Archiv für
Sozialwissen
und
Sozialpolitil<
Heinrich Braun,
Werner Sombart,
Max Weber, ...
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ARCHIV
fOr
SOZIALE aE6£TZGEßUNG UND STATISTI£.
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ARCHIV
FÜR
SOZIALE GESETZGEBUNG
ÜND STATISTIK.
ZEITSCHRIFT
ZUR ERFORSCHUNG DER GESELLSCHAFTUCHEN
ZUSTÄNDE ALLER LÄNDER
IN VERBINDUNG MIT
EINER REIHE NAMHAFTER FACHNCANNER DES
IN- UND AUSLANDES
HERAUSGEGEBEN VON
Dr. HEINRICH BRAUN.
VIERZEHiNTER BAND.
BERLIN.
CARL HEYMANNS VERLAG.
1899.
BMÜX&LLBS: UBEAm smoFima a miquABDT. — BUDAPEST: ibdouid
mmok CHRISTI ANJA: h. aschkhouo & co. — HAAG: i.TBmnuE BXUNPiütn
nloam. — KOPENHAGEN: avt>r. kred. host & sön. — LONDON: da vi© kutt.—
NEW- YORK : oüstav b.8tk( hkkt PARIS: n.hs. soxmiaa^ — ST. PETERSBURG :
K. u aicuB. — ROM: u>S8caEii a 00. STOCKHOLM i samsom & walux. —
WIEN: K. K. BomsLAflt- vm» onrafiTinBOOHBAimLO»». — ZOrICH:
Mxm nun.
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Nachdruck und L'ebcTMUnng vorMwIlen
Vertag»<Arcbiv 309$.
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INHALT DES VIERZEHNTEN BANDES.
ARHANDI.TTNGF.N.
Seite
Bernstein. Eduard, in London, Die Arbeitsteilhaberschaft in
der britischen Genossenschaftsbewegung 406
Cohn, Prof. Dr. Gustav, in Göttingen, Die Entwicklung der
Bestrebungen für internationalen Arbeiterschutz «; ^
Hof mann, Dr. Emil, Nationalrat in Frauenfeld, Der gegen-
wärtige Stand der Arbeitslosenversicherung in der Schweiz . 105
Loewenfeld, Prof. Dr. Theodor, in München, Koalitionsrecht
und Strafrecht 471
Rauchberg, Prof. Dr. Heinrich, in Prag, Die Berufs- und
Gewerbezählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 18Q5 . . 227
VorhcMnerkung 227
Erster Teil. Die Methode der Ix-rul-^- und Cicwerhc/ahluii^ 2
Zweiter Teil. Berufsgliederung und soziale Schichtung 261.603
Sombart, Prof. Dr. Werner, in Breslau, Die gewerbliche Arbeit
und ihre Organisation i
L Die gewerbliche Arbeit in natur» und sozialwissenschaft«
lieber Betrachtung. Bisherige Litteratur i
II. Grundzüge einer Prin/.ipienlehre der ökonomischen Technik 1 7
Iii. Wirtschaft und Betrieb 310
rv. Betrieb und Betriebsformen 321
V. Wirtschaftsstufen, Wirtschaftssysteme, Wirtschaftsformen . 36S
Struve, Peter von, in St. Petersburg, Die Marxsche Theorie
der sozialen Entwicklung. Ein kritischer Versuch 658
Vanderveldc, Dr. Emil, Mitglied der Deputiertenkammer in
Brüssel, Ein Kapitel zur Aufsaugung des Landes durch die
SiadL^ . . - - . . . . äa
VI
Inhalt.
GESRTZGF.RnNQ.
Deutsches Reich. Zur Revision des deutschen Ciewerbegerichts-
gesetzes. Von M. von Schulz^ Gewerberichter und Vorsitzendem
des Gewerbegerichts Berlin 1.^9
Die Novelle 7\\r Gewerbeordnung. Eingeleitet von Hermann
Molkenbuhr, Mitglied des Reichtags iqi
Wortlaut des Entwurfs eines (resetzes, betr. die A])änderung der
(Gewerbeordnung 204
Die Zuständigkeit der Gewerbegerichte aus 91, Absatz 6 der
deutschen Handwerkemovelle. Von M. von Schulz, Gewerbe-
richter und Vorsitzendem des ( lewerbegerirhts Berlin . . . 705
Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen
Arbeitsverhältnisses 71^
MISZELI.KN.
F. nt^ländcr, Dr. Osknr, in Prag. Die Statistik der Unfall- und
Krankenversichemng in Oesterreich für das Jahr 1896 . . . 422
Frankenberg. H. von, Stadtrat in Braunsrhweig , Die Ver-
sicherungspflicht der Lehrer 210
Westergaard, Niels, Arroeninspektor in Kopenhagen-Frede»
riksberg, Arbeiterbauvereine in der Umgegend Kopenhagens . 716
LITTERATUR.
Bernstein, Eduard, Die Voraussetzungen des Sozialismus und
die Aufgaben der Sozialdemokratie {Feter von Struve) . . . 723
Hallgarten, Robert, Dr. jur., Die kommunale Besteuerung
des unverdienten Wertzuwachses in England. (Münchener volks-
wirtschaftliche Studien, Stück 32) (Dr. Ludwig Sinzhetmer) . 739
Hertz, Friedrich Otto, Die agrarischen Fragen im V^erhältnis
y.nni So/i.-ilismiis Hil i-incr \ Oirtde von Kdii.ird HfinsttMii.
(Dr. 0/to Frings heim) 751
Kautsky, Karl, Bernstein und das sozialdemokratische Programm.
{Peter von Struve) 723
Kiaer, A. N. und Hanssen, E., Sozialstatistik, Band I — III.
(Dr. Clemens Heiss) 462
Kistjakowsky, Dr. Th., Gesellschaft und Einzelwesen. {Peter
von Struve) 222
i Google
Inhalt. Vll
S<?itg
Landolt, Karl, Die Wohnungsen<}u6te in der Stadt Bern vom
17. Februar bis 11. März 1896. (Dr. Emil Ho/mann). . . 215
M a 1 1 b i e , M. R., Municipal Functions, a Study of the Development,
Scope and Tendency of Municipal Socialism. (Dr. C. Hugo) . 746
Natorp, Paul, Socialpädagogik. Theorie der Willensery.iehunK
auf der Grundlage der Gemeinschaft. (Prof. Dr. Ferdinand
Timnus) 445
Verzeichnis derjenigen Autoren, die zum XIV. Bande Beiträge
lieferten.
Bernstein, K., in London, 406. Raiichbcrg, 11,, in Prag 227, 603.
Cohn. G., in (i«)ttingen, 53. Srhnlz, M. von, in Berlin 139, 705.
Englander, ()., in Prag, 422. Sin/hciiuer, L., in Frankfurt a. M. 739.
Frankenberg, H. von, iniJraunschweig, Sombart, W., in llrcslau, i, 310.
210. Stnive, P. von, in St. Petersburg,
Heifs, C, in Berlin, 462. 222, 658, 723.
Hofmann, E., in Frauenfeld, 105, 2 1 5. 'l'onnies, F., in Hamburg, 445.
Hugo, C, in Stuttgart-Degerloch. 746. Vander\ i-lde, Iv, in Brüssel, 80.
l.oewenteld, Th., in Muik heu, 471. Westergaard , N.. in Kopenhagen-
Molkenbuhr, H., in Mamburg, 191.. Frederiksberg, 716.
Pringsheim, O., in Breslau, 751.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
Von
WERNER SOMBART.
L
Die gewerbliche Arbeit in natur- und sozialwissenschaftlicher
Betrachtung. Bisherige Litteratur.
Wenn die Früchte dem mütterlichen Boden entnoiiimcn, wenn
das Getreide, die Baumwolle gccrntet , wenn die BiiuiiK' ^'c-
iallt, die Schafe geschoren sind, dann cil(-n Tausend und aber
Tausend geschäftif^e Hände, sich dieser mannigfachen Stoffe zu be-
mächtigen, um sie dem menschlichen Bedarfe tauglicher zu marhrn.
Dort wandert das Korn zur Mühle, die BaunnvoIIe in die Spinnerei,
das Holz des Waldes wird zersäijt und \'()m Zimmerer oder Tischler
in Bearbeitung genommen, die Bäuerin xerspinnt ihren Flachs und
ihre Wolle, der Schuster zerschneidet seine Haut zu Schuhen und
Stiefeln. Und all' diese Thätigkeit, dieses Wirken ist es. was wir
zusammenzufassen gewohnt sind unter der Bezeichnung: gewerb-
liches Leben, in dem engeren Sinne, wie gleich hinzugefügt
werden mag, der „stoffvercdehiden Thätigkeit." P-s ist eine bunte
Reihe von Erscheinungen, die uns dieses „gewcrbUche Leben" dar-
bietet: rauchende Schornsteine, zur .-Xrbeit ziehende Männer und
Weiber, spinnende Bäuerinnen, zuckende 1 )ainphna>ciiinen, Kessel
und I-{uttiehe mit gärenden .Substanzen, Fabrikeninsj)ektoren. Arbeit.s-
einstclhinj.'-en . Kartelli)il(lunL:i"n und was sonst noch von dem tausend-
(altigen Leben uns zur Lrscheinung kommt.
Und mannigfaltig ist auch die Stellung, die wir dieser Fülle
der Gesichte gegenüber cinncimicn können: wir können das Leben
Arehir fSr to*. Ctnugebung u. StatUtlk. XIV. >
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Werner Sombart,
selber leben , selber heim Tagcsr^^raucn in die Vorstadt hinausziehen,
wo uns für lange Stunden die riesige Werkstatt verschlingt, selber
hinter dem Kontortisch sitzen und die Fäden eines grofsen Betriebes
in unserer Hand zusammenlaufen lassen , selber als Bäuerlein die
Haut des eigenen Ochsen in die Loligrube legen oder hinler dem
Webstuhl Stoffe aus selbst gesponnenen Faden weben . . . Wir können
aber auch nur Beschauer des mächtigen (ietriebes bleiben und viel-
leicht bcküinincrt um der Seelen Heil derer, die in jenem Räder-
werke mitleniii ein Rädchen bilden, helfend, sorgend, er-
bauend uns ihnen nahen. Wir mögen als Dichter die Leiden
und hreudcn jener Kreise besingen, die die gewerbliche Arbeit ver-
richteti. ( ){ler als Staatsmann ordnend in ihr Dasein eingreifen.
Wir können ihr Wirken mit Mammcnschrift auf der Leinwand als
bildender Künstler verewigen. Aber wir können endlich auch mit
dem ordnenden Geiste jene h'lut von Erscheinungen in Systeme
und (icsetzc bringen; wir können sie uns \erständlich machen, in-
dem wir sie dem Nachdenken unterwerfen. Wo dieses Nachdenken
ein methodisch geordnetes wird, entsteht eine Wissenschaft, so hier
eine Wissenschaft von gewerblichem I. e b e n ; es läge nahe
zu sagen: eine ,.( icwerhswisscnschafl" oder „Gewerbelehre" . wenn
diese Ausdrücke nicht zu unbcstinmit, zu vielseitig, zu \ iel\erwandt
wären. Denn der (iesichtspunkte, unter denen wir die Vorgänge in der
Sphäre gewerblicher Produktion wissenschaftlich betrachten können,
giebt es mehrere, so, dafs auch mehrere Wissenschaften bei dieser
Betrachtung sich herausbilden können und herausgebildet haben.
Die eine dieser Wissenschaften, die das gewerbliche Leben zum
Gegenstand haben, fragt danach, wie es geschieht, dals aus Baum*
wolle, Flachs oder sonst dnem Stoffe Gespinnate entstehen, da&
die Rübe sich in Zucker, die Kartoflel in Alkohol, das Eisenerz sich
in Stahl verwandle. Sie untersucht die natürlichen Prozesse me-
chanischer oder chemischer Art, die ein Stoff durchlaufen mu(s, um
in einer anderen Gestalt menschlichen Zwecken dienstbar zu werden.
Dabei betrachtet sie den Menschen in keiner anderen Bedeutung, als
der: Trager von Kräften zu sein, die in dem Produktionsprozels zur
Anwendung gelangen. Ob eine menschliche Hand den Faden
spinnt oder der Sauerteig das Mehl auftreibt, ist fär jene Betrach-
tungsweise, wir wollen sie die naturwissen schaftliche nennen,
gleichgültig. Der Mensch verschwindet hinter den Geschöpfen seines
Geistes: die Dampfmaschine hat eine bestimmte Zusammensetzung
von Eisenteilen, auf die der Dampf in bestimmter Weise wirkt; die
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Die gewerbliche Arbeit nnd ihre Organisation. ^
Sohlenuahina^i hiiie näht in bestimmter Art den Faden in das I-eder
hinein; die l arbstofife in einem Bottiche machen bestimmte \'er-
äadcrunL;cn durch, um die gewünschte Zusammensetzung zu er-
halten u. s. w. Es giebt von diesem Standpunkt aus in aller ge-
werblichen Produktion nur Stoffe, Kräfte, Verbindungen, Prozesse,
alles unter der Herrschaft derselben Gesetze stehend, die in der
Natur als gültig erkannt sind. Diese Betrachtung der Vorgänge in
der gewerblichen Ftodukdon, die auf der naturwissenschaftlichen
Baas ruht, wächst sich in systematischer Ordnung zu derjenigen
Wissenschaft aus, die wir alsTechnologiczu bezeichnen gewohnt
sind.
Technologie ist dem Wortsinnc nach die Lehre von der Tech-
nik und wurde als solche ein aufserordentlich groises (iebiet um-
spannen. Denn Technik in einem weitesten Verstände ist jegliches
„Kunstverfahren" zur zweckmäfsigen Erziel ung eines Erfolges.
Wir sprechen von einer Kriegstechnik, von einer Gesangstechnik,
Schaffle sogar von einer Technik der Religionsgesellschaften. Aber
* auch wenn wir den Begriff auf diejenigen „Veribhrungsweisen" be-
schränken, die in irgend einer Beziehung zum Wirtschaftsleben
stehen *), umfafst die Wissenschaft von der Technik immerhin noch
ein sehr weites Gebiet Denn eine Technik hat der Welthandel,
eine Technik hat jedes Verkehrsinstitut und doch denken wir an
diese „Kunstverfahren" nicht, wenn wir von Technologie sprechen.
Vielmehr möchten wir diesen Begriff eingeschränkt wissen auf die
Lehre von der Gütererzeugung und dem Gütertransport. Denn da-
zu scheint sich die moderne Technolc^ie ausgewachsen zu haben,
während üe in ihren Anfangen eine noch engere Bedeutung hatte
und thatsächlich nur die Lehre von den Produktionsverfehren der
stoflveredelnden Thätigkeiten, also der Gewerbe im engeren Sinne,
war. Damals verstand man aber auch unter „Technik" ebenfalls
nur die stoffveredelnde Produktion: „unter technisch verstehen wir
immer das, was sich auf die Zurichtungsgewerbe bezieht."') So
dafe man konsequent zwischen Bodennutzung, technischer Thätigkeit
*1 Scbäffle, Bau nnd Leben des sozialen Käri>en. 4 Bde. 1881. XIII. liaupl-
abcchnitt.
*) £ in. H c r r m ann , Tcchniscbe Fragen und Probleme der modernen Volkswüt-
acbaft. Leipzig 1891.
P. Pb. Geier, lieber den Hanabalt in der Tedtnik. Würzburg tSao.
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Werner Sombart,
und Handelsverkehr unterschied.') Noch Karmarsch will im Jahre
1872 unter Technologie verstanden wissen „die systematische Be-
schreibung und rationelle Erklärung derjenigen Veriahningsweisen
und HU&mittel, vermöge welcher die rohen Naturprodukte zu
Gegenstanden des physischen Grebrauchs durch menschlichen Kunst-
fleÜs bearbeitet werden."*) Und auch heute spricht nian noch von
„Technikern", „Techniken," Pol3ftechniken und denkt dabei in erster
Linie an die Technik der gewerblichen Produktion.
Uns kam es an dieser Stelle lediglich darauf an, in Erfahrung
zu bringen, daSs die gewerbliche Produktion in naturwissenschaft-
licher Betrachtung Anlais zur Existenz einer besonderen Wissenschaft,
der Technologie, genauer eines Zweiges der Technologie, der ge-
werblichen Technologie, als einer angewandten Naturwissenschaft
geboten hat Unser Weg fuhrt uns schon jetzt an diesem Wissens«
gebiet vorüber zu einer uns näher ai^ehenden Betrachtungsweise
des gewerblichen Lebens, die wir einstweilen freilich nur um-
schreiben , nicht benennen können, weil ihr der Name annnoch
fehlt
Betrachtet die Technologie die Produktionsvotgange als Natur-
prozesse, so erscheinen sie in derjenigen Auffassung, der wir nun-
mehr unser Interesse zuwenden, und die ich um dem Kinde einen
Namen zu geben, die sozial wissenschaftliche ^) ßetrachtui^-
weise hcifscn will, als Arbeitsleistungen. Damit wird denn sofort
der Mensch in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt : Der Mensch
als Erzeuger, der Mensch als Persönlichkeit mit einem fest um-
schriebenen Können und Wollen. Was unter diesem Gesichts-
punkte unsere Aufmerksamkeit fesselt, ist nun die Art und Weise,
wie der arbeitende Mensch sich seiner .Aufgabe, Güter zu pro-
duzieren entledigt: gewits sind es dieselben Vorgänge, bei denen
'1 So noch Schüz, Pas Prinzip der Ordnung in der Volkswirtschaft, (Zeit-
schrift liir die gesamte Staafswi^sf iisctuitt II 184;) S. 248}.
Karmarsch, Geschichte der 1 cchnolojjie. München 1872. S. 2/3. Vgl.
Midi S. 859: „Lehre von der künstlichen Umwandlung rober Naturprodokte" u. s.ir.
*) Dicwea alles Wiitschaftsleben des Menschen, also auch alle wirtschaftliche
Prodnktion, nienak das Werk eines Einaelnen ist, sondem stets and aberall sich in
der Gesellschaft (oder Gfwneinsdiaft) abspielt, so gewöhnen wir mis jetzt alle ökono-
mische Betrachtung als einen Teil der Sosialwissenschaft anzusehen. Daher schien
ms auch fttr die im Text umschriebene Wissenschaft die Bezeichnung als Sozial-
Wissenschaft am ehesten am Platze. Es wird sich im weiteren Verlauf unserer Dar-
stellung noch Gelegenheit bieten, darüber zu reden.
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Die gewerblidie Arbeit und ihre Oiguisatioii.
5
wir sein Thun beobachten, die auch der Technologe der Analyse
unterzieht Was aber sich verändert hat, ist der Gesichtspunkt,
unter dem wir unsere Betrachtung anstellen. Jetzt fragen wir, ob
die Arbeit durch menschliche Fingerfertigkeit oder durch maschinelle
£inricbtui^;en, ob durch menschHche Kraftanstrengung oder unter
Benutzung aufsermenschlicher Kräfte vollbracht wird; ob ein ein-
zelner Mensch oder eine Menge von Arbeitern sie vollbringt; welcher
Art die Ordnung ist, denen diese Vielheit von Arbeitern untersteht;
welche Rechts-, welche Ueber- und Unterordnungsverhältnisse sich
unter den bei der Produktion beteiligten Personen ergeben; wir
fragen, welcher Art die Organisationsformen sind, in denen die Ver-
wertung der Produkte erfolgt und weiteres mehr.
Ein Beispiel mag den Unterschied der beiden Betrachtungs-
weisen: der naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen ver-
deutlichen. Ich schlage in einem der neuesten technologischen
Handbücher, in dem kompendiösen „Reich der Erfindungen" aut
S. 554 den Abschnitt auf, der „die Brotbäckerci" behandelt. Er
lautet im Auszuge also : Als Rohmaterial für die Brotbereitung dient
das aus den Zerealicn gewonnene Mehl . . . Die Bereitung des
Brotes beginnt mit dem Anmachen des Teiges und dem Kneten
desselben. Dabei wird das Mehl mit Wasser zu einem Teig ver-
arbeitet, wodurch einige Bestandteile desselben chemisch, andere
physikalisch verändert werden. Das Dextrin, die Dextrose und
einige eiweifsartige Körper . . . u. s. w. Mit dem Wasser zugleich
hat man beim Anmachen des Teiges als Gärungsmittel entweder
Hefe oder Sauerteig hinzugesetzt. Sauerteig ist . . . u. s. w. Xun
überläfst man den mit Mehl bestreuten Teig an einem mafeig
warmen Orte ca. 12 Stunden lang der Gärung. Diese spaltet . . . u.s. w.
Das Abteilen der Teigstücke zu je einem Brote wird in den Grofs-
betrieben der Bäckereien — NB. Das ist eine dem Technologen
schon nichts mehr angehende Hinzufügung; es würde genügt haben,
zu sagen „wurde" oder „wird" ; „wird entweder oder" — jetzt durch
Teilmaschinen vorgenommen und (es) mufs hierbei, da die Brote
ein bestinnutes Gewicht haben sollen, die während des Backens
verdunstende Wassermenge berücksichtigt werden . . . Aus dem
aufgegangenen und gekneteten Teig wird durch Backen das Brot
erzeugt Der Backofen besteht . . . u. s. w. u. s. w.
Und nun demgegenüber die Fragen ganz anderer Art, die wir
') Henutsgegeboi Ton Dr. H. Samter, 3. yerm. Auft. Berlin 1898.
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Werner Sombart,
unter sozialwissenschaftlichem Gesichtspunkte bei einer Betrachtuiij^
derselben Vorgänge — dem Broterzeugunpsjjrozesse stellen würden:
welcher Art ist die Arbeit: manuell oder maschinell; welche
Wirkung üben etwa verschiedene Arbeitsmethoden aus : ist die eine
leistungsfähiger als die andere, leichter und bc(]ucmcr als die andere.
Ist es die Arbeitsleistung einer oder weniger oder vieler Personen,
die sich in die Hände arbeiten. Wird Tag und Nacht gearbeitet,
d. h. ist der Betrieb ein kontinuierlicher und eventuell weshalb?
Stehen einzelne der Mitarbeiter in einem Abhängigkeitsverhältnis
zu anderen? in welchem? X'erzehren dieselben Personen das Brot,
die es backen, oder andere ? Und was dcrgleiclien Fragen melir sind.
Ihre systematische Beantwortung kann man die Lehre von
der (gewerblichen) Arbeit und den Formen ihrer (Or-
ganisation nennen und sie ist es, zu der im Folgenden einige
Beiträge geliefert werden sollen.
Damit sich der Leser beijuenier in meinen Gedankengang hinein-
finde, will ich versuchen, ehe ich meine eigene Darstellung gel)e,
ihm einen Uebcrblick zu verschaffen über dasjenige, was bisher
über den (jegenstand an Litteratur vorliegt. Um dabei nicht ins
Uferlose uns zu \crlieren, genügt es, unser dogmengeschichtliches
Resunie mit Adam Smith zu beginnen. Auch in der Behand-
lung derjenigen I-ragen, die uns hier interessieren, zeigt sich die
Kigenart dieses wundersamen Autors. Was er in den drei ersten'
Kapiteln seines Wealth of Nations vorträgt — und diese sind es, in
denen er die Probleme der Organisation der .\rbeit behandelt, die
also för uns in Betracht kommen — enthält, wie man jetzt weifs,
kaum einen einzigen Gedanken, der nicht von einem anderen Schrift-
steller vorher schon ausges]>rochen wäre. Aber diese berühmten
Kapitel des Smith^schen Werkes enthalten dafür auch ungefähr
alles, was man zu jener Zeit über diesen Gegenstand zu sagen
Wulste. Smith gebührt, trotz des Mangels an „Originalität", doch
auch auf dem Gebiete, auf dem wir uns bewegen wollen, wie auf
den meisten anderen der politisdien Oekonomie, thatsächUch. die
epochale Stellung, die man ihm — ursprünglich kritiklos — einzü*
räumen gewohnt ist Denn djenso wie in ihm die Strahlen bis'
heriger Forschung zusammenlaufen, so gehen sie auch von ihm
wieder aus: alle späteren Untersuchungen fuhren in irgend einer
Beziehung auf Gedankengänge des Schotten zurück. Freilich ein
anderes ist es, ob man die Art, wie Smith die Organisation der
Arbeit abhandelte, für eine glückliche anzusehen Veranlassung hat.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
7
Eher sclieint das Gegenteil der Fall. Es ist einmal die Komplexität
des in jenen berühmten Kapiteln zusanunen abgehandelten Problems,
dann aber auch — und vor allem — die unglückliche Gruppierung
der verschiedenen Probleme um den Begriff der .^Arbeitsteilung",
die fiir viele der späteren Untersuchungen veriiängnisvoU geworden
sind. Es hat sich hier die Wahrheit des Satzes bewährt: Citius
emergit veritas ex errore quam ex confusione.
Wenn wir, was merkwürdigerweise soviel ich weils bisher noch
unversucht ist, den Inhalt der Smith'schen Kapitel über die
„Arbeitsteilung" zu analysieren unternehmen, so stoisen wir zunächst
auf eine Reihe von Gedanken, die sich mit einem bestimmten
Frinzipe des gütererzeugenden Arbeitens, mit einer be-
stimmten Verfahrungsweise, einer dementsprechenden Stufe
technischenKonnens beschäftigen. Das sind die Ausführungen
über Arbeitsteilung, wir sagen jetzt besser Arbeitszerlegung, im
engeren Sinne. Um was es sich dabei handelt, ist die bestimmte
Art des Menschen, Dinge der äusseren Natur seinem Bedarf dien-
lieh zu machen: und zwar die Art, die Gesamtproduktion in
sehr viele Teilprozesse au&ulösen und nun die so ins einzelne zer-
legten Teilverrichtungen mit kunstvoll spezialisierten Werkzeugen,
und entsprechend entwickelter manueller Geschicklichkeit zur
Ausführung zu bringen. Gegensätze zu dieser auf weitgehender
Arbeitszerlegung beruhenden Technik wäre etwa eine komplexe
Arbeitsthätigkeit ohne Werkzeuge oder mit gair/ rohen, noch nicht
differenzierten Werkzeugen, oder eine Technik, die in gröfserem
Umfalle an die Stelle von manueller Geschicklichkeit Maschinen-
arbeit gesetzt hätte. Adam Smitli spricht dann bekanntlich mit
breiter Ausführlichkeit von den segensreichen Wirkungen dieses
technischen Verfahrens auf die Arbeiter, auf die Produktivität der
Arbeit u. dgL m.
An diese Ausführungen knüpfen nun, soviel ich sehe, zwei
wesentlich verschiedene Richtungen der i.itteratur in unserem Jahr-
hundert an. Zunächst eine, die sich durch eine ungeheure Masse
von Erzeugnissen auszeichnet. Ks ist diejenige, die sich die Be-
handlung des Masc h i n c n probl c m s zur Aufgabe gemacht hat.
Hatte Smith um dasjenige Produktionsverfahren, das die letzte Zeit
vor der durch die Dampfmaschine bewirkten umfassenden Ein-
bürgerung der Maschinen beherrscht halte, seine Ausführungen
gruppiert, so lag es nahe, nun in ähnlicher Weise von der Maschine
und ihren Wirkungen zu sprechen.
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8
Werner Sombiirl,
Dabei ist denn naturgemäfis mancherlei nützliche Erkenntnis
zu Tage gefördert Zumal die ältere englische Litteratur über das
Maschinenproblem^) ist reich an allerhand fruchtbaren Erörterungen,
sei es tiber die Gestaltung des Arbeitsmarktes infolge des Ueber-
gangs zur Maschinentechnik, sei es über die Lage der Maschinen-
arbeiter, sei es über die gesteigerte Produktivität der maschinellen
Produktionsweise: im grolsen Ganzen darf jedoch dieser Versuch,
allerhand Probleme divergentester Art um ein technisches Produk-
tionsprinzip : die Maschine zu gruppieren , als verfehlt bezeichnet
werden. Er führte die meisten Autoren an dem grundl^;enden
Problem der sozialen Ordnung vorüber und somit ins Uferlose, ^e
hier nicht weiter zu verfolgen ist^)
*) Du beste findet sich in den Systemen and LehrbBcbem; dedMlb du beste,
weil bier die Erdrtening Aber die Wirkoag der Mascbine in den Rabmen der Gc*
«ain«il«wt«n«t^£ eingefltKt und somit vor allsn starkem Irrliditerieren bewabrt bleibt.
Muä erinnere sich der einschligigen Kapitd bei Ricardo, Mac CuUoch,
James und Jobn Stuart Mill, Torrens, Senior a.a. Aus der alteren eng«
1isrh<*n Spezialliteratur (vgl. Stammhammer, Bibliograpbie der Sozialpol. s. v.
Maschine) ragt hervor Thas. Knight, Working m<?n'<; companion. Th»- results
of macbinery, namcly cheap production and rncroasrd rmployment cxhibiled etc.
12. London 1831. 6. A. 1830, ein s. /. vielhmchtctps liürhlrin. von Ch almers,
Pol. econ., 475 „an admirablc little Ircalisc" gciiaunl. Ucbcr Dabbagc, Urc und
Genossen, die auch der MaschinenUttetatur zugedblt werden könnten, wird weiter
nnten gebändelt Aus der fiteren franaCaiidten Litteiatur nenne idi, weil sie bei
Stammhammer fehlen: Mad. E. Celnard, Des madiincs, de lenr influfnff sur la
prospAit^ de la nation et le bien^tre des oanim. Tnrck, Dhüogue entre pln-
sienrs ouvriers sur les avantages des machines. B^renger, De Vinfluence des
m^caniques sur le priz des salaires et le bien«£tre du penple. Simtiich Paris, 183t.
Pet in-8vo.
') Nach dem. was die Engländer und Franzosen in der frsten HäUte unseres
Jahrhundivt^ über die ,, Maschine und ihre Wirkungen" gescliricben hatten, blieb den
späteren Autoren nur noch übrig, i\i wiederholen oder „zusammenzuras5en". Die
nm bekanntesten Abhandhmgen ttber die Maschif t Roschers Aufsatz (1855) und
Passes Rudi (1866) bringen schon gar nichts nenea mehr. Die nach ihnen
Kommenden natnigemlls noch viel weniger. Trotsdem haben eine Reihe von An*
loren mit einem grofsen Aufwand von Fleifs und Scharfsinn andi in neuerer Zeit
immer wieder die ftüochine zum Mittelpunkt ihrer Untersuchungen gemacht. Die
vollendetsten Darstellungen dieses Genres sind: J. S. Nicholson, The efTects of
machinery on wages, 2. cd. London 1892. durch seine Beschränkung auf das Lohn»
probh ni .m Wert gewinnend, und A. Graziani, Studi sulla Teoria economica delle
machine. I'orino 1891 (ir,i/,iarii bezeichnet es selbst als die Aufgabe seines Buches
„raccogliere i frammcnti ad unitä" (p. 7). Keine wesentlich neuen Ergebnisse fördern
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Die geweiidklw 4d%eit «nd ihre Oigu^Mtioii.
9
Auf dnsameo Pladeh, die aber wie ich glaube zu freiestem
Ausblick liihren werden, wandeln einstweilen diejenigen Schriftstell<er,
die iniofem an das von Adam Smith in den Vordergrund gerückte
Arbeitsteilungsprinzip anknüpfen, als sie prinzipielle Erörterungen
über die Verfehrungsweisen der menschlichen Arbeit überhaupt an-
stellen. Sie ari)eiten an dem, was man die Prinzipienlehre
der ökonomischen Technik nennen könnte; d h. sie unter-
suchen die historisch g^beoen Arten technischen Verfahrens unter
dem Gresichtspunkte des Arbeitsaufwandes und des Arbeitserfolges.
Besondere Förderung bat dieser Zweig der sozialen Wissenschaft
bidier von Gelehrten anderer Wissenschaften erfahren : von Techno-
logen, Kulturhistorikern, Ethnologen und Erkenntnistheoretikem.')
Aber auch vom sozialwissenschaftHclien Standpunkte aus hat das
beregte Problem wenigstens einen Bearbeiter gefunden, der, sich
«odi die Ictttea Monographien Aber den Gesenstaad sa Tage: A..Körner, Die
indmtrielk MaKhine in der Volkiwirtsehaft <ZdtJcfarift Ar VoUnwirtwfaaft, So-
lialpoL o. Venniltung IV. Band [1895 , 39S-458') und A. Grasiadei, II kvoro
nnailO e 1a macbina (Giornal«* degli Economi&ti. Aprile 1899).
*) Hier sind rine Reihe prächtiger Bücher zu nennen, die alle Deutsche zu Ver-
fassern haben und unserer nationalen Litteralur zu höchster Zierat gr-rcicht-n. Von tech-
nologischen Werken verdient hier den Ehrenplatz das Standard work von F. Reulea ux,
TheoretiM:be Kinematik. Grundzüge einer Theorie des Maschinenwesens. Brannachweig
187$. Ana den Gebiet der kidlmrgesehichtMdi-ethnologisdien Litteiatnr seien die Vor-
US^ L. Geigers, Zur Entwiddongsgeschichte der Menschheit, Stott^ 1878, ge-
nannt Daran vidfach anknüpfend, dann aber die erkenntnislfaeoretische Seite mehr
hefmrkdirend das ansgeaeichnete Buch von L. Noir<, Das Weikteag. 1880.
Bedcotsames hStte anch Ernst Kapp, in seiner „Philosophie der Technik",
Braunscbweig 1877, leisten können, wire er nicht der unglückseligen, völlig mystischen
Idee von der „Organprojektion" — in der seine ganze I):ir>t. llunp kulminiert, vgl.
S. 27. 140 ff. und passim — in dem gefährlichen Jalir/.chntc zum OptVr ge-
fallen. III il.-m der schauerliche (k-ist des ..L'uhrwurstcn" zum Schrecken der Mensch-
heit bri helkm, lichten läge umging. Ein wie zähes Leben diese Wahnidee von
der „Organprojektion" hat, von der nch selbst lOnner wie Noir^ nicht gana frei in
halten wnlstcn, nnd dafr sdbst „anfgfktttte** ,>bterialisten** von ihr befisUen werden
kflanen, aeigt L. Woltmann, der in seiner Schrifk, Die Darwinsdie Theorie
nnd der Soaialiwnns (Dttsieldorf 1899), noch hevte den ^oicn Emst Kapps folgt.
VgL die Ahadmitte: „Die organischen Grandlagen der Technik" S. 248 fT. und
„Die tcdnischen Bedngnngen des logischen Bewnfstseins" S. 259 ff., die unmittelbar
auf „Kapps fruchtbarer Theorie von der Organprojektion" (S. 266) fufsen. — Fast
völlig wertlos ist das trotzdem (oder deshalb r) vielzitierte Buch von M. W einhold,
Geschiebte der Arbeit. 1 (einzelner) Band. Dresden 1869.
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10
Werner Sombftrt,
selbst vielleicht nicht völlig bewulst seiner spezifischen Arbeits»
leistungen, doch zu den fruchtbarsten Autoren unseres Faches ge-
hört und dessen Verdienste längst nicht nach Gebühr geschätzt
werden: Emanuel Herrmann, Ihm verdanke ich soviel An-
regung, dass ich es, unbeachtet wie der Autor ist, hier ausdrücklich,
aussprechen möchte, wie hoch ich seine Leistungen schätze.')
Aber in den Ausführungen des Adam Smith steckte noch
etwas ganz anderes als die Krörterung eines bestimmten Arbeits-
verfahrens. Wenn er dieses Arbeitsverfaliren — die Zerlegung der
Arbeit — beispielsweise an den Vorgängen in einer Stecknadel-
xnanufaktur verdeutlicht, so weist er damit gleichzeitig auf bestimmte
Formen hin, in denen die produzierende Menschheit jenes berühmte
Verfahren auszunutzen wie anzuwenden sich bestrebt; so weist er
auf die Orcranisationcn hin , die die Menschen in den modernen
Grofsbetricben geschaffrn halten , die seine Zeit als Manufakturen
bewunderte. Mit anderen Worten; er schneidet damit das Problem
der (gewerl)lichcn) B e t r i e bs s\* s t e m e an, das von nun ab Gegen-
stand besonderer wissenschaftlicher Behandlung zu werden be-
stimmt war.
Die von Smith gegebenen Anlegungen sollten sich auf einem
ganz anderen Gebiete zunächst fruchtbar erweisen als auf dem der
wissenschaftlichen Xationalökoiiomie. W'eim einige Iheoretiker
dieses Faches glaubten, die Lehre xon der Arbeitsteilung damit
weiterführen zu koiuien. dass sie der Arbeitsteilung den noch unglück-
licheren Begriff der Arbeits\ ereiiiigung gegenüberstellten, so irrten
sie. Was insbesondere Wakefiel d in seiner bekamiten Ausgabe
der Smilhschetj Werke -l in dieser Richtung leistete, forderte /war
einige wichtige Krkenntnisse zu Tage — dem Hcgrit'f der Kooi)er;ition
in der von Marx später entwickelten I^nin verhalf W. wohl zuerst
zu dem ihm gebührenden Ansehen — fuhr aber die ganze
Materie doch schlielslich tiank dem weil völlig unbestimmtem, auch
unverwendbarem Begriff der „Arbeits\ereinigung", um den er seine
') b BetiMht kommen fast simüiche Schriften Em. Herrmanns, ins*
besondere r. Muiiaturbilder ans dem Gebiete der Wirtschaft. Halle aS. 1873.
Nene Ausgabe 1877. 2. Prinzipien der Wirtschaft. Wien 1873. 3. Knltnr und
Natur. Berlin 1SS7. 4. Sein und Werden in Raum und Zeit. Berlin i8S<}. 5. Tcdl>
nische Kraben und Proltlmir d. r !:ii)ii<-rnen Volkswirtschaft. I.rip/.ip 1801.
•) 4 Vol. London \S.\o. Arlmlich hatte schon vorher Poulett Scrope in
seinen Principles of Ecouomy eine Weiterbildung der Smithschen Lehre mit Hilfe
des netten BegrifTes der „combination" versucht.
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Die geverUicli« Axbcit und ihre ürganisatioo.
II
Ausfiibningen gruppierte, auf ein totes Geleise. Vielmehr waren -
CS Leute, deren praktische Interessen ihnen ein Ansporn wurden,
die Vorstellungen von der modernen, insbesondere durch die neue
Technik neugeschaiTenen Betriebsformen der Industrie zu erweitern
und zu berichtigen. Da war es zuerst der Gegensatz zwischen dem
konzentrierten Grolsbetrieb und der hausindustriellen Einzelarbeit,
der die Aufmerksamkeit namentlich der sozialen Hygieniker auf
sich lenkte: man suchte die sanitären Uebelstände der grofsen
Fabriken aufzuhellen, indem man ihnen die idyllischen Hausindustriellen
gi^enüberstellte und legte damit die ersten Grundlagen zu einer
gewerblichen Betriebssystematik. Eines der ersten und jedenfalls
das bekannteste Werk, das in diesem Sinne Aufklärung brachte, ist
das des Arztes P. (jaskcll, das zuerst im jährt- 1833 erschien')
und die umfangreiche dcskriptiv-moralisierende Industrielitteratur der
1830er und 1840 er Jahre' in England und Frankreich einleitete.
Wie fördernd Gaskells Darstellung für die Lehre von den gewerb-
lichen Betriebssystemen war, geht schon aus (len beiden ersten
Kapitelüberschriften hervor. Ch. 1. „Domestic Manufacture"; Ch. IL
„Factoiy System". Aber vor allem war es die Neugestaltung, die
der moderne (irofsbetrieb selber infolge des Eindringens der durch
die Dampfkraft bewegten Maschinerie erfuhr, die das Interesse weiter
Kreise wachzurufen bestimmt war. Die Angriffe gegen die im \'or-
dringen begriffene Fabrikindustrie , wie sie in England im ersten
Drittel unseres Jahrhunderts sich immer heftiger einstellten, erzeugten
eine Reihe bekannter Apologien dieser neuen Ordnung der gewerb-
liciien Arbeit, die durch die eingehende Analyse der grofsbetrieb-
lichen Organisation, insbesondere des Unterschiedes zwischen Manu-
und Machinofaktur ganz ausserordentlich die Lehre von den gewerb-
'1 P. Gaskell, The manutiicturinR population ot l'.ngland. it-- mural, social
and jihysical conditions and thc (-/!to«i,v. uhich havc amtn froin the use oj steam
imathtnerytlc. London 1833. Eine ncucAullagc luhrt di-n Titel: Artisanü and machinery :
tbc mof«! and pbyücal eonditioo <tf die nuurafactnriug population oonsidcKd with
icference lo mtckaniad n$i$titiites for k$$maM UAonr. London 1S36. Gaakell erhielt
die spcacUc Aaiegnng sn lelner Schrift dorch den sich gerade in jenen Jahren voll*
adiendcn Uebergang der Hand- aar mechaniachen Weberd. Vgl. s. B. a. Aoagabe
S* 330« 334 f. and Schttlze-Gaevernitz, Grofsbetrieb , 71. Aehnliche Veran-
^•wng und ähnliche Tendenz, aber ohne die Tiefe Gaskells, hatten etwa zehn J.ihrc
»piter in Deutschland die Schriften Treumund Wclp* (Pseudonym für Kduurd
PelzK Uelx r d^n Finflufs drr Fabriken tiiui Manufakturrn in St lilc^irn. I.t ip/ijj
1Ö43 44. \Velp> »phcht (S. 5J von dem „in Aoklagczustand versetzten FabrikencinHufs".
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12
Werner Sombart,
lichea Betriebssystemen förderten. Man wcifs, dafs ich dabei in
erster Linie an Babbage*) und Ure,') den „Pindar der modernen
Fabrik", wie ihn Marx getauft hat, denke. In beiden Werken spielt
sownhl die Lehre von der Arbeitsteilung als auch die von der
Maschine und ihren Wirkungen eine grofse Rolle: Der Fortschritt über
Adam Smith und die Maschinentheoretiker sans phrase hinaus liegt
nun darin, dafs beide technischen Verfahrungsweisen jetzt unter dem
fruchtbaren Gesichtspunkten ihrer betriebsbildcnden Kraft betrachtet
werden. Ausgangspunkt für beide Autoren ist die im modernen
(irorsbetriebe treschafiene Ordnung der gewerblichen Arbeit: erst
innerhalb dieser werden dann die genannten technischen Verfahrungs-
weisen in ihren verschiedenen Wirkungen analysiert.
l'nmittelbar an Babbage und I re knüpft dann der beliebte
vierte Abschnitt des „Kapitals" von Karl Marx an. Marx ist als
Theoretiker der gewerblichen Betriehss\stenic der Vollender von
Ure, und über Marx ist bislang dieser Zweig unserer Wissenschaft
noch nicht hinausgekommen, wie im weiteren Verlauf unserer Dar-
stellung ersichtlich werden wird.
Aber wie jedermann weifs, ist es Karl Marx gar nicht in erster
Linie um eine Förderung der Lehre von den gewerblichen Betriebs-
systemen zu thun. Vielmehr, wo er von der modernen Industrie
und ihrer Organisation spricht, ist es ein ganz anderer Grundgedanke,
der seine Ausführungen beherrscht: der (iedanke, dafs alle die ver-
schiedenen Betriebsformen — I Iau>industrie, Manufaktur, |-"abrik — -
einer ganz bestimmten, historisch vergänglichen Ordnung des ge-
samten Wirtschaftslebens angehören und in Gegensatz treten zu
Organi-sationsformen der .-Xrbeit, die anderen Wirtschaftsstufen eigen
sind. Das war ein Gedanke , der keinem der bisher genannten
Theoretiker der Betriebssysteme gekommen war. Sie alle hatten
es als selbstverständlich angenommen, dass die allgemeine Ord-
nung des Wirtschaftslebens die modem-verkehrswirtschaftliche sei
und hatten nur die verschiedenen Formen der gewerblichen Be-
triebsorganisation innerhalb des Rahmens dieser selbstverständlichen,
fjiatürlichen'' Wirtschaftsverfassung untersucht Nun mit einem
Cliarlc& Babbage, Oa the Ecoaomy ol machinery and manufacturcs.
Zuerst London 1832.
*) Andrew Ure, Tbc Pbilosopby of Manufactures er an exposition of ibe
sdcnlific, moiral, «nd comniereial eoonony of the lactory system of Gmt Biitaia.
Zuerst London 1835.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre OrguusatioD.
13
Male dieser ^nnz andere störende (icdanke: es ist nicht nur die
verschiedene Betricbsor^anisation zu prüfen, sondern das Aup^enmerk
auch zu richten auf die Verschiedenheit der Produktionsoidiiung in
verschiedenen Wirtschaftssystemen überhaupt. Ks ^\chi aufser
einer verkehrswirtschaftlichen Verknüpfung der ein/ehien dlieder
einer Gesellschaft auch noch andere Weisen, die zu umfassender
Analyse Anlafs geben. Mit dieser Fragestellung war nun aber
auch* nur wieder eine Gedankenreihe weitergeführt, die Adam
Smith in seinen oft genannten ersten Kapiteln freilich noch völlig
ahnungslos begonnen hatte. Was er — neben der Analyse eines
bestimmten Verfüitens der Firoduktionstechnik, neben der Beschreib
biiDg modernen Manuiakturbetriebe — unausgesetzt im Auge hat:
ist die tauschwirtschaftliche Verknüpfung der einzelnen „arbeits*
teilig^ arbeitenden, zu spezialisierten Berufen verdichteten Produ-
zenten, ist also eine ganz bestimmte Form wirtschaftlicher Ordnung,
die zunächst gar nichts mit jenen beiden anderen Dingen, von denen
er auch so schön zu reden verstand, zu thun hatte. Also auch die
Lehre von den Wirtschaftsformen, den Wirtschaftsstufen
und Wirtschaftssystemen*) können wir in nuce eben&Us bei
Adam Smith feststellen und somit auch diesen Zweig unserer Lehre
von der Organisation der Arbeit auf den Schotten zurückfuhren.
Es macht sich besser.*)
') Für das prnaucrc Eingehen in die hier angedeuteten Unterschiede zwischen
gewerblichen 1'. «trieb s- und Wirtschaftsformen ist auf die systctnaüsdie
Darstellung in den folgenden Aufsätzen zu verweisen.
*) Der Vollständigkeit halber mag erwähnt werden, dafs bei engstem Anscblufs
Ml den — im Sinne der Berafsdifferenslening gefafsten <- B^ff der „Arbeits-
teüiiiig** endlidi noch eine ganz andere Reihe von Gedanken sich entwidcelt, die
aber den von ans inne gehaltenen Bereich einer Organisarion der Arbeit hinaas
einer allgemeinen Gesdlschafislehre sostiebt. Es ist diejenige wissenschaftliche
Richtung, die heutzutage die sogen. ,,Sozi olog i c" vornehmlich beherrscht und
deren Wesen darin besteht, dafs sie das Prinzip der Arbeitsteilung in dem oben
näher gekenn/eichnefen Sinne, aliis verbis das Prinzip der Differenzierung
in starker Anlehnung an <lif Hiolo^'ir /.um l'iilw icklungsprinzip der menschlichen
Oescllschafl schlechthin glaubt erklären zu sollen. Eines Eingehens auf diese meines
Eracbtens fehlgebende Gedankenrichtung bedarf es an dieser Stelle nicht. In meinem
Werk Aber die Theorie der soxialen Entwidclong, in dessen ersten, der VoUendong
entgegengehenden Band, sidi diese Anfsatnreihe als einführendes Kapitel etngliedera
wild, wird ta teigen sein, dafs es ein vergebliches Bemllhen ist, ohne Rttdcsidit auf
die historisch gewordenen, veisdtiedanen Wirtsdiaftsoidmmgen ein einheitliches Ent>
widdongsprinsip flir die menschUche Gesellschalt anfstellcn tn wollen. Denn, will
L^iyiii^cü Uy Google
14
Werner Somb*rt,
Wie aber? war jene Lehre voo den historisch verschiedenen
Wirtschaftssystemen, wie wir sie bei Marx schon in seinen Schriften
der 1840er Jahre und dann im „Kapital" finden, wie Pällas Athene
ihm aus dem Haupte fertig hervorgetreten? Keineswegs, Vielmehr
hatte eine ganze Reihe von Autoren vor ihm zum Teil vorzüg-
liches über dieses Problem gedacht und geschrieben.
Wer gewohnt ist, in allen wissenschaftlichen Entdeckungen
nach dem Bodensatze von Interesse zu suchen, der jeder Erkennt-
nis beigemischt ist, wird von vornherein geneifjt sein, die Keime
einer Lehre von der historischen Bedingtheit des herrschenden
kapitalistischen Wirtschaftssystems und daran anschliefsend von der
Eigenart der verschiedenen Wiri.^chafisordnungcn hei denjenigen
Denkern zu suchen, deren (»raktisches Interesse oder deren Welt-
auffassunff sie zu Gegnern der modernen Wirtschaftsweise machten:
also bei den SoziaHsten und Reaktionären.
In der That, wenn wir von der g^anz unbewufsten und von
wissenschaftHchcr Erkenntnife noch ziemlich entfernten Gej^enüber-
stellung stachw irtschafthcher und verkehrswirtschaftlicher Gewerbs-
ordnung abschen, wie sie — allerdings häufiq: trenug — in den
Schriften unserer deutsch-österreichischen Kameralistik uns begegnet'),
man es wirklich giilli;; lur v<T5.clnctleneu Wirlschaftsstulcn lurmulicrcn, so kommt
es über eine gemeinplätzige Fassung nicht hinftns; will man diese vermeiden und
das „Gcsets" komiser prägen, so mufs man notwendig der Geschidite Gewalt aa-
dran, indem man ihre VarietiUm ignoriert Wfts hier an Litterator sn nennen ist,
sind die bekannten Werke von: H. Spencer, Sociology, namentl. VoL HL
G. Simmcl, lieber soziale DifTerenzierong. Leipzig 1889. Em. Dnrkbeim, De
la division du Travail social. Paris 180 ^ v. j
Wie dann die moderne liiologie hieb \\ icdiTum <lfn aus dem sozialen Leben
übcrnonmicncn BcgrilT der „Arbcitsteiliinf; ' zu nutze nuiclit, zeigt uns die kleine
Schrift von E. Haeckci, Uober Arbeitsteilung im Natur- und Menschenleben.
Berlin 1869. Er untersucht darin ..namentlich jene Formen der Arbeitsteilung,
welche die Natnrfoneher ab Sonderung oder DUKerenaierang, als Spezifikation oder
Spea^iaation, als Polymorphismus der Individuen nnd ab Divergens des Charakters
bezeichnen'* (S. 4). Es ist interessant zn sehen, was Haedrel alles ani dem Be-
griffe der „Aibeitsteilnng", der in tausend Farben bei ihm sddUert, hennsznhplea
versteht!
•) Der Gegensatz d. r Wirtschaftssysteme ist jedenfalls der dnriL'' der z. B.
Justi uml Sonnenfels beschäftigt, während das Interesse an einer Betriebs-
systematik n.irh dem bekannten Wrsucli im 17. sc, die Anwendung des Feuers zum
Untersfheidungstnerkm.il für F.ibrik und Manufaktur zn niarhen, bald ganz schwindet.
Manutaktur, Fabrik, Kommerziaiiiandwerk, Verlag: alle Ausdrücke worden promiscue
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
SO sind es in unserem Jahrhundert zunächst die groisen „Utopisten",
di^ an den Ketten der ehernen naturgesetzlichen Unveränderlich»
keit der herrschenden Wirtschaftsweise rüttelnd, getrieben vom
Willen, sie zu beseitigen, ihr geistiges Auge nach anders gearteten
Wirtschaftsformen in der Vergangenheit oder — freilich vor-
wiegend — in der Zukunft ausschauen lassen. Man denke an die
immerhin kühnen Wirtschaftsgeschichtskonstruktionen St. Simons
und Fouriers, an die weniger bekannten, aber doch sehr lehr-
reichen Ausführungen W. Thompsons über die Systems of
hbour.M
Aber die Lehrgebäude dieser groisen Traumer bleiben doch
auch in diesem Punkte noch recht luft^ und unsicher. Den mit
starrem Auge auf die bessere Zukunft schauenden Denkern, auch
Saint Simon nicht ausgenommen, fehlt das sichere Fundament der
historischen Kenntnisse, ohne die jenes Problem einer Systematik
der Wirtschaftssysteme seiner Lösung nicht näher gefuhrt werden
konnte. Es ist deshalb auch kein Zufall, wenn wir als den ersten
grundlegenden Theoretiker auf diesem Gebiete einen Historiker an-
treflfen: Sismondi, der ebenfalls mit kritischem Blick die im Vor-
dringen begriffene kapitalistische Wirtschaftsordnung musternd doch
ebenso viel wie von einer wciterbikienden Reform von einer Wieder-
belebung vorkapitalistischer Wirtschaftsformen erhofft und daher die
Schilderung dieser, namentlich des Handwerks ein reges Interesse
zuwendet „Trois systemes se sont succM^ pour le travail des
pauvres avant cclui oü nous entrons aujourdhui" —
mit diesem Gedanken war der Grund für die Lehre von den Wirt-
febraucht. um das Kinc, die kapitalistisch vcrkehrswirtschaftlirhr Form <1rr gewerblichen
Organisation gc{;inüb«'r der überkommenen handwerksmäßigen zu bezoicimcn. Vgl.
z. B. Justi, Von d. ntn ManuLiktun-n und babriken. 2 Hde. 1758 6l: „Alle alten
Bcarbeitangsarten werden al:>dann Handwerke genannt, die neuen erst einzufiüireu*
de» BcaibdtaiiceB ai»er «ordcfi mit d«n Namen der MamilMrtnren vcoA Fabriken
bdcgt'* 3). Einmal ipridit er — borribÜe dictu! — toq dem „Verlag (I) der
ÜHmfäctorien md Fabrikanten** (!) (L 115}. VgL ancb noch II. 84, 93, Ebenso
kniet die Definition in seiner „Staatswirtschaft** I (1758), 390: ,>Ianufaktnffen
«nd Fabriken... pfleget man diejenigen verbesserten Arten von diesen Nahrungs«
getchiften zu nennen, die erst in neaerer Zeit bei uns eingeführt worden und in
keine Innungen und Zünfte eingeschlossen sind.** Aehnlicb Sonnenfels, Grand»
iiUe II <;) toS.
M \V. Thompaon, An inqair>' into tbe principles of tbe distribution ot
Wcaltb (1824) p. XVUI. 363 seq. & passim.
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l6 Werner Sombart,
schaftssystemeo gelegt, die Siamondi selbst dann noch in z. T.
glänzender Weise ausgebaut hat^)
Wohl durch Sismondi beeinflußt, bauten dann in Deutschland
zunächst mehrere konservative und „ethische" Nationalökonomen die
S3^teniatlk der Wirtschaitsstufen und der ihnen je entsprechenden
Organtsationsformen der gewerblichen Arbeit weiter aus, vor allem
M. von Lavergn e- Pcguilhen') und namentlich der von der
offiziellen Geschichtsschreibung aufiallend stiefmütterlich behandelte
Schü z. ^)
Schüz unterscheidet in dem Abschnitte seiner „Grundsätze
der Nationalökonomie" (1843), dem er die Ueberschrift giebt ,3e-
triebsformell der technischen Gewerbe" (i^i; 104 ff.)
1. das bäuerliche Hausgewerbe; die technische Thätigkeit als
„Nebenbeschäftigung der ländlichen Bevölkerung";
2. den verselbständigten Gewerbebetrieb in erweiterten F.igen-
wirtschaften, „wie im Mittelalter auf den Domänen des Fürsten, des
Adels, der Klöster";
3. den „handwerksmäfsigcn Betrieb"; „die allgemeine Verbreitung
dieser Betriebsform bildet bei jedem \'olk eine Epoche in der Ent-
wicklung des öffentlichen Lebens" (S. 192);
4. die kapitalistische l^nternchmung^ , die er zwar nicht mit
Natnoti nennt, wohl aber durchaus richtig dem Wesen nach kenn-
zeichnet.
Srhiiz ;4chürt mit dieser l iitt rsclicidiing neben Sismondi ZU
den unmittelbaren X'orläufcrn von Karl Marx.
Was nach Schüz und Marx in Deutschland — die übrigen
'1 Vgl. .Sismondi, Nouvraux principcs. 2. «1. 1S27. Vol. II, p. 434.
namcnilicli abt-r den ganzen XIII. u. XIV. cssai im 2. Bande seiner Ktudes sur
IVconomie poliiitjur. (Pari* 183S.) /,. H. .S. 243 die meisterhafte Skiuicrung der
Grundzüjjc handwerksmälbiger Organisation.
*) Bewcgungs- und Prodvktionsgesetze. (1838) §§ 25—49. L» ttBtetsdieidet
3 „WirtschaftsfoiiiMn": Zwangs-, Antdl»>, Geldwirtachaft.
^ Schtt« gehölt »I denjenigen Autoren, die — ttMuenllich auch in der
Lehre von den Formen gewerblicher Organisation — am unverfrorensten ans-
srhri< bcn ond trotzdem — oder deshalb? — am wenigsten dticrt werden. Dieses
scheint übrigens zn den Grundgesetzen d. s wis5en?chaftlichen Betriebes vieler tmserer
gefeiertesten Gnifscn zu gelxiren, d.ils sie in dem M.il'se ihre Vorgänger totschweigen,
wie sie ilir» (ied.inkeii , luu lniiij)liiidtii. ' I)ic.\rt. wie beispielsweise Marx, gerade
auch in dem uns l)e^chrl^(i^,'endcn Kapitel, einfach abgeschrieben imd ignoriert wird,
ist schlechterdings .schamlos.
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gewclUklie Arbeit md Hure Orguiiaatk».
17
Länder kommen nicht mehr in Betracht — zur weiteren Ausbildung
der Theorie von den Wirtschaftssystemen geleistet wurde, ist dann
vor allem eine Vertiefung der Kenntnisse von den vorkapitalistischen
Wirtschaftsweisen. Die Stufe der erweiterten Eigenwirtschaft
(^Oikenwirtschaft") findet ihren genialen Historiker und Theoretiker
in Rodbertus, die Periode der handwerksmäfsigen Organisation
in der Stadtwirtschaft wird zum Lieblingsstudium der hervorragendsten
Vertreter der historischen Schule der Nationalökonomie. Die be-
kannten Schriften der Schönberg, Sticda, Stahl, Schmoller
und Bücher haben eine Fhit von Licht über die gewerbliche Or-
ganisation der stadtwirtschaftlichen Epoche aus<^ef^ossen in solcher
Fülle, dafs uns jene Zeit fast vertrauter erscheint als das letzte Jahr»
zehnt des scheidenden Jahrhunderts.
IL
Gnuidsflg:e einer Prinsipienlehre der ökonomischen
Technik.
Wenn wir, was Menschen je ersonnen haben, um sich die
(iaben der Natur ihrem Bedarfc i^eiiuils unizufornien, in seiner
Kigenart, seiner prinzipiellen Bedeutung für das W irtschaftsleben
verdeutlichen wollen, so werden wir gut thun, die verschiedenen
X'crfahrungsweisen unter einen einheitlichen Gesicht>ininkt derart
zu gruppieren, dafs wir sie auf ihre Geeignetheit hin prüfen, {lie
materielle Machtspiiäre des Menschen zu erweitern. Bei solcher
Fragestellung erscheint uns die lange Reihe der Protluktioiismethoden,
die das Menschengeschlecht in der unabsehbaren Abfolge der Genera-
tionen zur Anwendung gebracht hat, als ein in gerader Linie sich
vollziehender Entwicklungsgang zu höheren l"ormen des Daseins,
zu einer Mehrung der Macht und daniil zu gröfserer Freiheit, weil
grölserer Beherrschung der (iewalten in der Natur, die sich der un-
behinderten Entfaltung unseres Wesens henuncnd entgegenstellen.
Es wäre eine reizvolle Aufgabe, der sich seltsamerweise im Zu-
sammenhange noch niemand unterzogen hat, auf diesem Entwicke-
lungsgange die Menschheit zu verfolgen: es hiefse das eine wissen-
schaftliche Kulturgeschichte schreiben, zu der wir bisher nur wenige
Bausteine besitzen. An dieser Stelle muls es genügen, mit ein
Paar Strichen jene Evolution des technischen Könnens der Menschen
zu sldzzieren, einiges wenige prinzipiell über die mannigfachen Ver-
AnUv für «ot. G«MttgtbanK u. SMiktik. XIV. 3
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I8
Werner Sombart,
fall ruii^^s weisen ge\vcrl)lichcr Produktion in ihrer Richtung auf fort-
schreitende Leistungsfähigkeit menschlicher Arbeit zu bemerken.
Nach zwei Seiten hin cnltallet sich gleichzeitig die mensch-
liche Fähigkeit zum Produzieren; es mehren sich die Kenntnisse
von den Eigenschaften der uns umgebenden Natur,
mit der wir uns zur Erreichung unserer Zwecke notgedrungen aus-
einandersetzen müssen; und es erweitert sich das Mafs des
eigenen Könnens, die Dinge der äufseren Xatur unsern Wünschen
entsprechend umzuformen: unsere Arbeitsfähigkeit wird in
ihrer quantitativen Ergiebigkeit und quahtativen Anpassungskunst
auf eine immer höhere Stufe der Vollendung gehoben. Beide Seiten
ergänzen sich notwendig und geben zusammen erst das vollendete
Bild je von der Stufe technischer Leistungsfähigkeit, auf die die
Menschheit sich erhoben hat
Bei Ludwig Noir^, in der Einleitung zum „Werkzeug" (S. IX)
finden sich die Worte: „Wenn ein Kunstler der Zukunft die schöne
Aufgabe wird verwirklichen wollen, den ersten Menschen in Marmor
oder Erz darzustellen, dann wird er ihm als einziges Attribut die
Axt in die Hand geben." Ich will nicht entscheiden, ob das Werk-
zeug, das den Menschen geschaffen hat, die Axt oder der Hbmmer
war, — beide streiten um den Siegespreis, weil beide die Schwung*
kraft zuerst in den Dienst der Menschheit stellen — aber so viel
will mir als sicher bedünken: Jener Künstler, den Noire kommen
sieht, würde unvollkommenes schaffen, wollte er nur jenes Attribut
menschlichen Konnens — Hammer oder Axt — mit dem „ersten
Menschen" vereinigen. Ich meine, wenn die Rechte sich auf das
erste Werkzeug höherer Technik stützt, so sollte die Linke trium«
phierend das Feuer emporhalten als Symbol jener anderen, nicht ^
unwichtigeren Seite menschlicher Vervollkommnung: der Mehrung
^er Kenntnisse von den Vorgangen der Natur.
Ein solches, wie schon die Schöpfer der Prometheus -Sage
wufsten, für alles Menschtum entscheidende Wissen, das durch
geschickte Nutzung aulserhalb unserer Selbst wirkender Kräfte den
Spielraum unserer materiellen Existenz erweitert ist aber sicherlich
das Feuer. Wenn wir uns der Hypothese Ludwig Geigers
anschhefsen, wonach das Feuer religiöser Kulthandlungen seine Ent-
deckung verdankt'}, so war die Kunst der Feuererzeugung längst
') L. Geiger, Die Entdedcang des Feoen. (Zar EntwiddiiDg^gpichichte der
Menschheit [1878] S. 86 ff.. 99.)
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
19
uoter den Menschen verbreitet, ehe der Gedanke in ihrem Hirne
aufleuchtete^ nun diesen gottlichen Funken auch fiir ihre alltägUchen
Bedürfiiisse nutzbar zu machen.
Auf dreierlei hat ach das Augenmerk des Menschen zu richten,
um der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen, damit sie aus einer
spröden Feindin eine willige und hingebende Geßhrtin werde: auf
die Stoffe und ihre Gee^enschaftung, menschlichem Bedarf zu
dienen, auf die Kräfte, die in der Natur verborgen schlummern und
gezähmt werden und in unseren Dienst treten können, auf die Um-
bildungsprozesse selbst endlich, in denen die AUmutter ewig Neues
zeugt und von denen wir Nutzen ziehen können, wenn wir sie zur
rechten Zeit und am rechten Ort selbst ins Leben rufen oder uns
ihrer bedienen, wo und wann wir sie sich abspielen sehen.
Täglich vermehrt sich noch heute die Anzahl der Stoffe, die
wir, sei es zur Nahrung, zur Kleidung, als Hilfsstoffe oder wie
sonst immer als geeignet erachten, unserem Bedarfe zu dienen. Von
den Erzen und der Kohle an bis zu den modernen Farbmitteln
und Nahrungssurrogaten zieht sich die unabsehbare Reihe neu ent-
deckter und unseren Zwecken nutzbar gemachter Bestandteile der
äulseren Natur. Und sogar die Kräfte in der Natur, die wir in
unseren Dienst zwingen, mehren sich noch immer: Zu Wind und
Wasser und Dampf ist nun in unserer Zeit die Elektrizität getreten.')
Vorgänge in der Natur selbst aber haben wir uns zu nutze ge-
macht, seit wir mit dem Feuer kochen und schmelzen» seit wir
waschen und färben lernten, bis zu den sich beute überstürzenden
chemischen Verfahrui^;swetsen, deren sich unsere Industrie in ewig
wechselndem Zusammenhange zu bedienen versteht.
Und auch das wird sich feststellen lassen : daüs die Beherrschung
der Kräfte und Prozesse in der Natur eine immer sicherere wird.
Anfangs müssen wir uns begnügen, wenn wir mit benutzen können,
was sich ohne unser Zuthun in der Natur abspielt: wir segeln mit
dem W'inde, wie er sich erhebt und lassen von dem Bache unsere
Mühlen treiben, wie stark oder schwach er fliefst. Später lernen
wir die natürlichen X'orgänge lenken, beeinflussen, dafs sie rascher
oder lan'^samer, stärker oder schwächer in ihren Wirkungen sich
abspielen. I'lndlich vermögen wir den l^rozefs, die Kraft selbstthätig
zu erzeugen, die uns dienen sollen.
') Ueber ihre rasch sieb Mudebnende Verwendung in der modernen Technik,
■vgl. F. Uppenborn, Der g^cnwSitige Stand der Elektrotechnik. Berlin 189a.
S. 18 ff.
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20
Werner Sombart,
Und das alles, so läfst steh zusammenfiisseiid sagen, läuft darauf
hinaus: unsere Gebundenheit an die Natur zu mindern, uns freier -
zu machen von Zufälligkeiten und Widerwärtigkeiten. Es ist nütz-
lich, sich diese Entwickelung zur Freiheit in ihren einzelnen
Etappen zu vergegenwärtigen.
Unsere Gebundenheit verringert sich, soweit es eine Gebunden^
heit an den Ort ist: die Nutzbarmachung beispielsweise der mit
Dampf und Elektrizität gefesselten Naturkräfte hat ihre grofse Be-
deutung vor allem auch in der damit verknüpften Befreiung von der
Gebundenheit an bestinmite Orte der Produktion: den Wasserlauf,
die freie Ebene, den windigen Hügel, die Windstrafsen auf dem
Meere etc. Es wird erst durch Dampf und Elektrizität eine Ubi-
quität der produzierenden Thätigkeit erzeugt. Und wie hierdurch
gleichsam in quantitativer Hinsicht eine Befreiung vom festen Stand-
ort hervorgerufen wird, so häufig ähnlich in Hinsicht auf die Quali-
tät der Erzeugnisse: Holz, Honig, Wachs u, dergl. Dinge sind
lokalen Wechseln in ihrer Beschaffenheit ausgesetzt; Eisen, Zucker,
Stearin können überall in gleicher Qualität nachgeschaffen werden.
Aber von noch viel entscheidenderer Wichtigkeit ist die Eman-
zipation von der für die Erreichung produktiver Zwecke erforder-
lichen Zeitdauer. Hier Ist zumal in neuer Zeit (icwaltiges
geleistet worden. Eine Reihe der wichtigsten gewerblichen Produk-
tionsweisen haben eine schier unglaubliche Abkürzunj^ ihrer Dauer
erCsdiren. Der Eisen- und Stahlerzeugungsprozefs , der Ledergerbe-
prozefs nehmen heute kaum den zehnten Teil der Dauer in Anspruch
wie ehedem. Und ebenso wie von der Länge der Produktionsdauer
technisches Können fortschreitend emanzipiert, so gleiciienuafseh
von der zufälligen Gciegentlichkeit der Produktionsmöglichkeit: die
beliebige Jederzeitigkeit und was dasselbe ist Ununterbrochenheit
wird beispielsweise mit der Nutzung des Dampfes, init der Ein-
flihrung künstlicher Kühlung, künstlicher Bleiche u. dgl. hervor-
gerufen.
Was aber vor allein emanzijiatorisch so gut in räumlicher als
in zeitlicher Hinsicht wirkt, ist ein bedeutsamer X'organg, der sich
ganz im Stillen, in weiterem Umfange freilich erst in unserer Zeit
vollzieht und dessen Tragweite noch gar nicht abzusehen ist. Ich meine
das, was man den \' e r / i c h t a u f d e n Organisier u n s j) r o z e f s
der Natur bei unserer gewerblichen Thätigkeit nennen könnte. Wir
lernen mehr und mehr unorganisierte^) Materie zu (iebrauchsgütern
Dieses ist der auch Tom Chemiker anerkannte, wohl dauernde Gcgensatr
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Die geweibUehe Arbeit und ihre Oi;gaikisatiML
21
ZU nutzen oder umzuwandeln, bei deren Erzeugung ehedem die
ofganisierte Materie ein unentbehrliches Zwischenglied bildete. Mit
anderen, dem ökonomischen Interesse noch mehr Rechnung tragenden,
Worten: wir steUen eine wachsende Zahl von Gebrauchsgutem her,
decken somit einen wachsenden Teil unseres Bedarfs ohne dals
die betreffenden Gegenstande selbst vorher als Pflanze oder Tier
hatten existieren, also mittelbar oder unmittelbar als pflanzliche Er>
Zeugnisse des Boden hätten zuvor gewonnen werden müssen, was
bei den älteren Verfahrungsweisen unvermeidlich gewesen war. Um
wenigstens an die wichtigsten hierher gehörigen Beispiele zu er-
innern: in wie grotsem Umfange hat allein das Eisen „organisierte
Materie'; d. h. meistens Erzeugnisse des Pflanzenreichs verdrängt:
das Holz im Schiffs-, Häuser-, Brückenbau so^vie als Material von Werk-
zeugen und Geräten ; die Hanf- oder Flachsfaser als Stoff für Taue
und Seile! Und die Herstellung dieses vielleicht revolutionärsten
Stoffes der Technik geschieht ebenfalls im fortschreitenden MaÜC
ohne Inanspruchnahme organisierter Materie, d. h. unter immer
geringerer Anwendung von Holz: an die Stelle der Holzkohle-Hoch-
öfen sind die Koksöfen, an die Steile des Holzkohlefrischver£sihrenS
ist das Puddel- oder Bessemer- oder Martin-Siemcns-\'crfahren ge-
treten, die sämtlich nur der Steinkohle benötigen. Als Heizmittel
ersetzt die Steinkohle den Torf, das Holz und die Holzkohle, als
I.euchtmittel ersetzen Petroleum, Gas und Klektrizität Fett, Unschlitt,
Holzspälme, Oel. Die alten tierischen und pflanzlichen Färbemittel:
Purpur, Cochenille, Krapp, Waid, Indigo, Saflor, Scharte, Farbhölzer
werden verdrängt durch die AniUn-, Xaphtalin- und andere Kohlen-
derivatfarben. Die neuere Chemie weifs nun auch ein Xahruiij^siniltcl
nach dem anderen aus uni organisierter Materie /usanimcn/.ubrauen.
S.c will die Geschmacksemprmduni^'^ der Siifse auch ohne Hilfe von
Zuckerrohr oder Rübe erzeugen; sie will uns jetzt gar berauschen
ohne vorher die zucker- oder stärkehaltige Pflanze dem Gärungs-
prozefs unterworfen zu haben. \)
Zu . dem Kennen muis sich das Können gesellen \ neben die
„orfuniicite" Und „oidit oiganiderte" Materie, die dam beliebig den sogen, orga-
audMB oder «oorgMitichen Substuuen ngehören kum, welch' leUtere Untenchddimg
in der nenerea Chenie briwaiitlich immer melir fallen gelassen wird, jedenfalls
kciBe irgend wie feste Grenzlinie zu ziehen vennag, wie ei mit der im Test ge*
lieantcn Unterscheidung thatsächlich der Fall ist.
M l'ehcr die Herstellung von Alkohol aus dem Nebrnprodukt der Kokes-
gewionoDg, dem Aethylen vgl. „Chemische Industrie" 1897 S. 266 und 1S98 S. 37.
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22
Werner Sombart,
Nutzung der NafturkrSfte muGi die Bethatigung der eigenen Kräfte
treten. In dem Make, wie wir den Geheimnissen der Natur nach-
gehen, Jn ihre tiefe Brust, wie in den Busen eines Freundes schauen"
lernen, mu(s sich unsere FSlü^ceit entwickeln, gestaltend auf sie
einzuwirken mit unserer eigenen Hände Arbeit: muls sich das zu
höheren FcMinen entfalten, was man etwa die Arbeitskunst zu
nennen versucht wäre. Verfolgen wir die Menschheit auch auf
cfiesem Entwiddungsgange und suchen wir die einzelnen Stationen
(fieser Vtä cnuis uns zu vergegenwärtigen, so wird unser Augen-
merk zunächst auf einen Vorgang gerichtet sein müssen, in dem
sich die Methoden des Arbeitens selbst ver\-ollkommnen.
Ich meine die Art und Weise, wie sich die blofse Fähigkeit ent-
wickelt, die Gliedmafsen, also so ffut wie ausschliefslich die Hände
für die Bearbeitung der Sachen durch allerhand ingeniöse Hil&mittel
geeigneter zu machen. Dafs auch dabei die Finger nur die willig
gehorchenden Organe des erfinderischen Hirnes sind, braucht nicht
besonders betont zu werden.
Da ist es nun vor allem ein D ifferenzierungsprozefs der
Arbeitsaufgaben und damit der Arbeitsleistungen, in denen
sich die menschliche Arbeitskunst verfeinert und läutert. Mit fort-
schreitender Kultur mehren sich einmal die von der menschlichen
Arbeit zu bewältigenden Probleme: es werden immer neue Güter
in den Bereich unserer Bedarfebefriedigung gezogen und schon da-
durch bereichert sich die Skala unserer Arbeitsverrichtungen. Von
der ursprünglich einzigen und einheitlichen Arbeitsleistung;: dem
Aufkratzen der Erde zu einer Höhlung;') bis zu der tausendfach
differenzierten gewerblichen Thätigkeit unserer Tage ist ein weiter
Gang, den die menschliche Arbeitskunst zurückgelegt hat. In diesem
Entwicklungsgange ist nun aber zwischen zweierlei zu unterscheiden :
zwischen der Differenzierung der Arbcits\ crrichtungen , die durch
eine Vermehrung der Produkte hervorgerufen ist und derjenigen,
Differenzierung, die gleichsam von innen heraus durch eine be-
wufste Zerlegung der Arbeit in ihre einzelnen Teil-
verrichtungen entstanden ist. .Man achte darauf: es handelt
sich für uns hier einstweilen nur um ein bestimmtes Produktions-
verfahren, eine Produktionsniethoilc : jenes Verfahren, das einen
Komplex von Arbeitsverrichtungen — sage das Spinnen eines
' i nie mt)drmc .^Sprachforschung weist uns auf diesen einheitlichen Ausgangs«
ponkt aller produktiven Thätigkeit zurück. Vgl. N o i r e , a. a. (.). passim.
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Die gcweiUiehe Arbeit md ihie OrfMiistion.
23
Fadens — in seine einzelnen Bestandteile mit Bewufstseins auflöst,
mit Erfolg „versucht, den Geist herauszutreiben" und dann „die
Teile in seiner Hand" hat. Als welches \'erfahren ganz und gar
nicht 7A1 verwechseln ist etwa mit der gesellschaftlichen P^iiirichtung
einer Berufsspezialisierung — wenn nun eine jener Teilverrichtungen
etwa immer nur von einer Person ausgeübt wird — oder etwa mit
einer bestimmten Anordnung des Arbeitsprozesses zu einem
kooperativen Betriebe, in dem nun die einzelnen Teilvcrrichtungen
ie von Einem oder Einigen,') die einander in die Hände arbeiten,
ausgeführt werden. Sondern es handelt sich vielmehr zunächst nur
um die viel einfachere Thatsache , dals die Kunst des Arbeitens
dahin fortgeschritten ist . eine Summe von l'eilarbeiten aufzulösen,
so dafs nun jede Teilarbeit als gesonderte Arbeitsaufgabe betrachtet
werden kann. (lanz nach dem Rezept jenes schon citierten und
sehr zu Unrecht verspotteten Philosophen, von dem wir lernen
sollen :
, JXU«, was wir sonst auf einen Sdilsg
Gelrieben, wie Eiien vod Trinken frei
Efattt Zwdl Dreil dacu nötig ad.**
Dieses damit gekennzeichnete, durchaus nicht unvernünftige, sondern
verwünscht gescheute Arbeitsverfahren wollen wir in Anlehnung an
einzelne vorhandene Ansätze zur Erkenntnis A r b e i t s z e r 1 e g u n g
nennen. Dabei braucht der Produktionsprozefs zunächst gar nicht
verändert zu sein und es kann doch das Arbeitsverfahren ein neues
sein , weil dieselben X'crrichtungen wie früher nun in ihrer Selb-
ständigkeit erkannt werden. i:5eispiel : Kine Bäuerin spinnt ihren
Flachs zu (larn ohne zu wissen und sich darum zu kümmern, woraus
sich diese ihre durchaus einheitliche Arbeitsleistung zu>annnensetzt.
Ein Arbeitszerlegendes X'crfahren löst das Spinnen eines Fadens
mindestens auf in l. Kardieren; 2. Strecken i 3. Vorspinnen; 4. Fein-
spinnen.
Die grundlegende Bedeutung dieses X'erfahrcns liegt nun aber
in der dadurch erst geschaft'enen Möglichmachung anderer Kunst-
griffe des erfindungsreichen Menschen zur besseren Ikwälligung .seiner
Aufgaben. Die Arbeitszerlegung bereitet die Arbeitsspeziali-
sierung vor: jene Einrichtung, bei der ein und dieselbe Arbeits-
*) . . . distinct opcrationt, whieh in sone numfeetories are all perfonncd of
tfidnci lniid*, thomh in otben the same num will tometinies pcrform two or three
of tbem.» (Ad. Smith).
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24
Werner Sombart,
Verrichtung jederzeit von demselben Arbeiter ausgeführt wird. Das
mag ein isolierter Arbeiter oder ein Arbeiter in einem grolsen Be*
triebe sein. Dals aber die Spezialisierung der Arbeitsverrichtung
die Arbeitsfertigkeit quantitativ und qualitativ zu steigern vermag»
wufste schon Adam Smith bekanntlich.')
Die Arbeitszerlegung schafft aber weiter erst die Möglichkeit,
qualitativ und quantitativ abgestufte Arbeitsleistungen an Stelle
vollwertiger Totalleistungen zu nutzen: durch die Zerlegung des
Gesamtproduktionsprozesses in einzelne Teile entstehen viele Teil*
arten, zu deren Ausfährung Kinder, Weiber, Greise, Krüppel und
geistig Arme gleichermaGsen sich eignen wie vollwertige Arbeits-
kräfte mit Kraft und Geschick; entstehen aber auch so vielerlei
verschiedene Teilarbeiten, dals die qualitativ unterschiedliche Be-
gabung der Menschen zu voller Berücksichtigung zu gelangen ver-
mag. Die Arbeitszerlegung verselbständigt gleichsam die Teil-
prozesse; sie gestattet dadurch das, was früher nur nacheinander
denkbar war, neben einander zu legen: die gleichzeitige InangrifT-
nähme sämtlicher Arbeitsverrichtungen eines Gesamtarbeitsprozesses
wird möglich. So lange es nur ein „Spinnen" giebt, kann dieser
Gesamtprozels immer nur als Ganzes zu gleicher Zeit binnen
werden. Nun das „Spinnen" in seine Bestandteile au%elost ist,
kann a tempo neben einander kardiert, gestreckt, vor- und fein*
gesponnen werden: eins der wesentlichsten Momente für die Be-
schleunigung des Produktionsprozesses.
So wichtig ist dieses Ver&hren der Arbeitszerlegung dank der
daran sich knüpfenden Möglichkeiten zweckmäfsiger Arbeitsorgani-
sationen, dals es uns nicht in Erstaunen setzt, wenn wir die
Oekonomen, die das Prinzip der Arbeitszerlegung freilich in etwas
gebrochenem Zustande als sogenannte „Arbeitsteilung" erspäht
hatten, durch den Glanz dieser folgenreichen Methode so sehr ge-
blendet sehen, daSs sie lange Zeit für andere anal<^e Verfahrungs-
weisen zur Ausgestaltung der Arbeitskunst gar keinen Blick hatten.
Und doch giebt es deren noch manche. Es ist eines der besonderen
Verdienste Emanuel Herrmanns, den wie hjrpnotisiert auf die ewige
*) Wir wissen jetzt insofern mehr wie er, ab wir die Bedeotnng der Arbeits-
spe^isiemng fitr die Entfaltung der Prodaktivität nicht mehr wie er ab er seh ätzen.
Von nnrr so enormen Vervielfältigong des Arbcitserfolges wie er sie annahm ist
gar keiii'- Knlr : exakte Berechnungen ererben, dafs durch Spexialisieruilg der Arbeit
die Arbeitjilcistung um etwa ',4 — ' ^ sich vergrölsert.
Die gewerbliche Arbeit uad ihre Ürgatii.->alion.
25
ftArbehsteUiuig" gerichteten Blick von dieser weg auf andere unsere
Leistungsiahigkeit ebenfells und zum Teil noch mehr steigernde
Methoden des Arbeitens hingelenkt zu haben. So erscheinen mir
beispielsweise jene „vier Formen der Anordnung und Organisation'^,
von denen Herrmann spricht,*) sehr der Betrachtung wert als eben-
soviel Arten verbesserter Arbeitsverfahren. Er nennt sie wenig
glucklich die „universelle", „individuelle", „generelle" und „spezielle"
^Organisation". Zunächst handelt es sich dabei noch um keinerlei
bestimmte Ordnung, Organisation des Arbeitsprozesses, sondern
wiederum nur um Arbeitsmethoden, die eine bestimmte Anordnung
ermöglichen. Und dann sagen, wie mir scheint, jene Beiwörter
noch nicht sehr viel aus. Was Herrmann meint, sind bestimmte
Metboden, das zu ver- oder bearbeitende Material in einer vor-
bedachten Weise in Angriff zu nehmen, es sich in einer zweck-
nüUsigen Weise zurechtzulegen, damit, wenn die Arbeit dann vor-
genommen wird, ein Maximum von Effekt herausspringt Diese
vier Arten sagen wir der Materialanordnungsind: I.Zusammen-
legung des Materials zu Bündeln, die eine gleichzeit^ Behandlung
von vielen Einzelgegenstanden ermöglicht: Beispiele das Draht-
btindel, an dem gleichzdtig en masse Stecknadelköpfe gefeilt werden;
das Streichholzbündel, das zum Eintauchen in die Zündmasse zu-
sammenge&lst wird;*) 2. VerteUung grofser Materialmassen zwecks
besserer Bearbeitung: Stearin, das man in 200 Kerzen-Gufsformen
laufen läfst ; 3. ein zweckmäfsiges Nacheinanderordnen des Materials,
damit dieses in richtiger Reihenfolge die verschiedenen Stadien
des Arbeitsprozesses passieren kann: Papier; 4. Sortieren des
Materials, um es seiner Verschiedenheit entsprechend verschieden
bebandeln zu können : Hadern !
Nun aber vermögen wir allen jenen Verfahrungsweisen nur
dann volles X'crständnis abzugewinnen, wenn wir sie noch in einer
weiteren, bisher absichtlich nicht berührten Wirkung zu begreifen
versuchen : Jene bestimmten Arbeitsweisen sind in gro(sem Um-
fange Voraussetzung, häuhg Veranlassung, um beispielsweise neu
*} Knltw nnd Katar. S. 46.
*) Dftf» et tidi bei dieier „Materi«Ia]iordniiii£" nur erst mn ein Arbeitsver-
fohrcii, nodi mcbt nm eine bestimmte Ordnimg des Arbcitsproiesses handelt, gttht
<. B. aas der Tbatsadie hervor, dafs jene bttndelweise Anordnnng ebensowohl vom
cuuelnen „VoUhandwerker" in isoliertem Betriebe wie vom Teilarbeiter in einem
„arbeitsteiligen" Grofsbetrieb vorgenommen werden kann (und wurdel. Jeder Pfcrde-
bahnichaflncr ninmit sie vor, der mehrere Fahrscheine anf einmal dorchlocbt u. s. f.
26
Werner Sombart.
gewonnene Kenntntsse etwa von chemischen Pressen zur An-
wendung zu bringen. Sie bilden vor allem aber auch erst die
Basis für die Entwicklung desjenigen Faktors der schöpferischen
Menschenarbeit, dem man vielleicht mit Recht die vornehmste
Stellung unter allen Elementen des Arbeitsprozesses anweisen darf:
Für die Entwicklung und Vervollkommnung des Arbeitsmittels.
Darunter wollen wir mit Marx verstehen: ein Ding oder einen
Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den
Arbeitsgegenstand schiebt, um sie als Machtmittel auf andere Dinge
seinen Zwecken gemals wirken zu lassen.
Damals, als der Urmensch zum ersten Male bewulst jenen
spitzen Stein wieder au%riflr, der ihm schon einmal gedient hatte,
um mit ihm abermals seine kratzende Thätigkeit zu unterstützen —
das zufällige Ergreifen und Wiederwegwerfen eines Steines als
Hilfsmittel für schls^ende oder kratzende Bewegung finden wir auch
bei höheren Tieren — als somit die Vermittlungsrolle jenes äufseren
Dinges der Natur bei der eigenen produktiven ThätiL^keil vom Men-
schen kausal teleolf^isch erfaist und zum ständigen Besitztum seiner
Vorstellungswelt gemacht war : da war das erste Werkzeug auf
Erden erschienen, jene Schöpfung, an die im Verein mit Sprache
und Religion die Menschwerdung anzuknüpfen man sich mit Recht
gewöhnt hat. da in der That alle Entwicklung zur höheren In-
telligenz sich gleichsam an dem Werkzeuge emporrankt, seit dessen
Nutzung der Mcnsrli im Kampfe ums Dasein aufhört, seinen Körper
und seine Gliedmalsen umzuformen, um blofs noch seine geistigen
Fähigkeiten weiter zu entwickeln.
„Das Werkzeug hat seinen Namen vom Wirken. Es ist ein
Mittel zur Ausführung eines Werkes" (Noir^). Aber wie sogleich
hinzugefügt werden mufs, um seine Eigenart zu bezeichnen: ein
Mittel, dessen Funktion darin besteht, das menschliche Wirken zu
unterstützen. Tu der l' n t c r s t ü t z u n g unserer j^iitcr erzeugenden
Thätigkeit und zwar allzuineist unserer Ilandthatigkeit liegt das
Wesen des Werkzeugs; daher man auch gut thut, immer von
Ha n d Werkzeug zu sprechen.
L'ebcrblicken wir den Kiuw icklungsgang, den das Werkzeug
im Laufe der Jahrtausende genomnun hat,') finden wir ihn
parallel verlaufen demjenigen der Arbeitsverrichtungen und Arbeits-
Dir einschläpipr I.itteratur ist natürlich wieder liodist lUirftij;. Vfjl. aufscr
Noire und Kapp noch Em. Herrmann, Das Prinzip der Teilung der Funktionen
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IMe gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
27
lostungen, die wir kennen. Aus einem oder wenigen höchst ein-
6chen und unvottkommenen Werkzeugen, die in unbestinunter
Allgemeinheit gleichsam alles in aUem waren, lösen sich immer
neue und neue Formen los, difTerenzieren sich die Punktionen der
einzelnen Werkzeuge zu immer grö(serer Mannigfaltigkeit Es ist
dieselbe Erscheinung, die wir auch bei der Entwicklung der Tier-
te der Gctehifibtc de* BMUenweMas. MioMturUlder (1872) S. 193 ff. Hartig,
üeber den Gebranchiweduel als BOdqag^etetx Ar Weriuengfonnes. Vortrag in
der 78. ÜMptfenunnlng det rildu. IngcBienr- n. AibeitsvereiiM. Dretdcn 1873.
Rculeaux, Ueber die Entwiddang des Werkzeugs bei den Völkern der Sadsee
und des Orients. Vielerlei Anregung bietet auch Julius Lippert, Kalturgeschichte
der Menschheit in ihrem organischen Aufbau. Bd. I <l886) S. 250 ff., 280 ff., 3I3ff.
Leider berücksichtigt Lippert die eigentliche Spcziallittcratur in (iifsrr Frage so gut
wie gar nicht. Ein reiches kohmatcrial entbäh A. Kauber, Lrg<->chichtc des
Menschen l. Band [1884] i>. 29 — 112; ebenso, wenn auch z. T. veraltet Gustav
Klemm, Werioeoge mä Waffen. Leipzig 1854. Klemm gebohrt das grotse Ver>
däenst, wohl als erster auf den wichtigen Znsammeidmig iwischen der Entwicklung
des Wedneuf» vnd der fiitwidtlaiig meiuchlseber Knltnr mit vollem Bewvfttseia
hinfewieacn za haben. Schon der Titel seines Werkes, dessen zweiter Band das
oben gensante Bodi bildet, bedentete Ar die damslige Zeit eine wissenschaftliche
Thmt ersten Ranges: „.allgemeine Kulturwissenschaft Die materiellen Grund»
lagen menschlicher Kultur." Aber auch seine Kenntnisse von dem Entwicklungs-
gange, den die Werkzeuge thatsächlich genommen haben, sind bei Herürksichtigung
des damaligen Standes der Forschung uufserDriirntlirli tn fc, wenn er z. B. die Axt
„die Blüte der Werkzeuge" vor der Benutzung der Metalle nennt \.S. 04) oder mit
aller Deutlichkeit schon auf den Differenzierungsprozefs der Werkzeuge hinweist
(S. 75). Dals sidi bei Marz sahireiche geistvolle Apercus m einer Entwieklmigs-
gcadiichte des Arbeitsmittds 6nden, ist bdnumt; ebenso sein Hinweis auf die
Wichtigkeit einer wittfiiifhsftlichen „Büdnngsgesdiichte der produktiven Organe des
Cesfllschaftsmenschen**, als Pendant sn der damals eben von Darwin dargebotenen
„GescMdlte der natürlichen Technologie", wie er die Lehre von der Bildung der
Pflanzen- und Tierorgane in einem Wortspiele bezeichnet. Vgl. Kapital I 335
Anm. S9. Bekannt ist anrli. dafv Marx Ansätze zu einer solchen Entwicklungs*
geschichte der menschlichen ( iesellsohalt zu finden glaubte in Lewis H. Morgans
Ancient society or kesearchcs in thc Lines of Human Progrcss from Savagcry through
Barbarism to Civilization. London 1877 und wie F. Engels die Morganschen
Ergebnisse in seiner Sdwift über den Ursprung der Familie ele. (nierst Hottingen*
Zlildi 1884) versibcitet bat. Die engere Beschiinknng des Problems, wie wir sie im
Teste voffenonunen haben, cntMndet uns von der Aufgabe, nnsere von der Votgu^
BngdmehcB grofteateils abweichende Auffassung von den Stufen der menschlichen
Kultur, d. h. also von der Entwicklung im wesentlichen der Arbeitsmittel an dieser
Stelle des niheren su b^rUnden.
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28
Werner Sombart,
gestalten und der Sprache beobachten: die X'ermannigiialti^iig des
Gfebrauchs schafift immer neue Formen, die sich immer vollkommener
den einzelnen Gebrauchsakten anpassen. Aus der primitiven Spitz-
hacke oder der mit einer breiten Schärfe versehenen Hacke 'j entwickeln
sich langsam die Axt, der Hammer, das Messer, der Meisel, die
Säge, der ik>hi'er und was sonst an Prototypen späterer Werkzeugs-
kategorieen zu nennen wäre. Und in dem IMafse, wie sich das
Prinzip der Arbeitszerlegung durchsetzt, verfeinert sich innerhalb
jeder Kategorie dann wiederum das einzelne Werkzeug, bis zu
jener delikaten Xüancienmg, wie wir sie heute etwa in der Uhren-
industrie zu beobachten (lelcgenheit haben. Die leiseste Unter-
scheidung der Arbeitsverrichtung wird begleitet, unterstützt, er-
mögliclit durch das cntsi)recheMd ihr angeiiafstc Werkzeug.-) Und
CS liegt auf der Hand, wie sehr die fortsclireitcndc Zerlegung der
Arbeit die Ausbildung der Werkzeugtechnik fördern nuifs, um wie
viel besser bei jeder neuen Vereinfachung der TeiK crrichtung —
denn auf V c r e i n fac h u n g läuft doch alle Zerlegung hinaus —
das entsprechende Werkzeug der menschlichen Hand angej)alst
werden kann und wie auf der andern Seite jedes neue verfeinerte
Werkzeug die Arbeitsleistung wiederum steigern muls.
„Müssen wir für die älteste Zeit geringfügige Wirkung nach
aufsen verbunden mit grofser Anstrengung und geringer Geschick-
lichkeit des Subjekts in Zusammenhang bringen mit höchst ein-
fachen und un\ ollk()mmcnen WerkzcuLien , die in unbestimmter
Allgemeinheit gleichsam alles in allem waren . so setzt uns die
heutige Entwicklungsstufe in Erstauiuii durch die grofsc Mainüg-
faltigkeit der W irkungen, welche durch höchst einfache, gleichsam
elementare mechanische Totenzen her\urgebracht werden. Wir er-
kennen aber sofort, dafs die letztere Einfachheit von der ersteren
fundamental verschieden ist. Jene ist die Einfachheit der .\rmut,
des unvollkummenen Keimleben>, der j)rimitiven Bedürfnislosigkeit,
welche die Thätigkeit der Urgeschlechtcr auf wenige unmer wieder-
*) „ZwiKfaen diesen beiden Fonnen werden wir ... an wiblcn babcn, wenn
wir nns eine Idee von den Sltesten Weriuenge bilden woUen*'. Noirö a. a. O.
5. 279
*j Es ist eine ganz irrige Meinung, als sei die Differenzierung der Werkzeuge
in einer früheren Zeit — der sogen. Manufakturperiode — schon einmal eine höhere
gewesen als heute, wo die Dilicrcn/.irruiif^ durch die Maschine eine Riukbildung er-
fahren habe. Im Gegenteil : die DitTerenzierung ist vielmehr auf die MaschiDehc
aasgedehnt worden, wie noch zu zeigen sein wird.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre ürgaoisatiou.
29
kehrende Verrichtungen beschränkte. Diese dagegen ist die Ein-
fachheit des überlegenen Geistes, welcher die Mittel aufe voll-
kommenste den zu erreichenden Zwecken anpafst und wie ein ge-
übter Fechter oder Steuermann, mit dem geringsten Aufoirand von
Kraft und mechanischer Komplikation die jedesmal zu erreichende
Arbeitsleistung ausfiUirt"*}
Mit dieser fortsdirdtenden Differenzierung des Handwerkzeugs
und seiner Funktionen im engen Zusammenhange steht nun aber
die zunehmende Vervollkommnung in der Benutzung des
Werkzeugs. Schon in eine frühere Periode der Entwicklung fallt,
wie wir aus immer zahlreicheren Werkzeugfunden schliefsen dürfen,
die Verwendung der Schwungkraft zur Handhabung des Werk-
zeugs. Wie wir schon hervorzuheben Gelegenheit hatten, mufs die-
sem Fortschritt in der Nutzung ehedem nur durch Druck oder
Stöfs bewegter Werkzeuge eine ganz besondere Bedeutung für die
Kutturentwiddung beigelegt werden. Nun erst treten die Axt und
der Hammer in den Dienst des Menschen, die, wie wir wissen, ge-
radezu als Symbole seines schöpferischen Wirkens auf Erden dienen
können und übrigens unseren Vorfehren auch gedient haben. An
die Stelle des Schabens, Stechens, Schneidens, Kratzens tritt das
Hauen. Und unsere Kultur ist nicht erschabt, erstochen, erschnitten
oder erkratzt: sie ist herausgehauen aus Erde und Stein, aus
Wald und Dickicht! Wie aber an der Pforte aller Kultur die Nutzung der
Schwungkraft, so steht an der der unserigen ein anderes Prinzip der
Werkzeugnutzung, von vielleicht noch grölserer, noch schöpferischerer
Bedeutung. Man hat es das Walzen- oder Rotationsprinzip
genannt*) und es besteht in der Einführung der kontinuierlichen
Drehbewegung in die Technik.
In allen unseren Werkzeugen etc. lassen sich zwei Formations-
Noire a. a. O. S. 249 50.
•1 Die Verherrlichung des Hammers und seines Gottes, des Donar in der ger-
manischen Nfythologie ist bekannt. VgL z. B. F. Dahn, Wodan and Donar „Im
Neuen Reich" 1872 Nr. S.
') Uebcr das Rotation.sprinrip und seine Bedeutung für die Technik vgl.
M. Jobard, Die Industrie und das Jahrhundert. Grenzboten 2. Band 1843, S. 302 ff.
(«oU der »»Entdecker" dieses Priudps). Louis Reyband, L'indintrie en Europc.
Pkris 1S56. pag. tz seq. Rndolf Wagner, Tcdmclogische Stadien anf der all-
gemeinen Kunst- md LidnstricanisteUinig im Jahre 1867. Leipzig 1868. Em. Herr»
mann, Das Prinsip der Rotation. Miniatubildcr (187a) S. 231—256. Noir6
a. a. O. S. 293 ff. F. Reuleaux, a. a. O.
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30
Werner Sombart,
Hauptperioden unterscheiden: die Periode, in welcher das Werkzcu|f
hin und her oder auf und ab bewegt wird, also immer einen toten
Rückgang machen mu&, um einen lebend ifj wirkenden Vor- und
Abwärtsgang auszuführen und die Periode der kontinuierlichen Be-
w^jung nach vor- oder abwärts. So unscheinbar der Fortschritt
von der Periode des toten Rückgangs zur Periode der kontinuier-
lichen lebendit^^tn Bewegung zu sein scheint, so bedeutet er doch
in wirtschaftlicher Beziehung gerade soviel als der Fortschritt der
Pflanzen- und Tierformen der Grauwackcnperiodc zu jenen der
Kreideperiode.') Und doch ist das Prinzip der kontinuierlichen Be-
wq[ung nach vor- und rückwärts erst der Anfang des Rotations-
prinzips : ehe die Bandsäge auftrat , hatte ein Fortschritt darin be-
standen, die Säge beim Ab- und Aufwärtsgehen in j e einem Stamme
oder in denselben Stamm zweimal einschneiden zu lassen ; und ehe
der Kreisbohrer in Aufnahme kam. hatte man das Hin und Her-
bohren in Halbkreise ebenfalls schon gekannt. Die erste bedeut-
same Aiuvendung des Rotationsprinzips in der i echnik dürfte der
auf Rädern bcwec^te Wagen gewesen sein. Heute ist das Prinzip
in jeder Sphäre der Technik so sehr verbreitet, dafs es 1842 schon
Jobard „das Kriterium der modernen ( rewerbsthätii;keit" nannte,
,, weil jedes meclianische X'erfahren, jede i* ai^rikation , die nicht die
fortwährende ununterbrochene rhäti;^fkeit besitzt, noch im Zustande
des embryonalen Werdens" sei. IjkI Reuleaux kennzeicimet
die Bedeutung dieses selben Prinzips mit den \\ orten : .,So wie der
alte Philosoph die stetig steigende N eränderun^^ der Dinge einem
F'liefsen verglich und sie in den Spruch zusammen drängte: „Alles
fliefst"; so können wir die zahllosen Bewegungserscheinungen in
dem wunderbaren Krzeut:^Disse des Menschenverstands, welches wir
Maschine nennen, zusamnientassen in das eine Wort: „.A.lles rollt."
Aber diese Worte Reuleaux, eröffnen in einer anderen Richtung
imserer Betrachtung eine neue Perspektive: in ihnen wird das
Rotationsprinzip — und mit Recht — vor allem für ein (iebilde,
eine bortn des Arbeitsniittels in Anspruch j:,renommen, „welches
w i r M a s c h i n e n e n n e n." l 'n^er Interesse wird nunmehr durch
die Frage in Anspruch genommen: welches ist das in der Maschine
überhaupt zum Ausdruck kommende Prin/ip? ist die Ak^schine etwas
Wesensanderes als das Werkzeug? bezugsweise worin unterscheidet
sich eine Maschine von einem Werkzeug?
*) Herrmann, a.a.O. 8. 197.
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Die gewdbtich« Arbdt und ihre Orgaaiaadon.
31
Die Wichtigkeit der klaren Erfassung des Maschinenprinzips iiir
alles Verständnis auch in sozialen Dingen, \-crhiinden mit der zum
Teil bedauernswerten Unklarheit, die vielfach noch heute auf diesem
Gebiete herrscht, zwingt uns mit einiger Ausführlichkeit über das
Blaschinenprinzip und seine Bedeutung für die Entwicklung der
(gewerblichen) Technik an dieser Stelle zu handeln.
Was ist eine Maschine ? Die Frage ist reichlich oft gestellt und
ebenso oft — meist recht uDvoIlkominen I — beantwortet worden.
Wenn wir heute die schier endlose Reihe von Definitionen des
Masels ii\enbegrifrs überblicken,') so können wir zunächst einmal ohne
viel Eederlesens die Schafe von den Böcken sondern, d. h. eine
ganze Gruppe von Begriffsbestimmungen ohne weiteres ausscheiden:
diejenigen, die zwischen Werkzeug und Maschine gar keinen oder
nur einen Gradunterschied — etwa die I-ängc und Zahl der
Zwischenglieder zwischen dem arbeitenden Menschen und seinem
Arbeits^^ejjenstande — anerkennen wollen. Ein bekannter I'yp
dieser yuantitatistcn ist Passy, der in seinem Essai sich auf den
Standpunkt jenes englischen Arbeiters stellt, der nach einer Dehnition
der Maschine gefragt, die bedeutende Antwort erteilte-) : „les machines
c'est tout ce qui en plus des ongles et des dents sert ä l'homme
pour travailler" (also z. B. auch der Stuhl , auf dem er sitzt und
der Rock, den er an hat?!) und radikal alle weitere l'nterscheidung
für ..subtilites des savants" erklärt. .Solch eiwc Auffassung von der
Sache ist natürlich nur kompromittierend. Wer auf dem Stand-
punkt steht, dafs der Versuch .scharfer Begriffsbestimmungen
eine „subtiUte des savants" sei , .soll überhaupt die 1- inger vom
Theoretisieren davon lassen. Was aber bleibt übrig, nachdem
wir die Pas.sys und Konsurteti hinausexpediert hal)en r Immer
noch ein überaus seltsames Gemisch der verschiedenartigsten Auf-
fassungen \om Wesen der Ma.schine, die man sich nur schwer
icuNdniinenreimen kann. Mir persönlicii ist es seltsam dabei er-
gangen, bei meinen Studien über das Maschinenproblem ist mir
1) Eine TiwiminfiwrellBng findet rieb bei Renleaux, Tbeor. Kin., & 593 ff.
Sie ist jedoch insofern nocb adir tuiTollständig als sie im wesentlidien nur die De-
finitiooen der Tecbnologen enthält. Dazu käme alao noch die stattliche Reihe
der von Oekonomen u. a. verbrochenen Beßriffsbestimmungen. Ucber die neueren,
von Keulraux sämtlich beeinflufsten, Definitionf-n giebt eine L'cbersicht Lindncr,
Art. „Maschine" in (Jtto Lucgers Lexikon der gesamtea Technik und ihrer Hilfs-
wissenschaften. Band VI.
*) Passy, Les machines. 2. ed. (1877). p. 24,25.
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32
Werner Sonbart,
erst verhaltnismäTsig sfStt das schon oft genannte Buch von Reuleaux,
seine theoretische Kinematik in die Hände gefallen, zu einer Zeit,
als ich mir schon einen ganz festen B^riff von der Maschine glaubte
gebildet zu haben. Da mufste ich denn nun beim Lesen der
Reuleauxschen Kinematik die zunächst recht betrübende Beobachtung
machen, dafs meine Auffassung vom Wesen der Maschine mit der
von Reuleaux, den ich doch in jedem Worte als eminenten Greist
bewunderte, ganz und gar nicht fibereinstimmte. Ich ging also
daran, meinen eigenen Standpunkt genauer zu prüfen, noch einmal
jeden Gedanken vorsieht^ durchzudenken. Und als ich mit dieser
Revtsionsarbeit fertig war, war das Ergebnis doch nur dieses: dafs
meine eigene Auffassung jedenfalls auch nicht üüsch sein konnte.
Für so richtig und einleuchtend ich immer die Reuleauxsche Be*
griffs- und Wesensbestimmung der Maschine halten mochte. Aus
dieser beunruhigenden ,. Antinomie" erlöste mich endlich die Er-
kenntnis, dafs es sich offenbar um zwei toto coelo verschiedene
Auffassungen derselben Sache handele, die beide nicht falsch zu
sein brauchten, obwohl sie nicht identisch waren. Und nachdem
ich diese tröstliche Einsicht gewonnen hatte und nun die Super-
re\-ision der l^eiden so verschiedenen Definitionen und Erklärungen
• der Maschine vornahm, da ergab sich nicht nur die schöne Verein-
barkeit beider, sondern des weiteren noch die erfreuliche Thatsache,
dafs beide Begriffsbestimmungen und Auffassungen sich einander
ergänzten und gleichsam sich einander kontrollierten . sofern vom
Standpunkt der einen aus jeder Zeit mit Bestimmtheit die richtige
Gestaltung der anderen mufste abgeleitet werden können.
Die geistvolle Definition Reuleaux' ist nun aber diese: „Kine
Maschine ist eine Verbindung widerstandsfähiger Körper, welche so
eingerichtet ist, dafs mittels ihrer mechanische Naturkräftc ge-
nötigt werden können, unter bestimmten Bewegungen 7ai wirken." ' )
Und etwas genauer die „Einrichtung", auf die es ankommt, kenn-
zeichnend : „Der Mechanismus ist eine geschlossene kinematische
Kette; die kinematische Kette ist zusammengesetzt oder einfach
und besteht aus kinematischen lilementenpaaren ; diese tragen die
L'mliüllungsformen zu flen Bewegungen an sich, welche die einander
berühretulen Körper gegenseitig haben müssen, damit alle anderen
Bewegungen als die gewünschten aus dem Mechanismus ausge-
schlossen bleiben. Ein Mechanismus kommt in Bewegung, wenn
') F. Reuleaux, Theor. Kinem., 38.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
33
anf eines seiner beweg^chen Glieder eine mechanische Kraft, welche
die Lage desselben zu ändern imstande ist, einwirkt Die Kraft
verrichtet dabei eine mechanische Arbeit, welche unter bestimmten
Bewegungen vor sich geht; das Ganze ist dann eine Maschine." ')
In einem populären Vortrage hat Reuleaux dann seinen Gredanken
diese Prägung gegeben: ,J)as allgemeine Prinzip der Maschine
ist die Bewegungserzwingung. Mit der Maschine will man
zunächst Körpern Bewegung erteilt wissen; diese Bewegung soll
dann aber nach einem bestimmten Plane vor dch gehen, es sollen
gewisse Wege unter gewissen Geschwindigkeiten und in gewisser
Folge durchlaufen werde, wie es eben dem zu erreichenden Zwecke
entspricht"*)
Diesen Definitionen will ich nun gleich die meinige gegenüber»
stellen, die lautet: Eine Maschine ist dn Arbeitsmittel oder dn
Komplex von solchen, welches derart eingerichtet ist, dals es dne
Arbeit, die sonst der Mensch venrichten miüste, an Stelle des
Menschen ausfuhrt, ein Arbeitsmittel also, welches nicht — womit
wir die Maschine scharf gegen das Werkzeug abgrenzen — mensch-
lidie Arbeit unterstützt, sondern menschliche Arbeit ersetzt.
Die bdden verschiedenen Auffassungen, die in den angeführten
Definitionen zum Ausdruck kommen, lassen sich wie fol^t charakteri-
sieren. Reuleaux hat seiner Auffassung vom Wesen der Ma-
schine <,'lcich auch die Bezeichnung, durch die er sie von anderen
— fircilich nur technologischen, wie z. B. einer „physikalischen" —
unterschiedet! wissen will, hinzugefügt; er nennt sie die „kinema-
tische". Sie kcnn/richnet sich dadurch, dafs sie die Gesetze auf-
stellt, „die der Bildung der Maschine zu Grunde liegen" sie
enthalt somit eine „Theorie der Zusammensetzung der Maschine
auf neuer Grundlage." *) Auf alle Fälle lehrt sie, was die Maschine
ist und kümmert sich nur gel^entlich um die Frage, was die Ma-
schine leistet. Diese Frage nun aber nach der spezifischen
Leistung der Maschine im Arbeitsprozels ist diejenige,
die bei unserer Begriffsbestimmung in den Vordergrund gerückt
*) Ebenda S. 53'54- Vgl. daxn S. 490, 492 flf.
*) F. Realeanx, Ueber den Einflnb der Masehine auf den Gewerbebetrieb.
Vottnc, gehalten in der MwennugcsellKbaft in Fhudcfnit a^M. abgednickC in „Nord
nnd Sad**. 1879. 5.113/114.
«• Reuleaux, Thrur. Kin. S. VII. vgl. S. IX.
*} Ebenda, S. 4. dazu S. 31 ff., wo der Verfasser seinen Standpunkt
noch pmauer kcnnzrichnct.
Archiv für *ot. Gesctzgebuns u. ^jtati'ttik. XI V. 3
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34
Werner Sombart,
ist. VV^ir erinnern uns dabei der Worte, woiiiit wir diesen unseren
t e c hn i s c h - ö k o II o m i s c h e n Standpunkt genauer präzisiert
haben. Dort wurde ausgeführt, wie es die Inbeziehungsetzung der
menschlichen Arbeit mit dem der Natur für unsere Bcdarfsbefrie-
digun;^^ abzuringenden Erfolge ist, die die spezifisch technisch-öko-
nomische Autiassung von dem Produktionsverfahren, also auch von
dem Maschincnj)rinzij> ausmacht.') Dem Sclilufsworte Rculeaux:
„Das allgemeine Prinzip . . , der Maschine ist die Ik-wegungs-
erzwingung" können wir nun von unserem Standpunkt aus ein
ebenso kurzes Motto entgegensetzen: „Das allgemeine Prinzip
der Maschine ist A r b e i t s e r s e t z u n g." Wie sie diese Funk-
tion erfüllt, lehrt die Kinematik.
Dafs nun aber diese beiden Auffassungen einander nicht aus-
schlielsen, sondern wie wir schon sagten, sich auf das glücklichste
ergänzen, wird ersichtlich, sobald wir nach dem P_i n t w i c k 1 u n g s -
p r i n z i p der M a sc h i n e fragen. Da ergiebt sich nämlich
folgende i\insicht xon grolscr Tragweite : dafs die Maschine, in dem
Malsc, wie sie in kitu uialis« 1k r Beziehung sich vervollkommnet,
auch in technisch-ökonomiM-hcr Wirkung an W^llkommenheit zu-
nimmt. Was wir auch sr» ausdrucken können: Je lückenloser die
Maschine den Bewegungszwaiig ausübt, desto näher kommt sie
dem endlichen Ziele ihrer Bestimmung, der vollständigen Arbeits-
ersetzung.
Das wird ersichtlich werden, sobald wir die beiden Entwicke*
lungsreihen neben einanderstellen. Dabei macht es keinen Wesens-
unterschted, welchem Zwedee die Maschine dient — wir teilen die
Maschinen in Kraft- und Arbeitsmaschinen, je nachdem durch die
Maschine eine Kraftau(serung oder eine Arbeitsleistung im engeren
Sinne erzielt wird und letztere wiederum in ortsverändernde oder
transportierende und formverandemde oder transformierende^, —
vielmehr läfst sich för alle Kategorieen folgendes sagen:
Unteir kinematischem Gesichtspunkt wird die Entwicklung der
Maschinen zu höheren Formen charakterisiert durch den allmählichen
Uebergang vom Kraftschlufs zum Ftorschlufs, d. h. von der Schlielsung
*) Marx stn-ilt die Vf rschiedcnhcit drr Auffassung von dem Wesen der M«-
hi hitif ebentalh lliicluij; (Kapital I*, ohne jedoch die l'nterschcidungs-
kritcncn anzugeben. Die eine darauf zu bc/.ichcndc Bcmcrkuiij^ : ,, Vom ökonomischen
Standpunkt . . . taugt die Erklärung — sc. der Mathematiker und Mechaniker — nichts,
denn ihr fehlt das historische Element," ist zicnlich unglücklich.
*) Vgl. dazu Rettleanz, Theor- Kin., 479 ff.
Die gewerbUche Arbdt und ihre Organiwrinn,
3S
von £]eiiieiitenpaai€n duroh sensible Kräfte zu einer Schlie&ung
durch btente Kräfte, d. h. solcher Kräfte, die in den ein Elementen*
paar zu zwangsweiser Bewegung bringenden Körpern gebunden
sind.') Das Kntwicklungqninzip ist danach zundimende Beschrän-
kung der Bewegung in gewollter Richtung. Dem ungebandigten
Walten der Naturkräfte, welche in schrankenloser Freiheit auf
einander prallen, um im Kampfe aller gegen alle das unbekannte
Erzeugnis der Notwendigkeit hervorzubringen, steht gegenüber die
durch Beschränkung auf ein einziges und beabsichtigtes Ziel ge-
lenkte Kräftewirkung in der Maschine. Je sicherer und exakter also
der gewünschte Erfolg erzielt wird, desto vollkommener ist die
Maschine in kinematischer Hinsicht entwickelt. Nun stellt aber
auch die Mitwirkung der menschlichen Hand bei der von der
Maschine zu bewältigenden Aufgabe immer noch ein Moment der
Unsicherheit, einen Kraftschlufs dar. Das Streben nach kine-
matischer Vollendung deckt sich also mit dem Bemühen, den An-
teil der menschlichen Thätigkeit zu verringern. Je vollkomTnener
also das Prinzip des Rewcg^un^rszwangcs verwirklicht wird, desto
vollkommener wird gleichzeitig^ - pari passu — dem Prinzip der
Arbeitsersetzung Geltung verschafft.')
Näheres darüber siehe bei Rculcaux, a. a. O. namentlich im VI. Kapitel,
und ygU ebenda S. i6i ff., 227 if. und patsim.
*) Du Beispiel des jedenmum bdumitea Entwicklangsgaiifes der Dampf-
maadiiBe tcmg. das Gesagte vcideatlidieii: Die Newaunensehe libadiiBe erforderte
nocit ia weitestem Umfinge die Mitwirkung des Menschee« Der Arbeiter mnfste
Tcgebnäfsig mehrere itthne öilnen ond schliefsen und anfserdem die Dampfspannung
kontrollieren, bis Newcomen das Sicherheitsventil hinzufügte und der Knabe Humphrejr
Pottcr, um sich von der geisttötenden Beschäftigung des Bewachens der Hähne zo
befreien, die Hebel der Hähne durch Stricke mit dem Wagebalken der Maschine ver-
band und so die mechanische Steuerung herstellte, also an Stelle des Krai'thchlusses
<lcn raarscblufä setzte. Unter den Neuerungen Watts finden sich auch mehrere, die
den rein «ntonatiMlMB Gang der Dampflnaschine beibdflilnlisii: Sdiwnngrad, Droüd-
klappe, mcclianischcr Moderator, in denen noch mechaaisclic Oelapparste, Sidicrangen
an Schnaben n. dgL hinsvtreten. VgL noch Em. Herrmann, WirtachaftHche Ur»
sadien nnd Fdilerqnellcn des Denkens in „Knltnr und Nator** S. 184 ft vnd fttr
die Entstehung der Dampfmaschine insbesondere : F. Reulcaux, Kurzgefafste Ge-
schichte der Dampfmaschine. Braunschweig 1859. Th. Beck, James Watt und
die F.rhndung der Dampfmaschine. S. A. aus dem Gewcrbcblatt für das Grnfs-
herzogtuin Hrssrn. Jalirgang 1894, dessen (nicht genannte!) Quelle das bekannte
Werk von James Patrick Muirhead ist: The origin and progress of thc mechanical
invenüon of James Watt. 3 Vol. London 1854.
3*
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36
Werner Sonbart,
In dieser Arbeitsersetzung ofTenbart sich nun aber nicht nur
das innerste Wesen der Maschine: es liegt in ihr auch die Be-
deutui^ eingeschlossen, die dem Eindringen der Maschine in den
Arbeitsprozcfe für die gesamte materielle Kultur beigelegt werden
xnuts. Erinnern wir uns des leitenden Gesichtspunkts, unter dem
wir alle Eigenarten des menschlichen Arbeitsverfahrens zu betrachten
uns vorgenommen hatten: des Einflusses, den sie auf die Erweite-
rung der Machtsphäre des Menschen im Bereiche der spröden
Natur auszuüben vermögen, so mufs der Maschine die allergröfseste
JFähigkeit, jene Machtsphäre auszuweiten, beigemessen werden. Sie
ist es, die das Wort des Weisen : „Du bleibst doch immer, was
Du bist", was technisches Können anbetrifft, Lügen gestraft hat.
Denn sie ist es, die die Leistungen des Menschen über das natür-
liche Ausmafs seiner Organe hinauszuheben xerniag. Sie reckt den
Arm und den Ktkper zu riesigen Verhältnissen, >ie schwellt die
Muskeln ins (ligantischc und verleiht den hingern subtilste Fein-
fühligkeit, sie trägt den Blick über Tausende von Meilen und leiht
den Füfsen die Schnelligkeit des Windes. Planer gesprochen : in
qualitativer und vor allem in quantitativer Hinsicht steigert die Ma-
schine das men.schliche Können über das i n fl i \- i d u e 1 1 erreich-
bare Maximum von Vollkommenheit hinaus. Auch das
feinste Werkzeug, der delikateste (iriffel oder Meifsel in der Hand
des Arbeiters kann doch nie etwas anderes leisten als manuelle
Fertigkeit unterstützen: die Arbeitsmaschine dagegen kennt diese
Schranken nicht. Sie braucht nicht den Kontakt zwischen Auge
und Hand niehi , auf dem alle X'crfeinerung manueller (ieschicklich-
keit beruht: ^ie kann so lein schneiden, so sicher und regclniäfsig'
eine Verrichtung wiederholen, so leise klopfen, so fein bohren, wie
niemals die menschliche Hand, in der das warme Blut des leben-
digen Menschen strömt, es vermöchte: .sie ersetzt eben in voll-
kommener Form die Arbeit des Arbeiters. Kein noch so kräftiger
Schmiedegeselle hebt einen Zuschlaghammer, der mehr als 50 Pfund
wöge, keine noch so geschickte Spinnerin vermag mehr als einen,
höchstens zwei Fäden auf einmal mit der Hand zu spinnen: der
grofse Dampfhammer im Kruppschen Werke wiegt 50 Tonnen, das
sind 1000 Zentner, die neuen Spinnmaschinen setzen 2 — 3000
Spindeln auf einem Wagen in Bewegung. Um diese höchsten
Leistungen der Maschinerie zu begreifen, mufs man sich folgender
Momente bewulst sein: in jeder menschlichen, formverändemden
Arbeitsleistung, so lange sie nkht machinal ausgefiihrt wird, steckea
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Orgniiaation.
37
zwei Bestandteile : die geistig-manuelle \'crrichtung selbst und die
dafür aufzuwendende Kraft, beide zunächst organisch und scheinbar
unlöslich verbunden. Nun kann die eine oder die andere dieser beideti
Funktionen allein von der Maschine übernommen werden; sodafs
eine Kraftniaschine dem Arbeiter lediglich den eigenen Kräfteauf-
wand ersetzt, er aber selbst alle eigentlichen formverändernden
Thatigkeiten nach wie vor ausführen mu&: ein Fall, der adten ist
und auch nur immer fUr Teile des gesamten Kraftaufwandes denk-
bar ist, da ja auch die ein&chste Formvetinderung doch immer
noch eines wenn auch noch so leisen Kraftaufwandes bedarf; oder
aber: es geht zunächst die eigentliche Arbeitsverrichtung auf die
^Arbeit&-)Maschine über und dem Menschen verbleibt einstweilen
die Leistung des Krafhiufwandes. Dieses ist ein in der That sehr
häufiger Fall. Er ist der normale in allen Anfängen menschlicher
Kultur bis tief in die neue Zeit hinein. „Was der zum Bewu&tsein
erwachte Mensch bei Schaffung der Maschine dunkel wollte, ist die
Erzwingung bestimmter Bewegungen an leblosen Körpern für seine
Zwecke. Die Kräfte zur Verursachung dieser Bewegungen sucht er
zuerst nur in sich und seines Gleichen. Fem noch liegt ihm die
Unterjochung der Naturkrafte au6er ihm" (Reulea ux). Nun ist
iur |len Entwicklungsgang der Maschinerie folgendes zu beachten:
meistens wird eine bestinunte Arbeitsverrichtung nicht gleich ganz
von der Maschine übernommen, sondern nach und nach, Teil fUr
Teil.') Die Maschine ist nicht gleich von Anfang an Voll-
maschine, wie ich es nennen will, sondern häufig erst Teil-
maschine. Ein bekanntes Beispiel bietet wiederum die Ent-
wicklung der Spinnmaschine. Das Spinnen erfolgt gleich in seinen
AnGmgen maschinell: die Spindel ersetzt die sonst vom Menschen
auszuführende Drehbewegung.*) Diese machinale Vorrichtung wird
nun vervollkommnet im Spinnrade: die Hände werden völlig von der
Verrichtung des Haltens und des die Spindel in Bewegungsetzens
befreit und alle Kraftzufuhr erfolgt durch den Fufe. Es verbleibt
jedoch die Thätigkeit des Fadenherausziehens — wobei es darauf an-
kommt, der Spindel eine entsprechend geringe Menge Fasern zuzu-
*) „Solo « pooo a pooo 1» madiin« si perfesioDA, dim si enaadp*; diviene
atta al nolo mrmniro cd in altimo qoasi cutoniaticft". A. F. Labriola, Tecnica
•d Eoaoottia. Diw. di Laim« (1894) pag. 5.
*) Die Spiadel wild riclitie nm Renleanz, Thcor. Kin., 223 sdion eine
machiaale Vorriditaiig gtaaaat.
38
Werner Sombart,
fähren — Domäne der menschlichen Hand; ein Teil der ibrmver-
ändernden Arbeitsverrichtung also dem Arbeiter. Diesen letzten
Rest menschlicher Mitwirkung bei dem Spinnprozefs zu beseitigen»
darin beruht die Bedeutung der Erfindungen des i8. Jahrhunderts. Alle
neuere Maschinenspinnerei beruht auf der Anwendung zweier oder
mehrerer Walzenpaare, die sich mit ungleicher Geschwindigkeit
umdrehen und zwischen denen der zu spinnende Stoff, nachdem er
durch die Karde in lange Bander verwandelt worden ist, hindurch-
geführt und nach einer Spindel oder geflügelten Spule hingeleitet
wird. Es werden dann nämlich jene Bänder, weil die vorderen
Walzen eine viel schnellere Bewegung haben als die hinteren, zu
einem Faden auaeinandergezc^n, während dieser zugleich durch
die schnell sich drehende Spindel die nötige Zwimung erhalt*)
Damit war die Kette der machinalen Einrichtungen geschlossen und
der gesamte Spinnprozefe der Maschine übertragen — bis auf die
Zuführung der Kraft, die eine Weile noch dem Menschen oblag.
Die ersten Spinnmaschinen wurden bekanntlich mit der Hand ge-
dreht. Nun aber, worauf es ankonmit: erst in dem Momente, und
auch keinen Augenblick früher, wann eine bestimmte Arbeitsver-
richtung in allen ihren Teilen (ausgenommen die Kraitzufiihrung)
dem Bereich der menschlichen Mitwirkung entzogen ist, wird es
möglich, das Quantum der in Finem auszuführenden Arbeit beliebig
zu vermehren, ohne durch die Enge des individuellen Arbeitsver-
mögens beschränkt zu sein. Nun erst nützt die Vcrgrofserung der
KiaftqueUe, die so lange unnütz war, als die Arbeitsverrichtung an
irgend einer Stelle die menschliche Handthätigkeit passieren mufste.
Man kann danach ermessen, welche Bedeutung fiir die Entwick-
lung der Maschinerie die vorherige Zerlegung eines Gesamtarbeits-
prozesses in möglichst viele Teilvorrichtungen hat. Denn offenbar
genügt es, um die machinale Thätigkeit zu voller Entfaltung zu
bringen, dafs an irgend einer Stelle des Arbeitsprozesses eine Vor-
nahme sich so isolieren läfsl. dafs sie als Einheit erscheint und als
solche der menschlichen Handthätigkeit entrückt wird. Sobald das
') Meines Enditeiis mit Recht wiid deshalb auch derjenigen Erfindang epochale
Bedeutang snsaericennen sein, wddie nient dieses Vfahmptmdp ftr die Faden-
bildvng nDtsbar madite. Es ist die nomindl Yon L. Fnnl, thatiSchlich vahr>
sdicinlich von Wyatt herrührende, schon im Jahre 1738, also lange vor Ark»
wright patentierte Erfindung. Vgl. Baines, Geschichte der britischen Baumwollen»
manufaktur etc. Stuttgart und Tübingen 1836. S. 44 ff. Dieses Urteil teilt fibrigeos
aoch Karmarscb, Geschichte der Technologie (1872) S. 596 if.
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Die gewerbUche Arbeit und ihre OrganiMdoD.
39
der Fall ist, kann diese Spezialvorriclitung belicbi^^ über individuelles
Können hinaus beschleunigt oder ausgeweitet werden. Man denke
an die Steppmaschinen, an die Knopf lochmaschinen, die l alz , I'räs-,
Polier* etc. Maschinen in der Schuhwarenindustrie, an die Fädel-
masdhine in der Stickereiindustrie etc., die alle nur Teilverrichtungen,
aber diese ganz machinal ausfuhren. Die Arbeitszerlegung hat die
Maschinerie viel&ch erst ermöglicht, wie umgekehrt erst die Ma-
schinentechnik das Prinzip der Arbeitszerlegung bis in seine äuiser-
sten Konsequenzen treibt.')
*) „Dm Streben gebt . . im gansoi dabin, di* Arbelt, nacbdem sie soveit ge-
teilt ist, d«& die rtttiehien Arbeatsverfabren nur nocb Kiaftanrtrmgwng beuspmcben
dem Mcascben abzunehmen und einer Maschine zu übertragen." Lindner, a.a.O.
„In manchen Maschinenfabriken schreitet dir Spezialisierung der Arbeits* und
Werkzeugmaschinen so weit fort, dafs für icde Fl.Hrhenart und Dinionsion
des Werkstücks, ia für jede Fläche jedes einzelnen Teiles des \\'erk-.tiiikes eigene
Arbeit>niuschinen vorhanden sind. Da giebt es z. H. Kisenhobelniaschincn. allein
für LokomotivtricbitMigeii in sechs bb zehn Arten, eigene Drehbänke fUr Nebenteile,
wie die obere und die Breitseite des inneren LokomotivfBdkniniesT md wieder
eigene Drdifalnke fllr die iwei bis drei Seiten- md obere Flleben des Tyres,
wddMr «of den inneren Radknuix angeschweiftt werden soll. Und nrnr bier
wieder dgene ItoicMttfii fllr LotoauiU»ttiebi&der und fllr einAche Trag- oder
I^ufräder je nach der besondem Dimension derselben." E. Herr mann, Miniatur»
bilder, 156. In einer hiesigen Schuhfabrik zähle ich folj,'ende Typen von Arbeits-
ma«ichinen: 4 verschiedene Stepp-, Knopfloch-, Knopf- und Heftmaschinen; 3 ver-
schiedene Sohlenschneidemaschincn ; 3 verschiedene Stanzmaschinen ; 1 i verschiedene
Maschinen, die der Befestigung des Bodens am Schaft dienen, 13 verschiedene Ma-
schinen, die sich mit der Appretur des fertigen Stiefels (Fräsen, Polieren, Ausglasen,
Flibenete elc) besdiiftigen, susaainen 34 verschiedene Arten von Arbeits-
oascbinen, man denke: mm Ersats von Friemen und Ibuamerl In der Gewehr-
fabrikation werden Uber 600 verschiedene Maschinen verwandt Aehaliche Mannig-
faltigkeit der Maschinerie herrscht in der Nähmaschincnfabrikation. Selbst eine so ein-
gehe Prozedur, wie die maschinelle Herstellung unserer Zündhölzchen, erfordert ein
ganzes System von Arbeitsmaschinen. Da finden wir: 1. die Dampfsäße; 2. die
Jkrhälmaschine ; 3. die Abschla^maschine ; 4. die Putznuisiiiine ; 5. die Gleiclilege-
ma^schine; 6. die Einlegemaschine; 7. die Dampfhobclbank , 8. die Schachtelschäl-
majbchine; 9. die Schachtelspan-Teilmascbine ; 10. die Aufsen&chachtelmaschine ;
lt. dBe EÜkctlieraMsddn»; 12. die InncnscbachtHmascbine; 13. die Einlegemaacbine;
14. Anstricbmaadiine; 15. die Einparkmaschine ; 16. die Etikettenlddmiascbine.
Da& in anderen FiUen die EinflOmmg der Masdiine frOher aerl^e Arbeit wieder
konq>1cK madl, — > oft dtierte Beiqpide dafllr, die manche Autoren mit Umecht ver-
allgemeinert haben, sind die Nagel- und Enveloppemaschinen .ändert nichts an der
Thatsacbe, daCi als Regel Arbeitsserkgung und Mascliinentechnik Hand in Hand geben.
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40
Werner Sombart,
Man bat häufig unser Jahrhundert als Maschinenzeitalter
geschmeichelt wie verflucht." Dachte man dabei daran, eine be-
sonders rasche Entwicklung der Maschinerie als unserer Zeit charak*
teristisch hinzustellen, so läGst sich dagegen nichts einwenden. Zu-
weilen b^^[net man aber sogar in wissenscliaftlichen Auslassungen
auch heute noch der Vorstellung: als ob um die Wende des vorigen
Jahrhunderts die Maschine überhaupt erst in die Erscheinung gc*
treten und die Jahrhunderte vorher eine maschinenlose Zeit gewesen
seien. Diese Annahme ist ganz und gar verkehrt Die Maschine
ist fast so alt, möchte man sagen, wie das Werkzeug; sie begleitet
den Menschen auf allen Etappen der Kultur und wächst in lang-
samer, schrittweiser Entwicklung zu der heute erreichten Voll-
kommenheit heran.
Wir haben uns nach dem Vorgang R e u I e a u x jetzt daran ge-
wöhnt, als erste Maschine, also als den „ersten schüchternen
Versucli des Menschen, /wn aufser ihm stehende Körper zu einer
bestimmten gegenseitigen Bewegung zu /.wingcu," den I' c u e r r] u i r 1
zu betrachten.') Dann fällt aber der Anfang der Maschinenent-
wicklung in eine Zeit, in der die Mensrhen das Feuer blols erst
zu religiösen, noch nicht 7.u gewerblichen Zwecken nutzten, -) also
in eine aufserordentlich frühe Periode der Kultur. .Aber auch
atidcrc ohne allen Zweifel inachinale X'orrichtungcn reichen in <lie
Dämmerung entlegenster Zeiten zurück: Pfeil und Hogen. .Sjjindel.
Töpferscheibe, von der flie Drehbank sich ableitet, unterschlächtigc
Wasserräder, Wagen und Wagenräder, der Pflug sind Maschinen-
vorrichtungen, die wir schon frühzeitig im Besitze der Menschen
finden. *) Und aus den ersten Anlangen sehen wir die Maschine
M k«'ulcaux, Thcor. Kincin., I98 ff. Vj^l. über dies«- erste M.Tschine"
ferner L. r/cij^cr, Zur Entwicklungbge&chichte der Menschheit (1878) S. 93 ff.
L. Noire, Das Wcrkzcuji, S. 298 ff.
*) Die Geigersche Hypothese Aber die Entdeckung des Feuert al$ richtig
Migenomnien; vgL oben S. 18.
VgL bierni vor «Uem das VL Kapitel der Reuleauzsdien Kinematik, das
einen „Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Maschine" enthilt
üebrigens sah auch Gustav Klemm schon deutlich die AnfKnge des Ma-
schinrnpriuzips vor .Vufjen, als er folgendes bemerkte : ,,NVir können wolil unter die
L'ranläiifj«- der .Maschinr- da.-, alte Reibungsfeuerzeug, den Drillbohrer und die Hand-
mülili- r'-rlunti. Di-mnäclist ist Spindid und Webstuhl, sowie die allerdings erst
ziemlich spat eiuirctcude Drehscheibe der Tüpfcr dabei zu beachten . . . Die Wasser-
räder, die wir in Aegypten und China sehen, die Wassermühlco, ja die in Polen
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Die gewerbliche Arbeit und ihr« Oiftaintion.
4»
sich langsam zu höheren Formen entwickehi. Ein vortreffliches
Schulbeispiel fiir diesen organischen Entwicklungsgang der Ma-
schinerie bietet die Geschichte der Mehlbereitungsver&hreni also
der Müllereitechnik.
Wir wissen, dafs schon aulserordentlich früh machinale Vor-
richtungen zur Zerkleinerung der Getreidekörner bestanden haben
So iiiufs es !)ci den Chinesen früh üblich geworden sein, an der
Keule, mit der in dem steinernen Mörser die Kömer gestampft
wurden, einen horizontalen Hebelarm anzubringen, der mittels
Zapfen ungefähr in der Mitte seiner Länge zwischen zwei mit
Löchern versehenen Steinen beweglich eingelagert war. Eine
andere, auch noch primitive, aber schon entwickeltere MaliN
maschine bietet uns das Bild einer alten ostindischen Mühle dar.
Dort ist der Mörser bereits ein breiter Kessel aus Stein, welcher
auf einem steinernen Postamente ruht. Die Keule besteht aus
einem schweren Baumstrunke, welcher mittels eines daran bc*
festigten horizontalen Balkens von einem Orlisenpaar im Kreise
gedreht wird. Von diesen ürtypen der Mahhnaschine gehen dann
die zahllosen Verbesserungen und Verfeinerungen Schritt für Schritt
weiter : die Mahlsteine vervollkommnen sich und ihre Bewegungen,
Sieb- und Reinigungsvorrichtungen werden dem Mechanismus ein-
f^'cordnct, die ZufülirunL,' und Abführung des Materials wird auto-
matisch bewirkt. Und mit der Vervoilkomniiaing der MahKDt rich-
iLin^ {parallel geht die Xut/barinacluing immer stärkerer und Ireierer
Kraftquellen : zu Ciceros Zeil wurden Wasserräder als Motoren an
.Stelle der .Sklavinnen eingeführt,') seitdem 12. Jahrhundert datieren
die W inthiuihlen. Heute liaben wir die D.inijtfnuihie, in der der
.steinerne Mühlstein durch die eiserne Walze ersetzt ist und in der
das Prinzijj der Maschinerie in höchster Vollendung zur Anwendung
gebracht ist.
Immerinn werden die gewaltigen Fortschritte der Maschinen-
technik seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts nicht nur als gleich-
noeh ttblkhen HandmUhlen, die mit dem Hebelum bewegt werden, sind schon
weiter entwickelte Mnscliinen." VgL Werkzeuge and Waffen (1854) S. 302/303.
*) „Dio bat die Arbeit der BiGidchen den Nymphen befohlen
Und it2t hüpfen sie leicht über die Räd«r dahin,
Dafs die orschütterten Achsen mit ihren Speichen sich wälzen,
Und im Kreise die Last drehen des wäl/.enden Steinen."
I Stolbergschc UcberM-t/.unf; eines Gedichtes des griechischen Dicitters Antiparus;
cilicrl bei Marx, Kapital I 373.j
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Werner So m bar t ,
mSTsige Weiterfuhrung des bisherigen Entwicklungsganges angesehen
werden dürfen, man wird vielmehr, um sie in ihrer prinzipiellen
Bedeutung zu verstehen, betonen müssen, dals in die zweite Hallte
des vorigen Jahrhunderts eine Reihe von Ereignissen auf dem Ge-
biete der Technik lallt, die thatsachlich berufen waren, den Begimi
einer neuen Aera des Maschinenwesens zu datieren. Sie beziehen
sich einmal auf die Entwicklung der Arbeitsmaschinerie.
Diese erreicht gerade in jener Zeit zwei bedeutungsvolle Etappen:
sie wird vollendet dar einige der wichtigsten Produktionszweige
(Textilindustrie, Papierfiibrikation) und sie erobert dasjenige Gebiet,
das den eigentlichen Stützpunkt für ihre weitere Vervollkommnung
erst abgab: die Herstellung wiederum von Maschinen. Erst von dem
Augenblick an, wo dieser Punkt erreicht war, konnte ein rascheres
Tempo der Maschinenentwicklung einsetzen: die Verfeinerung'),
wie namentlich die Ausweitung der Dimensionen ist erst möglich
bei maschinellem Maschinenbau. Das entscheidende Moment
aber war, dafs parallel mit diesen bedeutsamen Fortschritten der
Arbeitsniaschinerie die Nutzbarmachung derjenigen Naturkraft sich
vollzog, die an Mächtigkeit und Beweglichkeit alle früher genutzten
Kräfte um ein Vielfaches übertraf : des Dampfes. Auch dem „König
Dampf' mufs eine gerechte, kritische Würdigung der technischen
Errungenschaften unserer Zeit wieder zu seiner alten Würde ver-
helfen, die ihm eine Reihe von Historikern, in berechtigter Reaktion
gegen die ursprünglich kritiklose Alleinbetonung der Bedeutung der
Dampfmaschine und in ebenso berechtigter Hervorkehrung des
Einflusses der Arbeitsmaschine auf den Entwicklung^ang der mo-
dernen Industrie, streitig zu machen bemüht gewesen sind. Beide
Seiten in der Entwicklung der Maschinerie-, Arbeits- und Kraft-
maschine müssen eben stets als sich gegenseitig bedingend ange-
sehen werden. Gewifs hätte die gezügelte Dampfkraft gar keine
vernünftige X'erwendun^ gefunden, wäre nicht eine entsprechende
Entwicklung der Arbeitsinaschinerie vorausgegangen. .Andrerseits
aber, muls man sagen, würde die Weiterentwicklung der letzteren
auiserordentUch viel langi>ainer von statten gegangen sein, ohne die
Eine der töt die Entwiddinig der lUsduneric cntscbeidciiden Emmgeasdiaflca
ist die derartig: exakte Herstellung der elBXclBcii Maschinenteile, dtü diese bdiebig
von einer Maschine in die andere eingesetzt werden kfimien. Dieses System der
.\ustauschl>arkrit der einzelnen Teile ..interchangeaMr System") ist «ber erst möflidl
geworden bei maschinennaäfs>iger Herstellung der Maschinen.
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Die gewerbUcbe Arbeit and ihre OrpuiimtiaiB.
43
in der F.rfitKlunj:^ der Dampfmaschine ersclilosseiic neue Kraftquelle.
Die Bedeutung der Dampfmaschine liegt in zweierlei : einmal in
der durch sie bewirkten ungeheueren Steigerung der Kraftpotenz;
sodann aber und vor allem in der durch sie geschaffenen Möglich-
keit, zu beliebigem Zweck an beliebiger Stelle zu beliebiger Zeit
eine beliebig grofse Kraft für machinale Zwecke zur Verfügung
stellen zu können. Damit aber wird eine Fülle von Hindernissen
beseitigt, die der Entwicklung der Arbcitsmaschincrie entgegenstand:
die gesteigerte Kraftentfaltung macht erst in weiterem Lmfange
Arbeitsmaschinen gröfsercr Dimensionen verwendbar, wie sie auch
ihre Herstellung erst ermöglicht; beides ohne Beschränk-ing in
Raum und Zeit. In dieser quantitativ und qualitativ beliebigen
Kraftentfaltung ist die Dampfmaschine in keiner früheren Zeit von
irgend einer Kraftquelle übertroffen worden, scheint sie aber auch
durch neuere Kraftquellen, wie die Elektrizität, die durch andere
Vorzüge ausgezeichnet sein mag, kaum übertroffen zu werden. Und
sofern in dieser Beliebigkeit der Kraftentfaltung das wesentlichste
Forderungsinittel ffir die Entwicklung der modernen Technik er-
bfickt werden muTs, Ist es wohl statthaft, unser 2Seitalter ab das-
jenige des Dampfes zu bezeichnen.')
Aber nicht die rasche Vervollkommnung der Arbeitsmaschinerie»
nicht die Erfindung der Dampfmaschine ist es am letzten Ende,
was der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für die Entwick*
lung der Technik jene wirklich einzig epochale Bedeutung verleiht,
die sie besitzt Denn ich sehe in dieser Entwicklung, die ihren
Anfeng mit dem ersten Auftreten des Werkzeugs nimmt, thatsächlich
nur ein einziges Ereignis, das die Zeit vor seinem Eintritt und die
Zeit nachher als zwei prinzipiell von einander verschiedene Perioden
erscheinen lälst, derart, da(s wir überhaupt nur zwei Hauptepochen
in der Entwicklung der menschlichen Technik unterscheiden dürfen:
die erste von den Anfangen des Menschengeschlechts bis in die
zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts als jenes Ereignis, an das
ich denke, eintrat, die zweite, seitdem bis in die letzten Tage des
Menschengeschlechtes auf Erden, während allen übrigen Verande-
rungcn der Technik nur eine quantitative, keine prinzipielle Be-
Die neneste Statiilik der Mot«»rcB in Dentidien Reidie (1895) enaitteltc im
Gcweibe Motoren mit mmmmen 3431 194 Pferdestiilcea, tob denen J9A^,§ ^ ^
DampfkrBft, 18,4 \ «nf die Waiscrkiaft endkUcn. VierCdjdinheAe der Statiiük des
Dnitidien Reidif. 1898. Erginsnngabeft zum i. Heft. S. 37.
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44
Werner Sorabart«
deutung zuzumessen ist Was ich meine ist die Anwendung
der Wissenschaft auf die Technik, also der Ersatz des Kunst-
verfahrens durch das rationelle oder wissenschaftliche 'Verehren.
Ist es zunächst berechtigt, dieses Ereignis in die zweite Hälfte
des vorigen Jahrhunderts zu verlegen? haben nicht frühere Zeiten
schon das wissenschaftliche Verfahren gekannt? Zweifellos hat das
Altertum, namentlich der Orient, in einer Reihe von Werken uns
Merkmale einer hochentwickelten Technik hinterlassen, die ein aufser-
ordentlich reiches Können unzweifelhaft machen. Aber alles» was
wir von der Art ihres Schaffens wissen, läfst doch darauf schlielsen,
dafs sie nirgends aus der Periode der Empirie herausgekommen
sind aus dem einfachen Grunde, weil ihnen die notwendige Basis
einer nicht mehr einpirischen, sondern rationellen Technik fehlte:
die naturwissenschaftliche Frkt-nntnis. Diese mufste erst eine ge-
wisse Reife erlangt haben, ehe die I cchnik durch sie revolutioniert
werden konnte. Das aber war der Fall nicht früher als eben im
Ausgange des vorigen Jahrhunderts, als die ersten Früchte der
Geistesarbeit jener Heroen des 17. Jahrhunderts geemtet wurden,
die uns das Fundament (K r nioderncn Weltanschauung zusammen-
gezimmert haben. Von den wirtschaftlich hochentwickelten italieni-
schen Städten, wo in Galileis Schule die Grundlagen für die be-
obachtenden Naturwisse nsr haften gelegt wurden, gehen die Strahlen
des Lichtes aus, das die Denker des 18. Jahrhunderts zu ihren fiir
« die Technik erst bedeutsamen Entwicklungen fuhrt. Ich erinnere
an die Schöpfer der modernen Mech inik: Lagrange und l^place,
Poisson , Gauss , die Begi-ünder der Hydrostatik und Dynamik;
ich erinnere an die Schöpfer der modernen Physik: neben
I^voisier uiitl Laplace wiederum: Galvani (1789), N'olta (1792);
an die Schöpfer der modernen Chemie: Black, Priestley, Ca-
sendish , Kirwan, Bergmann, Wenzel und vor allem Lavoisier
') Speziell über den Stand der Chemie, deren Entwicklung die Vorbedingung
aller modernen Induitrie mr, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts urteilt Kar-
marsch, Geschichte der Technologie (1872) S. 33, wie folgt: „VerKtzt num mit
dem Bewnfstsein des jetsigen Znstamdes und Wirkungskreises der Chemie, seine Ge>
danken in das Jahr 1750, so meint man sich nicht un ein Jahrhundert, sondern
um Jahrtausende und in dn unbekanntes Land atrilckgerO^ wo Wissen, Vor-
Stdlnnjren und Sprache gßX keinen Anknüpfungspunkt an die Gegenwart, keine
Möfilichkeit des Uebergangs zu derselben, verraten. Man findet die Wissenschaft in
ciucf Mellung und Bctrii-bsw. isr befangen, wo sie dem Leben im allgemeinen und
selbst der Industrie y^!) gröfstentetls fremd ist; alle Forschungen auf das Qualitative
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
45
dessen Haupt im' Jahre 1794 auf der Guillotine in den Staub
rollte: sie alle gehören fast einer und derselben oder wenigen
aufeinanderfolgenden Generationen an und alle ihre grundlegenden
Entdeckungen fallen in die drei letzten Jahrzehnte des vorigen Jahr*
hunderts» Da nun aber auf ihren Entdeckungen erst die moderne
Industrie ihre rationellen Verfessungsweisen aufbaut, so scheint es in
der That nicht unberechtigt, wie wir es thun, erst von jener Zeit
an das Eindringen der Wissenschaft in die Technik zu datieren.')
dageicliiiliikt, du Qntalitative in den ZasamroentetsoDgen md bei den Piroienen,
VM jetst die wetendidute Gnmdlage aller Unterradunigen geworden itt, valiig nn-
berfldBncbtigt, daher keinen Gedanken an analytische Chemie, noch viel weniger an
Natorgcsetze in den Qoantitätsvcrhältnisse ; keine wissenschaftliche Nomcnkhitur;
die Rcapentienkunde in der unbeholfensten Kindheit; eine profse Armut in chcinib.chen
Apparaten und sonstigen Hilfsniiltcln ; m< i>t ^'an/. unklare und Ailschc Vorstellungen
von den iWstandteilen der alltäglichsten Körper und eine Menge /.u^unimengesctzler
Stoffe fUr einfach gehalten ; etwa drei V iertel der gegenwärtig &chou cuiwickellcn
fhrfMflirn Slaffie, wwie eine lalilkMe Menge von Verbindungen unbekamit and die
OanteUnag nener Verbindungen durchaus dem Zufall flberlassen.**
Und genauer die Entstehungneit der modernen Chemie umschreibend A.
Ladenbarg, Vorträge Aber die Entwicltlmigsgeschichte der Chemie in den
Idslcn hundert Jahren. 2. Aufl. Braunschweig 1887 S. 16 „Zwischen den Jahren
1774 und 1794 ward ein für die Chemie sehr wichtiger Kampf geführt; es galt die
Befreiung von den fesseln, welche die griechischen Philosophen den Denkern jener
Zeit angelegt hatten; es galt die Prinzipien der Bacosclien l.ehrc konsctjuent durch-
zufahren; es handelt sich darum, das Experiment ... als Grundlage aller thcore-
tixhen Folgerung . . . anznerlcenncn." In jene Zeit füllt die Aufstellung des Ge-
tetaes von der Unsenttfrbariteit der Materie durch Lavoisier und von da ab datieren
wir „die moderne Chemie» unsere Chemie." Dafs die moderne Chemie nidit nur die
chemischen Indnstricen im engeren Sinne geschaffen hat, sondern auch fllr eine ganse
Reihe der wichtigsten anderaii Indutrie«!n notwendige Voraussetzung ihrer Entwiddung
war, dürfte bekannt sein. Mul denke vor allem an die Eisenindustrie, dann aber
an die Gährungsindustriecn namentlich also die Nahningsmittelgewerbe , an die
Hilfsinduslricen der Textilbranche (Färberei, Bleicherei), an die ( "dasindustrie, an die
|)olygr:iii!ii-chrii (iL-wcrbc. die ihr. I'iitwickluiig zwar vorwiegend den F'ortschritten
der Physik, aber doch auch eines auiscronientlich wichtigen Zw^eiges der Chemie,
der Elektrochemie verdanken. Wie der Begründer dieser, Humphrey Davy (177S
bb 1829) so gehören übrigens auch eine Reihe anderer bedeutender Chemiker, von
deren Entwicklungen die moderne bdustrie erst recht eigentlich ihren Ausgangs*
IMnkt nimmt, sogar erst dem 19. Jahrlrandert an, ich erinnere an die BegrOnder der
Rttbennickerindnstrie Achard (f 1821) und Klaproth (f 1817), an denSdi0pfcr
der Atomtheorie Dalton, an den der Volumtheorie Gay-I.ussac, anTh^nard u.a.
'i Wenn A. Riedier in seiner vielbesprochenen Schrift: Unsere Hochschulen
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4«
Werner Sombart,
Um nun aber die Bedeutung dieses Ereignisses vollauf ermessen
zu können, müssen wir uns in den Kinzelheiten klar zu werden ver-
suchen, worin denn eigentlich die Verdrängung des empirischen
durch das rationelle Verfahren <^i|)felt, worin der Wesensunterschied
zwischen diesen beiden Methoden der Tcclinik beruht.
In dem K u n s t v e r f a h r e n äulsert sich ein Können, das auf
der Unterlage individuellen, j)ersöiilichen Wissens von der Zweck-
mäfsigkeit bestimmter X'ornahmen zur Krzieluiig eines bestimmten
Erfolges sich aufbaut. Der Baumeister weifs, welcher Art das
Material sein mufs, wie es zueinander zu fügen ist, um dem Hause
Stabilität zu geben, der (ierbcr weifs, dafs, wenn er eine Ochsen-
haut ein Jahr lang in eine Brühe aus Eichenlohe legt, sie dann ge-
gerbt sein wird; der Schuster weifs, wie ors anzufangen hat, um
aus einem Stück Leder ein Paar Stiefeln herzustellen: sie alle kennen
das Was- und das Wie des Arbeitsverfahrens; sie alle arbeiten
nai li l)estimmten Regeln. Ihre Auffassung ist insofern eine rein
tele« »logische, als sie stets nur im Hinblick auf einen zu verwirk-
lichenden Zweck einen Handgriff oder eine andere X'ornahme zu
beurteilen verstehen. Ist die (nundfrage jeden Kunst Verfahrens
somit: wie etwas gemacht wird:'; so geht das rationelle Ver-
fahren von der Frage aus: warum etwas geschieht? Ucber die
rein teleologische Betrachtung des Produktionsprozesses dringt es
und die Anforderanfen des swMudgstcn Jabriraaderts (Berlin 1898) leiiicii Hymniis
auf die , .Technik" in die Worte ausklinken läfst : „die Regel ist . . . , dafs die theore-
tische Xaturforschung der Technik nachgefolgt ist" (S. 48), so kann das in dem Ntunde
eines Wortführers der technischen Ilruhsrhulen zu Mifsverständnisscn .Anlals geben,
da ja das Wort ..Technik" arg unl>e-.tiiunU ist. Meint Kiedler Technik im Sinne
von techuischem Können, wie i. 13. a. a. O. .S. 46 ; „Der Bergbau ist älter aL» die
Geologie, . . . HBttenwescn alter ab Chemie" u. s. w., so wird ihm die Thafche,
dais die BleiiidMii, die sie denn eine Wissenschaft achnfen, ftlr ihres Leibes Itebrang
und Notdurft sorgen molstea, kaun jemaod bestreiten. Es fragt sidi nnr, wie. Und
da buitet die Antwort empirisch. Rationell errt nach Entwicklnng der Wissenschaft'
liehen Einsicht Man wird also gut thun, den Riedlerschen Worten, „dafs die theore-
tische Naturforschung der Technik nachgefolgt ist", binsusnftlgen: „aber der Tech-
nologie stets voraufgegangen."
'1 .\uf diesem empirischen Standpunkt stehen auch noch die älteren Lehrbücher
der Technologie, in Deutschland die sogen. Heckmannsrhe Schule. Sie beschreiben
„die bei technischer Verarbeitung irgend eines KohstotTes und Herstellung gewisser
Knnstecteagnisse ans denselben Torfalleoden Arbeiten nebst den dasn dienUdien
A[^paralen, Werfcsengen und Bfaschinen in dnondogiKher Aufeinanderfolge.** Kar-
marsch a. a. O. S. 89i.
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Die geweiblidie Arbeit «md üire Organisation.
47
zu einer kausalen Erklärung vor: es sucht die Ursachen festzustellen,
die zu einer bestimmten Wiikung führen. Nicht dafs eine Ochsen-
haut gar wird, wenn sie eine Zeit lang in einer Brühe von be-
stimmter Zusammensetzung gelegen hat, ist das, was interessiert,
fiondcm warum sie gar wird, welche Vorgange es bewirken, dals
sich jene Umwandlung in der Zusammensetzung des Leders voll-
zieht, die wir mit dem Ausdruck des Gerbens bezeichnen. Das
rationdle Verfahren betrachtet daher in erster Linie jeden Produk-
tionsvorgan^ als einen Xaturprozcfs , während das KunstveHahren
ihn unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsverrichtung angesehen hatte.
War diese nach R^eln ausgeübt worden, so vollzieht sich jener
nach Gesetzen, deren Ergründung und Benutzung als die eigentliche
Aufgabe des rationellen Verfahrens erscheint.
Die gewaltige Bedeutung dieser scheinbar unwesentlichen Ver-
änderung liegt nun aber in folgendem. Zunächst erfahrt eine gänz-
liche Umgestaltung dasjenige was ich die Art des Besitzes des
technischen Könnens nennen möchte. Dieses wird durch die
Einbürgerung des rationellen Verfahrens gleichsam objektiviert. Wir
sahen schon: jedes Kunstverfahren ruht in der Persönlichkeit des
iJMeisters" eingeschlossen; es lebt mit ihm, es stirbt mit ihm. Nur
was der Lernende ihm abgelauscht und abgeschaut hat, das dauert
über seinen Tod hinaus, schlägt Wurzel abermals in einer Persön-
lichkeit, um mit dieser wiederum zu Grunde zu gehen. Es ist
schon ein sozialer Fortschritt, wenn pjnrichtun^cn zu dem Zwecke
getroffen sind, das technische Können solcherart von (ieneration auf
Generation zu übertra^a-ii. Denn in den Anfangen menschlicher
Kultur, wo diese Rücksicht noch nicht genommen ist , ist es that-
sächlich die Regel, dals die Kette der Ueberlieferung unaus<;csetzt
abbricht und jede Generation vun neuem sich in den Besitz des
alten Könnens zu setzen suchen mufs. Familie und Zunft sind dann
sj>äter solche Bewahrer und Hüter der tecimischen V'erfahrung^s-
weiseii. Aber auch wenn durch sie schon wenigstens als Regel für
die Kontinuität der technischen Entwicklung gesorgt ist: oft genug
ereignet es sich doch immer wieder, dafs mit einem grolsen Meister
ein wichtiges Kunstverfahren für immer verloren geht. Man denke
an die Schicksale so mancher Malmethode in früherer Zeit, (ie-
bannt an die Persönlichkeit des Meisters uikI in den Kreis der
Ixrnenden, der ihn umgiebt, erscheint die Kunst leicht als Geheim-
kunst,') wenigstens dort, wo es sich um höhere I^ormcn des Könnens
') „Et ist charakteristisch, dafs bis ios iS. Jahrhundert hinein die besonderen
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48
Werner Sombart,
handelt Das rationelle Verfahren steht demgegenüber verselbst*
ständigt, objektiviert als ein für jedermann beliebig CaTsbares und
erreichbares Wissen aufserhalb jeder ausführenden Persönlichkeit
Einmal durch Wort und Schrift fixiert ist es unvergängliches
Eigentum aller künftigen Generationen. Damit ist es aber in doppelter
Hinsicht von der Zufälligkeit des rein Persönlichen befreit: sofern
einmal seinem gänzlichen Verluste vorgebeugt ist, sodann aber es
nicht notwendig eines bestimmten, an Ort und Zeit gebundenen
Individuums bedarf, um das betreffende Verfehren anzuwenden:
solange die gewerbliche Thätigkeit, auch schon die moderne
kapitalistische Industrie, noch im Stadium der Empirie sich be&nd,
konnten neue Industriezweige in einem Lande nur begonnen werden,
wenn man Menschen dahin verpflanzte^ die das Geheimnis mit sich
trugen: Die Hereinziehung brabantischer Tuchmacher nach England,
italienischer Seidenspinner und Weber nach Frankreich, die ganze
Emigrantenpolitik der HohenzoUem redet eine deutliche Sprache
dafür, dafs in damaliger Zeit die gewerbliche Kunst an den Künstler
gebunden war. Dann bleibt sie eine Zeit lang an die Produkte ge-
bunden: Dann sorgt ein Land etwa dafür, dafs bestimmte Maschinen
nicht ins Ausland kommen : England im Anfang unseres Jahrhunderts.
Und heute braucht eine Nation ihre jungen Ingenieure und Techniker
nur an die deutschen Hochschulen zu senden , um alle Weisheit in
nuce sich zu beliebiger Verwendung im eigenen Lande zu ver-
schaflfen.
Geweikc mystarics (mystiro) hiefsen, in deren Dimkd nur der cm|^riidi nnd pro-
fesrionell Eingeweihte eindringen konnte." Mnn, Kapitel I^ 451. „Every craft . . .
has a mystecy which mast be stndied or learned by a regulär apprenticeship."
A. Ferguson, Essay on the Historj- of Citü lociety. Hasil. 1 7S9 pap 274.
\\"\f denn in dt-r Anschauunß der frülieren , vorwissrnsrhaltlichen Zeit •<-<Jem
liMlwreii Können ftwas IV bcrnatiirliches, Zauberhaftes, weil rnrrklärliclifs anbuftctc.
Es mag daran erinnerl werden, wie diese Auffassung uns zurucklührt ru den Sagen
Ton der göttlichen Herkunft der Künste und Fertigkeiten, die allen Völkern gemein^
sam ist. In den Anlangen der Kultur ist e» vor allem die Eisenbcrntmig and Eisen»
Verarbeitung, die man mit uystisdien Vofsleilangen unspMin. „Wie das Stannen
der Menscbbett über die wunderbare Kunst, weldie es Tentcht, das hatte Metall im
Feuer zo schmelzen und kostbare Dinge aus ihm zu schmieden, dasu geftthrt bat,
die Erfindung derselben ilbcrirdisrhcn Wesen zuziisch reiben, so kann man sich andi
die Aiisübunj; dt-rselb<n durch irdische Geschöpfe nicht ohne die Zuhilfenahme pe-
lieimiiisvDlIer und x;»ubrrhaftrr Nlittrl vorstellen. Diese Anschauun<j gilt . . . durch
qanz l'urojia." wie tlurch eine prolsc Ment;c von Belegen erwiesen w^ird : O. Schräder,
i>prachvcrglcjchung und Urgeschichte. 2. Aufl. 1890. S. SJ^ IT.
^1 IM
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Die gewerblicke Aibdt and ihre OrsuiMtion.
49
Und wie die Ausübung und Erhaltung der technischen Kuiut
ir. der Zeit der Empirie an die Zufälligkeit des Individuellen ge-
buoden bleiben, so in noch viel höherem Mafse auch die Ver«
mebrung des technischen Könnens. Diese bleibt entweder ganz
und gar dem Zufall überlassen, so dais gar kein Wille der Aenderung
oder des Bessermachens, sondern nur der VV^ille des Wiedereben-
somachens vorhanden ist und lediglich das als Neuerung hinzutritt,
was zufallig im Laufe der Thätigkeit, gleichsam von niifsen herein,
dem Arbeiter als neue Erfahrung in den Schofs fällt. Oder aber
wo überhaupt narh Verbesserung gestrebt wird, da ist es ein unge-
schicktes Herumta.steii und Hcrumprobieren im Dunkeln, ohne klares
Bewufstsein einer bestimmt zu lösenden Aufgabe. .'\n Stelle dieses
versuchsweisen Fastens tritt nun beim rationellen Verfahren das
planmäfsige und methodische Suchen auf Grund der Kenntnis der
Zusammenhänge der bisherit^en \'erfahrun;4s\veisen ; an Stelle des
Probierens tritt das Kxperiinent, aus dem Finder wird der Krfinder
und das Erfinden selbst aus einer L^ele^^entlich geübten dilettan-
tischen Beschäfti^'un<^ geistvoller Pfarrer und in^'cniöser Barbiere zu
der berufsmälsigen Thätigkeit gelehrter Pachmänner. Man ermesse,
was diese Aenderung für die Entwicklung der Technik bedeutet,
"Aii sie das lempo der Neuerungen in einer aller Empirie un-
l ekaimten und unerreichbaren Mafse zu steigern imstande sein
niulste.')
Aber nicht nur werden die Zufälligkeiten des Bestandes und der
V ermehrung technischen Könnens durch die Nutzbarmachung tier
Wissenschaft bcseiti^n . es verschwinden aucli die Zufälligkeiten
der Ausführun«,^ mehr und mehr. r).i> technische Können wird
sicherer, kontrollierbarer, exakter. Begreiflicherweise. Denn nun,
wo alle Zusammenhänge des Produktionsprozesses begriften werden,
ist CS erst möglich, Schädlichkeiten i)laiunärsig zu vermeiden oder
auszumerzen, Lücken dafür auszufüllen, wo das X'erfahren solche
aufweist. Ganze Industriezweige sind erst zu rechter Blüte gelangt,
nachdem die Chemie und neuerdings die Bakteriologie Ahttel an
') Nicht notwendig n steigern brauchte. Der Uebergang znm viaienschaft-
Ucben Verfahren klärt uns nur über das Eine auf: wie es möglich war, dafs in
unserem Jahrhundert eine solche sich überstürzende Neugcstiiltunj; aller technischen
Vornahmen eintrat. Warum diese nun ihatsächlich eintrat, mufb natürlich erst nach-
gewiesen werden, wonach die betreffende Stelle bei Marx, Kapital I *, 453 su be-
richtigen ist.
Archiv für m. Gescttgcbang u. StaUsUk. XIV. 4
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Werner Sombart,
die Hand orab, mit Stetigkeit unter Mcidunjj aller \ orhcr unkontrollier-
baren Störunf:jen die Produktion zu \()llziehen. Man denke an die
Brauerei.') Zaiih eiche Melswerkzeui^c spezieller Art und Dimen-
sionieruni^. ci^cntiiinliclie KontrolK or^^än^^e. präzise Indikatoren, Rc-
gistrierapj)arate, cheniische Proben, pli\ sikalisrlie Hilfsv orrichtunf^en,
wie z. h. Polarisationsinstruincnlc. Spektroskope, Manometer, Brems-
dynamometer u. s. w. stehen der modernen lechnik gegen-
wärti«; zur X'erfüfjun^' , um jene Sirlieriieit in der Ausfiihrung
tler Produktion zu erreichen. 'i Auch hierbei \-ollzielit sich \-ielfach
ein Prozefs, den man eine Objektivierung der Ausführung nennen
küniit( und der viel zur Sicherung des ganzen Verfahrens beiträgt:
Alle Kmpirie ist zur Beurteilung bestimmter Aggregat-, Wärme- etc.
Zustände, zur Messung und W ägung auf die menschlichen Organe
und unvollkommene .\j)j>arate luiil Instrumente angewiesen, (icfühl
und (ieschmack s|iiekii eine grolse Rolle: der Brauer untersucht
das Br,iu\va>ser durch Kosten mit der Zunge, der Färber, der (ierber
prüfen die Müssigkeit mit Auge und Hand. Das rationelle \'er-
fahren stellt dieser subjektiv zufälligen die objektiv exakte Krmitte-
lung der Schwere, Länge, Wärme, Dicke etc. ilurch wissenschaft-
lich genau konstruierte Mel> und Wiegeai)j)arate gegenüber. Und
\u dem Malse wie die Mefstechnik sieh \ er\ oUkonnmiet, wächst tlie
Sicherheit des technischen Verfahrens, das sich jener Mefstechnik
bedient.
Aber nicht nur sicherer wird das einzelne rationale X'erfahren
in seinem V^erlauf: die Basis für das gesamte technische
Können wird in einer ungeahnten Weise durch die Anwendung der
Wissenschaft verbreitert. Und das geht so zu: Die weil die
Technologie den Produktionsprozefs gleichsam losgelöst von dem
ausführenden Organe, dem Menschen, betrachtet, vermag sie ihn
derart in seine Elemente aufzulösen, dafs nicht die Rücksicht auf
die schafTende Hand, sondern lediglich auf eine zweckmäfsige Kausal-
folge der einzelnen Vorgänge dabei den Ausschlag giebt Das ar-
beitszerlegende Verfahren wird damit erst methodisch anwendbar.
' ..Audi dl.- Luft im Hrauhausc wird gegenwärtig nicht nur auf ihren Staub-
gehalt, ilire Feuchtigkeit weg.n de, M;dz'-n>i sornh-m auch auf ihren Ohalt .in
Schimmel-, Sprols- und stiihi hrupd/. ii ;:e]iruft, wobei nuvii -orr;f:ihij^ alle Wr^^v er-
forscht, auf welchen 1 emperaturändcrungcn. Staub, Feuchtigkeit, l'ilzc etc. in die
Werksräume niid KcUer gelangen.*' Em. Herrmann, Technische Fragen (1S91)
S. 297,9s.
*) Em. Herrmann, Tcclmisclie Fragen (1891) S. 297.
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Die gewerbliche Arbeit and ihre Organisation.
Und die Wissenschaft sorpt dann weiter dafür, indem sie kunstvolle
machinale Vorrichtungen ersinnt, dafs die betreffende Teilvorrichtung
im Produktionsprozefs, die sich bei der rationalen Auflösung er-
geben hat, nun auch exakt ausfiihrbar wird, trotzdem sie gar nicht
mehr der natürlichen Bethätigung der nienschliclien Organe ent-
spricht. An die Stelle der durch die lebendige Persönlichkeit
notwendig gebundenen organischen (ilicdcrung der Produktions-
prozesse tritt die nur im Hinblick auf den gewollten Erfolg zweck-
mäfsig mcciianisch eingerichtete Ciliedbildung. Jetzt begreifen wir
auch erst, warum die Entwicklung der Maschinerie in unserem
Jahrhundert eine so rapide sein konnte. Sic ist einer eigenlüm-
lichen und richtigen Wendung in der Auffassung des Maschinen-
crhndcrs zuzuschreiben, welche darin besteht, dafs nicht mehr die
^laschine die Handarbeit oder gar die Natur nachzuahmen sucht,
sondern bestrebt ist, die Aufgabe mit ihren eigenen, von den natür>
liehen oft völlig verschiedenen Mitteln zu lösen (Reuleaux).^) Was
der kluge Ure so ausdrückte, da(s er sagte : Das Prinzip der modernen
Fabrik bestehe schlechthin darin: „to Substitute mttkmtkäl stkiut for
haod skiU and the partition of a process into tts essential con>
stituents» for the division or graduation of labour among artisans."
Ist aber einmal erst die Schranke des Gebiuidenseins an die
Naturbeschafienheit der menschlichen Organe ge&llen, so erolTnen
sich dem technischen Können unermefsliche Weiten. Und darin
liegt vor allem die epochale Bedeutung, die wir dem Eintritt der
Wissenschaft in den Dienst der Technik zuschreiben. Die Produk-
tion wird jetzt eine Synthese beliebiger Stoffe und Kräfte, wie sie
für menschliche Zwecke geeignet sich darbieten. Die eigentliche
Neuerschafiiing der Erde nimmt damit erst ihren Anfang: und die-
*) Du tchlafcndite Bcispid bierftr itt wobl die Erfindong der Nähmaachine,
die bduumtlich auf einem der HandnBherei völlig fremden Prinzip des Nähens auf-
gebaut ist. Vgl. neuerdings R. Es eher, Erfinden und Erfinder in der ..Zeitschrift
für Sotialwisscnschaft • II. lahrf^aii}; (iSoq) S. i6o fT. Im Vorlx-iv^ihcn l)ie oben
citierten Worte Reul'-aux wir überhaupt di-- )^an/.e Auslüliruiifj im IVxt, an die sie
sich anschliefscn, mmhte icl) tlen Herrn von <ler ..(")rßanprojcktion" zur getulligcn
Beachtung dringlichst aa.s Herz legeu. .Sic genügen völlig, um den ganzen mystischen
Blech jener „Theorie" nun alten Etien sn werfen.
*) Andrew Ure, The Philosopby of Muinfactnrea; 3. ed. 1861. p. 20.
Danach Marx Kapital I*, 451, es sei daa Prinzip der grofsen hidostrie, «jeden
Prodnktioasproieis an und Air sich nniclist ohne alle Rttdcsicht auf die mensch«
liehe Hand, in seine konatitnierenden Elemente anfralöscn."
4*
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Werner Sombart» Die gewerbliche Arbeit und ihre Organinlioii.
selbe Wissenschaft, die uns von dem lan^e innegehabten Herrscher-
throne herabgestoGsen und in unserer ganzen Nichtigkeit gcoffcnbart
hat, sie hat uns gleichzeitig die Wege gewiesen, wie wir von neuem
die Welt erobern und die Natur zu unserer gefügigen Dienerin
machen können; wie wir die eingebildete und verlorene Herren-
schaft verschmerzen können dadurch, dafs wir uns eine wirkliche
Herrschaft neu erringen. Es erscheint nicht als eine Entweihung,
wenn wir auf die grundstürzenden Erfolge der technischen Wissen-
schaften in unserem Jahrhundert die freilich andersgemeinten, herr*
liehen Worte Hegels beziehen: ,,Das zuerst verborgene und ver-
schlosaene Wesen des Universums hat keine Kraft, die dem Mute
des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muls sich vor ihm
aufthun, und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen
legen und zum Genüsse geben." ' Was der Dichter ahnend voraus-
sah, Eines wenigstens ist davon jetzt ,,an des Jahrhunderts Neige''
Wahrheit geworden : Du bist, o Mensch ,^titn der Natur, die deine
Fesseln liebet, die deine Kraft in tausend Kämpfen übet, und
prangend unter dir aus des Verwilderung stieg 1"
Die Entwicklung der Bestrebungen für internationalen
Arbeiterschutz.
Von
GUSTAV COHN.
I.
Die überaus anreihenden P^xperimcnlc des schweizerischen Staats-
lebcns haben mich einstmals, solange ich sie aus der unmittel-
baren Nähe beobachten konnte, in weit höherem Grade gefesselt
als die kleinen Beiträge gezeigt haben, welche ich in früheren Jahren
aus diesem Zusammenhange heraus veröffentlichte. Und heute, bei
einem breiten Zwischenraum der Zeit und der Umgebung, ist mir
die Lrinnerung daran mit dem Bedauern gemischt, dafs jenes hiter-
esse nicht fruchtbarer gewesen.
Kins aber möchte ich dafür in Ans[>ruch nehmen. Ks ist der
wissenschaftliche Geist, mit dem ich die Erscheinungen jenes merk-
würdigen Gemeinwesens betrachtet liabe, es ist der Standpunkt, dafs
ich in ihnen den Stoff zur Fcinlerung der Erkenntnis sah und was
ich erkannt zu haben glaubte ohne jede Rücksicht auf den Beifall
der zunächst beteiligten Parteien und Menschen aussprach. Im
Grunde ist das etwas Selbstverständliches; aber es gehört zu den
Scinvierigkeiten eines kleinen Staatswesens, dafs dieses Selbstver-
ständliche zunächst nicht leicht begriffen wird.
Ist erst eine Reihe von Jahren vergangen , ist dasjenige , was
einst die Leidenschaften der Parteien erregte . durch die Wohlthat
der langen Zeit in den kühlen Schatten der (icschichle gerückt, in
dem die wissenschaftliciie Betrachtung sie stets gesehen hat —
dann ist der .\ugenblick gekommen, ins Gedächtnis zurückzurufen,
wie dieselben Wahrheiten, die vor wenigen Jahrzehnten dem, der
sie ausgesprochen, Schmähungen zugezogen, unterdessen durch die
54
Gnitav Cohn,
Macht der Thatsachen zur stillschweigenden Anerkennung oder
lauten Verkündigung gelangt sind , öfters durch dieselben Leute,
welche damals die Leidenschaftlichsten unter den Gegnern waren.
Ein Beispiel ist die Entwicklung des schweizerischen Stcuer-
wesens. Die nur in einem so kleinen Staatswesen mögliche , zu
so plötzlichem Aufschwünge hervorgerufene Steigerung der Kin-
kommcns- und Vermögenssteuern in mehreren Kantonen und deren
Gemeinden, zumal im Kanton Zürich, dem Pionier des experimen-
tellen Radikalismus — sie legte dem wissenschaftlichen Beobachter
um die Mitte der siebziger Jahre die Erkenntnis nahe, dafs hier —
aus mannigfaltigen Gründen — im schnellen Anlauf ein (iij>fel
erreicht sei, über den man rncht hinaus kommen k()nne : dafs daher,
bei dem unvermeidlichen Fortschritte des öffentlichen Bedarfs, die
fernere Entwicklung des schweizerischen Steuerwesens ihren Nach-
druck auf die indirekten Steuern zu legen habe, die um jene Zeit
von den iierrsciienden Parteiprogrammen nach bekannten Rezepten in
den Bann gethan worden waren.
Die Zwisciienzeit hat erfahrungsmälsig bestätigt , was damals
die experimentelle Beobachtung gelehrt hatte. Die Mnanzen der
Eidgenossenschaft haben eine mächtige Entfaltung in der bezeich-
neten Richtung genommen — so sehr, dafs sie mehr und mehr
selbst die Einzelheiten verwirklichen, die damals als Pläne der Zu-
kunft angedeutet wurden.
Ein anderes Beispiel ist die A r b e i t e r s c h u t z g e s e t z -
g e b u n g (oder, wie man es damals noch naiuUe, die Fabrikgesetz-
gebung).
Der reizvolle Versuch mit dem „Normalarbeitstag" in dem
Fabrikgesetze von 1877, die Beziehungen der Fabriken zu den
anderen Formen des Gewerbes, die Versuche der Gesetzgebung die
Grenzen abzustecken, die Einrichtung eines Inspektorats u. s. w. —
dann aber namentlich die an das neue Fabrikgesetz steh knüpfenden
Agitationen fiir eine ,4nternationale Fabrikgesetzgebu ng":
alles das hat gerade in jenen Jahren der AniEnge so viel Anregendes
und Anzielendes dargeboten, dals hier um so mehr die Aufgabe
des Forschers von der Aufgabe des Parteimannes sich scheiden
mu&te.
Der Verlauf und die Etappen auf dem Wege der „internationalen
Fabrikgesetzgebung" sind es, auf welche heute der Blick mit eigen»
tOmlichem Interesse zuriickgelenkt wird, um die Thatsachen von
zwei Jahrzehnten an die damalige Erkenntnis anzureihen, um zu
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Die Entwicklung der Bestrebungen für internationalen Arbeiter&chutz.
fragen, wie die Wirklichkeit zu demjenigen stimmt» was ich damals
und spater gesagt habe.^)
n.
Die Standeskomniission des Kantons Glarus schreibt am 26. Sep-
tember 1855 an den Regierungsrat des Kantons Zürich: „Um die
Konkurrenzverhältnisse unter den Spinnern, soweit sie von diesen
Punkten (Ungleichheit der Fabrikgeset/^jelnin^^) abhängen, in ganz
befriedigender Weise zu regeln, müfste freihch durch internatio-
nale Stipulationen zwischen den industriellen Staaten von ganz
Europa ein einheitliches System geschaffen werden." Daran knüpft
sie die weitere Bemerkung: ,4^a dieses, jedenfalls vorläuhg, in das
Gebiet der frommen Wünsche gehört, so sollte wenigstens der Ver*
such nicht gescheut werden, innerhalb eines engeren Kreises die
Verschiedenheiten soweit tlniniich aufzuheben und die staatlichen
Mafsregeln auf die gleichen Grundsätze zurückzufuhren." Damit
begrenzte sie ihren Plan auf das Gebiet der Schweiz, da hier doch
„die X'erhältnisse fast überall in den industriellen (ietjcndcn an-
nähernd dieselben sind, also auch eine gleichmäisige Regelung des
Gegenstandes gestatten".
L'ni dieselbe Zeit (I857 versandte ein elsässischer Fabrikant,
Daniel I.egrand, ein Rundschreiben an die Regicrunt^en der indu-
striellen Staaten, worin er einen in Paris abzuhaltenden internatio-
nalen Kongrefs anregte, bt-trctls Krlasses einer ,.loi internationale sur
le travail industriel". Kr fügte auch den Entwurf zu einem solchen
internationalen Gesetze bei: zwolfstündiger Maximalarbeitstag, X'er-
bot der Arbeit von Knalx-n uiittr 10 und von .Mädchen unter i2
Jahren, Beschränkung der KiiKicrarbcil auf 6 Stunden, W-rbot der
Sonntagsarbeit und der Nachtarl)eit für alle weiblichen Personen
und für männliche Personen bis zum 18. Lebensjahre.
'J Die lücr zu ncnnendrn Schrifu-n sind ihv l(ilj,'rii<i<ii L'cbrr internationale
Fabrikgesetzgebung , Conrads Jalirbüchcr für Nationalukunomic und Statistik. Neue
Folge. Bd. III, Jahrgang 1881. Verhandlungen de» Vereins für Sozialpolitik za
Frmkfiut *. M., am 9. und 10. Oktober tSSs (Schriften des Vereins IQr Social»
poUtik, Bd. XXI, Leiptig iSfo, S. 57— Sl). Volkswirtichafilicbe AnfriUse. Stattpirt
188s, S. 439 9. Ueber internationale Arbeitcndratigetetigebattg, FirettAiicfae Jahr-
bleher, Bd. 65, 315 ff, Jahrgang 1890. Die intcniatioaale KooCerenc rar Bctpredmng
der Arbeiterscbutzgesetzgcbung (Berlin, 1$. bis 29. Ittrs 1890), Conrads Jahrbttebefi
Nene Folge, Bd. XXI. Jahrgang 1890.
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^6 Gvstav Cohn,
In der Litteratur sind in jenen Jahren eben£üte einzelne
Spuren zu finden. Im ,J>eutschen Staatswörterbuch'' ^) verweist
eine Anmerkung der Redaktion |;^[enüber den Besorgnissen, ,»die
Wahrnehmung des Sabbathinteresses möchte den technischen und
ökonomischen Lebensvoraussetzungen der Fabriken" schädlich werden,
auf die Losung dieser Frage durch „internationale Verabredungen".
Der Artikel „Sonntagsfeier", in welchem eine nähere Erörterung
erfolgen sollte, ist dann spater leider ausgefallen.
In der Schweiz ist es aber, wo den Verabredungen benach-
barter Kantone sehr bald die neue Bundesverfassung von 1874, die
neue Kompetenz des Bundes für die Fabrikgesetzgebung und das
gemeinsame Fabrikgesetz vom 21. Oktober 1877 folgt, welches am
I. Januar 1878 in Kraft tritt.
Hier ist es, wo bei den das Fabrikgesetz vorbereitenden X'^er-
handlungen der Präsident des Nationalrates am 5. Juni 1876 in seiner
Eröffnungsrede sagt, es dürfte sich empfehlen, die Frage in Er-
wägung zu ziehen, ob nicht seitens der Schweiz der Abschluls
internationaler X'erträge zum Zwecke möglichst gleichmäTsiger Regu-
lierung der Arbeitsverhältnisse in allen Industriestaaten sollte ai^eregt
werden; da die gröfste Schwierigkeit der Fabrikgesetzgebung in der
Thatsache liegt, dnfs durch das vereinzelte Vorgehen eines Staates
die Konkurrenzfähigkeit seiner Industrie schwer geschädigt werden
könne.
Nachdem das neue Fabrikgesetz in Kraft getreten war, regte
sich teils der Widerstand der Fabrikanten, teils das Interesse der
schweizerischen Arbeiter (oder doch ihrer Organisatinni an der \'er-
teidigung des Ivi!)rik;^csetzes. Am 27. Juni 1 8<So fand in Zürich
eine Versaninihinj^ von Delej^nerten des Arbcilcrxcreins aus der
<:^anzen Schweiz statt, um über die gegen die Agitation der Fabri-
kanton /u crj^neifenden Mafsrcgeln zu beraten. Die Wrsanmilung
falste eine Rcilic von Beschlüssen, deren einer daliin gin^, ,,der
Bundesrat möge in X'erhandlungen mit den Rei^ierungen anderer
1 -iindcr treten, um eine internationale l-"abrik<4esetzgcbung anzu-
bahnen, sei es auf dem Wege einer Kon\ entiun wie der Genfer
Konvention zur Pflege der Verwundeten im Kriege, oder sei es
auf dem Wege eines Vertrages wie des Weltpostvertrages".
'1 Herausgegeben von J. C. Hluntsrhli und K. Brate i. Stuttj^art und
L<-ipzig 1858. Dritter Bd. Art. Fabrikwesen und Fabrikarbeiter von Schäffle,
S. 49».
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Die Entwicklung der Bcstrebnagen fiir interaationalea Arbeitencbitts.
Im Xationalrat brachte im Dezember 1880 der einstige Präsident
des Xatioiialrates vom Jahre 1876, Oberst Frey, die Motion ein, den
Bundesrat aufzufordern, dafs er mit den hauptsächlichsten Industrie-
staaten Unterhandlunfijen anknüpfe bciiufs Anbahnung einer inter-
nationalen Fabrikgesetzgebung. Der Bundesrat war der Motion
wenig geneigt, mufste aber gemäfs seiner verfassungsinälsigen Stellung
derselben F'olge geben, und trotz der Klausel, welche er in dem
Wortlaute der Motion durchgesetzt „zu geeigneter Zeit" (Unter-
handlungen anknüpfe), ging er alsbald an die Ausführung des Auf-
trages, nachdem am 30. April 1881 der Nationalrat einstimmig die
Motion angenommen hatte.
Der Bundesrat hatte bei den Verhandlungen des Nationalrates
das Bedenken gehend gemacht, die hauptsächlichsten Industriestaaten
mü£sten erst selber eine Gesetzgebung der Art besitzen, ehe man
mit ihnen internationale Vertrage darüber schliefsen könne: Italien
habe noch gar kein Fabrikgesetz; Frankreich sei erst jetzt mit dem
Werke eines solchen Gesetzes beschäftigt.
Der Erfolg der Einladungen, welche im Juni 1 881 an die Staaten
Europas ergii^n, war in der That ein sehr ungünstiger. Von
Berlin und von London wurde ein Eintreten auf den Gregenstand
abgelehnt mit der Begründung, dais die Materie wegeü der be*
sonderen Verhältnisse und der auseinandei^henden Interessen der
verschiedenen Länder sich zur internationalen Regelung nicht eigene.
Auch der Bescheid Frankreichs lautete ganz aussichtslos; Oesterreich
und Italien knüpften die Annahme der Einladung an mehrere Vor-
behalte: vor allem wünschten sie näheren Aufechlufs zu erhalten
über Inhalt und Ausdehnung der Gesetzesbestimmungen, welche
einer internationalen Sanktion zu unterbreiten wären.
Trotz dieses Mi&erfolges hielt die schweizerische Arbeiterpartei
an dem Plane fiest Der Widerhall der Bestrebungen zeigte sich in
der Sozialdemokratie der umgebenden Staaten. Auch durfte die
internationale Richtung dieser Partei in dem Projekte ein echtes
Kind ihres Geistes erkennen.
Im deutschen Reichstage stellte im Jahre 1885 die sozial-
demokratische Partei den Antrag, „den Reichskanzler zu ersuchen,
möglichst bald eine Einladung zu einer Konferenz an alle haupt-
sächlich als Produzenten von Industrieerzeugnissen in Betracht kom-
menden Staaten eri^ehen zu lassen, um sich über die Grundzüge
einer auf gleichen Grundsätzen basierten Arbeiterschutzgesetzgebung
zu verständigen, welche fiir alle beteiligten Staaten als Norm fest-
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^8 Gttstay Cohn,
setzt, da(s i. die tagliche Arbeitszeit in allen Betrieben höchstens
lO Stunden betragt, 2. die Nachtarbeit för alle Betriebe mit Aus-
nahme solcher, wo durch die Natur des Betriebes diesdbe unum-
gänglich ist, au%ehoben wird, 3. die gewerbsmäTsige Beschäftigung
von Kindern unter 14 Jahren verboten wird".
Unterdessen erhielt sich in der Schweiz die Bewegung inner-
halb der Arbeiterpartei. Bei dem Zentralfeste des Grütlivereins am
27. Juni 1886 nahm man eine Reihe von Resolutionen für An-
bahnung ,4nternationaler Fabrikgesetzgebung" an, darunter nament-
lich eine: „als internationales Or^an ist ein ständiges Bureau zu
errichten, welches mit den P'abrikinspektoren der beteiligten Staaten
in X'erbindung steht und nach einer Statistik der Warenvorräte und
der Produktivität der Arbeit das Maximum des Arbeitstages fest-
stellt".
Die Folge jener Resolutionen war ein Antrag im N'ationalrate,
über welchen sich Vertreter der radikalen Linken und der ultra-
montanen Rechten einigten, und der am 23. Dezember 1887 zur
Annahme gelangte. Er lautete : „In Erwägung, dafs eine Reihe von
Staaten bereits eine Arbeitergesetzgebung besitzen oder anstreben,
mit Tendenzen gleich denen der schweizerischen, ersuchen wir den
Bundesrat, sich mit jenen Staaten in Verbindung zu setzen, um
durch internationale Verträge oder eine internationale Arbeiter-
gesetzgebun^ L[k'ichartic;e Vorschriften zu erzielen hinsichtlich l. des
Schutzes minderjähriger Personen, 2. der Beschränkung der Frauen-
arbeit. 3. des Xorniahu bcitstages."
Kine erneute Einladung des schweizerischen Bundesrates vom
1 5. Mär/. 1889 war das F-r^^ehnis jenes Antrajijes. Das Zirkularschreiben
an die Regierungen der europäischen Industriestaaten wies darauf hin.
dals seit dem Jahre 1881 die X^oraussetzungcn für eine internationale
Vereinbarung sich wesentlich verbessert hätten. In mehreren euro-
päischen Staaten seien unterdessen umfassende Srhut/malsregeln für
die h'abrikarbciter eingeführt worden, während in anderen Staaten
derartige Gesetze vorbereitet würden. Die Litteratur, die gemein-
nützigen Kongresse u. s. w. hätten sich mit der Sache beschäftigt.
Als die leitenden (jründe der angeregten Mafsregel bezeichnete die
Note des Bundesrates „eine gewisse Regelung der gewerblichen
Produktion" und „die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Ar-
beiter".
Dieses zweite Mal hatte die Einladung besseren Erfolg als das
erste Mal. Aber auch jetzt verzögerte sich die Sache. Für den
Die Eatwicklang der Bcstrebvngen fttr intcniatioiiRlen Arbeitencinitz.
I^bst 1889 war eine internationale Konferenz in Bern geplant
Sie mufste verschoben werden und sollte am 5. Mai 1890 statt-
finden. Unterdessen hatte bei Gelegenheit der Pariser Weltaus-
stellung auf dem internationalen Arbeiterkongrefe die Sozialdemo-
kratie im Juli 1889 eine weitgehende Resolution gefafst, welche es
iur die Pflicht aller Länder erklärte, die schweizerische Republik in
ihren Schritten für eine Konferenz der R^ierungen über den Ar-
beiteischutz zu unterstützen.
Am 4. Februar 1890 aber erschienen die Erlasse des deutschen
Kaisers, deren erster die Fortbildung der Arbeiterschutzgesetzgebung
betonte, deren zweiter hervorhob, dafs ,.(lic in der internationalen
Konkurrenz begründeten Schwierigkeiten der Verbesserung der Lage
mserer Arbeiter sich nur durch internationale Verständi-
gung der an der Beherrschung des Weltmarktes beteiligten Länder,
wenn nicht überwinden, doch abschwächen lassen".
In der üeberzeugung, dafs auch andere Regierungen von dem
Wunsche beseelt seien, die Bestrebungen einer gemeinsamen Prüfung
zu unterziehen, über welche die Arbeiter der verschiedenen Länder
unter sich schon internationale X'erhandlungen führten, sollten die
Regierungen von Frankreich, England, Belgien, Schweiz gefragt
werden, ob sie geneigt seien, in Unterhandlung zu treten „behufs
einer internationalen Verständigung über die Möglichkeit, denjenigen
Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen, welche
in den Ausständen der letzten Jahre und anderweit zu Tage getreten
wären".
Der Schweizer Bundesrat verziclitele zufolge dieser Einladung
auf die in Bern abzuhaltende Konferenz und diese wurde auf den
15. März 1890 nach Berlin verlegt.
Das Programm srhlofs sich im wesentlichen an das Berner
Programm an. Es umfafste sechs Punkte : Arbeit in Bergwerken,
Sonniagsarbeit, Kinderarbeit, Arbeit junger Leute, Arbeit weiblicher
Personen, Ausführung der Bestimmungen.
.■Xufser den oben genannten Staaten nahmen auch Oesterreich,
Ungarn. Italien, Belgien, Niederlande, .S{)anien, Portugal, Dänemark,
Schweden, Luxemburg an der Konferenz teil. ^)
Conference internationale concemant le rcglcincnt du travail aux Ptabli'^s«"-
mcnts industriels et dans les mincs. Par autorisation olTjciillc. I,<'ipzig 1.S90. Kine
deatsche Uebcrsetzung. ebenfalls aiil amtliche Veranlassung: Die Protokolle der
internationalen Arbeiterscbutzkonfereuz.
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60
Gustav Cohn,
Mit der ikrliner Konferenz haben die Bestrebungeo für inter-
nationalen Arbeiterschutz ihre erste Phase al)f:jeschlossen. So sehr,
dals längere Zeit eine Pause der Ruhe und des Schweigens einge»
treten ist.
Wir wenden uns daher zu einer kritischen Betrachtung.
III.
Ich wollte hier \veni;;siens einen kurzen Abrifs der historischen
Entwicklung^ wiederg^cbcn. um das Notwendigste der Thatsachea für
unsercMi Zweck lcbeii(ii<j^ zu n^aclicn.
Was war der Inhalt der ersten Phase der Bcw^;ung fiir inter-
nationalen Arbeiterscliutz r
Mir scheint, nichts andere^ als die Zurückführung eines hoch*
gespannten Ideals auf den Boden der Wirklichkeit.
Ein überspaimtes Ideal war der Name selber. Es ^iebt keine
»internationale ( iesct/j^cbung". Eine (iesct/i^ebun^ ist an den Staat
geknüpft, und kann von einer Mehrheit der Staaten nur ausg^ehen
unter der Voraussetzung' eines Bundesstaates, d. h. unter der Rc-
dingunt,^ dals diese Mehrheit ein .Stück ihrer Souveränität abge-
treten habe an den Hundesstaat und diesen mit einer kollektiven Sou-
veränität ausgestattet. Bekanntlich ist das nur innerhalb der Teile
und des (ianzen einer Nation bisher geschehen — so in den \'er-
einigten .Staaten von Amerika, in der Pjdgenos>enschaft der Sclnveiz,
im Deutschen Reich. Etwas .\ehnlirhes über tlie (irenzen der ein-
zelnen Reiche hinauszutragen, ist nach allgemeiner Ueberzeugung
auf lange hinaus l topie.
Es ist aber kein müfsiger Wortstreit . wenn jener einst so
belieine. dann in so lehrreicher Weise seines ( jlanzes beraubte Name
beanstandet ist. Der anspruchsxolle Name deckt die Schwierig-
keiten zu, welche die unbefangene Ansicht der Sache aufzudecken
berufen ist.
Zwischen souveränen Staaten giebt es keine gemeinsame Ge-
setzgebung, sondern nur kündbare Verträge.
Die thatsächliche Gemeinschaft der Gesetzgebung geht vor sich
teils ohne jede volkerrechtliche Bindung kraft der inneren Gemein-
samkeit der Angaben, Ziele, Hindemisse, Bedingungen des Völker-
lebens innerhalb der gleichen Kulturepoche. Das weckende Bei-
spiel, die Vergleichung, die Wissenschaft — ste führen zu Nach-
ahmungen, zu typischen Malsregeln, Reformen innerhalb einer Völker-
familie im selben Zeitalter.
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Die Entwicklung der Bestrebongcn ftr mtemationalcn ArbeitencboU. 5 t
Teils kommt die rechtliche Bindung hinzu — chejenige Art der
Bindung, welche souveränen Staaten allein möglich ist. Es ist das
Gebiet der internationalen Verträge, Vereine, Konventionen, Unionen
— oder welche Namen sonst beliebt werden.
Iis ist ein Irrtum, wenn so oft behauptet wird, dafs wir am
Ende des 19. Jahrhunderts auf eine lange Reihe gelungener „Welt-
vcreine" dieser Art zurückblicken. Viel eher läfst sich jene andere,
spontane, rechtlich nicht gebundene Gemeinschaft der kulturellen
Entwicklung betonen, welche freilich nur ausnahmsweise eine Ge*
meiaschaft von gleicher Genauigkeit, wie den volkerrechtlichen Ver-
trag, zu Wege brii^
So oft diese kulturelle Gemeinschaft der Volker auf die frohe
der Konsequenz "eines völkerrechtlichen Vertrages gestellt wird,
seht man ihre Schwierigkeiten. Und zwar zunächst selbst die
Schwierigkeiten des blofsen nationalen Eigensinnes, desselben Eigen-
Sinnes» welcher auch innerhalb der einzelnen Nationen, solange sie
zeistückt waren, sich erfolgreich geltend gemacht hat Ein her-
vorragendes Bei^iel bietet England, nicht allein durch diese oder
jene einzelne MaTsregel internationaler Gremeinschaft, sondern Eng-
land ganz und gar kraft seines harten nationalen Eigensinnes. Für
eine solche Nation bedeutet eine internationale Gemeinschaft in erster
Reihe die Annahme der englischen Einrichtungen durch die anderen
Nationen. Durch die Zähigkeit seiner Gewohnheiten, durch das seit
' jahriiunderten eingesogene Machtbewulstsein, durch die Verquickung
von alten Vorurteilen mit dem Nationalstolz setzt man in diesem
Volke einer internationalen Gemeinschaft, welche ein selbst geringes
Opfer an das Neue verlangt, unbeugsamen Widerstand entgegen.
Von diesem Volke Nachgiebigkeit in grofsen Dingen der Art zu
erwarten, ist eitel Täuschung; nicht einmal in kleinen Dingen darf
man ae ihnen zumuten.
Ein denkwürdiges Beispiel ist der internationale Metervertrag.
Die grolse Mehrzahl der gesitteten Nationen schliefet am 2a Mai
1875 den „Vertrag, betreifend die Errichtung eines internationalen
Mals- und Gewichtsbureaus", welcher die seit Beginn des Jahr-
hunderts mehr und mehr zur Anerkennung bei ihnen gelangte Ein-
heit des Metermafses und des metrischen Systems in die rechtliche
Form einer internationalen Gemeinschaft bringt. Aber Grofsbritannien
schliefst sich nicht an. Hier ist im Jahre 1864 ein Gesetz erlassen
zur fakultativen Einfülirung der metrischen Gewichte und Mafse —
in der That ein bloCser Schein.
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62
Gustav Cohn,
Ein Londoner Kaufmann wird bestraft, weil er sich metrischer
Mafee bedient hat und da er sich auf das Gesetz beruft, wird ihm
bedeutet, dafs er sich nicht geeichter Mafse bedient habe, die in
dem Gesetze nicht vorgesehen seien. Im Jahre 1873 wird dem
Unterhause aus seiner Mitte eine Bill vorgelegt, um vorwärts zu
kommen und an die Stelle der alten englischen Mabt die metrischen
zu setzen. Aber die Bill dringt nicht durch. Endlich nach einem
Vierteljahrhundert das Gesetz von 1897, welches das metrische
S3^tem in erneuter Auflage als „fakultatives" einfuhrt.
Was ist hier im Wege? Nichts weiter als die nationale 2ähig>
keit, welche am Alten haftet und die geringen Unbequemlich-
keiten dem Volke nicht zumuten will, welche fast-alle anderen ge-
sitteten Völker sich zugemutet und jetzt. langA tiberwunden haben.
Was mu(s man nach diesen Erfahrungen wohl erwarten dürfen
bei solchen Materien, welche an sich grolse Schwierigkeiten einer
internationalen Einigung entgegensetzen — nicht aus Vorurteilen,
Haften am Gewohnten u. dergl., sondern aus den Hindernissen jeder
gro&en einschneidenden gesetzlichen Reform?
Die Erfahrungen haben hierauf die Antwort gegeben. Ich er*
innere an die halbgelungenen und zuletzt gescheiterten Versuche der
lateinischen Miinzkonvention vom Jahre 186$; an die milslungeneo
Versuche der internationalen Wahrungskonferenzen der neuesten Zeit
Ich erinnere an die nicht zum Ziele kommenden Bemühungeo
wegen einer internationalen Regelung der Zuckerausfuhrprämien,
welche seit dem Jahre 1863, dann 1876, t88i, 1887 fT. und in den
letzten Jahren an dieses Ziel gesetzt worden sind, um immer wieder,
zu scheitern, selbst nachdem (wie am 30. August 1888) eine förmliche
internationale Konvention — zwischen dem Deutschen Reich, Grofs-
britannien, Oesterreich, Belgien, Spanien, Italien, Niederlande, Rul»
land — abgeschlossen worden war.
Und doch behaupte ich, wenn einzelnes davon endlich zustande
kommen sollte, es wäre kein Beweis fiir die Durchführbarkeit einer
„internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung", weil deren Schwierig-
keiten noch viel gröfsere sind.
Jede (ic.setzgel)un^ und cfewils jede so/ial|)olitisclu' ücsetz-
crel)iiti'' ist der X'crsuch, die llial>a(h!ich \ oiliaiuleiicii Zustande
eines be'^titn inten \'i)lkes durcli den Zuan;^' des ol)ri>^keitliclien Be-
fehls fürl/.ubilden. Dieser Zwan^^ nuils daher, um wirksam zu sein,
an das Gegebene anknüpfen. Und weil die gegebenen Zustände
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Die Eatwicklnng der Bestrebungen flir interaationalcn AifoeitecKhntc 63
verschiedenartige in den einzelnen Ländern sind, müssen auch die
Gesetze der einzelnen Länder verschieden sein.
Gelingt es jenen oben angedeuteten freieren Formen der inter«
nationalen Kulturgemeinschaft die Gleichartigkeit gewisser Zustände
herbeizuführen» so ist die rechtliche Gemeinschaft überflüssig. Ge-
lingt es auf jenem Wege nicht , so ist die rechtliche Gemeinschaft
unerreichbar.
Würde etwas der Art dennoch «^^elingen, soweit es sich um
die Fertigstellung eines internationalen X'^ertrages handelt, so würde
gerade da, wo dieser X'^ertrag — wie hei der Arbeiterschutzgesetz-
gdMing — die Aufgabe hätte, die Sicherheit für die Einhaltung be-
stimmter Schranken der Arbeit zu gewähren gegenüber dem Miß-
trauen wegen eines „unlauteren Wettbewerbes" der einen Volks-
wirtschaft gegen die andere — sri würde gerade hier eine Ueber-
wachung notwendig sein, welche als ein internationales Organ, als
ein internationaler X'erwaltungsapparat einzurichten wäre. Man kennt
die Schwierigkeiten der Entwicklung jedes Arbeiterschutzes inner-
halb der einzelnen Staaten und auch die erfolgreiclisten .Xnstren-
gungen der Gewerbeinspekti<incn in irgend einem Staate der (Gegen-
wart sind von ihrem Ziele noch weil entfernt. Was kann man sich
ernsthafterweise von einer internationalen Behörde für diesen Zweck
versprechen ?
Ich bin von allen idealistischen und realistischen Motiven jener
Be>lrehungen immer lief durrluJrungen i^ewesen. (ileichwohl habe
ich mich über )cne 1 lin<lernisse niemals täus(Mien können.
( ilucklicherwcise fällt aus den Bedürfnissen nach internationaler
Flinigung ein erhebliches Stück heraus zufolge der Krkenntnis, lials
die Konkurrenzfähigkeit der Nationen keineswegs durch die (ileicli-
heit ihrer Arbeitsschranken bedingt ist. In jenem älteren Artikel des
Deutschen Slaatswörlerbuches . den wir (jben erwähnten, wird die
Besorgnis geäulsert, die Strenge der Sonntagsruhe im eigenen Lande
könnte der internationalen Konkurrenzfähigkeit der heimischen In-
dustrie gefährlich werden: und es wird in demselben auf den Aus-
weg internationaler Verträge über die Sonntagsruhe verwiesen.
Aber eine tretVcndere Antwort auf diese Besorgnis hat längst
Macaulay gegeben, wenn er in seiner denkwürtligen Rede') vom
22. Mai 1846 im I nterhause sagte: „Wenn wir und unsere \*or-
fahrcn während der letzten drei Jahrhunderte ebenso hart am Sonn-
') Speeches of Loril Macaulay. London 1875 p. aiy
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Gnttav Cobn,
tage wie an den Wochentagen gearbeitet hätten, so würden wir in
diesem Augenblick ein ärmeres und weniger sivilisirtes Volk sein
als wir sind: es würde weniger produziert worden sein, die Löhne
der Arbeiter würden niedriger sein, und eine an(iere Nation als die
englische würde heute Baumwollenstoffe und Wolienstoffe und Stahl»
waren für die ganze Welt fabrizieren."
IV.
Die Berliner Konferenz von 1890 ist das beweisende
Experiment für die oben dar}:,^clef:,^en Krwäf^unpen gewesen.
Die einzelnen Staaten und ihre Vertreter sind cifrit^ bemüht,
die Unvci bindlichkeit der hier gefafstcn Beschlüsse, unbestimmt und
vag, wie dieselben formuliert werden müssen, zu betonen. Die
Souveränität wird eifer.süchti^s und zumal von den kleinen Staaten
mit bemerkenswertem Mifstrauen f^cgenübcr den Zumutungen anderer
Staaten gewahrt. Der Inhalt der X'erhandlungen ist wesentlich eine
wechselseitige Mitteilung des in den verschiedenen Ländern be-
stehenden gesetzlichen Zustandcs. Das Resultat ist die Bemühung,
einen ungefähren Durchschnitt aus allen den V^erschiedenheiten
dieser Zustände /.u ziehen und darauf eine Empfehlung aufzubauen,
welche als „wünschenswert" ein gewisses MaTs von Arbeitsschranken
bezeichnet.
