,  kann  er  nicht  ausrotten  und  die 
fehlenden  vermag  keine  Erziehung  bei  ihm  zu  entwickeln. 

Mit  dem  Begriff  der  Glückseligkeit,  die  zu  dem  Willen  in  einem  Ab- 
hängigkeitsveshältnis  steht,  beschäftigt  sich  ein  letzter  Abschnitt.  Der 
Verf.  definiert  die  Glückseligkeit  als  den  Zustand  der  Lust  und  versteht 
unter  Lust  den  Übergang  vom  Schmerz  des  Wollens  zur  Ruhe  des  Nicht- 
mehr- Wollen?. 

Berlin.  Wilhelm  Eichler. 


Nikolas  Murray  Butler,  Religionsunterricht  in  der  Erziehung. 
Vortrag.   Educational  Review,  Dez.  1899,  New-York. 

Der  Verfasser  sucht  hier  die  Aufgaben  zu  erörtern,  die  dem  Religions- 
unterrichte in  einem  Staate  erwachsen,  wo  er  nicht  als  Lehrgegenstand  in 
den  Schulen  betrieben  wird.  Religiöse  Erziehung,  so  beginnt  er,  ist  ein 
Teil  der  Erziehung  überhaupt.  Wahre  Erziehung  aber  ist  ein  einheitliches 
Ganzes,  das  keine  chemische  Analyse  in  Elemente  duldet.   Man  dürfte  also 


268 


Berichte  und  Besprechungen. 


eigentlich  nicht  von  religiöser  Erziehung,  ebensowenig  wie  von  geistiger 
oder  körperlicher  Erziehung,  wohl  aber  von  religiösem  Unterricht,  geistigem 
und  körperlichem  Unterricht  reden.  Erziehung  ist  nun  die  Anpassung  einer 
Person,  eines  selbstbewussten  Wesens,  an  die  Umgebung  und  die  Entwicklung 
der  Fähigkeit  in  einer  Person,  diese  Umgebung  zu  modifizieren  und  zu 
kontrollieren.  Das  erstere  ist  das  konservative,  rückblickende,  das  andere 
das  fortschrittliche,  in  die  Zukunft  schauende  Element.  Der  Wert  der 
Vergangenheit  liegt  in  ihren  Lehren  für  die  Zukunft  Was  uns  nichts  lehrt, 
wird  bald  vergessen.  Das  Ueberleben  eines  Glaubens,  einer  Einrichtung  ist 
Beweis,  dass  sie  mindestens  wert  sind,  studiert  und  beachtet  zu  werden, 
jedoch  nur  zu  dem  Zwecke,  ihre  lebendigen  Grundsätze  herauszufinden  und 
zu  würdigen. 

Was  versteht  man  nun  unter  der  gegenwärtigen  Umgebung  eines 
Menschen?  Erstens  die  physikalische  Umgebung,  und  zweitens  die  un- 
geheure Summe  von  Kenntnissen  und  ihre  Ergebnisse  in  Gewohnheit  und 
Sitte,  die  man  Zivilisation  nennt.  Das  zweite  Element  ist  das  hauptsächliche 
Element  der  Erziehung  und  umfasst  fünf  Gebiete.  Eines  Mannes  Zivilisation 
besteht  aus  seiner  Wissenschaft,  Litteratur,  Kunst,  seinem  Staatsleben  und 
seinem  religiösen  Glauben.  Die  Erziehung  ist  nur  dann  eine  solche  zu 
nennen,  wenn  sie  sich  wirklich  auf  alle  fünf  Zweige  erstreckt.  Dem 
Religionsunterrichte  gebührt  also  genau  so  viel  Berücksichtigung  und  Pflege 
wie  den  vier  andern  Elementen  der  Zivilisation.  Dennoch  nimmt  er  bei 
weitem  nicht  die  Stelle  ein,  die  ihm  zukommt.  Den  Grund  für  das  Zurück- 
treten des  Religionsunterrichtes  hinter  dem  weltlichen  findet  der  Verfasser 
zunächst  in  dem  Umsichgreifen  des  Protestautismus,  welches  bewirkte,  das» 
die  andern  Zweige  der  Erziehung,  die  im  Mittelalter  nur  im  Dienste  der 
Religion  gestanden  hatten,  selbständiger  und  gründlicher  betrieben  wurden. 
Die  Demokratie  und  ihre  Ueberzeugung,  dass  die  Leitung  des  Erziehungs- 
wesens Sache  des  Staates  sei.  trug  nun  dazu  bei,  den  Religionsunterricht 
von  der  Schule  zu  trennen.  Man  empfand  es  als  unbillig,  dass  ein  einzelner 
Glaube  von  den  vielen  durch  Sektenbildungen  entstandenen  das  Vorrecht 
vor  den  andern  haben  sollte,  und  verlangte  daher,  den  Religionsunterricht 
dem  Staate  zu  nehmen  und  den  einzelnen  Konfessionen  und  Sekten  zu  über- 
lassen. Das  geschah  in  Frankreich  und  den  Vereinigten  Staaten.  Die 
dortigen  Schulen  sind  weder  religiös,  noch  antireligiös,  sondern  rein  neutral. 

Wie  gestaltet  sich  nun  in  solchen  Ländern  mit  rein  weltlicher  Schule 
der  Religionsunterricht?  Um  die  Möglichkeit  zu  geben,  die  Lücke,  die  sie 
lässt,  auszufüllen,  sah  sich  die  Schule  genötigt,  einen  Tag  der  Woche  ausser 
Sonntag  freizugeben.  Die  Aufgabe,  von  der  so  gebotenen  Gelegenheit  den 
richtigen  Gebrauch  zu  machen,  fällt  nun  erstens  der  Familie,  und  zweitens 
der  Kirche  zu.  Mit  Recht  erwartet  der  Verfasser  von  der  Thätigkeit  der 
Familie  in  dieser  Beziehung  nicht  allzuviel.  Die  Hauptlast  hat  also  die 
Kirche  zu  tragen;  und  als  bestes  Mittel  zur  Erreichung  des  Zieles  empfiehlt 
der  Verfasser  die  Einrichtung  von  Sonntagsschulen.  An  diese  sind  aber 
ebenso  hohe  Anforderungen  zu  stellen,  wie  an  die  weltlichen  Schulen.  Ins- 
besondere müssen  die  Lehrer  gut  vorgebildet  sein,  ein  volles  Verständnis 
für  die  Entwicklung  und  die  Fähigkeiten  des  Kindes  haben.    Eine  Folge 


Berichte  und  Besprechungen. 


269 


davon  ißt,  dass  sie  auch  bezahlt  werden  müssen.  In  Bezug  auf  das,  was 
sie  lehren,  ist  zu  verlangen,  dass  sie  es  vor  allem  als.  einen  Teil  der  Er- 
ziehung, als  eine  Ergänzung  und  nicht  einen  Gegensatz  zu  dem  in  der  Schule 
Gebotenen  betrachten.  Man  muss  über  die  Bibel  und  den  Katechismus 
hinausgehen  und  Geschichte,  Erdkunde,  Lebensbeschreibungen,  Litteratur 
und  Kunst  heranziehen,  um  zu  zeigen,  dass  der  Geist  alles  Leben  durch- 
dringt und  alles  Leben  vom  Geiste  ist.  Das  Mass,  in  welchem  man  das 
thut,  muss  natürlich  von  dem  Alter  und  dem  Verständnis  der  Schüler  ab- 
hängig sein.  Die  Aufgabe  ist  also  nicht  Beligion  und  Erziehung,  sondern 
Religion  in  der  Erziehung.  Diese  Aufgabe  soll  aber  mit  allem  Nachdruck 
und  Ernst  ergriffen  werden.  Es  darf  nicht  scheinen,  als  wäre  der  Religions- 
unterricht etwas,  was  man  nur  nebenher  mit  abthnt,  denn  dann  wird  die 
folgende  Generation  noch  weniger  Gewicht  darauf  legen,  und  schliesslich 
wird  er  ganz  verkümmern.  Es  ist  aber  notwendig,  dass  man  etwas  von 
Religion,  insbesondere  vom  Christentum  weiss,  ebenso  notwendig  wie  dass 
man  Christ  ist.  Die  Unkenntnis  der  Bibel  muss  aufhören.  Es  ist  heute 
soweit  gekommen,  dass  ein  Durchschnittsschüler  das  erste  Kapitel  von 
Miltons  verlorenem  Paradiese  als  ein  grosses  Rätsel  betrachtet.  Und  gerade 
in  dieser  Beziehung  könnte  ein  guter  Religionsunterricht,  der  dahin  wirkt, 
dass  man  die  Bibel  wieder  als  lebendige  Litteratur  und  nicht  als  Ansammlung 
von  Texten  ansehen  lernt,  viel  erreichen.  Die  Kenntnis  der  Religion  ist 
das  vornehmste  Mittel  zur  Erweckung  und  Läuterung  der  religiösen  Ge- 
fühle, und  religiöse  Gefühle  sind  ein  wichtiges  Mittel  zur  Charakterbildung. 


La  Psychologie  dans  ses  rapports  avec  la  Medecine.  Par  le  Dr. 
Ed.  Claparede.  Privat  -  Docent  a  l'Universite  de  Geneve. 
Extrait  de  la  „Revue  m^dicale  de  la  Suisse  romande  Nr.  10. 
October  1901. 

Die  Erörterung  eines  solchen  Themas  bedarf  keiner  Rechtfertigung. 
Die  Psychologie  ist  so  nahe  der  Medizin  verwandt,  dass  ein  Psychologe 
ebenso  sehr  ein  Anrecht  darauf  hat,  in  einer  Vereinigung  von  Medizinern 
das  Wort  zu  ergreifen,  wie  ein  Physiologe.  Schon  Aristoteles  hat  sie  neben 
den  Naturwissenschaften  gepflegt;  in  Descartes'  Abhandlungen  über  den 
„Menschen"  und  die  „Leidenschaften"  rindet  sich  ebensoviel  Psychologie 
wie  Physiologie.  Wo  immer  die  erstere  sich  auf  eine  exakte  Wissenschaft 
gestützt  hat,  hat  sie  sich  mit  einem  der  Zweige  der  Medizin,  Physiologie, 
Neurologie,  Anatomie  oder  Psychiatrie  berührt.  Mit  Recht  nannte  daher 
der  deutsche  Philosoph  und  Mediziner  Lotze  seine  1852  erschienene,  keines- 
wegs überwiegend  medizinische  Abhandlung:  „Medizinische  Psychologie". 
Auch  Wundt,  Helmholtz,  Charcot  haben  die  grosse  Bedeutung  der  Psycho- 
logie für  die  Physiologie  und  Klinik  wohl  zu  würdigen  gewusst. 

Dennoch  hat  sich,  abgesehen  von  einigen  rühmlichen  Ausnahmen,  die 
grosse  Mehrheit  der  Mediziner  der  Psychologie  fern  gehalten;  zum  Teil 
aus  Unkenntnis  der  Gegenstände  und  Aufgaben  dieser  Wissenschaft,  zum 


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270 


Berichte  und  Besprechungen. 


Teil,  weil  man  nicht  wusste,  wo  man  diese  den  Körper  beeinflussende 
Seele  fassen  sollte.  Mit  der  Bezeichnung  »Metaphysik"  oder  „abstrakte 
Wissenschaft"  wurde  sie  höflich  abgethan.  So  behauptet  z.  B.  Mirallie\ 
dftss  die  Psychologie,  als  Verstandes  Wissenschaft,  sich  auf  der  Medizin  auf- 
bauen lasse,  nicht  aber  umgekehrt  die  Medizin  aus  psychologischen 
Deduktionen,  sondern  nur  aus  Thatsachen  ihre  Lehren  entnehmen  dürfe. 

Demgegenüber  ist  zu  bemerken,  dass  der  Ausdruck  Wissenschaft 
sowohl  Beobachtung  als  auch  verstandesmassige  Ueberlegung  enthält.  Man 
darf  das  erstere  nicht  für  die  Medizin  allein  beanspruchen  und  der  Psycho- 
logie abstreiten:  „Auch  die  Psychologie  ist  eine  Erfahrungswissenschaft, 
die  geistigen,  inneren  Thatsachen  sind  nicht  minder  wirkliche  Thatsachen 
als  die  Erscheinungen  der  Aussenwelt;  die  Psychologie  ist  das  Verfahren, 
aus  den  Bewusstseinsthatsachen,  durch  Vergleich  mit  den  Angaben  der 
Gehirnphysiologie,  Nutzen  zu  ziehen." 

Die  beiden  ersten  Punkte  bedürfen  keines  Beweises:  Die  Sinnes- 
wahrnehmungen  und  -bilder,  die  Willensäusserungen,  kurz  alles  Psychische 
sind  Gegenstände  der  Wahrnehmung:  sie  werden  unmittelbar  erfahren 
und  nicht  abgeleitet,  und  haben  grössere  Gewissheit  als  die  Gegenstände 
der  Aussen  weit. 

Seit  den  ältesten  Zeiten  hat  man  eine  gewisse  Beziehung  der  Gehirn- 
thätigkeit  zu  den  Gedanken  bemerkt.  Wie  war  aber  die  Wechselwirkung 
zweier  solchen  Gegensätze  wie  Körper  und  Seele  zu  erklären?  Die  Kluft 
zwischen  dem  Psychisch-subjektiven  und  dem  Physisch-objektiven  ist  eine 
der  klaflendsten,  die  wir  kennen,  obwohl  es  eines  Descartes  bedurft  hat, 
um  sie  zu  erkennen.  An  einigen  treffenden  Beispielen  weist  der  Verf. 
nach,  wie  die  subjektiven  Thatsachen  durchaus  wesensverschieden  von  den 
objektiven  Thatsachen  sind:  „Während  diese  alle  als  im  Räume  gelegen, 
als  eine  Summe  von  Bewegungen  gefasst  werden  können,  sind  die  Be- 
wusstseinserscheinungen  nicht  auf  Bewe^ng  zurückftihrbar,  haben  keine 
Grösse  und  sind  nirgends  gelegen."  Die  Lehre  vom  psycho-physischen 
Parallelismus  ist,  wie  der  Verf.  ausführt,  am  besten  geeignet  das  Verhältnis 
der  körperlichen  und  geistigen  Vorgänge  zu  veranschaulichen. 

Der  Verf.  weist  sodann  den  gewöhnlich  erhobenen  Vorwurf  zurück, 
dass  die  Psychologie  ihre  Fortschritte  nur  der  Physiologie,  Klinik  und 
Anatomo-Pathologie  verdanke.  Was  diese  Wissenschaften  ihr  bieten  können, 
hat  die  Psychologie  längst  überholt,  und  eben  deswegen  müssen  die 
Physiologen  und  Mediziner,  wenn  sie  die  den  Bewusstseinsvorgängen  ent- 
sprechenden Veränderungen  am  Körper  erforschen  wollen,  die  Psychologie 
zu  Hilfe  nehmen,  die  allein  ihnen  einen  Ueberblick  gewährt  über  das,  was 
im  Gehirne  vorgeht.  Bei  einer  bildlichen  Darstellung  der  beiden  Er- 
scheinungsreihen der  Seele  und  des  Körpers  durch  2  Parallele  müsste  also 
die  die  Gehirn  Vorgänge  veranschaulichende  Linie  weit  mehr  Lücken  auf- 
weisen, als  die  für  die  Bewusstseinsthatsachen. 

Der  Grund  dafür  ist  darin  zu  suchen,  dass  die  Bewusstseinsvorgänge 
unmittelbar  gegeben  sind,  während  die  Beobachtung  der  Gehirnthätigkeit 
auf  ungeheure  Schwierigkeiten  stösst.  Daher  ist  auch  die  Bezeichnung 
eines  physischen  Vorgangs  durch  den  entsprechenden  Ausdruck  der  p6ycho- 


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ttefichte  und  Besprechungen. 


271 


logischen  Sprache  im  Allgemeinen  der  direkten  Bezeichnung  vorzuziehen. 
Am  Beispiele  der  Agraphie  und  der  Uber  sie  aufgestellten  Lehren  wird 
dies  überzeugend  dargethan. 

Die  Grunde,  weswegen  die  Mediziner  sich  mit  der  Psychologie  ver- 
traut machen  sollten,  kann  man  unter  zwei  Gesichtspunkten  zusammen- 
fassen: 1.  weil  die  Psychologie  ihnen  positive  Dienste  leisten  kann,  2.  weil 
sie  der  Psychologie  positive  Dienste  leisten  können. 

E6  versteht  sich  von  selbst,  dass  die  Psychologie  neben  der  Psychiatrie, 
der  Behandlung  der  Hysterie,  der  Neurasthenie  und  aller  diesen  neuen 
Krankheiten,  die  man  heutzutage  beschreibt,  einhergehen  mnss.  Indem  6ie 
diese  bestimmen  und  behandeln,  treiben  die  Aerzte  Psychologie,  wissentlich 
oder  ohne  es  zu  wissen. 

Die  Erforschung  der  Störungen  des  Sinnesverni^gens  schliesst  eine 
psychologische  Prüfung  ein;  sie  kann  nur  dann  wirklich  fruchtbar  sein, 
wenn  man  berücksichtigt,  dass  die  Sinneseindriicke  nicht  allein  von  der 
äusseren  Sinneserregung  abhängen,  sondern  dass  eine  rein  centrale  Reaktion 
Bie  abändern,  falschen  kann.    Das  ist  der  Fall  bei  den  Sinnestäuschungen. 

Münsterberg  hat  diese  Einwirkung  der  Gedanken  auf  die  Sinnes- 
wahrnehmung gezeigt.  Er  zeigte  während  einer  sehr  kurzen  Zeit  ein  auf 
eine  Karte  geschriebenes  Wort  und  rief  zu  gleicher  Zeit  ein  anderes  Wort 
aus.  Es  zeigte  sich,  dass  der  Sinn  des  zweiten  auf  die  Wahrnehmung  des 
ersten  von  Einfluss  war.  So  wurde  aus  Tumult  neben  Eisenbahn  „Tunnel", 
Furcht  neben  Obst  zu  Frucht  .  .  . 

Aehnliche  Irrtümer  können  sich  bei  Beobachtung  der  Tastempfindungen 
zeigen,  je  nach  der  Aufmerksamkeit,  die  die  Kranken  dem  Gefühlten 
zuwenden. 

Viele  Wahrnehmungen,  die  wir  für  einfach  halten,  schliessen 
Assoziationen  und  eine  gewisse  Gehirnarbeit  ein,  wie  die  Wahrnehmung 
des  Kaumsinns  und  die  Unterscheidung  der  beiden  SSpitzen  des  AesthesJo- 
metere,  die  Wahrnehmung  der  Lage  der  Glieder,  der  Richtung  der  Be- 
wegungen der  Glieder,  der  Gestalt  der  Objekte.  Dagegen  scheint  die 
Wahrnehmung  der  Bewegung  der  Glieder  einer  reinen  Empfindung  zu 
entsprechen.  Der  Mechanismus  der  Wahrnehmung  des  Gewichtes  und  des 
Widerstandes  iBt  noch  sehr  dunkel.  Experimentelle  Psychologie  und  Klinik 
können,  auf  verschiedenen  Wegen  und  wo  nötig  mit  gegenseitiger  Unter- 
stützung, diesen  Problemen  auf  den  Grund  gehen. 

Die  Psychologie  giebt  auch  Fingerzeige  zur  Behandlung  gewisser 
Krankheiten.  Selbstverständlich,  wenn  man  von  der  Einwirkung  des 
Moralischen  auf  das  Physische  spricht,  so  handelt  es  sich  nicht,  wie  manche 
den  Anschein  erwecken,  um  eine  Einwirkung  der  Seele  auf  den  Körper; 
sondern,  gemäss  dem  Parallelismus,  darf  man  sich  den  seelischen  Vorgang 
als  im  körperlichen  verdoppelt  vorstellen.  Die  verschiedenen  Suggestionen, 
die  man  den  Kranken  mitteilt,  haben  selbst  eine  physikalisch-chemische 
Analogie  im  Gehirn,  und  diese  letztere  ist  es,  welche  auf  die  verschiedenen 
Reflex-  oder  andern  Centren  der  Körperthätigkeit  einwirkt. 

Verschiedene  Psychologen  haben  versucht,  die  physiologischen  Begleit- 
erscheinungen   der   Bewegungen    festzustellen:    Gefäss-,    Herzens-  und 


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272 


Berichte  und  Besprechungen. 


Atmungaveränderungen.  Man  darf  also  hoflen,  dass  man  wirklich  auf  den 
Bewegungszustand  eines  Individuums  durch  Medicamente  Einfluss  aus- 
üben kann. 

Ihrerseits  kann  die  Medizin  der  Psychologie  Dienste  leisten.  Die 
Pathologie  muss  das  Experiment  ergänzen.  Sehr  viele  Kapitel  der  normalen 
Psychologie  waren  anfangs  nur  Psychologie  des  Krankhaften,  wie  die 
Lehren  vom  Gedächtnis,  dem  Willen,  von  der  Persönlichkeit. 

Hier  drängt  sich  die  Frage  auf:  Welchen  Zweck  hat  es,  die  Psycho- 
logie zu  fördern? 

Man  muss  hierbei  auf  die  Dienste  eingehen,  die  sie  leisten  wird,  wenn 
sie  weiter  vorgeschritten  ist.  Wenn  die  Medizin  den  kranken  Menschen 
zum  Gegenstande  hat,  so  ist  die  Psychologie  das  Studium  des  normalen, 
lebendigen,  thätägen  Individuums.  Je  mehr  der  Mensch  sich  selbst  kennt, 
desto  mehr  werden  seine  Handlungen  den  Zwecken  angepasst  sein,  seine 
Leiden  vermindert  und  die  Aussicht  auf  Glück  um  soviel  erhöht  werden. 
Die  Gesellschaft  strebt,  wie  alle  lebenden  Organismen,  danach,  sich  zu  ver- 
vollkommnen. Es  ist  klar,  dass  die  Schnelligkeit  dieser  Entwicklung  in 
direktem  Verhältnis  steht  nicht  nur  zur  psychologischen  Erziehung  des 
Individuums,  sondern  auch  zur  besseren  Kenntnis  der  Gesetze,  die  die 
Handlungen  des  Einzelnen,  der  Menge,  der  Oeffentlichkeit  beherrschen. 
Hieraus  ersieht  man  den  Nutzen  der  Psychologie  für  die  Soziologie.  Das- 
selbe gilt  von  der  Politik. 

Die  Kriminalogie  kann  kaum  ohne  Psychologie  auskommen.  Unsere 
Rechts-  und  Strafeinrichtungen  stecken  noch  in  den  Kinderschuhen,  da  sie 
nur  das  Verbrechen  in  abstracto  berücksichtigen  und  nicht  auf  eine  psycho- 
logische Untersuchung,  die  doch  allein  einen  Massstab  giebt,  eingehen. 

Mehr  als  alle  andern  vorerwähnten  Wissenschaften  erfordert  aber  die 
Pädagogik  die  Unterstützung  der  Psychophysiologie.  Leider  wird  das, 
besonders  von  den  Aerzten,  immer  noch  zu  wenig  beachtet. 

Zunächst  liefert  die  Psychologie  Untersuchungsmethoden  für  das 
grosse  Problem  der  Ueberbttrdung,  der  Uebung  und  der  Buhe.  Gewiss  ist 
die  Ueberbttrdung  zunächst  eine  Frage  der  Physiologie;  aber,  in  Anbetracht 
der  Unmöglichkeit,  die  Nervenmasse  direkt  zu  untersuchen,  muss  man  ein 
ferner  liegendes  Mittel  suchen,  um  uns  über  ihren  Zustand  aufzuklären. 
Da  die  Ermüdung  auf  Prozesse,  die  uns  nur  von  ihrer  Bewusstseinsseite 
her  bekannt  werden  können,  einwirkt,  so  müssen  die  Erkennungszeichen 
ihrer  Störungen  der  inneren  Erfahrung  entnommen  werUen.  Insofern  sind 
die  Untersuchungen  über  den  Tastsinn,  die  Ideenassoziation  und  alle  die 
auf  Wertschätzung  der  geistigen  Arbeit  gegründeten  psychologische  Unter- 
suchungen. Durch  zahlreiche  Ermüdungsmessungen  kann  man  ermitteln, 
welche  Lehrstunden  am  meisten  ermüden,  in  welche  Tageszeit  man  sie 
also  legen  muss,  welches  die  ideale  Dauer  der  Buhezeit  ist,  lang  genug 
zur  Erholung  und  kurz  genug,  um  nicht  die  schon  gewonnene  Uebung  zu 
vernichten  n.  s.  w. 

Einen  Schüler  vor  Ueberbürdung  zu  bewahren  ist  indessen  nicht  alles. 
Er  muss  vor  allen  Dingen  lernen;  und  das  Anhäufen  von  unerlässlichen 
Kenntnissen   wird    bei    dem   Fortschreiten    der    Wissenschaften  immer 


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Bericht*  und  Besprechungen. 


273 


schwieriger.  Man  muss  den  Schüler  in  die  günstigsten  Bedingungen  für 
seinen  Unterricht  bringen,  und  daher  das  Lehrverfahren  dem  Schüler  an- 
passen, d.  h.  verschiedene  Mittel  für  die  verschiedenen  Typen  haben.  Die 
Psychologie  hat  diese  verschiedenen  Typen  aufzustellen,  Typen  des  Ge- 
dächtnisses, der  Phantasie,  der  Aufmerksamkeit,  des  Urteilen»  u.  s.  w.,  die 
jeder  für  sich  eine  besondere  Pflege  erfordern.  Dies  ist  eine  langwierige 
und  schwierige,  aber  verheissungs  volle  Arbeit. 

Alle  diese  Reformen  sind  aber  nur  möglich,  wenn  die  grosse  Masse 
sich  ihres  körperlichen  und  sittlichen,  materiellen  und  geistigen  Wertes 
bewusst  wird.  Niemand  aber  als  der  praktische  Arzt  ist  besser  in  der 
Lage,  die  Alltagsgeister  über  die  nenen  gesunden  Gedanken  aufzuklaren. 
Da  vor  allem  moss  er  Psychologe  sein. 

Berlin.  Oehme. 


Hans  Cornelius,  Grundsatze  und  Lehraufgaben  für  den 
elementaren  Zeichenunterricht.  B.  G.  Teubner. 
1901.  —  40  S. 

C.  hat  die  an  unseren  Elementarschulen  übliche  Methode  des  Zeich- 
nens durch  den  Augenschein  kennen  gelernt,  indem  er,  einer  Einladung 
des  Münchener  Stadtschulrates  Kerschenstciner  folgend,  die  Zeichenklassen 
einiger  Elementarschulen  besichtigte.  Seine  Ausführungen  beziehen  sich 
ausschliesslich  auf  den  elementaren  Zeichenunterricht;  bezüglich  der  Be- 
handlung der  künstlerischen  Aufgaben  im  Schulunterrichte  begnügt  er  sich, 
einige  kurze  Bemerkungen  in  einem  Anhange  beizufügen. 

Während  die  herkömmliche  Methode  des  Zeichenunterrichts  auf  der 
Voraussetzung  beruht,  dass  das  Zeichnen  als  technische  Fertigkeit  der 
Hand  Selbstzweck  und  die  Ausbildung  der  Hand  Hauptziel  des  Unter- 
richts sei,  ist  C.  der  Ansicht,  dass  keine  künstlerische  Leistung  befriedi- 
gend ausfallen  und  keine  auf  Verständnis  seitens  des  Beschauers  rechnen 
könne,  wenn  nicht  bei  dem  schaffenden  Künstler  wie  bei  dem  Beschauer 
der  Gesichtssinn  in  erster  Linie  ausgebildet  ist.  Er  fordert  daher 
als  ersten  Zweck  des  elementaren  Zeichenunterrichts  die  Ausbildung  des- 
selben. C.  geht  auf  die  bisherigen  Reformbestrebungen  näher  ein.  Die  oft 
geforderte  Reform  des  elementaren  Zeichenunterrichts  nach  künstlerischen 
Prinzipien  hält  er  für  nicht  ausführbar  wegen  des  Mangels  an  Klarheit 
über  diese.  Auch  von  der  wissenschaftlichen  Aesthetik  erwartet  C.  keine 
zufriedenstellende  Auskunft  über  die  fraglichen  Grundsätze,  weil  man  ihr  in 
Rücksicht  auf  die  Irrwege,  die  sie  gewandelt  ist.  keinen  massgebenden 
Einfluss  einzuräumen  vermag.  Ucber  alle  speziellen  künstlerischen  Prin- 
zipien stellt  er  darum  die  eine  Forderung:    Erziehung  des  Auges. 

Zu  dieser  Ausbildung  hält  C.  eine  Kontrole  unserer  Gesichtsvorstcllun- 
gen  durch  den  Versuch  ihrer  Wiedergabe  in  sichtbarer  Form  —  also  durch 
Zeichnung  —  für  erforderlich,  und  diese  Kontrole  zu  üben,  ist  die  natür- 
liche Aufgabe  des  elementaren  Zeichenunterrichts. 

Unsere  Kenntnis  der  Welt  gründet  sich  durchgängig  auf  Wahrneh- 
mungen unserer   Sinne.     Wir  besitzen   eine   thatsachlichc    Kenntnis  der 


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274 


Berichte  und  Besprechungen. 


sichtbaren  Gegenstände  nur  soweit,  als  in  unserem  Gedächtnis  eine  be- 
stimmte Gesichtsvorstellung  des  Gesehenen  haftet.  Die  erwähnte  Kon- 
trole  muss  also  durch  das  Zeichnen  aus  dem  Gedächtnis  er- 
folgen, und  dieses  muss  nach  C.  unbedingt  mit  dem  bisher  allein  üblichen  di- 
rekten Nachzeichnen  vorgelegter  Modelle  kombiniert  werden;  denn  wie  im 
sprachlich  formulierten  Urteil  unser  begriffliches  Denken,  so  findet  in  der 
Gedächtniszeichnung  das  Vorstellen  gesehener  Formen  seinen  festen 
Ausdruck.  Andererseits  aber  hält  C.  das  Zeichnen  nach  der  Vorlage  zur  Er- 
lernung der  Auffassung  von  Grössen-  und  Lagen  Verhält- 
nissen in  der  Ebene,  sowie  für  die  Erziehung  der  Hand  für  unent- 
behrlich. 

Damit  nun  die  Hand  dem  Auge  zwangslos  gehorcht,  sodass  sie  das, 
was  jenes  erblickt,  wiederzugeben  imstande  ist.  muss  ihre  Erziehung  mit 
der  des  Auges  parallel  gehen,  und  dies  ist  der  dritte  Grundsatz  C.'s,  nach 
welchem  er  den  Zeichenunterricht  reformiert  sehen  will.  Damit  die  Hand 
dem  Auge  gehorchen  kann,  muss  sie  unbehindert  sein,  daher  empfiehlt  C 
als  erste  Uebung  Skizzen  in  grossem  Format  aus  dem  Schultergelenk  mit 
freibewegtem  Arm  nach  Vorlage  —  nicht  aus  dem  Gedächtnis  —  gezeichnet. 
Aus  seinen  Grundsätzen  leitet  C.  zwei  Lehraufgaben  ab. 

Die  erste  Aufgabe,  welche  für  die  Erziehung  des  Auges  zu  lösen  ist, 
muss  in  der  Orientierung  über  die  Grössen-  und  Lageverhältnisse  im 
flächenhaften  Sehfeld  bestehen.  Die  Auffassung  der  Verhältnisse  der 
flächenhaften  Erscheinung  ist  für  alle  weitere  Orientierung  über  die  sicht- 
bare Welt  die  unentbehrliche  Grundlage. 

Diese  ersten  Uebungen  sollen,  wie  C.  besonders  hervorhebt,  nur  an 
ebenen  Objekten  stattfinden,  d.  h.  an  solchen,  iür  deren  Betrachtung  keine 
Entfernungsunterschiede  in  der  Tiefenrichtung  (der  dritten  Dimension) 
in  Frage  kommen. 

Zur  Erklärung  seiner  zweiten  Aufgabe,  in  der  die  Einübung  der  Orien- 
tierung über  die  Verhältnisse  im  dreidimensionalen  Raum  gefordert  wird, 
stellt  C.  den  Satz  auf,  dass  wir  Gesichtsvorstellungen  von  der  Form  der 
Dinge  nur  soweit  besitzen,  als  wir  einerseits  charakteristische  Ansichten 
der  Dinge  kennen  und  andererseits  in  diesen  charakteristischen  Ansichten 
eben  diejenigen  Merkmale  aufgefasst  haben,  an  welchen  wir  uns  über  die 
räumliche  Form  der  Gegenstände  orientieren. 

C.  versteht  hierbei  unter  einer  „charakteristischen"  oder,  wie  er  an 
anderer  Stelle  sagt,  „sprechenden"  Ansicht  eines  Dinges  eine  solche,  aus  der 
wir  die  Form  des  Gegenstandes  jederzeit  wiederzuerkennen  vermögen.  Das 
Gegenteil  einer  solchen  Ansicht  nennt  C.  eine  „nichtssagende". 

Unsere  Ansichten  der  Gegenstände  bleiben,  wie  C.  ferner  ausführt, 
solange  nichtssagende,  d.  h.  unsere  Gesichtsvorstellungen  der  räumlichen 
Formen  solange  unvollkommen,  bis  wir  sie  durch  ein  besonders  auf  dieses 
Ziel  gerichtete  Thätigkeit  entwickelt  haben. 

C.  unterscheidet  hier  zwischen  einer  blossen  „begrifflichen  Kenntnis" 
einer  Form  und  der  „sichtbaren",  d.  h.  „einheitlichen  Gesichtsvorstellung": 
Es  würden  sich  also  einerseits  „rein  begriffliche  Kenntnis"  und  „nichts- 


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Berichte  und  Besprechungen. 


275 


sagende  Ansicht",  andererseits  „sichtbare  oder  einheitliche  Gesichtsvor- 
stellung" und  „charakteristische  oder  sprechende  Ansicht"  decken. 

Der  Schüler  hat  also  erstlich  die  charakteristischen  Ansichten  der 
Dinge  von  den  nichtssagenden  unterscheiden  zu  lernen  und  andererseits  sich 
über  jene  Merkmale  klar  zu  werden,  die  ihm  in  der  sichtbaren  Erscheinung 
die  Anweisung  auf  die  räumliche  Form  des  Gesehenen  geben.  Hieran 
schliesst  dann  C.  seine  Ausführungen  über  die  praktische  Verwirklichung 
seiner  genannten  Forderungen. 

Was  die  künstlerischen  Aufgaben  anbetrifft,  so  hat  C.  dieselben,  wie 
schon  erwähnt,  nur  kurz  in  einem  Anhange  behandelt,  da  dieselben  jenseits 
der  Grenzen  des  Elementarunterrichtes  fallen;  es  erübrigt  sich  daher  auch, 
hier  näher  darauf  einzugehen. 

Berlin.  Grün. 


Deutsche  Schule.  Monatsschritt.  Herausgegeben 
im  Auftrage  des  deutschen  Lehrer  Vereins  von  Ro- 
bert Rissmann.  —  Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 
Berlin  und  Leipzig. 

(Fortsetzung.) 
V.  Jahrgang  (1001.) 
Aus  dem  Inhaltsverzeichnis  des  V.  Bandes  möchten  wir  drei  recht  be- 
merkenswerte Arbeiten  hervorheben  und  auf  dieselben  im  Nachstehenden 
kurz  eingehen. 

In  dem  Aufsätze  „K  unst  und  Schule"  begrüsst  es  der  Direktor 
der  Kunstschule  in  Hamburg.  Professor  Dr.  A.  Lichtwark,  mit  Freude,  dass 
sich  vor  ca.  6  Jahren  dort  eine  Anzahl  von  Lehrern  zusammengethan  hat, 
um  eine  alte  Forderung  der  theoretischen  Pädagogik,  die  Bildung  des  ästheti- 
schen Sinnes,  in  der  Schule  praktisch  durchzuführen. 

Er  referiert  zunächst  über  die  Entwickelung  dieser  „Lehrervereinigung 
für  die  Pflege  der  künstlerischen  Bildung",  die  dank  bereitwilliger  Unter- 
stützung und  Mitarbeit  namhafter  Fachmänner  auf  dem  Gebiete  der  bildenden 
Kunst.  Musik  und  Dichtkunst,  sowie  dem  Entgegenkommen  der  Oberschul- 
behörde stolz  auf  ihre  derzeitigen  Erfolge  blicken  kann.  Die  Grundsätze, 
zu  denen  diese  neuen  Bestrebungen  geführt,  bilden  den  Rest  der  fesselnden 
Arbeit.     Einige  Gedanken  daraus  wollen  wir  hier  mitteilen: 

1)  Ueberall  ist  die  unmittelbare  Berührung  mit  den  Dingen  anzustreben. 
Das  Gedächtnis  darf  nicht  nur  als  ein  mechanisches  Werkzeug  zur 
Bewältigung  toten  Stoffes  ausgebildet  werden,  sondern  ist  vielmehr 
als  eine  lebendige  Kraft  im  Dienste  des  prüfenden  und  vergleichenden 
Verstandes  zu  erziehen.  Das  Ziel  des  Unterrichts  besteht  nicht  nur 
in  der  Mitteilung  des  Stoffes,  sondern  auch  in  der  Gewöhnung  an  eine 
zwingende  Methode  zu  beobachten  und  nachzudenken. 

2)  Die  Fähigkeit  zu  empfinden,  ist  an  einzelnen  Gegenständen  der 
Natur  fim  Naturgeschichtsunterricht  und  bei  Ausflügen)  und  an  ein- 
zelnen Kunstwerken  (Bildern,  Bauwerken.  Statuen.  Gedichten.  Mu- 
sikwerken) zu  üben. 


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Berichte  und  Besprechungen. 


3)  Auf  allen  Gebieten  ist  vor  allen  Dingen  Ausdrucksfähigkeit  anzu- 
streben. 

41  Es  muss  überall  und  beständig  nicht  von  der  Wissenschaft,  dem 
Stoff,  nicht  von  dem  Vorstellungskreis  des  Erwachsenen,  sondern 
von  der  Natur  des  Kindes  ausgegangen  werden. 

5)  Soweit  es  möglich  ist,  überall  mit  der  durch  die  nächste  Heimat  ge- 
gebenen Grundlage  zu  beginnen. 

6)  Engcrc  Beziehungen  zu  den  Eltern  und  den  ins  Leben  entlassenen 
Schülern  erscheinen  dringend  erstrebenswert,  damit  die  Schule  nicht 
als  ein  Fremdkörper  im  Leben  des  Einzelnen  und  der  Familie  steht 

7)  Auf  dem  festen  Untergrund  der  Liebe  zur  Heimat  und  ihres  wach- 
senden Verständnisses  ist  sodann  das  nationale  Wesen  zu  pflegen. 

8)  Alles,  was  gelernt  und  gelehrt  und  an  Kräften  erworben  wird,  muss 
durch  das  Gefühl  in  den  Dienst  der  höheren  Entwickelung  unseres 
Volkes  gestellt  werden. 

Mit  der  „Entstehung  und  den  Zielen  der  experimen- 
tellen Pädagogik"  beschäftigt  sich  Professor  E.  Meumann  in  einer 
längeren  Abhandlung  (vergl.  Heft  2 — 5).  Verfasser  stellt  sich  die  Auf- 
gabe, das  zusammenzustellen,  was  an  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Experi- 
mentalpädagogik  in  Zeitschriften,  Monographieen,  Programmen  und  Disser- 
tationen zerstreut  zu  finden  ist,  und  aus  ihnen  das  Programm  einer  Experi- 
mentalpädagogik  als  selbständiger  und  einheitlicher  Forschung  zu  entwickeln 
und  ihre  Stellung  zur  herkömmlichen  Pädagogik  zu  bezeichnen. 

Eine  „Zusammenstellung"  der  Litteratur,  wie  sie  M.  in  der  Einleitung 
zu  seinem  Aufsatze  verspricht,  vermissen  wir  leider;  wir  wären  zweifellos 
dem  Autor  sehr  dankbar  gewesen,  wenn  er  die  junge  Wissenschaft  mit  diesem 
Geschenk  überrascht  hätte.  Was  von  einschlägigen  Arbeiten  hier  und  dort 
erwähnt  wird,  ist  nur  ein  Bruchteil  des  Vorhandenen. 

Nach  Sichtung  des  ihm  zu  Gebote  stehenden  Materials  hat  es  der  Ver- 
fasser zweckmässig  erachtet,  dasselbe  in  folgenden  vier  Gruppen  zu  be- 
handeln: 

I.  Untersuchungen  zur  Technik  und  Hygiene  der  geistigen  Arbeit  des 
Schulkindes. 

II.  Untersuchungen  zur  pshycho-physischen  Charakteristik  des  Kindes 
im  Unterschiede  von  dem  physischen  und  geistigen  Habitus  des 
Erwachsenen. 

III.  Arbeiten,  die  in  Verfolgung  rein  psychologischer  Zwecke  zu  direkt 
pädagogisch  wertvollen  Resultaten  geführt  haben. 

IV.  Psychologisch -pädagogische  Versuche  einiger  Schulmänner  in  und 
m  i  t  der  Schularbeit  selbst. 

Jede  dieser  vier  Kategorien  bietet  gewisse  Grundprobleme,  die  als  das 
Skelett  einer  zukünftigen  Experimentalpädagogik  angesehen  werden. 
Die    Untersuchungen   der  ersten   Abteilung  beschäftigen  sich: 

1)  mit  dem  Problem  der  geistigen  Arbeit. 

2)  mit  dem  Problem  der  Ermüdung. 

Beide  werden  einer  längeren,  eingehenden  Betrachtung  unterzogen.  Unter 
1)  tauchen  zunächst  die  Fragen  auf:    „Was  ist  geistige  Arbeit?"  —  In  wel- 


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277 


ihem  Grade  sind  Psychologie,  Pädagogik  und  experimentelle  Pädagogik  be- 
fähigt, dieses  Problem  zu  lösen?  Das  Verfahren  der  letzteren  Disziplin,  das- 
in  einer  quantitativen  Bestimmung  der  geistigen  Arbeit  besteht,  verspricht 
den  grössten  Erfolg.  Wenn  von  anderer  Seite  ein  Mangel  darin  erblickt 
wird,  dass  die  bisherigen  Untersuchungen  nach  dieser  Richtung  nur  an  Er- 
wachsenen, zumeist  Studierenden  und  Dozenten,  im  Laboratorium  ausge- 
führt worden  sind,  und  nicht  an  Schulkindern,  huldigt  M.  der  Ansicht,  dass 
die  allgemeinen  Bedingungen  geistiger  Arbeit  nur  durch  das  Experiment 
an  Erwachsenen  zu  gewinnen  seien,  weil  wir  hier  allein  alle  Umstände 
beherrschen,  und  dass  sie  die  Norm  sein  müssen,  nach  welcher  auch  die 
kindliche  Arbeit  beurteilt  werde.  Freilich  billigt  er  auch  das  Verfahren, 
welches  auf  gleichzeitiger  Observation  von  Erwachsenen  und  Kindern  be- 
ruht. 

Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen,  wendet  sich  M.  dem  Heidel- 
berger Psychiater  Kraepelin  zu,  der  schon  seit  Jahren  sich  das  Problem  der 
geistigen  Arbeit  sehr  angelegen  sein  lässt  Er  bespricht  die  Vorzüge  der 
Kraepelinschen  Methode,  welche  bekanntlich  in  einer  Messung  von  Arbeit 
einfachster  Art,  wie  Addieren  von  einstelligen  Zahlen,  Lesen  von  Worten 
und  Sätzen  besteht.  An  der  Hand  solcher  Untersuchungen  lassen  sich,  wie 
Verf.  ausführt,  die  allgemeinen  Bedingungen  und  Folgezustände  geistiger 
Arbeit  ermitteln.  Auf  diese  Weise  können  beispielsweise  der  Uebungs- 
faktor,  der  allgemeine  Unterschied  in  der  geistigen  Arbeit,  die  Uebungsfestig- 
keit,  die  individuale  Empfänglichkeit,  die  Geschwindigkeit  der  Auffassung, 
die  Ablenkbarkeit  der  Aufmerksamkeit  durch  Störungen,  die  Gewöhnungs- 
fähigkeit, die  Ermüdbarkeit,  die  Erholungsfähigkeit  und  viele  andere  wichtige 
Dinge  festgestellt  werden.  Auch  führen  solche  Versuche  schliesslich  zur 
Lösung  des  Rätsels  der  menschlichen  Individualität. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Arbeiten  beschäftigt  sich  mit  dem  Problem 
der  Ermüdung.  Es  zu  ergründen,  ist  von  eminent  praktischer  Be- 
deutung; man  denke  nur  an  die  nachteiligen  Folgen,  die  durch  Ermüdung 
dem  geistigen  und  physischen  Leben  erwachsen  können.  Daher  ist  diese 
Seite  der  experimentellen  Pädagogik  besonders  gepflegt  worden.  Die  hierhin 
gehörigen  Untersuchungen  richten  sich  auf  eine  ganze  Reihe  von  Punkten. 
So  sucht  man  kennen  zu  lernen: 

II  den  Zustand  der  Ermüdung  nach  seiner  geistigen  und  körperlichen 
Seite, 

2)  die  Bedingungen  der  Ermüdung, 

3)  die  erholenden  Einflüsse, 

4)  die  Folgen  der  Ermüdung  für  den  Ausfall  der  geistigen  Arbeiten, 
51  die  spezifische  Ermüdbarkeit  des  Kindes  in  den  verschiedenen  Ent- 

wickelungsstadien. 

Die  Ermüdungsmessungen  wurden  entweder  mit  Benutzung  von  kör- 
perlicher oder  geistiger  Arbeit  ausgeführt. 

Bei  den  Untersuchungen  der  ersteren  Art  bediente  man  sich  des  Dynamo- 
meters oder  des  Ergographen.  Den  mit  Hilfe  des  Ergographen  gewonnenen 
Resultaten  steht  M.  sehr  skeptisch  gegenüber.  Er  empfiehlt  dagegen  die 
Veränderung  des  Blutdrucks,  des  Pulses  und  des  Atems  der  Versuchs- 
person zu  messen,  um  ein  zuverlässiges  und  sicheres  Kennzeichen 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  6 


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278 


Berichte  und  Besprechungen. 


für  geistige  Ermüdung  zu  haben.  Ob  Verfasser  bei  der  Verurteilung  des 
, .rohen  und  groben  Dinges"  alias  Ergograph  nicht  ein  wenig  zu  rigoros  und 
übereilt  gehandelt  hat  und  über  die  Zuverlässigkeit  der  von  ihm  empfohlenen 
Methode  zu  optimistisch  denkt,  soll  hier  nicht  weiter  erörtert  werden. 
Hinweisen  möchten  wir  nur  auf  die  Ausführungen  von  L.  Hirschlaff:  „Zur 
Methodik  und  Kritik  der  Ergographenmessungen*)". 

Auch  der  zweiten  Untersuchungsperiode,  die  bei  der  geistigen  Arbeit 
zur  Messung  der  Ermüdung  zur  Verwendung  kommt,  steht  M.  nicht  immer 
freundlich  gegenüber.  So  verwirft  er  die  Aesthesiometermessungen  und  er- 
klärt sie  für  ungeeignet,  weil  er  einerseits  nicht  zugesteht,  dass  die  Raum- 
schwelle des  Tastsinnns  besondere  Beziehung  zur  geistigen  Ermüdung  be- 
sitze, und  da  andererseits  die  Versuchsperson  bei  diesem  Verfahren  zu  häufig 
Selbsttäuschungen  ausgesetzt  ist. 

Das  beste  Verfahren  erblickt  er  darin,  dass  man  die  ermüdende  Wirkung 
der  geistigen  Arbeit  durch  möglichst  ähnliche  Arbeit  zu  messen  versucht, 
d.  h.  durch  Vorsprechen  von  Zahlenreihen,  Worten,  Silben,  welche  von  den 
Versuchspersonen  reproduziert  werden  müssen. 

Nachdem  Verfasser  die  Hauptergebnisse  der  nicht  immer  ganz  ein- 
wandfreien Ermüdungsmessungen  zusammengefasst  hat,  formuliert  er  das 
Ziel  dieser  Bestrebungen  folgendermassen: 

„Wir  suchen  das  grösste  Mass  von  Arbeit  zu  erreichen,  unter  den 
günstigsten  Arbeitsbedingungen,  mit  möglichst  wenig  Beeinträchtigung  der 
physischen  und  geistigen  Verfassung  des  Kindes  und  der  Qualität  der  Ar- 
beit selbst." 

Die  der  zweiten  Kategorie  angehörigen  und  die  psychologische  Charakte- 
ristik des  Kindes  betreffenden  Arbeiten  gliedert  M.  in  3  Teile: 
1)  Intelligenzprüfungen. 

21  Untersuchungen  inbezug  auf  die  geistige  und  physische  Charakte- 
ristik im  allgemeinen. 
3)  Untersuchungen  inbezug  auf  die  geistige  und  physische  Charakteristik 

kindlicher  Individualitäten. 
Die  Intelligenzprüfungen  haben  ihren  Ausgangspunkt  in  der  modernen 
Psychiatrie,  ihr  Zweck  ist,  die  geistigen  Abweichungen  eines  Individuums 
von  der  Norm,  dem  Durchschnittsmenschen,  psychologisch  korrekt  darzu- 
legen. 

Nach  den  bahnbrechenden  Untersuchungen,  welche  Rieger  an  Geistes- 
kranken angestellt  hat,  sind  ähnliche  Experimente  auch  in  der  Schule  ge- 
macht worden.  Sommer  hat  zu  letzterem  Zwecke  besondere  Fragebogen 
entworfen,  mit  Hilfe  deren  man  vornehmlich  über  die  Wahrnehmungsfähig- 
keit, die  Auffassungsfähigkeit,  die  Orientiertheit  über  die  eigene  Person  und 
über  räumliche  und  zeitliche  Verhältnisse  der  Versuchsperson  wertvolle  Auf- 
schlüsse zu  erlangen  sucht. 

Obgleich  M.  den  Wert  dieser  Intelligenzprüfungen  nicht  leugnet,  kann 
er  sie  doch  nur  als  „Teilarbeit"  im  Zusammenhange  jener  umfangreichen 
Aufgabe,  die  in  der  psychologischen  Charakteristik  des  Kindes  gipfelt,  be- 
zeichnen. 


•)  vcrgl.  diese  Zeitschrift,  III.  (3),  p.  184—198.  1001. 


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Berichte  und  Besprechungen. 


279 


Um  diese  Aufgabe  zu  lösen,  bedarf  es  einer  Untersuchung  des  Kindes 
auf  seine  körperliche  und  geistige  Verfassung  in  den  verschie- 
denen Lebensaltern. 

Im  weiteren  wendet  sich  Verf.  einzelnen  Seiten  dieses  Problems  zu;  er 
berührt  die  Entwickelungsschwankungen,  den  periodischen  Forschritt  be- 
stimmter geistiger  Funktionen  der  Schulkinder,  Jahresschwankungen,  Indivi- 
dualcharakteristik  u.  a. 

Im  vierten  Teile  seines  Aufsatzes  wendet  sich  M.  denjenigen  psycholo- 
gischen Untersuchungen  zu,  die  direkt  für  die  Pädagogik  wertvoll  geworden 
sind.  Sie  bestehen  in  einer  Analyse  der  geistigen  Prozesse  des  lernenden, 
auffassenden  oder  seinen  Willen  und  sein  Gemüt  bildenden  Kindes.  Hat 
man  erst  Aufschluss  erlangt  über  die  Art  und  Weise,  wie  das  heranwachsende 
Individuum  lernt,  behält,  vergisst,  wiedererlernt,  aufpasst  oder  komplizierte 
Gedankengänge  auffasst,  so  ergeben  sich  mit  Leichtigkeit  daraus  auch  die 
Regeln  für  die  Darbietung  bestimmter  Lehrstoffe,  Vorzüge  der  Analyse 
oder  der  Synthese  etc. 

Die  Untersuchung  pädagogischer  Fragen  setzt  aber  Methoden  voraus, 
die  den  von  der  Psychologie  gestellten  Anforderungen  gerecht  werden.  Als 
solche  sind  vornehmlich  die  psychologischen  Massmethoden,  die  Reproduk- 
tionsmethode, die  Methoden  zur  experimentellen  Untersuchung  des  Gedächt- 
nisses, des  kindlichen  Lesens,  Schreibens  und  Rechnens  geeignet. 

Von  der  Reproduktionsmethode  verspricht  sich  Verf.  besonderen  Erfolg. 
Nach  ihr  sucht  man  die  Zahl  und  die  Beschaffenheit  der  dem  Kinde  bekann- 
ten Vorstellungen,  den  Umfang  des  von  ihm  beherrschten  Wortmaterials 
und  die  eventuell  vorhandenen  Sprachfehler  zu  constatieren.  Dieses  Ver- 
fahren hat  zu  einer  Reihe  pädagogisch  wertvoller  Ergebnisse  geführt: 

1)  Kinder  analysieren  Wahrnehmungsobjekte  sehr  unvollkommen. 

2)  Formen  sind  besser  bekannt  als  Farben. 

3)  Die  einzelnen  Farben  sind  sehr  verschieden  bekannt  (grau  und  braun 
fast  nie). 

4)  Der  Kreis  der  geläufigen  Gegenstände  wird  in  hohem  Masse  durch 
den  Zwang  des  Lebens  bestimmt. 

5)  Bei  unbekanten  Gegenständen  sucht  sich  die  kindliche  Phantasie 
mit  charakteristischem  Surrogat  zu  helfen. 

6)  Der  Erwachsene  hat  eine  erheblich  grössere  Reproduktionsfähig- 

keit als  das  Schulkind  im  Alter  von  8 — 14  fahren. 

7)  Die  Geschwindigkeit,  mit  der  bestimmte  Klassen  von  Vorstellungen 

und  Begriffen  reproduziert  werden,  scheint  ein  charakteristisches 
Zeichen  dafür  zu  sein,  dass  diese  dem  Kinde  geläufig  sind,  andere 
nicht  u.  a.  m. 

Im  letzten  Kapitel  giebt  M.  zunächst  einen  kurzen  Ueberblick  über 
diejenigen  Arbeiten,  welche  von  praktisch  thatigen  Schulmännern  in  An- 
griff genommen  worden  sind.  Diese  laufen  entweder  auf  die  psychologisch- 
pädagogische Statistik  oder  auf  die  Theorie  und  Praxis  einzelner  Unter- 
richtsfächer hinaus. 

Von  letzteren  hat  man  besonders  dem  Zeichenunterricht  lebhaftes  Inter- 
esse entgegengebracht  und  in  den  Kinderzeichnungen  ein  Mittel  erblickt, 

6* 


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280 


Berich U  und  Besprechungen. 


das  über  verschiedene  Fragen  orientiert.  Ferner  sind  hier  die  Unter- 
suchungen über  das  Lesen,  Schreiben,  Sprechen,  die  Ermüdung,  die  geistige 
Leistungsfähigkeit  zu  erwähnen;  ebenso  gehört  auch  die  Frage,  welche  die 
Trennung  der  Schüler  nach  ihrer  Leistungsfähigkeit  zum  Gegenstande 
hat,  hierhin. 

Am  Schluss  der  Menmannschen  Abhandlung  findet  sich  ein  Entwurf 
zu  einem  Arbeitsprogramm  einer  Experiment alpädagogik;  die  Hauptpunkte 
desselben  lassen  wir  hier  folgen: 

1)  Die  beträchtliche  Zahl  der  bisher  zerstreuten  Untersuchungen  ist 
zu  einer  einheitlichen  Wissenschaft  oder  wenigstens  einem  ein- 
heitlichen Forschungsgebiet  zu  sammeln.  Dazu  ist  aber  nötig, 
dass  a)  die  Untersuchungen  unter  rein  pädagogischen  Gesichts- 
punkten durchgeführt  und  von  Psychologen  und  Pädagogen  gemein- 
sam geleitet  werden,  b)  der  Psychologe  zur  Organisation  der  Schul- 
arbeit herangezogen  werde. 

2)  Die  Einzelversuche  sind  in  einen  umfassenden  pädagogischen  Plan 
einzureihen,  dessen  Grundprobleme  a)  das  Studium  des  Schulkindes, 
seiner  Eigenart,  seiner  Entwickelung  und  seiner  Arbeit;  b)  die 
Untersuchung  der  kindlichen  Entwickelung;  c)  die  Individual- 
charakteristik  des  Kindes;  d)  die  Feststellung  der  Differenzen 
des  kindlichen  Arbeitstypus  in  seinen  Unterschieden  von  dem  des 
Erwachsenen;  e)  die  allmähliche  Ueberführung  des  kindlichen 
Arbeitstypus  in  den  des  Erwachsenen,  bilden. 

3)  Es  sind  spezifisch  pädagogische  Experimentalmethoden  zu  schaffen. 

Der  erste  Religionsunterricht  in  psychologischer 
Bedeutung.  H.  Grebs  unterzieht  den  gegenwärtigen  Religionsunter- 
richt in  der  untersten  Klasse  einer  eingehenden  Betrachtung;  er  gelangt  zu 
dem  Ergebnis,  dass  derselbe  in  seiner  jetzigen  Form  nichts  weniger  als 
fruchtbringend  ist.  Die  biblischen  Geschichten,  welche  hauptsächlich  den 
Lehrstoff  des  Unterrichts  bilden,  verwirft  er  gänzlich,  da  Kinder  im  Alter 
von  6  oder  7  Jahren  noch  nicht  ein  hinreichendes  Verständnis  für  diese  Er- 
zählungen besitzen,  um  des  beabsichtigten,  religiös-sittlichen  Nutzens  teil- 
haftig zu  werden.  Ferner  kommt  hinzu,  dass  der  im  ersten  Jahre  gebotene 
Stoff  viel  zu  umfangreich  ist,  als  dass  ihn  der  kindliche  Geist  verarbeiten 
kann.  Ebenso  wenig  fördert  auch  die  religiöse  Entwickelung  der  biblische 
Memorierstoff,  dessen  Aneignung  auf  unsern  Schulen  so  energisch  verlangt 
und  geradezu  als  conditio  sine  qua  non  betrachtet  wird,  der  in  Wirklichkeit 
aber  nur  Abstraktion  ist,  welche  den  geistigen  Horizont  unserer  Schul- 
kadetten weit  überschreitet. 

Des  Verfassers  Ausführungen  gipfeln  darin,  die  biblischen  Geschichten 
im  ersten  Religionsunterricht  durch  besonders  geeignete  Volksmärchen,  dem 
Ideen-  und  Vorstellungskreise  unserer  Kleinen  entsprechend,  zu  ersetzen; 
als  Beispiele  führt  er  an:  „Der  Wolf  und  die  sieben  Geislein",  „Wolf  und 
Fuchs",  „Frau  Holle". 

Dieser  Vorschlag,  der  schon  von  Ziller  gemacht  worden  ist,  wird  aller- 
dings nicht  überall  Beifall  finden,  scheint  aber  doch  der  Beachtung  wert  zu 
sein.    Wir  können  dem  Verfasser  nicht  Unrecht  geben,  wenn  er  sich  an  den 


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Mit  t eilungen . 


281 


oben  angeführten  und  ähnlichen  Märchen  Nutzen  in  ethischer  Hinsicht  für 
unsere  Kleinen  verspricht.  Warum  denn  so  beharrlich  am  Alten  fest- 
halten? — 

Berlin.  Hans  Koch. 


Mitteilungen. 


Der  neue  Unterrichtsplan  für  die  Berliner  Qemeindeschulen. 

Während  eine  ganze  Anzahl  deutscher  8tadte  das  den  acht  Schuljahren, 
entsprechende  achtstufige  System  und  damit  eine  durchgreifende  Aenderung 
des  Lehrplanes  herbeiführten,  blieb  Berlin  bei  seinen  sechsklassigen  Schulen, 
und  viele  Tausend  gerade  der  besten  Schüler  mussten  zwei,  drei  Jahre  ohne 
wesentliche  Forderung  in  der  ersten  Klasse  zubringen.  Die  Einrichtung 
sogenannter  Oberklassen,  die  übrigens  viele  Schulen  nicht  einmal  hatten, 
änderte  daran  gar  nichts,  denn  ein  besonderer  Stoffplan  für  sie  war  nicht 
vorhanden.  Im  Frühjahr  1900  erschien  der  „Entwurf  eines  Grundlehrplanes 
für  die  Berliner  Gemeindeschulen",  welcher  das  achtstufige  System  zur 
Voraussetzung  hatte  und  wesentlich  ein  Werk  Bertrams  und  der  Berliner 
Schulinspektoren  unter  geringer  Mithilfe  der  Lehrerschaft  war.  Dieser 
Lehrplan  wurde  jedoch  von  den  Aufsichtsbehörden  nicht  genehmigt.  Der 
Minister  ordnete  die  Bildung  einer  Kommission  an,  deren  Seele  der  Provinzial- 
schulrat  Voigt  war.  Zu  Mitgliedern  dieser  Kommission  wurden  ausserdem 
berufen  der  Vorsitzende  und  der  Justitiar  des  Schulkollegiums,  der  Stadt- 
schulrat sowie  der  Vorsitzende  der  Berliner  Schuldeputation,  zwei  Stadt- 
verordnete und  ein  Bürgerdeputierter,  sechs  Stadtschulinspektoren,  drei 
Rektoren  und  je  ebensoviel  Lehrer  und  Lehrerinnen.  Zu  den  Beratungen 
der  einzelnen  Fachkommissionen  wurden  noch  besondere  Sachverständige, 
z.  B.  der  städtische  Oberturnwart  Dr.  Luckow,  der  Professor  Theodor  Krause, 
die  Inspizientin  des  Handarbeitsunterrichts  u.  a.  zugezogen,  und  nun  begann 
eine  eingehende,  mühevolle,  nahezu  ein  volles  Jahr  währende  Arbeit,  an 
welcher  auch  der  Kommissar  des  Ministers,  Geheimrat  Waetzoldt,  thätigen 
Anteil  nahm.  Die  Grundzüge  des  vor  einigen  Tagen  abgeschlossenen  Planes 
sind  folgende: 

Die  Gemeindeschule  gliedert  sich  in  acht  aufsteigende  Klassen  bezw. 
Jahrgänge  und  drei  Stufen;  die  untere  umfasst  drei,  die  Mittelstufe  zwei 
und  die  obere  ebenfalls  drei  Schuljahre.  Ob  die  Klassen  von  acht  bis  eins 
zählen  oder,  wie  jetzt,  mit  der  siebenten  beginnen  und  mit  einer  „Oberklasse14 
schliessen,  ist  nebensächlich;  die  Entscheidung  darüber  soll  derSchuldeputation 
überlassen  bleiben.  —  Die  nachstehend  angedeutete  Stoffverteilung  lasst 
erkennen,  wie  tiefgreifend  die  Aenderungen  für  die  meisten  ünterrichts- 
gegenstände  Bind. 


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282 


Mitteüungtn. 


Im  Religionsunterricht  (Unterstufe  3,  Mittel-  und  Oberstufe  je  4 
Wochenstunden),  werden  in  den  ersten  drei  Schuljahren  Einzelgeschichten 
ans  beiden  Teilen  der  Bibel,  auf  der  Mittelstufe  nur  das  alte,  auf  der  Ober- 
stufe nur  das  neue  Testament  behandelt,  soweit  ihr  Inhalt  dem  kindlichen 
Interesse  und  Fassungsvermögen  entspricht.  Durch  diese  Sonderung  wird 
die  fortwährende  Wiederkehr  gewisser  Geschichten  und  damit  die  Gefahr 
einer  Uebersättigung  und  Gleichgiltigkeit  vermieden.  Der  Katechismus- 
unterricht wird  in  gesonderten  Stunden  nur  auf  der  Oberstufe  erteilt.  Aus 
dem  reichen  Schatz  unserer  Kirchenlieder  soll  eine  beschränkte  Anzahl  (in 
den  Unterklassen  nur  einzelne  Strophen)  gelernt,  eine  grössere  gelesen  werden. 

Der  deutsche  Unterricht  umfasst  im  1.  und  2.  Schuljahre  je  8,  im 
3.  7  und  vom  4.  ab  6  Stunden;  dazu  treten  in  den  Unterklassen  2  Stunden 
für  den  Anschauung»-,  vom  3.  Schuljahre  ab  2  (auf  der  Oberstufe  1)  für  den 
Schreibunterricht.  In  der  letzten  Schulzeit  sollen  insbesondere  Geschäfts- 
aufsätze,  die  Formen  von  Eingaben  und  Briefen  zur  sicheren  Einübung 
gebracht  werden.  Vom  2.  Jahre  ab  hat  der  Lehrer  von  jeder  deutschen 
Stunde  etwa  10  Minuten  für  grammatische  und  orthographische  Uebungen 
zu  verwenden,  auf  der  Mittelstufe  soll  in  einer  Stunde  Diktat  und 
„Niederschrift"  abwechseln  (das  sind  kleine  Aufsätze,  die  sofort  in  der  Schule 
eingeschrieben  werden);  ihr  Inhalt  soll  Ergebnis  des  gesamten  Unterrichts 
sein.  Auch  auf  der  Oberstufe  fallen  die  bisherigen  getrennten  Stunden  für 
den  grammatischen  Unterricht  fort;  hier  werden  zu  jenen  „Uebungen"  von 
3  deutschen  Wochenstunden  je  20  Minuten  verwendet,  1  Stunde  bleibt  für 
Aufsatz,  Diktat  und  die  Zusammenstellung  des  grammatischen  Stoffes  und 
2  volle  Stunden  werden  für  die  Lektüre  eingestellt.  In  der  1.  Klasse  sollen 
die  Kinder  in  einige  der  grösseren  Werke  unserer  deutschen  Dichter  ein- 
geführt werden:  Teil,  Jungfrau  von  Orleans,  Wallensteins  Lager,  Herzog 
Ernst  von  Schwaben,  die  Glocke,  Hermann  und  Dorothea.  —  Den  ortho- 
graphischen und  grammatischen  Uebungen  wird,  eine  dankenswerte  Neuerung» 
ein  kurzgefasstes  Uebungsbuch  (vom  zweiten  Schuljahre  ab  für  jede  Klasse 
ein  Heft)  zu  Grunde  gelegt  werden.  Die  Konferenz  hat  sich  nicht  ent- 
schliessen  können,  ein  einheitliches  Lesebuch  für  ganz  Berlin  zu  empfehlen. 
Ebensowenig  wird  ein  Kanon  von  zu  lernenden  Gedichten  aufgestellt  — 
jede  Schule  (bez.  jeder  Schulkreis)  wählt  eine  Reihe  von  Gedichten,  die  in 
dem  ein  geführten  Lesebuche  enthalten  sind;  darunter  dürfen  die  für  den 
Gesang  bestimmten  nicht  fehlen,  soweit  sie  sich  für  die  Behandlung  im 
deutschen  Unterrichte  eignen.  Dadurch  soll  nach  Möglichkeit  dem  Uebel- 
stande  gewehrt  werden,  dass  die  Kinder  im  Texte  der  zu  singenden  Lieder 
über  den  ersten  Vers  hinaus  unsicher  sind. 

Der  Geschichtsunterricht  beginnt  auf  der  Mittelstufe  und  umfasst 
bis  zur  zweiten  Klasse  je  zwei,  in  der  ersten  Klasse  drei  Wochenstunden, 
erfährt  also  eine  wesentliche  Erweiterung.  In  den  Mittelklassen  wird 
deutsche,  in  den  oberen  brandenburgisch  -  preussische  Geschichte  in  zu- 
sammenhängenden Bildern  behandelt  (ausserdeutsche  nur,  soweit  die  vater- 
ländische dazu  Veranlassung  giebt).  Insbesondere  sollen  die  Verhältnisse 
des  heutigen  bürgerlichen  Lebens,  ihr  Entstehen  und  ihre  Gestalten  in  den 
Vordergrund  treten  -  die  Entwickelung  des  Bürger-  und  Bauernstandes, 


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283 


wie  die  Städte  geworden  sind,  das  Verfassungsleben  sich  entwickelte,  was 
unsere  Fürsten  dem  Lande  waren  u.  B.  w. 

Die  Geographie  (zwei  Stunden  wöchentlich)  beginnt  mit  dem  vierten 
Schuljahre.  Der  Gang  des  Unterrichts  ist  der  synthetische:  auf  die  Heimate- 
kunde folgen  Deutschland,  Europa  und  die  übrigen  Erdteile;  im  fünften 
Schuljahre  wird  dieser  Gang  unterbrochen  durch  die  Betrachtung  der  Erde 
als  Ganzes,  da  in  diesem  Jahre  die  Geschichte  der  Entdeckungen  behandelt 
wird.  Die  erste  Klasse  wird  den  Kindern  die  Grundzüge  der  deutschen 
Kultnrgengraphie  gehen 

Der  Unterricht  in  den  naturwissenschaftlichen  Fächern  schliefst 
sich  nach  Umfang  und  Gruppierung  wesentlich  dem  „Entwürfe"  der  Schul- 
deputation an;  er  beginnt  auf  der  Mittelstufe  mit  zwei  Stunden  (Be- 
schreibung von  Tieren  und  Pflanzen);  die  nächsten  Klassen  erhalten  deren 
vier,  die  oberste  drei.  Der  Abschlusskursus  (in  Naturgeschichte)  umfasst 
die  Lebensthätigkeit  und  die  Wechselbeziehungen  der  Natur  zum  Menschen, 
dazu  tritt  ein  kurzer  Unterricht  in  der  Anthropologie  und  Gesundheits- 
lehre. Physik  und  Chemie  beginnen  in  der  dritten  Klasse  —  bei  Mädchen 
unter  besonderer  Berücksichtigung  der  „Ktichenchemie".  Hier  wie  in 
anderen  Gegenständen  ist  bei  Aufstellung  des  Lehrplans  darauf  Bedacht 
genommen  worden,  dass  ein  Teil  der  Kinder  die  erste  Klasse  nicht  er- 
reichen wird.  Der  Unterricht  soll  darum  so  eingerichtet  werden,  dass  er 
mit  der  zweiten  Klasse  einen  gewissen  Abschluss  erhält. 

Auch  im  Rechenunterricht  weicht  der  neue  Plan  nicht  wesentlich 
vom  „Entwurf u  ab;  er  erhält  vier  Stunden  auf  allen  Stufen,  davon  be- 
kommen die  beiden  obersten  Klassen  je  eine  Stunde  Algebra.  —  Der  Unter- 
richt in  Geometrie  beginnt  erst  im  6.  (bisher  im  5.)  Schuljahre  und  be- 
schränkt sich  hier  auf  die  elementare  Formenlehre,  während  der  wissen- 
schaftliche Betrieb  den  beiden  Oberklassen  vorbehalten  bleibt. 

Der  Schreibunterricht  geht  durch  sämtliche  Klassen  (Oberstufe 
eine  Stunde).  Dass  einheitliche  Formen  durch  Einführung  des  sogenannten 
preußischen  Normal alphabeta  vorgeschrieben  werden,  bedeutet  einen  wesent- 
lichen Fortschritt,  denn  oft  genug  musste  bisher  das  Kind  diese  Formen 
wechseln  und  lernte  dabei  keine  ordentlich.  Die  Uebung  der  lateinischen 
Schrift  soll  erst  im  vierten  Schuljahre  beginnen  (bisher  im  dritten).  Das 
Verlangen  einer  steileren  Handschrift  wird  nach  den  bisherigen  Erfahrungen 
nicht  ohne  Widerspruch  bleiben. 

Für  den  Gesangunterricht  werden  jeder  Klasse  zwei  Wochenstunden 
zugewiesen  —  mit  Ausnahme  der  beiden  unteren,  die  nur  je  eine  haben. 
Den  einzelnen  Stufen  werden  bestimmte  Lieder  vorgeschrieben  mit  Rück- 
sicht darauf,  dass  die  Kinder  häufig  ihre  Wohnungen  und  damit  die  Schulen 
wechseln;  in  der  Methode  jedoch  ist  den  Lehrern  möglichste  Freiheit  ge- 
lassen. Das  Singen  nach  Noten  soll  in  allen  Klassen  geübt  werden;  Noten- 
kenntnis wird  vom  vierten  Schuljahre  ab  gefordert.  Die  bekannte  Methode 
des  Prof.  Theodor  Krause  wird  als  durchaus  zweckentsprechend  bezeichnet. 
Eine  weitere  Forderung  lautet:  „Mehr  Volks-,  weniger  Kunstgesang!" 

Im  Turnunterricht  finden  wesentliche  Aenderungen  des  bisher  vor- 
geschriebenen Planes  nicht  6tatt. 


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284 


Mitteilungen. 


Für  den  Zeichenunterricht  ist  seitens  des  Ministeriums  ein  be- 
sonderer Plan  aufgestellt  worden, -welcher  ebenfalls  bereits  zu  Ostern  zur 
Einführung  gelangen  soll;  er  stellt  das  farbige  Zeichnen  in  den  Vorder- 
grund. 

Der  Unterricht  in  weiblichen  Handarbeiten  erhält  künftig  nur  17 
(statt  der  bisherigen  36)  Stunden  wöchentlich;  doch  wird  sich  die  Zahl  der 
Lehrerinnen  nicht  wesentlich  ermässigen,  da  die  Klassen  zumeist  in  zwei 
Abteilungen  (von  zwei  Lehrerinnen)  unterrichtet  werden  sollen.  Keine 
Stadt  verwandte  bisher  so  viel  Zeit  auf  diesen  Gegenstand  wie  Berlin. 
Jetzt  erübrigt  sich  zum  Teil  die  mechanische  Handarbeit,  da  die  Maschinen 
so  billig  arbeiten,  auch  sind  unsere  Lehrerinnen  jetzt  erfahrener  und 
methodisch  geschulter  als  früher. 

Der  ganze  Lehrplan  bedeutet  einen  ausserordentlichen  Fortschritt 
gegenüber  dem  bisherigen.  Er  schuf  Gedankenreihen  statt  einzelner  Bruch- 
stücke und  räumte  endlich  mit  den  überflüssigen  „konzentrischen  Kreisen" 
auf,  welche  viel  Zeit  wegnahmen  (z.  B.  in  der  biblischen  Geschichte);  dass 
sie  im  Prinzip  nicht  zu  verwerfen  sind,  weiss  jeder  Schulmann  (be- 
schreibende Naturwissenschaft),  doch  sollen  sie  nicht  bei  jedem  Gegenstande 
und  um  jeden  Preis  zur  Anwendung  kommen.  Die  immanente  Wieder- 
holung ist  zu  ihrem  Recht  gekommen  —  das  Entstehen  und  Werden  des 
deutschen  Bürger-  und  Bauernstandes  z.  B.  kann  nur  zur  Anschauung  ge- 
bracht werden,  wenn  das  ganze  Gebiet  der  Geschichte  behandelt  worden 
ist  und  durchwandert  werden  kann;  ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  „Kultur- 
geographie",  der  Beziehung  unseres  Handels  und  der  Industrie  zu  unseren 
Nachbarländern  und  fremden  Erdteilen  (Aus-  und  Einfuhr,  Rohprodukte).  — 
Innerhalb  des  gegebenen  Rahmens  soll  dem  Lehrer  möglichste  Freiheit  ge- 
lassen werden.  Jede  Schule  wird  einen  besonderen  Lehrplan  entwerfen, 
der  ihren  Bedürfnissen  entspricht.  Es  wird  dem  Lehrer  eine  tüchtige 
Arbeit  zugemutet,  welche  gründliche  Vorbereitung  und  tiefe  Kenntnis  der 
Kindesseele  voraussetzt. 

Da  für  die  8.  Klasse  nur  20  Stunden  wöchentlich  (18  wäre  richtiger 
gewesen),  die  7.  21,  die  6.  24,  die  5.  und  4.  je  28  (die  Mädchen  30)  und 
die  ersten  drei  je  32  Stunden  vorgesehen  sind,  so  wird  die  Gesamtzahl  er- 
heblich (um  11  Stunden)  geringer;  es  wird  also  möglich  werden  —  was  im 
Interesse  unserer  Gemeindeschule  so  dringend  wünschenswert  ist  —  die 
Stundenzahl,  namentlich  der  älteren  Lehrer,  zu  ermässigen  und  in  der 
Herabsetzung  der  Klassen frequenzen  fortzufahren.  Unsere  Unterklassen 
namentlich  sind  übermässig  belastet,  69  Kinder  (diese  Zahl  wurde  gelitten, 
aber  70  durften  es  nicht  sein  —  als  ob  das  etwas  wesentlich  anderes  wäre), 
das  ist  zuviel  für  eine  Lehrkraft;  jetzt  ist  Gelegenheit,  endlich  einmal  mit 
diesem  Uebelstande  aufzuräumen. 

Dass  der  neue  Lehrplan  etwas  durchaus  Vollkommenes  nicht  bieten 
kann,  ist  selbstverständlich,  er  wird  sich  erst  bewahren  müssen.  Insbe- 
sondere wird  ein  zur  Geltung  gebrachter  Grundsatz  vielfach  Bedenken  er- 
regen: die  Gemeindeschule  muss  ihren  Unterrichtsplan  lediglich  aus  ihren 
eigenen  Bedürfnissen  heraus  gestalten,  nicht  mit  Rücksicht  auf  andere 
( höhere)  Schulsysteme.  So  erklärt  sich  das  Zurücktreten  des  grammatischen 


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Mitteütm gen. 


285 


Formen wesens,  das  spätere  Auftreten  des  geometrischen  Unterrichts  und 
manches  andere.  Der  Eintritt  in  die  Sexta  nach  dreijährigem  Besuch  der 
Gemeindeschule,  wie  er  doch  immerhin  vorkam,  ist  künftig  unmöglich,  nach 
3  Vi  jahrigem  Besuche  schwer;  ebenso  ist  es  mit  dem  Uebergange  aus  der 
zweiten  Klasse  in  die  Quarta  der  Realschule,  welch  letztere  doch  als  zeit- 
liche Fortsetzung  der  Gemeindeschule  gedacht  ist  und  ihre  Schüler  zumeist 
von  dieser  erhalt.  Die  erstrebte  Beseitigung  der  Vorschulen  wäre  damit 
in  weite  Ferne  gerückt  und  dem  Privatschulwesen  Thür  und  Thor  ge- 
öffnet.  Ein  Mittelweg  wird  also  hier  geschaffen  werden  müssen. 


Der  Lehrplan  wird  nunmehr  dem  Unterrichtsminister  und  dem 
Magistrat  zur  Begutachtung  und  Beschlussfassnng  vorgelegt.  Seine  Ein- 
führung soll  bestimmt  zu  Ostern  erfolgen.       (Nach  der  Vossischen  Ztg.) 


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Bibliotheca  pädo-psychologica. 

Geschichte  und  Theorie  der  Erziehung  und  des  Unterrichts,  Methodik  der  Lehr- 
fächer, Schulorganisation  in  Programmen,  Abhandlungen  und  Inaug.-Dissertationen 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Jahre  1898/99. 

Forlsetzung. 

Kühl  mann,  Wilhelm,  Prof.:  Was  ist  wahre  Bildung  und  wie  vermag 
das  Gymnasium  zu  derselben  seine  Zöglinge  zu  erziehen?  (20  S.)  4*. 
(F.)    Gütersloh,  ev.  G.  P  1899. 

Kuhse,  Bernhard:  Bericht  über  die  Ferienfahrt  einer  Vierermannschaft 
des  Rudervereins  der  Schule  durch  Ostpreussen  vom  9.  bis  23.  Juli  1899. 
(S.  20— 21.)    4*.    Bromberg,  k.  RG,  OP  1899. 

K  umberg,  N.:  Die  Reform  der  russischen  Mittelschule  vom  Stand- 
punkte der  sexuellen  Frage.  St.  Petersburg,  Med.  Wochenschr.,  1900, 
35,  337—339. 

Kummer,  Albert :     Die   Ucberbürdungsfrage    in    der  Mädchenschule. 

(S.  3—7.)    4°.  (F.)    Quedlinburg,  gehobene  Mädchen-S.,  P  1898. 
Lacombe,  M. :    Esquisse  d'un  enscignement  base  sur  la  Psychologie  de 

l'enfant.    212  S.    Paris  1899:  A.  Colin  4  Cie. 
Laloy,  L.:    L'acte  reflexe,  l'inetinct  et  la  raison.    Naturaliste,  Paris,  1900, 

25.  XXII,  131-132. 
Larabranzi.  R.:    Su  la  profonditä  del  sonno.   Atti  dell'  accad.  delle  sc. 

med.  e  natur.,  Ferrara,  1900,  LXX1V,  3—4,  181. 
Lawrence,  II  .Cripps:    Physical  Fitness  an  Essential  Factor  in  Edu- 

cation.    The  Paedologist.  Vol.  I.  No.  1,  1899.    The  Organ  of  the 

British  Child-Study  Association.    Cambray  House,  Cheltenham. 
Lebesgue,  P.:    Les  lois  de  la  parole  (essai  de  Synthese  phonetique). 

Beauvais,  Avondc  et  Baehelier,  1899.   8°.  lfi  S. 
Lemaistre,  P.:    Du  sens  moral  chez  les  criminels.    Limousin  m£d., 

Limoges,  1900,  XXIV,  10—16. 
Leray,  R.  P.:     De  l'instinct  en  general.     Cosmos,  Paris.   1900,  n.  s., 

XLII.  688— C93. 

Lippert,  Max:  Johann  Heinrich  Alsteds  pädagogisch-didaktische  Re- 
form-Bestrebungen und  ihr  Einfluss  auf  Johann  Arnos  Comenius. 
Meissen  1898:  C.  E.  Klinkicht  &  Sohn.    (57  S.)   8°.  Diss. 

Lloy  d  ,  A.  H.:  Physical  Psychology.  Psychol.  Review.  1900.  VII,  2,  172—177. 

Lombroso,  C:  La  pazzia  ed  il  genio  in  Cristoforo  Colombo.  Arch. 
di  psichiatr.,  XXI,  1—2,  29. 


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Hiblwtheca  pädo-psychologica. 


287 


Loth.  Johannes:  Die  pädagogischen  Gedanken  der  institutio  oratoria 
Quintilians.    Leipzig  1898:  Seilmann  &  Henne.    (76  S.)    8°  Diss. 

Loveday,  T.:  Perception  of  Change  and  Duration  —  Some  Additional 
Notes.    Mind,  1900.   35,  384—388. 

Laagland,  G.  A.:  De  teekenmethode  voor  onze  lagere  Scholen.  Gron., 
Scholiens  4  Zoon,  1900.   8°,  175  S. 

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stufige Knaben-Mittel-S.,  P  1898. 

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(2.)  Metrical  Translations  from  the  English.  (22  S.)  4U.  Branden- 
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Lasare  vitch,  R. :  Problcmes  et  moyens  de  l'education  des  enfants. 
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London,  1899.   5.  Aufl.,  8',  2tki  S. 

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Lehr  plan  des  grossherzoglichen  Gymnasiums  zu  Oldenburg.  Olden- 
burg, grossh.  G,  OP  1S99. 

L  e  h  r  p  1  a  n  der  mit  dem  Realgymnasium  verbundenen  Realschule  (zu 
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Levy,  P.  E.:  L'Education  rationelle  de  la  volonte.  Son  emploi  thera- 
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Liesen.  Bernhard,  Dr.:  Die  älteste  bisher  ungedruckte  Schul-  und 
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Lindah],  Edw. :  Tal  vid  Malmö  läroverks  fest  med  anledning  af  Konung 
Oskar  Iis  25-ariga  regeringsjubileum.  Malmo.  1898.  (S.  XIII-XXIV.) 
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Lock  es.  J.:  Gedanken  über  Erziehung.  Uebers.  v.  Dr.  E.  v.  Sallwuck. 
2.  Aufl.   310  S.   2,50  M.    Langensalza,  Beyer  u.  S.  1897. 

Lorch.  J.:  Mathematische  Geographie  für  gehobene  Bürger-  u.  Mittel- 
schulen,  insbesondere   für   Präparandenanstalten   u.   Seminare.  Neu 


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288 


Bibliotheca  pädo-psvcholofrica. 


bearb.  u.  erw.  von  E.  Eggert.  Mit  33  Holzschn.  6.  Aufl.  Leipzig 
1899:  Dürr. 

Löscher,  Karl  G.,  Dr. :  Die  geologische  Landessammlung  des  Fürst- 
lichen Gymnasiums  [Paläontologischer  Teil].  (24  S.)  4".  (F.)  Gera, 
fürstl.  G  Rutheneum  u.  VS,  OP  1899. 

Lot  mar,  Philipp:  Die  Freiheit  der  Berufswahl.  Rektoratsrede,  geh.  am 
4.  Dez.  1897.    Leipzig  1898.    (47  S.)  8*. 

L  ü  c  k  ,  Robert,  Dr.,  Dir. :  Wissenschaftliche  Vorträge  für  die  Schüler  der 
Oberklassen.  ([Umschlagt.]:  Ueber  d.  Einrichtung  wissensch.  Vor- 
träge . . .)    (S.  23-26.)   4°.    Steglitz,  G.  P  1899. 

L  ü  h  r ,  Georg:  Cursus  Gloriae  Mortalis  dramatica  poesi  expressus,  sive 
Jason  Fabula.  Ein  Drama  des  Jesuiten  Thomas  Clagius.  Mit  Bei- 
trägen zur  Geschichte  d.  Kgl.  Gymn.  zu  Rössel.  (S.  1 — 47.)  4*. 
Rössel,  KG,  OP  1899. 

Lyon,  Cl.:  Histoire  de  I'enseignement  primaire  en  Belgique  depuis  1831. 
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Longmans  Green  and  Co.,  1900.   12",  5  u.  117  S. 

Maass,  B.:  Die  Psychologie  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Schulpraxis. 
8.  Aufl.    Breslau:  F.  Hirt,  1899  .  84  S. 

Mac  Cunn,  J. :  The  Making  of  Character:  Some  Educational  Aspects 
of  Ethics.    London:  C.  J.  Clay;  New  York:  Macmillan,  1900  8*,  232  S. 

Mace,  William  H.:   Method  in  History.   311  S.   Boston  1898:  Ginn  &  Co. 

Mahn,  Paul:    Sechs  Ansprachen.    (18  S.)  4*.    (Forts,  d.  P-Beil.  1898.) 

Kempen  i.  P.,  st.  PG,  OP  1899. 
M  a  n  n  ,   Fr. :     Magazin  pädagogischer  Abhandlungen  vom  Gebiete  der 

Pädagogik  u.  ihrer  Hilfswissenschaften.    101.— 102.,  114.  u.  115.  Heft. 

8°.    Langensalza,  H.  Beyer  u.  S. 
Marandon  de  Montyel,  E. :    Des  hallucinations  psychiques.  Gaz. 

hebd.  de  Med.  et  de  Chir.,  Paris,  1900,  XLVIL  256—259. 
Marchl,  Paul,  P.,  O.  S.  B.,  Prof.:    Des  Aristoteles  Lehre  von  der  Tier- 
seele.   T.  3.    (40  S.)    8*.    [F.]    (Forts,  d.  P-Beil.  1897.98.)  Metten. 

humanist.  G,  P  1899. 
Mark,  H.  T.:    Oudtline  of  History  of  Educat.    Theories  in  England. 

London:  Sonnenschein.  1900.    8*.  150  S. 
Marshall,  J.  S.:    Technical  vs.  Theoretic  Training.    I.  Am.  M.  Ass. 

1900,  XXXIV,  1523-1525. 
Martinozzi,    M.:    Süll'  insegnamento  della  storia  dell'  arte  nelle  scuole 

secondarie  classiche.    Modena,  G.  T.  Vincenzi  e  nipoti,  1900.   8°,  36  S. 
McColgan.J.  T.:  The  Relation  of  Psychic  States  to  Functional  Activity. 

Wisconsin  med.  Ree,  1900,  XXI,  8—12. 
M  c  O  n  a  1 1  y  ,  J.  T.:    Psychology  vs.  Medicine.    Illinois  Med.  J>,  Jan.  1900. 
M  e  i  c  h  e  1 1 ,  Heinrich:   Horaz  im  modernen  Gewände.    Ein  Uebersetzungs- 

versuch.    (20  S.)   4'.    Pforzheim,  grossh.  G,  MP  1899. 
M  eil  und  Matthies:   Von  den  Museen  des  Blinden-Unterrichtes.    Blinden - 

freund,  1899,  XIX,  7. 


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Ribliotheca  p&do-psychologica. 


289 


Meitzer,  H.:    Alttcstamentlichcs  Lesebuch,  für  den  Schulgebrauch  be- 
arbeitet.   Dresden  1898:  Bleyl  &  Kämmerer. 
Mendel,  Albrecht:    Die  römischen  Altertümer  im  Gymnasialunterricht. 

(23  S.)   4'.    Posen,  k.  Friedrich-Wilhelms-G.,  OP  1899. 
Mendelssohn,    M.:    Zur    Psyche    der    Tuberkulösen.     Zeitschr.  f. 

Krankenpfl.,  1900,  XXII,  80—82. 
Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten.    Heidelberg  1898:  Winter. 
M  e  r  t  z  :    Ueber  Stellung  und  Betrieb  der  Rhetorik  in  den  Schulen  der 

Jesuiten.    Heidelberg  1898:  Winter.    Bibliothek  der  kathol.  Pädagogik. 
Messer,  August,  Dr.:    Joh.  Jos.  Friedr.  Steigenteschs  'Abhandlung  von 

Verbesserung  des  Unterrichtes    der    Jugend    in    den  Kurfürstlich. 

Mainzischen  Staaten  1771.'    Hrsg.  u.  mit  einer  Einl.  versehen.    T.  3. 

(S.  1—27.)  4*.   (Forts,  d.  P-Beil.  1897.  98.)   Gicssen,  grossh.  G,  OP  1899. 
Meumann:    Anfänge  und  Ziele  der  experimentellen   Pädagogik.  Zur. 

Post,  1900,  No.  223  u.  225. 
Meyer,  Carl  Friedrich,  Prof.   Dr.:     Zur  Behandlung  Deutschlands  im 

erdkundlichen  Unterricht  (der  Realgymnasien).   (S.  3—24.)   4".  Stettin. 

Friedrich-Wilhelms-S.  (RG  nebst  VS),  P  1899. 
Meyer.  Ernst.  Dir.  Dr. :    Tabellarische  Uebersicht  über  den  Stand  der 

Berechtigungen  Januar  1899  nach  Schularten  und  Klassenstufen  ge- 
ordnet.   (2  Bl.)    4°.    Danzig,  RG  zu  St.  Johann.  OP  1899. 
Mic  holet,  P.:    L'education  de  nos  enfants.    Foix,  Ve.  Pomies,  1899. 
Micholitsch:    Der  Zeichenunterricht  in  der  2.  Klasse  der  Mittelschule. 

88  S.    Krems  1899:  Selbstverlag. 
Meszner,  A.:     Die   Blinden-Elementarklassc.     Blindcnfreund,  XVIII, 

12.  u.  12 :  XIX,  2—4  u.  6. 
Mie  lecke,  A.:     Aus    der    Praxis    der    öffentlichen    Spracheurse  für 

stotternde   Schulkinder.     Monatsschr.   f.   d.   ges.   Sprachheilk.,  1900, 

X,  Mai-Juni. 

Möckel,  G. :    Das  Verhältnis  des  Spiels  zum  Turnen.    Zeitschr.  f.  Turn, 
u.  Jugdsp.,  1900.  7. 

Möller,   K:     Kunst-  und   Leibesübungen  in  ihrer  Wechselbeziehung. 

Zeitschr.  f.  Turn-  u.  Jugendspiele.  14.  Juli  1900. 
M  o  h  s  :    Beobachtungen  in  einem  französischen  Lehrerseminar.    D.  Ztschr. 

f.  ausl.  Unterrichtsw.  IV.  (1898/99)  1. 
Monroe,  Will.   S.:     Die   Entwicklung  des   sozialen   Bewusstseins  der 

Kinder.    88  S.    Berlin  1899:  Rcuther  &  Reichardt. 
Moore,  B. :    General  Theory  of  Sensation  and  Nervous  Activity.  Yale 

Med.  J.,  New  Häven,  März  1900. 
Morand  i,    Ad.:     L'addatamento    nell'  edueazione  intellettuale.  Ascoli 

Piceno,  Tip.  Economica,  1900.   8°.  33  S. 
Moreau:    Le  sommcil.    J.  d'Hyg..  1900,  XXV,  81—83. 
Morgan,  C.  L.:    On  the  Relation  of  Stimulus  to  Sensation  in  Visual 

Impressions.    Psyehol.  Review,  1900.  VII,  3,  217—233. 
Morris,  J.  Ch.:    On  the  Influencc  of  Early  Training  of  Manly  and 

Womanly  Qualitics,  to  Avid  Degeneracy.    Bulletin  of  the  Am.  Acad. 

of  Med.,  Eas,ton  Pa.,  Oct.  1900. 


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290  ßibliotkeca  pädo-psychologica. 

Mourre,  C:  Les  causes  psychologiqucs  de  l'aboulie.  Revue  philos., 
1000,  No.  9. 

Müller,  Franz  Reinhard:  David  Williams'  Reformbestrebungen  auf  dem 
Gebiete  der  Pädagogik.  Ein  Beitrag  zur  Kenntniss  d.  Reformpäda- 
gogik d.  XVIII.  Jahrhunderts.  Leipzig-R.  1898:  O.  Schmidt. 
(95  S.)    8*.  Diss. 

Müller,  Heinrich:  Wie  befähigen  wir  die  Kinder  zur  selbständigen  An- 
fertigung eines  Aufsatzes?  Heft  11  des  XI.  Bandes  der  „Sammlung 
padag.  Vorträge",  von  Meyer-Markau.    Soennecken's  Verlag,  Bonn. 

Müller,  Joh.:  Zur  Geschichte  der  Provinzialschulc  in  Saalfeld,  Ost- 
preussen.    Osterode  in  Ostpr.,  st.  G.  OP  1898. 

Müller,  J. :  Schülervorstellungen  Bremer  Volkschüler  im  Stadttheater, 
theater.    Pädag.  Reform,  1900,  36,  37  u.  42. 

Münsterberg,  H.:  School  Reform.  Atlantic  Mo.,  1900,  LXXXV, 
656—669. 

Müller,  Carl  Heinr.:  Der  logarithmische  Rechenstab.  Stab-Rechnen 
für  d.  Ober- Klassen  höherer  Schulen.  (S.  3—52.)  4°.  Frank- 
furt a.  M.,  k.  Kaiser-Friedrichs-G.,  OP  1899. 

Muller-Mossis,  C.  M.  J.:  Spei  of  gymnastiek?  Amst.:  C.  L.  G. 
Veldt,  1900.    gr.  8J,  36  S. 

Müller,  Moritz:    Bildende  Kunst  im  Gymnasial-Unterricht.    (26  S.)  4". 

M  u  t  h .  Bernhard.  Dir.  Prof.  Dr.  :  Die  Feier  des  fünfundzwanzigjährigen 
Bestehens  der  Realschule.  (S.  3—5.)  4°.  Pirna  St.  R  m.  PG.  OP  1899. 
Bautzen,  G,  OP  1899. 

Natorp,  Paul:  Herbart,  Pestalozzi  und  die  heutigen  Aufgaben  der  Er- 
ziehungslehre. 8  Vorträge,  geh.  in  Marburger  Ferienkursen  1897  u. 
1898.    Stuttgart:  F.  Frommann,  1899.    (151  S.)  8\ 

Natorp,  Paul:  Sozialpädagogik.  Theorie  der  Willenserziehung  auf  d. 
Grundlage  d.  Gemeinschaft.  Stuttgart:  F.  Frommann  1899.  (VIIT, 
352  S.)  8°. 

Naumann,  Julius,  Dir.  Dr.:  Drei  Ansprachen,  1.  beim  Uebertritt  des 
Vorschullehrcrs  A.  Becker  in  den  Ruhestand;  2.  bei  Eröffnung  des 
Sommersemesters  1898  ;  3.  beim  25  j.  Amtsjubiläum  des  Provinzial- 
schulrats  Dr.  Hacckermann.  (S.  23—24,  24—25,  26—27.)  4*.  Oste- 
rode a.  H.,  RG,  P  1899. 

Needon,  Kurt  Ossian:  Jacob  Wimphclings  pädagogische  Ansichten  im 
Zusammenhange  dargestellt.  (Naumburg  a.  S.  1898:  G.  Pätz.i 
(VIII,  62  S.)   8°.  Diss. 

Der  Neubau  der  Oberrealschule  zu  Cassel  und  die  Feier  der  Einweihung. 
126  S.  4".    [Umschlagt.]    Cassel,  OR,  OP  1899. 

N  e  u  b  a  u  r  ,  Leonhard,  Prof.  Dr. :  Beiträge  zur  älteren  Geschichte  des 
Gymnasiums  zu  Elbing.  (34  S.)  4".  (Ergänzung  d.  P-Beil.  1897:  Aus 
d.  Geschichte  d.  Elbinger  Gymnasiums.)    Elbing.  st.  RG,  P  1899. 

Neuerwerbungen  auf  d.  Gebiete  d.  Pädagogik.  Jahresverzeichniss 
der  deutschen  Universitätsschriften  von  1899.  Oesterreich.  Schul- 
schriften  1898.    Norweg.  u.  schwedische  Schulschriften  1898. 


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Bibliotheca  pädo-psychologüa. 


291 


Neufeld,  A.:  Das  russische  Elementarschulwcsen.  Ztschr.  f.  Auslän- 
disches Unterrichtswesen.    V.  Jahrgang,  2.  Heft. 

Neumann,  Robert:  Der  evangelische  Religionsunterricht  im  Zeitalter 
der  Reformation.   (26  S.)   4*.    Berlin,  Siebenk.  R,  (HB),  OP  1899. 

Neumann,  Benignus:  Die  Aufgaben  der  Schule  auf  dem  Gebiete  der 
körperlichen  Erziehung.  Festrede  zur  Kaisergeburtstagsleier  am 
27.  Jan.  1899.    (S.  3-14.)    4°.    Wongrowitz,  k.  G,  P  1899. 

Niemer,  Hugo:  Ucber  die  Einübung  der  englischen  Aussprache  und 
Orthographie  im  Anschluss  an  die  Sprachlehre  von  Gesenius — Regel. 
(43  S.)    8*.    Lauenburg  i.  P.,  PG.  OP  1899. 

Niemcyer:  Originalstellen  griechischer  und  römischer  Klassiker  über  die 

Theorie  der  Erziehung  und  des  Unterrichts.    2.  Auflage  von  Menge. 

Halle  1898  (Waisenhaus!. 
Noe,  Franz:    Der  Schulgarten  des  k.  k.  Carl  Ludwig-Gymnasiums  im 

XII.  Bezirke  von  Wien.    Mit  einem  Plan.    Wien  1898.    (30  S.)  8«. 

Progr. 

Noble,  Carl:  Der  zweite  Teil  von  Goethes  Faust,  für  den  deutschen 
Unterricht  im  Zusammenhange  dargestellt.  (31  S.)  4°.  Berlin,  Falk- 
RG,  OP  1899. 

Noikor,  Peter  M. :    Das    Aktivitätsprincip    in    der    Paedagogik  Jean 

Jacques  Rousseaus.    Leipzig,  Thile.    Diss.  1898. 
N  orlen,  W.:  Pedagogikeus  historia.    108  S.    Stockholm  1898. 
Ohmann,  Otto:    Ueber  die  Anwendung  der  zeichnenden  Methode  im 

naturwissenschaftlichen  Unterricht    des  Gymnasiums.     (22    S.)  4". 

Berlin,  Humboldts-G,  OP  1899. 
Oldin,  C.   M.:     Inbjudningskrift  tili  invigningen  af  Landskronas  nya 

läroverkshus  den  11.  Sept.  1897.    Landskrona  1897.    (21,  XVIII  S., 

4  Taf.)   4*.  Progr. 

Olslander,  D.:    L'cducation  au  point  de  vue  sociologique.  Brüssel: 

D.  Lebegue  &  Cie.  1899. 

Opitz,  Theodor:     Das  Königliche  Gymnasium    zu  Dresden  -  Neustadt 

während  der  ersten  25  Jahre   seines   Bestehens   Ostern   1874 — 1899, 

(58  S.)  49  .  Dresden-Neustadt,  k.  G,  OP  1899. 
Oppenheim.    H.:     Nervenleiden    u.    Erziehung.     Vortrag.  Berlin: 

S.  Karger,  1899.     gr.  8°,  56  S. 
Oppermann,  F.  W.:    Theoretisch  praktische  Anweisung  zur  Erteilung 

des  Turnunterrichts  in  Knaben-  und  Mädchenschulen.    191  S.  Berlin 

1898:   Mittler  4  Sohn. 
Organ,  T.  A.:    Law    Relating   to    Schools    and   Teachers.  London: 

Simpkin,  1900.   8",  582  S. 
Orszulik,  Karl:    Beispiele  zur  griechischen    Syntax    aus  Xenophon, 

Demosthenes  u.  Piaton.  Teschen:  K.  Prochaska  1898.  (38  S.)  8'.  Progr. 
Ost  ermann,  W.:    Interest  in  Its  Relation  to  Pedagogy.    New  York: 

E.  L.  Kellogg  and  Co.,  1900.    12".  2  u.  150  S. 

Ort  mann,  Konrad:    Das  deutsche  Nationalgefühl.    Festrede  zu  Kaisers 
Geburtstag.    (S.  37—43.)   4°.    Torgau,  G.  OP  1899. 


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292 


Bibliotheca  pädo- psychologica. 


Ott,  Wendelin:    Ueber  die  Schritt  des   hl.   Augustinus:   De  magistro. 

Hechingen,  k.  R,  P  1898. 
Otto,  A.:    Hermann  Frankes  Pädagogik.   63  S. 

Otto,  H.:  Beiträge  zur  Reform  der  Lehrerbildung.  Päd.  Ztg.  XXVIII 
(1899)  No.  48,  49,  50,  51. 

P  a  g  1  i  a  r  a  ,  M.  A. :  Federico  Froebel  e  la  sua  pedagogia.  P.  1.  2.  Aufl. 
Turin:  G.  B.  Paravia  e  Co.,  1900.    8°,  VIII  a  131  S. 

Pähl,  Franz:  Die  Entwickelung  des  mathematischen  Unterrichts  au 
unseren  höheren  Schulen.  [T.  2.]  (30  S.)  4°  Schluss  d.  P.-BeiL 
1898.)   Charlottenburg,  st.  RG,  OP  1899. 

Panck,  Wilhelm:  Beiträge  zur  Geschichte  des  Stralsunder  Schulwesens 
vor  1560.  (S.  3—22.)  4°.  [Umschlagt.]  (Ergänzung  zu  K.  Kirchner, 
Versuch  einer  Stralsundischen  Schulgeschichte  I,  Progr.  1823.)  Stral- 
sund, G,  OP  1899. 

Pansch,  Bernhard.  Dir.  Dr. :  Einweihung  und  kurze  Beschreibung  des 
neuen  Schulgebäudcs.    (S.  21—27.)    4*.    Buxtehude,  R,  P  1899. 

Pappenheim:  J.  A.  Comenius'  ausgewählte  pädagogische  Schriften  II. 
Langensalza  1898:  Gressler. 

Passarge,  F.:  Der  Schulgarten  und  seine  Bedeutung.  47  S.  Berlin 
1899:  Oehmigke. 

Paulsen,  E. :  Die  Singstimme  im  jugendlichen  Alter  und  der  Schul- 
gesang.   Kiel:  Gnevkow  &  v.  Gellhorn,  1900.    gr.  8°,  43  S. 

Peppmüller,  Rudolf,  Dr..  Dir. :  Zwei  Ansprachen,  1.  bei  dem  Abschied 
des  Prof.  Dr.  Hermann  Wähdel,  und  2.  beim  Tode  des  Bürgermeisters 
Friedr.  Arnold  Otto  Brandenburg.  (S.  15—17.)  4°.  Stralsund,  G,  OP  1899. 

Petersdorff,  Rudolf:  Die  ersten  25  Jahre  des  Gymnasiums  zu  Strehlen. 
(32  S.)    49.    Strehlen,  Schi.,  KG,  Festschrift  1898. 

Peterselie,  A.:  Das  öffentliche  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich 
und  in  den  übrigen  europäischen  Kulturländern.  1.  Bd.  448  S. 
2.  Bd.  608  S.    Leipzig:  Hirschfeld,  1897.    28  M. 

Petersen,  Johannes,  Dr.:  1.  Die  Behandlung  der  Geologie  und  Minera- 
logie im  naturwissenschaftlichen  und  geographischen  Unterricht.  T.  2. 
—  2.  Bemerkungen  zum  propädeutischen  Unterricht  in  der  Chemie 
(und  Mineralogie).  (19  S.)  4°.  [I.:  Forts,  d.  P-Beil.  18<J8.]  Hamburg, 
R  in  Eimsbüttel,  P  1899. 

P  e  t  r  y  ,  Johannes,  Dr. :  Die  Hausordnung  der  Fraterherren  und  der 
Tabernakelstiftung  zu  Emmerich.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  d. 
Internatserziehung.  [Hrsg.  u.  übers  ]  (S.  3—19.)  4°.  Steele,  st.  PG, 
P  1899. 

Petry,  Emil  Fr.  Th.:  In  welcher  Weise  sorgt  der  Volksschullehrer  am 
Besten  für  seine  Fortbildung.  Von  d.  Kgl.  Regierung  zu  Wiesbaden 
gekr.  Preisschrift.    Wiesbaden:  Ch.  Limbarth  1899.    (54  S.)  8'. 

Petschar,  M.:  Die  socialen  Zustände  und  das  Gymnasium.  E.  Beitrag 
zur  Socialreform.    Freiburg  i.  B.:  Herder  1899.    (83  S.)  8*. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Schriftleitung:  F.  Kemsies,  Berlin  NW  ,  Paulstr.33undL.Htrschlaff,  Berlin  W.,  Lützowstr  85b. 
Verlag  von  Hermann  Wal  ther,  Verlagsbuchhandl.,  O.m.b.  H..  Berlin  SW..  Kommandantenst.  14. 
Druck  :  Deutsche  Buch-  und  Kunstdruckerei  G.  m.  b.  H.,  Zossen— Berlin  SW.  48. 


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Zeitschrift 

für 

Pädagogische  Psychologie, 

Pathologie  und  Hygiene, 

Herausgegeben 

von 

Ferdinand  Kemsies  und  Leo  Hirschlaff. 
Jahrgang  IV.  Berlin,  September  1902.  Heft  4. 

Memorieren. 

Experimenteller  Beitrag 

von 

Marx  Lobsien. 

Die  nachfolgenden  Zeilen  wollen  einen  Beitrag  liefern  zu 
der  Frage,  ob  es  berechtigt  sei  in  der,  meines  Wissens,  land- 
üblichen Weise,  die  Strophen  eines  Gedichtes  einzeln  nachein- 
ander zu  memorieren,  oder  ob  man  das  Ganze  auf  einmal  lernen 
müsse.  Bedenkt  man  einen  Augenblick  die  Menge  dessen,  was 
schon  die  einfachste  V  olksschule  gewiesen  ist,  memorieren  zu 
lassen,  hört  man  die  aufrichtigen  und  häufigen  Klagen  derer, 
die  diese  Arbeit  fordern  müssen,  über  die  relative  Unfruchtbar- 
keit auch  des  ernstesten  Fleisses.  dann  wird  man  unschwer 
geneigt  sein,  anzunehmen  —  von  einem  etwa  vorhandenen 
Ucbermasse  sehe  ich  ab  —  dass  in  der  Weise  des  bisherigen 
Betriebes  etwas  ,,faul"  sein  muss  und  zugleich  dankbar  sein 
auch  für  einen  Versuch,  der  hier  Erleichterung  bringen  will, 
Ersparnis  an  Zeit,  Ersparnis  an  Kraft,  Ersparnis  vor  allem, 
wenn  nicht  gar  volle  Ueberwindung,  an  vielen  Stunden  des 
Missbehagens,  der  Mutlosigkeit,  der  Qual.  Arbeit,  die  unan- 
genehm, die  schwer  ist,  wird  niemand  aus  der  Welt  schaffen, 
das  kann  aber  nicht  hindern,  dass  volle  Wahrheit  behält : 
Arbeit  ist  G  e  n  u  s  s.  Auch  die  Memorierarbeit  muss  sich 

Zeitschrift  für  pädagogiiehe  Psychologie,  P.iili^ogic  und  Hygiene.  1 


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294 


Marx  Lobsien. 


zur  Arbeit  in  dem  Sinne  gestalten  lassen,  sie  darf  nicht  zu  einer 
schier  unerträglichen  Quälerei  werden,  zur  Straf  arbeit.  Ich 
gestehe,  dass  mir  keine  Wortkomposition  so  von  Grund  der 
Seele  aus  zuwider  ist,  wie  diese ;  sie  bezeichnet  eine  Profanation, 
eine  Entweihung  der  Arbeit  —  allerdings  muss  ich  auch  be- 
kennen, dass  es  kaum  eine  Strafe  von  so  inquisitorischem  Gehalt 
giebt  wie  die,  einem  zwölfjährigen  Buben  zur  Strafe  den  ganzen 
„Taucher"  oder  den  „Aufruf  an  mein  Volk4'  aufzubrummen. 
Natürlich,  die  Forderungen  befinden  sich  in  einer  Höhenschicht, 
die  weit  über  dem  Verständnis  des  kleinen  Gehirns  liegt  und 
ihre  Härte  liegt  zunächst  in  dieser  Unvernunft  der  Aufgabe, 
aber  auch  darin,  dass  man  die  technische  SeitederAuf- 
gabe  ausser  acht  lässt,  dass  man  dem  Schüler 
diese  selbst  überlässt  oder  günstigsten  Falles 
ihn  zwingt,  eine  falsche  Memoriermethode  an- 
zuwenden. 

Die  Forderungen  der  experimentellen  Psychologie  sind 
auch  in  der  vorliegenden  Angelegenheit  noch  bei  weitem  nicht 
genügend  berücksichtigt  worden,  haben  nur  wenige  Schulthür- 
schwellen überschritten;  ich  möchte  versuchen,  erneut  die  Auf- 
merksamkeit darauf  zu  lenken  und  auf  Grund  experimenteller 
Untersuchungen  an  Schulkindern  zu  ähnlichen  Versuchen  an- 
zuregen. Es  ist  bislang  noch  nicht  genügend  beachtet  worden: 
i.  Wenn  zwei  gleichartige  Reize  gegeben  sind,  so  wird  wenig- 
stens zumeist  der  Reiz  von  grösserer  Intensität  im 
Gedächtnis  festgehalten  .  .  .  allerdings  gilt  das  nur  im  grossen 
und  ganzen.  2.  Die  Vielseitigkeit  der  Reize  ist  wichtig  für  die 
Einprägung  ins  Gedächtnis.  3.  Die  Einprägung  ins  Gedächt- 
nis ist  von  der  Wiederholung  abhängig,  sei  diese  unabsichtlich 
oder  absichtlich.  Bezüglich  der  absichtlichen  Wiederholung  ist 
noch  folgendes  zu  beachten :  a)  Die  absichtliche  Wiederholung 
wirkt  verschieden,  je  nachdem  die  einzelnen  Wiederholungen 
unmittelbar  hintereinander  oder  in  Pausen  vorgenommen 
werden.  Bei  Erlernung  von  sechs  sinnlosen  Reihen  hatten  nach 
von  Ebbinghaus  angestellten  Versuchen  68  unmittelbar  auf- 
einander folgende  Wiederholungen  denselben  Erfolg  wie  38 
Wiederholungen  in  Pausen.  Daraus  folgt,  dass  das  Gedächtnis 
der  Erholung  bedarf.  Gönnt  man  ihm  eine  solche  nicht,  so 
tritt  Nervosität  ein.  b)  Beim  Auswendiglernen  bilden  sich  Re- 


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295 


produktionsassoziationen  auch  zwischen  dem  in  verschiedenen 
Gliedern  Entfernten,  nicht  bloss  zwischen  dem  beieinander 
Stehenden.  Jedoch  nimmt  die  Festigkeit  jener  assoziativen  Ver- 
knüpfung mit  der  Entfernung  der  Glieder  von  einander  ab.  Je 
näher  also  die  betreffenden  Glieder  einander  stehen,  desto 
leichter  fällt  die  wiederholte  Einprägung  derselben  und  umge- 
kehrt :  sie  fällt  um  so  schwerer,  je  weiter  von  einander  entfernt 
die  Glieder  sind.  Bei  sehr  grosser  Entfernung  der  Glieder 
kommt  das  wiederholte  Lernen  beinahe  der  erstmaligen  Ein- 
prägung an  Schwierigkeit  gleich.  Dieses  Moment  ist  auch  von 
Bedeutung  für  die  Wiederholung  in  umgekehrter  und  überhaupt 
veränderter  Folge  der  Glieder,  c)  Endlich  ist  darauf  hinzu- 
weisen, dass  bei  fortdauernden  Wiederholungen  nicht  alle 
Wiederholungen  gleichartig  sind.  Ihr  Werth  vermindert  sich 
sogar  bei  einer  Häufung  von  Wiederholungen.  Die  Einprägung 
ist  also  nicht  proportional  der  Zahl  der  Wiederholungen.  Das 
kommt  daher,  dass  gehäufte  Wiederholungen  langweilig  wer- 
den, somit  ermüdend  wirken  und  die  Aufmerksamkeit  erlahmen 
lassen.  Diese  Erscheinung  lässt  sich  deutlich  durch  eine  in  ein 
Koordinationssystem  gezeichnete  Kurve  darstellen,  welche  erst 
langsam  ansteigt,  dann  eine  Zeit  lang  auf  gleicher  Höhe  sich 
hält  und  schliesslich  wieder  absteigt.  4.  Die  Einprägung  ins 
Gedächtnis  hängt  in  nicht  geringem  Grade  von  der  Aufmerk- 
samkeit ab,  nicht  minder  5.  von  der  Schärfe  der  Apperception 
und  dem  Reichthum  an  Assoziationen.  Man  hat  den  Versuch 
gemacht,  annähernd  zu  bestimmen,  wie  gross  der  Unterschied 
der  Arbeit  beim  Lernen  sinnvollen  und  sinnlosen  Materials  ist. 
Die  Arbeit  reduzierte  sich  beim  Lernen  sinnvoller  Reihen  auf 
V10  also  um  9/lo  der  Kraft  und  Zeit.  —  Ich  erinnere  hier  auch 
an  die  sonstigen  bedeutsamen  Einwirkungen  des  Wortsinnes 
auf  die  Einprägung,  auf  die  ich  in  meiner  Schrift:  Die  Grund- 
lagen des  Rechtschreibunterrichts,  Bleyl  &  Kaemmerer-Dresden, 
hingewiesen  habe.  —  6.  Als  bedeutungsvoll  für  die  Einprägung 
ins  Gedächtnis  muss  ich  ferner  den  Gefühlswert  der 
Reize  erwähnen.  7.  Auch  von  einer  gewissen  Beschrän- 
kung in  der  Zahl  der  Reize  ist  die  Sicherheit  der  Ein- 
prägung ins  Gedächtnis  abhängig.  8.  Trotz  der  mannig- 
fachen individuellen  Unterschiede  in  dem  Gedächtnis  ver- 
schiedener Menschen,  ist  doch  die  Entwickelung  im  Ver- 

r 


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2% 


Marx  Lobsien. 


laufe  des  Lebens  ziemlich  gleichmässig.  Zwar  leistet  das 
kindliche  Gedächtnis  Bewunderungswürdiges,  trotzdem  hat  es 
seinen  höchsten  Stand  noch  vor  sich.  Die  grösste  Stärke  des 
Gedächtnisses  fällt  in  die  Zeit  vom  15.  bis  30.  Lebensjahre. 
Darauf  tritt  ein  langsames  Zurückgehen  bis  zum  80.  Lebens- 
jahre ein,  von  dem  ein  stärkeres  Zurückgehen  sich  bemerkbar 
macht.  Vom  50.  bis  60.  Lebensjahre  hält  sich  das  Gedächtnis 
ziemlich  stationär.  Alsdann  beginnt  es  allmählich  zu  erlöschen.*) 
Hier  werde  allein  die  Frage  genauer  erwogen,  ob  strophen- 
bezw.  zeilenweise  oder  in  zusammenhängenden  Abschnitten  zu 
memorieren  sei. 

Methode  des  Versuchs. 

Sie  ist  ausserordentlich  einfach.  Ich  wählte  —  nachdem  ich 
in  einer  Vorprüfung  Erfahrung  gesammelt  hatte  —  drei  Kinder- 
lieder aus.  Die  Länge  derselben  war  gleich,  auch  der  Rythmus 
war  annähernd  übereinstimmend.  Der  Inhalt  war  der  Art,  dass 
sich  ein  gleich  nachhaltiges  Interesse  für  denselben  voraussetzen 
Hess.  Die  Schwankungsunterschiede  in  der  Intensität  des  In- 
teresse bedingen  ganz  gewiss  eine  Fehlerquelle,  die  unkon- 
trollierbar und  darum  schwer  zu  stopfen  ist.  Man  ist  niemals 
in  der  Lage  sagen  zu  können,  dass  es  durchgehends  das  gleiche 
sei.  Andererseits  aber  hielt  ich  doch  dafür,  dass  wenigstens, 
eine  allgemeine  annähernde  Uebereinstimmung  sich  erzielen 
lassen  wird.  Ich  traf  daher  eine  sehr  sorgfältige  Auswahl,  sah 
dabei  in  erster  Linie  auf  den  Inhalt,  erwägend,  dass  ein  geringer 
Unterschied  in  der  Zeilenlänge  sich  rechnerisch  mit  leichter 
Mühe  werde  ausgleichen  lassen.  Wählt  man  sinnloses  Material, 
dann  entgeht  man  zwar  vielen  Schwierigkeiten,  entfernt  sich 
aber  —  worauf  ich  sehr  grosses  Gewicht  legen  möchte,  von  den 
natürlichen,  thatsächlichen  Verhältnissen  und 
—  fällt  in  die  Charybdis,  denn  es  ist  zweifelsohne,  dass  dann 
das  Moment  der  Langeweile  störend,  sehr  störend  eingreift 
und  Fehlerquellen  bedingt,  von  denen  sehr  schwer  zu  sagen 
ist,  dass  sie  geringer  seien  als  die  oben  genannten.  Ich  entschied 


*)  Siehe  das  ganz  vorzügliche:  Lehrbuch  der  pädagogischen  Psycho 
logie  von  Paul  Bergemann,  Leipzig,  Theodor  Hofmann,  das  auch  an  diesem 
Orte  wärmstens  empfohlen  sei. 


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297 


mich  für  folgende  Gedichte:  Heini  von  Richard  Dehmel, 
Schmetterling  und  Ausfahrt  von  Gust.  Falcke. 

Heini. 

Heini,  Heini, 

Ach  ist  Heini  dumm, 

Stipt  mit  allen  Fingerchen 

Im  Dintenfass  herum. 

Heini,  Heini. 

Kleiner  schwarzer  Möhr, 

Stipt  mit  allen  Fingerchen 

Klecks  ins  Ohr. 

Und  unten  am  Brunnen 

Da  steht  ein  Fass, 

Da  macht  sich  unsere  Lotte 

Pitsche-patsche  nass.  — 

Und  drohen  die  Sonne 

Hat  drüber  gelacht 

Und  hat  unsere  Lotte 

Wieder  trocken  gemacht. 

Schmetterling. 

Schmetterling,  Schmetterling, 
Tausend,  kannst  du  fliegen, 
Könnten  wir  dich  schnelles  Dinf 
Doch  zu  fassen  kriegen. 
Aber  ach.  das  Missgeschick, 
Ach  es  ist  zum  Weinen. 
Unser  Häuschen  ist  zu  dick 
Und  zu  kurz  von  Beinen. 
Alles  Laufen  hilft  ihm  nichts, 
Lächerliche  Faxen, 
Warten  muss  der  kleine  Wicht, 
Bis  ihm  Flügel  wachsen. 
Wenn  der  Hans  erst  fliegen  kann, 
Ei.  wer  möcht's  nicht  sehen. 
Armer  Buttcrleckcr,  dann 
Ist's  um  dich  geschehen. 

Ausfahrt. 

Schlitten  vor'm  Haus, 

Steig  ein,  kleine  Maus! 

Zwei  Katzen  davor. 

So  gehts  durch  das  Thor, 

Zwei  Katzen  dahinter. 

So  gehts  durch  den  Winter. 


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298 


Marx  Lobsien. 


Hinaus  in  das  Feld 
Wie  weiss  ist  die  Welt, 
Auf  einmal,  o  weh, 
Kleine  Maus  liegt  im  Schnee, 
Kleine  Maus  liegt  im  Graben, 
Wer  will  sie  haben? 

Schlitten  vor'm  Haus, 
Wo  bleibt  kleine  Maus? 
Die  Katzen,  miau, 
Die  wissen's  genau: 
Hat  nicht  still  gesessen, 
Da  haben  wir  sie  gefressen! 

Diese  Kinderlieder  wurden  den  Schülern  einer  Klasse,  31 
11— 12jährige  Knaben  kamen  in  Betracht,  auf  folgende  ver- 
schiedene Weisen  vorgelesen. 

1.  Weise  A/B. 

Das  Gedicht  wird  ganz  im  Zusammenhang  vorgelesen,  die 
Schüler  haben  ein  Blatt  Papier  zum  Schreiben  bereit  vor  sich 
liegen.  Sie  merken  scharf  auf ;  es  wird  ihnen  gleich  zu  Beginn 
des  Versuchs  gesagt,  dass  sie  hernach  das  Gehörte  niederzu- 
schreiben haben.  Um  ein  möglichst  getreues  Bild  zu  gewinnen, 
wird  der  Ehrgeiz  angeregt,  es  dem  andern  möglichst  zuvor  zu 
thun.  Es  wurde  keinerlei  Versuch  gemacht,  das  Initial,  die  Be- 
wegungsvorstellungen im  Sprechapparat  zu  unterbinden,  nur 
hörbares  Flüstern  war  verboten.  Es  ist  nach  meinen  Er- 
fahrungen nicht  allein  schwer,  vielleicht  gar  unmöglich, 
das  Initial  zu  unterbinden,  sondern  vor  allem  bedingt  ein  der- 
artiger Versuch  eine  so  fremde  Mundstellung,  dass  hieraus 
schwere  Störungen  des  Versuchs  mit  Notwendigkeit  sich  ergeben 
müssen.  Selbstverständlich  sorgte  eine  scharfe  Aufsicht  dafür, 
dass  Niemand  bei  den  Nachbarn  durch  Auge  oder  Ohr  ver- 
botene Anleihen  machte.  Nach  der  ersten  Niederschrift  er- 
folgte erneutes  Vorlesen,  dann  wieder  eine  Niederschrift  u.  s.  f. 
Das  wiederholte  sich  so  oft,  bis  die  grosse  Mehrzahl  behauptete, 
das  Gedicht  ganz  niedergeschrieben  zu  haben.  Ich  fand,  dass 
eine  fünfmalige  Wiederholung  zu  dem  Zwecke  aus- 
reichend war. 


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Memorieren. 


299 


2.  Weise  C  und  D. 

Nachdem  so  eine  fünfmalige  Wiederholung  als  ausreichend 
sich  erwiesen  hatte,  wurde  nun  (C)  das  ganze  Kinderliedchen 
fünfmal  nacheinander  vorgesprochen  und  dann  erfolgte  die 
Niederschrift.  Bei  der  dritten  Weise  wurde  jede  Strophe  einzeln 
—  von  den  Zeilen  sah  ich  ab  —  fünfmal  nacheinander  vorgelesen, 
eine  nach  der  andern  bis  zum  Schlüsse,  und  dann  erfolgte  die 
Niederschrift.  Es  ergaben  sich  also  drei  Arten  des  Memorierens : 
i.  Nach  jedesmaligem  Hören  erfolgte  die  Niederschrift,  2.  nach 
fünfmaligem  zusammenhängenden  Vortrage,  3.  nach  fünf- 
maligem strophischen  Vorsprechen. 

Wertungder  Ergebnisse. 

Die  Korrektur  der  jeweiligen  Ergebnisse  wurde  in  der 
Weise  vorgenommen,  dass  zeilenweise  ein  Vermerk  gemacht 
wurde,  ob  sie  richtig  wiedergegeben  war  oder  falsch.  Die 
Fehler  wurden  wieder  doppelt  gewertet  und  zwar  als  f,  wenn 
nur  formal  ein  Fehler  gemacht  worden  (ein  Verstoss  gegen 
Rythmus  oder  Reim  oder  Wortstellung),  und  o,  d.  h.  Inhalt  und 
Form  war  falsch  oder  der  Vers  ganz  ausgelassen.  Zunächst 
gebe  ich  die  Summen  der  Versuchsergebnisse.  Diese  Summen, 
auf  Grund  der  Durchschnittsrechnung  bestimmt,  geben  an,  w  i  e 
sich  der  praktische  Wert  der  verschiedenen 
Memorierweisen  bei  einer  Schülerzahl  von  31 
Köpfen  versuchsweise  normiert.  Ich  werde  hernach 
noch  versuchen,  einige  Sonderergebnisse  herauszustellen.  Ueber 
den  relativen  Wert  der  Memoriermethode  entscheidet  aber  nicht 
allein  die  unmittelbare  Niederschrift  nach  fünfmaliger  Wieder- 
holung, sie  würde  nur  ein  Bild  der  Reproduktionsfrische,  der 
momentan  vorhandenen  Energie  an  Reproduktionskraft  geben. 
Als  sehr  wesentlich  muss  noch  hinzukommen,  die  Treue  der 
Reproduktion  zu  erkunden.  Darum  wurde  noch  eine 
doppelte  Niederschrift  verlangt,  natürlich  ohne  vorhergehendes 
Vorsprechen,  die  erste  18,  die  zweite  48  Stunden  nach  dem 
ersten  Experiment.  Die  Summe  der  Fehler  giebt  dann  offen 
bar  im  Sinne  umgekehrter  Proportion  einen  Wert  für  die  Treue 
der  Reproduktion. 


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300 


Marx  Lobsien. 


Vcrsuchsergebnissc. 

Ich  gebe  zunächst  diejenigen  nach  der  Zahl  der  richtigen 
Leistungen.  Der  Kürze  wegen  bezeichne  ich  ferner  die  Ver- 
suchsweisen mit  A/B,  C,  D. 

A/B. 

Die  Niederschrift  erfolgt  iirmer  nach  einmaligem  Vortrage 
des  Liedes.   Das  Gesamtergebnis  ist  folgendes: 


Pro  /i  n  t 

Xiith  1  x  Vortrag 

..1 

100 

l  i'.r» 

272 

2-'t7 

.'il2 

511 

„     •"-  X  „ 

.  3f,rt 

603 

Ueberträgt  man  diese  Werte  in  eine  Kurve: 


so  zeigt  sich  deutlich  eine  zwar  andauernde  Zunahme  richtiger 
Leistungen,  diese  ist  aber  keineswegs  der  Zahl  der  Wieder- 
holungen proportional,  die  Differenzen  verhalten  sich  wie 
100:172:117:122  :g2.  Hiernach  hat  die  zweite  Wiederholung 
den  relativ  grössten  Wert,  die  dritte  und  vierte  halten  sich  an- 
nähernd auf  gleicher  relativer  Höhe,  erst  dann  geht  es  bergab 
in  der  Zunahme  in  immer  kleiner  werdenden  Stufen. 


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Memoria  rcn. 


301 


Die  Fehlertabelle  zeigt  ein  ganz  übereinstimmendes  Er- 
gebnis —  natürlich  muss  man  bedenken,  dass  hier  die  Ergeb- 
nisse ein  negatives  Vorzeichen  haben. 


F  c  h  1  c  r  t  a  b  e  1 1  e. 


Wied«  rhol 

u  n/r 

Wnit 

.1 

l'ro/.cnt 

Nach  1  X  Vortrag 

1  ort 

-» X 

•• 

1  IS 

44 

3  X 

r>»> 

17 

m  4X 

7 

„    r,  X 

1 

3 

Die  Differenzwerte  offenbaren  eine  Fehlerabnahme  durch 
die  zweite  Darbietung  von  560/0,  also  mehr  als  die  Hälfte, 
und  weiter  um  270/0,  ioOo,  4°/o,  also  auch  in  dieser  Hinsicht 
steht  die  zweite  Wiederholung  am  günstigsten  da. 

Versuch:  B,  C,  I). 

Vergleichen  wir  nun  bezüglich  der  Frische  der  Repro- 
duktion die  Ergebnisse  der  ersten  Aufzeichnung  nach  fünf- 
maliger Wiederholung  untereinander. 


1 .  T  a  b  e  1 1  c  d  c  r  richtigen  Fälle. 


| 

Wert 

Pro/cnl. 

w 

l 

■  nai 

■M  A  f 

HO  v 

c  1 

D 

riu 

71 

Differenzen  4 : 29. 

