Zeitschrift für
pädagogische
ohycholgie
Pathologie und
hygien
herman walter
verlagsbuchhand
g.m.b.h
Boston
Medical Library
8 The Fenway
Zeitschrift
für
Pädagogische Psychologie,
PatMoaie und fjyaiene.
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hir»chlaff.
IV. Jahrgang.
BERLIN S.W.
Hermann Walther, Verlagsbuchhandlung 0. m. b. H.
1902.
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Inhalt des 4. Jahrganges.
1902.
A. Abhandlungen.
Seite
Peter Jessen, Die Erziehung zur bildenden Kunst 1 — 10
Oswald Körte, Gedanken und Erfahrungen über
musikalische Erziehung 11 — 38
Leo Hirschlaff, Über die Furcht der Kinder II . 39—56
III . 141—156
Albert Liebmann, Die sprachliche Entwicklung
geistig zurückgebliebener Kinder 97 — 120
Albert Moll, Der Einfluss des grossstäd tischen
Lebens und des Verkehrs auf das Nervensystem I 121 — 134
II 22Q-247
Karl Losch hörn, Uber Kompensationen bei der
Beurteilung der Schuler 135—140
Ferdinand Kemsies, Die Entwickelung der Päda-
gogischen Psychologie im 19. Jahrhundert I . 197 — 211
II . 342-355
III . 473-484
Hildegard Wegscheider-Zieglcr, Erfahrungen im
Gymnasialunterricht für Mädchen als Beitrag
zur Frage der gemeinschaftlichen Erziehung der
beiden Geschlechter 212-222
Marx Lobsien, Memorieren 293 — 306
Fritz Feilcke, Zur Frage der Organisation der Volks-
schule in Mannheim . . . . . . . . , , 307 341
Karl Loschhorn, Einige Worte über die gemein-
same Erziehung der beiden Geschlechter . . . 223 — 228
Ernst Mally und Rudolph Ameseder, Zur expe-
rimentellen Begründung der Methode des Recht-
schreib-Unterrichtes 381 — 441
Heinrich Fischer, Geographische Spaziergänge . 442 — 452
-
— IV —
Seite
Paul Johannes Müller, Das Rettigsche Schul-
banksystem 453 — 461
Hans Zimmer,- Gedanken über die Herausgabe der
pädagogischen Klassiker 462 — 472
B. Sitzungsberichte.
Verein für Kinderpsychologie
an Berlin
Körte, Gedanken und Erfahrungen über musika-
lische Erziehung 157—160
Lieb mann, Die sprachliche Entwickelung und Be-
handlung geistig zurückgebliebener Kinder . . 160 — 161
Wegscheider-Ziegler, Erfahrungen beim Gym-
nasialunterricht für Mädchen, als Beitrag zur
Frage der gemeinsamen Erziehung beider Ge-
schlechter , , , . . . . 248— 24Q
Gierin g, Uber die Entwickelung des Augenmasses
bei Kindern 250—251
Dessoir, Über Kinderpsychologie im 18. Jahrhundert 509 — 510
Vogt, Über die Markreifung der Grosshirns . . . 510—511
Psychologische Gesellschaft
zu Berlin.
Vortragsplan für das Sommersemester 1902 . . . 161 — 162
Gramzow, Der Kampf um die Weltanschauung
251-
-254
M. Dessoir, Über die Bedeutung von Quantität und
Intensität für den ästherisrhen Eindruck
254-
-256
A. Moll, Über ärztliche Ethik
257-
-259
Abraham und v. Hornbostel, Über ostasiatische
Musik
356-
-358
Schumann , Zur Psychologie der Raum Wahrnehmung
485—487
Arbeitsplan für das Wintersemester 1902/03 . . .
488-
-489
Diamandi, Rechenkünstler aus Paris
489-
-490
Th. Flatau, Über phonographische Schrift . . .
490-
-491
Lehmann, Über den Unterricht in der Psychologie
auf höheren Schulen 491 — 495
Stern, Die Ethik der Epikureer und ihre Wider-
legung 496—500
Feilchenfeld, Zur Analyse der Augenbeweguugen 500
- V -
Seile
Vierkandt, Die subjektiven Grundlagen der Über-
zeugung 501—503
Verein für Schulgesundheitspflege
211 Berlin.
Sammelbericht 503—506
Verein für Kinderforschung
zu Jena
IV. Versammlung des Vereins in Jena 358 — 35Q
Psychologische Gesellschaft
zu Breslau.
Jahresbericht 1901/02 506—508
Arbeitsplan für das Winterseraester 1902/03 . . . 508—509
C. Berichte und Besprechungen.
A. Baer, Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter 57 — 62
Karl T. Fischer, Der naturwissenschaftliche Unter-
richt in England» insbesondere in Physik und
Chemie 62-65
Ratgeber zur Einführung der erziehlichen Knaben-
handarbeit 65-66
W. S'tern, Zur Psychologie der Aussage .... 162 — 166
W. Weygandt, Die Behandlung idiotischer und im-
beziller Kinder in ärztlicher und pädagogischer
Beziehung 166 — 169
Die deutsche Schule I 169—177
II 275-281
Natur und Schule 177—180
Paul Warncke, Fritz Reuter, woans hei lewt un
schrewen hett . . . . . , , . . , , , lfiQ
Aug. Messer, Die Reformbewegung auf dem Gebiete
des preussischen Gymnasial wesens von 1882 — 1901 180 — 183
Fritz M au thn er, Bei träge zu einer Kritik der Sprache 183 — 191
Th. Benda, Die Schwachbegabten auf den höheren
Schulen 259—263
Paul Joh. Muller, Moderne Schulbänke .... 263—264
J. Türkheim, Zur Psychologie des Willens . . . 264 — 267
N. M. Butler, Religionsunterricht in der Erziehung 267 — 269
ed by Google
- VI
Ed. Claparede, La Psychologie dans ses rapports s*1*«
avec la m&lecine 269—273
Hans Cornelius, Grundsätze und Lehraufgaben für
den elementaren Zeichenunterricht 273 — 275
Ed. Claparede, Nouvelle Classification des associa-
tions d'idee 359—362
IVe Congrfes International de Psychologie: Mlle Marie
de Manaceine, sur les sentiments et les sensations
et leurs differences fondamentales 362 — 364
A Netchaeff, Zur Frage über Gedächtnisentwicke-
lung bei Schulkindern 364 — 366
F. Chaillons, Du Traitement des viciations par l'&iu-
cation I , , , , , , . , . . . , . , , 365-— 366
II
H. Krause, Die Prügelstrafe 366
P. v. Gizycki, Der neue Adel 366—389
E. Crem er, Die poetischen Formen der deutschen
Sprache nach ihrer historischen Entwickelung
und ihrem Wesen dargestellt und an zahlreichen
Beispielen erläutert 369 — 370
W. Kinkel, Johann Friedrich Herbart, sein Leben
und seine Philosophie 511 — 512
IVe Congres International de Psychologie (Forts.) . 512 — 516
R. Lehmann, Erziehung und Erzieher 516—517
A. Spitner, Die pädagogische Pathologie im Seminar-
untericht . , , , , . , , . , , . , , . 518— 519
Jahrbuch der Schweiz. Ges. f. Schulgesundheitspflege 519 — 526
O. Weissenfeis, Kernfragen des höheren Unter-
richts N. F. 526-527
Fr. Förster, Der Untericht in der deutschen Recht-
schreibung vom Standpunkte der Herbartschen
Psychologie betrachtet 528—529
H. Hoppe, Die Thatsachen über den Alkohol . . 530—531
A. Möller, Die Geisteskrankheiten etc 531 — 532
Berger, Kreisarzt und Schulhygiene
K. Roller, Das Bedürfnis nach Schulärzten für
höhere Lehranstalten
R. Landau, Nervöse Schulkinder 532 — 534
W. Strohmayer, Die Epilepsie im Kindesalter . 534 — 535
9d by Google
- VII
D. Mitteilungen.
Kultusminister a. I). Dr. Bosse und der Religions-
67-
-76
Die neuen Lehrpläne der Gymnasien
76
-80
Professor v. Liszt und die Reform des Strafrechts .
191-
-1Q8
Der neue Unterrichtsplan für die Berliner Gemeinde-
281-
-285
cpn 1 1 1 #*n
i. ijei i_j s» l Ii - v3 1 1 o s c Ii e l Ii , ein \\ oiusLiiiiiecKcnties
536-
-538
Leberthranpräparat
Über Theinhardts Hyeiama . -
> <*
538
-542
Uber das Problem der Frauenbildung'
542-
543
Das Kiuderschutzgesetz nach den Beschlüssen der
543-
-546
E. Bibliotheca pädo-psychologica:
81
-96
I
II
196
III
286-
-292
IV
371—
-380
V/VI
547-
553
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(Pathologie und Hygiene.
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
Jahrgang IV. Berlin, Februar 1902. Heft l.
Die Erziehung zur bildenden Kunst.
Vortrag, gehalten am 3. Mai 1901 im Verein für Kinder-
psychologie zu Berlin
Peter Jessen.
Bericht von Leo Hirschlaff.
Meine Damen und Herren!
Wenn ich, dem Wunsche Ihres verehrten Herrn Vor-
sitzenden folgend, heute Abend vor Ihnen über die Erziehung
zur bildenden Kunst sprechen will, so steigen mir starke
Bedenken auf, ob die Art der Behandlung dieses Themas, wie
ich sie zu geben imstande bin, für Ihren Kreis genügen werde.
Mein Arbeitskreis ist die praktische Kunstförderung ; Ihr Zweck
dagegen ist die Wissenschaft vom Kinde, zu der ich für meine
Person nichts beitragen kann. Ich kann mich daher nur
darauf beschränken, zu berichten, was in der Praxis begonnen
worden ist, und was wir von den Ansprüchen, die gerade die
heutige Lage der verschiedenen Künste stellt, in der Erziehung
der Kinder verwirklicht sehen möchten.
Sie wissen alle, dass heute zur That zu werden beginnt
was die grossen Pädagogen von jeher gefordert haben und
Zettschrift für pädagogische Psychologie, P.thologie und Hygiene. 1
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PeUr Jessen.
wofür sie zum Teil auch die Wege wiesen: dem Kinde
Anteil zu geben an der Kunst Freilich für die bildende
Kunst ist ausserhalb des Kindergartens nicht gar viel erreicht
worden. Waren doch die Pädagogen und Lehrer bisher in das
Wesen der bildenden Kunst nur selten eingedrungen; sie
näherten sich der Kunst verstand esgeraäss von der Aesthetik
her oder historisch von der Kunstgeschichte her. Die Kunst-
gelehrten und Künstler überliessen die Kunst in der Schule
dem „Schulmeister", der selbst den Zeichenunterricht in Fesseln
geschlagen hat, ohne die rechte Empfindung für die Kindes-
seele und ihre Anlage zur Kunst Doch finden sich auch in
der älteren Litteratur einzelne gute Ratschläge zerstreut Ich
erwähne z. B. eine Broschüre des Dr. Weismann, der im
Jahre 1864 an der Musterschule in Frankfurt wirkte; und be-
sonders einen Aufsatz von dem Archäologen Bernhard Stark,
betitelt: Kunst und Schule; Jena 1848 (citiert bei Weismann).
Hier finden Sie folgende vortrefflichen Worte: „Nicht zu
Künstlern, noch viel weniger zu Kunstrichtern wollen wir
unsere Schüler ausbilden. Aber die Sinne wollen wir Ihnen
öffnen für die Welt der Kunst und so zugleich die allseitige
Auffassung der Natur und ein warmes Anschliessen an das
Allgemein-Menschliche ihnen möglich machen".
Indessen, Ernst gemacht wurde mit diesen Forderungen
erst seit etwa einem Jahrzehnt; und zwar ging der Anstoss
dazu von Kunstgelehrten aus. Dr. Georg Hirth gebührt
das Verdienst in einer 1888 erschienenen Schrift: „Ideen
über Zeichenunterricht und künstlerische Berufsbildung" als
einer der ersten die öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses
Problem gelenkt zu haben. Vielfache Anregungen verdanken
wir dem Dr. Langbehm, der 1891 in seinem „Rembrandt
als Erzieher" uns das Künstlerische als Bestandteil der Kultur
nahe brachte. In breiterem Rahmen ist die künstlerische
Erziehung der deutschen Jugend zuerst von Prof. Dr. Konrad
Lange in Tübingen, einem Kunsthistoriker, in einem 1893
erschienenen, sehr wertvollen Werke behandelt worden.
Seine anregende Wirkung beruht darauf, dass er nicht nur
Kunstkenner war, sondern zugleich einen Blick für das
Kind und die Pädagogik hatte. Das Verdienst, die praktische
Kunstpflege in der Schule nicht nur zuerst zur Sprache
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Die Erziehung tur biLUndtn Kuvt.
gebracht, sondern in Thaten umgesetzt zu haben, gebührt
Prot Alfred Lichtwark, dem Direktor der Hamburger
Kunsthalle, der früher selbst Volksschullehrer war. Freilich
konnte kaum eine andere Persönlichkeit gefunden werden, die
für diesen Zweck geeigneter war. Hatte doch Lichtwark
schon im Jahre 1886 sein Museum zur Lehrstatte der Kunst-
förderung gemacht. Davon ausgehend zog er auch die Kinder
in den Bereich der künstlerischen Lehrthätigkeit; und er er-
zielte durch sein Verständnis für die Kinderseele und durch
sein organisatorisches Talent ein Zusammenwirken des Kunst-
förderers und der Lehrer, die ihm Vertrauen entgegenbrachten.
Im Anschluss an einen Vortrag, den Lichtwark im Jahre
1887 hielt, bildete sich eine Vereinigung, deren Ziel
die künstlerische Erziehung des Kindes bildete. Ueber diese
ganze Entwicklung orientiert am besten das Buch: „Versuche
und Ergebnisse der Lehrerveieinigung für die Pflege der
künstlerischen Bildung in Hamburg". x) Dieses Werkchen, das
für den geringen Preis von 2 M. im Buchhandel erhältlich ist,
birgt eine reiche Fülle von Stoff und Genuss in sich. Was es
besonders empfehlenswert macht, ist die Thatsache, dass es an
die erwähnten Probleme praktisch, nicht theoretisierend heran-
geht Wenn wir es durchblättern, so erfüllt uns Respekt
vor dem Ernst der Leistungen, die uns hier entgegentreten. In
der Einleitung, die von Lichtwark geschrieben ist, betont
dieser, dass es galt, „die ganze Frage aus dem Bereiche un-
fruchtbaren Geredes zu entfernen, indem man sie praktisch in
Angriff nahm". Und wenn Sie mir gestatten wollen, auch den
weiteren Inhalt des Werkes in kurzen Umrissen zu skizzieren,
so möchte ich neben anderen folgende Abschnitte besonders
hervorheben: Das Zeichnen des Kindes in der Schule; die
Kurse der Zeichenlehrer: der Handfertigkeitsunterricht; Bilder-
bücher und Bilderschmuck, und anderes mehr. Auch den
Vortrag, den der Dichter Otto Ernst (Schmidt) im Jahre
1896 gehalten, finden Sie in dem Büchlein wiedergegeben.
Alle diese Bestrebungen sind Ihnen, meine Damen und
Herren, nicht neu. Sie haben davon gehört anlasslich der Aus-
stel! ungi n^ic Kunst im Leben des Kindes"; und Sie haben
') 2. Auflage. Alfred Janssen. Hamburg 1901.
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4
Peter J^sen.
das Gebiet, dass recht eigentlich Ihren Verein angeht, schon
durchgearbeitet in einem Vortrage des Herrn Dr. Pappen heim
über: „Kinderzeichnungen". Ihre weitere Arbeit auf diesem
Gebiete ist eben deshalb um so wichtiger, als alle Besserung
hinsichtlich dieser Bestrebungen anknüpft an das tiefere Ver-
ständnis der Kindesseele. Nur in gemeinsamer Arbeit der Pä-
dagogen, und zwar der Praktiker wie der Theoretiker auf der
einen, und der Kunstförderer auf der anderen Seite, wird das
Ziel zu erreichen sein. Freilich, theoretisch begründen lassen
sich diese Ansprüche der Kunst nicht Wir wissen, dass die
Künstler die Kunstgesetze geben: die Theorie folgt und wechselt
Daher ist es berechtigt, heute die künstlerische Erziehung des
Kindes an die heutige Kunst anzuschliessen. Die Schule soll
ja ans Leben anknüpfen; und andererseits wünschen wir unserer
Kunst und unseren Künstlern ein Volk zu bereiten. Nun be-
findet sich aber unsere Kunst in rastloser Arbeit, ja die Baukunst
und das Kunstgewerbe sogar in einer Krisis. Die Arbeit des
19. Jahrhunderts genügt uns nicht mehr; wir suchen neue
Grundlagen auch für das Kunsthandwerk und die Kunst Dieser
Umstand muss sich natürlich auch in der neuen Erziehung zur
Kunst wiederspiegeln. Wir dürfen keines der Elemente der
Kunst und des Kunstgenusses dabei vernachlässigen. Ich
wünschte, ich könnte Ihnen darüber eine Untersuchung geben,
wie sie Herr Professor Stumpf über die Elemente des Genusses
der Musik angestellt hat, um diese Gedanken auch Arbeiter-
kreisen näher zu bringen und zu erläutern; noch ist diese Auf-
gabe für das Gebiet der bildenden Kunst nicht genügend gelöst
worden1).
Inbezug auf die einfachen sinnlichen Elemente des Wohl-
gefallens gilt es, 1) die Farben sowohl einzeln, wie auch in
ihrem Zusammenhange am Ornamente wie am Gemälde auf-
fassen zu lehren; 2) die räumlichen Verhältnisse, den Rhythmus,
die Symmetrie, den Wechsel und den Kontrast, die Grundlagen
der „Komposition" dem Verständnisse des Kindes näher zu
bringen. Dies kann geschehen sowohl im Gemälde und an
der Natur, wie auch in dem eigensten Gebiete dieser Formen-
kunst, an der Dekoration, dem Geräte, der Baukunst. Gemeinsam
') Vergl. jetzt das inzwischen erschienene Werk von Konrad Lange,
„Das Wesen der Kunst". Berlin, Grotesche Buchhandlung.
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/>i Erstehung zur bildenden Katis:
ist allen diesen Elementen» dass sie uns nicht als freie Kom-
binationen begegnen wie in der Musik, sondern vielmehr ge-
bunden an Gegenstande und bedingt durch einen praktischen
Zweck, ein Programm. Denn vor allem Schmuck hat der
Künstler die Aufgabe des Zweckes, des Programmes zu er-
füllen. Dieser Gesichtspunkt muss gerade heute betont werden,
wo man vielfach vergisst, welche harte Arbeit der Künstler zu
leisten hat, ehe er an die eigentlich künstlerischen Probleme seiner
Aufgaben herangehen kann. Hier erhebt sich die Frage: ist die
Freude an der Erfüllung des Zweckes eine blosse Sache des Ver-
standes oder ein ästhetischer Faktor? Es ist schwer diese Frage
exa^t zu entscheiden. Aber mir scheint, dass ein ästhetischer
Gennss zustande kommt. Sprechen wir doch selbst bei Rechen-
aufgaben von einer „eleganten" Lösung und empfinden darüber
ein Wohlgefallen, das wir ästhetisch, künstlerisch nennen dürfen.
Zu dieser Bedingung der Erfüllung des Zweckes treten noch
die Bedingungen des Materiales und der Technik. Wie gross
die Schwierigkeiten der Beherrschung dieser Faktoren sind,
erweist sich, um ein Beispiel herauszugreifen, vielleicht am
besten an der französischen Keramik. Jedenfalls gehören auch
die Losungen dieser Schwierigkeiten in das Gebiet des Schönen.
Nun kommt aber zu allen diesen Bedingungen als Hauptsache:
die Kunst als Nachahmung und Deutung der Natur. Ist doch
die Kunst, die auf der Natur beruht, für viele die eigentliche
„Kunst". Hier sind die grössten Ansprüche zu stellen; hier liegen
die Hauptprobleme für die Kunst in der Erziehung des Kindes
Welche Ansprüche darf und muss man nun an Schule und
Hans stellen?
Betrachten wir zunächst die Ansprüche bezüglich der Farbe.
Sie ist lange das Stiefkind der deutschen Kunst gewesen. Und
doch ist eine volle, frische, gesunde Farbe das erste Element
des künstlerischen Genusses. Die neueren Franzosen, fast um
eine Generation vorangehend, haben hier den Anfang gemacht.
Auch die deutschen Maler sind ihnen gefolgt, wenn auch zum
Teile noch unter dem Widerspruche des Publikums. Hier kann
eine konsequente Erziehung des Farbensinnes einsetzen, wie
sie Lichtwark in einem jüngst erschienenen Buche skizziert
hat Ich glaube, dass man auch dem kleinen Kinde in den
Bilderbüchern einfache klare Farben geben sollte. Sicherlich
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Peter jfesseti.
können die Kinder sehr früh die Farben zwar nicht be-
nennen, wohl aber sehend unterscheiden. Die Fortschritte
der Technik in den graphischen Künsten erlauben uns, dieser
Forderung gerecht zu werden, besonders durch die farbige
Lithographie. Sie ist das Hauptmittel, um künstlerische Wand-
bilder zu schaffen. In England hat man den ersten Anfang
nach dieser Richtung hin gemacht (Fitzroy Picture Society),
wie /. B. eine Darstellung der vier Jahreszeiten von H. Sumner
zeigt, die freilich zunächst noch etwas Trockenes an sich hat-
Weiter ist Henri Ri viere in Frankreich gegangen, indem er
die Heimat, Frankreich und besonders Paris, in mehreren Serien
zur Ausstellung brachte, die vom Künstler direkt auf den Stein
gezeichnet wurden. Denn das ist eine wesentliche Bedingung:
Künstlerische Originalarbeiten zu diesem Zwecke zu gewinnen.
Wir Deutschen haben neuerdings die ausländischen Anregungen
aufgenommen. Die Herren Voigtländer und Teubner in
Leipzig haben die besten Künstler Deutschlands in den Dienst
der Sache gestellt. Aber die Bilder allein thun es nicht. Wie
sollen wir den Sinn für die Farben wecken, wenn wir die Kinder
den halben Tag lang in Räume einsperren, die nichts von
frischer Farbe zeigen? Daraus ergiebt sich die Forderung,
auch unsere Schulräume in entsprechender Weise auszugestalten,
uud im Anstrich der Schulräume der Farbe mehr Platz zu ge-
währen. Hin schwieriges Problem bietet die zweckmässige
Anwendung der Farben im Zeichenunterricht. Hier sind noch
mancherlei Versuche erforderlich. Man wird daneben die
Kinder zur Beobachtung der Farben, z. B. gelegentlich des Be-
suches von Naturwissenschaftlichen Museen, auch unmittelbar
anleiten können, wie es Lichtwark zum ersten Male versucht
hat Die Farbenpracht der Schmetterlinge, die Farbenkreise
der primitiven Völker und vieles andere, selbst Stoffe und
Tapeten bieten Material zu geeigneten Uebungen dieser Art.
Niemals aber soll man Farben „lehren". Denn an die „Farben-
lehre44 glauben wir selbst nicht mehr.
Wir kommen zu den Elementen des Genusses der Form:
Rhythmus, Bewegung, Contrast u. s. t Sie behaupteten bisher
einen breiten Raum im Kindergarten, Spiel und Zeichnen.
Aber wir haben ihre Bedeutung bisher überschätzt, wir haben
uus damit überfüttert Wir können heute den ornamentalen
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Die Erziehung zur bildenden Kunst.
7
Faktoren nur noch beschränkte Geltung beimessen. Selbst
gegen die Forderungen der Symmetrie sind wir misstrauisch
geworden, seitdem wir uns eingehender mit der japanischen
Kunst beschäftigt haben, die bekanntlich sehr hoch steht, ohne
auf dieses formale Element Rücksicht zu nehmen. Auch in
Europa hat die Symmetrie in den eigenartigsten ornamentalen
Kunstepochen nur bedingt gegolten, wie im Rokoko und bei
den Meistern der Spätgothik. Solche vermeintlich ewigen
Formgesetze erweisen sich bei näherem Zusehen häufig als
sehr angreifbar. Wir sollten uns deshalb nicht unnötig daran
binden und dürfen sie im Unterrichte getrost mehr zurück-
stellen, als es bisher üblich war. Gerade die Freunde des
Kunstgewerbes raten dazu.
Die Kinder -Psychologie und die Pädagogik werden uns
dabei unterstützen, da das langwierige Zeichnen geometrischer
Ornamente erfahrungsgemäss das Kind langweilt und ihm die
Lust zu diesem Fache überhaupt nimmt. Das bisherige
Zeichnen ist grossenteils ein Kreuzungsprodukt des Schul-
meisters und des Kunstgewerblers im üblen Sinne des Wortes.
Wenn wir vor den vielen Ornamenten warnen, so gilt das
auch für Ornamente aus Naturblättern; auf Flachrauster legen
wir selbst für Mädchenschulen keinen grossen Wert Aber auch
das plastische Ornament aus Gips erscheint uns für den Kunst-
unterricht nicht zweckmässig, da es nicht geeignet ist, in die
Kunst als Ganzes einzuführen. Die gothische Krabbe, das
jonische Kapital: was erzählen sie uns von der Kraft und
Wucht des Ganzen? Die Architektur muss ganz auders, als
es an der Hand solcher Bruchstücke möglich ist, geschildert
werden. Was macht die Baukunst aus? Das Ganze, die Raum-
bildnng, die Massen, die Gruppen, das Programm, der Zweck!
Abbildungen, Photographien helfen hier nicht viel. Wir müssen
die Kinder heran- und hineinführen in gute, den künstlerischen
Anforderungen entsprechende Gebäude, damit sie den Zusammen-
hang zwischen innen und aussen selbst zu schauen und zu
empfinden lernen. Vor allem müsste das Schulgebäude selbst
nach künstlerischen Ansprüchen ausgestaltet werden. Statt
der üblichen geistlosen Kasernenbauten sollte man Gebäude
und Räume von interessanter Gestaltung erstehen lassen, die
bei aller Einfachheit den Kindern doch als Muster an Klarheit»
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Petet Jessen.
Zweckmässigkeit und Raumschönheit imponieren. Zu diesem
Zwecke gilt es, die besten Künstler heranzuziehen. Wir dürfen
uns freuen, dass diese Einsicht jetzt weithin wächst. München
hat begonnen, jetzt ist u. a. auch Berlin durch Baurat Hoff-
mann energisch auf den Plan getreten.
So lange es an Gebäuden noch fehlt, möge man den Raum-
sinn zunächst einmal am Kleinen pflegen, am Gerät
Man gebe den Kindern statt der toten Gipsornanunte
zum Zeichnen Geräte aus echten Stoffen, etwa aus den ver-
schiedenen Epochen der Kunstentwicklung, z. B. ein griechisches
Gefäss, einen mittelalterlichen Leuchter oder Abendmahlskelch
Stücke bester kunsthandwerklicher Arbeit der betreffenden
Zeiten. Dabei berücksichtige man stets die Ansprüche des
Materials und der Technik; beide sollen echt sein und nach
ihrem Wesen benutzt werden. So können die Kinder zugleich
eingeführt werden in die Kenntnis der Materialien und der
Arbeitsweisen. Holz, Thon, Porzellan, Bronce, Kupfer, Schmiede-
eisen: aus dieseu Mateiialien schaffe man neue Modelle und
verbanne den Gips, der bisher die Alleinherrschaft hatte. Die
Ornamentensucht ist die eigentliche Krankheit des bisherigen
Kunstunterrichts.
Alle diese Werk bedingun gen der Kunst werden am besten
gefördert durch die selbstthätige Handarbeit der Kinder, durch
die werkthätige Uebung von Hand und Auge. Das beste Material
dafür ist das Holz; brauchbar, aber schwieriger ist das Metall;
auch Pappe lässt sich verwenden. Die Freunde der Kunst
haben sich stets zum ernsthaften Handfertigkeits - Unterricht
bekannt.
Ich habe bei diesen Fragen länger verweilt, weil sie mir
nahe liegen und weil sie bisher weniger betont worden sind.
Nun aber komme ich zu dem wichtigsten Problem der künst-
lerischen Erziehung: die Kunst im Verhältnis zur Natur. An-
geregt durch die Arbeit unserer Künstler, ist unsere Einsicht
über diese Frage erfreulich gewachsen. Wir wissen, dass man
dem Künstler nicht gerecht wird durch den Verstand und das
Urteil, nicht durch die Empfindsamkeit, sondern indem man
seine Arbeit mitfühlt, nachschafft, an sich erlebt. Wir müssen
die Kinder lehren, künstlerisch zu schauen, wie die Künstler
selbst. Der bildende Künstler sieht die Formen und Farben,
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Ihe hrxthuHK zur biUUnden Kunst.
9
sie prägen sich seinem Gedächtnis ein, er weiss das Eigentüm-
liche, für sein Kunstwerk Nötige zu packen, weiss auszuwählen,
abzustossen, zu kombinieren, er fasst auf, gestaltet und er-
findet, aber immer auf Grundlage der Natur. So gilt es, auch
die Kinder zu lehren, künstlerisch zu schauen wie er, nicht
zum Gestalten, sondern zum Nachgestalten, Nachempfinden,
Vergleichen. Wir müssen sie lehren, die Natur zu beobachten
und mit den Kunstwerken zu vergleichen, um einzudringen in
die Genialität und die Eigenart der Künstler, sei es im engeren
Anschluss an die Natur wie bei Menzel, sei es nach der Seite
des Gemütes wie bei Thoma, sei es in freierer Anlehnung an
die Natur bis zu den höchsten Schöpfungen der Phantasie, wie
bei Böckliu und Klinger.
Dazu gehört freilich vor allem und zuerst, dass die Kinder
lernen, überhaupt genau zu sehen; dass wir ihre Blindheit und
Zerstreutheit bekämpfen. Dazu ist jede Anschauungsübung
dienlich, jeder Unterricht, der die Sinne schärft, das Auge
konzentriert und die Kindesseele nicht durch Begriffe, sondern
durch anschauliche Vorstellungen bereichert. Darüber hinaus
aber gilt es, das eigentliche künstlerische Sehen zu üben. Hier
gilt es, nicht nur die Elemente aufzufassen, die der Künstler für
sein Gesamtbild verwertet (die Formen und Farben an sich),
sondern auch ihre Zusammen Wirkung, die Farben in der Natur,
die Lichtwirkung, die Formen des Lebens, Ruhe und Bewegung,
kurz alles das, was beim Künstler zusammenkommt, um das
„Bild", die „Lichtgleichungu zu bilden. Dazu ist der Zeichen-
unterricht die richtigste Stelle. Aber unser Ziel lässt sich
durch das Umrisszeichnen mathematischer Körper aliein nicht
erreichen. Das Regelmässige kann nur eine Vorübung zu der
Natur-Annäherung sein, wenn auch diese Annäherung auf den
einzelnen Stufen der Kindeserzi«-hung zunächst nur unvoll-
kommen sein wird. Atich muss man die Auffassungskraft der
Kinder durch Gedächtniszeichnen zu stärken sucheu. Ebenso
sollte die freie Wiedergabc von Beobachtungen oder Einfällen,
die Lust am Fabulieren, geübt werden, wenn wir dazu natur-
gemäss auch nur einen kleinen Teil des Unterrichtes gewähren
können. Jedenfalls sollten wir uns hüten, die Produkte solcher
Uebungen pedantisch zu sezieren, am wenigsten mit Rücksicht
auf den Schulinspektor oder auf die Schulausstellungen. Um
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10
Peter Jessen.
den vielen Forderungen unserer Zeit gerecht zu werden, muss
allerdings der Zeichenlehrer ein doppelter Künstler sein: ein
Meister seiner Kunst und ein Künstler im Lehren.
Neben den Zeichenübungen werden geeignete Uebungen
in der Kunstbetrachtung von Nutzen sein, wie sie Lichtwark
in seinem anregenden Buche geschildert hat Dabei muss aber
stets anschaulich verfahren werden: man vermeide alles, was
„Wissen" heisst, auch die eigentliche Kunstgeschichte, da sie,
das lebendige Kunstempfinden meist mehr hemmt als fordert.
Den Stoff zu dieser Kunstbetrachtung liefern die Wandbilder,
die Museen, die künstlerische Natur-Anschauung, die auch dem
Kinde zugänglich gemacht werden kann.
Der Anfang aller dieser Bestrebungen muss es sein, dass
die Lehrer selbst die richtige Auffassung der Kunst gewinneu.
Die Lehrer müssen für die echte Kunst gewonnen werden.
Dass dieses Ziel erreichbar ist, zeigt das Vorbild von Hamburg,
wo diese Aufgabe durch das neidlose Zusammenarbeiten von
Lehrern, Künstlern und Kunstförderern der Lösung näher ge-
führt worden ist. Auch Sie, meine geehrten Damen und Herren
werden diese Bestrebungen fördern können, wenn Ihre wertvollen
Untersuchungen stets im Geiste echter Kunst geführt werden.
In diesem Sinne das Interesse zu wecken, sollten meine Aus-
führungen einen bescheidenen Beitrag bilden.
Anm.: Seit dem Mai v. J. sind alle Fragen der künstlerischen Er-
ziehung auf dem Kunsterziehungstage in Dresden erörtert worden. Der
Bericht über die Vorträge und Verhandlungen ist im Verlage von R. Voigt-
lander in Leipzig erschienen (Preis 1 M.).
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Gedanken und Erfahrungen über musikalische
Erziehung.
Vortrag, gehalten am 3. Januar 1902 im Verein für
Kinderpsychologie zu Berlin.
Von
Oswald Körte.
Ich habe die Ehre, Ihnen über musikalische Erziehung
vortragen zu dürfen. Einen gewissen Rechts-Titel zu diesem
Unterfangen erblicken Sie vielleicht mit mir in dem Um-
stände, dass ich glücklicher Vater von 7 gesunden Kindern
beiderlei Geschlechts bin, deren musikalischer Erziehung seit
ihrer frühesten Jugend ich mich einigermassen , wenn auch
durchaus nicht methodisch und nur sehr lückenhaft gewidmet
habe, lückenhaft infolge Mangels an Zeit und auch an klarer Er-
kenntnis des Notwendigen. Erst mit der Praxis habe ich
einige Erfahrungen gesammelt und mir eine Art von System ge-
bildet; diese Erfahrungen nun und meine Gedanken über das,
was ich musikalische Erziehung nenne, bitte ich, so geringfügig
sie auch erscheinen mögen, Ihnen mitteilen zu dürfen, ohne
dass ich den Anspruch mache, dass dieselben auf die allgemeine
Praxis übertragbar seien.
Nicht über Schul-Musik spreche ich, obwohl dieselbe in
den Rahmen meines Vortrags hineingehören dürfte; sondern
ich beabsichtige nur die allgemeine Musikerziehung zu be-
handeln, die häusliche und in letzter Linie die des Privat-
unterrichts.
Während über Schul - Musik seit den Tagen Pestalozzis
unendlich viel geschrieben worden ist, liegt über allgemeine
musikalische Kinder-Erziehung weniger litterarisches Material
vor. Eine der neueren Publikationen — unter manchen
anderen — möchte ich besonders hervorheben, weil sie sich
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Oswald Kurte.
in ausgiebigster Weise der Ergebnisse bedient, die die neuere
Physiologie und Psychologie geliefert hat: B. Widmaun?
Gehör- und Stimmbildung, Leipzig, C. Merseburger 1899. Ich
begrüsse diese Schrift insbesondere, als sie mit meinen eigenen
Erfahrungen in vielen wesentlichen Punkten übereinstimmt.1)
Nach meinen Beobachtungen ist das Verständnis für die
Frage nach dem Wesen, dem Weshalb und dem Wie der
musikalischen Erziehung auch in den gebildeten Schichten der
Gesellschait ziemlich gering. Vielen erscheint sie überhaupt
bedeutungslos, und dies hängt wiederum mit der modernen Musik-
Auffassung auf das engste zusammen. Ks ist eine alte, zum Ueber-
druss wiederholte Klage, dass unser heutiges Musiktreiben das
Interesse der Kunst oder wenigstens das der Künstler in hohem
Masse fördere, das ethische Moment dagegen so gut wie ganz
vernachlässige; dass von einer musikalischen Erziehung über-
haupt nicht, sondern nur von technischem Unterricht die Rede sei,
und dass der Staat eingreifen müsse, um uns vor den kultur-
feindlichen Schäden des unverständigen Musikmachens zu
schützen. Weun ich nun auch nicht so weit gehe, nach der
Polizei zu rufen, so muss ich doch sagen: In der That, die
Art und Weise, wie man heute Musik treibt, lässt die engen
und innigen Beziehungen zwischen Kunst und Leben, zwischen
Musik und geistiger wie sittlicher Bildung nur allzusehr in
den Hintergrund treten. Freilich, auch heute verfehlt die
Musik der Meister nicht ihren beseligenden, erhebenden Ein-
druck auf die Hörer, besonders auf die Jugend. Aber nur ein
verschwindender Teil des Volkes wird solcher Kunstgenüsse
teilhaftig. Die grosse Masse lebt entweder ohne Musik oder
mit schlechter Musik. Das erstere dürfte unter gewissen Ge-
sichtspunkten vorzuziehen sein; das letztere aber ist natur-
gemässer, als ein Beweis der grossen Macht, die die Welt der
Töne über die Seele des Menschen ausübt Nun, so lange es
Unterschiede der Bildung giebt, wird die musikalische Kost
der Mehrzahl die den niedrigeren Instinkten entgegenkommende
>) Auf die Abhandlung „Die Tonp9ychologie, ihre bisherige Ent-
wicklung und ihre Bedeutung für die musikalische Pädagogik", von
Max Meyer, in dieser Zeitschrift, Jahrgang I, Heft 2, 4, 5, Bei hier be-
sonders hingewiesen. Der Verfasser bespricht darin unter Anderem die
Erziehung des Gehörs zum ästhetischen Genuas der Kunstmnsik.
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Gedanken und Erfahrungen über musikalische Erziehung. 13
sein und bleiben; man kann wohl sagen, dass der weniger
Gebildete oder der Unvermögendere ein gewisses Anrecht auf
den Leierkasten und den Gassenhauer hat. Ein gewaltiges,
allgemeines Bedürfnis nach Musik beherrscht die besser ge-
stellten Klassen und treibt die Familien der Städte, aber auch
solche der Dörfer dazu, ihre Töchter wenigstens im Klavier-
spiel ausbilden zu lassen.
Indes, der technische Unterricht — auf welchen Instru-
menten es immer sei — fällt nicht unter den Begriff des-
jenigen, was ich musikalische Erziehung nenne. Letztere muss
nach meiner Anschauung unter einem weit höheren Gesichts-
punkt aufgefasst werden. Jede ideale Erziehung zielt auf die
harmonische Entwicklung aller der Anlagen, die die Natur dem
Menschen gab, zu einem solchen Grade, dass sie ihm Waffen
werden im Kampfe des Lebens, Mittel zu sicherem Urteil,
Wegweiser zu edlem Genuss der Schönheit Es handelt sich
hierbei also nicht nur um die Ausbildung der Verstandes-
Anlagen, sondern auch um die der Sinne, deren Pflege viel-
leicht noch nicht die ihnen zukommende Berücksichtigung
gefunden hat. In Beziehung auf das Gehör stellt freilich der
Schulgesang das Bestreben dar, diesem Sinne schon in der
Jugend eine gewisse Uebung angedeihen zu lassen. Aber, —
mag die Schule hierin wenig oder viel leisten — das eine
scheint mir zweifellos: die Pflege der Musik und des Gehörs
ist heute keinesfalls eine Bedingung der Erziehung, sondern
mehr oder weniger ein zufälliges Anhängsel, ein geduldetes
Aschenbrödel; und der Grund dazu scheint mir darin zn
liegen, dass das Wesen der Musik als Bildungs-Element noch
lange nicht allgemein erkannt, geschweige denn anerkannt ist.
Man kann in dieser Hinsicht eher von einer Geringschätzung
der Musik seitens der Gebildeten, als von einer Ueberschätzung
reden, so stark auch das viele Musikmachen und Konzerte-
besuchen dagegen zu sprechen scheint. Ja, man wirft der
Musik sogar schädliche Einflüsse vor: Entnervung, Zeitver-
geudung, Verflachung, — Vorwürfe, die nur gerechtfertigt sind
gegenüber dem musizierenden Subjekt, wenn es seine Nerven
und seine Zeit dem Übermass an Technik zum Opfer bringt.
Die Natur gab uns Töne und Rhythmen und dazu die
Fähigkeit, sie zu empfinden und wiederzugeben. Was ist ein-
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Osvald Körte.
facher, natürlicher, als diese Handhabe zu nützen, um auf eine
so angenehme Weise uns mit unseren Kindern in Ueber-.
einstimraung zu setzen und dabei unmerklich, aber sicher, auf
die Entwicklung nicht nur ihres Gehörsinnes, sondern auch
ihres Willens und ihres Seelenlebens einzuwirken? Die musi-
kalische Erziehung begreift eben nicht allein das rein Musika-
lische an sich, sondern sie dient, wie wir sehen werden, auch
den allgemein erzieherischen Bedürfnissen, da sie sich ebenso
an den Willen des Kindes, wie an sein Gefühl wendet Ueber-
dies fördert die Ausbildung der Gesangsstimme gleichzeitig die
der Sprechstimme; die Entwicklung rhythmischen Schwunges
kommt eben so sehr der Musik wie der Sprache und dem
Körper zugute, und die Ausbildung gesunden Geschmackes
und eines einfachen Gefühlslebens, deren Pflege sich unser ge-
wöhnliches Musiktreiben nicht eben durchgehends rühmen darf,
entspringt einer musikalischen Erziehung, wie ich sie verstehe,
unmittelbar. Mit einem Wort: Erziehung zur Musik und Er-
ziehung durch Musik laufen mit einander bis zu einem
gewissen Grade parallel, bestimmen sich gegenseitig. Gut
hörende, scharf empfindende, gesund fühlende Menschen sind
für das Leben wie für die Kunst gleich brauchbar; beide, Kunst
wie Leben, ziehen daher aus einer verständigen musikalischen
Erziehung die gleichen Vorteile.
Ein Teil solcher Erziehung kann von der Familie über-
nommen werden, vorausgesetzt, dass dieselbe dieser Aufgabe
gewachsen ist, und würde jedenfalls, allgemeiner durchgeführt,
eine gar nicht hoch genug anzuschlagende Unterlage für die
Schulmusik darbieten. Selbstverständlich muss sich der Er-
zieher, der sich damit befasst, von dem Gefühl für das dem
kindlichen Vermögen Zuträgliche, für das Natürliche leiten
lassen, neben einem gewissen eigenen musikalischen Ver-
ständnis. Dann wird auch von einer Ueberreizung des Kindes
nicht die Rede sein. Die beste Probe auf das Exempel ist
übrigens der Gemütszustand, die seelische und körperliche Ver-
fassung des Kindes: bleibt es dabei fröhlich, naiv, kindlich,
gesund, so ist man sicher auf dem richtigen Wege.
Bevor ich nun auf die Einzelheiten der Erziehung eingehey
bitte ich einen Blick auf das ganz kleine, noch unentwickelte
Kind werfen zu dürfen und der Frage näher zu treten, welche
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Gedanken und Erfahrungen über musikalische fCrnehung.
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Anlagen dasselbe, wenn es normal ist, für die Musik mit auf
die Welt bringt.
Der bekannte Arzt und Musikschriftsteller Billroth spricht
in seinem interessanten Werk: „Wer ist musikalisch?* an einer
Stelle aus, dass den Menschen (und auch einigen Tieren) eine
mehr oder weniger bewusste Fähigkeit für das Auffassen
rhythmischer Bewegungen angeboren sei. An einer anderen
Stelle bestreitet er freilich die allgemein verbreitete Annahme,
als sei jedem Menschen das Gefühl für Rhythmus angeboren.
Da er sich für seine Beweisführung auf eigene militärische Er-
fahrungen und auf Umfragen bei österreichisch -ungarischen
Regimentern stützt, so darf ich vielleicht bezüglich dieses
Punktes auf eigene Beobachtungen zurückgreifen. Die Be-
gabung für taktmässiges Marschieren zeigt sich naturgemäss
bei den Rekruten sehr verschieden. Wohnen Sie aber einer
Rekrutenbesichtigung, drei Monate nach der Einstellung, bei,
so nehmen Sie wahr, dass die Leute nunmehr — mit ver-
schwindenden Ausnahmen — imstande sind, ohne Musik in
Abstanden hintereinander einzeln 5 bis 10 Minuten lang in
absolutem Gleichschritt zu marschieren, so dass man mit der
Uhr in der Hand auf eine ganz bestimmte Zahl von Schritten
in der Minute rechnen kann. Freilich, eine Unsumme von
Arbeit, Geduld, disziplinaren Mitteln aller Art ist aufgewendet
worden, um ungleiche Anlagen zu gleichen Leistungen, nämlich
Durchschnittsleistungen, zusammen zu sch weissen. Wäre aber
nicht eine gewisse Beanlagung für Rhythmus und Symmetrie
vorhanden, wie lehrte die Armee den Soldaten so stehen und
gehen, wie er eben steht und geht, wenn er ausgebildet ist
Und so komme ich zu dem Schlüsse, dass gerade die militä-
rische Erfahrung, wenigstens in der deutschen Infanterie, der
vorherrschenden Annahme einer Allgemeinbefähigung für
Rhythmus nicht widerspricht, abgesehen natürlich von den
verhältnismässig geringen Ausnahmen, die man unter die
Anomalien zählen darf.
Freilich ist Rhythmus nun doch noch etwas anderes, als
blosses Element der Takt-Gliederung. Rhythmus ist auch Fluss
in b sonderem Sinne, Schwung, Differenzierung des Wesent-
lichen vom Unwesentlichen, Zusammenfassen des Zusammen-
gehörigen. Und in diesem Sinne wird man allerdings sagen
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Onoalt/ Körte.
können: Die Reizbarkeit des Organismus für die feineren
Empfindungen des Rhythmus weist bei verschiedenen Kindern
und Menschen sicher ganz erhebliche Grade der Verschiedenheit
auf. Jeder macht ja die Erfahrung, dass es schwerere, unbeweg-
lichere, steifere, dickflüssigere Naturen giebt, im Gegensatz zu
sensibleren, leichteren, biegsameren, bei denen das Ticken und
und Klopfen des Rhythmus sich infolge der nervöseren Be-
schaffenheit des Organismus fühlbarer macht; bei denen seelischer
und körperlicher Schwung sich schon im zartesten Alter an
dem feinen Rhythmus ihrer gesamten Lebens-Bethätigungen zu
erkennen giebt Ganz dasselbe scheint der Fall zu sein be-
zuglich des Vermögens, Töne zu unterscheiden und sie in Be-
wegungen umzusetzen, sie zu innervieren. Auch hier sind die
Anlagen erfahrungsgemäss sehr verschieden. Aber wir statuieren
doch gleicherweise bezüglich der Verstandes-Anlagen nicht etwa
spezifische Unterschiede, sondern nur solche des Grades, und
errichten das Gebäude der Erziehung auf der Grundlage eines
gewissen allgemeinen Befähigungs-Durchschnitts Ich selbst
verzeichne bei meinen Kindern ausserordentliche Unterschiede
des Gehörs und des rhythmischen Sinnes. Die Annahme liegt
also nahe: Keime — wenn auch noch so geringfügige — musi-
kalischer Beanlagung scheinen jedem normalen Kinde in die
Wiege gelegt worden zu sein.
Conipayre" betont in seiner „Entwickelung der Kindes-
seele" die frühe Empfänglichkeit des Kindes für Ton-Eindrücke,
eigentlich schon von den ersten Tagen an, insbesondere für
harmonische, wohllautende Töne, und er bezeichnet den Gehörs-
sinn als denjenigen, der zuerst den dunklen Sinn für Ordnung,
Regelmässigkeit im Kinde wachruft. Ausdrücklich spricht er
nur von dem Kinde schlechthin, also von dem normalen, nicht
etwa von einem solchen, das besonders musikalisch ist.
Jede Mutter nun, die sich ihres Kindes freut, sucht bewusst
oder unbewusst die ersten Willens-Aeusserungen desselben durch
allerhand Einwirkungen zu unterstützen, zu fördern. In erster
Linie dadurch scheint ja das Kind sprechen zu lernen, dass es
den Klang der Mutter-Sprache empfindet und die Sprach-Be-
wegungen, die es beobachtet, nachahmt Sehr bald unter-
scheidet es stärkere und schwächere Töne, höhere und tiefere,
und erkennt an diesen Merkmalen, wie am Rhythmus, am
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Gedanken und Erfahrungen über musikalische Erüehung.
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Accent der Sprache den Träger derselben vielleicht noch eher
als durch das Gesicht Das sind nun schon Entwicklungs-
Keime musikalischer Natur. Aber auch die Freude des Kindes
am Ton, sei es ein gespielter oder ein gesungener, ist all-
gemeiner Beobachtung zugänglich. Ferner zeigt das Kind
Interesse an periodischen Schällen, an dem knackenden Geräusch
des hin- und hergehenden Pendels der Wanduhr, wobei es auf-
fallt, wie das Kind zuerst sich abmüht, mit den Augen und
dem Kopfe den einzelnen Bewegungen zu folgen, bis die
Empfindung daraus eine zusammengesetzte, rhythmische heraus-
gefunden hat Später ahmt das Kind diese Pendel-Rhythmik
durch, anfangs hilflose, Finger-Bewegungen nach. Auch das inter-
essierte Aufhorchen auf das Ticken einer Taschenuhr scheint
darauf hinzudeuten, dass deren regelmässige Anschläge gewissen
Rhythmen des noch ganz sinnlich empfindenden Wesens
entsprechen.
Sollte es nun nicht möglich sein, in ähnlicher Weise wie
den übrigen Lebens-Aeusserungen, auch den musikalischen In-
stinkten des Kindes entgegen zu kommen? Schon, wenn die
Mutter mit dem kleinen Kinde in einer modulierenden Stimme
spricht, die unwillkürlich Tonhöhe und Klangfarbe dem Empfinden
desselben anpasst; oder wenn auch die unmusikalische Mutter
sich instinktiv zu einer Art beschwichtigenden Singens ver-
anlasst fühlt, kommt sie dem sinnlichen Bedürfnis des Kindes
nach Klang, nach Musik direkt entgegen. Ich habe jedoch
auch die Erfahrung gemacht, dass die bewusste absichtliche,
Benutzung des musikalischen Interesses des Kindes nach einiger
Zeit aktive musikalische Bethätigung desselben zur Folge hatte.
Der Vorgang dabei ist der wie beim ersten Sprechcnlernen
oder, — man kann es auch so bezeichnen — wie beim Ab-
richten eines Singvogels. Das Kind sieht den, der ihm eine
kleine Melodie vorsingt, mit grossen Augen an und beobachtet
offenbar die Bewegungen des Mundes Aber freilich dauert
der Prozess der inneren Reproduktion und der Uebertragung
auf die Kehlmuskeln längere Zeit. Wohl bewegen sich die
Lippen des Kindes manchmal, als wollten sie sich zum Ton
öffnen, aber erst viel später und, nach meiner Erinnerung,
meist dann, wenn das Kind sich selbst überlassen daliegt,
kommi plötzlich ein kleines „Tönchen", so ein Vogel-Zwitscher-
Zetochrift für pädagogische Psychologie. Pathologie und Hygiene. 2
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OntalJ A'-rfe.
ton, zum Vorschein. Dies ist die erste Einstellung des kleinen
Kehlkopfes auf eine bestimmte Tonhöhe, der erste musikalische
Ton. Aber wiederum verstreicht von hier an bis zur Wieder-
gabe verschieden hoher Tone und eines Melodie-Bruchstückes
eine getaume Weile. Wohl mögen auch hier bisweilen jene
Zustände von Aphasie eintreten, . die man in der Sprachentwick-
lr.ng so oft beobachtet.
Leider habe ich die Einzel- Beobachtungen dieser ersten
Sing- Versuche meiner Kinder nicht genauer aufgezeichnet.
Dazu fehlte mir unter anderem ein wirklich wissenschaftliches
Interesse. Immerhin zeigen meine Notizen, die bis 20 Jahre
zurückreichen, wie sehr ich schon damals von der Ansicht ge-
leitet war, dass gewisse Einwirkungen imstande seien, mu-
sikalische Keime zu wecken, und deshalb ist vielleicht die Mit-
teilung einiger dieser schriftlichen Erinnerungen von einigem
Wert. Bezüglich meines ersten Kindes, eines Knaben, notierte ich
damals, in seinem 2. Lebensjahre : „Auffallende Liebe für Musik
liess sich von Anfang an nicht verkennen. Viel mag dazu bei-
getragen haben, dass ich dem Kinde von frühesten Tagen an
vorgesungen und vorgespielt habe. Dabei schlief es zuerst
meist ein." Ich unterschied bei dein 16 Monate alten Knaben
die Melodie „Backe, backe Kuchen", die er zwar uoch nicht wirklich
sang, aber doch trällerte. Mit 2 Jahr 4 Monaten sang er „Stille
Nacht, heilige Nacht" mit dem Text der ersten Strophe. Auch
machte er sich in dieser Zeit gern eine kleine Melodie selbst
zurecht, wobei er einen meist wunderlichen Text unterlegte.
Aehnlich unser zweites Kind, ein Mädchen, das mit einem Jahre
„Backe, backe Kuchen", mit 16 Monaten „Heil Dir im Sieger-
kranz" und „Ich natt' einen Kameraden" mit gut zu verstehendem
Text sang. Das letztere ist mir noch heute sehr merkwürdig,
aber die Aufzeichnungen lassen keinen Zweifel darüber zu.
Unser drittes Kind, wiederum ein Mädchen, machte uach meinen
frühesten Aufzeichnungen von Anfang an deu Eindruck sehr
geringer musikalischer Begabung. Dies zeigte sich in den
Jahren, da sie anfing, mit 'hren älteren Geschwistern zu
singen, darin, dass sie immer „zwischen durch" sang und keinen
Ton richtig zu treffen wusste. Meine Notizen konstatieren aber
von Etappe zu Etappe eine Zunahme, eine Entwicklung, die
ich auf nichts anderes zurückführen kann, als auf den gemein-
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Gedanken und Erfahrungen üb< r tnusikalische Erziehung,
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schaftlichen Gesang, das öftere Hören der Musik. Aehnliche
Erfahrungen machte ich bei meinen jüngeren Kindern ; überall
erhebliche Unterschiede der Begabung, aber Fortschritte durch
Uebung. Die Kinder erziehen sich auch hier, wie in anderen
Dingen, gegenseitig. Sicher würde man diejenigen meiner
Kinder, die auch heute noch, im Alter von 16 und 12 Jahren
an Ton-Urteil oder rhythmischem Gefühl den anderen unter-
legen sind, zu den sogenannten Unmusikalischen rechnen, hätten
sie nicht von zartester Jugend auf gute musikalische Eindrücke
erhalten und wären sie nicht genötigt worden, sich selbst musi-
kalisch zu bethätigen. Diese Eindrücke reichen aber bis in das
zweite Lebensjahr mindestens zurück.
Indes möchte ich nicht missverstanden werden. Ich
empfehle nicht etwa eine musikalische Treibhaus-Kultur des
Wickelkindes; davor habe ich mich bewusster und ausge-
sprochener Weise gehütet Trotzdem bin ich der Ansicht
dass es durchaus gerechtfertigt und natürlich erscheint, wenn
die Mutter die der Entwickelung des Tonsinns günstigsten Be-
dingungen schafft. Reichtum, Mannigfaltigkeit, Lebendigkeit
und Frische der frühesten Klang-Eindrücke bewirken gewiss,
wie B. Widmann sehr treffend bemerkt, den Gegensatz zu
der Stumpfheit und der Schwerfälligkeit des Gehörssinns, mit
dem die Schule so oft zu ringen hat
Freilich hatte ich solche Kinder nicht unter den Händen,
bei denen in Folge absoluten Mangels an musikalischen Anlagen
jeder Versuch, sie zum Singen zu bringen, scheitert Wie gross
die Anzahl solcher musikalisch Hoffnungslosen, absolut oder
partiell Tonblinden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Dies
hindert mich indes nicht, sogenannte „unmusikalische" Kinder
mit der verstohlenen Frage zu betrachten: Was ist in der
voraufgegangenen Zeit geschehen, um etwaige, wenn auch
noch so geringe, musikalische Keime zu wecken, zu entwickeln?
Es giebt, wie ich wohl weiss, in der Schule Kinder, die
im Gesänge immer nur einen und denselben Ton heraus-
bringen können, die sogenannten Brummer. Aber die Fest-
stellung, ob die Ursachen dieser Erscheinung nur in einem
absoluten Mangel an Gehör liegen oder aber pathologisch zu
erklären sind, ist nicht so einfach, namentlich für einen Lehrer,
der keine oder nur geringe musikalische Vorkenntnisse be-
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OswaU mKötle.
sitzt. Im Übrigen gehen die statistischen Angaben der
Lehrer selbst hierüber sehr weit auseinander. Während der
eine Fachmann über das störende Vorkommen vieler Brummer
klagt, versichert der andere das Gegenteil. Sehr interessant
war mir das Urteil des Herrn Professor A. Holländer,
der läglich eine grosse Anzahl von Mädchen aller Berufs-
klas.sen in der hiesigen Victoria-Schule im Singen unterrichtet:
er bezeichnete das Vorkommen von Brummern als eine ver-
hältnismässige Seltenheit. Die Verschiedenheit der Beobachtung
kommt zum Teil wohl daher, dass der Grad des Verständnisses
gegenüber dieser Erscheinung nicht überall ein gleicher ist
So wurde z. B. mein ältester Junge, von dem ich erzählte,
dass er mit etwa 2*/4 Jahren schon ein Weihnachtslied sang
und sich kleine Melodien machte, als er auf die Schule kam,
vom Lehrer — vermutlich weil er aus irgend welchen Gründen
nicht mitsang — auf die Bank der Brummer verwiesen, wo-
raus meine Fürsprache ihn demnächst wieder befreite. Im
Übrigen verweise ich in dieser noch ungelösten, die Physiologen
sehr interessierende Frage auf die Untersuchungen Ed. Engel's,
die er in einem Bericht über den Stimm-Umfang sechsjähriger
Kinder an den Badischen Obei schulrath niedergelegt hat
(1889, Hamburg.)
Ich nehme nun an, das Kind sei in das Alter gekommen,
wo es wie ein reines Gefäss die Einflüsse der Erziehung auf-
zunehmen bereit ist, also in das 4. bis 5. Lebensjahr. Wie
kann sich die musikalische Erziehung nunmehr, d. h. bei
Kindern von etwa 5 Jahren an, verhalten?
Der Mensch ist von der Natur zur Äuserung musikalischer
Stimmungen zunächst auf ein einziges, aber freilich auch das
beste, Instrument hingewiesen, seine eigene Stimme. Nun er-
scheint es mir immer sehr merkwürdig, dass, während wir
Denken und Sprechen als etwas selbstverständlich mit einander
Verbundenes oder sogar als Ein und dasselbe betrachten, im
Musikleben des Einzelnen das seelische Bedürfnis nach musi-
kalischer Äusserung so verhältnismässig selten mit dem Singen
verbunden ist Zum Teil muss das seinen Grund haben in
einer Unterschätzung des Geschenks, das uns die Natur in der
örtlichen Vereinigung von Ton-Empfindung und Ton- Erzeugung,
oder wenigstens in einer sehr nahen Nachbarschaft oder Ver-
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Gedanken und Erfahrungen über musikaUncht- Erziehung.
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wandtschaft Beider und der dazu bestimmten Organe verlieh;
und dies mag wiederum die Thatsache erklären, wesshalb wir
nicht eigentlich ein singendes Volk, sondern ein viel mehr
spielendes geworden sind, dass unsere Finger-Muskeln mehr
leisten als unsere Kehlkopf- Muskeln, und, eine Folge davon —
dass die grosse Menge mehr zuzuhören als zu hören Und, in
weiterer Folge, zu urteilen im Stande ist. Weun Eltern «in
auffallendes musikalisches Talent an ihrem fünfjährigen Kinde
entdecken, ist vielfach die erste Frage die: Welches Instrument
soll nnser Kind lernen? Musikalisch sein und ein Instrument
spielen scheint bei den Meisten in eine und dieselbe Vorstellung
zusammen zu fliessen, obgleich es doch hervorragend musika-
lische Leute giebt, die nie ein Instrument angerührt haben,
oder die dazu deshalb nicht imstande sind, weil ihnen nur
die Fähigkeit der Uebertragung durch die Finger-Muskeln auf
Tasten oder Saiten fehlt. Ich würde die Frage so stellen:
Welche Wege schlage ich ein, um die musikalischen Anlagen
einmal für das Leben, dann für die Musik am sichersten und
schnellsten zu entwickeln? Und ich beantworte sie dahin:
Entwickelt erst Tonsinn, Intervallsinn, Melodie- und Harmonie-
sinu, Rhythmensinn vermittelst des natürlichen Organs, das
das Kind erhalten hat, der Stimme. Es ist eine viele hundert
Jahre alte, von uns leider meist nicht beachteteRegel, dass der
Weg zur Musik, auch zum Instrumenten-Spiel über den Gesang
geheu solle, oder wie sich der einsichtige Forke 1 in seiner
Geschichte der Musik (um 1800) ausdrückt: „Die Singekunst
ist die beste Vorbereitung zur Erlernung eines musikalischen
Instruments." Die Lektüre der darauf bezüglichen Bemerkungen
(Band II, 59 u. ff.) kann nicht warm genug empfohlen werden.
Keineswegs aber sollte man sich verleiten lassen, aus dem
Umstände, dass sehr begabte Kinder auch ohne Kenntnis des
Gesanges, ohne selbst zu singen, auf Instrumenten oft Erstaun-
liches leisten, zu folgern, dass das Singen für die musikalische
Erziehung entbehrlich sei. Immer muss man sich die Tausende
von Kindern und Erwachsenen vor Augen halten, deren Spiel,
namentlich Klavierspiel, unsere Nerven und Geduld reizen,
und deren angeborenes natürliches Empfinden durch eben dieses
unverständige Musikmachen in eine durchaus verkehrte Rich-
tung gedrängt wird.
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OswaU Kört*.
Wie aber vollzieht sich denn die erziehliche Wirkung des
Gesanges auf das Gehör? Offenbar kommt in diesem Prozesse
dem empfundenen Tone oder Klange ein inneres Vermögen
entgegen, denselben zu reproduzieren und nun von sich aus
wieder in Bewegungen umzusetzen, die diesem Tone entsprechen.
Fast möchte man meinen, die Reproduktion, oder das sich
daraus entwickelnde Ton-Gedächtnis sei nichts auderes, als
eben diese Bewegungen selbst, was gewisse Psychologen ja von
dem Gedächtnis im allgemeinen annehmen. Freilich ist das
die bedeutendsten Denker beschäftigende Problem: ob mit jeder
Ton-Vorstellung notwendigerweise eine Kehlkopfs-Innervation
verbunden sein müsse, noch ungelöst; aber die Art, wie das
Kind singen lernt, ist für mich doch ein starker Hinweis
darauf, welch grosse Wichtigkeit der Gesang für die Erziehung
des Ton-Bewusstseins haben muss. Die Ton-Vorstellung, —
darüber ist ja wohl kaum ein Zweifel, — vergesellschaftet sich
gern mit oder orientiert sich an Muskel-Bewegungen, an einem
inneren Mitsingen, das C. Stumpf in seiner „Tonpsychologie44,
wie folgt, beschreibt: „Die Kehlkopf-Empfindungen tragen
den Charakter von Muskel- oder auch Tastempfindungen
und rühren von fühlbaren Spannungen und Verschiebungen
au und in diesen Organen her. Dass wir den Kehlkopf gern
zu Hilfe nehmen, ( — beim Vorstellen von Tönen — ) begreift
sich genugsam aus der steten Bereitschaft dieses Instruments.14
Die stete Bereitschaft des Kehlkopfes, das ist in unserer
Frage der springende Punkt Ob ein Kind Töne, Tonfolgen,
Rhythmen so empfindet und reproduziert, vorstellt, wie ich
sie empfinde, darüber kann ich mich nur dadurch vergewissern,
dass es mir diese Töne und Rhythmen wieder zurückgiebt,
und das einzige Instrument dazu ist eben die Stimme. Und
wiederum: das Kind selbst kann zu einem Vergleich, zu einem
Ton- Urteil nur dann gelangen, wenn es dem einen Teile des
Ver^leichs-Objekts, nämlich dem empfundenen, den zweiten
Teil, den reproduzierten, in seiner eigenen Stimme gegenüber-
stellt. Daher erscheint es mir einleuchtend, dass Gehör-
bildung und Stimmbildung oder Singen, inneres wie äusseres,
in der musikalischen Erziehung Hand in Hand gehen müssen,
und dass der, der mit Fingermuskel - Bewegungen beginnt,
anstatt mit denen der Siug-Organe, ein ebenso natürliches wie
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Geplanten und Erfahrungen iitter tnusikalische Erziehung.
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einflussreiches Mittel der Erziehung vernachlässigt und in der
Mehrzahl der Fälle, statt Bildung des Gehörs und des Ton-
Urteils, Verbildung und Abstumpfung erzielt. Denn man kann
Jahre lang ein Instrument spielen, ohne fähig zu werden,
Musik blos durch das Gehör zu verstehen, und die Folge
davon ist jenes mechanische Musikmachen, das jedenfalls nicht
einen Zuwachs, eher wohl eine Verminderung an Lebenskraft
darstellt.
Ich will nun versuchen zu schildern, wie ich — allerdings
in sehr bescheidenem Masse, durchaus nicht methodisch und
leider sehr lückenhaft, versucht habe und noch versuche, bei
meinen Kindern im Alter von 5 Jahren aufwärts Ton - Em-
pfindung und Ton- Vorstellung zu fördern.
Der Nachahmungstrieb und die sinnliche Freude des Kindes
am Klange spielen auch hierbei eine Rolle. Die Arbeit aber,
welche die kleinen Köpfe zu leisten haben, wird wesentlich
erleichtert durch eine Dosis Humor, für den das Kind so
empfänglich ist. Die Grundlage solcher Uebungen bleibt das
Kinder- und Volkslied mit seiner einfachen Tonalität, sowie
der Choral. Man braucht sich nicht vor öfterer Wiederholung
der Kinderlieder zu scheuen; sie sind eigentlich unabnutzbar,
lassen sich übrigens durch kleine dynamische und rhythmische
Schattierungen immer wieder neubelebeu. Auch handelt es
sich ja gerade um die Einprägumj bestimmter Melodiegänge,
behufs Bildung des Melodie-Gedächtnisses, um eine Art
Suggerieren von Kehlkopf-, Zungen-, Lippen-Gefühlen, an
denen die Psyche des Kindes sich orientieren, mit denen sie
dann zu anderen Bewegungen fortschreiten kann
Nun singen wir gemeinschaftlich am Klavier, teils indem
ich vorsinge uud die Kinder nachsingen, oder indem wir
zusammen singen. Die begleitenden Harmonien des Klaviers
unterstützen nach meiner Erfahrung das Auffassungs- Vermögen
der Kinder für Melodie und Intervall; nur muss man die Vor-
sicht üben, nicht stark zu spielen, sondern möglichst leise,
mehr andeutend, als füllend; einmal um den Klavierton nicht
zum Hauptton zu machen, der den Gesangston überdeckt; dann
um das Kind durch die instrumentale Stütze, auf die es sich
gern verlässt, nicht zu verwöhnen. Den Text sage ich immer
in kurzen Abschnitten vorher an — soweit er nicht ganz be-
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Orwald Körte.
kannt ist — , damit das Kind keine zu grosse Arbeit für das
Wort-Gedächtnis habe. Der Text erweckt Interesse und er-
leichtert die Innervation des Tons. Das Vorsprechen geschieht
möglichst scharf artikuliert, damit die Kinder immer an die
Pflicht gemahnt werden, selbst gut auszusprechen. Viel hilft
dabei, wenn ihre Augen an den Lippen des Erziehers hängen;
aber bekanntlich verliert sich diese so schätzenswerte Ge-
wohnheit mit jedem Jahre mehr, weil das Kind nach und
nach an jener naiven Gläubigkeit von Mund zu Mund, von
Auge zu Auge einbüsst, in dem Masse wie die Selbständigkeit
wächst, in diesem besonderen Falle das Interesse am Nach-
lesen des Textes oder der Noten. Vor gewissen Fehlern muss
man sich hüten: nämlich selbst zu stark zu singen und die
Kinder stark singen zu lassen. Abgesehen von den Gefahren
für die Stimme erschwert ein zu starker Ton das Heraushören
der vielen Intonations-Fehler; es ist unglaublich, welchen
Selbsttäuschungen man dann unterliegen kann.
Die absolute Tonlage des Liedes muss der Durchschnitts-
Stimmlage der Kinder entsprechen. Je höher die erstere, desto
grösser ist auch die Neigung des Detonierens, in diesem Falle
des Herabziehens des Tons. Man muss also imstande sein, be-
liebig zu transponieren, was auch für andere Zwecke wertvoll ist.
Zu dieser Fähigkeit muss sich ferner eine einigermassen edle
eigene Tongebung gesellen und eine gewisse Beherrschung
der Tonalität.
Was nun die Erziehung zum „Reinsingen" angeht, so war
es mir eine Zeit lang fraglich, was man denn unter Reinsingen
zu verstehen habe; im Laufe der Zeit bin ich aber doch zu
der Ansicht zurückgekommen, dass es einen mathematischen
Richterstuhl hierüber nicht giebt, sondern nur ein allgemeines
Gefühl aller derer, die bei der Empfindung einer Intonation
ein Lustgefühl, bei derjenigen unreiner Intonation ein Unlust-
gefühl haben. Weder der Kunstgesang, noch die Instrumental-
Musik entscheiden sich bezüglich der den einzelnen Tonhöhen
einer Skala zuständigen Intonation für ein gewisses Stimmungs-
Prinzip, etwa für das pythagoräische oder das sogenannte natür-
liche, wohl aus dem Grunde, weil die Psyche sich nicht auf
mathematisch abgezirkelte Punkte einstellen lässt. Immerhin
haben wir für unsere Zwecke in einem gut gestimmten Klavier,
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Gedanken und Erfahrungen über musikalische Erziehung.
25
trotz seiner Temperatur, einen ausreichenden Ton-Messer. Ich
gehöre nicht zu den Fanatikern, die das Klavier aus dem
Gesangs-Unterricht deshalb verbannt wissen wollen, weil es
angeblich das Gefühl für Ton-Reinheit verderbe, und die dafür
dem Gesauglehrer auf Schulen die Violine in die Hand drücken.
Die Violine rein und dabei mit gutem Klang zu spielen ist
nicht Jedermanns Sache, und man kann von Glück sagen,
wenn man auf ihr so reine Tonstufen erzielt, wie auf dem
Klavier. Letzteres hat aber ausserdem den Vorzug der leichteren
Handhabung und einer Haltung des Lehrers, die ihm ermög-
licht, dabei auch auf die Singenden selbst zu achten; und
endlich giebt es willig und leicht die Harmonie her. Freilich
raüsste der Lehrer zugleich Klavierstimmer sein. Ich meine
also: es ist für die Praxis viel erreicht, eigentlich alles, wenn
die Kinder so rein singen lernen, wie das Klavier angiebt
dann aber, und das ist das Interessante und Wunderbare daran,
klingt der Gesang ohne Klavier noch viel reiner und infolge
dessen lieblicher als mit Klavier, oder ist reiner als der des
Klaviers, — das Wesen und der Vorzug des a capella-Gesangs.
Ich habe gefunden, dass jedes Kind, auch das dafür besonders
begabte, erst zu reiner Stufenbildung thatsächlich erzogen werden
inuss. Namentlich bei aufsteigenden Gängen macht es nach
meinen eigenen Erfahrungen und den Mitteilungen einiger mir
bekannter Lehrerinnen Schwierigkeiten, die 6. und 7. Stufe
der Leiter rein zu bekommen. Auch ist es nicht ein und das-
selbe: Töne zu empfinden und sie in Muskel-Bewegungen um-
zusetzen, sie zu innervieren. Bei manchen Kindern scheint eine
gewisse Scheu, ein „Genieren" dieser Thätigkeit hinderlich zu
sein. Bei anderen ist das Hindernis vielleicht physiologisch
begründet. Oft sagen Kinder: Ich weiss schon, wie es klingen
soll, ich kann es nur nicht so herausbringen. Sache der Uebnng
ist es, diese Unfähigkeit oder Sehen zu überwinden, die Ueber-
setzung von Ton-Empfindung in Muskel-Bewegungen zu
fördern, wobei Gehör- und Stimm-Bildung gleichzeitig profitieren.
Freilich, bei gewissen Naturen mögen die Hindernisse unüber-
windlich sein; doch mache ich auch in dieser Hinsicht darauf
aufmerksam, dass sich solche Schwierigkeiten bei jüngeren
Kindern vermutlich weit leichter beheben lassen, als bei älteren,
bei denen namentlich das Moment der Scheu eher zunimmt
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2b
Oswald Kör Ii'.
als abnimmt, ein Motiv mehr, mit dem Singen in frühen Jahren
zu beginnen.
In der vom Kinde zu leistenden musikalischen Arbeit
— Ton-Empfindung, Reproduktion, Innervation, Vergleich,
Urteil, Innehalten des Rhythmus, Aussprache, Atmen — liegt
eine Summe von Bildungs-Elementen sowohl musikalischer als
allgemein erzieherischer Natur. Man kann sie zusammenfassen
unter dem Begriff: Schule des Willens in einer ganz eigen-
tümlichen, reizvollen Form, in Begleitung eiuer heilsamen Be-
einflussung des Gemütslebens. Das, was das Kind zuerst
gleichsam spielend und unbewusst an eigenem Material her-
giebt, modelt sich unter der Hand des Erziehers zu
Aeusserungen und Erfolgen bewussten Wollens, indem das
Kind schliesslich die betreffenden Thätigkeiten direkt durch
den Willen regeln lernt; eine Beobachtung, die den Physiologen
und Psychyologen längst bekannt ist.
Das ganze Wesen des Kindes soll sich in den — übrigens
recht kurz zu messenden — Uebungen auf den inneren Vor-
gang konzentrieren; ich halte darauf, dass hierbei die ab-
lenkenden Bewegungen, wie Spielen mit den Händen, Weg-
wenden des Kopfes, Umherblicken, unterbleiben. Dass ein Kind
die Spannung des Lauschens, des Horchens leistet, sieht man
ja sofort seinem Ausdruck an, vielfach auch an der leichten
Oeffnung des Mundes. Vergleicht man damit den Ausdruck
der Zerstreuung bei mechanisch klavierübendeu Kindern, so
kann man kaum im Zweifel sein, wo das Plus an Kraft und
Erfolg zu suchen ist. Nicht unwichtig ist auch die Beob-
achtung der Wirkung, welche namentlich bei den jüngeren
Kindern die nach verschiedenen vergeblichen Versuchen endlich
gefundene Uebereinstimmung des eigenen Tons mit dem vor-
gesungenen oder aufgegebenen Tone des Vaters oder der Mutter
oder des Erziehers hervorruft. Da nämlich in diesem glück-
lichen Alter das Kind meist unerschütterlich glaubt, dass der
Aeltere das Rechte, das Gute weiss und thut, so ist solche
Uebereinstimmung nicht nur musikalisch von Wert, sondern
— so geringfügig das erscheinen mag allgemein erzieherisch,
moralisch.
Tonleitern lasse ich nicht singen, obwohl ich ihre Vorzüge
nicht verkenne und auch der Ansicht bin, dass sie für einen
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Gctüinhrn und Erfahrungen über musikalische Erziehung.
27
eigentlich methodischen Unterricht unentbehrlich sind. Immer-
hin enthalten die Lieder das Material der ersten aller Leitern,
nämlich der Dur-Tonleiter und helfen schon an sich, durch
den Schwung der Melodie zu einer genügenden Erziehung des
Gehörs mit, während die technische Leiterübung dieses
Schwunges ermangelt. Thatsächlich hört man denn von ganz
jungen Kindern plötzlich eine Tonleiter singen, ohne dass sie
je geübt wurde. Die Treff-Reinheit lässt sich eben auch noch
auf andere Weise anerziehen. Die Intonations-Fehler resultieren
zum grossen Teil aus einem Versagen der Aufmerksamkeit,
einem ganz natürlichen Nachlassen der Spannung, die sich
eben in einem Nachlassen der Sing-Organe, namentlich der
Stimmbänder kundgiebt; worin mir die Erklärung dafür zu
liegen scheint, dass das Detonieren in der grössten Mehrzahl
der Fälle mehr mit Zu tief- als mit Zu hoch singen identisch
ist. Ueberall in der Erziehung, so auch hier, tritt an uns die
Forderung heran, die naive Spielseligkeit des Kindes in wirk-
liche Arbeit, in Thätigkeit umzusetzen; und es kommt darauf
an, hierfür die geeigneten Mittel zu finden.
Eine vortreffliche Handhabe, dem Nachlassen, der Unacht-
samkeit entgegen zu wirken, fand ich in der musikalisch von
Alters her berühmten Cheironomie, deren sich übrigens die
Solfeggisten in England in ausgedehntem Masse bedienen-
Eine leichte Handbewegung von unten nach oben, vor der
Stelle, wo erfahrungsmässig ein Nachlassen, ein Herabziehen
oder ein Nichterreichen der verlangten Tonhöhe stattfindet,
lenkt die Aufmerksamkeit der Kinder, durch Mitwirkung der
Raum-Vorstellung, auf den anzustrebenden Punkt, bereitet die
betreffende Ton-Vorstellung vor uud bewirkt die nötige An-
spannung bei der Innervation. Mit solchem einfachen Zeichen
habe ich überraschende Erfolge erzielt, mehr noch als durch
das blosse Vorsingen, da es sich hierbei oft mehr um Mangel
an Aufmerksamkeit, an Willen, als an Gehör zu handeln
scheint. Freilich muss mau sich auch hier um ein Zuviel
hüten, da man sonst die ganze Stimmung wider Willen um ein
erhebliches hinaufschrauben kann.
Auf einzelne Fälle bin ich aufmerksam geworden, in denen
Kinder erfahrungsmässig an Spannung nachlassen, nämlich bei
der Ton -Wiederholung und bei länger auszuhakendem Ton,
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OswaM Körle.
namentlich wenn diesem ein tieferer Ton folgt. Bei aufmerk-
samem Hören merkt man vielfach, wie im ersteren Falle der
Wiederholungston nicht genau in der Höhe des vorangehenden
eingesetzt wird, während im letzteren Falle der Ton ganz all-
mählich mit dem natürlichen Decrescendo sinkt. Wenn man
das etwa« karrikiert nachahmt, lachen die Kinder und werden
darauf aufmerksam. Uebrigens interessiert alles dies, wie ich
weiss, die Kinder sehr, noch mehr die jüngeren als die
älteren, die sich schon über manches erhaben fühlen,
Bekanntlich fällt es den Kindern leichter, diatonische Gänge
wie C D E F G zu singen, als Sprünge wie zum Beispiel C G.
Solange aber solche Sprünge im Schwünge der Melodie ge-
sungen werden, bereiten auch hie keine erheblichen Schwierig-
keiten, wie beispielsweise der von den Alten so gefürchtete
Tritonus F H in dem Licde „O Tannebaum44 von den Kindern,,
auch den kleinsten, anstandslos intoniert wird. Aber etwas
anderes ist es, wenn man solche Intervalle für sich, eben als
einzelne Intervalle singen lässt. Diese Fähigkeit der lebendigeu,
klaren Intervall- Vorstellung und entsprechenden Innervation
ist aber für die Erziehung musikalischen Denkens von grösster
Bedeutung. Ohne dieselbe bliebe das Singen ein rein
mechanisches Nachbeten. Auch die begabteren meiner Kinder
sind oft nicht imstande, nach einem kurzen tonalen Vorspiel
eine viel gesungene, ganz bekannte Melodie auf dem richtigen
Tone, dem Anfangstcme, anzusingen. Singt man oder spielt
man dann nicht selbst mit, so erlebt man es, dass der Einsatz
der Stimmen entweder ganz ausbleibt oder nur von einer ver-
einzelten Stimme gewagt wird, die sich dann meist ob ihrer
Isoliertheit erschrocken in ihres Nichts durchbohrendes Gefühl
zurückzieht Analoge Erscheinungen bietet der Gesang un-
geschultcr Chöre, bei denen nur gewisse bewährte Stützen die
Einsätze liefern, und das Intonieren des Chorals in der Kirche
nach dem Orgel- Vorspiel, wo der Einsatz vielfach nur von der
Minderzahl geschieht, auch wenn es sich um eine bekannte
Melodie handelt. Die Gründe dafür sind entweder Scheu oder
Unaufmerksamkeit, Mangel an Konzentration oder gänzliche
Unfähigkeit zu singen, oder aber das Unvermögen, das ver-
langte Anfangs-Intervall aus der tonalen Grundstinunuuyr des
Vorspiels herauszusondern, festzuhalten, auszudrücken. Die
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Gedanken und Erfahrungen über musikalische Ernehun^.
29
Gemeinde steigt also sozusagen stationsweise in den Zug des
Chorals ein.
Erziehung kann nun für die Bildung von Intervall- Vor-
stellungen viel thun; und gerade diese Anfangs-Intonation ist
solange man nicht methodisch nur Intervalle singen lässt -
nach meiner Erfahrung sehr fruchtbringend, zumal sie die
Kinder lebhaft interessiert. Während des kurzen Vorspiels,
das Intonations - Stimmung neben seelischer Stimmung (am
Sonntag beim Choralsingen) erzeugen soll, verlange ich Auf-
merksamkeit, Aufhorchen auf die Grundstimmung. Das Vor-
spiel enthält zweckmässig das Anfangs- Motiv des Chorals oder
Liedes, vielleicht etwas verschleiert, und eine kräftige Kadenz,
die die Tonart sicher kennzeichnet, auch wohl die absicht-
liche häufigere Betonung des Anfangs-(Ansinge-)Tons. Die
Kinder müssen der Frage gewärtig sein: „Welches Lied, welcher
Choral kommt?', und der Aufforderung an den Einzelnen, allein
anzusingen. Beides setzt eine gewisse Willens-Spannung vor-
aus: den Prozess der Erinnerung und den der gesuchten Ton-
Vorstellung und Vorstellungs-Bewegung. Dabei macht mau
auch bei den beanlagtesten Kindern die merkwürdigsten Er-
fahruugen, selbst in den geläufigsten Melodien. Beginnt das
Lied beispielsweise mit der Quinte (als Auftakt) oder mit der
Terz, während das Vorspiel, wie meistens, auf dem Grundton,
der Tonika, schloss, so übt diese letztere eine grosse An-
ziehungskraft auf die Psyche des Kindes aus und zerstört ent-
weder die Vorstellung des richtigen Tones, wenn sie überhaupt
vorhanden war, oder lässt diese Vorstellung überhaupt nicht
aufkommen. Der Einsatz erfolgt dann fälschlicherweise mit
dem Grund ton. Derselbe Vorgang des Sichlei tenlassens voll-
zieht sich anscheinend bei allen denen, die nicht zwei oder
mehrere Melodien gegen einander empfinden können, woraus
sich die Wichtigkeit solcher einfachen Uebuugen nicht nur für
den Einzel-Gesang, sondern auch für den mehrstimmigen er-
geben dürfte. Nebenbei bemerkt, ist mir immer aufgefallen,
dass Kinder sich im mehrstimmigen Gesänge ganz besonders zu
der höher, d. h. über der ihrigen liegenden Melodie hingezogen
fühlen und in dieselbe hineingeraten, ein Zeichen, dass unsere
Musik-Empfindung, die die Melodie meist in die Höhe verlegt,
doch eine der Natur entsprechendere ist. im Gegensatz zu der
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Or.vaU KörU.
mehr kunstmässigeti Musik - namentlich früherer Zeiten
die die Melodie, als Tenor, in die Mitte legte.
Zu grösserer Uebung pflege ich diese Ansinge-Uebungen auf
verschiedenen Tonstufen zu wiederholen, so zuerst auf C, dann
auf Cis, auf B, auf Dis u. s. w., und ich habe oft die Freude,
dass auch ganz kleine Kinder, wie ein Junge von 5l/2 Jahren
in solchen Fällen ganz allein auf dem richtigen Einsatztone
intoniert. Auch während des Liedes oder Chorals, namentlich
bei den Haltern desselben, höre ich ab und zu plötzlich auf
und verlange Weiterintonieren des Einzelnen, um mich zu
überzeugen, ob er nicht nur mechanisch singt, sondern mit
lebendiger Vorstellung der Verbindung des Kommenden mit
dem Vergangenen, eine Uebung, die ich als sehr wirksam ge-
funden habe. Zur Erziehung der Empfindung für Melodie
gegen Melodie wähle ich zuerst den Weg, für meine Person
eine beliebige Gegen - Melodie zwischen durch zu singen, zu-
nächst ganz leise, da die Kinder dadurch anfangs in ihren
eigenen Vorstellungen leicht gestört werden; nach und nach
gewöhnen sie sich an die ihnen entgegenlaufenden Tongänge
so, dass sie bald — allerdings mit Unterschied - imstande
sind, nun auch selbst Melodie gegen Melodie zu empfinden und
auszudrücken. Aber zu selbständiger Führung von Gegen-
Melodien ohne Noten, rein aus der eigenen Vorstellung heraus,
ist doch mehr erforderlich, nämlich mindestens lebendiges
Empfinden oder aber begriffliches Erfassen der Tonalität
Auch in diesen Hebungen spielt die Scheu gewisser
Naturen vor dem Allei Usingen eine Rolle, und ich kann nur
immer wiederholen, dass deswegen der Gesang nicht früh
genug - cum grano salis — beginnen kann.
Bei sehr fein empfindenden Gehören genügt übrigens schon
das blosse Lauschen auf einen tiefen Grundklang, also beispiels-
weise auf das C des Klaviers, um den Ansingeton (Quinte, Terz,
Tonika) zu finden, indem derselbe aus den Obertönen analysiert
wird. Eines meiner Kinder, ein allerdings musikalisch, nament-
lich auch rhythmisch sehr begabter Knabe von 1*U Jahren,
ist dazu bei einiger Anleitung ohne weiteres imstande.
Es ist nun hier nicht der Ort, auf alle die Einzelheiten
einzugehen, die ich für die Erziehung des Tonbewusstseins bei
Kindern für erspriesslich halte, abgesehen davon, dass das
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GeiianJbitr und l\> fahruti^cn üb< i musii-nltsJu' Erziriiunj;.
31
Sache der persönlichen Disposition ist. Nur andeuten möchte
ich, dass auch das ästhetische und das (iefühlsmoraent in dem
Singen von Kinderliedern auf seine Rechnung kommen kann,
indem man das, was in ihnen an Freude, Wehmut, Klage,
Jubel verborgen liegt, durch entsprechende rhythmische und
dynamische Varianten zur grossen Freude der Kinder zum
Ausdruck bringt. Auch Echo- Wirkungen verfehlen nicht den
Zauber ihres Reizes auf das Kindergemüt Im übrigen ergeben
sich aus dein klar erkannten Zwecke und einer gewissen, nicht
sehr hoch anzuschlagenden musikalischen Befähigung des Er-
ziehers die Mittel von selbst.
Was das spezifisch Technische der Stimmbildung anlangt,
so betrachte ich dieselbe für ein so zartes Alter eigentlich mehr
im Sinne der Prophylaxe, als in dem der methodischen Aus-
bildung. Es handelt sich ja — das muss betont werden —
nicht um Stimmbildung zu künstlerischem Zwecke, sondern nur
um die Herstellung der für Sprech- nnd Singstimme günstigsten
Bedingungen, indem Beide auf ein und denselben Funktionen
des Kehlkopfes und der angrenzenden Organe beruhen; nur
dass diese sich beim Gesang auf gewisse feste Stufen einstellen
müssen und die Atembewegung eine stärkere, ich möchte
sagen langatmigere ist. Gewiss unterscheidet man, wie
B. Widmann einmal sagt, ärmere und reichere Stimmen, aber
Stimmarmut ist noch lange nicht Stirn mlosigkeit; und wir
wissen, dass im Kunstgesang oft arme Stimmen durch richtige
Behandlung überraschend an Kraft und Ausdrucksfähigkeit ge-
winnen. Aber auch schon durch solche einfachen, natürlich
und verständig geleiteten Uebungen werden die Organe sicher
gekräftigt und gebildet. Die Hebung der Stimmarmut, wie
überhaupt der Aussprache, ist gewiss eine Aufgabe von ebenso
ästhetischer wie ethischer Bedeutung. Vielleicht lenkt die
Schule noch mehr als bisher ihr Augenmerk auf diesen Punkt,
da geistige Bildung an sich nicht viel ausrichtet ohne
jene gewinnende und überlegene Gabe der Verständlichkeit,
Deutlichkeit, Klarheit, Bestimmtheit, Kraft, Rhythmenfähig-
keit des Sprachorgans, die den Menschen zu einer „Persön-
lichkeit" stempelt. Vielfach kann man noch die Erfahrung bei
Schulakten machen, dass ganze Reihen von Schülern beim
Rezitieren von Gedichten fast gar nicht zu verstehen sind, eben
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OrwaUl Ktrtt.
weil sie ihre Stimmen nicht zu gebrauchen lernten. Aber das
Haus kann und tnuss der Schule hierin vorarbeiten. Alle ein-
sichtigen Eltern halten darauf bei ihren Kindern von frühester
Jugend an, doch ist es mir nicht zweifelhaft, dass der Gesang,
auch der einfachste, richtig angefasst, ein besonders geeignetes
Hilfsmittel hierfür ist, weil er die Konzentration der Aufmerksam-
keit auf kurze Zeitmomente und auf ganz bestimmte, leicht
erkenubare Bewegungen fordert und gewährleistet.
Ueber Aussprache ist viel und Bedeutendes geschrieben
worden. Ich will mich darauf beschränken zu erwähnen, dass
die Gewohnheit gewisser Kinder, durch die Zähne zu sprechen,
wobei von einem richtigen Arbeiten des Ansatzrohres und
der Atmung nicht die Rede sein kann, grade durch Singen
leicht zu beheben ist. Ich habe wenigstens bei einem meiner
Kinder diese Erfahrung gemacht Manche Kinder näseln. Wenn
pathologische Ursachen im Spiele sind, sind sie freilich nur
pathologisch zu entfernen. Gegen das vorübergehende Näseln
dagegen, beispielsweise bei gewissen Vokalen, wie E und A,
namentlich in Verbindung mit dem Schluss-R, wobei sich eine
schmutzige Farbe der Vokale bemerkbar macht, lässt sich beim
Singen mauches thun; insbesondere dadurch, dass man den
falschen, unedlen Klang karrikierend wiedergiebt, was immer
grossen Eindruck macht und das Klang-Urteil durch Vergleich
mit einem besseren Klang hervorruft. Bekanntlich fällt auch
das „Vornesprechen" den Kindern, wie manchem Erwachsenen,
schwer; aber wenn irgendwo, so ist beim Gesang Gelegenheit,
hierauf hinzuwirken, indem hier die gute Wirkung des Vorne-
sprechens im Gegensatz zum „Gurgeln" durch die sehr merk-
liche Verschiedenheit des Klanges am greifbarsten in die Er-
scheinung tritt.
Die Innehaltung eines mässigen Ton - Umfanges ist anzu-
empfehlen. Die Litteratur über die Grenzen desselben ist
neuerdings durch exakte Untersuchungen (Engel, Paulsen) an
Wert gestiegen. Im Uebrigen bezieht sich meine Vorsicht
mehr auf die Gesamt - Höhenlage des Liedes, als auf vor-
übergehende Ueberschreitungen. Sonst würde man eine Anzahl
beliebter und einfacher Kinder- und Volkslieder überhaupt
»icht singen lassen können. Man soll darin auch nicht allzu
ängstlich sein. Viel schädlicher ist das Herausschreien, Heraus-
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Gedanken und Erfahrungen über musiA'altwhe Erziehung.
33
pressen des Tons, eine Gefahr, die mit der Zahl der ge-
meinschaftlich singenden Kinder erfahrangsuiässig zunimmt
In diesem Sinne halte ich das dreistimmige Qiorsingen von
Tausenden von Kindern, so grossen Beifall es hier in Berlin
seiner Zeit hatte, ganz abgesehen von Bedenken allgemein er-
ziehlicher Natur, nicht für nachahmenswert
Bezuglich der Atmung kann ich mich kurz fassen. Ich
suche auch hier möglichst das Natürliche auf und merke an
dem Unnatürlichen, namentlich der Haltung und des Aus-
druckes, wo Fehler sich einschleichen. B. Widmann bemerkt
sehr richtig, dass Rot werden, Zucken der Augenbrauen, Schulter-
ziehen Anzeichen falscher und schädlicher Atein-Bewegungen
siud. Ich beschränke mich darauf, die Kinder zu ruhigem,
nicht hastigen Einatmen und zu sparsamer Verausgabung des
Atems anzuhalten. Wohl giebt es Gesangslehrer von ,Beruf,
die gegen das zu früh geübte Singen sind, weil sich das Kind
namentlich in Kindergarten — allerlei Stimmfehler ange-
wöhnt, und man kann nur wünschen, dass gerade diese In-
stitute hierauf ein wachsames Auge haben möchten. Sonst
aber geht die Meinung der verschiedensten Autoritäten dahin,
dass ein verständiger Gesang in dem Alter, wo die Organe
noch bildungsfähig sind, diesen Organen sowohl wie der körper-
lichen Entwicklung nur förderlich sei, und ich kann mich
dieser Ansicht nur anschliessen ; sie scheint mir viel mehr für
sich zu haben, als die analqge, weit verbreitete Anschauung,
map müsse Finger -Uebungen möglichst schon vom 5. oder
6. fLebensjajue ab beginnen, weil sonst die Finger später zu
steif für das Klavierspiel würden.
Was nun die Erziehung zu rhythmischem Empfinden anbe-
trifft, so genügt für die ersten Zwecke die Schulung des Sinnes
für die einfachsten Verhältnisse des geraden und ungeraden
Taktes und für dje, wenn auch unbewusste, Betonung des guten
Taktteils, was sich im Singen des Kinder- oder Volksliedes
vqn selbst ergiebt. Freilich schleichen sich, nameutlich
wenn mehrere zusammensingen, gewisse Nachlässigkeiten der
Rhythmisierung ein, die man leicht überhört. Aus ganz ein-
fach rhythmisierten Stellen werden dann uqklare, ver-
schwommene Qebi|4e. Man tluit gut, recht leise und lang-
sam singen zu lassen und an den bedenklichen Stellen lieber
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene 3
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Onvald KörU.
zu scharf zu rhythmisieren, als zu weich. Die Schulung-
rhythmischen Sinns hat aber neben dem rein musikalischen
auch noch einen anderen Wert: sie weckt und mehrt das für
das Leben so wesentliche Gefühl für Straffheit, Schwung und
Symmetrie. Hierzu dient aber ausser dem Gesang auch der
Tanz, in Verbindung mit ersterem (Bewegungs-Spiel, Tanzlied)
und ohne jenen (Rund tanz). Rhythmische Vorstellungen müssen
vorhanden sein, um rhythmische Körper-Bewegungen ausfuhren
zu können; man kann sich aber auch vielleicht denken, dass
umgekehrt eine Rückwirkung der letzteren auf die ersteren,
also eine Wechselwirkung, stattfindet Der Tanz ist eben wohl
nur als Umsatz von Vorstellungen schwingender Art iu schwin-
gende Bewegungen anzusehen, verbunden mit Erhaltung des
Gleichgewichts, der Symmetrie und Betonung der Haupt-
Accente. Schon Kinder unter 2 Jahren fassen Tanz-Bewegungen
auf, wie mein ältester Sohn, der mit 1 Jahr 10 Monaten, als er
zu gehen anfing, sich auch schon im Polkaschritt versuchte;
und auch die rythmisch minderbegabten meiner Kinder lernten
durch Gewöhnung allmählich den Tanz verstehen und tanzen,
der ihnen zuerst so schwer fiel, den Walzer, den Dreiviertel-
oder Sechsachtel-Takt-Tanz.
Auch hier überwindet sich die Scheu in frühester Jugend
weit besser, als in späteren Jahren. So manches Kind sieht
man am Kindertanz nicht teilnehmen oder verlegen umher-
stehen, weil ihm die Gelegenheit dazu gefehlt hat Der Tanz
mit seinem Seele und Körper in Schwung setzenden Rhythmus
wird für die Ausbildung vielleicht noch zu wenig geachtet,
wie unsere Erziehung ja überhaupt den Geist gegenüber dem
Körper, als scheinbar minderwertigem Teil unseres Wesens,
ungebührlich bevorzugt Nicht minder schätzbar ist die er-
frischende, das Gemüt belebende Wirkung des Tanzes; es ist
nichts erfreulicher, als der Anblick einer fröhlichen Kinderschar,
die sich im Bewegungs-Spiel oder am Rundtanze vergnügt
Dies führt uns auf den gewaltigen Einfluss der Musik auf das
Gemütsleben, nicht nur der Kinder, sondern der Menschen
überhaupt
Es wäre unnütz, denselben erst umständlich nachweisen zu
wollen. Erfrischend redet davon Luther in seiner Lobrede
über die Musik, und was Gutes je darüber gesagt wurde, mag
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Gedanken und Erfahrungen über musikalische Erziehung.
35
man beispielsweise in ForkeTs Geschichte der Musik und in
manchen anderen Schriften nachlesen. Mir scheint es hier
aber wichtig-, besonders auf folgendes hinzuweisen: Musik ist
Sprache des Herzens, Offenbarung dessen was die Seele bewegt;
mit diesen Aeusserungen aber ist die menschliche Stimme
so innig verknüpft, dass es mir immer unfasslich erscheint,
weshalb so viele Menschen so viel Musik machen, ohne
zu singen. Es ist in der That höchst bemerkenswert,
wie das Kind, das singen kann, bei allen möglichen Ge-
legenheiten seine Seele in Tönen auslöst; wie es singt, wenn
es spielt, wenn es sich so recht wohl fühlt; und man kann
aus dem Wegbleiben solcher Gewohnheit oder aus dem
Wiederauftreten derselben Schlüsse ziehen auf gewisse
ungünstige oder günstige Veränderungen des Gemütszustandes.
Je mehr nun dem Kinde an gesundem, kräftigem musikalischem
Empfinden aus der Kinderstube in das Leben mitgegeben
wird, desto weniger zugänglich wird es der unklaren Gefühls-
Schwärmerei, die man so häufig antrifft, wo sich die Erziehung
vom Natürlichen abwandte. Auch in dieser Hinsicht hat das
rein technische, mechanische Fingerspiel seine Gefahren, die
ich als allgemein bekannt hier nicht auseinander zu setzen
brauche.
Alles, was ich im Vorstehenden als musikalisch erzieherisch
bezeichnete, bezog sich einzig und allein auf das Empfinden,
das Reproduzieren und Wiedergeben musikalischer Eindrücke,
ohne jegliche Forderung des verstandesmässigen Begreifens.
Aber auf jener ersten Grundlage der Erziehung, — mag sie
nun so gehandhabt werden, wie ich sie verstehe, oder auf eine
andere, zweckmässigere — kann sich eine begriffliche Erziehung
zu rein musikalischen Zwecken aufbauen, und ich würde eine
solche Jedem empfehlen, der eine wirklich erspriessliche
musikalische Durchbildung des Kindes, nicht nur eine rein
technische wünscht.
Auch der Verstand hat seinen Anteil an der musikalischen
Arbeit: Der Schüler soll sich mit der Grammatik der Musik
beschäftigen und ihre einfachsten Gesetze verstehen, nicht
blos empfinden lernen. Die Ziele dieser begrifflichen Erziehung
sind also: Eindringen in die Tonalitat, verstandesgemässes Er-
lassen der Intervalle, der Beziehungen zwischen Melodie und
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3».
Harmonie, des Rhythmus; Erziehung- zur Selbständigkeit
musikalischen Denkens und Urteilens, im Gegensatz zur Un-
selbständigkeit der mechanischen Ablichtung; Befreiung vou
der Sklaverei der Noten, und doch dabei Kenntnis des modernen
Noten-Systems. Klingt das auch so, als handele es sich um
ganz unerhörte Dinge, so ist man doch, wenn man genauer
zusieht, erstaunt, wie einfach sie sind. Denn die Elementar
Gesetae der Musik, der Harmonie, der Tonalitat sind in der
That höchst einfach und werden von Kindern, dde lesen und
schreiben können, und deren Fähigkeit, abstrakt zu denken
nicht zu gering ist, mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit
aufgefasst.
Ein Spieler, der mechanisch ein Instrument spielen lernte,
ist hilflos, wenn das Gedächtnis ihn verlässt Sogenanntes
ästhetisches Verständnis nützt ihm da nichts. Er ist ausser
Stande, das Fehlende aus dem Verstände zu reproduzieren.
Er ist nicht frei, muss sich an jede Note klammern, die auf
dem Papier oder in seinem Kopfe steht, stolpert über die ein-
fachste Transposition, kann nicht die kleinste Kadenz spielen
ohne Noten, ihn müsste denn eine intuitive Begabung dazu
befähigen. Ein Spieler dagegen, der in den Vorhof der Musik-
theorie, eben in die Elementar-Grammatik, eingetreten ist, wird
andern zwar an Fingerfertigkeit und Bewältigung technischer
Schwierigkeiten vielleicht nachstehen, im Verständnis und in
der Beherrschung eines wenn auch kleinen Gebietes der Ton-
kunst aber wesentlich überlegen sein. Er wird denken, wo
der andere nur tastet, er wird, wenn auch nur in beschränktem
Rahmen, frei schalten, wo jener nur immer nachbetet
!Ich suchte lange nach einem solchen Unterriehl für
Kinder, einem "Musik -Unterricht, nicht blos einem rein
technischen Instrumental-Unterricht. Da aber das Bedürfnis
hiernach nicht eben gross ist, und eine entsprechende Lehre
sieh nicht leicht bezahlt macht, so beschränkt sich die gewöhn-
liche Privatlehre immer noch allenthalben und in der •Mehr-
zahl auf das rein Technische. Dieses — abgesehen von dem
theoretischen Fach-Unterricht — beherrscht den musikalischen
Markt
Aber Ansätze zum Fortschritt in dieser Beziehung sind
vorhanden. Ich selbst lasse zwei Kinder in einer hiesigen
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Gedanken und Erfahrungen über musikalische Erziehung.
Musikschule1), die meinen Anschauungen entspricht und sich
auch bereits ehrenvoller Anerkennung erfreut, unterrichten.
Aber eins muss dabei festgehalten werden: Die erste notwendige
Grundlage dieser höheren Stufe musikalisch-grammatikalischer
Erziehung ist die zum Hören und zur Bildung des Ton-Urteils
durch den Gesang. „Tanto perfectior organicus est musicus,
quanto plura in vocali confecit spatiau (Lippius, Disput II de
musica, um 1600), dieser Ausspruch lässt sich meines Erachtens
auf jede musikalische Erziehung, auch die dilettantische, ohne
Ausnahme anwenden: Musik und insbesondere Instrumenten-
Spiel wird am sichersten und fruchtbringendsten erlernt auf
der Grundlage des Gesangs.
Noch einen Punkt möchte ich berühren. Man wird mit
Recht fragen: Wer in aller Welt soll und kann die häusliche
Musik-Erziehnng in dem von mir angedeuteten Sinne leisten?
Berufspflichten, Mangel an eigener musikalischer Bildung, er-
schweren neben manchen anderen Dingen eine regelmässige,
ernste Beschäftigung mit der Musikpflege im Hause. Von
den der höheren Bildung entlegeneren Massen der menschlichen
Gesellschaft ganz zu schweigen.
Ich könnte diese Frage einfach damit beantworten, dass
es sich hier rein um die theoretische Frage handelte, welche
Ziele sich das Ideal musikalischer Erziehung zu stecken habe,
unbekümmert um die andere Frage, wie sie von der All-
gemeinheit zu erreichen seien. Ideale Erziehung ist ja über-
haupt nur denen zugänglich, die nicht von der Mühe und Last
des Lebens voll in Anspruch genommen oder niedergedrückt
sind. Darauf kann ich also nicht näher eingehen. Nur so viel
möchte ich sagen: Je höher die Auffassung von den Zielen
der Erziehung in den dazu fähigen und vermögenden Schichten
der Gesellschaft ist, um so tiefer dringt die Bildung in die
unteren Schichten ein. Und in Beziehung auf die Musik:
Wenn der Gedanke grössere Kreise ergreift, dass Musik nicht
nur ein blosses Mittel der Zerstreuung oder vorübergehenden
Genusses ist, sondern eine Kraft in sich birgt, an der gesunden
Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten mitzuwirken, dann
werden sich vielleicht die Frauen der Musik, in solchem Sinne
>) Schweriner Musikschule von Frau Dr. Luis«- Krause, Berlin W. .
Tauenzienstrasse 23.
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Oswald Kört*.
aufgefasst, in erhöhtem Masse zuwenden. Es eröffnet sich hier
ein neuer Ausblick für die Frauenfrage.
Freilich müssten die Frauen und Töchter dann dem so
weit verbreiteten Ehrgeiz entsagen, es den Virtuosen auf dem
Instrument gleich zu thun. Nur ein Viertel oder ein Sechstel
der Zeit, die auf Fingerübungen verwandt wird, genügt, um
in die Grammatik einzudringen, einfache tonale Gesetze em-
pfinden und handhaben zu lernen, sich die Fähigkeiten an-
zueignen zu transponieren, Kadenzen zu bilden, etwas zu prälu-
dieren, mit einem Worte: am Strande des Ton-Meeres in seinem
bis auf den Boden durchsichtigen Wasser frei und ungezwun-
gen sich tummeln zu können, ohne sich auf die hohe See
hinauszuwagen. Erst wenn diese Entsagung eintritt, wenn
solche Ziele höher stehen, als die Bewältigung der „Appassionata"
oder — einige Stufen tiefer — des „Gebets der Jungfrau*4,
wird es auch um die musikalische Erziehung der Jugend
besser stehen.
Freilich befinden wir uns da noch in einem Zirkel; denn
erst muss sich wiederum die Lehre bilden, durch die jene
Fähigkeiten und Kenntnisse erworben werden können, so ein-
fach und gleichsam selbstverständlich sie auch erscheinen mögen.
Goethe bezeichnet einmal — in den Wanderjahren — die
Musik, von der „gleichgebahnte Wege nach allen Seiten laufen,"
und im besonderen den Gesang als Element der Erziehung. Wer
diese so reizvolle Stelle nachliest, wird inne werden, dass dort
dem Gesänge in der Erziehung eine Stellung und eine Wir-
kung zugesprochen wird, die weit über das hinweggeht, was
ich für sie in Anspruch nehmen zu müssen glaubte. So ge-
heimnissvoll und phantastisch diese gleichsam geträumte Er-
ziehung auch erscheint — denkt man ernster darüber nach,
so ist die ihr zu Grunde liegende Idee durchaus unverwerf-
lich. Doch wir, die wir von ihr so himmelweit entfernt sind,
werden froh sein, wenn einmal der Gedanke Allgemeingut
wird, dass Musik und Erziehung nur der Vereinigung bedürfen,
um sich gegenseitig die allerbesten Dienste zu leisten.
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üeber die Furcht der Kinder.
Von
Leo Hirschlaff.
II
Nach diesen allgemeineren und meist theoretischen Aus-
einandersetzungen wird es nützlich sein, einige besonders
häufige und charakteristische Formen der Furcht einer näheren
Betrachtung zu unterziehen. In erster Reihe mögen hier die
Erscheinungen der Furcht bei Tieren eine Besprechung finden,
die zwar nicht streng zu dem gewählten Thema gehören, die
aber doch so genau studiert und zum Teil sogar experimentell
geprüft sind, dass sie sehr wohl zum Vergleiche herangezogen
werden können, zumal ja Tiere und junge Kinder sich in
manchen Beziehungen auf einer ähnlichen seelischen Ent-
wicklungsstufe befinden. Schon Mosso, dessen Anschauungen
wir bereits mehrfach zu erwähnen Gelegenheit hatten, weist
darauf hin, dass die Kaninchen sehr deutliche Anzeichen von
Furcht verraten, wenn sie in irgend einer Weise gestört oder
attaquiert werden: sie ducken sich, verkriechen sich in die
dunkelste Ecke ihres Käfigs und zeigen eine eigentümliche
Erweiterung der Blutgefässe in den Ohrlappen, die sich als
Hitze und Rötung der betreffenden Teile leicht nachweisen
lässt Während Schiff diese Erscheinungen als eine Eigen-
tümlichkeit der Kaninchenohren beschreibt, die auf dem Vor-
handensein eines accessorischen Herzens daselbst beruhe, weist
Mosso mit Recht nach, dass es sich um eine Folge von Ge-
räuschen und Gemütsbewegungen handele, die hier einen be-
sonders markanten Ausdruck finden. Ebenso kann man auch
im Hahnenkamme ein Erblassen und Erröten infolge von
Gemütsbewegungen wahrnehmen; während bei Hunden z. B.
Veränderungen des Rhvthmus der Atmung: in solchen Fällen
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40
Leo Hirschlaff.
konstatiert werden können. Eine besonders charakteristische
Form von Furchterscheinungen bei Tieren ist von Athanasius
Kircher im Jahre 1646 eingehend beschrieben worden. In
einer Schrift: „De imaginatione gallinae" schildert er das be-
rühmte „experimentum mirabile", wonach eine Henne, der man
einen Kreidestrich über den Schnabel gezogen hat, nachdem
man sie eine kurze Zeit am Boden niedergedrückt gehalten
hat, lange Zeit in der gleichen Stellung verharrt, wie in einer
hypnotischen Erstarrung. In der That galt dieses Experiment,
das sich sehr leicht realisieren lässt, lange Zeit als das klassische
Beispiel einer Tierhypnose, wie noch Czermak im Jahre 1872
behauptete, während Preyer nachwies, dass es sich vielmehr
um eine Wirkung des Schreckens, eine Kataplexie, handelt
In der gleichen Weise sind wohl auch die ähnlichen Er-
scheinungen bei Hunden, Fröschen, Krebsen, Schlangen, Robben
aufzufassen, die nach einer plötzlichen und unerwarteten Er-
regung stundenlang in einer noch so ungewohnten Stellung
verharren, ohne irgendwelche Lebenszeichen von sich zu geben.
Verworn, der geniale Jenenser Physiologe, hat kürzlich diese
sog. Tierhypnosen näher studiert und gefunden, dass es sich
um eine Reflexhypertonie des Rückenmarkes infolge unerwarteter,
schreckhafter Eindrücke handelt. Auch die Frage, ob die
Furcht eine ererbte oder erworbene Erscheinung sei, ist bei
Tieren studiert worden. Preyer, Romanes u. a. erklären die
Furcht der Tiere für ererbt, wie z. B. die Furcht der Tiere
vor dem Feuer, während Sully und Perty geneigt sind, hierin
mehr ein instinktives Zurückschrecken vor dem unbekannten, als
ein Erschrecken vor bekanntem Unheil zu sehen. Spalding da-
gegen spricht direkt von der angeborenen Erinnerung des Erb-
feindes, die die Hennen zwingen soll, vor dein herannahenden
Raubvogel zu flüchten und sich zu verstecken.
Interessant ist in dieser Beziehung ein Experiment, das
Spalding anstellte, um seine Anschauung zu beweisen. Er nahm
eine Brut von wochenalten Hühnchen und Hess, während sie
auf der Wiese um die Henne piepsten, einen Falken steigen.
Sofort verkrochen sich die Hühnchen, während die Henne auf
den Falken losstürzte: beide hatten noch keinen Raubvogel
gesehen. Als er das gleiche Experiment anstellte, aber statt
des Falken Tauben aufsteigen Hess, verhielten sich die 'tiere
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Ueber die Furcht iUr Kinder.
41
vollständig ruhig und teilnahmslos. Wenn man geneigt sein
möclrte, hieraus • den Schluss von der Erblichkeit der Furcht
zu riehen, so beweisen neuere, sorgfaltiger und kritischer
angestellte Experimente das Gegenteil. Charles Fere, dem
unermüdlichen und vielseitigen Forscher, gebührt das Ver-
dienst, diese Frage experimentell entschieden zu haben. Von
der Erfahrung ausgehend, dass bei der erwachsenen Henne der
Anblick eines Raben, der sie heftig anzugreifen pflegt, die
charakteristischen Zeichen der Furcht hervorbringt, setzte Fere
Küchlein, die in der Couveuse künstlich ausgebrütet und auf-
erzogen waren, auf einen Tisch, an dessen einem Ende ein
Rabe angebunden war. Was geschieht? Beim ersten Male
nähern sich die Küchlein dem Raben zutraulich oder sie greifen
sogar ihrerseits das viel stärkere Tier an, wie Fere in mehreren
Fällen experimentell nachweisen konnte. Erst wenn sie die
Schnabelhiebe des Raben am eigenen Leibe kennen gelernt
hatten, gewöhnlich sogar erst nach zweimaliger Erfahrung,
waren die Küchlein gewitzigt. Damit dürfte die Legende von
der erblichen Uebertragung der Furcht, d. h. der Furchtvor-
stelluncfen als solcher, einwandsfrei widerlegt sein.
An zweiter Stelle möchten wir die Furcht vor Krankheiten
und vor dem Tode erörtern, da diese zu den häufigsten und
best-studierten Erscheinungsformen der Furcht gehören. Scott
hat mit Hilfe der Methode der Fragebogen die Krankheiten
festgestellt, die von den Kindern am meisten gefürchtet werden.
Bei der Untersuchung, die sich auf 12^ Fälle erstreckte, fand
er als Objekte der Krankheitsfurcht: Windpocken in 30%,
Kieferklemme in 28%, Auszehrung in 27°/«, Wut in 21%,
Eisenbahn-Unfälle in 18%, Diphtherie in 16%, Ertrinken in 15%,
Feuer in 12%, Aussatz in 8%, Erdbeben in 7%, Windstürme
in 4°/o, Blitz in 6% Lungenentzündung in 6% Krebs in 5°/g,
Gelbes Fieber in 5%, Weltuntergang in 4% Furcht allein
übrig zu bleiben in 2% der Fälle. Die Intensität dieser 1 Be-
fürchtungen war folgende: am meisten gefürchtet waren die
Windpocken mit 18%, sodann Aussatz, Wut und Auszehrung
mit je 7%, Kieferklemme mit 5%, Diphtherie mit 4%, Krebs und
Gelbes Fieber mit 3%, Eisenbahn-Unfälle, Ertränken und Feuer
mit je 2%, Erdbeben, Stürme, Weltuntergang mit je 1%. In
beiden Aufzählungen werden die Windpocken an erster Stelle
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42
Leo Hirschlaff.
genannt, merkwürdiger Weise; denn bekanntlich verlauft diese
leichteste aller Erkrankungen stets gutartig, in kurzer Zeit und
ohne wesentliche subjektive Beschwerden. Auch sonst bieten
die gegebenen Aufstellungen keineswegs das Bild, das man
a priori etwa erwartet hätte. Deshalb ist es doppelt interessant,
etwas über die Gründe zu erfahren, die in den einzelnen Fällen
für die Entstehung der Furcht von den Kindern selbst oder
deren Lehrern und Eltern angegeben werden. Als solche
werden genannt: gehörte Erzählungen (Zeitungen, Bibel etc.)
in 14°/o; Isolation in 10°/o; Werden wie die niederen Tiere in 7%;
verunstaltende Merkmale in 6%; Ersticken in 6%; Verhungern
in 5%; sicherer Tod in 3°/o; zukünftiges Leben in 1 °/o der
Fälle. Bei der Besprechung der allgemeinen Entstehungs-
bedingungen der Furcht werden wir auf diese Tabelle zurück-
kommen.
Eine sorgfältige, auf psychologischen Ueberlegungen
basierende Analyse der Todesfurcht haben wir Ferrero zu
danken. Der Mensch, sagt Ferrero, ist das einzige Wesen, das
weiss, dass er sterben muss. Beim normalen Menschen findet
sich aber der Gedanke an den Tod nicht, ebensowenig die
Todesfurcht; oder aber er hat die Idee des Todes, aber nicht
die Furcht vor dem Tode. Daher kommt es, dass Kunst und
Religion den Tod darstellen und verwerten, ohne deshalb un-
angenehm zu werden. Diese Unfähigkeit der Todesidee, beim
gesunden Menschen Furcht zu erwecken, ist nach Ferrero ein
charakteristisches Beispiel für die Mitwirkung der Organ-
empfindungen an unserer Stimmung und unseren Gefühlen.
Diese Organempfindungen sind allerdings immer nur dann
deutlich, wenn pathologische Reize einwirken. Im normalen
Zustande sind sie sehr schwach. Trotzdem beeinflussen sie
stets unsere Ideenbildung und unser Gefühlsleben in hohem
Grade. So sind z. B. diejenigen, die von Kraft und Gesundheit
strotzen, des Mitleids wenig fähig, weil sie sich bei dem Vor-
herrschen ihrer Organ empfindungen keine intensive Vorstellung
von der Schwäche bilden können. Dieser Widerstreit der
organischen Empfindungen und der Vorstellungen bedingt auch,
dass man in der Jugend mit der Vorstellung des Todes
keine Furcht verbindet Die körperliche Gemeinempfindung
der Kraft und Gesundheit hindert das Lebhafterwerden der
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lieber die Furcht der Kinder.
43
Bilder, die mit dem Tode verknüpft sind. Die abstrakte zahlen-
mässige Wahrscheinlichkeit des Todes spielt im allgemeinen
keine Rolle bei der Todesfurcht; z. B. bei den Matrosen und
Bergleuten. Freilich gelten die vorstehenden Erörterungen nur
für den gewöhnlichen Lauf des Lebens. Bei besonderer Ge-
legenheit oder einer wirklichen Gefahr gegenüber, wie z. R. im
Kriege, beim Duell oder beim Selbstmord, treten Momente völlig
anderer Art in Wirksamkeit Je unerwarteter und je gewalt-
samer eine derartige Situation auftritt, desto mehr wird im
allgemeinen durch den Choc das Nervensystem bis zur Gefühl-
losigkeit affiziert, sodass die Idee des Todes nicht von Furcht
begleitet ist
Ganz anders liegen die Verhältnisse beim Kranken. Der
chronisch Kranke zeigt gewöhnlich keine Todesfurcht, sondern
Lebenshoffnung. Das treffendste Beispiel dieser Art bietet der
Phthisiker, dessen Optimismus und Euthanasie hinlänglich
bekannt sind. Die Entstehung dieser Hoffnung ist nach Ferrero
vielleicht analog zu setzen derjenigen der Gegenvorstellungen,
wie sie bei Geisteskranken beobachtet werden können, z. B. bei
Reichen, die sich arm wähnen und umgekehrt, bei Frommen
und Moralischen, die sich mit Gewissensbissen plagen u. dergl.
mehr. Bei akuten Erkrankungen zeigt das Verhalten der
Kranken der Idee des Todes gegenüber keine gesetzmässige
Regelmässigkeit.
Für manche Menschen ist der Gedanke an den Tod ein
Vergnügen, eine Annehmlichkeit, nach der sie infolgedessen —
nicht aus Lebensüberdruss — streben. Darauf ist wohl das
Verbrennen der Witwen bei den Indern zurückzuführen; denn
als die Engländer diesen Brauch verbieten wollten, sträubten
sich die Frauen gegen dieses Verbot. Auch bei uns ist es
häufig die Liebe, die den Tod angenehm erscheinen lässt Zwei
Liebende geben sich gemeinsam den Tod, wenn sie sich im
Leben nicht vereinigen können; dabei verliert der Tod jeden
Schrecken für sie, ebenso wie sie nicht selten auch den Zurück-
bleibenden weniger als ein Gegenstand des Mitleides, als viel-
mehr der Bewunderung erscheinen. Ferner erscheint der Tod
manchmal angenehm, um eine Rache ausführen zu können.
Bei den Tasmaniern z. B. töten sich die Frauen, um ihre
Männer zu ärgern und sich an ihnen zu rächen. Das Harakiri
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Leo JItrscklaff.
der Japaner und Chinesen ist bekannt. Bei den Aryanern in
Indien besteht folgende Sitte: wenn ein Schuldner nicht be-
zahlen will, bittet der Gläubiger, wenn alles andere fruchtlos
ist, einen Brahmanen, sich auf dessen Thürschwelle nieder-
zulassen und zu drohen, d dort verhungern werde, wenn
jener die Schuld nicht bezahle. Da es für ein Verbrechen gilt,
einen Brahmanen zu töten, so soll dieses Mittel von unfehl-
barer Wirkung sein.
Bei manchen Nervenkranken wird der Selbstmord aus-
geführt, um den Ueberlebenden Gewissensbisse zurückzulassen,
z. B. bei eifersüchtigen Liebenden; auch bei Kindern, die die
Eltern für ihren Widerstand gegen irgend eine Neigung bestrafen
wollen. Ferner kommt der Selbstmord aus Eitelkeit bei
Hysterischen zuweilen vor. Ein junges Mädchen meiner
Bekanntschaft erschoss sich aus Furcht, dass ihre Schönheit
mit der Zeit Einbusse erleiden könnte. Bei den alten Römern
galt es bei Gelegenheit, ebenso wie noch heute beim Militär,
für eine Ehre zu sterben, z. B. im Felde. Auch aus religiösem
Fanatismus und aus politischen Motiven wird nicht selten
Selbstmord geübt; siehe die Sekte der Babisten in Indien
n. s. f.
Was geht aus allen diesen Thatsachen hervor? fragt Ferrero.
Und die Antwort lautet: Das Gesetz der Associationen allein
vermag die Erklärung dieser Erscheinungen zu bieten. Die
Associationen können den psychologischen Wert aller Dinge
umändern. „Eine Empfindung, eine Bewegung, eine Vorstellung,
ein Gedanke, eine Erinnerung können angenehm oder unangenehm
werden je nach der Qualität und Quantität der geistigen
Associationen, die sich daran knüpfen".
Von der gleichen Anschauung ausgehend, behauptet Ferrero,
dass der Tod an sich überhaupt niemals unangenehm sei, sondern
vielmehr indifferent, und dass er seine Schrecken erst künstlich
erhalte durch die Associationen, die sich daran knüpfen. Er
weist dabei auf das ruhige Gesicht der überzeugten Selbstmörder
hin, eine Thatsache, die wohl auf andere Weise befriedigender
erklärt werden könnte, und er schliesst daraus, sowie aus
einigen speziellen Beobachtungen an Kranken, die freilich auch
nicht viel tT eberzeugendes an sich haben: „II est delicieux <\*t
sen aller.44 Wenn dieser Satz auch nur geteilte Zustimmung
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lieber die Furcht der Kinder.
linden dürfte, so ist es immerhin interessant zu konstatieren,
zu welch entgegengesetzten Auffassungen die wissenschaftliche
Argumentation fähren kann.
Im Gegensatze zu den eben zitierten Beobachtungen finden
sich in der alteren Litteratur eine grosse Anzahl von Fällen,
in denen Furcht und Entsetzen unmittelbar tötliche Folgen
hervorbrachten. So berichtet Haller von einigen Delinquenten,
die sogleich starben, als ihnen das Todesurteil verkündet wurde.
Montaigne erzählt, dass ein Edelmann bei der Belagerung von
St. Paul so sehr von Furcht ergriffen worden sei, dass er, ohne
im geringsten verwundet zu sein, plötzlich tot zu Boden stürzte.
Tissot u. a. 'führen eine Reihe von Fällen an, in denen vor
oder nach schmerzhaften Operationen die Kranken lediglich
aus Angst gestorben seien; gerade wie wir noch heute, trotz
des Fortschrittes der medizinischen Technik schwere Ohn-
mächten, plötzlichen Herzstillstand und andere bedrohliche
Erscheinungen in solchen Situationen erleben. Aehnliche, wenn
auch minder deletäre Wirkungen bringt die Furcht vor Krank-
heiten hervor, die zum Teil ja auf der Furcht vor dem Tode,
manchmal aber auch einzig und allein auf dem Abscheu vor
körperlichen Leiden oder vor dem gefürchteten Uebel beruht.
Iktkannt ist die Wirkung solcher Krankheitsbefürchtungen zur
Zeit von Epidemien; man kann mit Sicherheit annehmen, dass
die Ansteckungsgefahr durch die Schwächung des Organismus,
wie sie die übertriebene Furcht im Gefolge hat, in nicht un-
erheblichem Masse erhöht wird. -Endlich soll aber auch nicht
unerwähnt bleiben, dass die Furcht auch in gewissen Fällen
als ein psychisches Heilmittel gerühmt werden kann. Besonders
hysterische Erscheinungen, wie z. B. Krämpfe, Stimmlosigkeit
und Lähmungen, können nicht selten durch Erregung von
Furcht zum plötzlichen Verschwinden gebracht werden, wie
schon Boerhaave berichtet und nach ihm unzählige Male fest-
gestellt worden ist 'Die bekannte Thatsache, dass auch der
heftigste Zahnschmerz bisweilen plötzlich aufhört, wenn der
^Kranke des Zahnarztes ansichtig -wird, dürfte in das gleiche
Gebiet gehören. Liegt doch die Erklärung nahe, dass durch
die Blutkongestion, die durch den Angstaffekt nach den inneren
Organen zustande kommt, die Hyperämie der entzündeten Teile
gemässigt wird.
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46
Leo Hirschlatt'.
Als ein weiteres typisches Beispiel eines wohlcharakteri-
sierten Furchtzustandes mochten wir die Schüchternheit und
die Errötungsfurcht anfuhren, um so mehr, als diese Zustände
weitaus am häufigsten am Ende des Kindesalters beim Ueber-
gang zum erwachsenen Alter beobachtet werden oder doch
wenigstens in ihrer Entstehung fast stets bis zu diesem Zeit-
punkte zurückverfolgt werden können. Da ich selbst Gelegen-
heit hatte, eine grössere Reihe von solchen Fällen zu sehen
und genau zu beobachten, so sei es mir gestattet, bei diesem
Gegenstande ein wenig länger zu verweilen. Im normalen
Zustande stellt das Erröten, wie Burckhardt wohl mit Recht
behauptet, eine der schönsten Ausdrucksbewegungen dar. Es
kommt bei einer Reihe von Affekten als Begleiterscheinung
vor, hauptsächlich aber ist es als eine allgemeine Bescheiden-
heitsreaktion aufzufassen, wie Baldwin sagt Ueber die Ursache
des Errötens verdanken wir Mosso die besten Aufschlüsse. Er
erklärt das Erröten als Folge einer Ernährungsstörung der
Organe und des Gehirns, die durch die Gemütsbewegungen
hervorgerufen und sodann durch vermehrten Blutzufluss aus-
geglichen wird. Dabei sind es nicht die allmählichen, sondern
vielmehr die raschen Veränderungen, die plötzlichen Ein-
wirkungen, die die tiefstgehenden Erschütterungen bedingen.
Je nach dem Lebensalter und der Erregbarkeit der vasomo-
torischen Nerven ist eine verschiedene Tendenz zum Erröten
vorhanden. Da sich, wie Mosso nachgewiesen hat, */& der ge-
samten Blutmenge des Organismus im Kopfe befindet, so ist
es leicht verständlich, dass hier der Blutzufluss am stärksten
und deutlichsten ist Bringt man nach dem Vorgange von
Mosso einen Menschen auf eine Horizontalwage, so dass der
Körper sich im Gleichgewicht befindet, so lässt sich leicht
nachweisen, dass bei jeder geringsten Gemütsbewegung das
Blut in den Kopf strömt: die Füsse werden leichter, der Kopf
schwerer. Diese Erscheinungen, die bei jedem normalen
Menschen vorhanden sind, erfahren unter besonderen Um-
ständen eine krankhafte Steigerung, wie wir es z. B. bei
der Errötungsfurcht, Erythriophobie1) sehen, einer Krankheit, die
in die Gruppe der nervösen Angstzustände einzureihen ist,
') Die gebräuchlichen Namen : Erythrophobie, Ereuthophobie, Ereuthosis
scheinen mir sprachlich fehlerhaft gebildet zu sein.
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Ueber die Furcht der Kinder.
47
zu denen z. B. auch die allgemein bekannte Platzangst gehört.
Pitres und Regis, die eine vortreffliche Einzelstudie über die Er-
rötungsfurcht geliefert haben, unterscheiden 3 Stadien dieses
Leidens: 1) die Erythriophobia simplex, bei der die Kranken
keine weiteren Veränderungen zeigen, als eine auffallende Leich-
tigkeit zu erröten, ohne dass seelische Abnormitäten sich dazu
gesellen j 2) die Erythriophobia emotiva. wobei die Kranken
ebenfalls häufig erröten, aber sich dadurch bedrückt und be-
lästigt fühlen; 3) die Erythriophobia obsessiva, wo das Erröten
der Gegenstand einer Zwangsvorstellung, einer Zwangsangst
bildet, die die Kranken unaufhörlich beschäftigt und peinitrt.
Uebereinstimmend gilt von allen 3 Formen, besonders aber
von der schwersten Form, dass das männliche Geschlecht
häufiger betroffen erscheint, als das weibliche. Wie weit die
Depression geht, unter der in schweren Fällen die Kranken
leiden, beweist ein Beispiel von Pitres, wo der Kranke dem
Arzte das Verlangen stellte, dass man ihm beide Carotiden
unterbinde, um sein Erröten zu beseitigen. Man that ihm
scheinbar den Willen, indem man ihm die rechte Carotis zn
unterbinden vorgab. Zu diesem Zwecke wurde ihm in der
Narkose ein breiter Schnitt am Halse gemacht. Nach kurzer
Zeit jedoch verlangte er die Unterbindung der zweiten Carotis
und dann sogar die Herausnahme und Auswechslung des Ge-
hirnes, dessen Schwäche seine Krankheit verschulde. Ich selbst
habe eine Reihe schwerer Formen dieses Leidens gesehen, in
denen die Kranken ernstlich an den Selbstmord dachten oder
sich dem profusen Alkoholmissbrauch in die Arme warfen, um
die Qualen ihres Zustandes zu betäuben. Im übrigen unter-
scheiden sich meine Erfahrungen von denen der französischen
Autoren sehr wesentlich darin, dass diese niemals eine Besserung
dieses Leidens gesehen haben wollen; ich selbst habe bei einer
geeigneten Psychotherapie fast stets eine Beseitigung der
Beschwerden der Kranken feststellen können. Was die Ent-
stehung des Leidens anbetrifft, so behaupten Pitres und
Regis, dass bei den echten Erythriophoben die Neigung zum
Erröten angeboren und ererbt sei, eine Auffassung, der wir
keineswegs zustimmen können. Schon während der Kindheit
zeige sich diese Neigung, während das Gefühl der Verwirrung
darüber erst in der Pubertät entstehen soll. Dann erst trete
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4S
bei den neurasthenischen und neuropathischen Individuen die
fixe J.dee zu diesem Gefühlskomplexe hinzu. Erröten, Gefühl
der Verwirrung oder Verlegenheit, und fixe Idee oder Zwangs-
vorstellung sind demnach die drei Elemente, die zu dem Zu-
standekommen der JErythriophobie mitwirken. Bei der leichten
Form ist nur das vasomotorische, bei der mit;telschweren Form
das vasomotorische und affektive, bei der schwersten Form .das
vasomotorische, affektive und intellektuelle Moment ausgeba^et.
Ganz scharf sind diese Unterscheidungen nach meiner pr-
falirung freilich nicht. Es giebt schwere fälle, in denen das
vasomotorische Element völlig fehlt; andererseits wird jUs
intellektuelle Moment im Grunde auch bei den leichteren
Formen niemals vermisst, wenn es auch bei den schweren
Fällen mehr in den Vordergrund treten mag. Ueber die theo-
retischen Konsequenzen, die Pitres und Hegis aus ihren Beob-
achtungen ziehen, ist bereits oben gesprochen worden; es sei
gestattet, einige Bemerkungen über das Heilverfahren anzu-
fügen, das bei diesen Störungen mit Erfolg angewendet werden
Hann. Ich pflege in allen ausgeprägten Fällen der Krankheit,
bei denen das Gemüt der Patienten in ausgedehntem Jdasse
beteiligt ist, zunächst gemeinsam mit dem Kranken eine psycho-
logische Analyse der Krankheitserscheinungen vorzunehmen,
bei der ich mich bemühe nachzuweisen, dass die Hauptstor^ng
nicht im Erröten, auch nicht in der Idee des Errötens, sondern
vielmehr in den Gemütserscheinungen zu suchen ist, #e sich
an diese Vorgänge anknüpfen. Sodann gehe ich den Ursachen
dieser depressiven Qemütsvorgänge nach, wiederum in gernein-
sainer, meist schriftlicher Arbeit mit de,m Patienten; diese
Untersuqhung erstreckt sich auf die Vorstellungen, Auffassungen
und Urteile, die bewusst oder uubewusst als Ursachen den
Mprper analysierten Affektstönmgeu zu Gründe liegen. Pen
-Schluss bildet dann eine sachliche Kritik über die Berechtigung
der aufgefundenen Zusammenhänge und darauf ^us^nd eine
.Reihe yon Uebungen, in denen das theoretisch Erkannte prak-
tische Anwendung findet. Ich verfüge über ca. 20 F^lje, in
denen das kritisierte Verfahren, das cjemn£chst an anderer Stelle
ausführlich veröffentlicht werden soll, befriedigende .Erdige
anzuweisen hatte. Ich ziehe aus diesen Erfolgen den umge-
kehrten Schluss, wie Pitres und Regis. jährend fliese Äu-
Digitized by
Ueber Jü Furcht Jcr Kinder.
49
toren der Gemütsbewegung als solcher die bedeutsamste Rolle
bei dem besprochenen Leiden vindicieren möchten, ebenso wie
sie bei jedem Affekte, getreu der James- Lange'schen Theorie,
den emotionellen Faktor für den primären und das Wesen des
Affektes bezeichnenden halten, gehe ich von der Auffassung
aus, dass das intellektuelle Moment, nämlich das Urteil, das in
jedem eigentlichen Affekte nachweisbar ist, das Primäre und
Wesentliche des Vorganges darstellt, durch dessen therapeu-
tische Beeinflussung die sekundäre emotionelle Störung beseitigt
-wird. Freilich besteht dieses intelektuelle Moment nach meiner
Auffassung nicht in der Idee des Errötens, die ich mit Pitres
und Regis für nebensächlich halte, sondern vielmehr, wie an-
gedeutet, in den Urteilen und Schlüssen, die sich an die Em-
pfindung des Errötens anknüpfen und die danu ihrerseits das
Gefühl der eigenen Minderwertigkeit verursachen.
Verwandt mit dem Bilde der Errötungsfurcht, besonders
mit derjenigen Form, die man wegen des Fehlens des vaso-
motorischen Momentes als Erythriophobia sine Erythriasi be-
zeichnen könnte, ist die Schüchternheit, die von Dugas in einer
vortrefflichen Monographie bearbeitet worden ist. Die Schüch-
ternheit, timidit£, ist nach Dugas eine Furchtsamkeit, die durch
Personen hervorgerufen wird, sei es nun durch einzelne Per-
sonen, oder durch den fasciuierenden Anblick der Menge beim
Reden, in Gesellschaft etc. Sie beruht auf einer augenblick-
lichen Störung des Willens, der Intelligenz und des Gemütes.
Die Willensstörung, gaucherie, äussert sich entweder als Läh-
mung des Willens und der Bewegungen, ähnlich wie bei der
Platzangst, wo der Betroffene thatsächlich ausser staude ist, einen
freien Platz zu überschreiten. Ebenso tritt bei vielen Personen
beim Durchschreiten eines grossen, erleuchteten Saales unter
zahlreichen Blicken eine Art Beweguugshemmung auf, ver-
gleichbar einer Fascinaiion, die durcli die Blicke der andereu
ausgeübt wird. Ein typisches Beispiel dieser Schüchternheit
bietet Rousseau, wie er selbst in seiuen Confessiouen erzählt.
In anderen Fällen äussert sich die Willensstörung nicht als
einfache Hemmung oder Lähmung, sondern als Incoordination
der Bewegungen, wodurch Stottern, Stammeln, ungeschickte
und besonders ausfahrende Bewegungen zustande kommeu.
In jedem Falle ist demnach eine Schwächung des Willens ge-
Zritschritt für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 4
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50
Leo Hirschlaf.
geben, die entweder zur Hemmung oder zur Agitation führt
Die Störung des Verstandes, stupidite, tritt auf als totale Läh-
mung der geistigen Functionen, die den Eindruck der Geistes-
abwesenheit erweckt, oder als partielle Stupidität, d. h. als Zer-
streuung der Aufmerksamkeit, Unordnung und gestörter Zu-
sammenhang der Gedanken, Mangel an intellectueller An-
passung u. s. f. Bekanntlich äussert sich diese Schüchternheit
auch sehr häufig in der Schule; nicht wenige Kinder werden
für stupide und geistesarm gehalten, die thatsächlich nur in-
folge Schüchternheit der Geistesgegenwart ermangeln. Auch
hierfür bietet I. I. Rousseau ein klassisches Beispiel. Die Stö-
rung des Gefühlslebens oder des Gemüts bei der Schüchtern-
heit erscheint als Stupeur, Betäubung oder Betroffenheit Sie
kann wiederum eine totale sein, wobei das Gefühl der inneren
Oede und Leere vorhandenst &4 $d^>«in e partielle, demistu-
peur, wobei ein Cha£>^ entgegengesi^ber Gefühle und ein
Schwanken von einern Extrem^ ¥^3a,H%e s'cn bemerkbar
macht So können wir demnach die Scl*itfhternheit definieren
als eine momentane, vorübergehende^ Hgjrfmung oder Störung
der Functionen, die ii TT iili j Vlrffi fa^Mi M ImiIiii oder unvoll-
kommenen Ablauf der Handlungen, der Gedanken, der Gefühle.
Die Hauptsache bleibt aber auch bei diesem Erscheinungs-
complex das Bewusstsein der vorhandenen Störungen und das
Leiden darunter. Interessant sind die ebenfalls von Dugas
analysierten Beziehungen der Schüchternheit zur Sympathie. Der
Schüchterne hat das Bewusstsein, dass er die Sympathie der
anderen nicht erzwingen kann und auch selbst nicht mit ihnen
sympathisieren kann; und er leidet darunter. Die Schüchtern-
heit ist also auch ein unbefriedigtes Bedürfnis der Sympathie,
un besoin de Sympathie trompe. Mit Recht erinnert Dugas
an den geheimnisvollen Nervenstrom oder die soziale mag-
netisation, die sich von einem Individuum auf das andere fort-
pflanzt und die bewirkt, dass man alle Gemütsbewegungen der
anderen mitempfindet Metaphysisch gesprochen könnte man
von der Schüchternheit sagen, sie sei das momentane Gefühl
der Unmitteilbarkeit der Monaden, le sentiment aigu de l'in-
communicabilite des monades. Wir sind gegen einander
abgeschlossen und doch immerwährend bestrebt, in ein-
ander einzudringen und uns selbst zu erkennen zu geben;
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lieber die Furcht der Kinder.
51
das Gefühl der Unfähigkeit hierzu liegt der Schüchternheit
zugrunde.
Die Wirkung der Schüchternheit erstreckt sich auf die
gleichen Functionen, wie die Ursachen dieser Störung. Der
Einfluss der Schüchternheit auf den Verstand zeigt sich in
der Neigung, sich gegen andere abzuschliessen und seinen
eigenen Gedanken zu leben. Dadurch wird der Schüchterne
Egoist, Idealist, Utopist. Im Traume und in der Speculation
ehrgeizig, kühn und subtil, ist er im Handeln resigniert und
unschlüssig und ermangelt der praktischen Lebenserfahrung.
Auf diese Weise kommt das Bild eines Originals zustande,
wie auch Tarde treffend bemerkt. Auch das Gemütsleben des
Schüchternen zeigt die Richtung zum Originellen. Der Schüch-
terne fühlt für sich allein, er verbirgt seine Gefühle aus Furcht,
dass man sich über deren Natur oder ihre Nuancen aufhalten
könnte; und er zeigt' deswegen für den oberflächlichen Be-
trachter ein schwer zugängliches Herz. Dabei ist er nicht
eigentlich von Natur zurückhaltend; er wünscht im Gegenteil
sich mitzuteilen, aber er will nicht, dass man ihn verkenne.
Dass durch diese stete Gewohnheit, seine Gefühle in sich ein-
zuschliessen, diese selbst mit der Zeit verändert und sonderbar
werden, dürfte leicht verständlich sein. Endlich das Willens*
leben des Schüchternen. Der Schüchterne überlegt seine Hand-
lungen genau im Kopf : sobald es zur Ausführung kommt, ver-
passt er den richtigen Moment oder handelt ungeschickt und
gegen seine Absichten. Zuweilen auch ist er heftig und masslos
im Handeln, gleichsam als wolle er sich für seine Aboulie rächen.
So häuft er z. B. einen Zorn in sich auf und lässt ihn bei einer
geringfügigen Gelegenheit ausbrechen. Bei dieser Disso-
ciation des Seelenlebens ist es begreiflich, dass der Schüchterne
unverstanden bleibt und sich unverstanden fühlt. Dafür schafft
er sich eine subjektive Existenz, die nur in seiner Einbildung
besteht. Daher resümiert Dugas mit Recht : Die von der
Schüchternheit ganz frei sind, sind glücklich, aber mittelmässig.
Wer die Schüchternheit überwunden hat und auf diese Weise
sicher geworden ist, ist am besten daran. Man muss die Schüch-
ternheit besiegen, aber es ist gut, dass man sie zu überwinden
hat. Zwar macht die Schüchternheit den Träger dem prak-
tischen Leben unangemessen, aber sie ist auch eine Prädispo-
4*
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52
Leo Htrschloff,
sition zur Einbildungskraft und zur künstlerischen Phantasie.
Denn nur die Kunst kann dem Schüchternen die Möglichkeit
geben, seine Fähigkeiten zu entfalten. Daher findet sich be
sonders unter Künstlern, Poeten, Schriftstellern die Schüchtern-
heit besonders häufig: Virgil, Horaz, Tasso, Constant, Michelet
und Amiel sind Beispiele dafür. Die Schüchternheit erzeugt
nicht das Talent, aber sie treibt den Künstler auf die Wege
der Einbildungskraft. Sie ist nicht die Quelle, wohl aber häufig
die Gelegenheitsursache der Inspiration.
Wie wichtig solche Erkenntnisse auch für das Studium
und die Erziehung der Kindesseele sind, erweist sich am besten,
wenn man sich daran erinnert, dass die Schüchternheit geradezu
eine typische und unveräusserliche Eigenschaft des kindlichen
Seelenlebens ist, die in verschiedenen Entwicklungsstadien des-
selben unverkennbar in die Erscheinung tritt. Ja, sie ist sogar
eine der ersten, selbständigen Seelenregungen, die wir bei dem
heranwachsenden Säuglinge konstatieren, wenn wir sehen, wie
er beim Herannahen fremder Personen den Blick abwendet
und seinen Kopf hinter dem Nacken der vertrauten Person,
die ihn auf dem Arme trägt, zu verstecken sucht. In der
Folge verändert sich freilich dies Verhalten bald, sodass man
wohl mit Baldwin folgende Stufen in der Entwicklung der kind-
lichen Schüchternheit feststellen kann: Im ersten Jahre zeigt
sich eine primäre oder organische Schüchternheit, besonders
gegen fremde Personen, meist verbunden mit den Aeusserungen
der instinktiven Furcht. Es folgt darauf eine Periode starker
sozialer Tendenz, die mit Duldung und Vorliebe für Fremde
verknüpft ist. Im dritten und den späteren Jahren kehrt dann
die Schüchternheit wieder zurück, aber jetzt ohne Beimischung
jener instinktiven Furcht, als blosse Verschämtheit, die auf
eine mehr minder bewusste Kritik des eigenen Ich und ein Sich-
messen an anderen zurückzuführen ist. Inwieweit eine solche
Eigenschaft nützlich, inwiefern sie schädlich wirken kann,
werden wir unten zu untersuchen haben.
Den Schluss dieser Casuistik der Furchtzustände möge
eine kurze Besprechung einiger anderen krankhaften Befürch-
tungen bilden, wie sie häufig als Symptome von Nervenleiden
und Geisteskrankheiten beobachtet werden. Eine Erscheinung
dieser Art, die fast ausschliesslich bei Kindern sich vorfindet,
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lieber die Furcht der Kinder.
53
ist der sogenannte nächtliche Schrecken der Kinder, pavor
nocturnus. Es handelt sich dabei um nächtliche Anfälle von
Angstzuständen, die mit Zittern, Herzklopfen und Schweiss-
ausbruch, öfters auch mit Schreien einhergehen. Als Ursache
dieser Zustände, soweit sie nicht durch ein epileptisches Leiden
bedingt sind, was manchmal schwer zu entscheiden ist, können
inbetracht kommen: schreckhafte Träume, Gespenstersehen,
Furcht vor der Dunkelheit oder dem Mondlicht, Erinnerungen
an frühere unheimliche Eindrücke und ähnliches mehr. In
einigen ausgeprägten Fällen dieser Art fand ich als Ursache
die Gewohnheit des Alkoholgenusses bei den Kindern, nach
deren Abstellung die Erscheinungen sofort und dauernd ver-
schwanden. Auch das nächtliche Bettnässen der Kinder, Enu-
resis nocturna, ein sehr lästiges und häufig recht hartnäckiges
Leiden, beruht wie F6re* sehr treffend bemerkt, nicht selten
auf solchen nächtlichen Schreckzuständen, sei es dass dieselben
mehr körperlicher Art sind, ähnlich der Herzbeklemmung bei
der sogenannten Herzangst, Angina pectoris; sei es, dass sie
mehr psychischer Natur sind und auf schreckenerregenden
Träumen oder Halluzinationen beruhen.
In der Lehre von den Geisteskrankheiten bildet die Furcht
eine der häufigsten und mächtigsten Gemütsbewegungen. Ab-
gesehen von den Zwangsbefürchtungen der Neurastheniker und
Hysterischen, die unten noch ausführlicher besprochen werden
sollen, bildet die Angst ein charakteristisches Symptom vieler
und häufig gerade der schwersten Geistesstörungen. Sie findet
sich z. B. bei den melancholischen Psychosen des Rückbildungs-
alters, häufig verbunden mit der sogenannten Praekordialangst,
d. h. einer Empfindung von Druck und Beklemmung in der
Herzgegend ; ferner in den Depressionszuständen des zirkulären
Irreseins, in den Dämmerzuständen der Epileptiker, in den
Delirien der Alkoholiker und bei den Paralytikern. Diese
Affekt- Illusionen kommen nach Krafft-Ebing zustande teils
durch den Mangel an Aufmerksamkeit, teils durch die Mangel-
haftigkeit der Wahrnehmungen, häufig auch durch beide Mo-
mente gleichzeitig. Die Genauigkeit der Wahrnehmung dieser
Kranken wird gestört durch ihr Vorstellungsleben, das durch
einen bestimmten Gedankenkreis praeoccupiert ist. „Die im
Apperzeptionsorgane ankommende Sinneserregung löst eine
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54
Uo Hirschlaf
.vohl der Stimmung, nicht aber der Realität entsprechende
Vorstellung mit begleitendem Sinnesbilde aus, die als vermeint-
liche Wahrnehmung nach aussen projiziert wird, ohne dass der
Betreffende seinen Irrtum gewahr würde." Auch durch die
physikalisch bedingte Unvollkommenheit der Sinnes-
empfindungen. z. B. in der Dämmerung, kann die Deutlichkeit
der Eindrücke getrübt und Affekt- Illusionen hervorgerufen
werden. Dass bei den Furchterscheinungen der kleinen Kinder
der gleiche Faktor in Frage kommt, liegt auf der Hand; denn
die Sinneseindrücke der Kinder entwickeln sich ja erst allmäh-
lich zu der Exaktheit, die wir am Erwachsenen beinahe
als selbstverständlich anzusehen geneigt sind. Krafft- Ebing
spricht deshalb und mit Recht von den Urteils-Delirien der
kleinen Kinder.
Fast in noch höherem Grade als bei den erwähnten Geistes-
krankheiten findet sich die Angst als Symptom, häufig sogar
als wichtigstes Symptom der einfachen sog. Nervosität. Sie
kann in zweierlei Formen auftreten: i) als diffuse und dauernde
ängstliche Erregung; 2) als systematisierter Angstzustand, der
nur bei besonderen Gelegenheiten auftritt. Zu der ersten
Gruppe gehören die hypochondrischen Formen der Neurasthe-
nie; zu der zweiten Gruppe zahlen die Platzangst oder Agora-
phobie, die von Westphal im Jahre 1872 zum ersten Male mono-
graphisch beschrieben wurde, ferner die Furcht vor dem Blitze,
Astrophobie, die Furcht vor der Einsamkeit, Monophobie, die
Furcht vor Tieren, Zoophobie, die Furcht lebendig begraben
zu werden, Taphophobie und unzählige andere Phobieen mehr.
Auch der Aberglaube und manche spiritistischen Anschauungen
dürften in dieses Gebiet gehören. Eine Reihe ausgewählter
Fälle dieser Krankheitszustände ist von Raymond und Janet
eingehend beschrieben worden, mit besonderer Berücksichti-
gung ihrer Entstehung; es würde zu weit führen, an dieser
Stelle näher hierauf einzugehen. Wie verbreitet aber derartige
Phobieen sind, möge aus der Thatsache erhellen, dass es ein
Leichtes ist, aus der Geschichte eine Menge von Beispielen
grosser Persönlichkeiten zu zitieren, denen solche Furchtzu-
stände eigentümlich waren. So wird von Erasmus berichtet,
dass ihm ein Gericht Linsen einen heillosen Schrecken einzu-
flössen vermochte. Scaliger hatte Angst vor Brunnenkresse;
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Udier die Furcht der Kinder.
55
Pierre Bayle wurde ohnmächtig, wenn er das Wasser aus einem
Hahn fallen hörte. Bacon zeigte sich von Furcht erfüllt bei
Sonnen- und Mondfinsternissen; König Jakob II. zitterte beim
Anblick eines blossen Degens; der Herzog von Epernon verlor
das Bewusstsein beim Anblick eines Eselsfüllens u. s. w.
Bezüglich der Platzangst möge es gestattet sein, einige
Experimente nachzutragen, die von Mills angestellt wurden zur
Prüfung der oben besprochenen Behauptung Hall's, dass dieses
Krankheitssymptom eine atavistische Erscheinung sei, ebenso
wie die Kiemenspalten, die zuweilen am Halse des Menschen
auftreten und von unseren schwimmenden Vorfahren ererbt
sein sollen. Mills fand, wenn man experimentell junge Tiere
an den Rand einer Anhöhe bringt, dass z. B. Schildkröten davon
■wegstreben, während Frösche darauf zu hüpfen bestrebt sind;
eine Thatsache, die sich mit der Theorie Hall's nicht verein-
baren lässt.
Ich möchte diesen Abschnitt nicht verlassen, ohne eines
Gesichtspunktes zu gedenken, der von Lombroso in die Dis-
kussion geworfen worden ist, und der geeignet ist, die soziale
Bedeutung der Furcht in ein helleres Licht zu setzen. Lom-
broso hat mehr geistreich als wissenschaftlich, die Behauptung
aufgestellt, der Misoneismus, die Neophobie, die Furcht vor
dem Neuen regiere die Welt ; dies sei das Gesetz der Trägheit
in der moralischen Welt. Die Mehrheit sei neophob, nur die
Minderheit der Genies, der Narren und der Verbrecher sei
neophil. Nach ihm prägt sich der Misoneismus in allem aus:
in den Gewohnheiten, Gesetzen, Institutionen, Sprachen. Das
Kind erschrickt vor dem bärtigen Gesicht, nicht etwa weil es
unangenehme Empfindungen in ihm hervorruft, sondern aus
Furcht vor dem Neuen. Der Wilde ist von Natur neugierig;
sobald aber die Zivilisation ihm naht, wird er scheu und
furchtsam, ebenso wie die Kinder, die ursprünglich neophil
angelegt durch die Erziehung zur Neophobie gelangen. Das
Studium der toten Sprachen, die Bewunderung alter Ruinen,
die Kriegsbudgete u. s. w. gehören in das Gebiet des archäo-
logischen Misoneismus nach Lombrosos Auffassung, ebenso wie
das Streben nach Symmetrie, das Festsetzen von Gewichts- und
Masseinheiten ein Ausdruck des konstitutionellen Misoneismus
sein soll. Daraus folgt nach Lombroso, dass das Streben nach
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56
Leo Hirschlatf.
Fortschritt kein physiologisches Phänomen der Menschheit
ist, sondern ein krankhaftes Symptom einzelner Individuen,
der Genies oder Monomanen. Erst nach Jahrhunderten, wenn
die Neuerung allgemeine Zustimmung gefunden hat, wird der
Fortschritt physiologisch. Das Streben nach Fortschritt, be-
sonders je unvermittelter und heftiger es auftritt, ist also nach
Lombroso ein antisoziales Faktum: der Misoneismus ist der
physiologische Charakterzug der Menschheit, der Philoneismus
ein pathologischer Charakterzug des Individuums.
Es ist unendlich leicht, das Unsinnige in dieser Beweis-
führung und diesen Ergebnissen zu erkennen. Es ist daher
überflüssig, auf die Einwendungen einzugehen, mit denen Fe"re
und besonders Merlino die Behauptungen Lombrosos widerlegt
haben. Und doch ist dieser Gedanke geeignet, anregend zu
wirken, wenn auch zum Teil in ganz entgegengesetzter Rich-
tung, ähnlich wie dies so häufig bei den voreiligen Verall-
gemeinerungen Lombrosos sich gezeigt hat. Es ist sicher, dass
die Furcht ein sozialer Faktor von eminenter Bedeutung ist,
der neben dem Hunger und der Liebe vielleicht die am meisten
ausschlaggebende Rolle in der feineren Ausgestaltung unseres
persönlichen und gesellschaftlichen Lebens spielt Diese That-
sache ist den Ethikern und Soziologen lange bekannt gewesen,
bevor der feinfühlige Nietzsche sie zum Ausgangspunkte einer
meist parodoxen Kritik machte. In unseren Schlussbetrachtungen
werden wir auf dieses Thema zurückkommen.
(Schluss folgt.)
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Berichte und Besprechungen.
«
A. ßaer, Dr., Geh. Sanitätsrat in Berlin. Der Selbstmord im
kindlichen Lebensalter. Eine sozial-hygienische Studie.
Leipzig 1901. 84 S. 2 Mark.
Der Selbstmord tritt im menschlichen Leben mit bestimmter Gesetz-
mässigkeit auf; selten im jugendlichen Alter, wo die Lebensbedingungen
einfach sind, ebenso selten im Alter über 6<) Jahre, da in dieser Zeit bereits
die Energie abnimmt. Wie steht es genauer mit der Häufigkeit der Kinder-
selbstmorde, und welches sind die Motive zu diesen?
Einige Forscher haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Jugend-
beteiligung am Selbstmorde in neuerer Zeit in beunruhigender Weise zu-
genommen hat. Da diese Behauptung sich gewöhnlich aaf selbst zusammen-
gestellte und nicht genügend kontrollierte Statistiken Httitzt, so legt Baer
seinen Beobachtungen die offizielle Statistik zu Grunde, von der er jedoch
sagt, dass sie noch viel Lückenhaftes enthält, weil viele Fälle verheimlicht
werden, dass sich aber aus ihr hochwichtige Fragen beantworten und
korrekte Schlussfolgerungen ziehen lassen. Aus den amtlich statistischen
Angaben, die er für die Periode von 1869—1898 inkl. zur Vergleichung zu-
sammenstellt, führt er für Preussen folgende Ergebnisse an.
Innerhalb der 30 Jahre sind an Selbstmord gestorben:
Im Alter
von
Anzahl In
der Periode
186») — 1898
Knaben
Mädchen
Im
jährlichen ;
Durchschnittj
Knaben
MIdchen
0-10
93
71
20
3.1
2.4
0,7
11.3
10-15
1615
1273
342
53.8
42.5
1708
1346 362
1
56.0
44,9
12.0
In dem ganzen Zeitraum haben sich also 1708 Kinder im Alter bis zu
15 Jahren das Leben genommen oder jährlich 56,9 im Ganzen. Das männ-
liche Geschlecht ist beteiligt mit 78,91 •/,„ das weibliche mit 21,09%; oder
auf 4 Knaben kommt 1 Mädchen.
Eine unverkennbare Zunahme zeigt Verfasser, indem er diese Zahlen,
in den einzelnen Perioden gegenübergestellt, vergleicht. Es sind an Selbst-
mord gestorben im jährlichen Durchschnitt:
Periode
Im Alter von
0—10 Jahren
10-15 Jahren
Zusamme
n
5 jährig
Knaben
Mädchen
Knatxn
Mädchen zusammen
zusammen
Knaben
Mädchen
zusammen
2,2
0.6
2.8
29.4
M
35.4
31,6
6,6
38,2
1S74-1876
2,4
1,2
3.6
30,8
8.4
39,2
33,2
9.6
42,8
1879—1883
3,2
0.4
3.6
47,4
13,8
61,2
50,6
14.2
64,6
2,2
0.8
3.0
42,2
14,0
56,2
44,4
14.S
59.2
1 «39—1893
1.8
1.0
2,8
55,6
13.4
69,0
57,4
14,4
71,8
1884—1898
2.8
2.8
49,2
12,8
62,0
52,0
12,8
64,*
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58
Berichte und Besprechungen.
Die Killderselbstmorde sind demnach in den Jahren von 1869 — 189«
im jährlichen Durchschnitt von 38 auf 65 gestiegen. Im Alter von
0- 10 Jahren ist ein Ansteigen nicht bemerkbar, wohl aber in dem Alter
von 10—15 Jahren; die Zunahme ist bei beiden Geschlechtern nicht gleich-
massig, vielmehr beim weiblichen etwas grösser als beim männlichen.
Baer zeigt dann aus den getroffenen Zusammenstellungen, wie die
Häufigkeit der Gesamtselbstmorde und die der Kinderselbstmorde in der
angegebenen Zeit in absoluter Zahl einzeln und zu einander sich verhalten:
1 jähriEer
Selbstmorde
Durchschnitt in der
in der Oesamtbevölkerung
im Alter bis zu 15 Jahren
Periode
nünnlich
weiblich
zusammen
männlich | weiblich
zusammen
18»- 1873
2333
596
?929
31,6
6,6
38,2
1873—1878
3157
700
3857
33,2
Q,6
1879—1883
4139
964
5103
50,6
14,2
64,8
1884-1888
4701
1184
5886
44,4
14,8
59,2
1889-1893
4836
1252
60SH
57,4
14,4
71,8
1893-189«
5086
1345
6431
52,0
12,8
64.8
Die Gesamtselbstmorde haben sich von 18<>9— 1898 mehr als verdoppelt,
und zwar mehr bei der weiblichen ab) bei der männlichen Bevölkerung; die
Zunahme der Kinderselbstmorde dagegen h>t etwas geringer. Indessen
zeigt diese Zusammenstellung, dass die Zunahme der allgemeinen Selbst-
morde keineswegs eine gleiche Zunahme der Kinderselbstmorde in derselben
Periode und in demselben Geschlechte bedingt
Einen Einblick in die Genese der Kinderselbstmorde, in das rätselhafte
Dunkel ihrer Motive gestatten 25 vom Verfasser genauer dargestellte Fälle ,
die er durch Einzelsammlung gewonnen hat. Unter diesen waren 17 Knaben
und 8 Mädchen und zwar in nachstehendem Alter:
3% Jahr: 1 Knabe. — Mädchen
9 n 2
■ i „ a
»IV. n 1
12 „ 2
13 „ 1
»4 „ 2
15 4
Alter unbekannt: 1
Es sind mehr wie das doppelte Knaben als Mädchen vertreten: die
e röteren mit 68 °/0 und die letzteren mit 32 %. Während von den 16 Knaben
4 in dem Alter bis zu 10 Jahren stehen, d. h. 25%, ist dieses Verhältnis
bei den Mädchen 12,50%; im Alter von 10 — 12 inkl. ist das Verhältnis
31,25% bei den Knaben und 12,50°/« bei den Mädchen; im Alter von
13-15 inkl. 43,75 % bei den Knaben und 75% bei den Mädchen. Die
IT
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V
1
11
"
1
••
1
•>
2
•<
3
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HtTtchtt uttti Besprechungen.
59
Neigung zum Selbstmord tritt bei den Knaben früher auf als bei den
Mädchen; dagegen nehmen sich im Alter von 13 — 15 Jahren mehr Mädchen
das Leben wie Knaben. Interessant Ist die Wahl der Todesart der 25
jugendlichen Selbstmörder. Den Erhängungstod haben 6 Knaben und kein
Mädchen gewühlt ; der Tod durch Erschiessen war nur gebraucht von 2 Knaben.
I>en Sturz aus dem Fenster haben 5 Knaben gewählt und 6 Mädchen; er-
tränkt haben sich 4 Knaben und 1 Mädchen. Den Tod durch Verbrennung
hat eiu geisteskrankes Mädchen gewählt.
Erhängen: o Knaben 35,29°/.; - Mädchen - —
Sprung a. d. Fenster: T, „ - 29,41%; 6 „ — 75,00 %
Erschiessen: 2 „ — 11,76%: — „ — —
Ertränken: 4 „ = 23.53 %: 1 „ =* 12.50%
Unter den Motiven steht die Furcht vor Strafe obenan. Von 1b Knaben
haben sich aus diesem Motiv 9 das Leben genommen und 4 Mädchen; Geistes-
krankheit war bei 3 Knaben, schlechte Behandlung war bei 1 Knaben und
: Scham vor Schande war bei 1 Knaben die Ursache;
Jähzorn bei 1 Mädchen und verletztes Ehrgefühl bei 1 Knaben; Spass (?) bei
1
Furcht vor Strafe: bei '»Knaben 5o,25 %; bei 4 Mädchen = 66,67 %
Geisteskrankheit: „ 3 „ = 18,75%: „ — = —
Schlechte Behandlung: „1 „ — 6,25 %; „1 „ = 16,66%
Scham vor Schande: „ 1 „ = 6,25%: „ — = —
Jähzorn: — „ = — ., 1 ,. — 16,66%
Ehrgefühl: „1 „ -= 6.25%: ,, —
(?): ,. 1 „ - 0,25%: „ -
In dem 2. Abschnitt behandelt der Verfasser die Ursache zum Kinder-
aelbstmord und bezeichnet die Urteile und selbst auch nur die Vermutungen
über die Deutungen des Selbstmordmotivs als ungemein schwierig und
unsicher. Denn um einen klaren Einblick in dieses Dunkel zu gewinnen,
inüssten wir die Eigenschaften und Beschaffenheit der Eltern und Ver-
wandten, das Vorleben, die Entwicklung und die Eigenschaften des jugend-
lichen Selbstmörders genau kennen. Immerhin kann man beim Kinde die
Momente in Erwägung ziehen, welche in seiner Konstitution, in seiner
individuellen Organisation liegen, und die, welche ausserhalb desselben ihre
Einflüsse geltend machen. Zu der ersten Gruppe gehört die Geistesstörung,
deren Folge der Selbstmord sehr häufig ist. Diese zeigt sich nicht gelten
'bei Kindern in ganz geringen Absonderheiten und Besonderheiten des
Charakters, in bizarren Aeusserungen ihres Empfindens und Verhaltens.
Die Zahl der geisteskranken Kinder ist in Freussen nicht gering.
Vnter den in den Jahren 1886—1888 in den preussischen Irrenanstalten auf-
genommenen 40076 Kranken waren im Alter von unter 15 Jahren 1332. Unter
den von iier offiziellen Statistik angegebenen 979 Selbstmördern im Alter
von unter 15 Jahren in der 15 jährigen Periode vou 1884 — 1898 inkl. waren
79 Geisteskranke =» 8,07%; das Prozentverhältnis wird aber erheblich
grosser, wenn man die Zahl der sogenannten „unbekannten Ursachenu
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60
Belichte und Besprechungen.
von der Gesamtsumme abzieht. Letztere betrug 351 — 36%. Von den.
628 Fällen, deren Ursachen ermittelt waren, kommen demnach 79 auf
Geisteskranke, d. i. 12,58%. Ein viel häufigeres Motiv ist die minder-
wertige Organisation, wobei man vor allem an die psychopathische Minder-
wertigkeit zu denken hat, die zum grössten Teil in der Abstammung und
Vererbung beruht. Denn schlimme Folgen kann die Abstammung von
Familien haben, in welchen Geistesstörungen oder andere Krankheiten des
Nervensystems heimisch sind, oder sonstige Momente, die das geistige Leben
der Nachkommenschaft in schädlicher Weise beeinflussen, wie nahe Bluts-
verwandtschaft, starke Ungleichheit des Alters der Gatteu oder Trunksucht.
Als letztes inneres Motiv, das beim Kinde zum Selbstmord führen kann,
nennt der Verfasser einen krankhaften Affekt, der sich in einer inneren
Schmerz- und Unlustempfindung, einer schwer bedrückten Gemüts- und
Seelenstimmutig kundgiebt. Auf die Grundlage eines solchen Affeks sind
die meisten Selbstmorde im Kindesalter zurückzuführen. Kinder, die durc h
körperliche Krankheit, langandauernde Schmerzen viel leiden und erdulden
die durch schlechte Behandlung und Misshandlung grausamer Eltern ge-
martert werden, die die schweren Sorgen und den Kummer der Eltern mit-
empfinden, die viel Entbehrungen und Hunger ertragen, werden häufig aus
geringfügigem Anlass sich dem traurigen Dasein gewaltsam entziehen.
Bei noch vielen andern tritt die Verstimmung und Verzweiflung in einer
mehr akuten Weise auf. Androhung und Erwartung einer Strafe, die
Schande über ein begangenes Verbrechen werden plötzlich die Ursache zum
Selbstmord. Von aussen her beeinflussen das Leben des Kindes die sozialen
Verhältnisse. In den ärmeren wie in den reichereu Bevölkeruugsklassen
tritt der Kindesselbstmord in gleicher Stärke auf. Bei der ärmeren Be-
völkerung sind es schlechte Erziehung, gesundheitliche Missstände, Hunger
und Entbehrung, welche das kindliche Gemüt umdüstern-, bei den reicheren
Gesellschaftsklassen Wohlleben, Ueppigkeit, frühzeitige Gewöhnung an
Theater, Tanz und äusseres Gesellschaftslebon, wodurch die Kinder in den
Zustand der Frühreife und mit dieser in krankhafte Empfindlichkeit ge-
langen.
Da die meisten Selbstmorde im schulpflichtigen Alter geschehen, so
könnte man leicht geneigt sein, eine schwere Anklage gegen die Ein-
richtigungen der Schule zu erheben. Allein von hervorragenden Aerzteu
und Pädagogen ist der Beweis erbracht, dass der Schulunterricht auf krank-
hafte Kinder wohl schädigend einwirkt, dass er dagegen körperlich und
geistig gesunden Kindern nur einen fördernden Einfluss geben kann. So
sind in den meisten Fällen nicht die Umstände und Verhältnisse, die mit
der Schulzucht verbunden sind, die wirklichen Ursachen zum Kinderselbst-
morde, sondern sie sind nur die scheinbaren begleitenden Erscheinungen,
wahrend die thatsächlichen Ursachen in einer angeborenen geringen psy-
chischen Leistungsfähigkeit und in einer angeborenen Neigung zn Nerven-
und Geisteskrankheiten zu suchen sind.
In den Jahren 1883 — 1886 töteten sich Schüler aus nachstehenden
Ursachen :
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Bericht* und Besprechungen.
61
Ursache
Knaben
Schuten
M idelun
Niedere
Knaben
Schulen
Madchen
t-xamcnsiurcni, nicnivcr >ci/uiigt nicm er-
standenes f~'xarncn
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Zerwürfnisse ir.it tirn Fltrrn bc/w I chrxrr
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Religiöse Schwärmerei
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1
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1
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1
5
1
7
Sonstige Oründe
2
2
Unbekannte Veranlassung
15
59
12
Summa
»
' 1
163
47
Besonders interessant sind die Fälle aus den höheren Schulen. Wenn
als Ursachen zum Kinderselbstmorde „Geisteskrankheit, Lebensüberdruss,
unglückliche Liebe", angeführt werden, so werden die Schüler, die Bich
aus diesen Gründen das Leben nehmen, höchstwahrscheinlich mit angeerbt
belastenden Defekten behaftet gewesen sein und durch die Anforderungen
der Schule dann schwere Schädigung erlitten haben. Erwähnung verdienen
besonders die nachstehenden Beispiele: In Br. hat sich im Mär-? 185H ein
14jährige8 Mädchen, £. v. B., erschossen. Ein mit Bleistift von ihr be-
schriebenes Blatt enthielt die Worte: „Liebe Mutter! Dieso Welt ist nicht
mehr für mich, ich mnss sterben. Sollte der erste Schuss nicht troffen, so
bin ich unglücklich . . . Sollte M. (Schwester) den W. heiraten, so wünsche
ich ihr von ganzem Herzen Glück. Meine wenigen Sachen, namentlich
auch meine Schlittschuhe, vermache ich meiner Schwester. Ich möchte
gern im weissen Kleide mit glutt gekämmten Haaren begraben werden, in
der Hand auf der Brust die Bibel und das Gesangbuch. Wenn es geht,
eo wünsche ich an der Seite meines Vaterg zu liegen. Wenn Du mir ver-
zeihen kannst, so verzeihe mir. Adieu!14
Im Januar 1897 fanden Vorübergehende hinter einem kleinen aufge-
lassenen Friedhofe in Wien ein ungefähr 12 jähriges Mädchen im Schnee
kauernd halb erstarrt auf. Man bemühte sich, das Mädchen zu Bich zu
bringen, was auch gelang. In ihrer Manteltasche fand sich ein Schreiben,
welches das Kind an seine Eltern gerichtet hatte. In diesem Briefe heisst
es wörtlich: „Liebe Eltern! Mich freut das Leben nicht mehr, obwohl ich
«ret 12 Jahre alt bin. Der Eduard geht jetzt immer mit der Mali, sie ist
Hausmeisters Tochter und bekommt einmal viel Geld. Ich habe nichts und
bekomme auch nichts; darum will ich sterben. Ich will erfrieren und
schlafend sterben. Ich möchte am Baumgartner Friedhof begraben werden,
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62
da ich da wenigstens Hoffnung habe, auch einmal dort zu liegen, wo
Eduard hinkommen wird, wenn er einmal stirbt. Verzeiht Eurer unglück-
lichen Tochter Marie". In einem engeren Zusammenhang mit der höheren
Schale stehen sicher Motive, wie „Examens furcht", „Nichtversetzung", „nicht
bestandenes Examen". Hier werden die anstrengenden Vorbereitungen zu
Prüfungen, die überflüssigen Zensuren eine grosse Schuld an den Nerven -
Störungen haben. Eine oft schlimme Wirkung bei Kindern hat auch die
Bedeutung, welche das heutige Familienleben dem Fortkommen des Kindes
in der Schule beimisst. Da wird mit Ungestüm verlangt, da&s sich der
Schüler mehr anstrenge, unbekümmert darum, ob er auch die Fälligkeit
habe;. Daraus entstehen dann Motive, wie „gekränkter Ehrgeiz", „verletztes
Ehrgefühl", „unwürdige Behandlung". Auch die .Furcht vor Strafe", die
ein starkes Kontingent zum Kinderselbstmorde stellt, wird nicht immer im
Zusammenhange mit der Schule stehen, vielmehr mit dem Ehrgeiz der
Eltern, die den Kindern schwere Strafen androhen. Es begehen auch
Kinder Selbstmord lediglich ans Angst vor den Anforderungen des Schul-
unterrichtes, aus Furcht vor Strafe für nicht angefertigte Arbeiten; doch
gebührt gewiss der Erziehung in der Familie mindestens derselbe Anteil
an den Kinderselbstmorden, wie der Schule. Darum lässt der Verfasser am
Ende seiner interessanten Ausführungen die Aufforderung an Eitern und
Lehrer ergehen, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Kinder früh-
zeitig zu erforschen, und nach diesen die Grundsätze der Erziehung einzu-
richten.
Berlin. W. Krause.
Der naturwissenschaftliche Unterricht in England, insbe-
sondere in Physik und Chemie. Von Dr. Karl T. Fischer,
Privatdozent und I. Assistent für Physik an der Königl.
Technischen Hochschule zu München. Mit einer Uebersicht
der englischen Unterrichtslitteratnr zur Physik und Chemie
nnd 18 Abbildungen im Text und auf 3 Tafeln. Druck und
Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin. 1901. VIII. u.
94 S. gr. H. geb. M. 3,60.
In dem vorliegendem Werke hat der Verfassor die während eines
zweimaligen längeren Aufenthalts in England durch persönliche Anschauung
gewonnenen Erfahrungen über die englische Unterrichtsmethode in den
Naturwissenschaften niedergelegt.
Nach kurzen einleitenden Bemerkungen über das englische Schul-
weseu im allgemeinen, welches sich von unserm unvorteilhaft dadurch
unterscheidet, dass es nicht einheitlich organisiert ist, giebt der Verfasser
ein Unterrichtsdiagramm der Schulen Manchesters, führt dann die von ihm
besuchten Städte und Schulen auf und kommt schliesslich zu dem Haupt-
teil seines Werkes, der „Ergebnisse meiner Unterrichtsstudien" überschrieben
ist. Zunächst wird hier die Frage: „In welchem Umfange werden Natur-
wissenschaften gelehrt?" behandelt. Während in England wie bei uns
formaler und Sprachunterricht früher durchaus im Vordergrunde standen,
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63
haben die Naturwissenschaften in den letzten 6—10 Jahren nach und in nicht
unerheblichem Umfange in den verschiedenen Schulen Eingang gefunden,
so dasa es heute kaum eine bessere englische Anstalt giebt, die nicht Ab-
schnitte aus Physik, Chemie, Geologie und Geographie oder Botanik in ihren
Ijehrplan aufgenommen hätte.
An den „EJementary Schools" und den berühmten vier Public Schools
xu Eton, Harrow, Rugby und Cbeltenham erkennt man dem naturwissen-
schaftlichen, experimentellen Unterrichte eine solche Bedeutung zu, das»
man die Schüler und Schülerinnen schon im Alter von 11 bis 12 Jahren
einfache physikalische und chemische Versuche ausführen lässt. Ueber die
Ausdehnung des Physik- und Chemieunterrichtes an den einzelnen Schulen
triebt uns der Verfasser durch ausführliche Lehrprogramme genauen Auf-
schluss. Eine weite Verbreitung haben die Schülerwerkstätten an den
englischen Anstalten gefunden, Ihr Zweck ist Hand, Auge und Körper
zu üben und nach Mass und Zeichnung Holzarbeiten ausführen zu lassen.
Die englischen Schulen sind weniger nach Systemen eingerichtet,
ml» mit Rücksicht auf jeweilige Bedürfnisse und nach Mass^abe unmittel-
barer Erfahrung. So nehmen die meist städtischen Technical Schools weit-
gehende Rücksicht auf die Industrie des Bezirkes, in dem sie liegen. Den
Bedürfnissen einzelner Gegenden tragen auch die in neuester Zeit in land-
lichen Distrikten mehrfach errichteten Agricultural Schools Rechnung. An
vielen wird Physik und Chemie in gut eingerichteten Laboratorien gelehrt.
Werkstätten für Holz und Metall sorgen für die praktische Ausbildung.
Auffallig ist. dass an vielen der höheren — unsern Lateinschulen ent-
sprechenden — Anstalten andere Zweige der Naturwissenschaften als Physik
und Chemie, wie z. B. Botanik und Zoologie, weniger gepflegt werden,
als man erwarten sollte. In den besseren Schulen ist Biologie eingeführt
and zwar auch wieder experimentell.
Die Organized Science Schools bieten vorzugsweise gründlichen und
lehrplan massig fortschreitenden Unterricht in den Naturwissenschaften.
Den an ihnen eingeführten, von berufenen Männern sehr gut durchgear-
beiteten Lehrplan für Physik und Chemie giebt der Verfasser wieder.
Ebenso wie an den Elementar- und Mittelschulen der naturwissenschaft-
liche Unterricht ganz erheblich an Interesse, Ausdehnung und Durchbildung
gewonnen hat, ist auch an den Hochschulen auf diesem Gebiet ein nicht
geringerer Fortschritt zu beobachten. «England ist sehr darauf bedacht, höhere
technische Unterrichtsanstalten zu schaffen, nachdem es eingesehen hat,
wie weit ihm Deutschland in dieser Hinsicht voraus war. Zwar musste
Balfour im Jahre 1896 noch sagen, dass „„Deutschland nicht weniger als
•echs grosse elektrotechnische Institute besitze, welche nn vergleichlich
besser als irgend ein ähnliches in England wären"", doch sieht man an dem
Ton, der in der allerletzten Zeit bezüglich dieses Punktos angeschlagen
wird, dass England rasch den deutschen Fortschritten nachzukommen glaubt".
„Während wir in Deutschland an den Hochschulen die ersten und vorzüg-
lichsten Laboratorien für Physik und Chemie hatten und schon seit den
frühesten Zeiten selbständige Untersuchungen von unseren Studierenden
ausführen Hessen, besitzen englische Hochschulen grössere Laboratorien
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64
für selbständige Untersuchungen der Studenten erst seit wenigen Jahren,"'
dosgleichen werden in England elementare Praktika erst seit viel kürzerer
Zeit abgehalten als bei uns.
Zwei vorzüglich ausgeführte Tafeln, die eine eine Ansicht und die Grund-
risse des neuen physikalischen Laboratoriums von Owens College in Manchester,
die andere zum Vergleich den Grundriss der Technischen Hochschule in
München darstellend, geben uns ein Bild von dem Umfange eines neueren
englischen Physiklaboratoriums.
Nach einem kurzen Abschnitt über die „Gründe für die Zunahme des
naturwissenschaftlichen Studiums in England", in dem besonders der er-
zieherische Wert der Naturwissenschaften — speziell der Physik und
Chemie — betont wird, bespricht der Verfasser eingehend die Methode de«
Unterrichts. Charakteristisch ist es, dass, so verschieden auch die Arten
und Ziele der englischen Schulen sind, die Methode des naturwissenschaft-
lichen Unterrichts bei allen die gleiche ist. Es wird, wie an unsern
deutschen Hochschulen, den Schülern Gelegenheit gegeben, ihr Wissen
durch praktische Uebungen zu vertiefen. „In England hat man diese
Methode, die neben der Vorlesung mit rciu rezeptiver Thätigkeit der
Schüler Selbstbetätigung und eigenes Schaffen in den praktischen Uebungen
verlangt, noch erheblich weiter auf niederere Schulen ausgedehnt und
zu Gunsten des Praktikums verändert. Wo immer ich in England eine
Schule besuchte, ist stets dort, wo Physik oder Chemie gelehrt wurde, ein
physikalisches und chemisches Laboratorium für die Schüler vorhanden
gewesen, wenn auch mit bescheidener Ausstattung, gleichviel ob die Schule
Elementar-, Mittel- oder Hochschule war. Ja im Gegenteil, der praktische
Unterricht, d. h. das eigene Experimentieren des Schülers, wurde für desto
nötiger erachtet, je jünger der Schüler war und je einfacher der zu be-
wältigende Stoff. Je weiter die Schüler fortgeschritten sind, um so grösseren
Umfang nimmt der rein theoretische Unterricht an ; in den höhereu Spezial-
vorlesungen der Unvereität Cambridge wird kein Experiment mehr vor-
geführt, je mehr aber die Vorlesung die Grundlagen und die Begriffe zu ent-
wickeln hat, um so stärker tritt das Experiment in den Vordergrund. Der
in den Elementarvorlesungen behandelte Stoff wird in, parallel zur Vorlesung
laufenden praktischen Uebungen vom Studenten jeweils einige Tage nach
der Vorlesung gründlich verarbeitet".
Die Organized Schools of Science und in neuester Zeit auch die
Elementarschulen gehen in der Betonung der Wichtigkeit der Einführung
physikalischer und chemischer Grunderscheinungen durch Schülerversuche
60 weit als irgend möglich.
Die Ziele dieser Unterrichtsmethode sind in der Forderung ausge-
sprochen: „Man solle den Schülern nicht nur von Dingen erzählen oder
Dinge zeigen, sondern man solle in ihnen die Fähigkeit entwickeln, Auf-
gaben selbst durch das Experiment zu lösen — d. h. man solle sie darauf
hinleiten, selbst zu „„entdecken"", und zwar sollten ihre Entdeckungen
in enger Beziehung zu den Gegenständen und Erscheinungen des täglichen
Lebens stehen." Dies ist in kurzem der Inhalt der von Prof. H. E. Armstrong
im Jahre 1884 zuerst öffentlich vertretenen „Heuristischen Methode". Im
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Belichte und Besprechungen.
65
folgenden fuhrt Dr. Fischer einige die Methode erläuternde Abschnitte aas
den von der Incorporated Association of Headmasters aufgestellten Lehr-
pl&nen an. Durch die Einführung der heuristischen Methode ist „die Not-
wendigkeit der Verbindung von praktischem Unterricht mit Experimental-
vortrfigen erwiesen worden, und es hat sich als Brauchbarstes herausgestellt,
rein theoretischen Unterricht mit Demonstrationen und individueller
Thätigkeit der Schüler zu verbinden, und zwar so, dass in möglichst engem
Anschluss an Demonstrationen und den theoretischen Unterricht von den
Schülern, auch von den jüngsten. Versuche im Praktikum ausgeführt
werden .
Im weiteren spricht der Verfasser von der Ausbildung der Lehrer
von den Lehrbüchern, den Lehrmittelsammlungen und schildert darauf ein-
gehender die englischen Schülerlaboratorien und Schälerwerkstätten. Eine
Tafel und mehrere Skizzen veranschaulichen diese Einrichtungen vortrefflich.