So gleich bei dem ersten Gegenstande — der Sonntagsruhe.
Grofsbritannicn stimmt für jeden Vorschlag, welcher die
Sonntagsarbeit einschränken will.
Belgien umgekehrt berichtet, dafs Art. 15 seiner Verfassung
vorschreibt: NiemantI kann gezwungen werden, die Ruhetage einer
Religionsgenos.senschaft zu beobachten. Ks sei ferner ein Grundsatz
der belgischen Gesetzgebung, die breiheit der .Arbeit bei den
Grofsjährigen zu achten. Hiernach muls sich Belgien gegen jeden
Vorschlag erklären, welcher die Sonntagsruhe durch ein Gesetz
auferlegen will.
Italien erklärt, dafs es erst 1886 begonnen habe, eine Arbeiter-
schutzgesetzgebung für seine Industrie einzuführen ; dafs die Gesetz-
gebung jedes Landes abhängig sei von den physischen und intellek-
tuellen Entwicklung seiner Arbdtttbevölkerung, von den Grundsätzen,
welche das öffentliche Recht jedes Landes beherrschen, von den
eigentümlichen Konkurrenzverhältnissen jedes Industriezweiges. Da-
her schliefst sich der Vertreter Italiens dem Antrage Belgiens an.
Frankreich setzt auseinander, dafs es eine moralische und
Die Entwiddimg der Bestrebnagcn flu- inteniatioiialeB Arbeitendiiits.
materielle Unmöglichkeit sein würde, einen einheitlichen Ruhetag
in seinem I^nde anzuordnen; ein etwaiges Gesetz der Art würde
ein todter Buchstabe bleiben.
Der Vertreter Deutschlands ist der einzige, welcher über
das Mafs der im eigenen Lande bereits bestehenden Gesetze hinaus-
geht — und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es mit den Vor-
bereitungen dazu (unabhängig von der internationalen Konferenz)
längst beschäftigt ist.
Und ähnlich die übrigen Staaten.
„Wenn" — sagt das amtliche Protokoll, anscheinend die Worte
des Vorsitzenden der Konferenz wiedergebend — „die Konferenz
sich darauf beschränkte, eine vage und platonische Resolution an-
zunehmen, die fast gar keinen reellen Wert hätte, so würden die
Hoffnungen, welche man von allen (?) Seiten an die Arbeiten der
Konferenz knüpft, vollständig getäuscht werden und die Konferenz
würde sich \'(irwürfcn ausgesetzt sehen, die sie vermeiden soll."
Trotz dieser Mahnung wird nicht einmal die Annahme einer
Resolution durchgesetzt, welche es als hlofs wünschenswert be-
zeichnet, (iafs ein wöchentlicher Ruhetag den geschützten Personen
durch t resetz gesichert werde. Ks muls die Einschaltung auf-
genommen werden „vorbehaltlich der Ausnahmen und notwendigen
Verzögerungen in jedem Lande". Ks mufs das „durcli Gesetz"
beseitigt werden, „um jeden Staat seinen eigenen Richter über die
Mittel sein zu lassen, durch welche die Verwirklichung dieser
Wünsche zu erreichen ihm belieht".
.Xehnlich wie hei der SoniUag>ruhe geht es bei den X'erhand-
lungen über die Schutzgesetze für Kinder und jugendliche
Personen.
Einstimmig ist man für die Resolutinn : ,,Ks ist wünschenswert,
die Kinder, die noch nicht ein gewisses i, Ii Alter erreicht, von der
Arbeit in der Industrie aus/.uschliefsen." Welches aber dieses
..gewisse" .Alter .sein soll, darüber gehen die .Ansichten weit ausein-
ander, regelmälsig beslirnnil (hireli die .Miersgrenzen, welche in der
Gesetzgebung der betretl'eiulen M.iatcn gerade bestehen.
Da man nun versucht, eine gewis.se gemeinsame Altersgrenze
durch Abstimmung als das „\\'üns( lienswerte" für alle Beteiligten
festzusetzen , entsteht das bezeichnende Schauspiel einer intematio
nalen Submission. Die Schweiz beginnt mit dem Höchstgebot von
-vierzehn Jahren. Ihr schliefst sich nur Oesterreich an. Aber
stimmen dagegen. Auch für die Altersgrenze von dreizehn Jahren
Archiv (Sr tot. GMMasebung u. Suttttik XIV. 5
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66
Gastav Cohn,
Stimmen nur dieselben zwei Staaten. England will selbst die Grenze
von zwölf Jahren nur ad referendum nehmen, da in England die Ar-
beit von Kindern von lo — 12 Jahren unter pjewissen Einschränkungen
zugelassen ist. Italien bekämpft überhaupt das Bestreben, dieselbe
Altersgrenze für die Kinderarbeit der Industrie in allen Ländern fest-
zusetzen.
Und so geht es weiter.
F"ür die F r a u e n a r b c i t will ( i r o fs b r i t a n n i c n , der dort be-
stehenden Gesetzgebung entsprcchendf eine Schranke von täglich
zehn Stunden.
Heitel eil lehnt jeden Schutz für die weiblichen Personen ab,
die älter als 21 Jahre sind, aber auch für die 16 - 2 1 jährigen will
Belgien nur ein Maximum \on zwölf Stunden zugestehen. Das
belgische Gesetz vom 13. Dezember 1889 lasse die Möglichkeit
often, dafs künftig dieses .Maximum verändert werde: „man könne
sich aber tlurch eine .Abstinuiunig nicht binden".
Am interessantesten ist der letzte Punkt der \^crhandlungen —
die Frage der Durchführung des gesetzlichen .'\rbeiterschutzes.
Die Schweiz beantragt, dafs die Staaten obligatorische
U e b e r e i n k ü n f t e schlössen, die darauf gerichtet sind, dafs die
Duiehfuhiung der Beschlü.sse auf dem Wege der nationalen Gesetz-
gebung stattfinde. .Auch soll ein spezielles Organ geschaflen
werden behufs Zentralisation der .Ausweise über die Durchfuhrung,
behufs regelmälsiger X'erultcntlicluiii;^^ der statisti.schen Daten und
Vorbereitung der künftigen Konterenzen, welche letztere periodisch
wiederkehren sollen.
Wesentlich bescheidener ist der deutsche Antrag. Er will
nur die Anerkennung der Unentbehrlichkeit einer Gewerbeinspektion
in jedem beteiligten Staate, der jährlichen Ausweise, will den Aus*
tausch dersdben von Staat zu Staat, endlich periodisch wieder-
kehrende Konferenzen zur Mitteilung der Erfahrungen und zur Be-
ratung von Aenderungen.
Gegen den schweizerischen Antrag erhebt ^ch Grofs-
britannien. Es sieht in jenem den Versuch, ein internationales
Uebereinkommen an die Stelle der besonderen Gesetzgebung jedes
Landes treten zu lassen. Die Teilnahme an der Konferenz sei von
Grolsbritannien nur unter der Bedingung bewilligt worden, dals
eine solche Möglichkeit ausgeschlossen sei Es sei den englischen
Staatsmännern verboten, ihre Arbeitergesetzgebung in Abhängig*
keit zu bringen zu dem Willen einer fremden Macht
Die Entwicklang der Bestrebungen für internationalen Arbcitcrschutz.
Man debattiert nur fiber die Vorschlage Deutschlands, um
sie zu mildem. Belgien beanstandet an dem deutschen Vorschlage,
dals er von „Vorschlagen" der Konferenz spreche; es seien nur
^Wünsche". Auch dürfe man darum nicht von der „Unentbehrlich-
keif der Inspektion u. s.w. reden; das piajudiziere. zu sehr den
Entschlüssen der einzelnen Regierungen. Dals man die jährlichen
Berichte austausche, könne zu Unzutraglichkeiten fuhren u. dgL m.
Die Vertreter von Frankreich sind prinzipiell auch gegen
den deutschen Antrag. Die Instruktion verbiete ihnen, einem
Wunsche beizupflichten, welcher — mittelbar oder unmittelbar —
den Anschein erwecken könnte, als wolle er den anderen Wünschen
der Konferenz eine unmittelbare exekutivische Kraft geben. ,JDie
fraozösische Regierung habe die Konferenz immer nur ausschlielslich
als ein Mittel zu einer Enquete über die Lage der Arbeit in den
beteiligten Staaten und über die darauf bezüglichen Wünsche der
öffentlichen Meinung angesehen; habe aber in keiner Weise daraus
den Ausgai^punkt für internationale Verpflichtungen machen wollen."
V.
Weder eine })crio(lischc Wiederholung, noch irgend eine Wieder-
holung jener Berliner Konferenz hat stattgefunden, in den mehr als
neun Jahren, die seitdem verflossen sind.
Die damals gemachten Erfahrungen haben für einen längeren
21eitraum ausgereicht
Am Schlüsse nicines ersten und eingehenderen Aufsatzes über
die „internationale Fabrikgesetzgebung" (1881) sagte ich:
JEine besonnene, auf das zunächst Erreichbare konzentrierte Be-
wegung, welche in der Sozialpolitik von den englischen Gewerk-
vereinen, in der Technik der internationalen Propaganda von der
internationalen Arbeiterpartei ihr Muster entlehnte, eine derartige
Vereinigung, welche Fabrikanten, Arbeiterfreunde, Arbeiterführer,
mehr oder weniger idealistische und realistische (iesinnunj^en in
sich verl)äiule, könnte vielleicht das Werkzeug werden zu ansehn-
licheren und sciincUeren Erfolgen in der Fahriki^csetzgcbung der
einzelnen Staaten als irgend ein Versuch /u inlenialionaler I'^abrik-
gesetzgebung oder zu den damit verwandten internationalen Mafs-
regeln.*'
Das. was ich damals beim Heijinn der Heslrclnni^'en für inter-
nationalen Arbeiterschutz geschrieben, ist der Inhalt der zweiten
Phase dieser Bewegung geworden.
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68
Gttstav Coho,
Von derselben schweizerischen Parteigruppe her, welche die
erslen Anregungen des schweizerischen Bundesrates bei den anderen
Regierungen veranlalst hatte, ist am 3* April 1893 gelegentlich des
schweizerischen Arbeiterkongresses zu Biel beschlossen worden, sein
Zentralkomitee zu beauftragen mit der Einberufung eines neuen
„internationalen Kongresses", welcher aber zusammengesetzt
sein sollte nicht aus Vertretern der Regierungen, sondern aus De-
legierten der Arbeiter der verschiedenen Lander. Für
das Jahr 1894 war dieser Kongreß geplant Mancherlei Hindemisse
verzögerten sein Zustandekommen bis zum Jahre 1897.
Inzwischen hatte der schweizerische Bundesrat, im Laufe des
Jahres 1896, durch seine diplomatischen Vertreter die Regierungen der
europäischen Industriestaaten sondiert, um zu erfahren, ob ae ge-
neigt sein würden sich bei einer internationalen Konferenz vertreten
zu lassen, welche den Arbeiterschutz diskutieren sollte. Die Ant-
wort der meisten Staaten lautete ablelinend.
\'oiii 23. — 28. Aii'Tust 1897 hat jeiuM- internationale Kono^refe
in (kl ToniiaUe zu Zürich staltp^efunden. Hauptsächliche l eilnehmer
desselben waren die \' crtrctcr der schweizerischen Arbeiterdemokratie
und des arbeiterfreundlichen Miigels der klerikalen Partei der Schweiz.
Daneben aus den gleichen beiden Lagern X'crtretcr von Deutschland,
Oesterreich • l^ngarn, Belgien, Italien, Frankreich , Grrolsbritannien,
Spanien, Rulsland.
Kin \'crsuch also in zweierlei Richtung: einmal in der Richtung
einer X'erstäiKligung zwischen den beiden Arbeiterparteien, der kirch-
lichen und der unkirclilichcn „Sozialisten", zweitens in der Richtung
einer intenialionak-ii W rständigimg über gewisse gesetzliche Schranken
der Arbeit. Die kirchliche Partei war durch 98, die unkirchliche
durch 1O5 Dclci^Mcrle vertreten. Nach dem Hcrichle des „Musec
social" waren alle ..( 'clebriläten des internationalen Sozialismus und
des sozialen Katlu»li/isnnis" auf dem Kongre.sse vereinigt.
In dei" Kroltnungsrede sagte der Präsident des Organisations-
koniilees, Heinrich Scherrcr (Mitglied des Grofscn Rates von
St. tiallen;: ,,I)er gegenwärtige Kongrels ist nicht eine Konferenz
von Diplomaten, welche einen internationalen Vertrag beraten,
den zwei Staatsregierungen morgen vniterzeichnen sollen. Wenn das
der i all wäre, so wissen wir wohl, tlals nur eine kleine Anzahl
'i ßcricht (iarübiT in <lrin trtll liiliLii ..Mui.ee social * Ciriulairc Nu, 14, S^rie H.
Bulletin nn usuil 15. Oclobre ibyy: Lc Congrcs de hx Protection ouvriere a Zürich.
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Die EatwicUnng der Bestrebvngen fitr inteniationalen Arbdtenclrats.
der vorgescbbgeiieii Resolutionen darin ihre Statte finden könnte.
Sondern wir haben eine höhere Aufgabe vor uns, die Aufgabe
einer Enquete über die Fr^e des internationalen Schutzes der
Arbeit in seiner ganzen Ausdehnung, die Aufgabe, den Grundstein
zu legen für ein Gebäude, welches vielleicht Icaum im nächsten
Jahrhundert beendigt werden wird."
\Va^ bat nun diese „Enquete'" zu läge gefördert?
Zunäctist eine allgemeine Wahrnehmung über das Wesen der>
artiger loserer Versammlungen, sei es daüs sie von Parteien be-
stimmter Art, sei es dafs sie mehr zuiallij,^ von verscliiedcnen Partei-
lagem her beschickt werden — loserer V ersammlungen im Gegen-
satz zu den amtlichen Verti etuiv^en in Konferenzen von der Art,
wie es die Berliner Konferenz des Jahres 1890 gewesen ist
Die sämtlichen Delegierten einer amtlichen Konferenz sind ge-
bunden durch ihren Auftrag. Was sie sagen, was sie beschliefsen,
bindet wiederum ihre Mandanten und das sin l \eratit wortliche Staats-
r^crui^^en. Das Ergebnis einer solchen Konferen/, wie negativ
immer es auch sein mag, ist der Niederschlag der thatsächlichen
Möglichkeiten in der wirklichen ( icsctzgebung. Ja, der negative
Charakter, den wir an der Berliner Konferenz kennen gelernt haben,
ist die natürliche Folge der Gebundenheit und Verantwortlichkeit
fiir den wirklichen Staat in seiner mannigfaltio^en Kischeinun*^.
Hine gewisse Aehnlichkeit mit dieser Veranlworliichkeil und
dieser Konseijuenz für den wirklichen Staat hat iinnur noch eirje
Parteiversainmlung, wemi sie die Delektierten einer bestinimlen, auf
die Gesetzgebung in einem «jcler mehreren Staaten einwirkenden Partei
zusammenführt. Je i^rolser diese Kinwirkun;^, je mehr die Partei
den Staatswillen bestimmt, um so enj^^er wird der Zus.tmmenhang
awischen ihren Bcschlusseti und der thatsäehliclR 11 ( lesetz^abung sein.
Aber ganz am ent^a-^en^e^el/ten Hude steht eine internationale
Konferenz, welche erstens nicht durch amtliche l)elegierte beschickt
ist, zweitens nicht eine bestimmte mais^^ebende l'.irtei rei)räscntiert,
drittens mannigfalti^fe Parteien aus aller Herren Länder und jede in
einer zufälligen, bald zahlreicheren, bald winzigeren Vertretung ver-
sammelt.
In diesem Sinne wird man etwa nach Zahl und Qualität der
Vertreter eine nationale Tragweite für die schweizerische (iesetz-
gebung aus dieser internationalen Konferenz von Zürich folgern
dürfen. Schwerlich aber eine internationale.
Ein Beispiel! Grofsbritannien ist durch eine Handvoll ulira-
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70
Gustav Cohn,
radikaler Mitglieder vertreten, welche durch ihre extremen Ten-
denzen auch innerhalb dieses wahrlich nicht an Radikalismus Mangel
leidenden Kreises isoliert auf dem äufsersten Flügel der Linken stehn.
Und man braucht nur wenig von England zu wissen, um zu er-
kennen, dafs in der „Enquete" der Züricher Konferenz die Voten
dieser Engländer ein seltsames Bild \'on den heutigen Forderungen
der englischen Arbeiter oder Arbeiterfreunden an die englische Ge-
setzgebung liefern.
So will ein Del^erter der Lotidoner Social Democratic Föde-
ration die Ersetzung des puritanischen Sonntags durch einen anderen
Ruhetag. Nur die 6 englischen Delegierten stimmen dafür: alle
anderen, schweizer und deutsche Sozialdemokraten wie vollends
die Katholiken, und sämtliche übrigen, stimmen dagegen.
Dieselbe englische Delegation verlangt für die Kinderarbeit die
Altersgrenze von l6 Jahren und bleibt damit ebenfalls so gut wie
allein. Dieselben Engländer bekämpfen die Delegierten der deut-
schen Sozialdemokratie, welche die I lausindustrie zwar verurteilen,
aber die Thatsachc ihres verbreiteten \^orhandenseins berücksich-
tigen wollen. Die pjigländcr gelten zu verstehen, dafs die deutschen
Sozialdemokraten, welche sich gegen die sofortige Unterdrückung
der Hausindustrie auss|)rechen, gewöhnliche Reaktionäre seien. Lieb-
knecht ist ihnen gegeniil)Ci' der gcmälsigtc .Staatsmann, der ihr
Ziel als ein Ideal i)ezeichMct, dafs man unterdessen aber einen
Schutz und eine Verbesserung der hausindustriellen Arbeit fordern
müsse.
Welch Hild von den wirkHchen englischen Arbeiterparteien oder
wohl gar \on den .Xussichten der englischen Gesetzgel)ung würde
tlerjenige bekommen, welcher sich aus dieser „Enquete" darüber
unterrichten wollte :
Etwas ganz Aehnliches hat man wenige \Vt)chen später auf
einem anderen Kongresse erlebt, \'on dem wir sogleich zu reden
haben. Auf dem Züricher Kongresse waren die Extremen der
Rechten (des I.ais.^ez-faire) ausgeschlossen, auf dem Brüsseler Kon-
gresse gerade diese nicht. Ks entstand nun das Schauspiel, dafs
über die ersten Klementc des X'crhältnisses \on Staat und Gesell-
.schaft, von Gesetzgebung und Volkswirtschaft, von Freiheit und
Ordnung, ernsthaft debatiert wurde, ja dafs dieses der Mittelpunkt
des ganzen Kongresses wurde.
Welche Bedeutung jene Vertreter der alten Doktrin von der
wirtschaftlichen Freiheit für die wirkliche Gesetzgebung Belgiens
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Die Entwicklang der Bestrebungen für inlenntionalen Arbeiterschutz. ji
oder Frankreichs haben, ob sie eine beträchtliche ob sie eine
Mehrheit in ihren Staaten hinter sich haben — aus diesen Debatten
konnte das nicht, konnte überhaupt gar nichts entnommen werden.
Denn diese Debatten waren „akademisch" in dem Grade, dals sie
ebensowohl in einem staatswissenschaftlichen Seminar mit oder
ohne internationale Mitglieder gehalten werden konnten, mit dem
Eigebnis, dals tausendmal wiederholte Argumente und Zipfel der
Afgomentation noch einmal in das Gefecht gefUhrt worden waren.
VL
InnerhaU> dieser Bedingungen einer solchoi Konferenz — was
zeigt uns die „Enquete" über die Zustande des internationalen
Arbdterschutzes oder richtiger der international gemeinsamen Be*
strebungen für Arbeiterschutz?
Weil an der Züricher Konferenz unbestrittenermafsen eine Mehr*
hett der sozialdemokratischen Vertreter, und dieser wiederum vor-
wiegend aus der Sclnvciz, dann eine erhebliche Minderheit der
kathohsch-sozialistischen Delegierten teIl<^cnoinmen hat (die ersteren
in der Zahl von 165, die anderen in der Zahl von 98), so wird man
in der „Enquete" eine Kenntnis dessen zu finden vermögen, was
diese beiden Parteien zur Zeit in der Arbeiterschutzgesetzgebung
anstreben, was sie gemeinsam anstreben, wie weit sie sich von
einander trennen. Es wird in erster Reihe diese Kenntnis uns über
die nationalen Zustände und Parteibestrebungen der Schweiz unter-
richten, da aus der Schweiz nicht nur die Mehrzahl der Delegierten
gdcommen war, sondern hier auch der Einfluls beider Parteien in
höherem Malse praktisch ist als der Einflufs der entsprechenden
beiden Parteien in den anderen Staaten.
Zunächst die Schranken der Kinderarbeit.
Die Mehrheit (132 Stimmen) beschliefst die Schranke des Allers
von 15 Jahren. Die Minderheit (75 Stimmen) will nur die Grenze
von 14 Jahren und will die Landarbeit ausnehmen von dem .Schutze.
Die Arbeit der Kinder iin Landbau verbieten, sagrt der geistliche
Delcfrierte des V^erbandes der rheinischen Bauernvereinc, sei un-
möglich; die Bauern von den I^yrenäen bis zur Ostsee würden ein
solches \''crbot verspotten.
Dann die Arbeit erwachsener Männer.
Eine Mehrheit von 170 gegen 80 Stimmen beschliefst die Not-
wendigkeit des achtstündigen l agesmaximums für alle Arbeiten (für
den Ackerbau nur bei dem Grolsbetrieb und hier mit Zulassung von
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72
Gustav CobOt
Ausnahmen fär die Erntezeit). Sofern der Uebefgang zum acht-
stündigen Arbeitstage nicht augenbliddich möglich ist, soll die Ge-
setzgebung wenigstens ein Maximum vorschreiben, welches möglichst
sich jener Schranke annähert
Ein Gegenantrag Kulemann, welcher eine Abstufung des Maxi-
mums je nach der Intensität der Arbeit in den einzelnen Industrie-
zweigen will, wird mit 174 gegen 81 Stimmen abgelehnt
Bei diesem Gegenstande der Züricher Resolutionen empfindet,
man den Abstand derselben von den wirklichen Aussichten auch
der schweizerischen Geset^ebung, weil das elfstündige Arbeits-
maximum des Fabrikgesetzes von 1877 in den mclir als zwei Jahr-
zehnten, die seit Erlafs desselben verflossen sind, Mühe genug ge-
habt hat, in I'leisch und Blut der wirklichen Arbeitsweise über-
zugeben und die Herabsetzung dieser Schranke um nur eine einzige
Stunde — und auf das Gebiet des Gesetzes, auf die Fabriken be-
schränkt — wohl kaum eine Mehrheit in den geset^ebenden Fak-
toren der Schweiz heute hnden würde.
Dann die Frauenarbeit.
Bei dieser Frage entsteht ein Gegensatz in der Versammlung
ähnlich demjenigen, der bei der Hausindustrie sich gezeigt hat. Nur
dafs dieses Mal es nicht ein Konflikt zwischen der deutschen (und
schweizerisclien) Sozialdemokratie einerseits, der äulsersten Linken
der englischen Arbeiterpartei anderseits ist, sondern der Gegensatz
zwischen Sozialdemokratie einerseits, Klerikalen anderseits. Die letz-
teren wollen die Frauenarbeit in den Bergwerken und der grolsen
Industrie gänzlich untersagen. Bei der Abstimmung bilden sie eine
Minderheit von 98 gegen eine Mehriieit von 165, welche sich mit
einem täglichen Arbeitsmaximum von acht Stunden (44 wüchent-
lichcn Stunden) begnügt, sie also im wesentlichen unter dieselben
Schranken stellt wie die männliciien erwachsenen Arbeiter.
Bekanntlich ist dieser Gegensatz in der Behandlung der Frauen-
frage oft hervorgetreten. .Xuch die Parteigruppierung ist dieselbe
und die seltsame \' ersrhiebung dieselbe, dals die vermeintlich Kon-
servativen die radikalsten Returnur sind.
Und was soll nun das Resultat dieses Kongresses sein?
Welches sind die Mittel, auf dem internationalen Wege vorwärts
zu kommen '
Man dürfe sich, sagt der Referent ider Führer der katliolisch-
.sozialistischen Partei in der Schweiz), durch die bisherigen Mils-
erfolge nicht abschrecken lassen. Man müsse sich auf eine kleine
Die EatiricUanf der Bestreboagoi Kr intematUHMlen Arbdteracfantz.
Anahl von wicht^cn Puokten der Gesetqfdmiig beschranken —
Altersgrenze (iir Kinderarbeit in den Fabriken, Verbot der Nacht-
arbeit in den Fabriken (lir weibliche und jugendliche Personen;
Verbot der Frauenarbeit in gefahrlichen Industrieen; Verbot der
Sonntagsarbeit; Maximalarbeitstag^.
Allerdings erscheinen als „die geeignetsten Mittel, um am sichersten
und ann schnellsten die internationale Gesetzgebung für den Arbeiter-
schutz zu verwirklichen" — die Aufklärung der öffentlichen Meinung^
die Agitation in der Presse, die fortgesetzten Bemühungen insbe-
sondere der schweizerischen Arbeiterparteien, den Bundesrat zu er*
Deuten internationalen Schritten anzustacheln — denselben Bundes-
rat, der am i6. Januar 1897 auf die Motionen der Bundesversamm-
lung vom Jahre 1895 geantwortet hat, „et habe den Eindruck, die
Zeit sei noch nicht gekommen, um Verhandlungen der Art mit
irgend einer Aussicht auf Erfoli; aufzunehmen".
Selbst auf die Anr^ung des bescheidenen Projekts eines inter-
nationalen Bureaus zur Information über Arbeiter-
schutzmafs regeln der verschiedenen Länder hat der schweize-
rische Bundesrat überwiegend ablehnende Antworten erhalten. Die
Mehrzahl der Regierungen hat sich dai^^ci^en erklärt, teils überhaupt,
teils weil der Augenblick noch nicht gekommen sei, über Ein-
richtung eines solchen Instituts zu diskutieren, teils weil sie wenig
Wert darauf legen. Andere Regierungen haben ausweichend ge-
antwortet; nur ein (irofsstaat hat seine Sympathie bekundet.
.•\ngesichts des jrcrin^en Krfolges selbst einer so wenig ver-
bindlichen Institution, welche nur zur internationalen Keniitnisnahtnc
des in den einzelnen Ländern ( ieleistelen dienen soll, sieht sich der
Kadikalismus der .schweizerischen .Arbeiterpartei durch einen seiner
Führer genötigt, zu bekennen, der ursprüngliche Plan einer inter-
nationalen Arbeitersciiutzgesetzgt hung sei unausführbar gewesen, weil
er ein zu hohes Ziel ins Auge gcfafst habe. Um etwas zu er-
reichen, müsse man seine Forderungen herabstimmen auf ein inter-
nationales Bureau.
Dessen Thätigkeit soll die folgende sein;
1. Sammlung und Veröffentlichung aller Gesetze und amt-
lichen Publikationen über Arbeiterschutz samt dahin ge-
hörenden Parlainentsverhandlungen, Oesctzesmotiven, .\us-
führungsbcstimmungen , genchthchen Entscheidungen, Be-
richten der ( iewerbeinspektoren u. dgl.
2. Redaktion eines jährlichen Berichtes über die Thätigkeit,
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74
Goitav Cohn,
welche durch alle gesetzgebenden und ausführenden Be*
hörden entfaltet worden ist
3. Erteilung von Auskunft an die Regierungenf Kommunal*
behörden, Volksvertreter u. s. w.
4. Zentralisation der Kongresse, auf welchen die Vertreter der
Regierungen, die Parlamentsmitglieder, die Arbeiterdel^erten
Gelegenheit hätten, ihre Ansichten und Erfahrungen auszu-
tauschen.
Die Kosten für den Stab vnn Fach«^elehrten, Korrespondenten,
Uebersetzern u. s. w. sind durch dir l)ctcihgten Staaten zu decken.
Der Sitz des Bureaus sollte Brüssel oder Zürich sein — also der
Hauptort eines neutralen Staatswesens und eines industriellen Mittel*
Punktes.
VII.
Wenige Wochen später tagte in Brüssel ein internationaler
Kongrefs, welcher an sich dieselben Gegenstände behandelte wie
der Züricher Kongreüs. Nur dals die Parteistellung der Mehrzahl
seiner Teilnehmer eine wesentlich verschiedene war.
Das Programm des Brüsseler Kongresses bestand aus den
Frap^en: Welche Fortschritte hat die Arbeiterschutzgesetzgebung fiir
Fabriken und Bergwerke in jedem Lande seit der Berliner Kon-
ferenz vom März 1890 gemacht? Sollen die erwachsenen Arbeiter
einer gesetzlichen Schranke der Arbeitszeit unterworfen werden ?
Ist ein internationaler Arbeiterschutz möglich und wünschenswert,
inwieweit und in welcher Gestalt? Hignet sich die Arbeit des
Kleingewerbes und der Hausindustrie zum Arbeiterschutze ? Lassen
sich die V^orschriften für 'gefährliche Industriecn, welche in vielen
Ländern bestehen, cinheitlicli für alle industriollen Staaten anordnen ?
Welches sind die besten Mittel zur Durchfülirun;^ der Arbeiterschutz-
L,'esetze und welches sollen die Rechte und Pflichten der ( rcwcrbc-
inspekt"! (11 sein' Ist es wünschenswert, internationale Beziehungen
zwischen den ArbcitsänUern herzustellen und die Statistik der Ar-
beitsverhältnisse international zu organisieren?
Die Teilnehnn r waren übcrwic<:^end aus den Reihen der ge-
mäfsigten Sozialrelormer, im Sinne etwa des deutsclien „Vereins für
') Musee social, ."^tru- A, ( irculain* No. 19. Bulletin mrnsucl. jo Novetnbre
l$97. Congres de la Ic^islatiun du travail tenu a BruxcUes du au 30 Sep*
tembrc 1S97.
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Die Entwiddaag der Bcstrebiuigen flir intematioiialen Arbeitenchutz.
Sozialpolitik", welcher thatsächlich ein Häuflein seiner Mitglieder
von der Kölner Generalversammlung zu einem Nachspiel nach
Brüssel entsandt hatte. Aehnlich gesinnte Teilnehmer waren aus
Bdgien und Frankreich erschienen. Daneben aber etliche Partei-
manner der absoluten wirtschaftlichen Freiheit aus Belgien und
Frankreich — von einer Strenge der Folgerichtigkeit, wie sie in
Deutschland seit einem Menschenaher kaum noch ZU finden ist.
Die treiben' K n Kräfte dieses Kongresses scheinen gewesen zu
sein: einmal das Bedürfnis einzelner Männer in Belgien, welche fiir
die zurückgebliebene Entwicklung des Arbeiterschutzes im eigenen
Lande den Succurs des ausländischen Beispiels und der ausländischen
Intelligenz heranzuziehen bestrebt waren; dann aber das Bedürfnis
einzelner deutscher Soziairc former, welche den Wunsch hatten, die
Versuche der Berliner Konferenz von 1890 nicht völlig im Sande
der Vergessenheit versiegen zu lassen.
Nach den einleitenden Worten des belgischen Arbeitsministers
handelte es sich auch auf diesem Brüsseler Kongresse (wie auf
den: Züricher) um eine „Enquete".
Indessen nicht die „Enquete" wird der Mittelpunkt des Kon-
gresses (weit mehr über die Zustände der Arbeiterschutzgesetzgebung
in den verschiedenen Ländern ist aus den litterarischen Organen zu
entnehmen als aus dieser „Enquete"). Der Schwerpunkt fällt in die
— oben bereits berührten — Redekämpfe um die ersten Grund-
lagen der X'olkswirLschaft und ihrer staatlichen ()r(lnun<:^. Kiiiige
an sich, nach dcni Mafsc ihrer Ignoranz und Obcrilächlichkcit ge-
ringfügige Behauptungen werden die Kletterstange, an der einige
der wetterfestesten internationalen Koiigr(r>l)csurhcr aus Deutsch-
land ihre Turnkünste zeigen. Ihnen schliclscn sich einzelne fran-
zösi'sche Mitglieder von verwandter (lesinnung an. Durch Rede
und Gegenrede ziehen sich diese W'ortkäinpfc in die I-änge.
Was die Möglichkeit einer internationalen .\rbeitcrschutzge.setz-
gebung anlangt, so sind alle Mitglieder darüber einig, sie abzu-
lehnen. Nur etwa, wie man durch v(tlkcrrcchtliche X'erträge flir
den Krieg gewisse extreme Mittel ausgeschlossen hat. so sollte man
auch einzelne gesundheitsgefährliche Arbeiten für den Frieden inter-
national verbieten können — so raeint der eine oder der andere
Redner.
Bei dem Thema der Gewerbeinspektion schildert ein Referent
aus Frankreich die Hindernisse, mit welchen dieses Institut in
seinem Vaterlande noch zu kämplen hat. Der früliere preufsische
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76
Gustav Cohn,
Handelsniinister berichtet über einen befriedigenden Zustand der
deutschen Gewerbeinspektion.
Einer der Gegner jedes staatlichen Füiv^aiffes erklärt, diese In-
spektion j>asse für Länder wie Deutschland und Oesterreich; bei
freien X'ölkern sei sie unm^lich und unheilvoll. Mifs Anderson,
ein Mitglied der englischen Gewerfoein^ektion, protestiert dag^n
im Namen der Freiheit Englands.
Damit dann ein dauerndes Ergebnis von diesem Kongresse
übrig bleibt, versammeln sich nach SchluCs des „offiziellen Kon-
gresses" die deutschen Mitglieder zu einer Besprechung und be-
schliefscn. ihre Anstrengungen auf die Erlangung eines inter«
nationalen Bureaus zu beschränken, ungefähr im Sinne dessen,
was in Zürich zuvor beschlossen worden war. Mit der weiteren
Förderung dieser Angelegenheit werden einzelne Mitglieder des
Vorstandes betraut
Der letzte Akt dieser Bestrebungen ist dann die Gründung
einer „internationalen Vereinigung lur Förderung des Arbeiterschutzes",
behufe deren am 3. Mai 1899 in Berlin eine Versammlung statt-
gefunden hat.
So hat sich, was einst in seinen Anfangen ein überschäumender
Gebirgsbach gewesen, in ein friedliches Gewässer verwandelt und
damit ist die dritte Phase des internationalen Arbeiterschutzes
angebrochen.
vin.
Was Vereine dieser Art zu leisten fähig sind, dies zu beurteilen
hat uns die Wirksamkeit des „Vereins für Sozialpolitik" einen un-
gefähren MaTsstab gegeben.
Zunächst sind sie der Anziehungspunkt für eine Anzahl von
Männern von ungefähr gleichartiger Ge^nnung und Bfldung, von
ähnlichen Zielen und Bestrebungen. So bunt am Anüinge, wenn
solche Vereine im Entstehen sind, das Gemisch sich zusammen-
setzen mag, welches auf einen ersten Aufruf zusammenströmt, so
fragwürdig dann bei längerem Leben des Vereins die jeweilen zu-
strömenden Elemente sind, welche von der nächsten Umgebung der
jeweiligen Wanderversammlung deren Quantität, seltener deren
Qualität erhöhen — es ist doch ein gewisser Kreis von Persönlich-
keiten, die sich periodisch zusammenfinden, zusammen arbeiten,
Ansichten austauschen und gerade im zwanglosen Verkehr, oft mehr
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Die Entwicklung der Bestrebungen fttr internationalen Arbeitcrscbuts.
als in der parlamentarisch gebundenen Debatte, die crfreuliclisten
Wirkungen ihres geineinsamen Strebens ausüben und empfangen.
Für Gebiete wie dasjenige der SozialpoHtik und für die eigen-
tümlichen Verhältnisse, welche wir in deutschen Landen kennen,
ist CS eine besondere Wohlthat wenn sich die Manner der Universi-
täten mit den Männern der Staate- und Kommunalverwaltungen
lebendig berühren, wenn diese Berührung dazu dient, dem wissen-
schaftlichen Denken den Zusammenhang mit dem Leben, wie andrer-
seits den besten Kräften unsrer öffentlichen Praxis die Fühlung mit
den vorwärts treibenden Ideen zu gewähren. Nichts ist so geeignet,
das Vorurteil des Philistertums von dem inneren Gegensatze der
IVasds und der Theorie zu zerstören, als ein solches Zusammenarbeiten.
Für die Theoretiker unter einander hat es sich längst als heil-
sam erprobt, dafe ein öfteres menschliches ein^hes Zusammensein
das beste Heilmittel gegen die Federkämpfe ist, die sich in der
Kluft räumlicher Entfernung am liebsten entfachen, während sie
angesichts der lebendigen Gegenwart so leicht als ein Zerrbild des
geistigen Streites zerfallen, der ungesund und übertrieben erst durch
das räumlich Abstrakte der streitenden Persönlichkeiten geworden ist
Die hauptsächliche, wohl am wenigsten angezweifelte, deut-
lichste, ja handgreiflichste Leistung eines solchen Vereins ist seine
Utterarisdie Produktion. Unter den mannig<igen Formen der
kollektivistischen Herstellungsweise von litterarischen Werken, zumal
des staatswissenschafUichen und sozialpolitischen Gebietes, ist die-
jenige Form eine hervorragende, welche die Mittel und Kräfite eines
solchen Vereins gebraucht, um gewisse Gattungen von Arbeiten zu
leisten, die eine Darstellung vorhandener Zustände, ein Bild der An-
sichten von deren Reform, eine Sammlung von Urteilen über
schwebende Streitfragen aus der ganzen Fülle der Wirklichkeit zu
gewinnen suchen.
Arbeiten dieser Art werden die Vorbereitung neuer Mafsregeln
der Gesetzgebung und Verwaltung. Und wenn sie öfters sich damit
begnügen, geduldig der Stunde zu harren, da die Zeit für sie ge-
kommen ist, da eine unfreundliche Strömung umgesetzt hat — so
mag diese Situation nur desto mehr ihren wissenschaftlichen Charakter
bewähren.
Neben den litterarischen Publikationen, deren wachsender Tni-
feng wohl als ein Kennzeichen der Hiiitf eines solchen Vereins be-
trachtet werden d uf, ist von den Arbeiten des \*ereins vielleicht
dasjenige Stück das bedeutsamste, ernsthafteste, intensivste, welches
L^iyiii^cü Uy Google
78
Gustav Cohn,
die Publikationen vorbereitet — die Thät^keit in den Ausschüssen.
Im Gegensatze dazu sind die Debatten in den Generalversammlungen,
abgesehen von wohl vorbereiteten grölseren und doch durchsichtigen
Referaten, ein Ding von fragwürdiger Bedeutung.
Es ist verhältnismäfsig selten, daCs durch derartige Redekämpfe,
bei der notwendigen Kürze dessen, was jeder einzelne sagt, bei dem
Uebergewiclitc formeller Momente in jeder solcher mündlichen Ver-
handlung, bei der Ungeduld und Ermüdung, welche nach wenigen
Stunden schon über tlie Zuhörer zu kommen pflegt — es ist selten,
dafs für die Sache dadurch etwas Ernsthaftes entschieden wird.
Und schlimmer steht es damit in Fächern wie dem unsrigen, als
etwa bei den Juristen. Historikern, Philologen, Medizinern, Natur-
forschern, die ja auch und viel langer als wir ihre Kongresse halten.
Bei diesen ist ein Minimum der Kompetenz durch die Statuten der
Versammlung gewährleistet. Zum Juristentage wird ein Harbar nicht
eingelassen, der nicht weifs, wozu es ein Recht und einen Staat giebt.
In unserem Fache ist eine Scheidelinie nicht zu finden, die ein ähn-
liches Minimum sicherstellt; es würden wesentliche Quellen der
Kraft eines sozialpolitischen \'ereins abgegraben werden, wenn man
es dennoch \ ersuchen wollte. Wir können kein Kxamcn fonicrn.
Aber schlimme Folgen hat es trotzdem, dafs wir es nicht fordern
können. Irt^end ein Fabrikdirektor — wie wir der<:jleiclien erlebt
haben — benutzt die Versammlung', um seinem Aert;er über Arbeiter
und Arbeitcrireunde Luft zu machen mit .-Xri^umentcn, auf die man
schweigt mit dem Bedauern, so etwas haben anhören zu müs.sen.
Wie nun, um ein neues Land zu bevölkern, man in den An-
fangen desto nachsichtiger ist gegen die Qualität der An.siedler, so
muls auch ein neuer Verein, um überhaupt Mitglieder zu be-
kommen, um eine gewi.sse Fülle zu erlangen, ohne die er nicht
leben kam;, ohne die er sehr bald wieder einschläft, auf strenge
Grenzziehung; bei der Zulassung verzichten.
Aber trot/.dem wird es nicht leicht sein, einen neuen Verein
zu scharten, der thatsächlich vou den Kräften des alten Vereins sein
Leben zieht, der keinerlei Hilfstruppen xon anderswoher heranziehen
kann, als woher der alte bereits seit einem Menschenalter Erfolge
und Milserfolge der l\ckrutierun<^ erfahren hat.
Der neue Verein von Freunden des .Arbeiterschutzes wird, so-
weit seine deutsche Sektion in Betracht konmit, kaum etwas anderes
sein können, als ein Anhängsel des Vereiiis für Sozialpolitik. Nicht
nach der Zusammensetzung, nicht nach den Zielen. Die Propaganda,
Digitized by Güü^9
Die Entwicklung der Bestrebungen für internationalen Arbeiter&chutz.
wdche der alte Verein su machen gestiebt hat, welche gelegentlich
auch über die Grenzen des Deutschen Reiches hinausgetragen ist,
soll in dem neuen Verein wohl vorzugsweise auf das Ausland und
zwar der Natur der Sache nach vorzugsweise auf die am meisten
zurückgebliebenen Staaten gerichtet sein; ja, wie wir gesehen haben,
haben gesinnungsverwandte Männer um der Zurückgebliebenheit der
Gesetzgebung ihres Heimatlandes willen den Sukkurs von aulsen
herbeigeführt
Es ist nicht zu bezweifeln, dals alle Au%;aben eines nationalen
Vereins für Sozialpolitik in einem internationalen Vereine der Art
sich in extensivem Sinne steigern. Inwieweit diese Extensität um
den Preis der Intensität erkauft wird, das mu(s die ErCsihrung
lehren. Unzweifelhaft ist es, dafs die Schwierigkeiten um so viel
grolser sind.
Gerade aus diesem Grunde ist es zweckmälsig, da(s man
wenigstens den G^enstand des neuen Vereins von vornherein ein-
schränkt und daraus nicht einen internationalen Verein ftir Sozial*
Politik überhaupt macht An dem einzelnen Gegenstande kann man
zunächst die Kräfte erproben, um zuzusehen, wie weit man mit
einer solchen Organisation kommt Es hat in der That bereits vor
30—40 Jahren Anläufe zu internationalen Vereinen für Sozialpolitik
g^^ben, wdche dann bald sich in ihr Nichts aufgelost haben.
Gelingt der neue Verein — dann ist einstmals die Zeit zu er-
warten, wo man nach seinem ermutigenden Beispiele die gleich-
berechtigten Aufgaben der Sozialpolitik — neben dem Arbeiter-
schutz — zum Gregenstande einer internationalen Vereinsorganisation
macht Denn, wenn ein internationaler Verein für Arbeiterschutz,
warum nicht ein internationaler V'ercin für Arbeiterversicherung?
Warum nicht ein ähnlicher Verein für Steuerreform (Einkommens-
und Vermögenssteuern, Krbschaftssteuem, Progressivsteuersystemc)
für internationale Gemeinschaft der Steuergesets^bung und vieles
ähnliche aulserdem?
Die Antwort ist: Logisch sind diese Dinge allerdings völlig
gleichberechtigt; taktisch darf der eine Gegenstand den Vortritt in
Anspruch nehmen, welcher nun einmal seit einem Menschenalter
mit Vorliebe für internationale Bestrebungen ausgesucht worden ist.
uiyiii^uü Uy Google
Ein Kapitel zur Aufsaugung des Landes durch
die Stadt
Von
Dr. EMIL VANDERVELDE,
Mitglied der Deputiertenkammer in BrtaeL
„WclckcB Gründen ist es bei uns zuzuschreiben,
4»f% dit LudbevolkeruDg immer mehr abnimmt :
Ud«r vielmehr, welcbea Grüaden ttt di«t iridM
/■i/ i ' hreihf n .■' Krieg, Flotte, Finanz, Justiz,
Handel, Künste, ja sogar die Kirche, alle rauben
aai fort tmd fort die Kioder unieicr Laadleoie,
nehmen sie weg aiu d«a Dörfern, welche wk
werden sahen."
«Lea EpbcBcridci da ciloyCB. 1765.)
Ich wohne in rler I .and«,'cmeindc La Hulpe, einer Ortschaft in
der Nähe der Kbciie von Waterloo.
Ks ist hier die ( i eisend der Maurer und Stuckateurc. Sämt-
liche ( )rtschaften im rmkreise senden jeden Mor^i^en Hunderte \ on
Bauarlieitern zur Arbeit nach I?riissel. Die (irofsstadt ist, achtzehn
Kilometer entfernt, hinter den hohen \\'ij>fehi des Waldes von
SoijTnes versteckt. Des Nachts nur wird ihr heller Widerschein am
dunkeln W Dlkenhiminel, einer hata Mor^ana L,deich , sichliiar. Ein
bezeichnendes Schauspiel, welches uns an die W orte Kmil Verhaerens
erinnert:
„ Wenn der Abend
Mit schwarzem Hammer moifsi'lt aus d.is FitTnanunit,
Dehnt sich Um die Stadt, H'w 1 I<'tr:>cherin der Eb«nc.
Wie ein n.Hchtlich, unpi'tiim IMianlom,
Gi«T und Pracht und WoUuvl atnu nd.
Ihr Liclitcrglanz strahlt bis zum Himmel,
Ihr Gas lobt auf in- Myriaden Flammen.
Bb Kapitel SU AulMiiguiig des Landes durah die Stadt
8t
Auf ihren eisernen Gelci&cn vermessen
Eilt's hin zum trügerischen Glück,
Vfit es den Reichtnn imd die Macht b^(leit«t.
Es redwn Oue Ibvem rieb gleich einem Heer,
Und drohend wilxt sie dichten Qualm nnd Dnnst
Hinaas anfs grOne Land.
Das ist die Stadt mit ihren Fühlern **
Ja, sie ist es, die grofscn Städte sind es, mit ihren ehernen
Fühlern — Töchter des Kapitalismus — welche mehr und mehr
die Menschen, die IVodukte und das Geld des platten Landes auf-
saugen: das Geld in Fonn von Steuern und P^ht; die Produkte,
welche, durch die Weltkonkurrenz entwertet, heute von allen Erd-
teilen herbeiströmen, um den Leib von Paris, Berlin oder London
zu füllen; die Menschen endlich, die, herausgerissen aus ihren Ge-
meinden, ihren häuslichen Beschäftigungen, ihrer „Familienhabe"
en^jwtzt, herbeigezogen werden von den Kasernen, den Kauf hausem
oder den Fabriken, geblendet von der glänzenden Stadt, wie jene
Seevdgel, die nach Sonnenuntergang in ihrer Bestürzung dem Feuer
Leuchtturms zufliegen.
In England, wo Anderson Graham in einem sehr lesenswerten
Buche die Folgen der Entvölkerung des Landes dargelegt, wohnt
die Hälfte der Einwohner in den j^iufsen Städten; die Zahl der
Landarbeiter ist auf 800000 herabgesunken. Und am 22. Februar 1892
konnte der Landwirtschaftsminister im Unterhause sagen, dafs die
Frage der Zukunft nicht jene der ftemdländischcn Konkurrenz sei,
sondern die Not der Farmer, Arbeiter zu finden.
In iM-ankreich l)il<lclc die Sia.lthcx rOkcrun;^^ 1846 24",,, 1891
37" ,, der Cicsamtbc^ (jlkcriitiL; und betrug n.icli den IJcrcchnun^en
von Lanncs'l die F.inwaiuk run;^^ in den 53 bevölkerlslcn Städten
in denjaln cn 1881 — 1SS6 334021, und 1886 — 1891 354 5 1 8 Personen.
In Deutschland nimmt die Auswanderung aus den I .andbezirken,
wie die V'olkszählung vom l. Di-zcniber 1890 beweist, nachdem
sie hier später IjeL^onnen als in Frankreich imd England, jetzt mit
lawincnai-tiger Schnelligkeit zu. In den Jahren 1885 — 18()0 kam
die Bevölkerungszunahme von 2' ^ Millionen (2764452) in ihrem
'1 „L'inflnence de ränigration des cainpagnes sor la natalit^ francaisc*'. (Revur
polst, et parlem. 1895.) — Vgl. andi Choisy, „rimmigration rarale dans les vUles.'*
(Kefonne sociale 1892 L S. 686 tC.)
Archiv rur ms. GMMsffcbvBf n. SUlittik. XIV. 6
82
Emil Vandervelde,
ganzen Umfange den Städten (Orten mit über 2000 Einwohner)
zugute; die Landbezirke \ erloren dagegen I91686 Einwohner. Nach
Sohnrey') ist die städtische Bevölkerung aUmählich in den Jahren
1875, 1880, 1885, 1890 auf ,j6,i, 3g,0, 414, 43,7, 47,0«,, der ge-
samten Einwohnerzahl des Reiches angewachsen. Daher konnte
Professor Sering mit Recht behaupten, dafs diese modernen Wande-
rungen eine weit gröfsere Bedeutung haben, als jene, welche vor
fiinfeehnhundert Jahren stattfanden.
Derselben Erscheinung begegnet man in VCfSChiedenem Mafse
In allen lindern, wo sich die Industrie einigermafsen entwickelt hat
Aber mehr als anderswo macht sich der Einflufs der Städte auf das
Land nachhaltig fühlbar in Belgien mit seinen 200 Einwohnern pro
Quadratkilometer, seinen Ameisenhaufen von Industriebetrieben,
seinen kaum ein oder zwei Stunden Eisenbahnfahrt voneinander-
liegenden Provinzialhauptstädten.
Der Zweck der nachstehenden Zeilen ist, zu untersuchen, welche
Folgen diese V^erhältnisse für die Lage der Arbeiter, den Landbau
und das Grundeigentum in diesem Lande mit sich bringen.
T. Das goldene Zeitalter der Grundbesitzer.
Tn seinem, unterm 10. Januar 1845 an den Senator Hiollay
gerichteten Schreiben über die Lage der ländlichen und industriellen
Arbeiter in Belgien schilderl J. Arrivabene den Einflufs, welchen
die Entwicklung der städtischen X'erhältnisse auf Rente, Unter-
nehmergewinn und Löhne ausübt, mit fol^'cnden Worten ;
„Belgien ist von der X'orschung mit ihren Wolilthaten ebenso
reich als schön bedacht. Seine Städte, mit herrlirlien Denkmälern
geziert, welche Pietät und denie ihrer I-jnwolnier errichteten, seine
riesenhalten Kunstwerke, seine '^rnfsen Industriebetriebe, seine schönen
Dörfer, seine lachenden 1' luren , sind ebenso unbe^treitba^c als
nihinliche Anzeichen eines Wohlstandes, an welchem verschiedene
Generationen hintereinander L^earbeitet halien.
Es f^iebt aber auch wenig Länder, in denen die vou uns oben
hervurj^a-hobene Erscheinuiif^ - - die Zun.ihme des \ erhältnismälsii^'ei^
Anteils der Grundeigentümer am V'olksvermögen — stäiker hervor-
tritt, als in HelL^ien.
Wer hier zu Anfang dieses Jahrhunderts sein Geld in Grund-
',j „Der Zug vom Lande." Leipzig 1S94, S. 3 fl.
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Ein Kafdtd nur Aofsaneimg des Landes dnrch die Stadl.
83
Stucken angelegt hätte, würde sein Kapital mehr als verdoppelt und
sein Einkommen bedeutend gesteigert haben. Wer dagegen einen
gleichen Betrag wie jenen, zur selben Zeit auf Zinsen angelegt und
dies immer fortgesetzt hätte, würde nicht nur kein gröfseres Kapital
als damals besitzen, sondern infolge des fortschreitenden Fallens des
Zinsfufses und der Entwertung des Geldes eine geringere Zinsen-
einnähme haben. Und was unsere .Arbeiter anlangt, — kann man
behaupten, da(s sie an dem glänzenden Los der Grundstückskaufcr
teilgenommen? — Ganz und gar nicht!"')
Arrivabene sagt gleichwohl, daüs der Reallohn der Arbeiter, ihr
„realer Anteil an den Produkten" etwas gestiegen sei, doch genügt
ein Blick auf die Diagramme des von Hector Denis herausgegebenen
„Atlas ^conomique", Um die Ueberzeugung zu gewinnen, da(s während
jener ganzen Periode die kaum merkliche steigende Bewegung der
Löhne, und namentlich derjenigen der ländlichen Arbeiter, bei weitem
nicht der fortschreitctulcn Erhöhung in den Preisen der Lebensmittel
und im Pachtzins gefolgt ist
Die Konkurrenz der neuen Erdteile drückte noch nicht fühl-
bar den Preis der Lebensmittel, das Anwachsen der Bevölkerung
und die Fortschritte der Industrie steigerten unausgesetzt die Nach-
firage nach den Erzeugnissen der Landwirthschaft : kurzum, es war
die goldene Zeit der Grundbesitzer. Für das Proletariat aber war
es die eherne Zeit, als am Lnde des fünften Jahrzehnts die kapita-
listische Umwälzung iti der Textilindustrie zusammen mit den gleich-
zeitigen schlechten Ernten tausende von Arbeitern aulser Brot setzte.
^Niemand", schreibt Ducpetiaux 1853 in seinen „Budgets
economiques de ia classe om rirre", „wird die Schwierigkeiten dieser
Lage verkennen, welche sich be merklich macht in den hohen Pacht-
preisen, in der Konkurrenz der Pächter, im allmählicheti Rückgange
der Verhältnisse der Ackerbautreibenden, in der häufigen Arbeits-
losigkeit und im Sinken des Taglohns der Landarbeiter. So lange
der Klein-Grundbesitz und der Kleinbetrieb in der Landwirtschaft
noch als der Ausdruck einer normalen Thatsache betraclitet werden
konnten, als das Anzeichen eines gewissen gleichmäfsigen Wohl-
standes, solange das Zusammenwirken der landwirtschaftliclien und
der gewerblichen Thätigkeit andauernd seinen wohlthätigcn Eintiufs
übte, konnte man die MiCsstande dieses Systems übersehen, konnte
') Arrivabene, Svr b conditiont des laboureon d de» oavrier» beiges.
Brax. 1845, & 4^
6*
uiyiiizied by Google
84
Emil VanderTelde,
man seine guten Seiten sogar übertreiben und e«;, anscheinend mit
Recht, als Muster hinstellen. Seitdem aber die Grundeigentümer,
zwecks Erhöhung ihres Kinkonimcns, fortL^csetzt ihre Ländereien
zerstückeln, seitdem der Verfall der Leinenindustrie dem kleinen
Ackerbauer seine beste Einkommensquelle genommen, seitdem die
Karte »ffelkrankheit andauernd wütet und sogar ernstlich die P'xistenz
der Bedauernswerten bedroht, welche wohl oder übel auf den
Anbau des Knollengewächses angewiesen sind, wird es immer
dringlicher, auf Mittel zu sinnen zur Wiederherstellung des richtigen
Verhältnisses zwischen dem Umfange des Landwirtschafisbetriebes
und der zur Bewältigung seiner Arbeiten erforderlichen Kräfte, und
somit zur Erhöhung des Lohnes der Landarbeiter, welche diesen
erm<%licht, ihren notwendigsten Bedürfnissen zu genügen."
Es äufserte si( h also, kurz gesc^, in jener Zeit der EinfluGä
der Städte auf das Land in der Verteuerung der landwirtschaftlichen
Erzeugnisse, in der Steigerung des Pachtzinses und in der Ver-
nichtung der alten IVoduktionsformen durch die Maschinenindustrie.
Vergleicht man die damalige La.^c der Landwirtschaft mit ihrer
jetzigen, die Klagen Ducpetiaux' über die \'erhältnis<e der Land-
arbeiter mit denen unserer heutigen Landwirte über ihre eigene
Lage, so läfst sich ein stärkerer Gegensatz kaum denken.
Im Jahre 1853 litt die gesamte Bi völkcrung unter dem Steigen
der Rente, ausschliefslich zu Gunsten der (irundeigentümer, während
diese gegenwärtig unter der Bodenentwertung und dem Sinken des
Pachtzinses seufzen.
Heute jammert man über das Heruntergehen der Preise und
die Ueberflutung init ausländischem Getreide: vor fünfzig Jahren
dagegen entsetzte sich der Pinanzminister über den Ausfall in unseren
Ernten. ' )
Man klagt darüber, dal's die Zahl der ländlichen Arbeiter immer
geringer wird, dafs es fast unmöglich ist, brauchbare Ackerknechte
') „Von 1830 bis 1839 betru«:; unsere Einfuhr an Getrcidr (Koggen und Weizen)
durchschniUltch 41 Millionen im Juhr; von 1840 bis 1832 ist dieser Dorehschnitt
auf jührlicli loz Millionen Hektoliter gestiegen."
„Wenn unter friedlichen VerhSltnisscn die Bevölkemng Belgiens fortführt, in
demselben Verhältnis wie bisher zuzunehmen, so wird in noch nicht zehn Jahren
der Ausfall in luis'-n n r,t (!ri(l.-. rnten — icli \v.\-^r iVu- ZilTer kaum au!.zuprcchcn —
unt;< f'älir 2 MilHuueo lltkiulitcr li>-tragrn. Icli bleib.' noch iintrr der eijjenüichen
Ziffer, damit meine Angabe niclit bvstriucn worden kann." (Annales parlementaires.
Chambrc des Representants. 25. Novcmbn- 1S53.)
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Ein Kapitel zur Aufsaugung dcü Laadcä durch die SUdt.
85
ZU finden, da& die Arbeiter immer mehr nach den Städten und
den Industrieorten ziehen. Ftinfundachtzig bis neunzigtausend auf
dem Lande wohnende Arbeiter fahren jeden Morgen mit der Eisen«
bahn nach Brüssel, Lüttich, Antwerpen, Charleroy und anderen
Plätzen. Vom Frühjahr bis in den Winter hinein überziehen Tausende
von Flamändem — als Schnitter, Ziegeleiarbeiter, Erdarbeiter»
Zuckerrüben-Arbeiter — die ganze Wallonei, die Departements des
nördlichen und selbst des mittleren Frankreichs, alle Gegenden, wo
sie Lebensunterhalt für die schlechte Jahreszeit zu finden hoffen.
Es scheint, als ob dieser „Nomadentrieb" den Belgiern überhaupt
und den Flamändem insbesondere angeboren sei, während Ducp^tiaux
in seinem „Memoire sur le paup^^isme des Flandres" im Gegenteil
als ihre wesentliche Eigentümlichkeit betrachtet ihren „Hang zur
Abschliefsung", ihren „Widerwillen, ihren Aufenthaltsort zu wechseln",
ihre „Neigung zur Selshaftigkeit", welche sie unter allen Umstanden .
an den heimatlichen Boden fesseln.')
Um diese Leute in Nomaden zu verwandeln, diese Arbeiter»
welche ihren Arbeitsvertrag nach einigen Tagen der Abwesenheit
von ihrer Heimat brachen, war nichts Geringeres erforderlich, als
eine voll ige Umwälzung des alten Landwirtschaftsbetriebes.
Und diese rnuviil/uiiL," ti ;it ein, als die Konkurrenz der städtischen
Industrie auf dem I^iiidc die Leinetiiiidustrie und andere Neben-
i£e\vcrbe der Landwirtseliaft verniclitete.
o
') „Merkt der englische odt-r (Iputsclu- Arlicitcr, dafs es rail seiner Bescliäftigung
immer weniger wird und die Not an ihn herantritt, dann Mcht er der Gefahr durch
Ergreifmig eines anderen Erwerfasxweiges ansniweichen : er sucht anderwärts nach
der BeachiAigang, welche an seinen gegenwirtigen Aufenthaltsorte aufzuhören be-
ginnft, er sinnt nach, wie er sidi wohl aus der Verlegenheit ziehe, er lübnpft bis
zoB letzten Augenblick. Der flänuschc Arbeiter dagegen unterwirft sich an seinem
einmal gewählten Aufenthalt den härtesten Entbehrungen: ohne irgendwie seine
Lebensgewohnheiten zu verändern , beschränkt er >irh mehr und mehr in seiner
diirftipen Kost; er unterliegt, ein Opfer dos Sich^rlicnlassens, srinrr Umgebung,
ohne jeden Versudi, sie zu wechseln. I tul käme er wirklich auf di-- Idee, seine
I>ieiistc in einer anderen l'rcjviiu, in einem anderen i,an<le anzubieten, so hindert
ihn an ihrer Austiihrung zumeist die Verschiedenheit der Sprache, oder, wenn ihn
dies nicht bindertt zieht ihn die Erinnerung an sein Dorf, seine Familie, das Hehn»
web bald wieder nach Hause. Man hat den Versuch gemacht, bei Erdarbeiten aufser-
halb Flandcms flämiaehe Arbeiter anzustellen: sie haben, dner nach dem andern,
auf die gebotenen Vorteile versiditet und sind lieber tarn Elend ihrer beimstlichcn
Hfttte nvildigekehit".
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86
Emil Vandervelde,
n. Die industrielle Umwälzung auf dem Lande.
Wie aus den Zusamineiistellunfjen ersichtlich, welche vom
Dc|>ariement des Innern im „Munitcur Beige" vom 13. Mai 1846
vemtientlicht wurden, betrug die Zahl der in den verschiedenen
Zweigen der Lcinenindustrie im Jahre 1843 beschäftigten Personen
jeden Alters und beiderlei (ieschleclUs 328249. Nach den bezüg-
lichen Angaben, welche vier Provinzen umfafsten , die beiden
Flandern, Hennegau und Brabant, bestand diese Zahl aus
57821 Webern
194091 Spinnerinnen
76 ; ^7 Flachspochem und Hccblem
zusammen 328249
Fast alle dieser Arbeiter wohnten auf dem Lande und ver»
banden mit ihrer Beschäftigung den Adcerbau. Der Boden
lieferte den Rohstoff, sämtliche Familienmitglieder wirkten bei
den verschiedenen Bearbeitungen des Flachses mit Die Arbeiten
wechselten: Das Familienhaupt ging von der Bebauung seines
Feldes zu seinem Handwerk über, die Hausmutter verliels ihr
Spinnrad, um den Anforderui^en des Fbushaltes zu entsprechen;
jeder hatte seine Aufgabe und kein Augenblick ging verloren. Aus
dem Erlöse des verkauften Garns und der verkauften Leinwand
konnten Miete und Steuern bestritten werden. ,J3ie ländliche Klein-
wirtschaft verbunden mit Spinnen und Weben" sagt Ducp^tiaux,
„galt in aller Augen als der Ausdruck eines Systems, das man
anderen Nationen als Vorbild hinstellte".
Man kann wohl sagen, dafs von diesem Systeme nur noch un-
bedeutende Ueberbleibsel vorhanden sind. Wer die früheren
Spinnerinnen wieder aufleben sehen möchte, würde ebensowenig
wie John Ruskin in Westmoreland bei uns auf dem Lande noch
ein Spinnrad finden. Die letzten Handweber dürften bald ver-
schwinden. Bei der letzten, schon sehr \enilteten Gewerbezählung
(1880) gab es nur noch 35792 in der Leinenindustrie beschäftigte
Personen — zehnmal weniger als vierzig Jahre früher ; davon waren
17060 Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen und nur 18732 Heim-
arbeiter.
Was die übrigen anlangt, oder ihre Nachkommen — welche
genötigt waren, auswärts den Lebensunterhalt zu suchen, den sie
nicht mehr zu Hause landen, so arbeiten die dnen jetzt in den
Digitize<j Lj
Ein Kapitel zur Aufsaugung des Landes durch die Stadt.
Fabrikstädten, andere haben die Kundschaft der reichen Armen-
unterstützungskassen in Ypem, firugge und Oudenarde vermehrt,
andere wieder kommen alltäglich aus dem Herzen Flanderns, oder
bilden auch förmliche Kolonien in Wallonien, um in den Kohlen«
bergwerken des Hennegau zu arbeiten;^) die allermeisten endlich
bSden das Hauptkontingent jener grofsen Affoeiterarmee, welche
jedes Jahr nach Frankreich und Luxemburg zieht
Es ergiebt sich dies mit aller Gewifsheit aus den Sutistiken,
wekhe vom Departement des Innern geliefert werden: die Arron-
dissements des Landes» welche die grölste Anzahl ländlicher Arbeiter
in die Fremde senden, sind Alost, Gent, Termonde, Oudenarde
und Ath, d. h. also jene, welche vor fünfzig Jahren die Hauptsitze
der Leinenindustrie bildeten.
Ebenso ist es in Deutschland, wo Solinrey gleichfalls den Xieder-
gang^ der } landwchcrei als eine der Hauptursachen der Wanderung
aus den I^andbezirken ansieht.
Es sind also, wenigstens zu Beginn der kapitalistischen L'ni-
wälzung, nicht die Städte, welche die ländlichen Arbeiter anziehen,
sondern das Land stöfst sie von sich, leitet seine iiberschüssige Be-
völkerung nach den Städten und Industriegegenden ab.
Dieser Ueberschufs ist indessen ein durchaus relativer. Er rührt
her aus der Veräufserung der Gemeindeländereien, der übermäfsigen
Konzentration oder Zerstückelung des Grundeigentums, aus der Ver-
nichtung der landwirtschaftlichen Xebengewerbe.
Alle diese VV'andlungen aber haben im letzten Grunde ein und
dieselbe Ursache : die Einwirkung der Städte, deren Bewohner das
ländliche Grundeigentum erwerben und deren Fabriken die alther-
gebrachten Formen der Produktion zerstörten, welche noch auf
dem Lande fortlebten.
Wer der Ansicht ist, dals die Landwirtschaft vom Kapitalismus
nur wenig beeinflufst werde, übersieht, dals allmählich sämtliche
M In der Ortschaft Taillis-Prf^ bei Charlrroy ist dio flämisch«* Revölkemiig ao
•luk, dafs in der dortigi-n Kirch»' jeden Sountag fliimisch gepredigt wird.
Die flämischen Arbeiter aus dem Arrondisscment Alost und dem Süden des
Ammdissementä Brüssel, welche alltäglich zur Arbeit in den Kohlen werken mu-
iMmb, wendcD sich vonricgend nach den Graben des Zentrums, wo die 'Arbeits*
kiille knapper sa wcfden beginnen: ein pofser Tdl der Grabenubeiter nfanlicb,
«dchen ihr Beraf zu mühsam erschemt, lassen ihre Kinder HOttenarbeiter, Kon-
toriMen n. t. w. werden.
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88
Emil Vandervelde,
ZwcIljc, welche früher zu einem Ackerbaubelricbc gehörten, sich
von dein 1 laujastaininc sondern, um Industrieen für sich zu bilden.
So brauten vor fünfzig Jahren fast sämtliche I^ndwirte ihr
Bier selbst; an diese patriarchalische Proiiuktion erinnern heute nur
noch der wilde I lopfen, welchen man noch öfters in den Hecken
im wallonischen Brabant antrifft.
Um das Jahr 1835 war dicP amilien-Destillalion noch im Schwunj^e;
man zählte damals über 2000 ländliche Destillationen: nach einer
vor kurzem [niblizierten Statistik i^iebt es ihrer nur noch hundert.
Die übrigen sind durch ein Dutzend Grofsdestillationen ersetzt,
welche nur in den grofsen Städten betrieben werden und ein that-
sächliches Monopol ausüljen.
Die belgische Regierung hat zwar vor nicht langer Zeit den
Versuch gemacht, das ländliche Destillationsgewerbe wieder datlurch
aufleben zu lassen, dafs man den lienossenschaflsdestillationen \oii
Landwirten beträchtliche Steuererleichterungen bewilligte. Allein
die iiulustriellen Destillateure haben ein Mittel gefunden, sich tlie
Wohlthaten des fraglichen desetzes zunutze zu machen: sie grün-
deten, wie der Finanzminister selbst bestätigte, aus Strohmännern
bestehende Pseudo-ljenossenschaften. in denen sie durch Zeichnung
des ganzen Kapitals die gesamte Leitung und alle F^rträgnisse in
ihre ilände bekommen. So geschieht es, dafs die ländlichen
Destillateure, welche nunmehr gegen die falschen Genossenschaften
und gleichzeitig gegen die unüberwindliche Dreiheit der Hefenhändler,
der Zuckersieder und der Kornbrenner zu kämpfen haben, nur noch
rascher vom Schauplatz verschwinden als zuvor!
Dieser unaufhaltsame \' erfall der mit dem Ackerbau verknüpften
Industrie des Landwirtes und des häuslichen Herdes zeigt sich
in allen Produktionszweigen und zeitigt stets das Ergebnis, dafs er
die kleinen Ackerbauer und die ländlichen Handwerker, denen ihre
Produktionsmittel genommen sind, in umherziehende oder industrielle
Aibeiter verwandelt.
Was sich in Flandern in der Leinenindustrie vollzogen, vollzieht
dch zur Zeit in der Lütticher Gegend in der Waffenschmiedekunst,
und anderwärts bei den Holzschuhmachem.
Die Messerschmiede aus der Umgegend von Gembloux, welche
früher aeben ihrem Gewerbe einen kleinen Grundbesitz bebauten,
sind umherziehende Arbeiter geworden; seitdem es mit der Messer»
schmiede nichts mehr ist, lassen sie sich in den Zuckerfabriken
zum Schleifen der Rübenmesser anstellen.
Ein Kapitel nur AnfsanguDg des I^andes durch die Stadt.
«9
Die Weber des Lasnethals — in Ohain, Plancenoit, Rixensart —
sind seit der Einfuhrung mechanischer Webstühle in Braine crAlleud
Maurer und Stuckarbeiter geworden und gehen alltäglich zur Arbeit
nach Brüssel.
Ebenso gin^ es mit einer Menge von Bretschnetdem , seitdem
man ambulante Dampfsägen anwendet
Desgleichen — und wir kennen kaum noch ein ebenso sciiiagcn«
des Beispiel einer vom Kapitalismus vernichteten lokalen Industrie —
mit den Strohhutmachcrn des Geerthales (Lüttich und Limburg).
Zur Zeit, als K. de Lavelcye diese Industrie in seinem Berichte
über die belgische I^ndwirtschaft auf der Pariser Weltausstellung
1879) beschrieb, befand sie sicli noch in voller Blüte, hatte noch einen
Umsatz von sechs bis sieben Millionen, war auf unf^^eOilir zwanzig
Ortschaften verteilt und ruhte auf der natürlichen Basis der geolo-
{jischen Bodenbeschaffenheit und den besonderen Verhältnissen der
Bebauung: „Der Kreideboden von Macstricht, weicher sich in das
Geerl>ecken erstreckt, verleiht floni (ictrcidestroh gewisse besondere
Eigenscliaften : W'eichheit, Festigkeit, und vor allem eine Weifse,
welche, wie man sagt, nirgends sonst im selben Cirade erzielt werden
kann."
Vor ungefähr zwanzig Jahren also war die Hutindustrie dieser
Gegend unmittelbar mit der landwirtschaftlichen Thätigkeit ver-
knüpft : die .Arbeiterfamilien besorgten sich das .Stroh des Dinkels,
dessen Halm sie vorzugsweise zum Flechten verwendeten , in den
(iehöficn der Umgegend oder bauten es selbst auf gepachteten
Grundstücken. Kinder, Mädchen und I-'raucn besorgten das bleclitcn,
entweder beim Hüten der Kühe, oder zu Hause beim Besorgen des
Haushalts, oder ,,a rsize", des .Abends, wo die Flrchtciinnen sich
in grölserer Anzahl in ein und dasselbe Haus begaben, um dort
ihrer .Arbeit geiiiein>ain obzuliegen. 1 >ie Hutmacher, d. h. fast
.Amtliche leistungsUihigen Männer, reisten nach den Hauptstädten
Kuropas, wo sie (la> blechtwerk , welches ihnen von (dons,
Roclange oder einem anderen Dorfe ihres Hcimatthals gesandt
wurde, dem lokalen (ieschmack entsprecliend /.usainniennähteii und
staffierten. Kurzum, .Ackerbau, h'icchten un<l Hutmachen bildeten
damals ein (ianzes, dessen einzelne Thätigkeiten eng miteinander
verknüpft waren.
Heute ist die Arbeitsorganisation im deerthale unter dem
wachsenden FiTitlu,-se des Kapitalismus in xoller Auflösung l)egriffen.
Ganz zu Anfang, um 1880, machten sich infolge der Einführung
90
Emil Vandervelde,
des Maschioennähens \dele Mädchen im Alter von 15 bb 20 Jahren
und bis zu ihrer Verheiratungr auf die Wanderschaft und traten an
die Stelle der Manner in den Hutfabriken. Wie man uns berichtete,
ziehen aus manchen Orten, z. B. aus Rodange, 25% der Mädchen,
von Stellenvermittlern gemietet, alljährlich nach Paris, Brüssel und
anderen Städten. Einige bleiben dort und verkommen, andere reisen
allein hin und kehren, wie man sagt, bald zu zweien zurück. Alle
brii^n in diese verlorene Ecke Limburgs Sitten, Gewohnheiten und
Kleidung der Pariser Arbeiterinnen mit zurück. Es macht einen
sonderbaren Eindruck, wenn man an Sonnt^en auf dem Plane von
Roclange-la-Belle eine Menge fein geputzter junger Mädchen be-
merkt , deren Gewand merkwürdig gegen das der Bäuerinnen der
Umgegend absticht
Was die männlichen Arbeiter betrifft, welche durch die jungen
Mädchen ersetzt wurden, so sind tlie einen in Industriebetriebe ein-
getreten, andere arbeiten bei den Gemüsegärtnern in der Umgebung
Lüttichs, andere wieder sind dadurch, dafs Frauen die Arbeit der
Männer besorgen, genötigt, die Arbeit der Frauen zu verrichten,
und beschäftigen sich gegen lächerlich geringen Lohn mit dem Flechten
des Strohs.
Und selbst diese jämmerliche Einnahmequelle wird ihnen bald
genommen sein: die althergebrachte, seit einem Vierteljahrhundert
immer in derselt>en Weise betriebene Strohflechtindustrie verschwindet
mehr und mehr vor dem Wettbewerb Japans, Chinas und Italiens.
Sämtliche Kaufleute des Geerthales, mit einer einzigen Ausnahme
fast, führen nur noch einen Verkauisartikel , die blofsen „sieben
Enden", d. h. das Geflecht aus sieben Strohhalmen. ¥.s braucht
eines der Konkurrenzländer nur das Mittel zu finden, die „sieben
Enden" nachzuahmen, und die ortliche Industrie hat aufgehört zu
existieren.
Während das Flechten zu verschwinden be<::^innt, fangt die
kapitalistische Hutfabrikation an, ach im Gccrtlialc einzurichten.
Um die von den Hutarbeitern erworbene Fertigkeit an Ort und
Stelle zu nutzen, haben neuerlich mehrere Unternehmer Hutfabriken
in Roclange und anderen Nachbarorten gegründet. Bezeichnender-
weise aber verwenden diese Fabriken das am Orte gearbeitete Flecht-
werk gar nicht und nur in geringem Mafse. Sie finden es vorteil-
hafter, die von Japan oder China gelieferten Rohstoffe zu verarbeiten,
während die „sieben Enden" der örtlichen Industrie vorwiegend
nach den X'^ereinigten Staaten exportiert werden.
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Ein Kapitel zur Aufuugang des Laude» durch die Stadt.
91
Kurzum, die Rtickentwicklung ist dne vollständige: Weide-
flächen treten an Stelle der Dinkelfelder, die Maschinen verringern
die Zahl der Hutmacher, die beschäftigungslosen Arbeiter mehren
die Ueberproduktion des Flechtwerks und drttcken die Lohne; mit
einem Worte, in der Strohhutindustrie, wie in der Textilindustrie
und in den übrigen ländlichen Industrieen macht die Arbeit am häus-
lichen Herde der kapitalistischen Produktion Platz, und eine Menge
von Arbeitern ohne Beschäftigung werden in die Industrieplätze
oder doch in Gewerbe getrieben, die sich von der Landwirtschaft
völlig abgesondert haben.
Man gelangt also zu dem Resultat, dafs die industrielle Revolution
das Werk vervollständigt, das mit der Veräufserung der Gremeinde-
ländereien und der Aufhebung der Nutzungsrechte, vordem die
Stütze der kleinen ländlichen Wirtschaften, einst begonnen.
Zu Bq;inn des kapitalistischen Regimes — wir beziehen uns
hier auf die berühmte Schilderung in Marxs „Kapital" — war es die
brutale Besitzentsetzung der Landleute, welche den Industriellen
billige Arbeitskräfte lieferten: man vertrieb die Pächter (dearing
of estates) und eignete sich zu Unrecht die Gemeindeländereien an
(inclosure of commons). Heutzutage zeitigst die technische Ent-
wicklung der Industrie und der Landwirtschaft, sozusagen, automa-
tisch dieselben Resultate: die alten ländlichen Gewerbe verschwinden,
die neuen Industrieen, welche auf dem Lande entstehen, — Zucker-
&briken, Zichorienfebriken, Dampfmolkereien u. s. w. — beschäftigen
ein Personal, welches nicht mehr dauernd an der Bebauung des
Bodens teilnimmt
An Stelle von während des ganzen Jahres beschäftigten Ar-
beitern besteht die ländliche Bevölkerung mehr und mehr aus einer
kleinen Anzahl ständiger Arbeiter, denen sich zu gewissen Zeiten
zahlreiche Haufen gelegentlicher Arbeiter zugesellen.
In der Umgebung von Städten weicht die gewöhnliche Boden-
kultur zurück, um Weiden und Aufforstungen Platz zu machen.
Die landwirtschaftlichen Maschinen verringern die notwendige Ar-
böterzahl, oder sie füllen, was noch häufiger, die von der An-
ziehungskraft der »^Tofscii Zentren geschaffenen Lücken aus, denn in
dieser vielseitigen L'nij^estaltunf^ verwickeln sich L'r^achi-n und
Wirkungen. Wenn die ländlichen Arbeiter und die kleinen Land-
wirte anfangs sich genötigt sahen, Beschäftigung in der Stadt zu
suchen, da sie zu Hause keinen hinreichenden L'nterhalt fanden, so
bilden heute zweifellos die Leichtigkeit des Verkehrs, der Köder
L^iyiii^cü Uy Google
92
Emil VanderTelde»
der höheren Löhne, das ansteckende Beispiel, die krankhafte Schwäche
für das geräuschvolle städtische Treiben wesentliche Faktoren der
Wanderung aus den Landbezirken.
Die Städte mit ihren Fühlern saugen nicht nur immer mehr
die Ueberfölle des Landes auf, sondern nehmen der Landwirtschaft
auch die Arbeitskräfte, welche sie unbedingt nötig hat
Und so wird allerwärts in der Umgebung der grofsen Städte
die landwirtschaftliche Bevölkerung .schwächer und schwächer, mehr
und mehr ändert sich die herkömmliche Bebauung des Bodens,
mehr und mehr endlich schwindet der bäuerliche Wohlstand, um
dem Gedeihen der Parzellenwirtschaft, des Kapitalismus Platz zu
machen.
III. Die Abnahme der landbautreibenden Bevölkerung.
Der Rück^an^ der landbautreibenden Bevölkerungszahl Belgiens
war bis 1880 ein lediglich relativer; seit diesem Jahr ist er dn
absoluter.
Die- X'olk^zälilun^ \<ni 1846 cr^ah die Zahl von 1 0S3601
ständig in den landwirtscliaftlirhen Arbeiten lieschäftigten Personen,
gleich 24.98",, der ^ icsainthcx olkcrung. 1880 betrug diese ZilYer
1 ir)<)3lo oder 21,77",,. Aber auch diese geringfügige Krhöluing
der absohlten Ziffer der landwirtschafthchen liexolkerung liat htiupt-
sächhch ihren firund in der Zuiiahnu- tler in der Landwirtschaft be-
schäftigten brauen, deren Anzahl 1846 425731 und 1880 527684
betrug.
Die männliche landbautreibende lk\ölkerung dagegen hat in
dieser Zeit nur sehr wenig zugenommen; sie betrug 1846 657 870
und 18S0 671435 Personen. Und inneriialb dieser männlichen He-
\olkirung i>t tun* dii" Zahl der Arbeiter gestiegen; die der mit
landwirtsciiaftlichen .Arbeiten beschäftigten i'amilicnmitglieder hat
merklich abgenommen, hs betrug
Diese Erscheinung tritt namentlich in den beiden grofsen In-
dustrieprovinzen Lüttich und Hennegau zutage. Es betrug
1846
1880
die Zahl der Familienglieder
550567
519673
der Arbeiter
107303
141 76»
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Ein Kapitel zur Aafsaugung des Landes durch die SUdt,
93
die Znlil der Faniliengliedcr
der Arbeiter
ia Ldttich
m licnnegau
ItSSo
11846
»1880
37361
30868
886t6
59817
7J64
10093
12403
16433
Es äufeerte sich also während der Zeit von 1846 bis 1880
— d. h. vor dem Niedergang der Preise — der Einflufs der in-
dustriellen und städtischen Entwicklung auf die ackerbautreibenden
Bevölkerung in der Zunahme der Frauen und der Proletarier, sowie
in der Abnahme der Anzahl selbständiger Landwirte.
Seit dieser Zeit ist die gesamte landbautreibende Bevölkerung
in rascher Abnahme begriffen. Wir besitzen in dieser Hinsicht
noch keine genauen Ziffern, da der betreffende Teil der Ergebnisse
der Zahlung von 1895 noch nicht erschienen ist Aber schon die
Zahlung von 1890 belehrt uns, dafs es in diesem Jahre nur noch
eine Million ständig in der Landwirtschaft beschäftigter Personen
statt der früheren zwölf Hunderttausend gab, also 16,52 " „ der Ge«
Samtbevölkerung, ungefähr ein Drittel der Erwerbsthätigen.') Diese
Schätzung entspricht übrigens auch den unlängst veröffentlichten
Angaben der ,3tatisti(iue generale" über ,^e Berufe der Wähler
der Abgeordnetenkammer fär die Wahlen von 1893" [1S96).
Nach dieser Zusammenstellung repräsentieren sogar die den
landwirtschaftlichen Berufen angehörenden Wähler weniger als ein
Drittel der gesamten Wähler: 428952 von 1404823.
Trotz dieser beträchtlichen Abnahme der Landwirte und im
Gegensatz zu dem, was in anderen Ländern vorgeht, nimmt die
Bevölkerung unserer Landbezirke fortgesetzt zu, abgesehen von
einigen Ciegenden, wo die relativ wenig entwickelten Transport-
mittel den Arbeitern nicht gestatten, am Abend nach Hause zurück-
zukehren, nachdem sie am Ta^c in der Stadt gearbeitet haben.
Die dem „Annuaire de statistique" für 1896 beige^^^ebenen
Uebersichten zeigen, dafs in der Zeit zwischen den Zählungen von
1880 und 1890 die Bevölkerung pro Quadratkilometer in allen
Arroftdissements zugenommen hat, mit Ausnahme von Xeufchäteau.
der Mxbcu crichicucuc dritte Üanci il. r I r^;il»m>sf der Undwirtx h.iltlii'hcu Zahlung
die obige Annahme nicht besitaii^t. Nach diocr Publikation betrug die landbau-
treibende Bevölkening itn Jahre 1895 l 204810 Personen, was der GesamtberölkenuiK
gegcnfiber ehie Abmbme, aber eine Zunahme in der absolnten Ziffer bedeutet.
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94
Emil Vandervelde,
WO der Status quo geblieben, und von Ath, PhilippevUle und Virton,
wo eine Abnahme von l — ^4 Einwohnern pro QuadratkUometer
stattgefunden.
Die Zunahme in den industriellen Arrondissements allerdii^
ist weit starker (16—45 Einwohner pro Quadratkilometer) und vor
allem in den Arrondissements, welche eine grolse Stadt zum Mittel-
punkte haben, wie Antwerpen (96 Einwohner und darüber pro
Quadratkilometer), Brüssel, Lütticfa, Charleroy {go bis 60 Einwohner
und darüber). Indessen beträgt auch in den landlichen Arrondisse-
ments, in den bereits so dicht bevölkerten Landbezirken die Zu-
nahme meist I— 15 Einwohner pro Quadratkilometer.
Es sind dies Verhältnisse, welche scharf von denen der meisten
französischen Departements oder der ländlichen Grafechaften Eng-
lands abstechen.
In Norfolk z. B. kann man fünfundzwanzig Kilometer weit
reisen, ohne auf ein bewohntes Gehöft zu stolsen (Anderson
Graham).
In Frankreich überstieg 1895 in 58 Departements von 87 die
Zahl der Todesfälle jene der Geburten.
Wenn es in Belgien anders ist, so hat dies, wie wir glauben,
ohne die Wirkung anderer Ursachen zu verkennen, zum Teil darin
seinen Grund, da(s hier die Eisenbahnen nicht von Pri\'atgesell-
Schäften im Interesse ihrer Aktionäre, sondern vom Staate betrieben
werden, der. wenigstens in einem gewissen Grade, dem allgemeinen
Interesse Rechnung trägt.
Der belgische Staat, dessen Kisenbahntarife schon zu den billig-
sten Europas zählen, liefert den Arbeitern Wochenkarten für sechs*
malige Hin- und Rückfahrt, die viel weni£;;er kosten, als eine ein-
malige Fahrt nach dem gewöhnlirlu-n Tarif. Fiir fünfzig Kilometer
z. B. kostet die Wochenkarte des Arbeiters 2 Fr. 2$ c, während
andere Passagiere 3 I*r. 5 c fiir ihre einzige Rüddalirtkarte dritter
Klasse bezahlen müssen.
L'nler diesen I niständen ist es ganz natürlich, wenn Tausende
vor. .Arbeitern — im laiirc 1807 wurden 2 69<i504 Wochenkarten
verabfolgt — sich zu ihrem X'oricil tägiicli \t'm I an de in die Städte
begeben, statt sich dauernd in diesen niederzulassen.
In Frankreich <la<^'egcn, wo die Fisenbahni^esellschaften, ad
hierum tariendum f^ebildet. selbst\ erstän<lli( Ii nicht von denselben
>(.'/iaIen Rücksichten geleliel werden können, wie der Staat, sind
die Tarife zu hoch, als dal» diese täglichen Orlsveränderungen der
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Ein Kapitel zur Aufsaugung des Landen durch die Stadt.
Albeiter im grolseii Maisstabe mägfich wäre. Die ländlichen Ar*
heiter, welche industrielle werden, strömen in die armen Stadt*
viertel, zum Vorteil des „Monsieur Vautour", und da es immer die
jüngsten, die thätigsten, die furchtlxursten Elemente sind, welche
dergestalt wandern, so ergiebt sich iiir die Landbevölkerung ein
zwie&cher Verlust: Einmal die durch ihren Abzug verursachten
Lüdcen, und sodann, da fast nur die Alten in den Dörfern bleiben,
eine beträchtliche Verringerung der Geburten.
tjyie Wanderung vom Lande in die Städte," sagt Lannes, '}
Jst der hauptsächliche, der mechanische Grund der Abnahme der
Geburtszifier. Alle jungen Leute, die ihr Dorf verbssen, nehmen
der Landwirtschaft nicht nur ihre Arbeitskraft, wie es allgemein
heilst, sie rauben auch ihrem Heimatsorte ihre besten Fortpflanzungs-
£dctoren. Die Lehrer, welche die Personenstandsregister fuhren,
werden nicht müde, zu vernchern: „aus Zeitvertreib werden wohl
noch immer im Winter ein paar Kinder ^cljoren, aber es sind nur
noch alte I«eute im Orte; alle jungen sind in die Stadt gezogen."
Man könnte hiemach die Ebenbahngesellschaften als eine der
Ursachen der Entvölkerung Frankreichs bezeichnen.
Ebenso ist es in England, trotz der „Cheap trains Act" (1883),
welche die Eisenbahngesellschaften verpflichtet, Arbeiterzüge mit
billigen Fahrpreisen einzurichten, aber nur ungenügende Resultate
gezeitigt hat. Die Städte mit ihren Fühlern bemächtigen sich des
gröGseren Teik der ländlichen Bevölkerung.
,J)ie Zunahme der Bevölkerung Londons," sagt C. H. Denyer
in einem kürzlich erschienenen Artikel, „hat ihre Hauptursache in
der Einwanderung aus den Landdistrikten; man schätzt die Zahl
der Leute, welche alljährlich anziehen, auf 50000; die letzte
Volksnhlung zeigte, 6a£s ein Viertel der Londoner Einwohner»
Schaft aufserhalb seiner- Grenzen geboren war."
In dieser ungeheueren Menschenanhäufung, von derselben Volks-
zahl wie das gesamte Belgien, befördern die auf Grund der Akte
von 1883 eingerichteten Arbeiterzuge von den Aufsen^Stadtteilen
ins Zentrum alltäglich eine kolossale .Anzahl von Arbeitern. Nach
dem Berichte des Londoner Grafschaftsrates vom 27. Januar 1897
hat die Zahl der für die „Workmen's trains" ausg^ebenen Billete
sich von 7987877 im Jahre 1887 auf 31074812 im Jahre 1896
') Laancs, IMiifliieiice de l*6nigntkm des campagnes sur la lutalU^ des ▼tllcs.
(RcvM pol. et pwlement 1895, S. 335 ff.)
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L m i 1 \' a n d e r V c 1 d e ,
erhöht, und da jedes Billet zwei Fahrten repräsentiert, betrug die
Zahl der durch die Arbeiterzüge 1896 beförderten Passagiere mehr
als zweiundsechzig Millionen.
Dieser riesige X'erkchr indessen bewerkstelligt sich nur inner-
halb des Bereiches der Metropole und ihrer Vorstädte. Aufscrhalb
der V^orstädte Londons begannt unmittelbar die Einöde, die fast
entvölkerte Zone der Obstgärten und der Weideflächen, welche ihr
(irün, mit Eichen bepflanzt, ins Unabsehbare erstreckt. Zur Zeit
der Heuernte nur belebt sich diese Gegend, wenn die stadtischen
Arbeiter, die "unemployed" der Metropole, die Irregulären der Dock-
arbeit, zum Heumachen kommen, ehe sie nach Kent zur Hopfen-
ernte ziehen. Es kann nichts mehr überraschen, ab der Gegensatz
der menschenleeren Parks in der Umgebung Londons und die so
dicht bevölkerte Nachbarschaft der grofsen Städte Belgiens.
Rings um Brüssel z. B. , und nrinicntlich im walloni.Nchcn
Biali.inl >inti alle liip^t'l \on weifscn lläu>chcii bedeckt, welche zu-
meist >lädtischc Arbeiter bewohnen: Anstalt L,Mn/. in <ler Stadl zu
hausen, '^a'hen sie liebt r alle I a^^e dorthin zur Arl)cil. In halten aber
ihre Schlalstätte auf dem ! an Ic und I)e/.aiilen, dank dem sozialen
Betriebe tier I'a>enl lahnen, nit drii^crc Miete als d<;)rl. -lehen in einer
gesunderen l'mgebuni; und >rhatlen •=;ich eine weitere l-.inkMinmcns-
(juelle dadurch, dab sie ein Stuck Land .oder einen Gemüsegarten
bebauen.
IV. Die kapitalistische Umgestaltung des Landbaues.
Die .-Xusdelv u ; des bebauten < n undeigontums, die Vermehrung
der Arbciterparzellen auf Kosten tles bäuerlichen Besitztums, sowie
der Fortschritt des internationalen Verkehrs zeiiiu^ten als Haupt-
resuUate, soweit die I^ndwirtschaft in Betracht kommt, die Ab-
nahme der kultivierten l^f »rlentiru lic , die Verringerung der Zalil
selbständiger Betriebe und die rmwandiuug der Getreidefelder in
Weiden, l orsten oder anderen Anbau.
Was die Abnahme der kultivierten Bodenfläche an-
langt, so hat sich in der Zeit zwischen den Zahlungen von 1880
und 1895 die landwirtschaftlich bebaute Fläche zu Gunsten des
städtischen Grundeigentums, der Industriebetriebe, merklich ver-
• ringert. (\'gl. Bd. I der Veröflfentlichungen über" die Zählung von
1895.) Im Jahre 1880 hatte sie einen Gesamtumfang von 2704958 h.
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EiB Kftpüd nr Aaftugaag des Laad« dwdi die Stadt
97
im Jahre 1895 von nur 2 60/514 h, was eine Abnahme von un«
gefälir hunderttausend Hektaren bedeutet.
Der wetteren oben angeführten Folgeerscheinung, der Ver«
ringerung in der Zahl selbständiger Betriebe, scheint
auf eleu ersten Blick die Thatsache zu widersprechen, dafs, trotzdem
die landwirtschaftlich bebaute Bodenfläche und die ackerbautreibende
Bevölkerung abnehmen, die Zahl der angeblichen landwirt*
schaftlichen Betriebe in allen Ländern und besonders in Belgien
zunimmt Es gab hier
1846 . . , 572550 Bethebe
1866 . . . 744007 „
18S0 . . . 910396 „
Die Ziffern der Zählung von 1895, von deren Resultaten bisher
nur der oben erwaliiitc I. Band veröffentlicht wurde, kennen wir
noch nicht; nach einzelnen, uns niiti;eteiltcn Angaben ist^die Zu-
nahme noch stärker hervorgetreten als zuvor.')
Journalisten, Parlamenlsredncr und andere «gelehrte Pan^losses,
welche oft schlecht zusammengestellte Statistiken, und dazu obenhin
lesen, ziehen aus diesen Ziffern die l*olgerun<^, daCs im Widerspruch
mit den sozialistisrhen Thcorieen über die ka|)italistische Konzen-
tration die Zahl der landvvirtsrhaftlichen Hetriel)e beständig zunähnie,
während die der (irolsbetriebc (von 50 Hektaren und darüber) fort«
während abnähme.
Diese Auflassung, wclclie übrigens mit jener der offiziellen
Publikationen übereinstimmt, beruht auf blofscm Anschein, oder
vielmehr auf einem offenbar unzutreffenden Begriff dessen, was
unter den Worten „landwirtschaftlicher Betrieb" zu verstehen ist.
In Wahrheit cr<^ncbt eine Vcrglcichung der Resultate der
Zählungen von 1866 und 1880 — von jenen der Zählun.; \ on 1895
müssen wir aus dem ang^ebenen Grunde absehen — , daü die Zahl
Beim I.cs. n der Korrektur dioes Artik«-!- habe ich noch hinzuzulii^'cn, dat\
die iuzwiicheu vcrDlTcnllichtcn Gcsanitrosultatc dieser Zählung die>e Angab<?n nicht
besULtigcD: die Jotalziffer der Betriebe bcUiuft sich nur auf 829625. Die Abnahme
bctriflt •ttMhliefilieh die Zahl der ArbdlerpaneUen. Dagegen Imt seit der laadvirt*
achafUichcn Krisis die Zahl der Grolsbetriebe (von Aber 50 Hektaren) ngenonniens
fie betrag 1880 3403 und 1895 3584.
Aidiiv für m. G«MCsg*taae a Statistik. XIV. 7
98
Emil VAnderTcld«!
-der kleinen, miltlcren und grofsen Landwirtschaftsbetriebe abge-
nommen hat Es gab
1866
1880
Betriebe
TOO
i SO h ad dartber
55*7
3403
II
II
40 bis so h . .
1117
1414
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4 .1 5h..
32165
31408
»1
><
3 4h..
5*987
3»3«3
160391
Es ist also eine Venin^Liung für sämtliche Katefsjorieen einge-
treten, sowohl für die von 3 — lO h, von lO — 50 h, als für jene
über 50 h.
Andererseits haben allerdings die Zähluns^^en eine beträchtliche
Zunahme der angeblichen Landwirtschaftsbetriebe von weniger
als 3 h festgestellt, und namentlich eine enorme Vermehrung der
,X-andwirtschaftsbetriebe von 50 Ar und darunter". Allein offenbar
sind winzige Parzellen — Gemüsegärten, kleine Kohl- oder Kartoffel-
äcker — , mit seltenen Ausnahmen wenigstens, keine eigentlichen
ländlichen Betriebe. Ihre grofse Mehrheit bleibt völlig aufserhalb
des Bereichs der kapitalistischen Produktion; sie erzeugen nur Ge-
braudiswerte, und för ihre Bebauer sind sie das Anhängsel einer
anderen Beschäftigung in Handwerk und Handel
Was die wiildichen Landwirtachaftsbetriebe anlangt, welche
Tauschwerte produzieren und folglich den Einflüssen der Konkurrenz
unterliegen, so ist ihre Abnahme begründet in der Zunahme der
Parzellenbesitzes einerseits und in der Einschränkung der landwirt-
schaftlich bebauten Bodenflache andererseits.
Hinsichtlich des dritten der oben genannten Punkte, der Um*
Wandlung der Bodenbebauung ist folgendes zu bemerken.
Von 1880 bis 1895 hat das Anwachsen der Städte und die
Entwicklung der Verkehrsmittel, welche sie in bequeme Ver-
bindung mit überseeischen Landern bringen, tiefgehende Verande-
• Hingen in der Art der Bodenkultur hervorgerufen: Die Getreide-
' felder verschwinden, die Industriekulturen bleiben ungefähr die
gleichen, und, wenn auch unangebaute Landereien immer seltener
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Ein Kapitel zur Aufsaugung des Landes durch die Stadt
99
werden, so nehmen doch Forsten, Parks, Obstgärten, Weiden einen
stets wachsenden Teil der angebauten Flache ein.
Die Getreidefelder, welche 1880 934663 h einnahmen, haben
sich im Jahre 1895 auf 809 691 h verringert Diese Abnahme von
über lOOOOO Hektaren betrifft ausschlielslich die zur menschlichen
Nahrui^ dienenden Getreidearten, Weizen und Spelz. Diejenigen
dagegen, welche man vorwiegend als Viehfutter benutzt, Hafer und
Roggen, sind sich ungefähr gleich geblieben. Nach der letzten
Zählung wurde ein Eingangszoll auf Hafer gelegt; es hat infolge-
dessen der Ibferbau sehr zugenommen.
Der Anbau der Industriepflanzen nahm 1895 105740 h gegen
96777 im Jahre 1880 ein. Diese leichte Zunahme ist verursacht
durdi den um£issenderen Anbau von Tabak, Cichorien und Zucker-
rüben, welcher die Verminderung im Anbau von Flachs, Hanf,
Hopfen und Raps, der durch die Mineralöle ersetzt worden, mehr
als ausgleicht.
Kartoffeln werden etwas weiii<^cr, Flitterwurzeln etwas mehr
gebaut. Aber nach den Waklunt^^cn , weiche ungeföhr hundert-
tausend Hektare mehr einnehmen (hauptsächlich auf Kosten der
unangebauten Ländereien), ist als wichtigste Veränderung seit 1880
die grofse Ausdehnung der Obstgärten, der Heuwiesen und der
Weideflächen zu verzeichnen. Es nahmen ein
1880 189s
Obctgirten . . . 37947 ^ 4759^ b
Henwiescn . . . 313276 h aja 135 h
Weidewiesen . . 137S79 h 165 257 h
389102 h 444982 h
Kurzum, Belgien wird mehr uiul mehr ein Land der Pflanzen-
zucht, eine grofse Fabrik für Zucker, Butter, Fleisch und andere
tierische Produkte.
Der Gemüsebau nimmt fortwährend zu. Die Molkereigenossen-
schaften mehren sich fort und fort. Der „Butterzug", welcher tag-
täglich von Arlon abfahrt, nimmt auf seinem Wege den l'eberflufs
unserer Produkte auf, um ihti nacli dem Londoner Markt überzu-
führen. In Brügge hat man soeben eine grofse Gesellschaft „Mercurius"
gegründet , welche mit den Molken der flämischen .Molkereien ge-
nährte Schweine nach England ausfüiirt. In der Umgegend von
Dornik und in der früheren Grafschaft Looz (Limburg) befassen sich
7*
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lOO
Emil Vandervelde,
ganze Dörfer mit der Erzeugung von Früchten, fiir welche sie an
den neuerdings in Belgien gegründeten Konfitüren&briken Abnehmet
finden. Um Brüssel herum entwickelt sich zusehends die Hühner-
zucht, die Zucht — in Treibhäusern oder Mistbeeten — von Früh-
obst, Erdbeeren, Trauben, Tomaten.
Kurz und gut, die Landwirtschaft zeigt das Bestreben, eine
Uidustrie zu werden. Während der Umfang der landwirtschaftlich
bebauten Fläche, die Anzahl der landwirtschaftlichen Arbeiter und
die der Betriebe unter dem Einflufs der Städte abnimmt, steigt die
Produktion, wird die Bebauung intensiver, entwickelt sich das land-
wirtschaftliche Maschinenwesen, mehren sich die ländlichen Genossen-
schaften, erlangt das im Viehbestand und Boden angelegt Kapital
wachsende Bedeutung und steigenden Wert
Diese drei Erscheinungen aber, die Verringerung in der Anzahl
der Betriebe, die, zum mindesten relative Abnahme der Arbeiter-
zahl, das Anwachsen des konstanten Kapitals im Verhältnis zum
variablen, kehren in verschiedenem Mafse in allen Industrieen wieder,
welche die kapitalistische Form annehmen.
Es liegt uns fem, die Umwälzung der Landwirtschaft der industri-
ellen Entwicklung in enpereni Sinne gleichzustellen. Es wäre ein
schwerer Irrtum, zu behaupten, dafs beide denselben Gesetzen folgen.
Es hielse aber in den entgegengesetzten Fehler verfallen, wollte
man die wirkliche und weitgehende Aehnlichkeit verkennen, welche
die kapitalistische Entwicklung in den verschiedenen Produktions-
zweigen zeigt.
y. Die Konzentration des Grundeigentums.
Wir gelangen iiumnchi" zur W un li'.anig eines letzten l'unktes —
auf den wir übrigens deiiniaclist naher einzugehen hcahsiehtigen —
zur Untersuchung tles liinllusses der Städte auf die X'crleilung des
Grundeigentums.
Mit Hilfe einiger l-reunde habe ich es unternorntnen , fünfzehn
bis zwanzig tausend Hände des Katasteis — tlies RieNenwerk. von
einem Riesen erdacht lial/aci .nis/uziehen. welche verstaubt in
den Aemtern der I'ro\ inzialverwaltung schlummern.
Da uns aus den riffi/irllcn Statistiken die (iesamtzahl der (jfund-
coten bekannt war, haben wir für die 26c30 Gemeinden des Landes
die Grundcoten von lOO Hektaren und darüber in den Jahren 1898
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Em Kapitd rar Anüttugung de« Landes durch die Stadt. loi
und 1834, in welch letzterem das Kataster vollendet wurde, su*
sammengestellt.
Diese Zusammenstellungen ergaben für die Provinzen Brabant
und Antwerpen, deren Hauptpunkte die beiden grofsten Städte
unseres Landes sind, folgende Resultate: In den Kreisen, welche
den Einfluß Brüssels und Antwerpens am unmittelbarsten er&hren,
hat das Groisgrundeigentum (Grundcoten von 100 Hektaren und
darüber) zugenommen, abgenommen dagegen in den Kreisen, wo
sich dieser £influ(s weniger fühlbar macht.
Die Erklärung für diese zwiefache Bewegung scheint uns in
der Wirkung zu liegen einerseits der gesetzlichen Erbfolge, welche
das Grundeigentum beständig teilt und immer wieder teilt, und
andrerseits der Neuerwerbungen, welche es zusammenlegen und in
immer weni}:»er Händen vereinigen.
Die Wirkung der Erhfolgegesetze fuhrt es in abgelegene ( legenden,
wo die Spekulation auf den steigenden W'ert sich kaum lohnt und
wo aus verschiedenen Gründen die reichen Industriellen und Banquiers
sich es nicht angelegen sein lassen, Schlösser zu bauen und grofse
Besitzungen zu kaufen.
Die Zusammenlegung dagegen zieht es in die der l'iovin/.- oder
Landeshauptstadt nahe gelegenen Bezirke, wo es den reichen Leuten
angenehmen Aufenthalt oder vorteilhafte Gelegenheit zur Geldanlage
bietet.
Hierdurch sehen wir uns einer divergierenden Entwicklung des
Grundeigentums g^enüber: trotz der Erbfolgcgesetze der franzd^-
schen Revolution, welche bezweckten, das Grundeigentum im Interesse
der bäuerlichen Demokratie zu zerstückeln, 7u rstäuben , bleibt
die Masse des Grofsgruadeigentums intakt, ja wächst sogar; i n folge
der Erbfolgegesetze und der viellachen Faktoren, welche die gleiche
Wirkung üben, gewinnt da- klrinc, und namentlich das ganz kleine,
das Parzellen-, das Zwerg-Gruadcigentum ebenfalls an Umfang. Es
ist also das mittlere, das Familien-Grundeigentum, welches durch
2^rstücklung oder Aufkaufen sich mehr und mehr verringert. Wir
eilen also mit grofsen Schritten einem Stande der Dinge entgegen,
wie er bereits in verschiedenen Gegenden vorhanden ist, wo ausge-
dehnte Besitzungen den gröfscren Teil des Landes einnehmen und
kleinste Gütchen sich in den Rest teilen.
Andrerseits — und es ist dies ein augenfälliges Anzeichen der
Macht der Städte über das Land ist der l'mfang der pachtwoisi,-
bewirtschafteten Ländereien, also des kapitalistischen ürundcigen-
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I02
Emil Vandcrvcldc,
tums» in steter Zunahme auf Kosten des bauerlichen oder selbst
bewirtschafteten Grrundbesitzes begriffen.
Im Jahre 1880 wurden i 270512 h oder 474% der landwirt*
schaftlich bebauten Fläche von Pächtern bewirtschaftet; im Jahre
1895 waren es 1 320 358 h oder 50,6°/o» ein wenig über die Hälfte
der gesamten Fläche.
Es ist indessen hierzu zu bemerken, daGs die landwirtschaft-
lichen Zählungen unter die Kategorie des selbst bewirtschafteten
Grundeigentums nicht nur die gewöhnlichen Kulturen, sondern auch
die unbebauten Ländereien und die Waldungen einreihen, welche
für sich allein über fiinfhunderttausend Hektare einnehmen.
Aus diesem Grunde erscheinen uns in Waldgegenden — so
z. K in Condrozet und in den Ardennen — einzelne Gremeinden
als das auserwählte Land der Selbstbewirtschaftung, da fast ihr
gesamtes Gebiet, Wald und Feld, einem einzigen Grundherrn
gehört
Berücksichtigt man nun die gewöhnlichen Landwirtschafts-
kulturen, so wird das Verhältnis ein ganz anderes.
Im Jahre 1880 wurden 713 059 h selbst bewirtschaftet, gegen
1 270512 in Pacht gegebene, was 36 bis 64% bedeutet Im Jahre
1895 wurden nur noch 596331 h selbst bewirtschaftet, gegen
I 320358 in Pacht gegebene, also 33 bzw. 67%.
Von hundert Hektaren gewöhnlicher Kulturen werden jetzt
also nur 33 von ihren Eigentümern bebaut, und 67 — über zwei
Drittel — sind von Pächtern bewirtschaftet und gehören Kapitalisten,
die zumeist in den Städten wohnen.
Zu den Faktoren, welche diese Verringerung des bäuerlichen
Grundeigentums fördern, sind in neuester Zeit die aufeinander-
folgenden Konversionen der Staats- und Kommunalanleihen zu rech-
nen. Je weniger Zins die öffentlichen Fonds abwerfen, desto häufiger
werden die Grundstückskäufe, namentlich in der Umgebung von
Städten, in den Gegenden, wo man Vizinalbahnen plant, überall, wo
die Kapitalisten aller Wahrscheinlichkeit nach auf demnächstige
Wertsteigerung hoffen dürfen.
Seit einigen Jahren ist der Wert des Grundeigentums infolge
der zunehmenden Verkehrserleichterungen auf mehrere Meilen weit
um die grofsen Städte herum im Steigen begriffen, wo es im
wachsendem Mafse als Bauland und dem Bedürfnisse des ange-
nehmeren Aufenthaltes dient Während die Landbewohner in die
Städte strömen, suchen dagegen viele in bescheidenen Verhältnissen
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Ein Kapitel zur Aufsaugung de» Laades dudi die Stadt.
103
lebende Stadtbewohner, Kommis, Beamte u. s. w. auf dem Lande
billigere Wohnungen. Wenn die ländlichen Arbeiter ihr Dorf ver>
lassen, um liöhere Lohne zu verdienen, so kommen wiederum eine
gewisse Anzahl 'Unternehmer dahin, um niedrigere Löhne zu zahlen.
Endlich empfinden die Stadtmenschen mehr und mehr das Bedürfnis,
sich in freier Luft zu bewegen, mit der Natur in Berührung zu
kommen, wenigstens in einem Teile des Jahres das Landleben zu
genielsen.
Bis jetzt sind diese Thatsachen nur Ausnahmen, und auf wenig
zahlreiche Bevölkerungsgruppen beschränkt Die Zentripetalkraft
uberwiegt die Zentrifugalkraft bei weitem. Aber vielleicht kommt
die Taa\, wo immer bequemere Verkehrsmittel die Entfernungen .
beseitigen und die Wanderung aus den Städten auf das Land der
umgekehrten folgen wird, sodafs man, ein berühmtes Wort ab-
äindemd, wuxl sagen können: ein wenig Zivilisation entfernt vom
Landleben, viel Zivilisation führt zu ihm zurück.
Es wäre dies die Verwirklichung des Morris'schen Traumes in
den „News firom Nowhere": London wäre nur noch der Sammel-
platz der gelehrten Arbeit, der Vergnügungen, der sozialen Be-
ziehungen, St Paul ein Trümmerhaufe, das Filament in eine
Dungerstatte verwandelt, der Himmel nicht mehr durch den Fabrik-
rauch verfinstert, die Themse nicht mehr von den Ausscheidungen
einer ungeheuerlichen Menschenhaufung getrübt Das platte Land
wäre von Landhäusern bedeckt, man träfe sich in den Städten,
wohnte aber auf dem Lande.
Allem das Morris'sche Land, und zweifellos das Land der Zukunft
wäre nicht mehr das der „guten alten Zeit". Seine Bewohner
hätten nichts gemein mit den Bauern La Bruy^res. Sie hätten das
Leben der Stadt durchgemacht, sie blieben in steter Berührung mit
ihr, sie behielten alle Vorteile des städtischen Wesens, aber ohne
seine Mängel und Uebelstände.
Vor dieser Zeit der Dezentralisation aber erscheint uns ab ihre
Anbahnung die sfidtische Zentralisation, trotz alles Leidens, alles
Elendes, alles Uebels, das sie erzeugt, — unvermeidlich.
In den Städten entwickeln sich die Ideen, zeigen sich die um-
wälzenden Kräfte, bereiten sich die technischen Umgestaltungen
vor, welche die neue Welt schaffen werden.
Es mulsten sich die uranfanglichen Demokratien in absolute
Monarchien verwandeln, die auf dem Prinzipe der Gleichheit be-
ruhenden Zünfte in Kapitalistentrusts, die Naturalwirtschaften in
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I04 Emil Vanderveld«, Ein Kapitel sur Anfiaugung des Landes durch die Stadt.
Gceldwtrtschaften, damit die Fonnen der Zukunft, scbembare Rtick-
falle in die ursprOnglidien Formtti, aus dem socialen Mutlerleibe
hervorgehen können.
Und ebenso wird die landliche Bevölkerung mit ihren unklaren
Ideen, ihren beschrankten Auflassungen, ihrem engen Horizont die
Zucht des Kapitalismus erfahren, den Zwang der Alles aussaugenden
Städte durchmachen müssen, bevor sie zum sozialistischen Gemein-
Wesen eingeht
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Der gegenwärtige Stand der Arbeitslosenversicherung
in der Schweiz.
Von
• Dr. EMIL HOFMAXX,
Nationalrat in Frauenfeld.
Der Zusammenbruch der Arbeitslosenversicherung der Stadt
St. Gallen hat die Entwicklung dieses Problems blofs für Verhältnis-
mafsig kurze Zeit zu hemmen vermocht Bald ist dem sozusagen
lahmenden Schrecken über die sang- und klanglose Beerdigung
dieses Instituts die ruhige Ueberlegung gefolgt, welche die schlimmen
Er&farungen St Gallens weniger dem Prinzip der Arbeitslosen-
versicherung als vielmehr der Organisation und den mit der Leitung
betrauten Persönlichkeiten in die Schuhe schieben mulste. Immer-
hin hatte das Beispiel St Gallens das Gute, da(s die Schwierig-
keiten und Milslichkeiten dieses neuen Zweigs der Arbeiterversiche-
rung namentlich auch von der Arbeiterschaft mehr ins Auge gefafst
wurden und diese in Zukunft nicht mehr auf gewichtige Postulate
verzichten wird, um unter jeder Bedingung ein derartiges Institut
erstehen zu sehen. Den Beweis für diesen Umschwung der Ge-
sinnung und die fortschreitende Präzisierung der Arbeiterwünsche
nach dieser Richtung hin erblicken wir unter anderem auch in der
Haltung der Arbeiter und ihrer Presse gegenüber dem Beschlufs
des Grofsen Stadtrates von Zürich, welcher nach einer viele Stunden
dauernden Debatte im Juli i8^ die Einführung der Arbeitslosen-
versicherung ablehnte. Wohl kämpften die Vertreter der Arbeiter-
schaft in dieser Behörde mit Wärme und Geschick für das Projekt
Aber man merkte es sowohl ihren Voten als den Aeufserungen der
Arbeiterpresse an, dafs sie der Vorlage gegenüber schwere Bedenken
hatten und über deren Verwerfung nicht allzu unglücklich waren.
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io6
Emil Hofmann,
Der geplante Umfang des Versicheningskreises hatte wohl ziemlich
sicher grolse Schwierigkeiten im Gefolge gehabt, für welche die
versicherte Arbeiterschaft ohne weiteres die Verantwortung zuge-
schoben erhalten hätte, wie dies in St Gallen geschehen war. Unter
diesen Umständen war es begreiflich, daCs sowohl die Arbeiterschaft
von Zürich als auch die von St Gallen vorderhand auf weitere
5)chritte zur Einbürgerung dieses VersicherungS9Bwe^;es verzichtete.
Diese abwartende Stellung der Arbeiterschaft hindert sie natürlich
nicht an der fortwährenden Betonuf^ der Notwend^^t der Arbeits-
losenversicherung sowie an der Diskussion und Erforschui^ des
Problems. So hat z. B. der letzte schweizerische Arbeitertag in
Luzern dieses Thema auf seine Traktandenliste gesetzt und folgenden
Thesen seine Zustimmung gegeben:
„Die Arbeitslosigkeit ist für die Arbeiterschaft, wie für den
Staat eine so grofse und schwere Gefahr, dals kein Mittel zu ihrer
Bekämpfung unversucht bleiben soll. Dazu jijehören vor allem die
Arbi'itslo.senversicherung und der Arbeitsnachweis, die in organische
Verbindung' mit anderen Mafsnahmen gebracht werden müssen.
Bei Minführung der Arbeitslosenversicherung sind hauptsächlich
folgende Punkte zu beobachten :
a) Die obligatorische X'ersicherung soll sich auf möglichst gleiche
oder ähnliche Gefahrenklassen beschränken und mit den
Saisonarbeitern den Anüsmg machen. Die X'ersicherungs-
pflicht ist möglichst genau zu umschreiben. Eine Ober-
gren/r lU s .Alters ist festzusetzen. Arbeiter mit Gebrechen
und beschränkter Hrwerbsfaliigkeit sind nicht veracherungs-
pflichtig.
b) Neben den (lemeinde-Versichcrungskassen für die am meisten
von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeiterschichten sollen die
Berufsvereine mit .Arbeitslosenversicherung gefördert werden,
inileni ihnen unter t;e\vissen Bedingungen die gleiche Geld-
uiuerstützung ticr tiemeitulen, Kantone und Gewerbeinhaber
zu teil werden soll, wie den <"»ti'entlichen \'ersicherun*zskassen.
ci Die riaiuien der Arbeiter und die Beiträge der Gewerbe-
inhaber sind nicht zu hoch zu bemessen. Die Beiträge der
tuMueiiiden un*! Kantone sind in ein bestimmtes X'erliällnis
zu den Ausgaben der K.isse zu setzen, um sie zur Be-
schattung \on Arbeitsgelegenheil anzueifern. Auch der
Bund sollte Beiträge leisten.
dl Zur X'ercintächung der Geschäftsführung soll blofs eine Klasse
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Der gegenwältige Stand der Arbeitslosenversicherung in der Schweiz.
ftir Prämie und Entschädigung aufgestellt werden. Will man
die Verheirateten begünstigen, so kann man die Prämie der
Ledigen um ein Geringes erhöhen,
e) Nach einer gewissen Karenzzeit wird nur bei unverschuldeter
Arbeitslosigkeit Unterstützung ausbezahlt. Die Versicherung
ist durch eine planmälsige Arbeitspolitik der Gemeinden und
Kantone, wie durch Verbindung der Kassenverwaltung mit
gut betriebenen Arbeitsnachweisen zu ergänzen.
f) Solchen Versicherten, die längere Zeit der Kasse angehören,
ohne sie benützt zu haben, sollen die Prämien ermälsigt
werden.
g) Die Verwaltung der Arbeitslosenversicherung ist weitmög-
liehst den Versicherten selbst zu überlassen; jedenfalls sollen
sie mitzubestimmen haben bei der Wahl des Verwalters
und der Angestellten.
h) Behufe Gewinnung des so nötigen statistischen Materials
soll mit der nächsten eidgenossischen Volkszählung eine
Zählung der Arbeitslosen verbunden werden."
Unter den gelungenen Versuchen, die Arbeitslosenversicherung
innerhalb beruflicher Verbände zu organisieren, nennen wir vor allem
die Viatikums« und Konditionslosenkasse des schweizerischen Typo*
graphenbundes. Diese richtet nach zweijähriger Mitgliedschaft dem
unverschuldet arbeitslos Werdenden während höchstens sechs Wochen
^ Taggeld von 2 Fr. aus.') Die Bedeutung dieses Unterstützungs-
Zweiges mag damit illustriert werden, dafs der Verband in dem
Zettraum von 1888—97 fiir Viatikum 52070 Fr., für Konditions-
losenunterstützung 43794 Fr. und für Abreisegeld und Umzugs-
kosten 7246 Fr. angewendet hat.*}
Der 2^ichner-Fach verein der Ostschweiz hat vom i. Juli 1897
an fiir seine Mitglieder ebenialls eine obligatorische Arbeitslosen-
kasse gegründet Die Statuten derselben zeigen deutlich, dafs der
P^asklent der Subkommission der Arbeitslosenkasse der Stadt St Gallen
die Mängel und Fehler dieses Instituts klar erkannte und nicht ver-
') Vgl, hierzu: Sututcn und Reglements des Schweirerischen Typograpbeo-
bodci. Benten an der Delcgierten-Vemmniliiiig Tom 35. und 36. Janiur 1896 in
Luen, bereinigt ao der Ddegierteii-Veraunniliitig vom aj. Mai 1896 in Zttricb. Basel
iDrack der Vereindmckerei) 1896, S. 19 ff.
*) J^^hresberieht des Scbweiierisehen Tjrpograpbenbondes fttr das Jahr 1897.
Biiel 1898, 5. 102.
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to8
Emil Hofroann,
fehlte, die Kasse seiner Berufs^renossen davor möglichst zu be-
wahren.')
Die Mitglieder haben die Wahl zwischen den zwei Prämien-
klassen, von denen die erste eine Monatsprämie von 30 Cts. und
die zweite eine solche von 60 Cts. verlangt. Diesen verschiedenen
Prämien entspricht die Abstufung der täglichen Entschädigung auf
I Fr. und 1,8 Fr. Das Maximum der Kntschädigungsdauer inner-
halb eines Jahres beträgt 50 Tage. Um die Kasse vor allzu starker
Inanspruchnahme durch einzelne zu bewahren, wird die Gesamt-
dauer der Unterstützung auf 250 Tage festgesetzt. Wer während
seiner Mitgliedschaft so lange Entschädig uni,' hczo^'en hat, kann sich
neue Entschädigungsberechtigung nur durch Rückzahlungen an die
Kasse erwerben und das genannte Maximum um letztere verlängern.
V^or Inanspruchnahme wahrend kürzerer Arbeitslosigkeit soll die
Kasse durch die Bestimmung bewahrt werden, dafs Arbeitslosigkeit
während einzelner bis und mit sieben aufeinanderfolgenden Tagen
zu keinen Geldbezügen berechtigt.
Das erste Jahresergebnis dieser Arbeitslosenkassc, welcher bei
der Gründung ein Vereinsfond von lOOOO Fr. als Reserve über-
wiesen werden konnte, ist sehr günstig und verdient dieses Institut
die fortgesetzte Aufmerksamkeit der Theoretiker und Praktiker dieses
Versicherungszweiges.
Daneben wird diese Frage aber auch sonst lebhaft diskutiert.
Der schweizerische Handels- und Industrieverein erstattete ein Gut-
achten an das eidgenössische Handels-, Industrie- und Landwirt-
schaftsdepartement über Sparzwang, Arbeitslosenstatistik und Arbeits-
nachweis. Im Kanton Bern soll durch eine Motion beim Grofscn
Rate den Gemeinden das Recht zur Einfuhrung der obligatorischen
Arbeitslosenversicherung gewährleistet werden und in Basel-Stadt
ist unlängst der Bericht und Gesetzesentwurf der ( Irofsratskomniission.
betrefifend Errichtung einer Versicherungsanstalt iür Arbeitslose, dem
Grolscn Rate als X'orlagc zur zweiten Beratung zugestellt worden.
In St. (lallen hat die Arbeitslosenversicherung in (Gestalt eines Pro-
zesses des ehemaligen Kassenverwalters gegen den verantworlliciicn
Redakteur des ,.St. (ialler .Stadt-Anzeiger" ein interessantes Xach-
spiel gelunden, das eine Anzahl höchst charakteristischer That>arlien
zu Tage förderte und wohl geeignet ist, die Ursachen der Auf-
^1 V^'i. hierzu: Statuten des Zeichncr-KachveKins der Ostachweis. Su GftUen
(ZoUikofersche Buchdruckerci) 1S97, S. 13 fi*.
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Der gegeawänigc Stand der Arbeitslosenv«r«cbcrung in der Sdiwds. 109
•
hebung der dortigen Arbeitslosenkasse wesentiich zu ergänzen und
abzurunden. Eine kritische Würdigung dieser Materialien ist am
besten imstande, die Entwicklungsphase, in welche das Problem
der Arbeitslosenversicfaerung in der Schweiz getreten ist, darzustellen.
Als Ausgangspunkt wählen wir die Aufhebung der Arbeitslosen-
kasse der Stadt St Gallen, weil diese das bereits erwähnte Gut-
achten des schweizerischen Handels- und Industrievereins ziemlich
stark beeinflufst zu haben scheint und eine kurze Darstellung der
Gründe, welche in St. Gallen dieses Institut so rasch und so gründ-
lich verunmoglichten, die beste Handhabe zur Beurteilung der An-
sicht des Vororts des genannten Vereins in dieser Frage bietet
Die Erfahrungen der Arbeitslosenkasse der Stadt Bern in diesem
Winter und der daraus resultierende Wunsch, das Obligatorium ein-
zuführen, werden sodann zur Würdigung des neuesten Basler Ent-
vrmfs hinüberleiten.
L Die Aufhebung der Arbeitslosenversicherung der
Stadt St Gallen.
Der Bcschlurs der Gcnicinclo St. Gallen vom 8. November 1896,
welclier die Arbeitslosenversicherung aufhob, hat im hi- und Aus-
lände mannigfache und nicht immer zutreffende Konunentierung ge-
funden. Die Meiirzahl der P>klärungen gi])felte in der Behauptung,
dais die \ ersic lu rten und uberhaujjt die .Arbeiterschaft am l'ntcr-
gange dieses Instituts die Haujitschuld tragen. Die eifrigsten der
Kommentatoren gingen noch weiter und leiteten daraus ohne weiteres
die Unmöglichkeit der ])raktischen Durchführung dieses X'ersiche-
rung.'i/weiges ab. In dieser .Ansicht dürften sie noch bestärkt worden
sein durch das bezirks- und kantonsgerichtlichc Urteil in dem er-
wähnten Prers{)rozefs. Diese Deutung des ])ro/es>ualischen Aus-
gangs entspricht aber den Thalsaclieii nicht. Die gerichtlichen \'er-
handlungen haben im (tegentiil die .Aufhebung dieser Kasse ge-
wisscrmalsen als Xaturnutwenthgkeit erscheinen lassen, ohne damit
die -Möglichkeit der \''ersicherung gegen unverschuldete Arbeits-
losigkeit umzustofscn. Die Dar.stcllung vom \'erlauf und Ausgang
dieses Prozesses ist deshalb für das Problem der Arbeitslosen-
versicherung wesentlich. Sie ist imstande, unsere bereits früher
ausgesprochene Ansicht von den Gründen, welche zur Aufhebung
der Versicherung führten, in manchen Punkten zu er^nzen.*)
') Vgl. hienu: ÜUtistik des Kantons St Gallen. XI. Heft. Die Arbeitslosen-
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110
Enil Hofmann,
Am 29. Juni 1898 hielt Armensekretär Bärlocher auf Veranlas-
sunf; des Gewerben erb.indes Zürich vor einer Versammlung von
Mitgliedern des Grolsen Stadtrates und Gewerbetreibenden Zürichs
einen Vortrag über die Arbeitslosenversicherung^, wobei er sich
nach einem Berichte der Neuen Zürcher Zeitung ^) folgendcrmafsen
äuiscrte : „Man zählte in St. Gallen in den Wintern 189394 und
1894 '95 im Durchschnitt 300— 400 Arbeitslose. VV^cnn aber z. B. die
Arbeit des Schneeschaufclns begann, so meldeten sich blofs etwa
200 Mann. Im Jahre 1894 wurde in der Stadt St. Gallen und den
anliegenden Ortschaften Tablat und Strauben/.ell die Arbcitsloscn-
versicherungs frage beraten. Die beiden Ausgcnu inden wollten nichts
davon wissen. Nun wurde für die Stadt St. dallen ein Statut ent-
worfen und am 23. Juni 1895 beschlossen die Stimnil)erechtigten
der Stadt die Kinführung der Arbeitslosenversicherung auf die Datier
von zwei Jahren in der Meinung, dafs das Volk sich nach einem
Jahre darüber entscheiden solle, ob es das Institut weiterführen oder
aber wieder aufgeben wolle. An\ i. Juli 1895 trat die Versicherung
ins Leben und schon am 8. November 1896 bcschl* jfs das Volk die
Liquidation auf den I. Juli 1897. Es waren gerade die .Arbeiter,
die geschlossen für Abschatlung stimmten. Woher diese Erschei-
nung? Es hätten sich rund 5000 X'crsichcrungspflichtigc einschreiben
lassen sollen. Bei der ersten Einschreibung kamen aber blofs 1535.
Auf erneute .Xufforderung hin stellten sich noch weitere 579 und
als man schlicfslich alle Ueberredungskunst aufgeboten hatte, da
war man auf die Zahl von 2530 Mann gekommen. Man kam dazu,
über diejenigen, die sich nicht einschreiben Helsen, Bufsen von 3 Fr.
zu verhängen. Sie zahlten die Bufsen, schrieben sich aber doch
nicht ein. Schlicfslich artete die ganze Geschichte in Freiwilligkeit
aus. Es ist eben selbstverständlich, dafs der gute fleifsige Arbeiter
nicht gerne für den .schlechten zahlt. Der Prämieneingang war
schlecht und doch hatte man alle möglichen Bequemlichkeiten ein-
geführt, um die Einzahlung zu erleichtern. Man war sehr nach-
sichtig, wenn eben nur bezahlt wurde, man wollte die .Sache beliebt
machen und erreichte das Gegenteil. Oft liefs man drei Monate
zusammenkommen. Im Jahre 1895 waren 393 Bezüge im Rück-
\ crsicliorunp drr Stadt .^t. Gallen. Tm .Auftrage des \ (jlkswirf.tliaftsdepart'-mciits
des Kantons .St. Gallen bearbeitet vun Dr. E. Hof mann, IMarrer in Stcttfurt.
St. Gallen, Dnick der Zollikofcrschen Buchdruckerei 1898, S. 40 ff.
Neue Züricher Zeitung. Beilage zu Nr. iSo vom l. Juli 1S9S.
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Der fegcnwirtige Stand der ArbdtdoMnTcnidieniiis in der Sdiwds. 1 1 1
Stande, im Jahre 1896 schon 498. Wie die Versicherunfj auf die
Arbeiter wirkte, erhellt aus folj^enden Thatsachen. In früheren
Jahren waren die Männer im Winter vielfach nach dem V^orarlberij
gegangen, um dort Schindeln zu machen! Zur Zeit des Bestehens
der Arbeitslosenvcrsichcrunr;; blieben sie in der Stadt und bezogen
ihre Entschädir^unf^en. Wenn man ihnen Arbeit anwies, die nicht
gerade in ihren Beruf j)arstc. so erklärten sie fjanz einfach, die wollen
wir nicht; wir arbeiten nur auf unseren Beruf. Im Jahre 189596
waren es 114 Mann, die für mehr als 50 Tage die Entschädigung
bezogen, im zweiten Jahre waren es schon 198. Es kam auch sehr
oft vor, dafs Arbeiter, die beschäftigt waren, die Entschädigung
gleichwohl bezogen. Es ist eben schwer zu wissen : Wer ist arbeits-
los und wer nicht? Es kamen oft Frauen, die sich beklagten, ihre
Männer kämen nicht mehr heim, seitdem sie die Entschädigung l)c-
ziehcn können. Vorher katten sie doch noch in der Haushaltung
etwas mitgeholfen. Effektiv Zahlende waren nie über 30CX) Mann. Bei
der Liquidation waren 2500 Pflichtige im Rückstände; von diesen
zahlten freiwillig 800. weitere 780 wurden betrieben und es zahlten
dann 600 Mann. Von den übrigen war nichts mehr erhältlich. Der
Referent kommt zu dem S( hlussc, dafs es uiinu")glich sei, eine ge-
rechte Arbeitslosenversicherung einzuführen! Die Statistik des Herrn
Pfarrer I lofmann über die St. Galler Arbeitslosenversicherung er-
streckt sich auf blofs achtzehn Monate und nur l30oMann; sie kann
also keinen Anspruch auf Vollkommenheit machen, sie ist übrigens
auch nicht richtig geführt."
Dieses Referat scheint wohl den Inhalt des Vortrags ziemlich
richtig wiedergegeben zu haben, wenigstens sah sich Herr Bärlochcr
vcraiilalst, in einer Zuschrift an die Redaktion dieser Zeitung blofs
zwei nebensächliclie Punkte zu präzisieren. l-.benso sj^richt ein
„Mitgeteilt" des Gewerbeverbandes Zürich an die Presse dafür, dafs
die \eue Züricher Zeitung die Grundgedanken des Referates gut
erfalst haben dürfte.
Diese Darstellung mufste die Freunde der Arbeitslosenversiche-
rung um so eher und rascher zu einer Antwort veranlassen, als der
Vortrag unmittelbar vor den V^erhandlungen des zürcherischen Stadt*
rates über den Entwurf einer Arbeitslosenversicherung gehalten
wurde. Wirklich erschien denn am 1 1. Juli in Nr. 159 des „St Galler
Stadt-Anzeiger" an leitender Stelle eine Korrespondenz unter dem
Titel „Die Wahrheit über unsere Arbeitslosenversicherung". Dieselbe
verwahrte sich ganz energisch gegen die Kritik Barlochers an der
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112
Emil Hofmann,
St. Galler Arijcitsloseincrsicherunp; und wies dem Verwnlter die
Hauptschuld *am Zusaniineiibruchc der Arbeitsloscnkassc zu. Gegen
diesen Artikel wurde vom \'crwaltcr der Arbcitslosenkasse Klage
eingereicht und der Redakteur des „St. Galler Stadt - Anzeiger"
welcher die X'erantworlung für diesen .Artikel übernommen hatte,
vom Bezirksgericht wegen Verleumdung und Beschimpfung zu einer
Bulse von 500 Fr. verurteilt. Die .Aiipeliation des Beklagten und
des Klägers an das Kantonsgericht ergab im wesentliclien Bestäti-
gung tlcs erstinstanzlichen l'rteils sowie die Zubilligung einer Ent-
schädigung von 100 Fr. an den Kläger. Die rrozefsverhandlungen
und deren Präludium bewiesen unzweideutig die \on uns früher
schon bemerkte und in ihren Gründen dargestellte Thatsache, dal's
der X'erwalter sich nicht das rechte X'erlrauen bei der versicherten
Arbeiterschaft erwerben konnte.
Schon am 25. Juli 1898 beklagte sich der gewesene Verwalter
der Arbeitslo.senkasse der .Stadt .St. (iallen in einer Mitteilung an
die Presse, dais er bei Dutzenden von Kränkungen und Unbilden
nirgends .Schutz gefunden. Hei diesem .Anlals berichtet er ferner,
dals das Bureaupersonal mit Titulaturen: wie Staatsschwindler,
.Schelmen u. s. w. bedacht wurde. Auch meldet er den X'ersuch,
die Thüren einzuschlagen. Im Prozefs selber tiguriert unter den
Akten ein Scluc!l)en des X'erwalters der Kasse an das Gemeinde-
amt d. d. 19. Januar 1896, worin folgendes ausgeführt wird:
„Gestern wurden an 180 \'crsichcrte 2000 Fr. bezahlt .... Wir
haben morgens 7 Uhr und mittags l'^ Uhr die .\rbeit aufge-
nommen und geschafft, was möglich war; trotzdem ereigneten sich
Scenen und Tumulte, die .schandbar sind. Hierfür stellen wir un-
verdächtige Zeugen. Ein I eil der Bezugsberechtigten war wie
ra.scnd. Jeder wollte der erste sein in der Kasse. Die Leute
sticfsen, drängten, schupften sich, fluchten einander an. Mit Fäusten
und Scimhen die Thüren bearbeitet, mit den Händen die drei SaaU
fenster. Zu allen drei Thüren drängten sich die Leute herein. Um
1 1 Uhr stieg die Unvernunft so weit, dafs, wenn nur ein einziges
rasches Wort auf unserer Seite gefallen wäre, Bureau und Kasse
gestürmt worden wären .... Ohne polizeiliche Unterstützung ist
eine Arbeitslosenversicherung nicht dankbar."
Diese beredte Schilderung und Situationsinalerei ist äulserst
interessant Sie drängt ohne weiteres' zur Suche nach ähnlichen
Tumulten und Scenen in der Geschichte der Arbeitslosenversiche-
rung und der Fürsorge für Arbeitslose. Unwillkürlich frägt man
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I>er gegenwirtige Staad der ArbeitatoMOTcnichentiig in der Sdiweit. 1 1 j
sich, ob die Arbeitslosen früherer Jahre in St. GaUen sich ein ahn»
liches Betragen zu Schulden kommen llefsen. Die Antwort auf
diese Frage ist um so leichter, als Polizeidirektor Zuppinger die
Malsnahmen früherer Jahre gegen die Arbeitslosigkeit in der Stadt
St. Gallen einer ebenso objektiven als gründlichen Schilderung unter-
legen hat. ') Dieser Augenzeuge falst seine Ansicht dahin zusammen,
da& einzelne unerfreuliche Züge nicht dazu berechtigen, ein ungün-
stiges Urteil über die Arbeitslosen in ihrer Gesamtheit „auszufallen".
In Bern sind selbst in der sogenannten Wärmestube, in welcher
sich die Arbeitslosen taglich zweimal zum Appell einzufinden hatten
und sich aber auch sonst aufhalten konnten, keine Störungen vor-
gekommen, at^esehen von einzelnen l'ällcn, wo Besucher bezüglich
Reinlichkeit zu wünschen ührifj licfsen. *) In den (ieschäftsberirhten
der Stadtkölnischen Versicherungskas.se gegen Arbeitslosigkeit im
Winter sucht man el)enfalls vergeblich nach älinlichcn Klagen.
Wir sehen uns da '^^cwisscrmafscn vor ein Rätsel gestellt. F^nt-
weder zeichnten sich die Arbeitslosen St. (lallens, solange die Ver-
sicherung existierte, durch besondere Rohheit und Taktlosigkeit aus,
ohne dafs die Verwaltung imstande war, die Ausbrüche derselben
gehörig zurückzuweisen, oder die Verwaltung trug auch sonst noch
einen Teil der Schuld an den erwähnten Scenen. Der Verwalter
der Kasse gibt den Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels übrigens
selbst in die Hand, indem er die Ikiiauptnng aufstellt, „es steckt
nun einmal im gelernten Arbeiter ein W i-lri wilic, zum Genüsse der
Versicheningskassc zu greifen, indem er diesen denufi» auf dii Stufe
der Armcngenössigkeit stellt". ■ Dieser Widerwille gegen den Bezug
von Entschädigung ist jcdcuialls dem „gelernten Arbeiter" nicht
angeboren worden. So wenig sieh der ökonomisch gut gestellte
Landwirt schämt, die von uttentlichcn Körpern subventionierte
Viehversicherung im Sehadenfalle in Anspruch zu nelimen, gerade
so wenig hat der versicherte Arbeiter Ursache, die Arbeilslosen-
V Statii^tik des Kantons St. Gallen, II. Heft. IHc Aibeitelosigkeit in St. Gallen.
<i schicluc ih-T Arbritslosigkeit, der Ymichernng R«*g«'n ihre Kolgen und drs Arhotts-
nachwcisc^j. IVrn 1895.
S. Scherz. Wrsiclientnj^skassc gegen ArbeitsltMigkeii in Bern. Zriivclirift
für Schweiz. Statistik. Jahrgang 1S94. S. 305.
*i Sparzwatifj, .\rhfitslos'-ti>t;»tistik und Atll•■il^M;^'•ll\v -ii. < lut.iclttm «TMattet
an <lai Li:];;enos>iv:lir H.in(l< ls- , Imlu^tri**- und I .;n»'iw irt<rliatt>il. pnrt- nviit vom
Vorort Zürich «Irs M h\vf i/..j;ri>ch<-ii llan<l< I-.- und lndusiri<.'vcr«nn.s. Zürich 1899, >i.ll.
Archit fui kv>/. (icicl/gcbuiig u. .S(ati>ti^. XIV. 8
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114
Emil Hofmann,
entschädigung als eine höhere Form des Almosens zu betrachten.
In St. Gallen mag schon reitf äufserlich die unglückselige Ver-
schmelzung der Kas^nverwaltung mit dem Armensekretariat etwas
zum Aufkommen dieser das Versicherungsinstitut schwer ge«
iahrdenden Meinung beigetragen haben. Wurde aber diese Ansicht
durch die Geschäftsgcbahrung noch verstärkt, so begreift man zum
mindesten, da(s das Verhältnis der Versicherten und namentlich der
Arbeitslosen zur Kassenverwaltung nicht so war, wie es hatte sein
sollen und sein können.
Das Gedeihen eines derartigen Institutes hän^, wie die Er-
fahrung zeigt, wesentlich \oii den mit der Leitung betrauten Per-
sönlichkeiten ab. Verfügen dieselben neben der nötigen Geschäfts-
kenntnis über entsprecheiulcs Wissen und l)esitzen sie vertrauen-
erweckende Cliaraktereigcnsrhaften, so wird es ihnen unter Um*
ständen ;^'elingcn, theoretiscli ganz verfehlte Institute am Leben zu
erhahcn und auf gedeihliche Grundlagen überzuführen. Mangelt
aber die nötige Vorbildung und Erfahrung sowie die Fähigkeit»
sich in ganz neue Verhä1tnis->e hineinzufinden, so ist es selbst um
In.stitute geschehen, welche lel)enskTäftig zu werden versprachen»
ohne dafs deren Leitern bewufstes X'erschulden zuzuschreiben wäre.
Sic sind vielleicht der Ansicht, ihre Pflicht vollständig zu erfüllen
und freuen sich ihrer I.^istungen, ohne das rngenügende otler
Mangelhafte derselben einzusehen. Ganz richtig bemerkt B. clas
Kantongericht St. Gallen im erwähnten h'alle hierüber, dafs solche
Behauptungen im Zusammenhange mit dem subjektiven Empfinden
und Denken st ( In n und aus einer rein objektiven Tritersuchung der
ihr zu Grunde liegenden Verhältnisse nicht absolut abstrahirt
werden können.
So moclite wohl die Kassenverwaltung in .St. (i.ilkn sich be-
wufst sein, alle möglichen Bequemlichkeiten zur ! i leichterung der
Prämienzahlung eingeführt zu haben. .Allein die ürweiterung der
Bureauzeit auf 10 Stunden im Tage, die I\iiifiihrung der Stellver-
tretung bei tler Prämienzahlung sowie the .\iisiellung einer ...Art
W'cibel ", welcher die säumigen Prämienzahler zu Hause und bei der
Arbeit aufzusuchen halle, sowie andere WraiisiaUungen bewiesen
blois, dafs der Kassenverwalter über die besten .Mittel zur Lrrcichung
pünktlicher Prämienzahlung, wie sie andernorts üblich, nicht im
klaren war. Krst wenn der X'erwalter diese Mittel ebenfalls ver-
sucht hätte, wäre die ewii;e Klage über schlechten l'rämieneingang
gerechtfertigt gewesen. Dais es damit in Ihat und Wahrheit gar
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Der gegcnwirtige Stand der Arbettsloscnverricbemiie in der Schweiz. 1 1 ^
nicht so schlimm bestellt war, diirftt- ni( ht zuletzt daraus hervor-
L,'ehen, dals der Beitrag tier ( lemcinde ' ' St. dallen an die Arbeits-
losenkassc während ihres zweijahrii^^en Ik-standes ins<,fesaint 12 235 Vr.
betrafen hat. lu Anbetraclit der Anzahl der X'ersirherteu hätte da-
mit die Stadt bei eineiu i^esetzlich fixierten MaxiinalbeitniL; \<>n
2 Fr. per Jahr und X'ersicherten allerlu)chstens 235 Kr. zu\ iel be-
zahlt. ( )b es sich au^a-sichts dieses liÖciist unbedeutenden Defizites
lohnte, über das miserable Resultat {les Prämienein^an^'s zu jammern
und die .Arbeiter der Zahlun^ssrhcu und Pflichtvergessenheit anzu-
klagen, mag der Leser selbst beantworten.
Mit dem Arbeitsnachweis verhält es sich rranz ähnlich. .Aller-
dings versteift sich da der Verwalter auf einen Hcschlufs der Arbeits-
losenkommi.ssion \-<m\ 4. und 28. Dezember 1895, welcher daliin-
ging, „den Arbeitsnachweis im en,^slen Raiunen zu halten und
weder Statut noch Reglement hierüber aufzustellen in dem .Sinne,
dafs der ( icmeindcrat von sich aus mittels Zirkularen Meisler und
Korporationen auf diese .Arbeitsvermittlung aufmerksam mache und
sokhe einladend, vorkommendenfalls hiervon Gebrauch zu machen".
Als aber der Verwalter die kläglichen Resultate dieser Art der
.Arbeits\ ermittlun(f bemerkte und sich im X'erlauf der \'ersicherun«::s-
jähre von der Notwendigkeit richtig funktioiüerenden .Arijeitsnach-
weises auch zur Konstatii i un^^ der l'nverschuldelheit der Arbeits-
losigkeit überzeugen konnte, hätte er zum allermindesten die Pflicht
gehabt, die Behörden hierauf aufmerksam zu machen. Auch an
Wegweisung hätte es ihm nach dieser .Seite hin nicht gefehlt. Die
Thätigkeit der .Arbcitslosenkassc der Sladt Hern unterscheidet sich
ja auch nach dieser Seite Inn in angenehm berührender Weise \on
derjenigen der Stadt St. (iallen. Angesichts des sozusagen völligen
Versagens rles .Arlteitsnachweises ist es uns unerfindlich, wie man
die paar Fälle, wo nicht passende Arbeit oder zu weit entfernte
Arbeitsstelle \"on Arbeitslosen zurückgewiesen wurde, brt. il n< lilagen
mochte. Ebenso ist es uns unbegreiflich, warum in St. Ciallcn, wie
das kantonsgcriclitliche l'rteil glaubt konstatieren zu können, die
Einführung der Arbeitslosenversicherung und die Zuversicht,
bei Arbeitslosigkeit eine tägliche Kntschädigung zu erhalten, auf
das Bestreben, Arbeit zu erhalten, lähmend gewirkt haben soll. Lst
dies aber der Fall gewesen, so lag es doppelt und dreifach im
' Hc'iiht'- unil lahr.srcclinuiijicii tli-r politixhcn (»cmcinde .Si. ('»alh-ii vom
I.JaHi897 ^'i^ jo- J""' 1898. St. Gallen (Kuchdruckcrci Victor Schmid) 189S, S. 05.
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ii6
Emil llofmaan,
Pflichtenkreis des \'cr\valters, für Beschati'unoj von Arbeit bedacht
zu sein. Wäre solche \orhanden jijewesen, so hätten die Arbeiter
in St. ( lallen dazu angehalten werden können. Wenigstens konstatiert
die Verwaltung der Arbcitsloscnkasse der Stadt Bern, dafs. wenn
Arbeit angewiesen werden konnte, sich jeder Arbeitslose willig da/u
einstellte, und dafs die lautesten Zweifler an der wirklichen Arbeits-
losigkeit dieser Männer am schnellsten zum Schweigen gebracht
wurden tlurch die Offerte, ihnen sofort so viele Arbeiter zu senden,
ab sie beschäftigen wollen.*)
Schliefslich noch ein Wort über das Streben einer Anzahl
Arbeiter, sich der Versicherungspflicht zu entziehen und die Rolle
der Arbeiterschaft bei der Aufhebung der Versicherungskasse. Der
Widerwille der Arbeiter gegen die Arbeitslosenversicherung in
St. Gallen hat schon oft als Argument dienen müssen, dafs es sich
wohl der Mühe lohnt, demselben auf die Spur zu gehen. Den Ur>
heber dieser Ansicht braucht man wohl nicht lange zu suchen. Der
Verwalter der Kasse hat in Zürich in dem auf & i lo zitierten Vortrag
behauptet, es hätten sich 5000 Versicherungspflichtige einschreiben
lassen sollen, während man es schlielslich auf 2530 Mann gebracht
habe. Das Kantonsgericht konstatiert nun in .seinem Urteil, da(s
diese Behauptung nur insofern richtig sei, „als man im Jahre 1894
(ur die Berechnung von 5000 Versicherungspflichtigen den Einbezug
der Gemeinden Tablat und Straubenzell neben der Stadt Sl Gallen
in Anschlag gebracht hatte und als man bei Inkrafttreten der
Versicherung im Jahre 1895 die Eisenbahn*, Post« und Telegraphen-
arbeiter, neben Kommis, Zeichner, Bäcker, Metzger, Bierbrauer auch
als unter die Versicherungskasse fallend betrachtet hatte'*. Um
kein Mifsverständnis an dieser Stelle aufkommen zu lassen, fiigen
wir zur Kennzeichnung des Grades der Richtigkeit erwähnter Be-
hauptung bei, dafs das Gutachten betreffend die Gründung einer
gemeinsamen Arbeitslosenversicherungskasse für die Gemeinden
St Gallen, Tablat und Straubenzell für die Stadt St. Gallen blois
3000 versicherungspflichtige Arbeiter in Rechnung gestellt hatte. ^)
Ebenso wollen wir nicht anzuführen vergessen, dafs das Kantons-
*) Bericlit Aber das erste GescliSftsjahr der Ver»icherungska.ssc .\rbeits<
losigkeit in der Gemeinde Bern (ScparaUbdruck des Anhangs zum Verwaltungsbe»
rieht der Gemeinde Bern pro 1893'», S. 8.
^, IVaktanden der Bttrgerversaromlung der iwlitischen Gemeinde St. Gallen.
Sonntag den 2S. Oktober 1894, .S. a.
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Der gegenwältige Stand der Arbeitslosenversicherung in der Schweiz. i
gericht die Zahl der jeweilen nebeneinander Versicherten je nach
der Jahreszeit auf 2800 bb 3000 Mann veranschlagte. Diese beiden
Zahlen scheinen uns nicht gerade einen grolsen Widerwillen der
Arbeiter gegen die Arbeitslosenkasse zu spiegeln. Es mögen sich
etliche hundert Pflichtige der Versicherung zu entziehen gewufst
haben, aber nicht über Zweitausend, wie man nach den nur bis zu
einem gewissen Grade Hrichtigen" Behauptung des ehemaligen
Kassenverwalters glauben möchte.
Die Rolle der Arbeiterschaft bei der Aufhebung der Ver-
sicheningskasse erscheint insofern in einem milderen Lichte, als der
Verwalter der Arbeitslosenkasse vor Gericht ausdrücklich bestritt,
von einem ,,geschlossenen" Verwerfen der Fortfiihrung der Arbeits-
losenversidierung seitens der Arbeiterschaft gesprochen zu haben.
Uebrigens ist wohl auch die abgeschwächte Behauptung, dafs die
Arbeiter für Abschaffung der Arbeitslosenversicherung stimmten,
nicht ganz richtig. Wenigstens verwahrte sich die Vorstande»
Versammlung der Arbeiterunion der Stadt St Gallen in ihrer Sitzung
vom 28. Juli 1898 energisch gegen die Behauptung, „da(s die
oiganisierte Arbeiterschaft von diesem Institute nichts wissen wollte
und dafs sie die Schuld an dessen Beseitigung trage^
Diese Darstellung spiegelt die Stellung des gewesenen Kassen-
verwalters zu dem Institut so deutlich, dals wir daraus keine
weiteren Konsequenzen zu ziehen brauchen.
H. Das Gut achten des X'ororts des schweizerischen
Handels- und Industrievereins.
Bekanntlich hatte das eidgen. Industrie- und Land Wirtschafts-
departement durch ein Kreisschreiben vom 30. November 1894
unter anderen auch den Vorort des schweizerischen Handels- und
Industrie- Vereins eii^laden, eine Reihe von Fragen betrefTend
Arbeitsnachweis und Schutz gegen die Folgen unverschuldeter
Arbeitslosigkeit zu beantworten. Den Anlafs zu diesem Kreisschreiben
bildete ein Postulat des Nationalrates anläfslich der Verhandlungen
über ,J>as Recht auf Arbeit" in der junisession 1894. Das Ziel
derselben war, zur Berichterstattung über das Postulat der Räte
Material zu sammeln über „Ursachen, Umfang und Dauer der Arbeits-
losigkeit, die hauptsächlich betroffenen Berufsarten, das Verhältnis
der Zahl der Unbeschäftigten zu derjenigen der lieschäftigten nach
Berufsarten" und die .Ansichtäufserung der interessierten Kreise über
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Il8
Emil HofmanOt
die Arbeitslosenversicherung etc. bis zum 30. Juni 1895 zu ver-
nehmen. Der Zentralvorstand des Schweiz. Gcwerbevereins ver-
anstahetc hierüber eine Erhebung, deren Resultate Ende September
1895 bearbeitet vorlagen und sjiätcr als XIV. Heft der „Gewerb-
lichen Zeitfragen" publiziert wurden.') Der X'orort des schweize-
rischen Handels- und IndustricA'crcins liels sich zur Beantwortung
dieser Frage etwas mehr als vier Jahre Zeit, indem sein Gutachten
vom 20. März 1899 datiert ist.
Auf die Begründung dieser Verzögerung mit dem Abwarten
„der Erfahrungen bei diesbezüglichen Versuchen, welche in mehreren
schweizerischen Städten gemacht wurden", treten wir nicht naher ein.
Wir bemerken blols, da(s die Arbeitslosenversicherung der Stadt
St Gallen beim Erscheinen des Ghitachtens schon nahezu zwei Jahre '
aufgehoben war und die Greschaftsberichte der Arbeitslosenkasse der
Stadt Bern schon langst nicht mehr viel neue Beobachtungen mit-
zuteilen vermochten. Auch der Sparzwang war damals schon ziem-
lich lange von Professor Georg Schanz der Arbeitslosenversicherung
gegenübergestellt worden.
Das Gutachten selber, soweit es die Arbeitslosigkeit betrifft, ist
folgendermalsen g^Hedert:
I. Einleitung.
1 ) Die Voten der Sektionen des schweizerischen Handeb- und
Industrie -Vereins zum Kreisschreiben des eidgenössischen
Industrie- und Landwirtschaftsdepartements vom 30. No-
vember 1894.
2) Nachteile der Arbeitslosenversicherung.
3) Der Sparzwang, sein Prinzip, seine Vorteile und Nachteile.
4) Verfassungsrechtliches.
n. Statistik der arbeitslosen Sparpflichtigen.
1) Bedürfnis nach einer Arbeitslosenstatistik.
2) Die Sparpflichtigen Personen.
3) Meldewesen in der Sparverwattung.
4) ßerufekategorieen und Lohnklassen.
5) Statistische Ermittlungen.
*) Bericht und Gntachten an das Schweizerische Industriedepartemoit betreffend
Arbeitslosigkeit and Arbeitsnachweis. Auf Grund der vom Schweizerischen G<nvcr1>e-
vcrein veninstalten diesbezUglichi-n L'rhelnmpen erstattet vom ZentralvorsUnd des
Schwcizcris. Inn ( 'icwerbcvcrcins. Aii^^rai S. it. t von Dr. jur. Arthur CurtL Zürich
(Verlag des Schweueriscben Gewcrbcvcrciiiü^ 1^96.
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Der gegenwärtige Stand der Arbciuloacnvcrsicberung in der Schweiz. {
HI. Der Sparzwang.
1) Theoretische Darstellung des Prinzips des Sparzwanges.
2) Erhebung der Einlagen.
3) Die täglichen Bezüge während der Arbeitslosigkeit.
4) Wechsel des Arbeits-, Wohn> oder Heimatortes des Spar-
pflichtigen.
5) Heimfall des Gesparten.
6) Organisation und Rechnungswesen der Sparverwaltung.
7) Rechtsverhältnisse.
Bei der Zurückhaltung, mit welcher die Idee der Arbeitslosen*
Versicherung innerhalb des Kreises der Sektionen behandelt wird und
der Ansicht, dafe es sich für die einzelnen Industrieen nicht darum
handle, ob die Arbeitslosenversicherung nötig oder nützlich sei,
sondern bei Zeiten Stellung zu nehmen, damit der Industrie nicht
ein unerträgliches System aufgezwungen werde, ist die Bevorzugung
des Sparzwanges von dieser Seite leicht verständlich. An die Stelle
des Versicheningszwanges soll der Sparzwang treten, damit nicht
nur jeder Beruf, sondern auch jede Einzelperson ihr eigenes Risiko
trage und zu decken suche. Von diesem Standpunkte aus ist es
begreiflich, dafs das Gutachten dem Spantwang noch mehr Vorteile
und der Arbeitslosenversicherung noch mehr Mifslichkeiten zuschreibt
ab Schanz selber. Allerdings ist das Gutachten hierin nicht be<
sonders glücklich. Dasselbe fuhrt als „MiCsstand" der Arbeitslosen-
versicherung die Thatsache an, dafs zwischen dem erschöpften Maximum
von Unterstützungstagen und dem Wiederbeginn der Unterstützungs-
berechtigung eine bestimmte Beitragszeit liegen müsse, während
beim Sparzwang grundsätzliche Unbeschränktheit der Bezugsberecli-
tigung bestehe. Die Begründung dieses Vorzugs fufst darauf, dafs
infolge der vollständigen Unabhängigkeit der Guthaben voneinander
ein bezugsberechtigter Sparpflichtiger so lange Bezüge machen könne,
als er ein Guthaben habe. Leider steht diese Begründung auf
äu(serst schwachen Füfsen. Versucherte, welche unter regclmäfsigcr
Arbeitslosigkeit leiden , werden wohl schwerlich \'on einer arbeits-
losen Periode zur anderen soviel sparen, als sie bei der Versicherung
im Maximum zu beziehen hätten. Ist aber das Sparguthaben auf-
gezehrt, so verfliefst auch beim Sparzwang natui^emäfs eine be-
stimmte Zeit, während welcher wieder Einladen gemacht werden
müssen, bevor Bezüge erlioben werden können.*
Dem Sparzwan^ wird als Vorzug nach<:,'dvdct, tlal's er in Zeiten
von grofsen Krisen, Kriegen u. 5. w. dem wirtschaftlich schwächeren
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120
Emil Ilofmann,
Teil der Bevölkerung einen finanziellen Rückhalt biete, mittels dessen
dieser während der Dauer seiner spezifischen Arbeitslosigkeit über
Wasser gehalten werden könne. Dasselbe soll diese „thatsachliche
Volksversicherung" auch bei einem aufserordentlichen Steigen der
Lebensmittelpreise leisten, wo die Guthaben durch ein Spezialgesetz
tlcn Eigentümern eröffnet werden konnten. I^der würde dieses
Ziel , dessen Tragweite und Bedeutung übrigens nicht unbestritten
bleiben dürfte, nur bei dem Bruchteile der Bevölkerung erreicht,
welcher wenig unter der Arbeitslosigkeit zu leiden hat Trotz dieser
nicht allzu fern liegenden Krwägung wird der Sparzwang unter dem
Gcsiclitsi)uiiktc einer Volks Versicherung gegen die Folgen wirt-
schaftlicher Krisen behandelt, wie aus der Darstellung des Projekts
unzweideutig lier\'orgehen dürfte.
Dies zeigt sich namentlich in der l'ingrenzung des X'ersicherungs-
kreises, welche im Anschlufs an den Entwurf eines Bundcsgcsctze>
betr. die Krankenversicherung folgendermassen bestimmt werden soll:
„Alle in der Schweiz und innerhalb einer bestimmten Grenz-
Zone der Nachbarstaaten ihren rechtlichen Wuhnsitz habenden, un-
selbständig erwerbenden männlichen und weiblichen Personen, welche
auf schweizerischem Gebiete oder vorübeiigehend im .Ausland im
Auttrag eines in der .^rliwciz domizilierten schweizerischen Arbeit-
gebers in inländischen (Wrkehrs-, industriellen, gewerblichen, kauf-
mänfiiMMu ii , l uul- und forstwirtschaftlichen t Betrieben oder in in-
ländischen Zweigniederlassungen ausländischer Betriebe genannter
Art arbeiten, sowit- <lic Taglöhncr inländischer Arbeitgeber und die
Dienstboten inländischer Haushaltungen sind vom zurückgelegten
14. AUersjahr an sparberechtigt und sparpflichtig, sofern ihr jähr-
Ii hes Hinkommen nicht weniger als 600 und nicht mehr als 1800 Fr.
beträgt, wobei einen Teil des Lohnes ausmacheiuie .Naturalleistungen
eingerechnet werden. Nicht sparpflichtig sind diejenigen Personen,
deren jährliches Bar- Einkommen nicht den Betrag von 200 Fr. er-
reicht.
Selbstverständlich macht diese geradezu kühne Ausdehnung des
Sparzwangs ein ziemlich verwicktltos .Meldewesen nötig. Da erhält
jeder Sparj »flichtige von der Sparbehörde seines Wuhnorts ein Spar-
und Arbeitsl)üchlein sowie eine Sparkarte, welche der .\rbeitgeber
einzuziehen hat, sofern der Sparpflichtige mehr als einen Tag bei
ihm arbeitet, um darin das Datum des Diensteintritts, die anfangliche
Lohnklasse und eventuelle .\enderungen sowie das Datum der F.nt-
lassung zu notieren. Der Arbeiter daK diese Papiere erst zuruck-
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gegenwärtige Stand der Arbeitslosenversicherung in der Schweis. |2I
x'crlangea und zurückerhalten, wenn er den Arbeitsvertrag aufheben
wiU; denn solange der Sparpflichtige diese Papiere in den Händen
hat, wird er als arbeitslos behandelt und gilt als bezugsberechtigt.
Die Gesamtheit der Sparpflichtigen bildet eine Korporation mit
eigener, vom Staate getrennter Rechtspersönlichkeit Das Gebiet der
Schweiz wird in Sparbezirke eingeteilt, welche die Gemeindespar*
behörden zusammenfassen sollen. Die Arbeitgeber werden in melde-
pflichtige und nicht meldepflichtige unterschieden, während die
Arbeiter unterschieden werden: in solche mit gleichem festen Wohn«
und Ai1>eitsort, in solche mit festem Wohnort und wechselndem
Arbeitsort, in solche ohne festen Wohnort und ohne festen Arbeits-
ort, in solche mit festem, aber verschiedenem Wohn- und Arbeits-
ort, in solche mit festem Arbeitsort und wechselndem Wohnort und
schlielslich in Arbeiter aulserhalb des Geschäftsdomizils oder im
Ausland. Die Berechnung des in Waren bezogenen Lohns und die
Umrechnung des Akkordlohns in Stücklohn, die Führung der Spar-
pflichtigen-Register, die Vierteljahrsrevtsionen , die Meldungen und
Eintragungen der Arbeitgeber erwähnen wir nur, um ungefähr einen
Begriff von der Kompliziertheit dieses Meldewesens zu geben.
Aehnliches gilt von der Einteilung der Sparpflichtigen in Be-
rufekategorieen und Lohnklassen zur Ermittlung der Arbeitslosig-
keitsdauer, welche mafsgebend ist fUr die Hohe der täglichen Ein-
lagen und Bez%e. Von je gröfserer Dauer die durchschnittliche
Arbeitslosigkeit ist, um so höhere Einzahlungen müssen gemacht
werden. Ist deren Dauer kurz, z. B. 5 Tage jährlich, so wird zu-
nächst nur ein für 5 Tage ausreichendes Guthaben gesammelt. Die
Grrölse der Arbeitslosigkeit ist mehr oder weniger gegeben, ebenso
die Höhe der Einzahlungen und der Bezüge. Erstere sollen für den
Arbeiter etschwii^lich sein, letztere in der Regel nicht unter das
Existenzminimum herabsinken. Sparpflichtigen, welche nicht einmal
die für die niedrigsten Bezüge notwendigen Einzahlungen machen
können, sollen die Arbeitgeber Beitrage leisten und zwar nach
einem Vertdlungsmafsstab, der den Arbeiter um so mehr bezahlen
läfst, einen je geringeren Bruchteil die gesamte Einzahlung auf seinen
Lohn ausmacht und umgekehrt den Arbeitgeber um so mehr leisten
heilst, je stärker der Arbeiter belastet ist. Die Beiträge der Arbeit-
geber beginnen erst, wenn die tägliche Einlage mehr als 6% des
Tagelohns ausmacht und sollen zwischen I und 5% desselben
schwanken. Als oberste Grenze für die ganze Einlage werden 1 5
vom Lohn angenommen, wozu der Arbeiter 10% und der Arbeit-
L^iyiii^uü Uy Google
122
Emil Hofmann,
geber zu lebten hätte. Das Minimum des taglichen Bezugs
soll ein Drittel, das ll/foximum die Hälfte des Tagelohns der durch*
schnittlichen Lohnldasse des Bezügers ausmachen und zwar in der
Weise, dafs das Maximum des Bezugs auf das Minimum der Dauer
der Arbeitslosigkeit (5 Ta^e), das Minimum des Bezugs aber auf
das Maximum der Arbeitslosigkeit (90 Tage) zu fallen kommt, die
zwischen Maximum und Minimum des Bezugs liegenden Beitri^
werden ^leichmäfsig auf die Stufen der Arbeitslosigkeit verteilt. —
diese Stufen steigen von 5 zu 5 Tagen — so dal's für jede Stufe
der Arbeitslosigkeit einem bestimmten l.oiin auch ein täglicher
Bezug entspricht Die tägliciien Beziige sollen zwischen 0.5 und
2 Fr. -hw inkcn. Die täghchen Einlagen betragen beim Minimum
der durchscimittlichen Arbeitslosigkeit 0,8 — 3,4 Cts. Bei einer
durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 45 Tagen kann der Zwangs«
Sparer mit einer täglichen Einlage von 8,8 Cts. sich eine tägliche
Entschädigung von 50 Cts. und mit 35,3 Cts. eine solche von 2 Fr.
sichern. Sind schon diese Beiträge für die Arbeiter einfach uner
schwinglich, so gilt dies noch viel mehr von den Berufsklassen mit
einer längeren durchscimittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit.
Wenigstens ist es uns einfach unrrfnKllich, wie die von der Arbeits-
losigkeit am stärksten bedrohten Arbeiter täglich 21,4—85,7 Cts.
ersparen sollen. Das Gutachten allerdings scheint sicli deswegen
keine grofse IHe( lenken zu machen. Es täuscht sich hierüber mit
folgenden Worten hinweg: „Die Ersparung der Sperrsumme kann
wohl von niemandem als eine grofse Last empfunden werden, denn
diejenigen, die relativ hohe Einlagen machen müssen, haben eine
Sparsumme, die kaum viel niedriger ist als die Sparsummc, und es
fällt deshalb für diese ein erhebliches Weitersparen weg. Bei einigen
Berufen wird die Sperrsunnne bereits in der Sparsumnie enthalten
sein. Am längsten sparen müssen die, welche nur kleine Beträi^e
einzule;j^en haben; dic.sc können al)er sehr leicht Jahre hindurch
sparen, um zu einem Reserwfond zu k<Mn.meii. wenn andere viel
höhere I-,inla;.^en Jahr für Jahr, <»hne he^linnnle Zeilgreiize. machen
Muissrii, nur um sich i,^<'i;en die \rl)eitNl(>>i!.d<eit eines einzij:,^cn Jahres
zu schutzeil." Die 1 iauptklii>pr diocs l'Kijekles lie^t darin, dais
wir auf dei' ciiii-ti Seite einfach uner>chwini,diche Beiträge und aut
der anderen Seile i;eringlüi;i^e Lei>lunt;en haben. Die LVsache
hier\ <)n liegt in dem i;.inz un\ erl>lumt iier\ < )i tretenden Streben, den
Arl)eilL;ebern mc^lichst ;^erinL,a' Lasten zu/nmulen und tlie Gemein-
den und den Staat nur durch die Leberbindung der \'ersvaltungs-
i^iyui^ud by Google
DcT gegenwärtige Stand der Arbeitslosenversichemng in der Schweix. 123
kosten zu belasten. Es ist hier nicht die Stelle, die Beitn^;spflicht
der Arbeitgeber theoretisch zu beleuchten. Dagegen möchten wir
darauf hinweisen, da(s es sogar der Zentralvorstand des Schweizer
riscben Gewerbevereins für selbstverständlich hält, zur Ermöglichung
der Arbeitslosenversicherung neben Arbeitern, Gemeinden, Kantonen
und Bund auch die Arbeitgeber zu angemessenen Beitragen herbei-
zuziehen.Ebenso können wir es uns nicht versagen, auf ein
Referat in der Delegiertenversammlung des Schweizerischen Handels-
und Industrievereins aufmerksam zu machen und daraus folgende
Stellen zu zitieren : , Jst aber einmal eine Industrie oder ein Gewerbe
so gestellt, dafs sie für eine Fürsorge gegen Arbeitslosigkeit nicht«:
mehr erübrigen und nur durch Mithilfe der übrigen Arbeitenden
das Benötigte zusammenbringen kann, so verzichte man auf deren
Weiterfuhrung. Oft wird man übrigens die Erfahrung machen, dafs
es bei diesem Gewerbe gar nicht vom Können, sondern nur vom
Wollen abhängt und daCs sie es vorteilhafter finden, wenn der Staat
oder die Stadt die Arbeitslosen für drei Monate übernimmt, als dafs
sie es selbst thun. Niemand wird doch behaupten, dafs z. B. das
Baugewerbe in Zürich, das zur Zeit in solcher Blüte steht, nicht
seine Arbeitslosen — soweit es gelernte Arbeiter sind — zu er-
halten vermöchte. Man versuche es und es wird gehen. Wahr-
licinlich werden dann aber auch die Arbeitslosen in dieser Branche
abnehmen; denn wenn der Unternehiupr weife, dafs sein Beitrag
erhöht wird, sobald die- Ansprüche an die Kasse wachsen, so wird
er sicli mit der Herbeiziehung neuer Kräfte für kurze Zeit mehr in
acht nehmen als bisher." ^)
Diese Fürsor<^e für die Arbeitgeber erstreckt sich aber noch
weiter. In allen Fällen, in welchen die geringen Löhne der Ar-
beiter samt grofsem Risiko der Arbcitslosi^^keit die Arbeitgeber zur
fieitragsleistung zwingen, sollen die Beiträge der Arbeitgeber sofort
aufhören, wenn die einfache, d. h. die in einem Jahre zu ersparende
Sparsumme, bezw. iiir iMchrfachcs erreicht ist. Auf diese Weise
brächte man es glücklich dazu, den Arbeitern mit erreichter Spar-
XIV. Heft der gewerblichen Zritfragen. Zürich (Verlag des Schweizerischen
Gewerbevereins) 1896, S. 78.
*) Zur Frage der Arbeitslosenversidieroiig. Referat gehalteo von Dietrich
Schindler-Httber in der Delegiertenvertamrolung des Schweizerischen Handrls*
und Industrievereins am 27. Aprtt 189$. Zürich (Druck von Ulrich & Cie. im Bericht-
hans), S. 19 f.
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124
Emil Hofmann,
summe auf dem Arbeitsmarkte einen grofeen Vorteil tm verschafien.
Die Unternehmer würden selbstverständlich solchen Arbeitern den
Vorzug geben vor denen, für welche sie Beitrage in die Sparkasse
zu leisten hatten. Die Arbeiter aber würden, um die Konkurrenz
auch nach dieser Seite hin aushalten zu können, eifrig bestrebt sein,
die gesparte Summe niemals anzutasten. Hunger und Not jeder
Art würden sie während der Periode der Arbeitslosigkeit bis an
die äufserste Grenze ertragen, um nicht wegen des ganz oder teil-
weise erschöpften Spai^thabens beim Erlangen einer neuen Arbeits-
stelle gehemmt zu sein. Dazu wird das Aufhören der Beiträge der
Arbeitgeber, wie Schanz richtig hervorhebt,') die Sache komplizieren,
abgesehen davon, dafs weitere Zuschüsse infolge der übrigen gün-
stigen sozialen Wirkungen ohne weiteres gerechtfertigt werden können.
Nach dem Vorangegangenen mufs man sich wundem, da(s beim
Todesfall eines Sparpflichtigen der von den Arbeitgebern zum Gut-
haben geleistete Beitrs^ nicht an diese, sondern entweder an die
Erben oder unter Umständen der Spnrverwnitung, „hcimfallen" soll,
welche dieses Geld in erster Linie zur Entschädigung der Arbeiter
für unerhältliche Beiträge von Arbeitgebern zu verwenden hat. Von
ähnlicher Gesinnung zeugt das voi^eschlagene Verhalten der Spar*
verwaltunj:^ bei Ausstand und Aussperrung;. Wo keine Kinlagen
von Arbeitgebern in Guthaben sind, soll unbedingte Bezugsberech-
tigung bestehen, wenn die formellen V'oraussetzungen der Arbeits-
losigkeit gegeben sind. Sind dagegen Einlagen dritter vorhanden,
so hat der Arbeitgeber bei Ausstand oder Aussperrung das Recht,
zunächst für einen Monat Sperrung sämtlicher im Guthaben ent-
haltenen Beiträge der Arbeitgeber zu verlangen. Bei Ausstand kann
diese Sperrung noch verlängert werden. Diese Bestimmung Ijürdet
der .Sparverwaltung wiederum eine ziemlich kom|)Iizierte Aufgabe
auf. Deshalb wäre eine andere Regelung dieser Verhältnisse schon
aus diesem Grunde erwünscht, abgesehen davon, dafs Professor
Dell)rii. k einen Vorschlag zur Lösung dieser Schwierigkeiten ge-
macht hat, welcher geeignet wäre, die unvermeidlichen Kämpfe
zwischen Kapital und .\rbeit abzustumpfen, und das Strikcwesen
mit all .seinem Elend und seiner namenlosen X'erbitterung zurück-
zudrängen, ohne die Arbeiter in ihren berechtigten Forderungen zu
schädigen.
Georg Schanz, Zur Frage der Arbeitsloienverskhrniiig. Bamberg 1845,
S. 179.
uiyiii^cü Uy Google
l>er geg«awärtige Stand der Arbeitslosenversicherung in der Schwei«. 125
Leider scheint dieser so schöne Gedanken wie manch anderer
bei den Verfassern des Grutachtens keinen fruchtbaren Boden ge-
funden zu haben.
Trotz der Erfahrungen der Arbeitslosenversicherung^ der Stadt
St. Gallen hinsichtlich der Verwaltung und der sozusagen allseitig
anerkannten Forderung, der Arbeiterschaft einen möglichst grofsen
Einflufs auf die Verwaltung derartiger Institute einzuräumen, finden
wir im Gutachten hiervon keine Spur. Dasselbe beschränkt sich auf
den Rat, (fie VerwaltungssteUen möf^ichst mit den staatlichen kom>
munalen Amtsstellen, bei denen ähnliche Meldungen zu machen sind,
zu verbinden. Dadurch wird die Frage der Beteiligung der Arbeiter
und Arbeitgeber an der Sparverwaltung glücklich umgangen, wenn
man auch über die Art einer alUSUigen Lösung durch das Gut-
achten kaum im Zweifel sein, kann. Als notwendige Ergänzung des
Sparzwangs wird die Arbeitsvermittlung genannt. Wie denn der
Arbeitsnachweis in den Kreisen, welchen das Gutachten entstammt,
als erstes und vornehmstes Ziel aller Bestrebungen zur Abhilfe gegen
die Arbeitslosigkeit gilt.')
Die Organisation dieser Arbeitsvermittlung wird in engster Ver-
bindimg mit der Sparzwangverwaltung gedacht Die Bureaus der-
selben, welche sich in jeder politischen Gemeinde befinden, teilen
die bei ihnen gemeldeten Entlassenen und Entlassenden einer Zentral»
stelle mit, welche periodisch diese Meldungen den anderen Spar-
behörden und sonstigen Interessenten bekannt macht Die Bezirks-
sparbehörden geben wöchentlich ein Arbeitsbulletin heraus, während
iur Berufe, in denen die regelmä&ige Wanderung der Arbeiterschaft
sich über mehr als einen Sparbezirk erstreckt, die ganze Schweiz um«
filssende Bulletins herausgegeben werden. Den Arbeitern und .Arbeit-
gebern steht es frei, bei ihren Meldungen und Einsendungen der
Sparbehörde das Recht und die Pflicht zu übertragen, den Arbeits-
vertrag (ur sie direkt gegen eine geringe Taxe abzuschliefsen. Auf
diese Weise soll jeder seinen Arbeitsnachweis unentgeltlich besorgen
können.
Trotz der anerkennenswerten Mühe, welche sich das Gutachten
zur mathematischen Formulierung des Prinzips des Sparzwangs ge-
geben und des grofsen .Aufwands von Scharfsinn bei der tlieoreti-
hierzu: Bericht Ober Handel und Industrie im Kanton Zürich fUr da
Jalir 1S94. Hmusgegebcn von der Kaufmännischen Ctesellschaft Zürich. Zürich
(Art. Institut OrcU Fdüslij 1895, S. 14.
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126
Emil Hofmftnii,
sehen Ausgestaltung des Projektes und der subtilen Behandlung eines
Teils der in Betracht fallenden Verhältnisse, haftet dem Projekt
weithin sichtbar der Stempel der Undurchftihrbarkeit an. Es ist
dies umsomehr zu bedauern, als andrerseits das Projekt mit seiner
Ausdehnung des Versicherungskreises einen Zug ins Gro(se verrät
und bei richtiger Würdigung der Belastungsiahigkeit der Arbeiter
und der ökonomischen Leistungsiahigkeit der Unternehmer sowie
der Beitragspflicht der Gemeinden, Kantone und des Bundes einen
wesentlichen Beitrag zur Frage des Sparzwangs abzugeben imstande
gewesen wäre.
•
III. Die Stadtbernische Versicherungskasse gegen
Arbeitslosigkeit.
Diese frciwillij^c WMsichcriiiv^skasse zeigt seil dem Jalire 1894 9$,
welches mit 544 \'ersic!ierteii den luichsten \'ersicherungsljcstaii>l
erreichte, eine hesländij^e Al)riahine der Nhti^Hederzahl. Am 3I.März
1897 betru^:^ dieselbe iioeh 494, ein Jahr sjjätcr 431.')
Als l rsache dieses autliilii|::^en Abnehniens des Mitgliederbestandes
ist neben dem geringeren Zuwachs an neuen Mitgliedern die Zu-
nalime der Mitglieder zu nennen, welclie wegen Nichtbezahlung der
Beiträge gestrichen werden mulsten. So mufsten beispielsweise im
Geschäftsjahr 1S9798 von 612 Mitgliedern 181, also beinahe ein
Dritleil, aus diesem ( n unde von der Mitgliederliste gestrichen werden,
trotzdem im Jahre 189697 in Aiiweichung von den Ausfiihrungs-
bestimmungcn, welche nur einen zweimonatlichen Rückstand ge-
statten, derselbe auf fünf Monate ausgedeiint wurde. Die Kommission
begründete diese Abänderung damit, dafs infolge des regnerischen
Sommers namentlich den Handlangern und Erdarbeitern der Ver-
dienst ganz bedeutend geschmälert wurde. Gehörten Zahltage mit
vier und ftinf Arbeitstagen damals nicht zu den Seltenheiten, so ist
der Rückstand einer grofsen Zahl von Mitgliedern eigentlich selbst-
verständlich. Als weiterer Grund dieser Erscheinung wird folgendes
angeführt: „Leider giebt es eine grofse Zahl Mitglieder, welche in
<ler Voraussicht, auch während des Winters Beschäftigung zu haben,
einlach (ur das betreffende Jahr den Beitrag nicht zahlen und dabei
im Glauben leben, de brauchen die Beiträge nur zu leisten, wenn
sie im Winter die Versichcrungskasse in Anspruch nehmen müssen."
') Bericht Über das 5. Geschäftsjahr der Versichening&luiisc gegen Arbeiulosig-
keit in der Gemeinde Bern, S. 11.
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Der g^cnvirtige Stand der ArbeittloscnversacfaenuiK in der Schweis. i2J
Der Wrsuch, (Uesen ,,fiottanten jMitglicdern" der Kasse das
Handwerk durch die ßestimmung ZU legen, dals bei Ausschlufe oder
Austritt der Wiedereintritt nur bei vollständiger Nachzahlung er-
folgen könne, scheint nicht ganz gelungen zu ^ein.
Mit der X'erniinderung der Mitgliederzahl ist ein Zurückgehen
der freiwilligen Beiträge zu verzeichnen. Im vierten Geschäftsjahr
gingen ca. 500 Fr. weniger freiwillige Beiträge ein als im dritten.
Der fünfte Geschäftsbericht klagt, dafs 1028,95 weniger* an frei-
willigen Beiträgen und Geschenken eingegangen seien als ini Vor-
jahre und 3338,10 Fr. weniger als im zweiten Gescliäftsjahr. Dieses
Zurückgehen der freiwilligen Beiträ^^e ist übrigens eine auch bei
anderen Instituten ähnlicher ■'\rt beobachtete Erscheinung. Ist der
Reiz der Neuheit verschwunden oder treten andere .Schöpfungen
der Wohlthätigkcit in den V'ordergrund, so kommt es häufig vor,
dafs alte Gönner erst wieder gemahnt und neue Freunde durch
die Not der Zeit gewonnen werden müssen. Für die Berner .Arbeits-
losenkasse war die starke Arbeitslosigkeit des Winters 189899 der
Anlafs hierzu. Die Veranstaltung einer Sammlung für die Arbeits-
losen ergab in .Anbetracht der über die .Arbeitsscheu der Arbeits-
losen auch in Bern kolportierten ( lerüchte einen ganz schönen Ertrag,
Die Summe der ausbe/ahUrn Taggclder weist dagegen eine
konstante Zunahme auf. Vnn 0835,75 I-'r. im ersten Jahre wuclis
diese auf Ii 635.2; l"r. im Bcrichtsiahrc 180798 an. Dif .\rbcits-
lo>enzitTcr ^tei^a-rte sich in demselben Zeitraum von 2l6 auf 205
oder \<)n Ol",, auf 68.5",,. Die^e HeweL^'uiiL,' der Arbeitslo^enzitlcr
scheint auf den ersten Bück denen Recht zu ^eben, welche be-
haupten, die .Arbeitslosenversicherung produziere geradezu die Ai beits-
losigkeit oder lähme wenigstens das Streben zur I-lriangung einer
.Arbeitsstelle. Allein hier ist vor allem darauf hin/uwei^en, dafs
nach den Berichten der .Arbeitslosenkasse auch unter dt 11 nicht-
versicherten Arbeitern während den in Betracht fallenden Wintern
die .Arbeitslosigkeit jeweils i^r^ls ;^e\\esen zu sein scheint imd dals
be>onilers im W inter l8g8 mit seinen .Ausn.ihn)e\ ei hältnissen sich
allein beim Arbeitersekretariate 167 nicht der \'ci Sicherung ange-
h<'>reiide .Arbeiter als arbeitslos angemeldet haben. .Sodann darf
nicht vergessen werden, dals die X'erw.dtung dei Kasse jedes Jahr
wenigstens .so\ ieI Arbeil zu beschaffen imstande war. um weniL;>tens
sämtliche zweifelhafte Bezüger auf ihre .Arbiit-swilliL^keit prüfen zu
können. Endlich wird tlas L rteil über diesen Tunkt auch von der
beruflichen Gliederung der Arbeitslosen abhängen. Ein Blick hierauf
128
Emil Hofmano,
zeigt, dafs jeweils die Handlanger mehr als 70% der Arbeitslosen
stellen, wie sich überhaupt die als arbeitslos angemeldeten Ver-
sicherten zum weitaus gröfsten I cil aus jenen Berufen rekrutieren,
in denen die Beschäftigungsiosigkeit itn Winter sozusagen zur Regel
gebort. ♦
Diese Erfahrungen zeigen somit, dafs bei der fakultativen Ver-
sicherung sich blofs die gröfsten Risiken beteiligen, während die
anderen fern bleiben. Dadurch werden die Prämien für die \'er-
sichcrten zu hoch, ohne dafs die X'ersicherung ihren almosens-
genössigen Charakter verliert. Jedenfalls ist es für das arbeitslose
Mitglied der Kasse, das seine Prämie regelmäfsig bezahlt hat, kein
erhebendes (jefühl, wenn eines schönen Pages die Kassenverwaltung
die Klage über baldiges Knde der verfügbaren Mittel anstimmen
und einen Aufruf zur Sjiendung freiwilliger Beiträge erlassen muls.
Dies ist wohl mit ein Grund dafür gewesen, dafs die Mitglieder-
zahl sich nicht wesentlich vergröfserte. Gcwils trägt die Anstalt
den Charakter des Unfertigen und ist die Bewegung zu Gunsten
der Reorganisation der Kasse und des Arbeitsnachweises sowie der
Auftrag des Stadtrates an die X'erwaltungskommission zur Aus-
arbeitung eines bezuglichen Entwurfes sehr begreiflich. Aber des
P.indrucks kann man sich nicht erwehren, dals der Berner .Anstalt
mancherlei \*or würfe und Kin wände entgegengehalten werden, die
sie nicht verdient. So rügt unter anderem Prof. Dr. A. Reichesberg
an dieser Kasse die Noiniierung der Prämie auf 40 bezw. 50 Cts.,
weil derselben irgend welche mathematische Berechnung nicht zu
Grunde lieL:i[e.') Doch hat die l\rfahrung wenigstens gelehrt, dafs
man mit dieser Pestsetzung der Prämie j^i iade die Obergrenze der
Bela>tuiigsiahigkeit iler in I rage konmietulen Arbeiterkategorieen
erreicht habe. Der andere Tadel, welchen Reichesberg gegen die
Kasse ausspricht, scheint auf den ersten Blick ebenfalls völlig be-
recht ii^t zu sein. Die Beschränkung der Thätigkeit der ,\nstalt auf
die Wintermonate ist gewils sehr zu bedauern. Man möchte den
Versicherten die Bezugsberechtigung fürs ganze Jahr um so eher
gönnen, als die Anstalt jeweils auch von Arbeitslosigkeit im Sommer
zu berichten weifs und beispielsweise anfangs Juni des vergangenen
Jahres unter Führung der Stadträte Moor und Wassilieff etwa
60 Arbeitslose wegen herrschender Arbeitslosigkeit beim Gemeinde-
') Der kanipr jicgeii die Arbeitslo>ijiki il in tler .Schwei/.. Schweizt-rischc Blätter
fär Wirtschaft»- und Siuialpolttik, VII. Jaiirg. I. Bd , S. 194.
i^iyui^ud by Google
Der g^enwictige Stand der Ariiettstosenversidienmg in der Scliweix. 129
rat vorstellig wurden. Aber diese Ausdehnung würde für die KaSse
eine Erhöhung der Ausgaben bedeuten, die sie nie zu decken ver«
möchte.
Die Lehre aber, welche man aus diesen Erfahrungen ziehen
muiis, wird in dem Postulat obligatorischer Einführung der Arbeits-
losenversicherung für eine beschränkte Anzahl von Berufen gipfeln,
wobei die Festsetzung der ßeitragspflicht der Arbeitgeber und die
Reduktion der Prämien der Arbeiter und der Ausschluß alter, ge-
brechlicher und gänzlich arbeitsunfähiger Mitglieder nicht vergessen
werden sollte. Da(s diese Konsequenz in den nächst beteiligten
Kreisen wirklich gezogen wird, beweist eine Motion von Arbeiter-
sekretär Dr. WassiliefT, welche durch das kantonale Parlament den
Genneinden das Recht zur Einführung der obligatorischen Arbeits-
losenversicherung und zur Schaffung von Arbeitsämtern zur Regelung
des Arbeitsnachweises geben lassen will.
TV. Der neueste Gesetzesentwurf, betreffend Errich-
tung einer Versicherungsanstalt für Arbeitslose in
Basel -Stadt.')
Die Arbeitslosigkeit anfangs der neunziger Jahre hatte den Re-
gierungsrat von Basel-Stadt veranlafst. der Versicherungsfrage näher
zu treten. Das Departement des Innern beauftragte Professor
Dr. G. Adler mit der Ausarbeitung eines Gutachtens, auf Grund
dessen eine Ilglicderige Kommission, zu welcher neben 3 Arbeit-
gebern auch 3 .Arbeiter zählten, einen Gesetzesentwurf aufstellte.
Nach eingehender Beratung durrh den Regierungsrat wurde der
Entwurf dem Grofsen Rate am 8. November 1894 zugestellt. Mit Be-
schlufs vom 14. März 1895 überwies dieser den Gesetzesentwurf zur \'or-
bereitung an eine Kommission von 9 Mitgliedern. Diese machte sich
eifrig an die Arbeit. Die Mitglieder des drofscn Rates und die ge-
samte Bürgerschaft wurden eingeladen, sich über den Entwurf des Re-
gierungsrales zu äufsern und der Kommission alltällige Anträge
einzureichen. Das Departement des Innern veranstaltete eine
Statistik der in und aufser dem Kanton wohnenden und in den
versicherungsptüchtigcn Geschäften des Kantons arbeitenden l^ersonen.
' Bericht und Gesetzesentwurf der Grofsratskommission, Ix-trr tT'-ud I>riclituuf»
«•int-r Vcrsicherunfjs.iiistalt für Arb<it>lose, Vorlage zur zweiten Beratung. Dem
<iroi'»cn Kate zugestellt dfn 20. April 1S99.
Archiv (ur Mz. Geset/gebung u. Statistik. XIV. 9
IjQ Emil Hofmann,
Die Ergebnisse dieser Statistik wurden zur Aufetellung einer Be-
rechnung der mutmafslichen Finanzgebahrung der Arbeitslosen-
versicherung durch eine Subkommission benützt. Nach diesen Vor-
arbeiten wurde der Entwurf einer zweiten Beratung unterzc^en und
dem Grofsen Rat am 23. April 1896 zugestellt.')
Die Beratung desselben im Grofsen Rate führte am 6. Mai 1 897
zur Zurückweisung an die Kommission zum Behufc der Vorlage
eines nach den Verhandlungsergebnissen abgeänderten Entwurfs.
Durch verschiedene Umstände persönlicher und sachlicher Natur
wurde die Behandlung der Vorla'^c im Schofsc der Kommission
verzögert und konnte der neue Entwurf dem Grolsen Rate erst am
20. April 1899 zugestellt werden.
Auch dieser Entwurf hält sich sozusagen konsequent an die
von Prof. Dr. (i. Adler in dem erwälinten Gutachten -) klar und
scharf vorgezeichneten Grundlinien, ohne die andernorts gemacliten
Erfahrungen und X'orschlägc stark zu berücksichtigen.
Unbckünmiert um die Abnei^aing der \on der Arbeitslosigkeit
weniger bedrohten Arljeiterkategorieen gegen die Zwanc^sversicherun;^
und der speziellen Schwierigkeiten, welche die weibliche Arbeiter-
schaft der l echnik der Arbeitslüsenversicherung verursacht, wurde
im grofsen und ganzen an der ursprünt^dich ins Auge gefalstcn Um-
grenzung des \''ersicherungskrcisps fcstgelialten, ohne in irgend einer
Weise den geringsten Risiken entgegenzukommen. Diese Unter-
lassung wird und mufs sich schwer rächen. Sie lälst sich nicht
damit rechtfertigen , tlafs Reduktion der Prämien für langjährige
Versichertc ohne Bezüge aus der Kasse sich in ihrer finanziellen
Trat^weite nicht berechnen licfs; denn in dem X'oranschlac: des Eni-
Wurfs sind noch eine ganze Anzahl von Pdemcnten, die nur auf
„mutmafslichen" Schätzungen beruhen. Auch darf nicht vergessen
werden, dafs dieser Ersatz für die alternative Leistung der \'er-
sicherung, eine Kautele gegen allzu rasche und häutige Inanspruch-
nahme der Kasse zu l)ilden imstande ist. Statt einer dies-
bezweckenden Bestimmung, wie sie sich zum Beispiel im Zürcher
tintwurf findet, wurde der Maximallohn, der noch zur V^ersicherung
'1 Bericht und Gesetzcseotwurf der Grofsrats^Koiiiiiiisrioii betreffend Versiehe«
rung gegen Arbeitslosigkeit.
•) Die VersiclnTuni; «lor Arlaiter jjoß«*n Arbeitslosigkeit im Kanton Basel sta<t t .
Gutachten, erstattet dem I )cparteni(-nt dvs Innern des Kantoiu Ba.selstadt von Dr. Georg
Adler ^Ba&el, Verlag von H. Müller, 1895).^^
üiyitizeü by GoOgle
Der gegmwitügc Stand der Arbeitsloeenveniehennig in der Schweis, i^i
verpflichtet, von 2000 Fr. auf 1800 Fr. herabgesetzt, da die höher
entlohnten Arbeiter der Arbeitslosigkeit vvenior ausgesetzt und daher
einer Versicherung kaum bedürftig sind." iJiese Begriuidung ist
nicht richtig. Auch unter den geringer entlohnten Arbeitern giebt
es eine ganze Anzahl, welche der Arbeitslosigkeit wenig ausgesetzt
sind. Diese werden es als eine Ungerechtigkeit betrachten, dals
sie für die unter starker Arbeitslosigkeit leidenden Arbeitsgenossen
aufkommen sollen, während ihre besser entlohnten Kollegen dieser
Pflicht entledigt sein sollten. An Mitteln , sich dieser Pflicht zu
entziehen, fehlt es um so weniger, als die Möglichkeit gegeben ist,
durch die Anrechnung der Gratifikationen einen Lohn von
1800 Fr. und darüber „anzugeben". Bietet die Steuergesetzgebung
und Steuerbelastung nicht ein wirksames Korrektiv, so werden die
.Arbeitgeber aus naheliegenden Gründen gegen diese Mafsregcl zum
mindesten nichts einzuwenden haben. Neben dieser Kinengung des
Versicherungskreises ist die andere, welche den Ausschluls von der
Versicherungspflicht auf die für einen Zeitraum von weniger als
zwei Wochen angestellten Aushilfsarbeiter ausdehnt, kaum der Rede
wert.
Nach den genannten Aenderungen hinsichtlich des Versicherungs-
kreises ist es nicht recht begreiflich, warum die Bedingung für die
Zulassung anderer Versicherungskassen verschärft wurden. Gleich
nach dem Erscheinen des regierungsrätlichen h.ntwurfs machten sich
Stimmen geltend, welche für die Versicherungspflichtigen Befreiung
von der staatlichen Zwangsversicherung verlangten, die einer Kasse
zur Versicherung gegen Arbeitslosigkeit angehören , deren Ver-
sichcrungs-Bedingungen und Leistungen als genügend erachtet
werden können. Der erste Entwurf der Grofsratskommission hat
denn auch eine derartige Bestimmung aufgenommen. Diese ist
nun dahin verschärft worden, dass derartige von der Versicherungs-
pflicht befreiende Institute sich nicht blofe auf den Kanton Basel-
Stadt und die umliegenden Gebiete beschranken dürfen.
Unbekümmert um die durch die Unterscheidung der Ver-
sicherten nach Lohngruppen und Geiahrenklassen herbeigeführte
Kompliziertheit der Buchführung und Rechnungsstellung und um
die Abneigung der Arbeiter vor der Einbeziehung in die oberen
Lohnklassen hat der Entwurf sowohl die Zahl der Risikogruppen
als auch der Lohnklassen noch um eine vermehrt Die Versicherten
sollen in vier Gruppen zerfaülen.
Zur ersten Gruppe gehören die Arbeiter in den der Arbeits-
9«
132
Emil Hofmann,
losigkeit am wenigsten ausgesetzten, dem Fabrikgesetze unterstellten
Betrieben, die nicht zum Baugjcvverbe gehören;
zur zweiten Gruppe die Arbeiter in allen übrigen, dem Fabrik«
gesetz unterstellten Betrieben, die niclit zum Baugewerbe gehören;
zur dritten die Bauarbeiter in den der regelmäisigen Arbeits-
losigkeit am wenigsten ausgesetzten Betrieben;
7ur vierten alle übrigen Bau- und Erdarbeiter, die vorwiegend
auf Arb( it im Freien angewiesen sind und deren Arbeitsbetrieb von
den Witterungsverhältnissen abhängig ist.
Sogar der Entwurf selbst scheint von dieser Klassifizierung
nicht ganz befriedigt zu sein. Wenigstens giebt er zu, dafs die
Unterscheidung der I. von der II. Gruppe schwerer sein werde als
die Unterscheidung der III. von der I\'. Gruppe, indem auf That-
sachen begründete Erfahrungen bis jetzt fehlen. Dasselbe scheint
uns auch daraus hcr\orzugehcn, dafs der Entwurf dem Regierung?-
rate hier das Recht, ir(lcr7('it eine Korrektur vorzunehmen, offen iiäh.
Mit der Ikifügung einer neuen Lohnklasse verhält es sich ganz
ähnlich, (iewifs ist es sehr zu begrüfsen, dafs auf die schlecht
bezahlten Arbeiter Rucksieht genommen und für diese eine erste
Klasse bcp^eliigt wurde, welche diejenigen umfassen soll, deren
Worhcnlohn bis und nüt 12 Vv. beträgt. Allein die ErfahrunL^en
St. ( lallens hätten zum mindesten zeigen können, dals derarti^^e
IiinteiUiiiL; der \'er\\altung der Kasse grolse Mühe und viele Reibe-
reien \ cnn ^arlitf und wcj^en der Ang^t der .Arbeiter vor den höheren
l.ohnklassen auch nach der finanziellen Seite hin lange nicht das
erhoffte Resultat erzielte. ^
Der gleiche (irad geringer Rücksichtnahme auf eine möglichst
glatte und einfache < ieschäftsgebahrung tiiulet sich hinsichtlich tler
Abstufutig der Entschädigungen nach tlem h^amilienstande. Statt
einer Erhöhung der Prämien für die ledi'j^aMi oder die alleinstehenden
.\rbeiter wird an der l)ekannten komplizierten .Abstufung fest-
gehalten und dieselbe noch nach zwei .Seiten hin ei^'änzt. l'nbillig-
keiten \ orzulieu^en, ist die neue Bestimnunig hinzugekonnnen, dals
\ on den X'ersicherten unterhaltene h.ltern und ( iochwister bei der
l'Vst>tellung der l 'nterstulzung der k rau und ilen Kindern gleich-
geachtet Wenk II -llcn. l 'm .Mifsbräuchen zu wehren, sollen nur
dii' in unL^etrenntiin 1 laiisiialtc mit den V^ersicherten lebenden An-
gehöri<.^en in Rechnung gcbra<dit wi-rden.
Die wichtigsten Abänderungen beschlagen die Reduktion der
Pränüon u«id der Ent.schädigungen. Die \\ andlung, die sich hier voU-
uiyiii^cü Uy Google
Der gegenwärtige Stand der Arbeitslosenversicherung in der Schweiz.
zogen hat, spiegelt sich am besten aus einer Gegenöberstellung der
Ansätze der drei Entwürfe.
Nach dem Entwürfe des Regierungsrates sollten die wöchent-
lichen Beiträge der Versicherten betragen :
in IaIuiUmm I II ni
fVr die eiste Gruppe 90 cts. 30 cts. 40 cts.
„ „ tweite „ 40 50 « 60 „
Der erste Entwurf der Grofsratskommission setzte dieselben fol-
genderroaTsen fest:
in Lohnklasse I
n
m
15 cts.
90
cts.
30 „
50
«•
30
45
60
1»
Die weitere Reduktion durch die zweite Vorlage der Grofs-
ratskommission lälst die wöchentlichen Beitrage der Versicherten
betragen:
in Lohnklasse I H lU IV
fltar die erste Gniippe aVt cts. $ cts. 10 cts. 15 cts.
11 if JEweite „ 5 „ 10 „ 15 „ 20 „
n - ''ritt«- »» 10 „ 20 „ 30 „ 40 „
H r. Vierte „ »5-1 25 „ 40 „ 50 M
Schon bei der Diskussion des Kniwurfs von Prof. Adler er-
regte die Höhe der Beiträge den Haujitaiistofs der Arbeiter, welche
darin neben den Zahlungen an die Unfall- und Krankenversichcrungs-
kassen eine allzuschwere Belastung des Arbeiterbudgets erblickten.
Der W'rfasscr des Entwurfs konnte sich der Bedeutung dieses Argu-
ments nicht vcrsciiliefscn und erklärte sich sofort mit einer Reduk-
tion der Beiträge einverstanden, da mit Ausnahme der Prämien der
Bauarbeiter die Beiträge eine Herabsetzung um 10 cts. wöchentlich
ganz gut vertragen, ohne dadurch die Solidität der Ka^e zu ge-
fährden. ' )
Die Skala fiir die tägliche rnterstützung im Falle der Arbeits-
losigkeit zeigt in deji drei I'^iitwurfen folgendes Gesicht.
Der erste Kntwurf gewährte den Versicherten im Falle der
Arbeitslosigkeit täglich je nach dem h amilicnstand :
in der erbten Lohnklasse .... 80 cts. 120 cts. 150 cts.
„ .. /.weiten „ .... 90 „ UO „ 9^^ 140 „
„ „ driuen „ .... 100 „ loo — 150 „ 150—200 „
*) Dr. G. Adler, Die Basier Arbeitslosenversidienmg. Scbweuerische Bl&tter
ftr Wirtachnfts- und SorialpoUtik, m. Jahrgang, L Band, S. 131 f.
L^iyiii^cü Uy Google
134
Emil Hofmann,
Der zweite Entwurf: '
So cts.
I20 -150 CU.
140—170 „
150-200 „
90 — 140
»»
dritten
100
100—150
Der dritte Entwurf:
in der ersten LobnUaste
„ „ zweiten „
„ „ dritten „
„ M vierten „
100
70 cU.
80 „
tl
70— tOO CtB.
80— lao „
90—140 ..
100—150 „
100 — 130 cts.
120—150 „
140—170 „
150—300 „
Das im ersten Entwurf auf 91 1 a^a- angesetzte Maximum der
Unterstützungsdauer war vom Grofsen Rat auf 61 Tage reduziert
worden. Die Kommission war einstimmig der Ansicht, dafs diese
zu kurz bemessen sei und beschlols eine Erhöhung auf 70 Tage
oder 10 Wochen. Der Grund, der sie hierzu veranlafste, war ein-
mal die Thatsache, dafs die Arbeitslosigkeit je nach der Strenge des
Winters bis zu drei Monaten andauern kann und dann die Ueber-
Zeugung, dais die Herabsetzung der gesetzlichen Unterstiitzungs-
dauer im Mittel keinen wesentlichen Einflufs auf die tbatsichliche
Unterstützungsdauer haben könne. Mit Recht bemerkt der Bericht
hierzu: ,,Die thatsächliche mittlere Dauer der Arbeitslosigkeit ist
nicht ])roportional zu der gesetzlichen Unterstützungsdauer; vielmehr
wird ihre Grrenze auch bei einer kürzeren gesetzlichen Unterstütz-
ungsdauer sich nur wenig von derjenigen unterscheiden, welche
einer längeren entsprechen würde. Es ist nur eine verhältnismafsig
geringe Zahl von Arbeitern, welche bei der längeren Dauer der
gesetzlichen Unterstützung diese iiir die ganze Zeit beanspruchen
muls. Endlich ist zu bemerken, dafs trotz der Unterstützung, welche
die Versicherung gewährt, bei lang andauernder Arbeitslosigkeit ein
Notstand in der Familie des Arbeiters eintreten kann, und dals dann
eine Unterstützung erst recht angezeigt ist."