Am  günstigsten  steht  Weise  B  da,  sie  überragt  C  um  40/0, 
D  gar  um  290/0.  Fassen  wir  die  verwandten  Weisen  A  und  B 
zusammen,  dann  ergiebt  sich  eine  Differenz  von  270/0,  d.  h. 
nichts  mehr  und  nichts  weniger  als,  die  D-Methode  des  Me- 
morierens.  die  doch  so  weit  in  unseren  Schulen  verbreitet  ist, 


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302 


Marx  Lobsien. 


verschwendet  etwa  */4  an  Zeit  und  Kraft.  Und  das 
ist  nicht  einmal  zutreffend.  Ich  muss  noch  auf  einen  Umstand 
das  Augenmerk  richten,  diesen:  Von  allen  31  Schülern  waren 
nicht  weniger  als  23  ausserstande  bei  der  Weise  D 
die  Strophenanfänge  anzugeben,nachderWeise 
B  und  C  nur  3  und  5,  d.  h,  also  nach  der  ersten  M<emo- 
rierweise  66%  — 'eine  erschreckend  hohe  Zahl.  Ich  deu- 
tete den  Strophenanfang  kurz  an,  sonst  wäre  das 
obige  Zahlenverhältnis  noch  viel  ungünstiger  ausgefallen 
für  D.  Ich  gab  den  Strophenanfang,  weil  meines  Er- 
achtens das  Vergessen  desselben  sonst  viel  zu  hoch  gewertet 
worden  wäre.  Aber  die  Thatsache  steht  unumstösslich  fest,  dass 
bei  Vier  D-Weise  die  Strophenanfänge  vergessen  werden, 
während  das  bei  B  und  C  so  gut  wjie  nicht  der  Fall  ist.  Wir 
haben  hier  den  Schlüssel  zu  der  bekannten  Thatsache,  dass  in 
fröhlicher  Gesellschaft  nur  selten  jemand  imstande  ist,  den  An- 
fang der  zweiten  Strophe  anzugeben  und  das  Lied  gerät  ins 
Stocken,  weil  es  einst  falsch  memoriert  wurde. 

Zum  Vergleich  stelle  ich  die  Fehlertabelle,  und  zwar  so- 
wohl die  Ergebnisse  für  f  wie  o,  zusammen : 


Memorierweise 

f-Wert 

Prozent  |  o-Wert 

Prozent 

B 

84  i 

\  98 
112  ) 

100 

\  36 
55  t 

100 

C 

D 

10* 

106 

36 

100 

Bei  der  Fehlerwertung  ergiebt  sich  für  die  Weise  B  ein 
auffällig  ungünstiges  Ergebnis  gegenüber  C  und  auch  D,  ein 
Ergebnis,  dass  ich  immer  auch  durch  die  nachfolgenden  Unter- 
suchungen bestätigt  fand.  Bei  der  Weise  C  kamen  die  meisten 
Fehler  und  Auslassungen  vor,  allerdings  wiegt  das  nicht  schwer 
gegenüber  dem  weiter  oben  verzeichneten  Ergebnis.  Am  gün- 
stigsten stand  immer  B  da  bezüglich  der  Genauigkeit  der  Re- 
produktion. 

DieWiederholungsversuche. 
Die  erste  Wiederholung  wurde  nach  18,  die  zweite 
nach  48  Stunden  vorgenommen.  Der  Text  wurde  durch  den 


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Memo  rie  ren . 


303 


Experimentator  nicht  wieder  vorgetragen.  Das  Ergebnis  der 
ersten  Wiederholung  ist  folgendes: 

Tabelle  der  richtigen  Fälle. 


Memorierweise 

Wert 

Prozent 

B 

353 

100 

C 

302 

85 

J> 

236 

67 

Fehlertabelle. 

Memorierweise 

t 

o 

B 

108 

30 

C 

57 

127 

D 

147 

73 

Es  ergaben  sich  also  folgende  Differenzwerte  gegenüber 
dem  ersten  Versuch : 

B  =  37,  C  =  7i,  D  =  4o. 

Die  Weise  C  steht  also  bezüglich  der  Treue  der  Repro- 
duktion am  ungünstigsten  da.  Natürlich  ist  dabei  nicht  ausser 
acht  zu  lassen,  dass  die  Strophenanfänge  gegeben  wurden. 

Ergebnis  der  zweiten  Wiederholung. 
Tabelle  der  richtigen  Fälle. 


Memorierweise 

Wert 

Prozent 

B 

331 

100 

C 



263 

79 

D 

234 

71 

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304 


Marx  Lohnen. 


Fehlertabelle. 


Memnrierweise 

f-Weri 
109 

o-Wcrt 

B 

32 

e 

70 

147 

D  110 

85 

Die  Tabelle  der  richtigen  Fälle  ergiebt  gegenüber  dem 
ersten  Versuch  die  Vergleichswcrtc : 

B  =  59.  C-  no,  D  =  42, 
gegenüber  dem  zweiten  Versuche: 

R  -  22,  C  =  39,  D  =  2. 


Memori«  rweise 

2  zu  1 

f      |      o  | 

3  z 

-  3 

u  1 

° 

+  15 

3  zu  4 

f       |  0 

B  | 

—  4 

+  13 

+  2 

c 

—  17 

-f  73 

—  14 

-|-91 

13 

-f  18 

-|-  30 

+  37 

+  2 

-  21 

-  37 

+  8 

In  Kurven  der  richtigen  Fälle : 

50 


H  C  ü 

-  1.  Versuch.  =  t.  Wiederholung, 

- — — —     2.  Wiederholung. 

Die  D-Memorierweise  zeigt  sich  somit  sowohl  bezüglich 
der  Treue  wie  der  Frische  der  Reproduktion  der  Weise  B  und 


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Afcniot  icrcn. 


305 


C  gegenüber  bedeutend  unterlegen.  Sie  ist  als  unpsychologisch 
und  unpraktisch  zu  verbannen. 

Man  könnte  zwar  die  Frage  aufwerfen,  ob  man  denn 
auch  einen  umfangreicheren  Memorierstoff,  wie  etwa  den 
Taucher,  den  Grafen  von  Habsburg  in  der  Weise  memorieren 
müsse.  Die  Ergebnisse  des  vorliegenden  Experimentes  lassen 
darauf  unmittelbar  keine  Antwort  zu,  sind  aber  innerhalb  ihrer 
Grenzen  so  evident,  dass  ich  für  die  Altersstufe,  da  die  ge- 
nannten umfangreicheren  Werke  in  Frage  kommen,  unbedingt 
für  die  Memorierweisen  B  und  C  gegenüber  D  eintreten  muss. 

Wie  erklärt  sich  aber  der  verschiedene  Wert  von  B  und 
C  ?  Einfach  so,  dass  bei  B  eine  grössere  Anzahl  von  Wieder- 
holungen stattfand,  denn  der  unmittelbar  folgende  Versuch  zu 
reproduzieren  bedeutet,  trotzdem  er  zumeist  auf  halbem  Wege 
stecken  bleibt,  dennoch  eine  Wiederholung;  einen  unmittelbaren 
Vergleich  lassen  somit  nur  C  und  D  zu. 

Zum  Schluss  möchte  ich  noch  kurz  die  Frage  streifen,  wie 
sich  die  Memorierweisen  zur  Intelligenz  verhalten.  Nun  ist 
ja  allerdings  die  Intelligenz  nicht  wägbar,  auch  nicht  nach 
allen  Seiten  gleich  ausgebildet.  Immerhin  aber  lässt  sie  sich 
durch  eine  Censur  im  allgemeinen  bezeichnen,  zumal  es  hier 
nur  darauf  ankommt,  die  Gegensätze  herauszuheben  und  einen 
Vergleichswert  zu  bestimmen.  Ich  wählte  je  6  Schüler  aus, 
die  annähernd  den  gleichen  „Hauptplatz"  in  der  Klasse  ver- 
dienen und  zwar  die  6  ersten  und  die  6  letzten,  und  fasste  die 
Versuchsergebnissc  zusammen.   Ich  fand  folgende  Daten: 


1.  Vor- 
such 


1.  Wie- 
der- 
holung 


iltinorierweisr 

Differenz 

Ii 

-  ii  

63 

-18 

C 

90 

54 

-36 

D 

47 

-15 

B 

78 

-15 

1 — 

C 

i 

76 

54 

-22 

D 

43 

33 

-5 

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306 


Marx  Lobsren. 


2.  Wie-  } 
der-  \ 
bolong 


Memorierweise 

Begabte 

Unbegabte 

Differenz 

B 

74 

55 

-19 

C 

75 

43 

-32 

« 

34 

-7 

Die  Uebersicht  zeigt  deutlich  eine  Bestätigung  der  ge- 
wonnenen Ergebnisse.  Am  deutlichsten  prägt  sich  das  aus  bei 
den  weniger  Begabten,  bei  den  Intelligenteren  verwischen  sich 
die  Unterschiede  etwas,  ohne  doch  der  Regel  zu  widersprechen. 

Anmerkung:  Nach  32  Tagen  wurde  für  C  und  D  eine 
dritte  Wiederholung  veranlasst.  Sie  ergab  für  die  Zahl  der 
richtigen  Reproduktionen  folgende  Verhältniswerte: 

C  25  :  D  10 
Die  C-Werte  verhielten  sich  gar  wie 
C  48  :  D  175  oder  wie 
5  :  18. 


I 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volks- 
schule in  Mannheim. 

Nach  der  gleichlautenden  Denkschrift  des  Stadtschulrats 

Dr.  Sickinger  dargestellt 

Fritz  Feilcke. 

An  der  Mannheimer  erweiterten  Volksschule  zeigte  sich 
seit  Jahren  die  bedauerliche  Erscheinung,  dass  es  nur  verhält- 
nismässig wenigen  Schülern  möglich  war,  die  oberste  Klasse 
zu  erreichen.  Der  grösste  Teil  wurde,  weil  er  den  gestellten 
-Anforderungen  nicht  genügen  konnte,  häufiger  zurückversetzt, 
und  entwuchs  schliesslich  der  Schulpflicht,  ohne  eine  ab- 
geschlossene Bildung  erlangt  zu  haben.  Dem  Bestreben,  den 
interessierten  Kreisen  eine  umfassende  Darstellung  dieser  un- 
gesunden Verhältnisse  zu  geben,  ist  die  genannte  Denkschrift 
entsprungen.  Sie  enthält  eine  Erörterung  der  Ursachen  der  er- 
wähnten Missstände  unid  Vorschläge  zu  deren  Beseitigung ;  um- 
fangreiche statistische  Angaben  ermöglichen  es  dem  Leser,  sich 
ein  eigenes  Urteil  zu  bilden.  Da  auch»  an  anderen  Orten  die 
Neuorganisation  der  Volksschule  eine  Rolle  spielt,  so  erscheint 
es  wünschenswert,  die  Ausführungen  Sickingers  möglichst 
ausführlich  wiederzugeben ;  umsomehr,  als  ein  Teil  der  in  der 
Denkschrift  niedergelegten  Vorschläge  bereits  zur  Ausführung 
gekommen  ist  und  gute  Resultate  gezeitigt  hat. 

Seit  1870  besteht  in  Mannheim  eine  konfessionell  gemischte 
erweiterte  achtklassige  Volksschule,  die  aus  der  Ver- 
schmelzung der  früheren  sechsklassigen  Volksschule*)  mit 
einer  zweiklassigen  gewerblichen  Vorschule  hervorgegangen  ist. 
Der  Lehrplan  dieser  erweiterten  Volksschule  hält  sich  im 

*l  Anmerkung:  Dieselbe  bestand  als  besondere  Einrichtung  n-  d> 
bis  zum  Jahre  1872. 


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308 


Fritz  Feikke. 


wesentlichen  innerhalb  der  Grenzen  des  badischen  Normal- 
lehrplans von  1869,  nur  im  Rechnen  werden  weit  höhere  An- 
forderungen gestellt.    Es  wurde  bei  der  Verschmelzung  das 
Pensum,  was  der  Normallehrplan  für  acht  Jahre  vorsieht,  auf 
die  ersten  sechs  Jahre  zusammengedrängt  und  den  beiden  ober- 
sten Klassen  der  mathematische  Lehrstoff  der  gewerblichen 
Vorschule  überwiesen.    Um  zu  zeigen,  welche  Anforderungen 
dadurch,  trotz  einer  1887  vorgenommenen  teilweisen  Reduktion, 
an  die  Volksschüler  gestellt  werden,  sei  eine  Zusammenstellung 
der  Rechen-  und  Geometriepensa  gegeben,  und  zum  Vergleich 
der  badische  Normallchrplan  von  1869  und  der  Lehrplan  der 
Karlsruher  erweiterten  Volksschule  aufgeführt. 


Tabelle  I. 

Übersicht  über  die  Verteilung  des  Rechenstoftes. 

Biuli^  her  Normallehr- 
jdan  vom  Jahr 

Lehr]  Jan  der  erweitert  en 
Schule  in  Karlsruhe 

Ixdirplan  der  erweiterten 

Schule  in  Mannheim 
nach  der  Revision  vom 
Jahre  1887 

Erstes  Schulj 

Wöehentl,  3    4  Stunden. 

Zu   und  Abzahlen  mit 
1—5  einschließlich  im 
Znhlenraume  von  )-  l'O 
in    niiien     1  nd  am:e- 
w;md  •  i)    Zahlen.  Be- 
ze.<  ttmri/r    d<.r  Zahlen 
dui  ch  Striche  und  Ziffern. 

ahr.    Kinder  im  Aller  voi 

Wöchentlich  f»  Stunden. 

Auffassen  und  Hilden 
der  (-irnndzahlen  1  10. 
Zerlegen  der  einzelnen 
U  rund  zahlen  durch  Zu- 
und  Abzählen  und  Ver- 
gleichen. Erweitern 
des  Zahlenkreises  Iis  '-'0. 
Zu-  und  Abzählen  mit 
I  innerhalb  diesem 
Zahlen  Preises  mit  und 
ohne  Zerlegen.  Dar- 
i  tellim,"-  der  Ziffern  zn- 
ena  durch Strirhe  u.s  w., 
ypaier  durch  Ziffern. 

i  6  -7  Jahren. 

Wöchentlich  6  Stunden 
Zu-  und  Abzählen  mit 
1  -  !>   einschliesslich  im 
Zahlen  räume  von  1—  50 
in     reinen     und  ange- 
wandten   Zahlen.  Be- 
zeichnung   der  Zahlen 
durchstriche  und  Ziffern. 

Zweites  Schul 

Wöehentl.  3  -  4  Stm  den. 

Zu-  und  Abzahlen  mit 
1  -  10  einschliesslich  im 
Zahlenraume  von  1  -  100 
in    reinen    und  ange- 
wandten Zahlen.  Dar- 
stellung der  Zahlen  durch 
Zi  Toru. 

jähr.    Kinder  im  Alter  v» 

Wöchentlich  (>  Stunden. 

Erweitern  des  Zah  Um- 
kreises Uik  11)  i  mit  Zer- 
legen. Angabe  der  Stellen- 
werte und  Au.sehreiben 
in  Zifiern.  Zu-  und  Ab- 
zahlen mit.  1  — 10  im  ge- 
nannten Za  hlcnkreise  mit 
und  ohne  Zerlegen. 

in  7—  K  Jahren. 

Wöchentlich  <>  Stunden. 

Zu-  und  Abzählen  mit 
1-10  einschüe.-slich  im 
Zahlenraume  von  1  -  100 
in  reinen  und  ange- 
wandteu  Zahlen.  —  Das 
Vervielfachen  und 
Teilen  iuuerhalbder 
(.!  renzen  vom  kleinen 
E  inmftl  e  i  n  s  mündlich 
und  schriftlich.  Darstell- 
ung der  Zahlen  durch 
Ziffern. 

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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim.  309 


Badischer  Normal  lehr- 
plan vom  Jahre  1869 

Lehrplan  der  erweiterten 
Schule  in  Karlsruhe 

Lehrplan  der  erweiterten 

Schule  in  Mannheim 
nach  der  Revision  vom 
Jahre  18S7 

Drittes  Schul] 

Wöchentl.  3—4  Stunden. 

Das  Vervielfachen  und 
Teilen  innerhalbderGren- 
zen  vom  kleinen  Einmal- 
eins ,  mündlich  und 
schriftlich.  —  Zu-  und 
Abzählen  ein-  und  zwei- 
stelliger Zahlen  im  Zah- 
lenraum von  1  —  1000, 
mündlich  und  schriftlich, 
von  dreistelligen  nur 
schriftlich.  Sämtliche« 
in  reinen  und  ange- 
wandten Zahlen. 

ahr.    Kinder  im  Alter  vo 
Wöchentlich  6  Stnnden. 

Vervielfachen  und  Tei- 
len innerhalb  der  Gren- 
zen des  kleinen  Einmal- 
eins   in  verschiedener 
Sprechweise  und  Frage- 
stellung.  Erweitern  des 
Zahlenkreises    bis  1000 
mit  genauer  Beachtung 
der   Stellenwerte.  Zu- 
und  Abzählen  1-,  2-  und 
3  stelliger  Zahlen  im  be- 
zeichneten Zahlenraum, 
der     dreistelligen  nur 
schriftlich. 

n  8 — 9  Jahren. 
Wöchentlich  6  Stunden. 

Erweiterung  des  Zah- 
lenkreises bis  1000  In- 
nerhalb dieses  Zahlen- 
kreises :    Zerlegen  und 
Anschreiben  von  Zahlen. 
Zu-  und  Abzählen  1-  und 
2  stelliger  Zahlen  münd- 
lich und  schriftlich,  von 
3 stelligen  nur  schriftlich 
in    reinen    und  ange- 
wandten Zahlen.  Ver- 
vielfachen   und  Teilen 
innerhalb   der  Grenzen 
vom  grossen  Einmaleins, 
jedoch  ohne  Memorier- 
uiiir  desselben    in  reinen 

und  angewandten  Zah- 
len mündlich.  Die  vier 
Grundrechnungsar- 
ten jedoch  nur  schrift- 
lich im  unbeschränk- 
ten Zahlenraum  in  un- 
benannten Zahlen,  Teilen 
nurm.  l-u.2stell.  Divisor. 

Viertes  Schul} 

Wöchentl.  3—4  Stunden. 

Mündlich:  Verviel- 
fachen und  Teilen  inner- 
halb der  Grenzen  vom 
grossen  Einmaleins,  je- 
doch ohne  Memorierung 
desselben.  Samtliches  in 
reinen  und  atigewandten 
Zahlen. 

Auf  der  Tafel:  Die 
vier  Spezies  In  unbe- 
nannten Zahlen  im  un- 
beschränkten Zahlen- 
raume. 

ahr.    Kinder  im  Alter  vo 
Wöchentlich  6  Stunden. 

Vervielfachen  und  Tei- 
len innerhalbderGrenzen 
d.  gross.  Einmaleins,  wo- 
bei die  Reihen  1 1, 12  u.  15 
auswendig  zu  lernen  sind. 

Wiederholung  des  Zu- 
und  Abzählens  mit  2- 
und  3 stelligen  Zahlen; 
Vervielfachen  2-  und  3- 
stelliger  Zahlen  durch 
1-  und  leichte  2  stell  ige, 
Teilen    durch   1  stellige 
im  Zahlenraum  bis  1000. 

Erweitern  des  Zahlen- 
raumes bis  Million  mit 
Stellenangabe  und  Zer- 
legen  zur  gründlichen 
Einübung  des  Anschrei- 
be ns  und  Aussprechens. 

Vielfache  Zahlendik- 
tate.   Die  4  Grundrech- 
nungsarten  mit   un  be- 
nannten und  einfach  be- 
nannten    Zahlen  im 
Zahlenraume  bis  Million. 

n  9  — 10  Jahren. 
Wöchentlich  6  Stunden. 

Wiederholung  u.  Er- 
gänzung der  4  Rechen - 
geschälte     im  unbe- 
schränkten Zahlenraum. 

Kenntnis  derMasse 
(einschliesslich  des  Zeit- 
masses),  der  Gewichte 
und  der  in  Deutsch- 
land kursierenden 
Münzen.  Verwandlung 
höherer  Sorten  in  niedere 
und  umgekehrt  (Reso- 
lution und  Reduktion) 
mündlich  und  schrif  1 1  ich. 

Die    vier  Grund- 
rechnungsarten in 
ungleich  benannten 
Zahlen  mündlich  und 
schriftlich   in  leichten 
Aufgaben.  Anreihend 
an  die  zehnteiligen  Masse 
Kenntn  isderDezimal- 
zahlen. 

Zeitschrift  für  pädigogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  2 


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310 


Fritz  Feückc. 


Badischer  Normallehr- 
plan  vom  Jahr  1869 


Lehrplan  der  erweiterten 
Schale  in  Karlsrahe 


Ja' lirplan  der  erweiterten 

Schule  in  Mannheim 
nach  der  Revision  vom 
Jahre  1887 


Fünftes  Schuljahr.   Kinder  im  Alter  von  10—11  Jahren. 


Wöchentl.  3—4  Stunden. 
Wiederholung:  Die  vier 
Grundrechnungsarten 
mit  ungleich  benannten 
Zahlen  (Masse  und  Ge- 
wichte). 


Wöchentlich  5  Stunden. 

Die  Münzen,  die  Län- 
gen- und  Hohlmasse  und 
die  Gewichte.  Verwand- 
lung höherer  Sorten  in 
niedere  und  umgekehrt. 
Anschreiben  mehrfach 
benannter  Zahlen  als 
einfachbenannte  mitdem 
Einheitskomma  und  den 
amtlichen  Massbezeich- 
nungen. 
Zablendiktate.  Die  vier 
Grundrechnungsarten 
mit  mehrfach  benannten 
Zablen.  Die  Zeitrech- 
nung. 


Wöchentlich  4  Stunden. 

Die  Dezimalbrüche.  D  i  e 
gemeinen  ßrücbe 
mündlich  und  schriftlich 
in  einfacheren  Aufgaben. 
Das  Erweitern,Abkürzen 
und  Gleichnamigmachen 
derselben  und  die  vier 
Spezies.  Anwendungs- 
aufgaben. 


Sechstes  Schuljahr.   Kinder  im  Alter  von  11  —  12  Jahren. 


Wöchentl.  3—4  Stunden. 

Wiederholung  des  Frü- 
heren im  unbeschränkten 
Zahienrauin.  Zeitrech- 
nungen, Textaufgaben. 
Gemeine  Brüche,  Dezi- 
malbrüche. Leichte 
Schlussrechnungen. 


Wöchentlich  5  Stunden. 

Bruchlehre :  Entsteh- 
ung u.  Arten  der  Brüche. 
Verwandlung  unechter 
Brüche  in  gemischte 
Zahlen  und  umgekehrt. 
Erweitern  und  Kürzen 
der  Brüche  unter  Be- 
tonung der  Teilbarkeit 
der  Zahlen.     Die  vier 

Grundrechnungsarten 
mit  gemeinen  Brüchen. 

Das  Dezimalsystem : 
Die  4  Grundrechnungs- 
arten mit  Dezimal- 
brüchen. Verwandlung 
gemeiner  in  Dezimal- 
brüche und  umgekehrt. 
Wiederholung  der  Zeit- 
rechnung. Einfache 
Schlussrechnungen  mit 
geraden  u.  umgekehrten 
Verhältnissen. 


Wöchentlich  4  Stunden. 

Wiederholung  der 
Bruchlehre  in  schwie- 
rigeren Aufgaben.  Ein- 
fachere Zweisatzrech- 
nungen mündlich  und 
schriftlich. 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim.  311 


Badischer  Normallehr- 
pian  vom  Jahr  1869 


Lehrplan  der  er  weiterten 
Schule  in  Karlsruhe 


Lehrplan  der  erweiterten 

Schule  in  Mannheim 
nach  der  Revision  vom 
Jahre  1887 


Siebentes  Schuljahr.    Kinder  im  Alter  von  12—13  Jahren. 


Wöchentl.  3—4  Stunden. 

Wiederholung  des  ge- 
meinen Bruch  rechnens 
und  der  Dezimalbrüche. 

Schlussrechnung.  2-, 
3-  n.  mehrgliedrige  Zwei- 
saterechnungen (Waren-, 
Zins-.  Arbeits-,  Gesell - 
scharte-,  Teilungs-,  Ge- 
winn- und  Verlustrech- 
nungen). 


Wöchentlich  5  Stunden. 

Einfache  n.  zusammen- 
leset zte  Schlussrech- 
nungen mit  und  ohne 
Zweisatz.  (Arbeits-  und 
Verdienst^,  Ersparnis-, 
Prozente,  Zins-,  Rabatt-, 
Gewinn-  und  Verlust-, 
Durchschnittsrechnun- 
gen). In  der  Knaben- 
schule ist  das  Geschäfts- 
leben,  in  der  Mädchen- 
schule die  einfacheHaus- 
haltung  in  passenden 
Aufgaben  zu  berück- 
sichtigen. 


Wöchentlich  4  Stunden. 

Knaben.  Erweiterte» 
Zweisatzrechnen  münd- 
lich und  schriftlich.  Ge- 
sellschafts-, Teilungs-, 
Gewinn-  und  Verlust-, 
Termin-,  Rabatt-  und 
Mischungsrechnungen. 
Das  Ausziehen  der 
Quadratwurzel. 

Mädchen.  Zweisatz- 
rechnen mündlich  und 
schriftlich,  letzteres  2-, 
3-  und  mehrgliedrig 
Rabatt-  und  Zinseszins- 
rechnungen. 


Achtes  Schulj 

Wöchentl.  3 — 4  Stunden. 

Fortsetzung  des  im 
7.  Schuljahr  behandelten 
Rechnens.  Dazu  die 
übrigen  Arten  der  Rech- 
nungen des  Geschäfts- 
lebens. -  Durchschnitts-, 
Termin-,  Rabatt-,  Mi- 
schungsrechnungen usw. 


ir.    Kinder  im  Alter  von 

Wöchentlich  5  Stunden. 

Arbeits-  u.  Verdienst-, 
Ersparnis-,  Prozent-, 
Zins-,  Rabatt-,  Gewin  n- 
und  Verlust-,  Durch- 
schnitts-, Mischung»-, 
Teilungs-  und  Gesell- 
schafts-, Termin-  und 
Wertpapierenrechnun- 
gen. Aullösung  mit  und 
ohne  Zweisatz. 

In  der  Knabenschule 
werden  die  Aufgaben 
zumeist  dem  GeschüfUs- 
leben,  in  der  Mädchen  - 
s  *hule  den  Bedürfnissen 
der  einfachen  Haushalt- 
ung entnommen. 


13—14  Jahren. 

Wöchentlich  4  Stunden. 

Knaben.  Schwieri- 
gere Zweisatzrechnun- 
gen mit  möglichster  Be- 
rücksichtigung des  Han- 
delsrechnens und  des  ge- 
werblichen Rechnens. 
Die  Hauptsätze  der 
geometrischen  Pro- 
portion. Leichtere 

Gleichungen  des 
ersten    Grades  mit 
einer  Unbekannten. 
Übung  durch  Text- 
a  uf  gaben. 

Mädchen.  Erweiter- 
tes Zweisatzrechnen  mit 
möglichster  Berücksich- 
tigung des  Handelsrech- 
nens und  Hereinziehen 
von  Beispielen  aus  dem 
bürgerlichen  Leben  und 
der  Haushaltung.  Misch- 
ungsrechnungen. 


2* 


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312 


Fritz  Feile ke. 


Uebersicht  über  die  Verteilung  des  üeometriepensums.*) 


Badischer  Normallehrplan 
vom  Jahre  18o9 


Lehrplan  der  erweiterten  Schule 
in  Mannheim 


Fünftes  Schuljahr. 


(Der  Unterricht  in  Geometrie  be- 
ginnt erst  im  6.  Schuljahr). 


Kenntnis  der  verschiedenen  Linien, 
Winkel  und  der  einfachsten  Figuren. 
Freies  Zeichnen  geradliniger  Figuren, 
Winkel  und  Linien  nach  dem  Augeu- 
mass  und  nach  bestimmten  Grötsen- 
angaben. 


Sechstes  Schuljahr. 


Kenntnis  der  verschiedenen  Linien, 
Winkel  und  der  einfachsten  Figuren. 
Mensen  der  Linien  und  Winkel. 
Zeichnen  von  geometrischen  Figuren 
nach  dem  Augenmass  und  nach  be- 
bestimmten G  rössenangaben.  —  Freies 
Zeichnen  geometrischer  Figuren,  des 
Kreises  und  von  verschiedenen 
Bogenlinien. 


Knaben:  Wiederholung  der  geo- 
metrischen Formenlehre,  erweitert 
durch  Betrachtung  und  Beschreibung 
der  regelmässigen  geometrischen 
Körper.  Konstruktionen  in  der  Ebene. 
Gebrauch  des  Zirkels,  Lineals,  ver- 
jüngten Massstabes  und  Trans- 
porteurs. —  Leichte  Flächenberech- 
nungen mit  Anwendung  in  einfachen 
Beispielen. 

Mädchen:  Kenntnis  der  ver- 
schiedenen Linien,  Winkel  und  der 
einfachsten  Figuren,  nebst  Betracht- 
ung und  Beschreibung  der  regel- 
mässigen Körper.    Freies  Zeichnen 

Esradliniger  Figuren,  Winkel  and 
inien. 


Siebeates 

Berechnung  von  Flächen  und 
Zeichnen  von  Zusammenstellungen 
von  Flächen. 

Freies  Zeichnen  solcher  Figuren, 
an  denen  gerade  und  krumme  Linien 
vorkommen. 


Schuljahr. 

Knaben:  Fortgesetzte  Konstruk- 
tion in  der  Ebene.  —  Eigentliche 
Geometrie:  Lehre  von  den  Winkeln. 
Umfangs-  und  Aussen  Winkel  ge- 
schlossener Figuren.  Kongruenz  der 
Drei-,  Vier-  und  Vielecke ;  darauf  sich 
gründende  Sätze;  die  Sätze  vom 
Parallelogramm.  Wiederholung  and 
Erweiterung  der  Flächen  und  Ober- 
flächenberechnungen mit  Anwend- 
ungsaufgaben. Körperberechnung. 

Mädchen:  Flachenberechnungen 
mit  Anwendungsaufgaben. 


*)  Anmerkung:  Die  Karlsruher  erweiterte  Volksschule  folgt  hinsicht- 
lich des  Umfanges  and  der  Verteilung  des  Geometriestoffes  im  grossen  und 
ganzen  dem  Normallehrplan ;  hinzu  kommt  für  die  fünfte  Klasse  geome- 
trischer Anschauungsunterricht. 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim, 


313 


Badischer  Xormallehrplan 
vom  Jahre  1H49 


Lehrplan  der  erweiterten  Schule 
in  Mannheim 


Achtes  Schuljahr. 


Kenntnis  und  Beschreibung  der 
einfachen  und  geometrischen  Körper. 

Berechnung  des  Körperinhalts. 
Zeichnen  von  Körpernetzen. 

Freies  Zeichnen  krummliniger  Fi- 
guren. 


Knaben  Vergleichnng  der  Flachen 
ebener  Figuren.  Die  Lehre  vom 
Kreis;  Ähnlichkeit  der  Dreiecke; 
darauf  sich  grundende  Sätze.  Pro- 
portionalität der  Linien  ebener  Fi- 
guren ;  A  n  wod  dung  obiger  Sätze  durch 
Konstruktion^  ui  ^uben.  Körperbe- 
rechnung mit  Anwendunpsauigaben. 

Mädchen:  Körperberechnung  mit 
Anwendung. 


In  Karlsruhe  besteht  neben  der  erweiterten  Volksschule 
noch  eine  einfache  mit  minder  weit  gesteckten  Lehrzielen. 
In  Mannheim  ist  dagegen  jedes  Kind  zum  Besuch  der  acht- 
klassigen  Schule  verpflichtet  und  damit  gezwungen,  einen 
äusserst  umfangreichen  Rechenstoff  zu  bewältigen.  Dass  das 
für  einen  mittelmässig  begabten  Schüler  schon  äusserst 
schwierig  sein  muss,  erkennt  jeder  Fachmann  auf  den  ersten 
Blick;  die  erreichten  Unterrichtsergebnisse  laSsen  keinen 
Zweifel  darüber.  Die  folgende  Tabelle,  eine  Zusammenstellung 
ausführlichen  Materials,  giebt  an,  wieviel  Prozent  der  in  den 
Dezennien  1877/87  und  1887/97  zur  Entlassung  gekommenen 
Schüler  bis  zur  zweiten,  dritten,  vierten  u.  s.  w.  Klasse  auf- 
gestiegen waren. 

Tabelle  ITL 


Durchschnittsprozentsatz  der  entlassenen  Schuler. 

Klasse 

Knaben 

Mädchen 

Für 

die 

Zeit 

von 

Für 

die 

Zeit  von 

1877  bis  18*7 

183 

1  bis  1897 

1877  bis 

IS87 

1^k7  bis  1697 

i? 

0,04 

0,02 

0,03 

0,0  2 
0,04 

III 

0,35 

0,42 

0,o8 

0,39 

IV 

3.9t, 

2,01 

4,07 

3,4») 

V 

12.11 

8,80 

l4,2o 

10,74 

VI 

32,25 

21,t>3 

27, o7 

21/>4 

vn 

33,4'> 

37,84 

33,72 

42.45 

vm 

17,77 

29,21 

19,56 

21,23 

*)  Die  I.  Klasse  ist  die  unterste. 


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314 


Fr  Uz  FtiL'Ze. 


Diese  Zahlen  zeigen  auf  das  deutlichste  die  Unzuläng- 
lichkeit des  Mannheimer  Volksschulwesens.  Wenn  sich  auch 
seit  1887,  nach  der  teilweisen  Befreiung  des  Elementarunter- 
richts vom  wissenschaftlichen  Ballast,  die  Verhältnisse  etwas 
gebessert  haben,  so  erreichten  doch  immer  100—29,21  = 
70.79  0  0,  also  über  2/.i  der  zur  Entlassung  gekommenen  Knaben, 
die  oberste  Klasse  nicht;  70,79—37,84  =  32,950/0,  also  beinahe 
V3  sämtlicher  Knaben,  konnte  sogar  nicht  einmal  die  zweite 
Klasse  absolvieren.  Aehnlich,  und  z.  T.  noch  schlimmer,  ge- 
stalten sich  die  Verhältnisse  bei  den  Mädchen. 

Alle  diese  Misserfolge  sind  darin  begründet,  dass  die 
Forderungen  des  Lehrplans  die  natürliche  Leistungsfähigkeit 
der  Kinder  übersteigen.  Als  man  1870  die  erweiterte  Volks- 
schule ins  Leben  rief,  glaubte  man,  dass  „der  erweiterte  Lehr- 
plan durchaus  nicht  mehr  umfasse,  als  was  ein  gewöhnlicher 
Verstand,  ein  mittlerer  Fleiss  in  den  darauf  zu  verwendenden 
acht  Jahreskursen  ohne  besondere  Anstrengung  in  sich  auf- 
nehmen kann."  Welche  verhängnisvollen  Folgen  dieser  Irrtum 
nach  sich  zog,  zeigt  zur  Genüge  die  angeführte  Entlassungs- 
statistik. —  Der  Hauptfehler,  den  man  beging,  war  offenbar 
die  Verschmelzung  der  gewerblichen  Vorschule,  also  einer 
Fachschule,  mit  der  Volksschule.  Dadurch  wurde  „der  Um- 
fang und  die  Verteilung  des  Unterrichtsstoffes  im  Rechnen 
und  in  der  Geometrie  nach  Zwecken  bestimmt,  die  der  Elemen- 
tarschule, der  Vermittlerin  der  allgemeinen  Ausbildung,  fern 
bleiben  müssen,  soll  nicht  die  grosse  Masse  der  Schüler  aufs 
schwerste  geschädigt  werden."  Die  Schädlichkeit  einer  solchen 
Vereinigung  zeigte  sich  auch  bald.  Die  Kinder  blieben  schon 
in  den  untersten  Klassen  vielfach  sitzen,  da  sie  dem  schnellen 
Unterricht  nicht  zu  folgen  vermochten.  Die  grosse  Anzahl 
der  Repetenten  führte  aber  wieder  ein  äusserst  ungleich- 
mässiges  Schülermaterial  herbei,  so  dass  einem  gedeihlichen 
Massenunterricht  die  grössten  Hindernisse  bereitet  wurden.  Die 
Vorbereitung  der  Kinder,  die  zur  Bürgerschule  übergehen 
wollten,  war  mangelhaft.  Die  Kinder,  die  wirklich  die  Schule 
durchmachten,  hatten  endlich  nur  geringe  Vorteile  davon;  es 
iwar  ihnen  nie  Zeit  gelassen,  sich  in  den  Stoff  zu  vertiefen; 
so  ereignete  es  sich  dann,  dass  es  bjei  einer  Schulvisitation 
nur  wenigen  Schülern  der  VII.  und  VIII.  Klasse  möglich 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim. 


315 


war,  ganz  einfache  Zinsrechnungen  und  Textgleichungen  zu  >, 
bewältigen.   Endlich  wurde  die  grosse  Masse  der  Kinder,  die  *  s 
die  die  oberen  Klassen  nicht  mehr  absolvieren  konnte,  schwer  ^wj^*^ 
geschädigt;  die  erworbenen  Kenntnisse  entbehrten  eines  Ab-  '^P" 
Schlusses;  manche  für  das  Leben  äusserst  wichtige  Thatsachen 
wurden  ihnen  vorenthalten.    So  blieben  z.  B.  einem  aus  der 
sechsten  Klasse  abgehenden  Schüler   völlig  unbekannt:  die 
Körperberechnung,  die  Geschichte  der  letzten  drei  Jahrhunderte, 
die  Geographie  der  fremden  Erdteile  und  endlich  ein  ganzes 
Fach,  die  Naturlehre. 

Die  vorgesetzte  Behörde  hat  wiederholt  auf  alle  diese  Miss- 
stände hingewiesen  und  ihre  Abstellung  für  dringlich  erachtet 
(die  erlassenen  Bescheide  sind  in  der  Denkschrift  wieder- 
gegeben) ;  es  hat  auch  an  den  vielfachsten  Bemühungen  seitens 
der  Schulverwaltung  nicht  gefehlt.  Die  weiteren  Ausführungen 
Sickingers  aber  thun  dar,  dass  die  Hauptursache  aller  Uebel- 
stände  die  mangelhafte  Organisation  des  Mannheimer  Volks- 
schulwesens ist,  und  dass  nur  eine  Abänderung  derselben  zur 
Gesundung  der  Verhältnisse  beitragen  kann. 

Um  die  Unzulänglichkeit  des  Mannheimer  Volksschul- 
wesens noch  mehr  hervortreten  und  die  Ursachen  der  oben 
erwähnten  Missstände  deutlich  erkennen  zu  lassen,  stellt 
Sickinger  die  Unterrichtsergebnisse  und  Lehrpläne  der  Karls- 
ruher und  Mannheimer  Volksschule  einander  gegenüber. 

Zunächst  ist  eine  vergleichende  Darstellung  der  Schüler- 
entlassungen an  den  Volksschulen  in  Karlsruhe  und  Mannheim 
für  die  Schuljahre  1892/97  gegeben  (Tab.  IV). 

Darnach  haben  in  Karlsruhe  im  Vergleich  zu  Mannheim 
mehr  als  noch  einmal  soviel  Kinder  das  normalplanmässige 
Ziel  erreicht.  Wodurch  ist  dieser  auffällige  Unterschied  be- 
dingt? 

Stellen  wir  die  Faktoren,  die  vor  allem  das  Ergebnis  des 
Unterrichts  bedingen,  nämlich  das  Lehrerpersonal,  das  Schüler- 
material und  die  Organisation  der  Schulen  beider  Städte  ver- 
gleichend gegenüber. 

Das  Lehrerpersonal  scheidet  von  vorherein  aus  dem  Zu- 
sammenhang aus,  denn  Mannheim  wie  Karlsruhe  geniessen  seit 
Jahren  das  gleiche  Vorrecht,  bei  Besetzung  ihrer  Hauptlehrer- 
stellen die  tüchtigsten  Bewerber  auswählen  zu  können. 


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316 


Fritz  FeiUke. 


Tabelle  IV. 


Durchschnittsprozentsatz  der  von  Ostern  1892  bis  Ostern  1897  nach 
Vollendung  der  Schulpflicht  entlassenen  Kinder  in  der  Verteilung  auf 

die  einzelnen  Klassen. 


Karlsruhe 

Man  n  Ii  pi  m 

Klasse 

einfache 
Schule 

erweiterte 
Schule 

einf.  u  er  weit. 
Schule 

i  Zutiaminonfassuni; ) 

erweiterte 
Schule 

A.  Knaben. 

n 
ni 

IV 

V 
V 

VI 

vn 
vm 

0,12 
0,12 
0,24 
2,11 
6,77 
27,85 
62,74 

_ 

0,25 
1,33 
5,99 
25,33 
67,05 

0,06 
0,06 
0,24 
1,71 
6,39 
26,61 
64,84 

0,04 
0,33 
1,44 
7,76 
20,38 
39,27 
30,77 

B.  Mädchen. 

n 
ni 

IV 
V 
VI 
VII 

vm 

0,10 
0,21 
4,65 
12,38 
46,66 
36,99 

1,29 
8,50 
47,47 
42,72 

0,05 
0,09 
2.85 
10,31 
46,61 
40,04 

0,48 
3,45 
9,95 
22,58 
44,45 
19,02 

Die  Beurteilung  eines  so  umfangreichen  Schülermaterials, 
wie  es  hier  in  Betracht  kommt,  ist  ein  äusserst  schwieriges 
Unterfangen,  umsomehr,  als  in  dieser  Hinsicht  bestimmte  Ge- 
sichtspunkte nicht  allgemein  aufgestellt  sind;  jeder  Fachmann 
geht  bis  jetzt  hier  seinen  eigenen  Weg.  Sickingers  Denk- 
schrift weist  folgende  Ausführungen  auf: 

„Unter  Berücksichtigung  der  Verschiedenheit  der  beiden 
Städte  hinsichtlich  der  Erwerbsthätigkeit  der  Bevölkerung  darf 
wohl  mit  einiger  Sicherheit  angenommen  werden,  dass  der 
Prozentsatz  derjenigen  Kinder,  deren  Fortkommen  in  der  Schule 
durch  die  häuslichen  Verhältnisse  eher  gehemmt  als  gefördert 
wird,  in  Mannheim  erheblich  grösser  ist  als  in  Karlsruhe.  Um- 
gekehrt wird  in  Karlsruhe  die  Gesamtleistungsfähigkeit  des 
in  den  Volksschulen  vereinigten  Schülermaterials  durch  den 
Umstand  beeinträchtigt,  dass  der  dortigen  Volksschule  durch 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim.  317 

die  Mittelschulen  eine  grössere  Zahl  befähigter  und  aus 
geordneten  häuslichen  Verhältnissen  kommender  Kinder  ent- 
zogen wird  als  der  hiesigen  Volksschule.  Dies  zeigt  die  nach- 
folgende Statistik  über  den  Schulbesuch  der  ele- 
mentarschulpflichtigen Knaben  in  den  Städten 
Karlsruhe  und  Mannheim  im  Schuljahr  1896/97.  Die  aufgeführ- 
ten Zahlen  sind  den  Jahresberichten  der  betr.  Schulen  ent- 
nommen. Als  elementarschulpflichtig  wurden  von  den  Schülern 
der  Mittelschulen  die  der  Sexta  bis  Obertertia  in  Rechnung 
gezogen. 

Statistik  über  den  Schulbesuch  der  elementarschulpflich- 
tigen Knaben  in  den  Städten  Karlsruhe  und  Mannheim 

im  Schuljahr  1896/97. 


A.  Karlsruhe. 


I.  Volksschulen 

JI.  Mittelschulen 

Art  der  Schule 

Zahl 
der 

Schü- 
ler 

Prozent- 

HJltZ 

Art  der  Schule 

Zahl  der 
Schiller 
im  volks- 

schul- 
pflichtig. 

Alter 

Pro- 
zent- 
satz 

Eint'.  Volksschule  . 
Erweit.  Volksschule 
Knaben- Vorschale  . 
Bürgerschule  .... 

1102 

1810 

4«*:j 

240 

Ol     \\  Ol 

34,'J'>% 
9.34 'J  „ 
4.64 

Gymnasium  .... 
Realgymnasium  .  . 
<  »berrealschule  .  .  . 
Realschule  

401 
353 
407 
37G 

6,S3n/c 
7,27% 

Summa  l  =  3o3;>^7u,_'ti,,;,0  Summa  1 1  =  1537  —  29.72°/, 

„     11  =  1337  -2\72% 


Sximma  I.  u.  11  =  5172=  1<>0,W  „ 


B.  Mannheim. 


I.  Volksschulen 

Tl.  Mittelschulen 

Art  der  Schule 

Zahl 
der 

Schü- 
ler 

Prozent- 
satz 

Art  der  Schule 

Zahl  der 
Schüler 
im  volks- 

schul- 
prliehtig. 
Alter 

Pro- 
zent- 
satz 

Erweit.  Volksschule 
Bürgerschule  .... 

4772 
762 

70,61  ".'0 
11,26"/, 

Gymnasium  .... 
Realgymnasium  .  . 
Oberrealschule  .  .  . 

320 

396 

4,87% 
4.42  o..'0 
8.82-"; 

Summa  1^5534  =  61.09°/.,  Summa  11  =  1224  =  18,1 1  % 


 „     11=  1224^  18,11  % 

Nmima  1.  u.  11  —  6758=  100,00  % 


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318 


Fritz  Feilcke. 


Ergebnis  :  Die  Mittelschulen  besuchten  von  der  Gesamt- 
zahl der  elementarschulpflichtigen  Knaben 

a)  in  Karlsruhe  29,72,  rund  30  o0) 

b)  in  Mannheim  dagegen  nur  18,11,  rund  18%. 
Scheidet  man  nun  die  Schüler  nach  dem  Mass  ihrer  that- 

sächlichen  Leistungsfähigkeit,  die  vornehmlich  durch 
die  natürlichen  Anlagen  und  durch  die  häusliche 
Erziehung  und  Pflege  bedingt  wird,  in  die  Kategorien  I. 
gut,  II.  mittelmässig,  III.  mangelhaft,  so  dürfte  hinsichtlich 
der  Zusammensetzung  der  Schülerkontingente  der  Mann- 
heimer und  der  Karlsruher  Volksschule  Folgendes  zutreffen: 

Die  Mannheimer  Schule  enthält  neben  einem  grösseren 
Prozentsatz  von  Schülern  der  I.  Kategorie  auch  einen  grösseren 
Prozentsatz  von  Schülern  der  III  Kategorie.  Die  Karlsruher 
Schule  dagegen  hat  relativ  mehr  Schüler  der  II.  Kategorie, 
während  die  I.  und  was  für  die  uns  beschäftigende  Frage 
von  besonderer  Bedeutung  ist,  die  III.  Kategorie  schwächer 
vertreten  ist.  Mit  andern  Worten:  das  Schülermaterial 
der  Karlsruher  Volksschule  ist  nach  Leistungs- 
fähigkeit einheitlicher,  mehr  ausgeglichen,  als 
das  der  Mannheimer  Volksschule.  Je  weniger  gemischt 
aber  hinsichtlich  des  Leistungsvermögens  die  zu  einer  Unter- 
richtsgemeinschaft vereinigten  Schüler  sind,  desto  einheitlicher 
können  sie  gefördert  werden,  desto  grösser  pflegt  die  Zahl 
derer  zu  sein,  die  die  vorgestreckten  Jahresziele  erreichen  und 
deshalb  normal  die  lehrplanmässigen  8  Jahreskurse  durchlaufen. 

Neben  dieser  Verschiedenheit  in  der  Zusammensetzung  des 
Gesamtschülermaterials  besteht  nun  aber  noch  eine  höchst 
bedeutungsvolle  Verschiedenheit  hinsichtlich 

der  Organisation  der  beiden  Schulen. 

In  Karlsruhe  ist  neben  der  erweiterten  Schule  noch  eine 
sogen,  einfache  Schule  eingerichtet.  Die  Klassen  dieser  ein- 
fachen Schule  erhalten  wöchentlich  16—20  Stunden  Unterricht. 

Nach  dem  einstimmigen  Urteil  der  an  der  einfachen  Schule 
in  Karlsruhe  wirketnden  Lehrer  gehören  die  Schüler  der  einfachen 
Schule  hinsichtlich  ihrer  Förderungsfähigkeit  zum  kleineren  Teil 
der  II.  Kategorie,  zum  grösseren  Teil  der  III.  Kategorie  an; 
Kinder  der  I.  Kategorie  sind  nur  wenige  vorhanden.  Der  that- 
sächlichen  Leistungsfähigkeit  der  Kinder  entsprechend  ist  der 


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Zur  Frage  der  Organisation  d*r  Volksschule  tn  Mannheim. 


319 


Unterrichtsstoff  in  den  Klassen  der  einfachen  Schule  auf  die 
wesentlichsten  Forderungen  des  Normallehrplans  beschränkt. 
Die  natürliche  Folge  davon  ist,  dass  in  Karlsruhe  ein  beträcht- 
licher Prozentsatz  von  den  Schülern  der  III.  Kategorie  den  für 
die  Gestaltung  ihres  späteren  Berufs-  und  Erwerbslebens  so 
wichtigen  normalen  Abschluss  ihres  Bildungsganges  erreicht. 
In  Mannheim  dagegen  sind  die  Schüler  der  III.  Kate- 
gorie den  erhöhten  Anforderungen  der  einheitlich  er- 
weiterten Schule  nicht  gewachsen  und  können  ihnen  auch 
nicht  gewachsen  sein  und  erreichen  deshalb  nicht  einmal 
die  zweitoberste  Klasse.  Ein  Blick  auf  Tabelle  IV  zeigt 
den  bedeutenden  Vorsprung,  den  die  Karlsruher  Schule  in 
dieser  Hinsicht  vor  der  Mannheimer  hat.  Es  haben  von  den 
1892—97  schulentlassenen  Kinder  nicht  einmal  die  zweit- 
ob erste  Klasse  durchgemacht 

in  Mannheim 

29  0/0  der  Knaben,  36  0/0  der  Mädchen, 

in  Karlsruhe  dagegen  nur 

a)  in  der  einfachen  Schule  9  0/0  der  Knaben.  17  0,0  der  Mädchen, 

b)  „    „  erw.  „     7  0/0   „       „         9  o  0  „ 

c)  „    „  Gesamtschule      8  0/0   „       „       13  °  o   ,,  „ 

Die  Einrichtung  des  getrennten  Unterrichts  derjenigen 
Kinder,  deren  Fortkommen  in  der  Schule  durch  Mangel  an 
Begabung  oder  durch  häusliche  Verhältnisse  oder  durch  beides 
zugleich  gehemmt  wird,  erwiess  sich  aber  nicht  bloss  für  die 
Ausbildung  dieser  Kinder  selbst  als  vorteilhaft,  sondern  es 
konnten  infolge  jener  Scheidung  auch  die  Kinder  der  II.  und 
I.  Kategorie  leichter  und  umfassender  den  ihrer  Leistungs- 
fähigkeit entsprechenden  Zielen  zugeführt  werden." 

Nun  bespricht  Sickinger  noch  einige,  durch  die  Schul- 
organisation bedingte,  für  einen  erfolgreichen  Unterricht  be- 
deutungsvolle Faktoren. 

Durch  Zahlenangaben  wird  därgethan,  dass  ungerecht- 
fertigte Versäumnisse  von  Schülern  in  Mannheim  bedeutend 
häufiger  vorkommen,  wie  an  der  erweiterten  Volksschule  in 
Karlsruhe.  Begründet  ist  diese  Thatsache  in  der  Organisation. 
Da  die  Schüler  der  dritten  Kategorie  erfahrungsmässig  am 
häufigsten  ohne  Entschuldigung  fehlen,  der  Karlsruher  er- 
weiterten Volksschule  diese  Elemente  aber  zum  grössten  Teil 


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320 


Fritz  FeiUke. 


durch  die  einfache  Volksschule  abgenommen  werden,  so  ist 
klar,  dass  Mannheim  gegenüber  Karlsruhe  im  Nachteil  sein 
muss.  Das  schnelle  Unterrichtstempo,  welches  in  Mannheim 
herrscht,  macht  die  Häufigkeit  der  Versäumnisse  noch  bedenk- 
licher, wird  doch  dadurch  ein  Nachholen  des  Versäumten  be- 
deutend erschwert. 

In  Karlsruhe  kann  auch  eine  bessere  Verteilung  des  Lehrer- 
personals vorgenommen  werden;  man  verwendet  dort  die 
leistungsfähigsten  Lehrkräfte  zum  Unterricht  an  der  einfachen 
Volksschule,  die  das  unvorbereitetste  Schülermaterial  besitzt. 
In  Mannheim  kann  eine  solche  Verteilung  nicht  vorgenommen 
werden,  da  hier  alle  Klassen  der  erweiterten  Volksschule  ein 
gleich  uneinheitliches  Schülermaterial  besitzen. 

Die  Zahl  der  wöchentlichen  Unterrichtsstunden,  die  zur 
Erreichung  der  Jahresziele  zur  Verfügung  stehen,  ist  an  beiden 
Schulen  ungefähr  die  gleiche;  sie  differiert  etwas  zu  Gunsten 
der  Karlsruher  Schule,  die  wohlgemerkt  geringere  Anforde- 
rungen stellt.  Mannheim  ist  ferner  im  Nachteil,  weil  es  wegen 
Platzmangel  kombinierte  Klassen  einrichten  musste. 

Der  bedeutungsvollste  Unterschied  ist  jedoch  die  Ver- 
schiedenheit der  Anforderungen,  die  die  Lehrpläne  beider 
Schulen  im  Rechnen  und  in  der  Geometrie  aufweisen.  Die 
Lehrpläne  in  diesen  Fächern  sind  anfangs  bereits  wieder- 
gegeben. Ihnen  und  der  folgenden  Tabelle  VI  ist  zu  entnehmen : 


Tabelle  VI. 


Klasse 

Zahl  der  Rechenstanden 

Karlsruhe 

Mannheim 

Heidelberg 

wöchentl. 

jahrlich 

wöchentl. 

jährlich 

wöchentl.  jährlich 

I 

5 

220 

6 

264 

6 

264 

n 

6 

264 

6 

264 

8 

352 

ni 

6 

264 

6 

264 

8 

352 

IV 

6 

264 

5 

220 

8 

352 

V 

5 

220 

4 

176 

6 

264 

VI 

5 

220 

4 

176 

6 

264 

VII 

5 

220 

4 

176 

6 

264 

VW 

5 

220 

4 

176 

6 

264 

43 

1892 

39 

1716 

54 

2376 

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Zur  trag€  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim.  321 

Die  Karlsruher  Schule  verlangt  von  ihren  Schülern  nicht  mehr, 
wie  im  Normallehrplan  verlangt  ist ;  wohl  aber  ist  eine  weit 
grössere  Stundenzahl  zur  Einprägung  des  Stoffes  vorgesehen. 
In  Mannheim  werden  dagegen  weit  höhere  Anforderungen 
gestellt;  trotzdem  halt  man  hier  —  und  das  ist  ein  schwer- 
wiegender Irrtum  —  eine  geringere  Stundenzahl  wie  in  Karls- 
ruhe (es  sind  176  Stunden  weniger)  für  ausreichend.  In  Baden 
findet  sich  nur  noch  eine  erweiterte  Volksschule,  die  Heidel- 
berger, die  mit  der  Mannheimer  gleiche  Lehrziele  hat;  dort 
stehen  aber  zur  Aneignung  solcher  umfangreichen  Kenntnisse 
660  Stunden  mehr  wie  in  Mannheim  zur  Verfügung. 

Dieses  Missverhältnis  zwischen  Stundenzahl  und  geforderter 
Leistung  wird  noch  deutlicher,  wenn  man  vergleicht,  wieviel 
Stunden  an  der  erweiterten  Volksschule  zu  Heidelberg,  Karls- 
ruhe und  Mannheim  zur  Einübung  gleicher  Pensen  angesetzt 
sind.  Folgende  Tabelle  zeigt,  wieviel  Stunden  den  Schülern 
der  drei  Schulen  zur  Erlernung  der  4  Grundrechnungsarten 
mit  mehrfach  benannten  Zahlen  im  unbeschränkten  Zahlenraum 
zur  Verfügung  stellen. 

Tabelle  VII. 


Erweiterte  Schale 

Klassen 

Alter  der 
Schüler 

Gesamtzahl  der 
Unterrichtsstunden 

Karlsruhe 

I-V 

6-11  Jahre 

1232 

Heidelberg 

I— IV 

6-10  „ 

1320 

Mannheim 

I-IV 

6-10  „ 

1012 

Der  schnelle  Lehrgang  und  die  wenigen  Unterrichtsstunden 
erklärt  auch  die  grosse  Zahl  der  Schüler,  die  in  Mannheim 
1893— 1897  in  den  Knabenklassen  IV— VII  am  Schlüsse  der 
einzelnen  Schuljahre  nicht  versetzt  werden  konnten. 


Tabelle  VIII. 


Klasse 

1893/94 

% 

1894/95 

% 

1895/96 
/o 

1896/97 
% 

IV 

10,8 

10,1 

12,4 

13,2 

V 

8,4 

16,7 

12,7 

11,8 

VI 

9,0 

16,7 

12,4 

12,1 

vn 

8,5 

19,3 

9,8 

9,1 

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322 


Fritz  Feilcke. 


Die  Tabelle  führt  nur  die  Schüler  an,  welche  die  Schule 
weiter  besuchten;  berücksichtigte  man  auch  die  Schüler,  die 
aus  den  betreffenden  Klassen  entlassen  werden  mussten  und 
daher  das  Klassenziel  nicht  erreichen  konnten,  so  würden  sich 
die  betreffenden  Zahlen  durchweg  erhöhen. 

Die  Thatsache,  dass  in  Mannheim  nur  so  wenig  Schüler 
bis  in  die  obersten  Klassen  gelangen,  ist  jedoch  noch  durch 
eine  andere  Erscheinung  begründet  Ein  nicht  unbeträchtlicher 
Prozentsatz  von  Kindern  wird  jährlich  der  Volksschule  durch 
Ortswechsel  der  Eltern  zugeführt  oder  entzogen.  Mit  diesem 
Faktor  haben  {alle  Lehranstalten  zu  rechnen;  für  Mannheim 
erlangt  er  jedoch  eine  höhere  Wichtigkeit,  weil  infolge  der  eigen- 
artigen Organisation  seine  Volksschule  unter  denen  der  badischen 
Städte  eine  gesonderte  Stellung  einnimmt.  Werden  Kinder 
aus  ^anderen  Orten  in  Mannheim  eingeschult,  so  müssen  sie 
grösstenteils,  da  sie  im  Rechnen  den  gestellten  Anforderungen 
nicht  genügen  würden,  einer  tieferen  Klasse,  als  der,  der  sie 
bisher  angehörten,  zugewiesen  werden.  Dadurch  wird  ihnen 
naturgemäss  oft  die  Möglichkeit,  überhaupt  bis  zur  obersten 
Klasse  aufsteigen  zu  können,  genommen.  Andererseits  werden 
wieder  Mannheimer  Kinder,  die  die  Schule  von  der  ersten 
Klasse  an  besuchen  und  wohl  Aussicht  haben,  dieselbe  zu  ab- 
solvieren, ausgeschult.  Wie  bedeutend  diese  Thatsachen  das 
Unterrichtsergebnis  beeinflussen,  ist  aus  statistischen  Angaben 
der  Denkschrift  ersichtlich.  Darnach  hatten  unter  den  Ostern 
1897  entlassenen  Schülern  28,990/0  die  Mannheimer  Volksschule 
nicht  von  Anfang  an  besucht;  nur  10,550/0  der  Zugewanderten 
gelangten  aber  bis  zur  obersten  Klasse.  Von  denjenigen 
Kindern,  die  der  Schule  von  der  untersten  Klasse  an  zuge- 
hörten, absolvierten  sie  29,72  o/0  (40,79  0/0  der  Knaben,  20,31  0/0 
der  Mädchen)  ganz. 

Zur  Besserung  der  in  den  vorstehenden  Zeilen  geschil- 
derten Verhältnisse  macht  Sickinger  in  seiner  Denkschrift  Vor- 
schläge, die  den  Kern  der  gesamten  Abhandlung  bilden.  Sie 
dürften  das  allgemeinste  Interesse  erwecken;  wir  bringen  sie 
deshalb  (mit  einigen  unwesentlichen  Kürzungen  und  unter  Fort- 
lassung alles  dessen,  was  nur  von  lokalem  Interesse  sein  kann) 
hier  unverändert  zum  Abdruck : 

Die  im  Vorstehenden   dargelegten  Verhältnisse  mahnen 


Zur  Frage  t/er  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim. 


323 


dringend  zu  einer  Beschränkung  des  Lehrstoffs  in  der 
Volksschule,  damit 

1.  die  für  das  praktische  Leben  wichtigsten 
Bildungsstoffe  um  so  intensiver  behandelt  werden  können, 

2.  mehr  Zeit  gewonnen  wird  für  den  Endzweck  aller  Lern- 
arbeit, für  Erziehung  der  Schüler  zu  Selbsttätig- 
keit und  Selbständigkeit, 

3.  möglichst  viel  Schüler  zur  abschliessenden 
Klasse  aufsteigen. 

Insbesondere  muss  —  dies  ist  die  übereinstimmende  An- 
sicht der  Schulbehörden,  der  Lehrer  und  der  die  Ergebnisse 
des  heutigen  Schulunterrichts  mit  Interesse  verfolgenden 
Eltern  und  Lchrherren  —  den  Uebungen  im  mündlichen 
und  schriftlichen  Gedankenaustausch  mehr  Auf- 
merksamkeit und  Pflege  gewidmet  werden.  Dies  ist  um  so 
notwendiger,  weil  bei  der  fortschreitenden  Entartung  der  Um- 
gangssprache das  Gefühl  für  Sprachrichtigkeit  in  breiten 
Schichten  der  Bevölkerung  sich  mehr  und  mehr  abstumpft 
und  infolge  dessen  das  Haus  häufig  wieder  zerstört,  was  die 
Schule  rritrhpam  aufgebaut  hat. 

Mit  dem  Versagen  des  häuslichen  Erziehungsfaktors  muss 
die  Volksschule  der  Grossstadt  überhaupt  immer  mehr  und 
mehr  rechnen  Das  starke  Anwachsen  der  Bevölkerung  durch 
Zuzug  von  aussen  hat  zur  Folge,  dass  die  Zahl  derjenigen 
Kinder  in  stetem  Zunehmen  begriffen  ist,  deren  geistige  und 
sittliche  Förderung  ausschliesslich  der  Schule  anheimfällt.  Be- 
denkt man,  dass  die  Kinder  der  letzteren  Gattung  von  Haus 
aus  mehr  oder  weniger  auch  physisch  gering  qualifiziert  sind, 
so  kann  man  sich  ungefähr  eine  Vorstellung  machen  von  der 
V erschiede nartigkeit  der  Leistungsfähigkeit  der 
in  der  einheitlichen  Volksschule  wahllos  zu- 
sammengewürfelten Elemente. 

Im  Hinblick  auf  die  grundlegende  Bedeutung  dieser  that- 
sächlichcn  Verhältnisse  für  die  Frage  des  Unterrichtsplans  und 
der  gesamten  Organisation  der  Volksschule  seien  über  dieselben 
in  Ergänzung  des  oben  über  das  Schülermaterial  Gesagten  noch 
einige  Ausführungen  angefügt. 

Die  Volksschule  hat  die  Pflicht,  alle  Kinder  eines  gewissen 
Alters  ohne  Unterschied  aufzunehmen  und  bis  zu  einem 


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324 


Fritz  FeiUke. 


bestimmten  Lebensjahr  behufs  Ausbildung  in  den  elementaren 
Wissensgebieten  und  Fertigkeiten  zu  behalten.  Die  Bildungs- 
fähigkeit des  einzelnen  Kindes  ist  das  Ergebnis  vieler,  zum  Teil 
unerklärter  und  unbekannter  Faktoren.  Die  wichtigsten  sind : 
die  natürlichen  Anlagen,  der  Fleiss  und  die  häus- 
lichen Verhältnisse  (Erziehung  und  Pflege)  des  Kindes. 
Nimmt  man  für  das  Mav-  mit  dem  jeder  einzelne  dieser  drei 
Faktoren  sich  geltend  machen  kann,  und  ebenso  für  das  Mass 
des  Gesamteffekts  der  drei  Faktoren  beim  einzelnen  Kinde  die 
drei  Grade  an  „gut",  „mittelmässig",  „mangelhaft",  so  lassen 
sich  die  hauptsächlichsten  Schülertypen  in  folgender 
Weise  veranschaulichen  und  gruppieren : 

Tabelle  IX. 


Gruppierung  der  Schüler  nach  Leistungs-  und  Bildungsfähigkeit 


I.  Kategorie: 
gut 

II.  Kategorie: 
mittelmässig 

III.  Kategorie: 
mangelhaft 

An- 
lagen 

Fleiss 

häusl.  j 
Ver- 
hältnisse 

An- 
lagen 

Fleiss 

häusl. 
Ver- 
hältnisse 

An- 
lagen 

I  häusl. 
Fleiss   !  Ver- 
hältnisse 

gut 

gut 

gut  | 

gut 

mittelm. 

mittelm. 

mittelm. 

manglh. 

manglh. 

gut 

gut     1  mittelm. 

gut 

mittelm.  j  manglh. 

manglh.  gut 

mittelm. 

gut  gut 

manglh. 

gut 

manglh.  |  gut 

manglh.  mittelm.  gut 

gut 

mittelm.  gut 

gut     manglh.  mittelm. 

manglh.  mittelm.  mittelm. 

mittelm. 

gut  gut 

gut 

i 

manglh.  manglh. 

manglh. 

mittelm  j  manglh. 

mittelm.  gut 

mittelm. 

mittelm.     gut  manglh. 

manglh. 

mittelm. 

mittelm. 

gut 

|  manglh.  |  manglh.  mittelm. 

mittelm. 

mittelm. 

mittelm. 

manglh. 

manglh.  j  manglh. 

mittelm.  1  mittelm.  manglh. 

1 

i 

i 
1 

l 

mittelm. 

manglh. 

gut 

manglh. 

gut     |  gut 

1  1 

Welch  grosse  Verschiedenheit  der  Arbeitsbefähigung 
und  Arbeitsenergie  in  den  Abstufungen  zwischen  dem  positiven 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim. 


325 


und  dem  negativen  Ende  obiger  Reihen,  zwischen  dem  lei- 
stungskräftigsten Schüler  (Anlagen  gut,  Fleiss  gut,  häus- 
liche Verhältnisse  gut)  und  dem  leistungsschwächsten 
Schüler  (Anlagen  mangelhaft,  Fleiss  mangelhaft,  häusliche  Ver- 
hältnisse mangelhaft) !  Und  alle  diese  Potenzen  und  Impotenzen, 
die  in  bunter  Mannigfaltigkeit  die  Schule  bevölkern,  sollen  im 
Massenunterricht,  der  gleiche  oder  wenigstens  annähernd 
gleiche  Aufnahmefähigkeit  voraussetzt,  eine  brauchbare  Schul- 
bildung erhalten! 

Wie  wenig  in  Mannheim  dieses  Ziel  seither  erreicht  wurde, 
ist  bereits  genügend  dargethan.  Wir  kommen  deshalb  zum 
positiven  Teil  unser*-»  Aufgabe,  zur  Beantwortung  der 
Frage : 

Was  kann  geschehen,  damit  trotz  der  Ver- 
schiedenheit der  Leistungsfähigkeit  der  Indivi- 
duen die  grosse  Masse  der  die  Elementarschule 
besuchenden  Kinder  zu  einem  Abschluss  ihrer 
Schulbildung  gelangt? 

Zwei  Möglichkeiten  sind  zu  erörtern : 

I.  Die  Milderung  der  bisherigen  Missstände  im  Rahmen 
der  einheitlichen  (ungegliederten)  Schule, 

II.  Die  Hebung  der  bisherigen  Missstände  durch  Gliede- 
rung des  Schulorganismus. 

I. 

Die  bisherigen  Missstände  bestanden  nach  Ausweis  der 
Entlassungsstatistik  darin,  dass  bis  1887  ca.  5/ß  und  seit  1887 
über  2/3  der  die  Mannheimer  erweiterte  Volksschule  besuchen- 
den Kinder  das  planmässige  Schulziel,  die  8.  Klasse,  nicht  er- 
reichten Man  darf  also  wohl  sagen,  dass  bis  1887  nur  die 
besten  Schüler,  deren  Leistungsfähigkeit  in  der  obigen  Tabelle 
als  „gut"  bezeichnet  ist,  und  seit  1887  ausserdem  noch  ein 
kleiner  Teil  der  mittelmässigcn  Schüler  bis  zur  8.  Klasse 
aufstiegen.  Ein  derartiges  Ergebnis  ist  für  eine  Unterrichts- 
anstalt,  in  der  ca.  neunzig  Prozent  der  Gesamtbevölkerung 
ihre  schulmässige  Ausbildung  erhalten,  schlechterdings  unzu- 
reichend. Die  Zweckbestimmung  der  Volksschule 
verlangt,  dass  ausser  den  befähigteren  Schülern 
zum  mindesten  auch  noch  alle  mittelmässig  be- 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  3 


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326 


Fritz  Feikke. 


gabte  n  Schüler  in  SJahren  zu  einem  normalen  Ab- 
schluss  gebracht  werden. 

Es  müsste  also  in  der  Mannheimer  Schule  zum  mindesten 
erreicht  werden,  dass 

der  bisher  aus  der  7.  Kl.  abgeg.  Prozentsatz  künftig  aus  der  8  Kl.  entl.  wird, 

h        n        i»      w    6«    »        n  "  n         tt     »    7.    „      M  „ 

»»        n         n      n    **•    n        w  »  ♦«  n     n  t»      n  « 

n         i»        »»      »    ^~    »i        5»  »j  n  ♦»      n  •»      t»  " 

(Von  den  bisher  aus  den  Klassen  I— III  zur  Entlassung  ge- 
kommenen Schülern  wird  unter  Abschnitt  II  die  Rede  sein.) 

Unter  Annahme  dieses  Promotionsverhältnisses  würde  sich 
die  Entlassungstabelle  der  Jahre  1887/97  folgendermassen  ge- 
stalten : 

aus  der  8.  Klasse  entlassen  29,21  +  37,84  =  67,05%, 
n     »  7-     »  n  21,63%, 

n     «6.     „  „  8,80°/0, 

Hiermit  würde  die  Mannheimer  einheitliche  Volks- 
schule annähernd  ein  Ergebnis  erreichen,  wie  es  die  Karlsruher 
gegliederte  Volksschule  seither  bereits  erreicht  hat. 

Zu  diesem  Zwecke  müsste  der  lehrplanmässige  Unterrichts- 
stoff so  bemessen  und  auf  die  einzelnen  Schuljahre  so  verteilt 
werden,  dass  „der  Lehrplan  künftig  wirklich  durchaus  nicht 
mehr  umfasst,  als  was  ein  gewöhnlicher  Verstand,  ein  mittlerer 
Fleiss  in  den  darauf  zu  verwendenden  8  Jahreskursen  ohne 
besondere  Anstrengung  in  sich  aufnehmen  kann".  Die  an  die 
Gesamtheit  der  Kinder  zu  stellenden  Anforderungen  müssten 
also  auf  einen  Schülertypus  zugeschnitten  werden,  der  in  der 
dargestellten  Gruppierung  etwa  die  Mitte  einnimmt  und  die 
Charakterisierung  aufweist :  Anlagen  mittelmässig,  Fleiss  mittel- 
mässig,  häusliche  Verhältnisse  mittelmässig.  Mit  einer  solchen 
Fixierung  der  Arbeitsforderung  ist  unzweifelhaft  dem  Gros  der 
Schüler  gedient.  Zu  kurz  kommen  jedoch  dabei  einerseits  die 
Schüler  der  I.  Kategorie,  andrerseits  die  schwächeren  und 
schwächsten  Schüler  der  III.  Kategorie:  die  letzteren,  weil 
für  sie  die  Anforderungen  des  Mittelmasses  immer  noch  zu 
hoch  sind,  die  ersteren,  weil  sie  bei  einem  für  Mittelköpfe  be- 
rechneten Unterrichtsgang  des  Besten,  was  die  Schuler- 
ziehung für  das  spätere  Leben  zu  bieten  vermag,  d.  i.  der 
Uebung  und  Gewöhnung,  zur  Erreichung  eines  Zieles 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim. 


327 


mit  dem  Einsatz  der  ganzen  Kraft  zu  arbeiten, 
verlustig  gehen. 

Unwillkürlich  drängt  sich  da  die  Frage  auf:  Sollte  es 
sich  nicht  in  einem  so  ausgedehnten  Schulorga- 
nismus wie  dem  Mannheimer  bei  der  grossen  Zahl 
von  Parallelabteilungen  einrichten  lassen,  dass 
auch  die  I.  und  III.  S c h ü le r kategor ie  ihrer  Eigen- 
art gemäss  behandelt  wird,  sodass  —  ohne  Er- 
höhung der  Kosten  für  den  Gesamtbetrieb  der 
Schule  —  für  die  Gesamtheit  der  Schüler  ungle  ich 
günstigere  Unterrichtsergebnisse  erzieltwürden? 

Eine  vorurteilsfreie  Erwägung  der  in  Betracht  kommenden 
Momente  führt  zur  Bejahung  der  Frage.  Die  Lösung  liegt  in 
der  Gliederung  des  Schulorganismus. 

IL 

Bei  Umwandlung  der  gegliederten  Volksschule  (einfache 
und  erweiterte)  in  eine  einheitliche  erweiterte  Schule  Hess  man 
sich  von  der  humanen  und  an  sich  durchaus  anerkennens- 
werten Absicht  leiten,  „alle  Kinder  ohne  Ausnahme  der  Wohl- 
thaten  eines  erweiterten  Wissens  teilhaftig  werden"  zu  lassen, 
„an  welchem  gewiss  keines  in  das  spätere  Leben  etwas  U eber- 
flüssiges mitnehmen  wird4'.  Leider  war  dabei  ausser  Acht  ge- 
blieben, was  sich  in  der  Folgezeit  bitter  rächte,  dass  eine 
grosse  Zahl  von  Kindern  absolut  nicht  dazu  be- 
fähigtist, eines  er we itert e n  W  i  s s e n  s  teil  h  a  f  t  i  g  zu 
werden  und  dass  infolgedessen  diese  Kinder  bisher  aus  der 
erweiterten  Schule  viel  weniger  mit  ins  Leben  hinausnahmen, 
als  wenn  ihnen  das  Durchlaufen  einfacher  Unterrichtskurse 
ermöglicht  worden  wäre.  Hätte  man  damals  die  Schule  mit 
dem  einfachen  Unterrichtsplan  bestehen  lassen  und  alle  als 
leistungsfähig  erkannten  Kinder,  ohne  Rücksicht  auf 
die  Berufsstellung  der  Eltern,  in  die  Schule  mit  dem  erweiterten 
Unterrichtsplan  zugelassen,  wäre  die  der  einheitlichen  er- 
weiterten Schule  zu  Grunde  liegende  Absicht,  auch  dem  ärm- 
sten Kinde  eine  gediegene  Schulbildung  zu  ermöglichen,  viel 
zuverlässiger  erfüllt  worden,  als  dies  seither  erwiesenermassen 
der  Fall  war. 

Ebenso  wenig  wie  in  Hinsicht  auf  die  Art,  ebenso  wenig 

3* 


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328 


FrxU  Feücke. 


können  die  Menschen  hinsichtlich  des  Grades  der  geistigen 
Bildung  alle  auf  eine  Stufe  gebracht  werden.  Wenn  auch 
in  der  weiteren  kulturellen  und  sozialen  Entwickelung  die  Ver- 
teilung der  geistigen  Güter  unter  die  gesellschaftlichen  Klassen 
eine  gleichmässigere  werden  wird,  dieindividuellenUnter- 
schiede  werden  in  alleZukunft  bestehen  bleiben. 
Je  mehr  bei  der  Organisation  der  Volksschule  diese  individuelle 
Verschiedenheit  der  Kinder  hinsichtlich  der  natürlichen  Lei- 
stungsfähigkeit in  Rechnung  gezogen  wird,  und  je  mehr  der 
Unterrichtsplan  nach  Umfang  und  Verteilung  des  Stoffes  der 
pädagogisch-hygienischen  Forderung  entspricht,  dass  die  ver- 
langte Leistung  zu  der  vorhandenen  Leistungs- 
kraft in  angemessenem  Verhältnis  stehe,  desto 
zweckmässiger  wird  die  Ausbildung  sein,  welche  die  Kinder 
nach  Absolvierung  der  Schulpflicht  mit  ins  Leben  hinaus 
nehmen.  Freilich  lässt  sich  die  ideale  Forderung,  „der  Unter- 
richt soll  jedem  Individuum  angepasst  sein",  in  der  öffentlichen 
Schule,  die  Massen  auszubilden  hat,  nicht  erfüllen.  Was  je- 
doch nicht  für  jeden  einzelnen  Schüler  möglich  ist,  lässt  sich 
wenigstens  für  eine  Vielheit  von  Schülern,  die  in  Bezug  auf 
individuelle  Leistungsfähigkeit  einander  nahe  stehen,  ins 
Werk  setzen. 

Bei  einem  Blick  auf  die  in  Tab.  IX.  dargestellte  Grup- 
pierung der  Schüler  erscheint  nun  als  das  nächstliegende  eine 
Sonderung  der  3  Schülerkategorien  in  3  Schulabteilungen  mit 
quantitativ  und  zum  Teil  auch  qualitativ  verschiedenen  Unter- 
richtszielen Da  indessen  die  Kinder  der  I.  Kategorie  in 
steigendem  Masse  der  Volksschule  durch  die  Mittelschulen  ent- 
zogen werden,  so  empfiehlt  sich  zur  praktischen  Ausführung 
mehr  eine  zweiteilige  Gliederung: 

Die  Einrichtung  einer  Schulabteilung  mit 
höher  gesteckten  Lehrzielen  für  die  Schüler  der 
I.  Kategorie  und  die  befähigtere  Hälfte  der  II.  Ka- 
tegorie (erweiterte  Schulabteilung)  und 

die  Einrichtung  einer  Schulabteilung  mit  kür- 
zer gesteckten  Lehrzielen  für  die  schwächere 
Hälfte  der  II. Kategorie  und  d  ie  K  i  n  d  e  r  d  e  r  III.  Ka- 
tegorie (einfache  Schulabteilung). 

Bei  der  Bemessung  der  Unterrichtszeit  für  die  ein- 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim. 


329 


fache  Schulabteilung  müsste  die  Thatsache  berücksichtigt 
werden,  dass  bei  schwachbefähigten  Schülern,  die  meist  auch 
körperlich  schwach  und  häufig  mangelhaft  verpflegt  sind,  die 
geistige  Ermüdung  rascher  und  nachhaltiger  eintritt  als 
bei  den  Gutbefähigten.  Immerhin  müssten  den  Klassen  mit 
dem  einfachen  Unterrichtsplan  mehr  Wochenstunden*)  zuge- 
wiesen •  werden,  als  zur  Zeit  den  Landschulen  zur  Verfügung 
stehen;  denn  die  durch  Beschränkung  in  Ziel  und  Auswahl 
des  Unterrichtsstoffes  gewonnene  Zeit  wird  durch  den  für  die 
Schwachen  erforderlichen  langsameren  Unterrichtsgang  und 
durch  die  gründlichere  Behandlung  des  Stoffes  grossenteils 
wieder  in  Anspruch  genommen. 

Die  Führung  von  Klassen  der  einfachen  Schulabteilung 
ist  naturgemäss  eine  minder  erfreuliche  Aufgabe  und  stellt  an 
die  methodische  Tüchtigkeit  und  die  Hingabe  des  Lehrers  an 
seinen  Beruf  höhere  Anforderungen  als  die  Unterrichtserteilung 
in  den  Klassen  der  erweiterten  Abteilung.  Ebenso  sicher  ist 
aber  und  durch  die  Praxis  festgestellt,  dass  die  Schwachen  mit 
einem  ihrem  Leistungsvermögen  angepassten 
Unterrichtsplan  auf  eine  höhere  Stufe  der  Ausbildung  ge- 
bracht werden,  als  wenn  sie  an  dem  Unterricht  der  Starken 
teilzunehmen  gezwungen  sind.  Welchen  Vorteil  andrerseits  die 
besser  befähigten  Schüler  aus  der  Befreiung  von  dem  Hemm- 
schuh der  Schwachen  ziehen  würden,  braucht  nicht  näher  aus- 
geführt zu  werden. 

Welcher  Art  soll  nun  dieSonderung  derSchü- 
ler  in  eine  erweiterte  und  eine  einfache  Schul- 
abteilung sein?  Zwei  Arten  sind  denkbar: 

a)  die  Sonderung  nach  äusseren  Momenten, 

b)  die  Sonderung  nach  inneren  Momenten, 
a)  Zur  Erläuterung  der  ersteren  Art  sei  auf  ein  bestimmtes 

Beispiel,  auf  die  oben  zum  Vergleich  herangezogene  Organi- 
sation der  Volksschule  in  Karlsruhe,  verwiesen.  In  Karls- 
ruhe ist  der  Besuch  der  erweiterten  Schule  von  der  Bezahlung 
eines  jährlichen  Schulgeldes  von  8  Mark  abhängig;  der  Be- 
such der  einfachen  Schule  dagegen  ist  unentgeltlich.  Durch 


*)  Etwa  22—26  Wochenstunden  (für  die  Klassen  der  erweiterten  Ab- 
teilung sind  26 — 30  Wochenstunden  vorgesehen». 


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330 


Fritz  Feilcke. 


diese  Einrichtung  ist  erreicht  worden,  dass  ein  grosser  Prozent- 
satz derjenigen  Kinder,  die  infolge  geringer  Bildungsfähigkeit 
erhöhten  Anforderungen  des  Schulunterrichts  nicht  gewach- 
sen sind,  in  einem  einfachen  Unterrichtsgange  eine  ihrer 
Leistungskraft  entsprechende  Ausbildung  erhielt.  Wie  ungleich 
vorteilhafter  infolge  davon  die  Promotionsergebnisse  in 
der  Karlsruher  Volksschule  gegenüber  denen  der  Mannheimer 
Volksschule  sich  seither  gestalteten,  haben  die  vorangegangenen 
Ausführungen  gezeigt. 

Damit  ist  jedoch  nicht  gesagt,  dass  der  in  Karlsruhe  und 
andern  Orten  übliche  Modus  der  Einweisung  in  die  einfache 
und  in  die  erweiterte  Schule  etwas  Vollkommenes  darstelle; 
er  weist  vielmehr  zwei  erhebliche  Mängel  auf.  Wohl  ist  in 
Karlsruhe  die  Bestimmung  getroffen,  dass  bedürftige  und 
würdige  Kinder  der  erweiterten  Schule  vom  Schulgeld  teilweise 
oder  ganz  befreit  werden  können.  Da  jedoch  diese  Befreiungen 
nur  im  Rahmen  einer  bestimmten  Summe  ausgesprochen 
werden,  ist  keine  Garantie  dafür  geboten,  dass  alle  bedürf- 
tigen und  würdigen  Schüler  berücksichtigt  werden.  Jedenfalls 
können  unbemittelte  Eltern,  deren  Kinder  schulpflichtig  werden, 
nicht  mit  Sicherheit  auf  jene  Vergünstigung  rechnen.  Sie  sind 
deshalb  gezwungen,  ihre  Kinder  in  die  einfache  Schule  zu 
schicken,  auch  wenn  diese  den  Anforderungen  der 
erweiterten  Schule  gewachsen  sind.  Bei  dem  heutigen 
gesteigerten  Wettbewerb  der  Kräfte  ist  es  aber  im  Interesse 
des  Fortkommens  des  einzelnen  sowohl  als  der  Hebung  des 
Bildungsstandes  der  Gesamtheit  dringend  zu  wünschen,  dass 
jedes  dazu  befähigte  Kind  während  seiner  gesetzlichen 
Schulpflicht  zum  Besuch  der  am  Heimatsort  bestehenden  er- 
weiterten Schule  unentgeltlich  zugelassen  wird. 

Der  zweite  Mangel  der  Karlsruher  Organisation  ist  darin 
zu  erblicken,  dass  alle  Kinder,  auch  die  unbefähigsten,  in  die 
erweiterte  Schule  zugelassen  werden  müssen,  sofern  nur  die 
Eltern  das  festgesetzte  Schulgeld  zu  zahlen  in  der  Lage  sind. 
Dies  widerstreitet  aber  der  pädagogischen  Zweckbestimmung 
der  erweiterten  Schulabteilung.  Diese  soll  nicht  eine  Domäne 
der  Bemittelten,  sondern  eine  Schule  der  Befähigteren 
sein. 

Es  liegt  nun  die  Frage  nahe:  Würde  die  erweiterte 


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Zur  Frage  der  Organüatüm  der  VolksschuU  in  Mannheim.  331 

Schulabteilung  in  höhcrem  Grade  eine  Schule  der 
Befähigteren  werden,  wenn  die  Erhebung  von 
Schulgeld  wegfiele,  wenn  also  der  Eintritt  in  die- 
selbe nicht  von  dem  Geldbeutel,  sondern  von  der 
freien  EntSchliessung  der  Eltern  abhinge?  Die 
Frage  muss  auf  das  Bestimmteste  verneint  werden.  Die 
erweiterte  Schulabteilung  würde  alsdann  nicht  bloss  von  den 
unbefähigten  Kindern  bemittelter  Eltern,  sondern  auch  noch 
von  einer  grossen  Zahl  unbefähigter  Kinder  unbemittelter 
Eltern  bevölkert  werden.  Dies  würde  ganz  besonders  für  Mann- 
heim zutreffen,  weil  in  der  hiesigen  Bevölkerung  die  An- 
schauung traditionell  ist,  dass  der  Besuch  der  erweiterten  Schule 
selbstverständlich  auch  das  Erreichen  eines  erweiterten 
Wissens  zur  Folge  habe.  Mit  Sicherheit  lässt  sich  deshalb 
behaupten:  Würde  hier  eine  einfache  und  eine  er- 
weiterte Schulabteilung  eingerichtet  und  hätten 
die  Eltern  nach  freiem  Ermessen  über  die  Zu- 
weisung ihrer  Kinder  in  die  eine  oder  die  andere 
Abteilung  zu  bestimmen,  so  würde  zwar  die  er- 
weiterte Abteilung  einen  geringeren  Prozentsatz 
ungeeigneter  Elemente  zählen,  als  die  bisherige 
einheitliche  erweiterte  Schule,  jedoch  einen  be- 
deutend grösseren  als  dort,  wo  für  den  Besuch  der 
erweiterten  Schulabteilung  Schulgeld  erhoben 
wird.  Somit  steht  ausser  jedem  Zweifel: 

b)  Sollen  die  beiden  Schulabteilungen  von  den 
für  sie  qualifizierten  Schülern  bevölkert  werden, 
so  darf  weder  der  Vermögensstand  noch  der  Wunsch 
der  Eltern  bei  der  Einweisung  massgebend  sein, 
sondern  es  müssen  die  Unterrichtsobjekte  selbst, 
die  Kinder,  d.  h.  der  durch  natürliche  Anlagen, 
Fleiss  und  häusliche  Verhältnisse  bedingte  Grad 
ihrer  individuellen  Leistungsfähigkeit,  das  aus- 
schlaggebende Moment  bilden.  Als  der  zuverlässigste 
Massstab  für  die  Leistungsfähigkeit  sind  aber  die  t  hat  säch- 
lichen Leistungen  anzusehen. 

Daraus  ergeben  sich  folgende  Forderungen: 
i.  Die  Sonderung  der  Kinder  kann  nicht  schon  beim  Eintritt 
in  die  Schule,  sondern  frühestens  vom  3.  Schuljahre 


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332 


Fritz  Feilcke. 


an,  also  auf  Grund  der  Ergebnisse  eines  mindestens  zwei- 
jährigen Schulbesuchs  erfolgen. 

2.  Für  die  Zuteilung  der  Kinder  in  die  einfache  und  in  die 
erweiterte  Schulabteilung  ist  allein  die  Schule  zuständig, 
denn  sie  hat  die  umfassendste  Kenntnis  von  den  Leistungen 
und  infolgedessen  auch  das  zuverlässigste  Urteil  über  die 
Leistungsfähigkeit  der  Kinder. 

Man  wende  nicht  ein,  dass  damit  der  Schule  ein  Recht  ein- 
geräumt würde,  das  deren  bisherige  Befugnisse  weit  übersteige. 
Thatsächlich  übt  die  Schule  schon  längst  eine  viel  weitergehende 
Einwirkung  auf  die  Gestaltung  des  Bildungsganges  der  ein- 
zelnen Schüler  aus  und  zwar  durch  das  ihr  zustehende  Recht, 
schwache  Schüler  in  die  nächsthöhere  Klasse  nicht 
aufsteigen,  d.  h.  „sitzen"  zu  lassen.  Wenn  ein  Schüler 
einer  achtklassigen  Schule  nur  einmal  sitzen  bleibt,  so  ist  ihm 
damit  jede  Möglichkeit  abgeschnitten,  den  lehrplanmässigen 
Abschluss  seiner  Ausbildung  im  schulpflichtigen  Alter  zu  er- 
reichen. Die  Verweisung  in  die  einfache  Schulab- 
teilung dagegen  hat  für  den  Schüler  gerade  den  umgekehrten 
Effekt;  sie  verschafft  ihm  die  Möglichkeit,  in  einem 
seinen  Kräften  angemessenen  Unterrichtsgang  zu 
einem  planmässigen  Abschluss  seiner  Ausbildung 
zu  gelangen,  den  er  in  der  erweiterten  Abteilung 
niemals  erreicht  hätte. 

Die  Forderung,  dass  über  die  Zulassung  zur  Schulabteilung 
für  erweiterten  Unterricht  nicht  die  Eltern,  sondern  die  Vertreter 
der  Schule  die  Entscheidung  treffen,  erscheint  um  so  berech- 
tigter, wenn  man  die  in  den  Mittelschulen  von  jeher  geübte 
und  allgemein  als  selbstverständlich  befundene  Praxis  zum  Ver- 
gleich heranzieht.  Zur  Aufnahme  in  das  Gymnasium,  das  Real- 
gymnasium, die  Realschule  und  die  höhere  Mädchenschule 
genügt  nicht  der  Wunsch  der  Eltern  oder  deren  Bereitwilligkeit, 
das  verlangte  Schulgeld  zu  bezahlen,  die  Aufnahme  ist  vielmehr 
von  dem  Ausfall  einer  Prüfung  abhängig  gemacht,  durch  die 
festgestellt  werden  soll,  ob  die  zur  Aufnahme  Angemeldeten 
denjenigen  Grad  von  Leistungsfähigkeit  besitzen,  der  zur  Er- 
reichung der  Unterrichtsziele  der  genannten  Anstalten  als  un- 
erlässlich  angesehen  wird.  Dabei  sind  die  Mittelschulen  in  zwie- 
facher Hinsicht  günstiger  daran  als  die  Volksschule.  Einmal 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim.  333 

sind  in  denselben  die  Fälle  nicht  selten,  dass  Schüler  zur  Er- 
reichung des  planmässigen  Abschlusses  ein  oder  mehrere  Jahre 
zusetzen ;  sodann  sind  die  höheren  Lehranstalten  befugt,  Schüler 
nach  zwei  jährigem  erfolglosen  Besuch  einer  Klasse  „abzu- 
schieben". In  der  Volksschule  dagegen  treten  die  Kinder  —  mit 
seltenen  Ausnahmen  —  nach  Erfüllung  der  gesetzlichen  Schul- 
pflicht aus  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  sie  das  Schulziel  erreicht 
haben;  ferner  ist  die  Volksschule  gezwungen,  alle  schulpflich- 
tigen Kinder,  auch  die  schwachen  und  unfähigen,  zu  behalten 
und  zu  unterrichten.  Da  nun  die  Volksschule  einerseits  die 
Leistungsfähigkeit  der  Kinder  nicht  willkürlich  erhöhen  kann, 
andrerseits  verpflichtet  ist,  die  ihr  zugewiesenen  Kinder  thun- 
lichst zu  fördern,  so  muss  ihr,  sofern  ihre  Organisation  graduell 
verschiedene  Ausbildungsmöglichkeiten  vorsieht,  ebenso  gut  wie 
den  Mittelschulen  das  Recht  zustehen,  nur  solche  Elemente 
in  die  Abteilung  mit  höherem  Ausbildungsziele  zuzulassen,  die 
den  gesteigerten  Anforderungen  thatsächlich  auch 
gewachsen  sind.  Diese  für  die  Volksschule  in  Anspruch 
genommene  Befugnis  verliert  auch  den  letzten  Schein  eines 
Uebergriffs  dem  Elternhaus  gegenüber,  wenn  man  berücksich- 
tigt, dass  die  Eltern  für  die  die  hiesige  Volksschule  besuchenden 
Kinder  kein  Schulgeld  zu  entrichten  haben  sowie  dass  die  Fern- 
haltung der  schwächeren  Schüler  von  der  erweiterten  Schul- 
abteilung und  deren  Unterweisung  nach  einfacherem  Unterrichs- 
plan  durch  das  eigenste  Interesse  der  letzteren  gefordert 
wird. 

Innerhalb  der  Mannheimer  einheitlichen  erweiterten  Volks- 
schule sind  jahrelang  diejenigen  Schüler,  welche  am  Ende  des 
Schuljahres  aus  der  Schule  entlassen  werden  mussten,  in  be- 
sonderen Parallelklassen,  den  sogenannten  Konfirmanden- 
klassen, nach  einem  modifizierten  Lehrplan  unterrichtet 
worden,  um  ihnen  eine  einigermassen  abgeschlossene  Ausbil- 
dung zu  geben.  Die  Eltern  sind,  wenn  ihre  Kinder  einer  Parallel- 
klasse zugewiesen  werden  sollten,  um  ihre  Zustimmung  nicht 
befragt  worden.  Die  vorgeschlagene  Organisation  ist  aber 
nichts  anderes  als  die  umfassende  Durchführung  des 
den  Konfirmandenklassen  zu  Grunde  liegenden  Ge- 
dankens, die  Anforderungen  des  Unterrichts  der  faktischen 
Leistungsfähigkeit  der  Kinder  anzupassen  und  die  schwachen 


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334 


Fritz  Feilet. 


Schüler,  in  engerem  Rahmen,  zu  einem  gewissen  Abschluss  ihrer 
Schulausbildung  zu  bringen. 

Die  Notwendigkeit  der  Einrichtung  eines  gesonderten 
UnterrichtsgangesfürdieschwachenSchüler  ergiebt 
sich  auch  mit  logischer  Konsequenz  aus  der  Fürsorge,  die  man 
seit  einer  Reihe  von  Jahren  mancherorts  den  schwächsten 
unter  den  die  öffentlichen  Schulen  besuchenden  Kindern  an- 
gedeihen  lässt.  Gemeint  sind  damit  nicht  die  vollständig 
schwachsinnigen  Kinder,  die  sogen.  Idioten ;  denn  diese  sind 
aus  der  Normalschule  gänzlich  auszuscheiden  und  gleich  den 
Nicht- Vollsinnigen,  den  Blinden  und  Taubstummen,  in  be- 
sonderen Anstalten  unterzubringen.  Wir  haben  vielmehr  die- 
jenigen Kinder  im  Auge,  die  infolge  organischer  Gebrechen  in 
ihrer  geistigen  Entwickelung  zurückgeblieben  sind,  sich  aber 
immer  noch  als  bildungsfähig  erweisen ;  man  pflegt  diese  Kinder 
zur  Unterscheidung  von  den  wirklich  Schwachsinnigen  als 
„krankhaft  schwach  begabt"  zu  bezeichnen.  Sie  kennzeichnen 
sich  nach  ihrem  Eintritt  in  die  Normalschule  dadurch,  dass  sie 
auch  bei  zweijährigem  Besuch  einundderselben  Klasse  das 
Klassenziel  nicht  erreichen  und  deshalb  nach  achtjährigem 
Schulbesuch  aus  den  unteren  Klassen  entlassen  werden  müssen. 
Diese  Elemente  werden  in  neuerer  Zeit  in  einer  grossen  Zahl 
von  Städten  (darunter  Karlsruhe)  im  Rahmen  der  allgemeinen 
Schule  in  besonderen  Abteilungen,  sogen.  Hilfsklassen 
unterrichtet.  Die  Zweckmässigkeit  der  besonderen  Behandlung 
dieser  Kinder  wird  von  Pädagogen  und  Aerzten  einstimmig  an- 
erkannt. Auch  die  Mannheimer  Schulbehörde  hat  die  Frage 
der  Einrichtung  von  Hilfsklassen  wiederholt  in  Erwägung 
gezogen  und  1896  das  Rektorat  mit  Einreichung  diesbezüg- 
licher Vorschläge  beauftragt.  Hält  man  aber  in  der  all- 
gemeinen Volksschule  die  Einrichtung  eines  beson- 
deren Unterrichtsganges  für  die  a  b  n  o  r  m  a  1  -  Schwachbe- 
gabten Kinder  für  gerechtfertigt,  so  wird  man  auch  den  viel 
zahlreicheren  normal- Schwachbegabten  und  den  normal- 
leistungsfähigen  Kindern  die  grossen  Vorteile  einer  besonderen 
Behandlung  nicht  länger  vorenthalten,  sondern  die  Zweck- 
mässigkeit einer  Organisation  anerkennen,  die  vorsieht: 

1.  eine  erweiterte  Schulabteilung  für  die  be- 
fähigteren Schüler, 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim. 


335 


2.  eine     einfache     Schulabteilung     für  die 
schwächeren  Schüler, 

3.  eine  Anzahl  Hilfsklassen  für  die  schwäch- 
sten Schüler. 

Wie  würde  sich  nun  diese  Gliederung  im  praktischen 
Schulbetrieb  unter  den  hiesigen  Verhältnissen  darstellen? 

Etwa  so:  Der  Unterricht  in  der  ersten  (untersten)  Klasse 
wird  einheitlich  erteilt.  Diejenigen  Kinder,  welche  das 
Ziel  der  ersten  Klassen  im  ersten  Jahre  nicht  erreichen, 
verbleiben  ein  weiteres  Jahr  in  dieser  Klasse.  Ist  ihre  Ver- 
setzung auch  im  darauf  folgenden  Jahre  nicht  möglich,  so 
werden  sie  einer  sogen.  Hilfsklasse  zugeteilt.  Dasselbe  ge- 
schieht mit  den  die  zweite  Klasse  ein  zweites  Jahr  erfolglos 
besuchenden  Kindern. 

Diejenigen  Schüler  der  zweiten  Klasse,  welche  das  Klassen- 
ziel mit  der  Durchschnittsnote  „gut"  und  „ziemlich  gut"  erreicht 
haben,  werden  zu  Beginn  des  folgenden  Schuljahres  in  die 
erweiterte  Schulabteilung,  die  mit  geringeren,  aber  immer  noch 
genügenden  Leistungen  in  die  einfache  Schulabteilung  ein- 
gewiesen. Die  endgültige  Entscheidung  über  die  letzteren  erfolgt 
nach  einer  seitens  der  Schulleitung  vorgenommenen  Prüfung. 

Bezüglich  der  von  der  Schule  vorzunehmenden  Fest- 
stellung der  Leistungsfähigkeit  der  Kinder  könnten  nun  noch 
folgende  Bedenken  erhoben  werden: 

1)  Die  Schüler  einer  Unterrichtsabteilung  weisen  in  ihren 
Leistungen  nicht  sprungweise  Unterschiede,  sondern  allmäh- 
liche Uebergänge  auf;  es  ist  deshalb  für  die  Einweisung  in 
die  erweiterte  oder  einfache  Schulabteilung  eine  Grenzlinie  allzu 
schwer  zu  ziehen. 

2)  Bei  der  Beurteilung  der  Leistungen  legen  nicht  alle 
Lehrer  denselben  Massstab  an.  Es  ist  also  denkbar,  dass  ein 
Kind,  das  von  seinem  Klassenlehrer  als  „hinlänglich"  leistungs- 
fähig der  einfachen  Schulabteilung  zugeschrieben  worden  ist, 
von  einem  andern  Klassenlehrer  als  „ziemlich  gut"  in  die  er- 
weiterte Schulabteilung  eingereiht  worden  wäre. 

3)  Es  kommt  vor,  dass  Kinder  in  späteren  Jahren  sich 
anders  entwickeln,  als  es  sich  in  den  ersten  zwei  Jahren  ver- 
muten lässt.  Was  soll  dann  mit  diesen  Kindern  geschehen? 


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336 


Frilt  Feücke. 


Zu  i.  Die  unter  den  jetzigen  Verhältnissen  am  Schlüsse 
eines  Schuljahres  vom  Klassenlehrer  zu  treffende  Entscheidung, 
ob  ein  Schüler  in  die  nächst  höhere  Klasse  zu  versetzen  oder 
noch  ein  Jahr  in  der  bisherigen  Klasse  zu  belassen  sei,  ist 
zum  mindesten  ebenso  schwierig  als  die  Entscheidung  über  die 
Tauglichkeit  für  die  erweiterte  oder  einfache  Schulabteilung; 
im  Falle  einer  irrtümlichen  Beurteilung  ist  dagegen  die  erstere 
Entscheidung  für  das  Kind  viel  nachteiliger. 

Zu  2  und  3.  Um  für  die  Beurteilung  einen  einheitlichen 
Massstab  zu  gewinnen,  werden  die  von  dem  Klassenlehrer  für 
die  einfache  Schulabteilung  in  Aussicht  genommenen  Schüler 
seitens  der  Schulleitung  einer  Prüfung  unterzogen.  In  Zweifel- 
fällen ist  der  Schüler  zunächst  in  die  erweiterte  Schul- 
abteilung aufzunehmen  mit  vierteljährlicher  Probezeit. 

Falls  ein  Schüler  der  erweiterten  Schulabteilung  in  einer 
höheren  Klasse  den  Anforderungen  nicht  mehr  gewachsen  ist, 
kann  er  leicht  in  die  für  ihn  geeignete  Klasse  der  einfachen 
Abteilung  herüber  genommen  werden.  Hat  beispielsweise  bei 
einem  Schüler  der  6.  Klasse  der  erweiterten  Schulabteilung 
die  Leistungsfähigkeit  so  sehr  nachgelassen,  dass  er  in  der 
nächstfolgenden  Klasse  dem  Unterricht  voraussichtlich  nicht 
folgen  könnte,  so  bleibt  er  nicht  als  Repetent  in  der 
bisherigen  Klasse  (was  ja  zur  Folge  hätte,  dass  er  die 
8.  Klasse  nicht  mehr  erreichte),  sondern  er  wird  in  die 
7.  Klasse  der  einfachen  Schulabteilung  pro- 
moviert und  gelangt  hier  zu  dem  wünschenswerten 
Abschluss.  So  wird  auf  die  einfachste  Weise  erreicht: 

1)  Dass  in  den  Klassen  der  erweiterten  Schulabteilung 
niemals  Repetenten  sitzen,  2)  dass  die  bis  zur  Absolvierung 
ihrer  Schulpflicht  in  der  erweiterten  Abteilung  verbliebenen 
Schüler  ausnahmslos  aus  der  obersten  Klasse  ent- 
lassen werden. 

Tritt  dagegen  der  Fall  ein,  dass  die  Leistungsfähigkeit 
eines  Schülers  der  einfachen  Schulabteilung  sich  später  er- 
höht, so  ist  zweierlei  möglich.  Ist  die  Steigerung  der  Leistungs- 
fähigkeit auffallend  und  nachhaltig,  so  wird  der  Schüler  der 
erweiterten  Schulabteilung  überwiesen ;  andernfalls  bleibt  er  in 
der  einfachen  Schulabteilung  und  hat  dann  den  nicht  zu  unter- 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim. 


337 


schätzenden  Vorteil,  den  Abschluss  seiner  Ausbildung  mit 
gutem  Erfolge  zu  erreichen. 

Noch  eines  Umstandes  sei  Erwähnung  gethan,  der  die 
konsequente  Durchführung  des  von  uns  aufgestellten  Grund- 
satzes zu  hindern  scheint.  §  93  des  Elementarunterrichtsgesetzes 
besagt :  ,AVo  neben  einer  erweiterten  Volksschule  (Volksschul- 
abteilung) auch  eine  einfache  sich  befindet,  besteht  zum  Besuche 
der  ersteren  keine  Verbindlichkeit."  Zum  Verständnis  dieser 
gesetzlichen  Bestimmung  sei  daran  erinnert,  dass  seither  an 
den  Orten,  wo  neben  der  einfachen  Schule  eine  erweiterte 
bestand,  in  letzterer  Schulgeld  erhoben  wurde.  Die  Be- 
stimmung will  also  verhüten,  dass  Eltern  zur  Bezahlung  von 
Schulgeld  herangezogen  werden,  wenn  am  betreffenden  Orte 
der  gesetzlichen  Schulpflicht  auf  billigerem  Wege  Genüge  ge- 
leistet werden  kann.  Wiewohl  nun  in  Mannheim  für  den  Besuch 
der  erweiterten  Schule  kein  Schulgeld  erhoben  wird,  so 
könnten,  da  das  Gesetz  absolute  Gültigkeit  hat,  bei  einer  Gliede- 
rung der  Mannheimer  Schule  leistungsfähige  Kinder,  deren  Eltern 
die  einfache  Schulabteilung  aus  irgend  welchen  Gründen  (z.B. 
wegen  der  etwas  geringeren  Unterrichtszeit)  bevorzugen,  nicht 
in  die  ihrer  Qualifikation  entsprechende  erweiterte  Schul- 
abteilung eingewiesen  werden.  Dieser  Fall  dürfte  indessen  selten 
eintreten,  da  Eltern  leistungsfähiger  Kinder  in  der  Regel  auch 
für  deren  Ausbildung  Interesse  zeigen.  Sollte  wirklich  von  jener 
Bestimmung  Gebrauch  gemacht  werden,  so  erreichen  die  betr. 
Kinder  um  so  sicherer  die  oberste  Klasse,  was  ja  in 
erster  Linie  durch  die  Gliederung  der  Schule  erreicht  werden 
soll. 

Die  Einrichtung  von  Parallelabteilungen  mit  einfachem 
Lehrplan  ist  für  Mannheim  schon  mit  Rücksicht  auf  die  Hun- 
derte von  Schülern,  die  alljährlich  von  auswärts 
in  seine  Schulen  übertreten,  ein  unerlässliches  Bedürfnis. 
Die  meisten  dieser  Kinder  haben  vor  ihrer  Uebersirdelung 
nach  Mannheim  eine  einfache  Schule  besucht;  sie  müsen 
deshalb  in  der  erweiterten  Schule  fast  ausnahmslos  in 
Klassen  eingewiesen  werden,  für  die  sie  zu  alt  sind,  was  alsdann 
zur  unausbleiblichen  Folge  hat,  dass  sie  nach  Vollendung  der 
Schulpflicht  aus  niedrigeren  Klassen  entlassen  werden.  Er- 
halten diese   Kinder  aber  die  Gelegenheit,  ihren  bisherigen 


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338 


Früz  FeiUke. 


Unterrichtsgang  in  einer  ihrem  Alter  entsprechenden  Klasse 
fortzusetzen,  so  ist  der  Vorteil  ein  doppelter:  jene  Schüler 
gelangen  zu  einem  regelrechten  Abschluss  ihrer  Ausbildung, 
und  die  Klassen  mit  erweitertem  Lehrplan  bleiben  von  einem 
bisher  sehr  unangenehm  empfundenen  Zuwachs  verschont. 

Die  Lehrpläne  der  erweiterten  Schulabteilung  und  der 
einfachen  Schulabteilung  würden  sich  sowohl  in  Bezug  auf 
Umfang  als  in  Bezug  auf  Verteilung  des  Unterrichtsstoffes 
unterscheiden.  Bei  der  Aufstellung  derselben  dürfte  man  nicht, 
wie  dies  im  Jahre  1870  geschah,  von  der  Annahme  ausgehen, 
der  badische  Normallehrplan  vom  Jahre  1869  sei  ein  sogen. 
Minimallehrplan.  Die  Erfahrungen  im  Unterricht  haben  zur 
Genüge  dargethan,  dass  er  als  Maxi  mallehr  plan  zu  be- 
trachten ist;  auch  die  Oberschulbehörde  will  ihn  als  solchen 
aufgefasst  wissen.  In  der  That  enthält  er  so  vieles  und  so 
vielerlei,  dass  zur  Erfüllung  seiner  Forderungen  im  Massen- 
unterricht die  an  der  hiesigen  Schule  übliche  erweiterte 
Unterrichtszeit  vollauf  in  Anspruch  genommen  wird.  — 

Angelegentlich  der  Frage  der  Organisation  der  Volksschule 
in  Mannheim  hat  Dr.  Sickinger  das  Schulwesen  anderer  Städte 
(Basel,  Zürich  u.  s.  w.)  eines  eingehenden  Studiums  unterzogen 
und  seine  Beobachtungen  und  Folgerunen  in  einer  weiteren 
Abhandlung  niedergelegt.  Wir  können  auf  dieselbe  hier  nicht 
mehr  eingehen,  verweisen  aber  auf  sie  (Mannheim,  Druck  der 
Mannheimer  Aktiendruckerei  A.-G.  Die  Organisation  der  Mann- 
heimer Volksschule  betreffend;  Bericht  über  das  Schulwesen 
der  Stadt  Basel,  Zürich  u.  s.  w.).  — 

Die  in  jener  Schrift  enthaltenen  Leitsätze  über  die  x\ot- 
wendigkeit,  Zweckmässigkeit  und  Durchführbarkeit  der  Glieder- 
ung der  obligatorischen  Volksschule  nach  der  natürlichen  Leist- 
ungsfähigkeit der  Kinder  seien  jedoch  wegen  ihrer  allgemeinen 
Bedeutung  hier  wieder  gegeben. 

1.  Die  für  die  obligatorische  Volksschule  erhobene  Forderung  „gleiches 
Recht  für  alle"  wurde  seither  so  verstanden,  dass  alle  Kinder  ein  Recht  auf 
die  gleiche  Bildung  hätten.  Es  galt  deshalb  als  zweckmässigste 
Organisation  die  einheitliche  (ungegliederte)  Volksschule  mit  einem  Lehr- 
plan (ür  sämtliche,  die  obligatorische  Volksschule  besuchenden  Kinder. 

2.  Es  ist  aber  eine  durch  die  Promotionsstatistik  nicht  bloss  der 
Mannheimer,   sondern  auch  anderer  Stadtschulen  zahlcnmässig  erwiesene 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim. 


33«) 


Thaisache,  dass  durch  eine  derartige  Auslegung  jener  Forderung  gerade 
diejenigen  Kinder  am  meisten  geschadigt  wurden,  denen  durch  Einrichtung 
der  einheitlichen  Schule  eine  Förderung  zugedacht  war. 

3.  Man  hat  eben  ausser  acht  gelassen,  dass  die  Arbeitsbefähigung  der 
Individuen  substantiell  und  graduell  sehr  verschieden  ist  und  dass  das  Indi- 
viduum zu  keinem  andern  Grade  der  Brauchbarkeit  geführt  werden  kann, 
als  wozu  seine  Kräfte  es  fähig  machen. 

4.  Die  naturgemässc  und  deshalb  allein  vernünftige  Auslegung  jener 
Forderung  lautet  vielmehr:  „Alle  Kinder  haben  das  gleiche  Recht  aul 
Bildung",  d.  h.  die  zu  fordernde  Gleichheit  besteht  nicht  in  der  Gleichheit 
des  Unterrichtsganges  für  alle,  sondern  in  der  gleichen  Möglichkeit 
für  jedes  Kind,  dass  es  innerhalb  der  obligatorischen  Schulpflicht  die 
seiner  natürlichen  Leistungsfähigkeit  entsprechende 
Ausbildung  erhalte. 

5.  Ein  einheitlich  zugeschnittener  Lehrplan  ist  deshalb  für  die  obliga- 
torische Volksschule,  die  alle  Kinder  unterschiedslos  aufzunehmen  und  durch 
Unterricht  zu  erziehen  hat.  ein  Unding. 

6.  Es  müssen  vielmehr,  damit  in  der  obligatorischen  Volksschule  jedem 
Kinde,  dem  schwachen  wie  dem  starken,  die  seiner  Eigenart  gemässe  Ent- 
wickelung  und  Förderung  zu  teil  werde,  mehrere  quantitativ  und  teil- 
weise auch  qualitativ  verschiedene  Unterrichtsgänge  einge- 
richtet werden. 

7.  Das  Volksschulwesen  wird  dadurch  gegliedert  wie  das  Mittel- 
schulwesen. Während  jedoch  die  Unterrichtsgänge  des  Mittelschulwesens 
(der  gymnasiale,  der  realgymnasiale  und  der  Realschulzweig  1  vorwiegend 
qualitative  Unterschiede  aufweisen  (Verschiedenheit  der  Unterrichts- 
fächer», unterscheiden  sich  die  in  der  Volksschule  einzurichtenden  Unter- 
richtsgünge  vorwiegend  quantitativ. 

8.  Das  für  die  Schule  in  Anspruch  genommene  Recht  der  Einweisung 
in  den  einen  oder  andern  Unterrichtsgang  ist  nur  i  o  r  m  c  1 1  von  dem  durch 
die  Schule  von  jeher  geübten  Rechte  verschieden.  Von  jeher  hat  die 
Schule  die  Kinder  nach  dem  Prinzip  der  Leistungs- 
fähigkeit gruppiert,  indem  sie  unter  der  Form  des  Sitzenlassens 
ältere  Schüler  zu  jüngeren  einschulte  und  dadurch  für  jene  aus  eigener 
Machtvollkommenheit  den  Lchrplan  modifizierte. 

9.  Die  neue  Form  der  Gruppierung  nach  Leistungsfähigkeit  hat 
gegenüber  der  bisherigen  den  nicht  gering  zu  schätzenden  Vorteil,  dass  auch 
die  schwächeren  Schüler  ihrem  Alter  und  ihrer  Leistungsfähigkeit  ent- 
sprechend Jahr  für  Jahr  stufenmässig  vorwärts  geführt  und  statt  zu  einem 
Abbruch  zu  einem  das  Wesentlichste  der  elementaren  Unterrichtsfacher 
berücksichtigenden,  also  planvollen  Abschluss  ihrer  schulmassigen 
Ausbildung  gebracht  werden. 

10.  Selbst  wenn  durch  die  vorgeschlagene  Sonderung  für  die  Schwäche- 
ren nicht  mehr  erreicht  würde,  als  bei  dem  bisherigen  gemeinsamen  Unter- 
richt, so  bliebe  im  ganzen  genommen  immer  noch  ein  Gewinn,  insofern  die 
Leistungsfähigeren,  befreit  vom  Hemmschuh  der  Schwachen,  eine  ihren 
Kräften  angemessenere  Ausbildung  erhalten  könnten. 


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340 


Fritz  Fakke. 


11.  Dass  indessen  die  Schwachen,  gesondert  von  den  Fähigeren,  eben- 
falls eine  zweckmässigem  Ausbildung  erhalten,  dafür  braucht  der  Beweis 
nicht  erst  in  der  Zukunft  erbracht  zu  werden.  Er  ist  bereits  erbracht  durch 
die  Erfolge  in  den  H  i  1  f  s  k  1  a  s  e  n  ,  die  nirgends,  wo  sie  einmal  eingeführt 
worden  sind,  wieder  aufgegeben  wurden,  sondern  überall  weitergeführt  und 
an  einigen  Orten  bereits  zu  besonderen  Hilfsschulen  ausgestaltet  werden; 
er  ist  ferner  erbracht  durch  die  in  Basel,  Zürich  und  VVintcrthur  eingerichteten 
Sonderklassen  der  Sekundärschule.  Es  ist  auch  ohne  weiteres  be- 
greiflich, dass  wenn  die  Allersch  wachsten  durch  die  Sor.dcrung 
erfolgreicher  geiördert  werden,  dies  noch  vielmehr  bei  den  Normal- 
schwachen  möglich  ist,  da  bei  diesen  die  Schwierigkeiten  unzweifelhaft 
geringer  sind. 

12.  Ebenso  wie  die  intellektuelle  Ausbildung  wird  auch  die  sitt- 
liche Ausbildung,  die  Erziehung  der  Kinder  zur  äusseren  Gesittung  und 
zur  inneren  Sittlichkeit,  durch  Anpassung  der  Anforderungen  an  die  that- 
sächliche  Leistungsfähigkeit  der  Kinder  günstig  beeinflusst.  Das  setzen  die 
seither  in  Sonderklassen  gemachten  Erfahrungen  ebenfalls  ausser  jeden 
Zweifel.  Auch  theoretisch  ist  dies  klar  erkennbar.  Wie  kann  z.  B.  in  einem 
Kinde  der  Sinn  für  Recht  und  Billigkeit  geweckt  und  gepflegt  werden,  wenn 
der  Lehrer,  der  für  das  schwache  wie  für  das  begabte  Kind  die  verkörperte 
Gerechtigkeit  sein  soll,  Jahr  ein  Jahr  aus  unter  dem  Zwange  des  einheitlichen 
Unterrichtsganges  Anforderungen  an  das  Kind  stellt,  die  dasselbe  mit  dem 
besten  Willen,  weil  sie  eben  über  seine  Kräfte  gehen,  nicht  erfüllen  kann  ? 
Die  Anpassung  der  schulischen  Forderungen  an  die  thatsächliche  Arbeits- 
kraft des  Kindes  ist  geradezu  die  unerlässliche  Voraussetzung 
zur  wirksamen  sittlichen  Erziehung  des  Zöglings,  sie  ist  gewissermassen 
das,  was  Luft  und  Licht  für  das  organische  Leben  bedeuten. 

13.  Das  Höchste,  was  die  Eltern  von  der  obligatorischen  Volksschule 
verlangen  können,  ist,  dass  die  Kinder  bestmöglich,  d.  h.  nach  Mass- 
gabe ihrer  natürlichen  Leistungsfähigkeit  innerhalb  des  schulpflichtigen 
Alters  ausgebildet  werden.  Diese  Ansprüche  hat  die  obligatorische  Volks- 
schule einem  grossen  Prozentsatz  der  Eltern  gegenüber  bisher  nicht  er- 
füllt und  kann  sie  auch  künftig  nur  dann  erfüllen,  wenn  verschiedene 
Unterrichtsgänge  eingerichtet  werden. 

14.  Nach  §  7  der  Ministcrialverordnung  vom  24.  April  1869,  den  Lehr- 
plan für  die  Volksschulen  betr.,  findet  die  Festsetzung  der  Schülereinteilung 
in  Klassen  und  Abteilungen  sowie  die  Ueberweisung  der  Klassen  an  die  bei 
der  Schule  angestellten  Lehrer  durch  den  Kreisschulrat  {\n  Mannheim  durch 
das  Rektorat)  statt.  Der  Schulleitung  steht  demgemäss  jetzt  schon  die 
Befugnis  zu,  die  schwächeren  Schuler  der  einzelnen  Klassenstufen  in  be- 
sonderen Parallelabteilungen  zusammenzufassen  und  ihnen  geeignete 
Lehrer  zuzuweisen.  Behufs  Ermöglichung  der  vorgeschlagenen  Organisa- 
tion ist  also  nur  noch  die  Frage  zu  entscheiden:  Soll  der  Schul- 
leitung auch  das  Recht  zukommen,  den  Parallel- 
abtcilungen  der  Schwächeren  quantitativ  weniger  zu- 
zumuten, damit  der  Unterricht  an  Qualität  gewinne? 


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Zur  Frage  der  Organisation  der  Volksschule  in  Mannheim. 


341 


Bei  Formierung  der  früher  bestandenen  „Konfirmandenklassen"  wurde  die 
Frage  stillschweigend  als  etwas  Selbstverständliches  bejaht,  und  in  Basel, 
Zürich  und  Winterthur  übt  die  Schulleitung  das  fragliche  Recht  mit  aus- 
drücklicher Genehmigung  der  Erziehungsbehörde  aus  und  zwar  m  i  t 
bestem  Erfolg  und  zur  vollen  Zufriedenheit  aller  be- 
teiligten Faktoren. 


Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene. 


4 


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Die  Entwickelung  der  Pädagogischen  Psychologie 

im  19.  Jahrhundert. 

Von 

Ferdinand  Kemsies. 
II. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  alle  Wandlungen  zu  schildern, 
welche  die  Ziele,  die  Organisation  und  der  technische  Betrieb 
der  Volksschulen  und  der  Lehrerseminarien  unter  dem  Ein- 
flüsse der  verschiedensten  Faktoren  und  Strömungen  im  Laufe 
des  vorigen  Jahrhunderts  erfahren  haben.  Ich  verweise  in  dieser 
Beziehung  auf  Karl  Schmidts  „Geschichte  der  Pädagogik",  der 
ich  wiederholt  gefolgt  bin,  ohne  sie  jedesmal  besonders  zu 
nennen;  für  die  Fragen  des  höheren  Unterrichts  findet  man 
erschöpfende  Angaben  in  der  „Geschichte  des  gelehrten  Unter- 
richts" von  Paulsen.  Eines  muss  jedoch  zusammenfassend  ge- 
sagt   werden,    dass    die   Theorie   Pestalozzis    offiziell  eine 
Zeit  lang  verdunkelt  und  unbeachtet  erscheinen  konnte,  dass 
sie  aber  die  Männer  der  Praxis  andauernd  bei  ihrer  Arbeit 
angeregt,  befruchtet  und  begeistert  hat,  bis  sie  in  der  zweiten 
Hälfte  des  Jahrhunderts  auch  bei  den  offiziellen  Vertretern 
der  Elementarpädagogik  wieder  ihren  hohen  Rang  einnahm. 
Ein  Zeichen  für  ihre  bleibende  und  universelle  Bedeutung  ist 
jedenfalls  darin  zu  erblicken,  dass  auch  im  höheren  Schulwesen, 
das  zunächst  wenig  Verständnis  für  Pestalozzis  Werk  bekundet 
hatte,  die  Elementarmethode  Aufnahme  und  eifrige  Pflege  fand. 

Viel  wichtiger  ist  für  uns  die  Frage,  ob  und  wie  Pestalozzis 
Psychologie  sich  historisch  ableiten  lässt. 

Pestalozzi  war  kein  Philosoph  von  Fach,  so  dass  man  ihn 
einer  bestimmten  Schule  zurechnen  könnte;  seine  psychologi- 
schen Grundlehren  waren  durch  die  deutsche  Philosophie  von 
Leibniz— Wolff  zu  Kant,  d.  h.  das  ganze  18.  Jahrhundert  bis  in 


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DU  EntwüMung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  343 


die  ersten  Decennien  des  19.  Jahrhunderts  hinein  verbreitet.  Der 
Begriff  der  Seele  als  eines  mit  Anlagen  und  Vermögen  ausge- 
statteten, immateriellen  Wesens,  wie  er  typisch  bei  Kant  auftritt, 
wird  von  Wolff  und  später  von  Crusius  ausgebildet.1)  Der 
Seelenbegriff  schliesst  eine  allgemeine,  strenge  Gesetzmässig- 
keit des  seelischen  Geschehens  und  eine  allmähliche  Entfaltung 
desselben  ein,  die  der  Beobachtung,  sowie  der  Leitung  und 
Führung  zugänglich  sind;  der  philosophischen  Forschung  des 
18.  Jahrhunderts  erschien  freilich  eine  Zerlegung  des  Bewusst- 
seins  in  Abteilungen  und  zugehörige  Vermögen,  in  ein  „psychi- 
sches Mosaik"  als  eine  wissenschaftliche  Aufgabe  von  princi- 
pieller  Bedeutung,  an  die  sie  sich  eifrig  heranmachte.  Pesta- 
lozzis Theorie  fordert  daher  im  Anschluss  an  das  Zeitideal  die 
harmonische  Entwickeiung  aller  Anlagen  und  Kräfte  des 
Menschen,  und  er  versteht  unter  Anlage  jede  produzierende 
Kraft  des  Subjekts. 

Obwohl  für  die  thatsächliche  Praxis  nur  ein  nebensäch- 
licher Gesichtspunkt,  ist  diese  Hypothese  eines  mit  Kräften 
ausgestatteten  Seelenwesens  ein  wichtiger  Teil  einer  Weltan- 
schauung, die  sich  seit  Pestalozzi  in  der  Pädagogik  beinahe 
erblich  fortpflanzt.  Sie  ist  so  fest  in  die  Ueberzeugung  päda- 
gogischer Kreise  eingedrungen,  dass  man  sich  nur  ausnahms- 
weise von  ihr  losgemacht  hat,  ja,  dass  man  die  moderne 
Psychologie,  weil  sie  diese  Hypothese  fallen  lässt,  vielfach  als 
ungeeignet  ansieht,  ein  pädagogisches  System  zu  stützen.  Diese 
Kräftetheorie  giebt  uns  aber  über  das  Fehlen  oder  Vorhanden- 
sein der  wirklichen  Vorstellungen,  Gefühle  und  Strebungen, 
über  ihren  Ablauf  und  ihren  zeitlichen  und  ursächlichen  Zu- 
sammenhang, kurz  über  die  ganze  Struktur  der  psychischen 
Komplexe  nicht  den  mindesten  Aufschluss;  sie  drückt  nichts 
weiter  als  die  Thatsache  aus,  dass  es  verschiedene,  auseinander 
nicht  ableitbare,  seelische  Bethätigungen  giebt  und  postuliert 
entsprechend  eine  grosse  Unabhängigkeit  der  verschiedenen 


V)  Zur  weiteren  Orientierung  verweise  ich  auf  zwei  grossere  Werke, 
die  den  geschichtlichen  Zusammenhang  und  die  sachliche  Bedeutung  dieser 
psychologischen  Lehren  in  gründlicher  Weise  behandeln: 
Max   Dessoir.  Geschichte  der  neueren  deutschen  Psychologie.     I.  Band. 

Berlin.  Carl  Duncker.  1002. 
Guido   Villa,     Einleitung  in  die   Psychologie  der  Gegenwart.  Leipzig. 

B.  G.  Teubner.  1002. 

4« 


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344 


Ferdinand  Ke/nsüs. 


Vermögen  gegen  einander,  sodass  jede  einheitliche  Leitung  der 
seelischen  Akte  in  Frage  gestellt  ist.  Es  wird  zwar  verlangt, 
dass  der  Verstand  auf  das  Willensvermögen  einwirke,  und 
dass  die  Bildung  des  Verstandes  eine  erziehliche  Bedeutung 
habe,  dass  das  Anschauungsvermögen  dem  Begriffsvermögen 
voraufgehe,  doch  fehlen  überall  genaue  Angaben  darüber,  wie 
im  einzelnen  Fall  eben  diese  Wirkung  stattfindet,  und  wie  der 
Uebergang  sich  vollzieht.  Oder  wie  Beneke  sagt :  Die  be- 
treffenden Vermögen  konnten  wohl  auf  und  gegen  einander 
wirken,  aber  es  gab  kein  unmittelbares  Ineinandersein  an  den- 
selben Akten,  kein  Ineinanderfliessen,  kein  Sichineinanderver- 
wandeln.  Ferner  werden  die  Zahl  und  Arten  der  Vermögen 
sehr  verschieden  angegeben,  sodass  eine  grosse  Unklarheit 
und  Unbestimmtheit  zurückbleibt. 

Pestalozzi  sucht  für  die  Erziehung  den  vielfachen  Zusam- 
menhang der  Bewusstseinsinhalte  zu  entdecken  und  ist  des- 
halb inbezug  auf  seine  weiteren  Ansichten  als  ein  selbstän- 
diger Forscher  und  Denker  zu  betrachten,  der  den  spekulativen 
Boden  mit  Absicht  verlasst,  um  an  der  Hand  der  Beobachtung 
und  Erfahrung  auf  induktivem  Wege  den  Aufschluss  zu  er- 
langen, den  die  Vermögentheorie  nicht  erbringt.  „Es  giebt 
notwendig  in  den  Eindrücken,  die  dem  Kinde  durch  den 
Unterricht  beigebracht  werden  müssen,  eine  Reihenfolge, 
deren  Anfang  und  Fortschritt  dem  Anfange  und  Fortschritte 
der  zu  entwickelnden  Kräfte  des  Kindes  genau  Schritt  halten, 
soll."  „Ich  suchte  die  Mittel  der  Erziehung  in  psychologisch 
geordnete  Reihenfolge  zu  bringen."  Mit  dieser  Idee  verbindet 
sich  bei  ihm  als  nächster  Leitbegriff  die  Vorstellung  einer 
lex  continui,  eines  „lückenlosen"  Zusammenhanges  alles  see- 
lischen Geschehens,  dem  wir  schon  in  der  Psychologie  bei 
Leibniz  begegnen,  und  der  in  der  Pädagogik  seit  Co- 
menius  eine  Rolle  spielt  Der  stufenweise  Lehrgang,  die 
Vermeidung  aller  sachlichen  Sprünge  im  Unterricht,  die 
zeitliche  Stetigkeit  aller  Einwirkungen,  die  Vermeidung 
grober  Unterbrechungen  und  Störungen  —  alles  das 
scheint  ihm  durch  die  fortlaufenden  Vorgänge  im  seelischen 
Geschehen  und  in  der  psychischen  Entwickelung,  die  eine 
Lücke  nicht  aufweist,  gefordert  zu  sein.  Die  lex  continui  wird 
leider  nur  auf  intellektuellem  Gebiet  von  ihm  konsequent  durch- 


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Die  Entwickelung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  345 

geführt.  „Unermüdet  setzte  er  Silbenreihen  zusammen,  be- 
schrieb ganze  Bücher  mit  ihren  Reihenfolgen  und  mit  Reihen- 
folgen von  Zahlen  und  suchte  auf  diese  Weise  die  Anfänge  des 
Buchstabierens  und  Rechnens  zu  der  höchsten  Einfachheit  und 
in  Formen  zu  bringen,  die  das  Kind  mit  der  höchsten  psycho- 
logischen Kunst  vom  ersten  Schritt  nur  allmählich  zum  zweiten, 
aber  dann  ohne  Lücken,  und  auf  das  Fundament  des  ganz 
begriffenen  zweiten  schnell  und  sicher  zum  dritten  und  vierten 
hinaufbringen  müssen." 