Die folgenden kürzeren Abschnitte belehren uns über die Erfahrungen,
die man in England mit der praktischen („heuristischen") Unterrichts-
methode machte, über die Ansichten von Engländern über deutsche
Unterrichtsmethoden und über die in Deutschland herrschenden Anschau-
ungen von der in England eingeführten Methode des Physik- und Chemie-
unterrichtes.
Berlin. * Wilhelm Eirbler
Ratgeber zur Einführung der erziehlichen Knabeuhandarbeit.
Herausgegeben vom Deutschen Verein für Knabenhandarbeit.
Leipzig. Druck und Kommissionsverlag von Frankenstein
A Wagner. 1902. 120 S.
Die vom Deutschen Verein für Knabeuhandarbeit unter Mitwirkung
namhafter Sachverständigen herausgegebene Schrift wird durch einen kurzen
Ueberblick über die zwanzigjährige Thätigkeit des Vereins eingeleitet. Sie
ist ans dem Bedürfnis heraus entstanden, in gedrängter Form alles Wesent-
liche seiner Bestrebungen zusammenzufassen, das Verständnis und Interesse
an diesen Bestrebungen anzuregen und denen, welche den letzteren prak-
tisch näher treten wollen, zweckmässige Batschlage zu geben. Die Schritt
enthält 'im zweiten Teile äusserst lehrreiche Ausführungen über die Be-
deutung der Knabenhandarbeit im allgemeinen. Der erste Abschnitt dieses
Teiles behandelt „Die Knabenhandarbeit und die Erziehung", der folgende
,.Die Knabenhandarbeit und die volkswirtschaftlichen und sozialen Aufgaben
unserer Zeit" Uberschriebene betont die Bedeutung der technischen Fähig-
keiten, des manuellen Geschickes in dem wirtschaftlichen Daseinskampfe
Deutschlands mit seinen Konkurrenten. Er macht darauf aufmerksam, dass
die Intelligenz allein den Sieg nicht erzwingen kann, dass der findige, ge-
lenke, flinke Arbeiter die Truppe bildet, auf die es ankommt. da«s wir daher
um unserer Zukunft willen ein handfertiges Volk und um eines solchen
Volkes willen eine handfertig geübt« .lugend brauchen. Wie hoch gerade
unsere Konkurrenten, die Franzosen, Engländer. Amerikaner den Nutzen
Zeitschrift für pSdagr^i-^li«: I'-vcholo-io, l'athoKvic Ihvunr. *
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66
üirichtf und Hcsprtchunzen.
dieser Forderaug anschlagen, zeigt die Energie, zeigen die bedeutenden
Mittel, mit denen sie den Arbeiteunterricht aufgegriffen und gefördert haben
und zwar mit dem aasgesprochenen Zweck, die Erwerbefähigkeit ihrer
Nation zu steigern. Der innerste Beweggrund für die Freunde der Hand-
arbeit ist der, den Schaffensmut, die Kraft und Lust zur That, die in jedem
Knaben steckt und die heute — vor allem in unserm unseligen Stadtleben
— ertötet und missleitet wird, zu erhalten und zu stärken, sie zur nützlichen,
erfrischenden Arbeit zu leiten. Welche edle, bedeutungsvolle Aufgabe!
Weitere Abschnitte sind betitelt: „Die Knabenhandarbeit auf dem
Lande, Die Knabenhandarbeit und die Erziehung zu Kunst und Hand-
werk, Die Knabenhandarbeit und Hygiene".
Ein dritter Teil belehrt una über die Geschichte der Knabenhandarbeit,
über cuV Aufgaben und die Organisation des Vereins und über den gegen-
wärtigen Stand des Knabenhandarbeitsunterrichte« in Deutschland und im
Auslande Schliesslich bringt er die einschlägige Litteratur.
Den praktischen Anweisungen ist der vierte, bei weitem umfangreichste
Teil gewidmet. Er giebt Auskunft über die geeigneten Lehrgegenstände,
Ijehrgänge und die entsprechende Methode der für Schülerwerkstätten und
Erziehungsanstalten geeigneten Unterrichtsfächer der Knaben handarbeit.
Heber den Betrieb derselben auf dem Lande, die Herstellung von Lehr-
mitteln ( Schulhandfertigkeit), die Einrichtungen und Kosten der Werkstätten,
die Ausbildung von Lehrern erteilt er sachgemässe Anleitung. Mit der
Einführung der Knabenhandarbeit in die Volksschule und ihrer praktischen
Durchführung als Unterrichtsgegenstand nach den verschiedenen Methoden,
mit der Handarbeit als Lehrgegenstand im Seminar und in der Seminar
Uebung8schule beschäftigen sich die folgenden Abschnitte. Die Schrift
schliosst mit Ratschlägen für die Knabenhandarbeit in besonderen Anstalten,
in der Hilfsschule, der Taubstummen- und Blindenanstalt und im Knabenhort.
Man muss diese anregenden, gedankenreichen Ausführungen gelesen
haben, und man wird von der grossen erzieherischen Bedeutung des Knaben-
handarbeitsunterrichtes Überzeugt werden. Sicherlich wird die Schrift viele
Behörden, Korporationen, Gemeinden und Lehrer zur Förderung dieser
segensreichen Bestrebungen anregen und dem Deutschen Verein zahlreiche
neue Freunde zuführen.
Berlin.
Wilhelm Eichler.
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Mitteilungen
Kultusminister a. D. Dr. Bosse und der Religions-
unterricht in den Volksschulen.
Ein Brietwechsel mitgeteilt von Wilhelm Meyer- M ar kau.
Der Religionsunterricht in nnsern Volksschulen bedarf der Reform.
Dag ist in Fachkreisen oft behauptet worden. Aber trotz aller pädagogischen
Oründe bleibt es gerade in diesem Unterrichtsfache beim Hergebrachten.
Da wird es nun weit Aber Fachkreise hinaus interessieren, dass selbst
«in strenggläubiger Mann wie Kultusminister Bosse sich den Gründen für
«ine Verminderung der Stoffmenge im Religionsunterrichte nicht verschloss.
Ich würde es für ein Unrecht halten, wollte ich die Briefe, die der Heim-
gegangene über diesen Gegenstand mit mir, dem einfachen Volksschullehrer
wechselte, in meinem Pulte vergraben liegen lassen. Nicht die Sucht also,
öffentlich meinen Namen neben den des Staatsministers gestellt zu sehen,
treibt mich, diese Briefe drucken zu lassen, sondern ich möchte einer von
mir wiederholt vertretenen wichtigen Sache einen Dienst erweisen. Und
das vermögen die Briefe des Kultusministers ganz entschieden.
Minister Bosse leitete, als er noch Direktor im Reichsamte des Innern
■war, in seinen Mussestunden die „Monatsschrift für deutsche Beamte", an
der ich mitarbeitete. Dadurch trat ich zu ihm schon damals in nähere Be-
ziehungen. So auch kam es, dass ich ihm nach seiner Entlassung als
Kultusminister meine kleine Schrift „Sozialdemokratische Jugendschriften*
Bonn. Soennecken) zugehen Hess. Diese Zusendung wurde Veranlassung
dem Briefwechsel über unsern Religionsunterricht in Volksschulen, den
ich nunmehr folgen lasse. Der eiste Brief des Staatsministore a.D. lautete:
Kaiserin Augustastr. 57. 7. November 18**9.
Geehrter Herr Meyer!
Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank für die neue Freundlichkeit,
die Sie mir durch die Uebersendung Ihres Vortrags über Sozialdemokratische
Jugendschriften erwiesen haben. Ich habe ihn mit dem lebhaftesten
Interesse gelesen. Kann ich mich auch nicht mit jedem Satze identifizieren
— Sie selbst setzen das ja auch bei Ihren Zuhörern nicht voraus — , so
bin ich doch völlig einverstanden mit der von Danen so lichtvoll darge-
stellten und quellenmässig belegten Grösse der Gefahr und mit der von
Ihnen in erster Linie der Volksschule zugewiesenen Aufgabe, diese Gefahr
mit Aufbietung aller Kraft und aller vernünftigen pädagogischen Mittel zu
bekämpfen. Wie durch Ihre freundliche Postkarte aus Holland1), so fühle
») Ich erfuhr Bosses Entlassung erst einige Tage später auf einer
Bootsfahrt von Amsterdam nach dem Eiland Marken und hatte ihm dann
sofort vom Schiffe aus eine Karte geschrieben, die ich ohne Namen mit
der Unterschrift „Ein preussischer Volksschnllehrer" abgehen Hess. M.-M.
5#
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Mitteilungen.
ich mich auch durch diesen Vortrag mit Ihnen in Anknüpfung an unsere
früheren litterarischen Beziehungen nahe verbunden und bleibe mit be-
sonderer Hochachtung Ihr dankbar ergebener Dr. Bosse.
Auf dieses Schreiben antwortete ich Duisburg, 12. November 18^8:
Exzellenz! Der warme Ton. der aus Ew. Exzellenz Brief mir entgegen-
klingt, lässt es mich wagen, das folgende an Sie zu schreiben
Eine ernste Sache, die mir lange auf dem Herzen liegt, und deren
Erörterung für einen tief unten in der Beamtenhierarchie stehenden Volks-
schullehrer nicht ohne alle Gefahr ist, möchte ich Ew. Exzellenz znr hoch-
geneigten Beurteilung unterbreiten,
Ew. Exzellenz können sich nach Ihrem Briefe nicht mit jedem Satze
meiner Sozialdemokratischen Jngendschrüten identifizieren, was Sie, als von
mir vorher eingesehen, ganz richtig voraussetzen. Zu diesen öatzen rechne
ich wohl mit Recht diejenigen über den Religionsunterricht.
Ich komme je länger desto mehr zu der Ueberzeugung. das* des
religiösen Lehr- und Lernstoffes für die Kinder in unseren Volksschulen
viel zu viel ist, und dass darum in pädagogisch verkehrter Weise Religions-
unterricht gegeben werden muss. Jahr für Jahr bekommt das Kind die-
selben biblischen Geschichten in konzentrischen Kreisen vorgeführt, und
immer wieder muss es diese Geschichten nacherzählen. Der Lehrer kann
den Stoff kaum ausser! ich bewältigen. Worauf läuft es denn im biblischen
Geschichtsunterrichte vorzugsweise hinaus? „Erzähle!" „Sa^e den Sprach,
den Vers auf!" Das ist nicht «ölten die Ivosung bei Revisionen. Und deren
hat ein preussiseber Lehrer bei der hier zu Lande engen Aulsicht nach
meiner vielleicht unbescheiden zu nennenden Meinung auch zuviel: zuviel,
weil für diese Revisionen zuviel ge — arbeitet werdeu muss. Wir Lehrer
an Volksschulen, wo hausliche Nachhilfe kaum vorkommt, könneu im
Religionsunterrichte vor lauter Erzählen und Aufsagenlassen nicht Zeit ge-
winnen, den Stoff geistig zu vertiefen; Wort- und Sacherklärungen müssen
vielfach genügen. Da müsste Abhilfe geschaffen werden. Dass dies nicht
durch noch mehr Religiousstunden geschehen kann, ist jedem vorurteils-
freien Fachmann klar. Und da meine ich, man solle einen erheblichen
Teil der biblischen Geschichten des Alten Testamentes vom Lehrplane der
Volksschule streichen. Eine knappe Begründung dieser Forderung enthält
ja mein Vortrag schon; aber ich möchte Ew. Exzellenz mit Direr jrütigen
Erlaubnis wenigstens noch einen neuen Grund unterbreiten.
Als ich seiner Zeit 800 Fremdwörter aus unseren Volksschuilesebü ehern
zusammenstellte, erregte das in Fachkreisen ein gewisses Aufsehen; eine
so hohe Zahl hatte man nicht für möglich gehalten. Jetzt habe ich über
200 vorzugsweise hebräische Namen aus einem jetzt vielerorts eingeführten
Biblischen Geschichtsbuche von Armstroff zusammengestellt, die ich mir
beizulegen erlaube. Wer hat wohl für möglich gehalten, dass wir unsern
deutschen Volksschülern zumuthen, so viele Namen einer fremden Vor-
geschichte sich einzuprägen? Dazu finden sich darunter Namen, über deren
Vorkommen im Zusammenhange der betreffenden biblischen Geschichte kaum
alle Theologen sofort Auskunft zu geben vermögen. Macht es ein Kind
besser — denn darauf sollte doch im Religionsunterricht ganz besonders
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Mitteilungen.
69
Gewicht gelegt werden — wenn es Ahab nnd Aha«, Ahimelech nnd Abi-
melech, Abiram nnd Abarim, Elieaer nnd Eleaser n. 8. w. u. 8. w. unter-
scheiden kann? wenn es von Moabitern nnd Medianitern, Amalekitern nnd
Ammonitern nnd ähnlichen Völklein zn erzählen weiss n. dgl. mehr? Es
wäre fiber Gebühr unbescheiden, wollte ich mich noch weiter hierüber aus-
lassen. Ich fühlte indessen das Bedürfniss, vor Ew. Exzellenz meine Ansicht
mit diesem bislang wohl kaum irgendwo vorgebrachten Grunde zu belegen.
Wenn es nicht anmassend ist, so möchte ich Ew. Exzellenz ehrerbietigst
bitten, in Kreisen, die sich dafür interessieren, die Angelegenheit auch nach
dieser Seite hin gelegentlich zur Sprache zu bringen, damit so durch
TJrtheile von hüben und drüben Klarheit über diese Dinge nnd gegenseitige
Verständigung angebahnt werde. Wir wollen ja oben und unten, rechts
wie links alle das beste des Volkes zu fördern suchen, und da thut in allen
Schichten noth, da es einer des andern Ansichten ohne Leidenschaftlichkeit
pröft und beurtheilt. Darum anch habe ich es gewagt, in di'-ser Weise
nnd über eine anscheinende Aeusserlichkeit an Exzellenz zu schreiben.
Ehrerbietigst Meyei -Markau.
Wenige Tage spater erhielt ich folgendes Schreiben:
Berlin W., Kaiserin Augusrastr. 57, H>. November 1899
Sehr geehrter Herr Meyer!
Dire Annahme, dass mein Vorbehalt bezüglich meiner Zastimmung
zu Diren ..Sozialdemokratischen Jugendschriften4* sich auf den Religions-
und biblischen Geschichtsunterricht bezog, ist zutreffend. Mit dem höchsten
Interesse habe ich jetzt in Ihrem Briefe vom 14. d. M. die näheren Aus-
führungen über Ihre Gedanken bezüglich einer anderen Gestaltung des
Religionsunterrichts gelesen. In den Zielen sin wir danach ganz einig,
während ich bezüglich der Mittel und Wege nicht durchweg mitkommen
kann und die Sache etwas anders ansehe wie Sie. Das Ziel ist uns beiden
Der Religionsunterricht soll nicht etwas Aeusserliches, Gedächtnissmässiges
bleiben, er hat nur wirklichen Werth, soweit er das Kind religiös anfasst,
religiös anzieht. Nun mag ja in verschiedenen Volksschulen die Methode1
unverständig sein und noch unverständiger gehandhabt werden, aber im
Grunde wollen doch auch die allgemeinen Bestimmungen nichts anderes
erreichen, als was Sie und ich wollen. In diesem Punkte stund der alte
Geheime Rath Schneider völlig korrekt. Nun klagen Sie, dass bei Ihnen im
Westen im Religionsunterricht zu viel des Erzählens und des Aufsagen-
könnens getrieben und gefordert werde. Ja, das ist eben ein Fehler der
Methode, den ein treuer und gescheidter Lehrer — auch jedem verbohrten
Revisor zum Trotz — unter allen Umständen vermeiden muss. Ihr Brie!
mit mir eine betrübende Versäumnis« ins Gewissen, die icli noch nach-
holen zu können hoffte. Ich habe nämlich im Westen, also am Rhein, in
Nassau und Westfalen leider nur äusserst wenig Volksschulen gesehen und
revidiert. Es mag sein, dass bei Ihnen die Schulau i Sichtsorgane anspruchs-
voller sind bezüglich des den Kindern einznprägenden biblischen Stoffes als
bei uns und im Osten. Ich habe öBtlich der Elbe doch mindestens in
o(X> Volksschnlklassen biblische Geschichte gehört. Ich kann nur sagen,
dass ich zwar nicht immer befriedigt gewesen bin — es gab auch da me-
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70
Mitteilungen.
chanischen Kram geuug und übergenug -, aber im grossen und ganzen
war die Sache doch richtig aufgezogen. Nirgends habe ich eine zu weite
Umgrenzung des Stoffes gefunden. Nirgends wurde von den Schulrathen
und von den Kreisschulinspektoren zu eingehendes Detail, z. B. aus der
jüdischen Geschichte verlangt. Im alten Testament kehrte immer wieder:
Schöpfungsgeschichte, Sundenfall, Sindrluth, Noah, Abraham, Moses, Joseph,
David und Goliath, Salomos Urtheil, Absalon und etwa noch die Ge-
schichte von dem armen Naboth und Ahab. Diese ausgewählten Geschichten
wurden ebenso wie das neue Testament durchschnittlich angemessen, jed< n-
fails besser als in meiner Jugendzeit behandelt, und einige Landschulen
habe ich gefanden, wo Lehrer und Kinder in der — ich kann es nicht
anders nennen — fröhlichen Wärme echt religiösen, tbatkraftigen Empfindens
oder vielmehr in dem richtigen Ausdruck dieses Empfindens geradezu
Ideales leisteten. Dem gegenüber habe ich es immer bedauert, wenn sich das
berechtigte Verlangen, den Religionsunterricht zu einer gemüth- und herz-
bildenden Unterweisung auszugestalten in einer Form äusserte, die vielfach
zu der Auffassung führte, es werde bei uns zu viel Werth auf die Religion
gelegt, man müsse die Religion aus dem Lehrplan der Volksschulen ganz
oder doch fast ganz ausschalten. Weder Sie noch ich wollen das; aber
ich bin nicht sicher, ob nicht die Sozialdemokraten sagen werden: Herr
Meyer-Markau hat überzeugt und überzeugend ausgesprochen, dass dt-r
Religionsunterricht in der Volksschule nichts taugt.
Ich hatte vor, die „AUg. Bestimmungen" durch eine Kommission, der
einige gescheidte Lehrer angehören sollten, revidieren und vereinfachen
zu lassen. Denn Einfachheit ist das Siegel der Richtigkeit, meistens sogttr
der Grösse. Das mögen nun meine Nachfolger thun. Die mir gesandten
300 iremdeu, meist hebräischen Namen aus Armstroff sind ja sehr charak-
teristisch, aber Sie werden mir zugeben, dass ein vernünftiger Lehrer dieso
300 Namen keineswegs den Kindern einprägen wird. Von den 29 der erst* n
Längsreihe sind höchstens neun für den bibl. Geschichtsunterricht nöthig.
von der zweiten Längsreihe nur vier, und ähnlich steht es mit den anderen.
Ich bin ja kein Fachmann. Ich habe uur immer versucht, mir über
Fragen dieser Art mit Rücksicht auf die ungeheure Verantwortung, die
mir oblag, klar zu weiden. .Sachlich sind wir ja einig; mein Vorbehalt
betraf nur Form, Methode und Ausdrucks weise.
Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Aussprache und Ihr Vertrauen
sehr herzlich und bleibe Lhnen in aufrichtiger Hochachtung treu verbunden
als Ihr ergebener Bosse.
Mehr als zwei Monate später wandte ich mich nochmals an den
Minister:
Duisburg, den 21' Dezemlwr 1899
Exzellenz! Die Befürchtung, Ew. Exz-llenz als rechthaberisch zu
erscheinen, hat mich bis heute zaudern lassen, Ihnen nochmals über den
Religionsunterricht zu schreiben. Aber je öfters ich Ew. Exzellenz Briet*
durchlese, desto mehr bedauere ich. weniger klar mich ausgedrückt zu
haben. Mit Ew. Exzellenz Erlaubnis bin ich deshalb so frei, auf ihren
hochgeschätzten Brief näher einzugehen.
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Mitteilungen.
71
Exzellenz sprechen die Vermuthung ans. da*« die Methode in vielen
Volksschulen beim Religionsunterricht unverständig sein und unverständig
gehandhabt werden möge. Verzeihen Ew. Exzellenz: nicht die Methode
ist unverstandig, sondern die amtlichen Vorschriften über die Stoffmenge
sind nicht angemessen. Der theologische Fachgelehrte redet aus allen mir
bekannt gewordenen Stoffverteilungsplanen, und jeder Fachmann — das
ist menschlich — möchte aus seinem Gebiete möglichst viel in die Schule
hineingebracht wissen. Hätten beispielsweise Aerzte denselben Ein Hast» auf
das niedere Schulwesen wie die Geistlichen, so würden wir Lehrer unter
einer Stofflast in Anthropologie, und in Naturkunde überhaupt, zu seufzen
haben. Der Fachgelehrte verliert den Maßstab für das, was von seinen
vielseitigen Kenntnissen wirklich kinderleicht und von Kindern stofflich
zu bewältigen möglich ist. An jenem Morgen, an dem Dir geschätzter
Brief ohne mein Wissen schon in meiner Wohnung lag, hatte ich im
vierten Schuljahre das Lied „Nun danket alle Gott" mit vorwiegend
Arbeiterkindern, deren Sprache niederrheinisches Platt ist, zu behandeln.
Es widerstrebte meinem pädagogischen Gewissen, die Strophen, in Kurze
erklärt, zum Lernen aufzugeben; es ist das. trotzdem wir stofigeplagten
Schulmeister oft nicht anders handeln können, schlimmer als Thierqu/llerei,
weil die reinste Kinderquälerei. Ich habe vorgesprochen und vorgesprochen,
erklärt und wieder erklärt, an die Wandtafel geschrieben, „und noch jetzund
gethan" zuerst, dann in 8trophe 3 „jetzund und immerdar", und die
Schwächsten haben es weder sprachlich noch inhaltlich begreifen können.
Wohl dreiviertel Stunden hat es gedauert, durch Vor- uud Nachsprechen
eine einzige der Strophen einzuprägen. Und anderen Morgens ging's doch
wieder nicht bei allen Schülern. Bei dieser Art der Schulthätigkeit hätten
Exzellenz zugegen sein müssen; da offenbarte sich, wie uns Volksschul-
lehrern ja stundlich, der nicht scharf genug zu bekämpfende „didaktische
Materialismus". In dreiviertel Stunden eine Strophe! Und was schreibt
mir die P» nsenverteilung für die vier Religionsstunden betreffender
Woche vor?
Hochzeit zn Kana.
Speisung der 5«HX>.
Petri Fischzug.
Jesus stillet den Sturm.
Die Werke, die ich thue
Reich wird der arme Mann —
Er kennt die rechten Freudenstunden —
Wir sahen seine Herrlichkeit
Tischgebete, i!)
Nun danket alle Gott
Der Segen des Herrn macht reich —
Wer mir will nachtuigen —
Ach bleib mit deiner Gnade 1 o.
Mir ist gegeben alle Gewalt —
( beschichten und die meisten Spruche, auch Liedstrophen werden freilich
vom vorigen Jahre her wiederholt. Aber da tritt wieder ein neuer pädagogischer
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72
Mitteilungen.
Revisorenunverstand zu Tage: „Die Kinder sollen den Stoff immer präsent
haben !" Als ob die Kleinen das alles ein Jahr lang und langer zu behalten
vermöchten, was alles im Laufe eines Schuljahres an sie herangebracht
wird! An den Stoffen soll die geistige Kraft des Kindes geübt werden:
das sollte bis auf gewisse Ausnahmen ihr Schulzweck sein. Die Jungen
tragen die Leitern, an denen sie klettern lernen, doch nicht auch stets mit
sich herum! Allein bei Wissensstoffen verlangt der Durchschnittsrevisor
das geistige Klettergerüst, den Stoff, stets präsent, und hapert's damit, so
geht's wohl wie neulich in einer Nachbarstadt, wo die armen Würmer des
ersten Schuljahres den Kreisschulinspektor, der ein „Studierter44 ist, die
Fragen nach den sechs Tagewerken der Schöpfungsgeschichte nicht be-
antworten konnten, und der Lehrer zur Strafe ein Protokoll unterschreiben
mus^te.
Exzellenz meinen, der Lehrer müsste den „Fehler der Methode44 des
vielen Aufsagen lassens dem verbohrtesten Revisor zum Trotz vermeiden.
Was würde die Folge für den Lehrer sein? Massregelung! .Dagegen
giebt's den Beschwerdeweg an die höhere Instanz!44 „Glauben Sie doch
nicht , dass der Minister anders entschiede als die Regierung!44 ist mir mehr
als einmal vom Vorgesetzten gesagt worden, und es hat noch jedesmal
gestimmt.
Exzellenz wollen sich nach beifolgender Stoffvertheilung einmal über-
zeug-n, wie wir in unsern Volksschulen die Kinder mit Religionsstoff
geistig zu erdrücken haben. Ich weise z. B. hin auf die Wochen 27 und 30
des vierten Schuljahres und bitte, dazu das beiiolgende biblische Geschichts-
buch gütigst zur Hand nehmen zu wollen! Da werden Exzellenz sehen,
dass sich unter der Ueberschrift „ Krankenheilungen4' vier Geschichten ver-
bergen, so dass in jener Woche ausser Sprüchen und Liedern sechs Ge-
schichten zu — — behandeln sind. In der 30. Woche sind 's gar sieben
Gleichnisse, jedes einzelue der Behundlung ist ein bis zwei Stunden werth.
Ich könnte aus der Pensenvertheilung noch mehr Belege für meinen
pädagogischen Widerwillen siegen diese geistige Wurststopf methode an-
führen, doch Exzellenz finden solche selber in Hülle und Fülle. Exzellenz
könnten auf den Gedanken kominon, als wollte ich nur den Religions-
unterricht in Duisburger evangelischen Schukm als einen verkehrten hin-
stellen. Durchaus nicht! Unser Schulinspektor ist ja wirklicher Fachmann
und liissi uns in diesen Dingen, soviel er kann, noch so eiuigermassen frei
gewähre:!. Nein, so wie in Duisburg, so ist's überall im Lande, im Osten
sowohl, wie auch in Berlin. Es würde nach Klatsch aussehen, wollte ich
anfuhren, was mir einer der Duisburger Theilnehmer an dem von Ew.
Exzellenz (auch so recht zur Freude von uns Lehrern) eingerichteten
Universitätskursus, für Volksschullehrer von der vorigjährigen amtlichen
Erfahrung eines berliner Amtsgenossen erzählte, b- i dem der Geistliche im
. Migionsunterriehte hospitiert hatte.
Exzellenz machen sich Vorwürfe, Schulen des Westens nicht revidiert
zu haben, loh bin sicher, Exzellenz hätten auch hier aus dem Alten
Testament von Abraham, Moses und was Exzellenz aus den Schulen des
Osten , ort'nhren, vernommen. Als Exzellenz Falk seiner Zeit hier war.
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Mitteilungen.
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■wurde eigens eine Volksschule geweisst and als kleine« Potemkinsches Dorf
in Stand gesetzt, was übrigens hierorte kaum nÖtbig gewesen wäre; in diese
Schale wurde der Herr Minister geführt. Wenn der Herr Minister kommt,
so sind alle Revisoren von der Regierung bis untan hin natürlich einmttthig
des Bestrebens, dem höchsten Vorgesetzten nur Einwandfreies vorzuführen.
Da verfallt man nicht auf abstossende, das Gefühl der Kinder abstumpfende
Stoffe, wie die Massenabsehlaohtung der Baalspriester u. dgl.
Beim Revidieren überhaupt — ich spreche jetzt allgemein — klingt
Aufsagen von Sprüchen und Liedern niemals nach den Kinderthränen, die
so oft daran kleben, sondern dem Lehrer nur, sobald die Kinder nicht
bombensicher im Aufsagen sind, nach Nasen.
Ew. Exzellenz Zeugniss über den Religionsunterricht in den von Ihnen
revidierten Schulen ehrt nicht nur meine betreffenden Amtsgenoasen, sondern
den ganzen Lehrerstand, und das um so mehr, wenn man sich vergegen-
wärtigt, welche unnöthigen stofflichen Schwierigkeiten wir zu überwinden
haben. Das Urtheil lässt mich wieder den grossen Verlust schmerzlich
ermessen, den Preussens Volksschullehrer durch Ew. Exzellenz Abgang
erlitten haben. Mich aber lässt Ihr ganzer Brief vor mir selber in einem
mir peinlichen Lichte erscheinen. Warum habe ich nicht den Math gehab t
einmal offen Exzellenz meine Ansichten über den Religionsunterricht zu
unterbreiten! Vielleicht wäre mein geringes Wort doch nicht ganz angehört
verhallt. Ich hätte auch, das sehe ich jetzt ein, Ew. Exzellenz ruhig sagen
dürfen, dass ich allemal dann, wenn ich die Herrschalt der Geistlichen
über die Schule von Geistlichen mit der religiös-sittlichen Erziehung der
Jagend begründen höre, auch der Ansicht nicht ernstlich habe wider-
sprechen können, der Religionsunterricht würde neben dem Schulunterricht
am besten von den Geistlichen ertheilt. Dann hätten die Herren die Arbeit,
und Arbeit von unten an bringt Einsicht in die Arbeitsschwierigkeiten;
ist auch nicht so angenehm wie herrschen. Das Volk freilich, das fährt
bester dabei, wenn die pädagogisch geschulten Lehrer den Religionsunter-
richt ertheilen. Warum sie aber darum nun auch unter geistlicher amtlicher
Aufsicht stehen müssen, vermag ich, Exzellenz verzeihen, nicht einzusehen.
«Jammerschade auch, dass Ew. Exzellenz Plan, die allgemeinen Bestimmungen
zu revidieren, nicht ausgeführt wurde! Der Geist der allgemeinen Be-
stimmungen ist ja gut; aber ihre Ausleger traten gegenüber deu Regulativen
zu weit auf das andere Endo des Brettes. Die allgemeinen Bestimmungen
bringen bei einseitiger Auslegung zu viel des Wissensstoffes an die Kinder.
„Da liefert der Meyer- Markau ausser deu Sozialdemokraten auch noch
den Ultramontanen Wasser auf ihre Mühle!" Doch nicht! Exzellenz
werden Uberzeugt sein, dass ich es anders als diese meine. Und nun die
31 K) hebräischen Namen! Armstroff bringt übrigens sicher nicht mehr, eher
weniger als andere biblische Geschichtsbücher. Den Knecht Abrahams zum
Beispiel benamst er ja nicht einmal. Ew. Exzellenz richtige pädagogische
Einsicht würden, das beweist mir die angeführte Auswahl — 9 und 3 von
je *9 — auch hier „die Einfachheit als Siegel der Richtigkeit" angeordnet
haben, wenn jene Revision der allgemeinen Bestimmungen zu Stande ge-
kommen wäre. Aber ich muss Ew. Exzellenz darin widersprechen, dass die
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.\f ittrilungen .
Namen nicht eingeprägt würden. Nicht reihenweise, nicht sygteniatiach-
vokabelgemäss, nein! aber der Stoff hängt ja daran, man kann ihn ja im
Unterricht gar nicht davon loslösen. Und so lernen unsere deutschen
Bauern- und Bärgerkinder im Schweisse ihres Angesichts die 300 alttesta-
mentlichen Namen mit, um sie glücklicherweise nach der Schulzeit bald
wieder zu vergessen. Als ob man einem guten nahrhaften Essen Kiesel-
steine zusetzen müsste, damit's besser bekomme! Die Namen charakterisieren
nach meiner Meinung so recht den Einfluss des theologischen Fachgelehrten -
thnms auf die Volksschule.
Verzeihen Exzellenz hochgeueigtest meine Derbheit, so bitte ich recht
sehr; sie ist, wenn auch nicht schön, so doch — das brauche ich wohl nicht
besonders zu versichern — ehrlich der Sache wegen Und dies wird mich,
so wage ich zu hoffen, bei Ew. Exzellenz in etwa entschuldigen. Ehr-
erbietigst Meyer- Markau.
Dr. Bosse erwiderte alsbald:
Berlin W., Kaiserin Augustastr. 57, 1. Dezember 1899.
Sehr geehrter Herr Meyer-Markau!
Haben Sie vielen Dank für Ihren ausführlichen Brief vom 29. v. M.
Er interessiert mich in hohem Grade, und ich habe mehr daraus gelernt»
als aus vielen Vorträgen von Ministeriairathen. Sie brauchen sich wirklich
nicht zn entschuldigen. Ich bin Ihnen vielmehr dankbar verpflichtet. Ich
bedauere mit Ihnen, dass wir zu dieser Aussprache über eine so wichtige
pädagogische Frage erst so spät gekommen sind, zu spat, nm unmittelbare
praktische Folgen daran zu knüpfen. So wird unsere Au-ss^ruclie o «.r
richtiger Ihre Aussprache gegen mich vor der Hand wohl nur einen aka-
demischen Werth haben. Ich hoffe aber, dass Sie die Mühe nicht gereuen
wird, denn schliesslich ist kein Wort ganz vergeblich, das — sei es auch
nur einem einzelnen Mitmenschen gegenüber — der Wahrheit dient. Die
Hevision der Allg. Bestimmungen auch nach der ven Ihnen behandelten
Seite hin wird und muss kommen, und da die Vorbereitungen dazu längst
eingeleitet sind, so wird es hoffentlich nicht allzu lange dauern, bis man
von dem Fortgange auch nach aussen hin etwas merkt. Wenn sich nur
der rechte Mann imvMiiüsterinm findet, der die Sache mit Ernst und Un-
befangenheit anfasst. Der Minister wird dann von selbst hellhörig werden
und zum Abschluss treiben. Ich kann ja jetzt — schon aus Gründen des
Taktes — wenig dazu thun, zumal ich für dieses besondere Gebiet
weder Fachmann noch Autorität, sondern lediglich ein Lernender und Di-
lettant bin.
Mit gröbstem Interesse habe ich die mir übersandte „Vertheüung des
religiösen Lehrstoffes" und auch den Stoffverteilungsplan für Heimatkunde
und Geographie durchgesehen. Fast noch mehr interessiert mich das Ann-
stroffsche Religionsbuch, das mir ausserordentlich gefällt. Ich habe es hier
behalten, bitte Sie, mir das nicht übel zu nehmen, und füge den Preis mit
85 Pf. in Briefmarken bei. Ebenso schliesse ich die Stoffverteilungspläne
wieder an. Ich nehme keinen Anstand anzuerkennen, dass auch mir die
Stofffülle, deren Verarbeitung den Kindern und dem Lehrer vorgeschrieben
ist, für die Schule zu reichlich erscheint, so dass Zeit und Kraft nicht aus-
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MittsÜUN'Ctt.
75
reichen, uxn alles zu bewältigen und das jetzt bemessene, an sich gewiss
wünschenswerthe Ziel am erreichen. Soweit ich es verstehe, Hesse sich der
Stoff der bibl. Geschichte und der Kirchenlieder recht wohl noch weiter
einschränken. Ihr religiöser Stoff vertheilungsplan ist in diesem Umfange
selbst bei einem so ansprechenden Hilfsmittel, wie es das Armstroffsche
Religionsbuch ist, auch von einem geschickten, eifrigen und gewissenhaften
Innrer nicht vollständig zu blasen. Ich glaube auch nicht, dass er in
▼ollem Umfange geblasen wird. Das erscheint mir nur bei einer ganz un-
natürlichen Forderung möglich, und darunter mttsste dann das religiöse
Leben der Kinder und des Lehrers Schaden leiden. Gewiss wird vieles v<m
dam, was das Kind gedachtnissmassig lernen muss, seine Frucht erst später
tragen, und Sie selbst lassen ja in dieser Beziehung „einige Ausnahmen -
zu, aber auch hier gilt das: sit modus in rebus, sint certi denique fines
Ihr Beispiel, das Lied: „Nun danket Alle Gott", ist sehr bezeichnend. Dasl
Lied müssen die Kinder kennen und auswendig wissen, aber es ist zum The
ausserordentlich schwer für die Kinder und zwar nicht bloss das „und noch
jetzund gethan", so namentlich im dritten Verse das „als der ursprünglich
war**. Ich weiss das noch aus meiner eigenen Jugend. Ebenso einleuchtend
ist Ihr Hinweis auf den Abschnitt „Krankenheilungen", zu denen bald nsch-
her noch „die anderen Krankenheilungenu hinzukommen. Kurz, ich erkenne
an: Weniger wäre mehr! Auch das gebe ich zu, dass der revidierende
Minister, auch wenn der Lehrer nicht schwindelt, nicht gerade alle Holprig-
keiten des Weges zu sehen bekommt, wenn er auch leicht merken wird,
ob ihm etwas „voi gemacht" wird, «der ob es sich um reelle Wirklichkeit
handelt Ich habe überall teils selbst gefragt, teils durch den mich be-
gleitenden Schulrath oder Ministerialrath fragen lassen, und wir haben einzelne
Lehrer damit recht trocken gesetzt; aber im Grossen und Ganzen staune
ich jetzt erst recht darüber, was trotz alledem und alledem in der preussischen
Volksschule geleistet wird. Ich selbst habe die Volksschule noch in der
vorregulativischen Zeit besucht, und wenn auch Einzelnes verkehrt war,
ich habe doch ein abgerundetes Wissen der biblischen Geschichten und des
Katechismus mitgenommen, für das ich noch heute dnnkbar bin.
Aber wie gesagt: Vorwärts müssen wir. Und wir werden auch in
Ihrem Sinne vorwärts kommen, wie wir denn gegeu frühere Zeiten doch
ein gut Stück schon vorwärts gekommen sind. Die Wahrheit — auch die
pädagogische — setzt sich schliesslich durch
Der Gedanke, den Religionsunterricht der Kirche zu überlassen, hat
viel Einleuchtendes. Möglich, ja wahrscheinlich, dass es schliesslich uueh
bei uns dazu kommt. Die Kirche selbst wird allmählich dahin drängen.
Ich habe nur ein Hauptbedenken dagegen: für den Lehrer, namentlich in
den einfacheren Landschulen, wäre es ein grosser Verlust. Er verliert den
erziehlichen Einfluss in dem pädagogisch wichtigsten Fache. Seine ganze
Stellung zum Volksleben wird geändert, und seine ganze soziale Stellung
erleidet Einbusse. Dass die Schulaufsicht allmählich fachmännisch werden
wird, glaube ich auch. Mit einem Male ist das aber schon aus finanziellen
Gründen zu erreichen zur Zeit nicht möglich. Aber auch sonst lässt sich,
wenn man unsere kirchliche Entwicklung nicht gar zu pessimistisch ausieht,
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Mitteilungen.
manches gegen die forcierte Beschleunigung dieses Prozesses sagen. Allein
dieses grosse und schwere Gebiet können wir ja brieflich nicht annähernd
erschöpfend behandeln.
Immerhin ist es mir eine Freude gewesen, von einem eifrigen, ein-
sichtigen und erfahrenen Lehrer ein wenig tiefer in diese wichtigen Fragen
eingeweiht und zu weiterer Prüfung angeregt worden zu sein, als es mir
in der siebenundeinhalbjährigen Zeit meiner Wirksamkeit im Unterrichts-
ministerium beschieden gewesen ist. Haben Sie nochmals herzlichen Dank
dafür! ich bleibe Ihnen in der Liebe zur Volksschule mit aufrichtiger
Hochschätzung treu verbunden. Ihr ergebener Bosse.
(Nach der Vossischen Zeitung.)
Die neuen L e h r p 1 ä n e der Gymnasien.
Die Einführung der neuen Lehrpläne in den höheren Schulen Preussen*
wird zumeist mit Anfang des Winterhalbjahres ins Werk gesetzt. In Berlin
wurden die Schüler vielfach vor Beginn der jetzigen Herbstferien mit den
bevorstehenden Aenderungen vertraut gemacht. Als neu wurde insbesondere
hervorgehoben, dass auf den Gymnasien von dem in Unter- und Ober-
tertia, sowie in Untersekunda neben dem Griechischen gestatteten E r
satzunterricht regelmässig je drei Stunden dem Englischen zuzu-
weisen sind, während die übrigen Stunden dem Französischen, dem Rechnen,
der Mathematik und den Naturwissenschaften zu gute kommen. Die Ein-
richtung dieses Ersatzunterrichtes bedarf jedoch der ministeriellen Geneh-
migung. Sonst ist der Regel nach Englisch gleich dem Hebräischen wahl-
frei von Obersekunda ab. Mit Genehmigung des Ministers kann in den
drei oberen Klassen das Englische anstatt des Franzosischen als verbind-
licher Unterric ' t eingeführt werden: das Französische wird in diesem Falle
wahlfreier Lchrgegenstand.
Ein besonderes Interesse in den neuen Lehrplänen und Lehraufgaben
füt die höheren Schulen in Preussen nimmt naturgemäss der Unterricht in
den alten Sprachen in Anspruch. Vor allem der lateinische Unterricht
als dasjenige Lehrfach, das für alle Reformvorschläge von jeher in erster
Reihe stand, und mit dem namentlich in neuerer Zeit am meisten experi-
mentiert wurde. Eben weil die Methode, nach der dieser Unterricht bis in
die neueste Zeit erteilt wurde, die grössten Rückständigkeiten aufwies und
eine Belastung der Schüler und Lehrer mit sich brachte, die durch die
Unterrichtsergebnisse keineswegs wettgemacht wurde und obenein die Aus-
dehnung und Vertiefung des Wissens der Schüler auf anderen Gebieten d-s
Unterrichts beschränkte.
Nach den Experimenten der letzten Jahre ist es interessant zu sehen,
wie man in den neuen Lehrplänen der Lösung der „lateinischen Frage
n^her zu kommen sucht:
Für die Gymnasien sind die lateinischen U^nterrichts-
stunden um sechs Wochenstunden vermehrt worden. Das bedeutet
gegen den bisherigen Lehrplan (seit 1892) einen Zuwachs von neun Wochen-
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Mitteilungen.
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stunden; allerdings lag es seit 1895 in der Hand der Direktoren, die Zahl
der 1892 festgesetzten Stunden um wöchentlich drei zu vermehren, doch
haben von dieser Befugnis nur wenige Anstaltsleiter Gebrauch gemacht.
Gegenüber dem Plan von 1882 weist der neue Lehrplan neun Wochenstunden,
gegenüber den Plänen von 1837 und 1856 sogar achtzehn Stunden weniger
auf. Trotz der Vermehrung gegenüber dem 1892 er Lehrplan sind die
Lchraufgaben nicht wesentlich vermehrt worden, das allgemeine Lehrzkl
bleibt ziemlich dasselbe wie 1892: gefordert wird ein durch sichere gram-
matische Schulung gewonnenes Verständnis der bedeutenderen römischen
Klassiker und dadurch Einführung in das Geistes- und Kulturleben des
Altertums. In den Bestimmungen über die lateinischen Uebersetzungs-
ubungen tritt allerdings eine Erhöhung der Ansprüche zu Tage: eine etwas
grössere Anzahl Skripta wird gefordert, und zugleich werden an den Schüler
grössere qualitative Anforderungen gestellt. Die häuslichen und Klasse n-
übersetzungen der obersten Klassen sollen iortan „an die Denkthätigkeit
solche Ansprüche stellen, dass ihre Uebertragung als selbständige Leistung
gelten kann"; sie sollen also nicht, wie es bisher üblich war, sozusagen
eine Rückübersetzung aus kurz vorher in der Klasse oder zu Hause Ge-
lesenem sein.
Die Schullektüre hat gegen 1892 eine Erweiterung erfahren: die philo-
sophischen und rhetorischen Schriften Ciceros sind wieder zugelassen. Da-
gegen fällt die Verpflichtung der Schüler zur Privatlektüre fort.
Für die Realgymnasien bringt der neue lateinische Lehrplan gegen
über dem von 1892 eine Vermehrung von sechs Wochenstunden — von
Untertertia ab wöchentlich je eine Stunde mehr. Die Tertia hat fortan also
fünf lateinische Unterrichtsstunden in der Woche, die Sekunda und Prima
\ :er. Der Erhöhung entsprechend sind auch die Anforderungen an die
Schüler etwas vermehrt: für Untertertia bis Obersekunda war bisher Cicero
. Bellum gallicum" die einzige Prosalektüre, erst die Prima hatte sich mit
leichteren Stücken aus Livius und Cicero zu beschäftigen. Jetzt soll schon
die Obersekunda „unter Umständen" sich an Curtius. Livius oder Cicero
machen, und für Prima kommen neben Livius ausser den bisher von Ciceros
Schriften allein zugelassenen Catilinarien noch andere leichtere Reden
Ciceros. ferner Abschnitte aus Tacitus' Germania inhetracht: in der
poetischen Lektüre ausserdem neben der bisher auf dem Lehrplane stehen-
den Aeneis auch leichte Horaz-Oden.
Vermindert sind dagegen die sprachlichen Uebungen an den Real-
gymnasien: Die 1802 bis Oberprima angesetzten schriftlichen LTcbungen"
feilen fortan schon in Obersekunda fort. Von Obersekunda ab werden nur
schriftliche Uebersetzungcn aus dem Lateinischen gefordert, und in Prima
werden grammatische Erörterungen nur auf Fälle beschränkt, wo sie bei
der Lektüre sich als notwendig erweisen. Dagegen soll das Ucbungsbuch,
das bisher nur bis Obertertia benutzt wurde, noch in Untersekunda gebraucht
werden.
Die Ziele des griechischen Unterrichts sind in den neuen Lehrplänen
erheblich enger gesteckt als in den Plänen von 1892. Wurde damals als Lehr-
ziel das „Verständnis der bedeutenderen klassischen Schriftsteller der
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Alituilungm.
Griechen" gefordert, so begnügt stell der tieue Lehrplan mit einer „auf
amreichendc Sprachkenntnisse gegründeten Bekanntschaft mit einigen nach
Inhalt und Form besonders hervorragenden Litteraturwerken und mit der
dadurch erfolgenden Einführung in das Geistes- und Kulturleben des grie-
chischen Altertums".
Im einzelnen ist über den griechischen Lehrplan zu bemerken:
Im griechischen Unterricht vor allem zu erwähnen, ist die
Bestimmung über die Beseitigung unnützer Formalien. Es scheint in der
That, dass sich diese Bestimmung nur auf die Beseitigung unnützen sprach-
lichen Lehrstoffs bezieht, nicht auch auf die völlige Beseitigung der über
flüssigen Accentlehre; bezüglich der letzteren wird nur insofern eine Er-
leichterung gewährt, als der neue Lehrplan vorschreibt, dass „Fehlern gegen
die Accentlehre bei Beurteilung der in der Klasse anzufertigenden Ueber
Setzungen in das Griechische eine entscheidende Bedeutung nicht berzu
lepen" sei.
Die hier erwähnten Ucbersetzungcn ins Griechische werden neben den
schriftlichen Uebersetzungen aus dem Griechischen jetzt — im Gegensatz
zu den Lehrplänen von 1892 — wieder für Obersekunda und Prima ein-
geführt.
In der Auswahl der Lektüre wird den Lehrern fortan freiere Hand
gelassen werden als bisher. Nur die Xenophon- Lektüre erfährt eine Ein-
schränkung; die Xenophon- Lektüre soll mit der Untersekunda abgeschlossen
werden, so dass die 18JJ2 der Obersekunda zugewiesenen Memorabilicn
entweder der Untersekunda zufallen oder ganz unberücksichtigt bleiben.
Erweitert dagegen wird die Auswahl bei der Lektüre des Thukydidei.
des Demosthencs. des Piaton und der Tragiker; neben Sophokles wird auch
Enripidcs genannt; von Thukydides. Demosthcnes und Plato sollen auch
schwierigere Stücke gelesen werden; ferner soll den Gymnasiasten durch
ein Lesebuch die Bekanntschaft mit anderen Werken der griechi<»chen Litte-
rat nr vermittelt werden.
Die Homer- Lektüre im Urtext soll, wie bisher, durch Heranziehung
guter Uebersetzungen ergänzt werden, wo sich das als nötig erweist; das
selbe gilt auch von den sophokleischen und euripidischen Tragödien. Die
Bestimmung. Ibas und Odyssee sollten möglichst ganz gelesen werden, ist
durch eine andere ersetzt, wonach ein Kanon der regelmässig zu lesenden,
der nicht zu lesenden und der freizustellenden Abschnitte aus beiden Epen
aufgestellt werden soll.
Die Bestimmung, dass die Lehrer zu griechischer Privatlektürc an-
regen sollen, ist völlig weggefallen. Nicht mit Unrecht; die Schüler, die
zu privater Lektüre Neigung haben, folgen dieser Neigung auch ohne An-
regung des Lehrers: wo keine Neigung vorhanden ist. kann auch die An-
regung des Lehrers nicht viel nutzen.
Die Vorschriften für den deutschen Unterricht erweitern zu-
nächst das grammatische Pensum der Unter- und Mittelklassen. In Quinta
und Quarta soll der Interpunktionslehre, die in Quarta zum Abschlu&s
lcommen soll, grössere Sorgfalt gewidmet werden.
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Mitteilungen.
79
Das Mittelhochdeutsche soll fortan wieder grössere Berücksichtigung
finden. Nicht in der Weise, dass es grammatisch behandelt würde, wohl
aber sollen Abschnitte aus dem Nibelungen- und Gudrunliede, sowie Ge-
richte Walthers v. d. Vogelweide auch im Urtext gelesen werden. In den
1. ehrplanen von 1892 fand sich bereits eine ahnliche Bestimmung, während
die Lehrpläne von 1882 das Mittelhochdeutsche überhaupt nicht in Er-
wähnung thaten.
Erweitert soll auch die Lektüre der deutschen Klassiker werden. In
den Oberklassen soll neben „Götz". „Egraont" und ..Iphigenie" wenn mög-
lich auch „Tasso" gelesen werden; ausser Lessingscher soll ferner auch
Goethesche Dichtung und Wahrheit — und Schillersche Prosa berück-
sichtigt werden. Aus der Litteratur nach (»oethes Tode wird unter anderem
für den Lehrplan empfohlen Grillparzcrs „Sappho" oder „Das goldene
Vliess" und Heyses ..Colberg' . Schillers „Glocke" und der „Teil" sollen
fortan nicht mehr die Obertertia, sondern die Untersekunda beschäftigen,
ebenso wird Lessings „Minna" und Goethes „Hermann und Dorothea"
nicht mehr in Untersekunda, sondern in Obersekunda zur Lektüre benutzt
werden. Ausserdem sollen bei den Gymnasien Shakcspearesche, bei den
Realanstalten griechische Dramen in Uebersetzungen gelesen werden.
Mit dem deutschen Unterricht sind in den oberen Klassen bekanntlich
auch freie Vortrage der Schüler verbunden. Gegenüber früheren An
Weisungen über die Vorbereitung solcher Vorträge heisst es jetzt: „Solche
Berichte dürfen nie in ein Aufsagen auswendig gelernter Auisätze ausarten,
sondern haben in den Schülern allmählich die Fähigkeit herauszubilden, festem
Wissen und klare Anschauungen in freier Rede schlicht und angemessen
vs iederzugeben."
Schliesslich sei noch erwähnt, dass auch die philosophische
Propädeutik, die seit Jahren aus dem Lehrplan der Prima aus-
Kt: schieden war. wieder zu Ehren kommen soll: die Behandlung der Grund-
lagen der Logik und der empirischen Psychologie wird in den neuen Lehr-
planen als wünschenswert bezeichnet. Die Provinzialschulkollegicn können
in sprachlich gemischten Bezirken das Deutsche in Sexta und Quinta um je
<!ine Stunde verstärken: ferner können sie an allen Realanstalten die für
Französisch und Englisch angesetzten Stunden gegen einander vertauschen
lassen, vorausgesetzt, dass eine derartig Abweichung durch die I^ge des
Schulortes und seine Verkehrsvorhältnisse gerechtfertigt erscheint, und dass
di» Erreichung des. allgemeinen Lehrzieles in beiden Kathern auf die Dauer
nicht beeinträchtigt wird.
Im evangelischen Religionsunterricht wird eine Erweiterung
und Vertiefung des kirchengcschichtlichen und dogmatischen Wissens der
Schüler angestrebt. In dem kirchengeschichtlichen Unterricht der Primen
sollen ausser dein bisherigen Pensum noch behandelt werden: germanische
Missionen, Mönchstum, Scholastik, Mystik, Gegenreformation, Rationa-
lismns, Union fSchleiermacher). das Wichtigste über die Verfassung der
evangelischen Landeskirche Preusscns, die Veranstaltungen der äusseren
und inneren Mission (Wichern. Fliedner». Was die Dogmatik angeht, so
s« II der Erklärung der Confessin Augustana nicht blos eine Einleitung über
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Mitteilungen.
die drei alten Symbole vorangeschickt, sondern auch ein Hinweis auf die
übrigen Symbole der christlichen Hauptbekenntnisse angeschlossen werden.
Auch auf die Belehrung der Schüler über die UnterscheidungslehTen der
Konfessionen wird mehr Gewicht gelegt. In den Angaben über das all-
gemeine Lehrziel für den Religionsunterricht findet sich unter anderen ein
neuer Satz, der von der Schuljugend der Schulen verlangt, sie solle sich
später befähigt erweisen, durch lebendige Beteiligung am kirchlichen Ge-
mcindeleben einen ihrer Lebensstellung entsprechenden heilsamen Einfluss
innerhalb unseres Volkslebens auszuüben.
Die Bestimmungen über den katholischen Religionsunterricht sind die-
selben geblieben, wie sie in dem Ministerialerlaß vom 9. Januar 1893 fest-
gestellt wurden. Sie unterscheiden sich von den bis dahin — seit 1882 — in
Geltung gewesenen und auch in den Lehrplänen von 1892 nicht abgeänderten
Bestimmungen durch eine Hervorhebung der Apologetik.
Von den sonstigen Bestimmungen bemerken wir noch: Zu den
Klassenarbeiten treten in Zukunft für die Mittel- und Oberstufe im
Deutschen, in den fremden Sprachen, in der Geschichte und Erdkunde, so-
wie in den Naturwissenschaften kurze Ausarbeitungen über eng-
begrenzte, im Unterricht durchgenommene Abschnitte, sie sind von dem
Fachlehrer durchzusehen und mit besonderer Rücksicht auf die Angemessen-
heit des Ausdrucks zu beurteilen. Mit aller Entschiedenheit soll einer ein-
seitigen Wertschätzung des sogenannten Extemporales entgegengetreten
werden.
Durch, richtige Beschränkung und Einteilung des Lehrstoffes im Gc
Schichtsunterricht der Oberprima soll für die Abiturienten eine eingehende
Behandlung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts
Resichert werden. Endlich sind die Direktoren verpflichtet, dahin zu wirken,
dass namentlich diejenigen Schüler, welche sich der Technik, den Natur-
wissenschaften, der Mathematik oder der Medizin zu widmen gedenken, vom
wahlfreien Zeichenunterricht (von Untersekunda ab) fleissig Gebrauch
machen.
Um an den Gymnasien eine Ueberburdung der Schüler zu ver-
hüten, soll daran festgehalten werden, da^s derselbe Schüler in der Regel
nur an dem wahlfreien neusprachlichen oder an dem hebräischen Unterrichte
teilnehmen darf, und dass eine Beteiligung an beiden Fächern vom Direktor
nur ausnahmsweise gestattet werden kann. Für die Provinz Hannover bleibt
es bezüglich des allgemein verbindlichen Charakters des englischen Unter-
richts bei dem bisherigen Zustande.
Besondere Gesichtspunkte sind für die Hausarbeit aufgestellt, bei
der mehr als bisher die körperliche und geistige Entwickclung der Schüler
beachtet werden soll. Bei richtiger methodischer Behandlung des Unter-
richts ist es möglich, einen nicht unerheblichen Teil der bisherigen schrift-
lichen Hausarbeit in die Schule zu verlegen. Es soll im allgemeinen darauf
Bedacht genommen werden. das<. normale mittlere Leistungsfähigkeit der
Schüler vorausgesetzt, eine Ueberburdung nicht stattfindet und an jedem
Tage ausreichend Zeit zur Erholung bleibt.
(Nach d. Herl. Tagebl.).
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Schriftlettung: F. Kemsies, Berlin NW.. Piulstr. 33 und L. Hirschlatt, Berlin W., Lfitzov«tr.85b.
Verlag von Htrraann Walther, Verlagsbuchhandl., O. m.b H.. Berlin SW., Kommandantenstr. 14.
Druck: Deutsche Buch- und Kunstdruckerei, O. m.b. H., Berlin SW., Friedrichs«-. 16..
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Zeitschrift
für
Pädagogische Psychologie,
IPafyologlt und «jygient.
Herausgegeben
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
Jahrgang IV. Berlin, April 1902. Heft 2.
Die sprachliche Entwicklung und Behandlung
geistig zurückgebliebener Kinder/)
Vortrag, gehalten am 7. Februar 1902 im Verein für Kinder-
psychologie zu Berlin.
Von
Al.bert Liebmann.
M. D. u. H. Wenn ich mir gestattete, hier vor Ihnen
über die sprachliche Entwicklung und Behandlung geistig zu-
rückgebliebener Kinder zu sprechen, so bin ich mir durchaus
bewusst, dass die Forschungen über dies Gebiet noch keines-
wegs abgeschlossen sind. Es liegen zwar eine grosse Reihe
trefflicher Arbeiten vor, aber es sind noch manche wichtige
Probleme zu lösen. Besonders sind die Ursachen, auf welchen
*) VgL meine Arbeiten: 1) Untersuchung und Behandlung geistig
zurückgebliebener Kinder. Berlin 1898. 2) Vorlesungen über Sprachstörungen.
5 Hefte. Berlin 1898—1900. 3) Geistig zurückgebliebene Kinder. Archiv
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Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 1
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98
Albtrt Lübmann.
die geistigen und sprachlichen Defekte dieser Kinder beruhen,
zum Teil noch recht dunkel.
In manchen Fällen finden wir ja bestimmte Anomalien
des Schädels und Gehirns z. B. Mikrocephalie, Makrocephalie,
Hydrocephalus u. s. \v. In anderen Fällen dagegen ergiebt
aber eine körperliche Untersuchung nichts Besonderes. Im
allgemeinen ist man sehr geneigt, solche Fälle, bei denen sich
die genannten Schädel- oder Hirnanomalien finden, ungünstiger
zu beurteilen. Das ist jedoch keineswegs für alle Fälle richtig.
Denn es giebt viele Kinder ohne körperlichen Befund, die
sich schlechter entwickeln, als Kinder mit anscheinend recht
ungünstigen Schädeldeformitäten. Und ich glaube, dass
mancher Fall von Mikrocephalus oder Makrocephalus oder
Hydrocephalus sich schliesslich noch ganz gut entwickelt hätte,
wenn man nicht mit vorschnellem Pessimismus auf jede päda-
gogische Einwirkung verzichtet hätte.
Was nun die sprachliche Entwicklung der geistig zu-
rückgebliebenen Kinder betrifft, so kann man mit gewissen
Einschränkungen sagen, sie geht denselben Weg wie die der
normalen Kinder, aber es erfolgt ein Stillstand auf einem
frühen Standpunkt der kindlichen Sprachentwicklung. Wollen
wir also die sprachliche Entwicklung normaler Kinder verstehen,
so müssen wir uns zunächst die sprachliche Entwicklung
normaler Kinder vergegenwärtigen.
Nach Kussmaul kann man drei Stadien der normalen
kindlichen Sprachentwicklung unterscheiden. Erstens das
Stadium der Urlaute.
Schon am Ende des ersten Vierteljahres beginnen die
meisten Kinder allerlei seltsame, unartikulierte Laute hervor-
zubringen, die sog. U r 1 a u t e , die noch keine Aehnlichkeit
mit unseren Sprachlauten haben, sondern sich als Grunzen,
Quieken, Schmatzen und Schnalzen darstellen. Wie das Kind
mit den Händchen und Füsschen zappelt und strampelt, so
wird es von demselben Thätigkeitsdrang getrieben, die ge-
schilderten, merkwürdigen Urlaute zu produzieren. Erst all-
mählich erstarken die akustischen Fähigkeiten des Kindes so
weit, dass es imstande ist, aus den Worten der Erwachsenen
einzelne Laute und Silben herauszuhören und sich diese zum
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Die sprach!. Entwickl. u. Behandl. geistig turück gebliebener Kinder.
Vorbilde weiterer Uebungen zu nehmen. Das Kind kommt
so in das zweite Stadium der Sprachentwicklung, in dem
sich die Urlaute zu unseren wirklichen Sprachlauten
umbilden. In dieser Zeit vergnügt sich das Kind stundenlang
damit, allerlei Laute und Silben oder gar Wörtchen in endloser
Weise zu wiederholen. Gutzmann weist mit Recht darauf
hin, dass den Kindern diese Sprachübungen Vergnügen machen
und dass manche Kinder gerade deshalb nicht zu sprechen
anfangen, weil ihnen diese Lust der Lautnachahmung fehlt.
Die Kinder lernen nicht gleich alle Laute. Meist fehlen
noch längere Zeit die Laute k und g, f, r, ss, s, sch, ch
und 1 werden dann vorläufig ausgelassen oder durch ähnliche
ersetzt. Beispiele: Für „Kaffee" sagt ein Kind in diesem
Stadium etwa „tappe44 oder „appe", für „Willy „billi44, für
„Suppe" „duppe" etc. So macht jedes Kind eine Periode
physiologischen Stammeins durch. Doch ist diese
Zeit bei den meisten Kindern nur kurz. Die motorischen
und acustischen Fähigkeiten entwickeln sich meist so
schnell, dass die Sprache sehr bald, wenn auch nicht völlig
korrekt, so doch verständlich wird.
Bemerkenswert ist, dass im zweiten Stadium der Sprach-
entwicklung noch die Verbindung zwischen dem
Worte und dem betreffenden Vorstellungs-
inhalt fehlt. Die Wahrnehmungen der Kinder sind noch zu
blass und ungenau, um sich zu Vorstellungen und
Begriffen zu verdichten und der Bezeichnung durch Worte
zu bedürfen. Erst im Anfange des zweiten Lebensjahres
pflegen die geistigen Fähigkeiten sich so weit zu heben, dass
die Wahrnehmungen intensiver und schärfer werden, dass eine
reichere Vorstellungsthätigkeit entsteht und dem Kinde so das
Verständnis zunächst wenigstens für eine Anzahl von Worten
heraufdämmert. Je mehr Worte das Kind versteht, um so
stärker wird der Anreiz, mit den eigenen Sprachorganen diese
Worte nachzuahmen und sie dann zur Bezeichnung der eigenen
Wahrnehmungen und Vorstellungen zu gebrauchen. So reift
das Kind dem dritten Stadium der Sprachentwicklung
entgegen, in dem es mit den ausgesprochenen Worten einen
bestimmten Sinn zu verknüpfen beginnt. Im Anfange dieses
Stadiums spricht das Kind in „Satzworten", d. h. es ist
t*
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IOO
noch nicht imstande, durch die komplizierten Mittel der
Grammatik und Syntax einen Gedanken in klarer, eindeutiger,
korrekter Weise auszudrücken, sondern es spricht in lapidarem
Stil nur ein Wort, dessen präziser Inhalt erst aus der ge-
samten Situation, aus dem Tonfall der Stimme und begleitenden
Gesten konstruiert werden muss. Ich nenne einige Beispiele:
Auf dem Tische liegen Bilder, die sich die Erwachsenen und
die älteren Geschwister ansehen. Das Kind hebt verlangend
die Arme zum Vater empor und ruft in bittendem Tone : „Papa".
Offenbar will das Kind sagen : „Papa heb' mich in die Höhe".
Ein anderes Mal ist das Kind in der Stube und hört draussen
im Gange einen festen, sicheren Schritt und eine tiefe männ-
liche Stimme. „Papa", ruft es freudig und klascht in die
Hände. Das Kind meint offenbar: „Papa ist nach Hause ge-
kommen." Allmählich erst schreitet das Kind weiter in der
Sprachentwicklung fort und beginnt mehrere Worte zu einem
lockeren Gefüge zu vereinen, häufig ganz ohne Flexion
oder doch mit verstümmelten Formen. Auch diese Wort-
konglomerate entbehren ohne die begleitenden Umstände noch
des prägnanten Inhaltes. So können die Worte: „Spazieren
gehen" etwa bedeuten: „Ich will spazieren gehen" oder: .,ich
bin spazieren gegangen" oder: „Papa geht oder wird spazieien
gehen" u.s.w.
Bemerkenswert ist, dass in diesem Stadium die Vor-
stellungsthätigkeit des Kindes im ganzen noch nicht immer
so intensiv und präzis arbeitet, als dass das Kind zum Aus-
drucke seiner Gedanken schon des ganzen komplizierten
Apparates unserer reich gegliederten formalen Sprache be-
dürfte. Man kann durch einfache Experimente nachweisen,
dass das Kind zu dieser Zeit selbst den Inhalt ganz kleiner
einfacher Sätze noch nicht immer präzis auffassen kann. Meist
erst im Laufe des dritten Lebensjahres oder gar noch später
pflegt die Intelligenz und damit auch das Sprach Verständnis
derart zuzunehmen, dass das Kind nunmehr das Bedürfnis
fühlt, für seinen Gedankenreichtum sich eines adaequaten Aus-
drucksmittels in Gestalt unserer grammatisch und syntaktisch
korrekten Sprache zu bedienen. Im Anfange sind natürlich
noch grosse Schwierigkeiten zu überwinden. Doch verschwinden
die merkwürdigen Flexionsformen, die ungeschickte Phraseo-
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Dü spracht. Entwükl. u. Bf Mandl. geistig zurückgebliebener Kinder. I0I
logie und die unlogische Gliederung der Sätze allmählich
durch den Einfluss der Umgebung.
Sobald nämlich das Kind im Besitze einer einigermassen
deutlichen und korrekten Sprache ist, beginnt es die Um-
gebung mit unzähligen Fragen zu bestürmen und ihr alle seine
kleinen Beobachtungen mitzuteilen. Meist steht das kleine
Plappermäulchen den ganzen Tag nicht still. Indem die
Umgebung die vorgelegten Fragen beantwortet und die mit-
geteilten Beobachtungen nach Inhalt und Form korrigiert, so
vermehrt, verbessert und vertieft sie das Wissen des Kindes
und feilt seine Sprache zurecht in Bezug auf richtigen Aus-
druck und korrekte grammatische und syntaktische Formen.
Welchen ausserordentlichen Gewinn in Bezug auf geistige und
sprachliche Ausbildung das Kind aus diesen scheinbar un-
wichtigen Unterhaltungen zieht, ersieht man erst aus solchen
Fällen, wo eine schwer verständliche Sprache den geistigen
Verkehr mit dem Kinde hemmt.
Wir kommen nun zu der sprachlichen Entwick-
lung geistig zurückgebliebener Kinder.
Die Sprachstörungen geistig zurückgebliebener Kinder
können primär oder sekundär sein.
Primär sind die Sprachstörungen dann, wenn entweder
organische Abnormitäten (Gehörherabsetzung, Lähmungen,
Geschwülste etc.) oder funktionelle Mängel die Sprache
unverständlich machen, den Patienten von der Umgebung
isolieren und so seine geistige Entwicklung hemmen.
Sekundär sind die Sprachstörungen, wenn sie auf det
geistigen Inferiorität des Patienten beruhen.
Wir betrachten zunächst die sekundären Sprach-
störungen.
Die häufigste sekundäre Sprachstörung ist die Stumm-
heit. Die meisten dieser Patienten reden nicht, weil sie uns
nichts zu sagen haben.
Ganz stumm pflegen die Patienten übrigens nicht zu sein.
Sie produzieren jene eigentümlichen U r 1 a u t e , die wir oben
als erstes Stadium der Sprachentwicklung beschrieben
haben.
Wir können diese stummen Kinder in drei Gruppen ein-
teilen.
102
Albert Lübmann.
Die ersten sitzen apathisch stundenlang auf der
Stelle, wohin man sie gesetzt hat. Blöden Blickes starren sie
ins Leere. Selbst starke optische oder akustische Reize
erregen ihre Aufmerksamkeit wenig oder gar nicht. Das
Sprachverständnis fehlt. Auf intensive Gefühls-
reize reagieren sie mit wüstem Geschrei und schlagen wütend
um sich. Bald zupfen sie sinnlos an ihren Kleidern oder irgend
welchen Gegenständen stundenlang herum, bald vernichten sie
zornig alles, was ihnen in die Hand kommt oder schleudern es
von sich. Sie würden verhungern, wenn man sie nicht fütterte.
Die Stummheit dieser Patienten ist nur das Spiegelbild ihrer
geistigen Oede.
Andere Kinder wieder sind recht agil. Sie toben wild
durch das Zimmer oder wälzen sich, mit Händen und Füssen
um sich stossend, auf der Erde herum. Häufig reagieren sie
selbst auf starke Reize nicht. Bisweilen aber gelingt es ihre
Aufmerksamkeit auf Sekunden zu erregen. Doch fehlt den
Patienten die Gabe der Konzentration ; in wilder Flucht wendet
sich ihre Aufmerksamkeit bald diesem, bald jenem zu, ohne
irgendwo verweilen zu können. Infolgedessen sind ihre Wahr-
nehmungen zu blass und ungenau, als dass sich Vorstellungen
und Begriffe bilden könnten. Sprachverständni's ist
meist nicht vorhanden oder doch nur für einige wenige Worte.
Ihre spontane Sprache besteht meist nur aus Urlauten.
Oefter sind auch schon einige richtige Sprachlaute vorhanden.
Manche Kinder können auch schon die Namen der Eltern und
Geschwister nennen, allerdings nur in stammelnder unverständ-
licher Form.
Die dritte Gruppe endlich macht einen weit günstigeren
Eindruck. Ihr Benehmen ist verständiger. Sie sind aufmerk-
samer und haben ein, wenn auch nur sehr unvollkommenes,
Sprachverständnis. Aber sie sprechen nicht. Meist verhin-
dert eine kolossale Ungeschicklichkeit der Sprachorgane diese
Patienten am Sprechen.
Die Kinder der zweiten und dritten Gruppe sind natürlich
prognostisch günstiger zu betrachten. Man kann in den meis-
ten Fällen darauf rechnen, durch eine planmässige Therapie
ihnen die Sprache zu verschaffen und ihre geistigen Fähig-
keiten soweit zu verbessern, dass sie mit Erfolg unterrichtet
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Die spracht. Entuhckl. u. ßehandl. geistig zurückgebliebener Kinder.
werden können. Bei der ersten Gruppe ist die Prognose weit
zweifelhafter, doch sind auch in diesen Fällen öfter durch Ge-
duld und Ausdauer Erfolge zu erzielen.
Was nun die Behandlung der Stummheit betrifft, so
darf man bei den meisten Kindern nicht etwa sogleich mit
Sprachübungen beginnen. Diese stossen bei den meisten
Patienten auf kolossalen Widerstand.
Die Kinder haben eben zu wenig Interesse für die
Sprache, weil ihnen die den Worten zu gründe liegenden Vor-
stellungen und Begriffe fehlen und sie häufig sogar die
betreffenden Wahrnehmungen noch gar nicht gemacht
haben. Ferner erfordert das Sprechen auch eine zu grosse
Anstrengung und Aufmerksamkeit, die diese Pa-
tienten nicht aufbieten wollen oder können.
In solchen Fällen muss man den Patienten erst Inter-
esse für die Dinge und Vorgänge der Umgebung ein-
pflanzen und muss besonders durch eine Schulung der akus-
tischen, optischen, taktilen und motorischen
Fähigkeiten die Intelligenz des Patienten soweit fördern,
dass er von selbst den Versuch macht zu sprechen.
Es ist sehr vorteilhaft, wenn man zu diesem Zwecke bei
jedem einzelnen Patienten einen genauen Status seiner
zentralen Fähigkeiten aufnimmt. Ich untersuche das
Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, den Tast-, Druck-,
Temperatursinn, das Schmerzgefühl, die Geschicklichkeit der
Körper- und Handmuskulatur, die spontane Sprache, die Fähig-
keit des Nachsprechens. Auf diese Weise findet man bei
jedem Patienten ganz bestimmte Defekte heraus, die je nach
der Art und dem Grade des Falles verschieden sind. Auf
die Technik der Untersuchung kann ich hier nicht näher ein-
gehen.
Die Defekte, die man am häufigsten findet, sind:
In der akustischen Sphäre: Mangelhaftes Unter-
scheidungsvermögen für Töne und Geräusche. Mangel-
haftes Sprach Verständnis. Manche Kinder haben über-
haupt kein Sprach Verständnis. Andere verstehen
einige wenige Worte. Wieder andere verstehen zwar
einzeln gesprochene Worte, können aber den Inhalt selbst
ganz kleiner Sätze durchaus nicht auffassen.
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104
Albert LUbmann.
In der optischen Sphäre findet man : Die Unfähigkeit,
Farben, Formen und Bilder zu erkennen, sowie
Grössen-, Raum- und Lageunterschiede zu machen.
Manche Kinder erkennen nicht einmal die gewöhnlichsten
Gebrauchsgegenstände. Andere können Gegenstände nicht im
Bilde erkennen. Oefter werden Bilder nur in isolierten Dar
Stellungen erkannt, die immer nur einen Gegenstand enthalten.
Auf grossen zusammenhängenden Bildern mit vielen
Gegenständen wird nichts herausgefunden.
Der Tastsinn ist meist sehr wenig ausgebildet. Selbst
ganz bekannte Gegenstände können bei verbundenen Augen
meist nicht durch den Tastsinn erkannt werden.
Ebenso wenig werden auch nur grobe Gewichts- und
Temperatur - Differenzen unterschieden.
Das Schmerzgefühl pflegt auffallend herabgesetzt
zu sein.
Der G a n g ist meist sehr ungeschickt. Viele dieser Kinder
gehen überhaupt nicht ohne Unterstützung. Manche schwanken
beim Gehen bedenklich und stürzen nach wenigen Schritten
zu Boden. Die allereinfachsten Freiübungen können oft nicht
nachgeahmt werden.
Die Hände sind meist von unglaublicher Ungeschicklich-
keit. Selbst die allergewöhnlichsten Verrichtungen des täg-
lichen Lebens gelingen diesen Kindern nicht.
Hat man nun im einzelnen die betreffenden Defekte heraus-
gefunden, so sucht man durch möglichst lebendige Demonstra-
tionen dem Kinde die fehlenden Fähigkeiten beizubringen. Bei
jeder Demonstration wird das betreffende Wort mehrmals deut-
lich und scharf artikuliert ausgerufen, ohne dass man aber
das Kind zunächst zum Nachsprechen auffordert.
Man zeigt z.B. dem Kinde die Gegenstände des Zimmers
in möglichst lebendiger Weise, um das Interesse
des Kindes zu erregen. Man rückt den Tisch von seinem
Platz. Man legt den Stuhl auf die Erde, entlockt den Gegen-
ständen allerlei Geräusche, nimmt Bilder und Figuren herunter,
zieht Vorhänge auf und nieder, lässt die Uhr schlagen, lässt
den Wasserhahn laufen u. s. w. Solche Demonstrationen
machen den Kindern ein grosses Vergnügen und sie beginnen
sich bald für die betreffenden Namen zu interessieren.
Die spracht. EntwüM. u. Behandl. geistig tu rück gebliebener Kinder. 105
Ferner zeigt man den Kindern Bilder. Für die g e
wohnlichen Bilderbücher sind die Kinder meist nicht
zu erwärmen. Auch sind in den Bilderbüchern auf einem
Blatt immer verschiedene Gegenstände und es ist schwer, die
Aufmerksamkeit fies Kindes gerade auf einen Gegenstand
zu konzentrieren. Am besten greift man selbst zum Pinsel
und malt mit wenigen kunstlosen Strichen gewöhnliche Ge-
brauchsgegenstände in kolossalen Dimensionen auf. Auf jedes
Blatt kommt immer nur ein Gegenstand. Jedes Blatt wird
mit' bunten grellen Farben bemalt. Solche Bilder machen
den Kindern sehr grosse Freude.
In ähnlicher Weise werden die anderen Sinnesthätigkeiten
durch passende Demonstrationen angeregt. Auch für die Aus-
bildung der körperlichen Geschicklichkeit wird gesorgt.
So gelingt es oft bald, den Kindern Interesse für die Sprache
beizubringen. Und sie fangen häufig von selbst an, die ge-
hörten Worte wiederzugeben, zunächst natürlich in unverständ-
licher stammelnder Weise.
Es ist sehr interessant zu beobachten, wie bei solchen
Kindern die Sprache allmählich entsteht. Ich will daher zwei
solche Fälle ausführlicher mitteilen.
Ich hatte einen 4 jährigen Knaben in Behandlung, der im
zweiten Lebensjahre an Gehirnentzündung gelitten hatte. Es
war ein wildes, unbändiges Kind, körperlich gut entwickelt,
ohne besondere somatische Erscheinungen. Seine spontane
Sprache bestand nur aus den Urlauten und aus dem Laute ä.
Zum Nachsprechen war er garnicht zu bewegen. Seine Auf-
merksamkeit war nur durch Musik und grelle Lichteffekte zu
erregen, auch für diese nur momentan. Im übrigen kümmerte
es sich um nichts, sondern tobte sinnlos schreiend umher. Für
Spielsachen oder Bilderbücher hatte er keinen Sinn. Was man
ihm in die Hand gab, warf er wütend fort. Ueberhaupt war
der Knabe stets sehr reizbar und fing bei der allergeringsten Ver-
anlassung, oft auch ohne solche, fürchterlich an zu schreien
und um sich zu schlagen und war durch nichts zu beruhigen.
Durch die geschilderten Demonstrationen gelang es mir
bald, das Interesse des Knaben zu erregen und er fing auch
bald an, Versuche zum Nachsprechen zu machen. Im Anfang
war freilich zwischen den Worten, die er produzierte und den
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Albert Liebmann.
vorgesprochenen auch nicht die geringste Aehnlichkeit zu ent-
decken. Die Worte waren nicht konstant, häufig an ver-
schiedenen Tagen anders.
Ich nenne einige Beispiele: hadda hadda (schiff), gega
(pfeife), akkahakka (scheere), bibibeba (Schmetterling), pupu
oder attaatta (löffei), nga (pferd), naja (vogel), haka (pflaume),
gigi (apfel), ha (stuhl), gaga (rübe), eika (schuh), hutthutt
(wiege), nanich (löwe) etc.
Allmählich wurde das, was der Knabe nachsprach, den
vorgesprochenen Worten ähnlicher. Z. B. atte (apfel), kuku
(kugel), tiebe (wiege), bella (bett), gi (ziege), ni (milch), herr
(stern), papapei (papagei), etc. etc. etc.
Endlich sprach der Knabe etwa so wie Kinder in der
physiologischen Periode des Stammeins. Damals
schied er aus äusseren Gründen aus der Behandlung, hat aber
seitdem weitere Fortschritte gemacht.
In vielen Fällen ist die Sprache eines geistig zurück-
gebliebenen Kindes, wenn die Stummheit zu weichen beginnt,
von vornherein deutlicher als in dem eben geschilderten Falle.
Ein 3V3 jähriger Knabe, der vorher nur einige wenige
Sprachlaute produziert hatte, wurde von mir durch die ge-
schilderten Demonstrationen bald zum Sprechen gebracht. Die
Worte, die er nachsprach, waren nicht konstant. Wiederholte
man ein Wort mehrmals hintereinander, so sprach der Knabe
das Wort jedesmal anders. Im ganzen sind aber die nachge-
sprochenen Worte den vorgesprochenen ziemlich ähnlich.
Ich nenne einige Beispiele dieser Sprache:
du (zu), tü-e (thür), ha (hahn), dade (gabel), puppe (r), bei
(auf) , du (buch), ba oder da (haus), dada (dame), be (pfeife),
tatte (tasse), nida (leiter), du (hund), be oder bebe (bett), albe,
haupa, appe (äffe), balde oder bade (wagen), bi (tisch), u (kuh),
didall (spiegel), atte (katze) etc.
Wenn nun auch die Kinder anlässlich der Demonstra-
tionen Worte in ihrem Jargon nachsprechen, so sind sie
meist einer systematischen Sprachtherapie noch un-
zugänglich. Viele Kinder beharren längere Zeit mit beispiel-
losem Eigensinn darauf, keine Laute oder Silben nach-
zusprechen. Sie sprechen zunächst nur Worte nach und auch
diese nur, wenn es gelingt, für die betreffenden Dinge oder
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Die sprach}. Entwickl. u. liehandl. geistig zurückgebliebener Kinder. iqj
Vorgänge ihr Interesse zu erregen. Manchmal dauert es
Wochen oder gar Monate lang, bevor man imstande ist, durch
eine systematische Sprachtherapie den Kindern die fehlenden
Laute und Lautverbindungen beizubringen.
Diese Sprachtherapie selbst stösst auf die grössten
Schwierigkeiten. Spontan lernen die Kinder nur wenige Laute.
Anweisungen, wie sie ihre Sprachorgane für die einzelnen
Laute einstellen sollen, fruchten nichts. Teils verstehen die
Kinder diese Anweisungen nicht, teils können sie sie mit ihren
ungeschickten Sprachorganen nicht befolgen. Man muss daher
die Laute zunächst durch Kunstgriffe an den Sprachorganen
der Patienten hervorrufen, bis sie sie endlich von selbst lernen.
Auf diese Kunstgriffe komme ich noch zurück.
Eine weitere Schwierigkeit aber entsteht, wenn es sich
darum handelt, die Silben zu Worten zusammenzu-
fügen. Viele Patienten scheinen überhaupt nicht kurz hinter-
einander zwei verschiedene Silben perzipicren zu können, denn
sie wiederholen immer noch die erste Silbe, wenn man ihnen
schon mehrmals die zweite vorgesprochen hat.
Häufig treten eigenartige Assimilationen auf, indem
sich besonders die Anfangskonsonanten der aufeinander folgen-
den Silben gegenseitig anzupassen suchen. So spricht ein
Kind für bade: „babe" oder „dade", indem es die Laute auf
dieselbe Artikulationsstelle zu bringen sucht. Oder das Kind
spricht für „made" : „mame" oder „dade", indem es beide Laute
als Nasenlaute oder beide Laute als Verschlusslaute spricht.
Oder endlich das Kind spricht für „tasse" : „tatte" oder „ssasse",
indem es nur Verschlusslaute oder nur Reibungslaute bildet.
Wenn man den Kindern die Worte in Silben getrennt
vorspricht, so pflegen die Assimilationen auszubleiben. Das
ist denn auch der Weg, den man wählen muss, um die Worte
einzuüben. In manchen Fällen muss man Wochen oder Monate
lang die Worte in Silben getrennt vorsprechen, bis die Kinder
sie im Zusammenhang wiederholen können.
Wenn die Kinder endlich imstande sind, die Worte korrekt
nachzusprechen, so pflegt ihre spontane Sprache
noch sehr undeutlich zu sein, weil ihnen vielfach die richtigen
Klangbilder fehlen. Es bedarf neuer Uebungen, um den
Kindern diese zu verschaffen. Man kann dies durch häufige
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Albtrt Lübmann.
Demonstationen von Bildern erreichen, indem man die Kinder
übt, die betreffenden Personen, Gegenstände, Vorgänge etc.
richtig zu bezeichnen. Wenn es angängig ist, erreicht man eine
baldige Besserung der spontanen Sprache durch einen passen-
den Leseunterricht.
Schliesslich laborieren die Kinder noch lange Zeit an hart-
näckigem Agrammatismus, d. h. sie sprechen ohne
grammatische und syntaktische Formen. Aus jedem Satze
wählen sie immer nur 2—3 besonders prägnante Worte aus,
meist Substantiva, dann aber auch Verba und stellen diese
ohne Flexion und Ordnung nebeneinander; die übrigen Wort-
arten (Artikel, Hülfszeitwörter, Pronomina, Zahlwörter, Prä-
positionen u.s.w.) werden ausgelassen. Diese agrammatischen
Sätze sind meist wegen ihrer Vieldeutigkeit ziemlich unverständ-
lich. Ich gehe später noch näher auf den Agrammatismus
und seine Behandlung ein.
Das ist in grossen Zügen die Pathologie und Therapie
der Stummheit.
Viele geistig zurückgebliebenen Kinder nun sind nicht
stumm, sondern sie lernen von selbst sprechen. Sie er-
werben eine Anzahl von Sprachlauten, die sie auch bis zu
einem gewissen Grade mit einander zu Silben und Worten ver-
binden können. Aber die Sprachentwicklung kommt sehr bald
zum Stillstand, etwa in dem Stadium, das wir als physiolo-
gisches Stammeln bezeichnet haben. Diese Kinder stammeln
sehr hochgradig. Stammeln ist nicht zu verwechseln mit
Stottern. Beim Stottern wird die Rede nur durch un-
geordnete Bewegungen der Atmungs-, Stimm- und Artikulations-
muskulatur unterbrochen. Der Stammler hingegen verfügt
nicht über alle Laute und Lautverbindungen. Das Stammeln
geistig zurückgebliebener Kinder unterscheidet sich in wesent-
lichen Punkten von dem Stammeln normaler Kinder. Den
geistig zurückgebliebenen Kindern fehlen nicht nur viele Laute,
sondern sie wenden auch die, die sie korrekt bilden können,
nicht immer an der richtigen Stelle an oder gebrauchen sie
geradezu promiscue. In willkürlichster Weise werden die
Worte umgemodelt durch Auslassung oder Umstellung von
Lauten oder durch regellosen Ersatz der fehlenden Laute.
Besonders bei Konsonantenverbindungen pflegen die Patienten
Die spracht. EntvncJtl. u. Behandl. geistig zurückgebliebener Kinder. IOO,
mit souveräner Willkür die Worte umzuändern. Die Assimi-
lationen der Laute, auf die ich schon in den oben geschilderten
Fällen hinwies, nehmen bei diesen Patienten besonders gro-
teske Formen an. Häufig erleichtern sich auch die Patienten
die Sprache durch freie Worterfindungen oder durch eigen-
artige Umschreibung schwieriger Worte. Selbstverständlich
ist auch die formale Sprache dieser Kinder ohne Regel und
Gesetz.
Zur Illustration führe ich ein Beispiel an:
Ein 6 jähriger Patient hatte erst im 3. Lebensjahre sprechen
gelernt. Seine Sprache war immer undeutlich, selbst für die
Eltern kaum verständlich. Den Eltern fiel immer die kolossale
geistige Trägheit des Knaben auf.
Die Untersuchung ergab folgendes:
Das Sprach Verständnis des Patienten für einzelne
Worte ist ziemlich gut ausgebildet. Für S ä t z e mangelhaft.
Bilder, auch grosse zusammenhängende Darstellungen
werden erkannt, aber ausserordentlich langsam und erst nach
vielen Verwechselungen. Einfache Formen; wie Kreuz, Drei-
eck, Viereck, Kreis etc. werden richtig erkannt. Farben-,
Grössen-, Raum-, Lageunterschiede werden nur ganz unvoll-
kommen gemacht.
Tastgefühl wenig entwickelt.
Hochgradige Ungeschicklichkeit der Hände. Träger, zag-
hafter, ungeschickter Gang. Der Knabe spricht spontan meist
nur in „Satzworten" oder in losen Wortgefügen ohne
Flexion.
Gegenstände bezeichnet er folgendermassen : du (hut), oto
(ofen), datt (bett), döb (bild), tat (stock), tita (tinte), apte (uhr),
te (scheere), tu momm (Kanne: „zur Milch"), ti titt (Wagen,
„für ein Kind"), pupp (tisch), at (messer), tu au (gabel, „zum
essen" ?), Ii au (schlüssel, „schliesst auf"), up (blume), titidi
(giesskanne), dup (kirsche), nanna (mädchen), det (besen), ot
au (mütze, „Kopf auf", „ist auf dem Kopfe"), de atta atta
(Kutsche , „hottehotte" ?), lulu (rübe), de bo ha (Kaffeemühle,
„was wir auch haben"), op (brot).
Ich gebe noch einige Proben, wie der Patient nachspricht.
„bibi" (diebe), „mame" (dame), „minte" (dumme), „tite"
(tote), „matte" (nette), „a de ale" (kanne), „meime" (beine),
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Albert Lübmann.
„but" (dumm), „bitt" (kipp), „bidi" (biege), „naut" (blau),
„meit" (blei), „matte" (klappe), „mutte" (suppe), „motte"
(schnecke), „ede" (zähne) etc.
Der Knabe lernte in 7 Monaten deutlich in Sätzen sprechen.
Was die Therapie dieser Stammler anbetrifft, so muss
man zunächst den Kindern diefehlendenLaute beibringen.
Dies geschieht vermittelst der oben erwähnten Kunstgriffe.
Ich schildere einige dieser Kunstgriffe näher, weil sie hier
nicht nur zur Erzeugung der Laute, sondern auch zur Ver-
meidung der Lautassimilationen in Betracht
kommen. B und P kann man dadurch erzeugen, dass man die
Lippen des Patienten leicht zusammendrückt und sofort wieder
loslässt, wobei das Kind aufgefordert wird, stark auszuatmen.
D und T erhält man in ähnlicher Weise, indem man bei ge-
öffneten Lippen vom Unterkicferwinkel aus die Zungenspitze
des Patienten an die oberen Zähne anpresst. Für K und G
drückt man die vordere Backenhaut durch die Kieferäste hin-
durch auf die Zungenspitze; lässt man bei dieser Stellung die
Kinder ein T oder D machen, so wird infolge der Fixierung
der Zungenspitze daraus von selbst k oder g. Aehnliche Kunst-
griffe wendet man zur Erzeugung der anderen Laute an.
Instrumente kann man dabei fast immer ganz entbehren.
Bei den meisten geistig zurückgebliebenen Kindern dauert
es einige Zeit, bevor sie die Laute von selbst erlernen. Wenn
sie sie aber erlernt haben, wenden sie dieselben oft nicht
immer richtig an, infolge der erwähnten Assimilationen. Man
muss dann durch die geschilderten Kunstgriffe die Assimila-
tionen verhindern. Sagt z. B. ein Kind für „böte": „dote",
so drückt man bei Beginn des Wortes die Lippen des Patienten
zusammen und zwingt das Kind ein B zu machen. Sagt ein
Kind für „Kaffee" : „Taffe", so fixiert man durch Druck der
Backenhaut die Zungenspitze und erzwingt so die Artikulation
des K.
Bei allen derartigen Stammlern kann man auf einen hart-
näckigen Agrammatismus rechnen.
Es giebt drei Grade des Agrammatismus:
i.Grad: Es können überhaupt keine Sätze weder
spontan gebildet noch nachgesprochen werden. Die
spontane Rede dieser Kinder besteht nur aus einzelnen
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Dü spracht. Enhvielcl. u. Kchandl. geistig zurückgebliebener Kinder. m
*
Worten, die flexionslos neben einander gestellt werden. Spricht
man diesen Kindern einen kurzen einfachen Satz vor, z. B. :
„Das ist ein Buch4', so können sie ihn nicht im Zusammenhang
wiedergeben, auch nicht, wenn man ihn ein Dutzend mal
wiederholt.
2. Grad: Spontan werden ebenfalls keine Sätze ge-
bildet, sondern die Worte werden meist flexionslos, mitunter
auch in ganz sonderbaren Flexionsformcn ohne syntaktischen
Zusammenhang aneinander gereiht. Beim Nachsprechen
kommen wenigstens manche kleinere Sätze zustande, meist
allerdings noch in unvollkommener Flexion. Sobald man aber
einiger massen kompliziertere Sätze vorspricht,
versagen die Kinder völlig. Z. B. für: „ich habe das Buch
in der Hand*' wird nachgesprochen: „Das Buch Hand haben"
oder: ,,Ich Buch Hand" etc. Der Satz: „Das Buch liegt auf
dem Tisch" wird folgendermassen wiedergegeben : „Buch Tisch
liege" oder: „Das Buch ein Tisch" etc.
In der spontanen Rede pflegen diese Kinder bei Sub-
stantiven, Adjektiven und Pronomina weder Numerus, noch
Casus, noch Genus zu unterscheiden. Bei Verben wenden sie
meist den Infinitivus oder die erste Person Singularis Prä-
sentis an.
Beim Nachsprechen treten rudimentäre Flexionen auf
und es werden auch Unterschiede im Genus gemacht, doch
sind die meisten Flexionsformen noch falsch und das Genus
wird meist verwechselt. Z. B. „Gung nach der Fenster ich."
„Die Bücher ist grosse rot." (Die grossen Bücher sind rot.)
3. Grad: Es wird spontan in Sätzen gesprochen,
aber der Ausdruck, die Syntax und die Flexion ist derart ver-
schroben, dass man Mühe hat, den Sinn der Sätze zu
verstehen. Oft finden seltsame W'ortverwechselungen statt, be-
sonders werden Worte ähnlichen Klanges und Präpositionen
miteinander vertauscht. Beispiele spontaner Rede: „Der
Hund hinter der Sonne log schlaf te." (Der Hund lag
in der Sonne und schlief.) „Das Kind esste der Suppe nicht,
lag den Loeffel weg."
Die Agrammatiker der ersten und zweiten Klasse sprechen
deswegen nicht in korrekten Sätzen, weil ihre Wahrnehmungen
in vielfacher Hinsicht zu ungenau sind, um ein brauchbares
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sllbert Liebmann.
Material zur Begriffsbildung zu liefern. Daher haben viele
Worte für diese Kinder keinen rechten Sinn, indem sie die be-
treffenden Wahrnehmungen entweder garnicht, oder nur unvoll-
kommen gemacht haben. Ob z. B. ein Buch auf, unter,
in, vor, hinter oder neben dem Spind liegt, macht für
diese Agrammatiker wenig Unterschied; sie sagen immer nur
„Buch Spind", weil sie die völlig genaue räumliche Beziehung
zwischen Buch und Spind im einzelnen Falle nicht wahrnehmen.
Deswegen sind auch diese Patienten garnicht imstande, einen
diesbezüglichen Auftrag prompt auszuführen.
Neben dem angeborenen Intelligenzdefekt trägt zu der
schlechten Sinneswahrnehmung dieser Kinder auch ihre
motorische Ungeschicklichkeit bei.
Die meisten Agrammatiker haben erst im 2. bis
3. Lebensjahre laufen gelernt. Viele bleiben in dieser Fertig-
keit noch lange Zeit sehr ungeschickt, sodass sie überhaupt
nicht ohne Unterstützung gehen können. Die meisten bleiben
da sitzen, wo man sie hingesetzt hat, und sind jahrelang nur
imstande, ihre Sinneswahrnehmungen an der allernächsten Um-
gebung zu machen.
Auch die meist hochgradige Ungeschicklich-
keit der Hände ist stark an der unvollkommenen Sinnes-
wahrnehmung beteiligt. Um ein vollkommenes Bild mancher
Gegenstände zu gewinnen, muss man sie ergreifen, umwenden,
auseinandernehmen, öffnen, beklopfen, betasten, wägen etc.,
alles Bewegungen, die den ungeschickten Händen dieser Agram-
matiker garnicht oder nur unvollkommen gelingen wollen.
Daher bleiben diesen Patienten ausserordentlich viele Wahr-
nehmungen, die gesunde Kinder beim „Spielen" mit den Gegen
ständen machen, völlig fremd.
Auch die ungenügende Geschicklichkeit der
Sprachmuskulatur trägt zur Entstehung des Agrammatis-
mus bei. Denn alle die feinen Endungen, Vorsilben, Redu-
plikationen und Ablautungen, die die Deklination und Konju-
gation erfordern, vermögen die ungeschickten Sprachorgane
nicht auszuführen.
Endlich macht auch die unverständliche Sprache
der Agrammatiker eine Belehrung in Bezug auf Inhalt
und Form ihrer Rede unmöglich, sodass sie auch deswegen in
Die spracht. Entwickle u. Behandl. gmtig eurück gebliebener Kinder.
ihrer geistigen Entwicklung noch mehr zurückbleiben und eine
korrekte, grammatische Sprache nicht erwerben.
Bei der dritten Art von Agrammatismus wird im Cftgen-
satz zu den beiden ersten auch spontan in flektierten Sätzen
gesprochen. Die Abweichung vom normalen besteht hier:
i. in einer sehr sonderbaren Phraseologie, 2. in eigentümlichen
Flexionen, 3. in einem unvollkommenen Satzbau, indem Worte
ausgelassen oder an unrichtiger Stelle gebracht werden.
Diese Art von Agrammatismus findet man bei älteren
Kindern, eventuell auch bei Erwachsenen. Diese Patienten
haben jahrelang schwer gestammelt. Als sie allmählich deut-
lich sprachen, blieb der Agrammatismus bestehen, teils wegen
des Intelligenzdefektes, teils wegen der jahrelangen Unmöglich-
keit die Sprache in formaler Beziehung zu verbessern.
Die Therapie des Agrammatismus ist häufig
recht schwierig. Man muss im einzelnen Falle durch detaillierte
Untersuchung sämtlicher zentraler Fähigkeiten die Art und
den Grad der zentralen Defekte genau feststellen und den
Kindern durch geeignete Demonstrationen in natura oder in
effigie die fehlenden Begriffe beibringen. Der Inhalt jeder
Demonstration wird in einem kurzen Satz zusammengefasst,
den die Kinder dann zunächst Wort für Wort wiederholen
müssen. Durch derartige tägliche Uebungen kommen die
meisten Patienten bald dahin, die Demonstrationen durch
spontane, korrekte Rede zu erklären.
Wir kommen nun zu der dritten Form von sekundärer
Sprachstörung bei geistig zurückgebliebenen Kindern. Das
sind gewisse Fälle von Stottern und Poltern, die auf
einer Disharmonie zwischen mechanischer und formaler Sprache
beruhen, worauf auch Berkhan, Cöen, Gutzmann,
Kussmaul, Treitel und andere hinweisen. Diese Kinder
sind recht wenig intelligent, geistig träge und sehr unaufmerk-
sam. In der Auswahl ihrer Worte sind sie recht unglücklich.
Häufig werden verwandte Begriffe miteinander konfundiert.
Oft lockt auch eine Klangverwandtschaft irgend ein Wort ganz
anderen Sinnes dem Patienten auf die Zunge. Bei zusammen-
gesetzten Ausdrücken verschlingen sich häufig die Bestand-
teile zweier verschiedener Phrasen zu einem merkwürdigen
Gebilde. Mit der grammatischen Formenlehre stehen diese
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie and Hygiene. 2
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IM
Patienten stets auf dem Kriegsfusse, aber nicht etwa wie es
sonst bei ungebildeten Personen vorkommt. Ihre Flexionen
sind vielmehr eigentümlich verschroben. Die Architektur der
Sätze bizarr, oft ohne Gesetz und Regel.
Diese formalen Mängel nun haben auf die motorische
Sprache einen üblen Einfluss. Indem die Patienten fort-
während mit dem Ausdruck ringen, nach den richtigen
Flexionen suchen und mit vieler Mühe einen Satz zurecht zu
zimmern versuchen, gerät die Rede fortwährend ins Stocken
und die Koordination der Sprachbewegungen wird gestört.
Wenn eine ererbte Disposition vorliegt oder gewisse Schäd-
lichkeiten (Traumen, Infektionskrankheiten, psychische An-
steckung) auftreten, entwickelt sich auf der Basis dieser Ko-
ordinationsstörung leicht Stottern. In anderen Fällen be-
wirkt das minutenlange Zweifeln und Stocken, dass der Patient,
nachdem er endlich das Richtige gefunden zu haben glaubt,
in sinnloser Hast den Satz herausstösst. Bei dieser Schnellig-
keit kracht der Satz gewissermassen in allen Fugen ausein-
ander, die Worte und Laute scheinen auseinander zu bersten
und die Trümmer wirbeln wild durcheinander, sodass häufig
ein ganz sinnloses Kauderwelsch entsteht. Diese hastige,
schwerverständliche und durch merkwürdiges Versprechen aus-
gezeichnete Sprache nennt man Poltern. Kombiniert sich
nun gar das Poltern mit Stottern, so entsteht bei diesen
geistig zurückgebliebenen Kindern ein seltsames Gemisch von
logischem und grammatischem Unsinn und mechanischer
Sprachstörung.
Ich möchte einige Beispiele anführen von 7— 11 jährigen
Kindern. Ich werde jedoch dabei das Stottern nicht markieren
und werde auch langsamer und deutlicher sprechen, als es
die Patienten selbst vermochten. Besonders mache ich auf das
seltsame „Versprechen" dieser Patienten aufmerksam, das
scheinbar regellos ist, in Wirklichkeit aber bestimmten Gesetzen
folgt, worauf auch M e r n i g e r und Mayer, Gutzmann,
Tr eitel u. a. hinweisen.
In den nachfolgenden Beispielen finden sich: 1. Ver-
tauschungen von gleichbetonten Konsonanten, z. B. „ge-
bragen" (begraben), „auf einer wrünen giese" (auf einer grünen
Wiese).
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Die sprachL EntwicH. u. Btkandi. geistig turückgebUebentr Kinder.
2. Kommen Anticipationen von Lauten, Silben und
Worten vor: Z. B. „reifle Aepfel" (reife Aepfel), „und ihr
sagtete sie zu ihr" (und sie sagte zu ihr).
3. beobachtet man Nachklänge „er lauf ihr naf" (er
lief ihr nach), „nicht leichten" (nicht leiden).
Ich lasse nunmehr einige ausführliche Beispiele folgen:
„Er gusste (wusste) mit Madel (Nadel) und Faden gut
gutzugehen" (gut umzugehen). „Ein Kauma reitete Ma ja
Jahmar na Haus (Ein Kaufmann ritt vom Jahrmarkt nach
Hause).
..Bald daro sagte die Mann zu dem sagte der Frau der
Mann zu dem der Frau" (Bald darauf sagte der Mann zu
<ler Frau).
„Ein krei reicher Knabe gung gang in einem Dor
spazier" (ging in einem Dorf spazieren).
„Au der Frömde hehrte ma Keitschen Peitschenknall" (Aus
<ler Ferne hörte man P.).
„Der Junge schneidet schreidet (schreibt) auf (in)
•dem Buch."
„A b e s aber (als es aber) dunkel werde, flüpte (schlüpfte)
-der Zerg (Zwerg) fort."
„D e r (die) Königin fach (sprach) zu ihm : „Hieist (heisst)
Du vielleicht ?"
„Der Stiefmutter lass (liess) schönen für ihre Tochter
Kleiner machen (schöne Kleider für ihre Töchter machen)."
„Friedri, Pröni von Keussen, Kröni von Peussen, König
von Preussen, marschir du Böhmen. Er reitete einen Husar-
fizier, Husarenfozier, Husarenunterfizier, Husarenunteroffizier
vorau und mechs sechs Mann (er ritt mit einem Husarenunter-
offizier und sechs Mann voraus).
Die Therapie dieser Fälle hat ein doppeltes Ziel, näm-
lich die Beseitigung der mechanischen und der formalen
Störung. Für die Behandlung des Stotterns bedarf es der
lierkömmlichen Atmungs-, Stimm- und Artikulationsübungen
nicht. Man kann viel leichter das Stottern dadurch beseitigen,
dass man die Patienten zunächst einige Tage mit gedehnten
Vokalen sprechen lässt. Sie sind dann bald imstande, kleine
Sätze in normaler, fliessender Sprache zu wiederholen. Ebenso
sind für die Beseitigung des Polterns Artikulations- oder
2*
Albert Liebmann.
Leseübungen zwecklos. Man lässt die Kinder vielmehr zunächst
ganz einfache, allmählich kompliziertere Sätze nachsprechen.
Schliesslich folgen bei Stotterern und Polterern Uebungen in
freier Rede.
In manchen Fällen kombiniert sich bei geistig zurück-
gebliebenen Kindern das Stottern mit dem Stammeln.
Das primäre pflegt das Stammeln zu sein. Die Kinder
haben vermöge ihrer geringen Intelligenz nur undeutlich
sprechen gelernt. Tritt dann eine der oben genannten Schäd-
lichkeiten auf, so kombiniert sich mit dem Stammeln noch
Stottern. Da auch die formale Sprache dieser Kinder noch
nicht vollendet ist, resultiert eine sehr schwer verständliche
Sprache, die ohne Kunsthilfe meist stationär bleibt.
Ich gebe ein solches Beispiel von einem ausserordentlich
unaufmerksamen, geistig trägen, 5 jährigen Kinde.
„tretre kröchin kokokoffel" (die Köchin schält Kartoffeln).
„fi fi fische katsche maus" (die Katze frisst eine Maus).
„kokokob pepetatatoffel" (in dem Korb sind Kartoffeln).
„bbbu is ei Mäche" (das Mädchen hat ein Buch).
„frifrifritscher ist schnrell rau geschrei" (der Kutscher ist
schnell rauf gestiegen).
„safesassaschafe ist sofa" (zum Schlafen ist das Sofa).
„da da das is Slo un Sto" (das sind Soldaten mit Stöcken,
d. h. Gewehren).
Beim Nachsprechen von Sätzen ist die Störung in
diesem Falle nur wenig geringer. Beim Nachsprechen
von Worten tritt das Stottern ganz zurück. Dagegen
werden die Worte gestammelt und zwar mit willkürlichen
Veränderungen, die noch dazu beliebig wechseln. Z. B. für
„mühe" sagt das Kind „müde" oder „müge", für „bäume"
„beute" oder „bräume"; „heute" sagt sie richtig; dagegen für
„hüte" „düte". „Made" sagt sie richtig, dagegen für „mode"
„gode" oder „bode". Für „hacke" sagt sie „packe" oder
„happe". Für „böcke" sagt sie „lippe" oder „hippe".
Alle diese Worte werden schliesslich richtig gesagt.
Schwierigere Worte dagegen mit Konsonantenverbin-
dungen (z. B. bl, kl, sp, st, schw etc. und kompliziertere
Verbalformen (z. B. „gelobt", „gewesen" etc.) kann die Patientin
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Die spracht. EtUuricU. u. Behandl. geistig zurückgebliebener Kinder. nj
nur nachsprechen, wenn man die Worte in Silben zerlegt vor-
spricht.
Die B e h a n d 1 u n g hat in solchen Fällen zunächst dafür
zu sorgen, dass das Kind einzelne Worte korrekt nach-
sprechen kann. Dann kommen kleinere, endlich grössere
Sätze he*ran. Zur Vermeidung des Stotterns ist vor allem
darauf zu achten, dass die Kinder nicht auf diesen Fehler
fortwährend aufmerksam gemacht werden.
Wir haben bisher die sekundären Sprachstörungen
geistig zurückgebliebener Kinder besprochen, die als Folge
des geistigen Mankos zu betrachten sind.
Nunmehr gehen wir zu den primären Sprachstörungen
geistig zurückgebliebener Kinder über. In diesen Fällen ist
das Zurückbleiben der geistigen Entwicklung auf die u n d e u t -
licheSpracheder Patienten zurückzuführen. Solche Kinder
pflegen an hochgradigem Stammeln zu laborieren. In vielen
Fällen ist das Stammeln organischer Natur und beruht
dann meist auf Gaumen defekten, Gaumensegel-
lähmungen, Behinderungen des Gaumensegels
durch Nasenrachen tu moren oder auf hochgra-
diger Herabsetzung des Gehörs. In anderen Fällen
sucht man vergebens nach einer organischen Ursache und
muss sich begnügen, eine funktionelle Störung der
Sprachorgane anzunehmen. Charakteristisch für alle diese
Patienten ist, dass sie sehr viele Laute garnicht aussprechen
können oder sie in unverständlicher Weise verstümmeln. Die
undeutliche Sprache beraubt diese Kinder des Mittels, sich
durch Fragen die reichen Erfahrungsschätze der Erwachsenen
zu erschliessen, und verhindert auch die Umgebung, die Mit-
teilungen der Kinder nach Inhalt und Form zu korrigieren.
Endlich aber macht das hochgradige Stammeln den Kindern
auch das Flektieren der Worte unmöglich und hemmt ihre
logische Entwicklung. Wenn das hochgradige Stammeln
längere Zeit anhält, bleiben auch vön Haus aus ganz intelligente
Kinder oft in ihrer geistigen Entwicklung erheblich zurück. Die
von der Einschulung erhoffte Besserung pflegt meist nicht
einzutreten. Die Aeusserungen der Kinder bleiben in der Schule
unverstanden. Die Kinder machen einen recht t h ö r i c h •
ten Eindruck, sie lernen nichts und man ist leider oft
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n8
Albert LUbmann.
geneigt, sie für „idiotisch" 2u halten. In manchen Fällen
wird die Sprache noch vor der Einschulung deutlich. Aber
es bleiben noch einige der sekundären geistigen
Defekte bestehen. Besonders fand ich Defekte, der optischen
undtaktilen Sphäre, insbesondere mangelhafte Unterscheidung
von Formen-, Grössen^, Raum- und Lage- Verhältnissen. Infolge
dessen wird es diesen Kindern sehr schwer, lesen und rechnen
zu lernen.
Am grössten sind die sekundären intellektuellen Defekte
bei den hochgradig schwerhörigen Kindern. Hier
handelt es sich nicht nur um eine expressive, sondern
auch um eine irnpressive Sprachstörung. In Bezug auf
die letztere täuschen sich oft die Eltern, ja auch bisweilen die
Aerzte. Die Eltern sind häufig der Meinung, dass diese Kinder
alles verstehen, und die Aerzte glauben den Eltern bis-
weilen, wenn sie bei der Untersuchung finden, dass die Kinder
die ihnen laut vorgesprochenen Worte verstehen. Im täglichen
Leben wird aber leider mit den schwerhörigen Kindern nicht
so deutlich gesprochen. Daher bleibt ihr Wortschatz oft ausser-
ordentlich gering und sie erwerben infolge dessen auch viele
der allergewöhnhchsten Begriffe nicht. Besonders die Be-
zeichnungen für viele Thätigkeiten und Eigenschaften, sowie
für räumliche und zeitliche Verhältnisse mangeln.
Interessant ist es zu untersuchen, wie diese schwerhörigen
Kinder dem Mangel an Worten abzuhelfen suchen. Meist
ersetzen sie das fehlende Wort durch ein anderes das in
irgend einer Beziehung zu dem ersteren steht.
So tritt für ein fehlendes Substantiv oft ein anderes
ein, das einen verwandten Begriff bezeichnet, z. B. für
„Wagen" „Pferd", für „Feder" „Tinte". Häufig wird auch
die Bezeichnung eines Teiles für die des Ganzen gebraucht,
z. B. für „Wagen" „Rad", oder für „Fenster" „Haus". Manch-
mal treten auch die Bezeichnungen der einzelnen Teile
für einander ein; so wird für „Fenster" gesagt: „Thür". Oft
wird auch für ein fehlendes Substantivum das ent-
sprechende Verb um oder ein Adjektiv gesetzt, das eine
besonders hervorstechende Eigenschaft bezeichnet; z. B. für
„Blume" „rieche", für „Scheere" „schneide", für „Suppe"
„heiss", für „Himmel" „hoch". Ferner werden Dinge, die
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Die spracht. Entwickl. u. Behandl. geistig turück gebliebener Kinder.
eine gewisse äussere Aehnlichkeit miteinander haben,
oft mit demselben Wort benannt ; z. B. wird das „Barometer"
als „Uhr", die „Kochmaschine" als „Ofen", das „Sofa" als
.,Stuhl", die „Zeitung" als „Buch" bezeichnet.
Sehr häufig werden auch völlig differente Gegenstände
mit demselben Wort benannt, wenn ihre Namen eine nur
ganz entfernte Klangähnlichkeit haben ; so wird z. B.
Schirm", „Fisch" und „Tisch" als „Tisch" bezeichnet.
Die Zahl der V e r b e n , über die hochgradig schwerhörige
Kinder verfügen, beträgt oft kaum ein Dutzend. Diese müsseri
dann zur Bezeichnung aller möglichen ähnlichen Thätig-
keiten herhalten; z. B. wird oft für Ortsbewegungen wie
„gehen", „laufen", „springen", „fahren", „reiten", das eine
Wort „gehen" gesetzt, für „schreiben" wird gesagt „malen",
für „trinken" „essen" etc. Viele Kinder suchen sich dadurch
zu helfen, dass sie für das fehlende Verbum ein ent-
sprechendes Substantivum oder Adjektiv um ge-
brauchen, z. B. für „waschen" „Wasser", für „putzen" „blank".
Mit Adjektiven pflegt es noch weit dürftiger zu stehen,
als mit Substantiven und Verben. Von Adverbien fand ich
häufig nur die Worte „oben" und „unten".
Präpositionen und Zahlwörter fehlen oft gänzlich.
Immer ist Agrammatismus vorhanden.
Natürlich reicht für einigermassen regsame Kinder diese
wortarme Lautsprache zum Ausdruck ihrer Gedanken und
Wünsche nicht aus und sie nehmen dann instinktiv die
Zeichensprache zu Hilfe, in der manche eine eigenartige
Fertigkeit haben. Diese Zeichensprache vermag natürlich
einigermassen kompliziertere Gedanken nicht auszudrücken.
Die Behandlung der primären Sprachstörungen ist
meist nicht besonders schwierig. Zunächst sind die etwaigen
organischen Ursachen der Störung nach Möglichkeit
zu beseitigen. Dann werden die einzelnen Laute und Laut-
verbindungen, endlich Worte eingeübt. Da diese Patien-
ten intelligenter sind, geht die Behandlung rascher und leichter,
als bei den früher geschilderten Patienten. Beim Einüben
der Sätze sucht man auch die aufgefundenen Defekte zu be-
seitigen.
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120
Albert Lübmann.
Die Behandlung hochgradig schwerhöriger Kinder
macht am meisten Schwierigkeiten, da diese Patienten die
gewöhnliche Umgangssprache nicht hören. Bei diesen Kindern
nimmt man am besten die Schrift zu Hilfe, um die mangel-
haften Klangbilder durch Schriftbilder zu ergänzen. Wenn
diese Kinder lesen gelernt haben, ist man imstande, ihnen
vieles mitzuteilen, was sie sonst nur ungenau verstehen würden.
Allmählich lernen diese Kinder auch das Gesprochene am
Munde ablesen und das unvollkommen Gehörte auf diese
Weise zu ergänzen. Endlich gelingt es auch durch geeignete
Hörübungen das Gehör zu schärfen.
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Der Einfluss des grossstädtischen Lebens und
des Verkehrs auf das Nervensystem.
Von
Albert Moll.
Im Gegensatz zu jenen Fortschritten der Hygiene, die zu einer
Verminderung mancher Krankheiten, z. B. der Pocken und des
Typhus, geführt haben, steht die scheinbare oder wirkliche Zunahme
anderer, z. B. des Krebses und der Blinddarmentzündung, die, noch
vor verhältnismässig wenigen Jahren zu den selteneren gerechnet,
heute nicht nur als schwere, sondern auch als häufig auftretende
Geissein das Leben zahlreicher Menschen bedrohen, wobei aller-
dings noch nicht mit Sicherheit entschieden ist, ob diese Krank-
heiten früher nur seltener erkannt wurden oder thatsächlich seltener
waren. Ich will aber nicht vom Krebs und von der Blinddarm-
entzündung sprechen, d. h. Krankheiten, die zwar das Leben so
manches rüstigen Menschen vorzeitig vernichten oder doch ge-
fährden, die aber weit zurücktreten, wenn wir die grosse Zahl der
Opfer betrachten, die die Erkrankung eines der wichtigsten Organ-
systeme, des Nervensystems, fordert, zumal wenn wir hierher nicht
nur die Nervenkrankheiten im engeren Sinn, z. B. Nervenschwäche,
Hysterie, Epilepsie, Nervenentzündung, Rückenmarksschwind-
sucht, sondern auch die Geisteskrankheiten rechnen, in denen wir
• ja nur die Aeusserungen bestimmter Gehirnaffektionen, d. h. gleich-
falls Nervenkrankheiten sehen. Wenn auch manches Nerven-
leiden keine Bedeutung in dem Sinne gewinnt, dass es das Leben
sichtbar abkürzt, so sind doch die Qualen, die dem Kranken und
der Umgebung erwachsen, oft weit grösser als bei manchen Krank-
heiten, die in kürzerer oder längerer Zeit das Leben bedrohen.
Wenn man nach den Ursachen fragt, die für die wirkliche
oder scheinbare Zunahme der Nervenkrankheiten verantwortlich
zu machen sind, so wird fast immer als eine der wesentlichsten
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122
Albcrl Moll.
die heutige Civilisation und das Anschwellen der grossstädtischen
Bevölkerung angeführt, und es wird mit Vorliebe, um dies zu be-
weisen, auf die gesunden Nerven der früheren Generationen, ferner
der heutigen Kleinstädter und Landbewohner hingewiesen.
Ob die Zahl der Nervenkrankheiten thatsächlich so sehr an-
steigt, könnte nur durch zuverlässige Statistiken entschieden wer-
den. Sicher ist es, dass nicht nur Nervenkrankheiten zu allen Zeiten
bestanden haben, sondern dass die Klagen über die Zunahme der
Nervenkrankheiten durchaus nicht etwa erst aus den letzten Jahren
oder Jahrzehnten herrühren. Je mehr ich die Fachlitteratur aus
dem Ende des 18. Jahrhunderts gelesen habe, um so klarer wurde
es mir, dass die gleiche Klage bereits mindestens ioo Jahre alt ist1).
Einzelne Werke, die über ioo Jahre alt sind, könnten ebenso gut
heute geschrieben sein, und einzelnen Ursachen, die man heute
anführt, wie Genusssucht, Zunahme des Luxus, sitzende Lebens-
weise, geistige Ueberanstrengung, künstliche Verkürzung de9
Schlafes, wurde bereits 1750*) die Verantwortung für die Zu-
nahme der Nervenkrankheiten beigemessen.
Dass aber die Nervenkrankheiten nicht nur vereinzelt — das
bestreitet ja niemand — sondern in grosser Zahl bereits vor
mehreren Jahrhunderten aufgetreten sind, das lehren uns die
grossen psychischen Epidermen, die wir im Mittelalter und den
späteren Jahrhunderten finden — ich erinnere nur an die Geissler,
an die Tanzseuche, den sogenannten Tarantismus, der im 15. Jahr-
hundert in Italien herrschte, an den grossen Veitstanz. Ich er-
innere weiter an die epidemische Hysterie der Ursulinerinnen in
Loudun, an die der Bewohner des Stiftes in Paderborn, des Klosters
von Lottviers"), an die zeitweise aufgetretenen Massenvisionen,
an die epidemische Zoanthropie u. s. w. Nicht nur aus den Be-
schreibungen, sondern auch aus bildlichen Darstellungen, die wir
z. B. Peter Breughel verdanken, können wir mit Sicherheit heute
schliessen. dass es sich oft um typische Nervenkrankheiten, be-
sonders um Hysterie, handelte. Diese Krankheit müssen wir auch
*) Vgl 8. A. Tfssot, Abhandlung von dem Nerven und ihren Krank-
heiten. Uebersetzt von Weber. 1. Baad. Wintert hur und Leipzig 1781.
8. IV.
«) z. B. von Cheyne. Vgl. Tis»ot. 1. Bd. S. 449.
') Viele Einzelheiten, s. bei Perty, die mystischen Erscheinungen der
menschlichen Natur, Leipzig und Heidelberg 1872, S. 361 ff.
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Der Einfluss d. grossstädt. Lebens u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 123
bei tau senden und abertausenden von Frauen annehmen, die als
Hexen angesehen, den Flammentod erlitten, jedenfalls ist die An*
nähme nicht von der Hand zu weisen, dass es bereits früher Zeiten
gegeben hat, wo der Prozentsatz der Nervenkranken, auf die Be-
völkerung berechnet, sehr bedeutend, wenn auch vielleicht etwas
geringer war als heute. Genau können wir aber diese letztere
Frage nicht entscheiden, da uns die Statistik hierbei natürlich
im Stich lässt.
Selbst für die neuere Zeit, z. B. die letzten fünf Jahrzehnte,
besitzen wir genauere Zählungen kaum; höchstens noch für die
Geisteskranken. Wie wenig zuverlässig aber diese Zählungen sind,
ergiebt »ich daraus, dass die Zunahme der Geisteskrankheiten nicht
ohne Widerspruch anerkannt wird. Es wurde eingewendet, die Zu-
nahme sei nur eine scheinbare, indem man die Geisteskranken sorg-
fältiger zähle und vor allem öfters als früher in Irrenanstalten
brächte, wo naturgemäss jeder Kranke auch gezählt wird. Es
kommt hinzu, dass man früher noch ängstlicher als heute das Be-
stehen einer Geisteskrankheit in der Familie verheimlichte ; wurde
doch vor noch nicht langer Zeit, wer aus der Irrenanstalt als geheilt
entlassen wurde, auch von Aufgeklärten ebenso gemieden, wie ein
aus der Strafanstalt Entsprungener, und wurden doch früher noch
weit mehr als heute diese unglücklichsten unserer Mitmenschen von
rohen Gemütern zur Zielscheibe des Spottes gewählt. Von anderer
Seite wird ferner angenommen, dass die bessere Pflege, die die
Geisteskranken heute, besonders in den Irrenanstalten, hätten, ihnen
durchschnittlich ein längeres Leben verbürgte als früher, und dass
demgemäss der Prozentsatz der Geisteskranken unter der gesamten
Bevölkerung schon aus diesem Grunde höher sein müsse als früher.
Ja es ist sogar schon eine prozentuale Abnahme der Geisteskrank-
heiten berechnet worden. Nach Mayo-Smith war die Zahl der
Geisteskrankheiten, die in Irrenanstalten der Vereinigten Staaten
1881 behandelt wurden, 56205, 1889 hingegen 97535, das heisst es
lag eine Vermehrung um 73 Prozent vor. Hingegen soll im Jahre
1880 die Zahl von Geisteskrankheiten auf eine Million Einwohner
1833, 1890 nur 1697 betragen haben1), dass heisst, es hätte sogar eine
prozentuale Abnahme stattgefunden. Die Statistiken, die allein
») TheEncyclopedia of social refonn, edited by Blies, New- York and
London 1897, S. 734.
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I24
Albert Moll.
einen sicheren Beweis für die Zunahme der Geisteskrankheiten
geben könnten, sind, wie man ersieht, so vieldeutig, dass wir einst-
weilen aus ihnen höchstens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
auf die Zunahme der Geisteskranken im allgemeinen schlie3sen
können.
Vergleichen wir nun die Verhältnisse von Stadt und Land, so
sind zuverlässige Statistiken nur in ganz geringer Zahl vorhanden.
Der Statistiker von Mayr hat die Verhältnisse für Bayern unter-
sucht, wie ich einem Aufsatz von Ranzow entnehme. Es sind ver-
glichen mit einander die Personen, die in unmittelbaren Städten,
und solche, die in Bezirksämtern geboren wurden, wo die Land-
bevölkerung vorwiegt. Auf ioooo in unmittelbaren Städten Ge-
borene kommen 13,65 Blödsinnige und 18,54 Irrsinnige, zusammen
32,19, in Bezirksämtern aber 15,33 Blödsinnige und 8,81 Irrsinnige,
zusammen 24,14 ; das heisst : obschon prozentual die Blödsinnigen
auf dem Lande vorwiegen, ist die Gesamtzahl der Geisteskranken
doch wesentlich ungünstiger für die Stadt. Zuverlässige, eindeutige
vergleichende Statistiken für die sonstigen Nervenkrankheiten, die
uns über das Verhältnis von Stadt und Land aufklären könnten,
fehlen fast ganz, und es wird die stärkere Beteiligung der Stadt
gewöhnlich nach den subjektiven Eindrücken und Erfahrungen
einzelner Personen, besonders der Aerzte, angenommen.
Hier liegt aber eine wesentliche Fehlerquelle. Wir müssen
festhalten, dass, da in der Stadt mehr Nervenärzte und durch-
schnittlich überhaupt mehr Aerzte wohnen, es hier für den Nerven-
kranken wesentlich leichter ist, einen Arzt aufzusuchen, als auf dem
Lande. Man wird sich daher nicht wundern können, dass, da die
Bequemlichkeit eine Rolle spielt, die Wahrscheinlichkeit, dass der
Nervenkranke gesehen wird, in der Grossstadt wesentlich grösser
ist als auf dem Land, wo er die Befragung des Arztes vermeidet,
weil oft genug eine weitere Reise hierzu notwendig ist. Durch
diese Thatsache wird an sich sehr leicht der Eindruck eines Ueber-
wiegens der Nervenkranken in der Grossstadt hervorgerufen oder
verstärkt, während dieses nur scheinbar der Fall ist. Ich bestreite
aber nicht, dass an sich ein gewisses Ueberwiegen der Nerven-
krankheiten in den Grossstädten auch thatsächlich besteht. Nur
glaube ich, dass der Unterschied zwischen Grossstadt und Land
oft genug überschätzt wird. Dass die Grossstadt etwas mehr be~
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Der Emßuss des grosutädt. Lebens u. <L Verkehrs auf d. Nervensystem, \ 25
lastet ist, als das Land, lässt sich aber, wie ich glaube, oft sehr ein-
fach erklären und zwar bei Berücksichtigung von Verhältnissen,
die vielfach übersehen werden, während man sehr oft zu Ungunsten
der Grossstadt auf bestimmte Faktoren, z. B. Alkoholismus, Sitt-
lichkeitsverhältnisse, Gewicht legt, denen bei einem Vergleich
zwischen Stadt und Land eine nur geringe Bedeutung beizumessen
ist, deren starke Hervorhebung und Betonung aber die Grossstadt
in allgemein ethischer Beziehung zu Ungunsten des Landes und der
Kleinstadt herabwürdigt. Im Gegensatz zu dieser Auffassung bin
ich der Meinung, dass es sehr bedeutende Kulturfaktoren sind, die
die Grossstadt belasten und bei deren Einwohnern eine, wie zu-
gegeben werden soll, etwas erhöhte Disposition zu Nervenkrank-
heiten schaffen. Um dies zu begründen, ist es notwendig, einige
Ursachen zu betrachten, die auf die Entstehung von Nervenkrank-
heiten einen deutlichen Einfluss ausüben, und dabei zu erwägen,
inwiefern hier ein Unterschied zwischen Grossstadt und Land her-
vortritt.
Beschreiten wir diesen Weg, so werden wir finden, dass manche
Ursachen weit mehr in der Stadt einwirken, als auf dem Lande.
Wir werden unter den oft angenommenen Ursachen von Nerven-
krankheiten, die für unsere Frage wichtig sind, zuerst die Berufs-
stellung, die Beschäftigung und Lebensweise, dann den Familien-
stand, die Erziehung, die allgemeinen hygienischen Verhältnisse
(Nahrung, Wohnung, Alkoholismus, Sittlichkeit) betrachten und
hierbei Stadt und Land mit einander vergleichen. Ich werde mich
aber wesentlich an die Grossstädte halten, da sie ganz besonders
den Gegensatz zum Lande zeigen, am Gegensatz solche Einflüsse
aber am besten klar werden, und ausserdem die Verhältnisse für
andere Städte hieraus leicht abzuleiten sind. Was die Grossstadt
betrifft, so will ich hier schon bemerken, dass man darunter nicht
dasselbe verstehen darf, wie unter dem Wort grosse Stadt. Bei
Volkszählungen oder Berufszählungen werden als Grossstädte ge-
wöhnlich Städte bezeichnet, die 100000 oder mehr Einwohner
haben. In dem allgemeinen kulturellen Sinn bezeichnet aber
Grossstadt etwas anderes. Um diesen Begriff anzuwenden ist ein
gewisses geschlossenes Ganze notwendig. Es ist erforderlich,
dass man kulturelle, geistige, soziale Zentren hat ; die Einwohner-
zahl allein macht die Grossstadt nicht aus.
Betrachten wir zunächst den wesentlichsten Punkt, der für
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126
Alberl Moll.
die Nerven der Grossstädter inbetracht kommt, nämlich die
Berufsstellung. Es sind durchaus nicht alle Berufsklassen
in gleichem Masse bei den Nervenkrankheiten beteiligt, was man
ohne weiteres verstehen wird, wenn man bedenkt, dass zwar einer-
seits jedes Organ durch vermehrte Leistung gekräftigt werden
kann, andererseits aber auch die Gefahr besteht, dass es zu starken
Anforderungen unterliegt. So werden wir begreifen, dass, wo das
Gehirn und sonstige Nervensystem zu einer vermehrten Leistung
gezwungen ist, einerseits zwar eine stärkere Entwickelung folgen
kann, andererseits aber auch die Möglichkeit einer häufigeren Er-
krankung dieses Organs oder Organsystems besteht. Dann wer-
den wir es auch verstehen, dass beispielsweise die Nervenschwäche
verhältnismässig häufig die Kopfarbeiter befällt. Bei der Nerven-
schwäche sind Kopfarbeiter , wie Beamte, Lehrer, Kaufleute,
Bankiers, Künstler, Journalisten, Schriftsteller, Dichter, in er-
heblich höherem Masse beteiligt, als die Handarbeiter. Besonders
die fortgesetzte ununterbrochene Hirnarbeit, die ohne Erholungs-
pausen und ohne dem Körper die notwendige Bewegimg zu schaffen
ausgeübt wird, ist gefährlich. Wenn nun noch dazu, wie bei vielen
Journalisten, Postbeamten usw., eine aufreibende Nachtarbeit oder,
wie bei produktiven Künstlern, die Inanspruchnahme der Phantasie
oder die geisttötenden Uebungen der Klavier- und Violinspieler hin-
zukommen, so werden diese Gefahren noch vergrössert, und eine
ganz besonders grosse Zunahme müssen sie da erfahren, wo fort-
dauernd starke Erregungen auftreten, wie dies bei Spekulanten
und Börsenbesitchern der Fall ist. Der sie auf der Börse umgebende
laute Lärm, die Angst und Erwartung stellen besondere Gefahren
dar. Ebenso muss die fortwährende Sorge, etwas zu versehen, dem
Nervensystem schaden. Hierauf ist es zurückzuführen, dass Be-
amte in verantwortlichen Stellungen, auch wenn sie nicht durch
übermässig lange Arbeitszeit in Anspruch genommen sind, oft ein
Opfer der Nervenschwäche werden. Damit erklärt sich auch, wes-
halb viele Examenskandidaten, z. B. Herren, die vor dem Referen-
dar- oder Assessorexamen stehen, so oft die Nervenärzte aufsuchen,
teils um von ihnen behandelt zu werden, teils um von ihnen ein
Zeugnis zu erbitten, durch das sie einen Aufschub des Prüfungs-
termins erlangen wollen. Diese Examenskandidaten sind durch
Nachtarbeit und Furcht vor der Prüfung besonders gefährdet, zu-
mal, da manche unter ihnen bereits in der Studentenzeit durch vieles
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Der Emßuss J. grossstädt. Lebens *. d. Verkehrs auf <L Nervensystem. \ 27
Kneipen am Tage und bei Nacht ihre Widerstandsfähigkeit ge-
schwächt haben.
Zwar sind auch unter den Muskelarbeitern Nervenkrankheiten
nicht unbekannt, ja weit häufiger, als man gewöhnlich annimmt.
Wir haben festzuhalten, dass bei jeder Muskelarbeit das Nerven-
system beteiligt ist. Ohne Nerven können die Muskeln nichts
leisten. Da aber beim gewöhnlichen Handarbeiter die Thätigkeit
des Nervensystems nicht eine derartig intensive und anstrengende
ist, wie beim Kopfarbeiter, so lässt sich die häufigere Beteiligung
der letzteren bei den Nervenkrankheiten begreifen. Gefährdet sind
die Muskelarbeiter besonders da, wo bestimmte Schädlichkeiten
inbetracht kommen, die das Nervensystem zu schädigen geeignet
sind. Hierher gehört z. B. eine zu lange Arbeitszeit, da je stärker
die Ermüdung wird, um so mehr der Wille auf die Nerven wirken
muss, die Ermüdung zu bekämpfen oder zu unterdrücken. So
können wir auch zahlreiche Fälle von Nervenschwäche in der Haus-
industrie beobachten, die nicht nur in der Grossstadt, sondern auch
in den kleinen Städten und auf dem Lande stark entwickelt ist.
Wo eine anstrengende Hausindustrie geübt wird, wo Männer,
Frauen und Kinder, um den kärglichen Lohn zu erwerben, nicht
nur den Tag. sondern auch einen Teil der Nacht in engen, schlecht
gelüfteten Räumen arbeiten, da finden wir jene elenden, blutleeren
Körper mit allen Symptomen der Nervenschwäche in grösster Zahl
vertreten. Ueberhaupt kommen viele Fälle inbetracht, wo die
Nacht nicht hinreichend dem Schlaf dient oder der Schlaf durch die
Art der Arbeit ein unregelmässiger wird. Hiermit hängen wohl
viele Fälle von Nervenschwäche, beispielsweise bei Kellnern und
Strassenbahnbeaniten in den Grossstädten zusammen. Ebenso sind,
wie Möbius l) mit Recht betont, besonders jene Arbeiter gefährdet,
die mit Präzisionsarbeiten beschäftigt sind, wo die Kostbarkeit des
Materials oder die Feinheit der Arbeit eine besondere Anstrengung
des Nervensystems erfordert. Wie man daraus ersieht, sind auch
bei der Arbeit selbst für die sogenannten Muskelarbeiter Gefahren
vorhanden, nur treten sie nicht mit der Häufigkeit wie bei den
Kopfarbeitern auf, und man wird daher begreifen, dass die letzteren
prozentualer ein weit höheres Kontingent zu den Nervenkrank-
heiten liefern.
») Möbius, Neurologische Beiträge. 2. Heft. Leipiig 1894, S. 76.
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I28 ****** Moll.
Wie sehr der Beruf bei den Geisteskrankheiten eine Rolle
spielt, dafür möge eine Statistik, die sich auf die männliche Bevölke-
rung Sachsens bezieht, kurz erwähnt sein. Sie wird uns zeigen, wie
die sogenannten liberalen Berufe bei den Geisteskrankheiten er-
heblich höher beteiligt sind, als ihrer Zahl entspricht. Es waren
die liberalen Berufe, wie ich Ranzow entnehme, an der männlichen
Bevölkerung Sachsens mit 5,01 Prozent beteiligt, stellten aber
allein zu den Melancholikern 12,9 und zu den Wahnsinnigen 14.79
Prozent, und auch die weiblichen Angehörigen der liberalen Berufe
waren prozentual erheblich höher beteiligt, als nach der Bevölke-
rungszahl ihnen zukam. Nach von Mayrs Statistik kamen in Bayern
auf je 10 000 Angehörige der liberalen Berufe 14,47 Irrsinnige, auf
10 000 Angehörige der Landwirtschaft nur 6,55.
Halten wir die höhere Beteiligung der Hirnarbeiter bei den
Nervenkranhkeiten fest, so muss sich hieraus eine bedeutende Be-
lastung der Grossstadt ergeben, weil die Hirnarbeiter in der Gross-
stadt prozentual erheblich stärker vertreten sind als in der Klein-
stadt oder auf dem Lande. Einen Anhaltspunkt für diese Thatsache
geben uns die Berufszählungen. Ich möchte hier die Berufszählung,
die im Deutschen Reich am 5. Juni 1882 stattfand, zu Grunde legen,
und zwar deshalb, weil ihre Resultate bereits besser verarbeitet sind,
als die der Berufszählung vom Jahre 1895.
Im Deutschen Reiche gab es damals 15 Grossstädte *), worunter
Städte mit über 100000 Einwohnern verstanden wurden. Exakter
wäre es vielleicht, von grossen Städten, statt von Grossstädten, zu
reden, da der Begriff Grossstadt, wie wir sahen, nicht allein von
der Einwohnerzahl abhängt. Betrachten wir zunächst die ersten
beiden Grossstädte, Berlin und Hamburg, und die beiden letzten,
Nürnberg und Strassburg, so werden wir finden, wie diejenigen
Berufsklassen, die ganz wesentlich zu Nervenkrankheiten disponiert
sind, nicht nur absolut, sondern auch relativ in den kleineren Gross-
städten wesentlich abnehmen. Von den hierfür inbetracht kom-
menden Berufsarten wollen wir nur die folgenden wählen. Erstens
Personen, die sich durch Musik, Theater und Schaustellungen ihren
Unterhalt verdienen; zweitens diejenigen, die als Schriftsteller
») Statistik des deutschen Reiches, neue Folge. Band 3: Berafa-
statdstik der deutschen Grossstadte nach der allgemeinen Berufszählung
vom 5. Juni 1882, Berlin 1884.
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Der Einßuss d. grossslädt. Lebens ». d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 129
Zeitungsredakteure, Korrespondenten, als Privatgelehrte und in
ähnlichen Stellungen ihren Erwerb finden; drittens diejenigen,
die im Geld- und Kredithandel beschäftigt sind. Bei diesen Berufs-
arten giebt es so viele Neurastheniker, dass es leichter sein würde,
solche, als Leute mit gesunden Nerven zu finden. Betrachten wir
die erste dieser drei Klassen, das heisst jene, deren Angehörige
mit Musik oder beim Theater beschäftigt sind, so gehörten zu ihr
damals in Berlin 3410, in Hamburg 1141, in Nürnberg 229, in
Strassburg 104 Einwohner. Vergleichen wir Berlin mit Strassburg;
ersteres hatte damals gegen 1 200000, letzteres etwas über 100000
Einwohner. Während Berlin bei gleichem Prozentsatz wie Strass-
burg nur etwa 1250 Personen beim Theater und mit Musik be-
schäftigen durfte, waren es in Wirklichkeit 3410. d. h. beinahe die
dreifache Zahl. Nehmen wir die zweite Klasse, d. h. die Schrift-
steller, Zeitungsredakteure, Privatgelehrtcn usw., so ergiebt sich
für Berlin damals die Zahl 2125, für Hamburg 431, für Nürnberg 29,
für Strassburg 69 Personen, d. h. wenn wir mit Berlin Nürnberg
vergleichen, das damals ebenfalls den 12. Teil der Einwohner von
Berlin hatte, so ergiebt sich, dass es nicht den 12., sondern nur den
73- Teil der als Schriftsteller, Zeitungredakteure usw. beschäftigten
Personen im Vergleich zu Berlin in sich schloss. Bei demselben
Prorentsatz hätte Berlin nur 346 Schriftsteller und Redakteure be-
schäftigen dürfen ; es waren aber mehr als 2000. Gehen wir weiter
und betrachten wir den Geld- und Kredithandel, so lebten von ihm
in Rerlin damals 5589 Personen, in Hamburg 11 54, in Nürnberg
264, in Strassburg 262. Vergleichen wir Berlin mit Nürnberg, das
den 12. Teil der Einwohner hatte, so ergiebt sich, dass es trotzdem
nur den 21. Teil der Personen in diesem Berufe beschäftigte wie
Berlin. Bei gleichem Prozentsatz durfte Berlin nur 3168 in diesem
Beruf beschäftigen, statt der thatsächlich vorhandenen 5589.
Rechnen wir nun diese drei Berufsklassen, die beim Geld- und
Kredithandel, Musik und Theater, als Schriftsteller und Zeitungs-
redakteure ihren Erwerb finden, zusammen, so ergiebt sich, dass
in Nürnberg damals 522, in Berlin aber n 124 Personen in diesen
das Nervensystem so überaus schädigenden Berufen beschäftigt
waren, d. h. es waren in Berlin etwa 5000 mehr Leute, die diesen
Berufen angehörten, als hier hätten wohnen müssen, wenn der
Prozentsatz derselbe gewesen wäre wie in Nürnberg. Und dann
bedenke man, dass Nürnberg auch eine grosse Stadt ist, wo diese
Zeitschrift Wr pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 3
Albert Moll
Berufsklassen verhältnismässig stärker vertreten sind als auf dem
Lande und in der Kleinstadt. Man berücksichtige ferner, dass es
sich hier nur um drei Berufsarten unter den Hirnarbeitern handelt,
und dass eine ganze Reihe anderer gleichfalls das Nervensystem
bedrohender Berufe hier gar nicht mitgerechnet sind. Man denke
an die im Erziehungs- und Unterrichtswesen Beschäftigten, ferner
an die Kaufleute und Postbeamten — im Waren- und Produkten-
handel, im stehenden Geschäftsbetriebe waren damals in Berlin
52 825 Personen thätig, im Post- und Telegraphenbetriebe 5549 —
so wird man die enorme Belastung beispielsweise Berlins in dieser
Beziehung ohne weiteres erkennen. Noch deutlicher wird die Zahl
der als Hirnarbeiter in den das Nervensystem aufreibenden Berufen
beschäftigten Personen der Grossstadt, wenn wir die betreffenden
Zahlen in den damaligen 15 Grossstädten zusammennehmen und
mit der gesamten Zahl im Reich vergleichen. Der Geld- und
Kredithandel war damals in den Grossstädten 7,1 mal stärker ver-
treten, als dem Reichsdurchschnitt entsprach ; das Versicherungs-
gewerbe 6,i mal stärker, Schriftstellerei, Musik und Schaustellungen
zusammen 5,3 mal stärker, Civil*, Staats-, Hofdienste und Rechts-
pflege zusammen 2,5, Post- und Telegraphendienst 2,7 mal stärker,
Bildung, Erziehung und Unterricht 1,7 mal stärker als der Reichs-
durchschnitt ergeben würde *) Was solche Zahlen zu bedeuten
haben, braucht man sich nur an einem Beispiel klar zu machen. In
allen 15 Grossstädten waren damals 13 313 Personen beim Geld-
und Kredithandel beschäftigt, während es nach dem Reichsdurch-
schnitt nur etwa 2000 hätten sein dürfen. In Berlin waren 5589 bei
dieser Berufsart thätig; nach dem Reichsdurchschnitt durften es
nur etwa 700 sein. Dass seit jener Berufszählung von 1882 die Ver-
hältnisse nicht günstiger geworden sind, liegt auf der Hand, d. h.
es müssen in einer Grossstadt wie Berlin mehr
Nervenkranke und Geisteskranke vorkommen,
als dem R e i c h s d u r c h s c h n i 1 1 entspricht, weil
die am meisten gefährdeten Berufe dort nicht
nur absolut, sondern auch relativ am meisten
vertreten sind.
Nun haben wir zweifellos auch in den Mittelstädten, Klein-
») Seifarth, Die Berufsstatistik des deutschen Reiches. Heidelberg
1902, S. 71.
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Der Emfiuss d, grossstddi. Lebens u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 1^1
Städten, in den Landstädten und auf dem Lande häufig das Nerven-
system schädigende Berufe. Präzisionsarbeiten werden z. B. viel-
fach in Landstädten ausgeführt. Wenn man aber die Berufe in
verschiedene Klassen teilt, je nachdem sie in der Grossstadt, Mittel-
stadt, Kleinstadt, Landstadt oder auf dem Lande vorwiegen oder
keinen dieser Charaktere tragen, so wird man ohne weiteres zu-
geben müssen, dass die für das Nervensystem schädlichsten Berufs-
arten der Grossstadt zufallen.
Mit der Berufsfrage hängt wohl auch wenigstens teilweise die
starke Beteiligung der jüdischen Bevölkerung bei den Nervenkrank-
heiten zusammen, da sich diese ganz besonders der Hirnarbeit zu-
wendet und hierbei die grossen Städte aufsucht. Sie stellt einen
hohen Prozentsatz unter den Nervenkranken, besonders den Neu-
rasthenikern, Hysterikern und auch bei der vielleicht oft auf ner-
vöser Basis beruhenden Zuckerkrankheit, was an sich nicht ver-
wundern kann, wenn wir bedenken, dass sie besonders stark beim
Handel und Gewerbe vertreten sind, unter den Rechtsanwälten,
Aerzten, Bankiers usw. Ob ausserdem noch vererbte Einflüsse
und angeborene Dispositionen zu Nervenkrankheiten hinzukommen,
und ob besonders die häufig angeschuldigte Inzucht, d. h. die Ehe
Blutsverwandter, bei ihnen eine Rolle spielt, das ist fraglich.
Es wird oft auch angenommen, dass der Konkurrenzkampf
in der Grossstadt lebhafter sei, und dass infolgedessen hier das
Nervensystem eher gefährdet sei, als auf dem Lande und in der
Kleinstadt. Ich glaube, dass dies in mancher Beziehung ein Irr-
tum ist. Der Konkurrenzkampf ist auf dem Lande und in der
kleinen Stadt nicht geringer als in der Grossstadt. Der Grossstädter
nimmt oft einen solchen Unterschied irrtümlich an. Wenn er zur
Sommerszeit seine Heimat verlassen hat und bei einer Wanderung
über die Berge in der Ferne ein Dörfchen oder Städtchen liegen
sieht, das aus dem Grün der Bäume hervorblickt, so preist er die
friedliche Lage jenes Ortes, und er kann es sich dann nicht vor-
stellen, dass dort ähnliche Kämpfe stattfinden können, wie in seiner
grossstädtischen Heimat. Wer aber eine Zeitlang in solchem Orte
lebt, erkennt sehr bald, dass das Friedliche nur Täuschung war, dass
menschliche Leidenschaften, Neid, Missgunst, Hass, Eifersucht an
dieser scheinbaren Stätte des Friedens ganz ebenso hausen, wie
in der unruhigen Grossstadt, dass ebenso wie in dieser auch dort
die Menschen einander befehden, dass Egoismus, Ehrgeiz, Hab-
3#
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»32
Albert Atoll.
sucht auch dort die Triebfedern des Handelns sind. Ein Irrtum
ist es, anzunehmen, dass auf dem Lande der Konkurrenzkampf
weniger wüte, als in der Grossstadt ; nur sind es andere, zum Teil
bereits besprochene Faktoren, z. B. die Berufsstellung, die Viel-
seitigkeit der geistigen Interessen, die schädigend auf das Nerven-
system des Grossstädters wirken.
Nicht nur die der Grossstadt eigentümlichen Berufsarten
kommen für die Nerven der Einwohner inbetracht, sondern auch
die Beschäftigung und das Leben ausserhalb
des Berufes. Jemand, der nur die nächsten Bedürfnisse des
Magens und sonstigen Körpers kennt, wird natürlich seine geistigen
Kräfte und sein Nervensystem viel weniger anstrengen und ge-
fährden, als wer sich an allerlei Kämpfen und Fragen beteiligt,
mögen es politische, soziale, wissenschaftliche oder künstlerische
sein. Es wird gerade hierauf die oft angenommene Zunahme der
Geisteskrankheiten bei den civilisierten Völkern zurückgeführt.
Wenn es wahr ist. dass mit der Zunahme der (Zivilisation auch die
Geistes- und Nervenkrankheiten zunehmen, dass bei den uncivili-
sierten Völkern Geisteskrankheiten garnicht oder fast garnicht vor-
kommen, so könnte man sich dies wohl erklären. Wir brauchen
nur an die Berichte jener zu denken, die eine Zeitlang aus der civili-
sierten Gesellschaft entfernt waren, Jahre, ja Jahrzehnte mitten
unter Naturvölkern lebten und später wieder zu civilisierten Völkern
zurückkehrten. Ein Amerikaner, der lange Zeit unter einem
Indianerstamm lebte, erzählte, als er später wieder zurückkehrte,
dass er nach der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse in einen
absoluten Stumpfsinn verfallen sei und an nichts gedacht habe.
Und ein Franzose, der durch einen Schiffbruch zu einem wilden
Stamme geriet und von ihm aufgenommen wurde, erzählt in ähn-
licher Weise, dass ihm jeder Gedanke fehlte, der sich nicht auf die
tierischen Triebe bezog.1) Jedenfalls dürfen wir annehmen, dass
eine Gefährdung des Nervensystems am ehesten bei starker An-
spannung desselben eintreten muss. Dass diese aber in der Gross-
stadt durchschnittlich grösser ist, als auf dem Lande, wird sich nicht
gut in Abrede stellen lassen. Schon in anscheinend unbedeutenden
Dingen zeigt sich der Unterschied. Der häufigere Wohnungs-
wechsel, der Lärm der Strassenbahn, die fortwährende Vorsicht,
*) Ball, Lecons ror les maladles mentales. 2. me ed. Paris 1890, S. 371
Der Einßuss d. groustädl. Lebens u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 133
die der Grossstädter anwenden inuss, beispielsweise bei Strassen-
kreuzungen und anderen mehr oder weniger gefährlichen Situa-
tionen, die grössere Eile, die bei den beträchtlichen Entfernungen
oft nötig ist, allerlei damit verbundene Erregungen, z. B. das oft
vergebliche, nervös machende Warten auf die Strassenbahn und
ähnliches müssen bei weniger Widerstandsfähigen zu einer schnellen
Abnutzung der Nerven führen, besonders im Zusammenhang mit
anderen Schädlichkeiten und Gefahren, die ich zum teil schon be-
sprochen habe. Es darf ferner gesagt werden, dass in der Gross-
stadt die geistigen Interessen durchschnittlich feiner und viel-
seitiger sind, als in der Kleinstadt und auf dem Lande, woraus
jedoch nicht der Grossstädter ein Recht herleiten darf, auf die
Kleinstädter und Landbewohner verächtlich herabzusehen. Wir
haben weiter zu bedenken, dass gerade nach der Grossstadt viele
Leute gezogen werden, die höhere geistige Interessen haben, weil
sie sie hier eher befriedigen können. Wenn nun solche Leute in
grosser Zahl die Grossstadt aufsuchen, und wenn wir bedenken,
dass geistig regsame Leute weit mehr zu Nervenschwäche. Gehirn-
erweichung und anderen Nervenleiden disponiert sind als geistig
indifferente, so wird die Belastung der grossstädtischen Bevölkerung
erklärlich, ohne dass man aber deshalb das Recht hätte, der Gross-
stadt an sich in der Form, wie es oft geschieht, eine Schuld beizu-
messen. Die Verwandtschaft zwischen Geistesstörung und Genie
ist keine Schrulle Lombrosos, sie ist nicht künstlich konstruiert
worden, mag auch manche Uebertreibung vorgekommen sein. Der
Vollständigkeit halber will ich allerdings noch bemerken, dass zu
den Leuten, die von der Grossstadt angezogen werden, auch aller-
lei problematische Naturen, oder, wie es der französische Irrenarzt
Ball nennt, catilinarische Existenzen, männlichen, aber auch weib-
licher. Geschlechts kommen, die in der Grossstadt die Zahl der
Degenerierten vermehren.
Die vorhergehenden Ausführungen gelten auch für das weib-
liche Geschlecht. Dass manche Bauerndirnc gesündere Nerven
hat, als die grossstädtische Dame, bestreite ich nicht. Ob aber die
grossstädtische Lehrerin weniger nervös ist als die der Kleinstadt,
erscheint mir noch sehr fraglich, und für sicher halte ich, das« man
ebensoviel Nervenschwäche, besonders in der Hausindustrie weib-
licher Personen auf dem Lande und in der Kleinstadt, wie in der
t»rossstadt findet. Ebenso bestreite ich, dass in den Kreisen auf
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13*
Albtri M oll .
dem Lande und in den kleinen Städten, wo geistige Interessen und
höhere Bildung bestehen, Frauen und Mädchen kräftigere Nerven
haben, als man sie in der Grossstadt beim weiblichen Geschlecht
findet. Wenn so häufig manchen Zerstreuungen, z. B. den modernen
Theaterstücken, der modernen Litteratur und der Musik die Zu-
nahme der Nervosität in der Grossstadt zugeschrieben wird, so
findet hier eine Verwechselung der Begriffe statt. Die Frauen
werden nicht nervös, weil sie ihre litterarischen und sonstigen Be-
dürfnisse auf diese Weise befriedigen, sie haben vielmehr ein feiner
organisiertes, oft vielleicht auch pathologisches und deshalb mehr
sensibles Nervensystem, und dieses verlangt nach der Befriedigung
durch die betreffende geistige Speise. Es wäre oft viel bedenklicher,
wenn man dem hier bestehenden Bedürfnis hemmende Schranken
entgegenstellte. Jedenfalls kann man beobachten, dass auf dem
Lande vielfach ganz gleiche Bedürfnisse bestehen, und dass, wo
dies der Fall ist, auch dieselben Bücher wie in den Grossstädten
gelesen werden, mit dem einzigen Unterschiede, dass dies einige
Wochen oder Monate später als hier geschieht.
Dass jedenfalls die Versagung geistiger Speise nicht vor
Nervenleiden schützt, dafür spricht die Thatsache, dass bei den
dem grossstädtischen Leben entrückten Frauen der orientalischen
Harems Hysterie und Nervosität weit verbreitet sind. Dr. Castro,
der Leiter der Irrenanstalten in Konstantinopel, sagte mir zwar,
dass im Orient bei Männern und Frauen verhältnismässig weniger
Geisteskrankheiten vorkämen als bei uns, und er führte dies auf
das Fehlen des europäischen aufregenden Gesellschaftslebens
zurück. Demgegenüber weiss ich aber von verschiedenen Aerzten
und Aerztinnen orientalischer Harems, dass Hysterie und Neu-
rasthenie in ihnen eine ganz gewöhnliche Erscheinung ist.
Natürlich meine ich nicht etwa, dass die Lektüre nicht mit-
unter schädliche Folgen hat ; nur gegen Uebertreibungen wende
ich mich. Auch das gesellschaftliche Leben ist, wie ich hier be-
merke, keineswegs ohne Bedeutung, und besonders wirkt in der
Grossstadt oft die Verwertung der Nacht zu Vergnügungen und
geselligen Zusammenkünften schädlich. Dies bezieht sich besonders
auf jene Personen, Männer und Frauen, die den Tag für an-
strengende Thätigkeit verwerten müssen.
(Fortsetzung folgt.)
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Ueber Kompensationen bei der Beurteilung
der Schüler.
Von
Karl Löschhorn.
In § Ii der neuesten Ordnung der Reifeprüfung an den
neunstufigen höheren Schulen und § 4 der Bestimmungen über
die Versetzung der Schüler an den höheren Lehranstalten in
Preussen wird hervorgehoben, dass bei Schülern, die nach ihrer
Persönlichkeit und geistigen Entwicklung besondere Berück-
sichtigung verdienen, über unzureichende Leistungen in dem
einen oder anderen der nicht ausdrücklich für die Kompensation
als geeignet bezeichneten Fächer hinweggesehen werden kann,
wenn nach dem Urteile der Lehrer die Persönlichkeit und das
Streben des Schülers seine Gesamtreife gewährleistet Bei den
Bestimmungen über die Versetzbarkeit der Schüler wird hinzu-
gefügt, dass bei der Beurteilung auch auf die Leistungen in
den verbindlichen nichtwissenschaftlichen Unterrichtsfächern
entsprechende Rücksicht genommen werden kann. Es wird dabei
angenommen, dass der Schüler auf der nächstfolgenden Stufe
das Fehlende nachholt, auch muss das Schlussprädikat „un-
genügend" in einem Hauptfache mindestens durch „gut" in
einem anderen Hauptfache ausgeglichen werden. Man sieht
also, dass die Schulaufsichtsbehörden in verhältnismässig recht
weitgehender Weise Kompensationen zulassen und, wie in
meinem Artikel: „Einige Worte über die Beibehaltung der
sogenannten Versetzungsprüfungen", Zeitschrift für pädagog.
Psychol. und Pathologie, III. Jahrg. 1901 bemerkt ist, dieser
Weg, wonach die Lehrer stets die ganze Persönlichkeit des zu
versetzenden oder zu examinierenden Schülers ins Auge zu
fassen haben, als der allein richtige bezeichnet werden muss.
Digitized by Google
Karl Löschhorn.
Eine andere Frage ist allerdings die, ob nicht, wie bisher
fast immer geschehen, thatsächlich doch nur die der Natur der
Sache nach am nächsten liegenden Kompensationen, also der
alten oder an den Realanstalten der neueren Sprachen einerseits
und der Mathematik andererseits zur Anwendung gebracht
werden oder ob man z. B. auch, wie durchaus wünschenswert
erscheinen dürfte, das gesamte, so weite und interessante Ge-
biet der Naturwissenschaften für diesen Zweck mitbenutzen
wird, zumal bereits die Physik an Oberrealschulen in dieser
Hinsicht als zulässig bezeichnet ist
Wenn man erwägt, dass es, streng genommen, gar kein
einzelnes Fach giebt, das man zum unbedingten Masstabe geistiger
Reife machen kann, dass die grössten Geister, wie Liebig, der
sich während seiner ganzen Schulzeit einen grossen Dummkopf
nennen lassen musste, oft die schlechtesten Schüler gewesen
und stets nur durch ausschliessliche, von frühster Jugend an
geübte Konzentration auf ein von ihnen selbst erwähltes Haupt-
fach, ja in ihrem späteren Leben und besonders gegenwärtig
lediglich durch fortwährende Beschäftigung mit einer einzigen
Disziplin eines Hauptwissensgebiets zu Ansehen und Berühmtheit
gelangt sind, so Hegt es nicht fern, alle näheren Bestimmungen
über die Möglichkeit der Kompensation überhaupt zu beseitigen
und jedes Fach, vor allem die Naturwissenschaften, wie an
Oberreal-, Gewerbe- und rein technischen Schulen, selbst das
wissenschaftlich betriebene Zeichnen in den oberen Klassen,
ähnlich wie bei der einjährig-freiwilligen Prüfung zur Aus-
gleichung ungenügender Leistungen auf der einen Seite gegen
mindestens gute auf der anderen für geeignet zu erklären.
Bei dieser Gelegenheit können wir nicht umhin hervor-
zuheben, dass der Unterricht in der Mathematik gegenüber
allen anderen in höheren Lehranstalten getriebenen Fächern,
wie es scheint, noch am wenigsten Vorteil von der neuen
Methodik gehabt hat, was um so schmerzlicher zu bedauern ist,
als auch noch in unseren Tagen, wie von jeher, am häufigsten
ungenügende Gesamtleistungen in diesem Fache mit guten in
den alten, bezw. neueren Sprachen kompensiert werden müssen.
Während nun der früher an Gymnasien ziemlich vernachlässigte
Unterricht in den Naturwissenschaften sich auf Grund des jetzt
allgemein üblichen, durchweg auf Anschauung beruhenden
Digitized by Google
lieber Kompensationen bei tier Beurteilung der Sehüler.
«37
Verfahrens verhältnismässig sehr leicht erteilen lässt und gerade
deswegen jetzt den Schülern weit mehr Interesse einflösst als
ehedem, auch die Leisttingen in ihnen sich überall bedeutend
gebessert haben, wird der ihm verwandte in der Mathematik
noch vielfach in der alten scholastisch-abstrakten Weise, d. h.
in der Art erteilt, dass man die Schüler vorgetragene Lehrsätze,
Regeln und Formeln auswendig lernen lässt, ein Unfug, der
dem Wesen der Mathematik gänzlich fremd ist Die Prüfungs-
ordnung könnte ruhig die Benutzung von Fonnelbüchern, nicht
nur die der Logarithmentafel gestatten. Noch thorichter ist
es, von den Schülern das Auswendiglernen ganzer Beweise und
der Art, wie Formeln abgeleitet werden, zu verlangen. Man
kann vollständig damit zufrieden sein, wenn ein Schüler die
Formeln, Lehrsätze und Beweise überhaupt versteht richtig
anwendet und eine grössere, die Verstandesthätigkeit besonders
in Anspruch nehmende Aufgabe, bei der sich z. B. die Auf-
stellung ihres Ansatzes nicht sogleich von selbst ergiebt, sondern
erst durch einiges Nachdenken und Kombinieren gefunden
werden kann, richtig durchführt, selbst wenn er dabei ver-
schiedene Rechenfehler gemacht haben sollte. Dividieren und
Wegschaffen der Brüche, namentlich in Gleichungen werden
stets schwierige Operationen, deren Ausführung grosse Auf-
merksamkeit erfordert, bleiben, auch werden immer selbst geübte
Rechner in ihrem Uebereifer vergessen, bei der Minusklammer
die Vorzeichen umzukehren und dadurch das ganze Resultat
falsch gestalten. Bekannt ist, dass die grössten Mathematiker
oft mehr Rechenfehler machen, als ein kleiner Schüler und die
berühmtesten Männer nicht selten schlechter wie eine Höker-
frau rechnen und ganz ungenügende Mathematiker sind, wie
dann selbst das hervorragendste Genie irgendwo eine schwache
Seite hat Diese Erscheinungen zeigen aufs deutlichste, dass
jeder Mechanismus vom Schulunterricht zu verbannen ist.
Mechanisch, d. h. ohne jedes Verständnis der Gründe rechnen
kann der beschränkteste Kopf und die sogenannten Rechen-
künstler sind geistig fast immer unbedeutende Menscheu. Man
gebe daher in den Lehrstunden alle Rechenspielereien auf, so
verschiedene beliebte Gleichungen wie die von den beiden
Boten, die mit ungleicher Schnelligkeit von derselben oder einer
in einer bestimmten Entfernung von der ersteren gelegenen
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•38
Karl Löschhorn.
Stadt ausgehen und sich nach gewissen Zeiten treffen sollen,
dem Brunnen, der von verschiedenen Rohren gespeist wird und
endlich voll werden soll, dem Alter des Grossvaters, Vaters
und Sohnes, der Vergleichung des Vermögens mehrerer Personen,
aber auch die ganze Permutations- und Variationsrechnung, mit
ihren Aufgaben, wie vom Verändern der Plätze bei Tische u. a.,
nicht minder die meisten geometrischen Konstiuktionsaufgaben,
ausser denen, die auf den vier Grundaufgaben, dem Ziehen von
parallelen Linien und den wichtigsten geometrischen Oertern
beruhen, übe aber desto mehr im praktischen Leben wirklich
vorkommende Fälle, die sich mit leichter Mühe durch Gleichungen
lösen lassen. Nicht nur Anschaulichkeit, sondern auch möglichst
wenig Beweise sei der Grundsatz unserer heutigen Mathematik,
lehrer. Am allerwenigsten beweise man in der Geometrie
Lehrsätze, deren Richtigkeit jeder, der seine fünf Sinne bei-
sammen hat, insbesondere ein normales Auge besitzt, aus der
Figur selbst sofort erkennen kann. Man übe vielmehr haupt-
sächlich die Berechnung des Inhalts der ebenen Figuren und
Körper und erhebe die so interessante und so leichte Trigono-
metrie, die Wissenschaft der Feldmesser, die im praktischen
Leben von unberechenbarer Wichtigkeit ist, zur Hauptdisziplin.
Auch empfiehlt es sich, das vielfach nur nebenbei und zwar
als „geistiges Amüsement" betriebene Verwandeln von Figuren
im Unterricht mehr zu betonen und dafür einen Teil der Aehnlich-
keitslehre, die lediglich in dem Satz vom goldenen Schnitt und
die darauf beruhende Konstruktion des regulären Zehnecks
ausläuft, aber auch der Sätze von den drei Höhen eines Drei-
ecks, den drei Transversalen aus den Winkelspitzen eines
Triangels nach den Mitten der Gegenseiten und des ptolemäischen
Lehrsatzes durchaus nicht entbehren kann, ferner die Sätze von
der Lage der geraden Linien gegen einander und gegen Ebenen,
sowie von der Lage der Ebenen gegen Ebenen und den
trügerlichen Ecken mit Ausnahme der wichtigsten fallen zu
lassen. Es genügt so ziemlich, aus den letztgenannten Kapiteln
nur den Neigungs- und Flächenwinkel, bezw. die Scheitel- und
Polarecke nebst dem Begriff der Symmetrie zu erklären. Aus
dem durchzunehmenden Pensum kann man auch recht wohl
die ganze, durch die neuesten Lehrpläne wieder eingeführte
Proportionslehre ausser den Regeln über die Entstehung einer
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lieber Kompensationen bei der Beurteilung der Schüler.
Proportion aus zwei gleichen Produkten und die Aufsuchung
des vierten, bezw. bei der stetigen Proportion des mittleren
Gliedes, die ganze Lehre von den negativen und Bruchpotenzen,
irrationalen und imaginären Wurzeln mit Ausnahme der be-
treffenden Begriffsbestimmungen und, wie schon oben erwähnt,
die Perrautations- und Variationslehre streichen, aber die Haupt-
satze über die Reihen beibehalten. Ganz zu entbehren sind
auch alle Beweise der Richtigkeit der elementaren Summen-
und Differenzenformeln, die selbst bei Kamply noch durch-
geführt sind, in Unter-Tertia, alle nicht oder niemals aufgehenden
Aufgaben aus der Division von Polynomen, die Lehre von den
natürlichen Logarithmen, die nur in der höheren Analysis An-
wendung findet, und den Exponentialgleichungen. Was eine
diophantische Gleichung ist, ist dagegen an leichten Beispielen
zu erklären.
Im allgemeinen muss der Schüler überall erkennen, dass
das Rechnen mit Buchstaben auf denselben Gesetzen beruht,
wie das Rechnen mit Zahlen, ja in den meisten Fällen noch
einfacher ist als dieses. Alsdann wird auch der Unbegabteste
dem gewöhnlich den Schülern schwer verständlichen Unterrichte
in der Arithmetik leicht folgen, während zu viele Beweise ihn
schliesslich dahin bringen werden, dass er das elementarste
praktische Rechnen wieder verlernt. So hat man denn auch
jetzt eingesehen, dass die angewandte Mathematik viel wichtiger
ist, als die reine, wie ja denn auch die neueste Oberlehrer-
prüfungsordnung diese beiden Gebiete mit Recht trennt. Jeden-
falls wird man, da nach Ausscheidung oder höchstens ganz
allgemeiner Behandlung aller oben erwähnten Teile nur die
einfachsten aber wichtigsten und für das praktische Leben be-
sonders nützlichen Abschnitte der ganzen Mathematik, übrig
bleiben, viel seltener als bisher in die Notwendigkeit kommen»
gute sprachliche Leistungen zur Kompensation mit ungenügenden
mathematischen heranziehen.
Sollte ein Schüler aber wirklich absolut unfähig sein, auch
nur die oben bezeichneten Kapitel aus der Arithmetik und
Geometrie zu verstehen, dabei jedoch in den Sprachen, be-
sonders in den alten, oder selbst in allen anderen Fächern gute,
ja stellenweise ausgezeichnete Leistungen aufweisen, so ist der-
selbe entschieden als ein sehr tüchtiger Mensch anzusehen.
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140
Karl Loschhorn.
Non omnia possumus omnes. Die ganze Persönlichkeit, bei
höheren Staatsprüfungen namentlich die Entscheidung darüber,
ob er wissenschaftlich überhaupt für seinen künftigen Beruf
oder das von ihm erstrebte Staatsamt befähigt ist oder nicht,
gebe den Ausschlag bei jeder Versetzung und Prüfung. Man
versetze jeden Schüler und lasse jeden Kandidaten durch
die Examina, der diesen allgemeinen Anforderungen entspricht
und in keinem einzigen Fache geradezu bodenlos unwissend
ist, gestatte dabei alle von uns geschilderten Kompensationen
und gehe von dem Grundsatze aus, dass zu jedem wissenschaft-
lichen Gegenstande ein gleicher „Verstand und rechter Sinn"
gehört und dieser sich mit wenig Kunst selber vorträgt Alles
auf mechanisches Anlernen beruhende Wissen gelte bei der
Beurteilung gleich Null, denn Freunde eines breiten encyklo-
pädischen Wissens, das sich nur durch fortgesetztes Auswendig-
lernen erwerben lässt und meist, wie es gewonnen ist, so zerrinnt,
sind nie selbständige Denker oder gar produktiv geworden,
vielmehr stets handwerksmässige Arbeiter und beschränkte
Köpfe gebliebea
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Ueber die Furcht der Kinder.
Von
Leo Hirschlaff.
III.
Wenn wir uns der früher gegebenen Definition der Furcht
erinnern als eines Unlustgefühles, das sich auf die Erwartung
einer drohenden Gefahr gründet, so werden wir bei der Be-
trachtung der Entstehungsbedingungen dieses Affektes, ebenso
wie auch früher schon, die normale von der pathologischen
Furcht unterscheiden müssen. Die normale Furcht, die ja eine
unveräusserliche Eigenschaft der menschlichen Seele ist, ent-
spricht in ihrem Grade und in ihren Aeusserungen der Grösse
der zu erwartenden Gefahr; sie beruht auf einer zuverlässigen
Erkenntnis und angemessenen Wertung des bevorstehenden
Uebels. Zu ihren Entstehungsbedingungen gehören offenbar
drei Momente: i. eine drohende Gefahr, 2. die Beurteilung
und Erkenntnis derselben, 3. die hierauf folgende körperliche
und seelische Reaktion des sich Fürchtenden. Wenn eines
dieser drei Momente eine Aenderung erfährt, ohne dass die
beiden anderen Momente sich gleichzeitig vermindern oder ver-
stärken, so ist damit der Thatbestand der pathologischen Furcht
gegeben. Die Entstehungsbedingungen der übertriebenen,
krankhaften, pathologischen Furcht, die uns hier ja an erster
Stelle interessiert, können demnach, eine gegebene Gefahr von
bestimmter Grösse vorausgesetzt, in äussere und körperliche,
andererseits in innere und seelische Bedingungen eingeteilt
werden, je nachdem sie geeignet sind, die Reaktion des sich
Fürchtenden oder die Beurteilung der zu erwartenden Gefahr
in abnormer Weise zu beeinflussen. Ich möchte der folgenden
Betrachtung diese Einteilung zugrunde legen, ohne sie freilich
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I42
Leo Hirschla/f.
im einzelnen streng durchzuführen, da sonst vielfach eng Zu-
sammengehöriges getrennt werden müsste.
Unter den körperlichen Entstehungsbedingungen der
Furcht figuriert in erster Reihe die körperliche Beschaffenheit
und Reizbarkeit des sich Fürchtenden. Der kräftige, gesunde
Körper reagiert auf die Erwartung eines drohenden Uebels
im Vollgefühle seiner Kraft und seiner Verteidigungsmittel;
der schwächliche, kränkliche, abnorm reizbare unterliegt der
zu gewärtigenden Unlust, ohne den ernstlichen Versuch des
Widerstandes ins Auge zu fassen. Daher kommt es, dass
schwächliche und kränkliche Kinder weit häufiger die Erschei-
nungen der Furcht zeigen, als robuste und gesunde Naturen.
Gerade wie ja auch bei den Erwachsenen die Neurastheniker,
Hysterischen und Hypochonder das Heer der Furchtsamen und
Aengstlichen bilden, da ihr Nervensystem auf alle Reize in
gesteigertem Masse reagiert. Unter den Momenten, die be-
sonders geeignet sind, die körperliche Konstitution der Kinder
zu schwächen und somit die Entstehung von Furchtzuständen
zu begünstigen, sollen als wichtigste genannt sein: i. die
Heredität, 2. die Ernährung, 3. der Alkohol, 4. der Mangel
an körperlicher Uebung und Ausbildung, 5. gewisse Krank-
heiten.
Dass der Inhalt der Furchtvorstellungen als solcher nicht
vererbt werden kann, dürfte nach den früheren Ausführungen
keinem Zweifel mehr unterliegen. Dagegen lässt sich nicht
leugnen, dass die Disposition zur übertriebenen Furcht und
ihren Begleiterscheinungen erblich übertragen werden kann,
da ja die Körperkonstitution eines Menschen bis zu einem
gewissen Grade abhängig ist von der Körperkonstitution seiner
Eltern. Gesunde und kräftige Eltern erzeugen im allgemeinen
gesunde und kräftige Kinder; kränkliche und nervenschwache
Eltern werden dagegen mehr Aussicht haben, kränkliche und
nervenschwache Kinder zur Welt zu bringen und daher auch
die körperliche Disposition zu übertriebenen Furchtzuständen
ihren Nachkommen zu vererben. Die Vererbung der Körper-
konstitution ist freilich nach meiner Auffassung keineswegs
so gesetzmässig und unausweichlich, wie man im allgemeinen
annimmt. Ich halte es für erwiesen, dass der Vererbung in
der Pathologie vieles zur Last gelegt wird, was ohne sie be-
Ucber die Furcht der Kinder.
friedigender erklärt werden kann. Wenn nervenschwache Eltern
nervenschwache Kinder haben, so ist damit nicht ohne weiteres
gesagt, dass die Nervenschwäche der Kinder von den Eltern
ererbt ist. Sie kann vielmehr und wird in den meisten Fällen
mindestens zu einem guten Teile, erworben sein, da man an-
nehmen darf, dass die verkehrten Lebensgewohnheiten und
die unhygienische Lebensweise im weitesten Sinne des Wortes,
die so häufig die Nervenschwäche der Eltern verschuldet hat,
von diesen auch den Kindern übermittelt wird. So lange die
weitreichenden Einflüsse der Hygiene und Erziehung auf das
körperliche und seelische Wohl unserer Kinder noch so wenig
exakt erforscht und bekannt sind, wird man in der Beurteilung
des hereditären Momentes in der menschlichen Pathologie
weit vorsichtiger sein müssen als bisher, um nicht zu einem
voreiligen Pessimismus und einem verhängnisvollen pädago-
gischen, bezw. therapeutischen Nihilismus zu gelangen.
Dass die Ernährung eines Menschen einen grossen Einfluss
auf seine Körperkonstitution ausübt, ist bekannt. Alle Schädi-
gungen, die in dieser Beziehung zu konstatieren sind, werden
deshalb auch geeignet sein, zur Entstehung der Furchtzustände
beizutragen. Blasse, blutarme, schlecht genährte Kinder, aber
auch durch überreichliche und allzu reizhafte Kost verweich-
lichte Kinder unterliegen erfahrungsgemäss den Wirkungen der
Furcht eher als gut und zweckmässig ernährte Kinder. Es
ist unnötig, auf diese Faktoren im einzelnen näher einzugehen.
Ein einziges Moment jedoch verdient in dieser Beziehung be-
sonders hervorgehoben zu werden ; es betrifft den Alkohol-
genuss der Kinder. Man mag über den Gebrauch alkoholischer
Getränke beim Erwachsenen denken, wie man will; man mag
die Forderung der absoluten Abstinenz alkoholischer Getränke
für den Erwachsenen für übertrieben halten oder nicht : darüber
kann ein Zweifel nicht obwalten, dass jedes alkoholische Ge-
tränk, von medicamentösen Verordnungen natürlich abgesehen,
für Kinder unbedingt schädlich und verwerflich ist. Dass es
aber auch gerade Furchtzustände sind, die nicht selten auf
Alkoholgenuss zurückgeführt werden können, dafür noch einige
Beispiele. Vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, einen
Fall von Schlafwandeln bei einem 7 jährigen Kinde zu be-
handeln. Das Kind schlief im Bette des Vaters; mitten aus
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144
Leo Hirschlaß.
dem tiefsten Schlafe heraus erhob es sich und wandelte in?
Schlafe umher, nicht selten, wenn es unbemerkt blieb, die
vier Treppen des Hauses hinunter bis zur Strasse, bis es durch
Anrufen und Berühren geweckt wurde. Nach dem Erwachen
gab das Kind an, schreckhafte Gestalten und Bilder im Traume
gesehen zu haben, die es zu seiner Wanderung veranlassten.
Bei der Anamnese des Zustandes, der den Eltern grosse
Sorge einflösste und der schon mehrfach erfolglos behandelt
worden war, stellte ich fest, dass die kleine Patientin täglich
bei der Abendmahlzeit Bier zu trinken erhielt. Ich untersagte
diese Gewohnheit, und ohne jede andere Behandlung erwies
sich das Kind vom selben Tage an geheilt. Auch jetzt noch,
nach über zwei Jahren, sind die Störungen nicht wieder auf-
getreten. In einem anderen Falle von Pavor nocturnus bei
einem 12 jährigen Mädchen verloren sich die nächtlichen
Schreck-Anfälle ebenso prompt, als ihr die Teilnahme an den
Weissbier-Gelagen der Eltern untersagt wurde. Auch bei den
schwereren Störungen, die der Alkoholmissbrauch herbeiführt,
wie beim Delirium tremens sind ja, wie wir bereits oben erwähnt
haben, Furcht-Erscheinugcn und schrecken-erregende Halluci-
cinaiionen diejenigen Symptome, die das Krankheitsbild be-
herrschen. Ja sogar ein Autor, Marcel, hat bereits im Jahre 1847
die Behauptung aufgestellt, dass das Alkoholdelir nichts anderes
sei als die F olge der Furcht vor den durch den Alkohol herauf-
beschworenen phantastischen Erscheinungen ; ähnlich den Auf-
regungszuständen bei der hallucinatorischen Paranoia, bei denen
die Patienten aus Furcht vor den hallucinatorisch auftretenden
Sinneserscheinungen sich zu verkehrten und destruktiven Hand-
lun&;'n hinreissen lassen. Bei alkoholisierten Hunden hat
Hodge ähnliche Erscheinungen nachgewiesen.
Auf den Einfluss der körperlichen Uebungen auf die ge-
sundheitliche Konstitution der Kinder muss auch in diesem
Zusammenhange hingewiesen werden. Die Schulhygieniker sind
nicht müde geworden, immer und immer wieder zu betonen, dass
neben der geistigen und sittlichen Erziehung, die die Aufgabe
der Schule bildet, auch die körperliche Ausbildung der Kinder
nicht vernachlässigt werden dürfe. Turnen, Baden, Schlitt-
schuhlaufen, Spiel und Sport in frischer, freier Luft: das sind
diejenigen Faktoren, deren Vernachlässigung zur Schwächung
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Ueber die Furcht der Kinder.
der Konstitution der Kinder führt und somit zu den Entstehungs-
bedingungen der Furcht gerechnet werden muss. Mens sana in
corpore sano.
An letzter Stelle sollen gewisse Krankheiten als Ursachen
der schwächlichen Körperkonstitution der Kinder kurz genannt
werden. Alle langwierigen Krankheiten, die die Kräfte der
Patienten verzehren, die Nahrungsaufnahme erschweren, mit
länger andauerndem Fieber oder mit Blutverlusten einhergehen,
sind in dieser Beziehung zu berücksichtigen. In erhöhtem Masse
wird natürlich die Disposition der Kinder zu Furchtzuständen
begünstigt durch die sog. funktionellen Nervenkrankheiten, von
denen die Neurasthenie, Hysterie, Epilepsie bei Kindern nicht
eben selten sind. Die oben bereits erwähnte Untersuchung
Binet's über den Zustand der Gesundheit der mit Furcht be-
hafteten Kinder führte zu dem gleichen Ergebnis. Um nicht
unvollständig zu sein, muss hinzugefügt werden, dass die Reiz-
barkeit und Konstitutionsschwäche, die zu Furchterscheinungen
disponiert, nicht immer eine allgemeine und dauernde zu sein
braucht, sondern nicht eben selten auch nur vorübergehend
oder partiell in die Erscheinung tritt, etwa in Zuständen vor-
übergehender Uebermüdung und Erschöpfung oder aber nur
bestimmten Gegenständen oder Situationen gegenüber. So
giebt es z. B. kräftige und gesunde Naturen, die in jeder Be-
ziehung mutig und furchtlos sind, aber vielleicht vor Spinnen
oder vor einer zahnärztlichen Operation eine heillose, patholo-
gische Furcht empfinden. Meistens handelt es sich freilich bei
der Entstehung solcher Fälle um die Mitwirkung anderer
Faktoren, auf die wir später näher eingehen werden.
Unter den äusseren Bedingungen, die zur Entstehung der
Furcht beitragen können, müssen ferner genannt werden: die
Dunkelheit und die Einsamkeit. In der Dämmerung und in
der Nacht sind unsere Sinneswahrnehmungen beschränkt und
unzuverlässiger. In der Einsamkeit überfällt uns besonders in
der Kindheit, ein Gefühl der Hilflosigkeit, wobei uns unsere
Abhängigkeit von anderen zum Bewusstsein kommt. Auch unge-
wohnte und fremdartige Situationen könnten hierher gerechnet
werden. Jedoch treten wir hiermit schon in das Gebiet der
inneren und seelischen Entstehungsbedingungen der Furcht
ein, die wir nunmehr erörtern wollen.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 4
146
Leo Hirtchla ff.
Zu den seelischen Ursachen der Furchtzustände gehören in
erster Reihe die Mängel der Sinneswahrnehmung und Aufmerk-
samkeit, der Mangel an Uebung und Erfahrung, der Mangel
an Wissen und Erkenntnis. Ebenso wie durch die Dunkelheit,
durch Nebel und andere physikalische Faktoren die Sinnes-
wahrnehmungen beeinträchtigt werden können, kann dies auch
durch innere Momente bedingt sein, sei es dass es sich um
Defekte oder mangelhafte Ausbildung der Sinnesorgane, sei
es um Fehler der zentralen Funktionen des Aufmerkens, Auf-
fassens, Beobachtens handelt. Wie sehr dieser Faktor bei der
Entstehung der Furchterscheinungen beteiligt sein kann, haben
wir bereits bei der Analyse der Furcht-Hallucinationen der
Geisteskranken gesehen. Wer in Gedanken versunken und
geistesabwesend auf der Strasse geht, wird leicht bei einem
ungewohnten Geräusche oder Anblicke erschrecken, weil die
abgelenkte Aufmerksamkeit ihn nicht zur sofortigen, richtigen
Auffassung des Sinneseindruckes gelangen lässt und weil eine
plötzliche, unvorbereitete, unerwartete Sinneswahrnehmung das
Seelenleben heftiger alteriert. Zerstreute, fahrige und unauf-
merksame Kinder erschrecken daher oft und leicht.
Der Mangel an Uebung und Erfahrung ist eine häufige
Ursache der Furcht. Wer keine Gelegenheit hat, das Leben
kennen zu lernen und Erfahrungen zu sammeln, wer zurück-
gezogen und mit sich selbst allein aufwächst und lebt, wird
weniger Widerstandskraft gegenüber ungewohnten Situationen
an den Tag legen als derjenige, der gewöhnt ist, aus eigener
Kraft sich im Leben zurecht zu finden. Daher fürchten sich
Kinder leichter als Erwachsene, Frauen leichter als Männer.
Das tritt auf jedem Gebiete zu Tage. Wer zum ersten Male
ein Bergwerk besucht, wilde Tiere kennen lernt, sich im
Schwimmen unterrichtet, auf See fährt und dergl. mehr, em-
pfindet Beklemmungen und Befürchtungen, die sich später
infolge der Gewohnheit verlieren. Auch bei der Errötungs-
furcht, von der wir oben ausführlich gehandelt haben, ist der
Mangel an Uebung im Umgange mit Menschen eine der wesent-
lichsten Entstehungsbedingungen.