Den Arbeitslosen ihre Bezüge zu sichern, ist aus den Entwürfen
der eidgenössischen Kranken« und Uniallversicherung eine Bestimmung
angenommen worden, welche die Pfändung, die Beschlagnahme,
oder die vor der Zahlung rechtsgültige Abtretung der Unterstützungen
der Versicherungsanstalt verunmöglichen soll. Der Beginn der
Unterstützungsberechtigung wird auf den vierten und nicht erst, wie
im ursprünglichen Entwurf vorgesehen war, auf den 6. Tag fest*
gesetzt, nachdem der Versicherte seine Arbeitslosigkeit bei der Ver-
sicherungsanstalt angemeldet hat Ebenso wurde den Versicherten
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Der gegenwärtige Stand der Arbciü>loäcnvcrsicberung in der Schweiz. i
auch noch in anderer Weise entgegengekommen. Bei der Leistung
eines schweizerischen Militärdienstes durch den Versicherten haben
dessen Angehörige, soweit er seinen Arbeitslohn verliert, den An-
spruch auf Unterstützung. Leider fehlt eine Marc Bestimmung, welche
die Versicherten liir die Zeit des Militärdienstes von der Entrichtung
der Beiträge befireit Diese Befreiung ist aber wohl in dem Para-
graphen enthalten, welcher die Versicherte von der Bezahlung der
Beiträge während der Zeit der Arbeitslosigkeit enthebt
Femer sollen die Mitglieder, welche wegen UnCaills oder Krank-
heit von der Beitragspflicht befreit sind, ihre vollen Ansprüche be-
halten, die sie zu jenem Zeitpunkt inne hatten, wo sie die Zahlung
von Beitragen einstellten. Die unbillige Bestimmung der früheren
Entwürfe, wonach ein Mitglied, das wegen Krankheit oder Un&ll
seine Beiträge während 20 oder mehr Wochen nicht bezahlt hat,
erst nach 26 Beitragswochen seine vollen Rechte wieder gewinnen
sollte, ist mit Recht gestrichen worden.
Unter den Abänderungen mehr nebensächlicher Natur erwähnen
wir neben der Ersetzung des Wortes Prämie durch Beitrag die Um-
gestaltung des Namens der Anstalt in Versicherungsanstalt für
Arbeitslose, woiiir die Meinungsäulserung einer auch in Basel an-
erkannten Autorität der deutschen Sprachwissenschaft, des Herrn
Prof. Dr. M. Heyne in Gottingen, extra eingeholt wurde. Hierher
gehört ferner die Bestimmung, da(s der Verwalter keinen Neben-
beruf treiben dürfe und da(s die Mitglieder der Kommission der
Versk:herungsan8talt iUr Arbeitslose nicht nur in Basel wohnende
Schweizer Bürger sein, sondern auch in bürgerlichen Rechten und
Ehren stehen müssen.
Schlielslich wurde die Bestimmung, welche den Regierungsrat
nach dreijährigem Bestände der Versicherungsanstalt die Frage der
Erweiterung des Versicherungskreises prüfen hiels, dahin abgeändert,
dals diese Behörde nach dieser Frist verpflichtet wurde, dem Grolsen
Rate zu berichten, ob eine Revision des Gesetzes vorzunehmen seL
Selbstverständlich hat sich mit diesen Entwürfen der Finanz-
ausweis jeweib verändert. Das Gutachten von Prof Adler rechnet .
mit einer Arbeitslosenunterstützungssumme von 155 100 Fr., einer
Beitragsleistung der Arbeitgeber und Arbeiter von 184200 Fr. und
einem Staatszuschuls von 25000 Fr. ausschlielslich der Verwaltungs-
kosten, so dals zur Anhäufung eines Reservefonds jährlich rund
48000 Fr. übrig blieben. Der erste Entwurf der Grolsratskommission
berechnet die Beiträge der Arbeiter und Arbeitgeber auf 259201 Fr.,
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136
Emil Hofmann,
die Unterstätzungssumme auf 3/3359 Fr. Dieses Defizit wird durch
den Staatsbeitrag von 25000 Fr. in einen jährlichen Ueberscbuls
von rund 12000 Fr. verwandelt
Der letzte Entwurf hat sich, wie bereits erwähnt wurde, ein-
läislicher mit den Arbeitern befafst, welche ^ch weniger als ein Jahr
in Basel aufhaken und somit blofs beitragspflichtig und nicht be-
zugsberechtigt sind. Zu diesem Zwecke Uels das Folizeidepartement
ein Verzeichnis derjenigen Arbeiter der verschiedenen in Betracht
kommenden Gewerbe anfertigen, welche im Jahre 1896 in Basel
Aufenthalt nahmen und im nämlichen Jahre wieder abreisten. An
der Hand dieses Verzeichnisses wurden drei dem Gesetzesentwurf
als Beilagen angefügte Tabellen ausgearbeitet, welche die Zahl dieser
Arbeiter nach den einzelnen Monaten ihrer Zu- und Wegwanderung
sowie nach ihrer Aufenthaltsdauer in Monaten darstellen. Danach,
kämen für die Versicherungskasse 1322 Arbeiter in Betracht mit
einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 21,9 Wochen. Der
Gewinn der Kasse an diesen „nichtständigen" Arbeitern beliefe sich
im Jahr auf 13 853 Fr., woran die Arbeiter mit 8919 Fr. und die
Arbeitgeber mit 4934 Fr. beteiligt wären. Diese Belastung der in
Frage kommenden Arbeiterkategorie mag vom Standpunkte der.
Steuerpolitik aus gerechtfertigt erscheinen, weil dieselbe darin ein
Mittel siebt, die Fremden, wenn auch nur indirekt, zur Besteuerung
heranzuziehen. Für die Versicherung aber dürfte dieser finanzielle
Gewinn mit schweren Opfern erkauft werden müssen. IVof. Adler
wufste ganz gut, warum er in seinem Entwürfe den ehemaligen
Mi^liedern die Nutzniefsung ihrer Leistungen an die Kasse möglichst
zu wahren suchte. Deshalb ist er auch mit dem Zürcher Entwürfe,
der hier noch einen Schritt weiter geht, völlig einverstanden. Der-
selbe bestimmt: Wer in einer anderen schweizerischen Gemeinde
Mitglied einer .Arbeitslosenversicherung war und seine Beiträge da-
selbst ein halbes Jahr lang geleistet hat, wird schon nach 13-
wöchentlicher Mitgliedschaft in Zürich bezugsberechtigt. Die Basler
riKifsratskommission hat beim 1-allenlassen dieses Grundsatzes wohl
nicht an die dadurch mit fier Notwendigkeit eines Naturgesetzes
eintretende Abneigung der [getroffenen Arbeiter gegen die Arbeits-
losenversicherung gedacht. Bei den „ständigen Arbeitern" gestaltet
sich natui^emäfs das Rechnungsergebnis ganz anders. Die Prämien
von 10000 Versicherten sollen 82875 Fr. betragen und die Bei-
träge der Arbeitgeber 61 200 Fr. Hiervon waren 4615 Fr. für nicht-
bezahlte Beiträge der Arbeitslosen und 2950 Fr. für nichtbezahlte
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Der gegenwärtige SUnd der Arbeitslosenversicherung in der Schweiz. i
Bdtiige der Arbeitgeber wahrend der Zeit der Arbeitslosigkeit ia
Abzug zu bringen. I>ie Gresamteinnahme beziffert sich somit auf
150363 Fr., was bd einer Arbeitslosenentschädigung von 163 580 Fr.
einen Ausgabenüberschuis von 13 2 17 Fr. ergiebt, welcher durch
dm von 25000 auf 50000 Fr. erhöhten Staatsbeitrag ausgeglichen
werden solL
Die Annahme dieses Beitrages stellt die Leistungen des Staats
mit der Bestreitung der Ausgaben für die Verwaltung auf ungefähr
43000 Fr. oder 27 der gesamten Ausgabe. Diese Normierung
des Jahresbeitrags des Staats entspricht einer Leistung von nicht
ganz 3 Fr. per Versicherten. An sich betrachtet mag dieser Bei-
trag fiir die durchschnittlichen Ansprüche genügen. Allein wenn
die mit 22% angesetzte Arbeitslosenziffer höher und die in Rech-
nung gesetzte durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit länger
werden sollte, könnte die Kasse schweren Erschütterungen entgegen-
gehen. Ebenso könnte unter Umständen die Zahl der Versicherten
gröfser werden, als man voraussah, weshalb die Festsetzung eines
Minimalbeitrags des Staates iur den einzelnen Versicherten ent-
schieden den Vorzug verdient.
Erst auf diese Weise kann die Leistung des Staates in ein rich-
tiges Verhältnis zu dem Aufwand der Versicherten gebracht werden.
Die Versicherungsanstalt kann mit einer den wechselnden An-
sprüchen angepafsten Einnahme rechnen, während die nie arbeits-
los werdenden Zwangsversicherten wenigstens den Trost haben, dafe
die auCserhalb des Versichcrungskreises Stehenden auf dem Steuer-
weg ein allerdings sehr kleines Opfer für dieses Institut zu bringen
haben.
Das Schicksal dieses Entwürfe ist zur Stunde nicht bestimmt
vorauszusagen. Doch darf schon jetzt behauptet werden, dals dem-
selben ein besonders glücklicher Stern leuchten müfste, wenn er
ohne schwere Erschütterungen sich in die Praxis einleben würde.
Könnte man nicht nach den bisherigen Leistungen von Baselstadt
auf dem Gebiete der Sozialpolitik auf eine kluge und loyale, allen
Verhältnissen möglichst Rechnung tragende Ausfuhrung des Ent-
würfe hoffen, so wäre selbst vom Standpunkte des Freundes und
Befürworters der Arbeitslosenversicherung die Verwerfung desselben
nicht allzusehr zu bedauern. Die auffällige Hintansetzung der Ar-
beitsvermittelung und ArbeitsbeschafTung, welche sich auch in diesem
Entwürfe zeigt, erscheint uns nämlich als ein schwerer Mangel
Wir können uns hierüber nicht hinwegtrösten mit der Ansicht
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138
Emil Hofmann,
Adlers,') der glaubt, die ArbeitsIosenverMcherung würde sich auch
ohne ein S3^eni öffentlicher Arbeiten bewähren. Gerade weil „die
Direktion öffentlicher Arbeiten, die mit einem Personal Arbeitsloser
vollfiihrt werden sollen, ein ganz besonderes Mals von Umsicht er-
fordert," ist es dringend nötig, dals die Behörden diese schwere
Au%abe von vornherein und ohne weiteres in ihrem ganzen Um-
iange ins Auge iassen. Geschieht dies, nicht, so entsteht zum
gröisten Schaden der Versicherungskasse nur allzu leicht die An-
sicht, dals mit der Subventionierung der Versicherungskasse die
Pflicht der öffentlichen Körper gegen die Arbeitslosen erschöpft sei.
Die Verwerfung dieses Entwurfs würde blofs eine Verzögerung be-
deuten; denn die selbst in dem milden Winter 1898/99 in einer
ganzen Anzahl von schweizerischen Städten sich bemerkbar machende
starke Arbeitslosigkeit, sowie die gegenwärtige Betriebsweise der
Seiden&brikation in Basel, welche eine zeitweilige Arbeitslosigkeit
des darin beschäftigten Personals nicht vermeiden lälst, Werden die
Frage der Arbeitslosenversicherung nicht mehr zur Ruhe kommen
lassen.
' Zeitcdirift für Venidierai^irecht und -Wissentcbaft V, 3—3, S. »34.
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GESETZGEBUNG.
OBOT8CHB8 RBICIL
Zur Revision des deutschen Gewerbegeiichtsgesetzes.
Von
M. VON SCHULZ,
Gewerb«richter und VorsiUendem des Gewerbegerichts Berlin.
Die Gewerbegerichte sind seit ihrem Bestehen bis heute
häufigen Angriffen ausgesetzt, welche in der Mehrzahl objektiv
Oberhaupt nicht und in subjektiver Beziehung unzutreffend oder
mindestens unzulänglich begründet sind. Der Kampf wird vorzugs-
weise in der Tagespresse gelÜhrt Es ist erkläriich, dafs die
Zeitungen je nach ihrem Pärteistandpunkte über den Wert oder
Unwert der Gewerbegerichte sich äulsern, so da(s man aus ihnen
ein völlig wahrheitsgetreues Bild von der That^keit dieser Gewerbc-
gerichte und von den etwaigen Mängeln des Gewerbegerichtsgesetzes
sich nicht verschaffen kann.
Der Augenblick zur vorurteilslosen Beschäftigung mit dem
teilweis angefeindeten Gesetze und mit den ihm nachgesagten
Fehlem ist günstig, da zur Zeit Verhandlungen im Reichstage über
die Revision des Gewerbegerichtsgesetzes stattlinden. Wir sind ge«
willt, hier die aus den Licht- und Schattenseiten des bestehenden
Gewerbegerichtsgesetzes gesammelten, mehr denn sechsjährigen Er-
fahrungen des Berliner Gewerb^erichts, und die aus diesen resul-
tierenden Vorschläge zur Ausbesserung und Aenderung des Gesetzes
zu verwerten, ohne uns indessen anheischig zu machen, eine er-
schöpfende Darstellung aller Reformpunkte zu geben.
Den AnlaGs zu den Reichstagsdebatten gab der Antrag der
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I40
Gesetzgebung: Detttachec Rdch.
Sozialdemokraten Agster und Genossen und der Antrag der Zentrums-
Abgeordneten Trimbom und Dr. Hitze.^)
In den Reichstagssitzungen vom i8. und 25. Januar 1899 wurden
diese Antrage verhandelt — Es wurde beschlossen, die Nr. 5$ und
die Nr. 85 Ziffer l (Forderung auf Vorlage eines Gesetzentwürfe
betr. kaufmännischer Schiedsgerichte) anzunehmen und den Zentrums-
antrag (Nr. 85 Ziffer 2) allein einer Kommission von 14 Mitgliedern
zur weiteren Beratung zu überweisen. Es liegen bereits die Beschlüsse
') DicMr Antrag will, d«fi
1. die Eniehtniig von Geweibegerichten obligatorisch gemsiAi und denn
ZtMtindigk< it auf die Entscheidung von Streitigkeiten aasgedrhnt wird,
die aus doni Lohn-, ArV)eit>- und Dienstverhältnis aller im Gewerbe und
Bergbau, in der Land- und Forstwirtsrhiilt und Fischerei, im Handel und
Verkehr oder als Gesinde bcsrhältij^ten Personen entstehen :
2. die i'cilnahmo an den Wahlen und die Berufung zu Mitgliedern eines
GeweriMgerichts anf die in den genannten Berufen beschäftigten weiblichen
Personen auagedehnt wird;
3. die Verleihung des Wahlrechts und der Wihlbarkeit auf das volleodete
30. Lebensjahr herabgesetzt wird. (Nr. 36 der Drudsachen des Reichs-
tages.)
Zu diesem Antrage ging darauf ein Antrag der Herren Abgeordneten Trim«
born und Hitze ein. Derselbe enthält die Forderung:
Der Reichstag wolle - unter .\hl.-imung des Antrages Agster — beschliefsen :
die Verbündeten Ke^ierunj^en zu ersuchen
dem ktichstage thunlichst bald einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach
snr Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Prinzipalen einerseits und
Handlungsgehilfen und Lehrlingen andrerseits kaafinianische Schicda-
geridite erriditet werden;
3. dem Reichstage eine Novelle zn dem Gesetz betreffend die Gewerbegerichtey
vorzulegen, zu dem Zwecke:
a) eine geordnete Aufstellnng der Wahlerlisten wirksanmr zn sichern:
b) die Errichtung von Gewerbegerichten obligatorisch zu machen, soweit
nicht die Landesr^ierung wegen mangelnden Bedürfnisses Ausnahmen
gestattet ; .
C) die Kompetenz der ( iewcrbe^erii hte als [üiiigunpsämter dahin zu er-
weitern, dals dieselben auch ohne Anrufen der streitenden Parteien für
die Beilegung der Streitigkeiten wiilcen ktoncn. (Nr. 85 der Druck-
sachen des Reidistages.)
Beide AntrSge sowohl wie der Antrag Bassermann anf Nr. 55 der Dmdc-
sachen, welcher sich mit Nr. 1 de« Antrags Trimbom deckt, standen in den Sitzongen
des Reichstages vom la. und 18. Januar d. J, zur Diskussion. (Siehe auch „Ge*
werbegeridit" vom 2. Februar d. J., Nr. 5 Sp. 56.)
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M. von Scbuls, Zur Revision des dentachcn Gcwerb^eriditsgeteUe*. i^i
der Kommission in erster und zweiter Lesung und der Bericht der-
sdben vor. Man hielt es für zweckmaisiger, dem Plenum nicht, wie
es in dem der Kommission über^viesenen Antrage geschieht, eine
Resolution, sondern einen vollständigen Gesetzentwurf zur Beschlufs-
fassung zu unterbreiten. Dieser Entwurf eines Gesetzes betrefTend
Abänderung des Gesetzes vom 29. Juli 1S90 über die Gewerbe-
gerichtc besteht aus vier Artikeln ') und brachte nach erster Lesung
die Bestimmiincren, welche von der Zentrumsfraktion beantragt sind,
in zum Teil verbesserter Form, aufserdem aber noch auf \'er-
anlassung der sozialdemokratischen Mitglieder der Kommission im
Artikel II folgende Vorschriften:
„Dem § 3 Ziffer 3 hinzufügen
„und der Beiträge für die Invaliditäts und Altersversicherung
96 des Gesetzes betreffend die Invaliditäts- und Alters-
versicherung vom 22. Juni 1889)"
„dem § 3 folgende neue Bestimmung hinzuzufügen
»über Entschädigungsansprüche aus gesetzwidrigen Ein-
tragungen in Arbeitsbücher, Zeugnisse, Krankenkassenbücher
und Quittungskarten der Invaliditäts- und Altersversicherungs-
Anstalten, sowie wegen widerrechtlicher Vorenthaltung dieser
Papiere."
Wir werden in einem ersten Abschnitte die Bestimmungen
des Gesetzentwurfes besonders unter Bezugnahme auf die Praxis
des Berliner Gewerbegerichtes betrachten, um alsdann in einem
zweiten Abschnitte über die notwendig gewordonf^n Abänderungen
und Ergänzungen des Gewerbegerichtsgesetzes, welche in dem Ent-
wurf nicht berücksichtigt sind, jedoch nach den von uns gemachten
Beobachtungen einer solchen Berücksichtigung wert erscheinen,
Bericht zu erstatten.
I.
Artikel I des Entwürfe der Novelle zum Gewerbegerichtsgesetz
bezweckt, § i dieses Gesetzes durch folgende Vorschrift zu er-
gänzen:
In Gemeinden mit mehr als 20000 Einwohnern mufs die
Errichtung eines Gewerbegerichts von der Landes-Zentral-
Nr. a86, Reichstag, 10. Lcgislatarperiode, 1, Session 1898 gq, Bericht der
VU. Kümmisston über den Antrag der Abgeordneten Trimbom und Dr. Hit7.c, bftr.
die Gewerbegeridite. (Siebe hierzn Sozial« PimzU vom 16. März d. J. Nr. 24 Sp. 661.)
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142
Gcsetsgebang: Deutsches Reich.
behörde auf Antrag beteiligter Arbeitgeber oder Arbeiter
angeordnet werden.
Es scheint erforderlich, derartig einen Druck auf die ^rolseren
Städte auszuüben. Nach der Mitteikni^^ von Jastrow ' ) muls man
zu dem Verdachte kommen, dals manchen Orts „eine .\n prinzipieller
Gegenströmung gCj^^en das Reichsgesetz" besteht. Derselbe Schrift-
steller hebt mit Recht hervor: „Wenn eine Stadt von mehr als
200CX) Kiiiwohnern kein (iewerbegericht erhält, so ist die Ver-
n^utung begründet, dafs es ihr durch eine ungerechtfertigte Ab-
neigung der in der Kommunalverwaltung malsgebcnden Kreise
vorenthalten wird." -) F!in eigentümliches Beispiel, wie Kommunal-
belu')rden über ( rewerbegerichte denken, giebt B., eine Stadt von
freilich nur ca. i i ooo Kinwohnern. Knde 1898 hatte das B.'er (ie-
Werkschaftskartell den Magi.strat zu B. um Errichtung eines Gewerbe-
gerichts ersucht. In dem Antwortschreiben dieser Behörde vom
25. Januar d. J. wird tlarauf erklärt, dafs die gehörten Arbeit-
geber einstimmig ein Urteil dahin abgegeben hätten, dafs ,,die
Errichtung eines solchen Gerichts für alle in unserer Stadt vor-
handenen Gewerbebetriebe, wie Petenten beantragen, als e i n U n d i n g
abzulehnen sei. Magistrat muls nach eingehender Prüfung aller Ver-
hältnisse dem Urteile sich anschliefscn . . .'* ') Es wird hierzu auf
den Bericht der Kommission hingewiesen. Nach demselben
wurde während der Beratungen ausgeführt , dafs in vielen Ge-
meinden und Bezirken Elemente herrschten, denen die Gewerbe-
gerichte unter anderem schon deshalb unsympathisch seien,
weil sie auf dem Grundgedanken der sozialen Gleich-
berechtigung zwischen Arbeitgeber und Arbeiter
ruhte n.*)
Bei dieser .Sachlage ist es als ein glücklicher Gezetzesvorschlag
zu begrülsen, dals unter gewissen Umständen die Schaffung von
Gewerbegerichten erzwungen werden kann. Es bleibt nur zu hotifen,
dafs dieser Gedanke auch Gesetz werde.
') Die Erfahrungen in den denttcben Gewerbegerichten in den Jahrbttdier flir
Nationalökonomie und Statistik — dritte Folge Bd. XIV (LXIX) S. 335.*
*) J a s t r o w , a. a. O. S. 333. Vgl. auch die AusfUinuigen des Abgeordneten
Zubeil in drr Keir)i<:taf;ssitzung vom 18. Januar d. J. S. 265 und 266 und die Ans*
AOmiDgen des Abpcfjrdnctcn Trimborn in dcrsolben Sitzung S. 269 (A).
•) .^^ozialc Praxi> Nr. 21 vom 23. Februar 1899 .S. 57^ und 574.
*) Siehe auch die Ausführungen des Abgeordneten Trimborn in der Reichs«
tags&itzuDg vom 18. Jtuiuar d. J. S. 269 (A) und den Bericht der VII. Kommission S. 6.
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H. von Scbnix, ZurRevisioo der deutschca Gcwerb^ericbttcesetscs. 143
Xach Artikel II Satz I (erste Lesung des Entwurfes) sollte dem
§ 3 Ziffer 3 ein Zusatz gemacht werden, nach welchem fürderhin
das Gewerbegericht auch über die Berecbnung und Anrechnung
der Beitrage für die Invaliditäts- und Altersversicherung {§ 96 des
Gesetzes betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom
22. Juni 18S0 zuständig sein soll. Man käme hierdurch den
Wünschen der Arbeitnehmer sicher entgegen. Von uns mufsten
bisher viele Arbeitnehmer, welche Beschwerden über die Berechnung
der Beiträge hatten, abgewiesen werden. Es ist dies um so un-
angenehmer, Weil die Differenzen wegen solcher Beiträge häufig mit
anderen Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnisse, für die das Ge-
vtrerbegericht zuständig ist, zusammentreffen, so dafs die Anrufung
zweier verschiedener Gerichte erforderlich wird. Alsdann würde
femer durch die neue Bestimmung den Beteiligten die Befugnis ab-
geschnitten, da es sich stets um ein Objekt von unter lOO Mk.
handeln wird, noch eine höhere Instanz, wie bisher, zu beschreiten,
(§§ 122. 124 des Gesetzes betreffend die Invaliditäts- und Alters-
versicherung.) Bedauerlicherweise ist der Beschluß erster Lesung
aufgehoben, weil inzwischen die Kommission zur Beratung der
Novelle zum Invalidenversicherungsgesetze einen Antrag, welcher
för die dem Gewerbegericht unterstehenden Personen die Entschei-
dung der Beitragsstreitigkeiten dem Gewerbegericht überweisen
wollte, abgelehnt hat. ')
Wir kommen nunmehr zur Erörterung des Inhaltes des Artikel II
(Satz 2 des Entwurfes erster Lesung).-) Hier hat man zu unter-
scheiden, einerseits E n t sch ä d i u n gs a n s p r ü c h c iiifol^^^e der
durch den Arbeitgeber verzögerten Aushändigung d e s Zeugnisses
und des .Arbeitsbuches und der gesetzwidrigen Eintragungen iu
das Zeugnis oder in d a s Arbeitsbuch fi; 3 Xr. i des (ic werbe -
gerichtsgesetzes', andererseits Entschädigungsansprüche aus
gesetzwidrigen Eintragungen in die sonstigen „Papiere" des Arbeiters
und wegen widerrechtlicher Vorenthaltung dieser Papiere. Wir
Ljlaubcn uns berechtigt, den liier in Betracht kommenden Gesetzes-
vorschlag derartig zu zerlegen, zumal bei der X'erhandlung über die
Vorschrift auf die Ausführungen des \'erwaltungs!ierirhts des Berliner
Gewerbegerichts 189697 unwidersprochen autmcik>am gemacht ist.
Es heilst nämlich dort: Nach der Fassung des bestehenden Gesetzes
I Bericht der VII. Kommission S. 13.
') Siebe Einleitung dieses Aufsatzes a. E.
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144
Gctetsgeboag: Dentschcs Rdch,
(§ 3 Abs. I \r. 1 u. 2) muls es zweifelhaft erscheinen, ob Ent-
schädigungsansprüche, die aus Verweigerung oder Ver-
zögerung der Ausliändigung des Arbeitsbuches oder Zeugnisses
oder aus dem Inhalt desselben hergeleitet werden, zur Zuständigkeit
des Gewerbegerichts gehören u. s. w. Später ist die Ansicht alls^^emein
beim Berliner Gewerbegericht zur Geltung gelanf^t. dafs wegen der ge-
nannten Ansj)nichc das Gewerbegericlu unbedingt sicli tut unzuständig
zu erklären hat. Es soll dies nunmelir von uns begründet werden:
Unter „Zeugnis" des § 3 \r. i a. a. O. ist nur das im i? II3
und s? 127 c Reichsgewerl)eordnung behandelte, welches der Arbeiter
rcsp. Lehrling beim Ausscheiden aus dem Arbeits- resp. Lehr\-erhäknis
verlangen kann, unter „Arbeitsbuch" desselben l'aragraphen lediglich
das in den i;t? 107 — 112 a. a. O. für minderjährige Personen be-
stimmte zu verstehen.
Es ist die l'iage, ob die .Aushändigung und die Eintragung in
das Arbeitsbuch oder in das Zcui^tiis ..Leistungen aus dem Arbeits-
verhähnissc ' sind. Zunächst haben wu* festzustellen, was ein Arbeits-
verhältnis ist.
Schon nach dem Inhalt des § 105 R.G.(^. (verba: Fest-
setzung derX'erhältnisse — Gegenstand freier eber-
cinkunft) wird das Arbeits\ erhällnis allein durch den Arbeits-
vertrag hervorgerufen und durch die Abmachungen in demselben
dem Umfange nach festgestellt. Das Arbeitsverhältnis ist somit die
Art und Weise des durch den Arbeitsvertrag geregelten thatsäch-
liclien Wrhaltens des Arbeitgebers und Arbeitnehmers zu einander
während der Dauer dieses Vertrages.')
Es soll hier gleich l)emerkt werden, dafs, wenn der Arbeitgeber
den geschlossenen Arbeitsvertrag \oi^ Anfan;^ an ohne Grund zu
erfüllen sich weigert und auf den Arbeitsantritt ausdrücklich ver-
zichtet, der Arbeitnehmer wohl in der Lage ist, wegen entgangenen
Lohnes eine Schadensforderung zu erstreiten, die Ausstellung eines
Zeugnisses dagegen trotz vorhandenen durch den Arbeitsvertrag
erzeugten Arbeitsverhältnisses nicht durchsetzen kann. Da eine
Beschäftigung überhaupt nicht stattgefunden hat, so ist es eben dem
Arbeitgeber unmöglich, über Art und Dauer der Beschäftigung ein
Attest zu geben. Aehnliches trifil auf das Arbeitsbuch zu.
Man kann deswegen nur sagen, da(s der Anspruch auf das
Arbeitszeugnis oder auf die Eintragung in das Arbeitsbuch ein auf
*) M. V. Schulz in der SoriAltn Pnutis vom 30. Min 1899 Nr. «6 Sp. 716a. A.
uiyiii^cü Uy Google
M. von Scbnlt, Zur Revision des deatsehen GewerbegeriditsceselMS.
den Leistungen des Arbeitnehmers beruhendes, vom Arbeitsvertrage
gesondertes gesetzliches Recht ist. Wir werden dies weiter unten
noch des Näheren ausführen. Ihrer Natur nach entsteht ferner die
Pflicht lur Ausstellung des Zeugnisses etc. überhaupt nach Be-
endigung des Arbeitsverhältnisses. Es handelt sich also bei der
Entschädigungsforderung w ep^en verzögerter oder verweigerter Aus-
händigung der genannten Arbeiterpapiere um einen Ausgleich eines
erst nach dem Zeitpunkte der Auflösung des Vertrages erwachsenen
Schadens. Dieser kann demnach als ein während des Arbeits-
%'erhältnis<cs entstandener nicht erachtet werden. ')
Ueberdies erhellt aus der Entstehungsgeschichte des § 3 Ge-
^\•erbegerichtsgesetzes, dafs das Arbeitsverhältnis auch dort streng
durch die X'orschriften des Arbeitsvertrages abgegrenzt wird. Die
Folge ist, da& als „Leistungen aus dem Arbeitsverhältnis" nur solche
geschuldet werden, welche die Parteien während des Bestehens des
Vertrages unmittelbar aus di^m zu verlangen befugt sind.
Die Preufsische Gewerbeordnung vom 17. Januar 1S45 zunächst
enthält im § 137 folgenden Satz:
„Streitigkeiten der selbständigen Gewerbetreibenden mit
ihren Gesellen, Gehilfen oder Lehrlingen, die sich auf den
Antritt, die Fortsetzung oder Aufhebung des Arbeits- oder
Lehr\'erhältnisses oder auf die gegenseitigen Leistungen
während der Dauer desselben beziehen, sind, soweit
fiir diese Angelegenheiten besondere Behörden bestehen,
bei diesen zur Entscheidung zu bringen."
Diese Worte des § 137 a. a. O. kehren in der Gewerbeordnung
von 1869 108) wieder. Eingefugt sind nur hinter den Worten:
„während der Dauer desselben" die VV^orte „oder auf die
Erteilung^) oder den Inhalt der in den §§113 und 124 cr\vähnten
2Ieugnissc". Die Notwendigkeit des Zusatzes wurde im Reichstage
vom 23. April 1869 damit begründet, dafs „unter den Gegenständen,
welche im ersten Absätze des § in (§ 108) Gewerbeordnung auf-
gezählt werden als zur Zuständigkeit der besonderen Behörde ge-
hörig sich ein Gegenstand des Streites nicht mit aufgeführt finden,
der gar nicht selten vorkomme: das sei nämlich der Streit,
der entstehe, wenn ein Zeugnis ausgestellt werden solle
' Unger, Entscheidungen des Gewerbegerichts m Berlin Nr. 201 S. 233.
^ Otto, Die Streitigkeiten der selbsttodigen Gewerbetr«ibeiideii mit ihm
Arbeitern, S. 33 (ErteUnng — Aushändigung),
Archiv Tür Mt. G«9eUg«b«iBg u. Statistik. XIV. lO
uiyiiizied by Google
146
Getet^bung: Dentache» Rdch.
und dieses verweigert werde oder dieses Zeugnis angeblich
nicht richtig ausgestellt sei. Ks seien dies die allerwidcrwärtigsten
Streitigkeiten, die sich oft jahrelang hinziehen, so dafs die Par-
teien daran schliefslich gar kein Interesse mehr haben und
nur noch der Prozefskosten willen prozessieren". ' ) Es war daher
augenscheinlich die einzige Absicht, derartige Prozesse einem schleu-
nigeren Verfahren zu überantworten. Hiernach ist durchau> klar,
dafs im § III nicht etwa solche Zeugnisse gemeint sind, die der
Arbeiter über frühere Arbeitsverhältnisse besafs und dem Arbcit-
geljer zum Nachweise über seine Befähigung übergeben hal. -| Im
übrigen ist durch die nutuiiehrigc Fassung des Paragraphen dar-
gethan, dals die Aushänchgung des Zeugnisses etc. und der Lnl-
schädigungsansj)iiich we^^en X'erzögerung derselben nicht xu den
„Leistungen und Ktitschädigungsansprüchen aus dem .Arbeitsver-
hältnis" i^ehört. Wäre dieses der b'all, so wäre es überflüssig ge-
wesen, noch besonders in diesem Paragrapiien eine dieser Leistungen
„die Aushändigung odei den Inhalt des Arbeitsbuches oder des
Zeugnisses etc." zu erwähnen.
Nach der ( lewerbeordnung von 1869 erschien der Entu iuf der
Novelle vom 17. Juli 1878 und zugleich ein Entwurf eines (le-
setzes, betreffend die ( iewcrhcgerichtc, weicher den § 108 a. a. O.
beseitigen sollte. Da letzterer Ktitwurf nicht zur .-\nnahme j^elangte,
mulste 108 wieder in die (.Gewerbeordnung hineingebracht werden.
Er hat als § I20a geringe retlaktionelle Aenderungen erfahren. Hier
ist nur anzuführen, dafs an die Stelle der Worte: „auf die gegen-
seitigen Leistungen während der Dauer desselben"
die Worte: „auf die gegenseitigen Leistungen aus demselben" ge-
setzt sind. Als Berichterstatter der Küiiinüssion erklärte der Ab-
geordnete Rickert bezüglich der erwähnten Aenderung — ohne
Widerspruch von anderer Seite — , dafs die Kommission vorschlage
zu sagen: „auf die gegenseitigen Leistungen aus demselben", weil
dieser Au.sdruck korrekter sei und weil sich aus der Praxis ergeben
habe, dafs die W'orte : „während der Dauer desselben" zu
mifsverständlichen Auslegungen .A^nlafs gegeben haben. Der Ab-
geordnete konstatierte hinsichtlich des i; I20a wörtlich: „Er enthält
genau die Bestimmung, welche der § 108 der Gewerbeordnung
') Reichstagssitzung vom 2 \. April 1869 S. 550.
') Unger a. a. O. Nr. 19S S. 231 und Nr. 203 S. 235.
*) in der 53. Sitzung des deutschen Reichstages vom 21. Mai 1S78.
M. von Schulz, Zar Revision des deutseben Gewerbegericbtsgesetses. i^j
zum Inliali iiat, so dals also die t^ewerblichen Scliicclsj:^erichle nach
wie \' o r u n l e r d e n> c \ 1) e ii B e d i n g u n c ii wie b i s Ii e r f u r t -
bestehen werden." Das Reichsgericht M hat dem hiii/.ugefügt,
6d[> die Abänderung Icdighch erfolgt sei, weil in der I'raxis die \ oni
Abgeordneten Rickert beanstandeten Worte insoiern zu mirsverständ-
lichen Auslegungen geführt hatten, als bezAveifelt worden war, ob
ruckständige nach Ausscheiden des Arbeiters aus dem Arbeits-
verhältnisse erhobene Ansprüche der Bestimmung des § io8 .(i20a)
unterliegen.
Der § I20a a. a. O. ist durch § 78 des Gesetzes über die Ge-
werbegerichte aufgehoben. Das Gewerbegerichtsgesetz hat in seinem
§ 3 Ziffer 2 anstatt der Worte: „gegenseitig^en Leistungen" die
Worte: »J^eistungen und Entschädigungsansprüche" aus
dem Arbeitsverhältnis aufgeführt und die Entscheidung darüber den
Gewerbegerichten übertragen. In den Motiven zum § 3 des Ge-
werbegerichtsgesetzes heifst es: Die Bezeichnungen der Streitig-
keiten, auf welche die Zuständigkeit des Gewerbegerichts sich er-
streckt, entsprechen im wesentlichen der Bestimmung in § 120a
der Gew.Ordn. Nur ist die Zuständigkeit insofern bestimmter
benachnet, als ausdrücklich auch alle Ansprüche auf Ent-
schädigung einschlielslich derjenigen, welche erst mit dem Zett-
punkte der Entlassung oder des Austritts des Arbeiters entstehen,
vor die Gewerbegericbte gewiesen werden.*)
Man ist auch während der Kommissionsberatungen zum 3
a. a. O. davon ausgegangen, dals die „Leistungen und Entschädigungs-
ansprüche aus dem Arbeitsverhaltnisse'' in dem Arbeitsvertrage
ihren Grund haben. Damals wurde nämlich zum § 3 beantragt,
dem Absatz i desselben am Schluls die Worte: „insofern sie
sich aus dem Arbeitsvertrage oder aus dem Arbeits-
verhältnisse ergeben" hinzuzusetzen. Es wurde zugestanden,
dals diese Fassung die grundsätzlich richtigere sei Doch wurde er-
wogen, da(s ein solcher allgemeiner Satz in der Praxis ungelehrter
Richter zu grofsen Unzuträglichkeiten (Uhren müsse, dais es darum
praktischer sei, eine Aufeählung eintreten zu lassen, wie die Vor-
lage thue, umsomehr, als diese Aufzählung an eine längst bekannte
und eingebürgerte Formulierung (im § 120a der Gew.Ordn.) an-
schlielse. Der Antrag wurde hierauf zurückgezogen.^)
Entsch. Bd. 13 S. 343.
*) Nr. 5, Reichstag, 8. Legislaturperiode, i. Sesiimi, 1890 S. au
Ku 51, Reichstag, 8. Legislaturperiode, t. Session, 1890 S. 6.
148
GeseUgeboug : Deutsches Reich.
Durcli die gegenwärtige I'^assung des § 3 Ziffer 2 ist nach der
Entscheidung des Reichsgerichts ') namenthch die frühere Streit-
frage, ob auch die erst nach Beendi^^un^' des Arbeitsverhältnisses
hervortretenden Entschädigungsansprüche der Zuständigkeit der
ordenthchen Gerichte entzogen seien, im bejahenden Sinne ent-
schieden, im übrigen aber die frühere Rechtslage bezüglich
der Natur und des Umfangs der Ansprüche nicht wesentlich
verändert worden. Unter den Entschädigungsansprüchen seien
— so fuhrt das Reichsgericht aus hiernach solche zu verstehen,
welche sich unmittelbar aus dem Arbeitsvertrage oder dem
Arbeitsverhältnisse, namentlich wegen NichterföUung der danach den
Beteiligten obliegenden gegenseitigen Leistungen während der
Dauer des Arbeitsverhältnisses ergeben. Zu diesen
Leistungen gehört aber, wie wir gesehen haben, die Aushändigung
des Zeugnisses etp. nicht Es kommt infolgedessen hier nicht ein
Entschädigungsanspruch nach Ziffer 2 § 3 a. a. O., vielmehr ein
aus allgemeinen Rechtsgrundsatzen herzuleitender Entschädigungs-
anspruch in Frs^e. Zur Entscheidung über solche Ansprüche ist
das Gewerbegericht bislang nicht befugt.'-)
Wir müssen hierbei auch durchaus berücksiciitigcn, dafe die
Gewerbegerichte Sonder ge richte sind und als solche nur inner-
halb des engen Rahmens der ihnen durch das Gesetz zugewiesenen
Streitigkeiten fungieren und gelten können. Eine extensive Aus-
legung der gesetzlichen Zuständigkeitsnormen für die Gewerbe-
gerichte ist infolgedessen unzulässig. Selbst wenn also der Arbeit-
nehmer durch den Arbeitsvertrag sich als eine Gegenleistung des
Arbeitgebers die nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses statt-
zufindende Ausstellung eines Zeugnisses ausmachen würde, so würde,
falls der Arbeitgeber nachträglich nicht erfüllen will, das Gewerbe-
gericht dennoch, sobald eine eventuelle Schadensforderung (nach
Lösung des Arbeitsvertrages) in Frage kommt, nicht zur Ent«
Scheidung berufen sein.') Bei dieser Gelegenheit ist hervorzuheben^
dals ein Urteil des Gewerbegerichts in einer Sache, zu deren Ent-
scheidung es nicht zuständig war, nicht als Urteil eines Gerichts
anzusehen ist^) Sobald dieselbe Sache bei dem ordentlichen Gie»
•) Bd. 41, S. 137.
*) jastrow, a. a. O. S. 343 und BläUer fiir soziale Praxis vom 37. Dezbr. 1893.
*) Reg«r, I. Ergänzniigsbaiui S. 47.
*) Eccitts bei Gruehot, Bd. 36, S. 145.
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IL von Schals, ZarRensUm des deoliehen GeweibegerichtsgeseUes. i^^^
rieht anhängig würde, wäre deswegen der Einwand der Rechts-
hängigkeit bezw. Rechtskraft nicht begründet. £$ können dem-
nach, wenn die ordentHchen Gerichte die Bestimmungen über die
Zuständigkeit anders interpretieren wie die Gewerbegerichte, un-
liebsame Verwicklungen entstehen.
Der Arbeitsvertrag als solcher allein verpflichtet den Arbeit-
geber nicht, sich dem Arbeitnehmer gegenüber schriftlich über die
Beschaffenheit der geleisteten Dienste und über die Führung des
Arbeitnehmers auszulassen.') Diesen Standpunkt vertritt auch ein
in einer IVoze(ssache eines Handlungsgehilfen gegen einen Kauf-
mann ergangenes Urteil des Reichsgerichts^) unter der Motivierung,
dafs es Sache des Klägers gewesen wäre, sich, wenn er einen
Rechtsaniq>ruch auf denuiächstige Zeugniserteilung erwerben wollte-,
dies bei seinem Engagement auszubedingen. Da > deutsche Handels-
gesetzbuch schweigt sich zwar bezüglich der Zeugniserteilun'^ an
Handlungsgehilfen aus. Die Reichsgewerbeordnung entliält hier-
über hing^cn ausdrückliche Bestimmungen (sj 113 und 127 c der
Handwerkcrnovcllc i nach woK hcn jeder \i Zeitgeber verpflichtet ist,
nach Lösung des Arbeits(Lchr)verhältnisscs dem Arbeitnehmer resp.
Lehrling ein Zeugnis zu erteilen. Es fragt sich nun, ob die An-
sprüche der Arbeitnehmer bezw, Lehrlinge auf .Vushändigung des
Zeugnisses und des Arbeitsbuches (>; 107 Reichsgewerbeordnung)
als kontraktliche zu bezeichnen o<lcr ob sie als aufeerkontraktliche,
lediglich auf dem Gesetze beruhende, zu erachten sind. Wir halten
diese Ansprüche für besondere, durch das Gesetz begründete —
nicht aus dem Arbeits- oder Lchrvertrag emanierende — und zwar
auf gewerbepolizeilichem Boden erwachsene Rechte der Arbeit-
nehmer.'*)
*i Kcger, Bl. ib, S. 369.
•i Sruirfrr> Archiv, Bd. 48 S. .504; siehe dazu aber Zfit^chritt liir da-. ;^c-
fc.imt«- Handelsrecht Bd. 21 S. 566, »emer Bd. 40 S. 453 uud BläUcr lür Rechls-
ptlvgc im Bezirk des Kammergericbts von Terl und Wreschner, 1891 S. 113
•89a & 115.
^ Die Anwrelhmg der Zwtgiitor naeli §§ 171, 172 der Preafs. Gestodeordiiaiig
vcB i8to ist noch bevte weder in das Belieben der Dienstboten noch in das der
HcRsdinft gestellt, sondern positiT Toigesdirieben. Weigert sidi die Heirsebalt,
diese Verpflidltnng zn eiflillen, so ist sie nach § 5 der V^erordn. vom 39. September 1846
(Gesetz vom 21. Februar 1872) durch .Androhung einer Geldstrafe von der Poli/. ci-
behörde dazu anzuhaltm .\ii<!<r'Tseit!. kann auch dem Dienstboten, welcher -.ich
Weigert, das Dienstbuch zur tfäntragung des Zeugnisses vorzulegen, von der Polizei*
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I50
Gesetzgebung: Devtsdhes Reich.
Was zunächst das Arbeitszeugnis anlangt, so muls man in
dieser Beziehung bis zum Preufsischen Allgemeinen Landrecht, der
Grundlage der heutigen Reichsgewerbeordnung, zurückgehen.
Dieses Gesetz verordnete *) fiir die Fabrikarbeiter: Kein Fabrik-
Unternehmer soll diejenigen, welche in einer ähnlichen Anstalt bisher
gearbeitet haben, in die seinige aufnehmen, ehe dieselben ihre
Entlassung durch ein schriftliches Zeugnis dargethan
haben. Aehnliche, nur noch detailliertere polizeiliche Bestim-
mungen sind in dem Preufsischen Allgemeinen Landrecht ^ fiir die
Handwerksgesellen getroffen. Die Gesellen müssen sich durch die
„Kundschaft" ausweisen. Die Kundschaft war ein von der Gewerk-
schaft ausgestelltes Führungsattest för die Wanderschaft und zugleich
Legitimation iiir den wandernden Gesellen. Ohne solche durfte
er bei schwerer Strafandrohung nicht beschäftigt
werden. Beim Eintritt in die Arbeit mufste der fremde Geselle
die „Kundschaft" nebst Geburts- und Lehrbrief in die Lade nieder*
legen. Wollte er weiter wandern, so war er gehalten, nach Ein-
haltung einer vierzehntägigen Kündigungsfrist ^) sich seine Legitima-
tion und eine neue Kundschaft *) zu verschaffen, die er mir bei guter
Führung erhielt^) Nach Preufsischem Landrecht darf der Meister
bchOrde zu diesem Zwecke das Dienstbuch abgenommen werden (Verf. des Ministers
des Innern vom 30. April 1867.). — Rönne, IV. Band Ergänzungen und Erttnte-
ningen des Prenss. AUgemdaen Landrechts S. 969. Die anndiniende Hemclmft
mnfs bei Venneidung einer öflentlidien Strafe die IHenstboten, welche schon rtr-
roielet gewesen, bei dem Antritt des neuen Dienstes vennlassen, das Zeognis der
vorigen HerrKhaft vorzuweisen (S§ 9 ff. der Gesindeordmmg). ^ 171 der Gesinde«
Ordnung bat übrigens denselben Wortlaut wie § 171 II5 A.L.R. und bestimmt Bei
dem Ab/ugc ist die Herrschaft dem Gesinde einen schriftlichen Abst'hie<i und ein
der Walirlieii gemfilses Zeugnis Uber seine geleisteten Dienste zu erteilen schuldig.
') J< 422 II 8 A.L.R.
'-) tj 355 IT. und § 389 ff. II 8 A.L.K.
») § 385 n 8 A.L.R.
*) In den Materialien zum A.LJL Bd. 75 & Mi ist bemerkt, dals die Haiani-
ffihe der alten Knndsdiaft nicht hinreichend sei, sondem es müsse voriier von den
Bcisitiem und den Aeltesten (des Gewerices) danuiter vermerkt werden, wie lange
der Geselle sich an dem Orte aufgehalten and wie er nach dem Zeugnis seiner
Meister sich aufgeführt habe. Siehe hiersn Bd. 80 der Materialien (Snares, Revision
der Monita, der Abschrift 3. Band) S. 855.
■'') Ucber diese Verhältnisse vorpleiclic auch Stieda in Conrad's Handwörter-
buch der Staatswissenschalteu i^. VI b>. 890. Bruno äcboenlank ebendort Bd. III
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M. Ton Schulz, Zur Revision des dentachen GewcrbcgcrichUgcäctzes.
in die Aushändigung der Kundschaft bei eigener Vertretung nicht
willigen, wenn er weiTs, dafe der Geselle Schulden gemacht oder
Verbrechen begangen hat Bei Beratung zur Preufsischen Gewerbe-
ordnung vom 17. I. 1845, welche die gewerberechtlichen Bestim-
mungen des Allgemeinen Landrechts zu ersetzen ausersehen war,
trat die unverkennbare Tendenz hervor, den polizeilichen Charakter
des Abgangszeugnisses ebenso wie im Landrecht zum scharfen Aus>
druck zu bringen. Nach dem Entwurf eines Gewerbepolizeigesetzes
vom 21. Januar 1835 z. B. wird jedem Gewerbsgehtlfen das Recht
eingeräumt, von demjenigen Meister, der ihn beschäftigt hat, ein
Zeugnis zu verlangen. Es wird gefordert, dafs aulser der Zeit und
Dauer der Dienstleistung das Benehmen während derselben in ge-
werblicher und sittlicher Hinsicht angegeben werden soll. Be«
steht bei der örtlidien Polizeiverwaltung kein Zweifel über die
Glaubwürdigkeit eines solchen Zeugnisses, so solle sie
dieses auf Ansuchen des Inhabers kostenfrei darunter vermerken.
Man wollte femer ausdrücklich bestimmen, dals in der Regel Ge-
sellen nur auf Grund solchergestalt beglaubigter Zeug«
S. 830; Hoffnann, Die Befugnis zum Gewcrbd>etriebe, Berlin 1841, S. 90 und 91,
endlich B 0 Ii m er t , Beiträge zur Geschichte des Zunftwesens, 1 .eipzig bei S. Hirtel, S. 50w
I »i*" ..Kunrlscbaft" war übrigens eines der Mittel des Reichsgesetaes TOm
16. Augus-t 1731 (ki-i«hs/.unltordnung, abgcilruckl bc-i Ma^ciier. Das ik-utsche Ge-
werbrrcrljt, Potsdam 1866, S. 771 j, uro die Gesellen unter strengste Aufsicht
zu stellen.
Die Preufsiacbe Handwerksordnuug vom 10. Juni 1733 (abgedruckt bt-i Dr.
Moriti Meyer, Gachichtc der Preofsisdicn Handwerkerpolitik, IL Band, S. 329(1.),
welche die schirfstcn Strafen: GefSngnis, Znchtham, Festungsbatt, fltr Renitente den
Tod anf Ventölse gegen die reichsgesctzlichen Bestimmaqgen setzte, enthSlt im
Art. XVI folgendes Formular der „Kvndscliaft":
„Wir geschworen Aelter-MSnner andere Meistere des Handwerks der
N. in der Stadt N. bescheinigen hicmit, dafs gegenwärtiger Gesell, Nahmens
Jf. von N. grbürtip. so . . . Jahre alt, und von Statur .... auch Haaren
.... ist bcy Uns allhier . . . Jahre . . . Wochen in .Arbeit gestanden,
und sich solrhf Zeit über treu, fleifsif^, stille. fric(i.s.ilnn. und ehrlich, wie
es einem jegliclien llandwerk.s-Furschen gebühret, verhalten liat, welches
wir also attestiren, und deshalb onsere sämtliche Mit-Meistorc, diesen Ge-
sellen nadi Handwerks-Gebnndi llbeimll sn fördeni, gexiemend ersuchen
wollen. N. d. o. s. w.
N. N.| AeUermann
N..N., A^enmum
N. N., als Bfeister, wo obiger Gesell in Arbeit gestanden."
L^iyiii^uü Uy Google
152
Gesetzgebang: Deatidics Reidi.
nisse in neuen Dienst au^enommen oder mit Reisepassen ver-
sehen werden. Es wurde dabei betont, da(s in Ermangelung eines
derartigen Zeugnisses die allgemeinen Vorschriften wegen Legitima*
tion Reisender oder Dienstsuchender einzutreten hätten.
Von einer Behörde wurde sogar angeraten, die Verpflichtung
festzusetzen, da(s Zeugnisse gegeben und genommen werden müssten.
Später machte man sich dahin schlüssig, da(s die Bestimmung,
nach welcher die Gewerb^ehilfen nur auf Grund b^laubigter
Zeugnisse in den Dienst zu nehmen oder mit Reisepassen zu ver-
sehen wären, um so unbedenklicher wegfallen konnte, als dieselbe
lediglich sicherheitspolizeilicher Natur sei und mit den
allgemeinen Vorschriften über die Zulassung und Aufnahme fremder
Personen und der Erteilung von Reisepassen zusammenhän<^e.
Hiernach findet sich in dem gedruckten Entwurf eines allge-
meinen Gewerbepolizeigesetzes ^) nebst Motiven im § 1 14 folgende
Vorschrift: Beim Abgange können die Gesellen und Gehilfen ein
Zeugnis über die Art und Dauer ihrer Beschäftigung, sowie über
ihr Betragen während derselben verlangen, welches von der Orts-
kommunalbehörde, sofern diese gegen dessen Inhalt nichts zu
erinnern findet, kostenfrei zu beglaubigen ist In den Motiven
zu dem Polizeigesetz ist angegeben, dafe besagte Vor*
Schrift zumeist nur eine Wiederholung dessen ist, was schon im
Allgemeinen Landrecht bestimmt worden sei.
4; 142 der preufsischen (iewerbcordnuiig von 1845 luil im
grolsen und L;an/( n den j^leichen Inhalt, nur dals man einer An-
regung nachj^fcbend es dem freien Hrmessen der Gesellen und
Gehülfen überliefs, das Zeugnils auch auf ihre Führung aus-
dehnen zu lassen.^)
In der Gewerbeordnung von 1869 ging man noch einen Schritt
weiter. Während bis dahin jedes Zeugnis obrigkeitlich bei^daubi^lt
werden mufste, hatte sich die Behörde (( iemeindcbehörde 1 um
den Iniialt der Arlicitszeugnisse und um deren Beglaubiguni; nur
noch zu kümmern, wenn seitens des Interessenten ein bezü;4lirher
Antrag gestellt winde. Mit der durch die (icwcrbeordnung vom
21. Juni 1869 geschaffenen Gewerbefreiheit schien es unvereinbar,
eine polizeiliche Aufsicht über die Gewerbsgehülfen auszuüben, wie
') ßrdnukt l'urliii 1837 bei A. W. Hayn.
-) Nach § 145 a. a. O. gilt lür Fabrikarbeiter ebenfalls g 142.
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H. von Schnls, Zur Kevision des deutschen Gewerbegerichtsgesetzes* 1^3
dies auch durch die bisher iibhchcn W'atKlerbücher geschah; aus
diesem Grunde wurden letztere ebenfalls beseitigt')
Die Gewerbeordnungsnovelle von 1878 verteilte den Inhalt
des § 113 der Gewerbeordnung von 1869 auf 2 Paragraphen (i;§ 113
und 114) und erliefe der beglaubigenden Behörde den hihalt des
Zeugnisses zn priifrn. In Zukunft konnte daher nur die Beurkundung
der Echtheit der Unterschrift inbetracht kommen.
Das sog. Arbeiterschutzgesctz von 189I endUch hat zunächst
ergänzend bestimmt, dals das Zeugnis auf Verlangen des Arbeiters
über seine Leistungen auszustellen ist Ferner hat diese Novelle in
Konse(]uenz der Ergänzung des weiter unten nocli naher zu er-
örternden § 107 der Gewerbeordnung vorgesehen, dafs — selbst
unabhängig von dem Wunsche des Arbeiters — der Vater bezw.
Vormund auf Grund eigenen Rechte^ das Arbeitszeugnis fordern
rcsp. die Aushändiguncr an ihn selbst verlangen kann Mit Ge-
nehmigung der Gemeindebehörde des im § 108 bezeichneten Ortes
soll auch gegen den W illen des Vaters oder Vormundes die Aus-
händigung unmittelbar an den Arbeiter erfolgen können.
Wir glauben durch diese Darstellung der Geschichte des Arbeits-
zeugnisses nachgewiesen zu haben, dafs die Pflichten des Arbeit-
gebers zur Ausstellung einer solchen Urkunde keineswegs auf dem
Arbeitsvertrag beruhen, sondern auf besonderer gesetzlicher Vor-
schrift.
Mit Re( In liat sclion bei den Konmiissionsverhandlungcn zum
deutschen ( iericlitsverfassungsgesctz der Abgeordnete ])r. Cirinim
erklärt. dal> die im §113 iii). statuierte X^erpfhclitung gc werbe -
polizeilicher Natur sei.-; .^o ist es noch heute. riiatsäclilich
dient das Arbeits- untl lüiliassunifs/eucrnis tiocli heute dem .Arbeits-
losen auf der Landstrafsc dem Gendarmen gc^fcnüber /utii .Ausweis
und ist ihm auch vor Gericht eine I .ej^ntimation, welche ihn vor
der X'erurteilung wegen Arbeitsscheu bewahrt.
Nach alledem wird selbst derjenige, welcher sich mit einer
reinen Wortinterpretation des ^ 3 Nr. 2 des Gewerbegerichtsgesetzes
*} Hilse in Goltdammer's Archiv Ar Stnftecht Bd. 37, Berlin 1890 S. 423
424. Siehe hferai R^ulatiT faibetreff des Wanden» der Geirerb»<xchilfen vom
24. April 1S33 des Frailiuchen Iffiniiteni des bnem und der Polizei.
*) C. Hahn, d\t gesamten Materialien zu dem GerichtsveiftnaBgi^gesetZ,
I. Abt., Berlin 1879 (Protokolle der Kommission, I. Lesung, .Sitzung vom 12. No-
vember 18751 S. 444. § 2; <l<-s <1< utachen Gerichtsvcrfassnngsgesetxes und ^ 649
Nr. 2 der dcatscben Civilpro^etMirdnung.
154
Gesetzgebung; Deutsches Reich.
(.Leistungen aus dem Arbeitsverhältnis") begnügt, nicht mit Recht
behaupten, dals die Pflicht des Arbeitgebers zur Aushändigung des
Zeugnisses eine kontraktliche, eine „Leistung aus dem Arbeitsver-
hältnisse" ist.
Erwähnen wollen wir noch, dafs durch § 630 des Bürgerlichen
Gesetzbuches an dem bestehenden Recht der Gewerbeordnung nichts
geändert ist Dieser § erklärt, dafs der Dienstpflichtige bei allen
dauernden Dienstverhältnissen ein Zeugnis gleichen Inhalts, wie
dies bereits § 113 GO. vorschreibt, zu verlangen, befugt sein solle. In
der Denkschrift zum Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches^)
heilst es, dafs der Dienstpflichtige ein berechtigtes Interesse an der
Erlangung eines solchen Zeugnisses bei allen dauernden Dienst-
verhältnissen anderer als gewerblicher Art ebenüdls habe. Ganz ab-
gesehen davon, dafe §113 GO. ein dauerndes Arbeitsverhältnis
nicht voraussetzt, hat das Bürgerliche Gesetzbuch durch Aufnahme
des § 630 das Recht des Dienstpflichtigen, resp. des Arbeitnehmers
auf Aushändigung eines Zeugnisses zum Bestandteil weder des
„Dienst V e rt r age s" ') noch insbesondere des Arbeitsvertrages ge-
macht.
Wir wenden uns nunmehr zu der Frage betrefls der Aus-*
händigung des Lehrzeugnisses und des Arbeitsbuches und der aus
der Nichtaushändigung dieser Urkunden sich ergebenden Folgen.
Es gehört zur Zuständigkeit der Gewerbegerichte, eventuell
über die Aushändigung des Lehrzeugnisses zu befinden. Denn nach
dem Gewerbegerichtsgesetz gelten auch Lehrlinge als Arbeiter, soweit
der Vn. Titel der Gewerbeordnung auf sie Anwendung findet,^) so dafs
die Leistungen aus dem Lehrverhältnisse als „Leistungen aus dem
Arbeitsverhältnisse" zu bezeichnen sind. Es war demnach unrichtig,
wenn eine Abweisung des Entschädigungsanspruches wegen ver-
zögerter Aushändigung des Lehrzeugnisses in einer Entscheidung
des Berliner Gewerbegerichts damit b^ründet wurde, dafs nach
dem von dem Arbeitsverhältnisse verschiedenen Karakter
>) Reichstag, Aktenstttck Nr. 87 S. 641.
') Anderer Ansicht ist Cuno im „Gcwerbegericht** Nr. 6 vom 2. Blire 1899,
Sp. 67. Siehe dagegen Dr. Schalhorn, Nr. 7 derselben Zeitschrift vom 6. April
1899. Sp. 79.
Deutscher Reichstag, 38. Sitzung vom 2. Mai 1S78, S. 975 und \r. 286,
Reichstag 10. Legistlaturperiode 1. Session 189B 99, Bericht der VIL Kommission, S. 15,
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M. von Schals, Zar Revision des deatschen GewerbegeiichUgesetzes.
des Leh r Verhältnisses ') Entschädigungsansprüche des Lehrlings
Siegen den Meister überhaupt nicht zu den nach ZifTer 2 § 3 des
Geweriaegerichtsgesctzes den Gewerbegerichten zur Entscheidung
überlassenen ^^Entschädigungsansprüche aus dem Arbeitsverhältnisse"
zahlen. Dennoch mu(s die Zuständigkeit der Gewerbegerichte, falls
über die Entschädigungsansprüche wegen verwcij^erter oder ver-
zögerter Aushändigui^ des Lehrzeugnisses ein Urteil zu fallen ist»
verneint werden.
Die Sachlage ist eine ähnliche, wie wir sie bei der Besprechung
<les Rechts auf Aushändigung des Arbeitszeugnisses kennen gelernt
habeü. Die Verpflichtung des Arbeitgebers ist unmittelbar au^
dem Lehr vertrage nicht herzuleiten, noch ist sie während der Dauer
des L.ehrvcrhältnisses zu erfüllen.
Das Lehrzei^nis verdankt seine Entstehung dem Lehrbrief
de> alten Zunftwesens. Auch das preutsische allgemeine Landrecht
stellte die Regel auf, dafs „dem neu au%enommenen Gesellen ein
1 ,ehr})ricf unter Vollziehung der Aeltesten und der Beisitzer mit
Beidrückung des Gewerkssicgels ausgefertigt werden' mufs. Eine
gebietende Norm, welche wir, nachdem die preufsische Gewerbe-
ordnung von 1845 und die Reichsgewerbeordnung von 1869 es der
Willkür des Lehrlings, ein Zeugnis zu beanspruchen, anheim gestellt
hatten, in den V^orschriften der Reichsgewerbeordnung (Handwerker-
novelle) über die Aushändigung des Lehrzeugnisses in ähnlicher
Gestalt wiederfinden.
Im übrigen war der Lehrbrief früher ein Legitimationspapier
wie die „Kundschaft". Ohne Lehrbrief und ohne Führungsattest
erhielt der junge Geselle nirgends Arbeit."')
Lehrbriefe werden noch heute von den Innungen oder anderen
Wrtretinigen der Gewerbetreibenden ausgestellt. Ein Zwang jedoch
zur hrlangung eines Lehrbriefes ist dem Lehrling durcli das ( ic-
setz nicht gegebcti worden. Dagegen mufs, wenn dem Lciirling
aus irgend welchem Grunde ein Lehrbrief nicht verabreicht wird,
*) Ueber die Untendiiede des Ldmrertioges vom Dienttvertnige: Cosack,
-Tichrboch de» bOigerlidien deutschen Rechtet, S. 500; Plank, Bürgerliches Cesets-
buch, Vorbemerkone zum VL Titd onter in 5 S. 349: Dernbarg, Preafs. Privat-
rccbt, Bd. II 4.Attfl. § 194 S. 581; endlidi Rohiner, Handweikemovdle, S. aio
und an.
», II S § 325.
'i Handweroks-Ordnung vor das Königrrich Prcussen. Suh Dato Berlin tU'ii
10. Junii iJii, Art. XVI a. £., XIX und XX (abgedruckt bei Meyrr a. a. O. S. 329 ff.).
156
Gcscti(cbiiiie : Deataches Reich.
<lei Lclirhcrr ein Lehr Zeugnis ausstellen. Die lui^enart der Vor-
schrift als einer zwingenden tritt zu Tag;t ' i iurch, dalis § I4S
Ziffer 9 a. a. O. den Lehrherrn im Falle der V^erweigcruii.,' oder
unvollständigen oder wahrheitswidrigen Ausstellung des I^^hrzeug-
nisses mit Strafe bedroht
Das Lehrzeugnis resp. der Lehrbrief diene 1 nufserdem öft'enllich-
rechtlichen Zwecken insofern, als der I.ehrUng derselben benötigt,
um sich der in den §§ Ißlff. der Handw crkernovelle vorgesehenen
Gesellenprüfung zu unterziehen. Das Resultat der Prüfung i^t in
Gemäfsheit des § 131 c Abs. 3 auf dem Lehrzeugnis oder dem Lehr-
brief zu beurkunden. ')
Die nicht kontraktliche Natur des Lehrzeugnisses erhellt
am deullichstcti aus der Thatsache, dafe nach Inlialt des § 127c
der I.chi ling befugt ist-*), das Zeugnis zu verlangen, trotzdem
vielleicht der Vater oder Vormund, welche den Lchr\ertrag mit
dem Lehrherrn vereinbart haben, diesem gegenüber auf Aushändigung
eines Zeugnisses ausdrücklich bei dem .Abkommen verzichtet haben.
Das gesetzUch statuierte Recht auf Aushändigung des Zeugnisses
beruht sonach nicht unmittelbar auf dem Lehrvertrag.
Was endlich das Arbeitsbuch anlangt, so bedeutet die Kin-
fuhrung desselben — nachdem durch § 113 Abs. 2 der Gew.Ordn.
vom 21. Juni 1869 in Verbindung mit den Bestimmungen des
Reichsgesetzes über das Pafswesen vom 12. Oktober 1867 die ge-
setzliche Verpflichtung zur Führung von Arbeitsbüchern und Reise-
papieren auft^'^elioben worden war — eine Beschränkung des jugend-
lichen Arbeiters und seines Arbeitgebers in ihrer wirtschaftlichen
Bewegungs- und X'erkehrsfreiiieit. Es steht den Parteien frei, einen
Arbeitsvertrag einzugehen, nur die .Ausführung desselben ist davon
abhängig gemacht, dafs der jugendliche .Arbeiter dem Arbeitgeber
das .Arl)eit4iuch überrciclit. Der .Arbeitsgeber, welrher <lri- Arl)eits-
buch nicht einfordert und trotzdem den jugendlichen Arbeiter in
Beschäftigung ninmn oder behält, wird in (ieniäfsheit des 150
Reichsgewerbeordnung Nr. i mit Geldstrafe bis zu 20 Mk. und im
*) Siehe anch Rehmer, llandwerkemovelle, § 81 b Note 4 S. 15, § 129 Nr. 4
& 245 und § I J3 S. 261.
*) Aach wenn der Lehrling es nicht ausdrOcUicb verlangt, ist der Lehrherr
«ir Ausstellung des Zeugnisses verpflichtet Rohm er, Hudweritemovelle, Note 2
zum § 127 c. Vgl. dazu § 156 der Prenfs. Gewerbeordnung von 1845 und § 127 der
Rei(-hsi;cwerbeordn«ng von 1869 (StenoKnq>hisdier Bericht des Reichstages 187$,
S. 1128).
üiyitizcü by
M. von Schulz, Zur Revision des dcuucbcu GewerbegcricbUigesetzes. i^y
Unvermögensfalle mit Haft bis zu drei Tagen für jeden Fall der
Verletzung des Gesetzes bestraft. In den Motiven ^) wird bemerkt,
dafs in den letzten Jahren sich die Klagen über die Lockerung der
Zucht und Sitte, über das Schwinden der elterlichen Autorität bei
der. jugendlichen Fabrikarbeitern gemehrt hätten, so dafs die Gesetz-
gebung versuchen mufs, die elterliche Autorität zu stärken und die
allzu gro&e Bewegungsfreiheit der minderjährigen Arbeiter einzu*
dämmen. Hiemach ist die Führung von Arbeitsbüchern im öffent-
lichen Recht begründet Sie hat mit dem Arbeitsvertrage als solchem
direkt nichts zu thun.
Dafs schlielslidi die Aushändigung des Arbeitsbuches nicht den
Ausflu(s einer privatrechtlichen Pflicht des Arbeitgebers bildet, geht
auch daraus hervor, dals das Arbeitsbuch an den Vater oder Vor-
mund regelmäfsig auszuantworten ist, wenn der Arbeitnehmer
noch nicht das Alter von i6 Jahren erreicht hat und dafs Vater
und Vormund das Arbeitsbuch des Arbeiters, welcher sich in dem
Lebensalter von i6 bis 21 Jahren befindet, ausgehändigt verlange»
können. Diese Rechte sind den Eltern und Vormündern einge-
räumt, obgleich thatsächlich die Kündigung bestehender und Ein-
gehung neuer Arbeitsverhältnisse der Regel nach ohne eine Mit-
wirkung der genannten Personen allein durch den minderjährigen
Arbeiter stattfindet. Denn wenn der Vater oder Vormund seine
Genehmigung dazu erteilt hat, dafs der Minderjährige in Dienst oda*
Arbeit trete, so ist dieser wenigstens nach § 6 des preutsischen Ge-
setzes vom 12. Juli 1875 selbständig zur Eingehung und Auflösung
von Dienst- oder Arbeitsverhältnissen der genehmigten Art befugt,
solange der Vater oder Vormund die erteilte Genehmigung nicht
zurückzieht oder einschränkt, wozu er berechtigt ist. Hieraus geht
zur (tenüge hervor, dafs die Aushändigung des Arbeitsbuches nicht
in Erfüllung einer Vertragspflicht des Arbeitgebers, sondern
auf Grund besonderer gesetzlicher Vorschrift im ofTentlichen Interesse
erfolgt.
Die Aushändigung des Zeugnisses und des Arbeitsbuches ist
hiernach, wie wir nachgewiesen zu haben glauben, als eine „Leistung
aus dem Arbeitsverhältnis" nicht zu erachten.*)
*i Nr. 4, Reicfaiteg 8. Leglslatnrperiode i. Session 1890, S. 31 u. IT.
*) Andrer Ansicht Cuno im Gewerbegericht rom 3. Min 1899. Nr. 6 Sp. 67.
Siebe anch Gewerbcsericht Mttnchen im Gewerbegericht vom t. Desember 1898,
Nr. 3 Sp. 38.
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15»
Gesetzgebung: Deutsches Reich.
Es dürfte sich daher dringend empfehlen, durch atisdrückliche
gesetzliche Bestimmung die Kompetenz' der Gewerbegerichtc zum
tiesten der Gewerbetreibenden auszudehnen auf Entschädigungs-
forderungen, welche die Arbeiter wegen verzögerter Aushändigung
der bezeichneten Urkunden aufzustellen genötigt sind. Hierauf ist
auch augenscheinlich in dem Entwürfe der Novelle, wenigstens nach
dem Inhalte des Berichtes der Vn. Kommission, Rücksicht genommen.
Es erhellt dies aus der Thatsache, dafs bezüglich der fraglichen
Punkte auf die Ausfuhrung des Verwaltungsberichts des Berliner
Gewerbegerichts für 1896/97 hingewiesen ist Wir hatten damals
erklart, dafs es zweifelhaft sei, „ob Entschädigungsansprüche,
die aus Verweigerung oder Verzögerung der Aushändigung des
Arbeitsbuches oder Zeugnisses oder aus dem Inhalte desselben her-
geleitet, werden, zur Zuständigkeit des Gewerbegerichts gehören".
Betrachten wir nunmehr den Wortlaut der Novelle. Nach Art. II
sollen die Gewerbegerichte entscheiden: „über Entschäd^ngs-
ansprüche aus gesetzwidrigen Eintragungen in Arbeitsbücher-
Zeugnisse, Krankenkassenbücher und Quittungskarten der In*
validitäts- und Altersversicherungs- Anstalten, sowie wegen wider .
rechtlicher Vorenthaltung dieser Papiete".
Dieser Wortlaut ergiebt, dafs über Sciiadensansprüche, welche
<ler Arl)eiter erheben will, weil ihm die in dem Artikel angegebenen
Papiere widerrechtlich nicht ausgehändigt sind, in Zukunft von den
Gewerbegerichten abgeurteilt werden soll. Man wird uns zugeben
müssen, dafs mit Bezug auf die Worte des 4; 3 Nr. 1 des Gewerbe-
gerichtsgesetzes ,,iiber die Aushändigung oder den Inhalt des Arbeits-
buches oder Zeugnisses" man ohne Kenntnis des Kommissions*
berichtes in Zweifel sein kann, ob in den „Arbeitsbüchern, Zeug-
nissen" auch das Arbeitsbuch und das Zeugnis der Nr. i des
§ 3 mit enthalten ist. Nach dem Kommissionsberichte und den
hierzu von uns eingezogenen Erkundigungen mufs dies bejaht xA crden.
Es dürfte jedoch angebracht sein, des ungeachtet den WiUea des
Gesetzgebers piägnanter zur Anschauung zu bringen.
Im übrigen wird es überall von den Gewerbegerichten mit
Genugthuung aufgenommen werden, dafs man zu dem Entsciiluls
gekommen ist, die Entscheidung über die Entschädigung wegen
verzögerter Aushändigung der „Papiere" des Arbeiters den Gewcrbe-
gerichten zu überlassen. Der Arbeiter ist oft in seinem Erwerbe
lahm gelegt, wenn sein Arbeitgeber, der ihn entlassen hat, diese
Papiere einbehält Er bedarf derselben, um anderweit Arbeit zu
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M. von ScbnUt ZnrKeviaon des deutschen Gewerbegerichtsgesetzes, i^g
bekommen. Um sich ein zuverlässiges Urteil über die Lei.stun<^.s-
iabigkeit eines Arbeiters bilden zu können, fordern Arbeitgeber bei
der Anstellung eines neuen Arbeiters vielfach nicht nur das Zeugnis
(bezw. das Arbeitsbuch) über das letzte Arbeitsverhältnis, sondern,
wenn mocrlich. auch noch Ausweise über frühere Arbeitsverhältnisse.
"Wie bekannt haben bislang die Gewerbegerichte sich zumeist hin-
sichilicli der erwähnten Ansprüche der Arbeiter für unzuständig
erklärt. Dasselbe ist geschehen, wenn Arbeiter wegen widcrrecht-
lider Ausstellung des Zeugnisses und w^en gesetzwidriger Ein-
tragung in das Arbeitsbuch mit Schadensansprüchen beim Gewerbe-
gericht vorsteilig wurden. Um Abweisungen der Arbeiter künftig
zu verhüten, soll Artikel II des Entwurfes der NoveUe ebenfalls
Abhilfe schaffen. Denn die Worte: „über Entschädigungsan^rüche
aus gesetzwidrigen P^intragungen in Arbeitsbücher, Zeugnisse etc."
betreffen, wie wir erfahren, auch das Arbeitsbuch und das Zeugnis.
Wir sind uns aber nicht darüber klar geworden, an welche sonstigen
geset7.\vielri((en Eintragungen in Arbeitsbücher etc. bei Abfassung
des Artikel II gedacht worden ist. Man wird auch hier nicht um-
hin können, den Sinn der Gesetzesstelle zu deklarieren. In dem
Bericht der VII. Koniniission findet man nicht eine Auskunft, welche
Zweifel zu zerstreuen vermöchte.
Artikel III des Entwurfs der Novelle enthält in der Hauptsache
das Ertordernis, dafs die Gemeindebehörde, oline Anträge der Be-
teiligten abzuwarten. Wahllisten anzufertigen hat.
Die Vorschriften für die Wahl der Beisitzer des (jcwerhegerichts,
insbesondere für die Aufstellung der Wahllisten sind bi^lier in den
§§ 1 2 ti. des Gesetzes betreffend die Gewerbegerichte und — so
weit das Berliner Gewerbegericht in Betracht kommt — ferner in
den 1 3 ff. des erlassenen ürtsstatuts für die Stadt Berlin
enthalten. ^)
') § 13 Abs. 4 des Gesetzes verordnet, dafs die näheren Bestimmungen Uber
die Wahl und das Verfahren bei deradben dtuch das Statnt fetroflen werden.
S 13 des S«atiits lautet: Zorn Zwecke der Wahlen aind ffir jeden WaUbenrk
▼00 dem Magistrat besondere Listen fllr Arbeitgeber vnd Arbeiter anzulegen, in
welchen alle WiUer dnantiafen sind, deren Stinunbereditigang unter Beifligong der
«rfbffdcrlichen Bescbeinigangen innerhalb zweier Wochen, nachdem der Wahl»
tag er<:tmalig bekannt gemacht ist, bei den von dem Magistrat zu bezeichnenden
Anmeldestellen mündlich oder schriftlich angemeldet ist. Bei unter-
lassener rechtzeitiger A u m c 1 tl 11 u g ruht das Stimmrecht. Als Aus-
weis gentigt für die Arbeitgeber die Bescheinigung Uber die nach
i6o
CSeietzgrbung : Deotsdiet Reich.
Zunächst muk die beldagensweite Thatsache hervorgehoben
werden, dafs die Wahlen bei den Arbeitgebern in Berlin, wie überall
im allgemeinen recht teilnahmlos verlaufen.^) Der emsigen Agitation
des Berliner Arbeitgeberbeisitzerverbandes ungeachtet haben das letzte
Mal von den eingetragenen Arbeitgebern nur 68% gestimmt.*)
Auch bei den Arbeitnehmern ist nicht die Rührigkeit wie in irüheten
Jahren zu verzeichnen. Es stimmten von den eingetragenen Arbeit-
nehmern nur rund 80%.*) Diese Resultate sind immerhin noch
so günstige, weil wir in Berlin sowohl Arbeitgeber wie Arbeit-
nehmer in Verbanden vereinigt finden, von denen aus die Wahl-
arbeit besorgt wird.
Die Wahlarbeit stellt an die Organisationen beider Interessenten-
gruppen grolse Anforderungen. So hat der hiesige Arbeitgeberbei-
sitzerverband iiir die Wahlen 1898 ca. 60000 Briefe an Arbeitgeber
versandt. Dieselben enthielten die Aufibrderung, entweder beim
Vorsitzenden des Verbandes oder direkt bei dem städtischen Wahl-
§ 14 der G.O. erfolgte Anmeldung des Gewerbebetriebes oder die
lettte Quittung über Zalilunp der T, e w e rb e s t r u c r , für die Arbeiter ein
Zeugnis ihres Arbeitgebers oder der Polizeibehörde, thirch welches bestätigt wird,
dafs der Arbeiter seit mindestens einem Jahre inneriialb des QewertMgericbtsbesirkes
in Arbeit stelu oder wohnt u. s. w.
Der Entwurf der Novelle (Artikel ill) fügt in § I3 G.ü.G. als Absatz 5 die
folgende Bestimmung biiuu ;
„Die Gemeindebehdrde hat eine Liste der Wahlbeieditigten anftnsteUcn. Polixei-
befaördcn, Knnkenkassen, welche im Bedvk des Gewerbegerichts besteben, nnd Ter-
pflichtet, der Gemehidebehörde anf Veriaagen die fltr die Fertigung der WiUerliste
fttr Arbeitgeber und Arbeitnehmer erforderlichen Anskttnfte xa geben, insbesondere
Einsidit der MitgUederrerseichnisse bexw. der Gewerbf njyig«t zn gewihrca. Die
Liste ist während vier Wochen vor dem zur Wahl bestimmten Tage zu JedermauiB
Einsicht auszulegen und ist dies zuvor öffentlich bekannt zu machen. Wer bis zum
Ta^'e vor der Wahl seine Wahlberechtigung nachweist, ist nachtrSglich in die Wähler-
liste einzutragen."
') Jastrow a. a. (>., S. 335, Flesch, in Nr. 50 der Sozialen Praxis vom
9. September 1895 Sp. 975 ff. Das „Gewerbegericht" vom 6. April 1899 Nr. 7
Sp. 87 a. E. und Sp. 88.
*) Weigert in Bfirgels lodttstrie- and HandeUblatt, Nr. 4 von 32. Odober
1898, S. 54.
*) Für die Gewerbegerichttwablen am aa. September 1898 waren eingetragen
1^ Arbeitgeber 10703 Wähler
b) Arb' itTi'hmcr 22630 Wühler
Zar Wahl erschienen 7481 Arbeitgeber und 18065 Arbeiter.
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)L von Schals, Zur Revision des denlschen Gcverbcgerichugesetzcs. i5i
bureau die Anmeldung zur Wahlliste zu bewirken. Zur Bequem-
lichkeit der Wähler war jedem Briefe ein Formular zur Anmeldung
beigefögt Es gingen ein beim Vorsitzenden des Verbandes ca. 9000
Anmeldungen, beim Wahlbureau ca. 3000. Von den Anmeldungen
war eine nicht geringe Anzahl ungültig, da die Anmeldenden als
Innungsmeister oder aus anderen Gründen nicht wahlberechtigt
waren. Die Normierung der Kandidaten findet soweit sie Arbeit-
geber betrifft statt in den vom Arbeitgeberbeisitzerverbande einbe-
rufenen Versammlungen.
Von den Arbeitnehmern sind nach unseren Ermittelungen vor
der letzten Wahl ca. i 7« Millionen Flugblätter verteilt worden. Die
Verteilung dieser Blätter geschah an drei \'erschiedenen Zeitpunkten.
Das erste Flugblatt verbreitete sich über die Gewerbegerichtswahlen
im allgemeinen und über die Notwendigkeit der Beteiligung der
Arbeitnehmer an den Wahlen. Alsdann erfolgte in einem zweiten
Flugblatt die Aufforderung zur EintrriL^ung in die Wählerlisten. End-
lich entliielt das dritte Flu^^hlatt den Hinweis darauf, wo und wann
die Wahl stattfinden werde. Ucberdies wurden mehrere Male im
sozialdemokratischen Organ „Vorwärts" die Kandidatenliste und die
Bezirke, in defien zu wählen waren, veröffentlicht. Die Feststellung
der Kandidaten liegt den Gewerkschaften ob. Die liinsammlung
der Anmeldungen zur Wahlliste besorgen bei den Arbeitnehmern
viele Hände, während die Arbeitgeber für diese Thätigkeit leider
nur wenige Personen zur Verfugung haben.
Beide Teile, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer müssen also bis
jetzt ein ziemlich lästiges und kostspieliges \>rfahren einhalten, um
die Wähler zur Wahlurne zu bringen. Hierbei ist nicht zu ver;
gcssen, dafs, wie der Abgeordnete Triinbom zutreffend geschildert
hat, ' I der Regel nach erst auf Grund einer Legitimation die
P-intragung in die Wählerlisten bewirkt wird. Besonders von dem
Arbeiter mufs dies peinlich empfunden werden, da er nach dem
Berliner Statut die Bescheinigung von seinem Arbeitgeber sich aus-
stellen lassen mufs. Das bisherige Verfahren führt dazu, dafs bei
der Walil selbst viele (iewerbetreibende, welche sich für wahlbe-
rechtigt halten, zurückgewiesen werden müssen. Der Abgeordnete
Jacobskötter hat mit Recht ausgeführt, dafs es vielen Arbeitgebern
nicht beizubringen ist, da£s sie zur Ausübung ihres Wahlrechts vorher
•1 Reichstag 12. Sitxung den 18. Januar 1899, S. 270.
-< Reichstag 18. Sitzung den 25. Januar 1899, S. 434 (Ü).
Archiv für soi. Geseugebung u. Statistik. XIV.
II
l52 Gactsgelmiig: Deuttthct Rckfa.
*
hingehen müssen, um sich durch die beanspruchte Eintragung in
die Wählerlisten erst ihres Rechtes zu vexgewissem. Für unsere
Verhältnisse m Berlin ist das Urteil jenes Abgeordneten richtig,
dais solche Schwierigkeiten die bedauerliche Lauigkeit bei den
Wahlen mit hervorrufen. Wie wenig eingehend die hiesigen Ar-
beitgeber sich um die Gewerbegerichtswahlen künunem, erhellt
auch aus dem Umstände, dafs noch weit über den Anmel-
dungstermin hinaus Anmeldungen zur Wahl dem Arbeitgeber-
verband zugingen. Ein Gleiches lässt sich durch das Wahlbureau
konstatieren. Die in Aussicht genommene Zusatzbestimmung zum
§13 des Gewerbegerichtsgesetzes wird, so hoffen wir, fär die vor-
handenen Uebelstande Abhilfe bringen. Wenn den Wählern die
Wahl bequemer gemacht wird, so glauben wir auf eine grd(sere
Beteiligung der Grewerbetreibenden bei den Wahlen rechnen zu
können, zumal alsdann die für die Wahlen thätigen Organisationen
ihr Augenmerk zumeist nur auf die Ausübung der Wahl seitens der
Interessenten zu richten haben. Bei der Beratung der MI. Koni-
mission wurde der Gesetzesvorschlag mit dem Hinweis bekämpft,
dafs die Einführung von Wählerlisten nicht überall erforderlich er-
scheine, und dafs sie da, wo dies der Fall sei, schon durch Orts-
statuten voigeschrieben werden könnte. Es wurde entgegnet, ,/da(s
der Schwerpunkt des Antrages nicht sowohl in der Einführung von
Wählerlisten, sondern darin liegt, dafs der Wähler in dieselben von
Amtswegen eingetragen werde, ohne eine besondere Be-
scheinigung über seine Wahlberechtigung l)eibringen zu müssen.
Soviel bekannt, würde letztere lieute auch da \erlangt, wo Wahl-
listen beständen und zwar als Vorbedingung für die Eintragung in
dieselben. Gerade dies sei es, was der Antrag beseitigen wolle. *)
Leicht wird der Gemeindebehörde freilich die Aufstellung der
Wahllisten nicht werden, wenn sie nur auf die Polizeibehörden und
') Ik-rulit ilcr Koiiiuii-sion S. 21. Jeder Wähler ist augenblicklich
genötigt, sich durch eine besondere licscheinigung der Polizeibehörde oder des Orts-
Tontandes oder des Arbeitgebers darttber auszuweisen, dafs die Vorbedingungen der
Wahlberechtigung bei ihm «ttreflcn; dabei macht es keinen Untencfaied, ob das
Ortsstatnt die vorherige Anfertigiuig von Wahllisten durch den Wahlvorstand vor*
schreibt cider nicht Wo solche Listen nicht vorgeschrieben sind, wird die Be>
icheinignng m den Akten genommen. Es gelten die Bescheuugnngen als Bestand-
teile der Wahlakten und Ersate der Listen. (Siehe hierttber Bericht der VDL Kom-
mission S. 20, und die Ortsstatuten der Stadt Nürnberg § 12, der Stadt Wttnbni^g
§ la, der Stadt Augsburg Artikel 15 und der Stadt München § i&.
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M. von Schulz, Zur Revision des deutschen Gcwerbegchcbtägesetzes. jo
die Krankenkassen angewiesen sind. Aus den Mitteilungen der
Krankenkassen etc. kann die Qualität der Wähler (ob sie Arbeit-
geber oder Arbeiter, oder ob sie überhaupt wahlberechtigt sind)
genau nicht festgestellt werden. Wir bemerken hierzu, dals viele
Arbeiter bei freien Hilfekassen und bei Zwangskassen also doppelt
versichert sind. Besonders wenn sie Selbstversicherer sind, ist nicht
zu ermitteln, ob sie als Arbeitnehmer zu betrachten sind. Bei
manchen Ortskrankenkassen sind sowohl Innungsaibeiter wie Ar-
beiter von nicht zu einer Innung gehörigen Arbeitgebern versichert
Die Kassen halten dies nicht auseinander, sodals sich nicht erkennen
UUst, ob ein Arbeiter dem Gewerbegericht oder dem Innungsschieds-
gericht untersteht.
Die Vorschrift, dafs Polizeibehörden und Krankenkassen den
Gemeindebehörden Auskunft in Wahlangelegenheiten zu erteilen
haben, dürfte im Uebrigen nur für kleinere Städte zweckdienlich
sein. Städte, wie Berlin, welche ein gut funktionierendes Wahl-
bureau besitzen, werden sich mehr auf ihre Personenblätter ver-
lassen können, wie auf Berichte der Polizeibehörden und der Kassen.
Das Berliner Wahlbureau verfahrt unter anderem so, dafs es nach
den von ihm geführten Personenblättem die Veranlagung zur Ge-
werbesteuer feststellt Die Standesbezeichnung (Arbeitgeber oder
Arbeitnehmer) wird nach den Eintragungen in die Staatseinkommen-
steuer-Aufnahmelisten jähriich berichtigt.
Nur auf Grund dieser Personenblätter, zu deren Vollständigkeit
andere Behörden als das Wahlbureau so gut wie nichts beitragen,
wurden bei den letzten Grewerbegerichtswahlen 2593 zur Wahl An-
gemeldete als nicht wahlberechtigt festgestellt*)
*) 2290 Personen (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) wurden zurückgewiesen, weil
de in einem Bcsirke wohnten, wddier nidit for Wahl stand. Die Eintragang von
303 Personen vnrde abgelehnt, weil von denselben
a) 96 noch nicht i Jahr in Berlin wohnten,
b) 73 Zmhthansstrafe erlitten hatten,
c) 4 bevormundet,
d) 35 nidit r)eutsche,
e I 1 1 weihlichen Geschlechts,
f) 21 zu ]un'^.
g) 38 Innungsnuiglifder,
h) 3 t\x spät gemeldet waren,
ii 19 aufserhalb gewohnt hatten,
3 im Konkurse waren.
303 Pfefsoncn.
II«
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164
Gesetzgebung : DeotMii» Rdeh.
Endlich sei betont, da(s Nachtragungen bis zum Tage vor der
Wahl wohl undurchführbar sein dürften, weil die Prüfung hin-
sichtlich der Wahlfahigkeit und die Aufteilung von Abstinunungs-
listen einen bedeutenden Zeitaufwand, wenigstens für Berlin, erfordert.
Sobald die Listen ausgelegen haben und at^eschlossen sind, mufe
mit den Vorarbeiten für die Wahlen begonnen werden. Zweck»
mäfsig erscheint es jedoch, Anträge auf Nachtragung bis zum Stchlufs
der Auslegefrist der Listen zu berücksichtigen.')
Wenn man, veranlafst durch die Novelle, an die Verbesserung des
Wahlverfehreos herangeht, möchten wir darauf aufmerksam machen,
dafs die Praxis die Notwendigkeit ergeben hat, in dem Gewerbe-
gericht^setz den Begriff des Arbeitgebers aufeustellen, um die noch
zu erwähnenden Unzuträglichkeiten für spatere Zeiten zu vermeiden.
Der Vorsitzende des Verbandes der Arbeitgeberbeisitzer zu Berlin
fühlt sich beschwert, da(s zufolge der ungenügenden Abgrenzung
des Begriffes des Arbeitgebers von dem des Arbeitnehmers im
Beriiner Ortsstatut „bis zur letzten Wahl 10% der Arbeitgeber-
beisitzer aus dem Stande der Arbeitervertreter hervoi^^rangen sind.*)
Der Magistrat zu Berlin fordert, wie wir bereits oben gesehen, zum Aus-
weis als Arbeitgeber bei den Wahlen die Bescheinigung über die nach
§ 14 der Gewerbeordnung erfolgte Anmeldung des Gewerl>ebetriebes
oder die letzte Quittung über Zahlung der Gewerbesteuer.') Dies
scheint dem Beschwerdeführer nicht richtig. Er vertritt denselben
Standpunkt wie der Magistrat zu Frankfurt a. O.,^) dafs nämlich nach
dem Gesetz nur derjenige Arbeitgeber sei, welcher mindestens einen
Arbeiter dauernd beschäftige resp. zu beschäftigen pflege. Nach
dieser Richtung hin verlohnt es sich der Mülie, Kenntnis zu nehmen
von dem die Ansicln des Magistrats zu Frankfurt a. O. billigenden
Beschlüsse tlos rVankfurter Bezirksausschusses und von dem Auf-
sätze des früheren Beriiner Gewerberichters Schmieder. *) Beide
kommen zu dem Ergebnis, daCs bei jedem einzelnen Unternehmer
'1 \'crsc!iirdentlich ist di-r Wunsch geäulserl. liie Walilni moclitt-u diirrliwep
>k>nmags vorgeuDmmen werden. Man würde alsdaun auf j;rolserc Beteiligung der
Arbeitgeber wie Arbeitnehmer rechnen kunncn.
*) Weigert in Bfli^els itidii^e- und IlflndeM>1att, Nr. 4 vom M. Octbbcr
1898, S. 56.
*) § 13 des Ortsstatots vom a6. October 1892.
*) Blitter für MBiale Pruut, Nr. 105 vom 3. Januar 1895, Sp. 22 ff.
Nr. II der Socialen Praxis vom 15. Dexember 1898 Sp. 272 und 273 «nd
Jastrov a. a. O., S. 335.
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M. von Schulz, Zur Revision tles dcuUciicu GewerbegcrichtsgcscUes.
ennittclt werden müsse, ob er wirklich „Arbeit giebt", d. h. ob er
in der Regel Arbeitnehmer beschäftigt. Es wird von Schmieder
nicht verschwiegen, dafs man nicht immer einen strikten Nachweis
erfordern könne, da sonst in grofeen Städten eine geradezu nicht
zu bewältigende Arbeit ftir die Magistrate bei Au&tdlung der Listen
entstehe. Er schlägt vor, die Sehwierigkeit dadurch zu heben, dafs
man solche Unternehmer, welche notorisch Grehülfen beschäftigen,
ohne weiteres eintrage und bei den übrigen sich mit einer Glaub-
haftmachung im Sinne der Zivilprozelsordnung begnüge.
Wenn in den erwähnten Ortsstatuten (Berlin und Frankfurt a. O.)
der B^;rifr des Arbeitgebers verschieden bestimmt wird, so richtet
dies Verwirrung an. Das Verschulden aber trägt einzig und allein
der Gesetzgeber, welcher bei Schaffung des Gewerbegerichtsgesetzes
ohne eine Definition, des Begriffs des Arbeitgebers auszukommen
boflite. Dafs die Unterlassung der Definition ein Fehler war, lehren
die beiden Ortsstatute. Wir halten mit dem Magistrat von Frank-
ftirt a. O. es für unbedenklich, als Arbeitgeber denjenigen selbst-
ständigen Gewerbetreibenden zu bezeichnen, welcher innerhalb
seines Gewerbebetriebes und zum Zwecke dieses Betriebes gegen
Lohn mindestens einen Arbeiter dauernd beschäftigt bezw. zu be-
schäftigen pflegt. Man kann Arbeitgeber sein, ohne das Gewerbe
angemeldet zu haben oder ohne Gewerbesteuer zu zahlen. Für die
Definition des Arbeitgebers sind weder die Anmeldung des Ge*
werbes» noch die Gewerbesteuerzahlung von Belang.'} Um zu zeigen,
zu welchen Konsequenzen der Inhalt des Berliner Ortsstatuts gefiShrt
') Fl esc h will übrigens durch die EiniUhrun^; des ProportMnalwahlsjrstems
die aufgedeckten Schäden mildern (das „Gewerbcgericht" Nr. 2 vom 3. November
1898 Sp. 261 und meint, dafs Hioses System auch das gerechtere sei, weil der Minder-
heit der Wähler wirkliche \crtrpter beschafft würden. iVgl. hier/.u Jastrow a.a.O.
S. 336, I locli in den Blättern für ho/.i.ilr Praxis von 1894 Nr. 9 S. 147. Nr. 55
S. 24 und Nr. 77 S. 217 und im .(Gewcrbo^ij. richt • vom 5. Januar iSqo Nr. 4 S]>. 41 ff.)
Der Map.slral zu Frankfurt a. M. gedachtt- das l'roportionalwalilsystem durch
SuUatenänderung einzuführen. Diese Aendenm}; ist sowohl vom liczirksausschul» zu
Wicibsden wie tob den Prcmnaalnt der Provins HesMiHNanMi perhorrescicrt
votdcn. Der Proriiixialrmt hat besonders betont, dab die EinfUhrung des Propor-
tioftahrahlsystems eine gesetswidrige sein wOrde, da alsdann das Ergebnis der
Wahl nicht mehr anmittelbar ($ la des Geweibegerichtsgesetses) von der nach
freier Ent&chliefsung der einaelncn Wihler erfo^enden Abstimmnng abhingig wOrde
(Nr. 6 des Gewerb^erichts rom 2. Mtn 1899 Sp. 71).
L^iyiii^cü Uy Google
i66
Gcsctzgebang: Deutsches Reich.
hat und fernerhin (lihren kann, wollen wir aus der Ftaxis des Ber-
liner Gewerbegerichts zwei Fälle mitteilen:
Es wurde dem Gewerbegericht gemeldet, dals der Arbeit-
nehmerbeisitzer X. den selbständigen Gewerbebetrieb in seiner
Branche ausübe, indem er fiir eigene Rechnung die Herstellung und
den Vertrieb von Waren besorge. .Bei seiner Vernehmung erklärte
der beanstandete Arbeitnehmerbeisitzer, dals er seit etwa 2 Jahren
einen Hausierhandel mit von ihm selbst fabrizierten Waren betreibe.
Sein Gewerbebetrieb, welchen er bei der Steuerbehörde angezeigt
habe, sei ihm von dieser erlaubt worden. Er sei nicht gewerbe-
steuerpflichtig und beschäftige keine Arbeiter. So oft sich lohnen-
dere Beschäftigung als Geselle für ihn biete, was hin und wieder
geschehe, arbeite er als solcher.
Der Beisitzer wurde auf Grund dieses Thatbcstandes seines
Amtes enthoben, mit der Begründung, dafs der Titel Vü der Ge-
werbeordnung auf ihn keine Anwendung finde und er daher nicht
zu den gewerblichen Arbeitern im Sinne des § 2 des Ortsstatuts ^)
gehöre.
Die Enthebung ist zu Recht erfolgt. Denn als Arbeitnehmer
im Sinne des Gewerbegerichtsgesetzes kann X. nicht angesprochen
werden. Als Arbeitnehmer kommen nach dem Inhalt des an-
gezogenen § des Statuts nur Gesellen, Gehülfen, Fabrikarbeiter und
Lehrlinge, auf welche der VII. Titel der Gewerbeordnung Anwendung
findet, in Betracht. In keine dieser Kategorieen fallt X., da er der
Regel nach seit zwei Jahren einen selbständigen Gewerbebetrieb
ausübt und nur ausnahmsweise („hin und wieder" wie er bei seiner
Vernehmung bemerkte), Arbeit als Geselle angenommen hat Da-
raus, dafs er der Klasse der Arbeitgeber nicht zugezählt werden
kann, folgt gegenüber dem klaren Wortlaut des § 2 nicht, dafe
er nun als Arbeiter anzusehen ist. Es ist vielmehr aus der doppelten
Negation nur zu schliefsen, dals er weder als Arbeitgeber noch ab
Arbeitnehmer wahlberechtigt ist Er ist zweifellos nicht Arbeit-
sgeber, er ist auch nicht — mindestens nicht regelmäfsig — gewerb-
licher Arbeiter; dafe er gelegentlich und vereinzelt in ein gewerb-
liclies Arbeitsverhältnis eintritt, kann nicht ausreichen, ihn als
Arbeiter im Sinne des Gesetzes zu charakterisieren. Darunter
können nur Personen verstanden werden, welche regelmäfsig
als gewerbliche Arbeiter beschäftigt werden und durch
*) Dieser $ entbilt den Wordant de« § 3 des Gcwcrb^eridttagotttics.
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M. Ton Schals, Zur Revision de« deotsdien Gewerbegericbtsgesetaes. j^j
diese Beschäftigung ab Arbeiter ihren Lebensunterhalt der Haupt-
sache nach erwerben, so dals die gewerbliche Lohnarbeit als ihr
Beruf ersdieint Demgegenüber ist X. selbständiger Gewerbe-
treibender und Handelsmann. Er findet durch Arbeit für eigene
Rechnung und durch Handel mit den selbstgefertigten Waren seinen
Lebensunterhalt Mit Fug ist ihm nach dem Zweck und Sinn des
Gewerbegerichtsgesetzes die Wählbarkeit abgesprochen worden, da
er für gewöhnlich nicht in die Lage kommen kann, vor dem Ge*
wcrb^rericht Recht zu nehmen und infolgedessen kein unmittel-
bares rechtliches Interesse haben kann auf die Zusammensetzung
oder auf die Rechtsprechung des Gewerbegerichts einen Einfluß
auszuübend) Freilich genügte für Berlin zum Nachweis der Quali-
fikation des X. als Arbeitgeber, dafs derselbe nach Anmeldung
seines Betriebes im Besitze einer Bescheinigung der Steuerbehörde
hierüber ist (§ 13 des Ortsstatuts).
In der zweiten Sache war bemängelt worden, dals der Arbeit-
nehmerbeisitzer Y. zur Zeit seiner Wahl eine Arbeiterin zur Orts-
krankenkasse des von ihm betriebenen Gewerbes angemeldet
hatte. Auf Grund dieser Tliatsache wurde Y. seines Amtes ent-
hoben, weil er zur Zeit der Wahl und geraume Zeil nach derselben
dem Stande der Arbeitgeber angehört habe. Gegen diesen Be-
scheid erhob \. Beschwerde, und zwar mit Erfolg. Er behauptete»
in seiner Häuslichkeit wahrend der fraglichen Zeit nur fiir mehrere
Arhtit^'cber thäti<^ f^cwescn zu sein. Er sei hierbei von der Ar-
beiterin (seiner jetzigen Ehefrau), welche auch von ihm bei der
Krankenkasse gemeldet worden sei. unterstützt worden. Sonach
sei er gewerblicher Arbeiter eventuell Hausgewerbetreibender. Die
neueren Erhebungen ergaben die Wahrheit der Anführungen des Y.
Er hat selbständig für Kunden nicht gearbeitet, auch ist der Steuer-
behörde über einen damaligen selbständigen Betrieb desselben nichts
bekannt geworden. Nach dem Thatbestande muüs deswegen Y.,
selbst wenn er als gewerblicher Arbeiter rcsp. Heimarbeiter nicht
anzusehen ist, als Hausgewerbetreibender erachtet werden. Hierbei
ist es aber nach i; 10 Absatz 3 des Ortsstatuts nicht von Belang,
ob Y. Arbeiter beschäftigt hat, also im Verhältnis zu diesen Arbeit-
geber war. Bei dieser Sachlage war es gerechtfertigt, dais die Be«
schwerdeinstanz dem Ansuchen des W statti^ab und seine Wieder-
einsetzung aU Beisitzer verfugte. Im Sinne des Gewerbegericbts-
') Wilhelmi und Fttrst, Konunentar mm G.G.G., Note 2 la § la S. 56h,
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Geiietigebmig : Denischef Reich.
gesetzes besafs Y. zweifellos seiner Zeit die Eigenschaft eines Arbeit-
gebers.
Der Fall Y. erregte das Interesse Iiiesig^r Arbeitgeber derart,
dafs j^egen ein unter Mitwirkung des Y. ei^;angenes L'rteil seitens
einer Partei die Xicliti}4kcitsklage — vermutlich auf Veranlassung
des Arbeitgcberbcisilzer\ erbaue los — erhoben ist. Die auf dieselbe
ergangene abweisende (Mitschcidung erscheint von grofser \\'ichtii,^keit,
denn es ist klar, da(s die Rechtssicherheit nicht unbedeutend gefährdet
werden würde, wenn jedes Urteil eines Gewerbegerichts mit der
Behauptung angefochten werden kann, dafs ein Beisitzer in diesem
oder jenem Zeitpunkt zum Arbeitgebe r I rzw. Arbeitnehmerbeisitzer
nicht wählbar gewesen sei.*) Bei dem beklagenswerten Unistande
des \on den Gewerbegerichten getrennten Bestehens von Innungs-
schiedsgerichten wollen wir beispielsweise darauf hinweisen, dals
Arbeitnehmer doch sehr häufig ihre Arbeitsstätten wechseln. Es
kann daher vorkommen, dafs Arbeitnehmerbeisitzer — meist ohne
ihr Wissen — während ihrer gewerbegericht liehen Amtsperiode hin
und wieder bei Innungsmeistern Arbeit nehmen und aus diesem
Grunde ihrer Wählbarkeit verlustig gehen. Wenn hierdurch die
(lültigkeit der Urteile, an deren P>lars der nicht mehr wählbare
Beisitzer teilgenommen hat, alteriert werden sollte, so inüfste dies
ausdrücklich im Gesetz ausgesprochen worden sein. Da dies nicht
geschehen ist, hat man anzunehmen, dafs § 19 GGG. durch die
Knthebuug des Beisitzers nur für die Zukunft vorbeugen will. Bei
der Nichtigkeitsklage hat mit Rücksicht darauf das Gewerbegericht
lediglich festgestellt, dafs Y. zum Arbeitnehmerbeisitzer gewählt
worden ist und sich am Tage der IVteilsfallung noch in der ord-
nungsmälsigen Ausübung seines auf Grund der Wahl erlangten
Amtes befunden hat. Bei dem grofsen Interesse, welches die Arbeit-
nehmer von jeher dem (lewcrbegericht bewiesen haben, und welches
auch bei den Arbeitgebern für diese Institution wachgerufen worden
*) Sowohl in enter wie in xweiter Lesung de^ Entwurfes der Novelle zum
GewerbegcricbtsgeseU machte ein Vertreter der verbündeten Regierangen, ohne indes
in deren Namen sprechen an woUen, der Reichstagskommisslon gegenttbcr versdiie»
dene Bedenken gegen die obUgatoriacbe Emflihnmg von Wählerlisten geltend. Es
wttrde sich UnvoUstindigkeit vnd Fehlerhafti^eit der Listen in weitem Umfange
zeigen. Infolge dessen kannten viele Wahlen sich als ungültig erweisen. Diese
Bedenken seien um so schwerwiegender, als von der Gültigkeit der Wahlen
zum Gcwcrbopcrirht imter L'mst.Hnden auch die k e c h t sg ül t igk <• i t der Urteile
des Gewerbi^erichts abhängig sei. (Bericht der VII. Kommission, S. 23.)
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M. TOB Sclmlt, Zar Revision des dentscbcn Gewerb^ericbtsgesetses. 1O9
ist, pflegen die Gewerbetreibenden sich mit der gewerbegerichtUchen
Judikatur und mit den für dieselbe malsgebenden gesetzlichen Vor-
Schriften eingehender zu beschäftigen, als dies etwa mit der Judikatur
der ordentlichen Gerichte der Fall ist Urteile der Gewerbegerichte
werden in Versammlungen der Arbeitgeber sowie der Arbeitnehmer
besprochen.') Um künftigen Beunruhigungen vorzubeugen, mag
die Nichtigkeitsklage eioen Fingerzeig dafür abgeben, in das Gewerbe-
gerichtsgesetz die Bestimmung aufzunehmen, dals Urteile, bei deren
Fällung Beisitzer, welche weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer
sind, aber dennoch ohne Kenntnis des Gerichts von ihrer Unfähig-
keit zur Ausübung der richterlichen Thätigkeit zu dieser zugezogen
sind, zu Recht begehen.*)
Wenn man aber nach dieser Richtung hin die bestehenden
Gesetze fiir ausreichende hält und den von uns angedeuteten Weg
nicht geht, so wird man nicht umhin können, den Begriff des Ar-
beitgebers unter allen Umständen in das Gewerbegerichtsgesetz auf-
zunehmen. ^) Nur dann sind Komplikationen durch die Wahlen
nicht zu befürchten, wenn in Zukunft die hier in Fra^'c kommenden
Bestimmungen der Ortsstatuten fiir die deutschen Gewerbegerichte
hinsichtlich der Arbeitgeber, etwa nachdem Vorbilde von Frankfurta O.
überall gleichmäfsig lauten.
Der Abgeordnete v. Stumm') will natürlich von den Wahlen
') Siehe darüber M. v. Schulz in Nr. 16 der Sosulen Piazis Tom 19. Januar
1(99, Sp. 423 ff. aad in divsem Archiv, Bd. XHl S. 394.
*) Aehnliches bezweckt der Abändrnm^^samrmg Totsauer Nr. 90, Reichstag
Uk Legislatnrperiodc l. Session 1898 qo, VII. Kommission:
dem § 13 als .\l»sat/. 4 folgendes liin/.uzufüjjen .
Beisitzer, welche i-rst nach ihrer Walil .Mittjlii il einer in Abs. 3 be-
zeichneten Innung werden, oder erst n.ich ihrer Wahl bei einem Mitglicde
einer solchen Innung in Arbeit treten, bleiben bis zum Ablanf der Wahl-
periode im Aast.
BoOglidi der ordcotlidicn Gerichte veigleiche § 5a des Geriefatsverfassungs*
Scsctscs und § 513 Nr. a der Qvflprosefiordnniig.
*) Schmieder will in seinem Aufsatz fiber den Eatwuf eines Reicbsgesctscs,
betr. die Sidiemiig der Baofordenngca, dafs im Gesetz der GnudstOdueigeiitamer
nd der Baogddgebcr fflr den Fall ihrer Haftung als „Arbeitgeber** beaekbncc
werden. Auf die Weise verhelfe man den Arbeiter schnell zu seinem Albdtslolm,
weil dann etwaige Streitigkeiten gemäfs §§1,3 des Gewerl>egcricbtsgcsetses zur Zu*
fUndigkeit der prompt arbeitenden Gewerbegerichte gehören würden.
*) Rckhatagasilsang vom i8. Januar 1899, S. 375.
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GesefatKebnif : DenUdies Reidi.
durch die Gewerbetreibenden selbst überhaupt nichts wissen. Er
wünscht die Auswalil der Gevverbegerichtsbeisitzer äluilich so, wie
dieselbe für die Schöffengerichte vorgenommen wird. Zum Nach-
weise der Güte seines Vorschlages berief er sich auf den verstorbenen
Abgeordneten Windthorst, welcher am 3. Mai 1878 erklärte,
dafe es seinen Anschauun<;eti sehr \iel mehr entsprechen würde,
wenn die Konstruktion der ( iewerbe^erichtsbehörden autoritativ
geschähe. Der Abgeordnete Windthorst hat aber auch in derselben
Sit^nnf^ im Anschlufs an seinen Vorschlag, die gewerblichen Rechts*
Streitigkeiten einfach durch den Amtsrichter unter Zuziehung ge-
werblicher Elemente entscheiden zu lassen, geaulsert: »AVenn man
einmal diese nach meiner Ansicht allein richtii^c Tdee nicht durch-
fuhren will, dann bin ich der Meinung, flal's die ( 10 Werbegerichte,
die man hier vor Augen hat, keinerlei Effekt haben, keinerlei
Vertrauen finden werden, wenn man nicht den Beisitzer
wählen läfst." Dieses Vertrauen «(cniefseti die (iewerbegerichte und
zwar nach unseren Krfahruni^en ledij^lich, weil die Gewerbetreiben-
den sich ihre bc isitzeiKlcii Richter selbst wählen können. Man thut
des\vo(;cn r(M^ht, Herrn v. Stumm nirht Ciehör zu schenken und es
beim alten zu lassen. .\ur auf diese Weise werden die Freunde
(k r ( iewerbet^erichtc in ihrem Bestreben, sie aufrecht zu erhalten
und weiter zu entwickeln, bestärkt, und die Sympathieen für diese
Gerichte erhölit werden.
Zum Schlufs haben wir noch im lliiiblick auf Art. I\' des Knt-
wurfes zur Novelle bei der Ihäti^'keit des ( iewerbef:jerichts als
EiiiiL^uiiL^samtes zu \er\veilen. .Art. I\' entspricht inhaltlich in seinen
beiden ersten Al)schnitten dem 6. und 7. Abschnitt des ^71 des
Berliner ( )rtsslatut>. welclier dem N\>rni.ilstatut für ( iewerbegerichte
entnonuuen ist 'j mit Ausnalime der Worte: „geeignet erscheinenden
■ - - - ^
'j Die beiden .VbächuiUc lautcu :
Erfolgt die Anrufung nur von Seiten einer Partei, so hat der Vorsitzende
hiervon einer oder mebreren der ihm «b Vertranensmiinier der ■nderen
Fartei bekaimteii Penooen Kenntnis xn geben nnd zngleidi nacb Mö^idi-
kett dabin n wirken, daft auch die andere Pute! sich snr Aarafong det
Einigaiigninia bereit findet
Auch in anderen Fällen soll der Vorsitzende bei Streitigkeiten der im
§ 61 bezichnetcn Art auf die Anrufung des Einigungsamtes hinzuwirken,
suclxMi und dieselbe den T'artcirn hri j:;rei<,nictor Veranlassung nahelegen.
Si«"l)c i!.-i/,u >; 71 der Vorschläge zur Auf^telUiiii,' vnn Ortsstatuten für (Iewerbe-
gerichte aut Grund des Keicbsgcsctzes vom 29. Juli 1890. Veröfienüicht aal An-
i^iyui^ud by Googl
M. TOB Schals, ZorRevisioa dct deotacfaen Geirerbef»«ricbtsg<eseties. iji
Falles persönlich". Diese letzteren Worte können in der Bestimmung
fehlen, da es selbstverständlich ist, dafs der X'orsitzende, wenn er
CS für geeignet hält, persönlich einschreiten wird.
Der Abgeordnete Bassermann hat bereits in der Reichstags-
sitzung vom 25. Januar 1899 betont, dafis die Ausfuhrung, nach
welcher das Einigungsamt nur dann eintreten kann, wenn es von
beiden Teilen angerufen wird, unzutreffend ist. Die Berufung des
Einigungsamtes mufs erfolgen, wenn beide Parteien anrufen. Fakul-
tativ kann auch auf Veranlassung einer Partei oder aus der eigenen
Initiative des Wirsitzenden die Vermittlui^r versucht werden. Dies
geht aus dem Wortlaute des Gesetzes hervcMr, Unter allseitigem
Kinverstandnis wurde ein Gleiches bei der Beratung der VII. Reichs-
tagskommission festgestellt') Dir Absätze I und 2 des § 62a sind
demnach lediglich eine authentische Interpretation des Gesetzes. Der
Bericht der Kommission fuhrt mit Recht an, dafs diese für den
Vorsitzenden gegebene Instruktion von solcher Bedeutung und Trag-
weite sei, dafs sie in das Gesetz und nicht in das Statut gehöre.
Das Berliner Gewerbegericht hat dem ihm durch das Statut ge-
wordenen Auftrage entsprechend, nachdem es eine Zeit lang eine
abwartende Stellung eingenommen , stets aus eigenster Initiative
heraus bei Strikes interveniert*) Auch wir haben sehen müssen,
datCs keine der sich gegenüberstehenden Parteien der Regel nach
Ordnung des Minist<rrs für Handel und Gewerbe. Berlin-CharloltnibitrK, Fr. Kofft-
kanpf, nnd S. a6 des Bcvichts der VIL KomoiMsion des Reichttaces.
*) S. 35 und 26 des Berichts der VIL Kommiaiiaii.
*) Aas dieser Thitigkeit des Gcwerbegerichti eigiebt sich folgende T«bellc:
Verwaltungsbericht»
Strikes, bei denen das Gewerbegericht lS95,96 9697 97 9&
a) mit den Bftciliptcn Verhandlungen gepflogen,
eine .\nrufung des Kinigungsamtes aber von
36
12
8
nur von einer Seite als Einigungsamt an-
7
2
1
TOD beiden Teilen als Einigw^sunt ange-
11
4
3
Der Strike ad b 1897/98 ist selbstSndig nicht beendet.
viehnehr in des
allgcmeiiien Strike der sftmtlichen Arbeiter der betr. Braach« anf«
gegangen, welche ihrerseits das Gewerbegericht als Einigungsamt angerufen
und eine Anrufung des>.e1ben auch seitens der Arbeitgeber erzielt haben.
Es kam su einem Vergleiche.
172
Gesefateebune : Deutscbes Reich.
geneigt ist, den ersten Schritt zum Gewerbegericht zu thun in der
Befürchtung» liir den schwächeren Teil gehalten zu werden.' l^ang
und gäbe war dabei die Erklärung: „VVir haben die Anrufung
nicht nötig, wir können es aushalten." Der Vorsitzende des Berliner
Einigungsamtes pflegt deswegen vor B^;inn dci Verhandlunjr zur
Beruh ip^ung der Parteien die Bemerkung vorauszuschicken, dais keine
der Parteien aus freien Stücken das Gewerbcj^a-richt angerufen habe,
dafe vielmehr auf seine Veranlassung die Parteien sich zur An-
rufung des Einigungsamtes bereit gefunden iiaben. Im übrigen muls
anerkannt wei rlt ii, dafs mit wenigen Ausnahmen Arbeitnehmer so-
wohl wie Arbeitgeber der Einladung des Gewerbegerichts zur vor-
läufigen Besprechung der Strikes bereitwilligst Folge leisteten und
die erforderliche Auskunft erteilten. Häufig bedurfte es freilich der
Mitwirkung der Beisitzer bei den \''ergleichsverhandlungen, um mil's-
trauische .Arbeitgeber über die .Aufgaben des Einigungsamtes zu be-
lehren.-) Diese Hinzuziehung der Beisitzer von Fall zu I*all wünsclit
der Berliner Arbcitgeberbei.sitzer Weigert ''l zu einer ständigen zu
gestalten. Nacli iiini soll aus der Zaiil der Beisitzer des Geweri)e-
gcrirhts ein ständiger Ausschuls gebildet werden, der alle X'orgängc
in der Arbeiterbewegung verfolgt und dadurch in die Lage kommt,
rechtzeitig mit den Parteien Fühlung zu nehmen. Es dürfte jedoch
hier zu befürchten sein, dafs dieser Ausschufs, besonders wenn der
Vorsitzende des Einigungsamtes nicht zugleich X'orsitzender des
Ausschusses ist, nicht selten seine eigenen Wege wandeln und
ohne Rücksicht auf das Kinigungsamt X'ermittlungen anzu.->iellen
versuchen wird. Xach unseren Erfahrungen ist es aber stet'^ vom
l ebe! gewesen, wenn bei Strikes von verschiedenen Seiten eine
Eini'^'uni^ niiL^'cstrebt wird. Wenn auch zuzugeben ist, dais die
Tliätigkeil des KinigungsanUes nicht nur hier, sondern auch anderen
C)rts nur als eine schwache zu bezeichnen ist,'*) so darf dennoch
diese als eine ^geringfügige nicht beurteilt werden. ') Sobald durch
eine Anrufung des Einigungsamtes die Gefahr eines ausgedehnten
*) Soiiale Pruii vom 37. Febnur 1896, Sp. 634, Verwaltimgibttriclit Ober das
Berliner Gcwerbegeridit 1895/96 und Jastrow ft. a. O., S. 380.
*) Jastrow a. a. O., S. 380. ^ehe auch Blendermann im „Gcwerbegeridit**,
ID. Jahigang Nr. 2 vom 4. Kovembcr 1897, Sp. 13.
'1 Soziale Praxis vom 25. Mai 1899, Sp. 920.
• j riewi-rli. f^pricht Nr. 8 vom S. Mai 1S9S, Sp. 90.
'■^1 (iewrl«'t;oricht Nr. 12 vom I . .Scpti-mber 189S III. Jahrg., Sp. 143. Soiial«
Praxis Nr. ib vom 19. Januar 1899 Sp. 429 und 430 und Jastrow a. a. O., S. 375-
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yt Ton Schulz, ZurRevidmi des deutschen Gewerbegericbtsgesetzes. ij^
langwierigen Strikes auch nur von einem Inclustriezweige be*
seitigt wird, so hat auch in solchem Falle das Einigungsamt schon
segensreich gewirkt Wir dürfen in dieser Beziehung an den Strike
in der Berliner Konfektion und an den Formerstrike erinnern. Den
Gegnern der Ein^ngsamter ist femer entgegenzuhalten, da(s im
allgemeinen die Gewerbegerichte als Einigungsamter von Jahr zu
Jahr mehr in Anspruch genommen werden.') Die Einigungsamter
würden jedoch an Ansehen gewinnen, wenn die Gewerbetreibenden
verpflichtet werden könnten, vor dem Einigungsamt zur Aussprache
über die ausgebrochenen Dififerenzen zu erscheinen. Denn sind die
Parteien nun einmal vor dem Einigungsamt aufgetreten, so wird es
in den meisten Fällen nicht zu schwierig sein, sie zu einer Ver-
ständigung zu fuhren.
Bei dieser Sachlage wird der im Absatz 3 des § 62 a projek-
tierte \>rhandlungszwang kaum auf ernstlichen Widerspruch stolsen,
zumal die deutschen Gewerbegertchte wohl ohne Ausnahme einen
solchen Zwang für notwendig halten und auch ausländische Ge-
setzgelxi mit den obligatorischen Einigungsäititern sich befreundet
haben.-) Hier will Absatz 3 des § 62a des Entwurfes Fürsorge
treffen durch Androhung einer Geldstrafe fiir den Fall des Nicht-
eischeinens einer Partei. Es ist angebracht, die Befugnis zur Ver-
hängung einer möglichst hohen Geldstrafe dem Vorsitzenden
des Gewerbegerichts zu geben, da der \''orsitzende des Eini-
gungsamts erst durch Wahl der Parteien bestimmt wird und bei
gröfseren Gewerbegerichten mehrere Gewerberichter fungieren.
*) AnsfUhmnccn des Abgeordneten Trimborn in der Reichstagssitung yora
18. Januar 1899, Bericht der Vn. Kommission, S. 2$.
Das „Gcwcrbcßcricht'" vom 2. Juni 1899, Sp. 97, und vom 4. August 1898,
Sp. 131. Ucber die Kinführung obligatorischer Kinipnngsämter in Frankreich siehe
Nr. 17 der Sozialen Praxis vom 26. Januar 1800. Sp. 461 und über den Gesetzentwurf
b«-tr. Einigungsämter in Genf Nr. 21 der Soxialen Praxis vom 23. t'ebruar 1S99,
Sp. 574.
Gegen die Einrichtung ubligatoriscber Einigungsamter bat neuerdings der Verein
deutscher Werkaengmaschinenfabriken dnrdi eine Eingabe an den StaatssekretSr des
Rdcbsamts des Innern protestiert. Der Verein erkennt die Gleichbcrechtigiing der
Asbciter mit den Aibeitgebera nicht an. (Smdale Pnais vom 2$. Mai 1899 Sp. 934.)
') f,Der Vorritcende ist befngt, an den Streitigkeiten beteiligte Personen vor-
zuladcn tmd am vernflmn^n. Er kann hierbei fiir den Fall des Nichtersdieincns eine
Geldstrafe bis zu einhundert Mark androhen. Gegen dif Festsetzung der Strafe
findet Beschwerde nach den Besümmnngen der Zivilprozefsordnung statt"
174
Gctetzgebong: Dsntsche« Rddi.
Ausschlaggebend fiir den Absatz 3 war die nachstehend wieder-
gegebene Erwägung:') „Bei Strikes, bei welchen oft tausende von
Arbeitern beteiligt seien und vielfach weitere Kreise der Bevölkerung
in Mitleidenschaft gezogen würden, ständen nicht nur Privatinteressen»
sondern in hervorragendem Malse auch das öffentliche Wohl in
Frage. Man könne durchweg jeden Strike als öffentliche Kalamität
bezeichnen. Von diesem Standpunkt aus erscheine es grundsatzlich
gewils gerechtfertigt, die Aktionsfähigkeit und die Autorität des
Einigungsamtes dadurch zu fördern, dafs es mit der Befugnis zur
zwangsweisen Vorladung ausgestattet werde. Nach § 40 des Cie-
setzes könne das Gewerbegericht in einem anhängigen Rechtsstreit
jede Partei, sei es zur Sachaufklärung, sei es (lir die Zwecke des
Vei^leichsversuches, durch Androhung von Geldstrafen zum persön-
lichen Erscheinen zwingen." In dem Bericht ist mit Recht die
Frage aufgeworfen, warum die Befugnis die dein Richter in einem
anhängigen Gewerbestreit gewährt sei, dem Vorsitzenden des Ge-
werbegerichts versagt sein solle bei allgemeinen Lohnstreitig-
keiten, die den sozialen Frieden schwer bedrohten. Der Bericht
scheint die Hau jn Verhandlung vor dem Einig^ngsamt mit im Aui;^e
zu haben. Nach dem Text des (lesetzentwurfes handelt es sich
nur um Vorvemehmungen. Ks wird also eine präzisere Fassung
der Bestinunung am Platze sein. Die zu erlassende Zwangsvorschrift
würde ferner noch ihre Rechtfertigung finden in den grofeen beider-
seitigen Opfern, welche ^sist durchw^ bei Strikes von den Arl)eit-
gebern wie Arbeitnehmern gebracht werden müssen. Die Berliner
Strikes, welche in den letzten Jahren ausgebrochen sind, dienen
zum Beweise der vorgetragenen Thatsachen.
Weigert führt in seinem von uns schon genannten Aufsatz aus
der Berliner Praxis mehrere Strikes an, die besonders klar machen,
wie notwendig eine eventuelle zwangsweise Verhandlung der Striken-
den mit ihren .Arbeitgebern \'or dem Kinigungsamt ist. Wir greifen
heraus die Strikes in der Wollhutbranche Mai 1896. in der Metall-
industrie Iloclisommer 1897 und schliefslich den Strike der Setzer
des Berliner Lokalanzeigers Frühjahr 1899.
Die Hutfabrikanten weigerten sich \or dem Einigungsamt zu
erscheinen in der Absicht, wie die Arbeitnehmer behaupten, die
Or;:(anisation derselben zu zerstören. Sicher kann dieser Grrund
der Absage als ein stichhaltiger nicht erachtet werden. Bei dem
>j Boidit der VII. KominiMioii, S. 26.
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M. Ton Schule, ZorRevitk» des dcotochcii Gewerbegerichtsgcsctxet.
Metallarbeiterstrike kostete es einem Arbeitgeberbeisitzer unseres
Grerichts unsägliche Mühe und lange Arbeit, um die Unternehmer
von der Nützlichkeit der Anrufung des Einigungsamtes zu überzeugen.
Was den Strike der Setzer des Lokalanzeiger anlangt, so drehte sich
derselbe hauptsachlich darum, dafs der Eigentümer des Blattes sich
von seinen Setzern einen Revers hatte ausstellen lassen, in welchem
sie veisprachen, während ihres Arbeitsverhältnisses in seiner Druckerei
der Organisation des Verbands deutscher Buchdrucker nicht anzu«
gdiören. Das Anerbieten des Gewerbegerichts zu vermitteln wurde
bekierseits abgelehnt. Sechs Wochen aber nach Beginn des Strikes
wurde derselbe durch Vermittlung eines Arbeitgeberbeisitzers bei-
gelegt Der Eigentümer des Lokalanzeigers verzichtete auf den
Revers und erkannte an, dass er mit seinem Verlangen, die Setzer
zu verpflichten, dem Verbände nicht anzugehören, im Unrecht sei.
Wie ersprieÜslicli für die Gewerbetreibenden der Zwang zum
Erscheinen vor dem Einigungsamt sein würde, illustriert am besten
ein augenblicklich noch anhängiger Prozefs.
Die beklagten Arbeiter haben die von ihnen angefangenen
Akkordarbeiten rcclitswidrig unbeendigt liegen gelassen. Der Arbeit*
geber fordert auf Grund des ^ 124 b Reich^ewerbeordnung von
jedem von ihnen 16,20 Mk. als Entschädigung. Ein Termin würde,
falls die Parteien das Einigungsamt angerufen hätten, sofort vor
demselben anberaumt worden sein und die Wahrscheinlichkeit hätte
vorgelegen, dals, da seil der Kinstellung der .Arbeit erst einige Tage
verflossen waren, eine Wiederaufnahme der Arbeit bewirkt worden
wäre. Mit Rücksicht auf die Kürze der zwischen der Arbeitsnieder-
legung und dciTi l enuin vor dem Einigungsamt verflossenen Zeit
würde der Arbeitgeber möglicherweise wt-nn ein \>rgleich nicht
zustande gekommen wäre und wenn die Hckla^nen dem eventuellen
Schiedssprüche auf alsbaldige Wiederauihahmc der Arbeit sich ge-
fügt hätten, auf jede lüuschädigung verzichtet haben, schlimmsten
Falls hätten aber die Beklagten immer nur eine Entschädigung üür
die wenigen Tage zwischen Einsteilung der Arbeit und dem Einigungs-
amtstermin zu entrichten gehabt
Statt dessen haben die Parteien den länger dauernden und das
Vermögen beider Teile mehr belastenden Prozessweg gewählt
Während vor dem Einigungsamt der Streit in wenigen Ta^j^cn
erledigt worden wäre, ist Veigleichstermin auf die gegen einen I eil
der Arbeiter Ende März eingereichte Klage .Anfang April und aut
die gegen die übrigen Beklagten Anfang April eingereichte Klage
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176
Gaetsgebang: Deutiches Reich.
Mitte April anberaumt p^ewesen. Erster Kanimertermin für beide
Sachen hat am 21. April stattp^cfunden und hier konnte erst die
Vereinigung beider Sachen beschlossen werden. In diesem Kammer-
termin machten verschiedene Beklag^te geltend, dafs Kläger von
ihnen nicht 16,20 Mk. als Entschädigung für eine Woche fordern
könne, da sie mit ihren Akkorden, wenn sie dieselben vollendet
hätten, in 2 resp. 3—5 Tagen fertig geworden wären. Der Arbeit-
geber konnte sich nicht darauf erklären, ob bei mehreren Beklagten
die Vollendung ihrer Akkorde weniger als eine Woche gedauert
haben würde. Es wurde deshalb auf Antrag der Parteien ein neuer
Termin anberaumt, vor welchem Beklagte eine Aufstellung darüber
einzureichen hatten, wie lange jeder von ihnen an seinem Akkorde
noch zu arbeiten gehabt hätte und Kläger sich auf diese Au&tellung
zu erklären hau Die Aufstellui^ der Reklagten ist eingegangen,
die Gegenerklärung des Klägers steht noch aus. Erkennt er im
nächsten Termin die Aufstellung der Rt klaotcn nicht als richtig an,
so mülstc bezüglich eines jeden Beklagten, bei dem er die von ihm
behauptete Dauer unter einer Woche bis zur Fertigstellung des
Akkordes bestreitet , besonderer Beweis erhoben werden. Die Be-
endigung des Prozesses erster Instanz kann dadurch noch Monate
hindurch dauern. Erwägt man . dafs vorliegend den Parteien noch
die zweite Instanz oft'en steht, so kann für den Berufungsfall die
endgültige Entscheidung nocli bis /.um nächsten Jahr sich verzögern.
Aber auch ein \'erni(")gerisschacleii würde \on beiden Parteien
durch X'crhandlung vor dein EinigungsaiiU abgewendet sein. Was
zunächst die Arbeiter anljetrifft, so hätten alle nur die Entschädigung
für die wenigen läge \-on der Einstellung bis zum Einigungs-
termin zu tragen gehabt. Im Prozefswegc trillt diejenigen Beklagten,
die eine Woche oder mehr bis zur Eertigsteilung ihres .Akkordes
gebrauclieii würden, eine Entschädigung von einer Woche. Xicht
minder belrittt auch den Kläger durch die X'erhaiuilung im Prozefs-
wege ein \'erm(')genssrliaden. Im Prozelswege fordert er die ein-
wöclientliche Entschädigung des «5 124 b a. a. ( ). lune grofse An-
zahl der Beklagten hat aber , wie ihre eigene .Xulslcllung crgiebt,
bis zur Eertigsteilung ihres .\kkordcs länger wie eine Woche zu
arbeiten (die Zahlen variieren von 21 — 10 Tagen), so dals Kläger
immerhin noch den .Schaden zu tragen haben würde , welcher ihm
für die über eine \\ oche hinausgehende .•\rbeit6zeit erwächst.
;\ehnlich lagen die X'erhältnisse für die Parteien im grofsen
Berliner Lithograplienstrike 1096. Arbeitgeber und Arbeitnehmer
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IL von Schult, Zar Rcvidoa des dedtsdien Geweibegeridits^ietM l-j-j
W ollten von dem Hinigungsamt nichts wissen. Mehrere hundert
Arbeiter wurden von den Unternehmern damals verklagt und grölsten-
teils zum Schadensersatz verurteilt. Auch der Strike der Berliner
Versilberer zeitigte gleiche Resultate. Hier riefen die Arbeitgeber
das £imgungsamt an, während die Arbeitnehmer das Anerbteten des
Gewerbegaichts zur Vermittlung ausschlugen.*)
Sollten auch alle bliese Strikes für das in Aussicht genommene
Zwangs\ crfahren vor dem Einigungsamt nicht sprechen, so möchten
wir die Blicke auf den Hamburger Hafenarbeiterstrike lenken, welcher
schliefslich zu einer „öffentlichen Kalamität" geworden war. Jastrow,
welcher diesen Strike ausführlicher behandelt, eifert mit Fug gegen
die Annahme, dals ein Eingriff des Gewerbegerichts hier ein durch-
aus unberechtigter gewesen wäre, w^ie man dies glauben zu machen
versuchte. Er sagt: Eine Verkehrssperre über den ersten Hafen
Deutschlands für eine private Angelegenheit der Hamburger Unter-
nehmer auszugeben, in die niemand drein reden dürfe, war eine zu
groteske Leistung, als dafs nicht gerade an diesem Beispiel das
Gegenteil besonders hätte klar werden müssen : dafs es zu
den Aufgaben der öffentlichen Gewalt gehört, bei grofsen, verkehrs-
hindernden Arbeitsstreitigkeiten Organe zu schaffen, welche in iri^end
einer l^orm wenigstens Verhandlungen und gegenseitiges Anhören
crmögliclien.-)
Den Verhandlungszwang halten wir für durchftihrbar und ge-
eigneter ,,/.iitii Schutze des ^gewerblichen Arbeitsverhältnisses"
wie die am l. Juni er. dem Reichstage zugegangene sogenannte
Zuchthausvorlage. Nur sollte man sich bei den Arbeitgebern,
welche gröfsere Betriebe besitzen , soweit sie nicht b()swillig sind,
d«imit begnügen, dafs sie, ebenso wie bei Prozessen, sich durch
ihre Angestellten (Direktoren u. s. w.) vertreten lassen. Hei den
Arbeitnehmern müisten die Leiter der Strikes (Mitglieder der Strike-
') Soaale Praxis Nr. 5 vom 3. November 1898, Sp. 1 14.
*) Jastrov a. a. O., S. 384. Unter dem 23. Februar 1899 baben die Abge-
ordneten Heyl SU Hermibeim, Baasennann and Gen. im Reicbatage (Nr. 144 der
Dnekaadien) einen Antrag etngebracbt, der miter Nr. III aiisdrttdclidi verlangt, dafs
ein gesetzlich gesidiexter Verbimdlnngszwaiig eingeführt werde. Die Sociale Praxis
vom 18. Mai er. Sp. 910 berichtet, dafs di.- Arbeitskommission der französischen
Dfpnticrtenkammer während der Beratung des Antrages Ferry (si»-}u- Soziale Praxis
vom 26. Januar 1899 Sp. 461) sich mit der J'.inführun^ d<'s obli};alorischcii Ki!ii{:unj:;.s-
versuchcs einvcrütauden erklärt hat und demzufolge in Kurzem eiucu (Je^clzeutwurf
vorlegen wird.
Ardiiv für «m. Gesetigebuog u. Statistik XIV. 1 2
L^iyiii^cü Uy Google
178
Gcsctigtttning: Deutaehcs Rdclk
kommission) eventuell für haftbar erklärt werden, dagegen wird es
kein Mittel geben, die Parteien zur Befolgung des Schiedsspruches
anzuhalten.*) Jedenfalls ist es unmöglich, bei Ausständen etwa die
Arbeiter zur Arbeit in Gemäfsheit des Spruches des Einigungsamtes
zu zwingen. Es giebt da nur ein moralisches Gewicht, welches von
den Leitern der Bewegung und von der Oefifcntlichkeit auf die wider-
strebenden Arbeiter ausgeübt wird.-) Umgekehrt wird auch der
Arbeitgeber bei einem gerechten Schiedsspruch die Oeffentlichkeit
scheuen iincl den Forderungen des Spruches Folge leisten. Leider
haben wir auch Ausnahmen kennen gelernt - sogar bei einem ge-
schlossenen \'ergieiche. Schon einen Tag nach dem Schlufs des
Vergleiches in dem Ik-rliner Konfcktionsstrike erschienen auf dem
Gewerbegericht Arbeiter, um darüber Klage zu fuhren, dafs ihre
Arbeitgeber die Ik'stimniungen des \'erglciches nicht innehielten.
Wir möchten jedoch das Gros der Arbeitgeber mit diesen Unter-
nehmern nicht auf eine Stufe stellen.
Andere Arbeiter erklärten übrigens nach .'Xuflicbung des Kon-
fektionsstrikes infolge des eigenartigen Gebalirens einer Anzahl von
Konfektionären bei späteren Ausständen mehrere Male, dafs sie das
Einigungsamt nicht anrufen, da sie gegen die Arbeitgeber milstrauisch
gemacht seien durch die bösen Erfahrungen, welche die Konfektions-
arbeiter mit ihren Arbcitgel)ern gemacht hätten.
Zum Schlufs dieses .Abschnitts haben wir noch zu bemerken,
dafs in Deutschland Gewerbegerichte vorhanden sind, welche eine
einigungsamtliche Thätigkeit nicht entfalten dürfen. Es sind dies
die fünf elsals-lothringischen Gewerbegerichte und das Gewerbe-
*) In London hat eine Versammlung von Gewerkvereins- und Untcmchmer-
delegierteu einen Antrag, demzufolge die Urteile der Schiedsgerichte gesetzlich bindend
sein sollten, mit grofscr Majorität abgelehnt. Soziale Praxis Nr. 13 vom 29. De-
xenib«r 1898, Sp. 350 und 351.
*) Besflcltch des Zimmerentrikcs in Bnndeiibiurg «. H. i«t es tfbd empAmden,
dals das Einlgoiigasint nach FUlunc eines Schiedsspnicbes nkht dnieh das Gcsels
bevonmKebtigt ist in der Venammlnng der InleressentieB, midie ttber die AuMhae
des Sdiledsspruches bescbliefsen soll, eine Darstellung der Gründe des SchiedsspmAes
so geben. Man failt es flir praktisch, wenn der Vorsitzende des Einigungsamtcs in
der Lage wäre, allein oder in Gemrinsrliaft mit den Beisitzern die Versammlung der
Beteiligten, in der die Beratung Uber den Schiedsspruch statttindet, /u beruten und
zu leiten und wünscht, bei einer etwaigen Novelle solle, um die diesbezügliche
Thätigkeit des Vorsitzenden resp. des Einigungsamtes zu einer autoritativen zu
maebeni eine an&drflckUclie Bestinnnung getroffen werden.
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IL von Schule, ZwReviiioii des dcaUchcn GewerbcgcrichUgesettes. ly^
gericht in Lübeck.^) Vielleicht kann auf diesen Umstand bei einer
Novelle zum Gewerbegerichtsgesetz Rücksicht genommen werden.
n.
Walirend der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs betr. Ab-
änderung des Gewerbegerichtsgesetzes beantragte der Abgeordnete
Tutzaucr § 3 dieses Gesetzes Ziffer l und 2 wie folgt abzuändern:
Die Gewerbe^^erichte sind ohne Rücksicht auf den Wert des
Streitgegenstandes zuständig für Streitigkeiten:
1. wegen der aus dem Arbeitsverhältnis folgenden \>ri)flichtungcn
und Entschädigungsansprüche, wegen Nichterfüllung derselben
oder nicht gehöriger Erfüllung, insbesondere der Ansprüche
über den Antritt, die Fortsetzung oder die Auflösung des Ar-
beitsverhältnisses, über die Aushändigung oder den Inhalt des
Arbeitsbuches oder Zeugnisses, sowie über die sonstigen Lei-
stungen und Entschädigungsansprüche aus dem Arbeitsverhältnis,
über Zahlung einer Konventionalstrafe, über Rückgabe
aus A n 1 a Ts des Arbeitsverhältnisses ü b e r g e b c n e r
Zeugnisse, Bücher, Legitimationspapierc, Ur-
kunden, Gerätschaften, Kleidungsstücke oder
Kaution u. d e r g 1., sowie die Ansprüche auf Ent-
schädigung wegen verweigerter oder verzögerter
Aushändigung dieser Sachen oder wegen Ausstellung
inhaltlich unrichtiger Zeugnisse;
2. wegen vorsätzlicher Schadenszufügung in einer gegen die guten
Sitten verst<jlsendcn Weise, insbesondere durch Aneignung der
Arbeitszeugnisse oder durch Verletzung der Betriebs- oder Ge-
schäftsgeheimnisse, sowie wegen L'eberlassung, Benutzung oder
Räumung von Wohnungen, die vom Arbeitgeber und Arbeiter
entgeltlich oder unentgeltlich überlassen werden, und wegen
Zahlung des Mietspreises oder Herstellung von Reparaturen für
diese W^ohnungen.-;
*) Siebe „Gewcibegerklit** Nr. 8 vom 6. Mai 1897 U. Jahrg., Sp. 7B und 79, und
Jsstrow a. a. O., S. 385 und 386.
') Abinderungsantra^ zu dem Antrage der Abci-ordnctcn T r i m b o rn , Dr. Hitze,
betr. die Gewerbegerichte Nr. 85 Ziffer 2 df-r Drucksurhen — Nr. 17, Reichstaj,'
10. Lepslaturpcriodc I. Session iHfjS qq VII. Kommission. lJurch Ziffer 2 des Ab-
iDdcriinj,'iantnines (vergleiche da/u 820 des Bürgerlichen üeseUbuchcij will man
in erster Lioie die Bauiicliwiudlcr, welche mit dem Arbeiter nicht direkt kontrahieren,
MBdem eine llittelspcnon vorschieben, dem Gewerbegericht onterttellen.
la*
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i8o
Gesetzgebung: Deutsches Reich.
Leider liat die Koininissioii liier ^ar kein Hntgegcnkommen
bewiesen uiul unter Hinweis auf Art. II des Entwurfs den einiiaiiüs
erwähnten Antrag verworfen. Die j^rulsc Mehrheit der Kommission
konnte nach dem Berichte sich nicht entschlicfsen, in der Kompe-
tenzerweiterung über den Beschlufs erster Lesung hinauszugehen.
Wenn man auch die Ansicht der Kommission, dafs \iele der in
'dem Antrage speziell aufgeführten Streitfalle schon nach dem be-
stehenden Gesetze der Rechtsprechung des Gewerbegerichts unter-
liegen (vgl. § 3 Zifif. [ u. 2), teilen mufs, so können wir doch dem nicht
beistimmen, dais bereits durch den Inhalt des Art II des Entwürfe
dem Bedürfnis der Praxis Rechnung getragen ist. Wir verzeichnen in
Berlin nach unseren Verwaltungsberichten jährlich 300 — 400 Prozesse,
in denen es steh allein um Gerätschaften, Kleidungsstücke, Handwerks»
zeug u. dergl. handelt Hinzu kommen dann noch eine grofse An*
zahl von Prozessen, durch welche in der Hauptsadie andere An-
Sprüche verfolgt, in Verbindung damit aber auch das Handwerkszeug,
die Kleidungsstücke U.S. w. verlangt werden. Wenn wir hier gegen
unser Gefühl dem Gesetze gehorchend abweisen müssen, haben die
Kläger uns oft verzweifelnd gefragt, was sie denn nun anfangen
sollten, da sie ohne Handwerkszeug u.s.w. nirgends Arbeit erhielten.
Es sind uns femer Bescheinigungen von Arbei^ebem vorgelegt
worden, in denen den klagenden Arbeitern bestätigt wurde, dals
sie, wenn sie im Besitz von Arbeitszeug u.s.w. gewesen wären, zur
Arbeit eingestellt sein würden. So werden z. E in der Schub*
branche nur ganz ausnahmsweise den Arbeitern die Gerätschaften
U.S.W. geliefert
Ein Arbeiter ohne Handwerkszeug u.s.w. ist hilflos und kann,
wenn ihm nicht durch schnelle Justiz der Gewerbegerichte entgegen-
gekommen wird, sehr leicht zu Grunde gehen. Will man, wie der
Bericht der MI. Kommission bemerkt, die Einheitlichkeit der Recht-
sprechung wahren, so sollte man gerade die von uns genannten
Rechtsstreitigkeiten den Gewerbegerichten zur Entscheidung über*
weisen, denn dadurch würde fortan vermieden werden, dals
ordentliche Gerichte und Gewerbegerichte, wie dies augenblicklich
immerhin geschieht, über die besagten Forderungen entscheiden.
Ks giebt Gewerberichter, wenn auch wohl in der Minorität, welche
die Gewerbegerichte für zuständig halten, über die Herausgabe von
Handwerkszeug u.s.w. zu befinden.')
') ("um.) iin < irwerbcgcricht vom 2. März 1S99 und siebe dazu M. v. bcbul/
in der äoziüku l'raxis vom 30. März 1899, Sp. 717.
M. TOB Sebttli, Zur Revision des dentielicn Gewerbegerichtsgesetzes, igt
\\\'is die Mielsstrciti^kcitcn der Arbcitrr mit ihrrn Arbcit^a'bern
anlangt, so lialteii wir daran fest, ilals über derartii^e I'rozessc
zwischen Arbeit<,^ebern und Arbeitern am bestcri die < iewcrlje-
gcriclite zu urteilen hatten. Der Hericht der Kommission nimmt
nach dieser Richtung liin Kenntnis von unseren Ausführungen in
dem Verwahungsbericht für 189798. Wir l)efürrhten nicht, dafs
die Beisitzer den FJechtsbelehrungen des \'orsit/enden ausueiclien
werden, so dals die Kinhcithchkeit der Rechtspreclunig getrülit
würde. Dem Kommissionsbericht gegenüber sind wir deswegen
der Ansicht, dals es nichts schadet, wenn auf dem in hVage
kommenden Rechtsgebiet (He de Werbegerichte mit den ordentlichen
Gerichten in Konkurrenz treten.
Wir kommen jetzt zu der Frage, ob man (hc Handlungs-
gchülfen und Dienstl)olen der Jufhkatii)n der ( iewerbegcrichte unter-
stellen soll. Beide Kategorieen pflegen fast tiiglich das Berliner
(jrewerbcgericht zur .Anstellung von Klagen in meist grofser Zahl
aufzusuchen. Wie die in den Reichstags\ erhandlungen genannten
( iewerbegcrichte wirken auch wir tlarauf hin, die Parteien, wenn sie
beitle erscheinen, zu \ ergleichen untl wir können sagen, dals dies uns
durchaus nicht selten gelingt. Nach Mafsgabe der hianspruchnahme
unseres Gerichts durch Handlungsgchülfen und Dienstboten müssen
wir zu dem Schlufs kcnnmen, dals gleichfalls für diese Art von Ar-
beitern es dringend erforderlirh erscheint, eine schleunige Justiz, wie
die der Gevvcrbegerichlc zu scIiatTen. Niiher auf diesen Punkt einzu-
gehen erübrigt sich, da man es der Reiclisregierung ans Herz gelegt
hat, baldigst eine \'orlage ubei kautin.iinüsche Schiedsgerichte: ein-
zubringen und eine Neigung, die llaiuilungsgehülfen tlcn (icwerbe-
gerichten zuzuweisen, anscheinend nicht besteht. Man wird daher
wohl dem Wunsche so vieler l ausende von Handlungsgehülfen —
hoffentlich baldigst — entgegenkommen und selbständige kauf-
männische Schiedsgerichte kreiren. Diese Gerichte werden dann
am besten, besonders um den Kommunen, welche dieselbe einzu-
richten haben werden, Kosten zu sparen, an die Gewerbegerichte
angegliedert werden. Dies entspricht aufserdem den P>wartut)gcn,
welche von der Mehrheit der Mandl ung^ehülfen gehegt werden.
Für die IXenstboten sieht es mit einer Aenderung <ler Recht-
sprechung über deren Angelegenheiten nicht so gut aus. Auch die
Dienstboten haben es nötig, dafs über ihre Arbeitsverhältnisse schleunigst
entschieden wird; dennoch ist bei der augenblicklichen .Stimmung
nicht zu erwarten, dafs man hier auf Besserung in absehbarer Zeit
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I83
Gctetigebaiig: Dentsdics Reidi.
Bedacht nehmen wird. Das von uns gesammelte Material werden
wir deswef^en für 'später aufbewahren.
Soweit die Landarbeiter in Betracht kommen, wollen wir nur als
Kuri(^sität erwähnen, dafs drni Berliner ( lewcrbegerichte Zuschriften
aus dem ^^anzen deutschen X^iterlande zu<^a-hcn , in denen Land-
arbeiter um Beistand t^ej^cn Uebcrgrift'e und V'ertrags Verletzungen
ihrer .Xrbeiti^ciier ersuchen.
Xachdcni wir bisher über die sachliche Zuständigkeit uns ge-
äufscrt haben, müssen wir die örtliche Zuständifjkeit der Ge-
werbegerichte ebenfalls berühren. Die ortliche Zuständigkeit ist
durch 25 des (Tewerl)egerichtsgesetzes geregelt:
Zuständig ist dasjenige ( iewerbegericht, in dessen Bezirk
die streitige X'erpflichtung zu erfüllen ist.
Die Motive fS. 17) begründen diese Vorschrift dahin, dafs die
örtliche Zuständigkeit thunlichst demjenigen Gewerbegericht bei-
gelegt werden nuisse, welches mit den für die Beurteilung des
streitigen Arbeitsverhältnisses mafsgcbendcn örtlichen Zuständen am
meisten vertraut ist. „Weder der jeweilige Wohnort des Beklagten«
noch der Ort der gewerblichen Niederlassung des Arfoei^bers
oder der regelmälsigen Arbeitsstelle des Arbeiters bieten in dieser
Hinsicht unter allen Umständen die nötige Gewähr. Vielmehr
empfiehlt es sich, ... den Gerichtsstand des Erfüllungsorts (§ 29
CP.O.) entscheiden zu lassen. In den weitaus meisten Fällen wird
dieser Ort mit demjenigen der gewerblichen Niederlassung des Ar-
beitgebers und der regelmälsigen Arbeitsstelle des Arbeiters zu-
sammen&llen und ohne Prüfung von Rechtsfragen zu be-
stimmen sein."
Diese Begründung hat sich — soweit die Erfahrungen des
Berliner Gewerb^^richts reichen — nicht als durchaus stichhaltig
erwiesen und demgemäCs die im Gesetze normierte örtliche Zu-
ständigkeit des Gewerbegerichts als vielfach nicht ausreichend ge-
zeigt
Es mufs zunächst im Gegensatz zu der Annahme der Motive
gesagt werden, dafis oft schon der rechtliche Begriff der „streitigen
Verpflichtung" sich schwer feststellen läfst Wenn die Motive auf
§ 29 CTO. als das Muster unseres § 25 verweisen, so ist damit
diese Schwier^keit nicht gehoben, sondern durch die mannigfache
Behandlung, welche der § 29 CPO. in Theorie und Praxis fortgesetzt
gefunden hat, erst recht in helles Licht gerückt und stellenweise
verschärft Es ist hier nicht der Ort, diese Rechtsfrage einer ein-
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M. von Schulz, Zur Revision des deutschen Gewerbcgcrichtägcüetzes. 183
gehenden Untersuchung zu unterziehen; es mag genügen, auf das
Material bei Wihnowsky & Lewy, Kommentar zur Civilprozefsoidnung
IV. Auflage S. S4 ^> sowie auf die reiche Judikatur des Reichs-
gerichts zu verweisen.
Abgesehen von den juristischen Bedenken, welche dem § 29
CP.O. und dem § 35 G.G.G. ihre Entstehung verdanken, bringt die
Prasds Fälle, in denen sich ein Erfüllungsort der streitigen Ver-
pflichtung und damit ein zustandiges Grewerbegericht schlechterdings
überhaupt nicht ermitteln lalst
Als charakteristisches Beispiel iuhren wir an den vor dem
Berliner Gewerbegericht verhandeken Rechtsstreit des Kellners eines
Restaurationswagens im Eiaenbahnzuge (dem sogenannten Blitzzuge)
Berlin — ^Köln a. Rhein gegen den Restaurateur, welcher als Pächter
des Restaurationswagens denselben bewirtschaftete. Der Klager war
ausdrücklich ohne Lohn, lediglich mit Kost und unter Hinweis auf
Trinkgelder engagiert; er erfUllte seine vertraglichen Verpflichtungen
(Bedienung der Gäste u.s.w.) ausschliefslich im Restaurationswagen
wahrend der Fahrt, irgendwo zwischen Berlin und Köln; eben«
daselbst nahm er die ihm zustehende Beköstigung und die ihm zu-
fliegenden Trinkgelder entgegen. Es ist nun die Frage, wo das
Forum der Erfüllung der streitigen Verpflichtung für die Klage des
Kellners wegen angeblich widerrechtlicher Entlassung aus §§ 122,
124 b Gewerbeordnung ist
Pervers auch erscheint es, dais nach den Bestimmungen des
§ 25 des Greweibegerichtsgesetzes die Klage eines Berliner Kellners,
welcher in Berlin seitens eines Berliner Traiteurs lediglich für
Dienstleistungen bei dem Festessen zu Holtenau gelegentlich der
Eröflfnung des Kaiser- Wilhelm-Kanab engagiert war, mit seiner
Klage wegen Nichterfüllung dieses Engagementvertrages vor das
Gewerbegericht zu Kiel gehört.
Die Normierung in der örtlichen Zuständigkeit nach Mafsgabe
des § 25 ist eben unzurcicficiul. Mögen die Motive Recht haben
in ihrer Annahme, dafs* die Mehrzahl der gewerblichen Rechts»
streit^eiten ihr Forum ohne Schwierigkeit findet, für jene
nicht unerhebliche Zahl von Prozessen der angedeuteten Art b^
darf die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit einer Ergänzung
und zwar
a) hinsichtlich des gewöhnlichen Gerichtsstandes des Beklaf^ten,
b) hinsichtlich des Gewerbebetriebes, in welchem der klagende
Arbeiter beschäftigt war.
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Gatetigebaiif : Dentielict Rcidu
Die örtliche Zuständigkeit wäre demnach wie folgt zu regeln:
„Zuständig ist dasjenige Gewerbegericht, in dessen Bezirk
die streitige W^rpflichtung zu erfüllen ist (der jetzige § 25)»
oder der Beklagte seinen ordentlichen Gerichtsstand hat
oder in welchem derjenige Gewerbehetriel) seinen Sitz hat,
in dem oder von dem aus der Arbeiter beschäftigt
worden ist."
„Unter diesen Gerichtsständen hat der Kläger die W ' ')
Wir schUeisen unsere Erörterungen über die Revision des tie-
werbegerichts^esctzes mit einer kurzen Betraciitung dreier Punkte,
welche flir eine Novelle zu dem gedachten Gesetze von Wichtigkeit
sein dürften : der Aufnahme einer Bestimmung über Prorogation, der
Aenderung der Berufungsinstanz und endlich der möglichsten Be-
schränkung, wenn nicht gar Beseitigung der Innungsschiedsj^'cri( hte.
Während der Berliner (iewerl)eaiisstcllung in Freptow wurden
eine Menge von IVozessen von Münchener Kellnerinnen, von Arabern,
Aegyptcrn n. s. w. gegen die sie auf dem Ausstellungstcrrain be-
schäftigenden Arbeitgeber bei dem Berliner < leu erbegerichl anhängig
gemacht. Treptow besitzt kein ( icwcrbcgericht. Das Berliner (ic-
werbegericht hat sich damals niangels Widerspruchs der Prozefs-
gegner meist für zuständig gehalten. Das Berufungsgericht hat
unseres Wissens die .Auffassung der Unterin.stanz niemals gemifs-
billigt. Die Zweifel über die Zulässigkeit der prorogatio fori er-
starkten jctloch im Richterkollegium des Berliner (Tcwerbegericlits
und fülirten zu umfangreichen Referaten bei den Monatskonferenzcn
der Gewerberichter.
Ks feiilt hier der Raum, um den Inhalt der Referate auch nur
annähernd wieder/ugeljen. Daher mag nur bemerkt werden, dals der
eine Referent, iti l'ebcreinstimmung mit dem Reichsgericht^) zu
dem Resultat kam, dafs die Prorogation auf ein an sich unzustän-
diges Gewerbegericht überhaupt unzulässig ist. Der Korreferent
gelangte dagegen zu tlem Ergebnis, dafs an da.s Gewerbegericht
unbeschränkt prorogiert werden kann, soweit seine sachliche Zu*
standigkcit gegeben ist Hierzu verweisen wir auf das Gutachten
-des verstorbenen Justizrat Dr. v. WUmowsky,') welcher erklärt, dals
') l>it- Ausiüliruiititti /um 25 Gewerbgerichts{;csi't/.e> sind mit Erlaubnis des
Gewerberichters Dr. Leo einem Referat desselben entnommen.
*) Entsch. Bd. 33 S. 430.
*) Unger o. a. O., Anmerkong, S. 335 K.
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M. von Scholz, Zur Revision des deoUchen Gewerbegcrichtsgesetzes. 185
*
die Prorogation der Parteien auf ein an sich nach § 25 des Gewerbe-
gerichtsgesetzes örtlich unzuständiges -Gewerbegericht an Stelle eines
gesetzlich nach § 25 a. a. O. ortlich zustandigen Grewerbegerichts
oder an Stelle eines gesetzlich zustandigen ordentlichen Gerichts
ausgeschlossen ist.
Die meisten Kommentatoren halten die Anrufung eines an sich
unzuständigen Gewerbegerichts an Stelle eines anderen an sich zu-
standigen Grewerbegerichts fiir zulassigf während sie die Prorogation
von einem ordentlichen Gericht auf ein Gewerbegericht för unzu-
lässig ^erachten.
Aus den Motiven des Gewerbegerichtsgesetzes und den Ver-
handlungen des Reichstages geht deutlich hervor, dafs keiner der
beteiligten Faktoren der Gesetzgebung an die Frage der prorogatio
fori gedacht hat.
Wir wollen ein bereits oben eruäliiites Beispiel wicilerholen,
Welches wir durch viele \erniehreii könnten; dasselbe sollte den
Anlafs geben, dafs bei der Scliaffung einer \o\elle die Zulässigkeit
der prorogatio fori erwogen und ausgesprochen wird. Jener Ber-
liner Kellnci, welcher lui die I'Ystc in Holtenau \on einem Ber-
liner (jastwirt engagiert war, würde nach denjenigen, welche eine
prorogatio fori als unzulässig \ erwerfen, niemals mit dem Berliner
Arbeitgeber vor dem Berliner Gewerbegericht Recht zu nehmen
in der I-age sein.
Wir wenden uns nun zu der Berufung gegen die Urteile der
Gewerbegerichte.
Anfangs des Bestehens des Berliner ( iewerbegerichts war das-
selbe infolge einiger L'rteile lieftigen Angriffen ausgesetzt. l-.in-
führung der Berufung gegen alle iTteile der Gewerbegei ichte
wurde erstrebt. Ks ist allnitählich mit dieser Forderung stiller ge-
worden, weil man eingesehen h.it, flafs in Anbetracht <ler wenigen
Urteile, welche vielleicht Bedenken erregen köiuiten , kaum die
Schnelligkeit des gewerbegerichtlichen X'erfahrens |)reis gegeben
werden würde. ^) Dagegen hat die Praxis klar festgestellt, dafs die
>) VgL Jastrov a. a. O., S. 356 ff.
Finirlnr Berliner Gewcrberichter halten es für gflsit^, wenn die Benifang
g^en die Gewerfaegerichttnrteile überhaupt abgeschafft und daftb- die Revision gegen
dieselben eingeführt würde. Die Eutschcidunp der Bt-rufungs- rrsp. Rcvisionsf&hig«
kcit eines Urteils bei offenbarem Feblspruch dem Vorsitxenden zn Überlassen, wie
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i86
G«Mtzgebung : DeBtidiw R«ich.
jetzige Berufungsinstanz fUr gewerbliche Rectitsstreitigkeitenzu langsam
arbeitet und oft sogar mit den einschlagigen gewerblichen Verhält-
nissen wenig vertraut ist Besonders hervorzuheben ist jener Rechts-
streit, in welchem das Berliner Landgericht sich bei der Beurteilung
des Benehmens eines Lehrlings in Gegensatz zu der Auf&ssung des
Berliner Gewerbegerichts setzte.^) Es handelte sich Um die Ent-
lassung des Lehrlings wegen unbotmä(sigen Verhaltens. Nach Inhalt
des Lehrvertrages sollte er ,|Sich jeder Zeit anstandig und bescheiden
betragen". Einmal hatte dieser Lehrling einem Gehilfen einen
Hammer weggenommen und versteckt Alsdann machte sich ein
ferneres Mal der Lehrling über die krummen Fülse eines in der
Werkstatt vorsprechenden Handwerksgesellen lustig. Dieser drohte
mit Beschwerde beim Meister, worauf der Lehrling erwiderte: er
werde ihm eins in die Fresse geben. Das Gewerbegericlit erblickte
in diesen beiden Vorkommnissen Dummejungenstreichc des Lehr-
lings, wie sie in jeder Werkstatt sich ereignen. Die Berufungsin-
stanz hielt jedoch das Benehmen des Lehrlings für ein solches,
welches weit über sogenannte Dummejungenstreiche, wie sie in jeder
von einer Seite vorgeschlagen wurdi-, fand niclit allgomeinen Anklang, weil es zu
vcrmiiden ist, dal's dem Vorsitzondrn Willkür nadigesagt werde.
Bei dieser Gelegenheit mag auch angeführt werden, dafs die Bestimmung des
§ 41 G.G.G. als eine Gefahr flUr die Rechtaprechtmg empfnoden worden ist Nadi
§ 41 kann in Abweienheit einer Partei ein recbtskriUUges Urteil ceilOlt werden.
Tritt s. B. in einem Termüi nor die eine Partei und der van, ihr benannte Zenge
anf, so kann die Sadie einen ^uix nnverflLnglichen Eindndc machen nnd das Gericht
snr Abweisung oder zur Vemrteilnng des Gegners veranlassen. Obwohl dieser in
der Lage gewesen wSre, durch Vorhaltungen dem Zeugen gegenüber oder durch
neue Behauptungen, die er im ersten Termine noch nicht aufstellen konnte, eine
ganz abweichende Kntschcidung hcrbei/uführen, unterliegt er, weil er sich vielleicht
nur ' , Stunde verspätet hat oder aus sonstigen den Einspruch nicht rechtfertigenden
Gründon am Krscheincn vcriiindert war.
Wir möchten endlich die Kemedur eines ferneren Fehlers anheimgeben. Die
Bestimmung des § 38 Abs. 4 G.G.G. „gilt als snrfid%enommett", wird für recht un-
gllicklicfa gehalten. Ein Kliger erhebt einen woUb^rttndcten Ansprudi, Bddagter
erscheint nicht; gegen das VersiumnisurteU legt Bddagter Binspnch dn aus Chikane
oder swecks Verschleppung. Im neuen Termin ersdiehit er wieder nidit Kllffar
mafs dennoch rar Wahrung seiner Rechte zur Stelle sein. Wenn nun lütn Urteil
mehr ergclien soll, so verliert Kläger sein Recht aus § 52 Abs. 2 a. a. O. ad
erleidet infolge der Vorschrift des § 38 Abs. 4 und der Chikane des Gegners ehMtt
nicht zu ersetzenden I.ohnverlust.
') Soziale Traxls vom 3. Juni 1S95 Sp. O06 ff. und Jastrow a. a. O. S. 359.
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M. TOft Schills, ZarRcTUoii des d«atsch«a Gewerbegerichtieesetses. 187
Wcfkstatt vorkommeii, hinausgeht Es wurde deswegen die Ent-
lassung des Jungen ak zu Recht erfe^t angesehen. Jastrow äuTsert
zu diesem Urteil folgendes: Woher die drei studierten Richter die
Kenntnisse haben, auf Grund deren sie besser beurteilen wollen, was
„zu Dummejungenstreichen, wie sie in jeder Werkstatt vorkommen",
gehört, als die Handwerksmeister, die bei der ersten Entscheidung
mitwirkten, ist nicht recht zu ersehen."
An einem Versuch, die Berufungsinstanz geeigneter für Gewerbe-
gerichtssachen zu gestalten, hat es nicht gefehlt. Bei den Verband*
lungen über den Entwurf eines Gresetzes betreffend Aenderung des
GerichtBveriassungsgesetzes *) hat man beantragt, dem § 71 G.V.G«,
welcher von den Zivilkammern der Landgerichte als Berufungs* und
Beschwerdegerichten spricht, die folgende Bestimmung hinzuzusetzen:
„Als Berufungsgerichte in den vor den Gewerbef^erichten
verhandelten Streitigkeiten verhandehi und entscheiden die
Zivilkammern unter Zuziehung zweier Beisitzer des Gewerbe-
gerichts, eines Arbeitgebers und eines Arbeiters. Ausge-
schlossen sind diejenigen Arbeitgeber und Arbeiter, welche
in demselben Rechtsstreite vor dem Gewerbegerichte als
Beisitzer thatit; i^ewescii sind."
Von der Rccjierun^sseite wurde betont, dafs Restinitnungeu in
der Richtung des X'orschlagcs in das Gewerbegerichtsgesetz, nicht
aber in das Gerichts\ erfas<uii«;sgesetz gehörten.
Der X'orsclilag fiel schlielslich in zweiter Lesung. Augenblicklich
ist wiederum die Au.ssicht geboten, die Berufungsinstanz der Gewerbe-
gerichte diesen anzupassen. Fs würde vorteilhaft sein . wenn die
(ic Werbegerichte selbst zuständig gemacht würden als Berufuns^^s-
gerichte und zwar in der Besetzunji^f von 5 Mitgliedern (drei richter-
lichen Beamten und 2 Beisitzern). Sobald man aber die Einheitlich-
keit der Rechtsprechung vorzugsweise im Auge hat, wird man sich
für nur eine Oberinstanz der deutschen Ge Werbegerichte erwärmen,
für ein Reichsgewerbegericht. wcU licm auch die Entscheidungen der
Innungsschiedsgerichte zur i'rutung zu uberweisen sein würden.-)
') Nr. 240, kfich'«tag 9. I.egislaturperiodL- V. Session 18979S, Bt-richl der
VI. Kommission über die Kniwürk- cin<-> (jeset/es betr. AendeniDgen des Gerichts-
▼erfassungsßfsetzes u. >». w. — .Nr. 61 der Drucksachen.
*) Ein Bedürfnis zu einer !>olchen Einhcillichkeit der Kcchti>prechung liegt auch
in Frmnkreicb vor bei den Conseils des Pnid'hommes. Nr. 12 der Socialen Fruit
Tocn 22 Deiembcr 1898, Sp. 326.
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i88
GcMtigcbaag: Deotsehcs Rddi.
Wenn die Kosten zur Unterhaltung eines solchen Gerichts nicht
gescheut werden , würde dasselbe als zweite Instanz viel schneller
und sach^'cniäfser wie zur Zeit die Landgerichte entscheiden.
W as endlich die Innungsschicdsgcrichte anseht, so ist über die
T .an<isamkeit ' > des Verfahrens derselben — um von anderen Nach-
teilen, die sie brin}:(en, zu schwcij^en — schon so viel «^esrhricbcn
wortlen, dals wir uns mit dem Abgeordneten Singer beL,aui.;en
können auf folgende Ausführung des Gewerbegerichtsvorsitzendcn
zu Weimar in dem Berichte desselben zu \erweisen:
„bs mufs als ein {lurchaus wider.sj)ruclis\ ulk s Wrfahren
bezeichnet werden, wenn die (icsctzgebung einerseits dem
( rt'werbestand in den Gewerbegerichten eine schnelle l)illige,
volkstümliche, tlabei aber auch durch die X'orschriften der
Zi\ ili)r()zefsordnung streng geregelte Rechtspflege gewähl t,
andrerseits aber diese Rechtsptlegc für alle in Innungen
vereinigten Gewerbetreibenden einschlielslich deren Arbeiter
wieder in hVage stellt. Insbesondere wird die bestimmung,
dals jede Entscheidung tler Iiiming unil der liuiungsschieds-
gerichte der Anfechtung durch Klageerhebung bei den ordent-
lichen Gerichten unterliegt, lähmend auf die richterliche
Thätigkeit der Innungsschiedsgerichte einwirken. Neben-
bei bemerkt enthält diese Anreizung zur Verschleppung eine
gro(se Benachteiligung der klagenden Arbeiter."
Die Gewerbegerichte laufen überdies Ge&hr, dafs ihnen die
Zuständigkeit über die Streitigkeiten der Kleingewerbetreibenden
durch die Zv^ngsinnungen fast gänzlich entzogen und ihre Kompe*
tenz auf Arbeiter und Arbeitgeber in Cabrilonässigen Betrieben be-
schränkt werden wird. Wir werden versuchen, dies an den Berliner
Innungsverhältnissen zu erlautem.
Dem hiesigen Innungsausschuls gehören 45 Innungen an.^ 24
') Wir wollen nicht verfehlen, hervorzuheben, dafs eine gleiche Langsamkeit
des Verfahrens die Gewerbeperichte, welche die ordentlichen (ierichtc um V'emeh-
mungt-n orsuch<n niiissin, gleichfalls leicht überkommen kann — besonders wenn
die c)rd> ritUclirn (ierichte sich in den Ferien befinden. Siebe darüber Jastrow
a. a. O., S. 353 fl.
*) Nach dem Vcnraltmigsbeiiciht des Berliner Magistrate für 1897/98 bestanden
am ScMafs des Bericbtsjahres 67 Innungen in Berlin.
Ein Abgeordnete sprach in der Reicbstagasitenng vom 25. Januar er. (S. 433BI
seine Verwunderang aus« dafs die Arbeiter die Innnngnchicdsgerichte so abflÜIig
benrteilen. Wir verweisen znr Anfkllrong auf die an den Reichstag gerichtete
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M. Ton Schalt, Zar Revision des deutschen Gewerbegerichtsgetetxet.
dieser Innungen haben Anträge auf Zwangsinnungsbildung gestellt.
Genehmigt sind bisher die Anträge der Innungen der Drechsler,
Korbmacher, Maler, Posamentierer und Seidenknopfmacher, Sattler,
Riemer und Täschner, Schneider, Schornsteinfeger und endlich der
Stell- und Radmacber. Abgelehnt sind die Anträge von 9 Innungen.
Es haben sich jedoch dem Vernehmen nach 4 der Innungen über
den ablehnenden Bescheid beschwert. Noch kein Bescheid ist nach
unseren Ermittlungen erteilt den Innungen der Damenmantel*
Schneider, Glaser, Kupferschmiede, Schmiede, Steinsetzer, Töpfer und
Zeugschmiede ; die Anordnung der Zwangsinnung soll aber dem Ver-
nehmen nach sicher erfolgen bei den Schmieden und Steinsetzern.^)
Man hat uns auch mitgeteilt, dafs der Zahl nach von den bereits
genehnoigten Zwangsinnungen im Vergleich mit den alten freien
Innui^en einen wesentlichen Zuwachs an Mitgliedern erhalten die
Zwangsinnungen der Maler (von bisher rund 500 auf 7 — 800, nach
Schätzuni^ des Ortskrankenkassenvorstandes auf bis 1000 Personen).
Bei den Schneidern kommt das Gcwerbc^cricht noch schlechter
W^. Hier steigt die Mitgliederzahl von bisher annähernd 1400 auf
6000 und darüber, da auch die weiblichen Gewerbetreibenden der
Zwangsinnung angehören. Eine beträchtliche Anzahl der dem Ge*
Werbegericht unterstehenden Gewerbetreibenden geht demselben
alsdann ebenfalls verloren, wenn noch andere Gewerbe besonders
das Damenmäntelschneidergewerbe — wie wahrscheinlich — in
Zwangsinnungen zusammengefügt werden.
Die angegebenen Zahlen beruhen freilich auf Schätzungen, welche
zwar unsicher, aber annähernd riclitii,^ sein werden.
Jedenfalls niufs man nach den uns bekannt ^^cniachten Thatsachen
die Besorgnis haben, dais die Konstituierung zahlreicher Innungsschieds-
gericlite die Gewerbegerirhte zu bedeutungslosen Fabrikengerichten
herabdrücken wird. Es bleibt allein die Hoffnung, dafs der preulsische
Petition der Hcrliii' r ArbeMtgebcr- und ArluMiii<'hiniTb--i>it/ r hi-tr. die Abänderung
der Bestimmuugeu über die Inuung^schicdägcrichtc in dem Lulwurk einer Novelle
sar GcweriMordnnng, Berlin den 11. Juni 1897.
Die Abneigung der Arbeiter sn den LDnungsschiedsgeriditen trat nach dem
Vcnraltmgsbericht des Magiitrats sa Berlin fftr 1897/98 dadurch su Tage, dab von
den mm Innnngaaiisschnfs gehörigen Inmmgen 9 keinen GesellenMnachnfs besafsen.
Bei 7 iBBniifen wurden die Mitgtieder des Gesellenausscbusses vom Innungsvorstaad
eiaaant Die Gesellenscbaft hatte somit die Wahl eines Ausschusses bei 16 Innungen
venreigert.
*) Innriachen ist die Zwangsinnung der Steiu^eUer angeordnet worden.
L^iyiii^uü Uy Google
I90
G««ctBfdMing: Oeaticlics Reich.
Handelsminister seiner Zusage im Reichstaj^e entsprechend, Innungs-
schiedsgerichten, deren Rirrichtung ein bestehendes Gevverbegericht
beeinträchtigen würde, die gesetzhch erforderliche Genehmigung
versagen werde. Denn leider ist nicht zu erwarten , dafs der Ab-
änderungsantrag , welcher bei den Verhandlungen der V'II. Kom-
mission gestellt, aber abgelehnt wurde, nachträglich vom Reichstage
angenommen werden wird. Dieser Antrag lautet :
In § 13 des ( iewerbcgerichtsgesetzes den Absatz 3 zu
streichen und dafür zu setzen:
„In (ienicinden, fiir welche ein Gewerbegericht besteht,
dürfen Innungsschiedsgerichtc in Gemäfsheit des § 97 e, lOO d
der Gewerbeordnung nicht errichtet werden. Besteht ein
Innungsschiedsgericht, so ist dasselbe, wenn ein Gewerbe-
gericht errichtet wird, au&uheben."
Wenn die Retchsr^erung der Schafiang einer Novelle geneigt
sein wird, so steht zu erwarten, dafe vorlier die Interesrnten: Ge-
werbq[erichte, Arbeitgeber und nidit am wenigsten die Arbeiter
gehört werden. Wur meinen, dafs alsdann ein Gesetzeswerk zu-
stande kommen wird, welches den Beifell aller Parteien finden mufs
und berufen ist, der Förderung des sozialen Friedens zu dienen.
*) Von besonderer Bedeutung ist übrigens die Ausdehnung des Innungsschieds-
gerichts auf die „Arbeiter". Die Wahlen der Gesellenbcisitzer fanden bisher durch
die Gcscll(^nau<.schüsse statt. Hi<T waren also Organe vorhanden. Die Arbeiter
liaben aber keine Vertretung oder Körperschaft in ilcii Innungen. Es wird also ent-
weder für sie allt in oder für Gesellen und Arbeiter zusammen ein neuer W ahlmodus
gefondeu werden müssen. Dies wird bei grofsen Itmungen, wie derjenigen der
Schneider, nicht fo leicht tein.
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Die Novelle zur Gewerbeordnung.
(Dem Deutschen Reichstag^ vorgelegt am 3. März 1899.)
Eingeleitet von
HERMANN MOLKENBUHR,
Mitglied des Rficbrtay.
Die Novellen zur Geu cibtui dnuii^' j^chören /um ständigen In-
ventar der deutschen (iesct/.i;i'hung. Der ununterbrochene Knt-
wickiungsprozefs des wirtsciialtlichen Lebens zeitigt täglich neue
Eischeinungen, die bald als grofser KuJturfortschritt gefeiert, bald
ab grofser Uebelstand empfunden werden. Aufgabe der Gesetz-
gebung wäre CS, hervorbrechende Schäden im Keime zu er-
sticlwn. Da die Organe des Reiches dem praktischen Leben ziem-
üdt fem stehen, ' werden die Mi(sstande eist dann erkanirt, wenn
unsäglicher Schaden angerichtet ist und dann auch scheut man vor
energischen Ma&nahmen surück, weil die Unternehmer in den geringsten
gesetzlichen Eingriffen eine Gefahrdung ihrer Existenz erblicken.
Die Anwendung des § t2oe auf das Backergewerbe hat einen
solchen Sturm unter den Innungsmeistem hervorgerufen, dals man
in den leitenden Kreisen zu der Ansicht kam, wenn man auch die
iwstehenden Schutzbestimmungen nicht wieder aufheben könne,
mindestens innegehalten werden müsse, mit dem Erlafs weiterer
Schutzbestimmungen. Unstreitig war es bitterer Emst, als
Graf Posadowslgr in seiner ersten sozialpolitischen Rede, die er
als Staatssekretär des Reichsamts des Innern am 13. Dezember
1897 hielt, sagte: ,>Ieine Herren, wir werden uns aber weder durch
die Agitationen der Sozialdemokratie, noch durch die Lehrmeinungen
ihrer bewulsten oder unbewulsten Mitläufer in mifiibräuchlicher
Ausdehnung des Staatsbegriffes dazu bewegen lassen, alte Erwerbs-
zweige polizeilich zu reglementieren, um schlielslich einen sozia-
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192
GcMUgebaag: Deutsches Reich.
listischcn Polizeistaat hcrbcizufülircn, in dem sich die Arbeiter nicht
wohlcr befinden dürften als bisher, in dem aber die besitzenden
Klassen sich zu bewulstcn Gef^fnern des Staates herausbilden
würden." In dieser Rede entwickelte der Staatssekretär ein Pro-
gramm, welches von allen Gegnern des Arbeiterschutzes mit Jubel
begrüfst wurde. Nun hatte Graf Posadowsky aber bei seinem Amts-
antritt eine Erbschaft übernommen, che sich durch keine Reden aus
der Welt schaffen liefs. Durch die Erhebungen der Koniniission
für Arbeiterstatistik war festj^fcsteiit, dafs in I.adcnr^eschäften sowie
itn Müllereigewerbe so lange Arbeitszeiten üblich sind, dafs durch
dieselben die (lesundheit der Arbeiter aufs schwerste gefährdet
wird. P'erner waren durch den Strike der Koiifektionsarbeiter im
Jahre 1896 so viele Mifsstände ans Tageslicht gezogen, die durch
die Untersuchungen der Kommission für Arbeiterstatistik bestätigt
wurden, dafs es einfach unmöglich war, diese Dinge zu ignorieren.
Graf Posadowskys Abneigung gegen das polizeiliche Reglementieren
bekam auch noch von einer anderen Seite einen Stöfs. Im April
1898 wurde die bekannte I.eutenotinterpellation des Herrn S/.mula
zum ersten Male im preuisischen Landtage verhandelt. Die schrift-
lich erteilte Antwort des Gesamtministeriums hatte in ihrem
achten Punkte folgenden W ortlaut: ,,Dic körügliche Staatsregierung
wird beim Bundesrat beantragen, dafs dem nächsten Reichstage ein
Gesetzentwurf \orgelegt wird, durch welchen das Gewerbe der Ge-
sindevermietcr und Stcllenvermittler konzes>,ionspflichtig gemacht
wird." Die Konzessionsptlicht fällt unstreitig in das Gebiet des
polizeilichen Reglementierens, da aber hierdurch die besitzenden
Klassen sicii nicht zu bewufsten Ciegnern des Staates herausbilden,
so konnte tlieser Schritt ohne (icfahr gemacht werden. Würde
die KonzcssionspHicht der ( ic^iiuiex crinieter als einziger Artikel
eingel)r.icht sein, dann hätte die Debatte über tlie Novelle von
vornherein eine Richtung genoimnen, die schwerlich im Reichstage
zu einem befriedigenden Abschlufs geführt hätte.
Nun wurde ein ganzes Bündel verschiedener hVagen zusammen-
gesucht, um jedem etwas zu bieten. Der Artikel I soll die Unter-
nehmer vor Querulanten uikI unredlichen Sacln erstäiuligen schützen.
Artikel II giebt § 23 der Gewerbeordnung eine im Interesse der
Kommunen nötige klarere Fassung. Im .\rtikel III werden die
Wünsche der ostelbischen Agrarier mit einigen anderen Sachen
vermengt. Artikel IV soll ein Bedürfnis der Aktien- und Handels-
gesellschaften befriedigen, Artikel V soll die selshaften Bandagisten
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Hermann Molkenbabr, Die Novdle nur Gewerbeordnung.
vor der Konkurrenz der Hausierer schützen, während die Artikel
VI bis Vm dem Arbeiterschutz gewidmet sind.
Die Vorsicht der Rcichsregierung, zu \'crhüten, dais die be-
sitzenden Klassen zu bewufstcn (icgnern des Staates werden, wird
dazu beigetragen liabcn. dafs in den Artikeln eins, zwei und vier
das Richtige getroffen ist. § 19 der Gewerbeordnung soll das
Publikum vor Schaden und Belästigungen durch gewerbliche An-
lagen scliützen. Diese Bestimmungen können aber von Queru-
lanten und Feinden der l'ntcrnehmer in böswilliger W^eise aus-
genutzt werden. Der Schutz des Publikums soll in demselben
Umfai)}^ eriialten bleiben, wie er jetzt besteht. Nur soll dem
Unternehmer das Recht eingeräumt werden, auf seine Gefahr mit
der Anlage von Bauten beginnen zu können, bevor ein etwaiger
Einspruch durch alle Instanzen entschieden ist. Von diesem Recht
wird wohl nur dann (iebrauch gemacht werden, wenn der ünter-
nehrjier sicher ist, dafs er aus einem .Streitverfahren als Sieger
hervorgeht. Gleiclifalls ist es nur zu billigen, wenn die bei einem
Streitverfahren über Anlagen von Unternehmungen hinzugezogenen
Sachverständigen ebenso zur Bewahrung des ( lesehäftsgehrimnisses
verpflichtet werden, wie die Personen, welche zur Ucbcrwachung
der Unfallverhütung oder zur Untersuchung von Uniallen in Betriebe
kommen.
Die Zusarnnienziehung der Schlächterei in öffentliche -Schlacht-
häuser ist unstreitig im Interesse des I*ublikums geboten. Nicht
nur, weil die Nachbarn von Schlächtereien durch den Geruch und
den Lärm belästigt werden, sondern hauiitsächlich , weil das
Schlachten in öffentlichen Schlachthäusern einen gewissen Schutz
gegen das Schlachten und X'crkaufen von krankem Vieh bietet.
Wenn nun nach flcm Wortlaut des >; 23 der ( iewerbeurdnuni; das
Verbot der Privatschläehtereien nur dann erlassen werden konnte,
wenn in dem Orte ein öffentliches Scidachthaus ist, so ist es nur
zu billigen, wenn dieses Verbot auch erlassen werden kann, wenn
für den Ort ein Schlachthaus besteht, mag es auch auf einem
Grund.-tück lie^a-n, welches zu einer anderen Ortschaft gehört.
.\riikel I\" will neben beeidi'^'^ten M.iklern, Feldmessern u. s. w.
auch beeidi-^te Hüchcrre\ isoren >chalTen.
Ktwas bunter ist Artikel III. Es ist möfTljch, dals sjrh bei der
gewerl>->maisigen rfandvirniitlelung uiid den Rückkauf>;^r,.scliärten
l ebel>tände heraus-ehildi t haben, die man durch die Bestiniinuiv^^en
für I'landleiiigeschäfte zu beseitigen hoft't. Ks sind verwandle (le-
Archiv für sox. GeseUgeliuni; u. Siatislik. XIV. 13 .
194
GeMtigebanc: Deuticlics Riddu
Schäfte und deshalb können für dieselben bestehende Vorschriften
glcichmäfsi^ angewandt werden. Nun wird in demselben Artikel
ein wichtiges (Tcbict des sozialen Lebens, die Arbeitsvcnnittluni;
mit hineingcruiirt. in der Arbeits- und Stellenvermittlung bestehen
schwere Milsstände. Das wäre ein (iebiet, wo die Sozialgesetz-
gebung Grolses Kisten krmnte. Wir hätten gewiitischt, wenn hier-
bei die Abneigung tlo Staatssekretärs Pdsadnwsky gege n jx »hzcihrhes
Reglementieren schiirfcr hervorgetreten untl an Stelle des 1 Icil-
mittels ..Konzessioim rung" rine positive ( )rganisation getreten wäre.
Den Stellenvermittlern und ( resitidevermietern winl in den Motiv en
ein rerlit umfangreiches Sijntlenregister vorgehalten. Da tragt man
sich unwillkürlich: wenn den Behörden alle diese Sünden bekannt
siutl, weshalli haben sie denn so wenig \on dem F^echt (Gebrauch
gemacht, welches der 35 der Gewerbeordnung giebt, und dea
unzuverlässigen Leuten den Betrieb des (iewerbes nicht untersagt?
Die Motive teilen mit, dals unter 52 16 gewerbsinälsigen Stcllen-
vermitllern Ö32 waren, welche wegen Vergehen oder Verbrechen
vorbestraft sind. Lnter 30 Theateragentcn befanden sich 7, welche
10 Mal vorbestraft sind, und unter 350, die für (iast- und 5>chank-
wirtschaftsj)ersonal Sü llen \crmittelt, befanden sich 73 X'orbestrafte^
Unter den aufgezählten .Süntlen der Stellenvermittler und (xe*
Sindevermieter werden u. a, aufgeführt, dals sie den I lerrschaften
unzuverläs-sige Leute empfehlen, dafs sie Kuppelei treiben, uiu er-
hältnismäfsig hohe Gebühren nehmen und die Stellensuchenden oft
in unverschämter Weise ausbeuten, dafs sie Gesinde vermieten,
welches kdnen rechtsgültigen Kündigungs- oder Entlassungsschein
vorlegt Wie ein solcher „rechtsgültiger Kündigungs» oder Entlas*
sungsschein" aussieht und wer ihn ausstellen mufs, darüber schweigen
die Motive. Die Motive teilen auch nicht mit, ob diese Sünden
nur oder hauptsachlich von den Bestraften begangen werden, oder
ob auch die Unbescholtenen in gleichem Verhältnis daran beteiligt
sind. Femer wird nicht einmal angedeutet, wie und wodurch die
Konzessionierung die Uebelstande beseitigen soll. In der Fest-
setzung der Taxen bleibt auch der konzessionierte Vermittler unbe-
schrankt Es ist eine alte durch Erfahrung bestätigte Erscheinung^
dafe das Publikum nicht billiger wegkommt t>ei einem konzessio-
nierten als bei einem freien Geschäft. Bei der Debatte über die
Vorlage wurde die Befiirchtung aussprechen, dafe die Konzessio-
nierung dazu führen könne, gemeinnützige Einrichtungen, wie die
Arbeitsnachweise der Gewerkschaften und der Fachvereine zu hin-
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Hermann Molkcabuhr, Die Novelle zur ücwcrbcurdnung. [
dcrn. Da grolse Gewerkschaften oft einen angestellten und besol-
deten Geschäftsführer im Arbeitsnachweisbureau h^>en, kann man
dessen Tbätigkeit als gewerbsmäfsige Stellenvermittlung auf«
fassen und von einer Konzesston abhangig machen. Vereine können
aber die Konzession nicht erwerben und deshalb liegt die Gefahr
nahe^ dals die Uebelstände nicht allein nicht beseitigt, sondern noch
verschärft werden. In der Kommission wurde aber von Vertretern
der verbündeten Regierungen die Erklärung abgegeben, daCs solche
Arbeitsnachweise niemals als gewerbsmaüstge Stellenvermittlung im
Sinne dieser Bestimmung angesehen werden. Ob die Gerichte sich
durch diese Erklärung gebunden erachten und die Rechtsprechung
danach einrichten, mufs at^ewartet werden. In der Kommission
wurde noch eingeschaltet, dafs den Gesindevermietem und Stellenr
vermittlem die Ausübung des Gewerbes im Umherziehen sowie
der Betrieb einer Grast* und Schankwirtschaft beschränkt oder unter»
sagt werden kann.
£s ist möglich, dafs durch diese Beschrankungen dem Menschen-
handel aus dem Osten einige Schranken gesetzt werden. I licrdurch
werden aber in erster Linie die Grundbesitzer profitieren. Die
schweren Schäden, wodurch hauptsächlich die Stellensuchenden
geschädigt werden, bleiben unberührt. Nicht in der Person der
Stellenvermittlcr. sondern in dem Fehlen vernünftiger Organisationen
ist das Uebel be<^'ründct. Kine «geringe Sicherheit gegen Uebervor«
teilung wird den Stcliensuchenden durch den § 75 a j^eboten, welcher
vorschreibt, dafs die Stellenvermittlcr Taxen aufzustellen haben, die
der Ortspolizeibehörde einzureichen sind und in dem Geschäftslokal
an in die Augen fallender Stelle angeschlagen werden müssen.
Ferner sollen die Stellenvermittlcr verpflichtet werden, dem Stclien-
suchenden vor Al)schlufs des X^ermittlungs^cschäfts die für ihn zur
Anwendung kommende Taxe mitzuteilen. Durch diese Vorschrift
wird die l Cherxorteilung unerlalircncr leichtsinni;^er Leute eini^e-
schränkt wenlen. Wenn auch nicht verkannt werden d.irl, dals ein
Teil der l'ebelslände in der Lnerfalireiiheit und dem Lc irlit-^inn
der Stellensuchenden l)e<^^ründet ist; so sind die hierdurch ^etr« »tinien
Fälle doch die .-Xusnaluiie. Schauspieler und Säntjer, welche sich
durch l'nterzeichnun^ eines Reverses auf Jahre hinaus an einen
Agenten binden, handeln weder aus rnerfahrenheit noch aus Leiclit-
sinn. Die hohen .-X^cnturhonorare sind ein L' ebelstand, der weder
durch die KonzcssionierunL,' des .\f:,'cnten, noch durch die polizei-
lich abgestempelte Taxe beseitigt wird.
13» '
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196
Gesetzgebung: Deutsches Reich.
Aehnlich verhalt es sich mit der Stellenvermittlung im Gast-
und Schankwirtschaftsgewerbe. Bei den Erhebungen der Kommis-
sion iur Arbeiterstatistik waren Wirte und Kellner einig in der Ver^
iirteilung des Kellnervermittlungswesens. Hier tritt der umgekehrte
Uebelstaiid ein, den die Landwirte aus dem Osten beklagen. Dort
vermieten die Gesindevermieter Gesinde, welches noch in Stellung
ist und nicht gekündigt hat Im Gastwirtagewerbe besetzen die
Stellenvermittler Stellen, die noch besetzt sind und wo der Kellner
oder die Kellnerin gar nicht daran denkt, diiBselbe au&ugeben. Oft
ist der Stellenvermittler ein guter Gast und aus reiner Grcschäfts-
freundschaft wechselt der Wirt sein Personal, weil ihm der Wechsel
kein Geld kostet In anderen Fällen kommt der Vermittler in die
Wirtschaft und gerat mit dem Kellner in Streit, der, da der Ver-
mittler ein guter Gast ist, zu Ungunsten des Kellners entschieden
wird. Dem Kellner sind die Praktiken der Vermittler bekannt, er
weifs auch, daTs er unverhaltnismälsig hohe Gebühren zahlen mulis,
da er aber die gewünschte Stelle nur durch den Agenten erlangen
kann, so mufs er, wenn auch mit Widerwillen, sich an den ver-
halsten Vermittler wenden und diesem einen nicht geringen Teil
seiner Jahreseinnahme opfern. In anderen Fällen sind die Wirte
abhängig von dem Stellenvermittler, weil dieser dem Wirte nur
dann Haus- und Küchenmädchen zufuhrt, wenn der Wirt auch die
Kellner von ihm nimmt
Die Wirte klagen selbst, dafs die von den Wirtevereinen ge-
gründeten Nachweisbureaus so wenig benutzt werden. Sie selbst
sind ohnmächtig, weil die eigenen Vereinsmitglieder sich nicht an
die Vereinsbureaus wenden. Besonders häufig wechseln die Kellne-
rinnen ihre Stellungen. Nach den im Jahre 1893 angestellten Er-
hebungen der Kommission für Arbeiterstatistik waren in Leipzig
90,4",, in Breslau 86,7 "„ in Königsberg 81,2% weniger ate 3
Monate in ihrer jetzigen Stellung. Wenn die Vermittlungsgdtlühr
sicli aucli durclisclmittlich zwischen 5 und 10 Mark hält, so müssen
die Kellnerinnen doch einen nicht unbedeutenden Teil ihres Ver-
dienst für Stellenvermittler hergeben, weil sie die Gebühr mehr-
fach im Jahre 7.u entrichten haben. Hier könnte der Uebelstand
viel besser als durch Konzessionierung und Taxen dadurch bekämpft
werden, wenn dem Unternehmer die Kosten aufgebürdet werden.
Alle Auskunftspersonen waren darin einig, dafs die Wirte direkten
o(I< r indirekten Nutzen von dem Stellenvermittler haben. Würde
der Wirt die Kosten zu zahlen haben, dann würde er entweder
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Hermann Molkenbnhr, Die Nofvelle rar Gewerbeoidnung.
'97
weniger häufig sein Peisonal weldiseln, oder solche Stellen zu finden
wissen, wo die Vermittlung wenig oder gar nichts kostet Die be-
stehenden Bureaus der Vereine würden mehr frequentiert werden
und dort, wo solche nicht bestehen, würde man mit der Gründung
vorgehen.
Vnttr ähnlichen Mi(sständen wie die Kellner haben die See-
leute zu leiden. Auch hier wird die Konzessionierung der Heuerbaase
und die vorgeschriebenen Taxe wenig ändern. Der Seemann, welcher
von einem Heuerbas eine Stelle haben will, zahlt in der Regel
direkt nur ganz kleine Summen. Er kann aber oft nur auf eine
Stelle rechnen, wenn er seine Ausrüstungpgegenstände von dem vom
Heuerbaas bezeichneten Kaufmann für lächerlich hohe Preise be-
zieht. Oft hat der Seemann bedeutende Summen ausgegeben und
er weifs selbst kaum wofür. Denn die Gegenstände, tlie er für sein
Geld bekommen hat, sind kaum ein Viertel des Geldes wert, was
er dafür zahlen mufste. Direkt hat er dem Heuerbaas wenig ge-
geben, die Haupteinnahme des Heuerbaases kommt aus dem
Schlef^erlohn, den er von den „reellen" Geschäften einkassiert, in
die er seine Opfer geführt hat.
Sieht man das Uebel nicht nur in dem Umstand, dafs Agenten
als Werber für Zuckerfabrikanten, Erdarbeitunternehmer oder Betg-
werksbesitzer die besten Arbeitskräfte vom I^nde entführen , dann
hätte man sich nicht darauf beschränken dürfen, die Machtbefugnisse
der Polizei zu erweitern, sondern man hätte mit o^anisatorischen
Malsregeln eingreifen müssen.
In Artikel VI versucht die X'orlage einen Teil der Mifsstände zu
beseitigen, welche durch die Hrhcbungen der Kommission für Arbeiter-
statistik ermittelt sind. Nach § 114a sollen durch Beschlufs des
Bundesrats für solche Gewerbe, in denen die Unklarheit des .Arbeits-
vertrages zu Mifsständen gefuhrt hat, Lohnbücher oder Arbeitszettel
vorgeschrieben werden dürfen. Solche schriftliche Arbeitsverträge
zu besitzen, war der Wunsch der strikenden Konfektionsarbeiter.
Es war das eine sehr bescheidene Forderung der Arbeiter, vor Be-
ginn der Arbeit zu wissen, welche Art von Arbeit sie liefern sollen
und welchen Lohn sie beanspruchen können. In vielen Fällen
können die .Arbeiter erst an der Höhe des Lohnes erkennen, welche
Arbeit sie zu liefern haben.
Besonders vorsichtig wird die Vorlage in § 137 a, in welciiem
verlangt wird, dafs der Bundesrat das Recht haben soll, W^rschriften
gegen Umgehungen der § 135 bis 137 der Gewerbeordnung zu er-
üiyitizcü by GoOglc
198
GeaHUgAmg: Deutadies Reich.
Insscn. Es ist ein grofser Mifsstand unserer Arbeiterschutzgesetze,
dals der Arbeiter nicht ohne weiteres geschützt wird, sondern den
Schutz der Gesetze nur dann L,fcnicfst , wenn er die Arbeit in der
I' ahrik verrichtet. Der Zi^arrt-nfabrikant . dem es untersagt ist,
schulpflichtige Kinder in der Fabrik zu beschäftigen, kann diesen
Kindern Tabak zur Bearbeitung geben, wenn die Kinder die Arbeit
im Hause ven ichten wollen. Die Weifsnäherin , welche in tier
Fabrik II Stunden an der Maschine gesessen hat. kann nach be-
endeter Fabrikarbeit dieselbe Arbeit für denselben Fabrikanten zu
Hause fortsetzen. In der iVaxis sieht es fast so aus, als habe der
(iesetzgebcr mit den §§ 135 bis 137 nur die Fabriken und die
darin beiuitzten Maschinen und Werkzeuge \or übergrofser Ab-
nutzung, aber nicht die Arbeiter schützen wollen, .\nstatt kurz zu
erklären, dals Kinden sowie jugendlichen und weiblichen Personen,
welche in der habrik arbeiten nicht neben der habrikarbeit noch
Hausarbeit übergeben werden darf, ist iler ganze Paragraph eine
Häufung \ on Kautelen zum Schutze der l 'nterneimier. Die Fassung
soll aber notig sein, weil im Konfektionsgtwerhe die Hausarbeiter
wöchentli( Ii einige Stunden zum Bügeln und Steppen in die Werk-
statt konmicn. I ni hier Weiterungen zu vermeiden, wird der ernst-
hafte Schutz der l abrikarbeiter aufgigeben. Der Fntwurf vom
18. Mai 1897 hatte noch die Bestimmung, dals .Arbeiterinnen und
jugendlichen Arbeitern , welche mehr als sechs Stunden täglich in
der Fabrik beschäftigt wertien, keine Hausarbeit mehr mitgegeben
werden dürfe. Nach dem jetzigen Entwurf ist die Mitgabe von
Hausarbett an geschützte Personen noch zulässig, wenn jugendliche
Arbeiter 9* 2 Stunden und weibliche Arbeiter 10*,« Stunden in
der Fabrik beschäftigt werden. Bei diesen Bestimmungen bleibt
aber immer noch abzuwarten, ob und in welchem Umfang der
Bundesrat dieselben in Kraft treten lassen wird. Es ist ein un-
erträglicher Uebelstand in der Gewerbeordnung, da(s die Aus-
drücke: Arbeiter, Fabrik, Werkstatt u. s. w. sich immer wieder*
holen, ohne dafs der Versuch gemacht ist, die Begriffe zu de-
finieren. Je nach der Form des Arbeitsvertrages wird derselbe
Arbeiter bei derselben Arbeit bald Arbeiter, bald Arbeitgeber.
Der Schneider, welcher mit seiner Frau zusammen im Hause des
Unternehmers arbeitet, ist bald Werkstatten-, bald Fabrikarbeiter
und wird zum Arbeitgeber nach § 154, sobald er die Arbeit mit
nach seiner Wohnung nimmt Die falsche Ansicht, dals durch den
Arbeiterschutz . die Unternehmer geschadigt werden, halt die Ge-
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Herrnsnii Molkcnbnlir, Novelle wr Gewerbeoväimiig.
setzgebung davon ab, die als notwendig anerkannten Schutz-
besttmmungen allgemein durchzuführen.
Artikel VIII sucht in den §§ 139 c bis 139 h einige Schutzbe-
Stimmungen für die in offenen Verkau&stellen beschäftigten Personen
durchzuführen. Den Gehilfen, Lehrlingen und Arbeitern soll eine
ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 10 Stunden und eine
Mittagspause gewährt werden. Um eine Arbeitsruhe von 10 Stunden
durchzuführen, mufe in 45,5 der Betriebe die Ladenzeit abgekürzt
werden. Vorwi^end werden hierdurch die Geschäfte mit Kolonial«
waren und Tabak und Zigarren getroffen. Nach den Erhebungen
der Kommission für Arbeiterstatistik hatten 84,4% der Kolonial-
warengescliäfte und 72,2% der l abak- und Zigarrengeschäfte eine
Ladenzeit von über 14 Stunden. Ferner soll auf Antrag von zwei
Drittel der Geschäftsinhaber eines Ortes ein einheitlicher Laden-
schlufs in einzelnen (iemeinden eingeführt werden Icönnen und aufser-
dem sollen sowohl Polizeibehörden wie der Hundesrat (la> Recht
haben, X'orschriften zu erlassen, um die in 62 des Haiulelsgesctz-
buchs aufgestellten (irundsätzc durchzuftihrcn. Es sind dieses die-
selben Grundsätze, die in $ 120a der (icwcrbcorflnung enthalten sind.
In diesem Paragraphen vcriälst die Novelle den Grundsatz, der
sonst in der Gewerbeordnung /uin Ausdruck gekommen ist. dals
jugendlichen und weiblichen l\rsoiuii ein weitergehender Scluit/.
als erwaeJisenen männlichen Arbeitern zukommen niuls. Bisher war
<las weibliche Personal günstiger gestellt, weil es in .SuddeulNchland
und in Nordtleutschlaiul vorwiegend in solchen (ieschaften beschäf-
tigt ist, wo die uherniäfsig langen ( lesclüiftszeiten w eniger \'or-
kommen. Nur in < ic-^chäflen nnt frischen .Nahrungsmitteln werden
in 77,1",, weibliche Angestellte beschäftigt. Diese haben ebenfalls
eine uberniälsig lange Arbeitszeit und w enig I lolfiunig, eine Besserung
yu erlangen, weil nach i; l^Qe Arbeiliii zur Wriuitung des \*er-
tlerbens \un Waren aueli wiihrenil der Kuliepause \ orgeiionnnen
werden tlürlen. Den einheitlichen Ladenschluls fordert die \'or-
läge nicht.
Die I'Vage des einheilliclien Ladenschlusses ist erst durch die
X'or.schlägc kaufmännischer Wreiiu in hlufs gekommen. .Als im
Herbst I<S93 die Kommission für .\rl)eilerstalislik an kaufmännische
Vereine die I'Vage richtete: ..Ist die Anordnung crwmisrlu und
tlurchfiihrbar, dals die Läden taglich regelmälsig nur 14 .Stunden
oder eine kürzere in der Antwort niilur anzuL;<'bcnde Zeit otten
gehalten werden dürfen ':" antworteten mehrere X'ereinc, ilaLs eine
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Gesetzgebung: DeutidieB Rcicb.
einheitliche Schltifsstunde wünschenswert sei. Darauf wurden <fie
Vereine direkt gefragt, ob eine einheitliche SchluGstunde wünschens-
wert und durchführbar sei. Nun antworteten acht von neun be-
fragten Verbände mit Ja. Der einzige Verband, der die Frage ver-
neinte, war der Verband ivaufmännischer Vereine Württembergs.
Die ablehnende Haltung der württemhergischen Kaufleutc ist er-
klärlich, weil dort nur in I7i3% der Geschäfte eine längere als 14-
stündige Ladenzeit vorkommt. Selbst eine Anzahl reiner Prinzipal-
vereinc, worunter der Verein der Kolonialwarcnhändler im Norden
Berlins, erklärten sich für den einheitlichen I^enschlulii. Erst
spater wurden in \ ielen Vereinen Resolutionen angenommen, die
sich gegen den einheitlichen Ladenschlufs aussprachen.