Das  psychogenetische  Grundgesetz,  dass  alle  Erkenntnis 
mit  Anschauungen  beginnt  und  fortschreitet,  schliesst  sich  an. 
Es  enthält  ein  Doppeltes.  Das  einfache  vor  die  Ohren  Bringen 
der  Töne,  das  einfache  vor  Augen  Stellen  der  Gegenstände 
ist  der  Anfang  alles  Unterrichts.  Aber  auch  während  des 
Fortschreitens,  z.  B.  bei  Zahlenoperationen,  muss  der  sinnliche 
Hintergrund  stets  gewahrt  bleiben. 

Man  zerlege  ferner  die  Anschauungen  in  ihre  einfachen 
Grundteile,  in  die  Elemente:  Zahl  und  Form1).  Die  Sinne 
als  die  Träger  der  Gegenstände  müssen  nach  Massgabe  der 
Elemente  geschult  werden.  In  den  Dingen  sind  Zahl  und  Form 
als  Elementarcigenheiten  enthalten,  ausserdem  sind  diese 
noch  im  Subjekt  als  Abstraktionsbegriffe  anzutreffen,  letztere 
müssen  genau  jenen  entsprechen,  wenn  eine  vollwertige  Er- 
kenntnis zustande  kommen  soll. 

Das  Ausgehen  von  Anschauungen,  die  Zerlegung  derselben 
in  Elemente,  die  Bildung  lückenloser  Reihen,  ihre  Einübung 
und  Verbindung :  das  ist  das  Geheimnis  der  Elementarmethode, 
der  reformatorisch  wirkende  Mechanismus  derselben ;  durch  ihn 
wollte  P.  den  Geist  bauen  und  eine  klar  und  hell  angeschaute 
Erfahrung  konstruieren,  und  darin  liegt  sein  Verdienst. 

II.  Epoche. 

Eine  neue  Epoche  für  die  pädagogische  Theorie  hebt  mit 
Herbart  und  Beneke  an.  Herbart,  der  erste  grosse  Fach- 
psychologe, ist  zugleich  der  kräftigste  Förderer  der  pädago- 
gischen Psychologie ;  ihm  nahe  steht  Beneke,  der  mit  ihm  eins 

*)  vgl.  hierzu  die  wertvolle  Schrift  von  Walsemann.  J.  H.  Pestalozzis 
Rechenmethode,  die  kritische  und  experimentelle  Aufschlüsse  über  Soll 
und  Haben  der  Elementannethode  enthält.  (Hamburg.  A.  Lefevre  Nfg. 
1901). 


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ist  in  der  Bekämpfung  der  Lehre  von  den  Seelenkräiten  als 
einer  unfruchtbaren  Hypothese,  einer  leeren  Fiktion;  es  giebt 
nach  Herbart  weder  Gefühl  noch  Erkenntnis  noch  Wille, 
sondern  es  giebt  nur  Gefühle,  Bewusstseinsinhalte  und  Willens- 
akte. Das  positive  Verdienst  der  beiden  Forscher  besteht  darin, 
eigene  Theorien  aufgestellt  zu  haben,  die  sich  von  hoher  prak- 
tischer Bedeutung  erwiesen,  sodass  Jahrzehnte  lang  eine  frucht- 
bare Diskussion  pädagogischer  Probleme  sich  daran  knüpfen 
konnte.  Benekcs  Pädagogik  tritt  allerdings  schnell  zurück,  ihre 
Ausläufer  sind  Dressler  und  Dittes;  dagegen  wird  der  Nach- 
lass  Herbarts  bis  auf  die  Gegenwart  von  einer  Schule  ver- 
waltet und  verteidigt. 

Durch  Herbart  und  Beneke1)  wird  das  „formale"  Bildungs- 
prinzip der  Schule  Pestalozzis  wissenschaftlich  zurückge- 
drängt und  dafür  das  „materiale"  eingeführt.  Die  Seele  ist  bei 
H.  nicht  mehr  Trägerin  von  Vermögen,  sondern  der  Schauplatz 
für  das  Auftreten  von  Vorstellungen  und  deren  Gefolge.  Sie 
gewinnt  einen  Inhalt,  dem  Selbständigkeit  zukommt,  der  dem 
hinzutretenden  Neuen  gegenüber  die  Rolle  eines  Herrschers 
spielt,  der  es  assimiliert  und  appereipiert,  wobei  aber  streng  ge- 
nommen in  abgelöstem  Zustande  nichts  zu  existieren  und  zu  wirken 
vermöchte;  dennoch  wird  auch  in  der  Herbart'schen  Schule 
von  formaler  Bildung  gesprochen. 

Benekes  Pädagogik  bezeichnet  man  als  die  des  Sensua- 
lismus und  als  eine  systematische  Weiterführung  der  Pädagogik 
Locke's. 

Herbart  nahm  zunächst  die  kritische  Fragestellung:  Wie 
ist  Wissenschaft  möglich?  wieder  für  die  Pädagogik  auf  und 
beantwortete  sie,  indem  er  die  Erziehungskunst  in  die  Werk- 
stätte der  Psychologie  führte,  wo  jede  Regel,  jede  Vorschrift 
bewiesen  werden  müsse.  Er  lenkte  die  Aufmerksamkeit  zugleich 
nachdrücklich  auf  jene  Grundvoraussetzung,  die  die  Pädagogik 
ebenso  wie  die  Psychologie  angeht,  auf  den  Begriff  des  natur- 
gesetzlichen Zusammenhanges  der  seelischen  Erscheinungen. 
Denn  er  nahm  diesen  Begriff  in  jener  Strenge,  wonach  er  sich  auf 
alle  Daseinsbedingungen  und  Daseinsbestimmungen  eines  Din- 


')  Die  Unterrichtslehre  Benekes  im  Vergleiche  zur  pädagogischen  Didaktik 
Herbnrts  Inaug.  Dis?.    Leipzig  lSSf\ 


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Die  Entiaickelung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  347 


ges  erstreckt,  und  forderte  für  die  psychischen  Phänomene 
Untersuchungen  über  ihre  quantitativen  Bestimmtheiten.  Durch 
eine  Psychologie,  die  es  gestattet,  Ursachen  auf  Wirkungen 
zu  berechnen,  sollte  die  Möglichkeit  der  Erziehung  theoretisch 
eingesehen  werden  können.  Diese  Psychologie  sollte  auf  drei 
Fundamenten:  „Metaphysik,  Mathematik  und  Erfahrung" 
ruhen. 

Als  metaphysische  Grundlage  denkt  er  sich  mit  Leibniz  ) 
eine  Vielheit  seiender  Wesen,  die  Realen,  sie  unterscheiden 
sich  qualitativ.  Aus  Kant-Fichte's  Forschungen  über  das  Ich 
schloss  er  andererseits,  dass  das  Ich  nichts  Primitives,  sondern 
das  Abhängigste  und  Bedingteste  sein  müsse,  was  sich  nur 
denken  lasse.  Als  ursprüngliche  Aeusserung  der  Seele,  als 
ihre  Grundthätigkeit,  stellt  er  deshalb  „die  Vorstellung"  hin, 
indem  er  wieder  an  Leibniz  anknüpft,  der  durch  die  petites 
perccptions,  d.  s.  unbewusste,  schwache  Vorstellungen,  denen 
er  weitreichende  Wirkungen  zuschreibt,  den  Zusammenhang 
der  bewussten  geistigen  Erscheinungen  verfolgen  zu  können 
glaubte.  Nach  Herbart  bringen  in  ähnlichem  Sinne  die  ein- 
fachen Vorstellungen  das  gesamte  geistige  Leben  zu  stände 
und  beherrschen  es  durch  ihr  Wechselspiel.  Nicht  alle  Vor- 
stellungen sind  gleichzeitig,  viele  sind  infolge  des  zwischen 
ihnen  bestehenden  Gegensatzes  gehemmt  und  kehren  erst  zu- 
rück, wenn  die  Hemmung  nachlässt.  Die  Mathematik  kann 
die  Hemmung  berechnen  und  die  Vorstellungsgesetze  in 
Formeln  darstellen.  So  ergiebt  sich  eine  Theorie  des  Vor- 
stellungsverlaufes. 

Die  Seele  hat  weder  Anlagen  noch  Vermögen,  sie  ant- 
wortet aber  auf  Störungen  von  aussen  durch  Vorstellungen. 
Ganz  von  selbst,  ohne  jeden  synthetischen  Akt  verbinden  sie 
sich ;  infolge  ihres  Gegensatzes  treten  sie  zugleich  in  einen 
Wettbewerb;  dadurch  geht  keine  verloren,  sondern  es  sinkt 
nur  das  wirkliche  Vorstellen  auf  ein  Vorstellungsstreben 
herab,  die  Vorstellungen  hemmen  und  verdunkeln  sich 
zum  Teil,  werden  unbewusst.  Ein  Rest  bleibt  frei,  d.  i.  die 
Summe  des  wirklichen  gleichzeitigen  Vorstellens  oder  das  B  e  - 
wusstsein;  in  diesem  werden  disparate  Vorstellungen  sich 

M  Vergl.  zum  Folgenden:  Barchudarian,  Inwiefern  ist  Leibniz  in  der 
Psychologie  ein  Vorgänger  Herbarts.    Inaug.-Diss.    Jena  18&). 


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348 


Ferdinand  Kernsüs. 


komplizieren,  gleichartige  miteinander  verschmelzen. 
Auf  der  Hemmung  und  Förderung  beruhen  Fühlen  und  Be- 
gehren, die  also  keine  Vermögen  sondern  Zustände  sind, 
die  in  Vorstellungsmassen  ihren  Sitz  haben.  Es  ist  darauf  auf- 
merksam zu  machen,  dass  auch  die  Theorie  des  Begehrens  und 
Wollens  wieder  auf  Leibniz  hinweist. 

Die  Möglichkeit  der  Erziehung  oder  die  Bildsamkeit 
in  bestimmten  Richtungen  beruht  nicht  in  dem  Vorhandensein 
verschiedener  Anlagen,  sondern  auf  den  Bewegungsgesetzen  der 
Vorstellungen,  die  sich  für  pädagogische  Zwecke  folgender- 
massen  zusammenfassen  lassen.  Wir  citieren  hier  Ziller,  den 
„Reformator  der  Herbart'schen  Pädagogik"  :l) 

I.  Die  Vorstellungen  verbinden  sich  zu  Vorstellungskreisen 
mit  spezifischem  Inhalte.  In  jedem  bilden  sich  bleibende 
Produkte  aus;  so  oft  und  in  so  verschiedener  Weise  entstehen 
dieselben,  als  die  Vorstellungsinhalte  verschieden  sind.  Wer 
eine  Art  dieser  Produkte  auf  dem  einen  Gebiet  besitzt,  besitzt 
darum  noch  nicht  eine  andere  Art,  die  mit  jener  unter  den- 
selben Gattungsbegriff  fällt,  z.  B.  Ortsgedächtnis  ist  nicht  immer 
mit  Namen-  und  Zahlengedächtnis  verbunden.  Eine  solche 
Ungleichheit  tritt  besonders  in  der  Jugend  auf. 

II.  Gedanken,  Gefühle,  Verstand,  Gedächtnis  etc.,  die  in 
dem  einen  Kreise  ausgebildet  sind,  übertragen  sich  erst  dann 
auf  einen  andern,  wenn  beide  Kreise  in  so  enge  Verbindung 
gebracht  sind,  dass  die  Bildung  des  ersten  sich  im  zweiten 
reproduktionsweise  erneuert  an  den  Stellen  und  in  den  Gliedern, 
wo  die  Verbindung  zu  stände  gebracht  ist.  Dabei  muss  aber 
die  Verbindung  des  zweiten  Kreises  mit  dem  ersten  ganz  selbst- 
ständig hergestellt  sein.  Vorausgesetzt  wird  dabei  schon  die 
begriffliche  Durchbildung  des  Materials. 

Alle  Bildung,  andrerseits  jeder  Mangel,  ist  mithin  nur  ein 
Verhältnis  der  Vorstellungsmassen  und  ihrer  Teile.  Ist  die 
Verbindung  überall  hergestellt,  so  erweitert  sich  die  Spezial- 
bildung  zur  formalen,  welche  nicht  mehr  an  einem  bestimmten 
Vorstellungskreise  haftet. 

Der  Umkreis  des  Stoffes,  in-  dem  die  formale  Bildung  her- 
vortreten soll,  muss  hinreichend  bekannt  sein ;  die  Denkformen 

M  Vgl.  Kemsies,  Herbart  u.  A.  Diesterweg.  Inaug.-Diss.  Königs- 
berg 1889. 


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Di  e  EntuHckrtung  der  Pädar ;■> fischen  Psychologie  im  ig.  jfahrh. 


349 


und  Denkgesetze  gelingen  nicht,  wo  der  Stoff  fremd  ist,  wenig- 
stens kommt  es  nicht  zu  einem  freien  produktiven  Gebrauch. 

III.  Allmählich  setzen  sich  in  den  Vorstellungsmassen  be- 
stimmte Wirkungsweisen  constant  fest,  gewisse  Kräfte,  gewisse 
Arten  der  Association,  der  Apperception  beharren  stetig.  So 
kehren  im  menschlichen  Geist,  wie  Verschiedenartiges  sich  ihm 
darbieten  mag,  zuletzt  immer  dieselben  leitenden  Vorstellungen 
und  Beurteilungen  zurück. 

IV.  Das  Verhältnis  der  Vorstellungsmassen  lässt  sich  auf 
die  mannigfachste  Weise  bilden  und  umbilden,  und  zwar  durch 
Vorstellungen,  welche  zugleich  Bewegungen  und  Gemütszu- 
stände hervorrufen. 

1.  Zu  den  Massen  können  Zusätze  hinzukommen,  welche 
jene  inhaltlich  bereichern  und  erweitern.  Dadurch  wird 
das  geistige  Leben  vermehrt  und  verstärkt. 

2.  Manche  Arten  des  geistigen  Lebens  können  aber  auch 
gehemmt  werden,  es  kann  ihnen  ihr  Ucbergewicht  ent- 
zogen werden,  es  kann  ihnen  entgegengearbeitet  werden 
durch  entgegengesetzte  Vorstellungen  und  durch  ganze 
Gruppen  und  Reihen  von  Vorstellungen,  die  ausgebildet 
werden  und  um  so  energischer  wirken. 

3.  Unter  den  vorhandenen  Vorstellungen  können  engere  Ver- 
bindungen gestiftet  werd2n. 

4.  Es  kann  das  Material  der  einen  Art  mit  dem  Material 
einer  andern  Art  verglichen,  es  kann  daran  gemessen,  ja 
es  kann  an  Objektivem  gemessen  werden,  das  nicht  eine 
beliebige  Auffassung  zulässt,  sondern  eine  allgemein  giltige 
fordert  und  zur  Vergleichung  nötigt. 

5.  Darauf  können  Grundsätze  und  Maximen  gebaut  werden. 
Der   Erziehungsplan   baut   sich  nach  den  leitenden 

Ideen  der  Ethik  und  den  neugewonnenen  Begriffen  der  Psycho- 
logie in  folgender  Art  auf.  Als  ein  nach  allen  Richtungen 
strebendes,  kräftiges  Wesen  untersteht  der  Zögling  zunächst 
der  Beurteilung  nach  der  ethischen  Idee  der  Vollkommenheit, 
die  ein  extensives,  intensives  und  konzentriertes  Wollen  ver- 
langt. 

Die  Intension  ist  gTOSsenteils  Naturgabe,  Konzentration 
auf  einen  Hauptgegenstand  ist  erst  im  späteren  Alter  möglich 
und  zweckmässig,  und  es  bleibt  also  übrig  die  Extension  oder 


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350 


Ferdinand  Kemsies. 


Ausbreitung  der  Kraft  auf  eine  unbestimmte  Menge 
von  Gegenständen.  Dieser  Begriff  ist  der  erste,  den  die  Er- 
ziehungslehre verfolgen  muss. 

Die  Ausbreitung  der  Kraft  des  Zöglings  in  eine  Mannig- 
faltigkeit von  Strebungen  darf  aber  nicht  eine  ebenso  grosse 
Vielheit  von  Begierden  und  Forderungen  erzeugen,  denn  der 
Tugendhafte  darf  gar  kein  Aeusseres  unbedingt  begehren. 
Daher  ist  die  Aufgabe  so  zu  fassen,  dass  Vielseitigkeit 
des  Interesses  beabsichtigt  werde.  Die  Ausbreitung  der 
Kraft  geschieht  dadurch,  dass  man  dem  Zögling  eine  Menge 
von  Gegenständen  darbietet,  die  ihn  reizen  und  in  Bewegung 
setzen.  Das  geschieht  durch  den  Unterricht.  Demgemäss 
wird  die  Didaktik  vorangestellt  den  übrigen  Lehren  vom  Be- 
nehmen des  Erziehers  gegen  den  Zögling.  Wenn  dann  hinten- 
nach  die  Aufgabe,  die  ganze  Tugend  hervorzubilden,  wieder 
in  ihrer  Grösse  zurückgerufen  wird,  findet  sich,  dass  die  Haupt- 
sachen schon  durch  den  Unterricht  nach  jener  ersten  Rücksicht 
geleistet  sind,  und  dass  man  nur  noch  einige  Vorschriften 
nachzutragen  hat. 

1.  Die  Didaktik  beruht  also  auf  einer  speziellen  Auf- 
gabe aus  dem  Umfange  des  ganzen  Erziehungsproblems,  sie 
ist  mittelbare  Erziehung,  ihr  Ziel  das  vielseitige  Interesse.  Das 
Wort  Interesse  bezeichnet  im  allgemeinen  die  Art  von  geisti- 
ger Thätigkcit,  welche  der  Unterricht  veranlassen  soll,  indem 
es  bei  dem  blossen  Wissen  nicht  sein  Bewenden  haben  darf. 
WTer  sein  Gewusstes  festhält  und  zu  erweitern  sucht,  der  inter- 
essiert sich  dafür.  Weil  aber  diese  geistige  Thätigkeit  mannig- 
faltig ist,  so  muss  die  Bestimmung  hinzukommen,  welche  in 
dem  Worte  Vielseitigkeit  liegt. 

So  wird  die  Vielseitigkeit  des  Interesses  der  Angelpunkt 
der  ganzen  Pädagogik,  sie  ist  das  Zentrum  des  Intellekts  und 
die  Wurzel  des  Willens.  Der  Unterricht  kann  daher  nicht 
nach  etwaigen  Seelenvermögen,  wie  bei  Pestalozzi,  oder  nach 
Wissenschaften,  wie  gewöhnlich  in  der  Praxis,  sondern  muss 
nach  den  Gemütszuständen  eingeteilt  werden,  die  dem  Interesse 
vorangehen,  und  die  die  Psychologie  darzustellen  hat. 

2.  Die  Zucht  oder  unmittelbare  Charakterbildung  ergänzt 
den  Unterricht;  sie  soll  den  Zögling  halten,  bestimmen,  regeln, 
bewegen,  berichtigen. 


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Die  Entwicklung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  351 


3.  Die  Regierung  geht  bloss  auf  äussere  Ordnung  und 
Gewöhnung  und  bedient  sich  als  Mittel  der  Beschäftigung, 
des  Verbots  und  Befehls,  der  Drohung  und  Strafe.  — 

Der  ganze  Erziehungsplan  beruht  nach  der  technischen 
Seite  auf  der  Lehre  von  den  Vorstellungen  als  den  einzigen 
seelischen  Konstituenten  und  ist  durch  und  durch  intellektua- 
listisch  im  Gegensatz  zu  Pestalozzis  Vermögenstheorie,  die  für 
das  Fühlen  und  Begehren  eine  Berücksichtigung  nach  ihren 
eigenen  Bildungsgesetzen  offen  lässt.  H.  konstruiert  einen  Vor- 
stellungsmechanismus, der  einmal  in  Gang  gebracht,  selbst- 
ständig weiterläuft.  Durch  Bekämpfung  der  Lehre  von  den 
Seelen  vermögen,  durch  Hinweis  auf  den  innigen  Zusammenhang 
aller  seelischen  Erscheinungen,  durch  eine  neue  Darstellung 
der  psychischen  Prozesse  im  Akte  der  Aufmerksamkeit,  des 
Erkennens  und  Begehrens,  durch  seine  Theorie  der  Bildsam- 
keit lieh  H.  der  Pädagogik  originale  und  brauchbare  Gesichts- 
punkte, die  den  Mangel  der  psychologischen  Begründung  oft 
verdeckten.  Er  steuerte  auf  eine  systematisch  geleitete.  ziel- 
bewusste  Didaktik  hin,  die  von  seinen  Schülern  bis  in  die 
speziellste  Methodik  verfolgt  wurde. 

Der  Plan  des  Unterrichts  gestaltet  sich  in  Form  einer 
mathematischen  Tafel  mit  mehreren  Eingängen,  bestehend  aus 
2>  0x4^48  Gliedern. 

Das  gleichschwebende  Interesse  bietet  mehrere  Rich- 
tungen,1) deren  jeder  der  Unterricht  nachzugehen  hat;  einerseits 
hat  er  die  Erkenntnis,  und  zwar  gleicherweise  die  empirische, 
die  spekulative  und  die  ästhetische  Erkenntnis  zu  fördern, 
andererseits  die  Teilnahme,  und  zwar  gleicherweise  die  sympa- 
thetische, d.  i.  auf  Einzelne  gerichtete,  die  gesellschaftliche 
und  die  religiöse  Teilnahme  zu  pflegen.  Beide  Einteilungen 
müssen  in  Verbindung  gesetzt  werden,  da  sich  sowohl  der 
analytische  als  der  synthetische  Unterricht  nach  den  Gliedern 
des  Interesses  spaltet.  Die  Verbindung  ergiebt  12  Glieder. 
Das  Wesen  der  V  i  e  1  s  e i  t  i  g  ke i  t  beruht  auf  dem  Abwechseln 
von  Vertiefung  und  Besinnung  einerseits  und  von  Ruhe  und 
Fortschritt  andererseits.  Die  ruhende  Vertiefung  giebt  Klar- 
heit des  Einzelnen,  welcher  die  Unterrichtsthätigkeit  des  Zeigens 

1 »  Aus  Kcmsies:  Fragen  und  Aufgaben  der  Pädagogischen  Psychologie, 
diese  Zisehr.  I..  i.  1890. 


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352 


Ferdinand  Kemsies. 


entspricht.  Die  fortschreitende  Vertiefung  giebt  die  Assoziation 
des  Einzelnen,  welcher  das  Verknüpfen  im  Unterrichte  ent- 
spricht. Die  ruhende  Besinnung  fasst  das  Einzelne  in  eine 
feste  Ordnung  zusammen :  System,  welcher  Stufe  die  didak- 
tische Thätigkeit  des  Lehrens  zugehört,  die  fortschreitende 
Besinnung  durchläuft  und  erweitert  das  System  mit  Konse- 
quenz :  Methode,  welcher  Stufe  das  Philosophieren  entspricht. 

Ein  anderer  Einteilungsgrand  des  Unterrichts  ergiebt  sich 
aus  dem  Wesen  des  Interesses.  Dasselbe  zeigt  die  beiden 
Stufen  des  Merkens  und  Erwartens,  welche  sich  fortsetzen  in 
die  beiden  Stufen  des  Begehrens,  nämlich  Fordern  und  Han- 
deln. Daraus  erwachsen  dem  Unterrichte  abermals  vier  Auf- 
gaben, welche  H.  jedoch  auf  den  die  Teilnahme  pflegenden 
Unterricht  beschränkt.  Dieser  hat  zu  sorgen  für  Anschaulich- 
keit als  Bedingung  des  Merkens,  für  Kontinuität  als  Bedingung 
des  Erwartens;  er  soll,  um  die  Teilnahme  bis  zum  Fordern 
auszubilden,  erhebend  sein;  endlich  soll  er,  um!  auf  das 
Handeln  im  Sinne  der  Teilnahme  hinzuleiten,  in  die  Wirklich- 
keit eingreifen. 

Jedes  der  48  Glieder  ist  ein  didaktischer  Artikulus,  der 
In  Vereinigung  mit  den  andern  den  Organismus  des  Unter- 
richts ausmacht. 

Wir  schliessen  jetzt  sofort  die  dritte  pädagogische  Theorie 
des  19.  Jahrhunderts  an,  die  durch  Beneke  geschaffen  wurde. 
Er  behauptet,  die  bisherige  Psychologie  habe  sich  in  ihren 
Hypothesen  vollständig  vergriffen.  Solange  man  die  Ver- 
mögen als  allgemeine  Grössen  in  die  Pädagogik  einführe, 
sei  keine  genaue  Auffassung  der  Seelenentwickelungen  mög- 
lich, man  müsse  aufhören,  Verstand,  Urteilskraft  etc.  als  all- 
gemeine Vermögen  wirken  zu  lassen;  man  müsse  einsehen, 
dass  zu  jedem  Verstehen,  zu  jedem  Urteilen  und  Einbilden, 
ein  besonderes  Vermögen  gehöre. 

Die  Aufgabe  für  die  ganze  Psychologie  bestehe  gerade 
darin,  nachzuweisen,  durch  welche  Prozesse  sich  fortwährend 
die  Vermögen  zu  erregten  oder  bewussten  Entwickelungen  und 
umgekehrt  wieder  diese  zu  Vermögen  ausbilden,  welche  er  als 
latente  Zustände  auffassL  Man  habe  bisher  fälschlich  die 
Vermögen  der  ausgebildeten  Seele  ohne  weiteres  auf  die  noch 


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Die  Enhekkelung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  19.  Jahrh.  353 


linausgebildete  übertragen  oder  als  angeboren  gesetzt.  An  die 
Stelle  davon  müssen  die  wahren,  ursprünglichen  Vermögen 
gesetzt,  und  von  diesen  aus  in  stetigem  Fortschritte  mit  jedes- 
maliger genauer  Angabe  der  Bildungsverhältnisse  die  Ent- 
stehungsweise der  ausgebildeten  konstruiert  werden.  Allerdings 
muss  die  Seele  angeborene  Vermögen  haben,  denn  wir 
können  auf  keine  Weise  annehmen,  dass  sie  sich  rein  passiv 
verhalte.  Da  aber  das  Kind  in  den  ersten  Lebenstagen  z.  B. 
noch  nicht  versteht,  noch  nicht  will,  wodurch  sind  wir  be- 
rechtigt, ihm  schon  zu  dieser  Zeit  oder  angeboren  einen  Ver- 
stand und  Willen  beizulegen.  Erst  durch  die  von  dem  ersten 
Begriff  zurückbleibende  Spur  wird  der  Verstand  begründet 
und  dehnt  sich  in  dem  Masse  aus,  wie  sich  mehrere  solcher 
Spuren  sammeln.  Die  Spur  oder  Angelegtheit  ist  nichts 
anderes  als  was  zwischen  einer  gegenwärtigen  Vorstellung  und 
ihrer  Reproduktion  liegt.  Ursprünglich  also  werden  nicht  die 
Begriffe  durch  den  Verstand,  sondern  der  Verstand  durch 
die  Begriffe  gebildet,  und  erst  später  kehrt  sich  dieses 
Verhältnis  um.  Der  Begriff  aber  bildet  sich  unmittelbar  aus 
den  Vorstellungen  heraus,  vermöge  der  diesen  innewohnenden 
Kräfte.  Ebenso  wird  das  erste  Wollen  ohne  Willen  gebildet. 

Man  hat  ausserdem  den  Fehler  begangen,  dass  man  für 
alle  Seelenentwickelungen,  die  in  ihrer  Form  mit  einander 
übereinkommen  (für  alle  Begriffe,  für  alle  Begehrungen  u.s.w.) 
ein  einziges  Grundvermögen  oder  eine  Gesamtkraft  ange- 
nommen hat.  Aber  daraus,  dass  dieselben  logisch  oder  für 
unser  Vorstellen  Eins  sind,  folgt  doch  noch  keineswegs,  dass 
sie  auch  reell  oder  in  ihrer  psychischen  Grundlage  Eins  (un- 
mittelbar zusammenhängend)  sein  müssen.  Wir  haben  den 
Entwickelungen  die  Kräfte  zunächst  in  der  Einzelheit  unter- 
zulegen und  erst  eine  besondere  Untersuchung  darüber  an- 
zustellen, ob  und  in  welchem  Masse  ihr  inneres  Seclensein 
mit  einander  in  Verbindung  stehen  möchte. 

Verfolgen  wir  so  die  seelische  Entwickelung  von  dem  un- 
mittelbar unserem  Bewusstscin  Vorliegenden  rückwärts,  so  ge- 
langen wir  zuletzt  zu  den  geistig-sinnlichen  Urver- 
mögen,  die  den  elementarischen  sinnlichen  Empfindungen  zu 
Grunde  liegen.  Sie  zeigen  sich  ihrer  wesentlichen  Natur  nach 
als  Streb un gen.  In  dem  Masse,  wie  ihr  Streben  ausgefüllt 


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354 


Ferdinand  Kemsies. 


wird,  hören  sie  auf,  Strebungen  zu  sein.  Die  vollkommenste 
Form  dieser  Ausfüllung  nun  ist  die  des  Vorstellens.  Dauernd 
bildet  sich  ein  Streben  nur,  inwiefern  diese  Ausfüllung  unvoll- 
kommen ist,  oder  auch,  nachdem  sie  vollkommen  gewesen  war, 
wieder  unvollkommen  wird  Das  Fühlen  aber  ist  das  un- 
mittelbare Bewusstsein,  welches  uns  in  jedem  Augen- 
blicke unseres  Lebens  von  der  Beschaffenheit  unserer 
Thätigkeiten  und  Zustände  innewohnt. 

Jede  einzelne  Vorstellung  setzt  ein  neues  Urvermögen  und 
einen  neuen  Reiz  voraus,  und  erhält  sich  in  dieser  Verbindung 
von  Vermögen  und  Reiz  auch  im  Unbewussten.  Die  Durch- 
dringung ist  aber  von  verschiedener  Festigkeit,  und  wenn  die 
Elemente  weniger  fest  oder  beweglich  sind,  so  können  sie  auf 
andere  übertragen  werden.  Das  unbewusst  oder  im  innern 
Seelensein  Beharrende,  d.  i.  die  Spur  oder  Angelegtheit,  strebt 
zum  Wiederbewusstwerden  auf. 

Beneke  stellt  nun  an  die  Spitze  seiner  Psychologie  vier 
Grundprozesse,  sie  betreffen: 

1 .  Das  sinnliche  Wahrnehmen  infolge  von  äusseren  Reizen. 

2.  die  fortwährende  Neubildung  von  Urvermögen. 

3.  Das  stete  Streben  nach  Ausgleichung  der  beweglich  ge- 
gebenen Elemente. 

4.  Die  Anziehung  gleicher  und  ähnlicher  Gebilde. 

Das  Grundwesen  der  menschlichen  Seele  aber  drückt  er 
folgenderweise  aus :  1 .  Sie  ist  ein  durchaus  unmaterielles 
Wesen,  bestehend  aus  gewissen  Grundsystemen  von  Urver- 
mögen, welche  nicht  nur  in  sich,  sondern  auch  mit  einander 
auf  das  innigste  Eins  sind,  oder  eben  ein  Wesen  bilden.  2.  Ein 
sinnliches  Wesen,  d.  h.  die  Urkräfte  der  Seele  sind  gewisser 
Anregungen  von  aussen  fähig  durch  Reize,  welche  von  diesen 
Kräften  angeeignet  und  festgehalten  werden.  3.  Durch  diese 
Anregungen  erhalten  die  Kräfte  der  Seele  eine  bestimmtere 
Bildung,  und  in  dieser  treten  sie  in  mannigfache  engere  Ver- 
bindungen mit  einander,  teils  vermöge  des  Zusammen fliessens 
gleichartiger  Gebilde  zu  einem  Gesamtgebilde  und  teils  vermöge 
der  Verknüpfung  der  ungleichartigen  zu  Gruppen  und  Reihen. 
4.  Die  Kräfte  der  Seele  haben  aber  auch  eine  ursprüngliche 
Bestimmtheit,  und  zwar  eine  zwiefache:  die  ursprüngliche 
Bestimmtheit  der  Grundsysteme,  zu  welchen  sie  gehören,  und 


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Die  Entwickelung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  355 


die  ursprüngliche  Bestimmtheit  gewisser  Grade  von  Kräftigkeit, 
Lebendigkeit  und  Reizempfänglichkeit.  Die  Beobachtung  lehrt 
uns,  dass  jeder  Grad  der  einen  dieser  Grundbeschaffenheiten 
mit  jedem  Grade  der  andern  zusammen  gegeben  sein  kann, 
und  daraus  erklären  sich  die  individuellen  Verschiedenheiten. 

Die  Hauptaufgabe  der  Erziehung  ist,  die  inneren  Ange- 
legtheiten zu  entwickeln,  der  Erziehung  im  engeren  Sinne  fällt 
die  Gemüts-  und  Charakterbildung  zu,  der  Unterricht  bezweckt 
die  Ausbildung  von  Vorstellungen  und  Fertigkeiten.  Erziehung 
und  Unterricht  greifen  beständig  in  einander  ein.  Der  Unter- 
richtsstoff muss  im  Schüler  ein  „spannendes  Selbstgefühl"  er- 
zeugen, das  ihn  zur  Selbsttätigkeit  drängt.  Er  muss  muster- 
hafte Kombinationen  (Begriffe,  Sätze,  Ideale)  überliefern, 
welche  zu  regelnden  Normen  werden.  Die  erziehenden  Mo- 
mente des  Unterrichts  liegen  auch  in  der  Person  des  Lehrers. 

Einen  rein  formalen  Unterricht,  der  eine  geistige 
Kraft  unabhängig  von  allem  Vorstellungsinhalt  ausbildet,  giebt 
es  nicht  Die  Vervollkommnung  des  Zahlengedächtnisses  trägt 
nicht  zur  Ausbildung  des  Sachgedächtnisses  bei.  Alle  formale 
Kräftebildung  ist  auch  eine  materiale,  und  umgekehrt. 

Für  das  Gelingen  des  Unterrichts  werden  drei  allgemeine 
Grundbedingungen  erfordert:  i.  Die  vorhergehenden  psychi- 
schen Entwickelungen  müssen  in  angemessener  Vollkommen- 
heit gebildet  oder  als  Angelegtheiten  vorhanden  sein. 

2  Sie  müssen  zum  Bewusstsein  gesteigert  werden,  indem 
der  Schüler  dem  Unterricht  seine  Aufmerksamkeit  zu- 
wendet. Diese  kann  schon  in  der  Stärke  und  Spannung  der 
inneren  Faktoren  jgegeben  sein,  wenn  die  Vorstellungen  in 
zusammenhängenden  Massen  angesammelt  werden,  sonst  muss 
sie  durch  Autorität  und  Beispiel  bewirkt  und  durch  äusserliche 
Interessen  vermittelt  werden. 

3.  Der  Unterricht  muss  eine  anregende  Kraft  haben,  die 
beabsichtigte  Fortentwickelung  hervorzubringen,  d.  h.  er  muss 
interessant  sein. 

Die  Unterscheidung  verschiedener  Lehrmethoden  ist  ab- 
hängig von  der  Verschiedenartigkeit  der  Lernprozesse,  es  giebt 
deren  vier :  das  Neubilden,  das  Ausbilden,  den  analytischen 
und  synthetischen  Prozess.  (Fortsetzung  folgt.) 


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Sitzungsberichte 


Psychologische  Gesellschaft  zu  Berlin. 

Sitzung  vom  26.  Juni  1902. 

Beginn:    715  Uhr. 
Vorsitzender:  Herr  T  h.  S.  Fla  tau. 
Schriftführer:  Herr  P  f  u  n  g  s  t. 

Die  Schrift  von  Th.  Lipps:  Vom  Fühlen,  Wollen  und  Denken 
(Heft  13 — 14  der  Schriften  der  Gesellschaft  für  Psychologische  Forschung) 
wird  unter  die  Mitglieder  verteilt. 

Auf  Anregung  der  Brcslauer  Schwestergesellschaft  wird  einstimmig  be- 
schlossen, gemeinsam  mit  dieser  und  der  Münchener  Gesellschaft  Wilhelm 
W  u  n  d  t  in  Leipzig  zu  seinem  70.  Geburtstage  eine  Glückwunschadresse  zu 
überreichen.  Herr  Prof.  D  e  s  s  o  i  r  wird  zu  diesem  Zwecke  von  der  Berliner 
Gesellschaft  delegiert. 

Darauf  halten  die  Herren  Abraham  und  v.  Hornbostel  den 
angekündigten  Vortrag: 

..Ueber  ostasiatische  Musik  (mit  phonographischen 

Demonstrationen)". 

Zunächst  spricht  Herr  Abraham  über  Siamesische  Musik.  Er 
führt  folgendes  aus: 

Die  exotische  Musik  ist  deshalb  von  besonderem  Interesse  für  den 
Psychologen,  weil  er  in  ihr  Tonkombinationen  findet,  welche  nicht  durch 
unsere  musikalische  Konvention  beeinflusst  sind.  An  überliefertem  Noten- 
matcrial  kann  man  sie  nicht  studieren,  weil  die  Noten  ungenau  und  nach 
europäischem  Geschmack  zugerichtet  (harmonisiert)  sind.  Phonograph  und 
Tonmesser  sind  unentbehrliche  Hilfsmittel  für  das  Studium  exotischer  Musik. 
Vortragender  studierte  siamesische  Musik  1900  als  Mitarbeiter  von  Prof. 
Stumpf  gelegentlich  eines  Gastspiels  einer  siamesischen  Hoftheatertruppe. 

Der  Allgemeineindruck  der  siamesischen  Musik  ist  fremdartig;  eine  sinn- 
liche Gefühlswirkung  tritt  nicht  ein.  wahrscheinlich  weil  die  Aufmerksamkeit 
durch  die  Musik  zu  fortwährenden  Sprüngen  gezwungen  und  nicht  durch 
reproduzierte  Vorstellungen  in  eine  bestimmte  Richtung  geleitet  wird.  Die 
Fremdartigkeiten  betreffen  vor  allem  die  Tonhöhen  der  siamesischen  Instru- 
mente. Die  Abstimmung  derselben  ist  vorzüglich;  mit  unseren  Intervallen 
stimmen  jedoch  nur  die  Octaven  überein,  alle  anderen  weichen  stark  von  den 
unsrigen  ab.  Die  Sianiesen  haben  eine  siebenstufige,  gleichschwebend  tem- 
perierte Tonleiter,  ihr  Sekundcnintervall  ist  also  =  7j/2.    Die  Siebenstufig- 

keit  ist  vielleicht  auf  die  dem  Buddha  heilige  Siebenzahl  zurückzuführen. 
Die  geometrische  Gleichstufigkeit  kann  nur,  da  mathematische  Berechnung 
auszuschliessen  ist,  dadurch  entstanden  sein,  dass  die  geometrisch  gleichen 


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Sitzungsberichte.  357 

Intervalle  sich  den  Siamesen  als  gleiche  Empfindungsabstände  darstellten. 
Alle  anderen  Hypothesen  sind  ungleich  komplizierter.  So  liefern  uns  die 
Siamesen  einen  Beweis  des  Weber- Fechnerschen  Gesetzes,  allerdings  nur 
für  Tonqualitäten.  Ein  solcher  Beweis  kann  durch  unsere  Musik  nicht  er- 
bracht werden,  weil  wir  nicht  nach  Distanzen  urteilen,  sondern  nach 
Konsonanzen,  die  auf  Verschmelzung  beruhen.  Solche  Konsonanzen  fehlen 
bei  den  Siamesen. 

Die  Musik  der  Siamesen  ist  taktlich  gegliedert  nach  Art  unseres  2-  und 
4-Vierteltakts.  Die  Erkennung  desselben  wird  jedoch  sehr  erschwert  durch 
die  häufige  Anwendung  von  Synkopen  und  deren  Acccntuirung  durch  die 
Pauken.  Die  Siamesen  haben  ein  sehr  gutes  Melodiegedächtnis,  aber  an- 
scheinend kein  absolutes  Tonbewusstsein.  Tonika  und  Tonarten  sind  bei 
ihnen  vorhanden.  Die  siamesische  Musik  hat  für  unser  Ohr  Dur-Charakter 
trotz  der  neutralen  Terz.  Wie  schwankend  das  Urteil  bei  den  neutralen 
Intervallen  ist,  zeigt  Vortragender  an  einem  siamesisch  abgestimmten 
Xylophon:  Melodische  Reminiscenzen  lassen  uns  besonders  leicht  un- 
gewohnte Intervalle  in  bekannte  umdeuten.  Die  siamesische  Musik  ist  trotz 
ihrer  Mehrstimmigkeit  keine  nach  unseren  Begriffen  harmonische,  sie  ent- 
spricht in  ihrem  Stil  der  ersten  Form  des  mittelalterlichen  Discantus. 

Zum  Schluss  zeigt  Vortragender  an  Phonogrammen  die  Eigenartigkeit 
des  Tonsystems,  des  Musikstils  und  der  musikalischen  Ausdrucksfähigkeit  der 
Siamesen. 

Sodann  giebt  Herr  v.  Hornbostel  eine  Darstellung  der  chinesi- 
schen und  japanischen  Musik : 

Die  Musik  der  Chinesen  und  Japaner,  der  Harmonie  völlig  fremd  ist, 
weist  zahlreiche  Analogien  mit  der  altgriechischen  und  der  mittelalterlichen 
Kirchenmusik  auf.  Die  Verwandtschaft  lässt  sich  nicht  nur  durch  Vergleich 
der  chinesischen  Musiktheorie  mit  der  pythagoräischen,  sondern  auch  aus 
manchen  Eigentümlichkeiten  der  praktischen  Musik  erkennen. 

Der  pythagoräische  Quinten-Zirkel  kann  nicht  zur  Erklärung  des  Ur- 
sprungs von  Leitern  dienen;  er  ist  vielmehr  erst  nachträglich  zur  Inter- 
pretation derselben  benützt  worden.  Die  chinesischen  und  japanischen 
Leitern  weisen  das  Tetrachord-Princip  auf,  das  auch  den  griechischen  eigen- 
tümlich ist.  Die  Oktave  wird  zunächst  durch  Quarten  geteilt,  diese  dann 
weiter  durch  Ganz-  und  Halbtöne  ausgefüllt.  Zu  ersteren  gelangt  man  durch 
Konsonanz-,  zu  letzteren  durch  Distanzgefühl.  Die  chinesische  gleicht  der 
mittelalterlich-kirchlichen  Musik,  vermeidet  den  Tritonus  und  bewegt  sich 
daher  nur  in  Ganztonschritten;  die  japanische,  gleich  der  alt-griechischen 
Musik,  bevorzugt  im  Gegenteile  auf  den  Tritonus  aufgebaute  Phrasen.  In- 
folge intermediärer  Intonation  der  in  der  sstufigen  Chinesenlcitcr  fehlenden 
Zwischentöne  „Piens".  entstehen  %  Ton-,  neutrale  Terzen-  und  neutrale 
Sextenschritte,  für  die  sich  auch  ein  eignes  Reinheitsgefühl  herausge- 
bildet hat. 

Die  simultanen  Intervalle  können  nicht  als  Harmonien  betrachtet 
werden,  sondern  dienen  nur  zur  Vergrösserung  der  Klangfülle.  Das  mehr- 
stimmige Spiel  ist  in  Ostasien  heterophon,  ähnlich  der  griechischen 
Metabolc  und  dem  mittelalterlichen  Discantus:  Die  Begleitung  umspielt 
die  führende  Melodie. 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  5 


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358 


Sitsungiberühte. 


Die  japanische  Musik  moduliert  gleich  der  unseren  zwischen  Dur  und 
Moll  und  in  Transpositionstonarten;  daneben  finden  sich  Modulationen  und 
Schlüsse,  ähnlich  wie  in  den  Kirchentönen.  Man  darf  den  Ostasiaten  Tonali- 
tätsgefühl  nicht  absprechen,  wenn  dasselbe  vielleicht  auch  anders  ist,  als  das 
unsere. 

Die  chinesische  Musik  wurde  vor  allem  von  B.  I.  G  i  1  m  a  n  (Boston), 
die  japanische  durch  die  beiden  Vortragenden  an  Phonogrammen  und  durch 
akustische  Messungen  studiert.  Die  Untersuchungen  exotischer  Musik  mit 
Hilfe  des  Phonographen  bilden  einen  nicht  zu  unterschätzenden  Teil  musik- 
psychologischer Forschung. 

Beide  Vorträge  waren  von  zahlreichen  Demonstrationen  begleitet. 

Eine  Diskussion  findet  nicht  statt. 

Wegen  der  vorgerückten  Zeit  verschiebt  Herr  Th.  S.  F  l  a  t  a  u  die  von 
ihm  gleichfalls  angekündigten: 

Demonstrationen  über  phonographische  Schrift. 
Schluss  der  Sitzung:   880  Uhr. 


Verein  für  Kinderforschung  zu  Jena. 

Die  IV.  Versammlung  des  Vereins  für  Kinderforschung 
fand  am  1.  u.  2.  August  im  Saale  des  „Deutschen  Hauses"  in  Jena  statt. 

Tagesordnung : 

1.  August,    abends  7%  Uhr: 

1.  Dr.  Herrn.  G  u  t  z  m  a  n  n  -  Berlin:    Die    sprachliche  Ent- 
wickelung  des  Kindes  und  ihre  Hemmungen. 

2.  Geschäftliches. 

3.  Anstaltsdirektor    Schreuder  -  Haag:      Ueber  Kinder- 
zeichnen. 

2.  August,  vormittags  9  Uhr: 

4.  Direktor  Dr.  med.  Krukenberg  -  Liegnitz :  Anstaltliche 
Fürsorge   für  Krüppel. 

5.  Prof.  Dr.  thcol.  et  phil.  Zimmer  -  Zehlendorf:     Zur  Frage 
der  religiösen  Entwickelung  des  Kindes. 

6.  Dr.  med.  Strohmayer -Jena:    Die  Epilepsie  im  Kindes- 
alt e  r. 

Der  Vorstand: 

Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  Binswanger  - Jena,  Prof.  Dr.  Ebbing- 
haus- Breslau.  Prof.  Dr.  Rein-  Jena.  Anstaltsdirektor  Trüper- 
Sophienhöhe  b.  Jena,  Prof.  Dr.  Z  i  e  h  e  n  -  Utrecht;  Dr.  med.  Stroh- 
m  a  y  e  r  -  Jena  I.  Schriftführer,    Lehrer  Stukenberg  -  Sophienhöhe  b. 

Jena  II.  Schriftführer. 
Leitsätze 

zu  dem  Vortrage  von  Dr.  med.  Gutzmann:  Ueber  die  Sprach- 
entwickelung und  ihre  Hemmungen. 


Bericht*  und  Besprechungen. 


359 


1.  Zwischen  willkürlichen  und  reflektorischen  Bewegungen  besteht  kein 
wesentlicher  Gegensatz,  da  auch  die  willkürlichen  Bewegungen  ohne  centri- 
petalen  Reiz  nicht  zu  stände  kommen. 

2.  Die  sprachliche  Entwickelung  der  Kinder  vollzieht  sich  in  durch- 
gehends  nachweisbaren  Beziehungen  zwischen  Reiz  und  Reflex. 

j.  Die  anfängliche  Ataxie  der  sprachlichen  Bewegungen  geht  allmählich 
in  Koordination  über.    (Demonstration  der  Atemkurven.) 

4.  Hemmungen  der  Sprachentwickelung  rinden  wir  in  Ausfall-  und 
Reizerscheinungen. 

a)  bei  den  peripher  impressiven, 

b)  bei  den  centralen, 

c)  bei  den  peripher  expressiven  Sprachwegen. 

Dazu  treten  noch  Einflüsse  allgemeiner  Art,  die  von  verschiedenen 
Teilen  des  Körpers  ausgehen  können. 

5.  Am  sichersten  können  die  Hemmungen  der  peripher  expressiven 
Wege  (c)  beseitigt  werden.  Schwieriger  ist  es,  die  Ausfälle  eines  oder 
mehrerer  Sinne  (a)  auszugleichen,  und  zwar  durch  Kompensation  anderer 
Sinne.  Teilweise  Ausfälle  können  durch  Sinnesübungen  ersetzt  werden.  Am 
schwersten  ist  die  Beeinflussung  gehemmter  centraler  Sprachwege. 


Berichte  und  Besprechungen. 


Ed.  Claparede:     Nouvelle  Classification  des  associa- 
tions    d'idee.      Archives    de     Psychologie     de  la 
Suisse  Romane.    Tome  I  (3e  fascicule)  (Avril  1902). 
Gaparede  sucht  den  gordischen  Knoten  des  Problems  der  Klassifika- 
tion der  Ideenassoziationen  zu  lösen.   Was  die  früheren  Behandlungen  des- 
selben Gegenstandes  betrifft,  so  sei  auf    die  „Kritik  der  Assoziations- 
einteilungen von  Johannes  Orth  im  Heft  2  des  Jahrgangs  1001  unserer  Zeit- 
schrift verwiesen. 

Claparede  betont  wie  Orth  und  vorher  Ziehen,  dass  eine  Einteilung  der 
Assoziationen  nur  nach  psychologischen,  nicht  nach  logischen  Gesichts- 
punkten erfolgen  müsse.  Das  Wesentliche  bei  ihm  ist,  dass  als  oberster 
Einteilungsgrund  der  Wert  eingeführt  wird,  den  die  Assoziation  für  das 
Individuum  hat. 

Einer  Betrachtung  der  eigentlichen  Klassifikation  müssen  aber  einige 
andere  Ermittlungen  vorhergehen.  Es  handelt  sich  um  Versuche,  bei  denen 
die  Versuchsperson  auf  einen  (visuellen  oder  akustischen)  Reiz  mit  einem 
von  ihr  gesprochenen  Worte  reagiert.  Da  ist  es  möglich«  dass  das  Reiz- 
mittel als  Ganzes  wirkt,  oder  nur  ein  Teil  von  ihm  ausgesondert  wird.  Wenn 
zum  Beispiel  ein  grünes  Gemälde  die  Vorstellung  einer  Schüssel  Spinat 
hervorruft,  so  ist  nicht  das  Gemälde,  sondern  seine  grüne  Farbe  der  eigent- 
liche Assoziationserreger.    Oder  wenn  jemandem  die  Photographie  eines 

5« 


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360 


Berichte  und  Besprechungen. 


Hundes  gezeigt  wird  und  er  antwortet  „Katze",  so  hat  er  an  der  Photographie 
nur  einen  Teil,  das  Dargestellte,  gesehen,  während  ein  Photograph  an  dem 
Gezeigten  wieder  nur  den  andern  Teil,  die  Photographie  als  solche,  beachtet 
und  vielleicht  „Objektiv'"  oder  „Momentbild"  assoziiert  hätte.  So  kann 
bei  demselben  Reizmittel  der  Assoziationserreger  verschieden  sein,  dieser  ist 
also  für  jeden  einzelnen  Fall  erst  besonders  festzustellen. 

Der  Assoziationserreger  kann  nun  eine  Wahrnehmung  oder 
eine  Vorstellung,  er  kann  einfach  oder  zusammengesetzt  sein.  Einfach  sind 
Erreger  wie  etwa:  das  Blaue,  die  Gestalt;  zusammengesetzt:  ein  Gegen- 
stand, dessen  Bedeutung  man  begriffen  hat.  Wenn  es  sich  um  ein  Wort 
handelt,  so  kann  dieses  nur  durch  seinen  Klang,  beziehungsweise  die  Form 
seiner  Buchstaben  wirken:  dann  liegt  eine  einfache  Wahrnehmung  vor. 
Das  Wort  kann  als  solches  erkannt  werden,  ohne  dass  seine  Bedeutung 
bewusst  wird:  die  Assoziation  ist  dann  rein  wörtlich.  Endlich  kann  das 
Wort  durch  seinen  Sinn  wirken:  so  hat  man  es  mit  einer  zusammen- 
gesetzten Wahrnehmung  oder  Vorstellung  zu  thun. 

Nunmehr  kommt  Gaparede  zur  Einteilung  der  eigentlichen  Assozia- 
tionen. Zwei  Wege  wären  hier  gangbar;  der  eine  führte  zu  einer  An- 
ordnung auf  Grund  der  objektiven  physiologischen  Vorgänge,  ist  aber  bei 
dem  heutigen  Stande  der  Wissenschaft,  bei  unserer  Unkenntnis  der  Physi- 
ologie des  Gehirnes  auszuschalten.  Der  andere  ist  subjektiv-psychologisch; 
er  geht  von  den  unmittelbar  gegebenen  Tatsachen  des  Bewusstseins  aus 
und  muss  zu  einer  Klassifikation  nach  dem  Werte  der  Assoziationen  führen. 

Da  ergiebt  sich  sofort  eine  Zweiteilung  in  Assoziationen  ohne  jeden 
Wert  und  solche  mit  Wert. 

Unter  den  ersteren  versteht  Claparede  diejenigen,  die  nur  einen  ein- 
fachen Ausruf,  eine  Reflexbewegung,  ein  Stammeln  oder  die  unmotivierte 
Reproduktion  eines  kurz  vorhergenannten  Wortes  auslösen,  diejenigen, 
welche  im  Traume  vor  sich  gehen,  die  freie,  d.  h.  ohne  ersichtlichen  Grund 
hervorgebrachte  Assoziation. 

Bei  den  Assoziationen  mit  Wert  ist  zu  unterscheiden,  ob  das  Subjekt 
diesen  Wert  empfindet  oder  nicht. 

Geht  die  Assoziation  vor  sich,  ohne  dass  man  sich  ihres  Wertes  be- 
wusst ist,  ohne  dass  also  dieses  Wertbewusstsein  zur  Auslösung  der  Reak- 
tion beiträgt,  so  ist  die  Assoziation  rein  mechanisch,  was  nicht  ausschliesst. 
dass  sie  einen  Wert  an  sich  haben  kann.  Dieser  Mechanismus  ist  ein  Pro- 
dukt der  früheren  Erfahrung,  und  sein  objektiver  Wert  ist  derselbe  wie  der 
der  Erfahrung.  Solche  mechanischen  Assoziationen  könnten  also  wertvolle 
Aufschlüsse  liefern  über  die  Art,  wie  sich  die  Erfahrungen  in  der  Seele  fest- 
gesetzt haben,  und,  nachdem  man  das,  was  dem  Einflüsse  der  Erziehung 
zuzuschreiben  ist,  abgezogen  hat,  über  die  angeborene  Anlage,  die  er- 
worbenen Erfahrungen  in  eine  gewisse  geistige  Ordnung  zu  bringen,  d.  h. 
über  die  Art,  wie  sich  das  Interesse  des  Individuums  gewissen  Beziehungen 
vor  andern  zuwendet 

Bei  der  mechanischen  Assoziation  kann  eine  einzige  Vorstellung  oder 
eine  Reihe  von  Vorstellungen  reproduziert  werden;  im  letzteren  Falle  wird 
dann  eine  ausgewählt.   Es  ist  aber  zu  beachten,  dass  diese  Auswahl  mit  der 


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Beruhte  und  Besprechungen. 


361 


Assoziation  an  sich  nichts  zu  thun  hat,  da  sie  erst  einsetzt,  wenn  jene  voll- 
endet ist. 

Es  wäre  also  eine  Willkür,  wollte  man  bei  der  Beurteilung  der  Asso- 
ziation nur  die  eine  ausgewählte  berücksichtigen  und  die  übrigen  ausser 
acht  lassen. 

Die  zweite  Art.  diejenige,  bei  welcher  das  Bewusstsein  von  dem  Werte 
der  Assoziation  vorhanden  und  bei  der  Auslösung  der  reproduzierten  Vor- 
stellung beteiligt  ist,  nennt  Qaparede  Assoziation  mit  wirksamem 
Wert.  Dieses  Bewusstsein  kann  aber  dem  Eintreten  des  Assoziations- 
erregers vorhergehen  und  folgen;  je  nachdem  würde  man  von  vorher- 
bestimmter oder  gezwungener,  und  von  freier  Assoziation  reden  dürfen, 
eine  Unterscheidung,  die  schon  Wundt  gemacht  hat. 

Wenn  man  zum  Beispiel  jemandem  sagt,  er  solle  mit  einem  zu  gebenden 
Worte  ein  anderes  assoziieren,  so  dass  die  beiden  Ausdrücke  ein  Ver- 
hältnis der  Kausalität  (oder  der  Unterordnung,  des  Kontrastes  u.  dgl.) 
bezeichnen,  so  ist  die  Assoziation  gezwungen.  Kann  nur  eine  Vorstellung 
in  der  gewünschten  Richtung,  assoziiert  werden,  so  ist  die  Vorherbestim- 
mung eindeutig,  mehrdeutig,  wenn  mehrere  assoziiert  werden  können.  Soll 
man  mit  der  Vorstellung  der  Schwere  eine  andere  verknüpfen,  die  mit 
jener  im  Verhältnis  der  Wirkung  zur  Ursache  steht,  so  wird  man  kaum 
etwas  Anderes  antworten  können  als  „Anziehungskraft";  die  Assoziation 
ist  eindeutig  bestimmt.  Soll  man  dagegen  dasselbe  thun  für  das  Wort 
..Gewitter",  so  kann  man  antworten:  Hitze,  Elektrizität,  Luftdruck  u.  dgl., 
die  Assoziation  ist  mehrdeutig. 

Die  freie  Assoziation  ist  diejenige,  bei  welcher  das  Bewusstsein  von 
dem  Werte  der  Beziehung  nach  dem  Auftreten  des  Assoziationserregers 
eintritt. 

Es  scheint,  dass  in  einigen  Fällen  das  Bewusstsein  von  der  Beziehung 
durch  den  Erreger  hervorgerufen  wird  und  doch  zur  Auslösung  der  Reak- 
tion beiträgt.  Der  Erreger  sei  Säugetier:  ehe  dieses  Wort  ein  anderes 
hervorruft,  merkt  man  schon,  in  welcher  Richtung  die  Antwort  erfolgen 
muss.  man  ist  sich  der  Beziehung  bewusst,  die  den  Erreger  und  das  noch 
unbekannte  Reproduzierte  verknüpft;  bei  unserem  Beispiel  wird  es  die 
Unterordnung  sein,  und  die  Antwort  wird  lauten  „Pferd"  oder  „Hammel". 
Oder  wenn  der  Erreger  3  +  4  ist,  so  hat  man,  ehe  die  Zahl  7  ins  Bewusst- 
sein tritt,  mehr  oder  minder  das  Gefühl,  dass  die  Form  der  Assoziation 
eine  Beziehung  der  Gleichheit  ist,  und  dieses  Gefühl  trägt  sicher  dazu  bei, 
dass  diese  Beziehung  sich  verwirklicht. 

Gewöhnlich  aber  tritt  das  Bewusstsein  der  Beziehung  nach  der  Repro- 
duktion auf.  jedoch  so,  dass  es  noch  an  der  Bestimmung  der  Reaktion 
(evocation)  beteiligt  ist.  Dieser  Fall  entspricht  dem  bei  der  mechanischen 
Assoziation  erwähnten:  Der  Erreger  ruft  gleichzeitig  eine  Reihe  undeut- 
licher verschwommener  Bilder  hervor.  Aber  dieses  Mal  ist  es  nicht  das 
Interesse  für  eines  der  Bilder,  sondern  das  Interesse  für  eine  der  Be- 
ziehungen, das  die  Auswahl  bestimmt.  Das  Wort  Schwere  zum 
Beispiel  wird  gleichzeitig  die  Bilder  von  Gewichten,  einer  Wage, 
der  Anziehung,  der  Physik  u.  s.  w.  hervorrufen;  man  hat  da  Be- 
ziehungen der  Gleichheit  oder  der  Aehnlichkeit,  des  Mittels  zum  Zweck, 


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362 


Berichte  und  Besprechungen. 


der  Ursache  und  Wirkung,  des  zeitlichen  Zusammenseins  u.  s.  w.,  und  da 
kann  nun  eine  der  Beziehungen,  etwa  die  der  Kausalität,  das  meiste  Inter- 
esse erwecken  und  man  wird  schliesslich  „Anziehung"  antworten. 

Erst  nachdem  diese  Einteilung  tfuf  Grund  der  psychologischen  Rolle 
des  Wertbewusstseins  beendet  ist.  kann  man  sich  daran  machen,  jede  der 
erhaltenen  grossen  Gruppen  in  Unterklassen  zu  zerlegen,  je  nachdem  die 
Vorstellungen  der  Assoziation  homosensoriell  oder  heteroscnsoriell,  Einzel  - 
oder  AUgemeinvorstellungen,  u.  s.  w.  sind,  oder  je  nach  der  inneren  Form 
der  Beziehung:  nach  raumzeitlicher  Berührung,  nach  logischen  Gesichts- 
punkten u.  s.  f.  Welcher  dieser  Gruppierungen  der  Vorzug  zu  geben  sei, 
wird  nicht  erörtert. 

Diese  Einteilung  gestattet,  nicht  nur  für  die  Ergebnisse  der  Experi- 
mente des  Laboratoriums,  sondern  für  die  Assoziationstätigkeit  überhaupt 
eine  Uebersicht  zu  geben.  In  der  That  scheint  es,  dass  man  zu  jeder  dieser 
grossen  Abteilungen  einige  der  typischen  Formen  der  geistigen  und  Be- 
wegungsthätigkeit  in  Beziehung  bringen  kann. 

Den  Assoziationen  ohne  Wert  entsprechen  zum  Beispiel  die  regel- 
losen Bewegungen,  Zucken,  Zittern  vor  Furcht  und  Ueberraschung,  u.  s.  f. 

In  den  mechanischen  Assoziationen  wird  man  den  Typus  der  ange- 
passten  Reflexbewegungen,  der  Instinkte  (mit  Vorbehalt),  der  mechanischen 
Bewegungen,  Gebräuche,  Gemeinplätze,  kurz  der  Gewohnheit  wiederfinden. 

Die  gezwungene  Assoziation  ist  bezeichnend  für  die  Willenstätigkeit 
(Aufmerksamkeit,  geistige  Anstrengung, .Suchen  in  seinem  Gedächtnis).  Sie 
kommt  zur  Anwendung,  wenn  der  Denker  den  Schlusssatz  eines  Syllogismus, 
der  Forscher  einen  Beweis  für  seine  Hypothese,  der  Dichter  einen  Reim 
auf  ein  gegebenes  Wort  sucht. 

Die  erste  Art  der  freien  Assoziation  scheint  durch  eine  willkürliche, 
aber  nicht  vorbedachte  Bewegung  dargestellt  zu  werden;  etwa  wenn  eine 
Frucht  auf  einem  Baume  den  Wunsch  erweckt,  sie  zu  pflücken,  und  man 
die  dazu  nötigen  Bewegungen  ausführt.  Jedoch  ist  die  Frage  der  willkür- 
lichen Bewegung  noch  zu  dunkel,  als  dass  man  dabei  die  Rolle  der  Assozia- 
tion mit  Gewissheit  erkennen  könnte. 

Die  zweite  Art  der  Assoziation  endlich  (mit  Auswahl  der  Beziehung) 
entspricht  dem  willkürlichen,  wählenden  Handeln.  Bei  dem  einsichtigen 
Menschen  erweckt  jeder  Zweck  die  Bilder  mehrerer  Mittel  dazu,  und  eines, 
das  geeignetste,  wird  ausgewählt. 

Berlin.  O  e  h  m  c. 


IV  e    Congres    International    de    Psychologie.      Tcnu  ä 
Paris  du  20  au  26  Aoüt  1900.    Compte  rendu  des  seances 
et  textedes  memoires  publies  parles  soins  de  Pierre 
Janet.    Paris.    Felix  Alcan,  editeur.  1901. 
Welchen  Aufschwung  die  Psychologie  genommen  hat,  ersieht  man 

schon  äusserlich,  wenn  man  den  Umfang  der  Kongressberichte  aus  den  Jahren 

1896  und  1000  vergleicht.   Jener  umfasst  490.  dieser  ist  ein  stattlicher  Band 

von  nicht  weniger  als  840  Seiten. 


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Bericht«  und  Besprechungen. 


363 


Die  einleitenden  Worte  Ribots  geben  einen  kurzen  Ueberblick  über 
das,  was  in  den  letzten  vier  Jahren  auf  den  einzelnen  Gebieten  der  Psycho- 
logie geleistet  worden  ist.  Er  nennt  besonders  die  Arbeiten  über  Sinnes- 
empfindungen, Gedächtnis,  Ideenassoziation,  Kinderpsychologie,  Aufmerk- 
samkeit, Gefühlsbewegungen  und  bedauert,  dass  die  zusammengesetzteren 
Offenbarungen  der  Seele,  die  Fragen  über  logische  Operationen,  Urteils- 
kraft, schöpferische  Phantasie,  ferner  über  pathologische  und  soziale  Psycho- 
logie so  vernachlässigt  worden  sind. 

Da  es  unmöglich  ist,  alle  im  Berichte  enthaltenen  Abhandlungen  einer 
eingehenden  Betrachtung  zu  unterziehen,  so  seien  nur  einige  herausge- 
griffen, hauptsächlich  solche,  die  die  Pädagogische  Psychologie  angehen. 


Mlle.   Marie  de   Manaceine:     Sur  les  sentiments  et  les 
sensations  et  lettrs  differences  fondamcntales. 

Die  Frage  nach  der  wesentlichen  Natur  der  Empfindungen  macht  bis 
heutzutage  das  dunkelste  Gebiet  der  Psychologie  aus.  Alle  Autoren,  die 
sich  damit  zu  beschäftigen  hatten,  haben  dies  anerkannt;  bei  allen  aber 
vermisst  man  mehr  oder  weniger  eine  scharfe  Scheidung  zwischen  den 
sentiments  und  den  sensations.  Um  diesem  Erbübel,  wie  man  es  genannt 
hat.  zu  begegnen,  hat  sich  Fräulein  De  Manaceine  die  Aufgabe  gestellt,  ein- 
mal die  Unterschiede  jener  beiden  Begriffe  genau  festzustellen. 

Die  Sinneswahrnehmungen  können  in  objektive  (Gehörs-,  Gesichts- 
wahrnehmungen) und  in  subjektive  (Schmerz,  Vergnügen,  Hunger,  Durst 
u.  dgl.)  eingeteilt  werden.  Alle  Sinneswahrnehmungen  folgen  den  Grund- 
gesetzen des  Geistes,  d.  h.,  sie  sind  gebunden  an  Raum,  Zeit  und  Ursäch- 
lichkeit. Sie  sind  nichts  als  primitive  Urteile,  die  so  oit  wiederholt  worden 
sind,  dass  man  sie  schliesslich  unbewusst  vollzieht. 

Die  Analyse  der  Empfindungen  dagegen  beweist,  dass  diese  nur  dem 
Grundsatze  der  Ursächlichkeit  gehorchen.  Jede  Empfindung  stellt  sich 
unserm  Bewusstsein  immer  dar  als  unbeschränkt  in  unserem  Sein  und 
erfüllt  dieses  bis  zu  den  Fingerspitzen.  Jemand,  der  Freude,  Furcht,  Stolz, 
Dankbarkeit  empfindet,  ist  von  jedem  solchen  Gefühle  ganz  erfüllt,  jede 
Zelle  seines  Körpers  hat  daran  Anteil. 

Da  der  menschliche  Geist  aus  Verstand  und  Vernunft  besteht  und  der 
erstere  in  seiner  Tätigkeit  immer  den  Grundsätzen  des  Raumes,  der  Zeit 
und  der  Ursächlichkeit  folgt,  die  letztere  dagegen  nur  dem  der  Ursächlich- 
keit untergeordnet  ist.  so  kann  man  sagen,  dass  die  Empfindungen  in  Bezug 
auf  die  Vernunft  dasselbe  darstellen,  wie  die  Sinneswahrnehmungen  in  Bezug 
auf  den  Verstand,  d.  h.  die  Sinneswahrnehmungen  sind  durch  häufige 
Wiederholung  unbewusst  gewordene  primitive  Urteile  des  Verstandes, 
während  die  Empfindungen  die  ebenso  unbewusst  gewordenen  Produkte  der 
synthetischen  Tätigkeit  der  Vernunft  sind. 

Ausser  diesem  Hauptunterschiede  seien  noch  folgende  Züge  erwähnt: 
Die  Sinneswahrnchmungcn  haben  das  besonders,  dass  sie  immer  den  Körper 
im  persönlichen  Bewusstsein  vorherrschen  lassen.    Z.  B.  Schmerzenswahr- 


364 


Berichte  und  Besprechungen. 


nehmungen  lassen  mich  diesen  oder  jenen  Teil  meines  Körpers  besser  im 
Räume  einreihen,  oder  bringen  mir,  wenn  der  Schmerz  allgemein  und  unbe- 
stimmt ist,  die  Beschränktheit  meines  Körpers  deutlich  zum  Bewusstsein 
und  vernichten  so  das  psychologische  Ich  des  Menschen.  Jede  Sinnes- 
wahrnehmung kann,  wenn  sie  eine  gewisse  Stärke  erreicht,  schmerzhaft 
werden,  während  die  Empfindungen  so  stark  werden  können  wie  sie  mögen, 
sie  bleiben  immer  dieselben  Empfindungen.  So  können  die  Freude,  die 
Furcht,  der  Zorn  durch  ihre  Gewalt  töten,  aber  sie  werden  sich  nie  in 
Schmerz  verwandeln. 

Die  Sinneswahrnehmungen,  besonders  die  des  Schmerzes  können  für 
eine  Zeit  mehr  oder  minder  vollständig  die  psychische  Seite  des  Menschen 
aufheben,  so  dass  er  alle  Grundsätze,  alle  Ideale,  allen  Glauben  seines 
psychischen  Ich  vergisst.  Diese  Wirkung  ist  so  oft  in  der  Folter  ange- 
wandt worden.  Die  Empfindungen  verhalten  sich  ganz  entgegengesetzt, 
d.  h.,  sie  können  uns  für  eine  Zeit  unsern  Körper  vergessen  lassen.  So 
kommt  es,  dass  Menschen  die  grausamsten  Martern  ertragen  können,  wenn 
sie  von  einer  mächtigen  Empfindung  beherrscht  werden. 

Ein  weiterer  Unterschied  besteht  darin,  dass  die  Empfindungen  niemals 
durch  physische  Einwirkungen  der  Umgebung  hervorgerufen  werden  können, 
während  die  Sinncswahrnehmungen  sehr  häufig,  wenn  nicht  immer,  da- 
von abhängen. 

Die  Empfindungen  kann  man  in  drei  Gruppen  einteilen:  geistige  oder 
dynamische,  ethische  oder  leitende,  und  ästhetische  oder  Empfindungen 
beschaulicher  Ruhe. 

Die  geistigen  Empfindungen  sind  persönlich,  und  immer  von  einem 
positiven  oder  negativen  Wunsche  begleitet.  (Zorn,  Freude,  Furcht, 
Kummer  .  .  .);  die  ethischen  fassen  dagegen  immer  ein  ausserpersönliches 
Ideal  ins  Auge  und  sind  mehr  oder  weniger  von  der  Empfindung  der 
Hoffnung  begleitet  (Reue,  Entrüstung,  Misstrauen  .  .  .);  die  ästhetischen 
Empfindungen  sind  verknüpft  mit  den  Wahrnehmungen  der  Ursachen  unter 
den  Formen  verschiedener  abstrakter  Begriffe. 

Zwischen  diesen  drei  Gruppen  bestehen  die  mannigfachsten  Uebcr- 
gänge. 

Die  tägliche  Beobachtung  der  Kinder  ist  nun  das  beste  Mittel,  die 
Empfindungen  in  ihrer  Beziehung  zur  Vernunft  zu  studieren.  Jedoch  muss 
man  damit  schon  in  den  ersten  Lebenstagen  beginnen.  Das  hat  nun  Frl. 
de  Ma  naeeine  gethan.  Die  Ergebnisse  ihrer  Beobachtungen  dieser  Art 
findet  man  in  ihrem  Werke  „Die  Grundlagen  der  Erziehung",  Band  5—7, 
worauf  hiermit  hingewiesen  sei. 


Zur    Frage    über    Gedächtnisentwicklung    bei  Schul- 
kindern hat  Alexander  Netchaeff  im  Jahre  1899  Versuche 
an  687  Schülern  beiderlei  Geschlechts  im  Alter  von  9  bis  18  Jahren  ange- 
stellt, deren  Ergebnis  er  mitteilt.    Die  Versuche  bestanden  darin,  dass  12 


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Berichte  und  Besprechungen. 


365 


einförmige  Eindrücke  gegeben  wurden,  worüber  die  Schüler  nachher  durch 
Nachschreiben  Auskunft  geben  mussten.  8  Reihen  von  Eindrücken  wurden 
vorgeführt:  Gegenstände,  unartikulierte  Laute,  Zahlen  und  dreisilbige 
Wörter,  die  den  verschiedenen  Sinnesgebicten  entnommen  waren.  Dabei 
zeigte  sich: 

i.  Die  untersuchten  Gedächtnisarten  wachsen  mit  dem  Alter,  2.  die  Be- 
deutung der  Worte  becinflusst  sehr  das  Behalten,  3.  Zwischen  dem  Ent- 
wicklungscharakter des  Gedächtnisses  der  abstrakten  Worte  und  des  Zahlen- 
gedächtnisses besteht  eine  Analogie.  4.  Die  Entwicklungsextensität  ver- 
schiedener Gedächtnisarten  ist  verschieden.  Das  Gedächtnis  für  Zahlen 
wächst  am  schwächsten,  das  für  Gegenstände  und  Gefühlsworte  am  meisten. 
5.  Die  Knaben  haben  ein  stärkeres  Gedächtnis  für  reelle  Eindrücke  (Gegen- 
stände und  Laute),  die  Mädchen  für  Zahlen  und  Worte. 

Sehr  interessant  sind  die  folgenden  Ausführungen  über  die  Art,  wie 
sich  die  einzelnen  Gedächtnisarten  in  den  verschiedenen  Altersstufen  bei 
den  Knaben  und  bei  den  Mädchen  entwickeln.  Zahlentafeln  und  graphische 
Darstellungen  dienen  zum  Belege. 


Franqois   Chaillons:      Du    Traitement    des  viciations 
par  l'education. 

Die  Faktoren,  die  zur  sittlichen  Entartung  beitragen,  sind  die  Erb- 
lichkeit und  die  Ansteckung  oder  Erziehung  zum  Laster. 

Die  Giltigkeit  des  Gesetzes  der  Erblichkeit  wird  durch  so  viele  Tat- 
sachen bestätigt,  dass  es  unnötig  ist,  dabei  zu  verweilen.  So  wenig  es  aber 
möglich  ist,  das  Vorhandensein  dieses  Faktors  zu  bestreiten,  so  wenig  ist  es 
möglich,  das  Wieviel  davon  zu  bestimmen.  Er  wird  als  Keim  in  das  ge- 
schaffene Wesen  hineingelegt  und  ist  nun  seit  der  Geburt  dem  Einflüsse 
des  zweiten  Faktors,  der  Erziehung  zum  Laster,  der  Ansteckung  ausgesetzt. 
Um  die  Wirkungsweise  der  Ansteckung  zu  verstehen,  muss  man  eine 
Unterscheidung  zwischen  äusserer  und  innerer  oder  Selbstansteckung 
machen.  Dieses  wird  nun  des  näheren  begründet.  Sodann  kommt  der  Ver- 
fasser zu  seinem  Ziele,  der  Behandlung  der  sittlichen  Entartung.  Es  gilt, 
eine  möglichst  grosse  Zahl  normaler  sittlicher  Zustände  zu  schaffen,  d.  h., 
die  normalen  Reflexe  zu  schulen,  die  Hervorrufung  pathologischer  Zustände, 
die  Ansteckung,  welche  eine  entgegengesetzte  Schulung  bewirkt,  zu  ver- 
meiden. 

Man  muss  die  bei  den  moralisch  Belasteten  so  übermässig  entwickelten 
sinnlichen  Triebe  benutzen  und  sie  in  die  rechten  Wege  leiten.  Die  Gemüts- 
bewegung ist  also  der  Hebel,  dessen  sich  der  Erzieher  bedienen  muss.  Die 
Aussicht  auf  Besserung  bei  den  Entarteten  steht  im  geraden  Verhältnis  zu 
ihrer  Empfänglichkeit  für  Gemütsbewegungen.  Das  Gute  als  rein  vernunft- 
gemässer  Beweggrund  ist  unfähig,  die  Handlung  zu  bestimmen,  besonder» 
bei  den  Verderbten,  von  denen  die  Rede  ist,  aber  es  giebt  eine  Schönheit, 
die  von  dem  Guten  ausstrahlt,  und  diese  Schönheit  muss  man  zeigen  und 
zu  ihr  muss  man  Liebe  erwecken.    Also  wenig  theoretische  Sittenlehre, 


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366 


Berichte  und  Besprechungen. 


dafür  aber  Lektüre,  die  die  edelsten  Gefühle  erweckt,  Beratungen,  Theater- 
vorstellungen, wo  die  Zöglinge  selber  mitwirken.  Grosse  Ströme  der  Be- 
geisterung muss  man  messen  lassen,  sie  werden  für  den  Entarteten  das  sein, 
was  für  das  tuberkulöse  Tier  die  frische  Luft  und  die  Ueberernährung  sind. 
Der  Geist  bemächtigt  sich  dieser  Eindrücke,  gestaltet  sie  in  mannigfacher 
Weise,  und  diese  glücklichen  Eindrücke  werden  die  Elemente  eines  dauernden 
Schatzes,  der  bei  jeder  Handlung  zu  gunsten  des  Sittlichen  ins  Gewicht  fällt, 
und  durch  häufige  Wiederholung  immer  an  Festigkeit  gewinnt. 

Die  so  vorgeschlagene  Methode  der  Schulung  der  Reflexe  durch 
Gemütsbewegung  ist  wahrhaft  psychologisch,  also  vernunftgemäss. 

Diese  psychologische  Methode  sollte  in  allen  Kinder  -  Besserungs- 
anstalten eingeführt  werden,  zu  Erziehern  in  solchen  Anstalten  sollten  nur 
diejenigen  zugelassen  werden,  die  am  besten  befähigt  sind,  diese  Methode 
anzuwenden.  Um  eine  Ansteckung  der  jüngeren  Zöglinge  durch  ältere 
zu  verhüten,  müssen  genügend  Kolonien  gebildet  werden,  worin  immer  nur, 
soweit  angängig,  die  gleichaltrigen  vereinigt  sind,  jedoch  so,  dass  eine  ge- 
meinsame Oberaufsicht  möglich  bleibt. 

Berlin.  O  e  h  m  e. 

(Fortsetzung  folgt). 


Dr.  Heinrich  Krausse,  Die  Prügelstrafe.  Eine  kriminal- 
politische  Studie.  Berlin  1899.  136  S.  3  M. 
K.  will  mit  Rücksicht  darauf,  dass  von  verschiedenen  Seiten  die  Wieder- 
einführung der  Prügelstrafe  empfohlen  wird,  dass  aber  die  meisten  Schriften 
über  dieses  Thema  die  deutsche  Litteratur  des  19.  Jahrhunderts  nur  sehr 
mangelhaft  berücksichtigen,  eine  Art  Kompendium  des  ganzen  Rechtes  der 
Prügelstrafe  liefern  und  hierbei  besonders  die  historische  Entwickelung 
würdigen.  Nachdem  K.  im  ersten  Teil  das  geltende  Strafensystem  im  allge- 
meinen besprochen  hat,  erörtert  er  im  zweiten,  weit  ausführlicheren  die 
Prügelstrafe.  Indem  er  die  gegen  und  für  diese  geltend  gemachten  Gründe 
prüft,  kommt  er  zu  dem  Resultat,  dass  man  fast  alle  Gründe,  die  gegen  die 
Prügelstrafe  herangezogen  werden,  auch  gegen  andre  als  berechtigt  anerkannte 
Strafen  anführen  könnte.  Was  die  Gründe  für  die  Einführung  der  Prügel- 
strafe betrifft,  so  ist  K.  nicht  der  Meinung,  dass  etwa  alle  von  deren  An- 
hängern angegebenen  Gründe  stichhaltig  seien.  Er  kommt  aber  zu  dem 
Resultat,  dass  einerseits  eine  Verschärfung  der  bestehenden  Strafmittel  ge- 
boten, und  andrerseits,  wie  Mittelstädt  ausführte,  die  Prügelstrafe  an  sich  ein 
vernünftiges,  gerechtes  Strafmittel  sei. 

Berlin.  Albert  Moll. 


Paul   von   Gizycki.      Der  neue  Adel.      Ratschläge  und 
Lebensziele  für  die  deutsche  Jugend.    Berlin  1902. 
Ferd.  Dümmlers  Verlagsbuchhandlung. 
Mit  diesem  Wegweiser  kommt  G.  einem  wirklichen  Bedürfnis  entgegen. 

Zwar  besitzen  wir  mehrere  deutsche  Bücher  ähnlicher  Tendenz,  aber  sie 


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Berichte  und  Besprechungen. 


367 


wenden  sich  meist  nur  an  einen  kleinen  Teil  der  Jugend,  meist  an  den  jungen 
Kaufmann  oder  Handwerker.  Gs.  Buch  aber  ist  so  umfassend  gehalten,  dass 
jedermann,  jung  und  alt,  daraus  goldene  Lebensregeln  schöpfen  kann.  Es 
ist  nicht  trockene  Schreibtischgelehrsamkeit,  die  der  Verfasser  giebt,  sondern 
aus  dem  reichen  Schatze  seiner  Erfahrung  bietet  er  das  Beste,  die  Wahrheit, 
die  er  an  seinem  eigenen  Leibe  verspürt  hat.  „Mein  eigenes  Leben",  sagt 
G.,  „liegt  wie  eine  gewundene  Strasse,  die  man  von  Bergeshöhe  überschaut, 
vor  meinen  Augen.  Die  Spiele  der  Jugend,  die  Hoffnungen  und  Illusionen 
der  Jünglingszeit,  die  harte  Arbeit  der  Mannesjahre  breiten  sich  unverhüllt 
vor  meinen  Augen  aus.  Ich  erkenne  die  Ursachen  der  vielen  Irrtümer  und 
Misserfolge  meines  Strcbcns  und  weiss  erst  jetzt  die  Kräfte  zu  schätzen,  denen 
ich  die  geringen  Erfolge  meiner  Arbeit  zu  verdanken  habe.  .  .  .  Nur  zu 
lange  bin  ich  auf  Irrwegen  gewandelt,  ehe  ich  das  rechte  Ziel  erkannt  habe." 
Darum  reden  diese  Zeilen  eine  von  edler  Leidenschaft  durchströmte  und 
überzeugende  Sprache,  die  den  in  der  Entwickelung  stehenden  Jüngling 
sympathisch  berühren  muss,  sie  enthalten  eine  Lebensweisheit,  die  frei  von 
Widersprüchen,  reich  an  Beobachtungen  und  erprobten  Erfahrungen  ist,  der 
er  freudig  zustimmen  wird. 

G.  bringt  einen  historischen  Ueberblick  über  die  praktischen  Ideale, 
die  der  Menschheit  von  jeher  vorgeschwebt  haben  und  führt  uns  vom  Heili- 
gen des  Altertums  zum  griechischen  Weisen,  vom  christlichen  Ritter  zum 
Edelmann  der  Arbeit,  dem  Gentleman  der  Neuzeit.  In  diesem  neuen  Edel- 
manne  sieht  G.  die  vorzüglichsten  Tugenden  der  früheren  Ideale  vereint: 
„Die  Hingabe  des  Heiligen  an  ein  grosses  Ziel  und  den  Glauben  an  die 
Wunderkraft  der  Begeisterung,  das  Vertrauen  des  Weisen  auf  den  Sieg  der 
Erkenntnis  und  die  unbezwingliche  Willenskraft  eines  mannhaften  Charakters, 
den  ritterlichen  Kampf  für  die  Sache  der  Schwachen  und  Bedrückten."  .  .  . 
„Aber  er  fügt  zu  diesen  Vollkommenheiten  älterer  Ideale  die  neuen  Elemente 
der  ausdauernden  und  unternehmenden  Arbeit  und  den  durchaus  modernen 
Glauben  an  das  materielle  und  ideelle  Fortschreiten  des  Menschengeschlechtes 
hinzu." 

Seinen  eigentlichen  Ausführungen  stellt  G.  eine  Allegorie  voran: 
Herkules  am  Scheidewege.  Wohl  jeder  junge  Mann  kommt  einmal  an  einen 
Punkt,  da  seine  Lebensstrasse  sich  teilt,  und  kein  Wegweiser  ihm  anzeigt, 
welche  Richtung  er  einschlagen  soll.  Wenn  dann  G's.  Buch  für  den 
Zweifelnden  das  sein  kann,  was  die  Göttin  der  Tugend  für  Herkules  war, 
so  ist  eine  seiner  Hauptaufgaben  erfüllt. 

Die  ersten  Kapitel  widmet  G.  den  Betrachtungen  über  das  vornehmste 
Mittel,  sein  Ziel  auf  Erden  zu  erreichen,  der  Arbeit.  Ueber  deren  Wert 
spricht  sich  G.  folge ndermassen  aus:  „Der  grosse  Arbeiter  ist  naturgemäss 
der  Führer  der  Menschen,  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist  daher  jeder 
junge  Mann,  wenn  es  ihm  nicht  an  Fähigkeiten  fehlt,  in  der  Lage,  nach 
eigenem  Ermessen  die  Stelle  zu  bestimmen,  welche  er  in  der  Hierarchie 
der  Menschheit  einnehmen  wird,  wenigstens  zu  entscheiden,  ob  er  mehr 
zu  den  Führenden  oder  den  Geführten,  zu  den  Herren  oder  den  dienenden 
Brüdern  gehören  will.  .  .  .  Wer  den  andern  den  Weg  weisen,  und  seinen 
Willen  vorschreiben  will,  der  darf  nicht  ruhen  und  rasten  —  je  mehr  Arbeit, 
desto  mehr  Macht."  — 


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368 


Berichte  und  Besprechungen. 


Aber  nicht  nur  als  Mittel  sollen  wir  die  Arbeit  betrachten,  sondern  auch 
als  Selbstzweck:  Arbeit  um  der  Arbeit  willen.  Es  ist  eine  grosse  Thorheit 
anzunehmen,  die  Kulturmenschen  unserer  Tage  arbeiteten  nur  deshalb,  weil 
man  sie  bezahle,  und  wir  würden  alle  unfehlbar  in  Trägheit  versinken,  wenn 
man  uns  nicht  beständig  durch  Aussicht  auf  Geldgewinn  oder  Arbeitslohn 
in  Bewegung  erhielte.  Die  Mehrzahl  unserer  Zeitgenossen  ist  schon  durch 
ihre  Abstammung  viele  Generationen  hindurch  so  sehr  an  Arbeit  gewöhnt, 
dass  sie  dieselbe  kaum  würden  entbehren  können,  ja  viele  würden  gewiss 
noch  Geld  dazugeben  und  sich  eine  Gelegenheit  zur  Arbeit  erkaufen,  wenn 
dieselbe  nicht  umsonst  zu  haben  wäre.  ...  Es  liegt  in  der  menschlichen 
Natur  der  instinktive  Trieb  nach  Bethätigung  aller  körperlichen  und  geistigen 
Anlagen,  die  Arbeit  ist  ein  Lebensbedürfnis  der  Menschen  so  gut  wie  Licht, 
Luft  und  Nahrung,  und  wo  nur  ein  Teil  der  menschlichen  Arbeitskraft  von 
dem  harten  Zwange  des  Broterwerbes  für  den  nächsten  Tag  frei  wird,  sucht 
dieselbe  sofort  ein  neues,  höheres  Feld,  eine  neue,  edlere  Aufgabe  der  Be- 
thätigung. 

Wenn  unsere  Arbeit  jedoch  mit  Erfolg  gekrönt  sein  soll,  so  muss  sie 
auch  mit  Sorgfalt  und  Beharrlichkeit  durchgeführt  werden.  Dann  aber  wird 
die  ehrliche  Arbeit  immer  Erfolge  erringen,  auch  wenn  diesen  äussere  An- 
erkennung versagt  bleibt.  Erfolge,  die  ihm  niemand  streitig  machen  kann, 
bietet  ihm  in  jedem  Falle  die  ernste  Arbeit  an  der  eigenen  Vervollkommnung. 
Der  Erfolg  im  Leben  ist  für  jeden  Menschen  eine  Quelle  unmittelbaren 
Glückes  und  neuer  Erfolge.  Wenn  auch  der  Kämpfer  ohne  diese  Freude, 
ohne  diesen  Trost  treu  seiner  Pflicht  und  seiner  Fahne  aushalten  muss,  so 
wird  doch  sein  Leben  ein  ganz  anderes,  froheres  Gepräge  durch  den  Segen 
positiver,  zweifelloser  Siege  erhalten.  Erfolge  haben  zwei  mit  einander  in 
inniger  Beziehung  stehende  Wirkungen:  Sie  beeinflussen  andere,  und  sie 
wirken  auf  uns  selbst  zurück.  Für  die  Mehrzahl  der  Menschen  giebt  es 
keinen  anderen  Massstab  für  das  Verdienst  als  den  Erfolg. 

Unter  den  weiteren  Kapiteln  sind  die  Abschnitte  „die  Kunst  zu  sparen*" 
und  „der  Wert  der  Zeit"  besonders  hervorzuheben.  Zu  dem  erstgenannten 
Thema  sagt  G.:  Sparsamkeit  bedeutet  Charakter,  Unabhängigkeit  und 
Glück  —  Verschwendung  dagegen  Leichtsinn,  Knechtschaft  und  Elend. 
Und  an  anderer  Stelle:  Die  Gewöhnung  zur  Sparsamkeit  ist,  wenn  nicht 
die  ganze  Lösung  der  sozialen  Frage,  so  doch  ein  gewichtiger  Teil  der- 
selben. 

Den  Wert  der  Zeit  jedoch  schätzt  G.  höher.  Man  hat  nicht  ohne  Grund 
gesagt:  „Zeit  ist  Geld",  aber  man  hat  damit  zu  wenig  gesagt.  Zeit  ist  etwas 
Besseres  als  Geld,  sie  ist  der  Stoff,  aus  dem  unser  Leben  gemacht  ist 
Wenn  die  Klagen  der  Menschen  über  Mangel  an  Zeit  ernst  zu  nehmen 
wären,  so  würde  man  beobachten  müssen,  dass  sie  die  Stunden,  welche 
ihnen  so  karg  zugemessen  sind,  gewissenhaft  zu  rate  halten,  sie  würden  mit 
den  Minuten  ebenso  geizen  wie  mit  den  Pfennigen;  aber  in  Wirklichkeit 
thun  dies  nur  wenige,  und  von  diesen  wenigen  hören  wir  auch  nicht  die 
Klagen  über  die  Kürze  des  Lebens. 

Die  folgenden  Abschnitte  tragen  die  Ueberschrift  „Gesundheit  und 
langes  Leben"  und  „Kraft  und  Schönheit".  Nicht  nur  um  seiner  selbst, 
sondern  auch  um  der  Menschen  willen,  mit  denen  er  zusammen  lebt,  hat 


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Berichte  und  Besprechungen. 


36''» 


jeder  die  Pflicht,  sich  gesund  zu  erhalten.  Die  Gesundheit  der  Seele  ist  in 
erster  Linie  von  der  Gesundheit  des  Körpers  abhängig,  und  mit  diesem 
wird  leider  nur  zu  oft  der  schwerste  Missbrauch  getrieben.  Als  bestes 
Mittel  zur  Erhaltung  der  körperlichen  Gesundheit  empfiehlt  G.  physische 
Arbeit:  „Wer  sein  Leben  in  physischer  Hinsicht  richtig  anwendet,  dem  wird 
etwas  von  dem  Feuer  seiner  Jugend,  von  den  Hoffnungen  und  Idealen,  die 
ihm  als  Jüngling  begeisterten,  noch  im  Greisenalter  aus  den  Augen  leuchten. 
Junge  Leute  sollten  in  ihrem  eigenen  Interesse  dem  thörichten  Irrtum  ent- 
sagen, als  sei  eine  Art  der  Arbeit,  die  sogenannte  geistige  Arbeit,  edler  als 
die  Handarbeit;  völlige  Gesundheit  des  Leibes  und  der  Seele,  die  wahre 
Kalokagathia,  wird  nur  da  erblühen  können,  wo  beide  Gattungen  mensch- 
licher Bethätigung  demselben  Individuum  abwechselnd  ihren  Segen  spenden". 

An  dieser  Stelle  geht  G.  näher  auf  den  Sport  ein,  den  er  als  besten 
Ersatz  für  die  eigentlich  physische  Arbeit  hält;  seine  Ausführungen  über  die 
einzelnen  Zweige  des  Sports  erscheinen  beachtenswert. 

..Höflichkeit"  und  „Unterhaltung"  sollen  den  jungen  Mann  im  directen 
Verkehr  mit  seinen  Mitmenschen  leiten.  Jeder  weiss,  wie  schwer  es  jun- 
gen Leuten  oft  wird,  im  Verkehr  den  rechten  Ton  zu  treffen,  und  gesell- 
schaftlichen Takt  zu  erwerben.  Die  beiden  Extreme,  zwischen  denen  er 
lange  hin-  und  herschwankt,  sind  Schüchternheit  oder  zur  Schau  getragenes 
Selbstgefühl. 

„Menschenkenntnis"  und  „zweierlei  Menschen";  aus  diesen  beiden 
Schlusskapiteln,  die  auch  den  Philosophen  und  Psychologen  vollauf  inter- 
essieren, spricht  die  ganze  ruhige  Abgeklärtheit  des  Verfassers.  Zweierlei 
Individuen  giebt  es  auf  Erden:  Den  Herdenmenschen  und  den  Mann  von 
Charakter.  G.  will  die  Jugend  zu  Männern  von  Charakter,  zu  Edelleuten 
der  Arbeit  erziehen,  sie  durch  seine  Ratschläge  diesem  Ideale  zuführen. 
Wo  sucht  er  seinen  Leserkreis?  „Ich  wende  mich  an  einen  Leserkreis  unter 
der  heranwachsenden  Generation  meines  Vaterlandes,  an  jene  jungen 
Männer,  welche  diese  Welt  nicht  als  einen  Ort  der  Entsagung  und  des 
Wehklagens,  sondern  als  eine  Stätte  tapferen  Ringens  und  hoffnungfroher 
Arbeit  ansehen;  an  sie,  deren  junge  Herzen  höher  schlagen,  wenn  sie  in 
alten  Liedern  von  Helden  und  Heldenthaten  lesen,  denen  die  Biographien 
grosser  Männer  die  Geheimnisse  ihrer  eigenen  starken  Seele  offenbaren; 
an  sie,  die  von  diesem  Kampfplatz,  aus  dieser  Werkstätte  nicht  scheiden 
mögen,  ohne  eine  Spur  der  in  ihre  Seele  gepflanzten  Kraft  und  Tüchtigkeit 
und  ein  gesegnetes  Andenken  ihres  Namens  zurückzulassen." 

Grün. 


Die  poetischen  Formen  der  deutschen  Sprache  nach 
ihrer  historischen  Entwicklung  und  ihrem  Wesen 
dargestellt  und  an  zahlreichen  Beispielen  erläu- 
tert. Von  Rektor  E.  Cremer,  Krefeld. 
Dieses  im  Erscheinen  begriffene  Werk,  dessen  erste  Lieferung  uns 
nur  vorliegt,  soll  ein  Hilfsluich  für  den  gesamten  Unterricht  im  Deutschen 
werden  und  alle  diejenigen  Stoffe  zu  einem  abgerundeten  Ganzen  zusammen- 


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370 


Berichte  und  Besprechungen. 


stellen,  die  an  Lehrerseminaren  und  höheren  Schulen  aus  dem  Gebiete  der 
deutschen  Poetik  und  Literaturgeschichte  gelegentlich  zur  Behandlung 
kommen. 

Der  erste  allgemeine  Teil  führt  uns  Wesen,  Mittel  und  Gattungen  der 
Dichtkunst  vor,  der  zweite  besondere  Teil  sucht  diese  geschichtlich  zu  ent- 
wickeln. Zahlreiche  trefflich  gewählte  Beispiele  dienen  zur  Erläuterung.  Von 
dem  versprochenen  Litteraturnachweis  ist  jedoch  nichts  zu  finden.  Im 
Allgemeinen  berechtigt  das  Buch,  obwohl  es  an  manchen  Stellen  zum  Wider- 
spruch reizt,  zu  der  Erwartung,  dass  es  in  den  Kreisen  der  Lehrer  und 
Litteraturfreunde  vielen  Beifall  finden  wird.  e. 


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Bibliotheca  pädo-psychologica. 

Geschichte  und  Theorie  der  Erziehung  und  des  Unterrichts,  Methodik  der  Lehr- 
fächer, Schulorganisation  in  Programmen,  Abhandlungen  und  Inaug.-Dissertationen 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Jahre  1898/09. 

Fortsetzung. 

Pfalz,  Franz:  Ein  Rückblick  auf  die  Entwickelung  der  sächsischen  Real- 
schule in  den  letzten  25  Jahren.    Leipzig,  I.  st.  R,  OP  1898. 

Pierre,  A.  H.:  The  Illusion  of  the  Kindergarten  Patterns.  Psych. 
Rev.  5  (3>,  233—253.  1898. 

Pietzker,  F.:  System  u.  Methode  im  exaktwissenschaftlichen  Unter- 
richt.   Unterrichtsbl.  f.  Mathem.  u.  Naturw.  V  (1899i  3.  4. 

Pietzker,  F.:  Ueber  die  Bildung  der  abgeleiteten  physikalischen  Be- 
griffe.   Unterrichtsbl.  f.  Mathem.  u.  Naturw.  V  (1899)  3.  4. 

Pill  et,  J.  J.:  L'enseignement  general  du  dessin  dans  les  lycees  et  dans 
les  Colleges  de  France.  Bar-le-Duc:  Impr.  Comte-Jacquet,  1899.  16", 
127  S. 

Pin  loche,  A.:  L'enseignement  secondaire  en  Allemagne,  d'apres  les 
documents  officiels.    Paris:  Delagrave,  1900.    18°,  XXV11  u.  130  S. 

P  i  t  t  o  m  v  i  1  s  ,  E.:  De  onderwijzer  en  zijn  Studie.  Ons  woord,  1900.  99—103. 

Plaats,  A.  van  der:  Ovcrzicht  van  de  geschiedenes  van  opvoeding  en 
onderwijs  in  Nederland.    Gron.:  P.  Noordhoff,  1899.    8*.  8  u.  1C8  S. 

Pöhnert,  Karl:  Joh.  Matth.  Gesner  und  sein  Verhältnis  zum  Philan- 
thropinismus und  Neuhumanismus.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  d. 
Pädagogik  im  XVIII.  Jahrhundert.    Leipzig:  E.  Gräfe  in  Komm.. 

1898.  (V,  129  S.)    8°.  Diss. 

Presting,  B.:  Die  Notwendigkeit  einer  besseren  Erziehung  der  Jugend 
u.  d.  wichtigsten  Mittel  zu  diesem  Zwecke.    Berlin:  L.  Oehmigke, 

1899.  (28  S.)  8°. 

Priebe,  Emil:  Herbarts  Vorschriften  über  die  Pflege  der  Aufmerksam- 
keit durch  Beispiele  aus  dem  Unterricht  in  der  Geschichte  u.  Erdkunde 
erläutert.    (S.  1—19.)    4'.    Kreuzburg  O.-S.,  k.  G,  OP  1899. 

Prüfungsordnung  für  das  höhere  Lehramt  in  den  philosophisch- 
philologisch-historischen Fächern.  Philosoph.  Fakultät  der  Univ. 
Freiburg  i.  d.  Schweiz.    2.  Ausg.    Freiburg  1898.    (19  S.)    8°.  ■ 

Prins,  A.:  L'cducation  generale  et  la  formation  de  l'esprit  moderne. 
Brüssel:  H.  Lamertin,  1900.    8°,  29  S. 

Puhrer,  Karl :  Zur  Methodik  des  Zeichenunterrichts  in  Schwachsinnigen- 
Schulen.    Ztschr.  f.  d.  Behandl.  Schwachs.  u.  Epilept.  XV.  7. 

Pünjer  &  Hodykinson:  Lehr-  und  Lesebuch'  der  englischen  Sprache. 
Bd.  I.  99  S.    Hannover  u.  Berlin  1899:  C.  Meyer. 

Pupikofcr:  Geschichte  des  Freihandzeichenunterrichts  in  der  Schweiz. 
St.  Gallen  1898:  Hasselbrink. 

Purinton,  D  .B.:  A  comparative  study  of  Colleges.  The  Journal  of 
Pedagogy,  January  1899.   Syracuse  N.  Y..  U.  S.  A. 


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372  Bibliotheca  pädo-fisychobgica. 

Quackenbos,  J.  D.:  Hypnotism  in  Mental  and  Moral  Culturc.  New 
York:  Harper,  1900.    12°,  10  u.  291  S. 

Quehl,  Wilhelm:  Naturkunde  für  Lehrerbildungsanstalten.  I.  Teil  für 
die  Unterstufe  der  Präparandcnanstalten:  Lebensformen  u.  Natur- 
bilder der  Heimat.    Leipzig  1898:  Dürr. 

Radoslawow-Hadji-Denkow,  Zwetan:  Untersuchungen  über 
das  Gedächtniss  für  räumliche  Distanzen  des  Gesichtssinnes.  Mit 
2  Taf.  u.  6  Fig.  im  Text.  Leipzig:  W.  Engelmann,  1899.  (137  S.)  8°.  DU<. 

R  a  m  d  o  h  r  ,  Ernst  Dir. :  Ueberblick  übei  die  Entwickelung  der  Anstalt 
in  den  ersten  25  Jahren  ihres  Bestehens,  nebst  Verzeichnis  der  Lehrer 
von  1874  bis  1899  und  Verzeichnis  der  Abiturienten  1883/84  bis 
1898/99.  (S.  12-14,  15-20.)  4°.    [F.]    Hannover,  st.  Leibniz-S,  P  1899. 

Rantz,  Konrad:  Proben  von  Uebersetzungen  ins  Lateinische  für  die 
obersten  Gymnasialklassen.  Nebst  Erläuterungen.  [T.  1.]  (30  S.)  4\ 
Düren,  G,  P  18*1. 

Rasche,  E. :  Neue  Bahnen  im  Aufsatzunterrichte  der  Volksschule. 
Monatsschr.  Neue  Bahnen.  Von  H.  Scherer,  Wiesbaden,  1899. 
E.  Behrend.    X.  Heft  1  u.  2. 

Ras  m  us,  Eduard:  Beiträge  zur  Geschichte  des  Vereinigten  Alt-  u.  Neu- 
städtischen Gymnasiums  zu  Brandenburg  a.  H.  II.  Brandenburg, 
vereinigtes  alt-  und  neustädt.  G,  OP  1898. 

R  a  u  m  e  r  ,  K.  v. :  Geschichte  der  Pädagogik  vom  Wiederaufblühen  klas- 
sischer Studien  bis  auf  unsere  Zeit.  3.  und  4.  Band.  Neue  Ausgabe. 
Langensalza  1898. 

Rausch,  Alfred,  Dr.,  Rekt. :  Die  Jahrhundertfeier  der  Latina  am 
1.  Juli  1898.    (S.  20-30.)    4°.    Halle,  Latein.  Haupt-S,  P  1899. 

Rausch,  Alfred,  Dr.,  Rekt.:    Drei  Ansprachen  bei  Schulfeiern.    1.  Bei 
der  Entlassung  der  Abiturienten  am  1.  Sept.  1898.    2.  Bei  der  Ecce- 
Feier  am  19.  Nov.    3.  Bei  der  Entlassung  der  Oster-Abiturienten  1899 
(S.  16—20.)    4°.    Halle,  Latein.  Haupt-S.  P  1899. 

Realienbuch  für  einfache  Schulvcrhältnisse.  Hrsg.  v.  G.  Debus. 
O.  Kruse,  K.  Finckh  u.  J.  Warnecke,  Lehrer  zu  Schleswig.  Mit 
126  Abbild.  2.  verm.  u.  verb.  Aufl.  Schleswig:  J.  Bergas  1899.  (IV. 
73,  62,  4  S.  1  Taf.)    1  Bd.  8°. 

Reden  und  Briefe  italienischer  Humanisten.  E.  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Pädagogik  d.  Humanismus.  Veröff.  v.  Dr.  Karl  Müllner,  k.  k. 
Prof.   Wien:  A.  Holder  1899.    (X,  305  S.)  8*. 

R  e  d  e  r  :  Medical  Aspect  of  Public  School  Inspection.    Medical  Record  19. 

Redlich,  Paul,  Dir.  Dr. :  An  die  Eltern  unserer  Schüler.  (S.  3—4.)  4'. 
Eilenburg,  st.  RPG,  OP  1898. 

Reh,  Paul,  wiss.  Hilfsl.  Dr.:  Statuta  facultatis  philosophicae  in  academia 
Francofurtana.  [Hrsg.]  ^S.  1—20.)  4°.  [Umschlagt]  (Erscheint 
mit  den  übrigen  Frankfurter  Fakultätsstatuten  in:  Akten  u.  Urkunden 
d.  Univ.  Frankfurt  a.  O.,  H.  3.)    Gross-Strehlitz,  k.  G,  OP  1899. 

Regener,  F.:  Skizzen  zur  Geschichte  der  Pädagogik,  gr.  8*.  222  S. 
Langensalza  1898:  Beyer  &  Söhne. 

Rcichling.  Dietrich:    Zur  Geschichte  der  Münsterschen  Domschule  in 


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373 


der  Blüthezeit  des  Humanismus.  Munster  i.  W.,  k.  Paulinisches  G. 
Festschr.  1898. 

Rein:  Streitfragen  der  Gegenwart  auf  dem  Gebiete  des  Turnunterrichts 
an  den  höheren  Lehranstalten.  Ztschr.  f.  Turn-  u.  Jugendspiele,  Dez. 
1890  u.  Januar  1900. 

Rein,  W.:    Zur  Frage  der  Lehrerbildung  in  Deutschland.    Pädag.  Blätter 

v.  Kehr  1898  No.  1. 
Rcinbeck,  Karl:    Die  planimetrische    Lehraufgabe    für    Quarta  und 

Unter-Tertia  des  Realgymnasiums.    (XII,  80  S.)    8*.    Uelzen,  RPG, 

OP  1899. 

Reinhardt,  Karl,  Dir.  Dr. :  Die  Durchführung  des  Frankfurter  Lehr- 
planes. (S.  23-24.)  44.  (Vgl.  Programm  1894,  96-98.)  Frank- 
furt a.  M.,  Goethe-G.  P  1899. 

Renner,  A. :  Des  Weibes  seelische  Eigenart  und  daraus  sich  ergebende 
Folgerungen  für  die  Erziehung  der  Mädchen.  19  S.  Bielefeld  1898: 
A.  Helmich. 

Report  of  the  commissioner  of  education  1896 — 97.    Vol.  II  parts  II  and 

III,  VII,  1137-2390  S.    Washington  1898. 
Report  of  the  commissioner  of  education  for  the  year  1896—97.    Vol.  I. 

part  I.    LXXX,  1136  S.  Washington  1898:Governement  printing  office. 

Reuss.v.  A.:  Ueber  die  Steilschrift.  8°,  31  S.  Wien  1899:  Selbstverlag 
d.  Vereins  z.  Verbreitung  naturwisscnschaftl.  Kenntnisse. 

Ribbeck,  Conrad:  Geschichte  des  Essener  Gymnasiums.  Th.  2.  Die 
lutherische  Stadtschule  1564—1611.   Essen,  k.  G,  P  1898. 

R  i  bo  t ,  A.:   La  reforme  de  renseignement  secondaire.    Paris:  Colin  et  Co., 

1900.    18*,  XII  u.  308  S. 
Ricard,  A.:    Manuel  d'histoire  de  la  Litterature  franqaise.    Prag  1898: 

J.  G.  Carve. 

R  i  d  d  e  1 1 .  N.  N. :    A  Child  of  Light,  or  Heredity  and  Prenatal  Culture. 

Considered  in  the  Light  of  the  New  Psychology.    Chicago:  Child  of 

Light  Publ.  Co.,  1900.   351  S. 
Rietter:  Vermeintliche  und  wirkliche  Gefahren  der  Schule.   Aerztl.  Sach- 

verständigen-Zeitg.  13. 
Rissmann,  R.  :  Pestalozzi.    Die  Dtsch.  Schule  III  (1899)  1. 
Ritter,  H.:    Leitfaden  für  den  theoretischen  Turnunterricht.  Breslau: 

F.  Goerlich.  1900.  4.  Aufl.  8*.  123  S.  m.  Abb. 

Richter,  Richard:  Ueber  Sachsen  als  Gymnasialstaat.  Aus  d.  Festrede, 
geh.  am  siebzigsten  Geburtstage  S.  M.  d.  Königs  Albert.  (S.  7—10.)  4'. 
Leipzig,  KG,  OP  1899. 

Richter,  Wilhelm,  Prof.  Dr.:  Das  griechische  Verbum.  in  seinen  wich- 
tigsten Erscheinungen  erläutert  und  in  Tabellen  zusammengestellt. 
T.  1:  Erläuterungen.    (36  S.)    8°.    Küstrin,  k.  G,  P  1899. 

Ricken  Wilhelm.  Dr..  Dir.:  Ein  Vorschlag  für  die  künftige  Einrichtung 
der  höheren  Schulen  in  Preussen.  (S.  I— XII.)  4*.  Hagen  i.  W.,  st. 
R,  P  1899. 

Ricken,  Wilhelm:    Französische  Sprachstoffe  zur  Veranschaulichung  der 
Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologe  und  Hygiene.  6 


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374 


• 

Bibliotheca  pädo-psychologica. 


syntaktischen  Eigentümlichkeiten  des  Französischen.  (S.  XIII— XVI.) 
4*.    Hagen  i.  W.,  st.  R,  P  1899. 

R  i  e  m  a  n  n  ,  Franz,  Schulrat  Dr. :  Geschichte  der  Anstalt  von  1848  bis 
1898.    (43  S.)  8°.    [F.]    Coburg,  herz.  R  (Ernestinura),  Festschr.  1898. 

Riemann,  Franz,  Schulrat  Dr.,  Dir.:  Kurzer  Bericht  über  die  Feier 
des  50  jährigen  Bestehens  der  Anstalt.  (S.  12—14.)  4*.  Coburg,  herz. 
R  (Ernestinum),  OP  1899. 

Rittau,  Johannes,  Dr.:  Das  Entwerfen  von  Kartenskizzen  im  Unter- 
richt. Ein  Beitrag  zur  Methode  d.  erdkundl.  Unterrichts  nach  d.  Lehr- 
plänen von  1892.    (18  S.)  4°.    Rawitsch.  k.  G,  OP  1899. 

Rittweger,  Karl,  Dr. :  Acht  Gedichte  als  verbindender  Text  zu  den  bei 
der  Kaisergeburtstagsfeier  dargestellten  Gruppen  aus  der  deutschen 
Turn geschiente.    (S.  22—25.)   4°.    Bochum,  st.  G,  P  1899. 

Ritzel,  Kgl.  Baurath:  Beschreibung  des  neuen  Gymnasial gebäudes  nebst 
Grundrissen  und  Aufriss.  (S.  3—4.)  4*.  Neustadt  Ob.-Schl.,  k.  G, 
OP  1899. 

R  o  e  m  e  r  ,  Karl :  Die  Verwendung  der  Farbe  in  der  Quinta.  (S.  3 — 13.)  4\ 
Düsseldorf,  st.  R  an  d.  Prinz-Georg-Strasse,  P  1899. 

R  o  h  d  e  ,  A. :  Eine  Sammlung  von  praktischen  Lehrproben  aus  den  ein- 
zelnen Unterrichtsgegenständen.  Osterburg  i.  A.:  R.  Danehl  1898. 
(256  S.)  8°. 

R  o  h  d  e  .  Johann  Diedrich,  Dir.  Prof.  Dr. :  Kurzer  Bericht  über  die  bis- 
herigen Verhandlungen  über  den  Charakter  der  höheren  Schule  in 
Cuxhaven  und  die  neue  Benennung  derselben.  (S  .1—2.)  4*.  Cux- 
haven, höh.  Staats-S,  P  1899. 

Röhn,  R.  A.:  Regeln  der  deutschen  Sprachlehre  für  Volksschulen. 
35.  Aufl.    Leipzig  1898:  Peter. 

R  o  s  b  u  n  d  ,  Max,  Dr. :  Von  der  höheren  Schule  in  Frankreich.  (27  S.)  4". 
Danzig,  st.  G,  OP  1899. 

Rosenboom,  Johannes,  Dr. :  Proben  aus  einer  Stoffsammlung  zu  latei- 
nischen Klassenarbeiten  im  Anschluss  an  die  Caesar- Lektüre  der 
Tertia.    (12  S.)  4°.    Rheinbach,  st.  PG,  P  1899. 

Rosenblüth:  Der  Seelenbegriff  im  alten  Testament.  62  S.  Bern 
1898:  Steiger. 

Rosenburg,  Hermann:   Deutsche  Sprachlehre  für  Präparandenanstalten. 

Ein  Lehr-  u.  Uebungsbuch.   2  Teile  in  1  Bande.    1.  Teil:  Satxlehre 

und  Wortlehre.    2.  Teil:  Rechtschreibelehrc  u.  Lautlehre.    2.  Aufl. 

Breslau  1898:  F.  Hirt. 
Rothenberger,  Christian:     Pestalozzi    als    Philosoph.    Bern  1898. 

(86  S.)  8°.  Diss. 

Rübenkamp,  W.:  Tabellarische  Uebersicht  der  preussischen  Geschichte 
zum  Gebrauch  in  Volks-,  Bürger-  u.  Mittelschulen.  ST,  31  S.  Han- 
nover u.  Berlin  1898:  C.  Meyer. 

R  ü  h  1  m  a  n  n  ,  Richard:  Ueber  die  Aufgabe  und  Einrichtung  der  mit  dem 
kgl.  Realgymnasium  in  Döbeln  verbundenen  königlich  Sächsischen 
Höheren  Landwirtschaftsschule.  Döbeln,  k.  RG  u.  k.  Landwirt- 
schafts-S,  Denkschr.  1898. 


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375 


Rudkowski,  Wilhelm,  Dr.:  Die  Stiftungen  des  Elisabeth-Gymnasiums. 
T.  1.  1293—1500.  Im  Anh.:  Urkunden  zur  Schlesischen  Schulgeschichte. 
81  S.  8°.   Breslau  et.  ev.  G.  zu  St.  Elisabeth,  OP  1899. 

R  u  d  o  1  p  h  i ,  M. :  Die  Bedeutung  der  physicalischen  Chemie  für  den  Schul- 
unterricht  Göttingen:  Vandenhoeck  &  Ruprecht,  1900.   gr.  8*.  20  S. 

R  u  g  a  r  1  i ,  C:  Lo  sport  scolastico.   Mailand:  F.  Binetti  e  Co.,  1900.  8*,  16  S. 

R  u  h  s  e  r  t  :  Der  kleine  Katechismus.  Für  Schule  und  Haus  ausgelegt. 
277  S.    Kiel  1899:  Liebscher. 

Sachs,  M.:  Ueber  den  Einfluss  farbiger  Lichter  auf  die  Weite  der 
Pupille.   Ztschr.  f.  Physiol.  u.  Psychol.  d.  Sinnesorgane  XXII.  5. 

Sachse,  Oskar:  Anleitung  zum  Uebersetzen  aus  dem  Französischen  ins 
Deutsche.  (16  S.)  4*.  [Ant  u.  F.]  Eutin,  grossh.  G  m.  Realabt.,  OP  1899. 

S  a  g  o  r  s  k  i ,  Ernst,  Prof.  Dr. :  Anleitung  zur  Aufstellung  der  Determi- 
nation geometrischer  Konstruktions-Aufgaben.  (74  S.)  8".  Pforta, 
k.  Landes-S,  P  1899. 

Sallwürk,  E.  v.:  Eine  falsche  Linie  in  der  Geschichte  der  deutschen 
Pädagogik.    Die  Deutsche  Schule  III  (1899)  10. 

Sali  wrück,  E.  von:  Pestalozzi.  105  S.  1,25  M.  Leipzig:  Voigtländer  1897. 

Särchinger,  E.,  u.  V.  Estcl:  Aufgabensammlung  für  den  Rechen- 
unterricht.   2.  Aufl.  Heft  1—3.    Leipzig  1899. 

Satzungen  für  die  Realschule  zu  Gevelsberg  (vom  13.  Juli  1898).  (S.  3 — 4.j 
4'.    Gevelsberg  i.  W.,  st.  R,  P  1899. 

S  a  w  a  1 1  i  s  c  h  :  Der  Katechismusunterricht  in  der  Taubstummenschule. 
Organ  d.  Taubst'Anst  in  Deutschld.  1900,  Jahrg.  46,  H.  1. 

Schaefer,  Friedrich:  Georg  Christoph  Lichtenberg  als  Psychologe  und 
Menschenkenner.  Eine  krit.  Untersuchung  u.  e.  Versuch  zur  Grund- 
legung einer  „Empirischen  Charakterpsychologie".  Jena  1898: 
B.  Vooelius.   (57  S.)  8°.  Diss. 

Schäfer,  P. :  Die  Lehrerbildung  in  Frankreich  während  der  grossen 
Revolution.    Gotha  1898:  Thienemann. 

Schanzenbach,  Otto:  Nachträge  zur  Geschichte  des  Eberhard- 
Ludwigs-Gymnasiums.  [Folge  3.]  (S.  101 — 104.)  4".  (Forts,  der 
Festschr.  1886  u.  d.  Progr.  1887  u.  1893.)  Stuttgart,  Eberhard- 
Ludwigs- G,  P  1899. 

Scheibner,  Oskar:  Die  Realschule  in  Leisnig  während  der  ersten 
25  Jahre  ihres  Bestehens.  (53  S.)  4°.  Leisnig,  R  m.  PG,  Festschr.  1899. 

Scheich,  Rudolf:  Ueber  Grillparzers  Dichtungen  als  Schullectürc. 
Mähr.-Weisskirchen  1898.    (27  S.)    &.  Progr. 

Scheid:  Der  Jesuit  Jacob  Masen,  ein  Schulmann  und  Schriftsteller  des 
17.  Jahrhunderts.    Köln  1898:  Bachem. 

Scherer,  H.:    Goethe  als  Erzieher.    Neue  Bahnen  X  (1899)  11  u.  12. 

Scher  er,  H.:  Die  Bedeutung  des  Handfertigkeitsunterrichts  und  die 
Einführung  desselben  in  den  Lehrplan  der  Knabenschulen.  Neue 
Bahnen,  1900,  H.  6  Juni. 

Scheyer,  S.  N.,  Stadtbaumeister:  Kurze  Beschreibung  des  Baues  [des 
Progymnasiums  zu  Saarlouis]  nebst  Aubeldruckbild.  (S.  3.)  4". 
Saarlouis,  PG,  P  1899. 

6* 


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376 


Bibliothtca  pädo-piychologica. 


Schiller,  H.:  Studien  u.  Versuche  über  die  Erlernung  der  Ortho- 
graphie. In  Gemeinschaft  mit  Lehramtsassessor  Heinrich  Fuchs  u. 
Lehrer  August  Haggenmüller  veröffentlicht.  Sammig.  v.  Schiller 
&  Zieher  II,  4.    Berlin:  Reuther  A  Reichardt  1899. 

Schilling,  Fried.:  Der  litteraturgeschichtliche  Unterricht  im  sächsischen 
Seminar.    Leipzig,  Phil.  Diss.  1897. 

Schilling,  Georg:  Kurzgefasste  Interpunktionslehre  für  den  Schul - 
gebrauch,    (16  S.)  8*.    Gross-Glogau,  k.  kath.  G,  OP  1899. 

Schlegel,  W.:  Rechenunterricht  in  der  Unterklasse.  Pädag.  Ztg. 
XXVIII  (1899)  No.  31. 

Schleinitz,  Otto:  Herberts  Verhältnis  zu  Niemeyer  in  Ansehung  des 
Interesses.    Leipzig  1899:  E.  G.  Naumann.   (56  S.)    8".  Diss. 

Schlott,  G.:  Der  geographische  Unterricht  in  der  Taubstummenschule. 
Bl.  f.  Taubst'bildung,  1899,  XII,  8. 

Schmeding,  Fr.:  Zum  100.  Geburtstage  Friedrich  Eduard  Beneckes, 
gr.  8°,  76  S.    Leipzig  1898:  Dürr'sche  Buchhdlg. 

S  c  h  m  e  i  1 ,  O. :  Ueber  die  Reformbestrebungen  auf  dem  Gebiete  des 
naturgeschichtlichen  Unterrichts.  3.  verb.  u.  verm.  Aufl.  Stuttgart: 
E.  Nägele  1899.    (84  S.)  8°. 

S  c  h  m  e  i  1 ,  O. :  Lehrbuch  der  Zoologie  für  höhere  Lehranstalten  u.  die 
Hand  des  Lehrers.  Heft  II:  Vögel,  Kriechtiere,  Lurche  u.  Fische. 
Stuttgart  u.  Leipzig  1898:  Naegele. 

Schmerler,  Heinr.  Emil :  Die  methodischen  und  paedagogischen  Grund- 
sätze Girards  nach  seinem  „Enseignement  regulier  de  la  langue  mater- 
nelle"  und  „Cours  educatif  de  langue  maternelle".  Leipzig,  Phil. 
Diss.  1898. 

Schmeusick,  Fritz:    Das  Prinzip  des  Selbstfindens  in  seiner  Anwen- 
dung auf  den  ersten  Sprachunterricht.  Pädagog.  Studien  (v.  Rein)  XXL 
3.  (1900). 

Schmid:  Geschichte  der  Erziehung.    1.  Abt.    612  S.    2.  Abt.    881  S. 

Stuttgart:  J.  G.  Cotta,  1896  u.  1898. 
Schmidt,  Bernhard:    Ueber  den  Arbeitswert  der  Elektricität  und  einen 

Apparat  zur  Veranschaulichung  elektrischer  Ströme.    (Mit  2  Bildertaf.) 

(S.  1—20.)  4°  .  Würzen,  k.  G,  OP  1899. 
Schmidt,  F.:  Ueber  den  Reiz  des  Unterrichtens.    Eine  pädagog.-psycho- 

logische  Analyse.     Schiller-Ziehen'sche    Sammig.    III,    3.  Berlin: 

Reuther  &  Reichard,  1900.    gr.  8*,  36  S. 
Schmidt,  F.  A. :    Unser  Körper.    Handbuch  der  Anatomie,  Physiologie 

u.  Hygiene  der  Leibesübungen.    Für  Turnlehrer,  Turner,  Sportfreunde 

u.  Künstler.  3  Teile  mit  278  Abb.  8°,  195  S.   Leipzig  1898:  Voigtländer. 
Schmidt,  F.  A. :    Die  Gymnastik  an  den  schwedischen  Volksschulen. 

Mon'schr.  f.  d.  Turnwesen,  Berlin,  1900,  XIX,  3,  65-73;  4,  97-110; 

5,  136-147  ;  6,  161-176. 
Schmidt,  Karl:    Das  evangelische  Alumnat  zu  Trarbach.    (S.  17—18.)  4'. 

Trarbach,  k.  G,  P  1899. 
S  c  h  m  i  d  t ,  P. :    Die  Behandlung  der  Satzlehre.    2.  Aufl.    71  S.  Leipzig 

1899:  Voigtländer. 


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Biblxotheca  pädo-psychologica. 


377 


Schmidt,  Paul  Wilh.:  Die  Geschichte  Jesu.  Zweiter  Abdruck.  Frei- 
burg, Leipzig  u.  Tübingen  1899:  J.  C.  B.  Mohr. 

Schmidt,  Wilhelm:  Die  Kirchen-  und  Schulvisitation  im  Herzberger 
Kreise  vom  Jahre  1529  nebst  Urkunden.  (27  S.)  4".  Berlin,  Leib- 
niz-G,  OP  1899. 

Schmidt  u.  Drischcl:   Naturkunde  für  mittlere  u.  höhere  Mädchenschulen. 

Heft  I.    Breslau  1899:  Woywod. 
Schmitt:  Stoff  zur  Einübung  der  Rechtschreibung.    74  S.    Leipzig  1899; 

Voigtländer. 

Schmieder,  Isidor:  Die  pädagogischen  Anschauungen  Montaignes. 
Leipzig:  G.  Fock  1898.   (03  S.)   8«.  Diss. 

Schneider,  P.,  u.  A.  Papendiek:  Zur  Frage  der  Punktschrift- Biblio- 
theken für  die  deutschen  Blinden.    Blindenfreund,  1899,  XIX,  5. 

Schöne,  H.:  Schulgesang  und  Erziehung.  Leipzig:  E.  Wunderlich,  1899. 
8°,  VII  u.  03  S. 

School:  De  lagere,  en  de  vakopleiding.  Rapport  der  enquete  ingesteld 
door  het  landelijk  onderwijs-comite  in  den  zomer  van  het  jaar  1900, 
ten  behoeve  van  het  kweede  onderwijs-congres.  Amst:  L.  J.  Vermeer, 
1900.   &*,  34  S. 

Schneider,  Reinhold:  Die  Ausgestaltung  des  Selbstverwaltungssystems 
auf  dem  Schulgebiete  bei  Mayer.  Wiesbaden  1899:  K.  Schwab. 
(92  S.)   8*.  Diss. 

S  c  h  n  e  1 1 ,  H.:  Die  Uebungen  des  Laufens,  Springens  u.  Werfens  im  Schul- 
turnen. Nebst  Bemerkungen  über  das  Hantelstemmen,  Tauziehen  und 
Glitschen.    52  Abbildungen.    8*,  143.    Leipzig  1898:  Voigtländer. 

Schöler,  C:  Ueber  Sozialpädagogik.  Rhein.  Blätter  f.  Erz.  u.  Unterr. 
LXXIII  (1899),  2. 

Schocngen,  Michael:  Die  Schule  von  Z wolle  von  ihren  Anfängen  bis 
zum  Auftreten  des  Humanismus.  Freiburg  (Schweiz)  1898.  (XX, 
127  S.)  8».  Diss. 

Schoop,  Ulr.:  Der  Schulzeichenunterricht  u.  das  Zeichnen  nach  der 
Natur.  Tafeln  in  Lichtdruck  mit  Text.  Zürich:  Hofer  4  Co.,  1900.  gr.  8*. 

Schotten,  Heinrich,  Dr.,  Dir.:  Mathematischer  Unterricht.  (19  S.)  4'. 
Halle  a.  S.,  st.  OR,  P  1899. 

Schrohe,  Heinrich:  Ueber  die  Verbindung  des  deutschen  und  latei- 
nischen grammatischen  Unterrichts  auf  der  Unter-  und  Mittelstufe  des 
Gymnasiums.  T.  1.  (36  S.)  4*.  (T.  2  erschien  als  P-Beil.  1898.)  Bens- 
heim, grossh.  G,  OP  1899. 

Schreiber:  Wie  ich  meinen  Kleinen  das  Lesen  und  Schreiben  lernte. 
Pädagogisches  Monatsblatt.  Dessau  u.  Leipzig  1898:  Rieh.  Kahles 
Verlag.   V.  Jahrgang,  X.  Heft. 

Schröder,  Franz:  Turn  -  Uebungen  für  das  Gerätturnen  der 
Schüler  höherer  Lehranstalten.  Zusammengestellt,  methodisch  u. 
logisch  entwickelt  u.  auf  die  einzelnen  Klassen  verteilt,  mit  Abbildungen. 
12*,  135  S.    Hildesheim  1898:  Borgmeyer. 

Schuberth,  Gustav:  Die  Bedeutung  und  der  Einfluss  der  Schule  in  der 
Gegenwart.    (S.  3—4.)   4°.    Grossenhain,  R  m.  PG,  P  1899. 


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378  Bibhotheca  pddo- psych ologica. 

Schulz,  Paul :  Ucbcr  den  Rechenunterricht.  (29  S.)  4°.  Berlin,  Zweite 
R,  OP  1899. 

Schubert,  Rudolf:  Herbarts  didaktische  Anschauungen  und  die  Inter- 
pretationen der  Konzentrationsidee.  Leipzig  1898:  Brückner  &  Nie- 
mann.    (62  S.)    8°.  Diss. 

Schulze,  G. :  Wegweiser  für  das  Gütersloher  Lesewerk.  Erste  u.  zweit« 
Fibel.  Deutsches  Lesebuch  Mittel-  u.  Oberstufe.  Gütersloh: 
C.  Bertelsmann  1899.    (66  S.)  8*. 

Schultz,  A.:  Die  Pädagogik  Es.  Tegner's,  des  Bischofs  von  Wexiö. 
23  S.   40  Pfg.    Gotha:  Thienemann,  1897. 

Schultz,  Adolf:  Ueber  die  Komplexion  der  pädagog.  Ideen  Goethes. 
Päd.  Ztg.  XXVIII  (1899)  No.  35,  36,  38. 

Schultz,  E.:    Vierstellige  Logarithmen.    2.  Aufl.    Essen  1899:  Baedeker. 

Schultze:    A.  H.  Franckes  Pädagogik.    Langensalza  1898:  Beyer. 

Schumann,  Eduard,  Prof.:  Zur  Geschichte  des  Realgymnasiums  St. 
Johann  von  1824—1848.  (16  S.)  4°.  Danzig,  RG  zu  St.  Johann,  OP  1899. 