Der Mangel an Wissen und Erkenntnis lässt der Entstehung
der Furcht ebenfalls einen breiten Spielraum. Wer die Ent-
stehung und das Wesen des Blitzes, des Donners, der Sonnen-
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Ueber die Furcht t&rr KmJer.
Finsternis kennt, ist im allgemeinen gesichert gegen übertriebene
Furchtvorstellungen, die sich auf solche Natur-Ereignisse be-
ziehen. Die Bazillenfurcht tritt am schlimmsten auf bei denen,
die noch nie einen Bazillus gesehen und von dem Wesen und
der Bedeutung desselben unzutreffende Vorstellungen haben.
Auch der Aberglaube, die Furcht vor Gespenstern und der
Spiritismus entstehen leichter bei ununterrichteten als bei natur-
wissenschaftlich gebildeten Personen. Denn nichts begünstigt
die Entstehung dieser Erscheinungen mehr als der Mangel
positiver Kenntnisse, an deren Stelle irrtümliche Vorstellungen
und Phantasiegebilde treten.
Den negativen Erfahrungen und sonstigen intellektuellen
Erscheinungen stehen die positiven Erfahrungen gegenüber, die
als Ursachen der Furcht Vorstellungen anzuschuldigen sind. Alle
ungünstigen und widrigen Einflüsse und Erlebnisse sind unter
Umständen geeignet, die Disposition zur Furcht zu erhöhen.
Schreckhafte Erlebnisse und überstandene Gefahren, schmerz-
hafte und gefährliche Erkrankungen, unglückliche Lebens-
schicksale u. s. f. gehören hierher. Hall erzählt von einem
jungen Mädchen, das ein Telegramm mit der Nachricht des
plötzlichen Todes ihres Vaters erhalten hatte, und das von da
an bei jedem eintreffenden Telegramme von heftigster Furcht
ergriffen wurde. Auch die bekannte Redensart: gebranntes
Kind scheut das Feuer, ist in diesem Zusammenhange zu ver-
stehen. Aber auch Kinder, die in ärmlichen und gedrückten
Verhältnissen aufwachsen oder einer schlechten Behandlung
von seiten der Eltern oder Erzieher ausgesetzt waren, behalten
nicht selten als Folge solcher positiven Erfahrungen eine ver-
minderte seelische Widerstandsfähigkeit. Unter Umständen
wird auch die Prügelstrafe in der Schule eine solche uner-
wünschte Einschüchterung und Furchtsamkeit der Kinder her-
vorrufen.
Viel mehr aber als die wirklich durchlebten Erfahrungen
und Schrecknisse tragen die durch Erzählung und Lektüre
übermittelten zur Entstehung der Furcht bei.' Mit Recht sagt
Mosso: „Wer ein Kind erzieht, trägt die Verantwortung für
dessen Gehirn. Alles, was er ihm Hässliches sagen wird, die
Bitterkeiten, die Schreckbilder sind ebenso viele Splitter, die
er dem Kinde im Fleische zurücklässt und welche demselben
4-
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Leo Hit schlaff.
als lebenslängliche Wunden verbleiben." Mutter, Amme, Magd
und Diener sollten deshalb minder wetteifern, das Gemüt der
heranwachsenden Kinder durch den beliebten Wau-Wau, den
Werwolf, Popanz, Zauberer, den schwarzen Mann, durch die
Märchen von Hexen und bösen Geistern und unzählige andere
Dinge in Schrecken zu versetzen. In seinem vortrefflichen,
ironischen Krebs-Büchlein empfiehlt deshalb Salzmann als
promptes Mittel, Kindern Furchtsamkeit und Abscheu anzuer-
ziehen : „Suche dein Kind zu bereden, dass die harmlosen Tiere
giftig wären. Erzähle deinen Kindern recht viel von Gespen-
stern. Stelle dich selbst, sobald ein Gewitter aufsteigt, fein
ängstlich an, so werden sich deine Kinder bald nach dir selbst
bilden. Beschreibe ihnen den Tod als das schrecklichste der
Uebel." Auch Niemeyer macht die verkehrte Erziehung ver-
antwortlich als Hauptursache für die Entstehung der Furcht-
samkeit der Kinder: „Unzählige Kinder werden furchtsam ge-
macht und verschüchtert. Die unschädlichsten Dinge, z. B.
Dunkelheit, Alleinsein, Frösche, Spinnen, Insekten, Leichname,
Skelette werden ihnen als gefährlich, mithin als furchtbar vor-
gestellt; Dinge, die schädlich werden können, lehrt man sie
bloss fürchten, statt ihnen Mittel dagegen zu geben. Selbst
vor Menschen lehrt man sie sich scheuen, bringt sie beiseite,
jagt sie fort, wenn Fremde kommen und schilt dann,
wenn sie menschenscheu und blöde sind ! Das Zufürchtemachen
wird wohl gar als Erziehungsmittel gebraucht!" Dass dieser
Furchtfetischismus, d. h. die Gewohnheit, die Phantasie der
Kinder durch Ammenmärchen, schreckhafte Erzählungen (z. B.
von Hölle und Teufel) und verkehrte Lektüre (Hintertreppen-
und Schauerromane) mit Furchtvorstellungen anzufüllen, eine
der wichtigsten Ursachen der Furcht ist, geht auch aus der
oben gegebenen Tabelle Scott's über die Entstehung der Todes-
furcht hervor, in der als erste Rubrik in i4pCt. der Fälle ge-
hörte Erzählungen, Zeitungen, Bibel etc. aufgeführt werden.
In Zusammenhang mit dieser Thatsache muss der An-
steckung der Furcht gedacht werden. Binet zählt dieselbe zu
den wesentlichsten Entstehungsbedingungen der Furchtzu-
stände. Sowohl während der Gefahr durch Gesten, Ausdrucks-
bewegungen etc., aber auch indirekt durch furchterzeugende
Schilderungen kann die Furcht angesteckt und verbreitet
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lieber die Furcht der Kinder.
I49
werden. E i n Feigling auf dem Schlachtfelde kann die Nieder-
lage und Flucht eines ganzen Heeres verschulden. In einer
Schweizer Schule ereignete sich vor wenigen Jahren eine förm-
liche Furchtepidemie. Ein Kind, das an Krämpfen litt, wurde
mitten im Schulunterricht von einem Krampfanfall ergriffen : in
der Folge traten bei allen Kindern der Klasse ähnliche Krampf-
erscheinungen auf, offenbar durch Schreck und physische An-
steckung verursacht. Auch in der häuslichen Erziehung der
Kinder erweist sich dieses Moment recht häufig von grosser
Bedeutung. Furchtsame Eltern haben furchtsame Kinder, nicht
weil ihre Furcht sich vererbt, sondern weil ihr schlechtes Bei
spiel zur Nachahmung und Ansteckung Veranlassung giebt.
Unter den seelischen Entstehungsbedingungen der Furcht
müssen schliesslich auch diejenigen erwähnt werden, die auf
dem Gebiete der Urteilskraft und des Charakters liegen.
Eine Furcht kann der Grösse der vorliegenden Gefahr nur
dann angemessen sein, wenn der sich Fürchtende ein richtiges
Urteil über die Gefahr und über die Wahrscheinlichkeit ihres
Eintretens besitzt; wobei ein aktuelles und ein potentielles Urteil
unterschieden werden mögen, je nachdem das Urteil nur im
Momente der Gefahr oder dauernd fehlt. Im ersteren Falle
haben wir es mit einem Mangel an Geistesgegenwart oder Be-
sonnenheit zu thun, der durch irgend eine der vorher geschil-
derten Faktoren bedingt sein kann. Interessanter und wichtiger
ist der zweite Fall der länger andauernden Urteilsbehinderung
gegenüber einer bestimmten Gefahr. Wenn wir fanden, dass
die Unfähigkeit, die Sinneseindrücke präzise aufzufassen, als
eine Entstehungsursache der Furcht anzusehen sei, so muss
hier darauf hingewiesen werden, dass eine solche Unfähigkeit
nicht nur auf dem Gebiete der Perzeption und Apperzeption,
sondern auch auf dem Gebiete der Urteilsbildung gelegen sein
kann. Denn zur Wahrnehmung eines drohenden Uebels oder
einer Gefahr gehört allemal ein wenn auch noch so elementares
Urteil darüber, dass die betreffende Erscheinung für uns eine
übelbedeutende oder gefährliche sein werde, sowie dass ihr
Eintreten wahrscheinlich oder bevorstehend sei. Wer nicht
imstande ist, ein solches Urteil schnell und richtig zu voll-
ziehen, wird infolge der Urteilstäuschungen und -Illusionen
häufiger der Furcht ausgesetzt sein als derjenige, dessen Urteils-
Digitized by Google
Leo Hirschlaff.
bildung sich präzise vollzieht. Darum spricht Krafft-Ebing mit
Recht von den Urteils-Delirien der kleinen Kinder, die infolge
Urteilstäuschung einen Schatten für ein Gespenst nehmen und
so fort. Wer am hellerlichten Tage auf belebter Strasse
spazieren geht und dabei fürchtet, von einem Räuber oder
Mörder angefallen zu werden, dem fehlt das richtige Urteil
über die äusserst geringe Wahrscheinlichkeit einer solchen
Eventualität. Wer da fürchtet, von einem Schritt fahrenden
Wagen, den er von weitem, vielleicht aus einer Entfernung
von 1 500 Schritten herannahen sieht, überfahren zu werden,
der vermag die Grösse der ihm drohenden Gefahr nicht exakt
zu beurteilen. Wer bei jeder Eisenbahnfahrt einen Zusammen-
stoss fürchtet, hat keinen Einblick in die Unwahrscheinlichkeit
einer solchen Vorstellung und ähnliches mehr. Von sehr grosser
Bedeutung in dieser Hinsicht ist auch der nicht immer genügend
gewürdigte Zusammenhang zwischen Sprache und Urteils-
bildung. Einem präzisen Urteil entspricht eine präzise sprach-
liche Bezeichnung; eine übertriebene Benennung hat daher
in der Regel eine verkehrte Urteilsbeeinflussung zur Folge,
selbst da, wo sie eine solche nicht bereits zur Ursache hatte.
Wer, wie viele junge Mädchen, aber auch Knaben und Er-
wachsene, gewöhnt ist, jeden Schmerz als rasend, jede Angst,
die er empfindet, als wahnsinnig, jede unangenehme Sinnes-
empfindung als abscheulich und ekelhaft zu bezeichnen, der
wird gegenüber diesen selbstgeschaffenen Superlativen leicht
das objektive Urteil einbüssen und zu übertriebenen Furchtvor-
stellungen und Furchthandlungen gelangen. Es ist mir mehr
als einmal gelungen, einem Neurastheniker z. B. mit Erfolg
nachzuweisen, dass er nicht, wie er ursprünglich behauptete,
wahnsinnige Kopfschmerzen habe, die ihn am Arbeiten hin-
derten, sondern dass er, am gewöhnlichen Sprachgebrauche
gemessen, lediglich eine unangenehme Empfindung von Druck
und Benommenheit im Kopfe hätte, die das Arbeiten freilich
weniger angenehm, aber bei weitem nicht zur Unmöglichkeit
machte. Wie leicht lässt man den Mut sinken, nachdem man
eine unangenehme Erscheinung durch eine übertriebene sprach-
liche Bezeichnung mit dem kleidsamen Gewände einer höchst
möglichen Intensität ausstaffiert hat !
Die Fehlerhaftigkeit der Urteilsbildung kann sich aber noch
Ut-ber du furcht Jtr Kinder.
in anderer Weise äussern, und zwar in dem unzureichenden
Urteil über sich selbst und seine eigene Bedeutung. Soweit
dabei die Selbstverkleinerung und die dadurch bedingte Zagheit
des Charakters in Frage kommt, wollen wir die Erörterung
bis auf später verschieben. Hier möge nur die übertriebene
Selbstbeurteilung, die Selbstvergrösserung, besprochen werden,
die z. B. auf dem Gebiete der Schüchternheit und Errötungs«
furcht eine recht grosse Rolle spielt. Wie Balduin und Moses
hervorgehoben haben, ist dem Schüchternen durchaus nicht
immer ein minderwertiges Denken von sich selbst, seiner
eigenen Person eigen, sondern die Schüchternheit kann nicht
selten der Ausdruck einer sich in den Vordergrund drängenden
Vorstellungsreihe von der erhöhten Bedeutung der eigenen
Person sein. „Der Schüchterne bringt in seinen Vorstellungen
seine Person in den Vordergrund, wo sie garnicht oder kaum
in Betracht kommt. Dem Schüchternen wohnt ein Stück Selbst»
gefälligkeit inne, wenn er seine Person für wunder wie wichtig
für die Beobachtenden hält. Und diese Selbstgefälligkeit wird
bei aufmerksamer Beobachtung am wenigsten dort vermisst
werden, wo die Schüchternheit am grössten ist." Achnlich bei
der Errötungsfurcht, bei der die Beobachtung, die die eigene
Person von Seiten der Umgebung findet, von den Kranken
gewöhnlich überschätzt wird.
Schliesslich sind es gewisse Charaktereigenschaften, die zur
Entstehung der Furcht disponieren. Ein ausgebildetes Kraft-
bewusstsein, das lebendige Gefühl der eigenen körperlichen und
seelischen Widerstandfähigkeit ist sicherlich das beste Schutz-
mittel gegen übertriebene Befürchtungen. Wo es fehlt, da ist
der fruchtbarste Boden für die Furcht bereitet. Verunstaltende
Merkmale und Gebrechen, hässliches Aussehen, geringe körper-
liche und geistige Leistungsfähigkeit, lasterhafte Neigungen, wie
die Onychophagie und die Masturbation verringern das Selbst-
vertrauen der Kinder und erhöhen daher ihre Neigung zur
Aengstlichkeit. Ebenso macht eine übertrieben strenge, lieb-
lose oder harte Behandlung nicht selten die Kinder feige, mut-
los und unentschlossen. Auch anhaltendes Unglück, widrige
Schicksalsschläge und dergl. vermindern das Selbstvertrauen.
Temperament und Weltanschauung endlich tragen das ihrige
dazu bei. Der Melancholische, ebenso wie der Pessimist unter-
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Leo Hirschla t t '.
liegt den Befürchtungen eher als der Sanguiniker und der
Optimist.
Aus dem Studium der Entstehungsbedingungen der Furcht
ergeben sich leicht die Vorschläge, die zur Verhütung und
Heilung der Furchtzustände gegeben werden können. Es ist
daher überflüssig, hierauf im einzelnen einzugehen ; sonst müss-
ten beinahe alle Forderungen einer natur- und vernunftgemässen
Erziehung an dieser Stelle herangezogen werden. Es dürfte
genügen, die Hauptgesichtspunkte noch einmal in Erinnerung
zu bringen. Zur Verhütung und Heilung der Furcht ist er-
forderlich: i. eine weitgehende körperliche Pflege und Er-
ziehung, die alle Schädigungen des Körpers vermeidet und die
Ausbildung der körperlichen Kraft und Gewandtheit fördert;
2. eine gediegene geistige Bildung und Erziehung, die die
Beobachtungsgabe der Kinder schärft und ihnen besonders auf
naturwissenschaftlichem Gebiete diejenigen Kenntnisse ver-
mittelt, die der Entstehung des Aberglaubens etc. entgegen
zu wirken geeignet sind; 3. die Vermeidung aller derjenigen
Umstände, die furchterzeugend wirken können, als da sind:
das eigene schlechte Beispiel der Furchtsamkeit, schreckhafte
Erzählungen und Drohungen, überstrenge Behandlung und
Prügelstrafe, endlich die Ueberhitzung der kindlichen Phantasie
durch unzweckmässige Lektüre, Theater-Aufführungen u. s. f.;
4. die Pflege der exakten Urteilsbildung und der Präzision
des sprachlichen Ausdruckes ; 5. die Pflege des Selbstvertrauens,
eventl. durch progressive Gewöhnung an mutiges Handeln durch
Spiele, Turnen und sportliche Uebungen, sowie durch geeignete
Belehrung und Lektüre. Von besonderer Wichtigkeit sind die
beiden letzten Punkte. Zumal die Urteilsbildung, die scharfe
Kritik, die sich auf die Aussendinge, aber auch auf sich selbst
erstrecken soll, ist ein Gegehstand, auf den m. E. heutzutage
noch zu wenig Gewicht gelegt wird. Wenigstens habe ich
gerade diesen Faktor wirksam gefunden, wenn es galt Furcht-
zustände der Kinder oder der Erwachsenen psychotherapeutisch
zu beeinflussen. Die Erziehung zur exakten Urteilsbildung sollte
daher auch schon in der Schule ein erstrebenswertes Ziel sein,
zumal sie sich durch leichtfassliche logische und psychologische
Belehrungen, die an passender Stelle dem Unterrichte eingefügt
werden könnten, relativ leicht erzielen lässt. Auch die Selbst-
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Ueber die Furcht der Kinder.
153
erkenntnis, die den früheren Philosophen als Ideal der mensch-
lichen Weisheit erschien, ist mit Unrecht von der Tagesordnung
der Erziehungs-Aufgaben zurückgetreten. Diese intellektuali-
stische Auffassung, die heute vielen befremdlich erscheinen
mag, ist doch auch früher schon bei der Bekämpfung
der Affekte vertreten worden. So schreibt Descartes in
seinen „Passions de Tarne": „Pour exciter en soi la
hardiesse et öter la peur, il ne suffit pas d'en avoir la volonte,
mais il faut s'appliquer ä consideVer les raisons, les objets ou
les exemples qui persuadent que le p£ril n'est pas grand ; qu'il
y a toujours plus de sürete" en la defense qu'en la fuite; qu'on
aura de la gloire et de la joie d'avoir vaincu, au lieu qu'on
ne peut attendre que du regret et de la honte d'avoir fui, et
choses semblables." Und noch deutlicher drückt sich Feuchters-
ieben in seiner Diätetik der Seele aus, indem er sagt: „Es
giebt kein wirksameres und herrlicheres Mittel, die Affekte
zu zähmen, als: ihr Verständnis. Wenigstens lässt sich inner-
halb der Grenzen unserer Macht kein anderes erdenken: denn
darin einzig besteht die Macht unseres Geistes: klare Ideen
zu bilden."
Ich möchte meine Ausführungen nicht schliessen, ohne
noch einmal auf die pädagogische, ethische und soziale Be-
deutung der normalen Furcht hinzuweisen, nachdem wir die
krankhaften Befürchtungen und ihre Bekämpfung in so aus-
führlicher Weise abgehandelt haben. Denn im allgemeinen
betrachtet, sagt v. Lenhossek mit Recht, gehört die Furcht
durchaus zu den notwendigen und nützlichen Regungen des
Gemüts; erst sofern sie in Affekt oder Leidenschaft ausartet,
führt sie zu höchst nachteiligen Verhältnissen der gemütlichen
Sphäre des Menschen. „Wenn die Hoffnung ein unentbehr-
liches Element des Lebens ist, so muss es die Furcht, als der
entgegengesetzte Pol des Gemütlichen, nicht minder sein ; denn
alle Kräfte der moralischen und physischen Welt wirken durch
Opposition : der Schmerz giebt dem Vergnügen, die Traurigkeit
der Freude und die Furcht der Hoffnung ihr Dasein. Furcht
und Hoffnung sind die zwei vorzüglichsten moralischen Trieb-
federn des Menschen; ohne diese könnte er seine psychische
und sittliche Vollkommenheit nie erreichen und erhalten; und
ohne Vorhersehung künftiger Uebel, ohne Furcht vor drohenden
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154
Leo HirSchlafi.
Schmerzen, könnte er selbst seine physische Existenz nicht be-
haupten." In dem gleichen Sinne bemerkt auch Hall: ,, Furcht
ist jeder tierischen und menschlichen Seele wesentlich. Es
giebt nichts allgemeineres. Es giebt niemanden ohne Furcht,
auch nicht diejenigen, die emphatisch alle Furcht von sich
weisen und die Psychologen, die den Prozentsatz der sich
Fürchtenden registrieren und dabei nur denken an den Choc
oder die akute, panische Furcht oder spezielle physische Angst-
zustände etc., aber nicht an die feineren Formen, wie die Furcht
vor Gott, vor Schande, vor Misserfolg in den höchsten Zielen,
für sich oder andere." — „Nicht nur fürchtet sich jedermann,
sondern jedermann muss sich fürchten. Das pädagogische
Problem ist nicht die Furcht zu eliminieren, sondern sie den
wirklichen Verhältnissen anzupassen. Bald muss die Furcht
reduziert und gemässigt werden, bald muss sie verfeinert und
und veredelt werden. Ohne den Furcht-Apparat in uns, was
für ein Reichtum von Motiven würde verloren sein 1" In diesem
Sinne sind die feineren und edleren Formen der Furcht auch als
Erziehungsmittel anzuwenden, ebenso wie sie unser sittliches
und soziales Verhalten bestimmend beeinflussen und, entgegen
Nietzsche, immerdar beeinflussen sollen. Aristoteles sagt: „man
lerne in angemessenem Verhältnis die Dinge fürchten, die wert
sind, gefürchtet zu werden." Mit anderen Worten: man schaffe
den Menschen eine klare Einsicht in die Rangordnung der
Güter und Uebel des Lebens; dann werden die roheren und
krankhaften Formen der Furcht verschwinden und den edleren
und berechtigten Arten der Furcht wird das Feld geebnet sein.
Litteratur.
Eaidwin, I. M.: Die Entwickelang des Geistes beim Kinde and bei der
Kasse. Übers, v. A. E. Ort mann, 470 S. Berlin, Reuther und Reichardt,
1898.
Bin et, A.: La peur chez les enfanta. Annee psychol. 2, p. 223—254.
Paris 1895.
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Sitzungsberichte
Verein für Kinderpsychologie zu Berlin.
Sitzung vom 3. Janaar 1902.
Beginn 81/« Uhr.
Vorsitzender : Herr Stampf.
Schriftführer: Herr Hirschlaff.
Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung mit einem herzlichen Nachruf
für den am ersten Weihnachtstage verstorbenen Professor Pappenheim,
der unsren Verein mit begründete und sich seit vielen Jahren um die Sache
der Kinder durch sein Eintreten für die Fröbel'schen Kindergarten verdient
gemacht hat. Sodann hält Herr Körte den angekündigten Vortrag:
„Gedanken und Erfahrungen über musikalische Erziehung".
Der Vortrag ist bereits unter den Originalbeiträgen dieser Zeitschrift
zum Abdruck gelangt.
Diskussion:
Herr Stumpf dankt dem Vortragenden für seine gedankenvollen und
erfahrungsreichen Darlegungen. Angesichts solcher Studien muss man dem
Redner Glück wünschen zu dem reichen Materiale, das er in seiner eigenen
Familie vorfand. Aber auch der Familie gebührt ein Glückwunsch, dass
ßie für ihre Anlagen und Befähigungen einen so geschickten und verständnis-
vollen Förderer gefunden. Ich selbst muss mir eigentlich in dieser Be-
ziehung Vorwürfe machen. Ich habe allerdings auch weniger Material zu
meiner Verfügung; aber ich habe mich immer mehr für die Unmusikalischen
als für die Musikalischen interessiert, weil mir die Unmusikalischen merk-
würdiger waren. Was die Anlagen betrifft, eine noch nicht gelöste Frage,
60 muss man eine aktive und eine passive Anlage unterscheiden. Man kann
wohl imstande sein, Töne zu empfinden, aber noch nicht, sie richtig in
Bewegung umzusetzen. Bei zweien meiner Kinder habe ich ein recht gutes
Tongedächtnis beobachten können, aber keine Anlagen zu musikalischer
Ausführung. Leider habe ich allerdings auf das Singen zu wenig Gewicht
gelegt, obwohl ich anerkenne, dass dies eigentlich geschehen müsste, wie
der Herr Vortragende mit Recht hervorgehoben hat. Auch bei den Un-
musikalischen kann man jedenfalls auf die Gehörserziehung viel Wert legen
und grossen Erfolg darin erzielen. Auch die begriffliche Erziehung des
Tonverständnisses, von der der Herr Vortragende gesprochen hat, scheint
mir sehr wichtig, zumal ja die Verhältnisse ausserordentlich leicht zu
lehren sind.
Herr Fiat au: Wenn es richtig ist, womit der Herr Vortragende
schloes, dass das Gebiet der musikalischen Erziehung ein Gebiet ist, von
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Sitzungsberichte.
wo aus Wege nach allen Ländern der Erziehung führen, so wird es Ihnen
verzeihlich erscheinen, wenn ich auf meinem Wege des Arztes und Summ-
physiologen durch ein Dezennium spezieller Arbeit in dieses Gebiet hinein-
gekommen bin. Ich bin zum Teil zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt
wie der Herr Vortragende, wenigstens in den Hauptpunkten. Ich mochte
nur einiges Abweichende hervorheben. Der Herr Vortragende wünscht
ausgesprochenermassen die Pflege des Gesanges zu steigern. Das könnte
Wunder nehmen, wenn man bedenkt, dass im Gegenteil gerade die In-
strumentalmusik in den letzten Jahren und Jahrzehnten besondere Pflegt;
und Ausdehnung erfahren hat. Die Gründe für diese Erscheinung zu finden
ist schwer; über ihre Berechtigung wird man nur urteilen können, wenn
man sich erinnert, dass sich in den letzten Jahren unserer Erkenntnis ein
ganz neues Gebiet erschlossen hat, die Lehre von den Stimm Störungen der
Sünger als solcher. Ein ganzes pathologisch - anatomisches Museum von
solchen Störungen lasst sich sogar heutigen Tages bereits aufstellen, sodass
es im gegebenen Falle nicht immer leicht ist, zu sagen, woher das Schrei-
singen stammt. Dazu ist es nötig, die Gesetze der Tonführung zu be-
herrschen und vor allen Dingen einen Ueberblick über die ungeheure
Litteratur zu besitzen, die Uber diesen Gegenstand sich angesammelt hat.
Ist doch unsere Physiologie der Stimme bereits so weit, dass wir allgemein
geltende Gesetze der Stimme aufstellen können, oder wenigstens in pro-
phylaktischem Sinne hierzu Stellung nehmen können. Von welcher her-
vorragenden praktischen Bedeutung diese Thatsache ist, dürfte leicht er-
sichtlich sein. In diesem Zusammenhange möchte ich an die ministerielle
Verordnung erinnern, dass die Hypertrophie der künstlerischen Ausbildung
nicht gefordert werden solle, dass vielmehr das Chorsingen im allgemeinen
in der Schule zu bevorzugen sei. Nun bilden sich aber gerade beim Chor-
singen in einer erschreckend grossen Zahl von Fällen Störungen heraus, die
bis zum Verlust der Stimme gehen. Neben der Ungenauigkeit und der
Gene ist zum Verständnis dieser Störungen auf eine allgemeine Bewegung»
hemmung aufmerksam zu machen. Wir müssen deshalb die Pädagogen von
der Schuld an diesen Störungen entlasten und vielmehr eine rein physio-
logische Ursache znr Erklärung heranziehen. Es ist das freilich nicht leicht
auseinander zu setzen: ich will versuchen, meine Anschauungen wenigstens
andeutungsweise zu erläutern. Unsere Stimmorgane üben die Funktion des
Gesanges nur zum Luxus aus. Nun lässt es sloh aber zeigen, dass eine
Beihe von Bewegungen existieren, die sehr natürlich sind und trotzdem
den Gesetzen der Tonführung genau entgegengesetzt verlaufen. Diese
retrograden Bewegungen der Stimmorgane rinden sich besonders bei primi-
tiven Reflexen und Affektzustanden. Verfolgt man diesen Gegensatz in die
genaueren Details, bo thut sich eine ganz neue Welt der praktischen und
theoretischen Phonetik vor unseren Augen auf. Die preussische Unter-
richwverwaltung hat, wie mir bekannt ist, deshalb bereits die ersten Schritte
in dieser Beziehung gethan, indem sie Einrichtungen geschaffen hat, die
Lehrer über diese Verhältnisse zu belehren. Es besteht also die berechtigte
Hoffnung, dass wir dadurch auf diesem Gebiete an Einsicht und Erfolgen
weiter kommen. Aus einer solchen Methodik wird sich ergeben, wie man
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Sitzungsberichte.
vom leichteren zum schwereren vorgeht and wie man diese Missstände ver-
meidet, die in der Schule vorkommen. Es giebt jedenfalls heutzutage eine
grosse Anzahl von Lehrern, die selbst nicht richtig sprechen können und
die infolgedessen auch in der Stimmerziehung nichts ausrichten können.
Die Verurteilung der instrumentalen gegenüber der vokalen Musik möchte
ich nicht jzanz zugeben. Mindestens ist ein Unterschied zu machen zwischen
den Instrumenten, bei denen der Ton vorgebildet ist und solchen, bei denen
er durch eigene Mitwirkung des Ausführenden zustande kommt.
Herr Marbitz: Ich habe Gelegenheit gehabt, in der Schule einige
Beobachtungen an schwach musikalischen Kindern zu machen. Ich fand
auf der Unterstufe 21% gute, 37% ziemlich gute, 42% ganz schlechte
Singer; in der Mittelklasse (IVO) dagegen 36 % gute, 42% ziemlich gute
und nur 22% schwache Sänger. In der Oberstufe endlich bildeten die
guten Sänger die Hälfte der Klasse. Bei den schwachen Sängern lassen
sich manche Erfahrungen sammeln. Z. B. findet man, dass die nachge-
sungenen Töne stets in einem harmonischen Verhältnisse zu den vor-
gesungenen oder vorgespielten Tönen stehen. Vielfach igt es die Zag-
haftigkeit, die die Kinder verhindert den richtigen Ton zu erzeugen. Aber
auch ein anderer Grund kommt in Betracht. Denn gerade die geistig Rück-
ständigen und kränklichen Kinder gehören zu den schlechten Sängern.
Jedenfalls muss bei solchen Kindern, die noch keine musikalische Bildung
genossen haben, mit den einfachsten Dingen angefangen werden, z. B. mit
dem Nachsingen eines Tones oder eines Intervalle« oder dergleichen, aber
nicht gleich mit ganzen Melodien und Liedern; denn diese Thätigkeit ist
zu kompliziert. Auch mit kleinen harmonischen Uebungen habe ich den
Versuch gemacht, und ich glaube, es ist mir durch einige besondere Mass-
nahmen gelungen, damit weiter zu kommen. Wenigstens habe ich fast gar*
keinen Brummer mehr unter meinen Schülern.
Herr Stumpf: Ich möchte Herrn Flatau auf seine letzte Bemerkung
erwidern, dass ich die Instrumente, die den Ton selbst bilden, nicht zurück-
stellen möchte hinter den anderen, bei denen der Ton von dem Spielenden
erzeugt wird. Ich würde sogar geneigt sein, das Klavier in Bezug auf die
musikalische Erziehung vorzuziehen. Denn das wichtigste ist die Ein-
fuhrung in die Harmonie der Tonwelt, zu der das Klavier immer noch am
geeignetsten erscheint.
Herr Flatau: Ich würde Herrn Marbitz sehr dankbar sein für die
Angabe, worauf sein Kunstgriff beruht, durch den er so schöne Erfolge bei
den harmonischen Uebungen seiner Schüler erzielt.
Herr Marbitz: Auf der Dreiklangs-Methode mit untergelegtem Text.
Herr Flatau: Zur Erwiderung auf die Bemerkung des Herrn Stumpf
möchte ich meinen, dass die Frage, ob Klavier oder Saiteninstrument für
die musikalische Erziehung vorzuziehen sei, doch nicht so einseitig ent-
schieden werden kann, da beide ihre Vorzüge haben. Bei der vokalen Aus-
bildung könnte man auch die begriffliche Ausbildung der Musik fördern.
Ich selbst habe wenigstens an mir selbst solche Erfahrungen gemacht.
Herr Fischer: Ich wollte zu den Versuchen, über die Herr Marbit
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Sitzungsberichte.
berichtet bat, eine kurze persönliche Anmerkung machen. Mein Vater, ein
Arzt, sehr musikalisch, Sohn eines Berliner Musikers, der den Knabengesang
an den Berliner Schulen mit begründet hat, hat sich viele Mühe gegeben,
die gesangliche Ausbildung seiner Kinder zu fördern. Freilich war ich
selbst leider ein unglückseliges Objekt für solche Bemühungen. Aber ich
kann nur konstatieren, dass die Ausbildung bei mir nur auf dem Wege der
begrifflichen Erziehung gelungen ist, wobei allerdings keine Texte zugrunde
gelegt wurden, sondern von Tönen und Intervallen ausgegangen wurde.
Ich halte deshalb gerade diese Dreiklangsübungen für sehr geeignet.
Frl. Droescher: Ich möchte dem Herrn Vortragenden meinen Dank
aussprechen als Vertreterin der Fröbel'schen Erziehungsvereine. Die Er-
fahrungen des Herrn Vortragenden bestätigen unsere Erziehungsmethoden
in der trefflichsten Weise. Gerade im Kindergarten spielt ja die Musik eine
hervorragende Holle. Nur möchte ich darauf hinweisen, dass anstatt des
Tanzes, den der Herr Redner empfahl, das Fröbel'sche Bewegungsspiel
sich als noch nützlicher und wirksamer erweisen möchte.
Herr Körte: Der letzten Bemerkung der verehrten Vorrednerin
stimme ich durchaus bei. Ich danke allen Rednern der Diskussion für
das rege Interesse, das sie meinen Ausführungen bezeugt haben.
Scbluss der Sitzung 10 Uhr.
Sitzung vom 7. Februar 1902.
Beginn 8^ Uhr.
Vorsitzender: Herr H e u b n e r.
Schriftführer : Herr Hirschlaff.
Herr Liebmann hält den angekündigten Vortrag:
„Die sprachliche Entwickelung und Behandlung geistig zurück-
gebliebener Kinder".
Der Vortrag findet sich unter den Originalien dieser Zeitschrift ab-
gedruckt.
Diskussion:
Herr Heubner dankt dem Vortragenden für seinen interessanten
und lehrreichen Vortrag. Er knüpft daran die Frage, wie es mit der Be-
handlung jener eigentümlichen Fälle stehe, die ihm mehrfach vorgekommen
seien, bei denen die Kinder wie ein Echo alle möglichen Dinge nach-
sprechen, ohne das geringste Verständnis dafür zu haben.
Herr Liebmann: Diese Kinder, deren Störung man als Echolalie
bezeichnet, haben kein Sprachverständnis, sei es für Worte, sei es für Sätze
und Zusammenhänge. Meist geschehen diese Wiederholungen zudem in
agrammatischer Form.
Herr Heubner: Meine Frage bezog sich eigentlich auf noch etwas
andere Fälle, und zwar auf Fälle von versatilen Kindern, die ihre Auf-
merksamkeit auf nichts konzentrieren können und keinen Betriff von der
Umgebung haben, trotzdem aber imstande sind, gewisse Worte nach-
zusprechen. Derartige Fälle hat z. B. auch Heller in Wien beschrieben»
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SittungsberichU.
161
Herr Liebmann: Aach solch« Fälle lassen sich mit Erfolg behandeln,
indem man den Kindern ein gewisses Sprach Verständnis dnrch die ge-
schilderten Demonstrationen beibringt.
Herr Kemsies: Mir sind in meiner pädagogischen Praxis einige Fälle
vorgekommen, wo die Sprachentwickelong erst sehr spät zustande kam.
z. B. im sechsten, siebenten oder achten Jahre, trotzdem die Intelligenz
dieser Kinder gut entwickelt war. Redner zitiert mehrere Beispiele. Alle
diese Kinder waren gnt imstande, sich mit abstrakten Gegenständen zu be-
schäftigen. Es findet sich also bei ihnen eine hervorragende Intelligenz
zugleich mit einer bedeutenden Sprachhemmung.
Herr Liebmann: In solchen Fällen handelt es sich mehr am eine
Ungeschicklichkeit der Sprachmaskalatar als am einen Intelligenzdefekt.
Die geistigen Defekte sind hier nur sekundär und verschwinden, sobald die
Kinder ordentlich sprechen lernen. Wenn Kinder längere Zeit nicht
sprechen, holen sie allerdings die geistige Entwickelang schwer oder gar
nicht mehr ein.
Herr Heubner: Derartige Kinder sprechen wahrscheinlich innerlich.
Man kann die Eltern solcher Kinder gewöhnlich vertrösten auf eine spätere
ganz normale Entwickelung der Sprache der Kinder. Die Begriffe sind
hier entwickelt; nur die Assoziation der Klangbilder mit den Bewegungs-
bildern ist gehemmt oder nicht vorhanden.
Schluss der Sitzung 9 Uhr 20 Minuten.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Vortragsplan für das Sommersemester 1902.
8. Mai. Dr. O. Gramzow: Der K?mpf um die Weltanschauung.
22. Mai. Prof. Dr. M. Dessoir: Quantität und Intensität im
ästhetischen Eindruck.
5. J u n i. D r. A. M o 1 1. TJeber ärztliche Ethik.
19. J u n i. D r. 0. A b r a h a m und Dr. E. von Hornbostel: Ueber
ostasiatische Musik (mit phonographischen Demonstrationen).
10. J u 1 i. Privatdozent Dr. F. Schumann: Demonstrationen zur
Raum Wahrnehmung.
Die Sitzungen der Psychologischen Gesellschaft werden gewöhnlich
an zwei Donnerstagen jedes Monats im Hörsaal des Botanischen Instituts,
Dorotheenstrasse 5, abgehalten und beginnen um 7 Uhr. Gastweise Teil-
nahme ist zweimal im Jahre gestattet.
Die Tagesordnung wird regelmässig in der Vossischen Zeitung, in
der Pädagogischen Zeitung, in den „Berliner Anzeigen" des Herrn Grosser
and an schwarzen Brett des Psychologischen Instituts angezeigt. Die
einzelnen Sitzungsberichte werden fortlaufend in der Zeitschrift für päda-
gogische Psychologie, Pathologie und Hygiene abgedruckt und den Mit-
gliedern zur Verfügung gestellt. Ausserdem erhalten die Mitglieder die
„Schriften der Gesellschaft für psychologische Forschung4'.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 5
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IÖ2 Sitzungsberichte.
Alle Anfragen und Mitteilungen sind zu richten an den derzeitigen
Vorsitzenden, Herrn Dr. Theodor S. Flatau, Berlin W., Potsdamer-
strasse 113, Villa 3. Ueber die Bedingungen der Mitgliedschaft erteilen die
Satzungen Auskunft (Semesterbeitrag 4 M.)
Berichte und Besprechungen.
L.William Stern, Privatdozent der Philosophie an der
Universität Breslau. Zur Psychologie der Aussage.
ExperimentelleUntersuchungenüberErinnerungs-
treue. Mit 3 Bildern. Berlin 1902. J. Guttentag, Ver-
lagsbuchhandlung, G. m. b. H. 56 8.
Die vorliegende Abhandlung soll einen ersten Beitrag zur Bearbeitung
eines Problems der angewandten Psychologie liefern. Es handelt sich um
das psychologische Phänomen der Treue bezw. Untreue der Erinnerung.
Da als Anwendungsgebiet der Ergebnisse der Untersuchungen in erster
Linie die Rechtspflege in Betracht kommt, wurde die Arbeit auch zunächst
in einer juristischen Zeitschrift veröffentlicht. Von den selbstverständlichen
Beziehungen zur Psychologie ganz abgesehen, verzweigt sich die Au-
wendungsmöglichkeit der folgenden Versuche noch nach anderen Seiten
hin: zur Pädagogik, zur Psychiatrie, zur Erkenntnistheorie und wissen"
schaftlichen Methodologie. Um nun auch diesen nicht juristischen Fach-
kreisen die Arbeit zugänglich zu machen, wurde die vorliegende Sonder-
ausgabe veranstaltet.
Zwar war der ursprüngliche Zweck der nachfolgenden Untersuchungen
zunächst ein theoretisch-psychologischer, doch trat im Laufe der Versuche
ihre praktische, insbesondere juristische Verwertungsmöglichkeit mehr und
mehr hervor; schienen sie doch geeignet den Weg zu weisen zur Beant-
wortung der für die praktische Rechtsübung wichtigen Frage: „inwiefern
die Durchschnittsaussage des normalen einwandfreien Zeugen als eine
korrekte Wiedergabe des objektiven Thatbestandes betrachtet werden könne."
Unter Gedächtnis wird ganz allgemein die Thatsache verstanden, das*
Eindrücke, die irgend wann einmal der Psyche zugeführt worden sind, in
späterer Zeit nachzuwirken vermögen. Nach der Art aber wie sich dies
Nachwirkungen äussern, unterscheidet man sehr verschiedene Funktionen
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fletuhte und llesfirechuwrn
de? Gedächtnisses: das Wiedererkennen, das Auswendigkönnen, die Phantasie
und endlich die Erinnerung, welche eine bestimmte Verbindung einzelner
im Gedächtnis vorhandener Elemente bewusst in einen bestimmten Zeit-
punkt der Vergangenheit, da sie als Eindrucke aufgenommen wurden,
zurück proj iziert.
In dem letzten Jahrzehnt hat die experimentelle Psychologie auch das
Gedächtnis ihrer Methode zu unterwerfen gesucht. Doch hatten alle diese
Untersuchungen nur eine der oben genannten Geduchtnisfnnktionen zum
Gegenstande: den Prosess des Lernens und seine Folge, das Ausweudig-
können. Der Verf. stellte sich nun die Aufgabe, eine vom Experiment
bisher noch weniger berührte Seite des Gedächtnisses: die Erinnerungs-
fähigkeit, zu prüfen.
Das Spezifikum der Erinnerung ist, wie schon eben angedeutet, „die
bewusste Beziehung einer Gedächtnisvorstellung auf einen bestimmten, an
einem Zeitpunkte der Vergangenheit dagewesenen objektiven Thatbestand.-
Der ideelle Zweck der Erinnerung ist der, die vergangene Wirklichkeit zu
fixieren, gewesenes reales Sein in gegenwartiges gewußtes Sein zu ver-
wandeln. Es fragt sich nun, ob die Erinnerung auch diesen ideellen Zweck
erfällt, ob ihr Inhalt wirklich Wahrheit, d. h. Kopie einer vergangenen
realen Thatsächlichkeit ist? Zwar glaubt es der gesunde Menschenverstand
im allgemeinen, doch kann er nicht umhin, die Lückenhaftigkeit der Kopie zu-
zugeben ; denn die Thatsache des Vergessens ist zu aufdringlich, als dass sie
übersehen werden könnte. Man wird sogar bald bemerken, dass das Vergessen
die Regel, die Erinnerung die Ausnahme ist; nur verschwindend wenige
von den Eindrücken, die man durch Tag und Jahr und Jahrzehnt in sich
aufnimmt, sind lebensfähig in der Weise, dass sie später als Erinnerungs-
bilder wieder auftauchen können. Das teilweise oder gänzliche Ausfallen,
das allmähliche Schwächerwerden der Erinnerungsbilder bis zum völligen
Schwinden wird also zugegeben; dagegen nimmt die gemeine Meinung für
das was überhaupt erinnerbar ist, ohne weiteres Uebereinstimmung mit der
Wahrheit an. Obwohl jeder schon an sich gelegentlich die Erfahrung ge-
macht hat, dass Erinnerungen, „aut die er hätte schwören mögen", sich als
Fälschungen erwiesen, betrachtet man solche Erfahrungen meist doch nur
als Kuriositäten, als ganz exzeptionelle Schwächen, und vertraut im allge-
meinen nach wie vor mit gleicher Unbedenklichkeit auf die Richtigkeit
seiner Erinnerungen.
•Bedenklicher wird man schon, wenn man bei andern auf gefälschte
Erinnerungen stösst. Da drängen sich die zahllosen Unwahrheiten der
Kinder auf, die Gasconaden der Aufschneider, die Diskrepanzen in den
Schilderungen, welche mehrere Zuschauer von derselben Scene geben, und
dann vor allem jenes verwirrende Chaos, in welches uns oft die gericht-
lichen Aussagen von Parteien und Zeugen stürzen — - ein Chaos von Wider-
sprüchen, welches uns mit höchster Evidenz lehit, dass hier zahllose Un-
richtigkeiten gesagt werden müssen, welches uns aber um so unfähiger
macht, zu erkennen, wie denn die objektive Wirklichkeit ausgesehen
haben mag.
5*
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164
Berichte und Besprechungen.
Trotz dieser Fülle feststellbarer Erinnenmgsfalschungen, die eine vielleicht
noch grössere Fülle unkontrollierbarer ahnen lassen, bleibt die herrschende
Anschauung dennoch dabei stehen, dass das Normale und Natürliche die
Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit ist; sie sucht daher jede
Nichtübereinstimmung mit aussergewöhnlichen Gründen zu erklären, von
denen vor allen zwei wieder und wieder vorhalten müssen; die bewusste
böswillige bezw. grob fahrlässige Lüge und die pathologische Unwahrheit.
Nun ist ja die Alternative: „„strafbare oder pathologische Unwahrheit ?MM
— bequem und einfach, aber reicht sie auch aus? Die herrschende An-
schauung glaubt wie erwähnt, diese Frage im allgemeinen bejahen zu können ;
aber es ist doch schon eine nicht ganz unbedeutende Minorität, die sie
verneint Viele, die aus beruflichen oder sonstigen Interessen der Rechts-
pflege ihre Aufmerksamkeit zuwandten, haben schon längst die Überzeugung
ausgesprochen, dass moralische und medizinische Einwandlosigkeit keine
Gewähr für die Richtigkeit der Erinnerungstreue bieten. Man vermutete
die Existenz einer normalen psychologischen Un Wahrhaftigkeit; man wies
hin auf die mannigfachen Quellen für solche normalen Erinnerung»*
fälschungen: schlechte Beobachtung, starke Phantasie, Auto- und Fremd-
suggestion, Verwechselung von Autopsie und Hörensagen, Gemütsbeteiligung,
Beeinflussung durch richterlichen Fragen usw. Aber es blieb hier bei Ver-
mutungen und instinktiven Überzeugungen ; man ahnte die Tragweite dieser
normalen Täuschungen, doch fehlte es bisher völlig an einem zwingenden
Nachweis und einer exakten Kontrolle ihrer Existenz, ihres Umfangs, ihrer
Besch all enheit und ihrer Ursachen."
Nun vermag aber das psychologische Experiment durch die Konfron-
tation der objektiven Wirklichkeit mit der Erinnerungsaussage über sie diese
exakt« Kontrolle zu erbringen. Zu diesem Zweck sind Erinnerungsbilder
über Thatbestände zu erzeugen, die nicht wie die meisten Daten des realen
Leben, mit dem Moment einmaliger Wahrnehmung unwiederbringlich dahin,
sondern dauernd fixiert oder fixierbar sind und daher mit der Aussage direkt
verglichen werden können. Als solche Thatbestände bezeichnet der Verf.
Bilder, die gezeigt, Texte, die vorgelegt werden. Will man seinen Unter-
suchungen „Vorgänge" zu Grunde legen, so wäre an den Kinematographien
zu denken, oder an Theaterscenen, für deren Verlauf das Textbuch nachher
den Vergleichsmassstab bietet.
Die folgende Darstellung gilt den bei Bildern erzielten Erlebnissen.
Bei seinen Versuchen verfügte der Verf. im ganzen über ein Material von
33 Personen -. 25 Herren und 8 Damen. Bei 30 von ihnen konnten die durch
drei Wochen sich erstreckenden Versuche vollständig durchgeführt werden.
Die Prüflinge gehörten sämtlich den gebildeten Ständen an. Die Herren
waren mit Ausnahme eines Zeichenlehrersfund eines 43 jährigen Mathema-
tikers Studenten verschiedener Fakultäten im Alter von 18—24 Jahren.
Von den 8 Damen waren 5 Hörerinnen an der Universität. Als Ob-
jekte, über welche die Aussagen zu machen waren, benutzte der Verl',
drei gedruckte Schwarz- Weiss -Bilder, deren Reproduktionen der Arbeit bei-
gegeben sind.
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Berichte und Besprechungen,
»65
Für die Wahl der Bilder war bestimmend, dass sie einen möglichst
entlegenen Ursprang hatten, und daher voraussichtlich den Prüflingen noch
nicht unter die Augen gekommen waren, dann aber, dass sie verschiedene
Schwierigkeiten enthielten in Bezug auf die Fülle, die Deutlichkeit und den
inneren Zusammenhang der Einzelheiten. Mit den Bildern wurden zwei
Serien von Experimenten angestellt, die der Verf. als Hauptversuch
und Beeidigungsversuch unterscheidet. Im Hauptversuch wurde jedes Bild
3 , Minuten lang der Versuchsperson zur Betrachtung ausgehandigt und sie
dann aufgefordert, es sofort zu beschreiben. Diese von jeder Person über
jedes Bild unmittelbar nach der Beobachtung gemachte Aussage nennt der
Verf. primäre Aussage. Ausserdem wurden im Laufe der folgenden drei
Wochen noch Wiederholungsaussagen („sekundäre Aussagen11) gefordert,
sodass von 30 Personen 270 Aussagen vorlagen.
An diesen Hauptversuch schloss sich dann bei dem grössten Teil der
Versuchspersonen noch ein Nachvereuch — Beeidigungsversuch — an, der
in gewisser Weise die Zuverlässigkeit der beeideten Aussagen kontrollieren
Bolite. Nach einer Reihe von Wochen beschrieben die Versuchspersonen
die drei Bilder noch einmal aus dem Gedächtnis. Nachdem dies geschehen,
fügte der Verf. die Forderung hinzu: „Ich bitte Sie, an dieser Niederschrift
dasjenige zu unterstreichen, was Sie, wenn es sich um eine gerichtliche
Aussage handelte, beschwören würden44. Die Zahl dieser Aussagen beläuft
sich auf 63.
Nach einem kurzen Bericht über die Art, in der der Verf. das so
gewonnene Material bearbeitet hat, kommt er zu dem Hauptergebnis seiner
Versuche. Unter der Annahme, dass die Ergebnisse nicht als unmittelbarer
Ausdruck für das durchschnittliche Mass der im praktischen Leben vor-
kommenden ErinnerungTsfehler anzusehen sind, sondern als untere Grenze,
als Minimum von Fehlern, das unter besonders günstigen Umständen erzielt
werden kann, fasst er das Hauptergebnis in folgenden Worten zusammen:
„Ausser den beiden bisher vorwiegend beachteten Sphären der
Erinnerungsfälschung — der schuldhaiten (Lüge, bezw. grobe Fahrlässigkeit)
und der pathologischen Störung — giebt es ein breites Gebiet der normalen
psychologischen Erinnerungsfehler, das nach Umfang und Bedeutung bisher
beträchtlich unterschätzt wurde. Diese normalen Täuschungen sind nicht
etwa allein auf Rechnung affektiver Beteiligung oder suggestiver Be-
einflussung zu setzen; vielmehr ist ein bestimmter Grad der Fehlerhaftigkeit
von vornherein als normales Merkmal auch der nüchternen und ruhigen,
selbständigen und unbeeinfiussten Durchschnittserinnerung zuzuschreiben.
Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ansnahme. —
Und selbst der Eid ist kein Schutz gegen Erinnerungstäuschungen.44
In dem folgenden Abschnitte bringt der Verf. einige Aussagen in
wörtlichem Abdruck und lässt dann den Thatsachenberlcht über Quantität
und Qualität der Fehler folgen. In dem „Fehlerstatistik44 ü beschriebenen
Teile werden die Resultate in folgenden Sätzen zusummenget'asst:
„Die Fehlerhaftigkeit der Aussage über ein Erlebnis nimmt kontinuierlich
je grösser der Zeitraum zwischen beiden Momenten ist. An eiuem
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Berichte und Besprechungen.
bestimmten Zeitpunkt nach dem Erlebnis ist die Aussage um so weniger
fehlerhaft, je häufiger in der Zwischenzeit die Erinnerung aufgefrischt
worden war. ■ — Die Frauen vergessen weniger, aber sie verfalschen mehr.
Die Vergesslichkeit der Frauen verhält sich also zu der der Männer wie 2 : 3t
die Unzuverlässigkeit ihrer Aussagen aber wie 4 : 3. Der neunte Teil des
beeidigten Inhalts einer Aussage ist falsch. Der beeidigte Teil einer
Männeraussage enthält durchschnittlich 2,1, der einer Frauenaussage
dagegen 4,8 (also mehr als doppelt so viel) falsche Angaben.'4
Im weiteren erörtert der Verf. eingehend die Fehlerarten — Aus.
las? ungen, Zusätze and Umgestaltungen — und die Fehlerquellen, bei denen
er zwischen Auifassungs- und Erinnerungsfehlern unterscheidet.
Das Hauptresultat der Versuche, der Nachweis einer starken Fehler-
haftigkeit veranlasst den Verf., die beiden Fragen aufzuwerfen: Ist eine
Besserung des konstatierten Mangels möglich? Wird durch den konstatierten
Mangel die Würdigung und Behandlung der Erinnerungsaussagen beeinflusst?
Beide Fragen finden eingehende Besprechung. Anhangsweise berichtet der
Verf. noch über einen von ihm angestellten Versuch, der geeignet ist, den
Satz „fama crescit eundo44 experimentell zu erhärten. In einem zweiten
Anhange beschreibt er die von dem französischen Psychologen Alfred Bin et
zur Untersuchung der Beeinflussung von Kinderaussagen durch Fragen
ausgeführten Versuche.
Berlin. Wilhelm Eichler.
Weygandt, Wilhelm, Dr. phil. et med-, Privatdozent an der
Universität Würzbnrg: Die Behandlung idiotischer und im-
beziller Kinder in ärztlicher und pädagogischer Beziehung.
Mit2 Abbildungen. Würzburg. A. StubersVerlag. (C. Kabitzsch).
1900. 103 S. 2,50 Mk.
„Die Schrift hat zunächst nur die Aufgabe, dem Pädagogen alles das,
was von ärztlicher Seite Brauchbares zur Behandlung der Idiotie und
Imbecillität geboten wird, in verständlicher Weise darzustellen, und anderer-
seits auch dem Arzt die wichtigsten und wertvollsten Seiten der pädagogischen
Behandlungsweise übersichtlich vorzuführen. Nach einer kurzen historischen
Uebersicht über den angeborenen Schwachsinn giebt der Verfasser in dem
zweiten Teil seiner Einleitung eine Definition der Idiotie und Imbecillität
„als eines Zustandes, der auf Grund einer Unterbrechung in der Ent-
wickelung des Trägers der psychischen Erscheinungen vor der Geburt
oder in den ersten Lebensjahren entstanden ist.44 Als Ursachen nennt er
hereditäre Belastung, Alkoholismus der Eltern, angeborene Syphilis, krank-
hafte Einflüsse auf die Mutter während der Schwangerschaft, vor allem
Krankheiten der ersten Lebenszeit, wie Typhus, Blattern, Scharlach, zuweilen
Diphtherie, Influenza, Masern und Rotlauf; dann auch die Encephalitis,
Hydrocephalie und Eklampsie des Kindesalters; ausserdem kommen noch
Fälle vor, die sich nicht in die angeführten Gruppen unterbringen lassen.
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Bericht* und Jiesprtchungen.
167
W. unterscheidet: a) Bildungsuniähige Idioten, solche, die in ihren elementaren
Funktionen so gestört sind, das* sie entschieden hinter dem jungen Tier
zurückbleiben, b) Bildungsfähige Idioten, die in zwei Typen geschieden
werden: die Energetischen, deren Aufmerksamkeit nur mit grösster Mühe
zu reizen ist, und die in stets gleichgültiger Stimmung verharren; die
erethischen, bei denen die Aufmerksamkeit leichter zu wecken ist, die aber
«•ehr leicht abgelenkt werden, c) Die Imbecillen, die auch in anergetische
and erethische geteilt werden ; erstere sind gleichgiltig, täppisch, heiterer
Stimmung nnd können es zu einiger Fertigkeit bringen; letztere dagegen
sind schwerer zu behandeln. Sie passen wohl auf alles recht gut auf, ver-
tagen aber, wenn man ihre Aufmerksamkeit kurze Zeit anspannen will,
d) Piflerentialdiagnostisch davon zu trennen sind die „Fülle, bei denen nach oder
während einer im ganzen normalen Entwickelang des Intellekts und meist
auch der gemütlichen Sphäre allmälüich krankhafte Neigungen und Triebe
auitreten, die den Willen dauernd oder zeitweilig beherrschen können."
In dem Hauptteil „Behandlung4* giebt der Verfasser Anweisungen zur
Vorbeugung der Idiotie und Imbecillität. Der Arzt muss die Erblichkeit
durch Verhütung von Heiraten mit Geisteskranken oder stark belasteten
Personen, auch zwischen Blutsverwandten möglichst einzuschränken suchen,
die Schwangerschaft bei Frauen in belasteten Familien überwachen, auch
bei solchen, die schwachsinnige Kinder zur Welt gebracht oder durch
Hirnkrankheiten und Krämpfe verloren heben. Vor allem muss der Kampf
gegen starken Alkoholgenuss mit aller Macht geführt werden. In der
ursächlichen Behandlung der Idiotie und Imbecillität ist der Arzt fast
machtlos; auch in der operativen Behandlung ist er noch im Stadium des
Versuchs. Bei der symptomatischen Behandlung muss der Chirurg gegen
alle die in Begleitung der angeborenen Geistesschwäche auftretenden
Bildungshemmungen nach Möglichkeit vorgehen, so die Hasenscharte, den
Wolfsrachen, das angewachsene Zungenbändchen, die Phimose u. s. w.
beseitigen, ferner auch die etwa im Nasenranm vorhandenen Wucherungen
oder Polypen entfernen. Bei der überaus wichtigen Ernährungsfrage ist
ein geschicktes Individualisieren am Platse; nicht minder sorgfältige
Berücksichtigung verlangen Stuhlverhaltung und Schwäche der Aiterschliess-
muskeln. auch die häufig bei Idioten, zuweilen bei Imbecillen auftretenden
Krämpfe und Lähmungen. Sinnesstörungen, wie Blindheit oder Sehschwäche,
Gehörsschwäche oder Taubheit, müssen einem geeigneten Arzte zur Begut-
achtung vorgeführt werden.
Die wichtigste Aufgabe der psychischen Behandlung, die ausschliesslich
dem Pädagogen zukommt, ist die Entwickelung der Aufmerksamkeit. Da
muss beobachtet werden, welcher Sinn des Kindes am meisten der
Erregung zugänglich ist. Ist der am besten entwickelte herausgefunden,
dsnn kann man ihn durch komplizierte Heize erregen und andere
Sinnessphären mitberühren.
Die Aufmerksamkeit, die nach einer Richtung hinneigt, wird dann
auch für andere Sinnesgebiete miterregt. Wichtig ist die Entwickelung
der Sinnesthätigkeit. Den Gesichtssinn reizt man durch starke Helligkeits-
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i68
Berichte und Besprechungen.
unterschiede und intensive Farbeneindrücke. Für Gehörsreize sind die
Idioten zugänglicher als für Gesichtsreize. Sie lieben flotte, rhytmische
Töne und zeigen zuweilen sogar ein gutes Musikgedächtuis. Geschmack
und Geruch spielen eine unwichtige Rolle bei der Erziehung der schwach-
sinnigen Kinder, während die Entwickelung der Hautsinnesthätigkeit eine
eingehende Berücksichtigung verlangt. Der Tastsinn muas geübt werden
durch Berühren von weichen und harten, rauhen und glatten, auch von
schweren und leichten Gegenständen. Das Verständnis für Formen prägt
man dem Kinde durch Befühlen von verschieden gestalteten, runden und
eckigen Gegenständen ein. Verständnisvolle und wohlwollende üeber-
wachung verlangt dann die motorische Sphäre. Stehen, Gehen und Laufen
erfordern besondere Sorgfalt. Zur Uebung des Gedächtnisses muss der
Erzieher alle einstudierten Bewegungen solange wiederholen lassen, bis sie
dem Kinde zur Gewohnheit geworden sind. Das Gedächtnis ist ausser-
ordentlich schwankend. Melodiegedächtnis begegnet man häufig, zuweilen
auch einem überraschenden Zahlengedächtnis. Als den bedeutendsten Punkt in
der Erziehung ist die Sprache anzusehen, die sich oft auf einer überaus
tiefen Stufe zeigt Zunächst muss der Drang nach lautlichen Aeusserungen
geweckt, dann müssen die Bewegungen des Mundes vorgemacht werden.
Bei den ArtikulationsübuDgen empfiehlt der Verfasser die Regeln von
Seguin: 1. zunächst sind Konsonanten, dann Vokale zu lehren; 2. zuerst
müssen die aus einem Konsonanten und einem Vokale zusammengesetzten
Silben gesprochen werden; 3. die Lippenbuchstaben müssen den übrigen
vorangehen; 4. einzelne^Silben sind schwerer auszusprechen als wiederholte
Silben. Mit allen diesen Massnahmen sind die ersten Grundlagen zur
Erziehung des schwachsinnigen Kindes gelegt. Manche von ihnen werden
schon auf früher Stufe zurückbleiben, andere dagegen sich noch weiter
entwickeln, vielleicht aber auf diesem oder jenem Gebiete Schwächen
aufweisen.
Die fernere Erziehung hat sich dann nach drei Richtungen besonders
zu bethatigen: einmal sollen bestimmte elementarische Kenntnisse erworben
werden, dann sind die komplizierten Willens- und Gefühlsreize zu beauf-
sichtigen und möglichst auszubilden, und schliesslich soll durch das Erlernen
einfacher Fertigkeiten der Grundstock für eine später nutzbringende Be-
schäftigung gelegt werden.14
Der elementare Unterricht muss sich besonders auf Anschauung, Fonnen-
sinn, Lesen, Schreiben und Rechnen, auch auf Gesang und Turnen er-
strecken. Die Anschauung übt man an Naturgegenständen, wie Hausgeräte,
Bäume, Gemüse, Blumen, Früchte u. s. w. Dabei können dann Fragen
gestellt werden: wie erhält man Korn, Mehl, Brot? woher kommt der
Kleiderstoff? woher die Wolle? von wem wird das Ei gelegt? welches
Tier giebt die Milch? u. s. w. Den Sinn für Formen entwickelt man an
Modellen : Kreis, Viereck, Dreieck ; später Oval, Rechteck, Achteck. Aeusserst
schwierig ist der Unterricht im Schreiben und Lesen. Zur Erlernung der
Buchstaben sind bewegliche sehr ratsam, die allmählich zu Silben und Wörtern
zusammengesetzt werden können. Beim Rechnen benutzt man am besten
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Berichte und Besprechungen.
169
kleine Ktigelchen wie an der Rechenmaschine, auch das Abzählen an den
Fingern ist eine gute Unterstützung. Gleichzeitig mit diesem Unterricht
muM auch die Unterweisung in Gesang und Turnen beginnen. Während
dieser erzieherischen Thätigkeit ist die Entwicklung der Willens- und
Gemütssphäre des Zöglings sorgsam zu tiberwachen. Die Gemütsbewegungen
bei den Idioten gehen nicht besonders tief; ausserordentlich schwer sind
komplizierte Gefühle zu erregen. Dagegen wird nicht selten gewisse An-
hänglichkeit an den Erzieher beobachtet werden. Mitgefühl, Dankbarkeit,
Trauer wird man ebenso vergeblich anstreben wie etwa ein vollentwickeltes
Selbstbewusstsein. Bedeutsam für das weitere Fortkommen der Schwach-
linnigen ist der Handfertigkeitsunterricht Der Erzieher muss seinem
Zögling neben den Schulkenntnissen auch einige Fertigkeiten beibringen,
die dieser einmal praktisch verwerten kann. Hierher gehört bereits das
Ankleiden, Waschen, Kämmen, Zuhaken, Schnüren u. s. w.; dann das
Hantieren mit Scheere und Nadel, Stricken, Häkeln und Sticken. Ferner
sollen die schwachsinnigen Kinder auch häusliche Arbeit wie Bettmachen,
Zimraerputzen, Kehren, Bürsten, Kleiderreinigen verrichten, in späteren
Jahren auch grobe Arbeit wie Kohlentragen, Waschenden a. s. w. Noch
spater sind sie womöglich auf dem Felde und in der Werkstatt zu be-
schäftigen.
Zum Schlüsse bringt der Verfasser ein eingehendes Verzeichnis der be-
stehenden Anstalten für schwachsinnige Kinder und eine kurze Charakte-
risierung der besonderen Art und Einrichtung.
Berlin. W. Krause.
Die deutsche Schule. Monatsschrift. Herausgegeben im Auftrage
des deutschen Lehrervereins von Robert Rissmann. Jahrgang III. — V.
- Berlin, Leipzig, Wien 1899—1901. Verlag von Julius Klinkhardt.
Die verdienstvolle Zeitschrift bedarf keiner neuen Empfehlung an dieser
Stelle. In Lehrerkreisen dürfte sie durch die Gediegenheit und Vielseitigkeit
ihres Inhaltes wohl genügend bekannt sein. Die vorliegenden drei Jahrgänge
bringen eine grosse Zahl von Abhandlungen, Mitteilungen und Litteratur-
berichten. Auf einige der Aufsätze soll hier kurz eingegangen werden.
Jahrgang 1899.
Es interessiert zunächst eine Arbeit : Ueber die psychologische
Bildung des Pädagogen, von C. Andreae, Kgl. Seminardirektor
in Kaiserslautern. Wir stimmen dem Verfasser bei, wenn er für den Päda
gegen eine psychologische Bildung als unerlässlich fordert. Gerade
auf dem Gebiete des Unterrichts spielt die Psychologie eine bedeutsame
Rolle, umsomehr ist es zu verwundern und zu bedauern, dass sie dort erst
so wenige Wurzeln geschlagen hat. Ein Segen würde der gesamten Schul-
jugend erwachsen, wenn endlich dem oft recht unpsychologischen Verfahren
im Unterricht die Flügel beschnitten und von den Lehrenden die Aneignung
170
Berichte und Besprechungen,
eines psychologischen Wissens nicht nur gewünscht, sondern direkt ver-
langt würde. Viel weniger könnte dann an den Kindern gesündigt werden,
der Unterricht würde sich fruchtbarer gestalten, viele Dinge, wie Intelligenz,
Leistungsfähigkeit, individuelle Eigentümlichkeiten der Schüler etc., würden
zutreffender beurteilt und in Rechnung gestellt.
Was nützt es, dass man, wie Verfasser treffend bemerkt, „Fragen wie
z. B. von den Bedingungen der Aufmerksamkeit, von dem Erwerbe neuer
Kenntnisse, von der Verknüpfung der Vorstellungen, oder wie die Abstraktion
vorzubereiten und zu unterstützen, wie die Gedächtnisfunktion zu erleichtern
sei etc., in der pädagogischen Presse immer und immer behandelt findet, wenn
man den Ergebnissen derselben im Unterricht in keiner Weise Rechnung
trägt?
Diesen Uebelstand fühlen wir mit Andreae mit und können nur wünschen,
dass /er recht bald im Interesse der Gesamtheit verschwinde!
Ein anderer Aufsatz in demselben Heft von E. Linde handelt : ,.V o n
derWichtigkeitdesAnschauensgegenüberdemDenke n."
Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt, nachzuweisen, dass der Anschauung
als solcher nicht in Verbindung mit dem Denken, im Unterricht ein weit
höherer Wert beizumessen sei, als man gewöhnlich zu thun pflegt.
Bei seiner Beweisführung geht L. vom alltäglichen Leben aus, wendet
sich dann der Kunst, der Religion, der Philosophie, der Moral und schliess-
lich der Wissenschaft zu und sucht an ihnen, vornehmlich für die ver-
schiedenen Disziplinen der Wissenschaft, den Wert der blossen Anschauung
darzulegen.
Wenn dem so sei, meint er, müsse auch in der Schule die Anschauung
mehr respektiert werden : Besonders ist ihm die Formalstufentheorie ein
Dorn im Auge, nach welcher Anschauungs- und Denkprozess immer aufein-
ander folgen soll. Weiter bezeichnet es L. als einen Irrtum, „wenn man
auf allgemeine Begriffe, Grundsätze, Regeln, Gesetze u. s. w. als auf ein
Wissen über dem gewöhnlichen, konkreten Wissen glaubt hinarbeiten zu
müssen, wie es bei der sogenannten Herausarbeitung des Systems geschieht,
und zu diesem Zwecke einen umständlichen Abstraktionsprozess ins Werk
setzt." Ebenso sei es fehlerhaft, ,,wenn man den konkreten Stoff, die An-
schauungen, lediglich als Unterlage für die Begriffsbildung betrachte,
anstatt dass man ihn wegen der ihm innewohnenden Fülle zu schätzen wisse."
Uns scheint Linde mit seinen Forderungen ein wenig zu weit gegangen
zu sein. Freilich darf nicht geleugnet werden, dass wir in vielen Punkten
ganz seiner Ansicht sind, doch' sind wohl hier und dort in seinen Ausführungen
ihm Irrtümer mit unterlaufen. Der Leser dieses Artikels verabsäume es
nicht, hierzu auch die in Heft 12 desselben Jahrganges unter dem Titel: „Einiges
über Anschauen und Denken in ihrem Zusammenhange", gemachten Be-
merkungen zu beachten.
Mit den „Aufgaben, Quellen u. Methoden der Kinder-
forschung" beschäftigt sich eine Arbeit von Marx Lobsien, die. wenn
sie auch keinen wesentlichen neuen Beitrag zu diesem Thema liefert, immer
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Hcnchtt und HcsptechuHgcH.
171
hin lesenswert erscheint, insbesondere für diejenigen, welche der Kinder-
psychologie ferner stehen.
Unkindliches im Kinderlied e. Unter diesem Titel erklärt
Ü. Kunt z den Fröbelschen Spielliedern energisch den Krieg. Fröbel selbst
nennt er „den gross ten Sünder unter den Dichtern der Mutter- u. Koselieder;"
seine Lieder bezeichnet er als durchaus verfehlt. Was er zu tadeln daran
findet, ist der Kathederton, den Fröbel in denselben anschlägt. Mit Aus-
nahme zweier Lieder („In der Hecke auf dem Aestchen" und „Ich öffne jetzt
mein Taubenhaus") seien die Mutter- und Koselieder unkindlich, von vor-
zeitiger Moral und Philosophie durchtränkte Verse, die dem Kindesalter
durchaus unverständlich erscheinen. Er führt einige Proben an und stellt
sie in eine Parallele mit den Koseliedern, die der Volksmund geschaffen.
Ebenso wenig Gnade finden vor dem Verfasser auch die in den
Kindergärten so beliebten Beschäftigung*- und Bewegungsspielliedcr sowie
die lyrischen Lieder, deren Hauptgegenstände das Geistliche und Weltliche
bildet. Zahlreiche Beispiele sollen die Mängel derselben kennzeichnen und
den wahren Wert unserer Volkslieder, die jeder Künstelei entbehren, dem
Leser deutlicher vor Augen führen. Seme Betrachtungen schliesst K. mit
der Aufforderung, zum Volksliede zurückzukehren.
Recht "beachtenswert erscheint ein Aufsatz von Max Wagner, der d i e
Organisation der Volksschule auf psychologischer
Grundlage betrifft.
Aus den Statistiken unserer Kommunalschulcn geht hervor, dass leider
ein recht erheblicher Prozentsatz der Schüler (nahezu 40pCt.) das Ziel
dieser Anstalten nicht erreicht. Verfasser versucht in seinen Ausführungen
darzulegen, wie diesem Uebelstande, der sicherlich eine nicht zu unter-
schätzende Gefahr für unser Volk bedeutet, am besten gesteuert werden
könne.
Zu diesem Zwecke verlangt er eine Organisation des einzelnen Schul-
körpers in vertikaler und horizontaler Richtung. Gemäss der
achtjährigen Schulzeit hält er das Achtklassensystem für das geeignetste.
In betreff einer Organisation in horizontaler Richtung (Parallelsystem) macht
W. eine Reihe von Vorschlägen, die wir in Kürze hier mitteilen:
1. Eine gründliche ärztliche Untersuchung der in die Schule eintretenden
Kinder, inbezug auf Körperlänge, Gewicht, Brustumfang, Ernährungs-
zustand ^Blutarmut), Knochengerüst (Rückgratsverkrümmung), Mus-
kulatur, Hautfarbe, Auge, Ohr, Nase und Rachen ist dringend ge-
boten. Etwaigen Degenerationszeichen, die auf geistige Abnormität
deuten, Krankheiten, wie Skrophulose, Rachitis, Tuberkulose und
Krämpfen etc., muss Rechnung getragen werden.
Das Resultat der Untersuchung soll durch eine Gesundheitszensur
ausgedrückt und bei der Verteilung in die Parallelklassen, berück-
sichtigt werden.
2. Man lege den Eltern gedruckte Fragen zur gewissenhaften Beant-
wortung vor, welche über das Vorleben der Zöglinge — Erziehung,
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172
Beruhte und Hesprechungen.
Zeit des Laufen- und Sprechenlernens, Krankheiten, Charaktereigen-
schaften, Neigungen etc. — Aufschluss verschaffen sollen.
3. Ausserdem wird eine Analyse des kindlichen Gedankenkreises ge-
fordert.
4. Bei der Verteilung in die Parallelklassen wird nach dem Prinzip
verfahren: „Die Kinder mit den ungünstigsten Vorbedingungen ge-
hören der Abteilung mit der niedrigsten Klassenfrequenz an. Die
Klasse der Gruppe mit .den besten Grundlagen hat die stärkste zu
sein. Wünschenswert ist es. dass auch deren Schülerzahl 30 nicht
überschreitet.
5. Die Kinder werden zwei Jahre hindurch von ein und demselben
Lehrer unterrichtet und planmässig beobachtet; die Ergebnisse dieser
Beobachtungen sind in die 'Personallisten der Schüler einzutragen.
6. Nach Ablauf des zweiten Schuljahres erfolgt auf Grund der erhaltenen
Aufzeichnungen eine abermalige Scheidung.
7. Schliesslich wird nach dem vierten Jahre noch einmal in obiger
Weise verfahren.
8. Bis zum Ende des vierten Schuljahres haben die nebeneinander,
stehenden Klassen (VIII— V) denselben Plan; der Unterschied
in den Parallelklassen liegt nur in der Art der Darbietung.
Eine Organisation der Volksschule in diesem Sinne lässt deutlich Vor-
teile erkennen; wünschenswert wäre es, dass die angeführten Vorschläge
an massgebender Stelle gebührende Beachtung fänden.
Einer zweiten Arbeit von iE. Linde müssen wir an dieser Stelle noch
gedenken ; sie betrifft das Fibelproblem, das bis jetzt noch immer
nicht vollkommen gelöst ist. Verschiedene Versuche sind ja in neuester
Zeit gemacht worden, um einer Lösung näher zu kommen. So auch der-
jenige von Stöwesand in seinem „Lesebuch der Kleinen" (Magdeburg I8f>9,
Klotz), welches den Ausgangspunkt der äusserst interessanten Betrachtungen
Lindes bildet. Obgleich L. diese Fibel, die „nach der vereinigten Schreib-
lese- und Normalmethode, den Grundsätzen der Phonetik und mit Berück-
sichtigung der Schwachbegabten" bearbeitet ist, seine Anerkennung im
vollsten Masse zollt, kann er doch nicht umhin, auch deren Fehler Er-
wähnung zu thun.
Nach Linde würden wesentliche Schwierigkeiten des Fibelproblems durch
die Einführung einer auf der Phonetik basierenden vereinfachten Recht-
schreibung und durch das Kleinschreiben der Substantive beseitigt werden.
Die Hauptschwierigkeit aber könnte nur dann fallen, wenn den Schülern
die Fibel nicht wie bisher schon im ersten, sondern erst im zweiten Schul-
jahre in die Hand gegeben würde, nachdem sie geistig gereifter, im Nach-
denken geübt und mit einem weiteren Anschauungskreis ausgestattet wären.
Jahrgang 1900.
An der Schwelle des nenen Säknlums dürfen die „Stimmen zum Schul-
programm des XX. Jahrhunderts (vgl. Heft 2 — 12) von allgemeinem Interesse
sein. Eine Anzahl berufener und maasgebender Persönlichkeiten sind für
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*73
diesen Aufsatz gewonnen worden; ihre Anregungen wollen wir liier kurz
wiederholen.
Als erster nimmt der ehemalige Kultusminister Dr. R. Bosse das
Wort. Ein solches Programm in einigen wenigen Sätzen festzulegen, weist
er als unmöglich von der Hand ; er begnügt sich mit einigen aphoristischen
Bemerkungen, die für die Schule der Zukunft Beachtung verdienen. Sie sind
ausschliesslich theoretischer Natur; vornehmlich geht Bosse in seinen Aus-
führungen auf das von vielen so lebhaft geforderte Schulgesetz ein. Dieses,
meint der Minister, könne nur durch Kodifikation einer Anzalü von Spezial-
gesetzen, die noch je nach der Massgabe der Dringlichkeit des Bedürfnisses
zu schaffen seien, erwachsen, wenn es allen Wünschen und Hoffnungen,
die man daran knüpft, gerecht werden soll. Missbilligend spricht sich Ver-
fasser im weiteren über die Unmenge von Anordnungen und Instruktionen
aus, die der Entwicklung des Schulwesens mehr schaden als nützen, indem
sie zu geistloser und einförmiger Schablonenwirtschaft fuhren. Er plaidiert
dafür, dass jeder tüchtigen Lehrkraft das rechte Mass individueller, freier
Wirksamkeit zugesichert werde.
Von eminent praktischem Werte sind die Ausführungen des bekannten
Universitätsprofessors W. Bein in Jena, der, die Schwierigkeit seiner Auf-
gabe sehr wohl erkennend, es unternimmt, auf Grund langjähriger, auf-
merksamer Beobachtung der Entwicklung unseres Schul- und Bildungs-
wesens ein Programm in Grundzügen aufzustellen.
Er geht von dem Gedanken aus, dass eine Förderung unseres Schul-
wesens nur durch einen einheitlichen Plan zu erwarten sei. Gemäss der
Einteilung unseres Volkes in drei grosse Arbeitschichten, verlangt er eine
dreifache Vorbildung. Als gemeinsame Unterlage für alle Klassen diene
der Kindergarten und die allgemeine Volksschule, welche letztere vom
sechsten bis zehnten Jahre zu besuchen sei. Alsdann möge eine Trennung
erfolgen. 1. Zöglinge, welche einen der niederen Erwerbszweige, sei es als
Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Handwerker, Bauer oder als Unterbeamter, er.
greifen wollen; besuchen die Volksschule weitere vier Jahre. Ihr schliesst
sich ein obligatorischer Unterricht auf den allgemeinen Fortbilduugs-
oder unteren Fachschulen (Handwerker-, Ackerbauschulen) an. 2. Die-
jenigen Schülern und Schülerinnen, welche sich einem mittleren Berufe
zu widmen gedenken, bietet ein 5— 6jähriger Besuch einer Realschule bezw.
Mädchen-Mittelschule und im Anschluss daran eine mittlere Fachschule
«Technikum Handels-, Kunst-, Gewerbe-, Forst- oder Bergbauschule) die ge-
eignete Vorbildung.
3. Für die höheren Berufe (Grosskaufmaun, Grossindustrie, höheres
Beamtentum, Militär, Gelehrten tum) kommen schliesslich die Oberreal-
schulen, Realgymnasien und Gymnasien (ü jähriger Kursus) und die höheren
Fachschulen (Lehrerseminar, Akademie, Polytechnikum, Universität) in
Betracht.
Die „Erziehungsschulen", unter denen R. die Volksschulen in ihren
oberen Klassen, Realschule, Oberrealschule, Realgymnasium und Gymnasium
versteht, sollen neben Vermittelung von Kenntnissen und Fertigkeiten, die auf-
174
Berichte und Besprechungen.
klärend wirken and nutzbringend auf die Fachschulen vorbereiten, vor allem in
Verbindung mit dem Hanse für die Gemüts- nnd Charakterbildung ihrer
Zöglinge Sorge tragen. Dieses kann aber nur durch Verkleinerung der
einzelnen Klassen erreicht werden.
Praktischen und sittlichen Nutzen verspricht sich der Verfasser von
einem obligatorischen Fortbildungsunterricht für unsere Volksschuler,
die, einmal der Aufsicht der Lehranstalt nicht mehr unterstellt, nur zu
leicht den Versuchungen zum Opfer fallen, verwildern und die Bahn des
Verbrechens betreten.
Auf dem Gebiete des Volksschulwesens verlangt R. durchgehende
Fachaufsicht, wie sie bereits im höheren Schulwesen besteht. Auch er-
scheint ihm die Errichtung eines besonderen Unterrichtsministeriums
dringend geboten. In der vielfach erörtertem Berechtigung^ frage unserer
höheren Lehranstalten, steht er auf selten derjenigen, welche eine Gleich-
berechtigung anstreben.
In Anbetracht des gesundheitschädigenden Einflusses der Examina
beiürwortet er den Fortfall der Abiturientenprtifungen und hält es für
ratsamer, die Entscheidung über die Reife der einzelnen Schüler dem
Lehrerkollegium anheimzustellen. Die Berechtigung zum einjährigen Dienst
solle, wenn überhaupt beibehalten, nur nach Absolvierung einer Vollanstalt
erteilt werden.
Was schliesslich die Lehrerbildung angeht, so wird für die Volks -
schullehrer ein Ausbau der Allgemeinbildung, für die akademischen Lehrer
eine Vertiefung in die Pädagogik angeregt. Zu diesem Zwecke sollte auch
von den Universitäten durch Errichtung von pädagogischen Lehrstühlen
etwas gethan und mit dem antiquierten Vorurteil, dass Pädagogik blosse
Technik und keine Wissenschaft sei, gebrochen werden.
Auf demselben Standpunkte wie Rein steht auch Professor Friedrich
Paulsen. Er kann dem von ereterem entworfenen Programm nur zu-
stimmen als einem Plane, welcher ausnehmend geeignet erscheint, in Zu-
kunft der Schule als Grundlage zu dienen. Er geht die von Rein ange-
führten Punkte der Reihe nach durch, die von ihm hier und dort noch aus-
geführt und erweitert werden. Wir heben einiges ans diesem Aufsatze
hervor. Paulsen ist der Ansicht, dass die Ausbildung der allgemeinen Fort-
bildungsschule nnd des niederen Fachschulwesens nicht nur eine bedeutende,
sondern die grösste Aufgabe des zwanzigsten Jahrhunderts sei. Wenn-
schon er die Beibehaltung der Gymnasialseminare empfiehlt, meint er, dass
Seminar- und Probejahr thunlichst zusammenzulegen und dafür nur ein
Jahr (anstatt der üblichen zwei) anzusetzen sei. Neben einem eigenen
Unterrichtsministerium, das unabhängig vom Ministerium der geistlichen
Angelegenhelten ist, regt er auch die Einsetzung eines Landesschalrats als
oberste Instanz neben ereterem an, welcher sich aus dem Lehrkörper aller
Stufen zusammensetzt. Schliesslich sagt P., und wir glauben mit ihm noch
viele andere, sei auch eine Aufbesserung der Lehrergehälter durchaus er-
wünscht und der allgemeinen Sache förderlich.
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Berichte und ftesprechungen.
175
Der Vorsitzende des deutschen Lehrervereins, Leopold Clausnitzer'
erblickt die wichtigste Aufgabe der Zukunft In der Gründung einer all-
gemeinen Volksschule, welche in den ersten Jahren Kinder aller Stünde
umfasst, um so einen organischen Zusammenhang zwischen Volks- und
höherer Schule einerseits herbeizuführen, andererseits aber auch um den
Standesdünkel ein wenig zu unterdrücken.
Bedenken mancher Eltern, dass ihre Schutzbefohlenen in der Volks-
schule durch die Berührung mit Kindern aus den unteren Schichten der
Bevölkerung Schaden an Leib und Seele nehmen könnten, weist C. zurück,
da die Erfahrung gelehrt, dass in den höheren Lehranstalten nicht weniger
schiechte Elemente zu finden sind, die schädlichen Einfluss auf ihre Mit-
schüler ausüben können.
R. Baumann, Professor in Böttingen, halt gleichfalls eine allgemeine
Elementarschule für wünschenswert, in der neben konfessionellem Religions-
unterricht, die klassische Litteratur unseres Volkes, die Naturwissenschaften,
der Handferti^keitsunter rieht und das Zeichnen vornehmlich gepflegt werden
•ollen. Die Lehrkräfte an diesen Anstalten werden ihre Ausbildung wie
früher auf den Seminaren erhalten, welche ihren Abschlnss in einem ein-
jährigen Universitätsstitdium finden möge.
Auf den höheren Schulen tritt Verfasser für Verminderung des
lateinischen und griechischen Unterrichts ein. In hygienischer Beziehung
stellt er 5 tägliche Unterrichts- und 3 Arbeitsstunden als Maximum dessen
auf, was unsern Schülern zugemutet werden kann. Die Anstellung von
Schulärzten. Einführung von Ruhetagen, Abschaffung des Abiturienten-
examens sind ebenfalls Punkte, welche in gesundheitlichem Interesse Be-
achtung verdienen.
Höheren Mädchenschulen, die zum Besuch der Universitäten berechtigen
sollen, steht B. nicht abgeneigt gegenüber. Mit Paulsen verlangt er einen
Oberunterrichtsrat (Landessohulrat) aus 30 -40 Mitgliedern aller Lehrkörper,
der einem besonderen Unterrichtsministerium zur Beratung unterstellt ist.
D. Dr. K. Schneider, Wirklicher Geh. Oberregierungsrat in Berlin,
bespricht in Heft 7 zunächst die Bedenklichkeiten, welche ein Schulgesetz
ev. zur Folge haben kann, und wendet sich dann der Unterrichtsminister-
frage zu, die er au9 mancherlei Gründen bejaht
In wenig erfreulicher Welse läset sich Prof. Uphues in Halle über
die Leistungen unserer Gymnasien ans, bei denen er einen stetigen Rück-
gang konstatiert. Er fordert, dass in Zukunft der Pflege der alten
Sprachen mehr Zeit gewidmet werde und dass die Lehrer mit dem Schüler
von vornherein in elementarster Weise Lateinisch und Griechisch sprechen.
In Betreff der Schulaufsicht erklärt er sich gegen eine Umgestaltung derselben.
Prof. E. Bernheim in Greifswald formuliert seine Wünsche in
folgenden Sätzen:
1. Zur Herbeiführung eines unserer Zeit und unserer Nation würdigen
Schulprogramms ist es erforderlich, dass die nationale Bedeutung
eines einheitlichen Unterrichts wesens allgemeiner erkannt und als
allgemeines Interesse empfunden werde.
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176
Berichte und Besprechungen.
2. Die einseitige Auffassung der Unterrichtsfragen lediglich von den
Sonderinte r essen einzelner Schulgattungen und Bildungsgrade ans
muss im nationalen Gesatntinteresse überwunden werden; den Refonn-
bestrebungen der technischen Kreise ist daher mit ehrlicher Würdigung
der technischen Interessen beizupflichten, soweit sie nicht gegen die
übrigen Bildungsinteressen Verstössen, und es ist unter gebührender
Wahrung der letzteren ein Gleichgewicht technisch-realer und technich-
humanistischer Bildung in der Unterrichtsorganisation zu erstreben.
3. Das innere Organisationsprinzip, welches ein solches Gleichgewicht
ermöglicht, ist die Differenzierung des Unterrichts in fakultativer
Auswahl der Lehrfächer bezw. der Bildungskurse, nicht nur in ver-
schiedenen Schulgattungen, sondern auch innerhalb des Lehrplanes
jeder Schule von den Volksschulen an bis zu den Hochschulen in
steigender Mannigfaltigkeit der Auswahl, doch überall unter Fest-
halten eines gewissen Masses von gemeinsamem Bildungsstoff, wie es
für das nationale und soziale Leben erforderlich ist.
Bemerkenswert ist auch der Beitrag, den J. Tews zu obigem Thema
liefert. Mit der gegenwärtigen Theorie und Praxis der Unterrichtsarbeit
vollauf zufrieden, hält er eine Bestimmung des Lehrstones für wünschens-
wert und geboten. Er meint ferner, dass das XX. Jahrhundert berufen
sei, die Volkselnheitschule von der Grundklasse der Volksschule bis zum
letzten Semester der Universität zu schaffen. Im Anschluss daran setzt er
einen einheitlich gegliederten Lehrerstand mit derselben Vorbildung voraus,
sodass der Elementarlehrer auch die Möglichkeit habe, in späteren Jahren
an den Universitäten zu dozieren.
Den alten Begriff der Erziehung und Bildung bringt er zu Falle und ersetzt
ihn durch einen andern, indem er sagt, dass die Schule einen Bildungsabschluss
nicht erzielen könne und nicht erzielen solle, sondern vielmehr in ein ge-
wisses Tempo und eine gewisse Richtnng der Entwicklung hineindrängen,
die erst mit dem organischen Verfall des erzogenen Wesens aufhöre. Zur
Realisation dieser Idee empfiehlt er eine systematische Vereinigung der schon
bestehenden Unterrichts- und Vortragskurse, öffentlichen Vorträge, Volks-
unterhaltungsabende, Volksbibliotheken, Lesehallen, Museen und anderen
gemeinnützigen Institutionen. Besonders aber sei in dem Programm einer
doppelten Fachbildung der heranreifenden weiblichen Generation als Mutter
und Berufsarbeiterin Rechnung zu tragen.
Die interessanten Ausführungen C. Andreaes, der zuletzt das Wort
ergreift, gipfeln in nachstehenden fünf Hauptforderungen:
1. Errichtung von Ministerien für Erziehungs-, Unterrichts- und
Bildungsangelegenheiten.
2. Pflege der Pädagogik auf den Hochschulen.
3. Ausbildung aller Lehrer auf den Universitäten.
4. Einheitliche Nationalbildung.
5. Möglichste Einschränkung der Prüfungen.
Aus der Zahl der übrigen, recht lesenswerten Abhandlungen der Zeit-
schrift seien folgende besonders hervorgehoben:
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Berichte und Besprechungen. ijy
E. v. Sallwtirk: Die pädagogische Geschichte des neunzehnten Jahr-
hunderts in Deutschland (Heft 5).
W. Wilke: Ueber die Grenzen des menschlichen Anschauungsver-
mögens.
J. Tews: Die allgemeine Volksschule und die höhere Mädchenschule.
H. F. Walsemann: Vom psychischen Bilden überhaupt und dem
Verblaasen der Erinnerungsbilder im besonderen.
Hans Koch.
(Fortsetzung folgt.)
Natur und Schule. Zeitschrift für den gesamten naturkund-
lichen Unterricht aller Schulen. Herausgegeben von B. Lands-
berg in Alienstein O.-Pr., 0. Schmeil in Magdeburg und
B. Schmid in Bautzen. 1. Band. 1. und 2. (Doppel -)Heft.
Mit 14 Text - Abbildungen. B. G. Teubner. Berlin und
Leipzig. 1902. 112 S.
Eine Zeitschrift zu schaffen, die allein dem naturkundlichen Unter-
richte dient und den Schulbetrieb aller seiner Fächer mit gleichem Interesse
behandelt, die die Einheitlichkeit seiner Ziele im Auge behält und zu deren
Erreichung ihre ganze Kraft einsetzt, die es sich angelegen sein lässt, die
naturwissenschaftlichen Errungenschaften, seien es bedeutsame Erkenntnisse,
sei es die aus ihnen fliessende, dem Bildungsideale unserer Zeit entsprechende
Weltanschauung, der Schule zuzuführen — das ist der Plan der Herausgeber
bei Begründung der vorliegenden Zeitschrift.
In „Natur und Schule" versprechen die Herausgeber die einzelnen
Disziplinen der Naturwissenschaften gleichmässig zu berücksichtigen. So
sollen in Zoologie und Botanik die anatomisch -morphologischen und
systematischen, sowie die biologischen und physiologischen Fragen gleich
eingehende Behandlung finden; in Physik, Chemie und Mineralogie soll
sowohl die theoretische als auch die praktische (technische) Seite zur
Geltung kommen, üeber die neuesten Forschungsergebnisse und Frage-
stellungen zu berichten, neben der intellektuellen und moralischen auch der
künstlerischen Erziehung unserer Jugend Rechnung zu tragen, sind weitere
Aufgaben. In dem Abschnitt „Bücherbesprechungen" soll die Zeitschrift
insofern eine gewisse Vielseitigkeit aufweisen, als sie möglichst alle auf natur-
wissenschaftlichem Gebiete erscheinenden und für die Schule nutzbar zu
machenden wissenschaftlichen Werke, in erster Linie aber alle bedeutenderen,
unmittelbar für die Schule bestimmten Bücher in Betracht ziehen wird.
Entsprechend soll verfahren werden in dem Abschnitt Zeltschriftenschau,
sowie bei Berichten über Schulprogramme, Versammlungen usw. Gute
Abbildungen, welche sowohl für den Lehrer, als auch für den naturkund-
lichen Unterricht von Wichtigkeit sind, sollen nach Möglichkeit beigegeben
werden. In einem „Sprechsaal" endlich soll Gelegenheit zu Anfragen
didaktischer oder wissenschaftlicher Art und zur Diskussion geboten werden.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 6
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178
Berichte und Besprechungen.
Dies sind kurz die Aufgaben, welche sich die neue Zeitschrift nach
der Ankündigung der Herausgeber stellt. Aue dem Inhalt des 1. u. 2. Heftes
erwähnen wir die Abhandlungen. B. Schmid: Die Entwicklung der Natur-
wissenschaften im 19. Jahrhundert, ihr Einnues auf das Geistesleben und
die Aufgaben der Schule. F. Penisen : Die Biologie im Unterrichte der
höheren Schulen. E. Wagner: Über das Zeichnen im naturgeschichtlichen
Unterricht. F. Pfuhl: Der Pflanzengarten an der höheren Lehranstalt —
seine Verwertung, Anlage und Pflege. J. Walther: Die Geologie in der
Schule. P. Matschie: Neuere Forschungen auf dem Gebiete der Süuge-
tierkunde.
In den kleinen Mitteilungen veröffentlicht O.Schmeil: Zwei Unterrichts-
proben aus der Blütenbiologie. B. Landsberg berichtet Uber: Das Okapi,
Ocapia Johnstoni, Ray- Lankaster. Weiter finden sich Aufsätze über:
Grösse der Tiere, über die atmosphärische Strahlenbrechung des Lichtes und
des Schalles, über Industrie und Schule u. a. Lehrmittelschau, Besprechungen,
Ver8ammlungsberichte, Sprechsaal, Programm-, Zeitschriften- und Bücherschau
tiberschriebene Abschnitte bilden den Schluss. Der Aufsatz von Paulsen
„Die Biologie im Unterrichte der höheren Schulen" verdient aus mehreren
Gründen eine Besprechung.
„Wir haben begründete Hoffnung, es werde nicht mehr lange dauern,
bis die Forderung anerkannt wird , dass jeder gebildete Mann ein grosses
Stück Biologie kennen muas, um diejenige Stellung einzunehmen, die für
die Beurteilung der Welt erforderlich ist." Dieses Wort, das Virchow auf
der Schulkonferenz des JahreB 1900 sprach, und das auf der vorjährigen
79. Versammlung der Naturforscher und Ärzte zu Hamburg ein vielstimmiges
Echo fand, stellt Prof. Paulsen an den Anfang. Der Ton aller Äusserungen,
welche die von dem hochverdienten Direktor des Naturhistorischen Museums
zu Hamburg, Prof. Kraepelin, angeregte Verhandlung „über die gegenwärtige
Lage des biologischen Unterrichts an den höheren Schulen" hervorrief, war eine
herbe Verurteilung jener Vernachlässigung, die der biologische Unterricht zur
Zeit au allen unseren höheren Schulen, an den Realanstalten wie an den
Gymnasien, erfährt. Die Hamburger Verhandlungen liefen in die Auf-
stellung von neun Thesen aus, in denen die Durchführung des biologischen
Unterrichts durch alle Klassen der höheren Schulen als eine dringende
Notwendigkeit bezeichnet wird.
Aus den Gründen für diese Notwendigkeit, die in den Verhandlungen
von einer Reihe hervorragender Fachmänner entwickelt wurden, hebt Prof.
Penisen nur den hervor, dass „ohne Biologie kein Verständnis der
philosophischen Probleme und ihrer Lösungen'4 möglich ist. Er kommt zu
der Folgerung: „die Schule, die auf den biologischen Unterricht Verzicht
thut, verzichtet auf den interessantesten und wichtigsten Teil natur-
wissenschaftlicher Erkenntnis, den Teil, an dem die Naturwissenschaften
am unmittelbarsten mit den letzten und allgemeinsten Fragen menschlichen
Erkennens sich berühren. Sie verzichtet damit zugleich auf den Teil der
Naturwissenschaften, dem das lebendigste und spontanste Verlangen der
zum Nachdenken erwachenden Jugend entgegenkommt. Wie leidenschaft-
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Iterichte und Besprechungen.
179
lieh das Interesse für diese Fragen in dem Lebensalter des Aufwachens des
spekulativen Triebes ist, weiss jedermann, der mit der Jugend in Berührung
steht: die Aufnahme des entwicklungsgeschichtlichen Gedankens aus irgend
welchen, wie immer getrübten Quellen wird ziemlich regelmässig die Ein-
leitung dieses Lebensabschnittes ausmachen.
Wie kommt es, dass bei dieser auf der Hand liegenden Wichtigkeit
der Sache ein biologischer Unterricht, abgesehen von dem naturhistorischen
Unterricht auf Unter- und Mittelstufe, ein eigentlich biologischer Unterricht,
wie er erst auf der Oberstufe möglich wäre, ein Unterricht, der die inneren
Lebensfunktionen und die allgemeinsten Verhältnisse des Lebens zum
Gegenstand hätte, auf unseren Schulen bisher fehlte und auch in Zukunft
fortfahren wird zu fehlen? Denn auch die neuen Lehrpläne von 1901 lassen
es, von einem Punkt abgesehen, bei dem alten Stande.
Von den verschiedenen und verschiedenartigen Hemmnissen, die der
Durchführung des biologischen Unterrichts auf der Oberstufe entgegen-
stehen, hebt der Verfasser, von anderen z. B. der Schwierigkeit seiner
methodologischen Gestaltung absehend, nur den Mangel an Zeit und seine
Gefährlichkeit hervor. Dem ersten Bedenken, dem Zeitmangel, gegenüber
macht der Verfasser geltend, dass es nach seinem Dafürhalten möglich
wäre, „in einem Jahreskursus in der Prima mit zwei wöchentlichen Stunden
die Hanptthatsachen der Biologie so weit zur Anschauung zu bringen und
die Hauptprobleme so weit zu entwickeln, als es in Absicht auf die Fragen
der Philosophie und Weltanschauung erforderlich wäre." Seiner Meinung
nach lassen sich die wichtigsten Dinge schon in einer Reihe von Vorträgen,
die ausserhalb des eigentlichen Schulkursus blieben, vielleicht in Nachmittags-
oder Abendstunden, deren Besuch wahlfrei wäre, behandeln. Dann
würde keine Ueberbürdungsklage stattfinden können und ebensowenig eine
Beschwerde über Gewisaensbeängstigung durch Darwinismus und ähnliches.
Uud an Wirksamkeit würde eine solche freiere Form des Unterrichts
hinter der Durchführung eines neuen obligatorischen Unterrichtsfaches
vielleicht nicht zurückbleiben."
Ueber den zweiten Punkt, die Gefährlichkeit, führt Prof. Paulsen
u. a. folgendes aus: „Durch die ganzen Verhandlungen des Hamburger Tages
ging die Empfindung, das» es hohe Zeit sei. mit dem System der Schul-
heuchelei zu brechen und endlich dem absurden Gegensatz Moses contra
Darwin ein Ende zu machen. In der That, es ist von höchster Wichtigkeit,
dass die Schule zu dieser Anschauung ein vernünftiges Verhältnis gewinnt.
Die Entwicklungslehre überhaupt vor den Schülern zu sekretieren, nun, es
iebt ja niemand mehr, der das für möglich hält: auf tausend Wegen findet
sie Eingang, hat sie längst auch jenseits der Kreise der Gymnasien Eingang
gefunden. Die Schule muss das endlich anerkennen, sie muss davon reden,
der pädagogische cant, womit wir an der Sache mit bösem Gewissen vorüber-
schleichen, zerstört das Vertrauen und vernichtet den Glauben."
Endlich weist der Verfasser darauf hin, wie der Lehrer die Bekannt-
schaft mit diesem so wichtigen und in die Zeit so tief eingreifenden
Oedankenkreis seinen Schülern zu vermitteln haben würde und schliesst
6'
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i8o
Berichte und Besprechungen.
seine Betrachtungen mit der Aufforderung an Herrn Direktor Kraepelin,
der die Anregung zu der in der That unerläßlichen Forderung eines
biologischen Unterrichts gegeben hat, nun auch den Weg zur Erfüllung
des Bedürfnisses zu zeigen. —
Berlin. Wilhelm Eichler.
Fritz Reuter, woans hei lewt un schrewen hett. Verteilt von
Paul Warncke. Mit nägen Biller. 311 Seiten. Biographische
Volksbücher No. 56—63. R. Voigtländers Verlag in Leipzig.
Ungebunden 2 Mark, gebunden 2 Mark 25 Pf.
Ein sympathisches, willkommenes Buch, das unter den vortrefflichem
„Biographischen Volksbüchern" des Voigtländerschen Verlages, sowie in der
ganzen Reuter - Litteratur einen hervorragenden Platz einnimmt und der
reiferen Jugend willkommen sein wird! Vor allen anderen Biographien des
grossen Dichters zeichnet es sich in eigenartiger Weise dadurch aus, dass
e6 in dem jedem Deutschen kräftig anmutenden Mecklenburgisch geschrieben
ist. Die Darstellung ist lebendig und lebenswahr. Alle vorhandenen Quellen
hat der Verfasser, übrigens selbst ein Mecklenburger, offenbar in der er-
giebigsten Weise benutzt, daneben auch die erst vor kurzer Zeit veröffent-
lichten Briefe Reuters an seinen Vater. Durch Vergleichung der einzelnen
Quellen bringt er manche Thatsachen, die noch in keiner Reuter-Biographie
zu finden sind. Von den wohlgelungenen Abbildungen, darunter neben
einigen anderen seltenen Bildnissen ein vortreffliches Portrait des Dichters
selbst, interessiert uns vor allem die markige Gestalt des Onkel Bräsig.
Berlin. W. Krause.
Aug. Messer, Die Reformbewegung auf dem Gebiete de»
preussischen Gymnasialwesens von 1882 bis 1901. Leipzig,
Teubn'er. 1901.
Dieser „historische" Rückblick auf die Reformbewegungen der letzten
zwanzig Jahre ist insofern interessant und wertvoll, als er überall die
letzten Gründe für die verschiedenen umstrittenen Ansichten aufzuzeigen
versucht und dabei psychologische Exkursionen zu machen genötigt ist, die
in ihrem Für und Wider auch für die Zukunft beachtenswerte Winke ent-
halten. Die Schwankungen, die der Lehrplan der preussischen Gymnasien
im Verlaufe des letzten Jahrhunderts gezeigt hat, haben ihren eigentlichen
Grund in der Ueberfülle der Bildungsstoffe, die er teils von vornherein,
teils im Laufe der Zeit in sich aufnahm, also in dem „Prinzip" der all-
gemeinen Bildung, das von der breiten Öffentlichkeit laut gefordert wurde.
Einerseits sollten die Gymnasien nicht den klassischen Boden unter den
Füssen verlieren, andererseits jedoch allem Wissenswürdigen der Gegenwart
Rechnung tragen. Dieser Dualismus in der Bildung und die Forderung
der wechselseitigen Beziehung der Unterrichtsfächer aufeinander wurden
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Herkhte und Besprechungen.
181
geit 1*75 durch Bonitz als oberster Leitbegriff der Reorganisation hingestellt.
Die Klagen über üeberanstrengung der Schüler, über Abwendung der
J ugend von dem nationalen Leben und der Kultur der Gegenwart, über
das Berechtigungsmonopol der Gymnasien u. a. führten seit den 80er Jahren
zu immer lebhafteren Diskussionen und schliesslich zu Abänderungen der
Lehrverfassung. Die Vertreter einer durchgreifenden Reform verlangten
«inen lateinlosen Unterbau in allen 3 Arten höherer Lehranstalten, wie er
in Altona erprobt war. Das Lateinische mit seinem Reichtum an Formen
sei für die Sextaner zu schwer und biete ihnen zu abstrakte Stoffe. In
beider Hinsicht sei das Französische geeigneter, das zugleich eine natür-
liche Methode der Spracherlernung gestatte, wobei die praktische An-
schauung, die unbewusste Aneignung, das Lernen nach Analogieen, die
Entwickelung des Sprachgefühls mitwirken. Dagegen erklärten nun freilich
die Gymnasien, das Lateinische sei für einen aufgeweckten Sextaner
keineswegs zu schwer, er habe seine Freude an dem Erlernen der Formen,
und sein Gedächtnis sei leistungsfähig ; anders allerdings der Tertianer, der
bereits nach Inhalt verlange. Ferner spreche für das Lateinische die
naive, ehrliche Art der Gedankenausprägung in dieser Sprache, die der
kindliehen Art so nahe liege. Daas hier die natürliche Methode der Sprach-
erlernung nicht anwendbar sei, empfehle das Lateinische gerade als
Anfangsstoff für wissenschaftliches Arbeiten. Auf der Dezember-Konferenz
1890 wurde auch behauptet, dass man mit der Vorausnähme des Franzö-
sischen an einigen Orten ungünstige Erfahrungen gemacht habe; seien
doch die Formenlehre und die Syntax des Französischen nach der Ansicht
vieler ebenso schwierig als die des Lateinischen. Wenn man ausserdem
die unteren Klassen entbürde, so müsse das notwendig zu einer Ueber-
bürdung in den mittleren Klassen führen. Wenn der lateinlose Unterbau
schulpolitisch ein Mittel sei, die Organisation der höheren Schulen den
Forderungen des Lebens anzupassen, so frage es sich doch, ob dies je die Absicht
des Gymnasiums sein dürfe. Das Lateinische habe jedenfalls Anspruch auf
allgemeingiltige Wertschätzung; es sei notwendig für jede tiefere historische
Auffassung und ein unentbehrlicher Bestandteil der allgemeinen Bildung;
es sei didaktisch wertvoll, weil es dem Schüler eine relativ einfache Kultur-
welt vorführe; es sei „formal bildend" durch Erziehung zur sprachlichen
Genauigkeit, ferner ethisch und ästhetisch wirkungsvoll.
Im Anschluss an das Programm der Reformfreunde stellten dagegen
M.mner wie Göring, Lange, Güssfeld Forderungen, die alle bestehenden
Verhältnisse ignorierten und aus den bestehenden Schulen eigenartige
deutsch-nationale Erziehungsstätten machen wollten, in denen zugleich der
körperlichen und ästhetischen Bildung ein breiter Raum gewährt würde.
Der fernere Streit konzentrierte sich um die Frage der formalen Bil-
dung; darunter verstand und versteht man etwa eine solche, die sich von
der Materie, an der sie erworben wurde, gewlssermassen loslöst und sich
einer andern Materie gegenüber fruchtbar geltend macht. Sie wird ge-
wöhnlich als eine Eigenschaft des Verstandes — dieser als Seelenvermögen
gedacht — betrachtet, die durch Uebung in höherem oder geringerem Grade
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Berichte und Besprechungen.
sich erwerben lässt. Vom Standpunkt der Association spsychologie oder des
Herbartschen Vorstellungsmechanismus aas wird ihre Existenz allerdings
geleugnet, hier giebt es nur materiale Bildung, d. h. Vorstellungen und
Vorstellungeverbindungen, die an bestimmten Wissensgebieten haften. Will
man jedoch der Thatsache, „dass Uebung den Meister macht", psychologisch
gerecht werden, so muss man nach Messer einer mittleren Grundanschauung
folgen, indem man nicht nur die seelischen Inhalte, sondern daneben auch
die seelischen Akte oder die realen Vorgänge, denen die Inhalte ihr Dasein
verdanken, berücksichtigt. Diese zuständlichen Bedingungen der Inhalte
kann man als Vermögen bezeichnen, die teils als ruhende, teils als auf
Reize wartende Kräfte zu fassen sind, ev. als formale Anlagen. Die Ver-
standesthätigkeit hat man als Analyse and Synthese znsammengefasst, nach
beider Richtung ist der Verstand ganz gewiss steigerungsfähig.
Die bildende Wirkung des fremdsprachlichen Unterrichts bezieht sich
auf zwei Dinge, auf das Sprechen und das Denken; jenes wird klarer bewusst
und logischer, freilich niemals bei der natürlichen Spracherlernuug, sondern
nur beim Gebrauch der grammatischen (= wissenschaftlichen) Methode. Ob
nun aber die alten Sprachen den modernen an logischem Charakter über-
legen und darum für die logische Schulung wertvoller sind, dürfte sich
kaum mit mathematischer Genauigkeit feststellen lassen. Der logische
Bildungswert der Sprachen tritt in den Uebersetzungsübnngen deutlich zu
Tage, und man erkennt ihren förderlichen Einfluss auf die intellektuelle
Erziehung.
Da die einseinen Sprachen den Erfahrungsinhalt in verschiedener
Weise ausdrücken, die Dinge, ihre Eigenschaften und Beziehungen nach
andern Merkmalen ansehen und gliedern, so wird beim Eindringen in eine
fremde Sprache der Gedanke von dem sprachlichen Ausdruck getrennt,
und daher werden die Merkmale jedes Begriffes bewusster erfasst; dazu
kommt, dass die ganze geistige Struktur verschiedener Völker: Gemüts-
zustände, innere Vorgänge, sittliche und schönheitliche Ideale, stark von
einander differieren, sodass nicht nur eine Uebersetzung der Worte, sondern
zugleich ein Hineinversetzen in andere geistige Prozesse nötig ist. Wenn
beim Uebersetzen in die fremde Sprache vielleicht noch das gedächtnis-
mässige Wissen stark zur Geltung kommt, so findet jedenfalls beim Her-
übersetzen eine strenge analytische und synthetische Thätigkeit statt, ein
wirkliches wissenschaftliches Arbelten, durch welches der Sinn jedes Satzes
mühsam festgestellt werden muss.
Die Folgerungen, die man aus den Erörterungen namentlich über den
altsprachlichen Unterricht für die Gestaltung des höheren Schulwesens zog,
ergaben sich nicht mit logischer Notwendigkeit, sondern Hessen viel Sub-
jektives erkennen. Manche wollten die innere Verfassung der Gymnasien
und ihre äussere Rechtsstellung unter allen Umstünden wahren, andere
traten gerade als Freunde der klassischen Bildung für Gleichberechtigung
sämtlicher 9klassigen Anstalten ein, noch andre verlangten eine das Gym-
nasium und Realgymnasium verschmelzende höhere Einheitsschule mit Bei-
behaltung des Griechischen. Auf diese Folgerungen hier näher einzugehen
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muss Bich Referent versagen. Die Dezemberkonferenz vorn Jahre 18(>0 und
die Lehrpläne von 1892 und 1901 brachten den Gymnasien eine starke Be-
schränkung des klassischen Unterrichts und nahmen ihnen zugleich das
Berechtigungsmonopol, beides durch das Eingreifen des Trugers der Krone.
Ein Urteil über Wert und Bedeutung dieser Veränderungen abzugeben,
hegt weder in dem Sinne dee Verfassers noch des Referenten, da eben zu
viele subjektive Momente dabei mitspielen. Die Zukunft wird die sichere
Entscheidung darüber bringen, ob und wieviel antike Beimischungen zu
unseren modernen Bildnngsstoffen notwendig erscheinen, um eine zeit-
gemässe allgemeine Bildung zusammenzusetzen, die der Wissenschaft und
dem praktischen Leben in gleicher Weise an gute kommt. Bi« dahin wird
die Darstellung der erlebten Meinungen und Kampfe in der erschöpfenden
und objektiven Art Messers vielfach zur Orientierung dienen können.
-s.
Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. I. Bd.:
Sprache und Psychologie. Stuttgart, J. G. Cotta Nachf.
1901. 657 S. M. 12.—
Verf., der sich als Journalist und Dichter einen geachteten Namen
geschaffen hat, versucht in diesem gross angelegten Werke, seinen dialek-
tischen Scharfsinn und seine staunenswerte Belesenheit der Diskussion
eines bedeutsamen wissenschaftlichen Problemes nutzbar zu machen. So
anerkennenswert der Fleiss ist, mit dem der Verf. in jahrzehntelanger
mühseliger Sammelarbeit ein weitschichtiges Material aufgehäuft und mit
zahllosen geistreichen Bemerkungen durchsetzt und aneinander gesch weisst
hat, so ist doch, an dem kritischen Massstabe wissenschaftlicher Leistungen
gemessen, der Gewinn dieses Werkes nicht annähernd so gross, als man
nach der aufgewandten Mühewaltung erhoffen möchte und als der Verf.
selber in begreiflichem Ueberschwange der Begeisterung erhofft; zumal sich
M. nicht nur über die Bedeutung, sondern auch über die Originalität seiner
Paradoxieen vielfach Illusionen unterworfen zeigt.
Der Gedankengang des Werkes, dessen systematischer Zusammenhang
ungewöhnlich viel zu wünschen übrig lässt und dessen Durchsichtigkeit
durch eine Unzahl von Abschweifungen und Abweichungen, Wiederholungen
und Widersprüchen in erheblichem Masse getrübt wird, soll im folgenden
kurz extrahiert werden.
Im ersten Teile der umfangreichen Arbeit wird das Wesen der Sprache
behandelt „Die Sprache" ist ein Abstraktum, dem nichts Wirkliches ent-
spricht Der Begrill' „Sprach vermögen" ist überflüssig und absurd. In Wirk-
lichkeit existieren nur die Individuais prachen, die als Ausübung der Sprach-
thätigkeit seitens der einzelnen Menschen zum Zwecke gegenseitiger Ver-
ständigung aufzufassen sind. Niemand kennt seine Muttersprache völlig, da
die dem Volke gemeinsame Sprache nur zwischen den Menschen, nur „in
der Luft" existiert. Die Kenntnis fremder Sprachen ist noch weniger
möglich.
184
Beruhte und Besprechungen.
Die Sprache ist kein Gebrauchsgegenstand und kein Werkzeug, sondern
sie ist ihr Gebrauch selbst. Sie ist Gemeineigentum und als solches bis
heute die einzige Einrichtung der Gesellschaft, die wirklich schon auf
sozialistischer Grundlage beruht. Auch die Erkenntnis ist eine soziale Er-
scheinung, wie die Werturteile der Ethik und der Aesthetik beweisen. Die
Entwicklung alles Denkens ist auf den Kampf ums Dasein, auf biologische
Notwendigkeit, auf die Not des Individuums zurückzuführen. Die Gemein-
samkeit unserer Sinnesdaten, die im Grunde genommen zufalliger Natur
sind, beruht daher ebenso wie die Allgemeingültigkeit unseres Denkens
auf der Verwandtschaft aller Organismen. DaB Wissen ist ein Gesellschaf ts-
spiel, dem die Sprachkritik nur eine neue kleine Spielregel hinzufügen soll.
Alle Worte sind Metaphern. Trotzdem ist die Macht der Worte ausser-
ordentlich gross, wie die Beispiele der Hypnose, des menschlichen im Gegen-
satze zum tierischen Geschlechtstriebe, ferner das Wort „Tugend" beweisen.
Die suggestive Gewalt der Worte, die uns alle in ihren Bann zwingt, spielt
im realen Leben eine oft verkannte, ausschluggebende Bolle.
Andererseits leisten die Worte ungemein häufig der Entstehung von
Missverständnissen Vorschub. Die Unzulänglichkeit der Sprache in dieser
Beziehung erklärt sich aus ihrer Entwicklung, die ein Altern der Worte
und Begriffe zuwege bringt. Je abstrakter die Worte, desto missverständ-
licher. Daher spricht und versteht kein Mensch die Sprache des anderen.
Die vielbeklagte Synonym ie ist nicht die Ursache dieses Missverstehens.
Der Staat sollte sich scheuen, die Kinder zum Erlernen sinnleerer Begriffe
zu zwingen, wie es so häufig in der Schule geschieht. Alle geistige
Thätigkeit der besten Denker besteht in der verbesserten Definition der von
ihnen gebrauchten abstrakten Worte.
Der Wert der Sprache ist nicht mit teleologischen Phrasen zu be-
stimmen. Die Frage muss lauten, ob die menschliche Sprache ein nütz-
liches Werkzeug für die Welterkenntnis sei. Diese Frage muss verneint
werden. Das wirkliche Wissen eines Menschen, die Erkenntnis der Wirk-
lichkeit kann durch die Sprache niemals bereichert werden, da alle ver-
meintlichen sprachlichen Erkenntnisse sich in tautologischen Formen be-
wegen. Höchstens spiegelt uns die Sprache in „f rechen« Abstraktionen
eine Erkenntnis vor, die sich aber bei näherer Betrachtung als eine
Illusion, als ein Windhauch erweist.
Dagegen ist die Sprache ein hervorragendes Kunstmittel: nicht Er-
kenntniswerte, sondern lediglich künstlerische Stimmungen vermag sie zu
vermitteln. Schon die Enge des Bewusstseins, die uns nur 2—3 Worte
gegenwärtig zu halten gestattet, schliesst eine wissenschaftliche Erkenntnis
aus. Wir können zwei Sätze nicht miteinander vergleichen, also auch
nicht ihren wissenschaftlichen Wert prüfen, weil wir sie nicht zugleich
denken können. Es giebt also keine Wort -Wissenschaft, da der Begriffs-
inhalt der Worte in stetem Wandel begriffen ist und vermöge der Enge
unseres Bewusstseins nicht auf die Dauer festgehalten werden kann. Es
giebt nur eine Wort-Kunst, die Poesie. Poesie ist Sinnenreiz durch Worte,
und zwar sollte sie nicht durch sinnlose, sondern durch möglichst anschau-
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■
Bericht* und Besprechungen.
liehe Worte wirken, in der Epik ebenso wie in der Lyrik und Dramatik.
Selbst die Zusammenfassung der Einzelvorstellungea zu sogenannten All-
gemein Vorstellungen ist die That eines dichterischen Genies. Der metapho-
rische Charakter der Sprache setzt ihrer Anschaulichkeit allerdings eine
Grenze. Maeterlinck's Poesie ist ein Beweis für die Wertlosigkeit der
Sprache. Durch Worte lassen sich weniger Anschauungen als Stimmungen
vermitteln ; im Grunde genommen gewilhrt auch die poetische Sprache niemals
Anschauung, sondern immer nur Bilder von Bildern von Bildern. Tote
Metaphern sollte auch die poetische Sprache vermeiden. Ais Kronzeuge für
den Kunstwert der Sprache wird im Gegensatze zu Lessing und Schiller
besonders Goethe aufgeführt, während die Thätigkeit der Journalisten und
der Massenmenschen als „Schwatzvergnügen" gebrandmarkt wird.
Trotzdem die Worte nichts Reales sind, können sie doch zu Handlungen
begeistern oder verführen.
Der Wortaberglaube spielt im gemeinen Leben und in der Wissenschaft
eine grosse Rolle. Götter sind Worte. Worte sind Götter, nur Götter.
Die sogenannten Religionen sind die abgelebten Formen der vergangenen
Weltanschauungen, deren gegenwärtige Form sich als Wissenschaft brüstet-
Ausserhalb der Kritik der Sprache giebt es in der ganzen Geistesarbeit
unserer Gegenwart nichts Wissbares. Die Artbegriffe des gewöhnlichen
wissenschaftlichen Schwätzens müssen als mythologische Figuren erkannt
werden.
Denken ist Sprechen. Es giebt kein Denken ohne Sprechen, das
heisst ohne Worte. Es giebt gar kein Denken, es giebt nur Sprechen.
Sowohl die Thätigkeit des Verstandes, das Ausdeuten der Sinneteindrticke,
wie auch die Thätigkeit der Vernunft ist an die Worte, die Sprache ge-
knöpft oder vielmehr mit ihr identisch. Schon die einfachste Selbst-
beobachtung lehrt, dass das Denken immer ein inwendiges Vergleichen von
Erinnerungszeichen ist, ebenso wie die Sprache, soweit sie wirklich ist, aus
Bewegungszeichen besteht. Das vorsprachliche Denken ist ein Beobachten,
ein allmähliches Sammeln von Aehnlichkeiten, ein Aufmerken, ein Einüben
der Gedächtnisbahn, das so lange fortgesetzt wird, bis die neue Bekanntschaft
das Bedürfnis erzeugt, sie durch ein Zeichen festzuhalten. Das letzte Wort
in dieser Frage kann allerdings von der Sprachkritik nicht gesprochen
werden. Sofern Empfindungen und Wahrnehmungen ungenau schon als
Denken bezeichnet werden, giebt es jedenfalls ein Denken ohne Sprechen.
Denken als Assoziation von Empfindungen oder Wahrnehmungen mit Vor-
stellungen oder von Vorstellungen untereinander kann aber niemals ohne
Sprache stattfinden.
„Um sich zu verständigen, haben die Menschen sprechen gelernt Die
Kultursprachen haben die Fähigkeit verloren, den Menschen über das
Gröbste hinaus zur Verständigung zu dienen. Es wäre Zeit, wieder schweigen
zu lernen."
Der zweite grössere Abschnitt des Werkes betitelt sich: Psychologie
der Sprache und Sprache der Psychologie.
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l86 Berichte und Besprechungen.
Eine Wissenschaft von der Seele kann es nicht geben, weil sich
unsere Sinnesorgane nicht nach innen wenden lassen, weil wir keine Sinnes-
organe für unsere „Seele" haben ; darum bestrebt sich die neuere Psychologie
physiologisch zu werden. Physiologie kann aber niemals Psychologie sein.
Die mögliche Fragestellung für die Psychologie ist noch nicht gefunden.
Die „Seele" ist ein leeres Wortgespenst. Das beweist die Geschichte
des Seelenbegriffes. Die Lehre vom Parallelismus ist eine reine Wort-
macherei. Nach dem Sitz der Seele zu fragen, ist absurd. Ob man Tieren
und Pflanzen eine Seele zusprechen will, ist Sache des Sprachgebrauches;
prinzipiell ist ihre Organisation der des Menschen analog zu setzen.
Der Kausalbegriff ist mit der Lehre vom Parallelismus nicht zu ver-
einigen. Das Gesetz der Erhaltung der Energie ist mit Stumpf auch auf
dag geistige Gebiet anwendbar». .Der Begriff der auslösenden Ursache ist
nicht geeignet, die Schwierigkeiten der Aequivalenz zwischen Physischem
und Psychischem ans der Welt zu schaffen. Der Parallelismus ist zu ver-
werfen. Das „Ignorabimus" Du Bois-Reymond's ist eine Anmassung. Dxr
schlichter Sinn ist, wie die sprachliche Analyse des Wissensbegriffes ergiebt:
„wir werden den Uebergang des Körperlichen in das Seelische niemals
gesehen haben."
Die psychologische Terminologie besteht aus lauter Wortfetischen und
Personifikationen. Die Seelenvercnögen treiben noch immer ihr verstecktes
Spiel in der sogenannten Seelenlehre, das heisst in der Lehre vom Nerven-
kreislauf. Mitleid, Liebe, Ortssinn, Empfindung, Gefühl und WÜle sind
solche Gespenster, die je eher, je lieber aus der Wissenschaft hinausgeworfen
werden sollten.
Das Verhältnis der sogenannten Seele zu den Sinnen ist durch den
sensuali8ti6chen Satz gekennzeichnet worden: es ist nichts im Intellekte,
was nicht vorher in den Sinnen war. In Wahrheit sind auch unsere Sinne
nur Zufallssinne; für Töne, Wärme, Licht sind sie empfindlich, aber der
Unzahl der dazwischenliegenden Schwingungen sind sie zufälligerweise
nicht angepasst. Alle Sinnesempfindungen sind daher normale Sinnes-
täuschungen, unfähig, die Wirklichkeit zu erkennen. Ebenso wie die durch
die konkreten Substantivs ausgedrückten Dinge keine objektive Wirklichkeit
haben, ebenso wie die Verba nur Symbole des wirklichen Geschehens sind,
ebenso sind auch die Adjektiva, die die Eigenschaften der Dinge bezeichnen
sollen, in Wahrheit nur normale Täuschungen, veränderliche subjektive Er-
scheinungen. Alle unsere
gegründet. Die Projektion unserer Sinneseindrücke nach aussen ist bedingt
durch die Erinnerung an frühere Sinneseindrücke, die uusera Verstand,
dus heisst unsere Sprache, die Ursache aller Wirkungen nach aussen ver-
legen lässt.
Die Idee der Zufallssinne lässt sich schon bei Lessing nachweisen, der
vielleicht durch Leibniz und Spinoza dazu angeregt wurde. Bei Nietzsche
findet sie sich schon klar ausgesprochen. Aber Nietzsche war zu eitel,
auch zu sehr Dichter und Unmoraltrompeter, als dass er eine Sprachkritik
hätte schaffen können. Die Ausbildung der jetzt gegebenen Sinne ist darauf
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Berichte und Besprechungen.
zurückzuführen, dass irgend ein relativ zufälliger Umstand die Aufmerk-
samkeit der Organismen just auf diese Schwingungszahlen gerichtet hat.
An elektrischen Erscheinungen hatte der Naturmensch kein Interesse ; des-
halb haben wir keinen besonderen Elektrizitätssinn. Die Amöbe zeigt uns
den Urzustand des Seelenlebens; für sie ist die Welt ein Chaos von
Schwingungskreuzungen. Aufmerksamkeit oder Interesse ist der Faktor,
der aus diesem Urzustand die heutigen Sinnesorgane hat entstehen lassen,
die nicht nur einzeln als solche zufällig beschränkt sind, sondern auch
jedes innerhalb seiner eigenen Provinz die gleichen zufälligen Be-
schränkungen erkennen lassen. Das interessierende Moment liegt in der
Leichtigkeit der Einübung, in der Bequemlichkeit des Wiedererkt-nnens
oder Vergleichens, da ja alles Denken auf Vergleichen von Sinneseindrücken
zurückzuführen ist. Auch die Wellenschwingungen, die wir der Welt das
Ding an sich zuschreiben, sind übrigens nur Metaphern, und zwar Metaphern
von Sinneseindriieken.
Allem unserem Denken ist Subjektivität und Relativität eigen. All
unser vermeintliches Erkennen ist vergleichendes Klassifizieren auf Grund
von Aehniichkeiten. Gleichheit giebt es nirgends in der Welt: auf der
Aehnlichkeit und ihrer Ueberschätzung beruht die Möglichkeit, Vorstellungen
zu Begriffen m verbinden.
Wie das Urphänomen der Wirklichkeit das Beharren ist, so ist das
Beharren der einmal aufgenommenen Sinneseindrücke das- Urphünomen
alier geistigen Thätigkeit. Das Gedächtnis, das ja auch nach Hering eine
allgemeine Funktion der organischen Materie ist, ist daher der SchliUsel
für alle Rätsel der Sprache und des Seelenlebens. Jede Erinnerung ist eine
Aktion, und zwar eine Bewusstseinsänderung, welche zwei Nervenzustünde
vergleicht. Das Gedächtnis hat überall die Tendenz, ein automatisches Ge-
dächtnis, also eine Art Instinkt zu werden ; zuerst bewusst, das heisst mit
einem gewissen Aufwände von Arbeit erworben, wird es durch unzählige
Wiederholungen schliesslich unbewus6t zum ererbten Instinkte in den Nerven-
bahnen. Dabei ist nicht das Gedächtnis als solches eine Wirklichkeit, sondern
nur die einzelnen Erinnerungsakte. Die Einzelerinnerungen enthalten sehr
häufig ein Zeitmoment; sie unterliegen den Gesetzen der Assoziation. Ja,
Gedankenassoziationen und Gedächtnisthätigkeiten sind identische Erschei-
nungen. Jede Psychologie muss deshalb Associationspsychologie, oder
anders ausgedrückt, Psychologie der Sprache sein. Erinnerung ist aber nicht
nur das bewusste Denken, sondern jede Uebung, jede vegetative Funktion
des Organismus, jede Vererbung beruht darauf. Da auch das stille Denken
sich nicht ohne lühlbare Wortartikulationen vollzieht, so ist Denken und
Sprechen nicht anderes als Bewegungserinnerung. Unsere Sprache besteht
also nicht aus Schall-, sondern aus Bewegungsempfindungen ; ebenso wie «Jas
Urphänomen der körperlichen Welt Bewegungen sind. Wirklichkeitswelt
und Erkenntniswelt führen auf den gleichen Vorgang der Bewegung zurück,
der allerdings für uns auch nur ein Wort bedeutet. Das Wesen des Ge-
dächtnisses ist, dass es unzuverlässig ist, indem es Aehnliche6 gleich setzt,
ebenso wie dies bei der Begriffsbildung der Fall ist. Hierin gleicht das
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Berichte und Besprechungen.
Gedächtnis der biologischen Erblichkeit, bei der die Anpassungen, das heisst
die Fehler der Erblichkeit, schliesslich zur Quelle jedes Fortschrittes werden.
Ohne Vergessen gäbe es kein Gedächtnis, kein Denken, keine Sprache.
Abstraktion ist nichts weiter als Vergessen, als ein Ausscheiden oder Ent-
fernen von verdauten Empfindungen. Da das bewussto Gedächtnis auf
einem Hemmungsvorgang beruht, sofern der glatte Lauf der Nervenprozesse
einen Ruck erfährt, so sind die unbewussten Apperzeptionen leicht ver-
ständlich. Der Fortschritt des menschlichen Denkens, das heisst die Ent-
wickelung des menschlichen Sprachschatzes, ist demnach nichts als: das
durch Entgleisungsstösse veranlasste Bemerken von Unterschieden zwischen
ähnlichen Dingen, das Wahrnehmen der Verschmelzungsfehler, das Erkennen
der Begriffsmängel und endlich die resignierte Anwendung zusammen-
fassender Begriffe, trotz dieser erkannten Mängel. Weltanschauung ist eine
bestimmte Richtungsgewohnheit der Assoziation; Individualität nichts
weiter als der Sprachschatz eines Individuums.
Bei jeder Thätigkelt der Aufmerksamkeit wird Arbeit geleistet. In
Wirklichkeit ist die Aufmerksamkeit nichts anderes als die Empfindung
einer Anstrengung. Talent ist Aufmerksamkeit. Zerstreutheit entsteht
entweder aus Interesse oder aus Interesselosigkeit und ist nichts weiter als
eine subjektive Auffassung desselben Vorganges, der der Aufmerksamkeit
zu Grunde liegt. Der Bewusstseinszustand im Traume und in der Hypnose
ist als gesteigerte Aufmerksamkeit aufzufassen. Am letzten Ende ist Auf-
merksamkeit gleich Anpassungsarbeit des Gedächtnisses. Die Aufmerksamkeit,
auch die sogenannte willkürliche, ist immer unfrei, ebenso wie der
Wille unfrei ist. Urteilen und Schliessen kommt zustande, dadurch
dass wir unsere Aufmerksamkeit über die Begriffe hinbewegen und
bald auf die eine, bald auf die andere Seite einer tautologischen
Gleichung achten und Wert legen. Alle Wahnsinnsformen sind Ge-
dächtniskrankheiten. Genie ist eine seltene Gehirneigenschaft, nach
der Erinnerungen selbständig wuchern, gewissermassen Neubildungen
erzeugen. Da das Gedächtnis eine Funktion der organischen Materie ist,
so muss jede Psychologie panpsychistisch sein.
Der Zustand, der in den Bahnen der sensiblen Nerven durch Einübung
entsteht, ist das Gedächtnis. Der Zustand, der durch die Einübung in
der motorischen Nerven entsteht, ist die Gewohnheit. Bewusstsein ist
auch der anorganischen Natur zuzuschreiben. Bewusstsein und Gedächtnis ist
identisch, synonym. Enge des Bewusstseins sollte besser Enge des Ge-
dächtnisses heissen. Die Philosophie des Unbewussten ist abzulehnen, da
Hartmann unbewusst und unbekannt verwechselt.
Verstand ist, mit Schopenhauer, die Ausdeutung der Sinneseindrücke,
das Verstehen der Aussenwelt durch die Sinne. Vernunft ist das sogenannte
Urteilen und Schliessen durch Begriffe, das Spiel der Worte, das soge-
nannte Denken. Die Wissenschaft kann nur durch den Gebrauch des
Verstandes weiter kommen, niemals durch Worte, durch Vernunft. Ziffern
sind keine Begriffe.
Selbstbewusstsein ist ein überflüssiges Wort. Es ist identisch mit dem
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Bericht* und Besprechungen.
189
Ichgefühl. Dm Ich ist die Summe aller ererbten and erworbenen Be-
wegungserinnerungen.
An der Erkenntnis der Wirklichkeitswelt müssen wir für immer ver-
zweifeln, trotzdem wir an ihre Existenz glauben. Die "Wissenschaft bezieht
sich immer nur ani die Welt der Erscheinungen. Erkenntnistheorie ist
gleich Sprachkritik, welche die einzige Wissenschaft ist. Objektive Wahr-
heit ist nicht möglich; sie ist ein metaphysischer Begriff.
Philosophie als Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes ist unmög-
lich, wie überhaupt jedes bleibende System unmöglich ist. Nur in be-
scheidenem Sinne als ein überlegenes und vergleichendes Zusammenfassen
leitender Gedanken der Einzelwissensehaften ist Philosophie möglich. Im
Grunde genommen kann sie nichts weiter sein als kritische Aufmerksamkeit
auf die Sprache. Befreiung von der Sprache muss das letzte Ziel der
Philosophie und der Sprachkritik sein.
Haben wir versucht, in dieser Weise in möglichst engem Anschlüsse
an den Autor ein Bild seiner Ausführungen zu geben, so möchten wir der
Gerechtigkeit halber hinzufügen, dass dieses Bild nur ein schematisches
und ungenaues sein kann, einmal, weil um die reproduzierten Gedanken-
gange sich ein tippiges Gewinde zahlloser, in allen Farben schimmernder
Gedankenblüten, geistreicher Apercus und vager Paradoxleen rankt; sodann
aber, weil diese Gedankengänge selbst häufig eine weitgehende Unklarheit, Zer-
fahrenheit und Sprunghaftigkeit aufweisen, die ihre getreue Wiedergabe er-
schwert. Was den sachlichen Gehalt des Werkes betrifft, so ist zunächst die
Stellung des Problemes rückhaltlos anzuerkennen. Es ist unbedingt notwen-
dig, immer und immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Wissenschaft sich
hüten muss, abstrakte Begriffe zu hypostasieren und der logisch-
grammatischen Bedeutung der Worte einen ontologischen Sinn unter-
zuschieben. Obwohl dieser Gedanke nicht etwa von M. zuerst gefaxt
worden ist, sondern in der Geschichte der Philosophie, besonders aber in
der neueren Psychologie glücklicherweise immer wieder betont, wenn auch
häufig nicht gebührend berücksichtigt worden ist. Abgesehen von diesem
leitenden Grundgedanken, besteht die Lehre M.'s zum Teil aus allbekannten
und der Wissenschaft geläufigen Erkenntnissen, zum anderen Teile aus
phantastischen, weit über das Ziel hinausschiessenden Paradoxieen auf der
Basis einer Popularphilosophie, für die Darwin, trotz alles Leugnens, der
Tagesheilige ist. Dass „die Sprache", „die Seele", „das Bewusstsein", „der
Wille", „die Aufmerksamkeit" etc. leere Abetrakta sind, dass alle Worte
konventionelle Symbole und Metaphern sind, dass eine Erkenntnis der
transcendentalen Welt prinzipiell unmöglich ist: alle diese und viele
andere Behauptungen des Verfassers sind Gemeinplätze der Wissenschaft,
die in wissenschaftlichen Sonntags-Feuilletons verbreitet werden sollten,
aber nicht mehr in gelehrten Büchern umständlich begründet zu werden
brauchen. Trotzdem ist die Folgerung unberechtigt, dass die Wissenschaft,
aufhören sollte, sich der Sprache zu bedienen. Metaphysische Wahrheiten
verlangen wir heutzutage weder von der Philosophie, noch von irgend
einer anderen Wissenschaft. Wir begnügen uns vielmehr in allen Wissen
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Berichte und Besprechungen.
Schäften mit der Erforschung des Zusammenhanges der Erscheinungen.
Denn nur die Erscheinungswelt, in der wir leben, hat Interesse für uns;
und zwar nicht nur das Interesse der Verdauung, der Vermehrung und
der Eitelkeit (!), wie M. meint, sondern vielleicht doch noch eine Reihe
anderer, ernsterer Interessen. Dabei vergessen auch wir nicht, dass die
Erscheinungswelt nur ein Bild der Wirklichkeit ist, und ein unvollkommenes
und lückenhaftes dazu. Aber sie ist nicht blosser Traum; und es ist keine
leere Illusion, den konventionellen Symbolen, mit deren Hilfe wir uns
über die Erscheinungswelt orientieren und verstandigen, einen gewissen
realen Wert beizulegen. Auch unsere Geldmünzen haben nur konventionellen,
symbolischen Wert; trotzdem bedienen wir uns ihrer, um reale Wirkungen
zu erzielen. Erst wenn wir den symbolischen Charakter der Begriffe und
des Geldes vergessen und ihnen eine absolute, transzendentale Wertung
supponieren, erst dann fallen wir in Irrtümer und Missverständnisse. A-peu-
pres ist gewiss niemals gleich absolut, aber es ist auch niemals gleich Null.
Wenn also auch unser Erkennen und unsere Sprache sich der Wirklichkeit
Immer nur asymptotisch nähern kann, so ist doch auch diese Annäherung von
praktischem und wissenschaftlichem Werte. Man vergleiche das berühmte
Kind und die nicht minder berühmte Badewanne.
In einigen Einzelheiten seiner Ausführungen zeigt der Verf. eine
Beobachtungsgabe und eine analytische Befähigung von überraschender
Höhe. So sind besonders im zweiten Teile des Werkes eine Reihe von
Bemerkungen enthalten, die der Psychologie nur zur Bereicherung dienen
können; wie z. B. ein Teil der Ausführungen über das Gedächtnis, die Auf-
merksamkeit, das Ich und anderes mehr. Andererseits freilich hält sich
H. nicht frei von den Fehlern, die er anderen nachweist. Er giebt statt
sachlicher Erwägungen allzu häufig kühne Analogieen und Wort- Analysen.
Und es entlockt dem kritischen Le6er, den M. sich wünscht, manches
ironische Lächeln, wenn er zusieht, wie M. an Stelle eines Wortfetisches,
den er bekämpft, mit feierlichem Pomp und Getöse, nicht ohne begrüssende
Ansprachen und formvollendete Toaste, einen auf neu aufgearbeiteten
Wortpopanz setzt. Die vielgeliebten Zufallssinne, die Darwinsche Ver-
erbungsmythe, das Hering'sche Gedächtnisgespenst sind solche Popanze,
auf die M. wortabergläubisch — wie die Kellner und Narren, würde M.
sagen — sein System gründet, um sich freilich, ein echter Satiriker, hinter-
her selbst deswegen zu bespötteln. Ist das nicht „schlimm", „böse",
„schmerzlich", „traurig", „furchtbar", „schreckenerregend", „verzweifelt",
„entsetzlich"?
In der Form seiner Ausführungen hat sich M. noch mehr als im
Inhalte derselben Nietzsche zum Vorbild genommen, von dem er ja auch
die Konfusion des genetischen und des kritischen Gesichtspunktes
gläubigen Sinnes übernommen hat In der That ist seine Sprache eigen-
artig und anziehend, vielfach sogar blendend und faszinierend. Zwischen-
durch freilich laufen grobe und tadelnswerte Geschmacklosigkeiten, wie
2. B. wenn er auf die Religion oder auf die Majestätsbeleidigungen zu
sprechen kommt oder besonders, wenn er die abweichenden Meinungen
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Berichte und Ilesprechungen.
anderer Schriftsteller bekämpft. Es wäre leicht, in dieser Hinsicht eine
Blätenlese ans M.'s Werk zusammen zu stellen, gegen die der „Häringsalat"
Börne s wie ein Lehrbuch der Komplimente erscheint. Wenn die Sprache
eines Menschen wirklich das Wesen seiner Individualität, nicht nur
eine symptomatische Begleiterscheinung derselben wäre, so sind die
Konsequenzen aus dieser Thatsache für Herrn Manthner recht beschämend.
Im ganzen: eine Kritik der Sprache, die fruchtbringender sein sollte
als diejenige M/s, miisste weniger Sprache und mehr Kritik enthalten;
eine Forderung, die freilich nur für denjenigen Sinn hat, der entgegen M.
Sprechen und Denken nicht für identisch hält.
Leo Hirschlaff.
Mitteilungen.
Professor v. LIszt und die Reform des Straf rechts.
Der Straf rechtslehrer an der hiesigen Universität Geh. Justizrat Fianz
v. Liszt hielt in der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechts-
wissenschaft einen Vortrag über die auf der Tagesordnung des nächsten
Juristentages stehende Frage, ob eine Keform unseres Strafgesetzbuchs not-
wendig sei und nach welchen Grundsätzen seine Umgestaltung erfolgen
müsse. Dabei wurde die Kriminalität der Kinder besonders beleuchtet.
Dass unser Strafgesetzbuch, dessen baldige Revision schon bei seiner Ent-
stehung allseitig ins Auge gelaust wnrde, unserem heutigen Rechtsbewusstsein
nicht mehr entspricht und den Bedürfnissen unseres Rechtslebens nicht mehr
gerecht wird, dass es also sozialethisch uud sozialpolitisch veraltet ist, diese
Ueberzetigung hat sich mit steigender Klarheit unserem Volke aufgedrängt.
Innerhalb des Verbrechertums haben sich im Zusammenhang mit unserem
ganzen sozialen Leben grosse Veränderungen vollzogen. Und zwar beziehen
sich diese Veränderungen nicht nur auf das gewerbsmässige , sondern auch
auf das nichtgewerbsmässige Verbrechertum. Es sind die „Minderwertigen",
die Neurastheniker, die unter dem Einfluas des Alkoholmissbrauchs, des ver-
schärften Kampfes ums Dasein , .vermindert zurechnungsfähig*' Gewordenen,
die dem nichtgewerbsmässigem Verbrechertum unserer Tage den Stempel
aufdrücken. Das bürgerliche Recht gestattet ein staatliches Eingreifen hier
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Mitteilungen.
nur dem Alkoholiker gegenüber, das Strafrecht erweist sich allen diesen
Gruppen gegenüber als völlig machtlos. Mit seiner schroffen Scheidung der
Zurechoungs- und Unzurechnungsfähigen paast es nicht für eine Zeit, in
der die Falle verminderter Zureebnungsfähigkeit in bisher unbekannter Zahl
und Gemeingefährlichkeit auftreten. Nicht anders liegt es bei dem jugend-
lichen Verbrechertum. Die Entwicklang der Industrie, der Fabrikbetrieb
haben das Kind im schulpflichtigen Alter der Sorgfalt der Familie beraubt,
es in das Erwerbsleben hinausgestossen und damit einen früher ungeahnten
Umfang und eine erschreckende Gefährlichkeit der Verwahrlosung hervor-
gerufen. Das Bürgerliche Gesetzbuch hat mit seiner Gestaltung der Fürsorge-
erziehung und seinen Eingriffen in die väterliche Gewalt dem Rechnung ge-
tragen. Das Straf recht ist auch hier steril und der neuen Erscheinung
gegenüber machtlos geworden. Seine Umgestaltung ist also notwendig.
Sie ist aber auch möglich. Mag bei dem jetzigen Reichstag die Gefahr der
Rtickwärtsre vidierung vorliegen, die Vorarbeiten werden Jahre erfordern,
und dann können die Verhältnisse günstiger sein. Für jetzt handelt es sich
nur darum, den ganzen Juristenstand aufzurufen zur Inangriffnahme der
Vorarbeiten, und hieran können die Vertreter der beiden einander gegen-
überstehenden wissenschaftlichen Richtungen der klassischen wie der
modernen Schule, in gleicher Weise mitwirken. Ja, ohne diese Verständigung
unter ihnen ist das künftige Strafgesetzbuch für das deutsche Reich un-
möglich. Es handelt sich nicht um wissenschaftliche Meinungen, sondern
um eine Gesetzgebungsarbeit Deterministen und Indetermi nisten, sie beide
erkennen die Verantwortlichkeit an. Dies aber genügt für den Gesetzgeber.
Ganz gleichgiltig für ihn ist es, wie jede der beiden Schulen wissenschaftlich
die von ihr statuierte Verantwortlichkeit rechtfertigt und ob sie dies über-
haupt thut. Nimmt die klassische Schule die bedingte Verurteilung an, so
verschlägt es nichts, wie sie diese von dem Standpunkt des Vergeltungs-
gedankens aus begründet.
Steht die Notwendigkeit der Reform ausser Frage, ist auch ihre Mög-
lichkeit gegeben, so fragt es sich weiter: Wie zu Werke gehen? Dabei
werden wir nicht ignorieren dürfen, was in anderen Ländern an neuen
Gesetzen und neuen Entwürfen zu Tage gefördert ist. Für eine Vereinigung
für Rechtsvergleichung bietet sich hier ein reiches Feld der Bethätigung.
Die erste grundlegende Aufgabe der Reform muss sein die Verständigung
über das Straf ensystem des künftigen Gesetzbuchs. Dabei ist anzuknüpfen
an das Strafensystem des geltenden Rechts und testzuhalten an zwei Haupt-
forderungen: Der erziehenden Behandlung der Besserungsfähigen und der
Sicherung der Gesellschaft gegenüber den unverbesserlichen und gemein-
gefährlichen Verbrechern. Was die erziehende Behandlung der Besserungs-
fähigen, insbesondere der Jugendlichen anbelangt, so ergiebt sich als erster
Grundsatz die Heraufsetzung der bisherigen Altersgrenze der Strafmündigkeit
von 12 auf 14 Jahre. Gegen diese Forderung hat sich vor wenigen Tagen
im Reichstage der Staatssekretär des Reichsjustizamts ausgesprochen, indem
er auf die hohen Ziffern der Kriminalität von Kindern zwischen 12 und
14 Jahren, sowie die dabei zu Tage getretene verbrecherische Intensität
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M:tteüungen.
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hinwies und betonte, dass nur ein Zehntel onter den der That UeberfÜhrten
wegen mangelnder Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung freigesprochen
»i. Hätta der Staatesekretär mit dem Schluss, den er ans deü von ihm
angegebenen Zahlen zog. Recht, dann müssten wir das Strafmündigkeitsalter
sogar herabsetzen. Denn schon beim 10jährigen Kinde zeigt sich oft der-
selbe HanjLj znr Kriminalität wie beim 12jährigen und unter den jugendlichen
Diebesbanden, die der Staatssekretär erwähnte, sind Sicher auch Kinder von
0 und 10 Jahren begriflen. Aber beweisen nicht gerade die Ausführungen
des Staatssekretärs lediglich unsere Anschauungen? Wir haben stets gesagt,
dass wir auf Grund des geltenden 8trafrechts nicht erreichen, was wir er-
reichen wollen, dass sich schon im frühesten Kindesalter solche sittliche
Verwilderung vielfach zeigt, dass der spätere Berufsverbrecher zumeist
senon in frühester Jugend bestraft war, dass intensivere Massregeln ein-
treten müssen. Daher wollen wir dem Richter das Recht geben, bis zum
14. Jahre die eingreifende Massregel der staatlich überwachten Erziehung
anzuordnen. Und zwischen dem 14. und 21. Jahre soll der Richter in jedem
einzelnen lalle völlig frei prüfen dürfen, ob Strafe oder staatlich überwachte
Erziehung zu erfolgen hat. Die Feststellung, Welche das geltende Recht
vorschreibt, eh der Jagendliche die zur Erkenntnis der 8 traf barkeit erforder-
liehe Einsicht besessen hat, und die damit dem Richter gegebene Richt-
schnur für die Von ihm anzuordnenden Massregeln kommt mithin in Weg-
fall. Wir wollen deü Richtet von der Fessel, nur das intellektuelle Moment
berücksichtigen zu dürfen, befreien und lediglich massgebend sein lassen,
ob die Besserung dnrch Fürsorgeerziehung noch zu erwarten ist, oder ob
die Verhängnng der Strafe unvermeidlich erseheint. In den ty.« Fällen, in
denen nach des Staatssekretärs Angabe von dem Richter wegen mangelnder
Einsicht der Jugendlichen nicht gestraft worden ist, sondern Erziehtin gs-
massregeln verhängt wurden, hat sich der Richter sicher mehr von ver-
ständigen sozialpolitischen Erwägungen als juristischen Gesichtspunkten
leiten lassen. Dass Raub, Diebstahl u. s. w. strafbar sind, werden auch
diese Kinder alle gewusst haben. Ihnen fehlte dagegen die sittliche Reife,
und dieser Mangel wurde verständigerweise durch Erziehung, nicht durch
Strafe zu ergänzen versucht. Dass dem Richter damit ein zu weiter Spiel-
raum gewährt wird, brauchen wir nicht zu befürchten. Man denke nur
daran, dass die lex Heinze dem § 362 des Strafgesetzbuchs die Fassung
gegeben hat, dass sogar die Polizei jetzt bestimmen darf, ob sie eine Dirne
in das harte Arbeitshaus oder in eine Besserungsanstalt oder in ein so ganz
anders und milder geartetes Magdalenenstift unterbringen will. Und da
sollte man Bedenken tragen, dem Richter die von uns geforderten Befugnisse
einzuräumen ?
Der Staatssekretär hat dann auch von der bedingten Verurteilung
gesprochen und erwähnt, dass nur in etwa 67 v. H. der Fälle, In denen
man von der bedingten Begnadigung Gebrauch gemacht habe, sich ein
günstiges Resultat ergeben habe. Aber auch dies ist nicht beweisend. Wenn
unter zwei Millionen Verurteilungen, die alljährlich im Deutschen Reiche
stattfinden, nur etwa 8000 Mal die Wohlthat der bedingten Begnadigung
Zeitschrift für pädagogische Psychologie. Pathologie und Hygiene. 7
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Mittelungen
gewährt wird, also zehnmal weniger als in dem kleinen Belgion, wenn man
weiter erwägt, dass die Massregel bei den Uebertretungen so gut wie aus-
geschlossen ist, hier also der Arme, der die Geldstrafe nicht zahlen kann,
rettungslos ins Gefängnis wandern moss, so wird man zugeben müssen, dass
die geringe Zahl der Fälle und die Art, in der von der bedingten Begnadigung
bei uns bislang Gebrauch gemacht wird, einen Einfluss auf den Gang der
Kriminalität unmöglich ausüben kann. Es kommt hinzu, dass bei uns die
neue Massregel wesentlich nur bei jugendlichen Uebelthätern Anwendung
findet, während wir sie gerade für Erwachsene fordern. Nur hier kann sie
eine Wirkung haben. Auf das Kind wirkt das in Zukunft drohende Straf-
übel nicht so, dass der psychologische Effekt, den die in der Ferne winkende
Vollstreckung zweier Strafen im Falle der Begehung einer neuen Strafthat
hervorbringen soll, erreicht werden kann. Dazu vergisst das Kind zu leicht.
Für den Erwachsenen dagegen hat die Massregel einen Zweck. Die Richtig-
keit dieser Auffassung ergiebt sich gerade auch aus dem von der Reichs-
regierung uns mitgeteilten Zahlen. Hamburg, dass die bedingte Begnadigung
auch für Erwachsene eintreten lässt und am weitherzigsten in ihrer An-
wendung ist, hat die günstigsten, Baden, das am rigorosesten vorgeht, die
ungünstigsten Zahlen. Aus diesen Gründen werden wir jetzt gegenüber
den Ausführungen des Staatssekretärs auf die reichsrechtliche Regelung der
bedingten Verurteilung und die Umgestaltung der Gesetzgebung betreffend
die Jugendlichen das Hauptgewicht legen müssen. Für diese ist folgende
These vorzuschlagen: Jugendlichen vom 14. bis 21. Lebensjahr gegenüber
ist. soweit nicht Fürsorgeerziehung eintritt, Gefängnisstrafe von zwei bis
fünf Jahren als Besserungsstrafe, eventuell mit anschliessender Fürsorge-
erziehung anzuwenden. Zwei Jahre muss das Minimum sein, da sich in
kürzerer Zeit eine bessernde Wirkung nicht erzielen lässt.
Was die unverbesserlichen und gemeingefährlichen Verbrecher anbelangt,
so wurzelt unsere Hauptforderung in dem Verlangen auf energische Sicherung
der Gesellschaft gegen diese. Gegen gewerbsmässige Verbrecher hat
Zuchthaus nicht unter fünf bezw. nicht unter zehn Jahren einzutreten.
Gemeingefährliche Verbreeher, die wegen Unzurechnungsfähigkeit frei-
gesprochen oder wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit zu milderer
Strafe verurteilt werden, sind, und zwar erstero sofort, letztere nach
Verbüssung der Strafe, durch den Strafrichter in Heil- oder Pflegeaustalten
zu verweisen. Nur so lässt sich d^r Zustand vermeiden, in dem wir uns
heute befinden. Unser geltendes Strafrecht versagt gegenüber den Fällen,
in denen die Zurechnungsiähigkeit ausgeschlossen oder vermindert, die
Gemeingefährlichkeit aber ganz wesentlich erhöht ist. Es kennt hier nur
die Wahl zwischen völliger Freisprechung oder schwerer Bestrafung. Beides
entspricht weder unserem Gerechtigkeitsgefühl noch den Grundsätzen der
Zweckmässigkeit. Das Strafensystem wird sich hiernach überaus einfach
gestalten. Die Deportation scheidet für uns aus. Vor der Wiedereinführung
der Prügelstrafe schützt uns auf absehbare Zeit das Ehrgefühl unseres
deutschen Heeres. Die Zahl der Freiheitsstrafen vermindert sich um die
Haft, sodass übrig bleiben die beiden möglichst voneinander zu unter-
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MitUüungen.
l9S
scheidenden Freiheitsstrafen, Besserungsstrafe oder Gefängnis mitprogressivem
Strafvollzug und die Sicherungsstrafe oder Zuchthaus. Die Geldstrafe
ist umzugestalten in Gemässheit der Vorschlage der internationalen
kriminalistischen Vereinigung.
In der Diskussion erklärten sich sämtliche Redner mit den Vorschlägen
Liszt's einverstanden. Gehelmrat Professor Kahl erkannte ebenfalls die
Notwendigkeit der Reform des Strafgesetzbuches an, schon wegen der heute
herrschenden Inkongruenz zwischen Strafrecht und Zivilrecht. Auch alles,
was Liszt sonst über die Mängel des heutigen Strafrechts gesagt habe, sei
durchaus zu billigen. Er habe auch richtig diejenigen Akkorde angeschlagen,
welche die Anhänger der Vergeltungstheorie im Strafrecht zur Mitarbeit in
dem von Llszt gewünschten Sinne befähigten. Denn in der That, es handele
sich nicht um einen Streit der Schulen, und daher seien die Bedenken des
Mttncbener Professors Birkmeyer, ebenfalls eines Gegners der modernen
Richtung, gegenstandlos, so weit es sich um ein Zusammenarbeiten auf
legislativem Gebiete handele. Endlich erklärt sich Kahl auch völlig
einverstanden mit der von Liszt in seinem Vortrag zwar nicht behandelten,
aber in seinem Gutachten für den Juristentag eingehend begründeten These:
„Für Bestimmung der Strafe nach Art und Mass ist in erster Linie nicht
der äussere Erfolg der That, sondern die verbrecherische (antisoziale)
Gesinnung des Thäters ausschlaggebend." Auch die Anhänger der ver-
geltenden Gerechtigkeit müssen sich durchaus damit einverstanden erklären,
dass ein schwerer, verhängnisvoller Fehler unseres Gesetzes in der über-
triebenen Schätzung des äusseren Erfolges der That und in der
Nichtberücksichtigung der inneren Gesinnung des Thäters liegt. Die
Individualisierung nach der psychologischen Seite hin ist in weit höherem
Masse als bisher geschehen ist, zu fordern. Mit grosser Schärfe wendet
sich auch der vortragende Rat im Ministerium des Innern, Krohne, gegen
das geltende Recht. Auf einem der internationalen Geiängniskongresse
habe ein geistreicher Franzose gesagt: Es gebe drei Clous im Straf recht:
die Jugendlichen, Vagabnnden und die Rückfälligen. Allen drei Gruppen
gegenüber hat unser geltendes Recht gründlichst versagt. Unter lebhafter
Zustimmung der Versammlung wies dies Redner aus der Fülle seiner grossen
praktischen Erfahrungen an der Hand reichen Materials nach. An der
Debatte beteiligte sich ausserdem noch im Sinne des Vortragenden Stadtrat
Münsterberg unter besonderem Hinweis auf die Behandlung der Bettler
und Vagabunden. (Nach der Voss. Ztg.)
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Bibliotheca pädo-psychologica,
Geschichte und Theorie der Erziehung und des Unterrichts, Methodik der Lehr-
fächer, Schulorgan isatiort in Programmen, Abhandlungen und Inaug.-Dissertationeu
mit besonderer Berücksichtigung der Jahre 1898/99.
Fortsetzung.
Koch, Lothar, Dr.: Bericht über die Abhaltung des 2. Cyklus von kunst-
gctchichtlichen Vorträgen am Gymnasium zu Bremerhaven. (S. 14—18.)
(Vgl. Progr. 1898.) Bremerhaven, G u. R, OP 1899.
Köberlin, Karl, Dr., Prof.: Rektor M. Hier. Andreas Mertens und
das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg in den letzten Jahrzehnten
de» 18. Jahrhunderts. (84 S.) 8*. Augsburg, k. h. G bei St. Anna, P 189».
Köbnke, H.l Hamburgs Schulwesen. Eine Sammlung von Gesetzen
und Verordnungen. Hamburg: Boysen 1900. gr. 8°, VI u. 184 S.
Kolbing, Direktor P.: Bericht des theologischen Seminariums der
Brüdergemeinde in Gnadenfeld von den Studienjahren 1897/98 u
1898/99. Leipzig 1899) Fr. Jansa. 8°, 120 S.
Kohlfchiuidt, Emil : Zar Methodik des Unterrichts der allgemeine»
Erdkunde in den drei oberen Klassen der Realschulen. (S. 3 — 25.) 4*.
(F.) Gotha, st R, OP 1899.
Keoitka, J.: Sittliche Erziehung. Aus dem Niederländ. übers, von
E, Müller. Leipzig: E, Wunderlich, 1899. 8'.
Korn eck, Gottfried: Geschichte der höheren Unterrichtsanstalt zu
Kempeft in Posen. 1. T.: Vorgeschichte 1837—1865. Kempen (Poseur,
st. PG, OP 1898.
Korten, Ernst: Ratgeber für Schulaufführungen. (76 S.) 8*. Elber-
feld, OR, OP 1899.
Kossraann, R.: Die Zulassung der Realschul- Abiturienten zur ärzt-
lichen Prüfung. Berl. Aerzte-Corr,, 1900, V, 89—92.
Kramm, Emil, Dir. Dr.: Die Feier der Einweihung des neuen Schul-
hauses. (Umschlagt.: ...Im Zusammenhang hiermit der Umriss der
Geschichte der Anstalt.) (S. 4—22.) 4*. Saarlouis, PG, P 1899.
Krause, F.: Der Staat als Erzieher. Päd. Ztg. XXVIII (1899) No. 43.
43, 45.
Kroiss. K.: Zum naturkundlichen Unterricht in der Taubstummenschule.
Organ der Taubst-Anst in Deutschld., 1900, Jahrg. 46, 8.
Kühnel, J. : Lehrprobcn aus dem Anschauungsunterricht mit metho-
discher Begründung. 158 S. Leipzig u. Berlin 1899: J. Klinkhardt.
Kuhn: Die Lehrerpersönlichkeit Ha erziehenden Unterricht. (32 S.»
Leipzig 1898: H. Haacke.
(Fortsetzung folgt.)
Schriftleirung: F. Kerns i es, Berlin NW., Paulstr. 33 und I.. H i rschlaf f , Berlin W., Lützovstr. 85b.
Verlag von Hermann Walther, Verlagsbuchhandl., O. m.b.H., Berlin SW., Kommandantenst. 14.
Druck: von Deutsche Buch- und Kunstdrnckerci G.m.b.H., Zossen— Berlin SW. 48.
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-T ~ — — — - - =^-~ " • -" - »
Jahrgang IV. Berlin, Juni 1902. Heft 3.
Die Entwickelung der Pädagogischen Psychologie
im 19. Jahrhundert.
von
Ferdinand Kemsics.
I.
Unter den Faktoren, die die Entwicklung einer heran-
wachsenden Generation massgebend beeinflussen, nimmt die
Erziehimg — d. i. die bewusste Hinienkung der Jugend auf
bestimmte Lebensziele, die Erfüllung ihres Geistes mit wert-
vollem Wissen, sittlichen Massstäben und treibenden Ideen,
die Einübung mannigfacher Fertigkeiten, die Gewöhnung an
pflichttreue Arbeit und soziales Handeln, wie sie nach einem
festen Plane über eine lange Reihe von Jahren angestrebt
wird — den ersten Platz ein. Mögen die materiellen und
geistigen Bedingungen, die umgebende Natur, das Familien-
und Volksleben, der Zeitgeist, auf die man als mitwirkende
Faktoren oft hinweist, der Erziehung spezielle Aufgaben stellen ;
mögen sie ihr heitere oder düstere Farbentöne verleihen ; mögen
sie den Individuen ein mehr gleichartiges oder verschieden-
artiges Gepräge geben : die planvolle, technisch geleitete
Bildungsarbeit im Dienste der Individuen bringt allein jene
geistig und sittlich starken Persönlichkeiten zur Reife, deren
unser modernes Kulturleben in immer steigendem Masse be-
Zeitxhrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 1
Digitized by Google
1%
Ferdinand Kcituies.
darf. Das Gelingen, der Einfluss und die Macht der Erziehung
wird aber durch die Vorstellungen garantiert, die wir von den
Zwecken und ferner von den Mitteln und Wegen, die zu jenen
hinführen, besitzen; sie gehören also zwei getrennten Wissens-
gebieten, Ethik und Psychologie, an. Die Ethik schliessen
wir in diesem Rückblicke aus und wenden uns nur der psycho-
logischen Seite der Erziehung zu. Die Psychologie beschäftigt
sich mit der Erforschung der gesamten seelischen Zustände
und Vorgänge; da die Pädagogik es nur mit ejncm Teile der-
selben, und zwar mit der Entwickelung und Erziehung der
Kindesseele, zu thun hat, so lässt sich in praktischer Absicht
dieser Teil isolieren und unter der Bezeichnung „Pädagogische
Psychologie" gesondert behandeln. Wenn dies auch erst in
neuerer Zeit geschehen ist, so liegen doch die Anfänge dieser
Spezial Wissenschaft verhältnismässig weit zurück, und es wird
daher von Interesse sein, ihre Entwickelung im vergangenen
Jahrhundert kennen zu lernen, das in bezug auf Praxis und
Schulorganisation ein ausserordentlich reiches und fruchtbares,
in bezug auf Theorie ein grundlegendes genannt werden kann.
Freilich wird dieser Versuch einem Unternehmen von program-
matischem Aussehen gleichen. Denn es wird sich nicht nur
darum handeln, alle Fäden blosszulegen, die hier zu einem
neuen Gewebe verknüpft werden sollen, sondern der Fach-
mann wird nicht umhin können, auch über das Muster des
Gewebes sich zu äussern, d. h. prinzipiell Stellung zu nehmen
zu den Problemen, Methoden und Ergebnissen.
Die alte und oft wiederholte Forderung, dass die Päda-
gogik sich als Wissenschaft auf Ethik und Psychologie stützen
müsse, ist, man könnte sagen, das Dogma des vorigen Jahr-
hunderts gewesen, und wir stehen noch heute unter dem Banne
desselben. Es erscheint uns, wenn wir die letzten Entwickelungs-
phasen der Pädagogik an uns vorüberziehen lassen, beinahe
unbegreiflich, dass man den sachlichen Zusammenhang zwischen
pädagogischen Massnahmen und einer Reihe von Kenntnissen
aus dem seelischen Geschehen leugnen könne, sehen wir
doch den Einfluss psychologischer Denkweise auf Theorie
und Praxis der Erziehung überall in steigendem Masse sich
geltend machen. Die Pädagogen aus der Pestalozzi-Kant'schen
Schule, Herbart, Beneke und deren Jünger suchen die Be-
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Die Emtwickclung der Pädagogischen Psychologie im 19, Jahrh. 199
gründung des pädagogischen Verfahrens immer wieder in der
Psychologie, und es gelingt ihnen, Gesichtspunkte und Leit-
sätze für die Schularbeit aufzustellen, die diejenigen von Co-
menius und Rousseau hervorragend erweitert haben, — trotz-
dem ihre psychologischen Lehren nicht frei von Spekulation
waren und von der heutigen Forschung weit überholt sind.
Die Hygiene des Schulalters und die Heilpädagogik verlangen
unter allen Umständen moderne psychologische Methoden für
Diagnose und Therapie.
Nichtsdestoweniger ist nun in dem Streit um den prak-
tischen Wert der Kinderpsychologie, der bis auf die Grundlagen
der Pädagogik zurückführt, die Ansicht hervorgetreten, dass
die Versuche und Anregungen Herbarts, Erziehungs- und Unter-
richtsfragen durch die Psychologie zu lösen, ein grober Irrtum
gewesen seien, dass die Pädagogik vielmehr ihre eigentüm-
lichen Regeln befolge und Mittel besitze, die in jahrhunderte-
langer Erfahrung gefunden seien, und die mit der Psychologie
nichts zu thun haben. Diese Abhängigkeit des einen Gebietes
von dem andern sei schon deshalb unmöglich, weil wir z. Zt.
noch keine fertige Psychologie haben, wie ja auch Herbart
wohlweislich schrieb, „dass die psychologische Pädagogik bis
jetzt ein frommer Wunsch sei, ebenso wie die Psychologie,
worauf sie fussen müsste." Eher, sagt man daher, sei umgekehrt
die Psychologie in der Lage, von der Pädagogik zu profitieren.
Die durch den tiefen Stand der Seelenforschung veran-
lasste Selbstkritik Herbarts kann aber unmöglich gegen seine
prinzipielle Stellung zur Sache und gegen seine ganze Lebens-
arbeit ausgespielt werden. War er es doch gerade, der die
seelischen Gesetzmässigkeiten, die der Erzieher bei seiner Be-
rufsarbeit benutzt, zu einem grossen System zusammcnfasste,
worin Münsterberg1) die eigentliche pädagogische Grösse Her-
barts sieht, während R. Lehmann2) in seiner Schrift „Erziehung
und Ei zieher" es als nebensächlich betrachtet und dagegen das
allgemein Menschliche, das Gefühlsmässige und unmittelbar
Anschauliche in Herbarts Lehren hervorgehoben sehen möchte.
Jenes Bekenntnis, dass unser psychologisches Wissen lücken-
*) Educational Review. New York. Oct. 18'>8.
*) Berlin. Weidmannsche Buchhandlung. 1901.
1*
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200
Ferdinand Ktmsits.
haft ist, das dem grossen Manne so wohl ansteht, traf weder
für ihn, noch trifft es für unsere Zeiten in dem Umfange zu,
wie es oben interpretiert wird. Wir befinden uns heute mitten
in einer neuen Epoche der Seelenlehre, die durch Herbart in-
auguriert ist, sie ist seit Dezennien aus einer spekulativen
eine „thatsachenreiche" Wissenschaft geworden und ist heute
nicht nur in allernächste Nähe der mit seelischen Thatsachen
operierenden Pädagogik gerückt, sondern das frühere Verhältnis
zwischen beiden ist wesentlich verändert, der sachliche Zusam-
menhang der beiden Disziplinen in ein neues Licht gesetzt;
sie leiht der Pädagogik nicht mehr bloss ein Relief, sie tritt
heuristisch in sie ein. Es kann keinenfalls zugegeben werden,
dass die Seelenforschung, die sich exakter naturwissenschaft-
licher Methoden befleissigt, von der mit ganz rohen Mitteln
erworbenen, unzuverlässigen und unkontrollierten pädago-
gischen Erfahrung ohne weiteres grossen Nutzen ziehe, wenn
wir auch einräumen wollen, dass diese die Probleme heraus-
wachsen lässt. Die grossen Grundfragen, die alles Detail der
Erziehungspraxis berühren, wie die über Veranlagung und Bild-
samkeil, Gewöhnung und Charakter, Aufmerksamkeit und
Interesse, über das Verhältnis von Anschauungen zu Begriffen,
über Rezeptivität und Spontaneität, über Individualitäten und
Typen u. v. a., die in pädagogischen Lehrbüchern abgehandelt
zu werden pflegen, gehören heute vor das Forum der Fach-
psychologen. Die geschilderte gegnerische Ansicht kann also
nur dahin führen, die natürlichen Grenzen und Beziehungen
zwischen den beiden Arbeitssphären möglichst unklar zu machen
und die wissenschaftliche Erörterung pädagogischer Probleme
von Grund aus zu verhindern.
Indem sie aber wenigstens zugiebt, dass Beobachtungen,
Begriffe und Regeln auch für die Erziehungspraxis Sinn und
Bedeutung haben, sticht sie immerhin vorteilhaft von der Prä-
tension des reinen Praktikers ab, der ganz ohne diese Dinge
glaubt auskommen zu können, obwohl er sie thatsächlich, wenn
auch unbewusst, stets im Gebrauch hat. Denn er unterscheidet
nicht nur praktisch Vorstellungen von Gemütserregungen und
Willensäusserungen, sondern er beobachtet auch seelische Pro-
zesse, wie Gedächtnis und Phantasie, Kombinationen, Urteils-
und Schlussbildungen und richtet danach die „Methode" ein.
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Die Entwicklung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 201
Er sucht das Interesse des Zöglings zu fesseln, seine Auf-
merksamkeit zu erregen, seinen Charakter zu ergründen. Es
ist selbstverständlich, dass die ganze Welt- und Lebensan-
schauung des Erziehers, die durch Beruf, Vorbildung,
Denkungsart, Lebenserfahrungen bedingt sind, und in denen
psychologische Kenntnisse in grösserer Zahl enthalten sind, ihn
beständig leiten und seine Praxis beeinflussen. Es ist ebenso
selbstverständlich, dass solche allgemeinen Kenntnisse, wie sie
das unmittelbare Leben produziert, sehr verschieden ausfallen
werden, deshalb- auf Allgemeingiltigkeit keinen Anspruch er-
heben und zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis im besten
Falle nur Anfänge bieten können. Aber der reine Praktiker,
der Vulgärpädagoge, kann sich heute dem Erfahrungskreis
nicht mehr entziehen, der als Niederschlag der unter psycho-
logischen Gesichtspunkten seit Pestalozzi weitergeführten
Theorie und Praxis angesehen werden muss. Da diese vorzugs-
weise auf die Förderung der Methode gerichtet war, so steht
der Berufspädagoge hier, ohne es vielleicht zu wissen und
zu wollen, auf den Schultern Pestalozzis. Auch gerät er unaus-
bleiblich in moderne psychologische Fragestellungen, sobald
er sich über sein Thun und Lassen strenge Rechenschaft ab-
zulegen beginnt.
Eine neue Ansicht, mit der wir uns abzufinden haben, be-
streitet der Psychologie jeden direkten Einfluss auf die Päda-
gogik, giebt aber einen indirekten zu und will brauchbare psy-
chologische Begriffe und Sätze in der Erziehungspraxis ange-
wendet wissen, diese soll durch das Medium psychologischer
Begriffe hindurchgehen. So Münsterberg und James. Der
Lehrer soll sich ein wissenschaftliches System wie das Herbarts
zu eigen machen oder mit der modernen Psychologie in ihren
Grundzügen vertraut sein. Doch soll er die Kinder nie als psy-
chologische Objekte ansehen, sondern stets als ethische Per-
sönlichkeiten, die sich selbst nach Ideen und nach Interessen
bestimmen, die er deuten und bewerten muss. Psychologische
Untersuchungen sollen allerdings auch stattfinden, aber nicht
im Rahmen der Schule und Schularbeit, sondern ausgeführt
von Spezialisten in eigenen Laboratorien, wie wir eines in der
Stadt Antwerpen besitzen.
Man könnte sich mit diesen Vorschlägen Münsterbergs wohl
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202
Ferdinand Ketnsüs.
einverstanden erklären, wenn zwischen Theoretikern und Prak-
tikern der Pädagogik ein prinzipieller Unterschied bestände,
wenn nicht schon heute die Praxis der wissenschaftlich den-
kenden und arbeitenden Pädagogen direkt in die Theorie ein-
mündete, wenn psychologische Untersuchungen für die Zwecke
der Erziehung nicht schon seit langer Zeit von Praktikern mit
gutem Erfolge angestellt würden. Diese waren aber und sind
zukünftig nur dann möglich, wenn mit der ausschliesslich ethi-
sierenden Richtung der Praxis, der Münsterberg das Wort redet,
gänzlich gebrochen wird. Sie ist in der Geschichte der Päda-
gogik nicht vorteilhaft gekannt, sie versagt überall da, wo
wir auf stärkere Schwierigkeiten stossen und sachliche Einhilfe
notwendig wird, sei es auf intellektuellem, sei es auf ethischem
Gebiet. Es muss jeder Lehrer neben dem ethischen Interesse
in erster Reihe auch den psychologischen Blick für das Seelen-
leben des Zöglings haben, er muss ein Verständnis dafür er-
werben, wie es sich aufbaut und aus einfachen seelischen Ge-
bilden zusammensetzt, er muss seine Richtung zum voraus er-
kennen können, d. h. er muss Verständnis für genetisch- und
analytisch-psychologische Betrachtungen haben. Er soll dem
Seelenleben der Schüler nicht blos als Schematiker, als Schul-
meister, als Lehrer, sondern als fleissiger Beobachter, als For-
schender, als Lernender gegenüberstehen und die hierzu not-
wendigen Fertigkeiten mitbringen ; dem logisch - kombina-
torischen Verfahren in der Methodik soll sich die psychologische
Analyse als Correctiv zugesellen.
Eine letzte Ansicht fordert für die Seelenforschung einen
massgebenden direkten und indirekten Einfluss auf Wissen-
schaft und Praxis Ider Pädagogik im Sinne Herbarts. Das päda-
gogische Problem ist ihr in letzter Instanz ein psychologisches;
jede spezielle Frage aus der Didaktik oder der Willensbildung,
aus der geistigen Hygiene oder der Lehrverfassung soll eine
psychologische Beantwortung erfahren und auf diese Weise
allein einwandfrei gelöst werden können. Von diesem Stand-
punkt aus kann erst die Erziehung als Lebensmacht garantiert
werden, die der Staatsmann, der Philosoph, der Pädagogiker
für seine Ideen in den Dienst stellen mag.
Um sich in dem Widerstreit der Meinungen ein zutreffendes
Urteil zu bilden, wird man daher unter allen Umständen gut
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Die Entvaickeiung der Pädagogischen Psychologie im lg. Jahrh, 203
thun, sich in der Geschichte der Pädagogik zu orientieren, und
kein Abschnitt derselben dürfte für unsere Zwecke lehrreicher
sein als das verflossene Jahrhundert. In ihm verliess die Päda-
gogik ein für allemal jenen naiven Standpunkt, der den Blick
auf die gegebenen Lebens- und Erziehungsziele nur von den
traditionellen Lehr- und Lernmethoden aus gewährte; sie be-
freite das Kind von den Fesseln des äusserlich-mechanischen
Verfahrens, von der Zwangsjacke, in die sie es gesteckt hatte ;
ihre stehende Forderung wurde: Rückkehr zur Natur, Beob-
achtung der naturgemässen Entwickelung des Kindes und natur-
gemässes Verfahren bei seiner Bildung und Leitung. Die
Erziehung soll die innere Natur des Kindes treffen, sie soll
seinen natürlichen Entwickelungsgang nicht beeinträchtigen, sie
soll ihn daher vorerst festzustellen suchen, sie soll die seelischen
Fähigkeiten in der richtigen Aufeinanderfolge und in dem
richtigen Masse in Anspruch nehmen.
Die Gabe der unmittelbaren Beobachtung des kindlichen
Seelenlebens durch sympathisierenden Verkehr mit dem Zög-
ling, durch Anlehnung an seine Anschauungs-, Denk- und
Sprechweise, durch Sichhineinversetzen in seine Welt der Ge-
fühle, Interessen und Strebungen, sowie die Gabe der Er-
findung geeigneter erzieherischer Massnahmen für engere oder
weitere Zwecke wird wegen ihrer instinktiven oder intuitiven
Art als besonderes Talent, als pädagogischer Takt, bezeichnet
und gerühmt; er wird im 19. Jahrhundert von dem berufs-
mässigen Erzieher, dem Erziehungskünstler, als eine Grund-
fähigkeit gefordert. Freilich sind zu diesem Takt noch manche
wertvolle Beigaben als Begleiterscheinungen erwünscht oder
sogar notwendig: ein breites Wissen, logische Auffassungs-
gabe, aesthetisches Empfinden, moralisch - gesellschaftliche
Haltung, Kurzum, der Erziehungskünstler muss eine grosse
Persönlichkeit sein.
An die gelingende Praxis grösseren Stils setzt sich bald
eine Wissenschaft an, die einerseits die Aufgaben, anderer-
seits die Erfolge und Misserfolge der Erziehungskunst aus
ihren Beziehungen zu den angewendeten Methoden und Mitteln
kritisch untersucht, dabei auch Fehlerquellen und Störungen
in Rechnung bringt ; die es ferner gestattet infolge des Einblicks
in die kausalen Zusammenhänge Wege, Mittel und Aufgaben
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204
Ferdinand Kemsüs.
abzuändern und den Verhältnissen besser anzupassen. Diese
Wissenschaft steht der Tradition und jedem mehr oder minder
dogmatischen Verfahren kritisch gegenüber, sie giebt den
zahlreichen Personen, die den Takt des Künstlers in grossem
Masse nicht besitzen, eine genaue begriffliche Anleitung, durch
die sie ihn teilweise erwerben und möglichst vollständig er-
setzen können. Sie erhebt den Anspruch auf Allgemeingiltig-
keit. Sie hat jedoch wie der pädagogische Takt ihren natür-
lichen Beziehungs- und Drehpunkt im Kinde.
Ihre Probleme gehören daher der Psychologie zu, und sie
wird in schwierigen Fällen Anschluss und Auskunft bei ihr
suchen. Zunächst konnte jedoch die noch stark metaphysisch
gefärbte Seelenlehre der pädagogischen Praxis die gewünsch-
ten Dienste nicht leisten, auch war das Interesse der Psycho-
logen mehr durch die allgemeinen Fragen der eigenen Wissen-
schaft in Anspruch genommen, als durch das Detail der er-
zieherischen Praxis, sodass der Pädagoge auf sich selbst und
seinen engeren Erfahrungskreis angewiesen blieb. Wenn er
es versuchte, die Begriffsaufstellungen und die Methoden der
Psychologie aufzunehmen, so geschah es oft nicht in vorsichtig
kritischer Weise; andererseits wird es begreiflich, dass er sich
hier und da autokratisch von ihr abwendete. , Die Pädagogische
Psychologie war noch nicht geboren, aber es war eine Päda-
gogik im Entstehen, die sich wissenschaftlich nannte — eine
psychologische Pädagogik, deren leitendes Prinzip schon bei
Ratichius und Comenius deutlich ausgesprochen war : ,,Sie soll
ihre Regeln nicht nur aus dem zu lehrenden Objekt, sondern
auch aus der Natur des Zöglings ableiten." Wir können jedoch,
ohne auf Widerspruch zu stossen, behaupten, dass eigentlich
erst Pestalozzi an der Schwelle des 19. Jahrhunderts diese
Idee klar erkannte und verfolgte, indem er die harmonische
Entwickelung aller Anlagen und Kräfte im Menschen durch
psychologisch geordnete Mittel anstrebte, wodurch er — wie
man sagt — die Erziehung zum Teil mechanisierte.
Mit dem Auftreten der modernen Psychologie zeigt sich
auch in der Pädagogik ein stärkerer empiristischer Zug, und
es entwickelt sich am Ende des 19. Jahrhunderts, ohne dass
dies einen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet, als Grund-
wissenschaft für die Psychologische Pädagogik — die Päda-
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Die Entwükelung der Pädagogischen Psychologie im 19. Jahrh.
205
gogische Psychologie, die die Bausteine für jene herbeizu-
schaffen und die Fragen derselben in moderner Weise und in
exaktem Sinne zu beantworten unternimmt. Wie ihr Name
ausdrückt, steht sie in der Mitte zwischen den beiden Wissens-
gebieten und kann von beiden Seiten aus in Angriff genommen
werden; die Pädagogik, die durch ihre praktischen Fragen
oft in Verlegenheit gesetzt wird, hat offenbar ,das lebhaftere
Interesse an ihrem Zustandekommen. Sie verfährt analytisch,
während die Pädagogik synthetisch vorgeht. Sie versucht sich
in der Anwendung von statistischen und experimentellen Me-
thoden zur Aufklärung der Thatbestände.
Man kann das Ergebnis dieser historisch-kritischen Ein-
leitung in dem Satze zusammenfassen : Das Schicksal der Päda-
gogischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert ist mit dem der Psy-
chologie auf das engste verknüpft gewesen. Bei Besprechung
der einzelnen Epochen wird man diese Behauptung immer von
neuem bestätigt finden.
I. Epoche.
Am Anfange des 19. Jahrhunderts finden wir zwei Männer
am Ausbau der pädagogischen Theorie beteiligt, die aus ver-
schiedenen Richtungen kommend sich in ihren grundlegenden
Ansichten vereinigten: Kant1) und Pestalozzi,2) jener von der
Philosophie aus, dieser von der Pädagogik her.