Die Vorlage will nun dem Beispiele Englands folgen und dort
den einheitlichen Ladensclilufs eintreten lassen, wo zwei Drittel der
beteiligten Geschäftsinhaber es beantragen. Dieser Antrag wird in
Grofsstädten sehr schwer gestellt werden können, da das Gesetz
gar keine Form vorgesehen hat. wie der Antrag gestellt werden
soll. Will man den Wünschen der Beteiligten und der öffentlichen
Meinung Rechnung tragen, dann hätte man einem Beispiele der
New England Staaten in Amerika folgen können, wo in gewissen
Zeiträumen darüber abgestimmt wird, ob in der kommenden Periode
Wirtschaftskonzessionen ausgegeben werden sollen oder nicht. Würde
nach Inkrafttreten der X'^orlage in jedem ( )rte oder in zusammen-
liegenden Ortschaften jedes Jahr von den Beteiligten darüber ab-
gcstinnnt werden müssen, ob sie einen einheitlichen Ladenschlufs
wollen, und wenn dieser durchgeführt wird, sobald sich zwei Drittel
für denselben erklaren, dann würde die Agitation für und gegen
in Flufe bleiben, wobei auf jeden Fall die menschenfreundlichste
Richtung in kurzer Zeit den Sieg davontragen würde. Die Kom-
mission hat einige Verbesserungen für die Angestellten angenommen.
Sie hat die Ruhezeit der Angestellten in Gemeinden mit mehr ab
20000 Einwohnern auf n Stunden festgesetzt und für kleinere Orte
die Bestimmung getroffen, dafs dort die Ruhezeit durch Ortsstatut
auf 1 1 Stunden ausgedehnt werden kann. Ferner hat sie die
Mittagspause liir die Personen, welche die Hauptmahlzeit aufserhalb
des (iebäudes, in welchem das Geschäft sich befindet, einnehmen
piüssen, auf mindestens eine und eine halbe Stunilc festgesetzt.
Die Geschäftsinhaber sollen, nach den Beschlüssen der Kom-
mission, zu einer Aeusserung über den einheitlichen Ladenschlufs
aufgefordert werden, sobald ein Drittel der beteiligten Geschäfts-
Hermann Molkenbuhr, Novelle xnr Gcwerbeordnonc. 2OI
Inhaber es beantiagt Ferner hat die Kommission beschlossen,
dals die Verkau&steUen zwischen 9 Uhr abends und 5 Uhr
morgens geschlossen sein müssen, jedoch darf an Tagen, wo
besondere Notfalle es gebieten, sowie an 40 von der Polizei-
behörde bestimmten Tagen und nach näheren Bestimmungen der
höheren Verwaltungsbehörde für landliche Gemeinden an einzelnen
Tagen in der Woche die Ladenzeit bis 10 Uhr ausgedehnt werden.
Aufeerdem ist von der Kommission beschlossen, da& in Geschäften
mit mdir als 20 Gehilfen und Lehrlingen Arbeitsordnungen erlassen
werden müssen, wie solche durch die §§ 134 a und folgende fiir
Fabriken vorgeschrieben sind Femer, dafs die Bestimmung des
§128 über das Halten von Lehrlingen auch auf das Handels-
gewerbe Anwendung findet
Einige neuere Artikel wurden durch die Beschlüsse der Kom-
mission in die Vorige aufgenommen. Nach einem neuen 9 41 b
soll auf Antrag von mindestens zwei Drittel der beteil^en Ge-
schäftsinhaber die Sonntagsruhe &ar alle Barbier- und Friseurgeschäfte
für die Zeit vorf,^esrh rieben werden können, in welcher Gehilfen und
Lehrlinge nicht beschäftigt werden dürfen.
Ein von der Kommission eingeschalteter Artikel 5 a soll den
§ 105 c er^aoßn, um zu verhüten, dafs die höheren Verwaltungs-
behörden einen zu weitgehenden (iebrauch von dem Rechte machen,
dafs sie Ausnahmen von der Sonntagsruhe zulassen bei Betrieben,
die durch unregelmä£sige Wasserkraft getrieben werden.
Der neue Zusatz lautet: „Der Bundesrat hat über die Voraus-
setzungen und Bixlingungen der Zulassung von Ausnahmen nähere
Bestimmungen zu treffen; dieselben sind dem Reiciistage bei seinem
niichsten Zusammentritt zur Kenntnisnahme mitzuteilen." Dieser
Be.>>cliluls wurde auf .\nrci,nin;j; rheinischer Papierfabrikanten herbei-
geführt, die sich darüber beschwerten, dafs den sächsischen und
bayerischen Papierfabriken fast regelmäisig Sonntagsarbeit ge-
stattet ist.
Ein neuer .Artikel 6a will herbeiführen, dafs durch statutarische
Bestimmungen für sämtliche Arbeiter sowie für weibliche Handlungs-
gehilfen und Lehrlinge unter 18 Jahren eine Verpflichtung zum
Besuch der I'ortbildungsschule herbeigeführt werden kann. Eine
Schulpflicht für sämtliche .Arbeiter unter iS Jahren hatte die Novelle
vom 6. Mai 1890 auch vorL^eschlagcn. Damals wurde auf Drängen
der konservativen Partei und des Zentrums vor dem Worte „Arbeiter"
das Wort „nuiunliche" eingeschaltet.
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202
G«wtigebiiiig: Denlscfacs Rddi.
Durch einen neuen Artikel 6 b soll der § 124 a der Gewerbe-
ordnung mit dem § 626 des Bürjjerlichen Gesetzbuchs in Einklang
gebracht werden, wonach das Arbeitsverhältnis ohne Kündigung auf-
gegeben werden kann, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.
Durch einen neuen Artikel VIc sollen für Betriebsbeamte, Werk-
meister und Tcrlinikcr dieselben Kündigungsfristen gelten, die im
Handclsgesctzbucii für Handclsnuc^estcllto \ or^fosehcn sind.
DuK^h Artikel \'Id soll durchgeführt werden, dals in I'abriken
die I.Dhn/ahlung nicht an einem Sonnabend oder Sonntag statt-
finden darf.
In der Kommission wurilc derdedankc wieder aufgenommen,
den die Regierung durch die X'orlage \ oin 18. Mai 1897 durcliführcn
Wollte, indem sie aulser der Abänderung der (iewcrbeordnung eine
Abänderung des Krankem ersichcrunggeset/es verlangte, um die Kon-
fektionsarbeiter der Krankcnkasscnplhcht mit unterwerfen zu können.
Jetzt hat die Regierung den ( ledanken aufgegeben, weil sie h<>tl't,
nach zwei Jahren eine allgemeine Revision des Krankenkassen-
gesel/.es vornehmen zu können. Die Mehrheit dei Kommission
glaubte, es dürfe mit der Krnnkcn\ 1 1 >ichcrimg tler HauN.irl )eiier
niciit so latige gewartet werden und nahm de.sslialb den Artikel II
der damaligen X'orlage in die jetzige N')\clle auf.
Durch .\rtikel VII b soll der letzte Absatz des § 138 a der Ge-
werbeordnung dahin geändert werden, dals weibliche .Arbeiter,
welche kein Hauswesen zu besorgen haben, an V^orabenden von
Sonn- und b'esttagen nur dann länger als bis 5 ' ., Uhr bei den
dort bezeichneten Arbeiten beschäftigt werden dürfen, wenn sie
keine Fortbildungsschule besuchen. Ferner, dafs die behördliche
Erlatibnis iur die Ueberschreitung in Abschrift an einer den Arbeitern
zugänglichen Stelle angehängt werden muls.
Die weiteren Aendeningen sind teils nur Klarstellungen des
bestehenden Gesetzes oder eine Beseitigung von Mifsstanden, die
sich aus der buchstäblichen Anwendung des Gesetzes ergeben
haben. Z. B. war es bisher erlaubt, jugendliche Arbeiter von 6V«
bis 7 ' arbeiten zu lassen und dann eine Pause bis 8 Uhr eintreten
zu lassen, um nach der Pause bis \2 Uhr zu arbeiten. Am Nach-
mittag konnte nach \'ierstündiger Arbeit eine Pause eintreten und
dann wieder fortgearbeitet werden. Der Unternehmer macht sich
aber einer strafbaren Handlung schuldig, wenn er die jugend-
lichen Arbeiter erst nach Beendigung der Vormittagspause antreten
liels und sie bei Beginn der Nachmittagspause entlieCs. Denn nach
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Hermann Molkenbnhr, Die Novelle war Geweibeordnung.
dem Buchstaben des Gesetzes sollen jugendliche Arbeiter eine Vor-
und eine Nachmittagspause haben. Dieses soll jetzt beseitigt werden,
indem die Pause fUr die jugendlichen Arbeiter wegfallen kann, wenn
sie taglich nicht mehr als acht Stunden beschäftigt werden.
Der Artikel IX schreibt die Strafbestimmungen für die Ueber«
tretung der neugeschaiTenen Bestimmungen vor. Ferner sollen die
Färagraphen der Gewerbeordnung mit neuen ZilTem versehen werden,
damit die endlosen Reihen von Buchstabenbezeichnungen einmal
wieder herausgebracht werden.
Drei Resolutionen wurden von der Kommission dem Plenum
zur Annahme empfohlen. IMe erste fordert Regierungen auf,
von den durch § 154 Absatz 4 gegebenen Rechten, die Aus*
dehnung der Arbeiterschutzbestimmungen §§ 135 — 139 b auf Ge-
werbe und vor allem auf die Hausindustrie, mehr als bisher Ge-
brauch zu machen. Einer der schlimmsten Fehler liegt hier aber
im Gesetz. Jeder Arbeiterschutz ist dort verboten, wo er am
nötigsten ist, bei der Heimarbeit, wo nur Familienmitglieder be-
schäftigt werden. Will der Unternehmer die Kinderarbeit haben,
dann braucht er die Arbeit nur an mit Kindern reich i^esc^nete
Familicnhäupter oder deren Frauen zu geben und er ist jeglicher
Belästii^ung durch Schutzmafsregeln entrückt Es mülste der letzte
Satz des Absatzes 4 im § 154 gestrichen werden, damit die letzte
Freistatt schlimmster Ausbeutung wenigstens theoretisch beseitigt
ist. Gewi(s ist es eine der schwierigsten Aufgaben der Sozialpolitik,
den Arbetterschutz in der Hausarbeit durchzuführen.
Hier i(rcifen Wohnungspflege und Arheiterschutz ineinander.
Krst hei praktischen Versuchen wird man herausfinden, was auf
dem einen und was auf dem anderen Gebiet zu regeln ist. Je
län^'er man vor den ersten Versuchen 'zurückschreckt, desto
mehr Opfer forderte das System der schlinunsten Ausbeutung.
Die zweite Resolution fordert die Regierung auf, durch die
Kommission für Arbeiterstatistik die Mifsständc im Handels-Engros-
gcschäft, sowie im Verkehrsgewerbe erforschen zu lassen.
In der dritten Rcsokition wenleii die Re«^ieruni;en aufgefordert,
die Verhältnisse der liureau-Angestellten durch Gesetz zu regeln.
Wir lassen nun den Wortlaut des Gesetzentwurfs folgen :
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204
Gcsetigebidig: Deutsches Rddi.
Satwttff eine« Oeteisea, betreffmd die AMndenniK d«r 0«wMb«Ofdnm>g.»)
Wir WOhebn, toh Gottes Gnaden Deatsclier Kaiser, Kdnig von Prealsen etc.
TerordiMB im Namen des Reichs, nach erfolgter Znstimmmig des Bmdcsnls nnd des
Reichstags, was folgt:
Artikel i.
I. Hinter § 19 der Gewerbeordnung wird eingeschaltet :
§ 19a. In dem Bescheide kann dem Unteroehmer auf seine Gefahr
unbeschadet d<-5 Kt-kursverfalirt-ns (§ 20) die unvcrrügliche Ausführung der
baulichen Anlagen <^tstatiet wcnKii, wenn er dies vor SchlufÄ der Erörle«
rung beantragt. Die Gestattung kann von einer bicberbeit&leistung abhängig
gemacht Verden.
U. Hinter § 21 der Gewerbeotdnnng wird eingesdialtct:
§ 31 a. Die Sachverständigen (§ 31 Ziffer t) haben aber die That-
sachen, welche durch das Verfahren zn ihrer Kenntnis kommen, Ver>
achwiegenheit zu beobachten nnd sich der Nachahmung der von dem
Cntemchmcr geheim gehaltenen, zu ihri-r K'-nntnis gelanf^t< n Betriebsein-
richtungen und Betriebsweisen, solange als diese Betriebsgcbeimniase sind,
zu enthalten.
Artikel 2.
I. Der sj 23 Abs. a der Gewerbeordnung erhalt folgende Fassung:
Der Landesgesetzgebung bleibt vorbehalten, die lemere Benutzung be-
stehender nnd die Anlage neuer Pri\'atschlächtereien in solchen Orten,
fllr welche öffentliche Sdiladithlascr in genügendem Umfange vorbanden
sind oder errichtet werden, xn untersagen,
n. Der § aj Abs. 3 der Gewerbeordnung erhilt folgende Fassung:
Soweit durch landcsreditliche Vorschriften Bestimmungen getroffen werden,
wonach gewisse Anlagen oder gewisse Arten von Anlagen in einaelnen
Ortsteilen gar nicht ofler nur unter besonderen Beschränkungen zugelassen
sind, finden diese Bestimmungen auch auf Anlagen der im § 16 erwähnten
Art Anwendung.
Artikel 3.
I. hn § 34 Abs. 1 der (iewcrbi Ordnung werden nach den Worten „Geschäft
eines Pfandleihers" im ersten Sat/e die Worte „Gesindevermieters oder Stcllenver-
mittlers" und nach den Worten „die Erlaubnis** im dritten Satie die Worte „zum
Betliebe des Pfandleü^^erbes" eingeschaltet
n. Der § 34 Abs. a der Geweibeordnung wird wie folgt abgeändert:
Die Bestinmongen ttber das Pftndleihgeweibe gelten andi fUr den ge*
werbcnAfsigen Ankauf beweglicher Sachen mit Gewährung des RQdckaufa-
rechts sowie für die gewerbsmäfsige Flandvermittelung.
') Drucksachen des Reichstags. lo. Legislatur-Periode, I. Session 1898/99,
Nr. 165.
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Entwtuf eines Gcseties, betr. die AbindenuiK der Gewerbeordnimc. 205
m. Im ersten Satie des § 35 Abs. 3 der Gewerbeordnanf kommen die Worte
„von dem Geschlft eines Gesinderermielers und eines StellenTermiMlers" in Wegfall.
IV. Der § 38 Abs. 1 der Gewerbeordnung erhält die folgende Fassung:
Dif Z«nU(mU>eliörden sind befogt, Uber den {^mfzng der Befugnisse und
Verpflichtungen sowie über dm Geschäftsbetrieb der I'fandleiher, Gesinde-
vermieter, Stellcnvemüttler und Auktionatoren, soweit darüber die Landes-
Rcsctzc nicht Bcstimniun(;en treffen, Vorschriften /.u erlassen. l)\r in Jicser
Beziehung hint>ichtlich der Pfandlciher bc!>tchendeu landesgcsctzlichcn Be*
Stimmungen finden auf die im § 34 Abs. S bezeichneten Gesdiiftsbctriebe
Anwcndong. Soweit es sidi vm den geweriMmälsigen Anlanf beweglicher
Sachen mit Gewihrang des Rflckkanfsredits bandelt, gilt die ZaUong des
Kaufpreises ab Hingabe des Darlehns, der Unterschied xwisdien dem
Kanfpreb und dem verabredeten Rflcfckauf^reis als bedungene Vergtitung
für das Darlehn und die Uebergabe der Sache ab Verpfkndung dersdben
für das Darlehn.
V. Im ersten Satze des § 53 Abs. 3 der Gewerbeordnting werden nach den
Worten „begonnen hal>en," die Worte „sowie Gesindevermictcm und Stellenver«
mittlem, w.-lcbe vor dem . den Gewerbetrieb begonnen haben," ein-
gCbclialtet.
Vi. Hinter ij 75 der Gewerbeordnung; wird eingeschaltet:
§ 75 a. Die Gesinde\ cmiieter und Stellenvcrmittlfr sind verpflichtet,
das \'cr7,eichnis der von ihnen für ihre j^cwcrblicbcn Leistungen aufge-
stellten Taxen der Ortspulizcibehurde einzureichen und in ihren Geschäfts-
itomen anmsfhlagrn, Diese Taxen dflifen swar jedeneit abgelndeit
werden, bleiben aber sohqge in Kraft, bis die AbSnderung der Poliaei-
bdiörde angeteigt und das abgdbiderte Veneidmb in den Ceschiftsriumen
angeschlagen ist
Artikel 4.
In § 36 Abs. I der Gewerbeordnung wird nach dem Worte „Auktionatoren"
etngefllgt: „Bücherrevisoren".
•Artikel 5.
Der Ziffer 9 des § 56 Abs. 2 der Gewerbeordnung werden die Worte „sowie
firudbhfndei" hinzugefügt.
Artikel 6.
L Hinter § 114 der Gowerbeordnuuf; wird eingeschaltet:
§ 114 a. Für die Kleider- und Wüschekonfektion sowie für andere Ge-
werbe, in denen die Unklarheit der Arbeitsbedingungen tu Mifsstinden
geftthrt bat, kann der Bundesrat Lohnbücher oder Arbeilsrettel vorschreiben,
in welche Art und Umfang der ttbertragenen Arbeit, bei Akkordarl>eit die
StOcksahl, femer die Lohnsitze und die Bedingungen für die Lieferung
von Werfcseugen und Stoffen zu den Qbertragenen Arbeiten von dem
Arbeitgeber oder dm dazu BevoUmSchtigtcn einzutragen sind.
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206
Gtutagiibuag: Deatsch«i Reich.
t
Auf dir Eintracun^en üadea die VonchhftMi des § iii Ab«, a bis 4
CD tsp reell endo A 11 w . tu i u ii p .
I>as Lolinburh <n\vr «irr Arln-itszeffl ist von dem Arbeitgeber auf seine
Kiistfii /u btsrliallrii und <Kin Arbeiter nach Vollziehung der vorge-
schriebeueii Eintragungen vor oder bei der Uebergabe der Arbeit kosten-
frei aiiiiiBliitidtgen.
IMe EinricbtUDg der Lohnbücher md Arbeits^ttel wird durcli den
Reichtkinzler bestiimnt
Aaf die von dem Bundesrate getroffenen Anoidmiiigeil findet die Be«
Stimmung im § I20e Abt. 4 AftwendtmK.
II. Im § 119b wird statt I13 bis 119»" gesetzt.
„§Jf 114 a bis 119 a".
III. Hinter § 137 wird eiiij^oclmltct :
§ 137 a. Kür die Kleid. r- und \\ uschikoulektion sowie für andfre (ic-
werbe, in denen Arbeitcnnueu txler jugeniUichc Arbeiter neben iiirer Be-
schfiftigung in der Fabrik vom Arbeitgeber zu Hanse beschäftigt werden,
kann, sofern hierbei Mifsstinde in Besag anf die Ansdefannng der Arbeits*
seit sn Tage getreten siwl, dnrch Beschlnfs des Bundesrats angeordnet
werden, dafs Arbeiterinnen nnd jagendUchen Arbeitern vom Arbeitgeber
für die Tage, an welchen sie in der Fabrik die gesetzlich snlissige
Arbeitszeit hindurch beschäftigt waren, .Arbeit znr Verrichtung auf>.erhalh
der Fabrik überhaupt nicht , für die Tage, an welchen sie in der Fabrik
kürzere Zeit bcs( liältigt waren, ann.^hernd nur in dem l'mlang iib«Ttragen
oder für die kn Imun;^ Dritter überwiesen werden darf, in wrlrliciu Durch-
schmttsarbcitrr ihrer Art die Arbeit voraussichtlich in der l-abrik während
des Restes der gesetzlich zulässigen Arbeitszeit würden herstellen können,
nnd flir Sonn- and Festtage nur insoweit, als die BeschSftignng dieser
Personen in Fabriken gestattet ist.
Auf die von dem Bandesrate getroffenen Anordnongen findet die Be«
Stimmung des § laoe Abs. 4 Anwendmig.
IV. Hinter § 154 a der Gewerbeordnung wird eingeschaltet:
§ iS4b. Auf dk Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlidien
Arbeitern in Werkstätten, fttr welche die Arbeitszeit anf Grand der Vor-
schriften im § 154 Abs. 3 bis S geregelt ist, finden die Bestimmungen
des § 137 a entsprechende Anwendung.
Artikel 7.
Der § 136 Abs. I der Gewerbeordnnng erhält folgenden Zusatz:
Eine Vor- und Nacliniiltagspausc braucht nicht gewahrt /,u werden, so-
fern die jugendlichen Arbeiter täglich nicht länger als acht Stunden be-
schäftigt werden und die Dauer ihrer durdi eine Pause nidit unterbrochenen
Arbeitsteit am Vor- und Nachmittage je vier Stunden nicht tfbersteigt.
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Eütvurf eines Gcieties, betr. die Abiademng der Gcwerbeordming.
Artikel 8.
I. Hinter § 139 b der Gewerbeordnung wird eingcselialtet:
VL Gdrilfea, Lehrlinge und Arbeiter in offenen Verlranftttellcn.
§ 139c In offenen Verkanfotclkn iit den Gehilfen, LdurUngen und
Arbeitein nnch Becodigong der tigUcbea Arbeitoeit eine nannteibrochene
Rnbeieit von nindeitens sehn Stunden sn gewihren.
InneriMlb der Aibeitsseit nrafs den GehQfen, Lehrlingen und Arbeitern
eine angemessene Mittagspause gewährt werden.
Für Betriebe, in denen dif Hauptmahlzeit aufscrhalb des die Verkaufs-
stelle enthaltenden (>ebäu(ics cinzuncbmen ist, wird dir Mindestdauer dieser
Pause, und zwar einheitlich i"ür sämtliche Vcrkaufsstt-lh-n . durcli die
(Jemcindebehurdc festgesetzt. Die Pause muü mindestens eine .Stunde
bctngcn.
§ 139 d. Die Bestimmongen des § 139 c finden keine Anwendm^
1. anf Arbeiten mr Verhfltnng des Verderbens von Waren,
9, für die Anfnahne der gesetslidi vorgeschriebenen fovcntnr,
3. während der letzten zwei Wochen vor Weihnachten,
4. anfserdem an jährlich höchstens zehn von der Ortspolizeibehörde alU
gemein oder für einzelne (leschäftszwrifje zu bestimmenden Tagen.
§ 139 e. Auf .Antrag von mindestens /.wei Dritteln der bctcili^;t< n de-
vchäftsinhaber kann für eine (iemeindc oder mehrere urtlichc unmittelbar
zusammenhangende Gemeinden durch Anordnung der hühcreo Vcrwaltungs-
. behflffde nach Anhörang der Gemeindebehörden fllr alle oder einielne Ge*
schäftszwelge angeordnet werden, dafs während bestimmter Sttmden in der
Zeit «wischen acht Uhr abends vnd sechs Uhr moigens oder in der Zeit
swisehen nenn Uhr abends nnd sieben Uhr morgens die Veikanfsstellen
(§ '39 c Abs. 1) für den gesehiftlichen Verkdir geschlossen sein müssen.
Die Bestinunnngen der §§ 139 c nnd I39d werden hierdurch nicht be>
rttbrt.
Während der Zeit, wo die VerkauisstcUcn geschlossen sein müssen, ist
das Feilbieten von Waren auf üflTcntlichcn Wegen , .Siralscu un<l Tlätzcn
oder an anderen öffentlichen Orten oder ohne vorherige Bestellung von
Hans m Hans im stehenden Gewerbebetriebe ($} 42 1> Abs. 1 Ziffer t) so-
wie im Gewerbebetrieb im Umhersiehcn (§ 55 Abs. i Ziffer l) verboten.
Ansnahmen köimen von der Ortspolizeibehörde xogelassen werden. Die
Bestimmang des § 55« Abs. a Sats 2 findet Anwendong.
g 139 f. Die Polizeibehörden sind befugt, im Wege der VerfUgung Wr
einzelne offene Verkaufsstellen diejenigen Mafi^nahmcn anzuordnen, welche
zur Purchflilirung der im 62 Ab-- i <K"s J lantK-lsgesetzbuchs < ntli.ih- ncn
drundsat/e in .\nsehun}; der Finrichtung und rnti-rh.iltung der ( ;>--i1ki1is-
räumc und der lür den (Jescliälthbctrieb bestimmten Vorrichtungen und
Gerätschaften sowie in Ansehung der Regelung des Geschiftsbetriebs er>
fordcrUdi nnd nach der Beschaffenheit der Anlage ansfUirbar erscheinen.
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208
G«seligebimg: Deutsches Reidi.
Die Besämmangen im § i2od Abs. 2 bis 4 tinden entsprechende An-
wendung.
§ 139 g- Durch Bescbiufs des Bundesrats können Vorschriften darttber
erlassen werden, welchen Anforderungen die htdeo^f Aibeito- and Lager-
rfnme and deren Knrichtimg sowie die Maschinen nnd GerXtschaften xom
Zwecke der DardifUhniiig der im § 6a Abs. i des Handdsgcsetzbachs
«ÜiaUcnen Gmndsitie sn genflgen haben. Die Bestimmung im § lao e
Abs. 4 findet Anwendung.
Soweit solche Vorschriften durch Beschluss des Bundesrats nicht er-
lassen sind, können sie durch Anordntmg der im § laoe Abs. 2 bezeich-
neten Behörden erlassen werden.
§ 139 h. Die durch § 76 .\bs. 4 des Handelsgeset/buchs sowie durch
§ 120 Abs. I begründete V'crptiichlung des Geschäftsinhabers bndet an Orten,
WO eine vom Staate oder der Gemeindebdiörde anerkannte Fachschule be*
•tdit, hinsichtlidi des Besuchs dieser Schule eatsprechende Anwendimg.
Der Gescteftsinhaber hat die Gehttlfen und Lehrlinge unter achtaehn
Jahren zum Besuche der Fortblldungs- und Fachschule awsnhalten und den
Schulbesuch tu Oberwachen.
1391. Die Bestimmungen der 139 c bis i^h finden auf Konsum-
und andere Vereine entsprechende Anwcndunp
II. Im § 154 .\bs. I der Gewerbeordnung wird anstatt 105 bis 133 c** ge-
setzt: ,,§§ 105 bis I33e, 139 c bis I39i" und hinter ,,§§ 105, 106 bis 119 b" ein-
geschaltet: „sowie vorbehaltlich des g 139 f Abs. 1 und der §§ 139 g und 139 i die
Bestfamnoi^ der §§."
Artikel 9.
L Im § 145 Abs. I der Gewerbeordnung wird statt ,.§§ 146 und 153" ge-
«etat: „S§ 145*» 14* vmd 153".
IL Hinter § 145 der Gewerbeordnung wird eii^eschaltet :
§ 145 a. Die in den FSUen der §§ 16, 24 nnd 3$ gemftfs § ai Ziffer 1
angesogenen Sachverständigen werden bestraft,
1. wenn sie unbefugt Betriebsgeheimnisse offenbaren, welche durch das
Verfahren lu ihrer Kenntnis gelangt sind , mit Geldstrafe bis zu ein-
tausendliinf hundert Mark <><ier mit Grf.^ingnis bis zu drei Monuieii ;
2. wenn sie absichtlich 2um Nachteile der lietricbsuntemehmer lietriebs-
geheimnisse , welche durch das Verfahren zu ihrer Kenntnis gelangt
sind, offenbaren oder geheim gehaltene Betriebseinrichtungen oder
Betriebsweisen» welche durch das Verfahren m ihrer Kenntnis gdangt
sind, solange ab diese Betriebsgeheimnisse sind, nachahmen, mit Ge>
fangnis, neben welchem auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte er«
kannt werden kann. Thon sie dies, um sich od r rinem Anderen
einen Vermögensvorteil zu verschafTen , so kann neben der Gefängnis*
>trafe auf GehlMrafe bis zu dreitau^' iid Mark erkannt werden.
Im Falle d. r Ziffer 1 tritt die Verfolgung nur auf Antrag des Betriebs-
unlernehnicr-s ein.
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Entwurf cinek Gesetses, betr. die Abindenng der Gewerbeordnoiig.
III. Im § 146 Abs. 1 der Gewelbeordnung erhalten die; Ziffern 3 und 3 folgende
Fassung:
Geweibetfobcadsi wddic den §§ 135, 136, 137, 139c Abt. 1 oder t
oder den «nf Grand der §§ 137 a, 139, 139a, 139c Abi. 3, 154 b go*
troflcnen. Verfttgingen ntwiderhoiidelni
3. Gewerbetrdbcnde, wddfce dem § Iii Abc 3, § 113 Abi. 3 oder dam
§ 114« Abt. 3, soweit daselbst die Bestinunongen des §111 Abc 3 Ar
anwendbar «rklärt worden sin^ suwidcrhandeln.
IV. Im § 146 a der Gewerbeordnung wird der Schlnis nach den Worten mBc-
scbiftigun^ picbt" wie loljjt abgeändert:
odt-r den §§ 4I a, 55 a, I39e Abs. 2 oder den auf (irund dc5 § 105 b
.\bs. 2 erlassenen statutariscbca Botimmungen udcr den auf Grund des
§ I39e Abc I getroffenen Anordnungen znwiderbandelt
V. In § 147 Abc I Ziffer 4 der Gewerbeordnung werden die Worte „eaf Gmnd
des § I20d" dufch die Worte: „anf Grand der fi§ laod, 139!** und die Worte
„aaf Grand des % taoc** dnrdi die Worte: „anf Grand der $§ lloe, 139g** eraefit
VL Der § 148 Abc 1 der Gewerbeordnung wird wie folgt abgdndert:
1. Hinter Ziffer 4 wird einpesrhaltet :
4.a. wer aufser den Fällen des § 360 Nr 12 des Strafgesetzbochi den anf
Grund des § 38 erlassenen Vorschriften zuwideriuuldeU ;
2. die Ziffer 8 erhält folyrnde Fassung:
wer bei dem Betriebe seines Gcwcrl>eb die durch die Obrigkeit oder
dorch Anaeige bei detadben festgelegten Taxen überadueitet oder ea
nnterliftt, daa genlb § 75 oder § 75 a vorgeaduiebene Veneidmb
einanrddien oder anaoachlagen;
VIL &n I 150 Abc I Ziffer 3 der Gewerbeordnung werden die Worte „in An-
tehm^ der Arbeitsbücher" durch die Worte ,,in Ansehung der AibeitabMdier, Lohn«
bächcr odrr Arbcitszettel" ersetzt.
VIII. Im 150 .Vbs. I Zifler 4 der Gewerbeordnung werden die Worte „des
5 120 Abs. I" durch die Worte ,.«les 120 .\bs. i, des § 139 h" ersetzt.
Artikel 10.
Dieses GeseU tritt mit dem in Kraft.
.\ r 1 1 k c 1 II.
Drr Reich skantler wird ermächtigt, den Text der Gewerbeordnung, wie er sich
aus den Aenderungen ergiebt, weldie in diesem Gesetz und den Gesetzen vom 15. Juni
1S83 R.G.BL S. 73, I. Juni 1891 R.G.BI. S. 361 , 19. Juni 1893 R.G.B1. S. 197,
6. August 1896 ILG.B1. S. 685, 18. August 1896 R.G.BL S. 604, la Mai 1897 R.G.BL
6 437» und vom a6. Juli 1897 R.G.BL S. 663, sowie durch die am 1 3. Juli 1884,
31. Januar 1885, 1$. Febraar 1886, 16. Juni 1M6, 16. Juli 1S88 und 9. Februar 1898
bdunat gemachten, vom Reichstage genehmigten Beschlüsse des Kunde^mtv R.G.BL
von 1884 S. 118, von 1885 S. S, von 1886 S. 28 und 204, von 1888 S. 2]?. und von
1898 S. 27) festgestellt sind, durch das keicb»-Gesetzblatt bekannt zu machen.
Urkundlich etc.
Gegeben etc. .—
Archiv für mz. Gesctxfebunc «. Siatistilt. XIV. I4
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MISZELLEN.
Die Versicheningspflicht der Lrehrer.
Von
H. VON 1-RAXKENRKRG,
Stadtrat in Braunschweig.
Die Privatidiier und -lehrerinnen sind in Deutschland keineswegs
auf Rosen gebettet. Sobald die Kräfte nachzulassen anfangen, beschleicht
manchen von ihnen bange Sor^c um die Zukunft. In den l)eteili^'ten
Kreisen ist nach S. 240 der Ik^^rundung zu dem neuen „Invaliden-
versiclierungsgesetze", mit welchem sicli in letzter Zeit der Reichs-
tag beschäftigt, iioiiier dringender der Wunsch laut geworden, dafs der im
Lehrerberufe vielfach beobachtete wirtschaftlichen Notlage durch An-
schluft an die staatliche Versicherung nach Möglichkeit ahg^olfen werden
möchte. Dabei ist hervorgehoben, dafs die in Frage kommenden Per*
Bönen aus eigoien Kräften trotz des Bestehens besonderer Pensions-
anstalten und ähnlicher Einrichtungen nicht genügend imstande seien«
ihren Lebensabend sicherzustellen
. Es verdient als erfreulich erwähnt zu werden, dafs der Gesetz-
entwurf in Js I Nr. 2 diesen Bestrebungen, die in einer Reihe von Ein-
gaben der Vereinsvorsiaiide namens einer erheblichen Zahl von Lehrern
und Lehreruuien au die Keiclisregierung herangetreten smd, verständnis-
volles Entgegenkommen gezeigt hat, indem er die „Lehrer und Erzieher**,
welche Lohn und Gehalt beziehen, deren regelmaisiger Jahreaarbeitsver-
dienst aber 2000 Mk. nicht übersteigt, den Betriebsbeamten gleichstellen
und dem Versichenmgszwange unterwerfen will.
Nur insofnn ist mit Recht ihre Behandlung in den neuen Be-
stimmungen eine von den Betriebsbeamten abweichende, als sie niemals
einer niedrigeren Lohnklnsse als der vierten (mehr als 850 .Mk. jährlich)
anpeliort-n sollen, aucii wenn thatsächlich ihre Beschäftigung mit allen
Nebcnenmalmien weniger einbringt.') Die von den Motiven (S. 268J
*) Vgl. § aa Abs. 2 am Ende des „Entwurfs eines InTalidenversicbeniacs-
grsetxes**, Nr. 93 der Reichstagsdmeksachen von 1898/99.
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H. von Frankenberg, Die Venichemngspilicht der Lehrer. 21 1
bierfiir ins TteSka geführte Erwägung, dais auf diese Weise eine ange-
messene Versorgung erzielt werde, ist allgemeiner Billigung gewifs. Nach
den üblichen Auslegungsregeln gilt derselbe Mindestlohnsatz ni( ht allein
für die männlichen Personen des Lehrerstandes, sondern auch fiir
Lehrerinnen, Gouvernanten u. s. w. Ebenso liegt kein Grund dafiir
vor, diejenigen Erzieher und Erzieherinnen auszunehmen, welche Air
fremde Redmung eine Anstalt (Pensionat, Pädagogium u. dgl.) leiten
und deshalb als fietriebsbeamte angesehen werden könnten.
Der Wodienbeitrag berechnet sich hiernach auf 30 Pf. Wird ein
Jahresarbeitsverdienst von mehr als X150 Mk. nachgewiesen, so ist die
fiinfte Ixihnklasse roafsgebend, die von der Novelle neu vorgeschlagen
wird, und der Wochenbeitrag stellt sich auf 36 Pf. Da die Versicherten
aus eigenen Mitteln nur die Hälfte der Beiträge aufzubringen verpflichtet
sind, so handelt es sich für die Beteiligten um eine jährliche Aus-
gabe von 7,80 bis 9,36 Mk
Nachdem der Entwurf die Zustimmung der gesetzgebenden Körper-
schaften erlangt hat, wird ein Privadehrer, der dreiisig Jahre hindurch
ohne wesentliche Unterbrechungen in seinem Berufe thätig gewesen ist
und bei der dann emtretenden Invalidität 1500 Beitragswochen erftUlt
hat, eine Invalidenrente von 290 — 330 Mk. jährlich beziehen.*) Die
Altersrente stellt sich, je nachdem die eine oder and^e der beiden
obersten Lohnklassen inafsgebend ist, auf 200 — 230 Mk. im Jahre. Es
ist ja freilich nicht zu leugnen, dafs oft stH)^t für die bescheidensten
Ansprüche ein Auskommen mit diesen Betragen allein kaum möglich
sein mag, aber es wird sich dabei in vielen Fallen um einen sehr will-
kommenen Zuschufs handehi, der in \'erbindung mit Ersparnissen, mit
Beihülfe von Verwandten und mit der etwaigen beschränkten Möglich-
keit eigenen Erwerbs ausreicht, die Betreffenden vor Not su bewahren.
Mutmafslich wird die Versicherungq)flicht der Lehrer mit ddm
I. Januar 1900 in Kraft treten 163 der Novelle). Wer von ihnen
zu dieser Zeit das 70. Lebensjahr zurückgelegt hat und den sonstigen
gesetzlichen Bedingimgen genügt, tritt sofort, ohne bisher Bei-
träge geleistet zu haben, in den (lenufs der Altersrente. Wer
dauernd crwcrl)sunläing wird, erhält die Invalidenrente, sofein er
wenigstens 40 IJeitragswochen auf Clrund der Versicherungspllicht erfiillt
hat; die Invalidität darf also nicht vor Anfang Oktober 1900
eintreten 156 das.). Die alsdann zu gewährende Rente beträgt
') Nach der in § 26 der Kommissionsvorsclilä^"- vdrf^'esehenen, Regen die bis-
herige Rechtslage erhcbhch veränderten Reutenberechnuiij^ kommt zu dem Keichszu-
«■chufs von 50 Mk. ein Grundbetrap von <^>c> Mk. und eine kcntensteifjrrunj,' von
0,10 . i 500 ^ 1 sO Mk. in viert<T Lulinkla>sc. also zusamnun 2<)o Mk. jährlich.
Findet die fünfte l.obnklabse Anwendung, so beträgt die Rente 50 -f- 100^10,12.
1 500) — 330 >lk.
14*
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212
MiszeUen.
mindestens 204 Mk. jährlich^ sie steigt mit jeder Beitra^woche um
10 bis 12 Pf.
In Lehrerkreisen könnte die Besorin^^is platzgreifen, da& bei der
Flrage, ob dauernde Erwerbsunfslhigkeit vorliege, mit grofser Strenge ver-
fähren und eine ihnen völlig fremde Lohnarbeit inbetracht gezogen
würde, zu der der Betreffende zwar allenfalls im stände ist, die aber fiir
ihn nach allgemein üblicher Anschauung: srhlerhterdings nicht j)afst. In
dieser Heziehung darf die boruhigciide (iewifshcit gegeben werden, dafs
der Kntwurf mehr ;ils bisher (he aequitas zur (ieUuni: bringt, ohne welche
die wohlwulleiaien Gedanken der so/ialpolitisihen Fürsorge leicht ihren
Zweck verfehlen würden. Invalidität ist dann anzunehmen, wenn jemand
in Folge von Alter» Krankheit oder anderen Gebrechen nicht mehr im-
stande ist, durch eine seinen Kräften tmd F^igkeiten entsprechende
Lohnarbeit, die ihm unter billiger Berücksichtigung seiner
Ausbildung und bisherigen Berufsthätigkeit zugemutet
werden kann, den dritten Teil desjenigen zu erwerben, was körjjer-
lieh und geistig gesunde Lohnarbeiter derselben Art durch Arbeit zu
verdienen pflegen. Mit den Motiven (S. 24711.) ist anzunehmen, dafs
eine vcrstäiulige l'ra.vis mit dieser Hcstiinmung ganz wohl werde aus-
kommen ktjnnen. wenn auch die (irenze der Invalidität etwas zu Gunsten
der \'ersi( heften gegen fViiher vers( hoben wird. Selbst in den östlichen
Bezirken unseres X ateilandes, in denen die Lehrer leider oft inbezug
auf Unterkommen und Besoldung sehr schlecht gestellt »nd, wird es
nach den obigen Ausführungen schwerlich einem Vorstande der Ver-
sicherungsanstalt einfallen, dem zur Ausübung des Lehramts unßihig Ge-
wordenen die Verrichtung niederer Tageldhnerdienste u. dgl zuzumnten.
Uebrigens sind diejenigen Lehrer, welche die Eigenschaft als Be-
amte des Reichs oder eines Bundesstaats besitzen, von der Versiche-
ningspflicht attsgenomrnen, solange sie lediglich zur Ausbildung für ihren
zukünftigen IkTuT beschäftigt werden (V{ 4). Dasselbe gilt, sofern die
Versorginig der P.ctreffeiKien durch .\ n w a r t s c h a f t auf Pension
itn Miiniesibetrage der Invalidenreiite 1 1 1 1 Mk.) gewährleistet ist. und
zwar hinsichtlich der Lehrer und Erzieher an öffentlichen (Ge-
meinde* u. s. w.) Schulen und Anstalten unbedingt, für die an Privat-
einrichtungen Besdiäft igten auf Grund emes etwa in dieser Richtung
ergehenden Bundesratsbeschlusses ($ 4b). Auf ihren Antrag sind
von der Versicherungspflicht, die in solchen FäUen einen überflüssigen
Zwang bedeuten würde, diejenigen Personen zu befreien, welchen auf
Grund früherer Besc hältigung als Lehrer oder Krziehcr an öffentlichen
Schulen oder .\nstalien i'ensionen, Wartegelder oder ähnliche Bezüge im
Miiu!e>tl)etiagc einer Invalidenrente bewilligt sind 4 a).
l.>ie \'ersicherung-[)llir!it soll na< h den Darlegungen der Regierungs-
vorlage den Lehrerstaiid im wi iicstcn Lmfange erfas>en : eine Unter-
scheidung zwischen einer ihrer Natur nach höheren, mehr geistigen
H. von Frankenberg, Die Versidieningspflicbt der Lehrer. 213
(wissenschaftlicheo, künstlerisclien etc.) Thätigkeit und solchen Unter-
weisungen, denen ein wissenschaftlicher Charakter fehlt, die mehr zur
Förderung der leihlirhen Kntwicklung erfolgen oder rein technische
Natur haben, wird fortan nicht mehr stattfinden. Jetler Praktiker wird
der Begründung heistiuimen, welche ausilrücklic h (S. 241» darauf auf-
merksam macht, dafs jene Trennung sich bisher bei Streitfällen als sehr
schwierig erwiesen habe und zu einer für die Beteiligten kaum ver-
ständlichen verschiedenen Behandlung sozial gleichstehender Personen
fuhren könne.
Von diesem nivellierenden Grundgedanken geht überhaupt der neue
Entwurf aus: er will schlechthin (»sonstige Angestellte, deren dienstliche
Beschäftigung ihren Hauptberuf bildet", in den Vxrsicherungszwang hinein-
ziehen, sofern die Gehaltsgrenze von 2000 Mk. jahrlich nicht übers* hrittcn
wird, insbesondere die sog. Hausbeamten, Hausdamen, Privatsekretärc
und ähnliche Hilfskräfte des Haushaltes in einer über den Stand der
Dienstbott^n hinaus rai^'enden Stellung S. 239 das.). Bisher waren /ahl-
reiclic dieser rersonen ausgeschlossen, auf die sich die „.Anleitung des
Reicbsversicherungsamts betreft'end den Kreis der nach dem Invalidltäts-
tmd Altersveracherung versicherten Personen" vom 31. Oktober 1890
bezog (vgl. Nr. 4 und 13 das.). In Zukunft kommt es nicht mehr
darauf an, ob Jemand „durch seine soziale Stellung (Iber den Personen-
kreis sich erhebt, der nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und vom
Standpunkte wirtschaftlicher Auffassung dem .Arljeiter und niederen Be-
triebsberimtenstande angehört"; auch die Gesellschafterinnen, Leibärzte,
Hausgeistlichen, Hausbibliothekarc u. s. w. werden neben den eben Ge-
nannten versit herungspfli( htiLT, und sie l'efnulen sich mit den „Lehrern
und Erziehern" jedentälls in guter (k-sellst liaft,
Unklar ist es deshallt, wie die .M()ti\e da/u gelangten, diejenigen
Hilfsarbeiter der inneren Mission, welche eine höhere, mehr wissenschaft-
licbe Thätigkeit ausüben, von dem Versicheningszwange befreien zu
wollen. Was dem Kandidaten der Theologie recht ist, der den Sohn
eines Gutsherrn zu erziehen hat, das mufs seinem Amtsbruder billig sein,
der als Hilfsgeistlich^ der Berliner Stadtmission eine nicht mit Pen-
sionsanwartschaft verbundene, aber gleichwohl auf längere Zeit bemessene
Thätigkeit gegen entsprechende Vergütung ausübt.^)
Während hier also die (irenzen der VersicherungspHicht zu eng gc-
gesieckt waren, schiefst an einer anderen Stelle der Verfasser der Be-
l>urcli die Kcichtagskommission ist liitr eine Vcrhfs^truug geschaffen: es
BoUes diejenigen Personen von der Vcrsichcrung.>>pflicht befreit sein, welche Unter-
ricM gegen Entgelt erteilen, sofern dies während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung
nr iuen zukOofUgen Lebensberuf geschieht (§ 4 Absatz 3). Man bat dadurch z. B.
Studeaten, welche während ihres Studiums durch Privatunterricht sich die nötigen
Mittel «rwerbcn, von dem Zwange ausgeschlossen ^Bericht No. 370 S. 31).
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214
Missellcn.
gründung in dem dankenswerten Bestreben, möglichst viden Lehrern und
Erziehern den Nutzen der Invalidenversicherung zuzuwenden, beträchlich
über das Ziel hinaus: er will auch diejenigen, welche aus der Erteilunp^ ein-
7c1ner Stunden ein rjcwerhe machen, vcrsirherunpsrerhtlirh ebenso
behandeln, wie andere nie ht ständig beschäftigte Personen, ja er glaubt
selbst die Lehrer, die in ihrer eigenen U'ohnung den Unterricht
geben, dem Zwange unterwerfen zu sollen (S. 242). Das entspricht
weder dem Bedfirfob, noch ist es juristisch zti voteidigen. Wer in
semer eigenen Behausung sich dem Erwerbe widmet, ist r^ehnäfsig
selbständig und steht, von den hier nicht in Frage kommenden
Hau^ewerbetreibenden abgesehen, nicht in einem AbhjLngigkettsverhültnis,
wie es bei der Versichcrungs{)tlicht und der damit verknüpften anteQ>
mäfetgen Verbindlichkeit des Arbeitsgebers die Voraussetzung bildet.
Dieser Gnindsatz ist bisher bei zahlreichen Personenklassen fest-
gehalten, wcl( he der staatlic hen Fürsorge ohne Fraire noch mehr be-
dürfen, als der Stand der Lehrer, z. H. bei den Nahennnen, Waschfrauen,
Spinnerinnen u. dgl. vgl. auch S ^58 Nr. 3 der Nc)velle\ Bei Schneidern
ist sogar, wenn sie in den Wohnungen ihrer Kunden den Beruf ausüben,
häufig Versicherungsfreihett angenommen.^)
Um so weniger gerechtfertigt wäre es, zu Gunsten einer emzelnen,
neu in die Versicherung eintretenden Abteilung erwerbsthätiger Personen
hiervon abzuweidien. Nebenbei mag darauf hingewiesen werden, dais
Air manche Lehrer und Lehrerinnen, die in ihren eigenen Räumen
Unterricht gegen Entgelt erteilen, und bei deren V^ergUtung man weder
\on „Lohn oder (jchalt" noch von einem „Arbeitgeber" zu reden pflegt,
auch aus einem anderen Clrundc die Vcrsii herunus(»tlicht ausgesc hlossen
sein wird, deshalb nämlich, weil sie durch Krmietimg und Herric htung
der zu Lelu/wecken dienenden Räume, (iegcnständc und (ierätschaften
oft ein namhaftes Risiko eingehen, das den erzielten Reinertrag als
Untemehmergewinn erscheinen lälst*); auch verschafien sie sidi nicht
selten zugleidi mit ihrer Lehrthätigkeit durch Veräulserung der ihrem
wissenschaftlichen oder künstlerischen Wirken entsprungenen Objekte eine
mehr oder minder bedeutende Einnahmequelle (Honorar der Schrift«
steller und Komponisten, Verkauf von Bildern, Skulpturen u. dgl.).
Uebrigcns hat bereits die Reichsgewerbeordnung damit gerechnet,
dafs die Erteilung von Unterricht gegen Entgelt als ein selbständiges
l^nternehmen angesehen werden könne. J«| 6 das. nimmt ausdrüc klich
die entgeltlic he Erziehung von Kindern und das l'nteiri* htswesen von
der Wirksamkeit der R.ücw.O. aus, weil man in dieser Beziehung der
') Amtliche Nachricht<Mi des ReichsversicliervngMmts, InvaliditSts- und Alten*
Tersichentng, 1803 S. 81 Nr. 236.
«) Ebenda, 1S94 S. 3» Nr. 327.
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H. von Frankenberg, Die Veraidienmgspilicht der Lehrer. 215
Landogesettgebung vollständig frden Spielnuim lassen wollte.^) Andrer-
seits behandelt Jl 35 Abs. i das. die „Erteilung von Tanz-, 'l'um- und
Schwimm-Unterricht als Gewerbe", also im Gegensatze zu dem .,Unter-
richtswescn" des J> 6, mit welchem insbesondere die Thätigkeit an
öffentlichen oder privaten T.ehranstalten gemeint ist.-)
Nur wenn man diese l'nterscheidung zwischen selbständiger und
abhängiger Ausübung des Lehrcrberutes gelten läl'st, wird die Ausdehnung
des Versicherungszwanges, inbesondere auch die Entrichtung der Bei-
trage durch Einklebung von Marken, ohne nennenswerte Sdiwierigketten
▼on statten gehen.
Die Erwartung der Motive (S. 24a), es würden die Weiterungen bei
Feststdlung des verpflichteten Arbeitgebers dadurch abgeschwächt werden,
dafe der in seiner eigenen Wohnung Unterricht gebende Lehrer die
Beiträge selbst leisten und sich den Rückgriff auf den betreffenden
Arbeitgeber vorl)ehalten könne, vermag ich nicht zu teilen. Zunächst
ist es sehr fraglich, ob in solchen Fällen der Lehrer selbst sich ent-
schliefst, das Markenkleben seinerseits zu besorgen. Aber auch wenn er
dazu geneigt wäre, so bereitet bei mehreren gleichzeitig unterrichteten
Kindern verschiedener Familien und bei zahlreichen sonstigen Fällen die
Beitragseinforderung derartige Unbequemlichkeiten, dafs er liebor sich
dazu versidien wird, aus dgenen Mitteln den ganzen Beitrag allein zu
bestrntcn, und das wieder^bt dem Grundgedanken der Invalidenver-
sicherung, solange nicht gemäfs § 2 Abs. i Nr. i des Inv.Vers.Ges.
durch Beschluß des Bundesrats die Versicherungqyflicht auf Unternehmer
ausgedehnt ist
') Koliscb, Die Retchs>Gewerbeord&niig, Hannover 1898, S. 11 Anm. 4 und
5 § 6
") Keger, Entfcheidongea, Bd. 7 S. 3; Bd. 16 .S. 9.
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LITTERATUR.
Lando It , Carl, Die Wohnungsenqueie tn der Stadt Bern vom
ly. Februar bis ii. März iSgö. Im Auftrag der städtischen
Behörden bearbeitet. Bern (Druck und Kommissionsverlag
von Neukomm & Zimmermann] 1899. XXXIX u. 712 S.
gr. 8*
Die Bearbeitung der Wohnungsenquete der Stadt Bern hat Im Qrunde
gmommen weit mehr gehalten, als man von ihr erwartete. Dieses
Zeuofnis ist um so ehrenvoller, als die Anlage der Erhebung und
die Ziele, welche sich dieselbe ;,^esteckt hatte, von \ornherein einen
wertvollen Beitrag zur Kenntnis städtischen Wohnungswesens und einen
kräftigen Ansporn /u rationeller Wohnungsgeselzgebung und Wolinungs-
poUtik erwarten liefsen. Prof. Karl Büchers Bearbeitung der Basier
Wohnungserhebung vom i. bis 19. Februar 1889 hatte der Bemer Er-
hebung wie allen übrigen in der Schweiz den Stempel au^edrfickt und
konnte man darum schon aus diesem Grunde berechtigte Hoffnungen
auf die Nachfolger setzen. Dazu liefs sich namentlich in Bern und
Zürich das Streben erkennen, sich die Basler £rfalirung:en auch noch
nach einer anderen Seile hin zu Nutzen /u mnchen, die dort gewiesenen
Wege weiter auszubilden und dort /u Tage getretene Lücken bestmöglichst
zu ergänzen. Der l'mfang der Erhebung wurde weiter ausgedehnt, der
Wohnungsstatistik auch die Geschäftsräume, Werkstätten etc. unterstellt.
Die Erforschung der baulichen Verhältnisse der Wohnung ging gleichfalls
viel weiter als in Basel, indem nach der Zahl der lichtgebenden Fenster
und Gtosthttren, der Art der Beheizung und der Ausnutzung der Wohn*
räume und Küchen gefragt wurde. Der allgemeine Zustand der Wohnimg
sollte neben den in Basel, Bern und Winterthur erforschten Merkmalen
auch noch dahin untersucht werden, ob die Wohnung sonnig, hell odm
dunkel sowie ob die Ventilation möglich, unmöglich oder erschwert sei.
F.l)enso wurde die Bcschatilenheit der Treppen und die Möglichkeit der
Rettimg für die Bewohner bei l-'euerausbruch erfragt. Die L'nigebung
der W ohnung, über welche in Basel blofs bei ungünstiger und zweifei-
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Landolt, Carl, Die Wohnmigieiiqaete io der Stadt Bern etc.
217
hafter Beschaffenheit einzelner Räume nähere Auskunft verlangt wurde,
soüte in Hern viel gründlicher erforscht werden. Dasselbe gilt vom
sozialen Qiarakter der Wohnung, der Zusammensetzung der Haus-
haltung etc. Aehnliches trifft man l»ci der Statistik der Mietpreise. Die
Thatsache, dafs im Mict/.iiis tast nirgends die ganze N'erglitvmg enthalten
zu sein ptlc^^t, welciie der Mieter fiir die Benutzung einer Wohnung zu
bezahlen hat, sollte durch die Frage nach der Bezahlung der VVasserzinse
imd Illuminationsgebühren erforscht werden. Zur näheren Charakteri-
aerang der MietverhältnisBe im allgemeinen sowie der sozialen Stufe der
Vermieter und Mieter wurde auch nach der Zahlungsfrist des Miet>
Zinses gefragt.
Der Erfolg dieses tieferen Eindringens ist kein ganz gleichmä&iger. Rr
ist geringftigiger an allen Punkten, auf welchen das meist dem Arbeiter-
stande angehörende Krhebungspersonal auf relative Merkmale angewiesen
war, was übrigens vorauszusehen und von uns vorausgesagt war. .Archiv
für soziale Gesetzgebung und Statistik X. Bd. S. 61 7.1 .\ls Beweis hier-
für weisen wir auf die Darstellung der Trcppcnverhahnisso hin. hei
welchem .\nlafs der Bearl)eiter der K,iK|uete sich folgendermafsen aulsert :
„Da die Erhebungsbeamteu zum ^rulsten Teil aus Volksschichten
stammten, die nicht an luxuriöse oder auch nur behagliche Wohnver-
hdtnisse gewöhnt sind, roufste ihre Beurteilung der Verhältnisse der
Wohnungen notwendigerweise anders ausfallen, d. h. günstiger lauten,
als das Urteil von Leuten, die selbst an eine bessere Wohnung gewöhnt
sind. So wird jeder Kenner der Treppenverhältnisse erstaunt sein über
die in tmserer Enquete nachgewiesene geringe Anzahl \nu Wohnungen
mit schlechten Treppen. Hier hat das erwähnte Wohnverhältnis-Milieu
dt-r Krhebungsbeamten die Beurtoihin^i der 'rrei)|>enverhältnisse l)eeintlufsf'.
Knie ähnliche Kiiischränkunf; giebt der Bearbeiter der 'labollo (CXCVT)
über die Zimmer nach ihrer Ventilierbarkeit und ihrem baulichen Zustand
mit auf den Weg.
ErfreuKch dagegen ist der Erfolg dieses tieferen Eindringens nach
allen anderen Punkten und ist es sehr zu bedauern, dafs der Bearbeiter
durch äufeere, nicht in seinem Willensbereich liegende Verumständungen
verbindert war, alle Vergleiche, welche, nach den Vorarbeiten zu urteilen,
hätten vorgenommen werden sollen, wirklich auch vorzimehmen. So
konnten die Verhältnisse der ZinniK r weder mit der Rendite der Wohn-
häuser, in denen sie liegen, noch mit dem relativen Mietpreis pro Kubik-
meter, noch mit der Zimmerzahl der Wf)hnnng verglichen werden. I>ic
Arbeitsraumzahlkarte blieb ohne \erwoiiduiig. Unausgeführt blieb tlie
beabsichtiirte Darstellung der hauserweisen .Vlietiireise pro Wohnraum, <lie
gesonderte Beschreibung der kleinen und libervölkertcn Wohnungen und
der wichtigsten Wohnungserscheinungen in einigen Hauptstrafsen. Ebenso
konnten die Wohnverhältnisse nicht mit der Sterblichkeit in Beziehung
gesetzt werden. Diese Unterlassung ist um so stärker zu bedauern, als
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2l8
Littemtar. ,
die ganze Arbeit sich durch die durchaus systematische Anlage aus*
zeichnet und vom Allfiemcinen zum Besonderen, vom Ganzen zum Teile
schreitend den V'orteil leichten Uel)crl)lirks und rascher Orientierung
über jefilichon Punkt bietet. Dies ergiebt sich übrigens schon aus bei-
folgender Gliederung des Inhalts.
Nach der Einleitung, welche in die Darstellung der Veranlassung
der Untenudiung, der im Laufe der Verhandlungen zu Tage getretenen
Gesichtspunkte» der Durchführung der Untersuchung, des Umfangs der
Erhebung und der Vollständigkeit und Richtigkeit des Materials» der
VorberdtuDg des Materials zur statistischen Behandhing und methodolo*
gischc Bemerkungen zerPällt. folgen die statistischen Ergebnisse. Diese
behandeln im ersten Teil die Flächenverhältnisse, Ueberbauung und Be-
völkernnpsdichtijjkeit des Stadtgebiets. Der zweite Teil befafst sich mit
der Benützung und dem Assekuranzwert der (!el)äu(le und dem Grund-
steuerweit der überhauten ( Grundstücke, wahrend tier dritte Teil die
Wohnhäuser, der vierte die Wulmungen und der fünfte die Räume der
bewohnten Wohnungen darstellt. Dem Mietpreis der Wohnungen wendet
sich der sechste Teil zu, während der siebente Teil die Bodenrente,
Wert» Preis und Rendite der normal bewohnten Grundstücke darzusteUen
sucht und der achte Teil einer Uebersicht der Hauptergebnisse der
Wohnungsenquete giebC.
Neben diesem Vorzug der Bearbeitung darf nicht vergessen werden»
dafs die Berner Enquete die wirtschaftliche Lage des Individuums als
Ursache gewisser Massenerscheinungen mön^lichsl zu erforschen suchte.
r)ie Individuen, deren wirtschaftliehe Laire eine ähnliche ist, wurden in
40 so^. „soziale (iruppen" vereinigt. Einzelne (iruppen sind hierbei bis
zu einem gewissen Grade auch nach Berufsgrupiiea unterschieden. So
treffen wir die „Arbeiter" in drei verschiedenen Gruppen. Die Gewerbe-
treibenden sind nach einem allerdings etwas schwankenden Maisstab in
Klein» tmd Grofsgewerbetreibende» die Handeltreibenden in eigentliche
Grossisten, im Handelsregister Eingetragene und Nichteingetragene unter-
schieden. Die Bezeichnungen dieser sozialen Gruppen haben natürlich
nicht immer auf jeder Tabelle in ihrem vollen Umfange reproduziert
werden können, weil dies zu viel Raum beansprucht hätte. Deshalb
wurden, wenn gröfsere und damit dcutlicliere Vergleichszahlen gewonnen
werden sollten, die sozialen Gruppen in drei ,, soziale Schichten" zu-
sammengefalst. Dadurch wurde es möglich, den Zusammenhang zwischen
den Wohnverhältnissen und der allgemeinen ökonomischen Lage der
Bewohner so gründlich aufzudecken, wie dies bisher noch nirgends ge-
schehen ist Statt einer Aufzählung der *kesultate dieser durch die
ganze Arbeit konsequent und subtil durchgeführten Unterscheidung be-
gnägen wir uns mit einer Gegenüberstellung der beiden sozialen Gruppen ,
welche die besten und die schlechtesten Wohnverhältnisse aufweisen:
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Landolt, Carl, Die W<duiiiiigsenquete in der Stadt Bero etc.
•
f rrofshändler,
H inkiers u. dgl.
Bauarbeiter
Absolut
relativ
absolut
relativ
Praxent
Prosent
—
6.9
1.8
—
o,9
—
a.5
112 khm Luftraum pro Kopf (cxkl. Kttche) .
—
59
—
»4
Wohnungen ohne Küche
—
84
5.5
Wohnungen mit mangelhaften KUcben . . .
I
».5
676
46,7
WoteoDfai nit gemeiiucliafUiefaen Aborten .
—
973
63.3
Wobnongen mit nurngdbaften Aborten . . .
33t3
I4S8
95.4
Wobnnngcn ohne Dependenzen
—
93
6,0
Wohnungen obne Aoscfalui» an die Wasser-
9
1 126
73.3
W<dimmgen, deren KttchenschUttstein keinen
Ablauf bat
—
—
618
43,6
Wohnnngen mit mangelhaften Treppen . .
3
4.4
304
Wohnungen, dcrrn Tnsa>*;cn sich bei Feuer-
ausbrucl) nirht leicht retten können . .
2,9
a6»
20,7
4»
8,2
15.5
Zimmer mit scblccbter Bdeaebtmig ....
S
1.6
n?
4,3
Fencbtc und baulich anbefriedigende Zimmer
37
1.4
4«o
i6.9
Dnrchscbnittlirhrr Preis pro kbm Luftraum
3.94 ^ r•
4,25 Fr.
Darchschnittlichcr rrei> pro Zimmer
209 „
•50 "
Dieser bcdeutunt^svollc Gegensatz wird (knch die Ziffern des
schichteiiweisen Zusammenziigs dahin ergänzt, dafs die W'ohnungsverhält-
nisse mit ganz unbedeutenden Ausnahmen in jeder Hinsicht um so
schlechter sind, einer je niedereren sozialen Gruppe bezw. Schicht der
Haushaltungsrorstand angehört. Der Bearbeiter sieht die Konsequenz
dieses Beweises in der Erkenntnis, „dals wir es in der Wohnungsfrage
mit einer sozialen Massenerscbeinung zu thun haben, tind dafs alles, dem
bei der Lösung dieser Frage einigermaisen Bedeutmig zukommen kann,
nicht vom Willen des einzelnen, weder des Mieters, noch des Grund-
eigentümers bezvv. W'ohnhauseigentÜniers abhängig, sondern einzig und
allein von wirtschaftlichen Gesetzen bedingt ist, deren Funktionen gegen-
über der einzehic um so weniger ausrichtet, je schwacher er in uirt-
schafthcher Hinsicht ist. Darum kann allfallig zu erlassenden gesetz-
lichen ]5estimmungen nur dann eine jjr.iktisi he Ik'deutung zugesjui« hen
werden, wenn die wirtschaftlichen Bedingungen zu ihrer praktischen
Durchführung geschaffen worden sind. Die Verhältnisse sind mächtiger
als alle Gesetze, imd wo sie einander entgegenstehen, wird das Gesets
mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln nichts ausrichten. Bekannt
genug ist ja ein in dieser Hinsicht typisches Vcwkommnis in unserer
Stadt Es wurde vor einigen Jahren auf Verfügung der Behörden eine
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220
Litteimtnr.
Wohnung als gesundheitswidrig geschlossen. Kurze Zeit darauf mufste
die nämliche Wohnung, ohne dafs an ihr Veränderungen vorgenummea
worden wären, wieder zum Bewohnen geöffnet werden, weil eben die
Wohnungsnot hierzu zwang".
Wir unsrerseits bezweifeln die Erfüllung dieser mit jngendfrischem
Wagemut ausgesprochenen Hofihung und wagen es nicht zu glauben, dafs
die Beroer Erhebung einen derartigen Umschwung in der (jkonomischen
Weltanschauung der dortigen Bevölkerung bewirken werde. Auch hier
gelten die Gesetze der Kntwickhing. wenn auch nicht ui Abrede zu
stellen ist, dafs eine derartige Demonstration aus nächster Nähe und ge-
wissermafsen am eigenen Leib das Pul)likura wie die Hehörden viel
rascher und gründlicher zu beiehren und zu bekehren imstande ist, als
irgend eine abstrakte Abhandlung.
Die konsequent durchgeführte Unterscheidung der Mieter und Ver-
mieter in soziale Gruppen und Schichten fuhrt namentlich auch bei der
Darstellung des Mietpreises der Wohnung zu äu&erst wertvollen Ergeb-
nissen. Die höchsten absoluten Wobnungsmieten bezahlen die (jrofs-
händler, Bankiers, Fürs[)recher, Aerzte, Notare. Grolsgewerbetreibende,
„bessere Kleinhändler", Professoren, Lehrer, Pfarrer. Baumeister und
Architekten, die kleinsten die verschiedenen Arbeitergruppen. 1 )ie
Durrhschnitt>preise pro Wohnraum sind wie diejenigen der Wohnungen
um so kleiner, einer je niederen sozialen Schicht der Haushaliung-.-
vorstand angehört. Doch ist die Ditlerenz zwischen dem Durchschnitts-
preis, den die obere Schicht, und demjenigen, den die untere Schicht
für einen Wohnraum bezahlt, bei weitem nicht so grofs wie diejenige
zwischen der durchschnittlichen Wohnungsmiete dieser beiden Schichten.
Noch kleiner wird diese Differenz auf das Zimmer berechnet. Für den
Kubikmeter Luftraum einschliefslich die Küchen zahlen alle drei
Schichten ungefähr den gleichen Preis. Kur den Kubikraum exklusive
Küche znhit die untere soziale Schicht einen höheren Preis als die obere
und mittlere soziale Schicht.
Lie eingehende lleschreibung des \ erhalinisNes der Preisgestaltung
je nach der Gruppenzugehorigkeii des Wohnungsmieters einerseits und
der Wohnungsvennieter andrerseits erforderte eine Ausscheidung der
kleineren Mieter- und Eigentümergruppen. Doch hindert dies nicht, am
Vorkommen von Relativzahlen, deren Berechnung weniger als 20 Bälle
/u ('.runde liegen. Darum mögen die I>etails dieser Nachweisungen für
die Bewohner der Bundesstadt von Interesse sein.
Weiteren Kreisen genügt die zahlenmäfsig festgestellte Thatsache,
dafs die Wohnungsmieter der unteren sozialen Schicht an die Wohnungs-
vermieter der luiteren sozialen Sc hicht die absolut kleinsti-n, aber die
relativ höchsten Mietpreise bezahlen, welcher Satz sich aus anderen
Thatsachen dahin ergänzt, dafs die Wohnungsmieter an die Wohnungs-
vermieter Air um so schlechtere W<^nungen einen relativ um so höheren
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Kistjakowski, l'h., Gcscllächatt und Cinzclwcäcn.
221
KiGetaiis bezahlen, einer je niedereren' sozialen Gruppe der Wohntings*
mieter einerseits und der Wohnungsvemiieter andrerseits angehören.
Aehnllche Erscheinungen zeigt die Vergleichung des relativen Mietpreises
der Wohnungen mit ihren Dependenzen, zu welchen Keller, Vorrats*
magazine, Stallungen, Gärten, Jucharten Land, offene Veranden, Terassen,
Balkone und dergleichen, Si)ei5ekammem, VVaschkürhen, Schwarzzeug-
Holz- \'orfensterkammera und dergleichen, sowie Badezimmer gezählt
wurden.
Die Erforschung und Darstellung der Bodenrente, des Wertes, des
Preises und der Rendite der normal bewohnten Grundstücke ist eine
der meist umstrittenen Positionen der ganzen Bemer W(^ungserhebung
gewesen. Die Durchführung sowie die Ergebnisse der Aufnahme nach
dieser Seite hin lassen dies erklärlich erscheinen. Zwar hat die Theorie
der Bodenrente durch die Bearbeitung keine Bereicherung erfahren.
Aber die Art der Berechnung und die eingehende Betrachtung derselben
hat entschieden einen wesentlichen Beitrag zur rationellen Lösung der
Wohnungsfrnf^e geliefert. Die Totalrente wird als licrjenige Teil des
Bruttoertrages eines zum Wohnungsbau dienenden Grundstückes be-
zeichnet, welcher nach Abzug von jährlich 6 " ^, des in den Häusern
angelegten Kapitals für Zins, Amortisation, Arbeitslohn des Eigentümers
und Rinkoprämie übrig bleibt Die Totahrente wird in die kapitalisierte
und die reine Rente unterschieden. Erstere soll den Teil umfassen,
der auf die landesübliche Verzinsung des Bodenkaufpreises entfiUlt. Zur
Feststellung des Bauwertsmaximums der ILiuser diente der auf das Jahr
1896 berechnete Assekuranz wert. Der Nachweis, dafs der Assdturanz-
wert das Bauwert- Maximum der Häuser relativ substituieren kann, wird
dadurch zu leisten versucht, dafs der Bauart und dem zum Bau eines
Wohnhauses verwendeten Material der ausschlaggebende Einflufs zuge-
schrieben wird.
Dieser Nachweis ist insofern gelungen, als deutlich gezeigt werden
iRNinte, dafs der Raumgehalt der Gebttude auf deren Assekuranzwert
ohne Einwirkung ist und dafs das Alter der Gebäude auf den gleichen
Wert ganz untergeordnet wirkt. Auf diese Weise wurde durch eine
ganze Reihe sehr einläfslicher Berechnungen festgestellt, dafs ein um so
kleinerer Teil der Totalrente kapitalisierte Rente und ein um so gröfseier
Teil reine Rente ist, je weiter entfernt die (irundstiicke vom Stadtkern
liegen. Damit ist auch die weitere Thatsache gegeben, dafs die (irund-
stiicke der niederen so/Jalen Gruppen eine relativ pröfscre Rente ab-
werten oder dafs der in der reinen Rente repräsentierte (iewinn bei
Grundstücken mit schlechten Wohnhäusern gröfser ist als bei denjenigen
mit guten oder befriedigenden Wohnhäusern. Selbst das Verhältnis
zwischen dem letzten Raufpreis der Grundstücke und ihrem aus dem
fottoertrag des Jahres 1896 berechneten Wert wurde ermittelt Unter
den Momenten, welche reduzierend auf den Preis der Grundstücke
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232
Litterator.
gegenüber ihrem Werte einwirken, wird hauptsachlich die wirtschaftliche
Schwäche vieler „Hauskäufer" angeführt. Diese Hegründung scheint
uns nicht ganz stichhaUig zu sein. Vielleicht hatte eine Darstellung der
sozialen Gruppen/ugehörigkeit der Eigentümer jener (irundstücke, deren
drei letzte Kaufpreise ermittelt wurden, hier aufsteigende Einwände zu
zerstreuen vermocht.
Mit Recht enthilt sich der Bearbeiter der Eoquete socnsagen jeg-
licher Wegleitung zur Verbessenmg der bestehenden Wohnungszustände.
Seine Aufgabe ist erflUlt mit der Darlegung und Eikllrung der vot-
handenen Verhältnisse. Gesetzgebung und rationelle Wohnungspolttik
werden hieraus die praktischen Zielpunkte leicht zu finden vermögen.
Sozusagen das einzige Mittel, das der Bearbeiter anrät, ist eine |>eriodische
Beobachtung des Wohnungsmarktes durch Zählung der leerstehenden
Wohnungen , um dadurch jeweils Auskunft zu erhalten, an welchen
(irofsenklassen von Wohnungen in Ijcstitnmten Lagen Mangel herrscht.
Diese Zurückhaltung ist zudem noch aus Gründen mehr persönlicher
Natur zu begreifen. Die Wohnungsenquete in Bern hat viel Sttiub auf*
gewirbelt und zur Verwerfung des Budgets durch die Stimmbefechtigten
der Stadt Bern w6h\ nicht unwesentlich beigetragen. Am 8. Februar a. c
hat sie bei der zweiten Budgetberatung im Grofsen Stadtrat eine lange
Debatte heraufbeschworen, welche nicht ohne .Angriffe auf die Person
des Bearbeiters verlief. Gerade weil der Bearbeiter eine weit und tief
angelegte Durchdringung des vorhandenen Materials in verhältnismafsig
kurzer Zeit und ohne die ublulien .Abschlagszahlungen statistischer
Aemter in Form der rublikaiion sog. „vorläufiger Ergebnisse" erstrebte,
blieben ihn» Vorwürfe nicht erspart. Der gelungene Abschlufs der
ganzen Erhebung mag ihm hierfür Ersatz sein und denjenigen zum Tröste
dienen, welche sich um die rund 40 000 Fr. betragende Ueberschreitung
des ursprünglichen Kredits von 6000 Fr. allzusehr kümmerten. Die auch
hinsichtlich der Ausstattung mustergültige Bemer Wohnungsenquete bildet
hoffentlich blofs den Anfang zu ähnlichen Publikationen des wohl bald
ins Leben tretenden statistischen Amtes der Stadt Rem.
Frauenfeld. • E. HOFMANN.
Ä is ij a ou> s k i , Th. Dr.. Crsi llschaft und Einzelwesen. Fline nie-
th« KlolDgische L'ntcrsuchuii^. Berlin 1899. X u. 205 S.
Das Buch ist W ilhelm Windelband und Georg Simmel als „Lehrern"
des V'erfassers gewidmet. Der Name Siumu'l umschiiefst für die sozio-
logische Forschung ein l'iogramm. Simmel war namlich der erste,
welcher den soziologischen Problemen erkennt uiskritisch beizu>
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Kifttjakowski, Tb., Gesellachaft ond Einwlwesen.
223
kommen suchte. Und auf diesem Gebiete liegt ja die hoffiiungsvoUe
Zukunft der soziolojarischen Forschung. Wenn ich dies ausspreche, so
will ich andrerseits hinzufügen, dafs ich auf die Pflege der Soziolo^'io
als v()l1i£^ verseil )st.indifrter Disziplin gar wenig Wert lege. Im Gegenteil.
In der aufdringlichen Hetonung der vermeintlichen Selhsiändigkoit der ,
soziologischen Forschung sehe ich ein dcutli< lies Symptom wissenschaft-
licher Unreife und methodologischer Unklarlieit. Soziologie wird m. E.
immer nur eine erkcnntnistheuretische Einleitung in die und allgemeine
Methodeolehre der SosialwisBeaschaften bleiben. Es ist dies eine andere
Aufiaasimg des ,»Problems der Sosiologie**, als die von Simmd vorgetragene.
Von diesem Standpunkte aus ist dne „methodologische Studie'*,
als die sich die Arbeit Kistjakowskis auf dem Titel aufweist, lebhaft
zu l>egrüfsen. Ich sehe in meiner liesprcchung von einer eigentlichen
Inhaltsangabe ab und .werde nur einzelne Punkte, die mir entweder
besonders wichtig erscheinen oder mich zum Widersprudi auffordern,
herausgreifen und in Kürze besprechen.
Im ersten Kapitel weist Kistjakowski nach, dafs die älteren an-
thropomorphistischen Anschauungen über das Wesen des Staates
von den neueren naturalistischen, der sog. „organischen Theorie"
wesentlich verschiedoi sind (S. i — 18). Die Kritik der organischen
Theorie (U Kap. Gesellschaft und Organismus, S. 19 — 55) ist dem
Verfasser auch entschieden gelungen. Kistjakowslqf hebt trefTend her*
vor, dais „in den letzten Jahrzehnten es sehr geläufig geworden (ist)
zu behaupten, dafs die Naturgesetze auch für gesellschaftliche Er-
scheinungen gelten^ oder dafs diesell>en allgemeinen Gesetze in der
Gesellschaft wie auch in der Natur herrschen müssen. Solche an-
geblich wissenschaftlichen Redensarteu vertlanken ihre Entstehung haupt-
sächlich dem oberflä« hlichen (iebrauche der Worte „Gesetz" und „Natur-
gesetz" ... In Wirklichkeit haben wir keine Gesetze im allgemeinen.
Was die Naturwissenschaft bis jetzt erreicht hat, besteht in der Ent-
deckung der mechanischen, astronomischen, physischen, chemischen,
physiologischen und sonstigen Gesetze. Der Begriff „Naturgesetz^ falst
bio& diese getrennten Klassen von Gesetzen in eine gemeinsame be-
griffliche Gruppe zusammen. Es giebt aber kdn höheres Naturgesetz,
in dem diese Gesetze auch wirklich aufgehen kimnten. Wenn wir also
IMTÜfen, was diesen einzelnen, verschiedenen Reihen der Naturgesetze
gemeinsam ist, dann können wir nur die kausale N'erbindung der Er-
s( hcinuiigcii als soh lie au'^scheidell. Dieser gemeinsame Zug
aller Naturgesetze ist jedoch selbst kein Gesetz, sondern
eine Norm unseres Denkens" (33). Diese ganze Ausfuhrung
mitsamt dem von mir gesperrten Satze bietet freilich für philosophisch
Geschulte nichts Neues. Wie es aber wichtig ist, solche erkenntnis-
theoretische Gemdnplätze dem allgemeinen Bewußtsein beizubringen,
beweist die an Dilettantismus geradezu einzig dastehende Litteratur des
L^iyiii^cü Uy Google
224
Lhteratur.
historischen Materialismus. Wenn ein lo herviniagendar Schriftsteller
wie Bernstein erklärt, dafii „die Frage nach der Richtigkeit der materia-
listischen (ieschichtsaufTassung die Frage ist nach dem Grade der
geschichtlichen N o t w e n d i k e i t" , so ist das kein lapsus
calami, sondern nur ein deutlicher Beweis heilloser Bc^'rittsverwirrung
infolge mangelnder erkenntnistheorctisrhcr Bildung. Durch die hier zu
Tage tretende gerade/.u stupende philosophische Unklarheit beweist Bern-
stein schlagend, wie Recht Conrad Schmidt hatte, als er den Marxisten
Kantstudinm empfahl. Mäfsiges Kantstudium hätte Bernstein davor be*
wahrt» nach dem „Grade" der Notwendigkeit zu fragen^). Das Kausai-
gesets ist oberste Nonn des Denkens und als solche gilt es für alle Er*
kenntnisobjecte. In diesem Sinne ist alles — Natur. J)k Soziologen
der organischen Schule haben also vollständig Recht, wenn sie die
Gesellschaft als direkte Fortsetzung der Natur . . . auf&ssen. Um jedoch
zu beweisen, dafs wir die sozialen Erscheinungen nur dann begreifen
können, wenn wir sie unter dem (lesichtspunkte der kausalen Verbindung
betrachten, braucht man nicht den ganzen Aj)[)arat der Naturwissen-
schalten imd die Analogie /.wischen den gesellschaftlichen und rein natür-
lichen Erscheinungen. Dazu genügt schon das logische Postulat, dals
wir nur das verstehen, was wir als notwendig o<ter im kausalen Zu-
sammenhang auffassen, tmd die daraus folgende emfache methodologische
Ueberlegung" (S. 33—34)-
In Anlehnung an Windelband „Geschichte und Naturwissenschaft**
und Rickert „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Pegriftbildung^
deckt Kistjakowski den begrifflichen Gegensatz der Naturgesetze im
eigentlichen \'cistande und der sog. „KiUwicklungsgcsetze'', die im Grunde
genommen gar keine Gesetze sind, auf. Doch vermisse ich in den Aus-
fuhrungen Kistjakowskis die logische Schärfe und Sicherheit, welche die
eben genannten Arbeiten Windelbands und Rickerts auszeichnet und
ihren Hmptwcrt ausmacht.
Im Anschlufs an Simmel (III. Kap. Staat und Gesellach^ S. 56
bis 87) entwickelt Kistjakowski den Begriff der Gesellschaft. Er wendet
sich gegen Stammlers Definition des sozialen Lebens und von seinem
methodologischen Standpunkte gewifs mit Recht Leid» versäumt er
es den b1eil)enden Verdienst Stammlers ins richtige Licht zu rücken,
nämlich den Überaus wichtigen Nachweis, dafs das Verhältnis zwischen
'1 K(l. Hrriivtein. Di.- \ Draussctzuugcn des Socialiärnus und die Aufgaben
Sozialdcniokrati«-. Stuttgart 1S99. S. 4.
*) Mit dieser Bemerkung will ich keineswegs den son^ti^<-n Wert der verdienst»
liehen Schrift Bernsteins irj^dwie herabsetxen. Was den sosialpoUtischen Inba
derselben betrifft, stehe ich Bernstein viel nfiher als »einen Gegnern und halte
das Hervortreten Bernsteins fttr eine ebenso seitgemäfse als mntvoUe und folgen-
schwere Handlung, ich mücbte sagen, für eine That.
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Kistjak owski, 1 h., (jcscUschalt und Einzelwei rn.
225
Wirtschaft und Recht logischerweise garaidit als ein Verhältnis zwischen
Ursache and Wirkung aufgefa&t werden kann. Das IV. (Die Anwendung
der Kategorien des Raumes, der Zeit und der Zahl auf die Kollektiv-
emheiten, S. 88 — iio) und V. Kap. (Kollektivbegriffe und Kollcktiv-
wesen, S. iii — 144) bilden den wertvollsten Teil der Studie Kistjakowskis.
Sehr t:ut weist Kistjakowski nach, dafs Rümelin einen fjrofsen Fehler
be^^clit , wenn er reale Kiiiheiten wie Fainilicfi und (Gemeinden, und
die i>o^. statistischen (»esamtheiten als etwas vom logischen Standpunkte
beinahe Identisches behandelt und unter einem und demselben Namen
„Koflektivbegrifr' suhsnmiert.
Die Gesellschaft ist mehr als ein KoUektivbe griff, sie ist eine
reale Einheit, ein Kollektiv wesen. „Die Hauptatifgabe, welche bei der •
Erkenntnis der Natur des gesellschaftlichen Wesens gestellt werden Itann,
besteht ... in der Unterscheidung zwischen der rein be^^rifflichen Zu-
sammenfassung vieler einzelner Individuen in einem Zahl- oder Gesamt-
heitsbcfrriff und der realen Einheit, in welche diese Individuen in einer
gesellschaftlit lu-n Hildinig voreinigt werden." S. 126 — 127.)
Wenn wir bisher der Kistjakowskisehcn Anerkennung zollen zu
müssen glaubten, so macht das Kapitel (Der allgemeine und der
individuelle Geis^ S. 145—196) uns stutzig. Es ist sehr unklar ge-
halten und in ihm werden Ansichten vorgetragen, welchen wir wissen»
schaftlicfae Bedeutung von vorneherein absprechen müssen.
Nur eine Probe davon:
„Der allgemeine Geist, der sich zu seiner Wirkimg im einzelnen
l'ewufstsein, wie der Gattungsbegriff zum F.xemplar verhält, mufs natur-
gcnials nach anderen Gesichtspunkten untersucht werden als der allge-
meine (ieist, der sich aus dei\ einzelnen Funktionen itn individuellen
Bewufstsein allmählich zusannnensetzt und ein Ganzes ausmacht, zu dem
sich die einzelnen Geister als Teile verhalten. Die erste Fonn des all-
gemdnen Geistes bildet das Reich der Normen; dieses Gebiet der
Realen wird in den besonderen normativen Wissenschaften behandelt . . .
Die Normen als solche machen nämlich nicht (sie!) einen untrennbaren
Ik>standteil der Gesellschaft als Gesamtheit der Individuen aus, sie stellen
sich der kritischen (!) Betrachtung als vom empirischen Thatbestande
tuuibhängiger, überindividueller Geist dar. Zwar gehören sie gleichfalls
zum allgemeinen Geiste, aber nicht als ein aus der jjsyclio-genetischen
Fntwi< klang analytisch (?) zu gewinnendes Resultat, sondern als neues
eigenartiges Element" ''S 183 — 184).
Hier schlägt Kistjakowski eine Brücke zwischen seinen Ansichten
und dem wissenschaftlich bedenklichsten Teile der Stammlerschen Lehren.
Was bei Kistjakowski als „vom empirischen Thatbestande unabhängiger,
ttberindividneller Geist" erscheint, sieht dem Stammler'schen „objectiven
Wollen", „objectiv berechtigten Wollen" verzweifelt ähnlich. Diese ganze
Auffassung beruht auf der m. E. völlig unhaltbaren Loslösung der Kate-
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226
Littentnr.
gorie des Oiyektiven (und des Gesetzraäfsigen) von der Kategorie des
Seins. l'nd da das Sollen und das Sein — wie dies Sinunel zu-
treft'end in der „Einleituuf^ in die MoiaUvisscnschaÜ" (Hd. 1| cm-
wickelt hat — als qualitativ verschiedene \' o r s t e 1 1 u n g s -
modi sich aut das schärfste scheiden, so kann es objektives Sollen
ebensowenig wie etwa seiendes Sollen geben. Auf der TrugvorstcUung
des objektiven WoUens bat Stammler seinen sozialen Idealismus auf-
gebaut; auf der TrugvorsteUong eines allgemeinen Geistes will auch
Kistjakowdd ein Reich allgemeingültiger Normen aufrichten. Beide
wollen die Sanktion der „grauen Theorie" für etwas, was gar keiner
theoretischen Sanktion bedarf: für die Praxis.
ist schade, dafs die anregende methodologische Studie Kistji-
kowskis in einer radikalen methodologischen uder vielmehr erkenntnis-
theoretischeii Verirrung ppfelt.
Aber trotz alledem suid solche Untersuchungen, wie die Arbeit
Kistjakowskis, das, was uns eben notthut Denn der mediodologischen
UnUarhdt entspringen nicht nur die formsle UnbehoUienheit der modernen
Sozialwissenschaftai, sondern auch die grö&ten materiellen Iirtttmer.
Am meisten sollten es eigentlich die Nati<Mialökonomen empfinden, die
sich noch auf ganz andere methodologische Fragen als die Srhulkontro*
verse: Induktion oder Deduktion, realistische oder abstrakte Volkswirt-
schaftslehrer /u besinnen haben. Ohne solche methodologische und ich
sage heber gleich erkenntnistheoretische Selbstbesinnung ist die wich-
tigste Aufgabe der modernen Nationalökonomie: den „Marxismus'' kritisch
zu revidiren und weiterzubilden, schleciithin unlösbar.
St. l'etersburg.
PKTER V. STRUVE.
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Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich
vom 14. Juni 1895.
Von
Prof. Dk. H. RAL'CHBEKG
m Prag.
Vorbemerkung.
Durch die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich
vom 14. Juni 1895 sind sowohl der Wissenschaft als aucii der prak-
tischen Sozialpolitik neue und wichtige Materialien erschlossen
worden. Schon ihr äufserer Umfang ist ganz aufserordentlich. Sie
umfassen, von den Veröffentlichungen der einzelnen Bundesstaaten
abgesehen, nicht weniger als 18 Bande in dem grofsen Quellen-
werke der (Statistik des Deutschen Reichs". Die Bände 102 bis
HO ihrer neuen Folge enthalten das Zahlenmaterial der Berufs-
statistik, die Bände 113 — 118 das Zahlenmaterial der Gewerbe-
statistik. Der Band 112 ist der landwirtschaftlichen Betriebszählung
gewidmet Die zusammen&ssende Darstellui^ der bera£»tatistischen
Ergebnisse ist kürzlich als Band III erschienen.*) Nur die zu-
sammenfassende Darstellung der Gewerbestatistik, welche den iig.
Band ausmachen soll,, steht noch aus. Ihre Hauptergebnisse sind
jedoch bereits in Ergänzung zu dem l. Hefte des Jahrgangs 1898
der Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs veröffent-
licht worden.
Mit dem Erscheinen des Textbandes zur Beruisstatistik ist
der Zeitpunkt gekommen, die Ergebnisse der gesamten Erhebung
den Lesern dieses Archivs in wissenschaftlicher Bearbeitung vor-
zuführen. Es wäre ja verlockend gewesen, die einzelnen Teile,
') Die bonflichr um) so/.ialc Gliederung des Deutschen Volkes nach der Bc-
rnfszählung Tom 14. Juni 1895. Berlin 1809.
Archiv fm Ms. Gesetzgebung u. Statiuik. XIV. 15
228
H. Kanchberg,
etwa in der Reihenfolge des Erscheinens, abgesondert zu besprechen.
Das Archiv wäre dann schon zu einem viel früheren Zeitpunkte in
der Lage gewesen, die Zählungsergebnisse auszugsweise mitzuteilen.
Gleichwohl hat der Bearbeiter im Einvernehmen mit dem Heraus-
geber in der Erwägung darauf verzichtet, dafs eine erschöpfende
und endgültige wissenschaftliche Ausbeutung der Materialien erst
dann mö<^Mirh ist, wenn sie vollständig vorli^^en. Denn die einzelnen
Teile der Erhebung stützen und ergänzen einander. Ihre Ergebnisse
stehen in einen» engen inneren Zusammenhange, und in diesem
Zusammenhange sollen sie auch vorgetragen werden. Und dann
brauchen wir hierfür auch die Verhältnisberechnungen und Zu>
sammenzüge des amtlichen Textbandes. Ein privater Bearbeiter
hätte dieselben unmöglich in der gleichen X'ollständigkeit und
Verläfslichkeit sich verschaffen können. Auch hätte eine solche
Arbeit ihren Wert nur kurze Zeit behalten, da sie durch die viel
umfassendere Bearbcituui^ des Kaiserl. Statistischen Amtes alsbald
überholt worden wäre. Ich habe es daher \()r<^czogen zu warten,
bis ich diese .Arbeit für meine ci;^'ene würtle henützen können.
Nachdem dies nunmehr der l'"all i>t, freue ich mich zu sehen,
wie berechtijTjt meine Ilaltunj^^ war. Denn die \on dem Referenten
für die Berufs- und ( leu erbezahlung im Kaiserl. .Statistischen .Amte,
dem Kgl. Bayerischen Hezirksamts-.Assessor I >r. I'ricdrich Zahn,
vcrfafste amtliche Bearbeitung der Zähluni^seri^ebnisse mufs als eine
der hervorragendsten I.eistunc'en der modernen .Statistik anerkannt
werden. Der Inhalt des Riesenwerks ist durch umsichtiije Anah-se
völlig erschlossen, die X'ergleichung mit den Mri^^ehnisscn der .Auf-
nahme von 1S82 soweit als irgend möglich liurchgefulirt, che l'eber-
sieht durch zweckmäfsig entworfene und sauber ausgeführte graj>hisrhe
Darstellungen erleichtert. Das Zählungswerk erscheint damit in glück-
lichster Weise ahL,feschl()ssen, und eine xerläfslichc Grundlage ist
geschaffen für alle weiteren I ntersuchungen.
Die nachfolgerule Darstellung \erfolgt den Zweck, die Krgeb
iiisse der Berufs- und ( iewerbezählung den Konsumenten der Sta
tistik sowohl auf dem (icbielc der Wissenschaft als auch der Praxis
näher zu rucken. Zu diesem Zweck sollen zunächst einige mctho-
dologi«s(Mie I'.rorterungen Platz finden. Sic sind notwendig sowohl
zur Kritik der Zahlen al> auch zur Beurteilung des gcsiimien
Zählungswerkes. Wir wollen sehen, welche Aufgaben es sich ge-
stellt, und welche Wege es zu ihrer Lösung eingeschlagen hat.
Die gleichen Bedürfnisse wie im Deutschen Reich haben im Jaiire
uiyiii^cü Uy Google
Die Benifii> und GcwerbedlMinig im Devtschen Reicüi vom 14. Juni 189$. 229
1896 auch in Frankreich und Belgien zu Berufs- und Betriebs-
zahlungen geführt. . Sehr interessante methodologische Verglei-
chungen sind dadurch möglich geworden. Nicht minder wichtig ab
die Formulierung der allgemeinen Aufgaben der Zählung ist aber
die Fassung der einzelnen Fragen, ja selbst die Technik der Auf>
bereitung der Ergebnisse. Denn von der Statistik ganz besonders
gilt in dieser Beziehung der alte Satz, dafs kleine Ursachen oft
grofse Wirkui^^ haben. So bedarf es denn keiner besonderen
Entschuldigung, wenn ich nicht sofort in die Besprechung der Er-
gebnisse eingehe, sondern vorerst den Vorhang vor der Werkstätte
der Statistik lüfte und zeige, wie man zu ihnen gelangt ist.
Sodann will ich aus dem riesigen Ziflfernmaterial diejenigen That-
sachen herausheben , welche die gesellschafthche Organisation der
deutschen N'olkswirtschaft und ihre Entwicklung während der Zeit
zwischen den beiden Berufszählungen zu kennzeichnen geeignet sind.
Auf die Kon.statierung des ThatsächHchen durch Mitteilung wenig-
stens der wichtigsten Zahlen kann nun einmal nicht verzichtet werden,
wenn es gilt die Ergebnisse grolser statistischer Aufnahmen vorzuführen
und wissensciiaftlich zu er(")rtern. Erst wenn wir die grundlegenden
Zahlen kennen, dürfen wir daran gehen sie zu deuten, Einblick
zu gewinnen in die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen X'erhält-
nisse, die darin ihren Ausdruck finden, und zu untersuchen, welche
allgemeinen Entwicklungstendenzen sich daraus etwa ableiten lassen,
und wie sich unsere bisherigen AnNchauungcn dazu veriialten: ob
sie bekräftigt werden oder vielmehr nach den neu erschlossenen
Materialien zu berichtigen sind.
Hierbei gelangen zunächst die Ergebnisse der Berufszählung
zur Erörterung, dann jene tier landwirtschaftlichen Bctriebszählung,
zuletzt der Gewerbezählung, Es ist aber in dem inneren Zusammen-
hange der drei Teile der gesamten Erhebung begründet, dafe auch
die betriebsstatistischen Ei^ebnisse mit zur Beurteilung der Berufe-
Statistik herangezogen werden, wie denn auch umgekehrt von dieser
letzteren aus mancherlei Streiflichter auf die Betriebsverhältnisse
&]]en.
15*
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310
H. Ranchbcrg,
Erster Teil.
Die Methode der Berufs- und Gewerbezählung.
Die Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895 ist be-
kanntlich nicht die erste Erhebung dieser Art im Deutschcfi Reich.
S^ie ist imgrofsen und ganzen eine Wiederholung der gleichartij.^en
Erhebung vom 5. Juni 1882, welche in der Botschaft Kaiser Wil-
helm I. vom 17. November 1881 als die X'orbedingung der sozial'
politischen Reformgesetzgebung bezeichnet worden war, die durch
jene Botschaft eingeleitet werden sollte. Bei der raschen Kntwicklung
des wirtschaftlichen Lebens und insbesondere der deutschen In-
dustrie mufsten die Ergebnisse der Zählung von 1882 schon seit
Jahren als veraltet gelten. Eine neue Aufnahme war unab\vci^bar
geworden, wenn anders das bereits erreichte Niveau unserer Kennt-
nisse nicht durcli das allniählige V'ersicgen der wichtigsten Infor-
mations(|uellc erheblich herabgedriickt werden sollte. Die Wieder-
holung der bcrufs/.ählung war schon seit Beginn der neunziger
Jahre \oti der \'olks\erlretung, der Wissenschaft und der Presse
verlangt und von den X'erwaltungsbehörden, insbesondere vom Kaiserl.
Statistischen Amt als geboten anerkannt worden. Dem ist auch der
Bundesrat mit l^eschlufs vom 4. Oktober 1894 beigetreten. So ging
denn dem Reichstag am 12. Dezember 1894 ein Gesetzentwurf be-
treffs Wiederholuii'^^ der Berufs- und ( icwerhezählung zu, welcher
unverändert angenonmien worden ist (Keich^esctz vom 8. April
1895, R.G.Bl. S. 225).
Das Gesetz ist überaus knapp gehalten. Es beschränkt sich
darauf anzuordnen, dafs im Jahre 1895 eine Ik^rufs- und Gewerbe-
zäliluiiL^ für den l'mfang des Reiches \orzunehmen sei, weist die
.•\ufnahme selbst den Landesregierungen, die Ko>ten für die Er-
hebungsformularien und für die Wrarbeitung dem Reiche /u, be-
schränkt die Eragestellung — von tiem Personen- und bamilien-
stande und der R( lii(ii>n abgesehen — auf die Bcruts\ crhältiusse
und sonstige regt linat^igc Lrwerbsthätigkeit. sch Heist jedes Eindringen
in tlie \'erm<)gens- unti lunkommensverhältnisse aus, und sichert
die wahrheitsgemälsc Beantwortung der I-'ragen durch Strafan-
drohungen. Das i>t alles. Nach dem 4 des Gesetzes blieb das
Entscheidende in der Sache dem Bundesrat Überlasseti: dfii Tag
der Autnahine anzusetzen, die Fragepunkte zu bestimmen, die I ragen
zu formulieren, die b'ormularien für die Erliebung und die Bearbeitung
der Ergebnisse festzustellen. Auf den materiellen Inhalt der Er-
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Die Beruf;»- und Gewerbezählung im Deutlichen Reich vom 14. Juni 1S95. 23 1
bebung, die auf mindestens ein Jahrzehnt hinaus das Terrain
för die deutsche Sozialpolitik aufldaren soll, war der Reichstag nur
in der Form von Resolutionen Einfluls zu nehmen in der Lage.
Die parlamentarischen Verhandlungen haben übrigens nur geringe
Veränderungen in den vom Kaiseri. Statistischen Amte entworfenen
und in der Konferenz der Landesstatistiker vom 5. bis 13. November
1894 gebilligten Entwürfen zur Folge gehabt, weshalb hier auf die
verschiedenen Anregungen nicht weiter einzugehen ist^)
Freie Hand hatte keiner der bei der Feststellung der Formu-
larien beteiligten Faktoren, weder die Statistiker, die sie entwarfen,
noch der Bundesrat, der darüber entschied. Denn vor allem mulste
man darauf bedacht sein, die Vergleichbarkeit der neuen Erhebung
mit jener von 1882 zu sichern. Die Möglichkeit dieser Vergleichung
verleiht nunmehr beiden Aufnahmen doppelte Bedeutung. Sie
liefern nicht nur Momentbilder, sondern lassen in ihren Abweichungen
auch die Entwicklung während der Zwischenzeit erkennen. Jede
einzelne von ihnen vermag nur das Thatsächliche zu konstatieren,
den Zustand am Stichtage der Erhebung. Gegeneinander gehalten
umschlielsen sie einen fest umschriebenen Ausschnitt aus dem grolsen
sozialen und volkswirtschaftlichen Entwicldungsprozels. Wir dürfen
hoffen, daraus zu entnehmen, nicht nur wo wir stehen, sondern auch
wohin wir steuern. So mulste denn die Einrichtung der Aufnahme
von 1882 malisgebend werden für jene von 1895, nicht nur in ihren
Grundzügen, in der Auswahl der Erhebungsobjekte und in der
Formulierung der Probleme, sondern auch in den Details und der
Textierung der Fragen. Jeder in der praktischen Statistik halbwegs
Erfehrene wdls, wie empfindlich die Volksseele auf die feinsten
Nuancen der Fragestellung reagiert, und wie sehr die Ergebnisse
durch scheinbar geringfügige Aenderungen hierin beeinflufst werden.
Das organisatorische Grundprinzip der Zahlungen von 1882
und 1895 mulste also das gleiche sein. Es besteht darin : zunächst
eine vollständige Volkszahlung vorzunehmen und dabei jene statistisch
erfaTsbaren Erscheinungen auch des natürlichen Lebens der Be-
völkerung zu erheben, die (ur ihre wirtschaftliche Bethatigung
von Belang sind oder durch dieselbe sozial differenziert werden;
*) Eine TollstSadige Uebcnicht darftber findet sieb in ndner Besprechung der
Oi^udinlk» der Eibebatv in der Statistischen Monatschrift XXI. Jahig. S. 2790;
Vgl. an^ G. Majrr, Die Reicbstagsverhandinngen Aber die Denlsche Berafii» und
Gewerbczihlung vom 14. Juni 1895. Allgem. Statistisches ArcbiT S. 356 fr.
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232
H. Ravcbberg,
sodann die SteOung der so charakterisierten Individuen in dem
volkswirtschaftlichen Ftoduktioiisprozels nach BerulsKweigen und
sozialer Schichtung zu ermitteln, wobei sich Gelegenheit ergiebt,
die Verhaltnisse von gewissen» unter speziellen Gesichtspunkten
interessanten Ghruppen, z. B. der Heimarbeiter oder der Arbeitslosen
durch Zusatzlragen genauer zu kennzeichnen ; endlidi die individuellen
Berufeangaben dazu zu. benutzen, um gleich bei der Zahlung die
Unternehmer oder Betriebsleiter herauszufinden und den wichtigeren
von ihnen durch besondere Formulare Angaben über ihre gewerblichen
und landwirtschaftlichen Betriebe abzuverlangen. So fiihrt die Volks-
zählung zur Berufszählung, die Berufszahlung zur gewerblichen
und landwirtschaftlichen Betriebszählung. Berufs- und Betriebs-
Zählung stehen in einem notwendigen Zusammenhange zu einander.
Die Berufsszählung zeigt uns die soziale Stellung der einzelnen
Metischen gleichsam reflektiert in dem Spiegel ihres subjektiven Be-
wufstseins, also von einem mehr atomistischen Standpunkte aus; die
Betriebszählung hingegen will sie in jener thatsächlichen sozialen
und technischen Gruppierung erfassen, in welcher sie in den gesell-
schaftlichen Produktionsprozefs eingefügt sind, und sie charakterisiert
überdies diesen letzteren selbst durch die Angaben über die Unter-
nehmungen und ihre technische Ausrüstung. Durch diese organische
Verbindung wird die schwierige Frage umgangen, ob für die Be-
rufsangaben der Arbeitnehmer ihr persönlicher Beruf oder der
Charakter der Unternehmung mafsgebend sein solle, wo sie
beschäftigt sind, also der Beruf des Arbeitgebers. Thatsächlicli
brauchen wir beides, sowohl die Gruppierung der Bevölkerung nach
dem persönlichen Berufe, als auch nach dem Charakter der Unter-
nehmungen. Wir erhalten die eine durch die Berufs-, die andere
durch die Betriebszälilung. Daraus fol«];t ?ui( h, dafs diese letztere
sich nicht etwa blofe auf die „etablierten", von den Verwaltungs-
behörden registrierten Betriebe beschränken darf, wie dies kürzlich
aus vermeintlichen zählungstechnischen Gründen empfohlen worden
ist. ') .\uch die Betriebsstatistik soll sämtliche Erwerbsthätige uni-
fassen, sonst kann sie ihrer Aufgabe nicht entspreclicn, das gesamte
arbeilende Volk in seinen Betriebsorganisationen aufzuzeigen. Noch
eine andere Erwägung spricht gegen die reaktionäre Beschränkung
*) Richard Riedl, Die Deutschen Gewcrbczählungen und die Refonn dr r Go»
Werbestatistik in r)esterreich. Statistische Mitteilungen der niederösterreichiscbcB
Haadek- u. Gcwerbduannier. Heft 3. Wien 1S98.
uiyiii^cü Uy Google
Die Bcrnft' vad Gewerfarrlhlmig im Dcutidicii Reich vom 14. Jnii 1895. 233
auf die etablierten Betriebe. Die Statistik soll nicht zeigen, was
die Verwaltung von Beruf und Betrieb weifs, sondern auch was sie
nicht weifis. Wir brauchen den^ Ueberblick über die Gesamtheit,
nicht über den verwaltungsrechtlich bereits geregelten Ausschnitt,
und zwar einen möglicli^t freien und weiten Ausblick. Handelt es
sich doch darum, Grundlagen fiir die Fortbildung der sozialen
Verwaltung, also möglicherweise auch üir neue, erst zu schaffende
Organisationen zu erlangen.
Die deutsche Betriebsstatistik beruht also auf den Angaben der
Unternehmer oder Betriebsleiter. Andere Staaten haben es ver-
sucht, ihre Betriebsstatistik ganz unmittelbar auf den Angaben der
Arbeitnehmer aufzubauen oder dieselben doch zur Kontrolle der
Betriebsangaben der Arbeitf^ebcr zu verwenden. 5>chon die eid-
genössische X'olkszähluiig vom i. Dezember 1888 liat im An-
schluls an die Berufsfragen auch ..Ort, Sitz (und allfälligc I*"irma)
des Geschäfts, des ( icwerl^cs oder der X'erwallung", also den Arbeit-
■^eber l>eini Arheilnclinicr erfra^^t. Aber nicht etwa, uni danacli die
Betriebe selbst zu ermitteln, sondern \ielmchr. um — eben in Er-
mangelung einer eigentlichen Betriebsaufnahnie — die Kinreihung
tler Arbeitnehmer in das Berufsschema nach dem Charakter der
Unternehmungen, also nach dem Arbeitgeberberuf vornehmen zu
können, worauf es wegen der X'orarbeiten für die P^infiihrung der
sozialen Versicherung in der .Schweiz damals in erster IJnie ankam.
Hingegen wurden bei der Bearbeitung der ungarischen X'olks-
zählung von 1890 die Angaben der gewerblichen .'\rbeitnehmer
iibcr ihre Arbeitgeber zur Aufstellung einer gewerblichen Betriebs-
statistik benutzt, in welcher auch der individuelle Beruf der Arbeit-
nehmer sehr eingehend mit dem Betriebszweige oder der Art der
L'nternchmung kombiniert wurde. Dieser organisatorische Grund-
gedanke ist bei der französischen Volkszählung vom 29. März 1896
weiter ausgebildet worden. Nachdem die Regierung das Projekt
einer selbständigen Betriebsaufnahme nach deutschein Muster ab-
gelehnt hatte, suchte man einen Ersatz dafür in der Weise zu
schaffen, da& man gelegenUich der Volkszahlung die Arbeitgeber um
die Zahl der von ihnen beschäftigten Personen, die Arbeitnehmer
aber um Namen, Adresse, femer um die Art des Berufes, des Ge-
werbes oder des Handelszweiges des Arbeitgebers befragte. Nach
diesen Angaben wurden sodann die PersonalverhSltnisse der Betriebe
konstruiert Man hat also eine Art Betriebsstatistik aulgestellt ohne
Betriebsaufnahme, lediglich auf Grund der Beru6ermittlung bei der
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234
H. Ranchberc,
Volkszählung. Der Vorzug dieser Methode gegenüber der deutschen
liegt zunächst in der aufserordentlichen Einfachheit und in der
völligenVerschmelzung von Berufs- und Betriebsstatistik. Jede Differenz
der Ergebnisse .wird dadurch von vornherein vermieden, während
sonst sowohl weisen der Verschiedenheit der Auskunftspersonen
aiicli des Standpunktes erhebUche Abweichungen sich ei^eben,
welche zwar dem Fachmann nicht unerwartet kommen, das grolse
Publikum aber verwirren. Freilich hat jene Verschmelzung in
Frankreich dazu geführt , dafs die Gesirhtspunkte der Rcrufs-
statistik fast völlig zu gunsten der Betriebsstatistik geopfert worden
sind. Das ist jedoch, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, ')
keine unvermeidliche l'olgc dieser Methode. Sie hat aber andere
<»ch\vcr\vie^^ende Nachteile: I\s fehlt an jedem objektiven Merkmal
für die Betriebe; das technische \'erfahrrn ist ein ziemlich umständ-
liches, ja zeitraubendes, so dafs die X erotleiulichung der luj^ebnisse
sich notwendigerweise erheblich verspätet ; die arbeitende Bevölkerung
selbst wird in anderer territorialer (Tliedcrnng vorgeführt als die
sonstigen Zälilungsergebnisse, nämlich nach dem Arbeitsorte, nicht
mehr nach tlem Aufenthaltsorte gruj)piert, so dafs die Kinbeziehung
der nicht Erwerbenden in die Berufsstatistik sehr erscliwert, wenn
nicht gänzlich uiniioglich ist. — in Frankreich hat man 1896 gänzlich
darauf verzichtet — ; und schlielslich ist das eigentlich betriebs-
statistische Ergebnis doch nur ein vergleichsweise dürftiges. Ks be-
schränkt sich im wesentlichen auf die ( iliederunc: der Betriebe nach
Grölsenkategorien und bleibt hinter den im Deutschen Reiche er-
zielten I*lrgel)nisse weit zui ück. Ks kann kein Zweifel darüber
bestehen, dafs eine eigene Betriebsaufnahme in Verbindung mit
einer allgemeinen Berufszälilung das einzig Richtige ist, und dafs man
die in Frankreich — und früher schon in Ungarn — angewendete
Methode lediglich ab einen Notbehelf gelten lassen kann.
Wesentlich anders ist die belgische Industriezählung vom
31. Oktober 1896 zu beurteilen. In Belgien hat damals eine
do]>pelte Erhebung stattgefunden: eine industrielle Betriebszahlung,
und eine 2Uihlung der gewerblichen Arbetterscliaft, also eine partielle
Volkszählung. Für beide Erhebungen bildeten die Bevölkerungs-
') Die Hfriir>>- u. ßclricbsaurnahtnc in Frankreich von 1896. Allgem. statistisches
Archiv. V. S. 440 ff.
-) Vgl. die offizielle Pablikation: R^snltati Statistiqoes da RecenKmcnt drs
Industrie« et Professions, wofim soeben der i. Band enchienen ist
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Die Berafs' und Gewerbedhliiiig im Dentiehen Reich Tom 14. Juni 1895. 235
register die Grundlage, indem die Erhebungslisten danach au^esteltt
und die Penonalangaben der Arbeiter daraus entnommen werden
sollten. Im Anschlüsse daran wurden bei der Arbeiterzahlung samt*
Uche gewerblichen Arbeiter um Namen und Industriezweig der
Unternehmung oder des Arbeitgebers und die Adresse des Betriebes
befragt. Die Bearbeitung beider Aufnahmen war im Arbeitsamte
xentralisiert. Dortselbst wurden die Arbcilncliincr nach ihren An-
gaben über die Betriebe gruppiert, und das Ergebnis mit den
Iwrrespondierendcn Ei^ebnissen der eigentlichen Betriebsaufnahme
verglichen. Hieraus ergab sich eine sehr wirksame Kontrolle für
beide Erhebungen. Das Arbeitsamt war auf eine derartige Kontrolle
um so mehr angewiesen, als die Aufnahme jenes sicheren Fundaments
entbehrte, welches nur eine gleichzeitige Volks/ählung zu verschaffen
vermag. Die Bevölkerungsregister, wonach die Erhebungslisten auf
gestellt worden sind, beruhen auf einer Zählung, die sechs Jahre
vorher stattgefunden hatte, und haben sich denn auch in der I'hat
als sehr unzuverlässig erwiesen. Die Erfahrungen der belgischen
Aufnahme zeigen, (lafs eine annähernd vollständige Hetriebsaufnahnie
ohne die Grundlage einer allgemeinen X'olks- und Hctriebszählung
zwar möglich, aber dorh nur mit un\ crhältnisinäfsig groisem .\r-
beitsaufwande durchfvhrbar ist. In meinen .Augen liefern die bel-
gische und französische Hetricl)sstatislik den Beweis für die Richtig-
keit der deutschen Organisation, d.h. der organischen X'erbindung
von Berufs- und lk*triebsaufnahine. M Frankreich hat erfahren, dafs
eine befriedigende Betriebsstatistik ohne eigentliche Betriebsaufnahnie
unmöglich ist; Belgien, dals >ie fast ebenso sehr eine Durchsiebung
der gesamten Bevölkerung durrh die V'olk.s/ählung voraussetzt. Hin-
gegen scheint mir allerdings die belgische Organisation einen erheb-
lichen Fortschritt hinsichllich der Kontrolle des Materials und der
Zuverlä-ssigkeit der Ergebnisse, die Bearbeitung der französischen
wie der belgischen Materialien einen Fortschritt in der Gliederung und
Detaillierung des Ik-rufsscl einas. ije/w. tler Klassifikation der Gewerbe
zu bedeuten. Hierauf wird >[)äter norh /.urückzukommen sein.
Bevor ich auf tiie l-jörterung der Zählpapiere und der einzelnen
Eragepunkte unserer 1 ilul)ung eiiigthe. ist noch ein anderes
Moment kurz zu berühren, das für alle ihre Teile von Belang
ist: die Bestimmung des Zeitpunkts. Nicht nur die Landwirt-
') Vgl. darüber meine Abhandlung: Die Berufs- u. Botri••l^s^ahlun^;••n de*
Jahres 1896 in Frankreich u. Belgien. Statistische Monatächrift XXV. Jahrg. S. 237 ff.
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236
H. Rauchberg,
Schaft, auch zahlreiche gewerbliche Betriebe hängen im hohen
Mafse von der Jahreszeit ab, teils ganz unmittelbar, teils mittelbar
wegen der dadurch bedingten Periodizität der menschlichen Bedürf-
nisse und der auf ihre Befriedigui^ gerichteten Produktion. Die
Statistik hat daher sOfgfiUtig zu unterscheiden zwischen den perio-
dischen Schwankungen in der Berufsgliederung und Betriebsstärke»
die lediglich dem WVchscl der Jahreszeiten entspringen, und jenen
tiefer greifenden, langfristigen Veränderungen, die das Ergebnis
sozialer oder technischer Evolution sind. Der Einflulij der Saison
auf das Ergebnis wird so ziemlich ausgeschaltet, wenn die beiden
miteinander zu vergleichenden Erhebungen zu annähernd gleichen
Terminen stattgefunden haben ; die vorhergehende ist in dieser
Hinsicht mafsgebcnd für die nachfolgende. Die Zählung von 1882
hatte am 5. Juni stattgefunden. Das ist vielleicht nicht der beste
Zeitpunkt für eine Berufs- und Betriebsaufiiahme. Im Juni ist der
sonmierliche Charakter des Erwerblebens allzu einseitig ausgeprägt.
Ich stimme mit dem Direktor des Kaiserlichen Statistischen Amts
darin überein,') dals der September wühl geeigneter wäre, „wo die
Landwirtschaft noch nicht ruht und die Industrie voll zu arbeiten
pflegt". Eine derartige Uebergangszeit ist für die Krhebung solange
vorzuziehen, als man nicht in der Lage ist, das Bild der Sonmier-
zählung durch eine W'interzählung zu ergänzen. - | Daran ist aller-
dings wegen des (l()j)])eltcn Arbeits- und Kostenaufwandes \ orläufig
nicht zu denken. Allein jene Hedenken sind mit Recht beiseite
gesetzt worden, um die Ver^lcichbarkeit der Aufnahme von 1895
mit jener von 1882 zu sichern. Auch die zweite Zählung; mulste
gleich der ersten im Sommer und zwar im Juni stattfinden. Nur
war eine kleine Verlegung des Termins im Hinblick darauf geboten,
dafs 1895 der Stichtag von 1882, der 5. Juni, in die Pfingstwoche
fiel. So hat man sich denn für den 14. Juni entschieden. In einer
Hinsicht muls der 14. Juni allerdin^js als besonders ungeeignet
angesehen werden; für die mit der Bcrufszählung zu verbindende
Erhebung der Arbeitslosen. In dieser Richtung ist dadurch Abhilfe
'1 H. V. Scheel, Die deutsche Berufs- u. Gcwcrbczählung vom 14. Juni 1895.
Jahrbücher f. Nationalökonomie u. Statistik. 3. Folge. Bd. XV. S. 1 ff.
-) Für eine .\usbeutttng des berursstati.>itischen Materials der Volk&zähliuig
vom 2. Dezember 189; ist in dieser Absicht eingetreten G. v. .Mayr in seiner .Ab-
handlung ,,Zur Technik der Ausbeutung beruf s&tatistiscber Angaben". AUg. Staü»t.
Archiv IV. Bd. S. 499.
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I>ie Beruf»» und GewerbesShluiig im Dentochen Reich vom 14. Jnni 1895. 2$J
geschafTen worden, dais die Frage nach der Arbeitslosigkeit bei der
Vc^kszahkin*,^ vom 2. Dezember 1895 wiederholt wurde. In
diesem Punkte besitzen wir die prinzipiell ganz allgemein geforderte
Ei^änzung einer Sommerzählung durch eine Winterzahlung. Der
gewaltige Unterschied der Ergebnisse zeigt, wie notwendig sie ist.
Das Prinzip des Stichtages ist für die Betriebsaufnahme nicht
im gleichen Mafse anwendbar wie fiir die Benifszählung. Hier er-
scheint es zur Vermeidung von Auslassungen und Doppelzählungen
unbedingt geboten und ist zumeist auch unbedenklich, weil der Beruf
der einzelnen Menschen in der Kegel ein ständiger ist. Auch rleutet
schon die Stilisierung der Frage nacli dem Hauptberuf und die
weitere Definition des Berufszweiges darin als die hauptsächliche
oder alleinige R!r\verbs(]ucllc darauf hin, dals man nicht etwa eine
davon zufällig abweichende. that>achlichc Bc'schäfligun;^^ sondern
denieni'^'cn Beruf angegeben sehen wolle, worauf die c,'c>amte Lebens-
stellung beruht, welcher also die soziale Signatur einer jeden Person
ausmacht. Mag das auch mitunter milsverstandcn worden sein,
im t^rolsen und ganzen hat die für den Stichtag ermittelte Bcrufs-
glieiit rung typische Bedeutung für das ganze Jahr. Anders in der
Betriebsstatistik. Hier macht sich der Kinflufs der Saison in \iel
höherem .Malse geltend, sowohl hinsichtlich des Botandes und der
'1 hätigkeit als auch in.sl)esondcre hinsichtlich des l'mfangs der Be-
triebe. Dem ist bei der (iewerbezählung zunächst dadurch Rechnung
getragen worden, dals auch für zeitweilig ruhende (unterbrochene)
dewerbebetriebe (Campagne-, Saisonbetriebe) ein (iewerbebogen
aufzu.stellen war. l erner sollten die Angaben über das Betriebs-
personal , welche mit vollem Detail nach dem Stande vom
14. Juni 1895 einzutragen waren, ergänzt werden durch die An^^abc
des in der Regel, im Jahresdurchschnitt oder in der Betriebszeit
beschäftigten Personals. Diese Durchschnittsangaben sind deim auch
bei der Bearbeitung der Ergebnisse voll ausgebeutet worden. Auch
waren für Gewerbe, die nicht während des ganzen Jahres in gleich-
maTsigem Betriebe stehen, die Monate des vollen Betriebes an*
zugeben. DarUber hinaus haben Erhebungen über die Periodicitat
der Betriebe und die Schwankungen des Betriebsumiiangs nicht
stattgefunden. Und doch wäre eine Ergänzung der Antworten auf
die eben erwähnte Frage durch die Angabe des Personalstandes am
Schlüsse eines jeden Monats iur das der Zahlung vorher-
') Vgl. V. Scheel a.a.O. S. 6.
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238 Rauchberg,
gehende Jahr dringend erwünscht gewesen. Dadurch hätte man
den Einflufs des subjektiven Urteils über die GleichnuUsigkeit
des Betriebs ausschalten und ein sicheres Mafs für die monatlichen
Schwankungen des Betriebsumfanges gewinnen können. Die Trübung
des Bildes durch <len zufälH^en Charakter des Stichtages wäre vcr^
mieden worden. Und endlich hätten die Differenzen zwischen den
Maxinialzahlen und den einzelnen Monatszahlen sowohl in den ein-
zelnen Gewerben als auch in der Industrie überhaupt höchst be-
merkenswertes Material geliefert für die Frage des Personalaus-
tausches zwischen den einzelnen (lewerben, sowie zur Beurteilung
der durch den Saisonwechsel bedingten Arbeitslosigkeit.') Das leitet
aber schon über zur Erörterung der Erhebungsformulare und der
einzelnen Erhebungsmomente.
Die Berufszähluncf war eine Listenzählung. Die höhere Er-
hebungseinheit ist die Haushaltung als die Gesamtheit der zu
einer wohn- und hauswirtschaftlichen Gemeinschaft vereinigten Per-
sonen. Dafs sie in einer gemeinsamen Liste verzeichnet und in
einer besonderen Spalte auch hinsichtlich der X'erwandtschaft zum
Haushaltungsvorstand oder ihrer «^'^nstigen Stellung in der Haus-
haltung gekennzeichnet werden, ist für die spätere Bearbeitung von
grofser Wichtigkeit. Dadurch wird es ermöj^hcht, die Anj^ehörijren
ohne eigenen Hauptberuf und die im Haushalte ihrer Herrschaft
lebenden Dienenden für häusliche Dienste dem Hauptberufe und der
sozialen Klasse des Ernährers, bezw. Dienstgebers zuzurechnen und so
für jede Berufsart und soziale Klasse das Verhältnis zwischen den
volkswirtschaftlich Thätlgen und den von ihnen erhaltenen Personen
dni zustellen. Auch erlangen wir dadurch einen P-inblick in die familien-
iialte Struktur der Betriebe: die Familienbeziehungen können zur ge-
naueren Kennzeichnung der sozialen Stellung im Berufe oder des
Arbeitsranges der Berufsthätigcn mit verwertet werden. Hingegen
hat eineVerwertung der so gewonnenen Ergebnisse unter dem Gesichts-
I)unkte der Familien- oder Haushaltungsstatistik, welche von den
höheren Krhebungseinheitcn ausgeht, niclit stattgefunden. Man hat
diesen ( lesichtspunkt higher noch nicht von derX'olkszählung in dicBe-
rufsstatistik hinübcrgenonimen, obwohl er hier einer besonderen Knt-
wicklung fähig und wohl auch bedürftig ist Ist das Erhebungsformular
Vgl. 25. Annual Report of th«* (Massachusscts) Bureau of Statistics of Labor.
Boston 1894 und m-Mne Besprechung ih-r amerikanischen Arbeitslosenstatistik in der
Statistischen Monatsschrift XXIV. Bd. S. 201 ff.
Die Bends- und GewerbciiUiiiig im Dentidieii Reich vom 14. Jnni 1S95. 239t
eine Individualkarte, so mufs der Zusammenhang zwischen Erwerbenden
und Erhaltenen erst hinterdrein hergestellt werden ; er kann aber —
wie dies bei der letzten französischen V^olks- und Berufszählung der
Fall gewesen ist — durch eine unf^eschickte Organisation der Auf-
bereitungsarbeiten auch gänzlich verloren gehen.
Den gleichen Zwecken dient auch die Verzeichnung der aus
der Haushaltung vorübergehend abwesenden Personen. Sie werden
also nicht erfragt zur Ermittlung der Wohnbevölkerung. Die
Beniisstatistik bezieht sich vielmehr auf die ortsanwesende Be-
völkerung.' ) Es liegt der Gedanke nahe, die örtliche Verteilung
der arbeitenden R( \ ölkerung nicht nach dem Aufenthaltsorte, sondern
nach dem Arbeitsorte darzustellen und den Tabellen zu gründe zu
l^^en, also die bei der Erhebung ermittelte ortsanwesende Be-
völkerung, wie dies bei der eben erwähnten Aufnahme in Frankreich
thatsächlich der Fall gewesen ist, im Laufe der Bearbeitung zur
.Arbeitsbevölkerung umzubilden. Prinzipielle und technische Er-
wägungen sprechen jedoch dagegen. Denn nicht die Fabrik oderWerk-
stätte, sondern die W ohnung ist die eigentliche Bühne tles [,cbens, wie
denn auch wirtschaftliche Produktion nicht der Daseinszweck des
Menschen ist. Wo mit der Berufszählung eine Betriebsaufnahme ver-
bunden ist, wie im Deutschen Keicii, crgitht übrigens diese letztere
ganz von selbst die .Arbeitsbevölkerunf;;. iMullich ist die Kinhezieluing
der nicht Berufsthätigen nur möglich, wenn auch die Berutsthäli^^cn in
der gleichen ortlichen X'crteilung vorgeführt werden, also mit jenen
vereint als Ortsanwesendc. leinen technischen Fortschritt in dieser
Richtung hat die Aufnahme von iSg5 jener von 1882 gci,'enüber insofern
erzielt, als nunmehr auch die Kinder unter 14 Jahren individuell ein-
zutragen waren, während sie früher nur summarisch erfragt worden sind,
woraus 1882 eiti Ausfall von etwa 3 - 400000 Kindern, also eine
erhebliche Störung des durch die sogenannte Hclastungs/itl'er aus-
gedrückten X'erhältnisscs erwuchs. Nun hat zwar, wie wir s})äter
hören werden, auch die Berufszählung \on 1895 eine geringere
Volkszahl ergeben als nach der X'olkszählung vom 2. r)ezember 1895
unter Herücksichtigung der Wanderbewegung für den 14. luni
1895 berechnet wird. Allein der Ausfall ist diesmal doch
erheblich geringer. Er beträgt rund etwa 200000 Personen
•) Einr .\usnahme bildet nur die soziale Klassifikation der Selbständigen,
wrlche nach ih n Prinxtpien der Wohnbevölkerung erfolgt ist. Vgl. den zweiten Teil,
VL Abschnitt, l.
340
H. Ranchberg,
und erklart sich zur Genüge daraus, dals' die Berufszählung^
eine Sommerzählung war, bei welcher gewisse Bevölkenings^
kategorien, wie Reisende im Auslindc, Schiftcr, \'aganten etc. der
Verzeichnung entgehen. Das Verhältnis zwischen tlen Erwerbenden
und den von ihnen Ernährten kommt also diesmal richtiger heraus,
und wenn diese letzteren, wie wir später sehen werden, vergleichsweise
abgenommen haben, so ist die X'erschiebung in Wirklichkeit noch
stärker gewesen als es die Zahlen erkennen lassen.
\'on den Individual-KrhchunL^smomenten der Haushaltungsliste
sind aus der Zählung von 1882 unverändert übernommen worden
die Fragen nach dem \'or- und hainlHcnnamen, nach der X'erwandt-
Schaft zum Haushalt untrsvorstand oder rler sonstitren Stellunt: in
der Hauslialtung, nach dem (resrhlccht, dem Familienstand und
dem Rehgionsl)ekenntnis. Die letztere h'rage war 1882 nicht von
Reichswegen, sondern nur in einigen Bundesstaaten ausgebeutet
worden; jetzt erstreckt sich die Bearbeitung aucli von Reichswegen
darauf. Das Alter war früher in vollendeten Altcrsjahren erfragt
worden; 1S95 waren, was das Richtigere ist, (icburtst.ag und Ge-
burtsjahr anzugeben. Hingegen fehlt bei beiden Frhebungen die
Frage nach dem ( ieburtsortc. Fiin schwerwiegender Mangel, denn
aus der Beantwortung dieser Frage ergiebt sich die Wanderbewegung,
tlercn inniger Zusammenhang mit der gesamten wirtschaftlichen
und sozialen Fntwicklung nicht erst besonders betont zu werden
braucht. Der rasche Uebergang breiter Bevölkerungsschichten
von der Landwirtschaft zur Industrie — eines der Hauptergebnisse
unserer Aufnahme — ist begleitet von tiefgreifenden örtlichen Ver-
schiebungen der Bevölkerung. Nur zum geringsten Teile sind sie
auf den natürlichen Wechsel der Bevölkerung durch Geburt und Tod
zurückzuführen. Sie stellen sich vielmehr dar als eine Ausgleichung
zwischen dem örtlichen Arbeitsbedarf und der durch jene natür-
lichen Faktoren gegebenen Verteilung, bewirkt durch die Wander-
bewegung. Dais die Berufszählung in diese wichtigen Zusammen-
hänge nicht hineingeleuchtet hat, ist ihre g^röfste Unterlassungssünde.
Die Darstellung der Ergebnisse nach Ortsgrölsenldassen vermag
über diesen Mangel ebensowenig hinweg zu helfen, wie der Hin-
weis auf die Ermittlung der Wanderungen bei den gewöhnlichen
Volkszahlungen. Erstens fehlt hier der Zusammenhang mit den
Berufeverhältnbsen, und zweitens war die Volkszahlung vom 2. De-
zember 1895 eine sogenannte „kleine Zählung"; sie hat die Gre-
bürtigkeitsdaten überhaupt nicht aufbereitet. Dafs aber di^ dn-
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Die B««fi> u&d Gewefbedhfan^ im Deutidieii Rcidi vom 14. Juni 1895. 24I
acfalagigen Ergebnisse von 1890 nicht mehr herangezogen werden
können, liegt auf der Hand. Nebenbei sei noch bemerkt, dafs die
Frage nach dem Geburtsort, insbesondere för die Zwecke der
KommunalstatistU^ durch die an Fremdgebürtige zu richtende Zu-
satxfirage nach der Dauer des Aufenthalts an dem Zahlungsorte
zweckmalsig zu erganzen gewesen wäre.
Das Gerüste der eigentlichen Benifefragen : die Unterscheidung
zwischen Haupt- und Nebenberuf und innerhalb derselben zwischen
Berufszweig und Berufestellung ist unverändert geblieben. In der
Textierung und insbesondere in der Anleitung zur Beantwortung
dieser Fragen haben jedoch gewisse Aenderungen stattgefunden,
wekhe nicht ohne Einflufs auf die Ergebnisse waren und daher
besser in Verbindung mit diesen letzteren erörtert werden. Gleich
1882 ist auch 1895 durch die Zusatzfn^e, ob das Geschäft vor-
wie<:^cnd in der eif^cnen Wohnunp^ fiir ein fremdes Geschäft (zu
Haus für fremde Rechnung — z. H. f. fr. R.) betrieben wird, die
Heimarbeit (Hausindustrie) ermittelt worden. Die gleiche Spalte
diente 1895 aber auch zur Erkundung des Geschäftsbetriebs im
Umherziehen, also der Hausierer. In technischer Hinsicht ist die
Kumulierung von verschiedenen Fragen in einer und derselben
Spalte zu tadeln, insbesondere aber, dafs nach der ganzen Anlage
des Formulars nicht erhellt, ob die Antworten auf diese, sowie tlio
gleich zu erwähnenden und noch wichtigeren weiteren Zusatzfragen
auf den Hauj)t- oder Nebenberuf sich beziehen. Diese Zusatz-
fragen sind an den gleiclien Personenkreis, nämlich an die selb-
ständigen ( iewerbetreibenden , Hausindustriellcn und Heimarbeiter
gerirliict und betreffen die X'erwenduiig von Gehilfen, Lehrlingen,
sonstigen Arbeitern , tliätigen Mitinhabern oder miterwerbenden
Familienangehörigen, sodann \on l 'mtriebsmaschincn l Motoren),
Dampfkesseln , Dampffässern, Dami)f- oder Segelschiffen. Wurde
eine dieser I-ragcn bejaht, so war für die Zwecke der Betriebs-
statistik ein eigener ( iewerbebogen auszufüllen, während für alle
anderen, die sogenannten AUeinbctriebe, die Angaben der Ilaus-
haltung>liste auch für die Zwecke der Gewerbestatistik auslangen
niulsteii. In ähnlicher Weise wurden die Voraussetzungen für die
Ausfüllung einer „Uandwirtschaftskarte" durch eine auf der Rück-
seite der Haushaltungsliste angebrachte Zu->atztiage festgestellt.
So wurden die Materialien der landwirischaftlichcn Betriebs-
statistik beschafft. Neu hinzugekommen sind 1895 die aus-
schliefslich für Arbeitnehmer bcrcclineteu Fragen zur Ermittlung
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242
H. Raachberg,
der Arbeitslosij;(keit, ob sie nämlich am Stichtage der Zählung in
Arbeit (in Stellung) waren, und verneinendenfalls seit wieviel Tagen
sie aufscr Arbeit (Stelluii<^^ waren und ob dies durch vorübergehende
Arbeitsuniahiglceit veranlalst. Die Arbeitslosenerhebung ist, wie
bereits erwähnt, ganz in der gleichen Weise bei der Volkszählung
vom 2. Dezember 1895 wiederholt worden. Ihre Ergebnisse sind
schon im Jahre 1896 in einem Ergänzungshefte zu den Vierteljalirs-
heften zur Statistik des Deutschen Reiches veröffentlicht und in
der wissenschaftlichen Litteratur mehrfach erörtert worden. *) Es
Hegt daher kein Aniais vor, hier auf diesen Gegenstand nochnuds
zurückzukommen.
Dagegen sind im Vergleiche zur Zählung von 1882 bei der
letzten Erhebung entfallen die Fragen nach dem vormaligen Beruf
der Personen, welche früher einen Hauptberuf gehabt hatten, aber
w^en hohen Alters, infolge von Verletzung oder Krankheit dauernd
erwerbsunfähig geworden waren, und bei Witwen die Frage nach
dem Hauptberuf des (letzt-) verstorbenen Ehemannes. Damals waren
diese Fragen notwendig, UQi die l'nterlagen für die Organisation
der Invaliditätsversicherung zu schatten. Gleichsam als Gegenstück
dazu war auf Wunsch des Reichsversicherungsamtes in den Ent-
wurf der Zählpapicre für 1895 eine Frage darüber aufgenommen
worden, ob für die betreffende Person eine Quittungskarte für die
L,'csctzlichc Invaliditäts- und Altersversicherung ausgestellt und in
Gebrauch ist. Infolge von Bedenken, die bei den Komniissions-
\ erhandiungen auftauchten, ist auf diese Frage bei der deiinitiven
Redaktion der Formulare verzichtet worden.
Auch eine Reihe von .Anregungen, die in der Kommission des
Reichstags zur Beratung des Zählungsgesetzes gegeben worden
waren, ist schliefslich unberücksichtigt geblieben. In erster l.inir
ist hier die von mir bereits t rc>rtcrte l'rage nach dem Geburtsort
zu erwähnen, dann die Krhebunj^ di r Störarbeit, welche gleichsam
als .Soitenstiick zur Krmittlung der lit.imarl)cit j^edacht war, die
I-'raL^c danach, oh dir .Arbeitnehmer j^ei^en baren Lohn (liares
iieiiait i beschältij^^t sind, (he l^ra'^^a* nach der Ai beits/.eit der lut^end-
lichcn Arbeiter, endlich die i^ragc nach dem letzten Arbeitgeber
') Georg Schanz, Die neuen statistischen Erhebungen Uber .Arbeitslosigkeit
in r)rut<t ))1;in(1. Archiv für soziale •Gesetzgebung und Statistik. X. Bd. S. 325.
In Buchform; Neue Hciträge zur Arbeitslosenversicbrrung. Herlin 1897. Vgl. auch
denArtikelArbeitslosigkeit vonGeorgAdler im Handwb. der Staatsw. 2.Aufl.
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Die Berof»* ud GcwerbeKShlung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 243
des Arbeitslosen. Gleichsam als Ersatz für die Ablehnung der in
der Koniinission an^crej^ten Krwciterun^'cn sind in den Ausführungs-
bestimm unj^en des Bundesrats zu dem Zählun^^fsgcsct/ redaktionelle
Acnderungen und die Aufnahme von Zusatzfragen den Landes-
regierungen anlieim gestellt wurden. Von dieser P>mächtigung i.st
aber nur von wenigen Bundesstaaten und auch von tliesen nicht
in sehr weitgehender Weise (iebrauch gemacht worden. Bayern
hat zu Kontrollzwtrkcn Xamc und Wohnort des letzten .Arbeit-
gebers der Arbeitslosen erfragt, .^ach.sen den l^ezug \ on Alters-. In-
validen- oder l 'nfallsrenten, Hamburg die Ortsgebürtigkeit. Aulser-
dem war in Hamburg für vorübergehend .Anwesende der Wohnort,
für vorübergehend Abwesende der mutmalsliche .Aufenthaltsort an-
zugeben. Sachsen liefs auch gewisse Maschinenangaben, sowohl
hei der landwirtscliaitlichcn .ils auch bei der gewerbliciien Betriebs-
Zahlung näher detailieren. Auch ist hier zu erwähnen, dals eine
Reihe von deutschen GroCsstädten im .An.schluls an die beiden von
Reichswegen veranstalteten Arbeitslosenzählungen, besondere nach-
trägliche Erhebungen über die Arbeitslosen veranstaltet haben,
welche teils die Richtigstellung, teils die Ergänzung der diesbezüg-
lichen Angaben bezweckten.')
Es kann nicht meine Aufgabe sein, an der Fragestellung und
an den einzelnen Bestimmungen der Anleitung zur Ausfüllung der
Haushaltungsliste im einzelnen Kritik zu üben. Ich habe ja auch
selbst schon früher bemerkt, dafs die Wahrung der Vergleichbar-
keit mit der Erhebung von 1882 der malsgebende Gesichtspunkt
sein mufste, so da(s erhebliche Aenderungen au^eschlossen waren.
Gleichwohl müssen wir die Frage aufwerfen, ob das Prinzip der
Berufezahlung keiner durchgreifenden Verbesserung mehr fähig sei.
Der Direktor des Kais. Statistischen Amts hat in seiner kritisch-
vorsichtigen Weise selbst auf die grolsen Schwierigkeiten, mit
welchen eine Definition des Hauptberufs verbunden ist, hingewiesen,
und anerkannt, da(s eine Berufszahlung schon deswegen auf etwas
schwankender Grundlage beruhen müsse, weil bei den Gezählten
eine ganz gleichmäßige Auffassung des Begriffs „Beruf" nicht zu
erzielen sei.^) Ich stimme darin mit ihm vollkommen überein,
1) Niheie Mitteilmigen darQber im Statistischen Jahrbach deutscher Städte 6.
Jahrgang, Breslau 1897 S. 364fr. woselbst auch die eiiuel&en einscbligigen Ver-
öffentUchmgen aufgexSUt werden.
^ Scheel a. a. O. S. 6.
Archiv für «er. GeteUffebuRg u. Sutisiik. XIV. ]6
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244
H. Ranchberg,
auch darin, dals einer der HauptvortciU- der I*"r.it::^e nach dem Neben-
beruf in der Ausschäking des Hauptberufs \oii Pers<men mit mehr-
facher Beschäftif^ung zu suchen sei, wohinj^ci^cn sie mitunter ver-
sa<:^t, wenn es f^ih, (He nel)ensärhliche ErwerbslhäliL^keit von Per-
sonen ohne eij^'cnen Haui)tberuf /.. R von Ehefrauen und heran-
wachsenden bamilicnangeh(»ri^en herauszubekoinmen. Die Schwierig-
keit Hei^'t hauptsächhch ,mf Seite der L'nsclbständigcn, der Arbeit-
nelimer. Denn für die genauere Rerufsbestimmun^ von solchen
Arbeitgebern, welche die rnterschciduji;^^ /wischen Haupt- und
Nebenberuf nicht in zutreffencler \\'ei>e getroffen haben, bieten ja
die Betriebsangaben in der Regel ausreichende Anhaltspunkte. Bei
den Arbeitnehmern könnte aber gröfsere Siclierheit erzielt werden
durch die h'ragc nach dem Namen, der Art des Betriebes in der
Adresse des Arbeitgebers. Diese I'Vagc ist, wie bereits erwähnt,
aus anderen (iründen bei den Berufszählungen der Schweiz, l'n-
garns, Frankreichs und Belgiens bereits gestellt worden. In der
Schweiz um die Kl.is.silizierung nach dem Unternehmerberuf zu be-
wirken, in Ungarn und Frankreich übe rdies, um die Betriebe seilest
daraus zu konstruieren, in Belgien stnvohl für die Berufsgliederung
der Arbeitcrbe\ (ilkerung, als auch zui Kontrolle der Betriebs/.ählung.
Im Deutschen Reich wird an dem Prinzip der Betriebserhebungen
am Sitze der ( iewerbeljelriibc selbst voraussichtlich festgeh.ikeii
wertleii. Die Frage nach dem Arbeitgeber wäre hier also nicht im
Interesse der Betriebsstatistik, sondciii der Berufsstatistik zu stellen,
(lanz ungezwungen könnte dadurch die genaueste Bezeichnung und
Spezialisierung der Produktions- und 1 landelszweige erzielt werden,
denen tlie einzelnen Befragten angehören. Antworten, wie Fabrikarbeiter.
Taglöhncr, Kutscher, Heizer u. s. w. wären, da sie sofort richtig
gestellt werden könnten, unschädlich. Wie wichtig das ist, erhellt
daraus, dafs auch die Zählung von 1895 noch immer 27800 Fabrik-
arbeiter und Gehilfen ergeben hat, deren nähere Erwerbsthätigkeit
zweifelhaft blieb, und nicht weniger als 200919 Fälle von Lohn-
arbeit wechselnder Art, welche zuzüglich der Dienenden und An-
gehörigen 504406 Personen betreffen* Anderenfalls hätten sie zum
größten Teile, dem Prinzip des Stichtags gemäfs, nach dem Beruf
des Arbeitgebers klassifiaert werden können, wobei ihrem minderen
Arbeitsrange bei der Berufsstellung Rechnung zu tragen gewesen
wäre. Auch die Benifestellung kann danach in vielen zweifelhaften
Fällen, wenn man es mit Angaben zu thun hat, die sowohl einen
Meister ak auch einen Gehilfen bezeichnen, wieSchuster, Schneider u.s.w.
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Die Berufs- und Gewerbezäblung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 245
sofort klar gestellt werden. Es Helsen sich femer durch die zweck-
mäßige Ausbildung der Frage nach dem Arbeitgeber bei den
Hausindustriellen tiefere Einblicke in die Organisation der Heim-
arbeit und des Verlagssystems erschlielsen, und endlich böte, wie
schon Hasse hervoigehoben hat,*) die Frage nach dem letzten
Arbeitgeber einen willkommenen Kontrollbehelf für die Angaben
über Arbeitslosigkeit Dafs überdies die Angaben der Arbeit-
nehmer über die Arbeitgeber auch för die Ueberprüfung der
^faterialien der Betriebsstatistik mit Erfolg benutzt werden können,
haben die Erfahrungen in Belgien erwiesen, auf welche ich spater
noch zurückzukommen gedenke.
Noch nach einer anderen Richtung hin, könnte die Ermittlung
der Arbeitgeber bei den Arbeitnehmern von Belang werden, näm-
lich um eine engere Verbindung zwischen den Gesichtspunkten
der Beru&statistik und der Betriebsstatistik herzustellen. Ich habe
schon früher darauf aufmerksam gemacht, dafs zahlreiche Gewerbe-
treibende in Betrieben beschäftigt sind, welche durch ihren person-
lichen Beruf keineswegs bezeichnet werden, so z. B. der Böttcher
in der Brauerei, der Maschinenschlosser in der Spinnfabrik u. s. w.
In allen diesen Fällen könnte dir Beruf sowohl nach der persön-
lichen Qualifikation des Gezahlten als auch nach dem Charakter
des Betriebs gezahlt werden. Bei der Berufsstatistik ist das erstere,
bei der Betriebsstatistik das letztere der Fall. Nun handelt es sich
aber auch darum, beide Gesichtspunkte miteinander zu verbinden.
Das kann in zwei&cher Weise geschehen, sowohl von der Berufs-
statistik als auch von der Betriebsstatistik aus. Während die Er-
hebung von 1882 diese Frage übergangen hatte, wurde ihre Lösung
bei der Zählung von 1895 durch die Betriebsstatistik angestrebt
Auf dem Gewerbebogen war das gewerbliche Hilfepersonal nach
der thatsächlichen Beschäftigung im Betriebe zu gliedern. Sie
wird sich mit dem von der Berufszählung erfafsten individuellen
Berufe zwar nicht völlig decken, kommt ihm aber ziemlich nahe.
So ist die um&ngrekhe Tabelle 6 der Gewerbestatistik zustande
gekommen: „Die Arbeiter nach ihren besonderen Beschäftigungen
in den einzelnen Gewerbearten welche 49 individuelle Be-
schäftigungen unterscheidet. Damit ist gewifs ein aufserordent-
licher Fortschritt erzielt worden. Gleichwohl glaube ich, dals
*) Zur Methode der Beruft* n. Gewerbcxälilniis; vom 14. Jtmi 1895. Sozial-
politisches Zentrslbktt, IV. Jahrg. S. 209.
16*
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246
H. Rftiichber^,
das Problem mit noch grofserem Erfolge von Seite der Berufe*
Statistik aus anzutissen wäre. Die Verzeichnung der thatsäch-
liehen Beschäftigung auf dem Gewert>ebogen mutet, wie schon
V. Mayr tadelnd bemerkt hat, ') dem Unternehmer eine statistische
Funktion zu. Das ist nicht nur für ihn unangenehm, sondern auch
nachteilig fiir die Statistik, weil die Gruppierung von den ver*
schiedenen Unternehmern offenbar nach verschiedenen Gesichts-
punkten vorgenommen wird, so daGs sich aus der Summierung
der annähernd gleichnam^n Positionen bei der Bearbeitung keines-
wegs gleichartige Beschäftigungs- oder BeruCsarten ergeben. Ganz
anders, wenn der Arbeiter selbst den Betrieb bezeichnet, und die
Aufbereitung dann von der berufenen statistischen Arbeitsstelle ein-
heitlich nach Gewerbegruppen und -Arten vorgenommen wird.
Alle Gründe, die überhaupt für die Zentralisation der statistisch-
technischen Thätigkeit sprechen und sie auch allenthalben herbei-
geführt haben, sprechen auch zu Grünsten meines Vorschlages. Ob
es auch in materieller Hinsicht richtiger ist, wie ich es will, die
Wrteilung der einzelnen Berufe auf die \ cr<;chiedenen Betriebszweige
oder, was jetzt thatsächlich vorliegt, die Zusammensetzung dieser
letzeren nach Berufsspc/ialitäten darzustellen, läfst sich nicht von
vornherein sagen. Die Betriehsstatislik erfordert dieses, die Be-
rufsstatistik jenes. Beides ist berechtigt und erwünscht. Aber die
Beruisstatistik kann das Problem technisch zweckmäfsiger lösen.
Darum möchte ich es ihr überweisen untl befürworte die dazu er-
forderliche, und auch aus den früher angeführten Gründen dringend
gebotene Frage nach dem Arbeitgeber.
Hinsichtlich der Formularicn für die landwirtschaftliche und
gewerbliche Betriebsstatistik, der Landwirtschaftskarte und des Ge-
werl)cl)ogens, darf ich mich kurz fassen. Die Erörtern n;: der
einzelnen darin enthaltenen Fragen (nulet besser in Verbindung
mit der Besprechung der materiellen Ergebnisse statt. Hier sind
nur die prinzipiellen und technisch wichtigen Gesichtspunkte zu be-
rühren. Beiden Erhebungen ist in dieser Hinsicht gemeinsam, dafs
sie an die Berufszählung anknüpfend und von den Personeti aus-
gehend, die Betriebe zu erfassen suchen. Schon die Berufsangaben
haben auf das Vorhandensein v<»n Betrieben hingedeutet. Zur .Aus-
füllung der diesbezüglichen Zählpapiere leiten sodann besondere
M Die Grenzen des gewöhnlichen vcliriftlicht-n Vi-rfabrais bei staHstiscbea
Ermittlungen etc. AUgcm. Statist. Archiv, IV. Bd. S. 128.
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Die Benifs- und Geweibedibliing im Deatscben Reich vom 14. Juni 1S95. 247
Bemerkungen auf der Rückseite der HaushaltuogsUste an. Die dazu
zu bewirkenden Eintragungen dienen zugleich zur Evidenzhaltung
des Materials. Das typographische Arrangement ist als wenig ent-
sprechend bemängelt worden, scheint aber doch die Ergebnisse
nicht wesentlich beeinträchtigt zu haben. Auch das Prinzip selbst
ist — wenigstens hinsichtlich der ( icwerbestatistik — heftig ge-
tadelt worden.*) Es sei verfehlt, die Gewerbetreibenden personlich
zum Aus^anj^punkt der Erhebung zu machen, da doch die that*
sächliche ZähhmjTjseinhcit, worauf es bei der Zusammenstellung an-
komme, der Betrieb sei. Wie bereits früher bemerkt, erblicke ich
darin keinen Mangel, sondern vielmehr einen wesentlichen Vorzug
unserer Betriebsstatistik. Nur so liels es sich erm<%lichcn, die Be-
triebe in solcher Vollständigkeit zu erfassen, dafs die Betriebs-
statistik zugleich die technische Organisation des arbeitenden Volkes
darstellt.
.Allerdings ist dieser Erfolg nur hin-^irhtlich der gewerblichen
Bethätigung erzielt worden. Auf dem Gebiete der Landwirtschaft
ist die Sachlage eine andere. Hier fehlt jene innige Verbindung
zwischen den Pcrsonaldaten der Berufe- und Betriebszählun^. Das
zeigt sich schon bei derBegriffsformuIierung und statistischen Erfassung
der Landwirtschaftsbetriebe. Das Kriterium fiir die .Ausstellung
einer I^andwirtschaftskarte bildeten nicht die Angaben der Haus-
haltungsliste über den Hauptberuf, sondern es war dafür die auf
der Rückseite der Haushaltungsliste zu konstatierende Thatsache
maßgebend, dafs von einem Mitglicde der Hauslialtung Land- oder
Forstwirtschaft betrieben wird. In diesem Falle wurde ein land-
wirtschaftlicher Betrieb selbst dann angenommen, wenn im Innern
der Haushaltungsliste die I-andwirtschaft weder als Haupt- noch als
Nebenberuf angegeben war. Man unterliefs es 1895 korrekter-
weise die Berufsangaben bei der Bearbeitung darnach zu korrigieren,
was 1882 der Fall gewesen war. Das hat die .\nzahl der Neben-
erwerbsfalle hcrabgedrückt und zu dem auf den ersten Blick befremd-
lichen Ergebnis geführt, dafs nunmehr die .Anzahl der Landwirtschafts-
betriebe jene der selbständigen Landwirte nicht unwesentlich über-
ragt. Hierauf wird bei der Froitei ung der der landwirtschaftlichen
Betriebsstatistik nocli des näheren zurückzukommen sein; hier ge-
nügt es zu konstatieren, da(s — im Gegensätze zu den Prinzipien
') V. Mayr, a. a. O. S. II3.
*i Riedl a. ft. O. S.96ff.
L.iyiii..cü Uy Google
H. Ranchbcrgt
der Gewerbestatistik — Landwirtscliaftsbctricbc ohne Landwirte und
Landwirte ohne Betriebe als möglich angenommen wurden.
V^iel schwerer fallt ins Gewicht, dafs in der Landwirtschaftskart c
die Frage nach dem landwirtschaftlichen Betriebspersonal gänzlich
fehlt. Schon in der Reichstagskommission ist dies als Mangel ge-
rügt und die Einschaltung einer diesbezüglichen Frage angercj^t
worden. Schliefslich ist man im Hinblick auf die damit verbundenen
Schwierigkeiten davon abgekommen. P-s ist unbestreitbar, dals auf
dem Gebiete der Landwirtschaft der Begriff des Betriebspersonals
viel schwieriger abzugrenzen ist, als auf dem Gebiete der Industrie.
Der Arbeitsbedarf wechselt sehr stark, Hilfskräfte müssen zeitweili-^,
insbesondcTe zur Erntezeit herangezogen werden. Wie soll man
sie am Stichtage der Lrlichung erfassen, wie in Rechnung stellen?
Wie könnte die nur gcle^^cntliche, aber für die Landwirtschaft doch so
wichtige Mitwirkung der l'amilienangehörigen in .-XnschlaL; i:;el>racht
werden? Diese Bedenken waren durchschlagend. Sowohl der
Direkt« tr des statistischen Reichsamts, ') als auch das offizielle
Zählungswerk '-') bezeichnen die Aufnahme des landwirtschaftlichen
Hetrieljspersonals als unmöglich, l^rauchbare Angaben würde man
nicht erlangen. ^1 Das mag zutreffen hinsichtlich der zeitweiligen
Hülfskräfte, nicht auch hinsichtlich des ständigen Personals. Hei der
Bearbeitung der Berufsstatistik iiat man den richtigen Weg eiti-
geschlaji^en , welcher .schon von vornherein ins Auge gefafst ni d
könnet juent verfolgt, auch hinsichtlich des landwirtschaftlichen Be-
triebs! )ers()nals zu einem betriedigenden Ergebnisse geführt halte.
Gleich.sam als Ersatz für diese Lücke bringt die Berufsstati>tik an
der S|)itze tler Tabelle 3 : ,, Einige besondere Berufsklassen der Be-
völkerung nach ihrer sozialen Bedeutung" eine l'ebersichl über die
familienhafte Struktur der Landwirtschaftsbetriebe mit l'nterscheidimg
der wichtigsten ( irolsenkategorieen, sowie des Haupt- und Neben-
erwerbs. Man hat zu diesem Zwecke .Angaben der Berufszälilung
und der landwirtschaftlichen Betriebsaufnahme miteinander kombi-
niert. In dieser Richtung hätte meines Erachtens nach ein Schritt
weiter gemacht werden sollen, um in die Personal Verhältnisse auch
') V. Scheel, a. a. O. S. 17.
') Die Landwirtschaft im Dcuftscben Reich. Statistik des Oeotschen Reichs.
Neue Folge Band 112. S. 4*.
•) Anderer Ansicht ist Paul Kollmann. Deutschlands landvrirtschaftliohrr
Betrieb etc. lahrboch für Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft. 2^ Jahrg.
1899. S. 97.
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Die Berufs- und Gewerbezälilung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 249
der landwirtschaftlichen Betriebe Einblick zu erhalten. Es hätten
die Angaben der Haushaltungsliste auch über das landwirtschaftliche
Giesinde mit herangezogen werden können, welches ja einen be-
trachtlichen Teil des landwirtschaftlichen Betriebspersonals stellt. In
der Landwirtschaftskarte aber hätte zunächst die Frage nach dem
standigen Betriebspersonal gestellt werden sollen. Dasselbe wäre
nach den Kategorien: Familienangehörige, landwirtschaftliches Ge-
sinde, Haushaltungsfremde zu gliedern gewesen. Vielleicht wäre
auch über das Arbeitsverhältnis der ständigen aber haushaltungs-
fremden Hül6kräfte etwas zu erfahren gewesen. Auch eine Frage
darüber, ob überdies Aushülfekräfte zeitweilige Verwendung finden,
wäre am Platze gewesen. Durch eine zweckmäfsige Kombination
der auf solche Weise ermittelten Angaben, für die der Platz jedoch in der
Landwirtschaftsstatistik und nicht in der Berufsstatistik ist, hätte
man sicherlich wertvolle Anhaltspunkte erhalten für die Beurteilung
der Arbeitsverfassung, insbesondere der kleineren und mittleren Be-
triebe. Dafs die stärker schwankenden Personalverhältnisse der
Grrofsbetriebe auf solche Weise nicht genügend scharf zu erfossen
sind, sei ohne weiteres zugegeben. Aber deswegen brauchte man
noch nicht gänzlich auf die Erhebung des landwirtschaftlichen
Betriebspersonals zu verzichten.
Die Landwirtschaftsstatistik beschränkt sich also auf die
objektiven Merkmale des Betriebes: die bewirtschaftete Fläche
nach Eigentumsverhältnissen und Verteilung der Kulturen, denVteh-
stand, soweit dadurch der Betrieb als solcher charakterisiert wird,
und die Benutzung landwirtschaftlicher Maschinen. Den Schlufs
bilden einige besondere Fragen über den Anbau von Rüben zur
Zuckerproduktion, den Betrieb von Milchhandel oder Molkerei, die
Beteiligung an einer Molkereigenossenschaft oder Sammelmolkerei
und den Anteil an Allmendland, dessen V^orhandensein überdies auch
direkt bei der Gemeinde erfrs^ worden ist.
Nicht erfragt sind die gezogenen Bodenprodukte, die Anbau-
flächen und Erntemengen. Gelänge es auch darüber Auskunft zu
erhalten, dann wäre allerdings ein ^anz aufserortlciitlicher Fortschritt
erzielt: wir würden unterrichtet über den Anteil der verschiedenen
Betriebsgröfsen an der gesamten landwirtschaftlichen Produktion
und über ihren Einftuls auf die Produktivität der Betriebe. Und
wir könnten unter Benutz unrr der eben geforderten Personalangaben
fernerhin berechnen, welche Betriebe nur ihren eigenen Nahrungs-
bedarf decken, und welche für den Markt produzieren, von welcher
250
H. Rancbbcrg,
Grolsenstufe an dies geschieht, und welcher Teil der landwirt-
schaftlichen Bevölkerung an der einen und der anderen Gruppe be-
teiligt ist lieber die Wichtigkeit solcher Informationen ist kein
Wort zu verlieren. Ob sie aber zu erlangen sind? v. Scheel
verneint es : „IMe Antworten, die man auf solche Fragen zu hören
bekommen würde, könnte sich der Statistiker nur mit Grauen vor-
stellen". Kollmann, der doch auch kein Neuling auf dem Ge-
biete der Statistik ist, ist viel weniger zartbesaitet. Er erhebt
wenigstens (lir die Zukunft die Forderung, dals die Statistik auch
nach dieser Seite au^ebaut werde. Und ich möchte ihm bei-
pflichten, wenngleich mir der Erfolg einigermaCsen zweifelhaft er-
sclieint. Aber der Gewinn ist zu grofs, als dafs man nicht den
Versuch wagen müfste, selbst auf die Gefahr des Milslingens hin.
Viel kotiiplizierter als die landwirtschaftliche ist die gewerb-
liche Betriebsaufnahme. Zwei wichtige X'orfragen sind hier zunächst
zu erledigen : Erstens wie weit der Kreis der einzubeziehenden Ge-
werbe gefafst werden solle, und zweitens, wie die Zählungseinheit
„Betrieb" aufzufassen sei. In der emteren Hinsicht hat man 1895
wie 1882 den Umfang der Erhebung ganz weit gespannt und sie
keineswegs auf die Industrie i. e. S. und ihre besonderen Inter-
essen beschränkt. Und zwar mit vollem Recht. Denn erst wenn mr
über die Organisation der gesamten volkswirtschaftlichen Produktion
und Verteilung unterrichtet sind, vermögen wir die Rolle der
Industrie i. e. S, oder der bei der Handelskammerstatistik so be-
liebten „etablierten Betriebe", richtig zu beurteilen. Unter den Be-
griflf „rrewrrbr" im Sinne der Gewerbestatistik fällt also Alles, was
nicht Landwirtschaft oder .Ausübung freier Berufe ist. Eine Aus-
nahme bilden ~ wie 1882 — nur die Post-, Telegraphen- und
Eisenbahnbetriebe. Die spezielle Statistik dieser Verwaltungszweige
bietet zwar Ersatz für den Ausfall, gleichwohl empfinde icli ihn als
eine Art Schönheitsfehler. Warum diese Lücke in der gesamten
Betriebsorganisation des deutschen \'olks?
Das schwierigste Problem in der ganzen Betriebsstatistik viel-
leicht ist die Definition des Begriffs Betrieb als Zählungseinheil.
Er ist weder identisch mit der I Unternehmung, noch mit dem
Betrieb im technischen Sinne. Den .\usgani^.>.j)unkt bilden, wie be-
reits bemerkt, die Berufsangaben des Betriebsleiters, welche zur
Aufstclhiii'^^ des (iewerbebogens überleiten. Damit ist schon eine
einheitliche Organisation vorausgesetzt, welche in dieser Person
kulminiert. Sind aber verschiedenartige Gewerbe zu eüiem Betriebe
uiyiii^cü Uy Google
Die Berufs* und Gevreibexililiing im Deatsdien Kcidi vom 14. Juni 1895. 25 1
\'«^inigtt so war zunächst für jeden Betriebszweig dn besonderer
Gewerbebogen aufzustellen, „weil die Gewerbestatistik den Zustand
der einzelnen Gewerbszweige zeigen soll". Danach Aufteilung des
Personals und der motorischen Kräfte, aber nachträgliche Zusammen-
fassung derselben zum Gesamtbetrieb. Wie weit die Aussonflei ung
der Betriebszweige gehen solle, wird in der Anleitung zur Ausfüllung
des (lewerbebogens nicht prinzipiell ausgesprochen, sondern nur
durch eine Reihe von Betspielen anj:^cdcutet. Danach schliefst sich
die Krhebung ziemlich eng an die Produktionsteilung und arbeits-
teilige Spezialisation der volkswirtschaftlichen Produktion an. So*
wobl die einzelnen Abschnitte eines Produktionsprozesses, die markt*
gängige Halbfabrikate liefern, wie Leinenspinnerei-, Weberei und
Färberei, als auch technisch ähnliche Produktionsprozesse, die ver-
schiedenartige Rohmaterialien zu marktgängigen Waren verarbeiten,
wie BaunnvüU- und Wollspinnerei sollen als getrennte Betriebe aus-
gewiesen werden. Das fuhrt 7.u einer unter Umständen sehr weit-
gehenden Zerlcf^ung der (Tesamtbetricbc. welche zwar im Interesse
der Spczialisicrun;^' der Prodiiktionszwei'^c gelegen ist. in jeder
anderen Hinsiclit alier \erwirrend wirken niufs. Notorische Grofs-
hctriebe \crschu Inden dal)ei j^änzlicli durch Parzellierung.-) }n
statistisch-technischer 1 hnsicht ist insl)esondere bedenklich, dals diese
Zerlcf^'ung, wie sich die Anleitun^^ ausdruckt, (gänzlich ,,dcm sach-
geniälsen P>mes>eii des ( Teschäftsleiters überlassen werden muls".
X'erschiedene ( lochäftsieiter werden in der gleichen I-age eine
verschiedene und doch noch immer ihres Ermessens sachgemälse
Knts<:hei<lung treft'cn, so dafs die Grun(lla<ren der Gewerbestatistik
ganz bedenklich ins Schwanken ^^eraten. L'nd doch ist dagegen
kein Kraut gewachsen. Denn der Wert der Gewerbestatistik be-
ruht zum guten Teile auf ihrer Spezialisierung, und diese ist wieder
undurchführbar ohne die Auflösung der zusammengesetzten Unter-
') Ich gebranehe diese Aatdrtclw in dem Sime, den Carl Bücher ihnen
beigelc^ hat VgL seine Entstehung der Volknriitschalt a. Aufl. TttUngen 1898,
S. 282.
*^ Nach dieser DanteUangsvdse gibe es t. B. im Deutschen Reidie nur 255 Ge*
wrrbebetriebc mit Uber 1000 Personen; ihr Person.)! h.-trUgc 44S 731 Personen. Bc-
rficitsichtigt man hingegen die Gesamtbelriebe ah Belricbscinheitcn. so entfallen auf
dirsc olxTst*- Grnfsrnkateporir 2()6 Betrieb.- mit 562 62S INT-oncn. 41 Ricsenlx-tri'-! ''
mit I 13897 Pcrson.-n siml infolge <l'-r /i-rl-'^^ung auf nicilrigerc ( lroU»*n>tulcn
hrrabpiMl rückt w erden. I >.i/.u kommen nm h •ii.- bei der Gewerbciählung gänzlich
übergangenen lüsenbahn-, l'ost- u. Tclcgraphenbctriebc.
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252
H. Raaehberg,
nehmungen. Auch die belgische Industriestatistik verfahrt in der
gleichen Weise, während die ungleich naivere franzosische sich
darüber keine grauen Haare wachsen lä&t Aber aus der Zerlegung
der Gesamtbetriebe bei der Erhebung erwächst der Statistik eine
neue wichtige Au%abe bei der Bearbeitung: ihre schlielsltche 2Ui-
sammeniassung. Die Gesamtbetriebe werden der Darstellung aller
jener Ergebnisse zu Grunde zu legen sein, bei welchen es auf den
Betricbsumfang, auf die Macht der Oi^^isation, auf die Wucht der
konzentrierten Kräfte und Massen ankommt, also ganz insbesondere
in sozialpolitischer Hinsicht Ohne eine derartige Synthese inuüs
die Zerlegung geradezu zu einer Fälschung des Gesamtbildes
fuhren. Es ist ein wesentliches Gebrechen der Gewerbezählung
von 1882, dafs damals eine derartige Zusammenfassung unterblieben
ist. Man hatte es schon bei der Redaktion der Gewerbekarte
verabsäumt, die hierfür erforderlichen Fragen zu stellen. Die
Gewerbeaufnahme von 1895 verfällt nicht in den gleichen Fehler.
Betriebsleiter, weiche Gewerbebogen über verschiedene Gewerbs-
zweige ausfüllten, hatten anzugc!)cn, ob und in welcher Weise die-
selben einen Gesamtbetrieb bilden, für welchen dann das Personal
und die motorischen Kräfte nochmals summarisch zu verzeichnen
waren. Bei der Bearbeitung und Darstellung der Ergebnisse hat
man jedoch die Gesamtbetriebe vielleicht nicht ausführlich genug
berücksichtigt. Blofs die beiden letzten Tabellen der Gewerbe-
statistik sind ihnen gewidmet. Die eine enthält Zahl, Personal
und motorische Kraft der Gesamtbetriebe nach Gewerbeklassen
und Gröfsenkategorieen der Betriebe, die aiulcre gliedert sie
nach dem juristischen Charakter der Betriebsinhaber oder nach
den Unternehmungsformen. Das ist alles. .Alle anderen Ueber-
sichten, also auch die in sozialpolitischer Hinsicht belangreichen,
beziehen sich nur auf die leilbetriebe. Ich wünschte, wenig-
stens die Uebersichten über die Gliederung des Persunnls auch
nach Gesamtbetrieben aufgestellt zu finden. Denn hier betrifft,
wie schon die Anmerkung 2 auf Seite 25 1 zeigt, die Versetzung der
Betriel)e von einer Gröfsenstufc zur anderen einen unter Umständen
sehr erheblichen Personenkreis und führt demnach zu einer ganz
anderen Gruppierung des Personals nach Gröfsenkategorien der
Betriebe.
Für die \'ergleichung mit den Ergebnissen von 1882 können, wie be-
reits bemerkt, überhaupt nur die Zahlen über die Teilbetriebe in
Betracht kommen. Da nun bei ihrer Ausscheidung dem subjektiven
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Die Berufs- und Gewrrbczählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 189^.
Ermessen weiter Spielraum gewährt war, und überdies die dies*
bezüglichen Anleitungen bei beiden Erhebungen, wenn auch nicht
dem Sinne, so doch dem Wortlaute nach von einander abweichen,
so ergeben sich daraus rein formale Abweichungen in den Er-
gebnissen, welche die Beurteilung der materiellen Verschiebungen
empfindlich beeinträchtigen. Das wird man also für die Folge mit
zu berücksichtigen haben.
Die bis jetzt erörterte Begriffsbestimmung betrifft die Ab-
grenzung der Betriebe nach oben hin, nämlich die Ausscheidung
der Betriebe im zählungstechnischen Sinne aus den umfassenderen
wirtschaftlichen Unternehmungen. Die Untergrenze ftir den Begriff
des Betriebes ist aber nicht durch die Gewerbe- sondern durch die Be-
rufezählung gezogen worden. Die Gewerbestatistik entnimmt der
Benifezählung noch die Angaben hinsichtlich aller Alleinbetriebe, so
dafs Schliefelich die Eintragung in der Haushaltungsliste über die
selbständige Berufestellung mafsgebend wird für die Anerkennung
als Betriebseinheit. Jede gewerbliche ßerufsthätigkeit, die nicht im
ständigen Ix)hnvcrhällnis ausgeübt wird, stellt solchermafsen einen
Betrieb dar, auch Storarbeit und Heinnarbeit. Das Wort wird damit
gcwifs in einem weiteren Sinne angewendet, als dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch entspricht. Aber einen Nachteil kann ich darin,
wie bereits bemerkt, nicht erblicken. X'ielmehr begrüfsc ich es
als einen Vorzug, dafs der Kreis der Gewerbestatistik die gesamte
volkswirtschaftliche Produktion umfafst, und dafs neben der eigent-
lichen Industrie auch jenes weite Gebiet aufgeschlossen wurde, das in
ihre kapitalistische Organisation noch nicht cinbezo|^cn ist. Nimmt
denn dann wirklich, wie Riedl es beklagt, 'j der Kleinbetrieb in
den Schlufsergebnissen der Statistik einen Raum ein, „der über seine
thatsächlichc Bedeutung weit hinausgeht"? Oder erhellt nicht viel-
mehr diese seine thatsächliche Bedeutung erst aus dem so er-
möglichten Teberblick ? Dazu kommt noch zu berücksichtigen,
dafs die Gewerbestatistik die Beiriebe nicht nur zählt, sondern auch
nach ihrer Ausstattung tnit ijcr^önlichen und motorischen Kräften und
mit Arbeitsiiiaschinen gleichsam d\ namisch in Rcf'hnunL^ stellt, ( rcijjen
eine einseitige L'eberschätzung des Klcini)ctnel)cs i>t also zur Genüi^e
vorgesorgt. Dagegen beklage ich es, dals man nicht versucht hat,
ihn noch weiter zu analvsieren und <;leich der Heimarbeit auch die
charakteristischen Formen der Störarbeit auszuscheiden. Eine darauf
'j a. a. o. 5>. 103.
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254
H, R«ttchberg,
abzielende Frage, ob „im Hause der Kunden gegen Lohn" gearbeitet
wird, ist im Laufe der Reichstagsverhandlungen zwar angeregt,
nicht al)er angenommen worden.
Während die (rewerbestatistik hinsichtlich der sogenannten AUein-
betriebe mit den Auskünften der Haushaltungsliste sich begnügt,
hat sie über die Gehilfen- und Motorenbetriebe vermittelst des
Gewerbebogens w^eitergeluMulc Informationen über deren allL^i^meinen
Charakter, die Unternehtnungsformen, das Betriebspersonal, die an«
gewendeten Motore, Arbeitsniaschinen und sonstigen Apjiarate ein-
gezogen. Auch in dieser Richtung sollen die Details der Frage-
stellung zugleich mit den materiellen Ergebnissen erörtert werden.
Gegenstände der Produktions- oder Lohnstatistik') sind grund-
sätzlich ausgeschlossen geblieben. Mit Recht, denn sie sind an
ganz andere methodologische Voraussetzungen gebunden und be-
flin«:^'( n eine eigene Organisation. Der Rahmen der Erhebung war
ohnedies weit genug gespannt. Die Zumutungen an das Verständnis
des Publikums und an die Leistungsfähigkeit der Zählorgane waren
bis an die äufserste Grenze gespannt, mitunter wohl darüber hin-
aus.Die Einbeziehung neuer Erhebungsmomente hätte das Ge-
') Mit <l»"r Vx-lgisi licn Industrir-^tatr^tik von iS'ih war auch eine Lohnerln-bung
vo'bundcu. AUciu sie crM'ics sich als unzulänglich und wurde durch umfassende
Nachtngterhebangen auf Gmnd der LohnliBtan «rgiait. In WirklkUceit ist also die
Loimstatistik in Belgien niclit durch die bidostriesSblnng scmdem im Ansdilosse daran
dnrch besondere Erbebungen erstellt wOfden.
Uebenriebene Beflirchtangen in dieser Riditung inlseit v. Mayr in seinem
TttfenriUinten Aufsatie Aber die Grenien des gewöhnlichen schrifUidien Verfahrens.
Sie verleiten ihn dazu, die panze Orfjanisation der Rrhobung zu ven»-erfen und an die Stelle
der schriftlichen Ausfüllung der Fragebogen durch die Betriebsleiter deren Einver-
nehmung vor eigenen Zählungskonimissionen vorzusclilagcn. Dir hierfiir erforderlichen
r)rganis;itio!irn sind praktisch wohl undurchführbar. Ks würden sich dabei in per-
sönlicher Richtung noch gröl'srre Schwierigkeiten ergeben, als jetzt in sachlicher.
Auch ist V. Mayr der irrigen Ansicht, als ob das Material an Landwirtschafts- und
Gewerbdmrten selbständig wäre und getrennt von den HanshaltnngsUsten der Be-
mfsiihlong verarbeitet würde. Das ist nicht der FalL Gerade die Kombination bader
Seiten der Erhebung hat erhebliche FortschriUe ermöglicht, vgL s. B. die Tabelle 3
der Bemfsstatistik, gans davon abgesehen, dafo die Vergleichnng von Betriebs- und
Bemfsangaben ein wichtiger KontroUbehelf fflr beide ist. Nicht in der Rück-
bilMiing, in der Durchbildung des schriftlichen Verfahrens ist der Fortschritt solcher
Erhebungen gelegen, welche das ganze Volk umfassen. Damit soll die Pererhtigung
von mündlichen F.nqueten für eindrin\jendere l'ntersuchungen natürlich nicht im min-
desten in Frage gestellt werden. Aber hier verbietet sich das von selbst.
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Die Benifs- und Gcwerbciihluiig im Dentschen Reich vom 14. Juni 1895. 25
lingen der f^ranzen Aufnahme in Frage gestellt. Anders verhält es
sich mit der Ausbildung und schärferen Präzislcrung der bereits im
Zahlungsplane gelegenen Fragen, wie ich sie im Laufe meiner Aus-
führungen mehrfach angeregt habe. Denn dadurch wird der Be-
fragte genötigt, die Lebensverhältnisse, über welclu- er ohnedies
Auskunft zu erteilen hat, unter den Gesichtspunkten der Aufnahme
genauer durchzudenken, und das kann ihr nur zum Vorteil gereichen.
Eine so umfangreiche und in mancher Hinsicht komplizierte
Erhebung wie die vorliegende bedingt eine genaue Nachprüfung der
von den Befragten ausgefüllten Zählpapiere. Diese Aufgabe war in
erster Linie den Zählern, in zweiter Linie den Gemeindevorständen
zuL^ewiesen, welche überliaupt mit der Ausführun^f der Zähhing inner-
halb jedes ( rcmcindebezirks licfalst waren und hierfür eigene Zählungs-
kommissionen einsetzen konnten. In Städten mit geordnetem sta-
tistischen Dienst haben dabei selbst\crständlich auch die kommunal-
statistischen AniUof mitgewirkt. Es entsteht nun die hra^^a",
inwieweit eine s« »!( In- Xachprüfurjg als ausreichend bezeichnet werden
kann, l'ür den erfahrenen praktischen Statistiker kann kein Zweifel
darüber bestellen, daf^ sie in Wirklichkeit äulserst ungleichmalsig
ausfallen mulVte. Die k( »mmunal-statistisrhen Aemter, welche an dem
Ausfall der Erhebung das höchste sachhche uiui persönliche Interesse
haben, sind jedenfalls am grünfUichstcn \orgegangen und iiiursleii
sich dabei wühl \ielfach davon überzeugen, dals zur Erlair^'ung
völlig zutreffentler Angaben eine förmliche kritisrhe N'achziihking
erforderlich sei, deren Arbeits- und Kostenaufwand mitunter den
der eigentlichen Zählung sogar übertraf, (deiches Eindringen kann
von statistischen Laien nicht erwartet werden, und so hat man sich
denn wohl in den meisten ( iemeinden damit l)eruhigt, wenn nur
die Zählpai)iere in formaler Einsicht korrekt aufgefüllt schienen.
L'nd auch der Stand|)unkt der nüt der .Aufbereitung der Ergebnisse
befafsten Stellen konnte, wenigstens in den gröfseren Bundesstaaten,
kein anderer sein. Die .Aufbereitung ist in 10 Staaten von den
statistischen Landcsämtern, für die anderen 16 Staaten durch das
Kaiserliche Statistische Amt bewirkt worden. Eine materielle Nach-
prüfung der Ergebnisse war bei dem Umfange der Materialien hier
wohl ganz ausgeschlossen; es konnte sich höchstens um die Be-
hebung formaler (iebrechen, ungenügender Angaben oder innerer
Widersprüche in den ZähliKipicren handeln.
So ist es denn selbstverständlich, dafs der — durch die Intensität
der Nachprüfung wesentlich bedingte — statistische Wert der
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256
H. R&iichberg,
Materialien kein gleichmärsiger ist. Bisher hat man noch allent-
halben dieses Uebel als unvermeidlich angesehen. Die statistischen
Aenitcr organisieren die Erhebungen technisch so /weckmalsig wie
möglich und halten sich dann für befugt, die Angaben von fonfiell
korrekt ausgefüllten Zählgapieren auch als materiell richtig an-
zusehen. Bei formaler Richtigkeit wird auch die materielle
präsumiert. Daher die glückliche Sicherheit, mit welcher der letzte
Bearbeiter der Materialien in der statistischen Zentralstelle hantiert,
und der kühle Skeptizismus, womit der an der Zählung beteiligte
Kommunalstatistiker die Ergebnisse aufnimmt
Wesentlich anders ist in dieser Hinsicht die Stellung der sta-
tistischen Zentralstelle dann, wenn schon die Organisation der be-
triebsstatistischen Erhebung in ihr selbst kulminiert, wie dies bei
den Industriezählungeii Belgiens und I'raiikreichs vom Jahre 1896
der Fall gewesen ist. hi l^eiden Staaten hat man bei der im
Arbeitsamte zentialisicrttii Aufbc-roitLuv^ der Ergebnisse die l'ersonal-
verhältnissc der ( iewcrlH lietricbe aus den Angaben der Arbeit-
nehmer über die ArbcittTchci' konstruiert. In Frankreich um damit
einen Ersatz für die unterlassene Betriebszählung zu schaftcn, in
Bejt^ien. wo eine solche vorgetiommen worden war, um ihre Er-
gebnisse hinsit-htiicii des Bestandes und der Personalangaben der Be-
triebe zu überprüfen und richtig zu stellen. Die statistische Zentral-
stelle setzt in Belgien nicht die Richtigkeit, sondern vielmehr die
l'nrichtigkeit der Betriebsausweise voraus. Sie betrachtet es als
ihre Aufgabe, die materielle Wahrheit zu erlorschen. welche ihr
durch die formal ordnungsgemäfse Ausfüllung der Zählpapiere nicht
verbürn^t erscheint. Damit ist zweifelsohne ein wichtijjer Fortschritt
erzielt, zwar nirht nach aulsen hin, wohl aber in der inneren
Solidität drr .Arbeit, und es ergiebt sich auch für uns die Frage,
ob dem gegenüber der Standpunkt der Deutschen statistischen
Stellen noch immer als gerechtfertigt erscheint.
Dabei kommt nun in erster Linie zu berücksichtigen, dafs die
belgische Organisation volle Zentralisation der Aufbereitungsarbeiten
bedingt. Dagegen sprechen im vorliegenden Fall schwere Bcdmken.
Wenn das grofse Zählungswerk in verhältnismälsig kurzer Zeit zum
Abschlufs gebracht werden konnte, so ist dies nicht zum geringsten
Teile dem Zusammenwirken von il statistischen Aemtern zuzu-
schreiben. Völlige Zentralisation bedingte hier ein nur schwer zu re-
krutierendes, noch schwerer zu organisierendes Heer von Hil&arbeitem
und trotzdem wohl noch immer eine erhebliche Verzögerung in der
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Die Beruf** und Gewerbciililiuig im Dentidieii Reich vom 14. Juni 1895. 257
Fertigstellung der Arbeit Haben doch die Arbeiten ira Statistischen
Reichsamt und insbesondere im Königl. Preußischen Statistischen
Bureau ohnedies einen kaum noch zu bewältigenden Umfiuig erreicht
Was in einem Mittelstaat wie Belgien mit rund 350000 Gewerbe-
betrieben und einer Million darin beschäftigten Personen noch möglich
ist» geht nicht mehr an in einem industriellen Grolsstaat mit 4658088
Gewerbebetrieben und lo 269 269 Personen darin. Und selbst in
Belgien hat das Revisionsverfahren ein volles Arbeitsjahr in Anspruch
genommen. Der Statistiker arbeitet ohnedies unter dem Druck der
Unjreduld, womit'die statistischen Konsumentenkreise und die Oeffent-
lichkeit die Ergebnisse erwarten. Er wird sich nur schwer dazu ent-
schliefsen, sie noch ein Jahr länger warten zu lassen. Der in Belgien
eii^eschlagene Weg scheint also für Deutscliland nicht gangbar zu
sein. Wir werden nach wie vor die Gcwälir für die materielle
Richtigkeit der Krj^^cbnisse nicht in einer bis zur Rekonstruktion
der Betriebe aus den Berufsdaten gesteigerten Revision des Materials
bei der statistischen Zentralstelle zu suchen haben, sondern in der
zweckmäfsigen Organisation der P>hebung selbst, in der V'erbesserung
der Fragestellung und in der schärferen Ueberprüfung der Angaben
durch die mit der Aufnahme befafsten Ortsbehörden. Und es
scheint mir nicht zweifelhaft, dais Fortschritte in dieser Richtunp^
noch immer möglich sind, wenn der Einfluüs der subjektiven Be-
urteilung der Berufs- und Betriebsverhältnisse seitens des Befragten
thunlichst eingeschränkt wird, und dafür mehr objcktixc Kriterien
aufgestellt werden, wie z. B. durch die Frage nach dem Arbeitgeber,
nach dem Barlohn, nach der Störarbeit etc. Dies würde auch die
Revision bei der aufbereitenden Zentralstelle erheblich erleichtern,
indem in einer ganzen Reihe von sonst zweifelhaften I'cällen die
Richtigstellung nach jenen Angaben getroffen werden könnte, wäli-
rend jetzt entweder Rüclcfragen oder mehr oder weniger willkür-
liche- Entscheidungen unvermeidlich sind.
Die Erörterung der Revision hat übergeleitet zur Organisation
der Aufbereitungsarbeiten. Ich habe soeben hervorgehoben, dafs
sie durch das planmäfsige Zusammenwirken einer ganzen Reihe
von statistischen Acnitcrn erleichtert und wcsentlirh beschleunigt
worden sind. ^) Wenn auch dieser Vorzug als der durchschlagende
') Sehr interessante Mitteilungen Uber den Umfong der Materialien enthält das
amtlicln: Zählungswerk. 41.6 Millionen Formulare wurden ausgegi-ben; nebenein-
andergelegt bilden sie eine Bahn von 10000 km Länge, wUrden also den Pol mt
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258
H. Ranchberg,
anzuerkennen ist, so darf man darüber die Nachteile nicht übersehen,
die regelmäfsi^r mit der Dezentrahsation der statistischen Auf-
bereitungstliätigkeit verknüpft sind. Sie sind darin begründet, dai's
keine der hieran beteiligten Stellen über den Gang der Arbeiten
und die X'erwcrtun^ der Materialien frei verfügen kann, sondern
dafs hierüber ein von vornherein vereinbarter Plan bis in die kleinsten
[Details herab entscheidet. Die ( ie^ichtspunkte und Krfahruni^eii,
die erst aus der durclRiriui^ender, Kenntnis des Materials im Laufe
der Arbeit selbst "cwonnen wcnlen, können hierfür nicht mehr
verwendet werden. Auch ist die Hewahrun<^ der Kinheitlichkeit
nicht ;^erat.le leicht. Im vorlieLitiiden I'alle wurde sie erzielt durch
Konferenzen tler an der Bearbeitung beteiliL^ten statistischen Landes-
ämtcr, welche der Aufstellun«,^ der Arbeitsformulare und der IVin-
/ipien für die Bearbeitung galten, 'i und durch stete gegenseitige
I'ülilung dieser Stellen im Laufe der .Arljciten.
Insbesondere wirkt die Organisation der Aufbcreitungsarl)eiten
zurück auf die Hinrichtung des Ikruls- Ijczw. Betriebsschemas und
die danach zu bewiikcnde Klassifikation der Berufs- und Gewerhe-
arten. Das ist ein ( ie>ichts|n.uikt von ganz, allgemeiner prinzijjieller
Bedeutung, weshalb ich ihn hier zur LrcWterung bringe. Soll die
ganze bunte Mannigfaltigkeit der Berufe und Betriebe, wie sie in
den Zählpapieren verzeichnet sind, auch aus den verarbeiteten Er-
gebnissen noch zu entnehmen sein ? Oder müssen wir uns bescheiden
und damit vorlieb nehmen, dafs die thatsächlich vorkommenden
Benennungen reduziert werden auf die vergleichsweise wenig zahl-
dem Aeqnator vefbmden, Übereinander gcschtehtet titnnen sie %\cb sa einer Skale
von 2500 Meter Höhe. Fttr die Bearbeitung worden Uber 60 Millionen ZlhlblSttchen
ausgeschrieben. Zirka 1600 Personen waren direkt cur Bearbeitung angestellt; unter
BeHIcksichtigung ihrer mithelfenden Familienangehörigen wird das gesamte Arbeits-
personal aur mindestens 6500 Personen veranschlagt. Der Kostenaufwand desK i' l ^
wird mit 3610000 Mk. bf/.ifTorl. wovon 2374900 Mk. auf die Bcnil-st:iti>tik. 40q90(.i.Mk.
auf 'Ii'- l.indw irtsrhiUtlichc uml S7; 200 Mk. auf die f;r\viTblirlir- H. tri.-h^stati-tik
»•iitlalli ii. Ii Ii t.'ilr ilicsf /aliK-ii iiii ht \>\oi\ als Kuriosa mit. souderii iiu< li um iw
/.eig« n , wie erwüiiM hi 0 sriii niulste, ••ine derartif;»' Arlicitslast auf eim- Ki ihc
von örtlich getrennten Stellen verteilen zu können, und dafs ernstliche Erwägungen der
Arbeitspolitik und Personalbeschaffung gegen die im tibrigen technisch gcwifs erwttnschte
Zentralisierung der Aufbereitungsarbeiten sprechen.
'j Eü fanden 3 Konferenzen statt, eine im Mai 189$ fUr die Bearbeitung der
Benifsstatistik, zwei für die Betriebsstatistik, eine im Oktober 1895, dit andere im
Mai 1897.
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Die Berufs- und GewerbaSbltmg fan Dcvtichcn Reich vom 14. Juni 1895. 259
reichen Positiooen eines im voraus vereitibarten Berufs- oder Ge-
werbeschcmas, worin sod.nnn jede einzelne Position eine ganze
Reihe von verschiedenen Berufen oder Benennui^en umfafst? G.
V. Mayr, welcher die Thäti^keit unserer gesamten amtlichen
Statistik als scharfer Beobachter und Kritiker verfolgt, stellt sich
auf den ersterwähnten Standpunkt und verlangt, „daGs neben an-
derem auch das wirkliche zur I^eklarierung gekommene Detail der
Berufsausübung des deutschen X'^olkes ersichtbar gemacht werde".')
Diese Forderung ist wohl nicht wörtlich zu nehmen; nicht auf die
einzelnen Berufsbenennungen, sondern auf die dadurch bezeichneten
Berufsspczialitätcn ist sie gerichtet. Denn die Berufsbenennungen,
die sich in den Zählpapieren finden , sind der Niederschlag aller
Stadien der technischen Entwicklung und der Arbeitsverfassung
unserer Volkswirtschaft und alle Dialekte der deutschen Sprache
khngcn darin durcheinander. .Schon die BerufszähluiiL,' von 1882
hat 6179 Berufsbenennungen verzeichnet, die Zählung von 1895 gar
10 397. Solche Fortschritte hat die technische .Arbeitsteilung in der
Zwischenzeit gemacht und so stark hat sie den Sprachgebraucii
beeinflufst. Ks liegt auf der Hand, dafs sieh die Statistik nicht so-
weit ins Detail einlassen kann, sondern die .Synonyma zusammen-
fassen mufs. Die von v. Mayr pcrhorreszierte .Subsumtion unter
ajjrioristi.sch konstruierte Sammelpositionen ist somit unvermeidlich.
.Allein ich bin mit ihm der Ansicht, dals man darin zu weit ge-
gangen ist.
Das Herufssclit ina , welches der gesamten Bi rufsstatistik /u
' irunde liegt, uiuerschcidet 6 grolsc Herufsabteilungen, welche in 25
Berutsgrup[)en und 207 Berufsarten zerfallen. .Auch die Berufsarten
sind, wie bereits bemerkt, .Sammelpositionen, weiche nicht nur ver-
schiedene Berufsbcncnnungen. sondern auch thatsächiich verschiedene
Berut>arten oder Be-^chäflii^inigen umlassen. ( legen das .Schema der
Zählung von 18S2 ist das \ nrliegende um 58 Berufsarten bereichert.
.Aber das reicht nicht aus, um einen vollen Einblick in die Mannig-
faltigkeit der thatsächlichen Berufsausübung zu ermöglichen. '•)
Zur Tecbuik der Ausbentuuf; benirsstaUstischer Angaben. Allgem. Statist.
Archiv IV. Bd. S. 4830:
*) Bei der Enreitemng der Klassifikation wurden nicht immer gerade die wich-
tifrstcn von den bi^hc^ in Sammelpositionen verborgenen Bemfsspczialitäten herror-
geholt. 7 Positionen wurden ai^ewendet, um die Spielwarcnindustrie herauszuschälen.
'Sie erscheint nunmehr ilber Ticbähr spezialisi'Tt au^jirwirvon . auf Kt)sten andcrt-r,
viel stärker besetzter rositidiirii, deren Auflösung dringender erwütUscht gewesen wäre.
Archiv für soi. Ge<>cugcbuii( u. Scatiittik. XIV.
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26o
H. Rauchberg,
Einer weitergehenden AusfaseruiiL,' des Hcrufs^cliemas stnnd wohl
das Bedenken entfliegen, dafs der l 'nifanfj der X'erötTentHchung da-
durch all/.usehr erweitert würde und die L cbcrsichtlichkcit \ crloren
riehen miilste. dewils! Aber doch nur, wenn man, was jetzt aller-
din^js der l all ist, sämtliche Kombinationen für die einzelnen Be-
rufsarten wicderluilt. Aber nichts notiert da7.u. Alle Bedenken
entfallen, wenn man ein doppeltes Berufsschema aufstellt: ein bis
zu den belangreichen Berufsspezialitäten herabreichendes, wonach
diese selbst vorgeführt werden mit den notwendigen Unterschei-
dungen zwischen Ilaujjt- und Nebenberuf und der sozialen Stellung
darin, ai)er (ihm- weitergeherule Kombinationen, und dann ein redu-
ziertes Berufsschema für die kombinierten Tabellen. I)ieses letzteres
hätte gegenüber dem thatsächlicli angewendeten sogar noch manche
Vereinfachung vertragen, so dafs der Unifang der Veröffentlichung
kaum erweitert, ihre Uebersichtlichkcit aber erhöht worden wäre.
Dieser Weg ist bei der französischen und der belgischen Zäh-
lung von 1896 eingeschlagen worden. Als ein ausgezeichneter Be-
helf für die Gewinnung einer derartigen, gleichsam elastischen
Klassifikation hat sich dabei die von Professor De wey empfohlene
Methode erwiesen, welche die einzelnen Positionen des Berufe-
Schemas mit den Nummern des dekadischen Zahlensystems bezeichnet,
und für jede neue Unterteilung eine neue Dezimalstelle eröffnet')
Dadurch wird es ermöglicht, zwar die Grundzüge der Klassifikation
aprioristisch aufzustellen, ihre Details aber erst im Laufe der Be-
arbeitung nach Mafsgabe der Materialien auszugestalten. Andrer-
seits können bei der schlieCslichen Redaktion für die Veröffentlichung
jene Details, die man au&ugeben beabsichtigt, nach Belieben wieder
zusammengezogen werden, ohne daGs sich die übrige Klassifikation
und die Bezeichnung ihrer Positionen ändern. Dieses System hat
vor der von v. Mayr a. a. O. empfohlenen Methode, die er bei
der Bearbeitung der Gewerbestatistik von 1875 für Bayern ange-
'1 NäluTc Mittrihin^'rn darüber in mt-incr Abhandlung über die Berufs- und
Botrieb>aufnahmt" in !• r.inkn ich von 1896 im Allj;. >tatiNti>rli. n Archiv, V. Rd. S. 453.
Das System von l'rol. Drwt-y ist lür die statistische Technik deshalb von be-
sonderer Wichtigkeit, weil es auch aul die Bearbeitung der Ergebnisse mit der elek-
trischen ZShlnuudiine anwendfau- iit und dabei eine viel gröfsere Mannigfaltigkeit und
BewegUchkeit der Benifcdaten ermügUcht, als sie mit dieser Technik bish«r erreidit
werden konnte. Vgl. dazu Lucien March, Le» procM^ du recensement des
indastries et professions en (S96. Mimotres de la sociA< des i^gteievis ciTÜs de
France. BttUetin de Mars 1899.
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Die Berafs- nud GeverbexÜilting im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 26 1
wandt hat, den grofsen Vorzug^ voraus, dals dabei die sogenannte
^Auszeichnung" der Beru6benennungen beibehalten wird, d. h. die
Bezeichnung derselben mit den Nummern des Beru&schemas noch
vor der Umlegung der Individualdaten auf Zahlblattchen, ein Vor-
gang, wodurch diese Arbeit sowohl als die 8i»tere Gruppierung
der Zahlblättchen völlig mechanisiert, also wesentlich erleichtert
und beschleunigt wird.
Ich habe mich damit vielleicht schon zu weit ins technische
Detail eingelassen. Allein nach meiner Meinung ist es unzulässig
zu kritisieren, und zu sagen: die Klassifikation der Berufe genügt
mir nicht, wenn man nicht zu zeigen imstande ist, durch welche
technischen Behelfe man eine bessere zustande bringen kann, ohne
dabei andere Nachteile mit in Kauf nehmen zu müssen. Doch
nun genug der methodolc^^ischen Erörterungen ! Es wäre zwar noch
manches in dieser Richtung zu bemerken; allein es wird sich bei
der Besprechung der materiellen Ergebnisse, der ich mich nunmehr
zuwende, noch Gelegenheit ergeben, den einen oder anderen Punkt
zu berühret! , der für die Gestaltung oder die Beurteilung der Zahlen
von Belang ist
Zweiter Teil.
Berufsgliederung und soziale Schichtung.
I. Die Gestallung der Volkszahl.
Die Berufszähiung war, wie wir wissen, zugleich eine Volks-
zählung. Das gesamte Volk wurde gleichsam durchgesiebt, um die
für die berulliche und soziale S( hichtung, sowie für die Betriebs-
Organisation belangreichen Thatsachen statistiscli zu erfassen. Als
willkommene Nebenwirkung dieser Organisation der Erhebung haben
wir die Daten über die Gestaltung der Volkszahl und über die — auf
den natürlichen Faktoren des Generationswechsels, sowie auf der
Wanderbewegung beruhende — Zusammensetzung der Bevölkerung
erhalten. Sic bilden gleichsam den Untergrund, worauf die wirt-
schaftliche und soziale Schichtung sich aufbaut, wie denn auch um-
gekehrt alle W'ränderungen in dieser letzteren zurüclcR^irkcn auf die
physische Entwicklung des Volkes und auf ihren statistischen Nieder-
schlag.
Die grundlegenden Verhältnisse sind die folgenden: Die orts-
17*
L^iyiii^cü Uy Google
262
H. RAttchberg,
anwesende Bevölkerung des Deutschen Reiches betrug nach der
BerufszähluDg
vom 5. Juni 1883 45222113 Einwohner
„ 14. „ 1895 _ $1770284
«omit die Zunahme wihrend der Zwischensdt 6548171 Einwohner oder
14,48 Prozent, jährlich also i,li I'rozent. Diese \'crnu-hi uii^^
eine sehr rasche, M und sie hat sich im Laufe der Zeit beschleunigt,
(lehen wir nämlich von den \'olkszählun*^'en jener F.poche aus, so
beiru^^' die durchschiiilllirhe jährliche \"olks\ eriiu'iu un^ in den
Jahren 188085 0,70, 1S8590 1,07 und 180^095 1.12 l'ro/.ent. Die
durch die Berufs/ähluii}^ festj^estellten X'erschiebunt^en in der beruf-
lichen und sozialen (Gliederung des deutschen X'olkes fallen also in
eine Periode beschleunigter X'olkszunahme. In W irklichkeit ist sie
etwas geringer gewesen, als sich aus den durch die beiden Herufs-
Zählungen ermittelten Volkszahlcn ergiebt. Wie schon früher er-
wähnt und begründet, -) bleiben sie hinter den aus den angrenzenden
Volkszählungen berechneten Zahlen einigermafsen zurück, 1882
stärker als 1895. Diesmal ist der Ausfall auf etwa lOOOOO zu ver-
anschlagen, früher betrug er 3 — 4CX)ooo; um die Differenz erscheint
die Zunahme zu grofs. Die Vergleichbarkeit der Daten wird da-
durch im allgemeinen nicht berührt; höchstens hinsichtlich der
untersten Altersstufe, welche an dem Aus^l bei der Zählung von
1882 stärker beteiligt gewesen ist
Es ist selbstverständlich, da(s die Zunahme in den einzelnen
Gebietsteflen des Deutschen Reiches eine sehr verschiedene war,
aber höchst bemerkenswert, dafs mit ganz genngfügigen Aus-
nahmen^) nirgends ein Rückgang der Volkszahl eingetreten ist,
während die letzten Zählungen in Oesterreich und Frankreich Ver-
schiebungen in der örtlichen Verteilung der Bevölkerung ergeben
haben, die för weitausgedehnte Gebiete eine absolute Abnahme der
Bevölkerung zur Folge hatten. Auch die örtliche Entfaltung des
deutschen Volkes wird von der für die ganze neuzeitliche Ent*
Wicklung charakteristischen Konzentrationstendenz beherrscht. Die
') Von den ib Zäblungspcriodcn sfil 1816 haben nur 4 höhere Zuwachspro/cntc
ergehen, nämlich 1816,20 1,43, 1S20 25 1,34, 183540 I,i6 und L873 80 1,14 i'rozent
jährlich.
'1 Vgl. oben S. 230.
^) Keg.'hci. Koülin, Sigmarlugcn und der Jag!>tkrcis.
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Die Berulä- und Gewcrbezählung im Dculschcn Reich vom 14. Juni 1895. 263
Agglomeration der Bevölkerung macht rasche Fortschritte;') die
Unterschiede in der Volksdichtigkeit prägen sich immer mehr aas,*)
indem gerade die dichter bevölkerten Grebiete auch die raschere
Volkszunahme haben, nicht nur absolut, sondern auch relativ. Die-
selben Momente, welche schon früher eine grölsere Anhäufung der
Bevölkerung hervorgerufen haben, erweisen sich gerade jetzt ab
besonders wirksam und fiihren auch zu einer rascheren Vermehrung. *
Da die Frage nach dem Geburtsort bedauerlicherweise unterblieben
ist, können wir nicht konstatieren, in welchem Mafee die Wander-
bewegung daran beteiligt war. Darüber aber, dals sie die haupt-
sachliche Ursache dieser Erscheinung ist, besteht kein Zweifel.
Hand in Hand mit den eben erwähnten Veränderungen der
Dichtigkeitsverhaltnisse geht auch eine rasche Verschiebung der Be-
völkerung zwischen Stadt und Land und zwischen den verschiedenen
Gröfsenkategorien der städtischen Wohnplätze. Dies erhellt aus
der nachlösenden Zusammenstellung:
PrcweiitsitteU
Wohnorte Zah] der Bevölkerung d. Ortsgidisen-
Ortsgröfsen- mit Wohnplätzc am 14. Juni am 5. Juni klassen an der
kla$sen Einwobnem 1S95 1880 1895 1882 Gesamtbevolkg.
1895
Grofsstädte looooo u. mehr 28 14 7030530 3327435 '3-5'*^ 7 3^'
Mittelstädte 20000 — looouo 150 102 5376340 4147535 10,39 9,17
Kleinstädte 5000— aoooo 796 641 7073531 5694383 13,66 12,59
Landstädte aooo— 5000 2068 1950 6317883 5734344 l3,so 12,68
Stadt 3O0O u. mehr 3043 2703 25797483 18903695 49,83 41,80
plattes Land unter 2000 — — 25972801 26 31 841 8 50,17 58,20
GewntbcTSlkening — 51770384 45223113 100,00 loo,00
Danacli hat die Stadtbcv^ölkerung um 6893788 Personen oder
36,47 Prozent zugenommen, die Bevölkerung des flachen Landes
aber um 345617 Personen oder 1,31 Prozent ab<:^cnommcn. Die
Abnahme ist nur eine scheinbare, dadurch liervor^ijcrufen, dals die
Wohnplätzc. welche die kritische Einwohnerzahl von 2000 über-
schritten iiabcn , aus der Kategorie der Landorte ausscheiden
und fortab von der Statistik zu den städtischen Wohnplätzen ge-
') Paul Meuriot, Des agglom^rations urbaines dans l'Europe contemporaine.
Färb 1897.
*) Obenan stehen selbstreistindlich die 3 Hansestaaten, dann kommt Sadisen
mh 350 Einwohnem auf den qkm. Die geringste Volksdichtlgkeit haben die agra>
fischen beiden Heddenborg mit 46 md 35 Bewohnern auf den qkm.
L^iyiii^cü Uy Google
264
H. Rauehbcrg,
rechnet werden. Das gleiche gih auch von den weiteren Ver-
schiebungen nach oben hin. Von einer allgemeinen Landflucht oder
drohenden Entvölkerung des i)latten Landes durch den Zug nach
der Stadt kann demnach absolut nicht die Rede sein. Das geht
auch schon daraus her\'or, dafs von den oben erwähnten gering*
fugigen Ausnahmen abgesehen'), 1882 — 1895 nirgends im Deutschen
* Reich eine Abnahme der Bevölkerung stattgefunden hat. Die
„Landflucht" ist ein agrarisches Märchen.
Je gröfser die Kinwohnerzahl bereits ist, desto rascher steigt
sie weiterhin, nicht nur absolut, sondern auch relativ: es beträ^^t
das Zuwachsprozent bei den Landstädten 10,16, bei den Kieinstädten
24,22 , bei den Mittelstädten 29,62 , bei den Grolsstädten aber
111,29. ■•; Wir begegnen hier, in der Welt der sozialen Ciebilde,
einer PJrsclieinung, deren Athiiliciikcit mit dem ( iravitations^esetz
der Mechanik un\'erkeiuil)ar ist. Der Schwerpunkt der Be\"ölkerung
wird immer mehr in der Richtung nach der Stadt verschoben.
1882 hatte das Land nocji das l eber^rc wicht. 1895 safs bereits
nahezu dieselbe Bevölkerung in städtischen Wohnplätzen, jetzt hat
die Stadt schon das Uebergewicht. Lnd liier tritt wieder der .An-
teil der Grol'sstädte immer mehr in den \\)rdergrund: 1882 um-
fafsten sie erst 7,36, 1895 bereits 13,58 Prozent der Bevölkerung.
Ihre Kinwohnerzahl hat sich — wenigstens in formaler Hinsicht —
während der dazwischen hetzenden 1 3 Jahre mehr als verdoi)|)elt.