Schumann,  G.,  u.  Vogt,  G.:  Lehrbuch  der  Pädagogik.  2.  Teil:  Psycho- 
logie.  264  S.   2,50  M.    10.  Aufl.    Hannover  1898:  C.  Meyer. 

Schuster:  Das  perspektivische  Sehen  beim  Zeichnen  nach  der  Natur. 
Zürich  1898:  Henkel  St  Co. 

Schütze,  Johannes:  Die  neuen  Lehrpläne  und  der  lateinische  Unterricht 
in  der  Sexta.    (S.  3—16.)  4°.    Burg,  k.  Viktoria-G,  P  1899. 

Schwegmann,  Franz  Joseph,  Dr.:  Naturwissenschaftlicher  Ferien - 
kursus  in  Göttingen.  Ostern  1898.  (S.  3—16.)  4°.  Rheydt,  OR  u.  PG, 
P  1899. 

Schwering,  K.:    Arithmetik  u.  Algebra    für   höhere  Lehranstalten. 

2.  Aufl.    Freiburg  1899:  Herder. 
Schwering:    100  Aufgaben  aus  der  niederen  Geometrie  nebst  Lösungen. 

2.  Aufl.    Freiburg  1899:  Herder. 
Schwertfeger,  E.:     Die    neue    pädagogische    Psychologie.  Rhein. 

Blätter  f.  Erz.  u.  Unterr.  LXXIII  (1899)  3. 
Schwendt,  A.:    Untersuchungen  von  Taubstummen.    4*.  187  S.  Basel 

1899:  Schwabe. 

Schwochow,  H.:  Methodik  des  Volksschulunterrichts  in  übersichtlicher 
Darstellung.   5.  verm.  u.  verb.  Aufl.    Gera  1899:  Th.  Hof  mann. 

Schwochow:    Die  Schulpraxis.    363  S.    Gera  1898:  Th.  Hofmann. 

S  c  o  1 1  a  n  d  ,  Alfred,  Dir. :  Bericht  über  die  Feier  des  25  jährigen  Bestehens 
der  Anstalt.   (S.  8—11.)   4°.   Strasburg  W.-Pr.,  k.  G,  P  1899. 

Scuri,  E. :    Importanza  dell'  edueazione  fisica  negli  anormali  (sordomuti). 

Rass.  di  pedag.  ed  ig.,  Neapel,  VII,  2—3,  17. 
Seely,  L.:    History  of  Education.    New  York:  American  Book  Co.,  1899. 

12°,  343  S. 

Seil  mann,  Adolf:  Caspar  Dornau,  ein  pädagogischer  Neuerer  im  An- 
fang des  siebzehnten  Jahrhunderts.  Langensalza  1898:  H.  Beyer 
4  Söhne.    (VIII.  55  S.)   8°.  Diss. 

Seiffert,  Alfred:    Die  Herstellung  der  Raumgebilde  als  Ausgangspunkt. 


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ßibliotheea  pädo-psychologxca. 


379 


Entwicklungsprinzip  und  Endziel  des  geometrischen  Unterrichts. 
(21  S.)   4\   Charlottenburg,  st.  OR,  OP  1899. 

Semlow,  Herrn.:  Schule  und  Elternhaus.  (S.  8—11.)  4*.  [F.]  Quedlin- 
burg, gehobene  Mädchen-S.,  P  1898. 

Scndler.  R.,  u.  Kobel,  O.:  Uebersichtliche  Darstellung  des  Volks- 
crziehungswesens  der  europäischen  und  aussercuropäischen  Natur- 
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Siefert,  Georg:  Lateinischer  Wortschatz  der  Klassen  Sexta.  Quinta 
und  Quarta  des  Grossherzogl.  Gymnasiums  zu  Jena.  Jena,  G  Carolo- 
Alexandrinum,  OP  1898. 

S  i  e  1  e  r  ,  A.:  Die  Pädagogik  als  angewandte  Ethik  und  Psychologie.  Vor- 
trag. 46  S.  Pädag.  Magazin  109.  Heft.  Langensalza  1898:  Beyer  &  Söhne. 

Sievers,  J.:  Sammlung  theoretisch-praktischer  Aufgaben.  Mit  40  Fig. 
Leipzig  1899:  Dürr. 

Smith,  J.  G.:  Athletics  in  Public  Schools.  N.  York  M.  J..  1900,  LXXI, 
198—200. 

Sommertad  :  Pädagogische  Kernsprüche  von  Diesterweg.    118  S.  80  Pfg. 

Frankfurt  a.  M.:  Diesterweg,  1897. 
Spaeninkx.N.:    De  opvoedingsleer  naar  het  programma  der  normaal- 

scholen  en  ten  dienste  van  ondervijzers  behandeld.    Tweede  deel: 

zedelijke  opvoeding  (gevoel,  wil,  schooltucht).    Lierre:  J.  Van  In  et 

Cie.,  1900.   8°,  VII  u.  103  S. 
Spalding,  T.  A.,  Canney,  T.  S.:    Work  of  the  London  School  Board. 

London:  P.  S.  King,  1900.   4',  276  S. 
Spangenberg,  Erich,  Dr.:    Zum  Geschichtsunterricht  in  den  oberen 

Klassen.    (S.  1—17.)    4'.    Rossleben,  Kloster-S.,  P  1899. 
Spanier:    Moses  Mendelssohn  als  Pädagoge.    Magdeburg  1898:  Brandus. 
Spaulding,  F.  E.:   The  Elementary  Character  of  Secondary  Education. 

The  Journal  of  Pedagogy,  January  1899.    Syracuse  N.  Y..  U.  S.  A. 
Spencer,  F.:    Chapters  on  Aims  and  Practice  of  Teaching.  London: 

C.  J.  Clay.  1899.   8«,  292  S. 
Spencer,  F.  C:  Education  of  the  Public  Child.    New  York:  Macmillan. 

1899.   VI  u.  97  S. 

S  p  i  e  s  s,  G. :  Kurze  Anleitung  zur  Erlernung  einer  richtigen  Tonbildung 
in  Sprache  und  Gesang.    Leipzig:  A.  Georgi.  1900.   8",  16  S. 

Sprengel:  Die  Zulassung  der  Abiturienten  des  Realgymnasiums  zum 
Studium  der  Medizin.  Aerztl.  Vereinsbl.  f.  Deutschld..  1900.  XXIX. 
241—244. 

Splett:  Josephus  von  Hohenzollcrn.  der  letzte  Abt  von  Oliva.  Eine 
pädagogisch-historische  Skizze.    Danzig  1898:  Barth. 

Stalmann,  Wilhelm:  Das  Herzogliche  philologisch-pädagogische  In- 
stitut auf  der  Universität  zu  Helmstedt  [1779-1810].  (T.)  1:  Dar- 
stellung.  (S.  3— 29.)   4".    Blankenburg  a.  H..  herz.  G.  OP  1899. 

Starke,  Ernst  Rieh.:  Die  Geschichte  des  mathematischen  Unterrichts 
in  den  Gymnasien  Sachsens  seit  1700.    Leipzig.    Phil.  Diss.  1898. 

Stanley,  H.  M.:  Psychology  for  Beginners.  44  S.  Chicago  1899:  Opcn 
Court  Publishing. 


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380 


Bibliotheca  pädo-psycholcg  ica 


Statut  der  Sorof sehen  Stiftung  (des  Königl.  Gymnasiums  zu  Köslin). 
(S.  16—17).   4*.    Köslin,  k.  G,  OP  1899. 

Staude  u.  Göpfert:  Lesebuch  für  den  deutschen  Geschichtsunterricht. 
Dresden  1898:  Bleyl  k  Kaemmerer. 

Steffens,  Lokic:  Experimentelle  Betträge  zur  Lehre  vom  ökonomischen 
Lernen.    Ztschr.  f.  Physiol.  u.  Psychol.  d.  Sinnesorgane  XXII,  5. 

S  t  e  g  1  i  c  h  :  Fr.  Fröbels  pädagogische  Idee  in  ihrer  philos.  Begründung 
durch  Frohschammer.  195  S.  1,60  M.  Bern  1898:  Nydegger  u.  Baumgart. 

Steiger,  E.:  Einführung  in  das  chemische  Praktikum  für  den  Unterricht, 
sowie  zum  Selbststudium.    Leipzig  u.  Wien  1898:  Deuticke. 

Steinhardt,  J.:  Zur  Prophylaxe  der  Schulepidcmien.  Ztschr.  f.  Schul- 
gesundheitspflege XIII,  1. 

Stendal,  H.:  Die  Pflege  des  Gedächtnisses.  Rhein.  Blätter  f.  Erz.  u. 
Unterr.  LXXIII  (1899)  6. 

Stiftungen  (der  städtischen  katholischen  Realschule  zu  Beuthen  O.-S. : 
1.  Stipendien-Stiftung  des  Bürgervereins.  2.  Stadtrat  Wohlfahrt- 
Stipendien-Stiftung.  3.  Ignatz  Hakubasches  Legat.)  (S.  17—18.)  4". 
Beuthen  O.-S.,  st.  kath.  R,  P  1899. 

Stiftungsurkunde  und  Statut  der  Waldmann-Stittung  des  königl. 
kathol.  Gymnasiums  zu  Heiligenstadt  (S.  35—36.)  4".  Heiligen- 
stadt.  k.  kath.  G,  P  1899. 

Stocker,  Wilhelm,  Dir.:  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Anstalt  bei 
Gelegenheit  ihres  25  jährigen  Bestehens.  (S.  4 — 6.)  4',  Pforzheim, 
OR,  P  1899. 

Stoewer,  Rudolf,  Dr.:  Aus  der  Praxis  des  deutschen  Unterrichts,  im 
Anschluss  an  die  Lehrpläne  von  1892.  (S.  3—31.)  4*.  Könitz,  k.  G. 
P  1899. 

Stolzenburg,  Richard:  Wie  behandelt  man  auf  der  Oberstufe  höherer 
Schulen  die  Brechung  einfarbigen  Lichts  durch  das  Prisma?  Mit 
2  Fig.-Taf.  (11  S.)  4e.   Kiel,  OR  m.  Reform-Realgymnasialkl..  P  1899. 

Stöwesand,  F.:  Lesebuch  der  Kleinen,  nach  der  vereinigten  Schreib- 
lese- u.  Normalwortmethode,  den  Grundsätzen  d.  Phonetik  u.  mit 
Berücks.  d.  Schwachbegabten.  Ausgabe  B  mit  einjähr.  Lehrgange. 
Magdeburg:  C.  E.  Klotz,  1899.    (IV,  96  S.)  8°. 

Strauch  ,  Ph.:  Reigen  für  das  Knaben-  u.  Mädchenturnen.  Mit  184  Fig. 
gr.  8°,  90  S.    Berlin  1898:  Gacrtner. 

Strenge,  Julius,  Dr.,  Dir.:  Ueber  die  Lektüre  ausgewählter  Briefe 
Ciceros  in  Prima.  (S.  3—21.)  4Ä.  Parchim,  grossh.  Friedrich- Franz- G 
m.  RPG,  OP  1899. 

Strien,  Gustav,  Prof.  Dr.,  Dir.:  Bericht  über  die  Feier  der  Anstalt  bei 
Gelegenheit  der  200  jährigen  Jubelfeier  der  Franckeschen  Stiftungen. 
(S.  17—22.)  4°.  Halle  a.  S.,  RG  u.  OR  d.  Franckeschen  Stiftungen. 
OP  1899. 

Strobel,  K.:  Die  Vermehrung  des  deutschen  Wortschatzes.  Rhein. 
Blätter  f.  Erz.  u.  Unterr.  LXXIII  (1899),  4.  5.  6. 

Schriftleituag;  F,Xemsies,  BerHn NW.,  Patüstr. 33 and  L.  Hirschlatt,  Berlin W.,  Lfitzowstr. 85b. 


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Zeitschrift 

für 

Pädaaooiscbe  Psychologie, 

IPafljolojIe  und  Hygiene. 

Herausgegeben 

von 

Ferdinand  Kemsies  und  Leo  Hirschlaff. 


Jahrgang  IV.         Berlin,  Dezember  1902.  Heft  5/6. 


(An»  dem  Psychologischen  Laboratorium  der  Universität  In  Qraz.) 

Zur  experimentellen  Begründung 
der  Methode  des  Rechtschreib-Unterrichtes. 

Von 

Ernst  Mally  und  Rudolf  Ameseder. 

Was  wir  hier  unternehmen,  möchte  nicht  so  sehr  als  eine 
Kritik  der  Arbeiten  gelten,  von  denen  die  Rede  sein  wird,  als 
vielmehr  zugleich  einen  kleinen  Beitrag  zur  Lösung  der  Frage 
liefern,  der  alle  jene  Arbeiten  dienen  wollen.  Darum  ist  auch 
bei  deren  Besprechung  ein  vollständiges  Erschöpfen  ihres  In- 
haltes nicht  angestrebt ;  dagegen  wohl  eine  eingehende  Be- 
urteilung der  bisher  in  unserer  Angelegenheit  unternommenen 
Versuche. 

Wir  halten  es  für  besonders  wertvoll  für  diese  theoretischen 
Untersuchungen,  dass  sie  von  der  Praxis  des  Schullebens  Zweck 
und  Anregung  erhalten  haben  —  Als  nämlich,  zu  Beginn 
des  Jahres  1902,  die  Lehrerschaft  von  Graz  auf  Lays  Ver- 
such einer  experimentellen  Ermittelung  derbrauchbarsten 
Methode  des  Rechtschreibunterrichtes  aufmerk- 
sam wurde,  erhob  sich  die  Frage,  in  welcher  Weise  aus  dem 
genannten  Unternehmen  für  die  Schulpraxis  Nutzen  zu  ziehen 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  1 


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382  Ernst  Mally  und  Rudolf  Ameseder. 

wäre.  Dazu  schien  vor  allem  eine  exakte  Prüfung  der  Lay • 
sehen  Aufstellungen  nötig,  die  auf  Anlass  einer  bezüglichen 
Anfrage  an  der  hiesigen  Universität  in  Seminarübungen  vor- 
genommen wurde,  deren  Leitung  Gymnasialdirektor  Professor 
Dr.  Eduard  M  a  r  t  i  n  a  k  inne  hatte.  Unter  grosser  Beteiligung 
seitens  der  Lehrerschaft  nahmen  dabei  die  Verfasser  eine  — 
soweit  dies  Lays  Angaben  gestatten  —  getreue  Nachbildung 
seiner  Versuche  vor.  Nicht  so  sehr  zum  Zwecke  der  Ver- 
gleichung  der  Ergebnisse,  als  vielmehr  um  den  Teilnehmern 
ein  möglichst  anschauliches  Bild  des  Verfahrens  zu  bieten, 
das  auch  die  Verfasser  ihrerseits  nicht  unversucht  lassen 
wollten,  ehe  sie  an  seine  Würdigung  schritten.  In  diese  Be- 
urteilung wurden  dann  auch  alle  uns  bekannten  Experimente 
einbezogen,  die  in  mehr  oder  minder  engem  Anschlüsse  an 
Lay  entstanden  sind. 

Dabei  zeigte  sich,  dass  einiges  von  dem,  was  wir  zu  Lays 
Ausführungen  zu  sagen  hatten,  sich  schon  ähnlich  bei  Fuch s1) 
vorfindet.  Dies  Uebereinstimmende  glaubten  wir  doch  nicht 
ungesagt  lassen  zu  sollen,  da  unsere  Aufstellungen  unab- 
hängig von  Fuchs,  vielfach  von  anderen  Gesichtspunkten 
aus  genommen  worden  waren. 

Schliesslich  ergab  sich  bei  der  eingehenden  Beschäftigung 
mit  diesem  Gegenstande  den  Verfassern  ein  Versuchsver- 
fahren, das  wenigstens  all  jenen  Einwänden  nicht  aus- 
gesetzt sein  möchte,  die  sie  selbst  gegen  ihre  Vorgänger 
zu  erheben  in  der  Lage  waren.  Umfassende  Experimente  mit 
demselben  werden  in  Angriff  genommen.  —  Die  Veröffent- 
lichung des  Verfahrens  aber  mag  erst  erfolgen,  wenn  es  sich 
in  der  Anwendung  bewährt  haben  sollte. 

In  diesem  Sinne,  als  eine  Vorarbeit  zu  weiteren 
Lösungsversuchen  unserer  Frage,  wünschten  wir  die  gegen- 
wärtigen Beiträge  aufgenommen  —  und  vielleicht  auch  anderen 
nützlich  zu  finden. 

I.  W.  A.  Lay.  Führer  durch  den  Rechtschreib- 
Unterricht,  gegründet  auf  psychologische  Ver- 
such c  .  .  .2) 


»)  in  der  später  zu  besprechenden  Abhandlung.  —  Vgl.  unten  S.  4^4 
2)   Karlsruhe.  Verlag  von  Otto  Ncmnich.    i.  Aufl.  1897.    2.  Aufl.  1899. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-UnUrrichtes.  383 


a)  Das  Versuchsverfahren. 

Welche  unter  den  mancherlei  empfohlenen  und  von  anderen 
wieder  verworfenen  Methoden  zur  Erlernung  der  Orthographie 
die  beste  sei,  sollte  einmal  in  unzweifelhafter  Weise  ent- 
schieden werden.  Als  Mittel  dazu  sollte  das  psychologische 
Experiment  dienen. 

Zwei  Gedanken  sind  es  namentlich,  die  zur  Billigung  dieser 
Wahl  führen  mögen.  Einmal  die  Ueberlegung  der  geringen 
Vergleichbarkeit  der  Ergebnisse  verschiedener  Methoden, 
die  von  verschiedenen  Lehrern  an  verschiedenen 
Schülern  erprobt  worden  sind.  Dann  die  Einsicht,  dass  man 
es  hier  thatsächlich  mit  psychischen  Beständen  zu  thun  hat, 
zu  deren  Erforschung,  wenn  überhaupt  ein  Experiment,  so  dass 
psychologische  beitragen  kann.  Dieses  Experiment 
nun  soll  —  und  kann  wohl  auch  —  jene  Gleichartigkeit 
der  Umstände  herbeiführen,  die  erforderlich  ist,  um  festsetzen 
zu  können,  was  sich  in  den  Ergebnissen  des  Rechtschreiben- 
lernens ändert,  indem  sich  die  Art  der  Erlernung  in 
bestimmter  Weise  verändert  und  ausser  ihr  nichts,  oder 
wenigstens  nichts  Wesentliches.  Und  ein  psychologi- 
sches Experiment  soll  es  sein :  denn  es  hat  zu  untersuchen, 
welche  Arten  psychischen  Tuns,  und  in  welcher  Weise  sie 
zusammentreffen,  um  mit  dem  geringsten  Aufwand  an  Arbeit 
—  vielleicht  richtiger:  an  Kraft  und  Zeit  —  mit  grösster 
Sicherheit  jenes  psychische  Können  zu  begründen,  das  sich 
dann  am  orthographischen  Schreiben  als  seiner  Leistung 
äussert.  —  Die  zu  beantwortende  Frage  ist  also  insofern  auch 
von  theoretischer  Bedeutung. 

Auch  bei  den  bisher  vorgeschlagenen  Methoden  des 
Rechtschreib-Unterrichtes  ist  wohl  meist  ein  theoretisches 
Moment  mit  zur  Geltung  gekommen :  wenn  schon  diese  Vor- 
schläge nicht  geradezu  solchen  Erwägungen  über  den  Anteil 
verschiedener  psychischer  Tatbestände  am  Zustandekommen 
des  richtigen  Schreibens  ihren  Ursprung  verdanken,  so  suchen 
sie  doch  grösstenteils  darin  ihre  Begründung.  Namentlich 
wurden  „Gesicht s"-  und  „Gchörsvorstcllungen"  der 
zu  schreibenden  Zeichen,  beziehungsweise  Wörter  als 
solche    psychische    „Faktoren"    am    häufigsten  angeführt, 

l- 


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384 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Ameseder. 


daneben  auch,  weit  minder  häufig,  dem  Urteil  einige 
Beachtung  geschenkt,  und  bald  dem  bald  jenem  das  grössere 
Gewicht  zugesprochen. 

Unser  Autor  ist,  durch  Ueberlegungen  allerdings  mehr 
physiologischer  als  psychologischer  Natur,  zu  der  An- 
sicht gelangt,  dass,  nicht  nur  neben,  sondern  vor  alle 
dem,  ganz  besonders  Bewegungsvorstellungen  für  die 
Erlernung  der  Orthographie  von  Bedeutung  seien.  Und  zwar 
in  zweifacher  Hinsicht :  Wenn  man  ein  Wort  richtig  schreiben 
soll,  muss  man  von  dem,  was  zu  leisten  ist,  vor  allem  eine 
klare  und  anschauliche  Vorstellung  haben.  Was  wir  nun  in 
unserem  Falle  vollziehen  sollen,  ist  eine  Bewegung :  die  Schreib- 
bewegung. Von  dieser  erhalten  wir  am  besten  eine  adäquate 
Vorstellung,  wenn  wir,  zur  Uebung,  das  Wort  erst  ab- 
schreiben. Unser  Gedächtnis  befähigt  uns  dann,  im  ge- 
gebenen Momente  die  so  gewonnene  Vorstellung  zu  repro- 
duzieren, und  wir  schreiben  richtig.  —  Ausserdem  ist  aber 
für  die  richtige  Schreibung  eines  Wortes  wesentlich,  dass  man 
das  Wort  sebst  richtig  vorzustellen  vermöge.  Dazu  ist  das 
Gehört-  oder  Gelesenhaben  des  Wortes  nur  ein  unzureichen- 
des Mittel.  Wenn  wir  aber  das  Wort  dazu  auch  noch  ge- 
sprochen haben,  so  haftet  es  viel  genauer  in  unserer  Er- 
innerung. —  Auch  dieser  Umstand  wird  aus  einer  Bewegungs- 
vorstellung  erklärt:  aus  der  Sprechbewegungs-Vor- 
Stellung,  die  man  beim  Sprechen  des  Wortes  gewonnen 
hat,  und  deren  Reproduktion  zur  richtigen  Reproduktion  des 
Wortes,  das  geschrieben  werden  soll,  eine  wichtige  Hilfe  bilde. 

Aus  solchen  Gedanken  heraus  —  die  der  Autor  jedoch  wie 
gesagt  von  der  physiologischen  Seite  her  entwickelt  —  ergab 
sich  die  Anordnung  der  Versuche.  Dieser  wendet  sich 
zuerst  unsere  Betrachtung  zu,  ohne  emstweilen  an  den  theo 
retischen  Voraussetzungen  zu  rühren. 

Es  galt  durch  das  Experiment  zu  entscheiden,  welchem  der 
genannten  Faktoren  der  grösste  Anteil  am  Erlernen  der  Recht- 
schreibung zuzuschreiben  sei.  So  musste  denn,  unter  sonst 
möglichst  gleichbleibenden  Umständen,  abwechselnd  jeder  von 
ihnen  gesondert  zu  diesem  Erlernen  verwendet  werden,  damit 
sich  an  der  Grösse  des  Erfolges  seine  Wirksamkeit  zeige. 

Der   Versuchsleiter   sagte   eine   Reihe   von  (sinnlosen) 


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Zur  experimentelle*  Begründung  des  Rechttchreib-Unterricktes.  385 


Wörtern  ein  paarmal  hintereinander  vor,  vermittelte  sie  also 
den  Versuchspersonen  durch  Gehörswahrnehmung.  Das 
Gehörte  hatten  die  Schüler,  gleich  nach  dem  letzten  Vorsagen 
der  Reihe,  aus  dem  Gedächtnis  niederzuschreiben.  Ein 
andermal  bekamen  die  Schüler  eine  gleich  lange  Reihe 
ähnlich  gebauter  Wörter  zu  lesen.  Nach  wiederholtem 
Lesen  —  Vorgabe  durch  Gesichtswahrnehmung  —  er- 
folgte wieder  Niederschrift  aus  ,dem  .  Gedächtnis.  Nun 
war  es  nicht  ebensowohl  tunlich,  den  Schülern  durch 
Bewegungs  Vorstellungen1)  Wörter  zu  übermitteln.  Es 
musste  genügen  zu  untersuchen,  wie  sich  das  Ergebnis  der 
oben  genannten  Erlernungsarten  stelle,  wenn  zu  jeder  von  ihnen 
Bewegungsvorstellungen  als  Erlernungshilfen  hinzukommen: 
und  zwar  einerseits  Sprechbewegungs-,  andererseits  Schreib- 
bewegungs-Vorstellungen.  Das  ergab  folgende  Versuchs- 
variationen :  Hören,  beziehungsweise  Lesen  mit  leisem  Sprechen 
—  richtiger  wohl  mit  stummer  Sprechbewegung  —  d.  h.  die 
Versuchspersonen  vollzogen  still  die  zum  Sprechen  des  Gehörten 
oder  Gelesenen  nötigen  Bewegungen;  dann  kam  Hören,  be- 
ziehungsweise Lesen  mit  lautem  Sprechen  der  Versuchs- 
personen, damit  sich  zeige,  ob  das  mit  lautem  Sprechen  ver- 
bundene Hören  der  eigenen  Rede  wesentlich  anderen  Ein- 
fluss  auf  das  Erlernen  übe,  als  die  blosse  stumme  Sprechbe 
wegung  des  Lernenden;  endlich,  um  die  Wirksamkeit  der 
Schreibbewegungs- Vorstellung  zu  erproben,  liess  Lay  seine 
Versuchspersonen  die  zu  lernenden  Wörter  abschreiben.  Um 
ausserdem  eine  von  vielen  gepflegte  Methode  des  Rechtschreib- 
unterrichtes auf  ihre  Erfolge  hin  mit  den  durch  alle  diese 
Versuchsabarten  vertretenen  zu  vergleichen,  wurden  auch  Wörter 
durch  Buchstabieren  —  seitens  der  Versuchspersonen  —  ein- 
gelernt. Nach  jedem  dieser  Teilversuche  wurde  das  Gelernte 
aus  dem  Gedächtnis  niedergeschrieben. 

Eine  Versuchs-„Reihe",  genauer  ein  vollständiger  Ver- 
such,2) bestand  also  aus  folgenden  8  Teilversuchen : 


*)  Ein  Vorschlag,  wie  das  vielleicht  doch  zu  leisten  wäre,  auf  S.  420 
dieser  Abh. 

')  Denn  natürlich  ist  ein  Versuch,  der  auf  die  Ermittlung  der  Ver- 
schiedenheiten  in   der  Reaktion  auf,  in  bestimmter  Weise  verschiedene 


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386 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Atneseder. 


Ia  Hören  ohne  Sprechen 
b  Hören  mit  leisem  Sprechen 
c  Hören  mit  lautem  Sprechen 
IIa  Lesen  (Sehen)  ohne  Sprechen 
*  b  Lesen  mit  leisem  Sprechen 

c  Lesen  mit  lautem  Sprechen 

III  Buchstabieren 

IV  Abschreiben 

Diesen  Versuch  nahm  Lay  —  nach  mehrfachen  Vor- 
versuchen —  an  ganzen  Klassen,  einerseits  von  Volksschülern, 
andererseits  von  Seminaristen,  zu  wiederholten  Malen  vor.  Als 
Wörter  dienten  ihm  dabei  sinnlose  Silbenkomplexe,  die  er  sich 
systematisch  zu  dem  Zwecke  zusammengestellt  hatte,  um  mög- 
lichst gleiche  Schwierigkeiten,  also,  soweit  es  auf  das  Wort- 
material ankommt,  möglichst  gleich  grosse  Fehlerchancen  bei 
jedem  Teil  versuche  zu  bieten.  So  sollte  der  Einfluss  der  Er- 
lernungsart rein  zum  Ausdruck  kommen :  nämlich  an  den  Ver- 
hältnissen der  Fehleranzahlen,  die  —  in  den  Prüfungs- 
Niederschriften  der  Schüler  —  die  einzelnen  Teilversuche  er- 
gaben, nach  dem  formelhaften  Satze:  je  weniger  Fehler  bei 
einer  Erlernungsart,  desto  besser  ist  sie. 

An  dem  Experimente  interessiert  uns  von  der  technischen 
Seite  zunächst  seine  Zusammengesetztheit  aus  (acht)  Teilver- 
suchen. Denn  —  wie  schon  bemerkt  —  kommt  es  uns  auf 
die  Fehlerzahl  des  einzelnen  Teilversuches  an  sich  gar  nicht 
an ;  das  Versuchsziel  ist  die  Ermittlung  der  Verschiedenheit 
der  Reaktion  bei  verschiedenem  Erlernungsverfahren.  Darum 
wird  auch  nicht  der  Teilversuch  für  sich  wiederholt,  sondern 
die  ganze  Reihe  von  Ia  bis  IV.  Allein  nicht  ausnahmslos. 
Ein  Blick  in  das  Versuchsprotokoll1)  zeigt,  dass  manche  Teil- 
versuche der  Reihe  öfter,  andere  weniger  oft  gemacht  wurden. 
Nun  hat  es  den  Anschein,  als  könnte  es  für  die  Verlässlichkeit 
der  Ergebnisse  nur  von  Vorteil  sein,  wenn  ein  oder  der  andere 


objektive  Umstände  angelegt  ist,  erst  vollständig,  wenn  die  ganze  Reihe 
dieser  verschiedenen  Umstände,  Glied  für  Glied,  verwirklicht  worden  ist,  also 
sämtliche  Teilversuche  durchgeführt  sind.    Vgl.  unten  S.  394  ff. 
»)  a.  a.  O.    i.  Aufl.  S.  103  ff. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschretb-UnternchUs. 


387 


Teilversuch  noch  ausser  der  Reihe  einigemal  wiederholt  wird. 
Denn  dadurch  nähere  sich  das  Fehlerergebnis,  das  er  liefert, 
im  allgemeinen,  dem  „richtigen."  Werte.  Das  tut  es  aber 
natürlich  nur,  wenn  der  Teilversuch  allemal  unter  möglichst 
gleichen  Bedingungen  erfolgte;  genauer,  wenn  die  Schwan- 
kungen in  den  Versuchsbedingungen  bei  Mitberücksichtigung 
jener  vereinzelten  Ausführungen  des  Teilversuchs  nicht  grösser 
sind  als  die  Schwankungen  innerhalb  der  in  vollständigen  Reihen 
vorgenommenen  gleichartigen  Teil  versuche  allein.  In  unserem 
Falle  trifft  das  nicht  zu.  Es  kommt  des  öftern  vor,  dass  solche 
vereinzelte  Teilversuche  mit  andersartigem  Wortmaterial  und 
an  andern  Schülern  vorgenommen  wurden  als  die  entsprechen- 
den Teilversuche  der  vollständigen  Reihen.  Nun  war  ja  aller- 
dings innerhalb  der  in  einer  Reihe  zur  Verwendung  kommenden 
Wörter  gleiche  Lernschwierigkeit  angestrebt,  nicht  aber  inner- 
halb des  Materiales  verschiedener  Reihen.  So  tritt  denn  etwas 
Aehnliches  ein,  als  wenn  nach  einer  vollständigen  Reihe  von 
acht  Teilversuchen  (Ia  bis  IV)  nun  einer  oder  zwei  von  ihnen 
unter  veränderten  Bedingungen,  etwa  mit  schwierigeren 
Wörtern  und  an  anderen  Schülern,  noch  einmal  gemacht 
worden  und  ihre  Ergebnisse  zu  denen  der  ersten  Vornahme 
der  bezüglichen  Teilversuche  zugeschlagen  worden  wären.  In 
seiner,  noch  zu  besprechenden,  Abhandlung1)  bringt  Heinr. 
Fuchs  eine  Uebersicht  der  Fehlerzahlen,  die  sich  bei  jedem 
Teilversuch  als  auf  den  Schüler  entfallende  Durchschnittswerte 
aus  den  Fehlerzahlen  je  eines  Klassenversuches  ergaben.  Diese 
Zusammenstellung,  die  unter  anderm  den  Zweck  hat,  eine  ziem 
liehe  Anzahl  (46)  Rechenversehen  der  Lay  sehen  Uebersichts- 
tabellen  auf  Seite  127  der  1.  Auflage  seines  Buches2)  richtig 
zu  «teilen,  zeigt,  dass  nur  acht  von  den  24  Versuchsreihen 
mit  Volksschülern  und  nur  drei  von  den  10  Versuchsreihen 
mit  Seminaristen  vollständig  und  in  einem  Zuge  durchgeführt 
sind.  Wenn  sich  nach  Weglassung  der  unvollständigen  Reihen 
keine  sehr  auffallenden  Veränderungen  der  Endresultate  er- 
geben, so  ist  das  natürlich  für  Lays  Versuche  ein  günstiger 


i)  S.  49  f. 

■)  Die  2.  Auflage  bringt  (S.  94)  die  Tabellen  trotzdem  noch,  bis  aut 
eine  Korrektur,  unverändert  wieder. 


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388 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Amcseder. 


Fall,  aber  immerhin  nichts  wesentlich  anderes  als  ein  Zufall 
und  beweist  selbstverständlich  nichts  gegen  die  Ungenauig- 
keit  eines  solchen  Verfahrens  im  allgemeinen.  Dagegen  möchte 
man  fast  daraus  schliessen,  dass  sogar  in  verschiedenen 
Reihen  die  Versuchsbedingungen,  objektiv  und  subjektiv,  recht 
gleichartig  gewesen  sein  müssten,  weil  die  Daten  einzelner 
Teilversuche  an  dem  Durchschnittsresultat  aller  Teilversuchc 
der  gleichen  Art,  wie  bemerkt,  nicht  auffällig  ändern  —  um- 
somehr  also,  könnte  man  weiter  folgern,  müssen  die  Versuchs- 
bedingungen innerhalb  der  Reihen  gleich  geblieben  sein. 

So  mögen  wir  ein  Verfahren  nicht  unwillkommen  finden, 
das  uns  in  den  Stand  setzt,  die  Richtigkeit  dieser  Vermutung  zu 
prüfen.  Es  ist  dies  folgende  Ueberlegung. 

Wenn  zwei  Gruppen  von  Versuchspersonen  bei  Teil- 
versuchen einer  bestimmten  Art,  etwa  Ia,  die  gleiche  Fehler- 
summe geliefert  haben,  so  ist  das  ein  Zeichen,  dass  der  Kom- 
plex der  —  durch  die  Versuchspersonen  und  die  ihnen  ge- 
stellte Aufgabe  repräsentierten  —  subjektiven  und  objektiven 
Bedingungen  ihrer  Leistung  (in  der  Niederschrift)  in  beiden 
Fällen  die  gleiche  Fehlerchance  bedeutet.  Aendert  sich  nun 
das  Versuchsverfahren,  indem  von  Ia  zu  Ib  übergegangen  wird, 
so  muss  diese  gleiche  Aenderung  an  den  gleichen  Bedingungs- 
Komplexen  bei  gleichen  Gruppen  auch  eine  gleiche  Aenderung 
in  den  Ergebnissen  mit  sich  führen.  Die  F*ehlersumme  der 
einen  Gruppe  beim  Teil  versuche  Ib  muss  also  wieder  der 
Fehlersumme  der  andern  Gruppe  beim  Teilversuche  Ib  gleichen. 
Und  das  gilt  in  gleicher  Weise  für  Ic,  IIa  .  .  .  und  jeden  fol- 
genden Teilversuch  der  Reihe.  Da  nun  Lays  Tabelle  die 
Summen  der  von  den  einzelnen  Klassen  bei  den  ein- 
zelnen Teilversuchen  begangenen  Fehler  nicht  enthält, 
sondern  statt  jeder  solchen  Summe  den  Teil  davon,  der 
im  Durchschnitt  auf  den  einzelnen  Schüler  der  Klasse 
entfällt :  so  gewinnen  wir  die  ursprünglichen  Fehlersummen 
für  die  einzelnen  Klassen  durch  Multiplizieren  der  in  der  Tabelle 
stehenden  Ergebniszahlen  mit  den  bezüglichen  Schülerzahlen. 
Suchen  wir  im  Sinne  des  oben  angeführten  Gedankens  zwei 
Schülergruppen  —  unter  den  Volksschülern  — ,  die  bei  Ia  die 
gleiche  Menge  von  Fehlern  begingen,  so  ergiebt  sich,  dass 
Schüler  des  IV.  Jahrganges  bei  drei  Klassen  versuchen  von  der 


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Zur  experimentellen  Jiegründung  des  Rechtschreib-UnUrrichtes.  389 

Art  Ia,  —  woran  einmal  37,  einmal  14  und  einmal  13  Schüler 
beteiligt  waren  —  zusammen  379  Fehler  begingen;  und  Schüler 
des  III.  Jahrganges  —  einmal  20,  zweimal  je  44  —  wieder  in 
drei  Klassenversuchen  der  Art  Ia  zusammen  371  Fehler 
machten.  Diese  beiden  Fehlersummen  sind  hinreichend  ähn- 
lich, dass  man,  unter  den  gemachten  Voraussetzungen,  für 
den  nächsten  Teilversuch,  Ib,  wieder  zwei  ungefähr  gleiche 
Summen  erwarten  muss  —  und  so  fort,  für  jeden  weiteren.  — 
Nun  zeigt  die  folgende,  aus  den  Kolumnen  5,  13,  14  und  12, 
18,  19  (der  Lay  sehen  Üebersichtstabelle1)  auf  dem  ange- 
gebenen Wege  gewonnene  Zusammenstellung,  dass  in  der  Tat 
dieser  Forderung  beim  Teil  versuche  Ic,  Hören  mit  lautem 
Sprechen,  durch  die  fast  gleichen  Fehlersummen  280  und  277, 
und  beim  Teilversuche  I  Ic,  Lesen  mit  lautem  Sprechen,  durch 
die  Zahlen  146  und  154  in  ausreichendem  Masse  Genüge  ge- 
leistet ist.  Aber  auch  nur  in  diesen  zwei  Fällen:  in  allen 
übrigen  weisen  die  Resultate  der  beiden  Gruppen  sehr  grosse 
Verschiedenheiten  auf  —  insbesondere  IIa  ...  85  :  180,  IIb  .  . 
106  :  196  und  IV  ...  38  :  61. 


Tabelle  I. 


Teilversuch 

IV.  Jahrgang 

HL  Jahrgang 

37+14+13  Schüler 

20+44+44  Schüler 

(Kolumnen  5,  13,  14) 

(Kolumnen  12,  18,  10) 

1. 

379 

371 

Ib 

312 

382 

Ic 

280 

277 

na 

85 

180 

Hb 

106 

196 

Hc 

146 

154 

III 

104 

187 

IV 

38 

61 

Es  muss  sich  also  —  und  das  in  erheblichem  Masse  — 
innerhalb  der  einen  oder  der  anderen  Reihe,  wahrscheinlich 
wohl  in  allen,  von  Teilversuch  zu  Teilversuch  noch  irgend  etwas 
anderes  geändert  haben,  als  die  absichtlich  variierten  Teil- 
bedingungen, die  in  der  Erlermmgsart  gelegen  sind. 

M  auf  S.  94  der  2.  Aufl.,  die  weiter  unten.  S.  395  von  uns  reproduziert 

wird. 


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390 


Ernst  Maüy  und  Rudolf  Amcsedcr. 


Die  Zusammenstellung  unserer  Tabelle  I  bedeutet  natür- 
lich nur  eine  „Stichprobe",  allerdings  ziemlich  umfassender 
Art.  Das  Verfahren,  das  hierbei  beobachtet  wurde,  lässt  sich 
unschwer  verallgemeinern  und  demgemäss  auch  allgemein  an- 
wenden. Es  bedarf  wohl  kaum  der  Bemerkung,  dass  nur  wegen 
der  Einfachheit  der  Darlegung  zwei  Gruppen  von  Ver- 
suchspersonen ausgesucht  wurden,  die  in  la  gleiche  Fehler- 
summen liefern,  und  von  denen  dann,  wenn  nur  (gleiche) 
Aenderung  der  Erlernungsart  bei  beiden  erfolgte,  auch  für 
alle  weiteren  Teilversuche  gleiche  Resultate  erwartet  werden 
müssen.  Es  hätten  zwei  belieb  ige  Gruppen  herausgegriffen 
werden  können;  und  ihre  Fehlersummen  bei  gleicher  Er- 
lernungsart müssten,  unter  der  bekannten  Voraussetzung  (der 
Gleichheit  aller  Versuchsumstände)  zu  einander  bei  jedem  Teil- 
versuch das  gleiche  Verhältnis  aufweisen.  —  Dies  die 
rein  rechnerische  Formulierung  der  Forderung,  woraus  die  in 
der  Praxis  zu  stellende  sich  ergiebt,  wenn  überall  für  „gleich" 
„hinreichend  ähnlich"  gesetzt  wird. 

Indem  wir  nun  jenem  unbeabsichtigt  Variablen  nach- 
zugehen versuchen,  das  die  oben  konstatierten  starken  Schwan- 
kungen im  Ausfall  des  Versuches  verursacht  haben  mag:  ge- 
winnen wir  zugleich  auch  einen  ersten  Einblick  sozusagen  in 
das  Innere  des  Experimentes.  —  Der  erste  Eindruck  ist  wohl 
der  einer  sehr  grossen  Menge  verschiedenartigster  Teilursachen, 
die  mannigfach  ineinandergreifend  das  Fehlerergebnis  eines 
jeden  Teilversuches  bestimmen. 

Zur  Orientierung  in  dieser  Mannigfaltigkeit  diene  eine  Ein- 
teilung, die  sich  in  recht  ungezwungener  Weise  darbietet: 
Sämmtliche  Teilbedingungen  eines  Versuches  zerfallen  in  ob- 
jektive und  subjektive. 

Unter  den  ersteren  sind  wieder  welche  durch  die  Art 
und  Menge  des  in  gegebener  Zeit  zu  Lernenden,  andere 
durch  die  Weise  des  Lern  Verfahrens  gegeben.  Das 
Lernverfahren  wurde  allerdings  absichtlich  variiert,  indem 
die  Reihe  von  Ia  zu  Ib,  Ic,  IIa  .  .  .  fortschritt.  Aber  ob  die 
beabsichtigte  Aenderung  allein  eintrat,  oder  in  d  e  r  Reihe  der, 
in  jener  Reihe  ein  anderer  Nebenumstand  sich  mitge- 
ändert hat,  ist  natürlich  im  einzelnen  nicht  zu  konstatieren, 
kann  aber  bei  der  Kompliziertheit  der  Bedingungen  ebenso 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-UnUrrichles.  391 

sicher  angenommen  als  ruhig  hingenommen  werden,  da  es 
schlechthin  nicht  zu  vermeiden  ist.  Zur  Ausschaltung  der  durch 
diese,  und  andere,  zufällige  Variationen  bedingten  (Zu- 
falls) Schwankungen  der  Ergebnisse  dient  eine  entsprechend 
grosse  Versuchsanzahl,  die  hier  einerseits  durch  den  gleich- 
zeitigen Vollzug  des  Versuches  an  ganzen  Gruppen  (Klassen) 
von  Personen,  das  Massen  verfahren,  andererseits  durch  öftere 
Wiederholung  des  Versuches  angestrebt  ist.  Ob  auch  er- 
reicht, kann  strikte  nicht  entschieden  werden.  Doch  halten 
wir,  nach  unseren  Erfahrungen  von  der  Nachbildung  des  L  a  y- 
schen  Versuches,  wie  auch  von  sonstigem  Experimentieren  her, 
die  beiden  hinsichtlich  ihrer  Fehlerergebnisse  in  unserer  Ta- 
belle I  verglichenen  Gruppen  von  Versuchspersonen  (einmal 
64  und  einmal  108  Schüler)  für  gross  genug,  um  den  auffallenden 
Verschiedenheiten  in  den  bezüglichen  Fchlersummen  den  Cha- 
rakter rein  zufälliger  Schwankung  durchaus  zu  be- 
nehmen. —  In  der  Tat  lässt  sich  auch,  im  Erlernungs Vorgang, 
der  objektiven  Seite  nach  einiges  namhaft  machen,  woran 
solche  mehr  als  bloss  zufällige  Variation  hätte  angreifen  können. 
Ein  solches  ist  vor  allem  die  Erlernungszeit:  sie  war  in 
keiner  Weise  fixiert.  So  wenig  man  nun  sagen  kann,  diejenige 
Methode  sei  die  beste,  die  den  Schüler  in  kürzester  Zeit  am 
weitesten  bringt,  wenn  unter  diesem  „am  weitesten  Bringen" 
nichts  anderes  geda'cht  ist,  als  das  „am  meisten  Beibringen": 
so  unzweifelhaft  ist  man  doch  bei  Versuchen  zur  Feststellung 
einer  solchen  „besten"  Methode  auf  eine  Berücksichstigung 
der  zur  Erlernung  gebrauchten  Zeit  angewiesen.  Denn  in  ver- 
schiedenen Zeiten  lässt  sich  wohl  mit  sehr  verschieden 
guten  Methoden  eine  Leistung  von  gleich  grosser  —  sinn- 
gemäss von  gleich  geringer  —  Fehlerzahl erreichen.  Den  Lay- 
sehen  Ergebniszahlen  ist  also  natürlich  nicht  zu  entnehmen, 
welche  Erlernungsart  in  bestimmter  Zeit  zur  mindest  fehler- 
haften Leistung  führt.  Dagegen  wurde  in  einer  und  derselben 
Reihe  gleich  oft  vorgesprochen,  ohne  Sprechen  der  Schüler 
da),  mit  leisem  (Ib),  mit  lautem  flc)  Sprechen  der  Schüler, 
gleich  oft  gelesen  (IIa,  IIb,  11c).  u.  s.  f.:  d.  h.  die  Vorgabe 
wurde  bei  jedem  Teilversuche  einer  Reihe  gleich  oft  wieder- 
holt, ehe  die  Schüler  schrieben.  Ucbrigens,  leider,  auch  das 
nicht  ausnahmslos,  doch  sind  der  Ausnahmen  nicht  viele.  — 


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392 


Ernst  A/aUv  und  Rudolf  Arne sedtr. 


Natürlich  wurde  auf  diese  Weise  auf  das  Erlernen  durch  Ab- 
schreiben z.  B.,  eine  viel  grössere  Zeit  verwendet  als  auf  das 
Erlernen  durch  Hören  oder  Lesen.  Dadurch  verlieren  die  Er- 
gebnisse an  Vergleichbarkeit,  und  damit  an  Wert,  besonders 
soweit  sie  praktischen  Zwecken  dienstbar  gemacht  werden 
sollen.  Aber  zur  Erklärung  der  bemerkten  starken  Dis- 
krepanzen im  Ausfall  einzelner  Versuche  kann  die  Verschieden- 
heit der  Erlernungszeiten,  sofern  diese  nur  bestimmte  Funktion 
des  Erlernungsverfahrens,  also  in  gleichen  Teilversuchen 
immer  die  gleichen  sind,  nicht  herangezogen  werden.  Wohl 
aber  jene  Verschiedenheit  der  Erlernungszeiten  bei  gleich- 
artigen Teilversuchen,  die  sich  aus  dem  Umstände  ergab,  dass 
eben  keine  Kontrolle  der  Dauer  des  Erlernungsvorganges  ge- 
übt wurde. 

Die  andere  Klasse  objektiver  Versuchsbedingungen  ver- 
dient besondere  Beachtung.  Als  solche  nannten  wir  den  Kom- 
plex jener  Bedingungen  der  Leistung,  die  im  Wortmateriale 
liegen,  das  die  Leistung  „zu  bewältigen"  hat,  und  die  man 
in  allen  Versuchen  von  der  Art  der  gegenwärtig  besprochenen 
als  die  Lernschwierigkeiten  der  Wörter  auch  immer 
besonderer  Erwägung  gewürdigt  hat.  Um  diese  Schwierig- 
keiten in  allen  innerhalb  einer  Versuchsreihe  zu  lernenden  Wort- 
gruppen möglichst  gleich  zu  gestalten,  hat  Lay,  unter  Ver- 
meidung des  so  ungleichartigen  und  den  verschiedenen 
Schülern  verschieden  gut  verfügbaren  Wortschatzes  der 
Muttersprache,  nach  gewissen  Grundsätzen  des  Baues  gleich- 
artige sinnlose  Silbenkomplexe  gebildet:  so  dass  die  Schüler 
wenigstens  in  jedem  Teilversuch  einer  Reihe  gleich  schwer 
zu  erlernenden  und  zu  behaltenden  „Wörtern"  hätten  gegen- 
überstehen mögen.  Nun  scheint  uns  gerade  ein  teilweises  Miss- 
lingen  dieses  Planes  eine  der  Hauptursachen  jener  aufgezeigten 
Diskrepanzen  zu  sein.  Denn  erstlich  ist  es  wohl  ausserordentlich 
schwer  zu  erreichen,  dass  jede  Gruppe  sinnloser  Silben- 
anhäufungen an  sich  dem  Erlernen  und  Behalten  auch  nur 
ungefähr  gleich  grosse  Schwierigkeiten  biete;  dann  aber  — 
und  das  dünkt  uns  das  Wichtigere  zu  sein  findet  nach 
dem  Erlernen  einer  Gruppe  die  nächste,  ähnlich  gebaute,  schon 
durchaus  veränderte  subjektive  Bedingungen  bei  den 
Schülern  vor. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  RechUchreib-Unterrichte*.  393 

Dieser  Umstand  führt  uns  zugleich  zur  Würdigung  der 
variablen  Teilbedingungen  der  zweiten  der  oben  unterschiedenen 
Hauptgattungen.  Nun  gibt  es  ja  gewiss  unter  den  subjektiven 
Versuchsumständen  neben  dem  Angedeuteten  noch  mancherlei, 
und  sogar  sehr  vieles,  das  in  höherem  Grade  und  in  noch  viel 
weniger  kontrollierbarer  Weise  wechselt,  als  die  „objektiven** 
oder  äusseren  Bedingungen.  Allein  eben  diese  Unkontrollier- 
barkeit lässt  eine  nähere  Betrachtung  alles  dieses  zufällig 
Variierenden  einstweilen  ziemlich  unfruchtbar  erscheinen.  Und 
so  mag  man  sich  mit  Recht  bescheiden,  diese  Variationen 
durch  sorgfältiges  Gleichhalten  der  äusseren  Einflüsse,  die 
auf  die  Versuchspersonen  wirken,  in  möglichst  engen  Grenzen 
zu  halten  und  durch  häufige  Wiederholung  des  Versuches  an 
vielen  Personen  sie  im  Schlussergebnis  nach  Tunlichkeit  zu 
kompensieren.  Anders  ist  es  mit  den  —  in  einem  teils  wohl- 
begründeten, teils  vielleicht  auch  nur  konventionellen  Gegen- 
satze zu  diesen  zufälligen  —  gesetzmässig  genannten 
Aenderungen,  wovon  schon  eine  berührt  worden  ist:  Es  sind 
das  die  Ermüdung  und  U  e b u n g  der  Versuchsperson  durch 
die  Versuche  selbst.  Und  zwar  sind  an  Uebung  zwei  Arten 
zu  konstatieren:  einmal  übt  sich  der  Schüler  von  Versuchs- 
reihe zu  Versuchsreihe,  also  durch  die  erste  Vornahme  des 
Teilversuches  Ia  für  den  Teilversuch  Ia  in  zweiter,  dritter  .  . 
Vornahme,  und  so  allgemein  durch  X  für  X;  er  übt  sich  aber 
auch  durch  jeden  Teilversuch  für  den  nächsten,  durch  Ia  für 
Ib  .  .  .,  in  der  Reihe.  Wenn  auch  jeder  folgende  Teilversuch 
eine  etwas  veränderte  Leistung,  oder,  kann  man  sagen,  eine 
gleichartige  Leistung  unter  veränderten  Bedingungen  der  Vor- 
gabe vom  Schüler  verlangt,  so  sind  doch  in  allen  Fällen 
ziemlich  dieselben  psychischen  Dispositionen  in  Anspruch  ge- 
nommen; und  man  übt  sich  bekanntlich  nicht  nur  durch 
Gleiches  für  Gleiches,  sondern  auch  durch  Aehnliches  für 
Aehnliches  —  ja  streng  genommen  überhaupt  nur  letzteres, 
bei  verschiedenen  Graden  jener  Aehnlichkeit.  —  Und  wenn 
nun,  wie  das  bei  den  späteren  Lay  sehen  Versuchen  in  zu- 
nehmender Weise  zu  Tage  tritt,  für  die  Teilversuche  einer 
Reihe  sehr  ähnliche,  häufig,  mit  Festhaltung  eines  Konsonanten- 
Gerüstes,  nur  durch  Aenderung,  ja  durch  blosse  Umstellung 
der  Vokale  auseinander  abgeleitete  Wörter  verwendet  werden: 


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394 


Emst  Mally  und  Rudolf  Ameseder. 


so  kann  begreiflicherweise  der  Einfluss  der  zunehmenden 
Uebung  recht  bedeutend  werden.  —  Daneben  wirkt,  von  ihr 
nicht  zu  sondern,  die  Ermüdung. 

Um  diese  unvermeidlichen  Einflüsse  im  Endresultat  auf  ein 
unschädliches  Ausmass  zu  reduzieren,  hätte  sich,  nebst  der 
Umgehung  allzu  ähnlicher  Wortbildungen,  empfohlen,  die  Auf- 
einanderfolge der  Teilversuche  innerhalb  der  Reihe  zweck- 
mässig zu  variieren;  so  dass,  wenn  schon  nicht  jeder  Ver- 
such gleich  oft  in  jeder  zeitlichen  Umgebung,  doch  jeder  gleich 
oft  vor  wie  nach  jedem  seiner  zwei  Nachbarn  wäre  zu  stehen 
gekommen.  —  Dass  der  von  Reihe  zu  Reihe  zunehmen- 
den Uebung  Rechnung  getragen  wurde,  lässt  sich  aus  Lays 
Angaben  zum  mindesten  nicht  entnehmen.  Das  Gegenteil  ist 
sogar  wahrscheinlicher.  Denn  schwerlich  war  mit  jeder" 
Schülerklasse  vor  Berücksichtigung  ihrer  Fehlerdaten  so 
lange  experimentiert  worden,  bis  bei  Wiederholung  des  Ver- 
suches keine  besonders  merkliche  Zunahme  an  Uebung  mehr 
eingetreten  wäre;  da  zwischen  den  Vorversuchen,  die  einem 
solchen  Zwecke  hätten  dienen  können,  und  der  Beendigung 
der  Hauptversuche  eine  Zeit  von  sechs  Jahren  liegt,  in  welcher 
das  Schülermaterial  wohl  schon  des  öfteren  gewechselt  haben 
mag  —  ohne  dass  wir  von  erneuerten  Vorversuchen,  als 
Uebungsversuchen,  etwas  erfahren. 

b)  Die  Verwertung  der  Versuchsergebnisse. 
Versuchsziel  ist  ein  Mass  der  Brauchbarkeit  verschiedener 
Methoden  zur  Erlernung  der  Orthographie.  Die  Methode  ist 
die  beste,  die  in  bestimmter  Zeit  die  mindest  fehlerhaften 
Resultate  liefert  und  zugleich  das  dauerhafteste  Können  be- 
gründet. Sieht  man  einstweilen  von  der  Forderung  der 
Dauerhaftigkeit  der  Reehtschreib-Dispositionen  ab,  so  gilt 
es  also  zunächst  die  Grösse  der  Fehlerhaftigkeit  der  Lern- 
ergebnisse bei  den  verschiedenen  Versuchsvariationen  zu  be- 
stimmen. Auf  die  absoluten  Grössen  dieser  Fehlerhaftigkeit 
kommt  es  dabei  nicht  an.  Es  genügt,  in  Erfahrung  zu 
bringen,  wievielmal  grösser  die  Fehlerhaftigkeit  der  Re- 
sultate jeder  einzelnen  Versuchsart  ist,  als  die  Fehlerhaftigkeit 
einer  bestimmten  Versuchsart,  etwa  der  mit  Abschreiben  — 
denn  diese  hat  die  wenigsten  Fehler  ergeben,  wenigstens  in 
den  Versuchen  mit  Volksschülern  — . 


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Zur  txptritnenUüen  Fit Gründung  des  Rechtschreib-UnUrrühtes. 


395 


Wie  man  nun  auch  immer  die  Fehlerhaftigkeit  einer 
Priifungs-Niederschrift  mag  messen  wollen,  so  viel  ist  sicher, 
dass  sie  bei  Gleichheit  aller  Umstände  mit  Ausnahme  der 
Erlernungsmethode,  nur  mehr  als  Funktion  der  Fehlerzahl 
—  und  diese  natürlich  als  Funktion  der  variablen  Methode  — 
zu  fassen  sein  wird.  Den  Einblick  in  das  Rechnungsverfahren, 
das  zur  Ermittlung  dieser  Fehlerzahlen  aus  den  Daten  des  Ver- 
suches dienen  sollte,  gewährt,  fast  ohne  Kommentar,  die  Ta- 
belle II,  die  wir  als  Reproduktion  der  Lay  sehen  Uebersichts- 
tabelle1)  —  auf  S.  94  der  2.,  S.  127  der  1.  Aufl.  —  im  folgen- 
den bringen. 

Tabelle  II 

A.  Versuche  mit  Volksschtilcrn. 


1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

S 

0 

10 

11 

>cnujj&nr 

r  1  t 

r  1 1 

1  1  L. 

II. 

IV. 

I  V 
1  V 

r  1 1 
1 1 1. 

111. 

1 1 1 

III. 

rn 

ocuuierzani 

J7 

4/ 

1 1 

Mi 

40 

37 

1 7 

11) 

21 

17 

\v  j  euer  noiun  gen 

Ii  >v 

1  f -..Q 
J  D.Ci 

... 

o 

p  

12 

5 

.- 

r. 

- 

- 
) 

 1 

7 

7 

Hüren,  ohne  Sprechen  1,  !a) 

5.93 

6.37 

6.96 

6.70 

2.50 

3  40 

6.10 

Hören,  leises  Sprechen  (b 

5.46 

1.09 

3.87 

2.50 

2.00 

3.i-7 

Hören,  lautes  Sprechen  (c) 

6.02 

1.00 

3.10 

1.70 

2.30 

5.10 

Sehen,  ohne  Sprechen  (lla^i 

2.4' 1 

I.Ol 

l.SO 

2.09 

1.23 

Sehen,  leises  Sprechen  ,bi 

1.90 

2.09 

1.82 

Sehen,  lautes  Sprechen  (c) 

2.38 

1.80 

1  06 

Buchstabieren  (III) 

2.01 

1.24 

1.82 

2.38 

3.87 

Abschreiben  (IV) 

1.10 

0  30  0.73 

0.73 

0.66 

12 

13 

14 

15 

16 

17 

18 

19 

20 

Schuljahr 

[IT 

IV. 

IV. 

in. 

in. 

III. 

III. 

III. 

III. 

j  Fehler  im 
Durch- 

Schülerzahl 

20 

14 

13 

15 

44 

42 

44 

44 

42 

schnitt 

Wiederholungen 

7 

7 

7 

7 

7 

5 

5 

5 

3 

ScK 

ro 

filer 

Hören,  ohne  Sprechen  (Ia) 

6.98 

5.681 

3.26 

4.74 

2.22 

3.50 

2.65 

2.62 

• 

4.54 

Hören,  leises  Sprechen  (b)  ' 

4.90 

4.81 

3.26 

4.74 

2.43 

4.43 

3.30 

3.15 

8.88 

Hören,  lautes  Sprechen  (c) 

5.05 

4.20 

2.46 

2.81 

2.45 

2.98 

2.10 

3.32 

8.2« 

Sehen,  ohne  Sprechen  (IIa) 

2.02 

1.44 

0.69 

2.24 

1.65 

2.18 

1.33 

1.84 

0.97 

1.82 

Sehen,  leises  Sprechen  (b) 

2.00 

1.81 

0.81 

2.34 

1.09 

1.60 

1.70 

1.84 

1.16; 

!  1. 

K0 

Sehen,  lautes  Sprechen  (c) 

2.35 

1.76 

1.20 

1.53 

0.93 

2  46 

0.97 

1.46 

1.03 

1. 

50 

Buchstabieren  (III) 

2.60 

1.93 

0.73 

1.02 

1.13 

2.20 

0.85 

1.41 

1.5« 

Abschreiben  (IV)  0.91 

0.61 

0.17 

0.87 

0.75 

0.46 

0.47 

1.41 

0.70 

»)  Diese  Tabelle  enthält  freilich,  abgesehen  von  den  Rechenfehlern, 
teilweise  wohl  auch  Druckfehlern  in  den  Ergebnisziffern,  auch  in  den  An- 


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396  Ernst  Maüy  und  Rudolf  Ameseder. 


B.  Versuche  mit  Seminaristen. 


Ours 

I. 

I. 

I. 

I 

!  I. 

II. 

• 

II. 

I. 

!  L 

L 

Fehler 
im 

Schülerzahl 

39 

39 

39 

39 

39 

38 

39 

39 

39 

27 

Durch- 
schnitt 

Wiederhol  ungen 

2 

2 

2 

2 

2 

3 

2 

3 

2 

3 

pro 

•Tl. II  U  IC 

Hören,  ohne  Sprechen  (Ja). 

2.20 

0.92 

.  ---- 

0  53 

2.66 

1.05 

1.87 

1.66 

Hören,  leises  Sprechen  (b)  ! 

1.84 

0.47 

2.17 

0.43 

2.38 

1.05 

1.92 

1.96 

1.5« 

Hören,  lauteB  Sprechen  (c) 

1.66  0.41 

1.43 

0.43 

1.84 

0.92 

1.74 

1.48 

1.84 

Sehen,  ohne  Sprechen  (IIa) 

0.76 

0.44 

0.56 

0.56 

0.35 

1.14 

e.63 

Sehen,  leises  Sprechen  (h) 

0.76 

0.4010.41 

0.43 

0.20 

0.48 

0.45 

Sehen,  lautes  Sprechen  (c) 

0.43  0.18  0.17  0  47 

0. 1210.59 

0.32 

Buchstabieren  (III) 

0.15 

0.58 

0.58 

0.55 

O.40 

Abschreiben  (IV) 

0.43 

0.28 

0.33 

0.55 

O.S8 

Die  Ziffern  der  Tabelle  bedeuten,  wie  schon  bemerkt,  die 
Anzahlen  von  Fehlern,  die  nach  jedem  Teilversuch  mit  einer 
Klasse,  als  Klassendurchschnitt  auf  den  Schüler  entfallen. 
Z.  B.  5.95  in  Tab.  II.  A.  links  oben  repräsentiert  ein  Sieben- 
undvierzigstel  der  Fehlersumme,  die  beim  Teilversuche  Ia  der 
Reihe  iA  von  den  47  Schülern  des  II.  Jahrganges  geliefert 
wurde.  Die  in  der  gleichen  Horizontalreihe  stehenden  Daten 
der  aufeinanderfolgenden  Reihen  geben  nach  Division  ihrer 
Summe  durch  ihre  Anzahl  den  Mittelwert  (in  der  Endkolumne) 
4.54.  Unter  diesem  findet  man  die  Durchschnittsergebnisse 
der  weiteren  Teilversuchsarten  Ib,  Ic,  IIa,  u.  s.  f.  bis  IV. 

An  diesem  Rechnungsvorgang  ist  einigermassen  befremd- 
lich, dass  zur  Berechnung  des  mittlem  Fehlerergebnisses  einer 
Versuchsart  Durchschnittswerte  aus  je  47  Einzeldaten  mit 
Durchschnittswerten  aus  je  44,  42,  41,  37,  30,  27,  26,  24,  20, 
15,  14,  13  Einzeldaten  summiert  werden.  Das  arithmetische 
Mittel,  das  so  aus  arithmetischen  Mitteln  gewonnen  wird,  ist 
selbstverständlich  verschieden  von  dem  Mittelwerte,  den  sämt- 
liche Einzeldaten  (aller  Schüler)  untereinander  summiert  und 
durch  ihre  Anzahl  dividiert,  ergeben  hätten.  Durch  das  hier 
beobachtete  Verfahren  aber  werden  dem  Ergebnis  eines  Massen- 


gaben des  „Kopfes"  —  wie  schon  Fuchs  bemerkt  —  eine  nicht  uner- 
hebliche Menge  Abweichungen  von  den  entsprechenden  Daten  des  Vcr- 
suchsprotokolls  der  1.  Aufl.  (S.  103 — 126),  gross  genug,  den  Leser  schwan- 
kend zu  machen,  ob  er  dem  Versuchsprotokoll  oder  der  Tabelle  im  ganzen 
mehr  Glauben  schenken  soll.  Sie  soll  aber  auch  im  gegenwärtigen  Zu- 
sammenhange nur  zur  Veranschaulichung  der  Ergebnisverwertung  dienen. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-  Unterrichtes.  397 


Versuches  mit  47  Personen  die  Ergebnisse  von  Versuchen  mit 
je  44,  20,  13  Personen  hinsichtlich  ihres  Gewichtes  gleich- 
gestellt. Das  ist  fast  so  willkürlich,  als  ob  jemand  mit  einer 
Person  ein  Experiment  erst  47  mal  vornähme  und  aus  den 
Daten  das  Mittel  zöge,  und  dann  etwa  nach  weiteren  20  Ver- 
suchen der  gleichen  Art  aus  den  neu  hinzugekommenen  Daten 
das  Mittel  zum  ersten  Mittel  addierte  und  die  Summe  durch 
zwei  dividierte,  um  das  durchschnittliche  Reagieren  der  Person 
auf  den  Versuch  zu  erfahren.  Nicht  ganz  so  willkürlich  ist 
es,  weil  hier  immerhin  die  Einzeldaten  eines  Massenversuches, 
eben  als  einem  Massenversuch  angehörig,  aus  ähnlicheren 
Bedingungen  hervorgegangen  sind,  als  Einzeldaten  verschie- 
ner  Massenversuche;  auch  wird  die  Fehlerhaftigkeit  der  so 
gewonnenen  Mittelwerte  einigermassen  herabgesetzt  durch  den 
Umstand,  dass  das  Gewicht  des  Ergebnisses  eines  Massen- 
versuches durchaus  nicht  proportional  mit  der  Anzahl  der  be- 
teiligten Personen  wächst,  sondern  langsamer,  ja  von  einer 
gewissen  endlichen  Personenanzahl  an  vielleicht  sogar  abnimmt 
—  weil  es  eben  nicht  wohl  möglich  ist,  mit  mehr  Personen 
ebenso  exakt  zu  experimentieren  wie  mit  einer  kleinern  Menge. 
Angesichts  dieser  Tatsachen  läge  es  natürlich  sehr  im  Inter- 
esse der  Verlässlichkeit  von  Versuchsergebnissen,  dass  man 
den  gleichen  Versuch  mit  nicht  allzu  verschiedenen  Personen- 
mengen vornähme,  solange  noch  eine  experimentelle  Ermittelung 
des  Funktionszusammenhanges  zwischen  Gewicht  eines  Ver- 
suchsergebnisses und  Anzahl  der  in  den  Massenversuch  zu- 
gleich einbezogenen  Personen  nicht  geleistet  ist. 

Ganz  in  der  Weise,  wie  sie  an  den  Versuchen  mit  Volks- 
schülern eben  dargelegt  worden  ist,  sind  auch*  die  Versuche 
mit  Seminaristen1)  rechnerisch  verwertet.  Und  nun  wieder- 
holt sich  die  Operation  von  früher:  aus  den  Versuchs- 
ergebnissen von  A  und  den  entsprechenden  von  B  werden 
neuerlich,  für  jede  Versuchsvariation,  die  arithmetischen 
Mittel  gezogen.  Wir  haben  sie,  ihres  begreiflicherweise 
sehr  geringen  Erkenntniswertes  wegen,  nicht  wieder  gebracht 
und  werden  auch  im  folgenden  nur  den  Mittelwerten  der  einen 


i)  Tab.  II.  B. 
Zeitschrift  fflr  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene. 


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398 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Ameseder. 


oder  der  anderen  Tabelle,  zunächst  der  Tabelle  A,  unsere 
Aufmerksamkeit  zuwenden. 

Will  man  die  relative  Fehlermenge  für  die  Versuchs- 
arten wissen,  um  daraus  —  im,  Sinne  der  Bemerkungen  zu  Be- 
ginn dieses  Abschnittes  —  einen  Schluss  auf  deren  relative  lehr- 
methodische Brauchbarkeit  zu  ziehen,  so  bietet  Lay  dafür 

*  d 

die  Verhältniszahlen,  die  bei  Division  jedes  der  Endmittel- 
werte durch  den  kleinsten  Wert  (den  bei  IV)  hervorgehen. 
Demnach  ist  das  „Abschreiben"  „dem  Buchstabieren  um  das 
zweifache,  dem  Lesen  um  das  zwei-  bis  dreifache  und  dem  Dik- 
tieren um  das  sechsfache  überlegen44.1)  Das  heisst :  die  mittleren 
Fehlerzahlen  —  bei  Volksschülern  —  die  sich  bei  den  Ver- 
suchen mit  Hören,  Lesen,  Buchstabieren  ergaben,  sind  sechs- 
mal, beziehungsweise  zwei-  bis  dreimal  und  zweimal  so  gross 
wie  die  mittlere  Fehlerzahl  bei  den  Versuchen  mit  Abschreiben. 

Dem  gegenüber  bleibt  zu  überlegen,  ob  denn  auch  eigentlich 
nach  dem  Zahlenverhältnis  der  mittleren  Fehler- 
menge bei  einer  Versuchsvariation  V  zur  mittleren 
Fehlermenge  bei  einer  anderen  Variation  V  des  Verfahrens 
(etwa  „Abschreiben")  die  Frage  ist,  und  nicht  vielleicht  eher 
nach  dem  mittleren  Zahlenverhältnis  der  (vari- 
ablen) Fehlermenge  bei  V  zur  (variablen)  Fehler- 
menge bei  V1. 

Die  Frage  lässt  sich  in  einer  für  den  gegenwärtigen  Zweck 
zureichenden  Weise  recht  einfach  und  ohne  Heranziehung  vielen 
mathematischen  Apparates  beantworten.  —  Womit  übrigens 
ganz  und  gar  nicht  behauptet  sein  soll,  dass  sie  einer  allge- 
meineren theoretischen  Behandlung  keine  Angriffspunkte 
und  keine  Aussicht  auf  lohnende  Ergebnisse  biete.  — 
Wir  führen  unsere  Aufgabe  auf  einen  einfacheren  Fall 
zurück  und  nehmen  an:  es  seien  zwei  Versuchsvariationen  a 
und  b  hinsichtlich  ihrer  Fehlerergebnisse  unter  sonst  ganz 
gleichen  Umstanden  zu  vergleichen.  —  Die  Symbole  a  und  b 
können  dabei  etwa  den  Lay  sehen  Teilversuch  mit  Hören, 
beziehungsweise  Abschreiben  bedeuten.  —  Nach  einer  hin- 
reichend grossen  Anzahl  von  Uebungsversuchen  werde  nun 
a  und  darauf  b  mit  ein  und  derselben  hinreichend  grossen 


»)  a.  a.  O.   2.  Aufl.  S.  96.    1.  Aufl.  S.  128. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib- Unterrichtes.  399 

Menge  von  Versuchspersonen  als  Massenversuch  vorgenommen. 
Diese  zwei  aufeinanderfolgenden  Teilversuche  a  und  b  bilden 
die  Reihe  i.  In  einer  anderen  Versuchsstunde  werde  wieder 
an  denselben  Personen  a  und  dann  b  ausgeführt  und  diese 
Reihe  mit  2  bezeichnet.  Die  bei  diesen  zwei  Reihen  sich  er- 
gebenden Fehlenmengen  liefern  dann  eine  Tabelle  von  der 
Art  der  folgenden  (Tab.  III). 


Tabelle  III.  Tabelle  III1. 


Teil- 

Reihe 

arithm. 

TeÜ- 

Reihe 

i  arithm. 

versuch 

Li 

2 

]  Mittel 

versuch 

1 

2 

Mittel 

1 

a 

750 

250 

1  500 

1 

a 

750 

500 

625 

b 

250 

50 

150 

b 

250 

100 

!  175 

Die  Daten  sind  hier  natürlich  willkürlich,  nur  beispiels- 
weise, angesetzt,  jedoch,  wie  man  zugeben  wird,  in  einer  Art, 
wie  sie  sich  durchaus  ergeben  könnten,  ohne  mit  unserer 
Annahme  von  der  Gleichartigkeit  der  Umstände,  unter  denen 
a  und  b  durchgeführt  werden,  in  Widerspruch  zu  geraten. 
Denn  eine  Abweichung  von  der  genauen  Proportionalität1)  der 
a-  und  b-Werte,  so  gross  wie  die  hier  angenommene,  wird  sich 
wohl  bei  der  sorgfältigsten  Ausführung  des  Versuches  auf 
Grund  von  allerlei  zufälligen  Schwankungen,  namentlich  der 
subjektiven  Versuchsbedingungen,  immer  noch  einstellen 
können.  Und  Gleichheit  der  Ergebniszahlen  von  a  in  1  und  2 
und  Gleichheit  der  Daten  von  b  in  1  und  2  ist  nicht  ge- 
fordert. Es  genügt  z.  B.  gleich  „schwieriges"  Material  an 
Wörtern  in  beiden  Teilversuchen  von  1  zu  verwenden,  und 
wieder  in  beiden  Teil  versuchen  von  2  gleich  schwieriges.  Aber 
das  in  2  verwendete  dürfte  ganz  wohl  weniger  schwierig 
sein  als  das  in  1  verwendete;  und  das  ergäbe  für  2  kleinere 
Fehlerzahlen. 

Hätte  der  Versuch  statt  der  Daten  von  Tabelle  III  die 
von   Tabelle   III1    ergeben,   nämlich   in   Reihe   2  andere 


»)  Vgl.  oben  S.  388-300. 

2- 


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400 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Ameseder. 


Werte  für  a  und  b,  jedoch  ohne  Aenderung  ihres  „Verhältnisses" 
zueinander,  so  hätte  er  doch  deshalb  für  die  Frage,  zu  deren 
Beantwortung  er  unternommen  worden,  nichts  anderes  zu 
bedeuten:  d.  h.  er  wäre  „im  gleichen  Sinne"  ausgefallen  wie 
der  durch  Tabelle  III  repräsentierte  Versuch.  Und  das  gilt 
allgemein:  gleichsinniger  Ausfall  unseres  Versuches  liegt  vor, 
wenn  die  Verhältniszahl  des  Ergebnisses  von  a  zum  Ergeb- 
nis von  b  (derselben  Reihe)  gleich  ist. 

Wendet  man  aber  auf  die  Daten  unserer  Beispiels-Tabellen 
das  von  Lay  befolgte  Verfahren  an,  zieht  also  in  jeder  Tabelle 
das  arithmetische  Mittel  aus  den  beiden  a-Daten  und  das 
arithmetische  Mittel  aus  den  b-Daten,  so  überzeugt  man  sich, 
dass  die  aus  Tabelle  III  resultierenden  Mittelwerte  die  Ver- 
hältniszahl y  liefern  und  die  der  Tabelle  III1  die  Verhältnis- 
25 

zahl  y .     Also    verschiedene    Rechnungsresultate  bei 

gleichsinnigem  Ausfall  der  Versuche.  Hat  sich  so  ge- 
zeigt, dass  die  Verhältniszahl  der  arithmetischen 
Mittel  der  Ergebnisse  aus  den  zu  vergleichenden  Versuchs- 
variationen kein  geeignetes  Mass  der  mittleren  re- 
lativen Fehlerhaftigkeit  der  bezüglichen  Lernresultate 
bietet;  so  hat  es  andererseits  auch  keine  besondere  Schwierig- 
keit ein  richtiges  Mass  dafür  anzugeben:  es  ist  das  die 
mittlereVerhältniszahl  der  Fehlersummen,  die  sich  bei 
den  einzelnen  Teilversuchen  ergeben.  Ob  das  „arith- 
metische" oder  „geometrische"  Mittel,  kann  wohl  kaum 
mehr  die  Frage  sein.  Allerdings  wäre  beider  Anwendung 
dem  Einwände  nicht  ausgesetzt,  der  eben  wider  das  Lay  sehe 
Rechnungsverfahren  erhoben  worden  ist;  trotzdem  aber  wird 
es,  abermals  ohne  viel  mathematische  Theorie,  leicht  möglich 

sein,  das  arithmetische  Mittel  der  Verhältniszahlen      —  worin 

a  die  Fehlerzahl  beim  Teilversuch  a,  b  die  Fehlerzahl  beim 
Teilversuch  b  bedeutet  —  auszuschliessen  und  die  Repräsen- 
tation der  einzelnen  Verhältniszahlen  p  wie  sie  sich  aus  den 

verschiedenen  Vornahmen  des  Versuches  —  den  verschiedenen 
Reihen  —  abweichend  voneinander  ergeben,  durch  ihr  geo- 
metrisches Mittel  als  berechtigt  und  brauchbar  zu  erweisen. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-Unterrichtes. 


401 


Der  erste  Teil  der  Aufgabe,  die  Ausschliessung  des  arith- 
metischen Mittels  der  Verhältniszahlen  ~t  ist  schon  geleistet, 

wenn  es  nur  gelingt  einen  Fall  aufzuzeigen,  wo  seine  An- 
wendung zu  widersprechenden  Ergebnissen  führte.  Ein  solcher 
Fall  liegt  im  folgenden  vor,  den  wir  als  spezielles  Beispiel 
zunächst  bringen  wollen. 

Angenommen  der  Teilversuch  a  hätte  einmal  a\  Fehler 
ergeben  und  ein  zweites  mal  fl,  Fehler;  der  Teil  versuch  b  in 
denselben  zwei  Reihen  die  Fehlerzahlen  b\  und  bv  Die  Ver- 
hältniszahlen seien  ~  =  ^p  ^  =  ~. 

Das  arithmetische  Mittel  dieser  zwei  Verhaltniszahlen  —  wir 

bezeichnen  es  mit  (?)    —  ist  dann  13/^*.2'2  =  X  =  (?)  .  Nun 

\bJm  2.2.3         12  \o/m 

kann  man  aber  gewiss  ebensogut  wie  nach  dem  mittlem 
Verhältnis  (fjm  auch  nach  dem  mittleren  Verhältnis  (~)m 
fragen;  und  es  ist  klar,  dass  dieses  Verhältnis  aus  den 
Zahlen  ^  und  j^j  auf  eben   dem  Wege  gewonnen  werden 

müsste  wie    (jjm  aus   den  Zahlen  ^   und         Weiter  ist 

sicher,  dass  diese  Zahl  (*)  >  sofern  sie  die  Daten  (-)  und 
'  \a/tn  Vfli/ 

^  in  adäquater  Weise  vertreten  soll,  der  reziproke  Wert  von  {^)m 

sein  müsste.  Denn  fragt  man  einmal:  wie  verhalten  sich 
durchschnittlich  die  «-Werte  zu  den  b- Werten?  und  erhält  zur 

Antwort:  so  wie  der  Zähler  von  (?)    zum  Nenner;  und  fragt 

\oitn 

man  dann:  wie  verhalten  sich  durchschnittlich  die  6-Werte  zu 
den  a -Werten?,  so  muss  die  Antwort  darauf  sein:  wie  der 

Nenner  der  Zahl  (J)     zum  Zähler  —  oder  dieses  ist, 

auch  im  ersten  Falle,  nicht  die  richtige  mittlere  Verhältniszahl. 

Nun  ist  natürlich  das  arithmetische  Mittel  aus  j  und  |, 

7  1 
die  Zahl  ^,  nicht  der  reciproke  Wert  des  Mittels  aus  ^  un^ 

f,  der  Zahl 

Im  allgemeinen  ist  das  arithmetische  Mittel  der  n  Ver- 


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402 


Ernst  Afaüy  und  Rudolf  Anuseder. 


hältniszahlen  g.-  ■  ■  dargestellt  durch  den  Bruch  a*b*b*'  b" 
+  a*bibi.~bn  +  -+a«bxb,-:bn-l  verschieden  von  dem  reziproken 

n  •  0\  0)  •  •  •  ■  Oh 

Werte  des  arithmetischen  Mittels  der  reziproken  Werte  der  n 

Daten,  also  der  Zahlen  -»  welches  dargestellt  ist  durch 

'  ax  a%      an  ° 

den  Bruch  blth<h  "'  a*  +  •••  +  !>***  •••«■  Damit 

/l  •  Q\tt%  '  •  •  Ort 

ist  auch  gezeigt,  dass  es  im  allgemeinen  unrichtig  wäre»  für 
die  Daten  ^  deren  arithmetisches  Mittel  zu  setzen. 

Es  ist  nun  wohl  schon  selbstverständlich,  dass  das  geo- 
metrische Mittel  der  Verhältniszahlen  ^,  von  dem  eben  er- 
hobenen Einwände  nicht  mitbetroffen,  zu  verwenden  sein  wird. 

Also  in  obigem  Beispiele  die  Zahl         2,  deren  reziproker  Wert 

2*3 

J  

i/  i  2  natürlich  gleich  ist  dem  geometrischen  Mittel  der  Zahlen 

Y  2'3   

n  f  ~" 

j  und  |,  nämlich  j^l  3    Und  allgemein  I  /  -L-  T^G)/ 

12  1/     0j  •  02  un 

daher  das  (geometrische)  Mittel  der  Verhältniszahlen  ^  gleich 

Ist  der  Verhältniszahl  des  (geometrischen)  Mittels  der  ß-Werte 
und  des  (geometrischen)  Mittels  der  6-Werte,  oder  die 
mittlere  Verhältniszahl  gleich  der  Verhältniszahl  der 

Durch  diese  Erwägungen  mag  man  sich  bestimmt  sehen, 
die  einzelnen  Ergebniszahlen  je  einer  Versuchsvariation  des 
Lay  sehen  Versuches  durch  ihr  geometrisches  Mittel 
zu  ersetzen.  Wir  wollen  indes  keineswegs  verhehlen,  dass 
durch  das  hier  eingeschlagene  Verfahren  der  Ausschliessung 
bestimmter  anderer  Rechnungsmethoden  in  vollkommen  zu- 


Zugleich  ist  zu  ersehen,  dass 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechlichreib-  Unterrichtes,  403 


reichender  Weise  nur  diese  Ausschliessung  geleistet  und  die 
Brauchbarkeit  des  geometrischen  Mittels  allerdings  e r - 
wiesen,  nicht  aber  auch  zugleich  dargethan  ist,  dass  es 
nicht  irgend  ein  anderes  Rechnungsverfahren  von  noch 
grösserer  Genauigkeit  und  Richtigkeit  der  Repräsentation  der 
Einzeldaten  durch  eine  Zahl  als  sogenannten  „Mittelwert" 
geben  könnte. 

Zugleich  sei  bemerkt,  dass  nicht  die  oben  dargelegten 
Gedanken  zu  dieser  Wahl  des  geometrischen  Mittels  geführt 
haben ;  dass  sie  vielmehr  nachträglich  zusammengestellt 
wurden,  um  auf  möglichst  einfache  Weise  ohne  gewisse,  aller- 
dings sehr  fest  begründete  theoretische  Voraussetzungen  einen 
Satz  zu  legitimieren,  der  aus  diesen  Voraussetzungen  mit  grösster 
Leichtigkeit  eingesehen  werden  kann.  Im  folgenden  seien  die 
mehrgenannten  Voraussetzungen  angedeutet,  nachdem  es  nun 
unseres  Erachtens  gelungen  ist,  unsere  Position  auch  unab- 
hängig von  ihnen  genügend  zu  begründen. 

Zur  Berechnung  der  geometrischen  Mittel  dp,  bfiy  und  bei 
längeren  Reihen  cu,  dM  u.  s.  w.,  dann  insbesondere  der  mitt- 
leren Verhältniszahlen,  J*,  ~-,      z.  B.,  wird  man  sich  natürlich 

°fi     °fl  °ß 

der  Logarithmen  bedienen,  gemäss  der  Gleichung 

1  /  ai  a%...an  _  ]  r  (logai  _j_  logflj  ^  y  logflfl)  _  (logÄl  + 1 

=  j_  T  (log  c,  —  log     +  (log  a,  —  log  £,)+••  1 
n  [  -f-  0og  a«  —  loß  *«)  ] 

Diese  Gleichung  drückt  aus:  dass  der  Logarithmus  des 

geometrischen  Mittels  der  Verhältniszahlen  ^  das  arithme- 
tische Mittel  der  Logarithmen  der  einzelnen  Verhältniszahlen 
jj  ist.    Nun  kann  der  Logarithmus  einer  Verhältniszahl  jt  also 

die  Differenz  loga  —  log  b  mit  Recht  als  ein  Maas  der 
Verschiedenheit  der  Zahlen  a  und  b  angesehen  werden 
—  was  zu  beweisen  hier  eben  nicht  unternommen 
werden    sollte1)  — .     Unsere  Gleichung   besagt   also:  dass 

1)  Wir  begnügen  uns  hier  auf  die  eingehenden  Untersuchungen  zu 
verweisen,  die  diese  Angelegenheit  in  M  e  i  n  o  n  g  s  Schrift  über  die  Bedeu- 


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404 


Ernst  MaUy  und  Rudolf  Amese der. 


das  Mass  der  mittleren  Verschiedenheit  der  variablen 
Daten  a  und  b>  der  log  (ji)^  oder  log  gleich  ist  dem  arith- 

metischen Mittel  aus  den  Masszahlen  der  Verschiedenheiten 
zwischen  je  zwei  Einzeldaten  fl/  und  bt\  oder  kürzer,  aber  etwas 
weniger  genau:  die  mittlere  Verschiedenheit  zwischen  den 
variablen  Daten  a  und  b  ist  das  (arithmetische)  Mittel  der 
einzelnen  Verschiedenheiten  zwischen  den  speziellen  fl/  und  fy. 
Da  es  sich  in  unserem  Falle  gewiss  um  die  Bestimrmmg 
der  mittleren  Verschiedenheit  —  in  diesem  genauen 
Sinne  —  zwischen  den  fl-Ergebnissen  und  ^-Ergebnissen  u.  s.  w. 
handelt,  liegt  es,  auf  Grund  der  angedeuteten  Thatsache  des 
logarithmischen  Verschiedcnheitsmasses  ausserordentlich  nahe, 
eben  das  Rechnungsverfahren  auf  die  Versuchsdaten  anzu- 
wenden, das  dieser  Thatsache  Rechnung  trägt :  also  die  mittlere 
Verschiedenheit  der  Teilversuchs-Daten  (je  zweier  Versuchs- 
Abarten)  zu  rechnen  und  jene  Verhältniszahl,  die  —  nach 
Wahl  der  logarithmischen  Basis  eindeutig  —  dem  Masse 
dieser  mittleren  Verschiedenheit  entspricht,  als  die  mittlere 
Verhältniszahl  zu  betrachten :  diese  ist  eben  das  geometrische 
Mittel  der  einzelnen  Verhältniszahlen.1) 

Indes  giebt  es  zweierlei  Gründe,  die  dieses  sonst  ja  wohl 
gelegentlich  eingeschlagene  Rechenverfahren  gerade  von  der 
Anwendung  auf  den  Lay  sehen  Versuch  auszusch Hessen 
scheinen.  Der  eine  ist  durch  die  Thatsache  gegeben,  dass 
die  Reihen  von  Teilversuchen  mit  sehr  ungleichen  Mengen 
von  Versuchspersonen  vorgenommen  wurden,  daher  als  E  r  - 
gebniszahlen  einer  V ersuchsvariation  nicht  wohl  die 
Fehlersummen  betrachtet  werden  können,  die  bei  den  ver- 
schiedenen Vornahmen  des  betreffenden  Teilversuches  re- 
sultierten, weil  diesen  Daten  sehr  verschiedenes  „Gewicht" 
zukommt.2) 

tung  des  Webersehen  Gesetzes,  als  einer  ersten  Bearbeitung  dieses  Gegen- 
standes, erfahren  hat.    Siehe  insbes.  a.  a.  O.  §  31. 

*)  Für  das  schematische  Beispiel  von  früher,  Tab.  III  und  Tab.  III1, 
erhält  man  so  das  übereinstimmende  Resultat:  3.873  als 
mittlere  Verhältniszahl,  entsprechend  dem  durch  (den  Logarithmus)  0.58805 
gegebenen  Masse  der  mittlem  Verschiedenheit  zwischen  a-Daten  und  b-Daten. 

»)  Vgl.  oben  S.  306  f. 


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405 


Dieses  Bedenken  trifft  natürlich  nicht  das  Wesentliche 
des  Versuches,  sondern  nur  einen  Mangel  in  der  Ausführung 
und  muss  zugleich  mit  diesem  Mangel  entfallen.  Ueberdies 
dürfte  der  Fehler,  der  so  in  die  Rechnungsergebnisse  kommt, 
nicht  allzu  gross  sein;  ja  er  wäre  ganz  zu  vernachlässigen, 
wenn  auch  die  kleinste  der  beigezogenen  Personenmengen  schon 
gross  genug  wäre,  zufällige  Schwankungen  in  den  Fehlerdaten 
genügend  einzuschränken.  Dies  ist  nun  allerdings  hier  kaum 
der  Fall.  Allein  schwerer  wiegt  noch  der  Umstand,  dass  auch 
innerhalb  der  Reihen  die  Personenzahl  nicht  durchaus  fest- 
gehalten oder  doch  annähernd  gleich  gehalten  ist.  Darum 
sind  auch  in  der  unten  folgenden  Umrechnung  der  Lay  sehen 
Ergebnisse  nur  die  „vollständigen  Reihen"  berücksichtigt,  d.  h. 
jene  Reihen,  deren  Teilversuche  sämtlich  unter  möglicher 
Konstanz  der  äusseren  Versuchsbedingungen  —  einschliesslich 
der  Personenmenge  —  vorgenommen  zu  sein  scheinen. 

Die  zweite  Einwendung  ist  mehr  prinzipieller  Natur.  Sie 
richtet  sich  gegen  eine  scheinbare  Inkonsequenz  der  Rechnungs- 
weise, die  darin  liegt,  dass  die  Summe  der  Fehler,  die  je  ein 
Massen-Teilversuch  ergab,  als  Einzeldatum  verwendet  wird,  in- 
dem man  aus  den  Verhältniszahlen  z.  B.  der  fl-Summen  und 

Summen,  den  Zahlen  *  *  das  geometrische  Mittel 

zieht  Bei  gleichbleibender  Personenmenge  rrti  innerhalb  der 
Reihe  /  fallen  natürlich  die  Verhältnisse  der  Summen,  also 

die  Zahlen  rr  zusammen   mit  den  Verhältnissen   der  arith- 

metischen  Mittel  der  Fehlerdaten,  die  von  den  (m{)  einzelnen 

Personen  geliefert  werden,  also  mit  den  Zahlen      .:  Es 

ist  daher  so,  als  würden  aus  den  arithmetischen  Mitteln  der 
Fehlerzahlen,  wie  sie  bei  jedem  Teilversuch  auf  die  Person 
entfallen,  erst  die  geometrischen  Mittel  gezogen.  Dem  gegen- 
über genügt  wohl  die  Bemerkung,  dass  bei  Rechnung  der 
mittleren  Verhältniszahl  jeder  Einfluss  der  Personen- 
menge (/w,)  auf  das  Resultat  ausgeschaltet  ist  —  mit  Aus- 
nahme des  Einflusses,  den  wir  oben  in  der  Verschiedenheit 
des  „Gewichtes"  der  Daten  konstatierten,  der  aber  bei  genügend 
grossem  m  auch  entfällt  — .  Dagegen  mag  wohl  einige  In- 
konsequenz schon  darin  liegen,  dass  statt  der  von  der  einzelnen 


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406 


Ernst  Maüy  und  Rudolf  Arne u  der. 


Person  gelieferten  Fehlerzahl  die  aus  dem  Massenversuch 
resultierende  Fehlersumme  als  einzelnes  a-Datum  (&-Datum  . .  .) 
.verwendet  wird.  In  der  Tat  aber  dürfte  der  Umstand,  dass 
man  sich  zu  dieser  Inkonsequenz  bei  Anwendung  des  geome- 
trischen Mittel  geführt  sieht,  weniger  ein  Argument  gegen  dieses 
Rechnungsverfahren,  als  eines  gegen  die  Anordnung  des  Ver- 
suches bilden.  Aus  den  Fehlerdaten  der  einzelnen  Personen 
kann  das  geometrische  Mittel  nicht  wohl  gezogen  werden,  weil 
unter  diesen  Daten  auch  die  Null  vorkommt,  wodurch  die 
mittlere  Verhältniszahl  null  oder  unendlich  oder  unbestimmt 
würde.  Es  ist  nun  aber  nicht  notwendig  und  sogar  sehr  un- 
wahrscheinlich, dass  der  Fehlerlosigkeit  der  Niederschrift  auch 
die  vollkommene  Erreichung  des  Lernzieles  entspreche.  Als 
solche  wäre  doch  wohl  die  Begründung  eines  ganz  sichern 
und  bleibenden  Könnens  der  betreffenden  Schreibung  zu 
betrachten.  Im  allgemeinen  können  nun  sehr  verschiedene 
Grade  dieses  Könnens  zu  einer  und  derselben  bestimmten 
Fehlerzahl  in  der  Niederschrift  geführt  haben.  Solche 
Fehlerzahlen  bieten  also  nur  einen  sehr  ungenauen  und  im 
Falle  des  Nullfehlers  sogar  gänzlich  versagenden  Massstab  der 
Un Vollkommenheit  der  betreffenden  Rechtschreibdisposition. 

Als  Konsequenz  ergiebt  sich  daraus  eine  Aenderung 
des  Versuchsverfahrens,  der  Art,  dass  etwa  die  Zeiten  ver- 
glichen würden,  die  bei  verschiedenen  Erlernungsarten 
zum  Zustandekommen  gleicher  Arbeitsleistungen  erfordert 
werden.  Als  annähernd  gleiche  Leistung  könnte  dann 
schon  z.  B.  das  Erreichen  einer  eben  fehlerlosen  Repro- 
duktion in  der  Niederschrift  gelten.  Sicher  sind  in  den 
Erlernungszeiten  Vergleichs  -  Gegenstände  geboten,  deren 
keiner  jemals  null  werden  kann.  Solange  indes  derartige 
Messungen  ausstehen,  mag  man  immerhin  eine  rechnerische 
Verwertung  der  gegenwärtig  verfügbaren  Daten  für  gerecht- 
fertigt halten,  wenn  es  dabei  auch  nicht  ohne  einige  Anr 
passung  des  Rechnungsvorganges  an  Unvollkommenheiten  der 
Daten  abgeht.  Eine  solche  „Anpassung"  ist  eben  die  Verwen- 
dung der  Fehlersummen  der  Massen-(Teil-) Versuche  als  Einzel- 
daten; sie  ist  durch  die  oben  genannte  Ungenauigkeit  des 
Leistungsmasstabes,  den  die  Fehleranzahl  bietet,  bedingt.  Das 
Fehlerhaftigkeits-Mass,  das  in  der  Fehleranzahl  gegeben  ist, 


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Zur  experimentellen  Begründung  dei  Rechtschreib-UnterrichUs.  407 


erfährt  eine  Korrektur,  indem  statt  des  Fehlerergebnisses  der 
einzelnen  Person  das  Fehlerergebnis  einer  ganzen  Menge  von 
Personen  verwendet  wird,  also  eine  Fehlersumme,  die  gross  ge- 
nug ist,  dass  man  ihr  gegenüber  Unrichtigkeiten  der  Fehler- 
daten der  einzelnen  „vernachlässigen"  kann. 

In  dem  hier  angedeuteten  Sinne  haben  wir  eine  Umrech- 
nung der  Lay  sehen  Resultate  unternommen.  Nicht  um  betreffs 
des  Untersuchungsobjektes  irgend  etwas  zu  erweisen;  sondern 
nur  um  zu  ermitteln,  was  sich  etwa  aus  den  gegenwärtigen 
Daten  —  gleichviel  auf  welchem  Versuchswege  sie  in  anfecht- 
barer oder  einwandfreier  Weise  gewonnen  sind  —  bei  einem 
verlasslichen  Rechnungsverfahren  mit  eiuiger  Sicherheit  über- 
haupt schliessen  lassen  möchte. 

Zu  diesem  Zwecke  wurde  auch  die  „mittlere  Variation"  der 
Ergebniszahlen  bestimmt,  und  zwar  folgendennassen.  *) 

Es  seien  qx,  q„  —  q„  die  Logarithmen  der  Verhältniszahlen 
%  '  "'S  aus  ^en  ^e^en  1>  2,  •  •  •  fl;  p/u  sei  der  Logarithmus  der 
mittlem  Verhältniszahl        also  das  arithmetische  Mittel  der 
Zahlen  q.    Dann  misst  qx— q/i  die  Verschiedenheit  zwischen 
a~  und  ^>  allgemein  Qi  —  Q/i  die  Verschiedenheit  zwischen  j 

und  t--    Die  Summe  der  absoluten  Beträge  dieser  Logarithmen- 

n 

Differenzen   2\Qt-QM\  ist  das  Mass  der  gesamten  Abweichung 

der  einzelnen  &  vom  mittlem  zugleich  das  Mass  der  ge- 
samten Verschiedenheit  der  ^  von  Dementsprechend  ist 

das  arithmetische  Mittel  der  absoluten  Beträge  dieser  Differenzen 
«=«=  —  •  2\qi—  Qfi\%  das  Mass  der  mittlem  Verschiedenheit  des 


einzelnen  ^  vom  mittlem  Diese  Zahl  u  gibt  also  an,  wie 

')  In  der  folgenden  Darstellung  wird  allerdings  von  der  hier  nicht 
bewiesenen  Thatsache  des  logarithmischen  Verschiedcnheitsmasses  Gebrauch 
gemacht;  aber  nur  zum  Zwecke  der  Darstellung,  deren  Ergebnis  auch  ohne 
Rücksicht  auf  diese  Thatsache  klar  wird. 


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408 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Anuseder. 


gross  durchschnittlich  die  Verschiedenheit  zwischen  dem 

a, 

Repräsentanten  der  Zahlen   ^,  und  diesen  selbst  ist    Nun  ist 

a  u 

die  Verschiedenheit  zwischen  einer  Angabe  —      —  und  dem, 

was  durch  sie  vertreten  sein  soll  —  hier  das  variable  ^  —  das- 
jenige, was  exakterweise  unter  der  „Ungenauigkeit"  dieser  An- 
gabe gedacht  wird,  daher  die  Zahl  u  ein  Mass  der  mittlem 

a, 

Ungenauigkeit  der  Vertretung  der  Zahlen  y  durch   die  Zahl 

jj-.  Dieser  Zahl      als  einer  Logarithmen-Differenz,  entspricht 

eine  Verhältniszahl,  der  „Numerus"  von  etwa  U}  die  angiebt 
dass  sich  die  einzelnen  durch  den  Versuch  gefundenen  Ver- 

hältniszahlen  -v-  zur  mittlem,-^,  die  als  Endresultat  erscheint, 

durchschnittlich  so  verhalten  wie  (/  zu  1  oder  wie  1  zu  £/.') 
Die  Tabellen,  denen  wir  zum  Zwecke  der  eben  be- 
schriebenen Umrechnung  die  Werte  entnahmen,  sind  aus  den 
von  Fuch  s2)  nachgerechneten  Lay  sehen  gewonnen,  und  zwar 
mit  Weglassung  der  unvollständigen  Reihen.3)  So  enthält 
Tabelle  IVA  die  Daten  des  XVI.  bis  (einschliesslich)  XXIII. 
(vollständigen)  Versuches  mit  Volksschülern,  nach  der  mit 
Lays  Versuchs- Protokoll4)  übereinstimmenden  Zählung  von 
Fuchs;  die  Tabelle  IV  B  die  Daten  der  (vollständigen)  Ver- 
suche 27,  30  und  32  mit  Seminaristen.6) 


1)  Dieser  letzte  Satz  enthält  das  Ergebnis  der  hier  vollzogenen  Ab- 
leitung der  sonst  vielfach  angewendeten  „mittlem  Variation",  das  auch  ohne 
die  „relationstheoretischen"  Besonderheiten  dieser  Ableitung  gewiss  ein- 
wandfrei gewonnen  ist  •  -  ohne  dass  wir  deshalb  die  Fassung  des  ..Unge- 
nauigkcits"-Gedankens  und  die  Bezugnahme  auf  Verschiedenheit  für  über- 
flüssig hielten. 

2)  S.  49  f.  seiner  Abhandlung. 

»)  Dies  aus  bekannten  Gründen.   Vgl.  oben  S.  386  f. 
*)  a.  a.  O.    1.  Aufl.  S.  103  ff. 

5)  Die  Tabellen  sind  diesmal,  teils  der  besseren  Uebersicht  halber,  teils 
auch  aus  technischen  Gründen,  den  früher  (S.  395  f.)  reproduzierten  Lay- 
schen  gegenüber  derart  umgeordnet,  dass  die  Horizontalreihen  („Zeilen"! 
von  früher  zu  Vertikalreihen  (..Kolumnen")  geworden  sind. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-Unterrichtes. 


409 


Unter  der  letzten  Zeile  von  Versuchs-Daten  sind  in  der 
nächsten  Zeile  die  arithmetischen  Mittel  der  darüber  stehenden 
Kolumnen  «enthalten,  als  jene  mittleren  Ergebnisse  der  einzelnen 
Teilversuchsarten,  die  sich  nach  Layschem  Verfahren  aus 
den  hier  berücksichtigten  Versuchen  ergeben  hätten.  Zur 
Vergleichung  sind  darunter  die  auf  gleichem  Wege  aus  sämt- 
lichen Versuchen  —  mit  Einschluss  der  unvollständigen  — 
zu  gewinnenden  Daten1)  ersichtlich  gemacht,  und  darunter  die 
von  Lay  auf  diesem  Wege  errechneten,  meist  —  wie  schon 
bemerkt  —  etwas  fehlerhaften  Werte.  Die  nächste  Zeile  ent- 
hält die  von  uns  berechneten  geometrischen  Mittel  — 
aus  den  Versuchsdaten  der  bezüglichen  Kolumnen  natürlich.  — 
Die  folgende  Zeile  bringt  die  mittleren  Verhältniszahlen,  die 
man  bei  Division  eines  jeden  Teilversuchs-Ergebnisses  durch 
das  Ergebnis  des  Teilversuches  IV  (Abschreiben)  der  gleichen 

Reihe  erhalt,  entsprechend  den  Zahlen  y-,  y-,  ....  unseres 

schematischen  Beispieles,  —  wobei  für  das  mittlere  Er- 
gebnis des  Teilversuches  IV  (Abschreiben)  gesetzt  ist,  für 
Cfi .  . .  .  die  mittleren  Ergebnisse  der  übrigen  Versuchsvaria- 
tionen Ia,  Ib,  Ic,  IIa  ...  .  bis  III  — .  Damit  sind  also  die 
mittleren  relativen  Fehlerergebnisse  der  einzelnen  Versuchs- 
variationen angegeben,  bezogen  auf  das  mittlere  Ergebnis  der 
Versuchsart  mit  Abschreiben,  IV,  als  Einheit  der  Fehlermenge. 
Das  sind  die  Werte,  deren  Gewinnung  den  Versuchszweck 
bildete:  man  wollte  wissen,  wievielmal  grösser  die  Fehlerzahl 
jeder  der  übrigen  Versuchsvariationen  ist  als  die,  nach  Lay's 
Behauptung  kleinste  des  Teilversuches  mit  Abschreiben. 
Endlich  haben  wir  in  der  vorletzten  Zeile  die  Zahlen  U 
ersichtlich  gemacht,  die  angeben,  in  welchem  Verhältnisse 
durchschnittlich  die  darüber  stehende  mittlere  Verhältniszahl 
zu  den  Einzeldaten  steht,  woraus  sie  gezogen  ist  —  also  die 
„mittlere  Variation"  im  Sinne  des  geometrischen  Mittels  — . 
Auf  Grund  des  jeweiligen  Wertes  von  U,  der  einer  grösseren 
oder  kleineren  Ungenauigkeit  (u)  der  Repräsentation  der 
Einzeldaten  durch  ihr  Mittel  entspricht,  mag  man  ersehen, 
dass  die  „abgerundeten"  Angaben  der  letzten  Zeile  jedenfalls 


1 )  wie  sie  die  Tabelle  von  F  u  c  h  s  a.  a.  O.  S.  49.  bezw.  50  bringt. 


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410  Erna  Mally  und  Rudolf  Amtsc der. 


Tabelle  IV  A 


vollst.  Versuch 
(Reihe) 

Teil  versuch 

1  Ia 

Ib 

Ic 

IIa 

!  _  ._ 

Hb 

nc 

in 

IV 

XVI. 

xvn. 

XVIII. 
XTX. 
XX. 
XXI. 

xxn. 
xxm. 

j  6.98 

:  D.o  1 

3.25 
4.75 
2.24 
3.50 
2.66 
;  2.67 

4.91 

A 

3.28 
4.74 
2.44 
4.44 
3.30 
3.15 

5.13 

A  Ol 

2.47 
2.81 
2.49 
2.98  j 
2.21 
3.35  ' 

;  2.02 

1  AA 

j  0.69 
1  2.24 

1.68 
j  2.19 

1.34 
;  2.01 

2.00 

1  77 
1 .  / 1 

0.82 
2.35 
1.09 
1.60 
1.70 
1.84 

2.36 

1  AI 
I.Ol 

1.20 
1.53 
0.95 
2.46 
0.97 
1.47  ' 

2.73 

1  .DU 

0.73 
1.03 
1.14 
|  2.51 
1  1.24 
1.42 

0.92 

0.17 
0.87 
0.74 
1  0.46 
1  0.49 
0.52 

arith.  Mittel 
(aus  d.  vollst.  Vers.) 

4.49 

3.85 

3.21 

1.70 

1.64 

1.58 

1.55 

0.59 

arith.  Mittel 
(aus  allen 

'  Vers.) 

nach 
Puchs 

4.55 

3.96 

3.44 

1.84 

1.65 

1.62 

1.61 

0.64 

nach 

4.54 

3.83  j  3.26 

1.82 

1.60 

1.59 

1.59 

'  0.70 

geom.  Mittel 

3.70 

3.75 

3.09 

1.61 

1.57 

1.50 

1.42 

053 

mittlere 
Verhältniszahlen 

6.96 

7.05 

5.81 

3.02  |  2.97 

2.83 

2.67 

1 

i 

U              !  1.50 

1.45 

1.43 

1.36 

132 

1.54 

1.42 

mittlere  Verh.-  \< 
Zahlen,  abgerundet  |l  ? 

7 

6 

3 

i » 

3 

3 

l 

 Tabelle  IV  B. 

vollständ- Versuch  Tel 


(Reihe) 

Ia 

Ib 

Ic  | 

na 

Hb  nc 

. 

in 

IV 

27 
30 
32 

2.67 
1.87 
1.67 

238 
1.97 
1.96 

1.85 
1.74 
1.48 

.  0.77 
i  0.56 
1.15 

0.77 
0.43 
0.48 

0.43 
0.46 
0.59 

0.15  | 

0.59 

0.55 

0.43 
0.33 
0.55 

arith.  Mittel 
(aus  d.  vollst.  Vers.) 

2.07 

2.10 

1.69 

0.83 

0.56 

■  -  -  ■ 
0.49 

0.43 

0.44 

arith.  Mittel 
(ans  allen 
Vers.) 

nach 
Fuchs 

1.56 

1.57 

1.24 

0.64 

0.46 

033 

0.47  ! 

i 

038 

nach 

Lay  .  : 

!  1.55 

1.56 

1.24 

0.63 

0.45 

032 

0.46  | 

038 

Geom.  Mittel  2.03 

2.09 

1.68  [  0.79 

0.54 

0.49  !  0.37  ! 

Ö.43 

mittlere 
Verhältniszahlen 

4.75 

4.90 

3.94 

1.85 

1.27 

1.14 

i 

1  0.85 

1 

U 

135 

1.24 

1.29 

1.08 

1.28 

1.14 

1.47 

. .  ... 

Mittlere  Verhältnis- 
zahlen, abgerundet 

5 

5 

4 

1.9 

1 

1  1 

1 

1 

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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechlschreib-Unterrichtes.  411 

nicht  weniger  bieten,  als  sich  aus  den  „genauen!"  Werten  ihrer 
Verlässlichkeit  zufolge  mit  einiger  Sicherheit  schliessen  lässt 
—  besser  gesagt,  was  sich  daraus  schliessen  Hesse,  wenn  man 
für  den  Augenblick  Anordnung  und  Ausführung  der  in  Be- 
tracht gezogenen  Versuche  selbst  als  völlig  einwandfrei  an- 
nähme. 

Einen  weiteren  Gegenstand  dieses  Kapitels  hat  auch  die 
Art  und  Weise  zu  bilden,  wie  die  Fehlergezählt  werden,  die 
eine  Versuchsperson  in  einer  Prüfungs-Niederschrift  begangen 
hat.  Unser  Autor  bringt  jede  Abweichung  der  Niederschrift  vom 
Originale,  die  etwa  bei  einem  „Dictando"-Schreiben  in  der  Schule 
als  Fehler  gelten  würde,  auch  als  solchen  in  Anschlag.  Die 
Unterscheidung  von  „Hauptfehlern"  und  „kleinen"  Fehlern* 
oder  wie  sonst  das  grössere  oder  geringere  Gewicht  einer  Ab- 
weichung bezeichnet  werden  mag,  ist  nicht  beibehalten;  sondern 
es  zählt  im  allgemeinen  jede  Abweichung  als  ein  Fehler.  — 
Allerdings  mit  einer  Ausnahme,  die  gleich  zu  besprechen  sein 
wird.  —  Ob  durch  diese  Gleichbehandlung  verschieden  grosser 
Fehler  eine  bedeutendere  Ungenauigkeit  in  die  Resultate 
gekommen  ist,  als  die,  namentlich  bei  sinnlosem  Wortmaterial, 
nur  in  sehr  unexakter  Weise  durchführbare  Schätzung 
der  verschiedenen  Fehlergrössen  mit  sich  gebracht  hätte,  ist 
sehr  fraglich  und  wohl  von  vornherein  wenig  wahrscheinlich. 
Schwereren  Einwänden  ausgesetzt  dürfte  daher  ein  Ver- 
such des  Autors  sein,  in  einem  Falle  —  eben  dem  angedeuteten! 
Ausnahmefalle  —  doch  das  Gewicht  des  Fehlers  durch 
Schätzung  zu  bestimmen.  Es  kommen  nämlich  in  den  Nieder- 
schriften der  Schüler  nicht  nur  Abweichungen  vom  Originale 
durch  Entstellen  oder  Umstellen  und  Auslassen  einzelner  Buch- 
staben vor,  sondern  auch  Auslassungen  ganzer  Silben,  oder 
des  grösseren  Teils  einer  Silbe,  oder  endlich  ganzer 
Wörter.  Eine  derartige  Auslassung  ist  natürlich  auch  ein 
Fehler,  aber  je  nach  der  Menge  des  Weggelassenen  im 
Verhältnis  zum  Original  ein  schwererer  oder  minder  schwerer 
Fehler.  Dem  Experimentator  kommt  es  nun  mit  Recht  nicht  so 
sehr  auf  das  Gewicht  der  Auslassung  selbst  —  ab  einer  eigenen 
Spezies  von  Fehlern  —  an,  als  vielmehr  auf  die  Anzahl  der 
orthographischen  Fehler  in  der  Niederschrift,  zu  denen 


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412 


Ernst  Afatly  und  Rudolf  Amcseder. 


das  Vergessen  einer  Silbe  oder  eines  Wortes  sicher  nicht 
gehört.  Allein,  wenn  der  Schüler  von  einer  Reihe  von  Wörtern 
einen  Teil  vergessen  hatte,  so  blieb  ihm,  in  den  übrigen 
Wörtern,  gewiss  weniger  Gelegenheit,  noch  orthographische 
Fehler  zu  begehen;  um  so  weniger,  je  mehr,  er  vergass.  Die 
Fehlerzahl  im  reproduzierten  Rest  giebt  also  ein  um  so  weniger 
genaues  Mass  der  Fehlerchancen,  die  ein  bestimmtes  Wort- 
material unter  bestimmten  Versuchsbedingungen  bietet,  je  mehr 
Auslassungen,  also  nicht-„orthographische"  Fehler,  begangen 
wurden.  Indem  also  der  Autor,  berechtigterweise,  annimmt, 
dass  im  nicht  niedergeschriebenen  Teile  der  Wortreihe,  im 
Falle  der  Reproduktion,  höchst  wahrscheinlich  auch  Fehler 
vorgekommen  wären,  sucht  er  deren  wahrscheinliche  Anzahl 
zu  ermitteln;  und  zwar  aufgrund  einer  Hilfshypothese,  der 
zufolge  die  relative  Häufigkeit  der  Fehler  auch  im  nicht  re- 
produzierten Teile  gleich  wäre  ihrer  relativen  Häufigkeit  im 
reproduzierten  Teile  des  Materials  —  sehr  einfach,  durch  Auf- 
lösung einer  Proportion. 

Nun  ist  die  Annahme  einer  solchen  durchgehenden 
Proportionalität  von  Buchstabenzahl  —  oder  Silbenzahl  — 
und  Fehlerzahl  eine  mehr  einfache  als  unbedenkliche  Sache. 
Es  liegt  zum  mindesten  nahe  zu  vermuten,  dass  zwischen  fehler- 
haftem Niederschreiben  aus  dem  Gedächtnis  und  totalem  Ver- 
gessen eines  Wortes  oder  einer  Silbe  noch  eine  Anzahl  von 
Zwischenstufen  immer  schlechter  und  ungenauer  vollzogener 
Reproduktion  liegen,  die  dem  Schüler  eben  zu  ungenau  war, 
als  dass  er  eine  Niederschrift  noch  für  besser  gehalten  hätte 
denn  das  einfache  Weglassen  des  so  mangelhaft  Erinnerten. 
Jede  dieser  Zwischenstufen  von  Erinnerungsbildern  aber  hätte 
wohl  erheblich  mehr,  auch  an  „orthographischen"  Fehlern, 
aufgewiesen  als  ein  noch  niedergeschriebener  Komplex  von 
gleichviel  Buchstaben  durchschnittlich  enthielt.  Für  rich- 
tiger und  mindestens  für  weniger  willkürlich  wird  man 
es  halten,  wenn  wir  für  solche  Fälle,  wo  Auslassungen 
vorkommen,  aber  in  ihrer  Eigenschaft  als  besondere  Gattung 
von  Fehlern  nicht  in  Betracht  zu  ziehen  sind,  vorschlagen, 
nur  die  tatsächlich  begangenen  Fehler  von  der  zu  berück- 
sichtigenden Art  zu  zählen  und  das  Verhältnis  ihrer  Anzahl 
zur  Anzahl  der  überhaupt  reproduzierten  Elemente  als  ein  Mass 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-Unterrichtes. 


413 


der  Fehlerhaftigkeit  der  Reproduktion  zu  verwenden.  —  Das 
radikalste  Mittel  ist  freilich,  durch  ein  entsprechendes  Versuchs- 
verfahren dafür  zu  sorgen,  dass  Auslassungen  gar  nicht  vor- 
kommen. —  Diktieren  der  Prüfungsniederschrift.  — 

c.  Die  Folgerungen. 

Wenn  bisher  mitunter  auch  von  psychologischen  Dingen 
die  Rede  war,  so  geschah  es  doch  nur  von  einem  Gesichts- 
punkte aus,  den  man  nicht  unpassend  als  den  versuchs- 
technischen bezeichnen  könnte.  Nun  verlassen  wir  diesen 
Standpunkt,  um  uns  der  psychologischen  Hauptfrage 
des  Experimentes  zuzuwenden.  Sie  lässt  sich  einfach  genug 
formulieren :  Was  ist  Untersuch un gsgegenstand; 
und  wie  weit  ist  er  durch  das  Experiment  er- 
forscht worden? 

Der  erste  Teil  der  Frage  ist  schon  mehr  als  einmal 
in  der  etwas  summarischen  Weise  beantwortet  worden, 
dass  man  meinte:  es  ist  zu  untersuchen,  welches  die 
beste  Methode  des  Rechtschreibunterrichtes  sei.  —  Was  es 
an  dieser  Aufgabestellung  denn  doch  noch,  vor  Eintritt 
in  die  experimentelle  Ausführung,  mehr  und  genauer  zu  prä- 
zisieren geben  mag,  ausser  der  Bestimmung  der  „besten 
Methode"  als  der  am  wenigsten  fehlerhafte  und  am  meisten 
dauerhafte1)  Ergebnisse  liefernden  —  das  hoffen  wir  im  künf- 
tigen positiven  Teil  unserer  Arbeit  einigermassen  zu  erbringen.2) 

>)  Wir  haben  den  Teil  der  Lay  sehen  Experimente,  der  sich  speziell 
die  Untersuchung  der  Lernergebnisse  auf  ihre  Dauerhaftigkeit  an- 
gelegen sein  lässt,  unbesprochen  gelassen  und  werden  in  gleicher  Weise 
bei  den  zwei  nächsten  Autoren  verfahren,  die  auch  in  dieser  Richtung 
experimentiert  haben.  Als  Entschuldigung  glauben  wir  anführen  zu  können: 
einmal  die  mehr  sekundäre  Bedeutung  solcher  Experimente,  die,  in  der  Art  der 
Hauptversuche  angelegt,  nicht  sehr  wahrscheinlich  —  wenn  auch  durchaus 
nicht  unmöglich  —  zu  wesentlich  abweichenden  Ergebnissen  führen  dürften; 
und  dann  die  dementsprechend  auch  etwas  sekundäre  Stellung,  die  sie  in  der 
Anlage  der  betreffenden  Arbeiten  einehmen  —  mit  Recht,  so  lange  wir  noch  so 
im  Anfange  der  Untersuchung  stehen,  dass  es  als  ein  recht  befriedigendes 
Resultat  gelten  muss,  wenn  durch  das  Experimentieren  nur  ein  brauch- 
bares Verfahren  ermittelt  wird  und  sonst  einstweilen  nichts. 

a)  Soviel  ist  wohl  im  voraus  klar,  dass  unsere  Aufgabe  eine  klare  psycho- 
logische, namentlich  dispositions-psychologische  Fassung  erfordert  und  schon 

Zeltschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  3 


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414 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Anuseder. 


Hier  sei  der  zweite  Teil  unserer  Frage  in  Angriff  ge- 
nommen: Wieviel  ist  zur  Lösung  der  so  summarisch  ge- 
stellten Aufgabe  durch  das  Experiment  beigetragen  worden? 

Die  Absicht  des  Experimentators  war:  durch  die  Ver- 
schiedenheiten, die  sich  zwischen  den  Fehlerergebnisscn  der 
Versuchsvariationen  durchschnittlich  ergeben,  einen  Einblick 
in  die  Verschiedenheiten  ihrer  unterrichtsmethodischen  Ver- 
wendbarkeit zu  gewinnen.  —  Die  Daten  hat  er  aufgestellt  — 
wie  weit  sie  richtig  oder  unrichtig  sein  mögen,  haben  die 
zwei  vorangehenden  Abschnitte  zu  zeigen  versucht  — 
Schlüsse  hat  er  daraus  eigentlich  nicht  gezogen:  er  fand 
alles  durchaus  und  „ohne  Ausnahme"1)  bestätigt,  was  er 
an  theoretischen  Vormeinungen  und  an  praktischen  Erwar- 
tungen zur  Untersuchung  schon  mitgebracht  hatte.2)  Trotz- 
dem wird  man  es  nicht  für  überflüssig  halten  dürfen, 
sich  selbst  ein  Urteil  darüber  zu  bilden,  was  denn  Ver- 
schiedenheiten der  Fehlerergebnisse  bei  den  verschiedenen  Ver- 
suchsvariationen für  diese  bedeuten,  ja  überhaupt  bedeuten 
können.  —  Dabei  ist  es  gegenwärtig  ohne  Interesse,  ob 
solche  Verschiedenheiten   durch  den  Versuch   auch  immer 


durch  diese  allein  einer  genügenden  Lösung  wesentlich  näher  gebracht  würde 
—  jedenfalls  mehr  als  durch  physiologische  Erwägungen  über  „Gehör-,  Ge- 
sichts-, Bewegungs-  und  Begriffs-Centren".  Ausserdem  scheint,  was  sich  be- 
sonders im  Abschnitte  b  der  gegenwärtigen  Untersuchung  merkbar  gemacht 
haben  mag,  die  Natur  des  zu  behandelnden  Gegenstandes  geradezu  auf  eine 
Untersuchungsmethode  hinzudrängen,  die  ihn  als  einen  Fall  psychischer 
Arbeit,  nicht  nur  gleichnisweise,  sondern  mit  aller  Exaktheit  mathematisch- 
physikalischer Betrachtungsweise,  auffasstc  und  experimentell  erforschte. 
Etwa  im  Sinne  der  äusserst  fruchtbaren  Gedanken,  die  H  ö  f  1  e  r  in  seiner 
Abhandlung  über  „Psychische  Arbeit"  (Zeitschr.  f.  Psychol.,  Bd.  VIII,  18951 
teils  entwickelt,  teils  anregt.  Allerdings  ist  —  trotz  der  nun  bald  zehn 
Jahre,  die  seit  Veröffentlichung  dieser  Arbeit  verflossen  sind  —  die  Psychologie 
heute  wohl  kaum  schon  imstande,  die  genannte  Forschungsmethode  mit  voll- 
kommen befriedigendem  Erfolge  an  einer  Aufgabe  zu  erproben,  die  sie  sich 
nicht  selbst  mit  allen  erwünschten  Vereinfachungen  gestellt,  sondern  die  sie 
mit  aller  Kompliziertheit  von  der  Praxis  des  Lebens  vorgegeben  erhalten 
hat.  — 

1)  a.  a.  O.    1.  Aufl.  S.  102,  2.  Aufl.  S.  91. 

J)  Wir  haben  es  im  Abschnitte  a.  am  Anfange,  der  Hauptsache  nach 
angeführt. 


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y.ur  e.xpertrnentelUn  Begründung  tics  Rech  (schreib- Unterrichtes. 


415 


mit  genügender  Wahrscheinlichkeit  richtig  konstatiert  worden 
sind.  — 

Die  Versuche  mit  Hören  (I)  und  Sehen  (II)  werden  in 
drei  Variationen  vorgenommen :  ohne  Sprechen  (a),  mit  leisem 
Sprechen  (b),  mit  lautem  Sprechen  (c).  Bei  b  soll  zum  Hören, 
beziehungsweise  Sehen  (d.  h.  Lesen)  die  Sprechbewe- 
gungsvorstellung  hinzukommen ;  eine  Verschiedenheit  im 
Ergebnisse  gegenüber  dem  bezüglichen  Versuche  ohne 
Sprechen  soll  zeigen,  welchen  Einfluss  eben  diese  hinzu- 
kommende Sprechbewegungs  -  Vorstellung  auf  das  Fehler-Er- 
gebnis hat.  Es  ist  freilich  leicht  einzusehen,  dass  in  den  Ver- 
suchen a  zwar  mit  ziemlicher  Sicherheit  die  äussere  Sprech- 
bewegung, nicht  aber  auch  die  Sprechbewegungs- Vorstellung} 
ausgeschlossen  ist.  Solche  Ausschliessung  ist  eben  nicht  zu 
leisten  und  dürfte  vom  Experimentator  wohl  auch  nicht  eigent- 
lich angestrebt  sein.  Immerhin  ist  durch  die  Versuchsvariation 
b  die  genannte  Vorstellung  zu  grösserm  Gewicht  und  Ein- 
fluss gebracht,  als  sie  in  a  hatte.  Nur  leider  wirkt  dieset 
ihr  Einfluss  so  wenig  rein  und  allein,  dass  man  vielmehr  sagen 
muss,  er  spiele  neben  anderen  wahrscheinlich  nur  eine  minder 
bedeutende  Rolle.  Denn  in  den  Versuchen  a  ist  die  Zurück- 
drängung der  Sprechbewegungs  -  Vorstellung  dadurch  zu  er- 
reichen gesucht  worden,  dass  den  Schülern  aufgetragen  war, 
den  Mund  fest  geschlossen  zu  halten.  Viele  Personen,  und  be- 
sonders jugendliche,  haben  die  Gewohnheit,  etwas  neu  Ge- 
hörtes oder  zu  Lesendes,  namentlich  wenn  sie  grosse  Auf- 
merksamkeit darauf  wenden,  lautlos  oder  mehr  oder  minder  laut 
mitzusprechen.  Diesen  Personeh  war  (in  a)  eün  Zwang  auf- 
erlegt, etwas  Gewohntes  zu  unterlassen.  Ein  gut  Teil 
Spannung  der  Aufmerksamkeit  musste  wohl  der  Arbeit  des 
willkürlichen  Mundverschlusses  und  seiner  Kontrolle  zuge- 
wendet und  dafür  der  Hauptaufgabe,  dem  Merken  auf  die 
Wörter,  entzogen  werden.  Für  diese  Gruppe  der  „Motoriker", 
wie  man  sie  zu  nennen  liebt,  bedeutete  also  die  Versuchs- 
variation a  eine  unnatürliche  erschwerende  Bedingung  des 
Lernens;  dafür  gewährte  ihnen  der  Uebergang  zu  b  (und 
vielleicht  auch  c)  eine  Erleichterung  der  Aufgabe,  wenn  man 
wieder  von  dem  anfangs  Ungewohnten  absieht,  dass  sie 
etwas  auf  Befehl  und  mit  Willen  tun  mussten  —  nämlich 

3* 


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416 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Amt u der. 


mitsprechen  —  was  sich  ihnen  sonst  ganz  „von  selbst"  ein- 
zustellen pflegte.  Nun  aber  giebt  es  —  und  gewiss  auch 
schon  unter  den  Schülern  —  Personen,  die  ein  derartiges  Mit- 
sprechen nicht  gewohnt  sind.  Bei  ihnen  war  die  Sachlage 
umgekehrt:  erst  mussten  sie  mit  Willen  eine  Vorkehrung 
gegen  das  Sprechen  mitmachen,  die  bei  ihnen  überflüssig  war; 
dann  mussten  sie  auf  Befehl  ein  Nichtgewohntes  tun:  mit- 
sprechen. Das  gab  wieder  in  beiden  Fällen  eine  Ablenkung. 
Doch  ist  Hier  zu  vermuten,  dass  Gewöhnung  an  die  Versuchs- 
Umstände  a  eher  und  leichter  erfolgte,  weil  nach  den  ersten 
Versuchen  schon  die  suggestive  aufmerksamkeitssteigernde 
Wirkung1)  des  Auftrages,  den  Mund  geschlossen  zu  halten, 
durch  die  Erfahrung  ausgeschaltet  werden  mochte,  dass  es 
ohne  Willensanstrengung  „auch  gehe". 

Der  resultierende  Erfolg  aller  dieser  Faktoren  dürfte  sein : 
bessere  Ergebnisse  von  a  bei  Nicht-„Motorikern",  bessere  Er- 
gebnisse von  b  bei  „Motorikern".  Natürlich  ist  in  keiner  Weise 
von  vornherein  abzusehen,  inwieweit  diese  Gruppenergebnisse 
sich  im  Massenresultat  kompensiert  haben  mögen.  —  Tat- 
sächlich weisen  die  bezüglichen  Daten  durchaus  keine  ent- 
schiedene Verschiedenheit  auf.  —  Jedenfalls  erscheint  es 
einigermassen  gewagt,  das,  was  der  Ausdruck  so  vieler 
psychischer  Vorgänge  ist,  ohne  weiteres  dem  einen  Ein- 
fluss  der  Sprechbewegungs-Vorstellung  zuzuschreiben.2) 

Diese  Erwägungen  Hessen  sich  natürlich  noch  sehr  ver- 
feinern und  vor  allem  vervollständigen,  indem  berück- 
sichtigt würde,  was  die  objektiven  Versuchsbedingungen  a  und 
1)  bei  Hören  und  Lesen  für  Personen  des  vorwiegend 
„akustischen"  und  solche  des  „visuellen"  Typus  Verschiedenes 
zu  bedeuten  haben,  und  wie  sie  nicht  nur  direkt  auf  ihr  in- 
tellektuelles, sondern  auch  zunächst  auf  ihr  emotionales  Ver- 
halten —  im  Sinne  der  Willensbeeinflussung  —  und  dadurch 

J)  Vgl.  Höfler,  Psychische  Arbeit,  S.  14  f.  des  Sonder- Abdruckes. 

2)  Dazu  kommt,  —  was  uns  im  gegenwärtigen  Zusammenhange  nicht 
speziell  zu  beschäftigen  hat  —  dass  die  bezüglichen  Verschiedenheiten  zwi- 
schen a-Daten  und  b-Daten,  wenn  sie  überhaupt  aus  den  Versuchen  zu 
konstatieren  sind,  im  entgegengesetzten  Sinne  ausgefallen  sind,  als  sich  bei 
Lays  Rechnungsverfahren  zu  ergeben  schien.   Vgl.  oben  S.  410,  Tab.  IV. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-UnterrkhUs. 


417 


wieder  indirekt  auf  das  intellektuelle  Verhalten  verschieden 
wirken  mögen. 