Obwohl Kant weder die Psychologie als Wissenschaft an-
erkannt noch eine pädagogische Psychologie oder eine syste-
matische Pädagogik geschrieben hat, sind seine philosophischen
Lehren nicht ohne Einfluss auf die Pädagogik geblieben.
Standen sie doch in innerer Verwandtschaft zu den Lehren
Pesta lozzis, die es vielen Kantianern leicht machte, das prak-
tische Werk Pestalozzis mit dem wissenschaftlichen Geiste der
kritischen Philosophie aufzunehmen und fortzuführen.
Was ist das wahre Wesen und die wahre Bestimmung des
') Max Jahn, Der Einfluss der Kantischen Psychologie anf die Pä-
dagogik als "Wissenschaft. Inaug.-Diss. Leipzig. 1875.
Anton Barger, Ueber die Gliederung der Pädagogik Kants. Inaug.-
Diss. Jena. 1889.
2J Wilhelm Bauer. Die psychologischen Grundanschauungen Pesta-
Jozzig. Inaug.-Diss. Jena. 1880.
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2(36
Ferdinand Kemstts.
Menschen? Wie kann er zu ihr hingeführt werden? Wie ist
er zu der heutigen Kulturstufe aufgestiegen? Dies sind die
Fragen, denen beide Forscher nachgehen, und die sie in
gleichem Sinne beantworten. Der Mensch besitzt neben der
Anlage zur Tierheit auch die zur Vernunft. Jene leitet ihn auf
seinen frühen Entwickelungsstufen durch Instinkte und
Triebe, mit dem Hervortreten der letzteren gewinnen die Kräfte
des geistig-sittlichen Lebens allmählich Ueberhand. Jedes Indi-
viduum wird mit dieser Doppelnatur geboren, deshalb bedarf
es der Erziehung, seine niederen Triebe, (die Sinnlichkeit)
müssen gehemmt, seine höheren Kräfte (Verstand und Ver-
nunft) gestärkt werden. Drei höhere Vermögen besitzt die
Seele : Erkennen, Fühlen und Wollen. Während man noch im
18. Jahrhundert mit Aristoteles zwei seelische Kräfte annahm,
wird hauptsächlich durch Kants Einfluss im 19. Jahrhundert
diese Dreiteilung durchgeführt. Sie findet sich auch bei Pesta-
lozzi, er unterscheidet : die sittliche, intellektuelle und die Kunst-
kraft. Da die Anlagen und Kräfte der menschlichen Natur
immanent sind, so entfaltet die Erziehung nur die Keime, sie
schafft nichts absolut Neues, und der Unterricht hat nur einen
formalen Wert. Pestalozzi wollte nur die Geisteskräfte an-
regen, das Wissen wollte er auf das Naheliegende beschränken ;
aber er wollte eine freie, allgemein menschliche Bildung für
jedermann ; er wollte durch sie die Menschheit auf eine höhere
Stufe erheben und sie ihrem Idealzustande näherführen.
Die Anlagen sind proportionierlich (Kant) oder naturgemäss
(Pestalozzi) zu entwickeln und zwar so, dass nicht blos Dressur,
sondern wirkliche Aufklärung des Zöglings herbeigeführt wird
(Kant), oder dass der Zögling innerlich vollendet ist (Pestalozzi).
Jede dieser Kräfte wird wesentlich durch das einfache Mittel
ihres richtigen Gebrauchs naturgemäss entfaltet. Die Natur
des Menschen liefert selbst das Gesetz für ihre Entwickelung
oder die Methode. Dieser Gedanke, der von Pestalozzi mit
Konsequenz verfolgt wird, ist das fruchtbare Prinzip und der
Angelpunkt der psychologischen Pädagogik. Er findet sich in
einer solchen Deutlichkeit weder bei Kant, noch vorher bei
Comenius oder Rousseau.
Auf dem Wege der Anschauung unterrichtet die Natur
den Menschen von seiner Geburt an, aber sie führt diese An-
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Du: EntwickeluHg der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 207
schauungen ohne Plan und Ordnung, im verworrenen Zustande
vor. Die Kunst hat nun einzuschreiten und das, was die Natur
zerstreut und in verwirrten Verhältnissen vorführt, im engen
Kreis und in regelmässigen Reihenfolgen zusammenzustellen.
Alle Erkenntnis geht von der Anschauung aus, ^diese ist
jedoch nicht ein passives Hinnehmen, sondern ein selbstthätiges
Aufnehmen. Die Anschauung wird durch psychologisch ge-
ordnete Uebungen auf moralischem, ästhetischem und intel-
lektuellem Gebiet fortgeführt. Zur Ausbildung des Erkennt-
nisvermögens lässt Pestalozzi die ausgewählten Gegen-
stände einzeln aus der Nähe und mit Aufmerksamkeit an-
schauen und benennen, dann ihre Eigenschaften in der
Beschreibung auffassen und die Definitionen bilden ; die
elementaren Arten der Auffassung sind : Zählen, Messen,
Sprechen, — eine Einteilung, die freilich noch roh und
unzureichend ist. Man soll beim Leichtesten in dieser Weise
anfangen und es zum Abschluss bringen, dann ^urch lücken-
loses Fortschreiten weniges zu dem Gelernten hinzusetzen. Es
erübrigt sich an dieser Stelle auf die Erkenntnistheorie Kants
einzugehen, nur verdient hervorgehoben zu werden, dass Kant
das Prinzip der Anschaulichkeit schärfer formuliert und gründ-
licher bewiesen hat als Pestalozzi, letzterer jedoch dasselbe
Prinzip sorgfältiger für die Erziehung verwertet hat.1)
Eine solche naturgemässe Uebung des Intellekts hat zu-
gleich eine erziehliche Wirkung, sodass Unterricht und Er-
ziehung eng zusammengehören, eine Idee, die seitdem in der
Pädagogik herrschend geblieben ist. Bei Kant tritt eine über-
greifende Wirkung des einen Seelenvermögcns auf das andere
ebenfalls in der Pädagogik und in der Sittenlehre hervor.
Durch Selbstthätigkeit zur freien Selbstbestimmung im kate-
gorischen Imperativ.
Das Religiös-Sittliche entkeimt bei Pestalozzi in der
sinnlichen Liebe des Kindes zur Mutter, sie erhebt sich zur
menschlichen Liebe und zum menschlichen Glauben, schliesslich
zur christlichen Liebe und zum christlichen Glauben. Daher
sollen die sittlichen Anschauungen und Aeusserungen an die täg-
lichen häuslichen Auftritte und an die Umgebungen des Kindes
1) cf. Max Jahn. 1. c.
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208
Ferdinand Kcmsits.
anknüpfen. Darauf folgen sittliche Uebungen in Selbstüber-
windung und Anstrengung, endlich die Bewirkung einer sitt-
lichen Ansicht durch Vergleich der Rechts- und Sittlichkeits-
verhältnisse. Pestalozzi wollte seinem ABC der Anschauung
eine sittliche Elementarbildung, sowie ein ABC der Kunst an
die Seite stellen, kam aber über Anfänge hier nicht hinaus.
Nach Kant muss das Kind diszipliniert, d. h. seine na-
türliche Wildheit muss bezähmt werden. Darauf bringt man
ihm Begriffe bei von dem, was gut oder böse ist. Endlich sucht
man einen Charakter zu gründen, d. h. die Fertigkeit nach
Maximen zu handeln. Als kindliche Haupttugenden, die dabei
mitwirken, nennt er Gehorsam und Wahrhaftigkeit.
Pestalozzis Kunstkraft ist vor ihrer Anlage nur Kunst-
anlage oder Kunstsinn, ihre Bildung geht von .der Uebung der
Sinne und der Glieder aus. Es handelt sich jedoch nicht um
ästhetische Bildung, sondern um Gewandtheit im Gebrauche
der Glieder und Geschicklichkeit in der Anfertigung der täg-
lichen Arbeiten.
Ein psychologischer Gesichtspunkt, der als solcher weder
bei Kant noch bei Pestalozzi deutlich hervorgehoben ist, der
aber als ethischer Fundamentalsatz bei beiden auftritt und direkt
in die pädagogische Theorie eingeht, ist: die Berücksich-
tigung des Individuums. Wenn auch Pestalozzi einen sozial-
pädagogischen Ausgang nimmt, so laufen doch schliesslich
alle Massnahmen der Erziehung im Individuum gleichsam cen-
tripetal zusammen ; von ihm sollen dann wieder sittliche Kräfte
in die Lebensgemeinschaft zurückströmen. Die Sozialpädagogik
geht durch die Individualpädagogik hindurch. Dieser Gedanke
in Verbindung mit dem ganzen System liess Pestalozzis Päda-
gogik damals den Weg nach Preussen finden und in ihr eine
Haupt- und Staatssache erkennen. Derselbe Gesichtspunkt frei-
lich erfreute sich um die Mitte des Jahrhunderts nicht mehr der-
selben Beliebtheit.
Eine Reihe von Nachfolgern Kant-Pestalozzis versuchte
nun aus der Meister Lehren eine genauere und einheitlichere
Erziehungstheorie zu gewinnen. Einige Kantianer mühten sich
zunächst mit der kritischen Frage ab, welches die Bedingungen
einer wissenschaftlichen Pädagogik seien ?
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Die Entwickclmng der Pädagogischen Psychologie im 19. Jahrh. 209
In Niethammers philosophischem Journal finden wir fol-
gende Aufstellung: Die Erziehung bestehe in Anwendung ge-
wisser Regeln, und die Theorie der Erziehungskunst müsse
die Regeln beweisen, d. h. sie aus angenommenen und evidenten
Voraussetzungen herleiten. Die Theorie der Erziehungskunst
sei Wissenschaft, und wer behaupte, dass die Erziehung keiner
Wissenschaft bedürfe, der halte entweder alle vorhandenen
pädagogischen Maximen für evident durch sich selbst oder be-
haupte, man dürfe nach Maximen handeln, deren Richtigkeit
und Notwendigkeit man nicht einsieht. Ueber die ein-
schlägigen Versuche findet man zahlreiche Angaben in Poelitz:
Erziehungswissenschaft aus dem Zwecke der Menschheit und
des Staates praktisch dargestellt, Leipzig 1806, worin er alles,
was seit der totalen Erschütterung der Schulphilosophie für
eine wissenschaftliche Begründung und vollständige Revision
der Pädagogik geschehen ist, schildert.
Die Pestalozzianer geraten vollständig in die Terminologie
und das Fahrwasser der abstrahierenden Philosophie Kants,
sobald sie ihren pädagogischen Lehren einen wissenschaft-
lichen Ausbau zu geben versuchen. Da handelt es sich um
Bildung der äussern Sinne, des innern Sinnes, der produktiven
Einbildungskraft, des Gedächtnisses, des Verstandes, der Ge-
fühle der Lust und Unlust, der Vernunft etc., als typischer
Vertreter dieser klassifizierenden Pädagogen kann Harnisch
angesehen werden. Dagegen drang schöpferisch in die Tiefe
der pädagogischen Praxis ein Diesterweg, der Methodiker des
Elementarunterrichts ; er stellt einen gewissen Abschluss des
Pestalozzischen Ideenkreises dar. Das Bildungsziel formuliert
er als : Selbstthätigkeit im Dienste des Wahren, Guten und
Schönen, wodurch zugleich das wichtigste psychologische Mo-
ment hervorgehoben ist. Seine methodischen Grundsätze und
erzieherischen Maximen bilden kein zusammenhängendes
System, sie sind eklektisch der Erfahrung entsprungen, eben
deshalb äusserst wertvoll.
Neben ihm verdient Fröbel hervorgehoben zu werden,
Fröbel wollte den Kindern noch vor dem schulpflichtigen Alter
eine ihrem Wesen entsprechende Bildung verschaffen; als
Mittel dazu erkennt er das Spiel, das dem Thätigkeitstriebe des
Kindes die geeignete Befriedigung und Nahrung verschafft.
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210
Ferdinand Keinsies.
Aus dieser freischaffenden Bethätigung ergiebt sich, wenn sie
zweckmässig geleitet wird, die erste harmonische Vorbildung
des Kindes; sie entwickelt naturgemäss alle physischen und
psychischen Kräfte. In der planmässigen Ausgestaltung dieses
Erziehungsmittels schuf Fröbel die Spielgaben und die nach
ihm benannten Fröbel'schen Beschäftigungen. Fröbel lässt die
entwickelnde Erziehung des Menschen mit der That beginnen,
die ja auch in der Geschichte des Menschengeschlechts das
Primäre ist, an das sich erst als Secundäres das Besinnen an-
schliesst.
Die Wirkung der Pestalozzischen Gedankenarbeit auf die
bestehende Praxis war eine unglaubliche.
Die mechanischen Lese-, Schreib- und Rechenübungen ver-
wandeln sich im Laufe weniger Decennien in Arbeiten zur
Menschenbildung, von innen heraus sollen jetzt alle Seelen-
kräfte des Kindes entwickelt und an den einfachsten Wissen-
stoffen gestaltet werden. Jeder Lehrgegenstand gewinnt einen
bestimmten Zweck und Wert in der allgemeinen Bildungsauf-
gabe; diese wiederum bestimmt die Stoffauswahl und Stoff-
verteilung, das unterrichtliche Verfahren auf den verschiedenen
Stufen und die Hilfsmittel, so dass die darbietende Arbeit des
Lehrers und die aneignende des Schülers in ihrem Ineinander-
greifen mit Notwendigkeit auf das Erziehungsziel hinführen.
Die Lehrart besteht nicht mehr im Vorsagen und Hersagen,
in einem mechanischen Anlernen, sondern bildet sich um zur
vortragenden, entwickelnden, katechetischen und heuristischen.
Wir können den vollständigen Umschwung der pädagogischen
Denkweise erst recht verstehen, wenn wir die 1794 heraus-
gegebene preussische Volksschulordnung nachlesen, in der als
Ziele der Volksschule festgesetzt sind : Fertigkeit im richtigen
und deutlichen Lesen, einige Fertigkeit leserlich und ortho-
graphisch zu schreiben, einige Uebung in den gemeinsten zum
Hauswesen nötigen Rechnungen, hinlängliche Uebung im
kleinen Katechismus Lutheri, Bekanntschaft mit der Bibel, ein
Vorrat auswendig gelernter guter Lieder. Es wird nicht ge-
stattet mit Zurücksetzung jener Hauptstücke Gegenstände der
Naturgeschichte, Geographie etc. mit den Kindern vorzuneh-
men. Mit der Errichtung eines eigenen Ministeriums für den
Kultus und den Unterricht im Jahre 18 17 kam durch Alten-
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Die Entwickelung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh.
211
stein Geist und Leben in die Schule, zwar blieb der Religions-
unterricht die Hauptsache, doch wurde jetzt ausser Lesen,
Schreiben, Rechnen auch Naturkunde, Geographie und Ge-
schichte auf den Lehrplan gesetzt.
Die formale Bildung, die wir als den prägnantesten
Ausdruck der Pestalozzischen Unterrichtsweise und als Kon-
sequenz der Vermögenstheorie ansehen dürfen, ist etwa in der
Art zu denken, dass sie einen Energievorrat darstellt oder
eine latente Kraftfülle, die den Träger zu den verschiedensten
Leistungen auch in einer ihm fremden Materie befähigt. Sie
zeigt sich nicht nur in der Sprachfertigkeit, sondern auch in
der erleichterten logisch-kombinatorischen Auffassung neuer
Probleme und Gedankengänge. Die formale Bildung ist dem-
nach von dem Stoffe, an dem sie erworben wurde, als ab-
gelöst zu betrachten.
Gegen dieses formale Bildungsprinzip, das den historischen
Bildungsstoffen und dem Wissen und Glauben gegenüber stark
betont und gefährlich erschien, richtete sich die politische
Reaktion in Preussen, die ihren Ausdruck in den Regulativen
von 1854 fand. Das formale Prinzip, das den psychologischen
Gesichtspunkt zum leitenden machte, wurde eingedämmt, und
an seine Stelle wieder das materiale Lernprinzip gesetzt. Die
formale Bildung sollte sich durch Verständnis und Uebung
des berechtigten Inhalts von selbst ergeben, die inhaltreichen
realistischen Fächer wurden jedoch enge begrenzt. In den
Seminarien durfte kein System der Pädagogik gelehrt werden;
die Anweisung zu einer guten Unterrichtsmethode sollte sich
aus dem Unterricht des Lehrers von selbst ergeben, sie hatte
keinen selbständigen Wert mehr. —
(Fortsetzung folgt.)
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Erfahrungen im Gymnasialunterricht für Mädchen
als Beitrag zur Frage der gemeinschaftlichen
Erziehung beider Geschlechter.
Vortrag im Verein für Kinderpsychologie zu Berlin
gehalten am 2. Mai 1902
von
Hildegard Wegscheider-Ziegler.
Die Erfahrungen, die ich Ihnen heute vorlege, sollen
in keiner Weise den Anspruch auf Allgemeingiltigkeit machen ;
beruhen sie doch im wesentlichen nur auf der einjährigen
Thätigkeit an einer Familienschule mit gymnasialem Unter-
richt, die seit Ostern 1901 besteht. Aber, da alle bisher be-
stehenden Gymnasial - Lehranstalten für Mädchen ihre Pro-
gramme nur in der Form kurzer Prospekte herausgegeben
haben und nur die Frankfurter Gymnasialkurse eine einiger-
massen ausführliche Berichterstattung über den Unterrichts-
erfolg einführten, scheint mir ein erster Versuch, die Resultate
des Experiments auch psychologisch auszubeuten, als An-
regung nötig. Denn nur psychologische Einzelbeobachtungen
könnten ja imstande sein, eine wissenschaftliche Grundlage für
die Frage des gemeinschaftlichen Unterrichtes beider Ge-
schlechter zu schaffen.
Die von mir beobachtete Gymnasialklasse hat sich im Lehr-
plan möglichst nach dem Vorbilde der bestehenden Reform-
gymnasien, speziell nach dem Reformgymnasium, das in Char-
lottenburg unter der Leitung des Herrn Direktor Zernecke
besteht, gerichtet. Die Klasse wurde mit 16 Schülerinnen er-
öffnet. Das Durchschnittsalter war 12 Jahr und 4 Monate;
die Schülerinnen hatten vorher die vierte Klasse einer höheren
Töchterschule ganz oder zur Hälfte absolviert. Trotzdem war die
Vorbildung sehr ungleichmässig. Mehrere Mädchen waren z. B.
noch ganz im Unklaren über die Bedeutung der Brüche, andere
waren im Bruchrechnen schon leidlich geübt, einige wussten
vom Wachsen der Pflanzen, vom Bau der Tiere noch nicht
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Erfahrungen im Gytnnasialunterricht für Mädchen. 213
einmal das Elementarste, während andere einen bestimmten
Wissensstoff und allerlei eigene Beobachtungen mitbrachten,
u.s.w. Daher durfte das Pensum des ersten Jahres nicht um-
fangreich sein, damit Zeit blieb, Lücken, die im Laufe der Zeit
sichtbar wurden, gleich gründlich auszufüllen. Es kam weniger
darauf an, viel Stoff schon in diesem ersten Jahre zu bewäl-
tigen, als vielmehr die Klasse zu einheitlicher Arbeit anzuleiten.
Der Lehrgang bis zur (humanistischen) Reifeprüfung war
auf 7 Jahre berechnet, unsere Klasse entsprach also der Quarta
des Reformgymnasiums. Doch haben wir, um für später vor-
zuarbeiten, 4 Stunden wöchentlich Latein gegeben, und da-
durch wenigstens e i n Fach geschaffen, das allen Schülerinnen
neu war, so dass sie ihre Kräfte gleichmässig daran . üben
konnten. Herr Direktor Zernecke hatte die Liebenswürdigkeit,
den Lehrenden unserer Familienschule die Erlaubnis zu unbe-
schränktem Hospitieren an seinem Gymnasium zu geben, wo-
durch zum ersten Male in Deutschland wissenschaftlich ge-
bildete Lehrerinnen den Betrieb eines humanistischen Gym-
nasiums näher kennen lernten. Diese Besuche hatten den Zweck,
uns in die Unterrichtsmethoden der Gymnasien einzuführen.
Es lag jedoch nahe, nun auch Vergleiche zwischen den beiden
Schulen zu ziehen. Die Zahl der Schüler war in unserer Klasse
etwa die gleiche, wie in der Untertertia des Gymnasiums. Der
erste überraschende Eindruck jedoch, den wir Lehrerinnen alle
beim ersten Besuche des Gymnasiums erhielten, war der der
strammen äusseren Zucht. Im Vergleich damit erschien unsere
Klasse leicht zur Unruhe geneigt, und wenn auch in gut ge-
leiteten Stunden eine Neigung zum Schwatzen oder Lachen
nach wenigen Monaten gänzlich verschwunden war, so ist eine
ähnliche militärische Ordnung, wie sie in allen Klassen des
Charlottenburger Reformgymnasiums herrscht, bei uns bis jetzt
nicht einführbar gewesen. Dabei muss ich betonen, dass von
den 16 Schülerinnen des ersten Jahres eigentlich nur eine ein-
zige nicht absolut willfährig und mit Interesse bei der Sache
war. Die anderen waren und sind bis heute ersichtlich aufs
Aufrichtigste bemüht, den Wünschen ihrer Lehrer und speziell
der Lehrerinnen inbezug auf Disziplin nachzukommen ; aber es
ist ihnen fast unmöglich, Vorstellungsverbindungen, die vom
strikten Gange des Unterrichts abseits führen, sofort zu unter-
Zeitxhritt für pidagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 2
214
Hildegard Wegscheider-Ziegler.
brechen, und viel schwerer als die Knaben versagen sie es
sich, solche Reihen bis zum lösenden Schlüsse, dem Aus-
sprechen des Gedankens, fortzuführen. In den Knabenklassen
habe ich dagegen öfter bemerkt, dass die Schüler ein Ver-
sprechen des Lehrers, sogar eine falsche Korrektur, die einem
Kameraden vielleicht eine schlechte Note eintrug, still ertrugen,
nur ein Aufblitzen des Auges verriet, dass sie das Versehen
bemerkt hatten. In der Mädchenklasse hat die äussere Dressur
wenig genützt. Gelang es, die Ehrfurcht vor dem Stoffe oder
das Interesse daran so stark zur allgemeinen Stimmung zu
machen, dass jedes nicht dazugehörige Wort als pietätlos er-
schienen wäre, so hatte der Lehrer gewonnenes Spiel; und
ich muss sagen, dass das nicht eben schwer war.
Aehnliche Unterschiede zeigten sich bei der Ordnung der
Pausen. Unser Klassenzimmer liegt im dritten Stock eines
Schulhauses, in dem sich noch einige Knabenvorschulklassen,
eine Sexta und seit Ostern eine Quinta, ausserdem 6 Mädchen-
schulklassen befinden. Wenn das Wetter irgend erträglich ist,
werden die Schülerinnen nach jeder Stunde für 10 — 15 Minuten
in den Hof geschickt; die kleinen Sextaner, deren Zimmer
dem unsrigen gegenüberlag, und die Quintaner, die über unse-
rem Zimmer unterrichtet werden, waren schon 14 Tage nach
Beginn des Schuljahres vollkommen gedrillt und, von Fällen
direkten Ungehorsams abgesehen, gingen sie, ohne ein Wort
zu sprechen, im Gänsemarsch die Treppen hinauf und hin-
unter, sassen pünktlich beim Klingelzeichen auf ihren Plätzen;
und ob der Lehrer nun genau zur Minute mit dem Unterricht
begann, ob er einige Minuten später eintrat, stets fand er eine
absolut ruhige und auf die planmässige Stunde vorbereitete
Klasse.
Besonders die Herren Lehrer haben im ersten Schuljahre
immer wieder darüber klagen müssen, dass eine ähnliche Ruhe
in unserer Mädchenklasse nicht zu erzielen war. Nach langem
Sträuben meinerseits musste denn auch eine Konferenz be-
schliessen, dass ein geradezu drakonisches Strafsystem zur Be-
kämpfung dieses Mangels an Disziplin eingeführt werde.
Der Erfolg war ein sehr allmählich wirkender. Aber ein
unerwarteter Nebenerfolg zeigte sich : von dem Augenblick an,
in dem die Schülerinnen in mir die Vertreterin dieses äusseren
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Erfahrunren im G ' vmnastalunttrruht für Mädchen
215
Straf systemes sahen, war die Ordnung innerhalb meiner Unter-
richtsstunden zwar äusserlich etwas straffer, die hingebende
Aufmerksamkeit jedoch nicht entfernt mit dem vergleichbar,
was ich vorher einfach dadurch erreicht hatte, dass ich den
Stoff wirken Hess.
Rein äusserlich möchte ich noch bemerken, dass die Lehrer
der Tertien der Gymnasien das Aufstehen der Schüler bei
jeder Frage und ein möglichst strammes Stehen während
ihrer Beantwortung für ein wichtiges Disziplinarmittel halten,
während wir nach verschiedenen Versuchen uns entschliessen
mussten, um der grösseren Ruhe und Sammlung der Mädchen
willen sie während der ganzen Dauer des Unterrichtes sitzen
zu lassen.
Diese Erfahrungen über verschiedenartige Handhabung
und Wirksamkeit disziplinarischer Massregeln würden, so
scheint es mir, schon an und für sich ein Bedenken für ge-
meinschaftlichen Unterricht von Knaben und Mädchen in den
mittleren Klassen höherer Lehranstalten ergeben. Die Knaben
würden von ihrer Straffheit und Zucht verlieren, wenn man
den Mädchen ihre freiere, lockere, mehr, von Impulsen ge-
leitete Art ungeschmälert Hesse. Wollte man aber den Mäd-
chen den Knabengymnasialdrill aufpfropfen, so könnte leicht,
wie meine Erfahrung zeigt, der Erfolg der sein, dass die innere
Frische und Anteilnahme am Stoff und das zutrauliche Ver-
hältnis zur Persönlichkeit der Lehrenden sich abschwächte.
Wichtiger als diese Fragen der Disziplin sind natürlich
die Fragen des Unterrichtes selber. Als kompetenter Richter
kann ich hier nur vom deutschen L'nterricht, dem Sprach-
unterricht und den Geographie- und Geschichtsstunden sprechen.
Im Uebrigen muss ich mich auf die Mitteilungen der Lehrkräfte
in den Konferenzen verlassen.
Im Deutschen hatten wir seit Ostern 1901 das Lesebuch
von Hopf und Paulsieck für Quarta, seit 1902 das von Muff für
Untertertia eingeführt, und ich habe mich möglichst an den darin
angedeuteten Lehrgang gehalten. Die Stoffe, die den Knaben
darin geboten werden, die sich also doch nach langjähriger
Erfahrung als besonders geeignet und anregend bewiesen haben,
haben meine Mädchen nur stellenweise gefesselt. Vor allen
Dingen ist es mir nicht gelungen, sie wirklich in die Welt
2*
216
Hildegard Wegscheider-Ziegier.
der Uhlandschen Balladen so einzuführen, dass sie sich, wie
das doch wohl bei Knaben der Fall ist, ohne weiteres darin
heimisch fühlten. Es ist z. B. nicht möglich gewesen, den
Kindern die Empfindung zu geben, dass Graf Eberhard der
Greiner recht hatte, als er nach der Reutlinger Schlacht zwischen
sich und seinem Sohne das Tafeltuch entzweischnitt. Gerade
die sittlich fein empfindenden unter meinen Schülerinnen konnten
diese Zurücksetzung der väterlichen Gefühle hinter die ritter-
lichen nicht fassen, und in der ganzen Klasse habe ich keine
genügende Antwort auf die Frage finden können: Was Ul-
rich denn, um die Befriedigung des Vaters zu verdienen, hätte
thun müssen. Als ich nach längerer Besprechung den Inhalt
der Ballade „Die drei Könige zu Heimsen" in einem Klassen-
aufsatz niederschreiben Hess, ist zwar die allgemeine historisch-
soziale Einleitung, die die Verhältnisse klar machen soll, den
Mädchen durchschnittlich gut gelungen, aber die Grundidee
des Dichters, die manche in der Disposition als Schluss des
Aufsatzes versprochen hatten, hatte keine von ihnen erfasst,
und sie ist, wenn überhaupt, so zu flachster Sprüchwörter-
weisheit herabgedrückt erschienen.
Andererseits waren die Erfahrungen im deutschen Gram-
matikunterrichte geradezu vorzügliche. Obgleich, wie es dem
Lehrgang der Töchterschulen entspricht, 50 Prozent im Anfange
des Schuljahres nicht einmal sicher in der Bestimmung der
Kasus waren, habe ich doch nach 3monatlichem Unterricht
die Funktion der einzelnen Satzteile dermassen in das Ver-
ständnis der Schülerinnen einführen können, dass z. B. die
grammatische Erklärung des lateinischen Gerundivum gar keine
Schwierigkeiten machte, und dass die Infinitivkonstruktion, die
Konjunktivsätze und die Gesetze der Zeitfolge fürs Deutsche,
wie in einfachster Form fürs Lateinische und Französische, ein
fester Besitzstand meiner Schülerinnen geworden sind. Von
Anfang an hatten alle Schülerinnen eine ganz besondere Vor-
liebe für die deutschen Grammatikstunden, das Analysieren
komplizierter Satzverbindungen wurde stets mit allgemeinster
Anteilnahme der ganzen Klasse an der Wandtafel vorgenom-
men, und der beste Beweis für den Ernst, mit dem die Schüle-
rinnen die grammatischen Unterweisungen aufnahmen, liegt
vielleicht in der Thatsache, dass die in der Lektüre vorkommen-
Erfahrungen im Gymnasialunterricht für Mädchen.
217
den Unregelmässigkeiten im Gebrauch des deutschen Kon-
junktiv und der häufige falsche Gebrauch von „wurde" im
Konditionalsatz stets bemerkt und verbessert wurden. Bei dem
allen mögen Sie bedenken, dass nach dem Lehrplan für Deutsch
nur 3 Stunden, für Latein 4 und für Französisch nur 2 Stunden
angegesetzt waren, weil wir die Absicht hatten, dieses Ein-
führungsjahr möglichst wenig zu belasten.
Freilich war die Beherrschung der lateinischen Formen-
lehre ein hartes Stück Arbeit für Lehrer und Schüler, und noch
immer habe ich einige unsichere Kantonisten, die sofort den
Mut verlieren, wenn länger als 5 oder 6 Minuten nach Verb-
formen gefragt wird, oder wenn 40 bis 50 Verba der dritten
Konjugation in bunter Reihenfolge schnell abgefragt werden.
Das schnelle Antworten, die Schlagfertigkeit, die Unbeküm-
mertheit um etwaige Nebenvorstellungen, wie ich sie bei den
Knaben beobachten konnte, ist mir stets beneidenswert, aber
immer nur annähernd erreichbar erschienen. Als fördernd hat
sich uns im lateinischen Unterricht neben dem stets durch-
geführten Hinweis auf die deutsche Grammatik die Rücksicht
auf den im Französischen erworbenen Wortschatz erwiesen.
Neue Vokabeln werden stets mit Interesse daraufhin geprüft, ob
sie irgendwelche Verwandtschaft mit dem Französischen auf-
weisen. Dem Lehrer blieb nur die Aufgabe, zurückzuhalten;
niemals bedurfte es des Antreibens.
Im Wiedererzählen durchgenommener Stoffe waren die
Schülerinnen im Anfang des Schuljahres sehr ungleichmässig
vorbereitet ; während einige, die älter sind als der Durch-
schnitt der Klasse, die viel mit Erwachsenen zusammen sind,
oder, wie 2 meiner Schülerinnen, schon ausländische Schulen
durchgemacht hatten, gern und verhältnismässig fliessend er-
zählten, konnten, die meisten einen eigenen Ausdruck für
Dinge, die im Zusammenhang vorgetragen waren, nur schwer
finden, ja sie waren nicht einmal daran gewöhnt, zusammen-
hängende Vorträge von 10 — 20 Minuten Länge überhaupt zu
apperzipieren. Zwei Schülerinnen einer Berliner Privatschule
bezeichneten mit dem Namen „Aufmerksamkeit" einen Zustand
friedlichen Halbschlummers in der vorgeschriebenen Schul-
haltung, aus dem sie sich nur aufrafften, wenn es sich um
Gedrucktes oder Geschriebenes handelte; eine Wiederholung
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218
HtUUsard WegscheicUr-Zügler.
eines vom Buche unabhängigen Wortes des Lehrers war eine
unerfüllbare Aufgabe. Um sie zu intensiverer Aufmerksamkeit
anzuregen, habe ich im ersten halben Jahr den Geschichts-
unterricht ohne jedes Lehrbuch erteilt. Der Lehrplan schrieb
die griechische Geschichte vor ; ich habe für die Zeit von der
mykenischen Kulturepoche an bis zum peloponnesischen Kriege
etwa 20 Geschichtszahlen diktiert, im übrigen habe ich ver-
langt, dass die Schülerinnen das in der Stunde gründlich und
ausführlich durchgenommene und eingeübte ohne Hilfe irgend
eines Buches in der folgenden Stunde wiedererzählten. Bei
einigen setzte es Thränen. sie konnten ohne Buch nicht arbeiten,
andere wurden trotzig und weigerten sich direkt, solche vom
Buch unabhängige Arbeit zu leisten; auch Väter, die beim
Arbeiten hatten helfen wollen und sich wahrscheinlich ohne
Erfolg bemüht hatten, aus der Tochter Munde zu erfahren,
was denn erzählt worden sei, Hessen um Angabe des Buches
bitten, nach dem ich mich richtete; schliesslich versuchten sie
es alle, die Arbeit selbständig zu leisten, und es ging. Es ging
so gut, dass ich am Ende des I. Halbjahres einen unvor-
bereiteten Aufsatz über die Perserkriege schreiben Hess, der in
der Hälfte der Fälle gut ausfiel, und eine Selbständigkeit der
Auffassung beweist, wie ich sie gerade in politischen Dingen
bei Mädchen kaum erwartet hatte.
Auch sonst ist mir aufgefallen, dass die Mädchen politi-
schen und sozialen Stoffen mehr Verständnis entgegenbrachten
als der Kriegsgeschichte ; während ihnen noch heute sogar
der trojanische Krieg langweilig erscheint, den ich ihnen doch
in ziemlich enger Anlehnung an die Ilias möglichst warm ans
Herz gelegt hatte, benutzen sie jede Gelegenheit, um ihre Lehrer
über soziale Fragen auszuhorchen. So fragte mich ein Mäd-
chen, welcher Partei die Grachen, von denen ihr die Ge-
schichtslehrerin erzählt hatte, wohl heute angehören würden,
und Alle waren glücklich, als ich am Ende des ersten Schul-
jahres ein paar Geschichtstunden dazu verwandte, ihnen die
deutsche und preussische Verfassung klar zu machen. Ich
glaube, dass wenige unter ihnen sind, die nicht lebhaft wün-
schen würden, einmal an den Wahlen zu Reichs- und Landtag
teilnehmen zu dürfen. LTnd doch weiss ich mich frei von jeder
unschulgemässen Agitation in Dingen der Frauenfrage und
Erfahrungen im GytnnasüüunUrricht für Mädchen.
219
Politik; ich habe ihnen nur eine kurze Uebersicht über die
Paragraphen der Verfassung gegeben, die die Rechte und
Pflichten der Bürger festsetzen, und die Form der Regierung
behandeln.
Ich fürchte, dass es sehr schwer sein wird, den Kindern
die Schlachtenschilderungen des Cäsar, zu denen wir in den
nächsten Monaten übergehen müssen, interessant zu machen ;
und wie ich meine Mädchen kenne, sind sie anders als durch
eigenes Interesse überhaupt schwer zu leiten. Dagegen werden
ihnen — davon bin ich überzeugt — die Volksverhältnisse
der Gallier und deren stets lebendiger Widerwille gegen die
Römerherrschaft sympathisch und interessant erscheinen.
Sehr wichtig für die Erziehung schien gerade in dem Ent-
wicklungsalter, in dem sich viele unserer Schülerinnen befinden,
der naturwissenschaftliche Unterricht. Nachdem die äusseren
Verhältnisse uns gezwungen hatten, den botanischen Unterricht
anfangs noch in die Hände einer tüchtigen, aber nur semina-
ristisch vorgebildeten Lehrerin zu legen, haben wir jetzt einen
Oberlehrer für diese Stunden gewonnen.
Der Lehrplan dieses Sommers verlangt die Elemente der
Anatomie und Physiologie der Pflanzen, und lässt diese Be-
handlung an die Betrachtung der Kryptogamen anschliessen.
Ich halte es für einen ganz besonders glücklichen Umstand,
dass der naturwissenschaftliche Lehrer unserer Klasse, mit
wissenschaftlicher Selbstverständlichkeit die Vorgänge der
Fortpflanzung an den Pflanzen dargestellt hat, und dass er
auch die üblichen klaren Ausdrücke für diese Verhältnisse
nicht vermieden hat. Bei einem Gange durch die Warmhäuser
des Botanischen Gartens konnte ich die Erfahrung bestätigen,
die er selbst gemacht hatte: Keinem der Mädchen war bei-
dieser Betrachtung der Gedanke eines Vergleichs dieser Ver-
hältnisse der Pflanzenwelt mit den menschlichen gekommen;
aber wir können hoffen, dass so ohne ihr Wissen ihnen für
spätere Tage eine Grundlage gegeben ist, auf der sie die
tiefsten und heiligsten Geheimnisse des menschlichen Lebens
in dem reinen Lichte natürlicher Betrachtung erschauen
können. Wenn der Plan der Stadt Charlottenburg und
der kürzlich vom Berliner Stadtschulrat ausgeführte Plan
eines schon mit dem 12. Lebensjahre beginnenden Real-
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220
Hildegard WegscheicUr-ZUgler.
gymnasiums für Mädchen zur Wirklichkeit würde, so
wäre damit auch dem naturwissenschaftlichen Unterricht
ein breiteres Feld gegeben. Und ich muss sagen, dass
ich das für ausserordentlich günstig halte. Denn die geistige
Entwicklung begabter Mädchen gerade in der grossen Stadt
ist oft so einseitig auf litterarische und menschlich-moralische
Fragen gerichtet, dass auf dieser Seite eine Hypertrophie er-
zielt wird, während das Vermögen klarer Anschauung der ge-
gebenen Verhältnisse dabei leicht vernachlässigt wird. Trotz-
dem wäre es bedauerlich, da auch die Gymnasialkurse für
Frauen unter Leitung des Herrn Direktor Wychgram von Ok-
tober ab das Abiturium der Realgymnasien als ihr Ziel auf-
stellen, wenn Berliner Mädchen nicht wenigstens an einer
Stelle Gelegenheit zu humanistischer Vorbildung gegeben wird.
Vom mathematischen Unterricht kann ich wenig urteilen:
Ein bewährter älterer Oberlehrer hatte ihn im ersten Jahr ge-
leitet. Er fand eine sehr ungleichmässig vorbereitete Klasse,
und seine Zeit gestattete ihm keine anderen Unterrichtsstunden,
als die von 12— i, die bekanntlich kaum je gute Resultate
ermöglichen. Die seit April 1902 bei uns arbeitende Ober-
lehrerin hält, soweit sie bis jetzt urteilen kann, die Schülerinnen
für durchaus befähigt und sehr stark interessiert für mathe-
matische Fragen. Nichts wesentlich vom Gewöhnlichen ab-
weichendes konnten wir auf dem Gebiete des Gesang-Unter-
richts, des Turnens und auch des Zeichnens, das wir möglichst
intensiv betrieben haben und das von gutem Erfolg begleitet
war, bemerken.
Sehr bedeutsam scheinen mir unsere Erfahrungen
auf dem Gebiete der körperlichen Erziehung für die
Frage der „Coeducation". In den Wintermonaten 1901/02 sind
beinahe die Hälfte unserer Schülerinnen in die Entwickelung
zur Geschlechtsreife eingetreten. Es war das eine grosse Schwie-
rigkeit für ruhige Fortführung des Unterrichtes. Nicht nur,
dass diese Kinder hie und da den Unterricht versäumen mussten,
sie waren auch vielfach so erregt, an anderen Tagen
wieder so niedergedrückt, dass ich z. B. die Angst der latei-
nischen Extemporalien der Klasse beinahe 8 Wochen lang
nicht aufbürden durfte, wollte ich nicht höchst gefährliche
Störungen im nervösen Gleichgewicht einiger Schülerinnen her-
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Erfahrungen im GymnasialunUrrkht für Mädchen.
221
vorrufen. Es kam und kommt noch immer alles darauf an —
den Mädchen die Schule zu einer Stätte ganz ruhigen und all-
mählichen Fortschreitens und ganz gleichmässig verteilter An-
strengung zu machen. Sowie durch ein zufälliges Zusammen-
treffen ein Tag etwas mehr als das gewöhnliche Mass an
Schularbeit forderte, war die geistige Frische einiger Mädchen
gestört, kurz es musste der ganze Schulgang stets gerade auf
die körperlichen Zustände der Mädchen Rücksicht nehmen.
Während man nach der allgemeinen Meinung der Schulmänner
durch kräftige Bewegung und starkes körperliches Ausarbeiten
den Knaben diese Entwickelungsjahre erleichtert, ist es die
Aufgabe der sorgfältigen Mädchenerziehung, ängstlich ein Zu-
viel an körperlicher Bewegung zu vermeiden, ohne doch
körperliche Schlaffheit und Trägheit zu befürworten. Das
Springen im Turnunterricht, starke Üebungen, welche die
Bauchmuskulatur anstrengen, mussten ausgesetzt werden, und
die Schulspaziergänge mussten so kurz, aber auch so häufig
stattfinden, dass kein Kind dadurch ernstlich gefährdet werden
konnte, und keine Mutter ihrem Liebling den grossen Schmerz
anzuthun brauchte, die Teilnahme aus gesundheitlichen Grün-
den zu versagen. Eins aber ist uns denn auch gelungen, keine
unserer kleinen Schaar ist uns untreu geworden, keine hat
ihre frischen Farben verloren, und keine, so glaube ich ohne
Selbsttäuschung sagen zu können, würde wünschen, noch im
Rahmen der Töchterschule zu stehen. Freilich ist der Weg
noch weit bis zum Ziel, noch beinahe 6 Jahre stehen uns
bevor. Aber wenn wir diese 6 Jahre wirklich dazu anwenden
könnten, eine speziell weibliche Methode des gymnasialen Unter-
richtes anzubahnen, so hätten wir, meine ich, ein redlich Teil
mitgearbeitet an einer der grössten Kulturaufgaben unserer
Zeit, und ich möchte auf ein Wort des Geheimrat Wätzold
zum Schluss hinweisen, dem ich mich vollständig anschliesse:
„Nicht Egalisierung, sondern Differenzierung ist das höhere
Prinzip in der Kultur. Mädchen sind aber keine Knaben, sie
lernen und verarbeiten ganz anders. Mögen sie dasselbe lernen,
aber falsch ist es auf jeden Fall, sie von vornherein dasselbe
in derselben Weise zu lehren. Der gemeinsame Unterricht
gleicht nicht die verschiedenartigen Methoden aus, sondern
die Erfahrung zeigt, dass die Mädchen immer der Knaben-
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222
Hildegard Wegsckeider-ZügUr.
schulmethode dabei unterworfen werden. Zudem sind denn
bloss Mädchenschulen reformbedürftig und nicht auch Knaben-
schulen? Soll deren Vielgestaltung auch künstlich auf die
Mädchenschulen übertragen werden? Der Knabe muss min-
destens das Einjährigenzeugnis erreichen, es ist also bei ihm
ein „Muss", das beim Mädchen im wesentlichen wegfällt."
Warum sollte die Erziehung der Mädchen sich die Vorzüge
dieser grösseren Freiheit ihrer gesellschaftlichen und sozialen
Stellung entgehen lassen?
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Einige Worte über die gemeinsame Erziehung
der beiden Geschlechter.
Von
Karl Löschhorn.
Als wackerer Vorkämpfer für die Sache der Koedukation
hat sich bereits mehrfach der Leiter der Hamburg-Hohenfelder
Einheitsschule Dr. L. Bornemann bewährt; er hat das schwie-
rige Thema auch vom pädagogischen Standpunkte aus in der
Hamburgischen Schulzeitung 189S. 6. Jahrg., Nr. 2 und 10
beleuchtet und namentlich zahlreiche ähnliche Stimmen, die
er zwecks Unterstützung seiner Bestrebungen gesammelt hat,
daselbst angeführt. Mit Riecht betrachtet er a. a. O. Nr. 2,
S. 10 auf Grund der praktischen Erfahrungen, die er in seiner
Schule mit der gemeinschaftlichen Erziehung beider Ge-
schlechter gemacht hat, die Einführung der Koedukation als
narurgemässe Folge der Hinaufschiebung des Lateinunterrichts
in die Oberklassen. Hierbei bezieht er sich zutreffend auf die
feststehende Thatsache, dass auf Empfehlung des Professors
der klassischen Philologie Gustavson schon im Jahre 1882 in
Helsingfors beschlossen wurde, den lateinischen Sprachunter-
richt erst auf den oberen Stufen des Nya svenska lärsverket
zu beginnen.
Im Jahre 1888/89 erschien zu Hamburg als Heft 45 der,
Deutschen Zeit- und Streitfragen das gediegene Schriftchen
von B. Brons, einem Emdener Kaufmann, ,, Gemeinsame Er-
ziehung beider Geschlechter an den höheren Schulen" ; das-
selbe handelt von den einschlägigen Verhältnissen in Skandi-
navien, Finland und den Vereinigten Staaten. Auf letztere
insbesondere bezieht sich Waetzoldts sehr beachtenswerter
Artikel „Koedukation" in der deutschen Zeitschrift für aus-
ländisches LTnterrichtswesen, Oktober 1895, S. 26 -36, aus
welchem erhellt, dass in den Vereinigten Staaten eine gemein-
224
Karl Löschhorn.
same Erziehung beider Geschlechter in allen Arten von
Schulen, d. h. von der Elementarschule bis zur Universität
hinauf vorherrscht; er meint jedoch, dass sich auch dort,
wenigstens allmählich, infolge des Rückganges der Zuwande-
rung und des Wettbewerbs der Frauen im Erwerbsleben eine
Rückwirkung einstellen . werde.
Billigung verdienen entschieden auch die von Bornemann
zitierten Aeusserungen von Dr. Max Brahn in der Zeitschrift
für Schulgesundheitspflege 1897, S. 397: „Die Teilung nach
Geschlechtern findet heute kaum mehr Verteidiger, weder
auf pädagogischer noch auf medizinischer oder physiologischer
Seite" und vom Redakteur der Review of Reviews W. T. Stead
vom 15. Januar 1898: The conventional antipathy which exists
in many quarters against educating boys and girls in one
school is the great barrier to securing the best education
either for boys or for girls; und The are „games" evenings,
varying from serious chess to merry blind man's buff ; magic-
lantern, lectures are given by the staff and friends, or occasio-
nally the seniors will present one of Shakespeare's plays,
reading the parts, but still showing sufficient knowledge to
interest the onlookers.
Bekannt ist. dass in Stockholm die Samskola des Rektors
Palmgren schon lange besteht und sehr Tüchtiges leistet,
ebenso die sehr stark und zwar fast nur von Kindern der
besten Stände besuchte Schule der Frau Ragna Nielsen in
Christiania, wie Bornemann a. a. O. 2, S. 10 ebenfalls hervor-
hebt. Auch in Dänemark findet sich bereits das Prinzip der
Koedukation, nämlich an einer öffentlichen Schule, der Stadt-
schule zu Kolding, und einer Privatanstalt, der des Fräulein
Adler in Kopenhagen, die Bornemann nennt. Am allerwich-
tigsten für die Beurteilung der Streitfrage dürfte aber die That-
sache sein, dass die öffentliche Schule in Norwegen schon
seit 1897 den Grundsatz der samskole oder foelleskole an-
genommen und praktisch durchgeführt hat. Schliesslich wollen
wir noch nach Bjornemanns Angabe das ihm kurz vor der Ver-
öffentlichung seines ersten Artikels zugegangene Gutachten des
Professors der Philologie an der Universität Kopenhagen
Dr. A. B. Drachmann wiedergeben. Es lautet : Ich unterrichte
selbst seit Jahren junge Mädchen nach dem Schulplan, der
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Einige Worte über d. gemeinsame Ermehung d. beiden Geschlechter. 225
für Knaben gemacht ist, und habe gefunden, dass die Mädchen
den Unterrichtsstoff etwas leichter bewältigen als die Knaben;
doch mag das daran liegen, dass sie durchgängig etwas älter
sind und fleissiger arbeiten. Jedenfalls bin ich gewiss, dass
der Unterricht leichter von statten geht. Von besonderer Be-
fähigung für die eine oder die andere Seite des Stoffes habe
ich nichts verspürt. Natürlich sind einige Mädchen mehr für
die sprachlichen, andere mehr für die mathematischen Fächer
veranlagt, ganz wie es bei den Knaben der Fall ist: aber in
dem numerischen Verhältnis dieser beiden Gruppen habe ich
keinen Unterschied von den Knaben bemerkt. Dass wir in
der Schule, wo ich thätig bin, nicht ganz wenige für Mathe-
matik besonders begabte Schülerinnen gehabt haben, möchte
ich für einen Zufall halten. Wenn ich einen Unterschied kon-
statieren sollte, so würde ich ihn etwa so formulieren: die
Mädchen lernen am ehesten leichter; sie sind stetiger bei der
Arbeit; ihre Auffassung ist lebhafter, sie empfinden stärker
oder äussern ihre Empfindung stärker bei dem, was ihnen ge-
boten wird ; sie sind überhaupt weicheres und leichteres Material
für die Bearbeitung der Schule. Aluf der anderen Seite sind
sie weniger kritisch und weniger selbständig in der Auffassung ;
der Unterricht macht auf sie keinen so tiefen Eindruck wie
auf die Knaben, und es fällt ihnen selten ein, die gewonnenen
Kenntnisse oder Anregungen für selbständige Weiterbildung
zu verwerten. Dies ist auch insofern richtig, als gerade
Knaben gern irgend ein Problem aus dem Wissensgebiet,
für das sie vorwiegend Interesse haben, immer wiederholt zu
lösen versuchen, Mädchen dagegen fast nie.
Wo der junge Mann von dem Unterricht eines bestimmten
Lehrers eine Epoche in seinem Leben datiert, da bleibt dem
jungen Mädchen meist nur eine angenehme Erinnerung.
Es dürfte zunächst keinem Zweifel unterliegen, dass Mäd-
chen ausser für alte Sprache und die abstrakteren Gebiete der
Mathematik dieselben Fähigkeiten haben wie Knaben ; auch
ist dies von den hervorragendsten Kennern, wie Waetzoldt u. a.
niemals bestritten worden. Ferner steht fest, dass Mädchen
im allgemeinen fleissiger und ernster beim Unterricht sind als
Knaben, letztere aber das einmal geistig Erarbeitete und Ge-
lernte nicht so schnell wieder vergessen als erstere. Das
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226
hauptsächlichste Bedenken, das immer und immer wieder
gegen die Einführung der Koedukation vorgebracht wird, ist,
dass die Sittlichkeit beider Geschlechter dadurch gefährdet
werde; gesagt wird dies unaufhörlich, zu beweisen ist es nie.
Es ist vielmehr allgemein bekannt, dass z. B. an den Uni-
versitäten Berlin und Breslau, also an den grössten Preussens,
gerade durch das Zusammenstudieren der beiden Geschlechter
ein ausserordentlich reger Wetteifer erweckt und die feine
Sitte unter den Studierenden nur gefördert ist. Zu Flirt und
Tändeleien treffen sich die beiden Geschlechter auf der Uni-
versität nicht, wie |man, namentlich in Berlin, im Gebäude selbst
täglich beobachten kann. Die Studentin versäumt fast nie ein
Kolleg, ausser wenn sie ernstlich krank ist, und denkt über-
haupt nur an die Arbeit, die ihrem künftigen Berufe dient;
auch der Student geht nicht auf intime Annäherung an seine
Kollegin oder Kommilitonin, wie er sie zu nennen pflegt, aus.
Dieselben guten Erfahrungen hat man überall gemacht, wo
die Koedukation bereits besteht; Takt, Anstand, Feinheit hat
bei den gemeinschaftlich mit Mädchen unterrichteten Knaben,
selbst wenn sie in den sogenannten Flegeljahren standen, nur
gewonnen, wobei allerdings nicht zu vergessen ist, dass sich
die Koedukation in den romanischen Ländern wegen des
früheren Eintritts der Reife und der dort herrschenden
grösseren Sinnlichkeit der Mädchen weniger empfehlen möchte.
Doch käme es in dieser Beziehung einmal auf einige ernsten
Versuche an ; allzu pessimistisch braucht man entschieden auch
hier nicht die Sache anzusehen.
Man sollte doch stets bedenken, dass die Familie, in der
sich Eltern und Geschwister täglich und fast stündlich be-
rühren, die ursprünglichste gottgewollte Gemeinschaft ist, und
wer sollte Gott widerstreben wollen? Dazu kommt, dass auch
alle staatlichen Grundlagen zunächst auf ihr beruhen und die
Schule fast in allen Kulturstaaten eine Einrichtung des Staates
und nicht mehr, wie im Mittelalter, der Kirche ist. Werden
nicht die Arsten erziehlichen Eindrücke von den Kindern in
der Familie gewonnen und weckt der Umstand, dass zahlreiche
Kinder, die keine Geschwister anderen Geschlechts haben, in
ihnen nicht vielfach ganz verkehrte Vorstellungen vom wirk-
lichen Leben, namentlich dem Leben im grossen staatlichen
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Einigt Worte über d. gemeinsame Erziehung d. beiden Geschlechter. 227
Ganzen ? Werden nicht auch in deutschen und gerade besonders
in preussischen Landschulen, die nur einen Lehrer haben,
nicht selten gleichaltrige Knaben und Mädchen auch jetzt
noch gemeinschaftlich oder wenigstens räumlich vereinigt unter-
richtet, ohne dass man jemals Klagen über gröbere sittliche
Ausschreitungen derselben gehört hat, mit denen Eltern, welche
den sogenannten besseren Familien angehören, ohne irgend
welche richtige Sachkenntnis sofort bei der Hand sind, wenn
man dies Thema nur irgendwie anschneidet ? Nun ist es sehr
interessant, dass gerade bei unseren Urahnen, den alten Deut-
schen, wo jede Familie gewissermassen einen Staat für sich
bildete, die Frauen hochangesehen waren, während den hoch-
gebildeten Hellenen die Frau, die sich in die yvraixcorlTig
zurückziehen musste, als Sklavin galt. So herrschte denn auch
die grösste Sittenreinheit bei den Deutschen, die grösstc Sitten-
losigkeit bei dem Hauptkulturvolk des Altertums, den Griechen.
Aehnlich steht es mit den Ländern, wo die gemeinschaftliche
Erziehung beider Geschlechter schon in grösserem Umfange
durchgeführt ist ; gerade sie zeichnen sich durch verhältnis-
mässig grosse Sittlichkeit aus. Die saneta hilaritas der Vor-
läufer der Reformation und besonders Luthers, des Volks-
mannes, der eine musterhafte Ehe führte und alle Tage mit
seinem Sohn Hans und seiner Tochter Magdalene den Ka-
techismus behandelte, also auf heutige Lebensverhältnisse über-
tragen, die Jugendfröhlichkeit, welche auf dem angenehmen
Gefühl beruht, seine Pflicht gethan zu haben und sittlich rein
dazustehen, wird gerade durch die Koedukation erworben.
Man sage auch nicht, dass die Mädchen nicht folgerichtig
denken können, während doch keine, auch nicht die geringste
geistige Entwickelung ohne Verstandesthätigkeit denkbar ist,
jede Verstandesthätigkeit aber auf einfachen logischen Gesetzen
beruht. Ja sie würden gerade zur exakten Denkfähigkeit schon
sehr früh mittels der Koedukation erzogen werden, auch könnte
man die Frauenfrage, die schon dreissig Jahre lang unendlich
viel Staub aufgewirbelt hat, mit einem Schlage lösen, wenn
man viele Koedukationsanstalten errichtete, und die erziehe-
rischen Resultate derselben einige Zeit hindurch aufmerksam
verfolgte. Man würde bald finden, dass beide Geschlechter
im allgemeinen dasselbe zu leisten vermögen, zumal wenn man
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228
Karl Löschhorn.
nicht einseitig nur Herbartsche Erziehungsmaximen zu Grunde
legte, sondern das Kraft- und Leistungsgefühl der Lernenden
auch durch Kants kategorischen Imperativ zu stärken suchte.
Ein fröhliches Kraftgefühl zu erwecken sei jedes Pädagogen
ernstes Bestreben ; die Schüler gewinnen es sensim sine sensu,
wenn der Lehrer stets sich in edler, reiner Kindlichkeit, wie
einst Christus zu den Kindern, in frischem, unbefangenen Ver-
kehr zu ihnen herablässt. und selbst noch einmal „klug wie
ein Kind" wird.
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Der Einfluss des grossstädtischen Lebens und
des Verkehrs auf das Nervensystem.
Von
Albert Moll.
(Fortsetzung und Sehldes.)
Betrachten wir nächst dem Beruf und der Beschäftigung den
Familienstand in der Grossstadt im Vergleich zum Lande.
Es dürfte bekannt sein, dass man die Ehe mitunter als ein Mittel
gegen hysterische und andere Krankheitserscheinungen, besonders
beim weiblichen Geschlecht, empfiehlt. Häufig wird allerdings, wie
ich bei dieser Gelegenheit einschalte, dieser Rat leichtfertig ohne
Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse und der seelischen
Individualität gegeben, und so ist es zu erklären, dass, wie mir von
einer Reihe Fällen bekannt ist, das schwerste Unheil, nicht nur
baldige Ehescheidung, sondern auch Selbstmord die Folge solcher
unüberlegten schablonenmässigen Ratschläge geworden ist. An-
dererseits aber wird vielfach bekundet, dass Neurasthenie häufiger
bei Ehelosen sei, was man auf deren unregelmässige Lebensweise
zurückführt. Ich halte aber diese Behauptung an sich für zweifel-
haft. Hingegen wollen wir festhalten, dass der Prozentsatz der
Geisteskranken unter den Unverheirateten grösser ist als unter
Verheirateten, und zwar auch dann, wenn wir Kinder unter 15 Jahren
ohne weiteres von der Statistik ausschliessen. Nach einer vor
längerer Zeit von Marce erschienenen Statistik *), die den Zeitraum
von zehn Jahren berechnete, ergab sich, dass unter den Geistes-
kranken Frankreichs 61,80 Prozent unverheiratet waren, während
unter der gesunden Bevölkerung die Unverheirateten nur 36,74
Prozent bildeten. Es ist hier allerdings noch ein Unterschied
zwischen dem weiblichen und männlichen Geschlecht zu machen,
indem das männliche ungünstiger dasteht, was den Einfluss der
') Toulouse, Les Causes de la folie, Paris 1896, S. 83.
Zeitschrift für pädagogisch« Psychologie, Pathologie und Hygiene. 3
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230 ***** Moü.
Ehelosigkeit betrifft. Mehrere Umstände spielen hierbei eine Rolle,
besonders der, dass der Mann durchschnittlich später heiratet als
das Weib, das heisst es wird beim Manne mitunter die Geistes-
krankheit schon zum Ausbruch kommen, ehe er das Heiratsalter
erreicht hat, und es wird ihm dadurch die Ehe abgeschnitten,
während sich beim weiblichen Geschlecht beispielsweise zahlreiche
Geisteskrankheiten auch in dem Alter zwischen zwanzig und dreissig
Jahren, d. h. nach der Verheiratung, entwickeln, so dass die be-
treffende Frau in der Statistik als eine Verheiratete gezählt wird.
Wenn wir aber den Unterschied zwischen beiden Geschlechtern
ausser Betracht lassen und die gesamte Bevölkerung betrachten,
so ergiebt sich ein prozentuales Ueberwiegen der Unverheirateten.
Selbstverständlich darf man aus diesen Zahlen keine falschen
Schlüsse ziehen, weil ja viele Leute durch die Geisteskrankheit an
der Heirat verhindert werden, mithin die Ehelosigkeit nicht die
Ursache, sondern die Folge der Geisteskrankheit ist. Wenn wir
aber trotzdem in der Ehelosigkeit etwas finden, was zur Geistes-
krankheit disponiert, so liegt hierin eine Belastung zu Ungunsten
der Grossstadt, da in ihr verhältnismässig mehr Ehelose leben, als
in der Kleinstadt und auf dem Land. Lassen wir alle Personen, die
unter sechzehn Jahre alt sind, ausser Betracht und legen wir für das
Deutsche Reich die Berufszählung vom 14. Juni 1895 zu Grunde,
so ergiebt sich, dass damals von den über 15 Jahre alten Personen
im ganzen Reich 53,76 Prozent, in den Grossstädten aber nur
49,96 Prozent verheiratet waren.1) Offenbar ist dieser Unterschied
zwischen der Grossstadt und dem Land grossenteils dadurch be-
dingt, dass der Grossstädter zu seinen sozialen Beziehungen die
Ehe nicht so notwendig braucht, wie der Kleinstädter und Land-
bewohner, dass er durch die vielen geistigen Anregungen, die ihm
ausserhalb des Hauses geboten werden, mehr als der Kleinstädter
auf das Eheleben verzichten kann. Die Unterschiede zwischen
49,96 und 53,76 Prozent mögen klein erscheinen. Die Statistik
rechnet aber mit grossen Zahlen, und wenn man die genannten
richtig verwertet, so ergiebt sich eine sehr bedeutende Belastung
zu Ungunsten der Grossstadt. Wenn in den Grossstädten nur
49,96 Prozent Verheiratete statt 53,76 Prozent Verheiratete leben,
») Ranchberg, Die Berufs- und Gewerbezählung im deutschen Reich,
vom 14. Jnni 1895. Berlin 1901, S. 37.
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Der Einfluu d. grossstddt. Lebens u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 231
so ergiebt sich für die Grossstadt mit einer Million Einwohner
bereits ein den Durchschnitt übersteigender Ueberschuss der Un-
verheirateten um 40000, das heisst eine Zahl, wie sie zur Be-
völkerung einer Mittelstadt genügt. Und wenn wir dann auf diese
40000 die darauf entfallende Zahl von Geisteskranken berechnen,
so muss eine Verschiebung zu Ungunsten der Grossstadt eintreten.
Auch die Erziehung und besonders das Schulwesen der
Grossstadt ist als Ursache für die häufigeren Nervenkrankheiten
in ihr angesehen worden. Es wird sehr häufig von einer Schüler-
nervosität gesprochen, ja man hat bereits eine Ueberbürdungs-
psychose, das heisst eine Geisteskrankheit, die durch Schulüber-
bürdung entstehe, konstruiert. Die Schulüberbürdungsfrage ist ja
seit einigen Jahren sehr populär. Es ist bequem und
erfordert auch im grossen und ganzen weniger
Mut, die Schule und die Lehrer anzugreifen,
als den Eltern die Wahrheit zu sagen, welch' letzteren
es schmeichelt, wenn man für ihre Lieblinge so sehr eintritt, wenn
man die gute Entwickelung dem Einfluss der Eltern, alle Fehler
aber der Schule zuschiebt. Es kann unter diesen Umständen nicht
verwundern, dass, abgesehen von den zahlreichen ernsten For-
schern — ich brauche nur Kemsies in Berlin, Kraepelin in Heidel-
berg zu erwähnen — die Schulüberbürdung ein beliebtes Tummel-
feld zahlreicher Phrasenhelden wurde. Wenn ich nun auch
deren Uebertreibungen, durch die die Kinder in bedenklichster
Weise gegen Lehrer und Schule aufgestachelt werden, für sehr
beklagenswert halte, zumal da hierbei eine Verweichlichung der
Kinder eintreten muss, so soll damit nicht behauptet werden, dass
in der Schule alles ideal ist. Besonders wird man zugeben müssen,
dass der Hygiene in der Schule der Grossstadt einige spezielle
Schwierigkeiten erwachsen. Die grossen Entfernungen zwischen
Haus und Schule, die besonders für die Schüler höherer Schulen
bestehen, machen die Aufstellung des Stundenplanes schwieriger
und lassen die Stunden nicht immer in der Weise einteilen, wie es
in der kleinen Stadt möglich ist. Freie Stunden zwischen den Schul-
stunden lassen sich nicht mit der Leichtigkeit immer so ausnützen,
wie es wünschenswert ist, weil sie durch den weiten Weg von der
Schule nach dem Elternhaus und umgekehrt ausgefüllt werden.
Daher kommt es, dass die Schüler oft abgehetzt und in grösster
Eile die Mahlzeiten einnehmen, abgesehen davon, dass durch
3*
232
Albert Moll.
früheres Aufstehen ein Teil des Schlafes fortfällt. Es kommt hin-
zu, dass in der Grossstadt die Beziehungen zwischen Elternhaus
und Schule durch die sozialen Verhältnisse schwieriger sind,
während in der kleinen Stadt eine gelegentliche Aussprache zwischen
Eltern und Lehrern leichter ist. Die Erregung und Furcht vor
der Versetzungszeit ist daher oft grösser, während in der Klein-
stadt der Betreffende durch die nähere Berührung von Schule und
Haus vorher vorbereitet wird.
Dürfen also auf der einen Seite die Nachteile der Grossstadt-
schule nicht verschwiegen werden, so muss doch andererseits betont
werden, dass vielleicht die Schule an der Nervosität der Kinder
einen weit geringeren Anteil hat, als andere Verhältnisse.
Wir wissen, dass Kinder nervenkranker oder geisteskranker
Ekern besonders zu Nerven- und Geisteskrankheiten geneigt sind.
Und da Eltern mit solchen belastenden Krankheiten in der Gross-
stadt verhältnismässig häufiger sind, als in der kleinen Stadt und
auf dem Lande, wird man begreifen, dass in jener, zumal in den
höheren Schulen, auch mehr belastete Kinder vorkommen müssen.
Und was den Einfluss nervöser Eltern betrifft, so spielt nicht nur
die Belastung eine Rolle, sondern auch die psychische Infektion.
Kinder, die fortwährend ihre Mutter über Kopfschmerzen und
schwache Nerven klagen hören, denen andauernd die von Zwangs-
vorstellungen geplagte Mutter deren Inhalt vorerzählt, indem sie
z. B. klagt, sie werde in kurzem geisteskrank, sie könne nicht mehr
lange leben, sie könne nicht mehr gesund werden, sie könne diesen
oder jenen Weg nicht mehr allein gehen, müssen naturgemäss in
derselben Weise infiziert werden, wie man dies bei anderen
psychischen Erscheinungen sieht. So lange Kinder abends Restau-
rants besuchen dürfen, wo sie Stunden der Nacht durchwachen, so
lange man Kinder in alle möglichen Vergnügungslokale mit ihren
Eltern ziehen und dort eine künstliche Frühreife heranzüchten sieht,
so lange man für Kinder Bälle veranstaltet, so lange unmusikalische
Kinder zu Hause stundenlang mit Klavierspielen und ähnlichen
nerventötenden Dingen geplagt werden, so lange wird man recht
vorsichtig sein müssen mit den Anschuldigungen gegen die Schule.
Man hat, um die grössere Nervosität der Kinder der Grossstadt
zu beweisen, auch auf die Kinderselbstmorde hingewiesen, die sehr
oft der Ausfluss einer Geisteskrankheit oder doch überreizter
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Der Einfluss d. grossstädt. Lebens u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 233
Nerven sind. Siegert1) versuchte zu beweisen, dass in industrie-
reichen Gegenden und in Grossstädten verhältnismässig die meisten
Kinderselbstmorde gefunden würden. Die hierfür vorhandenen
Zahlen sind aber viel zu gering, um mit Sicherheit ein Urteil fällen
zu lassen. Und es hat ein anderer Autor, Bär2) in Berlin, mit
grösserer Kritik als andere die betreffenden Zahlen geprüft. Mit
Recht erklärt er, es fehlten ausreichende Beweise dafür, dass in
Gegenden mit ausgedehnter Industrie und in den Städten Kinder-
selbstm.»rde häufiger vorkommen und mehr zunehmen als in land-
wirtschaftlichen Bezirken und auf dem Lande. Freilich ist die
Zahl der Kinderselbstmorde in Berlin — um diese Stadt als Bei-
spiel zu wählen — verhältnismässig grösser, als in vielen anderen
Gegenden Preussens, wo sie besonders in den Provinzen Posen,
Westfalen und Rheinland sehr klein ist. Aber grösser als in Berlin,
wo auf 440 350 Einwohner ein Kinderselbstmord kommt, ist der
Prozentsatz in der Provinz Schlesien, in der Provinz Brandenburg
und besonders in der Provinz Sachsen, wo die Zahl die höchste in
ganz Preussen ist und bereits auf 224879 Einwohner ein Kinder-
sclbstmord fällt. Der Versuch, die Kinderselbstmorde zum Beweis
dafür heranzuziehen, dass die Grossstadt das Nervensystem be-
sonders gefährdet, muss als missglückt angesehen werden.
Vorbedingung für ein gesundes Nervensystem ist eine gesunde
Beschaffenheit der anderen Organe. Es ist daher für ein gesundes
Nervensystem eine gute Pflege des Körpers notwendig, wozu be-
sonders die Ernährung, die Wohnung, Gelegenheit frische Luft zu
schöpfen, Bäder, Bewegung gehören, und was dies betrifft, so liegen
die hygienischen Verhältnisse in der Grossstadt nicht immer so
ungünstig, wie man so oft annimmt.
Von Hygienikern wird mitunter geklagt, die Ernährung der
Städter werde dadurch mangelhaft, dass die Nahrungsmittel erst
durch viele Zwischenhändler gingen und dadurch Verfälschungen
erleichtert würden, während dem Landbewohner die Nahrung
in dem ursprünglichen Zustande zugänglich sei. Hiergegen
ist erstens einzuwenden, dass die Nahrungsmittel in der ursprüng-
lichen Form durchaus nicht immer die gesünderen sind. Zweitens
haben sich mit der Zunahme des Handels die Unterschiede zwischen
*) Siegert, Dss Problem der Kinderselbstmorde. Leipzig 1893, S. 64.
*) Bär, Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Leipzig 1901, 8. 40.
234
Albert Moll.
Stadt und Land erheblich verringert. In der Schweiz wird gegen-
wärtig viel weniger Milch am Orte der Produktion genossen als
früher, da sie in die grossen Molkereien gebracht und dort für die
Herstellung von allerlei anderen Nahrungsmitteln (Käse, Butter)
verwertet wird1), so dass der Landbewohner oft ebenso auf den
Kauf der bereits verarbeiteten Nahrungsmittel angewiesen ist, wie
der Städter. Jedenfalls hat der Verkehr es bewirkt, dass die not-
wendigen Nahrungsmittel dem Grossstädter schneller und in
besserem Zustande zugeführt werden als früher.
Zur Pflege des Körpers gehört auch eine gute Wohnung, und
es bietet in dieser Beziehung das Land gegenüber der Stadt, und
besonders der Grossstadt, anscheinend manche Vorteile. Die
Mietskasernen der Grossstadt, wo zahlreiche Personen zusammen-
gepfercht sind, wo dasselbe Zimmer gleichzeitig als Wohn-, Speise-
und Schlafzimmer für eine ganze Familie dient, sind Beispiele hier-
für. Aber man überschätze in dieser Beziehung nicht die Ver-
hältnisse auf dem Lande, wo oft genug ebenfalls zahlreiche Menschen
in engen Räumen zusammen wohnen. Und wenn auch der Land-
bewohner mehr Gelegenheit hat, frische Luft zu erhalten als der
Städter, besonders der Grossstädter, so ist doch vielleicht nirgends
das Vorurteil gegen frische Luft grösser als auf dem Lande. Nicht
nur im Winter sind in den Bauernstuben die Fenster eng ge-
schlossen, sondern auch im Sommer vermeiden viele Landbewohner
eine Durchlüftung ihrer Wohnungen anscheinend aus Grundsatz.
Daher ist es nicht zu verwundern, dass Krankheiten, die man neben
schlechten Ernährungsverhältnissen den engen ungünstigen Wohn-
räumen zuschreibt, z. B. die englische Krankheit, auf dem Lande
keineswegs seltener beobachtet wird, als in den Grossstädten.
Es kommt ferner hinzu, dass gerade in neuerer Zeit die hygie-
nischen Anforderungen an die grösseren Häuser in den Gross-
städten strenger geworden sind. In dieser Beziehung ist es be-
merkenswert, dass dieselbe Stadt, wo zuerst die modernen Riesen-
häuser gebaut wurden, Chicago, mit seinen fast dreissigstöckigen
Häusern, zuerst eine Reaktion dagegen wieder eintreten Hess, und
dass nicht nur wegen der Feuersgefahr, sondern ganz besonders aus
hygienischen Gründen wesentliche Beschränkungen eingeführt sind,
>) Grotjahn, Der Alkoholismus. Leipzig 1898, S. 282.
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Der Einßuss d. grossstädt. Lebens u. <L Verkehrs auf d. Nervensystem. 235
wenn auch die gegenwärtig dort noch zugelassene Höhe von zehn
Stockwerken bei Neubauten das Ideal nicht darstellen dürfte.
Allerdings hat es der Landbewohner beim Verlassen seiner
Wohnung leichter, frische Luft zu atmen, als der Grossstädter, dem
oft auch auf der Strasse eine mit Kohlenstaub, Russ und sonst ver-
unreinigte Luft entgegenweht. Sieht man doch schon in der Ferne,
wenn man sich einer Grossstadt nähert, gewöhnlich einen Dunst-
kreis um diese herum gelagert, und sollen doch die Nebel, wie die
Statistik behauptet, in den Grosssädten viel häufiger sein als auf
dem Lande, während hier die durchschnittliche Zahl der Stunden,
wo die Sonne scheint, vorwiege. Andererseits darf nicht vergessen
werden, dass man gerade in Grossstädten in neuerer Zeit mehr und
mehr die hygienischen Anforderungen schätzen lernt. Die Nach-
teile, die die Grossstadt herbeiführt, zwingen die Einwohner zu
einer mehr sozialen Fürsorge. Die Rücksicht auf das Allgemeine
wird durch Zwangsmassregeln, denen sich der Einzelne unterwerfen
muss, gefördert, und so werden doch zahlreiche Nachteile ausge-
glichen. Eis wird z. 6. in Städten heute mehr auf Anlage freier Plätze
und auf hinreichende Breite der Strassen gesehen, um dem Licht
und der Luft den Zutritt zu gestatten, während in Städten früherer
Jahrhunderte bei der Enge der Strassen kaum ein Sonnenstrahl
oder frischer Luftzug die Einwohner erquickte. Es kommt hinzu,
dass die Kanalisation, wie sie in den meisten Grossstädten gegen-
wärtig durchgeführt wird, nicht nur den Infektionskrankheiten
wehrt, sondern auch sonst für die Verbesserung der Luft sorgt,
während uns auf dem Lande mitunter Düfte entgegenwehen, die
schwerlich von Rosen und Jasmin herrühren.
Auch die Reinigung des Körpers ist in den Städten durch-
schnittlich besser als auf dem Lande. Selbst Hugo1), ein Autor, der
schwere Angriffe gegen die Verwaltung der Grossstädte richtet,
erkennt an, dass in diesen eine Besserung eingetreten sei, aller-
dings nicht durch die Städteverwaltungen, sondern zum grossen
Teil durch die Agitation der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder.
Während der Oberbürgermeister von Göttingen, Merkel, noch im
Jahre 1886 behaupten konnte, dass an den bei weitem grössten
Teil der Berliner Jugend, namentlich den weiblichen Teil, abge-
sehen von Gesicht und Händen während ihrer Schulzeit kein Tropfen
i) C. Hugo, Die deutsche Städteverwaltung, Stuttgart 1901, 3. 220.
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236
Albert Moll.
Wasser käme, ist, wie Hugo zugiebt, in Berlin und den anderen
Grossstädten eine langsame Besserung zu beobachten. Anderer-
seits mussten sich im Deutschen Reiche noch im Jahre 1900
721 Orte mit 3000 bis 50000 Einwohnern und einer gesamten Be-
völkerung von über 4 Millionen ohne Warmbadeanstalten behelfen.
Hugo fügt hinzu, dass man sich danach ein Bild machen könnte,
welche Zustände auf dem Lande herrschen mögen, wo erst in
neuester Zeit einzelne Molkereigenossenschaften für Badegelegen-
heiten zu sorgen beginnen.
Sehen wir also, dass einerseits in den grossen Städten für die
Pflege des Körpers nicht immer so schlecht gesorgt ist, wie man
annimmt, und dass in mancher Hinsicht das Land trotz einiger
Vorzüge nicht besser dasteht, so geht dasselbe auch aus anderen
Umständen hervor, die einen gewissen Massstab für die körperliche
Konstitution abgeben, ich meine die Sterblichkeit im allge-
meinen und die Resultate der Rekrutenaushebung. Was
die Sterblichkeit im allgemeinen betrifft, so zeigt zwar die Stati-
stik, dass in vielen Städten die Sterblichkeit verhältnismässig gross
ist. Dass man aber mit Anschuldigungen gegen die Grossstadt vor-
sichtig sein muss, ergiebt sich u. a. daraus, dasss die Sterblichkeit
in Berlin seit 10 Jahren geringer ist, als dem Gesamtdurchschnitt
aller über 15,000 Einwohner zählenden Städte Deutschlands ent-
spricht. Was den zweiten Punkt, die Rekrutenaushebung betrifft,
so ist es immerhin bemerkenswert, dass z. B. in Paris verhältniss-
mässig mehr Rekruten als diensttauglich befunden werden, als in
dem Departement Seine inferieure1). Offenbar beeinflusst die
Grossstadt viel weniger die körperliche Beschaffenheit als ein an-
derer Faktor, der oft irrigerweise mit der Grossstadt verwechselt
wird, nämlich die Industriearbeit, die in der That oft eine hohe Ge-
fahr darstellt.
Damit will ich etwa nicht sagen, dass die Verhältnisse in allen
Grossstädten ideal liegen. Im Gegenteil. Ich erinnere nur an die
so geringe Zahl der Spielplätze, die beispielsweise in Berlin der
Jugend zur Verfügung stehen. Während in London und in nächster
Nähe der Stadt zahllose Platze vorhanden sind, die Gelegenheit zu
freier Bewegung geben, fehlt es hier in Berlin daran noch sehr.
>) Harald Westergaard, Die Lehre von der Mortalität und Morbilitat.
2. Auflage. Jena 1901, S. 459.
Der Einfiuss d. grossstädt. Lebern u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 237
Wenn hier ein Platz frei wird, so wird zunächst ein schönes Projekt
ausgearbeitet für gärtnerische Anlagen, anstatt dass man sich ein-
mal die Frage vorlegt, ob nicht einfache Rasenplätze vorteilhafter
wären, wo man natürlich, wie in London, der Jugend die Erlaubnis
giebt, den Rasen zu betreten und sich frei auf ihm zu tummeln. Die
mit schönen Anlagen versehenen Plätze ähneln zum Teil den
Stühlen, bei denen man es als Hauptzweck betrachtet, nicht eine
bequeme Sitzgelegenheit zu schaffen, sondern ein Schaustück.
An dieser Stelle muss ich auch des Alkohols gedenken, der
nicht selten Ursache mancher Nerven- und Geisteskrankheiten, z. B.
der Nervenschwäche, der Nervenentzündung, des Schwachsinns,
Walinsinns und speziell des Delirium tremens. Nach Annahme
Einzelner wird der Alkohol in Grossstädten in grösseren Mengen
und häufiger genossen, als auf dem Lande. Um das Ueberwiegen
der schädlichen Folgen des Alkoholgenusses in der Grossstadt zu
beweisen, hat man die Statistik zu Hilfe genommen. Man hat bei-
spielsweise bei den Sektionen die Fälle gezählt, wo Herzaffektionen
als Todesursache anzusehen waren ; man hat dann festgestellt, dass
die tötlichen Herzaffektionen in einzelnen Städten grösser waren als
in anderen, und hat, da Herzaffektionen öfters durch Alkoholmiss-
brauch bewirkt werden, hieraus auf die Beteiligung am Alkoholis«
mus geschlossen, wobei man gerade einzelne Grossstädte besonders
belastet fand. Mit solchen Statistiken kann man freilich alles be-
weisen.
Der Industriearbeiter, so sagte man weiter, neigt mehr dazu,
Alkohol während der Arbeit und in den Arbeitspausen zu geniessen,
al$ der landwirtschaftliche, und da auf dem Lande mehr diese, in
den Sädten mehr die Industriearbeit überwiegt, so hat man auch
hieraus auf eine grössere Belastung der Städte beim Alkoholismus
geschlossen. Hierbei muss aber der Irrtum ausgeschaltet werden,
*ls ob dadurch die Grossstädte besonders betroffen würden, wie
man mitunter annimmt, da gerade die Industriearbeiter beispiels-
weise in Mittelstädten und in Kleinstädten einen grösseren Prozent-
satz der Einwohner ausmachten, als in den Grossstadten. Es ist
mitunter in sehr entwickelten Grossstädten die Industrie prozen-
tualiter erheblich weniger vertreten, als in anderen Bezirken. Wäh-
rend bei der Berufszählung von 1895 in Berlin beispielsweise von
!°oo Einwohnern 4354 in der Industrie beschäftigt waren, steigt
die Zahl im Rheinland auf 514,7, in Westfalen auf 533,6, im König-
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238
Albert Moll.
reich Sachsen auf 580,4, in Reuss jüngere Linie auf 590,7 und in
Reuss ältere Linie sogar auf 677.*)
Die Verwechselung von Grossstädten und Industriestädten be-
ruht zum grossen Teil darauf, dass durch die Entwickelung der
Industrie im letzten Jahrzehnte eine ganze Reihe Städte aus Mittel-
städten Grossstädte geworden sind, das heisst im Sinne der Sta-
tistik, wo man als Grossstädte diejenigen Städte bezeichnet, die
mehr als 100000 Einwohner haben. Solche Städte werden aber
durch Zuzug der Industriearbeiter nicht zu wahren Grossstädten, da,
wie wir gesehen haben, das Wesentliche der Grossstadt das Be-
stehen von geistigen und kulturellen Centren ist.
Immerhin wird man in der Grossstadt bestimmte Gründe für
den grossen Alkoholgenuss bei den Arbeitern mitunter finden, wo-
bei aber wesentlich der Alkoholgenuss ausserhalb der Arbeitszeit
in Betracht kommt. Schlechte Wohnungsverhältnisse lassen mit-
unter dem grossstädtischen Arbeiter das Wirtshaus als willkom-
menen Aufenthaltsort erscheinen. Die weiten Wege, die dem Gross-
städter, wenn er die Arbeit vollendet hat, den Genuss der Natur
versagen, begünstigen gleichfalls das Wirtshausleben. Hinzu
kommt, dass auch die lebhaftere Beteiligung der grossstädtischen
Bevölkerung an politischen und sozialen Bewegungen zum Alkohol-
genuss führt, weil leider fast alle derartigen Zusammenkünfte im
Wirtshaus stattfinden.
Ob aber nicht andere Umstände den Alkoholgenuss auf dem
Lande soweit begünstigen, dass dadurch jene grossstädtischen Miss-
stände ausgeglichen werden, scheint mir noch fraglich. So z. B.
ist wohl nirgends der Alkoholgenuss grösser, als da, wo Bauern
selbst Hausbrennerei betreiben.2) weil sich von diesen zahlreichen
Centren aus der Alkohol gewöhnlich rapide fortpflanzt. Und dass
bei den Sonntagsvergnügungen auf dem Lande weniger Alkohol
verbraucht wird, als in der Stadt, kann kaum behauptet werden.
Es muss auch festgehalten werden, dass beispielsweise in Ober-
schlesien, Posen, Ostpreussen, wo doch das Städteleben und sicher-
lich die Grossstadt ganz zurücktritt, eine ganz enorme Verelen-
dung durch den Alkohol herbeigeführt worden ist.8) Und endlich
*) Heinrich Battenberg, Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen
Reich vom 14. Juni 1895. Berlin, S. 68.
•) Grotjahn I. c. S. 226.
») Rosenfeld, Der Einflosä des Alkohols auf den Organismus. Wies-
baden 1901, S. 239.
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Der Emßuss <L grossstddt. Lebens u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 239
ist lehrreich, dass der amerikanische Arbeiter, der wesentlich ein
grossstädtischer oder doch städtischer Arbeiter ist, prozentualiter
erheblich weniger für den Alkohol verwendet, als der deutsche. Es
giebt der amerikanische Arbeiter nur 3,7 Prozent, der deutsche
0,1 Prozent seiner Einnahmen für den Alkohol aus1)
Wesentlich mehr als durch alle anderen Gründe wird der An
beiter durch die Verführung, die von den sogenannten besseren
Klassen gegeben wird, zum Trinken veranlasst, da sich erfahrungs-
gemäss viele Sitten von oben nach unten fortpflanzen. Dies kann
man ruhig zugeben, wenn man auch nicht auf dem Standpunkt
steht, dass, weil einzelne Leute durch den Alkohol gefährdet sind,
nun alle die Verpflichtung hätten, dem Alkohol ganz zu entsagen.
Und wenn wir das Beispiel, das von den höheren Klassen den
Arbeitern gegeben wird, betrachten, und dabei die höheren Gesell-
schaftsklassen des Landes und der Stadt mit einander vergleichen,'
so fehlt einstweilen jeder Beweis dafür, dass dem Bewohner der
Grossstadt diese Gefahr mehr droht, als dem Landbewohner, wo
den höheren Gesellschaftsklassen der Alkoholgenuss zum grossen
Teil die Genüsse der Grossstadt, Theater und Konzerte ersetzen
muss.
Es werden häufig die s i 1 1 1 i ch e n Verhältnisse angeführt,
wenn es gilt, die Ursachen für die grössere Nervosität der Gross-
städter zu nennen. Indessen, wie ich glaube, mit Unrecht. Zwar
bietet die Grossstadt manches, was der Kleinstadt und dem Lande
fehlt. Aber es muss festgehalten werden, dass manche hierher
gehörige Zerstreuungen der Grossstadt nicht für deren Bewohner,
sondern mehr für die Fremden, d. h. gerade viele Kleinstädter und
Landbewohner bestimmt sind. Dass man jedenfalls mit der Klage
über die sittlichen Verhältnisse gerade der Grossstadt etwas vor-
sichtiger sein muss, geht ferner aus den gewissenhaften von den
Herren Pastoren Wittenberg, Hückstädt, Wagner«) veröffent-
lichten Untersuchungen über die sittlichen Verhältnisse unter den
Landbewohnern hervor, Untersuchungen, die ich durch manche mir
bekannte Einzelheiten ergänzen könnte. Und wenn man weiter
an die keineswegs so sittliche Zeit der Minnesänger denkt und
berücksichtigt, dass im Mittelalter überhaupt, wo es so gut wie
l) Grothjan 1. c. S. 292.
*) Die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse der evangelischen Land-
bewohner im Deutschen Reiche. 2 Bände. Leipzig 1895 und 1896.
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24Ü
Albert MoU.
keine Grossstädte gab, und auch noch in den ersten Jahrhunderten
der Neuzeit, wo das Grossstadtleben sehr zurücktrat, die sittlichen
Verhältnisse in Europa sicherlich nicht besser gewesen sind, als
heute, so wird man mit Schlussfolgerungen zu Ungunsten der
Grossstadt vorsichtiger, als der oberflächliche Beobachter, der ent-
weder nur das, was er von anderen gehört hat, nachspricht, oder
doch ohne Vergleichungen seine Behauptungen aufstellt.
Wenn man auch, wie ich im Vorhergehenden auseinander-
setzte, gewisse Schäden der Grossstadt für das Nervensystem nicht
in Abrede stellen kann und zugiebt, dass auf dem Lande durch-
schnittlich etwas weniger Nervenkranke seien als in der Stadt, so
ist es doch ein Irrtum, eine so scharfe Trennung von Stadt und
Land zu machen, wenn man die Verbreitung der Nervenkrankheiten
erörtert. Die Berufsklassen, die in der Grossstadt das Haupt-
kontingent der Nervenkranken stellen, thuen dies auch auf dem
Lande, wo sie allerdings nicht nur absolut, sondern auch relativ
schwächer vertreten sind.
Wenn wir dies alles berücksichtigen, können wir das Dogma
von den gesunden Nerven der Kleinstädter und der Landbewohner
ebenso zu den Märchen rechnen, wie die Erzählung von der Un-
schuld vom Lande. Es ist ein Irrtum, die Nervenkrankheiten all-
gemein für ein Produkt der Grossstadt zu erklären. Aehnliche
Irrtümer sind oft vorgekommen. Früher war es fast ein Dogma,
dass die Tuberkulose mit der Höhenlage des Ortes abnehme, wäh-
rend man später fand, dass gerade einzelne hochgelegene Gegenden,
z. B. das Berner Oberland, eine weit höhere Mortalitätsziffer für
diese liefere als die Ebene. Lange Zeit nahm man an, dass die
Hysterie nur bei Frauen vorkomme; man stellte mit Rücksicht
hierauf allerlei Theorien auf, als diese plötzlich durch die That-
sache widerlegt wurden, dass man die Hysterie recht häufig auch
bei Männern beobachtete. Ganz allgemein war die Annahme, dass
die Augen der Kulturvölker schlechter seien, als die der Natur-
völker, bis schliesslich genaue Vergleiche das Irrige dieser Auf-
fassung ergaben. Man ging oft von vorgefassten Meinungen
aus, anstatt zunächst das thatsächliche Material zu prüfen. Ebenso
zeigt die Erfahrung, dass, entgegen der Annahme mancher, das
Land und die kleinen Städte auch recht viele Nerven- und Geistes-
kranke hervorbringen, wenn auch ein gewisses Ueberwiegen der
Grossstadt nicht in Abrede gestellt werden soll.
Der Einßuss d. grossttädt. Lebens u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 241
Man hat in neuerer Zeit vielfach die Zunahme des Verkehrs
als die Ursache des Anschwellens der Grossstädte betrachtet. Dies
ist insofern richtig, als sich die Grossstädte zum grossen Teil durch
Zuzug von aussen entwickelt haben. Wer aber in dieser Verkehrs-
steigerung eine Schädigung sieht, wird doch zugeben müssen, dass
auch der Verkehr es ist, der die Nachteile der Grossstadt wesent-
lich mindert. Ich meine hier natürlich nur den Verkehr, der die
Grossstadt mit der Aussenwelt verbindet; auf den Verkehr inner«
halb der Stadt selbst gehe ich hier nicht ein, obwohl bereits von
anderer Seite auf eine hygienische Umgestaltung des Verkehrs
innerhalb der Stadt hingewiesen wurde.
Was den sonstigen Verkehr betrifft, so ist er es, der dem
Grossstädter vieles bringt, was er für das Leben und die Gesundheit
seiner Nerven braucht. War der Verkehr der Menschen und auch
der Handelsverkehr im Altertum nur auf verhältnismässig kleine
Bezirke beschränkt, und durchkreuzte er später, wo Genua und
Venedig, sowie die Hansa Roms Stelle übernahmen, doch im We-
sentlichen nur die Binnenmeere, so haben schon die Entdeckungs-
reisen hierin eine Aenderung bewirkt, indem sie den interkonti-
nentalen Verkehr entwickelten. Aber gerade unsere Zeit ist es,
die nicht nur eine quantitative Steigerung, sondern auch eine
enorme Beschleunigung des nationalen, internationalen und inter-
kontinentalen Verkehrslebens bewirkte. Dadurch, dass immer mehr
Länder an dem Tauschhandel teilnehmen und sich auch der binnen-
ländische Verkehr immer weiter steigert, sind die ungünstigeren
Ernährungsverhältnisse, die etwa die Grossstadt gegenüber dem
Lande bietet, ausgeglichen worden. Eisenbahnen, Dampfschiffe,
Telegraph und Telephon haben hierzu beigetragen.
Aber nicht nur die Waren werden so dem Städter schnell zu-
gänglich gemacht, sondern er selbst ist durch den Verkehr und
besonders durch dessen Beschleunigung in die Lage versetzt,
schneller der Stadt zu entfliehen, wenn ihn hygienische oder andere
Gründe hierzu drängen. Das Aufblühen der Vororte ist durch den
starken Verkehr und besonders durch dessen Beschleunigung er-
möglicht worden, und wer den Tag über aus Berufsgründen in der
Grossstadt arbeiten muss, der Kopf- und Muskelarbeiter, kann des
Abends die Vorteile des Land- und Kleinstadtlebens geniessen.
Und weit mehr noch ist dem gesteigerten Verkehr zu danken.
Er kommt auch darin dem Grossstädter zu Hilfe, dass man durch
242
Albert Moll.
ihn längere Zeit dem schädlichen Einfluss des grossstädtischen
Lebens entfliehen kann, wie dies ja die vielen Bade- und sonstigen
Reisen beweisen.
Freilich ist das Reisen keine Erfindung der Neuzeit. Bade-
orte gab es schon zu des alten Roms Zeiten. In späteren Jahr-
hunderten spielten die vielen Pilgerreisen nach dem heiligen Lande
eine grosse Rolle, und es gab schon vor mehreren Jahrhunderten
nicht nur Wegekarten und Reisebeschreibungen, sondern auch
Reiseanweisungen. Trotzdem kann man behaupten, dass der mo-
derne Verkehr gar nicht mit dem früheren zu vergleichen ist. Um
1763 herum fuhr von London nach Edinburgh nur einmal monat-
lich ein Stage-coach, die volle acht Tage zur Zurücklegung der
Entfernung brauchte.1) Auch wenn wir die geringe Einwohnerzahl
der damaligen Zeit berücksichtigen, ist dieser minimale Verkehr
dem heutigen nicht vergleichbar. Gerade durch die Steigerung des
Verkehrs ist dem Grossstädter das Reisen ermöglicht und so Ge-
legenheit gegeben, nach des Jahres Arbeit wieder frische Kraft für
seine Nerven zu schöpfen.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf eine andere Wirkung
des Verkehrs hinweisen, obwohl sich gerade in dieser Beziehung
eine Aenderung der bisherigen wissenschaftlichen Auffassung vor-
zubereiten scheint. Es ist bekannt, dass die engere Inzucht, das
heisst die Ehen Blutsverwandter oft für die Nachkommenschaft
schädliche Folgen haben, dass geisteskranke, besonders idiotische
und taubstumme Kinder verhältnismässig häufig aus solchen Ehen
hervorgehen.
Allerdings haben neuere Forscher behauptet, dass die Ehe
Blutsverwandter an sich keineswegs verderbliche Folgen für die
Nachkommenschaft habe. Lorenz s) weist darauf hin, dass sich die
Ptolemäer seit dem Feldherrn Alexanders des Grossen im grossen
und ganzen auf dem Prinzip der Geschwisterheiraten fortpflanzten,
und dass trotzdem viele Generationen hindurch irgend welche Ent-
artungserscheinungen nicht nachgewiesen werden könnten. Einen
*) Günther, Allgemeine Kulturgeschichte. Zürich und Leipzig 1897
S. 273.
») Lorenz, Lehrbuch der gesamten wissenschaftlichen Genealogie.
Berlin 1898, S. 473.
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Der Emfluss d. grossstädt. Lebens u. d. Verkehrs auf tL Nervensystem. 243
weiteren Beweis liefern uns, wie Reibmayer1) lehrt, nicht nur viele
wilde Stämme auf verkehrsentrückten Inseln, sondern auch die Be-
wohner entlegener Gebirgsthäler der Schweizer Urkantone, Tirols
und Schottlands, wo sich die Bevölkerung trotz naher und durch
ungezählte Generationen dauernder Inzucht, stets geistig und kör-
perlich gesund erhalten hat. Ein besonderes Beispiel dieser nicht
verhängnisvollen Inzucht ist das Grödenerthal in Tirol. Und schon
vor längerer Zeit hat der französische Irrenarzt Ball*) auf ähnliche
Erscheinungen hingewiesen. Er bezieht sich u. a. auf eine Schar
von 17 Eskimos, die so weit von den übrigen Menschen entfernt
lebte, dass sie sich für die einzigen Bewohner der Erde hielten, und
es scheine sicher, dass diese Schar aus naher Inzucht hervorge-
gangen war. Ball weist auf das Ormonts-Thal hin, wo die Inzucht
so gross war, dass jeder Einwohner denselben Namen hat, nämlich
Aviolat. Dennoch aber fände sich hier nichts, was auf Entartung
hinwiese.
Trotz dieser kaum bestreitbaren Thatsachen scheint es sicher,
dass, wenn in solchen Ehen von Blutsverwandten erblich belastende
Krankheiten vorgekommen sind — und dies ist oft der Fall —
die Nachkommenschaft auf das Ernsteste gefährdet ist, und dass die
Zuführung von frischem Blut dann das einzige Mittel darstellt, die
Gefahren auszuschalten. Und was kann in dieser Beziehung gün-
stiger wirken, als der Verkehr? Wenn auch, wie gesagt, einzelne
Dörfer existieren, wo zahlreiche Ehen Blutsverwandter bestanden
und bestehen, ohne dass etwa die Nachkommenschaft erkrankt ist,
so wird doch andererseits ein starkes Auftreten des Kretinismus und
der Idiotie, sowie der verschiedenen Grade von Schwachsinn in
vielen verkehrslosen Gegenden gefunden und oft auf das Fehlen
frischen Bluts zurückgeführt. Viele Erfahrungen bestätigen die
Richtigkeit dieser Annahme, z. B. die Degeneration in einzelnen
Bezirken der Bretagne, der Vendee, aber auch in einzelnen Be-
zirken des deutschen Sprachgebietes. Wo dies der Fall ist, ist die
Bevölkerung dem Untergange geweiht, wenn sie sich von dem
Verkehr, dem einzigen Mittel der Regeneration, fernhält. Wenn
also auch einerseits der Verkehr manche Dörfer entvölkert hat,
indem die Einwohner nach den Städten und bconders nach den
!) Reibmayr, Inzucht und Vermischung beim Menschen. Leipzig
und Wien 1898, S. 102.
3) 1. c. S. 373.
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244
Albert Moll.
Grossstädten gezogen wurden, so ist es doch andererseits wiederum
der Verkehr — mag er Zuzug von aussen bewirken oder den Weg-
gang der Eingeborenen herbeiführen, — der allein imstande ist, das
Fortbestehen vieler Familien zu sichern und ihre Degeneration zu
verhindern.
Berücksichtigen wir das alles, so sehen wir, dass der Verkehr,
der eine Vorbedingung für das Anschwellen der Grossstädte war,
auch gleichzeitig das Heilmittel darstellt für die hieraus erwach*
senden Gefahren. Wäre dies aber auch nicht der Fall, so hätte
man trotzdem kein Recht, in der Weise, wie es oft geschieht, Vor-
würfe gegen die heutigen Grossstädte zu erheben. Die Zunahme
des städtischen, besonders des grossstädtischen Lebens ist ein
notwendiges Produkt der modernen Entwickelung. Wie einst der
Staat Rom nur durch die Bedeutung der Urbs Roma blühen konnte,
so muss in neuerer Zeit die starke Zunahme des Handels, der immer
neue Objekte in sein Bereich zieht, und die Notwendigkeit, ihn zu
konzentrieren, ferner der Drang, auch für geistige, soziale, kultu-
relle Bestrebungen der Völker mehr und mehr Mittelpunkte zu
schaffen, zur Entwickelung der Grossstädte beitragen. Für die
Städte im allgemeinen kommt noch der Aufschwung der Industrie
hinzu. So ist es erklärlich, dass beispielsweise im Deutschen Reich
innerhalb von drei Jahrzehnten eine wesentliche Veränderung statt-
gefunden hat. Vor etwa dreissig Jahren lebte hier nur etwas
mehr als ein Drittel der Bevölkerung in der Stadt ; heute sind etwa
die Hälfte der Deutschen Stadtbewohner und noch grösser ist der
Prozentsatz in England. Wenn bei dieser Entwickelung auch der
Eine oder der Andere unterliegt und die veränderte moderne Kul-
tur manches Individuum, sei es an Nervenkrankheiten, sei es an
anderen Leiden, vorzeitig zu Grunde gehen lässt, so dürfen wir
auch hieraus nicht übertriebene Anschuldigungen herleiten. Die
Menschenopfer, die eine neue Entwickelung forderte, sind oft weit
grösser gewesen, als die der modernen Grossstadt. Man denke nur
an die Völkerwanderung, die nicht nur eine politische, sondern
auch eine wirtschaftliche Bewegung war, hervorgegangen aus dem
Streben der Germanen, der Uebervölkerung durch Gewinnung
neuen Bodens im Westen und im Süden ihrer bisherigen Wohn-
sitze zu wehren. Das Rittertum, eine der wichtigsten Kultur-
erscheinungen des Mittelalters, das die edelsten Eigenschaften der
Deutschen förderte, das Schutz den Schwachen, Greisen, Kindern
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Der Einßuss d. grossstädt. Lebens u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 245
und Frauen schaffte, das für die Kranken oft hingebend sorgte,
das unzählige Thränen trocknete, hat trotzdem auch viele Opfer
verschlungen. Als die Städteentwickelung'im späteren Mittelalter
begann, trat der schwarze Tod, die Pest auf, und man nimmt an,
dass gerade durch das enge Beieinanderwohnen der Menschen da-
mals innerhalb von wenigen Jahren Millionen und Millionen dahin-
gerafft wurden. Wie viele Opfer haben die Kolonisation und die
Weltreisen verlangt! Kann man ernstlich leugnen, dass eine der
segensvollsten Erfindungen, die Buchdruckerkunst, viele uner-
wünschte und traurige Folgen nach sich gezogen hat? Und sehen
wir uns in der neueren Zeit um. Die Befreiung der Sklaven in den
Südstaaten Nordamerikas hat unverschuldet viele, viele Leute da^
mals plötzlich an den Bettelstab gebracht und hat nicht nur Skla-
venbesitzer schwer geschädigt. Auch die Industrie fordert täglich
ihre Opfer. So auch die moderne Entwicklung des städtischen
und grossstädtischen Lebens. Ebenso wenig aber, wie der schwarze
Tod es verhindern konnte, dass sich das Städtewesen weiter ent-
wickelte, ebenso wenig werden die erwähnten Gefahren die Ent-
wickelung der Grossstadt hindern, und wenn man die Opfer auch
beklagen mag, so wird andererseits der Nutzen, der der Gesamt-
heit erwächst, Trost gewähren.
Besonders muss diesen Standpunkt der Rassenhygieniker ein-
nehmen. Wer die Verbesserung der Rasse und der zukünftigen
Generation als das höhere Ziel ansieht, wird bei allem Mitgefühl
für den Einzelnen die geforderten Opfer leicht bringen, da er in
den Unterliegenden nur die weniger Widerstandsfähigen erblickt.
Soweit frühzeitiger Tod den Schwächeren dahinrafft, sieht der
Rassenhygieniker darin, die Darwinsche Theorie weiter verfolgend,
einen erwünschten Ausleseprozess, da das Ueberleben der
Widerstandsfähigen die Möglichkeit bietet, die Fortpflanzung
nur der Stärkeren zu sichern und so auf dem Wege der Ver-
erbung die zukünftige Generation zu verbessern. Der
Rassenhygieniker befürchtet aber auch in den Fällen, wo dem
Nervenkranken durch längeres Leben die Möglichkeit der Fort-
pflanzung beschieden ist, nicht immer eine Verschlechterung der
Rasse, da die Erfahrung lehrt, dass keineswegs, wie irrtümlich im
Volke so oft angenommen wird, jede Nervenkrankheit die Nach-
kommenschaft durch erbliche Belastung gefährdet. Wo dies aber
der Fall ist, hilft sich die Natur schliesslich selbst, indem diese
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie and Hygiene. 4
246
Albert Moll.
Widerstandsunfähigen zwar noch eine oder zwei Generationen her-
vorbringen, dann aber ^der Stamm endgiltig zur Unfruchtbarkeit
verurteilt und dem Aussterben geweiht ist.
Lassen wir aber die letzteren Erwägungen ausser Betracht
und nehmen wir ruhig an, dass durch die Entwickelung des städti-
schen und grossstädtischen Lebens Manches Nerven Schaden lei-
den, so darf man dem auch sonst keine übertriebene Bedeutung bei-
messen. Wenn wir uns nach gewissen Hygienikern richten wür-
den, müsste alles der Auflösung verfallen, was in irgend welcher
Form der Gesundheit gefährlich werden kann. Ein Teil der
Schutzmassregeln, die diese Herren verlangen, lässt sich anders
nicht durchführen. Was haben diese doktrinären Hygieniker schon
alles für schädlich erklärt! Messer und Gabel, Telephon und Mün-
zen, Tinte, Bücher, Kleidung, Schule und Kirche u s. w. Würden
sich die Hygieniker lediglich darauf beschränken, praktisch durch-
führbare Massregeln vorzuschlagen, so wäre hiergegen natürlich
garnichts einzuwenden; aber unähnlich einem Pettenkofer, dem
Begründer der modernen Hygiene, betrachten einzelne es nicht
als ihre Hauptaufgabe, die Gefahren abzustellen und zu verhüten,
wo dies praktisch möglich ist. Indem sie immer neue Gefahren
suchen, übertreiben sie diese und schlagen mitunter zu deren Be-
kämpfung Massregeln vor, die schlimmer sind, als das Uebel.
Aufgabe des Hygienikers ist es, Menschen vor Krankheiten zu
schützen. Wenn man ab er die Ursachen moderner
Nervosität allgemein betrachtet, so darf unter
ihnen keineswegs die doktinäre Hygiene über-
seh e n w e r de n. In dem Bestreben, da oder dort einem Bazillus
den Weg zu versperren, oder eine Erkältung zu verhüten, werden
Gefahren dem Volke vorgegaukelt, die vielleicht theoretisch be-
stehen, praktisch aber kaum ins Gewicht fallen. Und dadurch wird
eine Beängstigung und eine Nervosität erzeugt, die man besonders
in den Häusern beobachten kann, wo eine Krankheit eingezogen
ist und man andere oft in ganz unzweckmässiger Weise vor An*
steckung zu schützen sucht. Auch in Beziehung auf die Gross-
städte haben die Uebertreibungen von Hygienikern bereits unnötige
Beängstigung geschaffen. Diese Herren gehen von der ganz fal-
schen Auffassung aus, dass die Gesundheit Selbstzweck sei,
und vergessen, dass vom Standpunkt des Staates ebenso wie von
dem der Moral, die Gesundheit nur das Mittel zur Arbeit und zu
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Der Emfluss d. grossstädt. Lebens u. d. Verkehrs auf d. Nervensystem. 247
nützlicher Thätigkeit darstellen soll. Wir müssen mitunter die
Gesundheit sowohl im privaten, wie im öffentlichen Leben an zweite
Stelle rücken, und es ist jedenfalls besser, dass gelegentlich die
Gesundheit eines Menschen gefährdet werde, als dass er recht
hygienisch jede Stunde des Tages verbringt. Wie der Schlemmer
der Sklave seines Magens ist, so ist der Mensch, der so leben
würde, der Sklave der Hygiene. Unfruchtbar ist er für jede
ernstere Arbeit und Leistung, und wie es hier mit dem Einzelnen
geht, so geht es auch mit der Gesamtheit, die sich aus den Ein-
zelnen zusammensetzt. Dies wollen wir auch bei der Würdigung
der Grossstadt bedenken. Man soll selbstverständlich versuchen,
die Nachteile der Grossstadt zu mindern. Man soll aber nicht, wie
es so oft geschieht, das Objekt des Kampfes verschieben. Man
soll, um ein triviales Beispiel zu wählen, nicht gegen die Rosen
kämpfen, weil sie Dornen haben. Soweit man aber die Nachteile
der Grossstadt nicht beseitigen kann, ist es besser, wir nehmen
sie mit in Kauf, verzichten aber auch nicht auf die grossen
Kulturfaktoren, die die Entwickelung der Grossstadt herbeiführen
mussten.
Selbstverständlich liegt es mir vollkommen fern, mit meinen
Ausführungen etwa die Kleinstadt oder das Land irgendwie herab-
setzen zu wollen. Wie im menschlichen Organismus nicht ein
Organ beliebig als das wichtigste bezeichnet werden kann, so
dürfen wir auch im Gesellschaftsorganismus nicht ungerechter
Weise, wie es so oft geschieht, einzelne seiner Teile zum Nachteil
anderer bevorzugen. Jeder Teil ist zum Gedeihen des Ganzen
notwendig. Wenn wir diesen Grundsatz festhalten, werden wir
aber auch die Grossstadt weder als etwas sittlich oder sozial Minder-
wertiges noch als eine pathologische Erscheinung der Gegenwart
betrachten dürfen. Der Kampf gegen die Grossstädte an sich
ist vielmehr ein Kampf gegen die bedeutendsten Kulturfaktoren
der Gegenwart.
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Sitzungsberichte.
Verein für Kinderpsychologie zu Berlin.
Sitzung vom 2. Mai 1902.
Beginn 8V4 Uhr.
Vorsitzender: Herr Stumpf.
Schriftführer: Herr Hirschlatt.
Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung und begründet in längeren Aus-
führungen den Plan, in Zukunft neben den wissenschaftlichen Vortragen
und Diskussionen innerhalb des Vereines wissenschaftliche Arbeiten zu
organisieren. Er regt infolgedessen an, zur Bearbeitung spezieller Themata
Gruppen der einzelnen Interessentenkreise, der Lehrer, Aerzte und Mütter
zu bilden. Es folgt der angekündigte Vortrag der Frau Wegscheider-
Ziegler:
„Erfahrungen beim Gymnasialunterricht für Mädchen, als Bei-
trag zur Frage der gemeinsamen Erziehung beider Geschlechter.14
Der Vortrag ist unter den Original beitragen dieser Zeitschrift in extenso
abgedruckt.
Diskussion:
Herr Stumpf dankt der Rednerin für den wertvollen und ausge-
zeichneten Vortrag. Es sei erfreulich, dass im Kreise des Vereins, der in
erster Linie theoretische Ziele verfolgt, doch auch einmal wichtige Fragen,
die sich mit der Praxis berühren, von berufener und sachverständiger Seite
erörtert worden seien. Die Vortragende habe die feinen Differenzen nicht
übersehen, die nach der natürlichen Konstitution der beiden Geschlechter
in diesen Verhältnissen obwalten müssen und für die getrennte Erziehung
sprechen. Einer Bewegung, die in solcher Weise geleitet würde, könne
man nur Glück wünschen. Dass neben den humanistischen Mädchen-
Gymnasien auch Real-Gymnasien für Mädchen eingerichtet werden sollen,
erscheine ihm besonders zweckmässig.
Herr Kemsies: Die Frau Vortragende hat den Lehr-Personen mit
ihren Ausführungen zweifellos grosse Freude bereitet; haben wir doch alle
ein fortlaufendes Interesse an diesen Dingen. Die Frage der Coeducation
ist in Amerika ja schon gelöst worden. Aber die dortigen Verhältnisse
dürften nicht massgebend sein für unsere Verhältnisse. In Bezug auf die
Forderung der Differenzierung möchte ich mich der Vortragenden anschliessen.
Bezüglich des Massstabes dagegen, nach dem die Leistungen der Schüler und
Schülerinnen beurteilt werden sollen, möchte ich einiges hinzufügen. Zu-
Sitzungsberichte,
249
nächst über den Gesichtspunkt der Disziplin. Die Verhältnisse der Disziplin
bei den Quartanern, die hier ja zum Vergleich in Betracht kommen, sind
nach meinen Erfahrungen nicht so ideale, wie die Vortragende schilderte;
beim Reformgymnasium mag das vielleicht besser sein. In manchen Fächern
tritt dies besonders hervor, wie bei der Geographie etc. Auch die Verbält-
nisse der Aufmerksamkeit dürften bei den Knaben und Mädchen einiger-
massen gleich sein. Was die einzelnen Fächer anbetrifft, so arbeiten die
Knaben umgekehrt wie die Madchen lieber in einer Fremdsprache, als in
der deutschen Sprache, deren Verhältnisse ihnen vertraut sind. Lateinische
Verbformen dürfen auch in der Knabenschule nicht länger als zehn Minuten
abgefragt werden; sonst tritt auch hier leicht Ermüdung ein. In Bezug
auf den mathematischen Unterricht würde ich gern erfahren, wie die Mädchen
so leicht die mathematischen Aufgaben verstehen und lösen, während bei
den Knaben immer höchstens drei gute Mathematiker in einer Klasse sitzen,
von denen die anderen abschreiben. Anatomie und Physiologie der Pflanzen
gehören wohl kaum zum Pensum der Untertertia.
Frau Wegscheider-Ziegler: Das Alter der Mädchen gegenüber den
Knaben der betreffenden Klasse dürfte ziemlich entsprechend sein. Die
Disziplin, sowohl im Unterricht, wie auch in den Pausen, ist doch bei den
Knaben straffer als bei den Mädchen. Dies bestätigten auch sämmtliche
Herren in der Konferenz. Was die mitgeteilten Daten über den Mathematik-
Unterricht anbelangt, so ist ja in der That zunächst das Verhältnis der
Madchen zu den Knaben in dieser Beziehung etwas autlallend. Indessen
muss man bedenken, dass bei den Mädchen eine ganz andere Auswahl in
Bezng auf die Begabung von den Eltern getroffen wird. Daher vielleicht
der Unterschied. Was das Abfragen der lateinischen Verbformen angeht,
so muss ich sagen: in den Gymnasien werden, soviel ich selber gehört habe,
dieselben Verbformen hintereinander mehr als zehn Minuten abgefragt, häufig
fünfzehn bis achtzehn Minuten. Dies ist für Mädchen jedenfalls eine zu
grosse Anstrengung. Bei der Anatomie und Physiologie der Pflanzen werden
natürlich nur die einfacheren Vorgänge in der Entwicklung der Pflanzen
vorgenommen; diese jedoch unter vollem Verständnis und Interesse der
Mädchen.
Herr Kern si es: Es wäre mir interessant zu erfahren, wie es, im
Gegensätze zur blossen Association und Reproduktion, mit der Kombinations-
thätigkeit der Schülerinnen steht, z. B. in der Mathematik oder beim Ueber-
setzen aus dem Lateinischen ins Deutsche.
Frau Wegscheider-Ziegler: Darüber kann ich noch kein kompetentes
Urteil haben. Selbst die wenigen positiven Erfahrungen, die ich hierüber
gemacht habe, würde ich zunächst noch nicht wagen, als psychologisches
Material zu verwerten.
Herr Stumpf: Mit meinen Erfahrungen vom Katheder aus stimmt
*>ehr wohl die Behauptung der Vortragenden überein, dass das weibliche
Geschlecht eine besondere Begabung und ein besonderes Interesse für die
rein formalen Beziehungen zeigt, z. B. für formal-logische Distinctionen.
Schluss der Sitzung 9»', Uhr.
250
$ f t4 f% ^ s p^t^ fr *
Sitzung vom 6. Juni 1902.
Beginn 8V4 Uhr.
Vorsitzender: Herr Stumpf.
Schriftführer: i. V. Herr Pf angst.
Nach einigen einleitenden geschäftlichen Bemerkungen des Herrn
Vorsitzenden hielt Herr Giering den angekündigten Vortrag:
„Ueber die Entwicklung des Augenmasses bei Kindern.1'
Der Vortrag wird später in dieser Zeitschrift veröffentlicht werden.
Diskussion:
Herr Stumpf dankt dem Vortragenden iür die anregenden Aus-
führungen über seine zwar noch nicht abgeschlossenen, aber schon jetzt
vielversprechenden mühevollen Versuchsreihen. Sie werden nicht nur für
das Verständnis der räumlichen Auffassung bei Kindern, sondern auch bei
Erwachsenen Nutzen bringen.
Herr Dessoir weist darauf hin, dass der Titel des Vortrages „Ueber
die Entwicklung des Augenmasses bei Kindern" insofern nicht ganz
zutreffe, als ja eine Entwickelung in der Hauptsache nicht stattzufinden
scheine. Er macht ferner darauf aufmerksam, dass mit Nutzen Ergänzungs-
experimente vorgenommen werden könnten, z. B. mit weissen Linien auf
schwarzem Untergrunde (wie auf der Wand- und Schieiertafel). Endlich
betont er, dass der Wert dieser ausgezeichneten Untersuchungen gerade in
ihren paradoxen Ergebnissen zu sehen sei; das Ergebnis in Bezug auf die
Tiefendimension überrasche am meiBten.
Herr Giering erwidert, dass er seine Versuche nicht in der von dem
Herrn Vorredner erwähnten Richtung habe ausdehnen können, ohne deren
ohnehin schon grosse Zahl ins Unermessliche zu steigern. Einige Stich-
proben mit weissen Linien auf schwarzem Grunde könne er immerhin
anstellen.
Herr Stumpf halt es auch zunächst für rätlich, sich auf Schwarz auf
weiss -Versuche zu beschränken, da diese Art der Darstellung doch der im
gewöhnlichen Leben üblichen entspreche und bei den vorliegenden Unter-
suchungen vor allem ein möglichst inniger Anschluss an die Praxis be-
absichtigt sei. Die sichere Tiefenschätzung bei monocularem Sehen erscheine
auch ihm merkwürdig.
Herr Fla tau betont die Notwendigkeit, dass der Apparat, mit dem
die Tiefenversuche angestellt würden, ganz geräuschlos arbeite, da sonst
Gehörwahrnehmungen leicht als Kriterium für das Tiefenurteil herangezogen
werden könnten.
Herr Giering erwidert, dass diese Vorsicht auch immer angewandt
worden sei, dass übrigens die Kinder nicht in dem Masse wie Erwachsene
die Tendenz zeigten, solchen Geräuschen als mittelbaren Kriterien ihre Auf-
merksamkeit zuzuwenden.
Herr Schumann erinnert daran, dass die schlechtere monoculare
Tiefenschätzung Erwachsener mit deren geringerer Accommodationsiähigkeit
zusammenhängen könne. Das Thema scheint ihm insofern ganz richtig
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Sitzungsbericht*.
251
gewählt, als eich doch eine Entwickelang in einem wichtigen Punkte gezeigt
habe, nämlich hinsichtlich der Schätzung leerer Distanzen. Es fehle den
Kindern vielleicht noch die Fähigkeit, eine Punktdistanz zur Einheit zu-
Herr Stumpf würde, wenn sich gsx keine Ent Wickelung in der
Grössen-Schätzung der Kinder zwischen 6 und 14 Jahren gezeigt hätte,
dieses Resultat gerade für besonders interessant halten. Es sei allerdings
paradox, das« die thatsächlich beobachtete Entwickelung so gering sei, und
gebe praktisch zu denken, vor allem für den Zeichen- Unterricht. Es frage
sich endlich, ob bei Schätzung so geringer Distanzen eine Accommodations-
Aenderung stattfinde und ob sie auch empfunden werde?
Herr Schumann zweifelt nicht an so feiner Accommodation des kind-
lichen Auges; diese braucht jedoch durchaus nicht als solche empfunden
zu werden.
Herr Stumpf macht noch auf die Wichtigkeit einer genauen pjcho-
logischen Analyse der einzelnen Versuchsbedingungen aufmerksam. Es sei
z. B. eine ungleich grössere Anforderung, 2 Teile einer Strecke auf ihre
Gleichheit hin zu beurteilen, als 2 untereinander gezeichnete Parallele.
Diese Ungleichheiten drückten sich ja auch in den Resultaten der einzelnen
Versuchsreihen deutlich genug aus.
Herr Giering erwidert auf eine Anfrage, dass die Bevorzugung des
Urteils „grösser" auch von Binet und Henri gefunden worden sei. Eine
Erklärung hätten diese jedoch nicht beigebracht.
Herr Kemsies hält folgende Erklärung für möglich: Das Bild der
zuerst gesehenen Strecke könne sich in der Reproduktion verkleinern, und
es erscheine dann die an zweiter Stelle gesehene Strecke natürlich grösser.
Es frage sich, ob bei diesen Versuchen die subjektiven Bedingungen ge-
nügend berücksichtigt, d. h. Aufmerksamkeit und Interesse immer constant
gehalten und die Ermüdung ausgeschlossen worden seien.
Herr Giering betont, dies sei geschehen. Uebrigens würden die
Versuche so rasch ausgeführt, dass von einer Ermüdung während einer
Versuchsreihe keine Rede sein könne.
Schluss der Sitzung 9«/4 Uhr.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Sitzung vom 15. Mai 1902.
Beginn 7» Uhr.
Vorsitzender: Herr Flatau, dann Herr Dessoir.
Schriftführer: Herr Pfungst.
Nach einigen geschäftlichen Mitteilungen des Vorsitzenden, spez. unter
Hinweis auf die Bibliothek der Gesellschaft, hält Herr Gramsow den an-
gekündigten Vortrag:
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252
Sitzungsberichte.
Der Kampf um die Weltanschauung.
Der Vortragende brachte einen Abschnitt ans einem in der Entstehung
begriffenen Buche: „Philosophie des Zweckes41 zur Darstellung. Nachdem
er die historische Entwicklung des Zweckbegriffs, dessen Geltung und Be-
kämpfung gekennzeichnet hatte, gelangte er zur Unterscheidung von vier
Arten der Zweckmässigkeit. Diese sind: die absolute oder transzendente,
die relative, die reziproke und die immanente Zweckmassigkeit. Der Vor-
tragende vertritt den Standpunkt der immanenten Teleologie. Die Betrach-
tung der Natur und des sozialen Lebens kann bei der heute vorherrschenden
mechanistischen Auffassung nicht stehen bleiben. Der denkende Mensch
sehnt sich nach einem Himmelsstriche, wo er sich als freie selbstbewusste
Persönlichkeit empfinden darf. Deshalb ist das Problem, das Eduard von
Hartmann metaphysisch behandelt hat, das dringendste der heutigen Phi-
losophie. Dieses Problem verlangt die Verbindung des mechanistischen
Prinzips mit dem teleologischen Prinzip. Dass das philosophische Denken
sich anschickt, die dadurch gegebene Richtung einzuschlagen, zeigt die
moderne philosophische Litteratur. Der Vortragende weist vornehmlich
hin auf Christoph v. Sigwart, Otto Stock und Beinke. Es kommt darauf an,
den formal notwendigen Zweckbegriff mit einem Inhalt zu fallen. Aue
erkenntnis-theoretischen Gründen muss von der Bestimmung des Welt-
zweckes abgesehen werden. Wohl aber können wir aus unserer natur-
wissenschaftlichen und soziologischen Erkenntnis heraus zu einer Feststellung
des Lebenszweckes schreiten. Dass Lebenszweck und Weltzweck identisch
sind, lägst 6ich wohl ahnen, aber vorläufig nicht beweisen. Als Lebenszweck ist
die Selbsterhaltung des Lebens anzusehen. Die Selbsterhaltung hat für die
Kulturmenschheit einen wesentlich erweiterten und vertieften Sinn erhalten.
Der Lebenszweck ist durch den Lebenstrieb gegründet. Eine „Philosophie
des Zweckes4* hat nun die Aufgabe, die Wirksamkeit des Lebenszweckes
in typischen Erscheinungen des Lebens nachzuweisen. Zu diesen typischen
Erscheinungen gehört aach der Kampf um die Weltanschauung. Die
Weltanschauung ist Sache des erkennenden Menschen. Aber der nie
rastende Kampf um sie beweist, dass die menschlichen Gemeinschaften an
der Weltanschauung ihrer Glieder auf das lebhafteste interessiert sind. Das
Interesse der Gemeinschaft und alle seine auf Kontrolle und Bekämpfung
gerichteten Aeusserungen finden ihre Begründung in dem Zwecke der Selbst-
erhaltung. Aber das tiefste Motiv ist der immanente Lebenszweck des
Individuums, in dem der Zweck der Gemeinschaft seine Wurzeln hat.
In der Hauptsache sind drei Typen des Kampfes um die Weltanschauung
zu unterscheiden: der Kampf zwischen Glauben und Wissen, zwischen
Idealismus und Realismus, zwischen Optimismus und Pessimismus
Der Kampf zwischen Glauben und Wissen ist nur in beschränktem Masse
lebenfordernd; allein die Religionen erweitern den Zweck des Menschen-
daseins, so dass der Kampf in der Meinung ausgefochten wird, er liege im
Interesse der Lebenserhaltung. Idealismus und Realismus sind beide nur
besondere Formen der Hingabe an das Leben und seinen Zweck; aber der
typische Idealist ist infolge seiner gefälschten Auffassung der Wirklichkeit
in Gefahr, sich selbst und fremdem Leben zu schaden. Der Kampf zwischen
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Sitzungsberichte.
253
Optimismus and Pessimismus geht hervor aus der sinnlosen Fragestellung:
Ist die Welt gut oder schlecht? Wissenschaftlich ist die pessimistische
Weltausicht unhaltbar. Auch E. v. Hartman n's psychologischer oder hedo-
nistischer Beweis ist misslungen und kann nie gelingen. Allein berechtigt
ist die Frage, ob die Menschen in der Mehrzahl zu optimistischen oder
pessimistischen Stimmungen neigen. Auf Grund der Theorie der Gefühls-
töne und Empflndungsquali taten laset sich der Nachweis führen, dass die
Menschen vorwiegend zum Optimismus neigen. Auch aus der Temperamenten-
lehre ergiebt sich, dass eigentlich nur ein Temperament, das melancholische,
pessimistischen Grundton hat. Endlich ist ein Beweis der Vorherrschaft
des Optimismus in dem immer erneuten Kampfe des Lebens gegen die
pessimistischen Anschauungen und asketischen Forderungen der Religionen
zu erblicken. Der Pessimismus ist im allgemeinen lebenschädigend, aber für
den geborenen Pessimisten hat er den Wert einer lebenerhaltenden Lehre
und Stimmung.
Diskussion.
Herr Baerwald betont, dass der Selbsterhaltungstrieb des Systems
in erster Linie nicht ein Trieb des Individuums als Gesellschaftswesen, sondern
des Individual-Ich sei. Die Beteiligung des Urteilswillens an jeder aeeeptierten
Ansicht engagiert das Ich dafür, macht seinen Selbsterhaltungstrieb dafü r rege.
Man opponiert dem am stärksten, was nicht den überkommenen, sondern
selbsterarbeiteten Ansichten widerspricht.
Herr Wilh. Stern hebt hervor, dass die Frage, ob der Optimismus
oder der Pessimismus berechtigt sei, so lange wissenschaftlich nicht be-
antwortet werden könne, also Sache der Gemütsbeschaffenheit des Einzelnen
und seiner individuellen Erfahrung d. h. seiner Erlebnisse sei, bis der
Nachweis gelinge, ob die Gesamtsumme der Lust die der Unlust, oder
umgekehrt die Gesamtsumme der Unlust die der Lust überwiege.
Er verweist in dieser Beziehung auf die Darlegung Gustav Theodor
Fechners in seiner „Vorschule der Aesthetik". Dieser sagt, dass ein
eigentlich mathematisches (unstreitig nur psychophysich mögliches) Mass
der Intensität der Lust und Unlust sich erst im Zusammenhang mit einer
Erkenntnis der allgemeinen Grundursache von Lust und Unlust finden
lasse, und dass es sich bis dahin nur um Schätzung von mehr oder weniger
handeln könne.
Herr Gumpertz erinnert daran, dass Unlustgefühle Vorstellungen
verknüpfen und sogar auf den Empfindungsinhalt einwirken können. Ferner
wendet er sich gegen die Anschauung, dass die Gemütsverfassung des
Phlegmatikers zum Pessimimus keine Verwandtschaft habe. Er verweist
vielmehr auf die Analoga in der Psychopathologie. Grade das Fehlen jeder
Handlungstendenz und der Gefühlston der Apathie sei ja auch dem
extremen Pessimisten, dem indischen Büsser, eigen.
Herr Gramzow erwidert Herrn Baerwald, dass er ebenfalls die
Meinung ausgesprochen habe, das Individuum sei unter dem Einfluss seines
immanenten Zweckes die eigentlich treibende Macht im Kampfe um die
Weltanschauung. Alles, was das Individuum für die Gemeinschaft erstrebe,
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Sitzungsberichte.
wolle es letzten Endes doch für sich selbst. Brentanos Theorie des Urteils-
willens, zu der er hier keine prinzipielle Stellang nehmen wolle, spreche
nicht gegen, sondern für seine Anschauungen. — Herrn Wilh. Stern ent-
gegnet der Vortragende, dass er die Behauptung: „die Welt ist gut", für
ebenso dogmatisch nnd unbeweisbar halte, wie die gegenteilige Behauptung:
„die Welt ist schlecht" Berechtigt ist and bleibt aber darum doch die
Trage, ob die Menschen in ihrer Mehrheit zum Optimismus oder zum Pes-
simismus neigen? Die Beantwortung dieser Frage ist möglich und die Be-
zugnahme auf die gute oder schlechte Beschaffenheit der Welt kann dabei
völlig ausgeschaltet werden. — Herrn Gumpertz gegenüber weist der Vor-
tragende darauf hin, dass man streng unterscheiden müsse zwischen Gefühls-
ton und Qualität der Empfindung. Erweise sich scheinbar ein Gefühlston als
weckendes Prinzip bei der Reproduktion der Vorstellungen, so sei mit diesem
Gefülüston eine uns angenehme Qualität unmittelbar verbunden. Die Re-
produktionshilfe sei dann die Qualität als notwendige Eigenschaft der Emp-
findung, nicht aber der Gefühlston an sich. Es giebt eben nur zwei Gefühls-
töne, von denen jeder in gradueller Verschiedenheit auftritt Der Gefühlston
der Lust weckt ebenso wenig wie der der Unlust; dazu haben beide zu
allgemeinen Charakter: Psychisch Erkrankte und Anomale kommen für
die Frage, ob mehr Menschen zum Optimismus oder zum Pessimismus neigen,
nicht in Betracht. Diese Frage kann nur in Bezug auf die allgemein als
normal Betrachteten erörtert werden. Der Mangel an Bewegungstendenz
ist kein Beweis für pessimistische Veranlagung. Wenn auch der Optimist
fast immer den Willen zur Bethätigung und das Gefühl der Kraft hegt,
so ist damit doch die umgekehrte Thatsache nicht erwiesen, dass jemand,
dem der Thätigkeitswille mangelt, unbedingt Pessimist sein muss.
Schluss der Sitzung 9 Uhr.
Sitzung vom 29. Mai 1902.
Beginn 7 Vi Uhr.
Vorsitzender: Herr Th. S. Fla tau.
Schriftführer: Herr Pf angst.
Herr M. Dessoir hält den angekündigten Voitrag:
Ueber die Bedeutung von Quantität und Intensität für den
ästhetischen Eindruck.
Nachdem dei Vortragende die Begriffe Quantität und Intensität kurz
erläutert und die Gründe dargelegt hatte, aus denen sie bisher in der
Aasthetik vernachlässigt waren, schilderte er das Verhältnis verschiedener
ästhetischer Systeme zum quantitativen Faktor. Die Inhaltsästhetik, die
den Wert des Kunstwerks von dem ihm innewohnenden Gehalt abhängig
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Sit zun rsberich te.
255
macht, muse Nachdruck darauf legen, dass die äussere Qrösee eines Kunstwerks
der inneren Grösse, d. h. der sachlichen Bedeutsamkeit des Inhaltes angemessen
sei. Die Lehre vom ästhetischen Schein gelangt zu einer anderen Problemstellung,
indessen nur um sie abzulehnen : da die Kunst es ausschliesslich mit dem Sinnes-
schein zu thun hat, so könne ihr die thatsächliche Grösse und Stärke der dem
Schein zu Grunde liegenden Dinge ganz gleichgiltig bleiben. In Wahrheit
aber berücksichtigen z. B. die bildenden Künste unter andern wirklichen
Eigenschaften eines Objekts auch seine quantitativen, zumal seine Schwere-
verhältnisse. Der Formalismus endlich hat gleichfalls die absolute Grad-
stärke von Kunstbestandteilen für ästhetisch bedeutungslos erklärt und bloss
den quantitativen Zusammenhang, die Proportionalität der einzelnen
Teile zu einander untersucht.
Es ist indessen der ästhetische Eindruck nicht nur von Formen und
Verhältnissen, sondern auch von dem Massstabe im Ganzen abhängig. Was
den Kölner Dom vor seinen verkleinerten Nachbildungen, vor Modellen und
Photographien, auszeichnet, ist die bestimmte Ausdehnung von so und so
viel Metern; das Bequiem von Berlioz wäre nicht, was es ist, ohne die Ge-
walt des Chors und Orchesters, ohne das Fortissimo. Grössen wecken als
solche bestimmte Gefühle. Innerhalb gewisser Grenzen sind diese Quanti-
tätsgefühle ästhetisch; so ist z. B. die Ueberraschung künstlerisch zulässig^
schwerlich aber ihre Steigerung: der Schreck. Die genaue Angabe der
Grenzen ist unmöglich, weil die Quantität einer neu eintretenden Vor-
stellung wesentlich abhängt von der Disposition oder Vorbereitung des Be-
wusstseins. Trotzdem lässt sich aus der Geschichte aller Künste zeigen,
nach welchen Prinzipien thatsächlich in verschiedenen Zeiten der Bezirk
umgrenzt worden ist.
Nachdem der Vortragende diese Grundsätze ausgeführt und auf zwei
leitende Gedanken gesammelt hatte, zeigte er, dass vielfach quantitative
und intensive Unterschiede zur Abtrennung von Kunstformen innerhalb
einer Gattung verwendet worden sind. (Novelle und Roman u. 8. w.) Er
verfolg; e alsdann das gleiche Moment auf dem Gebiet der ästhetischen
Kategorien, wo das Zierliche und das Erhabene die deutlichsten Beispiele
bilden. Zum Erhabenen gehört nicht nur eine relative Mächtigkeit und
Ausdehnung, sondern auch eine absolute Grösse, die die Vorstellung der
Unendlichkeit nahe legt.
Eine abschliessende Betrachtung versuchte dann, die gesamte Kunst
als ein Intensitätsphänomen philosophisch verständlich tu machen. Wenn
es erlaubt ist, Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit als Steigerungen
gegen einander aufzufassen, so kann das Verhältnis der Kunst zur Wirklich-
keit auf Intensitätsunterschiede sowohl erkenntnistheoretisch als auch meta-
physisch zurückgeführt werden.
Discussion:
Herr Pfungst glaubt, dass bei einer verkleinerten, nicht farbigen
Reproduktion eines Gemäldes weit weniger die Aenderung der absoluten
Grösse, als die Aenderung der Farbe und insbesondere die Art des Re-
produktions-Verfahrens von Bedeutung sei. Er erläutert dies an Werken
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von Rembrandt, Böcklin und Segantini. Dass die absolute Grösse als solche
GefQbie erwecke, könne nicht bezweifelt werden, doch seien assoziative
Momente (Kölner Dom, Pyramiden), sowie das Verhältnis zur Umgebung
anlösbar damit verbanden. Wenn uns schliesslich, ein Alter von 100 Jahren
ehrwürdig, ein solches von 3 Jahren aber — wiewohl neben einem Insekten-
leben von ungeheurer Dauer — nicht so erscheine, so habe das mit absoluter
Zeitgrösse wohl wenig zu thun. Wir urteilen relativ zum durchschnittlichen
Menschenleben; der Vergleich mit dem Leben einer Fliege kommt niemand
in den Sinn.
Herr Gramzow ist nicht ganz überzeugt, dass Quantität und Intensität
die ihnen zugeschriebene Bedeutung ausnahmslos haben. Er weist hin auf
Spangenberg's „Zug des Todes", dessen Ausdehnung in keiner Weise an-
gethan erscheinen könnte, einen starken Eindruck hervorzurufen. Und
doch wissen wir, dass gerade dieses Bild einen ungewöhnlich starken Ein-
druck hervorbringt. Es scheint also, als wenn nicht das unmittelbar Dar-
gestellte die Stärke des Eindrucks allein bestimmt; Bondern dass vornehmlich
die Vorstellungs- und Gedanken reihen, die in dem Beschauer erweckt werden,
dazu mitwirken. Damit wäre aber die Frage nach der Quantität und
Intensität zurückgeführt auf die Fundamentaltrage der Aeethetik: „giebt
es eine reine Kontemplation, das interesselose Anschauen, wie es Kant und
Schopenhauer behaupteten, oder ist die Anschauung eines Kunstwerkes von
einer Meditation begleitet, in der ein Interessenkomplex des Beschauers zur
Geltung kommt, so in dem ästhetischen Eindruck ein Glücksversprechen
(une promesse de bonheur nach Nietzsche) zu uns redet?
Herr Feld hält den Schreck an sich nicht für ästhetisch zulässig,
weil er ein Attentat auf unser Nervensystem bedeute. Wo er jedoch einen
integrierenden Bestandteil des Kunstwerkes bilde, da könne er äusserst
wirksam sein. Der Bedner erläutert dies durch ein Beispiel aus der
Ouvertüre zum „Wildschütz". — Eine räumlich kleine Nachbildung kann
sehr wohl lapidar wirken, wenn nur die Umgebung entsprechend ver-
kleinert wird. Es büsst z. B. der Zeus von Otricoli nichts von seinem
machtvollen Eindruck ein, sobald die Darstellung der Umgebung (etwa eine
anbetende Menge) in gleichem Verhältnisse an der Verkleinerung teilnimmt.
Herr Th. S. Fla tau bezweifelt nach seinen Wahrnehmungen, dass der
Schreck so allgemein als ästhetisch unzulässige GrefühUwirkung bezeichnet
werden dürfe. Er halte es gerade in der dramatischen Kunst für möglich,
den Zustand der Erschütterung in voller Absicht herbeizuführen und aus-
zunützen.
Herr Dessoir bemerkt in seinem Schlusswort, dass die meisten in
der Diskussion erhobenen Bedenken in der Ansicht wurzeln, der Vortrag habe
die Bedeutung andrer Momente als des quantitativen und intensiven herab-
setzen wollen. In Wahrheit sei es seine Absicht gewesen, aus methodo-
logischen Gründen die andern Momente von derp Darstellung auszuschli essen;
wenn sie nun teilweise doch erwähnt worden sind, so begrnsse er das als
eine wertvolle Ergänzung.
Schluss der Sitzung 9 Uhr 20 Minuten.
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Sitzungsberichte.
257
Sitzung vom 12. Juni 1902.
Beginn: 7*° Uhr.
Vorsitzender: Herr Th. S. Fla tau.
Schriftführer: Herr Pf angst.
Herr Moll hält den angekündigten Vortrag:
Über ärztliche Ethik.
Wenn wir eine ärztliche Ethik begründen wollen, so müssen wir von
dem ausgehen, was allgemein ethisch ist. Mit den Moralprinzipien unserer
Moralphilosophen kommen wir nicht zum Ziel, selbst nicht mit den viel
Überzeugendes darbietenden Ausführungen Wilhelm Stern's, der das Opfer
&19 das Kriterium des Ethischen betrachtet. Eine Sonderethik giebt es für
den Arzt nicht. Nur bietet sein Beruf mitunter Konflikte dar. die iür
andere Berufsklassen nicht bestehen. Die Konflikte werden um so grosser,
je weiter wir des Arztes Thätigkeit umgrenzen. In dem eigentlichen Beruf
des Arztes bietet insbesondere auch die in neuerer Zeit sich mehr und mehr
Bürgerrecht erwerbende Psychotherapie Anlass zu Konflikten. So giebt es
ja einzelne, die gegen die Behandlung mit Hypnose oder Suggestion den
Einwand erheben, es sei dies keine wissenschaftliche Behandlungsmethode.
Ja es verdiene diese Behandlung im Interesse der Arzte überhaupt nicht
den tarnen einer ärztlichen Behandlungsmethode. Würden wir aber die
Suggestion von der ärztlichen Behandlung ausschliessen, so müssten wir alle
lediglich psychisch wirkenden Konsilien ausschliessen, und noch mehr die
Konsilien, von denen weder ein psychischer noch ein somatischer Nutzen
zu erwarten ist. Von andern Einwänden kommt besonders der in Betracht,
dass gewisse psychische Mittel an sich unsittlich seien; beispielsweise ist
dieser Einwand gegenüber der Täuschung des Klienten zu berücksichtigen.
Indessen haben wir festzuhalten, dass es in Wirklichkeit nicht so zugeht,
wie in der Theorie, wo man die Lüge als unsittlich, die Wahrheit als sitt-
lich bezeichnet. Es giebt vielmehr Handlungen, von denen wir bei Berück-
sichtigung der praktischen Verhältnisse nur sagen können, sie seien relativ
unsittlich oder relativ sittlich. Oft genug entscheidet der Zweck bei einer
Handlungsweise darüber, ob sie im einzelnen Falle sittlich oder unsittlich
ist. So liegt es auch mit der Frage der Täuschung des Klienten. Nur der
Doktrinäre wird die Täuschung des Klienten, wenn es sich etwa um die
Kettung seines Lebens handelt, verworfen; jeder vernünftige Praktiker wird
sie. wenn ein so hohes Ziel dabei erreicht wird, billigen. Wann der Arzt
unter diesen Umständen das Recht zur Täuschung hat. hängt von dem
Nutzen ab, den er davon erwartet. Im allgemeinen kommt man auch in der
ärztlichen Praxis mit der Wahrheit oft viel weiter, als mit einer Täuschung,
die in zahlreichen Fällen nur einen scheinbaren Nutzen gewährt, indem sie
auf kurze Zeit dem Klienten eine angenehme Situation schallt, um ihn
nachher desto herber zu enttäuschen. Ganz besonders hat der Arzt dann
die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, wenn der Klient ihn nicht aufsucht,
um von ihm behandelt zu werden, sondern um von ihm ein Urteil über
seinen Körperzustand zu erhalten. Diese private Sachverständigenthätigkeit
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Sit zun gsbe richte.
muss ebenso wahrhaft sein, wie die vor Gericht oder vor einer anderen
Behörde geübte.
Weit wichtiger als die direkten Einwände Regen die Psychotherapie
ist aber der Umstand, dass in der Medizin der Wert der Psychologie noch
so sehr unterschätzt wird. Schon der eine Umstand, dass ans die Psycho-
logie die Einheit des Menschen lehrt, würde sich gegen die Auswüchse des
modernen Spezialistentums nutzbringend verwerten lassen. Denn wenn
auch der Organspezialist sehr oft an dem Organ durch seine Behandlung
eine Besserung herbeiführt, so wird doch dabei in vielen Fallen die
gesamte Persönlichkeit, der gesamte Organismus, und besonders die
Psyche geschädigt, und zwar mitunter schon dadurch, weil damit die
Suggestion krank zu sein erzeugt wird. Auch die Hygiene übersieht
den Wert der Psychologie in bedenklichem Masse. Überall schnüffeln
manche Hygieniker heute nach Gefahren. Sie schildern sie und suchen
Abhilfe zu schaffen, vergessen aber dabei, dass die Erzeugung von so viel
Ängstslichkeit oft genug einen unermessllchen Schaden für den Menschen
bewirkt. Fort und fort in der Angst vor Bazillen zu leben, macht die
Leute seelisch krank, und vielleicht haben die Bakterien-Monomanen in
dieser Beziehung mehr geschadet als genützt. Auch die übertriebene Furcht
vor der erblichen Belastung, wie wir sie heutzutage finden, zeigt uns, wie
bedenklich eine Ignorierung der psychischen Individualitat des Menschen
ist. Immer mehr wächst die Angst der Leute, durch eine Heirat zur Er-
zeugung degenerierter Nachkommen beizutragen. Immer mehr glauben
Eltern, wenn ihre Kinder etwas nervös sind, durch übertriebene Aengstlich-
keit, insbesondere auch durch Anschuldigungen gegen die Schule, durch
Forderung von Vorrechten für die Kinder in der Schule, Nutzen zu bringen.
In Wirklichkeit untergraben sie damit die Widerstandsfähigkeit des Kindes,
dem sie von Jugend auf suggerieren, dass es ein schwächliches Kind sei,
das vor allen Gefahren des Lebens behütet werden müsse, anstatt ihm
möglichst die Überzeugung einzuimpfen, dass es seinen eigenen Willen
kräftigen müsse, um den Unbilden des Lebens widerstehen zu können.
Diskussion:
Herr Th. S. Flatau: Mit den Bestrebungen des Herrn Vortragenden,
die ein bisher brachliegendes Gebiet kultivieren, stimmt es gut zusammen,
daas in neuerer Zeit unter den Lehrgegenständen für das praktische Aus-
bildungsjahr der Ärzte auch die ärztliche Pflicht- und Sittenlehre immer
häufiger genannt wird. Freilich möchte es sich empfehlen, ihre Lehren
schon den Studierenden in mehr einheitlicher und eindrucksvoller Form
mitzugeben, als es unter den gegenwärtigen Verhältnissen des klinischen
Unterrichtes geschieht. Im Einzelnen bittet Herr Flatau den Redner, noch
auf die Frage der allgemeinen Narkose in leichteren operativen Fällen ein-
zugehen, sowie die Frage des Versuches mit neuen Mitteln und Methoden
auf glaubwürdige Berichte und ohne eigene Erfahrung vom ärztlich-ethischen
Gesichtspunkte zu erläutern.
HerrWilh. Stern bemerkt folgendes: Der Herr Vortragende hat in
seinem Vortrage auch das von mir in meinem Werke „Kritische Grund-
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Sitzungsbericht*.
259
legung der Ethik als positiver Wissenschaft1* als allgemeines Kennzeichen
oder Kriterium der sittlichen Handlungen hingestellte grössere oder ge-
ringere Opfer erwähnt. Er ist der Meinung, dass dieses Kriterium der
sittlichen Handlungen zwar viel für sich habe. Es lasse einen aber bei der
praktischen Anwendung auf die ärztliche Ethik z. B. in dem Falle im Stich,
in welchem ein Arzt, der eine grosse Familie zu ernähren hat, vor die
Frage gestellt wird, ob er die Pflicht habe, das Opfer zu bringen, unbe-
mittelte Kranke unentgeltlich zu behandeln. Die Antwort lautet, dass es
sich hier, wie sehr oft auf dem Gebiete der Pflichtenlehre und wie auch
in anderen Fallen der Herr Vortragende selber hervorgehoben hat, um eine
Kollision der Pflichten oder einen Pflichtenstreit handelt, der eine richtige
Abwägung nötig macht. Darum hat sich auch Aristoteles verleiten lassen,
als das Wesentliche bei der Bestimmung des näheren Wesens der sittlichen
Tugend die Mitte zwischen zwei Extremen zu bezeichnen, was aber nicht
richtig ist. Also eine Abwägung je nach Stand, Alter, Geschlecht und
anderen Verhältnissen wird im einzelnen praktischen Falle den Ausschlag
geben müssen, ob ein Opfer zu bringen ist oder nicht, d. h., ob die Hand-
lung vom sittlichen Standpunkte aus geboten, demnach Pflicht ist, oder nicht.
Herr Moll: Was die Ausfuhrungen des Herrn Stern betrifft, so
befindet sich ja dieser vollkommen mit mir im Einklang. Die Frage des
Herrn Flatau möchte ich dahin beantworten, dass ich dem Arzt nicht
das Recht gebe, ein lebensgefährliches Mittel gegen eine nicht lebens-
gefährliche Krankheit anzuwenden, wenn er nicht hierzu durch den Pati-
enten legitimiert ist. Dies gilt besonders für die Chloroformnarkose. Dem
Patienten wird man das Recht geben müssen, zur Erreichung eines hohen
Zieles sich einer geringen Lebensgefahr zu unterwerfen, da dies ihm im
Leben bei zahlreichen anderen Gelegenheiten gestattet wird. Schliesslich
ist jede Eisenbahn- oder Dampfschiffahrt mit einer gewissen Lebensgefahr
verknüpft; nur zwingen die praktischen Verhaltnisse mitunter dazu. Und
diesen Grundsatz werden wir auch in der ärztlichen Praxis anwenden müssen.
Was die Anwendung neuer Heilmittel betrifft, so ist diese nur dann statt-
haft, wenn hinreichende Untersuchungen, besonders an Tieren oder an
Menschen, die sich dazu freiwillig bereit erklärt haben, vorausgegangen sind.
Sckluss der Sitzung: 9 Uhr.
Berichte und Besprechungen.
Theodor Benda, Dr. med. Die Schwachbegabten auf den
höheren Schulen. Nach einem Vortrag, gehalten im
Berliner Verein für Schulgesundheitspflege. Sonder-Ab-
druck aus „Gesunde Jugend", II. Jahrgang, 1./2. Heft.
Leipzig und Berlin, Druck und Verlag von B. G. Teubner.
1902. 0.60 Mk.
Berichte und Besprechungen.
Der Vortragende beleuchtet vom medizinischen Standpunkt die An-
forderungen, welche die heutigen' Lehrpläne an unsere Schüler stellen, und
findet, da>8 sie auf die Fähigkeiten der Mehrzahl von ihnen nicht genügend
Rücksicht nehmen. Denn trotz Nachhilfeunterricht, trotz Anwendung anderer
Zwangsmittel verlassen 40% die Schule, ohne die Berechtigung zum ein-
jährigen Dienst erlangt zu haben. Nur den Hoch- und Vielseitigbegabten
ist es vergönnt, das Ziel in der vorgeschriebenen Zeit zu erreichen. Doch
auch bei ihnen werden die Anstrengungen der Schulzeit schädlich auf die
Gesundheit einwirken. Sind doch gerade unsere besten Schüler sehr häufig
von schwacher Konstitution, erblich belastet und nervös veranlagt. Ist es
doch eine merkwürdige Thatsache, dass die Musterschüler vielfach im
späteren Leben den Erwartungen, die man an sie geknüptt hat, nicht ent-
sprechen. Sie erheben sich nicht über das Niveau des Mittelmassigen oder
werden von schwerer Nervenschwäche heimgesucht, die es ihnen unmöglich
macht, irgend welche Position zu erlangen. Am wenigsten gefährdet wird
die Gesundheit der Schüler, die, wohl begabt, nicht Lust zum Arbeiten
haben, sich aber auf ihre Begabung und Geistesgegenwart, verlassen und
sich sozusagen durch die Schule „hindurchschwindeln*.
Zu weit mehr Bedenken dagegen geben in gesundheitlicher Beziehung
die Mehrzahl der Schwachbegabten Anlass. Benda teilt sie in 2 Kategorien:
die in pathologischem Sinne Schwachbegabten, d. h. die Schwachsinnigen,
und die nnr verhältnismässig, d. h. nur für die Anforderungen der Schule
zu schwach Begabten. Zu den letzteren gehört der Dnrchschnittsschttler,
ferner der ganz individuell Veranlagte, der wohl in der Schule infolge
Widerstreit zwischen seinen Anlagen und den Anforderungen minderwertige
Leistungen aufweist, ohne dass man ihn als absolut minderwertig bezeichnen
könnte. Eine andere Kategorie sind die Schüler, die in einem Fache
glänzende Fähigkeiten zeigen, in einem andern Fache dagegen wenig leisten«
Dann findet man Schüler, die hochbegabt sind, doch auf der Schule nicht
gut fortkommen, weil die Eigenart ihres Geistes sich dem mechanischen
St hulbetrieb nicht anzupassen vermag, z. B. Bismarck. Bei anderen tritt
die geistige Entwickelung erst verspätet ein, nimmt dann aber einen un-
geahnten Aufschwung. Man denke nur an Pestalozzi, Alexander v. Humboldt
und Darwin. Auch körperliche Unzulänglichkeiten und Fehler der Sinnes-
organe sind oft die Ursache zu schlechten Leistungen.
Die wirklich Schwachbegabten setzen sich aus Schwachsinnigen höheren
Grades — sie werden schon in der Vorschule ausgemerzt — , aus Schwach-
sinnigen leichteren und leichtesten Grades und aus den sogenannten psycho-
pathischen Minderwertigkeiten zusammen. Unter den letzteren findet man
vielfach glänzend begabte Schüler, dann solche, die sich durch leichte Er-
müdbarkeit, Sprnnghaftigkeit des Denkens, Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit
zu konzentrieren und verringerte Willensenergie auszeichnen; bei anderen
zeigt sich eine Schwäche auf moralischem Gebiet; das sind die Wider-
spenstigen, die bösartig Faulen.
Am besten erkennt man die Wichtigkeit der Unterschiede in den
natürlichen Anlagen der Schüler, wenn man sich klar macht, welch eine
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Berichte und Besprechungen.
261
Ueberlast von Arbeit diese Ungeeigneten zu überwältigen haben. Neben
einem 5— 7 ständigen Unterricht in den höheren Klassen haben sie noch
3 — 4 Stunden auf die häuslichen Aufgaben zu verwenden. Dazu kommt
bei vielen der Nachhilf Unterricht, ferner häufig fakultative Stunden, Musik-
unterricht u. s. w. Solche enorme Inanspruchnahme des jugendlichen Ge-
hirns kann nicht spurlos an den Schülern vorübergehen. Grosse Beachtung
verdient auch die seelische Beteiligung des Schülers. Die fortwahrenden
Misserfolge, die Kränkungen des Ehrgefühls, die trübe häusliche Atmo-
sphäre, vor allem das niederdrückende Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit
müssen nachteilig auf ein empfängliches Kindergemüt wirken.
Was kann zur Abhilfe dieser Uebelstände geschehen? Vom hygienischen
Standpunkt fordert Benda vor allem: Energische Herabsetzung der Lehr-
ziele. Um sie durchzuführen, schlägt er grössere Spezialisierung der An-
stalten und Verringerung des Gedächtniskrames vor. Vielleicht könnte die
allgemeine Bildung mit der Untersekunda abschliessen und die oberen
Klassen in eine Zwischenstufe zwischen Schule und Universität verwandelt
werden. Die Unterrichtsgegenstände wären wahlfrei; es brauchten nur die
betrieben zu werden, die für den späteren Beruf vorbereiten. Hier sollten
die jungen Leute auch die Grundbegriffe der Pädagogik, Volkswirtschafts-
lehre, Gesundheitslehre und Gesetzeskunde kennen lernen. Doch eine solche
Entlastung, so giebt Benda selbst zu, ist in der nächsten Zeit nicht zu er-
warten. Sie ist auch sicherlich schwer durchzuführen, will man nicht die
pädagogischen Forderungen schädigen. Im Gegenteil, die Ansprüche werden
sich immer vermehren. Denn eine Verfeinerung der Lehrmethode stellt er-
höhte Anforderungen an die Aufmerksamkeit der Schüler, die Wissensgebiete
erweitern sich, und mit ihnen auch das Material zu den Schulrächern.
Leichter dagegen ist eine Herabsetzung der Schülerzahl durchzuführen,
wodurch auch eine Verminderung der Stundenzahl erzielt wird. Ferner
empfiehlt Benda die Einführung von Neben- und Hilfsklassen, die den
Einzelunterricht ersetzen sollten, der sonst nur den Bemittelten zugänglich
ist. Mit allem Nachdrucke verlangt er, dass, wer in diesen Nebenklassen
als für die wissenschaftliche Bildung unfähig befunden wird, im eigensten
Interesse von der höheren Schule ausgeschlossen werden sollte.
Berlin. W. Krause.
Zu dem gleichen Thema schreibt uns unser Mitarbeiter, Herr Direktor
Dr. Karl Löschhorn:
Der Berliner Nervenarzt Dr. Benda hat vor kurzem im Berliner Verein
für Schulgesundheitspflege einen hochinteressanten Vortrag über die schwach-
begabten Schüler unserer höheren Lehranstalten gehalten und denselben
auch im Druck erscheinen lassen. Verfasser hat darin gezeigt, dass der
Durchschnittsschüler den in den neuen Lehrplänen gestellten Anforderungen
zu genügen durchaus nicht imstande ist, am allerwenigsten, wenn daneben,
wie es thatsächlich oft der Fall ist, seine häuslichen Verhältnisse ungünstig
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 5
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262
Berichte und Besprechungen.
sind. Ueberhaupt empfiehlt es sich dringend, auch in Zukunft das hie und
da schon angeschnittene Thema über den jedesmaligen Einfluss der Häus-
lichkeit auf die Leistungen und die Gesamtentwicklung der Schüler immer
noch gründlicher zu untersuchen und diese Untersuchungen auch einmal
auf die Feststellung des Einflusses der Lebensweise der Studierenden auf
den Erfolg ihres Studiums auszudehnen, sowie das vorgeschriebene, praktisch,
keineswegs mehr zu empfehlende frühe Schlafengehen und frühe Aufstehen,
der Alumnen in den alten Fürsten-, Kloster- und Domschulen, welches
notorisch eine grosse Schläfrigkeit in den Nachmittagsstunden bei den
Schülern erregt und sie, da ihr ganzes Anstaltsleben nach der Uhr geregelt
ist, zur Hast und Ueberanspannung ihres Gehirns antreibt, mitzuberück-
ßichtigen. Namentlich dürfte das Aufstehen aller Alumnen, sogar der
Tertianer, um 5 Uhr früh, selbst im Winter, und die obligate Arbeitsstunde
aller dieser Schüler von 6—7 Uhr vor Beginn des Vormittagsunterrichts
sich als wenig zeitgemäss mehr erweisen, natürlich auch das Schlafengehen,
aller Alumnen, selbst zwanzigjähriger Primaner, um */4 9 Uhr nach Art der
Hühner. Dasselbe findet erstens viel zu früh nach dem Abendessen statt
und entzieht den beteiligten Schülern auch die zur Sammlung und Privat-
lektüre so notwendige freie Zeit. Dazu kommt, dass sie noch am Abend
von den Anstrengungen des Tages meist so aufgeregt sind, dass sie erst
mehrere Stunden später wirklich einschlafen und bereits wieder aufstehen,
müssen, wenn sie sich noch im besten Schlafe befinden. Welcher ehemalige
Alumnus erinnert sich nicht noch gern des Sonntages, des sogenannten
„Ausschlai'etages", an dem man eine Stunde länger als sonst ausruhen durfte!
Auf der anderen Seite steht fest, dass es sehr viele Schüler höherer
Lehranstalten giebt, welche unter den drückendsten Verhältnissen leben, ja
sich oft genug kaum genügend ernähren können. Sie müssen ferner nicht
selten in dem einen Raum, welcher während des ganzen Tages allen,
Familienmitgliedern zum alleinigen Aufenthaltsorte dient, ihre Schularbeiten
machen, bei deren Anfertigung sie vielfach durch den Lärm jüngerer, oft
noch ihrer Beaufsichtigung mitunterstellter Geschwister gestört werden.
Viele solcher Schüler müssen ausserdem noch sehr zahlreiche Privatstunden
erteilen und mit dem pekuniären Ertrage derselben ihre Angehörigen unter-
stützen, ja mit ernähren helfen; sie müssen die Privatschüler aufsuchen,
dabei nicht selten verschiedene, ganz entfernte Stadtteile durchlaufen, wor-
unter ihr Körper stark leiden kann. Es stellen sich bei solchen fortwährend
abgehetzten Schülern schon früh häufig genug asthmatische Beklemmungen
ein, die ihnen das Sprechen und mittelbar dadurch ihr ganzes weiteres Fort-
kommen erschweren, denn „der Vortrag macht des Redners Glück", d. h.
besonders des Theologen, aber auch unter gewissen Umständen des Juristen
und des höheren Lehrers. Erwägt man nun, wieviel Zeit einem solchen,
beständig in Aufregung befindlichen Schüler zu einer rationellen Anfertigung
seiner Schularbeiten, die die grösste geistige Sammlung verlangt, bleibt —
wahrlich, man wird sich oft über schnell hingeworfene Arbeiten und mangel-
hafte Fortschritte solcher armen Schüler nicht wundern können. Dabei
wollen wir noch garnicbt einmal in Betracht ziehen, dass solche bedauerns-
werten jungen Leute gar keine Müsse oder Gelegenheit finden können, sich
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Strickte und Besprechungen.
263
auch, nur die einfachsten Regeln der für das weitere Fortkommen so not-
wendigen gesellschaftlichen Bildung anzueignen. Wenn sie auch durch un-
weigerliche Pflichterfüllung selbst unter äusserst erschwerenden Umständen
ihren Charakter stählen, was allerdings nicht hoch genug angeschlagen
werden kann, so tritt doch bei jedem Menschen und besonders bei einem in
der körperlichen und geistigen Entwicklung begriffenen Schüler einmal ein
Augenblick ein, wo die Natur ihr Recht verlangt und gebieterisch aueruft:
„Bis hierher und nicht weiter!'* Solche armen Schüler lernen auch zu früh
den sozialen Gegensatz der Stunde kennen, was nur zu ihrem Nachteil
dienen kann. Denken wir uns nun daneben den Sohn reicher Eltern, die
ihm nicht den geringsten Wunsch versagen; er speist täglich an wohl-
besetzter Tafel, hat. ein eigenes Arbeitszimmer, alle erlaubten und uner-
laubten Hülfsmittel zum Lernen und Anfertigen häuslicher schriftlicher
Arbeiten, alle gewünschten unterhaltenden Bücher werden ihm angeschafft:
er wird möglichst früh in alle Gesellschaften mitgenommen, besucht Konzerte
und Theater nach Herzenslust, macht sich über seine armen Mitschüler
lustig, die er mit den Bedienten seines elterlichen Hauses vergleicht —
welch' ein Unterschied ! Beide Arten von Schülern sollen den Anforderungen
der Schule gentigen und doch — was müsste man alles bedenken, um
schwächere Leistungen beider, wenn eie plötzlich einmal bemerkbar werden
sollten, psychologisch zu erklären!
Wollstein (Posen). Karl Löschhorn.
Paul Joh. Müller, Moderne Schulbänke. Vortrag, gehalten auf
der Versammlung der Polytechnischen Gesellschaft zu
Berlin. Sonderabdruck aus dem „Polytechnischen Central-
blatt." 1902. Berlin-Tempelhof, Schulhaus-Verlag. 0,60 Mk
Der Vortrag giebt einen Ueberblick über die Forderungen, die man im
Interesse der Hygiene an eine gute Schulbank stellen mnss, und Uber die
Versuche, die schwierige Aufgabe praktisch zu lösen. Zwei Postulate muss
jede hygienisch zweckmässige ^itzeinrichtung erfüllen: sie muss sicher und
bequem Bein. Sicher wird man sitzen, wenn der Schwerpunkt des Körpers
genügend unterstützt ist; bequem, wenn der Ermüdungszustand möglichst
weit hinausgeschoben wird. Kurz und treffend erörtert der Vortragende
die Punkte, wann diesen beiden Forderungen genügt ist. Eine grosse An-
zahl von Schulbankkonstruktionen ist gemacht worden: Kloppsitze, Pendel-
sitze, Schiebesitze und Drehsitze, ferner das Schiebepult und das Klapppult;
doch bal ?n sie sich nicht bewährt, und man ist wieder zur festen Schulbank
zurückgekehrt, und zwar zur zweisitzigen, die allein bei Anwendung des Fuss-
brette« und des an den Aussenseiten verkürzten Sitzbrettes dem Schüler
die Möglichkeit giebt, beim Aufstehen seitlich in den Zwischengang zu
treten. Die Minus- oder PlusdiiFerenz spielt nach dem Vortragenden nicht
die Rolle, die man ihr gewöhnlich zuerkennt. Er bespricht dann die Be-
ziehungen zwischen Schulbankanordnung und Ventilation und geht kurz
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Berichte und Besprechungen.
auf die interessanten Untersuchungen von Suck ein, aus denen sich ergiebt,
dass sich auf den Mittelplätzen mehrsitziger Bänke die Kohlensäure stärker
anhäuft als an den Ecken. Berücksichtigung verdient auch die Tempe-
rierung der Schulstnbe. Es ist bekannt, dass der Fussboden eine niedrigere
Temperatur aufweist als die Zimmerluft, sodass der Schüler im Widerspruch
zu der Regel sitzt: Kopf kalt, Füsse warm. Diesen Uebelstand beseitigt
das bereits erwähnte Fussbrett. .Eine der wichtigsten Fragen der Schul-
hygiene ist die Beseitigung des Staubes. Um eine gründliche Säuberung
des Klassenzimmers zu erzielen, empfiehlt der Vortragende Bänke, die ent-
weder zum Hin- und Herschieben frei auf den Boden gestellt oder seitlich
umgelegt werden können.
Zum Schluss seien noch die trefflichen Abbildungen erwähnt, die das
Verständnis für die interessanten Ausführungen erleichtern.
Berlin. W. Krause.
Türkheim, Dr. J. Zur Psychologie des Willens. Stahel'sche
Verlags.anstalt in Würzburg. 181 S. 2,40 M.
In seinem Buche „Zur Psychologie des Willens" versucht der Verf.
eine selbständige Lösung dieses wichtigen, aber auch äusserst schwierigen
Problems der Psychologie. Im Anschluss an eine Zusammenstellung der
Definitionen des Begriffes .Willen", die einige neuere Forscher gegeben
haben, weist er zunächst nach, dass mehrere dieser Definitionen ganz un-
zutreffend, alle aber nicht erschöpfend sind, dass sie sämtlich den Begriff
des Willens zu eng fassen, da sie nur diejenige Form des Willens berück-
sichtigen, die man „Absicht", „Vorsatz", „Entschluas" nennt. Dieses sind
jedoch nur Unterarten, Varietäten eines allgemeinen Willens. Es ist ein
Unterschied zwischen Willen im weiteren und im engeren Sinne zu machen.
Der Entschluss ist die höchste uns bekannte Unterart des allgemeinen
Wollens. Nur mit Hilfe des Wissens, dieser ausschliesslich dem Menschen
zukommenden, wunderbaren Fähigkeit, ist es möglich, dass sich das all-
gemeinere Wollen in einen Entschluss verwandele. „Wollen im engeren
Sinne, sich entschliessen, sich vornehmen, beabsichtigen, heisst: „sich als
Ursache eines zukünftigen, einstweilen nur vorgestellten Geschehens oder
Unterlassens wissen". Die vom Verf. gegebene Definition des Wollens im
weiteren Sinne lautet: „Wille ist derjenige Zustand der Seele, der jedem
psychischen Geschehen notwendig voraufgehen muss." Der zu Entschluss
und Handlung führende Seelenznstand wird „Motiv" oder „Beweggrund"
genannt. Wir thun nichts ohne einen solchen Beweggrund und vermögen
alle unsere Handlungen zu motivieren, d. h. den Seelenzustand anzugeben,
der uns zu ihrer Ausführung veranlasste. Jedes Motiv führt notwendig
zu einer Handlung oder zur Unterlassung einer solchen. Der
psychische Zustand, der unserm Willen voraufgeht, der ihn bedingt
und ihm seinen Inhalt giebt, heisst Gefühl. Ohne ein bestimmtes
Gefühl ist der Wille zu einer bestimmten Handlung nicht denkbar. Sobald
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aber die Handlung vollendet ist, verschwindet das Gefühl, es hört auf zu
sein und zu wirken. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, erscheint der
Mensch als das Werkzeug seiner Gefühle; seine Handlungen sind ihm nicht
Selbstzweck, sondern erfolgen nur, weil er Bich eines treibenden, drängenden
Gefühls entä assern will. So oft wir wollen, so oft wir zu einer bestimmten
Handlung entschlossen sind, immer können wir mit Sicherheit ein Gefühl
in uns bezeichnen, das unsern Bewegungsapparat gerade nach der einen
bestimmten Richtung hin in Thätigkeit versetzt. Wir kennen nun zwei
Arten von Gefühlen, die Lust- und die Unlust-Gefühle. Als Lust bezeichnen
wir denjenigen Zustand, dem wir unserer Natur nach zustreben, den wir
festzuhalten suchen; dagegen ist Unlust derjenige Seelenzustand , den los-
zuwerden, zu ertöten wir stets bestrebt sind. Da nun aber jedes Gefühl,
sofern es Motiv wird, den Menschen zwingt, sich seiner zu entledigen, so
ergiebt sich mit Notwendigkeit, dass diejenigen Seelenzustände oder Motive,
die eine Willkürhandlung auszulösen erforderlich oder im Stande sind,
sämtlich aus der Reihe der Unlustgefühle stammen. Ein Lustgefühl kann
seiner innersten Natur nach niemals sich in Handlung umsetzen ; denn indem
wir handeln, würden wir es vernichten, und wenn wir es nicht mit aller
Kraft und gegen alle Widerstände festzuhalten suchten, so wäre es eben
kein Lustgefühl. Die allgemeinste Bezeichnung aller unangenehmen, lästigen
Gefühle ist das Wort „Schmerz" oder „Schmerzgefühl". Indem der Verf.
den Begriff „Schmerz" verallgemeinert, versteht er darunter jeden psychischen
oder Gemütszustand, den wir los sein möchten. Im weiteren zeigt er an
Beispielen die Identität des Motivs mit dem Schmerzgefühl. Die physio-
logischen Bedürfnisse der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidungen sind
uns als Schmerzen bewusst, Hunger und Durst thun weh, die niederen
Körperfunktionen vermögen wir nur unter den heftigsten Schmerzen zu
unterdrücken. Aber auch alle höheren sittlichen und unsittlichen Regungen,
wie z. B. das Pflichtgefühl, der Ehrgeiz, der Wissonstrieb, die Neugierde
u. s. w. müssen als schmerzliche Regungen der Seele bezeichnet werden.
Man vergegenwärtige sich nur, wie irgend eine übernommene Verpflichtung
einen gewissenhaften Menschen quält, wie sie ihm alle Ruhe raubt und
ihn von jeder anderen Beschäftigung abzieht, wie unbehaglich ihn schon
der Gedanke stimmt, dass ein dazwischen tretendes Ereignis ihn an der
Erfüllung hindern könnte; man beachte, dass der Ehrgeizige den Drang nach
öffentlicher Anerkennung und Auszeichnung als etwas unendlich Quälendes
empfindet, das mit Gewalt zur Befriedigung treibt, und man wird diese
Zustände unbedenklich in die Reihe der Unlustgefühle einordnen. — Psycho-
logisch sind alle Gefühle, sofern wir uns ihrer entledigen wollen, gleichwertig;
ihnen allen ist etwas Spannendes, Quälendes, Krampfartiges eigen. Sie sind
alle nur Schattierungen und Abstufungen der einen grossen Grundempfindung
Unlust oder Schmerz.
Das Vorhandensein eines bestimmten Seelen Vermögens, Wille genannt,
gilt den älteren Psychologen und den Laien als voUbegrtindete Thatsache.
Nach der üblichen Annahme verläuft der psychische und psychomotorische
Vorgang beim Zustandekommen einer Handlung in der Reihenfolge: Motiv,
Wille, Bewegung. Der Verf. bemüht sich dagegen, im Einverständnis mit
266
Berichte und Besprechungen.
der modernen Psychologie nachzuweisen, dass es einen Willen in dem früher
angenommenen Sinne als besondere Seelenkraft, einen einheitlichen, ab-
strakten Willen oder ein Willensvermögen gar nicht giebt, sondern dass
nur einzelne zusammenhangslose, sich gegenseitig fördernde oder hemmende
Willensregungen vorhanden sind. In den folgenden Paragraphen führt T,
die physiologischen, psychologischen und logischen Bedenken an, die gegen
die Dreizahl Gefühl, Wille, Handlung sprechen und zeigt, dass das Wesen
des Willens bei den drei uns bekannten Formen des Handelns, den Reflex-,
Trieb- und Entschlußs-Handlungen stets dasselbe ist, nämlich Unlust oder
Schmerz, und dass nur die Beteiligung des Intellekts eine immer umfang-
reichere wird. Die höchste menschliche Leistung und die einfachste
automatische Bewegung des niedrigsten Tieres 6ind ihrem Wesen nach ganz
gleichartig; denn beides sind Willenshandlungen. Beide sind durch den
nämlichen seelischen Vorgang, durch ein Gefühl, einen Schmerz, einen Willen,
veranlasst. —
Auf den Zusammenhang zwischen Schmerz und Willen haben auch
schon andere Forscher — Schopenhauer, M. v. Frey — aufmerksam gemacht.
Während nach T. alle Motive zu den Schmerzgefühlen zu zählen sind, und
jedes Schmerzgefühl seiner Natur nach Motiv werden kann, kommt der
Psychologe Rehmke zu dem entgegengesetzten Ergebnis. Da die Wundtsche
Auffassung des Willens wesentlich von der vom Verf. vertretenen abweicht,
hält sich T. für verpflichtet, seine Ansicht Wundt gegenüber in einem
besonderen Abschnitte am Schlüsse des ersten Teils seines Buches zu ver-
teidigen.
Die Ausführungen im zweiten Teil seiner Arbeit hat der Verf. „Wille
und Seele" überschrieben. Er handelt hier eingehend von den Gefühlen
im allgemeinen, ihrem Sitz und Ursprung, ihren Beziehungen zum übrigen
Bewusstseins-Inhalt, ihrer Einteilung und ihren unterscheidenden Merk-
malen, vom Kampf der Gefühle und der Willensfreiheit. Er kommt zu
dem Schluss, dass jede einzelne Wollung, jedes einzelne Schmerzgefühl,
jedes einzelne Motiv — drei Namen für einen und denselben Begriff — mit
dem gesamten Intellekt und dem gesamten motorischen Apparat in un-
mittelbarem Zusammenhang steht und wiederum durch die entsprechenden
intellektuellen Vorgänge zur Wirksamkeit gebracht werden kann, dass somit
jedes Gefühl Vorstellungsreihen wie auch Bewegungsreihen, d. h. Handlungen
auszulösen vermag. Weiter folgert er, dass ein solcher unmittelbarer
Zusammenhang der Gefühle unter einander nicht nachweisbar ist und eine
Gemütserregung erst immer vermittelst Einleitung geistiger Vorgänge ein
zweites Gefühl ins Bewusstsein zu heben vermag. In dem Kampf der
Gefühle entscheidet nur die Stärke. Das stärkere Gefühl wird stets zuerst
Motiv und setzt sich in Handlung um. Der uralten Frage, ob der Wille
frei oder unfrei ist, giebt der Verf. die genauere Fassung: Können wir
wollen oder müssen wir wollen? und beantwortet sie in dem letzteren
Sinne, indem er die Willensfreiheit unbedingt verneint.
Weitere Abschnitte haben den Charakter, seine Herkunft, seine Be-
ziehung zum Lebenslauf zum Gegenstand. Entscheidend für die Anwesenheit
bestimmter Charakterzüge oder Eigenschaften ist vor allen Dingen das
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Berichte und Besprechungen.
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Vorhandensein oder Fehlen entsprechender Gefühle von genügender Stärke.
Die Kenntnis der Zahl, der Art nnd der Stärke der am Anfbau eines indi-
viduell bestimmten Charakters beteiligten Gefühle genügt aber noch nicht
zum Verständnis des fertigen Charakters, da dieser Eigenschaften aufweist,
die nicht durch primäre Gefühlsregungen bedingt werden. Dagegen lässt
sich jeder gegebene Charakter einigermassen in seine Bestandteile zerlegen,
wenn man annimmt, dass das physiologische Verhalten der Gefühle nicht
in allen Seelen dasselbe ist, wobei unter Physiologie der Gefühle ihre ver-
schiedenartige Reaktion den sie treffenden Reizen gegenüber zu verstehen
ist. Die Thatsache, dass es dem Erzieher unmöglich ist, den jugendlichen
(Charakter umformend zu beeinflussen, dass die Erziehung ausser Stande
ist, vorhandene Gefühle und Eigenschaften auszurotten und fehlende ein-
zuimpfen, nötigt zu der Annahme, dass der Charakter nicht anerzogen, sondern
angeboren ist. „Der Mensch bringt, wie das Tier, seinen Charakter in der
Anlage mit auf die Welt; im Säugling sind schon alle Keime vorgebildet,
die in ihrer Ausbildung den Mann dereinst fördern und schädigen, zieren
und verunstalten werden. Das Leben liefert nur die äussern Reize, auf
die jede Seele in ihrer Weise antwortet; es schafft keine Charaktere, sondern
entfaltet und entwickelt sie nur." Da aber der Charakter des Kindes nichts
Abgeschlossenes, Fertiges ist, so ist der Einflnss der Erziehung auf seiue
Ausgestaltung doch nicht ganz zu leugnen. Mit dem wachsenden Organismus
entwickelt auch er sich. Ganze Gruppen von Gefühlen, das Mitleid, der
Erwerbs- und der Geschlechtstrieb, das Ehrgefühl und viele andere reiten
erst allmählich aus und verdrängen andere Regungen. Das Gesetz der
Vererbung gilt auch für alle seelischen und geistigen Eigenschaften. Was
ein Kind an körperlichen, geistigen und Charakter-Eigenschaften besitzt,
sein Leben und sein Wesen dankt es den Eltern. Auch der Verbrecher
wird als solcher geboren. Er selber ist ganz unschuldig an seinem Charakter.
Die Eigenschaften, die er einmal besitzt, kann er nicht ausrotten und die
fehlenden vermag keine Erziehung bei ihm zu entwickeln.
Mit dem Begriff der Glückseligkeit, die zu dem Willen in einem Ab-
hängigkeitsveshältnis steht, beschäftigt sich ein letzter Abschnitt. Der
Verf. definiert die Glückseligkeit als den Zustand der Lust und versteht
unter Lust den Übergang vom Schmerz des Wollens zur Ruhe des Nicht-
mehr- Wollen?.
Berlin. Wilhelm Eichler.
Nikolas Murray Butler, Religionsunterricht in der Erziehung.
Vortrag. Educational Review, Dez. 1899, New-York.
Der Verfasser sucht hier die Aufgaben zu erörtern, die dem Religions-
unterrichte in einem Staate erwachsen, wo er nicht als Lehrgegenstand in
den Schulen betrieben wird. Religiöse Erziehung, so beginnt er, ist ein
Teil der Erziehung überhaupt. Wahre Erziehung aber ist ein einheitliches
Ganzes, das keine chemische Analyse in Elemente duldet. Man dürfte also
268
Berichte und Besprechungen.
eigentlich nicht von religiöser Erziehung, ebensowenig wie von geistiger
oder körperlicher Erziehung, wohl aber von religiösem Unterricht, geistigem
und körperlichem Unterricht reden. Erziehung ist nun die Anpassung einer
Person, eines selbstbewussten Wesens, an die Umgebung und die Entwicklung
der Fähigkeit in einer Person, diese Umgebung zu modifizieren und zu
kontrollieren. Das erstere ist das konservative, rückblickende, das andere
das fortschrittliche, in die Zukunft schauende Element. Der Wert der
Vergangenheit liegt in ihren Lehren für die Zukunft Was uns nichts lehrt,
wird bald vergessen. Das Ueberleben eines Glaubens, einer Einrichtung ist
Beweis, dass sie mindestens wert sind, studiert und beachtet zu werden,
jedoch nur zu dem Zwecke, ihre lebendigen Grundsätze herauszufinden und
zu würdigen.
Was versteht man nun unter der gegenwärtigen Umgebung eines
Menschen? Erstens die physikalische Umgebung, und zweitens die un-
geheure Summe von Kenntnissen und ihre Ergebnisse in Gewohnheit und
Sitte, die man Zivilisation nennt. Das zweite Element ist das hauptsächliche
Element der Erziehung und umfasst fünf Gebiete. Eines Mannes Zivilisation
besteht aus seiner Wissenschaft, Litteratur, Kunst, seinem Staatsleben und
seinem religiösen Glauben. Die Erziehung ist nur dann eine solche zu
nennen, wenn sie sich wirklich auf alle fünf Zweige erstreckt. Dem
Religionsunterrichte gebührt also genau so viel Berücksichtigung und Pflege
wie den vier andern Elementen der Zivilisation. Dennoch nimmt er bei
weitem nicht die Stelle ein, die ihm zukommt. Den Grund für das Zurück-
treten des Religionsunterrichtes hinter dem weltlichen findet der Verfasser
zunächst in dem Umsichgreifen des Protestautismus, welches bewirkte, das»
die andern Zweige der Erziehung, die im Mittelalter nur im Dienste der
Religion gestanden hatten, selbständiger und gründlicher betrieben wurden.
Die Demokratie und ihre Ueberzeugung, dass die Leitung des Erziehungs-
wesens Sache des Staates sei. trug nun dazu bei, den Religionsunterricht
von der Schule zu trennen. Man empfand es als unbillig, dass ein einzelner
Glaube von den vielen durch Sektenbildungen entstandenen das Vorrecht
vor den andern haben sollte, und verlangte daher, den Religionsunterricht
dem Staate zu nehmen und den einzelnen Konfessionen und Sekten zu über-
lassen. Das geschah in Frankreich und den Vereinigten Staaten. Die
dortigen Schulen sind weder religiös, noch antireligiös, sondern rein neutral.
Wie gestaltet sich nun in solchen Ländern mit rein weltlicher Schule
der Religionsunterricht? Um die Möglichkeit zu geben, die Lücke, die sie
lässt, auszufüllen, sah sich die Schule genötigt, einen Tag der Woche ausser
Sonntag freizugeben. Die Aufgabe, von der so gebotenen Gelegenheit den
richtigen Gebrauch zu machen, fällt nun erstens der Familie, und zweitens
der Kirche zu. Mit Recht erwartet der Verfasser von der Thätigkeit der
Familie in dieser Beziehung nicht allzuviel. Die Hauptlast hat also die
Kirche zu tragen; und als bestes Mittel zur Erreichung des Zieles empfiehlt
der Verfasser die Einrichtung von Sonntagsschulen. An diese sind aber
ebenso hohe Anforderungen zu stellen, wie an die weltlichen Schulen. Ins-
besondere müssen die Lehrer gut vorgebildet sein, ein volles Verständnis
für die Entwicklung und die Fähigkeiten des Kindes haben. Eine Folge
Berichte und Besprechungen.