Wie das mit Beruf und sozialer Schichtung zusammenhängt, wird
sich später zeigen. Iiier aber darf ich an dieser Thatsaclie nicht
vorbeigehen, ohne auf ihre ungeheure Bedeutung lur unser ganzes
Volksleben hingewiesen zu haben. Ls gilt jene Massen, welche
durch die Macht der wirt.schaftlichen Kntwicklung den Städten zu-
geführt wurden, dort dauernd einzurichten, ihnen die liir die Be-
wahrung der physischen Kraft und fiir die kulturelle Entwicklung
erforderlichen Lebensbedingungen zu schaffen, sie dem neuen Gemein-
wesen einzugliedern nicht nur als TrStger von Arbdtsldstungen.
sondern als vollberechtigte, an seiner Blüte interessierte und be-
teiligte Genossen. Die verschiedenartigen Au%aben, welche der
Stadt daraus erwachsen» fasse ich unter dem Schlagworte „das
Stadtproblem" zusammen. Ich kann hier nicht von seiner Losung
') Vgl. Aura. 3, S. 262.
*) Nürnberg hatte 18S2 swar die Grause von 100000 Einwohnern bereito ttbcr
schritten, ist aber damals noch m den Mittdstftdtcn gerechnet wwden.
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Die Berufs- und Gewerbetililuiig im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95. 265
sprechen. Aber es war vielleicht nicht überflössig, es zu formulieren,
bevor wir jene grofse Bewegung zu verstehen suchen, die es
hervorgebracht hat
Von den allgemeinen demographischen Momenten sind noch
Geschlecht, Alter und Familienstand der Bevölkerung als solche zu
berühren, welche auch üir den Beru( und die soziale Stellung von
Belang sind.
Dem Geschk'oht nach waren am 14. Juni 1895 35409161
Personen männlich und 26361 123 weiblich, also um 951962 mehr
weiblich als männlich. Auf 100 Männer trafen 1895 103,75, 1^^*
104.16 Frauen. Der IVaucnübcrschufs hat sich vermindert haupt-
sächlich w<^en der Abnahme der überseeischen Answnncierun^,
woran zumeist Männer beteiligt sind. Er ist auf dem flachen Lande
stärker als in den Städten: hier 102,16, dort 105,34 Frauen auf je
100 Männer. Nur in den Grofsstädten erhöht die gesteigerte
Dienstbotenhaltung und sonstige Gelegenheit /.ur Frauenarbeit den
Frauenüber.schuls sehr erheblich. Ks kommen nämlich auf ICO
.Männer Frauen: in Landstädten 103,47. Kleinstädten 99,15, in
Mittelstädten 99,6, in (irolsstädten aber 106. 14.
Der .Altersaufbau ist nur für dir ( u >aintl)c\ (UkcriinL^ und
für die ( Trofsslädtc, nicht auch für die andt ren ( ii< il>rnstufi n dar-
ge>ullt worden. Ich fasse die \viclitiL;->tcn X'crhällniszahlen in der
nachstehenden L'ebersicht zusammen. Es stehen im .\lier
i m ganzen
in den (
j r 1 r V s t ä d t e n
von Jahren
von
je 100 Person
♦•n
von j<*
100 IVrsonrn
männl.
weibl.
alu-rh.
inäuul.
weibl. übcrh,
unter 20
4S.49
43.99
44,73
38.9a 39.55
20—40
29^8
37,73
35.7* 36,70
40—60
17.63
i«.53
18,09
»7.55
18,62 18,09
Aber 60
7.17
7,ao
7,70
4.49
6,74 5.66
Die ( irund/üj^'c der .Altcr-j^licdcrung sind aus diesen N'erhähnis-
zaiilen zwar drutlicli 7ai cntnciimen : der pyramidenähnliche Aufbau,
die -Stärkcrc lksct/un;4 der höheren .Mtersstufen beim weiblichen
Geschlechte. Aber die produktiven Altersklassen sind auf dem
flachen I^nde unternormal, in den Städten übernormal besetzt.
Die Regelmäfsigkeit des Altersaufbaues, die bei der Betrachtung
der Gesamtbevölkerung hervortritt, ist gestört, einseitig verzerrt, sobald
wir Stadt und Land fiir sich ins Auge üsissen. Denn der Kreislauf
des Lebens spielt sich nicht mehr auf derselben Bühne ab. Produktion
und Konsumtion von menschliche Arbeitskraft beginnen sich örtlich
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266
H. Rancbberg,
ZU differenzieren zwischen Stadt und Land. Erst wenn wir beide
zusammenfassen, finden wir wieder den typischen Verlauf der
Aiterslinie, wie sie durch Geburt und Tod gezogen ist.
Lassen wir hol der Betrachtung der Familienstands-
vcrhältnisse die Kinder unter i6 Jahren beiseite, so sind im
ganzen 53.76, in den GroOsstädten aber nur 49,96 Prozent der über
16 Jahre aUcn IV-rsoncn verheiratet Das spätere Heiratsalter, sowie die
höhere Sterbhchkcit der Männer, auch die besseren Heiratschancen
der Witwer bewiri<en, dafs unter den Ledigen das männliche Ge-
schlecht stärker vertreten ist (39,56 ^'Cgen 34.87, im ganzen 37- '4
Prozent;, unter den Verwitweten und ( ieschiedenen das weibliche
(J3.0'^ J^cgcn 4,87, im ganzen 9. 10 IVozcnt . In flcr Altersklasse
von 16-30 Jahren überwiegen hingegen die Junggesellen um
624648 über die Jungfrauen. Iis liegt danach oti'en, wie sehr die
I U iratschanccn der Frauen — von der Hcirat^/iffcr abgesehen —
bedingt sind durch den Altersabstand der Kheschliefsenden und
durch alle fliejenigen sozialen und wirtschaftlichen Momente. \on
welchen dieser letztere hinwiederum abhängt. Der Fraueniiberschuls
in der liesanitbevölkerung gewinnt erst Bedeutung, nachden\ das
durchschnittliche Heiratsalter schon überschritten ist Er ist also
nicht entscheidend für die iieiratsfrage.
II. Erwerbthätigkeit und Berufszugehörigkeit.
Die Berufsstatistik will das ganze Volk unter dem Gesichts-
punkte des Berufs und der sozialen Stellung erfassen, nicht blofs
die Berufe- oder Erwerbthätigen. Zunächst aber gilt es, diese selbst
als den malsgebenden Teil der Bevölkerung herauszuheben. Wer
ist erwerbend, wer ist es nicht? Volkswirtschaitliche Gesichtspunkte
müssen hierfür, wie das Zählungswerk mit Recht sagt, entscheidend
sein: die Stellung in der arbeitsteiligen Organisation der Volks-
wirtschaft, die Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion
materieller oder immaterieller Güter. Hauswirtschaftliche Bethatigung
begründet keinen eigentlichen Beruf, auch nicht jene der haus-
lichen Dienstboten. Familienangehörige und Dienstboten leiten ihr
Einkommen aus dem Arbeitsertrag der Berufsthätigen ab, sind aber
nicht selbst erwerbend in diesem Sinne. Doch (arben Beruf und
') So oft in diesem tlaupUbscimittc das Z;ililuughwcrk citicrt wird, ist darunter
der III. Band der Statistik des Deotschen Reichs N. F., Die bemfliche imd soaale
Gliedemng des Deiitsdieii Volks, rentanden. ~ Vgl. S. 14 dieses Bandes.
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Die Berufs* und Gewerbezählnng im Deubchcn Reich vom 14. Juni 1895. 267
soziale Stellung ihrer Erhalter auch auf sie ab, wie sie denn auch
umgekehrt ihre Erhalter zu kennzeichnen geeignet sind^ Sie werden
ihnen daher zugerechnet; danach bestimmt sich ihre indirekte Be-
ni6zugehörigkeit. So erhalten wir denn unter dem Gesichtspunkte
der Stellung zum Beruf drei grofse Gruppen: Erwerbthätigc,
Dienende, Angehörige. Es erübrigt dann noch, eine vierte Gruppe:
die Berufelosen, teib wirtschaftlich Selbständige, teils aus fremden
Mitteln Erhaltene, bei welchen jedoch die Zurechnung zum Berufe
des Ernährers entweder aus sachlichen oder aus zahlungstechnischen
Gründen unzulässig ist
Diese wissenschaftlichen Gesichtspunkte waren ma&gebend für
die Organisation der Erhebung und für die Bearbeitung der Ergeb-
nisse. Aber sie eignen «ch nicht unmittelbar zur Fragestellung.
Diese geht vielmehr davon aus, dafs die Sprache für alle Fälle
direkter Teilnahme an der volkswirtschaftlichen Produktion eigene
Worte geprägt hat, wie sie denn auch die Thatsache selbst mit
jenen beiden Worten bezeichnet, mit welchen ich diesen Abschnitt
überschrieben habe, mit Beruf, indem sie die soziale, mit Er*
werb, indem sie die privatwirtschaftliche Seite der Bethätigung
hervorhebt In dieser Voraussetzung wird also die Frage nach dem
Haupt* und Nebenberuf gestelh. Nur auf den ersteren kommt
CS hier an; es ist derjenige, auf dem hauptsächlich die Lebt
stellung beruht und von dem der Krwerb oder dessen gröfster Teil
herrührt. Wer sich hier mit Worten einj^etragen hat, die eine Be-
rufe- oder Ervverbsthätigkeit bezeichnen, wird als erwerbend ange-
sehen; wer dies nicht gethan hat, nicht. Genüj^t das?
Soweit der Sprachgebrauch der Erhebung durch die Ausbildung
. von eigenen Berufsbenennungen oder Erwerbsarten vorgearbeitet
hat, reicht diese Fragestellung aus. Das trifft wohl in der Mehr-
zahl der Fälle, nicht aber immer zu. Dann nicht, wenn die That-
sache i^asellschaftlicher Bethätigung oder des Erwerbs in dem Be-
wufetsein der Befragten nicht lebendig genug ist, um sie zur Wahl
des bezeichnenden Worts zu veranlassen. Das ist hauptsächlich
der Fall in dem weiten Grenzgebiet /.wischen geschlossener Haus-
wirtschaft und volkswirtschaftlither Produktion. Für den Wirt
selbst hat die Sprache freilich bezeichnende Worte geprägt, und
wir werden nicht anstehen, seinen Hauptberuf danach zu bestimmen,
weni^rleich sie an sich nicht volks- sondern hauswirtschaftliche Be-
thätigung bedeuten. Denn heutzutage ist auch die entlegenste
Bauemwirtschaft schon unentrinnbar in die volkswirtschaitliche
L^iyiii^uü Uy Google
268
H. Ranchberg,
Organisation einbezogen, so dals ihre Produktion als volkswirtschaft-
lich, die darin geleistete Arbeit als gesellschaftlich gelten mufs.
Auch für die richtige Behandlung des Gesindes wird der Sprach-
gebrauch in der Regel hinreichen, obwohl hier in zahlreichen Fällen
die Entscheidung erst im Laufe der statistischen Bearbeitung ge-
troffen werden niufs. Aber die Bezeichnung des Arbeitsverhält-
nisses unter dem ( lesichtsjnmkte der Herulsstellung wird in \'er-
bindung mit den Bcriil>anL,Ml)en des l nterneluners in der Regel
genügende Aiihaltsjmnkte hieriür bieten.') Hingegen besteht Un-
sicherheit hinsichtlich der Familienangehörigen, insbesondere auf
dem (iel)iete der Landwirtschaft und solclier Berufe, die nur in
unmerkliclien Uebergängen von der geschlossenen I lauswirlschaft
sich l()sl(")sen. An objektiven Kritericti fehlt es hier; ein sicherer
Sprachgebrauch besieht nicht, und es wird die Eintragung ganz
davon abhängen, ul) das Berufsbewufstsein der Befragten ausgebildet
genug ist, als dals sie auf die Berufsfragen überhaupt reagieren.-)
Es liegt auf der 1 land, dafs hierin grolse Schwankungen von Ort
zu Ort, von Zählung zu Zählung, von Beruf zu Beruf stattfinden.
E)urch die zunehmende X^ergesellsciiaftung des Produktionsprozesses
wird das Berufslx w uKtsein jedes {-.inzeinen gekräftigt, und die Be-
rufsfragen Ijcgegnen grülserem V^erständnis. Produktixe 1 iiatigkeit
innerhalb des Kreises der Hauswirtschaft oder in der Form des
Gesindedienstes, die früher nicht als Beruf war empfunden worden,
wird jetzt in höherem Mafse als solcher eingetragen.
So kommt es, dafs gerade die scheinbar einfachste Frage der
Berufsstatistik, wer erwerbend ist, wer nicht, mit den grö&ten
Schwierigkeiten zu kämpfen hat und nirgends ganz gleichmäßig
beantwortet wird. Ich bin geneigt, die sehr erheblichen Verschie-
bungen, die 1882— 1895 hierin eingetreten sind, zum guten Teil
auf diese psychologischen und formalen Momente zurückzuföhren.
Vollends bei internationalen Vergleichungen spielen sie eine gerade-
zu entscheidende Rolle, wegen des Einflusses der SprachpsNxhologie
der verschiedenen Nationen und der abweichenden prinzipiellen
Stellune der statistischen Aemter, denen die Bearbeitung oblag, in
dieser Frage.
Und nun zu den Ergebnissen!
') Vgl. z. B. die auf S. 60 des Zählungswcrkc!» auszugsweise mitgclcille In-
•troktion Ar die Bearbeitung nach sorialen Klauen.
*) oder die Haiuhaltimgsvontinde , welche die Zkhipapiere aasfäUcn an
ihrer Statt.
Digitized by Google
Die Beni£i> «od GewerbeiiMui^ im Dentaclicii Reich vom 14. Juni 1895. 269
& waren
«bioliit
1895
1895 1883
40,12 38,99
259 a,93
53,15 55.08
4,14 3,00
in PnMentcn
Zauhme in
Prozenten
Erwerbtbitige . . .
EHenende
An^^'-borige . . . .
bcrulslostr Selbständige
«0770875
1 339316
27517285
2 142 808
10,46
58,20
14,48
17,80
1.09
zusammen
51 770 2S4
100,00 100,00
Alle Kategorien haben zugenommen, die berufslosen Selbstän-
digen am meisten, die Erwerbthatigen aber viel starker als die
Dienenden und Angehörigen, so da(s diese nunmehr relativ schwächer
vertreten erscheinen. Die Erwerbsarbeit des deutschen Volkes ist
also intensiver worden, in dem Sinne wenigstens, daüs nunmehr ein
relativ gröfserer Teil desselben berufsthatig ist Für die Frage, ob
erwerbthatig oder nicht, kommt hier zunächst nur der Hauptberuf
in Betracht.
Um die Verschiebungen gegenüber der Zahlung von 1882
richtig zu beurteilen, müssen wir vorerst die durch ihr rasches
Anwachsen aufifallige Sammelposition „beru&Iose Selbständige" in
ihre einzelnen Bestandteile auflösen. Daran sind die einzelnen Be*
ruCsarten, wenn hier von solchen überhaupt die Rede sein kann,
mit folgenden 21ahlen beteiligt, denen ich die Zuwachsprozente seit
1882 in Klammern beifüge: Von eigenem Vermögen, Renten oder
Pensionen Lebende i 288484 (-|- 59,0), von Unterstützung Lebende
^73**^53 ( — 2,3), Studierende, Schüler, Zöglinge in Unterrichts- und
Waisenanstalten 414587 {+185,2), Anstaltsinsassen und ohne Be-
rufeangaben 265 884 (-)- 20,4). F'.ntscheidcnd ist die Zunahme der
Rentner (-|- 478026). Inwieweit die allgemeine Zunahme des
Wohlstands, oder das Anwachsen des Pcnsionsetats oder die Sozial-
versicherung daran Anteil hat, steht dahin. Die Verschicbungen
sind übrigens zum Teil dadurch hervorgerufen, da(s 1895 tlie Alten-
teilcr, sowie die Pfl^[e- und Ziehkinder nicht — wie 1882 — zu
den Angehörigen, sondern in diese Gruppe gerechnet wurden, was
auch das Richtige ist.
Auch das stärkere Ueberwiegen der Lrwerbthätigcn ist zum
Teü auf die früher erwähnten formalen Momente zurückzuführen.
Dienende und Familienangehörige, die im Betriebe des Haushaltun^s-
vorstands sich bcthUtigen, hnden sich nunmehr in höherem Maüse
als früher als berufsthatig ausgewiesen. Dadurch erscheinen die
männlichen Dienenden stark vermindert, die weiblichen Btrufs-
thätigen auf Kosten der Familienangehörigen stark vermehrt. Das
Digitized by Google
370
H. Kaachberg,
wird späterhin bei der Beurteilung der Ziffern über Frauenarbeit
mit zu berücksichtigen sein. Betrachten wir nämlich jedes der
beiden Geschlechter für sich, so
w»ren von je loo bcCiigt die proxentuale
miimUchen wciblicben Za- besw. Abnahme bei
Personen den
1805
1S82
«893
18S3
Männern
Weibeni
Erwerbthätige ....
6 1 .03
60.38
«9.97
18,46
+ 15.95
0, 10
0, 19
4.99
5.56
— 40,35
+ 2.46
3".49
70,81
7*.94
+ 9A9
+ »0.93
berufslose SelbstMndige .
4.04
2.94
4.23
3,04
+ 57.47
H-5«.8«
zusainfnen .
100,00
100,00
100,00
100,00
+ 14,71
-f I4.a6
Die markanteste ErsoluiiuinL^ ist die Zunaliiiic der \veil)lichen
Erwerbthätigen. Diese haben um I 003 290, die männlichen um
2133577 zui]jenommen. Absolut -benommen sind zwar die männ-
lichen doppelt >o stark i^H wai hsen, im X'erhältnisse zum .Stande
von 18S2 aber die weiblichen anderthalbma! so rasch wie die
männlichen. I )ars dies nicht ausschlielslich aus formalen l'rsachen
zu erklären, .sdudern auch iler Au.sdruck einer thatsächlichen Ent-
wicklung ist, wird durch die }''eststellutij2fen der ( lewerbcaulsicht.s-
beamten über die Fabrikarbciit rinncn ' 1 uiul ilurch die X'erände-
rungen im Mit*:,dicderstand der Krankenkassen -) aulscr jeden Zweilel
gesetzt. .\uch die ( iewerbezähluiuT; liat zu dem j^lei(^hen Kr;.;cbnis
}:jeführt : In Namtliclien darein einbezt)^enen Betrieben enttielen im
Jahre.sdurchschnitte auf je 100 Männer 1882 erst 25,88, 1895 bereits
29,49 Frauen. Die Erwcrbthätigkeit der Frauen ist also 1893 von
der Berufszählung der Frauen nicht nur vollständiger erfafst worden,
sondern sie hat auch thatsächlich noch stärker zugenommen als
jene der Männer. Näheres hierüber später in dem Abschnitt ,4^rauen-
aibeit". Und Aehnliches gilt, wie sich bei der Besprechung der
Altersverhältnisse zeigen wird, von dem früheren Eintritt der
Familienangehörigen ins Berufeleben.
Eine Untersuchung über die geographische Gestaltung
des Verhältnisses zwischen Erwerbthätigen, Angehörigen, Dienenden
und beru&losen Selbständigen, wie sie das Zählungswerk anstellt,
'1 1892 erst 649668, 1S97 bereits 822462 Fabrikarbeiterinnen, also jährlich
durch>chnitllicli 3455') neu eingestellt.
- iSSo bis iSu; liaiu-n dir inimiilicliiu Kassonmitglieder um 17.7, die wcib-
lich..-n um 4i.4l'rü£cnt iugenommcn, Icl/.tcrc zum Teil allerdings infolge Aeuderung
der einschlägigen Normen.
Die Berufs- und GewerbezShlang im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 27 1
hat nur morphologischen Wert. Denn es wirken verschiedenartige
Umstände darauf ein, die wir zunächst noch nicht isolieren können,
in erster Linie die besondere Gestaltung dieses Verhältnisses in
den einzelnen Berufen , die hinwiederum hauptsächlich von dem
relativen Ausniafs der Frauenarbeit abhängt. Wir werden spater
noch ausführlicher darauf zu sprechen kommen. Hier will ich nur,
dem Gange der Darstellung vorgreifend, einige charakteristische
Ziffern herau^^ifen. Es sind 1895 erwerbthätig
in der Land> in der im Hsuidel und
Wirtschaft Industrie Verkehr
TOD 100 bcrufszugehörigea Per*
iOnt'Ti üh<rhnu])t 48,83 40*^ 39il9
von je 100 bcrul-./u;jt h<)ritjen Per-
sonen weiblichen Geschlechts 28,58 'Si^? '^|25
Diese Momente sind es auch, welche die Gestaltung des in
Rede stehenden Verhältnisses in Stadt und I^d und nach Orts*
grötsenldassen stark beeinflussen. Dasselbe ist aber auch an sich
von hoher Wichtigkeit, weshalb die wichtigsten Zahlen, wodurch es
gekennzeichnet wird, hier Platz finden mögen. Es sind 1895 in
den nebenbezeichneten Wohnplätzen von je foo ortsanwesenden
Personen
Erwerbthätise
Dienende
Angehörige
berufslos«*
S«'lbständige
( Irofs^tädtc
4,12
49,61
4,89
^Iitt<•I^t:i<ltc 39,54
3.64
5 ' .43
5o9
KU-in>t:idtc 38,27
2,81
Landstädte 3^,50
2,48
54,57
4 45
Plattes Land 40,80
1,92
53,94
3.34
Sberliaupt 40,12
a.59
53, «5
4.J4
Die Erwerbthäti^keit ist am ^'cringsten in den Kleinstädten.
Sie erhöht sich in den Landstädten und auf dem Bachen Lande,
insbesondere we^^en der stärkeren Vertretunrj (kr Landwirtschaft
und der Frauenarbeit darin, noch mehr aber nach obenhin, wej^en
der mit der Einwohnerzahl wachsenden Intensität der Krwerbs-
arbeit. Diese ist also in den ( rrok^tädten die höchste. Im direkten
Verhältnisse zur Einwohnerzahl steht die V'ertretung der Dii lu nden,
im umgekehrten jene der Angehörigen. Nur das flai hc I^nd
macht in letzterer Hinsicht eine Ausnahme, wegen des früheren
*) Ueber die Abstufungen siehe oben S. 263.
L^iyiii^cü Uy Google
272
H. Ravehberf,
Eintritts in die landwirtschaftliche Arbeit. Die berufslosen Selb-
ständigen sind am stärksten in den Mittelstädten vertreten.
Sind schon die Ziffern über die Erwerbthätigkeit innerhalb
des Crebiets einer einheitlichen Erhebung in so hohem Mafse von
formalen Momenten abhänj^^ir]^, so können internationale Ver-
gleich ungen nur mit besonderer Vorsicht angestellt werden.')
Selbst dann wird sich nicht mit voller Sicherheit feststellen lassen,
inwieweit die durch die Zahlen aufgezeigten Abweichungen in den
thatsächlichen X'erhältnisscn oder durch die Methode der Erhebung
und der Bearbeitung begründet sind. L'eber die X'ertretung der Rr-
werbtliätigen ^) unter der ( icsaintbcv ölkerung der wichtigsten Kultur-
staaten erteilt die folgende Uebersicht Auskunft:
Z.=ih-
rjesair.t-
Ks sind e r w
erb-
lungs-
bcvölke-
E r w <•
rbth.Htigc")
tbätig
von j
e 100
Länder
jähr
run«
männl.
weibl.
überh.
mannl.
weifal.
Pen.
in Millionen
Personen
ttberh.
Deotadies Reich .
1895
5 «.77
»5.53
6,5«
22,11
6f,i
35,0
4a.7
Oesterreich . . .
1890
33,90
7,39
5.77
13,16
47.3
55.1
Ungatn ....
1890
»7.46
5.45
3,19
7.64
63,8
34.9
43.7
1881
«8,46
9.45
5.70
15.15
66,3
40,3
53.a
Schweiz ....
18S8
2,92
0,87
0,44
«.31
61,4
29,0
44.8
Frankreich *) . . .
1891
38,13
11,14
5>9
'6,33
58.8
27,0
42.8
Belgien *)....
iS«X)
6,07
1,81
o,So
2,01
59,8
26,2
43.0
Niederlande . . .
1889
4.51
»,3°
035
1.65
58.3
»5Ö
36,6
Dänemark. . . .
1890
2,17
0,61
0,23
0,84
57.5
21,0
38.8
Schweden . • • •
1890
4.79
i,a6
0,49
>t75
54.5
19.7
36,6
Nonregen. . . .
1891
1.99
0,53
o,«5
0,78
55.«
33,6
39,0
Groftbrit. u. Irland
1891
37.73
11,61
5.a«
16,82
63,4
26,8
44.5
V. St. von Amerika
1890
62,62
18,21
3.9a
22,74
5«.7
13,8
36.3
') Das Zählimgswerk enthilt in seinem 14. AbMrhiiitt .sehr dankenswerte Aui-
tOgc aus den Bemftalatistiken der wichtigsten KaltntalaateB« Wlhrend die inter«
nationalen Uebenichten bei der Bearbeitung der BernfsiiUaitg von 1883 synoptisch
angelegt waren, werden naundir die Ergebnisse flir die einseinen Staaten snniciut
gesondert vorgeftthrt. Das ermöglicht detailliertere lUtteilmigen, tnsbetondere aodi
über die für die Gestaltung der Ergebnisse entscheidende Art der Erhebung und Be-
arbeitung. Hingegen sind die synoptischen Ucbcrsichtcn rediuiert, die Verglcichtmgen
hiermit erschwert. AVirr freilich, je besser man weifs, wie die ZifTem zustande ge-
kommen sind, desto schwerer entschliefst man sich, sie ohne weiteres nebeneinander
zu scrzeu.
*) EinschliefsUch der Dienenden für häusliche und persönliche Dienste.
") Die Ergebnisse der franxösisdien und der belgisdien Berafioihlung von 1896
liegen zur Zeit (Joni 1898) noch nicht vor.
Digitized by Google
Dei Berufs- und Ge^rerbezählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 273
Das Deutsche Reich nimmt unter den hier verglichenen
Staaten hinsichtlich der Beteiligung der Bevölkerung am Erwerb
eine Mittebtellung ein. Durch intensivere Berufearbeit in diesem
Sinne ragen hervor zunächst Oesterreich und Italien, dann Grrols-
britannien und Irland, sowie die Schweiz, durch geringere ins-
besondere die skandinavischen Staaten, die Niederlande und die
Vereinigten Staaten von Amerika. Die genauere Analyse der
Zifiemreihen lehrt, da(s die Abweichungen ganz überwiegend das
weibliche Geschlecht betreffen und hier insbesondere bei der Land* •
Wirtschaft auffallig zu Tage treten. Die mehrfach erwähnten Unter«
schiede in der &unmlung und Bearbeitung der Materialien haben
daran groisen, wenn auch nicht ziffermäisig genauer bestimm-
baren Anteil. Es ist bei dieser Sachlage schwer, zu einem all-
gemeinen Urteil zu gelangen. Immerhin möchte ich die Behauptung
wagen, daSs ein relativ hoher Anteil der Erwerbthätigen an der
Gesamtbevölkerung eher ein Anzeichen niederer denn hoher wirt-
schaftlicher Kultur ist Denn er wird hauptsachlich bewirkt durch
die Beteiligui^ der Frauen und des heranwachsenden Geschlechts
an der Berufinrbeit, die bei gesteigerter Kultur in höherem Mafse
davon befreit sind. Und das wird dort m^^lich durch die grö(sere
Produktivität der Arbeit der Erwerbthätigen, die eines der
wichtigsten Kennzeichen höherer wirtschafUicher Kultur ausmacht.
Aber nur langsam durchdringt der technische Fortschritt alle Volks-
schichten und fuhrt zu einer Aenderung der Arbeitssitten in dieser
Hinsicht Auch hängt dabei viel von den sozialpolitischen Ver-
hältnissen ab. Man muis sich daher vor voreiligen Generalisationen
hüten und kann höchstens von allgemeinen Entwicklungstendenzen
sprechen, welche die Ziffern andeuten.
in. Die Berufsgliederung im allgem einen.
Schon in der mcthodolo^isclicn Kinlcitunt^ wurde dargethan,
in welcher Weise die in den Zählpapieren thatsächlich eiithahetien
Beruisangaben klassifiziert worden sind, um L'cbersichten über die
Berufsgliederunj^^ des Deutschen X'olkes aufzustellen. Die Kl;issi-
fikation uinfaüt 6 grolse Berufsabteiiungen, 25 Bcrufsgruppcn und
^) Oaft die Veicletclrang der Ergeboisse der beiden deubchen fienifnihliingen
von 1883 und 1895 unter diesem Gesichtipnnkte nicht zn bttndigen Schnitten fttbrt,
weil die Frauen- und Kinfleniheit 1895 vollständiger erfafst worden ist, habe ich
•dion froher dargetban; es sei hier aber nochmals daran erinnert
Üiyitizcü by GoOgle
274
H. Ranchberf,
207 Berufsarten. ') Die Einreiluin^ der Erwerbthätigen ist nach
ihrem jicrsönlichen Hauptberuf erfolj^t, jene der Dienenden und An-
gehörigen nach dem Hauptberuf des Dienstgebers bczw. des Er-
nährers. Die Berufsghederung umfalst also die L,'csamte Bevölkerung.
Sie kann aber, auch das wurde schon früher bcrülirt, tiirht die
feineren X'erzw eigungen der Arbcitsteihin;^ x crfolL^en, hnmcrliin
lassen die in den Zäiilj)apieren verzeichneten Berufsbnu iuunigen er-
kennen, welch aulserordeiithclie hOrtsciiritte sie von Zähking zu
Zählung gemacht hat. 1882 sind 6179 Berufsbenennungen vor-
gekommen, 1895 aber deren 10397. meisten, 2079. fallen in
die Berufsgruppe tles ötlentlichen Dienstes, an zweiter Stelle steht
mit 1464 Benennungen das Handelsgewerbe. .Am raschelten aus-
gebildet haben sie sich in der Industrie. So sind die Benennungen
in der ( iruppe Metallverarbeitung von 3C0 auf 708, in der Maschinen-
indu.strie von 335 auf 653, in der chemischen hidustrie von 182
auf 331, in der Berufsabteilung der Industrie überhaupt von 2661
auf 5506 gestiegen. Diese Zahlen /eigen zunächst, wie die h'ort-
schritte der technischen .Arbeitsteilung auf den Sprachgebrauch ein-
gewirkt haben. Kr bietet allertlings kein \ollig getreuo ."Spiegel-
bild des technischen Fortschritts. Einerseits liefert er eine gewisse
Anzahl von Synonyma, andrerseits haben noch lange nicht alle
technischen Berufsspezialitätcn sprachlichen .Ausdruck gefunden.
Aber die Mächtigkeit der Bewegung spiegelt sich darin doch zurück.
Und diese technische Entfaltung ist zugleich eine soziale, denn die
Differenzierung der Arbeitsprozesse ergreift die darin bethätigten
Menschen mit ihrer ganzen Persönlichkeit und wird dadurch zur
Berufsbildung. ') Auf diesen Prozefs wirft die Auszahlung der Be»
rufsbenennungen ein rasches Streiflicht. Er kann von der Berufs-
statistik nicht weiter verfolgt werden, weil sie die Tausende von
Berufsbenennungen in den engen Rahmen von 207 Berufsarten zu-
sammenprefst.
Das ist also die Form» in der uns die Berufsgliederung des
Deutschen Volkes von der Berufestatistik vorgeführt wird. Es ist
weniger, als wir zu einem völligen Einblick benötigen, aber mehr als
in dem knappen Rahmen dieser zusammenfassenden Darstellung unter-
gebracht werden kann. Hier gilt es zunächst einen allgemeinen
Ueberbltck zu gewinnen durch die Betrachtung der grofsen Berufs-
*) Vgl. ob«n S. 359 f.
*} B fleher, Entstehung der Volkswirtschaft. 3. Anft. S. 386, 337.
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Die Bemft* und Gewerbedhlniig im Destiebeii Reicli vom 14. Juni 189$. 27$
abteilungen und der Aendcrunj^en in ihrer Besetzung seit 1S82. Das
ist die Aufgabe der nachstellenden Uebersicht:
Berafsberölkerung Erwerbthltige im
BerafMbteilniigen *) ttberiiaapt Htuptberaf
1895
188a
»«95
1882
A. Landwirtschaft . . .
18501307
>9»54SS
8192693
8336496
B. Industri«"
«0253241
16058080
838iaao
639646$
C. Handel u. Verkehr . .
5 966 846
4531080
1 570318
D. Häusliche Dienste . ,
886 S07
938294
43249»
397 582
E. OeffentliclitT Dienst
2835014
2 222 982
I 425961
1031 147
F. Berufslose
3327069
2 246 222
2 142 808
I 354 480
zusammen .
51770 284
45 222 II j
22913083
18986494
Daraus werden die folgenden Verhältniszahlen über die Gliederung
sowohl der Gesamtbevolkerung als auch der Erwefbthatigen im
Hauptberuf, sowie über die Veränderungen seit 1882 abgeleitet:
Prozentuale Glied fr unp d^r
Berufsabteilusgen Gesamtbevölkemn^ l-'.rwrrl)thhtigen
1895
1882
««95')
1882
A. Landwirtschaft. . .
35.74
42,51
36,19
43.3^
39. »2
35.5'
36,14
33,69
C. Handel und Verkehr
11,52
iO,02
10,21
8.27
D. IfioBUelie Dienste
2,07
1,89
2,10
E. Oeflentlidier Dienst .
5.4S
4t9S
6,22
5.43
F. Berufslose ....
6,43
4.97
9.35
7.13
im gansen. .
100,00
100,00
100,00
100,00
*j Die gena.uere Beieicbnung der einzelnen lierulsabtcilungen lautet;
A. Landwirtschaft, Girtnerei and Tierzucht, Forstwirtschaft und Fischerei.
B. Beigban und Hflttenwesen, bdostrie and Banweien. ,
C Handel nnd Veriiehr.
D. IBhultche Dienste (einsdbliefslich persönliche Bedienong), Lohnaibeit
wechselnder Art
F. Armee-, Hof-. Staats-. r,, ri: inde-, Kirchendienst, freie Berafsarten.
F. Ohne Beruf und Berufbangabc.
Für (lif Folge bediene ich mich immer der obi^'en, }jekUr/ten Bezeichnungen,
ZU deren Verständis ein für allemal auf die^e Erläuterung verwiesen wird.
*) Charakteristische Abweichungen, auf welche >pät<'r mKh /.urück/.ukommen
sein wird, in der BcrufNgliederunp d-r beiden GeschlerhtT. Von ]<• 100 Frauen
haben ihren Haupterwerb in der Landwirtschaft 43,15. in d-T Industrie 23,84, von
je 100 Männern in der Landwirtschaft 33,50, in der Industrie 40,89.
Archiv für tot. GeMttgebooff «. Staüitik. XIV. 18
L^iyiii^uü Uy Google
2;6
H. Ranchberg»
Zu-
oder Abnahme seit i88a
Beruf^Ucilungen
beruf&bev
ülkerung
Erwerbtbätige
absolut
Protent
absolut
Proient
A. LandwiftadMft . . .
— 724148
— 3,77
+ 56196
+ 0.68
4- 4 195 161
26,12
-I-IM4755
+ »9.47
C Handel und Veikelir .
+ 1435766
+ 31.69
+ 768193
+ 48,9»
D. HKnsUche Dienste . .
— 5I4«7
— 5r49
+ 34909
+ 8,78
B. OeffcntUcher Dienst
-)- 612032
+ «7.53
+ 394814
+ 38,29
-f- 1080847
+48,12
+ 7883a»
+ 58,20
im ganten . .
+ 6548171
+ «4,48
+ 3927189
~+ 20,68
Maf{ man bei der Beurteilung der Ergebnisse von <ien Erwcrb-
thätigen allein oder von der Berufsbevölkerung ausgehen, also die
Dicnetiden und Angehörigen als zum Berufe des R^rhalters gehörig
mit berücksichtigen, in beiden ballen tritt als Grundzug der Ent-
wicklung die X'erstäikung der biduslric, des Handels und X'erkehrs
auf K(»sten der Landwirtschaft in der Berufsgliederung deutlich
zu I age.
Der Landwirtschaft gehören 1895 8292692 Personen nut
ihrem Hauptberuf als It^rwerbthätige an. Seit 1882 haben sie um
ein Geringes, um 56 196, zugenommen. Dagegen haben in der
Landwirtschaft seit 1882 die Dienenden um 50216, die Angehörigen
um 73*^ ^28 abgenommen, so dafs sich für die gesamte landwirt-
schaftliche Bevölkerung ein Rückgang von 724 148 Personeti oder
3,77 Prozent ergiebt. An der Berufegliederung der (iesamt-
bcvölkerung war sie 1882 mit 42,51 Prozent beteiligt, 1895 ist sie
es nur noch mit 35,74 Prozent Nicht nur Dienende und ins
Berufsleben eintretende Angehörige, sondern auch männliche Er>
werbthätige hat die Landwirtschaft an die anderen Berufsabteilungen
abgegeben, denn gegen 1882 haben die in der Landwirtschaft
hauptbtraflich thätig^en Männer um 1(12049, die männlichen Htlfe-
arbeiter sogar um 389949 abgenommen. Sie sind durch Frauen er-
setzt worden; diese letzteren haben im ganzen um 218245, die
weiblichen HiliskiiLfte speziell um 136288 zugenommen, so dafs der
Anteil der Frauen an dem landwirtschaftlichen Berufe 1882 — 1895
von 30,78 auf 33,20 Prozent gestiegen ist, an der landwirtschaft-
lichen Hilfsarbeit speziell von 38,29 auf 42,43 Prozent
Während 1882 die Landwirtschaft die stärkstbesetzte Berufe*
abteilung im Deutschen Reiche war, ist jetzt die Industrie mit
20253241 Beru6»ngehörigen, darunter 16058080 Erwerbthätigen,
an die erste Stelle getreten. Bei diesen beträgt der Zuwachs seit
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Die Berufs- und Gewcrbczähluag im DentBchen Reich vom 14. Juni 1895.
18S2 1884755 oder 29^47 Pirozent, bei jenen 4195161 oder 26,12
Prozent. Fast zwei Drittel der ganzen Volkszunahme des Deutschen
Reiches konzentrieren, sich auf die Industrie. Von je 100 Personen
der Reichsbevolkerung gehörten ihr früher 55,51, 1895 bereits 39^12
an. Noch rascher haben sich im Vergleiche zum Stande von 1882
Handel und Verkehr ent<et Hier bedeutet die für 1895 ver-
zeichnete Beru^>evolkerung von 59^^846 eine Vermehrung um
1435766 oder 31,69 Prozent. Fassen wir die drei Berufeabteilungen
der materiellen Produktion und Distribution zusammen, so entfielen
von je 100 hierher gehörigen Personen
1895 '^^2
auf die Landwirtschaft 4'. 37 48,29
auf Industrie, üandel und Verkehr . . 58,63 5I>7I
Was bedeutet diese weitgehende und in Anbetracht der Kürze
des Zeitraumes aufföllig rasche Verschiebung, welche übrigens in
fest allen Kulturstaaten wiederkehrt? Das oft wiederholte Schlag-
wort) Deutschland verwandle sich aus einem Agrikulturstaat in
einen Industriestaat, vermag ofTenbar ihre Bedeutung nicht zu er-
schöpfen, nicht einmal richtig zu bezeichnen. Die Bewegung will
tiefer verstanden sein. Sie beruht auf zwei gewaltigen Triebkräften :
zunächst auf der starken Volksvermehrung des Deutschen Reiches, ')
und dann auf der modernen technischen F\olution, die sowohl die
Entwicklung als auch den Arbeitsbedarf und die Aufnahmsiahigkeit
• der grofsen Berufszweige bestimmt. Davon hängt es ab, welche
X'olksmassen alljährlich neu ins Erwerbsleben eintreten, und welchen
Berufen sie sirh zuwenden werden.
•Nun ist die Entwicklung auf dem (icblete der I.andwii-tscli.ift
notwendigerweise eine ganz andere als auf dem Gebiete der Industrie.
Auch die Landwirtschaft hat sich intensiv und ex'tensiv fortentwickelt:
die Anbauflächen, die Krntemengcn und der spezifische Bodenertrag,
d. h. der durchschnittliche Ernteertrag einer I'Mächeneinheit sind er-
heblich gewachst-!!. -'1 wenn auch nicht ini ;^k-ichcn MmIsc wie die
Bevölkerung und der K()n>u!ii, so daK allerdings auch die Einfuhr
von landwirtschaftlichen Produkten /unininit. 1 )iesc .^tei^^erung der
Produktion bei annäliernder Konstanz der landwirtschaftlichen Arbeits-
M Vj«!. den Ab^chuitt I. (icstultunf; d.-r Volks/.ahl, S. 262.
Die Landwirtschaft im l>cut^tii< !i K' i< Ii nach der laiulwirtscbaitl. Uetricbs-
Zahlung vom 14. Juni 1S95. Matialik df> Deutschen Reichs. Neue Folge Bd. 112
S. 36.
i8*
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2/8
H. Ranehberg,
krafte bedeutet, da(s auch die Produktivität der auf die Landwirt-
Schaft verwendeten menschlichen Arbeit durch die technischen Fort-
schritte und den Einsatz von Kapital*) gesteigert worden ist Aber
die Ausdehnung der landwirtsdiafUichen Produktion ist bedingt
durch die verfügbare Bodenfläche. Umbildung der Besitzformen
und der Kulturen vermögen dem Ackerbau zwar neue Gebiete zu
erschliefsen, aber doch nur ganz allmählig, langsamer als die Be-
volkerung anwächst Bald ist eine absolut unübersteigbare Grenze
erreicht Daher ist auch die Bevölkeningskapazttat der Landwirt-
schaft enge begrenzt Durch den technischen Fortschritt wird sie
eher eingeschränkt als erweitert, denn hier wird die Arbeitsersparnb
durch Einfiihrui^ von Maschinen nicht — wie auf dem Gebiete
der Industrie — kompensiert durch die neu entstehenden oder er-
weiterten komplementären Betriebe.
Ganz anders wirkt der technische Fortschritt auf dem Ge-
biete der Industrie. Weder der Steigerung der Produktion noch
der Entfaltung der Produktivität sind Schranken gezogen und eine»
prinzipiell wenigstens, unbegrenzte Zahl von Arbeitskräften kann
eingestellt werden. Mehrfache Momente wirken zusammen, dafs
diese Möglichkeiten gerade jetzt in besonderem Mafse zur Wirklich-
keit werden. Es sind dieselben, welche unserer Zeit überhaupt die
Signatur verleihen : die gesellschaftliche Arbeitsteilung in allen ihren
Formen ist in voller Ausbildung begriffen. Ein Produktionsakt nach
dem anderen wird aus der Hauswirtschaft ausgelost und auf die .
gesellschaftliche Produktion übernommen. Immer mehr treten Ge-
werbserzeugnisse an die Stelle von Naturprodukten. Der technische
Fortschritt ermöglicht neue Güter und verfeinert die bereits be-
kannten und eingeführten. Jede neue Produktion, jeder neue Beirieb
bedingt und schafft eine ganze Reihe anderer komplementärer Pro-
duktionszweige und Betriebe. Auf der Basis der altbekannten Roh-
stoffe erhebt sich ein gewaltiger industrieller Ueberbau» der Stock-
werk auf Stockwerk türmt, »nd andrerseits emanzij)iert sirh die
Industrie immer mehr von den Rohstoffen, die sie der Landwirt-
schaft verdankt, und gräbt sie selbst aus der Erde, zieht sie in che-
mischen Prozessen aus Luft und Wasser. *) Im Vergleich zu dieser
Siebe z. B. die Zunalmie der laadwirtsdMlUidieii tbscliinen nftdi der had-
wvtoclwftlidien BetriebuShlnng.
Vgl. WernerSombart, Entwickeln wir uns snm „ExportindastriestMtc"?
Soziale Praxii, XIII. Jahrgang 1899, Nr. 34.
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Die Berufs- und Gewcrbeühlung im L)eutschen Reich vom 14. Juni 1895.
kraftvcdlen Ent<ung nimmt sidi der bedächtige Fortschritt der
Landwirtflchaft wie Stillstand aus. Ein stets wachsender Teil der
Arbeitskräfte, die sie aufeieht, strömt der Industrie zu, deren Arbeits-
nachfrage ihr unendlicb überlegen ist. Denn neue Kapitals- und Ar-
bdtszu^Ktze sind auf dem Gebiete der Landwirtschaft von sinkender,
auf dem Gebiete der Industrie von steigender Produktivität. Die Land-
wirtschaft mu(» demnadi in der Konkurrens auf dem Arbettsmarkte
notwendigerweise der Industrie gegenüber den Kürzeren ziehen, ganz
davon abgesehen, dafs diese schon durch ihre relativ freiere Arbeits-
ver&ssung beliebter ist als ländlicher Gesindedienst oder TaglöhnereL
Der Arbettsmarkt befindet sich immer in einem Zustande labilen
Gleichgewichts. Die Arbeitskräfte strömen dahin, wo ihnen bessere
Lebensbedingungen geboten werden, wo sie reicheren Anteil er-
langen oder doch erhoffen an dem Kulturbesitz der Menschheit Er
winkt ihnen auf der Seite der Industrie. Sie hat die freieren Ent-
wicklungsmöglichkeiten, für sich, wie ftir ihre Angehörigen. Und
so wendet sich denn der Volkszuwachs Deutschlands der Landwirt-
schaft ab, und der Industrie zu. Und infolgedessen auch dem Handel
und Verkehr. Die industrielle Produktion ist örtlich konzentriert
und spezialisiert. Je stärker ihr Anteil gegenüber der Landwirtschaft
an der Gesamtproduktion, desto grolser ist auch der Wirkungskreis
der distributiven Gewerbe, des Handels und des Transports. Denn
sie vermitteln nicht nur die genuMertigen Güter an die Konsu-
menten, sondern auch die Halbfabrikate an die Betriebe, die sie
weiter verarbeiten. Mit jedem Fortschritt der arbeitsteiligen Pro-
duktionsorganisation bekommen sie mehr zu thun. So erklärt es
sich, dalis die Berufeabteilung „Handel und Verkehr" noch rascher
— wenn auch natürlich in engeren Grenzen — gewachsen ist, als
die Industrie.
Industrie und Handel entwickeln also den grölseren Menschen-
bedarf und die wirksamere Arbeitsnachfrage. Ihr Bedarf über-
schreitet ihren eigenen Nachwuchs. Aber die überlegene Stellung
auf dem Arbeitsmarkte führt ihnen den Nachwuchs der Landwirt-
schaft zu. Es sind nicht eigentiich überschüssige Arbeitskräfte, die
abströmen; die Landwirtschaft bedarf ihrer gar sehr, aber sie ver-
mag sie nicht zu halten. Die Abgieichung geschieht nicht so sehr
aus den {Leihen der Erwerbthätigen als vielmehr der Familien-
angehörigen heraus, die ins Berufsleben eintreten. Die erbliche Be-
rufefolge verliert an Boden. Dabei spielt auch der Unterschied in
der Produktivität der einzelnen Berufeabteilungen mit Je produk-
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28o
H. Rkvchberg,
tiver die Bethätigung darin wirkt, eine desto grö&ere Quote von
Familienangehörigen vermögen sie zu erhalten. So kommt es, daLs
der Uebergang aus der Kategorie der Angehörigen in jene der Er-
werbthatigen in Gewerbe, Handel und Industrie langsamer,
in der Landwirtschaft aber so rasch vor sich gegangen ist, daTs
hier die Angehörigen gegen 18&2 sogar absolut, und zwar nicht
unerheblich abgenommen haben. Man betrachte nur die folgende
Aufstellung:
Es tiod Angehörige 1895 i88a 1895 1882
in der BernfiMbteilnng abtolnt unter je 100 Berufs-
Der Ausfall in der Kat^^ie der landwirtschaftlichen Familien-
angehörigen taucht — von den übrigen Berufsabteilungen voHäufig
abgesehen — wieder auf in der Kategorie der Berufethätigcii in
Industrie, Handel und Verkehr. In Verbindung damit steht die
schon mit der Gestaltung der Volkszahl besprochene örtliche Ver-
schiebung der Bevölkerung. Denn das flache Land als der haupt-
sächliche Sitz der I^ndwirtschaft hat den ungleich grölseren
Geburtenüberschufs. Seiner höheren Reproduktionskraft *) verdanken
die Städte, der Sitz der Industrie und des Gewerbes,*) ihre
rasche Entfaltung. Aber auch ftir die Produktion menschlicher
Arbeitskraft gilt das Gesetz der Statik. Die städtische Industrie
darf nicht Raubbau treiben an der Reproduktionskraft des lindes.
Eine so gewaltige Verpflanzung fertiger Arbeitskräfte ist nur möglich
und notwendig in dem Uebergangszeitalter, in dem wir leben.
Auch die Industrie mufs in sich selbst den Kreislauf des mensch-
lichen Lebens vollenden lassen und ihren Angehörigen die Lebens-
* bedingungen schaffen, in welchen der volle Einsatz der einen Gene-
ration sich in ihrer Nachkommenschaft reproduziert. Lokal be-
trachtet, ist dies das Stadtproblem, allgemein genommen, ein
gewaltiges Stück sozialer Frage.
■) Vgl. oben S. 263.
') Auf je tooo der mittleren Bevölkerung betrag 189s Gebnitenflbcndn&
in Preufsen in den Stidten i2,o, auf dem flachen Lande aber 17,3.
*) Die Berufsgliederung in Stadt «nd Land und nach Gröfsenkategoriecn der
Wohnplatze siehe weiter unten S. 305.
zugehörigen
Landwirtschaft . .
lndv:stri<" ....
Handel und l'ran&port
9833918
1 1 65 1 887
3344358
10 564046
9359054
2665311
53.^5
57t53
56.05
54.95
5S.28
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Die Brrufä- und Gewerbezählung im Deutschen Kcich vom 14. Juni 1S95. 28I
Wir sehen, die Vefschiebung der Berufegliederung in der
Richtung nach der Industrie ist nicht etwa eine isolierte, technische
Thatsache, sondern sie bedingt zugleich tie^;retfende Aenderungen
in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation des
Deutschen Volkes. Seitdem die Landwirtschaft so entschieden in
die Minorität geraten ist, geht es offenbar nicht mehr an, ihre be-
sonderen Interessen schlechtweg als gleichbedeutend anzusehen mit
dem Staatsinteresse, selbst dann, wenn sie zu den anderen Berufe-
Ständen in Gegensatz treten. Das Volksleben beruht lange nicht
mehr im gleichen Mafee wie ftüher auf der Landwirtschaft: für
Volksvermehrung und Heeresdienst, Steuerleistung und Kulturent-
feltung haben ihr gegenüber die anderen Berufe gewaltig an Be-
deutung gewonnen. Zugleich mit ihren Leistungen für Staat und
Gesellschaft mufe auch ihr Einfiufe auf den Gang der Politik und
der öffentlichen Angelegenheiten immer deutlicher hervortreten.
Trotzdem ist Deutschland doch noch weit davon entfernt ein reiner
Industriestaat zu sein. Ein Reich mit solcher Flächenausstattung und
so ausgedehnter landwirtschaftlicher Produktion kann es überhaupt
nicht werden. Einen sehr erheblichen Teil seines Nahrungsbedarfe wird
das Deutsche Reich immer selbst produzieren. Landwirtschaftliche
und gewerbliche Interessen, so gegensatzlich sie auch in ihrer ein-
seitigen Formulierung erscheinen, greifen doch vermöge ihrer sub-
jektiven Vereinigung in Haupt-, und Nebenberuf vielfech meinander
über. Und noch immer ist es, wie wir gesehen haben, die Landwirt-
schaft, welche den, über den eigenen Nachwuchs hinausgreifenden
Arbdtsbedarf der Industrie deckt
Auch retchen die Erzeugnisse der deutschen Landwirtschaft noch
immer aus, um den bei weitem gröfeeren Teil unseres Nahrungs-
mittelbedarfes zu decken. Freilich nimmt die Bevölkerung des
Deutschen Reichs rascher zu ak seine landwirtschaftliche Produktion.
Der Passivsaldo der Nahrungsbikuiz, der durch die Einfuhr aus dem
Auslande beschafft und durch den Export von Industrieprodukten
oder mit den Zinsen von im Auslande angelegten deutschen
Kapitalien bezahlt werden mufe, wachst von Jahr zu Jahr. Es fehlt
nicht an Stimmen, welche diese Gestaltung ak imerwünscht, ja ge-
fährlich bezeichnen. ') Als ob eine andere überhaupt denkbar wärel
*) K. Oldenberg, Ueber Deutiehlaiid ak IndtutriestML Verhandlimgen det
adtftcs ETM^diich-ioiialen Koncrenet. Güttnigeii 1897, S. 64 ff. Znstimneiid Ad.
Wagner, S. 116 ff., im Sinne mdner AufUinuigen dag^en Max Weber, S. 105^
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282
H. Ranclibcrg,
Wäre es besser, wenn jene Volksmassen, welche die Landwirtschaft
nicht lohnend zu beschäftigen verm^, übers Meer zogen ? Und ist
die reichere Produktivität der gewerblichen Arbeit, wodurch die
auiSstrebende Kulturentfaltung der Arbeiterklasse erst möglich ge-
worden ist, nicht dem dumpfen Dasein in den Banden der agrari-
sehen Arbeitsver&ssung vorzuziehen? Kräftige Volksvermehrung
ist aber auch aus politischen Gründen zu begrüCsen. Denn nicht
nur das wirtschaftliche, auch das politische Leben der modernen
Völker wird von mächtigen dynamischen Tendenzen beherrscht.
Von der freieren Warte säkularer Politik aus erscheint eine kräftige
und wohlständige Volksvermehrung als die Vorbedingung fiir die
Bewahrung und Befestigung nationaler fTröfsc. Sic ist einzig und
allein möglich durcii die industrielle Kntfaltiing. Die Besrhränkving
auf den Xahrungsspiclrauni der heimatlichen Scholle bedeutett- den
Verzicht auf die eine wie auf die andere. Hätten wir überhaupt
eine Wahl, so könnte sie keinen Augenblick zweifelhaft sein. Aber
wir haben keine. Die weltwirtschaftliche Stellung des Deutschen
Reichs ermöglicht seine aufstrebende Volksentfaltung und diese
letztere zwingt hinwiederum zur Befestigung der weltwirtschaftlichen
Stellung. In den wenigen Jahrzehnten seit der Aufrichtung des
Deutschen Reichs hat sich der ganze Erdball den europäischen
Kulturvölkern erschlossen. Unemiersliche (iebiete stehen ihrem
Nahrungsbedarf offen. Die internationale Produktionsteilung hat
gewaltige Fortschritte gemacht, und je sicherer und planmäfsiger
alle technischen Errungenschaften dazu verwendet werden, um die
Arbeit der alten Kulturvölker der produktivsten Richtung zuzu-
wenden, desto sicherer und ausgiebiger wird auch ihr Anteil an
den Erträgnissen jener neu erschlossenen Gebiete aus£ülen. Glückt
dies, so giebt es keine Uebervolkerungsge&hr mehr. Der Verzicht
darauf aber, die Beschrankung der Volkszahl und der nationalen
Arbeit auf den Rahmen, der durch die eigene Landwirtschaft ge-
zogen ist, bedeutete schon jetzt zugleich den Verzicht auf die
Weltmachtstellung, in Zukunft vielleicht auch auf die GroGsmacht-
stellung. Denn nur Weltmächte werden dereinst noch als GroCs-
mächte gelten.
Die Ergebnisse der Berufszählung über die Verstärkung der
Industrie, des Handels und Verkehrs zeigen, dafs die wirtschaftliche
Entwicklung des Deutschen Reiche jenen Weg eingeschlagen hat,
der allein zur Gröise nach aufsen und zur wohlständigen sozialen
Entfaltung im Innern fiihrt. Schon jetzt hat es, wie die inter-
Digitlzed by Google
Die Berufs- und Gewerbczablung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95. 283
nationale Uebersicht auf Sdte 285 erkennen lälst, nächst England den
ersten Platz unter sämtlichen Industriemächten errungen« Nichts wäre
indessen irriger wie die Annahme, als ob diese Industrie hauptsäch-
lieh Exportindustrie wäre, oder auch nur, als ob die thatsächlich
eingetretene Erweiterung der Industrie ausschliefslich dem Export
zu statten käme. Die Mehrproduktion infolge der industriellen Ent-
feltung wird nicht etwa au%ebraucht zur Deckung des vollen Be-
darf an Nahrungsmitteln aus dem Auslande, sondern es ist sicher,
dals nur eine — zifTermälsig allerdings nicht genauer bestimm-
bare — Quote ^) ins Ausland geht, während sie im übrigen der
Konsumtion im Innern zugeführt wird. Die Produktionsmengen
der Industrie sind infolge der gesteigerten Produktivität der Arbeit
und der Produktionsprozesse erheblich rascher gestiegen, als das
Betriebspersonal, die Ausfuhrwerte aber in den wichtigsten Export-
industrien langsamer, wofern sie nicht in geradezu rückläufiger Be-
wegung begriffen sind.*) Das berechtigt zu dem Schlüsse, dafs
die Ud)erleitung breiter Volksmassen von der Landwirtschaft zur
Industrie die Produktivkraft der deutschen Volkswirtschaft weit über
das Mafs hinaus erhöht hat, das zur Deckung der Unterbilanz an
Nahrungsmitteln erforderlich gewesen ist. Wir stehen vor einer
Erhöhung des gesamten wirtschaftlichen Kultumiveaus, bedingt
durch eine technisch zweckmäCsigere Aufteilung der Arbeitskräfte
und durch das entschlossene Eintreten Deutschlands als Industriemacht
in das System der internationalen, weltwirtschaftlichen Produktions-
teilung. Die Umbildung der Beru%liederung in der Richtung der
Industrie entspricht sowohl dem Produktionsinteresse der deutschen
Volkswirtschaft als der äufseren Machtstellung des Deutschen Reichs.
Derartige wirtschaf Itich-technische Fortschritte bedeuten an und für
sich noch nicht soziale Fortschritte. Aber sie ermöglichen sie.
Darum ist diese Entwicklung auch vom sozialpolitischen Stand-
punkte aus zu begrüfsen.
Was endlich noch die beiden anderen Berufsgruppen „Häusliche
Dienste und Lohnarbeit wechselnder Art" sowie „Oefientlicher
') Werner Sorobart nimmt a.a.O. an, dafs der Export in den letzten
beiden Jahndinten wn mindestens 50 Pro«, hinter der Ansdehmmg der gewerblichen
Thltigkeit in DevtscUand flberhaupt zortldEgcblieben sei.
*) Vgl. Hauptergebnisse der gewerblichen Betriebstihlung vom 14. Jnni 1895.
Ergiuang nun Ersten Heft der Vieitelsjahrshcfte nur Statistik des Dcntsdien Reichs.
1898 S. 46 ff.
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2S4
H. Rauchberg,
Dienst" anbelangt, so besteht die eratcrwälinte aus zwei völlig ver-
seil icdcncn Bestandteilen von entgegengesetzter Bewegung. Die
häuslichen Dienste haben zuj^enommen; die Lohnarbeit wechselnder
Art erscheint infoli^c der j^TÖfscren Genauigkeit der Erhebung von
1895 schwächer besetzt. Personen, die früher hierher gerechnet
worden sind, wurden nunmehr denjenigen BerufszweitTtri zugezählt,
in denen sie sich haujnsächlich bethätigen. Im ölTcntlichen Dienst
haben sämtliche Zweige infolge der Erweiterung der Staatsthätig-
keit erheblich zugenommen, am raschesten Armee und Marine,
woselbst der Zuwachs der Eingestellten 179153 Mann, d. i. 39,65
Prozent de> Standes \on 1882 beträgt.
Wesentlich anders stellt sich die Berufsgliederung dar, wenn
auch der Xebenerwerl) mit berücksichtigt wird. Davon soll später
noch ausführlicher die Rede sein. Ich möchte aber doch nicht
weiter gehen, ohne das Bild der Berufsgliederung, w^elches unter
dem Gesichtspunkte des Hauptberufs etwas einseitig erscheint,
durch eine Ueberstcht ergänzt zu haben, in welcher zu dem Haupt-
beruf auch alle Nebenerwerbsfalle der einzelnen Ben]£abtefltti^;en
hinzu gezahlt sind. Haupt- und Nebenerwerb zusammengenommen,
entfallen auf die nebenbcseichneten Berufeabteilungen
Praaeote aller Erwerbsfiülc
1895
1883
A. Lmdwktsefaaft . .
. 42,86
51,00
> 3li94
C Handel und Verkehr
. 10,44
8,29
D. HiiiHliclir Dienste
1,61
iji
F. » '-»it.'iitlichcr Dienst .
. 5.46
4.67
> 7.69
5,62
Hiemach stellt sich die Landwirtschaft erheblich stärker, jede
andere ßcrufsabteilung, insbesondere die Industrie, entsprechend
schwächer besetzt dar, als nai !i dem Hauptberuf allein. ') Der
Nebenerwerb ist das Band . welches zahlreiche gewerbliche und
Handelsberufe mit der Landwirtschaft noch immer verbindet, von
der sie durch den Prozess der Berufsbildung allmälig sich abge-
zweigt haben. Dieser Gesichtspunkt wird späterhin, bei der Er-
örterung der Nebenerwerbsverhältnisse, noch weiterhin zu ver«
folgen sein.
Bevor wir uns tiefer in die Einzelheiten der Berufsgliederung
•) Vgl. die Uebcrsicbt .S. 275-
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Die Berufs- aod Gewerbczählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S93. 285
einlassen, ist die Frage zu beantworten, wie die Gliederung des
Deutschen Volkes nach den bis jetzt unterschiedenen grofsen Be-
ruisabteilungen zur Beru&gliederung in den schon früher zur Ver-
gleichung herangezogenen Staaten sich verhält. Nachdem die ab*
soluten Zahlen über die Gewerbthätigen schon weiter oben') mit-
geteilt worden sind, genügen hier die Gliederungszahlen:
Von je 100 Erwerbtbitigen entfallen auf
f .flIlH» II
Mandel
Armee
öffentl.
P'orstw.,
und
und
und
Dienst u.
u. pera.
Er-
Fischerei
Bergbau
Verkehr^)
Marine fr.Berufc
Dienst
werb
Dcutschfs Reich .
• 37,5
37.4
10.6
2.S
3.6
6.1
3,0
Oesterreich . . .
• 64.3 ^1
21,9-1
6,4')
1.4
2,5
3.5
Ungarn ....
. 58.6
12,6 = 1
3.3
1.5")
2.1
4 9
17.0')
• 56.7
27,6
3.9
1,0
3>3
3.9
3.0
. 37.4
40,7
10,7
0,1
3.8
6,3
l.l
Frankreich . . .
. 40.0
«7.9
13.4
3.4*)
4.7
9,9
0,7»)
Belgien») . . .
. 23,9
38,3
11,6
1,7
35.6
Kiedertende . .
. 3».7
33.2
i«,3
«.3
5.9
10,1
1.5
DSnenark . . .
. «Tri
»3.9
8,3
1.0
5.3
35.8
8.7
Schweden . . .
. 54.0
»5»o
3.3
3,6
13,6
6,7
Korwc^cn • . .
. 49.6
33.9
II.7
O.S
3,0
io,s
1.8
Grofsbrit. u. Irland
. 15.1
53.7 •)
10,0
1,0
6,4
13,8
V. St. Ton Amerika 38,0
34.1
14,6
0,1
4.0
19.3 «•)
Auch bei dieser Vergleichung ist an den Einflufe formaler
Momente, insbesondere hinsichtlich der Behandlung der Frauen,
jugendlichen Familienangehörigen urtd Dienenden zu erinnern. Un-
vermeidliche Abweichungen in der Klassifikation sind in den An-
merkungen ersichtlich gemacht
Als Hauptergebnis erhellt die Stellung des Deutschen Reichs
als Industriemacht. Der Prozentsatz industrieller Berufebethatigung
>) Vgl. S. 272.
*) Einschliefslich Gast- und Scliankwirtschaft.
') Auch Torfgräberei und Gewinming tor^twirtscbaftlicher Nebenprodukte.
*) Einschlin'slich I.olinarbcit wccli^i lnihr Art.
*) Auch Kohlenbrennerei ohne Gewerbebetrieb.
*) Einschliefslich Gendarmerie.
^ HanptsSchlich Tagelöhner ohne nShere Angabe, unbekannte Berafe etc.
*) Im Dienste von Rentnern thitige Angestellte und Arbeiter.
*) Die Zahlen beziehen sich auf Berarsftile. nicht auf thJttige PerMnen.
Aach Gast* und Scfainkwirtschaft. WSsdierei, Barbiere und Arbeiter ohne
nihere Angabe.
Digitized by Google
286
H. Rftvehberg,
im Deutschen Reiche wird nur von Gro&britannien und Irland,
der Schweiz und Belgien übertroflfen. Hinsichtlich der absoluten
Zahl der gewerblich Thätigen, 8281220, überragt Deutschland alle
Staaten mit alleiniger Ausnahme von Grofsbritannien und Iriand,
hier 9025902, auch die Vereinigten Staaten mit 5478541 Gewerb-
thätigen. Hingegen ist das Deutsche Volk unter allen hier x'er-
gfichenen Grofsstaaten mit Ausnahme von England relativ am
schwächsten an der Landwirtschaft beteiligt; auch hinsichtlich der
absoluten 2^1en wird es übertroffen von Oesterreich, Italien und
den Vereinigten Staaten. Nach der Besetzung des Handels und
Verkehrs nimmt es eine Mittelstellung ein. Auf die Besetzung der
anderen Beru^btetlungen haben Verschiedenheiten der Klassi>
fikation zu grolsen Einfluls, als dais sie mit Nutzen verglichen
werden könnten.
Die Berufiiabteilungen, womit die Darstellung bis jetzt sich
befafst hat, zeigen die Beru&gUederung nur in ihren ganz allgemeinen
Zügen. Tieferes Eindringen bedingt weitere Unterscheidung nach
den einzelnen Berufsarten. Durch die Rücksicht auf den verfug*
baren Raum sind uns dabei ziemlich enge Schranken gezogen.
Ich werde nur die wichtigsten Ergebnisse herausheben können, die>
jenigen welche fiir allgemeine Entwicklungstendenzen charakteristisch
sind. Um aber doch einen besseren Einblick in das innere Gefuge
zumindest der Berufeabteilungen Landwirtschaft, Industrie, Handel
und Traiisi)ort zu ermöglichen, werden dieselben in der nach-
stehenden Tabelle in Berufsgruppen aufjg^elöst, und werden die
Verhältniszahlen über ihre Gliederung und über die Verschiebungen
seit 1882 hinzugefügt. Die Basis für die Berechnung der GUede-
rungszahlen bildet hierbei nicht, wie bisher, die Gesamtbevölkerung,
sondern die Summe der Erwerbthätigen, beziehuf^;sweise der Be-
rufszugehörigen jener drei Berufsabteilungen.
(Siebe die nebenstehende Tabelle 1
Am stärksten hcst t/.t, mit mehr als einer MilUon Erwerbthätigen,
sind — von der Landwirtschaft al^esehen — das Bekleidungs-
gewerbe, Baugewerbe und Handelsgewerbe. Ihnen stehen zunächst
die Textilindustrie, die Industrie der Xahrungs- und Genufsmittel,
sowie die Metallverarbeitung. Dafs hierbei auch die Abgrenzung
der einzelnen Gruppen mitspielt, ist selbstverständlich ; ebenso wird
auch späterhin bei der Darstellung nach ßerufsarten ihre Bildung
aus einer grölseren oder geringeren Anzahl von Beruüsbenennungen
von Belang sein. Das ist bei der Beurteilung ihres gegenseitigen
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Die Beruf»- imd Qe«r«rt)etihlung im Dmrtsdcn Rddi rom 14. Jmd 1895. 287
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388
H. Rancliberg,
Gröfsenverhältnisses zu berücksichtigten. Für die \''erschiebungen seit
1882 kommt es nicht in Betracht, weil die Subsumtion beidemal
nach den L^lciclicn Grundsätzen geschehen ist. Durch die rascheste
Zunahme, Heimlich mehr als Vcrdoppcluii;^, zeichnet sich das Vcr-
sichcrungsr:^e\verbc aus. Es folgen der Reihe nach : die chemische
Industrie. Beherbergung und Hr(]uickung, das polygraphische Gewerbe,
die Metallverarbeitung, die hidustrie der Steine und Krden. Hier
übersteigt die Zunahme der Iirwerbthätigen seit 1882 50 Prozent,
(ianz nahe tlaran reicht die Papierindustrie heran. Der grofse Aus-
tall in der (nuppe W'III ..Geuerbtreibende ohne nähere Angabe"
erklärt sich aus der gröfscren Genauigkeit der Eriicbung von 1895.
Um die DitTerenz gegen 1882 erscheinen die anderen Gewerbe
aus dieser rein formalen Ursache nunmehr höher besetzt. Ucbcr
den Stillstand bezw. Rückgang der landwirtschaftlichen Bevölkerung
ist schon früher gesprochen worden. Durch eine hinter dem Durch-
schnitt zurückbleibende Zunahme fallen aufserdem auf die Textil-
industrie, das Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe, die Forstwirt-
schaft und Fischerei.
Um auch über die Besetzung der einzelnen Beruüsarten einige
Mitteilungen zu machen, werden nachstehend, nach der Höhe ihrer
Besetzung angereiht, diejenigen angeführt, welche 1895 mehr als
eine halbe Million Berufeangehörige, also Erwerbthätige, Angehörige
und Dienende zusammengenonunen, umfafsten. Den absoluten
Zahlen über die Besetzung fuge ich den Prozentantdl an der Ge-
samtbevölkerung und (in Klammem) die prozentuale Zu- oder Ab-
nahme seit 1882 hinzu: Landwirtschaft 17 81 5 187, 34,41 Prozent
(— 4,8); Rentner und Pensionäre 2389525,4,61 Prozent (+50,0);
W aren- und Produktenhandel 2 364 51 1, 4,57 Prozent {-|- 30^9);
Maurer 1 321 188, 2,55 Prozent -j- 18,4); Stein- und Braunkohlen- etc.
Gewinnung 1078094, 2,08 I'rozent (+ 50,2); Bauuntemehmung
1 076441, 2,08 Prozent ( -h69,8); Schuhmacher I 063 721, 2,05 Pro-
zent f — 2,9); Eisenbahnbetrieb 969060, 1,87 Prozent (4 4' ^' ;
Beherbergung und Krquickung 954 S; 7, 1,84 Prozent (-f-26,2); i ischlcr
933 5^5 . ^'^^ Pro/ent (-j- 28.4 ; Schneider und Schneiderinnen
917708, 1.17 l'ro/.ent i-f- 2I,Oi; Staats- und Gemeindedienst 9OO433,
174 Prozent !-\- 2jg}; Weberei 894016, 1,73 Prozent ( — ^.g';
Armee und Kriegsflotte 736692, I.42 Prozent (4-35.9,'^ Schlosserei,
( ieldschrankfabriken 672322, 1,30 Prozent (-|- 133.O ; Erziehung
und Unterricht 628943, 1,21 Prozent f-f 19.91: Zimmerer 583 117,
1,12 Prozent (-|- 4,4); Grob-, Huf- jSchmiede 529743, 1,02 l'ro-
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Die Benift- und Gew«rbeilUiliiiig im DenUcben Reidt vom 14. Joni 1895. 289
zent (-|- 23,0); Lohnarbeit wechselnder Art 504406, 0,97 Prozent
Alle diese Berufe mit Ausnahme des letzterwähnten umfassen
also mehr als 1 Prozent der Bevölkerung.
Besonderes Interesse rufen diejenigen Berufe hervor, welche
durch ihre rasche Zunahme hcr\ orragen, dann jene, die im G^en-
satz zur allgemeinen Entwicklungstendenz zurückgegangen sind«
Es ist jedoch schwer, ein allgemeines Prinzip aufzustellen, aus welchem
diese Bewegung zu erklären wäre. Nahe liegt es. sie mit der
verschiedenen Expansion-^fähigkeit unserer Bcflürfnissc und der
wachsenden Intensität ihrer Hefric(hgung in X'erhiiuhing /.u bringen.
Dadurrh wird gewil's che Entfahung der I'r(xUikli<ni sell)Sl in ent-
scheidender Weise beeinflufst. Aber die Zahl der Krwerbthätigen
und vollends der Berufszugeiiörigen nnils nicht notwendigerweise
in <ierselben Kiehtung und im gleichen Mafse sich \erändern, wegen
der durch den technischen Fortschritt bewirkten Erhöhung der
lVodukti\ ität ihrer Leistungen. Auch wird der Zusammenhang
zwischen Volksl)e(iürfnis, X'olksproduktioii und Berufsgliederung ge-
stört durch den Aursenhaiulel. welcher die Produktion der Export-
industrien, die den inländischen Absatz uberragt, zur Deckung des
Bedarfs an Waren verwendet, die im Inlande nicht oder nicht in
genügendem Mafse hergestellt werden. Doch sehen wir die ZifTera
Die folgenden 25 Bent&arten haben seit 1882 ihre Angehörigen
um mehr als 75 Prozent vermehrt Ich iuhre sie in der Reihen*
folge des systematischen Verzeichnisses und mit den Nummern
derselben versehen an:
(- 18,6).
selbst I
Aniahl der Zunahme der
BenifsxDgehörigen Bcnifxngeböricen
Bcraftartrn
1895
absolut in Proz.
A 2 Kunst und HandelsgirUicrei . . . .
B 8 Frinc Stt'inwarrn
B <> Ki»•^-, Sand-, Kalkj^rwinming etc. . .
B 18 Sicgclgl.i>- und SpicKcHabrikcn . . .
B 26 Sonstige Verarbeitung unedler Metalle .
B 30 EiMügiefiem
B 38 Schlonerei
B 55 Verf. pbjrsUuü. v. chinirgiscber Apparate
B 56 Laupcnfitbrikcn
B 58 Chenüsdie Priparate
248227 "4 537 85.67
22727 10005 78,64
137 iSi 71 452 loS,7i
18065 IÜ069 1-5,93
146296 72349 97i84
210920 IM 496 113,I4
672322 3S3765 »3«.99
93313 53428 128,23
11823 5971 I02P3
112 717 54359 93iiS
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390
H. Rftuchberg,
Anzahl der
Zunah
me d«*r
Berufszugebörigen
Beruf szxigehorigen
Berufsarten
189s
Mit
1882
«beohit
inFroK.
55««
24955
82,46
45990
«3883
"1.57
3*346
16841
108,62
B 69 Zubereitung von SpimutoflTen ....
33 199
15418
86,71
33856
15498
89,28
B 109 Rübenzuckerfabriken
96822
42 586
78,52
B 1 10 Andere vepetahilischc Nahrungsmittel .
47916
21 264
79.7S
B Ii2 Andere animalische Nahrungsriiitt-'l .
41 711
22 1 79
"3-55
B 113 Wasserw erke, Mincralwasscrfabriken . .
2S433
13788
94.15
16444
10679
185,24
B 148 Gas- und WasseriastallatMire ....
«4587
17196
232,66
71252
43371
155.56
69664
35546
104,19
F 3 Schiller etc., ntcbt bei den Angehörigen
414959
269483
1S5.H
F 6 InwKffn von Siechen*' und Inenuiitaken
81 750
38037
87,0«
Die Vermehrung in der Berufsart F 3 ist, wie bereits früher
einmal angedeutet, zum Teil darauf zurückzufuhren, da(s die Zieh-
und Haltekinder jetzt hier mitgezählt sind; zweifellos hat aber auch
thatsächlich infolge der Fortschritte sowohl des BUdungswesens
als auch der Verkehrsanstalten die Zahl der Schüler aulserhalb des
Elternhauses stark zugenommen. Im übrigen aber haben wir hier
gewife verlälsliche Anhaltspunkte dafiir, nach welcher Richtung hin
die volkswirtschaftliche Thäti|^eit des deutschen Volkes in raschester
Entdaltung begriffen ist. Und es ist kein Zufall, wenn Berufsarten
der Metallverarbeitung und der chemischen Industrie hierbei oben-
an stehen, denn sie sind es, die den anderen Berufszweigen jene
machtigen Produkttonsbehelfe liefern, die ihre Leistungsfälligkeit so
gewaltig erhöht haben. Die hier hervorgehobene Aenderung in
der Berufegliederung stellt sich, unter dem Gesichtspunkte der ge-
sellschaftlichen Arbeitsteilung betrachtet, als Arbeitsverschiebung
im Sinne Carl Büchers dar.*) Verhaltnismaisig weniger Hände
sind nunmehr damit beschäftigt, zum Genufs unmittelbar bereite
Güter zu produzieren, aber mehr Hände, um die Hil&mittel jener
Produktion herzustellen. Eine neue Arbeitsorganisation der \'olks-
*) Vgl. auch die Darstellung nach Berufsgruppen S. 2S7. Zunabme bei der
Metallverarbeitung <j3,04 Pro/., in der themischcn Industrie 78,73 Proz.
Entstehung der Volkswirtschaft. 2. AuH. S. 289.
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Die Benils- nnd GewerbetSblu^g im DcttUchea Reich vom 14. Jidü 1895. 291
wiitschaltHchen Produktion ist geschafTen, die einen gröfiseren
Teil der gesamten Arbeitsleistung in frühere Arbeitsstadien verlegt,
indem sie ihn der Herstellui^ von Produktionsmitteln zuwendet
Die in diesen letzteren angehäufte, gleichsam vorgethane Arbeit
steigert die 'Produktivität der auf die Herstellung von Gebrauchs-
gütem verwendeten Arbeit so sehr, da(s die Produktivität des
gesamten P^uktionsprozesses nunmehr eine höhere ist. Die
Theorie Böhm-Bawerks von der gröfseren Ergiebigkeit der
Jangeren Produktionsumwege",') die er erst neulich in einer glän-
zenden Abhandlung verteidigt hat, *) findet in den von mir hervor-
gehobenen Verschiebungen der Berufegliederung eine eklatante
empirische Bestätigung. Denn was hätte jene Verschiebungen
hervorgerufen, wenn nicht ihre technische Zweckmäßigkeit, die da-
durch bewirkte Steigerung der Produktivität der Arbeit?
Von den 205 Beruisarten, welche die deutsche Benifsstatistik
unterscheidet, haben 182 ihre Berufszugehdrigen vermehrt, und nur
25 sind darin zurückgegangen. Es sind dies die folgenden:
Aaahl der
Abnahme seit
Berafsarten
Bemfta^hörigen
1882
1895
absolut
in Pros.
A
17815187
888851
4.75
A
33690
836
2,4a
B
17710
3987
18,38
B
84 654
1 5 306
15.3»
B
36 Stifte-, Ketten-, Schraul>«-nfiil>rik.uiuu .
50 303
6301
",13
B
4821
1 202
20,75
B
64 Köhlerei, HolzteerfftbrilMtioii etc. . .
4325
1 624
27.30
B
1039388 .
64779
5.«7
B
61 164
3657
5.64
B
437««
6097
12,22
B
153632
7.7a
B
98 sonstige Flechtcrei von Stroh etc. . .
24647
8004
34>Si
B
277827
53 307
16,10
B
116 Ifranntwfinbrennerei
6:483
I 102
1.79
B
^ 5 • <>c6
28 661
7.47
B
1003721
33025
3,02
Kapital- und Kapitalzins II. Bd. S. 16 fl*. Böhm-Bawerki „längere Pro-
daktioofamwege'* und Bliche rs „Arbeitsverschiebung" bezeichnen dieselbe Thatsache.
Die dtierten Werke enthalten keine Andentnng dieser Uebereinrtimmnng.
*) Einige strittige Fragen der Kapitalstheorie. Zeitschriit f. Volkswirtschaft.
Sosialpolitik nnd Verwaltnng. VIII. Bd. S. 105 AT.
Archiv fiir tot. GcMUgcbuiif 11. Sutiitik. XIV. 19
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2^2
H. Kauchberg,
Anaahl der
Aboaliii
ae Kit
Beroftarten
Beruftsugehörigen
1882
1895
aijsoiui
in Proi,
B
1^)1 F.ihrik.int<*n <-tc. ohne nähere Angab«
76748
•5° 43/
67.37
C
93437
45966
3 '49
C
16 Rhederei umJ SchifisbctrachtuHg . .
10015
7503
42.»:)
C
17 See- und Küstenschiffahrt ....
5054«
16697
24.83
c
50080
9398
15.80
D
3 Arbeiten wediselnder Art ....
504406
115116
18.58
F
2 Von Unterstatning Lebende ....
148535
1058s
4.08
F
7 Imawin Ton Stnfiuistalten ....
61156
7913
11.44
F
38596
17 481
31.17
Verschiedene Ursachen spielen dabei mit Die grossere Genauig*
keit der Berufserhebung hat die Positionen B 161 „Fabrikanten, Fabrik-
arbeiter etc. ohne nähere Angabe" D 2 „Arbeiten wechselnder Art^,
sowie F 8 „ohne Berufeangabe" stark herabgemindert« vieUeicht auch
C20 „Dienstmänner» Boten". Näherinnen, B 120, wurden jetzt auf Grund
genauerer Berufeangabe in höherem MaCse mit zur Schneiderei, Kleider-
undWäschekonfektion gezählt. Nimmt man diese 3 Berulsarten zu-
sammen, so ergiebt sich kein Riid^ang, sondern ein Zuwachs von 13,9
Prozent, beim weiblichen Geschlecht von 14,9 Prozent. Die Schif-
ahrt, C 17, erscheint wohl nur deswegen schwächer besetzt, weil die
auf hoher See befindlichen Schiffer 1895, dem Prinzip der Ortsanwesen-
heit zufolge, konsequenter ausgeschieden worden sind als 1882. Der
Hausierhandel ist durch Verwaltungsmafsregeln zurüd^^edrängt worden.
An Stelle von Almosenempfangem erscheinen nunmehr Rentner
derlnvaliditäts- und Altersversicherung. Der RUckgaog der Landwirt-
schaft ist bereits erörtert Er fallt übrigens zum Teil mit unter
den Gesichtspunkt der Arbeitsverschiebung, insofern er nämlich
durch arbeitsersparende Maschinen und Verrichtungen bei gleich-
zeitiger Steigerung der Ernteerträge ermöglicht worden ist. Ganz
fiadlen darunter die Berufsarten, deren handwerksmälsige Organisation
durch das Aufkommen von Grofs- und Maschinenbetrieben bedroht oder
beeinträchtigt wird Nicht nur die hier angeführten rückläufigen Berufe-
arten, sondern auch eine Reihe von anderen gehören hierher, bei
welchen die Zunahme der Berufethätigen und Angehörigen hinter
jener der Gesamtbevölkerung mehr oder weniger zurückgeblieben
ist. Doch sind die Materialien der Berufisstatistik weder geeignet
noch auch dazu bestimmt, diese Frage gründlich zu beleuchten.
Dafür haben wir die Gewerbestatistik. Denn die Umformung der
Betriebe und ihrer Technik vermindert nicht notwendigerweise die
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Die Berufs« and Gcwerbexähltmg im Dentachen Reich Tom 14. Juni 1895. 293
Zahl der Kruerbthätigen. Die dadurch ^estei}:jerte Leistuii^-
fahigkeit kann mit dem Absatz auch das Personal über den
früheren Stand hinaus erhöhen. Riols wenn diese Kompensation
nicht möglich, oder, weil der l'mbiUluiii^sprozers erst im Zuge, noch
nicht eingetreten ist, kommt es zum Rückgange. ') Aber liarüber
soll uns, wie bereits bemerkt, späterhin die gewerbliche Betriebs-
statistik belehren.
Die Klassifizierung der Berufe nach den einzelnen Zweigen der
volkswirtschaftlichen Produktion und Distribution bringt es mit
sich, dafs gewisse individuelle Berufsspezialitäten, welche in den
verschiedensten Branchen vorkommen, wie Ingenieure, Chemiker,
Buchhalter, Geschäftsreisende, Maschinisten, Kutscher u. s. w. als solche
verschwinden, indem die Personen, welche derartige Einträge
machten, jenen Grewerbc- oder Handelszweigen zugerechnet wurden,
in denen sie sich bethätigen. Da aber daneben doch auch ein ge-
wisses' Interesse daran besteht, die Besetzung dieser Berufe-
Spezialitäten kennen zu lernen, so wurden die einschlägigen Angaben
besonders ausgezählt Das Ergebnis war das folgende:
Berufe im
ganzen
L^enieore, Techniker . . . 35650
Cbemilwr 3 003
Boclnlter etc.. Kainerer . . 71 14a
Gcsch&ft>- iLHandlmganisende 33 357
Schreiber etc., Kopisten . . 41 501
Maschinisten, Heizer ... 41 623
Fährleute, Kutscher .... 105 836
davon beschäftigt in
Landwirt-
In-
Handel u.
lrci<n
schaft
dustrie
Verkehr
Berufen
36
25 439
15a
23
6
2974
16
7
1277
30313
37909
1643
5
7613
3567a
68
386
14704
4017
33494
380
33660
6 888
69s
3306
39303
69875
«353
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dals diese Zift'ern hinter
der Wirklichkeit mehr oder weniger zurückbleiben. Zunäclist sind
die bei Staats- und ( lemeindebehördcn und in deren Betrieben be-
schäftigten Personen prinzipiell nicht einlx'zogcn worden. Dann
wurden nur jene Personen liierher gerechnet, welche sieh in den
Zählpapieren ausdrücklich eine der oben aiiL^fcführten Hcrufs-
spezialitäten, und zwar mit einem der angegebenen Ausdrücke, bei-
gelegft hatten. Dazu fühlten sich aber durchaus niciit alle hierher
Untersuchungen aber dii Lage des Handwerks in Deatacfaland. P a ul V o i g t ,
Das deutsche fbodw^k nach den Bentfserhebangen von 1883 und 1895. Schriften
des Vemias f. Sonalpolitik LXX. & 631 ff.
19»
Digitized by Google
294
H. Rftmchberg,
gehörigen Personen veranlalst Ein Fabriksingenieur kann ach
ebenso gut als Abteilungsvorstand, technischer Leiter etc^ ein
Buchhalter als Kontorist etc. bezeichnen. Ebenso wie die Wahl
der Ausdrucke mufe demnach auch das Ergebnis der Zusanunen-
Stellung ab ein mehr oder weniger züfiilliges bezeichnet werden.
Ihr statistischer Wert ist ein geringer, i Kr besteht darin, da& iiir
jenen Ausschnitt aus den genannten Berufen, der auf solche Weise
erfiEi(st werden konnte, auch die Alters- und Familienstandsgliederung
sich ergab, deren innere Struktur vielleicht iiir die Gesamtheit der
Personen in gleicher Lage zutrifft.
Anders verhält es sich mit zwei anderen Beni^pezialitaten,
die gleichfalls verschiedene Gewerbe- und Handelszweige durch-
setzen, mit den Hausindustriellen und Hausierern. Diese sind durch
eigene Zusatzfiragen ermittelt worden. Da jedoch jene Besonder^
heiten der Betriebsweise zugleich von Belang fiir di6 soziale
Klassenzugehörigkeit sind, sollen die einschlägigen Ergebnisse erst
Spaterhin im Zusammenhang mit der sozialen Schichtung erörtert
werden.
IV. Die geographii^clie (ie staltung der Berufs-
gliederung.
Das Deutsche Reich schliefst die verschiedenartigsten Gebiete zu
einem einheitlichen Ganzen zusammen. Das gilt auch von seiner Be>
rufegliederung. Sie ist in den einzelnen Gebietsabschnitten überaus
mannigfach gestaltet. Diese zunächst rein geographische Thatsache
ist wirtschafUich und sozialpolitisch so wichtig, dafs sie eines der
konstitutiven Elemente unseres Volkslebens bildet und vom Volks-
bewufstsein als solche auch empfunden wird. So drücken Ost- und
Westelbien, eigentlich geographische Begriffe, zugleich Wirtschaft-
Uche und soziale Gegensätze aus. Eine eindringendere Untersuchung
über die örtliche Verteilung der einzelnen Berufe und über das
berufliche Gepräge der einzelnen Gebietsabschnitte würde daher
sehr wohl in den Rahmen meiner Aufgabe fallen. Allein sie ist
oline den gro(sen Apparat tabellarischer und kartographischer
Behelfe, wie sie dem Quellenwerk zur Verfügung stehen, kaum
durchführbar. Ich beschränke mich daher in dieser Hinsicht
darauf, die nachstehende Tabelle, welche eine gute allgemeine
Orientierung ermöglicht, mit einigen Erweiterungen aus dem
Zählungswerke zu übernehmen, um daraus einige Bemerkungen all-
Digitized by Google
Die Berufs* und Gewerbezäh lang im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95. 295
•
gemeiner Natur abzuleiten. In ihren ersten 3 Spalten weist diese
Tabelle (ur die einzelnen Staaten und Landesteile den Anteil jeder
der 3 grolSien Benifsabteilungen Landwirtschaft, Industrie, Handel
und Verkehr an der Gesamtbevölkerung im Jahre 1895
Sodann wird das Verhältnis der landwirtschaftlichen zur gewerb-
lichen und handeltreibenden Bevölkerung för die Jahre 1895 und
1882 berechnet. In den letzten 3 Spalten sind die Gebiets*
abschnitte mit Ordnungsnummern versehen: 1. nach der Verteilui^
der gewerblichen und Handelsbevölkerung, 2. nach der Volks«
dichtigkeit und 3. nach dem Anteil der städtischen Bevölkerung,
um dadurd) einen Einblick in den inneren Zusammenhalt dieser
3 Reihen von statistischen Thatsachen zu erzielen.
(Siehe die umstehende Tabelle.)
Nur 6 von den hier unterschiedenen 39 Gebietsabschnitten
sind es noch, in denen die gröfsere Hälfte der Bevölkerung von
der Landwirtschaft lebt: } lohen/.nllern, Posen, Ostpreufsen,
W'estpreufsen, Waldeck und Poniniern. Die absolute Majorität der
Be\ < >lkei uuL,' i^^ehört der Industrie an in: F^eufs ä. I.., Reufs j. L.,
Königreich Sachsen, Berlin, Westfalen, Rheinland und Sachsen-
Altcnburg. Handel und X'^erkehr vermögen selbstverständlich
nirgends so beträchtliche Teile der Bevölkerung für sich in Anspruch
zu nehmen; sie sind am stärksten vertreten in den 3 Hansestaaten,
in Berlin und in Schleswig-Holstein, das vermöge seiner Küstenlage
für den Seeverkehr ganz besonders begünstigt erscheint. Hinsicht-
lich des weiteren X'erlauts der Reihen darf ich auf die nachstehende
Tabelle selbst verweisen. Sie zeigt ferner, dafs, wie im Reichs-
durchschnitte, auch in allen einzelnen hier unterschiedenen Staaten
und Landesteilen seit 1882 die Vertretung der Landwirtschaft ge-
sunken, jene von Industrie, Handel und Verkehr gestiegen ist,
mit alleiniger Ausnahme der Industrie in dem kleinen Hohenzollem.
Die letzten drei Spalten unserer Tabelle deuten auf den Zu-
sammenhang hin zwischen der Berufsgliederung einerseits und der
Volksdichtigkeit, sowie dem Anhäufungsverhaltnis der Bevölkerung
in städtischen Wohnplätzen (Agglomeration) andrerseits. Dals
Industrie und Handel die dichtere Bevölkerung hervorrufen und
dieselbe in städtischen Siedelungen zusammen&ssen, gehört zu den
elementaren Thatsachen der Wirtschaftsgeschichte und -Geographie.
Wir finden sie sowohl auf den obersten als auch auf den untersten
Stufen unserer Reihen bestätigt Höchster Dichtigkeit und Agglo-
meration der Bevölkerung in Berlin, den 3 Hansestaaten, dem
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296
H. Ravchberg,
Von je tooo Ein-
Von 1000 zu den Berufs-
Nummer in
der Reihen-
folge nach
wohnern llberfc.
abteilungen A, B n. C
entfallen auf die
gehörenden Personen
Staaten
BerufsabteUung
kommen auf
und
C
1
A J B n. C
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Wirt-
Indu.
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dcl U.
Landwirt» |l Industrie
et 2 0
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1
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im Jahre 1895
189s 1 iSBa H 1895 1 1W3
in Jahre 1
k-
Prov. Ostpretilscil
59«t»
186,0
69.8
698,0
1
737,1 302,0 262.9
38
37
Wf tpfeuften . .
560,0
216,4
76,3
656,7 691,8 343.3 308.2
36
33
33
Sudt Berlin ....
5.5
435.4 255,5
6.9
9,7, 993,1 990,3
1
1
Fror. Brandenbiirg . .
377,8| 114,3
411,9 512,1 588,1 487,9
21 * 28
12
PomincfB • •
502.2
100.')
585,8
629,8 414,2 370.2
35
37
28
„ Posen ....
593,8 206,8,
73.8
679.11
728.1 320,9 271.9
37
31
35
.„ Schienen . . .
373.S
400,0
93,9
430,8
506,9 569,2 403.1
23
19
22
„ Sachsrn ...
43 '-3
117,3
368.0'
425,2 632,0 574.8
17
20
13
» Schlesw.-ilolstein.
364,5
.■)• .iij
141,2
439,7
513.2 560,3 48Ü.8
25
29
14
tt Hannover
438,8
334,5
113,8
488,9
560,0 5 ii.i 440.0
20
30
29
„ Weitfiden . . .
261,8
533.6
99,4
292,6
■386,7 '707,4 613,3
9
1 1
7
„ HcsteD*Namu . .
342,4
377,0
133-3
401.5
463,2 598,5 536,8
18
18
18
RhenUml
244,2
514.7
124,7
276,4
348,0 723,6 652.0
8
1
^
HohenzoUera ....
647,3
201,5
56,5;
7K,o
675.1 285,0 324,9
39
32
39
458,1
j 310.4
97.7
528.9
581,7 471,1,418.3
31
27
31
150,6
580,4
140,0
172.9
226,5 827,1 773.5
6
S
8
Wttrttenbcig ....
4^o.^
349.5
70,6
512.3
535,7 487.7 464,3
29
21
35
424,1
347,9
99,5
486,6
547,5 513,4 452,5
27
15
17
360,3 382,0
119,6
418,1
468,4 581,9 531,6
22
10
16
M«*rkl( nbiirg-Schwerin .
487,4
257,4
96,5
579,3
621,8 420,7 378,2
33
38
23
Sachsen- Weimar . . .
379.61 389,1
95.2
439,4
563.0
493,5 560,6 506,5
24
25
26
Mecklenborg -Strelits . .
480,1-274.3
98.4
603,6 437,0 396.4
32
39
»7
463,1
321,8
108,0
518.7
579.0 48 1.3 421.0
30
34
6
Braoniicbweig ....
287,8, 453.7
314,41496,1
120,8
333.8
393,5 066.2 606,5
12
14
»5
Sachsen-Mefaiin^en . .
86.3
350.5
399.9 649,5 600.1
14
24
30
Sachscn-Altenburfj
273,9
512,1
101,5
308,6
304. (> 601,4 605.4
1 1
9
20
SachscD-Koburg-Gotha .
303.6,475.»
100,7
345,2
394,9 654,8 005,1
13
17
2t
261,1
1 472,2 127,7
303 3
377.9 696,7 622,1
to
12
9
1 1 n ii 1 /iL/UI l;'*r'WUUv I Till • .
35«, 7
42Q,Q
01,0
403, 1
462.6 506.0 537.4
19
26
24
Schwarzburg • Rudolstadt
323,4 498,9
81,3
35i>-o
1 406,0 642,0 504.0
15
23
32
510,3
290,4
79.8
579,3
608,0 420,7 392.0
34
35
38
Rcufs .Hltcrrr Linie . .
'53-3
677,0
97.0
165,3
1236,3 834.7 763.7
5
6
10
Kculs jüngerer Linie
200,2
.590.7
i 109,1
224,4: 300,9 777,6 699,1
366,8:427,9 633,2 57«, I
7
8
11
Sdianmbarg'Lippe . .
315,7 461.3
83.7
16
13
36
371,1
467.5
69,5
408.7 468.3 501.3 531.7
20
22
34
Lübeck
1*3.4 396,2
, 253,8
143,01 189,4 ü57,o 810,6
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60,81 467,9
304.4
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1 89,4.927,1 910,6
3
3
3
36,5 399,8
377,8
44,9
50.5 055.1 040. s;
2
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Elsal>-Lothnii{,'fii . . .
379,6. 373,1
, 96,4
447-0| 477,7, 553,o 522,3
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Deutsches Reich . .
1 357,4j 391,2. 1 15,3| 4l3,7| 4«*,9j, S«6,3| 5i7,i| —
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Die Berufs- und Gewerbesfthlung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895.
Kön^reich Sachsen, dem Rheinland, West&len, Reu(s ä. und
j. L. u. s. w. entspricht durchaus eine den Reichsdurchschnitt weit
ifcenageude Vertretung der industriellen und kommerziellen Be-
völkerung und eine entsprechend geringe der landwirtschaftlichen.
Ebenso zeigen Ostpreulsen, Westpreu&en, Pommern, Posen u. s. w.
wie beträchtlich die landwirtschaftliche Bevölkerung über die ge-
werbliche und handelstreibende bei dünner Besiedelung überwiegt
Aber es besteht ebensowenig ein mechanisch wirkender Gegensatz
zwischen der Volksdichtigkeit und der relativen Besetzung der
Landwirtschaft, als etwa ein unbedingter Parallelismus in der rela-
tiven Ent<ung von Industrie und Handel und der Besiedelung
anzunehmen wäre. Das bestätigen z. B. Württemberg, Baden und
Hessen, woselbst sich sowohl die Bevolkerungsdichtigkeit als auch
die Vertretung der Landwirtschaft weit über den Reichsdurchschnitt
erheben, während die relative Vertretung von Industrie und Handel
— trotz ihrer, absolut genommen, sehr ansehnlichen Entwicklung
— ebensosehr dagegen zurückbleibt
Wir müssen also tiefer auf den Grund gehen, um den Zu-
sammenhang richtig zu erkennen. Den Ausgangspunkt ftir unsere
Untersuchung bildet die Thatsache, da(s die Landwirtschaft das Ver-
hältnis zwischen Boden und Besiedelung viel strenger bedingt als
die meisten anderen Berufe. Sie ist der Typus des bodenständigen
Gewerbes. Die spezifisch landwirtschaftliche Bevölkerung ist das
Produkt von Agrauverfassung und Bodenbeschaifenheit Die Frei-
heit der Entschließung spielt hier liir die Berufszugehörigkeit und
die örtliche Verteilung eine geringere Rolle als in den anderen
wirtschaftlichen Berufen. Besser gesagt: bei diesen letzteren giebt
CS eine gröfsere Mannig<igkeit der Motive für Berufswahl, Nieder-
lassung und Familiengründung, woraus schlieislich die örtliche Ver-
teilung der Bevölkerung resultiert. Von einigen — gleich der
Landwirtschaft bodenständigen — Industrien abgesehen, sind Ge-
werbe und Handel freier, oder vielmehr mannig&cher determiniert
in der Wahl ihrer Standorte, in der örtlichen Konzentration, kurz
in ihrer besonderen geographischen Gestaltung. Wir werden also
die beiden Hauptzweige der Berufsthätigkeit: Landwirtschaft einer-
seits, Gewerbe und Handel andrerseits, in ihrem Einflüsse auf die
Volksdichtigkeit zunächst abgesondert zu untersuchen haben.
Die örtliche Verteilung der landwirtschafUichen Bevölkerung
kann weder nach ihrem Verhältnisse zu den anderen Berufen noch
zur gesamten Bodenfläche, sondern nur nach ihrem Verhältnisse zur
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298
H. Raachberg,
landwirtschaftlich benutzten Fläche richtijr beurteilt werden. Hierfür
enthält der Rand über die Ergebnisse der landwirtschaftlichen
triebszählung die erforderlichen rntorla^en.*) Auf je 100 Hektar
landwirtschaftlicher Fläche entfielen 1895 54,79. 1882 aber noch
58,69 dem Hauptberufe nach der Landwirtsrhaft zugehörige Per-
sonen. Die spezifische Dichtigkeit der landwirtschaftlichen Be-
völkerung hat also abgenommen ; wie wir bereits wissen, hauptsäch-
lich infolge des I/cbertritts aus der Kategorie der Familien-
angehörigen in andere Berufe. Die nähere Betrachtung der
spezitischen 1 )ichtigkL'it der landwirtschaftlichen Bevölkerung ergiebt
nun, dals ihre Schwankungen keineswcgN mit der \'crtrotung der
Landwirtscliaft unter der ( iesamtbevölkerung übereinstimmen, was
man von \ nrnherein vielleicht erwarten möchte. Im ( icgenteil. wäh-
rend es die ostelbischen preulsischen Provinzen sind, deren Bcrufsauflxiu
auf breitester agrarischer Basis beruht, bleibt die s])ezifiM'he Dichtig-
keit der landwirtschaftlichen Bevölkerung daselbst erheblich hinter
dem Keiehsdurchschnitt zuriiek, den sie im industriellen Westen,
insbesondere im Rheniland, der Pfalz, in Baden, Hessen, Klsals-
Lothringen und Württemberg um ein Bedeutendes überragt, in
Gebieten also, die sich überhaupt durch dichte Bevölkerung aus-
zeichnen. Dichte landwirtschaftliche Bevölkerung und hohe industrielle
Entfaltung stehen einander keineswegs im Wege, s(Midern bahnen ge-
meinsam eine höhere Entwicklungsstufe an. So wird die spezifische
Dichtigkeit der landwirtschaftlichen Bevölkerung zu einem konsti>
tutiven Elemente der allgemeinen Volksdichtigkeit, wie denn auch
die geographische Gestaltung beider bis zu einem gewissen
Grade übereinstimmt. Nicht völlig, denn die Schwankungen der
allgemeinen Dichtigkeit sind viel beträchtlicher wegen der stärkeren
örtlichen Konzentration der anderen Berufe. Die technischen Be-
dingungen der Landwirtschaft bedingen eine gleichmäfsigere Aus-
teilung ihrer Bevölkerung. Aber sie gelangen nirgends rein zum
Ausdruck, denn die sozialen Elemente der Agrarverfiissung machen
sich dabei übermächtig geltend.
l^m den Rijiflufs der .Agrarverfassung auf die Stellung und Ver-
breitung der landwirtschaftlichen Bevölkerung klar zu legen, habe
ich in der nachstehenden l'ebersicht diejenigen gröfseren Ver-
waltungsgebiete hervorgehoben, welche sich dun h die gröfste und
durch die kleinste Durchschnittsfläche der landwirtschaftlichen Be-
') StAtUtik des Deutschen Reichs. Neue Folge. Band iia.
iJiyilizeQ by VoüOgle
Die Berufs- cmd GewerbedLUung im Deotschen Reich Tom 14. Juni 1S95. 299
triebe auszeichnen. Die Zwergbetriebe von unter i ha sind dabei,
um das Bild nicht zu trüben, ausgeschieden worden. Die Landes-
teile mit überwiegendem Grofsbetrieb sind nach den Durchschnitts-
flachen der Betriebe in fallender, die Landesteile mit überwiegendem
Kleinbetrieb in steigender Reihe angeordnet Die Durchschnitts-
gröfse der Betriebe ist gewifs kein erschöpfender Ausdruck för die
Agrarverlassung. Aber sie fafet doch die grundlegenden Verhält-
nisse knapp und plastisch zusammen und entfernt sich nicht allzu-
sehr von den thatsächlichen Eigentumsverhältnissen. >) Ueber diese
letzteren besitzen wir keine Nachrichten för das Reich im ganzen, ^
so dafs wir hier eben auf die Ergebnisse der Betriebszählung an-
gewiesen bleiben. Zu den Betriebsgröfsen werden fernerhin die
charakteristischen Zahlen über die relative Vertretung und die
spezifische Dichtigkeit der landwirtschaftlichen Bevölkerung, über
die allgemeine Volksdichtigkeit und über die prozentuale Volks-
zunahme seit 1892 hinzugefögt:
(Siehe die umstehende Tabelle.)
Gleich auf den ersten Blick entnehmen wir, dals die spezifische
Dicht^keit der landwirtschaftlichen Bevölkerung und weiterhin die
allgemeine Dichtigkeit in den beiden Hälften unserer Uebersicht
im enti^cgeiigesetzten Verhältnisse zu einander stehen. Hohe Durch-
schnitte der landwirtschaftlichen Betriebsfläche bedingen dünne Be-
völkerung, kleine Betriebseinheiten ermöglichen hohe Bevölkerung.
Die Rc^'clmäfsigkeit des Verlaufe schlagt selbst innerhalb jeder der
beiden Gruppen durch. Der kulturelle Ueberbau in der Form an-
derer Berufe, welcher durch die Differenz zwischen der spezifisch
agrarischen und der allgemeinen Dichtigkeit gekennzeichnet wird,
erhebt sich viel höher in der zweiten Gruppe: auch er steht im
umgekehrten Verhältnisse zur Grröfse der landwirtschaftlichen Betriebe.
Dabei ist auch in dieser Gruppe die Zunahme seit 1882 durchaus in
mälsigen Grenzen geblieben; sie hat den Reichsdurchschnitt nur in 2
von den unter II. angeführten Landesteilen, und auch hier nicht er-
heblich überschritten, wogegen sie in der Abteilung I zumeist in sehr
auffälliger Weise zurückgeblieben ist Diese zeigt also im allgemeinen
*) Vgl. Landwiitschaftsband S. ti u. S. 16.
*) Ftlr Prettfsen: A. Meilsen, Der Boden und die landwirtschaftlichen
VeihUtnisse des preufsischen Staats Bd. V. Berlin 1894. Das dort enthaltene Mate-
rial hat Kollmann a. a. O. S. 103 verarbeitet
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300
H. Rauebberg,
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Die Berufe* imd Gewerbeillilang im Deatsdicn Rädi vom 14. Juni 1895. 30 1
ein Bild stagnierender Bevölkerung. ') Ist es notig, die ZiiTem noch
weiterhin zu kommentieren? Sie lehren eindringlicher als Worte
es vermögen, was die Agrarveriassung des Ostens für die Entwick-
lung des Deutschen Volks bedeutet. Eine eiserne Fessel ist sie
ihm geworden, da es nun in erneuter Jugend seinen gewaltigen
Leib recken will.
Untersuchen wir nunmehr die «Tcojrraphischc X'erbrcitung der
anderen Berufe und ihren Kinflufs auf die Volksdichtigkeit Einen
Gewinn hierfür hat die soeben abgeschlossene Untersuchung schon
ergeben: sie hat gezeigt, dafs eine dichte landwirtschaftliche Be-
völkerung mit der Steigerung der gewerblichen und Handclsbc\ölke-
rung Hand in Hand zu gehen pflegt. Ms ist kein zufälliges Zu-
sammentretten sondern der Ausdruck einer eiiiiieitliclien Kultur-
entfaltung. Sie fiihrt zu vollständigerer Beherrschung der Xaturkräfte
und intensiverer Ausnutzung derselben, teils noch in Berührung mit
<leni Boden selbst: Landwirtschaft, teils von ihm losgelöst: hidustrie.
l rul je weiter diese Kntwicklung fortschreitet, desto weniger bleibt
die ( iesamti»ro(luktion an tlen Boden gebunden und desto freier
wird die örtliche X'erteilung der Bc\ülkerung.
Dieser allgemeinen Entwicklungstendenz tritt jedoch auch \on
der Seite der hulu>trie her ein mächtiges Hemmnis entgegen,
indem einzelne hidustriezweige noch mehr an örtliche Produktions-
bedingungen gebunden, noch strenger lokalisiert, bodenständig sind,
wie die Landwirtschaft. Den Ausgangspunkt hierför bildet ge-
') Paul KoUmann tindct a. ;i. ( >. S. 104, dafs der Kiukfjanj; der .»j)c/.iti*ch
landwirtschaftlichen Bevulkcrung lu den Gegenden mit grofsen Gülcni vielfach lang-
Mmer stattgefunden b«be «k in den Gegenden des Kleinbetrieb«; bier biafig ein
RlIckgutK ^ >o Köpfen und darttber auf je too ba landwirticbaftlicber Flicbe,
dort tdten von mebr ab 6. Allein die Aboabme darf nicbt abiolat genommen, aondrro
«ie mn& sa der qieafiadicn Dicbtigkelt der laadwiitBcbaftlidien Berölkcrang te Be-
ziehung gesetzt wer<!'-n. Da dies*- in der Gruppe II (Kleinbesitz) unterer l'< b«-r-ic ht
beiläufig doppelt so hoch >t«'lit als in Gruppe I 1 (jrofsbesitrl, so fällt in Gruppe II
scltot rin etwas höherer Rückgang rcl.iiiv weniger ins Gewicht. I'rozentual
sind es eher die Gegenden des Klcinbclrieli>, welche die grofscre Widerslanüskraft
rntfaltet haben. Wozu noch kommt, dal» .><ie es hauptsächlich sind, welche den
Kooloirrenikanpf mit der indutrie auf dem Arbeitsmarktc sn beateben haben. Wäre
der Oiten ihm so direkt anageietit wie die Landwirtsdiaft de« Wetten«, «o würde
seine Arbeittverfascnng noch gans andere Verluste an Meucbenmaterial tu verzeichnen
Imben. Sie mttfste darunter «naammenbrechcn. Vermag sie sich doch schon jetzt
knnm der wcetlidien Industrie zn erwehren, tmd doch liegt gans Detttschland dazwischen!
L iyiii^üd by Google
302
H. Rauchberg,
wisscrmafscn die Gruppe des Bergbaus und Hüttenwesens, die
der Hauptsache nach an die natürliclien Lager der verarbeiteten
Materialien gebunden ist. Dalier ihre aufserordentliche örtliche
Konzentration. Während sie im Reichsdurchschnitt 3.57 Prozent
der He\ ölkerung umfafst , erreicht ihr Prozentanteil in Westfalen
18,44. in Schaumburg-Lippe 10,87, im Rheinland 9,53 und in Schlesien
8,30. Daran schliefsen sich naturgemäfs an die Gruppe der Metall-
verarbeitung, deren Zentruni mit 8,15 und 6,80 Prozent der Be-
völkerung in Westfalen und dem Rheinland gelegen ist. und — in
viel freierer Weise — die Maschinenindustrie. Ihre örtliche \'er-
teilung ist nur noch zum geringeren leile bedingt durch den
Standort der Hüttenwerke; die Rücksicht auf den Bedarf, also auf
den Standort der Industrien, die sich ihrer I*"abrikate bedient, ül)cr-
wiegt. Daher stärkere Dezentralisation. Die Maxima erreichen
in Berlin 3,77, iiTi Kcinij^Teich .Sachsen noch 3,43 Prozent, gegen
einen Reichsdurt lis(Minitt \ (>n 2,01 Prozent. Aehnlirh wirken die
Standorte der iTj^roduktion nach in der Industrie der Steine und
Erden und in der Holzindustrie.
Je mehr Zwischenstufen mit fortsrlireitender Protluktionstcilung
in den gesamten Produktionsprozels sich einschieben, je mehr
die Arbeit von der Gewinnung; \-on Rohmaterialien \orschreitet zur
Herstellung vnn Hnlbfahrikateii, von (janzfabrikaten und vollends
von solchen ttutcni, weiche aus verschiedenartigen Halhf;»brikaten
zusammengesetzt sind, desto mehr wird der Zusammeniiang mit
den natürlichen Lagern gelockert : die Wahl der .Standorte wird
freier. X'ertcilung und Pjgiiung der .\rl)eitskräfte , altererl)te
Fertigkeiten, erbliche Herufsfolge, xorhandene Triebkräfte, der
örtliche Bedarf, die Rucksicht auf den leirhteren Transport u. dergl.
mehr gewinnen Linflufs. Zwei (irujjj.>en sind hier wieder zu unter-
scheiden: (lewerbe. welche hauptsächlich für den grolsen Markt
produzieren und zumeist in ( irulsbetrieben organisiert, grofser ört-
liclKT Kf)nzentration fällig sind, und dann jene Gewerbe, welche,
hauptsäehlich für den örtlichen Bedarf arbeitend, sich ihm aueh
in ihren Standorten anj^assen müssen und demnach ziemlich gleich-
mälsig über das Land ausgebreitet sind. Als Ts'jjus der ersten
Art hebe ich die Textilindustrie hervor, der im Reichsdurchschnitte
3,67 Prozent der Bevölkerung angehören, die aber in Reuls ältere
Linie 38,15, in Reuls jüngere Linie 21, 60 im Königreich Sachsen
13,43, in tlsafs-Lüthringen 7,8 und im Rheinland noch immer 7,53
Prozent der Bevölkerung umfafst. Bei derartigen Gewerben über*
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Die Bernls- uul GcwerbnKhlottg im Dentichen Reich vom 14. Juni 1895. 303
ragen also die Ziffern iiir die Hauptsitze, ebenso wie bei den an
bestimmte Standorte gebundenen, gewaltig den Durchschnitt, um
in weit ausgedehnten Gebieten erheblich darunter zu sinken. Viel
geringer sind die Differenzen bei den Industrien, die hauptsachlich
für den lokalen Bedarf arbeiten und an ihn gebunden sind, wie
z. B. das Baugewerbe und die Industrie der Nahrungs* und Genufs-
mittel. Für ihre örtliche Verbreitung ist die Konzentration des
Bedarfs in den verschiedenen Kategorien der Wohnplätze und die
Verteilung der Bevölkerung auf dieselben mafsgebend. Betrachten
wir z. B. die Verteilung der Gruppe Nahrungs- und Genufemittel :
Reichsdurchschnitt 4,0 Prozent; stärkste Vertretung in Bremen 8,52,
Anhalt 7,35, Lippe 6,66, Braunschweig 6,34, Lübeck 6,09, Baden
5,55 Prozent u. s. w., wobei die an sich wenig belangreichen Diffe-
renzen durch die ortliche Konzentration der Z^rreniabrikation
noch erheblich verschärft erscheinen.
Die örtlich« stark konzentrierten Industrien sind es, welche die
Dichtigkeit der Bevölkerung gewaltig erhöhen, besonders dort, wo
verschiedene derartige Knotenpunkte der industriellen Entfaltung
zusammentreffen, wie z. B. im Rheinland Bergbau und Hüttenwesen
und Textilindustrie, im Königreich Sachsen Metallverarbeitung,
Textilindustrie, Papierindustrie u. s. w. Dazu kommt noch, dafs —
wie bereits erwähnt — die industrielle Entfaltung Hand in Hand
zu gehen pfl^ mit höherer spezifischer Dichtigkeit auch der
landwirtschaftlichen Bevölkerung. Diese bildet gleichsam das Fun-
dament fiir die örtliche Gestaltung der Bevölkerungsverhältnisse,
über welchem sich der industrielle Ueberbau erhebt, desto höher,
je kräfUger dieses Fundament ist. Denn die landwirtschaftliche
Bevölkerung deckt seinen Arbeitsbedarf und bildet zugleich den
lokalen Markt für den Absatz der Produkte.
Diese Vorbedingungen fehlen in jenen, weitgestreckten Landes-
teilen, wo mindere Ergiebigkeit des Bodens, die ungleiche Grund-
besitzverteilung und die Starrheit der ländlichen Arbeitsverüissung
die spezifische Dichtigkeit der ländlichen Bevölkerung herab-
gedrückt haben. Ihre geringen Bedürfnisse vermögen keine In-
dustrien ins Leben zu rufen, wo sie nicht etwa durch natürliche
Lager an gewisse Standorte geknüpft sind; Industrie und Handel
werden hier die Entwicklung der Bevölkerung nicht wesentlich
beschleunigen. Die Abteilung L der Uebersicht auf S. 300 hat
gezeigt, wie wenig die agrarische und die allgemeine Dichtigkeit
in jenen Gebieten differieren, und wie langsam die Bevölkerung sich
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304
H. Raaehberg,
daselbst entwickelt Gewerbe und Handel wirken also nicht etwa
wie eine Kompensation gegenüber der durch die Agranerfassua^
bedingten Austeilung der Bevölkerung, sondern sie verschärfen ihre
Unterschiede. Daher sind auch 1882 — 1895 die Abstände zwischen
den Dichtigkeitsstufen der einzelnen Gebietsabschnitte des Reichs»
insbesondere zwischen dem Westen und Osten, noch erhebüch ge-
wachsen.
Bisher ist die örtliche Verteilung der Berufe und ihr Zusammecio
hang mit der Dichtigkeit und der Entwicklung der Bevölkerung"
erörtert worden, ohne dal's dabei auf die besonderen Verhältnisse
von Stadt und Land und den Kinflufs der Agglomeration Rücksicht
genommen worden wäre. Icli habe diesen (icsichtspunkt, dessen
allgemeine Wichtigkeit schon früher') angedeutet wurde, vorläufig
zurückgestellt, um ihn nunmehr ai^esondert zur Sprache zu bringen.
Es entfallen auf die unten bezeichneten Benifeabteilungen
Personen UberhlRapt
in den StSdten
auf dem fladicn Lande
Berufsabt«* i langen
1S95
1882
•895
1882
A. Landwirtschaft . . .
2 450 1 88
2256931
16051 1 19
16968 524
B. Industrü;
. 13671 103
9627 290
6582 138
6 430 790
<'. Hamlfl u. Verkehr
• 4644534
3 243370
I 322312
1 2S7 7 10
747 087
761544
139720
176 750
E. OefTentlicher Dienst .
2 180 197
1^19709
654817
603382
2104374
1394860
122269$
851362
«5797483
18903695
25972801
26318418
Daher treffen auf die unten bezeichneten Berufsabteilungen
von je 1000 Bewohnern
der Städte des flachen Landes
Berufsabteilungen
1895
1882
1895
1882
A. Landwirtschaft . . . .
1 19,3
61S.0
644.7
530,0
509.3
253-4
244,4
C. Handel und Verkehr . .
180,0
171,6
50iy
48,9
»9,0
40,3
5.4
6.7
E. Oeflentl. Dienst . . .
84,5
85.7
32,9
8j,5
73.8
47- 1
32.4
1000
1000
1000
tooo
Der hervorsteciiende Charakterzug der Entwicklun-^ ^eit 1882,
die Industrialisierung der Bevölkerung, erstreckt sich demnach auch
') VgL oben S. 264.
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Di« Berefs- and Gewerbetlldaiif im DeutadieB Reich vom 14. Jmii 1895. 305
auf das flache Land. Aber die Städte bilden doch den eigentlichen
Boden dieser Bewegung. Hier hat die industrielle Bevölkerung;
cinschiefslich der nur indirekt Benilszugehörigen, um 4043813 Per-
sonen, auf dem flachen Lande nur um 151348 zugenommen.
Wenn die prozentuale X'erschiebui^ auf dem flachen Lande gleich'
wohl eine so beträchtliche i^^t, so erklärt sich dies aus der schon
früher erörterten absoluten Verminderung der eigentlich landwirt-
schaftlichen Bevölkerung^. Ks darf bei der Beurteilung dieser Ziflern
jedoch nicht aufser acht gelassen werden, dals sie den fmschwuf^,
der auch auf dem flachen Lande eingetreten ist, nicht in seinem
vollen Umfange aufzeigen. Denn die aufstrebende gewerbliche
Entfaltung hebt ländliche Wohnplätze gar bald über die Einwohner-
zahl von 2000, und dann werden sie von der Statistik zu den
Städten gezählt. Ihr gewerblicher Fortschritt verhilft ihnen also
zu einem formalen Avanceinent, vermöge welches er dann scheinbar
nicht mehr der Kategorie des flachen Landes, sondern der Städte
zu gute kommt. In den Städten aber ist die Zunahme der
industriellen Bevölkerung eine so aufscrordentliche, dals die prozen-
tuale V ertretung der anderen Berufsabteilungen trotz ihrer absoluten
Vermehrung herabgedrückt erscheint. Nur Handel und Verkehr,
sowie die Abteilung F — ohne Beruf oder Berufsangabe — machen
hiervon eine Ausnahme. Dafs das stärkere Hervortreten dieser
letzteren zum guten Teil auf formale Ursachen zurückzufuhren ist,
wurde schon früher hervorgehoben.
Innerhalb der einzelnen Gröfsenkategorien der städtischen
Wohnplätze war die Beruüigliederung die folgende:
Von je 1000 Bewohnern jeder OrtsgrOrsrnkksBe entfallen raf die «nten
Beratebteilungen
Bernfsabteilungen
A. Landwirtschaft etC .
B. Industrie ....
C. Handel und Verkehr.
D. Lobnarb. wechs. Art.
E. OeffenÜicher Dienst .
F. Oline Bemf . . .
in
Grofsstidten
1895 1882
473,4
266,1
50.4
»07,3
«9,0
tn
MittelstSdten
1895 '882
in
Kleinstädten
1895 1882
beteidmeten
in
Landstädten
1895 1S82
'3J
508,6
261,1
37.4
94.5
84,7
3«, 3
54''
iS9,8
33.6
112,6
91,6
34.2
1 95 ,0
45.3
111,7
85.5
89.7
146,0
27.»
i2,0
«2.7
98.7
535.8
155.7
42,6
90.9
76,3
245.6
497.2
I 18.9
17.7
5a.4
68,3
262,8
490.'
"5.5
28,5
49.a
53,9
Handel und X'erkehr, sowie die Lohnarbeit wechselnder Art
sind demnach die cii^cntlirh städtischen Berufe: ihre Vertretung
wächst mit den Grölsenkategorien und ist in den Gro(sstädten
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306
H. Rauchberg,
am höchsten. Octttiithchcr Dienst und Berufslose treten in den
Mittelstädten am stärksten hervor, in den ( irofsstädten etwas
schwädicr, viel schwächer in den Kleiti- uiul Landstädten und
vollends auf dem flachen Lande. Kein direkter Zusiunmcnhang
scheint zu bestehen zwischen der relativen X'ertretung der Industrie
und den Ortsgröfsenklassen. Sie tritt in den Kleinstädten am
stärksten hervor, dann folgen der Reihe nach: Mittelstädte, Gro(s-
Städte, Landstädte* In sämtlichen Wohnplätzen hat ihr F^rocentsatz
seit 1883 erheblich /.u genommen, und es gehört ihr in allen
Stadtkategorien mit Ausnahme der Landstädte die grölscre Hälfte
der Bevölkerung an, auf dem flachen Lande, wie bereits bemerkt,
noch immer mehr als der vierte Teil. Sind es auch nicht gerade
die Brennpunkte der Volksanhäufung, in denen die Industrie ver-
hältnismärsig am meisten hervorragt, so ist ihre Entfaltung doch
entscheidend gewesen fiir die allgemeine Gestaltung der Be-
volkerungsdichtigkeit. Denn jene hohen Abstände zwischen all-
gemeiner und spezifisch agrarischer Dichtigkeit, welche den volks-
reichen Westen DeutschkuKls charakterisieren, werden hauptsächlich
hervoi^erufen durch industrielle Agglomerationen. Von diesen
hängt also auch die Gestaltung der allgemeinen Dichtigkeit zum
guten Teile ab. *)
Bisher haben wir die Berufs-^^liederung in den verschiedenen
Ort^öfsenkiassen untersucht. Daneben ist es \'on Interesse, zu
sehen, 'wie sich die Zugehörigen der einzelnen Beruüsabteüungen, auf
die einzelnen Grofsenkategorien der Wohnplätze verteilen. Bei den
Verhältnisberechnungen der nachstehenden Ucbersicht werden daher
die Zugehörigen der eiti/.elnen Berufsabteilungen gleich 1000 gesetzt.
Wo keine Jahreszahl beigefügt ist, gelten die 2^ilen für 1895.
Von je 1000 den nnten bezeiclin< tcn Bcrafnbteiliiiigen socehörigen Penonen
entlall>-n auf
Grofs- Mittel- Kk in- I^and- Städte iibcrh. d. tiachi- Land
Bcrufabteilungen stüdt«- städtc städtc .städtc 1S95 188: 1895 1882
A. Landwirtschaft . . 5,2 9,1 34,3 83,8 i;>J.4 117.4 867,6 882,6
B. Industrie .... 176,5 143,6 199,8 155,1 675,0 599,6 325,0 400,4
C. Mandel Wd Verkehr 307,7 171,0 173^8 125,9 778,4 715,8 321,6 384,3
D. Lohnarbeit . . . 396,9 203,6 316,0 126,0 842,5 811,6 157,5 188,4
F. DefTcntlicher Dienst 2344 213,5 204,5 '»^'^ 769,0 728,6 231,0 271,4
F. Ohne Beruf . . . 178.9 148,1 175,9 129,6 632,5 621,0 367,5 379,0
Im ganzen . 135,8 103.9 136,6 122.0 498,3 418,0 501,7 582,0
') Die abweichende AufTassong des Zählunghwerks S. 46, scheiirt mir darauf
üiyiiizc-d by Googl
Die Bcraf»> und CSewcrbciKhlmig im Deutadien Reich vom 14. Juni 1895. ^07
Aus dieser Uebersicht erhellt die gewaltige Bedeutung der
Städte und insbesondere der Grrolsstädte für das deutsche Wirt-
schaftsleben erst in voller Deutlichkeit Die Berufsabteilungen C,
D u. £ finden ihren Schwerpunkt in den Grrofsstädten. Die In-
dustrie ist auf die einzelnen Städtekategorien annähernd gleich-
maisig aufgeteilt. Zusammengenomment behert>ergen sie mehr als
zwei Drittel der industriellen Bevölkerung; ein Drittel davon hat
auf dem flachen Lande ihren Sitz. Der Anteil der Städte an sämt-
lichen Berufsabteilungen ist seit 1882 erheblich gestiegen, am meisten
der Anteil an der Industrie; der Anteil der Grofsstädte aber hat in
sämtlichen Beru&abtetlungen mit Ausnahme der Landwirtschaft
gewaltig zugenommen.
Untersuchen wir die Verteilung der einzelnen Berufsarten auf
Stadt und Land und fernerhin auf die oben unterschiedenen Gröfsen-
kategorien, so ist die Unterscheiduntir zwischen städtischen und
landlichen Berufen leicht zu treffen. Zu den ländlichen Berufen ge-
hören die folgenden, bei deren Benennung durch die eingeklammerten
Zahlen angedeutet wird, wie viclnial ihre Besetzung auf dem flachen
Lande stärker ist als im Rcichsdurchschnitte : Landwirtschaft (1,75),
Forstwirtschaft (1,69), Torfgräberei (1,67), Steinbrüche (li43), Binnen-
fischerei (1,33), Stellmacher, Wagner {1,30), See und Küstenfischerei
(1,29), Getreidemühlen (1,26), andere animalische Nahrungsmittel
(1.13), Grob- (Huf-) Schmiede (l.ll). Alle anderen Berufe sind in
den städtischen Wohnplatzen relativ stärker besetzt als im Reichs-
durchschnittc ; sie tragen also überwiegend städtischen Charakter.
Es ist indessen nicht leicht, ein allgemeines Pritizip ausfindig
zu machen, welches die Aufteilung der einzelnen Berufe nach Orts-
grölsenklassen erklärt. Zwei verschiedene Momente scheinen sich
hier zu durchkreuzen: die Konzentration des örtlichen Bedarfs und die
Produktion für weiteren Absatz, wobei gewisse Produktionszweige
dadurcii, daGs sie auf eine höhere technische oder wirtschaftliche
Kultur oder auf die Örtliche Kombination mit anderen Gewerbe«
zweigen, die ihnen Halbfabrikate liefern, angewiesen sind, gröCsere
Städte aufzusuclien vcranlaGst werden, wogegen die anderen die
günstigeren Froduktionsbedingungen kleinerer Städte sich /u nutze
machen. Bekleidung und Reinigung, Baugewerbe, Handels- und
Versicherung^werbe, Belierbei^ung und Erquickung etc. sind vor-
n beruhen, dafs duelbtt nicht genOgend swischen Agglomeration und Dichtigkeit
nnterKhieden wird.
Afdiiv für tos. G«sea(ebung u. Sutittik. XIV. 20
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3o8
H. Kauchberg,
züglich grofsstädtiscli we^eii der örtlichen Konzentration des Be-
darfs, polygraphische Gewerbe, Künste etc. und gewisse Zweige
der Maschinenindustrie wegen der gesteigerten Kulturbedingungen;
die sonstige Metallverarbeitung und die chemoche Industrie bevor-
zugen die Mittelstädte, Bergbau und Hüttenwesen, sowie Textil-
industrie die Kleinstädte, während in den Landstädten die Industrie
der Steine und Erden, dann der Nahrungs- und Genuismittel relativ
am stärksten vertreten ist. Endlich giebt es eine Reihe von Ge>
werben, welche insofern allgemein städtischen Charakter haben, als
ihre Vertretung von den Gröfsenstufen unabhängig ist Es sind
dies solche, welche einen durch die Einwohnerzahl unmittelbar be>
dingten lokalen Bedarf zumeist noch in handwerksmälsigen Formen
befriedigen, wie Farbereien, Brauereien, Barbiere, Fleischer, Bäcker,
Schuhmacher u. s. w. Es ist aber bezeichnend, dals es unter den
307 Berulsarten unseres Schemas nur 1 5 derartige, dem besonderen
Einflüsse des Standorts entrückte Berudsarten giebt, deren Vertretung
in Städten überhaupt den Reichsdurchschnitt erreicht oder über»
trifit. Alle anderen städtischen Berufe treten vorzugsweise auf ge-
wissen Gröfsenstufen der städtischen Wohnplätze auf.
Besonderes hiteressc erweckt dabei das berufliche Gepräge der
Gro(sstädte. Schon die rebersichten auf S. 305 und 306 enthalten
gewisse Andeutungen hierüber, ausgehend von der Gesamtzahl der
Berufszuprchörigen. Beschränken wir die l'ntersuchunfT auf die Er-
werbthätitren und rechnen wir auch die Dienenden hinzu, so ent-
fallen von je loo Erwerbthätigen in sämtlichen deutschen Grols-
Städten
Im Jahre
auf die BeiufsabteUimg 1S95 1882
A. LMidwirtscIiaft .... 1.4 1,3
B. Indastrie 50,3 47,2
C. Handel and Verkehr . . 84,3 33,6
D. LobnarlxMt 4,4 5,3
E. Oeflentlicher Dienst . . 10.6 11.4
G. Dienende 9,1 12,3
Hinsichtlich Ihrer beruflichen Struktur ist nun jede einzelne
Grofsstadt für sich eine Individualität. Da es der Raum nicht ge-
stattet, hierauf des einzelnen einzugehen, so be^Miüge ich mich da-
mit, nachstehend einige der auffälligsten Züge hervorzuheben, wobei
die den Städtenamen in Klammem beigefügten Verhältniszahlen
den Prozentsatz der Erwerbthätigen in den einzelnen Berufsabteilungen
üiyilizeQ by GoO^Ic
Die BcruCs* und Gewerbeiählung im Deutseben Reich von 14. Juni 1S95. J09
citiM hlielslicli der Dienenden angeben. Die Mälftc der grofs-
städtisrluMi Berufsarbeit i>t der Industrie gewidmet und gerade
die Hälfte der 28 deutschen (irofsstädte ist es, in welchen die
grölsere Hälfte aller Erwerbthätigen der Industrie angehört. Am
stärksten ist der industrielle Typus ausgebildet in Barmen (74,5),
Krefeld (67,2), Chemnitz (67,0), Elberfeld (65,8) und Dortmund (64,3),
dun luius Städte , welche eben infolge ihres industriellen Auf-
schwungs erst während der Zwischenzeil zwischen den beiden He-
rufszählungen die Grenze von lOOOOO Einwohnern überschritten
haben. Der Typus der Handelsstadt ist am stärksten ausgeprägt
in Hamburg (37,4), Stettin (30,1), Bremen (29,1;, Frankfurt a. M.
(28,2), und Leipzig (26,3). Der öffentliche Dienst ragt, hauptsäch-
lich wohl infolge der Garnisonen, am meisten hervor in Strafs-
burg i. E. (29,3), Danzig (19,5), Königsberg (16,9), Dresden (14,6)
und Hannover (14,1}. Die Dienstbotenhaltung endlich ist am
stärksten in Charlottenburg (16,9), Frankfurt a. M. (14,8 , Stutt-
gart (14,0) uikI l^renicn ill.Oj. Ihre sozialpolitische Bedeutung als
Merkmal hohen örtlichen W ohlstandes soll später in anderem Zu-
sammenhang erörtert werden.
10*
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
mQhI bcn* lUttingiiit, btm dectt"
Von
WERNER SOMBART.
III.
Wirtschaft und Betrieb.
Alle vernünftige Arbeit ist eine Verwirklichung bewufster Zwecke
und bedarf zu ihrer Durchfiihrung eines Planes. Sofern es aber
Arbeit ist, die in Gemeinschaft von Menschen verrichtet wird, so,
da(s eine wenn auch nur gel^entliche und nur oberflächliche Inbe-
ziehungsetzung zu anderen Personen notwendig wird, so bedarf eine
solche Arbeit des weiteren zu dem subjektiven Plane dessen, der
sie ausfährt, noch der objektiven Regelung, welche fär das Ver-
halten aller in der Gemeinschaft Arbeitenden bindende Kraft besitzt:
es wird eine Ordnung der Arbeit notwendig. Alle Wirtschaft-
liehe Thätigkeit des Menschen, d. h. alle durch die Notwendigkeit
einer Beschaffung von Dingen der äu&eren Natur — Sachgiitem —
zur Ergänzung unseres individuellen Daseins hervorgerufene Thätig-
keit ist nun aber eine solche in der Gesellschaft, mithin eine objektiv
geordnete. Sobald wir also von wirtschaftlicher Arbeit handeln,
müssen wir notwendig in den Bereich unserer Ueberlegung auch
die Ordnung ziehen, in der die Einzelarbeit eingeschlossen ruht')
') Man käiuite auch sagen „WirtschaAlicfae Thitigkcit'* sei „geordnete
Lebensfit r sorge" (in dem oben umschriebenen Sinne). Gegen diese Fassmig
wird andi Bttcher nichts eiwmwenden haben. Denn wenn er auch in srinea
letzten Stadien mit besonderem Nachdruck daraaf hingewiesen hat, dafs das „Wirt»
schaftsieben" der Naturvölker sich gerade durch seine Ungeregeltheit, seme SpnmS'
Digitized by Google
Die geweiblidie Arbeit und ihre Organisation.
Den Inbegriff alter das. wirtschaftliche Verhalten der Menschen
äuiserlich regelnden Normen wollen wir die Wirtschaftsordnung
nennen. Sie l»ldet einen Teil der Gesellschaftsordnung oder der
sozialen Ordnung überhaupt') Wie die durch Sitte oder Recht
geschaffiene Wirtschaftsordnung dem Handeln des Individuums bei
Erzeugung und Verzehr der Güter, „Produktion", „Zirkulation",
„Konsumtion" feste objektive Schranken setzt, so enthSlt sie vor
allem auch den Entscheid, welche Organe — Einzel- oder Kollektiv-
peisonlichkeiten — für die Gestaltung des Wirtschaftslebens maß-
gebend sind. Wir können diese Persönlichkeiten, von deren Willen
also die wirtschaftliche Thätigkeit der eigenen Person oder Fremder
bestimmt wird, bei denen, im Bilde gesprochen, der Schwerpunkt
des Wirtschaftslebens liegt, Wirtschaftssubjekte nennen und
unter ihnen Konsumtions- und Produktionswirtschaftssubjckte unter-
scheiden. Nur mit den letzteren haben wir es im Folgenden zu
tliun. Der Passivität der Wirtschaftsordnung gegenüber vertreten die
W'irtschaftssubjekte alles, was das Wirtschaftsleben Aktives» Thätiges»
Schaffendes in sich birgt, sofern \on ihrer Initiative es abhängt
(lafs sicli überhaupt ein Leben entfalte, der Güterproduktions- und
Reproduktionsprozers in regelmäfsigem Verlauf sich abwickeln könne.
Auf ihrem zweckbcwufsten Handeln beruht das Wirtschaftsleben,
ihr Handeln aber wird bestimmt und geleitet durch Zwecksetzupgen,
die selbst wiederum in l)cstimmtcn Motivreihen ihren Grund haben«
Wollen wir also das Wirtschaftsleben einer Zeit recht in seinem
innersten Wesen \erstehen lernen, so müssen wir die Motive bloüs-
legen, die das Verhalten der Wirtschaftssubjekte bestinunen. Aber
wir dürfen uns nicht damit genügen lassen, eine allgemeine Motiv-
tafel aufzuzustellen, auf der eine bunte Reihe einzelner, individueller
Motive verzeichnet steht, sondern wir müssen in unserem Bestreben,
haftißkeit seinen Impressionismus anszr>ichn't, und dafs der „Wilde" sich uUt-
hand künstlicl>er Hülf>mitt»-1 li><lirii.'n niü^M' (khythmusi, um M-itu-r „wirlsilult-
lichen TlKili^'krit" d;i> «•rl'ordcrliili.' Mal\ von St<Hi>,'ktMt m verM-hatTcti, so Aaht
doch dicic zwcilfllos richlijjc Darlegung nur in einem scijcinbaren Widerspruch mit
ndner Auffassung. Ich nenne eben eine Lebensfilrsorge erst dann, wenn
lie und darum, weil sie eine geordnete geworden ist, wirtschnftlielie Thltigkeit,
d. Ii. Buche dM Moment der Ordnung, welcher Art immer sie «neb sei, zum Er-
heonongHcidien des WirtschnfUichcn. Es kommt also wesentlich nur auf eine etwas
veiscldcdcne Terminologie heraus, was meine von Bflchen Auflassung trennt
Ist nicht mit ihr identisch, wie ich schon gegen Stammler bemerkt habe.
Vgl Archiv fUr soziale Geseugebung etc. Bd. X (1897) S. 6.
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312
Werner Sombart,
in dem Mannigfaltigen das Typische, in dem Wechsel die Kt L^el
zu suchen darauf bedacht sein, die in einer bestimmten Zeit über-
einstimmend wiederkehrenden Motivreihen der Wirtschaftssuhjckte
aufzudecken. Diese das Wirtschaftslehen einer Zeit in seinen charakte-
ristischen Eigenart bestimmenden, also historisch bedingten, zu Grund-
sät7xn und Maximen des Verhaltens der Wirtschaftssubjekte ver-
dichteten, prävalierenden Beweggründe wollen wir Wirtschafts-
prinzipien nennen.
Wir finden somit, dafs das Wirtschaftsleben der Menschen
jeweils einer bestimmten Wirtschaftsordnung und bestimmteti Wirt-
schaftsprinzipien untersteht Eine Wirtschaftsordnung aber, die von
einem hervorstechenden Wirtschaftsprinzipe beherrscht wird, stellt,
wie wir es nennen wollen, ein Wirtschaftssystem dar.
Nun noch einen Schritt und wir sind an unserem ersten Ziele t
Um die Gütererzeugui^ den Wirtschaftsprinzipien gemäls zu ge-
stalten, um die in den Wirtschaftsprinzipien zum Ausdruck kommenden
Zwecke durch die Produktion zu verwirklichen, muss diese, jo einer
bestimmten, zweckentsprechenden Weise organisiert werden. Dabei
ergeben sich regelmafsig wiederkehrende Vornahmen der Wirt>
schaftssubjekte und ihrer Organe, der von ihrem Willen abhängigen
Personen; es entstehen bestimmte tyi)ische Beziehungen vonMensdien
zu einander: es ergiebt sich eine Summe von Rechtsverhältnissen,
Sitten und Gebräuchen, die eine Summe bestimmter Handlungen
und Vornahmen umschliefsen. Es entsteht dasjenige, was wir als Or-
ganisationsformen der Produktionswirtschaft, kürzer als (Froduktions-)
Wirtschaftseinheiten bezeichnen dürfen. In ihnen — darauf
kommt es an — ist der gesamte Produktionsprozcfs von dem Augen-
blick an, wo er als Plan in dem BewuTstsein des W'irtschaftssubjekts,
das hier als Produktionsleiter erscheint, auftritt bis zu dem Augen-
blick, WC) er mit der dem Zweck der Produktion entsprechenden \*er-
wertung der Protlukte abschlicfst. also von Anfang bis zu Ende ein-
geschlossen. Was somit das Wesen einer i)cstiinniten Wi r t sc h a f l s -
form charakterisiert, ist der h^nd/.weck der Produktion, auf den das
Wirtschaftsprinzip hingedrängt hatte. .Sufcrn dieser Kndzweck nur
verwirklicht wird, wenn die Produkte in einer den Absichten des
Produktionsleiters entsprechenden Wei.sc verwertet werden, können
wir auch kürzer sagen : d i c W i r t s c h a f t s f o r m w i r d b e s t i m m t
durch den Verwertungsprozefs der Produktion.
Damit nun aber eine Pkroduktion überhaupt zustande komme,
mufs notwendig ein Arbeitsprozefs erfolgreich zu Ende gefuhrt sein.
._ Digitiz'-ui by Google
IMe gewerbliche Arbeit und ihre Orsanisation.
(Offenbar ist dieses aiicli wiederum nur unter der Voraussetzung
denkbar, dals der Arbeitsprozels zu einem planmäfsigen und geord>
neten bewulst gestaltet worden war. Zu diesem Behufe aber mufsten
Arbeitskräfte durch einen einheitlichen Willen dazu angehalten
werden, nach bestimmten Verfahrungsweisen ihre Arbeit zu be-
thäligcn, um ein Werk zu verrichten. Es entstand ein einheit-
lich geordneter A r b e i t s p r o z e f s zu dessen regelmäfsiger
Wicdcrholuii;^^ (lanri beslinimtc X'eranstaltungcn getroffen werden
nuilsten, die wir Betriebe nennen wollen. Jeder solcher Betrieb
hat ebentalls eine bestimmte I'orm, so dals wir befugt sind, von
ver>chietlenen He t r i e bs f o r m e n zu sprechen.
Die Wesenheit der Betriebsform liet^t in der bestimmten .\n-
ordnung von .Arbeitskräften zu <lem Zwecke, (iebrauchsgütcr herzu-
stellen, liegt in dem von diesen also disjjonierten .Arbeitern ange-
wandten X'erfahren, oder wie man es mit einem Worte l)ezeichnen
kann: in dem H e r s t e 1 1 u n gs m o d u s. Ks liegt mir nun ganz
b e s o n tl e r s viel daran, diese Unterscheidung zwischen
Wirtschaftsformen und Betriebsformen, sc. — wie wir
beschränkend unserer Aufgabe gemäfs hinzufugen können — der
gewerblichen Arbeit, zu einem sicheren Besitzstande un-
serer Wissenschaft zu machen, da ich ihr, wie sich im
Folgenden zeigen wird, eine grofse Bedeutung für die richtige Be-
urteilung des Wirtschaftslebens beimesse.
Der Wichtigkeit des Gegenstandes mag es zugute gehalten
werden, wenn ich noch einmal die Ei^ebnisse unseres Nachdenken^
die zu jener Zwdteilung führten, zusammenfasse : eine Wirtschafts-
form ist eine auf Grund der Wirtschaftsordnung von dem Wirt-
schaftssubjekte geschaffene Einrichtung, welche derart gestaltet ist,
dafs in ihr die gesamten Elemente der Produktion in einer dem End-
zweck dieser, nämlich der Verwertung der Produkte entsprechenden
Weise zu einer Einheit zusammengefefst werden; eine Betriebs-
form ist die bestimmte Art und Weise, Arbeitskräfte zu einem
Betriebe, d. h. einem einheitlich geordneten ArbeitSprozefs zu ver-
einigen, mit dem Zweck, bestinunte Gebrauchsgüter nach bestimmter
Methode herzustellen. .Sofern dieser Zweck — die Gebrauchsgüter-
herstellung — bei welcher Betriebsform auch immer der gleiche
ist. sich aber stets nur als Mittel zu dem Endzweck der IVoduktion:
der X'erwertung der Produkte verhält, können wir Wirtschafts- und
Betriebsformen auch so unterscheiden, dafs wir jene als Zweck-,
diese als Mittel- bestimmt bezeichnen.
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314
Werner Sombart,
Unsere späteren Ausfuhrungen werden durch eine eingehende
Schilderung der verschiedenen Wirtschafts- und Kctriebsformen das
bisher Gesagte in eine hinreichend helle Beleuchtung rücken. Hier
jedoch bedarf es noch eines Wortes, um die Wichtigkeit unserer
Unterscheidung aufscr allen Zweifel zu setzen und damit den \'rr-
dacht zu zerstreuen, als hätten wir aus purer I'Veudc an Begritfs-
spalterei die alten Bahnen \ erlassen, die die „Lehre von den gewerb-
lichen Betriebssystemen", wie der Ausdruck lautet, bisher gewandelt ist.
Die Notwendigkeit unserer Neuerung wird durch die schlichte
Thatsache begründet, dals sich Wirtschaftsfornien und Belriebsformcn
historisch thatsächlich als etwas Wesensverschiedenes trennen lassen
und dals allein ihre begriffliche 1 rennung in entscheidenden Punkten
ein richtiges wissenschaftliches Urteil ermöglicht. Einige Andeutungen
werden es jedoch schon jetzt ') evident erscheinen lassen, dafs Wirt-
schafts- und Betriebsformen sich keineswegs decken, vielmehr in
verschiedenartiger Kombination zueinander in ein Verhältnis treten
können. In einer und derselben Wirtschaftsform können die \'er*
schiedensten Betriebsformen zur Anwendung gelangen und sind zur
Anwendung gelangt : die Hauswirtschaft hat Klein- und Ghrofsbetrieb
umschlossen (man erinnere sich der Oikenwirtschaften im Altertum
und Mittelalterl); das Handwerk nicht minder (Baugewerbe 1); und
ebenso bedient sich die kapitalistische Unternehmung abwechselnd
für ihre Zwecke des Kleinbetriebes» wie des Grofsbetriebes, des letz-
teren bald als Manu&ktur, bald als Fabrik. Womit denn auch schon
ausgesprochen ist, da(s eine und dieselbe Betriebsform den ver-
schiedensten Wirtschaftsformen angehören: beispielsweise die Fabrik
als eine Form des Grofsbetricbcs ebenso gut in der erweiterten Eigen-
wirtsrh aft, wie in der kapitalistischen Unternehmung, wie in der Ge-
meinwirtschaft ihren Platz finden kann. Mit anderen Worten: es
können verschiedene /wtkt wie sie den Wirtschaftsformen zu
Grunde liegen) mit den gleichen Mitteln (einer und derselben Be-
triebsform) Ncrwirklicht werden; und verschiedene Mittel können
demselben Zwecke dienen.
Recht greifbar wird der Untci*schied zwischen Wirtschaft und
Betrieb, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie häutig Wirtschafts-
einheit und Betriebseinheit ungleiche ( ir^ilsen sind, so dals Line
W^irtschaft mehrere Betriebe cinschliersen, h. i n Betrieb melireren W irt-
schaften angehören kann. Dafür mögen folgende Beispiele sprechen :
') Vgl. im übrigen die fulgeiidcu Abschnitte dieser Abhandlung.
Die gewerbliche Arbeit und ihre Oisaniaatloii.
Wirtschaften, die mehrere Betriebe umfassen:
Eine Hauswirtschaft enthält niiadestens landwirtschaftlichen und
gewerblichen Betrieb;
Ein Hcrrenhof (Fronhof, otTtog) umschliefst meist eine fjanze Aü/ ahl
von Betrieben, • als Landwirtschaft auf dem Salland. Land-
wirtschaftsbetriebe der Pflichtigen Bauern, Müllerei, Brauerei,
gewerbliche Thätigkeit der Frauen, Schmiedereibet riebe etc.
Eine kapitalistische Unternehmung kann zahlreiche Betriebseinheiten
bei hausindustrieller Organisation umschlieüsen, aber auch bei
grofsindustrieller BetriciManordnung mehrerer Werke, Ab-
teilungen eines Etablissements, die als selbständige Betriebe
anzusehen sind.
Eine Genossenschaft (Konsumvereini) hat häufig verschiedene Be-
triebe: Bäckerei, Fleischerei etc.
Betriebe, die mehreren Wirtschaften angehören
sind seltener, kommen aber docli vor. Ich denke /. B. an die Zunft-
einrichtungen des Mittelalters; die Schleifereien, l'uchrollen, Mang-
und Färbehäuser, an die Walkmühlen und Wollkürhen, die von
samtlichen Handwerkern genützt wurden; auch die Spinnstube
kann man hierher rechnen; ich denke an Lohnschneiderelen, wenn
'^ie von einer Anzahl Tischlern eingerichtet für diese thätig sind; an
Zwischenmeisterwerkstätten, die für mehrere Verleger arbeiten u.dgl.
Von wie entscheidender Bedeutung nun aber unsere Einteilung
für die Beurteilung wirtschaftlicher Zusammenhänge ist, möge die
eine Thatsache erweisen, dafs eine bestimmte Betriebsform — sage
die Fabrik — ganz verschieden zu werten ist, je nachdem sie l)ci-
spielsweise kapitalistischen otk r LTcmeinwirtschaftlichen Zwecken dient,
dais man also gar nicht von der Leistungsfähigkeit einer bestimmten
Betriebsform spricht, wenn man etwa die Arbeitsresultate einer kapi-
talistisch geleiteten Fabrik ins Auge fafst — z. K Lieferung von
Schleuderware — sondern es vielmehr dabei mit den verschiedenen
Zwecksetzungen verschiedener Wirtschaftsformen zu thun hat.
Und ach I wie häufig sind Verwechslungen solcher Art beisj/icls-
weise zwischen Handwerk und Kleinbetrieb, zwischen Groisbetrieb
und kapitalistischer Unternehmung!
EiA grolser Teil der Unklarheiten, die uns heute bei der Be-
urteilung unserer gewerblichen Kntwicklung begegnen, ist zweifellos
auf die ungenügende Systematik der Wirtschafts- und Betriebsformcii
zurückzuführen. Die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik
über die Lage des Handwerks hätten noch manche weitere Einsicht
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Werner Sombart,
verbrcittMi k(>niicn, wären sich die Autoren völlig im klaren gewesen
über den Lnterschied der verschiedenen Organisationsformen ge-
werblicher Arbeit, wie er jetzt vor unseren Augen ausgebreitet liegt
Man darf jedoch den jungen Leuten, die jene Enquete mit ihren
Arbeiten unterstützt haben, nicht all/u sein ihren Mangel an klarem
Ueberblick verübeln, wenn man bedenkt, dafs auch den Meistern
noch manches zur völligen Durchdringung des Stoffes fehlt. Was
wir an systematischen Darstellungen der Lehre von der (^rganisatiwi
gewerblicher Arbeit besitzen, läfst durchgängig unbefriedigt, vor
allem, weil keine getragen ist von dem entscheidenden (redanken
einer Trennung der Organisationsformen, wie sie unseren Ausführungen
zu (irunde liegt. Ein Blick auf die bedeutendsten der fraglichen
Darstellungen wird das Gesagte bestätigen.
An einer früheren Stelle habe ich schon darauf hingewiesen,
wie in dem vierten Abschnitte des Hauptwerkes von Karl Marx
sowohl die Lehre von den gewerblichen Betriebsformen *) eine aus*
gezeichnete Vertiefung erfahrt als auch die Lehre von den den ver-
schiedenen Wirtschafbstufen entsprechenden Wirtschaftsformen und
ihren Grundzügen vor unserem Blicke hingebreitet wird. Aber wir
würden fehlgehen, daraus zu schliefsen, dafs Marx eine befriedigende
Darstellui^ der Organisationsformen gewerblicher Arbeit gegeben
hatte. Abgesehen von seiner Eigenart, niemals sich mit einer schul-
gerechten Definition oder methodisch etnwandfi'eien Systematik
lange abzumühen, stofsen wir doch zu unterschiedlichen Malen selbst
bei Marx aufstellen, die uns die Ueberzeugung verschaffen, dak
sich unser Autor nicht zu völlig klarer Auflassung des Wesens-
unterschiedes der beiden Typen gewerblicher Organisation durch-
gerungen habe. Was dem ganzen vierten Abschnitte des Kapitab
seine Grundstimmung verleiht, ist die Tendenz, Manu&kt.ur und
l abrik als spezifisch kapitalistische Betnebsformen zu kennzeichnen.
Dagegen wäre an sich noch nichts einzuwenden, wenn nicht Marx
durch dieses Bemühen dahin geführt wurde, schliefslich den Unter-
schied zwischen den beiden Formen des Grofsbctriebs und der
kapitalistischen l'nternehmung bis zur l^nkenntlichkeit zu verwischen.
Zu vergleichen sind namentlich das elfte Kapitel und der vierte
Ich bespreche im Folgenden die verschiedenen Autoren mter BennUung der
von mir gebildeten Tt-rminologic , auch wenn diese mit derjenigen der analynertcn
Schriftsteller nicht tibereinstimmt. Es wird, soweit nötig, auf die diesen idbst eigene
Terminologie verwiesen werden.
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Die gewerbliche .\rbeit und ihre Organisation. ^ij
Unterabschnitt des zwölften Kapitels, wo „manutakturniäfsigcr Be-
trieb" promiscue für kapitalistische Unternelirnung (z.B. S. 318 und
324) und arbeitsteilige Kooperation als Betriebsform (z. B. S. 323)
gebraucht wird. Des Ferneren iäfst die Unterscheidung zwischen
der Hausindustrie als einer Erscheinungsform der kapitalistischen
Unternehmung und der Betriebsform des isolierten Arbeitsprozesses,
auf der sich die Arbeit der einzelnen Hausiiidustricllcii aufbaut, an
Schärfe zu wünschen übrig, /.. B. auf .S. 307. wo das „Indels" der
letzten Zeile eine bei Marx sonst völlig unbekannte Unsicherheit
verrät. ' )
Lälst sciion die Darstellung bei Marx unbefriedigt, so cnscheincn
mir die s})ätcren X'ersuche einer Systematik der Wirtschafls- und
Betriebsformen noch unzulänglicher.
Im unmittelbaren .\nscliluls an Marx hat Alphons Tii u n
eine vielbenutzte Tafel der „gewerblichen Betriebssysteme" als An-
hang zu seinem Werk über die Industrie am Niederrhein veröffent-
licht, ^ ohne jedoch über Marx hinauszukommen, den er vielmehr
an Tiefe der Einsicht noch nicht einmal erreicht.
Thun unterscheidet „vier Formen^ in denen die Gewerbe „be-
trieben" werden: Handwerk, Hausindustrie, Manu&ktur «ind Fabrik.
Diese ^^etriebs^steme" charakterisiert er dann im wesentlichen
nach den Abhängigkeitsverhältnissen der Arbeiter, also nach historisch*
rechtlichen Momenten als Wirtschaftsformen, was schon ein grober
Irrtum ist Denn ab solche stehen Hausindustrie, Manu&ktur und
Fabrik sich nicht unterschiedlich gegenüber, sondern stimmen mit-
einander überein. Wenn Thun dann (a. a. O. S. 242) fortfahrt:
fjyit genannten vier Betriebssysteme lassen sich vor allem in der
Verkebrswirtschaft, aber auch in der Eigenwirtschaft verfo^en," so
legt er ihnen nun offenbar eine ganz andre Bedeutung unter, nämlich
die der Betriebsformen in unserm Sinne. Aber auch das wieder
nicht konsequent , da er alsobald wieder das Handwerk mit Merk-
malen einer historisch bestimmten Produktionsform (,.die Masse der
Arbeiter ist Unternehmer, ausgestattet mit einem kleinen Anlage-
kapital" etc. S. 242,43) belegt.
Eine bedeutsame Förderung hat unsere Lehre durch die Arbeiten
' Vgl. auch noch Misere, ISS.
' .\. riiun, Die Industrie am Nirdrrrhcin. Bd II (1879) S. 242 ff. Darauf
fofseod Ad. Braun, Zur Frage der gewerblichen Betriebssysteme. (Deutsche Worte.
IX. Jahrg. 1SS9. .S. 248 ff. j
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3i8
Werner Sombart,
Karl Hiichcrs') erfahren, in denen er die Theorie von Marx und
Rodhcrtus mit den schon erwähnten F'orschunj^en der historischen
Nationalökonomie iiber das Handwerk zu vereinijijen bemüht ist.
Büch er s Tafel der fünf „Hauptbetriebssysteine des Gewerbes" ist
fülgeiide :
1) das Hauswerk (früher Hausfleils genannt j, -)
2) das Lohn werk,
3) das Handwerk,
4) das X'erla^ssystem („Hausindustrie"),
5) die Fabrik.
Daj^egen habe ich I'olgendes zu bemerken. Ab<:^esehcn von
Einzelheiten der Systematik, in denen ich, wie im weitcrem \'erlauf
meiner Darstellung sich ergel)en wird, von Bücher abweiche, be-
mängele ich an seiner Tafel wiederum die Durcheinandermischung
von Betriebs- und Wirtschaftsformen. „Hauswerk", Lohnwerk. Hand-
werk, \'erlagss\ stem drücken bestimmte X'erwertungs/.wecke aus, wie
sie in den Wirtschaftsformen zum Niederschlag gelangen; die Fabrik
ist eine beslimnUe .Anordnung des Arbeitsprozesses, die gegenüber
dem \'erwertungs/,weck indifferent ist. Das ist ganz richtig fest-
gehalten, wo Bücher diese Betriebsform von der der isolierten Klein-
betriebe, die die Basis des X'erlagssystems bildet, unterscheidet: „die
Fabrik organisiert den ganzen Produkt ionsprozefs" u. s. w. Dann
aber verschmilzt der Bcgritf der Fal)rik wieder mit der kapitalistischen
Unternehmung: es sind Pligentümlichkeiten der Fabrik: „das be-
deutende Kapitalerfordernis, die wirtschaftliche Unselbständigkeit der
Arbeiter" (a. a. C). S. 155). Aber sind diese Merkmale nicht auch
dem Verlagssystem, als einer anderen horm der kapitalistischen Unter-
nehmung, eigen? Und — umgekehrt — würden die Arbeiter in der
von einem so/ialisti>chen ( lemeinwesen betriebenen Fabrik ..wirt-
schaftlich unselbständig" sein: oder sind dies aucli nur die Arbeiter
einer Genossenschaftsbäckerei ^
Mancheilei beachtenswerte h.rörterungen zu unserem Thema
enthält die Inauguraldissertation J. Helphands, eines Schulers
Büchers, tler aucli in Marx beschlagen ist. Diese Kreuzung Marx-
'1 V|^l. .Artikel ,,( ji-wcrbi-" in II. St. und den Aufsalz „Die gewerblichen Bc-
tricb.s.systeme in ilir- r K'"^ti»ichtlichen Entwicklung" in der EnUteliung der Volks-
wirtschaft. 2. Aull. 1S9S.
Uiichcr hat in d<-r 2. .\ufla<jo den .Vusdruck ,,1 lauitleil> ■ .lu» den von mit
in dem .-Vrtikcl „Hausindustrie" geltend gemachten Gründen l&llcn lassen
Die gcwerbliciie Arbeit und ihre Organisation.
3»9
Bücherscher Gedankengänge läfst von vornherein Tüchtiges erwarten.
Leider aber versagt dem Autor die Kraft im entscheidenden Momente.
Seine Unterscheidung in „technische" und „ökonomische" Organisation
der Arbeit kommt der richtigen Auflassung ziemlich nahe.') Doch
nimmt der Verfasser die Frage gerade der „Organisation" im
weiteren Verlauf seiner Arbeit nur gelegentlich wieder auf und
verzichtet gänzlich darauf, die verschiedenen Formen der beiden
Organisationsweisen zu charakterisieren und in eine systematisch
gegliederte Gegenüberstellung zu bringen.
Endlich müssen hier noch die neueren Arbeiten Gustav
Schmollers Erwähnung finden, die sich mit unserem Probleme
beschäftigen.*) Während Schmoller in seiner Abhandlung über
die Arbeitsteilung, ihre Ursachen und ihre Wirkungen, wo Gelegen-
heit gewesen warfc, eine S3^tematik der Betriebsformen zu geben,
nur gelegentlich die Frage der Organisation überhaupt streift, ist
seine Artikelserie über die geschichtliche Entwicklung der Unter-
nehmung recht eigentlich eine Geschichte sozialer Organisations-
typen. Sc hm oll ers Darstellung kommt der hier vertretenen Auf-
&ssung insofern am nächsten, als er unter Unternehmung wesentlich
dasjenige versteht, was wir mit Wirtschaftsformen bezeichnet haben.
Was ich vermisse, was aber auch nicht eigentlich in der Aufgabe
der Schmollerschen Arbeit lag, ist die bewufste und ausdrückliche
Gegenüberstellung der beiden wesensverschiedenen Formen der
Arbeitsorganisation, wie sie von mir vorgenommen worden ist. Die
DtfTerenzpunkte zwischen Schmoller und mir in der Auflassung der
einen Reihe von Organisationen, der Wirtschaftsformen, zu deren
Erforschung er so außerordentlich viel lehrreiches Material beige-
bracht hat, werden besser dort ausgetragen werden, wo ich die
spezielle Aufgabe einer systematischen Darstellung dieser Gebilde zu
losen unternehme.
Die übrige Litteratur, die etwa noch in Betracht zu ziehen
wäre, übergehe ich an dieser Stelle, weil sie nur wenig zur Losung
unseres Problems beigebracht hat, wie die Arbeit von Held,')
*)J. Helphand, Tedmische Organisation der Arbeit. Zttrich 1891. S. 6 -9.
*)G. ScbmoUer, Die Tbatsachen der Aibdtiteilai^, in sdncm Jahrbuch
Xm. Jahrg. (1889) S. 1003 f. Derselbe, Die geschichtliche Entwickliing der Unter-
aebnnnig, ebenda Jahrg. XIV— XVn (1890—94).
*) Ad. Held, Handwerk und Grofstndostrie im Anbang so seinen zwei Büchern
tor socialen Geschichte Englands. Lpz. 1881. Held unterscheidet in bekannter
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320
Werner Somb*rt,
oder sich mit D^taÜfragen beschäftigt, wie die Aufsätze von
Schwarz^) und Schäffle,*) die nur von den verschiedenen Be-
triebsformen einer und derselben Wirtschaftsform, der kapitaUstischen
Unternehmung, handeln.')
Weise „drei FomicD des Gewerbebetriebe»", nämlich Handwerk, Hausindustrie und
Fabrik industrie.
') O. Schwarz, Die Betriebsformen der modernen Grofsindustrie in derZeit-
schrift mr die ges. StaaUwissentdiRften, XXV. Jahrg. (1869) S. 535 tT.
*) A. E. Fr. Schiffle, Die Anwendbarkeit der Tendiiedenen CntecnebmnnK»>
formen. Ebenda S. 361 ff.
*) Mehrend der Korrektor erhalte ich das Buch von R. Lief mann, Ud»er
Wesen and Formen des Verlags (der Haasindnstrie). Ein Beitrag rar Kenntnis der
volkswirtschaftlichen Or^^anisationsformen. Freibuig 1899, das sich vielfach mit den
Gedankengängen dieser Studien berührt. Liefmanns scharfe Kritik der früheren
Theoriern. einschliefslich meiner eigenen, ist grofsenteils berechtigt. Seine eigene
Theorie dagegen halte ich für verlehlt und Liefmann seihst wird jetzt, da er meine
neueren Arbeiten kennt, nicht /.wt ifelhaft sein, dafs er den Kern der Sache nicht
getroffen hat, der eben in nichts anderem als in der Unterscheidung zwischen (tro'
daktions-)Betrieb und (Prodaktloas-)Wirtachaft betteht Ueber da« Wesen beider ist
Liefinann noch einigcrmafsen im Unkkren, sonst würde er nicht behaopten bei«
spleifweiae, dafs es nur awei Arten von Betrieben (Klein- und Grofsbetriebe) gebe,
da(s Einheit der Betriebsstitte Kriterium der Betriebseinheit sei. oder gar den
ongdienerlicben Gedanken einer Prodoktion ohne(i) Betrieb anisprechen (S. 63).
Ein tieferes Nachdenken würde ihn aber auch dazu gefllhrt hallen, die trennenden
Merkmale zwischen Froduktions» and Handel sunternehmong ra finden und damit
zur Annahme eines l'roduktionswirtschaftsleiters i\x kommen, der weder Betriebs-
leiter noch blo(> Hiiiidler ist. Was Liefmann, wie allen bisherigen Autoren fehlt,
ist der befreiende (;.-(l.inko, dalsdie 1' r o d u k ti <> n s w i r l sc h a f t nicht im Zweck
der Güter erzeugung, sondern in dem der Güter Verwertung ihre
Einheit findet. Selbständige Produktionswirtschaften neben den Betrieben an-
sunehmen , ist aber nicht nur möglich , sondern sdilediterdings unentbehrlich fir
ein richtiges Verstlndnis snmal des modernen Wirtschaftslebetts. Der Hanplgedanke
Liefmanns, die Organisatiottsformen gewerblicher Arbeit nach dem Charakter des
ihnen an Grande liegenden Arbeitsvertrages (ob ein Produkt oder ebe Leistung
tauscht" wird) zu unterscheiden, ist deshalb ganz verfehlt, weil er uns der Möglich*
keit beraubt, die Schwerpunkte des Wirtschaftslebens zu bestimmen, die eben in den
die Produktion organisierenden Troduktionswirtschaftsubjekten liegen. Bei Annahme
der Liefmannschen Aiittav-ung wurd>' un- nichts als ein ung^licderter Haufen von
einzelnen Arbeitsverträgen in der Hand bleiben.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
321
IV.
Betrieb und Betriebsformen.
I. Begriff und Wesen des Betriebes.
Unter einem Betrieb wollen wir verstehen eine Veranstal-
tung^ zum Zwecke fortgesetzter Werkverrichtung. ^)
In dieser Begrififsbestimmungf ist Folgendes enthalten:
An Thätigkeit, an Ausfuhrung, an W'crkverrichtung denken wir
zunächst, wenn wir von dem „Betreiben" einer Sache sprechen.
Diese Vorstellung mufs auch in dem wissenschaftlichen Begrift
des Betriebes zum Ausdruck gebracht und damit gleichzeitig
einer Ablenkung der Gedanken in anderer Richtung vorgebeugt
werden. Wir sollen weder an die Veranlassung, noch an die Ver-
wertung der Thätigkeit denken, wo wir von ,3^trieben" reden.
Aber nicht jede Thätigkeit an sich ist schon ein „Betrieb". Viel-
mehr müssen einschränkende Merkmale hinzutreten, um aus aller
irgendwie sich vollziehenden Thätigkeit ,3ctriebe" auszusondern.
Indem wir von einer Werkverrichtung ^echen, drücken wir schon
aus, dals es sich um einen Komplex von Thätigkeiten um ^ne
Summe von Arbeitsprozessen handeln muls. Nun ist aber auch
nicht jeder Komplex von Thätigkeiten zur Werkverrichtung ein
„Betrieb". Man mufe weiter einschränken. Das geschieht, indem
man von fortgesetzter Werkverrichtung spricht.*) Nun ist aber
') Was hier i-rstmalig versucht wird ist Hie F'-stl<-^'unt^ des Ökonomie h» n l'.e-
griifes des Betriebes. Er unterscheidi^t sich von dem juristischen. Der Jurisprudcui
liat sidl die Notwendigkeit einer genauen Formulierang des BetriebsbegrifTes vor
«nein doch die neoere Arbeitergesetzgebung aufgedrängt. Am ansfllhrUcfasten und
•diarfaiimigiten iitinder jttriitisehcn Litteratnr dasTlieina »bgehandelt bn H. Ro$in,
Du Recht der Arbeitenrenichcniiig. Bd. L Die reichsreditliclien Gnudlagen. Berlin
>^3* §8 33 ff* Rotin definiert den „Betrieb** ,4m Sinne des Gesetiei** ab einen
„bb^rüT erlaubter wirtschaftlicher Thätigkeiten von verhältnismäfäiger Kontinuitfit
od Dnner*' (a. a. O. S. 209). Das „erlaubt" giebt die rechtliche Färbong, die dem
olionomiachen Hc^TilT U-hh.
') Das thut auch nach Meinung Ro->ins die Definition in Anni. l —
dt-r (Jcsct/.pcbcr in den Arbciterver.sichcrung.s<,'e5ot/cn. N idU-ichl bccinflul>t durch die,
sagen wir „herrschende" Auffassung der offiziellen deutschen Nationalökonomie, wie
ne in Schönbergs Handbuch immer ihren Ausdruck findet. Dort definiert Klein-
wichter (I *, 303) wie folgt: „Nimmt die Produktion einen (mehr oder weniger!)
davcmden Chankter an, so spricht man von einem Betriebe der Produktion und
vcistebt darunter die (mdir oder weniger!) dauernde Vereinigung und Verwendung
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322
Werner Sombart,
offenbar das Kriterium der Fortsetzung auch noch nicht genugead,
um den Begriff des ,3ctriebes" zu konstituieren, da es beispiels-
weise auch der Thätigkeit vieler Tiere innewohnt, ohne diese zu
Betrieben zu gestalten. Die Thätigkeit des Tieres, das seine Höhle
baut, seine Nahrung einsammelt, die Thätigkeit des Biber, der
Bienen, des Maulwurfs ist doch sicherlich eine fortgesetzte. Werden
wir aber von einem Betriebe dieser Tiere reden dürfen? Doch ge-
wifs nicht. Also mufs ein anderes Spezifikum dem Begriffe des
Betriebes eigen sein, wodurch wir ihn von einer beliebigen Thätig-
keit des Menschen und von einer selbst dauernden und kontinuier-
lichen des Tieres unterscheiden. Das ist nun aber, wie mir scheint,
das PlanmäTsige, Ordnunghafte, was jedem Betriebe eigentümlich
ist. Dieses rückt unsere Begriffsbestimmung in den Vordergrund,
indem sie ihn eine Veranstaltung nennt.
Betreibt eine Person allein eine Arbeit, so ist die Ordnung, die
diese Arbeit zum Betriebe macht, eine nur subjektive, sie erscheint
lediglich als vernünftiger Plan des arbeitenden Individuums. Aber
ein solcher ist sicherlich immer vorhanden, wo es sich um Arbeit
zu wirtschaftlichen Zwecken handelt, mag auch die Arbeit so „planlos"
wie möglich, mag sie ungeregelt und launenhaft erscheinen.
Der undisziplinierte Hausindustrielle stellt in manchen Fällen
den Typus eines solchen scheinbar planlosen Arbeiters dar: wenn
er bald feiert, bald bis tief in die Xacht arbeitet, wie ihm gerade
die I.ust dazu ankommt. Aber solche Unregelniäfsigkeit der Arbeit
benimmt dieser doch nicht völlig das Merkmal des Planmäfsigen,
sonst wäre es keine vernünftige, d. h. eben menschliche Thätigkeit.
Jedem noch so liederlichen Betriebe eines HausindustricUen liegt
ein Arbeitsplan zu Grunde: danach sind die Produktionsmittel
angeschafft, danach wird die Arbeitskraft verwendet, danach wird
Arbeit gesucht u. s. w.
Der Plan der Produktion ol^jekti viert sich nun aber notwendig
in einer Ordnung, sobald mehrere Personen ihre Arbeit zu gemein-
samem WirkiMi \ ereinigen. Denn damit alsdann die Thätigkeit des
einzelnen sich planmäfsig einfüge in die Gesamtarbeit, mufs sie von
vornherein an die richtige Steile und die richtige Zeit und zur
richtigen Art disponiert sein. Es ergiebt sich danach stets eine
Betriebsordnung : sie mag gedacht, gesprochen, geschrieben, gedruckt
sein; sie mag stillschweigend vereinbart oder ausdrücklich erlassen,
produktiver Knfte tarn Zwecke der Produktion in einer Wirtachalt** An Stelle des
j.dftoeroden" glaubte ich besser du .«fortgesetzte" treten lassen zu sollen.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
3»3
sie mag autonom oder heteronom fiir die einzelnen Organe des
Arbeitsprozesses sein — das bleibt sich gleich, genug sie ist da.
Das Merkmal der Ordnung erweist sich nun aber noch des
weiteren insofern fiir unsere Zwecke fruchtbar, als es uns'in den Stand
setzt, mit seiner Hilfen den einzelnen Betrieb ab Einheit zu erkennen,
ihn zu individualisieren, wahrend das bei einer Begriflsbestimmung
ohne unser Kriterium nur schwer möglich ist Rosin kommt denn
auch zu dem Ergebnis: „Nach welchem Gesichtspunkte (Moment) nun
ein Betrieb zusammengehalten und von anderen gesondert wird,
laCst sich ein fiir allemal nicht feststellen; ein einheitliches Indivi-
dualisierungsmoment giebt es nicht." Für uns dagegen giebt es sehr
wohl ein solches; das ist die Einheit der Betriebsordnung,
wie sie der Bctricbsveranstaltung zu Ci runde liegt Wobei es nun
freilich noch erst darauf anl«>mmt das Moment der einheitlichen
Ordnung in allen seinen Nuancen genau zu bestimmen.
Die Gesamtaufgabe der Betriebsanordnung, können wir sagen,
ist die zweckentsprcrlicndc Zusanimc nfügung der einzelnen Produk-
tionsfaktoren zu einem (lanzet. durrh ihre richtige Disposition über
Raum unfl Zeit.*) Im einzelnen bezieht sich die Betriebsanordnung
auf f(jlgcnde Punkte, in denen allen die Feinheit tler Anordnung
nachweisbar sein mufs, damit wir von Kincm Betriebe reden dürfen:
a) die Einleitung des Arbeitsprozesses ; dazu gehört \'er-
fügungsgcwalt über .Annahme, Anstellung, Entlassung der
Arbeiter in quantitativer wie qualitativer Hinsicht, sowie
'l A. a. O. S. 212. k. /iililt dann nacheinander dieimiKen Merkmale auf,
die im Sinne der Versichcrungsgesetzc jeweils die Einheit des lletriebc> bestimmen :
I. Idenlitäl des BeUiebsanternebmers, für dessen Rechnung gewisse Komplexe von
Thiligkritgii ikh ToUiidien. 2. Dm pendnlidie Moment des Unteraelunen ttod das
«ichlichf' des Betrieb^gegeutaiMles maanmen. 3. Das bcmutelleBde opus. 4. Be«
tricbsmittel and Betiicbsstltte. 5. Nor dk Betriebntitte (a. a. O. S. si3>-ai7).
*) „Die teclmitclie OrgantaadoB — da aodcKr Anadnidc Dir das, was wir Be-
tMmmofäamg aMmen — besteht darin, die Arbeitskitfte für die crfonleilichen
Kunst- und Gcwaitverriclxtungen anzuwerben, nie mit den erfotderlichen Werk« und
Machtmitteln aasrustatten, beide zu einem wirkungsföhigen (echni-<h'-n Körper zu
gliedern und zu schulen." „Die technische r)rjTanisation l)esteht -»onarh in fort-
gesetzter Anscliaffung und Zusammenfassung der Ar()ri'>kr.ülte, d< r Bearl)eitun>,'s^totTe,
der HiU's&tofTe, der Lmsalznoittel, der stehenden Werkvorrichtungen, der chemi>chen
Apparate, der Trieb* oad Tfanaportmatdifaiea (der Waffen und sonstigen Schutz*
werineoge) m Einem Inuiitfeitigen Körper.** Scliiffle, Ban und Leben des sot.
Körpers. I. S73.
Afdiiv l&r «M. GMMigviMiiiK u. Sutiitik. XIV. 31
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^24 Werner Sombart,
Verfügungsgewalt über die zur Produktion nötige Werkstatte
und die erforderlichen Arbeitsmittel ;
b) die Gestaltung des Arbeitsprozesses, d. h. die Bestimmung
über den Ort, wo ? und die Zeit wann } produziert werden soll ;
c) die Ausführung des Arbeitsprozesses» d. h. die Fürsorge
für die thatsächliche Durchführung des vofgezeichneten
I^esi für die vorschriftemafsige Abwicklung des Arbeits-
prozesses; mit andern Worten: es muls auch die Leitung
eine einheitliche sein, was sich äuiserlich in der Identität der
leitenden, aufsichtführenden Organe kundgiebt.
Das mag an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Ein ein*
heitlich geordneter Betrieb ist in der R^el der Betrieb eines Haus-
industriellen. Denn alle drei Anforderungen werden von ihm er-
füllt: ad a) er stellt die Arbeitskräfte nach Belieben an, so viel
und welcher Art er will; er versieht sie mit den nötigen Arbeits-
mitteln, wobei es gleichgültig ist, ob er etwa Werkzeuge und
Rohstoffe vom X'^erl^er geliefert erhalt, was nur eine vermögens-
rechtliche Beziehung ausdrückt; er stellt ihnen die Werkstätte zur
Verfügung; kurz er ist der Organisator des Arbeitsprozesses, der die
Ausführung eines Werkes zum Inhalt hat; ad b) er bestimmt
den Ort der Produktion — beispielsweise ob bei ihm oder in einer
andern Werkstatt gearbeitet werden soll — er bestimmt die Arbeits-
zeit: Anfang, Knde, Pausen; ad c) er führt die Aufsicht, bei ihm
ruht, wie man sagen könnte, die Betriebspolizei. All diese Momente
sind einheitlich geordnet in Kinem Hausindustriellenbetriebe, ver-
schieden in den verschiedenen Betrieben. NB. Trotzdem diese den
Anstoss zur Produktion möglicherweise von Einer Stelle aus, von
Einem kapitalistischen Unternehmer erhalten können. Es genügt
also die Zuteilung der Arbeit an einzelne Hausindustrielle, auch
wenn sie nach einem einheitlichen Plane erfolgt, nicht, um die
Einheit eines Betriebes zu konstituieren. Diese heischt nicht nur, SO
UUst es sich in Einem Wort ausdrücken, einheitliche Produktions-
leitung, sondern einheitliche Werkleitung. Ebensowenig genügt
Dafs die Hclricbscinlicil bei der hausindustriellen Orjianisatiüii nicht von
der Gesamtheit der dem Kommando des Verlegers unterstehenden HausindustricUen,
somdeni von dem einwliieii Hrasindnstrielleii dargestellt wird, prägt sich mu be-
sonders deutlidi ciUi wo die hausindutriellen Betriebe sidi so gröbetcn
i^wischenmeisterwerkstitten" answaduen. Diese oft redit stattlkhen Betriebe
irird iedemuum notwendig als einheitlidie, abgeschlossene Lulividaen ansehen
nflssen; smual wenn sie bald fitr diesen, bald fttr jenen oder sogar sogleich flir
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
dazu die emheitliche kaufmännische Spitze eines „Geschäfts", d. h.
einer Unternehmung: eine Unternehmung, die an ganz verschiedenen
Orten je eine Spinnerei, eine Weberei, eine Druckerei etc. hat, ist
nicht Ein Betrieb, sondern zerfallt in eine Anzahl Betriebe. Das
äulsert sich bebpielsweise in einer vielleicht völlig verschiedenen
Betriebsordnung bei den einzelnen Betrieben: wenn in diesem
katholische Feiertage eingehalten werden, in jenem nicht;') wenn
' in diesem eine chikanöse Behandlung der Arbeiter stattfindet, in
jenem nidit; wenn in diesem gestrdkt wird, in jenem nicht; wenn
in diesem ein neues Verlahren eingeführt wird, in jenem nicht;
wenn dieser ganz eingestellt wird, jener nicht; wenn in diesem die
Arbeitszeit verkürzt oder verlängert wird, in jenem nicht u. s. w. u. s.w.
Genügt danach einheitliche Produktionsorganisation nicht, um
die Einheitlichkeit eines Betriebes zu begründen, so ist umgekehrt
nicht etwa, wie aus den angeführten Beispielen irrtümlich gefolgert
werden könnte, Einheit der VVerkstätte immer notwendiges Er-
fordernis für die Einheitlichkeit eines Betriebes: diese kann auch
vorliegen, trotzdem sich der Betrieb an verschiedenen Punkten ab-
spielt. Geschieht dies nacheinander, so dürfte überhaupt kein
Zweifel an der Einheit des Betriebes aufkommen; so bei der Arbeit
mehrere Verleger arbeiten. Letzteres ist auch bei eiiuchien Ilausindustriellen häufig
der Fall: in wdcbem Betriebe wfliden sie alsdaiia arbeiten? oder wttide der Hcim-
aibeiter in einen anderen Betrieb eintreten, wenn er die Hosen des Einen Verlegers
wefl^ und die Weste des anderen in Angriff ninuntt! Interessant ist es, «a beob>
achten, wie durch allerhand Auskünfte die Verleger die offenbaren Mingel der
Nichteinheitlichkett der hausindustriellen BetriFhc ni verringern bemüht sind. So
durch Anstrllunj; sop. „F.intreibrr", über die c1<t ..Konfektionär" vom 16. März 1890
folgendes bemerkte: ,,F. i n t r c i b e r wrrden j.; «• s ur h t ' Dieser Ausdruck mag
wohl neu sein, bisher gab es in der Kualcktiuu nur tinrichlcr. „Einlreibcr" werden
solche junge Leute genannt, welche während der Saison täglich von morgens früh
bis abends spit die Schneider besodien mttssen nnd daflir su sorgen haben, dals die
Lieferangen pOnkdich heranakommcn, dafs die Schneider flott liefern, dafs sie not-
wendige und eilige Sadien raerst vornehmen, dafs sie jetat gestickte Kragen nnd
keine Tüllkragen ablirfem, die noch nicht gebraucht werden rtc Solche Eintrdber
sind jetrt sehr gesucht."
' Vgl. /. H. den viel besproch' n.-n Kall der .Aussperrung der .\rl)eitcr auf dem
l'u-Nberg, welche der GeorgN-Marienluittr angehörten. I)er Streit w;ir entstünden,
weil aul diesem Bergwerk andere kathulischc Feiertage eingehalten werden sollten
als auf den fibrigen. ScUicftdtch wnr^ der Kesberg gar nicht mehr in Betrieb
cfhalten, das Beifweric ersoff'. Siehe Deutsche Indnstrieseitung XVII (1898) Nr. 9^
S. 193 f-
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326
Werner Sombart,
des Störers, der russischen Artele u. Aber es gilt audi für die
gleichzeitige Arbeit an verschiedenen, räumlich getrennten Stätten.
Das ist Mar, z. B. bei einer vieUeicht über dreifstg oder vierzig
Hektare ausgedehnten Waggonmanufaktur, deren einzehie Werk-
stätten doch alle unter Einer straffen Zentralleitung stehen, trotzdem
sie oft halbe Stunden lang auseinanderliegen. Aber auch die ge-
trennt liegenden Werke eines Hochofen- und Eisenhüttenwerks
können unter Umständen Einen Betrieb formieren. Beispielsweise
der Hochofen und die Kokerei, oder der Hochofen und das Puddel-
öder Schmelzwerk, oder das Stahl* und das Walzwerk u. s. w. Ein
Bergwerk, das doch sacher einen einheitlichen Betrieb bildet, ist
seiner Natur nach über melircrc räumlich voneinander getrennte
Stätten ausgebreitet. Wenn auch die verschiedenen Arbeitsstellen,
die nach Einem Förderschacht gravitieren, in diesem auch ihre räum-
liche Vereinigung finden, so hat doch ein und dasselbe Bergwerk
oft mehrere Förderschächte; und auüser dem Förderschachte ge-
hören zu dem Betriebe beispielsweise eines Eisenerz- oder Zink-
bergwerks noch die Aufbereitungs- und Waschanstalten, die oft
Stundenweit von der Förderstelle entfernt auf den Halden liegen.
Die Bleicherei und Färberei einer Weberei können j^anz «^'ctrennt
von dem Websaalc sein und docii mit der Weberei Einen Betrieb
bilden, ebenso wie die Sjnilerei. Schererei und Aufl)äumcrei.
Dann gicht es auch Fälle, in denen die über ein grolses Ge-
biet ganz separiert ari)eitenden Einzelarbeiter doch als Zugehörige
zu Einem Betriebe angesehen werden müssen, weil sie einer ihren
Arbeitsprozels bis in dir Details regelnden — d. h. auch die Interna
der Produktion umfassenden — einheitlichen Leitung unterstehen.
Hierhin rechne ich z. B. die von einer Zentrale ausgesandten
Malergehiilfen, die in den einzelnen Wohimngen ihre .Arbeit ver-
ricliten : sie erhalten nicht nur den Plan der Produktion, sowie die
Details der .Xusführiuig ganz genau vorgeschrieben, sondern sie
unterstehen auch dei unausgesetzten Kontrole des reiheumpassierenden
Malermeisters, haben vorgeschriebene Anfangs» und Endtermine,
Pausen u. s. w. So kann auch — wenn es auch nicht, wie oben
schon gesagt wurde, die R^l bildet — doch gelegentlich eine
Zusammenfassung mehrerer isoliert arbeitender Hausindustriellen
zu Einem Betriebe erfolgen ; sobald nämlich die interne Leitung der
Arbeitsverrichtung eine einheitliche wird. Das würde ich beispiels-
weise behaupten ftir eine Organisation, wie sie etwa Thun ab der
älteren Krefelder Seidenindustrie eigentümlich uns geschiklert hat
Digitizedby Goe^ilc
Die gewerblicbe Arbeit und ihre Oisaaisation.
3*7
Dort ,, stellte die Firma bei (.intretenclciii Hedurfiiis einen Webstuhl
neu in der Wohnung des Meislers auf, ihm wurden dann (iesellen
zu^^eteilt, für deren Beaufsichtigung er einen Teil am Weblohn er-
hielt bei schlechtem (ieschäftsgange wurde der 5., 4., 3. Stuhl
bei den gröfscren Meistern stillgesetzt und ihnen die Arbeitszeit be-
stinunt. Eine Kontrole war in dem Städtchen leicht auszuüben."')
Kbensü kt')nnte man versucht sein, den Betrieb der verschiedenen
Handwerksmeister mancher mittelalterlichen Zunft als Kinen an-
zusprechen. Denn oft erstreckte sich das Aufsichts- und Kontrol-
recht der Zunft nicht nur auf die Qualität der Ware, die Zuziehung
von Hilfskräften, die Nutzung von Arbeitsmitteln, sondern auch auf
die Arbeitssceit, deren An&ng und Ende, ihre Päusen etc. „In
Aachen ertonte um 11 Uhr vormittags und um 9 Uhr abends eine
Glocke, auf deren Läuten alle Tucharbeiten eingestellt werden
mufsten."*) Ist das nicht einheitliche Leitung des Arbeitsprozesses?
Umgekehrt wiederum können unter Einem und demselben Dach,
in Einer und derselben Stube zwei oder mehrere Betriebe sich ab-
spielen. Ich denke im letzteren Falle an zwei Nähmamsells oder
zwei Sitzgesellen, die in demselben Zimmer doch möglicherweise
völlig verschieden geartete und disponierte Arbeitsprozesse verrichten.
Aber wie oft beg^;nen wir auch in einem industriellen Etablissement
abgeschlossenen Arbeitsverrichtungen, die ganz deutlich das Merk-
mal eines selbständigen Betriebes in einem andern an sich tragen;
wenn beispielsweise eine mit einem Patent arbeitende Bleicherei
in eine Spinnerei eingeschlossen ist, an deren Spitze ein eigens
engagierter Sachverständiger steht, die ihre besonderen Arbeitszeiten
hat, die bald das Gespinnst der Einen, bald das der andern Spinnerei
bleicht: so müssen wir uns dafür entscheiden, hier einen selb-
ständigen Betrieb zu sehen. Kbenso, wenn wir auf einem Schlacht*
hofe einer Häutesalzerei oder einer Talgschmelze') begegnen.
*) A. Thun, Industrie am Nicdcrrbcin. I. S7 f.
*) a. a. O. S. 10.11.
*) Im Bericht Aber die Verwaltimg des stidtischcn Schhidit» und Viehhofs m
Bresk« fllr 1896—1898 heilst es bebpielsweise: „Die Talgschmelze ist an die
Breshmer Prodnktea-, Spar* imd Darlehnsbank auf sdn Jahre verpachtet. Gegen-
stand der Verpachtung ist nur die f\\r die<;en Zweck erri^tete Baulichkeit, einschlief»»
lieh Wasserleitung, femer der Betricb>>danipf . dagegen ausschliefslich sämtlicher
ma-schineller F.inrichtunfjrn. welch«* von der Mieterin hergestellt worden sind . . . I>ie
Talgschmelze wurde am i. Dezember 1896 in Hctrieb genommen." (S. 26.J Der
Schlachthot ist am l. Oktober ii>96 eruiTnet worden.
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328
Werner Sombart,
Wenn es in dem Büchlein, das die statistiNrhen Angaben über
Friedrich Krupps Geschäft entliält iX. 1896), auf Seite II ff.
heilst: ,,Zur Gufsstahlfabrik in Es^,en (gehören folgende „Betriebe":
2 Be>senier\verke, 4 Martiinverkc, 2 Stahlfonnp^iefsereien, Puddel-
vverke, Schwcilswcrke, Schmelzbau für Tie<^elstaiil, Eisen^ielserei,
Geschofs^^iefserei, Messinf]^f^ierserei, Glühhäuser, Märtekamnier, Tie>:jel-
kainmer, Blockwalzwerk, Schienenwalzwerk, Blechwalzwerk, Laschen-
und l'ederstahlwalzwerk, I*'achwerkstatt, Prefsbau und Panzerplatten-
Walzwerke, Hammerwerke, Räderschmiede, Herdschmiede, Huf-
schmiede, Bandagenwalzwerk, Satzaxendreherei , Kesselschmiede,
Feldbohrbau, mechanische Werk>tatt T, Feilenfabrik, 4 Rcj)aratur-
werkstätten, iMscnbahnreparaturwerkstatt, (iesrhütz- und Munitions-
werkstätlen urul zwar — ^"'^t ^^'t? Aufzühiun«^ von abermals
36 Werkstätten — Probier.nistalt, Chemisches Laboratorium l und II,
Werkstätten der Bauhandwerker und zwar I Zinunerwerk^tatt,
I Klempnerwerkstatt, i Bauschreinerwerkstatt, i Mobclschreiner-
werkstatt, 1 Stellmacherwerkstatt, i Anstreicherwerkstalt, i Säi^e-
werk ; Sattlerei, Schneiderei, Damptlsesselaiilagen, Elektrizitätswerk,
Gaswerk mit 3 Gasometern, Wasserwerk mit 3 verschiedenen Wasscr-
gewinnun;^sanlagen, Fabrik für feuerfeste Steine und lki(]uettes,
Ringofenziegelei, Kokerei. Steinbrüche, Feldofenziegelei, litho
graphische und photographische Anstalt nebst Buchbinderei, Güter-
exi)edition, l'uhrwesen, Telegraphie, relej)honbetrieb, Feuerwehr-
und Sicherheitsdienst, Konsum-Anstalt" etc. — so ist hier allerdings
wohl der Begriflf des Betriebes etwas enger gefafst als von uns.
Sicher aber ist andererseits dieses, dafs die ,,Gulsstahllabrik in
Essen" keineswegs Ein Betrieb ist, dafs sie vielmehr verschiedene
Dispositions- und Leitungszentren hat, die in der Regel mit der
Charge eines , .Direktors" in den grofskapitalistischen L'nternehmungen
zusammenzufallen pflegen. Was Eines Mannes l'msichi /.u leiten
vermag, wird zu Einem Betriebe zusammengefalst, dessen Leiter
wesentlich selbständig ist untl von dem Oberlciter — dem „(ieneral-
direktor" — lediglich allgemein gefafste Instruktionen empfangt. Die
praktisch durchaus scharfe Trennung der verschiedenen, zu be-
sonderen Betrieben ausgebildeten Departements eines grofsindustriellen
Werkes ist eine jedem F^ingewcihten bekannte Thatsache, in der
unsere Begrififsbestinuiunig so recht die Bestätigung ihre Richtigkeit
erhält. „Das geht mich nichts an, das ist Sache meines Kollegen"
ist die oft gehörte Antwf)rt eines solchen Departementschefe
eines grölseren Etablissements, der zuweilen auch schon in seinem
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Die gewerfalkhe Arbeit und ihre Organtsfttioo.
Titel — „Betriebsdirektor" — die Bctriebseinheit ia Wissenschaft«
lieber Auffassung zum Ausdruck zu bringen pflegt. Tn einem
gröfseren Montanwerke Oberschlesiens fand ich als selbständige, teil-
weise aber räumlich scheinbar ungetrennte Betriebe, deren Vorstände
alle direkt von der -— an einem andern Orte gelegenen — „Zentral'
direktion" ressorti orten, d. h. eben doch nur Produktionsanwdsungen,
nicht eigentlich Bctriebsanleitunj:,'en empfingen, folgende: l. die
Eisenerzförderung; 2. den Hocliofenbetrieb; 3. die Kokerei; 4. das
Puddehverk; 5. das Stahlwerk; 6. das Walzwerk. Diese Organisation
bildet überall die Regel, wo die Teilwerke zu solchem Umfang
ausgewachsen sind, dals sie die Thätigkeit eines technisch geschulten
Mannes voll in Anspruch nehmen.
2. Formen des Betriebes.
Bei dem ganzlichen Mangel einer kritischen Betriebssyste- ,
matik') scheint es wänschenswert, unserem eigenen System eine
Kritik der Kriterien, der principia divisionis, die für die Artenunter-
scheidung des Betriebes vornehmlich inbetracht kommen, voraus»
zuschicken.
Es liegt nahe, daran zu denken, den Zweck, zu dessen Ver-
wirklichung ein Betrieb ins Leben tritt, zum Unterscheidungsmerkmal
für die einzelnen Betriebsarten und Betriebsformen auszuersehen.
Dieser Zweck ist, wie wir wissen, die Gebrauchsgüterherstellung.
Wollte man nun die Einteilung der Betriebe nach den Modalitaten
ihres Zweckes vornehmen, so wären zwei Möglichkeiten denkbar:
entweder man sähe bei den in einem Betriebe hergestellten Ge«
brauchsgütem auf ihr Wesen, das darin besteht, Gebrauchswert zu .
sein — Gebrauchsgut in abstracto — oder auf ihre äulsere Er-
scheinungsform, wie sie in der bunten Reihe der verschiedenen
Gebrauchsguter — Stiefel, Röcke, Bibeln — zum Ausdruck kommt
— Gebrauchsgut in concreto. Im ersteren Falle gestaltet sich der
Zweck der Gebrauchsgüterherstellung zu einem einheitlichen, in
*) AH: nachmandacher Litteratnr kommen in Betmeht nur einxelne Stdlen in
den Schriften von Bflcher und Herrmann, die gerade al>er diekritiacbe Bebandlimg
des Stoffes nicht eigentlich zu ihrer Angabe gemacht haben. Auch Hux stand ja
bdmnntltch' einer kritisdien Anfiaasmig unserer Probleme fem. Seine ^stematik
selbst, so geistx'oU sie ist und so sehr wir durch sie gefördert sind, UisC doch
beote begreiflicherweise unbefriedigt. £5 wird sich im weiteren Verlauf Gelegenheit
bieten, den Manischen GedankengSngen die richtige Stellung anzuweisen.
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Werner Sombart,
leuterem ist die Zahl der Einzelzwecln unendlich; in beiden
Fallen aber erweist sich das Merlanal der Zwecksetsung als gleich
ungeeignet, ein System der Betriebsarten zu schaffen: das eine Mal,
well der Zweck überhaupt nicht unterschiedlich, sondern uniform
ist; <)as zweite Mal, weil die Unterscheidung nach dem Eiozelzweck
der konkreten Gebrauchsgüter nichts als eine wertlose Au&ahlung
einzelner Produktionsbranchen zu Tage fördern würde.
Dazu kommt das weitere Bedenken, dals der Zweck, auch wenn
er Singular bestinunt wäre, über wicht i<;e Merkmale des Betriebes
gar nichts aussagen würde, auf deren Unterschiedlichkeit wir gerade
besonderes Gewicht legen. So ist der Zweck indifferent g^fenüber
dem Moment der Gröfse, des Arbeitsverfahrens u. s. w.
Aus diesen und anderen Gründen erscheint die Wahl des Be-
triebszweckes als Einteilungsprinzip gänzlich verfehlt; wir werden
vielmehr ein solches in den Modalitäten der Betriebs -
gestaltung, also in der Eigenart der Mittel — wir nannten die
Betriebsform mittelbestimnil I — ausfindig' /u machen haben.
Das haben unkritisch die meisten bi.siierigen Betriebssystematiker
gelhan. indem sie die betriebe nach dem Merkmal der Grölse
oder des Umfan^^es ein^feteilt liaben. Dals damit ein aulseronlent-
lich bedeutsames Moment der Iktriebsgestaltun^^ ^'ctruti'cn ist, unier-
liegt keinem Zweifel. Trotzdem habe ich Bedenken, den Betriebs-
umfang zum fundamentum divisionis zu wählen. Und zwar aus
folgenden Gründen: i. weil es Schwierigkeiten macht, zu bestimmen
der Umfang welches Betriebsfaktors für die Kinteilung entscheidend
seui soll. Es bieten sich hier verschiedene Möglichkeiten dar. Man
kann nach der räumlichen Ausdehnung die Betriebe unterscheiden, oder
nach der Menge der Produkte, oder nach der Grölse und Zahl der
verwendeten Arbeits- und Kraftmaschinen, oder endlich — was am
häufigsten geschieht — nach der Zahl der beschäftigten Personen.
Je nach der Wahl eines dieser Faktoren würden die verschiedenen
Betriebe je in eine andere Rubrik des „Grolsbetriebs", „Mittelbetriebs",
,4Cleinbetriebs" einzuordnen sein« Aber auch angenonmien, eine
Einigung über das ab Unterscheidungsmerkmal zu wählende Grö&en-
moment sei herbeigeführt, es sei etwa die Anzahl der beschäftigten
Personen als solches anerkannt, so wären alle Bedenken gegen dieses
Kriterium noch nicht erschöpft. Zunächst bliebe 2* noch zu erinnern,
dals die Gröfse ja immer nur eine differentia gradualis, keine
differentia specifica bildet: wo soll die Grenze zwischen Klein-,
Mittel* und Groisbetrieb liegen? Etwa da, wo sie traditioneUer Weise
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Die gewerblkke Arbeit imd ihre OrgaiUMtioo.
331
die Statistik hinverlegt hat? Und warum bei 5 und 20 Personen?
Warum nicht bei 10 und 30? Will man darauf eine befriedigende
Antwort geben, so niüfste man die spezifischen Unterschiede der
verschiedenen Gröisenklassen bc/eiclmen und würde ja damit schon
das Kriterium der reinen Grölse fallen lassen. Des weiteren aber
krankt dieses Kriterium 3. noch an dem Uebelstande, dafs es doch
nur sehr imhestimmt die Eigenart eines Betriebs zum Ausdruck
brinj^'^t. Es ist vor allem indifferent i^c^^eniiber einem aufscrordcntlich
wichtii^en Charakteri'-tikum der Belriehsfi^estaltun^ : gegenüber dem
Arbeitsverfahren. Diese Erwägungen he>timnien inicli, die Bi tricbs-
gröfse in Ansehung ihrer Wichtigkeit /war als Einleihingsprinzip
nicht gänzlich unberücksichtij^'t zu lassen, sie jedoch zum Range
eines principium subdixisioiiis zu de^^radieren.
Ein Merkmal des Betriebes, das uhne Zweifel nicht nur graduelle
«sondern spezifische Unterschiede bej^ründet, ist nun das schon mehr-
fach erwähnte .Arbeitsverfahren, so in einem Betriebe zur An-
wendung gelangt. Wir sind über die verschiedenen Methoden der
Arbeit soweit unterrichtet,') um überblicken zu können, welche Art
Unterscheidung und Einteilung sich ergeben würde, wollte man die
Veriahrungsweise zum Unterscheidungsmerkmal wählen. Wir er-
hielten alsdann:
1. Betriebe mit arbeitszerlegendem Verfahren und solche ohne
dieses Verfahren, sagen wir der Kürze halber: arbeitsteilige
und nicht arbeitsteilige Betriebe f
2. Materialvereinigende und nicht vereinigende Betriebe;
3. Werkzeug- und Maschinenbetriebe, je nach der BeschafTen-
hett des Arbeitsmittels;
4. manumotorische und mechanomotorische Maschihenbetriebe,
je nachdem die Maschinen durch menschliche oder elemen-
tare Kraft in Bewegung gesetzt würden:
5. empirisch und rationell geleitete Betriebe, je nach der Be*
schaffenheit des (iesamt Verfahrens.
Gegen diese Art der Einteilung walten nun aber >^dcichfalls
nicht unwesentliche Bedenken ob. Zunächst eines mehr formaler
Natur: dafs nämlich nach der Verschiedenheit des in einem Betriebe
zur Anwendung gelangenden Verfahrens zwar sich mit Leichtigkeit
eine lange Reihe von Zweiteilungen bilden läfst, wie aus unserer
Au^hlui^ schon hervorgeht; dafs es aber autserordentlich schwer
') Vgl. den vorliegenden Band dieses Archiv», S. 17 ff.
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332
Werner Sombart,
fallt, nun diese nebeneinander stehentlen Doppclfornien zu einem
wirklichen System über- und unterzuordnen, was (ioch einmal mit
Vng beanspruclit werden darf. Dazu nämlich fehlt es an der hervor-
stechenden \\'ichti<^kcit und Bedeutung eines der {gemachten Unter-
schiede, die diesen befähigten, die Hauptteilung zu bestimmen, in
die dann tlie anderen unterschiedenen Artpaare eingeordnet werden
könnten. Dazu kommt aber auch noch ein mehr sachHches Be-
denken gegen die Einteilung nach Verfahrungsweisen : dafs diese
nämlich ebenso wie das Moment der Gro&e faedetttsamen anderen
Merkmalen der Betrid)sgestaltung gegenüber indifferent sind, mithin
doch keine genügend klare Sonderung wirklich verschiedener Arten
mit ihrer Hilfe allein möglich ist Verhielt sich das Moment der
GröGse indifferent g^enüber dem Arbeitsverfahren, so ist dieses
noch viel gleichgültiger gegenüber der Groise eines Betriebes.