Diese  theoretische  Zurückhaltung  gegenüber  dem  Schlüsse 
auf  die  Wirksamkeit  der  Sprechbewegungs- Vorstellung  soll  je- 
doch nicht  hindern  anzuerkennen,  dass  unter  normalen 
Verhältnissen  das  Sprechen  eines  Wortes  oder  Satzes  für 
dessen  „Merken"  in  der  Regel  vom  besten  Einflüsse  sein, 
dürfte.  Nur  wird  daran  nicht  —  oder  nur  zum  geringen  TeiL 
und  dann  indirekt  —  die  Bewegungsvorstellung  schuld 
sein.  Solche  normale  Verhältnisse  aber  waren  durch  die 
besprochenen  Versuche  nicht  dargeboten.  Gerade  das  „leise 
Sprechen"  (in  b),  das  man  wohl  richtiger  als  stumme  Bewegung 
der  Sprachorgane  bezeichnen  wird,  ist  etwas  wenig  Normales, 
da  jeder  Schüler  sich  dabei  kontrollieren  musste,  ob  er  auch  nicht 
laut  werde  oder  nicht  andererseits  die  Bewegung  ganz  unter- 
lasse. Dieses  Anormale  entfällt  bei  den  Teilversuchen  c :  Hören, 
beziehungsweise  Lesen  mit  lautem  Sprechen.  Hier  sind  auch 
tatsächlich  —  wenigstens  bei  Hören  entschieden  —  die  Fehler- 
zahlen geringer  geworden.  Allerdings  musste  auch  hier  etwas 
störend  mitwirken,  nämlich  der  Umstand,  dass  wohl  jeder 
Schüler  seine  Nachbarn  mitsprechen  hörte.  Dass  trotzdem  das 
normale  Mitsprechen  beim  Lernen  von  Vorteil  sei,  wird  man 
wohl  ohne  diese  Versuche  auch,  aus  einer  sehr  häufigen  Er- 
fahrung heraus,  bestätigen.  Ein  theoretisches  Erfassen  dieses 
Sachverhaltes  mag  hier  mehr  angedeutet  als  seine  Durch- 
führung versucht  werden. 

Es  ist  eine  genugsam  bekannte  Tatsache,  dass  ein  Ge 
danke  um  so  besser  und  leichter  reproduziert  wird,  je  distinkter 
er  erfasst  worden  ist.  Wer  nun  ein  Wort  zum  erstenmal 
hört,  muss  dadurch  noch  keine  sehr  distinkte  Vorstellung  als 
„Hörbild"  des  Wortes  erhalten  haben.  Es  begegnet  uns  oft, 
dass  wir  ein  solches  neues  Lautgebilde  nicht,  oder  falsch 
„verstehen"  —  nicht  nur  seiner  Bedeutung  nach,  falls  es  eine 
hat,  sondern  auch  seinem  Klange  nach  —  es  ungenau  erfassen 
und  um  ein  wiederholtes  Vorsprechen  bitten  müssen.  Beim 
zweiten  Hören  achten  wir  dann  auf  irgend  welche  Teile  des 
Lautkomplexes  besonders,  die  uns  früher  „entgangen"  sind: 
wir  suchen  den  Lautkomplex  zu  analysieren.  Und  dabei 
bedienen  wir  uns  oft,  vielleicht  meist,  des  Nachsprechens,  nicht 


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418 


Ernst  Maüy  und  Rudolf  Amcseder. 


nur  damit  der  Vorsprechende  kontrollieren  könne,  ob  wir 
richtig  aufgefasst  haben,  sondern  zur  Selbstkontrolle.  Wir 
vergleichen  den  von  uns  erzeugten  Lautkomplex  mit  dem  vor- 
gegebenen und  erfahren  so,  ob  wir  richtig  analysiert  haben. 
Umgekehrt  ist  jemand,  der  einen  neuen  Lautkomplex  nach- 
sprechen soll,  gezwungen,  auf  die  Einzelheiten  des  Gehörten 
genauer  zu  achten.  So  wird  durch  —  normales  —  Nach- 
bprechen  die  Analyse  des  Lautkomplexes  gefördert,  also  das 
distinkte  Erfassen  seiner  Elemente,  zugleich  aber  auch,  was 
nicht  minder  wichtig  ist,  ein  distinktes  Erfassen  der  Ver- 
bindung, worin  sie  miteinander  stehen.  Dies  beides  bedingt 
eine  bessere  Reproduktion  durch  das  Gedächtnis.  —  Dass  es 
gerade  Bewegungsvorstellungen  sind,  die  man  bei  solchem  Er- 
fassens des  Lautkomplexes  auch  hat,  ist  wohl  minder  wesent- 
lich. Gerade  sie  dürften  sich  kaum  durch  besondere  Distinkt- 
heit  auszeichnen,  obwohl  andererseits  die  grosse  Uebbarkeit 
willkürlicher  Bewegungen  dafür  zu  sprechen  scheint,  dass 
man  es  zu  sehr  ansehnlicher  Genauigkeit  und  Raschheit  in 
der  Reproduktion  von  Bewegungsvorstellungen  bringen  kann. 
So  untersuchenswert  das  Tatsachengebiet  ist,  das  hinter 
diesem  Anschein  stehen  mag;  soviel  kann  wohl  schon  gesagt 
werden,  dass  die  Bewegungsvorstellung,  wenn  sie  schon  die 
Reproduktion  von  Wortvorstellungen  fördert,  das  doch  nur 
in  jenem  sehr  indirekten,  oben  angedeuteten  Sinne  thun  dürfte, 
und  überdies,  dass  sie  in  dieser  Rolle  nicht  nur  ersetzbar, 
sondern  sogar  vorteilhaft  ersetzbar  ist.  Das  beweist  der  LI  in- 
stand, dass  man  ein  neu  gehörtes  Wort,  wenn  man  es  genau 
erfassen  will,  sich  auch  gerne  geschrieben  oder  gedruckt  vor- 
legen lässt  und  dann  noch  weit  sicherer  ist  es  richtig  zu  er- 
fassen und  wohl  ebenso  sicher  es  richtig  zu  behalten,  wenn 
man  die  optischen  Zeichen  dazu  wahrgenommen,  als  wenn  man 
es  nur  nachgesprochen  hat:  Unsere  Vorstellungen  von  den 
Gestalten  der  Schriftzeichen  haben  —  der  Sprechbewegungs- 
vorstellung  gegenüber  —  grössere  Distinktheit  und  vor  allem 
viel  engere  Beziehungen  zu  dem,  was  wir  beim  „ortho- 
graphischen'4 Schreiben  der  Wörter  zu  leisten  haben. 

Den  Versuchen  mit  Lesen  (II)  sind  diese  Umstände  zu 
gute  gekommen.  Sie  ergeben  durchaus  weniger  Fehler  als 
die  Versuche  mit  Hören.   Begreiflicherweise  ist  hier  auch  das 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  RechUchrcib~Unterrichtes.  419 


Mitsprechen  beim  lauten  Lesen  (IIc)  kaum  mehr  imstande, 
zur  Distinktheit  der  Wortvorstellungen  noch  ein  Erkleck- 
liches dazu  zu  tun.  Es  mag  nur,  in  den  „Hörbildern**,  neue 
„Associationshilfen"  schaffen. 

Auch  die  ganz  ausdrückliche  Analyse  und  Wiederzu- 
sammenfassung, die  sowohl  an  Lautkomplex  als  an  Buchstaben- 
komplex beim  Buchstabieren  (III)  geübt  wird,  vermochte 
an  den  Ergebnissen  des  Lesens  nicht  mehr  deutlich  zu  bessern. 
—  Was  auch  nicht  befremden  kann,  da  das  einfache  „Lesen" 
der  Schüler  (in  II)  kein  Lesen  im  gewöhnlichen  Sinn  mehr 
war,  kein  Lesen,  wie  wir  es  bei  Kenntnisnahme  eines  gedruckten 
oder  geschriebenen  Textes  zu  vollziehen  pflegen,  wo  es  uns 
um  den  „Sinn"  des  Gelesenen  zu  thun  ist.  Es  ist  —  namentlich 
seit  B.  Erdmanns  einschlägigen  Versuchen  —  bekannt 
genug,  dass  dieses  Normale  ein  sozusagen  sprungweise  fort- 
schreitendes Erfassen  von  ganzen  Zeichengruppen  ist. 
Hier  werden  also  nicht  nacheinander  Bestandstücke  aufgefasst 
und  dann  zum  Komplexe  verbunden,  sondern  umgekehrt 
Komplexe  erfasst  und  erst  wenn  ein  Anlass  dazu  geboten  ist, 
wird  durch  Analyse  zum  distinkten  Vorstellen  der  einzelnen 
Bestandstücke  fortgeschritten.  In  Lays  Versuchen  mit 
„Lesen"  ist  es  wohl  nicht  so  zugegangen.  Bei  den  sinnlosen 
Wörtern  wurde  erstlich  natürlich  nicht  irgend  einer  „Be- 
deutung", sondern  den  Schriftzeichen  selbst  maximale  Auf- 
merksamkeit zugewendet.  Da  überdies  die  „Wörter"  neu  waren, 
erfolgte  auch  das  Lesen  schwerlich  in  der  normalen  sprung- 
haften Art,  von  Komplex  zu  Komplex,  sondern  viel  eher  von 
Buchstaben  zu  Buchstaben  oder  doch  wenigstens  nur  sehr 
kleine  Zeichenkomplexe  als  Einheiten  erfassend.  Sicher  wurde 
bei  einiger  Aufmerksamkeit  der  Versuchsperson  auch  nach- 
träglich, bei  wiederholtem  Lesen,  analysiert.  Durch  alles  das 
nähert  sich  die  Tätigkeit  in  den  Versuchen  II  dem  Buch- 
stabieren ausserordentlich  an.  Ja  man  kann  sagen,  dass  hier 
vielleicht  eher  eigentliches  und  erspriessliches  Buchstabieren 
getrieben  wurde  als  bei  dem  gewöhnlich  so  genannten  schul- 
mässigen  „Buchstabieren**  und  damit  auch  in/den  Versuchen  III. 
In  'dem  Sinne  nämlich,  als  das  Wesentliche  an  psychischen  Vor- 
gängen, das  durch  Buchstabieren  gesetzt  werden  soll:  Analyse 
und  Zusammenfassung  der  Schriftzeichen,  schon  hier  in  hohem 


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Ernst  Mallv  und  Rudolf  Ameseder. 


Masse  vorhanden  war,  und  der  besondere  Nachdruck,  der  auf 
diese  Tätigkeiten  beim  sozusagen  offiziellen  Buchstabieren 
gelegt  wird,  in  seinen  Wirkungen  durch  das  mag  kompensiert 
worden  sein,  was  zugleich  an  Unnatürlichkeit  der  Bedingungen 
hinzukommt,  wie  lautes  Benennen  der  Buchstaben,  das  dadurch 
aufgezwungene  Tempo,  das  ebenfalls  von  aussen  her  normierte 
Ausmass  der  als  Einheiten  zu  erfassenden  Komplexe  u.  s.  w.  — 
Sehr  entschieden  kleiner  als  bei  allen  anderen  Teilversuchen 
sind  die  Fehlerzahien  bei  Abschreiben  (IV)  —  in  den  Ver- 
suchen mit  Volksschülern.  Bei  den  Zöglingen  des  S e - 
m  i  n  a  r  s  ergeben  die  Teilversuche  Lesen  mit  Sprechen,  Buch- 
stabieren und  Abschreiben  so  geringe  Verschiedenheiten  des 
Ausfalls,  dass  man  die  bezüglichen  Resultate  bei  ihrer  geringen 
Genauigkeit  am  besten  als  „ungefähr  gleich"  bezeichnen  dürfte. 
Den  Vorzug  der  Abschreibemethode  in  den  Volksschüler- 
Versuchen  führt  Lay,  übrigens  ohne  nähere  psychologische 
Begründung,  wieder  auf  eine  Bewegungs- Vorstellung  zurück: 
auf  die  Schreibbewegungs-Vorstellung.  Um  die 
Triftigkeit  dieser  Erklärung  zu  prüfen,  wäre  ein  Versuch  nicht 
uninteressant,  der  den  Schülern  ausser  der  Schreibbewegungs- 
Vorstellung  wirklich  kein  nennenswertes  Vorstellungsmaterial 
zur  Auffassung  der  geschriebenen  Wörter,  also  vor  allem  keine 
Gehörs-  und  Gesichtsvorstellungen  von  Wortklang  und  Wort- 
zeichen, durch  Wahrnehmung  böte.  Wir  meinen  den  Versuch, 
dass  man  den  Schülern  zum  Schreiben  der  Wörter  etwa  einige- 
mal die  Hand  führte  und  sie  dann  zur  Uebung  die  Bewegung 
auch  aktiv  vollziehen  Hesse.  Es  müsste  auch  zu  erreichen 
sein,  dass  der  Schüler  gleich  von  Anfang  an  die  Hand  aktiv 
bewegt  —  was  wegen  der  Gleichartigkeit  mit  der  normalen 
Schreibbewegung  sehr  wünschenswert  wäre  —  und  man  ihm 
durch  Führung  nur  die  Richtung  bestimmte.  Der  Versuch 
hat  das  Gute,  nicht  erst  ausgeführt  werden  zu  müssen:  den 
schlechten  Erfolg  kann  man  sich  denken.  Einen  anderen, 
ähnlichen  Versuch  haben  wir,  gelegentlich  der  schon  erwähnten 
Nachbildung  des  Lay  sehen  Experimentes,  tatsächlich  vor- 
genommen: Die  Versuchspersonen  —  lauter  erwachsene  und 
schreibgeübte  —  hatten  eine  Reihe  sinnloser  Wörter  von  der 
Tafel  abzuschreiben,  ohne  dabei  auf  ihr  Skriptum  zu  sehen. 
Als   sie  dann   das  mehrmals  Abgeschriebene  aus  dem  Ge 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  RtchUchreib-UnterrichUs.  421 

dächtnis  niederschreiben  sollten,  konnten,  wie  vorauszusehen 
war,  die  meisten  kein  Wort  richtig  wiedergeben  und  die  Ueber 
zahl  der  Wörter  war  ihnen  ganz  entfallen.  Allerdings  halten 
wir  diese  Versuche  noch  für  keine  Widerlegung  der  Lay  sehen 
Position.  Denn  die  Bedingungen  der  von  den  Versuchspersonen 
geforderten  Leistung  sind  hier  in  ganz  auffälliger  Weise 
unnatürlich,  ungewohnt  und  erschwerend.  Doch  dürfte  der 
Umstand,  dass  es  bei  einigermassen  angenäherter  Isolierung 
der  Schreibbewegungs-Vorstellung  ohne  solche  Unnatur  nicht 
abgeht,  schon  an  sich  ein  recht  deutliches  Zeichen  dafür  sein, 
wie  innig  diese  Art  Vorstellung  mit  allerlei  anderem,  nament- 
lich Gehörs-  und  Gesichtsvorstellungen  beim  Schreiben  ver 
bunden  ist.  Und  noch  mehr  beim  Abschreiben,  das  auch, 
neben  dem  Lesen  des  eben  Geschriebenen,  das  Lesen  des 
Vorbildes  erfordert.  Und  wenn  dem  so  ist,  so  darf  man  für 
die  Behauptung,  die  Schreibbewegungs-Vorstellung  sei  die  vor 
züglichste,  wenn  nicht  alleinige  Ursache  der  günstigen  Er- 
gebnisse beim  Abschreibe- Versuch,  doch  zum  mindesten  etwas 
Stichhaltigeres  an  Begründung  erwarten,  als  in  der  Ableitung 
dieses  Satzes  aus  physiologischen  Hypothesen  gelegen  sein 
kann.  Indes  halten  wir  eine  solche  Begründung  für  nicht 
wohl  erbringbar,  weil  das  zu  Begründende  kaum  richtig  ist. 

Ausserdem  erweist  sich  eine  Zuflucht  zu  dieser  so  frag- 
lichen Erklärungsweise  auch  als  recht  entbehrlich,  solange  es 
wohlbekannte  und  erfahrungsgemäss  legitimierte  Tatsachen 
giebt,  die  eine  bessere  Erklärung  leisten.  —  Dass  man 
sich  durch  Schreiben  eines  Wortes  für  das  Schreiben  dieses 
Wortes  durchschnittlich  am  meisten  übt,  ist  eine  recht 
trivale  Sache  —  schon  ohne  Experiment.  Denn  hier  ist 
dafür  gesorgt,  dass  alles  an  psychischem  Material,  was 
später,  beim  Niederschreiben  aus  dem  Gedächtnis,  re 
produziert  werden  soll,  auch  gewiss  erst  einmal  produziert 
werde.  Auch  die  Schreibbewegungsvorstellung  gehört  dazu. 
Aber  was  viel  mehr  zum  genauen  Erfassen  und  Behalten  des 
Wortes  beiträgt  als  sie,  ist  das  aufmerksame  Lesen  des 
Originals,  das  Einprägen  des  Gelesenen  zum  Zwecke  der  Ueber- 
tragung  auf  das  Schreibeblatt,  die  Vergleichung  von  Original 
und  Abschrift,  kurz  die  intensive  Beschäftigung  mit  dem  an 
zueignenden  „Stoff"  durch  mehrfaches  urteilsmässiges  Erfassen 


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Ernst  Mally  und  Rudolf  Ameuder. 


im  ganzen  und  im  einzelnen  —  Analyse  und  Zusammen- 
fassung. Bei  Personen,  die  alles  dieses  auch  schon  ohne  Ab- 
schreiben in  gehörigem  Masse  aufbringen  —  wie  das  bei  den 
erwachsenen  Seminaristen  der  Fall  war  —  kann  dann  auch 
der  blosse  Umstand,  dass  sie  abgeschrieben,  also  sicher 
Schreibbewegungs-Vorstcllungen  vollzogen  haben,  nicht  mehr 
zur  Güte  der  Reproduktion  beitragen. 

In  der  hier  angedeuteten  Richtung  mag  die  Erklärung 
von  Verschiedenheiten  in  den  Ergebnissen  der  Versuchs- 
variationen zu  suchen  sein. 

Nach  diesen  theoretischen  Erörterungen  erübrigt  noch  die 
Frage  nach  den  praktischen  Folgerungen,  die  aus  solchen 
Verschiedenheiten  —  wenn  sie  mit  genügender  Sicherheit 
wären  ermittelt  worden  —  mit  Recht  zu  ziehen  sein  mögen. 
Es  ist  die  Frage  nach  der  „besten  Methode  des  Rechtschreib- 
Unterrichtes". 

Wenn  sich  herausgestellt  hat,  dass  die  Schüler  durch  blosses 
'  H  Ö  r  e  n  von  Wörtern  am  wenigsten  gelernt  haben,  ortho- 
graphisch zu  schreiben,  so  ist  das  recht  verständlich,  aber 
auch  durchaus  keine  überraschende  Entdeckung.  Um  so 
weniger,  als  die  vorgesprochenen  Wörter  den  Schülern  voll- 
kommen neu  waren  und  der  Versuchsleiter  für  sie  eine  Schrei- 
bung festgesetzt  hatte,  die  von  der  phonetischen,  wenn  auch 
nicht  erheblich,  doch  mehrfach  abwich,  —  ohne  dass  die 
Versuchspersonen  von  dieser  Schreibung  irgend  etwas  er- 
fuhren. Dass  ein  solches  Versuchsverfahren  sehr  wenig 
Anspruch  darauf  hat,  einer  „Methode  des  Orthographie-Unter- 
richtes" besonders  ähnlich  zu  sehen,  wird  niemand  bezweifeln. 
—  Allein  dies  gilt  nur  von  den  Versuchen  mit  Hören  —  I. 

Ein  allgemeiner  Einwand  aber  ist  es,  der  sich  gegen 
Lays  Versuche  erhebt  und  der  uns  um  so  gewichtiger  er- 
scheint, als  durch  ihn  die  Fähigkeit  dieser  Versuche,  zur  Lösung 
unserer  Aufgabe  etwas  Wesentliches  beizutragen,  in  Frage  ge- 
stellt wird.  —  Was  die  Versuchspersonen  im  ganzen  Experiment 
jedesmal  zu  leisten  hatten,  war  das  richtige  Niederschreiben  von 
eben  gelernten,  sinnlosen  Wörtern  aus  dem  Gedächtnis.  Wer  also 
die  Wörter  selbst  wohl  in  der  Erinnerung  behalten  hatte,  dem 
war  das  unstreitig  schwierigste  und  grösste  Stück  der  Aufgabe 


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7.ur  experünentellen  Begründung  des  Jiechtschreib  Unterrichtes. 


423 


gelungen,  und  es  war  nun  wohl  kaum  einmal  besonders  schwer, 
dem  richtig  gemerkten  Wort  auch  die  „richtige"  d.  h.  vor- 
gegebene Schreibung  zuzuordnen:  zu  eigentlich  „orthogra- 
phischen" Fehlern  blieb  somit  recht  wenig  Gelegenheit.  Dafür 
war  es  um  so  schwerer,  die  „Wörter"  selbst  richtig  zu  merken 
—  das  zeigt  der  Umstand,  dass  gar  nicht  selten  Silben  und 
Wörter  des  Originals  in  der  Reproduktion  der  Niederschrift 
ganz  ausblieben.  Wer  sich  aber  das  Wort  selbst  mangelhaft, 
mit  allerlei  Entstellungen,  gemerkt  hatte,  konnte  es  natürlich 
nicht  anders  als  fehlerhaft  wiedergeben.  Doch  wird  man 
keinen  Augenblick  anstehen,  Fehlern  solchen  Ursprungs  den 
Charakter  „orthographischer"  Fehler  schlechthin  abzu- 
sprechen. Wer  orthographisch  schreiben  soll,  hat  normalerweise 
weder  „auswendig"  gelernte  Laut-  noch  Zeichenkomplcxe  zu 
reproduzieren,  sondern  er  muss  die  konventionell  festgesetzte 
Zuordnung  gewisser  ihm  wohlbekannter  Zeichen  zu  ihm 
vollkommen  geläufigen  und,  wenn  nicht  gegenwärtig  vorgegebe- 
nen, doch  jederzeit  vollkommen  verfügbaren  Lautkomplexen, 
den  Wörtern  der  Sprache,  durch  Uebung  und  Urteil  „be- 
herrschen". Was  aber  in  Lays  Versuchen  an  Fehlern  gezählt 
wird,  sind  nur  zum  geringsten  Teile  Fehler,  die  man  mit  ortho- 
graphischen vergleichen  könnte.  Die  Ergebniszahlen  messen  also 
in  keiner  Weise  die  „orthographische"  Fehlerhaftigkeit 
der  bezüglichen  Lernresultate.  So  haben  denn  diese  Versuche 
recht  wenig  Bezug  auf  die  Frage  nach  der  vorteilhaftesten  Art 
des  Rechtschreibenlernens,  kaum  mehr  als  sonst  irgend 
eine  Untersuchung  über  den  Einfluss  des  Lernverfahrens  auf 
die  Leistungen  des  Gedächtnisses  im  allgemeinen  auf  diese, 
eine  besondere  Art  von  Gedächtnisleistung  betreffende  Frage 
Bezug  haben  mag. 

In  diesen  Darlegungen  ist  der  Hauptsache  nach  ziemlich 
alles  gesagt,  was  die  Verfasser  vor  einer  experimentellen  und 
theoretischen  Neubearbeitung  der  gegenwärtigen  Angelegenheit 
zu  sagen  hatten  und  des  Sagens  nicht  unwert  erachteten.  So 
wird  es  im  Folgenden  möglich  sein,  mit  viel  geringerer  Aus- 
führlichkeit den  durch  Lay  angeregten  Arbeiten  anderer 
Autoren  auch  gerecht  zu  werden. 


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Ernst  Mally  und  Rudolf  Ameseder, 


II.  H.  Schiller,  A.  Haggenmüller  und  H.  Fuchs 
Studien  und  Versuche  über  die  Erlernung  der 

Orthographi  e.1) 

Auf  Hermann  Schillers  Anregung  haben  Haggen- 
müller und  Fuchs  Kontrollversuche  zu  den  Lay  sehen 
gemacht. 

August  Haggenmüller  experimentiert  mit  acht-  und 
neunjährigen  Schülern  der  Vorschule  des  Gymnasiums  zu 
Gi essen.  —  Die  Versuchsanordnung  wurde  von  Lay  über- 
nommen. Nur  kam  bei  den  Teilversuchen  I  (Hören)  und  II 
(Lesen)  zu  den  Variationen  a,  b,  c  noch  je  eine  vierte,  d,  hinzu : 
Hören,  beziehungsweise  Lesen  „mit  Schreibbewegung  in  der 
Luft",  d.  h.  die  Schüler  schrieben  die  betreffenden  gehörten 
oder  gelesenen  Wörter  vor  sich  „in  die  Luft". 

Als  Versuchsmaterial  dienten  deutsche  Wörter,  den 
Schülern  wohl  teilweise  unbekannt  und  „gewisse  Schwierig- 
keiten in  der  Rechtschreibung"  bietend.  Die  Wortreihen, 
die  zu  den  einzelnen  Teilversuchen  verwendet  wurden, 
enthielten  nicht  gleich  viel  Wörter,  „aber  meist  gleich 
viel  Silben".  In  der  Tat  schwankt  die  Silbenzahl  im 
ganzen  zwischen  u  und  21,  aber  innerhalb  der  einzelnen  (voll- 
ständigen) Versuche  —  und  darauf  kommt  es  an  —  ist  sie 
entweder  festgehalten  oder  ändert  sich  nur  zwischen  bedeutend 
engeren  Grenzen.  Uebrigens  liegen  in  der  Qualität  der 
jeweils  gebrauchten  Wörter  viel  gewichtigere  Ursachen  der  un- 
gleichen Schwierigkeit  der  Wortreihen  als  in  der  ungleichen 
Silbenzahl.  Wer  könnte  ohne  besondere,  darauf  angelegte 
Versuche  entscheiden,  ob  die  beiden  folgenden  Wortreihen 
den  Kindern  genügend  gleich  grosse  Schwierigkeiten  des 
Erlernens  bieten:  „Abenteuer,  fünfstrahlig,  Wiesenfläche, 
Sklavinnen,  allenthalben"  und  „Bewerkstelligung,  Bessemer- 
stahl, Dazwischenkunft,  Magazin,  beerdigen".  Von  vornherein 
ist  natürlich  bei  weitem  wahrscheinlicher,  dass  sich  die  bezüg- 
lichen Schwierigkeiten  der  Gleichheit  nicht  sehr  nähern;  be- 
sonders wenn  man  in  Betracht  zieht,  dass  jede  Wortreihe, 


*)  Sammlung  von  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  pädagogischen 
Psychologie  und  Physiologie.  Herausgegeben  von  H.  Schiller  und  Th. 
Ziehen.    \\.  Bd.  4-  Heft.    Berlin  1898. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-Unterrühtes. 


425 


ähnlich  wie  bei  Lay,  wieder  zweierlei  Schwierigkeit  aufweist : 
die  des  „Behaltens"  der  Wörter  in  ihrer  Aufeinanderfolge, 
die  —  obwohl  geringer  als  bei  Lays  sinnlosen  Wörtern  — 
doch  wieder  die  Hauptarbeit  der  Versuchsperson  in  Anspruch 
nimmt,  und,  in  zweiter  Linie  erst,  die  Schwierigkeit  der  rich- 
tigen Schreibung,  auf  die  es  im  Experimente  eigentlich  an- 
kommt. Diese  beiden  voneinander  unabhängig  Variablen  in 
allen  elf  Teilversuchen  einer  Reihe  ausreichend  konstant  zu 
halten  ist  nun  doch  eine  Aufgabe,  für  deren  genügende  Lösung 
das  Verfahren  der  Zusammenstellung  von  allerlei  Wörtern  nach 
ungefährer  Schätzung  ihrer  „Schwierigkeiten"  keine  Gewähr 
leistet. 

Bei  jedem  Teilversuche  eines  und  desselben  Versuches 
wurden  die  Wortreihen  gleich  oft  vorgegeben:  es  wurde  also 
in  Ia  (oder  b,  c,  d)  gleich  oft  nacheinander  vorgesprochen  wie 
in  IIa  (oder  b,  c,  d)  von  den  Schülern  gelesen  u.  s.  f.,  ehe 
die  Niederschrift  des  so  „auswendig"  Gelernten  erfolgte.  Aller- 
dings schiene  uns  näherliegend,  die  Lernzeiten  konstant 
zu  behalten.  Aber  immerhin  bleiben  bei  Haggenmüllers 
Verfahren  die  Ergebnisse  doch  unter  einem  Gesichtspunkte 
vergleichbar,  während  bei  Lay  weder  Lernzeit  noch 
Wiederholungszahl  der  Vorgaben  in  jedem  Versuche  festge- 
halten ist. 

Wenn  Haggenmüller  88  Klassenversuchc  angiebt,  so 
sind  darunter  wieder  die  Teilversuche  von  acht  voll- 
ständigen Versuchen  -  „Reihen"  —  gemeint,  die  mit  durch- 
schnittlich 29  Schülern  vorgenommen  wurden.  Vor  den 
Lay  sehen  haben  sie,  trotz  der  etwas  geringeren  Anzahl1)  doch 
einiges  voraus.  Denn  sie  sind  alle  mit  derselben  Schülerklasse 
gemacht  worden  und  es  ist  zwischen  den  einzelnen  nicht  soviel 
Zeit  verstrichen;  alle  erfolgten  „gegen  Ende  des  Schuljahres 
1897/98". 

Die  Resultate  stimmen  im  wesentlichen  mit  den  Lay  sehen 
überein,  -  was  bei  dem  wesentlich  gleichen  Verfahren  mit 
den  im  wesentlichen  gleichen  Mängeln  nicht  verwunderlich  ist. 


*)  Wir  fanden  dort  8  vollständige  Versuche  mit  durchschnittlich 
32  Schülern  durchgeführt  —  neben  16  unvollständigen. 


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426 


Ernst  Afaüy  und  Rudolf  Amtscder. 


Nach  fallender  Fehlerzahl  geordnet  ergeben  die  Teilversuche 
folgende  Reihe1)  : 

Ia,  Ib,  Ic,  Id,  IIa,  IIb,  IIc,  III,  Ild,  IVc,  IVb2) 

Was  aus  diesem  Verhalten  der  Fehlerzahlcn  erschlossen 
werden  kann,  haben  wir  bei  Besprechung  der  Lay  sehen  Ver- 
suche3) zu  Genüge  dargethan,  um  es  jetzt  nicht  wiederholen  zu 
müssen.  Besonders  zu  beachten  ist  nur  der  Einfluss  der  „Schreib- 
bewegung in  der  Luft".  Auf  den  ersten  Blick  scheint  hier  die 
Bewegungsvorstellung  in  stärkerem  Masse  isoliert  als  beim 
Abschreiben.  Aber  dieser  Schein  erweist  sich  leicht  als  falsch  : 
Was  bei  dieser  neuen  Versuchsvariation  „isolierter"  ist,  ist 
nicht  die  Schreibbewegungs -  Vorstellung,  sondern 
höchstens  die  Schreibbewegung.  Auf  psychischer  Seite 
aber  bedeutet  die  Einführung  dieses  „Schreibens  in  der  Luft" 
wohl  nur  eine  Komplikation :  zwar  allerdings  Erhöhung  der  auf  die 
Lautzeichen  gerichteten  Aufmerksamkeit,  aber  auch  einen  ganz 
bedeutenden  Mehrverbrauch  davon ;  Ablenkung  durch  die  un- 
gewohnten Versuchsumstände ;  Verlängerung  der  Lernzeiten. 
Gegenüber  dieser  Mehrheit  ineinander  wirkender  Faktoren 
dürfte  es  wieder  recht  schwer  fallen,  den  eigentlichen  Anteil 
der  Schreibbewegungs-Vorstellung,  oder  auch  nur  der  Schreib- 
bewegung an  dem  Ausfall  des  Versuches  abzuschätzen. 

Haggenmüllers  Versuchsergebnisse  sind  auf  gleiche 
Art  errechnet  wie  die  Lay  sehen ;  auch  die  Fchlerzahlen  der 
Einzelergebnisse  bestimmt  er  ebenso  wie  Lay,  indem  er  nach 
der  Hypothese  von  der  gleichen  relativen  Häufigkeit  der  „ortho- 


»)  Auf  Grund  der  Haggenmüllcr  sehen  Angaben.  Eine  Um- 
rechnung haben  wir  hier  nicht  vorgenommen.  Da  Haggenmüllers 
Versuchsanordnung  mit  der  in  der  Folge  zu  besprechenden  Fuchs  sehen 
sehr  nahe  übereinstimmt,  dürfte  es  genügen,  nur  des  letzteren  Daten  in  der 
bekannten  Weise  auszuwerten  und  neben  den  durch  ein  stärker  abweichendes 
Versuchsverfahren  von  Itschner  gewonnenen  —  ebenfalls  umgerechneten 
—  den  Lay  sehen  gegenüberzustellen. 

2 )  Wir  bezeichnen  „Abschreiben  mit  leisem  Sprechen"  durch  IVb  und 
„Abschreiben  mit  lautem  Sprechen"  durch  IVc,  wegen  der  Gleichförmigkeh 
mit  der  bei  I  und  II  eingeführten  Bezeichnungsweise;  obwohl  eine  Versuchs- 
variation IVa  nicht  vorkam. 

*)  oben  S.  414  ff. 


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y.ur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-Unterrichtes. 


427 


graphischen"  Fehler  für  jede  fehlende  Silbe  eine  Anzahl  von 
Fehlern  berechnet,  die  ihr  nicht  anders  als  durch  Zufall  tat- 
sächlich —  auch  nur  annähernd  —  entsprechen  kann. 

Wie  der  Autor  bemerkt1),  „kann  man  nicht  durchgängig 
erkennen,  dass  die  Zeit  der  Ausführung  auf  das  Ergebnis 
der  Versuche  Einfluss  hat";  und  er  erweist  das  durch  eine 
Uebersicht  im  einzelnen.  Ist  demnach  die  Wirkung  der 
„Zehiage"  des  Teilversuchs  gegenüber  den  übrigen  Teilver- 
suchen der  Reihe  nicht  besonders  merkbar  —  wohl  wegen 
Kompensation  durch  anderweitige  Variabilität  der  Versuchs- 
bedingungen —  so  macht  sich  dafür  ein  zweiter  „Einfluss  der 
Zeit"  mit  ziemlicher  Deutlichkeit  geltend,  nämlich  in  der  von 
Reihe  zu  Reihe  steigenden  U  e  b  u  n  g  der  Versuchspersonen. 
Verfolgt  man  die  Fehlerdaten  in  der  Tabelle,  die  Haggen- 
müller2) bringt,  so  merkt  man,  dass  die  Zahlen  für  jede 
einzelne  Versuchsart  vom  frühern  Versuch  zum  spätem 
in  der  Regel  abnehmen.  Und  zwar  bei  den  ersten  vier  der 
acht  Versuche  („Reihen")  rasch,  dann  langsamer;  schliesslich 
vom  sechsten  Versuche  an,  bleiben  die  Schwankungen  der 
bezüglichen  Ergebnisse  schon  in  recht  engen  Grenzen.  Es 
lässt  sich  daraus  entnehmen,  dass  wohl  schon  verhältnismässig 
wenige  Vorversuche  genügt  hätten,  die  Uebung  der  Versuchs- 
personen der  Konstanz  hinreichend  nahe  zu  bringen.  Aus  den 
mitunter  vorkommenden  ganz  bedeutenden  Abweichungen  von 
Ergebniszahlen  gegenüber  dem  regelmässig  abnehmenden  Ver- 
laufe, der  sich  als  Folge  der  Uebung  ergiebt,  ist  aber  auch 
wieder  zu  ersehen,  dass  andere  Einflüsse  störend  auf  die  Er- 
gebnisse wirkten. 

Schliesslich  muss  noch  hervorgehoben  werden,  dass  diese 
Versuche  nebst  den  anderen  wesentlichen  Mängeln,  die  dem 
Lay  sehen  Verfahren  anhaften,  —  trotz  sorgfältigerer  Aus- 
führung im  einzelnen  —  auch  den  Hauptübelstand  mit  ihm 
teilen :  das  nicht  eigentlich  zu  untersuchen,  was  zu  untersuchen 
die  —  selbstgestellte  —  Aufgabe  war,  sondern  wieder  nur  die 
relative  Eignung  gewisser  Methoden  zur  Erlernung  von 
Wortreihen  —  nicht  von  Schreibungen. 


i)  a.  a.  O.  S.  37- 

-)  Auf  S.  36  der  Abhandlung. 


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428 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Arne  seder. 


Heinrich  Fuchs  hat,  mit  47  Schülern  der  Sexta  des 
grossherzoglichen  Gymnasiums  zu  Gi essen,  ebenfalls  acht 
Klassenversuche  gemacht,  deren  jeder  elf  Teilversuche  um- 
fasst,  von  gleicher  Art  wie  wir  sie  bei  Haggenmüller  fanden. 

Bei  jedem  Teilversuch  wurde  eine  Reihe  von  drei  drei- 
silbigen lateinischen  Wörtern  vorgegeben,  deren  Sinn  den 
Schülern  noch  unbekannt  war  —  und  auch  nicht  gesagt 
wurde.  Die  Silbenzahl  ist  also  durchweg  die  gleiche  —  natür- 
lich darum  noch  lange  nicht  die  Schwierigkeit  der  Wortreihen. 
Der  Vorteil,  den  Fuchs  mit  dieser  Wahl  verfolgte,  ist  die 
leichtere  Erfassbarkeit  und  Reproduzierbarkeit  der  Wörter 
gegenüber  den  so  schwer  aufzufassenden  und  noch  schwerer 
zu  behaltenden  sinnlosen  Wörtern. 


Tabelle  V.  i) 


vollständ. 
Versuch 
(Reihe) 

Teilversuch 

Ia 

[Ib 

Ic  |  Id 

Ha 

Hb  ]  Hc 

Hd 

IV  c 

IVb 

1  (n.FuchsA) 

2(„    „  B) 
3(„    „  C) 
4(„     „  D) 
3(„     «  E) 

7<„     „  G) 

8(„      n  fi) 

1.94 
1.76 
2.36 
2.19 
1.23 
1.66 
0.75 
1  22 

2.36 
1.29 
2.24 
134 
1.72 
1.97 
2.84 
2.28 

1.42 
0.74 
2.66 
2.97 
1.07 
1.78 
0.64 
2.05 

2.05 
1.32  1 
1.98; 
1.28 
1.07  j 
1.42 
132  : 
1.74 

0.48 
0.58 
1.02 
0.88 
1.12 
0.75 
0.97 
1.37 

^  0.62 
0.59 
1.23 
1.04 
0.64 
0.65 
0.91 
1.08 

0.67 
0.93 
1.54 
0.92 
1.02 
0.72 
0.94 
0.80 

0.94 
0.62 
2.15 
0.54 
1.22 
0.81 
0.84 
0.76 

0.83 
0.44  i 
1.56 
0.59 
|  1.12 
10.96 
0.64 
0.43 

0.65 
0.39 
0.43 
0.69 
0.28 
0.60 
0.52 
0.23 

0.32 
0.47 
0.75 
0.53 
039 
0.56 
0.21 
0.25 

arithmet. 
Mitte)  ! 
(nach  Fuchs) 

1.64 

2.00 

1.67 

1.52 

0.90 

0.84 

0.94 

0.98 

0.82 

0.47 

0.43 

geometr.  M. ,  1.55 

1.94 

1.46 

1.49  0.85 

~om 

0.91 

0.90 

0.75 

1 

0.44 

0.40 

mittlere  Ver-i  „  1 

vi    3.84  4.82 
haltmszahl.  j 

3.63 

3.70  ; 

1 

.  r  . 

2.12  1  2.02 

1  ■ 

2.27 

2.24  ' 

'  1.86 

;  1 

1.10 

1 

U 

1.21 

1.69 

1.43 

1.53 

1.66 

1.46 

1.34 

1.55 

1.41 

1.49 

mittlere  Ver- 
hältniszahl, 
abgerundet 

4 

5 

4 

2 

2 

2 

2 

2 

1 

1 

Die  Wiederholungszahl  der  Vorgabe  der  Wörter  wechselt 
auch  innerhalb  einer  und  derselben  Reihe  von  Teilver- 


•)  Vgl.  Fuchs,  a.  a.  O.  S.  44. 


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Zur  expeiimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-UnUrrühtes. 


429 


suchen.  Doch  ist  dabei  wenigstens  soweit  sinngemäss  vorge- 
gangen, dass  bei  Ungleichheit  der  Wiederholungszahlen  immer 
die  k  1  e  i  n  e  r  e  jenem  Teilversuche  zufällt,  dessen  Art  der  Vor- 
gabe bei  gleicher  Wiederholungszahl  die  längere  Lern- 
zeit  erfordert  hätte.  G 1  e  i  c  h  h  e  i  t  der  Lernzeiten  aber  scheint 
dabei  nicht  angestrebt  zu  sein,  wenn  auch  eine  ungefähre 
Annäherung  daran  sich  ergeben  haben  mag. 

Die  von  Fuchs  gewonnenen  und  von  uns  umgerechneten 
Ergebniszahlen  bringt  die  vorstehende  Tabelle  V,  ganz  in  der 
Anordnung,  wie  Tabelle  IV1)  die  Lay  sehen. 

Die  Versuchsvariationen  ordnen  sich  also,  nach  fallen- 
den Fehlerzahlen,  in  folgende  Reihen: 

1.  nach  arithmetischen  Mitteln  (Fuchs): 

Ib,  Ic,  Ia,  Id,  Ild,  IIc,  IIa,  IIb,  III,  IVc,  IVb 

2.  nach  geometrischen  Mitteln: 

Ib,  Ia,  Id,  Ic,  IIc,  Ild,  IIa,  IIb,  III,  IVc,  IVb 

Auch  Fuchs  findet,  „dass  die  Unterrichtsstunde  und  die 
Reihenfolge  innerhalb  der  Stunde  keinen  durchgreifenden  Ein- 
fluss  auf  den  Ausfall  der  Versuche  geübt"  zu  haben  scheint; 
doch  konstatiert  er  selbst,  „dass  sehr  viele  Umstände  das  Resultat 
beeinflussen,  so  dass  sich  die  Bedeutung  der  einzelnen  kaum 
genau  bestimmen  lassen  wird." 

Die  Art  der  Fehlerzählung  und  der  Berechnung  der  Er- 
gebnisse hat  auch  Fuchs  übernommen,  wie  er  sie  bei  Lay 
gefunden  hatte,  obwohl  er  deren  Mängel  zum  grossen  Teil 
erkannt  hat. 

Ebenso  sind,  wie  nun  wohl  kaum  mehr  erwähnt  zu  werden 
braucht,  seine  Versuche  in  der  Hauptsache  gleich  angreifbar 
wie  die  Lay  sehen:  sie  sind  wieder  Versuche  über  das  ge- 
dächtnismässige  Behalten  von  Wortreihen  bei  verschiedener  Art 
der  Erlernung  —  es  finden  sich  sehr  viel  Auslassungen  — 
und  sie  haben  darum  nur  wenig  Belang  für  die  zu  beantwortende 
Frage.  Dass  es  sich  bei  diesen  Experimenten  um  zweierlei 
handle:  um  das  „Behalten  der  Wörter  und  um  die 
Einprägung  ihrer  Schreibun g",  führt  der  Autor  selbst  in 
seinen  kritischen  Bemerkungen  über  das  Versuchsverfahren  an, 

M  oben,  S.  410. 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  4 


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430 


Emst  Mally  und  Rudolf  Amesedtr. 


denen  wir  auch  sonst  nur  beistimmen  können.  Er  scheint  indes 
nicht  genug  gewürdigt  zu  haben,  dass  diese  Zweiheit  der 
Leistungen,  von  denen  überdies  die  erste  entschieden  den 
Hauptteil  der  psychischen  Fähigkeiten  der  Versuchspersonen 
in  Anspruch  nahm,  eine  namhafte  Verwertung  der  Resultate 
für  die  Beantwortung  der  vorgelegten  Frage  nahezu  aus- 
schliesst. 

3)  Hermann   Itschner,   Lays  Rechtschreibe-Re- 
form, im  Anschluss  an  Versuche 
im  Pädagogischen  Universitäts-Seminar  zu  Jena 

besprochen.1) 

Zur  Nachprüfung  der  Lay  sehen  Versuche  wurden  im  pä- 
dagogischen Seminar  zu  Jena  Experimente  angestellt,  worüber 
Itschner  berichtet.  Soviel  sich  aus  seiner  Darstellung  ent- 
nehmen lässt,  die  auf  Kosten  der  Exaktheit  etwas  bilderreich 
ausgefallen  ist,  sei  hier  besprochen. 

Die  Versuchsanordnung  ist  der  Lay  sehen  nachgebildet. 
Das  Wortmaterial  ist  aus  dem  von  Lay  verwendeten  ausge- 
wählt; unter  Vermeidung  allzu  ähnlicher  Wörter,  die  sich  nur 
mehr  durch  die  Vokale  voneinander  unterscheiden.  Als  aber 
schon  nach  den  ersten  Versuchen  das  „ursprünglich  freudige 
Interesse"  der  Versuchspersonen  wich,  und  dieser  Umstand 
den  zu  grossen  Merkschwierigkeiten  der  Wörter  zu- 
geschrieben wurde,  ersetzte  man  diese  durch  den  Schülern 
unbekannte  Fremdwörter,  wie  „Requisit",  „Aegide"  u.  dergl. 
Die  Silbenzahl  blieb  in  jedem  einzelnen  Versuche  konstant. 

Neu  ist,  gegenüber  den  bisher  besprochenen  Versuchs - 
anordnungen,  die  Fixierung  der  „Auffassungszeit",  d.  h.  der 
Zeit,  die  den  Schülern  zum  Erlernen  der  zu  reproduzierenden: 
Reihen  gelassen  wurde.  Sie  war  für  alle  zusammengehörigen 
Teil  versuche  gleich.  Bei  Versuch  A  etwa  (dem  ersten,  voll- 
ständigen, Versuch)  betrug  sie  für  jeden  Teilversuch  60  Se- 
kunden. Die  Fixierung  geschah  mittels  eines  Metronoms,  das 
durch  G 1  o  c  k  e  n  s  c  h  1  ä  g  e  die  auf  die  einzelnen  „Tätigkeiten4* 


l)  Jahrbuch  des  Vereines  für  wissenschaftliche  Pädagogik.  Herausgeg. 
v.  Prof.  Dr.  Th.  Vogt.  32-  Jahrg.  S.  206  ff.  Dresden,  Bleyl  und  Käm- 
merer 1900. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-UnterriehUs.  431 


entfallenden  Zeiten  begrenzte.  Unter  solchen  Tätigkeiten  ver- 
steht Itschner  z.  B.  beim  Lesen  das  Erfassen  einer  Silbe, 
beim  Buchstabieren  das  Erfassen  eines  Buchstaben,  das  Zu- 
sammenfassen der  Buchstaben  einer  Silbe.  Natürlich  mussten 
die  auf  solche  Tätigkeiten  bemessenen  Zeitstrecken  um  so 
kürzer  gemacht  werden,  je  mehr  Tätigkeiten  in  der  bestimmten 
Zeit  (hier  60  Sekunden)  zu  vollziehen  waren.  —  Das  Un- 
zweckmässige eines  derartigen.  Vorgehens  leuchtet  ein:  durch 
die  Glockenzeichen  des  Metronoms  wird  ein  durchaus 
unnatürlicher  und  im  höchsten  Grade  störender  Umstand 
den  Versuchsbedingungen  eingereiht. 

Es  wurden  so  vier  Versuche  mit  13  Schülern  des  IV.  Schul- 
jahres, ein  Versuch  mit  36  und  ein  Versuch  mit  12  Schülern 
im  VII.  Schuljahr  ausgeführt.  Jeder  dieser  Versuche  um- 
fasst  die  acht  Lay  sehen  Teilversuche,  deren  Reihenfolge 
durchaus  beibehalten  bleibt.  Die  Ausführung  fällt  immer  in 
die  gleiche  Tageszeit. 

Dazu  ist  kritisch  nichts  Neues  zu  bemerken  —  insbesondere 
was  den  Einfluss  der  Ermüdung  und  der  anfangs  rasch  zu- 
nehmenden Uebung  betrifft.1)  Auch  sind  alle  100  Einzel- 
ergebnisse dieser  Versuche,  trotz  des  Wechsels  im  Wort- 
material2) und  trotz  der  grossen  Verschiedenheit  der  beiden 
Gruppen  von  Versuchspersonen,  ganz  nach  Layschem 
Muster  verwertet:  wieder  Mittelwerte  aus  Mittelwerten  und 
aus  diesen  noch  einmal  Mittelwerte  gezogen,  und  so  alle 
—  einander  gewiss  nicht  gleichgestellten  —  Daten  als 
völlig  gleichgeordnet  behandelt.  Nur  in  der  Fehler- 
zäh 1  u  n  g  findet  sich  die  geringe  Abweichung,  dass 
Itschner  neben  der  auf  Lay  sehe  Art  bestimmten 
Fehlerzahl  noch  die  Anzahl  der  weggelassenen  Silben 
angibt  wodurch  zum  Ausdrucke  kommt,  dass  das  Weg- 
lassen einer  Silbe  auch  ein  Fehler  ist  —  allerdings  kein  ortho- 
graphischer, sondern  ein  Fehler  in  der  Reproduktion  des 
Wortes  selbst. 

Die  Resultate  sind  in  Tabelle  VI  nach  Itschners  An- 
gaben ersichtlich  gemacht  und  den  von  uns  umgerechneten 
Werten  in  bekannter  Weise  gegenübergestellt. 

0  Vgl.  oben  S.  393  f. 
-l  Siehe  oben  S.  430. 

4* 


432 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Ameseder. 

Tabelle  VI. ») 


vollstand.  Versuch 


Teil  versu  ch 


(Reihe) 

Ia 

ib 

Ic 

IIa 

TTh 

TT  r 

m 

rv 

arithm.  Mittel 
(nach  Itschner) 

2.932 

3.387 

2.612 

1.398 

1.701 

= 

1.467 

t  2.100 

1.624 

geometr.  Mittel    ||  2.427  3.243 

2.521 

0.982 

1.518 

1.227 

1.411  j!  1349 

mittlere  Verhältnis- 
zahlen 

1.799 

2.404 

1.869 

0.728 

1.125 

0.909 

1.046 

i  * 

i 

U 

1.530 

1.488 

1.576  i  1.589 

i 

1.706 

1.431 

2.618 

mittlere  Verhältnis-  1 
zahlen,  abgerundet  .  ^ 

2 

2 

!  1 

1 

1 

1 

i 

1 

Nach  fallender  Fehlerzahl  geordnet  ergeben  die  Versuchs- 
variationen folgende  Reihen: 

1.  nach  arithmetischen  Mitteln  (Itschner): 

Ib,  Ia,  Ic,  III,  IIb,  IV,  IIc,  IIa 

2.  nach  geometrischen  Mitteln: 

Ib,  Ic,  Ia,  IIb,  III,  IV,  IIc,  IIa 
Beide  Reihen  weichen  von  der  Lay  sehen  nicht  nur  in  den 
Variationen  a,  b,  c  von  I  und  II,  sondern  auch  in  der  Auf- 
einanderfolge der  Hauptmodifikationen  des  Versuches  —  I,  II, 
III,  IV  —  ganz  bedeutend  ab:  statt  I,  II,  III,  IV  ergiebt  sich 
hier  I,  III,  IV,  II.  Diese  Abweichungen  von  den  Lay  sehen 
Ergebnissen  glaubt  Itschner,  festhaltend  an  der  Richtigkeit 
der  letzteren,  durch  die  Mängel  seines  eigenen  Verfahrens  er- 
klären zu  müssen.  Er  hält  es  für  untunlich,  seine  ico  Versuchs- 
daten den  vielen  Daten  Lays  gegenüberzustellen  —  obwohl 
deren  Ueberzahl,  wie  sich  oben,  S.  387,  herausgestellt  hat,  so  hoch 
nicht  anzuschlagen  ist.  —  Besonders  aber  die  „klinischen. 
Thatsachen",  die  für  Lays  Angaben  beweisend  seien,  scheinen 
ihm  die  Unbefangenheit  des  Urteils  zu  benehmen.  — 
Dass  Itschners  Resultate  unzuverlässig  sind,  soll  hier 
gewiss  nicht  angefochten  werden.  Insbesondere  muss  der 
Selbstkritik  des  Autors  Recht  gegeben  werden,  sofern  sie  die 
kleinen  Schülerzahlen  und  den  störenden  Einfluss  der 
metronomischen  Glockenschläge  anführt.  —  Allein,  abge- 
sehen   davon,    dass    Lays    Ergebnisse    auf    einem  wohl 


»)  VgL  Itschner,  a.  a.  0.  S.  219. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-  Unterrichtes.  433 


ebenso  wenig  einwandfreien  Wege  gewonnen  wurden,  ist 
auch  zu  berücksichtigen,  dass  die  beiden  Experimentatoren 
Resultate  bringen,  die  gar  nicht  wohl  vergleichbar  sind,  wovon 
aber  die  Itschner sehen  immer  noch  in  einer  e n g e r n  Be- 
ziehung zu  der  zu  lösenden  Aufgabe  stehen.  Der  Grund  dieser 
Unvergleichbarkeit  liegt  in  der  Fixierung  der  Lernzeit 
hier,  der  dort  ein  fast  willkürliches  Vorgehen  gegenübersteht, 
indem  die  Zeit  gar  nicht,  und  die  Wiederholungszahl  der  Ein- 
übungen nicht  ganz  ausnahmslos  festgehalten  erscheint.  Immer- 
hin kann  man  von  den  wenigen  Ausnahmen  in  letzterer  Hin- 
sicht absehen  und  demnach  formulieren:  Lay  untersucht  die 
relative  Fehlerhaftigkeit1)  von  Gedächtnisleistungen,  die  auf 
Grund  verschiedenartiger  Lernvorgänge  zustande  kommen, 
deren  jeder  gleich  oft  unter  —  nominell  —  gleich  grossem 
Kraftaufwand2)  angewendet  wurde.  Itschner  untersucht3) 
die  relative  Fehlerhaftigkeit  von  Gedächtnisleistungen,  die  auf 
Grund  derselben  verschiedenen  Lernvorgänge  zustande 
kommen,  deren  jeder  eine  gleiche  Zeit  hindurch  unter 

—  nominell  —  gleich  grossem  Kraftaufwand  angewendet  wurde. 

—  Von  den  beiden  Versuchsverfahren  ist  also  gewiss,  was  diesen 
Differenzpunkt  betrifft,  das  letztere  eher  geeignet,  zur  Lösung 
unserer  Aufgabe  beizutragen :  denn  —  ausreichend  genaue  Aus- 
führung, namentlich  in  Hinsicht  der  „gleichen  Schwierigkeiten'* 
angenommen  —  würde  es  untersuchen,  wie  weit  man  sich  dem 
Lernziele  nähert,  wenn  einmal  in  der,  einmal  in  jener  Weise 
durch  eine  gegebene  Zeit  die  gleiche  Kraft,  alsoimganzen 
der  gleiche  Betrag  an  (psychischer)  Kraft  zum  Lernen 
aufgewendet  wird.  Es  würde  also  —  unter  eben  derselben  Vor- 
aussetzung —  die  A r b e i t e n  vergleichen,  die  bei  gleichem 
Spannungsfaktor  und  bei  verschiedener  Art  des  An- 
greifens  der  Kraft  in  gleichen  Zeiten  geleistet  werden, 
indem  es,  in  den  Graden  der  Annäherung  an  das  Lernziel, 
die  entsprechenden  „Wegfaktoren4 '  mässe.*)  Lays  Daten  aber 
bedürften,  um  als  ein  Mass  von  Arbeitsleistungen  ver- 
wendbar, d.  h.  vor  allem:  um  untereinander  vergleichbar  zu 


x)  mit  den  oben  S.  406  bemerkten  Ungenauigkeiten. 

2)  „gleiche  Schwierigkeiten". 

3)  mit  der  gleichen  Ungenauigkeit. 

«)  Vgl.  Höf ler,  a.  a.  O.  S.  8 ff.  insbesondere  10  u.  11. 


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434 


Ernst  Matiy  und  Rudolf  Ameseder. 


sein,  einer  „Reduktion"  auf  gleiche  Zeiten.  Und  diese  ist 
nicht  zu  leisten,  so  lange  die  funktionelle  Beziehung  von  Lern- 
zeit und  Arbeitsleistung  bei  jedem  einzelnen  der  untersuchten 
Lern  Vorgänge  noch  unbekannt  ist.  Diese  Versuchsanordnung 
setzt  also,  um  brauchbare  Daten  liefern  zu  können,  geradezu 
etwas  voraus,  was  erst  durch  sie  ermittelt  werden  müsste,  aber 
weder  in  ihren  bisherigen  Anwendungen  durch  Lay,  Haggen- 
müller und  Fuchs  ermittelt  wurde,  noch  ermittelt  werden 
konnte. 

Wenn  demnach,  im  Prinzipe,  Itschners  Verfahren  in 
der  Fixierung  der  Lernzeiten  einen  Vorzug  vor  dem  L  a  yschen 
aufweist,  so  ist  doch  die  Art  der  Durchführung  dieser  Fixierung, 
wie  schon  bemerkt,  so  wenig  einwandfrei  wie  die  Haupt- 
fragestellung des  Versuchs,  derzufolge  wieder  statt  Recht- 
schreiben-Lernens ein  Auswendiglernen  von  Wortreihen  unter- 
sucht wird. 

Aus  den  oben  namhaft  gemachten  Abweichungen  seiner 
Resultate  von  den  Lay  sehen,  insbesondere  im  relativen  Fehler- 
ergebnisse des  Teilversuchs  mit  Abschreiben,  zieht  Itschner 
eine  praktische  Konsequenz,  deren  Berechtigung  dem  Unbe- 
fangenen kaum  einleuchten  dürfte:  er  „reorganisiert"  seinen 
Versuch,  und  das  in  ganz  merkwürdiger  Weise.  —  „Un- 
sere Taktik  gab  uns  die  nötigen  Winke  dafür"  —  be- 
merkt er.  „Dabei  hatten  wir  in  erster  Linie  die  Interessen 
des  Abschreibens  zu  wahren."1) 

Die  neue  Versuchsanordnung  fiel  denn  auch  dieser  „Taktik" 
und  ,, Interessen"- Vertretung  —  die  wir,  nebenbei  bemerkt,  in 
wissenschaftlichen  Dingen  nicht  für  wohl  angebracht  halten 
können  —  entsprechend  aus;  —  ebenso  die  Resultate. 
Die  Gleichheit  der  Lernzeiten  wird  aufgegeben. 
Das  Abschreiben  wird  in  „aller  Ruhe",  d.  h.  ohne 
Metronom  und  Glockenschläge,  aber  natürlich  auch  ohne 
Fixierung  der  Zeit,  zweimal  nacheinander  vorgenommen,  das 
Buchstabieren  dreimal,  das  Lesen  ohne  Sprechen, 
das  vorher  die  geringste  Fehlerzahl  ergeben  hatte,  viermaL 
Dies  letztere  deshalb,  weil,  wie  auch  H.  Schiller  gelegent- 
lich bemerkt,  beim  Abschreiben  Original  und  Abschrift  vom 


»)  a.  a.  O.  S.  224. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtschreib-Unterrichtes. 


435 


Schüler  gelesen  werden,  also  einmaliges  Abschreiben  ein  zwei- 
maliges Lesen  involviere.  Ein  Versuch  besteht  nun  aus  den 
Teilversuchen  IIa,  III,  IV,  deren  Reihenfolge  —  in  jedem 
vollständigen  Versuch  —  unverändert  bleibt.  Das  Uebungs- 
material  bilden  wieder  den  Schülern  unbekannte  Fremdwörter. 
Solcher  Versuche  werden  vier  mit  dem  IV.  Jahrgang,  zwei 
mit  dem  VII.  vorgenommen.  Die  Anzahl  der  Teilnehmer  ist 
nicht  genannt. 

Da  so  „dem  Abschreiben"  die  nötigen  „Konzessionen"  ge- 
macht worden  waren,  und  auch  nicht  mehr  versäumt  ward, 
einen  der  Lay  sehen  Fehler  zu  begehen,  so  ergab  sich  denn 
auch  das  gewünschte  Resultat: 

Die  meisten  Fehler  wurden  beim  Buchstabieren  begangen, 
weniger  bei  Lesen  ohne  Sprechen,  am  wenigsten  bei  Ab- 
schreiben. 


Zur  Erleichterung  der  Uebersicht  folge  hier  eine  Zu- 
sammenstellung des  Wichtigsten  an  den  bisher  besprochenen 
Yersuchsergebnissen :  der  Reihen,  in  die  sich  für  jeden  Ex- 
perimentator die  einzelnen  Versuchsvariationen  nach  fallenden! 
Fehlerzahlen  ordnen. 


Tabelle  VII. 


Experimentator 

Versachsvariationen  nach  fallender  Fehlerzalil 
( g  e  o  m.  Mittel) 

Ujr  pr' 

Ib,  Ia,  Ic, 

IIa,  Hb,  Hc, 

IV, 

I  b(  I  a,  I  c, 

IIa,  üb,  IIc, 

IV, 

in, 

Fidw 

Ib,  Ia,  [IdJ  Ic, 

IIc,  [nd,]  IIa,  IIb, 

m, 

IV  e,  iVb 

(l.Vem.- ; 
Itschner     Anord-  i 
nung) 

Ib,  Ic,  Ia, 

IIb,  m,  IV, 

Hc, 

na 

4)  Marx   Lobsien,    Ueber  die    Grundlagen  des 
Rechtschreibunterricht  s.1) 

Die  einleitenden  Abschnitte  vorwiegend  physiologischen  In- 
haltes lassen  wir  auch  hier  wieder  unberücksichtigt  und  wenden; 

*)  Heft  II  der  Sammlung  von  Abhandlungen  und  Vorträgen  zur 
Pädagogik  der  Gegenwart.    Bleyl  &  Kämmerer,  Dresden  1900. 


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436 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Amesedcr. 


uns  sofort  der  Betrachtung  der  Experimente  zu.  — 
Auch  Lobsien  knüpft  in  seiner  experimentellen  Arbeit 
an  Lay  an,  von  dessen  Versuchsverfahren  er  indes  mehr- 
fach stärker  abweicht  als  die  bisher  besprochenen  Autoren. 
Als  Haupterfordernisse,  denen  er  hiebei  gerecht  werden 
will,  stellt  er  die  Schaffung  des  „homogenen  Objekts"  auf  und 
die  „subtile  Würdigung  des  Arbeitswertes  der  (von  den  Ver- 
suchspersonen) gelösten  Aufgaben".  Unter  ersterem  ist  ein 
durchaus  gleiche  Schwierigkeiten  bietendes  Material  an 
Uebungswörtern  gemeint,  unter  letzterer  die  richtige  Zählung 
der  Fehler. 

Das  „homogene  Objekt"  sucht  Lobsien  folgendermassen 
herzustellen.  Auf  Grund  seiner  Untersuchungen  über  „die  me- 
chanische Leseschwierigkeit  der  Schriftzeichen"1)  stellte  er 
Gruppen  von  je  10  Wörtern  zusammen,  so  dass  die  gesamten 
Leseschwierigkeiten  einer  Gruppe  denen  einer  jeden  anderen 
Gruppe  glichen.  Die  Wortgruppe  des  ersten  Versuches  ent- 
hält z.  B.  die  Wörter  „Hof,  Hund,  Haus,  Not,  Wand,  Gut, 
Dorf,  Ton,  Mond,  Mut".  Durch  Umstellung  der  Buchstaben 
bildete  der  Autor  aus  diesen  Gruppen  neue;  z.  B.  aus  der  an- 
geführten ersten  folgende  Gruppe  für  den  dritten  Versuch: 
„duhnhof,  wundtug,  ursnaht,  miadumt,  odnoftr".  Damit  glaubt 
er  ein  ganz  genau  gleich  schwieriges  Material  gewonnen  zu 
haben,  das  sich  vom  ursprünglichen,  woraus  es  abgeleitet  ist, 
nur  dadurch  unterscheide,  dass  ihm  kein  „Wortsinn"  zukommt. 

Was  derartige  Wortgruppen  miteinander  gemein  haben, 
sind  tatsächlich  nur  die  Buchstaben  —  nicht  einmal  durchaus 
die  einzelnen  Laute,  denn  das  erste  h  in  duhnhof  oder  das  h 
in  ursnaht  ist  wohl  nicht  ausgesprochen  worden,  das  r  in  odnoftr 
ist  sicher  nicht  mehr  der  Laut>  der  in  Dorf  durch  das  gleiche 
Zeichen  vertreten  erscheint.  —  Diese  einzelnen  Buchstaben 
behalten,  jeder  fürsich,  auch  ihre  bestimmte  „mechanische 
Leseschwierigkeit".  Es  ist  jedoch  für  die  Leseschwierigkeit 
ihrer  Komplexe  durchaus  nicht  gleichgültig,  in  welcher  An- 
ordnung sie  darin  vorkommen.  So  ist  odnoftr  sicher  schwerer 
zu  lesen  als  Dorf,  Ton  (genauer  dorf,  ton)  trotz  der  gleichen 


l)  Vgl.  des  Autors  so  betitelte  Abhandlung  im  Päd.  Magazin  in. 
Herrn.  Beyer  &  S.,  Langensalza  1898. 

* 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  RechUchreib-Unterricktes. 


437 


Buchstaben.  Also  nicht  einmal  die  Leseschwierigkeiten  der  ein- 
zelnen Wortgnippen  sind  gleich.  Was  aber  viel  wichtiger 
ist,  sind  natürlich  die  Merkschwierigkeiten  der  betreffen- 
den Wörter.  Und  dass  von  deren  Gleichheit  hier  nicht  die  Rede 
sein  kann,  ist  klar.  —  Was  also  zwei  in  der  angegebenen  Weise 
miteinander  zusammenhängende  Gruppen  unterscheidet,  ist  bei 
weitem  nicht  der  Wortsinn  allein.  Das  vom  „homogenen 
Objekt". 

Zur  Bestimmung  der  Fehlerzahlen  wurde  ein  neues  Ver- 
fahren eingeschlagen.  An  Fehlern  unterscheidet  Lobsien: 
Vertauschungen  von  Buchstaben  eines  Komplexes  („Wortes") 
untereinander  (V),  „Fehler"  im  engern  Sinne,  d.  h.  Er- 
setzen eines  Zeichens  durch  ein  anderes  ohne  Ver- 
tauschung innerhalb  des  Komplexes  (F),  und  Auslassungen 
(A).  Es  handelt  sich  nun  um  die  Festsetzung  der  relativen 
Grösse  oder  des  relativen  Gewichtes  dieser  Arten  von  Fehlern : 
es  sollte  ermittelt  werden,  wieviel  Vertauschungen  (V)  etwa 
und  wieviel  , »Fehler"  im  engern  Sinne  (F)  eine  Auslassung 
(A)  aufwiege.  Zu  diesem  Zwecke  stellte  Lobsien  einen  Ver- 
such von  fünf  —  später  zu  beschreibenden  —  Teilversuchen  an, 
die  wir  mit  i,  2,  3,  4,  5  bezeichnen  wollen, 'und  deren  jeder  eine 
bestimmte  Erlernungsart  —  nominell  —  gleich  schwieriger 
Wortreihen  in  sich  befasst  Der  erste  Teilversuch  ergab  vx 
Vertauschungen,  also  v,  Abweichungen  von  der  Art  V,  fx  „Fehler" 
(F),  o,  Auslassungen  (A\  Der  zweite  ergab  v%  V -h  /2  F+  A 
us.  f. 

Nun  wurde  aus  allen  Anzahlen  vy  also  aus  vv  i>2,  vS)  vb 
das  arithmetische  Mittel  vM  gezogen;  entsprechend  aus  den  An- 
zahlen /  ein  mittleres  f„,  aus  den  a  ein  mittleres  am. 

Es  entfielen  also  im  Durchschnitt  auf  einen  der  fünf  Teil- 
versuche an  Fehlern: 

vmV+tmF+amA 
das  ist,  wenn  man  die  von  Lobsien  tatsächlich  erhaltenen 
Anzahlen  statt  unserer  Symbole  einsetzt: 

7  V  +  29  F  4-  53  A. 
Daraus  ward  nun  der  Schluss  gezogen:  die  Fehler  V, 
F  und  A  verhielten  sich  ihrer  Grösse  nach  zueinander  wie  die 
bezüglichen  mittleren  Anzahlen  vmi  fm  und  am\  also 

V:  F:  A  =  vn  :/m :  am  =  7 :  29 : 53. 


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438 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Amtttder. 


Demzufolge  wurden  in  jedem  Teilversuchs-Resultate 

vi  V+fi  F+  ai  A 
die  unbekannten  Fehlergrössen  V,  F  und  A  durch  die 
entsprechenden  mittleren  Anzahlen  vm  =  7,/m  =  29  und 
am  =  53  ersetzt    Das  ergab 

vi  7  +// -29 -hfl/  -  53, 
also,  da  vi ,  //  und  ai  konkrete  Anzahlen  sind,  eine  Summe 
dreier  Produkte  von  je  zwei  Anzahlen,  die  natürlich  leicht  zu 
rechnen  war. 

In  Lobsiens  Darstellung  dieses  höchst  eigentümlichen 
Rechnungsverfahrens  sucht  man  vergeblich  nach  einer  Be- 
gründung dafür.  Sie  zu  geben  ist  auch  unmöglich.  Darum 
hielten  wir  auch  eine  Widerlegung  für  überflüssig,  wenn  sie 
nicht  Gelegenheit  böte,  an  die  Stelle  des  angegriffenen  Ver- 
fahrens die  Anfänge  eines  allerdings  erst  zu  ermittelnden 
bessern  zu  setzen. 

Die  Grösse  eines  Fehlers  ist  jedesmal  gegeben  in  der 
Verschiedenheit  des  Geleisteten  von  dem,  was  zu  leisten  war: 
also  hier  in  der  Verschiedenheit  des  Reproduktionsergebnisses 
von  dem  zu  Reproduzierenden.  Freilich,  nicht  „gegeben" 
im  Sinne  von  „bekannt".  Auch  ist  einstweilen  kaum  ein  Weg 
abzusehen,  der  auf  diesem  Gebiete  zu  einer  einigermassen  prä- 
zisen Feststellung  des  Verschiedenheitsgrades  auf  Grund  der 
beiden  verschiedenen  Gegenstände  führte,  ähnlich  wie  die  Ver- 
schiedenheit zweier  Zahlen  als  durch  eine  Funktion  dieser  Zahlen 
messbar  von  Meinong1)  dargetan  wurde. 

Zieht  man,  der  Einfachheit  halber,  in  diesen  vorläufigen 
Erwägungen  nur  zweierlei  Fehler  in  Betracht :  Vertauschungen 
(V)  und  Auslassungen  (A),  so  ist  doch  soviel  von  vornherein 
ziemlich  sicher,  dass  eine  Auslassung  als  Fehler  schwerer 
wiegen  dürfte  denn  eine  Vertauschung.  Ist  etwa  der  Komplex 
abc  zu  reproduzieren  gewesen  und  wurde  acb  reproduziert, 
so  ist  die  Verschiedenheit  zwischen  abc  und  acb  doch  wohl 
geringer  als  die  Verschiedenheit  zwischen  abc  und  dem  durch 
eine  Auslassung  gebildeten  Komplex  ab.  Man  kann  also  mit 
Recht  behaupten,  eine  Auslassung  eines  Elementes  bedeute 
in  der  Regel  —  d.  h.  wenigstens  unter  ähnlichen  Umständen 


•)  Vgl.  oben  S.  403.  Anm. 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  Rechtichreib-UnUrrichUs.  439 

wie  sie  in  obigem  Beispiel  walten  —  mehr  als  eine  Vertauschung 
zweier  Elemente  untereinander;  insofern  gilt  die  Gleichung 

A  =  n.  V 

worin  n  eine  Zahl  grösser  als  i  bedeutet,  die  wohl  ihren  be- 
stimmten Durchschnittswert  haben  mag,  von  der  aber 
einstweilen  nichts  bekannt  ist  als  eben  die  Beziehung  n  >  1. 

Nun  ist  in  keiner  Weise  einzusehen,  warum  im  mittlem 
Fehlerergebnis  mehrerer  willkürlich  gewählter  Versuchs-Va- 
riationen (i,  2,  3,  4,  5)  gerade  n  mal  soviel  Auslassungen  (A) 
als  Vertauschungen  (V)  sich  vorfinden  sollen.  Im  Gegen- 
teil ist  —  im  Sinne  einer  aller  mathematischen  Fehler- 
theorie zu  Grunde  liegenden  Einsicht  —  vielmehr  zu  er- 
warten, dass  der  grössere  Fehler  seltener  begangen  wird  ab 
der  kleinere. 

Dieses  letztere  scheint  nun  hier  nicht  zuzutreffen.  Der 
A- Fehler  kommt  häufiger  vor  als  der  V-Fehler.  Hat  man 
dennoch  guten  Grund,  an  der  Voraussetzung  festzuhalten,  dass 
ein  A-Fehler  mehr  bedeute  als  ein  V-Fehler,  so  mag  man  sich 
diesen  Ausfall  des  Versuches  so  zu  erklären  unternehmen: 

Erstlich  sind  die  beiden  Anzahlen  Vi  und  ai  nicht  ohne 
weiteres  miteinander  vergleichbar,  weil  sie  die  (absoluten)  An- 
zahlen von  Fehlern  zweier  verschieden  grosser  Komplexe  sind. 
Denn  fl/  ist  die  Anzahl  der  A,  die  sich  dem  ganzen  zu  repro- 
duzierenden Komplexe  gegenüber  eingestellt  haben ;  Vi  aber  ist 
die  Anzahl  der  V,  die  in  dem  tatsachlich  reproduzierten  Rest, 
also  in  einem  kleinern  Komplexe  vorgekommen  sind.  Ver- 
gleichbar, d.  h.  auf  die  gleiche  Einheit  bezogen,  wären  also 

insoweit  nur  die  Zahlen  — - —  und  — .  worin  z  die  Anzahl  der 

z — ai  z  ' 

zu  reproduzierenden  Elemente  bedeutet 

Ausserdem  bleibt  zu  bedenken,  dass  sehr  wahrscheinlicher- 
weise beim  Begehen  eines  V-Fehlers  eine  andersartige 
psychische  Dispositions-Grundlage  in  Anspruch  genommen  ist 
als  beim  Begehen  eines  A-Fehlers  und  daher  auch  ein  feinerer 
mathematischer  Kalkül  —  zunächst  auf  Grund  des  Gauss  sehen 
„Fehlergesetzes'4  —  nicht  ohne  weiteres  auf  Anzahlen  und 
Grössen  von  V-  und  A-Fehlern  anwendbar  ist;  ähnlich  wie 
er  auf  Anzahlen  und  Grössen  von  Fehlern  etwa  in  der  Schätzung 
von  teils  gesehenen  und   teils   getasteten  Strecken 


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440 


Ernst  Mally  und  Rudolf  Amescdcr. 


zum  mindesten  ohne  die  Kenntnis  der  Beziehung  zwischen  den 
bezüglichen  „Präzisionskonstanten"  nicht  anwendbar  wäre.  Und 
ähnlich,  wie  es  gar  nicht  dem  „Fehlergesetze"  widerspräche, 
wenn  bei  Schätzung  der  gesehenen  Strecken  sich  für  einen 
bestimmten  Fehler  eine  kleinere  relative  Häufigkeit  ergäbe 
als  bei  Schätzung  von  getasteten  Strecken  gleicher  Grösse 
für  einen  grössern  Fehler :  widerspräche  auch  die  geringere 
relative  Häufigkeit  —  falls  eine  solche  erwiesen  wäre  —  der 
V-Fehler  gegenüber  der  grössern  der  A-Fehler  noch  nicht  not- 
wendig der  Voraussetzung  A  >  V. 

Dagegen  folgte  daraus  allerdings,  dass  man  aus  den  blossen 
relativen  —  geschweige  denn  aus  den  absoluten  —  Anzahlen 
der  Fehler  der  genannten  Arten  noch  nicht  ohne  weiteres  auf 
deren  relative  Grösse  schliessen  darf. 

Wie  schon  bemerkt,  umfasst  jeder  Versuch  fünf  Teil- 
versuche. Diese  sind:  i)  Sehen,  bei  Ausschluss  der  Sprech- 
bewegung. Die  Schüler  bekommen  ein  „Wort"  von  sieben 
Schriftzeichen  zu  lesen,  z.  B.  duhnhof.  Nach  30  Sekunden» 
verschwindet  das  Schriftbild  und  wird  dann  von  den  Schülern  aus 
dem  Gedächtnis  niedergeschrieben.  Während  des  ganzen  Ver- 
suches halten  die  Schüler  die  Zunge  zwischen  die  Schneidezähne 
geklemmt  —  (Zf.  dh. Zunge  fest).  Den  Versuch  bezeichnet  Lob- 
sien mit  S.  Z.f.  2)  Hören  ohne  Sprechbewegung  (H.  Zf.): 
ein  Lautgebilde  von  der  früher  beschriebenen  Art  wird  drei- 
mal vorgesprochen.  3)S  -f  H;  Zf:  die  Schüler  lesen 
still,  was  ihnen  zugleich  dreimal  vom  Versuchsleiter  vorgelesen 
wird.  4)  S  +  B;  ZI  (d.  h.  Zunge  los):  die  Schüler  lesen  still, 
sind  aber  an  der  Bewegung  der  Sprachorgane  sonst  nicht  ge- 
hindert (ebenso  beim  Niederschreiben).  5)  S  +  B  +  H;  ZI: 
Schüler  und  Versuchsleiter  lesen  laut;  beim  Niederschreiben 
flüstern  die  Schüler  für  sich,  was  sie  schreiben.  Solcher  Teil- 
versuche wurden  rund  1000  ausgeführt,  immer  je  fünf  (wohl 
in  der  bestimmten  Reihenfolge)  als  ein  Gesamtversuch.  Nähere 
Angaben  über  Alter  und  Zahl  der  Versuchspersonen  u.  s.  w. 
fehlen.  Als  Fehler  wurden  nur  Verstösse  gegen  die  „Gleich- 
schreibung" (phonetische  Schreibung)  angerechnet. 

Was  bei  dieser  Yersuchsanordnung  zunächst  auffällt,  ist 
das  Mittel,  wodurch  die  Sprechbewegung  ausgeschlossen  werden 
soll,  und  das,  namentlich  bei  Schülern,  immer  recht  störend 


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Zur  experimentellen  Begründung  des  RechUckreib-Unierrichtes.  441 

auf  die  Versuchsbedingungen  wirken  dürfte.  Sonst  ist  nicht 
viel  einzuwenden,  was  nicht  schon  bei  früherer  Ge- 
legenheit in  dieser  Schrift  bemerkt  worden  wäre.  Besonders 
ist  festzuhalten,  dass  durch  Isolierung  von  Sehen  oder  Hören 
auch  hier  wieder  nicht  die  betreffenden  Vorstellungen 
isoliert  wurden,  und  vor  allem  dass  durch  diese  Versuche 
auch  nichts  anderes  als  durch  die  Lay  sehen  untersucht  werden 
konnte,  sicher  nicht  eigentlich  das,  was  zu  untersuchen  war. 

Auffällig  ist  übrigens  noch,  dass  der  Autor  die  Ver- 
minderung der  Fehlerzahlen  bei  Anwendung  wirklicher 
Wörter  an  Stelle  seiner  künstlich  gebildeten  dem  Sinne 
der  Wörter  zuschreibt,  während  dieser  doch  höchstens  nur 
neben  der  Verschiedenheit  der  Auffassungs-  und.  "Merk- 
schwierigkeiten  von  Einfluss  sein  konnte. 

Die  Ergebnisse  sind,  wegen  des  verschiedenen  Verfahrens, 
mit  den  bisher  besprochenen  so  wenig  vergleichbar  und  haben 
an  sich  auch  auf  unsere  Frage  so  wenig  Bezug,  dass  sie  füg- 
lich können  übergangen  werden. 


Damit  sind  unsere  Ausführungen  vorläufig  zu  Ende  ge- 
bracht. Wenn  sie  auch  nicht  einen  ausschliesslich  kritischen 
Charakter  tragen,  so  ist  ihr  Zweck  doch  nur  ein  vorbereitender, 
ein  Anbahnen  neuer  Versuchswege  durch  Ausschalten  der  un- 
zweckmässigen;  und  mit  der  Begründung  solcher  Unzweck- 
mässigkeit  wohl  auch  des  Aufzeigens  von  einigem,  das  für 
künftige  Versuche  nicht  ausser  Acht  zu  lassen  sein  möchte. 


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Geographische  Spaziergänge. 

Von 

Heinrich  Fischer. 

I.  Spaziergänge!  —  Welche  beliebte  Form,  allerlei  nütz- 
liches Wissen  in  angenehmer  Art  darzubieten!  Was  man 
so  gemeinhin  unter  „Spaziergängen"  zu  Gesicht  bekommt,  ich 
denke  z.  B.  an  die  vortrefflichen,  freilich  nicht  für  Kinder  be- 
stimmten „Spaziergänge  eines  Naturforschers"  von  Marshall, 
das  sind  erdachte  gemeinsame  Wanderungen  für  bestimmte, 
vielleicht  verschleierte,  aber  doch  wenigstens  vom  Verfasser  er- 
kannte und  gewollte  Lehrziele. 

Kann  es  da  wohl  auch  geographische  Spaziergänge 
geben?  Warum  nicht!  Wie  aber  mögen  sie  aussehen? 
Nicht  anders  wie  jeder  andere,  bei  dem  man  sich  be- 
müht, die  Aufmerksamkeit  der  Kinder  auf  bestimmte  Gegen- 
stände zu  lenken,  sie  in  ihren  Fragen  auf  beabsichtigte  Rich- 
tungen hinzuweisen.  Nur  eins  ist  zu  bedenken:  Genau  ge- 
nommen hat  jeder  Gegenstand  auf  dieser  Erde  geographische 
Natur,  und  der  Himmel  liefert  uns  die  Punkte  und  Linien, 
nach  denen  wir  uns  hier  unten  zurechtfinden.  Betrachte  ich 
ein  Ding,  so  wie  es  ist,  entsteht  und  vergeht,  auf  seine  nächste 
Umgebung  einwirkt,  oder  von  ihr  beeinflusst  wird,  so  liegt 
darin  nichts  geographisches.  Sehe  ich  es  mir  aber  daraufhin 
an,  wie  es  gerade  auf  diese  Stelle  der  Erde  gelangt  ist,  was 
sich  weiter  aus  seiner  Lage  für  Ding  und  Erde  ergiebt,  wie 
man  es  macht,  seine  Lage  und  seine  Beziehungen  zur  Erd- 
oberfläche festzulegen  und  Kausalverbindungen  aus  diesem  Ver- 
halten aufzudecken,  so  betreibt  man  Geographie.  Das  ist  für 
ernste  Wissenschaft  genau  so  richtig  wie  für  erste  Kinderbe- 
lehrung; nur  in  der  Form  und  in  der  Fülle  des  Inhalts  liegt 
ein  Unterschied.  Beispiele  werden  uns  das  Wesen  geogra- 
phischer Betrachtung  klarer  machen.  Ich  gehe  eine  Linden- 


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Geographische  Spaliergänge. 


443 


allee  entlang.  Sehe  ich  mir  den  einzelnen  Baum  an  nach  Wuchs 
und  Eigenart,  nach  Blüten  und  Fruchtbildung,  untersuche  ich 
die  Einwirkung  äusserer  Kräfte  belebter  oder  unbelebter  auf 
den  Baum  und  die  Schutzmittel,  die  dieser  im  Kampfe  um 
sein  Leben  gebraucht,  so  betreibe  ich  nichts  geographisches. 
Aber,  wenn  ich  die  Wetterseite  der  Bäume  aufsuche,  sie  fast 
alle  ein  wenig  nach  Osten  geneigt,  ihren  Stamm  im  Westen 
stärker  mit  Flechten  und  Moos  bedeckt  finde,  berühre  ich 
geographisches.  Stelle  ich  gar  Länge,  Breite  und  Richtung 
des  Weges  fest,  beobachte  die  Krümmen  die  er  macht  und 
finde  ihre  Ursache  in  Sumpf  und  Berg,  die  umgangen  wurden, 
oder  in  Ortschaften,  die  an  den  Weg  angeschlossen  werden 
sollten,  so  bin  ich  lediglich  Geograph.  Ich  sehe  Zugvögel  über 
mich  hinfliegen,  stelle  ich  ihre  Art  fest,  beachte  ich  die  Eigen- 
tümlichkeit ihres  Fluges  oder  ihres  Rufes,  so  bin  ich  Zoologe, 
achte  ich  hingegen  wieder  auf  die  Richtung  die  sie  ein- 
schlagen, auf  die  Höhe,  in  der  sie  fliegen,  und  bedenke  dabei 
Jahres-,  Tageszeit  und  Witterung,  so  bin  ich  Geograph.  Am 
fremden  Ort  fallen  mir  Abweichungen  des  von  Hause  her 
gewohnten  auf,  erst  wenn  mir  diese  oder  jene  in  ihrer  Ab- 
hängigkeit von  der  andern  Lage  des  fremden  Ortes  klar  wird, 
denke  ich  geographisch  über  sie.  So  sehe  ich  Holzbau  im 
Gebirge,  Schieferdächer  in  einem  andern,  in  der  Ebene  Lehm- 
fachwerk und  Ziegeldächer,  Steinbau  am  Fluss,  der  schiffbar 
vom  nahen  Gebirge  sich  herwendet.  Hier  tragen  die  Menschen 
auf  Rücken  und  Kopf,  was  sie  dort  mit  der  Karre  befördern; 
die  vom  Gelände  bedingte  Steilheit  der  Wege  bewirkt  den 
Unterschied.  Hier  breiten  sich  weite  Wälder  aus,  da  Roggen- 
und  Kartoffelfelder,  dort  wieder  wächst  Tabak  und  Rübe,  die 
Güte  des  Bodens  bedingt  den  Unterschied.  Man  wird  erkannt 
haben,  dass  es  allemal  nicht  auf  die  gesamte  Erscheinung  eines 
Dings  ankommt,  sondern  auf  ihre  räumlichen  und  ursäch- 
lichen Beziehungen  zur  Erdoberfläche.  Auf  diese  muss  man 
auch  die  Kinder  hinweisen,  will  man  „geographische  Spazier- 
gänge" unternehmen.  Der  Natur  des  Kindes  aber  entspricht 
es  hierbei  nicht  systematisch,  nicht  im  eigentlichen  Sinne  lehr- 
haft, zu  verfahren.  Ich  bin  gewiss  kein  Feind  systematischer 
Unterweisung,  sie  hat  ihren  Sitz  und  ihr  Recht  in  der  Schule; 
aber  nebenher  muss  die  freie  Form  der  geistigen  Anregung 


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444 


H.  Fischer. 


gehen,  die  bald  durch  Fragen  des  Kindes  veranlasst  wird, 
bald  auf  vom  Kinde  nicht  beachtetes  hinweist,  aber  leicht  und 
gern  den  Faden  fallen  lässt,  wenn  er  nur  noch  mit  stärkerem 
Zwang  für  das  Kind  gehalten  werden  kann.  Hat  man  durch 
unterrichtliche  Ueberfütterung  dem  Kinde  seine  Fragelust  ge- 
nommen, so  ist  der  Verlust  viel  grösser,  als  wenn  man  noch 
so  oft  dies  und  das  nicht  hat  zeigen  können,  weil  der  kleine  Strick 
nicht  mehr  bei  der  Sache  war.  —  Also  —  denn  ich  muss 
noch  einmal  zusammenfassend  sagen,  es  lässt  mir  keine  Ruh 
—  ein  geographischer  Spaziergang  mit  Kindern,  wobei  ich 
immer  an  Familienverhältnisse  und  wenige  Kinder  denke, 
wird  sich  so  gestalten,  dass  der  Erwachsene  harmlos  mit 
seinen  kleinen  Schutzbefohlenen  loswandelt,  bald  hier  und  da 
beobachtend  mit  ihnen  verweilt,  und  nun  im  bunten  Gemenge 
mit  zoologischen,  botanischen,  physikalischen  Bemerkungen 
die  kleinen  Intellekte  auch  auf  die  räumlichen  Beziehungen 
der  Dinge  auf  der  Erdoberfläche  aufmerksam  macht. 

II.  Geographisches  kann  sich  schon  sehr  früh  für  das  Kind 
bemerkbar  machen.  Jede  Ortsveränderung  giebt  sich  ja  schon 
als  solche  ein  wenig  geographisch.  Es  wird  leicht  sein,  in 
Kindern  die  Vorstellung  der  Verschiedenheit  des  Ortes  leb- 
haft werden  zu  lassen.  Das  Erkennen  des  elterlichen  Wohn- 
hauses am  Ende  eines  kleinen  Spazierganges  ist  vielleicht  die 
erste  bewusste  Aeusserung  dieser  Art  seitens  des  Kindes. 
Man  schicke  beim  Heimwege  wenige  Nummern  vor  dem 
Wohnhause  das  Kind  voraus  und  lasse  es  das  richtige  Haus 
suchen.  Die  weitere  Orientierung  in  der  Nachbarschaft  schliesst 
sich  allmählich  daran,  ein  erster  selbständiger  Besuch  beim  Kauf- 
mann und  dergl.  folgen.  Ein  Ausflug  giebt  wohl  Gelegenheit, 
das  Wiedererkennen  des  Stadtteiles  zu  erproben.  „Nu  sind 
wir  wieder  in  Ballin"  sagte  unaufgefordert  meine  kleine,  da- 
mals dreijährige  Tochter,  als  wir  von  einem  Ausflug  in  den 
Grunewald  einige  Strassenecken  von  unserer  Wohnung  ent- 
fernt, abends  aus  dem  Omnibus  stiegen.  Sie  musste  also  doch 
die  Strassen  so  weit  im  Gedächtnis  haben  und  selbst  bei 
Abendlicht  erkennen. 

Ganz  ein  ander  Ding  aber  auch  geographischer  Betrach- 
tung schon  im  frühen  Kindesalter  zugänglich  ist  der  Himmel 


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Geographische  Spaziergänge. 


445 


und  seine  Gestirne,  allen  voran  der  Mond.  Die  Sterne  erlauben 
nicht  leicht  sich  zwischen  ihnen  zurechtzufinden,  sie  sind,  be- 
sonders für  das  Kind,  einander  zu  ähnlich.  Die  Sonne  blendet 
und  erfüllt  mit  ihrem  Licht  alles  derart,  dass  sie  nur  bei  Auf- 
gang und  Untergang  bequemer  gesehen  werden. kann;  den 
Schatten  aber,  den  sie  wirft,  ihr  Schein,  der  in  ein  Fenster  hinein- 
fällt, sind  für  ein  Kind  lange  nicht  so  auffallend,  wie  der 
bleiche  wechselgestaltete  Mond.  Wird  er  entdeckt,  erregt  er 
jedesmal  Jubel,  sein  Schein  in  eine  dunkle  Stube  hinein  wird 
aufmerksam  und  mit  Freude  betrachtet,  seine  verschiedene  Ge- 
stalt und  Stellung  am  Himmel,  das  alles  fällt  dem  Kinde  leicht 
auf  und  lässt  den  Mond  zu  einem  vertrauten  und  erfreulichen 
Gesellen  am  Himmel  werden.  Auch  die  Bedeckung  durch 
Wolken,  wie  leicht  lässt  sie  sich  beim  Monde  beobachten, 
wie  unangenehm  meist  für  die  Augen  bei  der  Sonne!  Nun 
lässt  sich  die  Lust,  den  Mond  zu  betrachten,  bei  den  Kindern 
zwiefach  ausbeuten.  Einmal  bleibt  der  Mond  überall.  Fährt 
das  Kind  gegen  Abend  einen  Weg,  alle  andern  Gegenstände 
kommen  heran,  laufen  an  ihm  rechts  und  links  vorbei  und 
verschwinden  hinten,  der  liebe  Mond  geht  still  und  sicher  mit. 
Wohl  versteckt  er  sich  einmal  hinter  einem  Hause,  aber  schon 
kommt  er  wieder  heraus.  Der  Grund,  seine  ungeheure  Ent- 
fernung von  uns  im  Vergleich  mit  den  Dingen  in  unserer  Nähe, 
ist  dem  Kinde  nicht  verständlich,  das  thut  aber  nichts.  Erst 
die  einzelne  Beobachtung,  dann  die  wiederholte,  später,  viel- 
leicht viel  später  die  Frage  nach  dem  Grunde.  Das  ist  der 
vernünftige  und  natürliche  Weg,  wenn  auch  tausendfach  in 
unsern  Schulen  den  Kindern  Gründe  für  nicht  beobachtete 
Dinge  als  Antwort  auf  nicht  gestellte  Fragen  gegeben  werden. 
Auch  die  abgesehen  von  seiner  wachsenden  Rundung  gleich- 
bleibende Grösse,  die  einerseits  gestattet  ihn  mit  einer  kleinen 
Hand  zu  bedecken  und  andererseits  beim  Aufgang  ihn  berge- 
hoch über  ein  entferntes  Haus  hinaustragen  lässt,  kann  schon 
beobachtet  werden.  Das  andere  Beobachtungsmaterial  liefert 
die  wechselnde  Gestalt  des  Mondes  in  Verbindung  mit  seiner 
veränderten  Stellung  am  Himmel.  „Wenn  der  liebe  Mond  ganz 
schmal  ist,  dann  steht  er  in  Vaters  Stube;  wenn  er  halbdick 
ist,  ist  er  in  der  Essstube;  und  wenn  er  ganz  rund  ist,  dann 
ist  er  in  der  Schlafstube."  Das  haben  meine  beiden  Kinder, 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  5 


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446 


H.  Fischer. 


besonders  die  fünfjährige,  schon  lange  heraus.  Da  die  einzige 
Beobachtungszeit  die  frühe  Abendstunde  ist,  so  folgt  daraus, 
dass  die  drei  Stuben  nach  Westen,  Süden  und  Osten  liegen 
müssen.  Soweit  sind  wir  aber  noch  nicht  gekommen;  denn 
da  ein  leichtes  Benutzen  der  Himmelsrichtungen  nicht  ohne 
Sicherheit  im  Gebrauch  von  rechts  und  links  möglich  ist,  diese 
sich  aber  noch  nicht  befriedigend  eingestellt  hat,  können  wir 
mit  Himmelsrichtungen  noch  nichts  Rechtes  anfangen.  Ich 
wünschte  auch,  sie  versuchten  erst  noch  selbst  durch  einige 
kleine  Beobachtungen  weiter  zu  kommen.  Eine  solche  haben 
sie  beide,  oder  richtiger  der  3»/*  jährige  Knabe  zuerst  und  daher 
gewiss  selbständig  gemacht.  Ich  hatte  ihnen  Venus  und 
Jupiter  im  Sommer  gezeigt,  und  sie  suchten  sie  dann  an  jedem 
heiteren  Abend,  solange  sie  zu  finden  waren.  Nun  kam  nach 
einer  Unterbrechung  im  Herbst  eine  Zeit,  wo  das  nicht  mehr 
gelang,  Venus  war  längst  Morgenstern,  Jupiter  verglomm  in 
der  Abenddämmerung.  Da  entdeckte  an  einem  Abend  der 
Knabe  den  über  einem  gegenüberliegenden  Hause  ziemlich 
tief  am  Himmel  stehenden  Arktur.  „Jupiter",  ruft  er  aus. 
Ich  sage:  ,*Nein,  der  ist  es  nicht,  der  sieht  anders  aus,  der 
Stern  heisst  „Arktur."  Da  sieht  er  ihn  sich  noch  einmal  an 
und  sagt  dann:  „„Arktur"  macht  so."  Dabei  blinzelte  er  ein 
paarmal  mit  den  Augen.  Er  hatte  das  Funkeln  eines  Fix- 
sternes erkannt. 

III.  Vor  etwa  Jahresfrist  erschien  in  einer  populär-wissen- 
schaftlichen Zeitschrift  eine  „Mahnung"  man  solle  die  Kinder 
bei  Wanderungen  vom  Sammeln  zurückhalten.  Das  Sammeln 
von  Tieren  veranlasse  meist  nutzlose  Quälereien,  und  beim 
Pflanzensammeln  werde  auch  oft  unnötig  zerstört.  Statt  dessen 
sei  es  besser,  man  nehme  sich  der  Kinder  besser  an,  zeige 
ihnen  die  Herrlichkeit  der  Natur  bis  in  ihre  kleinsten  Mani- 
festationen, lehre  sie  das  Geheimnis  der  Befruchtung  in  den 
Blüten,  die  Bedeutung  der  Insektenbesuche  u. s.w.  verstehen. 
Der  Artikel,  der  übrigens  von  einem  Geographen  herrührte, 
fand  vielen  Beifall,  nach  der  Häufigkeit  zu  urteilen,  mit  der 
man  ihm  in  Sonntagsblättern  und  ähnl.  als  Abdruck  wieder 
begegnete.  „Man  kann  dem  Verfasser  dieser  Mahnung  nur 
voll  beipflichten",  lautete  der  redaktionelle  Stempel,  der  bei- 


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Geographische  Spaziergänge. 


447 


gedrückt  zu  sein  pflegte.  Und  doch  ist  —  sehe  ich  von  der 
Verhütung  unnötiger  Grausamkeit  ab,  diese  Mahnung  in  ihrem 
Kerne  vollkommen  unrichtig.  Belehrungen,  wie  die  dort  ge- 
nannten, entsprechen  wohl  dem  Kausalitätsbedürfnisse  und  dem 
Erfahrungsstande  Erwachsener,  wer  sie  aber  dem  Kinde  an- 
thut,  der  redet  in  den  Wind.  Das  Kind  will  kennen  und  unter- 
scheiden lernen,  dazu  bedarf  es  des  Sammeins;  es  will  seine 
Beobachtungen  in  Zusammenhang  bringen,  dazu  bedarf  es  des 
Ordnens.  Wie  in  der  grossen  Geschichte  der  Menschheit  wissen- 
schaftliches Denken  entstanden  und  gewachsen  ist,  nach  den- 
selben Gesetzen  wächst  die  Erkenntnis  auch  heute  noch  in 
den  kleinen  Köpfen :  erst  Freude  am  Einzelnen  (einmal  auch 
Furcht  davor),  dann  Bedürfnis  nach  Unterscheidung  und  Ver- 
langen nach  Namen,  dann  Zusammenfassung  des  Aehnlichen 
—  viel  später  unsere  Art  der  kausalen  Verknüpfung.  Nicht  als 
wenn  das  Kind  ohne  ursächliche  Verknüpfung  auskäme,  aber 
seine  Welt  der  kausalen  Beziehungen  ist  nicht  die  der  Er- 
wachsenen. Sind  denn  das  Märchen-,  das  Heroenalter  der 
Kindesseele  nur  kindische  Marotten ;  oder  entspringen  sie  nicht 
vielmehr  der  Natur  des  Kindes  selbst  ?  Wenn  aber  das  letztere, 
wenn  der  heranwachsende  kindliche  Geist  (nach  Art  eines 
phyllogenetischen  Grundgesetzes  auf  psychischem  Gebiet)  die 
Weltanschauungsformen  alter  Zeiten  durchleben  muss,  ist  es 
da  nicht  eine  Verkehrtheit  vorschnell  mit  der  fremden  Ge- 
dankenwelt der  Erwachsenen  sich  in  dieses  Leben  hineinzu- 
drängen ?  Ausserdem  ist  es  nutzlos.  Der  kindliche  Geist  nimmt 
doch  nur  das  auf,  was  ihm  entspricht;  alles  andere  kann  ihm 
wohl  mechanisch  eingeflösst  werden,  es  wird  aber  nicht  wirk- 
licher Besitz,  es  bleibt  toter  Ballast.  Wozu  aber  eine  Kindes- 
seele unter  Ballast  gehen  lassen,  wenn  für  wertvolle  Ladung 
gesorgt  werden  kann?  Etwa  nur,  weil  die  moderne  Schule, 
mögen  ihre  Vorzüge  so  gross  sein,  wie  sie  wollen,  im  Ballast- 
laden es  so  hübsch  weit  gebracht  hat  ?  Ich  dächte  hierin  könnte 
das  Elternhaus  ruhig  seinen  besonderen  Weg  gehen. 

IV.  Meine  Kinder  leben  jedenfalls  noch  im  Märchenzeit- 
alter, und  darnach  richte  ich  mich  Besser  als  eine  langatmige 
Auseinandersetzung  wird  ein  kleines  Gespräch  die  geistige  Ent- 
wicklungsstufe darlegen,  auf  der  ich  mit  etwaigen  geographi- 


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44H 


H.  Ftschcr. 


sehen  oder  verwandten  Belehrungen  meinerseits  fussen  kann. 
Die  Kinder  kennen  den  lieben  Gott  und  Frau  Holle.  An  einem 
der  wenigen  heissen  Tage  des  verflossenen  Sommers  sassen 
sie,  kurz  ehe  ein  Gewitter  heraufkam,  bei  einander,  und  litten 
etwas  unter  der  Schwüle.  Da  entspann  sich  zwischen  ihnen 
nun  folgende  Unterhaltung.  „Ob  wohl  der  liebe  Gott  auch  so 
schwitzt  wie  wir?"  „Nein,  der  ist  ja  oben,  da  scheint  die  liebe 
Sonne  nur  so  von  der  Seite  gegen  ihn."  Der  Junge,  er  war 
der  antwortende  Teil,  hatte  die  zutreffende  Beobachtung  ge- 
macht, dass  allein  die  hochstehende  Sonne  stark  wärmt  und 
sie  an  sich  ganz  richtig  verwertet.  Inzwischen  zieht  das  Wetter 
herauf  und  es  beginnt  zu  regnen.  „Wie  das  wohl  Frau  Holle 
macht,  wenn  sie  regnen  lässt?  Gewiss  wischt  sie  dann  oben 
auf,"  bemerkt  eins  der  Kinder.  Ein  heftiger  Guss  geht  her- 
nieder. „Nun  wird  sie  sich  wohl  in  den  Aufwischeimer  gesetzt 
haben  und  ist  mit  umgefallen."  Es  donnert.  „Horch,  jetzt 
schrubben  sie."  Man  sieht,  eine  Weiterbildung  des  durch  das 
bekannte  Märchen  gegebenen  „Bettenschüttelns  der  Frau 
Holle",  die  zu  Erklärungen  von  Naturerscheinungen  kommt, 
wie  sie  dem  kindlichen  Vorstellungsvermögen  gerade  ange- 
messen sind.  Sie  stehen  nicht  in  Uebereinstimmung  mit  den 
Naturgesetzen  der  Erwachsenen,  das  thut  nichts,  diese  werden 
sich  schon  aus  ihnen  mit  der  Zeit  entwickeln.  Denn  so  bestimmt 
solche  kindlichen  Aeusserungen  auftreten,  so  plastisch  sind 
doch  noch  die  dahinter  steckenden  Vorstellungen,  so  leicht 
und  bequem  verändert  oder  ersetzt.  Einige  Wochen  später 
stehe  ich  mit  dem  Jungen  bei  Regenwetter  in  einer  Laube,  wir 
lauern  beide  darauf,  dass  das  Giessen  aufhört.  „Woher  nur 
der  viele  Regen  immer  kommt!  seufzt  er.  „Ja,  wo  kommt  er 
wohl  her,"  frage  ich  nun.  „Von  den  dicken  Wolken,  da  fällt 
er  heraus."  Wir  unterhalten  uns  noch  ein  ganzes  Weilchen  so 
korrekt  naturwissenschaftlich;  da  ruft  er  plötzlich  heraus:  „So 
Frau  Holle,  nun  kannst  du  aber  mit  Regnen  bald  aufhören." 
„Wie  macht  das  denn  Frau  Holle,  wenn  sie  regnen  lässt?** 
erkundige  ich  mich.  „Sie  wird  wohl  die  dicken  Wolken  an- 
einander pressen,  dann  läuft  das  Wasser  unten  raus."  So 
arbeitet  der  kleine  Geist  an  dem  Regenproblem.  Soll  man 
ihm  mit  dem  Danaergeschenk  einer  vorzeitigen  „Erklärung" 
die  Freude  am  eigenen  Finden  verderben?  Ich  meine  nicht, 


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Geographische  Spaziergänge. 


449 


nur  für  eins  wird  man  sorgen  müssen,  leider  notgedrungen 
gegen  das  verbalistische  Wesen  unserer  modernen  Schule:  für 
die  Pflege  des  scharfen  Sehens,  Beobachtens,  Unterscheidens 
und  Schliessens,  verbunden  mit  wachsender  Liebe  und  Ehr- 
furcht vor  der  Natur. 

V.  Aber  nun  wollen  wir  wirklich  unsere  versprochenen 
Spaziergänge  antreten.  Wir  wollen  einmal  sehen,  was  der  kleine 
Kerl  neben  uns,  sich  unter  einem  Berg  vorstellt,  und  wie  weit 
wir  ihm  bei  der  Klärung  seiner  Vorstellungen  behilflich  sein 
können.  Gehört  hat  er  das  Wort  schon  oft,  ebenso  es  gebraucht. 
Auch  ist  er  auf  grösseren  und  kleineren  Bergen  schon  ge- 
wesen, im  Riesengebirge  und  hier  an  der  See  auf  dem  „Bäcker- 
berge", der  gerade  über  die  kleinen  einstöckigen  Häuser  davor 
hinwegsieht;  auch  läuft  an  unsern  Hinterfenstern  in  Berlin 
der  „Tempelhofer  Berg"  hin,  eine  etwas  vernachlässigte,  für 
Flachlandverhältnisse  ziemlich  stark  ansteigende  Strasse.  Jetzt 
sind  wir  im  Seebad,  in  dem  kleinen  Osternothhafen  unter  dem 
Swinemünder  Leuchtturm.  Wir  gehen,  das  Kind  und  ich,  am 
Fischerhafen  auf  und  ab  und  blicken  den  Strom  hinauf.  „Das 
ist  der  Golm,"  ruft  der  Kleine.  Ich  hatte  ihm  den  bekannten 
Berg  öfters  gezeigt,  denn  er  hebt  sich  mit  leichtkenntlichem 
Umriss  vom  Himmel  ab,  gerade  hinter  dem  Swinemünder 
Flusshafen.  „Was  ist  denn  das,  der  Golm?"  frage  ich  ihn 
nun.  „Ein  Berg",  sagt  er.  „Was  ist  das  aber,  ein  Berg  ?"  frage 
ich  weiter.  Kleine  Pause.  —  „Hampelbaude"  ist  schliesslich  die 
zögernd  kommende,  halb  fragende  Antwort.  Auf  die  Hampel- 
baude im  Riesengebirge  waren  wir  vor  zwei  Jahren  mit  den 
Kindern  als  Abschluss  eines  längeren  Sommeraufenthaltes  ge- 
stiegen. Niemals  hatte  er  annähernd  so  lange  und  so  viel  bergan 
und  dann  bergab  steigen  müssen,  das  hatte  sich  ihm  am 
stärksten  eingeprägt.  Mir  war  diese  Antwort  sehr  überraschend, 
ich  hätte  viel  eher  den  Kreuzberg  erwartet,  den  er  doch  häufig 
genug  auf  und  ab  gestiegen  ist,  aber  nein :  die  Hampelbaude. 
Es  scheint  mir,  dass  neben  der  Thätigkeit  des  Bergsteigens 
die  sinnliche  Anschauung,  die  in  Berlin  bei  der  Fülle  gleich- 
zeitiger Eindrücke  für  das  einzelne  Ding  weniger  kräftig  ist, 
eine  entscheidende  Rolle  gespielt  hat.  Dass  sie  aber  wieder 
nicht  das  einzig  wichtige  war,  beweist  die  Zurückstellung  der 


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I 


450  Ä  Fischer. 

Schneekoppe,  die  auch  für  ihn  als  eindrucksvollster  Gipfel  den 
Kamm  überragte  und  fast  jeden  Abend  von  ihm  benannt  wurde, 
wenn  der  Jupiter  langsam  hinter  ihr  heraufstieg.  Es  sind  also 
die  beiden  wichtigsten  Elemente  für  eine  grundlegende  Auf- 
fassung des  Begriffs  „Berg"  bei  ihm  vorhanden:  das  hohe, 
überragende  und  das  mit  Mühe  zu  ersteigende. 

An  einem  der  nächsten  Tage  machten  wir  nun  einen  Aus- 
flug nach  unserm  „Golm",  soweit  als  möglich  zu  Fuss.  Da- 
durch hat  sich  seine  Vorstellung  klären  und  erweitern  können. 
Da  war  zuerst  stundenlanges  Wandern  im  ebenen  Land  nötig, 
um  an  die  Stelle  zu  gelangen,  wo  der  Berg  anstieg,  um  den 
Fuss  des  Berges  zu  erreichen.  Und  doch  war  der  Berg  schon 
von  uns  aus  zu  sehen  gewesen.  Ein  Berg  kann  also  weit  ab 
liegen  und  doch  sichtbar  bleiben.  Dann  konnte  man  von  ihm 
weit  über  das  Land  und  Wasser  hinwegsehen.  Das  Kerlchen 
entdeckte  erst  unsern  Leuchtturm  und  dann  andere  vertraute 
Bauten  oder  Schiffe,  die  man  vor  Stunden  hinter  sich  gelassen. 

„Das  Wasser  läuft  den  Berg  hinab",  diese  Beobachtung 
haben  wir  dann  wieder  bei  anderer  Gelegenheit  gemacht.  Es 
hatte  einmal  wieder  stark  gegossen  und  dann  schnell  mit  Regnen 
aufgehört.  Nun  stand  das  Wasser  an  einzelnen  Stellen  in  breiten 
Pfützen,  an  anderen  floss  es  noch  langsam  dahin.  Ging  man 
dem  Wasserfaden  nach,  so  führte  er  uns  regelmässig  zu  einer 
Pfütze.  Wir  sahen  uns  das  alles  an  und  bemerkten,  dass  der 
Boden  überall  schief  war,  wo  das  Wasser  floss.  Auf  einer 
Tischplatte  haben  wir's  dann  noch  im  kleinen  einmal  nach- 
gemacht. Woran  das  wohl  liegt,  dass  das  Wasser  bergab 
fliesst?  Bergab  geht's  leicht  und  bergan  geht's  schwer,  das  kann 
man  wohl  bemerken  und  das  Wasser  fliesst  immer  da,  wo's 
ihm  leicht  gemacht  wird.  Wir  machen  uns  im  Sande  einen 
Teich,  rings  herum  einen  schönen  Wall.  Dem  Wasser  ist  es 
viel  zu  schwer  hinüberzukommen,  eher  verkriecht  es  sich  nach 
unten  im  Sande.  Aber  siehe  da,  wir  machen  ihm  ein  Thor 
und  es  fliesst  hinaus.  Auch  wenn  wir  Quetschkartoffeln  und 
Brühe  haben,  geht  die  Sache  sehr  schön,  da  giebt's  sogar  einen 
Wasserfall  wie  im  Viktoriapark.  „Bergab  geht's  leicht,  bergan 
geht's  schwer."  Das  haben  wir  am  Golm  ja  selbst  gemerkt. 
Und  dann  haben  wir's  wieder  bemerken  können,  als  wir  im 
Wagen  fuhren.  Bergab  und  ebenen  Wegs  liefen  die  Pferde 


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Geographische  Spaziergänge. 


451 


Trapp,  jetzt  aber  fingen  sie  an,  im  Schritt  zu  gehen,  „es  ging 
bergan".  Selbst  bei  der  Eisenbahn  glaubten  wir  es  bemerkt 
zu  haben,  doch  waren  wir  unserer  Sache  nicht  recht  gewiss; 
wir  konnten  es  so  schlecht  erkennen,  ob  es  wirklich  bergan 
und  bergab  ging,  das  war  uns  noch  zu  schwierig. 

VTI.  Wie  bringt  man  den  Kindern  wohl  am  besten  das 
Verständnis  der  Himmelsrichtungen  bei?  war  eine  Frage,  die 
jüngst  an  mich  gestellt  wurde.  Natürlich  kommt  es  hier  auch 
wieder  auf  Alter  und  Umstände  an  Ich  denke  hier  aber  auch 
wieder  an  noch  kaum  schulpflichtige  kleine  Gesellen  und  an 
das  Elternhaus.  Das  erste  scheint  mir  da  das  Hineingewöhnen 
in  richtige  Beispiele  zu  sein.  Man  bezeichne  im  Gespräch 
Häuserfronten,  Strassenseiten  und  dergl.  recht  oft  nach 
Himmelsrichtungen  und  lasse  sie  die  Unterschiede  sachte  fühlen. 
Wohnt  man  z.  B.  in  einer  N.-S.  gerichteten  Strasse,  so  hat 
ihre  Westseite  Morgensonne  (wenn  sie  breit  genug  ist),  ihre 
Ostseite  Abendsonne.  Die  Kinder  sollen  je  nach  der  Jahreszeit 
bald  in  der  Sonne,  bald  im  Schatten  spielen.  Sie  werden  bald 
wissen,  wann  und  wo  Schatten  oder  Sonne  zu  finden  sind. 
So  fügt  es  sich  zusammen.  Dann  wird  wohl  einmal  vom  kalten 
Nordwind  gesprochen,  im  Westen  steht  ein  Gewitter,  das  herauf 
zieht ;  nachher  bewundern  wir  im  Osten  den  Regenbogen.  Sonne 
und  Mond  sind  uns  liebe  vertraute  Gestalten.  Schon  zu  An- 
fang erzählte  ich,  wie  die  wechselnde  Form  des  Mondes  wohl 
abends  zu  sehen,  aber  immer  wo  anders  am  Himmel.  Es  ist 
kein  weiter  Schritt,  die  Mondsichel  mit  Westen,  den  Halbmond 
mit  Süden,  den  Vollmond  mit  Osten  zu  verbinden,  wenn  uns 
nur  erst  die  Fenster  als  WTestfenster  u.s.w.  geläufig  geworden 
sind.  Die  Sonne  aber,  die  beobachten  wir  nun  schon  recht  lange, 
wie  sie's  macht,  wenn  sie  untergeht;  oft  sind  ja  die  dicken 
Wolken  davor,  aber  garnicht  selten  kann  man  sie  doch  hinter 
die  Häuser  tauchen  sehen.  Das  geschieht  nicht  immer  an  der- 
selben Stelle,  um  Weihnachten  verschwand  sie  ganz  links  hinter 
dem  dicken  Turm  der  Brauerei,  ehe  wir  im  Sommer  abreisten, 
viel  weiter  rechts,  und  nun  geht  sie  schon  wieder  sachte  auf 
die  Brauerei  los.  Das  giebt  zu  denken,  aber  wir  sind  mit  unsern 
Gedanken  hierüber  noch  nicht  recht  im  klaren,  wir  haben  doch 
wohl  noch  zu  wenig  gesehen.  Aber  eins  wissen  wir  mit  grösster 


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452 


//.  Fischer. 


Sicherheit,  an  welche  Fenster  wir  laufen  müssen,  wenn  wir 
die  Sonne  untergehen  sehen  wollen.  Wo  anders  als  aus  den 
Vorderfenstern  würden  wir  nie  darnach  ausgucken. 

Zum  Schluss  noch  ein  kleines  Gespräch,  das  uns  von  den 
mehr  „wissenschaftlichen"  Bemühungen  der  kleinen  Denker 
wieder  mehr  zu  der  mythologischen  Grundstimmung  führt,  mit 
der  wir  rechnen  müssen,  die  wir  allmählich  durch  reifere  Ideen 
e  r  setzen  wollen,  aber  nicht  unnötig  z  e  r  setzen  sollen.  Der  Junge 
hat  gehört,  dass  die  Menschen  in  den  Himmel  kommen,  wenn 
sie  tot  sind,  und  —  dass  die  Erde  kugelrund  ist.  Besonders  das 
letztere  hat  er  nicht  von  mir,  er  hat  es,  wer  weiss  wo,  aufge- 
schnappt. „Aha",  meint  er  nun,  „dann  ist  wohl  auch  der 
Himmel  unten,  und,  wenn  einer  tot  ist,  dann  graben  die 
Menschen  so  lange  ein  Loch,  bis  sie  durch  sind,  dann  legen 
sie  ihn  hinein,  und  dann  fällt  er  durch  und  fliegt  solange,  bis  er 
in  den  Himmel  kommt."  Ich  finde,  das  ist  ein  ganz  klares 
Weltbild  —  man  vergleiche  es  z.  B.  mit  dem  unserer  mittel- 
alterlicher Vorfahren  vor  1 1/2  Dutzend  Geschlechtern,  uns  am 
geläufigsten  vielleicht  aus  dem  Dante  — .  Da  meine  ich  doch, 
man  solle  solch  Bild  sich  ausreifen  lassen,  vorsichtig  hinzu- 
thun  und  hinwegräumen,  gewiss  aber  nicht  es  ohne  Not  mit 
Spott  und  Lachen  zerstören. 


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Das  Rettig'sche  Schulbanksystem. 

Von 

Paul  Johannes  Müller. 

Vortrag,  gehalten  in  der  Sitzung  des  Allgemeinen  Deutschen  Vereins  für 
Schulgesundheitspflege,  Ortsgruppe  Berlin,  am  9.  Dezember  1902. 

Zu  den  bereits  vorhandenen  30  verschiedenen  Schulbank- 
Systemen,  von  denen  jedes  einzelne  in  einer  Anzahl  von  Vari- 
anten ausgeführt  wird,  sodass  man  bereits  mehr  als  200  ver- 
schiedene Arten  von  Schulbänken  zählt,  ist  im  Jahre  1893  die 


Abb.  1.    Rettig's  Schulbank.    Modell  1(>02. 

Rettigsche  Schulbank  hinzugetreten.  Zur  Zeit  sind  mehr  als 
5000  Schulzimmer  mit  Rettigschulbänken  ausgestattet,  und  es 
sitzen  über  eine  viertel  Million  Schulkinder  auf  ihnen.  Man 
hatte  also  hinreichende  Gelegenheit,  in  den  verflossenen  neun 


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454 


P.  J.  Müller. 


Jahren  Erfahrungen  mit  dem  Rettigschen  System  zu  sammeln, 
welche  naturgemäss  zu  immer  weiteren  auf  Vervollkommnung 
gerichteten  Versuchen  verwertet  werden  konnten. 

Die  vorliegenden  Modelle  zeigen  die  jetzt  übliche  Aus- 
führungsart (Abb.  i).  Von  vornherein  sei  darauf  hingewiesen, 
dass  man  bei  Beurteilung  eines  Schulbanksystems  zu  unter- 
scheiden hat : 

a)  Eigenschaften,  die  untrennbar  mit  dem  System  ver- 
bunden sind, 

b)  Eigenschaften,  die  nicht  zum  System  an  sich  gehören. 
Zu  den  letzteren  gehören  die  Abmessungen:  die  Sitzhöhe,  die 
Sitzbreite,  die  Differenz,  der  Lehnenabstand,  ferner  die  Lehnen- 
form u.  a.  Gewiss  sind  diese  Eigenschaften  von  grösster 
Wichtigkeit,  weil  hiervon  das  gesundheitsgemässe  Sitzen  im 
wesentlichen  abhängt.  Indessen  ist  eine  vollständige  Ueber- 
einstimmung  gerade  über  die  Abmessungen  und  über  die 
Gestaltung  der  Lehne  noch  nicht  erreicht.  Man  ist  sich  jedoch 
darüber  einig,  dass  eine  gesundheitsgemässe  Haltung  nicht 
mit  Zwangsmitteln  erreicht  werden  darf.  Ein  absolutes  Still- 
sitzen darf  eben,  selbst  wenn  es  erreichbar  wäre,  gar  nicht 
erstrebt  werden.  Zum  Wohlbefinden  gehört  eine,  wenn 
auch  beschränkte  Möglichkeit,  die  Haltung  verändern  zu 
können.  Selbst  die  bequemste  Körperhaltung  wird,  wenn 
eine  Veränderung  behindert  oder  erschwert  ist,  zur  Qual. 
Eine  noch  so  sorgfältig  dimensionierte  Schulbank,  die  einen 
Wechsel  in  der  Körperhaltung  unmöglich  macht,  ist  eben 
so  unbrauchbar  wie  eine  solche,  welche  wegen  schlechter 
Gestaltung  das  Einnehmen  einer  guten  Körperhaltung  ver- 
hindert oder  das  Verbleiben  in  solcher  Haltung  erschwert. 
Es  kann  sich  also  nicht  um  die  Ausübung  irgend  eines  Zwanges, 
sondern  nur  darum  handeln,  dem  Schüler  zur  Auffindung  der 
gesunden  Haltung  solche  Anhaltspunkte  zu  gewähren,  welche 
als  naturgemäss  empfunden  werden,  um  auf  diese  Weise  einer 
dauernden  schädlichen  Körperhaltung  vorzubeugen.  Die  rich- 
tigen Abmessungen  können  nur  durch  umfangreiche  Versuche 
und  durch  exakte  Beobachtung  gewonnen  werden. 

Die  wesentlichen  Eigenschaften  des  Rettigschen  Systems 
sind: 

a)  die  Umlegbarkeit, 


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Das  Rettigsche  Schulbanksystem.  455 

b)  die  Sicherung  der  geordneten  Aufstellung, 

c)  der  seitlich  verkürzte  Sitz,  bezw.  die  seitlich  überstehende 
Pultplatte, 

d)  die  Zweisitzigkeit. 

Eine  gründliche  Schulzimmer-Reinigung  ist  nur  bei  völliger 
Freilegung  des  Saalbodens  erreichbar.  So  ist  z.  B.  eine  An- 
wendung von  feuchten  Sägespänen  beim  Auskehren  thatsäch- 
lich  undurchführbar,  wenn  man  nicht  hierbei  mit  dem  Besen 
völlig  frei  hantieren,  also  den  auf  dem  Saalboden  liegenden 
Staub  und  Schmutz  gehörig  mit  dem  feuchten  Sägemehl  ver- 
mengen kann.  Nur  durch  ein  solches  Vermengen  wird  ein 
Aufwirbeln  des  Staubcs  beim  Kehren  selbst  verhütet  und  die 
Entfernung  des  Staubes  aus  dem  Schulzimmer  erreicht. 

Beim  System  Rettig  ist  jede  Bank  an  der  dem  Fenster 
abgewandten  Seite  mittels  zweier  Gelenkfüsse  so  am  Boden 
befestigt,  dass  sie  am  anderen  Ende  aufgehoben  und  umgelegt 
werden  kann  (Abb.  2).  Das  hierbei  verwendete  Tintglas  (Abb.  3) 


Abbildung  2. 


verhütet  ein  Ausf Hessen  der  Tinte  beim  Umlegen  der  Bänke. 
Dieses  Umlegen  wird  von  einer  einzelnen  Person  mit  Leichtig- 
keit ausgeführt.  Es  werden  zunächst  immer  sämtliche  Bänke 
umgelegt.  Ein  besonderer  Raum  zum  Umlegen  der  Bänke 
wird  nur  für  die  letzte  Bankreihe,  vom  Fenster  aus  gezählt, 
nötig,  und  zwar  muss  der  Gang  nicht  ganz  so  breit  sein,  wie 
die  Bank  hoch  ist;  es  genügt  ein  um  15  cm  geringerer  Raum, 


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456 


P  y.  Müüer. 


weil  der  Drehpunkt  nicht  unter  dem  Ende  der  Pultplatte,  auch 
nicht  dicht  am  Fussboden  liegt,  sondern  mehr  nach  innen 
gerückt  ist  und  einige  Centimeter  über  dem  Fussboden  sich 
befindet.  Durch  das  Umlegen  der  Bankreihen  wird  der  Saal- 
boden in  breiten  Streifen  freigelegt  (Abb.  4).  Es  dürfte  nun  die 
Frage  aufgeworfen  werden,  ob  dieses  Umlegen  der  Bänke 
wirklich  leicht  und  schnell  von  statten  geht,  sodass  die  Schul- 
diener willig  und  ordentlich  von  der  Einrichtung  Gebrauch 
machen.  Diese  Frage  kann  auf  Grund  neunjähriger  Er- 
fahrungen bejaht  werden.  Ueberall,  wo  auf  eine  ordent- 
liche Reinigung  gehalten  wird,  erblickt  man  in  der  umleg- 
baren Rettigbank  eine  wesentliche  Erleichterung  derselben. 


Abbildung  3. 


Man  wird  stets  davon  ausgehen,  dass  eine  Freilegung 
des  Saalbodens  erforderlich  ist,  um  eine  ausreichende  Zimmer- 
reinigung durchzuführen.  Ein  Hin  und  Herschieben  der  Schul- 
bänke ist  aber  —  ganz  abgesehen  von  der  sich  hieraus  er- 
gebenden stärkeren  Abnutzung  der  Bänke  und  des  Fussboden- 
belages —  mühevoller  und  zeitraubender  als  das  Umlegen 
der  Bänke.  Es  kommt  hinzu,  dass  die  geordnete  Aufstellung 
unbefestigter  Schulbänke  schwer  zu  erhalten  ist.  Aus  diesem 
Grunde  befestigte  man  wohl  die  Schulbänke  unverrückbar  am 
Saalboden;  besonders  war  dies  bei  zweisitzigen  Schulbänken 
nötig,  die  wegen  ihres  geringen  Eigengewichtes  gegen  Ver- 
schiebung wenig  gesichert  waren. 

Es  sind  Versuche  gemacht  worden,  durch  besondere  Ge- 
staltung der  Schulbänke,  wie  Weglassung  des  Fussbrettes,  der 


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Das  Retti  sosehr  Schulbanksystem. 


457 


Querstollen,  Verschmälerung  der  Seitenteile  u.  a.  m.  den  Saal- 
boden für  die  Reinigung  zugänglich  zu  machen.  Es  bleiben 
jedoch  bei  durchschnittlich  etwa  30  Bänken  in  einer  Klasse 
immer  noch  Hindernisse  für  die  Reinigung  bestehen.  Bei 
allen  unverrückbar  befestigten  Schulbänken  ist  die  Zugäng- 
lichkeit des  Saalbodens  stets  abhängig  von  der  Breite  der 
Zwischengänge.  Sobald  die  Schulbänke  mit  üblichen  Zwischen- 
gangbreiten  aufgestellt  werden,  wird  eine  gründliche  Reinigung 
des  Saalbodens  erschwert. 

Bei  dem  Rettigschen  System  brauchen  die  Zwischengänge 
nicht  breiter  angeordnet  zu  werden,  als  für  das  Aufstehen 
sämtlicher  Schüler  erforderlich  ist,  weil  eben  die  Kreilegung 
des  Saalbodens  durch  das  Umlegen  der  Bänke  in  weitergehen- 
dem Masse  erreicht  wird,  als  wenn  bei  feststehenden  Bänken 
breite  Zwischengänge  zu  diesem  Zwecke  angelegt  werden. 

Die  Zwischengänge  werden  ausserdem  durch  die  seitlich 
verkürzten  Sitzbänke  geräumiger.  Es  sind  nämlich  bei  der 
Rettigschen  Schulbank  die  Sitze  seitlich  um  etwa  12  cm  kürzer, 
als  die  entsprechenden  Pultplatten.  Im  Prinzip  eigentlich  nichts 


AbbÜdung  4.  Abbildung  5. 


Neues,  da  man  ja  auch  bei  den  Schulbänken  mit  Einzelklapp- 
sitzen oder  Einzelpendelsitzen  die  Sitze  nicht  so  lang  machte 
wie  die  Pultplatten,  sondern  ihnen  etwa  die  Breite  eines  Stuhl- 
sitzes gab.  Durch  diese  Verkürzung  wird  aber  Aufstehen  des 
Schülers  und  seitliches  Hinaustreten  aus  der  Bank  wesentlich 


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458 


/'.  y.  Mülhr. 


erleichtert.  Gegen  das  seitliche  Heraustreten  wurden  bei  den 
alten  zweisitzigen  Bänken  seitens  der  Hygienikcr  Bedenken 
erhoben.  Man  hatte  beobachtet,  dass  die  Kinder,  um  beim 
Aufruf  recht  schnell  sich  zu  erheben,  sich  an  des  Ende  der 


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nicht  verkürzten  Sitzbank  oder  gar  darüber  hinausschoben,  auch 
wohl  den  äusseren  Fuss  über  den  Querstollen  hinwegsetzten. 
Dabei  hatte  der  Körper  eine  schiefe  Haltung  und  sein  Gewicht 
ruhte  vorwiegend  oder  völlig  auf  der  inneren  Gesässhälfte. 


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Das  Rittigsche  SchulbanksyzUm. 


459 


Ferner  waren  die  Kinder  gezwungen,  sich  aus  der  Hockstellung 
zu  erheben,  was  eine  nicht  unerhebliche  Anstrengung  voraus- 
setzt. Diese  Bedenken  sind  bei  der  Rettigbank  von  vorherein 
beseitigt.  Wegen  der  Verkürzung  des  Sitzbrettes  unterbleibt 
das  Hinausrutschen  und  damit  die  schiefe  Körperhaltung,  denn 
der  Schüler  sitzt  immer  am  Ende  der  Bank.  (Abb.  4).  Der  durch 
das  Fussbrett  erheblich  erhöhte  Sitz  schafft  beim  Heraustreten 
sogleich  ein  fast  gestrecktes  Standbein;  nur  ein  kurzes  Heran- 
ziehen des  anderen  Fusses,  und  der  Schüler  steht  in  gerader 
Haltung  neben  der  Bank.  (Abb.  5).  So  können  die  Schüler  beim 
Lesen  und  Sprechen  bequem  stehen,  und  selbst  Freiübungen, 
die  zur  Erholung  den  Unterricht  unterbrechen  sollen,  lassen 
sich  leicht  ausführen.   (Abb.  6.) 