269
davon ißt, dass sie auch bezahlt werden müssen. In Bezug auf das, was
sie lehren, ist zu verlangen, dass sie es vor allem als. einen Teil der Er-
ziehung, als eine Ergänzung und nicht einen Gegensatz zu dem in der Schule
Gebotenen betrachten. Man muss über die Bibel und den Katechismus
hinausgehen und Geschichte, Erdkunde, Lebensbeschreibungen, Litteratur
und Kunst heranziehen, um zu zeigen, dass der Geist alles Leben durch-
dringt und alles Leben vom Geiste ist. Das Mass, in welchem man das
thut, muss natürlich von dem Alter und dem Verständnis der Schüler ab-
hängig sein. Die Aufgabe ist also nicht Beligion und Erziehung, sondern
Religion in der Erziehung. Diese Aufgabe soll aber mit allem Nachdruck
und Ernst ergriffen werden. Es darf nicht scheinen, als wäre der Religions-
unterricht etwas, was man nur nebenher mit abthnt, denn dann wird die
folgende Generation noch weniger Gewicht darauf legen, und schliesslich
wird er ganz verkümmern. Es ist aber notwendig, dass man etwas von
Religion, insbesondere vom Christentum weiss, ebenso notwendig wie dass
man Christ ist. Die Unkenntnis der Bibel muss aufhören. Es ist heute
soweit gekommen, dass ein Durchschnittsschüler das erste Kapitel von
Miltons verlorenem Paradiese als ein grosses Rätsel betrachtet. Und gerade
in dieser Beziehung könnte ein guter Religionsunterricht, der dahin wirkt,
dass man die Bibel wieder als lebendige Litteratur und nicht als Ansammlung
von Texten ansehen lernt, viel erreichen. Die Kenntnis der Religion ist
das vornehmste Mittel zur Erweckung und Läuterung der religiösen Ge-
fühle, und religiöse Gefühle sind ein wichtiges Mittel zur Charakterbildung.
La Psychologie dans ses rapports avec la Medecine. Par le Dr.
Ed. Claparede. Privat - Docent a l'Universite de Geneve.
Extrait de la „Revue m^dicale de la Suisse romande Nr. 10.
October 1901.
Die Erörterung eines solchen Themas bedarf keiner Rechtfertigung.
Die Psychologie ist so nahe der Medizin verwandt, dass ein Psychologe
ebenso sehr ein Anrecht darauf hat, in einer Vereinigung von Medizinern
das Wort zu ergreifen, wie ein Physiologe. Schon Aristoteles hat sie neben
den Naturwissenschaften gepflegt; in Descartes' Abhandlungen über den
„Menschen" und die „Leidenschaften" rindet sich ebensoviel Psychologie
wie Physiologie. Wo immer die erstere sich auf eine exakte Wissenschaft
gestützt hat, hat sie sich mit einem der Zweige der Medizin, Physiologie,
Neurologie, Anatomie oder Psychiatrie berührt. Mit Recht nannte daher
der deutsche Philosoph und Mediziner Lotze seine 1852 erschienene, keines-
wegs überwiegend medizinische Abhandlung: „Medizinische Psychologie".
Auch Wundt, Helmholtz, Charcot haben die grosse Bedeutung der Psycho-
logie für die Physiologie und Klinik wohl zu würdigen gewusst.
Dennoch hat sich, abgesehen von einigen rühmlichen Ausnahmen, die
grosse Mehrheit der Mediziner der Psychologie fern gehalten; zum Teil
aus Unkenntnis der Gegenstände und Aufgaben dieser Wissenschaft, zum
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Berichte und Besprechungen.
Teil, weil man nicht wusste, wo man diese den Körper beeinflussende
Seele fassen sollte. Mit der Bezeichnung »Metaphysik" oder „abstrakte
Wissenschaft" wurde sie höflich abgethan. So behauptet z. B. Mirallie\
dftss die Psychologie, als Verstandes Wissenschaft, sich auf der Medizin auf-
bauen lasse, nicht aber umgekehrt die Medizin aus psychologischen
Deduktionen, sondern nur aus Thatsachen ihre Lehren entnehmen dürfe.
Demgegenüber ist zu bemerken, dass der Ausdruck Wissenschaft
sowohl Beobachtung als auch verstandesmassige Ueberlegung enthält. Man
darf das erstere nicht für die Medizin allein beanspruchen und der Psycho-
logie abstreiten: „Auch die Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft,
die geistigen, inneren Thatsachen sind nicht minder wirkliche Thatsachen
als die Erscheinungen der Aussenwelt; die Psychologie ist das Verfahren,
aus den Bewusstseinsthatsachen, durch Vergleich mit den Angaben der
Gehirnphysiologie, Nutzen zu ziehen."
Die beiden ersten Punkte bedürfen keines Beweises: Die Sinnes-
wahrnehmungen und -bilder, die Willensäusserungen, kurz alles Psychische
sind Gegenstände der Wahrnehmung: sie werden unmittelbar erfahren
und nicht abgeleitet, und haben grössere Gewissheit als die Gegenstände
der Aussen weit.
Seit den ältesten Zeiten hat man eine gewisse Beziehung der Gehirn-
thätigkeit zu den Gedanken bemerkt. Wie war aber die Wechselwirkung
zweier solchen Gegensätze wie Körper und Seele zu erklären? Die Kluft
zwischen dem Psychisch-subjektiven und dem Physisch-objektiven ist eine
der klaflendsten, die wir kennen, obwohl es eines Descartes bedurft hat,
um sie zu erkennen. An einigen treffenden Beispielen weist der Verf.
nach, wie die subjektiven Thatsachen durchaus wesensverschieden von den
objektiven Thatsachen sind: „Während diese alle als im Räume gelegen,
als eine Summe von Bewegungen gefasst werden können, sind die Be-
wusstseinserscheinungen nicht auf Bewe^ng zurückftihrbar, haben keine
Grösse und sind nirgends gelegen." Die Lehre vom psycho-physischen
Parallelismus ist, wie der Verf. ausführt, am besten geeignet das Verhältnis
der körperlichen und geistigen Vorgänge zu veranschaulichen.
Der Verf. weist sodann den gewöhnlich erhobenen Vorwurf zurück,
dass die Psychologie ihre Fortschritte nur der Physiologie, Klinik und
Anatomo-Pathologie verdanke. Was diese Wissenschaften ihr bieten können,
hat die Psychologie längst überholt, und eben deswegen müssen die
Physiologen und Mediziner, wenn sie die den Bewusstseinsvorgängen ent-
sprechenden Veränderungen am Körper erforschen wollen, die Psychologie
zu Hilfe nehmen, die allein ihnen einen Ueberblick gewährt über das, was
im Gehirne vorgeht. Bei einer bildlichen Darstellung der beiden Er-
scheinungsreihen der Seele und des Körpers durch 2 Parallele müsste also
die die Gehirn Vorgänge veranschaulichende Linie weit mehr Lücken auf-
weisen, als die für die Bewusstseinsthatsachen.
Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass die Bewusstseinsvorgänge
unmittelbar gegeben sind, während die Beobachtung der Gehirnthätigkeit
auf ungeheure Schwierigkeiten stösst. Daher ist auch die Bezeichnung
eines physischen Vorgangs durch den entsprechenden Ausdruck der p6ycho-
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ttefichte und Besprechungen.
271
logischen Sprache im Allgemeinen der direkten Bezeichnung vorzuziehen.
Am Beispiele der Agraphie und der Uber sie aufgestellten Lehren wird
dies überzeugend dargethan.
Die Grunde, weswegen die Mediziner sich mit der Psychologie ver-
traut machen sollten, kann man unter zwei Gesichtspunkten zusammen-
fassen: 1. weil die Psychologie ihnen positive Dienste leisten kann, 2. weil
sie der Psychologie positive Dienste leisten können.
E6 versteht sich von selbst, dass die Psychologie neben der Psychiatrie,
der Behandlung der Hysterie, der Neurasthenie und aller diesen neuen
Krankheiten, die man heutzutage beschreibt, einhergehen mnss. Indem 6ie
diese bestimmen und behandeln, treiben die Aerzte Psychologie, wissentlich
oder ohne es zu wissen.
Die Erforschung der Störungen des Sinnesverni^gens schliesst eine
psychologische Prüfung ein; sie kann nur dann wirklich fruchtbar sein,
wenn man berücksichtigt, dass die Sinneseindriicke nicht allein von der
äusseren Sinneserregung abhängen, sondern dass eine rein centrale Reaktion
Bie abändern, falschen kann. Das ist der Fall bei den Sinnestäuschungen.
Münsterberg hat diese Einwirkung der Gedanken auf die Sinnes-
wahrnehmung gezeigt. Er zeigte während einer sehr kurzen Zeit ein auf
eine Karte geschriebenes Wort und rief zu gleicher Zeit ein anderes Wort
aus. Es zeigte sich, dass der Sinn des zweiten auf die Wahrnehmung des
ersten von Einfluss war. So wurde aus Tumult neben Eisenbahn „Tunnel",
Furcht neben Obst zu Frucht . . .
Aehnliche Irrtümer können sich bei Beobachtung der Tastempfindungen
zeigen, je nach der Aufmerksamkeit, die die Kranken dem Gefühlten
zuwenden.
Viele Wahrnehmungen, die wir für einfach halten, schliessen
Assoziationen und eine gewisse Gehirnarbeit ein, wie die Wahrnehmung
des Kaumsinns und die Unterscheidung der beiden SSpitzen des AesthesJo-
metere, die Wahrnehmung der Lage der Glieder, der Richtung der Be-
wegungen der Glieder, der Gestalt der Objekte. Dagegen scheint die
Wahrnehmung der Bewegung der Glieder einer reinen Empfindung zu
entsprechen. Der Mechanismus der Wahrnehmung des Gewichtes und des
Widerstandes iBt noch sehr dunkel. Experimentelle Psychologie und Klinik
können, auf verschiedenen Wegen und wo nötig mit gegenseitiger Unter-
stützung, diesen Problemen auf den Grund gehen.
Die Psychologie giebt auch Fingerzeige zur Behandlung gewisser
Krankheiten. Selbstverständlich, wenn man von der Einwirkung des
Moralischen auf das Physische spricht, so handelt es sich nicht, wie manche
den Anschein erwecken, um eine Einwirkung der Seele auf den Körper;
sondern, gemäss dem Parallelismus, darf man sich den seelischen Vorgang
als im körperlichen verdoppelt vorstellen. Die verschiedenen Suggestionen,
die man den Kranken mitteilt, haben selbst eine physikalisch-chemische
Analogie im Gehirn, und diese letztere ist es, welche auf die verschiedenen
Reflex- oder andern Centren der Körperthätigkeit einwirkt.
Verschiedene Psychologen haben versucht, die physiologischen Begleit-
erscheinungen der Bewegungen festzustellen: Gefäss-, Herzens- und
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Berichte und Besprechungen.
Atmungaveränderungen. Man darf also hoflen, dass man wirklich auf den
Bewegungszustand eines Individuums durch Medicamente Einfluss aus-
üben kann.
Ihrerseits kann die Medizin der Psychologie Dienste leisten. Die
Pathologie muss das Experiment ergänzen. Sehr viele Kapitel der normalen
Psychologie waren anfangs nur Psychologie des Krankhaften, wie die
Lehren vom Gedächtnis, dem Willen, von der Persönlichkeit.
Hier drängt sich die Frage auf: Welchen Zweck hat es, die Psycho-
logie zu fördern?
Man muss hierbei auf die Dienste eingehen, die sie leisten wird, wenn
sie weiter vorgeschritten ist. Wenn die Medizin den kranken Menschen
zum Gegenstande hat, so ist die Psychologie das Studium des normalen,
lebendigen, thätägen Individuums. Je mehr der Mensch sich selbst kennt,
desto mehr werden seine Handlungen den Zwecken angepasst sein, seine
Leiden vermindert und die Aussicht auf Glück um soviel erhöht werden.
Die Gesellschaft strebt, wie alle lebenden Organismen, danach, sich zu ver-
vollkommnen. Es ist klar, dass die Schnelligkeit dieser Entwicklung in
direktem Verhältnis steht nicht nur zur psychologischen Erziehung des
Individuums, sondern auch zur besseren Kenntnis der Gesetze, die die
Handlungen des Einzelnen, der Menge, der Oeffentlichkeit beherrschen.
Hieraus ersieht man den Nutzen der Psychologie für die Soziologie. Das-
selbe gilt von der Politik.
Die Kriminalogie kann kaum ohne Psychologie auskommen. Unsere
Rechts- und Strafeinrichtungen stecken noch in den Kinderschuhen, da sie
nur das Verbrechen in abstracto berücksichtigen und nicht auf eine psycho-
logische Untersuchung, die doch allein einen Massstab giebt, eingehen.
Mehr als alle andern vorerwähnten Wissenschaften erfordert aber die
Pädagogik die Unterstützung der Psychophysiologie. Leider wird das,
besonders von den Aerzten, immer noch zu wenig beachtet.
Zunächst liefert die Psychologie Untersuchungsmethoden für das
grosse Problem der Ueberbttrdung, der Uebung und der Buhe. Gewiss ist
die Ueberbttrdung zunächst eine Frage der Physiologie; aber, in Anbetracht
der Unmöglichkeit, die Nervenmasse direkt zu untersuchen, muss man ein
ferner liegendes Mittel suchen, um uns über ihren Zustand aufzuklären.
Da die Ermüdung auf Prozesse, die uns nur von ihrer Bewusstseinsseite
her bekannt werden können, einwirkt, so müssen die Erkennungszeichen
ihrer Störungen der inneren Erfahrung entnommen werUen. Insofern sind
die Untersuchungen über den Tastsinn, die Ideenassoziation und alle die
auf Wertschätzung der geistigen Arbeit gegründeten psychologische Unter-
suchungen. Durch zahlreiche Ermüdungsmessungen kann man ermitteln,
welche Lehrstunden am meisten ermüden, in welche Tageszeit man sie
also legen muss, welches die ideale Dauer der Buhezeit ist, lang genug
zur Erholung und kurz genug, um nicht die schon gewonnene Uebung zu
vernichten n. s. w.
Einen Schüler vor Ueberbürdung zu bewahren ist indessen nicht alles.
Er muss vor allen Dingen lernen; und das Anhäufen von unerlässlichen
Kenntnissen wird bei dem Fortschreiten der Wissenschaften immer
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Bericht* und Besprechungen.
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schwieriger. Man muss den Schüler in die günstigsten Bedingungen für
seinen Unterricht bringen, und daher das Lehrverfahren dem Schüler an-
passen, d. h. verschiedene Mittel für die verschiedenen Typen haben. Die
Psychologie hat diese verschiedenen Typen aufzustellen, Typen des Ge-
dächtnisses, der Phantasie, der Aufmerksamkeit, des Urteilen» u. s. w., die
jeder für sich eine besondere Pflege erfordern. Dies ist eine langwierige
und schwierige, aber verheissungs volle Arbeit.
Alle diese Reformen sind aber nur möglich, wenn die grosse Masse
sich ihres körperlichen und sittlichen, materiellen und geistigen Wertes
bewusst wird. Niemand aber als der praktische Arzt ist besser in der
Lage, die Alltagsgeister über die nenen gesunden Gedanken aufzuklaren.
Da vor allem moss er Psychologe sein.
Berlin. Oehme.
Hans Cornelius, Grundsatze und Lehraufgaben für den
elementaren Zeichenunterricht. B. G. Teubner.
1901. — 40 S.
C. hat die an unseren Elementarschulen übliche Methode des Zeich-
nens durch den Augenschein kennen gelernt, indem er, einer Einladung
des Münchener Stadtschulrates Kerschenstciner folgend, die Zeichenklassen
einiger Elementarschulen besichtigte. Seine Ausführungen beziehen sich
ausschliesslich auf den elementaren Zeichenunterricht; bezüglich der Be-
handlung der künstlerischen Aufgaben im Schulunterrichte begnügt er sich,
einige kurze Bemerkungen in einem Anhange beizufügen.
Während die herkömmliche Methode des Zeichenunterrichts auf der
Voraussetzung beruht, dass das Zeichnen als technische Fertigkeit der
Hand Selbstzweck und die Ausbildung der Hand Hauptziel des Unter-
richts sei, ist C. der Ansicht, dass keine künstlerische Leistung befriedi-
gend ausfallen und keine auf Verständnis seitens des Beschauers rechnen
könne, wenn nicht bei dem schaffenden Künstler wie bei dem Beschauer
der Gesichtssinn in erster Linie ausgebildet ist. Er fordert daher
als ersten Zweck des elementaren Zeichenunterrichts die Ausbildung des-
selben. C. geht auf die bisherigen Reformbestrebungen näher ein. Die oft
geforderte Reform des elementaren Zeichenunterrichts nach künstlerischen
Prinzipien hält er für nicht ausführbar wegen des Mangels an Klarheit
über diese. Auch von der wissenschaftlichen Aesthetik erwartet C. keine
zufriedenstellende Auskunft über die fraglichen Grundsätze, weil man ihr in
Rücksicht auf die Irrwege, die sie gewandelt ist. keinen massgebenden
Einfluss einzuräumen vermag. Ucber alle speziellen künstlerischen Prin-
zipien stellt er darum die eine Forderung: Erziehung des Auges.
Zu dieser Ausbildung hält C. eine Kontrole unserer Gesichtsvorstcllun-
gen durch den Versuch ihrer Wiedergabe in sichtbarer Form — also durch
Zeichnung — für erforderlich, und diese Kontrole zu üben, ist die natür-
liche Aufgabe des elementaren Zeichenunterrichts.
Unsere Kenntnis der Welt gründet sich durchgängig auf Wahrneh-
mungen unserer Sinne. Wir besitzen eine thatsachlichc Kenntnis der
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Berichte und Besprechungen.
sichtbaren Gegenstände nur soweit, als in unserem Gedächtnis eine be-
stimmte Gesichtsvorstellung des Gesehenen haftet. Die erwähnte Kon-
trole muss also durch das Zeichnen aus dem Gedächtnis er-
folgen, und dieses muss nach C. unbedingt mit dem bisher allein üblichen di-
rekten Nachzeichnen vorgelegter Modelle kombiniert werden; denn wie im
sprachlich formulierten Urteil unser begriffliches Denken, so findet in der
Gedächtniszeichnung das Vorstellen gesehener Formen seinen festen
Ausdruck. Andererseits aber hält C. das Zeichnen nach der Vorlage zur Er-
lernung der Auffassung von Grössen- und Lagen Verhält-
nissen in der Ebene, sowie für die Erziehung der Hand für unent-
behrlich.
Damit nun die Hand dem Auge zwangslos gehorcht, sodass sie das,
was jenes erblickt, wiederzugeben imstande ist. muss ihre Erziehung mit
der des Auges parallel gehen, und dies ist der dritte Grundsatz C.'s, nach
welchem er den Zeichenunterricht reformiert sehen will. Damit die Hand
dem Auge gehorchen kann, muss sie unbehindert sein, daher empfiehlt C
als erste Uebung Skizzen in grossem Format aus dem Schultergelenk mit
freibewegtem Arm nach Vorlage — nicht aus dem Gedächtnis — gezeichnet.
Aus seinen Grundsätzen leitet C. zwei Lehraufgaben ab.
Die erste Aufgabe, welche für die Erziehung des Auges zu lösen ist,
muss in der Orientierung über die Grössen- und Lageverhältnisse im
flächenhaften Sehfeld bestehen. Die Auffassung der Verhältnisse der
flächenhaften Erscheinung ist für alle weitere Orientierung über die sicht-
bare Welt die unentbehrliche Grundlage.
Diese ersten Uebungen sollen, wie C. besonders hervorhebt, nur an
ebenen Objekten stattfinden, d. h. an solchen, iür deren Betrachtung keine
Entfernungsunterschiede in der Tiefenrichtung (der dritten Dimension)
in Frage kommen.
Zur Erklärung seiner zweiten Aufgabe, in der die Einübung der Orien-
tierung über die Verhältnisse im dreidimensionalen Raum gefordert wird,
stellt C. den Satz auf, dass wir Gesichtsvorstellungen von der Form der
Dinge nur soweit besitzen, als wir einerseits charakteristische Ansichten
der Dinge kennen und andererseits in diesen charakteristischen Ansichten
eben diejenigen Merkmale aufgefasst haben, an welchen wir uns über die
räumliche Form der Gegenstände orientieren.
C. versteht hierbei unter einer „charakteristischen" oder, wie er an
anderer Stelle sagt, „sprechenden" Ansicht eines Dinges eine solche, aus der
wir die Form des Gegenstandes jederzeit wiederzuerkennen vermögen. Das
Gegenteil einer solchen Ansicht nennt C. eine „nichtssagende".
Unsere Ansichten der Gegenstände bleiben, wie C. ferner ausführt,
solange nichtssagende, d. h. unsere Gesichtsvorstellungen der räumlichen
Formen solange unvollkommen, bis wir sie durch ein besonders auf dieses
Ziel gerichtete Thätigkeit entwickelt haben.
C. unterscheidet hier zwischen einer blossen „begrifflichen Kenntnis"
einer Form und der „sichtbaren", d. h. „einheitlichen Gesichtsvorstellung":
Es würden sich also einerseits „rein begriffliche Kenntnis" und „nichts-
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Berichte und Besprechungen.
275
sagende Ansicht", andererseits „sichtbare oder einheitliche Gesichtsvor-
stellung" und „charakteristische oder sprechende Ansicht" decken.
Der Schüler hat also erstlich die charakteristischen Ansichten der
Dinge von den nichtssagenden unterscheiden zu lernen und andererseits sich
über jene Merkmale klar zu werden, die ihm in der sichtbaren Erscheinung
die Anweisung auf die räumliche Form des Gesehenen geben. Hieran
schliesst dann C. seine Ausführungen über die praktische Verwirklichung
seiner genannten Forderungen.
Was die künstlerischen Aufgaben anbetrifft, so hat C. dieselben, wie
schon erwähnt, nur kurz in einem Anhange behandelt, da dieselben jenseits
der Grenzen des Elementarunterrichtes fallen; es erübrigt sich daher auch,
hier näher darauf einzugehen.
Berlin. Grün.
Deutsche Schule. Monatsschritt. Herausgegeben
im Auftrage des deutschen Lehrer Vereins von Ro-
bert Rissmann. — Verlag von Julius Klinkhardt.
Berlin und Leipzig.
(Fortsetzung.)
V. Jahrgang (1001.)
Aus dem Inhaltsverzeichnis des V. Bandes möchten wir drei recht be-
merkenswerte Arbeiten hervorheben und auf dieselben im Nachstehenden
kurz eingehen.
In dem Aufsätze „K unst und Schule" begrüsst es der Direktor
der Kunstschule in Hamburg. Professor Dr. A. Lichtwark, mit Freude, dass
sich vor ca. 6 Jahren dort eine Anzahl von Lehrern zusammengethan hat,
um eine alte Forderung der theoretischen Pädagogik, die Bildung des ästheti-
schen Sinnes, in der Schule praktisch durchzuführen.
Er referiert zunächst über die Entwickelung dieser „Lehrervereinigung
für die Pflege der künstlerischen Bildung", die dank bereitwilliger Unter-
stützung und Mitarbeit namhafter Fachmänner auf dem Gebiete der bildenden
Kunst. Musik und Dichtkunst, sowie dem Entgegenkommen der Oberschul-
behörde stolz auf ihre derzeitigen Erfolge blicken kann. Die Grundsätze,
zu denen diese neuen Bestrebungen geführt, bilden den Rest der fesselnden
Arbeit. Einige Gedanken daraus wollen wir hier mitteilen:
1) Ueberall ist die unmittelbare Berührung mit den Dingen anzustreben.
Das Gedächtnis darf nicht nur als ein mechanisches Werkzeug zur
Bewältigung toten Stoffes ausgebildet werden, sondern ist vielmehr
als eine lebendige Kraft im Dienste des prüfenden und vergleichenden
Verstandes zu erziehen. Das Ziel des Unterrichts besteht nicht nur
in der Mitteilung des Stoffes, sondern auch in der Gewöhnung an eine
zwingende Methode zu beobachten und nachzudenken.
2) Die Fähigkeit zu empfinden, ist an einzelnen Gegenständen der
Natur fim Naturgeschichtsunterricht und bei Ausflügen) und an ein-
zelnen Kunstwerken (Bildern, Bauwerken. Statuen. Gedichten. Mu-
sikwerken) zu üben.
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276
Berichte und Besprechungen.
3) Auf allen Gebieten ist vor allen Dingen Ausdrucksfähigkeit anzu-
streben.
41 Es muss überall und beständig nicht von der Wissenschaft, dem
Stoff, nicht von dem Vorstellungskreis des Erwachsenen, sondern
von der Natur des Kindes ausgegangen werden.
5) Soweit es möglich ist, überall mit der durch die nächste Heimat ge-
gebenen Grundlage zu beginnen.
6) Engcrc Beziehungen zu den Eltern und den ins Leben entlassenen
Schülern erscheinen dringend erstrebenswert, damit die Schule nicht
als ein Fremdkörper im Leben des Einzelnen und der Familie steht
7) Auf dem festen Untergrund der Liebe zur Heimat und ihres wach-
senden Verständnisses ist sodann das nationale Wesen zu pflegen.
8) Alles, was gelernt und gelehrt und an Kräften erworben wird, muss
durch das Gefühl in den Dienst der höheren Entwickelung unseres
Volkes gestellt werden.
Mit der „Entstehung und den Zielen der experimen-
tellen Pädagogik" beschäftigt sich Professor E. Meumann in einer
längeren Abhandlung (vergl. Heft 2 — 5). Verfasser stellt sich die Auf-
gabe, das zusammenzustellen, was an Arbeiten auf dem Gebiete der Experi-
mentalpädagogik in Zeitschriften, Monographieen, Programmen und Disser-
tationen zerstreut zu finden ist, und aus ihnen das Programm einer Experi-
mentalpädagogik als selbständiger und einheitlicher Forschung zu entwickeln
und ihre Stellung zur herkömmlichen Pädagogik zu bezeichnen.
Eine „Zusammenstellung" der Litteratur, wie sie M. in der Einleitung
zu seinem Aufsatze verspricht, vermissen wir leider; wir wären zweifellos
dem Autor sehr dankbar gewesen, wenn er die junge Wissenschaft mit diesem
Geschenk überrascht hätte. Was von einschlägigen Arbeiten hier und dort
erwähnt wird, ist nur ein Bruchteil des Vorhandenen.
Nach Sichtung des ihm zu Gebote stehenden Materials hat es der Ver-
fasser zweckmässig erachtet, dasselbe in folgenden vier Gruppen zu be-
handeln:
I. Untersuchungen zur Technik und Hygiene der geistigen Arbeit des
Schulkindes.
II. Untersuchungen zur pshycho-physischen Charakteristik des Kindes
im Unterschiede von dem physischen und geistigen Habitus des
Erwachsenen.
III. Arbeiten, die in Verfolgung rein psychologischer Zwecke zu direkt
pädagogisch wertvollen Resultaten geführt haben.
IV. Psychologisch -pädagogische Versuche einiger Schulmänner in und
m i t der Schularbeit selbst.
Jede dieser vier Kategorien bietet gewisse Grundprobleme, die als das
Skelett einer zukünftigen Experimentalpädagogik angesehen werden.
Die Untersuchungen der ersten Abteilung beschäftigen sich:
1) mit dem Problem der geistigen Arbeit.
2) mit dem Problem der Ermüdung.
Beide werden einer längeren, eingehenden Betrachtung unterzogen. Unter
1) tauchen zunächst die Fragen auf: „Was ist geistige Arbeit?" — In wel-
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277
ihem Grade sind Psychologie, Pädagogik und experimentelle Pädagogik be-
fähigt, dieses Problem zu lösen? Das Verfahren der letzteren Disziplin, das-
in einer quantitativen Bestimmung der geistigen Arbeit besteht, verspricht
den grössten Erfolg. Wenn von anderer Seite ein Mangel darin erblickt
wird, dass die bisherigen Untersuchungen nach dieser Richtung nur an Er-
wachsenen, zumeist Studierenden und Dozenten, im Laboratorium ausge-
führt worden sind, und nicht an Schulkindern, huldigt M. der Ansicht, dass
die allgemeinen Bedingungen geistiger Arbeit nur durch das Experiment
an Erwachsenen zu gewinnen seien, weil wir hier allein alle Umstände
beherrschen, und dass sie die Norm sein müssen, nach welcher auch die
kindliche Arbeit beurteilt werde. Freilich billigt er auch das Verfahren,
welches auf gleichzeitiger Observation von Erwachsenen und Kindern be-
ruht.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen, wendet sich M. dem Heidel-
berger Psychiater Kraepelin zu, der schon seit Jahren sich das Problem der
geistigen Arbeit sehr angelegen sein lässt Er bespricht die Vorzüge der
Kraepelinschen Methode, welche bekanntlich in einer Messung von Arbeit
einfachster Art, wie Addieren von einstelligen Zahlen, Lesen von Worten
und Sätzen besteht. An der Hand solcher Untersuchungen lassen sich, wie
Verf. ausführt, die allgemeinen Bedingungen und Folgezustände geistiger
Arbeit ermitteln. Auf diese Weise können beispielsweise der Uebungs-
faktor, der allgemeine Unterschied in der geistigen Arbeit, die Uebungsfestig-
keit, die individuale Empfänglichkeit, die Geschwindigkeit der Auffassung,
die Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit durch Störungen, die Gewöhnungs-
fähigkeit, die Ermüdbarkeit, die Erholungsfähigkeit und viele andere wichtige
Dinge festgestellt werden. Auch führen solche Versuche schliesslich zur
Lösung des Rätsels der menschlichen Individualität.
Eine zweite Gruppe von Arbeiten beschäftigt sich mit dem Problem
der Ermüdung. Es zu ergründen, ist von eminent praktischer Be-
deutung; man denke nur an die nachteiligen Folgen, die durch Ermüdung
dem geistigen und physischen Leben erwachsen können. Daher ist diese
Seite der experimentellen Pädagogik besonders gepflegt worden. Die hierhin
gehörigen Untersuchungen richten sich auf eine ganze Reihe von Punkten.
So sucht man kennen zu lernen:
II den Zustand der Ermüdung nach seiner geistigen und körperlichen
Seite,
2) die Bedingungen der Ermüdung,
3) die erholenden Einflüsse,
4) die Folgen der Ermüdung für den Ausfall der geistigen Arbeiten,
51 die spezifische Ermüdbarkeit des Kindes in den verschiedenen Ent-
wickelungsstadien.
Die Ermüdungsmessungen wurden entweder mit Benutzung von kör-
perlicher oder geistiger Arbeit ausgeführt.
Bei den Untersuchungen der ersteren Art bediente man sich des Dynamo-
meters oder des Ergographen. Den mit Hilfe des Ergographen gewonnenen
Resultaten steht M. sehr skeptisch gegenüber. Er empfiehlt dagegen die
Veränderung des Blutdrucks, des Pulses und des Atems der Versuchs-
person zu messen, um ein zuverlässiges und sicheres Kennzeichen
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 6
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278
Berichte und Besprechungen.
für geistige Ermüdung zu haben. Ob Verfasser bei der Verurteilung des
, .rohen und groben Dinges" alias Ergograph nicht ein wenig zu rigoros und
übereilt gehandelt hat und über die Zuverlässigkeit der von ihm empfohlenen
Methode zu optimistisch denkt, soll hier nicht weiter erörtert werden.
Hinweisen möchten wir nur auf die Ausführungen von L. Hirschlaff: „Zur
Methodik und Kritik der Ergographenmessungen*)".
Auch der zweiten Untersuchungsperiode, die bei der geistigen Arbeit
zur Messung der Ermüdung zur Verwendung kommt, steht M. nicht immer
freundlich gegenüber. So verwirft er die Aesthesiometermessungen und er-
klärt sie für ungeeignet, weil er einerseits nicht zugesteht, dass die Raum-
schwelle des Tastsinnns besondere Beziehung zur geistigen Ermüdung be-
sitze, und da andererseits die Versuchsperson bei diesem Verfahren zu häufig
Selbsttäuschungen ausgesetzt ist.
Das beste Verfahren erblickt er darin, dass man die ermüdende Wirkung
der geistigen Arbeit durch möglichst ähnliche Arbeit zu messen versucht,
d. h. durch Vorsprechen von Zahlenreihen, Worten, Silben, welche von den
Versuchspersonen reproduziert werden müssen.
Nachdem Verfasser die Hauptergebnisse der nicht immer ganz ein-
wandfreien Ermüdungsmessungen zusammengefasst hat, formuliert er das
Ziel dieser Bestrebungen folgendermassen:
„Wir suchen das grösste Mass von Arbeit zu erreichen, unter den
günstigsten Arbeitsbedingungen, mit möglichst wenig Beeinträchtigung der
physischen und geistigen Verfassung des Kindes und der Qualität der Ar-
beit selbst."
Die der zweiten Kategorie angehörigen und die psychologische Charakte-
ristik des Kindes betreffenden Arbeiten gliedert M. in 3 Teile:
1) Intelligenzprüfungen.
21 Untersuchungen inbezug auf die geistige und physische Charakte-
ristik im allgemeinen.
3) Untersuchungen inbezug auf die geistige und physische Charakteristik
kindlicher Individualitäten.
Die Intelligenzprüfungen haben ihren Ausgangspunkt in der modernen
Psychiatrie, ihr Zweck ist, die geistigen Abweichungen eines Individuums
von der Norm, dem Durchschnittsmenschen, psychologisch korrekt darzu-
legen.
Nach den bahnbrechenden Untersuchungen, welche Rieger an Geistes-
kranken angestellt hat, sind ähnliche Experimente auch in der Schule ge-
macht worden. Sommer hat zu letzterem Zwecke besondere Fragebogen
entworfen, mit Hilfe deren man vornehmlich über die Wahrnehmungsfähig-
keit, die Auffassungsfähigkeit, die Orientiertheit über die eigene Person und
über räumliche und zeitliche Verhältnisse der Versuchsperson wertvolle Auf-
schlüsse zu erlangen sucht.
Obgleich M. den Wert dieser Intelligenzprüfungen nicht leugnet, kann
er sie doch nur als „Teilarbeit" im Zusammenhange jener umfangreichen
Aufgabe, die in der psychologischen Charakteristik des Kindes gipfelt, be-
zeichnen.
•) vcrgl. diese Zeitschrift, III. (3), p. 184—198. 1001.
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Berichte und Besprechungen.
279
Um diese Aufgabe zu lösen, bedarf es einer Untersuchung des Kindes
auf seine körperliche und geistige Verfassung in den verschie-
denen Lebensaltern.
Im weiteren wendet sich Verf. einzelnen Seiten dieses Problems zu; er
berührt die Entwickelungsschwankungen, den periodischen Forschritt be-
stimmter geistiger Funktionen der Schulkinder, Jahresschwankungen, Indivi-
dualcharakteristik u. a.
Im vierten Teile seines Aufsatzes wendet sich M. denjenigen psycholo-
gischen Untersuchungen zu, die direkt für die Pädagogik wertvoll geworden
sind. Sie bestehen in einer Analyse der geistigen Prozesse des lernenden,
auffassenden oder seinen Willen und sein Gemüt bildenden Kindes. Hat
man erst Aufschluss erlangt über die Art und Weise, wie das heranwachsende
Individuum lernt, behält, vergisst, wiedererlernt, aufpasst oder komplizierte
Gedankengänge auffasst, so ergeben sich mit Leichtigkeit daraus auch die
Regeln für die Darbietung bestimmter Lehrstoffe, Vorzüge der Analyse
oder der Synthese etc.
Die Untersuchung pädagogischer Fragen setzt aber Methoden voraus,
die den von der Psychologie gestellten Anforderungen gerecht werden. Als
solche sind vornehmlich die psychologischen Massmethoden, die Reproduk-
tionsmethode, die Methoden zur experimentellen Untersuchung des Gedächt-
nisses, des kindlichen Lesens, Schreibens und Rechnens geeignet.
Von der Reproduktionsmethode verspricht sich Verf. besonderen Erfolg.
Nach ihr sucht man die Zahl und die Beschaffenheit der dem Kinde bekann-
ten Vorstellungen, den Umfang des von ihm beherrschten Wortmaterials
und die eventuell vorhandenen Sprachfehler zu constatieren. Dieses Ver-
fahren hat zu einer Reihe pädagogisch wertvoller Ergebnisse geführt:
1) Kinder analysieren Wahrnehmungsobjekte sehr unvollkommen.
2) Formen sind besser bekannt als Farben.
3) Die einzelnen Farben sind sehr verschieden bekannt (grau und braun
fast nie).
4) Der Kreis der geläufigen Gegenstände wird in hohem Masse durch
den Zwang des Lebens bestimmt.
5) Bei unbekanten Gegenständen sucht sich die kindliche Phantasie
mit charakteristischem Surrogat zu helfen.
6) Der Erwachsene hat eine erheblich grössere Reproduktionsfähig-
keit als das Schulkind im Alter von 8 — 14 fahren.
7) Die Geschwindigkeit, mit der bestimmte Klassen von Vorstellungen
und Begriffen reproduziert werden, scheint ein charakteristisches
Zeichen dafür zu sein, dass diese dem Kinde geläufig sind, andere
nicht u. a. m.
Im letzten Kapitel giebt M. zunächst einen kurzen Ueberblick über
diejenigen Arbeiten, welche von praktisch thatigen Schulmännern in An-
griff genommen worden sind. Diese laufen entweder auf die psychologisch-
pädagogische Statistik oder auf die Theorie und Praxis einzelner Unter-
richtsfächer hinaus.
Von letzteren hat man besonders dem Zeichenunterricht lebhaftes Inter-
esse entgegengebracht und in den Kinderzeichnungen ein Mittel erblickt,
6*
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280
Berich U und Besprechungen.
das über verschiedene Fragen orientiert. Ferner sind hier die Unter-
suchungen über das Lesen, Schreiben, Sprechen, die Ermüdung, die geistige
Leistungsfähigkeit zu erwähnen; ebenso gehört auch die Frage, welche die
Trennung der Schüler nach ihrer Leistungsfähigkeit zum Gegenstande
hat, hierhin.
Am Schluss der Menmannschen Abhandlung findet sich ein Entwurf
zu einem Arbeitsprogramm einer Experiment alpädagogik; die Hauptpunkte
desselben lassen wir hier folgen:
1) Die beträchtliche Zahl der bisher zerstreuten Untersuchungen ist
zu einer einheitlichen Wissenschaft oder wenigstens einem ein-
heitlichen Forschungsgebiet zu sammeln. Dazu ist aber nötig,
dass a) die Untersuchungen unter rein pädagogischen Gesichts-
punkten durchgeführt und von Psychologen und Pädagogen gemein-
sam geleitet werden, b) der Psychologe zur Organisation der Schul-
arbeit herangezogen werde.
2) Die Einzelversuche sind in einen umfassenden pädagogischen Plan
einzureihen, dessen Grundprobleme a) das Studium des Schulkindes,
seiner Eigenart, seiner Entwickelung und seiner Arbeit; b) die
Untersuchung der kindlichen Entwickelung; c) die Individual-
charakteristik des Kindes; d) die Feststellung der Differenzen
des kindlichen Arbeitstypus in seinen Unterschieden von dem des
Erwachsenen; e) die allmähliche Ueberführung des kindlichen
Arbeitstypus in den des Erwachsenen, bilden.
3) Es sind spezifisch pädagogische Experimentalmethoden zu schaffen.
Der erste Religionsunterricht in psychologischer
Bedeutung. H. Grebs unterzieht den gegenwärtigen Religionsunter-
richt in der untersten Klasse einer eingehenden Betrachtung; er gelangt zu
dem Ergebnis, dass derselbe in seiner jetzigen Form nichts weniger als
fruchtbringend ist. Die biblischen Geschichten, welche hauptsächlich den
Lehrstoff des Unterrichts bilden, verwirft er gänzlich, da Kinder im Alter
von 6 oder 7 Jahren noch nicht ein hinreichendes Verständnis für diese Er-
zählungen besitzen, um des beabsichtigten, religiös-sittlichen Nutzens teil-
haftig zu werden. Ferner kommt hinzu, dass der im ersten Jahre gebotene
Stoff viel zu umfangreich ist, als dass ihn der kindliche Geist verarbeiten
kann. Ebenso wenig fördert auch die religiöse Entwickelung der biblische
Memorierstoff, dessen Aneignung auf unsern Schulen so energisch verlangt
und geradezu als conditio sine qua non betrachtet wird, der in Wirklichkeit
aber nur Abstraktion ist, welche den geistigen Horizont unserer Schul-
kadetten weit überschreitet.
Des Verfassers Ausführungen gipfeln darin, die biblischen Geschichten
im ersten Religionsunterricht durch besonders geeignete Volksmärchen, dem
Ideen- und Vorstellungskreise unserer Kleinen entsprechend, zu ersetzen;
als Beispiele führt er an: „Der Wolf und die sieben Geislein", „Wolf und
Fuchs", „Frau Holle".
Dieser Vorschlag, der schon von Ziller gemacht worden ist, wird aller-
dings nicht überall Beifall finden, scheint aber doch der Beachtung wert zu
sein. Wir können dem Verfasser nicht Unrecht geben, wenn er sich an den
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Mit t eilungen .
281
oben angeführten und ähnlichen Märchen Nutzen in ethischer Hinsicht für
unsere Kleinen verspricht. Warum denn so beharrlich am Alten fest-
halten? —
Berlin. Hans Koch.
Mitteilungen.
Der neue Unterrichtsplan für die Berliner Qemeindeschulen.
Während eine ganze Anzahl deutscher 8tadte das den acht Schuljahren,
entsprechende achtstufige System und damit eine durchgreifende Aenderung
des Lehrplanes herbeiführten, blieb Berlin bei seinen sechsklassigen Schulen,
und viele Tausend gerade der besten Schüler mussten zwei, drei Jahre ohne
wesentliche Forderung in der ersten Klasse zubringen. Die Einrichtung
sogenannter Oberklassen, die übrigens viele Schulen nicht einmal hatten,
änderte daran gar nichts, denn ein besonderer Stoffplan für sie war nicht
vorhanden. Im Frühjahr 1900 erschien der „Entwurf eines Grundlehrplanes
für die Berliner Gemeindeschulen", welcher das achtstufige System zur
Voraussetzung hatte und wesentlich ein Werk Bertrams und der Berliner
Schulinspektoren unter geringer Mithilfe der Lehrerschaft war. Dieser
Lehrplan wurde jedoch von den Aufsichtsbehörden nicht genehmigt. Der
Minister ordnete die Bildung einer Kommission an, deren Seele der Provinzial-
schulrat Voigt war. Zu Mitgliedern dieser Kommission wurden ausserdem
berufen der Vorsitzende und der Justitiar des Schulkollegiums, der Stadt-
schulrat sowie der Vorsitzende der Berliner Schuldeputation, zwei Stadt-
verordnete und ein Bürgerdeputierter, sechs Stadtschulinspektoren, drei
Rektoren und je ebensoviel Lehrer und Lehrerinnen. Zu den Beratungen
der einzelnen Fachkommissionen wurden noch besondere Sachverständige,
z. B. der städtische Oberturnwart Dr. Luckow, der Professor Theodor Krause,
die Inspizientin des Handarbeitsunterrichts u. a. zugezogen, und nun begann
eine eingehende, mühevolle, nahezu ein volles Jahr währende Arbeit, an
welcher auch der Kommissar des Ministers, Geheimrat Waetzoldt, thätigen
Anteil nahm. Die Grundzüge des vor einigen Tagen abgeschlossenen Planes
sind folgende:
Die Gemeindeschule gliedert sich in acht aufsteigende Klassen bezw.
Jahrgänge und drei Stufen; die untere umfasst drei, die Mittelstufe zwei
und die obere ebenfalls drei Schuljahre. Ob die Klassen von acht bis eins
zählen oder, wie jetzt, mit der siebenten beginnen und mit einer „Oberklasse14
schliessen, ist nebensächlich; die Entscheidung darüber soll derSchuldeputation
überlassen bleiben. — Die nachstehend angedeutete Stoffverteilung lasst
erkennen, wie tiefgreifend die Aenderungen für die meisten ünterrichts-
gegenstände Bind.
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282
Mitteüungtn.
Im Religionsunterricht (Unterstufe 3, Mittel- und Oberstufe je 4
Wochenstunden), werden in den ersten drei Schuljahren Einzelgeschichten
ans beiden Teilen der Bibel, auf der Mittelstufe nur das alte, auf der Ober-
stufe nur das neue Testament behandelt, soweit ihr Inhalt dem kindlichen
Interesse und Fassungsvermögen entspricht. Durch diese Sonderung wird
die fortwährende Wiederkehr gewisser Geschichten und damit die Gefahr
einer Uebersättigung und Gleichgiltigkeit vermieden. Der Katechismus-
unterricht wird in gesonderten Stunden nur auf der Oberstufe erteilt. Aus
dem reichen Schatz unserer Kirchenlieder soll eine beschränkte Anzahl (in
den Unterklassen nur einzelne Strophen) gelernt, eine grössere gelesen werden.
Der deutsche Unterricht umfasst im 1. und 2. Schuljahre je 8, im
3. 7 und vom 4. ab 6 Stunden; dazu treten in den Unterklassen 2 Stunden
für den Anschauung»-, vom 3. Schuljahre ab 2 (auf der Oberstufe 1) für den
Schreibunterricht. In der letzten Schulzeit sollen insbesondere Geschäfts-
aufsätze, die Formen von Eingaben und Briefen zur sicheren Einübung
gebracht werden. Vom 2. Jahre ab hat der Lehrer von jeder deutschen
Stunde etwa 10 Minuten für grammatische und orthographische Uebungen
zu verwenden, auf der Mittelstufe soll in einer Stunde Diktat und
„Niederschrift" abwechseln (das sind kleine Aufsätze, die sofort in der Schule
eingeschrieben werden); ihr Inhalt soll Ergebnis des gesamten Unterrichts
sein. Auch auf der Oberstufe fallen die bisherigen getrennten Stunden für
den grammatischen Unterricht fort; hier werden zu jenen „Uebungen" von
3 deutschen Wochenstunden je 20 Minuten verwendet, 1 Stunde bleibt für
Aufsatz, Diktat und die Zusammenstellung des grammatischen Stoffes und
2 volle Stunden werden für die Lektüre eingestellt. In der 1. Klasse sollen
die Kinder in einige der grösseren Werke unserer deutschen Dichter ein-
geführt werden: Teil, Jungfrau von Orleans, Wallensteins Lager, Herzog
Ernst von Schwaben, die Glocke, Hermann und Dorothea. — Den ortho-
graphischen und grammatischen Uebungen wird, eine dankenswerte Neuerung»
ein kurzgefasstes Uebungsbuch (vom zweiten Schuljahre ab für jede Klasse
ein Heft) zu Grunde gelegt werden. Die Konferenz hat sich nicht ent-
schliessen können, ein einheitliches Lesebuch für ganz Berlin zu empfehlen.
Ebensowenig wird ein Kanon von zu lernenden Gedichten aufgestellt —
jede Schule (bez. jeder Schulkreis) wählt eine Reihe von Gedichten, die in
dem ein geführten Lesebuche enthalten sind; darunter dürfen die für den
Gesang bestimmten nicht fehlen, soweit sie sich für die Behandlung im
deutschen Unterrichte eignen. Dadurch soll nach Möglichkeit dem Uebel-
stande gewehrt werden, dass die Kinder im Texte der zu singenden Lieder
über den ersten Vers hinaus unsicher sind.
Der Geschichtsunterricht beginnt auf der Mittelstufe und umfasst
bis zur zweiten Klasse je zwei, in der ersten Klasse drei Wochenstunden,
erfährt also eine wesentliche Erweiterung. In den Mittelklassen wird
deutsche, in den oberen brandenburgisch - preussische Geschichte in zu-
sammenhängenden Bildern behandelt (ausserdeutsche nur, soweit die vater-
ländische dazu Veranlassung giebt). Insbesondere sollen die Verhältnisse
des heutigen bürgerlichen Lebens, ihr Entstehen und ihre Gestalten in den
Vordergrund treten - die Entwickelung des Bürger- und Bauernstandes,
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283
wie die Städte geworden sind, das Verfassungsleben sich entwickelte, was
unsere Fürsten dem Lande waren u. B. w.
Die Geographie (zwei Stunden wöchentlich) beginnt mit dem vierten
Schuljahre. Der Gang des Unterrichts ist der synthetische: auf die Heimate-
kunde folgen Deutschland, Europa und die übrigen Erdteile; im fünften
Schuljahre wird dieser Gang unterbrochen durch die Betrachtung der Erde
als Ganzes, da in diesem Jahre die Geschichte der Entdeckungen behandelt
wird. Die erste Klasse wird den Kindern die Grundzüge der deutschen
Kultnrgengraphie gehen
Der Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern schliefst
sich nach Umfang und Gruppierung wesentlich dem „Entwürfe" der Schul-
deputation an; er beginnt auf der Mittelstufe mit zwei Stunden (Be-
schreibung von Tieren und Pflanzen); die nächsten Klassen erhalten deren
vier, die oberste drei. Der Abschlusskursus (in Naturgeschichte) umfasst
die Lebensthätigkeit und die Wechselbeziehungen der Natur zum Menschen,
dazu tritt ein kurzer Unterricht in der Anthropologie und Gesundheits-
lehre. Physik und Chemie beginnen in der dritten Klasse — bei Mädchen
unter besonderer Berücksichtigung der „Ktichenchemie". Hier wie in
anderen Gegenständen ist bei Aufstellung des Lehrplans darauf Bedacht
genommen worden, dass ein Teil der Kinder die erste Klasse nicht er-
reichen wird. Der Unterricht soll darum so eingerichtet werden, dass er
mit der zweiten Klasse einen gewissen Abschluss erhält.
Auch im Rechenunterricht weicht der neue Plan nicht wesentlich
vom „Entwurf u ab; er erhält vier Stunden auf allen Stufen, davon be-
kommen die beiden obersten Klassen je eine Stunde Algebra. — Der Unter-
richt in Geometrie beginnt erst im 6. (bisher im 5.) Schuljahre und be-
schränkt sich hier auf die elementare Formenlehre, während der wissen-
schaftliche Betrieb den beiden Oberklassen vorbehalten bleibt.
Der Schreibunterricht geht durch sämtliche Klassen (Oberstufe
eine Stunde). Dass einheitliche Formen durch Einführung des sogenannten
preußischen Normal alphabeta vorgeschrieben werden, bedeutet einen wesent-
lichen Fortschritt, denn oft genug musste bisher das Kind diese Formen
wechseln und lernte dabei keine ordentlich. Die Uebung der lateinischen
Schrift soll erst im vierten Schuljahre beginnen (bisher im dritten). Das
Verlangen einer steileren Handschrift wird nach den bisherigen Erfahrungen
nicht ohne Widerspruch bleiben.
Für den Gesangunterricht werden jeder Klasse zwei Wochenstunden
zugewiesen — mit Ausnahme der beiden unteren, die nur je eine haben.
Den einzelnen Stufen werden bestimmte Lieder vorgeschrieben mit Rück-
sicht darauf, dass die Kinder häufig ihre Wohnungen und damit die Schulen
wechseln; in der Methode jedoch ist den Lehrern möglichste Freiheit ge-
lassen. Das Singen nach Noten soll in allen Klassen geübt werden; Noten-
kenntnis wird vom vierten Schuljahre ab gefordert. Die bekannte Methode
des Prof. Theodor Krause wird als durchaus zweckentsprechend bezeichnet.
Eine weitere Forderung lautet: „Mehr Volks-, weniger Kunstgesang!"
Im Turnunterricht finden wesentliche Aenderungen des bisher vor-
geschriebenen Planes nicht 6tatt.
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284
Mitteilungen.
Für den Zeichenunterricht ist seitens des Ministeriums ein be-
sonderer Plan aufgestellt worden, -welcher ebenfalls bereits zu Ostern zur
Einführung gelangen soll; er stellt das farbige Zeichnen in den Vorder-
grund.
Der Unterricht in weiblichen Handarbeiten erhält künftig nur 17
(statt der bisherigen 36) Stunden wöchentlich; doch wird sich die Zahl der
Lehrerinnen nicht wesentlich ermässigen, da die Klassen zumeist in zwei
Abteilungen (von zwei Lehrerinnen) unterrichtet werden sollen. Keine
Stadt verwandte bisher so viel Zeit auf diesen Gegenstand wie Berlin.
Jetzt erübrigt sich zum Teil die mechanische Handarbeit, da die Maschinen
so billig arbeiten, auch sind unsere Lehrerinnen jetzt erfahrener und
methodisch geschulter als früher.
Der ganze Lehrplan bedeutet einen ausserordentlichen Fortschritt
gegenüber dem bisherigen. Er schuf Gedankenreihen statt einzelner Bruch-
stücke und räumte endlich mit den überflüssigen „konzentrischen Kreisen"
auf, welche viel Zeit wegnahmen (z. B. in der biblischen Geschichte); dass
sie im Prinzip nicht zu verwerfen sind, weiss jeder Schulmann (be-
schreibende Naturwissenschaft), doch sollen sie nicht bei jedem Gegenstande
und um jeden Preis zur Anwendung kommen. Die immanente Wieder-
holung ist zu ihrem Recht gekommen — das Entstehen und Werden des
deutschen Bürger- und Bauernstandes z. B. kann nur zur Anschauung ge-
bracht werden, wenn das ganze Gebiet der Geschichte behandelt worden
ist und durchwandert werden kann; ähnlich verhält es sich mit der „Kultur-
geographie", der Beziehung unseres Handels und der Industrie zu unseren
Nachbarländern und fremden Erdteilen (Aus- und Einfuhr, Rohprodukte). —
Innerhalb des gegebenen Rahmens soll dem Lehrer möglichste Freiheit ge-
lassen werden. Jede Schule wird einen besonderen Lehrplan entwerfen,
der ihren Bedürfnissen entspricht. Es wird dem Lehrer eine tüchtige
Arbeit zugemutet, welche gründliche Vorbereitung und tiefe Kenntnis der
Kindesseele voraussetzt.
Da für die 8. Klasse nur 20 Stunden wöchentlich (18 wäre richtiger
gewesen), die 7. 21, die 6. 24, die 5. und 4. je 28 (die Mädchen 30) und
die ersten drei je 32 Stunden vorgesehen sind, so wird die Gesamtzahl er-
heblich (um 11 Stunden) geringer; es wird also möglich werden — was im
Interesse unserer Gemeindeschule so dringend wünschenswert ist — die
Stundenzahl, namentlich der älteren Lehrer, zu ermässigen und in der
Herabsetzung der Klassen frequenzen fortzufahren. Unsere Unterklassen
namentlich sind übermässig belastet, 69 Kinder (diese Zahl wurde gelitten,
aber 70 durften es nicht sein — als ob das etwas wesentlich anderes wäre),
das ist zuviel für eine Lehrkraft; jetzt ist Gelegenheit, endlich einmal mit
diesem Uebelstande aufzuräumen.
Dass der neue Lehrplan etwas durchaus Vollkommenes nicht bieten
kann, ist selbstverständlich, er wird sich erst bewahren müssen. Insbe-
sondere wird ein zur Geltung gebrachter Grundsatz vielfach Bedenken er-
regen: die Gemeindeschule muss ihren Unterrichtsplan lediglich aus ihren
eigenen Bedürfnissen heraus gestalten, nicht mit Rücksicht auf andere
( höhere) Schulsysteme. So erklärt sich das Zurücktreten des grammatischen
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Mitteütm gen.
285
Formen wesens, das spätere Auftreten des geometrischen Unterrichts und
manches andere. Der Eintritt in die Sexta nach dreijährigem Besuch der
Gemeindeschule, wie er doch immerhin vorkam, ist künftig unmöglich, nach
3 Vi jahrigem Besuche schwer; ebenso ist es mit dem Uebergange aus der
zweiten Klasse in die Quarta der Realschule, welch letztere doch als zeit-
liche Fortsetzung der Gemeindeschule gedacht ist und ihre Schüler zumeist
von dieser erhalt. Die erstrebte Beseitigung der Vorschulen wäre damit
in weite Ferne gerückt und dem Privatschulwesen Thür und Thor ge-
öffnet. Ein Mittelweg wird also hier geschaffen werden müssen.
Der Lehrplan wird nunmehr dem Unterrichtsminister und dem
Magistrat zur Begutachtung und Beschlussfassnng vorgelegt. Seine Ein-
führung soll bestimmt zu Ostern erfolgen. (Nach der Vossischen Ztg.)
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Bibliotheca pädo-psychologica.
Geschichte und Theorie der Erziehung und des Unterrichts, Methodik der Lehr-
fächer, Schulorganisation in Programmen, Abhandlungen und Inaug.-Dissertationen
mit besonderer Berücksichtigung der Jahre 1898/99.
Forlsetzung.
Kühl mann, Wilhelm, Prof.: Was ist wahre Bildung und wie vermag
das Gymnasium zu derselben seine Zöglinge zu erziehen? (20 S.) 4*.
(F.) Gütersloh, ev. G. P 1899.
Kuhse, Bernhard: Bericht über die Ferienfahrt einer Vierermannschaft
des Rudervereins der Schule durch Ostpreussen vom 9. bis 23. Juli 1899.
(S. 20— 21.) 4*. Bromberg, k. RG, OP 1899.
K umberg, N.: Die Reform der russischen Mittelschule vom Stand-
punkte der sexuellen Frage. St. Petersburg, Med. Wochenschr., 1900,
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Schriftleitung: F. Kemsies, Berlin NW , Paulstr.33undL.Htrschlaff, Berlin W., Lützowstr 85b.
Verlag von Hermann Wal ther, Verlagsbuchhandl., O.m.b. H.. Berlin SW.. Kommandantenst. 14.
Druck : Deutsche Buch- und Kunstdruckerei G. m. b. H., Zossen— Berlin SW. 48.
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Zeitschrift
für
Pädagogische Psychologie,
Pathologie und Hygiene,
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
Jahrgang IV. Berlin, September 1902. Heft 4.
Memorieren.
Experimenteller Beitrag
von
Marx Lobsien.
Die nachfolgenden Zeilen wollen einen Beitrag liefern zu
der Frage, ob es berechtigt sei in der, meines Wissens, land-
üblichen Weise, die Strophen eines Gedichtes einzeln nachein-
ander zu memorieren, oder ob man das Ganze auf einmal lernen
müsse. Bedenkt man einen Augenblick die Menge dessen, was
schon die einfachste V olksschule gewiesen ist, memorieren zu
lassen, hört man die aufrichtigen und häufigen Klagen derer,
die diese Arbeit fordern müssen, über die relative Unfruchtbar-
keit auch des ernstesten Fleisses. dann wird man unschwer
geneigt sein, anzunehmen — von einem etwa vorhandenen
Ucbermasse sehe ich ab — dass in der Weise des bisherigen
Betriebes etwas ,,faul" sein muss und zugleich dankbar sein
auch für einen Versuch, der hier Erleichterung bringen will,
Ersparnis an Zeit, Ersparnis an Kraft, Ersparnis vor allem,
wenn nicht gar volle Ueberwindung, an vielen Stunden des
Missbehagens, der Mutlosigkeit, der Qual. Arbeit, die unan-
genehm, die schwer ist, wird niemand aus der Welt schaffen,
das kann aber nicht hindern, dass volle Wahrheit behält :
Arbeit ist G e n u s s. Auch die Memorierarbeit muss sich
Zeitschrift für pädagogiiehe Psychologie, P.iili^ogic und Hygiene. 1
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294
Marx Lobsien.
zur Arbeit in dem Sinne gestalten lassen, sie darf nicht zu einer
schier unerträglichen Quälerei werden, zur Straf arbeit. Ich
gestehe, dass mir keine Wortkomposition so von Grund der
Seele aus zuwider ist, wie diese ; sie bezeichnet eine Profanation,
eine Entweihung der Arbeit — allerdings muss ich auch be-
kennen, dass es kaum eine Strafe von so inquisitorischem Gehalt
giebt wie die, einem zwölfjährigen Buben zur Strafe den ganzen
„Taucher" oder den „Aufruf an mein Volk4' aufzubrummen.
Natürlich, die Forderungen befinden sich in einer Höhenschicht,
die weit über dem Verständnis des kleinen Gehirns liegt und
ihre Härte liegt zunächst in dieser Unvernunft der Aufgabe,
aber auch darin, dass man die technische SeitederAuf-
gabe ausser acht lässt, dass man dem Schüler
diese selbst überlässt oder günstigsten Falles
ihn zwingt, eine falsche Memoriermethode an-
zuwenden.
Die Forderungen der experimentellen Psychologie sind
auch in der vorliegenden Angelegenheit noch bei weitem nicht
genügend berücksichtigt worden, haben nur wenige Schulthür-
schwellen überschritten; ich möchte versuchen, erneut die Auf-
merksamkeit darauf zu lenken und auf Grund experimenteller
Untersuchungen an Schulkindern zu ähnlichen Versuchen an-
zuregen. Es ist bislang noch nicht genügend beachtet worden:
i. Wenn zwei gleichartige Reize gegeben sind, so wird wenig-
stens zumeist der Reiz von grösserer Intensität im
Gedächtnis festgehalten . . . allerdings gilt das nur im grossen
und ganzen. 2. Die Vielseitigkeit der Reize ist wichtig für die
Einprägung ins Gedächtnis. 3. Die Einprägung ins Gedächt-
nis ist von der Wiederholung abhängig, sei diese unabsichtlich
oder absichtlich. Bezüglich der absichtlichen Wiederholung ist
noch folgendes zu beachten : a) Die absichtliche Wiederholung
wirkt verschieden, je nachdem die einzelnen Wiederholungen
unmittelbar hintereinander oder in Pausen vorgenommen
werden. Bei Erlernung von sechs sinnlosen Reihen hatten nach
von Ebbinghaus angestellten Versuchen 68 unmittelbar auf-
einander folgende Wiederholungen denselben Erfolg wie 38
Wiederholungen in Pausen. Daraus folgt, dass das Gedächtnis
der Erholung bedarf. Gönnt man ihm eine solche nicht, so
tritt Nervosität ein. b) Beim Auswendiglernen bilden sich Re-
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295
produktionsassoziationen auch zwischen dem in verschiedenen
Gliedern Entfernten, nicht bloss zwischen dem beieinander
Stehenden. Jedoch nimmt die Festigkeit jener assoziativen Ver-
knüpfung mit der Entfernung der Glieder von einander ab. Je
näher also die betreffenden Glieder einander stehen, desto
leichter fällt die wiederholte Einprägung derselben und umge-
kehrt : sie fällt um so schwerer, je weiter von einander entfernt
die Glieder sind. Bei sehr grosser Entfernung der Glieder
kommt das wiederholte Lernen beinahe der erstmaligen Ein-
prägung an Schwierigkeit gleich. Dieses Moment ist auch von
Bedeutung für die Wiederholung in umgekehrter und überhaupt
veränderter Folge der Glieder, c) Endlich ist darauf hinzu-
weisen, dass bei fortdauernden Wiederholungen nicht alle
Wiederholungen gleichartig sind. Ihr Werth vermindert sich
sogar bei einer Häufung von Wiederholungen. Die Einprägung
ist also nicht proportional der Zahl der Wiederholungen. Das
kommt daher, dass gehäufte Wiederholungen langweilig wer-
den, somit ermüdend wirken und die Aufmerksamkeit erlahmen
lassen. Diese Erscheinung lässt sich deutlich durch eine in ein
Koordinationssystem gezeichnete Kurve darstellen, welche erst
langsam ansteigt, dann eine Zeit lang auf gleicher Höhe sich
hält und schliesslich wieder absteigt. 4. Die Einprägung ins
Gedächtnis hängt in nicht geringem Grade von der Aufmerk-
samkeit ab, nicht minder 5. von der Schärfe der Apperception
und dem Reichthum an Assoziationen. Man hat den Versuch
gemacht, annähernd zu bestimmen, wie gross der Unterschied
der Arbeit beim Lernen sinnvollen und sinnlosen Materials ist.
Die Arbeit reduzierte sich beim Lernen sinnvoller Reihen auf
V10 also um 9/lo der Kraft und Zeit. — Ich erinnere hier auch
an die sonstigen bedeutsamen Einwirkungen des Wortsinnes
auf die Einprägung, auf die ich in meiner Schrift: Die Grund-
lagen des Rechtschreibunterrichts, Bleyl & Kaemmerer-Dresden,
hingewiesen habe. — 6. Als bedeutungsvoll für die Einprägung
ins Gedächtnis muss ich ferner den Gefühlswert der
Reize erwähnen. 7. Auch von einer gewissen Beschrän-
kung in der Zahl der Reize ist die Sicherheit der Ein-
prägung ins Gedächtnis abhängig. 8. Trotz der mannig-
fachen individuellen Unterschiede in dem Gedächtnis ver-
schiedener Menschen, ist doch die Entwickelung im Ver-
r
Digitized by Google
2%
Marx Lobsien.
laufe des Lebens ziemlich gleichmässig. Zwar leistet das
kindliche Gedächtnis Bewunderungswürdiges, trotzdem hat es
seinen höchsten Stand noch vor sich. Die grösste Stärke des
Gedächtnisses fällt in die Zeit vom 15. bis 30. Lebensjahre.
Darauf tritt ein langsames Zurückgehen bis zum 80. Lebens-
jahre ein, von dem ein stärkeres Zurückgehen sich bemerkbar
macht. Vom 50. bis 60. Lebensjahre hält sich das Gedächtnis
ziemlich stationär. Alsdann beginnt es allmählich zu erlöschen.*)
Hier werde allein die Frage genauer erwogen, ob strophen-
bezw. zeilenweise oder in zusammenhängenden Abschnitten zu
memorieren sei.
Methode des Versuchs.
Sie ist ausserordentlich einfach. Ich wählte — nachdem ich
in einer Vorprüfung Erfahrung gesammelt hatte — drei Kinder-
lieder aus. Die Länge derselben war gleich, auch der Rythmus
war annähernd übereinstimmend. Der Inhalt war der Art, dass
sich ein gleich nachhaltiges Interesse für denselben voraussetzen
Hess. Die Schwankungsunterschiede in der Intensität des In-
teresse bedingen ganz gewiss eine Fehlerquelle, die unkon-
trollierbar und darum schwer zu stopfen ist. Man ist niemals
in der Lage sagen zu können, dass es durchgehends das gleiche
sei. Andererseits aber hielt ich doch dafür, dass wenigstens,
eine allgemeine annähernde Uebereinstimmung sich erzielen
lassen wird. Ich traf daher eine sehr sorgfältige Auswahl, sah
dabei in erster Linie auf den Inhalt, erwägend, dass ein geringer
Unterschied in der Zeilenlänge sich rechnerisch mit leichter
Mühe werde ausgleichen lassen. Wählt man sinnloses Material,
dann entgeht man zwar vielen Schwierigkeiten, entfernt sich
aber — worauf ich sehr grosses Gewicht legen möchte, von den
natürlichen, thatsächlichen Verhältnissen und
— fällt in die Charybdis, denn es ist zweifelsohne, dass dann
das Moment der Langeweile störend, sehr störend eingreift
und Fehlerquellen bedingt, von denen sehr schwer zu sagen
ist, dass sie geringer seien als die oben genannten. Ich entschied
*) Siehe das ganz vorzügliche: Lehrbuch der pädagogischen Psycho
logie von Paul Bergemann, Leipzig, Theodor Hofmann, das auch an diesem
Orte wärmstens empfohlen sei.
Digitized by Google
297
mich für folgende Gedichte: Heini von Richard Dehmel,
Schmetterling und Ausfahrt von Gust. Falcke.
Heini.
Heini, Heini,
Ach ist Heini dumm,
Stipt mit allen Fingerchen
Im Dintenfass herum.
Heini, Heini.
Kleiner schwarzer Möhr,
Stipt mit allen Fingerchen
Klecks ins Ohr.
Und unten am Brunnen
Da steht ein Fass,
Da macht sich unsere Lotte
Pitsche-patsche nass. —
Und drohen die Sonne
Hat drüber gelacht
Und hat unsere Lotte
Wieder trocken gemacht.
Schmetterling.
Schmetterling, Schmetterling,
Tausend, kannst du fliegen,
Könnten wir dich schnelles Dinf
Doch zu fassen kriegen.
Aber ach. das Missgeschick,
Ach es ist zum Weinen.
Unser Häuschen ist zu dick
Und zu kurz von Beinen.
Alles Laufen hilft ihm nichts,
Lächerliche Faxen,
Warten muss der kleine Wicht,
Bis ihm Flügel wachsen.
Wenn der Hans erst fliegen kann,
Ei. wer möcht's nicht sehen.
Armer Buttcrleckcr, dann
Ist's um dich geschehen.
Ausfahrt.
Schlitten vor'm Haus,
Steig ein, kleine Maus!
Zwei Katzen davor.
So gehts durch das Thor,
Zwei Katzen dahinter.
So gehts durch den Winter.
Digitized by Google
298
Marx Lobsien.
Hinaus in das Feld
Wie weiss ist die Welt,
Auf einmal, o weh,
Kleine Maus liegt im Schnee,
Kleine Maus liegt im Graben,
Wer will sie haben?
Schlitten vor'm Haus,
Wo bleibt kleine Maus?
Die Katzen, miau,
Die wissen's genau:
Hat nicht still gesessen,
Da haben wir sie gefressen!
Diese Kinderlieder wurden den Schülern einer Klasse, 31
11— 12jährige Knaben kamen in Betracht, auf folgende ver-
schiedene Weisen vorgelesen.
1. Weise A/B.
Das Gedicht wird ganz im Zusammenhang vorgelesen, die
Schüler haben ein Blatt Papier zum Schreiben bereit vor sich
liegen. Sie merken scharf auf ; es wird ihnen gleich zu Beginn
des Versuchs gesagt, dass sie hernach das Gehörte niederzu-
schreiben haben. Um ein möglichst getreues Bild zu gewinnen,
wird der Ehrgeiz angeregt, es dem andern möglichst zuvor zu
thun. Es wurde keinerlei Versuch gemacht, das Initial, die Be-
wegungsvorstellungen im Sprechapparat zu unterbinden, nur
hörbares Flüstern war verboten. Es ist nach meinen Er-
fahrungen nicht allein schwer, vielleicht gar unmöglich,
das Initial zu unterbinden, sondern vor allem bedingt ein der-
artiger Versuch eine so fremde Mundstellung, dass hieraus
schwere Störungen des Versuchs mit Notwendigkeit sich ergeben
müssen. Selbstverständlich sorgte eine scharfe Aufsicht dafür,
dass Niemand bei den Nachbarn durch Auge oder Ohr ver-
botene Anleihen machte. Nach der ersten Niederschrift er-
folgte erneutes Vorlesen, dann wieder eine Niederschrift u. s. f.
Das wiederholte sich so oft, bis die grosse Mehrzahl behauptete,
das Gedicht ganz niedergeschrieben zu haben. Ich fand, dass
eine fünfmalige Wiederholung zu dem Zwecke aus-
reichend war.
Digitized by Google
Memorieren.
299
2. Weise C und D.
Nachdem so eine fünfmalige Wiederholung als ausreichend
sich erwiesen hatte, wurde nun (C) das ganze Kinderliedchen
fünfmal nacheinander vorgesprochen und dann erfolgte die
Niederschrift. Bei der dritten Weise wurde jede Strophe einzeln
— von den Zeilen sah ich ab — fünfmal nacheinander vorgelesen,
eine nach der andern bis zum Schlüsse, und dann erfolgte die
Niederschrift. Es ergaben sich also drei Arten des Memorierens :
i. Nach jedesmaligem Hören erfolgte die Niederschrift, 2. nach
fünfmaligem zusammenhängenden Vortrage, 3. nach fünf-
maligem strophischen Vorsprechen.
Wertungder Ergebnisse.
Die Korrektur der jeweiligen Ergebnisse wurde in der
Weise vorgenommen, dass zeilenweise ein Vermerk gemacht
wurde, ob sie richtig wiedergegeben war oder falsch. Die
Fehler wurden wieder doppelt gewertet und zwar als f, wenn
nur formal ein Fehler gemacht worden (ein Verstoss gegen
Rythmus oder Reim oder Wortstellung), und o, d. h. Inhalt und
Form war falsch oder der Vers ganz ausgelassen. Zunächst
gebe ich die Summen der Versuchsergebnisse. Diese Summen,
auf Grund der Durchschnittsrechnung bestimmt, geben an, w i e
sich der praktische Wert der verschiedenen
Memorierweisen bei einer Schülerzahl von 31
Köpfen versuchsweise normiert. Ich werde hernach
noch versuchen, einige Sonderergebnisse herauszustellen. Ueber
den relativen Wert der Memoriermethode entscheidet aber nicht
allein die unmittelbare Niederschrift nach fünfmaliger Wieder-
holung, sie würde nur ein Bild der Reproduktionsfrische, der
momentan vorhandenen Energie an Reproduktionskraft geben.
Als sehr wesentlich muss noch hinzukommen, die Treue der
Reproduktion zu erkunden. Darum wurde noch eine
doppelte Niederschrift verlangt, natürlich ohne vorhergehendes
Vorsprechen, die erste 18, die zweite 48 Stunden nach dem
ersten Experiment. Die Summe der Fehler giebt dann offen
bar im Sinne umgekehrter Proportion einen Wert für die Treue
der Reproduktion.
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300
Marx Lobsien.
Vcrsuchsergebnissc.
Ich gebe zunächst diejenigen nach der Zahl der richtigen
Leistungen. Der Kürze wegen bezeichne ich ferner die Ver-
suchsweisen mit A/B, C, D.
A/B.
Die Niederschrift erfolgt iirmer nach einmaligem Vortrage
des Liedes. Das Gesamtergebnis ist folgendes:
Pro /i n t
Xiith 1 x Vortrag
..1
100
l i'.r»
272
2-'t7
.'il2
511
„ •"- X „
. 3f,rt
603
Ueberträgt man diese Werte in eine Kurve:
so zeigt sich deutlich eine zwar andauernde Zunahme richtiger
Leistungen, diese ist aber keineswegs der Zahl der Wieder-
holungen proportional, die Differenzen verhalten sich wie
100:172:117:122 :g2. Hiernach hat die zweite Wiederholung
den relativ grössten Wert, die dritte und vierte halten sich an-
nähernd auf gleicher relativer Höhe, erst dann geht es bergab
in der Zunahme in immer kleiner werdenden Stufen.
Digitized by Google
Memoria rcn.
301
Die Fehlertabelle zeigt ein ganz übereinstimmendes Er-
gebnis — natürlich muss man bedenken, dass hier die Ergeb-
nisse ein negatives Vorzeichen haben.
F c h 1 c r t a b e 1 1 e.
Wied« rhol
u n/r
Wnit
.1
l'ro/.cnt
Nach 1 X Vortrag
1 ort
-» X
••
1 IS
44
3 X
r>»>
17
m 4X
7
„ r, X
1
3
Die Differenzwerte offenbaren eine Fehlerabnahme durch
die zweite Darbietung von 560/0, also mehr als die Hälfte,
und weiter um 270/0, ioOo, 4°/o, also auch in dieser Hinsicht
steht die zweite Wiederholung am günstigsten da.
Versuch: B, C, I).
Vergleichen wir nun bezüglich der Frische der Repro-
duktion die Ergebnisse der ersten Aufzeichnung nach fünf-
maliger Wiederholung untereinander.
1 . T a b e 1 1 c d c r richtigen Fälle.
|
Wert
Pro/cnl.
w
l
■ nai
■M A f
HO v
c 1
D
riu
71
Differenzen 4 : 29.
Am günstigsten steht Weise B da, sie überragt C um 40/0,
D gar um 290/0. Fassen wir die verwandten Weisen A und B
zusammen, dann ergiebt sich eine Differenz von 270/0, d. h.
nichts mehr und nichts weniger als, die D-Methode des Me-
morierens. die doch so weit in unseren Schulen verbreitet ist,
Digitized by Google
302
Marx Lobsien.
verschwendet etwa */4 an Zeit und Kraft. Und das
ist nicht einmal zutreffend. Ich muss noch auf einen Umstand
das Augenmerk richten, diesen: Von allen 31 Schülern waren
nicht weniger als 23 ausserstande bei der Weise D
die Strophenanfänge anzugeben,nachderWeise
B und C nur 3 und 5, d. h, also nach der ersten M<emo-
rierweise 66% — 'eine erschreckend hohe Zahl. Ich deu-
tete den Strophenanfang kurz an, sonst wäre das
obige Zahlenverhältnis noch viel ungünstiger ausgefallen
für D. Ich gab den Strophenanfang, weil meines Er-
achtens das Vergessen desselben sonst viel zu hoch gewertet
worden wäre. Aber die Thatsache steht unumstösslich fest, dass
bei Vier D-Weise die Strophenanfänge vergessen werden,
während das bei B und C so gut wjie nicht der Fall ist. Wir
haben hier den Schlüssel zu der bekannten Thatsache, dass in
fröhlicher Gesellschaft nur selten jemand imstande ist, den An-
fang der zweiten Strophe anzugeben und das Lied gerät ins
Stocken, weil es einst falsch memoriert wurde.
Zum Vergleich stelle ich die Fehlertabelle, und zwar so-
wohl die Ergebnisse für f wie o, zusammen :
Memorierweise
f-Wert
Prozent | o-Wert
Prozent
B
84 i
\ 98
112 )
100
\ 36
55 t
100
C
D
10*
106
36
100
Bei der Fehlerwertung ergiebt sich für die Weise B ein
auffällig ungünstiges Ergebnis gegenüber C und auch D, ein
Ergebnis, dass ich immer auch durch die nachfolgenden Unter-
suchungen bestätigt fand. Bei der Weise C kamen die meisten
Fehler und Auslassungen vor, allerdings wiegt das nicht schwer
gegenüber dem weiter oben verzeichneten Ergebnis. Am gün-
stigsten stand immer B da bezüglich der Genauigkeit der Re-
produktion.
DieWiederholungsversuche.
Die erste Wiederholung wurde nach 18, die zweite
nach 48 Stunden vorgenommen. Der Text wurde durch den
Digitized by Googl
Memo rie ren .
303
Experimentator nicht wieder vorgetragen. Das Ergebnis der
ersten Wiederholung ist folgendes:
Tabelle der richtigen Fälle.
Memorierweise
Wert
Prozent
B
353
100
C
302
85
J>
236
67
Fehlertabelle.
Memorierweise
t
o
B
108
30
C
57
127
D
147
73
Es ergaben sich also folgende Differenzwerte gegenüber
dem ersten Versuch :
B = 37, C = 7i, D = 4o.
Die Weise C steht also bezüglich der Treue der Repro-
duktion am ungünstigsten da. Natürlich ist dabei nicht ausser
acht zu lassen, dass die Strophenanfänge gegeben wurden.
Ergebnis der zweiten Wiederholung.
Tabelle der richtigen Fälle.
Memorierweise
Wert
Prozent
B
331
100
C
263
79
D
234
71
Digitized by Google
304
Marx Lohnen.
Fehlertabelle.
Memnrierweise
f-Weri
109
o-Wcrt
B
32
e
70
147
D 110
85
Die Tabelle der richtigen Fälle ergiebt gegenüber dem
ersten Versuch die Vergleichswcrtc :
B = 59. C- no, D = 42,
gegenüber dem zweiten Versuche:
R - 22, C = 39, D = 2.
Memori« rweise
2 zu 1
f | o |
3 z
- 3
u 1
°
+ 15
3 zu 4
f | 0
B |
— 4
+ 13
+ 2
c
— 17
-f 73
— 14
-|-91
13
-f 18
-|- 30
+ 37
+ 2
- 21
- 37
+ 8
In Kurven der richtigen Fälle :
50
H C ü
- 1. Versuch. = t. Wiederholung,
- — — — 2. Wiederholung.
Die D-Memorierweise zeigt sich somit sowohl bezüglich
der Treue wie der Frische der Reproduktion der Weise B und
Digitized by Go
Afcniot icrcn.
305
C gegenüber bedeutend unterlegen. Sie ist als unpsychologisch
und unpraktisch zu verbannen.
Man könnte zwar die Frage aufwerfen, ob man denn
auch einen umfangreicheren Memorierstoff, wie etwa den
Taucher, den Grafen von Habsburg in der Weise memorieren
müsse. Die Ergebnisse des vorliegenden Experimentes lassen
darauf unmittelbar keine Antwort zu, sind aber innerhalb ihrer
Grenzen so evident, dass ich für die Altersstufe, da die ge-
nannten umfangreicheren Werke in Frage kommen, unbedingt
für die Memorierweisen B und C gegenüber D eintreten muss.
Wie erklärt sich aber der verschiedene Wert von B und
C ? Einfach so, dass bei B eine grössere Anzahl von Wieder-
holungen stattfand, denn der unmittelbar folgende Versuch zu
reproduzieren bedeutet, trotzdem er zumeist auf halbem Wege
stecken bleibt, dennoch eine Wiederholung; einen unmittelbaren
Vergleich lassen somit nur C und D zu.
Zum Schluss möchte ich noch kurz die Frage streifen, wie
sich die Memorierweisen zur Intelligenz verhalten. Nun ist
ja allerdings die Intelligenz nicht wägbar, auch nicht nach
allen Seiten gleich ausgebildet. Immerhin aber lässt sie sich
durch eine Censur im allgemeinen bezeichnen, zumal es hier
nur darauf ankommt, die Gegensätze herauszuheben und einen
Vergleichswert zu bestimmen. Ich wählte je 6 Schüler aus,
die annähernd den gleichen „Hauptplatz" in der Klasse ver-
dienen und zwar die 6 ersten und die 6 letzten, und fasste die
Versuchsergebnissc zusammen. Ich fand folgende Daten:
1. Vor-
such
1. Wie-
der-
holung
iltinorierweisr
Differenz
Ii
- ii
63
-18
C
90
54
-36
D
47
-15
B
78
-15
1 —
C
i
76
54
-22
D
43
33
-5
Digitized by Google
306
Marx Lobsren.
2. Wie- }
der- \
bolong
Memorierweise
Begabte
Unbegabte
Differenz
B
74
55
-19
C
75
43
-32
«
34
-7
Die Uebersicht zeigt deutlich eine Bestätigung der ge-
wonnenen Ergebnisse. Am deutlichsten prägt sich das aus bei
den weniger Begabten, bei den Intelligenteren verwischen sich
die Unterschiede etwas, ohne doch der Regel zu widersprechen.
Anmerkung: Nach 32 Tagen wurde für C und D eine
dritte Wiederholung veranlasst. Sie ergab für die Zahl der
richtigen Reproduktionen folgende Verhältniswerte:
C 25 : D 10
Die C-Werte verhielten sich gar wie
C 48 : D 175 oder wie
5 : 18.
I
Digitized by Google
Zur Frage der Organisation der Volks-
schule in Mannheim.
Nach der gleichlautenden Denkschrift des Stadtschulrats
Dr. Sickinger dargestellt
Fritz Feilcke.
An der Mannheimer erweiterten Volksschule zeigte sich
seit Jahren die bedauerliche Erscheinung, dass es nur verhält-
nismässig wenigen Schülern möglich war, die oberste Klasse
zu erreichen. Der grösste Teil wurde, weil er den gestellten
-Anforderungen nicht genügen konnte, häufiger zurückversetzt,
und entwuchs schliesslich der Schulpflicht, ohne eine ab-
geschlossene Bildung erlangt zu haben. Dem Bestreben, den
interessierten Kreisen eine umfassende Darstellung dieser un-
gesunden Verhältnisse zu geben, ist die genannte Denkschrift
entsprungen. Sie enthält eine Erörterung der Ursachen der er-
wähnten Missstände unid Vorschläge zu deren Beseitigung ; um-
fangreiche statistische Angaben ermöglichen es dem Leser, sich
ein eigenes Urteil zu bilden. Da auch» an anderen Orten die
Neuorganisation der Volksschule eine Rolle spielt, so erscheint
es wünschenswert, die Ausführungen Sickingers möglichst
ausführlich wiederzugeben ; umsomehr, als ein Teil der in der
Denkschrift niedergelegten Vorschläge bereits zur Ausführung
gekommen ist und gute Resultate gezeitigt hat.
Seit 1870 besteht in Mannheim eine konfessionell gemischte
erweiterte achtklassige Volksschule, die aus der Ver-
schmelzung der früheren sechsklassigen Volksschule*) mit
einer zweiklassigen gewerblichen Vorschule hervorgegangen ist.
Der Lehrplan dieser erweiterten Volksschule hält sich im
*l Anmerkung: Dieselbe bestand als besondere Einrichtung n- d>
bis zum Jahre 1872.
Digitized by Google
308
Fritz Feikke.
wesentlichen innerhalb der Grenzen des badischen Normal-
lehrplans von 1869, nur im Rechnen werden weit höhere An-
forderungen gestellt. Es wurde bei der Verschmelzung das
Pensum, was der Normallehrplan für acht Jahre vorsieht, auf
die ersten sechs Jahre zusammengedrängt und den beiden ober-
sten Klassen der mathematische Lehrstoff der gewerblichen
Vorschule überwiesen. Um zu zeigen, welche Anforderungen
dadurch, trotz einer 1887 vorgenommenen teilweisen Reduktion,
an die Volksschüler gestellt werden, sei eine Zusammenstellung
der Rechen- und Geometriepensa gegeben, und zum Vergleich
der badische Normallchrplan von 1869 und der Lehrplan der
Karlsruher erweiterten Volksschule aufgeführt.
Tabelle I.
Übersicht über die Verteilung des Rechenstoftes.
Biuli^ her Normallehr-
jdan vom Jahr
Lehr] Jan der erweitert en
Schule in Karlsruhe
Ixdirplan der erweiterten
Schule in Mannheim
nach der Revision vom
Jahre 1887
Erstes Schulj
Wöehentl, 3 4 Stunden.
Zu und Abzahlen mit
1—5 einschließlich im
Znhlenraume von )- l'O
in niiien 1 nd am:e-
w;md • i) Zahlen. Be-
ze.< ttmri/r d<.r Zahlen
dui ch Striche und Ziffern.
ahr. Kinder im Aller voi
Wöchentlich f» Stunden.
Auffassen und Hilden
der (-irnndzahlen 1 10.
Zerlegen der einzelnen
U rund zahlen durch Zu-
und Abzählen und Ver-
gleichen. Erweitern
des Zahlenkreises Iis '-'0.
Zu- und Abzählen mit
I innerhalb diesem
Zahlen Preises mit und
ohne Zerlegen. Dar-
i tellim,"- der Ziffern zn-
ena durch Strirhe u.s w.,
ypaier durch Ziffern.
i 6 -7 Jahren.
Wöchentlich 6 Stunden
Zu- und Abzählen mit
1 - !> einschliesslich im
Zahlen räume von 1— 50
in reinen und ange-
wandten Zahlen. Be-
zeichnung der Zahlen
durchstriche und Ziffern.
Zweites Schul
Wöehentl. 3 - 4 Stm den.
Zu- und Abzahlen mit
1 - 10 einschliesslich im
Zahlenraume von 1 - 100
in reinen und ange-
wandten Zahlen. Dar-
stellung der Zahlen durch
Zi Toru.
jähr. Kinder im Alter v»
Wöchentlich (> Stunden.
Erweitern des Zah Um-
kreises Uik 11) i mit Zer-
legen. Angabe der Stellen-
werte und Au.sehreiben
in Zifiern. Zu- und Ab-
zahlen mit. 1 — 10 im ge-
nannten Za hlcnkreise mit
und ohne Zerlegen.
in 7— K Jahren.
Wöchentlich <> Stunden.
Zu- und Abzählen mit
1-10 einschüe.-slich im
Zahlenraume von 1 - 100
in reinen und ange-
wandteu Zahlen. — Das
Vervielfachen und
Teilen iuuerhalbder
(.! renzen vom kleinen
E inmftl e i n s mündlich
und schriftlich. Darstell-
ung der Zahlen durch
Ziffern.
Digitized by Google
Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim. 309
Badischer Normal lehr-
plan vom Jahre 1869
Lehrplan der erweiterten
Schule in Karlsruhe
Lehrplan der erweiterten
Schule in Mannheim
nach der Revision vom
Jahre 18S7
Drittes Schul]
Wöchentl. 3—4 Stunden.
Das Vervielfachen und
Teilen innerhalbderGren-
zen vom kleinen Einmal-
eins , mündlich und
schriftlich. — Zu- und
Abzählen ein- und zwei-
stelliger Zahlen im Zah-
lenraum von 1 — 1000,
mündlich und schriftlich,
von dreistelligen nur
schriftlich. Sämtliche«
in reinen und ange-
wandten Zahlen.
ahr. Kinder im Alter vo
Wöchentlich 6 Stnnden.
Vervielfachen und Tei-
len innerhalb der Gren-
zen des kleinen Einmal-
eins in verschiedener
Sprechweise und Frage-
stellung. Erweitern des
Zahlenkreises bis 1000
mit genauer Beachtung
der Stellenwerte. Zu-
und Abzählen 1-, 2- und
3 stelliger Zahlen im be-
zeichneten Zahlenraum,
der dreistelligen nur
schriftlich.
n 8 — 9 Jahren.
Wöchentlich 6 Stunden.
Erweiterung des Zah-
lenkreises bis 1000 In-
nerhalb dieses Zahlen-
kreises : Zerlegen und
Anschreiben von Zahlen.
Zu- und Abzählen 1- und
2 stelliger Zahlen münd-
lich und schriftlich, von
3 stelligen nur schriftlich
in reinen und ange-
wandten Zahlen. Ver-
vielfachen und Teilen
innerhalb der Grenzen
vom grossen Einmaleins,
jedoch ohne Memorier-
uiiir desselben in reinen
und angewandten Zah-
len mündlich. Die vier
Grundrechnungsar-
ten jedoch nur schrift-
lich im unbeschränk-
ten Zahlenraum in un-
benannten Zahlen, Teilen
nurm. l-u.2stell. Divisor.
Viertes Schul}
Wöchentl. 3—4 Stunden.
Mündlich: Verviel-
fachen und Teilen inner-
halb der Grenzen vom
grossen Einmaleins, je-
doch ohne Memorierung
desselben. Samtliches in
reinen und atigewandten
Zahlen.
Auf der Tafel: Die
vier Spezies In unbe-
nannten Zahlen im un-
beschränkten Zahlen-
raume.
ahr. Kinder im Alter vo
Wöchentlich 6 Stunden.
Vervielfachen und Tei-
len innerhalbderGrenzen
d. gross. Einmaleins, wo-
bei die Reihen 1 1, 12 u. 15
auswendig zu lernen sind.
Wiederholung des Zu-
und Abzählens mit 2-
und 3 stelligen Zahlen;
Vervielfachen 2- und 3-
stelliger Zahlen durch
1- und leichte 2 stell ige,
Teilen durch 1 stellige
im Zahlenraum bis 1000.
Erweitern des Zahlen-
raumes bis Million mit
Stellenangabe und Zer-
legen zur gründlichen
Einübung des Anschrei-
be ns und Aussprechens.
Vielfache Zahlendik-
tate. Die 4 Grundrech-
nungsarten mit un be-
nannten und einfach be-
nannten Zahlen im
Zahlenraume bis Million.
n 9 — 10 Jahren.
Wöchentlich 6 Stunden.
Wiederholung u. Er-
gänzung der 4 Rechen -
geschälte im unbe-
schränkten Zahlenraum.
Kenntnis derMasse
(einschliesslich des Zeit-
masses), der Gewichte
und der in Deutsch-
land kursierenden
Münzen. Verwandlung
höherer Sorten in niedere
und umgekehrt (Reso-
lution und Reduktion)
mündlich und schrif 1 1 ich.
Die vier Grund-
rechnungsarten in
ungleich benannten
Zahlen mündlich und
schriftlich in leichten
Aufgaben. Anreihend
an die zehnteiligen Masse
Kenntn isderDezimal-
zahlen.
Zeitschrift für pädigogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 2
Digitized by Google
310
Fritz Feückc.
Badischer Normallehr-
plan vom Jahr 1869
Lehrplan der erweiterten
Schale in Karlsrahe
Ja' lirplan der erweiterten
Schule in Mannheim
nach der Revision vom
Jahre 1887
Fünftes Schuljahr. Kinder im Alter von 10—11 Jahren.
Wöchentl. 3—4 Stunden.
Wiederholung: Die vier
Grundrechnungsarten
mit ungleich benannten
Zahlen (Masse und Ge-
wichte).
Wöchentlich 5 Stunden.
Die Münzen, die Län-
gen- und Hohlmasse und
die Gewichte. Verwand-
lung höherer Sorten in
niedere und umgekehrt.
Anschreiben mehrfach
benannter Zahlen als
einfachbenannte mitdem
Einheitskomma und den
amtlichen Massbezeich-
nungen.
Zablendiktate. Die vier
Grundrechnungsarten
mit mehrfach benannten
Zablen. Die Zeitrech-
nung.
Wöchentlich 4 Stunden.
Die Dezimalbrüche. D i e
gemeinen ßrücbe
mündlich und schriftlich
in einfacheren Aufgaben.
Das Erweitern,Abkürzen
und Gleichnamigmachen
derselben und die vier
Spezies. Anwendungs-
aufgaben.
Sechstes Schuljahr. Kinder im Alter von 11 — 12 Jahren.
Wöchentl. 3—4 Stunden.
Wiederholung des Frü-
heren im unbeschränkten
Zahienrauin. Zeitrech-
nungen, Textaufgaben.
Gemeine Brüche, Dezi-
malbrüche. Leichte
Schlussrechnungen.
Wöchentlich 5 Stunden.
Bruchlehre : Entsteh-
ung u. Arten der Brüche.
Verwandlung unechter
Brüche in gemischte
Zahlen und umgekehrt.
Erweitern und Kürzen
der Brüche unter Be-
tonung der Teilbarkeit
der Zahlen. Die vier
Grundrechnungsarten
mit gemeinen Brüchen.
Das Dezimalsystem :
Die 4 Grundrechnungs-
arten mit Dezimal-
brüchen. Verwandlung
gemeiner in Dezimal-
brüche und umgekehrt.
Wiederholung der Zeit-
rechnung. Einfache
Schlussrechnungen mit
geraden u. umgekehrten
Verhältnissen.
Wöchentlich 4 Stunden.
Wiederholung der
Bruchlehre in schwie-
rigeren Aufgaben. Ein-
fachere Zweisatzrech-
nungen mündlich und
schriftlich.
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Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim. 311
Badischer Normallehr-
pian vom Jahr 1869
Lehrplan der er weiterten
Schule in Karlsruhe
Lehrplan der erweiterten
Schule in Mannheim
nach der Revision vom
Jahre 1887
Siebentes Schuljahr. Kinder im Alter von 12—13 Jahren.
Wöchentl. 3—4 Stunden.
Wiederholung des ge-
meinen Bruch rechnens
und der Dezimalbrüche.
Schlussrechnung. 2-,
3- n. mehrgliedrige Zwei-
saterechnungen (Waren-,
Zins-. Arbeits-, Gesell -
scharte-, Teilungs-, Ge-
winn- und Verlustrech-
nungen).
Wöchentlich 5 Stunden.
Einfache n. zusammen-
leset zte Schlussrech-
nungen mit und ohne
Zweisatz. (Arbeits- und
Verdienst^, Ersparnis-,
Prozente, Zins-, Rabatt-,
Gewinn- und Verlust-,
Durchschnittsrechnun-
gen). In der Knaben-
schule ist das Geschäfts-
leben, in der Mädchen-
schule die einfacheHaus-
haltung in passenden
Aufgaben zu berück-
sichtigen.
Wöchentlich 4 Stunden.
Knaben. Erweiterte»
Zweisatzrechnen münd-
lich und schriftlich. Ge-
sellschafts-, Teilungs-,
Gewinn- und Verlust-,
Termin-, Rabatt- und
Mischungsrechnungen.
Das Ausziehen der
Quadratwurzel.
Mädchen. Zweisatz-
rechnen mündlich und
schriftlich, letzteres 2-,
3- und mehrgliedrig
Rabatt- und Zinseszins-
rechnungen.
Achtes Schulj
Wöchentl. 3 — 4 Stunden.
Fortsetzung des im
7. Schuljahr behandelten
Rechnens. Dazu die
übrigen Arten der Rech-
nungen des Geschäfts-
lebens. - Durchschnitts-,
Termin-, Rabatt-, Mi-
schungsrechnungen usw.
ir. Kinder im Alter von
Wöchentlich 5 Stunden.
Arbeits- u. Verdienst-,
Ersparnis-, Prozent-,
Zins-, Rabatt-, Gewin n-
und Verlust-, Durch-
schnitts-, Mischung»-,
Teilungs- und Gesell-
schafts-, Termin- und
Wertpapierenrechnun-
gen. Aullösung mit und
ohne Zweisatz.
In der Knabenschule
werden die Aufgaben
zumeist dem GeschüfUs-
leben, in der Mädchen -
s *hule den Bedürfnissen
der einfachen Haushalt-
ung entnommen.
13—14 Jahren.
Wöchentlich 4 Stunden.
Knaben. Schwieri-
gere Zweisatzrechnun-
gen mit möglichster Be-
rücksichtigung des Han-
delsrechnens und des ge-
werblichen Rechnens.
Die Hauptsätze der
geometrischen Pro-
portion. Leichtere
Gleichungen des
ersten Grades mit
einer Unbekannten.
Übung durch Text-
a uf gaben.
Mädchen. Erweiter-
tes Zweisatzrechnen mit
möglichster Berücksich-
tigung des Handelsrech-
nens und Hereinziehen
von Beispielen aus dem
bürgerlichen Leben und
der Haushaltung. Misch-
ungsrechnungen.
2*
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312
Fritz Feile ke.
Uebersicht über die Verteilung des üeometriepensums.*)
Badischer Normallehrplan
vom Jahre 18o9
Lehrplan der erweiterten Schule
in Mannheim
Fünftes Schuljahr.
(Der Unterricht in Geometrie be-
ginnt erst im 6. Schuljahr).
Kenntnis der verschiedenen Linien,
Winkel und der einfachsten Figuren.
Freies Zeichnen geradliniger Figuren,
Winkel und Linien nach dem Augeu-
mass und nach bestimmten Grötsen-
angaben.
Sechstes Schuljahr.
Kenntnis der verschiedenen Linien,
Winkel und der einfachsten Figuren.
Mensen der Linien und Winkel.
Zeichnen von geometrischen Figuren
nach dem Augenmass und nach be-
bestimmten G rössenangaben. — Freies
Zeichnen geometrischer Figuren, des
Kreises und von verschiedenen
Bogenlinien.
Knaben: Wiederholung der geo-
metrischen Formenlehre, erweitert
durch Betrachtung und Beschreibung
der regelmässigen geometrischen
Körper. Konstruktionen in der Ebene.
Gebrauch des Zirkels, Lineals, ver-
jüngten Massstabes und Trans-
porteurs. — Leichte Flächenberech-
nungen mit Anwendung in einfachen
Beispielen.
Mädchen: Kenntnis der ver-
schiedenen Linien, Winkel und der
einfachsten Figuren, nebst Betracht-
ung und Beschreibung der regel-
mässigen Körper. Freies Zeichnen
Esradliniger Figuren, Winkel and
inien.
Siebeates
Berechnung von Flächen und
Zeichnen von Zusammenstellungen
von Flächen.
Freies Zeichnen solcher Figuren,
an denen gerade und krumme Linien
vorkommen.
Schuljahr.
Knaben: Fortgesetzte Konstruk-
tion in der Ebene. — Eigentliche
Geometrie: Lehre von den Winkeln.
Umfangs- und Aussen Winkel ge-
schlossener Figuren. Kongruenz der
Drei-, Vier- und Vielecke ; darauf sich
gründende Sätze; die Sätze vom
Parallelogramm. Wiederholung and
Erweiterung der Flächen und Ober-
flächenberechnungen mit Anwend-
ungsaufgaben. Körperberechnung.
Mädchen: Flachenberechnungen
mit Anwendungsaufgaben.
*) Anmerkung: Die Karlsruher erweiterte Volksschule folgt hinsicht-
lich des Umfanges and der Verteilung des Geometriestoffes im grossen und
ganzen dem Normallehrplan ; hinzu kommt für die fünfte Klasse geome-
trischer Anschauungsunterricht.
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Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim,
313
Badischer Xormallehrplan
vom Jahre 1H49
Lehrplan der erweiterten Schule
in Mannheim
Achtes Schuljahr.
Kenntnis und Beschreibung der
einfachen und geometrischen Körper.
Berechnung des Körperinhalts.
Zeichnen von Körpernetzen.
Freies Zeichnen krummliniger Fi-
guren.
Knaben Vergleichnng der Flachen
ebener Figuren. Die Lehre vom
Kreis; Ähnlichkeit der Dreiecke;
darauf sich grundende Sätze. Pro-
portionalität der Linien ebener Fi-
guren ; A n wod dung obiger Sätze durch
Konstruktion^ ui ^uben. Körperbe-
rechnung mit Anwendunpsauigaben.
Mädchen: Körperberechnung mit
Anwendung.
In Karlsruhe besteht neben der erweiterten Volksschule
noch eine einfache mit minder weit gesteckten Lehrzielen.
In Mannheim ist dagegen jedes Kind zum Besuch der acht-
klassigen Schule verpflichtet und damit gezwungen, einen
äusserst umfangreichen Rechenstoff zu bewältigen. Dass das
für einen mittelmässig begabten Schüler schon äusserst
schwierig sein muss, erkennt jeder Fachmann auf den ersten
Blick; die erreichten Unterrichtsergebnisse laSsen keinen
Zweifel darüber. Die folgende Tabelle, eine Zusammenstellung
ausführlichen Materials, giebt an, wieviel Prozent der in den
Dezennien 1877/87 und 1887/97 zur Entlassung gekommenen
Schüler bis zur zweiten, dritten, vierten u. s. w. Klasse auf-
gestiegen waren.
Tabelle ITL
Durchschnittsprozentsatz der entlassenen Schuler.
Klasse
Knaben
Mädchen
Für
die
Zeit
von
Für
die
Zeit von
1877 bis 18*7
183
1 bis 1897
1877 bis
IS87
1^k7 bis 1697
i?
0,04
0,02
0,03
0,0 2
0,04
III
0,35
0,42
0,o8
0,39
IV
3.9t,
2,01
4,07
3,4»)
V
12.11
8,80
l4,2o
10,74
VI
32,25
21,t>3
27, o7
21/>4
vn
33,4'>
37,84
33,72
42.45
vm
17,77
29,21
19,56
21,23
*) Die I. Klasse ist die unterste.
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314
Fr Uz FtiL'Ze.
Diese Zahlen zeigen auf das deutlichste die Unzuläng-
lichkeit des Mannheimer Volksschulwesens. Wenn sich auch
seit 1887, nach der teilweisen Befreiung des Elementarunter-
richts vom wissenschaftlichen Ballast, die Verhältnisse etwas
gebessert haben, so erreichten doch immer 100—29,21 =
70.79 0 0, also über 2/.i der zur Entlassung gekommenen Knaben,
die oberste Klasse nicht; 70,79—37,84 = 32,950/0, also beinahe
V3 sämtlicher Knaben, konnte sogar nicht einmal die zweite
Klasse absolvieren. Aehnlich, und z. T. noch schlimmer, ge-
stalten sich die Verhältnisse bei den Mädchen.
Alle diese Misserfolge sind darin begründet, dass die
Forderungen des Lehrplans die natürliche Leistungsfähigkeit
der Kinder übersteigen. Als man 1870 die erweiterte Volks-
schule ins Leben rief, glaubte man, dass „der erweiterte Lehr-
plan durchaus nicht mehr umfasse, als was ein gewöhnlicher
Verstand, ein mittlerer Fleiss in den darauf zu verwendenden
acht Jahreskursen ohne besondere Anstrengung in sich auf-
nehmen kann." Welche verhängnisvollen Folgen dieser Irrtum
nach sich zog, zeigt zur Genüge die angeführte Entlassungs-
statistik. — Der Hauptfehler, den man beging, war offenbar
die Verschmelzung der gewerblichen Vorschule, also einer
Fachschule, mit der Volksschule. Dadurch wurde „der Um-
fang und die Verteilung des Unterrichtsstoffes im Rechnen
und in der Geometrie nach Zwecken bestimmt, die der Elemen-
tarschule, der Vermittlerin der allgemeinen Ausbildung, fern
bleiben müssen, soll nicht die grosse Masse der Schüler aufs
schwerste geschädigt werden." Die Schädlichkeit einer solchen
Vereinigung zeigte sich auch bald. Die Kinder blieben schon
in den untersten Klassen vielfach sitzen, da sie dem schnellen
Unterricht nicht zu folgen vermochten. Die grosse Anzahl
der Repetenten führte aber wieder ein äusserst ungleich-
mässiges Schülermaterial herbei, so dass einem gedeihlichen
Massenunterricht die grössten Hindernisse bereitet wurden. Die
Vorbereitung der Kinder, die zur Bürgerschule übergehen
wollten, war mangelhaft. Die Kinder, die wirklich die Schule
durchmachten, hatten endlich nur geringe Vorteile davon; es
iwar ihnen nie Zeit gelassen, sich in den Stoff zu vertiefen;
so ereignete es sich dann, dass es bjei einer Schulvisitation
nur wenigen Schülern der VII. und VIII. Klasse möglich
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Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim.
315
war, ganz einfache Zinsrechnungen und Textgleichungen zu >,
bewältigen. Endlich wurde die grosse Masse der Kinder, die * s
die die oberen Klassen nicht mehr absolvieren konnte, schwer ^wj^*^
geschädigt; die erworbenen Kenntnisse entbehrten eines Ab- '^P"
Schlusses; manche für das Leben äusserst wichtige Thatsachen
wurden ihnen vorenthalten. So blieben z. B. einem aus der
sechsten Klasse abgehenden Schüler völlig unbekannt: die
Körperberechnung, die Geschichte der letzten drei Jahrhunderte,
die Geographie der fremden Erdteile und endlich ein ganzes
Fach, die Naturlehre.
Die vorgesetzte Behörde hat wiederholt auf alle diese Miss-
stände hingewiesen und ihre Abstellung für dringlich erachtet
(die erlassenen Bescheide sind in der Denkschrift wieder-
gegeben) ; es hat auch an den vielfachsten Bemühungen seitens
der Schulverwaltung nicht gefehlt. Die weiteren Ausführungen
Sickingers aber thun dar, dass die Hauptursache aller Uebel-
stände die mangelhafte Organisation des Mannheimer Volks-
schulwesens ist, und dass nur eine Abänderung derselben zur
Gesundung der Verhältnisse beitragen kann.
Um die Unzulänglichkeit des Mannheimer Volksschul-
wesens noch mehr hervortreten und die Ursachen der oben
erwähnten Missstände deutlich erkennen zu lassen, stellt
Sickinger die Unterrichtsergebnisse und Lehrpläne der Karls-
ruher und Mannheimer Volksschule einander gegenüber.
Zunächst ist eine vergleichende Darstellung der Schüler-
entlassungen an den Volksschulen in Karlsruhe und Mannheim
für die Schuljahre 1892/97 gegeben (Tab. IV).
Darnach haben in Karlsruhe im Vergleich zu Mannheim
mehr als noch einmal soviel Kinder das normalplanmässige
Ziel erreicht. Wodurch ist dieser auffällige Unterschied be-
dingt?
Stellen wir die Faktoren, die vor allem das Ergebnis des
Unterrichts bedingen, nämlich das Lehrerpersonal, das Schüler-
material und die Organisation der Schulen beider Städte ver-
gleichend gegenüber.
Das Lehrerpersonal scheidet von vorherein aus dem Zu-
sammenhang aus, denn Mannheim wie Karlsruhe geniessen seit
Jahren das gleiche Vorrecht, bei Besetzung ihrer Hauptlehrer-
stellen die tüchtigsten Bewerber auswählen zu können.
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316
Fritz FeiUke.
Tabelle IV.
Durchschnittsprozentsatz der von Ostern 1892 bis Ostern 1897 nach
Vollendung der Schulpflicht entlassenen Kinder in der Verteilung auf
die einzelnen Klassen.
Karlsruhe
Man n Ii pi m
Klasse
einfache
Schule
erweiterte
Schule
einf. u er weit.
Schule
i Zutiaminonfassuni; )
erweiterte
Schule
A. Knaben.
n
ni
IV
V
V
VI
vn
vm
0,12
0,12
0,24
2,11
6,77
27,85
62,74
_
0,25
1,33
5,99
25,33
67,05
0,06
0,06
0,24
1,71
6,39
26,61
64,84
0,04
0,33
1,44
7,76
20,38
39,27
30,77
B. Mädchen.
n
ni
IV
V
VI
VII
vm
0,10
0,21
4,65
12,38
46,66
36,99
1,29
8,50
47,47
42,72
0,05
0,09
2.85
10,31
46,61
40,04
0,48
3,45
9,95
22,58
44,45
19,02
Die Beurteilung eines so umfangreichen Schülermaterials,
wie es hier in Betracht kommt, ist ein äusserst schwieriges
Unterfangen, umsomehr, als in dieser Hinsicht bestimmte Ge-
sichtspunkte nicht allgemein aufgestellt sind; jeder Fachmann
geht bis jetzt hier seinen eigenen Weg. Sickingers Denk-
schrift weist folgende Ausführungen auf:
„Unter Berücksichtigung der Verschiedenheit der beiden
Städte hinsichtlich der Erwerbsthätigkeit der Bevölkerung darf
wohl mit einiger Sicherheit angenommen werden, dass der
Prozentsatz derjenigen Kinder, deren Fortkommen in der Schule
durch die häuslichen Verhältnisse eher gehemmt als gefördert
wird, in Mannheim erheblich grösser ist als in Karlsruhe. Um-
gekehrt wird in Karlsruhe die Gesamtleistungsfähigkeit des
in den Volksschulen vereinigten Schülermaterials durch den
Umstand beeinträchtigt, dass der dortigen Volksschule durch
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Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim. 317
die Mittelschulen eine grössere Zahl befähigter und aus
geordneten häuslichen Verhältnissen kommender Kinder ent-
zogen wird als der hiesigen Volksschule. Dies zeigt die nach-
folgende Statistik über den Schulbesuch der ele-
mentarschulpflichtigen Knaben in den Städten
Karlsruhe und Mannheim im Schuljahr 1896/97. Die aufgeführ-
ten Zahlen sind den Jahresberichten der betr. Schulen ent-
nommen. Als elementarschulpflichtig wurden von den Schülern
der Mittelschulen die der Sexta bis Obertertia in Rechnung
gezogen.
Statistik über den Schulbesuch der elementarschulpflich-
tigen Knaben in den Städten Karlsruhe und Mannheim
im Schuljahr 1896/97.
A. Karlsruhe.
I. Volksschulen
JI. Mittelschulen
Art der Schule
Zahl
der
Schü-
ler
Prozent-
HJltZ
Art der Schule
Zahl der
Schiller
im volks-
schul-
pflichtig.
Alter
Pro-
zent-
satz
Eint'. Volksschule .
Erweit. Volksschule
Knaben- Vorschale .
Bürgerschule ....
1102
1810
4«*:j
240
Ol \\ Ol
34,'J'>%
9.34 'J „
4.64
Gymnasium ....
Realgymnasium . .
< »berrealschule . . .
Realschule
401
353
407
37G
6,S3n/c
7,27%
Summa l = 3o3;>^7u,_'ti,,;,0 Summa 1 1 = 1537 — 29.72°/,
„ 11 = 1337 -2\72%
Sximma I. u. 11 = 5172= 1<>0,W „
B. Mannheim.
I. Volksschulen
Tl. Mittelschulen
Art der Schule
Zahl
der
Schü-
ler
Prozent-
satz
Art der Schule
Zahl der
Schüler
im volks-
schul-
prliehtig.
Alter
Pro-
zent-
satz
Erweit. Volksschule
Bürgerschule ....
4772
762
70,61 ".'0
11,26"/,
Gymnasium ....
Realgymnasium . .
Oberrealschule . . .
320
396
4,87%
4.42 o..'0
8.82-";
Summa 1^5534 = 61.09°/., Summa 11 = 1224 = 18,1 1 %
„ 11= 1224^ 18,11 %
Nmima 1. u. 11 — 6758= 100,00 %
Digitized by Google
318
Fritz Feilcke.
Ergebnis : Die Mittelschulen besuchten von der Gesamt-
zahl der elementarschulpflichtigen Knaben
a) in Karlsruhe 29,72, rund 30 o0)
b) in Mannheim dagegen nur 18,11, rund 18%.
Scheidet man nun die Schüler nach dem Mass ihrer that-
sächlichen Leistungsfähigkeit, die vornehmlich durch
die natürlichen Anlagen und durch die häusliche
Erziehung und Pflege bedingt wird, in die Kategorien I.
gut, II. mittelmässig, III. mangelhaft, so dürfte hinsichtlich
der Zusammensetzung der Schülerkontingente der Mann-
heimer und der Karlsruher Volksschule Folgendes zutreffen:
Die Mannheimer Schule enthält neben einem grösseren
Prozentsatz von Schülern der I. Kategorie auch einen grösseren
Prozentsatz von Schülern der III Kategorie. Die Karlsruher
Schule dagegen hat relativ mehr Schüler der II. Kategorie,
während die I. und was für die uns beschäftigende Frage
von besonderer Bedeutung ist, die III. Kategorie schwächer
vertreten ist. Mit andern Worten: das Schülermaterial
der Karlsruher Volksschule ist nach Leistungs-
fähigkeit einheitlicher, mehr ausgeglichen, als
das der Mannheimer Volksschule. Je weniger gemischt
aber hinsichtlich des Leistungsvermögens die zu einer Unter-
richtsgemeinschaft vereinigten Schüler sind, desto einheitlicher
können sie gefördert werden, desto grösser pflegt die Zahl
derer zu sein, die die vorgestreckten Jahresziele erreichen und
deshalb normal die lehrplanmässigen 8 Jahreskurse durchlaufen.
Neben dieser Verschiedenheit in der Zusammensetzung des
Gesamtschülermaterials besteht nun aber noch eine höchst
bedeutungsvolle Verschiedenheit hinsichtlich
der Organisation der beiden Schulen.
In Karlsruhe ist neben der erweiterten Schule noch eine
sogen, einfache Schule eingerichtet. Die Klassen dieser ein-
fachen Schule erhalten wöchentlich 16—20 Stunden Unterricht.
Nach dem einstimmigen Urteil der an der einfachen Schule
in Karlsruhe wirketnden Lehrer gehören die Schüler der einfachen
Schule hinsichtlich ihrer Förderungsfähigkeit zum kleineren Teil
der II. Kategorie, zum grösseren Teil der III. Kategorie an;
Kinder der I. Kategorie sind nur wenige vorhanden. Der that-
sächlichen Leistungsfähigkeit der Kinder entsprechend ist der
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Zur Frage der Organisation d*r Volksschule tn Mannheim.
319
Unterrichtsstoff in den Klassen der einfachen Schule auf die
wesentlichsten Forderungen des Normallehrplans beschränkt.
Die natürliche Folge davon ist, dass in Karlsruhe ein beträcht-
licher Prozentsatz von den Schülern der III. Kategorie den für
die Gestaltung ihres späteren Berufs- und Erwerbslebens so
wichtigen normalen Abschluss ihres Bildungsganges erreicht.
In Mannheim dagegen sind die Schüler der III. Kate-
gorie den erhöhten Anforderungen der einheitlich er-
weiterten Schule nicht gewachsen und können ihnen auch
nicht gewachsen sein und erreichen deshalb nicht einmal
die zweitoberste Klasse. Ein Blick auf Tabelle IV zeigt
den bedeutenden Vorsprung, den die Karlsruher Schule in
dieser Hinsicht vor der Mannheimer hat. Es haben von den
1892—97 schulentlassenen Kinder nicht einmal die zweit-
ob erste Klasse durchgemacht
in Mannheim
29 0/0 der Knaben, 36 0/0 der Mädchen,
in Karlsruhe dagegen nur
a) in der einfachen Schule 9 0/0 der Knaben. 17 0,0 der Mädchen,
b) „ „ erw. „ 7 0/0 „ „ 9 o 0 „
c) „ „ Gesamtschule 8 0/0 „ „ 13 ° o ,, „
Die Einrichtung des getrennten Unterrichts derjenigen
Kinder, deren Fortkommen in der Schule durch Mangel an
Begabung oder durch häusliche Verhältnisse oder durch beides
zugleich gehemmt wird, erwiess sich aber nicht bloss für die
Ausbildung dieser Kinder selbst als vorteilhaft, sondern es
konnten infolge jener Scheidung auch die Kinder der II. und
I. Kategorie leichter und umfassender den ihrer Leistungs-
fähigkeit entsprechenden Zielen zugeführt werden."
Nun bespricht Sickinger noch einige, durch die Schul-
organisation bedingte, für einen erfolgreichen Unterricht be-
deutungsvolle Faktoren.
Durch Zahlenangaben wird därgethan, dass ungerecht-
fertigte Versäumnisse von Schülern in Mannheim bedeutend
häufiger vorkommen, wie an der erweiterten Volksschule in
Karlsruhe. Begründet ist diese Thatsache in der Organisation.
Da die Schüler der dritten Kategorie erfahrungsmässig am
häufigsten ohne Entschuldigung fehlen, der Karlsruher er-
weiterten Volksschule diese Elemente aber zum grössten Teil
Digitized by Google
320
Fritz FeiUke.
durch die einfache Volksschule abgenommen werden, so ist
klar, dass Mannheim gegenüber Karlsruhe im Nachteil sein
muss. Das schnelle Unterrichtstempo, welches in Mannheim
herrscht, macht die Häufigkeit der Versäumnisse noch bedenk-
licher, wird doch dadurch ein Nachholen des Versäumten be-
deutend erschwert.
In Karlsruhe kann auch eine bessere Verteilung des Lehrer-
personals vorgenommen werden; man verwendet dort die
leistungsfähigsten Lehrkräfte zum Unterricht an der einfachen
Volksschule, die das unvorbereitetste Schülermaterial besitzt.
In Mannheim kann eine solche Verteilung nicht vorgenommen
werden, da hier alle Klassen der erweiterten Volksschule ein
gleich uneinheitliches Schülermaterial besitzen.
Die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden, die zur
Erreichung der Jahresziele zur Verfügung stehen, ist an beiden
Schulen ungefähr die gleiche; sie differiert etwas zu Gunsten
der Karlsruher Schule, die wohlgemerkt geringere Anforde-
rungen stellt. Mannheim ist ferner im Nachteil, weil es wegen
Platzmangel kombinierte Klassen einrichten musste.
Der bedeutungsvollste Unterschied ist jedoch die Ver-
schiedenheit der Anforderungen, die die Lehrpläne beider
Schulen im Rechnen und in der Geometrie aufweisen. Die
Lehrpläne in diesen Fächern sind anfangs bereits wieder-
gegeben. Ihnen und der folgenden Tabelle VI ist zu entnehmen :
Tabelle VI.
Klasse
Zahl der Rechenstanden
Karlsruhe
Mannheim
Heidelberg
wöchentl.
jahrlich
wöchentl.
jährlich
wöchentl. jährlich
I
5
220
6
264
6
264
n
6
264
6
264
8
352
ni
6
264
6
264
8
352
IV
6
264
5
220
8
352
V
5
220
4
176
6
264
VI
5
220
4
176
6
264
VII
5
220
4
176
6
264
VW
5
220
4
176
6
264
43
1892
39
1716
54
2376
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Zur trag€ der Organisation der Volksschule in Mannheim. 321
Die Karlsruher Schule verlangt von ihren Schülern nicht mehr,
wie im Normallehrplan verlangt ist ; wohl aber ist eine weit
grössere Stundenzahl zur Einprägung des Stoffes vorgesehen.
In Mannheim werden dagegen weit höhere Anforderungen
gestellt; trotzdem halt man hier — und das ist ein schwer-
wiegender Irrtum — eine geringere Stundenzahl wie in Karls-
ruhe (es sind 176 Stunden weniger) für ausreichend. In Baden
findet sich nur noch eine erweiterte Volksschule, die Heidel-
berger, die mit der Mannheimer gleiche Lehrziele hat; dort
stehen aber zur Aneignung solcher umfangreichen Kenntnisse
660 Stunden mehr wie in Mannheim zur Verfügung.
Dieses Missverhältnis zwischen Stundenzahl und geforderter
Leistung wird noch deutlicher, wenn man vergleicht, wieviel
Stunden an der erweiterten Volksschule zu Heidelberg, Karls-
ruhe und Mannheim zur Einübung gleicher Pensen angesetzt
sind. Folgende Tabelle zeigt, wieviel Stunden den Schülern
der drei Schulen zur Erlernung der 4 Grundrechnungsarten
mit mehrfach benannten Zahlen im unbeschränkten Zahlenraum
zur Verfügung stellen.
Tabelle VII.
Erweiterte Schale
Klassen
Alter der
Schüler
Gesamtzahl der
Unterrichtsstunden
Karlsruhe
I-V
6-11 Jahre
1232
Heidelberg
I— IV
6-10 „
1320
Mannheim
I-IV
6-10 „
1012
Der schnelle Lehrgang und die wenigen Unterrichtsstunden
erklärt auch die grosse Zahl der Schüler, die in Mannheim
1893— 1897 in den Knabenklassen IV— VII am Schlüsse der
einzelnen Schuljahre nicht versetzt werden konnten.
Tabelle VIII.
Klasse
1893/94
%
1894/95
%
1895/96
/o
1896/97
%
IV
10,8
10,1
12,4
13,2
V
8,4
16,7
12,7
11,8
VI
9,0
16,7
12,4
12,1
vn
8,5
19,3
9,8
9,1
Digitized by Google
322
Fritz Feilcke.
Die Tabelle führt nur die Schüler an, welche die Schule
weiter besuchten; berücksichtigte man auch die Schüler, die
aus den betreffenden Klassen entlassen werden mussten und
daher das Klassenziel nicht erreichen konnten, so würden sich
die betreffenden Zahlen durchweg erhöhen.
Die Thatsache, dass in Mannheim nur so wenig Schüler
bis in die obersten Klassen gelangen, ist jedoch noch durch
eine andere Erscheinung begründet Ein nicht unbeträchtlicher
Prozentsatz von Kindern wird jährlich der Volksschule durch
Ortswechsel der Eltern zugeführt oder entzogen. Mit diesem
Faktor haben {alle Lehranstalten zu rechnen; für Mannheim
erlangt er jedoch eine höhere Wichtigkeit, weil infolge der eigen-
artigen Organisation seine Volksschule unter denen der badischen
Städte eine gesonderte Stellung einnimmt. Werden Kinder
aus ^anderen Orten in Mannheim eingeschult, so müssen sie
grösstenteils, da sie im Rechnen den gestellten Anforderungen
nicht genügen würden, einer tieferen Klasse, als der, der sie
bisher angehörten, zugewiesen werden. Dadurch wird ihnen
naturgemäss oft die Möglichkeit, überhaupt bis zur obersten
Klasse aufsteigen zu können, genommen. Andererseits werden
wieder Mannheimer Kinder, die die Schule von der ersten
Klasse an besuchen und wohl Aussicht haben, dieselbe zu ab-
solvieren, ausgeschult. Wie bedeutend diese Thatsachen das
Unterrichtsergebnis beeinflussen, ist aus statistischen Angaben
der Denkschrift ersichtlich. Darnach hatten unter den Ostern
1897 entlassenen Schülern 28,990/0 die Mannheimer Volksschule
nicht von Anfang an besucht; nur 10,550/0 der Zugewanderten
gelangten aber bis zur obersten Klasse. Von denjenigen
Kindern, die der Schule von der untersten Klasse an zuge-
hörten, absolvierten sie 29,72 o/0 (40,79 0/0 der Knaben, 20,31 0/0
der Mädchen) ganz.
Zur Besserung der in den vorstehenden Zeilen geschil-
derten Verhältnisse macht Sickinger in seiner Denkschrift Vor-
schläge, die den Kern der gesamten Abhandlung bilden. Sie
dürften das allgemeinste Interesse erwecken; wir bringen sie
deshalb (mit einigen unwesentlichen Kürzungen und unter Fort-
lassung alles dessen, was nur von lokalem Interesse sein kann)
hier unverändert zum Abdruck :
Die im Vorstehenden dargelegten Verhältnisse mahnen
Zur Frage t/er Organisation der Volksschule in Mannheim.
323
dringend zu einer Beschränkung des Lehrstoffs in der
Volksschule, damit
1. die für das praktische Leben wichtigsten
Bildungsstoffe um so intensiver behandelt werden können,
2. mehr Zeit gewonnen wird für den Endzweck aller Lern-
arbeit, für Erziehung der Schüler zu Selbsttätig-
keit und Selbständigkeit,
3. möglichst viel Schüler zur abschliessenden
Klasse aufsteigen.
Insbesondere muss — dies ist die übereinstimmende An-
sicht der Schulbehörden, der Lehrer und der die Ergebnisse
des heutigen Schulunterrichts mit Interesse verfolgenden
Eltern und Lchrherren — den Uebungen im mündlichen
und schriftlichen Gedankenaustausch mehr Auf-
merksamkeit und Pflege gewidmet werden. Dies ist um so
notwendiger, weil bei der fortschreitenden Entartung der Um-
gangssprache das Gefühl für Sprachrichtigkeit in breiten
Schichten der Bevölkerung sich mehr und mehr abstumpft
und infolge dessen das Haus häufig wieder zerstört, was die
Schule rritrhpam aufgebaut hat.
Mit dem Versagen des häuslichen Erziehungsfaktors muss
die Volksschule der Grossstadt überhaupt immer mehr und
mehr rechnen Das starke Anwachsen der Bevölkerung durch
Zuzug von aussen hat zur Folge, dass die Zahl derjenigen
Kinder in stetem Zunehmen begriffen ist, deren geistige und
sittliche Förderung ausschliesslich der Schule anheimfällt. Be-
denkt man, dass die Kinder der letzteren Gattung von Haus
aus mehr oder weniger auch physisch gering qualifiziert sind,
so kann man sich ungefähr eine Vorstellung machen von der
V erschiede nartigkeit der Leistungsfähigkeit der
in der einheitlichen Volksschule wahllos zu-
sammengewürfelten Elemente.
Im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung dieser that-
sächlichcn Verhältnisse für die Frage des Unterrichtsplans und
der gesamten Organisation der Volksschule seien über dieselben
in Ergänzung des oben über das Schülermaterial Gesagten noch
einige Ausführungen angefügt.
Die Volksschule hat die Pflicht, alle Kinder eines gewissen
Alters ohne Unterschied aufzunehmen und bis zu einem
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324
Fritz FeiUke.
bestimmten Lebensjahr behufs Ausbildung in den elementaren
Wissensgebieten und Fertigkeiten zu behalten. Die Bildungs-
fähigkeit des einzelnen Kindes ist das Ergebnis vieler, zum Teil
unerklärter und unbekannter Faktoren. Die wichtigsten sind :
die natürlichen Anlagen, der Fleiss und die häus-
lichen Verhältnisse (Erziehung und Pflege) des Kindes.
Nimmt man für das Mav- mit dem jeder einzelne dieser drei
Faktoren sich geltend machen kann, und ebenso für das Mass
des Gesamteffekts der drei Faktoren beim einzelnen Kinde die
drei Grade an „gut", „mittelmässig", „mangelhaft", so lassen
sich die hauptsächlichsten Schülertypen in folgender
Weise veranschaulichen und gruppieren :
Tabelle IX.
Gruppierung der Schüler nach Leistungs- und Bildungsfähigkeit
I. Kategorie:
gut
II. Kategorie:
mittelmässig
III. Kategorie:
mangelhaft
An-
lagen
Fleiss
häusl. j
Ver-
hältnisse
An-
lagen
Fleiss
häusl.
Ver-
hältnisse
An-
lagen
I häusl.
Fleiss ! Ver-
hältnisse
gut
gut
gut |
gut
mittelm.
mittelm.
mittelm.
manglh.
manglh.
gut
gut 1 mittelm.
gut
mittelm. j manglh.
manglh. gut
mittelm.
gut gut
manglh.
gut
manglh. | gut
manglh. mittelm. gut
gut
mittelm. gut
gut manglh. mittelm.
manglh. mittelm. mittelm.
mittelm.
gut gut
gut
i
manglh. manglh.
manglh.
mittelm j manglh.
mittelm. gut
mittelm.
mittelm. gut manglh.
manglh.
mittelm.
mittelm.
gut
| manglh. | manglh. mittelm.
mittelm.
mittelm.
mittelm.
manglh.
manglh. j manglh.
mittelm. 1 mittelm. manglh.
1
i
i
1
l
mittelm.
manglh.
gut
manglh.
gut | gut
1 1
Welch grosse Verschiedenheit der Arbeitsbefähigung
und Arbeitsenergie in den Abstufungen zwischen dem positiven
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Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim.
325
und dem negativen Ende obiger Reihen, zwischen dem lei-
stungskräftigsten Schüler (Anlagen gut, Fleiss gut, häus-
liche Verhältnisse gut) und dem leistungsschwächsten
Schüler (Anlagen mangelhaft, Fleiss mangelhaft, häusliche Ver-
hältnisse mangelhaft) ! Und alle diese Potenzen und Impotenzen,
die in bunter Mannigfaltigkeit die Schule bevölkern, sollen im
Massenunterricht, der gleiche oder wenigstens annähernd
gleiche Aufnahmefähigkeit voraussetzt, eine brauchbare Schul-
bildung erhalten!
Wie wenig in Mannheim dieses Ziel seither erreicht wurde,
ist bereits genügend dargethan. Wir kommen deshalb zum
positiven Teil unser*-» Aufgabe, zur Beantwortung der
Frage :
Was kann geschehen, damit trotz der Ver-
schiedenheit der Leistungsfähigkeit der Indivi-
duen die grosse Masse der die Elementarschule
besuchenden Kinder zu einem Abschluss ihrer
Schulbildung gelangt?
Zwei Möglichkeiten sind zu erörtern :
I. Die Milderung der bisherigen Missstände im Rahmen
der einheitlichen (ungegliederten) Schule,
II. Die Hebung der bisherigen Missstände durch Gliede-
rung des Schulorganismus.
I.
Die bisherigen Missstände bestanden nach Ausweis der
Entlassungsstatistik darin, dass bis 1887 ca. 5/ß und seit 1887
über 2/3 der die Mannheimer erweiterte Volksschule besuchen-
den Kinder das planmässige Schulziel, die 8. Klasse, nicht er-
reichten Man darf also wohl sagen, dass bis 1887 nur die
besten Schüler, deren Leistungsfähigkeit in der obigen Tabelle
als „gut" bezeichnet ist, und seit 1887 ausserdem noch ein
kleiner Teil der mittelmässigcn Schüler bis zur 8. Klasse
aufstiegen. Ein derartiges Ergebnis ist für eine Unterrichts-
anstalt, in der ca. neunzig Prozent der Gesamtbevölkerung
ihre schulmässige Ausbildung erhalten, schlechterdings unzu-
reichend. Die Zweckbestimmung der Volksschule
verlangt, dass ausser den befähigteren Schülern
zum mindesten auch noch alle mittelmässig be-
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 3
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326
Fritz Feikke.
gabte n Schüler in SJahren zu einem normalen Ab-
schluss gebracht werden.
Es müsste also in der Mannheimer Schule zum mindesten
erreicht werden, dass
der bisher aus der 7. Kl. abgeg. Prozentsatz künftig aus der 8 Kl. entl. wird,
h n i» w 6« » n " n tt » 7. „ M „
»» n n n **• n w » ♦« n n t» n «
n i» »» » ^~ »i 5» »j n ♦» n •» t» "
(Von den bisher aus den Klassen I— III zur Entlassung ge-
kommenen Schülern wird unter Abschnitt II die Rede sein.)
Unter Annahme dieses Promotionsverhältnisses würde sich
die Entlassungstabelle der Jahre 1887/97 folgendermassen ge-
stalten :
aus der 8. Klasse entlassen 29,21 + 37,84 = 67,05%,
n » 7- » n 21,63%,
n «6. „ „ 8,80°/0,
Hiermit würde die Mannheimer einheitliche Volks-
schule annähernd ein Ergebnis erreichen, wie es die Karlsruher
gegliederte Volksschule seither bereits erreicht hat.
Zu diesem Zwecke müsste der lehrplanmässige Unterrichts-
stoff so bemessen und auf die einzelnen Schuljahre so verteilt
werden, dass „der Lehrplan künftig wirklich durchaus nicht
mehr umfasst, als was ein gewöhnlicher Verstand, ein mittlerer
Fleiss in den darauf zu verwendenden 8 Jahreskursen ohne
besondere Anstrengung in sich aufnehmen kann". Die an die
Gesamtheit der Kinder zu stellenden Anforderungen müssten
also auf einen Schülertypus zugeschnitten werden, der in der
dargestellten Gruppierung etwa die Mitte einnimmt und die
Charakterisierung aufweist : Anlagen mittelmässig, Fleiss mittel-
mässig, häusliche Verhältnisse mittelmässig. Mit einer solchen
Fixierung der Arbeitsforderung ist unzweifelhaft dem Gros der
Schüler gedient. Zu kurz kommen jedoch dabei einerseits die
Schüler der I. Kategorie, andrerseits die schwächeren und
schwächsten Schüler der III. Kategorie: die letzteren, weil
für sie die Anforderungen des Mittelmasses immer noch zu
hoch sind, die ersteren, weil sie bei einem für Mittelköpfe be-
rechneten Unterrichtsgang des Besten, was die Schuler-
ziehung für das spätere Leben zu bieten vermag, d. i. der
Uebung und Gewöhnung, zur Erreichung eines Zieles
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Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim.
327
mit dem Einsatz der ganzen Kraft zu arbeiten,
verlustig gehen.
Unwillkürlich drängt sich da die Frage auf: Sollte es
sich nicht in einem so ausgedehnten Schulorga-
nismus wie dem Mannheimer bei der grossen Zahl
von Parallelabteilungen einrichten lassen, dass
auch die I. und III. S c h ü le r kategor ie ihrer Eigen-
art gemäss behandelt wird, sodass — ohne Er-
höhung der Kosten für den Gesamtbetrieb der
Schule — für die Gesamtheit der Schüler ungle ich
günstigere Unterrichtsergebnisse erzieltwürden?
Eine vorurteilsfreie Erwägung der in Betracht kommenden
Momente führt zur Bejahung der Frage. Die Lösung liegt in
der Gliederung des Schulorganismus.
IL
Bei Umwandlung der gegliederten Volksschule (einfache
und erweiterte) in eine einheitliche erweiterte Schule Hess man
sich von der humanen und an sich durchaus anerkennens-
werten Absicht leiten, „alle Kinder ohne Ausnahme der Wohl-
thaten eines erweiterten Wissens teilhaftig werden" zu lassen,
„an welchem gewiss keines in das spätere Leben etwas U eber-
flüssiges mitnehmen wird4'. Leider war dabei ausser Acht ge-
blieben, was sich in der Folgezeit bitter rächte, dass eine
grosse Zahl von Kindern absolut nicht dazu be-
fähigtist, eines er we itert e n W i s s e n s teil h a f t i g zu
werden und dass infolgedessen diese Kinder bisher aus der
erweiterten Schule viel weniger mit ins Leben hinausnahmen,
als wenn ihnen das Durchlaufen einfacher Unterrichtskurse
ermöglicht worden wäre. Hätte man damals die Schule mit
dem einfachen Unterrichtsplan bestehen lassen und alle als
leistungsfähig erkannten Kinder, ohne Rücksicht auf
die Berufsstellung der Eltern, in die Schule mit dem erweiterten
Unterrichtsplan zugelassen, wäre die der einheitlichen er-
weiterten Schule zu Grunde liegende Absicht, auch dem ärm-
sten Kinde eine gediegene Schulbildung zu ermöglichen, viel
zuverlässiger erfüllt worden, als dies seither erwiesenermassen
der Fall war.
Ebenso wenig wie in Hinsicht auf die Art, ebenso wenig
3*
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328
FrxU Feücke.
können die Menschen hinsichtlich des Grades der geistigen
Bildung alle auf eine Stufe gebracht werden. Wenn auch
in der weiteren kulturellen und sozialen Entwickelung die Ver-
teilung der geistigen Güter unter die gesellschaftlichen Klassen
eine gleichmässigere werden wird, dieindividuellenUnter-
schiede werden in alleZukunft bestehen bleiben.
Je mehr bei der Organisation der Volksschule diese individuelle
Verschiedenheit der Kinder hinsichtlich der natürlichen Lei-
stungsfähigkeit in Rechnung gezogen wird, und je mehr der
Unterrichtsplan nach Umfang und Verteilung des Stoffes der
pädagogisch-hygienischen Forderung entspricht, dass die ver-
langte Leistung zu der vorhandenen Leistungs-
kraft in angemessenem Verhältnis stehe, desto
zweckmässiger wird die Ausbildung sein, welche die Kinder
nach Absolvierung der Schulpflicht mit ins Leben hinaus
nehmen. Freilich lässt sich die ideale Forderung, „der Unter-
richt soll jedem Individuum angepasst sein", in der öffentlichen
Schule, die Massen auszubilden hat, nicht erfüllen. Was je-
doch nicht für jeden einzelnen Schüler möglich ist, lässt sich
wenigstens für eine Vielheit von Schülern, die in Bezug auf
individuelle Leistungsfähigkeit einander nahe stehen, ins
Werk setzen.
Bei einem Blick auf die in Tab. IX. dargestellte Grup-
pierung der Schüler erscheint nun als das nächstliegende eine
Sonderung der 3 Schülerkategorien in 3 Schulabteilungen mit
quantitativ und zum Teil auch qualitativ verschiedenen Unter-
richtszielen Da indessen die Kinder der I. Kategorie in
steigendem Masse der Volksschule durch die Mittelschulen ent-
zogen werden, so empfiehlt sich zur praktischen Ausführung
mehr eine zweiteilige Gliederung:
Die Einrichtung einer Schulabteilung mit
höher gesteckten Lehrzielen für die Schüler der
I. Kategorie und die befähigtere Hälfte der II. Ka-
tegorie (erweiterte Schulabteilung) und
die Einrichtung einer Schulabteilung mit kür-
zer gesteckten Lehrzielen für die schwächere
Hälfte der II. Kategorie und d ie K i n d e r d e r III. Ka-
tegorie (einfache Schulabteilung).
Bei der Bemessung der Unterrichtszeit für die ein-
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Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim.
329
fache Schulabteilung müsste die Thatsache berücksichtigt
werden, dass bei schwachbefähigten Schülern, die meist auch
körperlich schwach und häufig mangelhaft verpflegt sind, die
geistige Ermüdung rascher und nachhaltiger eintritt als
bei den Gutbefähigten. Immerhin müssten den Klassen mit
dem einfachen Unterrichtsplan mehr Wochenstunden*) zuge-
wiesen • werden, als zur Zeit den Landschulen zur Verfügung
stehen; denn die durch Beschränkung in Ziel und Auswahl
des Unterrichtsstoffes gewonnene Zeit wird durch den für die
Schwachen erforderlichen langsameren Unterrichtsgang und
durch die gründlichere Behandlung des Stoffes grossenteils
wieder in Anspruch genommen.
Die Führung von Klassen der einfachen Schulabteilung
ist naturgemäss eine minder erfreuliche Aufgabe und stellt an
die methodische Tüchtigkeit und die Hingabe des Lehrers an
seinen Beruf höhere Anforderungen als die Unterrichtserteilung
in den Klassen der erweiterten Abteilung. Ebenso sicher ist
aber und durch die Praxis festgestellt, dass die Schwachen mit
einem ihrem Leistungsvermögen angepassten
Unterrichtsplan auf eine höhere Stufe der Ausbildung ge-
bracht werden, als wenn sie an dem Unterricht der Starken
teilzunehmen gezwungen sind. Welchen Vorteil andrerseits die
besser befähigten Schüler aus der Befreiung von dem Hemm-
schuh der Schwachen ziehen würden, braucht nicht näher aus-
geführt zu werden.
Welcher Art soll nun dieSonderung derSchü-
ler in eine erweiterte und eine einfache Schul-
abteilung sein? Zwei Arten sind denkbar:
a) die Sonderung nach äusseren Momenten,
b) die Sonderung nach inneren Momenten,
a) Zur Erläuterung der ersteren Art sei auf ein bestimmtes
Beispiel, auf die oben zum Vergleich herangezogene Organi-
sation der Volksschule in Karlsruhe, verwiesen. In Karls-
ruhe ist der Besuch der erweiterten Schule von der Bezahlung
eines jährlichen Schulgeldes von 8 Mark abhängig; der Be-
such der einfachen Schule dagegen ist unentgeltlich. Durch
*) Etwa 22—26 Wochenstunden (für die Klassen der erweiterten Ab-
teilung sind 26 — 30 Wochenstunden vorgesehen».
Digitized by Google
330
Fritz Feilcke.
diese Einrichtung ist erreicht worden, dass ein grosser Prozent-
satz derjenigen Kinder, die infolge geringer Bildungsfähigkeit
erhöhten Anforderungen des Schulunterrichts nicht gewach-
sen sind, in einem einfachen Unterrichtsgange eine ihrer
Leistungskraft entsprechende Ausbildung erhielt. Wie ungleich
vorteilhafter infolge davon die Promotionsergebnisse in
der Karlsruher Volksschule gegenüber denen der Mannheimer
Volksschule sich seither gestalteten, haben die vorangegangenen
Ausführungen gezeigt.
Damit ist jedoch nicht gesagt, dass der in Karlsruhe und
andern Orten übliche Modus der Einweisung in die einfache
und in die erweiterte Schule etwas Vollkommenes darstelle;
er weist vielmehr zwei erhebliche Mängel auf. Wohl ist in
Karlsruhe die Bestimmung getroffen, dass bedürftige und
würdige Kinder der erweiterten Schule vom Schulgeld teilweise
oder ganz befreit werden können. Da jedoch diese Befreiungen
nur im Rahmen einer bestimmten Summe ausgesprochen
werden, ist keine Garantie dafür geboten, dass alle bedürf-
tigen und würdigen Schüler berücksichtigt werden. Jedenfalls
können unbemittelte Eltern, deren Kinder schulpflichtig werden,
nicht mit Sicherheit auf jene Vergünstigung rechnen. Sie sind
deshalb gezwungen, ihre Kinder in die einfache Schule zu
schicken, auch wenn diese den Anforderungen der
erweiterten Schule gewachsen sind. Bei dem heutigen
gesteigerten Wettbewerb der Kräfte ist es aber im Interesse
des Fortkommens des einzelnen sowohl als der Hebung des
Bildungsstandes der Gesamtheit dringend zu wünschen, dass
jedes dazu befähigte Kind während seiner gesetzlichen
Schulpflicht zum Besuch der am Heimatsort bestehenden er-
weiterten Schule unentgeltlich zugelassen wird.
Der zweite Mangel der Karlsruher Organisation ist darin
zu erblicken, dass alle Kinder, auch die unbefähigsten, in die
erweiterte Schule zugelassen werden müssen, sofern nur die
Eltern das festgesetzte Schulgeld zu zahlen in der Lage sind.
Dies widerstreitet aber der pädagogischen Zweckbestimmung
der erweiterten Schulabteilung. Diese soll nicht eine Domäne
der Bemittelten, sondern eine Schule der Befähigteren
sein.
Es liegt nun die Frage nahe: Würde die erweiterte
Digitized by Google
Zur Frage der Organüatüm der VolksschuU in Mannheim. 331
Schulabteilung in höhcrem Grade eine Schule der
Befähigteren werden, wenn die Erhebung von
Schulgeld wegfiele, wenn also der Eintritt in die-
selbe nicht von dem Geldbeutel, sondern von der
freien EntSchliessung der Eltern abhinge? Die
Frage muss auf das Bestimmteste verneint werden. Die
erweiterte Schulabteilung würde alsdann nicht bloss von den
unbefähigten Kindern bemittelter Eltern, sondern auch noch
von einer grossen Zahl unbefähigter Kinder unbemittelter
Eltern bevölkert werden. Dies würde ganz besonders für Mann-
heim zutreffen, weil in der hiesigen Bevölkerung die An-
schauung traditionell ist, dass der Besuch der erweiterten Schule
selbstverständlich auch das Erreichen eines erweiterten
Wissens zur Folge habe. Mit Sicherheit lässt sich deshalb
behaupten: Würde hier eine einfache und eine er-
weiterte Schulabteilung eingerichtet und hätten
die Eltern nach freiem Ermessen über die Zu-
weisung ihrer Kinder in die eine oder die andere
Abteilung zu bestimmen, so würde zwar die er-
weiterte Abteilung einen geringeren Prozentsatz
ungeeigneter Elemente zählen, als die bisherige
einheitliche erweiterte Schule, jedoch einen be-
deutend grösseren als dort, wo für den Besuch der
erweiterten Schulabteilung Schulgeld erhoben
wird. Somit steht ausser jedem Zweifel:
b) Sollen die beiden Schulabteilungen von den
für sie qualifizierten Schülern bevölkert werden,
so darf weder der Vermögensstand noch der Wunsch
der Eltern bei der Einweisung massgebend sein,
sondern es müssen die Unterrichtsobjekte selbst,
die Kinder, d. h. der durch natürliche Anlagen,
Fleiss und häusliche Verhältnisse bedingte Grad
ihrer individuellen Leistungsfähigkeit, das aus-
schlaggebende Moment bilden. Als der zuverlässigste
Massstab für die Leistungsfähigkeit sind aber die t hat säch-
lichen Leistungen anzusehen.
Daraus ergeben sich folgende Forderungen:
i. Die Sonderung der Kinder kann nicht schon beim Eintritt
in die Schule, sondern frühestens vom 3. Schuljahre
Digitized by Google
332
Fritz Feilcke.
an, also auf Grund der Ergebnisse eines mindestens zwei-
jährigen Schulbesuchs erfolgen.
2. Für die Zuteilung der Kinder in die einfache und in die
erweiterte Schulabteilung ist allein die Schule zuständig,
denn sie hat die umfassendste Kenntnis von den Leistungen
und infolgedessen auch das zuverlässigste Urteil über die
Leistungsfähigkeit der Kinder.
Man wende nicht ein, dass damit der Schule ein Recht ein-
geräumt würde, das deren bisherige Befugnisse weit übersteige.
Thatsächlich übt die Schule schon längst eine viel weitergehende
Einwirkung auf die Gestaltung des Bildungsganges der ein-
zelnen Schüler aus und zwar durch das ihr zustehende Recht,
schwache Schüler in die nächsthöhere Klasse nicht
aufsteigen, d. h. „sitzen" zu lassen. Wenn ein Schüler
einer achtklassigen Schule nur einmal sitzen bleibt, so ist ihm
damit jede Möglichkeit abgeschnitten, den lehrplanmässigen
Abschluss seiner Ausbildung im schulpflichtigen Alter zu er-
reichen. Die Verweisung in die einfache Schulab-
teilung dagegen hat für den Schüler gerade den umgekehrten
Effekt; sie verschafft ihm die Möglichkeit, in einem
seinen Kräften angemessenen Unterrichtsgang zu
einem planmässigen Abschluss seiner Ausbildung
zu gelangen, den er in der erweiterten Abteilung
niemals erreicht hätte.
Die Forderung, dass über die Zulassung zur Schulabteilung
für erweiterten Unterricht nicht die Eltern, sondern die Vertreter
der Schule die Entscheidung treffen, erscheint um so berech-
tigter, wenn man die in den Mittelschulen von jeher geübte
und allgemein als selbstverständlich befundene Praxis zum Ver-
gleich heranzieht. Zur Aufnahme in das Gymnasium, das Real-
gymnasium, die Realschule und die höhere Mädchenschule
genügt nicht der Wunsch der Eltern oder deren Bereitwilligkeit,
das verlangte Schulgeld zu bezahlen, die Aufnahme ist vielmehr
von dem Ausfall einer Prüfung abhängig gemacht, durch die
festgestellt werden soll, ob die zur Aufnahme Angemeldeten
denjenigen Grad von Leistungsfähigkeit besitzen, der zur Er-
reichung der Unterrichtsziele der genannten Anstalten als un-
erlässlich angesehen wird. Dabei sind die Mittelschulen in zwie-
facher Hinsicht günstiger daran als die Volksschule. Einmal
Digitized by Google
Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim. 333
sind in denselben die Fälle nicht selten, dass Schüler zur Er-
reichung des planmässigen Abschlusses ein oder mehrere Jahre
zusetzen ; sodann sind die höheren Lehranstalten befugt, Schüler
nach zwei jährigem erfolglosen Besuch einer Klasse „abzu-
schieben". In der Volksschule dagegen treten die Kinder — mit
seltenen Ausnahmen — nach Erfüllung der gesetzlichen Schul-
pflicht aus ohne Rücksicht darauf, ob sie das Schulziel erreicht
haben; ferner ist die Volksschule gezwungen, alle schulpflich-
tigen Kinder, auch die schwachen und unfähigen, zu behalten
und zu unterrichten. Da nun die Volksschule einerseits die
Leistungsfähigkeit der Kinder nicht willkürlich erhöhen kann,
andrerseits verpflichtet ist, die ihr zugewiesenen Kinder thun-
lichst zu fördern, so muss ihr, sofern ihre Organisation graduell
verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten vorsieht, ebenso gut wie
den Mittelschulen das Recht zustehen, nur solche Elemente
in die Abteilung mit höherem Ausbildungsziele zuzulassen, die
den gesteigerten Anforderungen thatsächlich auch
gewachsen sind. Diese für die Volksschule in Anspruch
genommene Befugnis verliert auch den letzten Schein eines
Uebergriffs dem Elternhaus gegenüber, wenn man berücksich-
tigt, dass die Eltern für die die hiesige Volksschule besuchenden
Kinder kein Schulgeld zu entrichten haben sowie dass die Fern-
haltung der schwächeren Schüler von der erweiterten Schul-
abteilung und deren Unterweisung nach einfacherem Unterrichs-
plan durch das eigenste Interesse der letzteren gefordert
wird.
Innerhalb der Mannheimer einheitlichen erweiterten Volks-
schule sind jahrelang diejenigen Schüler, welche am Ende des
Schuljahres aus der Schule entlassen werden mussten, in be-
sonderen Parallelklassen, den sogenannten Konfirmanden-
klassen, nach einem modifizierten Lehrplan unterrichtet
worden, um ihnen eine einigermassen abgeschlossene Ausbil-
dung zu geben. Die Eltern sind, wenn ihre Kinder einer Parallel-
klasse zugewiesen werden sollten, um ihre Zustimmung nicht
befragt worden. Die vorgeschlagene Organisation ist aber
nichts anderes als die umfassende Durchführung des
den Konfirmandenklassen zu Grunde liegenden Ge-
dankens, die Anforderungen des Unterrichts der faktischen
Leistungsfähigkeit der Kinder anzupassen und die schwachen
Digitized by Google
334
Fritz Feilet.
Schüler, in engerem Rahmen, zu einem gewissen Abschluss ihrer
Schulausbildung zu bringen.
Die Notwendigkeit der Einrichtung eines gesonderten
UnterrichtsgangesfürdieschwachenSchüler ergiebt
sich auch mit logischer Konsequenz aus der Fürsorge, die man
seit einer Reihe von Jahren mancherorts den schwächsten
unter den die öffentlichen Schulen besuchenden Kindern an-
gedeihen lässt. Gemeint sind damit nicht die vollständig
schwachsinnigen Kinder, die sogen. Idioten ; denn diese sind
aus der Normalschule gänzlich auszuscheiden und gleich den
Nicht- Vollsinnigen, den Blinden und Taubstummen, in be-
sonderen Anstalten unterzubringen. Wir haben vielmehr die-
jenigen Kinder im Auge, die infolge organischer Gebrechen in
ihrer geistigen Entwickelung zurückgeblieben sind, sich aber
immer noch als bildungsfähig erweisen ; man pflegt diese Kinder
zur Unterscheidung von den wirklich Schwachsinnigen als
„krankhaft schwach begabt" zu bezeichnen. Sie kennzeichnen
sich nach ihrem Eintritt in die Normalschule dadurch, dass sie
auch bei zweijährigem Besuch einundderselben Klasse das
Klassenziel nicht erreichen und deshalb nach achtjährigem
Schulbesuch aus den unteren Klassen entlassen werden müssen.
Diese Elemente werden in neuerer Zeit in einer grossen Zahl
von Städten (darunter Karlsruhe) im Rahmen der allgemeinen
Schule in besonderen Abteilungen, sogen. Hilfsklassen
unterrichtet. Die Zweckmässigkeit der besonderen Behandlung
dieser Kinder wird von Pädagogen und Aerzten einstimmig an-
erkannt. Auch die Mannheimer Schulbehörde hat die Frage
der Einrichtung von Hilfsklassen wiederholt in Erwägung
gezogen und 1896 das Rektorat mit Einreichung diesbezüg-
licher Vorschläge beauftragt. Hält man aber in der all-
gemeinen Volksschule die Einrichtung eines beson-
deren Unterrichtsganges für die a b n o r m a 1 - Schwachbe-
gabten Kinder für gerechtfertigt, so wird man auch den viel
zahlreicheren normal- Schwachbegabten und den normal-
leistungsfähigen Kindern die grossen Vorteile einer besonderen
Behandlung nicht länger vorenthalten, sondern die Zweck-
mässigkeit einer Organisation anerkennen, die vorsieht:
1. eine erweiterte Schulabteilung für die be-
fähigteren Schüler,
Digitized by Go
Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim.
335
2. eine einfache Schulabteilung für die
schwächeren Schüler,
3. eine Anzahl Hilfsklassen für die schwäch-
sten Schüler.
Wie würde sich nun diese Gliederung im praktischen
Schulbetrieb unter den hiesigen Verhältnissen darstellen?
Etwa so: Der Unterricht in der ersten (untersten) Klasse
wird einheitlich erteilt. Diejenigen Kinder, welche das
Ziel der ersten Klassen im ersten Jahre nicht erreichen,
verbleiben ein weiteres Jahr in dieser Klasse. Ist ihre Ver-
setzung auch im darauf folgenden Jahre nicht möglich, so
werden sie einer sogen. Hilfsklasse zugeteilt. Dasselbe ge-
schieht mit den die zweite Klasse ein zweites Jahr erfolglos
besuchenden Kindern.
Diejenigen Schüler der zweiten Klasse, welche das Klassen-
ziel mit der Durchschnittsnote „gut" und „ziemlich gut" erreicht
haben, werden zu Beginn des folgenden Schuljahres in die
erweiterte Schulabteilung, die mit geringeren, aber immer noch
genügenden Leistungen in die einfache Schulabteilung ein-
gewiesen. Die endgültige Entscheidung über die letzteren erfolgt
nach einer seitens der Schulleitung vorgenommenen Prüfung.
Bezüglich der von der Schule vorzunehmenden Fest-
stellung der Leistungsfähigkeit der Kinder könnten nun noch
folgende Bedenken erhoben werden:
1) Die Schüler einer Unterrichtsabteilung weisen in ihren
Leistungen nicht sprungweise Unterschiede, sondern allmäh-
liche Uebergänge auf; es ist deshalb für die Einweisung in
die erweiterte oder einfache Schulabteilung eine Grenzlinie allzu
schwer zu ziehen.
2) Bei der Beurteilung der Leistungen legen nicht alle
Lehrer denselben Massstab an. Es ist also denkbar, dass ein
Kind, das von seinem Klassenlehrer als „hinlänglich" leistungs-
fähig der einfachen Schulabteilung zugeschrieben worden ist,
von einem andern Klassenlehrer als „ziemlich gut" in die er-
weiterte Schulabteilung eingereiht worden wäre.
3) Es kommt vor, dass Kinder in späteren Jahren sich
anders entwickeln, als es sich in den ersten zwei Jahren ver-
muten lässt. Was soll dann mit diesen Kindern geschehen?
Digitized by Google
336
Frilt Feücke.
Zu i. Die unter den jetzigen Verhältnissen am Schlüsse
eines Schuljahres vom Klassenlehrer zu treffende Entscheidung,
ob ein Schüler in die nächst höhere Klasse zu versetzen oder
noch ein Jahr in der bisherigen Klasse zu belassen sei, ist
zum mindesten ebenso schwierig als die Entscheidung über die
Tauglichkeit für die erweiterte oder einfache Schulabteilung;
im Falle einer irrtümlichen Beurteilung ist dagegen die erstere
Entscheidung für das Kind viel nachteiliger.
Zu 2 und 3. Um für die Beurteilung einen einheitlichen
Massstab zu gewinnen, werden die von dem Klassenlehrer für
die einfache Schulabteilung in Aussicht genommenen Schüler
seitens der Schulleitung einer Prüfung unterzogen. In Zweifel-
fällen ist der Schüler zunächst in die erweiterte Schul-
abteilung aufzunehmen mit vierteljährlicher Probezeit.
Falls ein Schüler der erweiterten Schulabteilung in einer
höheren Klasse den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist,
kann er leicht in die für ihn geeignete Klasse der einfachen
Abteilung herüber genommen werden. Hat beispielsweise bei
einem Schüler der 6. Klasse der erweiterten Schulabteilung
die Leistungsfähigkeit so sehr nachgelassen, dass er in der
nächstfolgenden Klasse dem Unterricht voraussichtlich nicht
folgen könnte, so bleibt er nicht als Repetent in der
bisherigen Klasse (was ja zur Folge hätte, dass er die
8. Klasse nicht mehr erreichte), sondern er wird in die
7. Klasse der einfachen Schulabteilung pro-
moviert und gelangt hier zu dem wünschenswerten
Abschluss. So wird auf die einfachste Weise erreicht:
1) Dass in den Klassen der erweiterten Schulabteilung
niemals Repetenten sitzen, 2) dass die bis zur Absolvierung
ihrer Schulpflicht in der erweiterten Abteilung verbliebenen
Schüler ausnahmslos aus der obersten Klasse ent-
lassen werden.
Tritt dagegen der Fall ein, dass die Leistungsfähigkeit
eines Schülers der einfachen Schulabteilung sich später er-
höht, so ist zweierlei möglich. Ist die Steigerung der Leistungs-
fähigkeit auffallend und nachhaltig, so wird der Schüler der
erweiterten Schulabteilung überwiesen ; andernfalls bleibt er in
der einfachen Schulabteilung und hat dann den nicht zu unter-
Digitized by Go
Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim.
337
schätzenden Vorteil, den Abschluss seiner Ausbildung mit
gutem Erfolge zu erreichen.
Noch eines Umstandes sei Erwähnung gethan, der die
konsequente Durchführung des von uns aufgestellten Grund-
satzes zu hindern scheint. § 93 des Elementarunterrichtsgesetzes
besagt : ,AVo neben einer erweiterten Volksschule (Volksschul-
abteilung) auch eine einfache sich befindet, besteht zum Besuche
der ersteren keine Verbindlichkeit." Zum Verständnis dieser
gesetzlichen Bestimmung sei daran erinnert, dass seither an
den Orten, wo neben der einfachen Schule eine erweiterte
bestand, in letzterer Schulgeld erhoben wurde. Die Be-
stimmung will also verhüten, dass Eltern zur Bezahlung von
Schulgeld herangezogen werden, wenn am betreffenden Orte
der gesetzlichen Schulpflicht auf billigerem Wege Genüge ge-
leistet werden kann. Wiewohl nun in Mannheim für den Besuch
der erweiterten Schule kein Schulgeld erhoben wird, so
könnten, da das Gesetz absolute Gültigkeit hat, bei einer Gliede-
rung der Mannheimer Schule leistungsfähige Kinder, deren Eltern
die einfache Schulabteilung aus irgend welchen Gründen (z.B.
wegen der etwas geringeren Unterrichtszeit) bevorzugen, nicht
in die ihrer Qualifikation entsprechende erweiterte Schul-
abteilung eingewiesen werden. Dieser Fall dürfte indessen selten
eintreten, da Eltern leistungsfähiger Kinder in der Regel auch
für deren Ausbildung Interesse zeigen. Sollte wirklich von jener
Bestimmung Gebrauch gemacht werden, so erreichen die betr.
Kinder um so sicherer die oberste Klasse, was ja in
erster Linie durch die Gliederung der Schule erreicht werden
soll.
Die Einrichtung von Parallelabteilungen mit einfachem
Lehrplan ist für Mannheim schon mit Rücksicht auf die Hun-
derte von Schülern, die alljährlich von auswärts
in seine Schulen übertreten, ein unerlässliches Bedürfnis.
Die meisten dieser Kinder haben vor ihrer Uebersirdelung
nach Mannheim eine einfache Schule besucht; sie müsen
deshalb in der erweiterten Schule fast ausnahmslos in
Klassen eingewiesen werden, für die sie zu alt sind, was alsdann
zur unausbleiblichen Folge hat, dass sie nach Vollendung der
Schulpflicht aus niedrigeren Klassen entlassen werden. Er-
halten diese Kinder aber die Gelegenheit, ihren bisherigen
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338
Früz FeiUke.
Unterrichtsgang in einer ihrem Alter entsprechenden Klasse
fortzusetzen, so ist der Vorteil ein doppelter: jene Schüler
gelangen zu einem regelrechten Abschluss ihrer Ausbildung,
und die Klassen mit erweitertem Lehrplan bleiben von einem
bisher sehr unangenehm empfundenen Zuwachs verschont.
Die Lehrpläne der erweiterten Schulabteilung und der
einfachen Schulabteilung würden sich sowohl in Bezug auf
Umfang als in Bezug auf Verteilung des Unterrichtsstoffes
unterscheiden. Bei der Aufstellung derselben dürfte man nicht,
wie dies im Jahre 1870 geschah, von der Annahme ausgehen,
der badische Normallehrplan vom Jahre 1869 sei ein sogen.
Minimallehrplan. Die Erfahrungen im Unterricht haben zur
Genüge dargethan, dass er als Maxi mallehr plan zu be-
trachten ist; auch die Oberschulbehörde will ihn als solchen
aufgefasst wissen. In der That enthält er so vieles und so
vielerlei, dass zur Erfüllung seiner Forderungen im Massen-
unterricht die an der hiesigen Schule übliche erweiterte
Unterrichtszeit vollauf in Anspruch genommen wird. —
Angelegentlich der Frage der Organisation der Volksschule
in Mannheim hat Dr. Sickinger das Schulwesen anderer Städte
(Basel, Zürich u. s. w.) eines eingehenden Studiums unterzogen
und seine Beobachtungen und Folgerunen in einer weiteren
Abhandlung niedergelegt. Wir können auf dieselbe hier nicht
mehr eingehen, verweisen aber auf sie (Mannheim, Druck der
Mannheimer Aktiendruckerei A.-G. Die Organisation der Mann-
heimer Volksschule betreffend; Bericht über das Schulwesen
der Stadt Basel, Zürich u. s. w.). —
Die in jener Schrift enthaltenen Leitsätze über die x\ot-
wendigkeit, Zweckmässigkeit und Durchführbarkeit der Glieder-
ung der obligatorischen Volksschule nach der natürlichen Leist-
ungsfähigkeit der Kinder seien jedoch wegen ihrer allgemeinen
Bedeutung hier wieder gegeben.
1. Die für die obligatorische Volksschule erhobene Forderung „gleiches
Recht für alle" wurde seither so verstanden, dass alle Kinder ein Recht auf
die gleiche Bildung hätten. Es galt deshalb als zweckmässigste
Organisation die einheitliche (ungegliederte) Volksschule mit einem Lehr-
plan (ür sämtliche, die obligatorische Volksschule besuchenden Kinder.
2. Es ist aber eine durch die Promotionsstatistik nicht bloss der
Mannheimer, sondern auch anderer Stadtschulen zahlcnmässig erwiesene
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Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim.
33«)
Thaisache, dass durch eine derartige Auslegung jener Forderung gerade
diejenigen Kinder am meisten geschadigt wurden, denen durch Einrichtung
der einheitlichen Schule eine Förderung zugedacht war.
3. Man hat eben ausser acht gelassen, dass die Arbeitsbefähigung der
Individuen substantiell und graduell sehr verschieden ist und dass das Indi-
viduum zu keinem andern Grade der Brauchbarkeit geführt werden kann,
als wozu seine Kräfte es fähig machen.
4. Die naturgemässc und deshalb allein vernünftige Auslegung jener
Forderung lautet vielmehr: „Alle Kinder haben das gleiche Recht aul
Bildung", d. h. die zu fordernde Gleichheit besteht nicht in der Gleichheit
des Unterrichtsganges für alle, sondern in der gleichen Möglichkeit
für jedes Kind, dass es innerhalb der obligatorischen Schulpflicht die
seiner natürlichen Leistungsfähigkeit entsprechende
Ausbildung erhalte.
5. Ein einheitlich zugeschnittener Lehrplan ist deshalb für die obliga-
torische Volksschule, die alle Kinder unterschiedslos aufzunehmen und durch
Unterricht zu erziehen hat. ein Unding.
6. Es müssen vielmehr, damit in der obligatorischen Volksschule jedem
Kinde, dem schwachen wie dem starken, die seiner Eigenart gemässe Ent-
wickelung und Förderung zu teil werde, mehrere quantitativ und teil-
weise auch qualitativ verschiedene Unterrichtsgänge einge-
richtet werden.
7. Das Volksschulwesen wird dadurch gegliedert wie das Mittel-
schulwesen. Während jedoch die Unterrichtsgänge des Mittelschulwesens
(der gymnasiale, der realgymnasiale und der Realschulzweig 1 vorwiegend
qualitative Unterschiede aufweisen (Verschiedenheit der Unterrichts-
fächer», unterscheiden sich die in der Volksschule einzurichtenden Unter-
richtsgünge vorwiegend quantitativ.
8. Das für die Schule in Anspruch genommene Recht der Einweisung
in den einen oder andern Unterrichtsgang ist nur i o r m c 1 1 von dem durch
die Schule von jeher geübten Rechte verschieden. Von jeher hat die
Schule die Kinder nach dem Prinzip der Leistungs-
fähigkeit gruppiert, indem sie unter der Form des Sitzenlassens
ältere Schüler zu jüngeren einschulte und dadurch für jene aus eigener
Machtvollkommenheit den Lchrplan modifizierte.
9. Die neue Form der Gruppierung nach Leistungsfähigkeit hat
gegenüber der bisherigen den nicht gering zu schätzenden Vorteil, dass auch
die schwächeren Schüler ihrem Alter und ihrer Leistungsfähigkeit ent-
sprechend Jahr für Jahr stufenmässig vorwärts geführt und statt zu einem
Abbruch zu einem das Wesentlichste der elementaren Unterrichtsfacher
berücksichtigenden, also planvollen Abschluss ihrer schulmassigen
Ausbildung gebracht werden.
10. Selbst wenn durch die vorgeschlagene Sonderung für die Schwäche-
ren nicht mehr erreicht würde, als bei dem bisherigen gemeinsamen Unter-
richt, so bliebe im ganzen genommen immer noch ein Gewinn, insofern die
Leistungsfähigeren, befreit vom Hemmschuh der Schwachen, eine ihren
Kräften angemessenere Ausbildung erhalten könnten.
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340
Fritz Fakke.
11. Dass indessen die Schwachen, gesondert von den Fähigeren, eben-
falls eine zweckmässigem Ausbildung erhalten, dafür braucht der Beweis
nicht erst in der Zukunft erbracht zu werden. Er ist bereits erbracht durch
die Erfolge in den H i 1 f s k 1 a s e n , die nirgends, wo sie einmal eingeführt
worden sind, wieder aufgegeben wurden, sondern überall weitergeführt und
an einigen Orten bereits zu besonderen Hilfsschulen ausgestaltet werden;
er ist ferner erbracht durch die in Basel, Zürich und VVintcrthur eingerichteten
Sonderklassen der Sekundärschule. Es ist auch ohne weiteres be-
greiflich, dass wenn die Allersch wachsten durch die Sor.dcrung
erfolgreicher geiördert werden, dies noch vielmehr bei den Normal-
schwachen möglich ist, da bei diesen die Schwierigkeiten unzweifelhaft
geringer sind.
12. Ebenso wie die intellektuelle Ausbildung wird auch die sitt-
liche Ausbildung, die Erziehung der Kinder zur äusseren Gesittung und
zur inneren Sittlichkeit, durch Anpassung der Anforderungen an die that-
sächliche Leistungsfähigkeit der Kinder günstig beeinflusst. Das setzen die
seither in Sonderklassen gemachten Erfahrungen ebenfalls ausser jeden
Zweifel. Auch theoretisch ist dies klar erkennbar. Wie kann z. B. in einem
Kinde der Sinn für Recht und Billigkeit geweckt und gepflegt werden, wenn
der Lehrer, der für das schwache wie für das begabte Kind die verkörperte
Gerechtigkeit sein soll, Jahr ein Jahr aus unter dem Zwange des einheitlichen
Unterrichtsganges Anforderungen an das Kind stellt, die dasselbe mit dem
besten Willen, weil sie eben über seine Kräfte gehen, nicht erfüllen kann ?
Die Anpassung der schulischen Forderungen an die thatsächliche Arbeits-
kraft des Kindes ist geradezu die unerlässliche Voraussetzung
zur wirksamen sittlichen Erziehung des Zöglings, sie ist gewissermassen
das, was Luft und Licht für das organische Leben bedeuten.
13. Das Höchste, was die Eltern von der obligatorischen Volksschule
verlangen können, ist, dass die Kinder bestmöglich, d. h. nach Mass-
gabe ihrer natürlichen Leistungsfähigkeit innerhalb des schulpflichtigen
Alters ausgebildet werden. Diese Ansprüche hat die obligatorische Volks-
schule einem grossen Prozentsatz der Eltern gegenüber bisher nicht er-
füllt und kann sie auch künftig nur dann erfüllen, wenn verschiedene
Unterrichtsgänge eingerichtet werden.
14. Nach § 7 der Ministcrialverordnung vom 24. April 1869, den Lehr-
plan für die Volksschulen betr., findet die Festsetzung der Schülereinteilung
in Klassen und Abteilungen sowie die Ueberweisung der Klassen an die bei
der Schule angestellten Lehrer durch den Kreisschulrat {\n Mannheim durch
das Rektorat) statt. Der Schulleitung steht demgemäss jetzt schon die
Befugnis zu, die schwächeren Schuler der einzelnen Klassenstufen in be-
sonderen Parallelabteilungen zusammenzufassen und ihnen geeignete
Lehrer zuzuweisen. Behufs Ermöglichung der vorgeschlagenen Organisa-
tion ist also nur noch die Frage zu entscheiden: Soll der Schul-
leitung auch das Recht zukommen, den Parallel-
abtcilungen der Schwächeren quantitativ weniger zu-
zumuten, damit der Unterricht an Qualität gewinne?
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Zur Frage der Organisation der Volksschule in Mannheim.
341
Bei Formierung der früher bestandenen „Konfirmandenklassen" wurde die
Frage stillschweigend als etwas Selbstverständliches bejaht, und in Basel,
Zürich und Winterthur übt die Schulleitung das fragliche Recht mit aus-
drücklicher Genehmigung der Erziehungsbehörde aus und zwar m i t
bestem Erfolg und zur vollen Zufriedenheit aller be-
teiligten Faktoren.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene.
4
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Die Entwickelung der Pädagogischen Psychologie
im 19. Jahrhundert.
Von
Ferdinand Kemsies.
II.
Es ist hier nicht der Ort, alle Wandlungen zu schildern,
welche die Ziele, die Organisation und der technische Betrieb
der Volksschulen und der Lehrerseminarien unter dem Ein-
flüsse der verschiedensten Faktoren und Strömungen im Laufe
des vorigen Jahrhunderts erfahren haben. Ich verweise in dieser
Beziehung auf Karl Schmidts „Geschichte der Pädagogik", der
ich wiederholt gefolgt bin, ohne sie jedesmal besonders zu
nennen; für die Fragen des höheren Unterrichts findet man
erschöpfende Angaben in der „Geschichte des gelehrten Unter-
richts" von Paulsen. Eines muss jedoch zusammenfassend ge-
sagt werden, dass die Theorie Pestalozzis offiziell eine
Zeit lang verdunkelt und unbeachtet erscheinen konnte, dass
sie aber die Männer der Praxis andauernd bei ihrer Arbeit
angeregt, befruchtet und begeistert hat, bis sie in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts auch bei den offiziellen Vertretern
der Elementarpädagogik wieder ihren hohen Rang einnahm.
Ein Zeichen für ihre bleibende und universelle Bedeutung ist
jedenfalls darin zu erblicken, dass auch im höheren Schulwesen,
das zunächst wenig Verständnis für Pestalozzis Werk bekundet
hatte, die Elementarmethode Aufnahme und eifrige Pflege fand.
Viel wichtiger ist für uns die Frage, ob und wie Pestalozzis
Psychologie sich historisch ableiten lässt.
Pestalozzi war kein Philosoph von Fach, so dass man ihn
einer bestimmten Schule zurechnen könnte; seine psychologi-
schen Grundlehren waren durch die deutsche Philosophie von
Leibniz— Wolff zu Kant, d. h. das ganze 18. Jahrhundert bis in
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DU EntwüMung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 343
die ersten Decennien des 19. Jahrhunderts hinein verbreitet. Der
Begriff der Seele als eines mit Anlagen und Vermögen ausge-
statteten, immateriellen Wesens, wie er typisch bei Kant auftritt,
wird von Wolff und später von Crusius ausgebildet.1) Der
Seelenbegriff schliesst eine allgemeine, strenge Gesetzmässig-
keit des seelischen Geschehens und eine allmähliche Entfaltung
desselben ein, die der Beobachtung, sowie der Leitung und
Führung zugänglich sind; der philosophischen Forschung des
18. Jahrhunderts erschien freilich eine Zerlegung des Bewusst-
seins in Abteilungen und zugehörige Vermögen, in ein „psychi-
sches Mosaik" als eine wissenschaftliche Aufgabe von princi-
pieller Bedeutung, an die sie sich eifrig heranmachte. Pesta-
lozzis Theorie fordert daher im Anschluss an das Zeitideal die
harmonische Entwickeiung aller Anlagen und Kräfte des
Menschen, und er versteht unter Anlage jede produzierende
Kraft des Subjekts.
Obwohl für die thatsächliche Praxis nur ein nebensäch-
licher Gesichtspunkt, ist diese Hypothese eines mit Kräften
ausgestatteten Seelenwesens ein wichtiger Teil einer Weltan-
schauung, die sich seit Pestalozzi in der Pädagogik beinahe
erblich fortpflanzt. Sie ist so fest in die Ueberzeugung päda-
gogischer Kreise eingedrungen, dass man sich nur ausnahms-
weise von ihr losgemacht hat, ja, dass man die moderne
Psychologie, weil sie diese Hypothese fallen lässt, vielfach als
ungeeignet ansieht, ein pädagogisches System zu stützen. Diese
Kräftetheorie giebt uns aber über das Fehlen oder Vorhanden-
sein der wirklichen Vorstellungen, Gefühle und Strebungen,
über ihren Ablauf und ihren zeitlichen und ursächlichen Zu-
sammenhang, kurz über die ganze Struktur der psychischen
Komplexe nicht den mindesten Aufschluss; sie drückt nichts
weiter als die Thatsache aus, dass es verschiedene, auseinander
nicht ableitbare, seelische Bethätigungen giebt und postuliert
entsprechend eine grosse Unabhängigkeit der verschiedenen
V) Zur weiteren Orientierung verweise ich auf zwei grossere Werke,
die den geschichtlichen Zusammenhang und die sachliche Bedeutung dieser
psychologischen Lehren in gründlicher Weise behandeln:
Max Dessoir. Geschichte der neueren deutschen Psychologie. I. Band.
Berlin. Carl Duncker. 1002.
Guido Villa, Einleitung in die Psychologie der Gegenwart. Leipzig.
B. G. Teubner. 1002.
4«
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344
Ferdinand Ke/nsüs.
Vermögen gegen einander, sodass jede einheitliche Leitung der
seelischen Akte in Frage gestellt ist. Es wird zwar verlangt,
dass der Verstand auf das Willensvermögen einwirke, und
dass die Bildung des Verstandes eine erziehliche Bedeutung
habe, dass das Anschauungsvermögen dem Begriffsvermögen
voraufgehe, doch fehlen überall genaue Angaben darüber, wie
im einzelnen Fall eben diese Wirkung stattfindet, und wie der
Uebergang sich vollzieht. Oder wie Beneke sagt : Die be-
treffenden Vermögen konnten wohl auf und gegen einander
wirken, aber es gab kein unmittelbares Ineinandersein an den-
selben Akten, kein Ineinanderfliessen, kein Sichineinanderver-
wandeln. Ferner werden die Zahl und Arten der Vermögen
sehr verschieden angegeben, sodass eine grosse Unklarheit
und Unbestimmtheit zurückbleibt.
Pestalozzi sucht für die Erziehung den vielfachen Zusam-
menhang der Bewusstseinsinhalte zu entdecken und ist des-
halb inbezug auf seine weiteren Ansichten als ein selbstän-
diger Forscher und Denker zu betrachten, der den spekulativen
Boden mit Absicht verlasst, um an der Hand der Beobachtung
und Erfahrung auf induktivem Wege den Aufschluss zu er-
langen, den die Vermögentheorie nicht erbringt. „Es giebt
notwendig in den Eindrücken, die dem Kinde durch den
Unterricht beigebracht werden müssen, eine Reihenfolge,
deren Anfang und Fortschritt dem Anfange und Fortschritte
der zu entwickelnden Kräfte des Kindes genau Schritt halten,
soll." „Ich suchte die Mittel der Erziehung in psychologisch
geordnete Reihenfolge zu bringen." Mit dieser Idee verbindet
sich bei ihm als nächster Leitbegriff die Vorstellung einer
lex continui, eines „lückenlosen" Zusammenhanges alles see-
lischen Geschehens, dem wir schon in der Psychologie bei
Leibniz begegnen, und der in der Pädagogik seit Co-
menius eine Rolle spielt Der stufenweise Lehrgang, die
Vermeidung aller sachlichen Sprünge im Unterricht, die
zeitliche Stetigkeit aller Einwirkungen, die Vermeidung
grober Unterbrechungen und Störungen — alles das
scheint ihm durch die fortlaufenden Vorgänge im seelischen
Geschehen und in der psychischen Entwickelung, die eine
Lücke nicht aufweist, gefordert zu sein. Die lex continui wird
leider nur auf intellektuellem Gebiet von ihm konsequent durch-
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Die Entwickelung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 345
geführt. „Unermüdet setzte er Silbenreihen zusammen, be-
schrieb ganze Bücher mit ihren Reihenfolgen und mit Reihen-
folgen von Zahlen und suchte auf diese Weise die Anfänge des
Buchstabierens und Rechnens zu der höchsten Einfachheit und
in Formen zu bringen, die das Kind mit der höchsten psycho-
logischen Kunst vom ersten Schritt nur allmählich zum zweiten,
aber dann ohne Lücken, und auf das Fundament des ganz
begriffenen zweiten schnell und sicher zum dritten und vierten
hinaufbringen müssen."
Das psychogenetische Grundgesetz, dass alle Erkenntnis
mit Anschauungen beginnt und fortschreitet, schliesst sich an.
Es enthält ein Doppeltes. Das einfache vor die Ohren Bringen
der Töne, das einfache vor Augen Stellen der Gegenstände
ist der Anfang alles Unterrichts. Aber auch während des
Fortschreitens, z. B. bei Zahlenoperationen, muss der sinnliche
Hintergrund stets gewahrt bleiben.
Man zerlege ferner die Anschauungen in ihre einfachen
Grundteile, in die Elemente: Zahl und Form1). Die Sinne
als die Träger der Gegenstände müssen nach Massgabe der
Elemente geschult werden. In den Dingen sind Zahl und Form
als Elementarcigenheiten enthalten, ausserdem sind diese
noch im Subjekt als Abstraktionsbegriffe anzutreffen, letztere
müssen genau jenen entsprechen, wenn eine vollwertige Er-
kenntnis zustande kommen soll.
Das Ausgehen von Anschauungen, die Zerlegung derselben
in Elemente, die Bildung lückenloser Reihen, ihre Einübung
und Verbindung : das ist das Geheimnis der Elementarmethode,
der reformatorisch wirkende Mechanismus derselben ; durch ihn
wollte P. den Geist bauen und eine klar und hell angeschaute
Erfahrung konstruieren, und darin liegt sein Verdienst.
II. Epoche.
Eine neue Epoche für die pädagogische Theorie hebt mit
Herbart und Beneke an. Herbart, der erste grosse Fach-
psychologe, ist zugleich der kräftigste Förderer der pädago-
gischen Psychologie ; ihm nahe steht Beneke, der mit ihm eins
*) vgl. hierzu die wertvolle Schrift von Walsemann. J. H. Pestalozzis
Rechenmethode, die kritische und experimentelle Aufschlüsse über Soll
und Haben der Elementannethode enthält. (Hamburg. A. Lefevre Nfg.
1901).
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ist in der Bekämpfung der Lehre von den Seelenkräiten als
einer unfruchtbaren Hypothese, einer leeren Fiktion; es giebt
nach Herbart weder Gefühl noch Erkenntnis noch Wille,
sondern es giebt nur Gefühle, Bewusstseinsinhalte und Willens-
akte. Das positive Verdienst der beiden Forscher besteht darin,
eigene Theorien aufgestellt zu haben, die sich von hoher prak-
tischer Bedeutung erwiesen, sodass Jahrzehnte lang eine frucht-
bare Diskussion pädagogischer Probleme sich daran knüpfen
konnte. Benekcs Pädagogik tritt allerdings schnell zurück, ihre
Ausläufer sind Dressler und Dittes; dagegen wird der Nach-
lass Herbarts bis auf die Gegenwart von einer Schule ver-
waltet und verteidigt.
Durch Herbart und Beneke1) wird das „formale" Bildungs-
prinzip der Schule Pestalozzis wissenschaftlich zurückge-
drängt und dafür das „materiale" eingeführt. Die Seele ist bei
H. nicht mehr Trägerin von Vermögen, sondern der Schauplatz
für das Auftreten von Vorstellungen und deren Gefolge. Sie
gewinnt einen Inhalt, dem Selbständigkeit zukommt, der dem
hinzutretenden Neuen gegenüber die Rolle eines Herrschers
spielt, der es assimiliert und appereipiert, wobei aber streng ge-
nommen in abgelöstem Zustande nichts zu existieren und zu wirken
vermöchte; dennoch wird auch in der Herbart'schen Schule
von formaler Bildung gesprochen.
Benekes Pädagogik bezeichnet man als die des Sensua-
lismus und als eine systematische Weiterführung der Pädagogik
Locke's.
Herbart nahm zunächst die kritische Fragestellung: Wie
ist Wissenschaft möglich? wieder für die Pädagogik auf und
beantwortete sie, indem er die Erziehungskunst in die Werk-
stätte der Psychologie führte, wo jede Regel, jede Vorschrift
bewiesen werden müsse. Er lenkte die Aufmerksamkeit zugleich
nachdrücklich auf jene Grundvoraussetzung, die die Pädagogik
ebenso wie die Psychologie angeht, auf den Begriff des natur-
gesetzlichen Zusammenhanges der seelischen Erscheinungen.