Das arbeitszerl^ende oder materialvereinigende Verfahren kann
ebensogut von einem Einzelarbeiter wie von einer tausendköpfigen
Menge zur Anwendung gelangen und auch die anderen Verfahrungs*
weisen sind prinzipiell nicht an eine bestimmte Betrieb^frofse ge-
bunden. Bestimmte^ konkrete Verfahren mögen zu ihrer Anwendung
eines bestimmten Betriebsumfangs bedürfen: ich kann keine moderne
Papiermaschine und keinen modernen Hochofen im Rahmen eines
Kleinbetriebes zur Verwendung bringen. Aber das Prinzip des
maschinellen oder automatischen Betriebes ist ebenso realisierbar in
dem kleinsten wie im grötsten Betriebe. Es giebt keinen reineren
Maschinenbetrieb als den der ,^rmen Nähterin" oder des Haus-
webers im Kulengebirge und auch die mechanische Kraft wird heut-
zutage in Pferdestärken ebenso sehr von dem Zwergbetriebler
benutzt wie* von dem Riesenbetriebe. Offenbar sind wir aber um
keinen Schritt in der Betriebs^rstematik gefordert, wenn wir die
VVeifszeugnähcrin und Krupp zusammen geworfen und in Gegensatz
gebracht haben zu unserem Schuster und der Pariser Gobelinmanu-
faktur blois deshalb, weil jenes maschinelle, dieses keine maschinellen
Betriebe sind.*)
^) Es mag hier im Vorttb«rgehcn dannf hingcwiesca werden, dafi die Ergeb-
nisse unserer Untersuchung fUr die Ficantvortung der von der sogen, materialistischen
Gfsohichl-sauftassung aufgeworfenen Frage nach <l«Tn Zusammenhange zwischen
,,'rcchnik", ,.\Virt--chafts-" und „Ge>cllsihaft3or'lnuut;" \on BciJcutung sind. Will
man einnul metbodiäch einwandsfrei jene /usammenhäoge darlegen, &o wird man
udi zunächst i. Ober die Begriffe „ l'echnik „WirtMimftsweise*', „sodale Ordnnng**
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Die gewerbliche Arbeit md ihre Oiganintioii.
333
Was sich aus diesen Betrachtungen jeden^ls als zwingend er>
giebt, ist die Erkenntnis, dafs eine glückliche Betriebs^stematik die
beiden für die Betriebsgestaltung, wie wir sehen, entscheidenden
Merkmale : GröCise und Verfahren gleichmäisig als Einteilungsprinzip
berücksichtigen mufs. Will sie das nun nicht in der gedankenlosen
Weise thun, dals sie das eine Kennzeichen zum principium divisionis,
das andere zum principium subdivisionb wählt — was bei der
(ileichwertigkeit der beiden Merkmale immer nur durch einen Akt
der Willkür geschehen könnte — so wird darauf gesonnen werden
müssen, die beiden genannten Kriterien zu einem höheren Begriffe
zunächst 7.U vereinigen, und dann mit seiner Hilfe dir Einteilung
in die Hauptkategorien vorzunehmen. Xun finden aber unsere beiden
Momente der Bctriebsgestallung ihre Einheit in dem Moment der
Anordnung der P r o d u k t i o n s f a k l ( > r e n.
Die Zusammenfassung mehrerer Arbeitskräfte zu Einem Betriebe,
wotlurch seine (irölVc l)estimmt wird, ebenso wie das Anwenden
eines bestimmten \ erfahrens in diesem Betriebe, gehen gleicher-
weise auf eine bestimmte Anordnung zurück. Wenn wir aber diese
zum Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Betriebsarten wählen,
XL dgl. dnigen mlbsen. Einen Anfang dam glaaben wir mit tinseren Diatinktionen
gemacht m haben. Danach wtre a. genau fcaUutdlen, awiichen was der Zuaanunen-
bang nachgewiesen werden soll. Nach unserer Terminologie . .\. zwischen Vcr>
fahrnngsweisc und Betriebsfomien; B. zwischen Vcrfahrungswcisc und Wirtschafts-
formen; C. zwischen Betriebs- und Wirtschaflsfornirn. Kndlich wäre 3. zu er-
initt<-ln, welcher ,\rt die ZusammenliänKc t;edacht >ind, ob als so^t ii. n.ituniotwendijje,
die nicht anders sein können ; oder als zwcckmäfsige, die vernünftigerweise von
swcckaetzenden Menschen hergestellt werden n. dgL An dieser Stelle haben wir
alle diese Fragen nicht weiter sn verfolgen. Wenn wir aber in Kflne ans den
Ergebnissen unserer bisberigen Untersocfanngen das Fasit riehen wollen, so ist es
dieses, dafr swischen den Verfabnmgsweisen — gemeinhin „Technik** genannt —
und den charakteristischen Merkmalen der Betriebsgestahmg ein Zusammenhang
derart nicht besteht, dafs durchgängig bestimmte W-rfahrungsweisrn z. H. bestimmte
Brtriebsprofsen erheischten und letztere nur je bestimmten \\rfahrunK< weisen /.u-
^unj.;lich waren. l)af> vielmehr ein weiter Spielraum in der Anweii(lunj.;!<.irt einer
gegebenen Verfahrungsweise besteht, dafs also, um die Gcsctzmälsigkeit eines Ent-
wicklungsganges in Richtung auf bestiinnite Betriebsgcbtaltungen naduuweisen, jeden-
falls die Mofse Existent eines bestimmten Verfahrens nicht geMgt Der Grund«
gedaake des Boches, an dem die hier sum Abdruck gelaagenden Kapttd die Ein«
fttbrung bilden sollen, ist es, dieses an erweisen und gldcbaeit^ dÜejeaigta Potewwn
aufzudecken, aus deren konstantem und notwendigem Wirken sich dasjenige ergiebt,
was wir als sociale Gcsetsm&Cugkett ansuspredien gewöhnt sind.
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334
Werner Sombart,
so geniigen wir auch noch insofern einer anderen Anforderung
sauberen Denkens, als wir für die Kinleiluii^' des Hctricbes auf die
diftercntia S])ct-ihca tUese-- He^'riHes zurückgreifen, somit unsere Kin-
teilung gründen auf Modifikationen eines konstitutiv wesentHclien
Merkmals unseres Begriffes. Endlich kommt dieser Kinteilungsmodus
auch der üblichen Terminologie entgegen, sofern die von uns nach
dem Merkmal der Anordtumg zu sondernden Betriebsarten in
einer gleichsam plastisciien Gestalt von unserer Anschauung erfafst
werden können und daher aucli füglicli als Betriebs fo r m e n , wie
sie in Zukunft nur noch heifscn sollen, bezeichnet werden dürfen.
Die Produktionsfaktoren, die Objekte der Anordnung in einem
Betriebe werden können, sind die menschliche Arbeitskraft
und die äufsere Natur.') Wir können jene als den personlichen,
diese als den sachlichen Produktionsfaktor bezeichnen. Die ,,aufsere
Natur" ist aber eine zu weite Umschreibung, als dafs wir nicht
das Bedürfnis föhhen, etwas genauer zu sagen, was darunter zu
verstehen sei. Die Natur erscheint in jedem IVoduktionsvorgange
I. als Arbeitsbedii^ng; 2. als Arbdtsgegenstand; 3. als Arbeits-
mittel. In ihrer ersteren Funktion schafft sie die sachlichen Be-
dingungen produktiver Arbeit, ohne die überhaupt keine Arbeit
stattfinden kann, mögen nun diese Bedingungen von Natur gegeben
sein, wie die Erde als Standort, die Luft als Atmosphäre, die Kräfte;
oder erst vom Menschen in der ihm dienlichen Form hergestellt
werden, wie Arbeitsgebäude, Wege, Kanäle. Der Arbeitsgegenstand
ist dasjenige Ding, an dem sich die menschliche Arbeit bethätigt.
Auch er wird entweder in der Natur fertig vorgefunden, wie das
Erz oder die Kohle oder der Feuerstein, den der Mensch zuerst
ergriff, um sich ein Werkzeug daraus zu fertigen; oder aber er ist
selbst schon und das der R^el nach Arbeitsprodukt. In diesem
Falle nennen wir den Arbeitsgegenstand Rohmaterial. Das Roh-
material kann ein genufsreifes Gebrauchsgut sein, wie die Traube
als Rohmaterial der Weinbereitung, die Kohle, das Salz, das Oel
u. dgl. als sogenannte Hilfsstoffe der Produktion. Oder aber sich
in einer Forn) l)efindcn , in der es lun- als Rohmaterial weiterer
Verarbeitung dienen kann, in diesem Kalle hcifst es Halb- oder
(nach Marx) Stukiifabrikat, wie Roheisen, Holzfaser, Baumwollgarn.
Das .Arbeitsmittel endlich kennen wir schon. Wir definierten es als
' ) Vgl. fiir das folgende K. Marx, Kapiul. FUnrtes Kapitel, t. „Der Ar>
beit!>prozeÄ$".
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
335
ein Ding oder einen Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen
sich und den Arbeitsgegenstand schiebt, um sie als Macht-
mittel auf andere Dinge seinem Zwecke gemäß wirken zu lassen.
Genauer können wir dann aktive und passive Arbeitsmittel unter-
scheiden. Marx bezeichnet die ersteren als „die mechanischen Arbeits-
mittel, deren Gesamtheit man das Knochen- und Muskelsystem der
Produktion nennen kann"; es sind Werkzeuge und Maschinen, die
thätig unter der Leitung des Menschen in die neuzuformende Materie
eingreifen, während die andere Kategorie der Arbeitsmittel die mehr
passive Rolle in der Produktion spielt, als Behälter für Stoffe und
Kräfte zu dienen, es sind dies die Kessel, Röhren, Bottiche, Fässer,
Körbe, Krüge etc^ jene Arbeitsmittel, „deren Gesamtheit ganz all-
gemein ab das GefaTssystem der Produktion bezeichnet werden
kann". Sämtiiche Bestandteile des sachlichen Produktionsfaktors
können wir auch Produktionsmittel im weiteren Sinne nennen
und unter' ihnen diejenigen als Produktionsmittel im engeren Sinne
unterscheiden, die bereits Arbeitsprodukte sind. Wir werden im
folgenden, wo nichts besonders gesagt ist, von Produktionsmitteln
in jenem weiteren Verstände ab dem InbegrifT sämtiicher sachlicher
Produktionsfaktoren sprechen und also alle Betriebsanordnung in
der Ausstattung der menschlichen Arbeitskraft mit den für die
Zwecke der Produktion geeigneten P^uktionsmitteln sich er-
schöpfen lassen.
Alle Organisation menschlicher Arbeit beruht, seitdem die aller-
ersten Anfange planmäbigen Produzierens überwunden sind, auf nur
zwei verschiedenen Prinzipien: auf der Spezialisation und der
Kooperation. Nichts anderes vermag der Mensch zu ersinnen,
als diese beiden Organisationsprinzipien, die auch der voUendesten
Betriebsanordnung, freilich in mannigfacher Kombination' aUein zu
Grunde liegen.
Unter Spezialisation verstehe ich diejenige Art der An-
ordnung, welche Einenn und demselben Arbeiter gleiche, wieder-
kehrende Verrichtungen dauernd zuweist. Sie bt also diejenige
Form der Organisation, in der das arbeitszerlegende Verfahren recht
eigentlich erst nutzbar gemacht wird. So lange dieses Verfahren
von Einem Arbeiter angewandt wird, so lange bleiben seine
produktivitätssteigernden Vorzüge noch wesentiich latent Erst
wenn der Eine inrnier dasselbe thut, brechen sie mächtig hervor.
Nun müssen wir uns aber darüber klar sein, dab der Grad der
SpeziaUsation ein auberordentiich verschiedener sein kann. Es war
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336
Werner Sombart,
eine Anwendung des Prinzips der Spezialisation, als zuerst die
Schmiedearbeit oder die Töpferei dauernd von demselben Arbeiter
ausgeübt wurden, und es ist nur ein Gradunterschied in der An»
Wendung desselben Prinzips, wenn in der modernen Konfektion eine
Arbeiterin ihr ^nzes Leben nur Hornknöpfe an Männerwesten
annäht. F,s bleibt sich ebenso ij^lcich, ob die Teilverrichtung, die
ein Arbeiter dauernd vornimnit, durch horizontale oder vertikale
Spaltung des vorher vereinigt gedachten Gesamtarljcitsprozesses
entsteht: ob zwischen Schlosserei und Schmiederei oder zwischen
Gerberei und Schuhmacherei die Trennung sich \ollzicht. Ks ist
aber endlich für den Begriff der Spezialisation, die, worauf noclimals
nachdrücklich hingewiesen w erden mag , kein Arbeitsverfahren,
sondern ein Organisationsj»rinzip ist, d. Ii. erst entsteht auf der
Basis einer bestimmten Betriebsanordnung, gleichgültig, ob die
Sp e z i a 1 i sa t i o n zwischen Betrieben oder innerhalb Kines
Betriebes erfolgt. Im ersleren I'alle entsteht das, was wir Spezial-
betriebe nennen, unter denen es nun abennals eine aufserordentlich
mannigfadic Graddsstufung giebt, innerhalb deren aber keinerlei
irgendwie feste Grenze für eine spezifische Unterschddung gezogen
werden kann.') Die Schmiederei als Ganzes ist ein Spezialbetrieb,
verglichen mit der ehemals sie mit umfassenden bausgewerblichen
IVoduktion; die Scbmiederei ist ein spezialisierter Betrieb, nach-
dem sich die Schlosserei von ihr geschieden hat; die Wericzeug-
schmiederei ist inneriialb der so qiezkdisierten Schmiederei wiederum
ein Spezialbetrieb, die Sensenschmiederei innerhalb der Werkzeug-
schmiederei u. & f.
Damit das Prinzip der Spezialisation innerhalb eines
Betriebes zur Anwendung gelangen könne, d. h. damit in einem
und demselben Betriebe der eine inrnier dies, der andere immer
jenes zu thun imstande sei, muls nun aber offenbar eine bestimmte
Bedingung in der betreffenden ßetriebsanordnung erfüllt sein, die-
jenige nämlich, dafs mehrere Arbeiter zu gemeinsamem Wirken
zusammengegliedert seien, d. h. es mufs d?s zweite Prinzip der
Arbeitsorganisation, von dem wir schon Kenntnis haben, zur An-
') Etwas anderes ist es natürlich, wenn wir einen bestimmten Grad der Spe-
zialiiatiaa als fest gegthtn annebmen, diejenigen Betriebe, die ihn aufweisen, als
Vollhot rifbe" und alle nur Teile dieses Vollhetriebos umfassende Betriebe als ^Spt"
zialbeU'iebe" bezeichnen. So verfahren wir mit vollem Kocht, wo wir die Zetsetmi|SS>
rozessc des alten „Handwerks" uns klar zn machen haben.
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Die gewerbliche Arbeit and ihre Organisation.
337
Wendung gebracht werden: die Kooperation. Diese besteht
zunächst in nichts anderem als in einer Summierung individueller
Arbeitskräfte, die erst später eine bestimmte Gliederung zu einem
organischen Ganzen erüabren. In ihrer primitiven Form nennen wir
sie einfache Kooperation, in ihrer Kombination mit der
Spezialisation arbeitsteilige Kooperation. So erhalten wir
folgendes Schema für die Anwendunj:^ der Organisationsprinzipien:
1. Robinson deckt seinen Gesamtbcdnrf allein; er kann zwar
das arbeitszerlegcndc , das niatcriaK crcinigcndc X'crfahren
anwenden, al)cr weder sich spezialisiren, noch kooperieren;
2. Robinson und IVeitai^ verteilen ihre Gesanitarbeit so, dafs
jener auf die Ja<^d ^a-ht und Fische fängt, dieser die Haus-
arbeit \ crrichtet : einfache Spczialisation ;
3. Robinson und Freitag \crcinigen ihre Arbeit, uin den Baum-
stamm , aus dem ihr Boot angefertigt werden soll , /.um
Strande zu rollen : einfache Kooperation :
4. Robinson und hVcitag gehen zusaninien aut die Jagd; Freitag
treibt das Wild zu, Robinson schiefst es ab: Vereinigung
von Kooperation und Spezialisation «* arbeitsteilige Koope-
ration.
Alle weiteren Unterschiede der Betriebsgestaltung sind nun
entweder nur quantitativer Art, d. h. eine Folge stärkerer Speziali-
sation oder vermehrter Kooperation, oder aber sie werden begründet
durch die verschiedenartige Gestaltung des sachlichen Ptoduktions-
fektors: durch die verschiedene BeschafTenheit oder verschiedene
Anordnung der dem Arbeiter zur Verfugung stehenden Produktions-
mittel.
Jedenüüls ergebt sich, wie aus dem oben Gesagten erhellt, eine
grofse Mannigfaltigkeit der Betriöbsformen auch wiederum nach
der Verschiedenheit der Anordnung der Produktionsfoktoren zu
einem Betriebe. Deshalb wird es wünschenswert sein, einen einheit-
lichen Gesichtspunkt für die sachgemäTse Gruppierung dieser ver-
schiedenen Anordnungsmodalitäten zu wählen. Als solcher bietet
sich nun aber am besten dar : das Verhältnis des einzelnen Arbeiters
zu dem Gesamtprozefs und dem Gesamtprodukt, als dem Ge-
samtbetriebe im Zustande des Wirkens und dcs Ge\v!r1<ten. der
Vollbringung und des V^oUbrachten, der Bewegung und der Ruhe.
Dieses Verhältnis kann ein prinzipiell zweifaches sein: entweder
Wirken und Werk gehören einem Individuum eigentümlich an, sind
der erkennbare Ausflufs seiner und nur seiner höchstpersönlichen
üiyiiized by Google
33»
Werner Sombart,
Thätigkeit, sind somit selbst individuell und persönlich; oder
Wirken und Werk sind das gemeiosame, nicht in '=?einen Einzel-
teilen als individuelle Arbeit unterscheidbare Ergebnis der Thätigkeit
vieler, existieren nur als (iesamtwirken und (3esamtwerk, sind also
nicht persönlich, sondern kollektiv, nicht individuell, sondern i^esell-
schaftlich. Danach lassen sich alle Betriebe in zwei ^rofse (iruppen
einteilen : in solche, in denen die Anordnutif^ der l'roduktiuiislaktoren
derart ist, dafs das Prtxlukt als Produkt eines einzelnen Arbeiters
erscheint, ') und solche, in denen die Anordnun^^ der Produktions-
faktoren derart ist, dals das Produkt als Produkt eines Gesaint-
arbeiters erscheint. Ersterc sollen individuelle, letztere gesell-
schaftliche Ret riebe heifsen.
Ehe wir nun aber nach diesem Merkmal eine Betricl)ss\ stematik
entwerfen, wird es notwendig sein, den Leser davon zu überzeugen,
dafs unser Unterscheidungsmerkmal, das wir nach so vielem Suchen
endlich gefunden haben, thatsächUch die Rolle zu spielen berufen
ist, die wir ihm zuweisen wollen. Die Gründe, nach dem \'crgcsell*
Schaftungsmoment die Betriebe einzuteilen, sind folgende:
1. Das Merkmal ist ein konstitutiv wesentliches des Begriffes,
dessen Arten wir unterscheiden wollen, sofern es das Moment
der Anordnung selbst betrifft;
2. das Merkmal rrestattet eine einheitliche Systematik, sofern
alle sonstigen Merkmale \on Bedeutung notwendig in ihm
eingeschlossen sein müssen;
3. da> Merkmal gestattet eine deutliche, d. h. spezifische Unlcr-
scheidutig der verschiedenen Betriebsarten und schliefst
— im Prinzip wenigstens, werni auch, wie wir sehen werden,
nicht durchgängig in der praktischen Anwendung — jeden
Zweifel aus;
4. das Merkmal ist das wichtigste der Betriebsanordnung über-
*) Soweit es sich utu dicjcuigc I'ruduktion bandelt, die »ich innerhalb de*
lUhmeiis Eines Betriebes abspielt: vom Augenblick, da das Leder in die Gerberei
eintritt, bis zu dem Angenblidte, da es sie TerUUsL Dals ohne diese Besdufinkni^
individuelle Produktion kaum je existiert bat, jedenfalls nur in der SfAire primi*
tivster Eigenwirtscbaft existieren ksmn, ist klar und oft ausgesprochen. In einem
eini^^ermafsen ettt«'ickelten Wirtschaftsk-brn ist auch die Arbeit des alleralleinigsten
Protluzentrn nur <la> (ilird in einer unübersilibarfn Kttto von and-Ten l'roduzfnti-n,
sodafs der priniilivstc Bedarf nur «lurcli das /.usammenwirk'-n Vieler gedeckt werden
kann. Siehe schon den Schafhirten des alten Adam Smilli«
Digilized by Google
Die ipewerfaBdie Aibdt and ihre Orguittdon.
339
haupt, deshalb, weil es für den gesamten Produktionserfolg,
also den Betriebs/Aveck das entscheidende ist.
Dieser letztere Punkt wird noch eine eingehendere Begründung
erheischen.
Will man die Bedeutung der \'ergesellschaftun^ des Arbcits-
pro/.esses in einem Satze zum Ausdruck brin*^en, so läfst sich etwa
sagen : dals sie dasjenige Prinzip der Betriebsorganisation ist, durch
welches die aller technischen Kntwicklung zu (irunde gelegte Idee:
die Hinaushebung des menschlichen Könnens über die
organischen Schranken der Individualität zur Reali-
sierung, verhilft. Wozu die Fortschritte menschlicher Kenntnisse
und K&iste mtr die Möglichkeiten schaffen, das fuhrt die gesell«
achafUiche Anordnung des Betriebes im Leben aus; sie nur alleia
ist die, Vollenderin und VoUstreckerin der Gedanken, auf denen
sich dasjenige aufbaut, was wir als technischen und mithin ^cono-
mischen Fortschritt zu bezeichnen uns gewöhnt haben.
Schon ohne dals irgend eine vollkommene Verfahrungsweise
in Frage stände, ermöglicht die blolse Thatsache einer Zusammen-
gliederung vieler Arbeitskräfte, ihre Vereinigung zu gemeinsamem
Werke eine Steigerung der Leistungsiahigkeit nicht nur, was selbst*
verständlich ist, über das Vermögen des Einzelnen, sondern auch
über die Summe der sämtlichen Arbeitsleistungen in ihrer Vereinzelung
hinaus.
Wir beobachten diese Erscheinung in den Wiricungen der so-
genannten einfachen Kooperation, über die in geistvoller Weise
wiederum Marx') sich ausgelassen hat. Da sehen wir aus dem
kooperativen Zusammenwirken viele Nutzeffekte herausspringen, die
überhaupt nicht ohne dieses gemeinsame Wirken erzielt werden'
könnten : wenn es sich um das Jagen eines grolsen Tieres, oder um
das Heben und Fortschaffen einer Last also um die Notwendigkeit
handelt, eine höhere Kraftpotenz als sie dem einzelnen zu Gebote
steht, zu entwickeln; oder wenn es darauf ankommt, gröfsere Arbeiten
in kurzer Zeit zu bewältigen: bei der Ernte, beim Hcringsfang; oder
wenn eine I'hätigkeit, damit sie von P!rfolg gekrönt sei, auf gröfserem
Gebiete mit einem Male unternoninicn werden mufs: beim Kin-
fangen eines Tieres, beim Umzingeln des l'eindcs, beim Kindämmen
eines Stromes u. dergl. Aber auch wo die X'erriehtung derselben
Arbeit im einzelnen möglich ist, wird sie in einfacher Kooperation
') Vgl. Kapiul 1* 2Jiylt., und djua HclphanU, a.a.O.
Archiv fSr «m. GMtUgebung u. Slatiatfk. XIV. M
L iyiii^üd by Google
340
Werner Sombart,
häufig um ein Vielfaches rascher und korrekter vollzogen. Ich denke
an das bekannte Schulbeispiel des Hinaufwerfens von fiacksteinen
oder des Weiterreichens von Feuereimern in einer geschlossenen
Kette. Auch das psychologische Moment ist zu berücksichtigen.
da(s das Zusammenwirken vieler zum Wetteifer anspornt und die
Intensität der Arbeit mindestens auf einen guten Durchschnitt der
Arbeitsintensität je aller einzelnen Arbeitenden emporhebt.
Um wie viel Gröfseres wirkt nun aber das Zusammenarbeiten
vieler dort, wo es auf der Basis vollkommener Vcrfahrungsweisen
sich aufbaut! Mag es sich um das arbeitszerlegende oder material-
vereinigende Verfahren, um " die Anwendung chemischer Prozesse
oder die Nutzung des Maschinenprinzipes handeln: immer wird die
Werkvereinigung erst die notwendige Bedingung sein, damit jene
Methoden der Arbeit sich recht fruchtbar erweisen. W ir haben
früher gesehen, wie alle diese höheren Arbeitsweisen darauf hinauf-
laufen, die Produktion von der qualitativen und quantitativen Un-
zulänglichkeit des individuellen Arbeiters zu emanzipieren. Aber
die stillschweigende Voraussetzung war doch dabei: dafs nun an
die Stelle des einzelnen Arbeiters ein Gesamtarbeiter tritt, der
gleichsam der Träger jener riesigen Arme und Lungen oder
jener zwerghaft zarten Stech- und Stöfs- und Klopf- und Mefs-
Organe wird. Erst wenn ich die im rationell zerlegenden Verfahren
ausgeschiedene Teilverrichtung der H.ind oder der Arbeitsmaschine
als die besondere Funktion einem bestimmten Organe in dem
Organismus eines Gesamtarbeiters zuweisen kann, bringe ich den
Gedanken der betreffenden Arbeitsmethode voll zur Geltung; und
dafs ich Tausendzentnerhämmer arbeiten lasse, hat doch nur dann
einen Sinn, wenn ich einen Ciesamtarbeiter durch zweckmäfsige
Bctriebsorganisatiorj geschaffen habe, dem dieser Cyklopenhammer
ebenso bequem in der Hand ruht, ebenso angepafst ist, wie dem
Schmiedegescllen sein Dreirsigpfuiidhanimer.
Ersichtlich kann nun aber auch das rationelle Verfahren iiber-
hauj)t, kann die Wissenschaft in der FVoduktion erst Ainvendun'^
finden, wenn und soweit eine kunsi\olle Organisation an die .Stelle
des cinzehien Arbeiters oder einer Summe von Arbeitern den Ge-
samtarbeitcr setzt. Denn wie wir wi.sscn, beruht gerade das wis^en-
schaltlichc X'erfahren darin, den T'rodiiktions])n»zels ohne Ruck<icht
auf die Leistungsfähigkeit und ( ieeigiietheit der menschHclien ( )r-
gane in seine Bestandteile aufzulösen und die Feilprozesse in neuer
Zusammenfügung zu einem Ganzen zu verbinden. Da müssen nun
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Die gewerbliche Art>cit uud ihre Organisation.
.SO viel Träger der Teüverrichtungen, so viel Beaufeichtiger vonTeil-
Prozessen geschaffen werden, wie es das Ver&hren rationell er-
achtet, und diese Teilarbeiter fiigt dann erst .die gesellschaftlidie
Betriebsform zu einem Gesamtarbeiterorganismus, der dann den
Gesamtprozefs repräsentiert, kunstvoll wieder zusammen. Das
wissenschaftliche Veriahren der Produktion hat sein Substrat ebenso
im Gesamtarbeiter des gesellschaftlichen Betriebes, wie die Empirie
in der individuellen Persönlichkeit des einzelnen Produzenten.
Wir werden im Verlauf unserer Darstellung noch öfters Ge-
legenheit haben, auf die Wesensunterschiede zwischen individueller
und gesellschaftlicher Betriebsanordnung einzugehen. Was jedoch
schon jetzt deutlich erkennbar sein dürfte, ist doch wohl die her-
vorragende Bedeutung dieses Unterscheidungsmerkmab für die Ein-
teilung der Betriebe, eine Bedeutung, die keines der Kriterien, die
wir kennen gelernt haben, erreichte. Auch nicht das Moment der
GröDse. Denn wie bedeutsam auch immer die Gröfsenverhältnisse
eines Betriebes die Produktionsergebnisse beeinflussen mögen: zu
grundstürzender Rolle gelangt die Grröfse doch immer nur, wenn
und soweit sie gleichzeitig den Betrieb zu gesellschaftlicher An-
ordnung emporhebt Nicht die Zahl der Arbeiter ist es, die schon
dem einfachen kooperativen Arbeitsprozefs seine dynamische Wirkung
verleiht, sondern erst ihr Zusammenwirken; nicht die Zahl steigert
die Leistungs&higkeit der Arbeiter im arbeitsteiligen Betriebe,
scMidem mt ihre Verschlingung zu einem Ganzen, nicht die Zahl
endlich der Arbeiter in einem Maschinenbetriebe erzeugt den ge-
waltigen I&afteffekt, sondern ihre Gruppierung um gemeinsam ge-
nutzte und darum in ihren Verhältnissen ins Grofse ausgeweitete
Produkttonsmittet.
Schreiten wir nunmehr zur Aufstellung eines Systems der Be-
triebsformen, wie es sich nach unscrm Kriterium ergicbt, so erhalten
wir folgende
Ja/g/ der Bttriebsformen,
Individuul- GesellschaftL
betrieb Uebergangsbetrieb Betrieb
1. Alkiii-B. 4. erweiterter Gehilfcn-B. 6. Individual-H. 7. Manulaklur.
2. I-amihcn-h. 5. gesell&chaltl. B. im Grolseu. b. tabnk.
3. Gebilfen-B. im Kiemen.
sog. „Kleinbetr.'* sog. „Mittdbetricb**. sog. „Großbetrieb**.
22*
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342
Werner Sombart,
Was zunächst an dieser Tafel auffallen dürfte, ist ihre Drei-
teUung, die durch das Dazwischenschieben einer Gruppe „Ueber*
gai^sbetriebe" zwischen die beiden <^cf:^rnsät7.1ichen Hauptgruppen
hervorgerufen ist Sclbstverständlicli bin ich mir darüber durchaus im
Klaren, dafs eine so unbestimmte Bezeichnung, wie ich sie für die dritte
Kategorie von Betrieben gewählt habe, weit entfernt von idealer Voll-
kommcniieit ist und in gewissem Sinne die scharfe und einwands-
freic Zweiteilung in indi\ idualc und gesellschaftliche Betriebe wieder
aufhebt. Trotzdem h;\hc irli mich zu der Einfügung entschlossen,
weil ich sie am letzten {■.luie für die Sichtung des empirischen
Materials doch für mehr nvitzltch als schädlich erachtete. Das
wirkliche I.eben schaftt eine solche aursernrdentliche l'"ülle \on ver-
schiedenen Betriel)sfnrmen, dais es ihm ( lewalt anthun heilst, will
man nun jeiler einzelnen gegenüber das Entweder — Oder unseres
Hauptgegensatzes stellen. Theoretisch ist das natürlicTi in jedem
Falle möglicii, für das j)raktische Bedürfnis auch der Wissenschaft
ist eine gewisse Latitude fruchtbarer. L'ebrigens mag zu weiterer
Rechtfertigung dieser Dreiteilung noch angeführt werden, dafs ge-
rade die Einfügung einer derartigen Zwischengruppc, wenn ich sie
so nennen darf, zwischen zwei sich gegentibersCehende Hauptgruppen
in Fällen wie unserm ein dem Lc^iker durchaus vertrauter Vorgang
ist „Die Trichotomie findet in der Regel da Anwendung, wo sich
eine selbständige, auf inneren Ursachen beruhende Entwicklung er-
kennen läfet, weil diese sich in der Form des zweigliedrigen Gegen*
Satzes und der Vermittlung als des dritten Gliedes zu voUzidien
pflegt".') Von dem Gedanken, durch unsere Systematik gerade
dieser Entwicklung von der primitivsten Form des individualen Be-
triebes zur höchsten Form des gesellschaftlichen Betriebes zum Aus-
druck zu bringen, ist auch jene Untereinteilung innerhalb der
einzelnen Gruppen, wie sie unsere Tafel enthält, diktiert worden.
Es ist eine Kette zu höherer Entwicklung aufsteigender Betriebs-
formen, *) die in den nunmehr im einzelnen zu analysierenden Typen
•| L' c be r w r - I ü r >; «• II Hon a Meyer, Syst«-«! der Logik. Bonn 1S82. S. iSi.
*j Mit der tiniichränkung, dals in der Betrtrb&talel Nr. 6 hinter Nr. 5 plfizicrt
ist, obwohl sie eine niedrigere Stufe der Entwicklnng darstellt. Es ist desbalb ge-
schehen, weil Nr. 6 mit Nr. 7 n. 8 unter der tradiooetten Beieichnung ah „Grofs-
betrieb" sttsammengefalst werden sollte. Dafs die „Stnfeitfolge'' hier nicht im Sinne
der empirisch-historischen Aufeinanderfolge zu verstehen ist, bedarf fttr den Kundigen
keine» besonderen Hinweises. Neuerdinj^^ hat Hiich-r wnhl mit Recht darauf auf-
merksam gemacht, dafs die gesellschaftlichen Betriebe, alierdiogs wesentlich in der
Digitized by Goo^^lc
Die gewerbliche Arbeit und ihre Orgiuiisation.
zur DaiBteUnng gebracht wird Zu besserem Verständnis folgt hier
zunächst noch einmal die T3rpenreihe ohne die zerreifsencie Ein-
teilung in Gruppen und mit Umstellung von $ und 6, wozu die
Erklärung in Anmerkung 2 auf S. 342 gegebenen worden ist:
1. Alleinbetrieb;
2. Familienbetrieb;
3. Gebülfenbetrieb;
4. erweiterter Gebülfenbetrieb;
5. Individualbetrieb im Grofsen;
6. gesellschaftlicher Betrieb im Kleinen;
7. Manufaktur;
8. Fabrik.
Auf der untersten Stufe des individualen Betriebes steht
I . der A 1 1 1- Ml b f t r i e b.
Kr bringt naturgemäls das Wesen der indixidualcn Hctricbs-
{^estaltung am reinsten zimi Ausdruck, obwohl er keineswegs der
empirisch häutigste X'ertreter dieser Betriebsform ist. Der Allein-
ari^eiter umspannt mit seiner Thätigkeit sämtliche Phasen des
I'rtKluktionsprozesses, die gesamte dabei zur \'erausgabung gelangende
Arbeit ist seine höchstpersönliche Kigenarbeit. Der gesamte Apparat
elcr Produktionsmittel ist im kleinsten Mafsstabe zugeschnitten, um
Arbeitsraum, Rohstoff, Arbeitsmittel der Wirkungssphäre des alleinigen
Arbeiters anzupassen. Dieser kann dabei in beliebiger Ausdehnung
das arbeitsteilige oder materialvereinigende X'crfahren zur Anwendung
bringen; seine Arbeit als Ganzes betrachtet, kann einen höheren
oder geringeren Grad von Spezialisation aufweisen (vgl. oben S. 338)
und thut es in Wirklichkeit auch : von dem sogen. Vollbetriebe des
Handwerkers alten Stil^an bis zu den zu höchster Spezialisierung
gelangten Einzelbetrieben der modernen Hausindustrie. Die Arbeits-
verrichtung selbst nimmt danach einen auCserordentlich verschiedenen
Charakter an: sie weist in einem Falle eine grofse Mannigfoltigkeit
verschiedenster Vornahmen auf: dort wo ein Arbeiter — denken
wir etwa an den Kunsthandwerker — eine ganze Folge von Form-
vefänderung an einem und demselben Gegenstande der Reihe nach
vornimmt; im andern Falle zeichnet sie sich durch grofse Ein-
Form einfacher Kuopuratiun in einer Zeit unrutwickeltrr 1 cclinik. .ihu bcispii-lswcise
bei den alten Aegyptem abrr auch bei vielen Naturvulkern eine verhältnismafsig
böbere Rolle ge&pielt haben a1« tpiter. Bflcber, Arbeit and Rbythmvs. 2. Aull.
1899» S. 370 ff.
iJiyiiizea by CjüOgle
344
Werner bombart,
förmigkeit aus, wenn dem einzelnen Arbeiter nur ein kleiner Anteil
vom Gesamtproduktionsprozefs dnes vielleicht schon einfacheren
Erzeugnisses zufallt: Blankputzen von AMenidebestecken, etwa nach
dem Vorbild der Heldin in Hirsch felds „Müttern". Wir können
dieses noch hinzufögen : nur wo die Arbeit des Alleinarbeiters — und
ebendasselbe gilt für alle Formen des Individualbetriebes — eine
gewisse Reichhaltigkeit der Verrichtungen aufweist, ist sie eine der
Idee jener Betriebsform angepafste. Denn weil das Wesen dieser
Betriebsform darauf beruht» der Bethatigung der Persönlichkeit eines
Einzelnen den nöt^en Spielraum zu verschaffen, so kommt es auch
nur zu voller Entfaltung, wenn die Individualitat sich nun wirklich
ausleben kann. Jeder Menschennatur entspricht nun aber nicht die
die Einförmigkeit, sondern die \^elseitigkeit des Arbeitens. Es ent-
steht eine unnatürliche Verkümmerung und Verkrüppelung der
Individualität, wenn ihr stets dieselben eintönigen Arbeitsverrichtungen
obliegen. Was in dem gesellschaftlichen Betriebe zu einer höheren
Einheit wiedc r /usammengefafst wird, in der jener Widerspruch sich
auflöst: die I eilverrichtung des Individuums: das erscheint In dctn
iibermäfsig spezialisierten und darum einförmigen Individualbetriebe
als eine Abart, wenn wir so sagen dürfen, der natürlichen Ent-
wicklung: CS ist der IVozcfs der X'^ergescllschaftung gleichsam auf
halbem Wege stehen geblieben. (^der hegclsch gesprochen: die
individuelle Arbeit hat ihre Antithese — in der die Iiidi\itlualität
verneinenden, aufhebenden Spc/.ialarbcit — erhalten, aber es fehlt noch
die Negation dieser Negation, die Synthese zu der höheren Einheit
— in unserm Falle dem Gesamtarbeiter des gesellschaftlichen Be-
triebes.
Dafs der AUeinbcirieb Maschinenbetrieb oder W'erkzeugbetrieb.
mechanischer oder Handbetrieb sein kann, mag im X'orübergehen
erwähnt werden: von grundsätzlicher Bedeutung ist es nicht. Be-
kannte Fälle des maschinellen Alleinbetriebes sind die schon er-
wähnten des Hauswebers und der Schneiderin, die in den ver-
schiedensten Produktionssystemen eine stereotype Erscheinung sind.
Nun ist aber der Alleinbetrieb, wie schon hervorgehoben wurde,
keineswegs die einzige, ja nicht einmal die wichtigste Form, in der
der Individualbetrieb erscheint. Häufig finden wir ihn erweitert zum
3. Familienbetrieb.
Die eigentliche Sphäre dieser Betriebsform ist nicht sowohl die
gewerbliche Produktion als vielmehr die Landwirtschaft Hier spielt
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Die gewerbliche Arbeit tmd ihre OrgMÜtttton.
345
:iie eine CMtscheidendc Rolle und bcstiinnit so rcciu die Kii:,'^eiiart
der landwirtschaftlichen Produktion : sie ina^ als Kinzclfaiiiilienbetrieb
für das Kleinbauerntuni, als ( Trüfsfamilicnbctrieb für das Grols-
baiierntum die charakteristische Hetriebsfonn abgeben. Der Grund,
weshalb in der Sphäre der landwirtschaftlichen Produktitm der
Familienbetrieb so sehr viel bedeutsamer, als in irgend einem andern
Zweige des Wirtschaftslebens ist, liegt in dem Umstände, dafs in
der I^ndwirtschaft Produktions- und Konsumtionswirtschaft sowohl
nach Umfang wie Inhalt von Natur viel enger miteinander ver-
knüpft sind, sodafs das Departement der Frau — die Konsumtions-
wirtschaft — nicht eine so völlig von dem Arbeitsgebiete des
Mannes — der Produktionswirtschatt — geschiedene VVirkenssphärc
bildet, wie beispielsweise bei dem gewerblichen Produzenten. Hier
mufs doch stets eine künstliche Einbeziehung der Familienglieder
in den Arbeitsbetrieb des Familienoberhauptes erfolgen.
Die bekanntesten und wichtigsten Beispiele gewerblicher
Familienbetriebe, die natürlich auch dir alle hausgewerbliche Eigen*
Produktion die Regel bilden, liefern in neuester 2^\t die in ihren
letzten Resten in Westeuropa noch erhaltenen, in Osteuropa dagegen
noch in Blüte stehenden ländlichen Hausindustricen, die ja zumeist in
organischer Verbindung mit der Bauernwirtschaft erwachsen sind:
so vor allem die Weberei, wo der Mann webt, die Frau scheert
und die Kinder spulen; teilweise die Wirkerei und Strickerd in
Sachsen, im Vorarlberg und in der Schweiz;-) die Spielwaren-
industrie Thüringens;') die Instrumentenmacherei des sächsischen
Voigtlandcs. *)
Was den Familienbetrieb charakterisiert, ist eine physiologisch
begründete Arbettsverteilung unter die einzelnen Familienglieder
derart, daüi neben einem vollwertigen Hauptarbeiter eine kleine
Anzahl meist minderwertiger Arbeitskräfte durch Ausscheidung
leichterer Teilverrichtungen aus dem Gesamtarbeitsprozds genutzt
') Vgl. für den Nicderrlicm A. Thun, u. a. C). Bd. l; für Sachsen L. Bein,
Die l^doitrie des •Ichs. Voigtlandcs. Bd. II. Leipzig 1884; für Schienen A. GUcks-
Baan, IMe Weberei im EtdengdurKe (Sdir. d. V. f. S.-P. Bd. 84).
*) VgL MH der reidil»ltigen Litterstor Aber diese Industrie namemlid) G. A.
Laorent, Die Stickerdindnstrie der Ostscfaweis und des Vorarlbergs. Bas. Diss.
*) Vgl. £ni. Sas, Die Hansindnstrie in Tbflrii«en. Jena 1884 «$•
L. Bein, Die Industrie des sichs. Voigtlandes. Bd. L Lcipsig 1884.
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346
Werner Sombart,
werden.') Diese Gruppierung einiger Nebenarbdter um einen
Hauptaibeiter bewirkt es, dals der Familienbetrieb, wenn er auch
^ichsam die Zellenibnn des gesellschafUichen Betriebes daivtellt,
doch iiiglich noch als Individualbetrieb angesehen werden mtils: er
besteht nur in einer Auaweitung einzelner Organe des Haupt-
arbeiters, als dessen individuelles Produkt das Erzei^is der Familie
in Wirklichkeit doch erscheint Der Familienbetrieb stellt noch
nicht die Zusammenfiosung von Teilaibeitem zu einem geseUsdiaft-
lichen Gesamtarbeiter, sondern nur die Unterstützung eines einzigen
Arbeiters durch einige Hülfsarbeiter dar. Dieses Merkmal hat nun
mit dem Familtenbetrieb gemeinsam unsere dritte Betriebsform, die
wir als
3. Gebftlfenbetrieb
bezeichnet haben. Was den Gehülfenbetrieb jedoch sofort scharf
von dem vorhergehenden Typus unterscheidet, ist die Beschaffenheit
der Hülfspersonen, die sich der eigentliche Träger des Arbeits*
Prozesses als Stützorgane angliedert: es sind dies nämlich nach
Quantität und Qualität nicht mindere, sondern eben&lls vollwertige
Arbeitskräfte, die entweder den Betriebsleiter bei seinem e^[enen
Werk durch wichtige Hülfeverrichtungen unterstützen oder neben
jenem gleküier Ari>eit wie er obliegen. In ersterem Falle konnte
man daran denken, von einem Gesamtwerk zu sprechen, wäre das
Ausmaals des Gesamtarbeiters nicht ein so geringes, dals es der
individualenAibettspersonlichkett näher kommt und lieCse sich nicht
füglich die Arbeit des Leiters doch als solche unterscheiden und
in ein Verhältnis der Haupt- zur Nebenarbeit setzen wie wir es ge-
than haben. Schulbeispiel für diesen Typus des Gehülfenbetriebes
im eigentlichen Sinne ist der Betrieb des^ Schmiedes, meistens mit
einem Schmiedegesellen, der den Hammer schwingt und dem Lehr-
ling, der den Blasbalg zieht, die alle drei in der That zu einem un-
trennbaren Ganzen zusammenwachsen. Aber es ist doch unserm
Empfinden angemessen, den Meister Heinrich von drei Zwergen
*) „L'industrie domcMitui«*, dans sa forme primitive, est essfntirllrmrnt bftsee
sur le travail des membres de la famillc, homroes, fcmnics, vi< illuril>, lulultc* et
enfants. Plus les Operations <iu'«dle comportc peuvent ctre r( j artics raliom llcment
cntrc tous k-s membres de la lamille, plus Tindustrie dcvicnt avanlageiue"
„les travanx Mut r^rüi enU'e les divers metnlires des fiunilk« teton Icnr impor-
ttknce et Beton l'Age et rhabilct« des travulkuis." W. Wescbniakof f , Notice
sur r^t actnel de rindastrie domesüqtte en Rnssic. St. Petersbourg. 1873 p. 12/13.
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Die gewt-rblichc Arbeit und ihre Organisatiun.
347
bei seiner Schmiedearbeit unterstützt zu sehen. Er tileibt der
Schöpfer, jene sind Gebülfen! Im andern Falle, wenn nämlich die
Geholfen gleicher Arbeit, wie der Betriebsletter obliegen, entsteht
überhaupt kein Gesamtwerk, sondern nur eine Anzahl von indi-
vidualen £inzelwerken der in einem Betriebe vereinigten Personen.
Das ganze Arbeitspensum eines solchen Betriebes wird nach Gut*
dünken des Betriebsleiters zwischen ihm und seinen Gehülfen ent-
sprechend der Leistungsfähigkeit der einzelnen verteilt. Zuweilen,
aber nicht als Regel, findet die Verteilung der Arbeiten in der
Weise statt, da(s die aufeinanderfolgenden Stücke des Gesamt*
afbeitsprozesses verschiedenen Arbeitern zugewiesen werden. Diese
Form eines Gehülfenbetriebes ist nun die eigentlich das alte Hand-
werk in seinen Hauptzweigen beherrschende: Schneiderei, Kürschnerei,
Schuhmadierei, Tischlerei, Schlosserei, Klempneret, Buchbinderei
e tutti quanti sind in der angedeuteten Weise organisiert gewesen,
solange sie in den alten Traditionen sich erhielten: mä(sig speziali-
sierte, daher ziemlich mannigfache, eine Durchschnittsindividualität
auf nicht sehr hoher Entwicklungsstufe ausföllende, koUegialisch
mehr als gesellschaftlich ausgeübte Thätigkeit mit einfachen Werk-
zeugen und überhaupt klein dimensionierten Produktionsmitteln,
selbstverständlich rein empirisch gestaltet: das etwa sind die
charakteristischen Züge der Betriebsform, die, wie wir noch genauer
erkennen werden, in der handwerksmäfsigen Pjroduktion vorherrschend
gewesen ist.
Rein quantitativ zunächst sind nun von den bisher betrachteten
Betriebsformen unterschieden diejenigen, die wir unter der Be-
zeichnung „Uebergangsbetriebe" zusammengefaGst haben, weil
sie zwar entweder auf grofser Stufenleiter, aber ohne das Moment
der Vergesellschaftbng oder gesellschaftlich, aber im Kleinen be-
trieben werden.
4. Erweiterter Gehttlfenbetrieb.
Er entsteht durch bloCse Addierung der in einem Gehülfen-
betrieb entweder gruppenweise oder einzeln thätigen Arbeitskräfte.
Eine Schmiedewerkstatt mit mehr als einem Schmiedefeuer, eine
Tischlerwerkstatt mit mehreren Hobelbänken, eine Schlosserei mit
zahlreichen Schräubstöcken, eine Drechslerei mit verschiedenen
Drehbänken, eine Bäckerei mit mehreren Oefen u. dgl. sind solche
erweiterten Gehülfenbetriebe. In ihnen ist der Arbeitsprozeß im
Prinzip derselbe wie im Allein- oder Gehülfenbetriebe; auch die
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Werner Sombart.
Dimensionierung der Produktionsmittel ist kaum verändert Gleich»
wohl stellt er ein Wesensverschiedenes gegenüber den bisher be-
trachteten Formen des Betriebes dar: er bahnt 'insofern wenigstens
ein neues Prinzip der Betriebsgestaltung an, als er die Grenze
individuell • personlicher Wirksamkeit überschreitet Im .JClein-
betriebe") so kann man die drei erstgenannten Betriebsformen
zusammenfassend nennen, bleibt alle Arbeit doch im Grunde
gruppiert um den Mittelpunkt, den der Betriebsleiter mit seiner
Hauptarbeit bildet, auch dort, wo er nicht mehr völlig Alleinarbeiter
ist Diese höchstpersönliche, konzentrische Gestaltung ist im er-
weiterten Gehülfenbetriebe erstmalig verlassen; die vermehrte
Gehülfenzahl drängt nach Verlegung des Schwerpunkts aus dem
Zentrum eines Hauptarbeiters in die Persönlichkeiten der ver-
schiedenen Hül&personen. Die Einheitlichkeit des Geistes, der den
Betrieb beherrscht, vermindert sich, trotzdem die bewu(ste und aus-
drückliche Leitung des Betriebes vielleicht zunimmt: der Betriebs-
chef widmet von seiner Thatigkeit von nun ab einen Teil der Be-
aufsichtigung seiner Gehülfen. Aber diese Au&icht vermag nie die
intime, unwillkürliche Beeinflussung ganz zu ersetzen, der die wenigen
Gehülfen ' oder gar nur der Gehülfe im Kleinbetriebe seitens des
durch sein Können und sein Vorbild praponderanten Hauptarbeiters
unterliegen. Dazu kommt noch das weitere Moment, dals im Klein-
betriebe die eigentlich verantwortliche Thatigkeit, die durch die
Art ihrer Ausübung recht eigentlich dem Betriebe seinen Charakter
verleiht, immer dem Betriebschef vorbehalten bleibt, wodurch also
die persönliche Färbung der Betriebsleistungen, wiederum erhalten
wird. Im erweiterten Gehülfenbetriebe, wo, wie wir sahen, dem
Hauptarbeiter ein Teil seiner Zeit durch die blofse Au&icht und
Leitung genommen wird, kann nicht mehr eine so ausschlie&liche
Vertretung des ganzen Betriebes und seiner Leistungen nach auisen
hin durch ihn allein stattfinden. In dem Entwicklungsprozeß zu
höheren Betriebsformen fallt diesem Typus, der übrigens, wie aus-
drücklich betont werden mufs, ganz besonders schwer von den \'er-
wandten Typen namentlich nach unten hin abzugrenzen ist, vor-
nehmlich die Aufgabe der Zerstörung prinzipiell individual-personlicher
Betriebsanordnung zu : er enthält Elemente, die diese negieren, ohne
noch Elemente zu positiver Neubildung in sich aufgenommen zu haben.
Nimmt die Zahl der in einem Betriebe beschäftigten Personen
nun weiter zu, ohne dafs sich die Form der Arbeit im Prinzipe
ändert, so entsteht ein
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Die gewerbliche Arbeit and ihre Organbation.
349
5. Individualbetrieb im Grofsen.
Er läfst sich scharf gegen jede andere Betriebsform abgrenzen :
gegen den gesellschaftlichen Betrieb durch das negative Moment,
dafe er noch keinerlei Umgestaltung der Individualarbeit aufweist;
gegen den erweiterten Gehülfenbetrieb dadurch, da(s er grofs genug
geworden ist« um die Funktion der Leitung zur ausschlielslichen
Thatigkeit einer Person zu machen.
Der Individualbetrieb im Groden ist als geschlossener Betrieb
in einem Etablissement in seiner reinen Form kaum denkbar, jeden-
Ms nicht praktisch. Ihm angenähert ist beispielsweise eine
Weberei, die eine gröfsere Anzahl Handweber unter einem Dache
vereinigt Nur dals in diesen Fällen Teile des Produktionsprozesses
fast immer schon in gesellschaftlichen Betrieb übergeführt sind, wie
das Spulen und Scheren, wenn nicht gar schon die Appretur.
Immerhin lafst sich ein Betrieb denken, der viele Arbeiter unter
einheitlicher Leitung in einem Räume umfafst, in deren individualen
Arbeitsprozeß nicht mehr als Gebäude, Beleuchtung und Heizung
als gesellschaftliche Bestandteile eingehen; diese freilich immer.
Wenn wir nun trotzdem eine besondere Kategorie von Betrieben
als „Individualbetriebe im Grofsen" ausgeschieden haben, so geschah
es deshalb, weil sie unter andern Bedingungen zu groGser Bedeutung
im gewerblichen Leben gelangen können. Dort nämlich, wo es sich
um Betriebe handelt, die sich über mehrere Betriebsstätten erstrecken,
um aufgelöste oder fliegende Betriebe, wie man sie auch wohl
nennen könnte.')
Einen solchen fliegendcnlndividuall)etrieb im GroTsen
stellt z. B. ein modernes^ grolsstadtisches Malereigeschäft dar. In ihm
unterstehen Hunderte von Malergehülfen einer durchaus einheitlichen
Leitung: sie erhalten Arbeit und Arbeitsstätte von Tag zu T:irr an-
gewiesen, müssen zu bestimmten Zeiten bestimmt vorgeschriebene
Arbeiten ausftihren und unterstehen dabei der unausgesetzten Kontrole
') Die Yon O. Schwärs, a.a.O. S. 542 ff., 616 ff. eingeführte, dann von
Bücher u. a. aufKcnomraene Bcz»Mchnung : „zentralisierter" und „dezenirali.sirrtcr"
Grofsbctricb i>»t nicht nur sprachlich häülich. sondern auch falsch . ,,zentrali>i«Tt"
ist jedi-r B'-tri<-l). soii>.t wärr ts rh<-i\ ijicht Ein Ht>trieb. Wie denn auch jcn-- .Au-
toren unti-r d"-ni ..dj-zentralisirrtr-n ( Irol'sbetriehe'- di<> Hausindustrie verstehen, die
{eradr iladurcli charakterisiert wird, daf» sie nicht aus Grofs- sondern aus Klein-
betrieben l>esteht. Absichtlich habe ich auch die Beseichniing „Groftbelrieb'* fOt die
vMcr Nr. 5 abgehandelte Betriebsform vermieden.
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350
Werner Sombart,
des „Meisters" oder besonderer Auüsichtspersonen in ganz grotsen
Betrieben. Weiter aber reicht die Vereinheitlichung der verschiedenen
Arbeiten nicht: diese werden vielmehr mit denselben Werkzeugen
und derselben Technik ausgeführt wie in Zwergbetrieben, die je
nur eine Arbeitsstätte haben. Woran auch durch die Thatsache
nichts geändert wird, dafs in den gro(sen Betrieben die einzelnen
auszuführenden Arbeiten bestimmten Spezialarbeitern überwiesen
werden: ihre Ausführung' bleibt doch immer eine durchaus indivi-
duale. Auch von den sogn. „Anbringungsgewerben" im Bau&che
können manche im Grofsen betrieben werden und doch Individual-
betriebe sein. Der Beurteilung von Fall zu Fall muls es vor-
behalten bleiben zu bestimmen: wann ein Individualbetrieb im
Grolsen, wann ein gesellschaftlicher Grolsbetrieb vorliegt; ebenso
aber auch: wann es sich um einen einheitlichen Betrieb und wann
blofs um eine einheitliche Disposition der Produktion beispielsweise
in Einer Unternehmung, aber ohne wirklich einheitliche Betriebs-
Ordnung handelt.')
Es heilst nun keineswegs, sich der Haarspalterei schuldig
machen, wenn man, wie es hier geschieht, diese eigenartige
Betriebsform, die gewöhnlich mit den übrigen sogn. „Grols-
betrieben" zusammengeworfen wird, zu selbständiger Bedeutung er-
hebt Die Theorie bringt dadurch vielmehr nur einen praktisch
aufserordentlich wichtigen Unterschied zum richtigen Ausdruck.
Was nämlich jeden noch so grolsen Individualbetrieb von jedem
noch so kleinen gesellschaftlichen Betriebe unterscheidet, ist einmal
der Umstand, dafs in ihm irgend welche höhere Arbeitsoiganisation,
vor allem irgend welche an die gesellschaiUiche Nutzung von
Produktionsmitteln gebundene höhereVerfahrungsweise ausgeschlossen
ist. Von der Spezialisierung der Arbeitsverrichtungen abgesehen, (fie
aber schon, wie wir sahen, bei einheitlicher Produktionsorganisation
ausfuhrbar ist, also der Einheitlichkeit des Betriebes gar nicht erst
bedarf, ist die Form des Arbeitsprozesses im grofsen Individual-
betrieb nicht höher und potenter als im kleinen. Sodann ist ein
jedem Individualbetrieb, dem „grolsen" wie dem „mittleren" gemein-
sames . Merkmal , das ihn eben&lls von jeder gesellschaftlichen
Betriehsgestaltung unterscheidet, dieses: dafs er kein organisches
Ganzes, sondern immer nur ein Aggregat darstellt: also beliebig
1) Vgl. (kfliT vaaen AntflBbniiigeQ Aber die Kriterien eililieitlidicr Betrieb«-
Kestaltung oben S. 323 fg.
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Die geweiblidie Arbeit und ihre Otiganisatiaa.
35»
vergrö(sert und verkleinert werden kann. Ein Malereigeschäft, um
bei diesem Beispiel zu bleiben, kann heute 30, morgen 300, über-
morgen 200 und am nächsten Tage wieder 20 Gehülfen beschäftigen,
ohne Irgend welche Betriebsumgestaltung erforderlich zu machen.
Man kann einen Individualbetrieb imGro&en zerschneiden wie eine
Wurst, während es das eigentümliche Charakteristikum jedes, auch
noch so kleinen gesellschaftlichen Betriebes ist, dafe er stets nur in
einem ganz bestimmten Gröfsenverhältnis erweitert oder verkleinert
werden kann. Wie wichtig dieses Moment ist, wird noch ersichtlich
werden, wenn wir jetzt die gesellschaftlichen Betriebe analysieren,
unter denen uns zunächst diejenige Betriebsgestaltung entgegentritt,
die als
6. gegellftchaftlicher Betrieb im kleinen
von uns bezeichnet worden ist Wer die Betriebsformen lediglich
nach der Grö&e unteracheidet, insbesondere nach der Zahl der in
einem Betriebe beschäftigten Personen, kann diese Betriebsform
von der des erweiterten Gehilfenbetriebes (Nr. 4) nicht trennen.
Beide haben das gemeinsame Merkmal „mittlerer Grofee", d. h. sie
gehören beide etwa den von der Statistik aufgebrachten Grofsen*
kategorieen der Betriebe mit ca. 6— 10 und Ii — 20 Personen an,
sind bddes also sog. „Mittelbetriebe". Und doch wäre das ein
stümperhafter Betriebssystematiker, der den erweiterten Gehilfen«
betrieb eines Schneidermeisters alten Stils, in dem sage 15 Gehilfen
thätig sind, nicht als ein Wesensverschiedenes dem Betriebe einer
Zwischenmeisterwerkstatt in der Konfektionsindustrie mit genau der
gleichen Anzahl von Hilfskräften gegenüberstellen wollte. Dort,
das ist das Charakteristische, hat der Arbeitsprozeß kaum erheb-
liche Aenderungen er&hren, verglichen mit dem Arbeitsprozefs in
der kleinen Meister- und Gesellenwerkstatt, hier dagegen ist er auf
eine vollständig neue Basis gestellt Der Gesamtproduktionsprozefe
ist in seine einzelnen Bestandteile aufgelost, die von je einer Arbeits-
kraft vertreten werden und ihre Einheit nicht mehr in der schöpfe-
rischen Individualität der Einzelpersönlichkeit sondern nur noch in
dem Organismus des Gesamtarbeiters finden. Die Differenzierung
und Integrierung zu einem neuen Gebilde — das wesentliche Merk-
mal des gesellschaftlichen Betriebes — , die sowohl durch Zerlegung
des Gesamtprozesses und X'^erteilung der Finzelverrichtung unter
die verschiedenen Arbeiter, als auch durch die gemeinsame Nutzung
'Von Produktionsmitteln erfolgt, finden in der von uns hier be-
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35«
Wrrmvr Sorobart,
sprochenen liciricbsform zwar auf kleiner Stufenleiter statt, sie finden
aber ducli schon statt. So treffen wir — um bei dem Schulbei-
. spiel der hausindustriellen Schneiderwerkstatt zu bleiben, — in
einem solchen Konfektiond^etr^be auf den Zuschneider, der mit
oder ohne Maschine (Ur sämtliche Arbeiter zuschneidet, und auf
den Bügler, der ebenfalls manuell oder maschinell das Bügeln aller
fertiggestellten Kleidungsstücke besorgt; zwischen diesen beiden
Arbeiten vollzieht sich der HersteUungsprozeis der einzelnen Klei-
dungsstücke in der Weise, dafs sowohl eue horizontale, wie eine
vertikale Zerlegung der Gesamtarbeit stattfindet: wir sehen Rock»,
Hosen-, Westenarbeiter und innerhalb dieser Kategorieen wieder
Hefter, Zusammennäher, Knopflochnäher, Knopfannäher etc. Schriebe
Adam Smith heute sein erstes Kapitel über die „Arbeitsteilung", so
würde er gewifs eine solche Zwischenmeisterwerkstatt der Kon*
fektionsindustrie als Beispiel wählen, um daran die manulaktur*
mäfsige Organisation eines arbeitsteiligen Betriebes zu erlautem.
Seine Stecknadelmanufaktur ist etwas ganz Analoges. Was er in
ihr schildert, ist durchaus der Typus eines gesellschaftlichen Be-
triebes „im kleinen", denn seine bekannte falsche Berechnung
der 4800 fachen Steigerung der Produktivität durch die Arbeits-
teilung stellt er mit einer nur aus 10 Personen bestehenden Steck-
nadelmanufaktur an. Aber was Adam Smith nicht wissen brauchte,
was wir heute täglich vor Augen sehen, Ist dies: dafs die \'erge-
sellsrhaftung des -Arbeitsprozesses nicht notwendig durch t-inc arbeits-
teilige Ik'triebsorganisation hervorgerufen zu sein braucht, sondern
l)eispicl>\vcise auf gemeinsamer Nutzung von Produktionsmitteln lie-
rulien kann. Auch dieses ist nun auf kleiner Stufenleiter möglich.
Ich denke an kleine Schäftefabriten, kleine Lederfabriken, kleine
chemiclic Fabriketi u. dg!., die sich trotz ihrer gleichen .Arbeiterzahl
doch alle al^ wesciis\ erschieden von grolsen Schuhmacherbetrieben,
grolsen (lerbcreien u. dgl. erweisen. Was aber diese ganze Kate-
gorie schon gesellschaftlicher Betriebe doch untersclieidet als Be-
triebe „im kleinen" ist dasselbe, was uns als Unterscheidungsmerk-
mal für die Individualbetriebe im kleinen und im grofeen bereits
diente: das Moment nämlich, dafs in der Regel die Funktion der
Leitung in diesen Betrieben „mittlerer Grofse^' noch nicht zu
völliger Selbständigkeit in einer ausschlielslich damit betrauten
Person gelangt ist. Wo dieses nun der Fall und der gesellschaft-
liche Charakter des Betriebes ebenfalls gewahrt ist, erscheint der
gesellschaftliche Betrieb recht eigentlich erst in seiner Vollendung,
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Die ge lirerbliche Arbeit and ihre OrgAiÜMtion.
353
für die nun in dem Ausmafs seiner einzelnen OjqgangUeder keinerlei
Schranken mehr bestehen.
Die erste der beiden Formen solcher gesellschaftlichen Grofs- '
betriebe haben wir *
7. Manufaktur
genannt.
Ich verstehe darunter denjenigen ^'cscllsi haftlichen ( irofsbclrieb,
in dem vvesentHche Teile des Produktionsprozesses durch Handarbeit
ausgeführt werden. ')
*) Die ßezeichnang „Mannfaktur" glaubte ich beibehalten lu sollen, da »ie
bis zu einem gewissen Grade sich Bürgerrecht in unserer Wissenschaft erworben hat
und doch wobl andi in der Mehnahl der FlUe in dem im Teste angegebenen Sinne
gebnncbt wird. Einen nnbeitritten eindeutigen Sinn hat das Wort, aovid ich sehe,
nie gdmbt In merkantilistischer Zeit wnvde Manttfaktmr, wie oben sdion er-
tHUmt, mditcni praniscae mit Fabrik, Kommenialhaadwerk n. dgL gebraucht,
am die kapitalistische Industrie zu bezeichnen: siehe die oben dticrten Stellen und
weitere Belege bei Stieda, .\rtikel „Fabrik" im H.-St. und etwa noch Schröder,
Fürstliche Schatz- und Rcntkamnier 16861, /.. H. S. LXXXVII. Auch in der Gesetzes-
und Amtssprache jener /.< it finden wir „Manufaktur" meist in dem angegebenen Sinne
gebraucht: vgl. das ..Manufakturliaus auf dem Tabor in Wien"; sowie die zahllosen
.Schriften, die sich aufgezählt linden in Joh. Jac. Mosers ... iUbliothec von Oekono»
mischen-Cameral- FoUcey» Handlungs- Manufactnr- MeehanisdMn und Bergwerks
Schriften und kleinen Abhandlungen (Uhn 1758) s. „Cameral-wesen"; „Fabriqnen**;
HHandlnng**; „hfanufocturen"; Miscellanea** ; „rohe Waaren** ; ,3pAnien" ; „Waaren";
„Wolle'*; „Woil«llanttfiMtnrcn". Wo man ihm einen Ton dem Begriffe der Falwik
abweidienden Snn onterlegte, war es der eines Betriebes, in dem ohne Fener
nnd Hammer gearbeitet wurde: vgl. Justi. Staats Wirtschaft I. 291 und des-
selben Werk Von denen Manufakturen und Fabriken (1758,61) I. 5. ,, Manufaktur
und Fabrik werden gemeiniglich vor gleichbedeutende Wtirter gehalten und {:leichgiltig
gebraucht. Ihre Bedeutung aber ist in der l'at von einander unterschieden. Unter
Manufaktur versteht man « igentlich diejenigen Hcarbeilunjjen, die blofs mit der Hand
ohne Feuer und Hammer geschehen, i ubrikcn aber heifsen diejenigen .\rbeitcn,
sa welchen Feuer und Hammer oder fthnltche Wericieuge angewendet werden" ; nnd
n. 303 f., wo J. sniritehst diese Begriftbestimmnng wiederholt und dann fortAhit:
..Dieser Begriff verrtehet sich aber in allgemeiner Bedeutung, in welcher alle Hand-
werker, die in Fener arbeiten, Fabricatenrs sind, sowie man jeden Handwerksmann,
der in Wolle, Leinen, Baumwolle und Seide arbeitet, in diesem Verstände einen
Manufactnriers nennen kann. Allein in einer engeren Bedeutung versteht man unter
einer Fabrik eine zusammenhängen<!e .Anstalt verschiedener Art von Arbeiten, wo-
durch die Metalle und mineralischen Produkte vermittelst Feuer und Hammer und
andere ähnliche Wcrlueuge zu vollkommenen Waaren gemacht werden." Danach
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354
Werner Sombart,
Zum Wesen der Manufaktur gehört also:
I. das Moment der Gröfse. Es läge an sich kein sprach*
liches Hindernis vor, auch die gesellschaftlichen Betriebe im
iChwankt unser Autor zwi&cben der L'nterM:heidung zweier \-crschiedcncr Vcrfabrungi*
weisen und zweier verscbiedener BeUiebsformen und bleibt im übrigen den in obigen
Worten getroffenen Distliiktionen nidit einmal treu. So ipriclit er beiqilelsweise
a. a. O. n. »aS von .«Ideinea Fabriken**, wo er Meiiter, IL 9a von den „Fabrikanten
in Schienen**, wo er die Hansweber meint. Sonnenfels meint dann schon (Grand*
Sätze der Polizi'v, Handlung ond Finanzwissenschaft II. [177O» Seite 8): „Puritaner(l)
in den Handlungskunstwörtem sprechen Manufakturen wo Hammer und Feuer ent-
behrt wird : als Tuchmanufaktur, Cottonmanufaktur. Hingegen, wo diese beide er-
erfordert werden, das nennen sie Fabriken; Suihlfabriken, Messinj^fabriken. Der
Gebrauch hat diesen Unterschied beinahe ganz aufgehoben: das Wort Fabrtke ist
allgemeiner: man sagt tägUch Tw^frbrike, Cottonfabrike." Eine Ansicht, die jeder
bestldgt finden wird, dem die ökonomiache Litteratnr Deutschlands und Oesterreichs aas
jener Zelt vertraut ist. So sprldit beispidsw. Justus Möser fast stets von „Fabriken**,
unter denen er sogar mweilen die Haurindustric mit ventdit V^. Falrk>t. Phantss.
(1780) I. 184. II. 124 ff. in dem „Schreiben über die Cultur der Industrie"; 139 ff.
„Zur Beförderunt; einheimischer Wollfabriken". In einem völlig anderen Sirmc braucht
•
das Wort der in seiner Zeit als Autorität auf dem Gebiete der ( Jcwerbcwissenschaf\
anerkannte Adrianus Hei er. Kr schwat/,t in seiner Tractatio iuridica de manu-
facturis (Jcnac 1795) also; „usus . . . eflicit, ui sub hac figura — sc. manufactura —
unusqttisqoe waudiat spedes iUas, quae Opifidbus artia sua« bcnefiew de rnnmi
pradennt, de, nt Germanns id qtt0(|ue assnmserit, sunmque fecerit Manafiwtnren** (9 1)
„eritque adco Mann&ctnia Corpordinm remn spedes qnsn, cum Natura Islis non
eaiet, medianicns manu sua, per introductionem foimae, pro oonditione artis snae in
materiam snbstratam, extra suas elidt canaas atque conspectui sistit etc. (pag. 5 : cf.
pag, 24), was bedeuten zu sollen scheint, dafs manufactura jedes gewerbliche Er-
zeugnis sei. Soviel ist sicher; will man dem Ausdruck seinen Wortsinn unterlegen,
so kann man entweder nur das darunter verstehen, was Beier meint, oder ein be-
stimmtes V e r f ah re n , nämlich dasjenige, welches auf liaudarbeit beruht im Gegen*
satt etwa snr „Machinofaktur**, dieser lieblichen Woribiklnng des ctfindungs*
reidien Reuleaux. Dann muls die Besdehnung aber konsequenterweise fitr jedas
Handverfahren, mag es in einer Betriebsform wddier Art andi immer angewandt
werdan, gelten: dann ist eben der Betrieb der Handolherin eine „Manufaktur**, der*
jenige ihrer Kollegin an der Nähmascbine eine „Machinofaktur" 'v.i offenbar aller
Absicht auch der Nomenklatoren selbst widerspricht. Wir denken doch, wenn wir
von Manufakturen sprechen, jedenfalls an Grofsbetriebe, und trotz der angeführten
QucUcnstellen hat sich olmc Zweifel noch die weitere \orstcllung mit d>-ni Worte
verknüpft, dafs es sich um Grofsbetriebe bandele, in denen Maschinen und Dampf
kdne entscheidende Rolle spielen. SdiUeCdich trift ja dieses Charakteristikum sdbst
fOr die sogen. „Fabriken** der Josti und Sonnenfels zu, sodafs jene Vor>Watt9chen
Die gewcrblidie Arbeit tmd ilm OrKaointion.
355
kleinen in Manufaktur und Fabrik zu sondern. Aus den
in der Anmerkunt^ auf S. 35/ 58 angeführten, sprachgcbräuch-
lich-histohschen Gründen beschränken wir jedoch die Be>
und Vof^Gaitwri^tschen Aatoren aoch in nnsereni Sinne nicht so unrecht hatteiit
etnro Wesensanterschied zwischen Fabriken und Manufakturen für ihre Zeit, die eben
flbcrhaupt Grofsbctricbe nur als Manufakturen kannte-, nicht gelten zu lassen. —
(janz wie in Deutschland nannte man auch in den übrigen europäischen
Ländern die aufkommende kapitalistische Industrie zum Unterschiede vom Hand-
werk zunächst ganz allgemein, ohne einzelne Betriebsformen zu unterscheiden:
MMiafiAtwcn; nannftctares, numifattiire, namifactures oder manafaetorl««« Icts*
teren TermiiiBs too voraherein mehr nnf die Grofibccriebe beachriakciid. In
der Colbert'Mihcii GctelaeMpnche iit ftat nur von |,naniifactiiret'* die Rede,
von der „nanufacture royale des menblcs de In coutonne", von der „manufac-
turrs des porcelaines" zu Sivres, etc. „Arts et manufactures" ist eine gebräuch-
liehe Zusammenstellung. Es rivalisiert in den Anfängen des Kapitalismus der
Ausdruck ,,manufacture" mit demjenigen ,,industric" , um alle moderne Oewerbe-
thätigkeit auszudrücken. Noch Sismondi braucht das Wort vorwiegend in diesem
ursprünglichen Sinne von Imf^tilfatlMAer Pradnkdmitwdse. — Ebemo iA in
England nrsprttnglidi „nnaDfMtiire'*, wo es nidit schlechthin im Sime von ge-
werblicher Thltigkeit gebrnndit wird, gldchbedcvtend mit knpitsliitischer Indostrie;
so, wenn Jos. Child (A new disconrse of Trade t. ed. 1693) p«g. 158 (der
vierten Auflage) fragt: „what will improve our WooUen-ManufactTires in quality
and quantity?" oder William Petty (Sevrral Essays etc. 11699^1 pag. 176
meint ; ,,it is commonly seen, thal cach Couiitrs Ünurislietli in the Manufacture "f its
own .Native Commodities, viz. England for WooUcn .Manutaclure, 1-raucc lor i'aper,
Sttic-Land for Iron-Ware, Portugal for Confcctnres, Italy for Silks" oder wenn
Jan es Stenart den Standort derjenigen gewerblichen Anlagen besthnmt, die snm
Unterschiede „von anderen Gewerben im etgentlidicn Sinne ,JtfanBfaktnren" genannt
werden mOssen" („what may pioperly be eaUcd mannfikctores, distiogaidKd ftom
trades"; Inqniry into the principlcs of political economy etc. Basel 1796 Vol. I.
pag. 64). Adam Smith braucht dann den .\usdruck „manufacture" mehr im .Sinne
von gewerblicher Thätigkeit" und bezeichnet arbeitsteilige Grofsbetriebr getiaurr als
..manufactorv". Vgl. das l. Kapitel des \V. of N. [Cndlich ist auch ursprünglich
in der italienischen Littcratur „maniiattura" synonym mit „kapitalistischer
indostrie;" oder wenn man will „Grofsindnstrie** scliledithin. Freilidi nur, soweit das
Wort ttberiiavpt schon snr Be«icfannng gewerblicher Tliitigkeit imd nidit etwa noch,
was ursprünglich aoch im italienischen der Fall gewesen zn sein sdieint, im Sinne
von Maanfidct « gewerbliches Eneognis gebraucht wird. Letsteres geschidit nodi
durchgehrnds z. B. in Broggias Trattato de' Triboti (1743). Siehe in der Amgabe
des Trattato in der Sammlung der Scrittori rliiiisici italiani di Fronomia politica
Parte antica Tome IV iMilano 1S04» ])ag 228: ,.si proibiscono le nuinifatture forastiere" ;
p- 234 : ,,le manifatture che si fabbricano ncU' cmporio"; pag. 296: „proibir Ic manifat-
Archiv {itT Stil, GcMtzgebung u. Statistik. XIV. ^3
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356
Werner Sombart,
Zeichnung auf GroOsbetriebc, d. h. solche Betriebe, in denen
die Funktion der Leitung bereits spezialisiert ist;
ture forastirre" und {Kl^siln. Aber schon In-i ( i c n o v t? s i (-{- 17691 fin«Ji n wir il<'n Ausdruck
„manifatturc - m di-ni oben angedeuteten \ erstände gebraucht. Sein „Ragiouaniento t>u le
lüMiifiithirc", diese Quintetieitt nerkuntiliatiieiMr Wbtemchaft, will tdehtt «iidera he-
weisen ab die Notwendigkeit einer Vcrmehning der In^taUstisdien Indiistrie: „di totte
le Biti che piü oonferiscono «IIa popoUsiooe e alla riochenn di an popolo, sono
le nwniftttore** und anch in der AnfTaMung des ItaUeners und es wiedenun vor alkm
die Textilindustrieen, die unter „manifattare" zu verstehen sind (vgl. Scrittori rlassici
eil. Parti" mod. Tomo X. pag. 731. Dies«* Gcpr-nübt-rstclhing von Art«* — ILindw-erk
unti Manifattura - kapitalisti!>chf Indu.strie finden wir dann in der äUeren itaii< ni>ch»*n
Litteratur häutiger. So überschreibt 1'. cccaria dm dritten Teil seiner Elementi di
economia politica ^als Vorträge zuerst 1 77 1 gehalten; „Delle arti e manifatture" u. s. w. —
Die Beieicbnang „Mannfaktnr** fttr alles, was moderne lta|ntalistisdie Industrie
war, bleibt nun auch noch in Uebung, nachdem schon der Dampf die Entwicklung
an automatischer Fabrik zum Abschluss gebracht hatte, also beim besten Willen von
einer Manufaktur nichts mehr erblickt werden konnte. Mit Recht beginnt Ure
seine Philosophy ol M ;in n f a c t u ro s . dessen erstes Buch die general prinriplr> ot
m an u f a c t u re s d.lr^tl•llen will, mit den Worten „Manufacture is a word, which,
in the vicissitiidf ot language, iias come to signify the rever'»e ol its intrinsic m.-;»-
ning, lor it now denotes vvery extensive product ot art which in madc by machincrj-,
widi Uttle or no aid of the human hand" . . . Aber trots dieses Widersinns bat das
Wort, zumal im Englischen und noch mehr im Fransösischcn, ein riihes Leben bia
anf den heutigen Tag bewiesen. In -der englischen Spradie ist der Ausdrude
mannfoctory noch nicht dnrcbgingig durch factory enetst und die Beseichnnog
„mannfacturc" im Sintie \on manufacturing industry finden wir noch überaus häutig
angewandt ; ebenso «ia.s korrespondierende Wort „manufactures" : vgl. z. B. die Royal
Commission on I abonr. I)ij,;fst of th'- Kvidenre Vol. I. 'IVxlile. London 1S92. p.
303I: den Second .unuüil ri-port ol ihr I. abonr I •cpartniml ot the Board of Trade.
London 1805 p. V., wo von I'ig Iron Manutaclure die Rede ist; ferner die englische
Uebersetzung des russischen Ausslellungswerkes Aber das Wirtsdiaftsldien Rnislands,
deren erster Band den Titel trKgt: „Manufactures and Trade** (St Petersboorg 1893)
und dann im Text abwechselnd von manufactures und industries spricht; etwa wir
wir unsinnigerwdse von „Gewerbe und Industrie" reden. Daneben findet rieh ibun
aber anch die Beseichnung manufactor)' Air factory: vgl. a. a. O. pag. lU. XVIIL
XXXIl. LIII. i',,manufactories and mills"), 10, 76 u. pa^s. —
\ocli m-dir in ( ii brauch ist <h»s Wort ..luainitactur' " in Krankn'ich j;-"-
geblicben und zwar obonlalls in einem nu hrlachen >inne , sowohl als ,,lie-
werbc" wie als ,, Produktion", wie endlich als gewerbliches Etablis&ement oder
Grofsbetrieb. Bekannt ist aus den iS4u<-r Jahren Villermös Taubleaux de VtM
physique et moralc des ouvrier eplo)*^ dans les manufactures de coton,
de lainc et de soie (Part» 1840): ebenso bekannt sind aus den 1860 er Jahren
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Die gewerbikbe Arbeit wid ihre OrgttiisatiaQ.
357
3. das Moment der Gesellschaftlichkeit des Betriebes.
Damit unterscheiden wir die Manufaktur von den Individual-
betrieben im grofeen;
Reybands Etndes sor le regime des manafactares" — ac. der Seide iSte;
der BMonwoUe t86a ; der WoUe 1867. — Aber auch noch in aenester Zeit begegnen
irir der offiziell anerkannten Bezeiefaming „manufacturc" im Sinne von Fabrik. Im
,,Anniiairi- dr Statistiquc" findet man „manufacturcs do l'Etat"; „manufactur«*s de
flr-urs H plumes" : „manufacturcs d'armes" und ähnliche. An Colbertscbe Zeiten
«rinnert <lif „F.cole centrale des arts H manutacturfs" zu l'aris. —
Am wenigsten hat das Wort „Manufaktur" wohl in Deutschland Bestand
gehabt. Nor die „Manofakturwarenhandlnng" erhmeit noch an die alte hisloriidie
Bedeotnng des Wortes; nnd rereinselt bat ^b die Besdcbnong fllr die Betriebe
bestimmter Indostrieiweige erhalten. So hat das K.P.M. wohl Tonehmlidi bewirkt,
dafs wir nicht von Ponellanfabriken, sondern von Porzcllanroanufakturen sfMechen.
Das ist aber wohl fast die einzige gebräuchliche Anwendung des Wortes in der
Vulpärsprachc. Da^ie^en hat die ökonomiNchr' Wissenschaft nicht aufgehört, sich
der Hezeichiuinj^ uikI des Begriffes der „Manufaktur" /.u bedienen. Noch wesentlich
im alten merkantiliitischen Sinne gebraucht das Wort Friedrich List in seinem
nationalen System (1842), wo er seine Theorie vom Segen der „Manufaktorkraft"
eHtwidtelL Später haben rieh dann Tcrschiedene AufÜMSungen lieraasgebUdet. Die
mgladdidiste ist die von W. Roscher in seinen ««Anriditeik der Volkswirtschaft**
(3. Avil. 1861) vertretene, wonadi Mamifaktur dasselbe wie Hansindastiie bedenten
soll: „eine höchst interessante {!) Mittelstufe (!) zwischen der eigentlichen (!) Fabrik
und dem Handwerke ist die für den Handel arbeitende Hausindustrie oder wie ich
sie vnrztij;swei<:e nennen mucVite, die Manufaktur" (a. a. O. S. 140 . Diese viillig verfehlte
Aulfassunj,' hat denn ;uu Ii, soviel mir bekannt, nur einen Anhänger in der I.itleratur
gefunden, nämlich F. mminghau> >. Allgemeine Gewerkslehre. 1868. S. 295). Dem
Roscherschen Sprachgebrauch gegenüber steht ein anderer in der ökonomischen
Littentnr, den wir wohlfl^jlidi den Marxsehen nennen ddrfcn. Nach Marx sind
viler „Ibanfaktnren*^ „alle Werkstitten anf grofser Stufenleiter anfser eigentlichen
Fabriken** m verstehen (Kapital 430). In ^eidiem $>tnne gelmnelit das Wort
G. Schmolle r. Thatsachen der Arbeitsteilung in seinem Jahrbuch XIII (1889) S.
1050/51 und wie ersichtlich bewegt sich auch die Darstellung im Texte in einer der
Marxschrn Definition verwandten Richtung, Worin meine Auffassung von derienigrn
Marxcn.s abweicht, wird der Kundige leicht le.^tstellen können Ich meine nun doch,
der Gebrauch des Wortes „Manufaktur" in der hier gewalillcn Bedeutung i»t mehr
geruditfcrtfgt als etwa die Rosdicrsdie Verwendungsart. Gemein haben beide Auf-
fsssnngcn die Anknüpfung an den in früherer Zeit flblich gewesenen Sprachgebrauch :
in der merkantilistischen Epoche bedentete Manufaktur sowohl Hausindustrie wie Grofs»
betrieb. Aber es kann m. E. keinem Zweifel unterliegen, dafs unmerklich im Lauf der
Zeit sich der Begriff der Hausindustrie durchaus zu einer selbständigen Nomenklatur
durchgerungen hat und somit der Grofsbetrieb alten Stils allein noch übrig geblieben
23*
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358
Werner Sombart,
■3. das Moment des band arbeit enden Verfahrens in
entscheidenden Partieen des Produktionsprozesses. Damit
sondern wir die Manufaktur von der l abrik.
Dals im einzelnen auch bei dieser Betriebstorm wieder Zweifel
der Rubrizier« n}:^ entstehen können, ist gewifs; prinzipiell sind die
unterscheidenden Merkmale klar und in der Mehrzahl der Fälle wird
die Zugehörigkeit eines Betriebes zur Kategorie der Manufakturen
auch sich leicht feststellen lassen.
Durch die Abschnitte bei Marx, die von der Manufaktur handeln,
ist es üblich f^eworden, in dieser Betriebsart eine l'eber^^an^s-
form zu erblicken, die eine Stufe unvollkommener Entwicklung der
Individualbetriebe auf dem Wege zur vollständigen Verge^cll.scbaf-
tung in der h'abrik darstelle. In diesem Sinne sprächen wir dann
von einer „Manufakturperiode", die die Industrie etwa von 1650 bis
1750 durchlaufen haben soll, als schon gesellschaftliche Grofsbetriebe
aber ohne starke \'erwendung von Arbeitsmaschinen und ohne An-
wendung des Dampfes existierten. Noch täglich aber könnten wir
wahrnehmen, dafs ein Industriezweig sich in jenem Stadium halb-
vollzogener P^ntwicklung l)efände, wie wir jeden Tag beobachten
könnten, dafs Industriccn aus der manufakturmafsigen in die fabrik-
mäfsige (Organisation übergingen. Beides sind unzweifelhaft richtig
beobachtete Thatsachen : sowohl jener \-orwiegend manufakturmälsige
Charakter einer ganzen ( Tcschichtsperiode wie auch die noch heute
sich stetig vollziclien<ic rmwandlung von Manufakturen in {""abriken.
Beispiele für die erstere Thatsache sind wichtige grolse Industricen
wie die Weberei mit ihren Hilfsverrichtungen, zahlreiche F.isen
verarl)citende Industrieen, u. s. w. ; Beispiele für letztere Thatsache
sind in unserer Zeit etwa die Schuhwarenindustrie, einige Zweige
der Wäschekonfektion u. a.
ist al.s Hedcutuiif; iles Wortes ManufakUir im historischen Sinne. Das Beispiel
der „Porzcllanmanuiaktur" ist dafür ein Beleg. Spricht so historische Rücksicht
cineneiU fBr unseren Sprachsebrauch, ao findet dieser weiter seine Reditfertigung in
der noch hente flblichen Venrendunf des gicidien Wortes im Englischen und
Fruttösischen fHr geschlossene Grofsbetriebe. ISndUch aber aneb in dem Wortsinn
selbst, der anf die Handarbeit als das nntencheidende Meilnnal dieser Betriebe-
form hinweist omI sie damit in einen gewollten Gegensatt n der anderen Form des
gesellschaAlichen Grofsbetriebes stellt. Warum wir aber fibabanpt diesen Gegen*
satz aufrecht erhalten und sogar noch schärfer als bisher betonen wollen, während
seine Beiliehaltung von autoritativer Seite als Spitsfindigkeit gekennzeichnet wird,
werden die Ausführungen im Text klarstellen.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
559
Trotzdem ist es falsch, hier ein allgemein gültiges „Entwick-
lungsgesetz" aufstellen zu wollen, wonach der Prozefs der Vergesell-
schaftung individualer Betriebe sich stets in der Weise vollzöge, dafs
er das Stadium der Manufaktur durchliefe und im Zustande der
Fabrik endigte. ^) Das wäre eine doppelt falsche Annahme. Erstens
nämlich braucht ein fabrikmäfsiger Betrieb keinesw^[s immer vorher
eine manufakturmäfsige Organisation gehabt zu haben. Sehr viele
mechanische und die meisten chemischen Fabriken sind hierfür als
Belege anzuführen. Zweitens aber ist es nicht richtig, dafs die
Manufaktur gegenüber der Fabrik stets eine unvollkommene Ent-
wicklungsstufe darstelle. Beide Betriebsformen können vielmehr
durchaus gleichwertig nebeneinander bestehen, so dafs also die Ent-
wicklung zwei Höhepunkte haben kann: Fabrik und Manufaktur.
Der Stammbaum der gesellschaftlichen Grofebctricbc sieht demnach
so aus:
Fabrik
o
t
I Fabrik
B€aiui&ktor y
Indhridwdbetrieb
Das Wesen der Manufaktur ist also doppelt bestimmt: einmal
als Uebergangsform, sodann als selbständige, voll entwickelte Form
des gesellschaftlichen Groüsbetriebcs. Im crsteren Falle besteht ihre
eif;entümliche Funktion vornehmlich darin, die Anwendung des
maschinellen Verfahrens vorzubereiten. Ich habe an anderer Stelle
p^ezeigt, wie dieses zu fruchtbarer Entwicklung nur gelangen kann,
wenn einmal der Träger der Maschinerie sich zu einem in seinen Orga-
nen unbegrenzten Gesamtarbeiter ausgewachsen hat) und sodaan die
V) Marx spricht ron einem „geschichtlichen Entwicklungsgang der grofsen In-
dustrie, auf deren Hintergrund die üherlieferte Gestalt von Manufaktur, Handwerk
und Hausarbeit gänzlich umgewälzt wird, die Manufaktur hcsländig in di<- f abrik,
das Handwt'rk beständig in dir Manuf:iktur umsrliHi^'t" ilirs übergeht). Marx,
Kapital I*, 455. Dieser Gedanke findet sich bei Marx :scit der Misere (vgl. p. 13t
tq.) md dem kommniiistiidieii Mbaifest (vgl. S. 10 der 6. deoiieheii Aiug.).
Manufaktur
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360 Werner Sombart, ^
Arbeitsverrichtungen schon dermalsen zerlegt und vereinfocht sind,-
dafe sie vom Ingenieur nun der Maschine überwiesen werden können.
Beide Voibedingungen schafft die Manufaktur, indem sie den Pro>
duktionsprosefe in ein£u:he Teile zerlegt und die Teilverrichtungen
an die einzelnen (Personen-)Organe eines Gesamtarbeiters verteilt.
Was die manuiaktuniiäfsige Organisation hier leistet, ist also gleicih-
sam die Entgeistigung des Arbeitsprozesses, seine Emanzipation von
der lebendigen Persönlichkeit des Individualarbeiters.
Nicht nur völlig anders, sondern geradezu entgegengesetzt ist
nun aber die Funktion, die der Manu&ktur als selbständiger, voll
entwickelter Form des gesellschaftlichen Betriebes zu erfüllen obliegt.
Hier soll sie nämlich nicht die schöpferische Individualitat des ein-
zelnen Arbeiters unterdrücken, sondern sie soll ihr gerade erst zur
rechten Entfaltung verhelfen. Sie ist in diesem Falle diejenige Be-
triebsform, welche die Vorteile des gesellschaftlichen Betriebes ver-
einigt mit dem für bestimmte Leistungen unersetzlichen höchst-
persönlichen Schaffen des Individuums. Sie ist alsdann, woUte man
sich in weiterer Ausgestaltung der Betriebssystematik gefallen, gerade-
zu die Synthese von gesellschaftlichem und individualem Betriebe, so
unvereinbar diese beiden auf den ersten Blick zu sein scheinen.
Beispiele werden das erst deutlich erkennbar machen.
Oft beschrieben ist die Manufaktur in ihrer ersteren Bedeutung.
Wir brauchen nur an Adam Smithens nun schon zur Klassizität
emporgehobenes Beispiel der Stecknadelmanufaktur zu erinnern und
können hier auf eine wiederholte Vorführung dieser T)rpen der
sog, „arbeitsteiligen Manufakturen" verzichten. Viel zu geringe Be-
achtung hat dag^fen die Manufaktur bis heute in ihrer zweiten
Form gefunden, so dafs es notwendig erscheint, hierfür einige lehr-
reiche Beispiele beizubringen.
Ich wähle als solche: die Porzellanmanu&ktur und die Kunst-
möbel manuüiktur.
Die Herstellung des Porzcll ans umfafst vier unterschied-
liche Teilprozesse der Produktion: l. die Herrichtung des Materials ;
2. die Formgebung; 3. den Brennprozefii; 4. die Farbengebung. Von
diesen Teilprozessen sind — in einem grofsen Betriebe, wie er hier
allein inbetracht kommt — zwei (i. und 3.) vollständig gesellschaft-
lich organisiert; zwei (2. und 4.) fast überall der Individualarbeit
vorbehalten. Eine Reihe mächtiger Maschinen hilft das Roh-
material für die Porzellanbereitung zerkleinern, das dann wiederum
auf maschinelle Weise in riesigen Mischkesseln die rechte Zusammen-
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Die gcwerblicb« Arbeit und ihre Organisation.
361
Setzung und Durchnässung empfangt. Aus der zurechtgekneteten
Thonmasse wird nunmehr ein Kubus losgetrennt: das Material für
die Thätigkeit des Formers. Diese ist durchaus individualisierte
Handarbeit: selbst bei der rohesten Ware, die an der Dreh-
scheibe zu Hunderten von Dutzenden gleicher Grö(se und Form
abgedreht wird. Geschweige denn bei kunstvolleren Gebilden, fiir
die recht eigentlich die Individualarbeit ihre Bedeutung empfängt
Hier sitzt Künstler neben Künstler mit Griffel und Spartel in der
Hand und formt die Lieblichkeiten, deren wir uns als der Erzeug-
nisse Berliner, Mei(sener, Sivrescher Kunst erfreuen. Hat er sein
Wunderwerk vollendet und seinen Geist ihm eingehaucht, so wird
es nun wieder in den Strudel gesellschaftlicher Produktion hinein^
gerissen und wandert mit vielen Brüdern in den Brennofen: diesen
mächtigen, an Hochöfen erinnernden ingeniösen Gebilden, die, selbst
das kunstvolle Werk vieler, zu ihrer Bedienung eines Stabes ge-
schulter Arbeitskräfte und reichlichen Materials im groCsen bedürfen.
Und nun öffnet sich nach 12- oder 14 stündigem Brand der Ofen.
„Wird's auch scht»n zu I uf^c kommen,
„Dal's CS I-'leir> und Kunst vergilt?
Ist das Stück gelungen in diesem so durchaus gesellschaftlich
betriebenen Teil der Produktion, in dem jede individuelle Macht-
vollkommenheit verschwindet, so wandert es nun wieder in die
Hände des Einzelarbeiters zurück, um mit Farben geschmückt zu
werden. Ist es ein ein&ch Gebilde, so werden es halbreife Arbeits-
kräfte sein, die ihre Abziehbilder auf die Tassen und Teller ab-
klatschen; ist es eine jener kunstvollen Vasen oder jener Schalen,
Teller, Nippes, mit denen wir unser Heim schmücken, so muls die
Künstlerhand wiederum dem Stück sein individuelles Gepräge ver-
leihen. Eine eigenartige Begabung giebt hier die Farbe, eine andere
hatte die Form gegeben: beide in voller Entfeütung ihrer künstle-
rischen Individualität. Dann kommt das Glasieren und noch
mancherlei Verrichtung, die sämtlich abermals auf gesellschaftlicher
Organisation beruhen.
Ganz ebenso eine Verschlingung individualer und gesellschaft-
schaftlicher Produktion stellt der zweite Typus der Manufaktur dar,
den ich dem Leser anschaulich machen möchte: die Kunst-
möbelmanufaktur und zwar schon in ihrer einfachsten Ge-
staltung, in der wir sie betrachten wollen, schon als Holzmöbel-
manuiaktur. Im Prozefs der Kunstmöbelherstellung lassen sich drei
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3(5«
Werner Sombart,
Hauptteile unterscheiden, die wir als Holzbearbeitung, Montage und
Verzierun«::^ be/cichnen können. Von ihnen ist der erste Teilprozels,
der aber nicht notwendig nur in Einen Zeitpunkt der Produktion
zu fallen braucht, sondern sich meistens s()*:^ar über die ganze Pro-
duktionszeit \ertcih, sich also mit den beiden anderen zum 1 eil kreuzt,
durchaus der individualeii Arbeit entzogen und auf gesellschaftliche
Hasis gestellt ; die beiden anderen dagegen sind, wo es sich thatsächlich
um die Erzeugung kunstvoller Möbel handelt. Domänen persönlichen
Wirkens geblieben. Verfolgen wir den Koh>tofl' in den verschiedenen
Stadien seiner Bearbeitung, so sehen wir die rohen Stämme zu-
nächst in die 1 iorizontalgaller eintreten, die sie als Bretter wieder
verlassen. Diese Bretter erhalten nun, je nach ihrer Bestimmung
in dem Maschinenraum weiter ihre Bearbeitung: an Band- und Kreis-
säge; Abriebt- und Dickehobel. So zubereitet nimmt sie der ein-
zelne Tischler, um sie nun zu dem iodividualen Werke» dem Stuhl,
dem Bufiet, dem Schrank etc. zusammenrusetzen. Oft in mühe-
voller, wochenlanger Arbeit, die der einzelne stets demselben Stik;ke
widmet Zwischendurch bedient er skh der Decoupier-, Fräs- und
Kehlmaschinen, die nebenan zu seiner Verfügung stehen. Und unter-
dessen arbeitet in einem anderen Saale die Schar der eigentlichen
Künstler: die Schnitzer oder wie sie heute al^emdn hei&eo: die
Bildhauer, die all die Schnurrpfeifereien heraidlen, mit denen wir
noch immer in blinder Abhängigkeit von früheren Geschmacks-
richtungen unsere Möbel zu belasten lieben. Sie sorgen zusammen
mit den Drechslern dafiir, dals die vom Tischler heigestellten Ge-
stelle die nötigen X'erzierungen erhalten. Dann kommt wohl noch
der Polierer, der Lackierer, der Vergolder, die dem Möbel die letzte
N'^erfeinerung angedeihen lassen. Auch hier also wiederholt sich
dasselbe BUd wie bei der PorzeUanmanufaktur : in einem im grofsen
Ganzen auf cresellschaftlicher Basis ruhenden Betriebe i^t Spielraum
geblieben für individuale .-Xrbeitsentfaltung einzelner Persönlichkeiten.
Was übrigens beiden Betriel)styi>en noch ganz besonders ihr gesell-
schaftliches Ciepräge verleiht, ist — aufser der Vergesellschaftung
sagen wir der elementaren Arbeitsverrichtungen, wie wir sie ge-
sehen haben — gerade die Vergesellschaftung auch der rein
geistigen, eigentlich k ü n s 1 1 e r i s c h - s c h o p f e r i s c h e n
(nicht blols ausführenden) l'unktion der ( i e sa m t a r b e i t. Das
geschieht durch die Eingliederung von eigenen Zeichnern und EjU-
wurfmalern in den Betrieb, von Personen also, die für sämtliche
Arbeiter gemeinsam die künstlerische Konzeption übernehmen.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organiüalion.
8. Fabrik.
„Noi sem venoti «1 luogo ov' io t* ho detto
,,Che vederai le gcnti dolorosf
„Ch' luuiiio perduto 1 beo dello 'ntelleUo."
, J)as Fabrikwesea ist eine so überaus vielgestaltige, dem ganzen
wirtschaftlichen Leben der Neuzeit nach vielen Seiten den bezeich-
nenden Stempel auldniclcende Erscheinung, dats es kein Wunder ist,
wenn — namentlich im gemeinen Sprachgebrauch — der Begrift'
des Fabrikwesens ein äußerst flieisender und um&ssender ist Schon
die Fabrikation, d. h. das Fabrikwesen nach der ausschlielslich
privatwirtschaftlichen Seite, wird in sehr verschiedenem Sinne ver-
standen; von der Manchester Spinnmühle, welche mit Zehntausen-
den von Spindeln arbeitet, von der Uhrenfabrikation, welche in den
Befgen des schweizerischen Jura ganze Kantone gleichsam zu Einem
Groisbetriebe zusammenschlielst, bis herab zum Posamentierer,
welcher mit einem halben Dutzend Arbeiter und . einigen Zwirn-
maschinen thätig ist, bis zur Boutique des Schneiders, welcher zur
Zeit als „Bekleidui^i;sakademiker" Rock und Pantalons „trigono-
metrisch" aufnimmt, bis zur Werkstätte des Schuhmachers, welcher
ins Grolae für Messe und Export arbeitet, ohne Leisten und Pfriemen
anders ab nach Väter Sitte zu handhaben, ist von Fabriken und
Fabrikanten die Rede . . . Dann aber das Fabrik wesen, wie viel-
seitig sind nicht die allgemein volkswirtschaftlichen, gesellschaft-
lichen, staatlichen Umgestaltungen und Eigenwirkungen, welche von
der Fabrik ausgegangen sind und fortwährend ausgehen . . ." Also
klagend leitete Schäffle vor nunmehr vierzig Jahren seinen Auf-
satz über das „Fabrikwesen" im „Deutschen Staatswörterbuch"
ein. Wie laut aber und schmerzerflillt mülste erst das Klagelied
sich gestalten, das wir heute einer Erörterung dieses Begriffes vor-
ausschicken wollten, nachdem vierzig Jahre ins Land gegangen
sind, ohne dafs auch nur ein einziges befriedigendes Wort zur
Klarung des B^riffes Fabrik gesprochen wäre, der vielmehr ver-
schwommener, unklarer, mehrdeutiger, mifsbrauchter geworden ist,
je reicher sich das Wirtschaftsleben in diesem Mensclieualter gje-
staltet hatl Keiner der Ausdrücke, die wir bisher für Hetriebsformen
kennen gelernt haben, ist auch nur annähernd so viel verwandt wie
der Ausdruck Fabrik, aber gerade deshalb vielleicht ist auch keiner,
1) Hennigegeben ron Blnntschlt und Brater. Band lU. 1858.
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3Ö4
Werner Sombart,
weder in der wissenschaftlichen Litteratur noch in der Gesetzes- und
Richtersprache noch im täglichen Leben so unbestimmt wie er.
Charakteristisch für die Unsicherheit des Sprachgebrauchs ist
die Thatsache, dafs unser oberster (jerichtshof überhaupt keine all"
gemein gültige Bestimmung des Begriffes „Fabrik" mehr aufzu-
stellen f'ir Lnit befindet ! Wie mufs es da in den einzelnen Gesetzen
aussehen! „Die zahlreichen Versuche, heilst es in Motiven zum
UnfallversicheruniTst^esetz , welche in der Gesetzgebung verschie-
dener Länder bisher in dieser Richtung — sc. den Begriff der Fabrik
zu definieren — unternoiiinien sind, haben in der \'ielgestaltigkeit des
praktischen Lebens ilire Schranken gefunden." Mutlos erklärt das
Kaiserliche !^latistische Amt: „Es gicbt . . keine allgemein gültige De-
finition des Hegriti'es Fabrik" und sucht sich mit einem schuciUernen
„Als Fabriken gelten" — praktisch aus der Verlegenheit zu ziehen.')
l'nd .Stieda kommt ebenfalls zu dem Frgebnis, dafs „der Begriff ein
flielsender list,) und von den entsprechenden Begriffen „Handwerk"
und „Hausindustrie" nicht schart /.u trennen. ') l'ntcr sothaiicn l in-
ständen er.sciicint es last vermessen, den Begriff habrik iilxriiaupt
bestimmen zu wollen, geschweige denn in der festen üeberzeugung,
eine durchaus allgemein anwendbare, unzweideutige Definition geben
ZU können. Immeihin soU wenigstens der Versuch nicht unter-
bleiben, in das herrschende Chaos hineinzuleuchten.
Wenn wir die schier unabsehbare Reihe der Definitionen des
Begriffes ,J<'abrik" vor unserem geistigen Auge Revue passieren
lassen, so mufe'uns vor allem die Wahrheit des Satzes zum Be-
wufstsein kommen : „Qui trop embrasse, mal Greint." Woran fast
alle Definitionen gleichmafsig kranken, ist das vergebliche Bemühen,
eine Betriebsform und eine Wirtschaftsform (kapitalistische
Unternehmung) in Einem Begriffe zusammenfassen zu wollen. Das
ist natürlich unmöglich und mufs notwendig zu Unklarheiten führen,
zumal wenn man sich des Unterschiedes dieser beiden toto coelo
verschiedenen Dinge nicht bewufst ist. Als Paradigma für diese
ganz allgemeine Art zu definieren, mag die Begriffsbestimmung
Stiedas dienen, die ich der Uebersichtüchkeit halber in ihre beiden
Bestandteile schematisch trennen wilP):
Erbebong Aber die VerhSltnisse im Handwerk. Veraast»Uet im Sommer 1895.
(Berlin 1895) ^ 3.
*) Artikel „Fabrik" im H.St.
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Die gewerbliche Arbeit und ihn Organisation.
Merkmale der Betriebs- Merkmale der Wirtschafts*
form: form:
„Die Fabrik stellt eine Ver-
einigung einer gröfseren Zahl von
Arbeitern zu Produktionszweckcn
in einem Gebäude dar, die unter
vor/ugsweiser Anwendung von
JMaschinen und Motoren sich ge-
genseitig in die Hände arbeiten,
so dafs alle an der Hersteilung
eines und desselben Gegenstands
mit bestimmten Leistungen be-
teiligt sind.
Die Anordnung der Arbeiten,
sowie die Lieferung der Rohstoffe,
(Kr Werkzeuge und Maschinen
ubernimmt.dcr Inhaber der Fabrik,
dem auch die Sortrc für den Ab-
sat/. der angefertigten P>zeugnisse
obliegt. Für die Errichtung der
[•abriken sind malsgcbcnd gewesen
die veränderte (icstahung des Ab-
satzes, der auf dem örtlichen Markt
nicht mehr ausreichend erschien,
die sich weiter entwickelnde Ar-
beitsteilung und die Erfindung von
Arbeitsmaschinen/'
Also hier gilt es zunächst sich fUr das eine oder das andere
zu entscheiden: ob mit dem Ausdruck «fFabrik** eine bestimmte Be-
triebsform oder eine bestimmte Wirtschaftsform bezeichnet werden
soll. Der Leser weiüs, dals wir mit dem Worte ,,Fabrilc" die Vor-
stellung einer Betriebsform verbinden.
Fragt sich nunmehr, welche unterscheidenden Merkmale wir
dem Begriffe Fabrik beilegen wollen. Unsere bisherigen Ausfuh-
rungen haben bereits einige dieser Merkmale festgestellt : Fabrik ist,
wie wir wissen, ein gesellschaftlicher Grofsbetrieb. Es handelt sich
iiir uns also nur noch darum, ihn von den übrigen Arten dieser
Betriebsgattung abzusondern. Zu diesem Zwecke können folgende
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366
Werner Sombartt
Kriterien — in Anlehnung^ an den doch immerhin nicht ganz zu
ignorierenden Sprachgebrauch — in Betracht kommen:
1. Das Moment der Einförmigkeit, Massenhaftigkeit
oder sogar der Minderwertigkeit der Erzeugnisse. In diesem
Sinne spricht man von „Fabrikware", von „Doktor-Fabriken*' in
übertragenem Sinne. Es ist aber durchaus unberechtigt, das Wesen
der Fabrik in den genannten Momenten m erblicken. Es giebt
Betriebe, die jedermann ohne jedes Bedenken fiir Fabriken erklaren
würde, die aber keineswegs einförmige oder gar minderwertige
Massenware liefern. Ich denke an mechanische BUdwebereie&; an
die modernen Buntdruckereien, in denen Jugend, Simplizissimus
und ähnliche Blatter oder gar unsere reizvoll ausgestatteten Kunst-
und Kunstgewerbezeitschriften, vom Range des Pan, des Studio,
der Deutschen Kunst und Dekoration etc. hei^^tellt werden.
2. Wohl das beliebteste Unterscheidungsmerkmal für Fabriken
ist die in dem Betriebe zur Anwendung gelangende Maschinen-
technik. Man hat, wie schon erwähnt wurde, Fabrik geradezu
mit „Machinofaktur" identifiziert. Insbesondere seit Marx, ist es
üblich geworden, maschinellen Grolsbetrieb und Fabrik als gleich-
bedeutend anzusehen. ,JDen Ausgangspunkt der grofsen Industrie
bildet . . die Revolution des Arbeitsmittels und das umgewälzte
Arbeitsmittel erhalt seine meist entwickelte Gestalt im gegliederten
Maschinensystem der Fabrik." ') Aber diese Begriffsbestimmung
ist entschieden zu eng. Hier, wie so oft bei Marx läfst sich der
übermäfsig beherrschende Eindruck verspüren, den die Baumwoll-
spinnerei auf ihn gemacht hat. Seine ganze Theorie, möchte man
sagen, bt auf diesen Produktionszweig zugeschnitten. Man könnte
von Anfang bis zu Ende im „Kapital" an Stelle von Ware =■ Garn,
an Stelle von Produktion = Baumwollproduktion , an Stelle von
Fabrik = Baumwollspinnerei , an Stelle von Arbeiter Spinner
setzen, ohne den Sinn zu beeinträchtigen. So sehr nun auch mit
Marx die hervni r atmende Geeignetheit dieser Branche, ab Schulbei-
spiel moderner Industrie /u dienen, anzuerkennen ist, so ist es doch
natürlich nicht zulässig, Baunnvollspinnerei und Grofsindustric
schlechthin gleich zu setzen.^) Es genügt, auf die auiserordentlich
*) K. Marx, KapiUi I«, 358. Vgl. dua die AuflUiniiigen S. 3840!: „Die.
Fabrik".
*) Diese oft sidter nnbeviifste Identifisieniiig ▼crfllhit Marx n gdegeatlidi
recht fakeben Veiallfeneineniiigcii. So x. B. in seiner Charakteristik de* WeMW
moderner Maiehinerie, die seiner Meinung nach (wie in der BamnwoUsptnnerei) Ab«'
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organitttioo.
367
wichtige Kategorie aller sog. chemischen Fabriken L e. S., femer der
Brennereien, Brauereien u. s. w. hinzuweisen, um die Bestimmung
des Begriffes der Fabrik ausschliefslich mit Hilfe des Maschinen-
prinzips als verfehlt zu kennzeichnen.
3. Auf das richtige Kriterium der Fabrik werden wir geführt,
sobald wir nach dem aller entwickelten Maschinerie und aller
chemischen Industrie im weiteren. Sinne gleichermalsen zu Grande
liegenden Prinzipe fragen. Dieses ist unzweifelhaft das des auto*
matischen Produktionsprozesses. Haben wir die Idee der
Vergesellschaftung des Produktionsprozesses überhaupt in der Emanzi-
pation von der Beschränktheit des individuellen Arbeiters erblickt,
so liegt diejenige der Fabrik im Besonderen in der Emanzipation
von der mitwirkenden, gestaltenden .Anteilnahme des Arbeiters an
der Produktion. Objektivierung des Produktionsprozesses, seine
völlige Loslosung von dem lebendigen Menschen, seine Ueber-
tragung auf ein System lebloser Korper, die durch Mitteilung
einer künstlich erzeugten Kraft gleichsam mit Leben eriiillt
werden, Schöpfung eines selbstthätig wirkenden, an die Stelle
des Menschen tretenden Mechanismus: das ist es offenbar, was
uns vorschwebt, wenn wir von einer „Fabrik" sprechen,') oder
all ,^1» drei wewntlich vcncbicdenen Tdlcn, der BevcgaapiiMKUne, dem Trans-
missionsmechaiiisinas , endlich der Werkzeuge oder Arbeitsmaschinc" bestehen SoU
(Kapital I*, 336fr.), vobei Marx wiederum Ure fPhiloi>uphy of Manufactnres. pa£.
271 strictisiimo folgt. Ucber das Irrtümliche dieser Auffassung verhrfitet sich schon
tingehend F. Rculeaux, TlK orctischc Kinematik (18751 129 fr. < )der man vgl.
L. B. S. 391, wo er ,,dic materiellen Hedin;,'uii<;< u, unte«- denen die K ;i l> r i k a r b e i t
verrichtet wird", aufzählt, wie folgt: „Alle .Sinnesorgane werden gkichmätbjg ver-
letit durcb die kflnstlich gesteigerte Temperatur, die mit Abfillen des Robnuiterials
geschwliigertc Atmocphlre, den bctilal»enden Linn n. s. w. abgesehen von der Lebens-
geftbr miter ^drtgehXnfter M Hchinerie.*' Nu denke man sich etwa veraetst in eine
Rostige, lantloie Bnaerei, in eine laabere Bantdradcereif in eine chcmisdie Fabrik,
«o flberbanpt keine Maschinerie, geschweige gehinfte ist.
*) „1 COOCeire, that this title, in its strictest sense, involves the idea of a vast
antomaton, coroposed of various mechanical and intellectual organs, acting in un-
interrupted concert for the production of a common object. all of th»-m being sub-
ordinated to a -~ell-regiilat< il rnoving force." 1' r e , l. c. jiaj;. 1 3. Als au^<,"•sJ)rt)c■hene
Typen vollcntleter Fal)rikhattigkeit können für die m e c h a n i ?. e h e liulustrie die
Dampfmühlen, für die chemische Industrie die retroleumraffinericn angesehen
»erden. Unbewanderte verweise idi ittr die entere Fabrikform an die Darstellung
bei Em. Herrmann, Miniaturbilder ans dem Gebiete der Wirtschaft. N. A.
Halle 1S77. Fünftes Bild: Die Dampfmflhle an Ebemliirth.
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368
Werner Sombart,
was wir doch wenigstens uns gewöhnen sollten, in den Begriff
hineinzulegen, da dieser dann erst seine spezifisch klare und
wertvolle Bedeutung für das System der Betriebsformen erhält
Fabrik wäre demnach: Diejenige Form des gesellschaftlichen Gto(s-
betriebes, in welchem die entscheidend wichtigen Teile des Pro-
duktionsprozesses von der formenden Mitwirkung des Arbeiters un-
abhängig gemacht, einem selbstthätig wirkenden System lebloser
Körper übertragen worden ^nd. Ihre spezifische Funktion wäre
dann die: eine Hetriebsform zu sein, in welcher die durch die Ein-
führung der Maschinerie und des wissenschaftlidh chemischen Ver-
fahrens in die Produktion ermöglichte Ueberwindung der qualitativen
wie quantitativen Beschränktheit des individuellen Arbeiters in je-
weils höchst vollendeter Weise in die Wirklichkeit übertragen
wird In einem etwas kühnefi Bilde gesprochen : die Fabrik ist das
Werkzeug des kollektiven Gesamtarbeiters, mittels dessen er Kraft,
Feinheit, Sicherheit, Schnelligkeit über die Schranke des Organischen
hinaus zu entwickeln vermag. Des Gesamtarbeiters, der in der
Fabrik allein noch waltet; denn das ist, negativ ausgedrückt, Qia-
rakteristikum der Fabrik, dals in ihr für irgend welche Ent£dtung
individuell - persönlichen Wirkens kein Raum mehr ist Deshalb
stellt die Fabrik die konsequenteste Durchbildung des Prinzips ge-
sellschaftlicher Produktion dar, ohne doch als die höchste Form
der Betriebsanordnung überhaupt gelten zu dürfen, die \ielmehr,
wie wir gesehen haben, in zwei Gestaltungen zu jeweils höchster
Vollendung gelangt: in Fabrik und Manufaktur.
V.
Wirtschaftsstufen, Wirtschaftssysteme, Wirtschaftsformen.
Wenn wir nach dem, was wir bereits ausgeführt haben
Produktionswirtschaft nennen
die Organisation, welche ein Wirtschaftssubjekt schafft, um
durch Erzeugung von Sachgütern einen seinem Wirtschafts-
prinzip entsprechenden Nutzeffekt zu erzielen,
so führt uns eine genauere Untersuchung und Zergliederung dieses
Begriffes zu folj^ender Krkenntnis:
I. Die subjektive Bestimmtheit der Wirlschaftson^anisation liegt
in dem Verwertungszweck. Nicht der Zweck der (lüter-
her^tt Iking, sondern die hinter dieser HerstelluiiL,^ liegenden Zwecke.
die ich die Verwertungszwecke nenne, entscheiden über Art und
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
369
Form der Organisation. Dadurch tritt die Wirtschaftsorganisation
in einen deutlichen Gegensatz zur Betriebsorganisation, welch letztere
wir durch den Zweck der GebrauchsgüterhersteUung bestimmt
sahen. Um Stiefeln anzufertigen, kann ich mich des manuellen oder
maschinellen Verfahrens, der indiv idiialen oder kollektiven Betriebs-
anordnung bedienen und erhalte alsdann einen bestimmten Betrieb,
der immer als letzten Zweck — SticfcK erfertii^uni^ hat. Je nachdem
nun aber Stiefeln zum eigenen (icbraucli oder Sticfehi für den Ge-
brauch eines Kunden oder Stiefeln zum Zweck des GehKerdieiiens
o<lcr Stiefeln für eine Armetu erwaltung angefcrti<^t werden, entstellen
mannigfache Organisationen, eben bestimmt geartete Produktions-
wirtschafien. Zweck einer kapitalistischen Sticfelfabrik ist niemals
die Anfertigung von Stiefeln, sondern immer nur die Krzielung von
Profit; Zweck einer l)äuerlichen Eigenwirtschaft ist ebenfalls 111 -ht
Stiefel zu machen, sondern die Pulse durch Stiefel gegen P'cuchtig-
keit, Kälte etc. zu schützen u. s. w.
2. Die objektive Bestimmtheit der Wirtschaftsorganisation wird
gegeben durch das jewdls herrschende Wirtschaftssystem,
d. h. die geltende Wirtschaftsordnung und die herrschenden
Wirtschaftsprinzipien, denen sich das einzelne Wirtschaftssubjekt
doch stets als einer objektiven Thatsache gegenüber befindet
Durch diese Gebundenheit an die in der gesellschaftlichen
Ordnung gegebenen Bedingungen erhalt die Wirtschaft stets ein
bestimmtes, historisches Kolorit, das sie abermals von der
Betriebsorganisation unterscheidet, die — bis zu einem gewissen
Grade wenigstens — von der jeweils herrschenden Wirtschafts-
verfassui^, wie wir gesehen haben, unabhängig ist.
Wie sehr die Wirtschaftsform durch das Wirtschaftssj^tem be-
dingt ist, vermögen wir erst völlig zu ermessen, wenn wir uns
darüber unterrichtet haben, worauf sich im einzelnen die An-
ordnungen und Hinrichtungen beziehen, die durch die Organisation
der Wirtschaftsform ins Leben gerufen werden. Diese bestimmt
I. die Art und Weise, wie die für die Produktion notwendigen
Faktoren — Produktionsmittel und Arbeitskräfte — zu produktiver
Thätigkeit herangezogen werden: ob beispielsweise die Arbeitskräfte
als P'amilicnangehörige dem Befehle des i'amilienobcrhauptes folgend
zur Arbeit kommen; oder ob sie als Fremde zwangsweise herbei-
geschle])pt werden; ob sie von der staatlichen Obrigkeit in einer
(iesellsehaft freier Menschen /.ii bestimmten Arbeiten designiert
werden ; ob sie als gleichberechtigte Genossen sich zu gemeinsamer
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370
Wemvr Somb«rt,
Arbeit verabreden; ob sie als Ware auf dem Markte gekauft; ob
als Gehulfen gegen Entgelt vielleicht nach obrigkeitlich fes^estellten
Taxen angeworben werden u. s. w.;
2. die Art und Weise, wie die bei der Produktion mitwirkenden
Personen Kinflufs ausüben auf die Gestaltung und den (iang jener.
Produktionsleiter ist ja das Wirtschaftssubjekt. Aber die Stellung
der ubri^^en Produklionsleilnehmer zu diesem kann trotzdem eine
aulserordentlich verschiedene sein : vom unbeschränktesten Despotismus
bis zur frcioten demokratischen \'crfa.ssung sind hier Abstufungen
in den Beziehungen des Leiters zu den Geleiteten denkbar und
wirklich ;
3. die Art und Weise, wie das Produkt verwendet wird : ob
es bestellenden Kunden gegen Entgelt geliefert, ob es auf dem
Markte verkauft, ob es in der Wirtschaft des Produzenten verzehrt,
ob es auf dem Meierhofe oder in der Abtei abgeliefert, ob es in
einem staatlichen Magazine deponiert wird u. s. w.;
4. die Art und Weise, wie die bei der Produktion Mitwirkenden
am Produktionsotr^e teilnehmen: ob gar nicht — man denke an
den abgabenpflichtigen Fronbauern! — ob mit einer Quote des
Ertrages» ob mit einer unabhängig vom Ertrage festgesetzten Wert>
summe — in Natura oder in Geld — ; ob die Anteilnahme auf
dem W^e stillschweigender Vereinbarung, oder freier ausdrück-
licher Abmachung oder obrigkeitlicher Normierung oder sonstwie
stattfindet.
Diese Einsicht in die historische Bedingtheit der Wirtschaft
lä(st es nun aber auch als notwendig erscheinen, um die ver-
schiedene Gestaltung der Produktionswirtschaft, d. h. die ver-
schiedenen Wirtschaftsformen — wie wir in Zukunft immer der
Einfachheit w^en statt Produktionswirtschaftsformen sagen wollen
- anschaulich zu machen, zuvor eine Charakteristik der
Wirtschaftssysteme, in die je eine bestimmte Wirtschaftsform
eingc i^ücckrt ist, zu geben.
An Versuchen fehlt es nicht, die verschiedenen Wirtschafts-
systeme, oder wie dafür promiscue wohl gesagt wird: W'irtschafts-
stufen, Wirtschaftsweisen, Wirt schaftsverfas.sungen,Wirtschaftszustände,
Wirtschaftsepochen einer systematischen Betrachtung zu unterziehen,
l'nserer Gepflogenheit gemäfs, unsere Meinung stets nur im Zii-
sannnenhange mit früheren Ansichten vorzutragen, um damit endlich
eine Art \on Kontinuität der I-"orschuiig in unserer Wissenschaft
anzubahnen, liegt uns die Verpflichtung ob, über die früheren
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Die gcweibUebe AibcU und ihte Orgmintioo.
Theoriecn eine kritische Uebersicht zu j:jebcn, unter Beschränkung
selbstN orständhch auf die entweder verbreitetsten oder gescheitesten
dieser Lehren. ')
Durch ihr ehrwürdiges Alter nicht iiiiiulcr als durch ihre '^rnfse
Lebensfähigkeit und weite Verbreitung /ei( hnct sich jene Theorie
aus. welche die wirtschaftende Menschlicit sich naciieinander als
Jäger-, Hirten-, Ackerbau- und Industrie V( ilker bethätigen
sieht. Vater dieser Lehre in ihrer ausgebildeten horin ist wolil
Friedrich List, tler sich für seinen I iau^liedarf das .Schema zu-
recht gemacht hatte. *) Noch heute trifft man sie in unseren ver-
breitetsten Leinbüchern an.'') Abgcseiien da\on, dals tliese liieorie
in wesentlichen Punkten Im,*) bleibt sie durchaus an der Ober-
fläche der Erscheinungen. Es mag statthaft sein, die primitiven
^ sc. der Wirtschaftsstafcn im engeren Simw. Alle Theorieen, die eine
Slafcnfolgc getellirlinffliriier Zattiade im sUgemdBcn ohne besondere BerBcksiditigmif
des WirtsdmftiMMns Iduen, bleiben deshalb uAeiidniehtigt. Es fddea also so lie>
deotsame „EntwiddungiUieorieen** wie diejenige Fonriers, Comtes xl «.
•) Fr. List, Das nationale System in den Ges. Schriften. Bd. III. S. 14.
List unterscheidet; ai Wilden Zustand; b) Hirtenstand; c) Ainikultunstand ; d) Agri-
külturmanufuktur>tand ; r j Aprikultumiiinufakturhandclsstand. Ansätze zu dieser Stufcn-
thmri'" tintl'-n >ich natürlirli -.choii trüh'-r; <iO vielfach in der franzosi^^chen
Literatur des XVlli. Jahrhunderts. Im Kt im i>l die I hcorie schon bei A r i s to t e 1 e s
vorhanden, der Völker mit vo/iadixoff, ycco^x^xos, ItjatQtnoSt alannmoSf dij^evrtxog
(sc. /iiot) «ntersclkeidet od andi schon die ridtice Bcobaditong madit, dafr naaclie
Völker diese Lebensweisen kombinieren (Ari&tot Pol L 3).
^ s. B. in Sehönbergs Handbodi Band I, wo S. 29 f. (der 3. Aufl.) Wirtschafb-
atttfen nach dem Zustande der „mlkswiitschafllidien Frodoktion** wie folgt aufgeslUt
werden: a) das Jigenrolk; b) das Fischervolk; c) das Hirten- oder Xomadenvolk ;
d) das spfshafte roine Ackerbauvolk; «•! das dcwcrbe« md Handebvolk; f) das In-
dnstric%dk. Aehnlicb Koscher, Syst. II. S. 7 ff.
* S>o in der Annahme eines repelmäfsi^jcn StufenRan^jes vom Jäj^'ervolk über
die Nomadenvolker zum Ackerbauvolk. Neu. re L'nter>urhun;:r 11 li.il>. n im> .l.irüber
belehrt, dafs es sich hier nicht um ein zeitliche-. N.irlninander, Mindern um ein
räumliches Nebeneinander handelt. Die Ackcrbauvulkcr der hcifscn Zone waren
nie Hirtenvölker and die Nomaden Zentialasiens werden nie Ackerbauer werden;
ebenso wie die amerikantsdien oder arlctischen , Jigervidker** weder xom „Hirten«
Tolk" noch zum „Ackerbaavolk** eine Vorstufe bilden. Zu vgl. F. Ratzel, Völker-
kunde, 3 Binde, Leipzig, und namentlich Ernst Grorse, Die Formen der Fa>
milie und die Formen der Wirtschaft, Freiburp und I.eipzi}:: 1896, S. 25 fl". ins»
bes. S. .:o. Femer: Rieh, Hildebrand, Recht und Sitte auf den verschiedenen
wirtschaftlichen Kulturstufen. I. Teil. Jena 1896; z. B. S. 43 f.
Archiv für SOI. (ie»e(^gebuiig u. Statulik. XIV. 24
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372
Werner Sombart,
WirtschaftsverhältiiLsse nach der Richtung der Produktion zu cha-
rakterisieren, wie CS die S. 371 Anm. 4 citicrten Autoren that-
sächlich noch heute und mit glücklichem Erfolge thun. Es heilst
doch aber die Sache sich etwas zu leicht machen, wenn man alle
Unterschiede zwischen der Wirtschaftsweise eines Negerstanimes,
des europäischen Mittelalters und unserer Zeit charakterisieren will,
lediglich nach der vorherrschenden iVoduktionsrichtung. Dafs dieser
Unterscheidung richtige Gedanken mit zu Grunde liegen, ändert
nichts an dem Urteil, da(s sie in der Walil ihrer Merkmale zu
äuiscrlich verfährt.
Ein Gleiches gilt von der zweiten ebenfalls noch sehr ver-
breiteten Wirtschaftsstulenthcorie , die ihre Einteilung ,,nach dem
Zustande des Tausch Verkehrs" ^) trifft und als deren geistiger Vater
der ältere Hildebrand verehrt wird.*) Es war einer jener un-
glücklichen (iriffe, an denen die I hätigkeit dieses (iclehrten. wo sie
auf das theoretische (lebiet hinüberragte, so aufserordcntlich reich
^var, als er die drei Stufen der \ a t u r a 1 - . Geld- und Kredit-
wirtschaft proklamierte. Ich kenne kaum eine zweite Theorie, die,
trotzdem sie so arg oljerflächlich ist , doch gleichzeitig so viel
Fehler enthielte. I^enn wenn man auch das gröbste Versehen
— Eigenproduktion mit Naturalwirtschaft, d. h. einen Zustand, in
dem man „Güter unmittelbar gegen Güter" umsetzt, zu ver-
wechseln — aus dieser „Theorie" eliminiert, so bleiben noch so viel
') Amdmek Schönbergs, der «ncfa dieser Theorie neben der eben be-
sprochenen in seinem Handbocfae Unterkunft gewihrt: a. a. O. S. 44 f. Nenerdings
ist sie wieder in J. Conrads Gnindrifs zum Studium der politischen Oekonomie,
1. Teil. Jena 1896, iji; 31 — 33 aufgetaucht und auch in freilich etwas moderni-
sierter Fassung — von Maxime Kovalcwsky zu der scinigen f^cmacht. (Coup
d'tcil sur l'evolution du regime ctonomiiiuc et üa division en pcriode? im l>evenir
social. Deuxiemc annec. 1896. pag. 4Ü1.) Selir beliebt ist sie bei Historikern, die
der Nationalökonomie fem stehen. So arbeitet z.B. Ed. Meyer in seinem bekannten
Anfsatse ttber die wiitidMftUche Entwiddnng des Altertnma (Jahibücher flir Nat>
Odron. m. F. Bd. IX, S. 696 ff.) viel mit Sir. .
*) Bruno Hildebrand, Natwalwirtschaft, Geldwirtsehaft und Kreditwirt-
ichaft in den Jahrbitchem flbr Nat.«Oekon, Band n (1864) S. i ff.
So Adolph Wagner, Grundlegung 1. 1. i (3. Aufl. 1893) § 188 (« § 113
in der 2. Anfl.), der „Natural- nn<1 den tauschwirtschaftlichen Zustand" von den
„Formen, in welchen sich der Vorkehr im tauschwirtschaftlirhen Zustande der
Volkswirtschaft vollzielit und den A u > g 1 e i c h u n g s m i 1 1 c 1 n , deren er sit li zur
Bcwerkstelligung d< r Unisiit/c In-dicnt' vinti rschcidet, für letztere aber die Dreiteilung
in Natural-, Geld-, Kreditwirtschafl beibehält.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
Intämer wie Sätze übrig, auf die schon so oft hingewiesen ist,
dals wir es uns hier versa^n dürfen, langer dabei zu verweilen.
Aber auch soweit dem Schöpfer dieser Theorie ein richtiger Ge-
danke vorschwebte, ist er denkbar oberflächlich gewesen: er unter-
schied die verschiedenen Wirtschaibweisen nach ihren Symptomen,
statt nach ihrem Grundcharakter, der jene Sympttmie erzeugt Es
wäre wirklich an der Zeit, bei einer der nächsten Inventuren, diesen
alten Ladenhüter von Theorie auszumerzen.
Es ist eine eigentümliche Erscheinung in unserer Litteratur,
(lafs derselbe Autor in der Lehre von den Wirtschaftsstufen oder
Wirtschaftssystemen sich häufig nicht mit einer Theorie begnügt,
sondern zwei oder mehrere auf Lager hält, um sie je nach dem
augenblicklichen Bedürfnisse zu verwerten und ohne sich viel darum
zu kümmern, ob die betreffenden Theorieen vereinbar sind oder
nicht, ob sie sich teilweise ausschliefsen, nh sie sich ergänzen, ob
sie imV'erhältnis der lieber- oder Unterorclnuni:,^ zueinander stehen oder
sich sonstwie auleinander beziehen. So halion wir schon bei S c h ö ti-
berg zwei ganz verscliic(icne Slufenreihen der Wirtschaft kennen ge-
lernt, die einfach mit der Bemerkung eingeführt werden : ,.inan
unterscheidet in der ... (ieschichte zwei (irupj)en von Wirtschafts-
stufen. Das hauptsächlichste (!) Unterscheidungsmerkmal ist für die
eine der Zustanfl der volkswirtsihaftiichen Produktion, für die
andere der Zustand des lausciiverkehrs." Aber auch Ad. Wagner
') E$ m»g genftgen, eine der nblrekbcn Kritiken der Hildebrandsctaen Stnfen»
thcorie sa bencmieil, diejenige Gustav Cohns in seiner Grundlegung (Stuttgart 1885)
§ 337, wo fs n a. sehr trcfTfiid lirifst: „Die Drt-itrilunp ist schon darum unhaltbar,
weil sie dir wcsciitlu hr Funktion des Geldes übersieht . . . nämlit h <li' Funktion des
Wertmafses : letztere Funktion bleibt unberührt davon, ob beim L ni»atz Kredit ge-
währt wird oder nicht; der wirkliebe Qcgensatz, der hier Toneliwebt, wire: „Bar-
wirtkhaft» and „KreditwiTtadmft", «ihiend in beiden Fallen „Gddwirticfaaft" statt-
üiidct Es ist «ach nieht einnud riditig, dafr der „Umantz gegen Kredit", wie auf
Grand jener DreiteOong behauptet wird, sich mit äa höheren EnHriddang der
Wirtschaft immer mehr aasbreite und den Barurosatz verdlinge: im Gegenteil dir
fortschreitende Wirtschaft löst den Kredit immer mehr von dem Umsatz ab und
maiht aus der KrcditKewührunj: i-in besonderrü Grsoh.äft, wrh hes dm Käufer in drn
.Stan<l se tzt, gegrn bar /u kautm. Eine brschcidtnr Krnnlnis (lr> niodrnien Gfsihäfls-
verkflirs in hngland, Amerika u. s. w. bestätigt diese Ucbauptung." Das ist ja aber
gerade ein Spexifikiim Br. Hildebrands, dalk er diese Kenntnis nicht hatte, seine
Theorieen vidniehr anfbante auf Grand der Anschamngen, die er in seiner rflck-
stindigen Umgebong allein gewann. Erst bedeutete die Provinz Oberhessen, später
bedeuteten die thüringischen Fttrstentttmer fUr ihn die ökonomische Welt.
::4»
L iyiii^üd by Google
374
Werner Sombart,
verliigt über verschiedene Reihen von Wirtschaftss3rstemen, ohne,
so viel mir bekannt, irgendwo den Veisuch zu machen, ihre etwa
vorhandenen Beziehungen zueinander naher festzustellen, es sei denn,
was aber nicht ausdrücklich geschieht und gar keinen Sinn hätte,
dals die eine Einteilung der Wirtschaftsweisen fiir die „Volks*
Wirtschaft als natürlicher Organianus", die andere für die „Volks-
wirtschaft als künstliche Organisation" reserviert bleiben sollte.
So erfahrt der I .cscr der „Grundlegung", nachdem ihm in § l88 die
modifizierte Hildcbrandsche Einteilunj:^ xon^^etragen worden ist, in
§ 300^ dafs die „Organisation der X'olkswirtschaft" „auf drei ver«
schiedenen Prinzipien" beruhe und dafs auf einem jeden derselben
wieder je ein besonderes Wirtschaftssystem (beruht in welchem die
dazu gehörigen Kinzelwirtschaften vornehmlich, doch nicht aus-
schliefslich, nach dem betreffenden IVinzip fungieren.'*
Wagner unterscheidet dann hokaniitlich das privat-
wirtschaftliche, g c m e i n w i r t s c h a f 1 1 i c h c uik! k a r i t a t i v e
Prin/ip be/.w. Ss-stem, '1 im Ansrhlufs an Scbäfflc, bei dem .>ich
zurrst ilicsc S\-stctiiatik lindet. nur mit etwas abweichender Tcr-
miiiolögic und trcilich auch glücklicherer ( harakterisicrung des
wichtigsten der verscliiedencn ,,\\'irtscliaftsprinzipien". des sogen,
privatwirtsciiaftlichcn, das Schätflc viel treti'endcr das speku-
lative nennt. Sch.äffle unterscheidet -') die sj>ekulative , kaj)i-
t a 1 i s t i s c h j) r i \ a t w i r t sc h a f 1 1 i c h c Organisation \ i>n der
öffentlichen Organisation und der Organisaljon der freien
Hingabe.
So sympathisch mir nun auch der Gedanke ist, nach „WirtschafksF
Prinzipien'' Wirtschaftsweisen zu unterscheiden, so kann ich in der
Schäffle-Wagnerschen Theorie doch keine glücldklie Lösung
der Aufgabe erblicken,^) weil sie mir in folgenden entschddraden
Punkten fehlerhaft zu sein scheint : Einmal in der Charakterisierung
bezw. Unterscheidung der Wirtschafbprinzipien. Diese ist derart,
dafs ganz disparate Wirtschaftsepochen — man denke an die mittel-
alterliche Stadtwirtschaft und die moderne kapitalistische Verkehrs-
'1 .\<1. Wiigm-r. < irundlcjjunj:, 3. Aufl 1 1. S 770IT.
-I .\. K. 1'. Schältlc, Das gi-M>llsrliattliihf System der menschlichen Wirt-
schaft, 3. Aufl., l übingcn 1873. Siehe Bd. II. S. 25 ff.
*) Auch das Bach von G. Grofs, Wirtschaftsformen and WiiticfaafUprituipicn,
Leipzig 1888, das im wea^mtlidien anf der Ldire der beiden oben genaaaten Au*
torcn fufst, bringt trotz zahlreicher treifender Etnidbemerknngen doch keine be-
friedigende Lösung.
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Die gewerbliche Arbeit nad ihre Orgaaitatioik.
375
Wirtschaft — mit ihrer Hülfe gar nicht auseinander gehalten werden
kt>nnen. Beide sind sicherlich von verschiedenen W'irtschaftsprin/ipien
beherrscht, aber nach den Schäffle-Wagncrsclun Kategorieen lassen sie
sich nicht unterscheiden. Ofifenbar haben nun aber diese Autoren
auch gar nicht historisch differente \Virtsc hafts{)erii)den mit ihrer
Unterscheidung treffen wollen; sie erblicken vielmehr die ver-
schiedenen W'irtschaftsprinzipien und (^rganisationsfurnien der Wirt-
schaft jeweils neben- unil durcheinander herrschend. So sagt
Wagner (a. a. O. S. 778) ausdrücklich: „Kaum auch nur denkbar,
geschweige geschichtlich vorgekommen, ist eine Volkswirtschaft,
welche ausschlierslich auf einem und selbst nur ausschließlich auf
zweien dieser Oiganiaationsprinzipien beruht, sondern immer besteht
eine Kombination der letzteren, nur mit wechselnder Stellung und
Bedeutung jedes Prinzips. Das Ganze der Volkswirtschaft beruht
eben auf dieser Kombination.'' Mit dieser Auf&ssung ist nua
aber die Unzulänglichkeit der genannten Merkmale erwiesen,
historisch unterschiedliche Wirtschaftsepochen voneinander zu
sondern. Und darauf muls doch vor allem unser Augenmeric ge-
richtet sein.
Allen im folgenden noch zu besprechenden Theorieen ist nun
dieses Bemühen gemeinsam, historische Unterschiede, also wirklich
Wirtschafts e p o c h e n , Wirtschafts s t u f e n zu charakterisieren. Kurz
vorübei^hen wollen wir an deijen^en Gruppe von Autoren, die die
Unterscheidung der historisch bedeutsamen Wirtschaftsweisen nach
den rechtlichen Beziehungen treffen wollen, in denen in der
einzelnen Froduktionswirtschaft die Personen zu einander stehen.*)
*) Als Reprlsentsüten <fieter Gruppe nuig ««s der englischen Litteratar
W. T h o ni ] i - f) n erwähnt werden, auf dessen Systems of labour schon an anderer Stelle
(vgl. in diesem iJande des Archivs S. 15) hingewie<;en wurdi-. Th. unterscheidet 1. laboar
by force or compulsion ; direct or indircct ; 2. labour by uiirrstrict'-d iruilvidual com-
petition; 3. labour by niutual Cooperation ( \V. T Ii o ni p s n 11 . An iTiijuiry into tlic prin-
ciples of the di:itribution of Wealth. 1S24. p. X\ III. 363 11. und pass. 1. Durch Th. be-
ciBÜnfit dichdnt der dienlaUs schon (ohenS. 16) ellierte Lavergne-Peguilhen,
wenn er in seinem Bnche Aber die Prodnktionssesctse (S. 224 ff.) „Zwanfs* nnd Anteil-
wiiticliAft" «Ii die beiden der modernen ,,WirtsdMftsform" vornnfgelienden Formen
bezeichnet. Ihnen stellt er dann die „Gtldwiltscfaaft" gegenüber, wechselt also den
Einteilongsgrund und macht damit seine Systematik unbrauchbar, soviel beachtens-
werte Bemrrkungen sie im «in/ibifn nithiih. So ist beispielsweise alles, was HiUlt-
brand in seiner berühmten Mutt nihi onr an richtigen (Icdanken vorbrin^jt , länjist
alles von L. P. gesagt worden. Gelrgcntbch unterscheidet auch Sismondi nach
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376
Werner Sombar
So wichtig dieses Moment gewils auch ist, so unterUegt es doch
m. E. ebensowenig einem Zweifel, dafs es nicht geeignet ist, zum
obersten Einteilungsprinzip der Arten des Wirtschaftslebens gemacht
zu werden. ¥,s hat doch ganz gewifs für die Frage nach dem
Charakter einer Wirtschaftsepoche nur sekundäre Bedeutung, sobald
man es mit den übrigen die Art der Produktion selbst be-
einflussenden und bestimmenden Momenten und den hierdurch her-
vorgerufenen eigenartigen Beziehungen der einzelnen Produktions-
wirtschaften unter einander in Vergleich setzt. Erst mufs die Pro-
duktion doch selbst Richtung und Umfang erhalten haben, ehe an
die Konstatierung der Beziehungen der einzelnen Produktionstcil-
nehmer gedacht werden könne.
Als letzte Gruppe von Theorieen über Wirtschaftsepochen lassen
sich alle diejenigen Lehren zusammenfassen, die eine Unterscheidung
nach der Gliederung der bei Erzeugung eines Gesamt-
produkts beteiligten Produktionswirtschaften vulgo
Arbeitsteilung vornehmen. So wenigstens müssen wir das
Kriterium ihrer Unterscheidung richtig formulieren, obwohl dies bei
keinem einzigen der hierher gehörigen Autoren in einwandfrner
Weise geschieht, wie wir noch des genaueren sehen werden. Ich
begnüge mich , die Theorien von vier bezw. iiinf Autoren kurz zu
skizzieren, die geistvollsten und selbständigsten derer, die in Frage
kommen: die Theorieen von Rodbertus — Marx und Engels —
Schmoller und Bücher.
Es ist unleugbar das Verdienst von Karl Rodbertus —
und diejenige Leistung, die ihm den hohen Rang unter den National-
ökonomen des 19. Jahrhunderts verschafft, — zum ersten Male mit
allem Nachdruck als das charakteristische Merkmal unserer Wirt-
schaftsweise die Verschlingung zahlloser Einzelwirtschaften zu einem
gesellschaftlichen Ganzen betont zu haben. Zwar hatten Adam
Smith und andere vor ihm an dieser Thatsache nicht vorübergehen
den Abhängigkeitsverhältnissen des Arbeiters die verschiedenen Wirtschaftsstufea;
▼gl. s. B. Nouv. principcs II. 434 ff. In gewissem Sinne ist auch Marx hier zu
nennen. Fr hat IVrirnlen gehabt, in denen er der rechtlichen SteUung der „Pro
duktion>aginl("n" zu i-inand- r f\i\c aiiNsrhlajjpebende Bedfutung für die Unterscheidung
der \Virt.-.chafts>tuton beili-f^tc. Siinc und Engelsen^ endgültige Liintcilung war ja
dann freilich eine andere, wie ich weiter unten zeigen werde. Besonden» berausge>
arbeitet wifd dieser Manucbe Gedanke von seEnem SchVler H. M. Hyadmana,
The EGonomics of Socialism. London 1896. t Scct. A brief bistoric mrv^ ol
Metbods of Production.
Digitized by CjüOgle
Die gewerbliche Arbeit und ihre Ürgani^atiun.
377
können. Aber sie zum Ausgangspunkte fiir ein ganzes System zu
nehmen, damit gleichzeitig die herrschende Wirtschaftsweise als
eine historisch bedingte zu charakterisieren und sie in einen be-
wu(sten Gegensatz zu einer nicht gesellschaftlichen Wirtschafts*
weise zu stellen: das hatte doch, soviel ich sehe vor Rodbertus
niemand geleistet und das leistete er im Prinzip schon in
seinen ersten beiden Hauptwerken. Auch auf die verschiedenen
Arten, spezialisierte Produktionsthätigkeitcn untereinander zu ver-
knüpfen, sei es durch Tauscti, sei es durch das Kommando eines
Grundherrn oder sonstwie und die dadurch entstehenden Varietäten
arbeitsteiliger VVirtschaftsstufen hat Rodbertus seit seinen Studien
aus dem Jahre i&p hingewiesen. * i Dann hat er die Unterschiede
eigenwirtschaftlicher und tauschwirtschaftlicher Zustände im einzelnen
dargelegt in seinen bekannten Studien über die römischen Grund-
herr'scliaftcn ' und endlich in seinem posthumcn \ierten Briefe an
von Kirchmann *j eine leider nicht sehr glückliche Zusammenfassung
\) Zur Erkenntnis un«;erer staatswirtschaftlichen Zustände. Neubrandenburg 1842.
S. 67 ff. Zweiter Sozialer Brief an von Kirchmann (1851). In dem Neudruck ( Berlin
1875) ^- 25 f. 32. 35. 4243. „.Anstatt . ., dafs die Wissenschaft von der Erkenntnis
hätte ausgehen müssen, dafs durcli die Teilung der Arbeit die Gesellschaft zu einem
inmflÖtUdien wirtsdiafUichen Ganicn Tencblongen wird, anitatt daft sie rem Staad»
jmnkt dieses Ganzen aas an die ErkUnmg der einielnen ataatswiztsdiaftUcben Be*
griffe und Encbdmngen bitte gehen mflasen . . bat auch die Staatswirtscbait nicht
der ttbertriebenen indiTidnalirtitchcn Neigung der Zeit entgehen können" (S. 25 26).
•) „Im Altertum kann man es als Regel annchm« n, dafs das Produkt nicht eher
verlau.scht oder verkauft ward, aN bis es seine VoUtmlunp r-rhalten hattr. Allerdings
hat es auch damals Teilung der .\rbcit grgcben, <i. Ii. <-inigr haben da- kohprodukt
hergestellt, andere dasselbe rum Fabrikat umgewandelt, noch andere <la>selt)e
transportiert, allein alle diese Arbeiten hat ein EigentOmer, der Gmndcigentilmer, von
Anfang bb m Ende roraehmen lassen, sei es, was das gewöhnlichere, darch dgeae
SUaren, sei es durch gedungene freie Arbeiter . . . Erst mit der Büdnng der mo-
dernen Stidte, mit dem gesctxlidien Gcgennts twischen Stadt tmd Laad, mit dem
MUadÜie&lidien Recht der letzteren mm ausschliefsHchen Betriebe der meisten Fa-
taffikationsgewerbe, mit der daraus notwendig hervorgehenden Folge, dafs dir Roh-
produkte den Eigentümer wechseln mn(sten" u. s. w. Zur Erkenntnis etc. (1&42)
S. 7<>— 78-
*) Untersuchungen auf dem Gebiete der Nalionalukonomie des klassischen
Altertums; Jahrbücher Ar Nat-Oek. Bd. H (1864), Bd. IV (1865}, Bd. V (1865),
Bd. Vm (1S67.)
*) Das KapitaL Vierter sioi. Brief an v. Kirdimann. Herausgegeben von Tlu
Koaak. Berlin 1884. S. 74.
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37«.
Werner Sombmrt,
seiner Einzeluntersuchungen über die verschiedenen Wirtschafts-
weisen unternommen. Rodbertus unterscheidet Idar den Zustand
der isolierten Wirtschaft, den „Zustand des vollendeten Individualis-,
mus" vom Zustand der Arbeitsteilung ') und teilt letzteren wiederum
ein in einen Zustand ohne und einen solchen mit Grund- und
Kapitaleigentuoo. Dabei ist es denn freilich auch geblieben. Wie
in jeder Hinsicht, so hatte auch in der Lehre von den Wirtschafts*-
weisen Rodbertus nach 1851, allenfalls nach 1864 nichts neues mehr
zu sagen; ja in mancher Beziehung verballhomisierte er in seinen
späteren Arbeiten die Ansichten seiner eigenen Jugendschriften.
Grauenvoll geradezu ist die zu obigem Schema im vierten sozialen
Briefe hinzugefugte Gegenüberstellung der Staatswirtschaft als eines
besonderen auf Teilung der Arbeit beruhenden Wirtschaftssystems
und der privaten Produktions- und Konsumtionswirtschaft. Danach
ergiebt sich die fürchterliche Dreiteilung in die JSystetnt" {\) der:
1. Produktionswirtscliaft,
2. Konsumtionsvvirtschaft,
3. Gesellschaftswirtschaft.
. Dieses dritte, lediglich durch die wirtschaftliche Gemeinschaft,,
wclclic die Teilung der Arbeit unter den Individuen gründest, be-.
dingte Wirtschaftssystem (I), das deshalb auch in keiner Weise «einen
kommunistischen Charakter verleugnen kann, ist — die NajUoiial-
Ökonomie oder Staatswirtschaft." Solche einer senilen Dcmens zu-
gute zu haltende Konfusion darf uns aber die Freude an den
genialen Leistungen des jungen Rodbertus nicht verkümmern, die
iiir alle folgenden Theoretiker, vor allem auch für Karl Msürx von
grundlegender Bedeutung waren.
Wenn wir die Frage aufwerfen, was Marx und Engeis für
die Lehre von den VX'irtschaftsepochen geleistet haben, so ist eine
präzise Antwort nicht leicht zu geben. Zunächst freilich ist eine
Thatsache für keinen Kundigen zweifelhaft: da(s die herrschende
kapitalistische Verkehrswirtschaft von niemandem vor ihnen auch-
nur annähernd so treffend, so tief, so genial gekennzeichnet worden
war. Aber län^'st nicht die gleiche Sorgfalt ist von den beiden
auf einer Charakterisierung anderer Wirtschaftsweisen gelegt worden.
Als sie dazu Gelegenheit gehabt hätten — im komunistischen
,^it der Teilung der Arbeit eneogt sich unter den bdividoen eine Gemeift-
schaft, die allen BcgriiTm der isolierteii M^itKlnft einen neuen Cbunktcr anf»
drückt'* Q. s. w. ebenda S. 77, vgL feiner S. 119^ tao.
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Die gewerbliche Arbeit and ihre Oisuisation.
Manifest (1847}, in der Misere (1847) — waren ihre Anschauungen
über vorkapitalistische Wirtschaftsarten offenbar noch keineswegs
geklärt; später hat Marx nie wieder Veranlassung^ i^ehabt, eine
s\'Stematische Uebcrsichl über die verschiedenen V\ irtschaftsstufcn
zu geben, hat sich vielmehr mit j^elc^cntlichcn Apcrgus im Kapital
begnügt; und auch was Engels im Anti-Dühring und in der Ent-
stehung der Familie darüber sagt, trägt den Stempel des Skizzen-
haften an sich. So stellt sich auch das. was uns die l)ciden Männer
als ihre Ansichten von den Wirtschafts.stufeii in ihren zahlreichen
S>chriften liinterlassen haben, wie ich es sehr zum Aerger blind-
wütiger Marxbewunderer niederer Ordnung in meinem Sozialismus
formulierte, „uns zunächst als ein wirrer Haufe verschiedenartigsten
Gedankenmaterials dar".
Soviel ich sehe, gehen bei Marx und Engels verschiedene
Auffassungen vom Wesen wirtschaftlicher Entwicklung und somit
auch heterogene Unterschetdui^methoden durchdnaiider, die bei
Bilarx überhaupt nicht zu einer Vereinigung geführt werden, bei
Engeb in seinen letzten Schriften dagegen mit dem Siege der
einen AuCbssung über die andere zu endigen scheinen. Allzu häufig
jedoch finden wir auch gar keine scharfe Unterscheidung nach
einem principium divisionis» sondern eine blo(se Aufeahlung der
mamiigfiichen Verschiedenheiten zweier oder mehrerer „Produktions-
weisen". Oder aber es werden uns nur mehrere solcher Wirt-
schaftsstufen genannt, auf eine Charakterisierung wird aber über-
haupt verzichtet^ Vornehmlich sind es aber doch wohl folgende
Kriterien, die fiir die Unterscheidung verschiedener Wirtschafts-
weisen bei den beiden eine Rolle spielen:
I. Die rechtliche Stellung des „Arbeiters", bezw.
Produzenten in der einzelnen Produktionswirtschaft. Wie sehr aut
sie zumal in den früheren Schriften Wert ^legt wurde, zeigt schon
die häufige Bezeichnung der vorkapitalistischen Produktionsweise als
„feudale" im kommunistischen Manifest, in der Misere etc. Aber
') Vgl. X. B. Komnumist Manifest, cd. dt. S. lo. Marx, Misere 113 f.
Engels, Anti-DOhring, ^$4.
') So in der bcrflchtigten Stelle des Vorworts „Zur Kritik der pdit. Oekononie**
(1859) S. VI.: „In groben Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern
bürgerliche Prodaktionsweis«n als progressive Epochen der ökonomischen Gesi-U-
schaftsformation bi-zcichnrt wrrdrn.' !?» Ganz Uhnlirli !>chon lautet eine Stelle in
Loboarbeit und Kapiul (1^49) in der Ausgabe von 1884 S. 15.
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38o
Werner Sombart,
auch noch im Kapital finden sich Stellen, in denen tjerade dieses
Moment zum Charakteristikum einer Wirtsch.iftscpoche gemacht
wird, ') so dals es Darsteller der Marx 'sehen Lehre giebt. die bei
Marx überhaupt nur diesen Unterscheidungsmodus finden wollen.-)
Dals Marx bis in sein spätes Alter so grofsen Nachdruck auf das
Merkmal der rechtlichen Abhiin^ngkeits- und Schichtungs\erhältnisse
legte, steht mit seiner Neigung im Zusammenhange, die Um-
gestaltung bestehender (lesellschaftszustände aus dem Antagonismus
der Klassengegensätze abzuleiten und diese Neigung wiederum er-
klärt sich leicht aus der Richtung seiner praktisch-politischen hiter-
essen. Nun ist es aber bekannt, dals ihm bei der Konstruktion
seiner ökonomischen Entwicklungstheorie die Hegeische F'ormel von
der Negation der Negation wertvolle Dienste leistete. Mit ihrer
Hilfe werden daher auch häufig genug die verschiedenen Wirt-
schaftsweisen konstruiert; sodals wii* als weiteres Unterscheidungs*
merkmal
2. die Stellung einer Wirtschaftsepoche im Schema der
Hege Ischen Trichotomie bekommen. Dieses Schema wird
abermals nicht eindeutig, d. h. mit Rücksicht auf nur Ein Merkmal,
sondern in wechselnder Bedeutung angewandt Die wichtigsten
Fälle seiner Anwendung and wohl folgende:
Thesis. Antithesis. Synthcsis.
I. Urwüchsiger Kuromu- Warcnpruüuktion. Bcwulster Koiumuaismus.
n. UnmittdlMr v<>rgeseU-
schiftete Produktion.
HI. Arbeiter im Besitze der
Prodtiktioiiiainittel.
Planloie Produktion.
Arbeiter von den Produk-
tiantmittelB getrennt.
Mittelbar vergesellschaftete
Produktion.
Arbeiter und ProdukttuQs-
mitt-'l auf höherer Stufen-
leiter wieder vereinigt.
Vgl. z. B. Kapital. I*. 43 ff. 133. ,,\Vas ilie kapitalisti--.cho Kpoc lu' cha-
raJctcrisiert, ist, dafs die Arbeitskralt für den .Arbeiter selbst die Form einer ihm
gehörigen Ware, seine Arbeit daher die Form der Lohaaibeit erhllt." 197 f.
So L. Stein, Die soziale Frage im Lichte der nritosophie, 1897, S. 383 ff.,
wo angenommen wird, die Mantsehcn Wirtschafisstofen sden: i. Sklavcnwirtsdiaft;
a. Fronwirtschaft; 3. Kapitalistische Wirtschaft: 4. Soaialistisdie Vt^rtschaft. Eine
Kombination der verschiedenen Einteilungen enthilt die neuerlich von K.Kantsky
atifgestellte Tlieorio der Wirtschaftsstufen. K. unterscheidet folgende grofse Epochen
wirtschaftlicher Entwicklung : Naturalwirtschaft; Feodalwirtschaft ; ^ünfti^^e Monopol-
wirtschaft, Warenproduktion: letztere zerfallt wifilt-r in einfache und kapitalistische.
^Vgl. k. Kautsky, Die .Agrarfrage. Stuttgart lik9S. S. öo6i.)
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Die geverblidie Arbeit tmd ihre Orguisation.
Lcdiglicli ein Postulat ist bei Marx und Iüi;^els
3. die Unterscheidung verschiedener W'i r t sc hafts-
stufen nach der Produktionstechnik, nach den X'erfahrungs-
weisen geblieben. Sollte dieses Kriteriuni wirklich Verwendung
finden, so müfsten Qualitätsunterschiede der Produktionsverfahren
gemacht werden, was aber weder \'on Marx noch von Engels auch
nur versucht ist So bleiben denn Wendungen wie : „n'est-ce pas
dire assez que le mode de production, les rapports dans les quels
les forces productives se de\eloppent correspondent ä un
developpementdetermin^ des hommcs et de Icurs forces productives"')
oder: „in der gesellschafdichen Pro<luktion gehen die Menschen be-
stimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse
ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe
ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen", oder : „nicht was
gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht
wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen" *) — nichts weiter als
— leider! — unausgeführte Programmsätze.
Will man von einer partiellen Ausführung dieses Programms
reden, so könnte man nur etwa die Skizzierung der VVirtschafts-
epochen anführen, wie sie Engels in seinen späteren Schriften*),
schon unter dem Einflüsse I.ewMs H. Morgans stehend, unter-
nommen hat. Nun sind hier allerdings die „Produktivkräfte" als das
entscheidende Moment für die Gestaltung des Wirtschaftslebens
/um Teil mit glücklichem Erfolge festgestellt worden. \'on einer
eigentlichen Durchfuhrung des in den citierten Sätzen aufgestellten
Programms kann aber gleichwohl auch nicht entfernt die Rede sein.
Denn abgesehen, dals dazu die Darstellung zu skizzenhaft ist. so
hat Engels seine Aufgal)c selbst doch wesentlich anders aufgefalst
als sie in strikter Auslegung der Marxschcn Sätze hätte gestellt
wenlen müssen. Er hat nämlich gar nicht nach der X'cr.^chicdeii-
hcit der Produktionstechnik, insbesondere der Arbeitsmittel die
ökonomischen Epochen unterschieden, sonilern er hat lediglich den
X'crsuch gemacht, den Finflufs der (| u a n t i t a t i v e n Steigerung
der Produktivität auf die (lestaltung des Wirtschaftslebens nach-
zuweisen und zwar in einer ganz bestimmten Richtung, nämlich in
') Misere, 115.
*) Zur Kritik etc. Vorwort S. V.
') Kapital I 142.
*) Vgl. namentlich Ursprung der Familie etc. (zuer&t 18^4) b. i2l ff.
382
Werner Sombart,
ihrer Kinwirkung auf die Kntwicklun^ iler Arbeil.steilung. Damit
ist aber zum Principium divisionis nicht mehr die — ül)ri^ens
stets inkommensurable und inkomparable — Produktionstechoik,
sondern cbtn
4. die Gliederung; der bei I-. rzeui^ung eines Ge-
samtprodukts b t- 1 e i 1 i t e n P r o d u k t i o n s w i r t s c h a f t e n
zum l'nterscheidungsmcrkmal der Wirtschaftsstufen gemacht und
damit einem Gedanken zum Siege veriiolfen worden , der neben
den bisher angeführten ebenfalls seit den 1840 er Jahren in den
Schriften von Marx und Engels eine Rolle gespielt hatte. Ohne auf
die gelegentiicfaen, zahlreichen Bemerkungen näher einzugehen, die
uns die Ueberzeugung verscfaafien, dals Marx und Engels eine
Unterscheidung der Wirtschaftsstufen auch nach dem Grad der
Arbeitsteilung von früh an vorgenommen haben,') wül ich nur
kurz die letzte Darstellung resümieren, die Engels*) gegeben hat
Danach sind drei Hauptetappen und innerhalb der zweiten drei
Zwischenstufen in der bisherigen ökonomischen Entwicklung zu
unterscheiden:
1. Eigenwirtschaft: Produktion lur den eigenen Bedarf;
2. Tauschwirtschaft, die sich verschieden gestaltet, je
nachdem der Tauschverkehr ist;
a) eine gelegentliclie Erscheinung: Austausch von Ueberfluls;
b) eine regelmäfsige Erscheinung: Differenzierung der Nah-
rungsmittelproduktion zwischen Hirten« und Ackerbau-
stämmen ;
c) eine notwendige Erscheinui^: Trennung von Ackerbau
und Handwerk;
3. kapitalistische Wirtschaft: charakterisiert durch
Warenproduktion, die der Leitung des Kaufmanns unter-
liegt. Dessen Auftreten ist nötig geworden durch die
Ausweitung des \\'irtschaftsgci)iets.
Dals hier und da andere princij)ia divisionis selbst an dieser
Stelle noch störend dazwischen geraten, ändeit nichts an der ent-
sclieidenden Thatsache. dafs der Grad der Arbeitsteilung hier aus-
drücklich und abschlielsend zum Merkmal der verschiedenen Wirt-
schaftsej)ochen erklärt wird und deshalb die Marx - Engeische
' ' Fs kommen vornrlin)li< h folgeiulc Stellen inbctracht: Marx, AUs^re, 6 ff.
Kapiul I*, 46, 78, 322 f. Inytls, Aiiti-Dühriii};, ijS f,
'J Lntt«tchung der Kamilie etc. (1884) .S. 12 J ff.
Diyilizea by C
Die gcwerbliclic Arbeit und ihre Organisation.
Theorie dogmengeschichtUch an die Stelle gehört, wo wir sie be-
handelt haben.
Als dritter, der selbständig — denn er hat wohl weder
Rodbertus noch die beiden zuletzt genannten Autoren als Theoretiker
gerade der Wirtschaftsstufen gekannt — zu ähnlichen Ergebnissen
wie sie gelangt ist, darf Gustav Schmoller genannt werden,
dessen Theorie — er mufe mir das Wort schon gestatten I —
freilich in einem entscheidenden Punkte von den ihr verwandten
Lehren abweicht Unterscheidet Schmoller auch wie Rodbertus,
Bffarx und Engels die verschiedenen Wirtschaftsepochen nach dem
Grade der Arbeitstdlung kurz gesagt und der dadurch notwendig
werdenden Verschling^ng mehrerer oder vieler Wirtschaften zu einem
sogrn. Organismus, so begründet er die Unterschiede der einzelnen
Wirtschaftssysteme doch völlig anders als die übrigen Autoren.
Während diese nämlich die Unterschiede rdn kausal erklären —
durch die Einwirkung der Produktivkräfte — zeichnet sich die
Schmollersche Theorie dadurch aus, dafe sie eine Motivierung unter
rein teleologischem Gesichtspunkte versucht: die Unterschiede der
Wirtschaftsstufen stammen daher, daß jeweils verschiedene — vor-
wiegend politische — Zwecke verwirklicht werden sollen, wonach
denn auch schon die Terminologie gebildet worden ist.') Die
nicht sehr glückliche, weil allzu bilderreiche Formulierung der
Schmollerschen Theorie ist im wesentlichen folgende: Bedeutungs-
voll ist „der Zusammenhang des wirtschaftlichen I^bens mit den
wesentlichen und leitenden Organen des sozialen und politischen
Lebens überhaupt die Anlehnung (!) der jeweiligen wesent-
lichen wirtschaftJich-sozialen Einrichtungen an die wichtigsten oder
an einzelne wichtige politische Körper". „Im Anschlufs an den
Stanrni, die Mark, das Dorf, die Stadt, das Territorium, den Staat
und den Staatenbund entwickeln sich successiv bestinunte soziale
Wirtschaftskörper immer umfassenderer Art; wir haben damit einen
einheitlichen EntwicklungsprozeCs vor uns, der natürlich das wirt-
schaftliche Leben niemals erschöpft, der es aber jeweilig bestimmend
und beherrschend umschlie(st. Innerhalb des Dorfes, der Stadt, des
Territoriums und des Staates bleibt dem einzelnen und der Familie
ihre selbständige und bedeutsame Stellung, geht die Arbeitsteilung,
*) G. Schmoll er, Studien Uber die wiitsclwftliche Politik Friedriclis des
Groftcn. II. Du Merkantilsjntem in seiner hirtoriachen Bedeutung: stSdtisdie, terri*
toriale und staatliche Wirtschaftspolitik in seinem Jahrbuch VIII (1884) S. 15 ff.
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384
Werner Sombart,
gehen die Fortschritte des Geldwesens, der Technik ihren Gang
voUziehen sich bestimmte soziale Klassenbildungen; aber die eigent*
liehe Signatur empfangen die volkswirtschaftlichen Zustände da-
durch , ob jeweilig die Dorfwirtschaft, die Stadtwirtschaft, die
Territorialwirtschaft oder die Staats« und Volkswirtschaft im Vorder-
grunde (I) steht, ob ein Volk in eine Zahl lose ver-
bundener Dorf- und Stadtwirtschaften zerfällt oder
ob sich landschaftliche und nationale Wirtschafts-
korper, die alten wirtschaftlichen Organe in sich
aufnehmend und beherrschend schon gebildet
haben.'*') In ein Stufenschema gebracht ergeben sich alsdann als
Wirtschaftsstufen im SchmoUerschen Sinne:
1. Stamm-, Dorf- oder Markwirtschaft;
2. Stadtwirtschaft;
(3. Territorialwirtschaft);
4. Staats- oder Volkswirtschaft
Also — auch bei Schmoller ist das Ma& ökonomischer Ver-
gesellschaftung zum entscheidenden Merkmal für die einzelnen
Wirtschafbstufen gemacht worden, und zwar sind die raumliche
Ausdehnung eines einheitlichen „Wirtschafborganismus" und die ihm
entsprechende Wirkungssphäre der die Einzelwirtschaften in ihrem
Verhalten bestimmenden einheitliche Ordnung der Mafsstab, an dem
er jene für das Wirtschaftsleben entscheidende Thatsache gemessen
wissen will.
Wir kommen zu der letzten der hier zu besprechenden
Theorieen der Wirtschaftsstufen, der zur Zeit wohl bekanntesten
und verbreitetsten, derjenigen Karl Büchers.') Sie verdankt
ihre {^rofsc Popularität der unzweifelhaft glänzenden Darstellung und
vor allem der grofsen Vereinfachung, die in ihr das abgehandelte
Problem erfahren hat Während die bisher besprochenen Lehren
der Rodbertus, Marx, Engels, Schmoller, auf denen Bücher in allen
wesentlichen Punkten fufst, durch die eigentümliche äufscreArt der
Behandlung, die häufig, namentlich bei Marx und Engels, nur eine
gelegentliche und skizzenhafte ist, und durch die tiefere Anlage der
gan/en Systematik an die Denkkraft des Durchschnittslesers un-
verhältnismäfsig hohe Anforderungen stellen, hat Bücher seine
>) a. a. O. S. 16,17 ; vgl. S- aa» 3«.33. 49t 59-
*|ICarlBflc1ier, Die Entsteliiing der Volkswirtschaft, a. Aufl. TfiMacoi
1898. S. 49—134-
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THt gcwerblidie Arbeit mä 9ik Ofganintion.
385
Theorie, freilich, wie mir scheint, nicht ohne ihren wissenschaftlichen
Wert stark zu beeinträchtigen, so auiserordentlich mundgerecht zu
machen gewuist, dafs sie auch dem Verständnis des Anfängers
keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Dieselbe Einteilung der Wirt-
schaftsstufen nämlich, zu denen auch seine Voiganger gelangt
waren und die er wie folgt charakterisiert:
1. die Stufe der geschlossenen Hauswirtschaft (reine
Eigenproduktion, tauschlose Wirtschaft);
2. die Stufe der Stadtwirtschaft (Kundenproduktion oder
Stufe des direkten Austausches);
3. die Stufe der Volkswirtschaft (Warenproduktion, Stufe
des Güterumlaufe)
trifft er nach einem scheinbar äulserst plausibeln und jedenfalls sehr
einfachen Gesichtspunkte: dem der Länge des Weges, welchen die
Güter vom Produzenten bis zum Konsumenten zurücklegen. „Wollen
wir, heilst es a. a. O. S. 57, diese ganze Entwicklung unter einem
Gesichtspunkte begreifen, so kann dies nur ein Gesichtspunkt sein,
der mitten hineinfuhrt in die wesentlichen Erscheinungen der Volks-
wirtschaft, der uns aber auch zugleidi das organisatorische Moment
der früheren Wirlschaftsperioden auCschliefst. Es ist dies kein
anderer als das Verhältnis, in welchem die Produktion der Güter
zur Konsumtion derselben steht, oder genauer: die I.ange des
Weges, welchen die Güter vom Produzenten bis zum Konsumenten
zurücklegen."
Während nun, wie ich im Anschluls an meine eisi^enc Dar-
stellung zeigen werde, die Tlieorieen von Rodljcrtus, Marx-Engels,
Schmoller teilweise einseitig, tcihvcise lückenhaft, teilweise un-
glücklich formuliert sind, halte ich die Büchersche Theorie, obwohl
sie j^'leiclisain die gereinigte Lelire der vorbenannten Männer zu
enthalten scheint, in der von Bücher ihr gegebenen Fassung für
geradezu falsch, mindestens ftbr aulserqrdentlich leiciit irreführend,
wie mit einigen Worten gezeigt werden soll. Es ist meines Er-
achtens nicht möglich, das ungeheure komplizierte Problem der
Unterschiede verschiedener Wirtschaftsweisen restlos in jenen Schema-
tismus Büchers aufzulösen, der auf relevanteste Punkte der wirt-
schaftlichen Organisation entweder gar keine Rücksicht nimmt oder
aber den Thatsachen, die er meistern will, geradezu (icwalt anthun
mufs. Es wird mein Widerspruch am besten deutlich werden,
wenn ich einige Beispiele herau^reife: das Tuch des mittelalterlich-
städtischen Tuchproduzenten, das er auf Märkten und Messen ab-
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386
Werner Sombart,
setzte, die Erzeugnisse der alten bergisch-märldschen Kleineisen-
indtistrie, das Silber aus den Bergwerken des Mittelalters hätten keinen
längeren und keinen kürzeren Weg aus der Produktions> in die Kon-
sumtionswirtschaft zuritekzulegen, als heute die gleichen Erzeugnisse
aus der Fabrik zum Schneider oder Schlosser oder Juwelier, und doch
gehören die Vorgänge damals und heute ganz verschiedenen Welten
an. Der Weg des Rockes, der Stiefeln etc. aus dem modernen
kapitalistischen Mafsgeschält in die Wirtschaft des Konsumenten ist
nicht einen Schritt länger als ihr Weg im Mittelalter. Reine und
echte Kundenproduzenten sind Krupp und ähnliche für den Staat
oder die Gemeinde liefernde Geschäfte; jede moderne Waggon*
manuiaktur, jede Lokomotivenfabrik liefern reinste „Kundenarbeitf'.
Und diese Erscheinungen sind nicht etwa vereinzelt in unserer Zeit:
sie stellen, wie Bücher selbst am besten weils, grofse Entwiddungs-
tendenzen dar. Die vielfach beobachtete Ausschaltung der Zwischen-
glieder, die Annäherung des Konsumenten an den Produzenten:
(Uhren sie uns zur Organisation der mittelalterlichen Stadtwirtschaft
zurück? Oder kann das „Kundenverhältnis^ nicht vielleicht ganz
heterogenen Wirtschaftsperioden angehören ? Das Brot hat einen gleich
langen Weg zurückzulegen vom Handwerker, aus der kapitalistischen
Brot&brik, aus der Bäckerei des Konsumvereins und aus der
Militärbrotbäckerei, um in die Wirtschaft des Konsumenten zu ge-
langen: sollen alle vier toto coelo verschiedenen Wirtschafts-
organisationen darum als gleich behandelt werden? Aber auch die
Konstruktion der modernen Verkehrswirtschaft gelingt nach dem
Schema Büchers nicht. Denken wir uns eine sozialistisch organi-
sierte Gesellschaft, die unter Beibehaltung der heutigen Arbeits-
spezialisieriin«^ ] )roduzierte, SO würde für zahlreiche Produkte der Weg
von der Produktions- zur Konsumtioiiswirtschaft ebensoweit sein
wie er heute ist: sollte ich darum die wiederum weltverschicdcnen
Organisationen nicht unterscheiden dürfen blols wegen des gleich
langen W'ej^es, den das Produkt zurücklegt, ehe es konsumiert
wird r Worauf Bücher auch nicht erwidern könnte : heute wird das
Produkt als Ware produziert, in einem sozialistischen Gemeinwesen
nicht. Denn mit diesem Finwand würde er nur unsere Kritik als
richt^ bestätigen, da ja die Betonung der Warenproduktion ein
ganz anderes Kriterium zur Unterscheidung benutzt, als es jene von
Bücher als solches proklamierte Weglänge ist. Wo auch immer
man die Büchersche Theorie angreifen mag: sie erweist sich als
unhaltbar.
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Die gewerbliche Arbeit imd ihre Organiaatian.
Wenn wir nunmehr daran gehen, selbst eine Theorie der Wirt-
schallsj^iufen oder \Virtschaftss\'steme — wir werden erst später
die präzisere Fassung vornehinen können — zu entwerfen, so werden
wir uns vor allem vor den Fehlern zu hüten haben, deren sich alle
bisher besprochenen Theorieen mehr oder weniger schuldig gemacht
haben. Ich denke dabei gar nicht an die Verschen im einzelnen,
sondern nur an die Verfehlungen im Prinzip und in der Methode.
Was sich in dieser Hinsicht an Irrungen und Unvollkommenheiten
nachweisen läfst. ist vornehmlich das Folgende:
1. keine der früheren 1 heorieen — allenfalls mit Ausnahme
derjenigen Büchers, der aber, wie wir gesehen haben ihr Kritizis-
mus sehr schlecht bekommt — ist kritisch, d. h. sich klar über
Tragw'eitc und Bedeutung ihres Kinteilungsprinzips, dessen sich sehr
viele unserer Theoretiker nicht einmal bewufst zu werden scheinen;
2. keine handhabt das von ihr erkorene principium divisionis
in einwandfreier Weise; das gilt insbesondere auch von der zuletzt
besprochenen Gruppe, die das Moment der Vergesellschaftung keines-
wegs genügend klargestellt hat und keineswegs mit der nötigen
Rigorosität als Unterscheidungsmerkmal zur Anwendung bringt;
3. keine vermag mit ihrer Einteilung die Fälle der wirtschaft-
lichen Erscheinungen zu erschöpfen; das gilt auch wiederum von
den Theorieen der letzten Kategorieen; denn wie sehr auch das
Moment der Vergesellschaftung an Wichtigkeit hcrxurragen mag:
andere Eigentümlichkeiten wirtschaftlicher Organisation - wie die
Art der Verknüpfung arbeitsteiliger Produktion, die Prinzipien der
Wirtschaftsführung, die Abhängigkeitsverhältnisse der bei der Produk-
tion mitwirkenden Personen u. a. — vermag es naturgemäfs nicht
ebenfalls zum Ausdruck zu bringen. Marx und Engels, die unzweifel-
haft am tiefsten dachten, wurden durch diesen L'mstand, wie wir
gesehen haben, gehindert, überliaujit eine eindeutige Einteilung vor-
zunehmen und haben bis zuletzt zwischen den verschiedenen Ein-
teilungsmöglichkeiten geschwankt.
Was zunächst keinein Zweifel unterliegen kann, ist dieses: dais
das Merkmal, nach dem die Arten menschlicher Wirtschaft unter-
schieden werden sollen, eine für die Gestaltung des Wirtschaftslebens
relevante Thatsache sein mufs. L'nd zwar thunlichst eine solche,
die für alle übrigen Erscheinungen bestimmend, also primär ist.
Als solche bietet sich nun den Blicken des aufmerksamen Beschauers
vor allem Eine dar: das ist das Mafs von Produktivkräften,
über die eine Zeit für ihre wirtschaftlichen Zwecke verfiigt. Deut-
Archiv fiir tot. Geacugcbung «. Statitlik. XIV. 2$
uiyiii^üd by Google
388
Werner Sombart,
lieh erscheint der Grad der KntwickluivT produktiven Könnens als
die Schranke, in die alles wirtschaftHclic \'erhaltcn und Streben je-
weils oitv^^oschlosscn ist, als die somit recht eigentlich objektiv alles
Wirtschaltslchen hcstiniincndc Thatsache. Es läge daher nahe, sie
als Merkmal für die Unterscheidung verschiedener Wirtschaftsstufen
zu wählen. Un<l wenn man etwa in der Weise, wie es im \ nriiien
Hefte dieser Zeitschrift versucht wurde, die ökonomlsclie rcchnik
nach den ihr zu Grunde liegenden Trinzipien anal\ siert. so lälst sich
auch ohne Schwierigkeit eine Stufenfolge der X'erfahrungsweiscn und
der an sie sich anknüjjfenden Kntwicklung der produktiven Kräfte
aufstellen. Niclit in der äufserlichen Art, nach der man Steinzeit,
Bronzezeit, Kisenzeit unterschieden hat; wohl aber so etwa, dafs
man den F.intritt des h'euers, des Werkzeugs, des Rotationsprinzips,
des Dampfes, der Wissenschaft u. s. w. in das Wirtschaftsleben zu
Marksteinen verschiedener Wirtschaftsepochen machte. Dagegen
liefse sich nun aber folgendes mit Recht einwenden :
1. würde einer solchen h.inteilung stets etwas Willkürliches an-
haften, da ja die Auswahl der entscheidenden Thatsachen durch
keinerlei Regel bestimmt ist;')
2. würde eine derartige Einteilung keinerlei Vcrglcichung der
verschiedenen Wirtschaftsepochen gestatten, an der uns doch ge-
legen sein muCs und zwar deshalb nicht, weil ja den verschiedenen
Verfahrungsweisen das tertium comparationis fehlt. Um dieses zu
beschaffen, könnte man daran denken, die ihnen innewohnende Pro-
duktivität zu ermitteln und ihr Mafs der Einteilung der W'irt-
schaftsstufen zu Grunde zu legen; könnte also — ein Produktivi-
tätssim[>lum angenommen — etwa doppelt-, vierfach-, zehnfach- u. s. f.
produktix e I^pochen unterscheiden. Böte sich dazu eine Handhabe,
so läge kein formaler Grund vor, eine derartige Einteilung nicht zu
trcti'cn. Einstweilen freilich müssen wir darauf verzichten, denn jene
Handhabe fehlt. Weder vermögen wir die Produktivitätshöhe ein-
zelner X'erfahrungsweiscn ein wandsfrei zu bestimmen, noch viel
weniger, was doch aber notwendige Voraussetzung wäre, die ge-
samte Technik einer Zeit auf einen einzigen Nenner zu bringen und
M Kür (lii'M Willkiirluhkeit li.-fiMt t;in l)<-ti-dt<-> /.•UKni> die K.intcilun«; der
priiniliven Wirt>chaflh/.usiaiulf. <lic Lew. U.Mor(;;in vornimmt. Icli hal)c nie be-
griffen, warum er i. B. der F.ründung der TupferscWcibo eine so fundamentale Be-
deutung zuschreibt. Die angeftthiten Grande enthalten keineswegs eine befriedigende
Erkl&nmg. Vgl. Urgesellschaft, deutsch 1S91, S. 9 ff.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
sie mit etnem einzigen Produktivitätskoeffizienten zu belegen. Aber
auch diese Lücken in unserem Wessen ausgefüllt gedacht, würde
sich jene Art der Gruppierung doch kaum als glücklich erweisen.
Was sich nämlich *
3. gegen eine Einteilung der Wirtschaftsepochen nach Pro-
duktivkräften einwenden läist, ist dieses: da(s sie kein * eigentlich
ökonomisches Kriterium der Einteilung zu Grunde legt Nicht die
potentielle Fähigkeit zu produzieren, nicht also das blofse Vor>
handerisein produktiver Kräfte ist es, was uns interessiert, sondern
die An und Weise, wie die Ver&hrungs weisen genutzt worden.
Ihre Anwendung zu wirtschaftlichen Zwecken, ihre Inbeziehung-
Setzung zu wirtschaftlicher Thatigkeit macht die Produktivkräfte erst
zu ökonomisch relevanten Erscheinungen. Wollen wir sie daher in
ihrem objektiv bestimmenden Einfluls auf das Wirtschaftsleben er-
&sBen, so müssen wir sie gleichsam erst in sozialem Gewände er-
scheinen lassen, d. h. unbildlich gesprochen irgendwelche Phänomene
sozialer Organisation, die wir von ihnen unmittelbar verursacht sehen,
als ihren repräsentativen Ausdruck zu kennzeichnen versuchen. Als
solches Phänomen bietet sich uns nun aber im Grunde, wenigstens
bei dem heutigen Stande unseres Wissens nur ein einziges dar: die
beniismälsige Spezialisierung oder wenn man die Bezeichnung, die
den Naturwissenschaften entlehnt ist, vorzieht: die Differenzierung
wirtschaftlicher Thatigkeit Zwischen dieser ökonomischen Thatsache
und der Entwicklung der Produktivkräfte besteht nämlich die em-
pirisch feststellbare Thatsache : dals einer Steigerung der Produktiv-
kräfte eine zunehmende Spezialisierung, also Differenzierung parallel
geht Diese Beobachtung giebt uns die Berechtigung, das Mafs
der ökonomischen Differenzierung als den Ausdruck
des Entwicklungsgrades der Produktivkräfte zu be-
trachten. ^)
') Man hüte sich nur, diese empirisch festgeitellte und in diesem Zusammm-
luuige lediglich als methodisches Hilf>mittrl verwendet!" Thatsache nun gleich als
„Entwicklungsgesetz" auszugeben. Kreilirh kennen wir aucli schon in einer ganzen
Reihe von Fällen die (iründc, weshalb einer F.rhohung der Produktivkräfte eine
Steigerung der Spezialisation entspricht ; wenn auch die Kausalverknüpfung ver-
schiedene Nuancieningen aufweist, bald nämlich die .Spezialisation durch die Ent-
Wicklung der Fkoduktivkfifte enwungen, bald nnr ermöglicht wird. So möchte ich
«gen liegt implidte schon der ganzen physiokratischen Lehre der fnndamentale Ge-
danke zu Gmnde: dab erat bei einem bestimmten Grade der Produktivit&t landwirt-
achaftlicher Arbeit eine bemfunifsige Ausflbnng gewerblicher Thitigkeit, also auch
»5*
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390.
Werner Sombart,
Nun ist aber jede Spezialisierung wirtschaftlicher Thäligkeit
immer nur eine Seite eines komplexen Phänomens. Sie bedeutet
erst irgend welcher Tauschverkehr möglich ist. (ilcich «irr erste Paragraph der
Reflexions Turgots 'Oeuvres, t-d. l>aire, 1S44, I. "J) hrbt iiKo an ,,Si la terre
^tait tclli niriit distribucc « ntrc tous les habitants d un pavs, <|ur rharun cn eut pre-
ciscmcut la quantitc n^ce&hairc puur le nourrir et ricn de plus . . . personne n'aurait
de qjooi p«yer k tnmO dhm «ttre, car chacan n'Kfuit de terre qne oe qu*il en
firadndt poor piodnir la nbditaiice, eonwinmenit tont oe qu'ü aonit recaeiUi et
a^ainait rien qn'U pflt ^hanger contre le travail des aotres.** Taifot ipricht von
^divitioiB dei terres", nimint aber atOlacbweigcDd einen entsprechend niedrigen Pn>>
duktivititsgnul als entscheidendes Moment an. Rodbertus hat dann diesen Ge-
danken insbesondere für die Begründung der Rentenmöglichkeit ausgebaut Zur Er-
kenntnis <-tc. S. 67 f[.] und bei Engels kehrt er als Lieblingsgt-danke häutig
wieder. Vgl. namentlich Entstehung der Familie etc. S. 121 ff. Wenn dann Ad.tnj
Smith den Satz aufstellte, dafs die Entwicklung der beruflichen Differenzierung
mm der GröÜM des Mulctet bedingt lei, so hat er swar eine nnsweifelhaft riditige
Bcobacbtnng gemacht, ohne jedoch den Dingen anf den Grand sn gehen. Denn
•obald wir die berechtigte F>age anfwerfen : wovon die Grefte des Marittcs abhinge,
to erhalten wir die Antwort: von dem Entwicklungsgrade der produktiven Kräfte.
Denn damit der einer bestimmten Berufsspezialisierang entsprechende Reichtumsgnd
herrschen könne, mnfs zunächst die Produktivität eine jjewisse Ib'he erreicht haben.
Ebenso müssen die tcclinischcn Fertigkeiten in bestimmter W.iv« rmwickelt sein,
ehe die bei einem noch gar nicht so hohen Grade der Spezialisierung nutwendigen
Transportschwierigkeiten überwanden werden können: die Benutzung der Tiere zum
Tragen oder Ziehen» die Erfindung des Wagens, des Ruder- und Segelboots, des
Kompasses, der Kammeischlease, des Dampfschiffes und der Eisenbalm bedeuten
ebenso viele Etappen in der Entwicklung des solisngen Grades wirtsdiaftlicber Spe>
«alisierung. Und wie an diesen Beispielen ersichtlich wird, dafs Entwicklung pro-
duktiver Kräfte conditio sine qua non ökonomischer Differenzierung ist, so lassen
sich andere anführen, die uns zeigen, wie berufliche Spezialisierung tiurch bestimmte
Verfahrungsweisen, die in dicken Fällen durch ilire qualitative Eigenart ausschlag-
gebend sind, erzwungen werden kann. Die Schwierigkeit, Kompliziertheit, Lästig-
keit eines Verfahrens wirken darauf hin, dieses ans dem Gesamdcomplex der wirt-
schafUichen Tiiitigkeiten des Hanses anssnsondera und sie berufsmäfsig ansttben m
lassen. A. Schulte hat nachgewiesen, dafs der Wslkproscfs in der Tnchfsbrikation
den stets vorwiegend stidtiscben Charakter dieses Gewerbes gcgenOber der vid
länger hauswirtschaftlich betriebenen Leinenindustrie begründet habe, l'nd für viele
Thätigkeiten läfst sich ein Gleiches zeigen. „Ein f'h;Araktermerkmal unterscheidet ...
die handwerksmafsigc Ortstechnik von der Hauitechnik. l>as ist das exakte Ver-
fahren, untl zwar speziell das heifse und nasse Verfahren, die beide im Hause aus
technischen Gründen nicht leicht exakt betrieben werden können. Darum scheidet
sich die Eisen- und Metallbearbeitung soweit sie anf dem Glühen und f^hmelsen
üiyitized by C(xigle
Die gewerbliche Arbeit und ihre OrganiiattoiL
zunächst eine Eiiibufee an wirtsciiaftlicher Selbständigkeit und hat
zur stillschweigenden Voraussetzung die VViedererwerbung ökono-
mischer Existeuzmögliclikcit durch die Inbeziehungsetzung zu anderen
spezialisierten Thätigkeiteii, die jene ersterc ergänzen. Damit ein
Gesainibedarf gedeckt werde, ist die Zusammenfügung spezialisierter
I hätigkciten notwendig. Vom Standpunkt dieses Gesamtbedarfs
aus stellt sich also die Spezialisierung als Mit- oder Teilarbeit an
einem Gesamtwerk dar (daher der mifsvcrständliche Ausdruck Arbeits-
teilung!). Die Zusammenfügung einzelner Spezialthätigkeiten zu einem
Gesamtprodukt können wir nun zwar nicht schein, aber treffend
V^ergesellschaftung nennen. .-Msdann erhalten wir den Satz : der
Grad der Spezialisierung wirtschaftlicher.Thätig-
keiten entscheidet über den Grad der Vergesellschaf-
tung des Wirtschaftslebens, was in naturwissenschaftlicher
Terminologie hei(st: der Grad der Differenzierung bestimmt den
Grad der Integrierung. Indirekt also ist auch der Grad der Ver-
gesellschaftung der Ausdruck für den Grad der Entwicklung der
produktiven Kräfte. Wenn wir nun das Mafs der Vergesellschaftung
zum Einteilungsprinzip der Wirtschaftsstufen wählen, so werden wir,
denke ich, allen Anforderungen gerecht, die an ein solches zu stellen
sind, denn:
1. ist es dn soziales Phänomen, an das wir anknüpfen;
2. ermöglicht es die Vergleichbarkeit verschiedener Wirtschafts-
weisen, ist aber
3. doch ein solches, das die für die Gestaltung des Wirtschafts-
lebens relevanteste Thatsache: die Entwicklung der Produktivkräfte
in unmittelbare Berücksichtigung zieht und
4. wird es der thatsächUchen historischen Entwicklung des Wirt-
schaftsleben am ehesten gerecht
Nur einer Feststellung bedarf es jetzt noch, damit wir unsere
Tafel der Wirtschaftsstufen entwickeln können: die Spezialbierung
kann sich innerhalb Einer — sei es Produktions- sei es Konsum-
tions-' — Wirtschaft vollziehen oder aber zwischen verschiedenen
Wirtschaften stattfinden. In letzterem- Falle stellt die Thätigkeit der
einzelnen Produktionswirtschaft die Spezialitat dar. Nur in diesem
beruht, wie hchtnic(it?arbeit, Ziungufs, lironzegufs, Gold- und Silbcrarlx-it, Emaillie-
rung etc. zuerst aus, ebenso die Färberei mittels Kochen, die Gerberei mittels lang-
wierigen, nawen BBttenverfahreu, die Töpferei mittels Bretmens etc.'* E. Hert-
mann, Tedmische Fngen nnd Probleme (1891) S. 33.
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392
Werner Sombart,
Sinne wollen wir im folj^enden den Begriff der Spezialisierung und
somit also auch der Vergesellsrhaftun<; verwenden.
Ks sind nun f( tilgende drei Wirtschaitsstufen zu unterscheiden:
I. I n il i V i d u a 1 w i r t s c h a f t ;
II. L' e b e r g a n 5:j s w i r t s c h a f t ;
III. ( T e < c 1 N c Ii a f t s w i r t s c h a f t.
Diese Dreiteilung, auf deren Parallelität zu tler Tafel der Bc-
triebsfonnen schon hier hingewiesen werden mag, ist nach folgen-
den desichtsjjunktcn \ orgcnonuiicn :
I. Die Stufe der I n d i v i d u al w i r ts c h a ft ') ist diejenige, auf
welcher der ( iesainlbe<l.irf einer Kunsunitionswirtschaft in dcr.selbcn
Wirtschaft, die also gleichzeitig Troduktionswirtschaft ist, hergestellt
wird und höchstens eine Berührung, keine Verschlingung mit anderen
Wirtschaften besteht.
II. Die Stufe der Uebergangswirtschaft auch als Gesell-
schaftswirtschaft niederer Ordnung zu bezeichnen, wird
charakterisiert dadurch, dafs bereits eine ständige Trennung von
Konsumtions- und Produktionswirtschaft eingetreten ist Der Ge>
samtbedarf einer Wirtschaft wird r^elmäfsig durch Mitwirkung
andererwirtschaften gedeckt Ks herrscht also bereits ein Zustand
der Vergesellschaftung. Jedoch einer noch nicht sehr hochentwickelten
und stark dififerenzierten Vergesellschaftung. Ein beträchtlicher
Teil des Gesamtbedarfs wird vielmehr noch innerhalb derselben
Wirtschaft erzeugt, in der er konsumiert wird, so dals die Verun-
selbständigung der einzelnen Wirtschaft noch keine absolute ist; das
Füreinanderproduzieren der verschiedenen Wirtschaften aber erfolgt
noch grofeenteib im Rahmen der alten Gemeinschaftsformen, die
•) Die Bezeichnung „Individualwirtschaft" ist nicht sehr glücklich, deshalb
weil gerade dieser Wirtsrhaftsslufe ein kommunistischer Zug anhaftet ; aber ich finde
keine!» hesseren. ,, Isolierte ' Wirts^chaft ist auch nicht *.cJioncr Ii Ii denke aber,
dafs nach <lii-s<-m Hinweise und unter Periicksiiiiti^Miii^; <lrr wridi fii 1 )arl<-j,'unt;<n
Mifsverst.^ndnisi»e ausge:>chlo>M-n sind. Wenn Marx cmmal bemerkt Lohnarbeit und
Kapital, S. 15), dsfs alle Produktion als „gesellschaftliche** erfolge, indem die
Menschen «fftiif bestimmte Weise niMmmciiwirken and Thitiglceitcn gegencimuider*
«astwnchen** so ist das nattfilich imzweifelhaft fttr alle Wirtsckaflitnfen richtig nod
von mir selber ansdrficklich an anderer Stelle anerkannt Es schliefst aber nkht
aus, dafs wir in der Weise, wie es im Text geschieht, nach einem ganz bestimmten
Kriterium • - tler Trennung von Konsumtions- und f'roduktionswirtschaft — einen
Zustand der „IndividualwirtschaU" demjenigen einer Gesellscbaftswirtschaft gegen*
öbcrütellen.
iJiyilizeQ by VoüOgle
Die gewerbliche Arbeit und ittrc Orga^ni^ation.
393
auch für- -die Interlokalen Beziehungen noch Ma(s- und Richtung-
gebend bleiben.
in. Die Stufe der GeselUchafts Wirtschaft im eigent-
lichen Sinne» der Geaellschaftswirtschaft höherer Ord-
nung endlich ist diejenige, auf welcher die DifTerenzierung der Pro-
duktionswirtschafiten und ihre Verschlingui^ zu einem untrennbaren
Ganzen vollkommen gewcMPden ist und einen solchen Grad in quan-
titativer wie räumlicher Beziehung erreicht hat, dafs neben und
über den alten Gemeinschaften neue Formen für die Verknüpfung
der einzelnen Produktionswirtschaften künstlich geschaffen werden
müssen, also dafs an Stelle der einstigen Organismen ein Mechanis-
mus des W irtschaftslebens tritt.^)
Mehr lä&t sich über die verschiedenen Wirtschaftsweisen nun
aber nicht aussagen, wenn wir lediglich das Moment der grofseren
oder geringeren Vergesellschaftung zur Charakterisierung in Betracht
ziehen ; und das ist nicht \ iel. Ks sind f^lcirhsatii nur die Konturen
zu den Bildern, die nun eigentlich erst liineingc/.cichnet werden
sollen. Was aber ists. das dem Wirtschaftsleben im Rahmen der
einzelnen Wirtschaftsstufc das unterschiedliche Kolorit, die charakte-
ristische Form verleiht? Es ist unzweifelhaft das W' irtschafts -
System, das jeweils zur Anwendun^^ gelangt. In ihm tritt erst
ilas gleich.sam schöpferische Klemcnt des wirtschaftenden Menschen
hervor. Die W irtschaftsstufc, d. h. eben den (irad der X'ergesell-
schaftung uberkonnnt er als eine objektive Thatsache, wie das
Ausmafs seiner produktiven Kräfte: tlic ()rdnung der wirtschaft-
lichen Beziehungen, die Belebung des Ganzen durch tlie Zweck-
setzung im VVirtschaftsprinzip und seine Verwirklichung — sie
sdialft er. Und indem er sie verschieden schafft, gestaltet er das
Wirtschaftleben zu bunter Mannigfeltigkeit aus. Neben eine Syste-
matik der Wirtschaftsstufen gehört also nun erst recht notwendig
eine solche der Wirtschaftss>-steme.
Unter einem Wirtschaftssysteme wollten wir eine bestimmte
Wirtschaftsordnung verstehen, in der bestimmte Wirtschaftsprin-
zipien zur Verwirklichung gelangen. Man könnte danach zweifel-
haft sein, ob man eine Systematik der Wirtschaftssjrateme nach
der Verschiedenheit der Wirtschaftsordnungen oder der Wirt-
schaftsprinzipien entwerfen sollte. Eine Reihe schwerwiegender
1) Im Some vod F. Tönnics, GemeioichaA und GcseUidMft, 1887, wie
weiter unten des niheren darzulegen sein wird.
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2^ Werner Sorobart,
Gründe lalst uns den Entscheid zu Gunsten der letzteren treffen:
einmal weil die Wirtschaftsprinzipien nicht jene bunte Zusammen-
setzung aus zahlreichen Bestandteilen aufweisen wie die Wirtschafts-
ordnungen, bei denen es stets eines gewissen Willküraktes bedarC
um nun denjenigen Punkt herauszugreifen, nach dessen Fassung ihre
Verschiedenheit bestimmt werden soll, sondern sich in einer mehr
einheitlichen Gestaltung darstellen, also auch leichter unterschieden
werden können; sodann aber vor allem weü mir die Unterschied-
lichkeit der Wirtschaftsprinzipien, wenigstens iiir die Einteilung der
Wirtschaftss3^teme in grolse Gruppen, von aufserordentlichster Be-
deutung zu sein scheint Keine, auch noch so einschneidende Be-
stimmung der Wirtschaftsordnung, also der das wirtschaftliche Ver-
halten der einzelnen objektiv bestimmenden Normen, ist so aus-
schlaggebend (ur den ganzen Charakter dner wirtschaftlichen
Epoche, ist so bestimmend för alle Einzelheiten des Wirtschafts-
leben als die eigentümliche herrschende Mottvrichtung, wie sie in
der Zwecksetzung ftir die wirtschaftliche Thätigkeit zum Ausdruck
gelangt Dies gilt aber insbesondere ftir jenes Wirtschaftsprinzip,
das alle andern an Bedeutung überragend jeweib ftir die gesamte
Produktionsrichtung einer Zeit ausschlaggebend ist, dem somit
alle übrigen Maximen des wirtschaftlichen Verhaltens sich unter-
ordnen oder anpassen müssen. V^r können es als Hauptprinzip
oder als Leitmotiv einer Wirtschaftsepoche bezeichnen.
Solcher Leitmotive finden wir nun, wenn wir das gesamte
Wirtschaftsleben tiberblicken, das je sich auf der Erde ab-
gespielt hat und noch heute abspielt, ja man wäre fast versucht
hinzuzuftigen, sich in aller Zukunft abspielen wird, zwei, die sich
zu verschiedenen Zeiten in der Herrschaft abgelöst haben, nach
denen jeweils die Produktion gestaltet worden ist Jene selben
Prinzipien, die uns Aristoteles schon mit Meisterhand skizziert
hat*) deren Gegensätzlichkeit die Bu&predigten aller grofsen Mahner
der neuen Zeit betonen von Luther an bis zu Sismondi, Carlyle,
Treltsrhke herüber. Es sind die beiden Prinzipien, deren eines die
Produktion als Mittel zum Zweck, als Mittel zur Bedarfsbefriedigung
betreiben heilst, während das andere seine Verwirklichung findet, wenn
die Erzeugung des Reichtums Selbstzweck wird, des Reichtums dann
natürlich nicht in der bunten Manniorfaltigkeit zahlreicher Gebrauchs-
güter, deren Erzeugung docli immer im Hinblick auf einen ferneren
*) Vgl. Aristoteles. PoL I. 3.
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
Zweck, wenn es auch nur die kindische Freude an ihrem Besitze
wäre, erfolgt, sondern des .Reichtums in seiner allgemeinen Form,
seiner quaUtatslosen Gestalt des allgemeinen Wertäquivalents.
Diese zwei Prinzipien scheiden in der That zwei Welten und
je nachdem ein Wirtschaftssystem von dem einen oder von dem
anderen beherrscht wird, können wir die beiden groisen Gruppen
von Wirtschaftssystemen unterscheiden als:
1. Bedarfsdeckungs wirtschaften,*)
2. Erwerbswirtschaiten.
Die Wesensverschiedenheit dieser beiden Gruppen von Wirtschafts-
Systemen äufeert sich aber vor allem in folgendem: Ausmafs und Art
der Produktion wird in beiden Fällen verschieden Ix stimmt; im ersten
Falle ist es der Bedarf irgend einer Person oder einer Gruppe von
Personen, der über Quantum und Quäle der Produktion entscheidet
Er kann von gröCster Einfachheit zu wahnwitzigstem Raffinement
wechseln; gebunden bleibt er immer an die effektive Aufnahme-
fähigkeit einzelner Personen : diese Menschlichkeit gewährt auch hier
das Mafs aller Produktion. Khenso wie deren Ausmafs und Art
durch den Bedarf bestiiiinit wiid, so geht auch die Anregung zur
Produktioti von dem Bedürfenden, vulgo dem KonsuuRntcn aus.
Dagegen giebt es für die Krwerbswirtschaft nur Kine (irenzc für
die Menge der Produktion und nur Rline Direktive für die Art der
Produktion : das ist die Möglichkeit, durch Verwertung der Produkte
Gewinn zu erzielen. An sich besteht daher, da die X'erniehrung
des ( lewiimes ebenso wie das daraufgerichtete Streben praktisch
unctuilich ist, keinerki Begrenzung der Produktion weder nach
Quantität noch nach (^)u.ilität.") Anregung zur Produktion giebt
') Das Wort „Wirtschaft" wird hier wie ersichtlich in einem etwas anderen
Sinne als dort pehraucht. wo wir von „Produktion^wirtschaftcn" sprechen, (lenau
genommen müüte es hier immer heifsen: „BeUartsdeckungswirtächaltssystem" etc.
Der gute Gmhmack hilt mich von dieser nwttrtrdien Wortbildung zorikk und ver*
•alAfst mdkf lieber eine etwM laxere, aber ^fXUigere Amdmclrwreise xn wihlen:
hc^enkUch nicht sum Sdwden der Klarheit und Treffsicherheit
*) „Tirvri7( r^f jQ^uHtiOtm^t toö rilopg ir^as, tUot dl 6 wtoZtOi
nlovroi xtti XQTjTdrcov xrrff«^ " Aristol. Pol. I. 3. 9. Dafs natürlich alle Pro-
duktion am letzten Ende durch individuelle Konsumtionsmöglichkeit beschriinkt i>t,
also schliefslich auch alle Produkte persnnliclicm Bedarf dienen, ist srlb-tverstaml-
lirh. Fs ändert aber niclits an <ler Thatsachc, dafs in der r.rwerb>wirt>chalt h<--
.sinniuciid tür dai> WirLschaltssubjekl niemals ein objektiver Bedart an Gebrauch»-
gütem, sondern inuner nnr die Aussicht auf Gewinn ist. Geirinn ist aber t. quali«
titslos, 2, quantitativ unendlich.
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396
Werner Sombart,
ebenfalls die Aussicht auf Gewinn; sie geht also vom Konsumenten
auf den Produzenten über.
Dieser Unterschied in der Zwecksetzung der Produktion ist
nun aber von ausschla^'gcbendcr Bcdcutun^j für die «gesamte Ge-
staltun^^ des Wirtschaftslebens. \'or allem bestimmt sie den Art-
charakter des Produzenten. Ist, wie bei der Bedarfswirtschaft,
Cjuantiiin und Quäle tlie durch den Bedarf fest j^egebenc drölse,
so besteht die Auf^'abe des Produzenten lediglich in der .Ausführun^T.
Er ist te^hIn^^her Arbeiter, wie man es kurz i)ezeichnen kann.