Will  man  verhüten,  dass  die  Schüler  beim  Aufstehen  neben- 
einander stehen,  so  ist  nur  nötig,  die  Bänke  derartig  auf- 


•  Städtische  Volksschule  •  •  Gymnasium  • 


Abbildung  7.  Abbildung  8. 

zustellen,  dass  neben  dem  Sitze  der  einen  Bank  die  Pultplatte 
der  nächsten  Bank  sich  befindet.  (Abb.  7).  Bei  dieser  staffel- 
weisen Aufstellung  der  Bänke  stehen  sämtliche  Schüler  in  den 
Zwischengängen  in  einer  Reihe  verschränkt  hintereinander. 


460 


Das  bereits  erwähnte  Fussbrett  lässt  sich  mit  Rillen  und 
Schlitzen  versehen.  Es  hat  den  Zweck,  das  Entstehen  kalter 
Füsse,  ferner  die  Aufwirbelung  von  Staub  zu  verhüten.  Der 
Anwendung  von  massiven  Decken  mit  Linoleumbelag  stehen 
infolge  des  Vorhandenseins  des  Fussbrettes,  der  gesicherten 
Aufstellung  und  der  ermöglichten  Freilegung  des  Saalbodens 
beim  Reinigen  Hindernisse  nicht  mehr  im  Wege. 

Jede  Rettigschulbank  ist  eine  Vollbank,  und  es  ist  daher 
ein  beliebiges  Auswechseln  der  Bankgrössen  untereinander, 
ein  Wegnehmen  und  Hinzustellen  je  nach  Erfordern  ermög- 
licht. Es  lassen  sich  in  jeder  Klasse  ohne  weiteres  verschiedene 
Bankgrössen  verwenden  und  zwar  in  der  Reihenfolge,  wie 
dies  für  den  Unterrichtsbetrieb  erforderlich  ist.  Dabei  kann 
man  auf  Kurzsichtigkeit  und  Schwerhörigkeit  von  Schülern 
leicht  Rücksicht  nehmen,  indem  sie  eine  ihrer  Körpergrösse 
entsprechende  Bank  vorn  beim  Lehrerplatz  angewiesen  er- 
halten.  (Abb.  8  Klasse  mit  3  Bankgrössen  6,  5  und  4.) 

Zur  Befestigung  der  Rettigbänke  dienen  sogenannte 
Klemmfüsse.  Das  Anklemmen  und  Loslösen  dieser  Klemmfüsse 
an  der  unter  den  Bänken  am  Fussboden  liegenden  durch- 
laufenden Klemmschiene  ist  leicht  ausführbar,  ohne  dass  der 
Fussboden  beschädigt  wird.  Die  Schienen  können  auch  frei 
auf  dem  Saalboden  liegen,  weil  das  Eigengewicht  der  Schul- 
bänke einer  Reihe  genügend  gross  ist,  um  die  Bänke  gegen 
Verschiebung  zu  sichern. 

Eine  sichere  Führung  beim  Umlegen  der  Bänke  erscheint 
erforderlich,  und  es  haben  sich  Versuche,  das  Umlegen  der  Bänke 
durch  ein  blosses  Auflegen  der  Querstollen  auf  eine  Winkel- 
schiene zu  erreichen,  nicht  bewährt.  So  wurde  u.  a.  im  Jahre  1900 
in  Nürnberg  ein  Schulsaal  der  Schule  in  der  Goethestrasse 
mit  derartigen  Kippbänken,  die  in  der  Fachpresse  unter  dem 
unzutreffenden  Namen  „Nürnberger  Schulbank"  bekannt  gege- 
ben wurden,  ausgestattet.  Von  einer  weiteren  Anwendung  dieser 
losen  Kippvorrichtung  wurde  jedoch  Abstand  genommen.  Der 
Umstand,  dass  in  den  Jahren  1901  und  1902  weitere  4500  Rettig- 
bänke für  die  Nürnberger  Schulen  beschafft  wurden,  spricht 
für  die  Zweckmässigkeit  des  Festhaltens  an  einer  beim  Um- 
legen um  eine  feste  Achse  drehbaren  Schulbank. 

Die  Holzverbindungen  und  Versteifungen  der  Rettigbank 


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Das  Retiiguht  Schulbanksysttm. 


461 


sind  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Umlegbarkeit  ge- 
wählt. Nach  meinen  in  neunjähriger  Praxis  gesammelten  Er- 
fahrungen steht  die  Rettigbank  in  Bezug  auf  Haltbarkeit  hinter 
keiner  anderen  Konstruktion  zurück.  Die  Schuldiener  und  die 
Kehrfrauen  gewöhnen  sich  schnell  an  ein  flottes  aber  sach- 
gemässes  Umlegen  der  Bänke;  ein  rohes  oder  ungeschicktes 
Fallenlassen  verrät  sich  leicht  durch  Tintflecke  auf  der  unteren 
Tintdeckelseite.  Bei  schnellem,  ordentlichem  Umlegen  der 
Bänke  kann  die  Tinte  absolut  nicht  ausspritzen. 

Von  wirtschaftlicher  Bedeutung  ist  der  Umstand,  dass  die 
Rettigschulbank  ganz  aus  Holz  konstruiert  ist  und  nach  vor- 
heriger Vereinbarung  mit  den  Patentinhabern  (P.  Johs.  Müller 
&  Co.,  Berlin)  von  jedem  ortsansässigen  Tischler  hergestellt 
werden  kann.  Die  Beschaffungskosten  stellen  sich  einschliess- 
lich Licenz  auf  durchschnittlich  u— 12  Mark  pro  Sitz. 

Der  Anwendung  von  verschieblichen  oder  aufklappbaren 
Pultplatten  stehen  Hindernisse  nicht  im  Wege.  U.  a.  werden 
in  sämtlichen  neuen  Münchener  Schulen  für  die  oberen 
Mädchenklassen  Rettigbanke  mit  aufklappbaren  Pultplatten  an- 
gewendet und  zwar  dient  diese  Vorrichtung  für  die  Zwecke 
des  Handarbeitsunterrichtes. 

Für  die  Berliner  städtischen  Schulen  werden  die  Rettig- 
schulbänke  nach  den  von  der  Städtischen  Schul-Deputation 
aufgestellten  Abmessungen  hergestellt  und  zwar  sind  die  neue 
Gemeindeschule  in  der  Waldenserstrasse,  die  neue  Gemeinde- 
schule in  der  Waldemarstrasse,  ferner  die  neue  Realschule 
am  Schleswiger  Ufer  vollständig  mit  derartigen  Rettigbänken 
ausgestattet,  auch  die  neue  Gemeinde-Doppelschule  in  der  Berg- 
mannstrasse (Eröffnung  Ostern  1903)  wird  zur  Zeit  mit  den 
gleichen  Bänken  versehen. 


Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene. 


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Gedanken 

über  die  Herausgabe  pädagogischer  Klassiker. 

Von 

Hans  Zimmer. 

Drei  besondere  Umstände  legten  es  mir,  teilweise  schon 
seit  vielen  Jahren,  nahe,  mir  Gedanken  über  die  Herausgabe 
pädagogischer  Klassiker  zu  machen:  als  Nachfolger  Dr.  Gustav 
Fröhlichs  leite  ich  „Gresslers  Klassiker  der  Pädagogik",  für 
die  von  mir  herausgegebenen  Meyerschen  „Volksbücher"  hatte 
und  habe  ich,  die  Aufgabe  der  Sammlung  volkspädagogisch 
fassend,  nicht  selten  Ausgaben  pädagogischer  Werke  (Luther, 
„An  den  christlichen  Adel  deutscher  Nation"  u.  s.  f.)  zu  be- 
sorgen, und  endlich  habe  ich  wenigstens  ein  Werk  eines 
grossen  Pädagogen  in  einer  besonderen  kleinen  Veröffentlichung 
wissenschaftlich  herausgegeben,  Herbarts  „Umriss"  {Halle  a.  S-, 
Otto  Hendel,  „Bibliothek  der  Gesamtlitteratur",  Nr.  1353—55; 
vgl.  die  Selbstanzeige  in  dieser  Zeitschrift,  Jahrgang  2,  Heft  2) 

Wenn  ich  im  Folgenden  den  Fach  genossen  die  Ideen,  die 
sich  mir  teils  aus  der  Praxis,  teils  in  theoretischem  Nachdenken 
über  das  Thema  ergaben,  vorlegen  darf,  so  will  ich  über  die 
sogenannte  „Technik"  solcher  Ausgaben  pädagogischer  Klassiker 
mich  nicht  verbreiten,  sondern  meinen  Aufsatz  nur  der  Be- 
trachtung einiger  Fragen  von  allgemeinerer  Art  und  tieferer 
Bedeutung  widmen.  Dass  ich  dabei  vielleicht  bei  Vielen 
Widerspruch  finden  werde,  darf  mich  nicht  abhalten. 

I.  Die  Berechtigung  pädagogischer  Klassiker- 
Ausgaben. 

1.  Warum  veranstaltet  man  überhaupt  Neuausgaben 
älterer  pädagogischer  Schriften?  Was  hat  das  für  einen  Zweck? 
Wie  rechtfertigt  es  sich?  Gewöhnlich  motiviert  man  die  Be- 
gründung pädagogischer  Klassiker  -  Sammlungen  mit  dem  Ge- 


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Gedanken  über  die  Herausgabe  pädagogischer  Klassiker. 


463 


danken:  es  giebt  in  der  Gegenwart  keine  Originalpädagogen, 
wir  zehren  vom  pädagogischen  Gute  der  Vergangenheit,  wir 
müssen  uns  dieses  also  —  eben  in  den  Klassiker-Ausgaben  — 
näher  bringen,  um  es  ganz  in  die  Scheidemünze  der  Praxis  um- 
setzen zu  können.  Damit  würde  also  im  Leben  unserer 
Wissenschaft  der  Eintritt  einer  jener  Perioden  der  Einkehr 
und  Selbstbesinnung  angenommen  sein,  von  denen  Ernst 
Elster  („Prinzipien  der  Literaturwissenschaft",  Bd.  1,  S.  III) 
mit  Recht  sagt,  dass  sie  auf  eine  Epoche  kühn  vordringender 
praktischer  Arbeit  zu  folgen  pflegen.  Ich  meinesteils  kann 
für  jetzt  an  das  Vorhandensein  eines  solchen  rückschauenden 
Stillstandes  in  der  Pädagogik  nicht  glauben.  Paul  Natorp 
ist  nichts  weniger  als  ein  blosser  Nachfolger  Pestalozzis,  auch 
Wilhelm  Rein  kein  blosser  Nachfolger  Herbarts  oder  Zillers, 
und  wenn  ich  an  Namen  wie  Paul  Bergemann  und  Berthold 
Otto  oder  auch  an  meine  eigenen  Bestrebungen  denke,  so 
finde  ich  vielmehr,  dass  wir  uns  in  demselben  Stadium  des 
Ringens  nach  einem  neuen  „Stil"  in  der  Pädagogik  befinden, 
das  die  moderne  deutsche  Litteratur  zur  Zeit  durchläuft.  In 
dem  Satze  „die  Gegenwart  hat  keine  Original pädagogen" 
möchte  ich  die  Berechtigung  pädagogischer  Klassikerausgaben 
also  nicht  erblicken. 

2.  Aber  man  konnte  folgend ermassen  argumentieren.  Die 
Herausgabe  pädagogischer  Klassiker  ist  eine  vorwiegend 
historische  Leistung  (worüber  weiter  unten  ausführlicher  ge- 
handelt werden  soll),  und  in  Ernest  Renans  treffendem  Wort 
„In  der  Geschichte  giebt  es  trübe  Tage,  aber  keine  unfrucht- 
baren" liegt  die  notwendige  Schlussfolgerung:  jede  Beschäfti- 
gung mit  geschichtlichen  Dingen  ist  nützlich,  jede  geschicht- 
liche Arbeit  wertvoll.  Auch  der  Ausspruch  eines  anderen 
Franzosen,  Gaston  Boissiers,  könnte  herangezogen  werden;  er 
stellt  fest:  „Um  zu  wissen,  was  aus  einem  Volke  werden  wird, 
muss  man  vor  allem  seine  Vergangenheit  kennen;  das  ist  der 
Dienst,  den  uns  die  Geschichte  leistet."  Ebensogut  darf  man 
sagen:  um  zu  wissen,  was  aus  der  Pädagogik  werden  wird, 
muss  man  ihre  Vergangenheit,  d.  h.  ihre  Geschichte,  kennen. 
Daraus  folgt  dann  abermals:  die  Herausgabe  pädagogischer 
Klassiker  ist  eine  geschichtliche  Leistung,  ergo  ist  sie  erspriess- 
lich  und  verdienstlich.    Das  ist  ganz  richtig,  passt  aber  weit 

6' 


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464 


Hans  Zimmer. 


besser  als  auf  lose  zu  einer  Sammlung  aneinandergereihte 
Klassiker  -  Ausgaben  auf  eine  zusammenhängende  Ge- 
schichte der  Pädagogik,  während  es  uns  darauf  ankommt, 
gerade  die  Berechtigung  solcher  Einzelausgaben  zu  erweisen, 
die  teils  weniger,  teils  mehr  bieten  als  eine  zusammenhängende 
Geschichte  —  weniger,  indem  sie  nicht  das  ganze  Gebiet  der 
historischen  Pädagogik,  sondern  nur  eine  verhältnismässig  kleine 
Anzahl  herausgegriffener  Persönlichkeiten  behandeln,  und  mehr, 
indem  sie  diese  Persönlichkeiten  in  grösster  Ausführlichkeit 
besprechen  und  Werke  oder  Werkbruchstücke  von  ihnen  in 
neuen  Abdrucken  darbieten. 

3.  Letzeres  ist  einer  der  Umstände,  die  für  die  Not- 
wendigkeit und  den  Wert  pädagogischer  Klassiker-Ausgaben 
sprechen:  solche  Neudrucke  sind  gleichsam  eine  Ergänzung 
zu  jeder  Geschichte  der  Pädagogik,  sie  führen  zu  eigener 
Lektüre  und  damit  zu  eigenem  Urteil,  sie  nehmen  überdies 
dem  Benutzer  das  aufhältliche  und  schwierige  Geschäft  der 
Auswahl  des  Wichtigsten  ab.  Und  das  ist  verdienstlich  genug, 
denn  welcher  Riesenfleiss  könnte  es  wagen,  alles  lesen  zu 
wollen? 

Aber  der  triftigste  Grund,  der  für  die  Berechtigung  päda- 
gogischer Klassiker-Ausgaben  angeführt  werden  darf,  wird 
sich  aus  einer  Verständigung  über  den  Begriff  „Klassiker"  der 
Pädagogik  ableiten  lassen,  zu  der  ich  im  Folgenden  den  An- 
stoss  zu  geben  versuche. 

II.  Der  Begriff  „Klassiker**  der  Pädagogik. 

1.  Robert  Prutz  sagt  im  „Deutschen  Museum",  Bd.  1, 
S.  949  (Leipzig  1851):  „Klassiker  sind  dem  Wortverstande  ge- 
mäss die  Mitglieder  der  ersten  Klasse  nach  dem  Census."  Das 
bezieht  sich  auf  die  dem  Servius  Tullius  zugeschriebene,  auf 
den  Vermögens  -  Unterschieden  beruhende  Einteilung  aller 
römischen  Bürger  in  sechs  Klassen,  deren  erste  und  reichste 
schlechtweg  classici  genannt  zu  werden  pflegte.  Allmählich 
verallgemeinerte  sich  dieser  Name,  und  „classicus"  wurde  zur 
Bezeichnung  irgend  eines  Vorzuges  oder  Vorranges  überhaupt: 
ein  testis  classicus  war  ein  einwandfreier,  ausschlaggebender 
Zeuge,  ein  scriptor  classicus  ein  mustergiltiger  Schriftsteller. 
,,Klassisch  ist  gleich  mustergiltig"  erklärt  auch  Daniel  Sanders 


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Gedanken  über  die  Herausgabe  pädagogischer  Klassiker.  465 


in  seinem  „Wörterbuch  der  deutschen  Sprache",  Bd.  1,  S.  924 
(Leipzig  1860),  und  Grillparzer  sagt:  „Klassisch  ist  fehlerfrei" 
(„Sämmtliche  Werke*',  herausgegeben  von  August  Sauer,  Bd.  15, 
S.  49,  Stuttgart  o.  J.).  Das  klingt  sehr  einfach,  aber  leider 
muss  man  sofort  fragen:  was  ist  denn  mustergültig?  was  ist 
fehlerfrei?  Die  Ansichten  hierüber  laufen  doch  gewaltig  aus- 
einander! 

Auch  mit  Wilhelm  Heinses  Umschreibung  („Ardinghello" 
Bd.  1,  S.  285,  Lemgo  1794):  „Das  Klassische  überall  ist  das 
Gedrängt  volle,  wenn  einer  alles  Wesentliche  und  Bezeichnende 
von  einem  Gegenstande  herausfühlt  und  nachahmt"  lässt  sich 
nichts  anfangen.  „Wer  hilft  mir  weiter  fort?"  Der  grosse 
Mann,  der  diese  Frage  seinen  Faust  ausrufen  lässt  Zwar 
warnt  Goethe  vorsichtig  („Sämtliche  Werke",  Stuttgart  1840> 
Bd.  32,  S.  200):  „Wer  mit  den  Worten,  deren  er  sich  im  Sprechen 
oder  Schreiben  bedient,  bestimmte  Begriffe  zu  verbinden  für 
eine  unerlässliche  Pflicht  hält,  wird  die  Ausdrücke  ,klassischer 
Autor*,  ,klassisches  Werk'  höchst  selten  gebrauchen",  aber  er 
führt  doch  anderseits  selbst  auf  den  richtigen  Weg,  wenn  er 
(„Sprüche  in  Prosa:  Maximen  und  Reflexionen"  VII,  No.  56) 
sagt:  „Klassisch  ist  das  Gesunde".  Bei  einem  pädagogischen 
Schriftsteller  kann  dieser  Satz  nicht  auf  die  Form  Anwendung 
finden,  sondern  nur  auf  den  Inhalt;  denn  theoretische  Aus- 
einandersetzungen haben  nicht  den  Ehrgeiz,  ein  Kunstwerk 
zu  heissen.  Das  Kranke  geht  unter,  das  Gesunde  bleibt  am 
Leben;  das  Kranke  ist  das  Vergängliche,  das  Ephemere,  das 
Gesunde,  das  Klassische  ist  das  Dauernde  —  kurz,  ein  päda- 
gogischer „Klassiker"  ist  für  mich  ein  Pädagog  (und  wenn  er, 
wie  Sokrates,  nie  etwas  geschrieben  hätte),  der  mit  seinen 
Lehren  noch  heute  irgendwelchen  Einfluss  auf  uns 
ausübt.  Und  das  braucht  nicht  immer  direkt  und  unmittelbar 
zu  geschehen,  sondern  es  kann  auch  auf  geschichtlichen  Um- 
wegen (man  denke  z.  B.  an  die  Reihe  Ratichius  —  Comenius 
—  Ernst  der  Fromme  —  Friedrich  der  Grosse  —  moderne 
Volksschule)  oder  in  Unterströmungen  mittelbar  und  indirekt 
stattfinden. 

2.  Legen  wir  uns  jetzt  die  Frage  vor:  warum  veranstaltet 
man  pädagogische  Klassiker-Ausgaben?  —  so  darf  die  Antwort 
lauten:  es  geschieht,  um  das  heute  noch  Einflussreiche  zu 


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« 


466  Hans  Zimmer. 

sammeln,  um  alles  das  aus  der  Vergangenheit  auszulesen  und 
zusammenzufassen,  womit  wir  in  der  Pädagogik  heute  noch 
zu  rechnen  haben.  Man  sieht:  jenes  „Geschäft  der  Auswahl", 
das  wir  schon  oben  (I,  3)  als  das  wichtigste  pädagogischer 
Klassiker-Ausgaben  hervorgehoben  haben,  ist  nicht  blos  von 
praktischer,  sondern  auch  von  hoher  wissenschaftlicher  Be- 
deutung. 

3.  Aus  der  Deutung,  die  ich  dem  Begriff  „Klassiker"  der 
Pädagogik  gegeben  habe,  lässt  sich  zugleich  die  Frage  be- 
antworten: Sollen  auch  ausländische  grosse  Pädagogen  in 
einer  deutschen  Sammlung  Aufnahme  finden?  Gewiss,  sofern 
auch  sie  noch  heute  Einfluss  auf  uns  besitzen,  sei  es  direkt 
wie  die  Griechen,  in  denen  „die  Wurzeln  unseres  gesamten 
Lebens  liegen"  (Paulsen),  sei  es  indirekt  auf  geschichtlichen 
Um-  und  Irrwegen  wie  Rousseau. 

III.  Der  geschichtliche  Charakter  der  Aufgabe. 

1.  Die  Thätigkeit  eines  Herausgebers  pädagogischer 
Klassiker  ist  und  bleibt  im  wesentlichen  eine  historische- 
Grossen  Männern  der  Vergangenheit  ist  sie  gewidmet,  und 
selbst  das  Urheberrecht  verbietet  es  ihr,  andere  Autoren  in 
ihren  Bereich  zu  ziehen  als  solche,  die  dies  späte  Glück  durch, 
einen  bereits  dreissigjährigen  Todesschlaf  verdient  haben 
Ferner  handelt  es  sich  bei  der  Herausgabe  pädagogischer 
Klassiker  einfach  um  die  Feststellung  geschieh tlicher  That- 
sachen  und  die  bequeme  Weiterüberlieferung  vorhandener 
Schätze  —  nicht  die  eigene,  sondern  die  Gedankenwelt  früherer 
Generationen  soll  der  Gegenwart  nahe  gebracht  werden.  Dass 
der  (ideale)  Herausgeber  allerdings  nicht  blos,  wenn  auch 
vornehmlich,  Historikor  sein  muss,  kann  man  in  Anlehnung 
an  das  Wort  Karl  Ritters  leicht  begreifen:  „So  viel  ist  ent- 
schieden: die  Geschichte  steht  nicht  neben,  sondern  in  der 
Natur".  Auch  der  Historiker  der  Pädagogik  muss  zugleich 
Physiolog,  Psycholog  und  Anthropolog  „im  Nebenamt"  sein, 
teils  um  den  herauszugebenden  einzelnen  Autor  und  seine  Eigen- 
art zu  begreifen,  teils  um  den  Charakter  der  ganzen  Zeit  und 
des  ganzen  Volkes,  in  denen  sich  jener  bewegt  hat,  richtig 
aufzufassen. 


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Gedanken  über  die  Herausgabe  pädagogischer  Klassiker.  467 


2.  Da  seine  Aufgabe  eitie  historische  ist,  darf  sich  der 
Herausgeber  pädagogischer  Klassiker  nicht  von  dem  Umstände, 
dass  die  Pädagogik  selbst  eine  theoretische  und  seit  Herbart 
stets  auf  die  Philosophie  aufgebaute  Wissenschaft  ist,  dazu 
verleiten  lassen,  auch  in  die  Geschichte  der  Pädagogik  theo- 
retische oder  philosophische  Erwägungen  hineinspielen  zu 
lassen.  Vor  allem  muss  er  sich  vor  teleologischen  Tendenzen 
hüten.  Für  ihn  handelt  es  sich  um  die  Frage,  wie  alles,  nicht 
wozu  es  geworden  ist  Geschichte  ist  Bewegung,  und  zwar 
eine  Bewegung,  deren  Ende  man  nicht  abzusehen  vermag,  weil 
man  selbst  mitten  darin  steht  und  sie  überhaupt  erst  in  Jahr- 
tausenden, vielleicht  nie  ein  Ende  haben  wird.  Es  ergiebt  sich 
also  die  Tatsache,  dass  man  stets  nur  ein  Stück  der  Bewegung, 
nur  den  zurückgelegten  Weg,  kein  Ziel  sieht.  Schon  das  sollte 
vor  teleologischen  Gedankenreihen  eindringlich  warnen.  Die 
Teleologie  gehört  dem  Geschichtsphilosophen,  nicht  dem  Ge- 
schichtsschreiber, die  straffe  Durchführung  einer  vorgefassten 
Tendenz  seitens  des  Historikers  ist  ein  Gewaltakt  nach  dem 
Rezept  „Biegen  oder  Brechen4',  denn  der  Geschichte  fehlt  die 
Konsequenz.  Und  das  ist  gut;  denn  besässe  sie  Folgerichtig- 
keit, so  brauchten  wir  aus  ihr  überhaupt  nichts  für  die  Zu- 
kunft zu  lernen:  Das  letzte  Ziel  stände  ja  doch  schon  unver- 
rückbar fest,  und  unter  Schicksalszwang  gingen  wir  ihm 
willenlos  entgegen.  Schon  Thomas  Hobbes  hat  es  betont,  dass 
die  vernunftgeraäss  folgernde  Philosophie  mit  der  auf  Erfahrung- 
beruhenden Geschichte  in  keinem  Zusammenhang  steht,  und 
Hans  F.  Helmolt  sagt  in  dem  gedankenreichen  einleitenden 
Abschnitt  seiner  „Weltgeschichte4*  (Bd.  1,  S.  8):  „Die  Philo- 
sophie der  Geschichte  stört  und  trübt  mit  ihrem  Subjektivismus 
die  objektive  Auffassung,  die  reine  Wissenschaft  vom  Gang 
alles  Geschehens.  Die  Erkenntnis  dessen,  was  man  den 
Kausalnexus  der  Geschichte  genannt  hat,  muss  genügen;  was 
darüber  hinausgeht,  steht  auf  schwachen  Füssen.44  Und  dem 
Worte  desselben  Gelehrten:  „Das  Grübeln  über  die  Ziele  alles 
Geschehens  ist  kein  historisches  Arbeiten'1  füge  ich  hinzu: 
Historische  Arbeit  ist  lediglich  Thatsachenforschung  —  beide 
Teile  des  Kompositums  besonders  betont. 

3.  Aber  nicht  nur  vor  dem  Hineintragen  teleologisch- 
philosophischer  Tendenzen  in  die  Geschichtsbetrachtung,  sondern 


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468 


Hans  Zimnur. 


auch  vor  dem  Hineintragen  vorgefasster  pädagogisch-theo- 
retischer Meinungen  muss  sich  der  Herausgeber  pädagogischer 
Klassiker  bei  dem  historischen  Charakter  seiner  Aufgabe  hüten. 
Er  darf  einen  zu  bearbeitenden  Klassiker  nicht  nach  einem 
persönlichen  pädagogischen  Parteis tandpunkt  behandeln,  sei 
dieser  nun  rein  wissenschaftlich  oder  auch  von  religiösen  Über- 
zeugungen bestimmt.  Nicht  der  Katholik  oder  der  Protestant, 
auch  nicht  der  Pestalozzianer  oder  Herbartianer  darf  im  Urteil 
des  Herausgebers  zu  Worte  kommen ;  überhaupt  ist  ein  solches 
Urteil  stets  subjektiv  und  daher  unhistorisch.  Erst  wenn  sich 
ein  objektiver  kritischer  Massstab  finden  Hesse,  objektiv  an- 
wendbar auf  alle  Pädagogen,  weil  er  geradezu  aus  dem 
eigenen  Wesen  aller  hervorgegangen  wäre,  würde  aus  dem 
rein  fest-  und  darstellenden  Historiker  und  Herausgeber  auch 
ein  urteilender  Historiker  und  Herausgeber  werden  dürfen. 

4.  Ich  persönlich  bin  nun  allerdings  der  Meinung,  dass 
es  einen  solchen  allgemeinsten,  auf  jeden  deutschen  Päda- 
gogen anwendbaren  objektiven  kritischen  Massstab  giebt. 
Um  mich  in  diesem  Punkte  verständlich  zu  machen,  muss  ich 
weiter  ausholen.  Eine  Ansicht  über  die  geschichtliche  Stellung 
Herbarts  und  die  Folgerungen,  die  daraus  für  die  Pädagogik 
des  20.  Jahrhunderts  zu  ziehen  seien,  habe  ich  am  ausführlichsten 
ausgesprochen  in  dem  Aufsatze  „Entwickelung  und  Aufgabe 
der  Pädagogik"  („Deutsches  Wochenblatt"  1899,  No.  22  und  23), 
am  knappsten  zusammengefasst  in  meiner  obenerwähnten  Aus- 
gabe von  Herbarts  „Umriss"  (S.  14  und  15).  Der  Kern  meiner 
Gedanken  war  damals  der:  Bei  der  Frage,  wie  sich  die  Zukunft 
der  Pädagogik  gestalten  soll,  handelt  es  sich  darum,  zunächst 
einmal  festzustellen,  welches  diejenige  pädagogische  Richtung 
ist,  die  gegenwärtig  als  die  herrschende  angesehen  werden 
darf,  denn  nur,  was  in  der  geschichtlichen  Entwickelung  so- 
zusagen historischen  Erfolg  gehabt  hat,  darf  als  Grundlage 
für  die  Zukunft  dienen.  Diese  gegenwärtig  herrschende 
Richtung  ist  weder  eine  der  älteren  (etwa  Ratke  oder  Comenius), 
noch  eine  der  allerjüngsten  (etwa  Natorp  oder  Bergemann), 
sondern  die  Herbartsche.  Diese  ist  also,  indem  man  un- 
umwunden zugiebt,  dass  die  Herbartsche  Ethik  und  Psycho- 
logie überholt  sind,  und  indem  man  die  Dreiteilung  im  Lager 
der  Herbartianer  (Zillerianer,  Stoyianer,  eigentliche  Herbartianer) 


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Gedanken  über  die  Herautgabe  pädagogischer  Klassiker. 


469 


beseitigt,  zu  einer  einheitlichen,  auf  die  moderne  Philosophie 
begründeten  weitergebildeten  Pädagogik  auf  Herbartscher 
Grundlage  auszugestalten,  um  die  Pädagogik  des  20.  Jahr- 
hunderts zu  gewinnen. 

Der  Fehler  lag  hier  darin,  dass  auch  ich  mich  noch  nicht 
von  der  philosophischen  Begründung  der  Pädagogik  frei- 
zumachen vermochte.  Aber  in  unmittelbarem  Anschluss  an 
diese  Erwägungen,  die  sich  um  den  einzigen  Herbart  drehten, 
bin  ich  in  dem  Aufsatz  „Die  deutsche  Pädagogik",  den  ich  für 
die  zweite  Auflage  von  Hans  Meyers  „Deutschem  Volkstum" 
geschrieben  habe,  einen  Schritt  weiter  ins  Allgemeine  ge- 
gangen und  zu  folgender  Gedankenreihe  gekommen.  Ich  kann 
sie  freilich  hier  nur  ganz  kurz  in  ihren  Ergebnissen  zusammen- 
fassen; die  weitere  Ausführung  und  Begründung  muss  ich 
später  aus  dem  Aufsatz  im  „Deutschen  Volkstum"  selbst  zu 
entnehmen  bitten;  das  Buch  soll  nach  dem  Plane  der  Verlags- 
anstalt im  Laufe  des  Jahres  1903  erscheinen. 

In  der  deutschen  Entwickelung  liegt  der  Gedanke  der 
Erziehung;  er  ist  ein  deutscher  Gedanke.  Sowohl  an  päda- 
gogischem Interesse  als  auch  an  pädagogischer  Begabung 
übertrifft  der  Deutsche  die  übrigen  Kulturvölker.  Der  Grund 
dafür  liegt  darin,  dass  der  Deutsche  vermöge  seiner  charak- 
teristischen, ihn  von  anderen  unterscheidenden  Eigen- 
schaften die  Forderungen,  deren  Erfüllung  die  Pädagogik  von 
ihren  Priestern  verlangt,  besser  als  Engländer,  Franzosen, 
Russen  u.  s.  f.  zu  leisten  vermag:  in  seinen  Volkstums- 
eigenschaften  ist  die  Quelle  für  seine  pädagogische  Be- 
gabung und  sein  pädagogisches  Interesse  zu  suchen. 

Eine  Analyse  des  Volkstumsgehaltes,  der  sich  in  der  Ver- 
gangenheit in  unserer  Pädagogik  zeigte  und  in  der  Gegen- 
wart in  ihr  steckt,  führt  ganz  allgemein  zu  dem  Satze:  zu  allen 
Zeiten  der  weiteren,  näheren  und  nächsten  Vergangenheit  wie 
in  der  Gegenwart  lassen  sich  in  der  deutschen  Pädagogik 
Züge  und  Äusserungen  deutschen  Volkstums  nachweisen,  aber 
zu  keiner  Zeit  alle  auf  einmal  und  zu  den  verschiedenen  Zeiten 
bald  mehr,  bald  weniger  deutlich  und  zahlreich. 

Die  historische  Pädagogik  darf  daraus  die  Lehre  ziehen, 
dass  für  die  Schilderung  der  Entwickelung  unserer  deutschen 
Pädagogik    die  Einteilung    des  Stoffes    nach  Perioden  mit 


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470 


//ans  Zimtiier. 


geringem  und  solchen  mit  höherem  Volkstumsgehalt  die 
natürlichste  ist  Für  die  pädagogische  Theorie  gipfeln  meine 
aus  jenem  allgemeinen  Satz  entspringenden  Erwägungen  in 
der  Forderung:  wir  brauchen  eine  deutsche  Pädagogik,  d.  h. 
ein  ganz  und  ausschliesslich  auf  das  deutsche  Volkstum,  d.  h. 
auf  sämtliche  Wesenseigenheiten  des  Deutschen  ge- 
gründetes geschlossenes  pädagogisches  System.  Diese  Forde- 
rung deckt  sich  keineswegs  mit  dem  häufig  gehörten  Verlangen 
nach  einer  „nationalen"  Pädagogik.  Diese  wäre  noch  weit 
davon  entfernt,  eine  „deutsche"  Pädagogik  zu  sein,  denn  sie 
würde  sich  nur  auf  eine  der  deutschen  Wesenseigenheiten 
(das  stark  ausgeprägte  Nationalgefühl  mit  seinen  Ausflüssen) 
gründen,  nicht  auf  sämtliche. 

Bisher  begnügte  sich  unsere  Pädagogik  damit,  dass  Herbart 
das  pädagogische  Lehrgebäude  auf  philosophischem  Boden  er- 
baute, dass  er  Ethik  und  Psychologie  zu  Grund-  und  Hilfs- 
wissenschaften der  Erziehungstheorie  erhob.  Seitdem  haben 
wir  eine  „philosophische"  Pädagogik.  Jeder  glaubt  nur  dann 
ein  pädagogisches  System  schaffen  zu  können,  wenn  er  ein 
philosophisches  System  zu  seiner  Grundlage  macht,  die  päda- 
gogischen Lehren  mit  philosophischem  Massstabe  misst  Ohne 
Zweifel  werden  Ethik  und  besonders  Psychologie  auch  von 
einer  „deutschen"  Pädagogik  keineswegs  vernachlässigt  werden 
dürfen,  jene,  weil  das  deutsche  ethische  Pflichtgefühl  in  der  Erzie- 
hung eine  hervorragende  Berücksichtigung  erheischt,  diese,  weil 
sie  dem  deutschen  Individualismus  für  die  Beobachtung  der  ver- 
schiedenen Individualitäten  mit  vollen  Händen  das  wissen- 
schaftliche Material  in  den  Schoss  wirft  Aber  philosophische 
Systeme  sind  etwas  höchst  Subjektives  und  daher  ohne 
Dauer.  Herbart,  Hartmann,  Wundt  —  alles  fliesst,  und  wer 
weiss,  was  danach  kommen  wird?  Weil  aber  philosophische 
Systeme  etwas  Subjektives  und  ohne  Dauer  sind,  können  sie 
nicht  als  massgebendes  wissenschaftliches  Grundkriterium 
für  ein  pädagogisches  System  dienen.  Dazu  ist  nur  etwas  all- 
gemeingiltig  Objektives,  etwas  Dauerndes  geschickt,  und 
so  viel  wir  auch  suchen  mögen,  nichts  vereinigt  diese  beiden 
Eigenschaften  besser  in  sich  als  das  Volkstum.  Die  philo- 
sophische Pädagogik  wechselt  fortwährend  — •  nicht  nur  ihren 
Inhalt,  wie  sie  als  fortschreitende  Wissenschaft  dürfte  und  sollte 


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Gedanken  über  die  Herausgabe  pädagogischer  Klassiker. 


471 


—  sondern  auch  ihr  Prinzip,  bald  Idealismus,  bald  Realismus, 
hier  Optimismus,  da  Pessimismus  u.  s.  f.,  während  die  Volks- 
turaspädagogik immer  das  nicht  wie  die  Philosophie  in 
Schulen  und  Richtungen  auseinanderfallende  Volkstum  zum 
Prinzip  behält  Das  Volkstum  kann  sich  ändern,  durch  Wande- 
lungen in  den  äusseren  Bedingungen  des  Volkslebens,  durch 
Kultureinflüsse  von  aussen  her.  Aber  es  ändert  sich  nur  un- 
wesentlich und  langsam:  die  Grundlage  bleibt  im  grossen 
und  ganzen  stets  dieselbe,  die  „deutsche"  Pädagogik  wird  infolge- 
dessen immer  die  „herrschende"  (vgl.  oben,  III,  4,  Absatz  1)  sein, 
sie  wird  nie  durch  eine  audere  ersetzt,  sondern  nur  in  sich 
selbst  massig  abgewandelt  werden.  Ihr  Fortschritt  als 
Wissenschaft  aber  wird  darin  bestehen,  eben  jene  leisen  und 
allmählichen  Verschiebungen  des  Volkstums  wachen  Blicks 
durch  beständige  Belauschung  der  Volksseele  zu  erkunden  und 
zu  verarbeiten. 

Man  erkennt  leicht,  wie  meine  Herbartgedanken  von  da- 
mals mit  meiner  pädagogischen  Volkstumsidee  zusammen- 
hängen: es  ist  der  Begriff  „herrschende"  Pädagogik,  der  sie 
verbindet.  Der  jetzige  Fortschritt  meiner  Erwägungen  besteht 
in  dem  Satze,  dass  eine  auf  philosophischer  Grundlage  auf- 
gebaute Pädagogik  niemals  eine  dauernd  herrschende  sein 
kann;  dazu  ist  nur  eine  „deutsche"  (bezw.  für  die  anderen 
Nationen  eine  „französische",  „englische"  u.  s.  f.)  Pädagogik  im 
stände,  die  auf  der  im  grossen  und  ganzen  unveränderlichen 
Basis  des  Volkstums  ruht  Eine  internationale  Pädagogik 
kann  es  nicht  geben,  sondern  nur  eine  deutsche,  englische, 
französische  u.  s.  t  nebeneinander,  wenn  sie  auch  das  und 
jenes  gemein  haben  müssen,  weil  gewisse  Züge  in  jedem 
Volkstum  wiederkehren. 

Im  Volkstum  habe  ich  also,  meiner  persönlichen  Über- 
zeugung nach,  den  objektiven  kritischen  Massstab  gefunden, 
mittelst  dessen  ich  als  Historiker  nicht  blos  Thatsachen  fest- 
stellen, sondern  auch  Urteile  abgeben  darf.  Aber  natürlich 
liegt  mir  nichts  ferner,  als  etwa  meine  Mitarbeiter  an  „Gresslers 
Klassikern  der  Pädagogik"  auf  diesen  Standpunkt  irgendwie 
festlegen  zu  wollen,  ehe  er  allgemein  angenommen  ist  Und 
wann  das  geschehen  wird?  Jedenfalls  will  ich  es  versuchen, 
in  meinen  nächsten  Arbeiten  nach  dem  Aufsatz  im  „Deutschen 


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472  Hans  Zimmer. 

Volkstum"  zwei  praktische  Beispiele,  ein  historisches  und  ein 
theoretisches,  für  meine  Lehre  zu  liefern:  ein  Werk  über 
Friedrich  Ludwig  Jahn  als  deutschen  Pädagogen  (Band  XXIII 
von  „Gresslers  Klassikern")  und  eine  längere  Abhandlung  über 
Dichterlektüre  in  der  Schule  in  dieser  Zeitschrift,  wobei  auch 
willkommene  Gelegenheit  sein  wird,  die  einschlägigen  amtlichen 
Bestimmungen  neueren  Datums  und  die  diesbezüglichen  Be- 
ratungen der  Schulkonferenzen  von  1890  und  1900  eingehend 
zu  besprechen. 


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Die  Entwickelung  der  Pädagogischen  Psychologie 

im  19.  Jahrhundert 

Von 

Ferdinand  Kemsies. 
(Schluss.) 

Bei  einer  kritischen  Würdigung  der  Psychologie  Benekes1). 
muss  die  ganz  modern  anmutende  Betonung  des  Erfahrungs- 
wissens, das  mit  Empfindungen  anheben  soll,  anerkennend  her- 
vorgehoben werden;  in  starkem  Gegensatz  dazu  stehen  nun 
leider  die  Hypothesen,  die  sich  breit  in  den  Vordergrund) 
drängen,  bevor  auch  nur  die  gröbsten  psychischen  Vorgänge 
empirisch  behandelt  sind,  sodass  psychologische  Konstruk- 
tionen von  zweifelhaftem  Werte  entstehen  ähnlich  wie  bei 
Herbart.  Die  Urvermögenshypothese,  die  die  Vorstellung  einer 
Analyse  des  Seelenwesens  bis  zu  seelischen  Atomen  enthält, 
die  Hypothese  über  die  fortwährende  Aneignung  von  Reizen, 
das  Grundgesetz  der  Assoziation,  nach  welchem  von  jedem 
bewussten  psychischen  Akte  aus  bewegliche  Elemente  an  zu- 
gleich-gegebene  übertragen  werden,  sind  ohne  Bedeutung  für 
die  Erforschung  der  psychischen  Gebilde  und  Zustände;  da- 
gegen erscheint  der  Begriff  der ,  Spuren  oder  Dispositionen 
noch  heute  wertvoll. 

In  der  Pädagogik  wollte  B.  kein  System  liefern,  sondern  nur 
die  Grundverhältnisse  von  Erziehung  und  Unterricht  darlegen, 
hierbei  hält  er  streng  an  dem  psychologischen  Gesichtspunkt  fest 
und  verlangt  daher  in  der  Praxis  die  Bildung  möglichst  vieler 
und  kräftiger  Spuren,  die  zu  Gruppen  und  Reihen  verknüpft 
werden  sollen;  auch  wird  der  Beobachtung  der  individuellen 
Entwicklung  des  Kindes  ein  Platz  zugewiesen.  In  ihrer  Unbe- 

')  Man  vergleiche  u.  a.  hierzu:  0.  Gramxow,  Friedrich  Eduard  Benekes 
Leben  und  Philosophie.   Bern  1899. 


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474 


Ferdinand  Kemsies. 


stimmtheit  und  Allgemeinheit  hat  diese  Theorie  auf  die  prak- 
tische Pädagogik  wenig  Einfluss  gewonnen  und  wohl  nur  tem- 
poräre Bedeutung  erlangt  — .  in  starkem  Gegensatze  zu  Herbarts 
Lehren,  die  von  vornherein  den  pädagogischen  Problemen 
nähertraten. 

Aus  dem  Charakter  der  Herbartschen  Psychologie  ergiebt 
sich  mit  Notwendigkeit  eine  intellektualistische  Erziehungs- 
theorie, in  der  die  erziehlichen  Wirkungen  des  Unterrichts  auf- 
fallend hervortreten,  und  die  Bildung  des  Gemüts-  und  Willens- 
lebens als  sekundärer  Vorgang  sich  abspielt.  Die  praktische 
Durchführbarkeit  wird  erleichtert  durch  eine  Analyse  der 
Bildungsprozesse,  die  sich  bis  auf  die  elementarsten  Unterrichts- 
und Lernfunktionen  erstreckt.  Der  Gedanke  einer  solchen  um- 
fassenden und  exakten  Leitung  des  kindlichen  Seelenlebens 
von  den  Vorstellungen  aus  und  mittels  Vorstellungen  hat  etwas 
Imposantes  und  Faszinierendes.  Dennoch  bedeutet  er  einen 
prinzipiellen  Rückschritt  gegen  Pestalozzis  Erziehungsplan,  weil 
dieser  im  wesentlichen  auf  rein  empirischer  Grundlage  ruht 
und  sich  von  „imaginären  Prozessen"  freihält.  Seine  praktischen 
Vorzüge  vor  Pestalozzis  Entwurf  liegen  darin,  dass  die 
lex  continui  eine  ausgedehntere  Anwendung  findet,  indem  die 
Beziehungen  der  Vorstellungen  zu  Gemüts-  und  Willensregungen 
mitberücksichtigt  werden  und  eine  kontinuierliche  Erzeugung 
der  letztern  eingeleitet  wird.  Der  Praxis,  die  mehr  die  Absicht 
und  die  Anweisungen  der  Theorie  als  ihre  Grundlagen  bewertet, 
erschien  sie  dadurch  vielfach  als  die  Theorie  par  excellence, 
als  die  „wissenschaftliche"  Pädagogik.  Wenn  auch  eine  solche 
Prätension  die  Kritik  herausforderte  und  zu  lebhaften  pole- 
mischen Erörterungen  führte,  die  zuweilen  ins  Persönliche  aus- 
arteten, so  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  Herbarts  weitere 
psychologische  Ausführungen  über  Bedingungen,  Wesen  und 
Arten  des  Interesses,  über  primitive  und  appercipierende  Auf- 
merksamkeit, über  Art  und  Stufenfolge  der  Prozesse,  die  man 
in  ihrer  Gesamtheit  als  Erkennen  und  Begehren  bezeichnet,  über 
Assoziation,  Reproduktion  und  Verlauf  der  Vorstellungen  neue 
Gesichtspunkt  eröffneten,  die  der  Schule  Pestalozzis  und  Benekes 
in  diesem  Umfange  fremd  waren.  Obwohl  eklektische  Prak- 
tiker, wie  z.  B.  Diesterweg,  vieles  von  dem,  was  Herbart  fordert. 


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Die  Entwickelung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  475 

in  anderer  Form  und  unter  anderem  Titel  ausgaben,  so  gebührt 
doch  dem  letzteren  unstreitig  die  Priorität;  durch  seine  philo- 
sophische Schule  wurde  das  ganze  System  noch  schärfer  heraus- 
gehoben und  oft  in  scholastischen  Formeln  mit  scholastischer 
Disputierwut  vertreten ;  doch  wurde  auch  in  einer  gewissenhaften 
praktischen  Arbeit,  die  sich  über  Jahrzehnte  ausdehnte,  zugleich 
der  Beweis  erbracht,  dass  in  jenen  begrifflichen  Anleitungen 
schöpferische  Prinzipien  enthalten  waren.  Zu  bedauern  bleibt 
immerhin  der  starre  Dogmatismus,  der  am  Begrifflichen  haftete, 
statt  den  Thatsachen  nachzugehen,  und  die  Begriffe  sich  um 
diese  drehen  zu  lassen.  Aus  einer  Gegenüberstellung  der  ein- 
zelnen konkreten  Erziehungs-  und  Unterrichtsweisungen  bei 
Herbart  (-Ziller-Stoy)  einerseits  und  dem  Pestalozzianer  Diester- 
weg  andererseits,  ergiebt  sich,  dass  der  Erfahrungskreis  der 
beiden  Schulen  nicht  so  stark  von  einander  abweicht,  als  man 
zunächst  zu  vermuten  geneigt  ist,  und  dass  beide  in  der  Praxis 
sehr  gut  nebeneinander  hätten  marschieren  können.  Dem 
Schematismus  der  Herbartschen  Schule  stellten  die  Eklektiker 
unter  den  Pädagogen  den  Begriff  der  Persönlichkeitspädagogik 
entgegen,  indem  sie  als  Recht  der  Lehrperson  die  „freie" 
Bethätigung  ihres  Wissens  und  Könnens  forderten. 

III.  Epoche. 

Die  Arbeiten  der  drei  letzten  Dezennien  des  vorigen  Jahr- 
hunderts weichen  in  mancherlei  Hinsicht  von  den  geschilderten 
ab  und  dürften  daher  geeignet  sein,  eine  neue  Epoche  ein- 
zuleiten ;  sie  schliessen  sich  zeitlich  und  sachlich  an  die  moderne 
Psychologie  an.  Zunächst  begegnen  wir  verschiedenen  Ver- 
suchen, den  Ertrag  der  bisherigen  pädagogisch-psychologischen 
Arbeit  mit  neuen  Elementen  zu  verschmelzen,  die  aus  der 
nachherbartischen  und  nachbenckeschen  Psychologie,  aus  Lotze, 
Ulrici,  Fichte,  Trendelenburg,  Sigwart,  Lazarus,  Horwicz 
stammen.  Steht  auch  das  Gebotene  nicht  in  direktem  Zu- 
sammenhang mit  der  Schulpädagogik,  sondern  lehnt  sich  mehr 
äusserlich  an  diese  an,  so  bringt  es  doch  Anregungen  und 
verspricht  eine  spätere  genauere  Anleitung  für  die  Behandlung 
der  Schulfragen;  auch  erscheint  jetzt  öfters  die  Bezeichnung 
Pädagogische  Psychologie  zur  Kennzeichnung  aller  dieser  Be- 


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476 


Ferdinand  Kemsüs. 


strebungen,  die  die  Psychologie  als  unentbehrliche  Hilfswissen- 
schaft der  Pädagogik  betrachten  und  mittels  ihrer  an  die  Be- 
grenzung und  Behandlung  der  Lehrstoffe,  sowie  an  die  Be- 
urteilung der  Schülerleistungen  herantreten  wollen.  Die  päda- 
gogischen Forderungen  gehen  freilich  nicht  aus  den  psycho- 
logischen Thatsachen  und  Erwägungen  eindeutig  hervor,  und  das 
pädagogische  Problem  kann  noch  nicht  in  eine  durchgehende 
innere  Verbindung  mit  ihnen  gebracht  werden.  Die  Pädago- 
gische Psychologie  beschäftigt  sich  aber  mit  Fragen  der  allmäh- 
lichen zeitlichen  Entwickelung  und  Entfaltung  des  kindlichen 
Seelenlebens  in  seinen  verschiedenen  Richtungen :  mit  den  ersten, 
Thatsachen  der  Empfindung,  Wahrnehmung  und  Vorstellung, 
der  Begriffs-  und  der  Sprachbildung,  mit  Phantasie  und  Spiel, 
mit  Natuell  unrd  Charakter,  mit  Gefühls-  und  Willensleben, 
oder  sie  behandelt  mehr  im  Anschlüsse  an  das  Schulleben  und 
mit  Hervorhebung  der  wichtigsten  pädagogischen  Konse- 
quenzen: Anschaung,  Gedächtnis,  Aufmerksamkeit,  Verstand, 
Vernunft. 

Diesen  Bestrebungen  reihen  sich  die  schulhygienischen 
Forschungen  an,  von  denen  hier  nur  diejenigen  zur  Hygiene 
des  Nervensystems,  der  Sinnes-,  Stimm-  und  Sprachorgane 
der  Schüler  interessieren;  sie  nehmen  einen  breiten  Platz  in 
der  öffentlichen  Diskussion  ein  und  zeigen  in  methodologischer 
Hinsicht  Uebereinstimmung  mit  den  Forderungen  der  neueren 
Psychologie,  indem  mit  Erfolg  das  Experiment  und  die  sta- 
tistische Methode  zur  Lösung  konkreter  Aufgaben  benutzt  wird. 
Hand  in  Hand  mit  der  Schulhygiene  tritt  die  Pädagogische 
Pathologie  als  selbständige  Disziplin  auf. 

Einschneidender  und  schwerwiegender  als  alle  anderen 
Bemühungen,  dem  erzieherischen  Kalkül  eine  Reihe  von  That- 
sachen hinzuzubringen,  erwiesen  sich  die  folgenden  empirischen 
Arbeiten  zur  Entwickelungsgeschichte  des  Kindes  und  zur  Fest- 
stellung seines  Habitus  im  Gegensatze  zu  dem  des  Erwachsenen, 
die  man  zusammenfassend  als  Kinderpsychologie  bezeichnet. 

Als  Begründer  der  Kinderpsychologie  nennt  man  be- 
kanntlich den  Philosophen  Dietrich  Tiedemann,  der  im  Jahre 
1787  Beobachtungen  über  die  Entwickelung  der  Seelenfähig- 
keiten bei  Kindern  publizierte;  seiner  Anregung  folgte  erst 
70  Jahre  später  Sigismund  mit  der  Schrift  „Kind  und  Welt" 


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Die  Entwicbelung  der  Pädagogisch**  Psychologie  im  ig.  jfahrh.  477 


und  erst  nach  weiteren  25  Jahren  (1881)  Preyer  in  seinem 
klassischen  Werke  „die  Seele  des  Kindes".  Bald  gewinnt  je- 
doch das  Wort  Rousseaus :  „Man  kennt  und  versteht  die  Kinder- 
welt durchaus  nicht ;  je  »weiter  man  .die  falschen  Ideen,  die  man 
von  ihr  hegt,  verfolgt,  desto  weiter  verirrt  man  sich,"  tieferes/ 
Verständnis  in  weiteren  wissenschaftlichen  Kreisen.  Man  durch- 
blättert die  Tagebücher  der  Kinder  und  sucht  die  Erinnerungen 
an  die  eigene  Kindheit  hervor,  man  beobachtet  Kinder  nach 
der  biographischen  Methode  und  stellt  Vergleiche  an.  (St.  Hall, 
Sully,  Compayr£,  Perez.)  In  der  weiteren  Ausgestaltung  folgte 
der  neue  "\Vissenszweig,  der  besonders  eifrig  in  Amerika  ge- 
pflegt wurde,  den  Spuren  der  Psychologie  und  befleissigte 
sich  der  beobachtenden  naturwissenschaftlichen  Methoden, 
unter  gleichzeitiger  Berücksichtigung  der  physiologischen  Be- 
gleiterscheinungen des  Seelenlebens.  Es  handelte  sich  schon 
neben  der  biographischen  Darstellung  des  Auftretens  und 
der  Steigerung  der  physischen  Funktionen  und  der  seelischen 
Gebilde  während  aufeinanderfolgender  Lebensperioden,  um 
die  Erforschung  einzelner  Erscheinungen,  z.  B.  von  Tem- 
perament, Talent,  Gemüt,  künstlerischer  und  sittlicher  An- 
lage, sowie  einzelner  individueller  Eigenschaften,  die  eine 
Messung  gestatten  (Uebungsfähigkeit,  Ermüdbarkeit,  Er- 
holungsfähigkeit, Gedächtnis),  um  Sinnesunterschiede,  sprach- 
liche Bildungen,  um  die  Entwickelung  der  Phantasie,  des 
induktiven  und  deduktiven  Verstandes,  um  Kombinationen 
von  Anlagen  und  Aufstellungen  von  Typen,  um  die  Analyse 
des  kindlichen  Gedankenkreises  u.  a.  m. 

Es  war  kein  Zweifel,  (dass  diese  Forschungen  die  Interessen 
der  Pädagogik  tangierten,  und  es  war  nur  natürlich,  dass  bald 
eifrige  Schulmänner,  Aerzte  und  Psychologen  sie  auf  das 
pädagogische  Arbeitsfeld  verpflanzten,  wo  durch  Pestalozzi,  Her- 
bart, Beneke  wirksame  Vorarbeiten  geleistet  waren  und  psycho- 
logisches Verständnis  in  weiteren  Kreisen  angebahnt  war,  so  dass 
von  einem  gänzlich  unhistorischen  Vorgehen  nicht  gesprochen 
werden  kann.  Sah  doch  schon  Pestalozzi  das  eigentliche  soge- 
nannte Lernen  als  Uebung  der  Seelenkräfte  an  und  „hielt  da- 
für, dass  die  Uebung  der  Aufmerksamkeit,  der  Bedachtsamkeit 
und  der  festen  Erinnerungskraft  der  Kunstübung  zu  urteilen  und 
zu  schliessen  voraufgehen  müsse."  Diese  pädagogische  Psycho- 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  and  Hygiene.  7 


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478 


Ferdinand  Kemsies. 


logie  steuert  heute  auf  die  Kardinalfragen  der  Schule  zu  und 
sucht  sie  durch  Anwendung  exakt  empirischer  Methoden  ihrer 
Lösung  näherzubringen;  wir  nennen:  Lehrverfassung  der 
Schulen,  intellektuelle  Bildung  (allgemeine  Didaktik  und 
Methodik  der  Lehrfächer),  ästhetische  Bildung,  Willensbildung, 
Psychohygiene,  Psychopathologie. 

I.  Lehrverfassung.  In  den  Volksschulen  der  grösseren 
und  mittleren  Städte  sind  innerhalb  des  letzten  Dezenniums 
mehrfach  Abänderungen  der  bisherigen  Organisation  vor- 
genommen worden,  die  teils  bezweckten,  den  schwachbefähig- 
ten Schülern,  die  das  Lehrziel  nicht  zu  erreichen  vermochten, 
eine  ihren  Anlagen  besser  angepasste,  in  sich  abgerundete 
Erziehung  zu  teil  werden  zu  lassen;  teils  dem  normalen 
Durchschnittsschüler  ein  schnelleres  Aufrücken  in  die  höheren 
Klassen  zu  erleichtern.  Während  man  im  ersten  Falle  den 
Normalklassen  sogenannte  Hilfsklassen  für  Schwachbefähigte 
angliederte,  die  hie  und  da  auch  übereinandergesetzt  zu  Hilfs- 
schulen (z.  B.  in  Berlin)  sich  auswuchsen,  oder  neben  der  mehr- 
klassigen  Anstalt  noch  eine  sogenannte  einfache  Schule  für 
weniger  Begabte  bestehen  Hess  (z.  B.  in  Karlsruhe),  ging  im 
zweiten  Falle  eine  neue  Aufteilung  und  eine  Erweiterung  der 
Lehrpensa  zu  gunsten  der  Besserbefähigten  vor  sich,  so  dass 
aus  den  4 — 6-klassigen  Schulsystemen  8-klassige  entstanden, 
die  man  heute  als  die  normalen  betrachtet.  Inwieweit  diese  Ver- 
schiebungen und  Verteilungen  der  Pensa  wirklich  den  Jahres- 
stufen und  den  Fähigkeiten  der  Schüler  angemessen  sind,  inwie- 
weit vielleicht  hier  die  Schablone,  dort  die  Willkür  gewaltet 
hat,  inwieweit  die  Beschneidung  der  Klassenpensa  der  tieferen 
Durcharbeitung  der  Stoffe  zu  gute  kommt,  oder  ob  nicht 
dennoch  die  Forderungen  der  Schule  die  natürliche  Leistungs- 
fähigkeit der  Kinder  übersteigen:  das  kann  und  soll  der 
Pädagoge  durch  möglichst  genaue  Beobachtungen,  durch  sorg- 
fältige Registrierung  der  Schulleistungen,  sowie  durch  ver- 
gleichende Beobachtungen,  die  in  letzter  Linie  sich  auf  die 
Fähigkeiten  und  Eigenschaften  der  Schüler  auszudehnen  haben, 
feststellen.  Die  Trennung  des  Unterrichts  nach  Schülerkate- 
gorien erweist  sich  jedenfalls  für  diese,  wie  die  bisherigen  Er- 
fahrungen lehren,  von  unschätzbarem  Vorteil  und  erspart  den 
Lehrern  Zeit  und  Mühe.  Man  kann  vielleicht  mit  Wagner, 


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Di*  Entwkkelung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  479 

wenn  man  von  der  sofortigen  Durchführbarkeit  seiner  Vor- 
schläge absieht,  auf  diesem  Wege  weiter  gehen  und  verlangen, 
dass  jede  Schulklasse  psychologisch  in  etwa  zwei  Abteilungen 
gegliedert  werde,  je  nach  der  bessern  oder  schlechtem  Be- 
fähigung der  Kinder,  je  nach  dem  Tempo  und  dem  Grade 
ihrer  Auffassung,  die  dann  im  Unterrichte  die  Beachtung 
des  Lehrers  zu  beanspruchen  hätten.  Dass  in  jeder  Unter- 
richtsstunde eine  solche  innere  Teilung  der  Schülermasse  er- 

« 

wünscht  wäre,  ist  ja  ein  altes  Ideal  der  Pädagogik. 

In  den  höheren  Schulen  haben  die  Organisationsfragen 
seit  der  Reglementierung  dieser  Anstalten  durch  den  Staat 
eine  hervorragende  Rolle  gespielt  und  scheinen  doch  ihrer 
endgültigen  Lösung  noch  nicht  entgegenzugehen;  denn  die 
soeben  erörterten  Gesichtspunkte  sind  in  diesen  Schulen  noch 
fast  gar  nicht  in  Aufnahme  gekommen,  obwohl  gewaltige  Diffe- 
renzen in  Bezug  auf  Veranlagung  und  Leistungen  der  Schüler 
nachweisbar  sind;  vielmehr  gilt  als  stillschweigende  Vor- 
aussetzung, dass  höhere  Lehranstalten  nur  von  gut  oder  besser 
veranlagten  Schülern  aufgesucht  werden  sollten,  daher  bleibt 
der  Pädagogischen  Psychologie  ein  reiches  Arbeitsfeld  in  dieser 
Hinsicht  für  die  Zukunft  vorbehalten.  Zur  Zeit  sind  auch  die 
Fragen  nach  dem  Bildungswerte  der  verschiedenen  Lehrfächer 
und  der  Komposition  der  Allgemeinbildung,  die  zum  Teil  mit 
der  Thatsache  der  individuellen  Verschiedenheiten  zusammen- 
hängen, noch  nicht  von  der  Tagesordnung  verschwunden, 
wie  wohl  der  Schulstreit  zwischen  Gymnasium,  Real- 
gymnasium und  Oberrealschule  friedlich  durch  die  letzten 
ministeriellen  Bestimmungen  beigelegt  ist.  Die  Allgemein- 
bildung des  Gymnasiums,  der  eigentlichen  Gelehrten- 
schule, die  das  Prüfungsreglement  vom  1812  zum,1  ersten 
Male  festsetzte,  und  die  durch  spätere  Verfügungen  wenig  von 
ihrem  [Wesen  eingebüsst  hat,  ist  eine  historische,  sie  wendet  den 
Blick  der  Jugend  retrospektiv;  sie  ist  zugleich  eine  polyhisto- 
rische und  dehnt  den  Geist  des  Individuums  oft  zu  seinem 
Nachteile  über  seine  natürlichen  Anlagen  und  Interessen  aus: 
Latein,  Griechisch,  Französich,  Hebräisch  für  Theologie-Stu- 
dierende, Deutsch,  Mathematik,  Naturlehre  und  Naturbeschrei- 
bung, Geschichte,  Geographie  und  Religion,  Kalligraphie, 
Zeichnen,  Gesang.    Diese  Gegenstände  werden  quantitativ 

V 


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480 


Ferdinand  Kentsies. 


gegeneinander  ausgeglichen,  führen  jedoch  leicht  zu  einer  so 
starken  Zersplitterung  der  jugendlichen/  Kräfte,  dass  das  Gegen-, 
teil  einer  wissenschaftlichen  Auffassung  und  Vorbereitung  er- 
reicht wird. 

Eine  grössere  Geschlossenheit  und  Einfachheit  der  Bil- 
dungsziele und  Bildungsarbeit  weist  die  Oberrealschule  auf, 
die  neben  den  beiden  neueren  Sprachen  (Französisch  und  Eng- 
lisch) die  Mathematik  und  Naturwissenschaften  in  das  Zen- 
trum des  Lehrplanes  rückt  und  sie  in  einem  ruhigen  Lehr- 
gänge mit  Benutzung  der  Hilfsmittel  der  Anschauung  und 
praktisch-technischer  Gesichtspunkte  durcharbeitet.  Dennoch 
drängen  sich  hier  ähnliche  Zweifel  auf  wie  im  Gymnasium.  Der 
Gedanke  Wieses,  eine  Vereinfachung  der  Lehrpläne  durch 
Reduktion  derselben  auf  Sprachen,  Mathematik  und  Religion 
herbeizuführen,  verdiente  wohl  der  Vergessenheit  entrissen  zu 
werden,  und  eine  grössere  Konzentration  der  Erziehung  thäte 
zuweilen  not. 

Eine  psychologische  Analyse  der  Schülerleistungen  würde 
merkwürdige  Aufschlüsse  liefern.  Zunächst  kann  man  statistisch 
feststellen,  dass  viele  Schüler  alljährlich  in  höheren  Schiulen 
die  Klassenziele  nicht  erreichen;  ferner  dass  in  vielen  Fällen 
bei  den  versetzten  Schülern  noch  Lücken  in  Sprachen  oder 
Mathematik  bestehen  bleiben;  wie  gross  mag  demnach  der 
Prozentsatz  derjenigen  sein,  die  wirklich  die  sogenannte  all^ 
gemeine  Bildung  im  Sinne  der  Lehrpläne  sich  aneignen;  viel- 
leicht schätzt  man  ihn  mit  33Vs  %  zu  hoch.  Es  könnte 
der  Ursache  der  zahlreichen  Minderleistungen  nachgegangen 
werden,  und  hier  würden  sowohl  die  verschiedenen  Arbeits- 
typen der  Schüler  als  auch  die  Unterrichtsmethoden  psycholo- 
gisch zu  untersuchen  sein.  Beide  könnten  bei  der  Normierung 
der  Pensa  in  der  Art  Berücksichtigung  finden,  dass  eine 
grössere  Freiheit  und  Beweglichkeit  für  die  schwächer  oder 
einseitig  Befähigten  oder  für  die  gut  und  vielseitig  Veranlagten 
gegeben  wäre,  wenn  man  nicht  soweit  gehen  will,  für  'beide 
Kategorien  Schulen  mit  Sonderzielen  zu  fordern. 

II.  Intellektuelle,  ästhetische,  ethische  Bildung.  Der  ge- 
samte Erziehungs-  und  Unterrichtsplan  ist  eine  kombinatori- 
sche Synthese,  die  eine  Reihe  allgemeiner  oder  spezieller  Be- 
obachtungen und  Ansichten  mit  soziologischen  Forderungen 


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Die  Enturiehelung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh.  481 

verknüpft.  Je  öfter  diese  Reihe  in  der  Praxis  durchlaufen 
wurde,  desto  häufiger  wurde  das  erst  angewandte  Verfahren 
abgeändert  und  verlor  seine  Unbestimmtheit.  Es  trat  ein 
grösseres  Thatsachenmaterial  an  die  Stelle  unsicherer  Entwürfe 
und  erster  Versuche.  Heute  wird  verlangt,  dass  alle  pädagogi- 
schen Tatsachen  den  Anforderungen  exakter  Wissenschaft  ent- 
sprechen sollen,  dass  sie  der  psychologischen  Analyse  stand 
halten. 

Ist  der  Grundgedanke  Herbarts,  dass  eine  grosse  ruhende 
Gedankenmasse  eine  Macht  des  Sittlichen  im  Menschen  sei, 
psychologisch  richtig?  In  welchen  Fällen?  Ist  das  vielseitige 
Interesse  der  Fundamentalbegriff  der  Didaktik  und  der  Willens- 
bildung ?  Oder  muss  die  (ganze  Erziehung  sich  an  erster  'Stelle 
auf  feste  Gewöhnungen  stützen,  die  an  Triebe,  Instinkte,  Ge- 
mütsbewegungen anzusetzen  sind?  Ist  Bildung  ein  logischer 
Begriff  oder  ein  psychologisches  Ideal,  oder  ein  psychischer 
Effekt,  der  verschiedenartige  Kriterien  aufweisen  kann? 
Welche  Rolle  spielt  die  ästhetische  Bildung  gegenüber  der 
intellektuellen  und  der  ethischen?  Und  wie  baut  sich  die  künst- 
lerische Erziehung  in  modernem  Sinne  auf?  Nach  der  Be- 
antwortung dieser  grundlegenden  Fragen  folgt  erst  die  Er- 
örterung darüber,  wie  die  einzelnen  Unterrichtsfächer  in  den 
Dienst  der  Pädagogik  treten,  und  in  welcher  Reihenfolge  sie 
angeordnet  werden  können. 

Dabei  muss  überall  an  die  beobachtbaren  psychischen 
Leistungen  und  Bildungen  angeknüpft  werden.  In  dieses  grosse 
Forschungsgebiet  gehören  nun  die  neueren  Untersuchungen 
über  die  Natur  des  Denkens:  über  Sinnestätigkeiten,  Repro- 
duktion, Association,  über  Abstrahieren,  Vergleichen,  Verall- 
gemeinern, Urteilen,  Schliessen,  Phantasietätigkeit,  über  deren 
Anfänge  und  ihr  Wachstum  beim  Kinde,  über  ihre  Re- 
gulierung in  den  verschiedenen  Lernprozessen.  Derartige  mono- 
graphische Untersuchungen  müssen  in  und  neben  der  Schul- 
praxis mit  der  psychologischen  Analyse  der  thatsächlichen  Bil- 
dungen beim  lernenden  Kinde  beginnen.  Sie  erstrecken  sich 
weiter  auf  die  didaktischen  Grundbegriffe :  Anschauung,  Wahr- 
nehmung, Aufmerksamkeit,  Interesse  und  auf  den  Lerngang, 
wie  er  in  den  4  Stufen :  Vorbereitung,  Darbietung,  Zusammen- 
fassung, Anwendung  ausgedrückt  ist.    Dem  umfangreichen 


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482 


Ferdinand  Kcmsits. 


Kapitel  des  Vorstellungslebens  stellen  sich  nicht  minder  um- 
fassende über  die  Gemütszustände  und  Willensregungen  zur 
Seite.  Endlich  über  individuelle  Entwickelung,  Anlage  und 
Vererbung.  Auf  Grund  der  postulierten  Einsichten  sollen 
schliesslich  angemessene  Stufenfolgen  von  Übungen  für  das 
lernende  Kind  aufgestellt  werden,  wie  sie  schon  heute  die 
Unterrichtsmethoden  bezwecken.  Der  Übergang  von  der 
heutigen  zur  zukünftigen  Methode  kann  sich  nach  allem  nur 
sehr  allmählich  vollziehen. 

III,  Psychohygiene.  Der  moderne  Kulturmensch  unter- 
scheidet sich  von  seinen  Vorläufern  nicht  nur  durch  die  Tiefe 
und  den  Umfang  seiner  Kenntnisse  und  Interessen,  sowie  durch 
Fertigkeiten  verschiedener  Art,  sondern  auch  durch  die 
Schnelligkeit,  mit  welcher  er  gezwungen  ist,  sich  dieselben 
anzueignen  und  über  sie  zu  verfügen.  Beides  hat  neben  den 
guten  auch  üble  Folgen.  Machen  uns  unsere  Interessen  an 
vielen  Stellen  im  privaten,  gesellschaftlichen  und  öffentlichen 
Leben  sensibel  und  reizbar,  so  verlangt  die  Schnelligkeit  des 
Studiums  und  der  Arbeit  eine  gründliche  Ausnutzung  der  Zeit 
und  spornt  die  Kräfte  bis  aufs  äusserste  an.  Deshalb  ist  es 
kein  Wunder,  dass  nicht  alle  den  hohen  Ansprüchen,  die  das 
Leben  an  sie  stellt,  ohne  Nachteil  für  ihre  geistige  Gesund- 
heit zu  genügen  vermögen.  Schon  die  Schularbeit,  die  heute 
unsere  Jugend  voll  in  Anspruch  nimmt,  scheint  die  Merkmale 
des  Zuviel  und  Zuschnell  zu  besitzen,  und  die  Schule  ist  kein 
Spiel  mehr  im  Sinne  der  Alten,  sondern  eine  ernste  Stätte 
geistigen  Ringens. 

Infolge  der  Schrift  Lorinsers:  Zum  Schutz  der  Gesundheit 
in  Schulen  (1836)  wurde  für  die  Gymnasien  im  Jahre  tl837 
ein  neuer  Lehrplan  aufgestellt  und  darin  die  jedem  Lehrgegen- 
stande und  jeder  Klasse  zuzuerteilende  Stundenzahl  normiert, 
nämlich  32  Wochenstunden,  auf  Vor-  und  Nachmittag  verteilt. 
Die  Kursusdauer  des  gesamten  Unterrichts  wurde  auf  9  Jahre 
angegeben.  In  einer  Verfügung  vom  Jahre  1854  wurde  es  ge- 
rügt, wenn  in  Schulen  der  Schwerpunkt  auf  die  schriftlichen 
häuslichen  Arbeiten  gelegt  würde,  vielmehr  käme  es  im  Unter- 
richte an  auf  den  geistigen  Verkehr  zwischen  'Lehrer  und  Schüler 
und  auf  die  Anregung  zu  freudiger  Selbsttätigkeit.  Im  Jahre 
1884  wurde  endlich  die  Maximalarbeitszeit  für  alle  Klassen  ange- 


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Die  Entwicklung  der  Pädagogischen  Psychologie  im  ig.  Jahrh, 


geben.  Trotzalledem  und  alledem  erscheint  es  auch  heute  frag- 
lich, ob  nicht  die  Grenze  der  Leistungsfähigkeit  des  jugendlichen 
Hirns  in  so  und  soviel  Fällen  überschritten  wird.  Die  Über- 
bürdungsfrage  und  die  Ueberbürdungsfurcht  haben  bis  in  die 
jüngste  Zeit  zu  weiteren  Reformen  der  höheren  Lehranstalten 
Anlass  gegeben.  Durch  sie  ist  die  Verteilung  der  Lehrstoffe 
auf  die  verschiedenen  Stufen  beeinflusst  worden :  die  Verlegung 
des  griechischen  Unterrichts  aus  IV  nach  Ulli  oder  in  |den, 
Reformgymnasien  nach  U  II,  die  Einführung  des  Französischen 
als  ersten  Sprachunterrichts  an  Stelle  des  Lateinischen;  nicht 
minder  der  Fortfall  unnötiger  Examinationen  und  die  nach- 
drückliche Wertschätzung  besserer  Lehrmethoden. 

Die  Symptome  u  nd  die  Aetiologie  der  Ermüdung  und  der 
Ueberbürdung,  d.  h.  der  pathologischen  Ermüdung,  sind  durch 
physiologische  und  psychologische  Methoden  genauer  studiert 
worden,  sodass  wir  heute  ein  ziemlich  klares  Bild  von  dieser. 
Erscheinung  besitzen.  Für  die  Schule  lassen  sich  auf  dem 
Wege  der  näheren  Erforschung  des  Arbeitstypus  in  schulhygieni- 
schem und  methodischem  Interesse  wertvolle  Aufschlüsse  er- 
warten, die  uns  Einblicke  in  den  psychologischen  Mechanismus 
dieses  oder  jenes  Schülers  eröffnen  und  den  Lernprozess  besser 
zu  überwachen  gestatten  werden.  Um  die  Leistungsfähigkeit 
der  Schüler  in  den  verschiedenen  Zeitlagen  des  Schultages  zu 
den  Anforderungen  des  Lektionsplanes  in  eine  richtige  Pro- 
portion zu  bringen,  wäre  allerdings  auch  notwendig,  Unter- 
suchungen, wie  sie  die  verschiedenen  Ermüdungsmessungen 
vorstellen,  fortzuführen,  um  für  jedes  Fach  zu  verschiedenen  Zeit- 
lagen den  Ermüdungsindex  zu  bestimmen.  Zur  pädagogischen 
Psychohygiene  rechnen  wir  ferner  die  Hygiene  der  Sinnes- 
organe, sowie  der  Stimm-  und  Sprachorgane,  die  seit  drei« 
Dezennien  ungemein  gefördert  wurde.  Brechungsanomalieen 
der  Augen,  Augenleiden,  Harthörigkeit,  Ohrenleiden,  Stimm- 
veränderungen, Stottern  u.  a.  sind  in  hingebender  Arbeit 
von  einer  grossen  Zahl  von  Aerzten  bezüglich  des  Auftretens 
unter  Schülern  und  der  nachteiligen  Folgen  für  die  Entwicklung 
erforscht  worden  und  erheischen  fortgesetzte  Aufmerksamkeit 
seitens  der  Pädagogen. 

IV.  Psychopathologie.  Die  verdienstvolle  Arbeit  Közles 
über  die  Entwicklung  dieser  Disziplin  hat  uns  mit  den  Ansichten 


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Ferdinand  Kernsüs. 


und  Bestrebungen  der  grossen  Pädagogen  auf  dem  Gebiete 
der  pädagogischen  Pathologie  bekannt  gemacht  und  gezeigt, 
dass  jeder  namhafte  Eriieher  zu  ihr  in  bestimmter  Weise  Stel- 
lung genommen  hat,  sodass  wir  historisch  die  Lehre  von  den 
Fehlern  der  Kinder  als  einen  integrierenden  und  unabtrenn- 
baren Bestandteil  der  pädagogischen  Psychologie  zu  betrachten 
haben.  Sachlich  hebt  sich  diese  Zusammengehörigkeit  für  den 
empirischen  Pädagogen  noch  stärker  heraus.  Denn  es  lässt 
sich  kaum  eine  geistige  Funktion  in  ihrer  individuellen  Ausge- 
staltung bei  Kindern  verfolgen,  ohne  dass  man  nicht  auf  Schritt 
und  Tritt  Anklänge  an  pathologische  Erscheinungen  vorfände ; 
zwischen  normalen  und  pathologischen,  resp.  anormalen  seeli- 
schen Entwicklungen  und  Zuständen  gibt  es  eine  kontinuier- 
liche Reihe  von  Uebergängen.  Trotzdem  steht  die  pädagogische 
Pathologie  und  Therapie  heute  erst  am  Anfange  ihrer  exakten 
Bearbeitung. 

Eine  Zusammenstellung  aller  bei  Kindern  zu  beobachtenden 
Fehler  und  Abweichungen  von  der  geistigen  Norm,  die  An- 
Anspruch auf  Vollständigkeit  machen  könnte,  ist  seit  Strümpells 
Versuch*)  nicht  geliefert  worden.  Auch  in  der  Klassifikation 
und  Aethiologie  sind  zur  Zeit  nur  geringe  Fortschritte  zu  per- 
zeichnen. Daraus  erklärt  sich,  dass  Prophylaxe  und  Therapie, 
die  auf  den  vorgenannten  Arbeiten  basieren,  nicht  wesentlich 
gefördert  werden  können.  Nach  Strümpell-Spitzner  handelt  es 
sich  um  folgende  drei  Gruppen  seelischer  Störungen: 

1)  Störungen  der  geistigen  Entwicklung,  die  einem  fehler- 
haften (Wirken  des  psychischen  Mechanismus  zuzuschreiben  sind, 

2)  Fehler,  die  in  den  höheren  Normierungsprozessen  liegen, 

3)  Fehler,  die  beim  Zusammenwirken  der  höheren  Normie- 
rungsprozesse auftreten. 

Es  gehört  also  hierhin  die  Fürsorge  für  die  Idioten,  Schwach- 
sinnigen, Blinden  und  Taubstummen. 

Diese  Aufgaben,  deren  hohe  soziale  Bedeutung  von  der 
Gegenwart  voll  und  ganz  gewürdigt  wird,  sind  von  einzelnen 
Forschern  und  Praktikern,  sowie  von  ganzen  Vereinigungen 
und  kommunalen  Verbänden  energisch  in  Angriff  genommen 
worden.  Dabei  werden  die  Dienste  der  Psychologie  überall  begehrt. 

•)   Strümpell,  die  Pädagogische  Pathologie  oder  die  Lehre  von  den 
Fehlern  der  Kinder.    1.  Aufl.  Leipzig  1890. 


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Sitzungsberichte. 


Psychologische  Gesellschaft  zu  Berlin. 

Sitzung  vom  10.  Juli  1902. 

Beginn:  7  Uhr. 
Vorsitzender:   Herr  Dessoir. 
Schriftführer:  Herr  Pfungst 
Herr  F.  Schumann  hält  den  angekündigten  Vortrag: 
„Demonstrationen    zur    Psychologie    der  Raumwahr- 
nehmung." 

Der  Vortragende  hatte  in  den  Räumen  des  Psychologischen  Institutes 
eine  Reihe  von  Demonstrations-Apparaten  aus  dem  Gebiete  der  Raum  Wahr- 
nehmung zur  Besichtigung  aufgestellt,  so  u.  a.:  das  schematische  Auge 
nach  Kühne,  einige  Apparate  zur  Demonstration  des  Horopters,  sowie  den 
Apparat  zur  Vorführung  des  Hering'schen  Fallversuchs.  Sodann  ein  Spiegel- 
haploskop,  das  Ludwig'sche  Strobostereoskop  und  andere  Stereoskope.  Ferner 
die  Hillebrand'sche  Versuchsanordnung  zur  Bestimmung  des  Einflusses  der 
Accommodationsempfindungen  auf  die  Tiefenwahrnehmung.  Endlich  wurde 
die  Scheinbewegung  eines  im  Dunkelzimmer  allein  sichtbaren  Punktes  vor- 
geführt. Alle  diese  Apparate  wurden  im  einzelnen  erklärt  und  ihr  Zweck 
durch  einige  Experimente  näher  erläutert. 

In  seinen  theoretischen  Ausführungen  hatte  sich  der  Vortragende  die 
Aufgabe  gestellt,  die  angeblich  fundamentale  Bedeutung  der  Muskel- 
empfindungen für  die  Raumanschauung  einer  kritischen  Prüfung  zu  unter- 
ziehen, und  zwar  wandte  er  sich  speziell  gegen  Wundt's  Theorie,  wonach 
die  räumliche  Eigenschaft  des  Wahrnehmungsinhaltes  erst  durch  Ver- 
schmelzung der  an  sich  ausdehnungslosen  Lichtempfindung  mit  Muskel- 
empfindungen und  Lokalzeichen  entstehen  soll. 

Zunächst  nur  die  dritte  Dimension  ins  Auge  fassend,  besprach 
der  Vortragende  die  vorher  demonstrierten  Hillebrand'schen  Versuche, 
welche  einwandfrei  gezeigt  haben,  dass  die  Accommodations-  und  Konvergenz- 
Empfindungen  des  Auges  bei  der  Entfernungsschätzung  keine  wesentliche 
Rolle  spielen  können:  Die  Versuchsperson  blickte  einäugig  durch  eine 
kleine,  innen  geschwärzte  Röhre  nach  einer  vertikal  das  ganze  Gesichtsfeld 
durchziehenden  mathematischen  Linie  (der  Grenzlinie  zwischen  einer  schwar- 
zen und  einer  weissen  Fläche).  Eine  Entfernung  oder  Annäherung  der- 
selben wurde  nun  von  der  Versuchsperson  in  keinem  Falle  wahrgenommen, 


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486 


Sitzungsbericht*. 


trotz  wechselnder,  der  jeweiligen  Entfernung  der  Linie  entsprechender 
Accommodation.  Die  Darbietung  einer  mathematischen  Linie  war 
erforderlich,  weil  unter  sonst  gleichen  Bedingungen  die  Annäherung  oder 
Entfernung  ausgedehnter  Objekte,  z.  B.  eines  Fadens,  an  der  Ver- 
grösserung  bezw.  Verkleinerung  des  Netzhautbildes  stets  richtig  erkannt 
wird.  Der  Vortragende  demonstrierte  dies  durch  folgendes  Experiment: 
Er  Hess  eine  Versuchsperson  durch  einen  Tubus  nach  einem,  auf  ganz  gleich- 
massig  dunkelem  Grunde  erscheinenden  Kreis  blicken,  dessen  Grösse  und 
Entfernung  vom  Auge  durch  geeignete  Vorrichtungen  variiert  werden 
konnten.  Verkleinerung  wurde  nun  allemal  als  Entfernung,  Vergrößerung 
als  Annäherung  des  Kreises  gedeutet.  Ja  sogar:  Wurde  der  Kreis  vom 
Auge  entfernt,  gleichzeitig  aber  vergrössert,  so  schien  er  sich  zu  nähern, 
bei  gleichzeitiger  Annäherung  und  Verkleinerung  aber  zu  entfernen.  Da 
sich  nun  bei  der  Entfemungsänderung  des  Kreises,  d.  h.  eines  ausgedehnten 
Objektes,  ebenso  wie  bei  einer  mathematischen  Linie  die  Accommodation 
ändert,  die  Entfernungsänderung  aber  nur  im  ersten  Falle  wahrgenommen 
wird,  so  müssen  wir  offenbar  annehmen,  dass  es  weder  die,  in  beiden  Fällen 
vorhandenen  Accommodationsempfindungen,  noch  die  mit  ihnen  verknüpften 
Konvergenzempfindungen  sind  (denn  mit  Aenderungen  der  Accommodation 
sind  nach  physiologischen  Untersuchungen  stets  auch  solche  der  Konver- 
genz beider  Augen  verbunden),  auf  denen  unsere  Tiefenwahrnehmung  be- 
ruht. Es  sind  vielmehr  sekundäre  Kriterien,  wie  die  Grösse  des  Netz- 
hautbildes und  ähnliche,  wonach  wir  die  Entfernung  beurteilen.  Als  einziger 
primärer  Faktor  bliebe  möglicherweise  nur  die  von  Hering  heran- 
gezogene Disparation  der  beiden  Netzhautbilder. 

Ebenso  ungünstig  wie  beim  Zustandekommen  der  dritten  Dimension 
fährt  die  Wundt'sche  Theorie  bei  der  Erklärung  der  Ausdehnung  unserer 
Wahrnehmungsinhalte  nach  zwei  Dimensionen.  Eine  Hauptstütze 
sollten  hier  die  geometrisch-optischen  Täuschungen  sein.  Als  Wundt  seine 
Theorie  ausbildete,  waren  nur  wenige  dieser  Täuschungen  bekannt,  und  diese 
schienen  sich  in  einfacher  Weise  auf  gewisse  Eigentümlichkeiten  des  Be- 
wegungsapparates des  Auges  zurückführen  zu  lassen.  Jetzt  aber  sind  zahl- 
reiche Täuschungen  bekannt  geworden,  die  sich  durch  Muskelempfindungen 
nicht  erklären  lassen,  ja  es  hat  sich  gezeigt,  dass  auch  diejenigen,  auf  die 
sich  Wundt  vor  allem  gestützt  hatte,  nicht  nur  anders  erklärt  werden 
können,  sondern  z.  T.  geradezu  anders  erklärt  werden  müssen.  So 
können  wir  z.  B.  mit  Hering  die  scheinbare  Neigung  einer  Vertikalen 
bei  einäugiger  Betrachtung,  die  der  Vortragende  vorher  mit  Hilfe  des 
Spiegelhaploskops  demonstriert  hatte,  vielleicht  rein  physiologisch  auf  die 
wirkliche  Neigung  der  Linie  zurückführen,  die  die  beiden,  von  ver- 
schiedenen Nerven  versorgten  Netzhauthälften  des  Auges  trennt.  Als  Bei- 
spiel einer  Täuschung  aber,  bei  der  die  kritisierte  Theorie  gänzlich  versagt, 
sei  die  häufig  beobachtete  Auffassung  eines  Quadrates  als  eines  stehenden 
Rechteckes,  also  die  Ueberschätzung  der  Vertikalen,  angeführt.  Denn  nicht 
nur  findet  sich  diese  Auffassung  bloss  bei  einem  kleinen  Bruchteil  der  Ver- 
suchspersonen, während  doch  der  Muskelapparat  bei  allen  der  gleiche  ist, 


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Sitzungsberichte.  437 


sondern  die  meisten  Personen  vermögen,  darauf  aufmerksam  gemacht,  so- 
fort willkürlich  ein  Quadrat  als  stehendes  oder  auch  als  liegendes  Rechteck  zu 
sehen,  je  nachdem  sie  die  vertikalen  oder  die  horizontalen  Seiten  durch  die 
Aufmerksamkeit  hervorheben.  Diese  Tatsache  weist  auf  eine  andere,  von 
dem  Vortragenden  früher  (Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg., 
Bd.  23  u.  24}  gegebene  Erklärung  hin,  wonach  dem  Quadrate  eine  eigen- 
artige „Gestaltqualität"  zukommt,  nämlich  eine  gleichmässige  Verknüpfung 
aller  vier  Seiten  zur  Einheit,  während  beim  Rechteck  die  längeren  Seiten 
besonders  einheitlich  verbunden  sind  und  im  Bewusstsein  hervortreten.  Die 
Ueberschätzung  der  vertikalen  Seiten  beim  Quadrate  beruht  danach  auf 
einer  unwillkürlich  engen  Zusammenfassung  derselben,  kann  also  nicht,  mit 
Wundt,  auf  die  grössere  Muskelleistung  bei  Bewegung  des  Auges  in  verti- 
kaler Richtung  zurückgeführt  werden.  Es  handelt  sich  vielmehr  in  diesem, 
wie  in  vielen  anderen  Fällen,  lediglich  um  eine  Urteilstäuschung, 
was  der  Vortragende  an  einer  grossen  Reihe  weiterer,  teils  auf  Tafeln,  teils 
mit  Hilfe  des  Projektionsapparates  vorgeführter  Täuschungen  noch  im  ein- 
zelnen nachwies.  Für  diese  Auffassung  spricht  vor  allem  auch  die  Tatsache, 
dass  die  meisten  Täuschungen  bei  öfterer  genauer  Betrachtung  erheblich 
nachlassen,  bezw.  völlig  verschwinden,  was  gleichfalls  der  Wundt'schen 
Theorie  der  Muskelempfindungen  widerspricht.  Diese  verliert  aber  zu- 
gleich mit  den  geometrisch-optischen  Täuschungen  ihre  hauptsächlichste 
Stütze. 

Diskussion. 

Herr  Dr.  F  e  i  1  c  h  e  n  f  e  1  d  (a.  G.)  fragt  an,  ob  für  die  Hypothese, 
wonach  die  scheinbare  Neigung  einer  monokular  betrachteten  Vertikalen 
auf  der  Verteilung  der  Nervenfasern  auf  die  beiden  Netzhauthälften  be- 
ruhen soll,  klinisch  -  pathologische  Erfahrungen  vorlägen,  wozu  ja 
Hemianopiker  das  geeignetste  Material  darstellen  würden.  Derartige 
Untersuchungen  müssten  freilich  am  Campimeter,  nicht  am  Perimeter  aus- 
geführt werden.  Ferner  erhebe  sich  die  Frage,  warum  sich  beim  Quadrate 
die  Aufmerksamkeit  vorzugsweise  den  Vertikalen  zuwende,  wie  der  Vor- 
tragende zur  Erklärung  der  Ueberschätzung  der  Vertikalen  ange- 
nommen habe. 

Herr  Gumpertz  meint,  dass  wir  es  im  täglichen  Leben  vorzugs- 
weise mit  Vorgängen  in  horizontaler  Richtung  zu  tun  haben,  vertikale  Seh- 
objekte daher,  weil  ungewohnt,  leicht  überschätzt  würden. 

Herr  Schumann  erwidert,  dass  Untersuchungen  an  Hemianopikern 
wie  sie  Herr  Dr.  Feilchenfeld  wünschte,  seines  Wissens  bisher  nicht  ange- 
stellt worden  seien,  aber  wohl  auch  kaum  mit  hinreichender  Genauigkeit 
ausgeführt  werden  könnten,  da  es  sich  nur  um  eine  ganz  geringe  Abweichung 
von  der  Vertikalen  handle.  Hinsichtlich  der  Frage,  warum  die  Aufmerksam- 
keit sich  beim  Quadrate  mit  Vorliebe  den  Vertikalen  zuwende,  sei  auf  die 
allgemeine  Tatsache  zu  verweisen,  dass  Linien,  die  symmetrisch  zu  einer  verti- 
kalen Mittellinie  lägen,  stets  Besonders  einheitlich  mit  einander  verknüpft 
seien.   Dies  sei  nun  bei  den  vertikalen  Quadratseiten  in  der  Tat  der  Fall. 

Schlass:  9  Uhr. 


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488  Sünmgsberichte. 

Arbeitsplan 
für  das  Winterhalbjahr  1902/03. 

Die  Sitzungen  der  Psychologischen  Gesellschaft  werden  gewöhnlich  an  zwei 
Donnerstagen  jedes  Monats  im  Hörsaal  des  Botanischen  Instituts  der 
Universität,  Dorotheenstrasse  5,  abgehalten  und  beginnen  um  7  Uhr. 

Die  Tagesordnung  wird  regelmässig  in  mehreren  Berliner  Tageszeitungen, 
sowie  in  den  Berliner  Anzeigen  des  Herrn  Eugen  Grosser  bekannt  ge- 
macht. Die  einzelnen  Sitzungsberichte  werden  fortlaufend  in  der  Zeit- 
schrift für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene  abge- 
druckt und  den  Mitgliedern  im  Jahresberichte  zur  Verfügung  gestellt. 
Ausserdem  erhalten  die  Mitglieder  die  Schriften  der  Gesellschaft  für 
psychologische  Forschung  unentgeltlich. 

Mitgliedschaft.  Ueber  die  Bedingungen  der  Mitgliedschaft  erteilen  die 
Satzungen  Auskunft.    Semesterbeitrag  4  Mark. 

Alle  Anfragen  und  Mitteilungen  sind  zu  richten  an  den  derzeitigen  I.  Vor- 
sitzenden, Herrn  Dr.  T  h  e  o  d.  S.  F 1  a  t  a  u,  Berlin  W.,  Potsdamer 
Strasse  113,  Villa  3. 

1902. 

Donnerstag,  d.  2.  Oktober.  Ausserordentl.  Sitzung.  Rechenkünstler  P. 
Diamandi  (aus  Paris):  Ueber  das  visuelle  Gedächtnis,  mit  Rechen- 
experimenten. 

Donnerstag,  d.  16.  Oktober.  Gesellige  Zusammenkunft  der  Mitglieder. 

Donnerstag,  d.  23.  Oktober.  Ordentl.  Sitzung.  Dr.  Th.  S.  Fla  tau:  Ueber 
phonographische  Schrift.  (Mit  Demonstrationen.)  Prof.  Dr.  R.  Leh- 
mann: Ueber  den  Unterricht  in  der  Psychologie  auf  höheren  Schulen. 

Donnerstag,  d.  6.  November.  Ausserordentl.  Generalversammlung:  Re- 
vision der  Satzungen  und  der  Bibliotheksordnung. 

Donnerstag,  d.  20.  November.  Ordentl.  Sitzung.  Dr.  W.  Stern:  Die 
Ethik  der  Epikureer  und  ihre  Widerlegung. 

Donnerstag,  d.  4.  Dezember.  Ordentl.  Sitzung.  Dr.  H.  Feilchenfeld: 
Zur  Analyse  der  Augenbewegungen  (mit  Demonstrationen).  Privat- 
dozent Dr.  A.  Vierkandt:  Die  subjektiven  Grundlagen  der  Ueber- 
zeugung. 

Donnerstag,  d.  11.  Dezember.  Ordentl.  Sitzung.  Gesanglehrer  C.  Eitz  (aus 
Eisleben):  Die  Tonwortraethode  in  psychologischer  und  musikpäda- 
gogischer Hinsicht. 

1003. 

Januar,  an  einem  noch  zu  bestimmenden  Abend.  Dr.  A.  Moll:  Demon- 
stration seiner  Fachbibliothek  und  ihrer  Einrichtung.  (Nur  für  Mit- 
glieder.) 

Dienstag,  den  20.  Januar.  Ordentl.  Sitzung.    Prof.  Dr.  G.  Simmcl:  Ueber 

ästhetische  Quantitäten. 
Donnerstag,  d.  5.   Februar.    Ordentl.  Sitzung.    Dr.  G.  Fla  tau:  Zur 

Psychologie  der  Zwangsvorstellungen. 
Freitag,  d.  20.  Februar.    Ordentl.  Sitzung.    Prof.  Dr.  C.  Stumpf:  Ueber 

den  Begriff  der  psychischen  Gebilde. 


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Donnerstag,  d.  5.  März.    OrdenÜ.  Sitzung.    Dr.  A.  Liebmann:  Die 

Sprache  der  Irren. 
Donnerstag,  d.  19.  März.    Ordentl.  Generalversammlung. 


Ausserordentliche  Sitzung  vom  2.  Oktober  1903. 

Beginn  um  7,a  Uhr. 
Vorsitzender:   Herr  Th.  S.  F 1  a  t  a  u. 
Schriftführer:    Herr  Pfungst 

Nach  Begrüssung  der  zahlreich  erschienenen  Gäste  heisst  der  Vor- 
sitzende den  Redner  des  Abends,  Herrn  P.  D  i  a  m  a  n  d  i,  Rechenkünstler 
aus  Paris,  willkommen.  Genannter  Herr  hatte  bereits  für  den  I.  Oktober 
der  Gesellschaft  eine  Anzahl  von  Einladungskarten  zu  einer,  vor  einem 
geladenen  Kreise  veranstalteten  Sitzung  freundl.  zur  Verfügung  gestellt  und 
sich  nun  zu  einer  besonderen  Sitzung  bereit  finden  lassen. 

Herr  D  i  a  m  a  n  d  i,  von  Geburt  Grieche,  gab  in  geläufigem  Französisch 
zunächst  eine  kurze  Autobiographie.    Er  schilderte,  wie  er,  zufällig  ge- 
zwungen, im  Kopfe  eine  grössere  Multiplikation  auszuführen,  auf  seine  Be- 
gabung aufmerksam  geworden  sei.    Von  Hause  aus  Kaufmann  und  weit  ge- 
reist, kam  er  nach  Paris,  wo  kurz  zuvor  der  Rechenkünstler  J.  I  n  a  u  d  i 
das  Interesse  der  wissenschaftlichen  Kreise  in  hohem  Masse  erregt  hatte. 
Sich  ganz  der  Ausbildung  seines  Talentes  widmend,  unterzog  sich  Herr 
Diamandi  einer  Reihe  von  Versuchen,  die  von  C  h  a  r  c  o  t  und  A.  B  i  n  e  t 
angestellt  und  in  einem  Aufsatz  der  Revue  Philosophique,   Jahrgang  1803, 
Bd.  35,  sowie  besonders  in  dem  Buche  von  A.  B  i  n  e  t:    Psychologie  des 
grands  calculateurs  et  joueurs  d'echecs,  Paris,  1894,  nebst  einer  eingehenden 
psychologischen  Analyse  veröffentlicht  worden  sind.     Im   Gegensatz  zu 
I  n  a  u  d  i,  der  den  auditiven  Typus  repräsentierte,  ist  Herr  Diamandi  ein 
Beispiel  für  den  visuellen.    Er  sieht  in  der  Vorstellung  die  Zahlen  in  Gestalt 
und  Farbe,  wie  sie  auf  der  Tafel  niedergeschrieben  werden.    Er  besitzt  für 
die  Zahlenreihe  ein  eigenartiges  Diagramm,  in  Gestalt  einer  im  Zickzack 
verlaufenden  Kurve.    Das  von  ihm  an  die  Tafel  gezeichnete  Bild  weicht 
übrigens  nicht  unbeträchtlich  von  dem  von  Binet  in  seinem  genannten 
Werke  gegebenen  ab.    Eine  wesentliche  Rolle  scheint  übrigens  diesem  Dia- 
gramm beim  praktischen  Rechnen  kaum  zuzukommen. 

Herr  Diamandi  lässt  sich  Zahlen,  mit  denen  er  Rechenoperationen 
ausführen  soll,  lieber  aufschreiben,  als  vorsprechen,  weil  er  sie  sich  sonst, 
obwohl  er  nach  seiner  Angabe  8  Sprachen  spricht,  erst  in  seine  Mutter- 
sprache, das  Griechische,  übersetzen  muss,  was  die  Operation  natürlich  er- 
schwert und  verzögert. 

Es  werden  nunmehr  eine  Reihe  von  Experimenten  mit  dem  Vor- 
tragenden angestellt.  5  Reihen  zu  je  5  Ziffern  werden,  im  Quadrat  ange- 
ordnet, an  die  Tafel  geschrieben.  Nach  kurzer  Betrachtung  vermag  er  sie 
fehlerfrei  von  links  nach  rechts,  sodann  von  oben  nach  unten,  endlich 
in  einer  Spirale  von  aussen  nach  innen  auswendig  herzusagen.  Darauf  nennt 
er  beliebige  dieser  Ziffern,  wenn  ihm  deren  Stelle  im  Quadrate  bezeichnet 


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490 


wird.  Die  Produkte  zweier  mehrstelliger,  z.  B.  sechsstelliger  Zahlen,  giebt 
er  nach  kurzem  Besinnen  richtig  an. 

Die  dritten  Wurzeln  einer  neun-  und  einer  zwölf  stelligen  Zahl  giebt 
er,  die  erste  nach  einer  halben,  die  zweite  nach  einer  Minute,  jedoch  nicht 
völlig  korrekt  an.  Als  die  vierte  Wurzel  von  35,296,498  nennt  er  sofort  77 
und  nach  kurzem  Besinnen  als  Rest  143.457,  beides  richtig. 

Es  wird  ihm  darauf  von  einem  der  Anwesenden  die  Aufgabe  gestellt, 
25  Ziffern,  5  Reihen  zu  je  5,  die  er  in  einer  Sitzung  am  Tage  zuvor  ge- 
lernt, ohne  zu  wissen,  dass  er  noch  einmal  danach  gefragt  werden  könnte, 
wieder  an  die  Tafel  zu  schreiben.  Er  schreibt  zuerst  die  erste  Reihe  voll- 
ständig und  richtig  hin,  von  der  zweiten  Reihe  nur  zwei  Ziffern,  dann  die 
unterste  wieder  vollständig  richtig.  Er  füllt  sodann  die  anderen  aus,  zu- 
letzt die  mittelste  Reihe;  doch  finden  sich  immerhin  noch  einige  Fehler 
und  Lücken. 

Er  betrachtet  dann  kurze  Zeit  alle  im  Laufe  des  Abends  an  die  Tafel 
geschriebenen  Ziffern,  etwa  120  im  ganzen,  und  vermag  sie  alsbald  richtig 
von  links  nach  rechts  und  umgekehrt  herzusagen,  wobei  er  sie  auch  in  ihrer 
Gruppierung  korrekt  wiederzugeben  im  Stande  ist  Auch  vermag  er  unter 
diesen  Ziffern  jede  beliebige,  nach  ihrer  Stellung  ihm  bezeichnete,  richtig 
zu  benennen. 

Es  fällt  auf,  dass  er  Summen  nicht  Ziffer  für  Ziffer,  sondern  lieber  ihrer 
Geltung  nach  angiebt,  also  etwa  5030  als  Fünftausend  dreissig,  nicht  als: 
fünf,  null,  drei,  null.  Die  Geltung  der  Ziffern  ist  ihm  also  offenbar  wichtigei 
als  deren  Stelle.  Er  vermag  sich  10 — i2$tellige  Zahlen  fast  momentan  ein- 
zuprägen, allerdings  niemals  rein  visuell,  denn  er  murmelt  dabei  immerzu 
leise.  Er  selbst  bemerkt  zum  Schlüsse,  dass  er  nicht  immer  gleich  gut 
disponiert  sei,  und  dass  die  Disposition  auf  die  Schnelligkeit  und  Sicherheit 
der  Rechenoperationen  einen  wesentlichen  Einfluss  ausübe. 

Der  Vorsitzende  dankt  Herrn  D  i  a  m  a  n  d  i  im  Namen  der  Gesell- 
schaft für  seine  interessanten  Ausführungen. 

Schluss  der  Sitzung  8*°  Uhr. 


Sitzung  vom  23.  Oktober  1902. 

Beginn:  716  Uhr. 
Schriftführer:  Herr  Th.  S.  Fiat  au. 
Schriftführer :    Herr  P  f  u  n  g  s  t 
Nach  Begrüssung  der  zahlreich  erschienenen  Gäste  lässt  der  Vor- 
sitzende die  von  der  Gesellschaft  an  Herrn  Prof.  Wilhelm  Wundtin 
Leipzig  zu  seinem  70.  Geburtstage  überreichte  Glückwunschadresse  verlesen 
und  teilt  die  Antwort  des  Jubilars  mit 

Der  Jahresbericht  der  Gesellschaft  für  1900/02  ist  erschienen  und  wird 
unter  die  Mitglieder  verteilt.    Das  Institut  Psychologique  zu  Paris  lässt 
der  Gesellschaft  durch  Herrn  Dessoir  seine  Druckschriften  überreichen 
Hierauf  hält  Herr  T  h.  S.  F  1  a  t  a  u  einen  kurzen  Vortrag: 
Ueber  phonograpfiische  Schrift  (mit  Demonstrationen). 


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SiUungsbtridtU. 


491 


Der  Vortragende  berichtet  über  eine  grössere  Versuchsreihe,  die  be- 
zweckte, die  phonographische  Vokalschrift  des  Edison'schen  Apparates  durch 
direkte  Kopie  in  plastischer  Form  zugänglich  zu  machen. 

Nach  einem  kurzen  Bericht  über  die  grundlegenden  Arbeiten  Herr- 
manns  und  die  Versuche  Bökels  demonstriert  er  eine  Anzahl  von  gal- 
vanoplastisch hergestellten  Matrizen  und  photographischen  Diapositiven  und 
Vergrösserungen  zur  Erläuterung  der  Methode.  Eine  ausführliche  Dar- 
legung wird  in  einer  eigenen  Schrift  erfolgen. 

Diskussion  : 

Herr  v.  Hornbostel:  Der  im  Auftrage  der  k.  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Wien  von  Herrn  F.  H  a  u  s  e  r  konstruierte  „Archiv- 
Phonograph"  besitzt  den  bisherigen  Apparaten  gegenüber  den  Vorzug,  dass 
nicht  Walzen,  sondern  Platten  (in  Spirallinien)  beschrieben  werden.  Von 
den  Platten  werden  ebenfalls  galvanoplastische  Negative  genommen,  die  als 
Matrizen  für  beliebig  viele  Wachskopien  dienen  können.  Das  Verfahren 
empfiehlt  sich  wegen  der  Einfachheit  und  Sicherheit  der  Manipulation. 

Herr  Moser  fragt  den  Vorredner,  ob  der  Apparat  erhältlich  sei 
und  wo. 

Herr  v.  Hornbostel.    Ja,  in  Wien. 

Herr  T  h.  S.  F  1  a  t  a  u  fragt  Herrn  v.  Hornbostel,  ob  der  Wiener 
Apparat  mit  Nadel  oder  mit  Saphirstift  versehen  sei,  und  ob  die  phoneti- 
schen Resultate  wesentlich  besser  seien. 

Herr  v.  Hornbostel  vermag  darüber  keine  Auskunft  zu  erteilen. 

Hierauf  hält  Herr  Prof.  Dr.  R.  Lehmann  (a.  G.)  den  angekündigten 
Vortrag: 

Ueber  den  Unterricht  in  der  Psychologie  auf  höheren 

Schulen. 

Die  preussischen  Lehrpläne  und  Lehraufgaben  von  igoi  erklären  eine 
propädeutische  Behandlung  der  Hauptpunkte  der  Logik  und  der  empirischen 
Psychologie  in  der  Prima  der  höheren  Lehranstalten  für  wünschenswert. 
Diese  Bestimmung  ist  ein  Zeichen  dafür,  dass  das  Interesse  für  die  philo- 
sophische Propädeutik  nach  langer  Pause  auch  bei  der  Schulbehörde  wieder 
im  Aufsteigen  begriffen  ist  und  giebt  Grund  zu  der  Hoffnung,  dass  sich 
dieses  Interesse  bei  künftigen  Neuordnungen  noch  entschiedener  praktisch 
bewähren  wird.  Wer  für  die  Einführung  des  propädeutischen  Unterrichts  ein- 
tritt, wie  es  der  Vortragende  seit  langen  Jahren  thut,  der  muss  mit  einer 
doppelten  Gegnerschaft  rechnen:  erstens  mit  den  Vorurteilen  der  nicht  philo- 
sophisch Gebildeten,  die  in  der  Beschäftigung  mit  der  Philosophie  überhaupt 
und  in  einer  philosophischen  Belehrung  der  Jugend  insbesondere  eine  zweck- 
lose oder  gar  schädliche  Sache  erblicken.  Hierauf  einzugehen  erübrigt  sich  in 
dem  Kreise  der  psychologischen  Gesellschaft  Ernsthafter  aber  ist  die 
Gegnerschaft  zu  nehmen,  die  von  der  entgegengesetzten  Seite  ausgeht:  Die 
Vertreter  der  wissenschaftlichen  Philosophie  sind  vielfach  geneigt,  die  vor- 
läufige Beschäftigung  mit  dieser,  wie  sie  auf  der  Schule  allein  möglich  ist, 
für  schädlich  zu  halten  und  zu  fürchten,  dass  sie  die  jungen  Leute  zu  einem 
oberflächlichen  Naschen  an  der  Sache  anleite  und  ihnen  noch  dazu  den 


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492 


Sitzungsberichte. 


Dünkel  einflösse,  dass  sie  von  der  Wissenschaft  etwas  verstünden,  die  ihnen 
doch  kaum  in  den  ersten  Elementen  zugänglich  gemacht  werden  könne. 
Allein  der  Begriff  des  Vorläufigen  wird  hier  in  einem  ganz  falschen  Sinne  an- 
gewandt. Es  kann  sich  nicht  darum  handeln,  den  jungen  Leuten  eine  vor- 
läufige Kenntnis  der  philosophischen  Wissenschaft,  sei  es  in  einer  Reihe 
einzelner  Punkte,  oder  sei  es  gar  in  einer  systematischen  Form  beizubringen. 
Vielmehr  kann  der  Zweck  einer  philosophischen  Propädeutik  nur  der  sein, 
dem  natürlichen  Bedürfnisse  nach  philosophischer  Belehrung,  das  die  streb- 
sameren unter  unseren  Primanern  fast  durchweg  empfinden,  entgegenzu- 
kommen, indem  man  ihre  Vorurteile  beseitigt,  ihre  verworrenen  Begriffe 
klärt,  ihre  ins  Ungemessene  gehenden  Fragen  auf  das  richtige  Ziel  zurück- 
führt und  ihnen  anschaulich  macht,  dass  die  Philosophie  nur  im  ernsthaften 
und  methodischen  Nachdenken  und  nur  durch  wissenschaftliche  Arbeit  Er- 
gebnisse zeitigt.  Um  die  Klarstellung  der  wichtigsten  Probleme  der  Philo- 
sophie handelt  es  sich  weit  mehr  als  um  die  Uebermittlung  von  Resultaten. 
Gilt  dies  nun  von  philosophischer  Propädeutik  im  allgemeinen,  so  erwachsen 
dem  propädeutischen  Unterrichte  in  der  Psychologie  aus  der  Natur  und  dem 
gegenwärtigen  Stande  dieser  Wissenschaft  ganz  besondere  Schwierigkeiten 
und  Bedenken.  Die  Psychologie  hat  in  ihrer  Gesamtentwicklung  zwei  Stadien 
hinter  sich  gelassen:  das  der  metaphysischen  Spekulation  und  das  der  regi- 
strierenden und  klassifizierenden  Erfahrungswissenschaft.  Sie  ist  in  ihrem 
gegenwärtigen  dritten  Stadium  bei  der  Arbeit,  sich  in  eine  exakte  und  experi- 
mentelle Wissenschaft  nach  dem  Vorbilde  der  Physik  zu  verwandeln.  Wie 
weit  ist  es  nun  möglich,  Schülern  von  diesem  wissenschaftlichen  Charakter  der 
Psychologie  ein  Verständnis  zu  eröffnen?  Und  wenn  das  nur  in  sehr  be- 
schränktem Masse  möglich  sein  sollte,  dürfen  wir  dann  einer  psychologischen 
Propädeutik  überhaupt  irgend  welchen  Wert  beimessen?  Bei  allen  den  propä- 
deutischen Unterricht  betreffenden  Fragen  thun  wir  gut,  unsere  Blicke  zu- 
nächst auf  Oesterreich  zu  lenken,  wo  dieser  Unterricht  seit  langem  in  beiden 
Oberklassen  regelmässig  erteilt  wird,  und  in  den  beiden  letzten  Jahrzehnten 
namentlich  durch  die  Bemühungen  A.  Höflers,  Meinongs  u.  a.  eine 
dem  Stande  der  philosophischen  Wissenschaft  durchaus  entsprechende  Höhe 
erreicht  hat.  Höfler  hat  vor  einigen  Jahren  (1898)  unter  dem  Titel  „Physiolo- 
gische oder  experimentelle  Psychologie  am  Gymnasium",  zwei  Vorträge 
vereinigt,  von  denen  der  erste  von  ihm  selber  gehalten  worden  ist,  und  soweit 
er  hierher  gehört,  die  Frage  behandelt:  „Wie  soll  der  psychologische  Unter- 
richt an  Mittelschulen  zu  den  Postulaten  der  modernen  Gehirnpsychologie 
Stellung  nehmen?"  In  der  Beantwortung  dieser  Fragen  warnt  er  mit  Recht 
vor  einer  weiteren  Ausdehnung  physiologischer  Unterweisung  im  propä- 
deutischen Unterricht.  „Es  ist  streng  darauf  zu  achten,  dass  dem  Schüler 
nicht  anstatt  psychologischer  Begriffe  und  Gesetze,  physiologische  geboten 
werden."  Die  physiologische  Grundlage  der  Psychologie  verweist  er  ganz 
richtig  in  den  naturwisenschaftlichen  Unterricht.  Der  zweite  dort  veröffent- 
lichte Vortrag  ist  von  Stephan  Witasek  (Graz)  gehalten  worden  und 
führt  den  Titel:  „Ueber  psychologische  Schulversuche".  Er  tritt  dafür  ein, 
auch  den  propädeutischen  Unterricht  in  der  Psychologie  in  möglichst  weitem 


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Sitzungsberichte. 


493 


Umfange  auf  das  Experiment  zu  begründen,  indem  er  die  Paralelle  mit  der 
Experimentalphysik  zu  Grunde  legt  Aber  Witasek  ist  kein  praktischer 
Schulmann,  und  seine  Argumente  werden  bei  einem  solchen  leichter  dazu 
führen,  die  Schranken  und  Bedenken  erkennen  zu  lassen,  welche  der  Experi- 
mental-Psychologie  in  der  Schule  gegenüberstehen,  als  ihn  von  dem  Werte 
der  letzteren  zu  überzeugen.  Wenn  somit  die  beiden  charakteristischen  Züge 
der  modernen  Psychologie  für  die  Schule  nur  in  sehr  beschränktem  Masse 
verwertbar  sind,  so  wird  man  den  Versuch  als  aussichtlos  bezeichnen  müssen, 
Gymnasiasten  in  dem  Sinne  in  die  Psychologie  einzuführen,  dass  ihnen  die 
wissenschaftlichen  Methoden  zugänglich  oder  in  den  Einzelheiten  verständ- 
lich würden,  oder  dass  sie  sich  gar  ein  Urteil  über  die  Controversen,  welche 
fast  auf  dem  ganzen  Gebiete  der  Forschung  herrschen,  bilden  könnten.  Eine 
Methode  zu  beurteilen  vermag  nur  der,  der  sie  in  eigener  Arbeit  anwendet. 
Man  wird  sich  also  nicht  scheuen  dürfen,  in  der  psychologischen  Propädeutik 
von  der  heutigen  Wissenschaft  aus  zunächst  einen  Schritt  zurückzuthun  und 
den  Schüler  wesentlich  auf  den  Standpunkt  zu  fuhren,  den  die  empirische 
Psychologie  etwa  im  zweiten  Drittel  des  vergangenen  Jahrhunderts  erreicht 
hatte.  Damit  erhält  er  nun  eine  Anzahl  von  Einteilungen  und  Begriffs- 
bestimmungen, wie  sie  z.  B.  in  der  Lehre  von  den  Arten,  der  Verstandes- 
thätigkeit  im  engeren  Sinne  oder  der  Lehre  von  den  Trieben,  Tempera- 
menten etc.  vorliegen.  Diese  den  Schülern  zu  übermitteln,  ist  mithin  die 
erste  Aufgabe  des  Unterrichts.  Sobald  man  sie  nun  aber  veranlasst,  sich  in 
den  Inhalt  des  hier  Gegebenen  zu  vertiefen,  um  sich  ein  sachliches  Ver- 
ständnis zu  erwerben,  so  muss  es  alsbald  zu  Tage  treten,  dass  die  Einsicht 
in  das  psychische  Geschehen  durch  diese  formalen  Bestimmungen  noch  nicht 
annähernd  erschöpft  wird.  Auf  diese  Weise  werden  die  Schüler  vor  die 
Probleme  geführt,  welche  den  eigentlichen  Gegenstand  der  psychologischen 
Forschung  ausmachen,  und  indem  der  Lehrer  ihnen  verständlich  macht,  in 
welchem  Sinne  die  Wissenschaft  der  Gegenwart  diese  Probleme  fasst  und  zu 
bewältigen  sucht,  eröffnet  er  ihnen  das  Verständnis  für  die  Probleme  und 
Ziele  der  wissenschaftlichen  Psychologie.  Damit  aber  erfüllt  er  die  zweite  und 
höchste  Aufgabe,  welche  der  Propädeutik  auf  der  Schule  gestellt  werden 
kann.  Denn  nicht  mit  dem  Gefühle  einer  oberflächlichen  Sättigung,  son- 
dern mit  dem  des  Hungers,  mit  dem  Bedürfnis  nach  Erweiterung  und  Ver- 
tiefung ihrer  philosophischen  Erkenntnis  soll  das  Gymnasium  seine  Schüler 
zur  Universität  entlassen. 

Diskussion: 

Herr  Moser  bedauert  das  Zurücktreten  der  philosophischen  Studien 
in  unseren  Schulen,  noch  mehr  das  Verlöschen  des  philosophischen  Inter- 
esses bei  Schülern  und  Studierenden.  Ein  philosophischer  Kursus  in  den 
letzten  zwei  Gymnasialjahren  würde  hier  Wandel  schaffen.  Die  hierbei  ein- 
zuhaltenden Grenzen  hat  der  Vortragende  richtig  bezeichnet.  Freilich  be- 
dürfen wir  hierzu  der  richtigen  Lehrer,  die  aus  dem  Vollen  schöpfen. 

Herr  Oberlehrer  Fischer  (a.  G.)  hält  gleichfalls  einen  mehrstündigen 
Schulunterricht  in  der  philosophischen  Propädeutik  für  wünschenswert.  Wie 
lässt  sich  aber  diese  Forderung  mit  den  Wünschen  der  Biologen,  Geo- 
Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pithologie  und  Hygiene.  8 


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494 


Silsungsberühl«. 


graphen,  Stenographen  und  Hygieniker  vereinigen,  die  alle  gleichfalls  eine 
ausgiebige  BerQcksichrigung  in  den  Lehrplänen,  x.  T.  mit  mehreren  Stunden 
durch  das  ganze  Pensum  erstreben? 

Herr  Pappenheim  kann  als  Naturwissenschaftler  die  Stellung  des 
Herrn  Redners  zur  experimentellen  Psychologie  nicht  gutheissen.  Versuche, 
die  gut  vorbereitet  sind  und  gelingen,  interessieren  stets  die  Schüler  und 
geben  eine  Grundlage,  auf  der  sich  aufbauen  lässt.  Es  müsste  daher  auch 
ein  psychologischer  Schulunterricht,  wo  sich  nur  die  Möglichkeit  bietet,  Ver- 
suche vorführen  oder  die  Versuchsergebnisse  anderer  mitteilen,  so  z.  B.  Ver- 
suche mit  dem  Gedächtnis,  die  Sinnestäuschungen  und  die  Gedächtniszeich- 
nungen. 

Herr  Prof.  A.  Haake  (a.  G.)  ist  ebenfalls  der  Ansicht,  dass  das  un- 
leugbar vorhandene  philosophische  Interesse  der  Jugend  der  sorgsamsten 
Pflege  bedarf,  einer  sorgsameren,  als  ihm  bis  jetzt  im  allgemeinen  zu  Teil 
wird.  In  erster  Linie  müsse  hierfür  der  gesamte  Unterricht  in  den  oberen 
Klassen  nutzbar  gemacht  werden.  Namentlich  im  Anschluss  an  die  deutsche 
und  fremdsprachliche  Lektüre  könnten  und  müssten  ethische  und  psycho- 
logische Fragen  in  anregender  Weise  und  in  weitem  Umfange,  aber  zugleich 
in  einer  dem  jugendlichen  Geiste  angemessenen  Beschränkung  behandelt 
werden.  Es  sei  sehr  wünschenswert  und  prinzipiell  zu  fordern,  dass  eine 
ergänzende  systematische  Unterweisung  hinzukomme.  Aber  dieser  Unter- 
richt sei  sehr  schwierig  und  könne,  wenn  er  nicht  wirklich  gut  erteilt  werde, 
leicht  mehr  schaden  als  nützen.  Eine  besondere  Schwierigkeit  liege  darin, 
dass  dieser  Unterricht,  obwohl  er  in  der  Form  einer  gewissen  systematischen 
Vollständigkeit  auftrete,  doch  so  wenig  Abgeschlossenes  biete.  Auf  alle 
Höhen  und  in  alle  Tiefen  der  Philosophie  könnten  die  Schüler  nicht  geführt, 
es  könnten  die  Probleme  nicht  voraussetzungslos  gestellt  und  bis  zu  Ende 
verfolgt  werden,  sondern  der  Lehrer  werde  oft  genötigt  sein,  abzubrechen 
und  auf  künftige  Forschung  und  Aufklärung  zu  verweisen.  Dazu  gehöre  ein 
sehr  geschickter  Lehrer;  der  weniger  geschickte  werde  dabei,  anstatt  da* 
philosophische  Interesse  zu  wecken  und  zu  stärken,  es  abstumpfen  und  das 
noch  vielfach  herrschende  Vorurteil  gegen  die  Philosophie  vermehren.  Dazu 
trete  für  den  Schulunterricht  eine  weitere  Schwierigkeit,  die  in  der  Ver- 
schiedenheit der  philosophischen  Richtungen  liege.  Redner  ist  der  Ansicht, 
dass  es  sich,  bis  weitere  Vorbereitungen  getroffen  und  Erfahrungen  ge- 
sammelt sind,  vorläufig  empfiehlt,  die  Bestimmung  der  Lehrpläne  von  i88-> 
wieder  aufzunehmen,  wonach  an  den  Schulen  der  Unterricht  in  der  philo 
sophischen  Propädeutik  eingeführt  werden  soll,  wo  geeignete  Lehrkräfte  da- 
für vorhanden  sind. 

Herr  Prof.  Dr,  R.  Lehmann:  Die  Zeit  für  diesen  Unterricht  könne 
wohl  nur  auf  Kosten  anderer  Fächer  gewonnen  werden,  und  es  dürfte  diese 
Neuerung  dann  allerdings  allmählich  zu  noch  weiteren  Reformen  des  Lehr- 
plans führen.  Jedenfalls  aber  gebühre  der  Philosophie  eine  exiraierte 
Stellung,  etwa  dem  Religionsunterrichte  vergleichbar,  und  sie  dürfe  den 
speziellen  Gegenständen  des  Unterrichts  keineswegs  gleichgestellt  werden. 

Herr  Oberlehrer  H.  Fischer  betont,  dass  Biologie  und  Geographie 


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Sitzungsberichte. 


495 


ihre  Ansprüche  schon  länger  geltend  machen.  Er  verweist  auf  die  Forde- 
rungen P  a  u  1  s  e  n  s  : 

1.  den  Gymnasialunterricht  um  einen  Jahreskursus  zu  erweitern, 

2.  den  Unterricht  auf  der  Oberstufe  des  Gymnasiums  freier  zu  gestalten. 
Ein  gangbarer  Weg  wäre  wohl  auch  der,  zweistündige  wahlfreie  Kurse 

interessierter  und  Befähigter  Lehrer  in  einer  oder  mehreren  der  genannten 
Disziplinen  einzuführen,  je  nach  den  Lehrkräften  einer  Schule. 

Herr  Prot  A.H  a  a  k  e  kann  einen  fakultativen  Unterricht  in  Lehr  gegen 
ständen,  bei  denen  es  sich  um  die  Gewinnung  spezieller  positiver  Kenntnisse 
handelt,  wohl  billigen,  nicht  aber  in  der  philosophischen  Propädeutik,  die  wie 
kein  anderer  Unterrichts-Gegenstand  der  allgemeinen  Bildung  dienen  soll. 

Herr  Oberlehrer  H.  F  i  s  c  h  er  kann  dem  Vorredner  nicht  beistimmen. 
Vielleicht  ist  es  sogar  ein  grosser  Vorteil,  wenn  die  Nicht- Interessierten 
fernbleiben.  Prinzipiell  muss  aber  betont  werden:  Wir  haben  ganz  allge- 
mein zu  lange  schon  auf  dem  Standpunkte  des  Schülers  gestanden.  Stellen 
wir  uns  endlich  auch  einmal  auf  den  des  Lehrers.  Wo  Kräfte  in  einem  Lehrer- 
kollegium für  gewisse  Zweige  des  Unterrichts  vorhanden  sind,  da  gebe  man 
ihnen  auch  Gelegenheit  zu  nutzbringender  Verwendung. 

Herr  Prof.  Dr.  R.  Lehmann  lehnt  es  in  seinem  Schlussworte  ab, 
auf  die  praktische  Gestaltung  des  Gymnasiallehrplans  und  das  Verhältnis 
der  Propädeutik  zu  den  übrigen  Unterrichts-Stunden  hier  näher  einzugehen. 
Er  giebt  seiner  Uebereinstimmung  mit  der  in  der  Debatte  geäusserten  An- 
schauung Ausdruck,  dass  es  vor  allem  darauf  ankomme,  dass  der  gesamte 
Unterricht  in  den  oberen  Klassen  von  einem  philosophischen  Geiste  durch- 
zogen und  getragen  werde,  betont  jedoch,  dass  auch  besondere  für  die  Pro- 
pädeutik angesetzte  Lehrstunden  unerläßlich  seien,  wenn  dieser  philo- 
sophische Geist  wirklich  auf  die  Schüler  übertragen  werden  solle. 

Zur  Aufnahme  melden  sich: 

Herr  Dr.  med.  W.  Hellpach,  Charlottenburg,  Knesebeckstr.  76. 
Herr  Prof.  A.  Haake,  Gymnasialdirektor  a.  D.,  Steglitz,  Albrechtstr.  92. 
Schluss  der  Sitzung:    9"  Uhr. 


Ausserordentliche  Generalversammlung  vom 

6.  November  1902. 
Beginn  um  7*0  Uhr. 
Vorsitzender:    Herr  T  h.  S.  F 1  a  t  a  u. 
Schriftführer:    Herr  P  f  u  n  g  s  t. 
Der  Vorsitzende  verkündigt  die  Aufnahme  der  Herren 
Prof.  A.  Haake, 
Dr.  med.  W.  Hellpach, 
sowie  nachträglich  die  des  Herrn 

Dr.  phil.  Grafen  zu  Dohna.  Hauptmann  a.  D.,  W.,  Geis- 
bergstr.  27. 

Auf  der  Tagesordnung  steht  die  Revision  der  Satzungen  und  der 
Bibliotheksordnung.    Beide  waren  durch  den  Vorstand  vorbereitet  worden. 

8* 


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496 


unter  der  wertvollen  juristischen  Beihülfe  unseres  Mitgl.  Herrn  H.  Im- 
berg. 

Nach  Verteilung  von  Korrekturabzügen  werden  die  neuen  Satzungen 
und  die  Bibliotheksordnung  im  einzelnen  durchberaten  und  sowohl  para- 
graphenweise als  im  ganzen  angenommen. 

Die  Gesellschaft  spricht  Herrn  Imberg  für  seine  hingebende  Mit- 
arbeit beim  Zustandekommen  der  Entwürfe  ihren  besten  Dank  aus. 
Zur  Aufnahme  hat  sich  gemeldet: 

Herr  Dr.  med.  Karl  L.  Schaefer,  Privatdozent  an  der  Univers., 
Gr.  Lichterfelde-Ost,  Wilhelmplatz  6. 

Schluss  der  Generalversammlung:  91*  Uhr. 


Sitzung  vom  20.  November  1902. 

Beginn  um  ?*°  Uhr. 
Vorsitzender:  Herr  Th.  S.  Fiat  au. 
Schriftführer:  Herr  Pfungst 
Nach  Begrüssung  der  zahlreich  erschienenen  Gäste  verkündigte  der  Vor- 
sitzende die  Aufnahme  des  Herrn 

Dr.  med.  Karl  L.  Schäfer, 
Privatdozent  an  der  Universität. 
Die  in  der  Generalversammlung  vom  6.  November  beschlossenen 
Satzungen  und  die  Bibliotheksordnung  sind  im  Drucke  erschienien  und 
gelangen  nebst  dem  von  der  Verlagsbuchhandlung  Joh.  Ambrosius 
Barth  in  Leipzig  hergestellten  Schriftenverzeichnis  der  Gesellschaft  zur 
Verteilung.  Der  von  der  Breslauer  Schwestergesellschaft  übersandte  Jahres- 
bericht pro  1901/02,  sowie  deren  Arbeitsplan  für  das  Winter-Semester  1902/03 
liegen  zur  Einsichtnahme  der  Mitglieder  aus. 

Hierauf  erteilt  der  Vorsitzende  Herrn  Wilh.  Stern  das  Wort  zu  seinem 
angekündigten  Vortrage: 

Die  Ethik  der  Epikureer  und  ihre  Widerlegung. 

lieber  kein  philosophisches  System  des  Altertums  und  der  Neuzeit, 
so  führte  der  Vortragende  aus,  sind  so  unzutreffende  Vorstellungen  selbst 
unter  den  Gebildeten  verbreitet,  wie  über  das  der  Epikureer.  Dies  gilt 
sowohl  von  ihren  theoretisch-philosophischen  oder  metaphysischen,  als  auch 
ganz  besonders  von  ihren  praktisch-philosophischen,  also  ethischen  Auf- 
stellungen. Der  Vortragende  gab  zunächst  ein  objektives  Bild  von  den 
allgemeinen  und  speziellen  oder  näheren  metaphysischen  Voraussetzungen 
ihrer  Ethik,  die  im  wesentlichen  mit  dem,  auf  der  Atomistik  beruhenden 
dogmatischen  Materialismus  Demokrits  identisch  sind.  Alsdann  zeigte 
er,  wie  die  Ethik  der  Epikureer  von  der  der  Cyrenalker  oder  Hedoniker, 
deren  Haupt  Aristipp  ist,  ausgeht. 