Denn er nahm diesen Begriff in jener Strenge, wonach er sich auf
alle Daseinsbedingungen und Daseinsbestimmungen eines Din-
') Die Unterrichtslehre Benekes im Vergleiche zur pädagogischen Didaktik
Herbnrts Inaug. Dis?. Leipzig lSSf\
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Die Entiaickelung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 347
ges erstreckt, und forderte für die psychischen Phänomene
Untersuchungen über ihre quantitativen Bestimmtheiten. Durch
eine Psychologie, die es gestattet, Ursachen auf Wirkungen
zu berechnen, sollte die Möglichkeit der Erziehung theoretisch
eingesehen werden können. Diese Psychologie sollte auf drei
Fundamenten: „Metaphysik, Mathematik und Erfahrung"
ruhen.
Als metaphysische Grundlage denkt er sich mit Leibniz )
eine Vielheit seiender Wesen, die Realen, sie unterscheiden
sich qualitativ. Aus Kant-Fichte's Forschungen über das Ich
schloss er andererseits, dass das Ich nichts Primitives, sondern
das Abhängigste und Bedingteste sein müsse, was sich nur
denken lasse. Als ursprüngliche Aeusserung der Seele, als
ihre Grundthätigkeit, stellt er deshalb „die Vorstellung" hin,
indem er wieder an Leibniz anknüpft, der durch die petites
perccptions, d. s. unbewusste, schwache Vorstellungen, denen
er weitreichende Wirkungen zuschreibt, den Zusammenhang
der bewussten geistigen Erscheinungen verfolgen zu können
glaubte. Nach Herbart bringen in ähnlichem Sinne die ein-
fachen Vorstellungen das gesamte geistige Leben zu stände
und beherrschen es durch ihr Wechselspiel. Nicht alle Vor-
stellungen sind gleichzeitig, viele sind infolge des zwischen
ihnen bestehenden Gegensatzes gehemmt und kehren erst zu-
rück, wenn die Hemmung nachlässt. Die Mathematik kann
die Hemmung berechnen und die Vorstellungsgesetze in
Formeln darstellen. So ergiebt sich eine Theorie des Vor-
stellungsverlaufes.
Die Seele hat weder Anlagen noch Vermögen, sie ant-
wortet aber auf Störungen von aussen durch Vorstellungen.
Ganz von selbst, ohne jeden synthetischen Akt verbinden sie
sich ; infolge ihres Gegensatzes treten sie zugleich in einen
Wettbewerb; dadurch geht keine verloren, sondern es sinkt
nur das wirkliche Vorstellen auf ein Vorstellungsstreben
herab, die Vorstellungen hemmen und verdunkeln sich
zum Teil, werden unbewusst. Ein Rest bleibt frei, d. i. die
Summe des wirklichen gleichzeitigen Vorstellens oder das B e -
wusstsein; in diesem werden disparate Vorstellungen sich
M Vergl. zum Folgenden: Barchudarian, Inwiefern ist Leibniz in der
Psychologie ein Vorgänger Herbarts. Inaug.-Diss. Jena 18&).
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348
Ferdinand Kernsüs.
komplizieren, gleichartige miteinander verschmelzen.
Auf der Hemmung und Förderung beruhen Fühlen und Be-
gehren, die also keine Vermögen sondern Zustände sind,
die in Vorstellungsmassen ihren Sitz haben. Es ist darauf auf-
merksam zu machen, dass auch die Theorie des Begehrens und
Wollens wieder auf Leibniz hinweist.
Die Möglichkeit der Erziehung oder die Bildsamkeit
in bestimmten Richtungen beruht nicht in dem Vorhandensein
verschiedener Anlagen, sondern auf den Bewegungsgesetzen der
Vorstellungen, die sich für pädagogische Zwecke folgender-
massen zusammenfassen lassen. Wir citieren hier Ziller, den
„Reformator der Herbart'schen Pädagogik" :l)
I. Die Vorstellungen verbinden sich zu Vorstellungskreisen
mit spezifischem Inhalte. In jedem bilden sich bleibende
Produkte aus; so oft und in so verschiedener Weise entstehen
dieselben, als die Vorstellungsinhalte verschieden sind. Wer
eine Art dieser Produkte auf dem einen Gebiet besitzt, besitzt
darum noch nicht eine andere Art, die mit jener unter den-
selben Gattungsbegriff fällt, z. B. Ortsgedächtnis ist nicht immer
mit Namen- und Zahlengedächtnis verbunden. Eine solche
Ungleichheit tritt besonders in der Jugend auf.
II. Gedanken, Gefühle, Verstand, Gedächtnis etc., die in
dem einen Kreise ausgebildet sind, übertragen sich erst dann
auf einen andern, wenn beide Kreise in so enge Verbindung
gebracht sind, dass die Bildung des ersten sich im zweiten
reproduktionsweise erneuert an den Stellen und in den Gliedern,
wo die Verbindung zu stände gebracht ist. Dabei muss aber
die Verbindung des zweiten Kreises mit dem ersten ganz selbst-
ständig hergestellt sein. Vorausgesetzt wird dabei schon die
begriffliche Durchbildung des Materials.
Alle Bildung, andrerseits jeder Mangel, ist mithin nur ein
Verhältnis der Vorstellungsmassen und ihrer Teile. Ist die
Verbindung überall hergestellt, so erweitert sich die Spezial-
bildung zur formalen, welche nicht mehr an einem bestimmten
Vorstellungskreise haftet.
Der Umkreis des Stoffes, in- dem die formale Bildung her-
vortreten soll, muss hinreichend bekannt sein ; die Denkformen
M Vgl. Kemsies, Herbart u. A. Diesterweg. Inaug.-Diss. Königs-
berg 1889.
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Di e EntuHckrtung der Pädar ;■> fischen Psychologie im ig. jfahrh.
349
und Denkgesetze gelingen nicht, wo der Stoff fremd ist, wenig-
stens kommt es nicht zu einem freien produktiven Gebrauch.
III. Allmählich setzen sich in den Vorstellungsmassen be-
stimmte Wirkungsweisen constant fest, gewisse Kräfte, gewisse
Arten der Association, der Apperception beharren stetig. So
kehren im menschlichen Geist, wie Verschiedenartiges sich ihm
darbieten mag, zuletzt immer dieselben leitenden Vorstellungen
und Beurteilungen zurück.
IV. Das Verhältnis der Vorstellungsmassen lässt sich auf
die mannigfachste Weise bilden und umbilden, und zwar durch
Vorstellungen, welche zugleich Bewegungen und Gemütszu-
stände hervorrufen.
1. Zu den Massen können Zusätze hinzukommen, welche
jene inhaltlich bereichern und erweitern. Dadurch wird
das geistige Leben vermehrt und verstärkt.
2. Manche Arten des geistigen Lebens können aber auch
gehemmt werden, es kann ihnen ihr Ucbergewicht ent-
zogen werden, es kann ihnen entgegengearbeitet werden
durch entgegengesetzte Vorstellungen und durch ganze
Gruppen und Reihen von Vorstellungen, die ausgebildet
werden und um so energischer wirken.
3. Unter den vorhandenen Vorstellungen können engere Ver-
bindungen gestiftet werd2n.
4. Es kann das Material der einen Art mit dem Material
einer andern Art verglichen, es kann daran gemessen, ja
es kann an Objektivem gemessen werden, das nicht eine
beliebige Auffassung zulässt, sondern eine allgemein giltige
fordert und zur Vergleichung nötigt.
5. Darauf können Grundsätze und Maximen gebaut werden.
Der Erziehungsplan baut sich nach den leitenden
Ideen der Ethik und den neugewonnenen Begriffen der Psycho-
logie in folgender Art auf. Als ein nach allen Richtungen
strebendes, kräftiges Wesen untersteht der Zögling zunächst
der Beurteilung nach der ethischen Idee der Vollkommenheit,
die ein extensives, intensives und konzentriertes Wollen ver-
langt.
Die Intension ist gTOSsenteils Naturgabe, Konzentration
auf einen Hauptgegenstand ist erst im späteren Alter möglich
und zweckmässig, und es bleibt also übrig die Extension oder
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350
Ferdinand Kemsies.
Ausbreitung der Kraft auf eine unbestimmte Menge
von Gegenständen. Dieser Begriff ist der erste, den die Er-
ziehungslehre verfolgen muss.
Die Ausbreitung der Kraft des Zöglings in eine Mannig-
faltigkeit von Strebungen darf aber nicht eine ebenso grosse
Vielheit von Begierden und Forderungen erzeugen, denn der
Tugendhafte darf gar kein Aeusseres unbedingt begehren.
Daher ist die Aufgabe so zu fassen, dass Vielseitigkeit
des Interesses beabsichtigt werde. Die Ausbreitung der
Kraft geschieht dadurch, dass man dem Zögling eine Menge
von Gegenständen darbietet, die ihn reizen und in Bewegung
setzen. Das geschieht durch den Unterricht. Demgemäss
wird die Didaktik vorangestellt den übrigen Lehren vom Be-
nehmen des Erziehers gegen den Zögling. Wenn dann hinten-
nach die Aufgabe, die ganze Tugend hervorzubilden, wieder
in ihrer Grösse zurückgerufen wird, findet sich, dass die Haupt-
sachen schon durch den Unterricht nach jener ersten Rücksicht
geleistet sind, und dass man nur noch einige Vorschriften
nachzutragen hat.
1. Die Didaktik beruht also auf einer speziellen Auf-
gabe aus dem Umfange des ganzen Erziehungsproblems, sie
ist mittelbare Erziehung, ihr Ziel das vielseitige Interesse. Das
Wort Interesse bezeichnet im allgemeinen die Art von geisti-
ger Thätigkcit, welche der Unterricht veranlassen soll, indem
es bei dem blossen Wissen nicht sein Bewenden haben darf.
WTer sein Gewusstes festhält und zu erweitern sucht, der inter-
essiert sich dafür. Weil aber diese geistige Thätigkeit mannig-
faltig ist, so muss die Bestimmung hinzukommen, welche in
dem Worte Vielseitigkeit liegt.
So wird die Vielseitigkeit des Interesses der Angelpunkt
der ganzen Pädagogik, sie ist das Zentrum des Intellekts und
die Wurzel des Willens. Der Unterricht kann daher nicht
nach etwaigen Seelenvermögen, wie bei Pestalozzi, oder nach
Wissenschaften, wie gewöhnlich in der Praxis, sondern muss
nach den Gemütszuständen eingeteilt werden, die dem Interesse
vorangehen, und die die Psychologie darzustellen hat.
2. Die Zucht oder unmittelbare Charakterbildung ergänzt
den Unterricht; sie soll den Zögling halten, bestimmen, regeln,
bewegen, berichtigen.
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Die Entwicklung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 351
3. Die Regierung geht bloss auf äussere Ordnung und
Gewöhnung und bedient sich als Mittel der Beschäftigung,
des Verbots und Befehls, der Drohung und Strafe. —
Der ganze Erziehungsplan beruht nach der technischen
Seite auf der Lehre von den Vorstellungen als den einzigen
seelischen Konstituenten und ist durch und durch intellektua-
listisch im Gegensatz zu Pestalozzis Vermögenstheorie, die für
das Fühlen und Begehren eine Berücksichtigung nach ihren
eigenen Bildungsgesetzen offen lässt. H. konstruiert einen Vor-
stellungsmechanismus, der einmal in Gang gebracht, selbst-
ständig weiterläuft. Durch Bekämpfung der Lehre von den
Seelen vermögen, durch Hinweis auf den innigen Zusammenhang
aller seelischen Erscheinungen, durch eine neue Darstellung
der psychischen Prozesse im Akte der Aufmerksamkeit, des
Erkennens und Begehrens, durch seine Theorie der Bildsam-
keit lieh H. der Pädagogik originale und brauchbare Gesichts-
punkte, die den Mangel der psychologischen Begründung oft
verdeckten. Er steuerte auf eine systematisch geleitete. ziel-
bewusste Didaktik hin, die von seinen Schülern bis in die
speziellste Methodik verfolgt wurde.
Der Plan des Unterrichts gestaltet sich in Form einer
mathematischen Tafel mit mehreren Eingängen, bestehend aus
2> 0x4^48 Gliedern.
Das gleichschwebende Interesse bietet mehrere Rich-
tungen,1) deren jeder der Unterricht nachzugehen hat; einerseits
hat er die Erkenntnis, und zwar gleicherweise die empirische,
die spekulative und die ästhetische Erkenntnis zu fördern,
andererseits die Teilnahme, und zwar gleicherweise die sympa-
thetische, d. i. auf Einzelne gerichtete, die gesellschaftliche
und die religiöse Teilnahme zu pflegen. Beide Einteilungen
müssen in Verbindung gesetzt werden, da sich sowohl der
analytische als der synthetische Unterricht nach den Gliedern
des Interesses spaltet. Die Verbindung ergiebt 12 Glieder.
Das Wesen der V i e 1 s e i t i g ke i t beruht auf dem Abwechseln
von Vertiefung und Besinnung einerseits und von Ruhe und
Fortschritt andererseits. Die ruhende Vertiefung giebt Klar-
heit des Einzelnen, welcher die Unterrichtsthätigkeit des Zeigens
1 » Aus Kcmsies: Fragen und Aufgaben der Pädagogischen Psychologie,
diese Zisehr. I.. i. 1890.
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352
Ferdinand Kemsies.
entspricht. Die fortschreitende Vertiefung giebt die Assoziation
des Einzelnen, welcher das Verknüpfen im Unterrichte ent-
spricht. Die ruhende Besinnung fasst das Einzelne in eine
feste Ordnung zusammen : System, welcher Stufe die didak-
tische Thätigkeit des Lehrens zugehört, die fortschreitende
Besinnung durchläuft und erweitert das System mit Konse-
quenz : Methode, welcher Stufe das Philosophieren entspricht.
Ein anderer Einteilungsgrand des Unterrichts ergiebt sich
aus dem Wesen des Interesses. Dasselbe zeigt die beiden
Stufen des Merkens und Erwartens, welche sich fortsetzen in
die beiden Stufen des Begehrens, nämlich Fordern und Han-
deln. Daraus erwachsen dem Unterrichte abermals vier Auf-
gaben, welche H. jedoch auf den die Teilnahme pflegenden
Unterricht beschränkt. Dieser hat zu sorgen für Anschaulich-
keit als Bedingung des Merkens, für Kontinuität als Bedingung
des Erwartens; er soll, um die Teilnahme bis zum Fordern
auszubilden, erhebend sein; endlich soll er, um! auf das
Handeln im Sinne der Teilnahme hinzuleiten, in die Wirklich-
keit eingreifen.
Jedes der 48 Glieder ist ein didaktischer Artikulus, der
In Vereinigung mit den andern den Organismus des Unter-
richts ausmacht.
Wir schliessen jetzt sofort die dritte pädagogische Theorie
des 19. Jahrhunderts an, die durch Beneke geschaffen wurde.
Er behauptet, die bisherige Psychologie habe sich in ihren
Hypothesen vollständig vergriffen. Solange man die Ver-
mögen als allgemeine Grössen in die Pädagogik einführe,
sei keine genaue Auffassung der Seelenentwickelungen mög-
lich, man müsse aufhören, Verstand, Urteilskraft etc. als all-
gemeine Vermögen wirken zu lassen; man müsse einsehen,
dass zu jedem Verstehen, zu jedem Urteilen und Einbilden,
ein besonderes Vermögen gehöre.
Die Aufgabe für die ganze Psychologie bestehe gerade
darin, nachzuweisen, durch welche Prozesse sich fortwährend
die Vermögen zu erregten oder bewussten Entwickelungen und
umgekehrt wieder diese zu Vermögen ausbilden, welche er als
latente Zustände auffassL Man habe bisher fälschlich die
Vermögen der ausgebildeten Seele ohne weiteres auf die noch
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Die Enhekkelung der Pädagogischen Psychologie im 19. Jahrh. 353
linausgebildete übertragen oder als angeboren gesetzt. An die
Stelle davon müssen die wahren, ursprünglichen Vermögen
gesetzt, und von diesen aus in stetigem Fortschritte mit jedes-
maliger genauer Angabe der Bildungsverhältnisse die Ent-
stehungsweise der ausgebildeten konstruiert werden. Allerdings
muss die Seele angeborene Vermögen haben, denn wir
können auf keine Weise annehmen, dass sie sich rein passiv
verhalte. Da aber das Kind in den ersten Lebenstagen z. B.
noch nicht versteht, noch nicht will, wodurch sind wir be-
rechtigt, ihm schon zu dieser Zeit oder angeboren einen Ver-
stand und Willen beizulegen. Erst durch die von dem ersten
Begriff zurückbleibende Spur wird der Verstand begründet
und dehnt sich in dem Masse aus, wie sich mehrere solcher
Spuren sammeln. Die Spur oder Angelegtheit ist nichts
anderes als was zwischen einer gegenwärtigen Vorstellung und
ihrer Reproduktion liegt. Ursprünglich also werden nicht die
Begriffe durch den Verstand, sondern der Verstand durch
die Begriffe gebildet, und erst später kehrt sich dieses
Verhältnis um. Der Begriff aber bildet sich unmittelbar aus
den Vorstellungen heraus, vermöge der diesen innewohnenden
Kräfte. Ebenso wird das erste Wollen ohne Willen gebildet.
Man hat ausserdem den Fehler begangen, dass man für
alle Seelenentwickelungen, die in ihrer Form mit einander
übereinkommen (für alle Begriffe, für alle Begehrungen u.s.w.)
ein einziges Grundvermögen oder eine Gesamtkraft ange-
nommen hat. Aber daraus, dass dieselben logisch oder für
unser Vorstellen Eins sind, folgt doch noch keineswegs, dass
sie auch reell oder in ihrer psychischen Grundlage Eins (un-
mittelbar zusammenhängend) sein müssen. Wir haben den
Entwickelungen die Kräfte zunächst in der Einzelheit unter-
zulegen und erst eine besondere Untersuchung darüber an-
zustellen, ob und in welchem Masse ihr inneres Seclensein
mit einander in Verbindung stehen möchte.
Verfolgen wir so die seelische Entwickelung von dem un-
mittelbar unserem Bewusstscin Vorliegenden rückwärts, so ge-
langen wir zuletzt zu den geistig-sinnlichen Urver-
mögen, die den elementarischen sinnlichen Empfindungen zu
Grunde liegen. Sie zeigen sich ihrer wesentlichen Natur nach
als Streb un gen. In dem Masse, wie ihr Streben ausgefüllt
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354
Ferdinand Kemsies.
wird, hören sie auf, Strebungen zu sein. Die vollkommenste
Form dieser Ausfüllung nun ist die des Vorstellens. Dauernd
bildet sich ein Streben nur, inwiefern diese Ausfüllung unvoll-
kommen ist, oder auch, nachdem sie vollkommen gewesen war,
wieder unvollkommen wird Das Fühlen aber ist das un-
mittelbare Bewusstsein, welches uns in jedem Augen-
blicke unseres Lebens von der Beschaffenheit unserer
Thätigkeiten und Zustände innewohnt.
Jede einzelne Vorstellung setzt ein neues Urvermögen und
einen neuen Reiz voraus, und erhält sich in dieser Verbindung
von Vermögen und Reiz auch im Unbewussten. Die Durch-
dringung ist aber von verschiedener Festigkeit, und wenn die
Elemente weniger fest oder beweglich sind, so können sie auf
andere übertragen werden. Das unbewusst oder im innern
Seelensein Beharrende, d. i. die Spur oder Angelegtheit, strebt
zum Wiederbewusstwerden auf.
Beneke stellt nun an die Spitze seiner Psychologie vier
Grundprozesse, sie betreffen:
1 . Das sinnliche Wahrnehmen infolge von äusseren Reizen.
2. die fortwährende Neubildung von Urvermögen.
3. Das stete Streben nach Ausgleichung der beweglich ge-
gebenen Elemente.
4. Die Anziehung gleicher und ähnlicher Gebilde.
Das Grundwesen der menschlichen Seele aber drückt er
folgenderweise aus : 1 . Sie ist ein durchaus unmaterielles
Wesen, bestehend aus gewissen Grundsystemen von Urver-
mögen, welche nicht nur in sich, sondern auch mit einander
auf das innigste Eins sind, oder eben ein Wesen bilden. 2. Ein
sinnliches Wesen, d. h. die Urkräfte der Seele sind gewisser
Anregungen von aussen fähig durch Reize, welche von diesen
Kräften angeeignet und festgehalten werden. 3. Durch diese
Anregungen erhalten die Kräfte der Seele eine bestimmtere
Bildung, und in dieser treten sie in mannigfache engere Ver-
bindungen mit einander, teils vermöge des Zusammen fliessens
gleichartiger Gebilde zu einem Gesamtgebilde und teils vermöge
der Verknüpfung der ungleichartigen zu Gruppen und Reihen.
4. Die Kräfte der Seele haben aber auch eine ursprüngliche
Bestimmtheit, und zwar eine zwiefache: die ursprüngliche
Bestimmtheit der Grundsysteme, zu welchen sie gehören, und
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Die Entwickelung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 355
die ursprüngliche Bestimmtheit gewisser Grade von Kräftigkeit,
Lebendigkeit und Reizempfänglichkeit. Die Beobachtung lehrt
uns, dass jeder Grad der einen dieser Grundbeschaffenheiten
mit jedem Grade der andern zusammen gegeben sein kann,
und daraus erklären sich die individuellen Verschiedenheiten.
Die Hauptaufgabe der Erziehung ist, die inneren Ange-
legtheiten zu entwickeln, der Erziehung im engeren Sinne fällt
die Gemüts- und Charakterbildung zu, der Unterricht bezweckt
die Ausbildung von Vorstellungen und Fertigkeiten. Erziehung
und Unterricht greifen beständig in einander ein. Der Unter-
richtsstoff muss im Schüler ein „spannendes Selbstgefühl" er-
zeugen, das ihn zur Selbsttätigkeit drängt. Er muss muster-
hafte Kombinationen (Begriffe, Sätze, Ideale) überliefern,
welche zu regelnden Normen werden. Die erziehenden Mo-
mente des Unterrichts liegen auch in der Person des Lehrers.
Einen rein formalen Unterricht, der eine geistige
Kraft unabhängig von allem Vorstellungsinhalt ausbildet, giebt
es nicht Die Vervollkommnung des Zahlengedächtnisses trägt
nicht zur Ausbildung des Sachgedächtnisses bei. Alle formale
Kräftebildung ist auch eine materiale, und umgekehrt.
Für das Gelingen des Unterrichts werden drei allgemeine
Grundbedingungen erfordert: i. Die vorhergehenden psychi-
schen Entwickelungen müssen in angemessener Vollkommen-
heit gebildet oder als Angelegtheiten vorhanden sein.
2 Sie müssen zum Bewusstsein gesteigert werden, indem
der Schüler dem Unterricht seine Aufmerksamkeit zu-
wendet. Diese kann schon in der Stärke und Spannung der
inneren Faktoren jgegeben sein, wenn die Vorstellungen in
zusammenhängenden Massen angesammelt werden, sonst muss
sie durch Autorität und Beispiel bewirkt und durch äusserliche
Interessen vermittelt werden.
3. Der Unterricht muss eine anregende Kraft haben, die
beabsichtigte Fortentwickelung hervorzubringen, d. h. er muss
interessant sein.
Die Unterscheidung verschiedener Lehrmethoden ist ab-
hängig von der Verschiedenartigkeit der Lernprozesse, es giebt
deren vier : das Neubilden, das Ausbilden, den analytischen
und synthetischen Prozess. (Fortsetzung folgt.)
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Sitzungsberichte
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Sitzung vom 26. Juni 1902.
Beginn: 715 Uhr.
Vorsitzender: Herr T h. S. Fla tau.
Schriftführer: Herr P f u n g s t.
Die Schrift von Th. Lipps: Vom Fühlen, Wollen und Denken
(Heft 13 — 14 der Schriften der Gesellschaft für Psychologische Forschung)
wird unter die Mitglieder verteilt.
Auf Anregung der Brcslauer Schwestergesellschaft wird einstimmig be-
schlossen, gemeinsam mit dieser und der Münchener Gesellschaft Wilhelm
W u n d t in Leipzig zu seinem 70. Geburtstage eine Glückwunschadresse zu
überreichen. Herr Prof. D e s s o i r wird zu diesem Zwecke von der Berliner
Gesellschaft delegiert.
Darauf halten die Herren Abraham und v. Hornbostel den
angekündigten Vortrag:
..Ueber ostasiatische Musik (mit phonographischen
Demonstrationen)".
Zunächst spricht Herr Abraham über Siamesische Musik. Er
führt folgendes aus:
Die exotische Musik ist deshalb von besonderem Interesse für den
Psychologen, weil er in ihr Tonkombinationen findet, welche nicht durch
unsere musikalische Konvention beeinflusst sind. An überliefertem Noten-
matcrial kann man sie nicht studieren, weil die Noten ungenau und nach
europäischem Geschmack zugerichtet (harmonisiert) sind. Phonograph und
Tonmesser sind unentbehrliche Hilfsmittel für das Studium exotischer Musik.
Vortragender studierte siamesische Musik 1900 als Mitarbeiter von Prof.
Stumpf gelegentlich eines Gastspiels einer siamesischen Hoftheatertruppe.
Der Allgemeineindruck der siamesischen Musik ist fremdartig; eine sinn-
liche Gefühlswirkung tritt nicht ein. wahrscheinlich weil die Aufmerksamkeit
durch die Musik zu fortwährenden Sprüngen gezwungen und nicht durch
reproduzierte Vorstellungen in eine bestimmte Richtung geleitet wird. Die
Fremdartigkeiten betreffen vor allem die Tonhöhen der siamesischen Instru-
mente. Die Abstimmung derselben ist vorzüglich; mit unseren Intervallen
stimmen jedoch nur die Octaven überein, alle anderen weichen stark von den
unsrigen ab. Die Sianiesen haben eine siebenstufige, gleichschwebend tem-
perierte Tonleiter, ihr Sekundcnintervall ist also = 7j/2. Die Siebenstufig-
keit ist vielleicht auf die dem Buddha heilige Siebenzahl zurückzuführen.
Die geometrische Gleichstufigkeit kann nur, da mathematische Berechnung
auszuschliessen ist, dadurch entstanden sein, dass die geometrisch gleichen
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Sitzungsberichte. 357
Intervalle sich den Siamesen als gleiche Empfindungsabstände darstellten.
Alle anderen Hypothesen sind ungleich komplizierter. So liefern uns die
Siamesen einen Beweis des Weber- Fechnerschen Gesetzes, allerdings nur
für Tonqualitäten. Ein solcher Beweis kann durch unsere Musik nicht er-
bracht werden, weil wir nicht nach Distanzen urteilen, sondern nach
Konsonanzen, die auf Verschmelzung beruhen. Solche Konsonanzen fehlen
bei den Siamesen.
Die Musik der Siamesen ist taktlich gegliedert nach Art unseres 2- und
4-Vierteltakts. Die Erkennung desselben wird jedoch sehr erschwert durch
die häufige Anwendung von Synkopen und deren Acccntuirung durch die
Pauken. Die Siamesen haben ein sehr gutes Melodiegedächtnis, aber an-
scheinend kein absolutes Tonbewusstsein. Tonika und Tonarten sind bei
ihnen vorhanden. Die siamesische Musik hat für unser Ohr Dur-Charakter
trotz der neutralen Terz. Wie schwankend das Urteil bei den neutralen
Intervallen ist, zeigt Vortragender an einem siamesisch abgestimmten
Xylophon: Melodische Reminiscenzen lassen uns besonders leicht un-
gewohnte Intervalle in bekannte umdeuten. Die siamesische Musik ist trotz
ihrer Mehrstimmigkeit keine nach unseren Begriffen harmonische, sie ent-
spricht in ihrem Stil der ersten Form des mittelalterlichen Discantus.
Zum Schluss zeigt Vortragender an Phonogrammen die Eigenartigkeit
des Tonsystems, des Musikstils und der musikalischen Ausdrucksfähigkeit der
Siamesen.
Sodann giebt Herr v. Hornbostel eine Darstellung der chinesi-
schen und japanischen Musik :
Die Musik der Chinesen und Japaner, der Harmonie völlig fremd ist,
weist zahlreiche Analogien mit der altgriechischen und der mittelalterlichen
Kirchenmusik auf. Die Verwandtschaft lässt sich nicht nur durch Vergleich
der chinesischen Musiktheorie mit der pythagoräischen, sondern auch aus
manchen Eigentümlichkeiten der praktischen Musik erkennen.
Der pythagoräische Quinten-Zirkel kann nicht zur Erklärung des Ur-
sprungs von Leitern dienen; er ist vielmehr erst nachträglich zur Inter-
pretation derselben benützt worden. Die chinesischen und japanischen
Leitern weisen das Tetrachord-Princip auf, das auch den griechischen eigen-
tümlich ist. Die Oktave wird zunächst durch Quarten geteilt, diese dann
weiter durch Ganz- und Halbtöne ausgefüllt. Zu ersteren gelangt man durch
Konsonanz-, zu letzteren durch Distanzgefühl. Die chinesische gleicht der
mittelalterlich-kirchlichen Musik, vermeidet den Tritonus und bewegt sich
daher nur in Ganztonschritten; die japanische, gleich der alt-griechischen
Musik, bevorzugt im Gegenteile auf den Tritonus aufgebaute Phrasen. In-
folge intermediärer Intonation der in der sstufigen Chinesenlcitcr fehlenden
Zwischentöne „Piens". entstehen % Ton-, neutrale Terzen- und neutrale
Sextenschritte, für die sich auch ein eignes Reinheitsgefühl herausge-
bildet hat.
Die simultanen Intervalle können nicht als Harmonien betrachtet
werden, sondern dienen nur zur Vergrösserung der Klangfülle. Das mehr-
stimmige Spiel ist in Ostasien heterophon, ähnlich der griechischen
Metabolc und dem mittelalterlichen Discantus: Die Begleitung umspielt
die führende Melodie.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 5
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358
Sitsungiberühte.
Die japanische Musik moduliert gleich der unseren zwischen Dur und
Moll und in Transpositionstonarten; daneben finden sich Modulationen und
Schlüsse, ähnlich wie in den Kirchentönen. Man darf den Ostasiaten Tonali-
tätsgefühl nicht absprechen, wenn dasselbe vielleicht auch anders ist, als das
unsere.
Die chinesische Musik wurde vor allem von B. I. G i 1 m a n (Boston),
die japanische durch die beiden Vortragenden an Phonogrammen und durch
akustische Messungen studiert. Die Untersuchungen exotischer Musik mit
Hilfe des Phonographen bilden einen nicht zu unterschätzenden Teil musik-
psychologischer Forschung.
Beide Vorträge waren von zahlreichen Demonstrationen begleitet.
Eine Diskussion findet nicht statt.
Wegen der vorgerückten Zeit verschiebt Herr Th. S. F l a t a u die von
ihm gleichfalls angekündigten:
Demonstrationen über phonographische Schrift.
Schluss der Sitzung: 880 Uhr.
Verein für Kinderforschung zu Jena.
Die IV. Versammlung des Vereins für Kinderforschung
fand am 1. u. 2. August im Saale des „Deutschen Hauses" in Jena statt.
Tagesordnung :
1. August, abends 7% Uhr:
1. Dr. Herrn. G u t z m a n n - Berlin: Die sprachliche Ent-
wickelung des Kindes und ihre Hemmungen.
2. Geschäftliches.
3. Anstaltsdirektor Schreuder - Haag: Ueber Kinder-
zeichnen.
2. August, vormittags 9 Uhr:
4. Direktor Dr. med. Krukenberg - Liegnitz : Anstaltliche
Fürsorge für Krüppel.
5. Prof. Dr. thcol. et phil. Zimmer - Zehlendorf: Zur Frage
der religiösen Entwickelung des Kindes.
6. Dr. med. Strohmayer -Jena: Die Epilepsie im Kindes-
alt e r.
Der Vorstand:
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Binswanger - Jena, Prof. Dr. Ebbing-
haus- Breslau. Prof. Dr. Rein- Jena. Anstaltsdirektor Trüper-
Sophienhöhe b. Jena, Prof. Dr. Z i e h e n - Utrecht; Dr. med. Stroh-
m a y e r - Jena I. Schriftführer, Lehrer Stukenberg - Sophienhöhe b.
Jena II. Schriftführer.
Leitsätze
zu dem Vortrage von Dr. med. Gutzmann: Ueber die Sprach-
entwickelung und ihre Hemmungen.
Bericht* und Besprechungen.
359
1. Zwischen willkürlichen und reflektorischen Bewegungen besteht kein
wesentlicher Gegensatz, da auch die willkürlichen Bewegungen ohne centri-
petalen Reiz nicht zu stände kommen.
2. Die sprachliche Entwickelung der Kinder vollzieht sich in durch-
gehends nachweisbaren Beziehungen zwischen Reiz und Reflex.
j. Die anfängliche Ataxie der sprachlichen Bewegungen geht allmählich
in Koordination über. (Demonstration der Atemkurven.)
4. Hemmungen der Sprachentwickelung rinden wir in Ausfall- und
Reizerscheinungen.
a) bei den peripher impressiven,
b) bei den centralen,
c) bei den peripher expressiven Sprachwegen.
Dazu treten noch Einflüsse allgemeiner Art, die von verschiedenen
Teilen des Körpers ausgehen können.
5. Am sichersten können die Hemmungen der peripher expressiven
Wege (c) beseitigt werden. Schwieriger ist es, die Ausfälle eines oder
mehrerer Sinne (a) auszugleichen, und zwar durch Kompensation anderer
Sinne. Teilweise Ausfälle können durch Sinnesübungen ersetzt werden. Am
schwersten ist die Beeinflussung gehemmter centraler Sprachwege.
Berichte und Besprechungen.
Ed. Claparede: Nouvelle Classification des associa-
tions d'idee. Archives de Psychologie de la
Suisse Romane. Tome I (3e fascicule) (Avril 1902).
Gaparede sucht den gordischen Knoten des Problems der Klassifika-
tion der Ideenassoziationen zu lösen. Was die früheren Behandlungen des-
selben Gegenstandes betrifft, so sei auf die „Kritik der Assoziations-
einteilungen von Johannes Orth im Heft 2 des Jahrgangs 1001 unserer Zeit-
schrift verwiesen.
Claparede betont wie Orth und vorher Ziehen, dass eine Einteilung der
Assoziationen nur nach psychologischen, nicht nach logischen Gesichts-
punkten erfolgen müsse. Das Wesentliche bei ihm ist, dass als oberster
Einteilungsgrund der Wert eingeführt wird, den die Assoziation für das
Individuum hat.
Einer Betrachtung der eigentlichen Klassifikation müssen aber einige
andere Ermittlungen vorhergehen. Es handelt sich um Versuche, bei denen
die Versuchsperson auf einen (visuellen oder akustischen) Reiz mit einem
von ihr gesprochenen Worte reagiert. Da ist es möglich« dass das Reiz-
mittel als Ganzes wirkt, oder nur ein Teil von ihm ausgesondert wird. Wenn
zum Beispiel ein grünes Gemälde die Vorstellung einer Schüssel Spinat
hervorruft, so ist nicht das Gemälde, sondern seine grüne Farbe der eigent-
liche Assoziationserreger. Oder wenn jemandem die Photographie eines
5«
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360
Berichte und Besprechungen.
Hundes gezeigt wird und er antwortet „Katze", so hat er an der Photographie
nur einen Teil, das Dargestellte, gesehen, während ein Photograph an dem
Gezeigten wieder nur den andern Teil, die Photographie als solche, beachtet
und vielleicht „Objektiv'" oder „Momentbild" assoziiert hätte. So kann
bei demselben Reizmittel der Assoziationserreger verschieden sein, dieser ist
also für jeden einzelnen Fall erst besonders festzustellen.
Der Assoziationserreger kann nun eine Wahrnehmung oder
eine Vorstellung, er kann einfach oder zusammengesetzt sein. Einfach sind
Erreger wie etwa: das Blaue, die Gestalt; zusammengesetzt: ein Gegen-
stand, dessen Bedeutung man begriffen hat. Wenn es sich um ein Wort
handelt, so kann dieses nur durch seinen Klang, beziehungsweise die Form
seiner Buchstaben wirken: dann liegt eine einfache Wahrnehmung vor.
Das Wort kann als solches erkannt werden, ohne dass seine Bedeutung
bewusst wird: die Assoziation ist dann rein wörtlich. Endlich kann das
Wort durch seinen Sinn wirken: so hat man es mit einer zusammen-
gesetzten Wahrnehmung oder Vorstellung zu thun.
Nunmehr kommt Gaparede zur Einteilung der eigentlichen Assozia-
tionen. Zwei Wege wären hier gangbar; der eine führte zu einer An-
ordnung auf Grund der objektiven physiologischen Vorgänge, ist aber bei
dem heutigen Stande der Wissenschaft, bei unserer Unkenntnis der Physi-
ologie des Gehirnes auszuschalten. Der andere ist subjektiv-psychologisch;
er geht von den unmittelbar gegebenen Tatsachen des Bewusstseins aus
und muss zu einer Klassifikation nach dem Werte der Assoziationen führen.
Da ergiebt sich sofort eine Zweiteilung in Assoziationen ohne jeden
Wert und solche mit Wert.
Unter den ersteren versteht Claparede diejenigen, die nur einen ein-
fachen Ausruf, eine Reflexbewegung, ein Stammeln oder die unmotivierte
Reproduktion eines kurz vorhergenannten Wortes auslösen, diejenigen,
welche im Traume vor sich gehen, die freie, d. h. ohne ersichtlichen Grund
hervorgebrachte Assoziation.
Bei den Assoziationen mit Wert ist zu unterscheiden, ob das Subjekt
diesen Wert empfindet oder nicht.
Geht die Assoziation vor sich, ohne dass man sich ihres Wertes be-
wusst ist, ohne dass also dieses Wertbewusstsein zur Auslösung der Reak-
tion beiträgt, so ist die Assoziation rein mechanisch, was nicht ausschliesst.
dass sie einen Wert an sich haben kann. Dieser Mechanismus ist ein Pro-
dukt der früheren Erfahrung, und sein objektiver Wert ist derselbe wie der
der Erfahrung. Solche mechanischen Assoziationen könnten also wertvolle
Aufschlüsse liefern über die Art, wie sich die Erfahrungen in der Seele fest-
gesetzt haben, und, nachdem man das, was dem Einflüsse der Erziehung
zuzuschreiben ist, abgezogen hat, über die angeborene Anlage, die er-
worbenen Erfahrungen in eine gewisse geistige Ordnung zu bringen, d. h.
über die Art, wie sich das Interesse des Individuums gewissen Beziehungen
vor andern zuwendet
Bei der mechanischen Assoziation kann eine einzige Vorstellung oder
eine Reihe von Vorstellungen reproduziert werden; im letzteren Falle wird
dann eine ausgewählt. Es ist aber zu beachten, dass diese Auswahl mit der
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Beruhte und Besprechungen.
361
Assoziation an sich nichts zu thun hat, da sie erst einsetzt, wenn jene voll-
endet ist.
Es wäre also eine Willkür, wollte man bei der Beurteilung der Asso-
ziation nur die eine ausgewählte berücksichtigen und die übrigen ausser
acht lassen.
Die zweite Art. diejenige, bei welcher das Bewusstsein von dem Werte
der Assoziation vorhanden und bei der Auslösung der reproduzierten Vor-
stellung beteiligt ist, nennt Qaparede Assoziation mit wirksamem
Wert. Dieses Bewusstsein kann aber dem Eintreten des Assoziations-
erregers vorhergehen und folgen; je nachdem würde man von vorher-
bestimmter oder gezwungener, und von freier Assoziation reden dürfen,
eine Unterscheidung, die schon Wundt gemacht hat.
Wenn man zum Beispiel jemandem sagt, er solle mit einem zu gebenden
Worte ein anderes assoziieren, so dass die beiden Ausdrücke ein Ver-
hältnis der Kausalität (oder der Unterordnung, des Kontrastes u. dgl.)
bezeichnen, so ist die Assoziation gezwungen. Kann nur eine Vorstellung
in der gewünschten Richtung, assoziiert werden, so ist die Vorherbestim-
mung eindeutig, mehrdeutig, wenn mehrere assoziiert werden können. Soll
man mit der Vorstellung der Schwere eine andere verknüpfen, die mit
jener im Verhältnis der Wirkung zur Ursache steht, so wird man kaum
etwas Anderes antworten können als „Anziehungskraft"; die Assoziation
ist eindeutig bestimmt. Soll man dagegen dasselbe thun für das Wort
..Gewitter", so kann man antworten: Hitze, Elektrizität, Luftdruck u. dgl.,
die Assoziation ist mehrdeutig.
Die freie Assoziation ist diejenige, bei welcher das Bewusstsein von
dem Werte der Beziehung nach dem Auftreten des Assoziationserregers
eintritt.
Es scheint, dass in einigen Fällen das Bewusstsein von der Beziehung
durch den Erreger hervorgerufen wird und doch zur Auslösung der Reak-
tion beiträgt. Der Erreger sei Säugetier: ehe dieses Wort ein anderes
hervorruft, merkt man schon, in welcher Richtung die Antwort erfolgen
muss. man ist sich der Beziehung bewusst, die den Erreger und das noch
unbekannte Reproduzierte verknüpft; bei unserem Beispiel wird es die
Unterordnung sein, und die Antwort wird lauten „Pferd" oder „Hammel".
Oder wenn der Erreger 3 + 4 ist, so hat man, ehe die Zahl 7 ins Bewusst-
sein tritt, mehr oder minder das Gefühl, dass die Form der Assoziation
eine Beziehung der Gleichheit ist, und dieses Gefühl trägt sicher dazu bei,
dass diese Beziehung sich verwirklicht.
Gewöhnlich aber tritt das Bewusstsein der Beziehung nach der Repro-
duktion auf. jedoch so, dass es noch an der Bestimmung der Reaktion
(evocation) beteiligt ist. Dieser Fall entspricht dem bei der mechanischen
Assoziation erwähnten: Der Erreger ruft gleichzeitig eine Reihe undeut-
licher verschwommener Bilder hervor. Aber dieses Mal ist es nicht das
Interesse für eines der Bilder, sondern das Interesse für eine der Be-
ziehungen, das die Auswahl bestimmt. Das Wort Schwere zum
Beispiel wird gleichzeitig die Bilder von Gewichten, einer Wage,
der Anziehung, der Physik u. s. w. hervorrufen; man hat da Be-
ziehungen der Gleichheit oder der Aehnlichkeit, des Mittels zum Zweck,
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362
Berichte und Besprechungen.
der Ursache und Wirkung, des zeitlichen Zusammenseins u. s. w., und da
kann nun eine der Beziehungen, etwa die der Kausalität, das meiste Inter-
esse erwecken und man wird schliesslich „Anziehung" antworten.
Erst nachdem diese Einteilung tfuf Grund der psychologischen Rolle
des Wertbewusstseins beendet ist. kann man sich daran machen, jede der
erhaltenen grossen Gruppen in Unterklassen zu zerlegen, je nachdem die
Vorstellungen der Assoziation homosensoriell oder heteroscnsoriell, Einzel -
oder AUgemeinvorstellungen, u. s. w. sind, oder je nach der inneren Form
der Beziehung: nach raumzeitlicher Berührung, nach logischen Gesichts-
punkten u. s. f. Welcher dieser Gruppierungen der Vorzug zu geben sei,
wird nicht erörtert.
Diese Einteilung gestattet, nicht nur für die Ergebnisse der Experi-
mente des Laboratoriums, sondern für die Assoziationstätigkeit überhaupt
eine Uebersicht zu geben. In der That scheint es, dass man zu jeder dieser
grossen Abteilungen einige der typischen Formen der geistigen und Be-
wegungsthätigkeit in Beziehung bringen kann.
Den Assoziationen ohne Wert entsprechen zum Beispiel die regel-
losen Bewegungen, Zucken, Zittern vor Furcht und Ueberraschung, u. s. f.
In den mechanischen Assoziationen wird man den Typus der ange-
passten Reflexbewegungen, der Instinkte (mit Vorbehalt), der mechanischen
Bewegungen, Gebräuche, Gemeinplätze, kurz der Gewohnheit wiederfinden.
Die gezwungene Assoziation ist bezeichnend für die Willenstätigkeit
(Aufmerksamkeit, geistige Anstrengung, .Suchen in seinem Gedächtnis). Sie
kommt zur Anwendung, wenn der Denker den Schlusssatz eines Syllogismus,
der Forscher einen Beweis für seine Hypothese, der Dichter einen Reim
auf ein gegebenes Wort sucht.
Die erste Art der freien Assoziation scheint durch eine willkürliche,
aber nicht vorbedachte Bewegung dargestellt zu werden; etwa wenn eine
Frucht auf einem Baume den Wunsch erweckt, sie zu pflücken, und man
die dazu nötigen Bewegungen ausführt. Jedoch ist die Frage der willkür-
lichen Bewegung noch zu dunkel, als dass man dabei die Rolle der Assozia-
tion mit Gewissheit erkennen könnte.
Die zweite Art der Assoziation endlich (mit Auswahl der Beziehung)
entspricht dem willkürlichen, wählenden Handeln. Bei dem einsichtigen
Menschen erweckt jeder Zweck die Bilder mehrerer Mittel dazu, und eines,
das geeignetste, wird ausgewählt.
Berlin. O e h m c.
IV e Congres International de Psychologie. Tcnu ä
Paris du 20 au 26 Aoüt 1900. Compte rendu des seances
et textedes memoires publies parles soins de Pierre
Janet. Paris. Felix Alcan, editeur. 1901.
Welchen Aufschwung die Psychologie genommen hat, ersieht man
schon äusserlich, wenn man den Umfang der Kongressberichte aus den Jahren
1896 und 1000 vergleicht. Jener umfasst 490. dieser ist ein stattlicher Band
von nicht weniger als 840 Seiten.
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Bericht« und Besprechungen.
363
Die einleitenden Worte Ribots geben einen kurzen Ueberblick über
das, was in den letzten vier Jahren auf den einzelnen Gebieten der Psycho-
logie geleistet worden ist. Er nennt besonders die Arbeiten über Sinnes-
empfindungen, Gedächtnis, Ideenassoziation, Kinderpsychologie, Aufmerk-
samkeit, Gefühlsbewegungen und bedauert, dass die zusammengesetzteren
Offenbarungen der Seele, die Fragen über logische Operationen, Urteils-
kraft, schöpferische Phantasie, ferner über pathologische und soziale Psycho-
logie so vernachlässigt worden sind.
Da es unmöglich ist, alle im Berichte enthaltenen Abhandlungen einer
eingehenden Betrachtung zu unterziehen, so seien nur einige herausge-
griffen, hauptsächlich solche, die die Pädagogische Psychologie angehen.
Mlle. Marie de Manaceine: Sur les sentiments et les
sensations et lettrs differences fondamcntales.
Die Frage nach der wesentlichen Natur der Empfindungen macht bis
heutzutage das dunkelste Gebiet der Psychologie aus. Alle Autoren, die
sich damit zu beschäftigen hatten, haben dies anerkannt; bei allen aber
vermisst man mehr oder weniger eine scharfe Scheidung zwischen den
sentiments und den sensations. Um diesem Erbübel, wie man es genannt
hat. zu begegnen, hat sich Fräulein De Manaceine die Aufgabe gestellt, ein-
mal die Unterschiede jener beiden Begriffe genau festzustellen.
Die Sinneswahrnehmungen können in objektive (Gehörs-, Gesichts-
wahrnehmungen) und in subjektive (Schmerz, Vergnügen, Hunger, Durst
u. dgl.) eingeteilt werden. Alle Sinneswahrnehmungen folgen den Grund-
gesetzen des Geistes, d. h., sie sind gebunden an Raum, Zeit und Ursäch-
lichkeit. Sie sind nichts als primitive Urteile, die so oit wiederholt worden
sind, dass man sie schliesslich unbewusst vollzieht.
Die Analyse der Empfindungen dagegen beweist, dass diese nur dem
Grundsatze der Ursächlichkeit gehorchen. Jede Empfindung stellt sich
unserm Bewusstsein immer dar als unbeschränkt in unserem Sein und
erfüllt dieses bis zu den Fingerspitzen. Jemand, der Freude, Furcht, Stolz,
Dankbarkeit empfindet, ist von jedem solchen Gefühle ganz erfüllt, jede
Zelle seines Körpers hat daran Anteil.
Da der menschliche Geist aus Verstand und Vernunft besteht und der
erstere in seiner Tätigkeit immer den Grundsätzen des Raumes, der Zeit
und der Ursächlichkeit folgt, die letztere dagegen nur dem der Ursächlich-
keit untergeordnet ist. so kann man sagen, dass die Empfindungen in Bezug
auf die Vernunft dasselbe darstellen, wie die Sinneswahrnehmungen in Bezug
auf den Verstand, d. h. die Sinneswahrnehmungen sind durch häufige
Wiederholung unbewusst gewordene primitive Urteile des Verstandes,
während die Empfindungen die ebenso unbewusst gewordenen Produkte der
synthetischen Tätigkeit der Vernunft sind.
Ausser diesem Hauptunterschiede seien noch folgende Züge erwähnt:
Die Sinneswahrnchmungcn haben das besonders, dass sie immer den Körper
im persönlichen Bewusstsein vorherrschen lassen. Z. B. Schmerzenswahr-
364
Berichte und Besprechungen.
nehmungen lassen mich diesen oder jenen Teil meines Körpers besser im
Räume einreihen, oder bringen mir, wenn der Schmerz allgemein und unbe-
stimmt ist, die Beschränktheit meines Körpers deutlich zum Bewusstsein
und vernichten so das psychologische Ich des Menschen. Jede Sinnes-
wahrnehmung kann, wenn sie eine gewisse Stärke erreicht, schmerzhaft
werden, während die Empfindungen so stark werden können wie sie mögen,
sie bleiben immer dieselben Empfindungen. So können die Freude, die
Furcht, der Zorn durch ihre Gewalt töten, aber sie werden sich nie in
Schmerz verwandeln.
Die Sinneswahrnehmungen, besonders die des Schmerzes können für
eine Zeit mehr oder minder vollständig die psychische Seite des Menschen
aufheben, so dass er alle Grundsätze, alle Ideale, allen Glauben seines
psychischen Ich vergisst. Diese Wirkung ist so oft in der Folter ange-
wandt worden. Die Empfindungen verhalten sich ganz entgegengesetzt,
d. h., sie können uns für eine Zeit unsern Körper vergessen lassen. So
kommt es, dass Menschen die grausamsten Martern ertragen können, wenn
sie von einer mächtigen Empfindung beherrscht werden.
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Empfindungen niemals
durch physische Einwirkungen der Umgebung hervorgerufen werden können,
während die Sinncswahrnehmungen sehr häufig, wenn nicht immer, da-
von abhängen.
Die Empfindungen kann man in drei Gruppen einteilen: geistige oder
dynamische, ethische oder leitende, und ästhetische oder Empfindungen
beschaulicher Ruhe.
Die geistigen Empfindungen sind persönlich, und immer von einem
positiven oder negativen Wunsche begleitet. (Zorn, Freude, Furcht,
Kummer . . .); die ethischen fassen dagegen immer ein ausserpersönliches
Ideal ins Auge und sind mehr oder weniger von der Empfindung der
Hoffnung begleitet (Reue, Entrüstung, Misstrauen . . .); die ästhetischen
Empfindungen sind verknüpft mit den Wahrnehmungen der Ursachen unter
den Formen verschiedener abstrakter Begriffe.
Zwischen diesen drei Gruppen bestehen die mannigfachsten Uebcr-
gänge.
Die tägliche Beobachtung der Kinder ist nun das beste Mittel, die
Empfindungen in ihrer Beziehung zur Vernunft zu studieren. Jedoch muss
man damit schon in den ersten Lebenstagen beginnen. Das hat nun Frl.
de Ma naeeine gethan. Die Ergebnisse ihrer Beobachtungen dieser Art
findet man in ihrem Werke „Die Grundlagen der Erziehung", Band 5—7,
worauf hiermit hingewiesen sei.
Zur Frage über Gedächtnisentwicklung bei Schul-
kindern hat Alexander Netchaeff im Jahre 1899 Versuche
an 687 Schülern beiderlei Geschlechts im Alter von 9 bis 18 Jahren ange-
stellt, deren Ergebnis er mitteilt. Die Versuche bestanden darin, dass 12
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Berichte und Besprechungen.
365
einförmige Eindrücke gegeben wurden, worüber die Schüler nachher durch
Nachschreiben Auskunft geben mussten. 8 Reihen von Eindrücken wurden
vorgeführt: Gegenstände, unartikulierte Laute, Zahlen und dreisilbige
Wörter, die den verschiedenen Sinnesgebicten entnommen waren. Dabei
zeigte sich:
i. Die untersuchten Gedächtnisarten wachsen mit dem Alter, 2. die Be-
deutung der Worte becinflusst sehr das Behalten, 3. Zwischen dem Ent-
wicklungscharakter des Gedächtnisses der abstrakten Worte und des Zahlen-
gedächtnisses besteht eine Analogie. 4. Die Entwicklungsextensität ver-
schiedener Gedächtnisarten ist verschieden. Das Gedächtnis für Zahlen
wächst am schwächsten, das für Gegenstände und Gefühlsworte am meisten.
5. Die Knaben haben ein stärkeres Gedächtnis für reelle Eindrücke (Gegen-
stände und Laute), die Mädchen für Zahlen und Worte.
Sehr interessant sind die folgenden Ausführungen über die Art, wie
sich die einzelnen Gedächtnisarten in den verschiedenen Altersstufen bei
den Knaben und bei den Mädchen entwickeln. Zahlentafeln und graphische
Darstellungen dienen zum Belege.
Franqois Chaillons: Du Traitement des viciations
par l'education.
Die Faktoren, die zur sittlichen Entartung beitragen, sind die Erb-
lichkeit und die Ansteckung oder Erziehung zum Laster.
Die Giltigkeit des Gesetzes der Erblichkeit wird durch so viele Tat-
sachen bestätigt, dass es unnötig ist, dabei zu verweilen. So wenig es aber
möglich ist, das Vorhandensein dieses Faktors zu bestreiten, so wenig ist es
möglich, das Wieviel davon zu bestimmen. Er wird als Keim in das ge-
schaffene Wesen hineingelegt und ist nun seit der Geburt dem Einflüsse
des zweiten Faktors, der Erziehung zum Laster, der Ansteckung ausgesetzt.
Um die Wirkungsweise der Ansteckung zu verstehen, muss man eine
Unterscheidung zwischen äusserer und innerer oder Selbstansteckung
machen. Dieses wird nun des näheren begründet. Sodann kommt der Ver-
fasser zu seinem Ziele, der Behandlung der sittlichen Entartung. Es gilt,
eine möglichst grosse Zahl normaler sittlicher Zustände zu schaffen, d. h.,
die normalen Reflexe zu schulen, die Hervorrufung pathologischer Zustände,
die Ansteckung, welche eine entgegengesetzte Schulung bewirkt, zu ver-
meiden.
Man muss die bei den moralisch Belasteten so übermässig entwickelten
sinnlichen Triebe benutzen und sie in die rechten Wege leiten. Die Gemüts-
bewegung ist also der Hebel, dessen sich der Erzieher bedienen muss. Die
Aussicht auf Besserung bei den Entarteten steht im geraden Verhältnis zu
ihrer Empfänglichkeit für Gemütsbewegungen. Das Gute als rein vernunft-
gemässer Beweggrund ist unfähig, die Handlung zu bestimmen, besonder»
bei den Verderbten, von denen die Rede ist, aber es giebt eine Schönheit,
die von dem Guten ausstrahlt, und diese Schönheit muss man zeigen und
zu ihr muss man Liebe erwecken. Also wenig theoretische Sittenlehre,
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Berichte und Besprechungen.
dafür aber Lektüre, die die edelsten Gefühle erweckt, Beratungen, Theater-
vorstellungen, wo die Zöglinge selber mitwirken. Grosse Ströme der Be-
geisterung muss man messen lassen, sie werden für den Entarteten das sein,
was für das tuberkulöse Tier die frische Luft und die Ueberernährung sind.
Der Geist bemächtigt sich dieser Eindrücke, gestaltet sie in mannigfacher
Weise, und diese glücklichen Eindrücke werden die Elemente eines dauernden
Schatzes, der bei jeder Handlung zu gunsten des Sittlichen ins Gewicht fällt,
und durch häufige Wiederholung immer an Festigkeit gewinnt.
Die so vorgeschlagene Methode der Schulung der Reflexe durch
Gemütsbewegung ist wahrhaft psychologisch, also vernunftgemäss.
Diese psychologische Methode sollte in allen Kinder - Besserungs-
anstalten eingeführt werden, zu Erziehern in solchen Anstalten sollten nur
diejenigen zugelassen werden, die am besten befähigt sind, diese Methode
anzuwenden. Um eine Ansteckung der jüngeren Zöglinge durch ältere
zu verhüten, müssen genügend Kolonien gebildet werden, worin immer nur,
soweit angängig, die gleichaltrigen vereinigt sind, jedoch so, dass eine ge-
meinsame Oberaufsicht möglich bleibt.
Berlin. O e h m e.
(Fortsetzung folgt).
Dr. Heinrich Krausse, Die Prügelstrafe. Eine kriminal-
politische Studie. Berlin 1899. 136 S. 3 M.
K. will mit Rücksicht darauf, dass von verschiedenen Seiten die Wieder-
einführung der Prügelstrafe empfohlen wird, dass aber die meisten Schriften
über dieses Thema die deutsche Litteratur des 19. Jahrhunderts nur sehr
mangelhaft berücksichtigen, eine Art Kompendium des ganzen Rechtes der
Prügelstrafe liefern und hierbei besonders die historische Entwickelung
würdigen. Nachdem K. im ersten Teil das geltende Strafensystem im allge-
meinen besprochen hat, erörtert er im zweiten, weit ausführlicheren die
Prügelstrafe. Indem er die gegen und für diese geltend gemachten Gründe
prüft, kommt er zu dem Resultat, dass man fast alle Gründe, die gegen die
Prügelstrafe herangezogen werden, auch gegen andre als berechtigt anerkannte
Strafen anführen könnte. Was die Gründe für die Einführung der Prügel-
strafe betrifft, so ist K. nicht der Meinung, dass etwa alle von deren An-
hängern angegebenen Gründe stichhaltig seien. Er kommt aber zu dem
Resultat, dass einerseits eine Verschärfung der bestehenden Strafmittel ge-
boten, und andrerseits, wie Mittelstädt ausführte, die Prügelstrafe an sich ein
vernünftiges, gerechtes Strafmittel sei.
Berlin. Albert Moll.
Paul von Gizycki. Der neue Adel. Ratschläge und
Lebensziele für die deutsche Jugend. Berlin 1902.
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
Mit diesem Wegweiser kommt G. einem wirklichen Bedürfnis entgegen.
Zwar besitzen wir mehrere deutsche Bücher ähnlicher Tendenz, aber sie
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Berichte und Besprechungen.
367
wenden sich meist nur an einen kleinen Teil der Jugend, meist an den jungen
Kaufmann oder Handwerker. Gs. Buch aber ist so umfassend gehalten, dass
jedermann, jung und alt, daraus goldene Lebensregeln schöpfen kann. Es
ist nicht trockene Schreibtischgelehrsamkeit, die der Verfasser giebt, sondern
aus dem reichen Schatze seiner Erfahrung bietet er das Beste, die Wahrheit,
die er an seinem eigenen Leibe verspürt hat. „Mein eigenes Leben", sagt
G., „liegt wie eine gewundene Strasse, die man von Bergeshöhe überschaut,
vor meinen Augen. Die Spiele der Jugend, die Hoffnungen und Illusionen
der Jünglingszeit, die harte Arbeit der Mannesjahre breiten sich unverhüllt
vor meinen Augen aus. Ich erkenne die Ursachen der vielen Irrtümer und
Misserfolge meines Strcbcns und weiss erst jetzt die Kräfte zu schätzen, denen
ich die geringen Erfolge meiner Arbeit zu verdanken habe. . . . Nur zu
lange bin ich auf Irrwegen gewandelt, ehe ich das rechte Ziel erkannt habe."
Darum reden diese Zeilen eine von edler Leidenschaft durchströmte und
überzeugende Sprache, die den in der Entwickelung stehenden Jüngling
sympathisch berühren muss, sie enthalten eine Lebensweisheit, die frei von
Widersprüchen, reich an Beobachtungen und erprobten Erfahrungen ist, der
er freudig zustimmen wird.
G. bringt einen historischen Ueberblick über die praktischen Ideale,
die der Menschheit von jeher vorgeschwebt haben und führt uns vom Heili-
gen des Altertums zum griechischen Weisen, vom christlichen Ritter zum
Edelmann der Arbeit, dem Gentleman der Neuzeit. In diesem neuen Edel-
manne sieht G. die vorzüglichsten Tugenden der früheren Ideale vereint:
„Die Hingabe des Heiligen an ein grosses Ziel und den Glauben an die
Wunderkraft der Begeisterung, das Vertrauen des Weisen auf den Sieg der
Erkenntnis und die unbezwingliche Willenskraft eines mannhaften Charakters,
den ritterlichen Kampf für die Sache der Schwachen und Bedrückten." . . .
„Aber er fügt zu diesen Vollkommenheiten älterer Ideale die neuen Elemente
der ausdauernden und unternehmenden Arbeit und den durchaus modernen
Glauben an das materielle und ideelle Fortschreiten des Menschengeschlechtes
hinzu."
Seinen eigentlichen Ausführungen stellt G. eine Allegorie voran:
Herkules am Scheidewege. Wohl jeder junge Mann kommt einmal an einen
Punkt, da seine Lebensstrasse sich teilt, und kein Wegweiser ihm anzeigt,
welche Richtung er einschlagen soll. Wenn dann G's. Buch für den
Zweifelnden das sein kann, was die Göttin der Tugend für Herkules war,
so ist eine seiner Hauptaufgaben erfüllt.
Die ersten Kapitel widmet G. den Betrachtungen über das vornehmste
Mittel, sein Ziel auf Erden zu erreichen, der Arbeit. Ueber deren Wert
spricht sich G. folge ndermassen aus: „Der grosse Arbeiter ist naturgemäss
der Führer der Menschen, und bis zu einem gewissen Grade ist daher jeder
junge Mann, wenn es ihm nicht an Fähigkeiten fehlt, in der Lage, nach
eigenem Ermessen die Stelle zu bestimmen, welche er in der Hierarchie
der Menschheit einnehmen wird, wenigstens zu entscheiden, ob er mehr
zu den Führenden oder den Geführten, zu den Herren oder den dienenden
Brüdern gehören will. . . . Wer den andern den Weg weisen, und seinen
Willen vorschreiben will, der darf nicht ruhen und rasten — je mehr Arbeit,
desto mehr Macht." —
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368
Berichte und Besprechungen.
Aber nicht nur als Mittel sollen wir die Arbeit betrachten, sondern auch
als Selbstzweck: Arbeit um der Arbeit willen. Es ist eine grosse Thorheit
anzunehmen, die Kulturmenschen unserer Tage arbeiteten nur deshalb, weil
man sie bezahle, und wir würden alle unfehlbar in Trägheit versinken, wenn
man uns nicht beständig durch Aussicht auf Geldgewinn oder Arbeitslohn
in Bewegung erhielte. Die Mehrzahl unserer Zeitgenossen ist schon durch
ihre Abstammung viele Generationen hindurch so sehr an Arbeit gewöhnt,
dass sie dieselbe kaum würden entbehren können, ja viele würden gewiss
noch Geld dazugeben und sich eine Gelegenheit zur Arbeit erkaufen, wenn
dieselbe nicht umsonst zu haben wäre. ... Es liegt in der menschlichen
Natur der instinktive Trieb nach Bethätigung aller körperlichen und geistigen
Anlagen, die Arbeit ist ein Lebensbedürfnis der Menschen so gut wie Licht,
Luft und Nahrung, und wo nur ein Teil der menschlichen Arbeitskraft von
dem harten Zwange des Broterwerbes für den nächsten Tag frei wird, sucht
dieselbe sofort ein neues, höheres Feld, eine neue, edlere Aufgabe der Be-
thätigung.
Wenn unsere Arbeit jedoch mit Erfolg gekrönt sein soll, so muss sie
auch mit Sorgfalt und Beharrlichkeit durchgeführt werden. Dann aber wird
die ehrliche Arbeit immer Erfolge erringen, auch wenn diesen äussere An-
erkennung versagt bleibt. Erfolge, die ihm niemand streitig machen kann,
bietet ihm in jedem Falle die ernste Arbeit an der eigenen Vervollkommnung.
Der Erfolg im Leben ist für jeden Menschen eine Quelle unmittelbaren
Glückes und neuer Erfolge. Wenn auch der Kämpfer ohne diese Freude,
ohne diesen Trost treu seiner Pflicht und seiner Fahne aushalten muss, so
wird doch sein Leben ein ganz anderes, froheres Gepräge durch den Segen
positiver, zweifelloser Siege erhalten. Erfolge haben zwei mit einander in
inniger Beziehung stehende Wirkungen: Sie beeinflussen andere, und sie
wirken auf uns selbst zurück. Für die Mehrzahl der Menschen giebt es
keinen anderen Massstab für das Verdienst als den Erfolg.
Unter den weiteren Kapiteln sind die Abschnitte „die Kunst zu sparen*"
und „der Wert der Zeit" besonders hervorzuheben. Zu dem erstgenannten
Thema sagt G.: Sparsamkeit bedeutet Charakter, Unabhängigkeit und
Glück — Verschwendung dagegen Leichtsinn, Knechtschaft und Elend.
Und an anderer Stelle: Die Gewöhnung zur Sparsamkeit ist, wenn nicht
die ganze Lösung der sozialen Frage, so doch ein gewichtiger Teil der-
selben.
Den Wert der Zeit jedoch schätzt G. höher. Man hat nicht ohne Grund
gesagt: „Zeit ist Geld", aber man hat damit zu wenig gesagt. Zeit ist etwas
Besseres als Geld, sie ist der Stoff, aus dem unser Leben gemacht ist
Wenn die Klagen der Menschen über Mangel an Zeit ernst zu nehmen
wären, so würde man beobachten müssen, dass sie die Stunden, welche
ihnen so karg zugemessen sind, gewissenhaft zu rate halten, sie würden mit
den Minuten ebenso geizen wie mit den Pfennigen; aber in Wirklichkeit
thun dies nur wenige, und von diesen wenigen hören wir auch nicht die
Klagen über die Kürze des Lebens.
Die folgenden Abschnitte tragen die Ueberschrift „Gesundheit und
langes Leben" und „Kraft und Schönheit". Nicht nur um seiner selbst,
sondern auch um der Menschen willen, mit denen er zusammen lebt, hat
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Berichte und Besprechungen.
36''»
jeder die Pflicht, sich gesund zu erhalten. Die Gesundheit der Seele ist in
erster Linie von der Gesundheit des Körpers abhängig, und mit diesem
wird leider nur zu oft der schwerste Missbrauch getrieben. Als bestes
Mittel zur Erhaltung der körperlichen Gesundheit empfiehlt G. physische
Arbeit: „Wer sein Leben in physischer Hinsicht richtig anwendet, dem wird
etwas von dem Feuer seiner Jugend, von den Hoffnungen und Idealen, die
ihm als Jüngling begeisterten, noch im Greisenalter aus den Augen leuchten.
Junge Leute sollten in ihrem eigenen Interesse dem thörichten Irrtum ent-
sagen, als sei eine Art der Arbeit, die sogenannte geistige Arbeit, edler als
die Handarbeit; völlige Gesundheit des Leibes und der Seele, die wahre
Kalokagathia, wird nur da erblühen können, wo beide Gattungen mensch-
licher Bethätigung demselben Individuum abwechselnd ihren Segen spenden".
An dieser Stelle geht G. näher auf den Sport ein, den er als besten
Ersatz für die eigentlich physische Arbeit hält; seine Ausführungen über die
einzelnen Zweige des Sports erscheinen beachtenswert.
..Höflichkeit" und „Unterhaltung" sollen den jungen Mann im directen
Verkehr mit seinen Mitmenschen leiten. Jeder weiss, wie schwer es jun-
gen Leuten oft wird, im Verkehr den rechten Ton zu treffen, und gesell-
schaftlichen Takt zu erwerben. Die beiden Extreme, zwischen denen er
lange hin- und herschwankt, sind Schüchternheit oder zur Schau getragenes
Selbstgefühl.
„Menschenkenntnis" und „zweierlei Menschen"; aus diesen beiden
Schlusskapiteln, die auch den Philosophen und Psychologen vollauf inter-
essieren, spricht die ganze ruhige Abgeklärtheit des Verfassers. Zweierlei
Individuen giebt es auf Erden: Den Herdenmenschen und den Mann von
Charakter. G. will die Jugend zu Männern von Charakter, zu Edelleuten
der Arbeit erziehen, sie durch seine Ratschläge diesem Ideale zuführen.
Wo sucht er seinen Leserkreis? „Ich wende mich an einen Leserkreis unter
der heranwachsenden Generation meines Vaterlandes, an jene jungen
Männer, welche diese Welt nicht als einen Ort der Entsagung und des
Wehklagens, sondern als eine Stätte tapferen Ringens und hoffnungfroher
Arbeit ansehen; an sie, deren junge Herzen höher schlagen, wenn sie in
alten Liedern von Helden und Heldenthaten lesen, denen die Biographien
grosser Männer die Geheimnisse ihrer eigenen starken Seele offenbaren;
an sie, die von diesem Kampfplatz, aus dieser Werkstätte nicht scheiden
mögen, ohne eine Spur der in ihre Seele gepflanzten Kraft und Tüchtigkeit
und ein gesegnetes Andenken ihres Namens zurückzulassen."
Grün.
Die poetischen Formen der deutschen Sprache nach
ihrer historischen Entwicklung und ihrem Wesen
dargestellt und an zahlreichen Beispielen erläu-
tert. Von Rektor E. Cremer, Krefeld.
Dieses im Erscheinen begriffene Werk, dessen erste Lieferung uns
nur vorliegt, soll ein Hilfsluich für den gesamten Unterricht im Deutschen
werden und alle diejenigen Stoffe zu einem abgerundeten Ganzen zusammen-
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370
Berichte und Besprechungen.
stellen, die an Lehrerseminaren und höheren Schulen aus dem Gebiete der
deutschen Poetik und Literaturgeschichte gelegentlich zur Behandlung
kommen.
Der erste allgemeine Teil führt uns Wesen, Mittel und Gattungen der
Dichtkunst vor, der zweite besondere Teil sucht diese geschichtlich zu ent-
wickeln. Zahlreiche trefflich gewählte Beispiele dienen zur Erläuterung. Von
dem versprochenen Litteraturnachweis ist jedoch nichts zu finden. Im
Allgemeinen berechtigt das Buch, obwohl es an manchen Stellen zum Wider-
spruch reizt, zu der Erwartung, dass es in den Kreisen der Lehrer und
Litteraturfreunde vielen Beifall finden wird. e.
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Bibliotheca pädo-psychologica.
Geschichte und Theorie der Erziehung und des Unterrichts, Methodik der Lehr-
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Zeitschrift
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Pädaaooiscbe Psychologie,
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Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
Jahrgang IV. Berlin, Dezember 1902. Heft 5/6.
(An» dem Psychologischen Laboratorium der Universität In Qraz.)
Zur experimentellen Begründung
der Methode des Rechtschreib-Unterrichtes.
Von
Ernst Mally und Rudolf Ameseder.
Was wir hier unternehmen, möchte nicht so sehr als eine
Kritik der Arbeiten gelten, von denen die Rede sein wird, als
vielmehr zugleich einen kleinen Beitrag zur Lösung der Frage
liefern, der alle jene Arbeiten dienen wollen. Darum ist auch
bei deren Besprechung ein vollständiges Erschöpfen ihres In-
haltes nicht angestrebt ; dagegen wohl eine eingehende Be-
urteilung der bisher in unserer Angelegenheit unternommenen
Versuche.
Wir halten es für besonders wertvoll für diese theoretischen
Untersuchungen, dass sie von der Praxis des Schullebens Zweck
und Anregung erhalten haben — Als nämlich, zu Beginn
des Jahres 1902, die Lehrerschaft von Graz auf Lays Ver-
such einer experimentellen Ermittelung derbrauchbarsten
Methode des Rechtschreibunterrichtes aufmerk-
sam wurde, erhob sich die Frage, in welcher Weise aus dem
genannten Unternehmen für die Schulpraxis Nutzen zu ziehen
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 1
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382 Ernst Mally und Rudolf Ameseder.
wäre. Dazu schien vor allem eine exakte Prüfung der Lay •
sehen Aufstellungen nötig, die auf Anlass einer bezüglichen
Anfrage an der hiesigen Universität in Seminarübungen vor-
genommen wurde, deren Leitung Gymnasialdirektor Professor
Dr. Eduard M a r t i n a k inne hatte. Unter grosser Beteiligung
seitens der Lehrerschaft nahmen dabei die Verfasser eine —
soweit dies Lays Angaben gestatten — getreue Nachbildung
seiner Versuche vor. Nicht so sehr zum Zwecke der Ver-
gleichung der Ergebnisse, als vielmehr um den Teilnehmern
ein möglichst anschauliches Bild des Verfahrens zu bieten,
das auch die Verfasser ihrerseits nicht unversucht lassen
wollten, ehe sie an seine Würdigung schritten. In diese Be-
urteilung wurden dann auch alle uns bekannten Experimente
einbezogen, die in mehr oder minder engem Anschlüsse an
Lay entstanden sind.
Dabei zeigte sich, dass einiges von dem, was wir zu Lays
Ausführungen zu sagen hatten, sich schon ähnlich bei Fuch s1)
vorfindet. Dies Uebereinstimmende glaubten wir doch nicht
ungesagt lassen zu sollen, da unsere Aufstellungen unab-
hängig von Fuchs, vielfach von anderen Gesichtspunkten
aus genommen worden waren.
Schliesslich ergab sich bei der eingehenden Beschäftigung
mit diesem Gegenstande den Verfassern ein Versuchsver-
fahren, das wenigstens all jenen Einwänden nicht aus-
gesetzt sein möchte, die sie selbst gegen ihre Vorgänger
zu erheben in der Lage waren. Umfassende Experimente mit
demselben werden in Angriff genommen. — Die Veröffent-
lichung des Verfahrens aber mag erst erfolgen, wenn es sich
in der Anwendung bewährt haben sollte.
In diesem Sinne, als eine Vorarbeit zu weiteren
Lösungsversuchen unserer Frage, wünschten wir die gegen-
wärtigen Beiträge aufgenommen — und vielleicht auch anderen
nützlich zu finden.
I. W. A. Lay. Führer durch den Rechtschreib-
Unterricht, gegründet auf psychologische Ver-
such c . . .2)
») in der später zu besprechenden Abhandlung. — Vgl. unten S. 4^4
2) Karlsruhe. Verlag von Otto Ncmnich. i. Aufl. 1897. 2. Aufl. 1899.
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib-UnUrrichtes. 383
a) Das Versuchsverfahren.
Welche unter den mancherlei empfohlenen und von anderen
wieder verworfenen Methoden zur Erlernung der Orthographie
die beste sei, sollte einmal in unzweifelhafter Weise ent-
schieden werden. Als Mittel dazu sollte das psychologische
Experiment dienen.
Zwei Gedanken sind es namentlich, die zur Billigung dieser
Wahl führen mögen. Einmal die Ueberlegung der geringen
Vergleichbarkeit der Ergebnisse verschiedener Methoden,
die von verschiedenen Lehrern an verschiedenen
Schülern erprobt worden sind. Dann die Einsicht, dass man
es hier thatsächlich mit psychischen Beständen zu thun hat,
zu deren Erforschung, wenn überhaupt ein Experiment, so dass
psychologische beitragen kann. Dieses Experiment
nun soll — und kann wohl auch — jene Gleichartigkeit
der Umstände herbeiführen, die erforderlich ist, um festsetzen
zu können, was sich in den Ergebnissen des Rechtschreiben-
lernens ändert, indem sich die Art der Erlernung in
bestimmter Weise verändert und ausser ihr nichts, oder
wenigstens nichts Wesentliches. Und ein psychologi-
sches Experiment soll es sein : denn es hat zu untersuchen,
welche Arten psychischen Tuns, und in welcher Weise sie
zusammentreffen, um mit dem geringsten Aufwand an Arbeit
— vielleicht richtiger: an Kraft und Zeit — mit grösster
Sicherheit jenes psychische Können zu begründen, das sich
dann am orthographischen Schreiben als seiner Leistung
äussert. — Die zu beantwortende Frage ist also insofern auch
von theoretischer Bedeutung.
Auch bei den bisher vorgeschlagenen Methoden des
Rechtschreib-Unterrichtes ist wohl meist ein theoretisches
Moment mit zur Geltung gekommen : wenn schon diese Vor-
schläge nicht geradezu solchen Erwägungen über den Anteil
verschiedener psychischer Tatbestände am Zustandekommen
des richtigen Schreibens ihren Ursprung verdanken, so suchen
sie doch grösstenteils darin ihre Begründung. Namentlich
wurden „Gesicht s"- und „Gchörsvorstcllungen" der
zu schreibenden Zeichen, beziehungsweise Wörter als
solche psychische „Faktoren" am häufigsten angeführt,
l-
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384
Ernst Mally und Rudolf Ameseder.
daneben auch, weit minder häufig, dem Urteil einige
Beachtung geschenkt, und bald dem bald jenem das grössere
Gewicht zugesprochen.
Unser Autor ist, durch Ueberlegungen allerdings mehr
physiologischer als psychologischer Natur, zu der An-
sicht gelangt, dass, nicht nur neben, sondern vor alle
dem, ganz besonders Bewegungsvorstellungen für die
Erlernung der Orthographie von Bedeutung seien. Und zwar
in zweifacher Hinsicht : Wenn man ein Wort richtig schreiben
soll, muss man von dem, was zu leisten ist, vor allem eine
klare und anschauliche Vorstellung haben. Was wir nun in
unserem Falle vollziehen sollen, ist eine Bewegung : die Schreib-
bewegung. Von dieser erhalten wir am besten eine adäquate
Vorstellung, wenn wir, zur Uebung, das Wort erst ab-
schreiben. Unser Gedächtnis befähigt uns dann, im ge-
gebenen Momente die so gewonnene Vorstellung zu repro-
duzieren, und wir schreiben richtig. — Ausserdem ist aber
für die richtige Schreibung eines Wortes wesentlich, dass man
das Wort sebst richtig vorzustellen vermöge. Dazu ist das
Gehört- oder Gelesenhaben des Wortes nur ein unzureichen-
des Mittel. Wenn wir aber das Wort dazu auch noch ge-
sprochen haben, so haftet es viel genauer in unserer Er-
innerung. — Auch dieser Umstand wird aus einer Bewegungs-
vorstellung erklärt: aus der Sprechbewegungs-Vor-
Stellung, die man beim Sprechen des Wortes gewonnen
hat, und deren Reproduktion zur richtigen Reproduktion des
Wortes, das geschrieben werden soll, eine wichtige Hilfe bilde.
Aus solchen Gedanken heraus — die der Autor jedoch wie
gesagt von der physiologischen Seite her entwickelt — ergab
sich die Anordnung der Versuche. Dieser wendet sich
zuerst unsere Betrachtung zu, ohne emstweilen an den theo
retischen Voraussetzungen zu rühren.
Es galt durch das Experiment zu entscheiden, welchem der
genannten Faktoren der grösste Anteil am Erlernen der Recht-
schreibung zuzuschreiben sei. So musste denn, unter sonst
möglichst gleichbleibenden Umständen, abwechselnd jeder von
ihnen gesondert zu diesem Erlernen verwendet werden, damit
sich an der Grösse des Erfolges seine Wirksamkeit zeige.
Der Versuchsleiter sagte eine Reihe von (sinnlosen)
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Zur experimentelle* Begründung des Rechttchreib-Unterricktes. 385
Wörtern ein paarmal hintereinander vor, vermittelte sie also
den Versuchspersonen durch Gehörswahrnehmung. Das
Gehörte hatten die Schüler, gleich nach dem letzten Vorsagen
der Reihe, aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Ein
andermal bekamen die Schüler eine gleich lange Reihe
ähnlich gebauter Wörter zu lesen. Nach wiederholtem
Lesen — Vorgabe durch Gesichtswahrnehmung — er-
folgte wieder Niederschrift aus ,dem . Gedächtnis. Nun
war es nicht ebensowohl tunlich, den Schülern durch
Bewegungs Vorstellungen1) Wörter zu übermitteln. Es
musste genügen zu untersuchen, wie sich das Ergebnis der
oben genannten Erlernungsarten stelle, wenn zu jeder von ihnen
Bewegungsvorstellungen als Erlernungshilfen hinzukommen:
und zwar einerseits Sprechbewegungs-, andererseits Schreib-
bewegungs-Vorstellungen. Das ergab folgende Versuchs-
variationen : Hören, beziehungsweise Lesen mit leisem Sprechen
— richtiger wohl mit stummer Sprechbewegung — d. h. die
Versuchspersonen vollzogen still die zum Sprechen des Gehörten
oder Gelesenen nötigen Bewegungen; dann kam Hören, be-
ziehungsweise Lesen mit lautem Sprechen der Versuchs-
personen, damit sich zeige, ob das mit lautem Sprechen ver-
bundene Hören der eigenen Rede wesentlich anderen Ein-
fluss auf das Erlernen übe, als die blosse stumme Sprechbe
wegung des Lernenden; endlich, um die Wirksamkeit der
Schreibbewegungs- Vorstellung zu erproben, liess Lay seine
Versuchspersonen die zu lernenden Wörter abschreiben. Um
ausserdem eine von vielen gepflegte Methode des Rechtschreib-
unterrichtes auf ihre Erfolge hin mit den durch alle diese
Versuchsabarten vertretenen zu vergleichen, wurden auch Wörter
durch Buchstabieren — seitens der Versuchspersonen — ein-
gelernt. Nach jedem dieser Teilversuche wurde das Gelernte
aus dem Gedächtnis niedergeschrieben.
Eine Versuchs-„Reihe", genauer ein vollständiger Ver-
such,2) bestand also aus folgenden 8 Teilversuchen :
*) Ein Vorschlag, wie das vielleicht doch zu leisten wäre, auf S. 420
dieser Abh.
') Denn natürlich ist ein Versuch, der auf die Ermittlung der Ver-
schiedenheiten in der Reaktion auf, in bestimmter Weise verschiedene
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386
Ernst Mally und Rudolf Atneseder.
Ia Hören ohne Sprechen
b Hören mit leisem Sprechen
c Hören mit lautem Sprechen
IIa Lesen (Sehen) ohne Sprechen
* b Lesen mit leisem Sprechen
c Lesen mit lautem Sprechen
III Buchstabieren
IV Abschreiben
Diesen Versuch nahm Lay — nach mehrfachen Vor-
versuchen — an ganzen Klassen, einerseits von Volksschülern,
andererseits von Seminaristen, zu wiederholten Malen vor. Als
Wörter dienten ihm dabei sinnlose Silbenkomplexe, die er sich
systematisch zu dem Zwecke zusammengestellt hatte, um mög-
lichst gleiche Schwierigkeiten, also, soweit es auf das Wort-
material ankommt, möglichst gleich grosse Fehlerchancen bei
jedem Teil versuche zu bieten. So sollte der Einfluss der Er-
lernungsart rein zum Ausdruck kommen : nämlich an den Ver-
hältnissen der Fehleranzahlen, die — in den Prüfungs-
Niederschriften der Schüler — die einzelnen Teilversuche er-
gaben, nach dem formelhaften Satze: je weniger Fehler bei
einer Erlernungsart, desto besser ist sie.
An dem Experimente interessiert uns von der technischen
Seite zunächst seine Zusammengesetztheit aus (acht) Teilver-
suchen. Denn — wie schon bemerkt — kommt es uns auf
die Fehlerzahl des einzelnen Teilversuches an sich gar nicht
an ; das Versuchsziel ist die Ermittlung der Verschiedenheit
der Reaktion bei verschiedenem Erlernungsverfahren. Darum
wird auch nicht der Teilversuch für sich wiederholt, sondern
die ganze Reihe von Ia bis IV. Allein nicht ausnahmslos.
Ein Blick in das Versuchsprotokoll1) zeigt, dass manche Teil-
versuche der Reihe öfter, andere weniger oft gemacht wurden.
Nun hat es den Anschein, als könnte es für die Verlässlichkeit
der Ergebnisse nur von Vorteil sein, wenn ein oder der andere
objektive Umstände angelegt ist, erst vollständig, wenn die ganze Reihe
dieser verschiedenen Umstände, Glied für Glied, verwirklicht worden ist, also
sämtliche Teilversuche durchgeführt sind. Vgl. unten S. 394 ff.
») a. a. O. i. Aufl. S. 103 ff.
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschretb-UnternchUs.
387
Teilversuch noch ausser der Reihe einigemal wiederholt wird.
Denn dadurch nähere sich das Fehlerergebnis, das er liefert,
im allgemeinen, dem „richtigen." Werte. Das tut es aber
natürlich nur, wenn der Teilversuch allemal unter möglichst
gleichen Bedingungen erfolgte; genauer, wenn die Schwan-
kungen in den Versuchsbedingungen bei Mitberücksichtigung
jener vereinzelten Ausführungen des Teilversuchs nicht grösser
sind als die Schwankungen innerhalb der in vollständigen Reihen
vorgenommenen gleichartigen Teil versuche allein. In unserem
Falle trifft das nicht zu. Es kommt des öftern vor, dass solche
vereinzelte Teilversuche mit andersartigem Wortmaterial und
an andern Schülern vorgenommen wurden als die entsprechen-
den Teilversuche der vollständigen Reihen. Nun war ja aller-
dings innerhalb der in einer Reihe zur Verwendung kommenden
Wörter gleiche Lernschwierigkeit angestrebt, nicht aber inner-
halb des Materiales verschiedener Reihen. So tritt denn etwas
Aehnliches ein, als wenn nach einer vollständigen Reihe von
acht Teilversuchen (Ia bis IV) nun einer oder zwei von ihnen
unter veränderten Bedingungen, etwa mit schwierigeren
Wörtern und an anderen Schülern, noch einmal gemacht
worden und ihre Ergebnisse zu denen der ersten Vornahme
der bezüglichen Teilversuche zugeschlagen worden wären. In
seiner, noch zu besprechenden, Abhandlung1) bringt Heinr.
Fuchs eine Uebersicht der Fehlerzahlen, die sich bei jedem
Teilversuch als auf den Schüler entfallende Durchschnittswerte
aus den Fehlerzahlen je eines Klassenversuches ergaben. Diese
Zusammenstellung, die unter anderm den Zweck hat, eine ziem
liehe Anzahl (46) Rechenversehen der Lay sehen Uebersichts-
tabellen auf Seite 127 der 1. Auflage seines Buches2) richtig
zu «teilen, zeigt, dass nur acht von den 24 Versuchsreihen
mit Volksschülern und nur drei von den 10 Versuchsreihen
mit Seminaristen vollständig und in einem Zuge durchgeführt
sind. Wenn sich nach Weglassung der unvollständigen Reihen
keine sehr auffallenden Veränderungen der Endresultate er-
geben, so ist das natürlich für Lays Versuche ein günstiger
i) S. 49 f.
■) Die 2. Auflage bringt (S. 94) die Tabellen trotzdem noch, bis aut
eine Korrektur, unverändert wieder.
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388
Ernst Mally und Rudolf Amcseder.
Fall, aber immerhin nichts wesentlich anderes als ein Zufall
und beweist selbstverständlich nichts gegen die Ungenauig-
keit eines solchen Verfahrens im allgemeinen. Dagegen möchte
man fast daraus schliessen, dass sogar in verschiedenen
Reihen die Versuchsbedingungen, objektiv und subjektiv, recht
gleichartig gewesen sein müssten, weil die Daten einzelner
Teilversuche an dem Durchschnittsresultat aller Teilversuchc
der gleichen Art, wie bemerkt, nicht auffällig ändern — um-
somehr also, könnte man weiter folgern, müssen die Versuchs-
bedingungen innerhalb der Reihen gleich geblieben sein.
So mögen wir ein Verfahren nicht unwillkommen finden,
das uns in den Stand setzt, die Richtigkeit dieser Vermutung zu
prüfen. Es ist dies folgende Ueberlegung.
Wenn zwei Gruppen von Versuchspersonen bei Teil-
versuchen einer bestimmten Art, etwa Ia, die gleiche Fehler-
summe geliefert haben, so ist das ein Zeichen, dass der Kom-
plex der — durch die Versuchspersonen und die ihnen ge-
stellte Aufgabe repräsentierten — subjektiven und objektiven
Bedingungen ihrer Leistung (in der Niederschrift) in beiden
Fällen die gleiche Fehlerchance bedeutet. Aendert sich nun
das Versuchsverfahren, indem von Ia zu Ib übergegangen wird,
so muss diese gleiche Aenderung an den gleichen Bedingungs-
Komplexen bei gleichen Gruppen auch eine gleiche Aenderung
in den Ergebnissen mit sich führen. Die F*ehlersumme der
einen Gruppe beim Teil versuche Ib muss also wieder der
Fehlersumme der andern Gruppe beim Teilversuche Ib gleichen.
Und das gilt in gleicher Weise für Ic, IIa . . . und jeden fol-
genden Teilversuch der Reihe. Da nun Lays Tabelle die
Summen der von den einzelnen Klassen bei den ein-
zelnen Teilversuchen begangenen Fehler nicht enthält,
sondern statt jeder solchen Summe den Teil davon, der
im Durchschnitt auf den einzelnen Schüler der Klasse
entfällt : so gewinnen wir die ursprünglichen Fehlersummen
für die einzelnen Klassen durch Multiplizieren der in der Tabelle
stehenden Ergebniszahlen mit den bezüglichen Schülerzahlen.
Suchen wir im Sinne des oben angeführten Gedankens zwei
Schülergruppen — unter den Volksschülern — , die bei Ia die
gleiche Menge von Fehlern begingen, so ergiebt sich, dass
Schüler des IV. Jahrganges bei drei Klassen versuchen von der
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Zur experimentellen Jiegründung des Rechtschreib-UnUrrichtes. 389
Art Ia, — woran einmal 37, einmal 14 und einmal 13 Schüler
beteiligt waren — zusammen 379 Fehler begingen; und Schüler
des III. Jahrganges — einmal 20, zweimal je 44 — wieder in
drei Klassenversuchen der Art Ia zusammen 371 Fehler
machten. Diese beiden Fehlersummen sind hinreichend ähn-
lich, dass man, unter den gemachten Voraussetzungen, für
den nächsten Teilversuch, Ib, wieder zwei ungefähr gleiche
Summen erwarten muss — und so fort, für jeden weiteren. —
Nun zeigt die folgende, aus den Kolumnen 5, 13, 14 und 12,
18, 19 (der Lay sehen Üebersichtstabelle1) auf dem ange-
gebenen Wege gewonnene Zusammenstellung, dass in der Tat
dieser Forderung beim Teil versuche Ic, Hören mit lautem
Sprechen, durch die fast gleichen Fehlersummen 280 und 277,
und beim Teilversuche I Ic, Lesen mit lautem Sprechen, durch
die Zahlen 146 und 154 in ausreichendem Masse Genüge ge-
leistet ist. Aber auch nur in diesen zwei Fällen: in allen
übrigen weisen die Resultate der beiden Gruppen sehr grosse
Verschiedenheiten auf — insbesondere IIa ... 85 : 180, IIb . .
106 : 196 und IV ... 38 : 61.
Tabelle I.
Teilversuch
IV. Jahrgang
HL Jahrgang
37+14+13 Schüler
20+44+44 Schüler
(Kolumnen 5, 13, 14)
(Kolumnen 12, 18, 10)
1.
379
371
Ib
312
382
Ic
280
277
na
85
180
Hb
106
196
Hc
146
154
III
104
187
IV
38
61
Es muss sich also — und das in erheblichem Masse —
innerhalb der einen oder der anderen Reihe, wahrscheinlich
wohl in allen, von Teilversuch zu Teilversuch noch irgend etwas
anderes geändert haben, als die absichtlich variierten Teil-
bedingungen, die in der Erlermmgsart gelegen sind.
M auf S. 94 der 2. Aufl., die weiter unten. S. 395 von uns reproduziert
wird.
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390
Ernst Maüy und Rudolf Amcsedcr.
Die Zusammenstellung unserer Tabelle I bedeutet natür-
lich nur eine „Stichprobe", allerdings ziemlich umfassender
Art. Das Verfahren, das hierbei beobachtet wurde, lässt sich
unschwer verallgemeinern und demgemäss auch allgemein an-
wenden. Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass nur wegen
der Einfachheit der Darlegung zwei Gruppen von Ver-
suchspersonen ausgesucht wurden, die in la gleiche Fehler-
summen liefern, und von denen dann, wenn nur (gleiche)
Aenderung der Erlernungsart bei beiden erfolgte, auch für
alle weiteren Teilversuche gleiche Resultate erwartet werden
müssen. Es hätten zwei belieb ige Gruppen herausgegriffen
werden können; und ihre Fehlersummen bei gleicher Er-
lernungsart müssten, unter der bekannten Voraussetzung (der
Gleichheit aller Versuchsumstände) zu einander bei jedem Teil-
versuch das gleiche Verhältnis aufweisen. — Dies die
rein rechnerische Formulierung der Forderung, woraus die in
der Praxis zu stellende sich ergiebt, wenn überall für „gleich"
„hinreichend ähnlich" gesetzt wird.
Indem wir nun jenem unbeabsichtigt Variablen nach-
zugehen versuchen, das die oben konstatierten starken Schwan-
kungen im Ausfall des Versuches verursacht haben mag: ge-
winnen wir zugleich auch einen ersten Einblick sozusagen in
das Innere des Experimentes. — Der erste Eindruck ist wohl
der einer sehr grossen Menge verschiedenartigster Teilursachen,
die mannigfach ineinandergreifend das Fehlerergebnis eines
jeden Teilversuches bestimmen.
Zur Orientierung in dieser Mannigfaltigkeit diene eine Ein-
teilung, die sich in recht ungezwungener Weise darbietet:
Sämmtliche Teilbedingungen eines Versuches zerfallen in ob-
jektive und subjektive.
Unter den ersteren sind wieder welche durch die Art
und Menge des in gegebener Zeit zu Lernenden, andere
durch die Weise des Lern Verfahrens gegeben. Das
Lernverfahren wurde allerdings absichtlich variiert, indem
die Reihe von Ia zu Ib, Ic, IIa . . . fortschritt. Aber ob die
beabsichtigte Aenderung allein eintrat, oder in d e r Reihe der,
in jener Reihe ein anderer Nebenumstand sich mitge-
ändert hat, ist natürlich im einzelnen nicht zu konstatieren,
kann aber bei der Kompliziertheit der Bedingungen ebenso
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib-UnUrrichles. 391
sicher angenommen als ruhig hingenommen werden, da es
schlechthin nicht zu vermeiden ist. Zur Ausschaltung der durch
diese, und andere, zufällige Variationen bedingten (Zu-
falls) Schwankungen der Ergebnisse dient eine entsprechend
grosse Versuchsanzahl, die hier einerseits durch den gleich-
zeitigen Vollzug des Versuches an ganzen Gruppen (Klassen)
von Personen, das Massen verfahren, andererseits durch öftere
Wiederholung des Versuches angestrebt ist. Ob auch er-
reicht, kann strikte nicht entschieden werden. Doch halten
wir, nach unseren Erfahrungen von der Nachbildung des L a y-
schen Versuches, wie auch von sonstigem Experimentieren her,
die beiden hinsichtlich ihrer Fehlerergebnisse in unserer Ta-
belle I verglichenen Gruppen von Versuchspersonen (einmal
64 und einmal 108 Schüler) für gross genug, um den auffallenden
Verschiedenheiten in den bezüglichen Fchlersummen den Cha-
rakter rein zufälliger Schwankung durchaus zu be-
nehmen. — In der Tat lässt sich auch, im Erlernungs Vorgang,
der objektiven Seite nach einiges namhaft machen, woran
solche mehr als bloss zufällige Variation hätte angreifen können.
Ein solches ist vor allem die Erlernungszeit: sie war in
keiner Weise fixiert. So wenig man nun sagen kann, diejenige
Methode sei die beste, die den Schüler in kürzester Zeit am
weitesten bringt, wenn unter diesem „am weitesten Bringen"
nichts anderes geda'cht ist, als das „am meisten Beibringen":
so unzweifelhaft ist man doch bei Versuchen zur Feststellung
einer solchen „besten" Methode auf eine Berücksichstigung
der zur Erlernung gebrauchten Zeit angewiesen. Denn in ver-
schiedenen Zeiten lässt sich wohl mit sehr verschieden
guten Methoden eine Leistung von gleich grosser — sinn-
gemäss von gleich geringer — Fehlerzahl erreichen. Den Lay-
sehen Ergebniszahlen ist also natürlich nicht zu entnehmen,
welche Erlernungsart in bestimmter Zeit zur mindest fehler-
haften Leistung führt. Dagegen wurde in einer und derselben
Reihe gleich oft vorgesprochen, ohne Sprechen der Schüler
da), mit leisem (Ib), mit lautem flc) Sprechen der Schüler,
gleich oft gelesen (IIa, IIb, 11c). u. s. f.: d. h. die Vorgabe
wurde bei jedem Teilversuche einer Reihe gleich oft wieder-
holt, ehe die Schüler schrieben. Ucbrigens, leider, auch das
nicht ausnahmslos, doch sind der Ausnahmen nicht viele. —
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392
Ernst A/aUv und Rudolf Arne sedtr.
Natürlich wurde auf diese Weise auf das Erlernen durch Ab-
schreiben z. B., eine viel grössere Zeit verwendet als auf das
Erlernen durch Hören oder Lesen. Dadurch verlieren die Er-
gebnisse an Vergleichbarkeit, und damit an Wert, besonders
soweit sie praktischen Zwecken dienstbar gemacht werden
sollen. Aber zur Erklärung der bemerkten starken Dis-
krepanzen im Ausfall einzelner Versuche kann die Verschieden-
heit der Erlernungszeiten, sofern diese nur bestimmte Funktion
des Erlernungsverfahrens, also in gleichen Teilversuchen
immer die gleichen sind, nicht herangezogen werden. Wohl
aber jene Verschiedenheit der Erlernungszeiten bei gleich-
artigen Teilversuchen, die sich aus dem Umstände ergab, dass
eben keine Kontrolle der Dauer des Erlernungsvorganges ge-
übt wurde.
Die andere Klasse objektiver Versuchsbedingungen ver-
dient besondere Beachtung. Als solche nannten wir den Kom-
plex jener Bedingungen der Leistung, die im Wortmateriale
liegen, das die Leistung „zu bewältigen" hat, und die man
in allen Versuchen von der Art der gegenwärtig besprochenen
als die Lernschwierigkeiten der Wörter auch immer
besonderer Erwägung gewürdigt hat. Um diese Schwierig-
keiten in allen innerhalb einer Versuchsreihe zu lernenden Wort-
gruppen möglichst gleich zu gestalten, hat Lay, unter Ver-
meidung des so ungleichartigen und den verschiedenen
Schülern verschieden gut verfügbaren Wortschatzes der
Muttersprache, nach gewissen Grundsätzen des Baues gleich-
artige sinnlose Silbenkomplexe gebildet: so dass die Schüler
wenigstens in jedem Teilversuch einer Reihe gleich schwer
zu erlernenden und zu behaltenden „Wörtern" hätten gegen-
überstehen mögen. Nun scheint uns gerade ein teilweises Miss-
lingen dieses Planes eine der Hauptursachen jener aufgezeigten
Diskrepanzen zu sein. Denn erstlich ist es wohl ausserordentlich
schwer zu erreichen, dass jede Gruppe sinnloser Silben-
anhäufungen an sich dem Erlernen und Behalten auch nur
ungefähr gleich grosse Schwierigkeiten biete; dann aber —
und das dünkt uns das Wichtigere zu sein findet nach
dem Erlernen einer Gruppe die nächste, ähnlich gebaute, schon
durchaus veränderte subjektive Bedingungen bei den
Schülern vor.
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Zur experimentellen Begründung des RechUchreib-Unterrichte*. 393
Dieser Umstand führt uns zugleich zur Würdigung der
variablen Teilbedingungen der zweiten der oben unterschiedenen
Hauptgattungen. Nun gibt es ja gewiss unter den subjektiven
Versuchsumständen neben dem Angedeuteten noch mancherlei,
und sogar sehr vieles, das in höherem Grade und in noch viel
weniger kontrollierbarer Weise wechselt, als die „objektiven**
oder äusseren Bedingungen. Allein eben diese Unkontrollier-
barkeit lässt eine nähere Betrachtung alles dieses zufällig
Variierenden einstweilen ziemlich unfruchtbar erscheinen. Und
so mag man sich mit Recht bescheiden, diese Variationen
durch sorgfältiges Gleichhalten der äusseren Einflüsse, die
auf die Versuchspersonen wirken, in möglichst engen Grenzen
zu halten und durch häufige Wiederholung des Versuches an
vielen Personen sie im Schlussergebnis nach Tunlichkeit zu
kompensieren. Anders ist es mit den — in einem teils wohl-
begründeten, teils vielleicht auch nur konventionellen Gegen-
satze zu diesen zufälligen — gesetzmässig genannten
Aenderungen, wovon schon eine berührt worden ist: Es sind
das die Ermüdung und U e b u n g der Versuchsperson durch
die Versuche selbst. Und zwar sind an Uebung zwei Arten
zu konstatieren: einmal übt sich der Schüler von Versuchs-
reihe zu Versuchsreihe, also durch die erste Vornahme des
Teilversuches Ia für den Teilversuch Ia in zweiter, dritter . .
Vornahme, und so allgemein durch X für X; er übt sich aber
auch durch jeden Teilversuch für den nächsten, durch Ia für
Ib . . ., in der Reihe. Wenn auch jeder folgende Teilversuch
eine etwas veränderte Leistung, oder, kann man sagen, eine
gleichartige Leistung unter veränderten Bedingungen der Vor-
gabe vom Schüler verlangt, so sind doch in allen Fällen
ziemlich dieselben psychischen Dispositionen in Anspruch ge-
nommen; und man übt sich bekanntlich nicht nur durch
Gleiches für Gleiches, sondern auch durch Aehnliches für
Aehnliches — ja streng genommen überhaupt nur letzteres,
bei verschiedenen Graden jener Aehnlichkeit. — Und wenn
nun, wie das bei den späteren Lay sehen Versuchen in zu-
nehmender Weise zu Tage tritt, für die Teilversuche einer
Reihe sehr ähnliche, häufig, mit Festhaltung eines Konsonanten-
Gerüstes, nur durch Aenderung, ja durch blosse Umstellung
der Vokale auseinander abgeleitete Wörter verwendet werden:
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394
Emst Mally und Rudolf Ameseder.
so kann begreiflicherweise der Einfluss der zunehmenden
Uebung recht bedeutend werden. — Daneben wirkt, von ihr
nicht zu sondern, die Ermüdung.
Um diese unvermeidlichen Einflüsse im Endresultat auf ein
unschädliches Ausmass zu reduzieren, hätte sich, nebst der
Umgehung allzu ähnlicher Wortbildungen, empfohlen, die Auf-
einanderfolge der Teilversuche innerhalb der Reihe zweck-
mässig zu variieren; so dass, wenn schon nicht jeder Ver-
such gleich oft in jeder zeitlichen Umgebung, doch jeder gleich
oft vor wie nach jedem seiner zwei Nachbarn wäre zu stehen
gekommen. — Dass der von Reihe zu Reihe zunehmen-
den Uebung Rechnung getragen wurde, lässt sich aus Lays
Angaben zum mindesten nicht entnehmen. Das Gegenteil ist
sogar wahrscheinlicher. Denn schwerlich war mit jeder"
Schülerklasse vor Berücksichtigung ihrer Fehlerdaten so
lange experimentiert worden, bis bei Wiederholung des Ver-
suches keine besonders merkliche Zunahme an Uebung mehr
eingetreten wäre; da zwischen den Vorversuchen, die einem
solchen Zwecke hätten dienen können, und der Beendigung
der Hauptversuche eine Zeit von sechs Jahren liegt, in welcher
das Schülermaterial wohl schon des öfteren gewechselt haben
mag — ohne dass wir von erneuerten Vorversuchen, als
Uebungsversuchen, etwas erfahren.
b) Die Verwertung der Versuchsergebnisse.
Versuchsziel ist ein Mass der Brauchbarkeit verschiedener
Methoden zur Erlernung der Orthographie. Die Methode ist
die beste, die in bestimmter Zeit die mindest fehlerhaften
Resultate liefert und zugleich das dauerhafteste Können be-
gründet. Sieht man einstweilen von der Forderung der
Dauerhaftigkeit der Reehtschreib-Dispositionen ab, so gilt
es also zunächst die Grösse der Fehlerhaftigkeit der Lern-
ergebnisse bei den verschiedenen Versuchsvariationen zu be-
stimmen. Auf die absoluten Grössen dieser Fehlerhaftigkeit
kommt es dabei nicht an. Es genügt, in Erfahrung zu
bringen, wievielmal grösser die Fehlerhaftigkeit der Re-
sultate jeder einzelnen Versuchsart ist, als die Fehlerhaftigkeit
einer bestimmten Versuchsart, etwa der mit Abschreiben —
denn diese hat die wenigsten Fehler ergeben, wenigstens in
den Versuchen mit Volksschülern — .
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Zur txptritnenUüen Fit Gründung des Rechtschreib-UnUrrühtes.
395
Wie man nun auch immer die Fehlerhaftigkeit einer
Priifungs-Niederschrift mag messen wollen, so viel ist sicher,
dass sie bei Gleichheit aller Umstände mit Ausnahme der
Erlernungsmethode, nur mehr als Funktion der Fehlerzahl
— und diese natürlich als Funktion der variablen Methode —
zu fassen sein wird. Den Einblick in das Rechnungsverfahren,
das zur Ermittlung dieser Fehlerzahlen aus den Daten des Ver-
suches dienen sollte, gewährt, fast ohne Kommentar, die Ta-
belle II, die wir als Reproduktion der Lay sehen Uebersichts-
tabelle1) — auf S. 94 der 2., S. 127 der 1. Aufl. — im folgen-
den bringen.
Tabelle II
A. Versuche mit Volksschtilcrn.
1
2
3
4
5
6
7
S
0
10
11
>cnujj&nr
r 1 t
r 1 1
1 1 L.
II.
IV.
I V
1 V
r 1 1
1 1 1.
111.
1 1 1
III.
rn
ocuuierzani
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o
p
12
5
.-
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-
-
)
1
7
7
Hüren, ohne Sprechen 1, !a)
5.93
6.37
6.96
6.70
2.50
3 40
6.10
Hören, leises Sprechen (b
5.46
1.09
3.87
2.50
2.00
3.i-7
Hören, lautes Sprechen (c)
6.02
1.00
3.10
1.70
2.30
5.10
Sehen, ohne Sprechen (lla^i
2.4' 1
I.Ol
l.SO
2.09
1.23
Sehen, leises Sprechen ,bi
1.90
2.09
1.82
Sehen, lautes Sprechen (c)
2.38
1.80
1 06
Buchstabieren (III)
2.01
1.24
1.82
2.38
3.87
Abschreiben (IV)
1.10
0 30 0.73
0.73
0.66
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Schuljahr
[IT
IV.
IV.
in.
in.
III.
III.
III.
III.
j Fehler im
Durch-
Schülerzahl
20
14
13
15
44
42
44
44
42
schnitt
Wiederholungen
7
7
7
7
7
5
5
5
3
ScK
ro
filer
Hören, ohne Sprechen (Ia)
6.98
5.681
3.26
4.74
2.22
3.50
2.65
2.62
•
4.54
Hören, leises Sprechen (b) '
4.90
4.81
3.26
4.74
2.43
4.43
3.30
3.15
8.88
Hören, lautes Sprechen (c)
5.05
4.20
2.46
2.81
2.45
2.98
2.10
3.32
8.2«
Sehen, ohne Sprechen (IIa)
2.02
1.44
0.69
2.24
1.65
2.18
1.33
1.84
0.97
1.82
Sehen, leises Sprechen (b)
2.00
1.81
0.81
2.34
1.09
1.60
1.70
1.84
1.16;
! 1.
K0
Sehen, lautes Sprechen (c)
2.35
1.76
1.20
1.53
0.93
2 46
0.97
1.46
1.03
1.
50
Buchstabieren (III)
2.60
1.93
0.73
1.02
1.13
2.20
0.85
1.41
1.5«
Abschreiben (IV) 0.91
0.61
0.17
0.87
0.75
0.46
0.47
1.41
0.70
») Diese Tabelle enthält freilich, abgesehen von den Rechenfehlern,
teilweise wohl auch Druckfehlern in den Ergebnisziffern, auch in den An-
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396 Ernst Maüy und Rudolf Ameseder.
B. Versuche mit Seminaristen.
Ours
I.
I.
I.
I
! I.
II.
•
II.
I.
! L
L
Fehler
im
Schülerzahl
39
39
39
39
39
38
39
39
39
27
Durch-
schnitt
Wiederhol ungen
2
2
2
2
2
3
2
3
2
3
pro
•Tl. II U IC
Hören, ohne Sprechen (Ja).
2.20
0.92
. ----
0 53
2.66
1.05
1.87
1.66
Hören, leises Sprechen (b) !
1.84
0.47
2.17
0.43
2.38
1.05
1.92
1.96
1.5«
Hören, lauteB Sprechen (c)
1.66 0.41
1.43
0.43
1.84
0.92
1.74
1.48
1.84
Sehen, ohne Sprechen (IIa)
0.76
0.44
0.56
0.56
0.35
1.14
e.63
Sehen, leises Sprechen (h)
0.76
0.4010.41
0.43
0.20
0.48
0.45
Sehen, lautes Sprechen (c)
0.43 0.18 0.17 0 47
0. 1210.59
0.32
Buchstabieren (III)
0.15
0.58
0.58
0.55
O.40
Abschreiben (IV)
0.43
0.28
0.33
0.55
O.S8
Die Ziffern der Tabelle bedeuten, wie schon bemerkt, die
Anzahlen von Fehlern, die nach jedem Teilversuch mit einer
Klasse, als Klassendurchschnitt auf den Schüler entfallen.
Z. B. 5.95 in Tab. II. A. links oben repräsentiert ein Sieben-
undvierzigstel der Fehlersumme, die beim Teilversuche Ia der
Reihe iA von den 47 Schülern des II. Jahrganges geliefert
wurde. Die in der gleichen Horizontalreihe stehenden Daten
der aufeinanderfolgenden Reihen geben nach Division ihrer
Summe durch ihre Anzahl den Mittelwert (in der Endkolumne)
4.54. Unter diesem findet man die Durchschnittsergebnisse
der weiteren Teilversuchsarten Ib, Ic, IIa, u. s. f. bis IV.
An diesem Rechnungsvorgang ist einigermassen befremd-
lich, dass zur Berechnung des mittlem Fehlerergebnisses einer
Versuchsart Durchschnittswerte aus je 47 Einzeldaten mit
Durchschnittswerten aus je 44, 42, 41, 37, 30, 27, 26, 24, 20,
15, 14, 13 Einzeldaten summiert werden. Das arithmetische
Mittel, das so aus arithmetischen Mitteln gewonnen wird, ist
selbstverständlich verschieden von dem Mittelwerte, den sämt-
liche Einzeldaten (aller Schüler) untereinander summiert und
durch ihre Anzahl dividiert, ergeben hätten. Durch das hier
beobachtete Verfahren aber werden dem Ergebnis eines Massen-
gaben des „Kopfes" — wie schon Fuchs bemerkt — eine nicht uner-
hebliche Menge Abweichungen von den entsprechenden Daten des Vcr-
suchsprotokolls der 1. Aufl. (S. 103 — 126), gross genug, den Leser schwan-
kend zu machen, ob er dem Versuchsprotokoll oder der Tabelle im ganzen
mehr Glauben schenken soll. Sie soll aber auch im gegenwärtigen Zu-
sammenhange nur zur Veranschaulichung der Ergebnisverwertung dienen.
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib- Unterrichtes. 397
Versuches mit 47 Personen die Ergebnisse von Versuchen mit
je 44, 20, 13 Personen hinsichtlich ihres Gewichtes gleich-
gestellt. Das ist fast so willkürlich, als ob jemand mit einer
Person ein Experiment erst 47 mal vornähme und aus den
Daten das Mittel zöge, und dann etwa nach weiteren 20 Ver-
suchen der gleichen Art aus den neu hinzugekommenen Daten
das Mittel zum ersten Mittel addierte und die Summe durch
zwei dividierte, um das durchschnittliche Reagieren der Person
auf den Versuch zu erfahren. Nicht ganz so willkürlich ist
es, weil hier immerhin die Einzeldaten eines Massenversuches,
eben als einem Massenversuch angehörig, aus ähnlicheren
Bedingungen hervorgegangen sind, als Einzeldaten verschie-
ner Massenversuche; auch wird die Fehlerhaftigkeit der so
gewonnenen Mittelwerte einigermassen herabgesetzt durch den
Umstand, dass das Gewicht des Ergebnisses eines Massen-
versuches durchaus nicht proportional mit der Anzahl der be-
teiligten Personen wächst, sondern langsamer, ja von einer
gewissen endlichen Personenanzahl an vielleicht sogar abnimmt
— weil es eben nicht wohl möglich ist, mit mehr Personen
ebenso exakt zu experimentieren wie mit einer kleinern Menge.
Angesichts dieser Tatsachen läge es natürlich sehr im Inter-
esse der Verlässlichkeit von Versuchsergebnissen, dass man
den gleichen Versuch mit nicht allzu verschiedenen Personen-
mengen vornähme, solange noch eine experimentelle Ermittelung
des Funktionszusammenhanges zwischen Gewicht eines Ver-
suchsergebnisses und Anzahl der in den Massenversuch zu-
gleich einbezogenen Personen nicht geleistet ist.
Ganz in der Weise, wie sie an den Versuchen mit Volks-
schülern eben dargelegt worden ist, sind auch* die Versuche
mit Seminaristen1) rechnerisch verwertet. Und nun wieder-
holt sich die Operation von früher: aus den Versuchs-
ergebnissen von A und den entsprechenden von B werden
neuerlich, für jede Versuchsvariation, die arithmetischen
Mittel gezogen. Wir haben sie, ihres begreiflicherweise
sehr geringen Erkenntniswertes wegen, nicht wieder gebracht
und werden auch im folgenden nur den Mittelwerten der einen
i) Tab. II. B.
Zeitschrift fflr pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene.
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398
Ernst Mally und Rudolf Ameseder.
oder der anderen Tabelle, zunächst der Tabelle A, unsere
Aufmerksamkeit zuwenden.
Will man die relative Fehlermenge für die Versuchs-
arten wissen, um daraus — im, Sinne der Bemerkungen zu Be-
ginn dieses Abschnittes — einen Schluss auf deren relative lehr-
methodische Brauchbarkeit zu ziehen, so bietet Lay dafür
* d
die Verhältniszahlen, die bei Division jedes der Endmittel-
werte durch den kleinsten Wert (den bei IV) hervorgehen.
Demnach ist das „Abschreiben" „dem Buchstabieren um das
zweifache, dem Lesen um das zwei- bis dreifache und dem Dik-
tieren um das sechsfache überlegen44.1) Das heisst : die mittleren
Fehlerzahlen — bei Volksschülern — die sich bei den Ver-
suchen mit Hören, Lesen, Buchstabieren ergaben, sind sechs-
mal, beziehungsweise zwei- bis dreimal und zweimal so gross
wie die mittlere Fehlerzahl bei den Versuchen mit Abschreiben.
Dem gegenüber bleibt zu überlegen, ob denn auch eigentlich
nach dem Zahlenverhältnis der mittleren Fehler-
menge bei einer Versuchsvariation V zur mittleren
Fehlermenge bei einer anderen Variation V des Verfahrens
(etwa „Abschreiben") die Frage ist, und nicht vielleicht eher
nach dem mittleren Zahlenverhältnis der (vari-
ablen) Fehlermenge bei V zur (variablen) Fehler-
menge bei V1.
Die Frage lässt sich in einer für den gegenwärtigen Zweck
zureichenden Weise recht einfach und ohne Heranziehung vielen
mathematischen Apparates beantworten. — Womit übrigens
ganz und gar nicht behauptet sein soll, dass sie einer allge-
meineren theoretischen Behandlung keine Angriffspunkte
und keine Aussicht auf lohnende Ergebnisse biete. —
Wir führen unsere Aufgabe auf einen einfacheren Fall
zurück und nehmen an: es seien zwei Versuchsvariationen a
und b hinsichtlich ihrer Fehlerergebnisse unter sonst ganz
gleichen Umstanden zu vergleichen. — Die Symbole a und b
können dabei etwa den Lay sehen Teilversuch mit Hören,
beziehungsweise Abschreiben bedeuten. — Nach einer hin-
reichend grossen Anzahl von Uebungsversuchen werde nun
a und darauf b mit ein und derselben hinreichend grossen
») a. a. O. 2. Aufl. S. 96. 1. Aufl. S. 128.
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib- Unterrichtes. 399
Menge von Versuchspersonen als Massenversuch vorgenommen.
Diese zwei aufeinanderfolgenden Teilversuche a und b bilden
die Reihe i. In einer anderen Versuchsstunde werde wieder
an denselben Personen a und dann b ausgeführt und diese
Reihe mit 2 bezeichnet. Die bei diesen zwei Reihen sich er-
gebenden Fehlenmengen liefern dann eine Tabelle von der
Art der folgenden (Tab. III).
Tabelle III. Tabelle III1.
Teil-
Reihe
arithm.
TeÜ-
Reihe
i arithm.
versuch
Li
2
] Mittel
versuch
1
2
Mittel
1
a
750
250
1 500
1
a
750
500
625
b
250
50
150
b
250
100
! 175
Die Daten sind hier natürlich willkürlich, nur beispiels-
weise, angesetzt, jedoch, wie man zugeben wird, in einer Art,
wie sie sich durchaus ergeben könnten, ohne mit unserer
Annahme von der Gleichartigkeit der Umstände, unter denen
a und b durchgeführt werden, in Widerspruch zu geraten.
Denn eine Abweichung von der genauen Proportionalität1) der
a- und b-Werte, so gross wie die hier angenommene, wird sich
wohl bei der sorgfältigsten Ausführung des Versuches auf
Grund von allerlei zufälligen Schwankungen, namentlich der
subjektiven Versuchsbedingungen, immer noch einstellen
können. Und Gleichheit der Ergebniszahlen von a in 1 und 2
und Gleichheit der Daten von b in 1 und 2 ist nicht ge-
fordert. Es genügt z. B. gleich „schwieriges" Material an
Wörtern in beiden Teilversuchen von 1 zu verwenden, und
wieder in beiden Teil versuchen von 2 gleich schwieriges. Aber
das in 2 verwendete dürfte ganz wohl weniger schwierig
sein als das in 1 verwendete; und das ergäbe für 2 kleinere
Fehlerzahlen.
Hätte der Versuch statt der Daten von Tabelle III die
von Tabelle III1 ergeben, nämlich in Reihe 2 andere
») Vgl. oben S. 388-300.
2-
Digitized by Google
400
Ernst Mally und Rudolf Ameseder.
Werte für a und b, jedoch ohne Aenderung ihres „Verhältnisses"
zueinander, so hätte er doch deshalb für die Frage, zu deren
Beantwortung er unternommen worden, nichts anderes zu
bedeuten: d. h. er wäre „im gleichen Sinne" ausgefallen wie
der durch Tabelle III repräsentierte Versuch. Und das gilt
allgemein: gleichsinniger Ausfall unseres Versuches liegt vor,
wenn die Verhältniszahl des Ergebnisses von a zum Ergeb-
nis von b (derselben Reihe) gleich ist.
Wendet man aber auf die Daten unserer Beispiels-Tabellen
das von Lay befolgte Verfahren an, zieht also in jeder Tabelle
das arithmetische Mittel aus den beiden a-Daten und das
arithmetische Mittel aus den b-Daten, so überzeugt man sich,
dass die aus Tabelle III resultierenden Mittelwerte die Ver-
hältniszahl y liefern und die der Tabelle III1 die Verhältnis-
25
zahl y . Also verschiedene Rechnungsresultate bei
gleichsinnigem Ausfall der Versuche. Hat sich so ge-
zeigt, dass die Verhältniszahl der arithmetischen
Mittel der Ergebnisse aus den zu vergleichenden Versuchs-
variationen kein geeignetes Mass der mittleren re-
lativen Fehlerhaftigkeit der bezüglichen Lernresultate
bietet; so hat es andererseits auch keine besondere Schwierig-
keit ein richtiges Mass dafür anzugeben: es ist das die
mittlereVerhältniszahl der Fehlersummen, die sich bei
den einzelnen Teilversuchen ergeben. Ob das „arith-
metische" oder „geometrische" Mittel, kann wohl kaum
mehr die Frage sein. Allerdings wäre beider Anwendung
dem Einwände nicht ausgesetzt, der eben wider das Lay sehe
Rechnungsverfahren erhoben worden ist; trotzdem aber wird
es, abermals ohne viel mathematische Theorie, leicht möglich
sein, das arithmetische Mittel der Verhältniszahlen — worin
a die Fehlerzahl beim Teilversuch a, b die Fehlerzahl beim
Teilversuch b bedeutet — auszuschliessen und die Repräsen-
tation der einzelnen Verhältniszahlen p wie sie sich aus den
verschiedenen Vornahmen des Versuches — den verschiedenen
Reihen — abweichend voneinander ergeben, durch ihr geo-
metrisches Mittel als berechtigt und brauchbar zu erweisen.
Digitized by Google
Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib-Unterrichtes.
401
Der erste Teil der Aufgabe, die Ausschliessung des arith-
metischen Mittels der Verhältniszahlen ~t ist schon geleistet,
wenn es nur gelingt einen Fall aufzuzeigen, wo seine An-
wendung zu widersprechenden Ergebnissen führte. Ein solcher
Fall liegt im folgenden vor, den wir als spezielles Beispiel
zunächst bringen wollen.
Angenommen der Teilversuch a hätte einmal a\ Fehler
ergeben und ein zweites mal fl, Fehler; der Teil versuch b in
denselben zwei Reihen die Fehlerzahlen b\ und bv Die Ver-
hältniszahlen seien ~ = ^p ^ = ~.
Das arithmetische Mittel dieser zwei Verhaltniszahlen — wir
bezeichnen es mit (?) — ist dann 13/^*.2'2 = X = (?) . Nun
\bJm 2.2.3 12 \o/m
kann man aber gewiss ebensogut wie nach dem mittlem
Verhältnis (fjm auch nach dem mittleren Verhältnis (~)m
fragen; und es ist klar, dass dieses Verhältnis aus den
Zahlen ^ und j^j auf eben dem Wege gewonnen werden
müsste wie (jjm aus den Zahlen ^ und Weiter ist
sicher, dass diese Zahl (*) > sofern sie die Daten (-) und
' \a/tn Vfli/
^ in adäquater Weise vertreten soll, der reziproke Wert von {^)m
sein müsste. Denn fragt man einmal: wie verhalten sich
durchschnittlich die «-Werte zu den b- Werten? und erhält zur
Antwort: so wie der Zähler von (?) zum Nenner; und fragt
\oitn
man dann: wie verhalten sich durchschnittlich die 6-Werte zu
den a -Werten?, so muss die Antwort darauf sein: wie der
Nenner der Zahl (J) zum Zähler — oder dieses ist,
auch im ersten Falle, nicht die richtige mittlere Verhältniszahl.
Nun ist natürlich das arithmetische Mittel aus j und |,
7 1
die Zahl ^, nicht der reciproke Wert des Mittels aus ^ un^
f, der Zahl
Im allgemeinen ist das arithmetische Mittel der n Ver-
Digitized by Google
402
Ernst Afaüy und Rudolf Anuseder.
hältniszahlen g.- ■ ■ dargestellt durch den Bruch a*b*b*' b"
+ a*bibi.~bn + -+a«bxb,-:bn-l verschieden von dem reziproken
n • 0\ 0) • • • ■ Oh
Werte des arithmetischen Mittels der reziproken Werte der n
Daten, also der Zahlen -» welches dargestellt ist durch
' ax a% an °
den Bruch blth<h "' a* + ••• + !>*** •••«■ Damit
/l • Q\tt% ' • • Ort
ist auch gezeigt, dass es im allgemeinen unrichtig wäre» für
die Daten ^ deren arithmetisches Mittel zu setzen.
Es ist nun wohl schon selbstverständlich, dass das geo-
metrische Mittel der Verhältniszahlen ^, von dem eben er-
hobenen Einwände nicht mitbetroffen, zu verwenden sein wird.
Also in obigem Beispiele die Zahl 2, deren reziproker Wert
2*3
J
i/ i 2 natürlich gleich ist dem geometrischen Mittel der Zahlen
Y 2'3
n f ~"
j und |, nämlich j^l 3 Und allgemein I / -L- T^G)/
12 1/ 0j • 02 un
daher das (geometrische) Mittel der Verhältniszahlen ^ gleich
Ist der Verhältniszahl des (geometrischen) Mittels der ß-Werte
und des (geometrischen) Mittels der 6-Werte, oder die
mittlere Verhältniszahl gleich der Verhältniszahl der
Durch diese Erwägungen mag man sich bestimmt sehen,
die einzelnen Ergebniszahlen je einer Versuchsvariation des
Lay sehen Versuches durch ihr geometrisches Mittel
zu ersetzen. Wir wollen indes keineswegs verhehlen, dass
durch das hier eingeschlagene Verfahren der Ausschliessung
bestimmter anderer Rechnungsmethoden in vollkommen zu-
Zugleich ist zu ersehen, dass
Digitized by Google
Zur experimentellen Begründung des Rechlichreib- Unterrichtes, 403
reichender Weise nur diese Ausschliessung geleistet und die
Brauchbarkeit des geometrischen Mittels allerdings e r -
wiesen, nicht aber auch zugleich dargethan ist, dass es
nicht irgend ein anderes Rechnungsverfahren von noch
grösserer Genauigkeit und Richtigkeit der Repräsentation der
Einzeldaten durch eine Zahl als sogenannten „Mittelwert"
geben könnte.
Zugleich sei bemerkt, dass nicht die oben dargelegten
Gedanken zu dieser Wahl des geometrischen Mittels geführt
haben ; dass sie vielmehr nachträglich zusammengestellt
wurden, um auf möglichst einfache Weise ohne gewisse, aller-
dings sehr fest begründete theoretische Voraussetzungen einen
Satz zu legitimieren, der aus diesen Voraussetzungen mit grösster
Leichtigkeit eingesehen werden kann. Im folgenden seien die
mehrgenannten Voraussetzungen angedeutet, nachdem es nun
unseres Erachtens gelungen ist, unsere Position auch unab-
hängig von ihnen genügend zu begründen.
Zur Berechnung der geometrischen Mittel dp, bfiy und bei
längeren Reihen cu, dM u. s. w., dann insbesondere der mitt-
leren Verhältniszahlen, J*, ~-, z. B., wird man sich natürlich
°fi °fl °ß
der Logarithmen bedienen, gemäss der Gleichung
1 / ai a%...an _ ] r (logai _j_ logflj ^ y logflfl) _ (logÄl + 1
= j_ T (log c, — log + (log a, — log £,)+•• 1
n [ -f- 0og a« — loß *«) ]
Diese Gleichung drückt aus: dass der Logarithmus des
geometrischen Mittels der Verhältniszahlen ^ das arithme-
tische Mittel der Logarithmen der einzelnen Verhältniszahlen
jj ist. Nun kann der Logarithmus einer Verhältniszahl jt also
die Differenz loga — log b mit Recht als ein Maas der
Verschiedenheit der Zahlen a und b angesehen werden
— was zu beweisen hier eben nicht unternommen
werden sollte1) — . Unsere Gleichung besagt also: dass
1) Wir begnügen uns hier auf die eingehenden Untersuchungen zu
verweisen, die diese Angelegenheit in M e i n o n g s Schrift über die Bedeu-
Digitized by Google
404
Ernst MaUy und Rudolf Amese der.
das Mass der mittleren Verschiedenheit der variablen
Daten a und b> der log (ji)^ oder log gleich ist dem arith-
metischen Mittel aus den Masszahlen der Verschiedenheiten
zwischen je zwei Einzeldaten fl/ und bt\ oder kürzer, aber etwas
weniger genau: die mittlere Verschiedenheit zwischen den
variablen Daten a und b ist das (arithmetische) Mittel der
einzelnen Verschiedenheiten zwischen den speziellen fl/ und fy.
Da es sich in unserem Falle gewiss um die Bestimrmmg
der mittleren Verschiedenheit — in diesem genauen
Sinne — zwischen den fl-Ergebnissen und ^-Ergebnissen u. s. w.
handelt, liegt es, auf Grund der angedeuteten Thatsache des
logarithmischen Verschiedcnheitsmasses ausserordentlich nahe,
eben das Rechnungsverfahren auf die Versuchsdaten anzu-
wenden, das dieser Thatsache Rechnung trägt : also die mittlere
Verschiedenheit der Teilversuchs-Daten (je zweier Versuchs-
Abarten) zu rechnen und jene Verhältniszahl, die — nach
Wahl der logarithmischen Basis eindeutig — dem Masse
dieser mittleren Verschiedenheit entspricht, als die mittlere
Verhältniszahl zu betrachten : diese ist eben das geometrische
Mittel der einzelnen Verhältniszahlen.1)
Indes giebt es zweierlei Gründe, die dieses sonst ja wohl
gelegentlich eingeschlagene Rechenverfahren gerade von der
Anwendung auf den Lay sehen Versuch auszusch Hessen
scheinen. Der eine ist durch die Thatsache gegeben, dass
die Reihen von Teilversuchen mit sehr ungleichen Mengen
von Versuchspersonen vorgenommen wurden, daher als E r -
gebniszahlen einer V ersuchsvariation nicht wohl die
Fehlersummen betrachtet werden können, die bei den ver-
schiedenen Vornahmen des betreffenden Teilversuches re-
sultierten, weil diesen Daten sehr verschiedenes „Gewicht"
zukommt.2)
tung des Webersehen Gesetzes, als einer ersten Bearbeitung dieses Gegen-
standes, erfahren hat. Siehe insbes. a. a. O. § 31.
*) Für das schematische Beispiel von früher, Tab. III und Tab. III1,
erhält man so das übereinstimmende Resultat: 3.873 als
mittlere Verhältniszahl, entsprechend dem durch (den Logarithmus) 0.58805
gegebenen Masse der mittlem Verschiedenheit zwischen a-Daten und b-Daten.
») Vgl. oben S. 306 f.
Digitized by Google
405
Dieses Bedenken trifft natürlich nicht das Wesentliche
des Versuches, sondern nur einen Mangel in der Ausführung
und muss zugleich mit diesem Mangel entfallen. Ueberdies
dürfte der Fehler, der so in die Rechnungsergebnisse kommt,
nicht allzu gross sein; ja er wäre ganz zu vernachlässigen,
wenn auch die kleinste der beigezogenen Personenmengen schon
gross genug wäre, zufällige Schwankungen in den Fehlerdaten
genügend einzuschränken. Dies ist nun allerdings hier kaum
der Fall. Allein schwerer wiegt noch der Umstand, dass auch
innerhalb der Reihen die Personenzahl nicht durchaus fest-
gehalten oder doch annähernd gleich gehalten ist. Darum
sind auch in der unten folgenden Umrechnung der Lay sehen
Ergebnisse nur die „vollständigen Reihen" berücksichtigt, d. h.
jene Reihen, deren Teilversuche sämtlich unter möglicher
Konstanz der äusseren Versuchsbedingungen — einschliesslich
der Personenmenge — vorgenommen zu sein scheinen.
Die zweite Einwendung ist mehr prinzipieller Natur. Sie
richtet sich gegen eine scheinbare Inkonsequenz der Rechnungs-
weise, die darin liegt, dass die Summe der Fehler, die je ein
Massen-Teilversuch ergab, als Einzeldatum verwendet wird, in-
dem man aus den Verhältniszahlen z. B. der fl-Summen und
Summen, den Zahlen * * das geometrische Mittel
zieht Bei gleichbleibender Personenmenge rrti innerhalb der
Reihe / fallen natürlich die Verhältnisse der Summen, also
die Zahlen rr zusammen mit den Verhältnissen der arith-
metischen Mittel der Fehlerdaten, die von den (m{) einzelnen
Personen geliefert werden, also mit den Zahlen .: Es
ist daher so, als würden aus den arithmetischen Mitteln der
Fehlerzahlen, wie sie bei jedem Teilversuch auf die Person
entfallen, erst die geometrischen Mittel gezogen. Dem gegen-
über genügt wohl die Bemerkung, dass bei Rechnung der
mittleren Verhältniszahl jeder Einfluss der Personen-
menge (/w,) auf das Resultat ausgeschaltet ist — mit Aus-
nahme des Einflusses, den wir oben in der Verschiedenheit
des „Gewichtes" der Daten konstatierten, der aber bei genügend
grossem m auch entfällt — . Dagegen mag wohl einige In-
konsequenz schon darin liegen, dass statt der von der einzelnen
Digitized by Google
406
Ernst Maüy und Rudolf Arne u der.
Person gelieferten Fehlerzahl die aus dem Massenversuch
resultierende Fehlersumme als einzelnes a-Datum (&-Datum . . .)
.verwendet wird. In der Tat aber dürfte der Umstand, dass
man sich zu dieser Inkonsequenz bei Anwendung des geome-
trischen Mittel geführt sieht, weniger ein Argument gegen dieses
Rechnungsverfahren, als eines gegen die Anordnung des Ver-
suches bilden. Aus den Fehlerdaten der einzelnen Personen
kann das geometrische Mittel nicht wohl gezogen werden, weil
unter diesen Daten auch die Null vorkommt, wodurch die
mittlere Verhältniszahl null oder unendlich oder unbestimmt
würde. Es ist nun aber nicht notwendig und sogar sehr un-
wahrscheinlich, dass der Fehlerlosigkeit der Niederschrift auch
die vollkommene Erreichung des Lernzieles entspreche. Als
solche wäre doch wohl die Begründung eines ganz sichern
und bleibenden Könnens der betreffenden Schreibung zu
betrachten. Im allgemeinen können nun sehr verschiedene
Grade dieses Könnens zu einer und derselben bestimmten
Fehlerzahl in der Niederschrift geführt haben. Solche
Fehlerzahlen bieten also nur einen sehr ungenauen und im
Falle des Nullfehlers sogar gänzlich versagenden Massstab der
Un Vollkommenheit der betreffenden Rechtschreibdisposition.
Als Konsequenz ergiebt sich daraus eine Aenderung
des Versuchsverfahrens, der Art, dass etwa die Zeiten ver-
glichen würden, die bei verschiedenen Erlernungsarten
zum Zustandekommen gleicher Arbeitsleistungen erfordert
werden. Als annähernd gleiche Leistung könnte dann
schon z. B. das Erreichen einer eben fehlerlosen Repro-
duktion in der Niederschrift gelten. Sicher sind in den
Erlernungszeiten Vergleichs - Gegenstände geboten, deren
keiner jemals null werden kann. Solange indes derartige
Messungen ausstehen, mag man immerhin eine rechnerische
Verwertung der gegenwärtig verfügbaren Daten für gerecht-
fertigt halten, wenn es dabei auch nicht ohne einige Anr
passung des Rechnungsvorganges an Unvollkommenheiten der
Daten abgeht. Eine solche „Anpassung" ist eben die Verwen-
dung der Fehlersummen der Massen-(Teil-) Versuche als Einzel-
daten; sie ist durch die oben genannte Ungenauigkeit des
Leistungsmasstabes, den die Fehleranzahl bietet, bedingt. Das
Fehlerhaftigkeits-Mass, das in der Fehleranzahl gegeben ist,
Digitized by Google
Zur experimentellen Begründung dei Rechtschreib-UnterrichUs. 407
erfährt eine Korrektur, indem statt des Fehlerergebnisses der
einzelnen Person das Fehlerergebnis einer ganzen Menge von
Personen verwendet wird, also eine Fehlersumme, die gross ge-
nug ist, dass man ihr gegenüber Unrichtigkeiten der Fehler-
daten der einzelnen „vernachlässigen" kann.
In dem hier angedeuteten Sinne haben wir eine Umrech-
nung der Lay sehen Resultate unternommen. Nicht um betreffs
des Untersuchungsobjektes irgend etwas zu erweisen; sondern
nur um zu ermitteln, was sich etwa aus den gegenwärtigen
Daten — gleichviel auf welchem Versuchswege sie in anfecht-
barer oder einwandfreier Weise gewonnen sind — bei einem
verlasslichen Rechnungsverfahren mit eiuiger Sicherheit über-
haupt schliessen lassen möchte.
Zu diesem Zwecke wurde auch die „mittlere Variation" der
Ergebniszahlen bestimmt, und zwar folgendennassen. *)
Es seien qx, q„ — q„ die Logarithmen der Verhältniszahlen
% ' "'S aus ^en ^e^en 1> 2, • • • fl; p/u sei der Logarithmus der
mittlem Verhältniszahl also das arithmetische Mittel der
Zahlen q. Dann misst qx— q/i die Verschiedenheit zwischen
a~ und ^> allgemein Qi — Q/i die Verschiedenheit zwischen j
und t-- Die Summe der absoluten Beträge dieser Logarithmen-
n
Differenzen 2\Qt-QM\ ist das Mass der gesamten Abweichung
der einzelnen & vom mittlem zugleich das Mass der ge-
samten Verschiedenheit der ^ von Dementsprechend ist
das arithmetische Mittel der absoluten Beträge dieser Differenzen
«=«= — • 2\qi— Qfi\% das Mass der mittlem Verschiedenheit des
einzelnen ^ vom mittlem Diese Zahl u gibt also an, wie
') In der folgenden Darstellung wird allerdings von der hier nicht
bewiesenen Thatsache des logarithmischen Verschiedcnheitsmasses Gebrauch
gemacht; aber nur zum Zwecke der Darstellung, deren Ergebnis auch ohne
Rücksicht auf diese Thatsache klar wird.
Digitized by Google
408
Ernst Mally und Rudolf Anuseder.
gross durchschnittlich die Verschiedenheit zwischen dem
a,
Repräsentanten der Zahlen ^, und diesen selbst ist Nun ist
a u
die Verschiedenheit zwischen einer Angabe — — und dem,
was durch sie vertreten sein soll — hier das variable ^ — das-
jenige, was exakterweise unter der „Ungenauigkeit" dieser An-
gabe gedacht wird, daher die Zahl u ein Mass der mittlem
a,
Ungenauigkeit der Vertretung der Zahlen y durch die Zahl
jj-. Dieser Zahl als einer Logarithmen-Differenz, entspricht
eine Verhältniszahl, der „Numerus" von etwa U} die angiebt
dass sich die einzelnen durch den Versuch gefundenen Ver-
hältniszahlen -v- zur mittlem,-^, die als Endresultat erscheint,
durchschnittlich so verhalten wie (/ zu 1 oder wie 1 zu £/.')
Die Tabellen, denen wir zum Zwecke der eben be-
schriebenen Umrechnung die Werte entnahmen, sind aus den
von Fuch s2) nachgerechneten Lay sehen gewonnen, und zwar
mit Weglassung der unvollständigen Reihen.3) So enthält
Tabelle IVA die Daten des XVI. bis (einschliesslich) XXIII.
(vollständigen) Versuches mit Volksschülern, nach der mit
Lays Versuchs- Protokoll4) übereinstimmenden Zählung von
Fuchs; die Tabelle IV B die Daten der (vollständigen) Ver-
suche 27, 30 und 32 mit Seminaristen.6)
1) Dieser letzte Satz enthält das Ergebnis der hier vollzogenen Ab-
leitung der sonst vielfach angewendeten „mittlem Variation", das auch ohne
die „relationstheoretischen" Besonderheiten dieser Ableitung gewiss ein-
wandfrei gewonnen ist • - ohne dass wir deshalb die Fassung des ..Unge-
nauigkcits"-Gedankens und die Bezugnahme auf Verschiedenheit für über-
flüssig hielten.
2) S. 49 f. seiner Abhandlung.
») Dies aus bekannten Gründen. Vgl. oben S. 386 f.
*) a. a. O. 1. Aufl. S. 103 ff.
5) Die Tabellen sind diesmal, teils der besseren Uebersicht halber, teils
auch aus technischen Gründen, den früher (S. 395 f.) reproduzierten Lay-
schen gegenüber derart umgeordnet, dass die Horizontalreihen („Zeilen"!
von früher zu Vertikalreihen (..Kolumnen") geworden sind.
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib-Unterrichtes.
409
Unter der letzten Zeile von Versuchs-Daten sind in der
nächsten Zeile die arithmetischen Mittel der darüber stehenden
Kolumnen «enthalten, als jene mittleren Ergebnisse der einzelnen
Teilversuchsarten, die sich nach Layschem Verfahren aus
den hier berücksichtigten Versuchen ergeben hätten. Zur
Vergleichung sind darunter die auf gleichem Wege aus sämt-
lichen Versuchen — mit Einschluss der unvollständigen —
zu gewinnenden Daten1) ersichtlich gemacht, und darunter die
von Lay auf diesem Wege errechneten, meist — wie schon
bemerkt — etwas fehlerhaften Werte. Die nächste Zeile ent-
hält die von uns berechneten geometrischen Mittel —
aus den Versuchsdaten der bezüglichen Kolumnen natürlich. —
Die folgende Zeile bringt die mittleren Verhältniszahlen, die
man bei Division eines jeden Teilversuchs-Ergebnisses durch
das Ergebnis des Teilversuches IV (Abschreiben) der gleichen
Reihe erhalt, entsprechend den Zahlen y-, y-, .... unseres
schematischen Beispieles, — wobei für das mittlere Er-
gebnis des Teilversuches IV (Abschreiben) gesetzt ist, für
Cfi . . . . die mittleren Ergebnisse der übrigen Versuchsvaria-
tionen Ia, Ib, Ic, IIa ... . bis III — . Damit sind also die
mittleren relativen Fehlerergebnisse der einzelnen Versuchs-
variationen angegeben, bezogen auf das mittlere Ergebnis der
Versuchsart mit Abschreiben, IV, als Einheit der Fehlermenge.
Das sind die Werte, deren Gewinnung den Versuchszweck
bildete: man wollte wissen, wievielmal grösser die Fehlerzahl
jeder der übrigen Versuchsvariationen ist als die, nach Lay's
Behauptung kleinste des Teilversuches mit Abschreiben.
Endlich haben wir in der vorletzten Zeile die Zahlen U
ersichtlich gemacht, die angeben, in welchem Verhältnisse
durchschnittlich die darüber stehende mittlere Verhältniszahl
zu den Einzeldaten steht, woraus sie gezogen ist — also die
„mittlere Variation" im Sinne des geometrischen Mittels — .
Auf Grund des jeweiligen Wertes von U, der einer grösseren
oder kleineren Ungenauigkeit (u) der Repräsentation der
Einzeldaten durch ihr Mittel entspricht, mag man ersehen,
dass die „abgerundeten" Angaben der letzten Zeile jedenfalls
1 ) wie sie die Tabelle von F u c h s a. a. O. S. 49. bezw. 50 bringt.
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410 Erna Mally und Rudolf Amtsc der.
Tabelle IV A
vollst. Versuch
(Reihe)
Teil versuch
1 Ia
Ib
Ic
IIa
! _ ._
Hb
nc
in
IV
XVI.
xvn.
XVIII.
XTX.
XX.
XXI.
xxn.
xxm.
j 6.98
: D.o 1
3.25
4.75
2.24
3.50
2.66
; 2.67
4.91
A
3.28
4.74
2.44
4.44
3.30
3.15
5.13
A Ol
2.47
2.81
2.49
2.98 j
2.21
3.35 '
; 2.02
1 AA
j 0.69
1 2.24
1.68
j 2.19
1.34
; 2.01
2.00
1 77
1 . / 1
0.82
2.35
1.09
1.60
1.70
1.84
2.36
1 AI
I.Ol
1.20
1.53
0.95
2.46
0.97
1.47 '
2.73
1 .DU
0.73
1.03
1.14
| 2.51
1 1.24
1.42
0.92
0.17
0.87
0.74
1 0.46
1 0.49
0.52
arith. Mittel
(aus d. vollst. Vers.)
4.49
3.85
3.21
1.70
1.64
1.58
1.55
0.59
arith. Mittel
(aus allen
' Vers.)
nach
Puchs
4.55
3.96
3.44
1.84
1.65
1.62
1.61
0.64
nach
4.54
3.83 j 3.26
1.82
1.60
1.59
1.59
' 0.70
geom. Mittel
3.70
3.75
3.09
1.61
1.57
1.50
1.42
053
mittlere
Verhältniszahlen
6.96
7.05
5.81
3.02 | 2.97
2.83
2.67
1
i
U ! 1.50
1.45
1.43
1.36
132
1.54
1.42
mittlere Verh.- \<
Zahlen, abgerundet |l ?
7
6
3
i »
3
3
l
Tabelle IV B.
vollständ- Versuch Tel
(Reihe)
Ia
Ib
Ic |
na
Hb nc
.
in
IV
27
30
32
2.67
1.87
1.67
238
1.97
1.96
1.85
1.74
1.48
. 0.77
i 0.56
1.15
0.77
0.43
0.48
0.43
0.46
0.59
0.15 |
0.59
0.55
0.43
0.33
0.55
arith. Mittel
(aus d. vollst. Vers.)
2.07
2.10
1.69
0.83
0.56
■ - - ■
0.49
0.43
0.44
arith. Mittel
(ans allen
Vers.)
nach
Fuchs
1.56
1.57
1.24
0.64
0.46
033
0.47 !
i
038
nach
Lay . :
! 1.55
1.56
1.24
0.63
0.45
032
0.46 |
038
Geom. Mittel 2.03
2.09
1.68 [ 0.79
0.54
0.49 ! 0.37 !
Ö.43
mittlere
Verhältniszahlen
4.75
4.90
3.94
1.85
1.27
1.14
i
1 0.85
1
U
135
1.24
1.29
1.08
1.28
1.14
1.47
. . ...
Mittlere Verhältnis-
zahlen, abgerundet
5
5
4
1.9
1
1 1
1
1
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Zur experimentellen Begründung des Rechlschreib-Unterrichtes. 411
nicht weniger bieten, als sich aus den „genauen!" Werten ihrer
Verlässlichkeit zufolge mit einiger Sicherheit schliessen lässt
— besser gesagt, was sich daraus schliessen Hesse, wenn man
für den Augenblick Anordnung und Ausführung der in Be-
tracht gezogenen Versuche selbst als völlig einwandfrei an-
nähme.
Einen weiteren Gegenstand dieses Kapitels hat auch die
Art und Weise zu bilden, wie die Fehlergezählt werden, die
eine Versuchsperson in einer Prüfungs-Niederschrift begangen
hat. Unser Autor bringt jede Abweichung der Niederschrift vom
Originale, die etwa bei einem „Dictando"-Schreiben in der Schule
als Fehler gelten würde, auch als solchen in Anschlag. Die
Unterscheidung von „Hauptfehlern" und „kleinen" Fehlern*
oder wie sonst das grössere oder geringere Gewicht einer Ab-
weichung bezeichnet werden mag, ist nicht beibehalten; sondern
es zählt im allgemeinen jede Abweichung als ein Fehler. —
Allerdings mit einer Ausnahme, die gleich zu besprechen sein
wird. — Ob durch diese Gleichbehandlung verschieden grosser
Fehler eine bedeutendere Ungenauigkeit in die Resultate
gekommen ist, als die, namentlich bei sinnlosem Wortmaterial,
nur in sehr unexakter Weise durchführbare Schätzung
der verschiedenen Fehlergrössen mit sich gebracht hätte, ist
sehr fraglich und wohl von vornherein wenig wahrscheinlich.
Schwereren Einwänden ausgesetzt dürfte daher ein Ver-
such des Autors sein, in einem Falle — eben dem angedeuteten!
Ausnahmefalle — doch das Gewicht des Fehlers durch
Schätzung zu bestimmen. Es kommen nämlich in den Nieder-
schriften der Schüler nicht nur Abweichungen vom Originale
durch Entstellen oder Umstellen und Auslassen einzelner Buch-
staben vor, sondern auch Auslassungen ganzer Silben, oder
des grösseren Teils einer Silbe, oder endlich ganzer
Wörter. Eine derartige Auslassung ist natürlich auch ein
Fehler, aber je nach der Menge des Weggelassenen im
Verhältnis zum Original ein schwererer oder minder schwerer
Fehler. Dem Experimentator kommt es nun mit Recht nicht so
sehr auf das Gewicht der Auslassung selbst — ab einer eigenen
Spezies von Fehlern — an, als vielmehr auf die Anzahl der
orthographischen Fehler in der Niederschrift, zu denen
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412
Ernst Afatly und Rudolf Amcseder.
das Vergessen einer Silbe oder eines Wortes sicher nicht
gehört. Allein, wenn der Schüler von einer Reihe von Wörtern
einen Teil vergessen hatte, so blieb ihm, in den übrigen
Wörtern, gewiss weniger Gelegenheit, noch orthographische
Fehler zu begehen; um so weniger, je mehr, er vergass. Die
Fehlerzahl im reproduzierten Rest giebt also ein um so weniger
genaues Mass der Fehlerchancen, die ein bestimmtes Wort-
material unter bestimmten Versuchsbedingungen bietet, je mehr
Auslassungen, also nicht-„orthographische" Fehler, begangen
wurden. Indem also der Autor, berechtigterweise, annimmt,
dass im nicht niedergeschriebenen Teile der Wortreihe, im
Falle der Reproduktion, höchst wahrscheinlich auch Fehler
vorgekommen wären, sucht er deren wahrscheinliche Anzahl
zu ermitteln; und zwar aufgrund einer Hilfshypothese, der
zufolge die relative Häufigkeit der Fehler auch im nicht re-
produzierten Teile gleich wäre ihrer relativen Häufigkeit im
reproduzierten Teile des Materials — sehr einfach, durch Auf-
lösung einer Proportion.
Nun ist die Annahme einer solchen durchgehenden
Proportionalität von Buchstabenzahl — oder Silbenzahl —
und Fehlerzahl eine mehr einfache als unbedenkliche Sache.
Es liegt zum mindesten nahe zu vermuten, dass zwischen fehler-
haftem Niederschreiben aus dem Gedächtnis und totalem Ver-
gessen eines Wortes oder einer Silbe noch eine Anzahl von
Zwischenstufen immer schlechter und ungenauer vollzogener
Reproduktion liegen, die dem Schüler eben zu ungenau war,
als dass er eine Niederschrift noch für besser gehalten hätte
denn das einfache Weglassen des so mangelhaft Erinnerten.
Jede dieser Zwischenstufen von Erinnerungsbildern aber hätte
wohl erheblich mehr, auch an „orthographischen" Fehlern,
aufgewiesen als ein noch niedergeschriebener Komplex von
gleichviel Buchstaben durchschnittlich enthielt. Für rich-
tiger und mindestens für weniger willkürlich wird man
es halten, wenn wir für solche Fälle, wo Auslassungen
vorkommen, aber in ihrer Eigenschaft als besondere Gattung
von Fehlern nicht in Betracht zu ziehen sind, vorschlagen,
nur die tatsächlich begangenen Fehler von der zu berück-
sichtigenden Art zu zählen und das Verhältnis ihrer Anzahl
zur Anzahl der überhaupt reproduzierten Elemente als ein Mass
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib-Unterrichtes.
413
der Fehlerhaftigkeit der Reproduktion zu verwenden. — Das
radikalste Mittel ist freilich, durch ein entsprechendes Versuchs-
verfahren dafür zu sorgen, dass Auslassungen gar nicht vor-
kommen. — Diktieren der Prüfungsniederschrift. —
c. Die Folgerungen.
Wenn bisher mitunter auch von psychologischen Dingen
die Rede war, so geschah es doch nur von einem Gesichts-
punkte aus, den man nicht unpassend als den versuchs-
technischen bezeichnen könnte. Nun verlassen wir diesen
Standpunkt, um uns der psychologischen Hauptfrage
des Experimentes zuzuwenden. Sie lässt sich einfach genug
formulieren : Was ist Untersuch un gsgegenstand;
und wie weit ist er durch das Experiment er-
forscht worden?
Der erste Teil der Frage ist schon mehr als einmal
in der etwas summarischen Weise beantwortet worden,
dass man meinte: es ist zu untersuchen, welches die
beste Methode des Rechtschreibunterrichtes sei. — Was es
an dieser Aufgabestellung denn doch noch, vor Eintritt
in die experimentelle Ausführung, mehr und genauer zu prä-
zisieren geben mag, ausser der Bestimmung der „besten
Methode" als der am wenigsten fehlerhafte und am meisten
dauerhafte1) Ergebnisse liefernden — das hoffen wir im künf-
tigen positiven Teil unserer Arbeit einigermassen zu erbringen.2)
>) Wir haben den Teil der Lay sehen Experimente, der sich speziell
die Untersuchung der Lernergebnisse auf ihre Dauerhaftigkeit an-
gelegen sein lässt, unbesprochen gelassen und werden in gleicher Weise
bei den zwei nächsten Autoren verfahren, die auch in dieser Richtung
experimentiert haben. Als Entschuldigung glauben wir anführen zu können:
einmal die mehr sekundäre Bedeutung solcher Experimente, die, in der Art der
Hauptversuche angelegt, nicht sehr wahrscheinlich — wenn auch durchaus
nicht unmöglich — zu wesentlich abweichenden Ergebnissen führen dürften;
und dann die dementsprechend auch etwas sekundäre Stellung, die sie in der
Anlage der betreffenden Arbeiten einehmen — mit Recht, so lange wir noch so
im Anfange der Untersuchung stehen, dass es als ein recht befriedigendes
Resultat gelten muss, wenn durch das Experimentieren nur ein brauch-
bares Verfahren ermittelt wird und sonst einstweilen nichts.
a) Soviel ist wohl im voraus klar, dass unsere Aufgabe eine klare psycho-
logische, namentlich dispositions-psychologische Fassung erfordert und schon
Zeltschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 3
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414
Ernst Mally und Rudolf Anuseder.
Hier sei der zweite Teil unserer Frage in Angriff ge-
nommen: Wieviel ist zur Lösung der so summarisch ge-
stellten Aufgabe durch das Experiment beigetragen worden?
Die Absicht des Experimentators war: durch die Ver-
schiedenheiten, die sich zwischen den Fehlerergebnisscn der
Versuchsvariationen durchschnittlich ergeben, einen Einblick
in die Verschiedenheiten ihrer unterrichtsmethodischen Ver-
wendbarkeit zu gewinnen. — Die Daten hat er aufgestellt —
wie weit sie richtig oder unrichtig sein mögen, haben die
zwei vorangehenden Abschnitte zu zeigen versucht —
Schlüsse hat er daraus eigentlich nicht gezogen: er fand
alles durchaus und „ohne Ausnahme"1) bestätigt, was er
an theoretischen Vormeinungen und an praktischen Erwar-
tungen zur Untersuchung schon mitgebracht hatte.2) Trotz-
dem wird man es nicht für überflüssig halten dürfen,
sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, was denn Ver-
schiedenheiten der Fehlerergebnisse bei den verschiedenen Ver-
suchsvariationen für diese bedeuten, ja überhaupt bedeuten
können. — Dabei ist es gegenwärtig ohne Interesse, ob
solche Verschiedenheiten durch den Versuch auch immer
durch diese allein einer genügenden Lösung wesentlich näher gebracht würde
— jedenfalls mehr als durch physiologische Erwägungen über „Gehör-, Ge-
sichts-, Bewegungs- und Begriffs-Centren". Ausserdem scheint, was sich be-
sonders im Abschnitte b der gegenwärtigen Untersuchung merkbar gemacht
haben mag, die Natur des zu behandelnden Gegenstandes geradezu auf eine
Untersuchungsmethode hinzudrängen, die ihn als einen Fall psychischer
Arbeit, nicht nur gleichnisweise, sondern mit aller Exaktheit mathematisch-
physikalischer Betrachtungsweise, auffasstc und experimentell erforschte.
Etwa im Sinne der äusserst fruchtbaren Gedanken, die H ö f 1 e r in seiner
Abhandlung über „Psychische Arbeit" (Zeitschr. f. Psychol., Bd. VIII, 18951
teils entwickelt, teils anregt. Allerdings ist — trotz der nun bald zehn
Jahre, die seit Veröffentlichung dieser Arbeit verflossen sind — die Psychologie
heute wohl kaum schon imstande, die genannte Forschungsmethode mit voll-
kommen befriedigendem Erfolge an einer Aufgabe zu erproben, die sie sich
nicht selbst mit allen erwünschten Vereinfachungen gestellt, sondern die sie
mit aller Kompliziertheit von der Praxis des Lebens vorgegeben erhalten
hat. —
1) a. a. O. 1. Aufl. S. 102, 2. Aufl. S. 91.
J) Wir haben es im Abschnitte a. am Anfange, der Hauptsache nach
angeführt.
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y.ur e.xpertrnentelUn Begründung tics Rech (schreib- Unterrichtes.
415
mit genügender Wahrscheinlichkeit richtig konstatiert worden
sind. —
Die Versuche mit Hören (I) und Sehen (II) werden in
drei Variationen vorgenommen : ohne Sprechen (a), mit leisem
Sprechen (b), mit lautem Sprechen (c). Bei b soll zum Hören,
beziehungsweise Sehen (d. h. Lesen) die Sprechbewe-
gungsvorstellung hinzukommen ; eine Verschiedenheit im
Ergebnisse gegenüber dem bezüglichen Versuche ohne
Sprechen soll zeigen, welchen Einfluss eben diese hinzu-
kommende Sprechbewegungs - Vorstellung auf das Fehler-Er-
gebnis hat. Es ist freilich leicht einzusehen, dass in den Ver-
suchen a zwar mit ziemlicher Sicherheit die äussere Sprech-
bewegung, nicht aber auch die Sprechbewegungs- Vorstellung}
ausgeschlossen ist. Solche Ausschliessung ist eben nicht zu
leisten und dürfte vom Experimentator wohl auch nicht eigent-
lich angestrebt sein. Immerhin ist durch die Versuchsvariation
b die genannte Vorstellung zu grösserm Gewicht und Ein-
fluss gebracht, als sie in a hatte. Nur leider wirkt dieset
ihr Einfluss so wenig rein und allein, dass man vielmehr sagen
muss, er spiele neben anderen wahrscheinlich nur eine minder
bedeutende Rolle. Denn in den Versuchen a ist die Zurück-
drängung der Sprechbewegungs - Vorstellung dadurch zu er-
reichen gesucht worden, dass den Schülern aufgetragen war,
den Mund fest geschlossen zu halten. Viele Personen, und be-
sonders jugendliche, haben die Gewohnheit, etwas neu Ge-
hörtes oder zu Lesendes, namentlich wenn sie grosse Auf-
merksamkeit darauf wenden, lautlos oder mehr oder minder laut
mitzusprechen. Diesen Personeh war (in a) eün Zwang auf-
erlegt, etwas Gewohntes zu unterlassen. Ein gut Teil
Spannung der Aufmerksamkeit musste wohl der Arbeit des
willkürlichen Mundverschlusses und seiner Kontrolle zuge-
wendet und dafür der Hauptaufgabe, dem Merken auf die
Wörter, entzogen werden. Für diese Gruppe der „Motoriker",
wie man sie zu nennen liebt, bedeutete also die Versuchs-
variation a eine unnatürliche erschwerende Bedingung des
Lernens; dafür gewährte ihnen der Uebergang zu b (und
vielleicht auch c) eine Erleichterung der Aufgabe, wenn man
wieder von dem anfangs Ungewohnten absieht, dass sie
etwas auf Befehl und mit Willen tun mussten — nämlich
3*
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416
Ernst Mally und Rudolf Amt u der.
mitsprechen — was sich ihnen sonst ganz „von selbst" ein-
zustellen pflegte. Nun aber giebt es — und gewiss auch
schon unter den Schülern — Personen, die ein derartiges Mit-
sprechen nicht gewohnt sind. Bei ihnen war die Sachlage
umgekehrt: erst mussten sie mit Willen eine Vorkehrung
gegen das Sprechen mitmachen, die bei ihnen überflüssig war;
dann mussten sie auf Befehl ein Nichtgewohntes tun: mit-
sprechen. Das gab wieder in beiden Fällen eine Ablenkung.
Doch ist Hier zu vermuten, dass Gewöhnung an die Versuchs-
Umstände a eher und leichter erfolgte, weil nach den ersten
Versuchen schon die suggestive aufmerksamkeitssteigernde
Wirkung1) des Auftrages, den Mund geschlossen zu halten,
durch die Erfahrung ausgeschaltet werden mochte, dass es
ohne Willensanstrengung „auch gehe".
Der resultierende Erfolg aller dieser Faktoren dürfte sein :
bessere Ergebnisse von a bei Nicht-„Motorikern", bessere Er-
gebnisse von b bei „Motorikern". Natürlich ist in keiner Weise
von vornherein abzusehen, inwieweit diese Gruppenergebnisse
sich im Massenresultat kompensiert haben mögen. — Tat-
sächlich weisen die bezüglichen Daten durchaus keine ent-
schiedene Verschiedenheit auf. — Jedenfalls erscheint es
einigermassen gewagt, das, was der Ausdruck so vieler
psychischer Vorgänge ist, ohne weiteres dem einen Ein-
fluss der Sprechbewegungs-Vorstellung zuzuschreiben.2)
Diese Erwägungen Hessen sich natürlich noch sehr ver-
feinern und vor allem vervollständigen, indem berück-
sichtigt würde, was die objektiven Versuchsbedingungen a und
1) bei Hören und Lesen für Personen des vorwiegend
„akustischen" und solche des „visuellen" Typus Verschiedenes
zu bedeuten haben, und wie sie nicht nur direkt auf ihr in-
tellektuelles, sondern auch zunächst auf ihr emotionales Ver-
halten — im Sinne der Willensbeeinflussung — und dadurch
J) Vgl. Höfler, Psychische Arbeit, S. 14 f. des Sonder- Abdruckes.
2) Dazu kommt, — was uns im gegenwärtigen Zusammenhange nicht
speziell zu beschäftigen hat — dass die bezüglichen Verschiedenheiten zwi-
schen a-Daten und b-Daten, wenn sie überhaupt aus den Versuchen zu
konstatieren sind, im entgegengesetzten Sinne ausgefallen sind, als sich bei
Lays Rechnungsverfahren zu ergeben schien. Vgl. oben S. 410, Tab. IV.
Digitized by Google
Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib-UnterrkhUs.
417
wieder indirekt auf das intellektuelle Verhalten verschieden
wirken mögen.
Diese theoretische Zurückhaltung gegenüber dem Schlüsse
auf die Wirksamkeit der Sprechbewegungs- Vorstellung soll je-
doch nicht hindern anzuerkennen, dass unter normalen
Verhältnissen das Sprechen eines Wortes oder Satzes für
dessen „Merken" in der Regel vom besten Einflüsse sein,
dürfte. Nur wird daran nicht — oder nur zum geringen TeiL
und dann indirekt — die Bewegungsvorstellung schuld
sein. Solche normale Verhältnisse aber waren durch die
besprochenen Versuche nicht dargeboten. Gerade das „leise
Sprechen" (in b), das man wohl richtiger als stumme Bewegung
der Sprachorgane bezeichnen wird, ist etwas wenig Normales,
da jeder Schüler sich dabei kontrollieren musste, ob er auch nicht
laut werde oder nicht andererseits die Bewegung ganz unter-
lasse. Dieses Anormale entfällt bei den Teilversuchen c : Hören,
beziehungsweise Lesen mit lautem Sprechen. Hier sind auch
tatsächlich — wenigstens bei Hören entschieden — die Fehler-
zahlen geringer geworden. Allerdings musste auch hier etwas
störend mitwirken, nämlich der Umstand, dass wohl jeder
Schüler seine Nachbarn mitsprechen hörte. Dass trotzdem das
normale Mitsprechen beim Lernen von Vorteil sei, wird man
wohl ohne diese Versuche auch, aus einer sehr häufigen Er-
fahrung heraus, bestätigen. Ein theoretisches Erfassen dieses
Sachverhaltes mag hier mehr angedeutet als seine Durch-
führung versucht werden.
Es ist eine genugsam bekannte Tatsache, dass ein Ge
danke um so besser und leichter reproduziert wird, je distinkter
er erfasst worden ist. Wer nun ein Wort zum erstenmal
hört, muss dadurch noch keine sehr distinkte Vorstellung als
„Hörbild" des Wortes erhalten haben. Es begegnet uns oft,
dass wir ein solches neues Lautgebilde nicht, oder falsch
„verstehen" — nicht nur seiner Bedeutung nach, falls es eine
hat, sondern auch seinem Klange nach — es ungenau erfassen
und um ein wiederholtes Vorsprechen bitten müssen. Beim
zweiten Hören achten wir dann auf irgend welche Teile des
Lautkomplexes besonders, die uns früher „entgangen" sind:
wir suchen den Lautkomplex zu analysieren. Und dabei
bedienen wir uns oft, vielleicht meist, des Nachsprechens, nicht
Digitized by Google
418
Ernst Maüy und Rudolf Amcseder.
nur damit der Vorsprechende kontrollieren könne, ob wir
richtig aufgefasst haben, sondern zur Selbstkontrolle. Wir
vergleichen den von uns erzeugten Lautkomplex mit dem vor-
gegebenen und erfahren so, ob wir richtig analysiert haben.
Umgekehrt ist jemand, der einen neuen Lautkomplex nach-
sprechen soll, gezwungen, auf die Einzelheiten des Gehörten
genauer zu achten. So wird durch — normales — Nach-
bprechen die Analyse des Lautkomplexes gefördert, also das
distinkte Erfassen seiner Elemente, zugleich aber auch, was
nicht minder wichtig ist, ein distinktes Erfassen der Ver-
bindung, worin sie miteinander stehen. Dies beides bedingt
eine bessere Reproduktion durch das Gedächtnis. — Dass es
gerade Bewegungsvorstellungen sind, die man bei solchem Er-
fassens des Lautkomplexes auch hat, ist wohl minder wesent-
lich. Gerade sie dürften sich kaum durch besondere Distinkt-
heit auszeichnen, obwohl andererseits die grosse Uebbarkeit
willkürlicher Bewegungen dafür zu sprechen scheint, dass
man es zu sehr ansehnlicher Genauigkeit und Raschheit in
der Reproduktion von Bewegungsvorstellungen bringen kann.
So untersuchenswert das Tatsachengebiet ist, das hinter
diesem Anschein stehen mag; soviel kann wohl schon gesagt
werden, dass die Bewegungsvorstellung, wenn sie schon die
Reproduktion von Wortvorstellungen fördert, das doch nur
in jenem sehr indirekten, oben angedeuteten Sinne thun dürfte,
und überdies, dass sie in dieser Rolle nicht nur ersetzbar,
sondern sogar vorteilhaft ersetzbar ist. Das beweist der LI in-
stand, dass man ein neu gehörtes Wort, wenn man es genau
erfassen will, sich auch gerne geschrieben oder gedruckt vor-
legen lässt und dann noch weit sicherer ist es richtig zu er-
fassen und wohl ebenso sicher es richtig zu behalten, wenn
man die optischen Zeichen dazu wahrgenommen, als wenn man
es nur nachgesprochen hat: Unsere Vorstellungen von den
Gestalten der Schriftzeichen haben — der Sprechbewegungs-
vorstellung gegenüber — grössere Distinktheit und vor allem
viel engere Beziehungen zu dem, was wir beim „ortho-
graphischen'4 Schreiben der Wörter zu leisten haben.
Den Versuchen mit Lesen (II) sind diese Umstände zu
gute gekommen. Sie ergeben durchaus weniger Fehler als
die Versuche mit Hören. Begreiflicherweise ist hier auch das
Digitized by Google
Zur experimentellen Begründung des RechUchrcib~Unterrichtes. 419
Mitsprechen beim lauten Lesen (IIc) kaum mehr imstande,
zur Distinktheit der Wortvorstellungen noch ein Erkleck-
liches dazu zu tun. Es mag nur, in den „Hörbildern**, neue
„Associationshilfen" schaffen.
Auch die ganz ausdrückliche Analyse und Wiederzu-
sammenfassung, die sowohl an Lautkomplex als an Buchstaben-
komplex beim Buchstabieren (III) geübt wird, vermochte
an den Ergebnissen des Lesens nicht mehr deutlich zu bessern.
— Was auch nicht befremden kann, da das einfache „Lesen"
der Schüler (in II) kein Lesen im gewöhnlichen Sinn mehr
war, kein Lesen, wie wir es bei Kenntnisnahme eines gedruckten
oder geschriebenen Textes zu vollziehen pflegen, wo es uns
um den „Sinn" des Gelesenen zu thun ist. Es ist — namentlich
seit B. Erdmanns einschlägigen Versuchen — bekannt
genug, dass dieses Normale ein sozusagen sprungweise fort-
schreitendes Erfassen von ganzen Zeichengruppen ist.
Hier werden also nicht nacheinander Bestandstücke aufgefasst
und dann zum Komplexe verbunden, sondern umgekehrt
Komplexe erfasst und erst wenn ein Anlass dazu geboten ist,
wird durch Analyse zum distinkten Vorstellen der einzelnen
Bestandstücke fortgeschritten. In Lays Versuchen mit
„Lesen" ist es wohl nicht so zugegangen. Bei den sinnlosen
Wörtern wurde erstlich natürlich nicht irgend einer „Be-
deutung", sondern den Schriftzeichen selbst maximale Auf-
merksamkeit zugewendet. Da überdies die „Wörter" neu waren,
erfolgte auch das Lesen schwerlich in der normalen sprung-
haften Art, von Komplex zu Komplex, sondern viel eher von
Buchstaben zu Buchstaben oder doch wenigstens nur sehr
kleine Zeichenkomplexe als Einheiten erfassend. Sicher wurde
bei einiger Aufmerksamkeit der Versuchsperson auch nach-
träglich, bei wiederholtem Lesen, analysiert. Durch alles das
nähert sich die Tätigkeit in den Versuchen II dem Buch-
stabieren ausserordentlich an. Ja man kann sagen, dass hier
vielleicht eher eigentliches und erspriessliches Buchstabieren
getrieben wurde als bei dem gewöhnlich so genannten schul-
mässigen „Buchstabieren** und damit auch in/den Versuchen III.
In 'dem Sinne nämlich, als das Wesentliche an psychischen Vor-
gängen, das durch Buchstabieren gesetzt werden soll: Analyse
und Zusammenfassung der Schriftzeichen, schon hier in hohem
Digitized by Google
420
Ernst Mallv und Rudolf Ameseder.
Masse vorhanden war, und der besondere Nachdruck, der auf
diese Tätigkeiten beim sozusagen offiziellen Buchstabieren
gelegt wird, in seinen Wirkungen durch das mag kompensiert
worden sein, was zugleich an Unnatürlichkeit der Bedingungen
hinzukommt, wie lautes Benennen der Buchstaben, das dadurch
aufgezwungene Tempo, das ebenfalls von aussen her normierte
Ausmass der als Einheiten zu erfassenden Komplexe u. s. w. —
Sehr entschieden kleiner als bei allen anderen Teilversuchen
sind die Fehlerzahien bei Abschreiben (IV) — in den Ver-
suchen mit Volksschülern. Bei den Zöglingen des S e -
m i n a r s ergeben die Teilversuche Lesen mit Sprechen, Buch-
stabieren und Abschreiben so geringe Verschiedenheiten des
Ausfalls, dass man die bezüglichen Resultate bei ihrer geringen
Genauigkeit am besten als „ungefähr gleich" bezeichnen dürfte.
Den Vorzug der Abschreibemethode in den Volksschüler-
Versuchen führt Lay, übrigens ohne nähere psychologische
Begründung, wieder auf eine Bewegungs- Vorstellung zurück:
auf die Schreibbewegungs-Vorstellung. Um die
Triftigkeit dieser Erklärung zu prüfen, wäre ein Versuch nicht
uninteressant, der den Schülern ausser der Schreibbewegungs-
Vorstellung wirklich kein nennenswertes Vorstellungsmaterial
zur Auffassung der geschriebenen Wörter, also vor allem keine
Gehörs- und Gesichtsvorstellungen von Wortklang und Wort-
zeichen, durch Wahrnehmung böte. Wir meinen den Versuch,
dass man den Schülern zum Schreiben der Wörter etwa einige-
mal die Hand führte und sie dann zur Uebung die Bewegung
auch aktiv vollziehen Hesse. Es müsste auch zu erreichen
sein, dass der Schüler gleich von Anfang an die Hand aktiv
bewegt — was wegen der Gleichartigkeit mit der normalen
Schreibbewegung sehr wünschenswert wäre — und man ihm
durch Führung nur die Richtung bestimmte. Der Versuch
hat das Gute, nicht erst ausgeführt werden zu müssen: den
schlechten Erfolg kann man sich denken. Einen anderen,
ähnlichen Versuch haben wir, gelegentlich der schon erwähnten
Nachbildung des Lay sehen Experimentes, tatsächlich vor-
genommen: Die Versuchspersonen — lauter erwachsene und
schreibgeübte — hatten eine Reihe sinnloser Wörter von der
Tafel abzuschreiben, ohne dabei auf ihr Skriptum zu sehen.
Als sie dann das mehrmals Abgeschriebene aus dem Ge
Digitized by Google
Zur experimentellen Begründung des RtchUchreib-UnterrichUs. 421
dächtnis niederschreiben sollten, konnten, wie vorauszusehen
war, die meisten kein Wort richtig wiedergeben und die Ueber
zahl der Wörter war ihnen ganz entfallen. Allerdings halten
wir diese Versuche noch für keine Widerlegung der Lay sehen
Position. Denn die Bedingungen der von den Versuchspersonen
geforderten Leistung sind hier in ganz auffälliger Weise
unnatürlich, ungewohnt und erschwerend. Doch dürfte der
Umstand, dass es bei einigermassen angenäherter Isolierung
der Schreibbewegungs-Vorstellung ohne solche Unnatur nicht
abgeht, schon an sich ein recht deutliches Zeichen dafür sein,
wie innig diese Art Vorstellung mit allerlei anderem, nament-
lich Gehörs- und Gesichtsvorstellungen beim Schreiben ver
bunden ist. Und noch mehr beim Abschreiben, das auch,
neben dem Lesen des eben Geschriebenen, das Lesen des
Vorbildes erfordert. Und wenn dem so ist, so darf man für
die Behauptung, die Schreibbewegungs-Vorstellung sei die vor
züglichste, wenn nicht alleinige Ursache der günstigen Er-
gebnisse beim Abschreibe- Versuch, doch zum mindesten etwas
Stichhaltigeres an Begründung erwarten, als in der Ableitung
dieses Satzes aus physiologischen Hypothesen gelegen sein
kann. Indes halten wir eine solche Begründung für nicht
wohl erbringbar, weil das zu Begründende kaum richtig ist.
Ausserdem erweist sich eine Zuflucht zu dieser so frag-
lichen Erklärungsweise auch als recht entbehrlich, solange es
wohlbekannte und erfahrungsgemäss legitimierte Tatsachen
giebt, die eine bessere Erklärung leisten. — Dass man
sich durch Schreiben eines Wortes für das Schreiben dieses
Wortes durchschnittlich am meisten übt, ist eine recht
trivale Sache — schon ohne Experiment. Denn hier ist
dafür gesorgt, dass alles an psychischem Material, was
später, beim Niederschreiben aus dem Gedächtnis, re
produziert werden soll, auch gewiss erst einmal produziert
werde. Auch die Schreibbewegungsvorstellung gehört dazu.
Aber was viel mehr zum genauen Erfassen und Behalten des
Wortes beiträgt als sie, ist das aufmerksame Lesen des
Originals, das Einprägen des Gelesenen zum Zwecke der Ueber-
tragung auf das Schreibeblatt, die Vergleichung von Original
und Abschrift, kurz die intensive Beschäftigung mit dem an
zueignenden „Stoff" durch mehrfaches urteilsmässiges Erfassen
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422
Ernst Mally und Rudolf Ameuder.
im ganzen und im einzelnen — Analyse und Zusammen-
fassung. Bei Personen, die alles dieses auch schon ohne Ab-
schreiben in gehörigem Masse aufbringen — wie das bei den
erwachsenen Seminaristen der Fall war — kann dann auch
der blosse Umstand, dass sie abgeschrieben, also sicher
Schreibbewegungs-Vorstcllungen vollzogen haben, nicht mehr
zur Güte der Reproduktion beitragen.
In der hier angedeuteten Richtung mag die Erklärung
von Verschiedenheiten in den Ergebnissen der Versuchs-
variationen zu suchen sein.
Nach diesen theoretischen Erörterungen erübrigt noch die
Frage nach den praktischen Folgerungen, die aus solchen
Verschiedenheiten — wenn sie mit genügender Sicherheit
wären ermittelt worden — mit Recht zu ziehen sein mögen.
Es ist die Frage nach der „besten Methode des Rechtschreib-
Unterrichtes".
Wenn sich herausgestellt hat, dass die Schüler durch blosses
' H Ö r e n von Wörtern am wenigsten gelernt haben, ortho-
graphisch zu schreiben, so ist das recht verständlich, aber
auch durchaus keine überraschende Entdeckung. Um so
weniger, als die vorgesprochenen Wörter den Schülern voll-
kommen neu waren und der Versuchsleiter für sie eine Schrei-
bung festgesetzt hatte, die von der phonetischen, wenn auch
nicht erheblich, doch mehrfach abwich, — ohne dass die
Versuchspersonen von dieser Schreibung irgend etwas er-
fuhren. Dass ein solches Versuchsverfahren sehr wenig
Anspruch darauf hat, einer „Methode des Orthographie-Unter-
richtes" besonders ähnlich zu sehen, wird niemand bezweifeln.
— Allein dies gilt nur von den Versuchen mit Hören — I.
Ein allgemeiner Einwand aber ist es, der sich gegen
Lays Versuche erhebt und der uns um so gewichtiger er-
scheint, als durch ihn die Fähigkeit dieser Versuche, zur Lösung
unserer Aufgabe etwas Wesentliches beizutragen, in Frage ge-
stellt wird. — Was die Versuchspersonen im ganzen Experiment
jedesmal zu leisten hatten, war das richtige Niederschreiben von
eben gelernten, sinnlosen Wörtern aus dem Gedächtnis. Wer also
die Wörter selbst wohl in der Erinnerung behalten hatte, dem
war das unstreitig schwierigste und grösste Stück der Aufgabe
Digitized by Google
7.ur experünentellen Begründung des Jiechtschreib Unterrichtes.
423
gelungen, und es war nun wohl kaum einmal besonders schwer,
dem richtig gemerkten Wort auch die „richtige" d. h. vor-
gegebene Schreibung zuzuordnen: zu eigentlich „orthogra-
phischen" Fehlern blieb somit recht wenig Gelegenheit. Dafür
war es um so schwerer, die „Wörter" selbst richtig zu merken
— das zeigt der Umstand, dass gar nicht selten Silben und
Wörter des Originals in der Reproduktion der Niederschrift
ganz ausblieben. Wer sich aber das Wort selbst mangelhaft,
mit allerlei Entstellungen, gemerkt hatte, konnte es natürlich
nicht anders als fehlerhaft wiedergeben. Doch wird man
keinen Augenblick anstehen, Fehlern solchen Ursprungs den
Charakter „orthographischer" Fehler schlechthin abzu-
sprechen. Wer orthographisch schreiben soll, hat normalerweise
weder „auswendig" gelernte Laut- noch Zeichenkomplcxe zu
reproduzieren, sondern er muss die konventionell festgesetzte
Zuordnung gewisser ihm wohlbekannter Zeichen zu ihm
vollkommen geläufigen und, wenn nicht gegenwärtig vorgegebe-
nen, doch jederzeit vollkommen verfügbaren Lautkomplexen,
den Wörtern der Sprache, durch Uebung und Urteil „be-
herrschen". Was aber in Lays Versuchen an Fehlern gezählt
wird, sind nur zum geringsten Teile Fehler, die man mit ortho-
graphischen vergleichen könnte. Die Ergebniszahlen messen also
in keiner Weise die „orthographische" Fehlerhaftigkeit
der bezüglichen Lernresultate. So haben denn diese Versuche
recht wenig Bezug auf die Frage nach der vorteilhaftesten Art
des Rechtschreibenlernens, kaum mehr als sonst irgend
eine Untersuchung über den Einfluss des Lernverfahrens auf
die Leistungen des Gedächtnisses im allgemeinen auf diese,
eine besondere Art von Gedächtnisleistung betreffende Frage
Bezug haben mag.
In diesen Darlegungen ist der Hauptsache nach ziemlich
alles gesagt, was die Verfasser vor einer experimentellen und
theoretischen Neubearbeitung der gegenwärtigen Angelegenheit
zu sagen hatten und des Sagens nicht unwert erachteten. So
wird es im Folgenden möglich sein, mit viel geringerer Aus-
führlichkeit den durch Lay angeregten Arbeiten anderer
Autoren auch gerecht zu werden.
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424
Ernst Mally und Rudolf Ameseder,
II. H. Schiller, A. Haggenmüller und H. Fuchs
Studien und Versuche über die Erlernung der
Orthographi e.1)
Auf Hermann Schillers Anregung haben Haggen-
müller und Fuchs Kontrollversuche zu den Lay sehen
gemacht.
August Haggenmüller experimentiert mit acht- und
neunjährigen Schülern der Vorschule des Gymnasiums zu
Gi essen. — Die Versuchsanordnung wurde von Lay über-
nommen. Nur kam bei den Teilversuchen I (Hören) und II
(Lesen) zu den Variationen a, b, c noch je eine vierte, d, hinzu :
Hören, beziehungsweise Lesen „mit Schreibbewegung in der
Luft", d. h. die Schüler schrieben die betreffenden gehörten
oder gelesenen Wörter vor sich „in die Luft".