Muls da^^e^'en Ausmals und .Art der Produktion erst bestimmt
werden, sind .sie variabel und abhän^if^ vtjn wechselnden <ie\vinn-
chancen, so wird tlie wesentliche Auf^Mbe des Produzenten darin
bestehen, diese richtig' zu beurteilen. Die Produktion hurt auf, ein
Problem des technischen Könnens zu sein und wird zu einem
Problem spekulativer Berechnung. Der Produzent ist nicht mehr
technischer Arbeiter, sondern in erster Linie Kaufmann. ^)
*) Sc. des KAufiaimii im heirtigen Voitude. Ei «Mg bimngeftigt werden, dab
der HSndlcr seiner Natnr nach anf dem Enrerbsprindp seilte Thltiekelt anfmbauen,
wenigstens die Tendenx bat. Seine Funktion bestebt tn allen Zeiten darin, ans
Geld, Geld sn macben. Trotzdem bat es Zeiten gegeben , denen der Gedanke,
die wirtschaftliche Thätigkeit um des Erwerbes willen auszuüben, so fern lag,
<lafs man selbst die kaufmännisilic Tliäti^'keil der allgemeinen Regel unterstellt
wissen wollte, dals si«" keinem ainK ni /wecke diene, als dem HetrefTcnden die
„Nahrung" /.u vcrsdialTen. l>arin stimmt .\ r i s t o t e 1 e s , dieser verdammte,
huchmütige, »chaikiiaitige Heide'" wie ihn Luther in seiner drolligen Manier nennt,
mit diesem sdbst vüUig Uberetn. Es ist der Grundgedanke des Wittenberger Moncbs,
wo er über die ükonomischen ProUeme lospoltert: dafs in neuerer Zeit das Gewisn-
streben, der „Geiz** die Kasfleute (an andere Möglichkeiten denkt er oiTenbar noch
gar nicht) beseele, statt dafs sie den Handel nur trieben, um sich ihren Unterhalt
zu schaffen. „Wahrlich, hie kann man nicht anders lehren man mafs Dir's auf
r>ein Gewissen lieimgeV)en, daü Du zusehest und Deinen Nähisten nicht übernehmest,
und nicht d<-n Geiz sondern Di-iue /.lemlich«- Niihrnn;,' surhc->t. ... Darumb mufst
Du Dir fürsetzen, nichts denn Deine ziemlichi- Nahrung zu suchen in solchem
Handel, darnach Kost, Mfihe, Aerbeit und Fahr rechen und Uberschlahen und also
denn die Waar selbst setzen, steigern oder niedem, dals Du selbst Aeibcit und
Mflhe Lohn davon habest." Von Kaufsbandlung und Wucher (1524). Werke ed.
irmischer. XXL 204/205. Was gerade den Vergleich swtschen Aristoteles und
Lnther so interessant macht, ist dieses, dafs ihre Schriften ja aus einer gleichen Zeit
Mammen : einer Zeit, in der das alle Prinzip der Bedarfsdeckung und die ihm ent-
sprechenden Wirtschaftssysteme der Eigen- un<l Tauschwirtschaft im Begriffe sind,
von dem andringenden Erwerbsprinzip, das die beginnende Verkehrswirt!>cbaft be-
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Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation.
397
Da es im Plane clie<;er Studien liefet, zwei historische Wirtschafts-
systeme mit den ihnen entsprcclicndc-n Wirtschaftsformen, deren je
eines einer der beiden genannten < iruj)j)en ani^ehört, eingehender zu
analysieren, so können wir es einstweilen bei diesen allgemeinen
Bemerkungen sein Bewenden haben lassen und dazu übergehen,
innerhalb der beiden grofsen Gru|)peii \oti Wirtschaftssystemen nun
Einzelheiten unterschiedlich zu markieren. Wenn ein Wirtschafts-
system eine von bestimmten Wirtschaftsprinzipien beherrschte
Wirtscharisordnuiig ist, so mufs ofifenbar die Unterschiedlichkeit
iler einzelnen \\'irtschaftss\'steme bei denselben Wirtschaftsj)rinzipien
in der Verschiedenheit der Wirtschaftsordnungen begründet
sein? Nun giebt es aber so viele Wirtschaftsordnungen, wie viele
verschiedene das Wirtschaftsleben regelnde Sitten und Gebräuche,
wie viele verschiedene Rechtsordnungen es je gegeben hat, giebt
und geben wird. Ihre Zahl ist also Legion. Wollen wir unter-
scheiden, so kann es sich somit nur darum handeln, die prinzipiell
bedeutsamen Elemente je in den verschiedenen Wirtschaftsordnungen
in ihrer Divergenz darzustellen, d h. also markante Typen der
verschiedenen Wirtschaftsordnungen vorzufuhren.
Wie aber, so könnte man fragen: ist denn die Gestaltung der
Wirtschaftsordnung so ganz beliebig, so gar nicht abhängig von dem
herrschenden Wirtschaftsprinzipe? Bis zu einem gewissen Grade,
wie gleich sich ergeben wird, in der That Nur freilich gilt dies
mit einer wesentlichen Einschränkung: die Herrschaft des Erwerbs-
prinzips setzt stets bestinunte Bestandteile in einer Wirtschafts-
Ordnung als notwendig voraus, ohne deren \'orhandensein es nicht
gedacht werden katm. Ks mufs nämlich die Wirtschaftsordnung
jeder Erwerbswirtschaft folgende Elemente enthalten; sie mub er*
m^lichen :
1. Produktion für den Austausch: Warenjjroduktion ;
2. l'roduktionsfreiheit nach Ort, Zeit, Art etc. der Produktion.
Letztere dort wenigstens, wo die Frwerbswirtschaft zu reinster
Blüte gelangt. Sie strebt jedenfalls immer eine im Prinzijie frei-
wirtschaftliche Ordnung an . wenn aiu li /ugegebeii werden muls,
dafs sie bedeutsame Ansätze zu kräftiger Entwicklung auch ohne
hemcbt, verdrängt zu werden. Es ist nur selbrtveiitlndlidi, dafs im Geiste aller
ecbten „ethischen" Nationalökonomie diesem stereotypen Erzeugnis profser l'eb«-r-
ganpspcriü<len. die Aristotclc? und I.uthrr li.i^ alte Prinzip als das sittlich gute ver-
teidigen, da& neue als das moralisch verwerl liehe verdammen.
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39»
Werner Sorobart,
das Requisit der Verkehrsfreiheit als integrierenden Bestandteil der
Wirtschaftsordnung aufweist Aber auch die Erwerfoswirtschaft la(st
doch nach anderer Seite wesentliche Nuancier un^cn der Wirtschafts-
ordnung zu: insbesondere in der rechtlichen Stellung des Arbeiters
zum Produktionsleiter. Diese ist in zwei grundverschiedenen
Formen möglich: als Zwangsstellung oder als freie Vertragsstellungr.
Es können die Oigane der Erwerbswirtschaftseinheit Sklaven, Hörige
oder freie Lohnarbeiter sein und sind es gewesen. Die historisch
bedeutsamen Erscheinungsformen der Erwerbswirtschaft weisen
samtliche Möglichkeiten auf: die römische Kaiserzeit war ent-
schieden eine Zeit hochentwickelter Erwerbswirtschaft und ba-
sierte die Produktion ebenso auf Unfreien wie die Kolonialunter-
nehmungen der neuen Zeit Während wir heute gewohnt sind, die
Erwerbswirtschaft im Zustande freier Lohnarbeiterschaft, in der
Form der kapitalistischen Verkehrswirtschaft zu denken.
Noch viel indifferenter verhält sich nun aber der Wirtschafts-
Ordnung gegenüber das Bedarfedeckungsprinzip. Es gestattet auch
eine unterschiedliche Gestaltung derjenigen Bestandteile der Wirt-
schaftsordnung, welche die produktive Thätigkdt selbst, sowie die
Verwendung der Produkte regeln. Um nun ein Schema zu ge-
winnen, in das wir die verschiedenen Typen der Bedarfededcungs-
Wirtschaft übersichtlich einordnen können, wählen wir das durch
die Anordnung der Produktionsvorgange zu dem Verwendungsakte
bestimmte Verhältnis des Arbeitsaufwandes zu demjenigen, dem der
Effekt der Arbeit zugute kommt und können alsdann vier Haupt-
typen von Wirtschaftssystemen dieser Gruppe unterscheiden, je nach-
dem es sich handelt um:
I. Deckung des eigenen Bedarfs durch eigene Arbeit;
3. Deckung des eigenen Bedarfs durch fremde Arbeit;
3. Deckung des fremden Bedarfs durch eigene Arbeit;
4. Deckung des fremden Bedarüs durch fremde Arbeit
ad I. Deckung des eigenen Bedarfs durch eigene
Arbeit erfolgt in allen Sjrstemen der Eigenwirtschaft, solange die
Glieder der Wirtschaft Eines Blutes, also Einer Gemeinschaft sind.
Hierher geiiören somit von historisch bedeutsanfen Typen: alle
Wirtschaften urwüchsiger Geschlechtergemein-
schaften,') die Wirtschaften der chinesischen, südslavischea
*) Da e« nicht die Aufgabe dieser Studien i«t, eine Charakteristik aller Wirt-
schaftssysteme tmd Wirtschaftsformen zu geben« sondern lediglich den Gnmdrifs n
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Die gewerbliche Arbeit mcl ihre Organifatioo.
399
keltischen r) und anderer (t r o Isfa m i 1 i e n , ') die W irtschaft der
Dorfgemeinschaften von den indischen Anfängen bis auf
unsere Zeil. -
ad 2. Dekung des eigenen Bedarfs durch fretnde
Arbeit bezwecken — vom Standpunkt des \Virtschaftsoberhau})ts
aus — alle Kigenwirtschaften, die ich unter der Bezeichnung e r -
w e i t e r t e E i g e n w i r t s c h a f t e n zusammenfasse, „erweitert" näm-
lich über den Krei> der Blutsverwandten oder doch wenigstens
gleichgestellten I >()rfgenüssen hinaus. I- s gehören hierher die be-
kannten Erscheinungen der von Roilbertus entdeckten ( )iken-
wirtschaften des Altertums, die kaiserlichen Villen-, die Frohnhof-
und Kloslerwirtschaften des Mittelalters mit grundherrlichen Wirt-
einer Systematik «a entwerfen, in die sich zwei niher su betrachtende Wirtschafts-
aysteme bezw. Fonnen einordnen, so begnflfe id» mich hier mit der knnwn Auf-
zählung der verschiedenen Wiftschaftstyprn und verweise den Leser im übrigen auf
die cinsrhläpige Litteratnr, von der die wichtigsten Werke namentlich deutscher
Sprache Krwähnung finden mögen: Bücher. Arbrit und Rhythmus. Leipzig 1897,
2. Aufl. i Jcrsclhe, Fntstehung firr \ olk>\virts( haft 2. Aufl. lSo8, I. und II.
Vortrag. Daselbst zahlreiche Hinweise aul Speiiallutcratur. H. t unow, Die uko-
noniaclMn Gnmdlagen der Mntterhemch&ft (Nene 2Seit 1897,9s, Bd. 1). Lngd^,
Entatehmg der Familie etc. 18M. E. Grotte, Die Formen der Familse und die
Formen der Wiitidiaft. 1896. R. Hildebrand, Recht und Sitte auf den ver-
schiedenen irirtschaftlichen Kulturstufen. 1896. E. Laveleye, Das Ureifentum,
flbersctst von K. Bllcber. 1879. A. M ritzen, Siedelung und Agrarwesen der
Westgermanen und nstgerm m- n, der Kelten, Kömer, Finnen und Slaven. Bände
und .\tla>. 1895. Lt w. II. Morp.in. Dir l'rgcsellschaft, «leutscli iSqi. ('•.
.^( hnioller, Dif gcschichtl. Fntwu klun^' l-r l iit<-mchmung ; bv^ond. II. (in ^einem
Jahrbuch Bd. XIV. 1890 I. Ratzrl. V «IkerkuiKic.
K. Bücher a. a. O. — K. Lavcleye a. a. (>. — A. M e i t z c n a. a. < >.
Utiescnoric, Hauskommonioncn der Südslaven. 1859. M. Zoricic, Die biuer-
lidien Hanskommnnionen in den Kteigreichen Kroatien und Slavonien. (DI. Omgris
intern. d'Hygiene et de Ddnographic. Comptes rendua Tome VII. 1896.)
*) W. J. Ashley, Engl. Wiitschafbgeschicbte I. 1896. George Campbell,
Modem India. 1853. H. Cnnow, Die sociale Verfaammg des Inkar.Mclis. 1896.
K. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittdalter. 4 Bde. 1885.
Laveleye- BUche r a.a.O. G. L. van Maurer, Einleitung in dir M.irk-, Hof>,
Dorf- und Stadtverfassung etc. 2. Aufl. 1S96. Meitzcn a.a.O. 1 Ii u r. Rogers,
r>ie (»eschit'hte der cujjHsclieii .Arbeit. I S96. K. Seebohm. I lif mgli'-h \ illage
cumniunity; deutsch vun Buuücu 1885. F. Tunnies, (jcnicinschalt und (ioelN
schalt. 1687.
L iyiii^üd by Google
400
Werner SombArt,
schaftsoi^nisationen *) etc. Ausschlidslich mais- und richtunggebend
für die gesamte Produktion bleibt auch in diesen Wirtschaften der
Bedarf des Wirtschaftsherm und seiner Leute. Aber es wirken bei
seiner Befriedigung auch gezwungen fremde Leute : Sklaven, Hörige,
Hintersassen etc. mit Wie wir sehen werden, kann dieses
Wirtschaftssystem auf Einer gemeinsamen Produktions- und Kon-
sumtionswirtschaft beruhen oder auf dem Zusammenwirken mehrerer
Einzelwirtschaften.
ad 3. Deckung fremden Bedarfs durch eigene
Arbeit findet statt überall dort, wo iiir den Austausch produziert
wird, ohne dafs das Erwerbsprinzip bereits Boden gefalst hat. Alle
mittelalterliche Stadtwirtschaft wie überhaupt alle uns bekannte
Tauschwirtschaft in primitiven Wtrtschaftsverhältnissen gehört hier*
her.") Es mag die Konstruktion dieses Wirtschaftssystems auf
den ersten Augenblick seltsam berühren. Trotzdem ist, wie noch
ausfuhrlich zu ze^en sein wird, aUe vorkapitalistische Tausch-
Wirtschaft nur unter dem Gesichtspunkt einer Wechsel-
seitigen Bedarfsdeckung zu verstehen. Jener Formel am
Eingang dieses Abschnitts ist freilich zur Vervollständigung hinzu-
zufügen, „Deckung des eigenen und fremden Bedarfs durch
eigene Arbeit" — wiederum vom Standpunkt des Produktions-
Wirtschaftssubjekts, sage des Handwerkers oder einer Zunft, aus.
Leitendes Prinzip bei all seiner Thät^keit und trotz allen Austausches
bleibt: G ebrauchsgüter in der Menge und Art herzustellen, wie sie
ein anderer nötig hat; um dadurch den eigenen Lebensunterhalt zu
'l^ewinnen in dem Mafse und der Beschaffenheit, wie er den über-
kommenen Anschauungen entspricht.
ad 4. Deckung fremden Bedarfs durch fremde
Arbeit würde das Prinzip eines Wirtschaftssystems sein« wie es in
einem sozialistisch organisierten Gemeinwesen höherer gesellschaft-
'1 K. Büch.T. a. a. < ). K. 1. a m p r e ch t , a. a. U. A. M sitzen. ;i. a. o.
G. Schmoll er, a. a. O. K. von Inama -Stern egg, Dcuuchc Wirtscbaftsgr-
schichte. Bd. I Bis zum Schlüsse der Karolingerperiode. 1879. Bd. II. X. — XIL
Jahrhundert. 1891. Derselbe, Die Ausbildung der grofsen Gmndhcnschaften in
Deutschland während der Karolingeneit 1878. G. L. von Maurer, Geschichte
der FröhnhöfCf der Bauernhöfe u. der Hofverfastung in Deutschland. 4 Bde. l86aC
H. Weber, Römische iXgrargeschicbte. 1891. Derselbe, Die socialen Gitnde
des Untergangs der antiken Kultur in der Zeitschrift: „Die Wahrheit", her. von
Chr. Schrempf. B.J. M. Nr. 3.
*) Wegen der Litteratur sei aut die folgende Studie verwiesen.
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Die geverbliche AibeH und ihn OigaidMtioo. I
Ucher Ordnui^ herrschen rnüfste.') Die Regelung der Produktion
würde durch den irgendwie ermittelten Bedarf aller Bürger erfolgen.
Das Wirtschaftssystem würde also jeden&lls der Grruppe der Bedarfes
deckungswirtschaften angehören. Da aber das Wirtschaftssubjekt
die Eine Zentrale wäre, von der alle Produktionsbetriebe ihre
Direktive erhielten, so würden jeweils die in einem Phxluktions-
betriebe thätigen Personen, die vom Standpunkt des Wirtschafts*
Subjektes als fremde, d. h. Kommandierte anzusehen wären, den Bedarf
iur andere Bürger — Fremde — decken. Lediglich der Symmetrie
zu Liebe habe ich übrigens diesen vierten Fall der Bedar&deckungs-
wirtschaften angelegt und l^e auf die Konstruktion, zumal sie ja
gar keiner empirischen Erscheinung gerecht zu werden braucht, kein
übermälsig gro(ses Gewicht.
So haben wir denn, wie mir scheint, den Kreis aller denkbaren
Wirtschaftssysteme, aller die jemals waren und jemals sein können,
durchmessen und sie zu einem Systeme kunstvdl zusammengefiigt
Nun aber bleibt Eins noch zu thun übrig. Der Leser wird sich
des Tadeb entsinnen, den wir g^tn eine Reihe von Vorgäi^rn
glaubten erheben zu sollen, weil sie achtlos unter verschiedenem
Gesichtspunkte die Arten menschlicher Wirtschaft gruppiert hätten,
ohne sich darum zu kümmern, eine Vereinigung jener mannigfachen
Gruppierungen herbeizuluhren. Ein gleicher Vorwurf der Un*
einheitlichkeit würde nun aber auch diese Darstellung treffen, wenn
wir das System der Wirtschaftsstufen und das System der Wirtschafts-
systeme nebeneinander bestehen lassen wollten, ohne sie irgendwie
miteinander zu verbinden. Das muCs also noch i^eschehen, und es
kann nach allem, was wir nun vom Wesen der Wirtschaftsstufen
und Wirtschaftssysteme wissen, mir in der Weise erfolgen, dafs wir
die verschiedenartigen Wirtschaftssysteme in das
Schema derWirtschaftsstufen einzuordnen versuchen.
Da ergiebt sich folgendes Resultat:
I. auf der Stufe der Individualwirtschaft können stets
nur Wirtschaftssysteme bestehen, die auf dem Prinzip der Bedarfs-
deckung au%ebaut sind. Und zwar gehören hier alle Eigenwirtschaften
>) Vgl. u. a. Schiffte, Die Quintessenz des Sosialtsmus. O. Köhler, Der
soualdemokiatisclie Stut. Gninclxflge einer mutmafslichen ersten Form socialdemo-
Inatischer GeaellschaftsTerfassang etc. 1891. Atlanticus, Ein Blick in den Zu-
kanftsstaat. Produktion und Konsumtion im Sozialstaat. 1898. G. Sttlser, Die
Zukunft des Sozialismus. 1899.
402
Werner Sombart,
her, soweit sie auf einer Identität von Pi otluktions- und Kon-
sumtionswirtschaft beruhen. Also alle VV'irtschaften der Rlutsgemein-
schaften. die Hauskommunionen etc., die erweiterte Eigenwirtsciiaft
mit einheithcher Wirtschaft;
2. auf der Stufe der U ebe rgan gs w i rt s c h a ft e n ist eben-
falls, aus naheliegenden Gründen, das Bedarfsdeckungsprinzij) allein
herrschend. P-s gehören hierher: die erweiterten Eigenwirtschaften,
bei denen jedoch eine Trennung der Produktions- \on den Kon-
sunilionswirtschaften erfolgt ist, wie bei den Grundherrschaften des
römischen Kaiserreichs und des europäischen Mittelalters; die Dorf-
wirtschaften ; die Tauschwirtschaft mit ihrem wichtigsten 1 ypua der
Stadtwirtschaft ;
3. auf der Stufe der (j e s e 1 1 s c h a f t s w i r t s c h a ft ist erst-
malig Raum fiir die Herrschaft des hrwerbsprinzips; ihr gehören an
die Erwerbswirtschaftssystenic der römischen Kaiserzeit, die Sklaven-
wirtschaftcn der modernen Koloniccn und die heule herrschende
kapitalistische Verkehrswirtschaft mit freier Lohnarbeit. P-s kann
aber auf dieser Stufe sehr wohl auch das Bedarfsdeckungsprinzip
herrschen, wenn wir uns nämlich einen siozialistischen Staat unter
Zugrundelegung des heute in Pluropa und Amerika erreichten
Grades wirtschaftlicher Differenzierung errichtet denken wollen.
Bringen wir nun alle diese Unter- und Einordnungen in einer
einzigen Tafel zur An.schauung, so ergiebt sich folgendes Bild.
Wirttchaftsstnfen:
Wirtschaftssysteme:
Gruppen vonW irtschafts-
systeneii mh eiaheit«
lidiem Wirtschaftspruiap :
Individual-
Wirtschaft.
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Frwerbs-
wirtiK.- haften.
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IKc gewerbliche Arbeit und ihre Oisaniaadon.
403
Es erübrigt nun nur noch, um den Kreis unserer Betrachtungen
zu schlieüsen, in die einzelnen Wirtschaftssysteme die ihnen je ent-
sprechenden Wirtschaftsformen einzuordnen.
Begreiflicherweise finden wir auf den primitiven Wirtschafts-
stufen selbständige Organisationen fiir die Produktionswirtschaft noch
nicht. Diese bildet einen integrirenden Teil der gesamten Wirt-
schaftsverfassung, die ihrerseits selbst wieder mit der sozialen
Ordnung überhaupt zusammenfallt. Die Träger der wirtschaftlichen
Initiative sind somit in jenen Anfangen des Wirtschaftslebens Stamm,
Geschlecht, Familie. Wollen wir eine Wirtschaftsform für diese
primitiven Zustände gleichwohl namhaft machen, so können wir
von Geschlechterwirtschaft und Familienwirtschaft
Rechen.
Ansätze zu einer selbständigen Organisation der Produktion
innerhalb des Gesamtlebens und somit Ansätze zu Produktionswirt-
schaften lassen sich innerhalb der Sphäre erweiterter Eigenwirtschaft
feststellen. Als Wirtschaftsform, die diesen Wirtschaftssystemen ent-
sprechen, können wir ansehen Oikos, Fronhof oder Villa.
Wenden wir uns dem System der Dorfwirtschaft zu, so werden
wir hier unterscheiden müssen, ob wir eine Organisation vor uns
haben, bei der der Schwerpunkt noch in der Dorfgemeinc oder
schon in den einzelbäuerlichen Wirtschaften liegt. Danach ergeben
sich zwei verschiedene Wirtschaftsformen, die wir bezeichnen wollen
als Gemeindewirtschaft und als Bauernwirtschaft.
Schon in der erweiterten Eigenwirtschaft und in der Dorfwirt-
schaft kann eine berufsmäCsige Ausübung gewerblicher Thiitigkcit
stattfinden. Doch erst der Tausch- insbesondere der Stadtwirtschaft
gehört die Schaffung selbständiger Organisationen für die gewerb-
liche Produktionswirtschaft an. Es ist dies die
h a n d w e r k s ni ä f s i g e Organisation
die wir somit zunächst ganz grob definieren können als die dem
tauschwirtschaftlichen .System entsprechende Wirtschaftsform für ge-
werbliche Thätigkeit. Sie erscheint ebenfalls dop|)elt bestimmt, je
nachdem der Schwerpunkt der Organisationen bei dem Fin/.el-
produzenten oder bei einer Gesamtheit von Protluzenten ruht.
Danach können wir genauer als handwerksmäfsigc Wirtschafts-
formen ansprechen Hand Werkergenossenschaften und Ein-
zel h a n d w e r k.
Es wurde schon darauf hingewiesen, dafs beabsichtigt ist, die
Archiv für sox. Getcugcbung u. Statistik. XIV. 36
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404
Werner Sombart,
Eigjenarl dieser Wirtschaftsform genauer zu untersuchen, so dals es
hier bei tlicscr kurzen Skiz/.ierung sein Bewenden haben mag.
Wollen wir uns aber die Wirtschaftsfonnen vorstellen, wie sie
in einer sozialistischen (iemeinwirtschaft wahrscheinlich sich ge-
stalten würden, so werden wir sie uns entweder (bei zentralistischer
Organisation) als g e m e i n wi rtsc haft 1 i c h e Anstalten, Ver-
waltungen, Direktionen oder wenn die Organisation des
Wirtschaftslebens mehr dezentralisiert wäre, als Produktiv-
genossenschaften denken müssen.
Allen bisher aufgezählten Wirtschaftsformen gemeinsam ist nun
aber dies, dafs sie auf dem Bedarfsdeckungsprinzip aufgebaut sind,
d. h. dafs in ihnen die Produktion organisiert ist zum Zwecke, einen
bestimmten Bedarf an Gebrauchsgütem zu dedcen. Dadurch treten
sie in einen scharf, gar nicht genug zu betonenden Gegensatz zu
denjenigen Wirtschaftsformenf die den Erwerbswirtschaftssystemen
entsprechen und die wir unter der gemeinsamen Bezeichnung der
Unternehmungen
zusammenfassen wollen.
Diese einschränkende Verwendung des Wortes „Unternehmung"
lediglich im Sinne der Wirtschaftsform der Erwerbswirtschaften ist
eine wohlüberlegte : sie soll der Kigenart des Charakters dieser Wirt-
schaftsformen schon im Ausdruck gerecht zu werden suchen. Ueblich
ist, wie bekannt, diese Einschränkung nicht. Man spricht vielmehr
gewöhnlich ebenso von einer ,,Handwerksunternehmung" wie von
einer kapitalistischen Unternehmung. Gusta\- Schnioller will das
W^ort sogar auf alle Wirtschaftsformen, die fiir den Austausch pro-
duzieren, angewandt wissen. Mir scheint das unzulässig, weil es
die üebertragung eines scharf geprägten modernen Ausdrucks auf
ganz heterogene Dinge bedeutet. Mit dem Worte p,Untemehmung"
bezeichnet die deutsche Sprache stets etwas Wagemutiges, Speku-
latives, Aleatorisches.
,,$agt, wms Ihr wohl in deuUchcD Landen
Von unserer Untemehmnng hofft."
Wie wir denn auch von einem „unternehmenden'' Menschen
sprechen als von jemand, der Initiative, Entschlufe, Energie besitzt
Ich meine nun, ein Teil dieses ursprünglichen Sinnes ist auf den
ökonomischen Ausdruck fiir eine bestimmte Wirtschaftsform über-
gegangen und deshalb sollten wir uns hüten, ihn anzuwenden auf
Wirtschaftszustande, die gerade durch die Abwesenheit alles
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Die geweibliche Aibeit «nd ihre Ofcaniaation.
405
spekulativen charakterisiert werden, wie also beispielsweise das
europäische Mittelalter. Es hciGst unbistorisch verfahren, wenn man
den Handwerker einen Unternehmer nennt Sein Wesen gipfelt darin,
dafs er keiner ist. Deshalb war unser Bestreben, an Steile des
SchmoUerschen .Ausdrucks „Unternehmung" den allgemeinen „Wirt-
schaftsform" zu setzen und die Unternehmung als eine bestimmte
unter \ ielen Wirtschaftsformen zu charakterisieren, wie es im obigen
geschehen ist.
Diese Charakteristik zu vertiefen und \or allem die Wesens-
unterschicdlichkciten der historisch allein inbelracht kommenden
Formen verselbständij^ter gewerblicher Produktion : des Hand-
werks und der gewerblichen Unternehmung näher zu be-
gründen, soll nun die Auijgabe der folgenden Studien sein.
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1
Die Arbeitsteilhaberschaft in der britischen
Genossenschaftsbewegung.
Von
ED. BERNSTEIN,
in London.
Die britische Gcnosscnschaflsbewcfjun«;' ist heute zum weitaus
üherwiet^'cnden Teil Orcjanisation zur vorteilhaften Beschaffung von
Gebrauchsj^^ütcru, -Konsum Vereinsbewegung. Nach dem fünften Jahres-
bericht des Arbeitsamts des Handelsministeriums (1897 K^gS) waren
Ende 1897 1710 ( lenossenschaften, die dem Amt Bericht er-
stattet hatten, 1485 Kinkaufsgcnossenschaften und nur 225 produ-
zierende (lenossenschaften. Der (iesamtumsatz der Konsumgenossen-
schaften betrug, nach .Abzug der zwei (irolseinkaufsgenosscnschalten,
40175774 r, der (resamtwert der in Genossenschaftswerkstätten
hergestellten Produkte 945 1 572 jt. Von diesem Produktionswert
entfällt indes der bei weitem gröfsere Teil auf Werkstätten, die
nur Produktionsanstalten im Dienste von Einkaufsgenossenschaften
waren. Es wurden nämlich produziert:
im Dienste, besw. »nf Rechnang der Grofseinkauf^enoMWurhaften 3905167 ^
im Dienste, bczw. auf Rechnung von Konsiunvcrcincn .... 3297816 .,
von ( M-iiossrnscliaftskommiihlen 1264402 „
von .imleren selbständigen Produktion -j^- nossenschaften .... 1984 1&7 .,
In der grofsen Mehrzahl der Einkaufi^eno.ssenschaften ist die
rechtliche Stellung der in ihren Produktionsanstalten beschäftigten
Arbeiter keine andere als in jedem kapitalisti-^chen Unternehmen.
Sie sind auch da einfache Lohnangestellte. Indes gewähren über
dreihundert Genossenschaften ihrem .\rbeitsj)ersona! aufser dem,
von den Gewerkschaften anerkannten Lohn noch gewisse Extra-
vergütigungen, und zwar meist in Form von Dividenden auf die
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Die ArbeitateUhabcffMlMft in der iMritischeB Genocsenselurfbbeir^gnig. ^07
im Laufe des ("reschäftsjahres (oder Halbjahres) erarbeitete Lohn-
summe. Die Ro\al Arsenal Coopcratixc Society in Woolwich
z. B. zahlt ihren Arbeitern wie dem < leschäftspersonal denselben
Dividendensatz auf den Lohn, den sie den (ienossen Schaftsmitgliedern
auf. den Betrag ihrer Einkäufe auszahlt oder gutschreibt. Für das
Halbjahr von Mitte Juli 1898 bis Mitte Januar 1899 {die letzte Ge-
schäfts} )criode, über die mir ein Bericht vorliegt) wurden bei einem
Gcsanulohnbetrag von 1 1 $35 rund 1007 /* Zuschufs vcrcrütet, bezw.
I Sh. 10 Pence oder g\ Prozent auf jedes Pfund Sterling Lohn
(die kleine Differenz in der Rechnung — es sollten 1057 £ Ver-
gütung sein — koninit daher, tlafs nur solche Arbeiter dividenden-
berechligt sind, die mindestens tirci Monate im Dienst der Ge-
nossenschaft thätig sind und Genossenschaftsanteile besitzen oder
gezeichnet haben).
Für das System oder Prinzip nun, wonach die Arbeiter der
Genossenschaft kraft ihrer Kigenschaft als Angestellte Anspruch
auf einen Anteil am Geschäftsertrag liaben und ermuntert oder an-
gehalten werden, tier Genossenschaft beizutreten, was ihnen auch
einen EinHuls auf die Geschäftsleitung verschaft't, ist in England
der Name „Labour Co*partnership" aufgekommen, den man wohl
am passendsten mit Arbeitsteilhaberschaft übersetzt Er soU im
speddlen bedeuten« dafii die Arbeiter Anteil an Eigentum, Leitung
und Gewinn» aber weder den vollen Gewinn, noch die
volle Leitung des Unternehmens haben sollen. Die Propaganda
fiir diese Aibeitsteilhaberschaft ist auf die Initiative der christlichen
Sozialisten zurückzuführen und wird heute vornehmlich von einer
Vereinigung betrieben, die sich „Labour Association" nennt und ein
Monatsblatt JLab<mr G^partnership" herausgiebt Bekannte Veteranen
der Genossenschaftsbewegung, wie G. J. Holyoake, J. M Ludlow,
Ed. Owen Greening, Hodgson Ftatt, T. A. Brasse/, sitzen in ihrem
Vorstand, ihr Präsident, Fred Maddison, und ihr Sekretär, Heniy
Vivian, sind aus der Arbeiterklasse hervorgegangen und stehen in
enger Fühlung mit der Gewerkschaftsbewegung.
Wie sie von den Genannten aufgefafst und propaf^ert wird, ist
die Arbeitsteilhaberschalt nicht auf Arbeitergenossenschaften be-
schränkt, sondern kann auch in wesentlich kapitalistischen Geschäften
durchgeführt werden. Ein Beispiel dafür ist die Südlond^uK t ( i.Ls-
geseUschaft („South Metropolitan Gas Company"), die ihr Arbeits-
und sonstiges Geschäftspersonal an (jieschäftsgewinn , Geschäfts-
ka|Htal und Geschäftsleilung beteiligt Es wurden für das Geschäfts-
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4o8
Ed. Bernstein«
jähr 1897/ 1898 den Arbeitern 19256 jB Geschäftsgewi nn über-
wiesen, der Aktienbesitz des Arbeits- und Bureaupersonals beiauit
sich gegenwärtig auf 55000 £ mit einem Kurswerth von 80000 Jß
neben 30000 £ fest verzinslichen Spareinlagen, und zwei Ver-
treter der Arbeiter, sowie ein \>rtretcr des Bureaupersonals sitzen
im Verwaltungsrat der Gesellschaft. Aehnliche Einrichtungen hat
die Gasgesellschaft für den Krystallpalast und Umgebunj:^ einorefuhrt,
desgleichen das grofse Druckerei-Unternehmen von Hazell, Watson
und Viney in London, die Firma Crown Printing Works in West-
hartlepool und andere kapitalistische Geschäfte mehr. Die erst-
genannte Firma steht mit der Gewerkschaft des Berufs der von ihr
beschäftigten Arbeiter seit 1S89 auf dem Kriegsfufs, die letzt-
genannte beschäftigt ausschliefslich Gewerkschaflsniit<2^liedcr, die
anderen überlassen es dem h'eien Entschlufs der Arbeiter, ob sie
der Gewerkschaft angehören wollen oder nicht
Auf der Mitte zwischen kapitalistischem und genossenschaftlichem
Teilhaberschaftsunternehmen steht die Aktiengesellschaft William
Thompson and Sons, Tuchfabrik in Huddersfield. Der frühere Be-
sitzer des Geschäfts, W. Thompson, ist noch heute der Leiter des
Unternehmens und auch sein Hauptaktionär. Das Geschäft weist,
nach Zahlung eines festen Zinssatzes von 5 Prozent auf das ein-
gelegte Kapital, den LVherschufs zur grüfseren Hälfte - fünf
Neuntel — den Arbeitern in I'orm von Anteilen zu, während der
Rest zu Tantiemen für Extraleistungen und Vergütungen an die
Kundschaft verwendet wird. Zur Zeit beläuft sich der Kapital-
anteil der Arl)eiter, flie durcli vollberechtigte Delektierte in der ( le-
schäftsleitung vertreten sind, auf über 2CXX) Die l inna hat den
Achtstundentag eingeführt und hält streng darauf, nur reine Wolle zu
verarbeiten. I'^ür den Geist ihrer Arbeite^schaft ist folgendes be-
zeichnend; Das (jeschäfts)aiir l8o<S war iniolge der hohen Preise
des Roliprfulukts sehr ungünstig, so dafs nach Abschreibung von
10 Prozent für Amortisation und Zahlung von 5 Prozent Zinsen auf
das X'orschufskapital ein P'ehlbetrag von 55 £ verblieb. Das
Komite schlug nun vor. den für die Verzinsung des AktienkajiitaU
erforderten Betrag aus dein Reservefonds zu nehmen, die .Arbeiter
aber fanden, wie die ,,( "ooperative-News" unterni 20. Januar 1899 be-
richten, „dafs sie ihren Anteil an dieser X'erpflichtung in mehr
direkter Weise tragen sollten und beschlossen einstimmig, zu den
erforderten 545 £ 250 /' aus i h r e n e i g e n e n M i 1 1 e 1 n b e i -
zusteuern." Zu bemerken j^t hierbei, dafs Mr. Thompson heute
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Die Arbeitstcilhabribchaü in drr britischen (Jcnosscn^cbaltsibcwcgung.
nur noch durch den Willen der Arbeiter an der Spitze der Leitung
des Unternehmens steht
Die Arbeitsteilhaberschaft bei den Einkau£5(Konsum)-Geno8sen-
schaften der Arbeiter bietet keine Züge dar, die diesen Geschäften
einen prinzipiell neuen Charakter verleihen. Da ihre VeHassung
ohnehin eine demokratische ist, wird an ihrem Wesen nichts ge-
ändert, wenn die Angestellten des Geschäfts auch als solche in den
Kreis der Gewinnteilhaber einbezc^en werden. G^en eine grund-
satzliche Veränderung des Charakters der Unternehmung durch die
Stimmen des in oder von ihr beschäftigten Personals — etwa Ver-
wandlung des Geschäfts aus einer Genossenschaft (ur Konsumenten
in eine solche von Produzenten — bietet das grofse numerische
Uebergewicht der Aktionäre der ersteren Kat^orie ausreichende
Gewähr. So beträgt in der Arsenal-Konsumgenossenschaft Woolwich
die Zahl der Aktionäre 13040, die der Angestellten (Bureau-,
Laden- und Arbeiterpersonal) 420, eine üeberstimniuni: der Ersteren
durch die Letzteren ist absolut ausgeschlossen. Atlinlich ist das
Verhältnis in den anderen Konsumgenossenschaften. £s lie^' " der
Natur der Dinge, dafs eine solche niemals auch nur annähernd so
viel Angestellte haben kann wie Genossenschafter.
Mit Bezug auf (las Rurcau- und I .adenpersonal leuchtet dies
ohne weiteres ein. Was die Produktionsabteilungen der Konsum-
genossenschaften anbetrifft, so bietet der Markt, wie ihn die Mit-
gliedschaft des einzelnen Konsumvereins darstellt, nur für unindi-
vidualisirtc Artikel des regelmäßigen Massenverbrauchs oder für noch
der handwerksmäfsigcn .Arbeit angehörende Produkte genügenden
Absatz, um ihre Herstellung,^ in eigenen Werkstätten lohnend er-
scheinen zu lassen. Zur eigenen Herstellung von .\rtikeln der C'irofs-
industrie, tlie keinen regchnälsigen Massenal>salz haben, entschlielsen
sich <iogar die grofsen Einkaufsgeriuxsenschafteii nur >ehr schwer,
trotzdem sie mit einem viel umfangreicheren Markt rechnen dürfen,
als die lokalen X'ereine. ') Allerdings sind es nicht die Absatz-
schwierigkeiten allein, die der Kigenproduktion der Konsum- oder
Einkaufsgenossenschaften Grenzen ziehen, sondern auch, — wenn
'J So wehrt sicli die grof&c englische Grol!icinkaul!>gcuu:><>ciischaÜ noch immer
dagegen, xnr Eigenproduktioo vom farbigen Baumwollgeweben überzugehen. Die
Didrastionen der Genoasen«cliaft«kongretse Aber diesen Punkt sind ttbcrans lehrreich.
Im Jahre 1895 cnt6elen xwei Drittel des Werts der gesamten Eigenproduktion eng-
lischer Genossenschaften auf Brotbickerci und Mehlfabrikation.
iJiyiiizea by CjüOgle
410
Ed. Bernstein,
nicht vor\vie;^a"nd — Srinvierigkeitcn der Organisation und Ver-
waltung;^. Iis fällt aufserhalb dt s Rahmens der vorsteilenden Unter-
suchung, auf diese wichtige Seite der Frage im speciellen einzugehen,
für ihren Zweck genügt es festzustellen, dafs, wenn wir von Mehl
und Brot absehen, von dem (lesamtumsatz der britischen Arbeiter-
konsumgenossensrhaften noch nicht der zehnte Teil in selbst-
produzierten Werten besteht, und dals auf eine Mitgliedschaft von
insgesamt I 500000 nicht mehr als rund 20000 direkt von den
Konsumgenosscnschalteii beschäftigte Arbeiter entfielen, (Die genaue
Zahl für 1897 ist: 20287.)
Dieser Thatsache, dafs die Welt der Konsumgenossenschaften
einen grofsen Markt darstellt» den die Eigenproduktion dieser Ge-
nossenschaften selbst nur zu einem sehr geringen Teil deckt, ist es
vornehmlich zuzuschreiben, dafs auch die Bewegung der Produktions-
genossenschaften seit einiger Zeit in England ein entschiedenes
Wachstum aufweist Unter Produktion^enossenschaften sind hier
solche Genossenschaften verstanden, die unabhängig von einzelnen
Konsumgenossenschaften die Produktion bestnnmter Gebrauchs*
gtiter betreiben. Von den früheren Produkti^^nossenschaften unter-
scheiden sie sich meist dadurch, dals sie nicht, wie diese, die Ver-
wandlung der Arbeiter des einzelnen Unternehmens in Eigentümer
und selbstregierende Leiter desselben zum Zweck oder Ziel haben,
sondern audi als Produkt ionsuntemehmen nur Teilhabergenossen-
schaften sein wollen. Die Arbeitsteilhaberschaft ist bei ihnen das
leitende, tlem Unternehmen seinen Stempel aufprägende Prinzip, sie
sind zugleich seine eigentlichen und rharakteristischen Träger.
Wie schon erwähnt, ist ihre V'erbreitung auf die Agitation von
christlichen Sozialisten zurückzuführen. Diese fühlten sich von dem
Aufgehen der Konsumgenossenschaften in reine Dividendenjägerei,
wie es sich in den sechziger und siebziger Jahren offenbarte, ebenso
enttäuscht wie abgestofsen. Die Konsumgenossenschaften und des-
gleichen die (Trofseinkaufsgennsscnschaft stellten sich um jene Zeit
den von ihnen bes< häfti'j^tcn Arbeitern gerade so gegenül)er wie die
kapitalistischen Unternehmer. Die Kr/ielung eines rnTtglichst liohcn
Profits war das ausschliersliche Ziel geworden, das alte (ienosscn-
schaftsideal völlig beiNeite geschoben. Da nahm der um das eng-
lische ( ienossenschattswesen hoclnerdiente K. \'ansittart Xeale die
Agitation für dieses Ziel von neuem auf. erreichte es nach \'er-
schiedenen fruchtlosen Anläufen, dals 1884 auf dem ( lenossenM hafts-
kongrefs /.u Derby eine von 250 Personen (meist Delegierte) be-
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Die AibeititeQlub«ndnft ia d«r britisdieB CkaowensclMiftBbewegmig. ^ 1 1
suchte Konferenz die Bildung eines Komitees beschloß, dessen Auf-
gabe sein sollte, die Bewegung für die Verwandlung der Arbeiter
in Teilhaber an Vermögen und Ertrag des Unternehmens, in dem
sie arbeiten, progagandistisch zu unterstützen und zu diesem Behufe
einen Propagandafonds zu sammeln. In Ausführung dieses Be>
Schlusses war die „Labour Association for Promoting Co^perative
Production based on thc Co-partnership of the Workers" gegründet,
Neale selbst hatte, wie aus einem in Hebden Bridge von ihm ge-
haltenen Vortrag über die Ziele der Association hervorgeht, dabei
immer noch als ideelles Ziel die „gesunde Grundlage" im Auge,
vcm der die Genossenschaftsidee ursprünglich ausging", nämlich die
Arbeiter zu Eigentümern des Geschäfts zu machen, für das sie
arbeiten. Nur sollte durch Vermittlung der Grolseinkau&genossen-
schait, um deren Errichtung sich Neale grofse Verdienste erworben
hat und der er die Au%abe zuschreibt, jene Produktivgenossen-
schaften heranzuziehen, ihre Verbindung mit den Konsumvereinen
beigestellt und gesichert werden. Ein fast kindliches Vertrauen in
die Produktionsform, der Neale ein Hespes Vermögen geopfert hat,
(fast 800000 Mark) spricht aus diesem Plan, der indes Projekt ge-
blieben ist. Aber (He „Labour Association" hat sich am Leben er-
halten und ihre Thätigkeit ist soweit nicht erfolglos geblieben.
Allerdings hat es längere Zeit gedauert, bis sie es zu Schöpfungen
erwähnenswerter Art gebracht hat So weife G. von Schulze-
Gävernitz in seinem 1890 erschienenen Werk „Zum sozialen Frieden"
noch wenig über sie zu sagen. Von den wirklichen Produktions-
genossenschaften, die er beschreibt, ist nur die eine, weniger be-
deutende, auf die Propaganda der Labour Association zurückzuführen,
die andere, weit bedeutendere, aber zehn Jahre älter als sie. Auch
das etwas später veröffentlichte Werk der Frau Beatrice Potter
(« VVebb) über das britische Genossensrhaftswesen kennt noch
wenige der neuen Genossenschaften und kritisiert sie vorwiegend
unter dem Gesichtswinkel des Nealeschen Projekts, das die \'er-
Easserin mit Recht als widerspruchsvoll verwirft. Sie giebt den Ge-
samtwert der Produktion der ihr bekannten Produktionsgenossen-
schaften aller Art auf noch nicht eine halbe Million Pfund Sterling
an. Nach dem letzten der von der Labour Association heraus-
gq^benen Berichte ( Au'^UNt 1898) war dagegen im Jahre 1897 ein
Absatz von mehr als fünffacher Höhe erzielt worden. Folgendes
die von der Association aufgestellte Statistik der britischen Teil-
haberschafts-Produktionsgenossenschaften :
412
Ed. Bernstein,
1883
1897
Grnosscnschaften : 1 5
loS
i6q
Vcrkfculc (Absau) . . .
. £ 160751
I 292 68ä
2714346
lUphal
• »03436
639 8S4
1 180906
. .. 9031
67663
137506
2984
12441
Dividenden auf Lohnr
It
8283
X6253
Diese Ziffern sind offenbar mittels sehr freier Interpretation
des Begriffs der Produktionsgenossenschaft gewonnen worden. That-
säclilich zeigen jedoch eine Anzahl von solchen ein ganz bemerkens-
wertes Wachstum, das es der Mühe wert erscheinen läfst. zu unter-
suchen, ob in ihnen wirklicli eine Ichens- und leistungsfäliigc I'orm
genossenschaftlicher IVoduktion \or uns liegt, der Stein der Weisen
endlich gefuntlen ist, vermöge dessen die genossenschaftlirhe Arbeit
auch aufserhalb des Rahmens des Konsumvereins Wirklichkeit
werden kann.
.Sehen wir /u dioein Behufe einige der in Frage kommenden
Unternehmungen genauer an.
Das bedeutendste der hierhergehörigen (ieschäfte ist die schon
1870 gegründete I'abrik \ on ( irob- und Halbsanunetwarcn 1 1- ustian etc.)
zu Hebden Bridge ' bamashire!, die Schul/.e-Gävernit/ (a. a. O.
S. 363 ff. ) näher beschreibt. Sic ist sozusagen das Paradestück der
Produktionsgenossenschaftsbewegung, wie der Konsumverein der
„Pkmiere^ von Rochdale lange das Faradestück der Konsumgenossen-
schaftsbewegung war. Sie hatte beim letzten Geschäftsabschluß
(zweites Halbjahr 1898 ) ein Anteilsvermögen von 27889 Ihr
Absatz an Waren betrug für das angegebene Halbjahr 24640 dt^
der Reingewinn (nach Abzug für Amortisationen) £ 2382. 5. 4Vs>
£r ward wie folgt verteilt:
£ Sh. Pc.
Zinsen auf Cpnostensduiflmiteile (Jabresmte 5 Proient) . 695 12 7
DlTidende an Käufrr:
Käufr von Mitpliedfm l Sh. pro €' 954 15 —
Kiiufr \oii Niclitnütgliedem 6 Pence pro £ , . . 58 3 6
Dividende au die Arbeiter:
1 Sh. Mif jedes £ Lohn 389 16 —
Erxiehongsfonds 30 — —
VerstchcmDgsfoiKU 100 — — >
Unfallvendchemiigsfonds 50 — * —
Reservefonds 100 - ■ —
Bilanz iVortrag) 3 18 3'/«
«38« 5 4 Vi
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Die Arb«itsteilhaberschKft in der britischen GenoMemchafttbewcguiiK.
Es ist hierbei zu bemerken, daTs die Kaufer, an die iiir die ge-
machten Kaufe Dividende gezahlt wurde, Konsumgenossenschaften
waren. Die Genossenschaft findet ihren Absatz last ausschlielslich
in der Genossenschaftswelt und sichert ihn sich durch Gewinn-
beteiligung der Käufer.
An Genossenschaften, die Anteile des Geschäfts nehmen, wird
höhere Dividende gezahlt: i Sh* aufs Pfund Sterling an Mitglieder.
Ende 1898 gehörten dem Geschäft 331 Konsumvereine als Mit-
glieder an, die zusammen 1 1 033 Anteile hatten. Die gesamten An-
teile des Geschäfts verteilen sich wie folgt:
331 Genossenschaften ....11 033 Antcfle
336 Arbeiter de« Gesdilfte . . 8734 „
198 PriTatpersoncn.*) 8133 „
Die Dividenden der Arbeiter werden solange akkumuliert, bis
jeder Arbeiter mindestens 20 in der Genossenschaft liegen hat,
was heute bei der überwiegenden Mehrzahl schon der Fall ist.
Auf diese Wdse ist der Anteil der Arbeiter am Geschäftskapital
von I Prozent auf 31 Prozent heraufgebracht worden, und das Ge-
schäft bildet heute „eine Teilhaberschaft von Arbeiterkonsumvereinen
(die seine Hauptkundschaft stellen), Anteilsbesitzern aufserhalb des
Geschäfts und den Arbeitern selbst''. (H. Vivian, Partnership of
Capital and Labour, London, S. 6.)
Dieser Form nun nähern sich fast alle Produktionsgenossen-
schaften, die dem, mit der Labour Association eng verbundenen Ver-
band der Produktion^^nossenschaftien (.^Cooperative Produktion
Federation") angehören, wenn auch das Verteilungsverhältnis der
Anteilscheine zwischen Vereinen und Individuen und das der Ge-
winne zwischen Kunden und Arbeitern bei ihnen variirt In der
Webereigenossenschaft „S^lf Help" zu Bumley gehören z. B. den
Arbeitern zwei Drittel, in der Genossenschaft Schuh&brik Kettering
ein Drittel der Anteilsscheine. Es giebt Genossenschaften, die den
Kunden eine höhere Dividende einräumen ab den Arbeitern, solche,
die umgekehrt den Arbeitern einen höheren Dividendensatz zahlen,
wie den Kunden, und solche, die auf strikte Gleichheit halten.
*) Ein grofscr Teil davon frühere Arbeiter des Gesch&As. Seh 1877 weiden
an Einaelpersoaen, die nicht Arbeiter des Geschkfts rind, keine Anteile mehr ab-
gegeben. Seit 1889 berechtigt der Antcilsichein, dessen Nennbetrag l ist, nur
mm Besag eines festen Zinssatzes von 5 Procent (bis dahin 7*.'« Proient). Darüber
hinaus erhilt „das Kapital" nichts.
414
Ed. Bernstein,
Aber der Grundsatz, dafs die Käufer, die selbst Genossenschafter
sind, so gut wie die Produzenten zur Teilhaberschaft am (Tcuinn
berechtigt sind, gewinnt immer mehr Hoden und ebenso der Grund-
satz, dals dem ruhenden Kapitalanteil entweder nur ein fester Zins-
satz, aber keine Dividende oder nur Dividende bis zu einer be-
grenzten Höhe (gewöhnlich 7^ .. Prozent) zugewiesen werden soll.
So verleilten für das zweite Halbjahr 1898:
Die Trikotwaren-Genossenschaft zn Leiceater
€ Sh. Pc.
5 F'roicht Dividendi- ;iut ( i. ni>-->rns(-haftsanteile .... 71Q 7 8
4 Pence Dividende an kund<*ii aul da> / verkaufter Ware 497 15 2
4 Penee DiTidende tm Arbeiter auf jedo l Lohn. . . 108 16 4
Die Genossenschaft Schuhfabrik Keitcring
£ Sh. Pc.
aV« PrawBt IHvidende {uAea 5 Proseot festem Zins) an
Genossensdiaflsaaiteile 75 o 9
6 Pence pro ^ DiTidende an Kfinfer 387 4 —
I Sh. 6 Pence pro £ Lohn DiTidende an die Arbeiter . 369 15 —
Die KleiderkonfektionS'Genossenschaft Kettering
£ Sh. Pe.
1V4 DiTidende (neben 5 Prosent Sns) auf Übertragbare
Anteilscheine 41 — 4
4 Pt'nre pro / Dividende .in Käufir ....... 195 l 4
t Sh. pro Lohn DiWdendr an .\rbeiter . . . . • 192 9 —
Es liegt auf der Hand, dafs wenn die an die Käufer zu zahknde
Di\idende nach dem Preis des fertigen Produkts gerechnet wird,
dieselbe Kate bei zwei verschiedenen Produkten ein sehr ver-
schiedenes X'orliältnis vnu faktischer Käuferdividende zu fakti.scher
Arbcitslohndividende ergeben und umgekehrt die gleiche Masse
Dividende verschiedene Raten darstellen mufs. So ist das be-
stimmende Prinzip bei den zwei zuletzt aufgeführten Genossen-
schaften, von der f;iktischen Profitmasse 40 Prozent unter die Arbeiter
und 40 Prozent unter die dividendenberechtigten Käufer zu ver-
teilen, was dann die angegebenen ganz verschiedenen Raten aus-
macht.
Hine ähnliche Wrschredenheit wie hinsichtlich der \'er-
teiluiig der ( \'berschüssc zeigen die Teilhabergenossenschaften mit
Bezug auf die X'crteilung der Rechte in der Verwaltung. So haben
in der Genossenschaft der ( irobsammetarbeitcr \ on Hebden Bridge
die von ihr beschäftigten Arbeiter wohl Stimmrecht für die Wahl
iJiyiiized by Google
Tüm Aibeiliteilliabendwft ia d«r biHiidieii GenoneuMltftftriiewegun^. ^ j ^
des GeschäftsvorsUndes, dürfen ihm aber nicht selbst angehören.
Umgekehrt wählen in der Equity Schuh&brik von Leiceater die
Arbeiter den Geschaftsvorstand aus ihrer Mitte. In anderen Teil-
habergenossenschaften haben die Arbeiter das Recht, eine bestimmte
Anzahl von Vorstand^nitgliedern aus ihrer Mitte zu ernennen.
Die Ursache dieser Verschiedenheiten ist hier und da vor-
ge&lsten Doktrinen, oft aber auch in den Umstanden der Ent-
stehung und Ausbildung der betreffenden Genossenschaften zu
sucrhen. In der Hebden Bridge Genossenschaft ward ursprünglich
last das ganze Genossenschaftskapital von Leuten, die nicht in der
Genossenschaft arbeiteten, bezw. von über ganz England verteilten
Konsumvereinen gestellt, während die Equity Schuh&brik in Leicester
die ersten Jahre &st nur über Kapital verftigte, das die in ihr
thatigen Arbeiter im Verein mit Kollegen von der Schuhmacher-
gewerkschaft angebracht hatten. Produkt eines Konflikts in der
grolsen Schuhfabrik „Wheatsheaf, welche die englische Grofsein-
kaufsgenossenschaft in leicester errichtet hat, fing sie als Produktiv-
genoflsenschaft alten Stils an, um sich nach und nach dem Typus
der Teilhaberproduktionsgenossenschaft zu nähern. Aber ihre Ver-
fiuisung ist noch die alte, und im ganzen mufs dieses Unternehmen
als das Beispiel einer erfolgreichen gewerkschaftlichen Produktiv-
genossenschaft bezeichnet werden, die sich aus winzigen Anfangen
in verhältnismäls^ kurzer Zeit zu einer konkurrenzßUiigen Fabrik
grofseren Stils emporgearbeitet hat Ihr Wachstum veranschaulichen
folgende Zahlen:
Jahr
Mitgliedenahl
Kapital
Umsatz
£
£
18S7
aao
420
2800
1888
304
1430
8600
1889
578
3480
13^74
1890
708
4371
19730
1891
737
4776
25 »34
1892
846
6666
33954
•89.^
925
9009
33373
1894
964
II 502
37077
1895
1 021
16 126
3« 390
1896
1 070
»9595
47 296
Der Rückgang des Proportionsverhältnisses zwischen Umsatz
und Aktienkapital von 7:1 auf 2,4:1 illustriert das Wacbstnm des
fixen Kapitals der Genossenschaft, die heute groise Fabrikräume
L^iyiii^cü Uy Google
4i6
Ed. Bernstein,
mit den modernsten Maschinen eignet. Sie beschäftigt zur Zeit
zwischen 500 tmd 400 Arbeiter aller Grade.
Im ganzen stellt kein Gewerbe so viele Produktionsgenossen>
Schäften wie die Schuh Warenfabrikation. Es wird sogar schon zur
Zelt der Plan eines Syndikats der genossenschaftlichen
Schuhfabriken ernsthaft inbetracht gezogen. Am 15. Juni
dieses Jahres fand in Leicester eine von 13 solcher Fabriken be-
schickte Konferenz statt, die nach Anhören eines Referats über die
Natur und Vorteile der Syndikate den Beschlufs fafste, den Vorstand
des Verbands der Produktionsgenossenschaften mit der Ausarbeitung
des Statuts eines Syndikats zu beauftragen, das elastisch genug sein
soll, den einzelnen Genossenschaften Entscheidungsfreiheit über den
Grad der Benutzung des Syndikats zu belassen.
Nach einer von der Labour Association im Juli 1S9S aufge-
stellten Liste verteilen sich in England und Wales die gewerblichen
Teilhaberschafts*Produktionsgenossenschaften gruppenweise wie folgt:
Es ist jedoch zu bemerken, dafs nur ein Bruchteil dieser Ge-
nossenschaften dem Grofsbetrieb angehören. Eine Anzahl von ihnen
sind recht bescheidene Genossenschaften von Handwerlo^m oder gar
Hausarbeitern, und nur ein Teil dieser letzteren Genossenschaften
zeigt Anzeichen eines nennenswerten Aufschwungs. L^eberhaupt ist,
wie schon bemerkt, die weiter oben angeführte summarische
Statistik der I^bour Association durchaus nicht einwandfrei. Die
groisen Zahlen* sind offenbar nur dadurch zustande gekommen, dafs
auch Unternehmungen lierangezogen wurden, die nur Produktiv-
abteilungen von Konsumvereinen sind. Die Zahl der leistungs-
fähigen selbständigen Produktionsgenossenschaften dürfte mit fünfzig
schon hoch gcgritien sein. Natürlich wird dabei von solchen In-
stituten wie die irischen Molkereigenossenschaften abgesehen, die
auf ein anderes Kapitel der ( ienossenschaftsbewegung gehören.
Indes kommt es, wenn sich einmal herausgestellt hat, dafs Pro-
duktionsgenossenschaften groisen Stils lebensfällig siiul. ni<'lu so sehr
darauf an, in wie grolser Anzahl sie vorhanden sind, als darauf,
unter welchen Umständen sie lebensfähig sind, und ob sie danach
Lederwaren (hanptsicUich Sdiuhwerk) .
Bauarbeit und Holzgewcrbe
Textilgewerbe und Klciderverfertigiing .
Metallgewrrbe
Bucbdnuk .
24
18
17
«5
6
Verschiedene Gewerbe
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Die ArbeittteiUMbenchaft.üi der britiachoi GenosaenKhaftabewegiuig. j^iy
und kraft ihrer Leistungen nennenswerte Bedeutung für die Fort-
bilduc^ der Produktionsformen beanspruchen dürfen.
Hier haben wir zunächst festzuhalten, dafs, wenn auch einzelne
dieser Genossenschaften für den weiteren Markt produzieren, die
Mehrzahl, und obendrein die gro&ten von ihnen, ihren Absatz fast
ausschiiiMsüc h und ihr Kapital zum erheblichen Teil in den Konsum-
vereinen hnden. Man kann daher diese neueren Genossenschaften
als ein Gewächs auf dem Boden der Konsumvereinsbewegung be-
zeichnen und die Frage auch so stellen, ob sie nicht doch mit Bezug
auf diese nur eine parasitäre Erscheinung darstellen.
Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz einfach. Für den
Konsumverein, der z. B. aus der Kcjuity Fabrik in Leicester Schuhe
bezieht, niaj^ sich die Sache scheinbar ganz gut lohnen, er mag
im Durchschnitt am Paar Schuhe dieser Marke soviel oder vielleicht
noch et\va.-> mehr verdienen, wie an solchen irgend einer anderen
Fabrik. Kr wird aber doch der Verlierer sein, wenn der Käufer sie
zu leuer bezahlt und dadurch in seinem Konsum anderer Waren
!:)eeinträchtigt wird. Auf einen ^rol'sen Teil der Konsum\creins-
niiti^lieder wirkt nun der h'abrikatsstempel einer (ienossenschaft
unzweifelliaft als Reizmittel, flas sie beim Kauf beeinflufst, und so
könnte bei dem Umfan;^, den der Konsunnereinsmarkt allmählich
angenommen hat, eine ziemliche Zeit vergehen, bis es sich allge-
mein herausstellt, dafs für das betreffende Produkt ein zu hoher
Preis verlangt wird. Im Falle der Equity I'al)rik i>t eine solche
Ueberteuerung nun nirht anzunehmen, da sie mit zu vielen ( ie-
nossenschaftsschulifabriken zu konkurrieren hat, darunter die beiden,
auf noch \'iel gröfserem Mafsstab produzierenden Schuht iln iken der
Grolseinkaulsgenossenschaft, aber bei anderen Fabrikalionszweigen
ist ein derartiges parasitäres X'crhältnis nicht ausgeschlossen.
Wo es indes nicht stattfindet, wö die genossenschaftliche habrik
wirklicii ihre Erzeugnisse den Konsumenten zum Marktpreis liefert^
da wird die I hatsarhe, dafs sie sozusagen ein sekundäres Organ
des (ienossenschaft.skörpcrs darstellt, ihrem Wert nichts neiimen,
sofern sie nur sonst als ein hOrtschritt gegenüber der bisherigen
Produktionsfortn bezeichnet werden kann.
Ist dies jetlocii der hall?
Es sind da drei ( iesichtspunkte zu berücksichtigen: die mate-
riellen bezw. Kinkoniniensverhältnisse der beschäftigten .Arbeiter,
ihre rechtlichen \ crhältnisse im Unternehmen und die allgemeine
soziale Wirkung desselben.
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418
Ed. Bernttcin,
W'as die Krsieren betrifft, so ist vielfach bestritten worden,
die Produktions^'cnossenschaften einen in^'cndwie nennenswerten
materiellen Vorteil für die in ihnen bcschäfti^ften Arbeiter zur Fol^e
hätten, und es kann in der That nicht ^^elcuf^net werden, dafs in
vielen Fällen die Mehreinnahme der Arbeiter eine sehr geringe
war und durch mancherlei Nachteile erkauft wurde. Aber man
vergleicht dabei gewöhnlich sehr verschieden geartete Unternehmen,
z. B. eine wohleingerichtete kaj)italistische Fabrik mit einer im
mühsanun Aufkommen begriffenen, kapitalarmen (ienossenschaft.
Dafs jedoch bei sonst gleichen Umständen die (ienossenschaft ihrea
Angestellten ein besseres Einkommen muls gewähren können, als
das kapitalistische Unternehmen, versteht sich eigentlich von selbst,
da der Kapitalprofit, bezw. der k^talistische Untemehmergewinn
hier dispcMubel wird. Und diese Gleichheit der Umstiiide ist heute
schon in verschiedenen Fällen da und wird durch die wachsende
Kapitalakkumulation der Genossenschaften immer mehr ermöglicht
Da aber die Profitrate allgemein im Fallen b^ifien ist, so wird
auch die Genossenschaftsdividende eine immer kleinere Rate aus*
machen. Dies namentlich dort, wo den Anteilen ein höherer Zins-
satz vorweg angewiesen wird. Nun erhohen aber eine Genossen-
schaft nach der anderen den Mindestsatz von Anteilen, den der be-
scbäftigte Arbeiter erwerben soll, so dals ein immer gröberer Teil
des KapitaNoses fektisch an diesen zurückfUeTst, wShrend der
andere an Kunden aus der Genossenschaftswelt, d. h. Arbeiter-
konsumvereine geht (Nebenbei sei bemerkt, dals von den Ar-
beitern nicht verlangt wird, die Anteilsschcine durch Bezahlung
zu erwerben, sondern nur, ihre Dividenden oder einen Teil der-
selben solange sich auf Anteilkonto gutschreiben zu lassen, bis die
genügende Zahl von Anteilen — 5, 10 oder 20 angesammelt ist. —
Es ist ferner verschiedentlich (u. a. auch von Frau Webb) be-
hauptet worden, dafs die Produktionsgenossenschaften ihren Arbeitern
in der Regel unternormalc Löhne verrechnen und daher häufig von
den (iewerkschaften L'es|nTrt werden. Unbestritten sind solche
Fälle vorgekonmien, aber sie nehmen mit dem Wachstum der Ge-
nossenschaften ab. Von der iiquity Schuhfabrik sagte der ücneral-
') Allerdings vrrüins<-n die Genosseoscbaften ihr Leihkapital gewöhnlich noch
zu hoch. Es sind aber j^< r:*dc jetzt Si liopfunqen im Wrrk, aucli diesem Uebel abzu-
helfen, l'ehrigens sind die /inscmpfanj,'cr tiirr oft si lbst wieder Arbeiter, die ihre
Ersparuii&c in der Gcnosscubcbafl aU Leihkapital dcpunicrcn.
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I
Die AibdlsteiUuibencbftft in der britiaclien GcnoMeniclwftsbeweginiK. ^ig
Sekretär der Schuhmachergewerkschaft T. Inskip am 25. Februar 1898
vor der Königlichen Arbeitskommission aus:
„Nach flliif Jahren praktischer Erfahnag bin ich der Ansicht, dafs die
auf der Arbeitsteilhaberscbaft beruhende genossenschaftliche Produktion
nfthczu alle Schwierigkeiten zwisclien Kapital und Arbeit beseitigen würde.
„Alle erwachsenen männlichen Arbeiter ider Genossenschaft) sind Mit-
glieder der Gewerkschaft, und doch hat sie in der ganzen Zeit ihres Be-
stehen-» die Gewerkschalt nicht cintn I'fennig gekostet.
Heute legen fast alle Produktionsgenossenschaften ihrer Lohn-
berechnung die Normalsätzc der Gewerkschaften zu gründe, und
wenn die Dividende auch im Durchschnitt selten lO Prozent über-
steigt, so ist sie darum nicht minder reell.
Was die rechtliche Stellung der Arbeiter in der Produktions-
genossenschaft mit .-Xrbeitsteilhaberschaft anbelangt, so liegt es
eigentlich schon in dem Namen ausgedrückt, dafs es sich nur um
ein Recht der Mitbestimmung, nicht um die ausschliefsliche Re-
gierung in der Fabrik handelt. Ks ward schon gezeigt, dafs der
Grad der Mitbestimmung bei den verschiedenen Genossenschaften
wechselt. Im allgemeinen kann das alte Gcnossenschaftsidcal der
„Selbstregierung in der Werkstatt" — the sclf-governing Workshop —
als aufgegeben betrachtet werden. Die Praxis hat seine Unzweck-
mäfsigkeit gelehrt. „Als unsre Vereine", heifst es in einem polemi-
schen Artikel der „l^bour Co-partnership", „unter dem Druck der
Umstände (!) von der Theorie der selljstregierenden Werkstatt teil-
weise zur Teilhaberschaft übergingen und die neue Methode noch nicht
endgültig acreptiert war, traf der (von einem Kritiker erhol)ene) Tadel
vielleicht für die älteren Leute ins Schwarze. Jetzt aber, wo die
Arbeitsteilhaber.schaft unser bestimmtes Ziel i.st und wir zu den
früheren Idealen weder zurückkehren k ö n n e n n och wollen,
.sollten un.scre Kritiker allmählich begreifen, dals sie mit ihren Hin-
weisen auf die „selbstregierenden Werkstätten" in die Luft schlagen"
(„Co-partnership", Januar l89<);.
Damit aber, dafs die Selbstrcgierung der Fabrik durch die ihr
angehörenden .Arbeiter tmd ihr l'ebergang in deren Eigentum prin-
zipiell aufgegeben wird. hTiri incht nur die Schwierigkeit auf, an
welcher die früheren Pruduktivgenosscnschaften scheiterten, wenn
sie nicht an Kapitalmangel zu grinidc gingen — tlas Problem der
Di.sziplin — es wird auch der Tendenz entgegengewirkt, der die
erfolgreichen (ieno.ssen.schaften erlagen, nämlich der Sucht, sieli nach
aufsen hm abzuschlielscn , bezw. die Zulassung neuer Mitglieder zu
Archiv für tos. Geseugebung u. StatUtik. .\IV. 27
uiyiii^üd by Google
420
Ed. Bernstein,
erschweren, sobald das Geschäft Hrtra«;^ abwarf. Der Arbeiter er-
w'irbt eiiRii Rechtstitcl an dem Unternehmen, in dem er arbeitet,
der ^aols ^enu<^ ist, ihm eine gröfsere Sicherheit und Annchmhch-
keit des Arbeitsvci iiältiiisses zu bieten, als er sie in der kapitalisti-
schen i ahrik ^enielst, aber nicht nrrofs <^enug, ihn in Gegensatz zu
den Arbeitern in andern Unternehmungen zu bringen, (ierade der
Umstand, dafs er seinen Anteil an den Ueberschüssen beständig
mit Aufsenstchcndcn teilen muis, ist in dieser Hinsicht ein grosser
Vorzug.
Und damit ist auch drittens die soziale Rückwirkung des Teil-
habcrschaftsprinzijis in der Geno.Nscnschaftsfabrik angezeigt. Wo es
überhaupt in lebensfähigen l'nternehmen durchgeführt wird, muls
es notwentlig den beteiligten Arbeiter heben, aber es führt nicht zu
seiner Ueberhebung. I'!s macht ihn nicht nur nicht zum l'nter-
nehmer, es täuscht ihn auch nicht mit der Illusion, Unternehmer
zu sein. Seine reilhabei>chaft am Unternehmen steht seiner gröfseren
Teilhaberschaft im ( lemeinweseti seines Berufs, seiner Klasse, des
Staats nicht im Wege, l)as 1 eiihaberschaftsprinzip ist wesentlich
ein demokratisches Prinzip.
Aber all das ist noch kein Heweis für die Notwendigkeit und
Zweckmälsigkeit der Errichtung von Teilhaljerscfiaftsgenossenschaften.
Sie würden überflüssig und zweckwidrig sein, weiui das, was durch
sie erreicht werden kann, durch andere Mittel schneller und leichter
für die Allgemeinheit zu erzielen ist. Die Praxis hat gezeigt, dafs
der Aufbau einer Arbeitsteilhaberschafts-(ienossenschaft keine sehr
einfache Sache ist. In vielen (iewerben ist sie erst in kleinen An-
fangen da (so z. B. in der Maschinenbranche), aus einer ganzen
Reihe von Unterneinnungen (die grolsen Transjiortanstalten etc. t ist
sie wegen deren Gröfse ausgeschlossen. Die Demokratie in Staat
und (lemeinde kann dagegen nüt einem Schlage Reformen zur
Heining der Arbeiterklasse durchsetzen, zu deren X'erwirklichung
hunderte und tausende von Genossensciialten nicht ausreichten, und
gut organisierte Gewerkschaften können elurrh eine umsichtige de-
werbepolitik Verbesserungen im (iewerbe erzielen, die in dieser
Allgemeinheit die Teilhabei^enossenschaft ebenfalls nicht durch-
fuhren kann, ao lange sie nicht selbst stark verallgemeinert üst.
Es fragt sich also, ob die Kraft, die auf diese Produktions-
genossenschaften verwendet wird, nicht als vergeudet zu l>etrachtcn
ist, als eine Ablenkung von zweckmäisigerer Reformthätigkeit. Es
ist dies der Gesichtspunkt, unter dem solche Unternehmungen zuletzt
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Die Arbeilsteilliaberschaft in der britischen GeoossenschafUbewegung.
beurteilt sein wollen, denn irgend ein bestimmtes Ziel gestellt, ist
die entscheidende Frage, was fordert und was verzögert die all-
gemeine Erreichung des Ziels. Wenn es gelii^ das allgemeine
Niveau von Millionen um ein noch so kleines Mals zu heben, so
ist das sicher sozial von grolserem Wert, als wenn das Niveau von
ebensoviel Zdintausenden um das zehn- oder zwanzig£ache gehoben
würde — vorausgesetzt, dafs diese Hebung jener im W^fe steht
Das mufs im vorliegenden Falle für die Gegenwart Englands
indes bezweifelt werden. Es fehlt der Demokratie in Staat, Ge-
meinde und Berufs verbänden nicht an Kräften, es fehlt ihr aber viel''
fach an Möglichkeiten des Eingreifens. An der gegebenen Form und
•Struktur der gewerblichen Unternelimungen findet die Gewerkschafts*
politik und ebenso auch die sozialreformatorische Gesetzgebung und
Verwaltung wiederholt Grenzen, über die sie nicht hinaus können.
Die Weiterbildung dieser Formen ist daher eine Vorbedingung der
gesteigerten Thätigkeit jener Kräfte. Staat und Gemeinde können
in den ihnen in iiiinicr ^röfserein Umfange zufallenden Belriebs-
unternehmungen viele Reformen durchführen, aber der Umkreis
dieser Unternehmungen ist bei alledem beschränkt. Ebenso haben
wir gesehen, dafs selbst die grofsen Zentraleinkaufsgenossen-
schaften, diese „Staaten im Staate", sich Beschränkungen hinsicht-
lich der Uebernahme von Produklionsanstalten selbst da auferlegen,
wo es sich um Artikel handelt, für die sie einen fast sicheren Markt
haben. Die erspriefsliche Eigenproduktion dieser grofsen Institute
findet ihre tirenze, wo die Mugüchkeit aufliört, von einer Zentral-
stätte aus die verschiedenen Produktionsinstitute zu leiten oder selbst
nur zu übersehen. Von diesem Punkt ab wird eine stärkere DifTe-
renzierung, bezw. eine VerselbstSndigung der Letzteren uneriäfidich,
statt der zentralistischen die föderative Verbindung. Und iör diese
relative Verselbstandigung oder, von einer anderen Seite her, fOr
den Aufbau eines föderativen Zusammenhanges zwischen Produktions-
und Vertriebsorganisationen scheint die Teilhaberproduktions^
genossenschaft eine geeignete Form. So wenig sie ab eine F^naoee
bezeichnet werden kann, so wenig kann ihre Entwicklung als eine
der Beobachtung unwerte Sache bezeichnet werden.
27«
L iyiii^üd by Google
MISZELLEN
Die Statistik der Unfall- und Krankenversicherung
der Arbeiter in Oesterreich für das Jahr 1896.
Von
Dr. OSKAR ENGLÄNDER,
in Prag.
Im XIL Bande dieaer Zdtschiift Seile 64781 finden sich die
wichtigsten Ergebnisse der Statistik der (fsteneichischen Arbeiterver-
Sicherung ron ihrem Beginn bis snm Jahre 1895 znsammengestdlt. Da-
selbst ist auch alles angegeben, was zum Verständnis der Zittern, not*
wendig ist. Fortab sollen diese Berichte alljährlich fortgesetzt werden.
Um nicht die gleichen Erläuterungen Jahr für Jahr wiederholen zu
miissen, l)eschränke ich mich auf die Mitteilung des Ziffernmaterials und
verweise mit Anmerkungen auf jene Stellen des ersten Berichtes, welche
mit /u berücksichtigen sein werden. Den Ziffern für das Berichtsjahr
, werden die konespondierenden Angaben fOr die beiden voihexgehenden
Jahre beigegeben, um die Vergleichung zu erleichtern. Zeitliche Be-
aeilningen Uber die Entwidüung der Osterreichischen Arbeiterversiche-
rung unterlasse ich in diesen Jahresberichten. Dergleichen Unter-
suchungen werden zweckmäfsigerweise dann zu wiederholen sein, wenn
wieder das Material für eine längere Reihe von Jahren vorliegt
A. Unfallversicherung.
I. Versicherungsbestand
im gewerbliche Imndwiitichaftliche im
Jahre Betriebe Betriebe ganzen
Zahl der versicherten Betriebe am Jahresschlüsse
iSq4 66690 125336 192026
1S95 81 516 »34257 215773
1896 86658 137649 224307
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Oskar Engländer, Unfall- a. Krankenversicherung d. Arbeiter in Oesterreich. 423
im
Cewcrtdidhie
UndwiilsdMftlidw im
Jahre
Betriebe
Betriebe gaiuea
Versicherte Penooen im Uhrctduichschnitte
1894
I 124675
473729 1598404
189s
1 381307
495887 1877194
1S96
147« «75
503369 1974644
lune in Milliflnfii FL a W.
1894
390.9S
3.96 3«4.94
1895
433.33
3.99 437.3«
1896
470i»5
3,84 474^
Unter den Veracherten wuen
Arbeiter
im
Betriebs-
voUcntlohnte
Kind
er
im
Jahre
beamte
männlich
weiblich
männlich
weiblich
gatueo
1894
32530
937453
502 840
108074
17507
1 589404
1895
96707 >)
1 127214
531 »»S
»07 43»
»47^7
I 877 »94
1896
106935 *)
1 «>09S8
544 «43
110529
II609
1974664
Wird das Personal der landwirtschaftlichen Betriebe ausgeschieden,
so waren von je zooo versicherten Arbeitern in gewerblichen Betrieben
Erwachaoie Jagendliche
im Jahre mlimÜHi wdbUch mtimlirh weibUdx
1894 697 »37 54 IS
1895 695 »43 S« «o
1896 717 237 48 8
Die freiwillige UnfaUvenBchening beschränkte sidi 1896 anf 4526
Betliebe und 11682 Personen mit einem Lohnbetrage von 324232 Fl.
Die einschläfrigen Verhältnisse der einzelnen territorialen Versiehe-
ningsanstalten waren 1896 die folgenden:
Versicherte Personen
1896
Zahl der
Aa-
ver>
Be-
Arbeiter
italtn
sicherten
triebs-
voUentlohnte
Kinder
im
inMill.
in
Betriebe
beamte
männl.
weibl.
minnl.
weibl.
ganzen
Fl.o.W.
Wien
34 if>o
7907
242 738
81046
«6553
2469
356713
120,82
Salzburg
17562
I 284
86054
30276
6483
1785
125882
25.04
86825
11655
374970
998 161
«9999
3683
638468
197,36
$8238
6999
19977a
15s 335
56570
9597
417503
Graz
11923
I 3'»
65541
12062
5 «5»
217
84284
22,00
Triest
3399
1037
36 264
10294
2309
657
50561
14,15
Lemberg
12 162
4124
75*56
26714
1 916
271
108281
n.98
Berafi^aa
lonmchal
U. Ammlt d. Mmri
r. EiMii>
38
733«7*)
190333
3755
1547
19895a
9«,90
1914307 106935
1 900998
544643
1 10599
11609
1974644
474.09
*) Hierbei ist das itliidife Penoaal der EiienbaluMia sn den BetiidiAeamten gcrediMt
Digitized by Google
434
Mimlltn
Ueber die Verteilung der Betriebe mit Anwendung von Motoren
nach Unfallversicherungsanstalten, sowie über die Art der verwendeten
Motore erteilen die nachstehenden Uebersichten Auskunft.
Betriebe mit
Anzahl der hierbei
1896
Anvcndunp von
verfügbaren
Aortaltcn in
BfotorcB
Pfcrdekxifte
Wien
ajaoo
156839
13 146
8858a
Plag
«7575
4>3047
Brünn
52079
196 861
Gnu
7584
90557
Triest
1 195
22 576
Lemberg
8165
69205
172944
*
1 037 667
•
Es wurden veiwern
det:
1S95
1896
18975
19356
19764
IS7I
1688
I 826
35012
37489
37027
122 1S8
129939
»33 3t'2
693
968
1417
Dampfkeuel ohne Motore ,
4538
5577
587^«
1039
taoS
Anfiwrdcm: Enengmg vei
i csplodicreoden Stoffen
3084
331*
3067
Uebeffaaapt: Zahl der Betriebe anter Amrendong
159068
168686
172944
910 108
10164x0 I
037667
Nach den wicbtigaten Betriebsgroppen >) gegliedert stellt »ch
der Verncheningsbestand nachAusscheiduDg der LwidwirticlMft folgender-
maften dar:
Ansahl der
Betriebe
1895 1896
Ibw MShlenbetrieb .... 13044 12976
n. EiMababnen .... 74 90
DL Hüttenwerke and deren
Nebenbetriebe . . . 334 39 1
IV. Steine und Krden . . 13590 14440
V. Metallverarbeitung . . 2341 2465
') Vgl. in dieiem Archiv XU. Bd. S. 653 f.
Versicherte LohBianune in
Penoocn Min. Fl. ö.MT.
189s
1896
1895
1896
«774«
37161
5.98
5.»
17a 695
904305
89i99
95>44
29026
31926
»3.SO
15.47
149356
»55567
34,65
37,4»
62755
65105
»4.70
26,78
Digitized by Google
Oskar Englander, UnfaU- u. KraakciNvviicbcniiig d. ArbeHcr in Oesterreich.
Anzahl der Versicherte Lohnsummc in
Betriebe Pcnooca MilLFL&W.
1095
I09D
1095
1095
VI. MMchincn, Werioenge,
Apparate, Instmmeille .
1431
1471
73955
79307
36,38
40,29
Vll.
Chemische Industrie
704
19215
19749
6,60
6,85
VDL
Heiz- und I.>ucbtstoffr,
Ocle , Beheizung und
Beleucbtong ....
84s
893
143»8
«5364
6,28
6,86
IX. TcxHUiidiittrie . . .
«74S
2810
265 248
266976
68.34
7 »,03
X.
Papier, Leder o. Gummi
1516
1533
51 170
52290
16^
17.43
XL Hob- md Sclinitnlaire
7947
8S67
58707
62630
14,87
15,85
Xn. Nahningi> und Gcotift-
mittel
4526
4568
135005
136239
38-52
40,74
XIII.
Brkleidg. u. Reinigong
570
605
23240
24863
7,51
8,03
XIV. Baugewerbe ....
17 696
18999
227059
246697
44-22
53.49
XV. Polygraph. Gewerbe .
482
501
19041
20020
10,03
10,71
TranipotiHHeindimg.
au> chlielfL d. Eisen-
bahiiml n. Baggereien
S014
8606
29567
32896
10,24
11,24
XVI
Strafsenreinigungsunler»
nehmangen, Untemeh-
nninnen »tr Instand -
hallung von Bauten ;
BcmftfenerwebreD . .
1337
1437
4038
4008
I.I9
I.ll
Thcatefwiteiiidiingii. .
58
5«
4354
4536
«.59
1.77
Waradagcfbcftriebe .
1096
1587
757«
100S4
a.47
3.5S
im ganaen
784S1
8s 403
137406s
I4S9S9S
433,33
469,93
Unter Berücksichtigung der thatsac hliclu-n Arbeitszeit der einzelnen
Betriebe berechnet sich danach für eine 300 ugige Beobachtung die
Amdü der
Vulliirbt iicr ' \ in
im
gewrrblichrn
landwirlMThaftlicben
sämtlichen
Jahre
Betrieben
Betrieben
Betrieben
1894
9Ö2577
27 110
989957
1895
I 189148
27583
1216731
1876
1257550
258B3
t 383433
Die Zahlen über die Vollarbeiter sind es, welche sowohl der I^hn*
Statistik als auch der Berechnung der Unfallgefahr zu Grunde Hegen.
') Vgl a. a. U. XU. Bd. S. 657.
L iyiii^üd by Google
426
TL Lohnstatistik.
Durchschnittlicher, bei der Berechaung des Versicheruogsbeitrags angerechneter
tiglicher Arbeitsverdienst eines Verndieiten (in FL 9. W.)
Betriebsgruppen 1891 1892 1893 1894 1895 iS'y>
Ib. Mühlenbetrieb 0,84 0,84 0,87 0,9 J 0,95 0,94
Tl. Eisenbahnen 1,59 1,67 l,6o 1,69 1,83 1,86
HL Hüttenwerke und deren
Nebenbetriebe 1,57 1,60 l,6l I,6l 1,66 1,64
IV. Steine und Erden , . . 0^96 0^99 1,05 I.IJ 1,13 1,14
V. MetallTcnriieitiae . . . 1,31 1,34 1,39 1,4a 1,38 1,44
VL Maschinen, Wericzenge, In-
stmmente, Apparate. . . 1,69 1,67 1,70 1,73 1,68 1,75
Vn. awmiadie üidastrie . . . 0,99 tjm ifls 1,09 1,13 1,14
VUL Heia- n. Lenchtstofle, Ode,
Bdieiaiuig tmd Belcuchtimg 1,30 1,38 1,38 1,44 147 1,47
DC Textilindustrie 0,84 0,86 0,86 0,88 0^90 0^93
X. Papier, Lcder and Gummi 0,98 0,99 1^2 1^ 1,13
XL Hoia- and Sdudtistoffe . 0,91 0^96 0,99 1,08 1^ 1,06
Xn. Nahrangs* u. Gennfsmittel 0,81 o39 0,9s 0,94 0,98
XnL Bekleidung und Rcinigu^ 0,95 ifi9 ijog 1,11 t,i3 1,14
XIV. Bangewerbe 1,03 I.00 1,06 i,to 1,14 i,t6
XV. Polygraphische Gewerbe . 1,54 1,65 1,73 1,73 1,75 1,80
DorchschnittUch 1,03 1,06 1,09 1,11 i,si 1,24')
UnfaUversicberungaanstalten
Wien 1,31 1,39 1,43 1.47 1,5« «»5«
Salzburg 1,19 1,14 1,12 1,12 1,09 1,15
Praj: 0,94 0,95 0.98 0,98 0,99 1,04
Brünn 0,86 0,93 0,92 0,95 0,97 0,98
Graz 1,14 1,13 1,16 1,18 1,19 1,21
tkiest I.0I 1,09 i.os 1,07 1,11 1,12
Lemberg 0,6$ 0^67 0^71 0,73 0,71 0^74
Eisenbahnen 1,37 1,66 1,67 1,69 1^3 1*84
im ganien i/>3 1^6 1^09 Ml l^l 1,34
>) Vgt a. a. O. Xn. Bd. S. 658 f.
.*) Darunter die aufolge des Ausdehnungsgesetaes dnbeaogenen BetriebiartcB
mit folgenden Durdtschnittslöhnen: Traasportuntemehmungen (anwcMieftlich der
Eisenbahnen) und Baggereien 1,23, Strafsenreinigung, Instandhaltung von Bauten,
Berafsfeocrweliren 1,07, Theateruntemebmungen 1,57, Warenlagerbetriebe 1,34 Gulden.
Digitized by Google
OskarEngländer, Unfall» u. Krankenversicherung d. Arbeiter in Oesterreich. 42jr
m. Unfälle. Es worden eistattet
im UnfiOb.
Jahn mdfeii*)
1894 40259
1895 54$**
1896 646SS
•«f je 10000
VoUarbeiter
406.7
503.«
Nadi der Entschädigungspflicht gliedern sich diese Zahlen folgender-
Unftlle, die olme RnfiriilHigmig blieben
im
Jahie
Entsch&-
dignngs-
fälle
UiifSlle,
die keine
Entachi«
digung
begrün-
deten
weil die Er-
werbsunfähig-
keit weniger
als 4 Wochen
dauerte
weil der
Unfall sich
nicht beim
Betriebe
ereignete
weil der Be-
trieb nicht
pflichtig und
nicht freiwillig
▼ersichert war
ans
sonstigen
Gründen
1894 12552 27707
26077
854 182
594
1895 16395 3SI67
355»!
1541 318
797
1896 18544 46111
4*392
1 906 131
1 692
Unter den zu entschädigenden
UnfiÜlen hatten zur Folge:
danerade vorflbergehende '^j
im Jahre
Tod
Erwerbsonföhigkeit
1894
670
3701 8181
«895
4924 lo6j6
1896
939
$399 13316
Es entfielen demnach auf je loeoo versicherte VoUarbeiter
dauernde vorttbergebende
im Jahre
Tod
Erwerbsunfähigkeit
1894
6.8
37,4 8a,s
i«9$
6,8
40.S 87.4
1896
7.a
43,1 95.3
Fntschädi-
gungsfälle
flberliaupt
116.8
I34t7
144.S
Unßllf. die kfinp
Entschädigung
b^^rilndetflB
«79.9
3«3.7
357.3
Der gesteigerten Zahl der Unfallsanzeigen entsprechend haben auch
die Klagen bei den Schiedsgerichten'') erheblich zugenommen.
1896 wurden deren 2 26S eingebracht, darunter 936 wegen Ablehnung
der Entschädigung.
*) Vgi «. a. O. Xn. Bd. & 69a.
") Jedoch von mehr als 4 Wochen.
VgL a. a. O. Xn. Bd. S. 663.
Digitized by Google
438
MisKUen.
Ueber die Verteilung der Unfälle des Jahres 1896 auf die einzelnen
Versicherungsanstalten erteilt die nachstehende Uebersicht Auskunft
■ nfallsfol^t Vi
AllBVliICCn
t/BHUJI*
£m cimciiMii|gcmic
• 1 fhende
•
u
anwigen
UnfiÜle
EnrcrbMmlthic^it
Wien
34546
51*4
3018
1984
18a
Salsbnrg
3008
913
576
286
51
Prag
12896
5230
342«
I56I
948
BrUnn
10523
2646
I 735
801
110
Graz
3282
1003
673
289
41
Tri est
1855
667
488
25
Lemberg
1765
903
648
14»
H4
Eisenbftbnen
77«o
1998
1657
183
158
in guuMn
64655
18544
12 216
5399
929
Auf je zoooo versicherte VoUarbeiter:
(te£üIsfulgcD
Anitalten
Unialb.
Zb cnticbadigende vo
rttbogtlMnde
dauernde
in
anzeigen
UnflUe
Enrerbsonfthigkeit
lon
Wien
928,6
196,1
114,3
75,1
6^
Salzburg
«75,4
79,0
39^
7,0
Prag
312,8
ia6,9
83,0
37,9
6^
Brttnn
508,1
"7,7
83,8
38»6
S.3
Graz
540,7
165,2
110,9
47,6
6b7
Trirst
440,5
158,4
115,9
36,6
5.9
Lemberg
305,3
1 56.2
1 12,1
»4,4
19,7
Eisenbahnen
465,9
119,2
98.6
11,0
9,5
im ganzen
503,8
144,5
95,2
4a,i
7.»
Die Unfallsgefahr in den einzelnen Betriebsgruppen war die folgende:
Personen, welche von einem eine Entschädigung begründenden Unfälle
betroffen worden lind.
Von je lOOOO
AI IM
i)lutc /a
hlen
Vollarlicitcm
Betriebtgrnppen
1894
189s
1896
1894
1895
1896
I. Land- v. forstwirtachaftt.
Betriebe nnd Mahlmflhlen
804
901
876
164,8
«85,7
t87,ß
456
1 91a
ao79
185,1
116,9
tai,5
ID. Hiittrnwrrkr und deren
Ncbfiibctriebe ....
680
813
876
288,5
301,2
279,3
IV. Steine und I >(1, n . . .
1 106
I 391
1 640
102,6
125,6
"37.0
V. Metallverarbeitung . . .
773
793
953
139,9
133,7
153,6
Digitized by Google
OskarEnglSnder, Unfall- n. KnuikfiiTenlchennig d. Arbeiter m Ocsterreieb. ^29
Von
je 10000
Absolute Zahlen
Vollarbcitem
Betriebsgruppen
1894
1895
1896
1894
1895
1896
VI. Maschinen, \Vrrkz*Migc, In»
1 628
I 628
I 844
231.4
226.8
Vn ("^hemische Industrie
172
#
201
87.5
88,3
1
VIII Heiz- u Leuchtstoffe Ocle
Beheizung n. Bdenchtun?
179
170
133>I
146,2
"DL TextflindiHtrie . . .
1 055
1 186
1 a49
43,9
45i6
48,5
X. Psnier. Leder u. Gummi
438
483
8M
94,6
iii|6
XL Höl^ tmd SdmitBtolk .
1053
1341
1390
«87.4
«79*3
Xn. Nabnmgi- v. Gcnalnkittel
1 tSo
I 283
1399
«9,4
97,9
ioa,7
XnL Bekleidung o. Reinigiing
69
«5
61
33i5
38,1
a6,3
XIV. Baugewerbe
2879
3431
4009
«44,9
264,2
a6Q,3
XV. Poly^aphische Gewerbe
80
91
96
43,8
48,2
48.3
XVI. Neu einbezogene Betriebe
816
I 02g
172,5
221.3
zusammen
12552
16395
18511
126,8
U4,7
»44.4
Die ZaU der UnfiUle ist nach Alter und GcacUedit venchieden,
wie es der verschiedenen Art der Verwendung der betreffenden Personen
eDtq>richt Es entfielen eine Entschädigung begründende UnMe auf
je 10000
erwachsene jugendliche
im mSmilichc weibliche minnliche weibliche
Jahre Personen Personen
1894 »40 30 84 75
1895 152 33 106 III
1896 t6i 36 103 129
Ziehen wir die Art der Unfälle in Betracht, so entfielen auf je
10000 männliche, beziehungsweise weibliche Personen Unfälle, welche
zur Folge hatten
iwiimMdie wcifalidb«
Personen
Tod 8,3 (7,9) 1*0 (0,9)
dauernde ErwerbnmllUc^Bett . . 44,9 (42,9) 12,9 (13,7)
vorübergehende 105^ (98,2) 24,8 (21,3)
Gehen wir nun sur Darstellung der Folgen der UnfUle übeihaupt
fiber, so zogen von je 100 Unffillen nach sich
im vorBber;gebende dauernde
Jahre Enrerbmmflhigkeit Tod
»894 «5.« »9,5 5,3
1895 64,9 30,0 5,1
1896 65,9 29,1 5,0
L^iyiii^uü Uy Google
430 AGstellen.
ifln letiigeiiAiiiiteB Jahre bei den einselnen Anstalten
▼orflberfdicnde
dauernde
In
ErweriMonflUiigkeU
lOu
Wien
SM
3<,3
3,S
Sdsborg
63.1
31,3
5,6
Prag
65.4
4,7
Brtbui
«5,«
30,3
4,1
Gras
67,1
«8,8
4.1
Tricat
73,«
«3,1
3.7
Lembeif
71,«
15,6
i».6
Eiwtnhnlme)
9,a
7,9
Ende 1896 standen 28 11 Personen im Bezüge einer Heflvcrfahren-
rente. Im Laufe des Jahres 1896 sind 16623 Personen in das Heil-
verfahren eingetreten und 16 176 aus demselben ausgetreten.
Von je 100 der letzteren haben — von der vierw<>chentUchen
Karenzzeit aagesehen — die Heüverfahrensrente bezogen
dnith Wochen
■
0—2 4 4 — 9 9 — 16 16—34 *4 — 48 über 48
32,0 18,6 22,2 13,6 5,3 5,1 3,2
Bei 53,9 Fn»enten dieser Personen endete das Heüvetfthren mit
gänzlidier Herrtellung und bei 0,6 Procent mit Tod, bei s 1,6 Fkocent
hinterblieb voraussiclididi votfibergebende ErwerbsunfUhigkett tud bei
33,9 Prozent voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit.
Ueber den Grad der Invalidität der dauernd Rrwerbstinßihigen,
von welchem das Ausmafs der UnfaUsrente abhängt, erteilt die nach-
stehende Uebersicht Auskunft:
Grad der EnretbMmfSbigkeit im gmien
im weniger meiir
Jahn o— «/. • % » .— % * % als halbe Invaliditit
der vollen Erwerbwinfthigkeit
Ansahl der Vernnglftckten
1894
assi
53t 357 376 116
305a
649
1895
3252
695 378 396 ao3
3 947
977
1896
3019
817 346 417 200
5 399
930
Auf je 10000 versicherte Vollarbeiter
1894
25.5
5-3 2,6 2,8 1,2
30,8
6,6
1895
26,7
5.7 31 3.2 1,7
32,4
«,0
1896
38,2
6,4 2,7 3,2 1,6
34.6
7,5
üiyiiized by Google
Oskar Engliader, Uniiütii. Knakoivciadicniigd. Arbeiter m 4^1
Unter je 100 InvaliditätsßtUen waren demnach Mddie, in denen die
Erwerbifiüiigkeit beeintiJlchtigt war am
im
•!!•-*/. */«-»/.
Jahre
der volleB ErwetbiflUii^eit
TM
14,3 6.S 6^
«.9
•«95
66.t
«4.« 7.7
4.1
1896
67,0
1S.> 6.4 7.7
3.S
Auf je 100 tödlich verunglückte Personen entiit-len im Gesamt-
durchschnitt 61 (58, 60) Witwen, 107 io5, 1231 Kinder unter 15 Jahren
und 7 (9, 10) anspruchsberechtif,'te .\.szcndenteii.
Die Art der Verletzungen, welche durch die Unfälle verursacht wurden,
eigiebt sich aus nachstehender Tabelle:
VoD je 100 eine Firticihidigiing begründenden UnfiUlen
katten
zur Folge
•
i«94
1895
1S96
VcrletiiiBCc& von Kopf und Getickt, eskkinve Augen. . .
3.7
4.1
4.»
5.1
4.6
S.<
16.7
15.3
15,6
3M
29,6
29,1
»5.1
»7.7
26,8
„ „ anderen oder mdueica Körpertdlea ngjlekk
13.9
14.9
>5.3
3.4
3.0
».9
0.4
0.3
0,2
0,1
0,1
0,2
0.4
OA
0,6
Ziehen wir die Veranlassungen der Unfälle in Betracht, so hatten
von je 100 eine Entschädigung begründenden Unßillen die neben-
bezeichnete Ursache in den Jahren
1894 1895 1896
Motoren l,o 0,9 0,8
Transmissionen 3*9 3.' ».9
A rbeiUmay hinen 24,0 20,1 18,8
Fakrttttkle, Anftllge, Kndme und Hebeaenge 1,9 1,3 1,4
Dampfkessel, Dampncitingcn und Dampfkockapparate (Ea«
plosion und anderes) 0,2 0,1 0,2
EaplorioB von Sprengstoffen (PnlTer, Dynamit n. s. w.) . . 0,5 0,5 0,5
Fenergeflkrlichr, giftige, keifse und Ittcnde Stoffe 11. s. w.,
Gase und Dämpfe n. s. w. 5,7 4.9 4.5
Digitized by Google
I
I
MitzeUen.
••9»
floe
ZosMninMibnicbt Henb« and UmAUcn von Gegeutindcn
19,0
«7f9
Fall Toa Ltttern, GtrOitcD, Stt^en, in Vertiefugtn «. t. w.
«$•7
«5.5
8.4
9a
«,T
Fahren und Reitan, Ueberfthren, Schlag, Bib von Tieren n. s. w.
5*4
SA
6.5
Gebtanch von Handwerksieng und einfachen Getiten . . .
7»«
6.5
5.7
5.3
6.9
».»
9.3
7.S
IV. Rentner nnd Entschädigangen
Rentner mdi
Geeamtbetrag der im Jahrubetrag der anf
im
Unflllen des
Rechnangsjahre ang
e- einen Rentner d«r^
Jaiure
Rechnangs-
fallcnen Renten
schnitt! ■ entfallenden
jahres')
FL ö. W.
Rente in FL ö. W.
1894
4987
• 336871
67.55
1895
5087
404528
79.5«
1896
6471
S4SOIO
84,aa
Die in
den einzelnen
Jahren ant^efallenen
Renten verteilen sich
folgendennafsen auf die einzelnen Kategorieen von Bezugsberechtigten :
danemd Erwcrfawmfthif«
im Jabre gänslich teilweise Witwen Kinder Aszendenten im ganzen
Zahl der Rentner
1894
116
3585
401
821
64
. 4<«7
189s
234
3294
5«5
957
67
5087
1896
365*
4*5*
618
1 131
93
«471
£s beträgt der
Jahresbetrag der auf einen Rentner durchsdmittlich entfiülenden Rente FL ö. W.
bei den
dauernd Erwerbsoufahigen
im Jahre ginslicb teilweise Witwen Kindern Asaendenten im ganien
1894 »5,96 69»o6 67,82 42,78 48,06 67,55
189s 230,65 88,09 79.36 Si.aS 46,87 79.5*
1896 256,99 77,25 87.98 53.71 70,61 84.82
«) VgL XIL Bd. S. 67a.
üiyiiizea by CjüOgle
UskarEngläoder, Lniall- u. Krankenversicbcruag d. Arbeiter in Oesterreich,
Ueber den Grad der Enrerbsunfthigkeit erteilt nachstehende Ueber-
sicht Auskunft:
Zahl der DnrcIucbnUt des
Jahrcsb<-tragcs
1896
dauernde
einer
Rente
Voraussichtlich
ilanerad
Renten zu-
Iii
in 0. ii^c
111 Q UCs
Erwerbsunfähige :
eikannt
w luden
vi,
ö. w.
Arbeits-
verdst.
Grad der Er-
wrrb>unnihig-
keit in Bruch-
teilen der vollen
ErweibsfUIg«
keit
•;.-•/.
*/•-*/.
II
1623
713
366
552
365
44,83
"»3.53
»43i75
153.26
256,99
11,60
a«,33
38.91
48,81
66,05
zusammen
4 619
91.45
24,50
628
87.98
20,6ä
I 13«
53,71
Aawadentea .
93
70.91
nt). I i)
im gimea
6471
84.2a
aa,03
Die Steigerung der Kenten hat auch im Jahre 1896 angehalten.
Was insbesondere das Verhältnis der lerritorialeo Anstalten zu der berufs-
genoasenschaftUchen Anstalt der (toteneichiscihen Eisenbahnen anbelangt,
serbetrug:
die Zahl der Dorchächnitttbetrag einer
der Jahreireoke
Rentner in FL ö. W. in % d. Verdienstet
hei dt-n t^rritorialon Anstalten . 5914 7S»'* (75'70 20,22 f20.38l
bei der Anstalt der Eisenbaltnen . 557 i8i,oo ^131,13) 36,4a (28,43)
Die Steigerung ist also auch fttr das Jahr 1896 nur auf die höheren
Renten bei der Anstalt der Eisenbahnen zurückzuführen.
Ztt Ende der ndkcabeaeidineten Jahre ttandcn im GenvMe daacnder Renten
Reehanagi-
Zahl der
Jahreabetng
Dorchschnittsbetnf
jahre
Penoncn
derReiiteninFLö.W.
einer Rente FL
««94
IS 267
960790
78.3»
1895
16627
1 306376
7«.57
1896
aai5i
1845387
83.30
speziell 1 896
dauernd gänzl. Erwerbsunfähige
1 1 16
«5' 378
225,25
„ teilweise „
13S11
I 159388
83.95
Witwen
«5»7
196272
77,98
Kinder
43*5
216883
50,15
38a
21366
55,93
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434
IfiucUeB.
V. Rechnungsabschlüsse.
Es betragen bei sämtlichen Versicherangsanstalten
im Jahre die Einnahmen die Ausgaben der Abgang
■894 sjtt^at^ 6698630 979S01
1^5 7S6i76a 7429314 867453
1896 8480964 11843975 * 3363011
Hatten die Versicherungsanstalten bereits in den Vorjahren an einem
Gebarungsdefizit zu leiden, so ist dasselbe im Berichtsjahre in l>esonders
auffalliger Weise zu Tage getreten. Dies zeigt sich bei der Mehzzahl
der Anstalten.
Mit einem Uebcrsrhufs schlössen ah die Anstalten in Salzburg mit
1521 Fl. (gegen 95 707 Fl. im Vorjahrcj, Brünn mit 22501 (8554) und
Graz 52143 (gegen einen Abgang von 11 0505). Dagegen wiesen einen
Abgang in der Jahresgebarung aus die in Wien mit 941 491 (gegen
183837 im Vorjahre)» Prag mit 2316998 (gegim 650544), Triest mit
36069 (gegen einen Ueberschuls von 33 537 im Jahre 95) und Lemberg
mit 143 619 FL (gegen 79364 Fl ).
Durch die Summierung der Jahresdefizite ist der unbedeckte Ab-
.gang angewachsen auf
im
Proaentc der
Jahre
F1.Ö.W.
Drckangikapitalien
1894
1704637
lOA
1895
3581508
1896
5910919
19.9
Was die wichtigsten Einnaluneposten betrifft, so betrugen
Versicheningt« Zinsen <lcr
im- beitiige Deckungakapitalien
Jahre ¥\. ö. W.
1894 4 7'Q539 4«.'; 355
1895 6901 156 586 177
»896 7 557 3»? 740*135
Die wichtigsten Ausgaben waren
Rfiddagen sn den
im Entflchldigangs- Deckimgskapitalien und Gesamte Ver>
Jahre Iciitnngcn Schadenreienren «altaagmnsbfCB
in Fl. o. W.
1K94 1691199 4005607 67SS95
1895 2250309 5372970 753 335
i«96 ii534'9 7806696 813758
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Oikar EagUnder, ünftiH« 11. Kiankeavcfiichitrung 4. Arbeiter in Oeitengi^
Setzt man die in den einzelnen Jahren ausgezahlten Entschadigungea
in Beziehung einerseits zur Lohnsumme, andrerseits zu den Beiträgen, so
erliält man folgende Verhältniszahlen.
im in Prozenten in Permillen
Jahre der BcitiSge der LohaamauBe
1894 35i3 5t«>
1895 3a.7 5.17
1896 41.7 6,6$
Die \'er\valtungsauslagen setzen sich zusammen aus
ttafiÜilerbebuiigsko:>ten 129976 Fl. (gegen 110379 im Vorjahre)
ScUedageritihlakoatcn 3S843 ( •• 22423 „ „ )
lanfenden VeiwahimgaBiialagen . . . 630039 „ ( „ 599603 „ „ )
Die Unfallerhebungskosten per Unfall betrugen 7 Fl 01 Kr. (gegen
6 Fl. 74, 6 Fl. 84 Kr. in den N orjahren).
fis betrugen die
Verwalt angsau ilagen
in Frmentcn der
im
in PenniUen
Vcrricheroig«- Ei
■tsdildigaoga*
Jahre
der Lohimmme
bdtrige
lejatangai')
1894
3,09
14.2
40
1895
1,7«
10^9
33
1896
1,7»
10,8
36
Was die BOanxen der Versicherungsanstalten betrifit, so waren die
wichtigsten Posten auf der Passivseite
Deckangs- Eatiehidigimgt- Zuaammew Gesamte
im kapitdien rc!.rrvf- Rucklagen Paaaiven
Jahre in Tausenden FL ö. \V.
1894 11574 5052 16626
1895 15507 6492 21999 22803
1896 20976 8706 29682 30838
Unter den Aktiven sind besonders hervorzuheben
Wertpapiere .... 14546474 FL
Realititen i 149 519 „
Hypothekardarleh«"!! . . 3 394067 „
Beitragsfordeninpfn . . 5062441 „
Eine Anstalt hat einen Ueberschufs der .\ktiva über die Passiva:
Brünn mit 22 501 Fl. Die übrigen haben zusammen einen unbedeckten
Abgang von 5 910 019.
') VrI. a. a. ( ». XU. Bd. S. 677.
Archiv für Mt. Gesetzgobunc 0. Sutiatik XIV. ^8
L iyiii^üd by Google
Mindlen.
Der gemeinsame Reservefonds betrug 3390g M. (gegen 68759
Vorjahre). Zuschüsse wurden daraus geleistet: für Prag 5oooo Fl. and
Lemberg 6000 Fl.
B. Krankenvmiehening.
Thätig waren im Jahre 1896 überhaupt 2929 (2942) Kranken-
lussen, von denen 8 (27) keine brauchbaren Nachweisungen lieierten.
Von diesen Kassen hatten 2916 ganzjährige Funktionsdauer.
Nach der Art der Kassen gab es:
im
Btmk»-
Betriebs-
Bau- GnowenichaA«-
Vereins-
im guH
Jahre
KrankenkMMit
1894
557
i 41 1
9 833
105
2915
1895
561
»395
4 «4»
113
2915
1896
566
1382
7 844
isa
2921
Demnach sind von je 100 Kassen
im Bezirks- Betriebs- odt r Hau- ( i' nossenschafts- V'ereins-
Jahre Krankenkassen
1894 :9,l 48,7 28,6 3,6
1895 19.2 48,0 28,9 3,9
1896 19,4 47.5 «8,9 4,»
Fassen wir die Zahl der Mitglieder ins Auge, so betrug diese
im Bexirks» Betriebs- Hau- ('i<-nossenscbafts- Vereins. Krankenkassen
Jahre Krankenkas^»<"n überhaupt
1894 74<'S35 549494 3479 326900 320277 1040985
1895 814259 504869 347 341058 345902 2066435
1896 880784 586496 1545 357 »79 362036 2188010
Die jälirliche Zunahme beträgt
im an Kassen an Mitgliedern
Jahre absolut in Pruzenten ab>>ilut in I'roxenten
1894 39 14 100942 5,5
1895 — — 125450 6,5
1896 6 0,2 121 575 5,9
Von je 100 Mitgliedern sind versichert bei
im Bezirks- Betriebs« and Bau- GenoMenschafts- Vcreim*
"^-^——1 . II ■ '
Jahre Krankenkassen
«894 38.2 28,5 16,8 .16,5
»895 39.4 27.4 >6,5 16,7
1896 40,2 26,9 16,3 16,6
uiyiii^üd by Google
Bei den einzebien Kiaenarten betraft der dorchichiutlliche Stand
der Mitgliedschaft
im BcsiriB* Betriebs* Bau- GenoMcnickafts* Vereins«') KnuBkcnkaticn
Jaiire Krudcadpuscn flbcriiMi|it
1894
1332
39i
435
404
3140
674
1895
U59
408
87
410
3061
7J5
1896
1567
434
434
304a
7S0
Ueber die territoriale Verteflung der eintdnen Kasienarten giebt
folgende Tabelle Auskunft:
Von je 100 Mitglicdcm sind bei
Anzahl
Mitglieder
Betriebs- Genossen-
Ver-
1896
der Kj
Bezirks-
u. Bau- Schafts»
Linder
Krankenkassen
Wien
104
4^678
a7,S
3.9
43i^
se,!
Nicderöeterr. (ohne Wien)
Sil
14s 837
43i7
26,3
10^9
>9il
ObcriMciTcidi ....
SO9
71411
35.7
IS.I
S3.9
3>.3
39
16966
37.«
11.S
SI,S
S9.8
IS5
iiS56a
354
11.3
7.4
45.9
47
S47S6
46.9
".7
1,8
39.6
4«
so 232
68,0
s6^i
1.3
4.6
4«
66080
67,9
13.9
>>3
«5.9
Tirol und Vonurlbcrg . .
165
69944
47.5
S4.0
■3.7
i4tS
1 17s
6534*3
49.4
3i>5
ro,5
«.6
407
239821
3«.»
35.9
"N7
16,6
160
7« 754
33.3
35.6
ia.4
18,8
Galiiien
»35
106086
7M
13.«
7J
0.3
24
10596
68,8
19.S
13^
Dalniaticii
6
5*3«
100
Eisenbahn- und Dampf-
28
146096
100
Es entfielen im Jahre
auf die Griifsenkategpriecn
mit Mitgliedein Kassen
mit Mitgliedern
1
bis 300
(24)
3143 (3 437)
n
201—500
154 (169)
54636 (38
597)
III
s;oi 1000
'45
('53)
105319 (113
296)
IV
1000 — 5000
223 (197)
413253 (370 120)
V
ttber 5000
SO
(18)
304403 (208 259)
*) Vgl. a. a. O. Bd. XU S. 68a
38* '
L lyiii^üd by Google
438
MineUen.
Von je ZOO BearlcBkrankenlMasen gehören den nebenbeieichneten
Gidfienkategorieen an
1804
1896
r
5i74
4i"
4»*4
n
ti.as
10.12
m
•7»*/
9C fis
TV
35»
39i4"
V
w
3,«i
3i53
Dichüg-
Zuaalime bexw.
Anzahl der
1895
1896
Abnahme der
kftte-
MitgUeder
Anzahl
der
Mitglieder
foiiccn
«nf I qkm
Kasaea Mitglieder
Kassen
Mitglieder absolut in Proc.
I
weniger ab 1
13« 73507
137
79679 +6172 -+-8^
n
«—5
300 281429
293
275406 — 6032 — 2,1
m
5-50
100 217936
1 1 1
365106 4-47170 -1-21.5
IV
über 50
33 241387
23
260563 4-19176 -H 7.»
Vergleicht man das Verhältnis von Bezirks- und Genossenachafis-
kassen, so entfallen
Gröfsenkategorieen
von je 100
Benrks- Genossenschafts-
Kjrankenkas!ien
I
4.24
66,35
11
27,21
20,02
m
25,62
6,40
IV
39,40
6,04
V
3.53
i,»9
Was das Verhältnis der Geschlechter anlangt, so waren
Besiiks-
von je 1000 mtgliedem der
Betriebs* Bau- Genossenschafts- Vereins-
im
Jahre m.
1 894 S44
1895 841
1896 838
kassen
flberbanpt
w.
156
162
m.
688
tn) I
696
3>2
300
304
m.
988
9S6
94»
12
«4
59
m.
815
809
790
185 743
191 743
2tO 741
257 770 22t
257 778 222
a59 776 224
Bei den Schiedsgerichten der Krankenkassen wurden 1364 (gegen
1686) Klagen erhoben. Von diesen wurden erledigt: durch Rack*
Ziehung 29 (87), Klaglosstellung 44 (195). Vergleich 85 (218), Ab-
weisung des Klägers 670(565), Stattgebung der Klage 485 (5 14). Un-
Crledi^jt blie!)cn 51 Klapen.
Auf 10000 Mitglieder entfielen 6,2 (8,2) Klagen.
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Otkftr Engliader, Uafidl- a. Krukeiivenicbcrung d. Arbeiter in Oesterreich,
n. Monatliche Schwankungen des Mitgliedstandes.
Wird die MügUedaM am i. Januar eines jeden Jahfts gleich xooo
gestellt, so betragt der Stand der Mitglieder:
1894
i«9$
1896
ff TttVMMlV
!• Jalliilu
1 vww
1 UDO
I ODO
ff V^lum« V
I« rCWlMu
990
99»
994
1 • JVIBIZ
I wwD
I 000
ff #«ff k
I OlZ ■
I . April
I 064
I 040
1 079
I. Mai
1 127
I I 1 2
1 147
I. Juni
1 11^8
1 160
I IS2
I. Juli
1 177
X 174
1 198
I. August
1 18s
I »74
1 198
1. September
I 176
I168
1186
1. Oktober
1175
1164
II74
I. November
1 150
1146.
iiSi
1. Dcwmber
I 183
1 100
1 109
31. Deicmber
1073
1041
losa
Bei den einzelnen Kassen war die Bewegiing die folgende:
Bezirks-
Betrieb»-
Bau-
GenoaMOSchafts-
Vereini'
Krankenkassen
. Januar . . .
. . 1 000
1000
1 000
I 000
1000
. Februar . . ,
. . 988
1 006
762
98 S
993
[. März ....
. . 1 022
I CXXJ
889
1 018
1007
. April ....
. . 1155
1 006
1432
1 091
1 026
1. Mai ....
. . 1386
IOI7
1983
I 164
1054
1. Juni ... .
1356
1016
2972
II97
1073
i. J«H
, . 1376
IOS4
2948
1115
1092
i. Ai^ast . . .
. . 1379
loaa
307«
1207
IÖ96
September
135a
1034
3011
1195
1093
l. Oktober . . .
. . 1311
1065
274»
1159
1080
1. November . .
. . 1247
1094
2093
1 127
I 065
. Dezember . ,
1 168
1081
I 010
1 092
1047
[. Dezember . .
1065
1040
521
1063
1037
Die Schwankungen sind im ganzen entsprechend jenen im Jahre
1895; ^ <^ ^ Schwankungen im Mitgliedstande der Baubahken-
kasien noch weit gröfsere sind als im Vorjahre. Ebenso haben sich die
Sdiwankungen bei den Betriebskassen verschoben, so dafs die Konklu-
sionen, die im XII. Band dieses Archivs Seite 685 aufgestellt wurden,
durch die Ergebnisse dieses Jahres nicht vollständig bestätigt eischeinen.
uiyiii^üd by Google
440
ni. Gebahrung und Leiitungea.
Die wichtigsleii Eigebniiie der Kancogclbaraiig tm Jahre 1896 im
Vergleiche zu den Voijahren waren folgende:
im
Jahre
1894
1895
1896
im Jahre 1896
BankiMikeiikMien
Davon
Der Ueber*
En.
•B Ina-
Ueber-
schuft bettlet
nah-
f enden
Aus-
schufsder
Proicnte der
men
Bei-
gaben
Ein-
laufenden
trägen
nahracn
beitrage
in
Tausenden
Fl. ö. W.
16 181
15 131
»4463
1 71S
11,36
17544
16447
t6 180
1364
8,a9
X784I
17387
1754
9,84
66i6
6248
6aio
416
6^
S«35
5*47
5098
737
i4»o5
18
>7
16
a
11,11
1968
«795
«703
«65
9.48
3«93
3531
3359
334
9r47
Die Krgebnissc des Jahres 1896 waren also etw.is bessere als die
des Vorjahres, wenn sie auch noch nicht zur geäCUmaiüigeu Dotierung
des Reiervefimds ausnichten. Dessen Stand betrug:
die Reservefondsquote
absolut
im Jahre
1894 I07907«3
1895 la 143571
1896 13907968
im Jahre 1896 bei den
Beärlcskrankenkasicn . . . 2870087
Betriebskninkenkassen . . . 6641347
Baukraakenka5sen .... 3 «55
Genossenschaftskrankenkassen 2 212 '17
Vereinskrankenkassen ... 2 iikOO02
auf I lütslied
in FL 6. W.
5»56
5.88
6.36
3.«6
11.3«
a,"
6,19
6,02
Von allen Kassen schlössen mit emem Uebenchu^ besiehungVRreise
Oebaningsdefiait :
t:iU
Gefannmgs»
flbandmft
1894
i»95
1896
aa7i
2 123
2215
Detisit
644
79a
706
Betng des GdMianga*
Ueberschunes De&dts
in Fl. ö. W.
1 898914 180952
«45587
1 609 370
2026031
271 191
Digitized by Google
Otkar Engländer, UiBfSdl-ii.ICniikaimikilMnii^d.AilMi^
Zdü der Kutrn «U Betrag det Gebenmgs-
Gebanings- UdMnchuises Defi^
Ubencbafs Deüät in FL ö. W.
im Jahre i So6 bei den
B€£irk.:>kruakcakasMn . . 438 138 520702 104659
Betriebskrankenkassen . . 1059 323 ^44538 107079
BnaknokMikuMii .... 3 4 9650 730
Gfnowwuclwftilminkmli. . 634 aao 3» 714 4765a
Vereimkrittkwifcama . . tot ai 3454a7 11084
Berücksichtigen wir bei den BezirkskrankenkasseQ den Mit^edstand,
so erp:eben sich
in den die Resenrefonds-
Grö^en- die die der der quote auf l BGt*
katefforieen Ehmalimfa Ausgaben Ucbcndraft Rescrrefonds glied
FL ft. W.
I
1945>
»9595
— ■44
9409
a.99
n
365519
364331
19 188
109307
a,oo
m
680669
6567*7
32942
226 992
a.6
IV
2 797 900
2 543 192
254708
I 239772
3.00
V
2754039
2 644 690
109349
1 284 607
4,22
Im Jahre 1896 haben sich also die Verhältnisse, insbesondere die
Reservefondsquote noch zu Gunsten der grölseren Kassen verschoben.
Auf du Mitglied entfiden an Gesamteinnahmen (in R 6. Vf.)
bei bei bei bei bei bei
im
Bflsifk»-
Betii^M*
ib* Verdaa-
allen
Jahn
KrudteiikaneB
>994
7^
9i39
ii,aa 7,66
10,09
8.34
1895
7.41
9.45
ia.80 7.96
9^99
8,49
1896
7.5a
9.9S
lt,6i 8,3t
io,ao
8,78
Auf je X Mitglied Icamen demnach 1895 ^ Durchschnitte
taufende Beitrige
der
drr
zu-
Einnahmen
bei den
Mitglieder
Arbeitgeber
sammen
überhaupt
in PL 4». W.
4.71
2,38
7.09
7.5«
1liilri«liilli|ankfnWnni . . .
5.69
8,95
9^5
748
3.76
ii,H
11,61
Ctmmin' ntch*ftTkrwak— *"
5.«6
a.57
7.83
8,31
Vereinskrankenkassen . . .
8,13
1,63
9.75
to,ao
•"^MV***" Knakenkassea
5,631
a.5»3
8,154
8,779
Digilized by Google
442
Miszellen.
Betrachten wir demgegenüber die Leistungen der Kassen für ihre
Mitglieder, so verteilen sich diese folgendermafsen :
Leistungen der Kassen flir ihre Mitglieder
Beerdi- Verwral- Sonstige
im
Kranken»
ärztliche
Medika» Spitalver*
gungs-
zu-
tungs-
Aus-
Jahre
geld
Hilfe
mente pflegung
kosten
sammen
kosten
gaben
in Tausenden Fl.
ö. W.
1894
7330
2381
1 704 843
429
12687
1 m
1895
8499
am
1 843 880
4Si
14248
I 273
66q
1896
9015
2755
2014 991
425
15252
1378
in Prozenten aller Ausgaben
1894
50.7
i6,S
LL8
hä
87,7
8j
1895
»M
UA i4
2i8
88,0
L2
1896
5«.9
«5,8
Uiö Sil
2i2
87,7
4>4
Leistungen der Kassen flir ihre Mitglieder '
Bcerdi- Verwal- Sonstige
Kranken- ärztliche Medika- Spitalver- gungs- zu- tungs- Aus-
geld Hilfe mente pflegung kosten samroen kosten gaben
im Jahre 1896: in Tausenden Fl. ö. W.
Bezirkskrankenk.
2938
1013
696
115
522Q
254
236
Betriebs „
2694
961
700
«29
LH
4668
24
395
Bau „
6^
M
li5
2il
2J
«4,4
I
£i5
Genossenschkrk.
1332
m
274
240
8a
2287
329
88
Vereinskrankenk.
2043
418
241
123
3061
262
in Prozenten aller Ausgaben
Bezirkskrankenk.
47.3
\^
iLil
hl
2.2
84,1
12.1
Betriebs „
52.9
i8,9
UJ.
hl
2i6
91.6
Oi2
2i2
Bau „
42.9
22.4
13.6
L2
Q0.2
§A
Genossenschkrk.
49.3
«3.3
lO.I
§19
84.6
«M
hl
Vereinskrankenk.
60,8
\1A
10,2
ii2
iZ
9«.i
2A
i.i
Fassen wir die Bezirkskrankenkassen nach ihrer Gröfse ins Auge, so
ergeben sich
die durchschnitt* die Kosten eines die Verwaltungs-
bei den Kassen liehen Leistungen Krankentages Hir kosten für ein
der Tür ein Mitglied ärztliche Hilfe Mitglied
L Gröfsenkategorie 4,75 (3,98) 0,84 l,lo
IL ,. 5i«6 (4,77) ojS 0^25
HL „ „ 5^1 (4.77) 0,76 0.86
IV. „ „ 5ii8 (5.3«) Oi24 M5
2i32 (7.05;) 0.84 0.98
0«k*r Englindcr, Unfall- «. Knidtcwerridimiiig d. Arbeiter in (Destcrreiich.
IV. Erkrankungsstatistik.
Die wichtigsten Zahlen der Erkrankung»- und Sterblichkeitsstatistik
sind folgende:
Zahl der
Zahl der
Aanhl der Entb
indongcn
ZaU der
im
erkrankten
Erkraa-
Kranken- Anxahl
Kranken* '
Sterbe*
Jalue
MhgUeder
kmigea
tage
tage
fUle
1894
681687
840386
14609979 39011
1019277
«9377
1095
783883
971 753
1639*459 41846
1 124522
30094
>8q6
813087
1000651
17026 157 45558
7234465
20611
Auf je 100
Von je 100
JifitgUeder
veibUche
EikrattF Mitgliedern afaid
entfallen
SGtgliedcr cn
it- ktmgsfall dauert im täglichen
Von je 100
in
Frkran-
fallen Ent-
durchschnittlich Dorchschnitte
Mitglieder
Jahre
kungcii ^)
bindungen
Tage«)
krank
starben
1894
43,3
9.08
«7.4
2,21
1,00
1895
47.0
9.13
t6.8
2,32
0,97
1896
45.7
9,29
17.0
2,28
0,91
Auf j
e rin
Auf ;e ein weibliches
männliches
■weibliches
Mitf^lied «-ntfallrn
Auf ie 1
Mitglied
Mitglied entliclen aul
Krankentage ^ululgc
eultallen Krankentage
Krankentage *)
flberhanpt «)
1894
7.47
7,74
2.37
8,05
1895
7.85
8,23
a.45
8y«8
1896
7,80
7.7a
2,52
8,35
Die Morbilitätsziffer für das Tk-richisjahr ist also gegenüber dem
\'orjahr wieder etwas j^esunken. was auch die günstigeren Gebarungs-
ergebnisse für das Jahr 1896 erklart.
Auf je 100 I>urchsrhnittliche
männliche weibliche ') Kraukheil&daucr der
im Mitglieder entfallen minnlichen weibUchen
Jahre Erkrankingen Mit^eder: Tage
1894 44.« 40,6 16,9 19,1
«895 47.9 44,0 16.3 ««.7
1896 47.« 40^5 ««.5 «9.»
Auch für das Jahr 1896 läfst sich also die Erscheinung konstatieren,
da6 atif die weiblichen Mitglieder, abgesdien von den Entbindungen,
weniger Erkrankungen und mehr Krankentage entCdten, als auf die männ-
') <Amt BerflckMchtigiing der End»indangcn.
*) eiuchlielslich der Enttnnddngen.
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444
BfisadleB.
liehen. Bei der Kombination dieser Zahlen jedoch ergiebt sich für das
Berichtsjahr im Gcfjensatz zur Periode 1890—95 eine geringere Morbilität
der Frauen (Morbilität der Zahl der auf ein Mitglied eotfallendeo
Krankentage).
Auf Je I Mitglied entfiden Krankentage bei den
im
Betirk»-
Betrieb»-
B«i<
Genoasenschaft»*
Vcrdas*
Jdue
K
nolnakm
ten
1894
6^
10,17
«,70
5.^3
9.81
1895
7.30
10.59
6,05
10.19
1896
7.37
10,30
9i4a
6M
9.63
Auch dM Berichtiyahr weiat also grofie Veiadiiedenheftep in der
Morbilität bei den einzeln Kassen auf, welche wohl auf denselben Grund
wie im Vorjahre (vgl. a. a. O. XII. Seile 694) zurückzuführen sein werden.
Bei den verschiedenen Kategorieen der Bezirkskrankenkassen betrug die
Morbilität: I. 5,52 (4,68), II. 6,52 (6,20), III. 6,61 (6,50), IV. 6,90 (7,01),
V 8,43 (8,21). Die Verschiedenlieilen der ersten 4 Kategorieen haben
sich etwas ausgeglichen, während freilich der Unterschied zwischen ihnen
und den gröfsten Kassen ein noch gröfserer geworden ist.
Was endlich die durchschnittlichen Kosten anbelangt, so betrugen
diese für einen
im Jahre Krankentag
Erkrank ungsfall
Sterbefall
1894
0,78
13.94
22,11
1895
0,79
13,61
1896
0,81
14,1a
«3.03
speddl im Jahre 1896 bei den
Bezirkskraakenkaiseii . . .
0,78
12,93
i»,79
Betrieb» „ • . .
0,75
t3»U
23.46
Baa
0,97
11.04
22,17
( 1 enossenschu 1 1 :i k r .1 n k c nkassen
0,99
«8.77
26.22
Vereinskrankcnkasäen . . .
0.»4
»5.54
26,90
Digitized by Google
LITTÜRATUR.
Natorps Foul, Sotialpädagügik. Theorie der Willenserziehun^
auf der Grundlage der Gemeinschaft Stuttgart, Fr. From-
manns Verlag (E. HaufT) 1899.
Es war in Kngland vor einigen Jahren eine gangbare Rede geworden,
zur Rechtfertigung der „UniversitätsausdehDung" : „VVir müssen unsere
Henscher enidien" ( We musi tdiuaU cur ruUrs), und auch heute mag
diese Rede dort vernominen werden. Mit UUsUchem Humor eigiebt man sich
in die Thatsache und Notwendigkeit, dafs mehr und mehr die Geschicke
der Nation durch das Wollen der grofsen Menge, des werktätigen Volkes,
bestimmt werden. Darum, so meint man, muis die grofse Menge ge*
bildet werden. Das Volk mufs sich selbst zu regieren lernen; zum
Selbst-Bewufstsein gelangend, mufs es auch zur Selbst-E r ken n t n is
sich erheben, die wiederum der Selbst-Beherrschung unerläfsliche
Bedingung ist. Dies alles — will jene Rede besagen — ist in unserem,
der bisher herrschenden Klasse, eigenem Interesse: die Menge wird uns
van so besser behandeln, je besser die Menge erzogen ist.
Auch m der vorliegenden deutschen Schrift, dem eisten Entwürfe
einer Sozialpädagogik, finden wir Anklänge an diesen Gedanken-
gang (z. B. S. i85).
Ihrem Gesammtchaiakter nach steht sie aber auf einer höheren
Warte, ^^'enn dort die Betrachtung einigermafsen auf ein pü-aller zu-
geschnitten ist, so haben wir es hier mit einer Idee zu thun, die auf eine Ver«
vollkommnung der gesamten menschlichen Kultur abzielt. In seiner
inneren Anlage und in einzelnen Ziigen erscheint das Werk als eine Er-
neuerung der Republik des Plat(} , die es mit allem Ernste auszulegen,
aber auch zu berichtigen sich angelegen sein läfst. Man erinnert si( h,
welche supreme Bedeutung der intellektuellen und sittlichen Ausbildung
der I&mdier — freilich aber eines henschenden Standes — in jener
Idealverfassung einer Stadtgemeinde (so möchte ich was Pbto im Auge
hatte bezeichnen) eingeräumt wurde. So will auch Natorp „zwei
sonst getrennte Wissenschaften: Gesellschaftslehre und Erziehungsiehre,
Digitized by Google
446
Litteratnr.
als in der tiefsten Wurzel eins und zusammengehörig erweisen*'. Er-
ziehung, (leren Kern die Erziehung des Willens bilde, sei ebenso be-
dingt durch das „Leben der Gemeinschaft", wie sie auf dessen Gestaltung
mitbestiininond einwirke. Diese Werliselwirkunj: aber wird wesentlich aus
dem ( iesi( litspunkte der mafs^a'bendeii Idee hcschriebcii, in. a. W. niclit
wie sie ist, war, oder — vielleicht zum Unheil — sein wird, sondern
wie sie sein ,,soll '. iJies aber will niclit als ein Spiel der Phantasie er-
scheinen und ergötzen, sondern die ausgesprochene Endabsicht geht dahin,
das Ganze der Erziehung in sozialem Sinne zu fördern — der Zweck
des Theoremes ist, an der Lösung gegenwärtiger Probleme mttzu«
wirken. Anstatt des unbestimmten ,,8ein soll'* sagen wir daher lieber:
die Erziehung wird beschrieben, wie äe sein müfs, um der Idee zu
entsprechen, die in ihrem eigenen Wesen, und zugleich im Wesen
menschlicher Gemeinschaft angelegt sei. Das erste Buch (§ i — lo) führt
uns in die Welt der Hegriffe ein, die hier zu (irunde lief:cn. Eine freie
Ausbildung kantischer Lehre, die als tiefer Parallelisnuis theoretischer
und praktischer Erkenntnis vorgetragen wird und in einer Deduktion des
Willens, vom Triebe durch eigentlichen Willen zum Vernunfiwillen
sich ertiiUt Das zweite Buch (§ ii — 19) giebt eine systematische Skizze
der Ethik und Socialphilosophie: .das Sittliche wird in individualer und
in sozialer Bedeutung dargestellt, die individuellen Tugenden werden be>
schrieben, daran knüpft sich die Vorstellung der „(kundklassen" sozialer
Thätigkeiten , des Grundgesetzes der sozialen Entwicklung und der
„Tugenden der Gemeinschaft**. Hier zumal findet vielfache Anknüpfung
an die Leitgedanken Piatos, kriti.sche Erörterung dieser (iedanken, statt.
Das dritte Buch endlich (§ 20 — 34) l>ehandclt „Organisation und Me-
thode der Willenserziehung". Hier ist es der Geist Pestalozzis, dein
ein l>estitnniender EinHufs ge};önnt wird. ') Li dem ganzen W erke al>er
ist doch der Verfasser er selber, die Kraü cmes auf das Wesentliche
und Echte gerichteten Denkens tritt uns auf allen Blättern entgegen. In
diesem letzten Buche, das den eigentlich i)ädagogisch«i Teil enthält, werden
als „soziale Organisationen zur Willenaerziehung" unterschieden und
betrachtet x. das Haus, 2. die Sehlde — die dritte aber empfUngt keinen
gleichartigen Namen; wir dfirCeo, im Sinne des Autors, das „öffentliche
Leben^' dafür einsetzen. Entsprechender Weise werden dann als Stufen
der Erziehung die Hauserziehung, die Schulerziehung und die „freie
Selbsterziehung" erörtert : für die Möglichkeit auch solche freie, nicht
autoritative Bildunt:stliatigkeit zuorganisiren, gelve die Hochschule
das beweisende Muster. S. 216.) Ueberall wird, wie sich leicht versteht,
auf den .Anteil der intellektuellen Ausbildung an der WiUenserzieiiung,
1) Aaf Natorps gleldueitig encbienene Schrift „Hcrbwt aad Pcstaloni** werde
lungewicseii, die schon eine lebhafte Bewegimg unter den Pidagogcn Hertwriaeber
Obwnraiit hemngcnifen hat
Digitized by Google
Natorp, Paul, Sozial pädagogik.
447
das gröiste Gewicht gelegt ; schließlich noch der üsthetischen Kultur, ja
auch der Religion eine heilsame Mitwirkung eingeräumt.
Wir finden so ein festbegründetes, wohlgeformtes Gedankensystem, das
giBS dazu angethan ist, dem der sich darin vertieft, lebliafte Sympathien
fOen^'erken, kühne Gedanken zu entfesseln, prog;rammatisch für denkende
Pädagogen, aber auch für ernstliafte Politiker zu wirken. Hier ist
einmal Philosophie, die sich niclit in psychophysische Laboratorien ver-
schliefst, oder mühsam die Karren philologiscliet Textkritik schiebt, sondern
die aus den Bedrängnissen des Lebens entsprungen, an das Leben sich
wendet, lebendig sa wiricen verlangt und sich zutraut Nicht als ob
dies, auch in unseren Zeiten, durchaus neu und unerhört wäre. Den
mächtigen und sich steigernden Ringen, die durch die Seele Europas
gehen, haben auch die deutschen Universitäten, trotz der gonv^nemen-
talen Bemühungen, sie zu Beamtenschaften und Beamten-TninieranstaUen
zu erniedrigen, sich nicht ganz imd gar entziehen können. Was aber
Natorf) vor den meisten akademischen Denkern über Ethisches und
Politisches auszeichnet, ist der radikale I d e a Ii s niii s , der uns weit
über die bestehentle gesellsc hafili( ho l'nordnung emporhebt, auf deren
„Boden'' jene in der Kegel bedächtig verharren. Nicht als wölke dieser Sozial-
pädagoge irgend etwas, was lebensfähig, lebenswürdig und im rechten
Sinne ehrwürdig ist, vernichten oder gar „umstürzen'*. Aber er verleugnet
nicht, ja es ergiebt sich aus allen Prämissen der Schrift, dals seine Idee
der sittlichen Erziehung emer ganzen Volksgenossenschaft mit den kapi-
talistischen Formen der bestehenden VoUts-Wirtschaft unverträglich ist
In der „Diskontinuität" der sozialen Klassoi und Unterklassen sieht er
„das auiTallendste Krankheitssymptom des gegenwärtigen schwierigen
Uebergangsstadiums" (173) „Kine {resonderte Klasse wirtschaftlich
Arbeitender {gestattet das sittliche Grundgesetz des sozialen Lebens
so wenig, wie es eine Klasse Regierender oder eine Klasse im Allein-
besitz der Bildung erlaubt" (186). Und „darauf kommt nicht weniger
als alles an", das Gesetz der Idee mit den allgemeinen Gesetzen der
Er&hrung in Verbindung zu setzen. „Die venranftmäftige Gestaltung
des sozialen Lebens kann nur geschehen durch das Mittel der sozialen
Regelung, diese aber hat ihre letzte materiale Grundlage in der Tech«
nik; deren Fortschritt endlich ruht unmittelbar auf dem Fortschritt der
Naturerkenntnis" (163). Diesen „allgemein zugestandenen, ja für selbst-
verständlich gehaltenen" Fortschritt „von festbestiramter Richtung" (168)
macht Natorp zum Eckstein seines Baues. Die Gesetzlichkeit der Natur
ist — von der Erkenntniskritik aus verstanden — Gesetzlichkeit des
Bewufstseins. darum läfst sich der allein mögliche Fortgang ihrer Er-
kenntnis auf einen allgemeinen Ausdruck bringen, wie er in Kants regu-
lativen Prinzipien vorliege. Diese Priiuipicn heifsen hier: Gene-
nüisation, Individndisation, stetiger Uebergang (169); sie entsprechen
der Natur des Bewufstseins überhaupt als der Einheit des Mannigfaltigen
Digitized by Google
448
Littcntor.
durch Kontinuität — die Erwartung bewährt sich , dafs dieselbe Ge-
setzlichkeit durchgehend auf allen ( rehieten des Bewufstseins angetroffen
werde. Insonders „drangt dieselbe ?^ni\vicklung, die zur immer einheit-
licheren Erfassung der naturwissenschaftliclien und technischen Probleme
trieb, auch zur immer einheitlicheren Lösung der Probleme sozialer
Organisation (172), durch wdche die Naturteclinik dem Zwecke der
socialen Tedinik systematisch ontergeordnet wird, wie beide endlich dmch
die bildende ThMtigkeit geleitet werden; ancb in dieser, daher in der
sittlichen Entwicklung, waltet jenes Gesetz des Bewufstseins. So „ergiebt
sich die Idee eines allgemeingültigen funktionalen Zusammenhanges unter
den notwendigen (irundfaktoren des sozialen Lebens" (176) und damit
die Idee einer Selltsterziehung menschlirher (iemeinschaft (177).
Mit vollkuraraener Bestimmtheit stellt sich diese Ideologie dem
sozialen Materialismus« nicht sowohl gegenüber als über ihn, und be-
flissen, solche „gemeine Ansicht*' (ohne sie ausdrücklich so zu nennen)
gleichsam zu sich empomiheben. Diese knüpfe mit Recht, memt Natorp
(264), die GesetsUchkeit der sozialen Entwiddung an den gesetzmäßigen
Fortschritt der Technik, also zuletzt der Naturwissenschaft an; aber
dieser eine Faktor der Entwicklung müsse in genauen, innerlich ver-
mittelten Konnex gesetzt werden mit dem anderen, den die materialistische
(ies(hichts;iutfassung abzulehnen scheine: mit der sittlichen hiee. Dazu,
dafs sich die sozialen Ordnungen den neuen Bedingungen anpassen, ge-
höre erstlich ein neuer Fortschritt technischer, nun aber sozialtech-
nischer Enuncht, dann aber und hauptsächlich die Umwandlung des
Willens derer, von denen die Gestaltui^ der sozialen Ordnung abhängt
Und diese Umirandhn^ des Willens sei bedingt durch eine Prüfung des
Zweckes» also durch eine Idee von der bestmöglichen Ordnung der
Zwecke, diese aber falle gamicht mehr unter technische, sondern unmittel-
bar unter s i 1 1 1 i r h c Erwägung. Mithin sei diese zuletzt der entscheidende
Motor, um , .soziale Regelung" in einem bestimmten Sinne herbeizuführen. —
Nun al>er soll „(lesetzlichkeit" hier nicht verstanden werden im Sinne eines
„Naturgesetzes" oder „empirischer Verursachung" (162). Es lasse sich immer
nur behaupten: Wenn die bisher beobachtete, „im Ganzen fortschreitende"
Entwicklung sich audi ferner bewährt, so müssen dies und dies die zu-
nächst zu erreichenden Stufen sein. Dieses „Müssen" wiederum ist mehr
moralischer Lnpemtiv, als physische Notwendigkeit, wenn dies auch nicht
so deutlich ausges[)rorhen wird, wie wir es auseinander zu halten wünschen
mögen. Hierin aber liegt die tiefste Abweichung von jenem historischen
Materialismus, eine Abweichung, die nun merkwürdigerwei>e nicht als
solche accentuiert wird. Der historische Materialismus will allerdings —
nicht allein „einen dtvchgehenden gesetzlichen Zusammenhang von der
untersten Grundlage bis zur obersten Spitze des sozialen Lebens voraus-
setzen" (167) und behaupten, sondern — will „ein Naturgesetz der
sozialen Entwicklung, wenigstens dieser gegenwärtigen Kultur, au6tellen"i
Dlgitlzed by Google
Natorp, Paul, Sonalpidagogik.
449
was Natorp kunerhand abldiot, weil es tMsbjer auch an den notwendigsten
Voraussetzungen dazu fehle (162). Wenn das richtig wäre, so würde
dadurch jene berufene Ansicht nicht berichtigt , sondern vernichtet ;
Natorp erwähnt aber solchen Anspruch pamirlit als den Anspruch der
materialistischen Geschichtsciuffa-ssung, sondern charakterisiert diese so, als
ob sie die Gesetzlichkeit der sozialen Kntwicklung schlechterdings nur
in seinem Sinue darstellen wolle und blofs darin verfehlt sei, dafs sie
die Herrtchift des Bewufstseins von der für den Menschen
scUieUicb nicht weniger als alles abhänge, anzuerkennen sich bisher
gesträubt habe (165). Wir kOnnen daher Natorp in allem, was er nach
dieser Richtung treffend und scharf ausführt, /custimmen, so weit es sich
dabei um „praktische" Philosophie handelt. Wir finden auf den wenigen
Seiten den ganzen Inhalt des S t a m m 1 e r sc h en Buches nicht allein
/usanimengefafst, sondern besser befjren/.t und knapper begründet, als dort
irgendwo geschehen. Und doch halten wir die Frage nach der ( iesetz-
lichkeit des wirklichen Verlaufes sozialer Wandlungen durch alle
diese Postulate praktischer Philosophie nicht flbr erledigt, kaum für be-
rührt, und den Versuch, solche GesetanSfirigkeit, ihren Elementen nach,
zu entdecken, nicht für so hoffimngdos, wie Natorp ihn, ohne zulflnglidie
B^ründung, darstellt.
So oft aber die „materialistische Geschichtsauflässung^ erörtert und
kritisiert wird, halte ich für angezeigt, daran zu erinnern, dafs eine durch-
geführte rheorie von dieser Art, bisher nicht vorhanden, dafs solche
Durchführung nicht einmal versucht worden ist.
Dem wahren Sinne der von Marx aufgestellten Leitsätze entspricht
eine Darstellung wie z. B. Stammler (Wirtadiaft und Recht S. 32 ff.:
die sociale Wirtsdiaft ist das alleinig Iflcale im sozialen Leben, ihre Be-
w^;ungsgesetze sind die einzigen Wahrheiten in diesem Gebiete ... die
gemeinsamen Geisteserscheinungen sind nichts als wiedergespiegelte Ab-
bilder der wirtschafdichen Verhältnisse* . . blofs unselbständige Erschei-
nungen . nur Reflex . . lediglich Spiegelbilder u. s. w ") vorgetragen hat,
nicht, wenn sie auch durch einzelne salopj)e Aussprüche (dieal)er mehr auf
Engels zunirkgehen ) unterstutzt wird. Dem wahren Sinne der Tlieorie würde
eine rem psychologische Auslegung jener Leitsätze weit näher kommen.
Die „Fonniüienmg^ des „allgemeinen Residtats", das „einmal gewonnen,
seinen Studien zum Leitfaden diente" (Zur Kritik der pol. Ök. Ausg.
Kautsky p. XI) würde Marx selber als mangelhalten, fragmentarischen
Ausdruck seiner Ansicht der Geschichte anerkannt haben, wie folgende
Erwägung wahrscheinlich macht. Es war ihm in jener Vorrede darum
zu thun, darzustellen, wie der Gegensatz zu He-^'el in ihtn gereift sei
und ihn aus einem Juristen und Philosojthen zum ]>olitis( lien Ökonomen
gemacht habe. Seine UniersuchuiiL' der Hegeischen Rerhts[)hilosophie
1844 — an die er bis dahm geglaubt haue — „mündete m dem Er-
gebms, dafs Rechtsverhältnisse und Staat^ormen weder aus sich selbst
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450
Littentur.
zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Ent-
wicklung des raenschlictien (ieistes, sondern vielmehr in den materiellen
Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel . , unter dem
Namen „bürgerliche Gesellschaft'' zusammenfalst ..."(ich habe unter-
atridien). lo der folgenden Ausführung, „dals die Anatomie der bürger-
lichen Gesellschaft In der politischen Ökonomie xu siichen sei," legt er
den Begriff der „materiellen Produktivkräfte" zu Grunde — diese ent-
wickeln sich primär und (so ist zu interpretieren) nach ihrer eigenen,
immanenten Gesetzlichkeit, die relativ einfach und „naturwissenschaft-
lich treu konstatierbar" ist, selbst dann, wenn diese Entwicklung mit den
Eigentumsformen in Konflikt gerat. Man mufs — sagt Marx — stets
unterscheiden zwischen der „materiellen" Umwälzung in den ökono-
mischen Produktionsbedingimgeu und den . . . „ideologischen Formen,
worin sidi die Menschen dieses Konfliktes bewufst werden und ihn aus-
fechten*'. Es ist nicht leicht zu Terstehen, wie man diese Sentenz so
verstehen konnte, als ob daraus folgte, i. dafi diese Formen wesenlos,
nichts als Schein u. dergl. seien, 2. dafs der gegenwärtige Konflikt zwischen
Produktivkräften und Eigentumsverhältnissen n i c h t mehr in ideologischen
Formen bewufst werde und ausgefochten werden könne oder solle oder
thatsät hlich werde. Zu den ideologischen Formen gehören ohne Zweifel
auch die wissenschaftlichen Ansichten und Erkenntnisse. Ist es die
Meinung, diese als nichtig, unwirklich und unwirksam hinzustellen ? Dies
die Meinung, wenn (einige Jahre später) die Wissenschaft des ökonomi-
schen Prozesses als eme Kraft dargestellt wird, die sozialen Geburta-
wehen abzukürzen und zu mildem? Allerdings: diese Erkenntnis ent-
springt aus ihrem Objekt, dem Prozefs, der Prozefs nicht aus ihr. Sie
ist einem Reflexe vergleichbar; der ganze „moderne Sozialismus ist der
Gedankenreflex des thatsachlichen Konflikts zwischen Produktivkräften
und Produktionsweise, seine ideelle Rückspiegelung in den Köpfen zu-
nächst der Klasse, die direkt unter ihm leidet, der Arbeiterklasse"
(Engels Antidühring S. 287, 3. Aufl.) wo man aber gerade das „zu-
nächst** mit gutem Grunde anfechten mag. Hier ist aber nidit nur der
wissenschaftliche, d. h. Marx-Engels^sche Sozialismus gemeint, sondern die
gesamte ideelle Nation des Kapitalismus, die in ihren früheren Phasen
— und Engels wufste wohl, wie stark diese noch lebendig sind —
wesentlich auf die ewigen Prinzipien der Gerechtigkeit oder auf das ab-
solute Ideal der dleichhcit und Hrüderlichkeit sich berief. Auch in
diesen spezifisch ideologischen Formen, aber nicht in ihnen allein,
gelangt der Konflikt zwischen Ökonomie und Recht zum Bewufst sein.
Wenn nun der hirtorisdie Materialismus lehrt: diese angeblich ewigen
Ideen smd eine unzulängliche, der l>üigeriichen Erhebung gegen den
Feudalismus entlehnte Ansicht, das moderne Proletariat, kann dieser
Wafl'en entraten, es kann sich genügen lassen (wie wir, seine wissen-
schaftlichen Wortführer), die Forderung des Sozialismus zu gründen auf
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Natorp, Pftttl, Sosialpidagogik. 45 1
die Thatsache der inneren Wktoprtiche und des dadurch notwendiger-
webe bewirkten Zusammenbruchs der kapitalistisrlien Produktions-
weise und dies sei die einzig richtige, d. Ii- wissenschaftliche Be-
gründung: — folf^t daraus, dafs von nun an niciit mehr in ideologischen
Formen frekämpft werden solle, >;eschweiKe, dafs es nicht mehr ge-
sciiehen werde? würde denn, wenn wirklich aus dem Bcwufstsein einer
unterdrückten Klasse aller moralische Unwille und alle phantastischen
Ideale ausgemerzt würden, wenn wirkUdi nur die nüchternen Eifeennt-
nisse übrig blieben — würde dann zu i^eicher Zeh die idedle Ver-
tretung dnes Klassenstandpunktes hinftilig und bedeutungslos w«den,
ja ganz und gar aufhdren? Oder würde sie nur eine andere, klarere,
intellektuellere Gestaltung annehmen, die ganz, dem allgemeinen Fort-
f^ange des wissenschaftlichen gegen das mythologische Denken, dem
Siege des Verstandes über das Gemüt, <ier Kritik über die Phantasie
angemessen wärer Wie Marx hierüber gedacht hat, ist aus der Stelle
selber und aus den übrigen zerstreuten Anmerkungen nicht völlig deut-
lich, und jedenfalls ist es ein i-ehler,. dals er politische Wirklichkeiten
und politische Theoreme, rechtliche Institutionen und juridische, wie
moralische Ansichten in den einen Mischkessel der ideologischen
Formen zusammenwirft, ohne sie wieder analytisch als gesonderte Kssifiniien
darzustellen, bidessen, wenn Müsverstandnisse durch gelegentliche Aus-
drücke nahe gelegt sind, SO mab das richtige Verständnis um so mehr
durch lo^sche Folgerungen gewonnen werden. Auf die sachgemäfse
Deutung weist alxjr Marx selber hin, wenn er die „Eigentumsverhältnisse'*
d. h. einen Ausdruck des gültigen Rechtes, Kntwicklungsforraen oder
P'csseln der Produktivkräfte sein lafst, und weiui er kurz vorher scharf
unterscheidet zwischen dem juristischen und politischen Ueberbau,
der sich über der ökononuschen Struktur erhebe, und den gesellschatt-
lichen Bewulstseinsformen, die dieser „realen Hasis'* entsprechen.
Zum juristischen und politischen „Überbau** gehören in der That nicht
die juristischen und politischen Theoreine, wohl aber gehören dazu
ElenieBte auch des „geistigen Lebeosprozesses**, nämlich alles» was
jeweilig den Charakter sozialer Realität mit sich flihrt: diese Realität
aber besteht, wo immer sie als solche gedacht wird, und gedacht
wird sie, wo sie sozial gewollt wird. . Soziale Realität hal>en die Kirchen
so gut wie die Staaten, haben die Universitäten und ihre Fakultäten, die
Akademien und gelehrten Gesellsrliafteti, haben \'erl)ände und \'ereuic
aller Art, also auch solche, die nur „künstlerischen oder philosophischen"
Ideen Ausdruck geben. Die soziale Realität ist — wie sich von
selbst verstehall sollte, in der That aber fast niemals verstanden wird —
das eigentliche Problem der Soziologie. Was insbesondere
alle konstituierten Verbände (Gemeinschaften und Gesellschaften) anlangt,
so existieren sie nur kraft sozialen Wollens, und sind selbst wieder Träger
sozialen Wollens — diese ihre zwiefache Natur darf niemals aus den
Archiv für toc Gtteciccbiuif o Sutiidk. XIV. 39
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Litteratnr.
Augen gelassen werden. >Iar\ unterscheidet, wie pesagt, sowohl von
den gesellsrhalthchen Bewur>itseins!ormen, als von dem juristischen und
])olitischen l'eberhau, die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse, deren
Begrift" er mit dem wichtigsten, schwierifisten, vielleicht aber auch
am wenigsten klaren Satze einführt: „In der gesellschaftlichen Produktion
ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem
WiUen imabhüngige Veffaältnisse ein . /' mid deren Gesamtheit bilde
eben die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis . . .
Hier also wird ihr gegenüber der ganze „Ueberbau" nicht minder als die
gesellschaftlichen Rewufstseinsfonnen in das Reich der „Ideologie" ver-
wiesen; und doch werden gleich nachher die Produktionsverhältnisse
identisch gesetzt mit ihrem „juristischen Ausdnick', den Kigentums-
vcrhältmssen. In Wahrheit — so möchte ich meine Ansicht der Sache
feststellen — handelt es sich um soziale Realitäten verschiedener ( )rd-
nung, die aber auf das Innigste ineinander verwoben sind: die (aller-
dings einer bestimmten Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte,
eben damit aber auch klimatischen und anthropologischen Bedingungen
entsprechenden) ökonomischen Verhältnisse, d. h. Thatsachen der Arbeit
und der Arbeitsteilung, fer tonsiquens der Verteilung des Produktes, sind
soziale Realitäten erster Ordnung — auch sie sind allerdings von dem
Willen der Einzelnen sehr wenig abhängig, bedürfen aber zu ihrer Er-
haltung des sozialen Willens, der als Ueberlieferung, als Sitte, als natür-
liche Ordnung oder als ^^ottlicher Wille schon in diesen einfachen
Thatsachen sich regelnuifsig j^rojiziert. Auch wo die lieruiswahl „trei''
ist, bewef^t sich diese innerhalb vorges( hriebener, zumeist sehr enger
Gren-cen; und selbst, wenn diese Grenzen sich erweitern, ändern sie so
gut wie nichts an der „ökonomischen Struktur", die in den Eigentams-
verhähnissen fixiert ist, daher an dem Dasein und den Lebensbedingungen
der socialen Stände oder Klassen, Rangstufen oder Schichten, mögen
auch manche Individuen innerhalb dieser hin« und hergeworfen werden.
Und diese Lebensbedingungen sind allerdings wesentlich verschieden,
je nach Umfang und iurgiebigkeit des Ackerbaues, je nach Besitz an
domestizierten Tieren und an Werkzeugen, je nach Art und Ausdehnung
der Warenproduktic^n und der mechanischen Technik, je nach dem
flacheren oder tieferen Kindringen des Ka|)ilalismus in die soziale \ er-
fassunp. Der sozialen \ erfassunp ^e.<;enul)er hat aber die tre^ unte
politische Verfassung ;^in ihrem ßegnrte kann man alles zusammea-
fassen, was den Charakter der Institution im eigentlichen Sinne an
sich trägt) die Merkmale der sozialen Realität zweiter Ordnung; sie
wird nicht mehr blofe als Thatsache durch sozialen Willen bestätigt,
sondern verdankt ihr Dasein als Thatsache sozialem Willen ganz und
gar. Was schon daher wahrscheinlich, dafs sie ihrem Wesen nach jenen
Thatsachen gef:eniiber sekimdär, das wird durch die einfache Beobachtung
verifiziert, dafs Hirtenvölker andere politische und rechtliche Einridi-
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Natorp, Panl, SoxialpSdagogik.
tungen haben, als Ackerbauvölker, diese andere als Handelsnationen, und
insbesondere, dafs der eigentliche Staat d. Ii. eine souveräne. Gesetze
p^ebende. öftentliche <^'.e\valt. zuerst in Städten und dann pari passu mit
der städtischen F,ntwickliin<: aus;;ebildet wird. Es ist darin sogleich
sichtbar, dal's diese Gewalt durch die zunehmende Differenzierung, anderer-
seits durch die grüfsere Mannigfaltigkeit der Beziehungen zwischen
innerlich unzusammenhängenden Individuen immer mehr notwendig wird.
— Engels unterscheidet Religion und Philosophie als „hdhere, d. h.
noch mehr von der materiellen ökonomischen Grundlage sich entfernende
Ideologien*'; der thatsächlich vorhandene Zusammenhang der Vorstel-
lungen mit ihren materiellen Daseinsbedingungen werde hier immer ver-
wickelter, immer mehr durch Zwischenglieder verdunkelt. Ich meine,
dafs man in viel bestimmterer Weise sagen kann : wie die individuellen
Bedürfnisse. Sorgen und Wünsche fortwährend das individuelle Denken
anstacheln, fuhren und irrefuhren, erweitern vmd beschränken, so stehen
die sozialen Angelegenheiten zumeist unmittelbar hinter dem sozialen
Denken. Not lehrt beten und Not niacht erfinderisch — und wiederum
ist es auch der Ueberflufs» der den Göttern, daher der Kunst und aller
Mnfie, der Mutter der Studien, zugute kommt Diese Studien aber ge-
hören, insofern sie produktiv sind, unmittelbar dem ökonomischen Leben
an, das ihrer fast nie völlig oitbehrt; wie auch die Wehrverfassui^;, das
fundamentale Stück des politischen Zustandes, zugleich unmittelbare
ökonomische Thatsache ist. Die subjektive oder rein ideelle Seite aber
jener ..kleologien" ist zum gröfsten Teile das soziale Wollen selbst,
direkt und indirekt, in seiner Einheit und seiner N'ielfachheit, seinen
Widersprüchen und (ie^;ensätzen : daher sowohl insofern es realisiert ist
und den von ihn» geschafTenen Realitäten (wenn auch ohne sie als solche
zu erkennenj sich gegenüberstellt — als auch insofern es nicht mehr
oder noch nicht realisiert ist, in jenem Falle nach Wiederherstellimgen,
in diesem nach Neuerungen sozialer Realitäten (d. i. von sozialer und
politischer Verfassung — Gesellschafts- und Staatsordnung) trachtet
Verschiedene Meinungen aber gehören verschieden gearteten, verschieden
bedingten, verschieden mächtigen Menschen an ; und, wo es sich um
ganze Gruppen handelt, ist X'erschiedenheit der Macht nichts als Ver»
schiedenheit des Besitzes oder hJnkommens, darauf beruhen Lebensweise,
Lebensbedürfnisse, (Gewohnheiten, aus allen diesen cntsprinf:en unnnttel-
bar die Ansichten dessen, was notwendig, was schön und gut, was er-
strebenswert und veral)scheuens\\ert , soweit solche Ansichten
überhaupt ausgebildet sind, und soweit diese .Ausbildung nicht
gehemmt wird durch die mächtij^n Ideen des Gehorsams und der
Frömmigkeit, die aber selber in Lebensweise und Gewohnheit, wenn
') Vgl. Engels, Fcut rhach S. 52 vgl. Bricl vom 27. Oktober IÜ90. Lpz.
Volkszeitung 26. Oktober iÖ95
29*
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454
Ltttemtitr.
auch zugleich in Furcht und Nachahmung beruhen. Nach ni einen
Begriffen ist es nicht allein der Gegensatz und Streit, gemeinschaftlicher
tind gcflellschaftlicher Gruppen^Ideeii, sondern auch der gemcinschaftüchen
Gruppen g^gen einander auf der einen, der gesdlsdiaMichen Gruppen
gegen einander auf der anderen Seite, was dem Prozeft der Ideen seine
kompltaerte Gestalt verleiht Wenn nun der historische Materialnmus
sajjen wollte: die Entwicklung der Produktivkräfte vollzieht sich ganz,
ohne Mitwirkung von Ideen, so wäre das absurd; freilich stelh auch
Natorp diese Entwicklung nicht richtig dar, wenn er sie als ganz und
gar abhängig vom Fortschritte des Natur er ke n ne ns darstellt. Dieser
Fortschritt hat allerdings im letzten Jahrhundert (und schon früher dann
und wann, hie und da) ungeheure Wirkungen auf die Technik der
Produktion ausgeübt Aber unterhalb dieser Wirkungen, innerhalb ihrer
und vor ihnen, liegen die im Einzelnen £ast unmerklichen V^eränderungen
der Praxis, die fortwähren'' auch auf die Theorie befruchtend wirken,
und die (hirch ihre allmähliche Häufung auf allen Gebieten von Zeit /u
Zeit totale ..I niwälzungcn" liervorrufen ; auch uiunittelbar epochemachende
Erfuidun^on snid, zumal in älterer Zeit, last ohne alle Naturwissenschaft
geschehen, snid als kleine Vereinfachungen, Erleichterungen alltäglicher,
gdäufiger Arbdtquroiesse, als glückliche, zuweilen genialische Einftlle von
Leuten, deren theoretisches Wissen tief unter dem Niveau ihres Zeitalters
stand, ins Leben getreten. An solche Veränderungen dachte wohl Engels,
wenn er die „erwachende Einsicht, dafs die bestehenden gesellschaftlichen
Kiiirichtungen unvernünftig und unprerccht sind", als „Anzeichen davon"
deutet „dafs in den Produktionsnicthodcn und Austausch formen in aller
Stille \"eräiiderungen vor sich gegangen sind . . ." ( Anti-Duhriiig 3. Aufl.
S. 286\ Denn es korninen die vereinzelt oft minimalen, und doch durch
ihre Suminierung höchst bedeutenden Momente liinzu, die das Wachstum
des Transports tmd Verkehrs auch in ftfiheren Jahrhunderten bezeichnet
haben. Aber auch insoweit als wirklich die Wissenschaft mit einigem
Getöse alle Veränderungen dieser Art hervorruft, so ist es immer das
an der Wissenschaft, was am wenigsten sozialen Gehalt besitzt, was
daher am wenigsten den Charakter sozialen W'ollens trägt; es sind
Theoreme, die in den Dienst des unmittelbaren Lebens und der daraus
entspringenden technischen Bedurfnisse gezwungen werden, aus denen
sie sogar oft hervorgclien , duri h die sie am meisten sich gefordert
ftuden (^„hai die Gesellschaft ein leciunschcs Bedürfnis, so hilft das der
Wissenschaft mehr voran, als 10 Untverritäten", Engels im s. Briefe
Sozialdem. a. a. O.); Theoreme, die hierbei nicht durch das wirken,
was etwa aus ihnen den religiösen, politischen, ethischen Denkweisen
störend und aufregend sich mitteilt. Sicherlich mufs gegen Marx und
EngeN, oder ihre falschen Interpreten, die psychologische Einheit des
gesamten Kulturlebens hervorgehoben werden, aber auch für die
iudividual-Psycholugic ist es von höchster Bedeutung, dafe das vege-
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Natorp, Paul, Sozialpädagogik.
455
tative Leben in setnen Funktionen und seiner Entwicklung wesent-
lich unabhängig vor nch gdit von Wahrnehmungen, Vorstellungen
und Gedanken, wenn diese es auch stark modifisieren; wXhreod das
animalische Leben ganz und gar bedingt ist durch Emähning, Stoff-
wechsel, Wachstum und zugleich gelenkt wird durch die cerebralen
ThätitrUciteii. Denn das vegetative Lehen im sozialen Sinne ist Pro-
duktion, Austausch, Konsum: kurz die Üekonomie; das aniinahsche Lehen
im sozialen Sinne ist wesentlich Politik, die für uns Dasein nnd Funktion
des Rechtes einschliefst.
Natorp lehrt (S. i66): „Daxu (dass die sozialen Ordnungen
sich den neuen Bedingungen anpa^en) gehört, ersüidi ein Fortschritt
technischer, nämlich sosialtechnisdier Einsicht, dann aber „und
hauptsächlich die Umwandlung des Willens derer, von denen die
Gestaltung der sozialen Ordnung abhängt" — hierfür aber sei der Ge-
sichtspunkt der bestinöghclien OrdnuiiL' der Zwecke entscheidend
und dieser falle unmittelbar unter sittliche K-rwaKunf. Aber auch volle
Kinräumung dieser begritl liclien \\'ahrlieit würde uns nicht von der
Untersuchung entbinden, wann denn solche Einsicht w a h r s c Ii e i n i i c h
werde, unter welchen Umstanden tmd anf welchen Wegen die Um«
Wandlung der Willen wirklich geschehe? Und wenn sich in der
That ergeben sollte, dafs neue Gedanken ethisch-poKtiachen Charakters
in langwierigem Streite der Meinungen, vielleicht sogar der WaffeUi
ihr Terrain erobern müssen; dafs sie zunächst da sich ausbreiten, wo
der alte Glaube und Wille den geringsten Widerstand leistet; und
dafs dies da ist, wo die bestehenden Zustände am meisten mit Schmerzen
empfunden werden; dafs der l/nwille darüber keineswegs immer in
eine „soziaUechuische Einsicht", in die Erkenntnis, dafs eine Veränderung
der geltenden Rechtsordnung „wünschenswerter Zweck" sei, sich übersetzt,
sondern in der Regel des bisherigen historischen Verlaufes die
„ideologische Form" einer Auflehnung gegen gültige Vorschriften, Gesetze
luid Riten, etwa g^en Fastengebote und Sabbatismus, oder gegen den
Kultus des r äsarischen Genius, oder gegen die Messe und Entziehung
des Laienkelches, oder auch die abstrakte Form einer naturrechtlichen
Lehre, einer demokratischen Begeisterung und Schwärmerei annnnmt;
dafs auf diesem meist sehr indirekten ^\ege, indem die bestrittenen
Dogmen uiid Riten nachgeben müssen, indem eben dadurch die lie-
streiter und Neuerer „hoch kommen" und ihren WÜlen als Willen
auf alle zugänglichen Gebiete ausbreiten und geltend machen, die
allmähliche Anpassung der Rechtsordnung an veränderte Bedingungen
des soiialen Lebens zu ^schehen pflegt, das ideell Notwendige also
relativ unbewufst sich durchsetzt — wie würde sich zu solclien Ergeb-
nissen Natorps Lehre verhalten? — Sie redet nicht und weifs scheinbar
nichts von Widersprüchen, niihts von Kämpfen, nichts von
irrationaien Ausdrucken eines über sich selbst unklaren Strebens und
iJiyiiizea by CjüOgle
456
LUtcianur.
Wollens; hingegen postalierk und statuiert sie die Einheit, die Kon-
tinuität „des B e w u f s t s e ins'', den inneren, methodisch zu begründenden,
mithin gesetzmäfsigen Zusammenhang alles dessen, was von irgend einer
Seite lior das Hewufstsein Ix^nihrt S. i66) . . . dies folge deduktiv
aus den rrinzipien des Idealismus, walirend es aus denen des Ma-
terialismus auf induktivem Wege niemals herauskommen könne. Wir
werden dies erst richtig verstehen, wenn wir uns erinnern, dafs das. w;is
Natoi)) widerlegen will, eine praktische Folgerung aus jener ,,ma-
terialistischen" Ansicht ist. Diese praktische Folgerung wurde etwa
lauten: es giebt überall nichts absolut Erstrebenswertes, auch nicht die
formale Einheit der Zwecke kann als ein Seinsollendes ))ehattptet werden;
sondern es ist immer ein Wahn, vielleicht gar ein Betrug, wenn ein
Einzelner oder eine Klasse, das. was er oder sie erstrebt, für das
einzig Wahre, für das schlechthin Richtige hält und ausgiebt. Auch
die Philosophie, die mit diesem Ansprüche auftritt, ist nur die ver-
kleidete Form eines Denkens und Sirebcns, das zuletzt in wirtschaftlichen
Verhältnissen wurzelt ; nicht ^wa in den persönlichen des Philosophen —
obwohl auch hier gewisse Zusammenhänge sich beobachten lassen, —
wohl aber in allgemeinen Verhältnissen dieser Art, die ach seiner Em-
pfindung, seiner Ueberzeugung irgendwie mitgeteilt haben; jedenfalls
in den Aspirationen einer Partei, d. h. einer Klasse, die gegen die
überlieferten moralischen Ik-grilTc, gegen die Heiligtümer der uideren
sich kritisch verhält; so aber wird sich gegen die ihren dereinst eiiu- ut-ue
Partei kritisch verhalten, denn Kampf ist eindeset/. des Lel>ens, Kampf
der Interessen imd Klassen ein Gesetz des sozialen Lebens." Dies ist
es, wogegen der Kantianer sich empört, der zwar nicht die Erreichung
des Ideals in irgendwelcher Zeit, wohl aber eine beständige Annäherung
dahin erwartet, und der in der begriflflichen Formulierung und Deduktion
des absoluten Ideals seine vornehmste Aufgabe erblickt. Bei näherer Be-
trachtung dieses (legensatzes ist es nun merkwürdig, dafs auch Marx und
seine Schule die bezeichnete praktische Folgerung nicht bis zu F.nde
gelten l.isseu. Auch sie s;iL'<"ii ein Aufhören der Klassen und mithin
der Klassenkampfe voraus, auch sie verkünden eiu Reich der Freiheit,
worin die Menschen mit völlig klarer Bewufstheit ihre gemeinsame Ai-
beit regehl und die zum Bdiufe der Produktion notwendigen Verhältnisse
zu einander nicht mehr als natürliche oder gar von den Göttern gewollte
Verhältnisse mifsverstehen werden. Warum aber wird dieses Reich des Ideales
kommen? Nicht, weil wir uns ihm schon bisher innerlich genähert haben und
es, seinen Wert erkennend, mit Begeistenmg erstreben? Nein, wird uns
Marx erklären, sondern weil wir uns ihm äufserlich {lenähert haben, und
weil wir der uuueriellen Hedmjiungen, e> zu erreic hen, mächtig geworden
sind, darum können wir uns ihm auch innerlicii nähern und dürfen uns
dafür begeistern, ohne uns der Schwärmerei und des Utopisnms schuldig
zu machen. (Ob Marx sich in dieser Zuversicht geirrt habe, ob etwa
üiyiiized by Google
Natorp, Paul, Soüialpädagogik.
457
seine ganze Epocheneinteilung der Geschichte, und die darin beruhende
Idee einer eingehen Skala der Kultur fiüsch sei, das ist eine andere
Fraife; vielleicht teilte Marx hier seine Intfimer mit allen modernen
Idealisten und Propressisten). — Aber, wird der Kantianer einwenden, die
Wahrheit und Richtigkeit des Ideales ist von der Walirscheinlichkeit seiner
Erfüllung, von seiner ,.Zeitp^emäfsheit" ganz und gar unabhängig; diese
sind glückliche Umstände, fjeeignet die Hinsicht zu licfördcni und den
Willen /u stärken, der aber um so mehr ein guter und ta|)fercr Wille
ist. je weniger ihm solche Konjunktur zu Hilfe konnnt. — Ich sehe nie lit,
Uafs Marx Grund hätte, dieser Auffassung zu wehren. Wenn gesagt
worden ist, im „Kapital" sei „kein Atom Ethik" zu finden, so ist das
für den Kern der Theorie durchaus wahr: dieser ist Kritik der politischen
Oekonomie, in dem Snne» dafs die begriffliche Allgemeinheit und
Notwendigkeit der Kategorieen „Kapital", ^Lohnarbeit" u. s. w. und die
Vorstellung von der Natürlichkeit eines auf die Waarenqualität der
Arbeitskraft gegründeten Zustandi s der Oesellschaft aufgelöst wird. Diese
Xatürlichkeit involviert aber auch Ideen der (Icrerlitigkeit und moralischen
\ ortrefflichkcit, im C.efrcnsatze zu allen Systemen der l'nfreihcit, des
Z\v,!iii:es flei ixesel/lichen Un},deichheit. So ist auch die Kritik jener
« )konomi>< hon Uegriti'e nicht möglich ohne eine l'nterstimme der
moralischen Kritik, die nun in der Ihai durch fast jede Seite des
„Kapitals" liand I hindurchtönt. Ueberall wird die kapitalistische Ent-
wicklung auch ideell negiert, nur werden auf diese ideelle Nation
keine Erwartungen oder Hoflhungen begründet» sondern ihre reale Selbst-
negation soll aus ihren eigenen Lebensgesetzen deduziert werden. —
Kehren wir nun zu Natorp zurttck, so bemerken wir, dafs auch ihm
die fortschreitende Annäherung an das Ideal nicht feststeht als eine
Folgerung aus der Natur des Ideales selbst, dafs er vielmehr in der
Erfahrung eine „stufenmäfstge PLrhebung zu dem Ziele einer gesetz-
mäfsigen Kinheit der praktischen Erkenntnis" 162) entdecken und
so die „X'erbindung zwischen dem (lesetze der Idee und den allgemeinen
Gesetzen der Erfahrung" herstellen will (163 ff.;. Die Erfahrung ties
sozialen Lelnrns zeige in der That diesen Zusammenhang durch eine
„notwendige, innerlich begründete Beziehung der Grundgesetzlichkeit
des praktischen auf die des theoretischen Bewulstseins" (163); indem
nämlich, wie oben entwickelt, auf dem Fortschritte der Naturerkenntnis
der Fortschritt der Technik und so endlich die vemunfbnäfsige Cve-
staltung des sozialen Lebens überhaupt beruhe. Denn „die (Gesetzlich-
keit der Entwicklung mufs im letzten Grunde eine und dieselbe sein
fUr alles, was irgend eine Gestaltung des Rewufstseins ist" ! i68|.
Diesen Satz anerkenne ich allerdings, und sehe darin einen anderen
Ausdruck dessen, was ich als die allgemeine Kntfaltunp des Rationalis-
mus darzustellen pflege; nur dafs für mich eine gesetzliche" Kntwi» k-
luDg nicht in jedem Sinne „eine im ganzen fortschreitende" ist. Ob<
458
Littentnr.
gleich aber dies auch gegen Marx zu gelten hat, so verhehle ich doch
nicht : wenn es gilt , die W a h r s c h e i n 1 i c k c i t einer unkapita-
listischen Produktionsweise und ihr entsprechenden Rechtes, oder, wie
Natorp sagt, einer organischeren sozialen Ordnung (173) zu begründen,
SO halte ich die vcm Man vorgetragenen Beweisgründe für sicherer. Nur
um die WahtsdieiiiUchkeit kann es sich handelD, nicht um eine unbe-
stimmbare, sondern die der Notwendigkeit i^eicfa is^ soweit die betrachtete
Gruppe von Ursachen als wirksam gedacht wird: „die geschichtliche
Tendenz der kapitalistischen Akkumulation", so hat Marx das
kurze Kapitel überschrieben, das seine berühmte Prognose enthält;
er niufs wohl gewufst haben, dafs er nur Tendenz und Wahrschein-
lichkeit /ei< hnen konnte; scheint es doch sehr, dafs er die Mög-
lichkeit einer dauernden Perturbation dieser gesamten Entwicklung
(durdi den Sieg des Sltvismus in Europa) säi immer vor Augen
gebahen hat Ich sage» dais idv imerhalb ihrerGrensen, seine Beweisgründe
für sicherer halte; nicht, daft ich ae fUr schlechthin sicher ausgeben
möchte. Der Punkt, der mir immer als unbewiesen erschienen ist, liegt
in Marxens Behauptung, dafs „die Verwandlun^j; des thatsächlich bereits
auf «resellschaftlichem Produktionsl^etrieb heruhenden ka]>italistischen
Eigenturas in gesellschaftliches" oder ,,die Expropriation einiger Usur-
patoren durch die Volksmasse" „ungleiih weniger'* langwierig, liart
und schwierig sei als „die Verwandlung des auf eigener .\rbeit der
Indivklnen beruhenden zersplitterten Privateigentums in k^utalistisches
Eigentum" (Kapital I4 S. 729, der Satz ist von mir invertiert worden);
das Wort »^natürlich", das diesen Gedanken empfehlen soll, unterstützt
ihn nicht. Den vorausgehenden Satz aber: „das Kapitalmonopol wird
ziu- Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist",
betrachte ich als Ausdruck einer richtig beobachteten Thatsache und
den folgenden Satz: „die C^entralisation der Produktionsmittel und die
\ ergesellscliaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unvertraglich
werden nnt ihrer kapitalistischen Hülle", als eine Folgerung, die ins
Futurum übersetzt nicht allein sehr grofse Chancoi llir sich hat, sondern
noch nicht eimnal die ganze Labilität des Glddigewichts in dieser Ge-
sellschaftsordnung erschöpfend ausdrückt; daft die sachgemälse Bewirt-
sdiaftung des Ackers, Waldes und der mineralischen Schätze des Bodens
von vornherein und prinzipiell unverträglich ist mit kapitalistischen
Eigentumsformen und Interessen, wurde dabei no< h nicht in Rechnuntr ge-
zogen, so wenig als andere Umstände, die den Kapitahsmus noch ,. tauler"
machen, als er hier tiargestellt wird. Marx sieht den Konflikt /wis( heti Pro-
duktionsweise und Rechtsordnung als objektiv wirklich an und nennt dies
materidl ; es besteht kein Grund zu vermuten, dals er die psychologisdie
Fundierung von Produktionsweise und Rechtsordnung und vollends ihres
Konfliktes nicht erkannt habA. Aber er will sagen: der reale Konflikt
und Widerq>rudi, m. a. W. die Unzweckmäfsigkeit der „kapita-
Digitized by Google
Natorp, Paul, Soxialpädagogik.
459
listtsdieii HtiUe" existiert und wftchst, ob sie ericaimt wiid oder nicht ^.
sie macht sidi geltend in Thatsachen, die als Uebel empfunden werden,
ohne da& man deren wahre Ursache gewahr wird, z. B. in Handds-
krisen, relativer Uebervölkerung , Arbeitslosigkeit, tmd schlechthin in
Zunahme des Proletariats, Abnahme der Kapitalisten, wenigstens relativ
zur Vermehrung des Kapitals. Das Proletariat, dies Uebel am schärfsten
empfindend, orgainsiert und empört sich. Die „.Arbeiterbewegung", und
durch sie das so/.iale „Bewufstsein" Uberhaupt, reagiert gegen den gesell-
schalilichen Produktionsprozcls, vermöge wachsenden Druckes auf die
pofitische Gewalt, die endlich der arbeitenden Klasse völlig in die HÜnde
fidlen mnft: mit der zunehmoiden Unzweckmäfsigkeit der Insti-
tutionen nimmt ihre Haltbarkeit ab, vermindert sich die Energie, mit
der sie verteidigt werden kOnnen, und die Masse der Interessen, die sie
um sich zu sammeln vermögen. So vollzieht sich „mit der Notwendig-
keit eines Naturprozesses** der Zusammenbruch der kapitalistischen Pro-
duktionsweise, oder die Umwälzung der F.igentuinsordnung. Diese ist
kein F.reignis, und nicht an ein ein/.ehie-^ Kreignis, eine sogen. Revolution,
gebunden, sie ist ein „Umwälzungspro/cls" (Kapital 1* S. VllI), die
jetzige Gesellschaft ist „ein beständig im Prozeft der Umwan^ong be-
griffener Organismus" (ib. S. IX). In England war dieser Prozeis für
Marx schon 1867 „mit Händen greifbar", obgleich die englische Arbeiter*
klasse, geschweige die englische Gesellschaft als Ganzes, weit davon
entfernt war. „dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf (Ue Spur gekommen
zu sein." Sie haben aber — und eljen dies ist die negative Funktion
der kapitalistischen Entwicklung selber — der gesetzgebenden Gewalt
„die Notwendigkeit aufgezwungen , aufserordentliche und au.sgcdehnte
Idaisregeln gegen die Uebergriffe der kapitalistischen Exploitation i m
Prinzip anzundonen*' (das. S. 460). So Ist „die erste bewuiste und
planmafsige Rtidcwirkung der Gesellsdiaft auf die naturwüchsige Gestalt
ihres Produktionsprozesses" (S. 446) zustande gekommen, unabhängig
von aller Theorie und ohne dafs die „aozialtechnische Einsicht" als
abstrakte einen Fortschritt gemacht hatte, geschweige dafs der Wille
derer, von denen diese Geset/gebung abhing, innerlich „umgewandelt"
war. Der Chaiti>mus wirkte im Hmtergrunde , die Trades Unions
wuchsen an Geltung, Vermögen und Einflufs, Strikes waren an der
Tagesordnung, die Konkurrenz der Parteien um Sympathie und Stimmen
der Arbeiter macht wilUUurig f&r daen Forderungen — so wirken die
Faktoren noch heute dort, wo die imposanteste bürgerliche Gesellschaft
sich selbst regiert; der entscheidende Faktor ist aber die Macht der
Arbeiterklasse selber. Inzwischen ist zwar auch die sozialpolitische
Einsicht in der herrschenden Klasse gewachsen, aber auch die für
ihre Interessen nicht minder einsichtige Opposition gegen solche
Reformen liat an Bewufstheit zugenommen und umklammert die „be-
währten Institutionen" des Landes. Nur gegen die \ cranderungen der
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460
LiUeriUur.
Basis, d. h. ^;egcn die Verallgemeincrun;; der ka|)italistisciicn Industrie
— wenn diese auch stellenweise schon durch Kooperation angenagt
wird — will sie weder, noch kann sie sich wehren, denn »e endiält
ihre eigenen Wurzeln, und diese Veränderungen, so darf man erwarten,
werden auch die Arbeiterklasse immer mächtiger machen und die
Rechtsbildung immer mehr in ihre Hände bringen. — Ich weife wohl,
dafs auch diese Rechnung ihre Löcher hat : aber ich wiederhole, da(s
ich sie doch für zuverlässiger halte, als die Identität der Gesetzlich-
keit in „allen Gestaltunp^en des Bewufstscins".
Sirherlich : alle Gebiete wirken aufeinander, alle sind miteinander
verwandt, alle werden beherrscht durch die Tenden/ /um ^\"achstllm. zur
Komplikation, und eben dadurch zur Kegel, zur Klarung, zur \'erein-
fachung, zur Beschleunigung; als Zielpunkte dürfen allerdings jene Prin-
zipien gelten, die Natorp als Generalisation, Individttalisalkm und
stetigen Uebergang • begreift. Aber ist in dieser Hinsicht das theoretische
Bewu&tsein das Primäre, ist die Naturwissenschaft das schlechthin Leitende?
Gilt dies etwa für die Zeit des römischen Reiches? oder für die Ent-
wicklung Europas vom 13. bis Ende des 16. Jahrhunderts? Ich meine
vielmehr zu sehen, dafs auf allen Gebieten eine gleichartige Bewegung
sich vollzieht, ü b e r a 1 1 z u g 1 e i < h in universalistischer, in individualistischer
und in der Richtung auf immer dichtere X'erflechtung aller ein/'clnen Be-
ziehungen. Zu (Irunde lag (d. h. relativ am wenigsten bedingt durch
die Bewegungen der anderen Gebiete) die Entwicklung des Handels und
Verkehrs, die Verallgemeinerung des Geldes und der Geldrechnung, die
jeden, der daran teilnimmt, zugleich unabhängiger itellt und in ein Netz
von wirtschaftlichen Beziehungen hineinzwingt. Ihrer Idee nach können
diese Tendenzen auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise
durchaus sich vollenden, nämlich ihre äufsersten Konsequenzen er-
reichen. Diese würden gegeben sein : durch eine sich stetig vermindernde
Zahl grofser ges( haftlicher Mechanismen, und durch einen so sehr als
möglich universellen Staat mit streng „hierarchischer"' .Adtninistration.
Von einem ,,I)rängen zu immer organischeren Formen" (Natorp
S. 172) vermag i( h darin nichts zu entdecken.
Ethische Gedanken drangen allerdings dahin. Sie sind darum nicht
wertlos, weil sie thatsaehlich einen sehr geringen Eintlufs auf den Wandel
der menschlichen Geschicke ausüben. Mitwirkend, wenn auch zumeist
in religiöser Verkleidung, nnd sie auch in der ganzen antikapitalistbchen
Bewegung. Wie wenig sie aber ftir sich allein vermögen, dafür giebt
die Geschichte des Christentums ein einziges lehrreiches Exempel. Die
philosophische Ethik muss sich allerdings formell als allgemein gültig
und notn'endig behaupten. Sie wird dies imi so mehr verm<^n, je
mehr sie auf Verständnis des wirklichen Handelns und seiner Motive
sich stutzt, je mehr sie ihre (Irenzen erkennt, und je mehr es ihr ge-
lingt, die Normen des vernünftigsten Egoismus mit den Gesetzen der
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Natorp, Paul, Sozialpädagogik.
461
Natur und der Kultur in N'erbindung /u hrin^^en. Die verminft:c;e
Selbsterkenntnis und St-lbsthcratunf^ kann des Ideales nicht entbehren.
Dafs aber auch im Finden, im Schauen des Ideales mehr als ein I ort-
schritt, als eine Approximation in Wahrheit geschehe, ist nach allen
Analogieen nidit wahnchdniich ; wir bleiben nicht blols von seiner Wirk-
lichkeit, sondern auch von seiner Erkenntnis und der echten Liebe zu
ihm inuner weit entfernt. HoffiMmg und Mut sind der Menschheit
bestes Teil; aber die Bescheidung ist ein Hauptstück der Weisheit, und
zur Bescheidung gehört es, dafs wir die Bedingtheit unserer je-
weiligen Stellung zum Idealen ni( ht blofs zugeben, sondern mit allem
Nachdruck behaupten. Praktische Politik, die sich durch das Ideal
einer (ienicinscliait ,,frei wollender Menschen" leiten liefse, käme den wirk-
lichen Problemen dadurch nicht näher. Der praktische Politiker ist von
altersher dem Ar/te oft verglichen W(jrden. Kr soll in der Thal zuerst
wissen was ist, er soll unterscheiden, was zum Leben dient, was zum
Sterbm fährt, was gesund und was krank ist und seine leitende Maxime
bleibe: „Qucd medicamenta nun sonanty ferrum sanat, quod ferrum non
sanat, ^nis sanai**.
Anders ist es mit der Pädagogik, soweit sie denn unabhängig
von der Politik ifire eigenen (besetze hat. Sie mufs direkt das ethisch
Ideale m die Wirklichkeit einzuführen verlangen, auch wenn sie es nicht
unternehmen kann. Ungeachtet der eminenten Förderung ihrer Gesichts-
punkte durch die Beziehung auf das soziale Leihen, die das vorliegende
Werk uns so lebendiu zeigt, behält sie <l()ch als ihr eigentliihes (Jbjekt
den einzelnen Men>rhen, gleich der Kthik selber. Natorp l)ezeichnet
einmal tias \ erhältnis der Intellcktbildung zur Willensbildung als „die
zentrale Frage (S. 281). Das Vortreüliche und Einleuchtende, was er
(gegen die Herbartianer) hierüber ausführt, gipfelt in Darstellung der
Ethik als Lehrfach. Sdner wohlbegründeten Ansicht möchte ich nichts
hinwegnehmen und nichts hinzusetzen; sie betriflt etwas, dessen innere
Notwend^keit wir zugleich mit den Anfängen seiner Verwirklichung or
Augen sehen, und entwickelt zugleich jene sozialwissenschaftliche Ein-
sicht, die ich als Bescheidung zu charakterisieren wünschte. ,,I)ie
Orgain'sation des bezüglichen l'nterrichts betrefiend. versteht man schon,
dafs wir uns die philosophis< he VAh'ik als einen Hauptgegenstand all-
gemeiner und freier Volksbelehrung auf dem Wege der Volkshoch-
schulkurse" denken. Wenn in irgend einem Punkte, so .sollte hier klar
sein, dafs der Erwerb der Wissenschaft nicht ihren bestellten Pflegern
allein gehört und auch nicht blofs auf dem Wege der SchuUehre mittlerer
Stufe, d. h. in notwendig abgeschwächter, nur vorbereitender Form der
Allgemeinheit zu gute kommen darf; dafs sie vielmdir den denkbar
gröfsten Anspruch hat, soviel davon unmittelbar mitgeteilt zu bekommen,
als irgetul sie im stände ist, mit dem Verständnis zu durchdringen und
in That und Leben zu übersetzen. Ein direktes Mittel, Gesiimung da
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462
Littcratur.
eunufiflanzeD, wo sie nicht zuvor, wenigstens der Gruodlftge nach, schon
TorhttMlen war, sehen wir auch in der bis zur Höhe der Philosophie
sich erhebenden ethischen Lehre allerdings nie bt. Der Grund zum sitt-
lichen Leben, und damit auch zur sittliclicn Ue])cr^eugunf; mufs schon
anderweitig gelegt sein, das Leben sell)st mufs ihn gelegt haben. Kehlt
es aber an dieser Grundlage nur nicht ganz und gar, so kann die hinzu-
kommende, auf die letzten der FTkenntnis zuganglichen (irunde gestützte
Hinsicht des Sittlichen unzweifelhaft sehr viel thun, dieses Fundament
weiter zu sichern und andi zu reinigen ; dem erst nach seiner Selbst-
vergewisserung ringenden guten Willen eine mächtige Stütze zu schaffen,
dem schon vorhandenen neue weitere Ziele und reinere Wege zu weisen,
und so, in Verbindung mit allen anderen Faktoren der Willenserziehung,
den sittlicben Charakter des Einzelnen und schliefslich des ganzm Ge«
meinlebens zu einer höheren Stufe der Vollendung zu bringen . . .
Diese Bedingtheit ihrer \\'irkung sclimälert nicht die Würde der sitt-
lichen Lehre; aber ihre Würde darf auch nicht darüber taiisrhen, dafs
eine unmittelbare und gar unfeiilbare \\ irkung auf die Versiiilicimng des
Menschen von ihr nicht zu erwarten ist" (S. 310 f.).
FERDINAND TÖNNIES.
Xiaer, A, N.^ und Hansstn^ E., SüMUÜstaäsHk,
Bilag til den parlainentariske Arbeiderkommissions Indstilling. So*
dalstatistik Bind L Indledning indeholdende Forklaring angaaende de
af Kommissionen ivaerksatte socialstatistiske Unders0ge1ser samt Oversigt
Over de vigtigste Resultater af den af sanime udgivne Sodatetatistik.
(Bind II og III) (Statistique sociale et du travail. Apercu gcntfral des
resultats des tableaux dans les volumes II et III). Udarbeidct ved
Direktor A. N. Kiaer og Pastor F. Hanssen. Kristiania, (). Christiansens
Bogtrj'kkeri 1898 — 1899. \'1II. 108 u. 119 S. und i Karte. — Social-
statistik Bind iL Slatistiske üplysninger om Alders- og Indtaegtsforholde etc.
da begyndt at arbeide, og Intaegtsforholde 1S94 (Statistique sociale et
du travaiL L^dge et les salaires au commencement de la vie profesno*
nelle; les revenus en 1894.) Tabeller — Rigets Byer (Tableaux. —
Les villes.) Udarbeidet ved Kommissionens Sekretariat. Kristiania.
A. W. Brepgers Hogtrykkeri 1897. XII. u. 615 S. Tabellen. —
Socialstatistik Bind III. etc. Tabeller — Rigets Bygder. (Tableaux —
Les campagnesi. Kristiania. Thronsen 6: Co.s Bogtrykkeri 1898. X.
u. S. 610 — 1303 Tabellen.
Die im Jalire 1894 gewählte parlamentarische Kommission zur Vor-
bereitung der Invalidität»- und Altersversicherung hat in den genaimten
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Kiaer, A. N., und ilan!»!>en, E., So£iaUutUtik.
drei Bünden das wesentliche Ergebnis iluer sjihrigen Thatigkeit ver-
öfientttcht Die Gesamtresultate sind in den ersten 108 Seiten des
ersten Bandes und den diesen beigegebenen Tabellen kurz und übersicht-
lich zusammengestellt. Den Namen Statistik legen sich die Publikationen
mit Unrecht bei. Denn es handelt sich eigentUch nur um eine Knquete,
die sich nur auf 81 942 Personen erstreckte und im Wesentlichen fol-
gende Fragen untersuchte:
I. Die Alters- und Einkommensverhältnisse für Personen in den
verschiedensten Berufen und zwar wie sich dwse Verhältnisse stellten
a) zu Beginn der Arbeit dieser Personen und b) im Jahre 1894.
3. Die InvaliditätsverhSltnisse der von der repräsentativen Zählung
umfa&ten 81943 Pfersoncn samt den im Jahre 1895 1896 ver-
storbenen Personen, nach den Angaben der Pfarrer des Landes,
3. Die Morbilitätsvcrhältnisse — vonilx?rgclicnde Krankheiten und
teilweise Invalidität sowie dauernde Invalidität der von der roprasi-n-
tativen Zählung erhobenen 81 942 Personen. Angaben über Krankheiten,
die sich anf mehrere Jahre erstreckten.
4. Arbeitslosigkeit, wesentlich im Jahre 1894 der von der repräsen-
tativen Zählung erhobenen Personen.
5. Angaben über 4ie in verschiedenen Jahren Verstorbenen, deren
Einkommensverhältnisse, Invalidität u. s. w. Diese Angaben wurden trleich-
aeitig gesammelt, aber aufserhab der 81 942 repräsentativen Personen.
6. Kr^anzonde Anfraben zu den unter i — 5 genannten, speziell für
die ArbeiterbeNölkeruug, 45000 Personen aufserhalb der repräsentativen
Zalilung umfassend.
7. Spezialangaben über Betriebsausgaben, Gewinn, Uber die Ver-
hältnkse der Pächto; des Gesindes iL s. w. beim Ackerbau. ')
Die Erhebung erstreckte sich, wie schon erwähnt, auf 81 943 Per-
sonen, welche sich f<%endermalsen auf die Geschlechter und Stadt und
Land verteiKen.
Um sich soweit als möglich den repräsentativen Charakter der in
Betracht kommenden Angaben za sichern, befolgte man folgendes Ver-
ehren :
Die gesamte .\nzahl der Personenlisten, für welche das Schema aus-
gefüllt werden sollte, wurde zuerst derart festgesetzt, dafs sie 80000 Per-
sonen umtafste, 20000 in Städten und 60000 in Landbezirken. Dabei
*i Di'- unter ZitTcr 2 — 7 grnannten statistischen Angaben werden veröffentlicht
werden unter dem Titel: SociaUuiiätik Bind IV og V.
StSdte
Männer (Iber 15 Jahren 9 104
Frauen „ 15 „ 12340
nuanunea S1444
Laadbesirke
a8s93
60498"
sttsamnen
37 «97
44^45
81942
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1
464 Littentur.
hatte man im Aupe ein X'erhältnis zu We^e zu bringen, das sich in
allen Fällen der den Landesteilen im Jahre 1891 ents] »rechenden Be-
völkerung nähert. Das will sa<ren die Si 942 Personen, welche die re-
}ir;isentativc Zählung uratal'ste, waren derart auf die St.uite und Land-
bezirke verteilt, dals davon 36,2 Prozent auf die erstgenannten 73,8 Pro-
zent auf die letzgenannten entfielen. Nach der Volkszählung vom Jahre
1891 war das entsprechende Verhältnis 33,5 und 76,5 Prozent für die
gesamte ortsanwesende Bevölkerung und 24,0 bezw. 75,0 Prozent für die
erwachsene Bevölkerung.
Der Unterschied zwischen der repräsentativen Zihlnng vom 31. Der
zember 1894 und der gew()hnli( hen Volkszählung vom i. Januar i8gi
war der, dals die Stadtbevölkerung bei der erstgenannten etwas stärker
vertreten war als bei der allgenuinen X'olks/ählung. Hierbei ist zu lie-
merken, dafs die stadlisciie Bevölkerung rascher /uniuuni als die länd*
liehe und zu Beginn des Jahres 1896 schon 25,2 Pn»ait der orts-
anwesenden und 25,7 Prozent der erwachsenen Bevölkerung des Reichs
tietrug.
Was die Verteilung der Erhebungsformulare auf die Städte l)etrif!t,
so scheint mir diese trotz der gn^fsen Verschiedenheiten zweckmäfsig
vorgenommen zu sein. Dafs gerade die kleineren und mittleren Städte
von 2000 — 20000 Kinwohncrn besonders stark berücksichtigt wurden,
entspricht ihrer Bedeutung in der norwegischen Hevölkerungsschichtung.
Die schwache Berucksicliiigung der kleinsten Städte rechtfertigt sich
durch die besondere Erhetmng Uber die ländliche Bevölkerung, die ja
einen verbältnismäfsig größeren Teil der Gesamtbevölkerung erfa&te.
Unter diesen Umständen ist es im Gegenteil zu begrti&en, dais die un-
günstigere Stellung der Städte bei der Erhebung dadurch wenigstens
etwas ausgeglichen wurde, dafs wenigstens diese den Namen „Stadt"
fuhrenden Landgemeinden innerhalb der Städte in die ihnen gebührenden
(irenzen gewiesen svurden. Das Uel)erwiegen der städtix hen Bevölkerung,
bei den in die l^ntersuchung einbezogenen .\uskunttsiiersonen wird da-
durch noch erheblich verschärft. Es ist dies aber im Interesse der
Sache von Vorteil, da die Verhältnisse auf dem Lande derart gleich-
mäfsige zu sein pflegen, dafs sie sich innerhalb ein und desselben Be-
zirks wenig von einander unterscheiden, währ^d umgekehrt die wirt-
schaftliche I^gc der Stadtbevölkerung in ein und derselben Stadt sclion
nach den einzelnen sozialen Gruppen die gröfsten Unterschiede aufweist
und das wirtschaftliche Gesamtbild einer Stadt im Vergleich zu anderen
sehr abweicht. In den landli( hen Bezirken verteilen sich die .\uskunft-
personen, (hir< hs( hnitthch i>,2 Prozent der Bevtjlkerung, so gleichmafsig
auf die 18 Aemter, dafs das Maximum ^Lister og Mandal) nur 6,6 Pro-
zent, das Minimum (Bratsberg) 5,2 Prozent der Bevölkerung aufweist,
ersteres also vom Durchschnitt nur um 0,4, letzteres dagegen um 1,0
Prozent abweicht. Gröfser sind die Abweichungen innerhalb der Städte:
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Kiaer, A. X., and Hanssen, £., Sosialctalictik.
6»4 Prozent in Kristiania und 31,7 Prozent in Kager0 (die in Bd. L S. 3
angegebenen i5,9 Prozent beruhen auf einem Rechenfehler); Tromsa,
das nach der „Sozialstatistik" das Maximum aufweist, zeigt nur 27,3 Pro»
zent. Dafs die beiden gröfsten Städte Kristiania und Bergen, die nur
6,4 und 8,6 Prozent aufweisen, nicht starker Ijcrücksirhtifjt wurden, mag
allerdings bedauert w eiden. Allein es hätte dies wiederum zur I olge
gehabt, dafs das l'oborgo wicht der Stiidte gegenüljcr den Landbezirken
noch viel beträchtlicher geworden wäre. Nach alledem kann die Aus-
wahl der der Erhebung unterstellten Personen im allgemeinen als eine
glückliche bezeichnet werden.
Was nun die Auswahl der Auskunftspersonen auf dem Lande betriill,
so unterschied man xwisdien Ackerbau-, Viehzuchtsv Wald*, Fischerei»,
Schiffahrts- und IndustriebearlKn und verteilte hiernach die einzuver-
nehmenden Auskunftspersonen auf die einzelnen Unterabteilungen ( Herreder)
eines Amts. So hat z. B. das Amt Buskerud 3 reine Ackerbaudistrikte
(Herreder , 6 Viehzuchts- oder Feldbau-, 3 Waldbau-, 4 Industrie- und
2 Schiflahrtsbezirkf. So ergab die von der parlamentarischen Kommission
vorgenommene Auswahl der Herreder im Amt Buskerud eine zu starke
Vertretung der Industriellen, während die Vieh/uchtcr zu schwach ver-
treten waren. Die Unterschiede in der Listen Verteilung ergeben sich
aus folgendem Beispiele in dem Amt Nordre Bergenhus wurden die
Fragebogen ausgefüllt fiir der erwachsenen Bevölkerung in 3 Herreder,
für '/i^ in 2 Herreder und für Vis einem Herred und im Amt
Nordland hinwiederum Vg» */» und in sieben verschiedenen
Herreder. Die Zähler waren instruiert in den auf die genannte Weis^
näher begrenzten Ortschaften die Zählung so viel als möglich so vor-
zunehmen, dafs sie den wirtschaftlichen und sozial. -n \'erhältnissen am
meisten entspricht. lns<^esamt erstreckte sich die Untersuchung auf 109
Herreder oder dur( lisi hnittlich 6 Herreder auf jedes Amt und etwas
über * samtlicher Herreder des Reichs. Die Grolse eines Herred ist
sehr verschieden. Nach dem beigegebenen Verzeichnis der untersuditen
Herreder schwankt sie zwischen 683 (Fjotland) und 6557 Einwohnern
über 1$ Jahren (Ringsaker).
Was die Bertlckiächtigung von Stadt und Land sowie der einzelnen
Landesteile bei der Knciuete anlangt, so giebt sie hiemach su ernsten Be-
denken keinen Anlafs. Es wird immer ein Mangel der Enqutlte gegenüber der
Statistik bleiben, dafs ihr manche Einzelheiten entgehen, die diese ert'afst,
da sie alle Personen, bei denen das betret^'ende Merkmal zutnt^t zählt.
Dagegen sind der Enquete manche Din;,^e zuganL,'lirlt. die die Statistik
nicht erfassen kann, da sie nicht /.ahll)ar sind. In dieser Hiiisic iit kommt
aber der vorliegenden Erhebung der Charakter einer Enqucie nicht zu.
Der von ihren Bearbeitern gebrauchte Ausdruck „repräsentative Zählung"
charakterisiert sie am besten : Es ist eine auf einen besthnmten Personen-
kreis beschränkte Teilstatistik. Methodisch ist es ein Fehler, dafs —
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466
Littemtur.
wenigstens soweit sich dies aus den Angaben über die Städte beurteUen
iMfst — nirgends eine ganze Gemeinde der Erhebung unterzogen wurde,
sondern überall nur eine von den Zählern ausgewählte Anzahl von Per-
sonen. Dadurch verlieren nicht nur die immerhin verhältnismäfsig kleinen
absoluten Zahlen, sondern auch die daraus berechneten Prozent Verhält-
nisse an Zuverlässii^keit und Beweiskraft. Es liätte nicht versäumt werden
dürfen — wenigstens zur Kontrolle — einige Gemeinden (städtische
wie ländliche) ganz auszuzählen, zumal durchweg nur zählbare Dinge
erhoben worden sind.
Wenn hiemach schon gegen den Utnfang der Statistik erhebliche
Bedenken auftauchen, so ist auch ihr Inhalt keineswegs einwandfrei.
Der Fragebogen verlangt Auskunft über Name, Ort und Jahr der Ge-
burt, damalige Lebensstellung (Livsstilling) des Vaters, über Schul- und
Fachbildung, liber das fahr des Heginns der Arbeit, in welcher Stellung
(Stillingj, für welchen Lohn, über spatere Lebensstellungen und Arbeits-
einkommen oder anderen Ertrag der Thätigkeit (Virksomhed) (besonders
für die Jahre 1875, i885, 1890 und 1894). Hierfür soll so speziell
wie möglich die Lebensstelhmg und Erweibsart (Lirsstilling og Erhvenrets
Art) angegeben werden. Eine weitere Frsge lautet : „Welches Einkommen
hat er im letzten Jahr aufser dem oben angeführten Arbeitseinkommen
gehabt imd zu welchem Betrag kann dieses angesetzt werden (Unfer-
nehmereinkommen und Kapitalrenten nicht eingerechnet)? a) aus Neben-
erwerb, b) lieldeinkonnnen durch Arbeit der Hausfrau, cl durch Arbeit
der erwachsenen Kinder, d) aus eigenem Hause, c) anderes V'ermögens-
einkommen, f) Leibrenten tmd Pensionen, g) anderes Einkommen, welches?