Nachdem  er  eine  eingehende  Darstellung  der  ethischen  Lehren  der 
Epikureer  gegeben  hatte,  prüfte  er  sowohl  die  metaphysischen  Voraussetzungen 
dieser  ethischen  Lehren,  als  auch  ganz  besonders  diese  selber  auf  ihre 
Richtigkeit.    Vor  allen  Dingen  hält  er  die  allgemeine  dogmatisch-meta- 


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physische  Voraussetzung  oder  Grundlage,  den  theoretischen  Materialismus, 
auf  welchem  Epikur  seine  Ethik  aufbaut,  für  unannehmbar  und  zwar 
seines  Dogmatismus  wegen.  Dass  Epikur  keine  Teleologie  d.  h.  über- 
natürliche Zwecklehre  als  nähere  oder  speziellere  metaphysische  Voraussetzung 
seiner  Ethik  hat,  anerkennt  der  Vortragende  als  konsequent,  weil  der 
mechanischen  Weltanschauung  dieses  Philosophen  entsprechend,  und  hält 
dieses  Fehlen  der  Teleologie  von  seinem  eigenen  Standpunkte,  dem  kritischen 
Positivismus,  aus  zwar  thatsächüch,  aber  nicht  aus  demselben  prinzipiellen 
Grunde,  wie  Epikur  für  richtig.  Aber  die  von  diesem  vertretene  Lehre 
von  der  Willensfreiheit  hält  er  wegen  der  in  ihr  enthaltenen  Willkür 
für  eine  nicht  bloss  ganz  irrationelle,  sondern  auch  inkonsequente,  in  die 
mechanische  Weltanschauung  dieses  Philosophen  nicht  hineinpassende  und 
darum  zu  tadeln. 

Was  nun  die  eigentlichen  ethischen  Lehren  Epikurs  betrifft,  so 
ergiebt  sich  nach  dem  Vortragenden,  dass  sie,  da  sie  ein  ausdrücklich 
zum  Grundprinzip  der  Ethik  erhobener  Eudämonismus  sind,  welcher  das 
Lustprinzip  oder  den  Egoismus,  also  ein  antiethisches  Prinzip  zum  Inhalt 
hat,  zu  verwerfen  sind.  Der  Vortragende  giebt  zu,  dass  Epikur  darin  das 
Richtige  getroffen  hat,  dass  er  die  Anregung  zu  den  von  ihm  sittlich 
genannten  Handlungen  nicht,  wie  A  r  i  s  t  i  p  p ,  von  vom  Subjekt  gesuchten 
positiven  Lustgefühlen,  sondern  nur  von  Unlustgef üblen  ausgehen  lässt, 
da  nach  Epikur  auch  die  Lust  nur,  wenn  ihr  Mangel  uns  Unlust  bereitet, 
erstrebt  wird.  Dass  Epikur  auch  die  körperliche  Lust  ab  eine  der 
Triebfedern  des  Menschen  auffasst,  da  er  keinen  Wertumerschied  zwischen 
der  körperlichen  und  der  geistigen  Lust  anerkennt,  tadelt  der  Vortragende, 
da  hierin  eine  vollständige  Verkennung  der  menschlichen  Natur  liege.  Was 
nun  den  Wert  der  von  Epikur  ausser  der  körperlichen  auch  als  Trieb- 
feder der  sittlichen  Handlungen  hingestellten  psychischen  oder  geistigen 
Lust  betrifft,  so  lässt  sich  nach  dem  Vortragenden  weder  die  Aufopferung 
für  die  Erkenntnis,  noch  die  für  die  Durchführung  eines  bestimmten  eigenen 
Planes,  noch  auch  die  für  einzelne  Mitmenschen  durch  das  Streben  nach 
psychischer  Lust  erklären,  da  alle  diese  Handlungen  im  Widerspruche 
mit  dem  Selbsteihaltungsstreben  oder  Egoismus  stehen.  Dieser  kann  daher 
das  leitende  Prinzip  der  genannten  sittlichen  Handlungen  nicht  sein.  Ferner 
vermag  das  Streben  nach  psychischer  Lust  oder  der  Egoismus  weder  die 
bei  den  Tieren  vorkommenden  sittlichen  Erscheinungen,  wie  die  mitleid- 
volle Handlungsweise  von  Tieren  gegen  andere  einzelne  und  die  bei  den 
staatenbildenden  Tieren  vorkommende  Aufopferung  für  den  Tierstaat,  dem 
sie  angehören,  noch  deren  mitleidvolle  Behandlung  oder  gar  die  Rettung 
ihres  Lebens  von  Seiten  eines  Menschen  zu  erklären. 

Der  Vortragende  tadelt  ferner  die  mit  Thatenlosigkeit  verbundene 
Zurückgezogenheit  der  Epikureer  vom  öffentlichen  Leben,  welche  eine 
Folge  ihrer  ethischen  Lehren  ist  und  weder  für  den  Staat,  noch  für  das 
Wohl  ihrer  Mitmenschen  von  Nutzen  sein  konnte.  Dass  hingegen  Epikur 
seinem  Prinzip  der  Lust  oder  des  Egoismus  entsprechend  auch  die  Freund- 
schaft auf  das  Streben  nach  Befriedigung  des  eigenen  Ich  oder  den 
Vorteil  zurückführt,  hält  der  Vortragende  abweichend  von  anderen  für 


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498 


Sittun  %sberithte. 


eine  richtige  Anschauung.  Den  von  £  p  i  k  u  r  angegebenen  Zweck  der 
wissenschaftlichen  Naturbetrachtung,  die  Befreiung  von  Furcht  und  infolge- 
dessen die  Erlangung  der  Gemütsruhe  oder  Ataraxie«,  hält  der  Vortragende 
für  eine  verfehlte  Auffassung.  Endlich  betrachtet  auch  er  es  als  einen  Fehler 
der  Ethik  E  p  i  k  u  r  s ,  dass  der  Begriff  des  Ehrgefühls,  welches  eine  durchaus 
ethische  Tugend  ist,  wegen  der  prinzipiell  von  ihm  verneinten  Wertunter 
schiede  der  einzelnen  Lustgefühle,  von  welchen  nach  ihm  eben  keins  edler 
oder  unedler  als  die  anderen  ist,  durch  seine  Lehren  unerklärt  bleibt. 

Der  Vortragende  kommt  zu  dem  Resultat,  dass  von  den  Epikureern 
das  antike  Lustprinzip  so  weit  als  möglich  veredelt  worden  ist,  dass 
aber  ihr  Grundprinzip  der  Ethik,  die  sowohl  körperliche,  als  auch  geistige 
und  zwar  dauernde  Lust  oder  Eudämonie  die  sittlichen  Erscheinungen  nicht 
zu  erklären  vermag.  Er  kann  daher  ihre  Ethik  nicht  als  die  richtige  an- 
erkennen, muss  sie  vielmehr  verwerfen. 

Diskussion: 

Der  Vorsitzende  dankt  dem  Vortragenden  im  Namen  der  Gesellschaft 
und  bittet  ihn  zugleich,  im  Verlaufe  der  Diskussion  die  Beziehungen  der 
epikureischen  zur  stoischen  Ethik  noch  etwas  eingehender  erörtern  zu  wollen. 

Herr  Haake  schickt  voraus,  dass  er  nicht  ein  Anhänger  Epikurs 
sei,  glaubt  aber,  dass  dem  Vortragenden  durch  seine  Ausführungen  der 
Nachweis  nicht  gelungen  sei,  dass  vom  Standpunkte  Epikurs  aus  das 
mit  Gefahren  verbundene  Eintreten  für  ideale  Interessen  und  die  Hingabe 
des  Lebens  für  andere  oder  für  das  Vaterland  weder  erklärt  noch  für 
sittlich  gut  erklärt  werden  könne.  Das  gute  Handeln  ist  für  Epikur 
dasjenige,  das  das  grösstmögliche  Glück  schafft.  Aber  gerade  für  den, 
dem  subjektiven  Empfinden  soviel  Raum  gewährenden  Epikureer  können 
ideale  Interessen,  das  Wohl  der  Freunde  oder  gedeihliche  Zustände  des 
Vaterlandes  so  wichtige  Bedingungen  seines  Glückes  sein,  dass  er  das 
Leben  ohne  sie  für  wertlos  hält  und  für  sie  hinzugeben  kein  Bedenken 
trägt.  Ja,  schon  die  Lust  an  der  kraftvollen  Betätigung  seiner  Neigung 
für  jene  Bedingungen  seines  Glückes  kann  so  gross  sein,  dass  die  Vor- 
stellung des  Schmerzes  über  den  Verlust  des  Lebens  dem  gegenüber 
seine  Bedeutung  verliert.  Ausserdem  aber  hat  gerade  für  den  Epikureer 
der  Tod  nichts  Schreckliches.  Die  drapa&a  kann  durch  diesen  nicht 
gestört  werden.  Er  ist  vielmehr  der  Befreier  von  jedem  Schmerz,  und 
Schmerzlosigkeit  ist  das  Glück  Epikurs. 

Herr  W  i  1  h.  Stern  erwidert  Herrn  T  h.  S.  F  I  a  t  a  u ,  dass  allerdings 
sehr  viele  Beziehungen  zwischen  den  Epikureern  und  den  Stoikern  bestünden. 
Aber  während  die  Zahl  der  Uebereinstimmungen  sehr  gering  sei,  sei  die  Zahl 
der  Gegensätze  sehr  gross.  Die  wichtigste  Uebe reinst immung  sei  wohl  die,  dass 
die  Epikureer  ebenso  wie  die  Stoiker  die  Gemütsruhe  als  das  Wesen  der 
Glückseligkeit  betonen.  Der  wichtigste  Gegensatz  sei  wohl  der,  dass  die 
Epikureer  nicht  wie  die  Stoiker  die  Leidenschaft,  sondern  den  Schmerz 
für  das  zu  vermeidende  Uebel  halten:  Nicht  die  Apathie,  die  Leidenschafts- 
losigkeit, sondern  die  Ataraxie,  die  Schmerzlosigkeit,  ist  ihnen  der  zu 
erstrebende  Zustand.  Herrn  Haake  entgegnet  er  folgendes:  Wenn  man  sich  auf 
den  Standpunkt  des  Egoismus  stellt,  d.  h.  alle  sittlichen  Erscheinungen  vom 


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Sitzungsbericht*. 


499 


SeJbsterhaltungsstreben  ableiten  zu  können  glaubt,  so  bleibt  die  Erhaltung 
des  Lebens  das  höchste  zu  erstrebende  Gut.  Denn  der  Naturmensch  oder 
Urmensch  kennt  kein  höheres  Gut  als  die  rein  egoistische  Erhaltung  seines 
Lebens  und  des  Lebens  seiner  Nachkommenschaft,  die  er  für  einen  Teil 
seines  eigenen  Selbst  hält.  Wir  haben  nämlich  von  der  Natur  teils  Organe 
bekommen,  die  die  Bedürfnisse  des  Organismus  wie  z.  B.  Hunger  und 
Durst,  melden,  teils  Organe,  die  der  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  dienen, 
und  zwar  zum  Zwecke  der  Erhaltung  des  Organismus. 

Herr  Graf  zu  Dohna:  der  Vortrag  brachte  den  Ursprung,  nicht 
aber  das  Wesen  der  Sittlichkeit  zur  vollen  Klarheit.  Ist  es  der  Altruismus? 
—  Altruismus  und  Egoismus  können  nicht  gleich  Sittlichkeit  und  Unsittlich- 
keit  gesetzt  werden.  Der  Egoismus  ist  Selbsterhaltung  und  Selbstthätigkeit. 
Entwicklung  nach  Aristoteles  (mit  daran  als  Konsequenz  geknüpfter 
Lust)  kann  nicht  ohne  weiteres  antiethisch  genannt  werden;  er  bedingt 
jeden  Altruismus.  Endlich  darf  die  Teleologie  im  Sinne  Kants  als 
wissenschaftliches  Forschungsprinzip  doch  nicht  völlig  verworfen  werden. 

Herr  Haake:  Wenn  der  Vortragende  sagt:  Dem  Handeln  des  Natur- 
menschen liegt  nichts  als  Egoismus  zugrunde  und  der  Tod  erscheint  ihm 
unter  allen  Umständen  als  das  grösste  und  auf  jede  mögliche  Weise 
zu  vermeidende  Uebel,  daher  auch  E  p  i  k  u  r ,  für  den  ebenso  wie  für 
den  Naturmenschen  der  Egoismus  der  Grund  alles  Handelns  ist,  den  Tod 
als  das  grösste  und  daher  unter  allen  Umständen  zu  fliehende  Uebel 
betrachten  muss,  so  operiert  diese  Beweisführung  —  gesetzt  auch,  die 
Charakteristik  des  Naturmenschen  wäre  richtig,  was  sie  nicht  ist  —  mit  un- 
genauen Prämissen.  Denn  Epikur  war  kein  Naturmensch,  sondern  im  höchsten 
Grade  ein  Kulturmensch  mit  dem  Egoismus  eines  solchen,  der  dem  naiven 
Instinkte  der  Lebenserhaltung  kritisch  gegenüber  stand  und  ihm  das  Recht, 
sich  geltend  zu  machen,  nur  insoweit  einräumte,  als  die  abwägende  Vernunft 
den  Wert  des  Lebens  bejahte. 

Herr  H  e  1 1  p  a  c  h :  Auf  der  Naturstufe  ist  kein  Bewusstsein  der 
Lebenserhaltung  oder  Lebensaufgabe  vorhanden,  sondern  eine  Anzahl 
von  Trieben;  treten  übermächtige  Unlustgefühle  auf,  so  wird  ein  (um 
das  Leben  sich  gar  nicht  kümmernder)  Trieb  zur  Entfernung  dieser  Unlust 
vorhanden  sein.  Dagegen  kann  auf  Kulturstandpunktcn  die  Abwehr  der 
Unlust  dem  Leben  und  den  dafür  gesetzten  Zwecken  zuliebe  verschoben, 
das  Leben  also  bewusst  erhalten,  der  Tod  vermieden  werden. 

Herr  Th.  S.  Fiat  au  glaubt,  dass  nicht  immer  die  Vernichtung 
des  eigenen  Lebens  altruistisch  verwertet  werden  könne.  Sie  könne  auch 
die  Folge  eines  gesteigerten  Willens  zur  Machtentfaltung  sein,  zu  deren 
Aeusserung  die  Selbstvernichtung  als  Vorbedingung  erscheint  und  bewusst 
gewählt  wird. 

Herr  Wilh.  Stern  betont  in  seinem  Schlusswort  gegenüber  Herrn 
Grafen  zu  Dohna:  Der  aristotelische  Begriff  der  Eudämonie  hat  einen 
anderen  Inhalt  als  der  epikureische.  Das  gewünschte  Grundprinzip  der 
Ethik  des  Vonragenden,  das  er  in  seiner  „Kritischen  Grundlegung  der  Ethik 
als  positiver  Wissenschaft"  aufgestellt  hat,  lautet :    „Der  Trieb  zur  Erhaltung 


500 


csiisungiocncnu , 


des  Psychischen  in  seinen  verschiedenen  Erscheinungsformen  durch  Abwehr 
aller  schädlichen  Eingriffe  in  dasselbe".  Gegenüber  Herrn  Hellpach  bemerkt  er : 
Dass  die  Tiere  den  Begriff  des  Lebens  nicht  kennen,  ist  zuzugeben.  Doch  ist  es 
gar  keine  Frage,  dass  sie  sich  bei  einem  schädlichen  Eingriff,  der  den  Verlust  des 
Lebens  zur  Folge  haben  kann,  anders  benehmen,  d.  h.  stärker  reagieren  (höchst 
wahrscheinlich  infolge  ihrer  eigenen  Erfahrung  und  der  von  ihren, 
durch  unzählige  Generationen  gehenden,  Vorfahren  ererbten  Erfahrung), 
als  bei  einem  solchen,  der  ihnen  etwa  nur  eine  kleine  Verletzung  zufügt. 

Schluss  der  Diskussion. 
Zur  Aufnahme  melden  sich: 

Herr  Geh-  Reg.-Rat  G.  Schöppa.  Vortrag.  Rat  im  Kultuiminist., 
Charlottenburg,  Leibnizstr.  68a. 

Herr  cand.  phil.  Max  Wertheimer,  N.W.,  Mariens tr.  25. 
Schluss  der  Sitzung:  9  Uhr. 


Sitzung  vom  4.  Dezember  1902. 

Eröffnung:  710  Uhr. 

Vorsitzender:  Herr  Th.  S.  Fiat  au. 
Schriftführer:  Herr  Pfungst. 

Nach  Begrüssung  der  sehr  zahlreich  erschienenen  Gäste  verkündigt 
der  Vorsitzende  die  Aufnahme  der  Herren: 

Geh  Reg.-Rat  G.  Schöppa,  Vortrag.  Rat  im  Kultusminist., 
cand.  phil.  M.  Wertheimer, 
als  ordentliche  Mitglieder. 

Hierauf  spricht  Herr  Dr.  med.  H.  F  e  i  l  c  h  e  n  f  e  1  d ,  Augenarzt  (a.  G.), 
über  das  angekündigte  Thema: 

Zur  Analyse  der  Augenbewegungen 
(mit  Demonstrationen). 

Vortragender  demonstriert  den  Orschansky* sehen  Apparat  zur 
objektiven  Registrierung  der  Augenbewegungen.  Die  letzteren  beanspruchen 
insofern  ein  speziell  psychologisches  Interesse,  als  gerade  die  Anschauungen 
über  die  Rolle,  die  den  Augenbewegungen  bei  der  Gesichtswahrnehmung 
und  bei  der  Raumlokalisation  im  allgemeinen  zufällt,  durch  die  Methoden 
der  modernen  Psychologie  eine  wesentliche  Verschiebimg  erfahren  haben. 
Der  demonstrierte  Apparat  giebt  zwar  die  Bewegungen  nicht  exakt  wieder, 
doch  gestatten  die  aufgezeichneten  Kurven  immerhin  einen  Schluss  auf 
deren  wesentliche  Bedingungen.  So  kann  eine  nicht  zu  grosse  Linie  durch 
einen  ruhenden  Blick  ihrer  Grösse  nach  richtig  geschätzt  werden.  Auch 
beim  Vergleiche  zweier  Linien  dient  die  Bewegung  nur  als  Transportmittel, 
wird  aber  nicht  selbst  Grössenmassstab.  Beim  Durchlaufen  grader  Linien 
erfolgt  die  Bewegung  ruckweise;  an  beiden  Endpunkten  harrt  der  Blick 
länger  aus. 

Eine  Diskussion  findet  nicht  statt. 


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SürunrsberuhU 


501 


Der  Vorsitzende  dankt  dem  Redner  für  seine  Darlegungen  und  erteilt 
hierauf  Herrn  A.  Vierkandt  das  Wort  zu  seinem  Vortrage  über: 

Die  subjektiven  Grundlagen  der  Ueberieugung. 

Dass  unsere  Ueberzeugungen  zum  grossen  Teil  subjektiv  wie  objektiv 
keine  logische,  sondern  eine  ausserlogische  Grundlage  haben,  ist  eine  An- 
nahme, zu  der  uns  die  Psychologie,  die  Beobachtungen  und  Erfahrungen 
des  täglichen  Lebens,  wie  die  Thatsachen  der  Geschichte  und  Gesellschaft 
gleichmässig  drängen.  In  subjektiver  Hinsicht  sehen  wir  das  schon  an 
der  symbolisierenden  Art,  in  der  sich  unser  Denken  durchweg  vollzieht, 
mag  es  sich  dabei  der  sprachlichen  Symbole,  in  voller  Ausführlichkeit 
oder  in  abgekürzter  Weise,  oder  anderer  von  dem  betreffenden  Individuum 
dazu  erschaffener  Symbole  bedienen:  In  jedem  Falle  kann  in  einem  solchen 
symbolischen  Bewusstseinsinhalt,  mag  er  nun  als  Stellvertretung  oder  als 
Verdichtung  aufzufassen  sein,  nicht  der  volle  logische  Gehalt  der  Ueber- 
legung  klar  gegenwärtig  sein.  Objektiv  sehen  wir  unrichtige  Ueberzeugungen 
in  den  vielen  Denkfehlern  des  täglichen  Lebens,  in  der  Einseitigkeit  der 
Parteianschauungen  auf  religiösem  und  politischem  Gebiet,  sowie  in  den 
individuellen  Vorurteilen  schon  auf  unserer  eigenen  Kulturstufe  einen  breiten 
Raum  einnehmen.  Viel  schlimmer  ist  es  mit  dem  Aberglauben  des  Mittel- 
alters oder  den  absurden  Vorstellungen  des  klassischen  Altertums  über  natur- 
wissenschaftliche Dinge  oder  endlich  gar  mit  dem  krassen  Wahnglauben 
und  dem  sinnlos  wüsten  Zauberwesen  der  Naturvölker  bestellt.  Die  Psycho- 
logie hat  unter  den  Gründen  für  diese  Erscheinungen  bis  jetzt  vorzüglich 
die  Suggestion  und  den  Affekt  gewürdigt. 

Begreiflich  wird  dieser  Sachverhalt  zunächst  durch  eine  entwicklungs- 
geschichtliche und  teleologische  Betrachtung.  Beim  Kinde  rankt  sich  das 
Denken  am  Sprechen  empor,  und  dieses  wird  zunächst  durch  äussere  Ein- 
wirkungen als  eine  vorwiegend  mechanische  Fertigkeit  im  Kinde  entwickelt. 
Später  kommt  dann  der  Einfluss  der  Autorität,  der  Tradition  und  der 
Suggestion  als  eine  gewichtige  Reihe  von  ausserlogischen  Ursachen  für  die 
BUdung  von  Ueberzeugungen  hinzu.  Das  Tier  ferner  hat  ein  Bewusstsein, 
das  einseitig  nach  der  praktischen  Seite  hin  entwickelt  ist.  Seine  Intelligenz 
befähigt  es  nur  in  einer  ganz  bestimmten  Anzahl  von  Situationen  zweck- 
mässig, d.  h.  unter  wesentlich  gleichen  Verhältnissen  sich  gleich  zu  benehmen. 
Dem  entspricht  beim  Menschen,  dass  seine  Intelligenz  durchweg'  besser 
auf  dem  praktischen,  als  auf  dem  theoretischen  Gebiet  funktioniert  und 
dass  er  in  einer  oft  verhängnisvollen  Weise  sich  vom  Analogieprinzip,  von 
der  Neigung,  nach  Schema  F.  zu  verfahren,  im  Denken  und  Handeln  be- 
herrschen lässt.  Der  Einfluss  der  natürlichen  Auslese  ferner  gewährleistet 
uns  nur,  dass  das  menschliche  Bewusstsein  von  den  allergröbsten  Irrtümern 
auf  dem  unmittelbar  praktischen  Gebiet  frei  ist ;  ja  vielfach  ist  die  Richtigkeit 
der  Ueberzeugungen  sogar  schädlich :  Illusionen  haben  bekanntlich  oft  lebens- 
fördernde Kraft  Die  fanatischen  Naturen,  die  den  Erfolg  oft  für  sich 
haben,  erinnern  in  ihrer  Einseitigkeit  an  den  Paranoiker,  und  wer  sich  an 
Geist  stark  über  seine  Umgebung  erhebt,  wird  in  seinem  Gedeihen  dadurch 
ebenfalls  oft  beeinträchtigt;  dagegen  fördert  der  Irrwahn  der  religiösen 


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502 


Si/zu  ngsberuh  U. 


Systeme  den  Zusammenhalt  der  Gesellschaft,  und  das  Nämliche  gilt  von 
dem  weit  verbreiteten  falschen  Glauben  an  die  Allmacht  des  Staates. 

Wie  entstehen  in  der  That  unsere  Ueberzeugungen  ?  Es  sind  dabei 
zwei  Typen  zu  unterscheiden.  Teilweise  entstehen  sie  kritisch  unter  sorg 
samen  Abwägungen.  Bei  weitem  häufiger  jedoch  wird  die  erste  auftauchende 
Vorstellungsverknüpfung  sofort  zur  Ueberzeugung  erhoben.  Dieses  Aufsteigen 
der  Vorstellungen  hängt  zunächst  von  Analogieen  ab.  Es  genügen  aber 
namentlich  auf  tieferen  Stufen  ganz  rohe  und  oberflächliche  Aehnlichkeiten. 
Ferner  wirkt  das  Gefühl  mit,  indem  es  das  Aufsteigen  bestimmter  Vor- 
stellungen begünstigt,  dasjenige  anderer  erschwert.  Weiter  kommen  die 
allgemeinen  Voraussetzungen  in  Betracht,  die  in  jedem  Bewusstsein  vor- 
handen sind.  Teilweise  sind  sie  individueller  Natur  wie  in  Gestalt  der 
bekannten  Vorurteile  und  Voreingenommenheiten,  von  denen  niemand  frei 
ist  und  von  denen  aus  alle  Thatsachen  zurecht  gelegt  werden.  Teilweise 
handelt  es  sich  dabei  um  Denkgewohnheiten,  die  aus  der  geistigen  Umwelt 
stammen.  —  Noch  deutlicher  ist  die  ausserlogische  Grundlage  bei  den- 
jenigen Ueberzeugungen,  die  von  aussen  her  im  Bewusstsein  angeregt  werden. 
Jede  einigermassen  bestimmt  eingegebene  Vorstellung  oder  Vorstellungs- 
verknüpfung wird  hier,  wenn  sie  nicht  gröblich  gegen  den  Sinnenschein 
oder  gegen  herrschende  Denkgewohnheiten  verstösst,  sofort  in  eine  Ueber- 
zeugung  umgesetzt,  ausser  bei  kritischen  Naturen  oder  bei  Menschen,  die 
sich  in  einer  kritischen  Stimmung  befinden.  Namentlich  in  der  Kindheit 
werden  so  Thatsachen  und  Denkgewohnheiten  in  Fülle  auf  vorwiegend 
autoritativem  Wege  dem  Bewusstsein  eingepflanzt.  Auch  vom  modernen 
Schulunterricht  und  selbst  vom  Hochschulunterricht  gilt  das  im  wesentlichen. 

Ihre  Anwendung  finden  diese  Thatsachen  eigentlich  in  allen  Geistes- 
wissenschaften, vorzüglich  aber  in  der  Völkerkunde.  Der  Gegensatz  zwischen 
der  praktischen  Lebenskunst  der  Naturvölker  und  deren  sinnlos  wüsten 
religiösen  Vorstellungen  und  Bräuchen  wird  nur  von  dem  angedeuteten 
Standpunkte  aus  begreiflich.  Ja  selbst  bis  in  die  Wissenschaften  hinein 
macht  sich  das  Ueberwiegen  ausserlogischer  Faktoren  bei  der  Bildung  der 
Ueberzeugungen  bemerklich.  So  manche  Theorieen  und  Schemata,  wie 
z.  B.  die  herkömmliche  Lehre  von  den  drei  Wirtschaftsstufen  oder  die  alte 
geographische  Vorstellung,  dass  Völker  vorwiegend  von  den  Bergen  in 

die  Ebene  herabwandern,  beruhen  auf  derartigen  ganz  rohen  Analogieen. 
• 

Diskussion: 

Herr  H  a  a  k  e  ist  mit  den  Ausführungen  des  Vortragenden  im  wesent- 
lichen einverstanden,  hätte  aber  gewünscht,  dass  ihnen  eine  Richtung  gebende 
Definition  des  Begriffes  „Ueberzeugung"  zu  Grunde  gelegt  worden  wäre. 
Die  subjektiven  Grundlagen  der  Ueberzeugungen  sind  teils  Vorstellungen, 
teils  gemütliche  Bedürfnisse.  Falsche  Ueberzeugungen  können  daher  teils 
druch  eine  anderweitig  bedingte  Ungenauigkeit,  Un Vollständigkeit  oder  will- 
kürliche Verknüpfung  der  zu  Grunde  liegenden  Vorstellungen  entstehen, 
teils  durch  den  Vorstellungsverlauf  beeinflussende  gemütliche  Bedürfnisse. 
Diese  letzten  spielen  namentlich  in  Fragen  der  Religion  und  der  Welt- 
anschauung eine  grosse  Rolle. 


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503 


Herr  H  e  1 1  p  a  c  h  wirft  hinsichtlich  der  Em  Wickelung  unserer  Ueber- 
zeugungen  die  Frage  auf:  Nähern  wir  uns  mit  diesen  allmählich  der  Wirk- 
lichkeit oder  nicht  ?  Die  erkenntnistheoretische  Frage  beiseite  lassend, 
und  uns  auf  den  Standpunkt  des  naiven  Realismus  stellend,  müssen  wir 
sagen:  Unsere  Ueberzeugungen  von  der  Natur  nähern  sich  immer  mehr 
der  Wirklichkeit,  die  von  der  Psyche  des  Mitmenschen  entfernen  sich  aber 
davon.  Die  letzteren  besitzen  nämlich  den  höchsten  Grad  von  Richtigkeit 
in  uniformem  Zustande  und  fälschen  sich  immer  mehr  mit  zunehmender 
Differenzierung,  denn  sie  gründen  sich  auf  den  gefühlsmässigen  Schluss 
von  den  Ausdrucksbewegungen  und  Handlungen  auf  die  Psyche.  Kann 
die  Psychologie  dieser  zunehmenden  Unsicherheit  entgegenwirken?  Das  ist 
ihre  Existenzfrage. 

Herr  Schumann  kann  im  Gegensatz  zu  Herrn  Haake  das  Fehlen 
einer  Definition  des  Begriffs  „Ueberzeugung"  nicht  als  einen  Vorwurf  für 
den  Vortragenden  betrachten.  Es  wäre  ja  angenehm,  wenn  jeder  Unter- 
suchung eine  logisch  präzisierte  Definition  ihres  Gegenstandes  vorausgeschickt 
werden  könnte,  doch  müssen  vielfach  grosse  Gebiete  der  Wissenschaft,  und 
zwar  mit  Erfolg,  ohne  eine  solche  ausgebaut  werden.  So  ist  es  uns  bei- 
spielsweise z.  Z.  noch  immer  unmöglich,  eine  befriedigende  Definition  der 
Elektrizität  zu  geben. 

Herr  Vierkandt  betont  im  Schlusswort,  es  sei  auf  den  Versuch 
exakter  Formulierungen  absichtlich  verzichtet  worden,  weil  der  Thatbestand 
dafür  noch  nicht  reif  erscheine.  Ein  Versuch  in  dieser  Richtung  finde 
sich  bei:  M.  Friedmann,  Ueber  Wahnideen  im  Völkerleben.  Grenz- 
fragen des  Nerven-  und  Seelenlebens  VI— VII,  Wiesbaden,  1901.  Zuzugeben 
sei,  dass  der  Ausbildung  richtiger  Ueberzeugungen  auf  dem  Gebiete  der 
Naturerscheinungen  weniger  Hindernisse  entgegenstehen,  als  auf  dem  der 
Geschichte  und  der  Gesellschaft,  wo  das  Eigeninteresse  vielfach  hemmend 
wirke. 

Schluss  der  Sitzung:  8**  Uhr. 

Verein  für  Schulgesundheitspflege  zu  Berlin. 

In  der  Oktober-Sitzung  sprach  Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr.  Hoffa  über 
Rückgratverkrümmungen  bei  Kindern.  Er  gab  zunächst  an  der  Hand  zahl- 
reicher Zeichnungen  und  Abbildungen  eine  Schilderung  der  Ursachen  und 
der  Entwickelung  der  Anomalien.  Die  Ursachen  liegen  oft  in  vererbter 
Disposition  oder  überstandenen  Infektionskrankheiten,  besonders  aber  in  der 
Englischen  Krankheit.  Die  Hanptschuld  jedoch  an  dem  häufigen  Auftreten 
der  Rückgratsverkrümmungen  trage  die  Schule,  so  dass  man  die  Skoliose 
direkt  als  Schul-  oder  Sitzkrankheit  bezeichnen  könne;  und  zwar  sei  es 
die  gewohnheitsmässige  falsche  Haltung  beim  Schreibakt.  Bei  diesem  sei 
nur  die  sogenannte  Mittellage  des  Heftes  gesund.   Viel  häufiger  aber  als 


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504 


St /zun  trtberichte 


diese  sehe  man  Kinder  die  Schräglage  anwenden,  und  diese  sei  nicht  nur 
für  die  Augen  schädlich,  sondern  führe  auch,  sobald  sie  gewohnheitsmässig 
werde,  die  seitliche  Rückgratverkrümmung  herbei.    Diese  finde   sich  nun 
bei  Knaben  weit  weniger  als  bei  Mädchen.  Bei  ersteren  würden  die  schäd- 
lichen Folgen  des  Schreibaktes  gewöhnlich  durch  das  Turnen,  sowie  durch 
die  ihnen  gewährte  grössere  Bewegungsfreiheit  ausgeglichen;  bei  Mädchen 
dagegen  falle  dies  alles  fort,  sie  seien  durch  die  Sitte  gezwungen,  sich 
in  ihrer  körperlichen  Freiheit  Beschränkungen  aufzuerlegen,  und  so  sei 
es  erklärlich,    dass  sich  in  oberen  Klassen    dreimal    mehr    skolio tische 
Mädchen  als  Knaben  fänden.    Durch  seine  Untersuchungen,  die  er  in 
Würzburg  an  Tausenden  von  Schulkindern  gemacht  habe,  sei  festgestellt, 
dass  die  Zahl  der  Skoliotischen  auch  mit  ansteigender  Klasse  zunehme, 
und  dass  in  oberen  Klassen  56o/0  der  Schüler  eine  seitliche  Rückgrat- Ver- 
krümmung haben.  Was  nun  die  Besserung  des  Uebels  betreffe,  so  liege 
hier  der  Pädagoge  mit  dem  Arzte  im  Streite;  als  Arzt  müsse  er  zur  Ver- 
hütung der  Skoliose  fordern:  Verminderung    der  täglichen  Stundenzahl, 
öftere  Pausen  und  methodischeren  Turnunterricht,  der  auch  an  Mädchen- 
schulen einzuführen  sei.  Vor  allem  aber  sei  der  Schreibakt  zu  reformieren. 
Hierzu  sei  eine  der  Körpergrösse  angepasste  Schulbank  erforderlich.  Man 
setze  auch  die  Schüler  nicht  nach  Leistungen,  sondern  nach  ihrer  Grösse. 
Besondere  Rücksicht  müsse  auf  schon  zur  Skoliose  Veranlagte  genommen 
werden.  Er  rate,  für  solche  Schüler  Sonderklassen  einzurichten.  Die  Schul- 
ärzte hätten  dann  die  Aufgabe,  die  Schüler  auf  beginnende  Skoliose  hin 
ständig  zu  beobachten  und  sie  gegebenenfalls  diesen  Sonderklassen  zu  über- 
weisen.   Schliesslich  fordere  er  die  Einführung  der  allein  natürlichen  Art 
zu  schreiben,  der  Steilschrift,  da  unsere  gewöhnliche  Schrägschrift  zu  einer 
gesundheitsschädlichen  Haltung  Anlass  gebe. 

Hieran  schloss  sich  der  Vortrag  des  Professors  Dr.  Rudolf  Lehmann 
über  „Vererbung  und  Erziehung".  Die  Thatsache  der  Vererbung  sei  keine 
neue  Entdeckung.  Aber  erst  im  vorigen  Jahrhundert  habe  sie  eine  solche 
Bedeutung  gewonnen,  dass  man  heute  geradezu  von  einem  Vererbungs- 
fatalismus •  sprechen  könne.  Ein  besonders  wichtiger  Begriff,  der  gerade 
auf  die  Pädagogik  verhängnisvoll  zu  wirken  drohe,  sei  der  der  Belastung 
im  pathologischen  Sinne.  Wenn  die  Macht  der  Vererbung  unwiderstehlich 
und  schrankenlos '  die  Eigenart  des  Menschen  bestimme,  so  müsse  der  Er- 
zieher fragen,  was  seiner  Thätigkeit  dann  eigentlich  für  Spielraum  bleibe; 
ob  es  überhaupt  einen  Zweck  habe,  gegen  fehlerhafte  Charakteranlagen 
anzukämpfen,  oder  auf  das  Gemütsleben  der  Kinder  einwirken  zu  wollen? 
Wenn  es  Pädagogen  gäbe,  die  diese  Fragen  entschieden  verneinten,  so 
seien  die  Gründe  hierfür  die  Ueberschätzung  der  Macht  der  Erblichkeit 
einerseits  und  dementsprechend  die  Unterschätzung  der  En'twickelungs 
fähigkeit  des  Individuums  andrerseits.  Die  Wissenschaft  habe  längst  den 
Begriff  der  Vererbung  dahin  festgestellt,  dass  nicht  bereits  entwickelte 
Eigenschaften  und  Wülensrichtungen,  sondern  nur  die  Anlagen  hierzu  durch 
die  Vererbung  übertragen  werden.  Welche  von  diesen  Anlagen  zur  Ent- 
faltung kommen,  das  hänge  von  den  äusseren  Bedingungen  des  Daseins, 
von  Einflüssen  der  Umgebung  ab.    Vererbung  und  natürliche  Anlagen 


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St  t  tun  gsberichte . 


505 


begrenzten  die  Entwickelung  wohl,  aber  sie  könnten  sie  keineswegs  be- 
stimmen. Dies  sei  die  Aufgabe  der  Pädagogik  geblieben.  Für  sie  handele 
es  sich  darum,  durch  Stärkung  und  Erweckung  der  guten  Anlagen  die 
schlechten  zurückzudrängen  und  sie  durch  Entziehung  jeder  Nahrung  zum 
Absterben  zu  bringen.  Ein  wichtiger  Faktor  sei  hier  die  Entwickelungs- 
hypothese  geworden.  Diese  habe  die  Bedeutung  des  Individuums  erhöht 
und  erweitert.  Damit  der  Erzieher  sie  aber  richtig  verwerten  könne,  müsse 
an  ihn  die  Forderung  gestellt  werden,  dass  er  die  Eigenart  des  Zöglings, 
seine  Anlagen  und  seine  Schranken  genau  erkenne. 

In  der  Dezember-Sitzung  sprach  Herr  Johannes  Paul  Müller  über  „Das 
Rettig'sche  Schulbanksystem".  Sein  Vortrag  ist  unter  den  Abhandlungen 
dieser  Zeitschrift  veröffentlicht. 

Nach  ihm  gab  Dr.  med.  Th.  S.  Flatau  einen  Auszug  aus  den  Er- 
gebnissen seiner  mehrjährigen  Untersuchungen  über  „Stimmhygiene",  um 
durch  diesen  eine  Diskussion  über  sein  Thema  anzuregen.  Selbst  näher 
auf  seine  Arbeit  einzugehen,  halte  er  für  zu  schwierig,  da  dies  ein 
gewisses  Maass  von  Fachkenntnissen  von  den  Hörern  verlange,  welches 
er  nicht  voraussetzen  könne.  Die  Stimmhygiene  interessiere  namentlich  drei 
Klassen,  nämlich  die  Vertreter  der  Schauspiel-  und  Gesangeskunst,  dann 
die  Pädagogen  im  eigentlichen  Sinne,  und  schliesslich  die  Aerzte  und  Physio- 
logen. Bestimmte  Prinzipien  über  Stimmhygiene  aufzustellen,  sei  bisher 
nicht  gelungen.  Als  höchste  akustische  Leistung  sei  zu  fordern,  dass  die 
Stimrnleistung  mit  der  Gehörleistung  gleichen  Schritt  halte.  Für  die  erste 
Klasse  handele  es  sich  um  Pflege  der  Kunstsprache  und  des  Kunstgesanges. 
In  der  zweiten  Klasse  müsse  erst  eine  phonetisch-physiologische  Grund- 
lage geschaffen  werden.  Dann  werde  in  den  Schulen  auch  mehr  Sprach- 
und  Sprechästhetik  gepflegt  werden  können,  für  welche  bislang  nur  wenig 
gethan  worden  sei.  In  diesen  beiden  Klassen  habe  sich  ferner  eine  Art 
Berufskrankheit  herausgebildet,  die  funktionelle  Stimmschwäche.  Diese  be- 
ginne so  zuzunehmen,  dass  sie  zur  sozialen  Frage  geworden  sei.  In  den 
Kreisen  der  Musiklehrer  sei  sie  oft  erörtert  worden.  80 o/o  aller  Schüler 
des  Kunstgesanges  erreichten  ihr  Ziel  nicht  wegen  vorzeitiger  Stimm- 
schwäche. Auch  bei  Lehrern  trete  diese  oft  beim  Sprechakt  auf.  Neuer- 
dings habe  sich  das  Interesse  von  der  hygienischen  und  therapeutischen 
Seite  neu  belebt.  Der  Grund  der  Krankheit  sei  fast  immer  im  Missbrauch 
des  Organs  zu  suchen.  In  vielen  Fällen  seien  die  Ansprüche  in  Bezug 
auf  Stimmleistung  zu  hoch.  Mitunter  sei  auch  bei  der  Bildung  der  Stimme 
ein  falscher  Weg  eingeschlagen  worden.  Bei  seinen  Untersuchungen  in 
Schulen  habe  er  häufig  Gesanglehrer  mit  Sprachfehlern  behaftet  gefunden. 
Diese  Lehrer  müssten  natürlich  auf  die  Stimmbildung  der  Schüler  nach- 
teilig einwirken.  Da  die  Schüler  vielfach  in  der  Gesangstunde  überanstrengt 
würden,  so  müsse  eine  Verbesserung  sowohl  qualitativ  als  auch  quantitativ 
erfolgen.  Besondere  Rücksicht  sei  dabei  auf  den  physiologischen  Zusammen- 
hang zu  nehmen.  Ferner  sei  es  vielen  Lehrern  gar  nicht  bewusst,  dass 
der  Gesang  nicht  nur  eine  allgemein  musikalische,  sondern  auch  eine 
ästhetische  Seite  habe.  Wer  mit  einigen  diesbezüglichen  Kenntnissen  aus- 
gerüstet, eine  Wanderung  durch  unsere  Schulen  mache,  der  erhalte  ein 


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506 


Sitzu  n  qsberich  Ic 


deprimierendes  Resultat  auch  in  Bezug  auf  die  Lehrer.  Man  müsse  für 
eine  gute  musikalische  Bildung  unbedingt  ästhetische  und  phonetisch-physio- 
logische Vorkenntnisse  fordern. 

In  der  nun  folgenden  Diskussion  wurde  besonders  hervorgehoben,  dass 
die  Vorbildung  der  Gesanglehrer  in  den  Seminarien  mangelhaft  sei;  es 
würde  hier  der  Unterricht  selten  von  eigentlichen  Gesanglehrern,  sondern 
fast  immer  von  Organisten  erteilt.  Ferner  wurde  der  Vorwurf  gegen  die 
Berliner  Schulverwaltung  erhoben,  dass  sie  von  vielen  Lehrern  verlange, 
dass  sie  ohne  Befähigung  und  Lust  Gesangunterricht  erteilen.  Man  solle, 
eben  weil  der  Gesang  auch  eine  ästhetische  Seite  habe,  von  jedem  Gesang  - 
lehrer  fordern,  dass  er  auch  Musiker  sei.  Von  einer  Seite  wurde  darauf 
hingewiesen,  dass  an  den  Schädigungen  der  Stimme  doch  nicht  notwendiger- 
weise immer  die  Schule  die  Schuld  zu  tragen  brauche.  Eine  Stimm 
Schädigung  könne  sehr  wohl  auch  ausserhalb  der  Schule  durch  Ueber- 
anstrengung  des  Organs  erworben  werden.  Ferner  wurde  das  Verlangen 
ausgesprochen,  der  Vortragende  möchte  sich  doch  darüber  äussern,  welche 
Ziele  und  Aufgaben  ihm  für  die  künstlerische  und  hygienische  Ausbildung 
der  Sing-  und  Sprechstimme  vorschwebten;  inwiefern  die  gegenwärtigen 
Leistungen  in  unseren  Schulen  von  seiner  Norm  abwichen,  und  endlich, 
welche  Mittel  und  Wege  er  vorzuschlagen  vermöge,  um  eine  wirksam  e 
Prophylaxe  herbeizuführen. 

In  seinem  Schlussworte  gab  der  Vortragende  der  Ansicht  Ausdruck, 
dass  in  der  Mehrzahl  aller  Fälle  die  Schuld  doch  die  Schule  trage.  Es 
sei  auch  hier  noch  ein  weites  Arbeitsgebiet  für  die  Schulärzte.  Er  fassr 
nochmals  seine  Leitsätze  dahin  zusammen,  dass  die  Gesanglehrer  auch 
Tonbildner  und  Musiker  sein  müssen,  und  dass  eine  einheitliche  Zusammen 
arbeit  des  Musikers  mit  dem  Physiologen  zu  fordern  sei. 


Psychologische  Gesellschaft  zu  Breslau. 

- 

Jahresbericht  1901/02. 

1.  Mitgliedschaft:  Auch  im  vergangenen  Vereins  jähr  hat  die 
Gesellschaft  einen  Zuwachs  an  Mitgliedern  zu  verzeichnen.  Der  Bestand 
an  Mitgliedern  betrug:  Zu  Anfang  des  Arbeitsjahres  ein  Ehrenmitglied, 
39  ordentliche  und  8  ausserordentliche  Mitglieder:  beim  Schluss  ein  Ehren- 
mitglied, 43  ordentliche  und  9  ausserordentliche  Mitglieder.  Die  Mitglieder 
setzen  sich  zusammen  aus  Universitätslehrern  verschiedener  Fakultäten, 
prakt.  Aerzten,  Juristen,  Lehrern  u.  s.  w.  Als  ausserordentliche  Mitglieder 
finden  Studenten  Aufnahme. 

2.  Vorstand:    In  der  Generalversammlung  vom  21.  Januar  1002 


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St  (zun  gibevichtt: ', 


507 


wurde  der  bisherige  Vorstand  wiedergewählt.  Er  besteht  aus  folgenden 
Herren: 

Privatdozent  Dr.  L.  William  Stern  (Vorsitzender), 
Nervenarzt  Dr.  Hans  Kurella  (stellvertretender  Vorsitzender), 
Rechtsanwalt  Dr.  Kurt  Steinitz  (Schriftführer), 
Primärarzt  Dr.  Alfred  Methner  (Kassierer). 

Das  neu  geschaffene  Amt  des  Bibliothekars  wird  von  Herrn  Assistenz- 
arzt Dr.  Kramer  verwaltet. 

3.  Sitzungen:  Es  fanden  10  wissenschaftliche  Sitzungen  statt  mit 
folgenden  Tagesordnungen: 

1.  29.  10.  1901:  Herr  Privatdozent  Dr.  W.  Stern:  Zur  Psycho- 
logie der  Aussage.  (Experimentelle  Untersuchungen  über  das  Ge- 
dächtnis und  seine  Täuschungen). 

2.  19.  11.  1901:  Herr  Rechtsanwalt  Dr.  Kurt  Steinitz:  Die 
psychologische  Richtung  in  der  Volkswirtschaftslehre. 

3.  26.  11.  1901:  Herr  cand.  phil.  Becker:  Graphologie  und 
Psychologie. 

4.  10.  12.  1901:  Herr  Dr.  E.  Storch:  Das  Bewusstsein  als 
Gehirnfunktion. 

5.  4.  2.  1902:  Herr  Dr.  F.  Kram  er:  Ueber  das  Weber  - 
Fechnersche  Gesetz. 

6.  15.  2.  1902:  Herr  Oberlehrer  Dr.  F.  Kemsies  aus  Berlin:  Die 
Entwickelung  der  pädagogischen  Psychologie  im  19.  Jahrhundert. 
2.  Teil:  Die  pädagogische  Psychologie  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten. 

7.  18. 3. 1902:  Herr  Redakteur  Dr.  Hamburger:  Das  Doppel-Ich 
in  der  Literatur. 

8.  22.  4.  1902:  Herr  Rechtsanwalt  Peiser:  Die  Bedeutung  des 
Schweigens  in  psychologischer  und  rechtlicher  Hinsicht. 

9.  12.  5.  1902:  Eine  nur  für  Mitglieder  bestimmte  Sitzung,  in  der 
Herr  Schriftsteller  Leo  Erichsen,  von  hier,  einige  Versuche 
aus  dem  Gebiete  der  Gedankenübertragung  vorführte. 

10.  3.  6.  1902:    Herr  Privatdozent  Dr.  W.  Stern:  Beeinflussbarkeit 
von  Aussagen. 

Die  Sitzungen  erfreuten  sich  eines  regen  Besuches.  Von  dem  seitens 
der  Gesellschaft  gern  gewährten  Gastrecht  wurde  lebhafter  Gebrauch 
gemacht. 

4.  Publikationen:  Von  dem  Vortrags  -  Cyklus  des  Jahres 
i8og/iooo  über  „Die  Entwickelung  der  Psychologie  und  verwandter  Gebiete 
des  Wissens  und  des  Lebens  im  19.  Jahrhundert"  sind  im  Verlage  von 
Hermann  Walther,  Berlin,  bisher  als  Broschüren  erschienen  (zugleich 
als  Abhandlungen  in  der  Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie  und 
Pathologie) : 

Dr.  L.  William  Stern,  Privatdozent:    Die  psychologische 
Arbeit  des  19.  Jahrhunderts. 


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508 


Dr.  Robert  G a u p p ,  Nervenarzt:   Die  Entwicke- 
lt! n  g  der  Psychiatrie  ]W 

Konsistorialrat  Prof.  Dr.   D.  Carl  von  Hase:    Die  19. 
psychologische  Begründung  der  religiösen  .  Jahx- 
Weltanschauung  hun. 

Dr.  Heinrich  Sachs,  Nervenarzt,  Privatdozent:    Die  dert. 
Psychologie  des  Gehirns 

Dr.  Kurt  S  t  e  i  n  i  t  z ,  Rechtsanwalt:  Der  Verantwortlich- 
keitsgedanke im  19.  Jahrhundert  (mit  besonderer  Rücksicht  auf 
das  Straf  recht). 

Dr.  Ferdinand  K  e  m  s  i  e  s  ,  Oberlehrer  (Berlin) :  Die  E  n  t  - 
Wickelung  der  pädagogischen  Psychologie  im 
19.  Jahrhundert. 

5.  Die  Bibliothek  wurde  durch  Neuanschaffungen  und  Schen- 
kungen vermehrt. 

6.  Die  Gesellschaft  gehört  der  „Deutschen  Gesellschaft 
für  psychologische  Forschung"  als  Sektion  Breslau  an.  Die 
Publikationen  dieser  Gesellschaft  stehen  unseren  Mitgliedern  zu  Vorzugs- 
preisen zur  Verfügung.  Als  Heft  13  und  14  dieser  ist  im  Laufe  des  Berichts- 
jahres erschienen:  Professor  Dr.  Lipps:  Vom  Fühlen,  Wollen 
und  Denken.    Eine  psychologische  Skizze,  IV,  196  Seiten. 

Im  Verein  mit  den  beiden  anderen  Sektionen  in  Berlin  und  München 
hat  die  Gesellschaft  Herrn  Professor  Dr.  W  u  n  d  t  zu  seinem  70.  Geburts- 
tage eine  Adresse  überreicht,  welche  dem  Danke  für  das  Wirken  des  Ge- 
feierten Ausdruck  verleiht. 


Arbeitsplan  für  den  Winter  1902/03. 

Vortrags-Cyklus:    Die  Seele  des  Kindes 

Oktober  1902.  1.  Privatdozent  Dr.  William  Stern:  Die  Psycho- 
logie des  Kindes  als  theoretische  Wissenschaft. 

November  1902.  2.  Derselbe:  Die  Psychologie  des  Kindes  als  ange 
wandte  Wissenschaft:    Pädagogische  Psychologie. 

November  1902.  3.  Privatdozent  der  Kinderheilkunde  Dr.  Martin 
T  h  i  e  m  i  c  h  :  Die  körperlichen  und  Milieu- Einflüsse  in  ihrer  Bedeutung 
für  die  Kindespsyche. 

Dezember  1902.  4.  Provinzial  -  Schulrat  Dr.  O  s  t  e  r  m  a  n  n:  Das 
Interesse;   ein  Kapitel  ans  der  Psychologie  des  Unterrichts. 

Januar  1903.  S.  Nervenarzt  Dr.  Franz  K  r  a  m  e  r:  Die  Schulermüdung 
und  ihre  Messung. 

Januar  1903:  6.  Nervenarzt  Dr.  Hans  Kurella:  Kriminalpsychologie 
und  Kriminalstatistik  des  Kindesalters. 

Februar  1903.  7  Ohrenarzt  Dr.  Max  Goerke  :  Die  Psychologie  der 
Kindessprache. 

Februar  1903.  8.  Taubstummenlehrer  Ernst  Ulbricht  Die  Psycho- 
logie des  taubstummen  Kindes. 


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StUungsberichU. 


509 


März  1903.  9.  Cand.  phil.  Otto  Lipmano  :  Ueber  Gedächtnis- 
Untersuchungen  an  Schulkindern. 

Aenderungen  des  Planes  bleiben  vorbehalten. 

Die  Sitzungen  finden  an  den  orchesterprobe-freien  Dienstagen  im 
kleinen  Parterre-Saale  des  Konzerthauses,  Gartenstrasse,  statt;  die  Tages- 
ordnungen werden  an  den  Sonntagen  vorher  im  lokalen  Teil  der  Tages- 
Zeitungen  veröffentlicht.    Herren  (auch  Studenten)  haben  als  Gäste  Zutritt. 

Nähere  Auskunft  erteilen :  Privatdozent  Dr.  William  Stern.  Höfchen- 
strasse 101  und  Rechtsanwalt  Dr.  Kurt  S  t  e  i  n  i  t  z  ,  Antonienstrasse  22/23. 

Psychologische  Gesellschaft  zu  Breslau. 

I.  A.: 

Dr.  W.  Stern,  Höfchenstr.  101.   Nervenarzt  Dr.  H.  Kurella,  Fürstenstr.  100. 
Rechtsanwalt  Dr.  K.  Steinitz,  Antonienstr.  23.    Primärarzt  Dr.  A.  Methner, 
Tauentzienplatz  7.    Assistenzarzt  Dr.  Kramer,  Agnesstr.  2. 


Verein  für  Kinderpsychologie  zu  Berlin. 

Sitzung  vom  7.  November  1902. 

Beginn  8  Uhr  20  Min. 
Vorsitzender:   Herr  Stumpf.    Schriftführer:   Herr  Hirschlaff. 

Nach  einigen  einleitenden  Bemerkungen  des  Herrn  Vorsitzenden  hält 
Herr  Dessoir  den  angekündigten  Vortrag: 

„Ueber  Kinderpsychologie  im  18.  Jahrhundert." 

Das  genetische  Verfahren,  das  im  18.  Jahrhundert  auch  der  Psychologie 
nicht  fehlte,  hat  seine  Triumphe  im  Gebiet  der  Tierpsychologie  gefeiert  und 
der  Kinderpsychologie  nur  wenig  gedient.  Dagegen  ist  Leibnizens  Philo- 
sophie für  die  Voraussetzungen  jener  Kinderpsychologie  wirksam  gewesen. 
Zunächst  durch  das  Gesetz  der  Stetigkeit,  das  auf  den  Zusammenhang  der 
Altersstufen  und  auf  die  Reihenfolge  und  Stärke,  in  der  die  Seelenvermögen 
auftreten,  angewendet  wurde.  Allgemein  galt  die  Anschauungskraft  als  die 
in  der  Jugend  wichtigste  seelische  Funktion.  Ferner  glaubte  man,  dass  im 
Kind  alles  schon  keimhaft  enthalten  sei,  was  sich  später  entfalte.  Kinder- 
psychologie erscheint  also  als  der  Nachweis  dieses  allmählichen  Erwachens. 
Und  zwar  gehe  die  Kntwickelung  auf  Seiten  der  Vorstellung  vom  Dunkeln 
zum  Hellen,  auf  Seiten  des  Willens  vom  Natürlichen  zum  Sittlichen.  Näheres 
findet  man  in  des  Vortragenden  „Geschichte  der  neueren  deutschen  Psycho- 
logie".   1.  2.  Auf).  1902. 

Die  Grundsätze  der  Erziehung  werden  durchschnittlich  von  den  Er- 
gebnissen psychologischer  Forschung  abhängig  gemacht.  Die  Summe  der 
Mittel,  über  die  die  Erziehung  verfügt,  kann  nur  von  der  Psychologie  be- 
stimmt werden;  von  ihr  erfahren  wir,  wie  die  Seelenvermögen  sich  bedingen 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  nnd  Hygiene.  9 


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510 


Sit  tun  gsberichle. 


und  wo  demnach  die  Massregeln  des  Erziehers  einzugreifen  haben. 

Der  Vortragende  gab  schliesslich  einen  ausführlichen  Bericht  über 
zwei  gleich  bedeutende,  aber  inhaltlich  sehr  verschiedene  Betträge  zur 
Kinderpsychologie.  Dietrich  Tiedemanns  „Beobachtungen"  (1787)  sind 
nüchterne  Feststellungen,  die  vielfach  Preyers  Untersuchungen  in  der  Hand- 
habung und  im  Ergebnis  vorausnehmen;  Restifs  „Monsieur  Nicolas"  (1704) 
enthält  autobiographische  Mitteilungen  und  Analysen  von  grosser  Feinheit, 
die  jedoch  mit  einer  gewissen  Vorsicht  aufzunehmen  sind.  (Autorreferat.) 

Eine  Diskussion  findet  nicht  statt 

In  der  darauf  folgenden  Generalversammlung  wird  die  Wahl  des  Vor- 
standes auf  die  nächste  Sitzung  vertagt 

Schluss  der  Sitzung  9  Uhr  20  Min. 


Sitzung  vom  12.  Dezember  1902. 
Beginn  8  Uhr  20  Min. 
Vorsitzender:    Herr  Stumpf.    Schriftführer:  Herr  Hirschlaff. 
In  einer  kurzen  Ansprache  begrüsst  der  Vorsitzende  die  zahlreich  er- 
schienenen Gäste.    Sodann  hält  Herr  Vogt  den  angekündigten  Vortrag: 
„U eber  die  Markreifung  des  Grosshirns" 
(mit  Demonstrationen  und  Projektionsbildern). 
Diskussion: 

Herr  Stumpf  dankt  dem  Vortragenden  und  betont,  dass  auch  er 
vorläufig  der  Meinung  sei,  dass  die  Hirnanatomie  und  die  Psychologie  zu- 
nächst selbständig  ihre  eigenen  Wege  gehen  sollten,  freilich  nicht,  ohne  die  ge- 
sicherten Ergebnisse  der  Schwesterdisziplin  aufmerksam  zu  verfolgen  und 
zu  verwerten. 

Herr  Jastrowitz  weist  darauf  hin,  dass  er  der  erste  gewesen  sei, 
der  gefunden  habe,  dass  die  Markscheiden  sich  erst  nach  der  Geburt  des 
Kindes  entwickeln.  Auch  in  Bezug  auf  die  Entwicklung  der  Balkenfasern 
und  einiger  anderer  hierher  gehöriger  Probleme  habe  er  eigene  Studien 
angestellt  Was  die  Funktion  der  Markscheiden  betreffe,  so  habe  Erb  bei 
der  Durchschneidung  der  Nerven  festgestellt,  dass  der  Nerv  elektrisch  nicht 
ansprechbar  sei,  bevor  er  nicht  seine  Scheide  hätte.  Das  spreche  nicht  dafür, 
dass  die  Markscheide  lediglich  Isolator  sei,  dennoch  werde  sie  allgemein 
als  Isolator  angesehen.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  es  gewisse  Herde 
giebt,  wo  man  die  Markscheiden  bei  der  Entwickelung  zuerst  am 
deutlichsten  sieht;  und  dies  ist  wohl  der  Leitpunkt  für  die  Aufstellung 
und  Annahme  von  Theorien  gewesen.  Die  zum  Leben  allernotwendigsten 
Bezirke  umkleiden  sich  zuerst  mit  Mark,  so  die  motorische  Region, 
dann  die  Riech-  und  Augen- Centren.  Von  da  aus  erst  gehen  die  allmäh- 
lichen Übergänge  weiter  vor  sich.  Ich  möchte  schliesslich  noch  eine  Frage  an 
den  Herrn  Vortragenden  richten  bezüglich  des  Auftretens  von  Markscheiden 
in  der  eigentlichen  Rinde  des  Grosshirns.  In  der  eigentlichen  Rinde  sind  be- 
kanntlich doch  mehr  marklose  Fasern;  daher  das  graue  Aussehen  derselben 
gegenüber  der  weissen  Substanz,  in  der  die  übergrosse  Mehrzahl  Markfasern 
gelegen  ist.   Bei  der  Demonstration,  die  der  Herr  Vortragende  veranstaltete. 


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511 


schien  mir  aber  das  Mark  über  die  Markleiste  hinaus,  bis  oben  hinauf,  bis 
an  die  Oberfläche  der  Rindensubstanz  zu  gehen.  Wie  ist  das  zu  erklären! 
Beipflichten  muss  ich  dem  Herrn  Vortragenden  bezüglich  der  Behauptung, 
dass  aus  der  cytogenetischen  Entwickelung  keine  Schlüsse  auf  die  Funktion 
der  betreffenden  Bezirke  gezogen  werden  dürfen.  Schon  bei  Foeten  von 
4  Monaten  zeigen  sich  aber  Unterschiede  in  dem  Aussehen  und  der  An- 
ordnung der  Embryonalzellen  in  der  Rinde  und  in  der  weissen  Substanz  des 
Gehirns.  Erste re  haben  ein  dichteres,  sich  viel  stärker  färbendes  Proto- 
plasma und  ordnen  sich  in  Reihen  und  Schichten,  während  im  Mark  ganz 
andere  Vorgänge  stattfinden,  wie  ich  beobachtet  und  beschrieben  habe. 

Herr  Vogt:  Die  Hirnrinde  hat  in  allen  ihren  Schichten  Markfasern 
beim  Erwachsenen.  Die  spät  markreifen  Gebiete  des  Markweisses  haben 
weniger  und  dünnere  Markscheiden.  Dasselbe  gilt  von  den  verschiedenen 
Schichten  der  Hirnrinde.  Die  spätmarkreife  Mittelschicht  ist  am  mark- 
ärmsten. In  den  übrigen  Punkten  stimme  ich  mit  dem  Herrn  Vorredner 
überein,  resp.  ergiebt  sich  mein  Standpunkt  aus  meinem  Vortrag. 

Schluss  der  Diskussion  xo  Uhr. 

Nach  einer  Pause  von  5  Minuten  schliesst  sich  die  Fortsetzung  der 
Generalversammlung  an,  in  der  über  die  Wahl  des  Vorstandes  für  das 
nächste  Jahr  beraten  wird.  Da  die  Herren  Stumpf  und  H  e  u  b  n  e  r  er- 
klären, eine  Wiederwahl  für  das  nächste  Jahr  ablehnen  zu  müssen,  da  sie 
mit  wissenschaftlichen  Arbeiten  überlastet  seien,  so  werden  auf  Vorschlag 
des  Herrn  Prof.  Stumpf  gewählt: 

als  I.  Vorsitzender  Herr  Oberlehrer  Dr.  K  e  m  s  i  e  s, 
als  II.  Vorsitzender  Herr  Privatdozent  Dr.  K.  L.  Schäfer. 
Beide  Herren  erklären  sich  bereit,  die  Wahl  anzunehmen. 
Schluss  der  Sitzung  10  Uhr  20  Min. 


Berichte  und  Besprechungen. 

W.    Kinkel,    Johann    Friedrich    Herbart,    sein  Leben 
und    seine    Philosophie.     8«.    204  S.    Giessen  1903 
Ricker'scher  Verlag. 

Man  könnte  meinen,  dass  die  Zeit  der  Herbart-Studien  bereits  abge- 
schlossen sei,  da  der  moderne  Psychologismus  so  viele  Kräfte  und  Federn 
in  Bewegung  setzt,  und  doch  die  grossen  Probleme  noch  ihrer  Lösung 
harren.  Da  aber  das  Werk  ursprünglich  für  Frommanns  Sammlung  der 
„Klassiker  der  Philosophie"  bestimmt  war,  ist  sein  Erscheinen  gewisser- 
massen  psychologich  erklärt,  ebenso  die  Kürze,  mit  welcher  die  Herbartsche 
Pädagogik  darin  behandelt  wird.  Wegen  seiner  anschaulichen  Darstellung 
und  der  Mitberücksichtigung  dea  Lebens  und  des  philosophischen  Entwick- 

9* 


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512 


lungsganges  Herbarts,  sowie  wegen  der  jedem  Abschnitt  beigefügten  kriti- 
schen Bemerkungen,  scheint  das  Buch  recht  geeignet,  weitere  Kreise,  be- 
sonders pädagogische,  in  das  Studium  Herbarts  einzuführen.  Die  Kritik 
der  Vermögenspsychologie,  der  Herbartschen  Darstellung  des  Vorstellungs- 
mechanismus,  der  sich  auch  in  der  Ethik  stark  geltend  macht  und  Herbart 
bekanntlich  zu  einer  unnötig  gehässigen  Polemik  gegen  Kants  Freiheitslehre 
treibt,  sowie  der  Aesthetik  und  der  Lehre  von  der  ästhetischen  Apperception 
ist  so  allgemein  verständlich  gehalten,  dass  die  Schrift  jedem,  der  sich 
über  Herbart  in  Kürze  orientieren  will,  empfohlen  werden  kann. 

Berlin.  Hans  Koch. 


IVe  Congre-s  International  de  Psychologie.  (Fortsetzung). 

Die  Arbeit  des  Kongresses  wurde  in  6  allgemeinen  and  in  20  Ab- 
teilungssitzrungen geleistet.  Es  wurden  7  Abteilungen  gebildet  und  zwar 
fttr  1.  Psychologie  in  ihren  Beziehungen  zur  Anatomie  und  Physiologie, 
2.  Introspektive  Psychologie  in  ihren  Beziehungen  zur  Philosophie,  3.  Ex- 
perimentelle Psychologie  und  Psychophysik,  4.  Pathologische  Psychologie 
und  Psychiatrie,  5.  Psychologie  des  Hypnotismus,  der  Suggestion  and  ver- 
wandte Fragen,  6.  Sozial-  und  Kriminalpsychologie,  7.  Vergleichende  tierische, 
anthropologische,  ethnologische  Psychologie. 

Die  erste  allgemeine  Sitzung  war  den  Studien  zur  Geschichte  der 
Psychologie  gewidmet  Ribot  berichtete  über  die  Entwicklung  der  Psycho- 
logie seit  dem  letzten  Psychologenkongress,  während  Ebbinghaus  einen 
Vergleich  zwischen  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Psychologie  and  dem 
vor  hundert  Jahren  zog. 

Die  zweite  Hauptsitzung  beschäftigte  sich  mit  Vorträgen  über  Gehirn- 
physiologie,  die  dritte  mit  Studien  zu  den  Erscheinungen  des  Somnambulismus. 

Sodann  kamen  die  philosophischen  Studien  zur  Psychologie  zu  ihrem 
Rechte.  Zunächst  behandelte  Kristian  Aars:  Die  sieben  Rätsel  der 
Psyche.  Diese  sind:  1.  Das  Vorhandensein  verschiedener  psychischer 
Elemente,  2.  Das  Problem  der  Vergleichung  oder  des  vergleichenden  Ich  ; 
die  Vergleichung  aufeinander  folgender  Erscheinungen  führt  zum  dritten 
Rätsel:  Der  Dauer  der  Empfindungen,  Gefühle  und  Willensinhalte,  Damit 
verbunden  ist  der  Begriff  der  Zeit  und  das  vierte  Rätsel:  Die  Erwartung 
des  Zukünftigen.  Alles  dieses  sind  einfache,  jeder  Zergliederung  un- 
zugängliche Zustände.  —  Das  fünfte  Problem  ist  die  Identifikation  and 
Unifikation,  die  unerläßliche  Vorbedingung  aller  sogenannten  objektiven 
Erfahrung.  Darauf  beruht  die  symbolische  Vorstellung,  und  weiter  der 
Glaube  an  die  objektive  Wirklichkeit.  Bei  der  Zergliederung  des  Begriffes 
der  Ursächlichkeit  gelangt  man  zum  sechsten  Rätsel:  das  ist  der  objektive 
Symbolismus,  die  Analogie  der  Beziehungen  der  inneren  und  äusseren  Welt 
wofür  der  Vortragende  den  Ausdruck  „psychische  Projektion"  vorschlägt. 
Diese  unterscheidet  sich  von  dem  subjektiven  Symbolismus  hauptsächlich 
dadurch,  dass  das  Symbolisierte  niemals  erlebt,  niemals  für  die  Symbole 
eingesetzt  werden  kann.  Ebenso  ist  es  mit  der  Annahme  der  Reellität  des 
psychischen  Lebens  eines  anderen,  dem  siebenten  Rätsel.    Auch  diese  ist 


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513 


bot  eine  symbolische  Vorstellung,  eine  psychische  Projektion.  Diesen  beiden 
grundlegenden  „Projektionen"  schliessen  sich  einige  besondere  an:  der  ab- 
solute und  leere  Raum,  die  leere  Zeit,  das  Ding  an  sich,  die  Seelea  des 
Menschen  und  der  Tiere,  die  Seele  des  Atoms,  und  die  psychische 
Anlage. 

Es  folgen  Vortrage  von  Münsterberg  über  Psychologische  Atomistik, 
und  von  Wladimir  Tschisch  über  den  Schmerz.  Letzterer  wendet  sich 
zunächst  gegen  die  Ansicht  Richets,  Schmerz  werde  durch  starke  Reize 
und  jeden  anormalen  Zustand  hervorgebracht,  und  kommt  dann  zu  folgen- 
dem Gesetze:  Alle  dem  Individuum  schädlichen  Reize  rufen  unangenehme 
Gefühle  hervor;  solche  Reize,  welche  das  Individuum  töten,  rufen  un- 
angenehme Gefühle  hervor.  Die  Reize,  welche  das  lebende  Gewebe  töten 
und  es  in  totes  Gewebe  verwandeln,  rufen  Schmerz  hervor.  Dieses  Gesetz 
wird  ausführlich  begründet  und  durch  zahlreiche  Beispiele  erläutert. 

Claparede  macht  den  Vorschlag,  einen  Ausschuss  zu  ernennen,  der 
sich  über  eine  einheitliche  allgemeingültige  Bezeichnung  der  wichtigsten 
Begriffe  der  Psychologie  einigen  und  diese  dem  nächsten  Kongresse  vor- 
legen solle.  Goblot  widerspricht  dem,  mit  der  Begründung,  dasa  man  so 
nicht  eine  Wissenschaft,  sondern  eine  Scholastik  erhielte.  Gute  Bezeich- 
nungen würden  sich  von  selbst  einbürgern« 

Die  fünfte  Hauptsitzung  brachte  mehrere  bemerkenswerte  Vorträge 
aus  dem  Gebiete  der  experimentellen  Psychologie,  von  denen  hervorgehoben 
seien:  Külpe:  Über  das  Verhältnis  der  ebenmerklichen  zu  den  übermerklichen 
Unterschieden,  Bourdon:  Der  grammatische  Typus  in  den  Wortassoziationen, 
und  Thilry:  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Höhe  und  die  Melodie 
des  gesprochenen  Wortes. 

In  der  sechsten  und  letzten  allgemeinen  Sitzung  endlich  gelangten  die 
soziale  und  die  pathologische  Psychologie  zur  Erörterung.  Von  ganz  be- 
sonderem Interesse  waren  die  Ausführungen  von  Dr.  Morton  Prince  aus 
Boston  über  „Entstehung  und  Ent Wickelung  der  «Persönlichkeiten»  des 
Fräulein  Beauchamp".  Fräulein  Beauchamp  ist  ein  interessantes  Beispiel 
jener  höchst  merkwürdigen  Erscheinung,  die  man  als  mehrfache  Persönlich- 
keit bezeichnet.  Sie  vereinigt  in  sich  mehrere,  mindestens  drei  Persönlich- 
keiten und  kann  in  drei  verschiedene  hypnotische  Zustände  eintreten.  Seit 
zwei  oder  drei  Jahren  kommen  und  gehen  diese  drei  Personen  eine  nach 
der  andern  ohne  ersichtliche  Gesetzmässigkeit;  jede  giebt  vor,  das  wirkliche 
Fräulein  Beauchamp  zu  sein  und  beansprucht  für  sich  das  Recht,  mit  Aus- 
schluss der  andern  zu  leben.  Jede  verdammt  die  Thaten  und  Gesten  der 
andern,  widersetzt  sich  ihrer  Gegenwart  und  duldet  nicht,  dass  man  sie 
berücksichtige.  Diese  drei  Persönlichkeiten  werden  nun  ausführlich  be- 
schrieben, ihr  gegenseitiges  Verhältnis  wird  klar  gelegt,  sodann  versucht 
der  Vortragende,  diese  Thatsachen  auf  Grund  mehrjähriger  Beobachtung 
psychologisch  zu  erläutern  und  zu  begründen,  und  giebt  zum  Schlüsse  eine 
Reihe  allgemeiner  Gesetze,  die  sich  aus  diesem  Falle  entnehmen  lassen. 

Gross  ist  die  Zahl  der  in  den  einzelnen  Abteilungen  gehaltenen  Vor- 
träge.   Am  wichtigsten  für  uns  sind  die  der  zweiten  Abteilung,  die  sich 


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514 


Bericht*  und  Besprechungen. 


mit  introspektiver  Psychologie  in  ihren  Beziehungen  zur  Philosophie  be- 
schäftigten. 

Dr.  Jean  Philippe  sprach  über  „das  Problem  des  Bewusstseins  in  der 
experimentellen  Psychologie",  und  machte  auf  die  Schwierigkeit  aufmerk- 
sam, die  Angaben  unseres  Bewusstseins  zu  kontrollieren.  Er  hat  dabei 
nicht  etwa  jene  alten  Sinnestäuschungen  im  Sinne,  wo  der  Fehler  auf  der 
Auslegung  des  Eindruckes  beruht,  sondern  unmittelbare  Irrtümer,  z.  B.  der 
Art,  das8  man  eine  lange  Reaktionszeit  kurz,  und  umgekehrt  eine  kurze 
Zeit  dauernde  Reaktion  lang  rindet. 

Pierre  Tisserand  wandte  sich  gegen  die  beiden  über  das  Vergnügen 
aufgestellten  Theorien.  Die  Herbartianer  unterscheiden  zwei'  Arten:  die 
körperlichen  Vergnügungen  (Empfindungen)  und  die  sittlichen  (Gefühle), 
und  schreiben  beiden  verschiedene  Ursachen  zu,  nämlich  den  ersteren 
physiologische,  den  anderen  psychologische.  Diese  Ansicht  hat  Lehmann 
bekämpft,  indem  er  nur  physiologische  Ursachen  anerkennen  wilL  AI« 
wesentliches  Merkmal  des  Vergnügens  betrachtet  er  eine  Energieerhöhung, 
als  Merkmal  des  Schmerzes  eine  Energieverminderung.  Tisserand  ver- 
tritt nun  eine  Mittelrichtung. 

Edouard  Claparede,  der  schon  in  einer  Hanpteitznng  für  Festsetzung 
einheitlicher  Bezeichnungen  der  wichtigsten  psychologischen  Begriffe  ein- 
getreten war,  lieferte  einen  ersten  Beitrag  zu  dem  was  er  angeregt  hatte, 
indem  er  über  die  Definition  der  Wahrnehmung  handelte.  Er  stellt  zunächst 
einen  bemerkenswerten  Unterschied  in  der  Art  fest,  in  welcher  die  Engländer 
und  Franzosen  einerseits  und  die  deutschen  andererseits  die  psychischen 
Erscheinungen  in  Unterabteilungen  zerlegen.  Die  ersteren  beachten  dabei 
mehr  den  Koeffizienten  der  Realität,  die  letzteren  dagegen  fragen  mehr 
nach  Einfachheit  oder  Zusammengesetztheit.  Aus  zwei  Thatsachen  besteht 
eine  Wahrnehmung:  1.  Sinneseindrücken  und  assoziierten  oder  assimilierten 
erworbenen  Bildern,  welche  ein  psychisches  Ganzes  bilden;  2.  Erkenntnis 
dieses  psychischen  Ganzen  als  nicht  einen  Teil  des  Ich  bildend.  Eine  solche 
psychische  Thatsache  kann  nun  entweder  der  Wahrnehmung  eines  räum- 
lichen Gegenstandes  entsprechen,  oder  einer  Operation  des  Geistes  bei  Ge- 
legenheit eines  Sinneseindruckes  (Vergleichung,  Schätzung  der  Dauer  u.  dgl.). 
Soll  man  den  Ausdruck  Wahrnehmung  nur  auf  den  ersten  Fall  beschränken? 
Dann  müsste  man  darauf  verzichten  zu  sagen  „eine  Entfernung,  die  Zeit", 
u.  dergl.  wahrnehmen.  Oder  soll  man  den  Ausdruck  Wahrnehmung  im 
weiteren  Sinne  nehmen?  —  Jeder  Sinneseindruck  ist  Ausgangspunkt  einer 
langen  Reihe  von  Bildern,  homosensoriellen,  Bewegungsbildern,  Bildern 
anderer  Sinne  u.  s.  w.,  welche  sich  assoziieren  und  assimilieren,  so  dass 
man  oft  nicht  weiss,  ob  sie  wahrgenommen  oder  vorgestellt  sind.  Da  man 
nicht  diese  ganze  Kette  als  Wahrnehmung  bezeichnen  kann,  so  muss  man 
nur  die  Anwesenheit  einer  gewissen  Anzahl  assoziierter  Bilder  als  kenn- 
zeichnend für  die  Wahrnehmung  zulassen.  Für  das  Gesicht  und  das  Gefühl 
würde  es  sich  empfehlen,  nur  diejenigen  Bilder  zu  betrachten,  welche  ums 
den  Gegenstand  als  einen  Körper  im  Räume  erkennen  lassen.  Wie  steht 
es  aber  mit  Geschmack,  Gehör,  Geruch?  —  Zwei  Wege  sind  möglich: 


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Met  ich  U  und  Besprechungen. 


515 


Entweder  verständigt  man  rieh  über  du,  was  Wahrnehmung  ist,  nnd  dann 
wird  es  nicht  schwierig  sein,  eine  befriedigende  Definition  zu  finden;  oder 
das  Gegenteil  findet  statt,  und  dann  wird  es  nützlich  nnd  interessant  sein, 
genau  die  Unterschiede  in  der  Auffassung  der  einzelnen  Autoren  von  diesem 
Grundbegriffe  kennen  zu  lernen. 

Fräulein  Marie  Boeuf  lieferte  einen  „Beitrag  zur  psychologischen 
Theorie  der  Zeit",  welcher  vollständig  in  der  Revue  philosophique,  decembre 
1900  veröffentlicht  ist.  Sie  zeigt,  dass  der  Ursprung  der  Zeitemptindung 
im  Organismus  zu  suchen  ist  als  Empfindung  eines  Nervenrythmus,  und 
dass  diese  beim  Menschen  um  so  vollkommener  ist,  je  mehr  er  sich  dem 
Tiere  nähert,  je  mehr  also  bei  ihm  die  höhere  Geistesthätigkeit,  welche  die 
automatischen  Verrichtungen  immer  stört,  ausgeschaltet  ist. 

Peillaube  erörterte  sodann  die  Beziehungen  zwischen  der  Aristotelischen 
Philosophie  nnd  der  experimentellen  Psychologie. 

In  höchst  schwungvollen  Worten  kennzeichnete  Eugen  v.  Schmidt 
„Die  verschiedenen  Richtungen  der  Weltanschauung",  deren  er 
drei  nannte:  Die  Welterklärung  durch  den  Stoff,  Materialismus;  2.  die  Welt- 
erklärung durch  die  Vernunft,  Rationallsmus;  3.  die  Welterklärung  durch 
den  Geist,  Spiritismus.  Der  Materialismus  ist  Wissenschaft,  weil  er  rieh 
auf  Allgemeingültiges  stützt,  er  ist  aber  nicht  philosophisch,  weil  er  kein 
letztes  Weltprinzip  anzugeben  vermag,  da  er  die  Frage  nach  dem  Woher? 
des  Stoffes  offen  lässt.  Der  Spiritismus  umgekehrt  ist  philosophisch,  weil 
sein  Weltprinzip  der  Geist,  ist  und  die  Philosophie  aus  dem  Geiste  stammt; 
da  aber  seine  Behauptungen  nicht  als  notwendig  und  allgemeingültig  auf- 
gestellt werden  können,  so  ist  er  nicht  wissenschaftlich.  Der  Rationalismus 
allein  ist  beides,  Wissenschaft  und  Philosophie,  weil  seine  Sätze  aus  all- 
gemeingültigen Erkenntnissen  fliessen  und  weil  sein  Weltprinzip,  die  Ver- 
nunft, die  Frage  nach  einem  höhern  Prinzip  ausschliesst,  da  eben  die  Frage 
nach  dem  höchsten  Prinzip  aus  der  Vernunft  entspringt.  Im  weiteren 
Verlauf  seiner  Verteidigung  des  Rationalismus  erörtert  der  Redner  besonders 
die  Frage  nach  dem  Unterschiede  zwischen  Tier  und  Mensch  und  zwischen 
Mensch  und  Affe,  wobei  er  eine  allmähliche  Entstehung  sowohl  desIndividuums 
als  der  Arten  leugnet  und  vielmehr  eine  sprunghafte  behauptet.  Den 
wesentlichen  Unterschied  zwischen  Tieren  und  Pflanzen  sieht  er  darin,  dass 
die  ersteren  Bewusstsein  und  Empfindung  haben,  die  letzteren  nicht.  Um 
zu  zeigen,  dass  zwischen  dem  Menschen  und  den  Affen  ein  Wesens-,  nicht 
nur  ein  Gradunterschied  bestehe,  zieht  der  Vortragende  einen  Vergleich  der 
Leistungen.  Der  Mensch  kann  auf  eine  etwa  8000jährige  gewaltige  hoch- 
ansteigende Geschichte  und  EntWickelung  zurückblicken,  während  der  Affe 
nach  wie  vor  ein  Baum-  oder  Klettertier  ist,  das  sich  auf  allen  Vieren  auf 
dem  Boden  bewegt.  Die  Werke  des  Menschen  bezeugen  also,  dass  er  Geist 
*st.  Und  zwar  ist  unter  Geist  zu  verstehen  „das  Vermögen,  nicht  nur  nach 
einer,  sondern  auch  nach  der  entgegengesetzten  Seite,  also  reflektierend  zu 
denken"  oder,  was  dasselbe  ist,  das  Denken  zu  denken,  worauf  die  Fähig- 
keit beruht,  das  Ich  als  Objekt,  das  zugleich  mit  dem  Subjekt  identisch 
ist,  also  den  Begriff  des  Ich  zu  denken,  überhaupt  aus  den  Vorstellungen 


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516 


Berichte  und  Besprechungen. 


Begriffe  zu  abstrahieren  und  aus  diesen  die  Wortsprache  zu  bilden,  endlich 
die  Vernunft  als  Kategorienreich  zu  begreifen.  Man  kann  also  den  Geist 
auch  als  Vernunftkraft  definieren,  durch  welche  die  Vernunft  selbstbewußt 
oder  persönlich  geworden  ist. 

Diese  wenigen  Proben  mögen  genügen,  um  ein  Bild  von  der  ausser- 
ordentlich vielseitigen  Arbeit  des  Kongresses  und  der  Mannigfaltigkeit  der 
behandelten  Fragen  zu  bieten.  Es  seien  nur  noch  einige  der  wichtigsten 
Vorträge  dem  Titel  nach  angeführt. 

Es  behandelte:  Paul  Carus:  „Identität  und  Kontinuität  des  Ich44; 
James  Sully:  „Die  Psychologie  des  Kitzeins44;  J.  P.  Durand:  Psychologie 
und  Metaphysik;  P.  Bulliot  (in  der  Abteilung  für  experimentelle  Psychologie 
und  Psychophysik):  Die  Klassifikation  der  Charaktere  and  die  Physiologie 
des  Menschen;  H.  Pieron:  Deutung  der  Fälle  anormaler  Schnelligkeit  in  der 
Hervorrufung  von  Bildern;  in  der  Abteilung  für  pathologische  Psychologie 
und  Psychiatrie:  Reeling  Brouwer:  Pathologische  AutoeuggestibUität  als 
Merkmal  der  Hysterie;  Antoine  Marro:  Verhütung  der  Erregungen,  welche 
zur  Entartung  führen;  Jose  de  Magathaes:  Psychopathie  der  fixen  Ideen. 
Aus  der  fünften  Abteilung  (für  Hypnotismus,  Buggestion  u.  dgl.)  seien  er- 
wähnt: Alfred  Grafel  Ein  neuer  Gedankenleser,  Beitrag  zum  Studium  der 
Hyperästhesie,  und  Theophile  Pascal:  Dualität  der  Bewusstseinsträger 
und  endlich  brachte  die  sechste  Abteilung  (für  Sozial-  und  Kriminal- 
psychologie) unter  andern  noch  einen  sehr  interessanten  Vortrag  von 
Nicolas  de  Seeland:  Über  die  Ursachen  der  ungleichen  Kriminalität  der 
Geschlechter. 

Hiermit  schliessen  die  Sitzungsberichte. 

Als  Ort  des  nächsten  Psychologenkongresses  wurde  in  der  letzten 
Hauptsitzung  Rom,  und  als  Zeit  das  Jahr  1904  festgesetzt.  Nachdem  denn 
noch  der  Internationale  Propaganda-Ausschuss  für  den  fünften  Psychologen  - 
kongress  gewählt  worden  war,  dem  deutscherseits  die  Professoren  Ebbing- 
haus, Flechsig,  Hering,  Külpe,  Lipps,  Freiherr  von  Schrenk-Notzing,  Stumpf 
und  Wundt  angehören,  erklärte  der  Vorsitzende  den  vierten  Psychologen 
kongress  für  geschlossen. 


Rudolf  Lehmann,  Erziehung  und  Erzieher,  8°.  844  Seiten. 

Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung  190  1. 

Wenn  das  Buch  auch  in  überaus  ansprechender  Form  geschrieben  ist 
und  überall  den  humanistisch  gebildeten  und  empfindenden  Pädagogen  ver- 
rät, und  wiewohl  es  prächtige  historische  Rückblicke  gewährt,  Zusammen- 
hänge klarlegt  und  manche  interessante  Gesichtspunkte  aufweist,  befriedigt 
es  den  nach  neuer  Erkenntnis  und  neuen  Wegen  ausspähenden  Pädagogen 
nur  wenig;  ja  es  zeigt  vielfach  eine  gewisse  Dürftigkeit  und  Oberflächlich- 
keit in  der  Auffassung  und  Behandlung  pädagogischer  Probleme.  Die 
psychologische  und  hygienische  Forschungsarbeit  der  letzten  Dezennien 
kommt  gar  nicht  zu  ihrem  Recht,  und  hierin  zeigt  die  Schrift  einen  merk 


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517 


liehen  Abstand  von  denen  der  grossen  Pädagogen  des  verflossenen  Jahr- 
hunderts. 

Herbarts  Didaktik  mit  ihrem  Begriffsskelett  erscheint  dem  Verfasser 
vollständig  verfehlt,  wie  ein  starrer,  einengender  Panzer,  aus  dem  man  das 
allgemein  Menschliche  und  Gefühlsmässige  herauslösen  müsse. 

L.  macht  den  Anhängern  Herbarts  zum  Vorwurf,  dass  sie  zwischen  den 
echten  und  lebendigen  Werten  und  den  erstarrten,  unfruchtbaren  Formen 
nicht  sorgfältig  genug  unterschieden  hätten.  Er  giebt  zu,  dass  die  Erziehung 
der  psychologischen  Erfahrung  nicht  entbehren  könne,  vielmehr  fortwährend 
derselben  bedürfe,  doch  will  er  das  Ideal,  das  Herbart  und  Pestalozzi  vor- 
schwebte, „den  Menschen  mit  psychologischer  Kunst  und  nach  den  Gesetzen 
des  psychischen  Mechanismus  zu  deutlichen  Begriffen  zu  führen  etc.",  als 
nicht  erreichbar  gekennzeichnet  wissen.  Dazu  wäre  ja  nötig,  dass  die 
Psychologie  als  fertige  Wissenschaft  und  nicht  erst  als  beginnende  Forschung 
vor  uns  stände.  Für  spätere  Zeiten  macht  Verfasser  keine  Voraussagen,  nur 
wird  nach  seiner  Meinung  das  Gefühls-  und  Triebleben  sich  niemals  den 
Blicken  entschleiern. 

Die  modernen  psychologisch-pädagogischen  Versuche  erscheinen  ihm 
nicht  nur  überflüssig,  sondern  auch  die  Pädagogik  zu  gefährden.  Dabei 
übersieht  L.  aber  vollständig,  dass  alle  pädagogischen  Massnahmen,  gleich- 
viel welcher  Art.  im  psychologischen  Sinne  mehr  oder  minder  gewagte 
Experimente  sind,  deren  Bedingungen  nicht  in  exakter  Weise  im  voraus 
festgelegt  sind,  deren  Resultate  grobe  Täuschungen  veranlassen  können. 

Nach  Lehmann  bedarf  die  Erziehung  auf  Schritt  und  Tritt  des  Irratio- 
nalen und  Intuitiven:  sie  bleibt  eine  „freie"  Kunst.  Schade,  dass  diese 
„freie"  Kunst  nur  allzu  oft  versagt  und  dass  der  Erzieher  sich  genötigt 
sieht,  statt  irrationaler  doch  rationale  Formeln  einzuführen!  Offenbar  schätzt 
Verfasser  die  Geschichte  der  Pädagogik  höher  als  die  pädagogische  Wissen- 
schaft selbst.  Man  darf  sich  nicht  verwundern,  wenn  die  psychologischen 
Abschnitte  dieses  Buches  über:  „Vererbung  und  Erziehung",  „Gewöhnung 
und  Erziehung",  „Schulzucht  und  Unterrichtsweise",  wenig  Positives  und 
Neues  von  pädagogisch-psychologischem  Gesichtspunkte  enthalten. 

Statt  naturwissenschaftlich  -  psychologischer  Betrachtungen  und  Auf- 
schlüsse bietet  die  Schrift  oft  geistreiche  Apercus  und  artige  Causerien. 

Immerhin  kann  das  Buch  dankbare  Leser  finden  —  freilich*  wird  es 
sich  in  den  Kreisen  der  Volksschullehrer  wegen  der  eigentümlichen  Beur- 
teilung, die  es  ihnen  zu  teil  werden  lässt,  kaum  Eingang  verschaffen;  der 
Oberlehrer  aber,  den  Verfasser  selbst  als  einen  Mann  hinstellt,  bei  dem  das 
Bedürfnis  nach  Erkenntnis  des  Knaben  nur  gering  ist,  wird  aus  dem  Buche 
in  dieser  Richtung  nicht  viel  profitieren  können. 

Berlin.  H.  Koch. 


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Bericht*  und  Besprechungen. 


Die  Pädagogische  Pathologie  im  Seminarunterricht 
Von  Dr.  Alfred  Spitner.  Gotha,  Verlag  von  E.  F. 
Thienemann.  1902.  (Beiträge  zur  Lehrerbildung 
und  Lehrerfortbildung.) 

Der  Autor  entwirft  hier  vor  seinen  Fachgenossen  in  sichern  Zügen 
ein  exaktes  Bild  der  pädagogischen  Pathologie  nach  ihrem  geschichtlichen 
Werdegange,  ihrer  pädagogischen  Bedeutung,  ihrem  heutigen  Stande  in- 
bezug  auf  Ziele  und  Methodik,  wobei  er  es  an  zutreffenden  und  anregenden 
polemischen  Auseinandersetzungen  nicht  fehlen  lässt.  Wenn  man  heutigen 
Tages  selbst  in  engeren  Fachkreisen  der  pädagogischen  Psychologie  noch 
mit  Gleichgiltigkeit  oder  mit  Spott  begegnet,  so  kann  es  nicht  wunder 
nehmen,  dass  für  die  pädagogische  Pathologie  ein  Verständnis  selten  anzu- 
treffen ist,  und  dass  man  über  sie  mit  Phrasen  hinwegzukommen  versucht. 
Seitdem  Közle  die  pädagogische  Pathologie  in  der  Erziehungskunde  des 
19.  Jahrhunderts  behandelt  hat,  wissen  wir,  dass  die  bedeutendsten  Pädagogen 
die  Fehler  der  Kinder  beobachtet  und  in  den  pädagogischen  Kalkül  einge- 
stellt haben.  Bei  Spitner  kommt  es  nun  darauf  an,  die  Gesichtspunkte,  nach 
denen  dies  geschehen  ist,  zu  sondern. 

Die  biblisch  -  theologische  Ueberzeugung  von  der  allge- 
meinen Erbsünde  scheint  die  pädagogische  Pathologie  überflüssig  zu  machen, 
aber  es  scheint  nur  so.  Denn  es  ist  Thatsache,  dass  die  religiöse  Bildsamkeit 
des  Kindes  zuweilen  derart  gehemmt  ist,  dass  das  Erlösungsbedürfnis  in  ihm 
nicht  zur  Entwicklung  gelangt. 

Der  soziologische  Gesichtspunkt  macht  die  Fehler  der  Kinder 
von  äusseren  gesellschaftlichen  Zuständen  und  Verhältnissen  abhängig,  von 
bestimmten  Kulturzuständen  und  Erziehungsmassnahmen.  Pestalozzi  nimmt 
ihn  zum  Ausgangspunkt  für  seine  pädagogischen  Reformen,  und  da  er  Natur 
und  Umwelt  als  blinde  und  zufällige  Erziehungsfaktoren  betrachtet,  so 
fordert  er,  dass  die  wahrhafte  Erziehung  regelnd  und  führend  an  die  Bildungs- 
anfänge des  Kindes  anknüpfen  solle. 

Erst  der  psychologische  Gesichtspunkt,  von  dem  aus 
die  Kinderfehler  als  wissenschaftlich  feststellbare  und  zu  erklärende  That- 
sachen  angeschen  werden,  giebt  pädagogisch  befriedigende  Ausblicke  auf  ihre 
sachgemässe  Behandlung  und  Heilung.  Aber  dass  dieser  Gesichtspunkt  noch 
nicht  genügend  gewürdigt  wird,  dafür  giebt  es  zahlreiche  Beweise  aus  der 
Schul-  und  Erziehungspraxis.  Man  wendet  lieber  Gewaltkuren  an,  ehe  man 
sich  auch  nur  zu  der  Idee  einer  exakt  wissenschaftlichen  Diagnose  und 
Therapie  bekennt. 

Die  physiologisch  -  medizinische  Richtung  in  der 
pädagogischen  Pathologie  sucht  die  gehemmte  Bildungsfähigkeit  des  Kindes 
in  einer  organischen  Erkrankung,  deren  Beseitigung  angestrebt  werden  muss; 
dabei  wird  der  Arzt  mit  dem  Lehrer  Hand  in  Hand  gehen  müssen,  um  den 
Zusammenhang  der  geistigen  und  körperlichen  Anormalität  festzustellen.  In 
Betracht  kommen  nach  S.: 

1.  Fehler,    welche   die   physische    Erziehung   direkt  beeinträchtigen 


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Berichte  und  Besprechungen. 


519 


und  von  ihr  besondere  hygienische  und  sanitäre  Rücksichten  und 
Massnahmen  fordern. 

2.  Fehler,  welche  die  Brauchbarkeit  des  Körpers  für  die  geistigen 
Bildungszwecke  einschränken. 

3.  Psychische  Begleiterscheinungen  von  körperlichen  Krankheiten. 

4.  Störungen,  Krankheiten,  Missbildungen  in  den  Gebieten  des  Gehirn, 
und  Nervensystems  mit  ausgesprochen  psychischen  Symptomen, 
ohne  dass  diese  die  Bildungsfähigkeit  des  betreffenden  Kindes,  bez. 
seine  Zurechnungsfähigkeit  aufheben,  sogenannte  Zwischenzustände 
zwischen  Geistesgesundheit  und  vollendeter  Geistesstörung. 

5.  Idiotische  Zustände  (Blödsinn,  Schwachsinn,  Imbecillität),  soweit 
noch  Bildungsfähigkeit  vorhanden  ist 

An  diese  Spezialdisziplin  schliesst  sich  zwanglos  das  grosse  Gebiet  der 
Schulgesundheitspflege  an,  auf  welchem  dem  Pädagogen  dankenswerte  Auf- 
gaben gestellt  sind.  Man  denke  an  die  Feststellung  der  geistigen  Leistungs- 
fähigkeit eines  Kindes  nach  der  qualitativen  und  quantitativen  Seite  hin, 
an  die  Aufstellung  von  normalen  Lehr-  und  Stundenplänen,  in  denen  Arbeit, 
Spiel  und  Ruhe  angemessen  verteilt  sind,  an  die  gesamte  geistige  Hygiene 
u.  a.  — 

Es  ist  ein  erfreuliches  Zeichen  für  den  vorwärtsstrebenden  Pädagogen, 
dass  die  preussische  Unterrichtsverwaltung  die  pädagogische  Psychologie 
und  Pathologie  in  den  Lehrplan  der  Lehrerseminarien  aufgenommen  hat. 
Möchten  sie  bald  in  dem  Sinne  Spitners  sich  hier  einbürgern  und  in 
lebendige  Kraft  für  die  heranwachsende  Jugend,  für  Staat  und  Gesellschaft 
umgesetzt  werden. 

Berlin.  Grün. 


Jahrbuch  der  schweizerischen  Gesellschaft  für 
Schulgesundheitspflege.  Zürich.  Druck  von  Zür- 
cher k  Furrer.  I.  Jahrgang,  1000.  2  Teile.  239  S. 
Am  Sonntag  den  8.  Oktober  1899  wurde  auf  einer  Versammlung  in 
der  Aula  des  Gymnasiums  zu  Bern  eine  Vereinigung  gegründet,  die  sich  den 
Namen  „Schweizerische  Gesellschaft  für  Schulgesundheitspflege"  beilegte 
und  den  Meinungsaustausch  über  schulhygienische  Fragen  und  die  Verbrei- 
tung und  Förderung  der  Schulhygiene  in  der  Schweiz  bezweekte.  Diesen 
ihren  Zweck  sucht  die  Gesellschaft  durch  folgende  Mittel  zu  erreichen: 
1.  durch  Veranstaltung  von  Versammlungen  der  Gesellschaft,  2.  durch  Her-  " 
ausgäbe  eines  schweizerischen  Jahrbuches  für  Schulgesundheitspflege,  3.  durch 
Schaffung  einer  Zentralstelle  für  Schulgesundheitspflege,  4.  durch  Bildung 
von  Lokalsektionen,  5.  durch  weitere  Anordnungen  und  Unternehmungen, 
welche  dem  Gesellschaftszwecke  dienen  können  (öffentliche  Vorträge,  Publi- 
kationen, Instruktionskurse,  schulhygienische  Ausstellungen,  Preisauf- 
gaben etc.) 

Dieses  oben  schon  erwähnte  Jahrbuch,  dessen  1.  Jahrgang  1900  uns 
vorliegt,  wollen  wir  unserer  weiteren,  näheren  Besprechung  zu  Grunde 
legen.    Zuerst  erhalten  wir  einen  genauen  Bericht  über  die  Gründung  der 


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520 


Berichte  und  Besprechungen. 


Gesellschaft,  von  der  ersten  Besprechung  einzelner  Herren  im  November 
1898  bis  zu  der  schon  eingangs  erwähnten  konstituierenden  Versammlung. 
Auf  dieser  Versammlung  referierten  zwei  Herren,  der  Stadtarzt  Dr.  Müller. 
Zürich,  und  Dr.  Bourquin,  Schularzt  von  La  Chaux-de-Fonds,  ersterer  in 
deutscher,  letzterer  in  französischer  Sprache  über 

„Den  heutigen  Stand  der  Schularztfrage".  Dr. 
Müller  geht  von  dem  Grundsatz  aus,  dass  einzelne  das  Problem  der 
Vervollkommnung  der  Schulverhältnisse  nicht  lösen  können,  sondern  dass 
Lehrer,  Aerzte  und  Eltern  vereint  an  ihrem  Ausbau  unaufhörlich  arbeiten 
müssen.  Er  umschreibt  dann  in  grossen  Zügen  das  Feld,  das  sich  der 
Thätigkeit  des  Schularztes  bietet.  Er  verlangt,  dass  die  Schulkinder  nicht 
nur  beim  Eintritt  in  die  Schule  untersucht  werden,  sondern  dass  eine  dauernde 
ärzüiche  Aufsicht  in  den  späteren  Schuljahren  durch  periodische  Besuche 
stattfinde,  denn  (Gründe  lägen  genug  dafür  vor)  die  Zahl  der  kränklichen 
Schulkinder  nimmt  bis  zum  13.  Jahre  konstant  zu  und  erreicht  zu  dieser 
Zeit  zuweilen  ein  Maximum  von  40 — 50  %  der  Kinder.  Auch  meint  er, 
dass  der  Staat  in  gewisser  Weise  für  das  Wohlbefinden  der  Kinder,  die  er 
zum  Schulbesuch  zwingt,  zu  sorgen  hätte,  und  dass  es  doch  im  eigensten 
Interesse  des  Staates  läge,  eine  gesunde  und  kräftige  Generation  heranzu- 
ziehen. Besonders  hebt  er  die  Notwendigkeit  einer  aufmerksamen  ärzt- 
lichen Untersuchung  und  Beobachtung  der  geistig  schwachen  und  fehler- 
haft beanlagten  Kinder  und  der  Repetenten  in  allen  Schulen  hervor,  weil 
durch  die  zweckmässige  Behandlung  derselben  viel  Gutes  zu  erreichen  sei. 
Mit  dieser  ständigen  Beobachtung  der  Schulkinder,  in  den  Städten  wie 
auf  dem  Lande,  müsse  eine  gewissenhafte  und  strenge  Ueberwachung  der 
hygienischen  Verhältnisse  der  Schullokalitäten  Hand  in  Hand  gehen,  denn 
auch  dort,  wäre  mit  wenig  Mitteln  aber  einigem  Verständnis  und  gutem 
Willen  vieles  zu  erreichen.  Allein  die  Arbeit  des  Schularztes  würde  von 
wenig  Erfolg  gekrönt  sein,  wenn  nicht  die  Lehrerschaft  mit  zugreifen 
würde,  wozu  jedoch  eine  spezielle  schulhygienische  Vorbildung  des  Lehrer- 
standes nötig  sei.  Zum  Schluss  spricht  er  noch  über  die  Schularztein- 
richtung in  Wiesbaden,  die  er  vorläufig  noch  für  die  beste  hält. 

Dr.  Bourquin  verlangt  ebenfalls  die  Beihilfe  des  Staates  bei  der 
hygienischen  Erziehung  der  Schuljugend  und  geht  dann  noch  auf  einige 
Punkte  der  Thätigkeit  des  Schularztes  spezieller  ein.  Er  stimmt  voltkommen 
mit  den  von  Dr.  Müller  aufgestellten  Thesen  überein.  Nach  der  darauf 
folgenden  Diskussion  über  diese  Thesen,  werden  sie  mit  einer  von  Erismann, 
Zürich,  vorgeschlagenen  Aenderung  .von  der  Versammlung  angenommen. 

In  einem  längeren  Aufsatz  spricht  der  Professor  der  Hygiene  an  der 
Universität  zu  Bern  Dr.  G  i  r  a  r  d  über  die  „Sittliche  Gefähr- 
dung der  Jugend"  (De  Tenfance  en  peril  moral.  Untertitel:  Enfance 
moralement  abandonnee)  vom  medizinischen  Standpunkt  aus  (consideree 
au  point  de  vue  medical).  Nachdem  er  uns  erst  eine  genaue  Definition 
seines  Themas  gegeben  hat,  nämlich  dass  er  nur  die  „sittlich  verwahrlosten 
Kinder"  im  engsten  Sinne  des  Wortes  und  ohne  Rücksicht  auf  das  Interesse, 
welches  sie  auf  den  Pädagogen  und  Kriminalisten  ausüben,  xu  nehmen  behandeln 


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Strickte  und  Besprechungen. 


521 


wolle,  bespricht  er  die  Ursachen  der  moralischen  Gefahren  für  die  Kindheit  und 
teilt  sie  in  3  Hauptgruppen  ein.  Erstens  in  Ursachen,  die  ihren  Ursprung  in  der 
Familie  zu  suchen  haben  und  veranlasst  werden  können  durch  ein  regel- 
loses, unsittliches  und  lasterhaftes  Leben  der  Eltern,  durch  in  der  Familie 
herrschendes  Elend,  durch  körperliche  und  geistige  Gebrechen  und  Krank- 
heiten der  Eltern,  durch  ein  Vagabondenleben,  Sterben  oder  Abwesenheit, 
Trennung  oder  Scheidung  der  Eltern,  durch  uneheliche  Abstammung  und 
durch  Ausbeutung  der  kindlichen  Arbeitskraft  Zweitens  in  Ursachen,  die 
durch  den  verderblichen  Einfluss  dritter  Personen  bedingt  sind,  wenn 
z.  B.  die  Eltern  durch  irgend  welche  Gründe,  vielleicht  Beschäftigung  oder 
Broterwerb,  verhindert  sind,  sich  um  die  Erziehung  ihrer  Kinder  zu  kümmern, 
and  deshalb  gezwungen  sind,  dieselben  der  Fürsorge  dritter  Personen,  wie 
unzuverlässige  Dienstboten,  Aftermieter  u.  s.  w.,  zu  überlassen.  Drittens  in 
Ursachen,  die  in  den  Kindern  selbst  liegen,  und  zwar  entweder  durch  körper- 
liche oder  durch  psychopathische  Gebrechen  hervorgerufen  werden  können. 
Weiter  bespricht  er  dann  die  Folgen,  die  sich  daraus  für  die  Kinder  er- 
sehen, und  entweder  eine  Verschlimmerung  der  körperlichen  Gesundheit  oder 
des  seelischen  und  moralischen  Zustandes  bedeuten  oder  auch  sozialer  Natur 
sein  können.  Als  Massnahmen  zur  Bekämpfung  der  Ursachen  und  der 
Folgen  giebt  er  an:  den  Kampf  gegen  den  Alkoholismus,  Entziehung  der 
väterlichen  Gewalt  bei  unzuverlässigen  und  brutalen  Eltern,  Eingreifen  des 
Staates  dort,  wo  Kinder  sich  selbst  oder  dem  verderblichen  Einfluss  dritter 
Personen  überlassen  sind,  durch  Unterbringung  in  ordentlichen  Familien 
oder  öffentlichen  oder  privaten  Erziehungsanstalten,  eventuellen  Wechsel  in 
diesen  Anstalten  und  eine  allgemeine  Organisation  und  Beaufsichtigung 
all  dieser  Erziehungsinstitute.  Zum  Schluss  giebt  uns  Girard  noch  kurz 
einige  Daten  über  das,  was  in  einzelnen  Ländern  in  dieser  Hinsicht  schon 
gethan  und  erreicht  worden  ist. 

Ueber  „Die  hygienischen  Anforderungen  an  den 
Stundenplan"  schreibt  Rektor  Dr.  Werder  aus  Basel.  Er  sagt,  da 
wir  die  Kinder  zwingen,  gerade  die  Zeit,  die  die  wichtigste  für  ihre  Ent- 
wicklung ist,  auf  der  Schulbank  zuzubringen,  so  sei  es  wohl  auch  Pflicht, 
eine  möglichst  gedeihliche  Entwicklung,  geistige  wie  körperliche,  zu  fördern 
und  nicht  zu  verhindern;  deshalb  will  er  versuchen  die  Normen  festzustellen, 
nach  denen  unter  Berücksichtigung  der  in  Betracht  kommenden  Faktoren, 
wie  Hygiene,  Unterrichtstechnik  und  weitere  faktische  Verhältnisse,  der 
Stundenplan  zu  ordnen  sei.  So  geht  er  von  der  Besprechung  der  Stunden- 
zahl im  Plane  aus  und  meint,  dass  das  Durchschnittsmass  der  Stunden  im 
ersten  Schuljahr,  also  meistens  dem  sechsten  Lebensjahre,  entschieden  zu 
hoch  sei  und  von  20  auf  ein  Maximum  von  18  wöchentlich  reduziert  werden 
roüsste,  denn  eine  grössere  Freiheit  und  Bewegung  im  Freien  verbürge  eine 
grössere  Frische  des  zu  Unterrichtenden  und  begünstige  auch  die  Aus- 
bildung eines  klaren,  festen,  unerschütterlichen  Willens,  was  den  Mann 
doch  erst  zum  rechten  Manne  macht.  Ferner  müsste  wenigstens  die  Hälfte 
der  Nachmittage  vom  Unterricht  frei  bleiben,  und  die  von  Jahr  zu  Jahr 
erfolgende  Zunahme  der  Stundenzahl  in  den  8  obligatorischen  Schuljahren 
nicht  mehr  als  8  betragen.  Das  würde  allerdings  eine  Abrüstung  ^«deuten,  die 


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Berichte  und  Besprechungen. 


aber  nur  dann  von  Wert  wäre,  wenn  Knaben  und  Mädchen  dafür  ins  Freie 
kämen.  Sollte  nun  aber  diese  Entlastung  eine  Zunahme  des  Privatunterrichts, 
z.  Ba  Musikstunden  u.  s.  w.,  wie  sie  Mode,  Gewohnheit,  Uebereifer  und  Unver- 
stand den  Kindern  oft  aufzwingen,  bewirken«  so  würde  hiergegen  der  Haus- 
arzt der  berufenste  Kämpfer  sein.  Dann  kommt  er  auf  die  eigentliche  Anord- 
nung des  Stundenplanes  zu  sprechen;  er  verlangt  natürlich,  dass  diejenigen 
Lehrstunden,  die  starke  Anforderungen  an  Nachdenken  und  Gedächtnis 
stellen,  möglichst  auf  den  Vormittag  und  auf  die  ersten  Stunden  zu  legen 
seien  und  hält  den  Beginn  der  Schule  im  Sommer  um  7  Uhr  aus  verschiedenen 
Gründen  für  zu  frühzeitig.  Er  stellt  dann  noch  folgende  Bedingungen  auf: 
das  Maximum  aufeinanderfolgender  Stunden  dürfe  nicht  über  4  gehen, 
zwischen  Vor-  und  Nachmittagsunterricht  müsste  eine  Pause  von  mindestens 
2  Stunden  eintreten,  dasselbe  anstrengende  Fach  (Mathematik,  fremde  Spra- 
chen) dürfe  nie  zwei  unmittelbar  nacheinander  folgende  Stunden,  ordent- 
licher Weise  überhaupt  nicht  zweimal  am  gleichen  Tage  gelehrt  werden, 
die  Hausaufgaben  seien  auf  ein  bestimmtes  Mass  zu  beschränken,  über 
Mittagszeit  dürften  keinerlei  Aufgaben  gegeben  werden,  die  Stunden  eines 
Faches  seien  in  angemessenen  Zwischenräumen  anzusetzen.  Wenn  dann 
noch  für  einen  gewissen  Wechsel  im  Unterricht,  durch  sachgemässe  Legung 
des  technischen  Unterrichts  wie  Turnen  etc.  gesorgt  würde,  so  wäre  das 
Möglichste  gethan.  Bei  der  Besprechung  der  Pausen  zwischen  den  einzelnen 
Stunden,  meint  er  ja  auch,  dass  eine  Zunahme  der  Pausen  gemäss  der  fort- 
schreitenden Ermüdung  das  Folgerichtigste  sei,  dass  es  aber  wegen  der 
Aufrechterhaltung  der  Disziplin  besser  sei,  durch  Gewährung  von  viertel- 
stündigen Pausen  dem  jungen  Volke  ausreichende  Gelegenheit  zur  Erholung 
zu  geben.  Zuletzt  kommt  Dr.  Werder  noch  auf  die  Ferien  zu  sprechen 
und  giebt  seine  Ansicht  dahin  kund,  dass  die  grossen  Ferien,  wie  sie  jetzt 
liegen,  unangebracht  seien,  weil  dadurch,  dass  sie  am  Schlüsse  der  Schul- 
arbeit liegen,  das  Uebel  des  Vergessens  in  ganz  hervorragendem  Masse  be- 
günstigt wird,  auch  hält  er  es  für  die  Gesundheit  der  Schuljugend  viel  zweck- 
mässiger, wenn  die  Ferien  auch  in  ihrer  Länge  mehr  nach  Massgabe  der 
Jahreszeiten  in  entsprechenden  Abständen  durch  das  Jahr  hin  verteilt  werden. 
So  stellt  er  denn  folgende  Forderung  auf:  für  alle  Schulen,  höhere,  mittlere 
und  Unterschulen,  gleichmässig  sollte  das  Mindestmass  der  ordentlichen 
Ferien  10  Wochen  betragen,  3  Wochen  im  Frühling,  4  im  Sommer,  2  im 
Herbst  und  eine  für  Weihnachten.  Im  weiteren  spricht  er  sich  noch  ganz 
energisch  gegen  die  sogenannten  Hitzeferien  aus.  Obwohl  sie  vom  hygieni- 
schen Standpunkt  sehr  erklärlich  seien,  so  seien  sie  dennoch  zu  verwerfen, 
weil  die  Erwartung  derselben  in  den  Kindern  eine  so  grosse  Unruhe  und 
Aufregung  hervorrufe  und  beim  Nichteintreten  eine  derartige  Enttäuschung 
Platz  greife,  dass  in  beiden  Fällen  ein  ordentlicher  Unterricht  unmöglich  ge- 
macht würde;  es  sei  also  der  Verlust  grösser  als  der  Gewinn,  der  durch  dieses 
Freigeben  erzielt  würde. 

In  dem  nächsten  Aufsatz  schreibt  Stadtbaumeister  A.  Geiser.  Zürich, 
über  „N  euere  städtische  Schulhäuser  in  Züric  h".  Nachdem 
er  uns  erst  die  einschlägigen  Bestimmungen  aus  der  Verordnung  betreffend 
<las  Volksschulwesen  des  Kantons  Zürich  vom  7.  Juli  1900  mitgeteilt  hat,  geht 


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er  zu  der  Besprechung  von  7  neueren  Schulbauten  über  und  sagt,  dass  für  die 
Lage  der  Schulräume  die  Ost-  resp.  Südost richtung  bis  jetzt  als  die  ge- 
eignetste erachtet,  ferner  dass  in  allen  Schulgebäuden  das  System  einseitiger 
und  zweiseitiger  Beleuchtung  der  Zimmer  durchgeführt  worden  sei.  Als 
Garderobenräume  sind  bisher  noch  immer  die  Korridore  benutzt  worden, 
jedoch  wird  man  wohl  noch  zur  Einrichtung  besonderer  Räume  für  diesen 
Zweck  greifen  müssen.  Von  besonderer  Wichtigkeit  bei  jedem  Schulhaus- 
bau hält  der  Verfasser  die  Frage  der  Heizung  und  Ventilation  und  empfiehlt 
wegen  der  Einfachheit  des  Betriebes  und  der  Leichtigkeit  des  Anpassens  an 
die  äusseren  Temperaturen  die  Zentralheizung,  und  zwar  hätten  sich  die  bei- 
den Systeme  der  Niederdruckdampfheizung  und  der  Niederdruckwarmwasser- 
heizung als  die  Besten  erwiesen.  Für  die  Ventilation,  die  ja  mit  der  Hei- 
zung eng  verquickt  ist  und  meistens  durch  diese  bewirkt  wird,  hält  er  die 
direkte  Zufuhr  der  Luft  von  aussen  am  vorteilhaftesten,  weil  dadurch  eine 
viel  bessere  Beschaffenheit  der  Luft  erzielt  werden  könne  als  bei  der  Lei- 
tung durch  die  meist  verunreinigten  Kanäle  in  den  Mauern.  Er  geht  dann 
weiter  auf  die  Abort-  und  Pissoiranlagen  des  längeren  ein  und  beschreibt  uns 
das  überall  angewendete  sogenannte  automatisch  wirkende  Schwemmsystem 
und  die  Oelpissoirs.  Nachdem  der  Verfasser  auch  noch  die  Einrichtung 
der  Brausebäder,  die  Art  des  Ausbaues  der  Schulgebäude,  die  Schulbankfrage 
und  die  Turnhallen  mit  ihren  inneren  Einrichtungen  besprochen  hat,  giebt  er 
uns  noch  eine  kurze  Uel>ersicht  über  die  Kosten  dieser  Schulhausbauten. 

In  Ergänzung  zu  diesem  Aufsatze  geben  uns  die  am  Schluss  dieses 
ersten  Teiles  des  Jahrbuches  beigelegten  vorzüglichen  Abbildungen  (35  Blatt) 
ein  sehr  anschauliches  Bild  von  den  besprochenen  Bauten  selbst,  ihres  inneren 
und  äusseren  Ausbaues,  ihrer  Lage  und  Grundrisse. 

In  dem  zweiten  Teil  des  Jahrbuches  spricht  Prof.  Dr.  E.  Zürcher, 
Nationalrat  in  Zürich,  „Ueber  die  Mittel,  der  sittlichen  Ge- 
fährdung der  Jugend  entgegenzutrete n".  Auch  er  nimmt 
die  von  Girard  vorgeschlagene  Einteilung  in  1.  sittlich  nur  gefährdete  Kinder. 
2.  ursprunglich  moralisch  gesunde,  aber  mit  erworbenen  Fehlern  behaftete 
Kinder  und  3.  sittlich  verdorbene  Kinder  für  seine  Besprechung  an.  Er  sagt, 
dass  die  staatliche  Gesetzgebung  nicht  das  einzige  Hilfsmittel  zur  Be- 
kämpfung des  UebeJs  sei,  sondern  dass  auch  freiwillige  Sozialorganisationen 
hinzugezogen  werden  müssten;  so  hätte  sich  schon  die  „Schweizerische  ge- 
meinnützige Gesellschaft"  durch  Gründung  und  Unterstützung  von  Er- 
ziehungsanstalten auf  diesem  Gebiete  hervorragend  bethätigt.  Bei  der  Be- 
sprechung  der  Mittel  und  Methoden  zur  Bekämpfung  geht  er  von  folgenden 
3  Möglichkeiten,  dass  Eltern  da  sind,  die  dabei  behilflich  sein  könnten,  dass 
gar  keine  Eltern  oder  endlich  widerstrebende  Eltern  da  sind,  aus.  Im  ersten 
Falle  könne  der  gute  Wille  der  Eltern  viel  Gutes  schaffen,  und  bei  grosser  Ar- 
mut der  Eltern  müsse  die  Fürsorge  des  Gemeinwesens  oder  freiwilliger  Or- 
ganisationen durch  Schaffung  von  Anstalten  für  arme  Wöchnerinnen  und  so 
dann  Kinderkrippen  und  später  besonders  die  Schule  alles  mögliche  leisten. 
Im  zweiten  Falle,  wenn  keine  Eltern  mehr  da  sind,  so  fallen  die  Kinder  der 
Waisenerziehung  des  Staates  oder  der  Gemeinde  anheim,  die  durch  Ein- 
richtung der  Vormundschaft  und  Waisenhäuser  alles  ihnen  mögliche  leisten. 


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524 


Bericht*  und  Besprechungen. 


Ist  das  Kind  unehelicher  Geburt,  was  schon  längst  dem  Moral-  und  Kriminal- 
Statistiker  als  Ursache  oder  Begleiterscheinung  des  Verbrechens  bekannt  ist, 
so  sei  die  Einrichtung  der  Stadt  Leipzig  musterhaft,  nämlich  Unterstellung 
aller  unehelichen  Kinder  unter  eine  mit  der  nötigen  Gewalt  ausgestattete 
sachverständige  Kontrolle  und  Fürsorge.  In  dem  dritten  Falle,  wo  die  Ver- 
wahrlosung sogar  vielfach  von  den  Eltern  ausgeht,  giebt  es  nur  ein  Mittel, 
nämlich  den  Eltern  die  elterliche  Gewalt  zu  nehmen,  sowie  Einschreiten  und 
Verfügungsrecht  der  Vormundschaftsbehörde,  die  in  jedem  einzelnen  Falle 
zu  entscheiden  hat,  ob  eine  Anstalts-  oder  Familienerziehung  angebracht  ist. 
Bei  der  Unterbringung  solcher  Kinder  in  Anstalten  müsste  dann  noch  auf 
die  verschiedenen  Grade  der  Verwahrlosung  Rücksicht  genommen  werden, 
und  zwar  würden  sich  für  die  erste  Kategorie  der  Girardschen  Einteilung, 
die  sittlich  gefährdeten  aber  noch  unverdorbenen  Kinder,  Anstalten  mit  dem 
Charakter  der  Waisenhäuser  und  möglichst  Besuch  öffentlicher  Schulen,  für 
die  mit  Fehlern  behafteten  Kinder  Erziehungsanstalten  mit  Anstaltsschulen, 
und  für  die  sittlich  verdorbenen  Kinder  Korrcktionsanstalten  mit  strenger, 
aber  immerhin  dem  jugendlichen  Alter  angemessener  Zucht,  empfehlen. 
Im  weiteren  kommt  dann  der  Verfasser  auf  die  Behandlung  der  jugendlichen 
Verbrecher  zu  sprechen  und  sagt,  dass  auch  der  dort  bisher  beschrittene  Weg 
der  Strafrechtspflege  kein  genügender  sei,  denn  auch  hier  müsse  man  indivi- 
dueller verfahren  und  vieles  der  humanen  Einrichtung  der  Fürsorge  für  ver- 
wahrloste Kinder  überlassen.  Besonders  müsse  das  Strafverfahren  eine  Re- 
form erfahren:  möglichste  Vermeidung  der  Gefängnisluft  mit  ihren  physi- 
schen und  psychischen  Ansteckungsstoffen  und  der  öffentlichen,  jugendlicher 
Eitelkeit  schmeichelnden  Gerichtsverhandlung.  Zum  Schluss  wird  dann  noch 
die  Bethätigung  der  Schule  an  dem  Kampfe  gegen  die  sittliche  Gefährdung 
besprochen;  sie  sei  die  geeignetste  und  günstigste  Beobachtungsstation  und 
versucht  durch  die  Vermittlung  intellektueller  Bildung  und  die  systematische 
moralische  und  körperliche  Erziehung  den  Hang  zum  Verbrechen,  wenn  auch 
nicht  direkt  aufzuheben,  so  doch  wenigstens  zu  verringern. 

Ueber  „Die  Erfolge  der  Ferienkolonien"  giebt  W.  B  i  o  n, 
Pfarrer  in  Zürich,  in  einem  Referat  ein  recht  anschauliches  und  interessantes 
Bild  von  der  Entstehung  und  Entwicklung  der  Organisation  und  der  Erfolge 
dieser  seiner  Schöpfung  in  gesundheitlicher,  pädagogischer  und  sozialer  Be- 
ziehung. Er  erzählt  uns,  wie  in  ihm  diese  Idee  der  Kinderversorgung  wäh- 
rend der  Ferien  entstanden  ist,  wie  es  ihm  vergönnt  war,  im  Jahre  1876  die 
ersten  Ferienkolonien  unter  Aufsicht  städtischer  Lehrer  und  Lehrerinnen  in 
das  Appenzcllerland  zu  schicken,  und  zwar  aus  Mitteln,  die  ihm  infolge  von 
Aufrufen  in  den  Zeitungen  von  Kinderfreunden  zuflössen,  und  wie  endlich 
dieses  Beispiel  Zürichs  nicht  nur  in  der  Schweiz,  sondern  auch  in  Deutsch- 
land, Frankreich,  England,  Russland,  Oesterreich-Ungarn,  Nord-Amerika  und 
anderen  Ländern  Nachahmung  erfahren  hat,  sodass  man  wohl  behaupten 
könne,  die  Idee  hätte  sich  über  die  ganze  Erde  verbreitet.  Schon  auf  dem 
internationalen  Kongresse  zu  Berlin  1881  wurde  die  Frage  diskutiert,  welche 
Art  der  Ferienversorgung  wohl  die  bessere  sei,  ob  die  in  Kolonien  unter  Lei- 
tung von  Lehrern  und  Lehrerinnen,  oder  die  Einzelversorgung  in  Familien 
auf  dem  Lande,  und  die  Mehrzahl  entschied  sich  für  das  Koloniesystem. 


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Die  sogenannten  Stadtkolonien  oder  Milchkuren,  die  sich  anfangs  viele 
Freunde  erwarben,  sind  doch  nicht  geeignet,  die  Ferienkolonien  zu  ersetzen. 
Auch  war  Zürich  wieder  die  erste  Stadt,  die  das  höchste  Ziel  erreicht  hat, 
und  schon  im  Jahre  1888  im  Kanton  Appenzell  ein  grosses  Berggut  erwarb, 
auf  dem  ein  ständiges  Ferienkolonieheim  erbaut  wurde,  und  so  für  er- 
holungsbedürftige Kinder  eine  das  ganze  Jahr  hindurch  geöffnete  Erholungs- 
station schuf.  Bei  der  Besprechung  der  Erfolge  der  Ferienkolonien  teilt 
uns  Bion  die  Urteile  von  Behörden  und  Aerzten  der  verschiedensten  Städte 
mit,  besonders  interessant  sind  dabei  die  Angaben  über  Untersuchungen  des 
Körpergewichts  und  des  Blutes  von  Kolonisten  vor  und  nach  ihrem  Land- 
aufenthalte, die  ein  beredtes  Zeugnis  von  der  Nützlichkeit  dieser  Einrich- 
tung ablegen.  Zum  Schluss  geht  dann  noch  der  Referent  auf  die  ungeheuren 
Erfolge  ein.  die  in  geistiger  und  moralischer  Hinsicht  durch  die  ständige 
fachgemässe "Aufsicht  von  Lehrern  erzielt  werden  können  und  auch  wirklich 
erzielt  werden. 

Das  darauf  in  französischer  Sprache  folgende  Referat  von  Ed.  C 1  e  r  c. 
directeur  des  ecoles  primaires  ä  la  Chaux-de-Fonds,  schliesst  sich  in  allen 
Punkten  dem  vorhergehenden  an. 

Hierauf  folgt  ein  genauer  Bericht  über  die  Jahresversammlung  der 
schweizerischen  Gesellschaft  für  Schulgesundheitspflege,  am  Samstag  9.  und 
Sonntag  10.  Juni  1900.  Das  sehr  abwechslungsreiche  Programm  bot  neben 
den  beiden  Hauptversammlungen  und  der  Versammlung  zur  Behandlung 
der  Jahresgeschäfte  verschiedene  Punkte  von  allgemeinem  Interesse,  so 
die  Besichtigung  von  Schulhausanlagen  und  verschiedene  Demonstrationen 
in  der  bei  dieser  Gelegenheit  in  einer  Turnhalle  veranstalteten  schulhygieni- 
schen Ausstellung.  Auf  den  Hauptversammlungen  referierten  die  Herren 
Prof.  Dr.  Girard,  Prof.  Dr.  Zürcher.  Rektor  Dr.  Werder,  Pfarrer  W.  Bion 
und  Schuldirektor  Ed.  Gere  über  die  schon  besprochenen  Themen;  die  von 
ihnen  aufgestellten  Thesen  wurden  meist  in  ihrer  Form  angenommen.  — 
Von  Interesse  sind  noch  die  in  der  schulhygienischen  Ausstellung  gegebenen 
Demonstrationen,  besonders  die  über  die  Verwendung  des  elektrischen 
Lichtes  zur  direkten  und  indirekten  Beleuchtung  der  Schulzimmer  durch 
Prof.  Dr.  F.  Erismann,  Zürich.  Er  kommt  auf  Grund  seiner  gemachten 
Beobachtungen  und  seiner  bei  dem  Vergleiche  zwischen  der  direkten  Be- 
leuchtung mit  elektrischen  Glühlampen  und  der  indirekten  Beleuchtung  durch 
Bogenlampen  angestellten  photometrischen  Untersuchungen  zu  dem  Schluss, 
dass  die  letztere  Belcuchtungsart  die  weitaus  günstigste  ist,  und  dass  die 
erstcre  genau  dieselben  Nachteile  der  ungleichmässigcn  Verteilung  des 
Lichtes  und  der  störenden  Schattenbiidung  besitze,  wie  die  Petroleum-  oder 
Gasbeleuchtung.  —  Sehr  lehrreich  muss  auch  ferner  die  Ausstellung  der 
verschiedenen  Systeme  von  Schulbänken  gewesen  sein,  die  uns  vom  Lehrer 
Wipf  beschrieben  und  durch  viele  gute  Illustrationen  auch  veranschaulicht 
werden.  Nach  einem  Nachrufe  für  den  am  10.  September  1900  verstorbenen 
Hygicniker  Dr.  med.  Felix  Schenk  schliesst  dieser  2.  Teil  des  Jahrbuches 
mit  einer  Aufzählung  sämtlicher  Mitglieder  der  Gesellschaft. 

Möge  es  dieser  schweizerischen  Gesellschaft  für  Schulgesundheitspflege 
vergönnt  sein,  das  so  schön  und  energisch  begonnene  Werk  mit  bestem  Er- 

Zcitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  10 


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526 


Berichte  und  Besprechungen. 


folge  weiter  zu  führen,  und  mögen  ihr  recht  viele  ähnliche  Organisationen 
nacheifern,  zum  Heile  der  jetzigen  und  kommenden  Geschlechter  und  somit 
der  ganzen  Menschheit. 