Als Versuchsmaterial dienten deutsche Wörter, den
Schülern wohl teilweise unbekannt und „gewisse Schwierig-
keiten in der Rechtschreibung" bietend. Die Wortreihen,
die zu den einzelnen Teilversuchen verwendet wurden,
enthielten nicht gleich viel Wörter, „aber meist gleich
viel Silben". In der Tat schwankt die Silbenzahl im
ganzen zwischen u und 21, aber innerhalb der einzelnen (voll-
ständigen) Versuche — und darauf kommt es an — ist sie
entweder festgehalten oder ändert sich nur zwischen bedeutend
engeren Grenzen. Uebrigens liegen in der Qualität der
jeweils gebrauchten Wörter viel gewichtigere Ursachen der un-
gleichen Schwierigkeit der Wortreihen als in der ungleichen
Silbenzahl. Wer könnte ohne besondere, darauf angelegte
Versuche entscheiden, ob die beiden folgenden Wortreihen
den Kindern genügend gleich grosse Schwierigkeiten des
Erlernens bieten: „Abenteuer, fünfstrahlig, Wiesenfläche,
Sklavinnen, allenthalben" und „Bewerkstelligung, Bessemer-
stahl, Dazwischenkunft, Magazin, beerdigen". Von vornherein
ist natürlich bei weitem wahrscheinlicher, dass sich die bezüg-
lichen Schwierigkeiten der Gleichheit nicht sehr nähern; be-
sonders wenn man in Betracht zieht, dass jede Wortreihe,
*) Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der pädagogischen
Psychologie und Physiologie. Herausgegeben von H. Schiller und Th.
Ziehen. \\. Bd. 4- Heft. Berlin 1898.
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib-Unterrühtes.
425
ähnlich wie bei Lay, wieder zweierlei Schwierigkeit aufweist :
die des „Behaltens" der Wörter in ihrer Aufeinanderfolge,
die — obwohl geringer als bei Lays sinnlosen Wörtern —
doch wieder die Hauptarbeit der Versuchsperson in Anspruch
nimmt, und, in zweiter Linie erst, die Schwierigkeit der rich-
tigen Schreibung, auf die es im Experimente eigentlich an-
kommt. Diese beiden voneinander unabhängig Variablen in
allen elf Teilversuchen einer Reihe ausreichend konstant zu
halten ist nun doch eine Aufgabe, für deren genügende Lösung
das Verfahren der Zusammenstellung von allerlei Wörtern nach
ungefährer Schätzung ihrer „Schwierigkeiten" keine Gewähr
leistet.
Bei jedem Teilversuche eines und desselben Versuches
wurden die Wortreihen gleich oft vorgegeben: es wurde also
in Ia (oder b, c, d) gleich oft nacheinander vorgesprochen wie
in IIa (oder b, c, d) von den Schülern gelesen u. s. f., ehe
die Niederschrift des so „auswendig" Gelernten erfolgte. Aller-
dings schiene uns näherliegend, die Lernzeiten konstant
zu behalten. Aber immerhin bleiben bei Haggenmüllers
Verfahren die Ergebnisse doch unter einem Gesichtspunkte
vergleichbar, während bei Lay weder Lernzeit noch
Wiederholungszahl der Vorgaben in jedem Versuche festge-
halten ist.
Wenn Haggenmüller 88 Klassenversuchc angiebt, so
sind darunter wieder die Teilversuche von acht voll-
ständigen Versuchen - „Reihen" — gemeint, die mit durch-
schnittlich 29 Schülern vorgenommen wurden. Vor den
Lay sehen haben sie, trotz der etwas geringeren Anzahl1) doch
einiges voraus. Denn sie sind alle mit derselben Schülerklasse
gemacht worden und es ist zwischen den einzelnen nicht soviel
Zeit verstrichen; alle erfolgten „gegen Ende des Schuljahres
1897/98".
Die Resultate stimmen im wesentlichen mit den Lay sehen
überein, - was bei dem wesentlich gleichen Verfahren mit
den im wesentlichen gleichen Mängeln nicht verwunderlich ist.
*) Wir fanden dort 8 vollständige Versuche mit durchschnittlich
32 Schülern durchgeführt — neben 16 unvollständigen.
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426
Ernst Afaüy und Rudolf Amtscder.
Nach fallender Fehlerzahl geordnet ergeben die Teilversuche
folgende Reihe1) :
Ia, Ib, Ic, Id, IIa, IIb, IIc, III, Ild, IVc, IVb2)
Was aus diesem Verhalten der Fehlerzahlcn erschlossen
werden kann, haben wir bei Besprechung der Lay sehen Ver-
suche3) zu Genüge dargethan, um es jetzt nicht wiederholen zu
müssen. Besonders zu beachten ist nur der Einfluss der „Schreib-
bewegung in der Luft". Auf den ersten Blick scheint hier die
Bewegungsvorstellung in stärkerem Masse isoliert als beim
Abschreiben. Aber dieser Schein erweist sich leicht als falsch :
Was bei dieser neuen Versuchsvariation „isolierter" ist, ist
nicht die Schreibbewegungs - Vorstellung, sondern
höchstens die Schreibbewegung. Auf psychischer Seite
aber bedeutet die Einführung dieses „Schreibens in der Luft"
wohl nur eine Komplikation : zwar allerdings Erhöhung der auf die
Lautzeichen gerichteten Aufmerksamkeit, aber auch einen ganz
bedeutenden Mehrverbrauch davon ; Ablenkung durch die un-
gewohnten Versuchsumstände ; Verlängerung der Lernzeiten.
Gegenüber dieser Mehrheit ineinander wirkender Faktoren
dürfte es wieder recht schwer fallen, den eigentlichen Anteil
der Schreibbewegungs-Vorstellung, oder auch nur der Schreib-
bewegung an dem Ausfall des Versuches abzuschätzen.
Haggenmüllers Versuchsergebnisse sind auf gleiche
Art errechnet wie die Lay sehen ; auch die Fchlerzahlen der
Einzelergebnisse bestimmt er ebenso wie Lay, indem er nach
der Hypothese von der gleichen relativen Häufigkeit der „ortho-
») Auf Grund der Haggenmüllcr sehen Angaben. Eine Um-
rechnung haben wir hier nicht vorgenommen. Da Haggenmüllers
Versuchsanordnung mit der in der Folge zu besprechenden Fuchs sehen
sehr nahe übereinstimmt, dürfte es genügen, nur des letzteren Daten in der
bekannten Weise auszuwerten und neben den durch ein stärker abweichendes
Versuchsverfahren von Itschner gewonnenen — ebenfalls umgerechneten
— den Lay sehen gegenüberzustellen.
2 ) Wir bezeichnen „Abschreiben mit leisem Sprechen" durch IVb und
„Abschreiben mit lautem Sprechen" durch IVc, wegen der Gleichförmigkeh
mit der bei I und II eingeführten Bezeichnungsweise; obwohl eine Versuchs-
variation IVa nicht vorkam.
*) oben S. 414 ff.
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y.ur experimentellen Begründung des Rechtschreib-Unterrichtes.
427
graphischen" Fehler für jede fehlende Silbe eine Anzahl von
Fehlern berechnet, die ihr nicht anders als durch Zufall tat-
sächlich — auch nur annähernd — entsprechen kann.
Wie der Autor bemerkt1), „kann man nicht durchgängig
erkennen, dass die Zeit der Ausführung auf das Ergebnis
der Versuche Einfluss hat"; und er erweist das durch eine
Uebersicht im einzelnen. Ist demnach die Wirkung der
„Zehiage" des Teilversuchs gegenüber den übrigen Teilver-
suchen der Reihe nicht besonders merkbar — wohl wegen
Kompensation durch anderweitige Variabilität der Versuchs-
bedingungen — so macht sich dafür ein zweiter „Einfluss der
Zeit" mit ziemlicher Deutlichkeit geltend, nämlich in der von
Reihe zu Reihe steigenden U e b u n g der Versuchspersonen.
Verfolgt man die Fehlerdaten in der Tabelle, die Haggen-
müller2) bringt, so merkt man, dass die Zahlen für jede
einzelne Versuchsart vom frühern Versuch zum spätem
in der Regel abnehmen. Und zwar bei den ersten vier der
acht Versuche („Reihen") rasch, dann langsamer; schliesslich
vom sechsten Versuche an, bleiben die Schwankungen der
bezüglichen Ergebnisse schon in recht engen Grenzen. Es
lässt sich daraus entnehmen, dass wohl schon verhältnismässig
wenige Vorversuche genügt hätten, die Uebung der Versuchs-
personen der Konstanz hinreichend nahe zu bringen. Aus den
mitunter vorkommenden ganz bedeutenden Abweichungen von
Ergebniszahlen gegenüber dem regelmässig abnehmenden Ver-
laufe, der sich als Folge der Uebung ergiebt, ist aber auch
wieder zu ersehen, dass andere Einflüsse störend auf die Er-
gebnisse wirkten.
Schliesslich muss noch hervorgehoben werden, dass diese
Versuche nebst den anderen wesentlichen Mängeln, die dem
Lay sehen Verfahren anhaften, — trotz sorgfältigerer Aus-
führung im einzelnen — auch den Hauptübelstand mit ihm
teilen : das nicht eigentlich zu untersuchen, was zu untersuchen
die — selbstgestellte — Aufgabe war, sondern wieder nur die
relative Eignung gewisser Methoden zur Erlernung von
Wortreihen — nicht von Schreibungen.
i) a. a. O. S. 37-
-) Auf S. 36 der Abhandlung.
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428
Ernst Mally und Rudolf Arne seder.
Heinrich Fuchs hat, mit 47 Schülern der Sexta des
grossherzoglichen Gymnasiums zu Gi essen, ebenfalls acht
Klassenversuche gemacht, deren jeder elf Teilversuche um-
fasst, von gleicher Art wie wir sie bei Haggenmüller fanden.
Bei jedem Teilversuch wurde eine Reihe von drei drei-
silbigen lateinischen Wörtern vorgegeben, deren Sinn den
Schülern noch unbekannt war — und auch nicht gesagt
wurde. Die Silbenzahl ist also durchweg die gleiche — natür-
lich darum noch lange nicht die Schwierigkeit der Wortreihen.
Der Vorteil, den Fuchs mit dieser Wahl verfolgte, ist die
leichtere Erfassbarkeit und Reproduzierbarkeit der Wörter
gegenüber den so schwer aufzufassenden und noch schwerer
zu behaltenden sinnlosen Wörtern.
Tabelle V. i)
vollständ.
Versuch
(Reihe)
Teilversuch
Ia
[Ib
Ic | Id
Ha
Hb ] Hc
Hd
IV c
IVb
1 (n.FuchsA)
2(„ „ B)
3(„ „ C)
4(„ „ D)
3(„ « E)
7<„ „ G)
8(„ n fi)
1.94
1.76
2.36
2.19
1.23
1.66
0.75
1 22
2.36
1.29
2.24
134
1.72
1.97
2.84
2.28
1.42
0.74
2.66
2.97
1.07
1.78
0.64
2.05
2.05
1.32 1
1.98;
1.28
1.07 j
1.42
132 :
1.74
0.48
0.58
1.02
0.88
1.12
0.75
0.97
1.37
^ 0.62
0.59
1.23
1.04
0.64
0.65
0.91
1.08
0.67
0.93
1.54
0.92
1.02
0.72
0.94
0.80
0.94
0.62
2.15
0.54
1.22
0.81
0.84
0.76
0.83
0.44 i
1.56
0.59
| 1.12
10.96
0.64
0.43
0.65
0.39
0.43
0.69
0.28
0.60
0.52
0.23
0.32
0.47
0.75
0.53
039
0.56
0.21
0.25
arithmet.
Mitte) !
(nach Fuchs)
1.64
2.00
1.67
1.52
0.90
0.84
0.94
0.98
0.82
0.47
0.43
geometr. M. , 1.55
1.94
1.46
1.49 0.85
~om
0.91
0.90
0.75
1
0.44
0.40
mittlere Ver-i „ 1
vi 3.84 4.82
haltmszahl. j
3.63
3.70 ;
1
. r .
2.12 1 2.02
1 ■
2.27
2.24 '
' 1.86
; 1
1.10
1
U
1.21
1.69
1.43
1.53
1.66
1.46
1.34
1.55
1.41
1.49
mittlere Ver-
hältniszahl,
abgerundet
4
5
4
2
2
2
2
2
1
1
Die Wiederholungszahl der Vorgabe der Wörter wechselt
auch innerhalb einer und derselben Reihe von Teilver-
•) Vgl. Fuchs, a. a. O. S. 44.
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Zur expeiimentellen Begründung des Rechtschreib-UnUrrühtes.
429
suchen. Doch ist dabei wenigstens soweit sinngemäss vorge-
gangen, dass bei Ungleichheit der Wiederholungszahlen immer
die k 1 e i n e r e jenem Teilversuche zufällt, dessen Art der Vor-
gabe bei gleicher Wiederholungszahl die längere Lern-
zeit erfordert hätte. G 1 e i c h h e i t der Lernzeiten aber scheint
dabei nicht angestrebt zu sein, wenn auch eine ungefähre
Annäherung daran sich ergeben haben mag.
Die von Fuchs gewonnenen und von uns umgerechneten
Ergebniszahlen bringt die vorstehende Tabelle V, ganz in der
Anordnung, wie Tabelle IV1) die Lay sehen.
Die Versuchsvariationen ordnen sich also, nach fallen-
den Fehlerzahlen, in folgende Reihen:
1. nach arithmetischen Mitteln (Fuchs):
Ib, Ic, Ia, Id, Ild, IIc, IIa, IIb, III, IVc, IVb
2. nach geometrischen Mitteln:
Ib, Ia, Id, Ic, IIc, Ild, IIa, IIb, III, IVc, IVb
Auch Fuchs findet, „dass die Unterrichtsstunde und die
Reihenfolge innerhalb der Stunde keinen durchgreifenden Ein-
fluss auf den Ausfall der Versuche geübt" zu haben scheint;
doch konstatiert er selbst, „dass sehr viele Umstände das Resultat
beeinflussen, so dass sich die Bedeutung der einzelnen kaum
genau bestimmen lassen wird."
Die Art der Fehlerzählung und der Berechnung der Er-
gebnisse hat auch Fuchs übernommen, wie er sie bei Lay
gefunden hatte, obwohl er deren Mängel zum grossen Teil
erkannt hat.
Ebenso sind, wie nun wohl kaum mehr erwähnt zu werden
braucht, seine Versuche in der Hauptsache gleich angreifbar
wie die Lay sehen: sie sind wieder Versuche über das ge-
dächtnismässige Behalten von Wortreihen bei verschiedener Art
der Erlernung — es finden sich sehr viel Auslassungen —
und sie haben darum nur wenig Belang für die zu beantwortende
Frage. Dass es sich bei diesen Experimenten um zweierlei
handle: um das „Behalten der Wörter und um die
Einprägung ihrer Schreibun g", führt der Autor selbst in
seinen kritischen Bemerkungen über das Versuchsverfahren an,
M oben, S. 410.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 4
Digitized by Google
430
Emst Mally und Rudolf Amesedtr.
denen wir auch sonst nur beistimmen können. Er scheint indes
nicht genug gewürdigt zu haben, dass diese Zweiheit der
Leistungen, von denen überdies die erste entschieden den
Hauptteil der psychischen Fähigkeiten der Versuchspersonen
in Anspruch nahm, eine namhafte Verwertung der Resultate
für die Beantwortung der vorgelegten Frage nahezu aus-
schliesst.
3) Hermann Itschner, Lays Rechtschreibe-Re-
form, im Anschluss an Versuche
im Pädagogischen Universitäts-Seminar zu Jena
besprochen.1)
Zur Nachprüfung der Lay sehen Versuche wurden im pä-
dagogischen Seminar zu Jena Experimente angestellt, worüber
Itschner berichtet. Soviel sich aus seiner Darstellung ent-
nehmen lässt, die auf Kosten der Exaktheit etwas bilderreich
ausgefallen ist, sei hier besprochen.
Die Versuchsanordnung ist der Lay sehen nachgebildet.
Das Wortmaterial ist aus dem von Lay verwendeten ausge-
wählt; unter Vermeidung allzu ähnlicher Wörter, die sich nur
mehr durch die Vokale voneinander unterscheiden. Als aber
schon nach den ersten Versuchen das „ursprünglich freudige
Interesse" der Versuchspersonen wich, und dieser Umstand
den zu grossen Merkschwierigkeiten der Wörter zu-
geschrieben wurde, ersetzte man diese durch den Schülern
unbekannte Fremdwörter, wie „Requisit", „Aegide" u. dergl.
Die Silbenzahl blieb in jedem einzelnen Versuche konstant.
Neu ist, gegenüber den bisher besprochenen Versuchs -
anordnungen, die Fixierung der „Auffassungszeit", d. h. der
Zeit, die den Schülern zum Erlernen der zu reproduzierenden:
Reihen gelassen wurde. Sie war für alle zusammengehörigen
Teil versuche gleich. Bei Versuch A etwa (dem ersten, voll-
ständigen, Versuch) betrug sie für jeden Teilversuch 60 Se-
kunden. Die Fixierung geschah mittels eines Metronoms, das
durch G 1 o c k e n s c h 1 ä g e die auf die einzelnen „Tätigkeiten4*
l) Jahrbuch des Vereines für wissenschaftliche Pädagogik. Herausgeg.
v. Prof. Dr. Th. Vogt. 32- Jahrg. S. 206 ff. Dresden, Bleyl und Käm-
merer 1900.
Digitized by Google
Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib-UnterriehUs. 431
entfallenden Zeiten begrenzte. Unter solchen Tätigkeiten ver-
steht Itschner z. B. beim Lesen das Erfassen einer Silbe,
beim Buchstabieren das Erfassen eines Buchstaben, das Zu-
sammenfassen der Buchstaben einer Silbe. Natürlich mussten
die auf solche Tätigkeiten bemessenen Zeitstrecken um so
kürzer gemacht werden, je mehr Tätigkeiten in der bestimmten
Zeit (hier 60 Sekunden) zu vollziehen waren. — Das Un-
zweckmässige eines derartigen. Vorgehens leuchtet ein: durch
die Glockenzeichen des Metronoms wird ein durchaus
unnatürlicher und im höchsten Grade störender Umstand
den Versuchsbedingungen eingereiht.
Es wurden so vier Versuche mit 13 Schülern des IV. Schul-
jahres, ein Versuch mit 36 und ein Versuch mit 12 Schülern
im VII. Schuljahr ausgeführt. Jeder dieser Versuche um-
fasst die acht Lay sehen Teilversuche, deren Reihenfolge
durchaus beibehalten bleibt. Die Ausführung fällt immer in
die gleiche Tageszeit.
Dazu ist kritisch nichts Neues zu bemerken — insbesondere
was den Einfluss der Ermüdung und der anfangs rasch zu-
nehmenden Uebung betrifft.1) Auch sind alle 100 Einzel-
ergebnisse dieser Versuche, trotz des Wechsels im Wort-
material2) und trotz der grossen Verschiedenheit der beiden
Gruppen von Versuchspersonen, ganz nach Layschem
Muster verwertet: wieder Mittelwerte aus Mittelwerten und
aus diesen noch einmal Mittelwerte gezogen, und so alle
— einander gewiss nicht gleichgestellten — Daten als
völlig gleichgeordnet behandelt. Nur in der Fehler-
zäh 1 u n g findet sich die geringe Abweichung, dass
Itschner neben der auf Lay sehe Art bestimmten
Fehlerzahl noch die Anzahl der weggelassenen Silben
angibt wodurch zum Ausdrucke kommt, dass das Weg-
lassen einer Silbe auch ein Fehler ist — allerdings kein ortho-
graphischer, sondern ein Fehler in der Reproduktion des
Wortes selbst.
Die Resultate sind in Tabelle VI nach Itschners An-
gaben ersichtlich gemacht und den von uns umgerechneten
Werten in bekannter Weise gegenübergestellt.
0 Vgl. oben S. 393 f.
-l Siehe oben S. 430.
4*
432
Ernst Mally und Rudolf Ameseder.
Tabelle VI. »)
vollstand. Versuch
Teil versu ch
(Reihe)
Ia
ib
Ic
IIa
TTh
TT r
m
rv
arithm. Mittel
(nach Itschner)
2.932
3.387
2.612
1.398
1.701
=
1.467
t 2.100
1.624
geometr. Mittel || 2.427 3.243
2.521
0.982
1.518
1.227
1.411 j! 1349
mittlere Verhältnis-
zahlen
1.799
2.404
1.869
0.728
1.125
0.909
1.046
i *
i
U
1.530
1.488
1.576 i 1.589
i
1.706
1.431
2.618
mittlere Verhältnis- 1
zahlen, abgerundet . ^
2
2
! 1
1
1
1
i
1
Nach fallender Fehlerzahl geordnet ergeben die Versuchs-
variationen folgende Reihen:
1. nach arithmetischen Mitteln (Itschner):
Ib, Ia, Ic, III, IIb, IV, IIc, IIa
2. nach geometrischen Mitteln:
Ib, Ic, Ia, IIb, III, IV, IIc, IIa
Beide Reihen weichen von der Lay sehen nicht nur in den
Variationen a, b, c von I und II, sondern auch in der Auf-
einanderfolge der Hauptmodifikationen des Versuches — I, II,
III, IV — ganz bedeutend ab: statt I, II, III, IV ergiebt sich
hier I, III, IV, II. Diese Abweichungen von den Lay sehen
Ergebnissen glaubt Itschner, festhaltend an der Richtigkeit
der letzteren, durch die Mängel seines eigenen Verfahrens er-
klären zu müssen. Er hält es für untunlich, seine ico Versuchs-
daten den vielen Daten Lays gegenüberzustellen — obwohl
deren Ueberzahl, wie sich oben, S. 387, herausgestellt hat, so hoch
nicht anzuschlagen ist. — Besonders aber die „klinischen.
Thatsachen", die für Lays Angaben beweisend seien, scheinen
ihm die Unbefangenheit des Urteils zu benehmen. —
Dass Itschners Resultate unzuverlässig sind, soll hier
gewiss nicht angefochten werden. Insbesondere muss der
Selbstkritik des Autors Recht gegeben werden, sofern sie die
kleinen Schülerzahlen und den störenden Einfluss der
metronomischen Glockenschläge anführt. — Allein, abge-
sehen davon, dass Lays Ergebnisse auf einem wohl
») VgL Itschner, a. a. 0. S. 219.
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib- Unterrichtes. 433
ebenso wenig einwandfreien Wege gewonnen wurden, ist
auch zu berücksichtigen, dass die beiden Experimentatoren
Resultate bringen, die gar nicht wohl vergleichbar sind, wovon
aber die Itschner sehen immer noch in einer e n g e r n Be-
ziehung zu der zu lösenden Aufgabe stehen. Der Grund dieser
Unvergleichbarkeit liegt in der Fixierung der Lernzeit
hier, der dort ein fast willkürliches Vorgehen gegenübersteht,
indem die Zeit gar nicht, und die Wiederholungszahl der Ein-
übungen nicht ganz ausnahmslos festgehalten erscheint. Immer-
hin kann man von den wenigen Ausnahmen in letzterer Hin-
sicht absehen und demnach formulieren: Lay untersucht die
relative Fehlerhaftigkeit1) von Gedächtnisleistungen, die auf
Grund verschiedenartiger Lernvorgänge zustande kommen,
deren jeder gleich oft unter — nominell — gleich grossem
Kraftaufwand2) angewendet wurde. Itschner untersucht3)
die relative Fehlerhaftigkeit von Gedächtnisleistungen, die auf
Grund derselben verschiedenen Lernvorgänge zustande
kommen, deren jeder eine gleiche Zeit hindurch unter
— nominell — gleich grossem Kraftaufwand angewendet wurde.
— Von den beiden Versuchsverfahren ist also gewiss, was diesen
Differenzpunkt betrifft, das letztere eher geeignet, zur Lösung
unserer Aufgabe beizutragen : denn — ausreichend genaue Aus-
führung, namentlich in Hinsicht der „gleichen Schwierigkeiten'*
angenommen — würde es untersuchen, wie weit man sich dem
Lernziele nähert, wenn einmal in der, einmal in jener Weise
durch eine gegebene Zeit die gleiche Kraft, alsoimganzen
der gleiche Betrag an (psychischer) Kraft zum Lernen
aufgewendet wird. Es würde also — unter eben derselben Vor-
aussetzung — die A r b e i t e n vergleichen, die bei gleichem
Spannungsfaktor und bei verschiedener Art des An-
greifens der Kraft in gleichen Zeiten geleistet werden,
indem es, in den Graden der Annäherung an das Lernziel,
die entsprechenden „Wegfaktoren4 ' mässe.*) Lays Daten aber
bedürften, um als ein Mass von Arbeitsleistungen ver-
wendbar, d. h. vor allem: um untereinander vergleichbar zu
x) mit den oben S. 406 bemerkten Ungenauigkeiten.
2) „gleiche Schwierigkeiten".
3) mit der gleichen Ungenauigkeit.
«) Vgl. Höf ler, a. a. O. S. 8 ff. insbesondere 10 u. 11.
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434
Ernst Matiy und Rudolf Ameseder.
sein, einer „Reduktion" auf gleiche Zeiten. Und diese ist
nicht zu leisten, so lange die funktionelle Beziehung von Lern-
zeit und Arbeitsleistung bei jedem einzelnen der untersuchten
Lern Vorgänge noch unbekannt ist. Diese Versuchsanordnung
setzt also, um brauchbare Daten liefern zu können, geradezu
etwas voraus, was erst durch sie ermittelt werden müsste, aber
weder in ihren bisherigen Anwendungen durch Lay, Haggen-
müller und Fuchs ermittelt wurde, noch ermittelt werden
konnte.
Wenn demnach, im Prinzipe, Itschners Verfahren in
der Fixierung der Lernzeiten einen Vorzug vor dem L a yschen
aufweist, so ist doch die Art der Durchführung dieser Fixierung,
wie schon bemerkt, so wenig einwandfrei wie die Haupt-
fragestellung des Versuchs, derzufolge wieder statt Recht-
schreiben-Lernens ein Auswendiglernen von Wortreihen unter-
sucht wird.
Aus den oben namhaft gemachten Abweichungen seiner
Resultate von den Lay sehen, insbesondere im relativen Fehler-
ergebnisse des Teilversuchs mit Abschreiben, zieht Itschner
eine praktische Konsequenz, deren Berechtigung dem Unbe-
fangenen kaum einleuchten dürfte: er „reorganisiert" seinen
Versuch, und das in ganz merkwürdiger Weise. — „Un-
sere Taktik gab uns die nötigen Winke dafür" — be-
merkt er. „Dabei hatten wir in erster Linie die Interessen
des Abschreibens zu wahren."1)
Die neue Versuchsanordnung fiel denn auch dieser „Taktik"
und ,, Interessen"- Vertretung — die wir, nebenbei bemerkt, in
wissenschaftlichen Dingen nicht für wohl angebracht halten
können — entsprechend aus; — ebenso die Resultate.
Die Gleichheit der Lernzeiten wird aufgegeben.
Das Abschreiben wird in „aller Ruhe", d. h. ohne
Metronom und Glockenschläge, aber natürlich auch ohne
Fixierung der Zeit, zweimal nacheinander vorgenommen, das
Buchstabieren dreimal, das Lesen ohne Sprechen,
das vorher die geringste Fehlerzahl ergeben hatte, viermaL
Dies letztere deshalb, weil, wie auch H. Schiller gelegent-
lich bemerkt, beim Abschreiben Original und Abschrift vom
») a. a. O. S. 224.
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Zur experimentellen Begründung des Rechtschreib-Unterrichtes.
435
Schüler gelesen werden, also einmaliges Abschreiben ein zwei-
maliges Lesen involviere. Ein Versuch besteht nun aus den
Teilversuchen IIa, III, IV, deren Reihenfolge — in jedem
vollständigen Versuch — unverändert bleibt. Das Uebungs-
material bilden wieder den Schülern unbekannte Fremdwörter.
Solcher Versuche werden vier mit dem IV. Jahrgang, zwei
mit dem VII. vorgenommen. Die Anzahl der Teilnehmer ist
nicht genannt.
Da so „dem Abschreiben" die nötigen „Konzessionen" ge-
macht worden waren, und auch nicht mehr versäumt ward,
einen der Lay sehen Fehler zu begehen, so ergab sich denn
auch das gewünschte Resultat:
Die meisten Fehler wurden beim Buchstabieren begangen,
weniger bei Lesen ohne Sprechen, am wenigsten bei Ab-
schreiben.
Zur Erleichterung der Uebersicht folge hier eine Zu-
sammenstellung des Wichtigsten an den bisher besprochenen
Yersuchsergebnissen : der Reihen, in die sich für jeden Ex-
perimentator die einzelnen Versuchsvariationen nach fallenden!
Fehlerzahlen ordnen.
Tabelle VII.
Experimentator
Versachsvariationen nach fallender Fehlerzalil
( g e o m. Mittel)
Ujr pr'
Ib, Ia, Ic,
IIa, Hb, Hc,
IV,
I b( I a, I c,
IIa, üb, IIc,
IV,
in,
Fidw
Ib, Ia, [IdJ Ic,
IIc, [nd,] IIa, IIb,
m,
IV e, iVb
(l.Vem.- ;
Itschner Anord- i
nung)
Ib, Ic, Ia,
IIb, m, IV,
Hc,
na
4) Marx Lobsien, Ueber die Grundlagen des
Rechtschreibunterricht s.1)
Die einleitenden Abschnitte vorwiegend physiologischen In-
haltes lassen wir auch hier wieder unberücksichtigt und wenden;
*) Heft II der Sammlung von Abhandlungen und Vorträgen zur
Pädagogik der Gegenwart. Bleyl & Kämmerer, Dresden 1900.
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436
Ernst Mally und Rudolf Amesedcr.
uns sofort der Betrachtung der Experimente zu. —
Auch Lobsien knüpft in seiner experimentellen Arbeit
an Lay an, von dessen Versuchsverfahren er indes mehr-
fach stärker abweicht als die bisher besprochenen Autoren.
Als Haupterfordernisse, denen er hiebei gerecht werden
will, stellt er die Schaffung des „homogenen Objekts" auf und
die „subtile Würdigung des Arbeitswertes der (von den Ver-
suchspersonen) gelösten Aufgaben". Unter ersterem ist ein
durchaus gleiche Schwierigkeiten bietendes Material an
Uebungswörtern gemeint, unter letzterer die richtige Zählung
der Fehler.
Das „homogene Objekt" sucht Lobsien folgendermassen
herzustellen. Auf Grund seiner Untersuchungen über „die me-
chanische Leseschwierigkeit der Schriftzeichen"1) stellte er
Gruppen von je 10 Wörtern zusammen, so dass die gesamten
Leseschwierigkeiten einer Gruppe denen einer jeden anderen
Gruppe glichen. Die Wortgruppe des ersten Versuches ent-
hält z. B. die Wörter „Hof, Hund, Haus, Not, Wand, Gut,
Dorf, Ton, Mond, Mut". Durch Umstellung der Buchstaben
bildete der Autor aus diesen Gruppen neue; z. B. aus der an-
geführten ersten folgende Gruppe für den dritten Versuch:
„duhnhof, wundtug, ursnaht, miadumt, odnoftr". Damit glaubt
er ein ganz genau gleich schwieriges Material gewonnen zu
haben, das sich vom ursprünglichen, woraus es abgeleitet ist,
nur dadurch unterscheide, dass ihm kein „Wortsinn" zukommt.
Was derartige Wortgruppen miteinander gemein haben,
sind tatsächlich nur die Buchstaben — nicht einmal durchaus
die einzelnen Laute, denn das erste h in duhnhof oder das h
in ursnaht ist wohl nicht ausgesprochen worden, das r in odnoftr
ist sicher nicht mehr der Laut> der in Dorf durch das gleiche
Zeichen vertreten erscheint. — Diese einzelnen Buchstaben
behalten, jeder fürsich, auch ihre bestimmte „mechanische
Leseschwierigkeit". Es ist jedoch für die Leseschwierigkeit
ihrer Komplexe durchaus nicht gleichgültig, in welcher An-
ordnung sie darin vorkommen. So ist odnoftr sicher schwerer
zu lesen als Dorf, Ton (genauer dorf, ton) trotz der gleichen
l) Vgl. des Autors so betitelte Abhandlung im Päd. Magazin in.
Herrn. Beyer & S., Langensalza 1898.
*
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Zur experimentellen Begründung des RechUchreib-Unterricktes.
437
Buchstaben. Also nicht einmal die Leseschwierigkeiten der ein-
zelnen Wortgnippen sind gleich. Was aber viel wichtiger
ist, sind natürlich die Merkschwierigkeiten der betreffen-
den Wörter. Und dass von deren Gleichheit hier nicht die Rede
sein kann, ist klar. — Was also zwei in der angegebenen Weise
miteinander zusammenhängende Gruppen unterscheidet, ist bei
weitem nicht der Wortsinn allein. Das vom „homogenen
Objekt".
Zur Bestimmung der Fehlerzahlen wurde ein neues Ver-
fahren eingeschlagen. An Fehlern unterscheidet Lobsien:
Vertauschungen von Buchstaben eines Komplexes („Wortes")
untereinander (V), „Fehler" im engern Sinne, d. h. Er-
setzen eines Zeichens durch ein anderes ohne Ver-
tauschung innerhalb des Komplexes (F), und Auslassungen
(A). Es handelt sich nun um die Festsetzung der relativen
Grösse oder des relativen Gewichtes dieser Arten von Fehlern :
es sollte ermittelt werden, wieviel Vertauschungen (V) etwa
und wieviel , »Fehler" im engern Sinne (F) eine Auslassung
(A) aufwiege. Zu diesem Zwecke stellte Lobsien einen Ver-
such von fünf — später zu beschreibenden — Teilversuchen an,
die wir mit i, 2, 3, 4, 5 bezeichnen wollen, 'und deren jeder eine
bestimmte Erlernungsart — nominell — gleich schwieriger
Wortreihen in sich befasst Der erste Teilversuch ergab vx
Vertauschungen, also v, Abweichungen von der Art V, fx „Fehler"
(F), o, Auslassungen (A\ Der zweite ergab v% V -h /2 F+ A
us. f.
Nun wurde aus allen Anzahlen vy also aus vv i>2, vS) vb
das arithmetische Mittel vM gezogen; entsprechend aus den An-
zahlen / ein mittleres f„, aus den a ein mittleres am.
Es entfielen also im Durchschnitt auf einen der fünf Teil-
versuche an Fehlern:
vmV+tmF+amA
das ist, wenn man die von Lobsien tatsächlich erhaltenen
Anzahlen statt unserer Symbole einsetzt:
7 V + 29 F 4- 53 A.
Daraus ward nun der Schluss gezogen: die Fehler V,
F und A verhielten sich ihrer Grösse nach zueinander wie die
bezüglichen mittleren Anzahlen vmi fm und am\ also
V: F: A = vn :/m : am = 7 : 29 : 53.
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Ernst Mally und Rudolf Amtttder.
Demzufolge wurden in jedem Teilversuchs-Resultate
vi V+fi F+ ai A
die unbekannten Fehlergrössen V, F und A durch die
entsprechenden mittleren Anzahlen vm = 7,/m = 29 und
am = 53 ersetzt Das ergab
vi 7 +// -29 -hfl/ - 53,
also, da vi , // und ai konkrete Anzahlen sind, eine Summe
dreier Produkte von je zwei Anzahlen, die natürlich leicht zu
rechnen war.
In Lobsiens Darstellung dieses höchst eigentümlichen
Rechnungsverfahrens sucht man vergeblich nach einer Be-
gründung dafür. Sie zu geben ist auch unmöglich. Darum
hielten wir auch eine Widerlegung für überflüssig, wenn sie
nicht Gelegenheit böte, an die Stelle des angegriffenen Ver-
fahrens die Anfänge eines allerdings erst zu ermittelnden
bessern zu setzen.
Die Grösse eines Fehlers ist jedesmal gegeben in der
Verschiedenheit des Geleisteten von dem, was zu leisten war:
also hier in der Verschiedenheit des Reproduktionsergebnisses
von dem zu Reproduzierenden. Freilich, nicht „gegeben"
im Sinne von „bekannt". Auch ist einstweilen kaum ein Weg
abzusehen, der auf diesem Gebiete zu einer einigermassen prä-
zisen Feststellung des Verschiedenheitsgrades auf Grund der
beiden verschiedenen Gegenstände führte, ähnlich wie die Ver-
schiedenheit zweier Zahlen als durch eine Funktion dieser Zahlen
messbar von Meinong1) dargetan wurde.
Zieht man, der Einfachheit halber, in diesen vorläufigen
Erwägungen nur zweierlei Fehler in Betracht : Vertauschungen
(V) und Auslassungen (A), so ist doch soviel von vornherein
ziemlich sicher, dass eine Auslassung als Fehler schwerer
wiegen dürfte denn eine Vertauschung. Ist etwa der Komplex
abc zu reproduzieren gewesen und wurde acb reproduziert,
so ist die Verschiedenheit zwischen abc und acb doch wohl
geringer als die Verschiedenheit zwischen abc und dem durch
eine Auslassung gebildeten Komplex ab. Man kann also mit
Recht behaupten, eine Auslassung eines Elementes bedeute
in der Regel — d. h. wenigstens unter ähnlichen Umständen
•) Vgl. oben S. 403. Anm.
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Zur experimentellen Begründung des Rechtichreib-UnUrrichUs. 439
wie sie in obigem Beispiel walten — mehr als eine Vertauschung
zweier Elemente untereinander; insofern gilt die Gleichung
A = n. V
worin n eine Zahl grösser als i bedeutet, die wohl ihren be-
stimmten Durchschnittswert haben mag, von der aber
einstweilen nichts bekannt ist als eben die Beziehung n > 1.
Nun ist in keiner Weise einzusehen, warum im mittlem
Fehlerergebnis mehrerer willkürlich gewählter Versuchs-Va-
riationen (i, 2, 3, 4, 5) gerade n mal soviel Auslassungen (A)
als Vertauschungen (V) sich vorfinden sollen. Im Gegen-
teil ist — im Sinne einer aller mathematischen Fehler-
theorie zu Grunde liegenden Einsicht — vielmehr zu er-
warten, dass der grössere Fehler seltener begangen wird ab
der kleinere.
Dieses letztere scheint nun hier nicht zuzutreffen. Der
A- Fehler kommt häufiger vor als der V-Fehler. Hat man
dennoch guten Grund, an der Voraussetzung festzuhalten, dass
ein A-Fehler mehr bedeute als ein V-Fehler, so mag man sich
diesen Ausfall des Versuches so zu erklären unternehmen:
Erstlich sind die beiden Anzahlen Vi und ai nicht ohne
weiteres miteinander vergleichbar, weil sie die (absoluten) An-
zahlen von Fehlern zweier verschieden grosser Komplexe sind.
Denn fl/ ist die Anzahl der A, die sich dem ganzen zu repro-
duzierenden Komplexe gegenüber eingestellt haben ; Vi aber ist
die Anzahl der V, die in dem tatsachlich reproduzierten Rest,
also in einem kleinern Komplexe vorgekommen sind. Ver-
gleichbar, d. h. auf die gleiche Einheit bezogen, wären also
insoweit nur die Zahlen — - — und — . worin z die Anzahl der
z — ai z '
zu reproduzierenden Elemente bedeutet
Ausserdem bleibt zu bedenken, dass sehr wahrscheinlicher-
weise beim Begehen eines V-Fehlers eine andersartige
psychische Dispositions-Grundlage in Anspruch genommen ist
als beim Begehen eines A-Fehlers und daher auch ein feinerer
mathematischer Kalkül — zunächst auf Grund des Gauss sehen
„Fehlergesetzes'4 — nicht ohne weiteres auf Anzahlen und
Grössen von V- und A-Fehlern anwendbar ist; ähnlich wie
er auf Anzahlen und Grössen von Fehlern etwa in der Schätzung
von teils gesehenen und teils getasteten Strecken
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440
Ernst Mally und Rudolf Amescdcr.
zum mindesten ohne die Kenntnis der Beziehung zwischen den
bezüglichen „Präzisionskonstanten" nicht anwendbar wäre. Und
ähnlich, wie es gar nicht dem „Fehlergesetze" widerspräche,
wenn bei Schätzung der gesehenen Strecken sich für einen
bestimmten Fehler eine kleinere relative Häufigkeit ergäbe
als bei Schätzung von getasteten Strecken gleicher Grösse
für einen grössern Fehler : widerspräche auch die geringere
relative Häufigkeit — falls eine solche erwiesen wäre — der
V-Fehler gegenüber der grössern der A-Fehler noch nicht not-
wendig der Voraussetzung A > V.
Dagegen folgte daraus allerdings, dass man aus den blossen
relativen — geschweige denn aus den absoluten — Anzahlen
der Fehler der genannten Arten noch nicht ohne weiteres auf
deren relative Grösse schliessen darf.
Wie schon bemerkt, umfasst jeder Versuch fünf Teil-
versuche. Diese sind: i) Sehen, bei Ausschluss der Sprech-
bewegung. Die Schüler bekommen ein „Wort" von sieben
Schriftzeichen zu lesen, z. B. duhnhof. Nach 30 Sekunden»
verschwindet das Schriftbild und wird dann von den Schülern aus
dem Gedächtnis niedergeschrieben. Während des ganzen Ver-
suches halten die Schüler die Zunge zwischen die Schneidezähne
geklemmt — (Zf. dh. Zunge fest). Den Versuch bezeichnet Lob-
sien mit S. Z.f. 2) Hören ohne Sprechbewegung (H. Zf.):
ein Lautgebilde von der früher beschriebenen Art wird drei-
mal vorgesprochen. 3)S -f H; Zf: die Schüler lesen
still, was ihnen zugleich dreimal vom Versuchsleiter vorgelesen
wird. 4) S + B; ZI (d. h. Zunge los): die Schüler lesen still,
sind aber an der Bewegung der Sprachorgane sonst nicht ge-
hindert (ebenso beim Niederschreiben). 5) S + B + H; ZI:
Schüler und Versuchsleiter lesen laut; beim Niederschreiben
flüstern die Schüler für sich, was sie schreiben. Solcher Teil-
versuche wurden rund 1000 ausgeführt, immer je fünf (wohl
in der bestimmten Reihenfolge) als ein Gesamtversuch. Nähere
Angaben über Alter und Zahl der Versuchspersonen u. s. w.
fehlen. Als Fehler wurden nur Verstösse gegen die „Gleich-
schreibung" (phonetische Schreibung) angerechnet.
Was bei dieser Yersuchsanordnung zunächst auffällt, ist
das Mittel, wodurch die Sprechbewegung ausgeschlossen werden
soll, und das, namentlich bei Schülern, immer recht störend
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Zur experimentellen Begründung des RechUckreib-Unierrichtes. 441
auf die Versuchsbedingungen wirken dürfte. Sonst ist nicht
viel einzuwenden, was nicht schon bei früherer Ge-
legenheit in dieser Schrift bemerkt worden wäre. Besonders
ist festzuhalten, dass durch Isolierung von Sehen oder Hören
auch hier wieder nicht die betreffenden Vorstellungen
isoliert wurden, und vor allem dass durch diese Versuche
auch nichts anderes als durch die Lay sehen untersucht werden
konnte, sicher nicht eigentlich das, was zu untersuchen war.
Auffällig ist übrigens noch, dass der Autor die Ver-
minderung der Fehlerzahlen bei Anwendung wirklicher
Wörter an Stelle seiner künstlich gebildeten dem Sinne
der Wörter zuschreibt, während dieser doch höchstens nur
neben der Verschiedenheit der Auffassungs- und. "Merk-
schwierigkeiten von Einfluss sein konnte.
Die Ergebnisse sind, wegen des verschiedenen Verfahrens,
mit den bisher besprochenen so wenig vergleichbar und haben
an sich auch auf unsere Frage so wenig Bezug, dass sie füg-
lich können übergangen werden.
Damit sind unsere Ausführungen vorläufig zu Ende ge-
bracht. Wenn sie auch nicht einen ausschliesslich kritischen
Charakter tragen, so ist ihr Zweck doch nur ein vorbereitender,
ein Anbahnen neuer Versuchswege durch Ausschalten der un-
zweckmässigen; und mit der Begründung solcher Unzweck-
mässigkeit wohl auch des Aufzeigens von einigem, das für
künftige Versuche nicht ausser Acht zu lassen sein möchte.
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Geographische Spaziergänge.
Von
Heinrich Fischer.
I. Spaziergänge! — Welche beliebte Form, allerlei nütz-
liches Wissen in angenehmer Art darzubieten! Was man
so gemeinhin unter „Spaziergängen" zu Gesicht bekommt, ich
denke z. B. an die vortrefflichen, freilich nicht für Kinder be-
stimmten „Spaziergänge eines Naturforschers" von Marshall,
das sind erdachte gemeinsame Wanderungen für bestimmte,
vielleicht verschleierte, aber doch wenigstens vom Verfasser er-
kannte und gewollte Lehrziele.
Kann es da wohl auch geographische Spaziergänge
geben? Warum nicht! Wie aber mögen sie aussehen?
Nicht anders wie jeder andere, bei dem man sich be-
müht, die Aufmerksamkeit der Kinder auf bestimmte Gegen-
stände zu lenken, sie in ihren Fragen auf beabsichtigte Rich-
tungen hinzuweisen. Nur eins ist zu bedenken: Genau ge-
nommen hat jeder Gegenstand auf dieser Erde geographische
Natur, und der Himmel liefert uns die Punkte und Linien,
nach denen wir uns hier unten zurechtfinden. Betrachte ich
ein Ding, so wie es ist, entsteht und vergeht, auf seine nächste
Umgebung einwirkt, oder von ihr beeinflusst wird, so liegt
darin nichts geographisches. Sehe ich es mir aber daraufhin
an, wie es gerade auf diese Stelle der Erde gelangt ist, was
sich weiter aus seiner Lage für Ding und Erde ergiebt, wie
man es macht, seine Lage und seine Beziehungen zur Erd-
oberfläche festzulegen und Kausalverbindungen aus diesem Ver-
halten aufzudecken, so betreibt man Geographie. Das ist für
ernste Wissenschaft genau so richtig wie für erste Kinderbe-
lehrung; nur in der Form und in der Fülle des Inhalts liegt
ein Unterschied. Beispiele werden uns das Wesen geogra-
phischer Betrachtung klarer machen. Ich gehe eine Linden-
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Geographische Spaliergänge.
443
allee entlang. Sehe ich mir den einzelnen Baum an nach Wuchs
und Eigenart, nach Blüten und Fruchtbildung, untersuche ich
die Einwirkung äusserer Kräfte belebter oder unbelebter auf
den Baum und die Schutzmittel, die dieser im Kampfe um
sein Leben gebraucht, so betreibe ich nichts geographisches.
Aber, wenn ich die Wetterseite der Bäume aufsuche, sie fast
alle ein wenig nach Osten geneigt, ihren Stamm im Westen
stärker mit Flechten und Moos bedeckt finde, berühre ich
geographisches. Stelle ich gar Länge, Breite und Richtung
des Weges fest, beobachte die Krümmen die er macht und
finde ihre Ursache in Sumpf und Berg, die umgangen wurden,
oder in Ortschaften, die an den Weg angeschlossen werden
sollten, so bin ich lediglich Geograph. Ich sehe Zugvögel über
mich hinfliegen, stelle ich ihre Art fest, beachte ich die Eigen-
tümlichkeit ihres Fluges oder ihres Rufes, so bin ich Zoologe,
achte ich hingegen wieder auf die Richtung die sie ein-
schlagen, auf die Höhe, in der sie fliegen, und bedenke dabei
Jahres-, Tageszeit und Witterung, so bin ich Geograph. Am
fremden Ort fallen mir Abweichungen des von Hause her
gewohnten auf, erst wenn mir diese oder jene in ihrer Ab-
hängigkeit von der andern Lage des fremden Ortes klar wird,
denke ich geographisch über sie. So sehe ich Holzbau im
Gebirge, Schieferdächer in einem andern, in der Ebene Lehm-
fachwerk und Ziegeldächer, Steinbau am Fluss, der schiffbar
vom nahen Gebirge sich herwendet. Hier tragen die Menschen
auf Rücken und Kopf, was sie dort mit der Karre befördern;
die vom Gelände bedingte Steilheit der Wege bewirkt den
Unterschied. Hier breiten sich weite Wälder aus, da Roggen-
und Kartoffelfelder, dort wieder wächst Tabak und Rübe, die
Güte des Bodens bedingt den Unterschied. Man wird erkannt
haben, dass es allemal nicht auf die gesamte Erscheinung eines
Dings ankommt, sondern auf ihre räumlichen und ursäch-
lichen Beziehungen zur Erdoberfläche. Auf diese muss man
auch die Kinder hinweisen, will man „geographische Spazier-
gänge" unternehmen. Der Natur des Kindes aber entspricht
es hierbei nicht systematisch, nicht im eigentlichen Sinne lehr-
haft, zu verfahren. Ich bin gewiss kein Feind systematischer
Unterweisung, sie hat ihren Sitz und ihr Recht in der Schule;
aber nebenher muss die freie Form der geistigen Anregung
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444
H. Fischer.
gehen, die bald durch Fragen des Kindes veranlasst wird,
bald auf vom Kinde nicht beachtetes hinweist, aber leicht und
gern den Faden fallen lässt, wenn er nur noch mit stärkerem
Zwang für das Kind gehalten werden kann. Hat man durch
unterrichtliche Ueberfütterung dem Kinde seine Fragelust ge-
nommen, so ist der Verlust viel grösser, als wenn man noch
so oft dies und das nicht hat zeigen können, weil der kleine Strick
nicht mehr bei der Sache war. — Also — denn ich muss
noch einmal zusammenfassend sagen, es lässt mir keine Ruh
— ein geographischer Spaziergang mit Kindern, wobei ich
immer an Familienverhältnisse und wenige Kinder denke,
wird sich so gestalten, dass der Erwachsene harmlos mit
seinen kleinen Schutzbefohlenen loswandelt, bald hier und da
beobachtend mit ihnen verweilt, und nun im bunten Gemenge
mit zoologischen, botanischen, physikalischen Bemerkungen
die kleinen Intellekte auch auf die räumlichen Beziehungen
der Dinge auf der Erdoberfläche aufmerksam macht.
II. Geographisches kann sich schon sehr früh für das Kind
bemerkbar machen. Jede Ortsveränderung giebt sich ja schon
als solche ein wenig geographisch. Es wird leicht sein, in
Kindern die Vorstellung der Verschiedenheit des Ortes leb-
haft werden zu lassen. Das Erkennen des elterlichen Wohn-
hauses am Ende eines kleinen Spazierganges ist vielleicht die
erste bewusste Aeusserung dieser Art seitens des Kindes.
Man schicke beim Heimwege wenige Nummern vor dem
Wohnhause das Kind voraus und lasse es das richtige Haus
suchen. Die weitere Orientierung in der Nachbarschaft schliesst
sich allmählich daran, ein erster selbständiger Besuch beim Kauf-
mann und dergl. folgen. Ein Ausflug giebt wohl Gelegenheit,
das Wiedererkennen des Stadtteiles zu erproben. „Nu sind
wir wieder in Ballin" sagte unaufgefordert meine kleine, da-
mals dreijährige Tochter, als wir von einem Ausflug in den
Grunewald einige Strassenecken von unserer Wohnung ent-
fernt, abends aus dem Omnibus stiegen. Sie musste also doch
die Strassen so weit im Gedächtnis haben und selbst bei
Abendlicht erkennen.
Ganz ein ander Ding aber auch geographischer Betrach-
tung schon im frühen Kindesalter zugänglich ist der Himmel
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Geographische Spaziergänge.
445
und seine Gestirne, allen voran der Mond. Die Sterne erlauben
nicht leicht sich zwischen ihnen zurechtzufinden, sie sind, be-
sonders für das Kind, einander zu ähnlich. Die Sonne blendet
und erfüllt mit ihrem Licht alles derart, dass sie nur bei Auf-
gang und Untergang bequemer gesehen werden. kann; den
Schatten aber, den sie wirft, ihr Schein, der in ein Fenster hinein-
fällt, sind für ein Kind lange nicht so auffallend, wie der
bleiche wechselgestaltete Mond. Wird er entdeckt, erregt er
jedesmal Jubel, sein Schein in eine dunkle Stube hinein wird
aufmerksam und mit Freude betrachtet, seine verschiedene Ge-
stalt und Stellung am Himmel, das alles fällt dem Kinde leicht
auf und lässt den Mond zu einem vertrauten und erfreulichen
Gesellen am Himmel werden. Auch die Bedeckung durch
Wolken, wie leicht lässt sie sich beim Monde beobachten,
wie unangenehm meist für die Augen bei der Sonne! Nun
lässt sich die Lust, den Mond zu betrachten, bei den Kindern
zwiefach ausbeuten. Einmal bleibt der Mond überall. Fährt
das Kind gegen Abend einen Weg, alle andern Gegenstände
kommen heran, laufen an ihm rechts und links vorbei und
verschwinden hinten, der liebe Mond geht still und sicher mit.
Wohl versteckt er sich einmal hinter einem Hause, aber schon
kommt er wieder heraus. Der Grund, seine ungeheure Ent-
fernung von uns im Vergleich mit den Dingen in unserer Nähe,
ist dem Kinde nicht verständlich, das thut aber nichts. Erst
die einzelne Beobachtung, dann die wiederholte, später, viel-
leicht viel später die Frage nach dem Grunde. Das ist der
vernünftige und natürliche Weg, wenn auch tausendfach in
unsern Schulen den Kindern Gründe für nicht beobachtete
Dinge als Antwort auf nicht gestellte Fragen gegeben werden.
Auch die abgesehen von seiner wachsenden Rundung gleich-
bleibende Grösse, die einerseits gestattet ihn mit einer kleinen
Hand zu bedecken und andererseits beim Aufgang ihn berge-
hoch über ein entferntes Haus hinaustragen lässt, kann schon
beobachtet werden. Das andere Beobachtungsmaterial liefert
die wechselnde Gestalt des Mondes in Verbindung mit seiner
veränderten Stellung am Himmel. „Wenn der liebe Mond ganz
schmal ist, dann steht er in Vaters Stube; wenn er halbdick
ist, ist er in der Essstube; und wenn er ganz rund ist, dann
ist er in der Schlafstube." Das haben meine beiden Kinder,
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 5
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446
H. Fischer.
besonders die fünfjährige, schon lange heraus. Da die einzige
Beobachtungszeit die frühe Abendstunde ist, so folgt daraus,
dass die drei Stuben nach Westen, Süden und Osten liegen
müssen. Soweit sind wir aber noch nicht gekommen; denn
da ein leichtes Benutzen der Himmelsrichtungen nicht ohne
Sicherheit im Gebrauch von rechts und links möglich ist, diese
sich aber noch nicht befriedigend eingestellt hat, können wir
mit Himmelsrichtungen noch nichts Rechtes anfangen. Ich
wünschte auch, sie versuchten erst noch selbst durch einige
kleine Beobachtungen weiter zu kommen. Eine solche haben
sie beide, oder richtiger der 3»/* jährige Knabe zuerst und daher
gewiss selbständig gemacht. Ich hatte ihnen Venus und
Jupiter im Sommer gezeigt, und sie suchten sie dann an jedem
heiteren Abend, solange sie zu finden waren. Nun kam nach
einer Unterbrechung im Herbst eine Zeit, wo das nicht mehr
gelang, Venus war längst Morgenstern, Jupiter verglomm in
der Abenddämmerung. Da entdeckte an einem Abend der
Knabe den über einem gegenüberliegenden Hause ziemlich
tief am Himmel stehenden Arktur. „Jupiter", ruft er aus.
Ich sage: ,*Nein, der ist es nicht, der sieht anders aus, der
Stern heisst „Arktur." Da sieht er ihn sich noch einmal an
und sagt dann: „„Arktur" macht so." Dabei blinzelte er ein
paarmal mit den Augen. Er hatte das Funkeln eines Fix-
sternes erkannt.
III. Vor etwa Jahresfrist erschien in einer populär-wissen-
schaftlichen Zeitschrift eine „Mahnung" man solle die Kinder
bei Wanderungen vom Sammeln zurückhalten. Das Sammeln
von Tieren veranlasse meist nutzlose Quälereien, und beim
Pflanzensammeln werde auch oft unnötig zerstört. Statt dessen
sei es besser, man nehme sich der Kinder besser an, zeige
ihnen die Herrlichkeit der Natur bis in ihre kleinsten Mani-
festationen, lehre sie das Geheimnis der Befruchtung in den
Blüten, die Bedeutung der Insektenbesuche u. s.w. verstehen.
Der Artikel, der übrigens von einem Geographen herrührte,
fand vielen Beifall, nach der Häufigkeit zu urteilen, mit der
man ihm in Sonntagsblättern und ähnl. als Abdruck wieder
begegnete. „Man kann dem Verfasser dieser Mahnung nur
voll beipflichten", lautete der redaktionelle Stempel, der bei-
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Geographische Spaziergänge.
447
gedrückt zu sein pflegte. Und doch ist — sehe ich von der
Verhütung unnötiger Grausamkeit ab, diese Mahnung in ihrem
Kerne vollkommen unrichtig. Belehrungen, wie die dort ge-
nannten, entsprechen wohl dem Kausalitätsbedürfnisse und dem
Erfahrungsstande Erwachsener, wer sie aber dem Kinde an-
thut, der redet in den Wind. Das Kind will kennen und unter-
scheiden lernen, dazu bedarf es des Sammeins; es will seine
Beobachtungen in Zusammenhang bringen, dazu bedarf es des
Ordnens. Wie in der grossen Geschichte der Menschheit wissen-
schaftliches Denken entstanden und gewachsen ist, nach den-
selben Gesetzen wächst die Erkenntnis auch heute noch in
den kleinen Köpfen : erst Freude am Einzelnen (einmal auch
Furcht davor), dann Bedürfnis nach Unterscheidung und Ver-
langen nach Namen, dann Zusammenfassung des Aehnlichen
— viel später unsere Art der kausalen Verknüpfung. Nicht als
wenn das Kind ohne ursächliche Verknüpfung auskäme, aber
seine Welt der kausalen Beziehungen ist nicht die der Er-
wachsenen. Sind denn das Märchen-, das Heroenalter der
Kindesseele nur kindische Marotten ; oder entspringen sie nicht
vielmehr der Natur des Kindes selbst ? Wenn aber das letztere,
wenn der heranwachsende kindliche Geist (nach Art eines
phyllogenetischen Grundgesetzes auf psychischem Gebiet) die
Weltanschauungsformen alter Zeiten durchleben muss, ist es
da nicht eine Verkehrtheit vorschnell mit der fremden Ge-
dankenwelt der Erwachsenen sich in dieses Leben hineinzu-
drängen ? Ausserdem ist es nutzlos. Der kindliche Geist nimmt
doch nur das auf, was ihm entspricht; alles andere kann ihm
wohl mechanisch eingeflösst werden, es wird aber nicht wirk-
licher Besitz, es bleibt toter Ballast. Wozu aber eine Kindes-
seele unter Ballast gehen lassen, wenn für wertvolle Ladung
gesorgt werden kann? Etwa nur, weil die moderne Schule,
mögen ihre Vorzüge so gross sein, wie sie wollen, im Ballast-
laden es so hübsch weit gebracht hat ? Ich dächte hierin könnte
das Elternhaus ruhig seinen besonderen Weg gehen.
IV. Meine Kinder leben jedenfalls noch im Märchenzeit-
alter, und darnach richte ich mich Besser als eine langatmige
Auseinandersetzung wird ein kleines Gespräch die geistige Ent-
wicklungsstufe darlegen, auf der ich mit etwaigen geographi-
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44H
H. Ftschcr.
sehen oder verwandten Belehrungen meinerseits fussen kann.
Die Kinder kennen den lieben Gott und Frau Holle. An einem
der wenigen heissen Tage des verflossenen Sommers sassen
sie, kurz ehe ein Gewitter heraufkam, bei einander, und litten
etwas unter der Schwüle. Da entspann sich zwischen ihnen
nun folgende Unterhaltung. „Ob wohl der liebe Gott auch so
schwitzt wie wir?" „Nein, der ist ja oben, da scheint die liebe
Sonne nur so von der Seite gegen ihn." Der Junge, er war
der antwortende Teil, hatte die zutreffende Beobachtung ge-
macht, dass allein die hochstehende Sonne stark wärmt und
sie an sich ganz richtig verwertet. Inzwischen zieht das Wetter
herauf und es beginnt zu regnen. „Wie das wohl Frau Holle
macht, wenn sie regnen lässt? Gewiss wischt sie dann oben
auf," bemerkt eins der Kinder. Ein heftiger Guss geht her-
nieder. „Nun wird sie sich wohl in den Aufwischeimer gesetzt
haben und ist mit umgefallen." Es donnert. „Horch, jetzt
schrubben sie." Man sieht, eine Weiterbildung des durch das
bekannte Märchen gegebenen „Bettenschüttelns der Frau
Holle", die zu Erklärungen von Naturerscheinungen kommt,
wie sie dem kindlichen Vorstellungsvermögen gerade ange-
messen sind. Sie stehen nicht in Uebereinstimmung mit den
Naturgesetzen der Erwachsenen, das thut nichts, diese werden
sich schon aus ihnen mit der Zeit entwickeln. Denn so bestimmt
solche kindlichen Aeusserungen auftreten, so plastisch sind
doch noch die dahinter steckenden Vorstellungen, so leicht
und bequem verändert oder ersetzt. Einige Wochen später
stehe ich mit dem Jungen bei Regenwetter in einer Laube, wir
lauern beide darauf, dass das Giessen aufhört. „Woher nur
der viele Regen immer kommt! seufzt er. „Ja, wo kommt er
wohl her," frage ich nun. „Von den dicken Wolken, da fällt
er heraus." Wir unterhalten uns noch ein ganzes Weilchen so
korrekt naturwissenschaftlich; da ruft er plötzlich heraus: „So
Frau Holle, nun kannst du aber mit Regnen bald aufhören."
„Wie macht das denn Frau Holle, wenn sie regnen lässt?**
erkundige ich mich. „Sie wird wohl die dicken Wolken an-
einander pressen, dann läuft das Wasser unten raus." So
arbeitet der kleine Geist an dem Regenproblem. Soll man
ihm mit dem Danaergeschenk einer vorzeitigen „Erklärung"
die Freude am eigenen Finden verderben? Ich meine nicht,
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Geographische Spaziergänge.
449
nur für eins wird man sorgen müssen, leider notgedrungen
gegen das verbalistische Wesen unserer modernen Schule: für
die Pflege des scharfen Sehens, Beobachtens, Unterscheidens
und Schliessens, verbunden mit wachsender Liebe und Ehr-
furcht vor der Natur.
V. Aber nun wollen wir wirklich unsere versprochenen
Spaziergänge antreten. Wir wollen einmal sehen, was der kleine
Kerl neben uns, sich unter einem Berg vorstellt, und wie weit
wir ihm bei der Klärung seiner Vorstellungen behilflich sein
können. Gehört hat er das Wort schon oft, ebenso es gebraucht.
Auch ist er auf grösseren und kleineren Bergen schon ge-
wesen, im Riesengebirge und hier an der See auf dem „Bäcker-
berge", der gerade über die kleinen einstöckigen Häuser davor
hinwegsieht; auch läuft an unsern Hinterfenstern in Berlin
der „Tempelhofer Berg" hin, eine etwas vernachlässigte, für
Flachlandverhältnisse ziemlich stark ansteigende Strasse. Jetzt
sind wir im Seebad, in dem kleinen Osternothhafen unter dem
Swinemünder Leuchtturm. Wir gehen, das Kind und ich, am
Fischerhafen auf und ab und blicken den Strom hinauf. „Das
ist der Golm," ruft der Kleine. Ich hatte ihm den bekannten
Berg öfters gezeigt, denn er hebt sich mit leichtkenntlichem
Umriss vom Himmel ab, gerade hinter dem Swinemünder
Flusshafen. „Was ist denn das, der Golm?" frage ich ihn
nun. „Ein Berg", sagt er. „Was ist das aber, ein Berg ?" frage
ich weiter. Kleine Pause. — „Hampelbaude" ist schliesslich die
zögernd kommende, halb fragende Antwort. Auf die Hampel-
baude im Riesengebirge waren wir vor zwei Jahren mit den
Kindern als Abschluss eines längeren Sommeraufenthaltes ge-
stiegen. Niemals hatte er annähernd so lange und so viel bergan
und dann bergab steigen müssen, das hatte sich ihm am
stärksten eingeprägt. Mir war diese Antwort sehr überraschend,
ich hätte viel eher den Kreuzberg erwartet, den er doch häufig
genug auf und ab gestiegen ist, aber nein : die Hampelbaude.
Es scheint mir, dass neben der Thätigkeit des Bergsteigens
die sinnliche Anschauung, die in Berlin bei der Fülle gleich-
zeitiger Eindrücke für das einzelne Ding weniger kräftig ist,
eine entscheidende Rolle gespielt hat. Dass sie aber wieder
nicht das einzig wichtige war, beweist die Zurückstellung der
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I
450 Ä Fischer.
Schneekoppe, die auch für ihn als eindrucksvollster Gipfel den
Kamm überragte und fast jeden Abend von ihm benannt wurde,
wenn der Jupiter langsam hinter ihr heraufstieg. Es sind also
die beiden wichtigsten Elemente für eine grundlegende Auf-
fassung des Begriffs „Berg" bei ihm vorhanden: das hohe,
überragende und das mit Mühe zu ersteigende.
An einem der nächsten Tage machten wir nun einen Aus-
flug nach unserm „Golm", soweit als möglich zu Fuss. Da-
durch hat sich seine Vorstellung klären und erweitern können.
Da war zuerst stundenlanges Wandern im ebenen Land nötig,
um an die Stelle zu gelangen, wo der Berg anstieg, um den
Fuss des Berges zu erreichen. Und doch war der Berg schon
von uns aus zu sehen gewesen. Ein Berg kann also weit ab
liegen und doch sichtbar bleiben. Dann konnte man von ihm
weit über das Land und Wasser hinwegsehen. Das Kerlchen
entdeckte erst unsern Leuchtturm und dann andere vertraute
Bauten oder Schiffe, die man vor Stunden hinter sich gelassen.
„Das Wasser läuft den Berg hinab", diese Beobachtung
haben wir dann wieder bei anderer Gelegenheit gemacht. Es
hatte einmal wieder stark gegossen und dann schnell mit Regnen
aufgehört. Nun stand das Wasser an einzelnen Stellen in breiten
Pfützen, an anderen floss es noch langsam dahin. Ging man
dem Wasserfaden nach, so führte er uns regelmässig zu einer
Pfütze. Wir sahen uns das alles an und bemerkten, dass der
Boden überall schief war, wo das Wasser floss. Auf einer
Tischplatte haben wir's dann noch im kleinen einmal nach-
gemacht. Woran das wohl liegt, dass das Wasser bergab
fliesst? Bergab geht's leicht und bergan geht's schwer, das kann
man wohl bemerken und das Wasser fliesst immer da, wo's
ihm leicht gemacht wird. Wir machen uns im Sande einen
Teich, rings herum einen schönen Wall. Dem Wasser ist es
viel zu schwer hinüberzukommen, eher verkriecht es sich nach
unten im Sande. Aber siehe da, wir machen ihm ein Thor
und es fliesst hinaus. Auch wenn wir Quetschkartoffeln und
Brühe haben, geht die Sache sehr schön, da giebt's sogar einen
Wasserfall wie im Viktoriapark. „Bergab geht's leicht, bergan
geht's schwer." Das haben wir am Golm ja selbst gemerkt.
Und dann haben wir's wieder bemerken können, als wir im
Wagen fuhren. Bergab und ebenen Wegs liefen die Pferde
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Geographische Spaziergänge.
451
Trapp, jetzt aber fingen sie an, im Schritt zu gehen, „es ging
bergan". Selbst bei der Eisenbahn glaubten wir es bemerkt
zu haben, doch waren wir unserer Sache nicht recht gewiss;
wir konnten es so schlecht erkennen, ob es wirklich bergan
und bergab ging, das war uns noch zu schwierig.
VTI. Wie bringt man den Kindern wohl am besten das
Verständnis der Himmelsrichtungen bei? war eine Frage, die
jüngst an mich gestellt wurde. Natürlich kommt es hier auch
wieder auf Alter und Umstände an Ich denke hier aber auch
wieder an noch kaum schulpflichtige kleine Gesellen und an
das Elternhaus. Das erste scheint mir da das Hineingewöhnen
in richtige Beispiele zu sein. Man bezeichne im Gespräch
Häuserfronten, Strassenseiten und dergl. recht oft nach
Himmelsrichtungen und lasse sie die Unterschiede sachte fühlen.
Wohnt man z. B. in einer N.-S. gerichteten Strasse, so hat
ihre Westseite Morgensonne (wenn sie breit genug ist), ihre
Ostseite Abendsonne. Die Kinder sollen je nach der Jahreszeit
bald in der Sonne, bald im Schatten spielen. Sie werden bald
wissen, wann und wo Schatten oder Sonne zu finden sind.
So fügt es sich zusammen. Dann wird wohl einmal vom kalten
Nordwind gesprochen, im Westen steht ein Gewitter, das herauf
zieht ; nachher bewundern wir im Osten den Regenbogen. Sonne
und Mond sind uns liebe vertraute Gestalten. Schon zu An-
fang erzählte ich, wie die wechselnde Form des Mondes wohl
abends zu sehen, aber immer wo anders am Himmel. Es ist
kein weiter Schritt, die Mondsichel mit Westen, den Halbmond
mit Süden, den Vollmond mit Osten zu verbinden, wenn uns
nur erst die Fenster als WTestfenster u.s.w. geläufig geworden
sind. Die Sonne aber, die beobachten wir nun schon recht lange,
wie sie's macht, wenn sie untergeht; oft sind ja die dicken
Wolken davor, aber garnicht selten kann man sie doch hinter
die Häuser tauchen sehen. Das geschieht nicht immer an der-
selben Stelle, um Weihnachten verschwand sie ganz links hinter
dem dicken Turm der Brauerei, ehe wir im Sommer abreisten,
viel weiter rechts, und nun geht sie schon wieder sachte auf
die Brauerei los. Das giebt zu denken, aber wir sind mit unsern
Gedanken hierüber noch nicht recht im klaren, wir haben doch
wohl noch zu wenig gesehen. Aber eins wissen wir mit grösster
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452
//. Fischer.
Sicherheit, an welche Fenster wir laufen müssen, wenn wir
die Sonne untergehen sehen wollen. Wo anders als aus den
Vorderfenstern würden wir nie darnach ausgucken.
Zum Schluss noch ein kleines Gespräch, das uns von den
mehr „wissenschaftlichen" Bemühungen der kleinen Denker
wieder mehr zu der mythologischen Grundstimmung führt, mit
der wir rechnen müssen, die wir allmählich durch reifere Ideen
e r setzen wollen, aber nicht unnötig z e r setzen sollen. Der Junge
hat gehört, dass die Menschen in den Himmel kommen, wenn
sie tot sind, und — dass die Erde kugelrund ist. Besonders das
letztere hat er nicht von mir, er hat es, wer weiss wo, aufge-
schnappt. „Aha", meint er nun, „dann ist wohl auch der
Himmel unten, und, wenn einer tot ist, dann graben die
Menschen so lange ein Loch, bis sie durch sind, dann legen
sie ihn hinein, und dann fällt er durch und fliegt solange, bis er
in den Himmel kommt." Ich finde, das ist ein ganz klares
Weltbild — man vergleiche es z. B. mit dem unserer mittel-
alterlicher Vorfahren vor 1 1/2 Dutzend Geschlechtern, uns am
geläufigsten vielleicht aus dem Dante — . Da meine ich doch,
man solle solch Bild sich ausreifen lassen, vorsichtig hinzu-
thun und hinwegräumen, gewiss aber nicht es ohne Not mit
Spott und Lachen zerstören.
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Das Rettig'sche Schulbanksystem.
Von
Paul Johannes Müller.
Vortrag, gehalten in der Sitzung des Allgemeinen Deutschen Vereins für
Schulgesundheitspflege, Ortsgruppe Berlin, am 9. Dezember 1902.
Zu den bereits vorhandenen 30 verschiedenen Schulbank-
Systemen, von denen jedes einzelne in einer Anzahl von Vari-
anten ausgeführt wird, sodass man bereits mehr als 200 ver-
schiedene Arten von Schulbänken zählt, ist im Jahre 1893 die
Abb. 1. Rettig's Schulbank. Modell 1(>02.
Rettigsche Schulbank hinzugetreten. Zur Zeit sind mehr als
5000 Schulzimmer mit Rettigschulbänken ausgestattet, und es
sitzen über eine viertel Million Schulkinder auf ihnen. Man
hatte also hinreichende Gelegenheit, in den verflossenen neun
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454
P. J. Müller.
Jahren Erfahrungen mit dem Rettigschen System zu sammeln,
welche naturgemäss zu immer weiteren auf Vervollkommnung
gerichteten Versuchen verwertet werden konnten.
Die vorliegenden Modelle zeigen die jetzt übliche Aus-
führungsart (Abb. i). Von vornherein sei darauf hingewiesen,
dass man bei Beurteilung eines Schulbanksystems zu unter-
scheiden hat :
a) Eigenschaften, die untrennbar mit dem System ver-
bunden sind,
b) Eigenschaften, die nicht zum System an sich gehören.
Zu den letzteren gehören die Abmessungen: die Sitzhöhe, die
Sitzbreite, die Differenz, der Lehnenabstand, ferner die Lehnen-
form u. a. Gewiss sind diese Eigenschaften von grösster
Wichtigkeit, weil hiervon das gesundheitsgemässe Sitzen im
wesentlichen abhängt. Indessen ist eine vollständige Ueber-
einstimmung gerade über die Abmessungen und über die
Gestaltung der Lehne noch nicht erreicht. Man ist sich jedoch
darüber einig, dass eine gesundheitsgemässe Haltung nicht
mit Zwangsmitteln erreicht werden darf. Ein absolutes Still-
sitzen darf eben, selbst wenn es erreichbar wäre, gar nicht
erstrebt werden. Zum Wohlbefinden gehört eine, wenn
auch beschränkte Möglichkeit, die Haltung verändern zu
können. Selbst die bequemste Körperhaltung wird, wenn
eine Veränderung behindert oder erschwert ist, zur Qual.
Eine noch so sorgfältig dimensionierte Schulbank, die einen
Wechsel in der Körperhaltung unmöglich macht, ist eben
so unbrauchbar wie eine solche, welche wegen schlechter
Gestaltung das Einnehmen einer guten Körperhaltung ver-
hindert oder das Verbleiben in solcher Haltung erschwert.
Es kann sich also nicht um die Ausübung irgend eines Zwanges,
sondern nur darum handeln, dem Schüler zur Auffindung der
gesunden Haltung solche Anhaltspunkte zu gewähren, welche
als naturgemäss empfunden werden, um auf diese Weise einer
dauernden schädlichen Körperhaltung vorzubeugen. Die rich-
tigen Abmessungen können nur durch umfangreiche Versuche
und durch exakte Beobachtung gewonnen werden.
Die wesentlichen Eigenschaften des Rettigschen Systems
sind:
a) die Umlegbarkeit,
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Das Rettigsche Schulbanksystem. 455
b) die Sicherung der geordneten Aufstellung,
c) der seitlich verkürzte Sitz, bezw. die seitlich überstehende
Pultplatte,
d) die Zweisitzigkeit.
Eine gründliche Schulzimmer-Reinigung ist nur bei völliger
Freilegung des Saalbodens erreichbar. So ist z. B. eine An-
wendung von feuchten Sägespänen beim Auskehren thatsäch-
lich undurchführbar, wenn man nicht hierbei mit dem Besen
völlig frei hantieren, also den auf dem Saalboden liegenden
Staub und Schmutz gehörig mit dem feuchten Sägemehl ver-
mengen kann. Nur durch ein solches Vermengen wird ein
Aufwirbeln des Staubcs beim Kehren selbst verhütet und die
Entfernung des Staubes aus dem Schulzimmer erreicht.
Beim System Rettig ist jede Bank an der dem Fenster
abgewandten Seite mittels zweier Gelenkfüsse so am Boden
befestigt, dass sie am anderen Ende aufgehoben und umgelegt
werden kann (Abb. 2). Das hierbei verwendete Tintglas (Abb. 3)
Abbildung 2.
verhütet ein Ausf Hessen der Tinte beim Umlegen der Bänke.
Dieses Umlegen wird von einer einzelnen Person mit Leichtig-
keit ausgeführt. Es werden zunächst immer sämtliche Bänke
umgelegt. Ein besonderer Raum zum Umlegen der Bänke
wird nur für die letzte Bankreihe, vom Fenster aus gezählt,
nötig, und zwar muss der Gang nicht ganz so breit sein, wie
die Bank hoch ist; es genügt ein um 15 cm geringerer Raum,
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456
P y. Müüer.
weil der Drehpunkt nicht unter dem Ende der Pultplatte, auch
nicht dicht am Fussboden liegt, sondern mehr nach innen
gerückt ist und einige Centimeter über dem Fussboden sich
befindet. Durch das Umlegen der Bankreihen wird der Saal-
boden in breiten Streifen freigelegt (Abb. 4). Es dürfte nun die
Frage aufgeworfen werden, ob dieses Umlegen der Bänke
wirklich leicht und schnell von statten geht, sodass die Schul-
diener willig und ordentlich von der Einrichtung Gebrauch
machen. Diese Frage kann auf Grund neunjähriger Er-
fahrungen bejaht werden. Ueberall, wo auf eine ordent-
liche Reinigung gehalten wird, erblickt man in der umleg-
baren Rettigbank eine wesentliche Erleichterung derselben.
Abbildung 3.
Man wird stets davon ausgehen, dass eine Freilegung
des Saalbodens erforderlich ist, um eine ausreichende Zimmer-
reinigung durchzuführen. Ein Hin und Herschieben der Schul-
bänke ist aber — ganz abgesehen von der sich hieraus er-
gebenden stärkeren Abnutzung der Bänke und des Fussboden-
belages — mühevoller und zeitraubender als das Umlegen
der Bänke. Es kommt hinzu, dass die geordnete Aufstellung
unbefestigter Schulbänke schwer zu erhalten ist. Aus diesem
Grunde befestigte man wohl die Schulbänke unverrückbar am
Saalboden; besonders war dies bei zweisitzigen Schulbänken
nötig, die wegen ihres geringen Eigengewichtes gegen Ver-
schiebung wenig gesichert waren.
Es sind Versuche gemacht worden, durch besondere Ge-
staltung der Schulbänke, wie Weglassung des Fussbrettes, der
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Das Retti sosehr Schulbanksystem.
457
Querstollen, Verschmälerung der Seitenteile u. a. m. den Saal-
boden für die Reinigung zugänglich zu machen. Es bleiben
jedoch bei durchschnittlich etwa 30 Bänken in einer Klasse
immer noch Hindernisse für die Reinigung bestehen. Bei
allen unverrückbar befestigten Schulbänken ist die Zugäng-
lichkeit des Saalbodens stets abhängig von der Breite der
Zwischengänge. Sobald die Schulbänke mit üblichen Zwischen-
gangbreiten aufgestellt werden, wird eine gründliche Reinigung
des Saalbodens erschwert.
Bei dem Rettigschen System brauchen die Zwischengänge
nicht breiter angeordnet zu werden, als für das Aufstehen
sämtlicher Schüler erforderlich ist, weil eben die Kreilegung
des Saalbodens durch das Umlegen der Bänke in weitergehen-
dem Masse erreicht wird, als wenn bei feststehenden Bänken
breite Zwischengänge zu diesem Zwecke angelegt werden.
Die Zwischengänge werden ausserdem durch die seitlich
verkürzten Sitzbänke geräumiger. Es sind nämlich bei der
Rettigschen Schulbank die Sitze seitlich um etwa 12 cm kürzer,
als die entsprechenden Pultplatten. Im Prinzip eigentlich nichts
AbbÜdung 4. Abbildung 5.
Neues, da man ja auch bei den Schulbänken mit Einzelklapp-
sitzen oder Einzelpendelsitzen die Sitze nicht so lang machte
wie die Pultplatten, sondern ihnen etwa die Breite eines Stuhl-
sitzes gab. Durch diese Verkürzung wird aber Aufstehen des
Schülers und seitliches Hinaustreten aus der Bank wesentlich
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458
/'. y. Mülhr.
erleichtert. Gegen das seitliche Heraustreten wurden bei den
alten zweisitzigen Bänken seitens der Hygienikcr Bedenken
erhoben. Man hatte beobachtet, dass die Kinder, um beim
Aufruf recht schnell sich zu erheben, sich an des Ende der
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nicht verkürzten Sitzbank oder gar darüber hinausschoben, auch
wohl den äusseren Fuss über den Querstollen hinwegsetzten.
Dabei hatte der Körper eine schiefe Haltung und sein Gewicht
ruhte vorwiegend oder völlig auf der inneren Gesässhälfte.
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Das Rittigsche SchulbanksyzUm.
459
Ferner waren die Kinder gezwungen, sich aus der Hockstellung
zu erheben, was eine nicht unerhebliche Anstrengung voraus-
setzt. Diese Bedenken sind bei der Rettigbank von vorherein
beseitigt. Wegen der Verkürzung des Sitzbrettes unterbleibt
das Hinausrutschen und damit die schiefe Körperhaltung, denn
der Schüler sitzt immer am Ende der Bank. (Abb. 4). Der durch
das Fussbrett erheblich erhöhte Sitz schafft beim Heraustreten
sogleich ein fast gestrecktes Standbein; nur ein kurzes Heran-
ziehen des anderen Fusses, und der Schüler steht in gerader
Haltung neben der Bank. (Abb. 5). So können die Schüler beim
Lesen und Sprechen bequem stehen, und selbst Freiübungen,
die zur Erholung den Unterricht unterbrechen sollen, lassen
sich leicht ausführen. (Abb. 6.)
Will man verhüten, dass die Schüler beim Aufstehen neben-
einander stehen, so ist nur nötig, die Bänke derartig auf-
• Städtische Volksschule • • Gymnasium •
Abbildung 7. Abbildung 8.
zustellen, dass neben dem Sitze der einen Bank die Pultplatte
der nächsten Bank sich befindet. (Abb. 7). Bei dieser staffel-
weisen Aufstellung der Bänke stehen sämtliche Schüler in den
Zwischengängen in einer Reihe verschränkt hintereinander.
460
Das bereits erwähnte Fussbrett lässt sich mit Rillen und
Schlitzen versehen. Es hat den Zweck, das Entstehen kalter
Füsse, ferner die Aufwirbelung von Staub zu verhüten. Der
Anwendung von massiven Decken mit Linoleumbelag stehen
infolge des Vorhandenseins des Fussbrettes, der gesicherten
Aufstellung und der ermöglichten Freilegung des Saalbodens
beim Reinigen Hindernisse nicht mehr im Wege.
Jede Rettigschulbank ist eine Vollbank, und es ist daher
ein beliebiges Auswechseln der Bankgrössen untereinander,
ein Wegnehmen und Hinzustellen je nach Erfordern ermög-
licht. Es lassen sich in jeder Klasse ohne weiteres verschiedene
Bankgrössen verwenden und zwar in der Reihenfolge, wie
dies für den Unterrichtsbetrieb erforderlich ist. Dabei kann
man auf Kurzsichtigkeit und Schwerhörigkeit von Schülern
leicht Rücksicht nehmen, indem sie eine ihrer Körpergrösse
entsprechende Bank vorn beim Lehrerplatz angewiesen er-
halten. (Abb. 8 Klasse mit 3 Bankgrössen 6, 5 und 4.)
Zur Befestigung der Rettigbänke dienen sogenannte
Klemmfüsse. Das Anklemmen und Loslösen dieser Klemmfüsse
an der unter den Bänken am Fussboden liegenden durch-
laufenden Klemmschiene ist leicht ausführbar, ohne dass der
Fussboden beschädigt wird. Die Schienen können auch frei
auf dem Saalboden liegen, weil das Eigengewicht der Schul-
bänke einer Reihe genügend gross ist, um die Bänke gegen
Verschiebung zu sichern.
Eine sichere Führung beim Umlegen der Bänke erscheint
erforderlich, und es haben sich Versuche, das Umlegen der Bänke
durch ein blosses Auflegen der Querstollen auf eine Winkel-
schiene zu erreichen, nicht bewährt. So wurde u. a. im Jahre 1900
in Nürnberg ein Schulsaal der Schule in der Goethestrasse
mit derartigen Kippbänken, die in der Fachpresse unter dem
unzutreffenden Namen „Nürnberger Schulbank" bekannt gege-
ben wurden, ausgestattet. Von einer weiteren Anwendung dieser
losen Kippvorrichtung wurde jedoch Abstand genommen. Der
Umstand, dass in den Jahren 1901 und 1902 weitere 4500 Rettig-
bänke für die Nürnberger Schulen beschafft wurden, spricht
für die Zweckmässigkeit des Festhaltens an einer beim Um-
legen um eine feste Achse drehbaren Schulbank.
Die Holzverbindungen und Versteifungen der Rettigbank
Digitized by Google
Das Retiiguht Schulbanksysttm.
461
sind unter besonderer Berücksichtigung der Umlegbarkeit ge-
wählt. Nach meinen in neunjähriger Praxis gesammelten Er-
fahrungen steht die Rettigbank in Bezug auf Haltbarkeit hinter
keiner anderen Konstruktion zurück. Die Schuldiener und die
Kehrfrauen gewöhnen sich schnell an ein flottes aber sach-
gemässes Umlegen der Bänke; ein rohes oder ungeschicktes
Fallenlassen verrät sich leicht durch Tintflecke auf der unteren
Tintdeckelseite. Bei schnellem, ordentlichem Umlegen der
Bänke kann die Tinte absolut nicht ausspritzen.
Von wirtschaftlicher Bedeutung ist der Umstand, dass die
Rettigschulbank ganz aus Holz konstruiert ist und nach vor-
heriger Vereinbarung mit den Patentinhabern (P. Johs. Müller
& Co., Berlin) von jedem ortsansässigen Tischler hergestellt
werden kann. Die Beschaffungskosten stellen sich einschliess-
lich Licenz auf durchschnittlich u— 12 Mark pro Sitz.
Der Anwendung von verschieblichen oder aufklappbaren
Pultplatten stehen Hindernisse nicht im Wege. U. a. werden
in sämtlichen neuen Münchener Schulen für die oberen
Mädchenklassen Rettigbanke mit aufklappbaren Pultplatten an-
gewendet und zwar dient diese Vorrichtung für die Zwecke
des Handarbeitsunterrichtes.
Für die Berliner städtischen Schulen werden die Rettig-
schulbänke nach den von der Städtischen Schul-Deputation
aufgestellten Abmessungen hergestellt und zwar sind die neue
Gemeindeschule in der Waldenserstrasse, die neue Gemeinde-
schule in der Waldemarstrasse, ferner die neue Realschule
am Schleswiger Ufer vollständig mit derartigen Rettigbänken
ausgestattet, auch die neue Gemeinde-Doppelschule in der Berg-
mannstrasse (Eröffnung Ostern 1903) wird zur Zeit mit den
gleichen Bänken versehen.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene.
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Gedanken
über die Herausgabe pädagogischer Klassiker.
Von
Hans Zimmer.
Drei besondere Umstände legten es mir, teilweise schon
seit vielen Jahren, nahe, mir Gedanken über die Herausgabe
pädagogischer Klassiker zu machen: als Nachfolger Dr. Gustav
Fröhlichs leite ich „Gresslers Klassiker der Pädagogik", für
die von mir herausgegebenen Meyerschen „Volksbücher" hatte
und habe ich, die Aufgabe der Sammlung volkspädagogisch
fassend, nicht selten Ausgaben pädagogischer Werke (Luther,
„An den christlichen Adel deutscher Nation" u. s. f.) zu be-
sorgen, und endlich habe ich wenigstens ein Werk eines
grossen Pädagogen in einer besonderen kleinen Veröffentlichung
wissenschaftlich herausgegeben, Herbarts „Umriss" {Halle a. S-,
Otto Hendel, „Bibliothek der Gesamtlitteratur", Nr. 1353—55;
vgl. die Selbstanzeige in dieser Zeitschrift, Jahrgang 2, Heft 2)
Wenn ich im Folgenden den Fach genossen die Ideen, die
sich mir teils aus der Praxis, teils in theoretischem Nachdenken
über das Thema ergaben, vorlegen darf, so will ich über die
sogenannte „Technik" solcher Ausgaben pädagogischer Klassiker
mich nicht verbreiten, sondern meinen Aufsatz nur der Be-
trachtung einiger Fragen von allgemeinerer Art und tieferer
Bedeutung widmen. Dass ich dabei vielleicht bei Vielen
Widerspruch finden werde, darf mich nicht abhalten.
I. Die Berechtigung pädagogischer Klassiker-
Ausgaben.
1. Warum veranstaltet man überhaupt Neuausgaben
älterer pädagogischer Schriften? Was hat das für einen Zweck?
Wie rechtfertigt es sich? Gewöhnlich motiviert man die Be-
gründung pädagogischer Klassiker - Sammlungen mit dem Ge-
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Gedanken über die Herausgabe pädagogischer Klassiker.
463
danken: es giebt in der Gegenwart keine Originalpädagogen,
wir zehren vom pädagogischen Gute der Vergangenheit, wir
müssen uns dieses also — eben in den Klassiker-Ausgaben —
näher bringen, um es ganz in die Scheidemünze der Praxis um-
setzen zu können. Damit würde also im Leben unserer
Wissenschaft der Eintritt einer jener Perioden der Einkehr
und Selbstbesinnung angenommen sein, von denen Ernst
Elster („Prinzipien der Literaturwissenschaft", Bd. 1, S. III)
mit Recht sagt, dass sie auf eine Epoche kühn vordringender
praktischer Arbeit zu folgen pflegen. Ich meinesteils kann
für jetzt an das Vorhandensein eines solchen rückschauenden
Stillstandes in der Pädagogik nicht glauben. Paul Natorp
ist nichts weniger als ein blosser Nachfolger Pestalozzis, auch
Wilhelm Rein kein blosser Nachfolger Herbarts oder Zillers,
und wenn ich an Namen wie Paul Bergemann und Berthold
Otto oder auch an meine eigenen Bestrebungen denke, so
finde ich vielmehr, dass wir uns in demselben Stadium des
Ringens nach einem neuen „Stil" in der Pädagogik befinden,
das die moderne deutsche Litteratur zur Zeit durchläuft. In
dem Satze „die Gegenwart hat keine Original pädagogen"
möchte ich die Berechtigung pädagogischer Klassikerausgaben
also nicht erblicken.
2. Aber man konnte folgend ermassen argumentieren. Die
Herausgabe pädagogischer Klassiker ist eine vorwiegend
historische Leistung (worüber weiter unten ausführlicher ge-
handelt werden soll), und in Ernest Renans treffendem Wort
„In der Geschichte giebt es trübe Tage, aber keine unfrucht-
baren" liegt die notwendige Schlussfolgerung: jede Beschäfti-
gung mit geschichtlichen Dingen ist nützlich, jede geschicht-
liche Arbeit wertvoll. Auch der Ausspruch eines anderen
Franzosen, Gaston Boissiers, könnte herangezogen werden; er
stellt fest: „Um zu wissen, was aus einem Volke werden wird,
muss man vor allem seine Vergangenheit kennen; das ist der
Dienst, den uns die Geschichte leistet." Ebensogut darf man
sagen: um zu wissen, was aus der Pädagogik werden wird,
muss man ihre Vergangenheit, d. h. ihre Geschichte, kennen.
Daraus folgt dann abermals: die Herausgabe pädagogischer
Klassiker ist eine geschichtliche Leistung, ergo ist sie erspriess-
lich und verdienstlich. Das ist ganz richtig, passt aber weit
6'
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464
Hans Zimmer.
besser als auf lose zu einer Sammlung aneinandergereihte
Klassiker - Ausgaben auf eine zusammenhängende Ge-
schichte der Pädagogik, während es uns darauf ankommt,
gerade die Berechtigung solcher Einzelausgaben zu erweisen,
die teils weniger, teils mehr bieten als eine zusammenhängende
Geschichte — weniger, indem sie nicht das ganze Gebiet der
historischen Pädagogik, sondern nur eine verhältnismässig kleine
Anzahl herausgegriffener Persönlichkeiten behandeln, und mehr,
indem sie diese Persönlichkeiten in grösster Ausführlichkeit
besprechen und Werke oder Werkbruchstücke von ihnen in
neuen Abdrucken darbieten.
3. Letzeres ist einer der Umstände, die für die Not-
wendigkeit und den Wert pädagogischer Klassiker-Ausgaben
sprechen: solche Neudrucke sind gleichsam eine Ergänzung
zu jeder Geschichte der Pädagogik, sie führen zu eigener
Lektüre und damit zu eigenem Urteil, sie nehmen überdies
dem Benutzer das aufhältliche und schwierige Geschäft der
Auswahl des Wichtigsten ab. Und das ist verdienstlich genug,
denn welcher Riesenfleiss könnte es wagen, alles lesen zu
wollen?
Aber der triftigste Grund, der für die Berechtigung päda-
gogischer Klassiker-Ausgaben angeführt werden darf, wird
sich aus einer Verständigung über den Begriff „Klassiker" der
Pädagogik ableiten lassen, zu der ich im Folgenden den An-
stoss zu geben versuche.
II. Der Begriff „Klassiker** der Pädagogik.
1. Robert Prutz sagt im „Deutschen Museum", Bd. 1,
S. 949 (Leipzig 1851): „Klassiker sind dem Wortverstande ge-
mäss die Mitglieder der ersten Klasse nach dem Census." Das
bezieht sich auf die dem Servius Tullius zugeschriebene, auf
den Vermögens - Unterschieden beruhende Einteilung aller
römischen Bürger in sechs Klassen, deren erste und reichste
schlechtweg classici genannt zu werden pflegte. Allmählich
verallgemeinerte sich dieser Name, und „classicus" wurde zur
Bezeichnung irgend eines Vorzuges oder Vorranges überhaupt:
ein testis classicus war ein einwandfreier, ausschlaggebender
Zeuge, ein scriptor classicus ein mustergiltiger Schriftsteller.
,,Klassisch ist gleich mustergiltig" erklärt auch Daniel Sanders
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Gedanken über die Herausgabe pädagogischer Klassiker. 465
in seinem „Wörterbuch der deutschen Sprache", Bd. 1, S. 924
(Leipzig 1860), und Grillparzer sagt: „Klassisch ist fehlerfrei"
(„Sämmtliche Werke*', herausgegeben von August Sauer, Bd. 15,
S. 49, Stuttgart o. J.). Das klingt sehr einfach, aber leider
muss man sofort fragen: was ist denn mustergültig? was ist
fehlerfrei? Die Ansichten hierüber laufen doch gewaltig aus-
einander!
Auch mit Wilhelm Heinses Umschreibung („Ardinghello"
Bd. 1, S. 285, Lemgo 1794): „Das Klassische überall ist das
Gedrängt volle, wenn einer alles Wesentliche und Bezeichnende
von einem Gegenstande herausfühlt und nachahmt" lässt sich
nichts anfangen. „Wer hilft mir weiter fort?" Der grosse
Mann, der diese Frage seinen Faust ausrufen lässt Zwar
warnt Goethe vorsichtig („Sämtliche Werke", Stuttgart 1840>
Bd. 32, S. 200): „Wer mit den Worten, deren er sich im Sprechen
oder Schreiben bedient, bestimmte Begriffe zu verbinden für
eine unerlässliche Pflicht hält, wird die Ausdrücke ,klassischer
Autor*, ,klassisches Werk' höchst selten gebrauchen", aber er
führt doch anderseits selbst auf den richtigen Weg, wenn er
(„Sprüche in Prosa: Maximen und Reflexionen" VII, No. 56)
sagt: „Klassisch ist das Gesunde". Bei einem pädagogischen
Schriftsteller kann dieser Satz nicht auf die Form Anwendung
finden, sondern nur auf den Inhalt; denn theoretische Aus-
einandersetzungen haben nicht den Ehrgeiz, ein Kunstwerk
zu heissen. Das Kranke geht unter, das Gesunde bleibt am
Leben; das Kranke ist das Vergängliche, das Ephemere, das
Gesunde, das Klassische ist das Dauernde — kurz, ein päda-
gogischer „Klassiker" ist für mich ein Pädagog (und wenn er,
wie Sokrates, nie etwas geschrieben hätte), der mit seinen
Lehren noch heute irgendwelchen Einfluss auf uns
ausübt. Und das braucht nicht immer direkt und unmittelbar
zu geschehen, sondern es kann auch auf geschichtlichen Um-
wegen (man denke z. B. an die Reihe Ratichius — Comenius
— Ernst der Fromme — Friedrich der Grosse — moderne
Volksschule) oder in Unterströmungen mittelbar und indirekt
stattfinden.
2. Legen wir uns jetzt die Frage vor: warum veranstaltet
man pädagogische Klassiker-Ausgaben? — so darf die Antwort
lauten: es geschieht, um das heute noch Einflussreiche zu
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«
466 Hans Zimmer.
sammeln, um alles das aus der Vergangenheit auszulesen und
zusammenzufassen, womit wir in der Pädagogik heute noch
zu rechnen haben. Man sieht: jenes „Geschäft der Auswahl",
das wir schon oben (I, 3) als das wichtigste pädagogischer
Klassiker-Ausgaben hervorgehoben haben, ist nicht blos von
praktischer, sondern auch von hoher wissenschaftlicher Be-
deutung.
3. Aus der Deutung, die ich dem Begriff „Klassiker" der
Pädagogik gegeben habe, lässt sich zugleich die Frage be-
antworten: Sollen auch ausländische grosse Pädagogen in
einer deutschen Sammlung Aufnahme finden? Gewiss, sofern
auch sie noch heute Einfluss auf uns besitzen, sei es direkt
wie die Griechen, in denen „die Wurzeln unseres gesamten
Lebens liegen" (Paulsen), sei es indirekt auf geschichtlichen
Um- und Irrwegen wie Rousseau.
III. Der geschichtliche Charakter der Aufgabe.
1. Die Thätigkeit eines Herausgebers pädagogischer
Klassiker ist und bleibt im wesentlichen eine historische-
Grossen Männern der Vergangenheit ist sie gewidmet, und
selbst das Urheberrecht verbietet es ihr, andere Autoren in
ihren Bereich zu ziehen als solche, die dies späte Glück durch,
einen bereits dreissigjährigen Todesschlaf verdient haben
Ferner handelt es sich bei der Herausgabe pädagogischer
Klassiker einfach um die Feststellung geschieh tlicher That-
sachen und die bequeme Weiterüberlieferung vorhandener
Schätze — nicht die eigene, sondern die Gedankenwelt früherer
Generationen soll der Gegenwart nahe gebracht werden. Dass
der (ideale) Herausgeber allerdings nicht blos, wenn auch
vornehmlich, Historikor sein muss, kann man in Anlehnung
an das Wort Karl Ritters leicht begreifen: „So viel ist ent-
schieden: die Geschichte steht nicht neben, sondern in der
Natur". Auch der Historiker der Pädagogik muss zugleich
Physiolog, Psycholog und Anthropolog „im Nebenamt" sein,
teils um den herauszugebenden einzelnen Autor und seine Eigen-
art zu begreifen, teils um den Charakter der ganzen Zeit und
des ganzen Volkes, in denen sich jener bewegt hat, richtig
aufzufassen.
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Gedanken über die Herausgabe pädagogischer Klassiker. 467
2. Da seine Aufgabe eitie historische ist, darf sich der
Herausgeber pädagogischer Klassiker nicht von dem Umstände,
dass die Pädagogik selbst eine theoretische und seit Herbart
stets auf die Philosophie aufgebaute Wissenschaft ist, dazu
verleiten lassen, auch in die Geschichte der Pädagogik theo-
retische oder philosophische Erwägungen hineinspielen zu
lassen. Vor allem muss er sich vor teleologischen Tendenzen
hüten. Für ihn handelt es sich um die Frage, wie alles, nicht
wozu es geworden ist Geschichte ist Bewegung, und zwar
eine Bewegung, deren Ende man nicht abzusehen vermag, weil
man selbst mitten darin steht und sie überhaupt erst in Jahr-
tausenden, vielleicht nie ein Ende haben wird. Es ergiebt sich
also die Tatsache, dass man stets nur ein Stück der Bewegung,
nur den zurückgelegten Weg, kein Ziel sieht. Schon das sollte
vor teleologischen Gedankenreihen eindringlich warnen. Die
Teleologie gehört dem Geschichtsphilosophen, nicht dem Ge-
schichtsschreiber, die straffe Durchführung einer vorgefassten
Tendenz seitens des Historikers ist ein Gewaltakt nach dem
Rezept „Biegen oder Brechen4', denn der Geschichte fehlt die
Konsequenz. Und das ist gut; denn besässe sie Folgerichtig-
keit, so brauchten wir aus ihr überhaupt nichts für die Zu-
kunft zu lernen: Das letzte Ziel stände ja doch schon unver-
rückbar fest, und unter Schicksalszwang gingen wir ihm
willenlos entgegen. Schon Thomas Hobbes hat es betont, dass
die vernunftgeraäss folgernde Philosophie mit der auf Erfahrung-
beruhenden Geschichte in keinem Zusammenhang steht, und
Hans F. Helmolt sagt in dem gedankenreichen einleitenden
Abschnitt seiner „Weltgeschichte4* (Bd. 1, S. 8): „Die Philo-
sophie der Geschichte stört und trübt mit ihrem Subjektivismus
die objektive Auffassung, die reine Wissenschaft vom Gang
alles Geschehens. Die Erkenntnis dessen, was man den
Kausalnexus der Geschichte genannt hat, muss genügen; was
darüber hinausgeht, steht auf schwachen Füssen.44 Und dem
Worte desselben Gelehrten: „Das Grübeln über die Ziele alles
Geschehens ist kein historisches Arbeiten'1 füge ich hinzu:
Historische Arbeit ist lediglich Thatsachenforschung — beide
Teile des Kompositums besonders betont.
3. Aber nicht nur vor dem Hineintragen teleologisch-
philosophischer Tendenzen in die Geschichtsbetrachtung, sondern
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468
Hans Zimnur.
auch vor dem Hineintragen vorgefasster pädagogisch-theo-
retischer Meinungen muss sich der Herausgeber pädagogischer
Klassiker bei dem historischen Charakter seiner Aufgabe hüten.
Er darf einen zu bearbeitenden Klassiker nicht nach einem
persönlichen pädagogischen Parteis tandpunkt behandeln, sei
dieser nun rein wissenschaftlich oder auch von religiösen Über-
zeugungen bestimmt. Nicht der Katholik oder der Protestant,
auch nicht der Pestalozzianer oder Herbartianer darf im Urteil
des Herausgebers zu Worte kommen ; überhaupt ist ein solches
Urteil stets subjektiv und daher unhistorisch. Erst wenn sich
ein objektiver kritischer Massstab finden Hesse, objektiv an-
wendbar auf alle Pädagogen, weil er geradezu aus dem
eigenen Wesen aller hervorgegangen wäre, würde aus dem
rein fest- und darstellenden Historiker und Herausgeber auch
ein urteilender Historiker und Herausgeber werden dürfen.
4. Ich persönlich bin nun allerdings der Meinung, dass
es einen solchen allgemeinsten, auf jeden deutschen Päda-
gogen anwendbaren objektiven kritischen Massstab giebt.
Um mich in diesem Punkte verständlich zu machen, muss ich
weiter ausholen. Eine Ansicht über die geschichtliche Stellung
Herbarts und die Folgerungen, die daraus für die Pädagogik
des 20. Jahrhunderts zu ziehen seien, habe ich am ausführlichsten
ausgesprochen in dem Aufsatze „Entwickelung und Aufgabe
der Pädagogik" („Deutsches Wochenblatt" 1899, No. 22 und 23),
am knappsten zusammengefasst in meiner obenerwähnten Aus-
gabe von Herbarts „Umriss" (S. 14 und 15). Der Kern meiner
Gedanken war damals der: Bei der Frage, wie sich die Zukunft
der Pädagogik gestalten soll, handelt es sich darum, zunächst
einmal festzustellen, welches diejenige pädagogische Richtung
ist, die gegenwärtig als die herrschende angesehen werden
darf, denn nur, was in der geschichtlichen Entwickelung so-
zusagen historischen Erfolg gehabt hat, darf als Grundlage
für die Zukunft dienen. Diese gegenwärtig herrschende
Richtung ist weder eine der älteren (etwa Ratke oder Comenius),
noch eine der allerjüngsten (etwa Natorp oder Bergemann),
sondern die Herbartsche. Diese ist also, indem man un-
umwunden zugiebt, dass die Herbartsche Ethik und Psycho-
logie überholt sind, und indem man die Dreiteilung im Lager
der Herbartianer (Zillerianer, Stoyianer, eigentliche Herbartianer)
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Gedanken über die Herautgabe pädagogischer Klassiker.
469
beseitigt, zu einer einheitlichen, auf die moderne Philosophie
begründeten weitergebildeten Pädagogik auf Herbartscher
Grundlage auszugestalten, um die Pädagogik des 20. Jahr-
hunderts zu gewinnen.
Der Fehler lag hier darin, dass auch ich mich noch nicht
von der philosophischen Begründung der Pädagogik frei-
zumachen vermochte. Aber in unmittelbarem Anschluss an
diese Erwägungen, die sich um den einzigen Herbart drehten,
bin ich in dem Aufsatz „Die deutsche Pädagogik", den ich für
die zweite Auflage von Hans Meyers „Deutschem Volkstum"
geschrieben habe, einen Schritt weiter ins Allgemeine ge-
gangen und zu folgender Gedankenreihe gekommen. Ich kann
sie freilich hier nur ganz kurz in ihren Ergebnissen zusammen-
fassen; die weitere Ausführung und Begründung muss ich
später aus dem Aufsatz im „Deutschen Volkstum" selbst zu
entnehmen bitten; das Buch soll nach dem Plane der Verlags-
anstalt im Laufe des Jahres 1903 erscheinen.
In der deutschen Entwickelung liegt der Gedanke der
Erziehung; er ist ein deutscher Gedanke. Sowohl an päda-
gogischem Interesse als auch an pädagogischer Begabung
übertrifft der Deutsche die übrigen Kulturvölker. Der Grund
dafür liegt darin, dass der Deutsche vermöge seiner charak-
teristischen, ihn von anderen unterscheidenden Eigen-
schaften die Forderungen, deren Erfüllung die Pädagogik von
ihren Priestern verlangt, besser als Engländer, Franzosen,
Russen u. s. f. zu leisten vermag: in seinen Volkstums-
eigenschaften ist die Quelle für seine pädagogische Be-
gabung und sein pädagogisches Interesse zu suchen.
Eine Analyse des Volkstumsgehaltes, der sich in der Ver-
gangenheit in unserer Pädagogik zeigte und in der Gegen-
wart in ihr steckt, führt ganz allgemein zu dem Satze: zu allen
Zeiten der weiteren, näheren und nächsten Vergangenheit wie
in der Gegenwart lassen sich in der deutschen Pädagogik
Züge und Äusserungen deutschen Volkstums nachweisen, aber
zu keiner Zeit alle auf einmal und zu den verschiedenen Zeiten
bald mehr, bald weniger deutlich und zahlreich.
Die historische Pädagogik darf daraus die Lehre ziehen,
dass für die Schilderung der Entwickelung unserer deutschen
Pädagogik die Einteilung des Stoffes nach Perioden mit
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470
//ans Zimtiier.
geringem und solchen mit höherem Volkstumsgehalt die
natürlichste ist Für die pädagogische Theorie gipfeln meine
aus jenem allgemeinen Satz entspringenden Erwägungen in
der Forderung: wir brauchen eine deutsche Pädagogik, d. h.
ein ganz und ausschliesslich auf das deutsche Volkstum, d. h.
auf sämtliche Wesenseigenheiten des Deutschen ge-
gründetes geschlossenes pädagogisches System. Diese Forde-
rung deckt sich keineswegs mit dem häufig gehörten Verlangen
nach einer „nationalen" Pädagogik. Diese wäre noch weit
davon entfernt, eine „deutsche" Pädagogik zu sein, denn sie
würde sich nur auf eine der deutschen Wesenseigenheiten
(das stark ausgeprägte Nationalgefühl mit seinen Ausflüssen)
gründen, nicht auf sämtliche.
Bisher begnügte sich unsere Pädagogik damit, dass Herbart
das pädagogische Lehrgebäude auf philosophischem Boden er-
baute, dass er Ethik und Psychologie zu Grund- und Hilfs-
wissenschaften der Erziehungstheorie erhob. Seitdem haben
wir eine „philosophische" Pädagogik. Jeder glaubt nur dann
ein pädagogisches System schaffen zu können, wenn er ein
philosophisches System zu seiner Grundlage macht, die päda-
gogischen Lehren mit philosophischem Massstabe misst Ohne
Zweifel werden Ethik und besonders Psychologie auch von
einer „deutschen" Pädagogik keineswegs vernachlässigt werden
dürfen, jene, weil das deutsche ethische Pflichtgefühl in der Erzie-
hung eine hervorragende Berücksichtigung erheischt, diese, weil
sie dem deutschen Individualismus für die Beobachtung der ver-
schiedenen Individualitäten mit vollen Händen das wissen-
schaftliche Material in den Schoss wirft Aber philosophische
Systeme sind etwas höchst Subjektives und daher ohne
Dauer. Herbart, Hartmann, Wundt — alles fliesst, und wer
weiss, was danach kommen wird? Weil aber philosophische
Systeme etwas Subjektives und ohne Dauer sind, können sie
nicht als massgebendes wissenschaftliches Grundkriterium
für ein pädagogisches System dienen. Dazu ist nur etwas all-
gemeingiltig Objektives, etwas Dauerndes geschickt, und
so viel wir auch suchen mögen, nichts vereinigt diese beiden
Eigenschaften besser in sich als das Volkstum. Die philo-
sophische Pädagogik wechselt fortwährend — • nicht nur ihren
Inhalt, wie sie als fortschreitende Wissenschaft dürfte und sollte
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Gedanken über die Herausgabe pädagogischer Klassiker.
471
— sondern auch ihr Prinzip, bald Idealismus, bald Realismus,
hier Optimismus, da Pessimismus u. s. f., während die Volks-
turaspädagogik immer das nicht wie die Philosophie in
Schulen und Richtungen auseinanderfallende Volkstum zum
Prinzip behält Das Volkstum kann sich ändern, durch Wande-
lungen in den äusseren Bedingungen des Volkslebens, durch
Kultureinflüsse von aussen her. Aber es ändert sich nur un-
wesentlich und langsam: die Grundlage bleibt im grossen
und ganzen stets dieselbe, die „deutsche" Pädagogik wird infolge-
dessen immer die „herrschende" (vgl. oben, III, 4, Absatz 1) sein,
sie wird nie durch eine audere ersetzt, sondern nur in sich
selbst massig abgewandelt werden. Ihr Fortschritt als
Wissenschaft aber wird darin bestehen, eben jene leisen und
allmählichen Verschiebungen des Volkstums wachen Blicks
durch beständige Belauschung der Volksseele zu erkunden und
zu verarbeiten.
Man erkennt leicht, wie meine Herbartgedanken von da-
mals mit meiner pädagogischen Volkstumsidee zusammen-
hängen: es ist der Begriff „herrschende" Pädagogik, der sie
verbindet. Der jetzige Fortschritt meiner Erwägungen besteht
in dem Satze, dass eine auf philosophischer Grundlage auf-
gebaute Pädagogik niemals eine dauernd herrschende sein
kann; dazu ist nur eine „deutsche" (bezw. für die anderen
Nationen eine „französische", „englische" u. s. f.) Pädagogik im
stände, die auf der im grossen und ganzen unveränderlichen
Basis des Volkstums ruht Eine internationale Pädagogik
kann es nicht geben, sondern nur eine deutsche, englische,
französische u. s. t nebeneinander, wenn sie auch das und
jenes gemein haben müssen, weil gewisse Züge in jedem
Volkstum wiederkehren.
Im Volkstum habe ich also, meiner persönlichen Über-
zeugung nach, den objektiven kritischen Massstab gefunden,
mittelst dessen ich als Historiker nicht blos Thatsachen fest-
stellen, sondern auch Urteile abgeben darf. Aber natürlich
liegt mir nichts ferner, als etwa meine Mitarbeiter an „Gresslers
Klassikern der Pädagogik" auf diesen Standpunkt irgendwie
festlegen zu wollen, ehe er allgemein angenommen ist Und
wann das geschehen wird? Jedenfalls will ich es versuchen,
in meinen nächsten Arbeiten nach dem Aufsatz im „Deutschen
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472 Hans Zimmer.
Volkstum" zwei praktische Beispiele, ein historisches und ein
theoretisches, für meine Lehre zu liefern: ein Werk über
Friedrich Ludwig Jahn als deutschen Pädagogen (Band XXIII
von „Gresslers Klassikern") und eine längere Abhandlung über
Dichterlektüre in der Schule in dieser Zeitschrift, wobei auch
willkommene Gelegenheit sein wird, die einschlägigen amtlichen
Bestimmungen neueren Datums und die diesbezüglichen Be-
ratungen der Schulkonferenzen von 1890 und 1900 eingehend
zu besprechen.
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Die Entwickelung der Pädagogischen Psychologie
im 19. Jahrhundert
Von
Ferdinand Kemsies.
(Schluss.)
Bei einer kritischen Würdigung der Psychologie Benekes1).
muss die ganz modern anmutende Betonung des Erfahrungs-
wissens, das mit Empfindungen anheben soll, anerkennend her-
vorgehoben werden; in starkem Gegensatz dazu stehen nun
leider die Hypothesen, die sich breit in den Vordergrund)
drängen, bevor auch nur die gröbsten psychischen Vorgänge
empirisch behandelt sind, sodass psychologische Konstruk-
tionen von zweifelhaftem Werte entstehen ähnlich wie bei
Herbart. Die Urvermögenshypothese, die die Vorstellung einer
Analyse des Seelenwesens bis zu seelischen Atomen enthält,
die Hypothese über die fortwährende Aneignung von Reizen,
das Grundgesetz der Assoziation, nach welchem von jedem
bewussten psychischen Akte aus bewegliche Elemente an zu-
gleich-gegebene übertragen werden, sind ohne Bedeutung für
die Erforschung der psychischen Gebilde und Zustände; da-
gegen erscheint der Begriff der , Spuren oder Dispositionen
noch heute wertvoll.
In der Pädagogik wollte B. kein System liefern, sondern nur
die Grundverhältnisse von Erziehung und Unterricht darlegen,
hierbei hält er streng an dem psychologischen Gesichtspunkt fest
und verlangt daher in der Praxis die Bildung möglichst vieler
und kräftiger Spuren, die zu Gruppen und Reihen verknüpft
werden sollen; auch wird der Beobachtung der individuellen
Entwicklung des Kindes ein Platz zugewiesen. In ihrer Unbe-
') Man vergleiche u. a. hierzu: 0. Gramxow, Friedrich Eduard Benekes
Leben und Philosophie. Bern 1899.
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474
Ferdinand Kemsies.
stimmtheit und Allgemeinheit hat diese Theorie auf die prak-
tische Pädagogik wenig Einfluss gewonnen und wohl nur tem-
poräre Bedeutung erlangt — . in starkem Gegensatze zu Herbarts
Lehren, die von vornherein den pädagogischen Problemen
nähertraten.
Aus dem Charakter der Herbartschen Psychologie ergiebt
sich mit Notwendigkeit eine intellektualistische Erziehungs-
theorie, in der die erziehlichen Wirkungen des Unterrichts auf-
fallend hervortreten, und die Bildung des Gemüts- und Willens-
lebens als sekundärer Vorgang sich abspielt. Die praktische
Durchführbarkeit wird erleichtert durch eine Analyse der
Bildungsprozesse, die sich bis auf die elementarsten Unterrichts-
und Lernfunktionen erstreckt. Der Gedanke einer solchen um-
fassenden und exakten Leitung des kindlichen Seelenlebens
von den Vorstellungen aus und mittels Vorstellungen hat etwas
Imposantes und Faszinierendes. Dennoch bedeutet er einen
prinzipiellen Rückschritt gegen Pestalozzis Erziehungsplan, weil
dieser im wesentlichen auf rein empirischer Grundlage ruht
und sich von „imaginären Prozessen" freihält. Seine praktischen
Vorzüge vor Pestalozzis Entwurf liegen darin, dass die
lex continui eine ausgedehntere Anwendung findet, indem die
Beziehungen der Vorstellungen zu Gemüts- und Willensregungen
mitberücksichtigt werden und eine kontinuierliche Erzeugung
der letztern eingeleitet wird. Der Praxis, die mehr die Absicht
und die Anweisungen der Theorie als ihre Grundlagen bewertet,
erschien sie dadurch vielfach als die Theorie par excellence,
als die „wissenschaftliche" Pädagogik. Wenn auch eine solche
Prätension die Kritik herausforderte und zu lebhaften pole-
mischen Erörterungen führte, die zuweilen ins Persönliche aus-
arteten, so ist nicht zu verkennen, dass Herbarts weitere
psychologische Ausführungen über Bedingungen, Wesen und
Arten des Interesses, über primitive und appercipierende Auf-
merksamkeit, über Art und Stufenfolge der Prozesse, die man
in ihrer Gesamtheit als Erkennen und Begehren bezeichnet, über
Assoziation, Reproduktion und Verlauf der Vorstellungen neue
Gesichtspunkt eröffneten, die der Schule Pestalozzis und Benekes
in diesem Umfange fremd waren. Obwohl eklektische Prak-
tiker, wie z. B. Diesterweg, vieles von dem, was Herbart fordert.
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Die Entwickelung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 475
in anderer Form und unter anderem Titel ausgaben, so gebührt
doch dem letzteren unstreitig die Priorität; durch seine philo-
sophische Schule wurde das ganze System noch schärfer heraus-
gehoben und oft in scholastischen Formeln mit scholastischer
Disputierwut vertreten ; doch wurde auch in einer gewissenhaften
praktischen Arbeit, die sich über Jahrzehnte ausdehnte, zugleich
der Beweis erbracht, dass in jenen begrifflichen Anleitungen
schöpferische Prinzipien enthalten waren. Zu bedauern bleibt
immerhin der starre Dogmatismus, der am Begrifflichen haftete,
statt den Thatsachen nachzugehen, und die Begriffe sich um
diese drehen zu lassen. Aus einer Gegenüberstellung der ein-
zelnen konkreten Erziehungs- und Unterrichtsweisungen bei
Herbart (-Ziller-Stoy) einerseits und dem Pestalozzianer Diester-
weg andererseits, ergiebt sich, dass der Erfahrungskreis der
beiden Schulen nicht so stark von einander abweicht, als man
zunächst zu vermuten geneigt ist, und dass beide in der Praxis
sehr gut nebeneinander hätten marschieren können. Dem
Schematismus der Herbartschen Schule stellten die Eklektiker
unter den Pädagogen den Begriff der Persönlichkeitspädagogik
entgegen, indem sie als Recht der Lehrperson die „freie"
Bethätigung ihres Wissens und Könnens forderten.
III. Epoche.
Die Arbeiten der drei letzten Dezennien des vorigen Jahr-
hunderts weichen in mancherlei Hinsicht von den geschilderten
ab und dürften daher geeignet sein, eine neue Epoche ein-
zuleiten ; sie schliessen sich zeitlich und sachlich an die moderne
Psychologie an. Zunächst begegnen wir verschiedenen Ver-
suchen, den Ertrag der bisherigen pädagogisch-psychologischen
Arbeit mit neuen Elementen zu verschmelzen, die aus der
nachherbartischen und nachbenckeschen Psychologie, aus Lotze,
Ulrici, Fichte, Trendelenburg, Sigwart, Lazarus, Horwicz
stammen. Steht auch das Gebotene nicht in direktem Zu-
sammenhang mit der Schulpädagogik, sondern lehnt sich mehr
äusserlich an diese an, so bringt es doch Anregungen und
verspricht eine spätere genauere Anleitung für die Behandlung
der Schulfragen; auch erscheint jetzt öfters die Bezeichnung
Pädagogische Psychologie zur Kennzeichnung aller dieser Be-
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476
Ferdinand Kemsüs.
strebungen, die die Psychologie als unentbehrliche Hilfswissen-
schaft der Pädagogik betrachten und mittels ihrer an die Be-
grenzung und Behandlung der Lehrstoffe, sowie an die Be-
urteilung der Schülerleistungen herantreten wollen. Die päda-
gogischen Forderungen gehen freilich nicht aus den psycho-
logischen Thatsachen und Erwägungen eindeutig hervor, und das
pädagogische Problem kann noch nicht in eine durchgehende
innere Verbindung mit ihnen gebracht werden. Die Pädago-
gische Psychologie beschäftigt sich aber mit Fragen der allmäh-
lichen zeitlichen Entwickelung und Entfaltung des kindlichen
Seelenlebens in seinen verschiedenen Richtungen : mit den ersten,
Thatsachen der Empfindung, Wahrnehmung und Vorstellung,
der Begriffs- und der Sprachbildung, mit Phantasie und Spiel,
mit Natuell unrd Charakter, mit Gefühls- und Willensleben,
oder sie behandelt mehr im Anschlüsse an das Schulleben und
mit Hervorhebung der wichtigsten pädagogischen Konse-
quenzen: Anschaung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Verstand,
Vernunft.
Diesen Bestrebungen reihen sich die schulhygienischen
Forschungen an, von denen hier nur diejenigen zur Hygiene
des Nervensystems, der Sinnes-, Stimm- und Sprachorgane
der Schüler interessieren; sie nehmen einen breiten Platz in
der öffentlichen Diskussion ein und zeigen in methodologischer
Hinsicht Uebereinstimmung mit den Forderungen der neueren
Psychologie, indem mit Erfolg das Experiment und die sta-
tistische Methode zur Lösung konkreter Aufgaben benutzt wird.
Hand in Hand mit der Schulhygiene tritt die Pädagogische
Pathologie als selbständige Disziplin auf.
Einschneidender und schwerwiegender als alle anderen
Bemühungen, dem erzieherischen Kalkül eine Reihe von That-
sachen hinzuzubringen, erwiesen sich die folgenden empirischen
Arbeiten zur Entwickelungsgeschichte des Kindes und zur Fest-
stellung seines Habitus im Gegensatze zu dem des Erwachsenen,
die man zusammenfassend als Kinderpsychologie bezeichnet.
Als Begründer der Kinderpsychologie nennt man be-
kanntlich den Philosophen Dietrich Tiedemann, der im Jahre
1787 Beobachtungen über die Entwickelung der Seelenfähig-
keiten bei Kindern publizierte; seiner Anregung folgte erst
70 Jahre später Sigismund mit der Schrift „Kind und Welt"
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Die Entwicbelung der Pädagogisch** Psychologie im ig. jfahrh. 477
und erst nach weiteren 25 Jahren (1881) Preyer in seinem
klassischen Werke „die Seele des Kindes". Bald gewinnt je-
doch das Wort Rousseaus : „Man kennt und versteht die Kinder-
welt durchaus nicht ; je »weiter man .die falschen Ideen, die man
von ihr hegt, verfolgt, desto weiter verirrt man sich," tieferes/
Verständnis in weiteren wissenschaftlichen Kreisen. Man durch-
blättert die Tagebücher der Kinder und sucht die Erinnerungen
an die eigene Kindheit hervor, man beobachtet Kinder nach
der biographischen Methode und stellt Vergleiche an. (St. Hall,
Sully, Compayr£, Perez.) In der weiteren Ausgestaltung folgte
der neue "\Vissenszweig, der besonders eifrig in Amerika ge-
pflegt wurde, den Spuren der Psychologie und befleissigte
sich der beobachtenden naturwissenschaftlichen Methoden,
unter gleichzeitiger Berücksichtigung der physiologischen Be-
gleiterscheinungen des Seelenlebens. Es handelte sich schon
neben der biographischen Darstellung des Auftretens und
der Steigerung der physischen Funktionen und der seelischen
Gebilde während aufeinanderfolgender Lebensperioden, um
die Erforschung einzelner Erscheinungen, z. B. von Tem-
perament, Talent, Gemüt, künstlerischer und sittlicher An-
lage, sowie einzelner individueller Eigenschaften, die eine
Messung gestatten (Uebungsfähigkeit, Ermüdbarkeit, Er-
holungsfähigkeit, Gedächtnis), um Sinnesunterschiede, sprach-
liche Bildungen, um die Entwickelung der Phantasie, des
induktiven und deduktiven Verstandes, um Kombinationen
von Anlagen und Aufstellungen von Typen, um die Analyse
des kindlichen Gedankenkreises u. a. m.
Es war kein Zweifel, (dass diese Forschungen die Interessen
der Pädagogik tangierten, und es war nur natürlich, dass bald
eifrige Schulmänner, Aerzte und Psychologen sie auf das
pädagogische Arbeitsfeld verpflanzten, wo durch Pestalozzi, Her-
bart, Beneke wirksame Vorarbeiten geleistet waren und psycho-
logisches Verständnis in weiteren Kreisen angebahnt war, so dass
von einem gänzlich unhistorischen Vorgehen nicht gesprochen
werden kann. Sah doch schon Pestalozzi das eigentliche soge-
nannte Lernen als Uebung der Seelenkräfte an und „hielt da-
für, dass die Uebung der Aufmerksamkeit, der Bedachtsamkeit
und der festen Erinnerungskraft der Kunstübung zu urteilen und
zu schliessen voraufgehen müsse." Diese pädagogische Psycho-
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie and Hygiene. 7
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478
Ferdinand Kemsies.
logie steuert heute auf die Kardinalfragen der Schule zu und
sucht sie durch Anwendung exakt empirischer Methoden ihrer
Lösung näherzubringen; wir nennen: Lehrverfassung der
Schulen, intellektuelle Bildung (allgemeine Didaktik und
Methodik der Lehrfächer), ästhetische Bildung, Willensbildung,
Psychohygiene, Psychopathologie.
I. Lehrverfassung. In den Volksschulen der grösseren
und mittleren Städte sind innerhalb des letzten Dezenniums
mehrfach Abänderungen der bisherigen Organisation vor-
genommen worden, die teils bezweckten, den schwachbefähig-
ten Schülern, die das Lehrziel nicht zu erreichen vermochten,
eine ihren Anlagen besser angepasste, in sich abgerundete
Erziehung zu teil werden zu lassen; teils dem normalen
Durchschnittsschüler ein schnelleres Aufrücken in die höheren
Klassen zu erleichtern. Während man im ersten Falle den
Normalklassen sogenannte Hilfsklassen für Schwachbefähigte
angliederte, die hie und da auch übereinandergesetzt zu Hilfs-
schulen (z. B. in Berlin) sich auswuchsen, oder neben der mehr-
klassigen Anstalt noch eine sogenannte einfache Schule für
weniger Begabte bestehen Hess (z. B. in Karlsruhe), ging im
zweiten Falle eine neue Aufteilung und eine Erweiterung der
Lehrpensa zu gunsten der Besserbefähigten vor sich, so dass
aus den 4 — 6-klassigen Schulsystemen 8-klassige entstanden,
die man heute als die normalen betrachtet. Inwieweit diese Ver-
schiebungen und Verteilungen der Pensa wirklich den Jahres-
stufen und den Fähigkeiten der Schüler angemessen sind, inwie-
weit vielleicht hier die Schablone, dort die Willkür gewaltet
hat, inwieweit die Beschneidung der Klassenpensa der tieferen
Durcharbeitung der Stoffe zu gute kommt, oder ob nicht
dennoch die Forderungen der Schule die natürliche Leistungs-
fähigkeit der Kinder übersteigen: das kann und soll der
Pädagoge durch möglichst genaue Beobachtungen, durch sorg-
fältige Registrierung der Schulleistungen, sowie durch ver-
gleichende Beobachtungen, die in letzter Linie sich auf die
Fähigkeiten und Eigenschaften der Schüler auszudehnen haben,
feststellen. Die Trennung des Unterrichts nach Schülerkate-
gorien erweist sich jedenfalls für diese, wie die bisherigen Er-
fahrungen lehren, von unschätzbarem Vorteil und erspart den
Lehrern Zeit und Mühe. Man kann vielleicht mit Wagner,
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Di* Entwkkelung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 479
wenn man von der sofortigen Durchführbarkeit seiner Vor-
schläge absieht, auf diesem Wege weiter gehen und verlangen,
dass jede Schulklasse psychologisch in etwa zwei Abteilungen
gegliedert werde, je nach der bessern oder schlechtem Be-
fähigung der Kinder, je nach dem Tempo und dem Grade
ihrer Auffassung, die dann im Unterrichte die Beachtung
des Lehrers zu beanspruchen hätten. Dass in jeder Unter-
richtsstunde eine solche innere Teilung der Schülermasse er-
«
wünscht wäre, ist ja ein altes Ideal der Pädagogik.
In den höheren Schulen haben die Organisationsfragen
seit der Reglementierung dieser Anstalten durch den Staat
eine hervorragende Rolle gespielt und scheinen doch ihrer
endgültigen Lösung noch nicht entgegenzugehen; denn die
soeben erörterten Gesichtspunkte sind in diesen Schulen noch
fast gar nicht in Aufnahme gekommen, obwohl gewaltige Diffe-
renzen in Bezug auf Veranlagung und Leistungen der Schüler
nachweisbar sind; vielmehr gilt als stillschweigende Vor-
aussetzung, dass höhere Lehranstalten nur von gut oder besser
veranlagten Schülern aufgesucht werden sollten, daher bleibt
der Pädagogischen Psychologie ein reiches Arbeitsfeld in dieser
Hinsicht für die Zukunft vorbehalten. Zur Zeit sind auch die
Fragen nach dem Bildungswerte der verschiedenen Lehrfächer
und der Komposition der Allgemeinbildung, die zum Teil mit
der Thatsache der individuellen Verschiedenheiten zusammen-
hängen, noch nicht von der Tagesordnung verschwunden,
wie wohl der Schulstreit zwischen Gymnasium, Real-
gymnasium und Oberrealschule friedlich durch die letzten
ministeriellen Bestimmungen beigelegt ist. Die Allgemein-
bildung des Gymnasiums, der eigentlichen Gelehrten-
schule, die das Prüfungsreglement vom 1812 zum,1 ersten
Male festsetzte, und die durch spätere Verfügungen wenig von
ihrem [Wesen eingebüsst hat, ist eine historische, sie wendet den
Blick der Jugend retrospektiv; sie ist zugleich eine polyhisto-
rische und dehnt den Geist des Individuums oft zu seinem
Nachteile über seine natürlichen Anlagen und Interessen aus:
Latein, Griechisch, Französich, Hebräisch für Theologie-Stu-
dierende, Deutsch, Mathematik, Naturlehre und Naturbeschrei-
bung, Geschichte, Geographie und Religion, Kalligraphie,
Zeichnen, Gesang. Diese Gegenstände werden quantitativ
V
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480
Ferdinand Kentsies.
gegeneinander ausgeglichen, führen jedoch leicht zu einer so
starken Zersplitterung der jugendlichen/ Kräfte, dass das Gegen-,
teil einer wissenschaftlichen Auffassung und Vorbereitung er-
reicht wird.
Eine grössere Geschlossenheit und Einfachheit der Bil-
dungsziele und Bildungsarbeit weist die Oberrealschule auf,
die neben den beiden neueren Sprachen (Französisch und Eng-
lisch) die Mathematik und Naturwissenschaften in das Zen-
trum des Lehrplanes rückt und sie in einem ruhigen Lehr-
gänge mit Benutzung der Hilfsmittel der Anschauung und
praktisch-technischer Gesichtspunkte durcharbeitet. Dennoch
drängen sich hier ähnliche Zweifel auf wie im Gymnasium. Der
Gedanke Wieses, eine Vereinfachung der Lehrpläne durch
Reduktion derselben auf Sprachen, Mathematik und Religion
herbeizuführen, verdiente wohl der Vergessenheit entrissen zu
werden, und eine grössere Konzentration der Erziehung thäte
zuweilen not.
Eine psychologische Analyse der Schülerleistungen würde
merkwürdige Aufschlüsse liefern. Zunächst kann man statistisch
feststellen, dass viele Schüler alljährlich in höheren Schiulen
die Klassenziele nicht erreichen; ferner dass in vielen Fällen
bei den versetzten Schülern noch Lücken in Sprachen oder
Mathematik bestehen bleiben; wie gross mag demnach der
Prozentsatz derjenigen sein, die wirklich die sogenannte all^
gemeine Bildung im Sinne der Lehrpläne sich aneignen; viel-
leicht schätzt man ihn mit 33Vs % zu hoch. Es könnte
der Ursache der zahlreichen Minderleistungen nachgegangen
werden, und hier würden sowohl die verschiedenen Arbeits-
typen der Schüler als auch die Unterrichtsmethoden psycholo-
gisch zu untersuchen sein. Beide könnten bei der Normierung
der Pensa in der Art Berücksichtigung finden, dass eine
grössere Freiheit und Beweglichkeit für die schwächer oder
einseitig Befähigten oder für die gut und vielseitig Veranlagten
gegeben wäre, wenn man nicht soweit gehen will, für 'beide
Kategorien Schulen mit Sonderzielen zu fordern.
II. Intellektuelle, ästhetische, ethische Bildung. Der ge-
samte Erziehungs- und Unterrichtsplan ist eine kombinatori-
sche Synthese, die eine Reihe allgemeiner oder spezieller Be-
obachtungen und Ansichten mit soziologischen Forderungen
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Die Enturiehelung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh. 481
verknüpft. Je öfter diese Reihe in der Praxis durchlaufen
wurde, desto häufiger wurde das erst angewandte Verfahren
abgeändert und verlor seine Unbestimmtheit. Es trat ein
grösseres Thatsachenmaterial an die Stelle unsicherer Entwürfe
und erster Versuche. Heute wird verlangt, dass alle pädagogi-
schen Tatsachen den Anforderungen exakter Wissenschaft ent-
sprechen sollen, dass sie der psychologischen Analyse stand
halten.
Ist der Grundgedanke Herbarts, dass eine grosse ruhende
Gedankenmasse eine Macht des Sittlichen im Menschen sei,
psychologisch richtig? In welchen Fällen? Ist das vielseitige
Interesse der Fundamentalbegriff der Didaktik und der Willens-
bildung ? Oder muss die (ganze Erziehung sich an erster 'Stelle
auf feste Gewöhnungen stützen, die an Triebe, Instinkte, Ge-
mütsbewegungen anzusetzen sind? Ist Bildung ein logischer
Begriff oder ein psychologisches Ideal, oder ein psychischer
Effekt, der verschiedenartige Kriterien aufweisen kann?
Welche Rolle spielt die ästhetische Bildung gegenüber der
intellektuellen und der ethischen? Und wie baut sich die künst-
lerische Erziehung in modernem Sinne auf? Nach der Be-
antwortung dieser grundlegenden Fragen folgt erst die Er-
örterung darüber, wie die einzelnen Unterrichtsfächer in den
Dienst der Pädagogik treten, und in welcher Reihenfolge sie
angeordnet werden können.
Dabei muss überall an die beobachtbaren psychischen
Leistungen und Bildungen angeknüpft werden. In dieses grosse
Forschungsgebiet gehören nun die neueren Untersuchungen
über die Natur des Denkens: über Sinnestätigkeiten, Repro-
duktion, Association, über Abstrahieren, Vergleichen, Verall-
gemeinern, Urteilen, Schliessen, Phantasietätigkeit, über deren
Anfänge und ihr Wachstum beim Kinde, über ihre Re-
gulierung in den verschiedenen Lernprozessen. Derartige mono-
graphische Untersuchungen müssen in und neben der Schul-
praxis mit der psychologischen Analyse der thatsächlichen Bil-
dungen beim lernenden Kinde beginnen. Sie erstrecken sich
weiter auf die didaktischen Grundbegriffe : Anschauung, Wahr-
nehmung, Aufmerksamkeit, Interesse und auf den Lerngang,
wie er in den 4 Stufen : Vorbereitung, Darbietung, Zusammen-
fassung, Anwendung ausgedrückt ist. Dem umfangreichen
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482
Ferdinand Kcmsits.
Kapitel des Vorstellungslebens stellen sich nicht minder um-
fassende über die Gemütszustände und Willensregungen zur
Seite. Endlich über individuelle Entwickelung, Anlage und
Vererbung. Auf Grund der postulierten Einsichten sollen
schliesslich angemessene Stufenfolgen von Übungen für das
lernende Kind aufgestellt werden, wie sie schon heute die
Unterrichtsmethoden bezwecken. Der Übergang von der
heutigen zur zukünftigen Methode kann sich nach allem nur
sehr allmählich vollziehen.
III, Psychohygiene. Der moderne Kulturmensch unter-
scheidet sich von seinen Vorläufern nicht nur durch die Tiefe
und den Umfang seiner Kenntnisse und Interessen, sowie durch
Fertigkeiten verschiedener Art, sondern auch durch die
Schnelligkeit, mit welcher er gezwungen ist, sich dieselben
anzueignen und über sie zu verfügen. Beides hat neben den
guten auch üble Folgen. Machen uns unsere Interessen an
vielen Stellen im privaten, gesellschaftlichen und öffentlichen
Leben sensibel und reizbar, so verlangt die Schnelligkeit des
Studiums und der Arbeit eine gründliche Ausnutzung der Zeit
und spornt die Kräfte bis aufs äusserste an. Deshalb ist es
kein Wunder, dass nicht alle den hohen Ansprüchen, die das
Leben an sie stellt, ohne Nachteil für ihre geistige Gesund-
heit zu genügen vermögen. Schon die Schularbeit, die heute
unsere Jugend voll in Anspruch nimmt, scheint die Merkmale
des Zuviel und Zuschnell zu besitzen, und die Schule ist kein
Spiel mehr im Sinne der Alten, sondern eine ernste Stätte
geistigen Ringens.
Infolge der Schrift Lorinsers: Zum Schutz der Gesundheit
in Schulen (1836) wurde für die Gymnasien im Jahre tl837
ein neuer Lehrplan aufgestellt und darin die jedem Lehrgegen-
stande und jeder Klasse zuzuerteilende Stundenzahl normiert,
nämlich 32 Wochenstunden, auf Vor- und Nachmittag verteilt.
Die Kursusdauer des gesamten Unterrichts wurde auf 9 Jahre
angegeben. In einer Verfügung vom Jahre 1854 wurde es ge-
rügt, wenn in Schulen der Schwerpunkt auf die schriftlichen
häuslichen Arbeiten gelegt würde, vielmehr käme es im Unter-
richte an auf den geistigen Verkehr zwischen 'Lehrer und Schüler
und auf die Anregung zu freudiger Selbsttätigkeit. Im Jahre
1884 wurde endlich die Maximalarbeitszeit für alle Klassen ange-
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Die Entwicklung der Pädagogischen Psychologie im ig. Jahrh,
geben. Trotzalledem und alledem erscheint es auch heute frag-
lich, ob nicht die Grenze der Leistungsfähigkeit des jugendlichen
Hirns in so und soviel Fällen überschritten wird. Die Über-
bürdungsfrage und die Ueberbürdungsfurcht haben bis in die
jüngste Zeit zu weiteren Reformen der höheren Lehranstalten
Anlass gegeben. Durch sie ist die Verteilung der Lehrstoffe
auf die verschiedenen Stufen beeinflusst worden : die Verlegung
des griechischen Unterrichts aus IV nach Ulli oder in |den,
Reformgymnasien nach U II, die Einführung des Französischen
als ersten Sprachunterrichts an Stelle des Lateinischen; nicht
minder der Fortfall unnötiger Examinationen und die nach-
drückliche Wertschätzung besserer Lehrmethoden.
Die Symptome u nd die Aetiologie der Ermüdung und der
Ueberbürdung, d. h. der pathologischen Ermüdung, sind durch
physiologische und psychologische Methoden genauer studiert
worden, sodass wir heute ein ziemlich klares Bild von dieser.
Erscheinung besitzen. Für die Schule lassen sich auf dem
Wege der näheren Erforschung des Arbeitstypus in schulhygieni-
schem und methodischem Interesse wertvolle Aufschlüsse er-
warten, die uns Einblicke in den psychologischen Mechanismus
dieses oder jenes Schülers eröffnen und den Lernprozess besser
zu überwachen gestatten werden. Um die Leistungsfähigkeit
der Schüler in den verschiedenen Zeitlagen des Schultages zu
den Anforderungen des Lektionsplanes in eine richtige Pro-
portion zu bringen, wäre allerdings auch notwendig, Unter-
suchungen, wie sie die verschiedenen Ermüdungsmessungen
vorstellen, fortzuführen, um für jedes Fach zu verschiedenen Zeit-
lagen den Ermüdungsindex zu bestimmen. Zur pädagogischen
Psychohygiene rechnen wir ferner die Hygiene der Sinnes-
organe, sowie der Stimm- und Sprachorgane, die seit drei«
Dezennien ungemein gefördert wurde. Brechungsanomalieen
der Augen, Augenleiden, Harthörigkeit, Ohrenleiden, Stimm-
veränderungen, Stottern u. a. sind in hingebender Arbeit
von einer grossen Zahl von Aerzten bezüglich des Auftretens
unter Schülern und der nachteiligen Folgen für die Entwicklung
erforscht worden und erheischen fortgesetzte Aufmerksamkeit
seitens der Pädagogen.
IV. Psychopathologie. Die verdienstvolle Arbeit Közles
über die Entwicklung dieser Disziplin hat uns mit den Ansichten
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484
Ferdinand Kernsüs.
und Bestrebungen der grossen Pädagogen auf dem Gebiete
der pädagogischen Pathologie bekannt gemacht und gezeigt,
dass jeder namhafte Eriieher zu ihr in bestimmter Weise Stel-
lung genommen hat, sodass wir historisch die Lehre von den
Fehlern der Kinder als einen integrierenden und unabtrenn-
baren Bestandteil der pädagogischen Psychologie zu betrachten
haben. Sachlich hebt sich diese Zusammengehörigkeit für den
empirischen Pädagogen noch stärker heraus. Denn es lässt
sich kaum eine geistige Funktion in ihrer individuellen Ausge-
staltung bei Kindern verfolgen, ohne dass man nicht auf Schritt
und Tritt Anklänge an pathologische Erscheinungen vorfände ;
zwischen normalen und pathologischen, resp. anormalen seeli-
schen Entwicklungen und Zuständen gibt es eine kontinuier-
liche Reihe von Uebergängen. Trotzdem steht die pädagogische
Pathologie und Therapie heute erst am Anfange ihrer exakten
Bearbeitung.
Eine Zusammenstellung aller bei Kindern zu beobachtenden
Fehler und Abweichungen von der geistigen Norm, die An-
Anspruch auf Vollständigkeit machen könnte, ist seit Strümpells
Versuch*) nicht geliefert worden. Auch in der Klassifikation
und Aethiologie sind zur Zeit nur geringe Fortschritte zu per-
zeichnen. Daraus erklärt sich, dass Prophylaxe und Therapie,
die auf den vorgenannten Arbeiten basieren, nicht wesentlich
gefördert werden können. Nach Strümpell-Spitzner handelt es
sich um folgende drei Gruppen seelischer Störungen:
1) Störungen der geistigen Entwicklung, die einem fehler-
haften (Wirken des psychischen Mechanismus zuzuschreiben sind,
2) Fehler, die in den höheren Normierungsprozessen liegen,
3) Fehler, die beim Zusammenwirken der höheren Normie-
rungsprozesse auftreten.
Es gehört also hierhin die Fürsorge für die Idioten, Schwach-
sinnigen, Blinden und Taubstummen.
Diese Aufgaben, deren hohe soziale Bedeutung von der
Gegenwart voll und ganz gewürdigt wird, sind von einzelnen
Forschern und Praktikern, sowie von ganzen Vereinigungen
und kommunalen Verbänden energisch in Angriff genommen
worden. Dabei werden die Dienste der Psychologie überall begehrt.
•) Strümpell, die Pädagogische Pathologie oder die Lehre von den
Fehlern der Kinder. 1. Aufl. Leipzig 1890.
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Sitzungsberichte.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Sitzung vom 10. Juli 1902.
Beginn: 7 Uhr.
Vorsitzender: Herr Dessoir.
Schriftführer: Herr Pfungst
Herr F. Schumann hält den angekündigten Vortrag:
„Demonstrationen zur Psychologie der Raumwahr-
nehmung."
Der Vortragende hatte in den Räumen des Psychologischen Institutes
eine Reihe von Demonstrations-Apparaten aus dem Gebiete der Raum Wahr-
nehmung zur Besichtigung aufgestellt, so u. a.: das schematische Auge
nach Kühne, einige Apparate zur Demonstration des Horopters, sowie den
Apparat zur Vorführung des Hering'schen Fallversuchs. Sodann ein Spiegel-
haploskop, das Ludwig'sche Strobostereoskop und andere Stereoskope. Ferner
die Hillebrand'sche Versuchsanordnung zur Bestimmung des Einflusses der
Accommodationsempfindungen auf die Tiefenwahrnehmung. Endlich wurde
die Scheinbewegung eines im Dunkelzimmer allein sichtbaren Punktes vor-
geführt. Alle diese Apparate wurden im einzelnen erklärt und ihr Zweck
durch einige Experimente näher erläutert.
In seinen theoretischen Ausführungen hatte sich der Vortragende die
Aufgabe gestellt, die angeblich fundamentale Bedeutung der Muskel-
empfindungen für die Raumanschauung einer kritischen Prüfung zu unter-
ziehen, und zwar wandte er sich speziell gegen Wundt's Theorie, wonach
die räumliche Eigenschaft des Wahrnehmungsinhaltes erst durch Ver-
schmelzung der an sich ausdehnungslosen Lichtempfindung mit Muskel-
empfindungen und Lokalzeichen entstehen soll.
Zunächst nur die dritte Dimension ins Auge fassend, besprach
der Vortragende die vorher demonstrierten Hillebrand'schen Versuche,
welche einwandfrei gezeigt haben, dass die Accommodations- und Konvergenz-
Empfindungen des Auges bei der Entfernungsschätzung keine wesentliche
Rolle spielen können: Die Versuchsperson blickte einäugig durch eine
kleine, innen geschwärzte Röhre nach einer vertikal das ganze Gesichtsfeld
durchziehenden mathematischen Linie (der Grenzlinie zwischen einer schwar-
zen und einer weissen Fläche). Eine Entfernung oder Annäherung der-
selben wurde nun von der Versuchsperson in keinem Falle wahrgenommen,
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486
Sitzungsbericht*.
trotz wechselnder, der jeweiligen Entfernung der Linie entsprechender
Accommodation. Die Darbietung einer mathematischen Linie war
erforderlich, weil unter sonst gleichen Bedingungen die Annäherung oder
Entfernung ausgedehnter Objekte, z. B. eines Fadens, an der Ver-
grösserung bezw. Verkleinerung des Netzhautbildes stets richtig erkannt
wird. Der Vortragende demonstrierte dies durch folgendes Experiment:
Er Hess eine Versuchsperson durch einen Tubus nach einem, auf ganz gleich-
massig dunkelem Grunde erscheinenden Kreis blicken, dessen Grösse und
Entfernung vom Auge durch geeignete Vorrichtungen variiert werden
konnten. Verkleinerung wurde nun allemal als Entfernung, Vergrößerung
als Annäherung des Kreises gedeutet. Ja sogar: Wurde der Kreis vom
Auge entfernt, gleichzeitig aber vergrössert, so schien er sich zu nähern,
bei gleichzeitiger Annäherung und Verkleinerung aber zu entfernen. Da
sich nun bei der Entfemungsänderung des Kreises, d. h. eines ausgedehnten
Objektes, ebenso wie bei einer mathematischen Linie die Accommodation
ändert, die Entfernungsänderung aber nur im ersten Falle wahrgenommen
wird, so müssen wir offenbar annehmen, dass es weder die, in beiden Fällen
vorhandenen Accommodationsempfindungen, noch die mit ihnen verknüpften
Konvergenzempfindungen sind (denn mit Aenderungen der Accommodation
sind nach physiologischen Untersuchungen stets auch solche der Konver-
genz beider Augen verbunden), auf denen unsere Tiefenwahrnehmung be-
ruht. Es sind vielmehr sekundäre Kriterien, wie die Grösse des Netz-
hautbildes und ähnliche, wonach wir die Entfernung beurteilen. Als einziger
primärer Faktor bliebe möglicherweise nur die von Hering heran-
gezogene Disparation der beiden Netzhautbilder.
Ebenso ungünstig wie beim Zustandekommen der dritten Dimension
fährt die Wundt'sche Theorie bei der Erklärung der Ausdehnung unserer
Wahrnehmungsinhalte nach zwei Dimensionen. Eine Hauptstütze
sollten hier die geometrisch-optischen Täuschungen sein. Als Wundt seine
Theorie ausbildete, waren nur wenige dieser Täuschungen bekannt, und diese
schienen sich in einfacher Weise auf gewisse Eigentümlichkeiten des Be-
wegungsapparates des Auges zurückführen zu lassen. Jetzt aber sind zahl-
reiche Täuschungen bekannt geworden, die sich durch Muskelempfindungen
nicht erklären lassen, ja es hat sich gezeigt, dass auch diejenigen, auf die
sich Wundt vor allem gestützt hatte, nicht nur anders erklärt werden
können, sondern z. T. geradezu anders erklärt werden müssen. So
können wir z. B. mit Hering die scheinbare Neigung einer Vertikalen
bei einäugiger Betrachtung, die der Vortragende vorher mit Hilfe des
Spiegelhaploskops demonstriert hatte, vielleicht rein physiologisch auf die
wirkliche Neigung der Linie zurückführen, die die beiden, von ver-
schiedenen Nerven versorgten Netzhauthälften des Auges trennt. Als Bei-
spiel einer Täuschung aber, bei der die kritisierte Theorie gänzlich versagt,
sei die häufig beobachtete Auffassung eines Quadrates als eines stehenden
Rechteckes, also die Ueberschätzung der Vertikalen, angeführt. Denn nicht
nur findet sich diese Auffassung bloss bei einem kleinen Bruchteil der Ver-
suchspersonen, während doch der Muskelapparat bei allen der gleiche ist,
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Sitzungsberichte. 437
sondern die meisten Personen vermögen, darauf aufmerksam gemacht, so-
fort willkürlich ein Quadrat als stehendes oder auch als liegendes Rechteck zu
sehen, je nachdem sie die vertikalen oder die horizontalen Seiten durch die
Aufmerksamkeit hervorheben. Diese Tatsache weist auf eine andere, von
dem Vortragenden früher (Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg.,
Bd. 23 u. 24} gegebene Erklärung hin, wonach dem Quadrate eine eigen-
artige „Gestaltqualität" zukommt, nämlich eine gleichmässige Verknüpfung
aller vier Seiten zur Einheit, während beim Rechteck die längeren Seiten
besonders einheitlich verbunden sind und im Bewusstsein hervortreten. Die
Ueberschätzung der vertikalen Seiten beim Quadrate beruht danach auf
einer unwillkürlich engen Zusammenfassung derselben, kann also nicht, mit
Wundt, auf die grössere Muskelleistung bei Bewegung des Auges in verti-
kaler Richtung zurückgeführt werden. Es handelt sich vielmehr in diesem,
wie in vielen anderen Fällen, lediglich um eine Urteilstäuschung,
was der Vortragende an einer grossen Reihe weiterer, teils auf Tafeln, teils
mit Hilfe des Projektionsapparates vorgeführter Täuschungen noch im ein-
zelnen nachwies. Für diese Auffassung spricht vor allem auch die Tatsache,
dass die meisten Täuschungen bei öfterer genauer Betrachtung erheblich
nachlassen, bezw. völlig verschwinden, was gleichfalls der Wundt'schen
Theorie der Muskelempfindungen widerspricht. Diese verliert aber zu-
gleich mit den geometrisch-optischen Täuschungen ihre hauptsächlichste
Stütze.
Diskussion.
Herr Dr. F e i 1 c h e n f e 1 d (a. G.) fragt an, ob für die Hypothese,
wonach die scheinbare Neigung einer monokular betrachteten Vertikalen
auf der Verteilung der Nervenfasern auf die beiden Netzhauthälften be-
ruhen soll, klinisch - pathologische Erfahrungen vorlägen, wozu ja
Hemianopiker das geeignetste Material darstellen würden. Derartige
Untersuchungen müssten freilich am Campimeter, nicht am Perimeter aus-
geführt werden. Ferner erhebe sich die Frage, warum sich beim Quadrate
die Aufmerksamkeit vorzugsweise den Vertikalen zuwende, wie der Vor-
tragende zur Erklärung der Ueberschätzung der Vertikalen ange-
nommen habe.
Herr Gumpertz meint, dass wir es im täglichen Leben vorzugs-
weise mit Vorgängen in horizontaler Richtung zu tun haben, vertikale Seh-
objekte daher, weil ungewohnt, leicht überschätzt würden.
Herr Schumann erwidert, dass Untersuchungen an Hemianopikern
wie sie Herr Dr. Feilchenfeld wünschte, seines Wissens bisher nicht ange-
stellt worden seien, aber wohl auch kaum mit hinreichender Genauigkeit
ausgeführt werden könnten, da es sich nur um eine ganz geringe Abweichung
von der Vertikalen handle. Hinsichtlich der Frage, warum die Aufmerksam-
keit sich beim Quadrate mit Vorliebe den Vertikalen zuwende, sei auf die
allgemeine Tatsache zu verweisen, dass Linien, die symmetrisch zu einer verti-
kalen Mittellinie lägen, stets Besonders einheitlich mit einander verknüpft
seien. Dies sei nun bei den vertikalen Quadratseiten in der Tat der Fall.
Schlass: 9 Uhr.
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488 Sünmgsberichte.
Arbeitsplan
für das Winterhalbjahr 1902/03.
Die Sitzungen der Psychologischen Gesellschaft werden gewöhnlich an zwei
Donnerstagen jedes Monats im Hörsaal des Botanischen Instituts der
Universität, Dorotheenstrasse 5, abgehalten und beginnen um 7 Uhr.
Die Tagesordnung wird regelmässig in mehreren Berliner Tageszeitungen,
sowie in den Berliner Anzeigen des Herrn Eugen Grosser bekannt ge-
macht. Die einzelnen Sitzungsberichte werden fortlaufend in der Zeit-
schrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene abge-
druckt und den Mitgliedern im Jahresberichte zur Verfügung gestellt.
Ausserdem erhalten die Mitglieder die Schriften der Gesellschaft für
psychologische Forschung unentgeltlich.
Mitgliedschaft. Ueber die Bedingungen der Mitgliedschaft erteilen die
Satzungen Auskunft. Semesterbeitrag 4 Mark.
Alle Anfragen und Mitteilungen sind zu richten an den derzeitigen I. Vor-
sitzenden, Herrn Dr. T h e o d. S. F 1 a t a u, Berlin W., Potsdamer
Strasse 113, Villa 3.
1902.
Donnerstag, d. 2. Oktober. Ausserordentl. Sitzung. Rechenkünstler P.
Diamandi (aus Paris): Ueber das visuelle Gedächtnis, mit Rechen-
experimenten.
Donnerstag, d. 16. Oktober. Gesellige Zusammenkunft der Mitglieder.
Donnerstag, d. 23. Oktober. Ordentl. Sitzung. Dr. Th. S. Fla tau: Ueber
phonographische Schrift. (Mit Demonstrationen.) Prof. Dr. R. Leh-
mann: Ueber den Unterricht in der Psychologie auf höheren Schulen.
Donnerstag, d. 6. November. Ausserordentl. Generalversammlung: Re-
vision der Satzungen und der Bibliotheksordnung.
Donnerstag, d. 20. November. Ordentl. Sitzung. Dr. W. Stern: Die
Ethik der Epikureer und ihre Widerlegung.
Donnerstag, d. 4. Dezember. Ordentl. Sitzung. Dr. H. Feilchenfeld:
Zur Analyse der Augenbewegungen (mit Demonstrationen). Privat-
dozent Dr. A. Vierkandt: Die subjektiven Grundlagen der Ueber-
zeugung.
Donnerstag, d. 11. Dezember. Ordentl. Sitzung. Gesanglehrer C. Eitz (aus
Eisleben): Die Tonwortraethode in psychologischer und musikpäda-
gogischer Hinsicht.
1003.
Januar, an einem noch zu bestimmenden Abend. Dr. A. Moll: Demon-
stration seiner Fachbibliothek und ihrer Einrichtung. (Nur für Mit-
glieder.)
Dienstag, den 20. Januar. Ordentl. Sitzung. Prof. Dr. G. Simmcl: Ueber
ästhetische Quantitäten.
Donnerstag, d. 5. Februar. Ordentl. Sitzung. Dr. G. Fla tau: Zur
Psychologie der Zwangsvorstellungen.
Freitag, d. 20. Februar. Ordentl. Sitzung. Prof. Dr. C. Stumpf: Ueber
den Begriff der psychischen Gebilde.
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Donnerstag, d. 5. März. OrdenÜ. Sitzung. Dr. A. Liebmann: Die
Sprache der Irren.
Donnerstag, d. 19. März. Ordentl. Generalversammlung.
Ausserordentliche Sitzung vom 2. Oktober 1903.
Beginn um 7,a Uhr.
Vorsitzender: Herr Th. S. F 1 a t a u.
Schriftführer: Herr Pfungst
Nach Begrüssung der zahlreich erschienenen Gäste heisst der Vor-
sitzende den Redner des Abends, Herrn P. D i a m a n d i, Rechenkünstler
aus Paris, willkommen. Genannter Herr hatte bereits für den I. Oktober
der Gesellschaft eine Anzahl von Einladungskarten zu einer, vor einem
geladenen Kreise veranstalteten Sitzung freundl. zur Verfügung gestellt und
sich nun zu einer besonderen Sitzung bereit finden lassen.
Herr D i a m a n d i, von Geburt Grieche, gab in geläufigem Französisch
zunächst eine kurze Autobiographie. Er schilderte, wie er, zufällig ge-
zwungen, im Kopfe eine grössere Multiplikation auszuführen, auf seine Be-
gabung aufmerksam geworden sei. Von Hause aus Kaufmann und weit ge-
reist, kam er nach Paris, wo kurz zuvor der Rechenkünstler J. I n a u d i
das Interesse der wissenschaftlichen Kreise in hohem Masse erregt hatte.
Sich ganz der Ausbildung seines Talentes widmend, unterzog sich Herr
Diamandi einer Reihe von Versuchen, die von C h a r c o t und A. B i n e t
angestellt und in einem Aufsatz der Revue Philosophique, Jahrgang 1803,
Bd. 35, sowie besonders in dem Buche von A. B i n e t: Psychologie des
grands calculateurs et joueurs d'echecs, Paris, 1894, nebst einer eingehenden
psychologischen Analyse veröffentlicht worden sind. Im Gegensatz zu
I n a u d i, der den auditiven Typus repräsentierte, ist Herr Diamandi ein
Beispiel für den visuellen. Er sieht in der Vorstellung die Zahlen in Gestalt
und Farbe, wie sie auf der Tafel niedergeschrieben werden. Er besitzt für
die Zahlenreihe ein eigenartiges Diagramm, in Gestalt einer im Zickzack
verlaufenden Kurve. Das von ihm an die Tafel gezeichnete Bild weicht
übrigens nicht unbeträchtlich von dem von Binet in seinem genannten
Werke gegebenen ab. Eine wesentliche Rolle scheint übrigens diesem Dia-
gramm beim praktischen Rechnen kaum zuzukommen.
Herr Diamandi lässt sich Zahlen, mit denen er Rechenoperationen
ausführen soll, lieber aufschreiben, als vorsprechen, weil er sie sich sonst,
obwohl er nach seiner Angabe 8 Sprachen spricht, erst in seine Mutter-
sprache, das Griechische, übersetzen muss, was die Operation natürlich er-
schwert und verzögert.
Es werden nunmehr eine Reihe von Experimenten mit dem Vor-
tragenden angestellt. 5 Reihen zu je 5 Ziffern werden, im Quadrat ange-
ordnet, an die Tafel geschrieben. Nach kurzer Betrachtung vermag er sie
fehlerfrei von links nach rechts, sodann von oben nach unten, endlich
in einer Spirale von aussen nach innen auswendig herzusagen. Darauf nennt
er beliebige dieser Ziffern, wenn ihm deren Stelle im Quadrate bezeichnet
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490
wird. Die Produkte zweier mehrstelliger, z. B. sechsstelliger Zahlen, giebt
er nach kurzem Besinnen richtig an.
Die dritten Wurzeln einer neun- und einer zwölf stelligen Zahl giebt
er, die erste nach einer halben, die zweite nach einer Minute, jedoch nicht
völlig korrekt an. Als die vierte Wurzel von 35,296,498 nennt er sofort 77
und nach kurzem Besinnen als Rest 143.457, beides richtig.
Es wird ihm darauf von einem der Anwesenden die Aufgabe gestellt,
25 Ziffern, 5 Reihen zu je 5, die er in einer Sitzung am Tage zuvor ge-
lernt, ohne zu wissen, dass er noch einmal danach gefragt werden könnte,
wieder an die Tafel zu schreiben. Er schreibt zuerst die erste Reihe voll-
ständig und richtig hin, von der zweiten Reihe nur zwei Ziffern, dann die
unterste wieder vollständig richtig. Er füllt sodann die anderen aus, zu-
letzt die mittelste Reihe; doch finden sich immerhin noch einige Fehler
und Lücken.
Er betrachtet dann kurze Zeit alle im Laufe des Abends an die Tafel
geschriebenen Ziffern, etwa 120 im ganzen, und vermag sie alsbald richtig
von links nach rechts und umgekehrt herzusagen, wobei er sie auch in ihrer
Gruppierung korrekt wiederzugeben im Stande ist Auch vermag er unter
diesen Ziffern jede beliebige, nach ihrer Stellung ihm bezeichnete, richtig
zu benennen.
Es fällt auf, dass er Summen nicht Ziffer für Ziffer, sondern lieber ihrer
Geltung nach angiebt, also etwa 5030 als Fünftausend dreissig, nicht als:
fünf, null, drei, null. Die Geltung der Ziffern ist ihm also offenbar wichtigei
als deren Stelle. Er vermag sich 10 — i2$tellige Zahlen fast momentan ein-
zuprägen, allerdings niemals rein visuell, denn er murmelt dabei immerzu
leise. Er selbst bemerkt zum Schlüsse, dass er nicht immer gleich gut
disponiert sei, und dass die Disposition auf die Schnelligkeit und Sicherheit
der Rechenoperationen einen wesentlichen Einfluss ausübe.
Der Vorsitzende dankt Herrn D i a m a n d i im Namen der Gesell-
schaft für seine interessanten Ausführungen.
Schluss der Sitzung 8*° Uhr.
Sitzung vom 23. Oktober 1902.
Beginn: 716 Uhr.
Schriftführer: Herr Th. S. Fiat au.
Schriftführer : Herr P f u n g s t
Nach Begrüssung der zahlreich erschienenen Gäste lässt der Vor-
sitzende die von der Gesellschaft an Herrn Prof. Wilhelm Wundtin
Leipzig zu seinem 70. Geburtstage überreichte Glückwunschadresse verlesen
und teilt die Antwort des Jubilars mit
Der Jahresbericht der Gesellschaft für 1900/02 ist erschienen und wird
unter die Mitglieder verteilt. Das Institut Psychologique zu Paris lässt
der Gesellschaft durch Herrn Dessoir seine Druckschriften überreichen
Hierauf hält Herr T h. S. F 1 a t a u einen kurzen Vortrag:
Ueber phonograpfiische Schrift (mit Demonstrationen).
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SiUungsbtridtU.
491
Der Vortragende berichtet über eine grössere Versuchsreihe, die be-
zweckte, die phonographische Vokalschrift des Edison'schen Apparates durch
direkte Kopie in plastischer Form zugänglich zu machen.
Nach einem kurzen Bericht über die grundlegenden Arbeiten Herr-
manns und die Versuche Bökels demonstriert er eine Anzahl von gal-
vanoplastisch hergestellten Matrizen und photographischen Diapositiven und
Vergrösserungen zur Erläuterung der Methode. Eine ausführliche Dar-
legung wird in einer eigenen Schrift erfolgen.
Diskussion :
Herr v. Hornbostel: Der im Auftrage der k. Akademie der
Wissenschaften in Wien von Herrn F. H a u s e r konstruierte „Archiv-
Phonograph" besitzt den bisherigen Apparaten gegenüber den Vorzug, dass
nicht Walzen, sondern Platten (in Spirallinien) beschrieben werden. Von
den Platten werden ebenfalls galvanoplastische Negative genommen, die als
Matrizen für beliebig viele Wachskopien dienen können. Das Verfahren
empfiehlt sich wegen der Einfachheit und Sicherheit der Manipulation.
Herr Moser fragt den Vorredner, ob der Apparat erhältlich sei
und wo.
Herr v. Hornbostel. Ja, in Wien.
Herr T h. S. F 1 a t a u fragt Herrn v. Hornbostel, ob der Wiener
Apparat mit Nadel oder mit Saphirstift versehen sei, und ob die phoneti-
schen Resultate wesentlich besser seien.
Herr v. Hornbostel vermag darüber keine Auskunft zu erteilen.
Hierauf hält Herr Prof. Dr. R. Lehmann (a. G.) den angekündigten
Vortrag:
Ueber den Unterricht in der Psychologie auf höheren
Schulen.
Die preussischen Lehrpläne und Lehraufgaben von igoi erklären eine
propädeutische Behandlung der Hauptpunkte der Logik und der empirischen
Psychologie in der Prima der höheren Lehranstalten für wünschenswert.
Diese Bestimmung ist ein Zeichen dafür, dass das Interesse für die philo-
sophische Propädeutik nach langer Pause auch bei der Schulbehörde wieder
im Aufsteigen begriffen ist und giebt Grund zu der Hoffnung, dass sich
dieses Interesse bei künftigen Neuordnungen noch entschiedener praktisch
bewähren wird. Wer für die Einführung des propädeutischen Unterrichts ein-
tritt, wie es der Vortragende seit langen Jahren thut, der muss mit einer
doppelten Gegnerschaft rechnen: erstens mit den Vorurteilen der nicht philo-
sophisch Gebildeten, die in der Beschäftigung mit der Philosophie überhaupt
und in einer philosophischen Belehrung der Jugend insbesondere eine zweck-
lose oder gar schädliche Sache erblicken. Hierauf einzugehen erübrigt sich in
dem Kreise der psychologischen Gesellschaft Ernsthafter aber ist die
Gegnerschaft zu nehmen, die von der entgegengesetzten Seite ausgeht: Die
Vertreter der wissenschaftlichen Philosophie sind vielfach geneigt, die vor-
läufige Beschäftigung mit dieser, wie sie auf der Schule allein möglich ist,
für schädlich zu halten und zu fürchten, dass sie die jungen Leute zu einem
oberflächlichen Naschen an der Sache anleite und ihnen noch dazu den
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492
Sitzungsberichte.
Dünkel einflösse, dass sie von der Wissenschaft etwas verstünden, die ihnen
doch kaum in den ersten Elementen zugänglich gemacht werden könne.
Allein der Begriff des Vorläufigen wird hier in einem ganz falschen Sinne an-
gewandt. Es kann sich nicht darum handeln, den jungen Leuten eine vor-
läufige Kenntnis der philosophischen Wissenschaft, sei es in einer Reihe
einzelner Punkte, oder sei es gar in einer systematischen Form beizubringen.
Vielmehr kann der Zweck einer philosophischen Propädeutik nur der sein,
dem natürlichen Bedürfnisse nach philosophischer Belehrung, das die streb-
sameren unter unseren Primanern fast durchweg empfinden, entgegenzu-
kommen, indem man ihre Vorurteile beseitigt, ihre verworrenen Begriffe
klärt, ihre ins Ungemessene gehenden Fragen auf das richtige Ziel zurück-
führt und ihnen anschaulich macht, dass die Philosophie nur im ernsthaften
und methodischen Nachdenken und nur durch wissenschaftliche Arbeit Er-
gebnisse zeitigt. Um die Klarstellung der wichtigsten Probleme der Philo-
sophie handelt es sich weit mehr als um die Uebermittlung von Resultaten.
Gilt dies nun von philosophischer Propädeutik im allgemeinen, so erwachsen
dem propädeutischen Unterrichte in der Psychologie aus der Natur und dem
gegenwärtigen Stande dieser Wissenschaft ganz besondere Schwierigkeiten
und Bedenken. Die Psychologie hat in ihrer Gesamtentwicklung zwei Stadien
hinter sich gelassen: das der metaphysischen Spekulation und das der regi-
strierenden und klassifizierenden Erfahrungswissenschaft. Sie ist in ihrem
gegenwärtigen dritten Stadium bei der Arbeit, sich in eine exakte und experi-
mentelle Wissenschaft nach dem Vorbilde der Physik zu verwandeln. Wie
weit ist es nun möglich, Schülern von diesem wissenschaftlichen Charakter der
Psychologie ein Verständnis zu eröffnen? Und wenn das nur in sehr be-
schränktem Masse möglich sein sollte, dürfen wir dann einer psychologischen
Propädeutik überhaupt irgend welchen Wert beimessen? Bei allen den propä-
deutischen Unterricht betreffenden Fragen thun wir gut, unsere Blicke zu-
nächst auf Oesterreich zu lenken, wo dieser Unterricht seit langem in beiden
Oberklassen regelmässig erteilt wird, und in den beiden letzten Jahrzehnten
namentlich durch die Bemühungen A. Höflers, Meinongs u. a. eine
dem Stande der philosophischen Wissenschaft durchaus entsprechende Höhe
erreicht hat. Höfler hat vor einigen Jahren (1898) unter dem Titel „Physiolo-
gische oder experimentelle Psychologie am Gymnasium", zwei Vorträge
vereinigt, von denen der erste von ihm selber gehalten worden ist, und soweit
er hierher gehört, die Frage behandelt: „Wie soll der psychologische Unter-
richt an Mittelschulen zu den Postulaten der modernen Gehirnpsychologie
Stellung nehmen?" In der Beantwortung dieser Fragen warnt er mit Recht
vor einer weiteren Ausdehnung physiologischer Unterweisung im propä-
deutischen Unterricht. „Es ist streng darauf zu achten, dass dem Schüler
nicht anstatt psychologischer Begriffe und Gesetze, physiologische geboten
werden." Die physiologische Grundlage der Psychologie verweist er ganz
richtig in den naturwisenschaftlichen Unterricht. Der zweite dort veröffent-
lichte Vortrag ist von Stephan Witasek (Graz) gehalten worden und
führt den Titel: „Ueber psychologische Schulversuche". Er tritt dafür ein,
auch den propädeutischen Unterricht in der Psychologie in möglichst weitem
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Sitzungsberichte.
493
Umfange auf das Experiment zu begründen, indem er die Paralelle mit der
Experimentalphysik zu Grunde legt Aber Witasek ist kein praktischer
Schulmann, und seine Argumente werden bei einem solchen leichter dazu
führen, die Schranken und Bedenken erkennen zu lassen, welche der Experi-
mental-Psychologie in der Schule gegenüberstehen, als ihn von dem Werte
der letzteren zu überzeugen. Wenn somit die beiden charakteristischen Züge
der modernen Psychologie für die Schule nur in sehr beschränktem Masse
verwertbar sind, so wird man den Versuch als aussichtlos bezeichnen müssen,
Gymnasiasten in dem Sinne in die Psychologie einzuführen, dass ihnen die
wissenschaftlichen Methoden zugänglich oder in den Einzelheiten verständ-
lich würden, oder dass sie sich gar ein Urteil über die Controversen, welche
fast auf dem ganzen Gebiete der Forschung herrschen, bilden könnten. Eine
Methode zu beurteilen vermag nur der, der sie in eigener Arbeit anwendet.
Man wird sich also nicht scheuen dürfen, in der psychologischen Propädeutik
von der heutigen Wissenschaft aus zunächst einen Schritt zurückzuthun und
den Schüler wesentlich auf den Standpunkt zu fuhren, den die empirische
Psychologie etwa im zweiten Drittel des vergangenen Jahrhunderts erreicht
hatte. Damit erhält er nun eine Anzahl von Einteilungen und Begriffs-
bestimmungen, wie sie z. B. in der Lehre von den Arten, der Verstandes-
thätigkeit im engeren Sinne oder der Lehre von den Trieben, Tempera-
menten etc. vorliegen. Diese den Schülern zu übermitteln, ist mithin die
erste Aufgabe des Unterrichts. Sobald man sie nun aber veranlasst, sich in
den Inhalt des hier Gegebenen zu vertiefen, um sich ein sachliches Ver-
ständnis zu erwerben, so muss es alsbald zu Tage treten, dass die Einsicht
in das psychische Geschehen durch diese formalen Bestimmungen noch nicht
annähernd erschöpft wird. Auf diese Weise werden die Schüler vor die
Probleme geführt, welche den eigentlichen Gegenstand der psychologischen
Forschung ausmachen, und indem der Lehrer ihnen verständlich macht, in
welchem Sinne die Wissenschaft der Gegenwart diese Probleme fasst und zu
bewältigen sucht, eröffnet er ihnen das Verständnis für die Probleme und
Ziele der wissenschaftlichen Psychologie. Damit aber erfüllt er die zweite und
höchste Aufgabe, welche der Propädeutik auf der Schule gestellt werden
kann. Denn nicht mit dem Gefühle einer oberflächlichen Sättigung, son-
dern mit dem des Hungers, mit dem Bedürfnis nach Erweiterung und Ver-
tiefung ihrer philosophischen Erkenntnis soll das Gymnasium seine Schüler
zur Universität entlassen.
Diskussion:
Herr Moser bedauert das Zurücktreten der philosophischen Studien
in unseren Schulen, noch mehr das Verlöschen des philosophischen Inter-
esses bei Schülern und Studierenden. Ein philosophischer Kursus in den
letzten zwei Gymnasialjahren würde hier Wandel schaffen. Die hierbei ein-
zuhaltenden Grenzen hat der Vortragende richtig bezeichnet. Freilich be-
dürfen wir hierzu der richtigen Lehrer, die aus dem Vollen schöpfen.
Herr Oberlehrer Fischer (a. G.) hält gleichfalls einen mehrstündigen
Schulunterricht in der philosophischen Propädeutik für wünschenswert. Wie
lässt sich aber diese Forderung mit den Wünschen der Biologen, Geo-
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pithologie und Hygiene. 8
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494
Silsungsberühl«.
graphen, Stenographen und Hygieniker vereinigen, die alle gleichfalls eine
ausgiebige BerQcksichrigung in den Lehrplänen, x. T. mit mehreren Stunden
durch das ganze Pensum erstreben?
Herr Pappenheim kann als Naturwissenschaftler die Stellung des
Herrn Redners zur experimentellen Psychologie nicht gutheissen. Versuche,
die gut vorbereitet sind und gelingen, interessieren stets die Schüler und
geben eine Grundlage, auf der sich aufbauen lässt. Es müsste daher auch
ein psychologischer Schulunterricht, wo sich nur die Möglichkeit bietet, Ver-
suche vorführen oder die Versuchsergebnisse anderer mitteilen, so z. B. Ver-
suche mit dem Gedächtnis, die Sinnestäuschungen und die Gedächtniszeich-
nungen.
Herr Prof. A. Haake (a. G.) ist ebenfalls der Ansicht, dass das un-
leugbar vorhandene philosophische Interesse der Jugend der sorgsamsten
Pflege bedarf, einer sorgsameren, als ihm bis jetzt im allgemeinen zu Teil
wird. In erster Linie müsse hierfür der gesamte Unterricht in den oberen
Klassen nutzbar gemacht werden. Namentlich im Anschluss an die deutsche
und fremdsprachliche Lektüre könnten und müssten ethische und psycho-
logische Fragen in anregender Weise und in weitem Umfange, aber zugleich
in einer dem jugendlichen Geiste angemessenen Beschränkung behandelt
werden. Es sei sehr wünschenswert und prinzipiell zu fordern, dass eine
ergänzende systematische Unterweisung hinzukomme. Aber dieser Unter-
richt sei sehr schwierig und könne, wenn er nicht wirklich gut erteilt werde,
leicht mehr schaden als nützen. Eine besondere Schwierigkeit liege darin,
dass dieser Unterricht, obwohl er in der Form einer gewissen systematischen
Vollständigkeit auftrete, doch so wenig Abgeschlossenes biete. Auf alle
Höhen und in alle Tiefen der Philosophie könnten die Schüler nicht geführt,
es könnten die Probleme nicht voraussetzungslos gestellt und bis zu Ende
verfolgt werden, sondern der Lehrer werde oft genötigt sein, abzubrechen
und auf künftige Forschung und Aufklärung zu verweisen. Dazu gehöre ein
sehr geschickter Lehrer; der weniger geschickte werde dabei, anstatt da*
philosophische Interesse zu wecken und zu stärken, es abstumpfen und das
noch vielfach herrschende Vorurteil gegen die Philosophie vermehren. Dazu
trete für den Schulunterricht eine weitere Schwierigkeit, die in der Ver-
schiedenheit der philosophischen Richtungen liege. Redner ist der Ansicht,
dass es sich, bis weitere Vorbereitungen getroffen und Erfahrungen ge-
sammelt sind, vorläufig empfiehlt, die Bestimmung der Lehrpläne von i88->
wieder aufzunehmen, wonach an den Schulen der Unterricht in der philo
sophischen Propädeutik eingeführt werden soll, wo geeignete Lehrkräfte da-
für vorhanden sind.
Herr Prof. Dr, R. Lehmann: Die Zeit für diesen Unterricht könne
wohl nur auf Kosten anderer Fächer gewonnen werden, und es dürfte diese
Neuerung dann allerdings allmählich zu noch weiteren Reformen des Lehr-
plans führen. Jedenfalls aber gebühre der Philosophie eine exiraierte
Stellung, etwa dem Religionsunterrichte vergleichbar, und sie dürfe den
speziellen Gegenständen des Unterrichts keineswegs gleichgestellt werden.
Herr Oberlehrer H. Fischer betont, dass Biologie und Geographie
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Sitzungsberichte.
495
ihre Ansprüche schon länger geltend machen. Er verweist auf die Forde-
rungen P a u 1 s e n s :
1. den Gymnasialunterricht um einen Jahreskursus zu erweitern,
2. den Unterricht auf der Oberstufe des Gymnasiums freier zu gestalten.
Ein gangbarer Weg wäre wohl auch der, zweistündige wahlfreie Kurse
interessierter und Befähigter Lehrer in einer oder mehreren der genannten
Disziplinen einzuführen, je nach den Lehrkräften einer Schule.
Herr Prot A.H a a k e kann einen fakultativen Unterricht in Lehr gegen
ständen, bei denen es sich um die Gewinnung spezieller positiver Kenntnisse
handelt, wohl billigen, nicht aber in der philosophischen Propädeutik, die wie
kein anderer Unterrichts-Gegenstand der allgemeinen Bildung dienen soll.
Herr Oberlehrer H. F i s c h er kann dem Vorredner nicht beistimmen.
Vielleicht ist es sogar ein grosser Vorteil, wenn die Nicht- Interessierten
fernbleiben. Prinzipiell muss aber betont werden: Wir haben ganz allge-
mein zu lange schon auf dem Standpunkte des Schülers gestanden. Stellen
wir uns endlich auch einmal auf den des Lehrers. Wo Kräfte in einem Lehrer-
kollegium für gewisse Zweige des Unterrichts vorhanden sind, da gebe man
ihnen auch Gelegenheit zu nutzbringender Verwendung.
Herr Prof. Dr. R. Lehmann lehnt es in seinem Schlussworte ab,
auf die praktische Gestaltung des Gymnasiallehrplans und das Verhältnis
der Propädeutik zu den übrigen Unterrichts-Stunden hier näher einzugehen.
Er giebt seiner Uebereinstimmung mit der in der Debatte geäusserten An-
schauung Ausdruck, dass es vor allem darauf ankomme, dass der gesamte
Unterricht in den oberen Klassen von einem philosophischen Geiste durch-
zogen und getragen werde, betont jedoch, dass auch besondere für die Pro-
pädeutik angesetzte Lehrstunden unerläßlich seien, wenn dieser philo-
sophische Geist wirklich auf die Schüler übertragen werden solle.
Zur Aufnahme melden sich:
Herr Dr. med. W. Hellpach, Charlottenburg, Knesebeckstr. 76.
Herr Prof. A. Haake, Gymnasialdirektor a. D., Steglitz, Albrechtstr. 92.
Schluss der Sitzung: 9" Uhr.
Ausserordentliche Generalversammlung vom
6. November 1902.
Beginn um 7*0 Uhr.
Vorsitzender: Herr T h. S. F 1 a t a u.
Schriftführer: Herr P f u n g s t.
Der Vorsitzende verkündigt die Aufnahme der Herren
Prof. A. Haake,
Dr. med. W. Hellpach,
sowie nachträglich die des Herrn
Dr. phil. Grafen zu Dohna. Hauptmann a. D., W., Geis-
bergstr. 27.
Auf der Tagesordnung steht die Revision der Satzungen und der
Bibliotheksordnung. Beide waren durch den Vorstand vorbereitet worden.
8*
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496
unter der wertvollen juristischen Beihülfe unseres Mitgl. Herrn H. Im-
berg.
Nach Verteilung von Korrekturabzügen werden die neuen Satzungen
und die Bibliotheksordnung im einzelnen durchberaten und sowohl para-
graphenweise als im ganzen angenommen.
Die Gesellschaft spricht Herrn Imberg für seine hingebende Mit-
arbeit beim Zustandekommen der Entwürfe ihren besten Dank aus.
Zur Aufnahme hat sich gemeldet:
Herr Dr. med. Karl L. Schaefer, Privatdozent an der Univers.,
Gr. Lichterfelde-Ost, Wilhelmplatz 6.
Schluss der Generalversammlung: 91* Uhr.
Sitzung vom 20. November 1902.
Beginn um ?*° Uhr.
Vorsitzender: Herr Th. S. Fiat au.
Schriftführer: Herr Pfungst
Nach Begrüssung der zahlreich erschienenen Gäste verkündigte der Vor-
sitzende die Aufnahme des Herrn
Dr. med. Karl L. Schäfer,
Privatdozent an der Universität.
Die in der Generalversammlung vom 6. November beschlossenen
Satzungen und die Bibliotheksordnung sind im Drucke erschienien und
gelangen nebst dem von der Verlagsbuchhandlung Joh. Ambrosius
Barth in Leipzig hergestellten Schriftenverzeichnis der Gesellschaft zur
Verteilung. Der von der Breslauer Schwestergesellschaft übersandte Jahres-
bericht pro 1901/02, sowie deren Arbeitsplan für das Winter-Semester 1902/03
liegen zur Einsichtnahme der Mitglieder aus.
Hierauf erteilt der Vorsitzende Herrn Wilh. Stern das Wort zu seinem
angekündigten Vortrage:
Die Ethik der Epikureer und ihre Widerlegung.
lieber kein philosophisches System des Altertums und der Neuzeit,
so führte der Vortragende aus, sind so unzutreffende Vorstellungen selbst
unter den Gebildeten verbreitet, wie über das der Epikureer. Dies gilt
sowohl von ihren theoretisch-philosophischen oder metaphysischen, als auch
ganz besonders von ihren praktisch-philosophischen, also ethischen Auf-
stellungen. Der Vortragende gab zunächst ein objektives Bild von den
allgemeinen und speziellen oder näheren metaphysischen Voraussetzungen
ihrer Ethik, die im wesentlichen mit dem, auf der Atomistik beruhenden
dogmatischen Materialismus Demokrits identisch sind. Alsdann zeigte
er, wie die Ethik der Epikureer von der der Cyrenalker oder Hedoniker,
deren Haupt Aristipp ist, ausgeht.
Nachdem er eine eingehende Darstellung der ethischen Lehren der
Epikureer gegeben hatte, prüfte er sowohl die metaphysischen Voraussetzungen
dieser ethischen Lehren, als auch ganz besonders diese selber auf ihre
Richtigkeit. Vor allen Dingen hält er die allgemeine dogmatisch-meta-
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physische Voraussetzung oder Grundlage, den theoretischen Materialismus,
auf welchem Epikur seine Ethik aufbaut, für unannehmbar und zwar
seines Dogmatismus wegen. Dass Epikur keine Teleologie d. h. über-
natürliche Zwecklehre als nähere oder speziellere metaphysische Voraussetzung
seiner Ethik hat, anerkennt der Vortragende als konsequent, weil der
mechanischen Weltanschauung dieses Philosophen entsprechend, und hält
dieses Fehlen der Teleologie von seinem eigenen Standpunkte, dem kritischen
Positivismus, aus zwar thatsächüch, aber nicht aus demselben prinzipiellen
Grunde, wie Epikur für richtig. Aber die von diesem vertretene Lehre
von der Willensfreiheit hält er wegen der in ihr enthaltenen Willkür
für eine nicht bloss ganz irrationelle, sondern auch inkonsequente, in die
mechanische Weltanschauung dieses Philosophen nicht hineinpassende und
darum zu tadeln.
Was nun die eigentlichen ethischen Lehren Epikurs betrifft, so
ergiebt sich nach dem Vortragenden, dass sie, da sie ein ausdrücklich
zum Grundprinzip der Ethik erhobener Eudämonismus sind, welcher das
Lustprinzip oder den Egoismus, also ein antiethisches Prinzip zum Inhalt
hat, zu verwerfen sind. Der Vortragende giebt zu, dass Epikur darin das
Richtige getroffen hat, dass er die Anregung zu den von ihm sittlich
genannten Handlungen nicht, wie A r i s t i p p , von vom Subjekt gesuchten
positiven Lustgefühlen, sondern nur von Unlustgef üblen ausgehen lässt,
da nach Epikur auch die Lust nur, wenn ihr Mangel uns Unlust bereitet,
erstrebt wird. Dass Epikur auch die körperliche Lust ab eine der
Triebfedern des Menschen auffasst, da er keinen Wertumerschied zwischen
der körperlichen und der geistigen Lust anerkennt, tadelt der Vortragende,
da hierin eine vollständige Verkennung der menschlichen Natur liege. Was
nun den Wert der von Epikur ausser der körperlichen auch als Trieb-
feder der sittlichen Handlungen hingestellten psychischen oder geistigen
Lust betrifft, so lässt sich nach dem Vortragenden weder die Aufopferung
für die Erkenntnis, noch die für die Durchführung eines bestimmten eigenen
Planes, noch auch die für einzelne Mitmenschen durch das Streben nach
psychischer Lust erklären, da alle diese Handlungen im Widerspruche
mit dem Selbsteihaltungsstreben oder Egoismus stehen. Dieser kann daher
das leitende Prinzip der genannten sittlichen Handlungen nicht sein. Ferner
vermag das Streben nach psychischer Lust oder der Egoismus weder die
bei den Tieren vorkommenden sittlichen Erscheinungen, wie die mitleid-
volle Handlungsweise von Tieren gegen andere einzelne und die bei den
staatenbildenden Tieren vorkommende Aufopferung für den Tierstaat, dem
sie angehören, noch deren mitleidvolle Behandlung oder gar die Rettung
ihres Lebens von Seiten eines Menschen zu erklären.
Der Vortragende tadelt ferner die mit Thatenlosigkeit verbundene
Zurückgezogenheit der Epikureer vom öffentlichen Leben, welche eine
Folge ihrer ethischen Lehren ist und weder für den Staat, noch für das
Wohl ihrer Mitmenschen von Nutzen sein konnte. Dass hingegen Epikur
seinem Prinzip der Lust oder des Egoismus entsprechend auch die Freund-
schaft auf das Streben nach Befriedigung des eigenen Ich oder den
Vorteil zurückführt, hält der Vortragende abweichend von anderen für
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498
Sittun %sberithte.
eine richtige Anschauung. Den von £ p i k u r angegebenen Zweck der
wissenschaftlichen Naturbetrachtung, die Befreiung von Furcht und infolge-
dessen die Erlangung der Gemütsruhe oder Ataraxie«, hält der Vortragende
für eine verfehlte Auffassung. Endlich betrachtet auch er es als einen Fehler
der Ethik E p i k u r s , dass der Begriff des Ehrgefühls, welches eine durchaus
ethische Tugend ist, wegen der prinzipiell von ihm verneinten Wertunter
schiede der einzelnen Lustgefühle, von welchen nach ihm eben keins edler
oder unedler als die anderen ist, durch seine Lehren unerklärt bleibt.
Der Vortragende kommt zu dem Resultat, dass von den Epikureern
das antike Lustprinzip so weit als möglich veredelt worden ist, dass
aber ihr Grundprinzip der Ethik, die sowohl körperliche, als auch geistige
und zwar dauernde Lust oder Eudämonie die sittlichen Erscheinungen nicht
zu erklären vermag. Er kann daher ihre Ethik nicht als die richtige an-
erkennen, muss sie vielmehr verwerfen.
Diskussion:
Der Vorsitzende dankt dem Vortragenden im Namen der Gesellschaft
und bittet ihn zugleich, im Verlaufe der Diskussion die Beziehungen der
epikureischen zur stoischen Ethik noch etwas eingehender erörtern zu wollen.
Herr Haake schickt voraus, dass er nicht ein Anhänger Epikurs
sei, glaubt aber, dass dem Vortragenden durch seine Ausführungen der
Nachweis nicht gelungen sei, dass vom Standpunkte Epikurs aus das
mit Gefahren verbundene Eintreten für ideale Interessen und die Hingabe
des Lebens für andere oder für das Vaterland weder erklärt noch für
sittlich gut erklärt werden könne. Das gute Handeln ist für Epikur
dasjenige, das das grösstmögliche Glück schafft. Aber gerade für den,
dem subjektiven Empfinden soviel Raum gewährenden Epikureer können
ideale Interessen, das Wohl der Freunde oder gedeihliche Zustände des
Vaterlandes so wichtige Bedingungen seines Glückes sein, dass er das
Leben ohne sie für wertlos hält und für sie hinzugeben kein Bedenken
trägt. Ja, schon die Lust an der kraftvollen Betätigung seiner Neigung
für jene Bedingungen seines Glückes kann so gross sein, dass die Vor-
stellung des Schmerzes über den Verlust des Lebens dem gegenüber
seine Bedeutung verliert. Ausserdem aber hat gerade für den Epikureer
der Tod nichts Schreckliches. Die drapa&a kann durch diesen nicht
gestört werden. Er ist vielmehr der Befreier von jedem Schmerz, und
Schmerzlosigkeit ist das Glück Epikurs.
Herr W i 1 h. Stern erwidert Herrn T h. S. F I a t a u , dass allerdings
sehr viele Beziehungen zwischen den Epikureern und den Stoikern bestünden.
Aber während die Zahl der Uebereinstimmungen sehr gering sei, sei die Zahl
der Gegensätze sehr gross. Die wichtigste Uebe reinst immung sei wohl die, dass
die Epikureer ebenso wie die Stoiker die Gemütsruhe als das Wesen der
Glückseligkeit betonen. Der wichtigste Gegensatz sei wohl der, dass die
Epikureer nicht wie die Stoiker die Leidenschaft, sondern den Schmerz
für das zu vermeidende Uebel halten: Nicht die Apathie, die Leidenschafts-
losigkeit, sondern die Ataraxie, die Schmerzlosigkeit, ist ihnen der zu
erstrebende Zustand. Herrn Haake entgegnet er folgendes: Wenn man sich auf
den Standpunkt des Egoismus stellt, d. h. alle sittlichen Erscheinungen vom
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Sitzungsbericht*.
499
SeJbsterhaltungsstreben ableiten zu können glaubt, so bleibt die Erhaltung
des Lebens das höchste zu erstrebende Gut. Denn der Naturmensch oder
Urmensch kennt kein höheres Gut als die rein egoistische Erhaltung seines
Lebens und des Lebens seiner Nachkommenschaft, die er für einen Teil
seines eigenen Selbst hält. Wir haben nämlich von der Natur teils Organe
bekommen, die die Bedürfnisse des Organismus wie z. B. Hunger und
Durst, melden, teils Organe, die der Befriedigung dieser Bedürfnisse dienen,
und zwar zum Zwecke der Erhaltung des Organismus.
Herr Graf zu Dohna: der Vortrag brachte den Ursprung, nicht
aber das Wesen der Sittlichkeit zur vollen Klarheit. Ist es der Altruismus?
— Altruismus und Egoismus können nicht gleich Sittlichkeit und Unsittlich-
keit gesetzt werden. Der Egoismus ist Selbsterhaltung und Selbstthätigkeit.
Entwicklung nach Aristoteles (mit daran als Konsequenz geknüpfter
Lust) kann nicht ohne weiteres antiethisch genannt werden; er bedingt
jeden Altruismus. Endlich darf die Teleologie im Sinne Kants als
wissenschaftliches Forschungsprinzip doch nicht völlig verworfen werden.
Herr Haake: Wenn der Vortragende sagt: Dem Handeln des Natur-
menschen liegt nichts als Egoismus zugrunde und der Tod erscheint ihm
unter allen Umständen als das grösste und auf jede mögliche Weise
zu vermeidende Uebel, daher auch E p i k u r , für den ebenso wie für
den Naturmenschen der Egoismus der Grund alles Handelns ist, den Tod
als das grösste und daher unter allen Umständen zu fliehende Uebel
betrachten muss, so operiert diese Beweisführung — gesetzt auch, die
Charakteristik des Naturmenschen wäre richtig, was sie nicht ist — mit un-
genauen Prämissen. Denn Epikur war kein Naturmensch, sondern im höchsten
Grade ein Kulturmensch mit dem Egoismus eines solchen, der dem naiven
Instinkte der Lebenserhaltung kritisch gegenüber stand und ihm das Recht,
sich geltend zu machen, nur insoweit einräumte, als die abwägende Vernunft
den Wert des Lebens bejahte.
Herr H e 1 1 p a c h : Auf der Naturstufe ist kein Bewusstsein der
Lebenserhaltung oder Lebensaufgabe vorhanden, sondern eine Anzahl
von Trieben; treten übermächtige Unlustgefühle auf, so wird ein (um
das Leben sich gar nicht kümmernder) Trieb zur Entfernung dieser Unlust
vorhanden sein. Dagegen kann auf Kulturstandpunktcn die Abwehr der
Unlust dem Leben und den dafür gesetzten Zwecken zuliebe verschoben,
das Leben also bewusst erhalten, der Tod vermieden werden.
Herr Th. S. Fiat au glaubt, dass nicht immer die Vernichtung
des eigenen Lebens altruistisch verwertet werden könne. Sie könne auch
die Folge eines gesteigerten Willens zur Machtentfaltung sein, zu deren
Aeusserung die Selbstvernichtung als Vorbedingung erscheint und bewusst
gewählt wird.
Herr Wilh. Stern betont in seinem Schlusswort gegenüber Herrn
Grafen zu Dohna: Der aristotelische Begriff der Eudämonie hat einen
anderen Inhalt als der epikureische. Das gewünschte Grundprinzip der
Ethik des Vonragenden, das er in seiner „Kritischen Grundlegung der Ethik
als positiver Wissenschaft" aufgestellt hat, lautet : „Der Trieb zur Erhaltung
500
csiisungiocncnu ,
des Psychischen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen durch Abwehr
aller schädlichen Eingriffe in dasselbe". Gegenüber Herrn Hellpach bemerkt er :
Dass die Tiere den Begriff des Lebens nicht kennen, ist zuzugeben. Doch ist es
gar keine Frage, dass sie sich bei einem schädlichen Eingriff, der den Verlust des
Lebens zur Folge haben kann, anders benehmen, d. h. stärker reagieren (höchst
wahrscheinlich infolge ihrer eigenen Erfahrung und der von ihren,
durch unzählige Generationen gehenden, Vorfahren ererbten Erfahrung),
als bei einem solchen, der ihnen etwa nur eine kleine Verletzung zufügt.
Schluss der Diskussion.
Zur Aufnahme melden sich:
Herr Geh- Reg.-Rat G. Schöppa. Vortrag. Rat im Kultuiminist.,
Charlottenburg, Leibnizstr. 68a.
Herr cand. phil. Max Wertheimer, N.W., Mariens tr. 25.
Schluss der Sitzung: 9 Uhr.
Sitzung vom 4. Dezember 1902.
Eröffnung: 710 Uhr.
Vorsitzender: Herr Th. S. Fiat au.
Schriftführer: Herr Pfungst.
Nach Begrüssung der sehr zahlreich erschienenen Gäste verkündigt
der Vorsitzende die Aufnahme der Herren:
Geh Reg.-Rat G. Schöppa, Vortrag. Rat im Kultusminist.,
cand. phil. M. Wertheimer,
als ordentliche Mitglieder.
Hierauf spricht Herr Dr. med. H. F e i l c h e n f e 1 d , Augenarzt (a. G.),
über das angekündigte Thema:
Zur Analyse der Augenbewegungen
(mit Demonstrationen).
Vortragender demonstriert den Orschansky* sehen Apparat zur
objektiven Registrierung der Augenbewegungen. Die letzteren beanspruchen
insofern ein speziell psychologisches Interesse, als gerade die Anschauungen
über die Rolle, die den Augenbewegungen bei der Gesichtswahrnehmung
und bei der Raumlokalisation im allgemeinen zufällt, durch die Methoden
der modernen Psychologie eine wesentliche Verschiebimg erfahren haben.
Der demonstrierte Apparat giebt zwar die Bewegungen nicht exakt wieder,
doch gestatten die aufgezeichneten Kurven immerhin einen Schluss auf
deren wesentliche Bedingungen. So kann eine nicht zu grosse Linie durch
einen ruhenden Blick ihrer Grösse nach richtig geschätzt werden. Auch
beim Vergleiche zweier Linien dient die Bewegung nur als Transportmittel,
wird aber nicht selbst Grössenmassstab. Beim Durchlaufen grader Linien
erfolgt die Bewegung ruckweise; an beiden Endpunkten harrt der Blick
länger aus.
Eine Diskussion findet nicht statt.
Digitized by Google
SürunrsberuhU
501
Der Vorsitzende dankt dem Redner für seine Darlegungen und erteilt
hierauf Herrn A. Vierkandt das Wort zu seinem Vortrage über:
Die subjektiven Grundlagen der Ueberieugung.
Dass unsere Ueberzeugungen zum grossen Teil subjektiv wie objektiv
keine logische, sondern eine ausserlogische Grundlage haben, ist eine An-
nahme, zu der uns die Psychologie, die Beobachtungen und Erfahrungen
des täglichen Lebens, wie die Thatsachen der Geschichte und Gesellschaft
gleichmässig drängen. In subjektiver Hinsicht sehen wir das schon an
der symbolisierenden Art, in der sich unser Denken durchweg vollzieht,
mag es sich dabei der sprachlichen Symbole, in voller Ausführlichkeit
oder in abgekürzter Weise, oder anderer von dem betreffenden Individuum
dazu erschaffener Symbole bedienen: In jedem Falle kann in einem solchen
symbolischen Bewusstseinsinhalt, mag er nun als Stellvertretung oder als
Verdichtung aufzufassen sein, nicht der volle logische Gehalt der Ueber-
legung klar gegenwärtig sein. Objektiv sehen wir unrichtige Ueberzeugungen
in den vielen Denkfehlern des täglichen Lebens, in der Einseitigkeit der
Parteianschauungen auf religiösem und politischem Gebiet, sowie in den
individuellen Vorurteilen schon auf unserer eigenen Kulturstufe einen breiten
Raum einnehmen. Viel schlimmer ist es mit dem Aberglauben des Mittel-
alters oder den absurden Vorstellungen des klassischen Altertums über natur-
wissenschaftliche Dinge oder endlich gar mit dem krassen Wahnglauben
und dem sinnlos wüsten Zauberwesen der Naturvölker bestellt. Die Psycho-
logie hat unter den Gründen für diese Erscheinungen bis jetzt vorzüglich
die Suggestion und den Affekt gewürdigt.
Begreiflich wird dieser Sachverhalt zunächst durch eine entwicklungs-
geschichtliche und teleologische Betrachtung. Beim Kinde rankt sich das
Denken am Sprechen empor, und dieses wird zunächst durch äussere Ein-
wirkungen als eine vorwiegend mechanische Fertigkeit im Kinde entwickelt.
Später kommt dann der Einfluss der Autorität, der Tradition und der
Suggestion als eine gewichtige Reihe von ausserlogischen Ursachen für die
BUdung von Ueberzeugungen hinzu. Das Tier ferner hat ein Bewusstsein,
das einseitig nach der praktischen Seite hin entwickelt ist. Seine Intelligenz
befähigt es nur in einer ganz bestimmten Anzahl von Situationen zweck-
mässig, d. h. unter wesentlich gleichen Verhältnissen sich gleich zu benehmen.
Dem entspricht beim Menschen, dass seine Intelligenz durchweg' besser
auf dem praktischen, als auf dem theoretischen Gebiet funktioniert und
dass er in einer oft verhängnisvollen Weise sich vom Analogieprinzip, von
der Neigung, nach Schema F. zu verfahren, im Denken und Handeln be-
herrschen lässt. Der Einfluss der natürlichen Auslese ferner gewährleistet
uns nur, dass das menschliche Bewusstsein von den allergröbsten Irrtümern
auf dem unmittelbar praktischen Gebiet frei ist ; ja vielfach ist die Richtigkeit
der Ueberzeugungen sogar schädlich : Illusionen haben bekanntlich oft lebens-
fördernde Kraft Die fanatischen Naturen, die den Erfolg oft für sich
haben, erinnern in ihrer Einseitigkeit an den Paranoiker, und wer sich an
Geist stark über seine Umgebung erhebt, wird in seinem Gedeihen dadurch
ebenfalls oft beeinträchtigt; dagegen fördert der Irrwahn der religiösen
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502
Si/zu ngsberuh U.
Systeme den Zusammenhalt der Gesellschaft, und das Nämliche gilt von
dem weit verbreiteten falschen Glauben an die Allmacht des Staates.
Wie entstehen in der That unsere Ueberzeugungen ? Es sind dabei
zwei Typen zu unterscheiden. Teilweise entstehen sie kritisch unter sorg
samen Abwägungen. Bei weitem häufiger jedoch wird die erste auftauchende
Vorstellungsverknüpfung sofort zur Ueberzeugung erhoben. Dieses Aufsteigen
der Vorstellungen hängt zunächst von Analogieen ab. Es genügen aber
namentlich auf tieferen Stufen ganz rohe und oberflächliche Aehnlichkeiten.
Ferner wirkt das Gefühl mit, indem es das Aufsteigen bestimmter Vor-
stellungen begünstigt, dasjenige anderer erschwert. Weiter kommen die
allgemeinen Voraussetzungen in Betracht, die in jedem Bewusstsein vor-
handen sind. Teilweise sind sie individueller Natur wie in Gestalt der
bekannten Vorurteile und Voreingenommenheiten, von denen niemand frei
ist und von denen aus alle Thatsachen zurecht gelegt werden. Teilweise
handelt es sich dabei um Denkgewohnheiten, die aus der geistigen Umwelt
stammen. — Noch deutlicher ist die ausserlogische Grundlage bei den-
jenigen Ueberzeugungen, die von aussen her im Bewusstsein angeregt werden.
Jede einigermassen bestimmt eingegebene Vorstellung oder Vorstellungs-
verknüpfung wird hier, wenn sie nicht gröblich gegen den Sinnenschein
oder gegen herrschende Denkgewohnheiten verstösst, sofort in eine Ueber-
zeugung umgesetzt, ausser bei kritischen Naturen oder bei Menschen, die
sich in einer kritischen Stimmung befinden. Namentlich in der Kindheit
werden so Thatsachen und Denkgewohnheiten in Fülle auf vorwiegend
autoritativem Wege dem Bewusstsein eingepflanzt. Auch vom modernen
Schulunterricht und selbst vom Hochschulunterricht gilt das im wesentlichen.
Ihre Anwendung finden diese Thatsachen eigentlich in allen Geistes-
wissenschaften, vorzüglich aber in der Völkerkunde. Der Gegensatz zwischen
der praktischen Lebenskunst der Naturvölker und deren sinnlos wüsten
religiösen Vorstellungen und Bräuchen wird nur von dem angedeuteten
Standpunkte aus begreiflich. Ja selbst bis in die Wissenschaften hinein
macht sich das Ueberwiegen ausserlogischer Faktoren bei der Bildung der
Ueberzeugungen bemerklich. So manche Theorieen und Schemata, wie
z. B. die herkömmliche Lehre von den drei Wirtschaftsstufen oder die alte
geographische Vorstellung, dass Völker vorwiegend von den Bergen in
die Ebene herabwandern, beruhen auf derartigen ganz rohen Analogieen.
•
Diskussion:
Herr H a a k e ist mit den Ausführungen des Vortragenden im wesent-
lichen einverstanden, hätte aber gewünscht, dass ihnen eine Richtung gebende
Definition des Begriffes „Ueberzeugung" zu Grunde gelegt worden wäre.
Die subjektiven Grundlagen der Ueberzeugungen sind teils Vorstellungen,
teils gemütliche Bedürfnisse. Falsche Ueberzeugungen können daher teils
druch eine anderweitig bedingte Ungenauigkeit, Un Vollständigkeit oder will-
kürliche Verknüpfung der zu Grunde liegenden Vorstellungen entstehen,
teils durch den Vorstellungsverlauf beeinflussende gemütliche Bedürfnisse.
Diese letzten spielen namentlich in Fragen der Religion und der Welt-
anschauung eine grosse Rolle.
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503
Herr H e 1 1 p a c h wirft hinsichtlich der Em Wickelung unserer Ueber-
zeugungen die Frage auf: Nähern wir uns mit diesen allmählich der Wirk-
lichkeit oder nicht ? Die erkenntnistheoretische Frage beiseite lassend,
und uns auf den Standpunkt des naiven Realismus stellend, müssen wir
sagen: Unsere Ueberzeugungen von der Natur nähern sich immer mehr
der Wirklichkeit, die von der Psyche des Mitmenschen entfernen sich aber
davon. Die letzteren besitzen nämlich den höchsten Grad von Richtigkeit
in uniformem Zustande und fälschen sich immer mehr mit zunehmender
Differenzierung, denn sie gründen sich auf den gefühlsmässigen Schluss
von den Ausdrucksbewegungen und Handlungen auf die Psyche. Kann
die Psychologie dieser zunehmenden Unsicherheit entgegenwirken? Das ist
ihre Existenzfrage.
Herr Schumann kann im Gegensatz zu Herrn Haake das Fehlen
einer Definition des Begriffs „Ueberzeugung" nicht als einen Vorwurf für
den Vortragenden betrachten. Es wäre ja angenehm, wenn jeder Unter-
suchung eine logisch präzisierte Definition ihres Gegenstandes vorausgeschickt
werden könnte, doch müssen vielfach grosse Gebiete der Wissenschaft, und
zwar mit Erfolg, ohne eine solche ausgebaut werden. So ist es uns bei-
spielsweise z. Z. noch immer unmöglich, eine befriedigende Definition der
Elektrizität zu geben.
Herr Vierkandt betont im Schlusswort, es sei auf den Versuch
exakter Formulierungen absichtlich verzichtet worden, weil der Thatbestand
dafür noch nicht reif erscheine. Ein Versuch in dieser Richtung finde
sich bei: M. Friedmann, Ueber Wahnideen im Völkerleben. Grenz-
fragen des Nerven- und Seelenlebens VI— VII, Wiesbaden, 1901. Zuzugeben
sei, dass der Ausbildung richtiger Ueberzeugungen auf dem Gebiete der
Naturerscheinungen weniger Hindernisse entgegenstehen, als auf dem der
Geschichte und der Gesellschaft, wo das Eigeninteresse vielfach hemmend
wirke.
Schluss der Sitzung: 8** Uhr.
Verein für Schulgesundheitspflege zu Berlin.
In der Oktober-Sitzung sprach Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Hoffa über
Rückgratverkrümmungen bei Kindern. Er gab zunächst an der Hand zahl-
reicher Zeichnungen und Abbildungen eine Schilderung der Ursachen und
der Entwickelung der Anomalien. Die Ursachen liegen oft in vererbter
Disposition oder überstandenen Infektionskrankheiten, besonders aber in der
Englischen Krankheit. Die Hanptschuld jedoch an dem häufigen Auftreten
der Rückgratsverkrümmungen trage die Schule, so dass man die Skoliose
direkt als Schul- oder Sitzkrankheit bezeichnen könne; und zwar sei es
die gewohnheitsmässige falsche Haltung beim Schreibakt. Bei diesem sei
nur die sogenannte Mittellage des Heftes gesund. Viel häufiger aber als
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504
St /zun trtberichte
diese sehe man Kinder die Schräglage anwenden, und diese sei nicht nur
für die Augen schädlich, sondern führe auch, sobald sie gewohnheitsmässig
werde, die seitliche Rückgratverkrümmung herbei. Diese finde sich nun
bei Knaben weit weniger als bei Mädchen. Bei ersteren würden die schäd-
lichen Folgen des Schreibaktes gewöhnlich durch das Turnen, sowie durch
die ihnen gewährte grössere Bewegungsfreiheit ausgeglichen; bei Mädchen
dagegen falle dies alles fort, sie seien durch die Sitte gezwungen, sich
in ihrer körperlichen Freiheit Beschränkungen aufzuerlegen, und so sei
es erklärlich, dass sich in oberen Klassen dreimal mehr skolio tische
Mädchen als Knaben fänden. Durch seine Untersuchungen, die er in
Würzburg an Tausenden von Schulkindern gemacht habe, sei festgestellt,
dass die Zahl der Skoliotischen auch mit ansteigender Klasse zunehme,
und dass in oberen Klassen 56o/0 der Schüler eine seitliche Rückgrat- Ver-
krümmung haben. Was nun die Besserung des Uebels betreffe, so liege
hier der Pädagoge mit dem Arzte im Streite; als Arzt müsse er zur Ver-
hütung der Skoliose fordern: Verminderung der täglichen Stundenzahl,
öftere Pausen und methodischeren Turnunterricht, der auch an Mädchen-
schulen einzuführen sei. Vor allem aber sei der Schreibakt zu reformieren.
Hierzu sei eine der Körpergrösse angepasste Schulbank erforderlich. Man
setze auch die Schüler nicht nach Leistungen, sondern nach ihrer Grösse.
Besondere Rücksicht müsse auf schon zur Skoliose Veranlagte genommen
werden. Er rate, für solche Schüler Sonderklassen einzurichten. Die Schul-
ärzte hätten dann die Aufgabe, die Schüler auf beginnende Skoliose hin
ständig zu beobachten und sie gegebenenfalls diesen Sonderklassen zu über-
weisen. Schliesslich fordere er die Einführung der allein natürlichen Art
zu schreiben, der Steilschrift, da unsere gewöhnliche Schrägschrift zu einer
gesundheitsschädlichen Haltung Anlass gebe.
Hieran schloss sich der Vortrag des Professors Dr. Rudolf Lehmann
über „Vererbung und Erziehung". Die Thatsache der Vererbung sei keine
neue Entdeckung. Aber erst im vorigen Jahrhundert habe sie eine solche
Bedeutung gewonnen, dass man heute geradezu von einem Vererbungs-
fatalismus • sprechen könne. Ein besonders wichtiger Begriff, der gerade
auf die Pädagogik verhängnisvoll zu wirken drohe, sei der der Belastung
im pathologischen Sinne. Wenn die Macht der Vererbung unwiderstehlich
und schrankenlos ' die Eigenart des Menschen bestimme, so müsse der Er-
zieher fragen, was seiner Thätigkeit dann eigentlich für Spielraum bleibe;
ob es überhaupt einen Zweck habe, gegen fehlerhafte Charakteranlagen
anzukämpfen, oder auf das Gemütsleben der Kinder einwirken zu wollen?
Wenn es Pädagogen gäbe, die diese Fragen entschieden verneinten, so
seien die Gründe hierfür die Ueberschätzung der Macht der Erblichkeit
einerseits und dementsprechend die Unterschätzung der En'twickelungs
fähigkeit des Individuums andrerseits. Die Wissenschaft habe längst den
Begriff der Vererbung dahin festgestellt, dass nicht bereits entwickelte
Eigenschaften und Wülensrichtungen, sondern nur die Anlagen hierzu durch
die Vererbung übertragen werden. Welche von diesen Anlagen zur Ent-
faltung kommen, das hänge von den äusseren Bedingungen des Daseins,
von Einflüssen der Umgebung ab. Vererbung und natürliche Anlagen
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St t tun gsberichte .
505
begrenzten die Entwickelung wohl, aber sie könnten sie keineswegs be-
stimmen. Dies sei die Aufgabe der Pädagogik geblieben. Für sie handele
es sich darum, durch Stärkung und Erweckung der guten Anlagen die
schlechten zurückzudrängen und sie durch Entziehung jeder Nahrung zum
Absterben zu bringen. Ein wichtiger Faktor sei hier die Entwickelungs-
hypothese geworden. Diese habe die Bedeutung des Individuums erhöht
und erweitert. Damit der Erzieher sie aber richtig verwerten könne, müsse
an ihn die Forderung gestellt werden, dass er die Eigenart des Zöglings,
seine Anlagen und seine Schranken genau erkenne.
In der Dezember-Sitzung sprach Herr Johannes Paul Müller über „Das
Rettig'sche Schulbanksystem". Sein Vortrag ist unter den Abhandlungen
dieser Zeitschrift veröffentlicht.
Nach ihm gab Dr. med. Th. S. Flatau einen Auszug aus den Er-
gebnissen seiner mehrjährigen Untersuchungen über „Stimmhygiene", um
durch diesen eine Diskussion über sein Thema anzuregen. Selbst näher
auf seine Arbeit einzugehen, halte er für zu schwierig, da dies ein
gewisses Maass von Fachkenntnissen von den Hörern verlange, welches
er nicht voraussetzen könne. Die Stimmhygiene interessiere namentlich drei
Klassen, nämlich die Vertreter der Schauspiel- und Gesangeskunst, dann
die Pädagogen im eigentlichen Sinne, und schliesslich die Aerzte und Physio-
logen. Bestimmte Prinzipien über Stimmhygiene aufzustellen, sei bisher
nicht gelungen. Als höchste akustische Leistung sei zu fordern, dass die
Stimrnleistung mit der Gehörleistung gleichen Schritt halte. Für die erste
Klasse handele es sich um Pflege der Kunstsprache und des Kunstgesanges.
In der zweiten Klasse müsse erst eine phonetisch-physiologische Grund-
lage geschaffen werden. Dann werde in den Schulen auch mehr Sprach-
und Sprechästhetik gepflegt werden können, für welche bislang nur wenig
gethan worden sei. In diesen beiden Klassen habe sich ferner eine Art
Berufskrankheit herausgebildet, die funktionelle Stimmschwäche. Diese be-
ginne so zuzunehmen, dass sie zur sozialen Frage geworden sei. In den
Kreisen der Musiklehrer sei sie oft erörtert worden. 80 o/o aller Schüler
des Kunstgesanges erreichten ihr Ziel nicht wegen vorzeitiger Stimm-
schwäche. Auch bei Lehrern trete diese oft beim Sprechakt auf. Neuer-
dings habe sich das Interesse von der hygienischen und therapeutischen
Seite neu belebt. Der Grund der Krankheit sei fast immer im Missbrauch
des Organs zu suchen. In vielen Fällen seien die Ansprüche in Bezug
auf Stimmleistung zu hoch. Mitunter sei auch bei der Bildung der Stimme
ein falscher Weg eingeschlagen worden. Bei seinen Untersuchungen in
Schulen habe er häufig Gesanglehrer mit Sprachfehlern behaftet gefunden.
Diese Lehrer müssten natürlich auf die Stimmbildung der Schüler nach-
teilig einwirken. Da die Schüler vielfach in der Gesangstunde überanstrengt
würden, so müsse eine Verbesserung sowohl qualitativ als auch quantitativ
erfolgen. Besondere Rücksicht sei dabei auf den physiologischen Zusammen-
hang zu nehmen. Ferner sei es vielen Lehrern gar nicht bewusst, dass
der Gesang nicht nur eine allgemein musikalische, sondern auch eine
ästhetische Seite habe. Wer mit einigen diesbezüglichen Kenntnissen aus-
gerüstet, eine Wanderung durch unsere Schulen mache, der erhalte ein
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506
Sitzu n qsberich Ic
deprimierendes Resultat auch in Bezug auf die Lehrer. Man müsse für
eine gute musikalische Bildung unbedingt ästhetische und phonetisch-physio-
logische Vorkenntnisse fordern.
In der nun folgenden Diskussion wurde besonders hervorgehoben, dass
die Vorbildung der Gesanglehrer in den Seminarien mangelhaft sei; es
würde hier der Unterricht selten von eigentlichen Gesanglehrern, sondern
fast immer von Organisten erteilt. Ferner wurde der Vorwurf gegen die
Berliner Schulverwaltung erhoben, dass sie von vielen Lehrern verlange,
dass sie ohne Befähigung und Lust Gesangunterricht erteilen. Man solle,
eben weil der Gesang auch eine ästhetische Seite habe, von jedem Gesang -
lehrer fordern, dass er auch Musiker sei. Von einer Seite wurde darauf
hingewiesen, dass an den Schädigungen der Stimme doch nicht notwendiger-
weise immer die Schule die Schuld zu tragen brauche. Eine Stimm
Schädigung könne sehr wohl auch ausserhalb der Schule durch Ueber-
anstrengung des Organs erworben werden. Ferner wurde das Verlangen
ausgesprochen, der Vortragende möchte sich doch darüber äussern, welche
Ziele und Aufgaben ihm für die künstlerische und hygienische Ausbildung
der Sing- und Sprechstimme vorschwebten; inwiefern die gegenwärtigen
Leistungen in unseren Schulen von seiner Norm abwichen, und endlich,
welche Mittel und Wege er vorzuschlagen vermöge, um eine wirksam e
Prophylaxe herbeizuführen.
In seinem Schlussworte gab der Vortragende der Ansicht Ausdruck,
dass in der Mehrzahl aller Fälle die Schuld doch die Schule trage. Es
sei auch hier noch ein weites Arbeitsgebiet für die Schulärzte. Er fassr
nochmals seine Leitsätze dahin zusammen, dass die Gesanglehrer auch
Tonbildner und Musiker sein müssen, und dass eine einheitliche Zusammen
arbeit des Musikers mit dem Physiologen zu fordern sei.
Psychologische Gesellschaft zu Breslau.
-
Jahresbericht 1901/02.
1. Mitgliedschaft: Auch im vergangenen Vereins jähr hat die
Gesellschaft einen Zuwachs an Mitgliedern zu verzeichnen. Der Bestand
an Mitgliedern betrug: Zu Anfang des Arbeitsjahres ein Ehrenmitglied,
39 ordentliche und 8 ausserordentliche Mitglieder: beim Schluss ein Ehren-
mitglied, 43 ordentliche und 9 ausserordentliche Mitglieder. Die Mitglieder
setzen sich zusammen aus Universitätslehrern verschiedener Fakultäten,
prakt. Aerzten, Juristen, Lehrern u. s. w. Als ausserordentliche Mitglieder
finden Studenten Aufnahme.
2. Vorstand: In der Generalversammlung vom 21. Januar 1002
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St (zun gibevichtt: ',
507
wurde der bisherige Vorstand wiedergewählt. Er besteht aus folgenden
Herren:
Privatdozent Dr. L. William Stern (Vorsitzender),
Nervenarzt Dr. Hans Kurella (stellvertretender Vorsitzender),
Rechtsanwalt Dr. Kurt Steinitz (Schriftführer),
Primärarzt Dr. Alfred Methner (Kassierer).
Das neu geschaffene Amt des Bibliothekars wird von Herrn Assistenz-
arzt Dr. Kramer verwaltet.
3. Sitzungen: Es fanden 10 wissenschaftliche Sitzungen statt mit
folgenden Tagesordnungen:
1. 29. 10. 1901: Herr Privatdozent Dr. W. Stern: Zur Psycho-
logie der Aussage. (Experimentelle Untersuchungen über das Ge-
dächtnis und seine Täuschungen).
2. 19. 11. 1901: Herr Rechtsanwalt Dr. Kurt Steinitz: Die
psychologische Richtung in der Volkswirtschaftslehre.
3. 26. 11. 1901: Herr cand. phil. Becker: Graphologie und
Psychologie.
4. 10. 12. 1901: Herr Dr. E. Storch: Das Bewusstsein als
Gehirnfunktion.
5. 4. 2. 1902: Herr Dr. F. Kram er: Ueber das Weber -
Fechnersche Gesetz.
6. 15. 2. 1902: Herr Oberlehrer Dr. F. Kemsies aus Berlin: Die
Entwickelung der pädagogischen Psychologie im 19. Jahrhundert.
2. Teil: Die pädagogische Psychologie in den letzten Jahr-
zehnten.
7. 18. 3. 1902: Herr Redakteur Dr. Hamburger: Das Doppel-Ich
in der Literatur.
8. 22. 4. 1902: Herr Rechtsanwalt Peiser: Die Bedeutung des
Schweigens in psychologischer und rechtlicher Hinsicht.
9. 12. 5. 1902: Eine nur für Mitglieder bestimmte Sitzung, in der
Herr Schriftsteller Leo Erichsen, von hier, einige Versuche
aus dem Gebiete der Gedankenübertragung vorführte.
10. 3. 6. 1902: Herr Privatdozent Dr. W. Stern: Beeinflussbarkeit
von Aussagen.
Die Sitzungen erfreuten sich eines regen Besuches. Von dem seitens
der Gesellschaft gern gewährten Gastrecht wurde lebhafter Gebrauch
gemacht.
4. Publikationen: Von dem Vortrags - Cyklus des Jahres
i8og/iooo über „Die Entwickelung der Psychologie und verwandter Gebiete
des Wissens und des Lebens im 19. Jahrhundert" sind im Verlage von
Hermann Walther, Berlin, bisher als Broschüren erschienen (zugleich
als Abhandlungen in der Zeitschrift für pädagogische Psychologie und
Pathologie) :
Dr. L. William Stern, Privatdozent: Die psychologische
Arbeit des 19. Jahrhunderts.
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508
Dr. Robert G a u p p , Nervenarzt: Die Entwicke-
lt! n g der Psychiatrie ]W
Konsistorialrat Prof. Dr. D. Carl von Hase: Die 19.
psychologische Begründung der religiösen . Jahx-
Weltanschauung hun.
Dr. Heinrich Sachs, Nervenarzt, Privatdozent: Die dert.
Psychologie des Gehirns
Dr. Kurt S t e i n i t z , Rechtsanwalt: Der Verantwortlich-
keitsgedanke im 19. Jahrhundert (mit besonderer Rücksicht auf
das Straf recht).
Dr. Ferdinand K e m s i e s , Oberlehrer (Berlin) : Die E n t -
Wickelung der pädagogischen Psychologie im
19. Jahrhundert.
5. Die Bibliothek wurde durch Neuanschaffungen und Schen-
kungen vermehrt.
6. Die Gesellschaft gehört der „Deutschen Gesellschaft
für psychologische Forschung" als Sektion Breslau an. Die
Publikationen dieser Gesellschaft stehen unseren Mitgliedern zu Vorzugs-
preisen zur Verfügung. Als Heft 13 und 14 dieser ist im Laufe des Berichts-
jahres erschienen: Professor Dr. Lipps: Vom Fühlen, Wollen
und Denken. Eine psychologische Skizze, IV, 196 Seiten.
Im Verein mit den beiden anderen Sektionen in Berlin und München
hat die Gesellschaft Herrn Professor Dr. W u n d t zu seinem 70. Geburts-
tage eine Adresse überreicht, welche dem Danke für das Wirken des Ge-
feierten Ausdruck verleiht.
Arbeitsplan für den Winter 1902/03.
Vortrags-Cyklus: Die Seele des Kindes
Oktober 1902. 1. Privatdozent Dr. William Stern: Die Psycho-
logie des Kindes als theoretische Wissenschaft.
November 1902. 2. Derselbe: Die Psychologie des Kindes als ange
wandte Wissenschaft: Pädagogische Psychologie.
November 1902. 3. Privatdozent der Kinderheilkunde Dr. Martin
T h i e m i c h : Die körperlichen und Milieu- Einflüsse in ihrer Bedeutung
für die Kindespsyche.
Dezember 1902. 4. Provinzial - Schulrat Dr. O s t e r m a n n: Das
Interesse; ein Kapitel ans der Psychologie des Unterrichts.
Januar 1903. S. Nervenarzt Dr. Franz K r a m e r: Die Schulermüdung
und ihre Messung.
Januar 1903: 6. Nervenarzt Dr. Hans Kurella: Kriminalpsychologie
und Kriminalstatistik des Kindesalters.
Februar 1903. 7 Ohrenarzt Dr. Max Goerke : Die Psychologie der
Kindessprache.
Februar 1903. 8. Taubstummenlehrer Ernst Ulbricht Die Psycho-
logie des taubstummen Kindes.
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StUungsberichU.
509
März 1903. 9. Cand. phil. Otto Lipmano : Ueber Gedächtnis-
Untersuchungen an Schulkindern.
Aenderungen des Planes bleiben vorbehalten.
Die Sitzungen finden an den orchesterprobe-freien Dienstagen im
kleinen Parterre-Saale des Konzerthauses, Gartenstrasse, statt; die Tages-
ordnungen werden an den Sonntagen vorher im lokalen Teil der Tages-
Zeitungen veröffentlicht. Herren (auch Studenten) haben als Gäste Zutritt.
Nähere Auskunft erteilen : Privatdozent Dr. William Stern. Höfchen-
strasse 101 und Rechtsanwalt Dr. Kurt S t e i n i t z , Antonienstrasse 22/23.
Psychologische Gesellschaft zu Breslau.
I. A.:
Dr. W. Stern, Höfchenstr. 101. Nervenarzt Dr. H. Kurella, Fürstenstr. 100.
Rechtsanwalt Dr. K. Steinitz, Antonienstr. 23. Primärarzt Dr. A. Methner,
Tauentzienplatz 7. Assistenzarzt Dr. Kramer, Agnesstr. 2.
Verein für Kinderpsychologie zu Berlin.
Sitzung vom 7. November 1902.
Beginn 8 Uhr 20 Min.
Vorsitzender: Herr Stumpf. Schriftführer: Herr Hirschlaff.
Nach einigen einleitenden Bemerkungen des Herrn Vorsitzenden hält
Herr Dessoir den angekündigten Vortrag:
„Ueber Kinderpsychologie im 18. Jahrhundert."
Das genetische Verfahren, das im 18. Jahrhundert auch der Psychologie
nicht fehlte, hat seine Triumphe im Gebiet der Tierpsychologie gefeiert und
der Kinderpsychologie nur wenig gedient. Dagegen ist Leibnizens Philo-
sophie für die Voraussetzungen jener Kinderpsychologie wirksam gewesen.
Zunächst durch das Gesetz der Stetigkeit, das auf den Zusammenhang der
Altersstufen und auf die Reihenfolge und Stärke, in der die Seelenvermögen
auftreten, angewendet wurde. Allgemein galt die Anschauungskraft als die
in der Jugend wichtigste seelische Funktion. Ferner glaubte man, dass im
Kind alles schon keimhaft enthalten sei, was sich später entfalte. Kinder-
psychologie erscheint also als der Nachweis dieses allmählichen Erwachens.
Und zwar gehe die Kntwickelung auf Seiten der Vorstellung vom Dunkeln
zum Hellen, auf Seiten des Willens vom Natürlichen zum Sittlichen. Näheres
findet man in des Vortragenden „Geschichte der neueren deutschen Psycho-
logie". 1. 2. Auf). 1902.
Die Grundsätze der Erziehung werden durchschnittlich von den Er-
gebnissen psychologischer Forschung abhängig gemacht. Die Summe der
Mittel, über die die Erziehung verfügt, kann nur von der Psychologie be-
stimmt werden; von ihr erfahren wir, wie die Seelenvermögen sich bedingen
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie nnd Hygiene. 9
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510
Sit tun gsberichle.
und wo demnach die Massregeln des Erziehers einzugreifen haben.
Der Vortragende gab schliesslich einen ausführlichen Bericht über
zwei gleich bedeutende, aber inhaltlich sehr verschiedene Betträge zur
Kinderpsychologie. Dietrich Tiedemanns „Beobachtungen" (1787) sind
nüchterne Feststellungen, die vielfach Preyers Untersuchungen in der Hand-
habung und im Ergebnis vorausnehmen; Restifs „Monsieur Nicolas" (1704)
enthält autobiographische Mitteilungen und Analysen von grosser Feinheit,
die jedoch mit einer gewissen Vorsicht aufzunehmen sind. (Autorreferat.)
Eine Diskussion findet nicht statt
In der darauf folgenden Generalversammlung wird die Wahl des Vor-
standes auf die nächste Sitzung vertagt
Schluss der Sitzung 9 Uhr 20 Min.
Sitzung vom 12. Dezember 1902.
Beginn 8 Uhr 20 Min.
Vorsitzender: Herr Stumpf. Schriftführer: Herr Hirschlaff.
In einer kurzen Ansprache begrüsst der Vorsitzende die zahlreich er-
schienenen Gäste. Sodann hält Herr Vogt den angekündigten Vortrag:
„U eber die Markreifung des Grosshirns"
(mit Demonstrationen und Projektionsbildern).
Diskussion:
Herr Stumpf dankt dem Vortragenden und betont, dass auch er
vorläufig der Meinung sei, dass die Hirnanatomie und die Psychologie zu-
nächst selbständig ihre eigenen Wege gehen sollten, freilich nicht, ohne die ge-
sicherten Ergebnisse der Schwesterdisziplin aufmerksam zu verfolgen und
zu verwerten.
Herr Jastrowitz weist darauf hin, dass er der erste gewesen sei,
der gefunden habe, dass die Markscheiden sich erst nach der Geburt des
Kindes entwickeln. Auch in Bezug auf die Entwicklung der Balkenfasern
und einiger anderer hierher gehöriger Probleme habe er eigene Studien
angestellt Was die Funktion der Markscheiden betreffe, so habe Erb bei
der Durchschneidung der Nerven festgestellt, dass der Nerv elektrisch nicht
ansprechbar sei, bevor er nicht seine Scheide hätte. Das spreche nicht dafür,
dass die Markscheide lediglich Isolator sei, dennoch werde sie allgemein
als Isolator angesehen. Es ist nicht zu leugnen, dass es gewisse Herde
giebt, wo man die Markscheiden bei der Entwickelung zuerst am
deutlichsten sieht; und dies ist wohl der Leitpunkt für die Aufstellung
und Annahme von Theorien gewesen. Die zum Leben allernotwendigsten
Bezirke umkleiden sich zuerst mit Mark, so die motorische Region,
dann die Riech- und Augen- Centren. Von da aus erst gehen die allmäh-
lichen Übergänge weiter vor sich. Ich möchte schliesslich noch eine Frage an
den Herrn Vortragenden richten bezüglich des Auftretens von Markscheiden
in der eigentlichen Rinde des Grosshirns. In der eigentlichen Rinde sind be-
kanntlich doch mehr marklose Fasern; daher das graue Aussehen derselben
gegenüber der weissen Substanz, in der die übergrosse Mehrzahl Markfasern
gelegen ist. Bei der Demonstration, die der Herr Vortragende veranstaltete.
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511
schien mir aber das Mark über die Markleiste hinaus, bis oben hinauf, bis
an die Oberfläche der Rindensubstanz zu gehen. Wie ist das zu erklären!
Beipflichten muss ich dem Herrn Vortragenden bezüglich der Behauptung,
dass aus der cytogenetischen Entwickelung keine Schlüsse auf die Funktion
der betreffenden Bezirke gezogen werden dürfen. Schon bei Foeten von
4 Monaten zeigen sich aber Unterschiede in dem Aussehen und der An-
ordnung der Embryonalzellen in der Rinde und in der weissen Substanz des
Gehirns. Erste re haben ein dichteres, sich viel stärker färbendes Proto-
plasma und ordnen sich in Reihen und Schichten, während im Mark ganz
andere Vorgänge stattfinden, wie ich beobachtet und beschrieben habe.
Herr Vogt: Die Hirnrinde hat in allen ihren Schichten Markfasern
beim Erwachsenen. Die spät markreifen Gebiete des Markweisses haben
weniger und dünnere Markscheiden. Dasselbe gilt von den verschiedenen
Schichten der Hirnrinde. Die spätmarkreife Mittelschicht ist am mark-
ärmsten. In den übrigen Punkten stimme ich mit dem Herrn Vorredner
überein, resp. ergiebt sich mein Standpunkt aus meinem Vortrag.
Schluss der Diskussion xo Uhr.
Nach einer Pause von 5 Minuten schliesst sich die Fortsetzung der
Generalversammlung an, in der über die Wahl des Vorstandes für das
nächste Jahr beraten wird. Da die Herren Stumpf und H e u b n e r er-
klären, eine Wiederwahl für das nächste Jahr ablehnen zu müssen, da sie
mit wissenschaftlichen Arbeiten überlastet seien, so werden auf Vorschlag
des Herrn Prof. Stumpf gewählt:
als I. Vorsitzender Herr Oberlehrer Dr. K e m s i e s,
als II. Vorsitzender Herr Privatdozent Dr. K. L. Schäfer.
Beide Herren erklären sich bereit, die Wahl anzunehmen.
Schluss der Sitzung 10 Uhr 20 Min.
Berichte und Besprechungen.
W. Kinkel, Johann Friedrich Herbart, sein Leben
und seine Philosophie. 8«. 204 S. Giessen 1903
Ricker'scher Verlag.
Man könnte meinen, dass die Zeit der Herbart-Studien bereits abge-
schlossen sei, da der moderne Psychologismus so viele Kräfte und Federn
in Bewegung setzt, und doch die grossen Probleme noch ihrer Lösung
harren. Da aber das Werk ursprünglich für Frommanns Sammlung der
„Klassiker der Philosophie" bestimmt war, ist sein Erscheinen gewisser-
massen psychologich erklärt, ebenso die Kürze, mit welcher die Herbartsche
Pädagogik darin behandelt wird. Wegen seiner anschaulichen Darstellung
und der Mitberücksichtigung dea Lebens und des philosophischen Entwick-
9*
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lungsganges Herbarts, sowie wegen der jedem Abschnitt beigefügten kriti-
schen Bemerkungen, scheint das Buch recht geeignet, weitere Kreise, be-
sonders pädagogische, in das Studium Herbarts einzuführen. Die Kritik
der Vermögenspsychologie, der Herbartschen Darstellung des Vorstellungs-
mechanismus, der sich auch in der Ethik stark geltend macht und Herbart
bekanntlich zu einer unnötig gehässigen Polemik gegen Kants Freiheitslehre
treibt, sowie der Aesthetik und der Lehre von der ästhetischen Apperception
ist so allgemein verständlich gehalten, dass die Schrift jedem, der sich
über Herbart in Kürze orientieren will, empfohlen werden kann.
Berlin. Hans Koch.
IVe Congre-s International de Psychologie. (Fortsetzung).
Die Arbeit des Kongresses wurde in 6 allgemeinen and in 20 Ab-
teilungssitzrungen geleistet. Es wurden 7 Abteilungen gebildet und zwar
fttr 1. Psychologie in ihren Beziehungen zur Anatomie und Physiologie,
2. Introspektive Psychologie in ihren Beziehungen zur Philosophie, 3. Ex-
perimentelle Psychologie und Psychophysik, 4. Pathologische Psychologie
und Psychiatrie, 5. Psychologie des Hypnotismus, der Suggestion and ver-
wandte Fragen, 6. Sozial- und Kriminalpsychologie, 7. Vergleichende tierische,
anthropologische, ethnologische Psychologie.
Die erste allgemeine Sitzung war den Studien zur Geschichte der
Psychologie gewidmet Ribot berichtete über die Entwicklung der Psycho-
logie seit dem letzten Psychologenkongress, während Ebbinghaus einen
Vergleich zwischen dem gegenwärtigen Stande der Psychologie and dem
vor hundert Jahren zog.
Die zweite Hauptsitzung beschäftigte sich mit Vorträgen über Gehirn-
physiologie, die dritte mit Studien zu den Erscheinungen des Somnambulismus.
Sodann kamen die philosophischen Studien zur Psychologie zu ihrem
Rechte. Zunächst behandelte Kristian Aars: Die sieben Rätsel der
Psyche. Diese sind: 1. Das Vorhandensein verschiedener psychischer
Elemente, 2. Das Problem der Vergleichung oder des vergleichenden Ich ;
die Vergleichung aufeinander folgender Erscheinungen führt zum dritten
Rätsel: Der Dauer der Empfindungen, Gefühle und Willensinhalte, Damit
verbunden ist der Begriff der Zeit und das vierte Rätsel: Die Erwartung
des Zukünftigen. Alles dieses sind einfache, jeder Zergliederung un-
zugängliche Zustände. — Das fünfte Problem ist die Identifikation and
Unifikation, die unerläßliche Vorbedingung aller sogenannten objektiven
Erfahrung. Darauf beruht die symbolische Vorstellung, und weiter der
Glaube an die objektive Wirklichkeit. Bei der Zergliederung des Begriffes
der Ursächlichkeit gelangt man zum sechsten Rätsel: das ist der objektive
Symbolismus, die Analogie der Beziehungen der inneren und äusseren Welt
wofür der Vortragende den Ausdruck „psychische Projektion" vorschlägt.
Diese unterscheidet sich von dem subjektiven Symbolismus hauptsächlich
dadurch, dass das Symbolisierte niemals erlebt, niemals für die Symbole
eingesetzt werden kann. Ebenso ist es mit der Annahme der Reellität des
psychischen Lebens eines anderen, dem siebenten Rätsel. Auch diese ist
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bot eine symbolische Vorstellung, eine psychische Projektion. Diesen beiden
grundlegenden „Projektionen" schliessen sich einige besondere an: der ab-
solute und leere Raum, die leere Zeit, das Ding an sich, die Seelea des
Menschen und der Tiere, die Seele des Atoms, und die psychische
Anlage.
Es folgen Vortrage von Münsterberg über Psychologische Atomistik,
und von Wladimir Tschisch über den Schmerz. Letzterer wendet sich
zunächst gegen die Ansicht Richets, Schmerz werde durch starke Reize
und jeden anormalen Zustand hervorgebracht, und kommt dann zu folgen-
dem Gesetze: Alle dem Individuum schädlichen Reize rufen unangenehme
Gefühle hervor; solche Reize, welche das Individuum töten, rufen un-
angenehme Gefühle hervor. Die Reize, welche das lebende Gewebe töten
und es in totes Gewebe verwandeln, rufen Schmerz hervor. Dieses Gesetz
wird ausführlich begründet und durch zahlreiche Beispiele erläutert.
Claparede macht den Vorschlag, einen Ausschuss zu ernennen, der
sich über eine einheitliche allgemeingültige Bezeichnung der wichtigsten
Begriffe der Psychologie einigen und diese dem nächsten Kongresse vor-
legen solle. Goblot widerspricht dem, mit der Begründung, dasa man so
nicht eine Wissenschaft, sondern eine Scholastik erhielte. Gute Bezeich-
nungen würden sich von selbst einbürgern«
Die fünfte Hauptsitzung brachte mehrere bemerkenswerte Vorträge
aus dem Gebiete der experimentellen Psychologie, von denen hervorgehoben
seien: Külpe: Über das Verhältnis der ebenmerklichen zu den übermerklichen
Unterschieden, Bourdon: Der grammatische Typus in den Wortassoziationen,
und Thilry: Experimentelle Untersuchungen über die Höhe und die Melodie
des gesprochenen Wortes.
In der sechsten und letzten allgemeinen Sitzung endlich gelangten die
soziale und die pathologische Psychologie zur Erörterung. Von ganz be-
sonderem Interesse waren die Ausführungen von Dr. Morton Prince aus
Boston über „Entstehung und Ent Wickelung der «Persönlichkeiten» des
Fräulein Beauchamp". Fräulein Beauchamp ist ein interessantes Beispiel
jener höchst merkwürdigen Erscheinung, die man als mehrfache Persönlich-
keit bezeichnet. Sie vereinigt in sich mehrere, mindestens drei Persönlich-
keiten und kann in drei verschiedene hypnotische Zustände eintreten. Seit
zwei oder drei Jahren kommen und gehen diese drei Personen eine nach
der andern ohne ersichtliche Gesetzmässigkeit; jede giebt vor, das wirkliche
Fräulein Beauchamp zu sein und beansprucht für sich das Recht, mit Aus-
schluss der andern zu leben. Jede verdammt die Thaten und Gesten der
andern, widersetzt sich ihrer Gegenwart und duldet nicht, dass man sie
berücksichtige. Diese drei Persönlichkeiten werden nun ausführlich be-
schrieben, ihr gegenseitiges Verhältnis wird klar gelegt, sodann versucht
der Vortragende, diese Thatsachen auf Grund mehrjähriger Beobachtung
psychologisch zu erläutern und zu begründen, und giebt zum Schlüsse eine
Reihe allgemeiner Gesetze, die sich aus diesem Falle entnehmen lassen.
Gross ist die Zahl der in den einzelnen Abteilungen gehaltenen Vor-
träge. Am wichtigsten für uns sind die der zweiten Abteilung, die sich
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Bericht* und Besprechungen.
mit introspektiver Psychologie in ihren Beziehungen zur Philosophie be-
schäftigten.
Dr. Jean Philippe sprach über „das Problem des Bewusstseins in der
experimentellen Psychologie", und machte auf die Schwierigkeit aufmerk-
sam, die Angaben unseres Bewusstseins zu kontrollieren. Er hat dabei
nicht etwa jene alten Sinnestäuschungen im Sinne, wo der Fehler auf der
Auslegung des Eindruckes beruht, sondern unmittelbare Irrtümer, z. B. der
Art, das8 man eine lange Reaktionszeit kurz, und umgekehrt eine kurze
Zeit dauernde Reaktion lang rindet.
Pierre Tisserand wandte sich gegen die beiden über das Vergnügen
aufgestellten Theorien. Die Herbartianer unterscheiden zwei' Arten: die
körperlichen Vergnügungen (Empfindungen) und die sittlichen (Gefühle),
und schreiben beiden verschiedene Ursachen zu, nämlich den ersteren
physiologische, den anderen psychologische. Diese Ansicht hat Lehmann
bekämpft, indem er nur physiologische Ursachen anerkennen wilL AI«
wesentliches Merkmal des Vergnügens betrachtet er eine Energieerhöhung,
als Merkmal des Schmerzes eine Energieverminderung. Tisserand ver-
tritt nun eine Mittelrichtung.
Edouard Claparede, der schon in einer Hanpteitznng für Festsetzung
einheitlicher Bezeichnungen der wichtigsten psychologischen Begriffe ein-
getreten war, lieferte einen ersten Beitrag zu dem was er angeregt hatte,
indem er über die Definition der Wahrnehmung handelte. Er stellt zunächst
einen bemerkenswerten Unterschied in der Art fest, in welcher die Engländer
und Franzosen einerseits und die deutschen andererseits die psychischen
Erscheinungen in Unterabteilungen zerlegen. Die ersteren beachten dabei
mehr den Koeffizienten der Realität, die letzteren dagegen fragen mehr
nach Einfachheit oder Zusammengesetztheit. Aus zwei Thatsachen besteht
eine Wahrnehmung: 1. Sinneseindrücken und assoziierten oder assimilierten
erworbenen Bildern, welche ein psychisches Ganzes bilden; 2. Erkenntnis
dieses psychischen Ganzen als nicht einen Teil des Ich bildend. Eine solche
psychische Thatsache kann nun entweder der Wahrnehmung eines räum-
lichen Gegenstandes entsprechen, oder einer Operation des Geistes bei Ge-
legenheit eines Sinneseindruckes (Vergleichung, Schätzung der Dauer u. dgl.).
Soll man den Ausdruck Wahrnehmung nur auf den ersten Fall beschränken?
Dann müsste man darauf verzichten zu sagen „eine Entfernung, die Zeit",
u. dergl. wahrnehmen. Oder soll man den Ausdruck Wahrnehmung im
weiteren Sinne nehmen? — Jeder Sinneseindruck ist Ausgangspunkt einer
langen Reihe von Bildern, homosensoriellen, Bewegungsbildern, Bildern
anderer Sinne u. s. w., welche sich assoziieren und assimilieren, so dass
man oft nicht weiss, ob sie wahrgenommen oder vorgestellt sind. Da man
nicht diese ganze Kette als Wahrnehmung bezeichnen kann, so muss man
nur die Anwesenheit einer gewissen Anzahl assoziierter Bilder als kenn-
zeichnend für die Wahrnehmung zulassen. Für das Gesicht und das Gefühl
würde es sich empfehlen, nur diejenigen Bilder zu betrachten, welche ums
den Gegenstand als einen Körper im Räume erkennen lassen. Wie steht
es aber mit Geschmack, Gehör, Geruch? — Zwei Wege sind möglich:
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Met ich U und Besprechungen.
515
Entweder verständigt man rieh über du, was Wahrnehmung ist, nnd dann
wird es nicht schwierig sein, eine befriedigende Definition zu finden; oder
das Gegenteil findet statt, und dann wird es nützlich nnd interessant sein,
genau die Unterschiede in der Auffassung der einzelnen Autoren von diesem
Grundbegriffe kennen zu lernen.
Fräulein Marie Boeuf lieferte einen „Beitrag zur psychologischen
Theorie der Zeit", welcher vollständig in der Revue philosophique, decembre
1900 veröffentlicht ist. Sie zeigt, dass der Ursprung der Zeitemptindung
im Organismus zu suchen ist als Empfindung eines Nervenrythmus, und
dass diese beim Menschen um so vollkommener ist, je mehr er sich dem
Tiere nähert, je mehr also bei ihm die höhere Geistesthätigkeit, welche die
automatischen Verrichtungen immer stört, ausgeschaltet ist.
Peillaube erörterte sodann die Beziehungen zwischen der Aristotelischen
Philosophie nnd der experimentellen Psychologie.
In höchst schwungvollen Worten kennzeichnete Eugen v. Schmidt
„Die verschiedenen Richtungen der Weltanschauung", deren er
drei nannte: Die Welterklärung durch den Stoff, Materialismus; 2. die Welt-
erklärung durch die Vernunft, Rationallsmus; 3. die Welterklärung durch
den Geist, Spiritismus. Der Materialismus ist Wissenschaft, weil er rieh
auf Allgemeingültiges stützt, er ist aber nicht philosophisch, weil er kein
letztes Weltprinzip anzugeben vermag, da er die Frage nach dem Woher?
des Stoffes offen lässt. Der Spiritismus umgekehrt ist philosophisch, weil
sein Weltprinzip der Geist, ist und die Philosophie aus dem Geiste stammt;
da aber seine Behauptungen nicht als notwendig und allgemeingültig auf-
gestellt werden können, so ist er nicht wissenschaftlich. Der Rationalismus
allein ist beides, Wissenschaft und Philosophie, weil seine Sätze aus all-
gemeingültigen Erkenntnissen fliessen und weil sein Weltprinzip, die Ver-
nunft, die Frage nach einem höhern Prinzip ausschliesst, da eben die Frage
nach dem höchsten Prinzip aus der Vernunft entspringt. Im weiteren
Verlauf seiner Verteidigung des Rationalismus erörtert der Redner besonders
die Frage nach dem Unterschiede zwischen Tier und Mensch und zwischen
Mensch und Affe, wobei er eine allmähliche Entstehung sowohl desIndividuums
als der Arten leugnet und vielmehr eine sprunghafte behauptet. Den
wesentlichen Unterschied zwischen Tieren und Pflanzen sieht er darin, dass
die ersteren Bewusstsein und Empfindung haben, die letzteren nicht. Um
zu zeigen, dass zwischen dem Menschen und den Affen ein Wesens-, nicht
nur ein Gradunterschied bestehe, zieht der Vortragende einen Vergleich der
Leistungen. Der Mensch kann auf eine etwa 8000jährige gewaltige hoch-
ansteigende Geschichte und EntWickelung zurückblicken, während der Affe
nach wie vor ein Baum- oder Klettertier ist, das sich auf allen Vieren auf
dem Boden bewegt. Die Werke des Menschen bezeugen also, dass er Geist
*st. Und zwar ist unter Geist zu verstehen „das Vermögen, nicht nur nach
einer, sondern auch nach der entgegengesetzten Seite, also reflektierend zu
denken" oder, was dasselbe ist, das Denken zu denken, worauf die Fähig-
keit beruht, das Ich als Objekt, das zugleich mit dem Subjekt identisch
ist, also den Begriff des Ich zu denken, überhaupt aus den Vorstellungen
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Berichte und Besprechungen.
Begriffe zu abstrahieren und aus diesen die Wortsprache zu bilden, endlich
die Vernunft als Kategorienreich zu begreifen. Man kann also den Geist
auch als Vernunftkraft definieren, durch welche die Vernunft selbstbewußt
oder persönlich geworden ist.
Diese wenigen Proben mögen genügen, um ein Bild von der ausser-
ordentlich vielseitigen Arbeit des Kongresses und der Mannigfaltigkeit der
behandelten Fragen zu bieten. Es seien nur noch einige der wichtigsten
Vorträge dem Titel nach angeführt.
Es behandelte: Paul Carus: „Identität und Kontinuität des Ich44;
James Sully: „Die Psychologie des Kitzeins44; J. P. Durand: Psychologie
und Metaphysik; P. Bulliot (in der Abteilung für experimentelle Psychologie
und Psychophysik): Die Klassifikation der Charaktere and die Physiologie
des Menschen; H. Pieron: Deutung der Fälle anormaler Schnelligkeit in der
Hervorrufung von Bildern; in der Abteilung für pathologische Psychologie
und Psychiatrie: Reeling Brouwer: Pathologische AutoeuggestibUität als
Merkmal der Hysterie; Antoine Marro: Verhütung der Erregungen, welche
zur Entartung führen; Jose de Magathaes: Psychopathie der fixen Ideen.
Aus der fünften Abteilung (für Hypnotismus, Buggestion u. dgl.) seien er-
wähnt: Alfred Grafel Ein neuer Gedankenleser, Beitrag zum Studium der
Hyperästhesie, und Theophile Pascal: Dualität der Bewusstseinsträger
und endlich brachte die sechste Abteilung (für Sozial- und Kriminal-
psychologie) unter andern noch einen sehr interessanten Vortrag von
Nicolas de Seeland: Über die Ursachen der ungleichen Kriminalität der
Geschlechter.
Hiermit schliessen die Sitzungsberichte.
Als Ort des nächsten Psychologenkongresses wurde in der letzten
Hauptsitzung Rom, und als Zeit das Jahr 1904 festgesetzt. Nachdem denn
noch der Internationale Propaganda-Ausschuss für den fünften Psychologen -
kongress gewählt worden war, dem deutscherseits die Professoren Ebbing-
haus, Flechsig, Hering, Külpe, Lipps, Freiherr von Schrenk-Notzing, Stumpf
und Wundt angehören, erklärte der Vorsitzende den vierten Psychologen
kongress für geschlossen.
Rudolf Lehmann, Erziehung und Erzieher, 8°. 844 Seiten.
Berlin, Weidmannsche Buchhandlung 190 1.
Wenn das Buch auch in überaus ansprechender Form geschrieben ist
und überall den humanistisch gebildeten und empfindenden Pädagogen ver-
rät, und wiewohl es prächtige historische Rückblicke gewährt, Zusammen-
hänge klarlegt und manche interessante Gesichtspunkte aufweist, befriedigt
es den nach neuer Erkenntnis und neuen Wegen ausspähenden Pädagogen
nur wenig; ja es zeigt vielfach eine gewisse Dürftigkeit und Oberflächlich-
keit in der Auffassung und Behandlung pädagogischer Probleme. Die
psychologische und hygienische Forschungsarbeit der letzten Dezennien
kommt gar nicht zu ihrem Recht, und hierin zeigt die Schrift einen merk
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517
liehen Abstand von denen der grossen Pädagogen des verflossenen Jahr-
hunderts.
Herbarts Didaktik mit ihrem Begriffsskelett erscheint dem Verfasser
vollständig verfehlt, wie ein starrer, einengender Panzer, aus dem man das
allgemein Menschliche und Gefühlsmässige herauslösen müsse.
L. macht den Anhängern Herbarts zum Vorwurf, dass sie zwischen den
echten und lebendigen Werten und den erstarrten, unfruchtbaren Formen
nicht sorgfältig genug unterschieden hätten. Er giebt zu, dass die Erziehung
der psychologischen Erfahrung nicht entbehren könne, vielmehr fortwährend
derselben bedürfe, doch will er das Ideal, das Herbart und Pestalozzi vor-
schwebte, „den Menschen mit psychologischer Kunst und nach den Gesetzen
des psychischen Mechanismus zu deutlichen Begriffen zu führen etc.", als
nicht erreichbar gekennzeichnet wissen. Dazu wäre ja nötig, dass die
Psychologie als fertige Wissenschaft und nicht erst als beginnende Forschung
vor uns stände. Für spätere Zeiten macht Verfasser keine Voraussagen, nur
wird nach seiner Meinung das Gefühls- und Triebleben sich niemals den
Blicken entschleiern.
Die modernen psychologisch-pädagogischen Versuche erscheinen ihm
nicht nur überflüssig, sondern auch die Pädagogik zu gefährden. Dabei
übersieht L. aber vollständig, dass alle pädagogischen Massnahmen, gleich-
viel welcher Art. im psychologischen Sinne mehr oder minder gewagte
Experimente sind, deren Bedingungen nicht in exakter Weise im voraus
festgelegt sind, deren Resultate grobe Täuschungen veranlassen können.
Nach Lehmann bedarf die Erziehung auf Schritt und Tritt des Irratio-
nalen und Intuitiven: sie bleibt eine „freie" Kunst. Schade, dass diese
„freie" Kunst nur allzu oft versagt und dass der Erzieher sich genötigt
sieht, statt irrationaler doch rationale Formeln einzuführen! Offenbar schätzt
Verfasser die Geschichte der Pädagogik höher als die pädagogische Wissen-
schaft selbst. Man darf sich nicht verwundern, wenn die psychologischen
Abschnitte dieses Buches über: „Vererbung und Erziehung", „Gewöhnung
und Erziehung", „Schulzucht und Unterrichtsweise", wenig Positives und
Neues von pädagogisch-psychologischem Gesichtspunkte enthalten.
Statt naturwissenschaftlich - psychologischer Betrachtungen und Auf-
schlüsse bietet die Schrift oft geistreiche Apercus und artige Causerien.
Immerhin kann das Buch dankbare Leser finden — freilich* wird es
sich in den Kreisen der Volksschullehrer wegen der eigentümlichen Beur-
teilung, die es ihnen zu teil werden lässt, kaum Eingang verschaffen; der
Oberlehrer aber, den Verfasser selbst als einen Mann hinstellt, bei dem das
Bedürfnis nach Erkenntnis des Knaben nur gering ist, wird aus dem Buche
in dieser Richtung nicht viel profitieren können.
Berlin. H. Koch.
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518
Bericht* und Besprechungen.
Die Pädagogische Pathologie im Seminarunterricht
Von Dr. Alfred Spitner. Gotha, Verlag von E. F.
Thienemann. 1902. (Beiträge zur Lehrerbildung
und Lehrerfortbildung.)
Der Autor entwirft hier vor seinen Fachgenossen in sichern Zügen
ein exaktes Bild der pädagogischen Pathologie nach ihrem geschichtlichen
Werdegange, ihrer pädagogischen Bedeutung, ihrem heutigen Stande in-
bezug auf Ziele und Methodik, wobei er es an zutreffenden und anregenden
polemischen Auseinandersetzungen nicht fehlen lässt. Wenn man heutigen
Tages selbst in engeren Fachkreisen der pädagogischen Psychologie noch
mit Gleichgiltigkeit oder mit Spott begegnet, so kann es nicht wunder
nehmen, dass für die pädagogische Pathologie ein Verständnis selten anzu-
treffen ist, und dass man über sie mit Phrasen hinwegzukommen versucht.
Seitdem Közle die pädagogische Pathologie in der Erziehungskunde des
19. Jahrhunderts behandelt hat, wissen wir, dass die bedeutendsten Pädagogen
die Fehler der Kinder beobachtet und in den pädagogischen Kalkül einge-
stellt haben. Bei Spitner kommt es nun darauf an, die Gesichtspunkte, nach
denen dies geschehen ist, zu sondern.
Die biblisch - theologische Ueberzeugung von der allge-
meinen Erbsünde scheint die pädagogische Pathologie überflüssig zu machen,
aber es scheint nur so. Denn es ist Thatsache, dass die religiöse Bildsamkeit
des Kindes zuweilen derart gehemmt ist, dass das Erlösungsbedürfnis in ihm
nicht zur Entwicklung gelangt.
Der soziologische Gesichtspunkt macht die Fehler der Kinder
von äusseren gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen abhängig, von
bestimmten Kulturzuständen und Erziehungsmassnahmen. Pestalozzi nimmt
ihn zum Ausgangspunkt für seine pädagogischen Reformen, und da er Natur
und Umwelt als blinde und zufällige Erziehungsfaktoren betrachtet, so
fordert er, dass die wahrhafte Erziehung regelnd und führend an die Bildungs-
anfänge des Kindes anknüpfen solle.
Erst der psychologische Gesichtspunkt, von dem aus
die Kinderfehler als wissenschaftlich feststellbare und zu erklärende That-
sachen angeschen werden, giebt pädagogisch befriedigende Ausblicke auf ihre
sachgemässe Behandlung und Heilung. Aber dass dieser Gesichtspunkt noch
nicht genügend gewürdigt wird, dafür giebt es zahlreiche Beweise aus der
Schul- und Erziehungspraxis. Man wendet lieber Gewaltkuren an, ehe man
sich auch nur zu der Idee einer exakt wissenschaftlichen Diagnose und
Therapie bekennt.
Die physiologisch - medizinische Richtung in der
pädagogischen Pathologie sucht die gehemmte Bildungsfähigkeit des Kindes
in einer organischen Erkrankung, deren Beseitigung angestrebt werden muss;
dabei wird der Arzt mit dem Lehrer Hand in Hand gehen müssen, um den
Zusammenhang der geistigen und körperlichen Anormalität festzustellen. In
Betracht kommen nach S.:
1. Fehler, welche die physische Erziehung direkt beeinträchtigen
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Berichte und Besprechungen.
519
und von ihr besondere hygienische und sanitäre Rücksichten und
Massnahmen fordern.
2. Fehler, welche die Brauchbarkeit des Körpers für die geistigen
Bildungszwecke einschränken.
3. Psychische Begleiterscheinungen von körperlichen Krankheiten.
4. Störungen, Krankheiten, Missbildungen in den Gebieten des Gehirn,
und Nervensystems mit ausgesprochen psychischen Symptomen,
ohne dass diese die Bildungsfähigkeit des betreffenden Kindes, bez.
seine Zurechnungsfähigkeit aufheben, sogenannte Zwischenzustände
zwischen Geistesgesundheit und vollendeter Geistesstörung.
5. Idiotische Zustände (Blödsinn, Schwachsinn, Imbecillität), soweit
noch Bildungsfähigkeit vorhanden ist
An diese Spezialdisziplin schliesst sich zwanglos das grosse Gebiet der
Schulgesundheitspflege an, auf welchem dem Pädagogen dankenswerte Auf-
gaben gestellt sind. Man denke an die Feststellung der geistigen Leistungs-
fähigkeit eines Kindes nach der qualitativen und quantitativen Seite hin,
an die Aufstellung von normalen Lehr- und Stundenplänen, in denen Arbeit,
Spiel und Ruhe angemessen verteilt sind, an die gesamte geistige Hygiene
u. a. —
Es ist ein erfreuliches Zeichen für den vorwärtsstrebenden Pädagogen,
dass die preussische Unterrichtsverwaltung die pädagogische Psychologie
und Pathologie in den Lehrplan der Lehrerseminarien aufgenommen hat.
Möchten sie bald in dem Sinne Spitners sich hier einbürgern und in
lebendige Kraft für die heranwachsende Jugend, für Staat und Gesellschaft
umgesetzt werden.
Berlin. Grün.
Jahrbuch der schweizerischen Gesellschaft für
Schulgesundheitspflege. Zürich. Druck von Zür-
cher k Furrer. I. Jahrgang, 1000. 2 Teile. 239 S.
Am Sonntag den 8. Oktober 1899 wurde auf einer Versammlung in
der Aula des Gymnasiums zu Bern eine Vereinigung gegründet, die sich den
Namen „Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege" beilegte
und den Meinungsaustausch über schulhygienische Fragen und die Verbrei-
tung und Förderung der Schulhygiene in der Schweiz bezweekte. Diesen
ihren Zweck sucht die Gesellschaft durch folgende Mittel zu erreichen:
1. durch Veranstaltung von Versammlungen der Gesellschaft, 2. durch Her- "
ausgäbe eines schweizerischen Jahrbuches für Schulgesundheitspflege, 3. durch
Schaffung einer Zentralstelle für Schulgesundheitspflege, 4. durch Bildung
von Lokalsektionen, 5. durch weitere Anordnungen und Unternehmungen,
welche dem Gesellschaftszwecke dienen können (öffentliche Vorträge, Publi-
kationen, Instruktionskurse, schulhygienische Ausstellungen, Preisauf-
gaben etc.)
Dieses oben schon erwähnte Jahrbuch, dessen 1. Jahrgang 1900 uns
vorliegt, wollen wir unserer weiteren, näheren Besprechung zu Grunde
legen. Zuerst erhalten wir einen genauen Bericht über die Gründung der
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520
Berichte und Besprechungen.
Gesellschaft, von der ersten Besprechung einzelner Herren im November
1898 bis zu der schon eingangs erwähnten konstituierenden Versammlung.
Auf dieser Versammlung referierten zwei Herren, der Stadtarzt Dr. Müller.
Zürich, und Dr. Bourquin, Schularzt von La Chaux-de-Fonds, ersterer in
deutscher, letzterer in französischer Sprache über
„Den heutigen Stand der Schularztfrage". Dr.
Müller geht von dem Grundsatz aus, dass einzelne das Problem der
Vervollkommnung der Schulverhältnisse nicht lösen können, sondern dass
Lehrer, Aerzte und Eltern vereint an ihrem Ausbau unaufhörlich arbeiten
müssen. Er umschreibt dann in grossen Zügen das Feld, das sich der
Thätigkeit des Schularztes bietet. Er verlangt, dass die Schulkinder nicht
nur beim Eintritt in die Schule untersucht werden, sondern dass eine dauernde
ärzüiche Aufsicht in den späteren Schuljahren durch periodische Besuche
stattfinde, denn (Gründe lägen genug dafür vor) die Zahl der kränklichen
Schulkinder nimmt bis zum 13. Jahre konstant zu und erreicht zu dieser
Zeit zuweilen ein Maximum von 40 — 50 % der Kinder. Auch meint er,
dass der Staat in gewisser Weise für das Wohlbefinden der Kinder, die er
zum Schulbesuch zwingt, zu sorgen hätte, und dass es doch im eigensten
Interesse des Staates läge, eine gesunde und kräftige Generation heranzu-
ziehen. Besonders hebt er die Notwendigkeit einer aufmerksamen ärzt-
lichen Untersuchung und Beobachtung der geistig schwachen und fehler-
haft beanlagten Kinder und der Repetenten in allen Schulen hervor, weil
durch die zweckmässige Behandlung derselben viel Gutes zu erreichen sei.
Mit dieser ständigen Beobachtung der Schulkinder, in den Städten wie
auf dem Lande, müsse eine gewissenhafte und strenge Ueberwachung der
hygienischen Verhältnisse der Schullokalitäten Hand in Hand gehen, denn
auch dort, wäre mit wenig Mitteln aber einigem Verständnis und gutem
Willen vieles zu erreichen. Allein die Arbeit des Schularztes würde von
wenig Erfolg gekrönt sein, wenn nicht die Lehrerschaft mit zugreifen
würde, wozu jedoch eine spezielle schulhygienische Vorbildung des Lehrer-
standes nötig sei. Zum Schluss spricht er noch über die Schularztein-
richtung in Wiesbaden, die er vorläufig noch für die beste hält.
Dr. Bourquin verlangt ebenfalls die Beihilfe des Staates bei der
hygienischen Erziehung der Schuljugend und geht dann noch auf einige
Punkte der Thätigkeit des Schularztes spezieller ein. Er stimmt voltkommen
mit den von Dr. Müller aufgestellten Thesen überein. Nach der darauf
folgenden Diskussion über diese Thesen, werden sie mit einer von Erismann,
Zürich, vorgeschlagenen Aenderung .von der Versammlung angenommen.
In einem längeren Aufsatz spricht der Professor der Hygiene an der
Universität zu Bern Dr. G i r a r d über die „Sittliche Gefähr-
dung der Jugend" (De Tenfance en peril moral. Untertitel: Enfance
moralement abandonnee) vom medizinischen Standpunkt aus (consideree
au point de vue medical). Nachdem er uns erst eine genaue Definition
seines Themas gegeben hat, nämlich dass er nur die „sittlich verwahrlosten
Kinder" im engsten Sinne des Wortes und ohne Rücksicht auf das Interesse,
welches sie auf den Pädagogen und Kriminalisten ausüben, xu nehmen behandeln
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Strickte und Besprechungen.
521
wolle, bespricht er die Ursachen der moralischen Gefahren für die Kindheit und
teilt sie in 3 Hauptgruppen ein. Erstens in Ursachen, die ihren Ursprung in der
Familie zu suchen haben und veranlasst werden können durch ein regel-
loses, unsittliches und lasterhaftes Leben der Eltern, durch in der Familie
herrschendes Elend, durch körperliche und geistige Gebrechen und Krank-
heiten der Eltern, durch ein Vagabondenleben, Sterben oder Abwesenheit,
Trennung oder Scheidung der Eltern, durch uneheliche Abstammung und
durch Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft Zweitens in Ursachen, die
durch den verderblichen Einfluss dritter Personen bedingt sind, wenn
z. B. die Eltern durch irgend welche Gründe, vielleicht Beschäftigung oder
Broterwerb, verhindert sind, sich um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern,
and deshalb gezwungen sind, dieselben der Fürsorge dritter Personen, wie
unzuverlässige Dienstboten, Aftermieter u. s. w., zu überlassen. Drittens in
Ursachen, die in den Kindern selbst liegen, und zwar entweder durch körper-
liche oder durch psychopathische Gebrechen hervorgerufen werden können.
Weiter bespricht er dann die Folgen, die sich daraus für die Kinder er-
sehen, und entweder eine Verschlimmerung der körperlichen Gesundheit oder
des seelischen und moralischen Zustandes bedeuten oder auch sozialer Natur
sein können. Als Massnahmen zur Bekämpfung der Ursachen und der
Folgen giebt er an: den Kampf gegen den Alkoholismus, Entziehung der
väterlichen Gewalt bei unzuverlässigen und brutalen Eltern, Eingreifen des
Staates dort, wo Kinder sich selbst oder dem verderblichen Einfluss dritter
Personen überlassen sind, durch Unterbringung in ordentlichen Familien
oder öffentlichen oder privaten Erziehungsanstalten, eventuellen Wechsel in
diesen Anstalten und eine allgemeine Organisation und Beaufsichtigung
all dieser Erziehungsinstitute. Zum Schluss giebt uns Girard noch kurz
einige Daten über das, was in einzelnen Ländern in dieser Hinsicht schon
gethan und erreicht worden ist.
Ueber „Die hygienischen Anforderungen an den
Stundenplan" schreibt Rektor Dr. Werder aus Basel. Er sagt, da
wir die Kinder zwingen, gerade die Zeit, die die wichtigste für ihre Ent-
wicklung ist, auf der Schulbank zuzubringen, so sei es wohl auch Pflicht,
eine möglichst gedeihliche Entwicklung, geistige wie körperliche, zu fördern
und nicht zu verhindern; deshalb will er versuchen die Normen festzustellen,
nach denen unter Berücksichtigung der in Betracht kommenden Faktoren,
wie Hygiene, Unterrichtstechnik und weitere faktische Verhältnisse, der
Stundenplan zu ordnen sei. So geht er von der Besprechung der Stunden-
zahl im Plane aus und meint, dass das Durchschnittsmass der Stunden im
ersten Schuljahr, also meistens dem sechsten Lebensjahre, entschieden zu
hoch sei und von 20 auf ein Maximum von 18 wöchentlich reduziert werden
roüsste, denn eine grössere Freiheit und Bewegung im Freien verbürge eine
grössere Frische des zu Unterrichtenden und begünstige auch die Aus-
bildung eines klaren, festen, unerschütterlichen Willens, was den Mann
doch erst zum rechten Manne macht. Ferner müsste wenigstens die Hälfte
der Nachmittage vom Unterricht frei bleiben, und die von Jahr zu Jahr
erfolgende Zunahme der Stundenzahl in den 8 obligatorischen Schuljahren
nicht mehr als 8 betragen. Das würde allerdings eine Abrüstung ^«deuten, die
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522
Berichte und Besprechungen.
aber nur dann von Wert wäre, wenn Knaben und Mädchen dafür ins Freie
kämen. Sollte nun aber diese Entlastung eine Zunahme des Privatunterrichts,
z. Ba Musikstunden u. s. w., wie sie Mode, Gewohnheit, Uebereifer und Unver-
stand den Kindern oft aufzwingen, bewirken« so würde hiergegen der Haus-
arzt der berufenste Kämpfer sein. Dann kommt er auf die eigentliche Anord-
nung des Stundenplanes zu sprechen; er verlangt natürlich, dass diejenigen
Lehrstunden, die starke Anforderungen an Nachdenken und Gedächtnis
stellen, möglichst auf den Vormittag und auf die ersten Stunden zu legen
seien und hält den Beginn der Schule im Sommer um 7 Uhr aus verschiedenen
Gründen für zu frühzeitig. Er stellt dann noch folgende Bedingungen auf:
das Maximum aufeinanderfolgender Stunden dürfe nicht über 4 gehen,
zwischen Vor- und Nachmittagsunterricht müsste eine Pause von mindestens
2 Stunden eintreten, dasselbe anstrengende Fach (Mathematik, fremde Spra-
chen) dürfe nie zwei unmittelbar nacheinander folgende Stunden, ordent-
licher Weise überhaupt nicht zweimal am gleichen Tage gelehrt werden,
die Hausaufgaben seien auf ein bestimmtes Mass zu beschränken, über
Mittagszeit dürften keinerlei Aufgaben gegeben werden, die Stunden eines
Faches seien in angemessenen Zwischenräumen anzusetzen. Wenn dann
noch für einen gewissen Wechsel im Unterricht, durch sachgemässe Legung
des technischen Unterrichts wie Turnen etc. gesorgt würde, so wäre das
Möglichste gethan. Bei der Besprechung der Pausen zwischen den einzelnen
Stunden, meint er ja auch, dass eine Zunahme der Pausen gemäss der fort-
schreitenden Ermüdung das Folgerichtigste sei, dass es aber wegen der
Aufrechterhaltung der Disziplin besser sei, durch Gewährung von viertel-
stündigen Pausen dem jungen Volke ausreichende Gelegenheit zur Erholung
zu geben. Zuletzt kommt Dr. Werder noch auf die Ferien zu sprechen
und giebt seine Ansicht dahin kund, dass die grossen Ferien, wie sie jetzt
liegen, unangebracht seien, weil dadurch, dass sie am Schlüsse der Schul-
arbeit liegen, das Uebel des Vergessens in ganz hervorragendem Masse be-
günstigt wird, auch hält er es für die Gesundheit der Schuljugend viel zweck-
mässiger, wenn die Ferien auch in ihrer Länge mehr nach Massgabe der
Jahreszeiten in entsprechenden Abständen durch das Jahr hin verteilt werden.
So stellt er denn folgende Forderung auf: für alle Schulen, höhere, mittlere
und Unterschulen, gleichmässig sollte das Mindestmass der ordentlichen
Ferien 10 Wochen betragen, 3 Wochen im Frühling, 4 im Sommer, 2 im
Herbst und eine für Weihnachten. Im weiteren spricht er sich noch ganz
energisch gegen die sogenannten Hitzeferien aus. Obwohl sie vom hygieni-
schen Standpunkt sehr erklärlich seien, so seien sie dennoch zu verwerfen,
weil die Erwartung derselben in den Kindern eine so grosse Unruhe und
Aufregung hervorrufe und beim Nichteintreten eine derartige Enttäuschung
Platz greife, dass in beiden Fällen ein ordentlicher Unterricht unmöglich ge-
macht würde; es sei also der Verlust grösser als der Gewinn, der durch dieses
Freigeben erzielt würde.
In dem nächsten Aufsatz schreibt Stadtbaumeister A. Geiser. Zürich,
über „N euere städtische Schulhäuser in Züric h". Nachdem
er uns erst die einschlägigen Bestimmungen aus der Verordnung betreffend
<las Volksschulwesen des Kantons Zürich vom 7. Juli 1900 mitgeteilt hat, geht
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er zu der Besprechung von 7 neueren Schulbauten über und sagt, dass für die
Lage der Schulräume die Ost- resp. Südost richtung bis jetzt als die ge-
eignetste erachtet, ferner dass in allen Schulgebäuden das System einseitiger
und zweiseitiger Beleuchtung der Zimmer durchgeführt worden sei. Als
Garderobenräume sind bisher noch immer die Korridore benutzt worden,
jedoch wird man wohl noch zur Einrichtung besonderer Räume für diesen
Zweck greifen müssen. Von besonderer Wichtigkeit bei jedem Schulhaus-
bau hält der Verfasser die Frage der Heizung und Ventilation und empfiehlt
wegen der Einfachheit des Betriebes und der Leichtigkeit des Anpassens an
die äusseren Temperaturen die Zentralheizung, und zwar hätten sich die bei-
den Systeme der Niederdruckdampfheizung und der Niederdruckwarmwasser-
heizung als die Besten erwiesen. Für die Ventilation, die ja mit der Hei-
zung eng verquickt ist und meistens durch diese bewirkt wird, hält er die
direkte Zufuhr der Luft von aussen am vorteilhaftesten, weil dadurch eine
viel bessere Beschaffenheit der Luft erzielt werden könne als bei der Lei-
tung durch die meist verunreinigten Kanäle in den Mauern. Er geht dann
weiter auf die Abort- und Pissoiranlagen des längeren ein und beschreibt uns
das überall angewendete sogenannte automatisch wirkende Schwemmsystem
und die Oelpissoirs. Nachdem der Verfasser auch noch die Einrichtung
der Brausebäder, die Art des Ausbaues der Schulgebäude, die Schulbankfrage
und die Turnhallen mit ihren inneren Einrichtungen besprochen hat, giebt er
uns noch eine kurze Uel>ersicht über die Kosten dieser Schulhausbauten.
In Ergänzung zu diesem Aufsatze geben uns die am Schluss dieses
ersten Teiles des Jahrbuches beigelegten vorzüglichen Abbildungen (35 Blatt)
ein sehr anschauliches Bild von den besprochenen Bauten selbst, ihres inneren
und äusseren Ausbaues, ihrer Lage und Grundrisse.
In dem zweiten Teil des Jahrbuches spricht Prof. Dr. E. Zürcher,
Nationalrat in Zürich, „Ueber die Mittel, der sittlichen Ge-
fährdung der Jugend entgegenzutrete n". Auch er nimmt
die von Girard vorgeschlagene Einteilung in 1. sittlich nur gefährdete Kinder.
2. ursprunglich moralisch gesunde, aber mit erworbenen Fehlern behaftete
Kinder und 3. sittlich verdorbene Kinder für seine Besprechung an. Er sagt,
dass die staatliche Gesetzgebung nicht das einzige Hilfsmittel zur Be-
kämpfung des UebeJs sei, sondern dass auch freiwillige Sozialorganisationen
hinzugezogen werden müssten; so hätte sich schon die „Schweizerische ge-
meinnützige Gesellschaft" durch Gründung und Unterstützung von Er-
ziehungsanstalten auf diesem Gebiete hervorragend bethätigt. Bei der Be-
sprechung der Mittel und Methoden zur Bekämpfung geht er von folgenden
3 Möglichkeiten, dass Eltern da sind, die dabei behilflich sein könnten, dass
gar keine Eltern oder endlich widerstrebende Eltern da sind, aus. Im ersten
Falle könne der gute Wille der Eltern viel Gutes schaffen, und bei grosser Ar-
mut der Eltern müsse die Fürsorge des Gemeinwesens oder freiwilliger Or-
ganisationen durch Schaffung von Anstalten für arme Wöchnerinnen und so
dann Kinderkrippen und später besonders die Schule alles mögliche leisten.
Im zweiten Falle, wenn keine Eltern mehr da sind, so fallen die Kinder der
Waisenerziehung des Staates oder der Gemeinde anheim, die durch Ein-
richtung der Vormundschaft und Waisenhäuser alles ihnen mögliche leisten.
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Bericht* und Besprechungen.
Ist das Kind unehelicher Geburt, was schon längst dem Moral- und Kriminal-
Statistiker als Ursache oder Begleiterscheinung des Verbrechens bekannt ist,
so sei die Einrichtung der Stadt Leipzig musterhaft, nämlich Unterstellung
aller unehelichen Kinder unter eine mit der nötigen Gewalt ausgestattete
sachverständige Kontrolle und Fürsorge. In dem dritten Falle, wo die Ver-
wahrlosung sogar vielfach von den Eltern ausgeht, giebt es nur ein Mittel,
nämlich den Eltern die elterliche Gewalt zu nehmen, sowie Einschreiten und
Verfügungsrecht der Vormundschaftsbehörde, die in jedem einzelnen Falle
zu entscheiden hat, ob eine Anstalts- oder Familienerziehung angebracht ist.
Bei der Unterbringung solcher Kinder in Anstalten müsste dann noch auf
die verschiedenen Grade der Verwahrlosung Rücksicht genommen werden,
und zwar würden sich für die erste Kategorie der Girardschen Einteilung,
die sittlich gefährdeten aber noch unverdorbenen Kinder, Anstalten mit dem
Charakter der Waisenhäuser und möglichst Besuch öffentlicher Schulen, für
die mit Fehlern behafteten Kinder Erziehungsanstalten mit Anstaltsschulen,
und für die sittlich verdorbenen Kinder Korrcktionsanstalten mit strenger,
aber immerhin dem jugendlichen Alter angemessener Zucht, empfehlen.
Im weiteren kommt dann der Verfasser auf die Behandlung der jugendlichen
Verbrecher zu sprechen und sagt, dass auch der dort bisher beschrittene Weg
der Strafrechtspflege kein genügender sei, denn auch hier müsse man indivi-
dueller verfahren und vieles der humanen Einrichtung der Fürsorge für ver-
wahrloste Kinder überlassen. Besonders müsse das Strafverfahren eine Re-
form erfahren: möglichste Vermeidung der Gefängnisluft mit ihren physi-
schen und psychischen Ansteckungsstoffen und der öffentlichen, jugendlicher
Eitelkeit schmeichelnden Gerichtsverhandlung. Zum Schluss wird dann noch
die Bethätigung der Schule an dem Kampfe gegen die sittliche Gefährdung
besprochen; sie sei die geeignetste und günstigste Beobachtungsstation und
versucht durch die Vermittlung intellektueller Bildung und die systematische
moralische und körperliche Erziehung den Hang zum Verbrechen, wenn auch
nicht direkt aufzuheben, so doch wenigstens zu verringern.
Ueber „Die Erfolge der Ferienkolonien" giebt W. B i o n,
Pfarrer in Zürich, in einem Referat ein recht anschauliches und interessantes
Bild von der Entstehung und Entwicklung der Organisation und der Erfolge
dieser seiner Schöpfung in gesundheitlicher, pädagogischer und sozialer Be-
ziehung. Er erzählt uns, wie in ihm diese Idee der Kinderversorgung wäh-
rend der Ferien entstanden ist, wie es ihm vergönnt war, im Jahre 1876 die
ersten Ferienkolonien unter Aufsicht städtischer Lehrer und Lehrerinnen in
das Appenzcllerland zu schicken, und zwar aus Mitteln, die ihm infolge von
Aufrufen in den Zeitungen von Kinderfreunden zuflössen, und wie endlich
dieses Beispiel Zürichs nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutsch-
land, Frankreich, England, Russland, Oesterreich-Ungarn, Nord-Amerika und
anderen Ländern Nachahmung erfahren hat, sodass man wohl behaupten
könne, die Idee hätte sich über die ganze Erde verbreitet. Schon auf dem
internationalen Kongresse zu Berlin 1881 wurde die Frage diskutiert, welche
Art der Ferienversorgung wohl die bessere sei, ob die in Kolonien unter Lei-
tung von Lehrern und Lehrerinnen, oder die Einzelversorgung in Familien
auf dem Lande, und die Mehrzahl entschied sich für das Koloniesystem.
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Die sogenannten Stadtkolonien oder Milchkuren, die sich anfangs viele
Freunde erwarben, sind doch nicht geeignet, die Ferienkolonien zu ersetzen.
Auch war Zürich wieder die erste Stadt, die das höchste Ziel erreicht hat,
und schon im Jahre 1888 im Kanton Appenzell ein grosses Berggut erwarb,
auf dem ein ständiges Ferienkolonieheim erbaut wurde, und so für er-
holungsbedürftige Kinder eine das ganze Jahr hindurch geöffnete Erholungs-
station schuf. Bei der Besprechung der Erfolge der Ferienkolonien teilt
uns Bion die Urteile von Behörden und Aerzten der verschiedensten Städte
mit, besonders interessant sind dabei die Angaben über Untersuchungen des
Körpergewichts und des Blutes von Kolonisten vor und nach ihrem Land-
aufenthalte, die ein beredtes Zeugnis von der Nützlichkeit dieser Einrich-
tung ablegen. Zum Schluss geht dann noch der Referent auf die ungeheuren
Erfolge ein. die in geistiger und moralischer Hinsicht durch die ständige
fachgemässe "Aufsicht von Lehrern erzielt werden können und auch wirklich
erzielt werden.
Das darauf in französischer Sprache folgende Referat von Ed. C 1 e r c.
directeur des ecoles primaires ä la Chaux-de-Fonds, schliesst sich in allen
Punkten dem vorhergehenden an.
Hierauf folgt ein genauer Bericht über die Jahresversammlung der
schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, am Samstag 9. und
Sonntag 10. Juni 1900. Das sehr abwechslungsreiche Programm bot neben
den beiden Hauptversammlungen und der Versammlung zur Behandlung
der Jahresgeschäfte verschiedene Punkte von allgemeinem Interesse, so
die Besichtigung von Schulhausanlagen und verschiedene Demonstrationen
in der bei dieser Gelegenheit in einer Turnhalle veranstalteten schulhygieni-
schen Ausstellung. Auf den Hauptversammlungen referierten die Herren
Prof. Dr. Girard, Prof. Dr. Zürcher. Rektor Dr. Werder, Pfarrer W. Bion
und Schuldirektor Ed. Gere über die schon besprochenen Themen; die von
ihnen aufgestellten Thesen wurden meist in ihrer Form angenommen. —
Von Interesse sind noch die in der schulhygienischen Ausstellung gegebenen
Demonstrationen, besonders die über die Verwendung des elektrischen
Lichtes zur direkten und indirekten Beleuchtung der Schulzimmer durch
Prof. Dr. F. Erismann, Zürich. Er kommt auf Grund seiner gemachten
Beobachtungen und seiner bei dem Vergleiche zwischen der direkten Be-
leuchtung mit elektrischen Glühlampen und der indirekten Beleuchtung durch
Bogenlampen angestellten photometrischen Untersuchungen zu dem Schluss,
dass die letztere Belcuchtungsart die weitaus günstigste ist, und dass die
erstcre genau dieselben Nachteile der ungleichmässigcn Verteilung des
Lichtes und der störenden Schattenbiidung besitze, wie die Petroleum- oder
Gasbeleuchtung. — Sehr lehrreich muss auch ferner die Ausstellung der
verschiedenen Systeme von Schulbänken gewesen sein, die uns vom Lehrer
Wipf beschrieben und durch viele gute Illustrationen auch veranschaulicht
werden. Nach einem Nachrufe für den am 10. September 1900 verstorbenen
Hygicniker Dr. med. Felix Schenk schliesst dieser 2. Teil des Jahrbuches
mit einer Aufzählung sämtlicher Mitglieder der Gesellschaft.
Möge es dieser schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege
vergönnt sein, das so schön und energisch begonnene Werk mit bestem Er-
Zcitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 10
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Berichte und Besprechungen.
folge weiter zu führen, und mögen ihr recht viele ähnliche Organisationen
nacheifern, zum Heile der jetzigen und kommenden Geschlechter und somit
der ganzen Menschheit.
H. du B o i s.
Weissenfels, Oskar, Dr., Prof. am König]. Französischen Gym-
nasium in Berlin, Kernfragen des höheren Unterrichts.
Nene Folge. Berlin 1903. R. Gaertners Verlagsbuchhand-
lung. IV u. 379 S.
Die Arbeit bietet eine höchst gediegene Fortsetzung der vor zwei
Jahren erschienenen, vom Bef. in der „Neuen philologischen Rundschau14
warm empfohlenen „Kernfragen" des Verfs. Auch in dem vorliegenden
Buche, welches in 4 allgemeiner gehaltenen, aber umfangreicheren Kapiteln
die wichtigsten pädagogischen Fragen behandelt und in 6 anderen, nicht
minder bedeutenden eine praktische Anwendung seiner in den ersteren auf-
gestellten Grundsätze giebt, trifft Verf. stets den Kern der Sache, ohne sich
irgendwie in abstraktes und daher pädagogisch unverwertbares Philoso-
phieren zu verlieren. Als Grundgedanke durchzieht die ganze Arbeit der
gerade in unserer Zeit, wo die Aufmerksamkeit der Lehrenden und Ler-
nenden leicht durch Nebendinge allzu sehr in Anspruch genommen wird,
dringend zu betonende Satz, dass jeder, insbesondere auch der altklassische
Lehrer in den obersten Klassen, den Weg zum Philosophischen einschlagen
müsse.
Nr. 1 behandelt das Inkommensurable des Unterrichtsproblems nnd
zeigt, dass der wahre Lehrer entgegengesetzte geistige und sittliche Eigen-
schaften in hervorragender Weise vereinigt besitzen muss, es aber zunächst
niemandem gegeben ist, durchaus jugendlich zugleich und durchaus reif zu
sein (S. 19 und 21). Marc Aurels Wort: "ArJ.tuaov tnauzöv ruft der Verf.
S. 45 zutreffend der Schule entgegen. Er tadelt auch S. 45 und 51 mit
Recht das Streben unserer Zeit, fast nur mittels Vorführung des Sehbaren
und Greifbaren, also der reinen Wirklichkeit zu unterrichten, da mau da-
durch leicht das Ideal, welches natürlich nicht ganz unerreichbar sein darf,
verlieren kann, und zeigt, dass die Philosophie dem Lehrer den richtigen
Mittelweg zwischen den einseitigen Anforderungen der Fachwissenschaft
und den banausischen Ansprüchen des gewöhnlichen Lebens weist.
Höchst bedeutend sind ferner besonders Nr. 2: .Die Philosophie auf
dem Gymnasium", Nr. 3: „Der Bildungswert der Poesie", z. T. in den
Gedanken sich zufallig berührend mit W. Münch, Poesie und Erziehung in
der Neuen Folge vermischter Aufsätze, S. 122—146 und stellenweise mit
A. Biese, Pädagogik und Poesie, Vermischte Aufsätze, 320 S., jedoch ganz
selbständig, und Nr. 8: „Über Ziel, Auswahl und Einrichtung der Horaz-
lektüre". In Nr. 2 wird bemerkt, dass selbst der grösste Verächter aller
Philosophie Du Bois-Reymond einer verborgenen Philosophie huldigt, und
unter eingehendster Berücksichtigung der betreffenden Litteratur mit
A. Fouille: „La reforme de l'enseignement par la philosophie" bewiesen.
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Berichte und Besprechungen.
527
dass jeder nicht auf das Philosophische gerichtete Unterricht erfolglos bleibt,
ja sogar verdummend wirken muss (S. 57).
Die philosophische Propädeutik kann dann allerdings entbehrt werden,
wenn überall in philosophischem Geiste unterrichtet und das Historische in
den Hauptlehrgegenständcn zurückgedrängt wird.
Nr. 3 zeigt, dass die Dichtkunst sich als roter Faden durch alle
Unterrichtsfächer hindurchzieht, da sie an die Wurzeln des menschlichen
Empfindens führt.
Nr. 4 verteidigt den stets suchenden Lessing und besonders den
beständig dem Schönheitsideale zustrebenden Schiller als Philosophen
für die Schule. Von Goethe empfiehlt er zur schnlmässigen Behand-
lung besonders Hermann und Dorothea und Iphigenie, den Tasso jedoch,
S. 201/2, gar nicht. Gern sehen würde er die Lektüre von Schillers ästhetisch-
moralischen Abhandlungen.
In Nr. 5 wird angeraten, weder Ciceros Brutus noch den Orator noch eins
der drei Bücher de oratore ohne weiteres hintereinander weglesen zu lassen.
Als am wenigsten ergiebig für die Schule bezeichnet Verf. scharfsinnig
den Brutus, ganz besonders empfiehlt er für denselben Zweck den Orator.
In Nr. 6 verwirft er im Widerspruch mit Aly und Bardt Ciceros Briefe
als Schullektüre gänzlich, teils weil sie politischen, dabei nur wenig inter-
essierenden Inhalt haben, wie denn in der That G. Boissier in ihrer Ver-
herrlichung entschieden zu weit geht, teils auch wegen ihrer eigentümlichen
Schwierigkeiten. Man kann über diese und jene, bei den diesbezüglichen
Erörterungen von Weissenfeis beigebrachten Punkte wohl im einzelnen
anderer Meinung sein, doch wird man sich dafür entscheiden müssen, dass
sich Ciceros Briefe zur stehenden Schullektüre nicht eignen.
Die nach des Verf.'s beifallswerter Auffassung sprachvergleichend zu
behandelnde Synonymik wird in Nr. 7, S. 290/91 mit Tegge für die beste
philosophische Propädeutik gehalten.
Den Horaz nennt Weissenfeis in Nr. 8 S. 312 einen naiven, nicht senti-
mentalen Dichter, wie Schiller irrtümlich thut, und verwirft unter teilweiser
Polemik gegen Leuchten berger: „Die Oden des Horaz für den Schulgebrauch
disponiert", das unnütze Ergrübein gliederreicher Dispositionen, in Nr. 9
entwickelt er in einer Musterlektion den Begriff der Urbanität aus der Repe-
tition von Hör. ep. I, 7 und hält hierbei S. 325 die Reproduktion des Ge-
lesenen in Prima für weit wichtiger als das Lesen selbst. Nr. 10 ist eine
Ü berarbeitung des Eingangskapitels von des Verf.'s Preisschrift : „Ästhetisch-
en tische Analyse der Epistula ad Pisones von Horaz", abgedruckt im
56. Bande des Neuen Lausitzischen Magazins. Horaz wird S. 351 mit Lessing
ein philosophischer Dichter genannt und S. 379 seiner Ästhetik das Lob
gespendet, dass sie durchgängig auf sicherem Grunde ruhe und allgemeine
Gültigkeit beanspruchen könne.
Die gelegentlichen Hinweise auf andere Schriften des Verf.'s, wie:
„Die Bildungswirren der Gegenwart", Berlin, Ferd. Dümmler, „Cicero als
Schulschriftsteller", Leipzig, Teubner, .Auswahl der rhetorischen Schriften
Ciceros", ebendaselbst, erscheinen recht dankenswert.
Wollstein. Karl Löschhorn.
10*
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528
Fr. Förster, Der Unterricht in der deutschen rechtschreibung
vom Standpunkte der Herbartschen psychologie aus be-
trachtet («Pädagog. magazin. abhdlgn. vom gebiete d. päda-
gog. u. ihrer hilfswissenschaften. hsg. v. Frdr. Kann. h, 172).
Langensalza, H. Beyer & söhne. 41 s. 0,50 m.
Wenn man den Erfolg des Rechtschreibunterrichte mit der darauf
verwandten Zeit und Mühe vergleicht, so kommt man zu einem argen
Missverhältnlss. Allerdinga liegt die Ursache davon zum Teil in der
Schwierigkeit des Gegenstandes, da die deutsche Orthographie durch ihre
Folgewidrigkeit sich einer systematischen Erlernung entzieht, zum Teil
aber auch darin, dass man diesen Umstand meist missachtet und keine
bestimmte Methode oder doch nicht die rechte anwendet. Das Lehrver-
fahren, wo ein solches überhaupt befolgt wird, pflegt darin zu bestehen,
dass man an der Hand des amtlichen Regelbuchs oder eines Leitfadens die
Regeln und die unter sie fallenden Wörter durchnimmt und durch Ab-
schreib- und Diktatübungen einprägt. Wie man dabei im einzelnen vorgeht,
richtet sich danach, welchem der drei beim Rechtschreiben wirksamen
Faktoren, dem Gehör, dem Gesicht oder den Regeln, man die entscheidende
Bedeutung beimisst. Um hierüber ins klare zu kommen, haben Lay und
andre psycho -physiologische Versuche angestellt, aus denen sich jedoch
keine brauchbare Methodik ergeben hat. Der Vf. baut eine solche auf dem
Grunde psychologischer Erwägungen Uber das Wesen de.c Rechtschreibens
auf und bedient sich dabei der Herbartschen Lehre von den Vorstellungen.
Für das orthographische Schreiben kommen in Betracht: Gehörs-, Gesichts-,
Sprechbewegungs-, Schreibbewegungs- und Sach Vorstellungen. Da jede
dieser Arten durch Association die andre wieder erzeugt, müssen sie alle
eingeübt werden, um den rechten Erfolg zu erzielen. Aus dem Gesetz der
Ab Schwächung in der associativen Wiedererzeugung der Vorstellungen
gemäss der zeitlichen Entfernung ihrer Aufnahme ins Bewusstsein folgt
die Vorschrift, sich im Anfangsunterricht mit kurzen Reihen zu begnügen,
längere Laut- oder Wortgruppen zu zerlegen und beim Buchstabieren nur
den wesentlichen Teil herausheben zu lassen. Aus dem Gesetz der Analogie
und des Kontrastes ist die Mahnung abzuleiten, bei ähnlichen Wörtern das
etymologisch oder sachlich Trennende scharf einzuprägen, aus dem der
Einübung von Bewegungen die Wichtigkeit der guten Aussprache und des
Abschreiben8, aus den Gesetzen der Apperzeption endlich die Notwendigkeit
zweckmässiger Regeln und enger Verbindung von Sach- und Wortvorstellung.
Um das richtige Lehrverfahren zu finden, ist davon auszugehen, dass die
Bedeutung der oben aufgeführten sechs Vorstellungsarten mit der Art der
Wörter wechselt: bei der Rechtschreibung sämtlicher Wortklassen sind
wirksam die Sachvorstellung und die Sprech- und Schreibbewegungs vor*
Stellung; die Gehörsvorstellung tritt hervor, wo es sich um lauttreu ge-
schriebene Wörter, also um die richtige Auffassung der gehörten Laute
handelt, die Gesichtsvorstellung bei denjenigen Wörtern, die lautwidrig ge-
schrieben werden, ohne dass dabei eine bestimmte orthographische Regel
wirkt; kommt dagegen eine Regel zur Anwendung, so ist deren Kenntnis
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Rtrirhte und Rcshrcchun p'ert
529
das Entscheidende. Hieraus ergeben sich die Grundsätze des Rechtschreib-
unterrichts: Für die Pflege der Gehörsvorstellungen ist erforderlich eine
gute Aussprache, die wiederum bei Lehrern und Schülern eine gewisse
phonetische Schulung notwendig macht, für die Einprägung der Gesichts-
vorstellnngen Verhütung falscher Wortbilder, Vorführung der richtigen in
deutlicher Darstellung an der Wandtafel, Dringen auf scharfe Erfassung
der Form neuer Wörter und auf sorgfaltige schriftliche Wiedergabe. Die
Regeln müssen kurz und möglichst umfassend sein und von den Schülern
aus dem vorgeführten Stoff abgeleitet werden; Beachtung der Herkunft
und des Bedeutungswandels leistet dabei gute Dienste. Die Einübung der
Sprechbeweg-ungsvorstellungen fällt zusammen mit der der Gehörsvor-
stellungen; für beide ist die Pflege sorgfältigen Sprechens notwendig. Die
8chreibbewegungsvorstellungen erfordern zur Einprägung das Abschreiben,
das aber nur bei Beachtung gewisser methodischer Forderungen fruchtbar
wird. Um die Prüfung des Abgeschri ebnen zu erleichtern, muss mehr von
Schreibschrift als von Druckschrift abgeschrieben werden, da nur dabei die
BuchBtabenformeu von Muster und Nachbildung Übereinstimmen; am
meisten zu pflegen ist demnach das Abschreiben von der Wandtafel. Das
Abzuschreibende soll ferner zuvor sachlich vertraut gemacht sein und unter
bestimmten orthographischen Gesichtspunkten ausgewählt werden, die
zweckmässig durch Unterstreichen des rechtschreiblich wichtigen Wortteils
vom Schüler kenntlich zu machen sind. Die allseitige Pflege der sämtlichen
in Betracht kommenden Vor Stellungsarten ist auch deshalb erforderlich, damit
alle bei den Schülern vorkommenden Sinnesgrundarten, der Gesichts-, der
Gehörs- und der Bewegungstypus, zu ihrem Rechte kommen. Das Buch-
stabieren hält der Verfasser für nicht recht wirksam und will es nur in
Gegenwart des Schriftbildes beibehalten; er zieht das Lautieren vor. Das
in so ausgedehntem Kasse verwandte Mittel des Diktierens ist nicht sehr
hoch einzuschätzen. Von den drei Hauptformen des Diktats ist das Diktat
ohne Vorbereitung schädlich, das vorbereitete trägt seinen Nutzen nicht in
sich, sondern eben in der Vorbereitung, das Prüfungsdiktat ist zwar unent-
behrlich, aber nur selten zu verwenden.
Welche Stellung hat der Rechtschreibunterricht im Lehrplan einzu-
nehmen? Eine dienende, keine selbständige, antwortet der Vf. Die für
ihn erforderliche Teilnahme kann nur erwachsen aus einer Verknüpfung
entweder mit dem Sachunterricht oder mit dem übrigen Sprachunterricht.
Aus dieser Forderung, die bisher höchstens auf der Unterstufe erfüllt wird,
folgt die andre, dass der Lehrer sich den Übungsstoff aus dem im übrigen
Unterricht Behandelten jeweilen selbst zusammenzustellen hat, wofür der
Vf. einige Winke giebt. Die Korrektur der Diktate durch Unterstreichen
des Falschen erscheint ihm schädlich, da hierdurch der Fehler noch stärker
eingeprägt wird; er empfiehlt, das Richtige darüber zu schreiben oder nur
die Zeile, die das Falsche enthält, zu bezeichnen. Die vielfach eingeführten
Leitfäden zum Rechtschreibunterricht mit festem Übungsstoff und systema-
tischer Darbietung der Regeln verwirft der Vf. gemäss seinen Anschauungen
gänzlich. — Das Heft sollte von keinem Lehrer, der Rechtschreibunterricht
zu erteilen hat, angelesen bleiben.
Berlin. Siegbert Schayer.
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530
Berichte und Besprechungen.
Hoppe, Dr. med., Hugo: Die Thatsachen über den Alkohol
2. Aufl. Berlin, S. Calvary & Co. 1901. 314 S. -f- 63 Tab.
Ursprünglich hervorgegangen aus der Erweiterung eines Vortrages,
den H. vor fünf Jahren in einem wissenschaftlichen Vereine gehalten,
ist das Werk in 2. Auflage von dem Verf. zu einer übersichtlichen Dar-
stellung aller über den Alkohol bekannten Thatsachen ausgestaltet worden
Es bietet somit eine, durch die Berücksichtigung der wissenschaftlichen
Forschungen der Neuzeit besonders wertvolle Ergänzung des bekannten
standard-work von Baer. Gleich diesem Autor hat auch H. sich bemüht,
der leicht zur Uebertreibung verführenden Aufgabe gegenüber stets be-
sonnen und kritisch zu bleiben und ohne Beschönigung, aber auch ohne
unnötige Schwarzfärbung den objektiven Thatsachen gerecht zu werden.
Die ersten drei Abschnitte des inhaltrcichen Werkes behandeln den
Alkoholkonsum in den verschiedenen Ländern, das Wesen und die physiolo-
gischen Wirkungen des Alkohols. Es wird die steigende Zunahme des
Alkoholkonsums sowie die volkswirtschaftlichen Kosten desselben für die
einzelnen Länder ziffernmässig belegt, die Entstehung und Zusammensetzung
der alkoholischen Getränke geschildert und sodann in dankenswerter Weise
das wissenschaftliche Material über die physiologischen Wirkungen des Alkohols
zusammengetragen. Am ausführlichsten wird die Wirkung des Alkohols
auf die geistigen Funktionen und auf die Muskelkraft behandelt; aber auch
seine Wirkung auf den Kreislauf, die Atmung, die Körpertemperatur und
die Ernährung werden besprochen. Sofern die Ergebnisse nicht ohne
weiteres negativ ausfallen, wird an allen Stellen darauf hingewiesen, das
der geringe Nutzen des Alkohols in einzelnen Fällen relativ zu teuer
erkauft und durch unerwünschte Schädigungen zunichte gemacht wird. Viel-
leicht wäre es erspriesslich gewesen, dieser gewiss ganz richtigen Erwägung
die Thatsache ausdrücklich gegenüber zu stellen, dass alle nachweisbaren
Schädigungen des Alkohols sich lediglich auf den gewohnheitsmässigen
und übertriebenen Genuss der alkoholischen Getränke zurückführen lassen,
während der gelegentliche, massige Alkoholgenuss für gesunde, erwachsene
Menschen aus wissenschaftlichen Gründen nicht untersagt zu werden braucht.
Die vier folgenden Abschnitte behandeln die Beziehungen des Alkohols
zur Pathologie. Es werden zunächst alle diejenigen Krankheiten aufgeführt,
an deren Entstehung der Alkohol aetiologisch beteiligt ist. Bei der Be-
sprechung der Frage der individuellen Toleranz gegen die Wirkungen
des Alkohols, die wir gern etwas ausführlicher behandelt gesehen hätten,
konnte neben anderen auch der Feststellungen Sommers gedacht werden,
der gerade diesen Punkt experimentell genauer untersucht hat. Die Bedeutung
des Alkohols für die Morbidität und Mortalität wird in ausgedehnter Weise
besprochen und für die einzelnen Erkrankunjgsformen die statistischen Er-
gebnisse mitgeteilt.
Die letzten vier Kapitel endlich behandeln die soziale Bedeutung des
Alkohols. Obenan steht der Einfluss des Alkohols auf die Zahl der Ver-
brechen; sodann seine Wirkung auf das Familienleben und den Wohlstand.
Der vorletzte Abschnitt behandelt die Beziehungen des Alkohols zur Degene-
ration. Die Bedeutung des Alkohols für die Vererbung wird gebührend
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Rtrichte und Besprechungen.
531
hervorgehoben und die diesbezüglichen experimentellen Untersuchungen von
M a r i e t und Combemale, Laitinen, Köre und anderen eingehend
gewürdigt. Im Schlusskapitel endlich behandelt H. die Verbreitung der
Trinksitten und der Trunksucht. Er weist hier besonders auf die Gefahr
hin, die dem Volke entsteht, wenn die Frauen und Kintier in immer steigendem
Masse an den Trinksitten und -Unsitten der Männer sich beteiligen. Zumal
bei den Schulkindern sind Herabsetzung der Intelligenz, der Aufmerksamkeit
und Arbeitsfähigkeit die unausbleiblichen Folgen auch des mässigsten Alkohol-
genusses, ganz abgesehen von der Rolle, die der Alkohol bei der Entstehung
der Nervosität und anderer Erkrankungen der Schulkinder spielt. Ein
Anhang von 63 Tabellen krönt das Werk, dessen gediegene und sachliche
Darstellung es zu einem vornehmen und hochbedeutsamen Werkzeuge der
Belehrung über die Schädigungen des gedankenlosen, gewohnheitsmässigen
und übertriebenen Alkoholgenusses machen.
Berlin. L. H i.r schlaf f.
Möller, Alfred: Die Geisteskrankheiten, mit besonderer
Berücksichtigung der Krankheitsunterscheidung.
Miniaturbibliothek, Bd. 336—340. Leipzig, Albert Otto
Paul. 1901. XVIII -f- 240 S. 0,50 M.
In diesem Miniatur-Büchlein bemüht sich der Verf. eine Einführung
in das Studium der Psychiatrie zu geben, die nicht nur dem Arzte, sondern
auch dem Psychologen, Pädagogen und Juristen des Verständnis un(d
die Anregung zu weiteren Studien auf diesem ungemein interessanten und
höchst wichtigen Gebiete darbieten soll. Und in der That: das Experiment
ist geglückt. Auf einem Räume, der den einer Streichhohschachtel nicht
wesentlich überschreitet, ist ein inhaltlich gediegener und der kritischen
Prüfung standhaltender Uebcrsicht über die gesamte Psychiatric zustande
gekommen, der wohl geeignet ist, den genannten Zweck zu erfüllen. An
diesem Gelingen des Werkes ist neben der reichen eigenen Erfahrung des
Verfassers nicht zum mindesten der Umstand schuld, dass M. aus den
besten und lautersten Quellen der psychiatrischen Litteratur geschöpft hat.
Sind doch den Einteilungen und Darstellungen der verschiedenen Krankheits-
bilder die Werke von Griesinger, Häscr, Höfler, Jodl, J. L. A.
Koch, Kraepelin, v. K r a f f t-E b i n g, Meynert und Schale zu-
grunde gelegt; eine Auswahl, die für das Verständnis und die wissenschaft-
liche Qualifikation des Verfassers das denkbar günstigste Zeugnis ablegt
Um der Inhalt des Werkes in einigen Strichen zu skizzieren, so sei bemerkt,
dass in einer Einleitung zunächst eine Definition der Geisteskrankheiten
und sodann eine kurze, gemeinverständliche Erklärung der gebräuchlichsten
Fachausdrücke gegeben wird. Es folgt eine Einteilung der Geisteskrank-
heiten, wesentlich nach dem von v. Krafft-Ebing aufgestellten Schema ;
darauf die Beschreibung der einzelnen Krankheitsformen. Unter den Geistes-
krankheiten ohne nachweisbaren anatomischen Befund werden die Melan-
cholie, die Manie, die heilbare akute Demenz, die einfache und die hallu-
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Berichte und Besprechungen.
dilatorische Verwirrtheit, die Paranoia, das periodische Irresein und diejenigen
Psychosen abgehandelt, die auf Grundlage der Neurasthenie, Hysterie und
Epilepsie entstehen. Unter den organischen Geisteskrankheiten werden das
Delirium acutum, die progressive Paralyse und die Hirnsyphilis, die Dementia
senilis, die Dementia praecox und das thyreogene Irresein geschildert.
Der Schlussteil endlich bespricht die Geisteskrankheiten infolge chronischer
Vergiftungen, wie durch Alkohol, Morphium, Cocain; sodann die psychischen
Verkümmerungen, Idiotie, Cretinismus, sowie die psychopathischen Minder»
Wenigkeiten. In einem Anhange werden die Perversionen des Sexualtriebes
im Anschluss anv. Krafft-Ebing dargestellt. In allen diesen Schilderungen
ist das Krankheitsbild selbst in knappen, präcisen Zügen anschaulich ge-
schildert, Prognose und Therapie kurz angegeben und vor allem die in
der Psychiatrie besonders schwierige Differentialdiagnose betont. Von
kleinen Differenzen abgesehen, wird man die gewählte Darstellung im
allgemeinen gutheissen dürfen, sodass das kleine Büchlein dem erstrebten
Zwecke wohl gerecht zu werden vermag, besonders wenn, wie der Verf.
es wünscht, das Studium grösserer Werke dadurch angeregt wird. Als
einleitende, gemeinverständliche Uebersicht über die Thatsachen und Probleme
der Psychiatrie dürfte das billige Werkchen daher für Pädagogen, Psycho-
logen etc. durchaus zu empfehlen sein.
Berlin. L. Hirschlaff.
Kreisarzt Dr. Berger: Kreisarzt und Schulhygiene. 19u3.
89 S. M. 1,50.
Karl Roller, Oberlehrer: Das Bedürfnis nach Schul-
ärzten für höhere Lehranstalten. 1902. 52 S. 0,80 M.
Dr. med. Richard Landau, Schularzt: Nervöse Schul-
kinder. Vortrag. 1902, 41 S. 0,80 M. — Sämmtlich im
Verlage von Leopold Voss, Hamburg und Leipzig.
Die erste der einem gemeinsamen Zwecke gewidmeten Schriften giebt
eine kompendiöse Uebersicht über den heutigen Stand fast sämtlicher
Probleme und Aufgaben der Schulhygiene. Sie zeichnet sich aus durch die
gediegene Sachkenntnis und Erfahrung des Verfassers, der das gesamte,
von ihm skizzierte Gebiet offenbar aus eigenem Erleben meisterhaft be-
herrscht, sowie durch die abgeklärte, kritische Behandlungsweise, die den
Verfasser veranlasst, alle begründeten Forderungen der Neuzeit mit Ent-
schiedenheit zu vertreten, alle Uebertreibungen jedoch zu massigen und in
ihre Schranken zurückzuweisen. In dieser Beziehung darf das kleine
B e r g e r sehe Werk allen, die sich mit schulärztlichen Problemen zu be-
schäftigen Gelegenheit haben, als Muster empfohlen werden. Der Haupt-
inhalt des Buches bezieht sich auf die Aufgabe, die der Kreisarzt, der
offizielle Vertreter der Schulhygiene auf dem Lande, sich stellen muss, wenn
er an die vorgeschriebene Besichtigung einer Schule herantritt. Der Bau-
platz, das Schulgebäude, das Schulzimmer, die Nebenanlagen, der Unterricht,
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Berit: hie ntiJ Besprechungen .
533
die Schulkinder: dies sind die wichtigsten Punkte, denen B. ausführliche,
den neuesten Ergebnissen der Forschung gerechtwerdende Betrachtungen
widmet. Von grosser, z. T. prinzipieller Bedeutung ist ferner m. E.
die Auffassung B.'s von dem Verhältnis des Kreisarztes zu den Lehrern,
den Eltern und den besonderen Schulärzten. Da es leider unmöglich
ist, über diese Punkte hier ausführlicher Bericht zu erstatten, so muss ich
mich begnügen, aus den Leitsätzen, die Verfasser zum Schlüsse seines Vortrages
aufstellt, das Wichtigste hervorzuheben : „Die gesundheitliche Ueberwachung
der Schule hat durch den Kreisarzt unter Mitwirkung besonderer Schul-
ärzte zu geschehen, deren Anstellung überall anzustreben ist, wo es die
Verhältnisse gestatten. Auch in ländlichen Gemeinden ist eine solche
wünschenswert, z. Z. jedoch nicht dringend notwendig. — Seine Forderungen
hat der Kreisarzt den t tatsächlichen Bedürfnissen und der Leistungsfähigkeit
der Gemeinden unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse anzupassen,
und sich hierbei auf das Notwendige und Erreichbare zu beschränken;
dies aber ist klar, bestimmt und genügend begründet zu fordern. — Der
Kreisarzt hat sich ausserdem durch Belehrung der Bevölkerung und der
Lehrer durch Vorträge, Unterstützung gemeinnütziger Bestrebungen u. s. w.
die Förderung des Wohles der Schule und der Schulkinder angelegen
sein zu lassen. — Die Berichte der Schulärzte gehen durch die Hand des
Kreisarztes. — Unbedingt notwendig ist eine hygienische Vorbildung der
Lehrer; dieselbe kann zwar den Schularzt nicht ersetzen, doch wird durch
das Hand in Hand gehen hygienisch vorgebildeter Lehrer mit dem Kreis-
arzte auch in den ländlichen Schulen den gesundheitlichen Forderungen
mehr als bisher Rechnung getragen werden."
Auch die Schrift des Oberlehrers Karl Roller, die das Bedürfnis
nach Schulärzten für höhere Lehranstalten behandelt, lässt eine gewisse,
weise Zurückhaltung in dieser Frage erkennen, wenngleich die Forderungen
Rollers über diejenigen Bergers zum Teil hinausgehen. Nach einem
kurzen Ueberblick über die geschichtliche Entwicklung der Schularzt-
frage, in der namentlich die Gegenüberstellung der im Anfange sicherlich
übertriebenen, ärztlichen Forderungen mit der im allgemeinen nicht minder
übertriebenen Reserve der Pädagogen lehrreich erscheint, erklärt Ver-
fasser die amtliche Thätigkeit des Kreisarztes nicht für ausreichend zur
ständigen, hygienischen Ueberwachung der Schulen und ihrer Einrichtung.
Er fordert neben einer hygienischen Vorbildung der Lehrer, die sich auf
das Universitätsstudium, das Lehrerseminar und spätere Fortbildungskurse
erstrecken soll, auch für die höheren Schulen die Anstellung besonderer
Schulärzte, deren Befugnisse gegenüber den Lehrern und Direktoren er
allerdings etwas eingeschränkt sehen möchte. Während er die Hygiene
des Schulhauses und seiner Einrichtungen, sowie die gesundheitliche Ueber-
wachung und Begutachtung der Schulkinder im wesentlichen den Aufgaben
des Schularztes zurechnet, ist nach R. die hygienische Ueberwachung des
Unterrichtes in Fragen allgemeiner Natur nicht Sache des Schularztes
einer Einzelanstalt, sondern vielmehr von der Zen'tralschulbehörde unter
Zuziehung eines ärztlichen Beirates zu regeln.
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534
Berichte und Besprechungen.
Aus der Feder eines praktischen Schularztes stammt die Arbeit
Richard Landaus über „nervöse Schulkinder". L. bespricht die
funktionellen Störungen des Nervensystems der Elementarschüler und
-Schülerinnen an der Hand einer ausserordentlich reichhaltigen Litteratur.
Er schildert ausführlich die Erscheinungen und die Häufigkeit der kindlichen
Neurasthenie und Hysterie, vielleicht nicht immer der Thatsache völlig
eingedenk, dass es sich in dieser Kasuistik, namentlich in Bezug auf
die markanteren Fälle, fast ausschliesslich um Einzelerscheinungen un^l
Ausnahmen handelt. In Bezug auf die Ursache dieser Erscheinungen
misst er der Schule keine allzu übertriebene Bedeutung bei, weil ja wohl
in der Volksschule von einer geistigen Ueberbürdung «des Kindes schlechter-
dings nicht gesprochen werden kann. Immerhin aber befürwortet er den
Vorschlag Brahns, die gleichaltrigen Volksschüler nach dem Masse
ihrer Fähigkeiten in wenigstens zwei Abteilungen zu sondern, deren eine
die exzessiv schnell ermüdenden Kinder aufnehmen soll, wie man sie nach
Kraepelins oder Ebbinghaus' oder Griesbachs Methode angeb
lieh leicht herausfinden könne. Als ob die modernen Ermüdungsmessungen
in Bezug auf die Exaktheit ihrer Methoden und die Zuverlässigkeit ihrer
Schlussfolgerungen schon genügend gesichert wären, um so weitgehende
Forderungen zu erheben! Einen breiten Raum nimmt endlich die Auf-
zählung derjenigen Ursachen der Nervosität der Schuljugend ein, die ausser
halb der Schule gelegen sind. Kaffee, Tabak, Alkohol, geschlechtliche
Verführung und fehlerhafte häusliche Erziehung werden hier eingehend
und sachlich gewürdigt und anerkennenswerte Besserungsvorschläge gemacht.
Eine Litteratur- Uebersicht über 85 schulhygienische Arbeiten schliesst die
Schrift, der man in den meisten Punkten seine Zustimmung nicht wird
versagen können.
Berlin. L. Hirschlaff.
Dr. Wilhelm Strohmayer: Die Epilepsie im Kindesalter.
Vortrag, gehalten am 2. August 1902 zu Jena auf der
4. Versammlung des „Vereins für Kindesforschung".
Altenburg, Oskar Bon de. 1902. 30 S.
Die Ausführungen des Verfassers, die sich auf das B ins wanger
sehe Krankenmaterial stützen, sind für Laien, in der Hauptsache für Lehrer
kreise bestimmt. Verfasser giebt zunächst eine Umgrenzung des Krank
heitsbildes der kindlichen Epilepsie, die sich von der Epilepsie der Er-
wachsener' prinzipiell in keinem Punkte unterscheidet. Er schildert das
Grand Mal, das Petit Mal und die sog. psychischen Aequivalente. Unter
den ätiologischen Faktoren hebt er die Erblichkeit, speziell den chronischen
Alkoholismus und die Syphilis der Eltern, auf der anderen Seite die
Verletzungen des kindlichen Schädels infolge von .Unfällen und Züchtigungen
hervor. Die Beziehungen der Epilepsie zur Geschlechtssphäre (Onanie etc.)
werden als unzutreffend zurückgewiesen. Str. geht sodann auf die Geistes-
und Charakterveränderungen ein, die im Gefolge der kindlichen Epilepsie
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Berichte und Besprechungen.
535
in vielen Fällen beobachtet werden, und erörtert im Anschluss daran die
Frage der Prognose, der Prophylaxe und der allgemeinen Therapie dieses
Leidens. Er empfiehlt für die prognostisch günstigen Fälle, soweit über-
haupt ihre Entfernung aus dem Hausstände indiziert erscheint, am meisten
die sog. Heilerziehungsanstalten, in denen die epileptischen Kinder unter
der steten Aufsicht eines Nervenantes stehen und zugleich von berufener
pädagogischer Seite einen geeigneten, individuellen und von der üblichen
Schablone abweichenden Unterricht erhalten. Die Darlegungen des Ver-
fassers sind in jedem Punkte zu unterschreiben; die Schrift kann den
interessierten Kreisen aur Beachtung dringend empfohlen werden.
Berlin. L. H i r s c h 1 a f f.
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Wissenschaftliche Mitteilungen aus dem Gesamt-
gebiete der Pädagogik und Medizin.
Ueber Ossin-Stroschein,
ein wohlschmeckendes Leberthranpräparat.
Von
Dr. Leo Hirschlaff, Berlin.
Der Verwendung des Leberthrans, dessen Wirkung als
Nutriens wegen seiner leichten Emulgierbarkeit und Resor-
bierbarkeit noch immer unbestritten ist, stand von jeher der
widerwärtige Geschmack und Geruch entgegen, der auch dem
nach der Pharmakopoea Germ. Ed. IV. hergestellten, sog.
blanken oder gelben Leberthran anhaftet, der offizineil nur aus
den frischen Lebern von Gadus Morrhua L. bei gelindester
Wärme im Dampfbade bereitet werden darf. Zumal bei der
Rhachitis der kleinen Kinder ist ja der Leberthran in Form
des K as so witz sehen Phosphor-Leberthran-Gemisches seit
längerer Zeit als Spezifikum in Gebrauch, freilich nicht, ohne
in häufigen Fällen Widerwillen und üble Nachwirkungen auf
Magen und Darm der kleinen Patienten zu erzeugen. Trotz
dieser unleugbaren Uebelstände hat der Leberthran in der
Praxis bisher den Sieg davongetragen über die mannigfachen
Ersatzmittel, die zumeist aus pflanzlichen Oelen bereitet sind,
wie z, B. das v. Mering empfohlene Lipanin. Ferner: wenn
auch der Gehalt an Gallenbestandteilen, der den Leberthran
vor allen anderen Fetten auszeichnet, eben seinen schlechten
Geschmack und Geruch bedingt, so ist er es doch wiederum
auch, der die oben gerühmten Vorzüge der leichten Emulgier-
barkeit und Resorbierbarkeit des Leberthrans bedingt. Unter
diesen Umständen ist es mit grosser Freude zu begrüssen,
dass es der chemischen Fabrik Stroschein in Berlin gelungen
ist, in dem Ossin ein Leberthran-Präparat herzustellen, das die
Vorzüge des Leberthrans darbietet, zugleich aber seine Nach-
teile vermeidet. Durch eine zweckmässige Verarbeitung des
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Wüsemchaflliche Mittelungen.
537
offizinellen Leberthranes mit Hühnereiweiss, Zucker und Ol.
Menthae pip. ist in dem Ossin ein Präparat entstanden,
dessen Geruch und Geschmack als durchaus angenehm be-
zeichnet werden kann, ebenso wie auch das Aussehen des
Präparates, das dem Honig gleicht, sich gegenüber der öligen
Flüssigkeit des Leberthranes vorteilhaft unterscheidet. Die
quantitative Analyse des Ossins ergiebt: Aetherlösliche Stoffe
(fettes Oel 74,75 %, sticksoffhaltige Substanz ^ 0,82 %, los-
liche Kohlehydrate 24,20%, Asche 0,23o/0; in der Asche
sind enthalten: Phosphorsäure = 0,0184, Schwefelsäure = 0,0060,
Kalk - 0,0410, Eisen = 0,0120%. Da ich im Laufe von
l1/* Jahren vielfach Gelegenheit hatte, die Vorzüge des
Ossins gegenüber dem Leberthran am Krankenbette zu
erproben, so sei es mir gestattet, aus der Fülle der gesammelten
Erfahrungen einige besonders charakteristische Krankenge-
schichten mitzuteilen :
1. H. G., Mädchen von 2*/4 J.; schwächliches, schlecht
genährtes, anämisches Kind mit den Anzeichen der Rhachitis
und Skrofulöse; Vater tuberkulös. Während sechs Monaten erhält
das Kind täglich dreimal einen Theelöf fei bis einen Kinderlöffel
Ossin in Milch oder Kakao. Von Anfang an wird das Präparat
gern genommen. Der vorher daniederliegende Appetit hebt
sich; Aussehen und Gewicht zeigen bedeutende Besserung;
die zuvor vorhandenen rhachitischen und skrofulösen Erschei-
nungen verschwinden. Das Kind macht jetzt einen gesunden
und kräftigen Eindruck.
2. A. H., Knabe von io Monaten, mit Barlowscher Krankheit
und Rhachitis. Nachdem die Erscheinungen der Barlowschen
Krankheit nach ca. 14 Tagen infolge Aenderung der Nahrung
abgeklungen sind, erhält der Knabe zunächst: Rp. Phosphori
0,01, Ol. Jecoris Aselli ad 100,0 — D. S. zweimal taglich einen Thee-
löffel. Nach zwei Tagen muss diese Medikation ausgesetzt
werden, da Erbrechen und Diarrhoen eintreten. Es wird darauf
ordiniert: Rp. Phosphori 0,01, Ossini Stroschein ad 100,0
— D. S. zweimal täglich einen Theelöffel. Diese Medikation wird
gut vertragen und willig genommen. Innerhalb zwei Monaten
sind die Erscheinungen der Rhachitis geschwunden; der Knabe
hat sich kräftig entwickelt; Zahnbildung und Gehenlernen er-
folgen ohne Schwierigkeit.
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Wüsenxhaftliche Mitteilungen.
3. E R., Mädchen von il/4 J. Im Anschluss an eine
schwere Cholera infantum und Pneumonie, die das Kind im
Alter von vier Monaten durchgemacht hat, entwickelt sich ein
chronischer, mit zeitweiligen, unregelmässigen Fieber- Attaquen
einhergehender Darmkatarrh, der durch keine Aenderung der
Diät ünd durch keine Medikation zum Stillstand gebracht
werden kann. Dabei kommt das Kind in seinem Ernährungs-
zustande immer weiter herunter; auch treten rhachitische Er-
scheinungen auf, wie übermässiges Schwitzen, Rosenkranz,
Auftreibung der Epiphysen, Caput quadratum etc. Medikation :
Rp. Phosphori 0,01, Ossini Stroschein ad 100,0 — D.S. zweimal
täglich einen Theclöffcl. Während dieser Behandlung erholt sich
das Kind sichtlich. Die Diarrhoen lassen nach, der Stuhlgang
nimmt allmählich festere Beschaffenheit an, der vorher durch
nichts zu ermöglichende Appetit wird lebhaft und reichlich.
Nach Ablauf von 21/« Monaten ist das Kind in kräftigem Er-
nährungszustand, die Darmerscheinungen kind die Rhachitis sind
verschwunden, die Zahnbildung nimmt normalen Verlauf.
Aus diesen drei Krankengeschichten, deren Zahl leicht
bedeutend vermehrt werden könnte, glaube ich den Schluss
rechtfertigen zu dürfen, dass das Ossin Stroschein thatsächlii h
ein vollkommener Leberthranersatz ist, insofern als es die
unbestreitbaren Vorzüge dieses eigenartigen tierischen Fettes
ohne dessen sonstige, die Magendarmthätigkeit ungünstig be-
einflussenden Nachteile besitzt. Auch eine Reihe befreundeter
Kollegen, denen ich das Präparat zur Anwendung in der Kinder-
praxis empfahl, äusserten mir gegenüber ihre lebhafte Zufrieden-
heit über die damit erzielten Erfolge. Der billige Preis des
Präparates gestattet seine Anwendung auch in der ärmeren
Praxis.
Ueber Theinhardts Hygiama.
Von
Dr. Leo Hirschlaff.
Unter den zahllosen Nährpräparaten, mit denen eine
strebsame Industrie heutzutage Aerzte und Publikum über-
schwemmt hat, haben die Eiweisspräparate lange Zeit an Zahl
überwogen. Seltsamerweise ; denn, dass reines Eiweiss kein
eigentliches Nährmittel ist, ist aus der Ernährungsphysiologie
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539
lange bekannt. Gewiss giebt es Indikationen für die Anwen-
dung reiner Eiweisspräparate, z. B. bei allen denjenigen, Erkran-
kungen, bei denen eine Konsumption statthat, wie bei lang-
dauernden fieberhaften Prozessen, bei der Tuberkulose, bei
Nierenerkrankungen, Carcinom etc. Indessen, zur allgemeinen
Ernährung jedes Gesunden und Kranken eignen sich Eiweiss-
präparate sicherlich nicht, da die Eiweisszufuhr im allgemeinen
bekanntlich die Eiweissausscheidung vermehrt, ohne dass es in,
der Regel zum Eiweissansatze kommt. Es ist daher bedauerlich,
dass beim Publikum — hauptsächlich wohl infolge der über-
grossen Reklame der Fabrikanten — gerade die Eiweisspräpa-
rate bevorzugt werden, natürlich unter Umgehung der ärzt-
lichen Verordnungen, die der moderne Laie ja vielfach ent-
behren zu können glaubt. Die natürliche Folge davon ist das
schwindende Vertrauen des Publikums zu den Nährpräparaten,
da die erhofften Wirkungen gewöhnlich ausbleiben. Dem
gegenüber muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass
ein vollkommenes Nährpräparat, das sich für den allgemeinen
Gebrauch eignet, aus Eiweiss, Fett, Kohlehydraten und
Salzen in entsprechendem Verhältnis zusammengesetzt sein
muss; eine Forderung, die nur von wenigen im Handel be-
findlichen Präparaten erfüllt wird. Eines der wenigen Prä-
parate, das dieser Forderung entsprach, und an das Verfasser
deshalb seiner Zeit grosse Hoffnungen knüpfte, war das
Eulactol. Leider stellte sich der Verwendung dieses Präparates
ein Uebelstand entgegen, der sich schliesslich als unüberwind-
lich erwies : der schlechte Geschmack nach verdorbenem Käse.
Alle Patienten meiner Clientel, die sich freilich meist aus
nervösen, empfindlichen Kranken zusammensetzt, verweigerten
den längeren Gebrauch dieses Präparates unter Hinweis auf
seinen unerträglichen Geschmack. So musste ich es denn mit
Freuden begrüssen, dass ein anderes Präparat, Theinhardt's
Hygiama, auftauchte, das denselben Bedingungen in Bezug
auf seine Zusammensetzung entsprach. Nach den zahlreich
ausgeführten Kontroll-Analysen besteht nämlich das Thein-
hardt'sche Hygiama aus 20— 22o/0 Eiweiss, 8— 11 o/o Fett,
45 — 48 o/o löslichen Kohlehydraten, 17— 20o/0 unlöslichen Kohle-
hydraten inkl. Cellulose, 3— 4o/0 Nährsalzen (darin Phosphör-
säure 0,8— l,2<y0), sowie 3— 5«/o Feuchtigkeit. Bemerkenswert
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540
Wüsenscha ftlichc Mitteilungen .
ist dabei für die Nervenpraxis der hohe Phosphorgehalt, der
auf das pflanzliche Lecithin der Cerealien zurückzuführen ist;
besonders da die Fabrik, entgegen der widerlichen Reklame
anderer Produkte, es verschmäht, hierauf besonders hinzu-
weisen. Der Preis des Präparates (5oo g — 2,50 M.) ermög-
licht eine allgemeine Anwendung, was gegenüber den zum
Teil sehr teuren Eiweisspräpa raten besonderer Hervorhebung
wert erscheint. Mit diesem Präparate habe ich jahrelange
Versuche, meist an Nervenkranken, angestellt und vorzügliche
Resultate erhalten. Angenehm war dabei besonders der zu-
sagende Geschmack des Hygiama, das auch von den empfind-
lichsten Patienten monatelang gern genommen wurde. In allen
Fällen sah ich als Wirkung dieser Verordnung eine Zunahme
des Körpergewichtes, Hebung des Appetites und der Ver-
dauung, sowie eine bemerkenswerte Besserung des Allgemein-
befindens, die ja bei Nervenkranken fast stets mit der Hebung
des Körpergewichts parallel läuft. Die Form, in der das Prä-
parat verordnet wurde, war meist 2—6 Esslöffel Hygiama per
Tag in Milch, wobei ein kakao-ähnliches Getränk von ange-
nehmem Geschmacke zustande kommt. In einzelnen Fällen,
in denen die Milch verstopfende Wirkung zeigte, zog ich es
vor, das Präparat (3—4 Essl.) mit Schlagsahne zusammen-
gerührt zu geben; eine Form, die mit ev. Zusatz von Bisquit
oder eingemachtem Obst als besonders zweckmässig und delikat
empfohlen werden kann. Einzelne Patienten schliesslich zogen
es vor, das Hygiama in Haferschleim oder als Zusatz zu
Suppen zu sich zu nehmen. Eine grosse Zahl der Patienten,
denen ich das Mittel verordnete, nahmen es später zu dauerndem
Gebrauche, weil sie sich von der günstigen Einwirkung über-
zeugt hatten. Von den zahlreichen Fällen, in denen mir die
Verwendung des Theinhardt'schen Präparates Nutzen brachte,
möchte ich einige besonders erwähnenswerte Kranken-
geschichten hervorheben :
1. Frau F. H., 28 J. alt, Neurasthenie, durch eine Früh-
geburt mit nachfolgendem embolischen Lungen infarkt, Nephri-
tis und pleuritischem Exsudat stark heruntergekommen. Appetit
mässig, Stuhlgang meist angehalten. Seit März 1902 erhält
die Patientin täglich 30—40 g Hygiama in einem Teller Schlag-
sahne verrührt. Dabei hebt sich der Appetit, der Stuhlgang
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Wissenschaftliche Mitteilungen *%41
wird regelmässig, das Gewicht steigt. Während das Anfangs-
gewicht von 110—112 Pfd. mit Winterkleidung geschwankt
hatte, beträgt das Gewicht am 3. IV. 1902=116 Pfd., 10. IV.
= 117 Pfd. 100 g, 18. IV. = 117 Pfd. 475 g, 16 V. = 119 Pfd.
Auch in den nächsten Monaten steigt das Gewicht der Patientin
weiter an; ihr Aussehen wird blühend, ihre Beschwerden ver-
schwinden. Nach monatelang fortgesetztem Gebrauch des Prä-
parates fühlt sich Pat gesund, ohne dass andere medikamentöse
oder physikalische Hülfsmittel angewandt worden wären.
2. Herr O. G., 38 J. alt, Paranoia mit chronischem Darm-
katarrh. Der Patient, der früher 151 Pfd. gewogen hatte, ist
durch den chronischen Darmkatarrh mit täglich 3 — 6 flüssigen
Entleerungen ausserordentlich heruntergekommen. Sein Ge-
wicht beträgt am 29. März 1902 nur noch 137 Pfd. Alle bis-
her gegen den Darmkatarrh angewandten Medikationen hatten
sich als wirkungslos erwiesen. Er erhält deshalb wegen der
den Stuhl consolidierenden Wirkung des Präparates 5 mal
täglich 1 Theel. Hygiama in Haferschleim oder Kakao. Am
6. IV. beträgt sein Gewicht 140,5 Pfd. und bleibt in den nächsten
Wochen mit geringen Schwankungen auf dieser Höhe; am
10. V. beträgt es 141,5 Pfd. Während dieser Zeit sind die
Entleerungen konsistenter und seltener geworden, 1—2 mal
täglich. Die vorher vorhandenen Leibschmerzen, Übelkeit,
Brechneigung, Würgen sind völlig geschwunden. Pat. fühlt
sich wohl und sieht bedeutend besser aus. Auch nach dem
zeitweiligen Aussetzen der Verordnung bleibt das Befinden be
friedigend; die Darmerscheinungen sistieren.
3. Frau J. A., 38 J. alt, Hysterie, Taboparalyse, Pankreas-
affektion, Infolge erschöpfender, öliger Entleerungen hat die
Patientin seit Oktober 1901 um 48 Pfd. abgenommen. Roborat,
das lange Zeit zur Nahrung zugesetzt wurde, hatte weder die
Gewichtsabnahme aufgehalten, noch die Steatorrhoeen beein-
flusst. Gewicht am 16. IV. 1902 = 142 Pfd. Ordination,: 5 Theel.
Hygiama täglich in Haferschleim oder Kakao. In den, folgenden
Wochen hält sich das Gewicht unverändert, die öligen Ent-
leerungen kommen seltener und bleiben schliesslich aus. Am
18. IV. ist das Gewicht 143,5 Pfd», das Aussehen gebessert,
der Appetit rege Die erzielte bemerkenswerte Besserung hält
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 1 1
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542
Wusenscha ftliche Mitteilungen
unter dauerndem Gebrauche kleiner Mengen Hygiama's auch
in den folgenden Monaten an.
Diese 3 aus der grossen Zahl der mir zur Verfügung
stehenden Fälle aufs Geradewohl herausgegriffenen Krankenge-
schichten zeigen durch ihre Schwere genügend die vortreffliche
Wirksamkeit des Theinhardfschen Präparates. Selbst bei dar-
niederliegender Darmthätigkeit tritt eine völlige Ausnutzung
des Nährmittels ein, während andere Präparate nicht selten
die Darmreizung vermehren. Wir haben daher in dem Thein-
hardt'schen Hygiama ein vollkommenes Nährmittel vor uns,
dessen Anwendung in jedem Falle, in dem die Hebung des Er-
nährungszustandes erwünschtist, dringend empfohlen werden kann.
lieber das Problem der Frauenbildung.
Ueber die Frauenfrage, ohne Zweifel eins der schwierigsten Probleme
der Gegenwart, ist schon ausserordentlich viel hin und her geredet, selten aber
in so zutreffender Weise geurteilt worden, wie im Sommer d. J. auf dem Städte-
tage zu Dessau seitens des Stadtschulrats Dr. Franke- Magdeburg. Der von
diesem hervorragenden Schulmanne am genannten Orte gehaltene Vortrag
handelte von der Schul- und Fortbildung der Mädchen aus den bürgerlichen
Kreisen und ging von dem Grundgedanken aus, dass die Notlage der Frau,
insbesondere der Frau der gebildeten Stände, kein blosses Hirngespinst,
aber auch keine normale, gesunde Erscheinung, sondern ein pathologisches
Produkt des sozialen Körpers sei. Etwa drei Fünftel aller berui'sthätigen
Frauen in Deutschland seien auf eigenen Erwerb angewiesen und tast drei
Millionen ehemündiger Frauen blieben mit mathematischer Sicherheit von
der Verheiratung ausgeschlossen. Den übrig bleibenden Frauen, die meist den
mittleren und oberen Kreisen angehörten, die Möglichkeit für ein unab-
hängiges Leben zu verschaffen, sei ihr Recht und unsere Pflicht, da die
Arbeit die Ehre und Pflicht auch des vermögenden Mädchens sei und alle
Mädchen zu nützlichen Gliedern im Organismus der Menschheit erzogen
werden müssten. Wenn nun auch die Frauen, meinte Redner mit Recht,
Anspruch auf alle Bildungsgüter der Gegenwart haben, so spricht doch das
Dogma von der absoluten Gleichheit beider Geschlechter, welches durch-
aus auf rationalistischen Voraussetzungen beruht, der Erfahrung insofern
Hohn, als das Weib zwar für viele, aber bei weitem nicht für alle Berufs-
arten dem Manne gewachsen ist, insbesondere aber das scharfe logische
Denken, welches den eigentlichen Gelehrten macht, vermissen lässt. Dr.
Franke will übrigens nur einstweilige Vorschläge machen. Er meint, es
sei vorläufig am besten, wenn die höhere Mädchenschule die gemeinsame
Unterrichtsanstalt für die weibliche Jugend der gebildeten Kreise bliebe
und dabei stets den Charakter einer allgemeinen Erziehungsanstalt be-
wahrte, und empfiehlt, wie schon anderweit wiederholt vorgeschlagen, zur
Durchführung dieser Absicht einen zehnjährigen Lehrgang. Da sich unseren
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WüsHUtkafiUch* Mitteilungen.
543
Mädchen zahlreiche Berufszweige, namentlich die, welche nach Natur und
Sitte der Frau zufallen, verschlossen haben, verteidigt Franke die Errichtung
von Haushaltungsschulen, sowie von Schulen zur Heranbildung von Pflege-
rinnen für Kinder und Kranke. Der kaufmännischen Fortbildungsschule
redet er das Wort, wünscht aber die Angliederung von Kursen zur Vorbe-
reitung für den kaufmännischen Dienst, auch landwirtschaftliche Schulen
und kunstgewerbliche Kurse für Mädchen. Ferner schlägt er eine Aende-
rung des allgemeinen Fortbildungsktirsus der Mädchen vor, den er auf zwei
Jahre zu verlängern empfiehlt und als dessen Unterrichtsfächer er Literatur,
Geschichte, Kunstgeschichte und Mathematik fordert, ausserdem für den
unteren Kursus Psychologie der Kindererziehungslehre nebst Besichtigung
der Krippen, für den oberen Gesundhcitslehre, Einführung in die Wohlfahrts-
und Armenpflege sowie in die soziale Gesetzgebung und Besuch der be-
treffenden Anstalten. Alle diese Vorschläge sind vortrefflich.
Aus dem Gesagten folgt, dass Franke diejenigen Berufe, in denen die
ursprünglichen mütterlichen Triebe sich betätigen können, also die Gebiete
der Erziehung und Pflege der Kinder, die der Hauswirtschaft und Wohl-
fahrtspflege, nebst denen der helfenden Liebe für das weibliche Geschlecht
als geeignetste Wirkungskreise bezeichnet. Hieraus erklärt sich
psychologisch auch sehr leicht sein Widerwille gegen
die früher von uns empfohlene Koedukation nach
norwegischem Vorbilde und die an einzelnen Orten
schon blühenden Mädchengymnasien; auch den Universi-
tätsbesuch seitens der Frauen betrachtet er nur als eine Ausnahme und
meint, dass die Gesamtheit unter derartigen Ausnahmeverhältnissen nicht
leiden dürfe.
Wir glauben nun, dass man einstweilen ruhig alle Schularten für Mäd-
chen neben den von Franke gewünschten nebeneinander bestehen lassen
könne. Namentlich dürfte man erst abwarten, was für Erfahrungen man mit
dem Universitätsstudium der Studentinnen und der Koedukation in ausser-
deutschen Ländern während einiger, etwa fünf weiterer Jahre machen wird,
um über die Frauenfrage ein völlig ungetrübtes Urteil zu gewinnen. Vieles,
was Franke vorschlägt, wird man unbedingt billigen, selbst wenn man über
das höhere Bildungswesen des weiblichen Geschlechtes in einzelnen Haupt-
punkten wesentlich abweichende Ansichten hegt.
Wollstein. K. Löschhorn.
Das Kinderschatzgesetz
nach den Beschlüssen der Reichstagskommission.
Der Reichstagsabgeordnete Dr. Zwick macht hierzu in der „Vossi-
schen Zeitung" folgende Ausführungen:
Nach den Erhebungen des Reichskanzlers von 1898 sind nicht weniger
als 532283 Kinder in noch nicht oder noch schulpflichtigem Alter ausserhalb
von Fabriken erwerbstätig, und zwar davon mehr als die Hälfte, nämlich
306823, also 57 %. in der Industrie, ein Drittel, nämlich 171 739. also 32 %.
als Austräger, Ausfahrer, Laufburschen oder Laufmädchen, 21 620, also 4 %
11*
Wüsenschaftlich* Mittelungen.
in Gast- und Schankwirtschaften, 17 623 also 3 % im Handelsgewerbe und
2691, also 0,5 % in den Verkehrsgewerben. Berlin allein zählte 1808 25 394
erwerbsthätige Kinder, wovon 10 713 mit Austragen von Frühstück, Milch.
Zeitungen, Wäsche, 7409 als Laufburschen und Laufmädchen beschäftigt
waren. Die Ermittelungen ergaben, dass die Kinder nicht nur bei gänzlich
ungeeigneten, sondern auch geradezu gesundheitsgefährlichen Arbeiten thätig
sind, dass 1 10 682 Kinder mehr als 3 Stunden täglich, viele sogar 5 und 6, ja
10 Stunden arbeiten, dass sie beim Austragen und bei sonstigen Botengängen
morgens in aller Frühe und abends spät thätig sein mussten. Diese rück-
sichtslose Ausnutzung veranlasst unregelmässigcn Schulbesuch. Schlaffheu
und Teilnahmslosigkeit beim Unterricht, Gleichgültigkeit, Unfleiss und böse
Gewohnheiten, die Erziehung dieser Kinder leidet ungeheuer, die Unterrichts-
ziele sind unerreichbar. In Berichten, Versammlungen, Anträgen wies die
Lehrerschaft immer und immer wieder auf die Notwendigkeit erhöhten
Kinderschutzes zur Sicherung der allgemeinen Schulerziehung hin.
Aehnliche, vielleicht noch grössere Missbräuche in Ausbeutung der
Kinderarbeit sind in landwirtschaftlichen Betrieben und im Gesindedienst
vorhanden. Amtliche Erhebungen liegen zur Zeit hierüber nicht vor. Um
die gesetzliche Regelung über die landwirtschaftlichen Betriebe mit aus-
dehnen zu können, einigte sich die Kommission in einer Resolution, welche
den Reichskanzler um baldige Erhebungen in genannter Richtung ersucht.
Die Gesetze der Gewerbe-Ordnung inbezug auf das Verbot der Kinder-
arbeit rinden keine Anwendung auf Betriebe, in denen der Arbeitgeber aus-
schliesslich zu seiner Familie gehörige Personen beschäftigt. Nun arbeiten
aber nach Art der Arbeit, Arbeitsraum und Zeit unter den denkbar ungün-
stigsten Verhältnissen nicht weniger als 306823 Kinder in der Textilindustrie,
der Industrie der Holz- und Schnitzstoffe, der Bekleidungs- und Reinigungs-
Industrie, der Industrie der Nahrungs- und Genussmittel (z. B. der Tabak-
fabrikation) im Hause mit und bei den Eltern. In 25 Schulorten des Kreises
Sonneberg, eines der Hauptsitze der thüringischen Spielwaren-Industrie, sind
3555 Kinder ausserhalb der Schulzeit, und davon 2667, also 97 v. H., im
eigenen Hause beschäftigt. Nach den Erhebungen sind fast 83 v. H. der in
der Industrie thätigen Kinder in solchen Gewerbszweigen beschäftigt, in
denen die Haus Industrie als Familienbetrieb verbreitet ist. Da man nun
diese Hunderttausende von Kindern nicht nach wie vor schutzlos lassen
und der vorzeitigen Ausbeutung preisgeben konnte, wie es die Gewerbe-
Ordnung bislang gethan hat. so beschloss die Kommission, durch ErJass
besonderer Bestimmungen in die Rechte der Eltern einzugreifen, ohne
jedoch eine Abänderung der Gewerbe-Ordnung vorzunehmen. Der Entwurf
lehnt sich an die §§ 135 und 139 der Gewerbe-Ordnung und erstreckt sich
auf die noch nicht oder noch schulpflichtigen Kinder und zwar auf solche
unter 13 Jahre und auf solche über 13 Jahre, welche noch zum Besuch der
Volksschule verpflichtet sind. Man konnte das Grenzalter nicht auf
14 Jahre bemessen, weil die Schulpflicht in Bayern, Württemberg una
Schleswig-Holstein nicht bis zum 14 Jahre reicht.
Eine wirkliche Besserung durch die neuen Bestimmungen, welche nur
ein Mindestmass des Kinderschutzes darstellen, welches für einzelne Fälle
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U 'tsscnscha ftliche MitUüun %en.
545
schärfere örtliche Bestimmungen nicht ausschliesst, ist nur dann zu erwarten,
wenn ausreichende Ueberwachung erfolgen kann. Hierbei wird den Gewerbe-
aufsichtsbeamten, Schulbehördcn und Lehrern, Kinderschutzvereinen neben
der Polizei eine der wichtigsten unmittelbaren und mittelbaren Kontrol-
und Erziehungsaufgaben zufallen.
In der Kommission, wo der nach diesen Gesichtspunkten gearbeitete
Gesetzentwurf, ebenso wie im Plenum, voJle Anerkennung fand, trat im
ganzen eine Verschärfung der Regierungsvorlage hinsichtlich der Beschäfti-
gung, eine bessere Abstufung hinsichtlich der zuzuerkennenden Strafen ein.
Die diesbezüglichen Aenderungen betreffen Schutz der Zwangserziehungs-
kinder, verbotene Beschäftigungsarten, Beschäftigung über 12 Jahre alter
Kinder in Werkstätten, Mitwirkung der Schulaufsichtsbehörde, Ausnahme-
bestimmungen, Beschäftigung im Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe,
polizeiliche Befugnisse und Revisionen.
Die verbotenen Beschäftigungen (§ 4 der Vorlage) wurden vermehrt
durch diejenigen im Schornsteinfegergewerbe, in dem mit dem Speditions-
geschäft verbundenen Fuhrwerksbetriebe, beim Mischen und Mahlen von
Farben, beim Arbeiten in Kellereien, bei Gipsbrennereien. FeJleinsalzereien
und Gerbereien. Umstritten war § 3 Abs. 1 No. 3, betreffend die Frage,
ob Zwangserziehungs- (Fürsorgeerziehungs-) Kinder als eigene oder fremde
anzusehen seien. Man verhehlte sich zwar nicht, dass Missbrauch der
Zwangserziehungskinder durch gewisenlose Pflegeeltern nicht ausgeschlossen
sei, wenn sie den eigenen gleichgestellt würden; man sagte sich aber anderer-
seits, gerade Familien, welche für Unterbringung solcher Kinder am ge-
eignetsten wären, würden es ablehnen, sie anzunehmen, wenn sie dieselben
gegenüber den eigenen als fremde hinsichtlich der zu machenden Forderungen
betrachten müssten. Gute FamUiencrziehung sei aber für diese Kinder
erwünschter als Anstaltserziehung.
Um das Interesse der Schule in höherem Masse zu wahren, als es
durch den Entwurf geschehen, nahm man folgende zusätzliche Bestimmung
zu § 5 an, der neben den §§ 13 und 16 die Beschäftigung im Betriebe von
Werkstätten und im Verkehrsgewerbe betrifft:
„Um Mittag ist den Kindern eine mindestens zweistündige Pause
zu gewähren. Am Nachmittag darf die Beschäftigung erst eine Stunde
nach beendetem Unterricht beginnen."
Nach dem Kommissionsbeschluss dürfen Kinder bei theatralischen
Vorstellungen überhaupt nicht mehT beschäftigt werden. Ferner wurde das
Grenzalter für die Beschäftigung fremder Kinder mit Austragen von
Waren etc., von der Kommission von acht auf zehn Jahre erhöht, und die
Genehmigung von der Anhörung der Schulaufsichtsbehörde abhängig
gemacht.
Leider ist der § 13. die Beschäftigung eigener Kinder in Werkstätten
betreffend, in zweiter Lesung durch Annahme eines neuen abschwächenden
§ 13 a verändert worden, nach welchem der Bundesrat gestatten kann, dass
für einzelne Arten der im § 12 bezeichneten Werkstätten mit Motorbetrieb
die eigenen Kinder unter zehn Jahren (nach § 13) beschäftigt werden
können, allerdings mit der Beschränkung, dass die Arbeit nicht an de« durch
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546
WisstmchafiUche Mitteilungen.
Triebkraft bewegten Maschinen selbst geschehen darf. Nach § 15 ist nun-
mehr die Beschäftigung im Betriebe von Gast- und Schankwirtschaften von
Kindern unter 12 Jahren und von Mädchen überhaupt verboten.
Von hoher Bedeutung für die Kontrole und Wirksamkeit des ganzen
Gesetzes sind die Abänderungen der §§ 19 bis 21. In den §§ 6, 8 und 21
sah die Kommission die Mitwirkung der Schulaufsichtsbehörde vor und
änderte in zweiter Lesung auch den § 19 dahin ab, dass die Polizeibehörde
befugt sei, sofern bei der zulässigen Beschäftigung erhebliche Missstände
zu Tage getreten sind, auf Antrag oder nach Anhörung der Schulaufsichts-
behörde für einzelne Kinder die gewerbliche Arbeit einzuschränken oder
zu untersagen, sowie wenn für die Kinder eine Arbeitskarte erteilt ist
(§ Ii), diese zu entziehen und die Erteilung einer neuen Arbeitskarte zu
verweigern. Auf den § 20 sollen ferner die Bestimmungen des § 139 b der
Gewerbe-Ordnung (betr. Aufsicht und Revision über die Ausführung der
Bestimmungen) Anwendung finden und Revisionen auch in Privatwohnungen,
in denen ausschliesslich eigene Kinder beschäftigt werden, während der
Nachtzeit zulässig sein, sobald begründeter Verdacht der Nachtbeschäftigung
der Kinder vorliegt.
Diese letzten Bestimmungen sind von der grössten Tragweite, sie
ermöglichen erst die Abstellung der Missbräuche durch eine sichere Beur-
teilung und Kontrole: die indirekte Mitwirkung der Schule ist der Regulator,
die zulässigen Revisionen sind das Sicherheitsventil, beide gewährleisten
erst dauernden und sicheren Kinderschutz.
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richts bei schwachsinnigen Kindern. Zeitschr. f. d. Behandig. Schwachs.
u. Epilept., 1900, 3—5.
Ziehen, Julius, Dir. Dr. : Kunstgeschichtliche Erläuterungen zu Lessing«
I^aokoon. (42 S.) 8°. (Erschien erweitert im gleichen Verl. u. d. T:
Kunstgeschichtl. Anschauungsmaterial zu Lessings Laokoon.) Frank-
furt a. M., Wöhler-S [RG nebst Handels-S], OP 1899.
SchriftMrung : F. Kemsies. Berlin NW., Paulstr. 33 and L. Hirschlaff, Berlin, W. Lü tzowstr. 85b.
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Geschäftliche Mitteilungen:
Das beste von allen bisher hergestellten Gesundheitscorsetts ist nach
vielen ärztlichen Zeugnissen der von Frau Agnes Fleischer- Griebel erfundene
„Hera-Gürtel".
Der „Hera-Gürtel" ist hygienisch vollkommen konstruiert, da er
Lunge, Leber und Magen frei lässt. Daher ist er nicht nur für Gesunde
empfehlenswert, denen er eine tadellos schSne Figur schafft, sondern er wird
auch für Brustleidende, Operierte, Schwangere, an Wandernieren
Leidende etc. ärztlich verordnet.
Der GesuadheiU-Sport-GQrtel „Hera" ist zum Preise von 9,50 Mk. an
zu beziehen durch die Patent-Inhaber Agnes Fleischer- Griebel & Lesemeister,
Berlin C, Breitestr. 28 II.
Herr Sanitätsrat Dr. Niemeyer - Berlin schreibt in seiner „Aerztlichen
Sprechstunde", 7. Bd.: Seit einiger Zeit wurde ich mit einem Präparate bekannt,
welches ich an Stelle der Pillen verordnen lernte, nämlich die vom Apotheker
Herrn Kanoldt in Gotha hergestellte Tamarinden- Konserve. Die von einem
ostindischen Baume stammende, hülsenartige Frucht, aus welcher bisher in den
Offizinen „Tamarinden-Mus" hergestellt wurde, enthält an Stelle der Harzstoffe
(wie bei Aloe und Jalapa) Pflanzensäuren, welche nicht nur durchschlagend,
sondern auch blutkühlend wirken. Der widerliche Geschmack derselben findet
sich in der „Konserve" durch Chokoladenmasse so sicher eingehüllt, dass sie
der Zunge wie Leckerbissen munden. Als einmalige Dosis genügt ein Stück
und erfolgt die Wirkung nach 1 bis 2 Stunden, oder auch, wenn Abends ge-
nommen, des Morgens. Diese wertvolle Bereicherung des Abführmittelvor-
rates kann aus jeder Apotheke am Orte bezogen werden.
Herr Sanitätsrat Dr. Hermana Michaelis-Waldenburg /. Schi, schreibt:
Die Tamarinden-Konserven von C. Kanoldt Nachfolger in Gotha habe ich
wiederholt geprüft und in all' den Fällen bewährt gefunden, wo ein blut-
kühlendes, pflanzliches und wohlschmeckendes Abführmittel — an Stelle der
drastischen, mit narcotischen Bestandteilen combinierten Pillen — eine leicht
und schmerzlos evaeuierende Wirkung bethätigen soll.
Wo Stuhlverhaltung infolge von nervösen Verdauungsbeschwerden und
Schwäche der Darmmuskulatur, besonders auf die psychische Stimmung nach-
teilig einwirken, ist namentlich der Tamarindenwein ein erleichterndes Abführ-
mittel, welches nach den Hauptmahlzeiten genommen (theelöffel weise, bei
Kindern die Hälfte) den Mageninhalt rasch in den Darm entleeren hilft und
mit der abführenden Wirkung zugleich den Verdauungsprozess erleichtert, sowie
die Resorption der Nährstoffe anregt und beschleunigt.
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Geuhäftlühe MitUüungen.
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Prof. Dr. Soxhlet' t N abrzucker, ein neues Kindernährmittel, darf nach
dem heutigen Stande der Wissenschaft als das rationellste Zusatzmittet mar Kuh-
milch bezeichnet werden. Es besteht aus reiner Dextriamaltose mit Verdauungs-
salzen. Es befördert die Ernährung der Säuglinge in hohem Masse, ohne Ab-
führwirkung zu haben. Unter den vielen Kindernährmitteln, die die Neuzeit
hervorgebracht hat, muss es wegen seiner vortrefflichen Zusammensetzung (der
Erfinder, Prof. Soxhlet, ist seit langer Zeit auf dem Gebiete der Kinderer-
nährung mit hervorragendem Erfolge thätig) zu den vollkommensten Präparaten
gezählt werden. Nach fibereinstimmenden ärztlichen Zeugnissen wird es in
jedem Falle gut vertragen und gern genommen. Von demselben Autor, Prof.
Soxhlet, ist die für die Behandlung darmkranker Säuglinge seit vielen Jahren
bewährte und berühmte Liebigsuppe in eine verbesserte Form gebracht worden.
Während die ursprünglich von Liebig angegebenen, später vielfach modifizierten
Vorschriften für die Bereitung dieser Malzsuppe für den allgemeinen Gebrauch mit
einigen Unbequemlichkeiten behaftet waren, die ihrer vielseitigen Verwendung er-
schwerend im Wege standen, ist das neue Soxhlet'sche Präparat in Pulverform jeder-
zeit gebrauchsfertig und daher wohl geeignet, dieses wichtige Nähr- und Heilmittel
für darmkranke Säuglinge wieder in sein volles Recht am Krankenbette einzusetzen. *
Der Preis beider Präparate ist so niedrig, dass sie auch in der ärmeren
Praxis zur allgemeinen Verwendung gelangen können.
Verlag: Rrt. Jnstitut Orell Füssli, Zürich.
Sorget für die schwachsinnigen Kinder.
Separat-Abdruck aus der Schweiz. Pädagog. Zeitschrift. Von Konr. Auer,
Sekundarlehrer. 35 S. 8°. 40 Pf.
Dieses Schriftchen ist eine von so wahrhaft menschenfreundlichem Sinne getragene
Kundgebung und bekundet ein so tiefeingehendes Studium der vorliegenden Frage, dass
jeder es lesen sollte, der es mit den armen Geschöpfen wohl meint.
Hygienische Gymnastik für die weibliche Jugend während des schul-
pflichtigen Alters von O. Kaller. Mit 30 i. d. Text gedruckten Abb. 1 Mk.
Rechnungsbüchlein für die erste Klasse der Elementarschule, von
H. Maag, Lehrer in Zürich. 2. Aufl., 60 Pf.
Die Erfahrung, dass namentlich im Fache des Rechnens schwächere Schüler gerne
zurückbleiben, hat den Herrn Verfasser zu der Uebcrzeugung gcbiacht, dass gerade hier
zu wenig veranschaulicht, zu wenig elementarisiert wird, sodann sagen Eltern oft, sie
möchten gerne zu Hause nachhelfen, wenn sie nur wfissten, wie es anzufangen wäre. —
Die hier angewandte Methode ist aus mehr als 20 jähriger Erfahrung hervorgegangen und
fährt sicher zum Ziele.
Der Handfertigkeitsunterricht in englischen Volksschulen.
Eine Studie von H. Bendel. Mit 9 illustrierten Tafeln. 4 Mk.
Diese Studie stellt sich die Aufgabe, die Bedeutung und Stellung klarzulegen, welche
dem Handferti^keitsunterricht als besonderem Unterrichtsfach der englischen Volksschule
zuerkannt werden, und die Mittel zu prüfen, welche für den Betrieb dieses Faches An-
wendung finden.
Des Couleurs et de la Lumiere. Conseils pratiques pour debu-
tants peintres, dessinateurs, chromistes et tous ceux, qui sc servent des
couleurs pour representer des objets et des sujets vus ou imagines.
Par Th. ßliggenstorfer. Mit einer lithogr. Tafel. 1,60 Mk.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.
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Verlag von Herrn. Walther, Berlin.
F. Kemsies, Sozialistische und Ethische Erziehung im
Jahre 2000 1,- Mk.
F. Kemsies, Herbart und A. Diesterweg. Ein Ver-
gleich ihrer Erziehungs- und Unterrichtsgrundsätze 1,- Mk.
Stfiisdie SCultur
Wochenschrift für sozial -ethische Reformen.
Begründet von Georg von Gisyoki.
Unter Mitwirkung von Dr. Fr. W. Foerater herausgegeben von
Dr. R Penzig und Dr. M. Kronenberg.
Vtrlsg: Virlif für ithiieha Kultur, Richard Bieber, Berlin S.W.,
14.
Die im zehnten Jahrgänge erscheinende Wochenschrift .Ethische Kultur*
ist mit stetig wachsendem Erfolge bemüh:, gegenüber der zum Theil unvermeid-
lichen Zersplitterung moderner fortschrittlicher Kulturentwickelung nachdrücklich deren
Einheit zu betonen und festzuhalten, und somit eine gemeinschaftliche Basis zu
schaffen, auf der alle freiheitlichen Gedankenrichtungen sich begegnen und alle vor-
wärts gerichteten Elemente sich zusammen finden können. Diese Einheit findet sie
In den grossen Grundgedanken des Humanismus, wie sie in geschichtlicher Ent-
wickelung allmählich elcL herausgebildet heben und fort und fort — daraut gründet
sich eben die Vielgestaltigkeit moderner Kultur — weiter entwickelt werden. Nicht
also nach den kleinlichen Massstäben irgend einer beschränkten und engherzigen
Moral, sondern nach denen der entwickeltsten Ethik, der reifsten und weitherzigsten
Anschauungen über allgemein menschliches Sein und Werden sucht die .Ethische
Kultur" die Zeitgeschichte zu beleuchten und zu allen Fragen des Öffentlichen Lebens
Stellung zu nehmen.
Besondere Aufmerksamkeit wendet die .Ethische Kultur« den sozial-ethischen
Fragen zu. indem sie den innigen Wechselbeziehungen des wohlverstandenen
humanistischen mit dem wohlverstandenen sozialen Gedanken nachzugehen bemüht Ist
Im Vordergründe stehen ihr auch die religiösen Probleme, die moralpadagogischen
Fragen, namentlich die unablässige Forderung eines einheitlichen öffentlichen Moral-
unterrichu, die erst der einheitlichen Volkserziehung zur echten Menschlichkeit die
sichere Grundlage geben kann. Indessen auch die Fragen des
sre Grundlage geben kann. Indessen auch die Fragen des innerpolitischen
die internationalen Beziehungen werden eingehend erörtert und mit Aufmerksamkeit
wird die moderne ethische Entwickelung in Philosophie und Wissenschalt, sowie auf den
verschiedenen Kunstgebieten verfolgt. Im Ganzen ist die .Ethische Kultur- bemüht,
eine im besten Sinne des Wortes volkstümliche Zeitschrift xu sein und dem Be-
dürfniss weitester Kreise nach Klärung, Anregung und vertierterer Geistes, und
Gemüthsbildung zu dienen.
Ausser den Mitgliedern der Redaktion haben In den letzten Jahrgängen
der Ethischen Kultur«
welche unter deren Leitung erschienen sind, u. a. Beiträge in der .Ethischen
publicirt:
Pror. Felix Adler (New-York) - Dr. W. Bode (Welmen - Dr. Ed.
(Berlin) - Prof. W. Bolin (Helsingfors) - Wilhelm Bölsche (Friedrichshagen) - Prof.
L Brentano (München) — Prof. F. Bulsson (Paris) — Geh. Sanitätsrath Dr. Bär
(Berlin) — Prof. A. Dflring (Gr. Lichterfelde) - Dr. Paul Ernst — Prof. Wilh. Förster
(Berlin) — Ksrl Emil Franzos — Adele Gerhard — Dr. Otto Gramzow (Berlin) -
Georg Hermann — Prof. Harsld Höffding (Kopenhagen) — Otto Hörth (Frankfurt s. MM
— Privatdozent Dr. Jastrow (Charlottenburg) — Prof. Fr. Jodl (Wien) — Dr. L. Katzen-
stein — Ellen Key (Stockholm) — Landgerichtsrath Kulemann (Braunschweig) —
Helene Lange — Prof. F. Liebermann (Berlin) - Oda Lerda-Olberg (Genua) — Prof.
Th. Lipps (München) — Gustav Maier (Zürich) - Dr. Arthur Pfungst (Frsnfcfurt a, M.)
— P. Kosegger (Gras) — Dr. H. Schmidkunz (Berlin) — Prof. G. Simmel (Berlin) -
Prof. F. Staudinger (Darmstadt) — Bertha von Suttner — J. Tews (Berlin) — Prof.
Ferd. Tönnies (Eutin) - Prof. F. Vetter (Bern) — Dr. K. Vorlinder (Solingen) -
Dr. Bruno Wille (Friedrichshagen) u. s.
Die .Ethische Kultur* erscheint in Wochennummern, am Sonnabend jeder
Woche. Vierteljahrspreis bei allen Buchhandlungen, Postanstalten (Postzeitungsliste
No. 2407) sowie bei direktem Bezug von der Verlagshandlung M. 2,00. Bei direktem
Beiuge für das Ausland II. 2,50. Probenummern sind gratis und portofrei durch jede
Buchhandlung zu bezichen oder direkt vom Verlage.
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