H.  du  B  o  i  s. 


Weissenfels,  Oskar,  Dr.,  Prof.  am  König].  Französischen  Gym- 
nasium in  Berlin,  Kernfragen  des  höheren  Unterrichts. 
Nene  Folge.  Berlin  1903.  R.  Gaertners  Verlagsbuchhand- 
lung.   IV  u.  379  S. 

Die  Arbeit  bietet  eine  höchst  gediegene  Fortsetzung  der  vor  zwei 
Jahren  erschienenen,  vom  Bef.  in  der  „Neuen  philologischen  Rundschau14 
warm  empfohlenen  „Kernfragen"  des  Verfs.  Auch  in  dem  vorliegenden 
Buche,  welches  in  4  allgemeiner  gehaltenen,  aber  umfangreicheren  Kapiteln 
die  wichtigsten  pädagogischen  Fragen  behandelt  und  in  6  anderen,  nicht 
minder  bedeutenden  eine  praktische  Anwendung  seiner  in  den  ersteren  auf- 
gestellten Grundsätze  giebt,  trifft  Verf.  stets  den  Kern  der  Sache,  ohne  sich 
irgendwie  in  abstraktes  und  daher  pädagogisch  unverwertbares  Philoso- 
phieren zu  verlieren.  Als  Grundgedanke  durchzieht  die  ganze  Arbeit  der 
gerade  in  unserer  Zeit,  wo  die  Aufmerksamkeit  der  Lehrenden  und  Ler- 
nenden leicht  durch  Nebendinge  allzu  sehr  in  Anspruch  genommen  wird, 
dringend  zu  betonende  Satz,  dass  jeder,  insbesondere  auch  der  altklassische 
Lehrer  in  den  obersten  Klassen,  den  Weg  zum  Philosophischen  einschlagen 
müsse. 

Nr.  1  behandelt  das  Inkommensurable  des  Unterrichtsproblems  nnd 
zeigt,  dass  der  wahre  Lehrer  entgegengesetzte  geistige  und  sittliche  Eigen- 
schaften in  hervorragender  Weise  vereinigt  besitzen  muss,  es  aber  zunächst 
niemandem  gegeben  ist,  durchaus  jugendlich  zugleich  und  durchaus  reif  zu 
sein  (S.  19  und  21).  Marc  Aurels  Wort:  "ArJ.tuaov  tnauzöv  ruft  der  Verf. 
S.  45  zutreffend  der  Schule  entgegen.  Er  tadelt  auch  S.  45  und  51  mit 
Recht  das  Streben  unserer  Zeit,  fast  nur  mittels  Vorführung  des  Sehbaren 
und  Greifbaren,  also  der  reinen  Wirklichkeit  zu  unterrichten,  da  mau  da- 
durch leicht  das  Ideal,  welches  natürlich  nicht  ganz  unerreichbar  sein  darf, 
verlieren  kann,  und  zeigt,  dass  die  Philosophie  dem  Lehrer  den  richtigen 
Mittelweg  zwischen  den  einseitigen  Anforderungen  der  Fachwissenschaft 
und  den  banausischen  Ansprüchen  des  gewöhnlichen  Lebens  weist. 

Höchst  bedeutend  sind  ferner  besonders  Nr.  2:  .Die  Philosophie  auf 
dem  Gymnasium",  Nr.  3:  „Der  Bildungswert  der  Poesie",  z.  T.  in  den 
Gedanken  sich  zufallig  berührend  mit  W.  Münch,  Poesie  und  Erziehung  in 
der  Neuen  Folge  vermischter  Aufsätze,  S.  122—146  und  stellenweise  mit 
A.  Biese,  Pädagogik  und  Poesie,  Vermischte  Aufsätze,  320  S.,  jedoch  ganz 
selbständig,  und  Nr.  8:  „Über  Ziel,  Auswahl  und  Einrichtung  der  Horaz- 
lektüre".  In  Nr.  2  wird  bemerkt,  dass  selbst  der  grösste  Verächter  aller 
Philosophie  Du  Bois-Reymond  einer  verborgenen  Philosophie  huldigt,  und 
unter  eingehendster  Berücksichtigung  der  betreffenden  Litteratur  mit 
A.  Fouille:    „La  reforme  de  l'enseignement  par  la  philosophie"  bewiesen. 


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Berichte  und  Besprechungen. 


527 


dass  jeder  nicht  auf  das  Philosophische  gerichtete  Unterricht  erfolglos  bleibt, 
ja  sogar  verdummend  wirken  muss  (S.  57). 

Die  philosophische  Propädeutik  kann  dann  allerdings  entbehrt  werden, 
wenn  überall  in  philosophischem  Geiste  unterrichtet  und  das  Historische  in 
den  Hauptlehrgegenständcn  zurückgedrängt  wird. 

Nr.  3  zeigt,  dass  die  Dichtkunst  sich  als  roter  Faden  durch  alle 
Unterrichtsfächer  hindurchzieht,  da  sie  an  die  Wurzeln  des  menschlichen 
Empfindens  führt. 

Nr.  4  verteidigt  den  stets  suchenden  Lessing  und  besonders  den 
beständig  dem  Schönheitsideale  zustrebenden  Schiller  als  Philosophen 
für  die  Schule.  Von  Goethe  empfiehlt  er  zur  schnlmässigen  Behand- 
lung besonders  Hermann  und  Dorothea  und  Iphigenie,  den  Tasso  jedoch, 
S.  201/2,  gar  nicht.  Gern  sehen  würde  er  die  Lektüre  von  Schillers  ästhetisch- 
moralischen Abhandlungen. 

In  Nr.  5  wird  angeraten,  weder  Ciceros  Brutus  noch  den  Orator  noch  eins 
der  drei  Bücher  de  oratore  ohne  weiteres  hintereinander  weglesen  zu  lassen. 

Als  am  wenigsten  ergiebig  für  die  Schule  bezeichnet  Verf.  scharfsinnig 
den  Brutus,  ganz  besonders  empfiehlt  er  für  denselben  Zweck  den  Orator. 

In  Nr.  6  verwirft  er  im  Widerspruch  mit  Aly  und  Bardt  Ciceros  Briefe 
als  Schullektüre  gänzlich,  teils  weil  sie  politischen,  dabei  nur  wenig  inter- 
essierenden Inhalt  haben,  wie  denn  in  der  That  G.  Boissier  in  ihrer  Ver- 
herrlichung entschieden  zu  weit  geht,  teils  auch  wegen  ihrer  eigentümlichen 
Schwierigkeiten.  Man  kann  über  diese  und  jene,  bei  den  diesbezüglichen 
Erörterungen  von  Weissenfeis  beigebrachten  Punkte  wohl  im  einzelnen 
anderer  Meinung  sein,  doch  wird  man  sich  dafür  entscheiden  müssen,  dass 
sich  Ciceros  Briefe  zur  stehenden  Schullektüre  nicht  eignen. 

Die  nach  des  Verf.'s  beifallswerter  Auffassung  sprachvergleichend  zu 
behandelnde  Synonymik  wird  in  Nr.  7,  S.  290/91  mit  Tegge  für  die  beste 
philosophische  Propädeutik  gehalten. 

Den  Horaz  nennt  Weissenfeis  in  Nr.  8  S.  312  einen  naiven,  nicht  senti- 
mentalen Dichter,  wie  Schiller  irrtümlich  thut,  und  verwirft  unter  teilweiser 
Polemik  gegen  Leuchten  berger:  „Die  Oden  des  Horaz  für  den  Schulgebrauch 
disponiert",  das  unnütze  Ergrübein  gliederreicher  Dispositionen,  in  Nr.  9 
entwickelt  er  in  einer  Musterlektion  den  Begriff  der  Urbanität  aus  der  Repe- 
tition  von  Hör.  ep.  I,  7  und  hält  hierbei  S.  325  die  Reproduktion  des  Ge- 
lesenen in  Prima  für  weit  wichtiger  als  das  Lesen  selbst.  Nr.  10  ist  eine 
Ü  berarbeitung  des  Eingangskapitels  von  des  Verf.'s  Preisschrift :  „Ästhetisch- 
en tische  Analyse  der  Epistula  ad  Pisones  von  Horaz",  abgedruckt  im 
56.  Bande  des  Neuen  Lausitzischen  Magazins.  Horaz  wird  S.  351  mit  Lessing 
ein  philosophischer  Dichter  genannt  und  S.  379  seiner  Ästhetik  das  Lob 
gespendet,  dass  sie  durchgängig  auf  sicherem  Grunde  ruhe  und  allgemeine 
Gültigkeit  beanspruchen  könne. 

Die  gelegentlichen  Hinweise  auf  andere  Schriften  des  Verf.'s,  wie: 
„Die  Bildungswirren  der  Gegenwart",  Berlin,  Ferd.  Dümmler,  „Cicero  als 
Schulschriftsteller",  Leipzig,  Teubner,  .Auswahl  der  rhetorischen  Schriften 
Ciceros",  ebendaselbst,  erscheinen  recht  dankenswert. 

Wollstein.  Karl  Löschhorn. 

10* 


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528 


Fr.  Förster,  Der  Unterricht  in  der  deutschen  rechtschreibung 
vom  Standpunkte  der  Herbartschen  psychologie  aus  be- 
trachtet («Pädagog.  magazin.  abhdlgn.  vom  gebiete  d.  päda- 
gog.  u.  ihrer  hilfswissenschaften.  hsg.  v.  Frdr.  Kann.  h,  172). 
Langensalza,  H.  Beyer  &  söhne.  41  s.  0,50  m. 

Wenn  man  den  Erfolg  des  Rechtschreibunterrichte  mit  der  darauf 
verwandten  Zeit  und  Mühe  vergleicht,  so  kommt  man  zu  einem  argen 
Missverhältnlss.  Allerdinga  liegt  die  Ursache  davon  zum  Teil  in  der 
Schwierigkeit  des  Gegenstandes,  da  die  deutsche  Orthographie  durch  ihre 
Folgewidrigkeit  sich  einer  systematischen  Erlernung  entzieht,  zum  Teil 
aber  auch  darin,  dass  man  diesen  Umstand  meist  missachtet  und  keine 
bestimmte  Methode  oder  doch  nicht  die  rechte  anwendet.  Das  Lehrver- 
fahren, wo  ein  solches  überhaupt  befolgt  wird,  pflegt  darin  zu  bestehen, 
dass  man  an  der  Hand  des  amtlichen  Regelbuchs  oder  eines  Leitfadens  die 
Regeln  und  die  unter  sie  fallenden  Wörter  durchnimmt  und  durch  Ab- 
schreib- und  Diktatübungen  einprägt.  Wie  man  dabei  im  einzelnen  vorgeht, 
richtet  sich  danach,  welchem  der  drei  beim  Rechtschreiben  wirksamen 
Faktoren,  dem  Gehör,  dem  Gesicht  oder  den  Regeln,  man  die  entscheidende 
Bedeutung  beimisst.  Um  hierüber  ins  klare  zu  kommen,  haben  Lay  und 
andre  psycho -physiologische  Versuche  angestellt,  aus  denen  sich  jedoch 
keine  brauchbare  Methodik  ergeben  hat.  Der  Vf.  baut  eine  solche  auf  dem 
Grunde  psychologischer  Erwägungen  Uber  das  Wesen  de.c  Rechtschreibens 
auf  und  bedient  sich  dabei  der  Herbartschen  Lehre  von  den  Vorstellungen. 
Für  das  orthographische  Schreiben  kommen  in  Betracht:  Gehörs-,  Gesichts-, 
Sprechbewegungs-,  Schreibbewegungs-  und  Sach Vorstellungen.  Da  jede 
dieser  Arten  durch  Association  die  andre  wieder  erzeugt,  müssen  sie  alle 
eingeübt  werden,  um  den  rechten  Erfolg  zu  erzielen.  Aus  dem  Gesetz  der 
Ab  Schwächung  in  der  associativen  Wiedererzeugung  der  Vorstellungen 
gemäss  der  zeitlichen  Entfernung  ihrer  Aufnahme  ins  Bewusstsein  folgt 
die  Vorschrift,  sich  im  Anfangsunterricht  mit  kurzen  Reihen  zu  begnügen, 
längere  Laut-  oder  Wortgruppen  zu  zerlegen  und  beim  Buchstabieren  nur 
den  wesentlichen  Teil  herausheben  zu  lassen.  Aus  dem  Gesetz  der  Analogie 
und  des  Kontrastes  ist  die  Mahnung  abzuleiten,  bei  ähnlichen  Wörtern  das 
etymologisch  oder  sachlich  Trennende  scharf  einzuprägen,  aus  dem  der 
Einübung  von  Bewegungen  die  Wichtigkeit  der  guten  Aussprache  und  des 
Abschreiben8,  aus  den  Gesetzen  der  Apperzeption  endlich  die  Notwendigkeit 
zweckmässiger  Regeln  und  enger  Verbindung  von  Sach-  und  Wortvorstellung. 
Um  das  richtige  Lehrverfahren  zu  finden,  ist  davon  auszugehen,  dass  die 
Bedeutung  der  oben  aufgeführten  sechs  Vorstellungsarten  mit  der  Art  der 
Wörter  wechselt:  bei  der  Rechtschreibung  sämtlicher  Wortklassen  sind 
wirksam  die  Sachvorstellung  und  die  Sprech-  und  Schreibbewegungs  vor* 
Stellung;  die  Gehörsvorstellung  tritt  hervor,  wo  es  sich  um  lauttreu  ge- 
schriebene Wörter,  also  um  die  richtige  Auffassung  der  gehörten  Laute 
handelt,  die  Gesichtsvorstellung  bei  denjenigen  Wörtern,  die  lautwidrig  ge- 
schrieben werden,  ohne  dass  dabei  eine  bestimmte  orthographische  Regel 
wirkt;  kommt  dagegen  eine  Regel  zur  Anwendung,  so  ist  deren  Kenntnis 


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Rtrirhte  und  Rcshrcchun p'ert 


529 


das  Entscheidende.  Hieraus  ergeben  sich  die  Grundsätze  des  Rechtschreib- 
unterrichts:  Für  die  Pflege  der  Gehörsvorstellungen  ist  erforderlich  eine 
gute  Aussprache,  die  wiederum  bei  Lehrern  und  Schülern  eine  gewisse 
phonetische  Schulung  notwendig  macht,  für  die  Einprägung  der  Gesichts- 
vorstellnngen  Verhütung  falscher  Wortbilder,  Vorführung  der  richtigen  in 
deutlicher  Darstellung  an  der  Wandtafel,  Dringen  auf  scharfe  Erfassung 
der  Form  neuer  Wörter  und  auf  sorgfaltige  schriftliche  Wiedergabe.  Die 
Regeln  müssen  kurz  und  möglichst  umfassend  sein  und  von  den  Schülern 
aus  dem  vorgeführten  Stoff  abgeleitet  werden;  Beachtung  der  Herkunft 
und  des  Bedeutungswandels  leistet  dabei  gute  Dienste.  Die  Einübung  der 
Sprechbeweg-ungsvorstellungen  fällt  zusammen  mit  der  der  Gehörsvor- 
stellungen; für  beide  ist  die  Pflege  sorgfältigen  Sprechens  notwendig.  Die 
8chreibbewegungsvorstellungen  erfordern  zur  Einprägung  das  Abschreiben, 
das  aber  nur  bei  Beachtung  gewisser  methodischer  Forderungen  fruchtbar 
wird.  Um  die  Prüfung  des  Abgeschri ebnen  zu  erleichtern,  muss  mehr  von 
Schreibschrift  als  von  Druckschrift  abgeschrieben  werden,  da  nur  dabei  die 
BuchBtabenformeu  von  Muster  und  Nachbildung  Übereinstimmen;  am 
meisten  zu  pflegen  ist  demnach  das  Abschreiben  von  der  Wandtafel.  Das 
Abzuschreibende  soll  ferner  zuvor  sachlich  vertraut  gemacht  sein  und  unter 
bestimmten  orthographischen  Gesichtspunkten  ausgewählt  werden,  die 
zweckmässig  durch  Unterstreichen  des  rechtschreiblich  wichtigen  Wortteils 
vom  Schüler  kenntlich  zu  machen  sind.  Die  allseitige  Pflege  der  sämtlichen 
in  Betracht  kommenden  Vor  Stellungsarten  ist  auch  deshalb  erforderlich,  damit 
alle  bei  den  Schülern  vorkommenden  Sinnesgrundarten,  der  Gesichts-,  der 
Gehörs-  und  der  Bewegungstypus,  zu  ihrem  Rechte  kommen.  Das  Buch- 
stabieren hält  der  Verfasser  für  nicht  recht  wirksam  und  will  es  nur  in 
Gegenwart  des  Schriftbildes  beibehalten;  er  zieht  das  Lautieren  vor.  Das 
in  so  ausgedehntem  Kasse  verwandte  Mittel  des  Diktierens  ist  nicht  sehr 
hoch  einzuschätzen.  Von  den  drei  Hauptformen  des  Diktats  ist  das  Diktat 
ohne  Vorbereitung  schädlich,  das  vorbereitete  trägt  seinen  Nutzen  nicht  in 
sich,  sondern  eben  in  der  Vorbereitung,  das  Prüfungsdiktat  ist  zwar  unent- 
behrlich, aber  nur  selten  zu  verwenden. 

Welche  Stellung  hat  der  Rechtschreibunterricht  im  Lehrplan  einzu- 
nehmen? Eine  dienende,  keine  selbständige,  antwortet  der  Vf.  Die  für 
ihn  erforderliche  Teilnahme  kann  nur  erwachsen  aus  einer  Verknüpfung 
entweder  mit  dem  Sachunterricht  oder  mit  dem  übrigen  Sprachunterricht. 
Aus  dieser  Forderung,  die  bisher  höchstens  auf  der  Unterstufe  erfüllt  wird, 
folgt  die  andre,  dass  der  Lehrer  sich  den  Übungsstoff  aus  dem  im  übrigen 
Unterricht  Behandelten  jeweilen  selbst  zusammenzustellen  hat,  wofür  der 
Vf.  einige  Winke  giebt.  Die  Korrektur  der  Diktate  durch  Unterstreichen 
des  Falschen  erscheint  ihm  schädlich,  da  hierdurch  der  Fehler  noch  stärker 
eingeprägt  wird;  er  empfiehlt,  das  Richtige  darüber  zu  schreiben  oder  nur 
die  Zeile,  die  das  Falsche  enthält,  zu  bezeichnen.  Die  vielfach  eingeführten 
Leitfäden  zum  Rechtschreibunterricht  mit  festem  Übungsstoff  und  systema- 
tischer Darbietung  der  Regeln  verwirft  der  Vf.  gemäss  seinen  Anschauungen 
gänzlich.  —  Das  Heft  sollte  von  keinem  Lehrer,  der  Rechtschreibunterricht 
zu  erteilen  hat,  angelesen  bleiben. 

Berlin.  Siegbert  Schayer. 


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530 


Berichte  und  Besprechungen. 


Hoppe,  Dr.  med.,  Hugo:  Die  Thatsachen  über  den  Alkohol 
2.  Aufl.  Berlin,  S.  Calvary  &  Co.  1901.  314  S.  -f-  63  Tab. 
Ursprünglich  hervorgegangen  aus  der  Erweiterung  eines  Vortrages, 
den  H.  vor  fünf  Jahren  in  einem  wissenschaftlichen  Vereine  gehalten, 
ist  das  Werk  in  2.  Auflage  von  dem  Verf.  zu  einer  übersichtlichen  Dar- 
stellung aller  über  den  Alkohol  bekannten  Thatsachen  ausgestaltet  worden 
Es  bietet  somit  eine,  durch  die  Berücksichtigung  der  wissenschaftlichen 
Forschungen  der  Neuzeit  besonders  wertvolle  Ergänzung  des  bekannten 
standard-work  von  Baer.  Gleich  diesem  Autor  hat  auch  H.  sich  bemüht, 
der  leicht  zur  Uebertreibung  verführenden  Aufgabe  gegenüber  stets  be- 
sonnen und  kritisch  zu  bleiben  und  ohne  Beschönigung,  aber  auch  ohne 
unnötige  Schwarzfärbung  den  objektiven  Thatsachen  gerecht  zu  werden. 

Die  ersten  drei  Abschnitte  des  inhaltrcichen  Werkes  behandeln  den 
Alkoholkonsum  in  den  verschiedenen  Ländern,  das  Wesen  und  die  physiolo- 
gischen Wirkungen  des  Alkohols.  Es  wird  die  steigende  Zunahme  des 
Alkoholkonsums  sowie  die  volkswirtschaftlichen  Kosten  desselben  für  die 
einzelnen  Länder  ziffernmässig  belegt,  die  Entstehung  und  Zusammensetzung 
der  alkoholischen  Getränke  geschildert  und  sodann  in  dankenswerter  Weise 
das  wissenschaftliche  Material  über  die  physiologischen  Wirkungen  des  Alkohols 
zusammengetragen.  Am  ausführlichsten  wird  die  Wirkung  des  Alkohols 
auf  die  geistigen  Funktionen  und  auf  die  Muskelkraft  behandelt;  aber  auch 
seine  Wirkung  auf  den  Kreislauf,  die  Atmung,  die  Körpertemperatur  und 
die  Ernährung  werden  besprochen.  Sofern  die  Ergebnisse  nicht  ohne 
weiteres  negativ  ausfallen,  wird  an  allen  Stellen  darauf  hingewiesen,  das 
der  geringe  Nutzen  des  Alkohols  in  einzelnen  Fällen  relativ  zu  teuer 
erkauft  und  durch  unerwünschte  Schädigungen  zunichte  gemacht  wird.  Viel- 
leicht wäre  es  erspriesslich  gewesen,  dieser  gewiss  ganz  richtigen  Erwägung 
die  Thatsache  ausdrücklich  gegenüber  zu  stellen,  dass  alle  nachweisbaren 
Schädigungen  des  Alkohols  sich  lediglich  auf  den  gewohnheitsmässigen 
und  übertriebenen  Genuss  der  alkoholischen  Getränke  zurückführen  lassen, 
während  der  gelegentliche,  massige  Alkoholgenuss  für  gesunde,  erwachsene 
Menschen  aus  wissenschaftlichen  Gründen  nicht  untersagt  zu  werden  braucht. 

Die  vier  folgenden  Abschnitte  behandeln  die  Beziehungen  des  Alkohols 
zur  Pathologie.  Es  werden  zunächst  alle  diejenigen  Krankheiten  aufgeführt, 
an  deren  Entstehung  der  Alkohol  aetiologisch  beteiligt  ist.  Bei  der  Be- 
sprechung der  Frage  der  individuellen  Toleranz  gegen  die  Wirkungen 
des  Alkohols,  die  wir  gern  etwas  ausführlicher  behandelt  gesehen  hätten, 
konnte  neben  anderen  auch  der  Feststellungen  Sommers  gedacht  werden, 
der  gerade  diesen  Punkt  experimentell  genauer  untersucht  hat.  Die  Bedeutung 
des  Alkohols  für  die  Morbidität  und  Mortalität  wird  in  ausgedehnter  Weise 
besprochen  und  für  die  einzelnen  Erkrankunjgsformen  die  statistischen  Er- 
gebnisse mitgeteilt. 

Die  letzten  vier  Kapitel  endlich  behandeln  die  soziale  Bedeutung  des 
Alkohols.  Obenan  steht  der  Einfluss  des  Alkohols  auf  die  Zahl  der  Ver- 
brechen; sodann  seine  Wirkung  auf  das  Familienleben  und  den  Wohlstand. 
Der  vorletzte  Abschnitt  behandelt  die  Beziehungen  des  Alkohols  zur  Degene- 
ration.   Die  Bedeutung  des  Alkohols  für  die  Vererbung  wird  gebührend 


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Rtrichte  und  Besprechungen. 


531 


hervorgehoben  und  die  diesbezüglichen  experimentellen  Untersuchungen  von 
M a r i e t  und  Combemale,  Laitinen,  Köre  und  anderen  eingehend 
gewürdigt.  Im  Schlusskapitel  endlich  behandelt  H.  die  Verbreitung  der 
Trinksitten  und  der  Trunksucht.  Er  weist  hier  besonders  auf  die  Gefahr 
hin,  die  dem  Volke  entsteht,  wenn  die  Frauen  und  Kintier  in  immer  steigendem 
Masse  an  den  Trinksitten  und  -Unsitten  der  Männer  sich  beteiligen.  Zumal 
bei  den  Schulkindern  sind  Herabsetzung  der  Intelligenz,  der  Aufmerksamkeit 
und  Arbeitsfähigkeit  die  unausbleiblichen  Folgen  auch  des  mässigsten  Alkohol- 
genusses, ganz  abgesehen  von  der  Rolle,  die  der  Alkohol  bei  der  Entstehung 
der  Nervosität  und  anderer  Erkrankungen  der  Schulkinder  spielt.  Ein 
Anhang  von  63  Tabellen  krönt  das  Werk,  dessen  gediegene  und  sachliche 
Darstellung  es  zu  einem  vornehmen  und  hochbedeutsamen  Werkzeuge  der 
Belehrung  über  die  Schädigungen  des  gedankenlosen,  gewohnheitsmässigen 
und  übertriebenen  Alkoholgenusses  machen. 

Berlin.  L.  H  i.r  schlaf  f. 


Möller,  Alfred:  Die  Geisteskrankheiten,  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Krankheitsunterscheidung. 
Miniaturbibliothek,  Bd.  336—340.  Leipzig,  Albert  Otto 
Paul.    1901.    XVIII  -f-  240  S.    0,50  M. 

In  diesem  Miniatur-Büchlein  bemüht  sich  der  Verf.  eine  Einführung 
in  das  Studium  der  Psychiatrie  zu  geben,  die  nicht  nur  dem  Arzte,  sondern 
auch  dem  Psychologen,  Pädagogen  und  Juristen  des  Verständnis  un(d 
die  Anregung  zu  weiteren  Studien  auf  diesem  ungemein  interessanten  und 
höchst  wichtigen  Gebiete  darbieten  soll.  Und  in  der  That:  das  Experiment 
ist  geglückt.  Auf  einem  Räume,  der  den  einer  Streichhohschachtel  nicht 
wesentlich  überschreitet,  ist  ein  inhaltlich  gediegener  und  der  kritischen 
Prüfung  standhaltender  Uebcrsicht  über  die  gesamte  Psychiatric  zustande 
gekommen,  der  wohl  geeignet  ist,  den  genannten  Zweck  zu  erfüllen.  An 
diesem  Gelingen  des  Werkes  ist  neben  der  reichen  eigenen  Erfahrung  des 
Verfassers  nicht  zum  mindesten  der  Umstand  schuld,  dass  M.  aus  den 
besten  und  lautersten  Quellen  der  psychiatrischen  Litteratur  geschöpft  hat. 
Sind  doch  den  Einteilungen  und  Darstellungen  der  verschiedenen  Krankheits- 
bilder die  Werke  von  Griesinger,  Häscr,  Höfler,  Jodl,  J.  L.  A. 
Koch,  Kraepelin,  v.  K  r  a  f  f  t-E  b  i  n  g,  Meynert  und  Schale  zu- 
grunde gelegt;  eine  Auswahl,  die  für  das  Verständnis  und  die  wissenschaft- 
liche Qualifikation  des  Verfassers  das  denkbar  günstigste  Zeugnis  ablegt 
Um  der  Inhalt  des  Werkes  in  einigen  Strichen  zu  skizzieren,  so  sei  bemerkt, 
dass  in  einer  Einleitung  zunächst  eine  Definition  der  Geisteskrankheiten 
und  sodann  eine  kurze,  gemeinverständliche  Erklärung  der  gebräuchlichsten 
Fachausdrücke  gegeben  wird.  Es  folgt  eine  Einteilung  der  Geisteskrank- 
heiten, wesentlich  nach  dem  von  v.  Krafft-Ebing  aufgestellten  Schema ; 
darauf  die  Beschreibung  der  einzelnen  Krankheitsformen.  Unter  den  Geistes- 
krankheiten ohne  nachweisbaren  anatomischen  Befund  werden  die  Melan- 
cholie, die  Manie,  die  heilbare  akute  Demenz,  die  einfache  und  die  hallu- 


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532 


Berichte  und  Besprechungen. 


dilatorische  Verwirrtheit,  die  Paranoia,  das  periodische  Irresein  und  diejenigen 
Psychosen  abgehandelt,  die  auf  Grundlage  der  Neurasthenie,  Hysterie  und 
Epilepsie  entstehen.  Unter  den  organischen  Geisteskrankheiten  werden  das 
Delirium  acutum,  die  progressive  Paralyse  und  die  Hirnsyphilis,  die  Dementia 
senilis,  die  Dementia  praecox  und  das  thyreogene  Irresein  geschildert. 
Der  Schlussteil  endlich  bespricht  die  Geisteskrankheiten  infolge  chronischer 
Vergiftungen,  wie  durch  Alkohol,  Morphium,  Cocain;  sodann  die  psychischen 
Verkümmerungen,  Idiotie,  Cretinismus,  sowie  die  psychopathischen  Minder» 
Wenigkeiten.  In  einem  Anhange  werden  die  Perversionen  des  Sexualtriebes 
im  Anschluss  anv.  Krafft-Ebing  dargestellt.  In  allen  diesen  Schilderungen 
ist  das  Krankheitsbild  selbst  in  knappen,  präcisen  Zügen  anschaulich  ge- 
schildert, Prognose  und  Therapie  kurz  angegeben  und  vor  allem  die  in 
der  Psychiatrie  besonders  schwierige  Differentialdiagnose  betont.  Von 
kleinen  Differenzen  abgesehen,  wird  man  die  gewählte  Darstellung  im 
allgemeinen  gutheissen  dürfen,  sodass  das  kleine  Büchlein  dem  erstrebten 
Zwecke  wohl  gerecht  zu  werden  vermag,  besonders  wenn,  wie  der  Verf. 
es  wünscht,  das  Studium  grösserer  Werke  dadurch  angeregt  wird.  Als 
einleitende,  gemeinverständliche  Uebersicht  über  die  Thatsachen  und  Probleme 
der  Psychiatrie  dürfte  das  billige  Werkchen  daher  für  Pädagogen,  Psycho- 
logen etc.  durchaus  zu  empfehlen  sein. 

Berlin.  L.  Hirschlaff. 


Kreisarzt  Dr.  Berger:  Kreisarzt  und  Schulhygiene.  19u3. 
89  S.   M.  1,50. 

Karl  Roller,  Oberlehrer:  Das  Bedürfnis  nach  Schul- 
ärzten für  höhere  Lehranstalten.    1902.    52  S.    0,80  M. 

Dr.  med.  Richard  Landau,  Schularzt:  Nervöse  Schul- 
kinder. Vortrag.  1902,  41  S.  0,80  M.  —  Sämmtlich  im 
Verlage  von  Leopold  Voss,  Hamburg  und  Leipzig. 

Die  erste  der  einem  gemeinsamen  Zwecke  gewidmeten  Schriften  giebt 
eine  kompendiöse  Uebersicht  über  den  heutigen  Stand  fast  sämtlicher 
Probleme  und  Aufgaben  der  Schulhygiene.  Sie  zeichnet  sich  aus  durch  die 
gediegene  Sachkenntnis  und  Erfahrung  des  Verfassers,  der  das  gesamte, 
von  ihm  skizzierte  Gebiet  offenbar  aus  eigenem  Erleben  meisterhaft  be- 
herrscht, sowie  durch  die  abgeklärte,  kritische  Behandlungsweise,  die  den 
Verfasser  veranlasst,  alle  begründeten  Forderungen  der  Neuzeit  mit  Ent- 
schiedenheit zu  vertreten,  alle  Uebertreibungen  jedoch  zu  massigen  und  in 
ihre  Schranken  zurückzuweisen.  In  dieser  Beziehung  darf  das  kleine 
B  e  r  g  e  r  sehe  Werk  allen,  die  sich  mit  schulärztlichen  Problemen  zu  be- 
schäftigen Gelegenheit  haben,  als  Muster  empfohlen  werden.  Der  Haupt- 
inhalt des  Buches  bezieht  sich  auf  die  Aufgabe,  die  der  Kreisarzt,  der 
offizielle  Vertreter  der  Schulhygiene  auf  dem  Lande,  sich  stellen  muss,  wenn 
er  an  die  vorgeschriebene  Besichtigung  einer  Schule  herantritt.  Der  Bau- 
platz, das  Schulgebäude,  das  Schulzimmer,  die  Nebenanlagen,  der  Unterricht, 


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Berit: hie  ntiJ  Besprechungen . 


533 


die  Schulkinder:  dies  sind  die  wichtigsten  Punkte,  denen  B.  ausführliche, 
den  neuesten  Ergebnissen  der  Forschung  gerechtwerdende  Betrachtungen 
widmet.  Von  grosser,  z.  T.  prinzipieller  Bedeutung  ist  ferner  m.  E. 
die  Auffassung  B.'s  von  dem  Verhältnis  des  Kreisarztes  zu  den  Lehrern, 
den  Eltern  und  den  besonderen  Schulärzten.  Da  es  leider  unmöglich 
ist,  über  diese  Punkte  hier  ausführlicher  Bericht  zu  erstatten,  so  muss  ich 
mich  begnügen,  aus  den  Leitsätzen,  die  Verfasser  zum  Schlüsse  seines  Vortrages 
aufstellt,  das  Wichtigste  hervorzuheben :  „Die  gesundheitliche  Ueberwachung 
der  Schule  hat  durch  den  Kreisarzt  unter  Mitwirkung  besonderer  Schul- 
ärzte zu  geschehen,  deren  Anstellung  überall  anzustreben  ist,  wo  es  die 
Verhältnisse  gestatten.  Auch  in  ländlichen  Gemeinden  ist  eine  solche 
wünschenswert,  z.  Z.  jedoch  nicht  dringend  notwendig.  —  Seine  Forderungen 
hat  der  Kreisarzt  den  t tatsächlichen  Bedürfnissen  und  der  Leistungsfähigkeit 
der  Gemeinden  unter  Berücksichtigung  der  örtlichen  Verhältnisse  anzupassen, 
und  sich  hierbei  auf  das  Notwendige  und  Erreichbare  zu  beschränken; 
dies  aber  ist  klar,  bestimmt  und  genügend  begründet  zu  fordern.  —  Der 
Kreisarzt  hat  sich  ausserdem  durch  Belehrung  der  Bevölkerung  und  der 
Lehrer  durch  Vorträge,  Unterstützung  gemeinnütziger  Bestrebungen  u.  s.  w. 
die  Förderung  des  Wohles  der  Schule  und  der  Schulkinder  angelegen 
sein  zu  lassen.  —  Die  Berichte  der  Schulärzte  gehen  durch  die  Hand  des 
Kreisarztes.  —  Unbedingt  notwendig  ist  eine  hygienische  Vorbildung  der 
Lehrer;  dieselbe  kann  zwar  den  Schularzt  nicht  ersetzen,  doch  wird  durch 
das  Hand  in  Hand  gehen  hygienisch  vorgebildeter  Lehrer  mit  dem  Kreis- 
arzte auch  in  den  ländlichen  Schulen  den  gesundheitlichen  Forderungen 
mehr  als  bisher  Rechnung  getragen  werden." 

Auch  die  Schrift  des  Oberlehrers  Karl  Roller,  die  das  Bedürfnis 
nach  Schulärzten  für  höhere  Lehranstalten  behandelt,  lässt  eine  gewisse, 
weise  Zurückhaltung  in  dieser  Frage  erkennen,  wenngleich  die  Forderungen 
Rollers  über  diejenigen  Bergers  zum  Teil  hinausgehen.  Nach  einem 
kurzen  Ueberblick  über  die  geschichtliche  Entwicklung  der  Schularzt- 
frage, in  der  namentlich  die  Gegenüberstellung  der  im  Anfange  sicherlich 
übertriebenen,  ärztlichen  Forderungen  mit  der  im  allgemeinen  nicht  minder 
übertriebenen  Reserve  der  Pädagogen  lehrreich  erscheint,  erklärt  Ver- 
fasser die  amtliche  Thätigkeit  des  Kreisarztes  nicht  für  ausreichend  zur 
ständigen,  hygienischen  Ueberwachung  der  Schulen  und  ihrer  Einrichtung. 
Er  fordert  neben  einer  hygienischen  Vorbildung  der  Lehrer,  die  sich  auf 
das  Universitätsstudium,  das  Lehrerseminar  und  spätere  Fortbildungskurse 
erstrecken  soll,  auch  für  die  höheren  Schulen  die  Anstellung  besonderer 
Schulärzte,  deren  Befugnisse  gegenüber  den  Lehrern  und  Direktoren  er 
allerdings  etwas  eingeschränkt  sehen  möchte.  Während  er  die  Hygiene 
des  Schulhauses  und  seiner  Einrichtungen,  sowie  die  gesundheitliche  Ueber- 
wachung und  Begutachtung  der  Schulkinder  im  wesentlichen  den  Aufgaben 
des  Schularztes  zurechnet,  ist  nach  R.  die  hygienische  Ueberwachung  des 
Unterrichtes  in  Fragen  allgemeiner  Natur  nicht  Sache  des  Schularztes 
einer  Einzelanstalt,  sondern  vielmehr  von  der  Zen'tralschulbehörde  unter 
Zuziehung  eines  ärztlichen  Beirates  zu  regeln. 


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534 


Berichte  und  Besprechungen. 


Aus  der  Feder  eines  praktischen  Schularztes  stammt  die  Arbeit 
Richard  Landaus  über  „nervöse  Schulkinder".  L.  bespricht  die 
funktionellen  Störungen  des  Nervensystems  der  Elementarschüler  und 
-Schülerinnen  an  der  Hand  einer  ausserordentlich  reichhaltigen  Litteratur. 
Er  schildert  ausführlich  die  Erscheinungen  und  die  Häufigkeit  der  kindlichen 
Neurasthenie  und  Hysterie,  vielleicht  nicht  immer  der  Thatsache  völlig 
eingedenk,  dass  es  sich  in  dieser  Kasuistik,  namentlich  in  Bezug  auf 
die  markanteren  Fälle,  fast  ausschliesslich  um  Einzelerscheinungen  un^l 
Ausnahmen  handelt.  In  Bezug  auf  die  Ursache  dieser  Erscheinungen 
misst  er  der  Schule  keine  allzu  übertriebene  Bedeutung  bei,  weil  ja  wohl 
in  der  Volksschule  von  einer  geistigen  Ueberbürdung  «des  Kindes  schlechter- 
dings nicht  gesprochen  werden  kann.  Immerhin  aber  befürwortet  er  den 
Vorschlag  Brahns,  die  gleichaltrigen  Volksschüler  nach  dem  Masse 
ihrer  Fähigkeiten  in  wenigstens  zwei  Abteilungen  zu  sondern,  deren  eine 
die  exzessiv  schnell  ermüdenden  Kinder  aufnehmen  soll,  wie  man  sie  nach 
Kraepelins  oder  Ebbinghaus'  oder  Griesbachs  Methode  angeb 
lieh  leicht  herausfinden  könne.  Als  ob  die  modernen  Ermüdungsmessungen 
in  Bezug  auf  die  Exaktheit  ihrer  Methoden  und  die  Zuverlässigkeit  ihrer 
Schlussfolgerungen  schon  genügend  gesichert  wären,  um  so  weitgehende 
Forderungen  zu  erheben!  Einen  breiten  Raum  nimmt  endlich  die  Auf- 
zählung derjenigen  Ursachen  der  Nervosität  der  Schuljugend  ein,  die  ausser 
halb  der  Schule  gelegen  sind.  Kaffee,  Tabak,  Alkohol,  geschlechtliche 
Verführung  und  fehlerhafte  häusliche  Erziehung  werden  hier  eingehend 
und  sachlich  gewürdigt  und  anerkennenswerte  Besserungsvorschläge  gemacht. 
Eine  Litteratur- Uebersicht  über  85  schulhygienische  Arbeiten  schliesst  die 
Schrift,  der  man  in  den  meisten  Punkten  seine  Zustimmung  nicht  wird 
versagen  können. 

Berlin.  L.  Hirschlaff. 


Dr.  Wilhelm  Strohmayer:  Die  Epilepsie  im  Kindesalter. 
Vortrag,  gehalten  am  2.  August  1902  zu  Jena  auf  der 
4.  Versammlung  des  „Vereins  für  Kindesforschung". 
Altenburg,  Oskar  Bon  de.  1902.  30  S. 

Die  Ausführungen  des  Verfassers,  die  sich  auf  das  B  ins  wanger 
sehe  Krankenmaterial  stützen,  sind  für  Laien,  in  der  Hauptsache  für  Lehrer 
kreise  bestimmt.    Verfasser  giebt  zunächst  eine  Umgrenzung  des  Krank 
heitsbildes  der  kindlichen  Epilepsie,  die  sich  von  der  Epilepsie  der  Er- 
wachsener' prinzipiell  in  keinem  Punkte  unterscheidet.     Er  schildert  das 
Grand  Mal,  das  Petit  Mal  und  die  sog.  psychischen  Aequivalente.  Unter 
den  ätiologischen  Faktoren  hebt  er  die  Erblichkeit,  speziell  den  chronischen 
Alkoholismus  und  die  Syphilis  der  Eltern,    auf  der  anderen  Seite  die 
Verletzungen  des  kindlichen  Schädels  infolge  von  .Unfällen  und  Züchtigungen 
hervor.   Die  Beziehungen  der  Epilepsie  zur  Geschlechtssphäre  (Onanie  etc.) 
werden  als  unzutreffend  zurückgewiesen.    Str.  geht  sodann  auf  die  Geistes- 
und Charakterveränderungen  ein,  die  im  Gefolge  der  kindlichen  Epilepsie 


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Berichte  und  Besprechungen. 


535 


in  vielen  Fällen  beobachtet  werden,  und  erörtert  im  Anschluss  daran  die 
Frage  der  Prognose,  der  Prophylaxe  und  der  allgemeinen  Therapie  dieses 
Leidens.  Er  empfiehlt  für  die  prognostisch  günstigen  Fälle,  soweit  über- 
haupt ihre  Entfernung  aus  dem  Hausstände  indiziert  erscheint,  am  meisten 
die  sog.  Heilerziehungsanstalten,  in  denen  die  epileptischen  Kinder  unter 
der  steten  Aufsicht  eines  Nervenantes  stehen  und  zugleich  von  berufener 
pädagogischer  Seite  einen  geeigneten,  individuellen  und  von  der  üblichen 
Schablone  abweichenden  Unterricht  erhalten.  Die  Darlegungen  des  Ver- 
fassers sind  in  jedem  Punkte  zu  unterschreiben;  die  Schrift  kann  den 
interessierten  Kreisen  aur  Beachtung  dringend  empfohlen  werden. 

Berlin.  L.  H  i  r  s  c  h  1  a  f  f. 


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Wissenschaftliche  Mitteilungen  aus  dem  Gesamt- 
gebiete der  Pädagogik  und  Medizin. 


Ueber  Ossin-Stroschein, 
ein  wohlschmeckendes  Leberthranpräparat. 

Von 

Dr.  Leo  Hirschlaff,  Berlin. 

Der  Verwendung  des  Leberthrans,  dessen  Wirkung  als 
Nutriens  wegen  seiner  leichten  Emulgierbarkeit  und  Resor- 
bierbarkeit  noch  immer  unbestritten  ist,  stand  von  jeher  der 
widerwärtige  Geschmack  und  Geruch  entgegen,  der  auch  dem 
nach  der  Pharmakopoea  Germ.  Ed.  IV.  hergestellten,  sog. 
blanken  oder  gelben  Leberthran  anhaftet,  der  offizineil  nur  aus 
den  frischen  Lebern  von  Gadus  Morrhua  L.  bei  gelindester 
Wärme  im  Dampfbade  bereitet  werden  darf.  Zumal  bei  der 
Rhachitis  der  kleinen  Kinder  ist  ja  der  Leberthran  in  Form 
des  K as so witz sehen  Phosphor-Leberthran-Gemisches  seit 
längerer  Zeit  als  Spezifikum  in  Gebrauch,  freilich  nicht,  ohne 
in  häufigen  Fällen  Widerwillen  und  üble  Nachwirkungen  auf 
Magen  und  Darm  der  kleinen  Patienten  zu  erzeugen.  Trotz 
dieser  unleugbaren  Uebelstände  hat  der  Leberthran  in  der 
Praxis  bisher  den  Sieg  davongetragen  über  die  mannigfachen 
Ersatzmittel,  die  zumeist  aus  pflanzlichen  Oelen  bereitet  sind, 
wie  z,  B.  das  v.  Mering  empfohlene  Lipanin.  Ferner:  wenn 
auch  der  Gehalt  an  Gallenbestandteilen,  der  den  Leberthran 
vor  allen  anderen  Fetten  auszeichnet,  eben  seinen  schlechten 
Geschmack  und  Geruch  bedingt,  so  ist  er  es  doch  wiederum 
auch,  der  die  oben  gerühmten  Vorzüge  der  leichten  Emulgier- 
barkeit und  Resorbierbarkeit  des  Leberthrans  bedingt.  Unter 
diesen  Umständen  ist  es  mit  grosser  Freude  zu  begrüssen, 
dass  es  der  chemischen  Fabrik  Stroschein  in  Berlin  gelungen 
ist,  in  dem  Ossin  ein  Leberthran-Präparat  herzustellen,  das  die 
Vorzüge  des  Leberthrans  darbietet,  zugleich  aber  seine  Nach- 
teile vermeidet.    Durch  eine  zweckmässige  Verarbeitung  des 


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Wüsemchaflliche  Mittelungen. 


537 


offizinellen  Leberthranes  mit  Hühnereiweiss,  Zucker  und  Ol. 
Menthae  pip.  ist  in  dem  Ossin  ein  Präparat  entstanden, 
dessen  Geruch  und  Geschmack  als  durchaus  angenehm  be- 
zeichnet werden  kann,  ebenso  wie  auch  das  Aussehen  des 
Präparates,  das  dem  Honig  gleicht,  sich  gegenüber  der  öligen 
Flüssigkeit  des  Leberthranes  vorteilhaft  unterscheidet.  Die 
quantitative  Analyse  des  Ossins  ergiebt:  Aetherlösliche  Stoffe 
(fettes  Oel  74,75  %,  sticksoffhaltige  Substanz  ^  0,82  %,  los- 
liche Kohlehydrate  24,20%,  Asche  0,23o/0;  in  der  Asche 
sind  enthalten:  Phosphorsäure  =  0,0184,  Schwefelsäure  =  0,0060, 
Kalk  -  0,0410,  Eisen  =  0,0120%.  Da  ich  im  Laufe  von 
l1/*  Jahren  vielfach  Gelegenheit  hatte,  die  Vorzüge  des 
Ossins  gegenüber  dem  Leberthran  am  Krankenbette  zu 
erproben,  so  sei  es  mir  gestattet,  aus  der  Fülle  der  gesammelten 
Erfahrungen  einige  besonders  charakteristische  Krankenge- 
schichten mitzuteilen : 

1.  H.  G.,  Mädchen  von  2*/4  J.;  schwächliches,  schlecht 
genährtes,  anämisches  Kind  mit  den  Anzeichen  der  Rhachitis 
und  Skrofulöse;  Vater  tuberkulös.  Während  sechs  Monaten  erhält 
das  Kind  täglich  dreimal  einen  Theelöf fei  bis  einen  Kinderlöffel 
Ossin  in  Milch  oder  Kakao.  Von  Anfang  an  wird  das  Präparat 
gern  genommen.  Der  vorher  daniederliegende  Appetit  hebt 
sich;  Aussehen  und  Gewicht  zeigen  bedeutende  Besserung; 
die  zuvor  vorhandenen  rhachitischen  und  skrofulösen  Erschei- 
nungen verschwinden.  Das  Kind  macht  jetzt  einen  gesunden 
und  kräftigen  Eindruck. 

2.  A.  H.,  Knabe  von  io  Monaten,  mit  Barlowscher  Krankheit 
und  Rhachitis.  Nachdem  die  Erscheinungen  der  Barlowschen 
Krankheit  nach  ca.  14  Tagen  infolge  Aenderung  der  Nahrung 
abgeklungen  sind,  erhält  der  Knabe  zunächst:  Rp.  Phosphori 
0,01,  Ol.  Jecoris  Aselli  ad  100,0  —  D.  S.  zweimal  taglich  einen  Thee- 
löffel.  Nach  zwei  Tagen  muss  diese  Medikation  ausgesetzt 
werden,  da  Erbrechen  und  Diarrhoen  eintreten.  Es  wird  darauf 
ordiniert:  Rp.  Phosphori  0,01,  Ossini  Stroschein  ad  100,0 
—  D.  S.  zweimal  täglich  einen  Theelöffel.  Diese  Medikation  wird 
gut  vertragen  und  willig  genommen.  Innerhalb  zwei  Monaten 
sind  die  Erscheinungen  der  Rhachitis  geschwunden;  der  Knabe 
hat  sich  kräftig  entwickelt;  Zahnbildung  und  Gehenlernen  er- 
folgen ohne  Schwierigkeit. 


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538 


Wüsenxhaftliche  Mitteilungen. 


3.  E  R.,  Mädchen  von  il/4  J.  Im  Anschluss  an  eine 
schwere  Cholera  infantum  und  Pneumonie,  die  das  Kind  im 
Alter  von  vier  Monaten  durchgemacht  hat,  entwickelt  sich  ein 
chronischer,  mit  zeitweiligen,  unregelmässigen  Fieber- Attaquen 
einhergehender  Darmkatarrh,  der  durch  keine  Aenderung  der 
Diät  ünd  durch  keine  Medikation  zum  Stillstand  gebracht 
werden  kann.  Dabei  kommt  das  Kind  in  seinem  Ernährungs- 
zustande immer  weiter  herunter;  auch  treten  rhachitische  Er- 
scheinungen auf,  wie  übermässiges  Schwitzen,  Rosenkranz, 
Auftreibung  der  Epiphysen,  Caput  quadratum  etc.  Medikation  : 
Rp.  Phosphori  0,01,  Ossini  Stroschein  ad  100,0  —  D.S.  zweimal 
täglich  einen  Theclöffcl.  Während  dieser  Behandlung  erholt  sich 
das  Kind  sichtlich.  Die  Diarrhoen  lassen  nach,  der  Stuhlgang 
nimmt  allmählich  festere  Beschaffenheit  an,  der  vorher  durch 
nichts  zu  ermöglichende  Appetit  wird  lebhaft  und  reichlich. 
Nach  Ablauf  von  21/«  Monaten  ist  das  Kind  in  kräftigem  Er- 
nährungszustand, die  Darmerscheinungen  kind  die  Rhachitis  sind 
verschwunden,  die  Zahnbildung  nimmt  normalen  Verlauf. 

Aus  diesen  drei  Krankengeschichten,  deren  Zahl  leicht 
bedeutend  vermehrt  werden  könnte,  glaube  ich  den  Schluss 
rechtfertigen  zu  dürfen,  dass  das  Ossin  Stroschein  thatsächlii  h 
ein  vollkommener  Leberthranersatz  ist,  insofern  als  es  die 
unbestreitbaren  Vorzüge  dieses  eigenartigen  tierischen  Fettes 
ohne  dessen  sonstige,  die  Magendarmthätigkeit  ungünstig  be- 
einflussenden Nachteile  besitzt.  Auch  eine  Reihe  befreundeter 
Kollegen,  denen  ich  das  Präparat  zur  Anwendung  in  der  Kinder- 
praxis empfahl,  äusserten  mir  gegenüber  ihre  lebhafte  Zufrieden- 
heit über  die  damit  erzielten  Erfolge.  Der  billige  Preis  des 
Präparates  gestattet  seine  Anwendung  auch  in  der  ärmeren 
Praxis. 


Ueber  Theinhardts  Hygiama. 

Von 

Dr.  Leo  Hirschlaff. 

Unter  den  zahllosen  Nährpräparaten,  mit  denen  eine 
strebsame  Industrie  heutzutage  Aerzte  und  Publikum  über- 
schwemmt hat,  haben  die  Eiweisspräparate  lange  Zeit  an  Zahl 
überwogen.  Seltsamerweise ;  denn,  dass  reines  Eiweiss  kein 
eigentliches  Nährmittel  ist,  ist  aus  der  Ernährungsphysiologie 


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lange  bekannt.  Gewiss  giebt  es  Indikationen  für  die  Anwen- 
dung reiner  Eiweisspräparate,  z.  B.  bei  allen  denjenigen,  Erkran- 
kungen, bei  denen  eine  Konsumption  statthat,  wie  bei  lang- 
dauernden fieberhaften  Prozessen,  bei  der  Tuberkulose,  bei 
Nierenerkrankungen,  Carcinom  etc.  Indessen,  zur  allgemeinen 
Ernährung  jedes  Gesunden  und  Kranken  eignen  sich  Eiweiss- 
präparate sicherlich  nicht,  da  die  Eiweisszufuhr  im  allgemeinen 
bekanntlich  die  Eiweissausscheidung  vermehrt,  ohne  dass  es  in, 
der  Regel  zum  Eiweissansatze  kommt.  Es  ist  daher  bedauerlich, 
dass  beim  Publikum  —  hauptsächlich  wohl  infolge  der  über- 
grossen Reklame  der  Fabrikanten  —  gerade  die  Eiweisspräpa- 
rate bevorzugt  werden,  natürlich  unter  Umgehung  der  ärzt- 
lichen Verordnungen,  die  der  moderne  Laie  ja  vielfach  ent- 
behren zu  können  glaubt.  Die  natürliche  Folge  davon  ist  das 
schwindende  Vertrauen  des  Publikums  zu  den  Nährpräparaten, 
da  die  erhofften  Wirkungen  gewöhnlich  ausbleiben.  Dem 
gegenüber  muss  immer  wieder  darauf  hingewiesen  werden,  dass 
ein  vollkommenes  Nährpräparat,  das  sich  für  den  allgemeinen 
Gebrauch  eignet,  aus  Eiweiss,  Fett,  Kohlehydraten  und 
Salzen  in  entsprechendem  Verhältnis  zusammengesetzt  sein 
muss;  eine  Forderung,  die  nur  von  wenigen  im  Handel  be- 
findlichen Präparaten  erfüllt  wird.  Eines  der  wenigen  Prä- 
parate, das  dieser  Forderung  entsprach,  und  an  das  Verfasser 
deshalb  seiner  Zeit  grosse  Hoffnungen  knüpfte,  war  das 
Eulactol.  Leider  stellte  sich  der  Verwendung  dieses  Präparates 
ein  Uebelstand  entgegen,  der  sich  schliesslich  als  unüberwind- 
lich erwies :  der  schlechte  Geschmack  nach  verdorbenem  Käse. 
Alle  Patienten  meiner  Clientel,  die  sich  freilich  meist  aus 
nervösen,  empfindlichen  Kranken  zusammensetzt,  verweigerten 
den  längeren  Gebrauch  dieses  Präparates  unter  Hinweis  auf 
seinen  unerträglichen  Geschmack.  So  musste  ich  es  denn  mit 
Freuden  begrüssen,  dass  ein  anderes  Präparat,  Theinhardt's 
Hygiama,  auftauchte,  das  denselben  Bedingungen  in  Bezug 
auf  seine  Zusammensetzung  entsprach.  Nach  den  zahlreich 
ausgeführten  Kontroll-Analysen  besteht  nämlich  das  Thein- 
hardt'sche  Hygiama  aus  20— 22o/0  Eiweiss,  8— 11  o/o  Fett, 
45 — 48  o/o  löslichen  Kohlehydraten,  17— 20o/0  unlöslichen  Kohle- 
hydraten inkl.  Cellulose,  3— 4o/0  Nährsalzen  (darin  Phosphör- 
säure  0,8— l,2<y0),  sowie  3— 5«/o  Feuchtigkeit.  Bemerkenswert 


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540 


Wüsenscha ftlichc  Mitteilungen . 


ist  dabei  für  die  Nervenpraxis  der  hohe  Phosphorgehalt,  der 
auf  das  pflanzliche  Lecithin  der  Cerealien  zurückzuführen  ist; 
besonders  da  die  Fabrik,  entgegen  der  widerlichen  Reklame 
anderer  Produkte,  es  verschmäht,  hierauf  besonders  hinzu- 
weisen. Der  Preis  des  Präparates  (5oo  g  —  2,50  M.)  ermög- 
licht eine  allgemeine  Anwendung,  was  gegenüber  den  zum 
Teil  sehr  teuren  Eiweisspräpa raten  besonderer  Hervorhebung 
wert  erscheint.  Mit  diesem  Präparate  habe  ich  jahrelange 
Versuche,  meist  an  Nervenkranken,  angestellt  und  vorzügliche 
Resultate  erhalten.  Angenehm  war  dabei  besonders  der  zu- 
sagende Geschmack  des  Hygiama,  das  auch  von  den  empfind- 
lichsten Patienten  monatelang  gern  genommen  wurde.  In  allen 
Fällen  sah  ich  als  Wirkung  dieser  Verordnung  eine  Zunahme 
des  Körpergewichtes,  Hebung  des  Appetites  und  der  Ver- 
dauung, sowie  eine  bemerkenswerte  Besserung  des  Allgemein- 
befindens, die  ja  bei  Nervenkranken  fast  stets  mit  der  Hebung 
des  Körpergewichts  parallel  läuft.  Die  Form,  in  der  das  Prä- 
parat verordnet  wurde,  war  meist  2—6  Esslöffel  Hygiama  per 
Tag  in  Milch,  wobei  ein  kakao-ähnliches  Getränk  von  ange- 
nehmem Geschmacke  zustande  kommt.  In  einzelnen  Fällen, 
in  denen  die  Milch  verstopfende  Wirkung  zeigte,  zog  ich  es 
vor,  das  Präparat  (3—4  Essl.)  mit  Schlagsahne  zusammen- 
gerührt zu  geben;  eine  Form,  die  mit  ev.  Zusatz  von  Bisquit 
oder  eingemachtem  Obst  als  besonders  zweckmässig  und  delikat 
empfohlen  werden  kann.  Einzelne  Patienten  schliesslich  zogen 
es  vor,  das  Hygiama  in  Haferschleim  oder  als  Zusatz  zu 
Suppen  zu  sich  zu  nehmen.  Eine  grosse  Zahl  der  Patienten, 
denen  ich  das  Mittel  verordnete,  nahmen  es  später  zu  dauerndem 
Gebrauche,  weil  sie  sich  von  der  günstigen  Einwirkung  über- 
zeugt hatten.  Von  den  zahlreichen  Fällen,  in  denen  mir  die 
Verwendung  des  Theinhardt'schen  Präparates  Nutzen  brachte, 
möchte  ich  einige  besonders  erwähnenswerte  Kranken- 
geschichten hervorheben : 

1.  Frau  F.  H.,  28  J.  alt,  Neurasthenie,  durch  eine  Früh- 
geburt mit  nachfolgendem  embolischen  Lungen infarkt,  Nephri- 
tis und  pleuritischem  Exsudat  stark  heruntergekommen.  Appetit 
mässig,  Stuhlgang  meist  angehalten.  Seit  März  1902  erhält 
die  Patientin  täglich  30—40  g  Hygiama  in  einem  Teller  Schlag- 
sahne verrührt.  Dabei  hebt  sich  der  Appetit,  der  Stuhlgang 


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Wissenschaftliche  Mitteilungen  *%41 

wird  regelmässig,  das  Gewicht  steigt.  Während  das  Anfangs- 
gewicht von  110—112  Pfd.  mit  Winterkleidung  geschwankt 
hatte,  beträgt  das  Gewicht  am  3.  IV.  1902=116  Pfd.,  10.  IV. 
=  117  Pfd.  100  g,  18.  IV.  =  117  Pfd.  475  g,  16  V.  =  119  Pfd. 
Auch  in  den  nächsten  Monaten  steigt  das  Gewicht  der  Patientin 
weiter  an;  ihr  Aussehen  wird  blühend,  ihre  Beschwerden  ver- 
schwinden. Nach  monatelang  fortgesetztem  Gebrauch  des  Prä- 
parates fühlt  sich  Pat  gesund,  ohne  dass  andere  medikamentöse 
oder  physikalische  Hülfsmittel  angewandt  worden  wären. 

2.  Herr  O.  G.,  38  J.  alt,  Paranoia  mit  chronischem  Darm- 
katarrh. Der  Patient,  der  früher  151  Pfd.  gewogen  hatte,  ist 
durch  den  chronischen  Darmkatarrh  mit  täglich  3 — 6  flüssigen 
Entleerungen  ausserordentlich  heruntergekommen.  Sein  Ge- 
wicht beträgt  am  29.  März  1902  nur  noch  137  Pfd.  Alle  bis- 
her gegen  den  Darmkatarrh  angewandten  Medikationen  hatten 
sich  als  wirkungslos  erwiesen.  Er  erhält  deshalb  wegen  der 
den  Stuhl  consolidierenden  Wirkung  des  Präparates  5  mal 
täglich  1  Theel.  Hygiama  in  Haferschleim  oder  Kakao.  Am 
6.  IV.  beträgt  sein  Gewicht  140,5  Pfd.  und  bleibt  in  den  nächsten 
Wochen  mit  geringen  Schwankungen  auf  dieser  Höhe;  am 
10.  V.  beträgt  es  141,5  Pfd.  Während  dieser  Zeit  sind  die 
Entleerungen  konsistenter  und  seltener  geworden,  1—2  mal 
täglich.  Die  vorher  vorhandenen  Leibschmerzen,  Übelkeit, 
Brechneigung,  Würgen  sind  völlig  geschwunden.  Pat.  fühlt 
sich  wohl  und  sieht  bedeutend  besser  aus.  Auch  nach  dem 
zeitweiligen  Aussetzen  der  Verordnung  bleibt  das  Befinden  be 
friedigend;  die  Darmerscheinungen  sistieren. 

3.  Frau  J.  A.,  38  J.  alt,  Hysterie,  Taboparalyse,  Pankreas- 
affektion,  Infolge  erschöpfender,  öliger  Entleerungen  hat  die 
Patientin  seit  Oktober  1901  um  48  Pfd.  abgenommen.  Roborat, 
das  lange  Zeit  zur  Nahrung  zugesetzt  wurde,  hatte  weder  die 
Gewichtsabnahme  aufgehalten,  noch  die  Steatorrhoeen  beein- 
flusst.  Gewicht  am  16.  IV.  1902  =  142  Pfd.  Ordination,:  5  Theel. 
Hygiama  täglich  in  Haferschleim  oder  Kakao.  In  den,  folgenden 
Wochen  hält  sich  das  Gewicht  unverändert,  die  öligen  Ent- 
leerungen kommen  seltener  und  bleiben  schliesslich  aus.  Am 
18.  IV.  ist  das  Gewicht  143,5  Pfd»,  das  Aussehen  gebessert, 
der  Appetit  rege    Die  erzielte  bemerkenswerte  Besserung  hält 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene.  1 1 


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542 


Wusenscha ftliche  Mitteilungen 


unter  dauerndem  Gebrauche  kleiner  Mengen  Hygiama's  auch 
in  den  folgenden  Monaten  an. 

Diese  3  aus  der  grossen  Zahl  der  mir  zur  Verfügung 
stehenden  Fälle  aufs  Geradewohl  herausgegriffenen  Krankenge- 
schichten zeigen  durch  ihre  Schwere  genügend  die  vortreffliche 
Wirksamkeit  des  Theinhardfschen  Präparates.  Selbst  bei  dar- 
niederliegender Darmthätigkeit  tritt  eine  völlige  Ausnutzung 
des  Nährmittels  ein,  während  andere  Präparate  nicht  selten 
die  Darmreizung  vermehren.  Wir  haben  daher  in  dem  Thein- 
hardt'schen  Hygiama  ein  vollkommenes  Nährmittel  vor  uns, 
dessen  Anwendung  in  jedem  Falle,  in  dem  die  Hebung  des  Er- 
nährungszustandes erwünschtist,  dringend  empfohlen  werden  kann. 

lieber  das  Problem  der  Frauenbildung. 

Ueber  die  Frauenfrage,  ohne  Zweifel  eins  der  schwierigsten  Probleme 
der  Gegenwart,  ist  schon  ausserordentlich  viel  hin  und  her  geredet,  selten  aber 
in  so  zutreffender  Weise  geurteilt  worden,  wie  im  Sommer  d.  J.  auf  dem  Städte- 
tage zu  Dessau  seitens  des  Stadtschulrats  Dr.  Franke- Magdeburg.  Der  von 
diesem  hervorragenden  Schulmanne  am  genannten  Orte  gehaltene  Vortrag 
handelte  von  der  Schul-  und  Fortbildung  der  Mädchen  aus  den  bürgerlichen 
Kreisen  und  ging  von  dem  Grundgedanken  aus,  dass  die  Notlage  der  Frau, 
insbesondere  der  Frau  der  gebildeten  Stände,  kein  blosses  Hirngespinst, 
aber  auch  keine  normale,  gesunde  Erscheinung,  sondern  ein  pathologisches 
Produkt  des  sozialen  Körpers  sei.  Etwa  drei  Fünftel  aller  berui'sthätigen 
Frauen  in  Deutschland  seien  auf  eigenen  Erwerb  angewiesen  und  tast  drei 
Millionen  ehemündiger  Frauen  blieben  mit  mathematischer  Sicherheit  von 
der  Verheiratung  ausgeschlossen.  Den  übrig  bleibenden  Frauen,  die  meist  den 
mittleren  und  oberen  Kreisen  angehörten,  die  Möglichkeit  für  ein  unab- 
hängiges Leben  zu  verschaffen,  sei  ihr  Recht  und  unsere  Pflicht,  da  die 
Arbeit  die  Ehre  und  Pflicht  auch  des  vermögenden  Mädchens  sei  und  alle 
Mädchen  zu  nützlichen  Gliedern  im  Organismus  der  Menschheit  erzogen 
werden  müssten.  Wenn  nun  auch  die  Frauen,  meinte  Redner  mit  Recht, 
Anspruch  auf  alle  Bildungsgüter  der  Gegenwart  haben,  so  spricht  doch  das 
Dogma  von  der  absoluten  Gleichheit  beider  Geschlechter,  welches  durch- 
aus auf  rationalistischen  Voraussetzungen  beruht,  der  Erfahrung  insofern 
Hohn,  als  das  Weib  zwar  für  viele,  aber  bei  weitem  nicht  für  alle  Berufs- 
arten dem  Manne  gewachsen  ist,  insbesondere  aber  das  scharfe  logische 
Denken,  welches  den  eigentlichen  Gelehrten  macht,  vermissen  lässt.  Dr. 
Franke  will  übrigens  nur  einstweilige  Vorschläge  machen.  Er  meint,  es 
sei  vorläufig  am  besten,  wenn  die  höhere  Mädchenschule  die  gemeinsame 
Unterrichtsanstalt  für  die  weibliche  Jugend  der  gebildeten  Kreise  bliebe 
und  dabei  stets  den  Charakter  einer  allgemeinen  Erziehungsanstalt  be- 
wahrte, und  empfiehlt,  wie  schon  anderweit  wiederholt  vorgeschlagen,  zur 
Durchführung  dieser  Absicht  einen  zehnjährigen  Lehrgang.    Da  sich  unseren 


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WüsHUtkafiUch*  Mitteilungen. 


543 


Mädchen  zahlreiche  Berufszweige,  namentlich  die,  welche  nach  Natur  und 
Sitte  der  Frau  zufallen,  verschlossen  haben,  verteidigt  Franke  die  Errichtung 
von  Haushaltungsschulen,  sowie  von  Schulen  zur  Heranbildung  von  Pflege- 
rinnen für  Kinder  und  Kranke.  Der  kaufmännischen  Fortbildungsschule 
redet  er  das  Wort,  wünscht  aber  die  Angliederung  von  Kursen  zur  Vorbe- 
reitung für  den  kaufmännischen  Dienst,  auch  landwirtschaftliche  Schulen 
und  kunstgewerbliche  Kurse  für  Mädchen.  Ferner  schlägt  er  eine  Aende- 
rung  des  allgemeinen  Fortbildungsktirsus  der  Mädchen  vor,  den  er  auf  zwei 
Jahre  zu  verlängern  empfiehlt  und  als  dessen  Unterrichtsfächer  er  Literatur, 
Geschichte,  Kunstgeschichte  und  Mathematik  fordert,  ausserdem  für  den 
unteren  Kursus  Psychologie  der  Kindererziehungslehre  nebst  Besichtigung 
der  Krippen,  für  den  oberen  Gesundhcitslehre,  Einführung  in  die  Wohlfahrts- 
und Armenpflege  sowie  in  die  soziale  Gesetzgebung  und  Besuch  der  be- 
treffenden Anstalten.    Alle  diese  Vorschläge  sind  vortrefflich. 

Aus  dem  Gesagten  folgt,  dass  Franke  diejenigen  Berufe,  in  denen  die 
ursprünglichen  mütterlichen  Triebe  sich  betätigen  können,  also  die  Gebiete 
der  Erziehung  und  Pflege  der  Kinder,  die  der  Hauswirtschaft  und  Wohl- 
fahrtspflege, nebst  denen  der  helfenden  Liebe  für  das  weibliche  Geschlecht 
als  geeignetste  Wirkungskreise  bezeichnet.  Hieraus  erklärt  sich 
psychologisch  auch  sehr  leicht  sein  Widerwille  gegen 
die  früher  von  uns  empfohlene  Koedukation  nach 
norwegischem  Vorbilde  und  die  an  einzelnen  Orten 
schon  blühenden  Mädchengymnasien;  auch  den  Universi- 
tätsbesuch seitens  der  Frauen  betrachtet  er  nur  als  eine  Ausnahme  und 
meint,  dass  die  Gesamtheit  unter  derartigen  Ausnahmeverhältnissen  nicht 
leiden  dürfe. 

Wir  glauben  nun,  dass  man  einstweilen  ruhig  alle  Schularten  für  Mäd- 
chen neben  den  von  Franke  gewünschten  nebeneinander  bestehen  lassen 
könne.  Namentlich  dürfte  man  erst  abwarten,  was  für  Erfahrungen  man  mit 
dem  Universitätsstudium  der  Studentinnen  und  der  Koedukation  in  ausser- 
deutschen  Ländern  während  einiger,  etwa  fünf  weiterer  Jahre  machen  wird, 
um  über  die  Frauenfrage  ein  völlig  ungetrübtes  Urteil  zu  gewinnen.  Vieles, 
was  Franke  vorschlägt,  wird  man  unbedingt  billigen,  selbst  wenn  man  über 
das  höhere  Bildungswesen  des  weiblichen  Geschlechtes  in  einzelnen  Haupt- 
punkten wesentlich  abweichende  Ansichten  hegt. 

Wollstein.  K.  Löschhorn. 


Das  Kinderschatzgesetz 
nach  den  Beschlüssen  der  Reichstagskommission. 

Der  Reichstagsabgeordnete  Dr.  Zwick  macht  hierzu  in  der  „Vossi- 
schen Zeitung"  folgende  Ausführungen: 

Nach  den  Erhebungen  des  Reichskanzlers  von  1898  sind  nicht  weniger 
als  532283  Kinder  in  noch  nicht  oder  noch  schulpflichtigem  Alter  ausserhalb 
von  Fabriken  erwerbstätig,  und  zwar  davon  mehr  als  die  Hälfte,  nämlich 
306823,  also  57  %.  in  der  Industrie,  ein  Drittel,  nämlich  171  739.  also  32  %. 
als  Austräger,  Ausfahrer,  Laufburschen  oder  Laufmädchen,  21  620,  also  4  % 

11* 


Wüsenschaftlich*  Mittelungen. 


in  Gast-  und  Schankwirtschaften,  17  623  also  3  %  im  Handelsgewerbe  und 
2691,  also  0,5  %  in  den  Verkehrsgewerben.  Berlin  allein  zählte  1808  25  394 
erwerbsthätige  Kinder,  wovon  10  713  mit  Austragen  von  Frühstück,  Milch. 
Zeitungen,  Wäsche,  7409  als  Laufburschen  und  Laufmädchen  beschäftigt 
waren.  Die  Ermittelungen  ergaben,  dass  die  Kinder  nicht  nur  bei  gänzlich 
ungeeigneten,  sondern  auch  geradezu  gesundheitsgefährlichen  Arbeiten  thätig 
sind,  dass  1 10  682  Kinder  mehr  als  3  Stunden  täglich,  viele  sogar  5  und  6,  ja 
10  Stunden  arbeiten,  dass  sie  beim  Austragen  und  bei  sonstigen  Botengängen 
morgens  in  aller  Frühe  und  abends  spät  thätig  sein  mussten.  Diese  rück- 
sichtslose Ausnutzung  veranlasst  unregelmässigcn  Schulbesuch.  Schlaffheu 
und  Teilnahmslosigkeit  beim  Unterricht,  Gleichgültigkeit,  Unfleiss  und  böse 
Gewohnheiten,  die  Erziehung  dieser  Kinder  leidet  ungeheuer,  die  Unterrichts- 
ziele sind  unerreichbar.  In  Berichten,  Versammlungen,  Anträgen  wies  die 
Lehrerschaft  immer  und  immer  wieder  auf  die  Notwendigkeit  erhöhten 
Kinderschutzes  zur  Sicherung  der  allgemeinen  Schulerziehung  hin. 

Aehnliche,  vielleicht  noch  grössere  Missbräuche  in  Ausbeutung  der 
Kinderarbeit  sind  in  landwirtschaftlichen  Betrieben  und  im  Gesindedienst 
vorhanden.  Amtliche  Erhebungen  liegen  zur  Zeit  hierüber  nicht  vor.  Um 
die  gesetzliche  Regelung  über  die  landwirtschaftlichen  Betriebe  mit  aus- 
dehnen zu  können,  einigte  sich  die  Kommission  in  einer  Resolution,  welche 
den  Reichskanzler  um  baldige  Erhebungen  in  genannter  Richtung  ersucht. 

Die  Gesetze  der  Gewerbe-Ordnung  inbezug  auf  das  Verbot  der  Kinder- 
arbeit rinden  keine  Anwendung  auf  Betriebe,  in  denen  der  Arbeitgeber  aus- 
schliesslich zu  seiner  Familie  gehörige  Personen  beschäftigt.    Nun  arbeiten 
aber  nach  Art  der  Arbeit,  Arbeitsraum  und  Zeit  unter  den  denkbar  ungün- 
stigsten Verhältnissen  nicht  weniger  als  306823  Kinder  in  der  Textilindustrie, 
der  Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe,  der  Bekleidungs-  und  Reinigungs- 
Industrie,  der  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genussmittel  (z.  B.  der  Tabak- 
fabrikation) im  Hause  mit  und  bei  den  Eltern.    In  25  Schulorten  des  Kreises 
Sonneberg,  eines  der  Hauptsitze  der  thüringischen  Spielwaren-Industrie,  sind 
3555  Kinder  ausserhalb  der  Schulzeit,  und  davon  2667,  also  97  v.  H.,  im 
eigenen  Hause  beschäftigt.    Nach  den  Erhebungen  sind  fast  83  v.  H.  der  in 
der  Industrie  thätigen  Kinder  in  solchen  Gewerbszweigen  beschäftigt,  in 
denen  die  Haus  Industrie  als  Familienbetrieb  verbreitet  ist.    Da  man  nun 
diese  Hunderttausende  von  Kindern  nicht  nach  wie  vor  schutzlos  lassen 
und  der  vorzeitigen  Ausbeutung  preisgeben  konnte,  wie  es  die  Gewerbe- 
Ordnung  bislang  gethan  hat.  so  beschloss  die  Kommission,  durch  ErJass 
besonderer  Bestimmungen  in  die   Rechte  der  Eltern  einzugreifen,  ohne 
jedoch  eine  Abänderung  der  Gewerbe-Ordnung  vorzunehmen.    Der  Entwurf 
lehnt  sich  an  die  §§  135  und  139  der  Gewerbe-Ordnung  und  erstreckt  sich 
auf  die  noch  nicht  oder  noch  schulpflichtigen  Kinder  und  zwar  auf  solche 
unter  13  Jahre  und  auf  solche  über  13  Jahre,  welche  noch  zum  Besuch  der 
Volksschule  verpflichtet  sind.     Man  konnte     das  Grenzalter  nicht  auf 
14  Jahre  bemessen,  weil  die  Schulpflicht  in  Bayern,  Württemberg  una 
Schleswig-Holstein  nicht  bis  zum  14  Jahre  reicht. 

Eine  wirkliche  Besserung  durch  die  neuen  Bestimmungen,  welche  nur 
ein  Mindestmass  des  Kinderschutzes  darstellen,  welches  für  einzelne  Fälle 


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U  'tsscnscha ftliche  MitUüun  %en. 


545 


schärfere  örtliche  Bestimmungen  nicht  ausschliesst,  ist  nur  dann  zu  erwarten, 
wenn  ausreichende  Ueberwachung  erfolgen  kann.  Hierbei  wird  den  Gewerbe- 
aufsichtsbeamten, Schulbehördcn  und  Lehrern,  Kinderschutzvereinen  neben 
der  Polizei  eine  der  wichtigsten  unmittelbaren  und  mittelbaren  Kontrol- 
und  Erziehungsaufgaben  zufallen. 

In  der  Kommission,  wo  der  nach  diesen  Gesichtspunkten  gearbeitete 
Gesetzentwurf,  ebenso  wie  im  Plenum,  voJle  Anerkennung  fand,  trat  im 
ganzen  eine  Verschärfung  der  Regierungsvorlage  hinsichtlich  der  Beschäfti- 
gung, eine  bessere  Abstufung  hinsichtlich  der  zuzuerkennenden  Strafen  ein. 
Die  diesbezüglichen  Aenderungen  betreffen  Schutz  der  Zwangserziehungs- 
kinder, verbotene  Beschäftigungsarten,  Beschäftigung  über  12  Jahre  alter 
Kinder  in  Werkstätten,  Mitwirkung  der  Schulaufsichtsbehörde,  Ausnahme- 
bestimmungen, Beschäftigung  im  Gast-  und  Schankwirtschaftsgewerbe, 
polizeiliche  Befugnisse  und  Revisionen. 

Die  verbotenen  Beschäftigungen  (§  4  der  Vorlage)  wurden  vermehrt 
durch  diejenigen  im  Schornsteinfegergewerbe,  in  dem  mit  dem  Speditions- 
geschäft verbundenen  Fuhrwerksbetriebe,  beim  Mischen  und  Mahlen  von 
Farben,  beim  Arbeiten  in  Kellereien,  bei  Gipsbrennereien.  FeJleinsalzereien 
und  Gerbereien.  Umstritten  war  §  3  Abs.  1  No.  3,  betreffend  die  Frage, 
ob  Zwangserziehungs-  (Fürsorgeerziehungs-)  Kinder  als  eigene  oder  fremde 
anzusehen  seien.  Man  verhehlte  sich  zwar  nicht,  dass  Missbrauch  der 
Zwangserziehungskinder  durch  gewisenlose  Pflegeeltern  nicht  ausgeschlossen 
sei,  wenn  sie  den  eigenen  gleichgestellt  würden;  man  sagte  sich  aber  anderer- 
seits, gerade  Familien,  welche  für  Unterbringung  solcher  Kinder  am  ge- 
eignetsten wären,  würden  es  ablehnen,  sie  anzunehmen,  wenn  sie  dieselben 
gegenüber  den  eigenen  als  fremde  hinsichtlich  der  zu  machenden  Forderungen 
betrachten  müssten.  Gute  FamUiencrziehung  sei  aber  für  diese  Kinder 
erwünschter  als  Anstaltserziehung. 

Um  das  Interesse  der  Schule  in  höherem  Masse  zu  wahren,  als  es 
durch  den  Entwurf  geschehen,  nahm  man  folgende  zusätzliche  Bestimmung 
zu  §  5  an,  der  neben  den  §§  13  und  16  die  Beschäftigung  im  Betriebe  von 
Werkstätten  und  im  Verkehrsgewerbe  betrifft: 

„Um  Mittag  ist  den  Kindern  eine  mindestens  zweistündige  Pause 
zu  gewähren.  Am  Nachmittag  darf  die  Beschäftigung  erst  eine  Stunde 
nach  beendetem  Unterricht  beginnen." 

Nach  dem  Kommissionsbeschluss  dürfen  Kinder  bei  theatralischen 
Vorstellungen  überhaupt  nicht  mehT  beschäftigt  werden.  Ferner  wurde  das 
Grenzalter  für  die  Beschäftigung  fremder  Kinder  mit  Austragen  von 
Waren  etc.,  von  der  Kommission  von  acht  auf  zehn  Jahre  erhöht,  und  die 
Genehmigung  von  der  Anhörung  der  Schulaufsichtsbehörde  abhängig 
gemacht. 

Leider  ist  der  §  13.  die  Beschäftigung  eigener  Kinder  in  Werkstätten 
betreffend,  in  zweiter  Lesung  durch  Annahme  eines  neuen  abschwächenden 
§  13  a  verändert  worden,  nach  welchem  der  Bundesrat  gestatten  kann,  dass 
für  einzelne  Arten  der  im  §  12  bezeichneten  Werkstätten  mit  Motorbetrieb 
die  eigenen  Kinder  unter  zehn  Jahren  (nach  §  13)  beschäftigt  werden 
können,  allerdings  mit  der  Beschränkung,  dass  die  Arbeit  nicht  an  de«  durch 


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546 


WisstmchafiUche  Mitteilungen. 


Triebkraft  bewegten  Maschinen  selbst  geschehen  darf.  Nach  §  15  ist  nun- 
mehr die  Beschäftigung  im  Betriebe  von  Gast-  und  Schankwirtschaften  von 
Kindern  unter  12  Jahren  und  von  Mädchen  überhaupt  verboten. 

Von  hoher  Bedeutung  für  die  Kontrole  und  Wirksamkeit  des  ganzen 
Gesetzes  sind  die  Abänderungen  der  §§  19  bis  21.    In  den  §§  6,  8  und  21 
sah  die  Kommission  die  Mitwirkung  der  Schulaufsichtsbehörde  vor  und 
änderte  in  zweiter  Lesung  auch  den  §  19  dahin  ab,  dass  die  Polizeibehörde 
befugt  sei,  sofern  bei  der  zulässigen  Beschäftigung  erhebliche  Missstände 
zu  Tage  getreten  sind,  auf  Antrag  oder  nach  Anhörung  der  Schulaufsichts- 
behörde für  einzelne  Kinder  die  gewerbliche  Arbeit  einzuschränken  oder 
zu  untersagen,  sowie  wenn  für  die  Kinder  eine  Arbeitskarte  erteilt  ist 
(§  Ii),  diese  zu  entziehen  und  die  Erteilung  einer  neuen  Arbeitskarte  zu 
verweigern.    Auf  den  §  20  sollen  ferner  die  Bestimmungen  des  §  139  b  der 
Gewerbe-Ordnung  (betr.  Aufsicht  und  Revision  über  die  Ausführung  der 
Bestimmungen)  Anwendung  finden  und  Revisionen  auch  in  Privatwohnungen, 
in  denen  ausschliesslich  eigene  Kinder  beschäftigt  werden,  während  der 
Nachtzeit  zulässig  sein,  sobald  begründeter  Verdacht  der  Nachtbeschäftigung 
der  Kinder  vorliegt. 

Diese  letzten  Bestimmungen  sind  von  der  grössten  Tragweite,  sie 
ermöglichen  erst  die  Abstellung  der  Missbräuche  durch  eine  sichere  Beur- 
teilung und  Kontrole:  die  indirekte  Mitwirkung  der  Schule  ist  der  Regulator, 
die  zulässigen  Revisionen  sind  das  Sicherheitsventil,  beide  gewährleisten 
erst  dauernden  und  sicheren  Kinderschutz. 


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Bibliotheca  pädo- psych  ologica. 

Geschichte  und  Theorie  der  Erziehung  und  des  Unterrichts, 
Methodik  der  Lehrfächer,  Schulorganisation  in  Programmen, 
Abhandlungen   und  Inaugural-Dissertationen    mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Jahre  1898/99. 

Fortsetzung. 

Strömungen   auf  dem  Gebiete  des  Volksschulwesens  der  Gegenwart 

in  Deutschland.    Neue  Bahnen  1899,  Heft  4-7. 
S  t  u  d  i  e  n  p  1  a  n   für  die  Studierenden  des  Lehramtes  an  der  Hochschule 

Bern  (22.  März  1898.)    Bern  1898.    (8  S.)  8*. 
Studntcka:    Theorie  des  Freihandzeichnens  auf  Grundlage  der  geo- 
metrischen Formenlehre.    Sarajevo  1898:  Studnicka. 
Stutzer,  Emil,  Dir.  Prof. :    Vorwort  an  die  Eltern  über  Erziehung  und 

Verhältnis  zwischen  Schule  und  Haus.  (S.  3-6.)  4".  Görlitz,  G,  P  1890. 
S  t  u  v  e  r  ,  E.:    Symmetrical  Development,  Or,  Does  Our  Present  School 

System  Develop  the  Highcst  Powers  of  the  Pupil?  J.  of  the  Am.  Med. 

Ass.,  1900,  XXXV,  25,  1606—1612. 
Süss.  C. :    Notenfibel  für   den    Gesangunterricht    in    Schulen.  Frank- 
furt a.  M.  1898:  Diestcrweg. 
Süss,  A.:    Pestalozzi  als  religiös-sittlicher  Erzieher.     133  S.  Weissen- 

burg  i.  E.:  R.  Ackermann,  1898. 
S  ü  s  s  ,  C. :  Die  Praxis  d.  Schulgesanges.  Frankfurt  a.  M.  1898:  M.  Diesterweg. 
Super,  Charles  W. :    The  meaning  of  education.    The  Journal  of  Peda- 

gogy.    Syracuse,  N.  Y.,  U.  S.  A. 
Sutertneister,  E.:    Wie  lassen  sich  den  Taubstummen  die  Gebärden 

am  besten  abgewöhnen?    Bl.  f.  Taubst'bildung,  1899,  XII,  4. 
S  w  e  a  r  i  n  g  e  r ,  J.  E.:  The  Higher  Education  of  the  Blind.    Addr.  u.  Proc. 

Nat.  Educ.  Assoc,  1900,  XXXIX,  671— 674. 
Swct.  Curt:    Beiträge  zur  Lebensgeschichte  und  Pädagogik  Joh.  Bernh. 

Basedows.    Zwickau  1898:  E.  A.  Günther  Nachl    (51  S.)    8".  Diss. 
S  w  r  a  k  o  f  f  :    Der  Einfluss  der  zeitgenössischen  Philosophie  auf  Basedows 

Pädagogik.    (Dissertation.)    58  S.    Giessen  1898:  Brühl. 
Tadd.  J.  L.:  New  Methods  in  Education:  Art,  Real  Manual  Training. 

Nature  Study.    London:  Sampson  Low.  1899.    4°,  456  S.  m.  478  Abb. 

u.  44  Taf. 


548 


Hibliötheca  pädo-psychologica. 


Tadd,  J.  L.:  Neue  Wege  zur  künstlerischen  Erziehung  der  Jugend. 
Zeichnen,  Handfertigkeit,  Naturstudium,  Kunst.  Leipzig:  R.  Voigt- 
länder, 1900  gr.  8",  XII  u.  212  S.  m.  330  Abb. 

Tecklenburg  :  Die  organische  Eingliederung  der  Heimat-  u.  Stammes- 
geschichte in  die  Reichsgeschichte.  93  S.  Hannover  u.  Berlin  1899: 
C.  Meyer. 

Tegge,  August,  Prof.  Dr.:  Ueber  die  Staatsgewalten  der  römischen  Re- 
publik.   [Für  Gymnasien  bearb.]    (S.  21—34.)   4°.   (Teil  seines  künftig 

erscheinenden  Kompendiums  d.  griech.  u.  röm.  Altertümer.)  Bunzlau, 

k.  Waisen-  u.  Schul-A(G),  OP  1899. 
Temmerman,    H.:    Handboek    voor    de    opvoed-en  onderwijskunde. 

Gaud:  Ad.  Hoste,  1901.   gr.  8",  VIII  u.  468  S. 
Tcrwelp,  Gerhard,  Prof.  Dr. :    Geschichte  des  Gymnasiums  Thomaeum 

zu  Kempen  (Rh.).    Th.  2.    A.  Wefers.    (S.  LV— CXXXIX.)  8*. 

(Forts,  d.  P-Beil.  1898.)    Kempen  [Rhein],  k.  G  Thomaeum.  OP  1899. 
Tesch,  P.:   Die  deutsche  Musteraussprache  u.  ihre  Pflege.   Pädag.  Blätter 

(v.  Kehr)  1898  No.  9. 
Tetzner:  Geschichte  der  deutschen  Bildung  und  Jugenderziehung  von 

der  Urzeit  bis  zur  Errichtung  von  Stadtschulen.    404  S.    5,50  M 

Gütersloh:  Bertelsmann,  1897. 
Teyxelra,  V.  E.:    L'educazione  fisica.    Giorn.  d.  R.  Soc.  ital.  d'ig., 

Mailand,  1900.    XXIII,  258—269;  302—312. 
Thomas,  Ferdinand:    Die  Aufsatzübungen  in  der  Bürgerschule  u.  in  den 

Oberklassen  gehobener  Volksschulen.    157  S.    2.  verb.  u.  verm.  Aufl. 

Wien  1899:  A.  Pichler. 
Thorndike,  E.:   The  Instinctive  Reaction  of  Young  Chicks.  Psycholo- 

gical  Review  1899,  No.  6. 
Thräudorf  u.  Meitzer:    Der  Religionsunterricht    auf   der  Unterstufe. 

69  S.    Dresden  1899:  Bleyl  &  Kämmerer. 
Timpe,  Willy:    Mathematische  Aufgaben.    [T.  l.|    (39  S.)    4".  Berlin, 

Sechste  st.  R  [HB],  OP  1899. 
Tissie\  Ph.:    L'education  physique  en  France  au  XIXe  siecle.  Rev. 

scientif.,  4e  s.,  XIII,  13—14  et  19. 
Todt,  Carl:    Biographisch-bibliographisches  Verzeichnis  der  Lehrer  des 

Joachimsthalschen  Gymnasiums  seit  1826.     (26  S.)    4*.     Berlin,  k. 

Joachimsthalsches  G,  P  1899. 

Gesetzgeb.  u.  Statist.,  1900,  XV,  3  ti.  4. 
Tönnies,  F.:     Die  Erweiterung  der  Zwangserziehung.    Arch.  f.  soz. 

[m.  Kl.  VI— IV  eines  sog.  Reform-G],  P  1899. 
Tontscheff,  Nicolas:    Die  Lehre  von  den  Stufen  des  Unterrichts  bei 

Johann  Friedrich  Herbart.    Mit  Berücksichtigung    ihrer  bisherigen 

Auffassungen.    Leipzig-R.  1899:  O.  Schmidt     (57  S.)    8*.  Diss. 

Traugott,  Friedrich:  Darstellung  und  Kritik  der  Methode  Gouin.  Ein 
Beitrag  zur  Methodik  des  fremsprachlichen  Unterrichts.  Jena  1898: 
G.  Neuenhahn.    (64  S.)   8*.  Diss. 

Treutie  in,  Peter:  Ausführlichere  Darstellung  der  Lehrpläne  der  An- 
stalt.   1.  Der  naturgeschichtl.  Unterricht.    (18  S.)  4°.    Karlsruhe,  RG 


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549 


S  t  r  i  t  a  r ,  Josef:  Gedächtnisverse  zur  lateinischen  Casuslehre.  Wien  1898. 
(8  S.)    8*.  Progr. 

Trugnitz,  Bernhard:  Mathematische  Aufgaben  nebst  Lösungen  aus  dem 
Pensum  der  Prima  der  höheren  Lehranstalten.  (34  S.)  8\  Meiningen, 
G  Bernhardinum,  OP  1899. 

Tromnau,  A.:  Länderkunde  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
Kulturgcographie.  I.  Die  fremden  Erdteile.  II.  Europa.  III.  Das 
Deutsche  Reich.    Halle  1898:  Schroedel. 

Tromnau:  Lehrbuch  der  Schul  geographic.  II.  Teil:  Länderkunde. 
3  Abteilungen.   Halle  a.  S.  1898:  Schroedel. 

T  r  o  p  f  k  e  ,  Johannes,  Dr. :  Erstmaliges  Auftreten  der  einzelnen  Bestand- 
teile unserer  Schulmathematik.  T.  1.  (27  S.)  4°.  Berlin,  Friedrichs- 
RG,  OP  1899. 

Trunk,  Hans:  Eine  Schulreise  und  was  sie  ergeben  hat.  Erlebnisse  u. 
Betrachtungen.    Graz:  Leuschner  k  Lubensky,  1899.    (VI,  287  S.)  8\ 

Trüper,  J.:  Zur  Frage  der  Erziehung  unserer  sittlich  gefährdeten 
Jugend.  Bemerkungen  zum  Entwurf  eines  Gesetzes  über  Zwangs- 
erziehg.  Minderjähriger.  No.  5  der  Beitr.  z.  Kinderforschung. 
Langensalza,  Beyer  Sc  Söhne,  1900.    gr.  8°,  VI  u.  34  S. 

Uhl  ig  Gustav,  Dir.  Geh.  Hofrat  Dr.:  Bericht  über  die  Feier  des  Stiftungs- 
tages des  Gymnasiums  am  8.  Okt.  1898,  nebst  einem  Rückblick  auf 
das  Leben  der  während  des  vergangenen  Schuljahrs  verstorbenen 
alten  Schüler.   (S.  3-6.)  4*.   Heidelberg,  G,  P  1899. 

U  l  b  r  i  c  hr ,  Oskar,  Dir.  Prof.  Dr. :  Rückblick  auf  das  verflossene  Viertel- 
jahrhundert der  Anstalt  bei  Gelegenheit  ihres  75  jähr.  Bestehens. 
(S.  18—20.)    4°.    Berlin,  Friedrichs- Werdersche  OR,  P  1899. 

Ullrich:  Deutsche  Musteraufsätze.    268  S.    Leipzig  1899:  Teubncr. 

Unold:  Ueber  den  Zweck  der  Erziehung  in  der  neueren  Pädagogik. 
Neue  Bahnen  X  (1899),  9  u.  10. 

Uphues:  Ueber  die  griechische  Religion  als  Einleitung  zur  Geschichte 
der  griechischen  Philosophie.    Die  Deutsche  Schule  III  (1899),  8. 

Urban.  Karl,  Probst  u.  Dir.,  Prof.  Dr. :  Zur  Geschichte  des  Pädagogiums 
zum  Kloster  U.  L.  Fr.  S.  25 — 44.  4°.  Magdeburg,  Pd.  zum  Kloster 
U.  L  Fr.,  OP.  1899. 

Urban,  Karl,  Propst  u.  Dir.,  Prof.  Dr.:  Nachträge  und  Berichtigungen 
zur  vorjährigen  Programmschrift  [:  Verzeichnis  d.  Abiturienten  des 
Klosters  1780-1897.]  (S.  24.)  4°.  Magdeburg,  Pd  zum  Kloster  U.  L. 
Fr.,  OP  1899. 

Valette.  T.  G.  G.:    Het  onderwijs  in  de  levende  vreemde  talen.    2e  ultg. 

Haarl.:  De  Erven  F.  Bohn,  1899.   gr.  8*.  26  S. 
Varadi,  Zs. :    Die  humanitären  Unterrichtsanstalten  in  Ungarn,  II  u.  III. 

Bl.  f.  Taubst'bildung,  1899,  XII,  2  u.  3. 

V  a  1 1  e  r  ,  J.:  Die  Ausbildg.  des  Taubstummen  in  der  Lautsprache.  III.  Teil: 

Der  sprachlich-formale  (grammat)  Unterricht.  Frankfurt  a.  M.: 
H.  Bechhold,  1899.   gr.  8\  VII,  151  S. 

V  a  1 1  e  r  ,  J. :    Gedanken  über  die  neueren  Bestrebungen  auf  dem  Gebiete 


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550  Biblioiheca  pädo-psyckologica. 

des  Taubstummen-Unterrichts.     Organ  der  Taubsturamen-Anstalten 
in  Deutschld.,  Jahrg.  45,  H.  7. 
Veeh.L.:   Die  Pädagogik  des  Pessimismus.   Leipzig:  H.  Haacke,  1900. 
gr.  8°,  VI  u.  46  S. 

Vergleich  der  physiolog.-psychologischen  Vorgänge  bei  der  Sprach- 
erlernung Vollsinniger  und  Taubstummer  und  die  daraus  sich  ergeben- 
den Folgerungen  für  die  Methodik  des  Sprachunterrichts  bei  letzteren. 
Bl.  f.  Taubsfbildung,  1899,  XII,  1. 

Verwaltungsbericht  der  Erzichungs-Direktion  des  Kts.  Bern  für 
das  Schuljahr  1897/98.    Bern  1898.   (33  S.)  K\ 

Verzeichnis  der  in  früheren  Jahren  den  Jahresberichten  des  Gym- 
nasiums in  Neuburg  a.  D.  beigegebenen  wissenschaftlichen  Beilagen. 
(S.  53—55.)  8*.  (Vgl.  P-Beil.  1897.)  Neuburg  a.  d.  D.,  k.  Humanist. 
G,  P  1899. 

Verzeichniss  der  in  den  einzelnen  Klassen  für  die  Deklamation  zu 
lernenden  deutschen  Gedichte.  Attendorn,  G,  P  1898. 

V  e  y  s  s  i  e  r  ,  E. :    De  la  methode  pour  l'enseignement  des  langucs  Vivantes. 

204  S.   Paris  1898:  Belin  »eres. 
Villers,  Charles  de:    Lettre  ä  Mademoiselle  D.  S.  sur  Tabus  d.  gram- 
maires  dans  l'etude  du  francais,  et  sur  la  meilleure  methode  d'apprendrc 
cette  langue.    Leipzig  1899  in:  Ulrich,  O.:  Charles  de  Villers. 

V  i  o  1  e  t ,  Franz,  Dr. :    Die  neuere  deutsche  Litteratur  auf  der  Oberstufe  der 

höheren  Mädchenschule.    (32  S.)    4°.    Berlin,  Dorotheen-S.  OP  1899 

Voelkcr,  Paul,  Dr. :  Ueber  sprachlich-logische  Schulung  durch  das 
Französische.  (S.  31 — 53  )  4*.  Halle  a.  S.f  RG  u.  OR  d.  Franckeschen 
Stiftungen,  Festschr.  1898. 

Vogel,  O.,  K.  Müllenhoff  u.  P.  Röseler:  Leitfaden  für  den  Unterricht  in 
der  Botanik.  Heft  II.  Neue  Ausgabe  mit  18  Tafeln  in  Dreifarben- 
druck nach  Aquarellen  von  A.  Schmalfuss.  198  S.  Berlin  1899: 
Winckelmann  &  Söhne. 

Vogel,  Theodor:  Lehrplan  für  den  deutschen  Unterricht  in  den  latein- 
losen Unterklassen  der  Dreikönigschule.  [Realgymnasium  zu  Dresden- 
Neustadt].  T.  1.  (S.  3-18.)  49.  (Erschien  vollst.  1899  bei  Teubner  in 
Leipzig.)    Dresden-Neustadt,  Drei-König-S  [RG],  OP  1899. 

Voss,  Georg  von:  Ueber  die  Schwankungen  der  geistigen  Arbeitsleistung. 
Mit  1  Fig.  im  Text.    Leipzig:  W.  Engelmann,  1898.    (55  S.)  8\  Diss. 

Voss.  Georg,  Prof.  Dr.:  Christoph  Stummel:  Studentes,  comoedia  de  vita 
studiosorum.  [Neu-Abdr.]  T.  1.  (S.  3-41.)  4°.  Aachen,  k.  Kaiser- 
Wilhelms-G,  OP  1899. 

Voss,  P.:  Brev  til  en  tysk-laerer.  Kristiania:  Grondahl  &  sons,  1898. 
(S.  62—73.)  Progr. 

Wagner,  L.:  Die  Elemente  des  Teilens  in  ihrer  psychologischen  Be- 
gründung.   Neue  Bahnen  X  (1899),  10. 

Wagner,  Max:  Organisation  der  Volksschule  auf  psychologischer  Grund- 
lage.   D.  Deutsche  Schule  III.  (1899),  8. 

Wahrheit  und  Irrtum  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichts  it.  der  Erziehung 


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551 


am  Anfang  u.  Ende  des  XIX.  Jahrhunderts  .  Rheinische  Blätter  f.  Er- 
ziehung u.  Unterricht,  LXX1II.    189),  1,  2,  4,  6. 
Waitz,  Theodor:    Allgemeine    Pädagogik.    Neue   Ausg.  Langensalza- 

F.  G.  L.  Gressler,  1899.    (XII  .412  S.)    1  Bd.  8*. 
Walde  y  er,  Wilhelm:  Ueber  Aulgaben  und  Stellung  unserer  Universitäten 

seit    der    Neugründung    des    Deutschen    Reiches.      Berlin  1898: 

W.  Büxenstein.    (30  S.)    4'.  Rektoratsrede. 
Waneck,  A.:    Das  Realschulwesen  Mährens  1848—1898.    (Ein  Beitrag 

zur    Entwickelungsgeschichte    desselben.)     Progr.     M.-Ostrau  1899. 

(27  S.)  8». 

Wire,  F.:  Educational  Reform:  Task  of  Board  of  Education  London: 
P  1899. 

Warth,  Alfred,  Prof.:   Aus  dem  Unterricht  im  Deutschen.    (Aufgaben  für 
die  Oberklassen  mit  fünf  Entwürfen.)    (S.  30—33.)    4*.  Kornthal,  Ge 
meinde- Latein-  u.  Rcal-S  m.  Pensionat,  OP  1899. 

Weber:  Wörterverzeichnis  und  Uebungsstoffe  für  die  Rechtschreibung. 
3  Hefte.    Leipzig  1899:  Klinkhardt. 

Weber,  Hcinr. :  Die  Entwickelung  der  physikalischen  Geographie  der 
Nordpolarländer  bis  auf  Cooks  Zeiten.  München.  Phil.  Diss.  1898. 
Methuen,  1900.   8*.  152  S. 

Wedde,  Hermann,  Dr.:  Versuche  und  Erfahrungen  mit  Schulaquarien. 
(21  S.)  4».   Halberstadt,  RG,  OP  1899. 

Wegen  er,  Philipp,  Dir.  Dr.:  Zur  Methodik  des  Lateinischen  und  Grie- 
chischen Unterrichts.    (S.  3—24.)    4'.    Grcifswald,  st.  G  m.  Realkl., 

Wehr  mann.  Karl,  Dir.  Dr.:  Wider  die  Methodenkünstelei  •  im  neu- 
sprachlichen Unterricht.  (12  S.)  4°.  [Köpft.]  (F.)  (Umarbeitung 
eines  Vortrags,  geh.  auf  d.  1.  Versammlung  d.  Lehrer  höh.  Schulen  d. 
südl.  Rheinlands  zu  Oberstein  1897.*    Kreuznach,  st.  R,  OP  1899. 

Weigand.  H.:  Der  Geschichtsunterricht  nach  den  Forderungen  der 
Gegenwart.    Ein  methodisches  Handbuch.    Hannover  1899:  C.  Meyer. 

Weigand-  Tecklenburg:  Deutsche  Geschichte  für  Schule  w.  Haus.  7.  Aufl. 
Hannover  u.  Berlin  1899:  C.  Meyer. 

Weih  rieh,  Georg:  Verzeichniss  der  seit  1852  veröffentlichten  Pro- 
gramm-Abhandlungen.   (S.  2.)  4*.    Mainz,  grossh.  G.  P  1899. 

W  elton  .  J.:  I.ogical  Bases  of  Education.  N.  York  u.  London:  Macmillan. 
1899.   8*,  304  S. 

Weng,  Aug..  Prof.:  Geometrie  der  Kegelschnitte  im  Rcalschulunterricht. 

(47  S.)  4°.    Heilbronn,  k.  RA.  P  1899. 
Wermbter,  Hans:    Fragen  zur  deutschen  Geschichte  im  Prima-Untcr- 

richt.    Rastenburg.    (24  S.)    8*.    Rastenburg,  k.  Herzog-Albrechts-G. 

P  1899. 

Wernicke,  Alexander:  1.  Die  Einrichtung  der  (Preussischen)  Oberreal- 
schule vom  1.  April  1892  und  ihre  Berechtigungen.  2.  Die  Berechti- 
gungen der  Städtischen  Oberrealschule  zu  Braunschweig.  (S.  3—9.)  4*. 
(Vgl.  Progr.  1895—98.)    Braunschweig,  st.  OR,  OP  1899. 

W  e  t  z  e  I .  K. :    45  französische  Lieder  mit  bekannten  deutschen  Volks- 


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melodicn  für  den  Gebrauch  beim  französischen  Unterricht.  Berlin 
1898*  Fussinger 

Wicken'hag.n,  Hermann:  Tum«  u.  Jnge.,d»picle.  Ein ,L.hhta i  für 
die  körperliche  Erziehung  in  höheren  Schulen,  gr.  «.  93  S.  München 
1898*  Beck 

Widman,  Simon,  Dir.  Dr.:  Einrichtung  von  Gynmasialklassen  (am 
städtischen  Realprogymnasium  in  Oberlahnstein).  (S.  16—17.)  4. 
Oberlahnstein,  st.  RPG,  P  1899. 

Wiedemann,  E.,  u.  H.  Ebert:  Physikalisches  Praktikum  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  physikalisch  -  chemischen  Methoden.  Mit 
336  Holzschnitten.    14.  Aufl.   Braunschweig  1899:  Vieweg  4  Sohn. 

Wilke,  Edwin,  Rekt.:  Ratschläge  für  die  Eltern.  (1.  Wie  schütze  ich 
mich  vor  Schulstrafenl  II.  Nicht  versetzt.  [Ein  Brief.]  III.  Fort- 
bildung.)   (S.  3—6.)   8*.    Quedlinburg,  Mädchen-Volksschulen,  P  1898. 

Wilke,  Eduard:  Anschauungsunterricht  im  Englischen.  2.  verm.  u.  verb. 
Aufl.    Leipzig  1898:  Gerhard. 

Wilke,  Edwin,  Rekt.:  Geschichtliches  (über  die  Mädchen-Volksschulen 
der  Stadt  Quedlinburg,  ihre  Einrichtung,  ihre  Lehrer.)  (S.  7—14.) 
8°.    [F.]    Quedlinburg,  Mädchen- Volksschulen,  P  1898. 

Wilke,  E.:   Sprachbildung  und  sogenannte  Sprachschulen.    Die  Deutsche 

Schule  III.  (1899),  6. 

Wilke,  Georg:  Die  Haupt berührungs-  und  Unterscheidungspunkte  der 
Erziehungsgedanken  John  Locke's  und  Jean  Jacques  Rousseau*. 
Scheinfeld  1898:  M.  Ille.    (67  S.)  8*.  Diss. 

Will  mann,  Dr.  Otto:  Theodor  Waitz*  Allgemeine  Pädagogik.  4.  verm. 
Auflage.  Mit  Portrait  und  Einleitung.  Braunschweig  1898:  Fr.  Vie- 
weg &  Sohn.   8°,  552  S.   5  M. 

Willmann,  O.:  Eine  Logikstunde  im  Rahmen  des  deutschen  Unter- 
richts.   Pädag.  Blätter  (von  Kehr)  1898  No.  7. 

Winch,  W.  H.:  Problems  in  Education.  London:  Sonnenschein.  1900. 
8°,  158  S. 

Winkler,  Franz:  Schreibschule  für  den  Schulgebrauch  u.  z.  Selbstunterr. 
M.  e.  Vorw.  (unterz.  A.  J.).   Elberfeld:  Baedeker,  1899.   (24  S.)  8*. 

W  i  n  t  e  r  h  o  f  f ,  Johannes:  Die  Pflege  körperlicher  Uebungen  in  Münster 
während  des  Mittelalters.    (S.  3-26.)    \\    Münster  i.  W..  RG.  P  1899 

Witehead,  Alfred  North:  A  Treatise  on  Universal  Algebra  with  Appli- 
cations.  Vol.  I.  588  S.  Cambridge  1898:  University  Press. 

Wittrien,  Otto,  Dir.:  Verzeichnis  der  bisher  von  der  Schule  veröffent- 
lichten Programm-Abhandlungen.  (1  Bl.)  4°.  (Vgl.  Progr.  1897—98.) 
Königsberg  i.  Pr.  st.  RG.  OP  1899. 

Wolf,  Franz:  Kurze  Geschichte  der  Städtischen  Realschule  mit  Pro- 
gymn.isium  zu  RocWitz  in  Sachsen  1874—1899 . . .  [u.]  Die  Weihe  des 
neuen  Realschulgebäudes.  (76  S.)  4'.  Rochlllz  i.  S..  st.  R  m.  PG. 
Festschr.  1899. 

W  o  1  f  s  d  o  r  f .  Wilh. :  Einfluss  der  Schrift  auf  die  Aussprache  des  Neu- 
französischen.    Bonn.    Phil.  Diss.  1898. 
Wolle  rt,  Paul:    Bericht  über  die  vom  Direktor  der  Anstalt  geleitete 


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Wossidlo,  P.:    Leitfaden  der  Zoologie.    1.  Teil:  Die  Tiere.    8.  Aufl. 

Mit  445  Abb.  u.  4  Tafeln.   II.  Teil:  Der  Mensch.  8.  Aufl.  Mit  104  Abb. 

Berlin  1899:  Weidmann. 
W  o  1 1  a  ,  J.:   Sammlung  der  für  die  Bukowina  in  Kraft  bestehenden  Gesetze 

und  Verordnungen,  welche  das  Volksschulwesen  betreffen.  Czerno- 

witz:  R.  Schally.  1899.   gr.  8*.  IV  u.  580  S. 
Woude,  E.  van  der:    Theoretisch-prakt.  handleiding  voor  het  teekenen. 

s'Gravenh.:  G.  Vormer,  1900.  ff,  6  u.  119  S.  m.  154  Fig. 
Wulf:  Raumlehre.   Ausgabe  A.  für  Lehrer,  B.  für  Schüler.  Braunschweig 

1899:  Wollermann. 

Wüsthof,  Robert:  Die  Centraibewegung  im  physikalischen  Pensum  der 
Prima.  Ein  Beitrag  zu  ihrer  didakt.  Behandlung.  (25  S.)  8". 
Gartz  a.  O.,  OP  1899. 

Würkert,  Georg:  Die  Encydopaedie  des  Petrus  Ramus,  ein  Reform- 
versuch der  Gelehrtenschule  des  16.  Jahrhunderts.  Lcipzig-R.  1898: 
O.  Schmidt.    (56  S.)   8*.  Diss. 

Zahn.  Gotthold»  Dir.:  Lehraufgaben  der  Höheren  Mädchenschule. 
(S.  1-39.)  4*.  [Umschlagt.]  [F.]  (Neue  Auflage  der  1877  u.  1886 
veröffentl.  Lehrpläne.)  Hamburg,  Unterrichts-Anstalten  d.  Klosters 
St.  Johannis,  HM  u.  Sm  f.  Lehrerinnen  an  HM,  OP  1899. 

Zander,  August:  Die  Sammlungen  für  Naturkunde  (am  Gymnasium 
Deutsch- Wilmersdorf).  (S.  37—40.)  4°.  Deutsch-Wilmersdorf  bei  Berlin, 
Bismarck-G,  P  1899. 

Zech:  Aus  der  Praxis  des  Blindenunterrichts.  Blindenfreund,  XIX,  11  u.  12. 

Zeibig,  Th.,  u.  L.  Hanicke:  Präparationen  zu  Luthers  kleinem  Katechis- 
mus in  fortlaufendem  Gedankengange.  II.  Der  christliche  Glaube. 
Dresden  1898:  Bleyl  &  Kämmerer. 

Z  e  i  s  s  i  g  ,  E. :  Die  Formenkundc  darf  nicht  Formenunterricht,  sondern  muss 
Sachunterricht,  Sachkunde  sein.  Rhein.  Blätter  f.  Erz.  u.  Unterr. 
LXXIII  (1899),  6. 

Z  e  s  c  h  ,  Max :  Die  geschichtliche  Entwickelung  des  Leisniger  Stadtschul- 
wesens bis  zur  Wende  des  16.  Jahrhunderts.  Beitrag  zu  einer 
sächsischen  Schulgeschichtc.  Nach  urkundlichen  Quellen  bearbeitet. 
Leipzig.    Phil.  Diss.  1898. 

Z  e  1 1 1  e  r ,  M.:  Die  Ordnungsübungen  in  ihrer  Verwertung  beim  Unterrichte. 
Mit  70  Holzschnitten,  gr.  8<\  III  S.  Wien  1998:  Pichlers  Wwe.  u.  Sohn. 

Zettler,  M.:  Englischer  Spielsport  und  deutsches  Turnspiel.  Mon'schr. 
f.  d.  Turnwesen,  Berlin,  1900,  XIX,  2,  41—50;  3,  73—78. 

Ziegler,  K. :  Die  wichtigsten  charakteristischen  Grundsätze  des  Unter- 
richts bei  schwachsinnigen  Kindern.  Zeitschr.  f.  d.  Behandig.  Schwachs. 
u.  Epilept.,  1900,  3—5. 

Ziehen,  Julius,  Dir.  Dr. :  Kunstgeschichtliche  Erläuterungen  zu  Lessing« 
I^aokoon.  (42  S.)  8°.  (Erschien  erweitert  im  gleichen  Verl.  u.  d.  T: 
Kunstgeschichtl.  Anschauungsmaterial  zu  Lessings  Laokoon.)  Frank- 
furt a.  M.,  Wöhler-S  [RG  nebst  Handels-S],  OP  1899. 

SchriftMrung :  F.  Kemsies.  Berlin  NW.,  Paulstr.  33  and  L.  Hirschlaff,  Berlin,  W.  Lü  tzowstr.  85b. 


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Geschäftliche  Mitteilungen: 

Das  beste  von  allen  bisher  hergestellten  Gesundheitscorsetts  ist  nach 
vielen  ärztlichen  Zeugnissen  der  von  Frau  Agnes  Fleischer- Griebel  erfundene 

„Hera-Gürtel". 

Der  „Hera-Gürtel"  ist  hygienisch  vollkommen  konstruiert,  da  er 
Lunge,  Leber  und  Magen  frei  lässt.  Daher  ist  er  nicht  nur  für  Gesunde 
empfehlenswert,  denen  er  eine  tadellos  schSne  Figur  schafft,  sondern  er  wird 
auch  für  Brustleidende,  Operierte,  Schwangere,  an  Wandernieren 
Leidende  etc.  ärztlich  verordnet. 

Der  GesuadheiU-Sport-GQrtel  „Hera"  ist  zum  Preise  von  9,50  Mk.  an 
zu  beziehen  durch  die  Patent-Inhaber  Agnes  Fleischer- Griebel  &  Lesemeister, 
Berlin  C,  Breitestr.  28  II. 

Herr  Sanitätsrat  Dr.  Niemeyer  -  Berlin  schreibt  in  seiner  „Aerztlichen 
Sprechstunde",  7.  Bd.:  Seit  einiger  Zeit  wurde  ich  mit  einem  Präparate  bekannt, 
welches  ich  an  Stelle  der  Pillen  verordnen  lernte,  nämlich  die  vom  Apotheker 
Herrn  Kanoldt  in  Gotha  hergestellte  Tamarinden- Konserve.  Die  von  einem 
ostindischen  Baume  stammende,  hülsenartige  Frucht,  aus  welcher  bisher  in  den 
Offizinen  „Tamarinden-Mus"  hergestellt  wurde,  enthält  an  Stelle  der  Harzstoffe 
(wie  bei  Aloe  und  Jalapa)  Pflanzensäuren,  welche  nicht  nur  durchschlagend, 
sondern  auch  blutkühlend  wirken.  Der  widerliche  Geschmack  derselben  findet 
sich  in  der  „Konserve"  durch  Chokoladenmasse  so  sicher  eingehüllt,  dass  sie 
der  Zunge  wie  Leckerbissen  munden.  Als  einmalige  Dosis  genügt  ein  Stück 
und  erfolgt  die  Wirkung  nach  1  bis  2  Stunden,  oder  auch,  wenn  Abends  ge- 
nommen, des  Morgens.  Diese  wertvolle  Bereicherung  des  Abführmittelvor- 
rates kann  aus  jeder  Apotheke  am  Orte  bezogen  werden. 

Herr  Sanitätsrat  Dr.  Hermana  Michaelis-Waldenburg  /.  Schi,  schreibt: 
Die  Tamarinden-Konserven  von  C.  Kanoldt  Nachfolger  in  Gotha  habe  ich 
wiederholt  geprüft  und  in  all'  den  Fällen  bewährt  gefunden,  wo  ein  blut- 
kühlendes, pflanzliches  und  wohlschmeckendes  Abführmittel  —  an  Stelle  der 
drastischen,  mit  narcotischen  Bestandteilen  combinierten  Pillen  —  eine  leicht 
und  schmerzlos  evaeuierende  Wirkung  bethätigen  soll. 

Wo  Stuhlverhaltung  infolge  von  nervösen  Verdauungsbeschwerden  und 
Schwäche  der  Darmmuskulatur,  besonders  auf  die  psychische  Stimmung  nach- 
teilig einwirken,  ist  namentlich  der  Tamarindenwein  ein  erleichterndes  Abführ- 
mittel, welches  nach  den  Hauptmahlzeiten  genommen  (theelöffel weise,  bei 
Kindern  die  Hälfte)  den  Mageninhalt  rasch  in  den  Darm  entleeren  hilft  und 
mit  der  abführenden  Wirkung  zugleich  den  Verdauungsprozess  erleichtert,  sowie 
die  Resorption  der  Nährstoffe  anregt  und  beschleunigt. 


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Geuhäftlühe  MitUüungen. 


555 


Prof.  Dr.  Soxhlet' t  N abrzucker,  ein  neues  Kindernährmittel,  darf  nach 
dem  heutigen  Stande  der  Wissenschaft  als  das  rationellste  Zusatzmittet  mar  Kuh- 
milch bezeichnet  werden.  Es  besteht  aus  reiner  Dextriamaltose  mit  Verdauungs- 
salzen. Es  befördert  die  Ernährung  der  Säuglinge  in  hohem  Masse,  ohne  Ab- 
führwirkung  zu  haben.  Unter  den  vielen  Kindernährmitteln,  die  die  Neuzeit 
hervorgebracht  hat,  muss  es  wegen  seiner  vortrefflichen  Zusammensetzung  (der 
Erfinder,  Prof.  Soxhlet,  ist  seit  langer  Zeit  auf  dem  Gebiete  der  Kinderer- 
nährung mit  hervorragendem  Erfolge  thätig)  zu  den  vollkommensten  Präparaten 
gezählt  werden.  Nach  fibereinstimmenden  ärztlichen  Zeugnissen  wird  es  in 
jedem  Falle  gut  vertragen  und  gern  genommen.  Von  demselben  Autor,  Prof. 
Soxhlet,  ist  die  für  die  Behandlung  darmkranker  Säuglinge  seit  vielen  Jahren 
bewährte  und  berühmte  Liebigsuppe  in  eine  verbesserte  Form  gebracht  worden. 
Während  die  ursprünglich  von  Liebig  angegebenen,  später  vielfach  modifizierten 
Vorschriften  für  die  Bereitung  dieser  Malzsuppe  für  den  allgemeinen  Gebrauch  mit 
einigen  Unbequemlichkeiten  behaftet  waren,  die  ihrer  vielseitigen  Verwendung  er- 
schwerend im  Wege  standen,  ist  das  neue  Soxhlet'sche  Präparat  in  Pulverform  jeder- 
zeit gebrauchsfertig  und  daher  wohl  geeignet,  dieses  wichtige  Nähr-  und  Heilmittel 
für  darmkranke  Säuglinge  wieder  in  sein  volles  Recht  am  Krankenbette  einzusetzen.  * 

Der  Preis  beider  Präparate  ist  so  niedrig,  dass  sie  auch  in  der  ärmeren 
Praxis  zur  allgemeinen  Verwendung  gelangen  können. 


Verlag:  Rrt.  Jnstitut  Orell  Füssli,  Zürich. 


Sorget  für  die  schwachsinnigen  Kinder. 

Separat-Abdruck  aus  der  Schweiz.  Pädagog.  Zeitschrift.  Von  Konr.  Auer, 
Sekundarlehrer.   35  S.  8°.   40  Pf. 

Dieses  Schriftchen  ist  eine  von  so  wahrhaft  menschenfreundlichem  Sinne  getragene 
Kundgebung  und  bekundet  ein  so  tiefeingehendes  Studium  der  vorliegenden  Frage,  dass 
jeder  es  lesen  sollte,  der  es  mit  den  armen  Geschöpfen  wohl  meint. 

Hygienische  Gymnastik  für  die  weibliche  Jugend  während  des  schul- 
pflichtigen Alters  von  O.  Kaller.  Mit  30  i.  d.  Text  gedruckten  Abb.  1  Mk. 

Rechnungsbüchlein  für  die  erste  Klasse  der  Elementarschule,  von 

H.  Maag,  Lehrer  in  Zürich.  2.  Aufl.,  60  Pf. 

Die  Erfahrung,  dass  namentlich  im  Fache  des  Rechnens  schwächere  Schüler  gerne 
zurückbleiben,  hat  den  Herrn  Verfasser  zu  der  Uebcrzeugung  gcbiacht,  dass  gerade  hier 
zu  wenig  veranschaulicht,  zu  wenig  elementarisiert  wird,  sodann  sagen  Eltern  oft,  sie 
möchten  gerne  zu  Hause  nachhelfen,  wenn  sie  nur  wfissten,  wie  es  anzufangen  wäre.  — 
Die  hier  angewandte  Methode  ist  aus  mehr  als  20 jähriger  Erfahrung  hervorgegangen  und 
fährt  sicher  zum  Ziele. 

Der  Handfertigkeitsunterricht  in  englischen  Volksschulen. 

Eine  Studie  von  H.  Bendel.   Mit  9  illustrierten  Tafeln.   4  Mk. 

Diese  Studie  stellt  sich  die  Aufgabe,  die  Bedeutung  und  Stellung  klarzulegen,  welche 
dem  Handferti^keitsunterricht  als  besonderem  Unterrichtsfach  der  englischen  Volksschule 
zuerkannt  werden,  und  die  Mittel  zu  prüfen,  welche  für  den  Betrieb  dieses  Faches  An- 
wendung finden. 

Des  Couleurs  et  de  la  Lumiere.  Conseils  pratiques  pour  debu- 
tants  peintres,  dessinateurs,  chromistes  et  tous  ceux,  qui  sc  servent  des 
couleurs  pour  representer  des  objets  et  des  sujets  vus  ou  imagines. 
Par  Th.  ßliggenstorfer.   Mit  einer  lithogr.  Tafel.    1,60  Mk. 

 Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen.  


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Verlag  von  Herrn.  Walther,  Berlin. 


F.  Kemsies,  Sozialistische  und  Ethische  Erziehung  im 

Jahre  2000    1,-  Mk. 

F.  Kemsies,  Herbart  und  A.  Diesterweg.  Ein  Ver- 
gleich ihrer  Erziehungs-  und  Unterrichtsgrundsätze   1,-  Mk. 

Stfiisdie  SCultur 

Wochenschrift  für  sozial -ethische  Reformen. 

Begründet  von  Georg  von  Gisyoki. 

Unter  Mitwirkung  von  Dr.  Fr.  W.  Foerater  herausgegeben  von 
Dr.  R  Penzig  und  Dr.  M.  Kronenberg. 


Vtrlsg:   Virlif  für  ithiieha  Kultur,  Richard  Bieber,   Berlin  S.W., 

14. 


Die  im  zehnten  Jahrgänge  erscheinende  Wochenschrift  .Ethische  Kultur* 
ist  mit  stetig  wachsendem  Erfolge  bemüh:,  gegenüber  der  zum  Theil  unvermeid- 
lichen Zersplitterung  moderner  fortschrittlicher  Kulturentwickelung  nachdrücklich  deren 


Einheit  zu  betonen  und  festzuhalten,  und  somit  eine  gemeinschaftliche  Basis  zu 
schaffen,  auf  der  alle  freiheitlichen  Gedankenrichtungen  sich  begegnen  und  alle  vor- 
wärts gerichteten  Elemente  sich  zusammen  finden  können.  Diese  Einheit  findet  sie 
In  den  grossen  Grundgedanken  des  Humanismus,  wie  sie  in  geschichtlicher  Ent- 
wickelung  allmählich  elcL  herausgebildet  heben  und  fort  und  fort  —  daraut  gründet 
sich  eben  die  Vielgestaltigkeit  moderner  Kultur  —  weiter  entwickelt  werden.  Nicht 
also  nach  den  kleinlichen  Massstäben  irgend  einer  beschränkten  und  engherzigen 
Moral,  sondern  nach  denen  der  entwickeltsten  Ethik,  der  reifsten  und  weitherzigsten 
Anschauungen  über  allgemein  menschliches  Sein  und  Werden  sucht  die  .Ethische 
Kultur"  die  Zeitgeschichte  zu  beleuchten  und  zu  allen  Fragen  des  Öffentlichen  Lebens 
Stellung  zu  nehmen. 

Besondere  Aufmerksamkeit  wendet  die  .Ethische  Kultur«  den  sozial-ethischen 
Fragen  zu.  indem  sie  den  innigen  Wechselbeziehungen  des  wohlverstandenen 
humanistischen  mit  dem  wohlverstandenen  sozialen  Gedanken  nachzugehen  bemüht  Ist 
Im  Vordergründe  stehen  ihr  auch  die  religiösen  Probleme,  die  moralpadagogischen 
Fragen,  namentlich  die  unablässige  Forderung  eines  einheitlichen  öffentlichen  Moral- 
unterrichu,  die  erst  der  einheitlichen  Volkserziehung  zur  echten  Menschlichkeit  die 
sichere  Grundlage  geben  kann.    Indessen  auch  die  Fragen  des 


sre  Grundlage  geben  kann.  Indessen  auch  die  Fragen  des  innerpolitischen 
die  internationalen  Beziehungen  werden  eingehend  erörtert  und  mit  Aufmerksamkeit 
wird  die  moderne  ethische  Entwickelung  in  Philosophie  und  Wissenschalt,  sowie  auf  den 
verschiedenen  Kunstgebieten  verfolgt.  Im  Ganzen  ist  die  .Ethische  Kultur-  bemüht, 
eine  im  besten  Sinne  des  Wortes  volkstümliche  Zeitschrift  xu  sein  und  dem  Be- 
dürfniss  weitester  Kreise  nach  Klärung,  Anregung  und  vertierterer  Geistes,  und 
Gemüthsbildung  zu  dienen. 


Ausser  den   Mitgliedern   der  Redaktion   haben   In   den  letzten  Jahrgängen 

der   Ethischen  Kultur« 


welche  unter  deren  Leitung  erschienen  sind,  u.  a.  Beiträge  in  der  .Ethischen 
publicirt: 

Pror.  Felix  Adler  (New-York)  -  Dr.  W.  Bode  (Welmen  -  Dr.  Ed. 
(Berlin)  -  Prof.  W.  Bolin  (Helsingfors)  -  Wilhelm  Bölsche  (Friedrichshagen)  -  Prof. 
L  Brentano  (München)  —  Prof.  F.  Bulsson  (Paris)  —  Geh.  Sanitätsrath  Dr.  Bär 
(Berlin)  —  Prof.  A.  Dflring  (Gr.  Lichterfelde)  -  Dr.  Paul  Ernst  —  Prof.  Wilh.  Förster 
(Berlin)  —  Ksrl  Emil  Franzos  —  Adele  Gerhard  —  Dr.  Otto  Gramzow  (Berlin)  - 
Georg  Hermann  —  Prof.  Harsld  Höffding  (Kopenhagen)  —  Otto  Hörth  (Frankfurt  s.  MM 

—  Privatdozent  Dr.  Jastrow  (Charlottenburg)  —  Prof.  Fr.  Jodl  (Wien)  —  Dr.  L.  Katzen- 
stein  —  Ellen  Key  (Stockholm)  —  Landgerichtsrath  Kulemann  (Braunschweig)  — 
Helene  Lange  —  Prof.  F.  Liebermann  (Berlin)  -  Oda  Lerda-Olberg  (Genua)  —  Prof. 
Th.  Lipps  (München)  —  Gustav  Maier  (Zürich)  -  Dr.  Arthur  Pfungst  (Frsnfcfurt  a,  M.) 

—  P.  Kosegger  (Gras)  —  Dr.  H.  Schmidkunz  (Berlin)  —  Prof.  G.  Simmel  (Berlin)  - 
Prof.  F.  Staudinger  (Darmstadt)  —  Bertha  von  Suttner  —  J.  Tews  (Berlin)  —  Prof. 
Ferd.  Tönnies  (Eutin)  -  Prof.  F.  Vetter  (Bern)  —  Dr.  K.  Vorlinder  (Solingen)  - 
Dr.  Bruno  Wille  (Friedrichshagen)  u.  s. 

Die  .Ethische  Kultur*  erscheint  in  Wochennummern,  am  Sonnabend  jeder 
Woche.  Vierteljahrspreis  bei  allen  Buchhandlungen,  Postanstalten  (Postzeitungsliste 
No.  2407)  sowie  bei  direktem  Bezug  von  der  Verlagshandlung  M.  2,00.  Bei  direktem 
Beiuge  für  das  Ausland  II.  2,50.  Probenummern  sind  gratis  und  portofrei  durch  jede 
Buchhandlung  zu  bezichen  oder  direkt  vom  Verlage. 


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