Hierauf folgen Kontrollfragen über die Besteuerung, sowie Armen-
unterstatzung, flber Miete und Wert der Wohnung im eigenen Hause.
Hieran schliefsen sich Fragen über den jährlichen Aulwand für Essen
und Trinken in Geld oder Geldeswcrt, für Feuerung, Kleidung, für
Kranken- und Pensionskassen, Lebensversicherung u. dergl. Wieviel Er-
wachsene und Kinder umfafst der Hausstand, auf die sich diese .\usgal)en
beziehen? Es f(jlgen Fragen über regclmäfsige oder mehr gelegentliche
und wechselnde .Arbeit, über Zahl der Arbeitstage im Jahr, über Arbeits-
losigkeit wegen Krankheit, Mangel an Arbeitsgelegenheit oder aus anderen
Gründen. Hieran reihen sich mehrere Fragen über volle oder teilweise
Erwerbsfähigkeit. Für voll oder teilweise Arbeitsunfithige wird der Zeit-
I)unkt, die L^rsach«^ Dauer der Arbeitsunfähigkeit erhoben, sowie die
Höhe des Einkommens vor und nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit.
Weiter wird für diese Kategorie der jetzige oder für Verstorbene der
letzte Familienstand erhoben, das Jahr der Klieschliefsung. das (icburts-
Jahr der Ehegatten, für W itwer und Geschiedene, in welchem Jahr sie
ihren Gatten verloren haben oder geschieden wurden, wieviele Kiuder am
Leben oder gestorben sind, in welchem Jahre sie geboren wurden oder
starben. Für Einwanderer und Auswanderer ist das Jahr der Ein« o<ler
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Kiaer, A. N., und Hansscn, E., Sozialstatistik.
Auswandening zu erheben, flir Verstorbene das Todeqabr und die
Todesmsache, für Abwesende der letzte bekannte Wohnsitz oder Arbeits-
ort. Bei einer kritischen Würdigung dieses Fragebogens ßUlt sofort auf,
dafs die bei den deutschen Berufs- und Gewerbezähliingen gemachten
Erfahrungen nicht verwertet worden sind. Es ist überhaupt auffallend,
dafs sich ^UT keine X'ergleichungen mit Kipcbnisscu der Statistik anderer
l-äncier in dem Berichte hnden. Hatte man diese Erfahrungen beruck-
sithtigt, so konnte sich unmöglich eitie soich verschwommene l'rage
finden, wie z.B. Nr. 6 „Faderens davaerende Livssiilling :" Die Klarheit
gewinnt dadurch nicht, dafs die Tabelle über die Ejokommensverbähnisse
f&r die Jahre 1875 — 1894 im Fragebogen überschrieben ist: „LivsstilUng
og Erhverrets Art" und sich hierzu die Anmerkung findet: „Livsstillingen
og Erhverrets Art anf0res saa specielt som muligt. For Hustruerog
Enker anfores titlige Mandens Livsstilling." Hier hätte vor allem unter-
schieden werden müssen zwischen Haupt- und Nebenberuf. Sodann
hätte der Beruf erhot>en werden müssen und davon getrennt die Stellung
im Beruf, ob selbständig oder un5ell)ständi;.^. L'eberhaujit wäre die Haus-
haltungsliste der hier verwendeten Kinzelzahlkarte vorzuziehen gewesen.
In einer solchen hätten auch Fragen darüber, ob der Betreflende l)ei
seinem Arbeitgeber wohnt oder nit.ht, Aulnaijme tmden können. Zu
▼ermissen sind Fragen über die Hausindustrie. Diese schwerwiegenden
Mängel der Erhebung dürften allerdings in milderem Lichte erscheinen,
wenn man sich vergegenwärtigt, dafs die ganze Erhebung zur Vorberei-
tung ekes Invaliditäts- und Attersversicherungsgesetzes unternommen
worden ist Doch ist auch die Invaliditätsgefahr in den einzelnen Be-
rufs/.weigen je nach ihrer Gesundheitsgefahrlichkeit sehr verschieden, so
dafs schon aus diesem Grunde auf eine genaue Berufserheining nicht
verzichtet werden durfte. Ferner ist nicht zu vergessen, dafs die Frage
der Krankenversicherung in Norwegen immer noch nit ht gelöst ist und
dafs diese Frage, weiui sich das am i Juli i8o5 in Kraft getretene Un-
fallversi( herungsgesetz ganz eingelebt hal)en wird, immer dringender werden
wird, in dieser Beziehung können die in den Tabellen unterschiedenen aS
soadalen Gruppen nicht geniigen. Was wollen deim Bezeichnungen wie
Handwerker flir eigene Rechnung und Handwerksarbeiter, oder Selbständige
in Handel und Geschäften und Privatbeamte im Fabrikbetrieb, in der
Schiffahrt, in Handel und Geschäften, in anderer Thätigkeit und Fabrik-
arbeiter sagen? Innerhalb des Handwerks sind die Gesundheitsverhält-
nisse und damit auch die Invaliditätsgefahr z. B. der S<hneider und
Bäcker ganz andere als diejenigen der Maurer und Zimmerleute. Die
-Arbeiter einer SchwefelkohlenstotTfabrik sind so gut Fal)rikarbeiter wie
diejenigen einer Maschinenlabrik inid doch sind ihre .Vrbcitsl;cdingungen
für die Gesundheit viel, viel nachteiliger als diejenigen der letzteren.
Wenn anders diese l'ahebungcn für die Frage der Invaliditatsversicherung
einen Zweck haben sollten, durften diese so grundverschiedenen Berufe
Ardihr f&r tot. G«aet«gel>tiag u. Suüstik. XIV. 30
Digitized by Gopgle
Litteratur.
flicht in deo emen Topf: Handweilcer oder FabrOesifaeiter geworfen
werden. Unter diesem pfimipidlen Mangel leiden sämtlidie Ergefanisae
der Eriiebimg.
Dies ist um so bedauerlicher als die Bearbeiter der Enqudte sonst
ein grofses (beschick in der übersichtlichen Aufbereitung des frewonnenen
statistischen Materialcs zcit,'en. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil der
Erhebung ist die streng durcii^^eluhrte rnterscheidun^^ zwisc hen Stadt und
Land. Von besonderem Interesse sind die in unserer Statistik u. W.
zum ersteonial angestellten Erhebungen über das Aller, in welchem der
Beruf ergriffen wurde.
Es zeigt sich, dafe die Arheit auf dem Lande viel frtKher bq;innt
als in den Städten und es ist namentlich auch die Zahl derjenigen,
welche im Alter von 6 — 13 Jahren zu arbeiten beginnen, auf dem I^nde
viel gröfser als in den Städten. Aus den für die Zeiträume vor 1855,
1855 — "^M. 1865 — 74, 1875 — 84 untl 1885 — 94 durchgeführten l^nter-
sucliungen erjjiebt sich, dafs es seit 1855 mit der Zeit immer mehr
Leuten vergönnt war, später mit der Kerulsarbeit zu beginnen und eine
längere Zeit für die allgemeine Ausbildung und Vorbereitung auf den
Beruf zu verwendoi. Es ist <Ues zugleich ein &ichen daflir, dals das
Verständnis für den Nutzen der sich in Norwegen auf hoher Stufe be-
findenden Volksschulen bei der Bevölkerung im Zunehmen begriffen ist.
Aus der Uebersicht über den Reruf und den Beginn der Arl>eitszeit er-
giebt sich eine beträchtliche Al)nahme der landwirtschaftlichen Berufs-
thätigkeit. Vor 1.S55 Ix gannen ihren Beruf als landwirtschaftliche Ar-
beiter im weitesten Sinne 72,8 Prozent männliche und 71,4 Prozent
weibliche Arbeiter, 1885 — 1894 dagegen nur noch 52,3 und 49,5 Pro-
zent. Die Fabrikarbeiter weisen dem gegenüber eine Zunahme von 1,9
und 0,9 auf 6,6 und 1,3 Prozent auf. Die vergleichende Zusammen-
stellung des Berufs des Vaters mit den Altersjahren, in, welchen die
Arbeit begann, erbringt den sahlenmäfiigai Nadiweis daflir, da& die
sozial besser gestellten Klassen ihren Kindern eine längere Ausbildung
zu teil werden lassen können, wie folgende Extreme zeigen, be-
gannen zu arbeiten in Prozenten im Alter
iroimil.
von 6-13 Jahren
von 14 — 19
männl.
l weibl.
imätml.
^»^^ " {weibl.
imännL
von 25 oder mehr .^^
nicht b<'j;onni^n ori.'r^miiiinl.
aufgcgcbcu (weibl.
Beruf des
Vaters
Beamter
Fischer
a,i
5».o
33,6
4*.5
29.9
47,0
28,2
0,4
1,1
3J,0
IM
ao,9
0,0
15,2
0,7
23.0
0.9
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I
Kifter, A. und Hunssen, E., Soxialstatistik.
469
Neu und von grolsem Interesse ist auch die X'ergleichung des Be-
ruls des Vaters mit demjenigen, in welchem die Kinder zu arbeiten be-
gannen. Beispielsweise sei hier erwähnt, da(s von 980 Söhnen von
Fabrikarbdteni 437 wieder Fabrikarbeiter, 147 Handwerkslehrlinge,
87 Sedeute, 60 Dienstboten wurden und 81 den landwirtschaftlichen
Beruf ergrUTen. Von 2506 der Enqu^e unterzogenen Söhnen von
Fischern begannen nur 46 als selbständige Fischer zu arbeiten, 1068
dagegen arbeiteten in der I>andwirtschaft bei ihren Eltern, 899 als
andere Arbeiter. Xur 62 oder 2' , Prozent wurden Handwerker, 91 oder
3.6 Prozent Seeleute, 13 oder '2 Arbeiter im Handelsgewerbe.
Wie diese Beispiele zeigen, heleri eme solche Vergleichung sehr inter-
essante Ergebnisse, es würde jedoch zu weit führen, hier auf die Einzel-
heiten näher einzugehen. D» gleiche trifft zu über die Vergleichung
des anfänglichen Berufs mit dem zur Zeit der Erhebui^; aii^ieQbten,
wobei es sich also um eine Statistik des Berufswechsels handelt. Der
Berufsw echsel kommt natürlich am häufig^en beim Gesinde, am seltensten
bei den Beamten \ ot.
Von ganz besonderem Interesse sind die Ergebnisse der Erhebung
über die Kinkominensverhältnisse. Sie wurden durch zwei Schwierig-
keiten beeinträchtigt, die die Schätzung des Xaturaleinkomniens und des
Einkommens der Frau boten. In beiden Fällen wurde der Knoten nicht
gelöst, sondern durchhauen. Das Naturaleinkommen wurde allgemein für
Kost und Wohnung auf 100 Kr. und für Kost, Wohnung und Kleidung
auf i5o Kr. festgesetzt, und für das ^kommen der verheirateten Ehe-
frauen wurde einfach eine Null eingesetzt. Da leider die Einkommen-
steuerstatistik *) noch viel zu wenig gepflegt wird — eine nach Berufen
gegliederte Einkommensstatistik besitzen von deutschen Staaten nur Ham-
buri; und Oldenburg und von aufserdeutschen, wenn hier auch nur nach
grofsen ( iruppen Finnland, verdienen diese Ergebnisse besondere Be-
achtung.
Den .-Vrbeiten der Kommission mufs ein grofses Geschick in der
statistischen Aufbereitung des gewonnenen Materials nachgerühmt werden.
Um so lebhafter ist der schon gerügte Mangel zu bedauern, dafs hierbei
die einsdnen Berufsgruppen nicht weitergehend spezialisiert worden
. sbd und dafs namentlich bei der Nachweisung der einzelnen Ein-
kommensklassen nach den Bcrufsgnii)i)en statt dieser sehr verschieden-
artige Berufe umfassende grofsc soziale Klassen gewählt worden sind.
Doch wird der SoziaUtatistiker bei dem fast vollständigen Mangel solcher
') Eine sasammenfass' n 1. H.arl)fitung der Kinkoir.nn nst.u.rst.itistik vi ml Ii eher
deutM'lirn Staatf-n h.xhc irli j^-^i h< n in nn inem Aut.vat/f iibt r Ziin.iliiii«- iltT
grofs.-ii I iiikuiniii. n in 1 )cut>< lil uui während «Icr 1< t/.tcn Jahm-hutc*' in G. Hifths
Antialfii des DcuIncIu-h Reicht». Jahrg. 1893 S. i — 107.
30»
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470
Litteratur.
Statistiken auch für das hier Gebotene dankbar sein, da sich ihm neue
Gesichtspunkte eröffnen und man in der Beurteilung eines ersten Ver-
suchs auf diesem Gel)iete nicht den strengsten Mafsstab anlegen darf.
Jedenfalls erscheint die Kn.|iRte geeignet, eine sichere (Grundlage für
die Rentenbercchnunj,' dt-r Im aiiditäts- und Altersversicherung zu bieten
und genügt dalier, wenigstens in der Hauptsache ihrem nächsten Zwecke»
Berlin.
CLEMENS HEISS.
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Koalitionsrecht und Strafrecht.
Von
Prof. Dr. THEODOR LOEWENFELD.
in MflncbeiL
I. Der „Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des j^'cwcrhlichen
Arbeitsverhältnisses" ist dem deutschen Reichstage mit Schreiben
vom 26. Mai 1899 vorgelegt worden. Am 22. Juni 1899 lehnte der
Reichstag nach dreitägiger Verhandlung die beantragte kommissa-
rische Brratung und damit die Vorlage selbst mit grofser Mehrheit
ab. Auch wenn hiermit das Schicksal der „Zucht hausvorlage" be-
siegelt wäre, würde doch die Bedeutung des Gesetzentwurfes eine
Besprechung in diesem Archiv rechtfertigen. Der „Schutz der
Arbeitswilligen", welchen der Entwurf anstrebt, steht seit mehr als
zwei Jahren im Mittelpunkte der sozialpolitischen Erörterung. Er
wurde und wird namens und im Interesse der Arbeiter \erlangt
von den Unternehmern; die Arbeiter haben, wo sie zu
Worte kamen, sich gegen diese Vertretung ihrer Interessen energisch
zur Wehr gesetzt und gegen den ihnen zugedachten Schutz mittels
eines neuen ausnahmerechtlidien Stra%esetzes protesticat. Im Fol-
genden soll das geltende Recht, seine Anwendung und Nicht-
anwendung dargestellt und die Frage untersucht werden, ob die
allseitig als notwendig erklärte Reform, statt mit einer Ver-
schärfung, nicht mit Beseitigung des bestehenden Aus-
nahm erechts zu beginnen habe. Für die wünschenswerte
richtige Er&ssung des letzteren durch die weitesten Kreise bietet
die Vorlage, gleichviel wie die Entscheidung über dieselbe fallt,
ein sehr wirksames DemonstrationsmitteL
n. Dem Entwürfe schreibt die be^gebcne amtliche ,3cgrün-
dung" die Bestimmung zu, „die Freiheit des Arbeitsvertrages und
das Selbstbestimmungsrecht der daran Beteiligten wirksamer als
Archiv für «M. GcMUgcbmc u. SiMiilik. XIV. 3I
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472
Theodor Loewcnlcld,
bisher zu schützen". Der Arbeitsvertrag, dessen Freiheit hiermit
geschützt werden soll, ist der Vertrag des einzelnen Arbeiters
mit dem einzelnen Unternehmer, der Vertrag, wodurch der Arbiter
seine Arbeitskraft dem Unternehmer auf Zeit verkauft. Geschützt
werden kann nur, was existiert Es ist aber allgemein anerkannt,
daTs der einzelne Arbeiter als solcher die „Freiheit des Arbeits-
vertrages" praktisch nicht zu üben vermag, daßs sie iiir ihn nur
theoretisch besteht, da er genötigt ist, seine Ware vorbehaltlos
dem Kaufer anzubieten. Auch die Reichsregierung hat sich dieser
Erkenntnis früher nicht verschlossen. In der Begründung der Novelle
zur Gewerbeordnung von 1891 wird festgestellt, dals „der einzelne
Arbeiter, welcher Beschäftigung sucht, in der Regel keine Wahl hat,
ob er sich den in der Arbeitsordnung festgestellten Bedingungen
unterwerfen will »dor nicht, daSs ihm also beim Vertrags-
schlusse jede Hinwirkung auf die einzelnen Re>
dingungen des Arbeitsvertrages entzogen ist." (Motive
S. 44 zu § I34d des Entwurfs der Novelle von 1891.) Die Gründe
für diese Thatsache bestehen bekanntlich in der regelmäfsigen wirt-
schaftlichen Ohnmacht des Arbeiters als isolierten Kontrahenten
gegenüber dem Unternehmer, welche durch die Konkurrenz der
Arbeiter unter sich gestciL^crt wird. Ihren Wirkunj^^cn kann der
Staat dadurch direkt AMnueli thun, dafs er sich in den Abschlufs
der Ari)eilsvertriii;e einnii>cht und die Arl)eitsbedingun|4en im Inter-
esse der Arbeiter diktiert. Dies «^a'schielit auf dem Wege der Ar-
beiterschutzgesetze. Soweit fliesell)en reichen, ist von Freiheit des
Arbeitsvertrages weder für den rnternehmcr noch für den .Arbeiter
die Rede. Die „Freiheit" des .Arbeitsvertrages wird durch die .\r-
beiterschutzgcsetzgcbung nicht geschützt, sondern beseitigt. Be-
kanntlich ist aber das (jeltungsgebiet der deutschen Arbeiter^chulz-
gesetzgebung zur Zeit eng begrenzt. Sie regelt die Kinderarbeit
und zum Teil die I Vauenarbeit in Fabriken, normiert einen gesetz-
lichen Ruhetag und bezweckt endlich, gewisse physische und
geistige Gefährdungen wenigstens von der Betriebsstätte der ge-
werblichen Arbeit ferne zu halten. Die Wichtigkeit auch einer so
begrenzten Arbeiterschutzgesetzgebung, insbesondere in Bezug auf
den Schutz der heranwachsenden Generation, soll nicht verkannt
werden. Aber es bleibt die Thatsache bestehen, da(s grundsatzUch
die wesentlichsten Elemente des Arbeitsverhältnisses aller er-
wachsenen Arbeiter, die R^elung der Zeit, der Dauer und der
Art der Arbeit, sowie der Gegenleistung des Arbeitgebers der
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Koalitiolureeht und Strafredit
473
„freien Vereinbarung" bisher vorbehalten sind; es besteht auch für
die nächste Zeit keine Aussicht auf Erstreckunj^^ der staatlichen
Schutzgewalt auf diese Gebiete. Bleibt hier der Arbeiter isoliert
dem l'nternehmer gegenüber, so diktiert zwar nicht der Staat, aber
der Arbeitgeber die Bedingungen des Arbeitsvertrages. Von einer
durch den Staat zu schützenden Freiheit der A^cr ei nbarung
kann dann wieder praktisch keine Rede sein. W ill man diese
überhaupt ermöglichen und damit ein Objekt des staatlichen
Schutzes schaffen, so giebt es hierfür bekanntlich einen einzigen
Weg: Die Koalition der Arbeiter, die organisierte Selbsthilfe. Sie
hebt die Ohnmacht des einzelnen Arbeiters gegenüber dem Unter-
nehmer auf; sie beseitigt ferner oder beschränkt die diese Ohn-
macht noch steigende Konkurrenz der Arbeiter unter einander.
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, welche verschiedene Be-
deutung den Koalitionen der Arbeiter einerseits, der Arbeitgeber
andererseits zukommt. Der einzelne Arbeitsgeber bedarf keiner
Koalition, um dem einzelnen Arbeiter gegenüber seine wirtschaft-
liche Selbständigkeit und damit seine V^crtragsfrciheit zu wahren.
Wühl aber bedarf der Arbeiter zu solchem Zweck der Vereinigung
mit seinen Berufsgenossen. Die Freiheit des Arbeitsvertrages kann
wohl ohne l'ntei nehmerkoalitionen , nicht aber ohne Arbeiter-
koalitionen für die Regel bestehen. Dies ist vor mehr als 30 Jahren
bereits in den .Motiven zu dein im Februar 1866 von der preulsi-
srhen Fvegieruiig dem I.andta!:,'e vorgelegten Kntwurfe eines die
Koalitions\ erböte aljscliatlenden (iesctzes anerkannt worden.
Darüber, wie weit das (iehict des Arheiterschutzgesetzcs sich
zu er.strecken, wo das (iebiet der Wrlragslreilieit zu beginnen hat,
können Zweifel bestehen; dai^egen ist aufser allem Zweilel, dafs, wo
das Arbeiterschutzgesetz aufhört, der freie W-rtrai: bcr- innen
mufs, dafs der Staat nicht die eine Partei des .Arbeil-^verhahnisses
der Willkür der anderen Partei ausliefern darf; fehlt dem .Arbeiter
gegenüber dem rnternehmer tlie wirkliche X'ertragsfreiheit, so ist
überhaupt alle staatsbürgerliehe und rechtliche l^'reiheit ein leeres
Wort. Ein solcher Zustand einer i^anzen groTsen Be\ r)lkerungsklasse
ist unvereinbar mit Grundeinrichtungen des modernen Staates,
welche eine freie Bevölkerung voraussetzen; er ist ferner auf die
Dauer unvereinbar mit dem Ik^stande der modernen Kultur. Es
ist ein feststehender F^rfalH•ung^^at/, dafs, wo und wann immer die
l'nternehmer die Bedingungen des .Arbeitsvertrages einseilig auf-
zuerlegen vermochten, diese Arbeitsbedingungen zu einer öttent-
31«
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474
Theodor Loewenfeld,
liehen Gefahr geworden sind, dafs körperliches, geistiges insbe-
sondere sittliches Verderben der abhängigen Arbeiterschichten die
Begleiterscheinungen des „freien" Arbeitsvertrages waren, Begleit-
erschemungen von solcher Regelmäisigkdt, dals die nationalökono-
mische Theorie sie früher als Naturnotwendigkeit und in
ewigen Gesetzen begründet erklären konnte. Das Anwachsen der
Gefahr zwang endlich den Staat, diesen angeblich ewigen Natur-
gesetzen mit seinen Arbeiterschutzgesetzen entgegenzutreten. Die
Thatsache, dals dies in allen Ländern der europaischen Kultur not-
wendig geworden, beweist, wie Brentano mit Recht au^[e(uhrt ha^
dals es unmöglich ist, die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses einfach
dem Belieben, dem Wohlwollen, der vernünftigen Erwägung oder Ge-
rechtigkeit der Unternehmer zu überlassen. Für den heutigen Staat
giebt es dalur nur zwei Wege: die Beseitigung der Vertragsfreiheit
und die Regelung des Arbeitsverhältnisses durch zwingende Rechts-
normen, oder die V^erwirklichung der Vertragsfreiheit durch die
Koalition der Arbeiter. Wenn und soweit er das erste nicht will,
insoweit mufs er das zweite wollen. Ks ist nicht Saclic des freien
Beliebens des Staates, ob er ( iercclitigkeit üben, ob er die X'crtrags-
freiheit der Arbeiterklasse auf dem einzig möglichen Wege .sclnit7.en
will oder nicht. Die (ierechtii^keit, die er den Arbeitern gegenüber
übt, ist am letzten Kndc ein Akt der (ierechtigkeit gegen sich
selbst, eine unentbehrliche Mafsnalnne der Selbstcrliaitung.
Hiermit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, dafs die Be-
deutung der Arbdterkoalition lediglkh in der durch äe zu verwirk-
lichenden Vertragsfreiheit des Arbeiters gegenüber dem Unter-
nehmer beschleusen, dais sonach die Wirkungsbereiche der Arbeiter-
schutzgesetze einerseits und des Koalitionsrechtes andererseits von
einander vollständig, verschieden seien. Die Koalition hat ftir die
Hebung der Arbeiterklasse . eine viel weiterreichende Bedeutung.
Insbesondere die Arbeiterschutzgesetzgebung ist in keinem Kulturlande
ohne Mitwirkung der Arbeiter begründet worden und sie ist nirgends
ohne ihre Mitwirkung durchführbar. Die Geschichte der Arbeiter-
schutzgesetzgebung zeigt, dafs sie Schritt für Schritt .1 die
Unternehmer erkämpft werden mufste und dafs in diesem Ivampfe
die Arbeiter selbst in erster Reihe standen. Was die Vergangen-
heit lehrt, bestätigt die Gegenwart. Kines der wichtigsten Ziele
der heutigen deutschen (lewerkscliaftsbewegunL^ ist die Beseitigung
von lebcnsgcfährlichtii, ungesuntleii oder sitlcinvidi igen Betriebs-
einrichtungen und Betriebsweisen, üs genügt hier wohl, an ein
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Koalitionsrecbt und StrafrecbL
475
paar Beispiele zu erinnern: den zähen Kampf der Bauarbeiter um
Abstellung der offenen Koaksfeuer, um bessere Unterkunftsein-
richtungen, ihre Bestrebungen in der sog. Fensterfirage, um eine
wirksame Hochbai^werbeau&icht, die von den Bauariieitem oiga-
nisieite Unfallstatistik, ihre Vorstellungen bei den Reichsbehörden,
die Veranstaltung eines eigenen Arbeiterschutzkoi^resses im gegen-
wärtigen Jahre; den Kampf der Bäckergesellen gegen die den
Anforderungen an Reinlichkeit und Hygiene nicht genügenden Zu-
stande der Bäckereien; die Forderung der Schneidergesellen, dafs
ihre Arbeiten aus ihren engen eigenen Wohnungen in ordentliche
Betriebswerkstatten von den Meistern verlegt werden, und deren
Durchsetzung auf dem Wege des Strikes; die Forderungen der
Hafenarbeiter zu Hamburg vor dem grotsen Strike 1896/97 in Be-
zug auf die Uniallverhütung und Aufstellung eines eigenen, mit
genügender gesetzlicher Vollmacht ausgestatteten Hafeninspektors;
der Hergarbeiter in Bezug auf Einrichtungen zur Beseit^ung der
Unfallgcfahren und genü<:jcnde Bergwcrksaufeicht u. s. w. — In der-
artigen Bestrebungen erblicken Unternehmer vielfach Kingriffe in
die Selbstherrschaft über ihre Betriebe und die Koalitionen ZU
solchem Zweck sollen nicht Lohn- und Arbeitsbedingungen zum
Gegenstände liaben, sondern „Machtproben". Mit diesem Begriff
operiert die Gerichtspraxis, die Denkschrift und die Begründung
(S. 7). Auch die bei einer überaus grofsen Anzahl von Strikes er-
hobene Forderung der Arbeitszeitverkürzung, fWc. Forderung der
Einführung eines Maximalarbeitstages, insbesondere für ;,^csund-
heitsgcfährliche Betriebszweige, u. s. \v. gehört hierher. J.Ik mso be-
weisen die Berichte der deutschen Gewerbe- und I-'abrikinspekt.oren
die rege und nützliche .Anteihiahnie der Arbeiterkoalitionen an der
Durchführung der e r k ä ni p f t e n Arbeiterschutzgesetze. Welche
Bedeutung der Arbeiterkoalition auf diesem Gebiete zukommt,
springt in die Augen, wenn man die Zustände in jenen Betriebs-
zweigen vergleicht, in welchen den Arbeitnehmern die Kraft zur
freien Koalition fehlt, den „klassischen Gebieten der Arbeitswilligen",
je notwendiger hier der Kingriff der Schutzthätigkeit des Staates
wäre, desto unmöglicher ersclieint sie, so dafs Zustände bestehen
bleiben, die mit Recht als barbarisch bezeichnet wertlen.
Dais die Koalition der Arbeiter im öffentlichen Interesse unent-
behrlich ist, hat denn auch früher wenigstens die deutsche Reichs-
regfierung anerkannt. Sie liefs 1891 bei Beratung der erwähnten
Novelle zur Gewerbeordnung in der Reichstagskommission erldären:
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476
Theodor Loevcnfeld,
dafs die verbündeten Regierungen dem Koalitionsrechte der Arbeiter
in keiner Weise zu nahe treten wollen; sie erkennen dieses p^esetz-
liehe Recht nicht nur an, sondern sind auch überzeugt, dafe das-
selbe nach Lage der Saciie im Interesse der Arbeiter nicht ent-
behrt werden kann." Kann die Arbeiterkoalition im Interesse
der Arbeiter nicht entbehrt wertlen, so ist sie im öffentlichen
Interesse unentbehrlich. Das tiffeiUliche Interesse ist be-
teiligt, wenn es sich um die Kxistenz. das Wohl und Wehe ciiu i viele
Millionen umfassenden Volksklassc handelt. Es kann tlaher den
gesetz;;^el)iiulcn ( iewalten auch nicht gleichgültig sein, ob und wie
die .\i beiterkoaiition ins Dasein tritt. Wenn auch Selbsthilfe im
Wege der \'ercinigung der Beteiligten in I""rage ist, so ist doch mit
Rücksicht auf das öffentliche Interesse diese Selbsthilfe so zu orga-
nisieren, dais sie den anzustrebenden Zweck in mc^lichst vdl-
kommener Weise erreicht. Dais der Staat, anstatt in das vnrtschaft-
liehe Getriebe direkt einzugreifen, die Selbsthilfe zu organisieren
sucht, ist eine Erscheinung, welche im modernen Deutschland häufig
ist, gewils viel häufiger z. & als in England. Die Formen, in
welchen dies geschieht, sind mannigfaltig. Es genügt, hier darauf
hinzuweisen, dafs der Staat den dem „Mittdstande" angehörigen
Warenverkäufem dadurch zu helfen sucht, da& er denselben das
Recht des Zwangs zu r Organisation verleiht, vgl. die Hand-
werkcrnovclle vom 26. Juli 1897 §§ 100 ff. In anderen Fällen
erzwingt der Staat direkt die Organisation und prägt sorgiältig
Formen aus, welche, dem Bedürfnisse des einzelnen Falles genau
angepafst, ein geordnetes Rechtsleben der Vereinigung nach innen
und nach aufsen gewährleisten. Auch dem nicht eingetragenen
und nicht konzessionierten Vereine gewährt das H.d.H. ijsj 54, 705 ff.
wenigstens den Rechtsschutz des Ci e sei 1 Schafts rechts und damit
eine Rechtsstellung, welche nach innen, den Mitgliedern gegenüber,
derjenigen der X'creine gleiciiwertig ist, nach aulsen in der Hau|)tsache
gleichwertig gestaltet werden kann. ') Dieser Rechtsschutz ist ins-
besondere den Beruls\ ereinen der l'nternehmer als Produzenten und
Händler erteilt. Wären die Koalitionen, welche zum Zweck an*
geblicher „Kraftproben" (oben S. 475, Begründung S. 7) begründet
werden, in der That das, wofiir man sie ausgiebt, so würde ihnen
ebenfalls der Schutz des § 54 B.GB. zur Seite stehen, da ja solchenüüls
§ 152 * G.O. für sie nicht gilt Sie wären also gesetzlich begünstigt
gegenüber den angeblich allein rechtmäßigen Arbeiterkoalitioaea.
') Vgl. Planck, Kommenlftr mm B.G.B. m § 54.
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KcNÜitionsrecbt und StrafrecbU
477
HL Die Koalition der Aibeiter war bis vor 50 Jahren verboten
und strafbar; dann hat man — in § 152 * der G.O. — diese Verbote
imd Strafbestimmiingen au%ehöben, aber der Sdiutz des Rechtes ist
der Arbeiterkoalition in keiner derjenigen Formen, die das Vereins- und
Gesellschaftsrecht der deutseheti Gesetse kennt, niteQ geworden.
§ 151* sagt: „Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen
Vereinitj^ungen und Verabredungen frei und es findet aus letzterem
Weder Kla^e noch Einrede statt."
Im Regierungsaitwurfe der Gewerbeordnui^ für den Nord-
deutschen Bund') waren diese Verabredungen als „nichtig" erklärt.
Die Motive heiTierken hierzu , dafs „den Koalitionsverabredungen
der staatliche Schutz \orcnthalten" bleibt. Nach der auf die Anträge
der Abgeordneten Lasker und Friedcnthal zuriickzulühreiHleii jetzigen
I'assung des ij l 52 Abs. 2 ist die Koalitionsverahredung nicht nichtig.
Die Koahtion ist demgemäfs kein blofs thatsächlicher , sondern ein
Rechtsverband. Derselbe stellt aber insoferne nicht unter den Regeln
des Gesellschafts- und Vereinsrechtes, als ihm der Klage- und Ein-
redeschutz versagt ist und der Rücktritt jedem Teilnehmer jeden
Augenblick freisteht Diese beiden Bestimmungen sind selbstver«
ständlidi nfcht identisch. IMe VcHTKhrift, dafs jedem Teilnehmer
der Rücktritt freisteht, würde nur bewirken, dafs nach eriolgtem
Rucktritte keine Verbindlichkeiten aus den Verabredungen oder
dem Statut der Vereinigung dem Teilnehmer mehr erwachsen
können; dagegen würden in der Vergai^enhdt bereits begründete
Verbindlichkeiten fortbestehen; also k. B. die wegen verabredunga*
widrigen Verhaltens nach dem Statut der Koalition einem Mitgliede
auferlegte Vertragsstrafe bliebe begründet und könnte eingeklagt
werden. Die Hinzufiigung der selbständigen Bestimmung, dals aus
den fraglichen Verabredungen weder Klage noch Einrede statt*
findet, bedeutet, dafs auch während des Bestehens und FcMtbestehens
der Mitgliedschaft ^ne Klage aus Koalitionsverabredungen nicht zu-
lässig ist, ebensowenig wie eine Geltendmachung derselben im Wege
der Einrede. Die Verbindlichkeiten sind blofs natürliche , durch
Klage o<ler Einrede nicht geschützte \>rbindlichkeiten. Ks ist z. B.
daher wohl die Festsetzung von Konventionalstrafen für den Fall
des Zuwidcrhandclns gegen Koalitionsverabredungen in einem Grün-
') Sten. Bericht de<; K<'ichstag>. dxs Nordd. Bundes I. Leg.>Pcriodc I. Scsf.
1869, III. Anl. Kd. Dnick.sachen Nr. 148 § 168.
*) t. c. Drucks. 13 S. I85.
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Theodor Loeweafeld,
dungsvertrage zulässig, da dies zunächst nur die freiwÜ^e Unter-
werfunfj der Koalition unter derartige Straft-n bedeutet; ebenso ist
die Zahlung einer derartigen Konventionalstrafe, wie die Zahlung
von Beiträ!;rrTi, nicht als Schenkung zu betrachten. Aber sie kann
nicht mit Erfoij^ im Klagewe^c verlangt werden und die Auf-
forderung zur Zahlung unter Androhung der Klage oder sonstiger
Drohung würde nicht nur gegen 153 (i.O. , sondern auch gegen
den von der Erpressung handelnden i; 233 des St.li.H. ver>tolscn. ')
wenigstens nach der derzeit mafsgebenden Anwendung tlieser letzteren
Bestimnuing durch das Reichsgericht. Diese Schutzlosigkeit ist in
§152 auch gegen die Koalitionen der Arbeitgeber ausgesprochen.
Indessen Parität in dieser Beziehung ist nur scheinbar vorhanden.
Die Koalition der Arbeiter ist ihre V'ereinigung als Verkaufer ihrer
einzigen Ware, der Ware „Arbeit". Die Vereinigungen der Unter-
nehmer in ihrer Eigenschaft als Warenverkaufer stehen nicht unter
der No^ des § 152 G.O., sie sind nicht ungeschützt, sondern ge-
niefsen in den mannigfaltigen Formen, die das deutsche Recht
kennt, den Schutz des Gesetzes. So kennt das Handwerkergesetz
als Zweck der Zwangsinnung auch einen gemeinsamen Gewerbe-
betrieb der Innungsmi^lieder. Ungeschützt gemals § 152 G.O. ist
nur die Koalition der Unternehmer als Käufer der Ware Ar-
beit Indessen stehen den Unternehmern auch in Bezug auf die den
Arbeitsvertrag betreffenden Verein^rungen mannigfache Wege zur
Umgehung des Gesetzes zur Verfügung. So greifen z. B. Innungen
und Innui^verbände in den Lohnkampf ein und benutzen hiermit
die Organisation und Zwangsgewalt, welche das Gesetz denselben
als X'crbänden von Warenproduzenten und Waren Verkäufern ver-
leiht, zum Kampf um die Bedingungen des Arbeitsvertrages,-) also
als Koalition im Sinne des § 152 G.O. So verpflichtete z. B. der
Innungsverband der deutschen Haugewerkmeister im September 1897
auf dem Verbandstage zu Leipzig seine Mitglieder, keine Arbeiter
aus Strikeorten in Arbeit zu stellen. Der gleiche In nungs ver-
band beschlofs im September 1S9S die Gründung eines ganz
Deutschland umfassenden A^rbeitgeberbundes des Baugewerkes, zu
*) Was hingegen von Hilse in Goltdammen Archiv ftix Strafrecbt Bd. 37
S. 377 vorgebracht wird, ist vollkommen luiUlos.
*) Vgl. Lcgien, KoaliUunärccbt S. 133, vgl. aach dic&es Archiv Bd. III
S. 4S1 ; Pr. de* V. ordoBtUchai Vcrbuidiligcs de» ZcntnlvobMides der Ifaaier ad
Tcnrandter Bernf^enoocn Dcutaichhmdi (1899) Hambaxg 1899 SS. 7. 3a.
Üiyitizcü by GoOglc
Koalitioosrecbt und Strafrecht.
welchem nkht nur die Innungsmeister, sondern auch die ungeprüften
Bauunternehmer herangezogen werden sollten. Nach den Verhand«
hingen sollte dieser mittlerweile begründete Arbeitgeberbund u. a.
den Zweck haben, eine allgemeine Aussperrung der Gehilfen zum
Zwecke der Sprengung ihrer Strikekasse, eine „grolse Kraftprobe",
durchzuführen. Es ist bemerkenswert, dals das Reichsamt des
Innern sich mit dieser Praxis der Innungen einverstanden erklärt
hat Im Juni 1897 hat der Vorstand des Innungsverbandes Deutsdier
Baugewerkmeister den Reichskanzler um Entscheulung der Frage
ersucht, ob es nach Lage der Geseta^ebung zulassig sei, von den
Angehörigen der Verbandsinnungen zu verlangen, dal's sie keine
Gesellen aus Orten, in denen Ausstände ausgebrochen seien, in
Arbeit nehmen. Dem Vorstande ist vom Reichsamte des Innern
eröffnet worden, daSa § 104 G.O. dem Reichskanzler keinen Anlals
geben werde, gegen einen Beschlufs des Innungsverbandes in be-
zeichneter Richtung einzuschreiten. Hiernach hätte nach der Ent-
scheidung der obersten Keiciisbehörde der Innungsverband das
Recht, die Durchführung eines solchen Aussperrungsbeschlusses
seitens der zu ihm gehörigen Innungen und Innungsmeister zu
erzwingen. Damit ist die Innung und der Innungsverband offi-
ziell zum Koalitionsvcri)and erklärt; der Unternchinerkoalition wird
eine Zwangsgewalt /-uerkannt, währciul die Arbcitcrkoalition iür
jeden Versuch, ihre Verabredungen /wan^^sweise aufrecht zu erhalten,
mit den Strafen des !^ 153 belegt werden.
W. Die Gewerbeordnung spricht der Arbeiterkoalition den
Rechtsschutz ab. Damit ist die Arbeitcrvcrcinigung auf den mora-
lischen Halt verwiesen, welchen die Erkenntnis der .Notwendigkeit
des Zusanuncnstehens zur Krringung angemessener Arbeitsbedin-
gungen ihr zu verleihen vermag. Das gellende Recht enthält aber
Weiler eine Reihe von Bestimmungen, welche geeignet sind, auch
dieses moralische Band zu .schädigen oder die Ari)eiterkoalilion
jeder thatsächlichen Wirkung zu berauben. Diese Ikstimniungen
gehören dem öffentlichen Reciite an. Sie stellen insbesondere in
der Anwendung, welciie sie bisher durch Gerichte und X'erwaltungs-
behörden erfahren haben, ein komi)liziertes System von Veran-
staltungen zur Unterdrückung und Behinderung der Arbeiterkoa-
litionen dar, ein System, das treffend durch den bekannten Aussprudi
&«ntanos gekennzeichnet ^rd: ,J>ie Arbdter haben das Koalitions*
recht, wenn sie aber davon Gebrauch machen, werden sie gestraft"
Im folgenden soll dieses System kurz dargestellt und sodann die Frage
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Theodor Loewenfeld,
erörtert werden, wie weit dasselbe durch die Vorlage ergänzt und
verstärkt wird.
• ■ I. § 152' G.O. hat es nach Entscheidung des Reichsgerichtes *)
,^usschlieGslich mit den konkreten Arbdterverträgen zwischen Ar«
beitgebern und Arbeitnehmern, mit den unmittelbar durch diese
Verträge geregelten Lohn- und Arbeitsbedingungen und mit dem
Gegensatze und Kampf der sozialökonomischen Interessen un-
mittelbar um diese Bedingungen zu thun." Sowie die Koalition
Veränderungen der Arbeits- oder Lohnbedingungen verfolgt, welche
äich nicht auf bestimmte Arbeitsverhältnisse in einem bestimmten
Gewerbezweig an einem bestimmten Orte beziehen, überschreitet
sie das Gebiet des reichsrechtlichen Koalitionsrechtes und unter-
steht damit dem I.an(lcsrecht über Vereine und Versammlungen.
Ob § 152 in der That in diesem enjjen Sinne zu interpretieren,
Ist zweifelliaft, jedenfalls entspricht diese Auslegung der ständigen
gerirhtHchen und verwaltungsrechtlichen Praxis.
Die Aufüassung der kgl. sächsischen Staatsregierung geht weiter.
Hiemach soll unter allen l^mstäiulen auf die Koalitionen, auch
wenn ae sich auf die Zwecke des § 152 im vorerwähnten engen
Sinne beschränken, auch das I^ndesvereinsrecht angewendet werden.
Mit dieser Auffassiin«^ steht intlesscn die sächsische Regicruni; allein.
Die Beschränkung auf die „konkreten" Arbcitsvcrträt:,'c ist
nun bei Anwciidun»^ des Koalitionsrechtes durch die Arbeiter nicht
leicht. ..Hamirlt es sich etwa für die Arbeiter einer i^rofsen I'^abrik
tlarum, durch Koalition und gemeinsame Arbeitseinstellung eine Ab-
kürzung (Irr Arlieitszeit zu erringen, so wird es in der Regel gar
nicht zu umgehen sein, in der Agitation die wirtschaftlichen und
sozialen Verhältiüsse wenigstens in dem gesamten Industriezweige,
die bestehende Gesetzgebung, die Zuständigkeit des Bundesrates zur
Festsetzung des sog. saiütären Miiximalarbeitstagcs nach G.O. >; I20e,
eine etwaige Weiterbildung der Gesetzgebung u. dgl. zu erörtern
und zu beraten. Damit sind aber die (irenzen des 152 G.O.
verlassen, damit luiren die X'ereine und Wrsanuulungen der Ar-
beiter auf, dem Landesrecht entzogen zu sein" ') Die Koalitionen
der Arbeiter, wenn sie die Besserung der Lage ihrer I^achgenossen
im allgemeinen anstreben, insbesondere wenn sie hierzu eine Thätig-
kdt der Organe des Staates oder der Gesetzgebung in Aussicht
*) Bntacheidnngen in Stnfsadien XVI 385.
^ Löning itt den Verhandliingai de* Vereines flr Sorialpolilik 1897 96&.
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Koalitionsrecbt und Strafrecht.
481
nehmen, sind auf Grund des öffentlichen Vereinsrechtes im groisten
Teile Deutschlands polizeilichen Beschrankungen unterworfen. Ob
ein solcher Zweck angestrebt wird, hat der Richter nach freiem Er«
messen festzustellen. Nach der Praxis genügt hierzu ein einzelner
Vortrag oder Vortragsteil, womit auf jenes allgemeine oder öfTent-
Ikhe Gebiet hinübergegriffen wird. Nach einem Urteile des
preufsischen Kammergerichtes vom 1 1. Januar 1897 — Goltdammers
Archiv XLV S. 309 — kann der Zweck ,,auf öffentliche Angelegen-
heiten einzuwirlwn" auch durch eine Darstellung lebender Kider
mit Musikbegleitung genügend zum Ausdruck gebracht werden.
Die Praxis geht aber noch weiter. Nach einem Urteile des
Oberlandesgerichtes München, des bisherigen Revisionsgerichtes in
bayerischen schölTrnc^crichtUchen Sachen, vom 29. Dezember 1894
ist eine Gewerkschaftsversammlung^ als Versammlung eines politi>
sehen Vereines möglicherweise auch dann zu erachten, wenn in
dieser Versammlung keinerlei „öffentliche Angelegen-
heiten" im erwähnten Sinne besprochen werden. Nach jenem
Urteil — mit welchem ein früheres Urteil des bayerischen Obersten
Gerichtshofes vom 29. Mai 1876 übereinstimmt — ist die sozial-
dcniokr.itischc Partei Deutschlands ein poHtisrhcr X'ercin, die ge-
werkschaftliche Bewegung eine „Vorschule" für die politische Be-
wegung, die Leitung eine [lolitischc. Aus dem l'nistandc, dafs Ein-
berufer, Leiter und Beriehttrstatter in der fraglichen Gewerk-
schaftsNcrsaninilung Sozialdemokraten waren, wiril weiter ge-
schlossen, dafs die sozialdiinokratische Partei und damit ein
politischer \'erein jene ( ie\verkschafts\ersaninilung abhielt, dals
sie also die X'ersammlung eines politischen X'ercines war, „ohne
dafs es darauf ankommt, ob öffentliche Angelegen-
heiten auch wirklich bcsj) rochen wurtlen."') An der
Hand dieses l'rteils kann auf alle (iewerksrhatten, deren Mitglieder
Sozialdemokraten sind, das politische Wrcinsrecht zur Anwendung
gebracht wertlen, auch weiui sie sich auf die „konkreten" Arbeits-
verträge und Arl)eits\ erhältnisse ihrer eigenen Mitglieder beschrän-
ken. Dafs die G.C). in 152 Arbeiterkoalitionen, welche sich zur
Erlangung günstiger Arbeits- und Lohnbedingungen bilden, erlaubt
hat, kommt* dann nicht weiter in Betracht. Es hängt vielmehr
trotz des Rechtssatzes, dafs Reichsrecht dem Landesrecht vorgeht —
') Sammluug der Eauchcidungcn des kgl. bayerischen Oberst, Landcsgcriditi
m&dcii ia Stnft. Vni S. iSl.
iJiyilizeQ by VoüOgle
482
Theodor Loewrnfeld,
dann, wenn die Arbeiter Scnialdemokraten sind, von dem Inhalte
der Landesgesetz^^ebung ab, ob und unter welchen Be-
dingungen Arbeiterkoalitionen bestehen können.
Das öflentliche Vereinsr< ( In Ist bekanntlich in den verschiede-
nen deutschen Staaten versciiicdcn gestaltet. In einem Kleinstaat
(Rcufs ä. I sind politische Vereine überhaupt verboten; in den
beiden Mecklenburg bedürfen sie der Genehmigung des Ministe-
riums des Innern; in einer Reihe von Klein- und Mittelstn.iten
sind Arbeitervereine, welche politische Zwecke verfolgen,
verboten. In den meisten anderen deutschen Staaten bringt
die Ik-schäftigung eines Vereines mit „öti'cntlichcii Angelegen-
heilen"' oder mit „politischen C iegenständen" (cf. ij^ 2 u. 8 des
preufsischen Vereinsgesetzes vom il. März 1850; bayerisches
Vereinsgesetz von 1850/1898 Art. 14} polizdliche Beschränkungen
mit sich, welche die Anwendung des Koalitionsrechtes teils aus-
schlieisen, teils behindern. Als solche Beschränkungen kommen
insbesondere in Betracht:
a) Der Ausschluß der Frauen. Im neuen bayerischen Vereins-
gesetz vom 15. Juni 1898 bezieht sich dieses Veiix>t nicht mehr
auf solche „politische Vereine, welche nur den besonderen Berufe-
und Standesinteressen bestimmter Personenkreise dienen." Nach
der Erklärung, welche die Regierung hierzu abgegeben hat, kann
es sich hier „nur um Gewerkschaften" handeln. „Ein Verein
gewerblicher Taglöhner" z. B. entspricht nicht dem Begriffe eines
„bestimmten Personenkreises", es müssen Arbeiter einer bestinmiten
gewerblichen Branche sein.
b) Der Ausschluüs der Minderjährigen (auch „Schüler", „Lehr-
linge")-
c) Das Vcrbiiulungsverbot. Dieses ist in den \erschieclenen
Wreinsgesetzen verschieden weit gefafst. In Bayern verljot Art. 17
des Vereinsgesetzes von 1850 nur eine X'erbindung von der Art,
dafs ein X'ercin den Beschlüssen eines anderen oder den Organen
eines anderen sich unterwarf, otlcr dafs mehrere X'ercine sich unter
einem gemeinsamen Organe zu einem gegliederten Ganzen ver-
einigen (Dieses Verbindungsverbot untersagt nunmehr nur die
Verbindung mit ausländischen Vereinen). Hiemach stellt
z. B. der schriftliche Verkehr von Vereinen unter einander oder
der Verkehr durch Absendung und Empfang von Delegierten keine
„Verbindung", die unter das Verbot iallt, dar. Dagegen sagt
das preufsische Vereinsgesetz § 8 von den Vereinen, welche
Üiyitizcü by GoOglc
Koditionsrecht oad Stnfrecbt
483
i,poKtischc (ic^enständc" erörtern: sie dürften niclu mit anderen
Vereinen gleicher Art zu {gemeinsamen Zwecken in Vcrbindnn^r treten,
insbesondere nicht durch Komitees, Aussciuisse, Zentralorj^^ane oder
ähnliche Einrichtungen oder durch ge ge n s e i t i gc n Sc h r i f t e n -
Wechsel. Werden diese Beschränkungen überschritten, so ist die
Ortspoii/.eibehörde berechtigt, vorbehahhch des gegen die Be-
teiligten gesetzlich einzuleitenden Strafverfahrens, den Verein
bb zur ergehenden richterlichen Entscheidung zu schliefsen.
Aehnliche weiter reichende Verbindungsverbote bestehen in einigen
anderen Bundesstaaten.
d) Politische Vereine sind nach mehreren Vereinsgeselzen, z. B.
dem preufsischen § 2, verpflichtet, ein Verzeichnis ihrer Mitglieder
der Ortspolizeibehorde einzureichen und Uber dieselben auf Ver>
langen Auskunft zu erteilen.
Von diesen Beschrankungen sind von hervorragender Wichtigkeit
die zu a und c. Der Ausschlufs der Frauen ist bei der erwähnten
weitreichenden Auffassung des politischen Vereins geeignet, die Frauen
dauernd an der Ausübung des Koalitionsrechtes zu verhindern. —
Das Verbindungs verbot hindert die Organisationen der Arbeiter
an derjenigen Ausdehnung der Koalition, welcher sie im Ernstfalle
bedürfen, wenn die Koalition der Arbeiter nicht gegenüber den
Unternehmern und insbesondere der Unternehmerkoalition \öHig
unwirksam sein soll. Beschränkt sich die Koalition auf die Arht itrr
einer i)tstinimten l'abrik otler des (u werhes eines bcstinniiten
Ortes, so ist es bei den jetzigen X'erkehrsv ei liältiiissen und der Gröfse
der zur X'erfügung stehenden inländisrlien und ausländischen Rescr\ c-
annce für den Unternehmer leicht, für die koaliierten Ausständigen
Ersatz zu finden. Dann ist die Koalition ebenso machtlos dem Unter-
nehmen gegenüber, wie der einzelne Arbeiter es wäre, wenn er, um
bestimmte Lohnforderungen zu vertreten oder Ansprüche des Arbeit-
gebers ablehnen zu können, das Recht der Arbeitseinstellung aus*
üben würde. Die Koalition hat nur dann Aussicht auf Erfolg,
wenn sie soweit mißlich alle Berufisgenossen der Ausstandigen und
deren Organisationen heranziehen kann. Dies verhindert das Ver-
bindungsbot, wenn die Arbeitervereinigungen als politische Vereine
behandelt werden. Seit Jahren sind denn auch viel&ch Arbeiter-
gewerkschaften auf Grund des Verbindungverbotes au%elöst oder
«geschlossen" worden, welchen eine verbotene „X^erbindung" mit
anderen Gewerkschaften nachgewiesen wurde. Wollen die Gewerk-
schaften demnach nicht auf diejenige Organisationsausdehnung ver-
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484
Theodor Loewenfcld,
ziehten,' ohne welche vielfach ihre Rcstrebungcn zwecklos sein
würden, so schwebt über denselben die fortwahrende (iefahr der
Verfolgung und Auflösung in den Reclitsgt biclcn, in welchen, wie
in Prculscn, das Vcrbindungsxcrljot noch besteht. Auch die in
einzelnen Bundesstaaten erfolgte Aufhebung des Verbindungs-
verbotes \ erhilft den dortselbst bestehenden Gewerkschaften und
Koalitionen der Arbeiter nicht zu einer geeigneten Organisation,
wenn es erforderlich ist, diese auf Bundesstaaten zu erstrecken, in
welclien das Koalitionsverbot noch besteht, was meistens der FalL
Es ist bemerkeiOTcrt, daTs die Verwaltungsbehörden von denjenigen
Befugnissen, von welchen sie bei energischer Ausbeutung ge-
wisser gerichtlicher Präjudizien gegen die Koalitionen Gebrauch
machen könnten, nicht immer Gebrauch machen. In der Arbeiter-
presse wird diese Sachlage anerkannt durch die Feststellung, dais
die Gewerkschaften eigentlich von der Gnade der Landespolizei-
behörde leben. Dieser Zustand ist nicht geeignet, eine stet^e und
den Bedürfnissen entsprechende Entwicklung der Gewerkschaften
in Deutschland zu befördern. Bei den Verhältnissen der Landes-
gesetzgebung in dem Hauptlande des Verbindungsverbote^ in Preufsen,
besteht auch keine Aussicht darauf, dafs er in absehbarer Zeit ge*
ändert werde, obwohl im Reichstage bei Beratung des Bürgerlichen
Gesetzbuchs namens der verbündeten Regierungen die Aufhebung
der bestehenden Verbindungsverbote versprochen worden ist
Die Verpflichtung politischer Vereine, Mitgliederverzeich-
nisse der Behörde einzureichen, ist gelegentlich dazu benutzt worden,
den Fabrikanten die Herstellung schwarzer Listen zu erleichtern.
Es ist voigekommen, dafs eine Polizeibehörde die ihr eingereichte
Liste eines Fabrikarbeiter\'erbandes, der als Gewerkschaft überhaupt
kein politischer Verein ist, aber als solcher behandelt wird, den
Unternehmern zur Einsicht vorlegte; es ist auch vorgekommen, dals
eine andere Polizeibehörde die aus dem gleichen Grunde einge-
reichten Mitgliedrr\ cizeichnissc eines Hüttenarbeiterverbandes den
Unternehmern der Bequemlichkeit halber vervielfältigt übersandte. *)
Wo ein Unternehmer zugleich Amtsvorsteher ist, gestaltet sich die
S.ichc noch einfacher. Die Befürchtungen, welche Gewerkschaften
bezüglich der Einsicht in ihre Mitgliederver/.eichnisse durch die Be-
hörden hegen, kommen in der grofsen Anzahl von Strafprozessen zum
Vgl. Lcgien, Das Koalitionsrccht der dettticheii Arbeiter in Theorie und
Praxis. Hamburg 1899 S. 44, 45.
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Kpalitionsncht und Stralrcdit.
48s
Ausdrucke, welche durcli die Weiterung von Koalitionen, ihre Mit-
gliederlisten einzureichen, veranlalst wurden; die Rechtssprechung
war übrigens hier den Arbeitern teilweise g^.in^tig.
Wie steht diesen vereinsgesetzlichen Schwierigkeiten die Koa-
lition der Arbeitgeber gegenüber ?
Ein Teil derseli)en kann sie niemals treffen. Wenn z. B. in
einigen Rechtsgchieten Arbeitervereine \ erboten sind, welche poli-
tische Zwecke verfolgen, so l)esteht ein ahnliches Verbot in Bezug
auf L'nternehinervereine daselbst überhaupt nicht. Der Ausschlufs
der Frauen und der Minderjährigen von politischen Vereinen ist für
die Unternehmervereine mit Rücksiclit auf deren andersartige Ver-
haltnisse vollkommen bedeutungslos. Die Listen ihrer Mitglieder
der Polizeibehörde vorzulegen, wäre für sie gewils ungefährlich»
wenn sie überhaupt jemals dazu aufgefordert würden; es ist kein
Fall einer solchen Aufforderung bekannt Am klarsten tritt der
Unterschied der Lage der Untemehmervereine und der Arbeiter«
koalitionen in Sachen des Verbindungsverbotes hervor. Die Be-
schäftigung mit „politischen Gegenständen'^ oder „öffentlichen An-
gelegenheiten", welche in so zahlreichen oberstrichterlichen und
verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen gegen die Arbeiter unter
Aufgebot grofsen juristischen Scharfsinnes festgestellt wird, findet
sich auch bei zahlreichen und hervorragenden Untemehmerverbanden
— zwar nicht in gerichdichen Urteilen — aber urkundlich und
öfientlich festgestellt und tritt in den Publikationen und öffentlichen
Verhandlungen dieser Verbände klar zu Tage. An dieser Stelle
gentigt folgendes:
Der am 1 5. Februar 1876 gegründete Zentralverband deutscher
Industrieller mit dem Sitze in Berlin hat nach § 2 seiner neuen
Satzungen vom 28. Februar i8()9 zum „Zwecke": ,,Die Wahrung
der industriellen und wirtschaftlichen Interessen des Vaterlandes
und hörderung der nationalen Arbeit." Diesen Zweck sucht der
Zentral verband nach dem gleichen § 2 der Satzungen zu erreichen
„vorzüglich dadurch, dafs er die vereinzelt bestehenden itulustriellen
und wirtschaftlichen Vereinigungen unter sich in Verbindung
bringt und denselben zur Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen
dient." Zur Erreichung dieses Zweckes wird der Verban l ferner
nach dem erwähnten Statut „seine Aufgabe auch vorzüglich darin
sehen, den Wünschen und Anträgen seiner Mitglieder in Bezug auf
*) Vgl. Legien a. a. O. S. 49 fr.
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4S6
Theodor Loewenfeld,
1. die wirtschaftliche und sozialpolitische Gesetzgebung
des Reichs, be/.\v. der einzelnen Staaten,
2. auf den Aljschluls L^ünsti^^er Handels- und Scliiffahrts\-erträge,
3. auf \'cr\ ollstär)di;4un^ der Verkehrsmittel, insbesondere der
Eisenl)ahnen Und Kanäle, auf die Besserung des Betriebes
und günstigere Gestaltung der Tarife,
4. auf Regelung der Arbeiterverhältnisse
gerecht zu werden."
Diese Zwecke und Mittel des ZetitraKereins waren indessen
schon in den früheren Statuten des Vereins, insbesondere denjenigen
vom 30. März 1889, vorgeschrieben. Mitglieder des Verbandes sind
aufser Einzelpersonen eine ganze Reihe von gewerblichen Ver-
einigungen aus allen Teilen des Deutschen Reiches, daneben aber
auch Berufsgenossenschaften und Handelskammern.
Dafs dieser Verband „politische Gegenstände" im Sinne des
preufsischen Vereinsgesetzes zum Zwecke hat, unterliegt nicht dem
geringsten Zweifel; diesen statutarischen Zweck hat der Verband
auch fortgesetzt durch eine lange Reihe von Verhandlungen verfolgt,
welche in den Organen des Verbandes, z. B. den „Verhandlungen,
Mitteilungen und Berichten des Zentralverbandes deutscher Indu-
strieller'', ferner in der „Deutschen Industriezeitung" sowie in der
Tagespresse zur Veröffentlichung gelangt sind. Er hat diesen Zweck
femer verfolgt durch vielfache Petitionen und Anträge an die Gre-
setzgebungsoi^ane des Reiches. Nach dem Preufsischen Landrecht
ist dieser Verband zu den unerlaubten Privatgesellschaften (L.R. T.
n Titel 6 §§ 3 fr.) zu zählen. Nach § 8 des preußischen Vereins-
gesetzes müfste dieser Verband, ebenso wie die in demselben ver-
einigten einzelnen industriellen Vereine aufgelöst und gegen die
Mitglieder Strafverfolgung eingeleitet werden. Dies ist bisher nicht
geschehen, wohl aber ergeben die Verhandlungen des Reichstages,
dafe das Reichsamt des Innern Beamte zur Teilnahme an den Be-
ratungen dieses gesetzlich verbotenen Verbandes delegiert.
Aehnliches gilt von einer langen Reihe anderer deutscher
Untemehmcrverbände, die sich mit ..politischen Gegenständen ' be-
fassen. '1 Kein einziges von den vielen oberstrichterlichen Urteilen,
welche die „Verbindungen" der Arbeitergewerkschaften behandeln,
nennt den Namen eines der in derselben Richtung sündigenden
Unternehmerverbände. Damit ist den Gerichten kein Vorwurf
'} Beispiele in jeder Nummer der „Deutschen Indastriezeitung".
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Koalitkrasveeht mid Stnfiredit
487
gemacht, denn wo kein Kläger, da kein Richter, und bisher hat
sich noch kein Staatsanwalt und keine Polizeibehörde gefunden,
welche gegen einen Unternehmerverband wegen Verirrung auf das
politische Gebiet vorgegangen wären. Dafs gewerbliche Unter-
nehmer\''ereine und A'erbänclc die staatlichen Verbindungsverbote
nicht beachten, ist bei der modernen r\ntwicklung der Industrie,
welche Zusammenfassung aller Kräfte und einiieitliches \''orgehen
in Fragen des nationalen und internationalen Marktes verlangt und
ohne Eingriff des St;uates vielfach ihr Ziel nicht erreichen kann, ganz
natürlich. Die wirkliche Geltendmachung des Verbinduugsverbotes
seitens der staatlichen Organe gegen die Unternehmerverbände würde
die mifslichsten Folgen herbeifuhren. Es soll daher auch deswegen
gar kein Vorwurf erhoben werden, dals die Verwaltungsbehörden
eine gesetzliche Bestimmung, die den modernen Verhaltnissen gegen-
fiber ohne Schaden nicht durchführbar ist, nicht anwenden. Dagegen
ist es eine die Arbeiterklasse mit Recht erbitternde Un gerecht ig-
keit, daCs die gleiche gesetzliche Bestimmung gegen
der^n Verbände zur Anwendung kommt, obwohl sie hier
ebenso widersinnig ist, wie gegenüber den Interessen der Unter-
ndmierveib&nde. Dies um so mehr, wenn diese Unternehmerverbände
sich nicht blofe als Verbände von Warenproduzenten und Waren-
verkäufern darstellen, sondern als Arbeitgeber verbände und
sich die Aufgabe setzen — - wie dies nicht nur durch den Zentral-
verband der Industriellen Deutschlands geschieht — die „Arbeits-
verhältnisse zu regeln". Dann wirkt das Verhalten der Be-
hörden als eine einseitige Begünstigung dieser Arbeitgeberverbände
gegen die Koalition der Arbeiter. Man versagt dann diesen eine
notwendige Orgaiiisatiotisausdehnung, die man jenen gestattet. Die
Schärfe des Gesetzes wird einseitig gegen die Arbeiterkoalitionen
gewandt. Die Unternehmer haben nach Lage der Sache gar kein
Interesse an der Aufhebung des Verbindungsverbotes, im (legenteil,
es ist für sie wünschenswert, dafs es fortbestehe ; ihnen wird damit
nicht geschadet, wohl aber wird ihnen die Sprengung der Arbeiter-
koalitiuncn erleichtert, indem der § 152' G.O., welcher die letzteren
gestattet, den Arbeitern gegenüber auf dem Wege des Landes-
rechtes „korrigiert" wird. Es ist aber gewils kein erhebendes Bild,
den Staat beim flagranten Delikt der Grolsen als geladenen höf-
lichen Zuschauer und gleichzeitig als Rächer des gleichen
Deliktes der Kleinen und Niedrigen zu sehen.
2. Von dem Versuche, die Gewerkschaften als Versicherui^s-
Arelnv fiir ml Geacctg cbtmff u. Stuia^ XIV. 3^
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488
Theodor Loevcnfeld,
anstaltcn der Staatsaufsicht zu unterstellen und dieselben von der
Genehmigung der obersten X'crwaltungsbehörde abhängig zu machen,
kann hier abgesehen werden, weil dieser in Preufsen von den Be-
hörden unternommene Versuch zwar den Gewerkschaften groise
Schwierigkeiten bereitet und finanzielle Opfer auferlegt hat, aber
im übrigen erfolglos geblieben ist, da die Gewerkschaften in den
verschiedenen anlafsltrh solcher Versuche geführten verwaltungs-
rechtlichen und stra4>rozessualen Kämpfen Sieger geblieben sind.')
3. Dagegen konamt als eine Waffe, die sich bisher praktisch
ausschliefslich gegen die Arbeiterkoalitionen gerichtet
hat, § IS3 G.O. inbetracht
§ 153 bezweckt den „Schutz der Ari^eitswilligen". Die Praxb
hat indessen die Strafdrohungen des § 153 in ausdehnendem Sinne
interpretiert und insbesondere auch auf das Verhältnis von Arbeitern
zu Unternehmern angewendet; sie hat ferner diese Strafdroliungen
durch Heranziehung des neben und hinter denselben stehenden
gemeinen Strafrechts verschärft; andrerseits hat man auf dem
gleichen VV'ege, vor allem durch die Anwendung des § 366**
St.G3., vermeintliche l ückcn derselben auszufüllen versucht.
Diese strafrechtlichen Drohungen des i; 153, deren Anwendungen,
Erweiterungen und Krgänzungen folgen der Uebung des Koalitions-
rechtes auf Schritt und Tritt. Im Reichstage haben die Staats-
sekretäre des Innern und der Justiz die in der Denkschrift zur \'or-
lage verarbeiteten Berichte der deutschen Staatsanwaltschaften und
Polizeibehörden über die Erfolge und Milserfolge der gegen Ar-
beiterausschreitungen gerichteten strafrichterlichen und polizeilichen
Thätigkeit als ein allgemeines „Bild der Arbeiterbewegung"
bezeichnet Das ist richtig, wenn auch in einem anderen Sinne als
es gemeint war. Kriminell ist im Grunde den Ver&ssern der Denk-
schrift die ganze Arbeiterbewegung. Sie besteht aus lauter straf-
würdigen Handlungen. Die einen konnte man schon bisher ver-
folgen, flur die anderen muls ein neues Strafrecht geschaffen werden.
Diese Auffassung war wohl auch schon bisher die, wenn auch un>
bewulste, Triebfeder der ausdehnenden Anwendung des § 153.
Im folgenden sollen die Bestimmungen des § 153, die sich an
denselben anschliefsendc Praxis erörtert, die darin enthaltenen
Ansätze zu den Bestimmungen der Vorlage dargelegt, sowie im
Anschlüsse hieran die Möglichkeiten geprüft werden, welche für
Vgl. Legien a. a. O. S. 66 ff.
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Kotlitioosreeht und Sbmfndit
489
eine strafireic L'cbunj; des Koalitionsrcclitcs noch iibrij^ bleiben.
Die Reclitsgrundlaci^o des bislicrif,fen Sxslcnis einer den § 153
ausdchnciulcii, verschärfenden, ergänzenden Rechtsanweiuhin^ ist eine
zweifelhafte und darum diese Praxis selbst nicht sicher, nicht kon-
secjucnt, nicht allgemein. N'ui.nu lir tritt in (lestnh der Vorlage
an die Stelle des § 153 und des sich daran ansciiliefsenden Straf-
apj)aratcs ein umfassenderes System von zuj^lcich wtsentlich ver-
schärften Strafdrohungen. In der Vorlage wird die bisher z \v e i fe 1 -
hafte Praxis gesetzlich festgelegt und damit zur sicheren
allgemeinen Norm erhoben, diese zugleich aber auch durch n e u e
schwere Strafdrohungen gegen die wichtigsten Fälle und Arten
der l'ebung des Koalitionsrechtes der Arbeiter bereichert. Dieser
ganze Apparat bedroht I landlungen, welche für alle anderen Staats-
angehörigen straflos sind. Neben ihm steht das gemeine Straf-
recht fiir diejenigen Handlungen, welche allgemein als strafbar
gelten und bedroht sind, und des Ferneren diejenigen Einschrän-
kmigeii des KoaUtionsrechte^ die in dem öffentlichen Vereinsrechte
enthalten sind. Auch diese letztere Schranke wird aber durch die
Vorlage weiter befestigt xind erhöht
A. Die Arbeiterkoalition soll die Willens- und Handlungsfreiheit
des Albeiters, welche das Gesetz anerkennt, verwirklichen. Das
Gesetz thut nichts, um ihr hierbei zu helfen und sie zu fordern; es
stellt der Koalition der Arbeiter insbesondere nicht etwa jene Zwangs-
gewalt zur Verfügung, welche es den Innungen zur Wahrung ge-
meinsamer Interessen zur Verfügung stellt. Die Arbeiter haben
bisher nicht das Recht, einen Bendsgenossen zum Beitritte zur
Koalition zu zwingen. Aber ebensowenig ist jemand berechtigt,
sie an dem Beitritte zur Koalition und an dem Verbleiben in der-
selben zu hindern. In beiden Richtungen kann nach geltendem
Recht ein geübter Zwang keinen Anspruch auf Anerkennung er-
heben. Aber nicht alles, was das Gesetz nicht anerkennt, nicht
alles, was das Gesetz nicht erlaubt, wird vom Gesetzgeber ver-
folgt und bestraft Das gemeine Strafrecht enthält das Verzeichnis
derjenigen Handlungen, welche nicht nur unerlaubt, sondern auch
g^en jedermann mit Strafe verfolgt werden. Dafs unter diesen durch
das gemeine Strafrecht bedrohten Handlungen sich diejenigen nicht
befinden, welche § 153 G.O. bedroht, ist klar, da, wenn und soweit
dies der V:\\\ wäre, es der besonderen Strafdrohung des §153
nicht bedurft hätte. „Körperlicher Zw'ang, Drohung, Hhrverletzung,
Verrufserklärung" sind in der That dem gemeinen Strafrecht unbe*
3a*
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490
Theodor Loewenfeld,
kannt. Das St.G.B. verfolgt den körperlichen Zwan^ nur unter f^c-
wissen Umständen, z. B. als Mittel zum Kaub (§ 249), die Drohung
als Bedrohung mit einem Verbrechen oder X'ergchcn, als Mittel der
Nötigung (§§ 240, 241) oder allgemein als Mittel zur Erpressung
(§ 253), die \'errufserklärung in keiner Gestalt. Ist eine dieser
Strafthatcn des gemeinen Strafrechles für oder gegen die Zwecke
einer Arbeiterkoalition begangen, so ist dies selbstverständlich kein
Schuldausschliefsungsgrund. Aber was § 153 — unter ausdrück-
lichem Vorbehalt der Verfolgung nach gemeinem Strafrecht - — als
körperlichen Zwang, Drohung, Vemifserklärung bezeichnet und
unter seine besondere Strafe stellt, ist, wie bemerkt, vom Stand*
punkte des gemeinen Strafirechts aus straflos, für alle Bevölke-
rungsklassen straflos» auch für die Arbeiter, wenn es sich nicht
um Koalitionen handelt, fär alle anderen ak die in § 153 ge>
meinten Bevölkerungsklassen auch dann straflos, wenn es sich um
Beförderung ihrer Koalitionen durch solche Mittel handelt Es muls
dies hervorgehoben werden mit Rücksicht auf eine nicht selten vor-
kommende und den Fürsprechern des Regierui^;sentwurfes besonders
geläufige Behauptung, daCs die Bekämpfung des in § 153 ent-
haltenen Sonderrechts und der beabsichtigten Verschärfung de^elben
vom Standpunkte der Moral aus verwerflich sei, ja den Gegner
solcher Bestimmungen in den Verdacht bringe, mit solchen Hand-
lungen zu sympathisieren. Bei den Verhandlungen über die Vor-
lage hat der frühere Reichstagspräsident von Levetzow eine solche
Behauptung ausgesprochen ; er erklärte : „Niemand kann etwas dagegen
haben, dafs die Gesetzgebung es hindere, dafs gegen irgendwen ein
körperlicher Zwang ausgeübt, eine Bedrohung, eine Ehrverletzung
gerichtet, eine Verrufserklärung in die Welt gesetzt werde. Das ist
ein Recht, auf das jedermann Anspruch hat; und wer die Be-
stimmungen der Gesetzesvorlage, die solchen Unfug ausschlieisen
will, für unberechtigt hält, der setzt sich dem Verdachte aus,
ein Freund von Zwang, von Beleidigungen, von Be-
drohungen und von Verrufs crklärungen zu sein."
Wäre dies richtig, dann würde sich Herr v. Levetzow selbst,
um mit ihm zu reden, „dem Verdachte aussetzen, ein Freund von
Beleidigungen, von Bedrohung u.s.w. zu sein. Denn auch er ver-
langt nicht, dafs das Gesetz ,, solchen I riluf;" überhaupt aus-
schliefse; er befürwortet nur eine X'orlage, welche allen Bevölkerungs-
klassen, daher auch derjenigen, welcher er selbst angehört, solchen
Unfug straffrei hingehen lassen, dagegen bei denjenigen Klassen,
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KoalitioBsredit and Strafrecht.
491
mit welchen § 153 sich beschäftigt, bestrafen will. Sind Zwang,
Vemi&erklaning u. & w. strafwürdig, dann mufste ihre Kriminali-
siening im aUgemeinen Stra%esetxbuch erfolgen und ohne die
Verklausulierungen des § 153 und der jetzigen Vorlage.
Was würde man dazu sagen, wenn jemand vorschlagen würde,
das Verbrechen des Mordes oder das Vergehen des Betruges aus
dem Strafgesetzbuch zu streichen und die Strafilrohung auf die
Handwerker oder auf die Kaufleute zu beschranken? Man kann
sich auch nicht darauf berufen, dals dies strafbare Handlungen seien,
welche bei allen Bevolkerungsklassen vorkommen. Denn auch die
in $153 unter Strafe gestellten Handlungen werden ebenso zahl-
reich von anderen Bevölkerungsklassen begangen wie von Arbeitern.
Wer z. B. die „Ehrverletzungen" inul die „Verrufserklärungen",
welche in den durch ,3ildung und Besitz" ausgezeichneten Klassen
der Bevölkerung jahraus jahrein vorkommen, registrieren wollte, der
könnte eine viel umfangreichere Denkschrift verfassen als die mit
der Vorlage dem Reichstage überreichte. Man könnte sagen, dafs
die „Ehrverletzungcn, Verrufserklärungen" u.s. w. des § 153 im ein-
zelnen Falle schwerere l' olgcn für die N ä c h s t b e t e i 1 i g t e n her-
vorrufen, also gefahrlichere Thaten seien als die gleichen Handlungen
anderer Klassen — abgesehen nämlich von den Folgen für die
Aufrechterhaltung oder Zerstörung von Koalitionen, von denen so-
fort zu sprechen sein wird. Auch das ist nicht richtig. Verrufs-
erldirungcn z. B. fuhren in den sog. höheren Klassen vidfisich zu
erheblich schwereren Folgen als in den Kreisen der Arbeiter.
Allgemeine strafrechtliche Erwägu ngen können sonach nicht
dazu (Uhren, die in Frage stehenden Handlungen gegen eine be-
stimmte Klasse zu kriminalisieren, wenn man deren Einreihung in das
gemeine Stralrecht und damit deren Bestrafung gegen jedermann
nicht will. Dagegen ist noch zu fragen, ob deren Verfolgung er-
forderlich ist im Interesse derjenigen Zwecke, welchen das Koalitions-
recht dienen soll. Diese Frage ist gegenstandslos. Denn § 153
schützt nicht das Koalitionsrecht gegen rechtswidrige Vergewalti-
gung und L^nterdriickung. Körperlicher Zwang, Drohung, Ehrver-
letzung und Verrufserklärung sind nach § 15 5 straflos, wenn diese
Mittel dem Zwecke der Zerstörung eines bestehenden, der Verhintle-
rung eines zu grüntlcnflen Koalitionsverbandes dienen. Nur dann
werden diese Handlungen l)e straft, wenn sie dienen sollen zur
Begründung eines Kualitionsverbandes oder zur .-Xufrechterhaltiing
und Rettung eines solchen. ^ 153 entliält also ein Ausnahnicrecht
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492
Theodor Loc wen leid,
in doppelter Richtung: nicht nur bestraft diese Gesetzbestiromung
Handlungen g^n Angehörige eines bestimmten Berufs» welche bei
anderen Unterthanen des Gesetzes straflos bleiben; es straft audi
diese Handlungen nur dann, wenn sie einer vom Staate nicht
nur als erlaubt, sondern auch als notwendig anerkannten Aufgabe
dienen, während sie straftrei bleil>en, wenn sie die Vereitelung dieses
Zweckes h(! bei führen wollen. Verweist also § 152 die Koalition
lediglich auf den moralischen Zusammenhalt ihrer Teilnehmer,
so privilegiert andrerseits 153 die (iewaltthaten , welche sich
gegen eine Konlition richten, durch Befreiung von derjenigen
Strafe, welche über die zum Schutze der Koalition verübte (iewalt
verhängt wird. Auf diese merkwürdige Art der Hcschützung des
Koalitionsreciiles habe ich l)ercits vor 9 Jahren hingewiesen 'j bei Be-
sprechung des ij 153 der G.O. in der Fassung des Entwurfes vom
6. Juli 1890 (Anlage 1 der Begründung S. 18). Der F-ntwurf der
Novelle von 1890 enthält diese Privilegierung der gegen die
Koalition gerichteten Gewaltthatcn ebenfalls. Auch die Vorlage
stellt eine Paritat zwischen dem Koalitionszwai^ und dem gegen
die Koalition gerichteten Zwang nur scheinbar her.
§ 153 bedroht nur den von Genossen der Gezwungenen, den
von Arbeitern gegen Arbeiter, von Grewerbetretbenden gegen Ge-
werbetreibende zur Aufrechterhaltung oder Begrihidung der Koalition
geübten Zwang. Das Gesetz will zwar nicht die Freiheit der Aus-
übung, aber die Freiheit der Nichtausübung des Koalitionsrechtes
beschützen. Es bedroht daher Zwang mit Strafe, ob er geübt
wird von Gewerbetreibenden gegen Gewerbetreibende oder von Ar-
beitern gegen Arbeiter. Auch diese Parität ist nur scheinbar
vorhanden. Wie die früheren Koalitionsverbote und Koalitions-
strafen des preussischen ( iewc rbegcsetzes sich auch grundsätzlich
g^en die Arbeitgeber kehrten, aber praktisch gegen dieselben keine
Bedeutung hatten, *) so ist dies auch bei 153 (i.O. der Fall. Die
(iründe sind sehr maniii'^talii und teihveile bereits aus dem \ or-
stehenden ersichtlich. Zunächst bedürfen die Unternehmer der
Koalition weni-jer als die .Arbeiter. Sodann sind die Unternehmer
inbezug auf die Gründung und Aufrcchterhaltung einer Koalition
') In (liorm .\rihiv Bd. III S. 472-474.
*) Vgl. Strnographisriu' Herjchle des preuls. Abgeordnetenhause» über den An-
trag von Schulde- Delitzsch betr. das Koalition; recht der Arbeitgeber and Arbeiter
(1865). Berlin, W. Mocser. S. 15, 16.
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Kealftioinredit und Stnfirccbt
günstiger gestellt als die Arbeiter. Schon die Motive zum preufsischen
Koalitionsgesetze von l866 stellten fest, dals, ialls der Unternehmer
zur Koalition schreitet, „die Verabredung auf weniger Teilnehmer
beschränkt und vermöge dieses Umstandes und vermine der Mittd,
die die gröfsere Umsicht und gröfseres Vermögen gewahren, in der
Stille eingeleitet und durchgeführt werden kann, ohne dafs sie
nachweisbar ist". Dies trifft auch jetzt noch zu und ist mit
Rcclit bei den Reichstagsvcrhandlungen über die \'orlagc hcrvor-
eciioben worden. 20 Unternehmer können sich leichter verstäntlii/en
und sind leichter zusammenzuhalten als 2000 Arbeiter, zumal im
Ernstfalle von den Mitgliedern der Arbeiterkoalition schwerere Opfer
verlangt werden als von Unternehmern. Es liegt nahe, dafs anderen
Zwecken gesetzlich gewidmete Organisationen, wie die Berufs-
genossenschaften der Unfallversicherung auch zu Verabredungen gegen
die Arbeiter iobezug auf Lohn- und Arbeitsbedingungen benutzt
werden. Darauf deutet z. B. das zeitliche und ortliche Zusammen-
treflfen von Verbandstagen der Berufsgenossenschaften mit Verbands"
tagen der Kampforganisationen der Unternehmer. Den letzteren
steht aber sogar, wie oben S. 479 gezeigt, die Möglichkeit offen, eine
ihnen fär andere Zwecke verliehenen Zwangsgewalt beruflicher
Organisation zum Zwecke der R^felung der Arbeitsbedingungen im
Kampfe g^en die Arbeiter offen zu benützen. Sie haben femer es in
der Hand, manche Zwangsmittel versteckt zu üben, welche den
Arbeitern verschlossen sind, da diese mit Rücksicht auf ihre gröCiere
Zahl, insbesondere die Mängel ihrer Organisation, aber auch aus
anderen Gründen der Oeffentlichkeit und des öffentlichen Vor-
gehens bedürfen, während die Unternehmer den VN'cg vertraulicher
Korrespondenz, des Telegramms oder Telephons wählen können. Aus
alledem iäfst sich indessen die Thatsache nicht vollständig er-
klären, dafs l)isher fast keine \''erfolgung \ on Unternehmern wegen
Vergehens wider § 153 zu konstatieren ist, obwohl halle solcher Ver-
gehen in grofserZahl öffentlich festgestellt und in der Presse bc-
s|)roclien worden sind. Ich ilcnkc hierbei zunächst an die bekanntlich
häufig \on Unternehmerverbänden geübte Praxis, gegen Rücktritt
von der Koahtion sich dadurch zu sichern, dals jedes Mitglied der
Koalition einen „trockenen Wechsel" bei dner Gesct^ftsstelle htnto^
legt, welcher für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die — nach
§ 152 n nicht bindenden — Verabredungen begeben und einge-
klagt wird. Vgl. oben S. 477, 478. Die Aufforderung zur 2^1ung unter
Klageandrohung ist hier nicht blofe nach § 153 der G.O., sondern auch
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Theodor Loewenfeld,
nach § 253 St. G.B. strafbar. Es ist ferner z. B. eine seit Jahren
immer häufiger werdende Uebung, den Koalitionsverband dadurch
aufrecht zu erhalten oder den Beitritt zu demselben zu erzwingen,
dafs widerstrebenden Unternehmern die Entziehung der zur Ge-
werbeausübung erforderHchen Materialien angedroht und der
Drohung durch vor gängige Verabredung mit den .Materialliefe-
rantcn Xachdruck und Erfolg verliehen wird. Drahtstiftfabrikanten
wurde die Vorenthaltung des zur Gewerbeausübung erforderlichen
Drahtes, Maurermeistern die Entziehung der Ziegel-, Kalk- und
sonstigen Materiallieferung, Fafsfabrikanten die Entziehung des nötigen
Holzes angedroht und diese Drohung für den hall des Fernbleibens oder
Rücktrittes von der Koalition auf Grund der vorher mit den Liefe-
ranten dieser Materialien abgeschlossenen Verträge auch ausgeführt.
Die betreffenden Fälle sind in der Fach- und in der Tagespresse be-
sprochen und dadurch zur allgemeinen Kenntnis gelangt. Insbesondere
die Drohung der üibterialentziehung^ fUr Neubauten ist ein belidytes
Mittel bei Bauarbeiterstrikes, diejenigen Bauarbeitgeber, welche sich den
Forderungen der Arbeiter f üge n wollen, hiervonabzuhalten, also
der Koalition der Bauunternehmer beizutreten oder in derselben zu ver-
bleiben. Es ist aber kein Fall einer Strafverfolgung bekannt geworden.
Nach Wortlaut, Zweck und Geschichte des § 153 bedroht der-
selbe, wie erwähnt, nur den Zwang zur Koalition, den Zwang,
welcher bezweckt, den Beitritt zu einer Koalition herbeizuführen
oder den Rücktritt von derselben zu verhindern. § 153 will hiemach
die Bestimmung des § 152* unter strafrechtlichen Schutz stellen.
Mit dem Gesetz steht in Widerspruch, daüs ein nicht von Berufe*
genossen gegenüber Beruisgenossen, sondern gegenüber dem Koali-
tionsgegner geübter Zwang unter die Strafe des § 153 gestellt
wird. Eine Bestrafung dieses Zwanges bedeutet, wie mit Recht
gesagt worden ist, die Bestrafung der Teilnahme am Strike über*
haupt und damit die strafrechtliche Verfolgung jeder Arbeiter-
koalition för den Fall des Strikes. Ein Strike, bei welchem nicht dem
Arbeitgeber gegenüber „gedroht" wird, ist überhaupt undenkbar; die
Arbeitseinstellung, wenn sie auch vollkommen rechtsmäfeig und unter
Einhaltung flcr Kündigungsfrist erfolgt ist, mufs für den Arbeitgeber,
sofern die Arbeiter an dieselbe eine Hoffnung knüpfen, die Vor-
stellung eines Schadens oder einer Unannehmlichkeit, also ihre Ankün-
digung eine Drohung bedeuten; denn um dem eigenen Arbeitgeber
>) VgL HeinenAnn in der Nation 1899. Nr. 33 S. 338.
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Koalitioiisradit «nd StmfMcht
495
getSllig zu sein oder ihm einen Vorteil zuzuwenden, striken die Ar-
beiter gewifs niemals, — wenn es auch voricommt, dals ein Strike von
Arbeitern im Interesse und auf Veranlassung anderer Arbeitgeber
desselben Gewerbes angekünd^ und durchgeiiihrt wird, um den Voll-
zog von Tarifvereinbarungen und anderen kollektiven Vorträgen
gegen sich fernhaltende oder Vertragsbrüchige Unternehmer zu sichern.
Wenn also die Arbeiter eine Arbeitseinstellung ankündigen und
hierbei i h rem Arbeitgeber sagen, warum un<l zu welchem Zwecke
sie dies thun, so müssen sie Immer „drohen". Ist auf das \''er-
hältnis von Arhcitj^ebtrn zu Arbeitern und umgekehrt üljcrliaupt
§ 153 anwendbar, so fallt jede Strikeankündigung untt-r die in
§ 153 mit Strafe bedrolilc „Drohung". Die Denkschrift .S. 06 — 99
führt eine Reihe von l'rteilen an, in welchen § 153 auf Handlungen
angewendet wurde, wodurch von Arbeitern gegenüber Arbeit-
gebern ein Zwang im Sinne des § 153 geübt worden sein solL
Darunter sind Urteile einer Reihe von Oberlandesgerichten, insbe-
sondere des Kammergerichtes Berlin. Ebenso hat auch das Reichs-
gericht es als gleichgültig erklart, ob diejenige Person, gegen welche
ein Zwang durch eine der in § 153 genannten Handlungen geübt
wird, ein Berufisgenosse des Zwingenden ist oder nicht (Entscheidungen
in Stra&achen Bd. 30 S. 359).
Neuerdings hat das Kammeigtricht Berlin diese Anschauung
mit Recht verlassen. — Auch bei dieser gegen § 153 versto(senden
Praxis der Gerichte fallt in die Augen, dafs sie sich bisher aus-
schlicfslich gegen die Arbeiter gerichtet hat
B. In Fällen, wo von Arbeitern einem Unternehmer mit Arbeits-
einstellung „gedroht" wurde, hat die (ierichtspraxis indessen sich
nicht auf die Anwendung des § 153 G.G. beschränkt: man hat in
solchen Fällen auch wegen Erpressung bestraft und die bürger-
lichen Ehrenrechte aberkannt.
Vorbiklhch für diese Praxis ist das Urteil des R.( i. in K. f.
Strafs. FW. 21. S. 1146'. (1891 1. In dem Urteile ist festgestellt, dafs
die strikenden Arbeiter vertragsgcmäfs das Recht hatten, jeder-
zeit die Arbeit ohne Kündigung niederzulegen, und andrerseits
ebenso jederzeit von dem Arbeitgeber ohne Kündigung entlassen
werden konnten. Festgestellt ist ferner, dads auf Veranlassung der
Strikenden die Arbeitervereinigung, zu welcher dieselben gehörten,
zum Arbeitgeber mehrere Mitglieder (die „Lohnkommission") ab-
ordnete, um demselben zu eröffnen, dais für den Fall der Nicht-
erfüllung einer gestellten Lohnforderung (in den betreffenden Fällen
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1
Theodor Loeweafeld,
ein Lohn fiir eine Zeit, während welcher der Arbeitgeber nicht
hatte arbeiten lassen, bezw. in einem Falle die Arbeiter entlassen
hatte) die Arbeit in seinem Betriebe nicht wvirdc aufj^'cnommen
werden. Der Arbeiti^eber war berechtigt, diese I'orderung abzulehnen,
die Arbeiter waren bcrcchtiL^t, fiir den Fall der Ablehnung die
Arbeit nicht wietler aufzunehmen. Das Reichsgericht bezeichnet als
festgestellt, „dafs den Arbeitgebern hiermit etwas angedroht wurde,
was von ihnen als Uebel empfunden werden sollte und empfunden
wurde und dessen Androhung nach dem Willen der Angeklagten
bezweckte und bewirkte, einen Zwang auf den Willen der Arbeit-
geber zu üben''. Das Reichsgericht anerkennt, dals § 105 der G.O.
den Vertragsschltefsenden bei Eingehung des Arbeitsvertrages volle
Vertragsfreiheit gewährt und dafs deshalb der Arbeiter rechtlich
nicht behindert ist, das Angebot seiner Arbeitsleistung an will-
kUrliche Bedingungen zu knüpfen. Man sollte nun glauben,
dals diesem Grundsatze gemäls die Arbeiter gethan haben, was
ihnen zustand. Der Umstand, dafs eine „Lohnkommission" als
Vertreterin der Arbeiter auftrat, kann doch an der materiellen Sach-
lage nichts ändern, da dieselbe ja nur namens der Arbeiter mit-
teilte, daCs diese zur Wiederaufnahme der Arbeit, also zum Abschlüsse
eines neuen Vertragsverhältnisses, nur unter bestimmten Bedingungen 1
bereit seien, unter anderen dagegen nicht. Das Auftreten der Lohn-
kommission an .'Stelle der unmittelbar beteiligten .Arbeiter ist auch
an sich nach dem l'rteile des Reichsgcrichcs gleichgültig. Ent-
scheidend nach diesem l'rteile ist die Thatsache, dafs „ein rechts-
begrüiuicter Anspruch auf (iewähruni^'^ einer bestimmten \'crglituiig
nicht 1) c r e i t s b e s t a n d , als die !.< »hnkoinmission die Forderungen
der .Arl)eiter mitteilte mit der .Atiküiidigung der eventuellen Xicht-
wiederaufnahme der .Arbeit. ,..Soferne ein rechtsl)cgriindeter .An-
spruch auf Gewährung einer l)estimmtcn X'ergütung niciit bereits
bestand, gelangt die Straf be.stimmung des § 253 St.G.B. zur An-
wendung, wenn zur Erlangung der bezeichneten Vergütung das
Mittel der Nötigung im Sinhe des § 253 gebraucht wird", sagt das
Reichsgericht Nun ist klar, dafs inkeinemPalle, wo ein Vertrag
erst abgeschlossen werden soll, bereits der „rechtsbegründete An-
spruch" för eine der beiden Parteien besteht, welchen ihr der Vertr^
verschaffen solL Der Kaufmann, welcher för seine Ware einen be-
stimmten Preis verlangt und für den Fall der Nichtzahlung dieses
Preises seine Ware dem Kaufsliebhaber nicht überlä&t, hat vor Ab-
schluls des Kaufvertrages noch keinen rechtsbegründeten Anspruch
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Koalitioasrecht und Stmfrecht.
497
auf den Preis, ebensowenig wie der Bankier, welcher iUr Ein-
•räumung eines Kontokorrentlcredites von dem Kunden aufser dem
Zins die sogenannte Abscblufsprovision verlangt, einen Anspruch auf
Zins undPro%^ion hat Erpressung ist nach dem Reichsgericht
gegeben, wenn ein rechtsbegründeter Anspruch noch nicht bestand
und zur Erlangung desselben das „Mittel der Nötigung" gebraudit
wurde. Das „Mittel der Nötigung" bestand im vorliegenden Falle
in der Weigerung des Abschlusses eines Arbeits-
vertrages. Wenn dies ein „Mittel der Nötigung" gemä(s § 253
StG.B. ist, so begeht jeder Kaufmann Erpressung-, der seine Ware nur
zu bestimmtem Preise abgiebt. Das Reichsgericht versucht, sich
dieser naheli^endcn Schlufsfolgerui^ durch folgende merkwürdige
Ausfuhrung zu entziehen: Es sei „zuzugeben, da(s von dem That-
bestände der Erpressung der Fall ferne zu halten ist, wenn lediglich
ein Paktieren, ein gegenseitiges Fordern und Verwilligen unter
Wahrung beiderseitiger Vertragsfreiheit vorliegt. Zur Drohung ge-
hört der Wille, durch Ankündigung eines Uebels und durch die
hierdurch in dem anderen erregte Furcht vor ihrer Verwirkhchung
einen Zwang auf dessen Willen auszuüben. Wesentlich verschieden
davon ist die Aufstellung einer Vertragsposition , die dem
antU-rcii unter Wahrung der I^Vcihcit seiner Hntschlicfsung gc-
niarlite MitlcilnnL^ über die Brdingungcn, unter denen der Projtonent
seincr>eils eine \'ertrag>leistung zu übernehmen oder sonst eine
Recfitsliaiidlung auszuführen gewillt ist. Im einzelnen I""alle kann
eine konkrete Aeulserung ihrer l^orm nach es zweifelhaft er-
scheinen lassen, ob sie der einen oder anderen Art angehöre; es
kann insbesondere auch eine reine \'ertragsf)osilion, um den anderen
zur Annahme geneigt zu machen, mit der X'orstcllung der
dem anderen nachteiligen Folgen der Ablehnung
V c r l) u n d e n werden, ohne d a f s s i e d a durch s c h o n z u
einer Drohung wird, durch die ein W i 1 1 e n s z w a n g g e -
übt werden soll " Im vorliegenden halle, sagt das Reichsgericht,
kamen nicht \\ 1 h.incllungen über zu vereinbarende Vertrags-
bedingungen in Frage. „Vielmehr sind die Angeklagten B., Bl. und
M. dem S. in höhnischer und dreister Weise mit der einseitigen
Aufforderung und Ankündigung gegenübergetreten, dafs der ge-
forderte Arbettdohn „noch an demselben Tage bis Nachmittag an
die Lohnkonunission auszuzahlen sei, widrigenfalls von den Arbeitern
-gestrikt wihrde" (oder: „widrigenfalls die Arbeit von den Arbeitern
am nächsten Morgen nicht wieder au%enonunen würde"). Nun ist
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498
Theodor Loewenfeld,
klar, was das Reichsgericht unter „Paktieren" versteht, wobei Er-
pressung nicht gegeben ist! Die „einseitige Ankündigung" einer
bestimmten Forderung, von welcher nicht abgegangen wird, ist
nicht Paktieren. Erpressung ist also dann nicht gegeben, wenn
der eine Kontrahent dem anderen gegenüber sich darauf einläfst,
dats gefeilscht wird. Erpressung wäre hiernach, wenn ein Kauf-
mann in seinem Geschäfte anschreibt „feste Preise" und demgemafs
in seinem Gewerbebetriebe verfahrt. Man müfste denn sagen, dafs
es einen rechtHchen Unterschied macht, dafs der Kaufmann hierbei
vielleicht höflich den Kunden anlächelt, während die Arbeiter bei
ihrem Festhalten an der Forderung in „höhnischer und dreister
Weise" aufgetreten sein sollen! An der Thatsache, dals auch der
fragliche Kaufmann nicht „])aktiert", k<)nntc doch sein (loichts-
ausdruck nichts ändern, abgesehen davon, dals. die Arbeiter in
den Augen des l nternehmers wohl zumeist danti „dreist" sind,
wenn sie überhaupt Forderungen stellen. Fs ist anzuerkennen, dafs
das Reichsgericht in diesem Urteile lediglich seiner ständigen
l'raxis auf dem Gebiete des Frj^ressungsbegrifl'es gefolgt ist. Hier-
nach erfordert der Begrifil' der Rechtswidrigkeit des Vermögens-
vortcils auf dem Gel)icte der Flrprcssung weiter niciits als das
Nichtl)estehen eines Rechtes oder eines begründeten Anspruchs
auf den erstrebten Vermogensvorteil in X'erbindung mit dem Um-
stände, dais zu dessen Erreichung das Mittel der Gewalt oder
Drohung angewendet wird, wobei es gleichgültig ist, ob die Drohung
die Ankündigung einer erlaubten oder unerlaubten Handlung, die
Ausübung eines Rechtes oder einer gesetziich überhaupt gleichgültigen
Handlung ist Gleichgültig ist, ob der „rechtswidrige" Vemiögensvorteil
dem angeblichen Erpresser selbst zukommt oder einem Dritten.
Das letztere ist in § 253 direkt ausgesprochen. Infolgedessen hat das
Reichsgericht eine Verurteilung wegen Erpressung in einem Falle
gebilligt, in welchem jemand einen anderen durch die Drohung,
ihn wegen eines ihm zur Last gelegten Did)Stahls zur strafrecht-
lichen Verfolgung zu bringen, zur Zahlung einer Bulse an die
Armenkasse nötigte (E. in Strafe. 26 Nr. 136 S. 354ff.). Binding
bezeichnet dieses letztere Urteil in seinem Lehrbuch des gem.
deutschen Strafrechts, besonderer Teil I S. 205 als „sehr bedenklich",
wahrend er dem reich^^erichtlichen &kenntnisse gegen die Lohn«
kommission der strikenden Arbeiter das Lob spendet, dals es den
»juristischen Standpunkt" gut wahre. Der »Juristische Standpunkt"
ist in beiden Urteilen der gleiche, rein formalistische; er fuhrt dazu.
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Koditioosredit und Strafirecht
499
flafs über die Frage, ob eine Strafbare Handlung vorliegt, die nach
der Anschauung des Volkes infamiert, auch wenn die Ehren-
rechte nicht aberkannt werden, oder eine völlig erlaubte Handlung,
Erwägungen entscheiden, welche jede Bestimmtheit vermissen lassen ;
dafs die Fntsriieidmif^ im einzelnen Falle von dem mehr oder
weniger lempcrameiilvollen oder iiöflichcn Auftreten des Angeklagten
ahhäni^t , dafs die Entschcithin;^ jeden ZusaiTitnenhang mit der
nioralisciit n Qualität der Handlung verliert und es schliefslich nicht ^
blofs dem Rechtsunkundigen, sondern auch dem gebildeten Juristen
schwer wird, vorauszusagen, ob ein bestimmtes \'erhaltcn als er-
laubt oder aber als infamierendes Delikt beurteilt werden wird.
Man sollte glauben, dass eine Rechtssprechung, die zu solchen Er-
gebnissen auf dem Gebiete des Strafrechtes liilut, nidit auf dem
fichtigen Wege sein kann.
Im Reichstage wurde bei den Verhandlungen fiber die Vor-
lage von den Al^eordneten Bassermann und Heine auf die Ent-
wicklung dieser Erpressui^praxis der Landgerichte und des
Reichsgerichtes hingewiesen, insbesondere hatte der Abgeordnete
Bassermann ausgeführt: „Wenn diese Rechtssprechung sich weiter
entwickdt, dann ist ja klar, dals ein ganz grofser Teil des Koali-
tionsrechtes überhaupt in Frage gestellt ist. Das Reichsgericht hat
eine Entscheidung bestätigt, in der ein Mann bestraft wurde wegen
Erpressung, weil er im Auftrage von Arbeitern einen Lohntarif
präsentiert und gesagt hat, für den Fall der Ablehnung werde die
Sperre über den Betrieb eröffnet." Mit anderen Worten: die Ar-
beiter kündigen für den I^'all der Ablehnung ihrer ^^)rdcrun!.;<■I1 den
Strike an untl kündigten an, dafs sie ihrer Arbeiterkoalition durch
Verständigung anderer Arbeiter die erforderliche Ausdehnung geben
werden.') Der Staatssekretär Dr. Nieberding erwiderte hierauf,
man solle duch aus ein/einen Urteilen des Reichsgerichtes keine all-
gemeinen Schlüsse ableiten. Er selbst aber hat sofort drei Urteile des
Reichsgerichtes angeführt, die vollständig auf dem Boden der soeben
enrahnten Entscheidung (Bd. 21 S. ii4Üf.) stehen.*) In allen drei
Fallen hat es sich darum gehandelt, dals die Arbdter durch eine
Lohnkommission für den Fall der Nichtannahme der von ihnen ge-
stellten Lohnforderungen Strike und Sperre angekündigt hatten. Zu
beidem waren sie vollständig berechtigt, zum Streik auf Ghund des
*) SteB. Ber. S. 2669.
*) Seen. Btt. S. S751.
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500
Theodor Loewenfald,
§ 105 der G.O., der dem Arbeiter die Vertragsfreiheit ausdrücklich
zuspricht, zur Sperre auf Grund des § 152 G.O., der die Koalition
zur Erlangun«:^ j:jünstiger Arbeits- und Lohnbedin<Tunfjen ausdrück-
lich erlaubt und die früher bestehenden Strafbestimmungen aufhebt.
Die Arbeiter haben also Vertrn^'sfreiheit und können — vorbehalt-
lich des W'uchergesetzes — für ihre Arbeitsleistun[^en bclicbic^c Hc-
dingungen von Reciitswcgcn stellen; — sie haben das Koalitions-
recht und können davon Gebrauch machen zur Krlangung günstiger
Lohnbcdiii'^ungen. d. h. doch, um ihren bezüglichen Forderungen
Nachdruck zu verleihen. Wenn sie dies aber thun, so werden sie
wegen Krpressung bestraft, sofern sie ihre Forderungen dem Arbeit-
geber mitteilen. Dieser Gefahr können sie nicht einmal dann
entgehen, wenn sie jede Mitteilung an den Unternehmer vermeiden
und es diesem überlassen, sich in Vermutungen darüber zu ergehen,
warum die Arbeiter strikcn und seinen Betrieb sperren. J )eiin
wenn er sie etwa nach dem Grunde fragen und sie sodann ( irund
und Zweck der Arbeitseinstellung ihm eröfifnen würden mit der
Bemerkung, dafe sie an diesem Zwecke, etwa Lohnerhöhung, fest-
halten, so wäre dies sofort nach dem reichsgerichtlichen Urteile
wieder eine Hl^rohting", soferae der Unternehmer — wie natüriidi —
die Fortsetzung des Strikes und der Sperre als ein „Uebd" empfinden
wüvde.
Auch bei dieser Gerichtspraxis fallt die Einseitigkeit auf;
genau die gleiche Verhaltensart auf der Untemehmerseite ist bisher
niemals angeklagt und niemals verurteilt worden. Empfinden die
Unternehmer die Arbeitseinstellung der Arbeiter als ein „Uebel^
so ist gewUs auch die Aussperrung der Arbeiter durch die Unter-
nehmer för die ersteren ein sehr erhebliches „Uebel". Striken die
Arbeiter, um höheren Lohn zu erhalten, so sperren die Unternehmer
die Arbeiter aus, um eine Lohnreduktion oder Verlängerung der
Arbdtszeit durchzusetzen. Auf Arbeit zu geringerem Lohne oder
auf längere Arbeit zum gleichen Lohne haben die Unternehmer
ebensowenig einen „rechtsbegründeten Anspruch", wie
die Ari>eiter auf Lohnerhöhung oder Arbeitszeitverkürzung. Teilen
die Unternehmer ihre Forderungen den Arbeitern mit,
indem sie Aussperrung für den Fall androhen, dafs sich die Arbeiter
nicht unterwerfen, so ist das nach dem reichsgerichtlichen Urteil
vom 6. Oktober 1890 (Bd. 21 der strafr. Sammlung S. 1 i4fif,) eben-
falls eine Erpressung. Dabei tritt besonders jenes Thatbestands-
merkmal, auf welches das Reichsgericht so groises Gewicht legt,
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Koalitioaircebt und Sbrnfredit.
501
in einer ungemein j^Tofsfii Zalil von Fällen auf das schärfste hervor:
die Ablehnung der Verhandlung über die gestellten Forderungen,
die Zumutung der unbedingten Unterwerfung unter die er-
hobenen Forderungen. F.ine Anzahl von Unternehmerorganisationen
hat prinzipielle Beschlüsse dahin gcfafst, mit ausstcändigen Arbeitern
nicht zu unterhandeln. Die ilein \'. N'crhanclstag des Zentral-
verbandes der Maurer in Berlin vor;^'ckgtc Strikestatistik ent-
hält die Feststellung, dafs 1808 die L'nternciimcr sich in 109 Orlen
in Unterhandlungen mit den Gehilfen eingelassen haben, in 80 .'^trike-
orten dagegen nicht. Der Vorsitzende des lnnungs\ crhandcs der
dcvit-^chcn Baugewerkmeister soll auf einem X'erbandstagc zu
Breslau den .Ausspruch gethan haben: „VVenn Ihr mit den Arbeitern
paktieren wollt, so braucht Ihr mich nicht zu wählen." Derselbe
hat kürzlich auf don ersten VerlMuidstage des von dem glekrhen
Innungs\ erbande neugegründeten ArbeitgeberverbaAdes der Bau-
gewerbetreibenden und Bauunternclimer Deutschlands eine allgemeine
Aussperrung der Bauarbeiter Deutschlands als die einzig richtige
Maßregel empfohlen, um ,J(uhe" vor den Arbeitern zu bekommen.
Bei solcher Auffassung an der Spitze der Organisation der Bau-
gewerbetreibenden ist es nicht verwunderlu:h, dals dieselben in so
zahlreichen Fallen den Arbeitern gegenüber das Prinzip des Nicht-
verhandelns, des einseitigen Diktierens ihrer Forderungen durchzu-
fuhren suchen. Bekannt ist, (laf-; im grofsen Ilafcnarbeiterstrike ZU
Haniburg die Unternehmer jeden Vorschlag zu \'erhandlungen, auch
die Intervention der Staatsbehörden, auf Grund dieses Nirhtv crhand-
lungsprinzips zurückgewiesen haben. Vom Rechtsstandpunkte aus
wäre dagLL^cn nichts einzuwenden, weim nur die .Anwendung des
gleichen riin/ijis durch die Arbeiter nicht als Erpressung ge-
brandmarkt wurde.
Bei I'reundcn und (iegnern der X'orlage ist der ( daube ver-
breilcl. tials eine X'erurleilung nach ij 15^ (i.O. oder wegen Kr-
|)ressung nach i; 253 .St.Ci.B. nicht mehr vorkonmien könnte,
wenn die X'orlage /.um (iesctz erhtil)cn würde, dafs dieselbe also hier
einen I-ortschritt bedeute. Dies ist nicht richtig. Auch nach der
Vorlage setzt sich eine Lohnkommission der Verurteilung wegen
Erpressung und zwar in „idealem" Zusammenfluß mit einer Verur-
teilung aus §§ I, 3, 4 des Gesetzentwurfs aus, wenn sie namens der
durch sie vertretenen Arbeiter dem Unternehmer einen neuen Lohn-
tarif überreicht und ftir den Fall der Ablehnung den Strike ihrer
Auftraggeber ankündigt. Was bisher eine gegen das Gesetz ver-
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^02 Theodor Loeweafeld»
stofeende Praxis der Gerichte war, die Anwendung des Begriffes
der .^Drohung'' in § 153 G.O. auf Drohungen gegenüber dem Koa-
litionsgegner, wird in der Vorlage zum Gesetz erhoben und
das Gleiche i^'ilt von den anderen Mitteln des Zwanges des § 153,
der Verrufserklärung, Ehrverletzung u s. w.
Vor allem ist die Dehnbarkeit und Vagheit des Be-
griffes der Drohung geeignet, die Rechtsanwendung auf Abwege
zu führen.
Wenn ein ausständiger Arbeiter Arbeitswilligen nachruft : „Seht
Kuch die Kollej^cn an", so wird dies als „Drohung" mit I Monat
riefänu,niis bestraft'); die Aeufserung eines strikenden Maurers zu
einem Rerufsj;enossen : „Kollega, ich mache Sie darauf aufmerksam,
dafs die Maurer hier sinken", war „Droliung" '). Die Aeufserung
eines .strikenden Zimmermanns zu Arbeitswilligen : Leute, hier
ist Strike, Ihr seid noch jung und wifst nicht, was Ihr thut —
aber hütet Kucii' , ist als mit 2 Monat Gefänj^nis zu ahndende
„Drohung" erachtet worden.'*) Immerhin ist in diesen Fällen fest-
gestellt worden , dafs irt^^endwer irgendwen „bedroht" hat. Die
neuere Gericlitspraxis hat auch diese heststellung eines bestimmten
Bedrohten nicht mehr als erforderlich erachtet. Der Bevoll-
mächtigte einer Gewerkschaftszahlstelle wurde wegen Bedrohung
vom Schöffengerichte Apenrade zu 4 Wochen Gefängnis ver-
urteilt und sofort verhaftet, weil er den Beschluls der betreffenden
Gewerkschaft, über die Werkstatte eines Meisters die Sperre
zu verhängen, der eine von allen anderen Gewerbetreibendea
des Faches angenommene Arbeits-Bedin>,amg ablehnte, in einer
Fachzeitung, der Holzarbeiteneitung, aufbagsgemäfs veröffentlichte
und die Zahlstellenverwaltungen ersuchte: die zureisenden Kollegen
auf die betreffende Werkstatte aufmerksam zu machen, da über
dieselbe die Sperre verhängt sei.*) Der Verurteilte hatte
also einen Koalitionsbeschlufs in der von den Grehilfen gelesenen
Fachzeitung im Auftrage der Koalition veröffentlicht und dafür ge-
sorgt, dals der Beschlufs den Berufs- und Verbandsgenossen zur
Kenntnis kam. Wer war hier bedroht? Man könnte wohl lange
raten, wenn es das Urteil nicht verraten wurde. Bedroht wurde
durch jene Bekanntmachung ein Gehilfe S., welcher bei dem be-
') Vgl. Heine mann in der „Nation ' Nr. 24 (1899), .S. 329.
*) Vgl. Legicn, Das Koolitionsrecbt. b. all.
*) Vgl. Legten «. «. O. S. 211.
*) Vgl. Legicn a.a.O. S. 291.
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KoalitiaiisKeht und Stnfredtt
503
treffenden Meister Arbeit erlangt hatte und auf die Nachricht von
der über die Werkstätte verhängten Sperre dieselbe verliefs; er
mufste dies nach der Annalunc des Urteils thun, weil er bei Un-
gehorsam gegen den Koalilionsbeschluls fürchten mufste, aus der
Koalition, dem Gehilfenverbande ausgeschlossen zu werden und die
Unterstützung seitens desselben zu verlieren, auch von Koalitions-
genossen mehrfache Unannehmlichkeiten zu erfahren. Die öffent-
liche Mitteilung tjcr Sperre seitens der Koalition enthält nach dem
Urteile eine Droh u ng — gegen jedes Mitglied der Koalition, dalier
auch fiir den erwähnten G«hflfen S.
Letzterer war aber nun überhaupt, wie nachträglich festgestellt
wurde, nicht Verbandsmitglied, konnte also auch als Verbands-
mitglied nicht bedroht werden. Das Oberlandesgericht Kid be-
stätigte trotzdem das schöiTengerichtliche Urteil auf Revision des
Staatsanwaltes gegen das freisprechende Berufungsurteil. Eine
,J)rohung" sei genügend festgestellt, indem der Angeklagte allge-
mein den Mitgliedern des Verbands gedroht und durch die Ver-
öffentlichung auf einen unbestimmten grofsen Personen-
kreis eingewirkt habe. Wenn also Jemand im Auftrage
eines Verbandes einen erlaubten Koalitionsbeschlufs veröffent-
licht, so „bedroht" er hiermit Mitglieder und Nichtmitgiieder des
Verbandes !
C. Die „Ehrver letzung" des § 153 O.O. stammt aus dem
preufsischen Strafgesetzbuch vom 14. April 1851. Der 13. Titel
desselben handelt von den „Verletzungen der Ehre" und §§ 160
bis 163 von der Bestrafung einer „Flhrverletzung" im allgemeinen.
Unterarten derselben sind die „Heleidi^ung" und die \\ rleumdung
(Behauptiinj^ und X'erbrcitung uinvalner 1 hais.ichen über einen
amkren, welche denselben dem Hasse oder der Verachtunt,' aus-
setzen). .Aus dem preuls. Strafgesetzbuch von 1851 ist die ,,I'.hr\'cr-
Ictzung" zunächst übergegangen in den „Entwurf eines Handelsge-
setzbuches für die preufsischen Staaten" Art. Ol, wonach
„schwere Ehrverletzung" den Handlung.sgchilfen , „erhebliche Ehr-
verletzung" den Prinzipal zur Aufhebung des Dienstverhältnisses
berechtigt Dieser Entwurf war die Grundlage des Allg.
Deutschen Handelsgesetzbuches; die Bestimmung des Art 61 des
preufsischen Entwurfes entspricht den Bestimmungen des H.G£.
Art 63, 64*, nunmehr den Bestimmungen des neuen Handels-
gesetzbuches §§ 71 ^ 72 ^ Ebenso war nach dem Regierungsent-
Archhr fiw mc GtMUgebung u. SutiMik XIV. 33
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Theodor Loeweiifcld,
würfe der Gewerbeordnung für den n o r d tl e u t s c h c n
Buntl 114 „Ehrverlctzung" ge^en den Arbeitsgeber ein (iriind
für sofortige lüitlassung des (icluUcn, währciul nach § 115
der Gehilfe den Dienst dann alsbald verlassen konnte, wenn der
Arbeitgeber „sich thätlich an ihm vergreift". Auf Grund der Be-
schlüsse des Reichstages dagegen, die in das Gesetz übergegangen
sind, war nur „grobe Ehrverletzung" begangen am Atbeitgehex
oder an Mit^ifidem seiner Familie ein Grund der Entlassung des
.Gehilfen, ebenso aber auch „grobe Ehrverletzung", begangen vom
Albeitgeber am Gehilfen, ein Grrund för diesen, den Dienst ohne
Aufkündigung sofort zu verlassen (§§ 114, 115). Durch die No-
velle zur G.O, vom 17. Juli 1878 erhielten die §§ 114, 115 »den
nunmehrigen §§ 123 ^ 124* der R.G.O. ihre jetzige Fassung, indem
die „grobe Ehrverletzung" durch „grobe Beleidigung" ersetzt
wurde.
Dagegen ist § 153 der G.O. g 169 des Regierungs-
entwurfes — § 147 der G.O. von 1869) in der Fassung des
Regierungsentwurfes vom 4. März 1869 stehen ge-
blieben. Der Gattungsbegriff der Ehrverletzung des preufk
StG3. von 185 1 erlitt durch seine Aufnahme in § 153 der G.O.
eine radikale Aenderung im Gegensatz zu der Ehrverletzung
als Kündigungsgrund in den §§ 123*, der G.O.
Indem der Reichstag bei Beratung der Gründe einer auOser-
ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses — entgegen dem
Regierungsentwurfe — nur „grobe Ehrverletzung", welche der Ge-
hilfe am Gewerbsmeister verübt, als einen Entlassung^rund er-
achtete, ebenso wie nach dem H.G.B. Art. 64 nur eine „erhebliche
Ehrverletzung" ein Grund zur Entlassui^ des Kommis sein sollte,
war, wie das R.O.H.G. in einem Urteile vom 30. April 1873 (Seuflferts
Arch. Bd. 28 Nr. 156) ausführt, anerkannt, „daCs nicht jede be-
leitlii;cnde Aeufserung, nicht jedes Schimpfwort genüge". Dies gilt
im X'erhältnis des Arbeiters zum Arbeitgeber wie umgekehrt
Andrerseits soll nach jenem Urteil auch nicht die Schwere der
beleidi<,fenden Aeurserun;^^ für sich allein, sondern auch der Um-
stand iiihetraclit <^czo^^en werden, oh und inwieweit die beleidii^'ciide
Aeulserung^, welche etwa als drund der AuHiei)iuv.; des Arbeits-
vertrac^es geltend gemacht wird, durch vorhergehende seitens des Be-
leiili;4ien verübte Beschimpfungen provoziert worden. Ks finden
überhaupt auf die Ehrverletzung oder nunmehr Beleidigung,
als Grund der Aufhebung des Dicustvertragsverhältnjsses, die für die
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KoilitMNitredit mul Stnfredit.
Strafrechtliche Ahndung der Beleidigung malsgebenden Grundsatze
Anwendung, um so mehr als nach den Bestimmungen der G.O.
eine Beleidigjung, die zur strafrechtlichen Aburteilung g[enügt, zur
Aufhebung des Dienstverhältnisses nicht einmal immer genügt, so-
feme eine „grobe schwere Ehrverlctzung" verlangt wird (R.O^G.
a. a. O.). Aeufserungen , die wahr sind oder welche zur Ver-
teidigung von Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Inter«
essen gemacht werden, sind daher, sowie sie zu keiner Bestrafung
nach dem St.G.B. fuhren können, auch ungenügend, als Grund
für die Aufhebung des Dienstverhältnisses zu dienen. Im übrigoi
• ist überall, wie im gemeinen Strafrecht, Rücksicht zu nehmen
auf den Bildungsgrad und die Umgangsformen der Beteiligten, eine
Rücksicht, die dahin führt, nianche Aeufserungcn als vollkommen
belanglos oder als keine „grobe" Beleidigung zu erachten, die
unter anderen Beteiligten schwerste Beschimpfungen darstellen
würden.
Die „Eh r ve r 1 e t z u n g" in t? 153 (i.O. unterscheidet sich
wesentlich von der „ B e 1 e i tl i g u n g " des deutschen
Strafgesetzbuches und der §§ 123, 124 G.O. Zunächst ist
es, entsprechend der Herkunft dieses Begriffes aus dem preulsischen
Strafrecht, für die Annahme einer Elirvcrletzung nicht erforderlich, dafs
die ehrverlctzende Acufscrung über einen arideren geeignet ist, „den-
selben verächtlich zu maciien oder in der (iftcntliciien Meinung herab-
zuwürdigen" (St.G.B. §§ 186, 187) ; esgcnügt, wcrui eine Acufserung über
einen anderen denselben einem „I I a f s" aussetzt. Des weiteren ergiebt
sich aus Wortlaut und Zweck des § 153, dafs die ehrverletzende
Aeufserung nur dann strafbar ist, wenn sie als Mittel dienen soll,
jemand zu bestimmen, an einer Koalition teilzunehmen oder bei
einer Koalition zu bleiben. Der Zweck der Gründung oder Erhal-
tung einer Koalition zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn*
und Arbeitsbedingungen ist zwar in § 152 als erlaubt erklärt und
erscheint daher als „berechtigtes Interesse" im Sinne des § 193
StG£. Objektiv beleidigende Aeu&erungen, welche zur Wahrung
berechtigter Interessen gemacht werden, sind nach dem Strafgesetz*
buche nicht strafbar, sofeme nicht auch subjektiv eine Beleidigung
gegeben ist, d. h. eine Absicht der Beleidigung anzunehmen ist § 153
G.O. erklärt dagegen umgekehrt die Absicht der Wahrung eines
bestimmten berechtigten Interesses als ein Thatbestands-
merkmal seiner Strafdrohung.
Die blofse Ehrverletzung, die nicht zugleich eine Be-
33»
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So6
Theodor Loewenfeld,
leidigung entsprechend den Bcstinimun^cn des StG3. ist, ist für
jedermann straflos. Sic ist auch straflos, wenn sie von einem
Arbeiter an einem Arbeiter zu keinem anderen Zwecke begangen
wird, als zu dem, den Verletzten zu ärgern oder ihm zu schaden
oder aus blolsem Uebermut Strafbar nach § 153 wird die Khr'
Verletzung erst dann, wenn sie einem bestimmten löblichen
Zwecke dient, eben jcnrm Zwecke, welchen das Gesetz selbst in
§ 152 als erlaubt erklärt und welcher nach gemeinem Strafrecht
einen Gegenstand „berechtigter Interessen" darstellt. Nicht die Khr-
Verletzung als solche ist daher in ij 153 bedroht, sondern die
P-hrvcrletzuiu,' als Mittel zur Aufrecliterhaltung oder Begründung
eines Koalitionsv erbandes. Dagegen bleil)l die l'.lirverlet/.ung wieder
straflos, wenn sie als Mittel /um e 11 1 g e gc n g e s c t / t e n Z w c c k e ,
dem Zwecke der \ crhindcrung oder Zerstörung eines KoaUtions-
verbandes dienen soll.
Auch nach der V^orlage ist die lihrvcrlclzung an sich straflos;
sie wird auch nach der X'orlage strafbar erst durch den Zweck, zu
welchem sie begangen wird. Sie wird strafbar durch den Zweck
der Heschützuiig und Hefiwtlei ung eines Koalitions\erbandes , sie
wird aber auch strafbar durch den entgegengesetzten Zweck, der
Hinderung oder Zirstin iing eines Koalitionsverbandes. Nur wird
unter Umständen, wenn die h.hrvcrlelzung einer Koalition dienen
soll, dieselbe härter bestraft, als wenn sie ihr schaden soll; in den
Fällen des § 8 wird die Khrverletzung zu erstercm Zwecke mit
Gefängnis bis zu iunf Jahren und mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren
bedroht, während die zur Wirkung gegen eine Koalition bestimmte
Ehrverletzung mit Gefängnis bis zu einem Jahre bedroht wird. Im Falle
des § 2 wird die „Ehrverlctzung", womit jemand seine Mahnung
zur Nachgiebigkeit und zum Frieden veretarkt, mit Ge*
iangnis bis zu einem Jahre bedroht, w<^^en derjenige, welcher den
Friedensstifter durch Ehrverletzung bekämpft, straflos bleibt
Darüber des Genaueren weiter unten.
Der Begriff der Ehrverletzung steht aufserhalb der Begriffe und
Anschauungen des gemeinen Strafrechtes; er ist in der Gestaltung,
die er in § 153 erfahren hat und noch mehr in der Gestaltung
durch die Vorlage eine strafrechtliche Anomalie. Wie weit sich der
Begriff der Ehrverletzung von dem Boden des gemeinen Strafrechtes
entfernt, kann man daraus ermessen, da& der Schutz der Berufung
auf berechtigte Interessen sogar bei Majcstätsbeleidigungen aner-
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Koalitionncdit und Stnfredit
507
kannt ist.*) Man sollte glauben, dafs tlcrjenige, welcher durcli Khr-
verlctzung einen „gemeingefährlichen", die „Sicherheit des Reichs"
bedrohenden Strike zu verhindern sucht, hierfür keinen Tadel
und keine Strafe verdient. Die X'orla^^e f)estraft ihn mit Gefängnis
bis zu einem Jahr, dafür aber allerdings auch seinen ( rc;^aier, welcher
den Strike auf dem gleichen Wege herbeiführt, ei)eiifalls und zwar
mit ( lefängnis bis zu fünf und mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren.
Iliernarh wird als Klirverletzung gestraft, was nach gemeinem
.Strafrcclile, .luch bei \'orliegen des Antragserionlcrni^ses nicht ge-
straft werden könnte, gleichviel gegen wen sich die hhiAcrU tzung
richtet, Aeufserungen , die straflos bleiben, wenn sie sich gegen
Kaiser, Landesherm, Bundeslursten, gesetzgebende Körperschaften,
Beamte oder Privatpersonen richten. Da& ein solch abnormer
Begriff der Rechtsanwendung, die mit demselben zu operieren hat,
zum Verderben gereicht, liegt nahe, umsomehr als die Ge*
richte durch das Gesetz selbst darauf hingewiesen werden, Be-
strebungen zur Gründung und Erhaltung von Koalition als etwas
Schädliches, strafrechtlich zu Bekämpfendes anzusehen. Daraus er-
klären sich dann Urteile, welche allenthalben in den Kreisen des
Volkes berechtigtes Aufsehen erregen. Eine Notiz in einem Arbeiter-
blatte lautet: ,JDie und die Kollegen handeln gegen unser Interesse
und unterstützen die Unternehmer." Der Arbeiter, welcher .die
Notiz verfaCste, der Redakteur, welcher sie aulhahm, wurden wegen
Ehr\ erletzung zu je vier Wochen Gefängnis verurteilt. Hin Arbeiter,
welcher nn ArheitswilHge die Mahnung richtete, die Arbeit einzu-
stellen, mit der Hcnurkun-^f , „es sei nicht schön, KollcL.'cn in den
Rücken zu fallen," erhielt einen Monat (lefängnis. Die Bezeichnung
als S t r i k e 1) r c c her, die ledit,'Iich den s u b s t a n t i v i e r t e n V o r -
halt einer wahren 1 hatsache, der Thatsache des Strike-
bruches, darstellt, wird in eirier Reihe von Urteilen mit mehreren
Wochen ( icfangnis gesühnt.
Durch die Uebcrnahme des Begriffes der „Ehrverletzung" in
die Vorlage wird ein Zustand geschaffen, der die Erörterung eines
Strikes, die Beratung über Beginn oder Nichtbeginn, Fortsetzung oder
Beendigung desselben für jeden Beteiligten, ja auch fUr unbeteiligte
Friedensstifter, zu einer hohen kriminellen Gefahr gestaltet,
immer vorausgesetzt, dafs <iie — sehr mangelhafte — „Parität" des
Gesetzes in der praktischen Anwendung desselben nicht ebenso
>) Vgl Olshaaten Komm, u SLG.B. I sn § 95 Nr. 7.
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508 Theodor Loewenfeld,
völlig verschwindet wie bei dem geltenden Gesetze. Der Begriff
der Ehrverletzung in seiner bisherigen, gege n Arbeiter sich
kehrenden Anwendung ist besonders deswegen so ge-
fahrlich, weil er von Arbeitern in einer Zeit der heftigsten
Erregung, in einer Zeit von Existenzkämpfen parlamentarische
Formen verlangt, welche ihnen auch in gewöhnlicher Zeit fremd,
ja welche gebildete Berufsparlamentarier nicht immer einzuhalten
vermögen. Der deutsche Reichstag ist gewifs eines der ruhigsten
Parlamente Pairopas. Die stenographischen Berichte über seine Ver-
handlungen wimmeln von „Khr\ crlctzungen", wenn man an dieselben
den Mafsstab der Praxis des i? 153 anlegt. Ein berühmter Meister
parlarncnlarisclRr Höflichkeit , der langjährige erste Präsident
v. Lcvctzow hat gerade hei der ersten Beratung der hier be-
sprochenen Vorlage l)ei der Befürwortung derselben Worte ge-
sprochen, wegen dereri er, wenn er sie als Arbeiter zu Gunsten
einer Loiinkoalition gesagt hätte, wegen Ehrverletzung verurteilt
worden wäre und zwar \ on Rcclitswegen. Er hat (vgl. oben S. 490; be-
hauptet, ,, niemand könne etwas dagegen haben, dafs die Gesetzgebung
es hindere, dals gegen irgendwen ein körperlicher Zwang ausgeül)t,
eine Bedrohung, eine I^hrverletzung gerichtet, eine Verrufserklärung
in die Welt gesetzt werde. Das ist ein Recht, auf das jedermann
Anspruch hat — und wer die Bcstinmuingen des Gesetzes, das
solchen Unfug ausschliefsen will, für unberechtigt hält, der setzt sich
dem Verdacht aus, ein Freund von Zwang, von Beleidi-
gungen, von Drohungen und von Verrufserklärungen
zusei n." Dies wäre ein S c h u 1 f a 1 1 der nach § 1 5 3 strafbaren Ehr-
varletzung, wenn die Worte mtitalts mutandis von Aibeitem zu
Arbdtem zwecks Aufrechterhaltung einer Koalition gesprochen
Mrden.
Der Schaden, welchen das Gesetz dadurch anriditet, dals es
dem Richter befiehlt, in den Fällen des § 153 mit zweierlei Mafs
zu messen, dals es den Richter zwingt, Handlungen, die tagtäglich
tausendfach von jedermann straflos begangen werden, an Arbeitern
zu strafen und gerade dann zu strafen, wenn diese Handlungen als
Mittel für einen an sich erlaubten, ja selbst von den gesetzgebenden
Faktoren als wichtig und unentbehrlich erklärten Zweck dienen, ctieser
Schaden reicht weit über das Anwendungsgebiet des § 155
G.O. hinaus. Hat das Gesetz einmal die Rechtsanwendung darauf
hingewiesen, in derartigen Koalitionsbestrebungen — da sie zum That-
bestandsmerkmal eines besonderen Deliktes erhoben sind — etwas
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Koaliüonsrecht and Strafrecht. ^09
Strafbares zu sehen und an sich straflose Handlungen, weS hiermit
in Zusammenhang stehend, alsDelikte zu behandeln, so wird der
Richter, wenn in Zusammenhang mit solchen Bestrebungen nach ge*
meinem Strafrechte strafwürdige Handlungen, wirk-
liche „Ausschreitungen" begangen werden, dazu kommen müssen, an
derartige Ausschreitungen ebenfalls einen anderen Mafsstab anzu-
legen, als den gegenüber anderen Bevölkerungsklassen gehandhabten.
So erklaren sich ps3fchol<^;i8ch Urteile, wie das in dem bekannten
Löbtauer Falle, wo wegen Ausschreitungen 53 Jahre Zuchthaus ver-
hangt wurden, welche, wenn sie bei einer Kirchweihfeier begangen
worden wären, mit einigen Monaten Gefängnis ihre entsprechende
Sühne gefanden hätten, Urteile, die weit über die Kreise der Arbetter-
bevölkerung hinaus den Eindruck der Klassenjustiz erregen müssen.
D. Die Verrufserklärung, welche § 1 53 unter Strafe stellt,
ist nach gemeinem Strafrecht straflos. „Ungestraft", sagt mit Recht
Brentano'), „wird in allen Gesellschaftsklassen von Verrufserklärungen
gegenüber solchen Gebrauch gemacht, welche gegen die Interessen und
Anschauungen der Kreise, denen sie angehören, verstofeen". Man kann
die Verrufserklärung in der That als eine bei keinem Beruf, keinem
Stand, keiner Klasse fehlende Einrichtung bezeichnen, deren Bestim-
mung ist, das Urteil der Berufs-, Standes- oder Klassenmoral über die
den Grundsätzen derselben zuwiderhandelnden Genossen zu verkün-
digen. Staatlich org^aiiisierte Berufsklassen haben zum Schutze der
materiellen und idealen Interessen, die sie \ crlrcten, gegen die sie
schädif;cndcn Anii^'chörjfTcn staatsamtlichc Kinrichtunf.yen der \^crrufs-
erklärunj^' und den X'ollzug derselben durch Suspension, AusschluCs,
Geld- und P-hrcnstrafcn ; den deutschen Offizier belehrt eine all-
jährlich neu einzuschärfende Kaiserliche Verordnun«^ vom 2. Mai 1874,
dafs er unter gewissen Umständen die Staiideschre und Standessitte
durcii einen vom s^eineincn Strafgesetzbuche verbotenen Zweikampf
unter Aufsicht und nach den Anordnungen seiner Vorgesetzten zu
wahren hat bei Vermeidung des A u ssc h 1 u s s e s aus dem Offizier-
korps und eine Militärzeitung veröffentlicht die „Vorschriften", „die bei
einer standesgemäfsen Austragung und Beilegung von Ehrenhändeln
zu beachten sind. -') Analog ist die Bedeutung der Verrufserklärung
') liRcdctioa odm I^orm. Gegen die Zncbdurasvorlage.** Bo^Un-Sdiöiiebeif
Verlag der ,,HUfe** (Fr, Naumann) 1899. S. 32.
*) Vgl. die Schrift-. y,T)\t: konvcntionillcn (irbräiioh'' heim Zweikampf" nebst
Auhang: Verordnung über die Ehrengerichte im preufäicbcn Heere vom 2. &Iai 1874«
Berlin i88l. Verlag von K. Eisenschmidt.
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JIO Theodor Loevenfeld,
bei den nicht staatlich oder amtlich organisierten Ständen und Be-
rufen : es ist die Kennzeichnung einer zugehörigen Person, mit
welcher ein gesellschafthchcr oder geschäftlicher oder beruflicher
Verkehr wegen Verfehlung gegen allgemeine oder spezielle Standes-
und Berufsgrundsätze nicht gestaltet ist. Auch hier ist der wichtigste
Fall der V^errufserklärung derjenige, durch welchen das persönliche
Koninierzium der Genossen mit dem Verrufenen aufgehoben wird.
Was aber bei den amtlich organisierten Berufen nicht oder nicht
immer oder nur in mangelhafter Weise möglich, die X'errufscr-
klärung durch einen Nichtgenossen, ist bei nicht organisierten oder
nicht amtlich organisierten Berufen und Klassen überall und jederzeit
möglich, vorausgesetzt, dafs eine V e r k e h r s v e r b i n d u n g statt-
findet, sei es eine gesellschaftliche oder geschäftliche.
Der Kaufmann kann von Fabrikanten und bei l'abi ik.mten, der
Fabrikant \'on Materiallieferanten und bei Materiallieferanten, jeder
Verkäufer von seinen Kunden und bei seinen Kunden, der Arbeit-
geber von Arbeitern und bei Arbeitern, der Arbeiter von Arbeit-
gebern und bei Arbeitgebern in Verruf erklärt und gebracht
werden. Da hier verschiedene und sich widersprechende Interessen
sich gegenüberstehen, so kann es vorkommen, dals ein Verhalten,
das unter Genossen standeswidrig erscheint und daher zum Verruf
unter den Genossen führt, der gegenüberstehenden ¥artd vom Stand-
punkte ihres Klassen- oder Standesegoismus aus nützlich und daher
löblich erscheint Ebenso ist umgekehrt möglich, dafe ein Ver-
halten, das die Standies- oder Klasseninteressen den Angehörigen einer
Klasse gebieten, als schädlich den wirklichen oder vermeintlichen
Interessen einer anderen Klasse, eines anderen Berufes deren Ange-
hörigen erscheint und deswegen bei dieser Gegenpartei zum Verruf
führt Beispiele für beide Fälle bieten die Untemebmerurteile über
Arbeitswille einerseits, über strikende Arbeiter andrerseits, welche
sich die Begründung der Vorlage aneignet, indem sie die
Arbeitswilligen als „für den Staat besonders nützliche Elemente"
bezeichnet, dagegen die Wortführer und Vertreter der strikenden
Arbeiter mit Bezeichnungen, wie Hetzer und ähnlichen Titeln belegt
Das Standes- oder Klasseninteresse, das in dieser Weise ver-
fährt, kann blofe inseitiges Standeanteresse sein oder mit dem-
allgemeinen Volksinteresse zusammenfallen oder demselben feindlich
^tg^enstehen ; jedenfalls gehört aber zu den Gepflogenheiten des
Verrufsverfiüirens jeder Partei, ihre Interessen und ihre Moral, soweit
möglich unter allen Umständen mit den allgemeinen Interessen, mit
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Koalitionsrecht und Strafrecht.
der aUgemeinen Mond zu identifizieren und daher auch ihrem Ur-
teile allgemeine Bedeutung zuzuschreiben. Ob dieses Urteil richtig,
kann nur von der Bedeutung der einzelnen Klassen- oder Standes-
oder speziellen Vereinsziele für die Allgemeinheit abhängen, ob sie
derselben nützen oder schaden, notwendig oder entbehrlich erscheinen.
In allen Fällen ist aber die Verrufserklärung eine ,4^rklär ung",
d. h. eine für andere bestimmte Kundgebung, welche in
diesen einen bestimmten Entschlufs, ein bestimmtes Verhalten, den
Abbruch oder Ausschlufs irgendwelchen' Wrkehrs, irgendwelcher
BezirluingcM lierl)cin.i!ireii soll oder kann. Dagegen ist Verrufser-
klärung n i c h t der thatsächliclie Abbrucli oder Ausschlufs des \*er-
kehrs, ob er auf (iruiul einer konkreten Vereinbarung oder auf
Grund der Satzungen eines X'^crbandcs oder ohne solche Gruntllage
und solchen Zusammenhang spontan durch mehrere erfolgt. Dies
ist vielmehr die angestrebte Folge einer \'errufserkl;iriuig, ihr
Vollzug durch die Adressaten derselben. Soll die \'erruf>erklarung
im juristischen Sinne existieren, so ist irgendeine dem Abbruche oder
dem Ausschlüsse der Beziehungen vorausgehende, ihn veran-
lassende äufsere Kundgebung erforderlich, welche einen bis dahin
nicht bekannten Thatbestand mitteilt ohne oder mit der
Aufforderung zum Abbruche der Beziehungen, zur Sperre. Jene
Benachrichtigung ist allein wesentlich; eine Willenserklärung
gerichtet auf die Sperre ist dann nicht erforderlich, wenn mit
Rücksicht auf die Ansichten oder Interessen des Kreises, an welchen
sich die Erklärung richtet, die Nachricht allein genügt den Er-
folg herbeizuführen, wie dies nicht nur bei Interessenverbänden mit
festgelegten Zwecken der Fall, sondern auch bei ganzen Standen
mit feststehenden Anschauungen über einen Fall einer Ijcstimmtcn
Art. Sowenig ein ausdrücklicher Befehl von oben erforderlich ist,
um einen Offizier, der einen vom Ehrenrate für erforderlich erachteten
Zweikampf ablehnt, gesellschaftlieh und beruflich unmöglich zu
machen, ebensowenig bedarf es bei Ucbersendung einer s c h w ar z e n
Liste an einen U n t c r n e h m e r v e r ba n d seitens eines Mitgliedes
eines auf Ausschlufs der in der Liste bcnaruiten .Arbeiter ge-
richteten Irrsuchens. Dieser Au.sschluls versteht sich von selbst. 1 )aher
katm Non X'errufserkiärung im Sinne des Gesetzes iiberhau])t keine
Rede sein, wenn an eine Thatsache sicli ein .Ausschluls oder Al)l)rueh
von Heziehungen anknii|)ft. ohne dafs überhauj)t eine eigene Kund-
machung derselben erfolgen mufste, weil sie von vornherein allge-
mein in den beteiligten Kreisen bekannt war. Verrufserklärung
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$12
Theodor Loewcnfeld,
in diesem juristischen Sinne ist nicht vorhanden, wenn jemand ge-
Sellschafthch von seiner i)islieri^cn Umj^rebumj i^'emieden wird auf
Grund eines tkirch ^ericlithche \'erhandkiiit;en bekannt t^ewordencn
\ ci haltens, ebenso ist \'on X'errufs e r k 1 ä r u n nicht /.u sprechen,
wenn Unternehmer mit einem Unternehmer den X'erkefir abbrechen
auf Grund von Thatsachen, die o ff e n k u n d i rr ; oder wenn Arbeiter
sich weigern, mit einem Arbeiter zusammen zu arbeiten, den sie
als Strikebrccher kennen, den sie als ihnen bekannten Strike-
brecher daher kuch unter sich behandeln. Dagegen ist es m^-
ücherweise Verrufiserkläning, wenn der Name des StrikebrechcfS
z. B. durch eine Fachzeitui^ Ariseiterkreisen bekannt gemacht
wird/ die ihn noch nicht als Strikebiecher kennen, sofern diese
Benachrichtigung den Erfolg des Ausschlusses des Betrefifenden von
einer sonst möglichen Arbeitsgemeinschaft haben soll.
Wenn auch jede Verru&erldärung im eigentlichen Sinne den
Zweck verfolgt, einen sachlichen oder persönlichen Vericehr auszu*
schliefen, so ist andrerseits selbstverständlich die Verfolgung dieses
Zweckes auch ohne Verrufeerklärung möglich. Die Bekanntgabe,
dafs in einer Stadt eine gelahrliche epidemische Krankheit ausge-
brochen, ist keine Verruiserklarung gegen die Bewohner, aber ge-
eignet, sie vom Verkehr abzuschneiden. Die Ablehnung eines Ver-
tragsverhältnisses, die Beendigung eines Vertragsverhältnisses sind
an sich keine Vemifserldärung, ob auf der einen oder anderen
Seite einer oder mehrere Beteiligte vorhanden; der Strike der Ar-
beiter, die Aussperrung derselben durch den Unternehmer oder die
Untefnehmer sind nicht Vemifserkläning. Von Strike wie von
Aussperrung der Arbeiter spricht man nicht, wenn die austretenden
Arbeiter nicht beabsichtigen, das Arbeitsverhältnis wieder au&u-
nehmen, sondern z. B. die Arbeit einstellen, weil sie an einem
anderen Orte engagiert sind oder Arbeit suchen wollen, und ebenso
ist \on Aussperrung nicht die Rede, wenn die Unternehmer nicht
beabsichtigen, die entlassenen Arbeiter wieder einzustellen, sondern
ihren Betrieb einstellen oder ein für allemal andere Arbeiter zu
engagieren beabsichtigen. Von Strike wie Aussperrung der Arbeiter
ist die Rede als \ on Mitteln der Beteiligten zur Erlangung günst^er
Arbeits- und Lohnbedingungen einander gegenüber, also wenn die
Arbeitseinstellung oder Arheiterentlassun^ dazu dienen soll, dicStriken-
dcn oder Ausgesperrten in citiem neuen Arbeitsvertrage unter anderen
Bedingungen zu vereinigen, kurz gesagt als Kampfmittel der
Regulierung der Arbeits- und Lohnbedingungen. Das
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KoalitioiDSiecht «nd Stcmfrecbt
alles fallt nicht unter den Betriff der Vcrrufserklärun;:^ und hat gar
nichts damit zu thun, ist \iclmchr Icdij^lich Ausuhuni; dos Koali-
tionsrechles in Zusammenhang mit dem Rechte, inbezu^^ auf Ein-
gehung von Vertragsverhältnissen beliebige Bedingungen zu setzen.
Es ist daher auch keine Vemifimrldärung, wenn Ari3eitgeber gleich«
zeitig mit Entlassung ihrer Arbeiter zum Zwecke der Stärkung ihrer
Positionen im Lohnkampfe gegen die Entlassenen an andere Untere
nehmer das Ersuchen richten, die Entlassenen nicht au&unehmen,
um so die Letzteren zu zwingen, unter den Bedingungen der Unter«
nehmer in das alte Lohnverhältnis zurückzukehren. Dieses Ersuchen
und dessen Gewährung oder die bezügliche Vereinbarung schliefst
nicht notwendig eine Vemifserklärung in sich, während es den
Zweck der Verrufserklärung verfolgt: Verbindungen abzuschneiden.
Ebenso ist es nicht Verrufserklärung, wenn strikcnde Arbeiter zur
Stärkung ihrer Position im Kampfe c^egen den Unternehmer andere
Arbeiter ersuchen oder mit denselben Vereinbarungen dahin treflfen,
dafs diese nicht die von ihnen verlassenen Stellen besetzen, um so
den Tnt ernehm er zu zwingen, das Arbeitsverhältnis zu den Be-
dingungen der Arbeiter zu erneuern; rhensowcnii^^ wie es X'errufs-
crklärung ist, wenn zu diesem Zwecke die ausstämligen Arbeiter
zunächst danach streben, mit anderen Arbeitern in Verkehr zu
treten und sie von der Sachlage und ihren Zwecken zu unter-
richten. Das alles ist lediglich Ausübung des Koalitionsrechtes,
wenn auch der Erfolg der gleiche wie bei der X'errufserklärung ist,
den Arbeitgeber oder Arbeiter von Verbindungen abzuschneiden.
Die auf Sperre gerichtete Aktion kann Verrufserklärung sein,
ist aber nicht identisch mit Vemifserklärung. Man käme sonst zu
dem Ergebnisse, dafs die Ausübung des KoaUtionsrechtes durch
den Versuch der Arbeiter, sich mit Berufegenossen in Verbindung
zu setzen gegen einen Arbeitgeber, überhaupt identisch sei mit
Vemifserklärung. Ob letztere vorliegt, kommt eben auf die Um*
stände. Form und Inhalt der Erklärung an. Verrufserklärung ist
zweifellos das Mittel der Sperre bei den sog. schwarzen Listen, so-
fern in denselben der Arbeiter in abfälliger Weise charakterisiert,
damit als ungeeignet zur Einstellung gekennzeichnet
wird.
Die Gerichtspraxis ist geneigt, Verrufserklärung und Sperre
zu identifizieren. Sie nimmt insbesondere Verrufserklärung schlechthin
dann an, wenn von Arbeitern «lic Sperre der Betriebsstätte eines
Unternehmers versucht wird, indem die Strikenden durch .\uä-
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5^4
Theodor Loewcnfcld,
Schreibung in Fachorganen oder der Tagespresse ihre Koalitions*
oder Beruisgenossen auffordern, ihren Strike zu unterstützen durch
Nichteintritt in die von ihnen verlassenen Arbeitsstellen. Die Plraxis
verfährt hierbei nicht konsequent Wäre die auf die Sperre
gerichtete Thätigkeit der Arbeiter schlechthin Vemifeerklärung, so
würde das Strikepostenstehen, welches zu dem Zwecke geschieht,
um arbeitswillige Arbeiter von der Existenz eines Strikes zu be-
nnchrichti;:^cn und von dem Eintritte in die bisherigen Arbeitsplätze
der Strikcnden abzuhalten, selbst Verrufserklärung in dem Augen-
blick, in welchem es den beabsichtigten Erfolg erzielt.
Von diesem Standpunkte geht weder die bisherige Praxis aus,
noch auch ist dicsell)e in der X'orlage zu finden. Die bisherige
Praxis bestraft das Strikepostenstehen als „groben l'nfug" wegen
Belästigung des Publikums oiler der Arbeitswilligen; als(^ wegen
der Form, in welcher angeblich äufscrlich das .Strikepo.stt n^U hen
in die Erscheinung tritt oder wegen UeberUelung wm strafsenpolizci-
liehen, gelegentlich eigens zur Behinderung des Strikepostenstehens
erlassenen Vorschriften, aber wenigstens regelmäßig nicht wegen
des Zweckes, der durch dasselbe verfolgt wird, den Arbeitswilligen
Auskünfte zu erteilen und dieselben durch Ueberredung abzuhalten,
bei dem gesperrten Arbeitgeber in Arbeit zu treten, also nicht auf
Grund von § 153 G.O., sondern auf Grund von § 366" StGB.
Ob solche Mitteilung an einzelne Arbeitswillige mündlich erfolgt,
oder auf dem Wqre der Presse durch die Bdcanntmachung „Zuzug
ist fernzuhalten", oder „Ueber die und die Werkstatt ist die Sperre
verhängt" kann keinen Unterschied begründen.
In beiden Fällen liegt lediglich eine erlaubte Ausübung
des Koaliat ionsrechtes vor. Inbezug auf die Verhängung der
Sperre durch die Bekanntmachung: „Zuzug ist von der und der
Betriebsstätte fernzuhalten" oder „die Sperre ist verhängt über die
und die Betriebsstätte" wird in einer Reihe von IVtcilen anerkannt,
dafs dieselbe lediglich eine erlaubte Ausübung des KoaliiiiMisrcchtcs
darstellte. So hat z. B. entschieden ein Urteil des Civilsenates
des Oberlandc.sgerichts Hamburg vom ILp^bruar 1898*) unter aus-
driicklicher Bezugnahme auf t? 152 G.O. : es sagt: ,.Zu gestatteten
Verabredungen und Wreinigungefi gehören aber nicht blofs aus-
sclilielslich WMsammluiigen, iti denen Beschlüsse über gemeinschaft-
liches Handeln gefafst werden, sondern ebensowohl auch alle Mafs-
1) Dentüdie Jnrutcn-Zdtang IV 11 (1899).
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KoaHdaasrBelit und Stiafrecht
regeln, wdche darauf abzielen, den nicht am Ort anwesenden
Arbeitsgenossen Kenntnis von den im Lohnkampfe
gefafsten Beschlüssen zu geben und Einflüssen von g^^e*
rischer Seite entgegenzuwirken. Dazu sich auch der Presse zu be-
dienen, kann den im I,<)lmk<un|ifc stehenden Arbeitern nicht ver-
W'clirt werden, denn die durch die Presse vermittelten Warnungen
der hier frafjlichen Art ersetzen insoweit auch <iic- X'crabredungen,
welche den am Orte selbst W-rsammelten in ihren X ercinii^unt^en
ZU trcÜVn erlaul)l ist." Ebenso wies das I.and^^H richt Herlin in einem
Urteile xom II. Januar 1896 und auf Rtrufun.; ;^^ct,aii dasselbe das
Kanuner^^ericht rlin eine Anklage wegen groben l'nfugs zurück,
die in <ler .Ximoncc „Zuzug ist fernzuhalten" gefuiuU-n worden
war.') .Anderweitig wurde eine solche Bekanntmachung als ,,g rober
Unfug" bestraft, so von den Gerichten in Dresden, Rudolstadt,
vom Oberlandesgericht Naumburg. -) Letzteres Gericht findet in
der Notiz: „Zuzug ist fernzuhalten" die Kriterien des groben Un-
fugs, weil darin die Aufforderung enthalten sei, „mit allen, auch
mit den vom Gesetze verbotenen Mitteln der Beleidigung, Be-
drohung, Nötigung und Aechtung von solchem Arbeitseintritt abzu-
halten" und weil die Notiz auch „von jedem Durchschnittsleser in
diesem Sinne aufgefafst werden mufste". Man möchte
fragen, warum, wenn diese Auslegung richtig, nicht, die Anklage
wegen ,3edrohung und Aechtung", d. h. Vemifigerklärung erhoben
wurde. Auch dem Obcrlandesgerichte Naumburg ist jene Notiz
selbst noch keine Verrufserklärung. Dag( . n liat das Reichs-
gericht z. B. in einem Urteile vom i. April 1891 die von Ar-
beitern über eine Betriebsstätte \erhängte Sperre als V'crrufserklä-
rung im Sinne von § 153 (j.O., die Androhung derselben als Er-
pressung nach § 253 St.G.B. erklärt. ")
Diese Praxis zu erörtern und einer Kritik zu unterstellen, ist
mit Rücksicht auf die Vorlage und deren Begründung veranlafst.
Sie übernimmt aus dem bisherigen Rechte auch den Begriff der
Ve r r u fse r k 1 Ti r u n g und giebt zu diesem Begrill in ij 4 .\l>s. 3 eine
Erklärung folgenden Inhalts; „Eine Verrufserklärung oder Drohung
im Sinne der l — 3 hegt nicht vor, wenn der Thäter eine liand-
') Legien a. a. O. 100,'toi.
' I. r glen a. a. O. loi.
*} Reger, EntscbcidoDgcn der Gerichts- und Verwaltungibebörden XI S. 280 ff.
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5'6
Theodor Loewenfeld,
lung vornimmt, zu der er bercchtic^t ist, insbesüncicrc wean er bc-
fu^terweisc ein Arbeits- oder Dit-iistverhällnis ablehnt oder kündigt,
die Arbeit einstellt, eine Arbeitseinstellun<^' oder Aussperrung fort-
setzt, oder wenn er die Vornaimie einer solchen Handlung in Aus-
sicht stellt." Die Motive hierzu S. 14, 15 sagen, es stehe den Ar-
beitern frei, die Beendigung oder Ablehnung einer Beschäftigung
auch „mit anderen zu vereinbaren", mit anderen Worten, zu diesem
Zwecke mit anderen Koalitionsverträge zu schliefsen. „Auch im
Wege der öffentlichen Bekanntmachung wird eine Kündigung oder
Nichtbeschäftigung oder Ablehnung gewisser Dienste unbedenklich
in Aussicht gestellt werden dürfen, wobei allerdings vorauszusetzen
ist, dafs die Bekanntmachung nicht etwa aus anderen
Gesichtspunkten, insbesondere wegen ihrer Form
eine strafbare Handlung darstellt/' Diese Erlaubnis des Gesetz-
entwurfes und seiner Begründung bezidit sich nicht auf den Fall, dals
Arbeiter andere Arbeiter veranlMses wollen, sidi dem
Strike anzuschlielsen oder den Strike dadurch zu unterstützen, daCs
sie bei dem Arbei^eber nicht in Arbeit treten. Die Arbeiter
dürfen zwar ihre eigene Absicht kundthun, zu striken, sie dürfen
hierüber mit anderen Vereinbarungen abschlielsen aber der
Versuch solcher Vereinbarung durch Aufforderung an andere und
durch Benachrichtigung anderer von der erfolgten Thatsache des Aus«
Stands ist nicht von der Verrufeerklärung gemäfe §§ i und 4 * der Vor-
lage ausgenommen, wie dies angesichts der vorliegenden gerichtlichen
Entscheidungen, wenn beabsichtigt, am Platze wäre. Die Verrufs-
erklärung ist im Sinne der Vorlage grundsatzlich mit Sperre
identifiziert, soweit nicht positive Ausnahmen gemacht sind. Solche
sollen nach der Begründung för die schwarzen Listen der
Unternehmer gemacht werden. Um die Sachlage, welche
bei Annahme der Vorlage gegeben wäre, zu übersehen, sollen im
folgenden vom Standpunkte der reichsgerichtlichen Entscheidung
vom I. April i8gi Vemifeerklärung und Sperre als identisch ange-
schen und danach die verschiedenen Fälle der Sperre kurz klassi-
fiziert werden. Es wird sich hieraus ergeben, dals bisher lediglich
die Sperre der Arbeiter gegen Unternehmer, die Verrüfe-
crld.uung durch Arbeiter bestraft wurde, dafs ferner dies
auch in Zukunft trotz scheinbarer Parität der Vorlage der Fall sein
wird, so dafs die Verrufserklärung als Waffe der Unternehmer g^en
die Arbeiter privilegiert wird.
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KoslitiooiKcht vad Sbrnfreclrt.
5»7
Es sind zu unterscheiden :
1. Saclispcrrc und Personals jierre.
2. S{)crre der Unternehmer ^'e^en Unternehmer; Sperre der
Arbeiter gegen Arbeiter; Sperre der l'nternehmer gegen
Arbeiter, der Arbeiter gegen Unternehmer;
3. mittelbare und unmittelbare Sperre.
Sperre von L'iiternehmern unter sich kann zum Ziele eine
Sperre von Unternehmern gegen Arbeiter oder die Bekämpfung
einer von Arbeitern ansgehenden Sperre oder Arbeitseinstellung
haben. Sadisperre kann den Zwecken der Personalsperre dienen.
Alle diese Arten von Sperre l^nnen die Folge einer Verrüfe-
erklarung sein und sind dies vielfach.
Die Sachsperre kann sein: Materialsperre. Dem Gewerbe-
treibenden werden die zur Gewerbeausübung nötigen Rohprodukte,
Halbfabrikate, Werkzeuge^ Waren entzogen durch ein System von
Vereinigungen der Sperrenden mit den Lieferanten dieser Gegen-
stände; dem Bauhandwerker werden die zur Gewerbeausübung
nötigen Ziegel, Kalkquantitaten, Metallfabrikate seitens einer Ver-
einigung von Baugewerketreibenden durch Vertrage mit den Liefe-
ranten entzogen, die sich verpflichten, an den betreffenden Bau-
handwerker, z. B. weil er im Strike mit seinen Arbeitern nach-
gegeben oder nachgeben will, bis auf weiteres nicht zu liefern; dem
Fafsfabrikantcn wird das Holz, dem Drahtstiftfabrikanten der er-
forderliche Draht, dem Rrothändicr werden die Backwaren entzogen.
Diese Falle tler Materialspcrrc \ on l "iitertichincrn unter sich
sind sämtliche zugleich Fälle einer indirekten l'ersonalsj)erre der
Unternehmer gegen Arbeiter. Die über einen Unternehmer ver-
hängte Materialsperre ist das Mittel des Kampfes der l^nteriiehmer
um die Arbeitsbedinguiij^cii gegen die Arl)eiU'r. Diese Art der in-
direkten Bekämpfung der Arbeiter durch die Unternehmer ist
neuestens in einem zivilrechtlichen Urteile des Reichsgerichts vom
.1 1. März 1899 behandelt. ')
Die Bäckerinnung zu Hamburg klagte eine Konventionalstrafe
zu je 1000 Mk. gegen mehrere Angehörige ein, welche sich gegen
eine Vereinbarung vrrfehlt hatten, wonach während eines Bäcker-
strikes keinem Brothändler Backwaren geliefert werden durften,
welcher nicht schon vorher regelmäfsiger Abnehmer der liefernden
*) Seorferti AichiT für Eotsdieidaiig der obenten Gerlclite in den deotacben
StanUn, Bd. 45 Nr. 241.
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5i8
Theodor Loewenfeld,
Bäcker gewesen war. Dadurch sollte verhütet werden, dafe die
Meister, welche von dem Strike berührt wurden, die bisher zu ihren
Abnehmern zählenden Brothändler verloren und dadurch ihr Ge-
werbebetrieb lahm gel^t wurde. \''ornehmlich handelte es sich
aber darum, der Einwirkung der Gehilfen auf die Brothändler ent-
g^enzutreten. Die Brothändler sollten, aus welchen Ursachen sie
auch immer ihren bisherigen Lieferanten zu verlassen f^cnci^t sein
mooiuen, diesen trot/, des Strikcs der (ichiifen hchahcii und ge-
nötigt werden, von demselben weiter zu beziclien. Das Urteil
stellt fest, dafs die X'ercinbarung zunächst auf die Hrot-
händler eine Hin Wirkung zu üben bezweckte. „Hätte die \'er-
cinbaruDg sich darauf beschränkt, so würde sie niciu unter die
\'orsrhriften des (iesetzes fallen; denn die Brothändler ;^aliören
niciit zu den (lewerbegehilfen und mit ihnen waren Lohn- und
Arbeitsbedingungen nicht zu regeln. Der degenstand der X'erein-
barung aber erseluipft sich hierin nicht, sie ist nicht nur durcii den
Strike der (7iehilfen veranlaist, sondern auch dazu bestimmt, auf
den X'erlauf desselben im Sinne der Arbeitgeber mafsgeliend ein-
zuwirken. Ol) die Mittel zu diesem Zwecke „ausschlielslich
dem Bereiche der Sachen angehören, also rein gegenständlicher,
in Bcschafifung von Kapitalien oder anderer materieller Unterstützung
bestehender Art sind, vermag eine Unterscheidung nicht zu be-
gründen." Das Reichsgericht nimmt infolgedessen an, daCs die
Vereinbarung unter § 152- G.O. fiel, daher eine Klage aus derse&en
auf die vereinbarte Konventionalstrafe unzulässig sei. Ebenso sind
die oben erwähnten Fälle der Materialentziehungen an Baugewerke-
treibende, Drahtstiftiabrikanten, Hafnermeister u. s. w. zu behandeln.
Vorausgehende Vertrage mit den Materiallieferanten fidlen unter § 152
G.O. Wird auf Grund derselben ein Unternehmer bedroht oder mit
Verrufeerklärung bedacht, d. h. thatsachlich mit Materiabperre belegt,
um denselben der Untemehmerkoalition gegenüber gefi^^jg zu machen,
so fallt der Thatbestand unter § 153 G.O., da es sich um Koalitions-
zwang von Berufsgenossen unter sich handelt Von einem straf-
rechtlichen Einschreiten auf Grnind von § 153 ist jedoch nichts
bekannt geworden.
Materialsperre ist selbstverständlich nicht lediglich Afittel der
indirekten Führung eines Untemehmerkampfes gegen die Ar*
b e i t e r. Diese Art der Interdiktion ist vielmehr ein ungemein häufiges
Kampfmittel der Kartelle und Ringe der Unternehmer als Produ-
zenten und Händler gegen die ihren Produktions- und Preis-
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KosUlioiimdit mid Stnfinccht«
bestimmuni^en sich nicht fugenden Berufsgenossen und zwar gegea
abtrünnige Kartellmitglieder, wie Nichtmitglieder. Es genügt hier
an dn paar Beispiele zu erinnern : Die Materialsperre von Petroleum-
ringen i^cgcn Petrolcumhändler, von Kohlenringen gq;en Kohlen-
Jiändler, des Börsenvereins der deutschen Buchhändler gegen unter
den Rabattnormen des Börsenvereins verkaufende Buchhändler.
Diese Materialsperre und die zu ihr führende Verrufserklärung ist
straflos, da 4} 153 darauf nicht anwendbar ist. In zivilrecht-
licher Beziehung,' unterscheidet das Reichsgericht in einem Urteile
vom 25. Juni 1890:') Vereinigungen von Gewerbegenossen zu dem
in •^aitcm Glauben verfolgten Zwecke, einen Gewerbebetrieb durch
Schutz j^cgen Entwertung der Gewerbeerzeugnisse und die sonstigen
aus Preisunterbietungen Einzelner hervorgehenden Nachteile
lebensfähig zu erhalten, sind durchaus erlaubt; es wird dabei die
Frage oti'cn gelassen, ob denselben ein Anspruch auf Zivilrcclitsschutz
zusteht, ob ihnen insbesondere für die Geltendmachung der \ on den
Mitgliedern zur Bestärkung der Erfüllung ihrer Verpflichtungen
übernommenen Strafleistungen der Rechtsschutz zu gewähren oder
zu versagen ist, eine Frage, welche ein Urteil des bayerischen
obersten Landesgerichtes vom 7. April 1888 im ersteren Sinne be-
antwortet hat. -') Diese Frage ist nunmehr gemäfs § 54 des B.G.B,
allgemein zu bejahen. Von diesen Vereinigungen — den Kartellen
zur Regulierung der Produktions- und Preisverhältnissc eines Gewerbe-
zweiges — unterscheidet das Reichsgericht „eine \'ereinigung von Per-
sonen, welche wegen eines spekulativen Zweckes dieser Einzelnen
die Beherrschung des Marktes iUr tme Ware und die Unterbindung
freier wirtschaftlicher Kräfte welche sich diesem Zwecke entgegen-
steUen könnten, zum Gegenstände hat"» eine Ringbildung zur künst-
lichen Steigerung der Preise eines Artikels. Eine solche Ringbildung
kann, wie das Reichsgericht, wenn auch nicht ßestimmtheit» an-
nimmt, eine Verletzung der öffentlichen Ordnung oder auch der
guten Sitte darstellen. Aber auch dem erlaubten Kartell wird der
Rechtsschutz fUr eine Vemifserklärung und damit erzielte Material-
sperre versagt, welche den ganzen Geschäftsbetrieb des Gesperrten
unmöglich zu machen geeignet ist Es wird vielmehr auf Grund
•
EatsAddimgcn des Reidiageridits in avilaadien Bd. s8 S. 338 01
*) Sammlimg von Entschddnpgen des obentan Landeigeriditet fltr Bayern in
iGccenMinden des Civilredites und OrilpraceBses Bd. XU S. 67 ff., Bl. t RA., m-
Hiebst in Bayern, Bd. 53 S. 199 ff.
Ardäw für MM. GeMtxgebanK a. Sutktik. XIV. 34
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Theodor Loaweiifcld,
von Vemi&erldäruiigen zu solchem Zwecke und mh.solcber Wirkung
dem Verrufenen in dem erwähnten UrteÜe des Reichsgerichtes ein
Anspruch auf Unterlassung und in einem weiteren Urteile des
Reichsjjerichtes vom 5. Juli 1891 (das in der Sammlung nicht ge-
druckt ist) im Prinzipe ein Anspruch auf Schadensersatz zuerkannt
Von einem strafrechtlichen Veigehen wegen solcher Vcrrufe-
erklärung ist nicht die Rede.
Die Sachsperre kann femer sein: Waren- oder Kund-
schaftssperre. Sie hat den Zweck, den Warenabsatz oder Ab-
satz seiner sonstigen Leistungen dem Gesperrten und Verrufenen
unmöglich zu machen oder zu erschweren. Wie die Materialsperre
den Gesperrten von IJeferantcn, so soll die Warensperre den Ge-
sperrten von den Kunden ai3S()erren. Die Lieferun^jssperre fuhrt
indirekt zur Warcns[)(M re. Die letztere kann aber auch direkt ver-
hängt werden. Dieser I-all, der gewöhnlich besonders als Boykott
bezeichnet wird, koninit im X'erkehr \on Unternehmern unter sich
vor, sowohl zwecks Aufrechterhaltuni^ von Kartellbedin^ungen, wie
als Mittel im Lohnkampfi- j^egen die Arbeiter. So wurden z. B.
im Münchner Schreinerstrike die kleineren Baugewerkmeister von
den gröfseren Bauunternehmern, von deren Aufträgen sie ökonomisch
abhängig sind, mit Kundschaftsentziehung für den hall bedroht, dals
sie den Arl)eilerforderungen nachgeben würden. Einen Fall, der
nicht zum I-Jiigriffe in den I.ohnkampf bestimmten Warensperre
behandelt ein Urteil des bayerischen obersten Landesgerichtes vom
7. April 1888^) und erklärt dieselbe als zulässig. Ein Ziegelei-
besitzerkartcU verbietet seinen Mitgliedern, von Nichtmitgliedem,
insbesondere früheren Mitgliedern unter irgend welcher Bedingung
Steine zu kaufen bei VermeuSung einer nach der Produktionshöhe
der zuwiderhandelnden Ziegelduntemehmungen sich bemessenden
Konventionalstrafe. Diese Vereinbarung ist vom obersten Landes*
gerichte als zulassig und rechtsverlHndlich erldärt worden. Da-
gegen fallt die oben erwähnte Kundensperre der Baugewerkmeister
im Schreinerstrike unter § 152 bezw. § 153 G.O. als ein Fall des
Koalitionszwanges der Unternehmer unter sich im Kampfe
gegen die Arbeiterkoalition.
Die Personensperre a) der Unternehmer unter sich.
Unternehmer verhängen über Unternehmer bezw. deren Betriebsstätten
1) Sammlung von Entschddvigcii d« obmtcn Lndemerichtes in Gcgentliadai
des Ovflrecbtts Bd. XII Nr. 35 S. 67 IT.
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Xoalitioluredit und StimfraefiL
521
die Personensperre im Zusammenhange mit der Organisation
der Arbeitsnachweise der Untemdimer. Der Nachweis von Arbeits«
kraften wird z. B. denjenigen Arbeitgebern im Buchdruckergewerbe
entzogen, welche sich nicht dem von der Vertretung der Buch-
druckereibesitzer mit dem Gehilfenverbande durch das gemeinsame
„Tarifamt" vereinbarten Tarif anschlielsen.*) Insbesondere wird von
den seitens der Arbeitgeber organisierten Arbeitsnachweisen, z. B.
der Metallindustrie, denjenigen Unternehmern der Gehilfennachweis
entzogen, welche sich für die Gewinnung von Arbeitskräften nicht
ausschließlich des Arbeitsnachweises der Arbeitgeber bedienen,
sondern entweder auch des Arbeitsnachweises der Gehilfen oder
eines paritätischen Arbeitsnachweises. Im ersten Falle hat die Per-
sonensperre den Zweck, einen von Arbeitgebern und Arbeitern für
eine Reihe von Jahren vereinbarten Lohntarif zu schützen, dessen
Aufrechterhaltung durch Minderzahlung seitens anderer Buchdruckerei-
besitzer gefährdet wird, da liierdurrh den tariftreucn Prinzipalen
eine gewerbliche Schmutzkonkurren/. Ijereitet werden kann. Im
zweiten l'ViUe handelt es sich umgekehrt darum, den Kampf der
Arbeitgeber gegen die Arbeiter durch die Macht der Arbeitsnach-
weise in den Händen der Unternehmer zu stärken. Die fragliche
Aussperrung richtet sich nur zunächst gegen die Unternehmer,
mittelbar gegen die Arbeiter, und gegen diese sind sie als Kampf-
organisation überhaupt gerichtet. Vgl. hierzu SS. 523 ff.
b) Die Personensperre der Unternehmer gegen
Arbeiter.
Diese .Sperre wurtle ursprünglich ausschliefsiich und wird heute
noch hauptsächlich vollzogen durch die Versendung sog. s c h w a r z e r
Listen, in welchen bestimmte, namentlich bezeichnete Arbeiter den
Adressaten mit dem P>suchen mitgeteilt werden, dieselben nicht
einzustellen. Der Zweck dieser schwarzen Listen war und ist in
erster Reihe, strikenden Arbeitern die anderweitige Arbeitserlan-
gung unmöglich zu machen und dadurch den Strike zu erschweren,
indem die för den Strike erforderlichen Kosten erhöht und die
Mittel der Strikenden und der fiir sie eintretenden Arbeiterorgani-
sationen früher erschöpft werden. Die schwarzen Listen beschränkten
sich indessen nicht auf die Mitteilung der Thatsache, dafs die ge-
nannten Arbeiter sich im Strike befinden; sie bezeichnen auch Einzelne
■) Dentidier Bnchdziickertarif nebst Kommcntur. Laut Bcacblflssen de* Tarif-
«imcliaaK» hcraugegebcn vom Tarifamt der dentachen Bndidmdcer (1899) S. tS, ao, 33.
34*
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532
Theodor Loewenfeld,
als Führer, Rätlelsfülirer, Aj^itatoren, I let/.cr zu dem Zwecke, um
dieselben, als vennutlirhc ofler wirkliche Arbeiterführer oder Gewcrk-
sehaftsniit»jlieder uiischädlicli zu machen. Die so Bezeichneten sollen
dauernd von den Betriebtii des X'erbandes, dessen Mitgliedern die
sciuvarzen Listen zugehen, ausgeschlossen werden. Bei dieser
Form der \'errufserklärung geht mit dieser vielfach auch die ,^hrvcr-
leUung" Hand in Hand Insbesondere ist dies der Fall bei den nicht
wahrend oder wegen eines Strikes, sondern währe n d des Fri edens
versandten schwarzen Listen. Der Anlals dazu besteht regdmälsig
darin, dals strikende Arbeiter Aufnahme in Betrieben eines Unter-
nehmerverbandes gefunden haben und deren Entlassung auf Grund
der getroffenen Vereinbarungen unter Hinweis auf die Qualität des
betreffenden Arbeiters verlangt wird. Da sich die Unternehmer bd
dieser Fersonalsperre der Form des vertraulichen Zirkulars bedienen
und selbstverständlich den betreffenden Arbeitern niemals die Mög-
lichkeit einer Verteidij^ung ^a^en diese Art von Verruiserklärung
gei^eben ist, so sind irrtümhche Angaben in den schwarzen Listen
nicht selten, zumal die schwarzen Listen oft höchst umfangreich
sind. Die Nichteinsteilung wird vielfach verlangt unter Hinweis
auf die Verpflichtungen aus <lcni nnternehmcr\'erbaiule, auf die im
Weigerungsfalle drohenden Nachteile ATaterialenlzug, Konventional-
strafe). Das System der ^rlnvar/cn Listen ist heute inrhilach \cr-
vollkoninniet und ausgebildet. Zunächst ist die Hebung der l'au-
schalverrufserklärimg und rauschalaussperrung entstanden. Wird an
einem Orte gestrikt, so ergeht .seitens de r l nternehnier des Ortes an
die Unternehmer iles\'erbandcs das Krsuchen, keine.-\rbeiter aus diesem
Orte und Umgebung aufzunehmen. So verlangt ein Rundschreiben
der Flensburger Schiffsbaugesellschaft, welches die Namen von 55 aua^
standigen Arbeitern den Mitgliedern des betr. Untemdmierverbandes
mitteilt, da(s die Angehörigen des Verbandes Arbeiter dieser Werft
bis auf weiteres nicht annehmen. Bei Ausführung dieser Pauschal-
sperre mülsten auch diejenigen Arbeiter, denen vom Unternehmer
selbst gekündigt worden, stellenlos bleiben und zwar „bis auf wei-
teres".') Ganz besonders häufig ist diese Art von genereller Aua-
sperrung im Baugewerbe. Die Berliner Baugewerbetreibenden in-
scenierten in diesem Sommer mitten in der Bauzeit eine al^emeine
Aussperrung der Maurer und regten die Ausdehnung auf ganz
Deutschland an, um den „Ucbermut" der — Arbeiter zu brechen
') Frankfurter Zeitniig vom 24. Mai 1Ü99 Nr. 143 AbeiulblaU S. I.
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Koalitioosrecbt und Strafrecht.
Der Vorsitseiide des Innungsverirandes der deutschen Baugeweric-
xneister hat auf dem i. Verbandstagc des deutschen Bauarbeit^ebet^
bundes zu Karlsruhe im Oktober d. J& eine Generalaussperrung aller
Bauhanduverker Deutschlands auf die Dauer von einigen Wochen
in Anregung gebracht, „um Ruhe zu bekommen". Indessen ist
in diesem Jahre bereits der Untemehmerverband fär die Zwecke
der Arbeiterausspeming über die Grrenzen Deutschlands hinausge-
gangen und international geworden. In Danemark wurden von
den Bauunternehmern 30000 Arbeiter ausgesperrt. Da ein Teil der
Ausgesperrten sich nach dem Deutschen Reiche wandte, so riefen die
dänischen Unternehmer die Deutschen zu Hilfe und zwar mit Erfolg.
Allenthalben blieben den danischen Arbeitern die deutschen Betriebs-
stätten verschlossen. E& war dies kein Zufall, sondern die Folge
einer an den Industriecentren Berlin, Bremen, Hambui^^ eingeleiteten
Untemehmeraktion auf Gegenseitigkeit.
Dafs derartige Päuschalaussperrungen mit Erfolg durchgeführt
werden können, dazu dient die Organisation des „unparitäti-
schen" Arbeitsnachweises der Arbeitgeber. V^on einem
dieser Arbeitsgebernarh w eise und zwar einenv der mächtigsten und
bestorganisierten, dem Arbeitsnachweise des Verbandes der deutschen
Metallindustriellen , sagt der Fabrikant O. Weigert (Arbeitgeber-
beisitzer des Gewerbegerichtes Berlin) in seiner Schrift „Arbeits-
nachweise und Schutz der Arbeitswilligen" (Berlin 1899), dafs er
nicht zu dem Zwecke errichtet worden sei, „um den friedlichen Ver-
kehr zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu erleichtern, sondern
lediglich um als Kampfmittel nicht nur gegen renitente Ar-
beiter, sondern auch zur Zerstörung der von den Arbeitern auf ge-
setzlicher Basis begründeten Organisationen benutzt zu werden, mit
dem ausgesprochenen Vorsatze, nicht nur in Berlin, sondern aucli in
dcnjenif^uii Stiidten Deutschlands, die analoge Arbcitervcrbäntie
errichteten , die Kinstcllung der durch diese schwarzen Listen ge-
kennzeichneten Arbeiter dauernd zu verhindern, und auf diese Weise
sie allmählich zu e x jja t r i i e r e n." Abgeseiien von schwarzen Listen
und Pauschalaussperrungen dient hierzu insbesondere die mit den
Arbeitsnachweisen der Unternehmer zusammenhängende Linrichtung
eines einheitlichenfcintlassungsscheincs, welcher eine ver-
steckte X'crrufserklärung ermöglicht. Die einem bestiinniteti Arbeit-
gebervcrbandc angeiiörigen Mnternehmcr vereinbaren, unter einander
ein einheitliches Formular eines dem Gesetze entsi)rechenden Ent-
lassungsscheines zusammenhängend mit einem !• ormular eines
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524
Theodor Loewenfeld,
Zeugnisses, wie solches der Arbeiter bei der Entlassung verlangen
jcann. Nach § 115 G.O. können die Arbeiter ein Zeugnis über die
Art und Dauer ihrer Beschäftigung beim Abgange fordern. Dieses
Zeugnis ist nach dem Gesetze auf ihr Verlangen auch auf ihre
Führung und ihre Leistungen auszudehnen. „Den Arbeitgebern ist
untersagt, die Zeugnisse mit Merkmalen zu versehen, welche den
Zweck haben, den Arbeiter in einer aus dem Wortlaut des Zeug-
nisses nicht crsiclitlichen Weise zu kennzeichnen." Mit Rücksicht
auf die Gefährlichkeit solcher geheimer, früher vielfach geübter
Kennzeichnung und Ikandmarkung eines Arbeiters schreibt die G.O.
in 4? 146 Abs. I Z. 3 eine ganz ungewöhnlich hohe Bestraiung der
zuwiderhandelnden Unternehmer vor: Geldstrafe bis zu 2000 Mk.
und im Unvermogensfalle Gefängnis bis zu sechs Monaten. Diese
gesetzliche Bestimmung wird nun auf folgende ein£siche Weise um-
gangen. Das einheitliche At^angszeugnisformular enthält, wie
bemerkt, zweierlei : erstens ein Zeugnis über die Zelt und Art der
Bcscliäftigung und zweitens damit zusammenhängend ein abrcils-
bares Zeugnisformular betr. die l'iihrung und die Leistungen des
Arbeiters. Wenn nun ein Arbeiter lediglich das Zeugnis ül)er .-Xrt
utul Dauer der Beschäftigung \erlangt, weil er fürchtet, daLs das
Zeugnis liher die Art seiner 1^'ührung und Leistungen nicht zu seiner
Zufriedenheit ausfällt, so wird das zweite L'ornnilar vom ersten ab-
gerissen und das erste entsprechend ausgefüllt ihm eingehändigt.
Es ist aber (jrundsatz der Arbeitsnachwcisstellen der .Arbeitgeber
der Verbände, welche jenes sinnreiche Formular des Entlassungs-
scheines benutzen, einen Arbeiter, der lediglich das Zeugnis
über Art und Dauer der Beschäftigung brin<^t, nicht zuzu-
lassen. Wer blofs dieses eine Zeugnis bringt, gilt vereinbarungs-
gemäfs als „gekeiuizeiclinet", ohne dafs das Zeugnis selbst anscheinend
irgend ein Kennzeichcfi enthält. Eine weitere Art, den §113 G.O.
zu umgehen, ist folgende: Dem Arbeiter, welcher sein Abgangs-
zeugnis verlangt, wird dasselbe gemäfs §113 G.O. Abs. I zu seiner
Zufriedenheit ausgehändigt; gleichzeitig wird aber ein anderes
Zeugnis über den Ausgetretenen nach einem vom Verbände der
Arbeitgeber ausgearbeiteten Formular entsprechend ausgefüllt an den
Vorstand des Verbandes gesandt, welcher dasselbe für die Zwecke
des Arbeitsnachweises verwendet Es kommt vor, dals fiir die.
Zwecke dieses Verbandsarbeitsnachweises die Einsendung dieses
anderen Zeugnisses an den Vorstand bei Konventionalstrafe vor-
geschrieben ist Als Beispiel für ein solches Zeugnisformular
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Koalitknisrceht md StrmfrechL
diene das kürzlich veröflentUchte Formular der Innung der
Hafnermeister zu Nürnberg : ^)
„Zeugnis über
den Hafnergehilfen
Unterzeichneter bestätigt hiermit, dals oben angeführter Gehilfe
als bei mir in Arbeit bis Heutigen
stand.
Derselbe wurde w^en
entlassen und ist ein Setzer (oder als was
er beschäftigt war),
1. 61a um acher
2. Hetzer
3. Frecher
4. Brauchbarer
5' Heirsi}:^er
6. ZuN'erlässiger
so dafs ich ihn kann.
Nürnberg, den 189
(ausgestrichen mufs werden
was nicht der Fall ist)
Hafnermeister oder Ofenfabrikant.
NE Zeugnisse können jeden ersten Mittwoch im Monat ein-
gesehen werden.
Wer von den entlassenen Gehilfen kein Zeugnis an den Vorstand
innerhalb 14 Tagen sendet, wird nach § 15 der Statuten
bestraft
Gleichzeitig ist beim Einstellen des Gehilfen eine Karte (nur
iiir die alte Grenze von Nürnberg giltig, mit Glaishanmier) auszu-
füllen und dem Vorstand zu senden, damit, wenn ein Gehilfe sein
Arbeitsverhältnis nicht richtig löst, er bei selbigem Meister wieder
entlassen werden nuils. Die Aufforderung geschieht durch die
Vorstandschaft des Vereins.
Sämtlicfae Zeugnisse sind an den Vorstand zu senden."
Das System der schwarzen Listen ist hier auf jeden in Dienst
tretenden und austretenden Arbeiter au^edehnt Hinter dem Rücken
des Arbeiters wird das, was offen nicht geschehen duf, ins Werk
gesetzt und, während dem Arbeiter selbst ein unverfängliches Zeugnis
ausgehändigt wird, wandert hinter ihm her ein Uriasbrief an den
Verband, der ihn zur Stellenlosigkeit verurteilt
*) StcnognipUsdwr Beridit Aber die Vcrhandlimgqt der bftyeriidiai Kanunfr
da Al^geordnelea 1899 Baad I S. 257.
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536
Theodor Loewenfeld,
Die schwarze Liste hat nicht blofs den Zweck, im aktuellen
Lohnkanipfe als Waffe zu dienen , entsprechend der von den Ar-
beitern angewendeten Waffe des Strikcs und der Sperre des IJntcr-
nehmerbetriebes; wie die Dinge sich thatsächlich gestalten, geht der
Zweck der schwarzen Listen wie der Pauschalausspcrrungen viel
weiter. Die Verrufenen werden auf diesem Wege „bis auf weiteres",
oder auf bestiniinte längere Zeit, auf ein Jahr, zwei Jahre, fünf Jahre
oder iür immer ausgesperrt. Fs soll ihnen überhaupt unmöglich
gemacht werden, wieder eine Stelle zu linden, ohne die (inade des
Verbandes anzurufen. Weigert erzählt folgenden Lall: Jm Jahre 1891
wurde von der Aktiengesellschaft Schwarzkopff & Cie. ein Former
entlassen, weil er am 18. März 1891 einen Kranz mit rother Schleife
auf den Gräbern der Märzgefallenen niedergelegt hatte. Der Former
wurde für die Werkstätten des Verbandes der deutschen Metall-
industriellen vom Arbeitsnachweis dauernd gesperrt Infolge dessen
mulste er Berlin verlassen und ging nach dem Auslande. Nach
fiinf Jahren meldete er sich in Berlin auf dem Arbeitsnachweis des
erwähnten Verbandes in der Hoffnung, wieder Arbeit zu erhalten,
erhielt aber den Bescheid, dals er noch gesperrt sei und zur Beseitigung
der Sperre den Nachweis erbringen müsse, dafs die Direktion der Ak-
tiengesellschaft Schwarzkopff &Cie. sein Vergehen gegen die Satzungen
des Arbeitsnachweises verziehen habe. Der Arbeiter wandte sich
auch um „Verzeihung^ an die firagliche Direktion; diese machte in
einer längeren brieflichen Erklärung zur Bedingung, dals der Former
vorher schriftlich den Verzicht auf die Zugehörigkeit zur sozialdemo-
kratischen Grewerkschaft erkläre, was die Direktion allerdings anders,
nämlich inbeschimpfenden Umschreibungen fär die Bestrebungen
dieser Gewerkschaften und diese selbst zum Ausdruck bringt.
Nach dem Statut des Arbeitsnachweises des Verbandes Berliner
Metallindustrieller, welches auf der Arbeitsnachweiskonfeicnz ZU
Leipzig als Muster den Unternehmern empfohlen wurde, werden
Strikende sofort und „bis auf weiteres" au^esperrt, Strikeposten für
längere Zeit, die „Agitatoren" dauernd. Die letzteren, wurde ge-
sagt, „müssen aus dem Arbeiterstande rücksichtslos herausge-
drängt werden.'") ,J>ie Strikenden müssen erkennen, dals
') Vgl. Otto Weigert, Arbeitnacbweise imd Schute der AibeitswUligen,
BeiUn 1899 S. 7.
*) Bericht S. 49. „Agitatoren" sind fllr die Unteroehmer, wie mui ans den
Jahresberiehten der FabfikiiispdcloreB ersdien kann, Fachvereinsmitglieder, teibe*
aoodere Mitglieder tob BeachwerdefcoamiittioncD, nicht blofs „Fttbrer**.
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Koalitkwiiwdht tmd Stnfraebt
527
jeder Strike, d h. jedes gleichzeitige Niederlegen der Arbeit durch
eine gewisse Anzahl von Arbeitern, als eine Nötigung und als Aus-
nutzung einer Zwangslage angesehen, beurteilt und geahndet wird.*'^)
Wie in dem von Weigert erwähnten Fall haben die Ent-
lassungsgründe mit den Arbeitsleistungen und der Führung der be-
treffenden Arbeiter oft gar nichts zu thun. Sie betreffen Dinge,
um welche sich die Arbeitgeber bei Achtung der gesetzlichen
Gleichberechtigung der Arbeiter überhaupt nichts zu kümmern
hatten, die Ausübung politischer und sozialpolitischer Rechte der
Arbeiter, des Koalitionsrechtes, ja sogar den Verkehr der Arbeiter
mit den Behörden, insbesondere Fabrikinspektoren, auf Verlangen
der letzteren. Eine grofse Anzahl von Strikes ist auf den Umstand
zurückzuführen, dafs von Arbeitern der Austrittaus ihrer Organisation
gefordert und das Gelübde der Nichtzugehörigkeit abgenommen
wird. Die Berichte der Gewerbe- und Fabrikinspektoren lassen aber
auch ersehen , mit welch unbegründetem und jedenfalls sehr ver-
dächtigem Milstrauen die Arbeil<^'ei)er den Verkehr der Arbeiter mit
den Fabrikinspcktoreii beobachten , so dafs letztere mit Rücksicht
auf die Angst der Arl)eitcr vor Kntlassunj^ wegen solclien Wrkchrs,
um den Arbeitern nicht zu schaden, oft nicht waiTeii, die Arbeiter
anzusprechen, und die Rildunj^ von Arbeiterkoalitionen (s. [f. Bc-
schwerdekommissionen) be^^ünstif^en oder wünschen, welche den
Arbeiterverkehr ohne solche Gefahr für die einzelnen Arbeiter mit
ihnen vermitteln. Weder die Koalition noch der staatliche Schutz
soll dem Arbeiter helfen, er soll einfach dem Belieben des Arbeit-
gebers anheimgegeben sein. Das ist in Kui/a der Zweck der
komplizierten und scharfsinnig ausgedachten Arbeitsiiachweisein-
richtungen der Unternehmer, gegen welche die ^gewöhnliche ur-
sprüngliche schwarze Liste eine höchst primitive Einrichtung ist.
Auf der von dem Arbeitgebervereine Hamburg-Altona be-
rufenen Arbeitsnachweiskonferenz zu Leipzig vom 5. September 1898
ist dies vom Vertreter des Verbandes Berliner Metallindustrieller
besonders Idar zum Ausdruck gebracht worden; er sagt, der in den
Händen der Arbeitgeber befindüche Arbeitsnachweb habe „die
Bdacht, den Arbeiter zu dem zu zwingen, was sie (die Arbeit-
gebervereinigung) in beiderseitigem Interesse für notwendig erachtet
Sie habe durch Verweigerung der Einstellung in den Verbands-
werkstatten — auf längere oder kürzere Zeit — eine Waffe in der
>) Bericht S. 49.
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Theodor Loewenfeld,
Hand, welcher, sofern nur eine entsprechend straffe Organisation
auch bei den Arbeitgebern vorhanden ist, kein Arbeiter auf
die Dauer widerstehen kann."')
Um diese Macht zu üben, zu erlangen und zu behahcn, be-
■kämpfen die Arbeitgeber nicht blofs die Arbeitsnachweisstellen der
Arbeiter, sondern verfolgen vor allem, wie aus dem erwähnten Be-
richte sich crgicbt, mit ganz besonderem Hafs die von den ver-
schiedenen deutschen Stadtgemeinden als gemeinnützige Anstalten
errichteten ,, paritätischen", d. h. unparteiischen Arbeitsnachweise.*)
Als Prinzip für die von den Arbeitgebern einzurichtenden Arl)eits-
naclnveise wurde auf der Leipziger Konferenz von dem Vertreter
des einberufenden X'erbandes bezeichnet, „dafs man den Arbeits-
nachweis in die eigene kräftige Hand neiimen müsse und jede
Einmischung, woiier sie auch kommen möge, sei es von den Ar-
beitern, von selten der Behörden oder von selten der soge-
nannten Unparteiischen entschieden zurückweisen müsse." ^)
Bemerkenswert ist, dafs die Leute, die selbst solchen Terroris-
mus organisiert, die demselben immer weitere Verbreitung geben
wollen, die sich nicht nur die „Einmischung" der .Arbeiter, sondern
auch der Unparteiischen und des Staates in ihrer Organisation ver-
bitten, als die Hüter der „I'Veiheit der .Arbeitswilligen" auftreten,
dafs sie über Beeinträchtigung der „Willensfreiheit" der Arbeiter
durch deren Kameraden, über Arbeiterterrorismus Kkige fuhren
und den Staat und die Gesetzgebung zum Schutz der Freiheit in
die Schranken rufen. Die „Frethett" der Arbeiter, wie sie die
Herren dieser 'Arbeitsnachweise verstehen und, wenn sie imter sich
sind, ungeniert deklarieren, bedeutet ihre eigene Herrschaft über
eine Reservearmee willenloser Sklaven, die man nach Bdieben ein-
stellt oder entlälst, welche die Erlangung einer bezahlten Arbeit
als Gnade der Herren empfinden und für die Anmalsung der Be-
kundung einer eigenen politischen Ansicht noch nach Jahren der
Expatriierung um Verzeihung bitten müssen, all dies — zur Zeit —
aber nicht auf Grund einer wirklichen Rechtsbasis, wie solche den
') Bericht Uber die Verhandlungea der Arbeitsnachweiskonfej-enz xu Leipzig,
Hamburg 1898, S. 37.
•) \ßl. .Schriften des Verbandes deutscher Arbeitsiuu:hweise Nr. 1 (Verhand-
lungen der eraten Verbmdwwnunlwig und ArbeitaMdiweisiraaifcrei» rem 27. Sep-
tember 1S98 M Manchen), Berlin 1899, S. 3, ilo— IIS; die RcMlntum der AibeÜ*
geberkonferens in dem S. saa Note i genannt en Beridite S. 92, 93.
*) Kmiferensbericbt S. aiff.
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KoolitioDsrecht und Strafrecbt. ^29
antiken Sklavenherren und den mittelalterlkhen Herren von Leib»
ebenen zu dgpn war, sondern durch Organisation derselben Vemi&>
erklärung, welche die deutschen Gerichte, wenn geübt von Ar«
beitern auf Grund von § 153 G.O. oder als groben Unfug nach
§ 366 * St.G.R verfolgt und bestraft haben oder, wenn die Verruis-
erklärung dem Unternehmer angedroht war, als Nötigung und
Erpressung nach f§ 240^ 253 StGB. Von Anwendung irgend
eines dieser Strafgesetzparagrapben gegen einen Unternehmer auf
Grund des dargelegten Systems der schwanen Listen hat man
•noch nie etwas gehört. Die Vorlage zum „Schutz des gewerb-
lidien Arbeitsverhältnisses" privilegiert dieses System der
schwarzeti Listen und gtebt demselben hiermit nunmehr die bisher
fehlende Rechtsgrundlage.
Um den Unterschied des Verhaltens der Vorlage g^;en-
über der von den Unternehmern geübten Verrufeerklärung und
Personalsperre und der durch Arbeiter geübten Verruiserklärung
und Personalsperre festzulegen, ist noch auf folgendes hinzuweisen.
Nach den Ausführungen zu S. 513 ist die Vereinbarung der
Arbeitgeber unter sich, einen Arbeiter einer bestimmten Art oder
Herkunft niclit einzustellen, der vereinbarungsgemäfse Ausschlufs
solcher Arbeiter von den Bctrirhsstätteii so wciii^ X'errutscrklärung,
wie die Ahlclinutig der Kinstclluii^'^ eines einzt-hien .'\rbciters durch
einen ein/t lucn rntcrnehmer Verruiserklärung ist. Verrufserklärung
ist dagegen die schwarze Liste, das Ve r s t ä n d i u n g s -
mittel, welches jenen vcrciiiljarungsgeniärsen Ausschlufs herbei-
führen oder vorbereiten oder ermöglichen soll. Wie überall, so ist
auch hier die \'en ufserklärung in erster Linie Nachricht, Mit-
teilung eines ohnedies nicht bekannten Thatbestandes. Das
System der schwarzen Listen, wie der darauf sich gründende un-
paritätis( he Arbeitsnachweis der Arbeitgeber stellen einen gewaltigen
sozialen Koinmunikationsapparat dar, ohne welchen jene X'erein-
barung belretfeiul den Ausschlufs gewisser Arbeiter von den Be-
triebsstätten nicht denkbar ist. Dieser Apparat — ein Apparat der
Verrufserklärung — wird durch die Begründung zur Vorlage aus-
drücklich erlaubt erklärt. Dagegen wird den Arbeitern diejenige
Kommunikationsart, die für sie allein nach Lage der Sache in-
betracht kommt zur Vorbereitung einer Voreinbarui^ mit ihren
Arbdtagenossen, zum Zwecke der erforderlichen Ausdehnung ihrer
Koalition, die Kommunikation mit den „Arbeitswilligen'* zwecks
Verständigung derselben von einem bestehenden Strike durch
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530
Theodor Locwenfeld,
Strikrpostcn durch 4 Abs. 2 der Vorlage versagt und das Unter-
nehmen soll her X'crständigung unter harte Strafe gestellt, wie sich
aus dem I^'olgendcni ergiebt.
Die Personalsperre der Arbeiter unter sich.
Wie bei der Personalsperre der Unternehmer unter sich und
gegenüber den Arbeitern ist auch hier zu unterscheiden : die V e r -
einbarung der Arbeiter, mit einem bestimmten Arbeitsgenossen
nicht zusammenzuarbeiten einerseits und die etwa dieser Verein-
barung vorausgehenden und sie ermöglichenden Benachrichtig
gungen an die zur Vereinbarung heranzuziehenden Arbeiter
andrerseits. Die Vereinbarung der Arbeiter, mit einem be-
stimmten Arbeiter nicht zusammen zu arbeiten, ist nicht Vemils-
erklarung; ebensowenig ist die Ausführung einer solchen Ver-
einbarung durch entsprechende Aktion gegenüber dem Arbeit-
geber Verrufserklärung. Unter welchen Bedingungen die Arbeiter
bereit sind, einen Arbeitsvertrag abzuschlicfsen oder fortzusetzen, ist
•nach dem Gesetze Sache ihres freien Beliebens. Zu den Be-
dingungen, welche sie zu stellen berechtigt sind, gehört nicht blofs
ein bestimmter Lohn, eine bestimmte Art und Dauer der Arbeit,
die Bereitstellung bestimmter Schutzvorrichtungen, sondern gerade-
sogut eine gewisse Gestaltung und Qualität des Betriebes und der
persönlichen Arbeitsverhältnisse. Wie die Arbeiter das Recht haben,
einen Arbeitsvertrag mit einem bestinmiten U n t e r n e h ni c r über-
haupt abzulehtien, so können sie auch ablehnen, unter einem be-
stiminten Werkrneisler oder mit einein bestimmten Mitarbeiter in
das Arbeitsverhältnis einzutreten oder dieses X'erhältnis fortzusetzen.
Die Ablehnung bestimmter Mitarbeiter ist sogar vielfach im Interesse
des Lebens und der körperlichen Sicherhdt der Arbeiter er-
forderlich, z. B. — nach dem Zeugnisse der Gewerbeinspek«
toren — die Ablehnung ungelernter, ungeschulter, der deutschen
Sprache nicht kundiger Mharbeiter in gefährlichen Betrieben, wie
in Beiigwerken. Audi in anderen Betrieben wird durch die Zu-
mutung der Zusammenarbeit mit derartigen Elementen das Arbeits*
ergebnis der einzelnen davon betroffenen Arbeiter auf das Empfind-
lidiste beeinträchtigt
Auch sonst »nd eine Menge von jedermann sofort verstand-
lichen allgemeinen Veranlassungen gegeben, die Zusammenarbeit
mit bestimmten Arbeitsgenossen abzulehnen, cbensoviele Gründe,
wie im gesellschaftlichen Leben dazu führen, den V^erkehr mit be-
stimmten Personen zu meiden. Aber die Gründe der Ablehnung
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eines Arbeitsvertrages sind überhaupt vollkommen gleichgültig, da
solange die Arbeiter nicht zu Sklaven erklärt sind, kein Mensch das
Recht hat, ihnen vorzuschreiben, unter welchen Bedingungen sie zu
arbeiten haben. Die. Arbeiter haben daher auf Grund des ge-
meinen Privatrechtes die selbstverständliche Befugnis, zu er-
klären, dals sie ein Arbeitsverhältnis nicht eingehen oder nicht fort-
setzen, sofern dies mit einem bestimmten Mitarbeiter geschehen
mü(ste. Die Ausübung dieses Rechtes ist nichts als Rechtsaus-
fibung und daher unter keinen Umständen X'errufserklärung. Es
mufs dies bet<Mlt werden, weil neuerdini^^s von den Wortführern der
Schariinacher unter den Grofsindustriellen diese einfache Rechts-
ausübung als eine strafwürdij^e Ausschreitung hinbestellt worden
ist Es m.T^ wohl auch die Aiastcht bestanden haben, die Arbeits-
einstellung oder Arbeitsablehnung oder die Ankündigung derselben,
wenn erfolgt mit Rücksicht auf die Mitbeschäftigung von nicht
organisierten Arbeitern in dem betreffenden Betriebe, unter Strafe
zu stellen. Kine kurz vor Bekanntwerden der X'orlage erschienenen
Schrift eines Jk-rliner Staatsanwalles ') schlug die Wiederaufnahme
der in dem Entwürfe der Novelle zur G.O. von 1890 zu § 153 ent-
haltenen Strafbestimmungen vor, dahin, es solle gestraft werden,
„wer es unternimmt, durch Drohung oder durch h",hr\crletzung
Arbeitgeber zur P^ntlassung von Arbeitern zu bestimmen". Die
Denkschrift zur Vorlage enthält auf SS. 21—25, 27 unter dem Titel
„Ausschreitungen von .Arbeitnehmern gegen Arbeitnehmer"
ausschliefsl ich eine Zusammenstellung von Berichten der Staats-
anwälte und ?olizcil)ehörden über eine Reihe von Fällen, in weichen
organisierte Arbeiter sich geweigert haben, mit Nichtorganisierten
oder mit Streikbrechern zusammenzuarbeiten, d. h. die Arbeit aus
diesem (irunde kündigten oder die Arbeitseinstellung in Aussicht
stellten. Es ist daher bemerkenswert, dafs ilie X'orlage in ii; 4 Abs. 3
diese „Ausschreitungen" nicht bestraft wissen will und die Motive
zu § 4 Abs. 3 auf S. 15 dieselben ausdrücklich als vollkommen er-
iaubte Handlungen erklären. § 2 Ziff. i will denjenigen bestrafen,
welcher es unternimmt, durch körperlichen Zwang, Verrufserkla-
rung u. s. w. „zur Herbeiführung oder Forderung einer
Arbeiteraussperrung Arbeitgeber zur Entlassung von Arbeit-
nehmern zu bestimmen". Diese Strafdrohui^ trifft nicht die Ar-
*) E. Cany, Der Schutz der Arbeitswilligen. Berlin, C. Heymanns Verlag
1899) & aS.
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532
Theodor Locwenfeld,
beiter, sondern die Unteradimer und deren Helfer. Die Erklärung
dieses merkwürdigen Widerspruches zwischen der B^^ründung einer<«
seits und der Denkschrift — die nur die weitere Ausfuhrung und
die Illustrierung zur ersteren sein soll — andrerseits liegt wohl
darin, dafe man sich rechtzeitig daran erinnerte, dafs das Gesetz
doch „paritätisch" sein wolle, und befürchtete, dafs die Anwendung
der Parität gerade auf diesem (iehicte /.u liöchst unangenehmen
Folgen füliren könnte mit Rücksicht anf das X'crhaltcn vieler L^nter-
nchmer gegenüber ilcn Mitgliedci ii der Gewerkschaften, den organi-
sierten Arbeitern übcrhauj>t, utui die Hebung der „schwarzen Listen"
in den Arbcitsnachweisburcaux der Arbeitgeber. Infolgedessen
schreiben nun tlic Motive, es werde
„den Arbeitgebern nicht /.u verwciircn sein, dafs sie
sich über die Nichtbeschäftigung gewisser Arbeiter unter-
einander verständigen und sich gegenseitig Ver-
zeichnisse derjenigen Personen mitteilen, die
sie in ihren Betrieb nicht aufnehmen wollen.
Will ein Arbeitgeber Mitglieder einer bestimmten Ver*
einigung nicht beschäftigen, so kann er dies ungehindert
thun und ankünd^^, wie umgekehrt Arbeitnehmer
sich der Beschäft^ng bei beliebigen Personen, z. B. bei
Mitgliedern gewisser Verlade od er bei Unternehmern,
die unorganisierte Arbeiter beschäftigen, ent*
halten, die Absicht, dies zu thun, gegen jedermann aus*
sprechen oder hierauf gerichtete Vereinbarui^en mit anderen
eingehen dürfen."
Indessen sind die „schwarzen Listen" auf diesem Weg
nicht zu retten. I->cilich, die Arbeitgeber wie die Arbeiter dürfen
\' e r c i n b a r u n ge n tretlen und zwar die Arbeitgeber, dafs sie
gewisse Arbeiter, z. H. Mitglieder \ on dew crkschaften, nicht einstellen,
die Arbeiter, dafs sie bei gewissen l iiternehmern, /.. H. bei solchen,
die unorganisierte Arbeiter beschäftigen, nicht in Arbeit treten oder
nicht in Arbeit bleiben. Heide liürfen nicht blofs solche X'erein-
barungen treffen, sondern auch diese \'creinbarungen ausführen, also
die Arbeitgeber ablehnen, organisierte Arbeiter einzustellen, die
Arbeiter, bei einem Unternehmer, der nicht organisierte Arbeiter
beschäftigt, einzutreten oder zu bleiben. Soweit reicht die Pari tat.
Aber zur Vereinbarung des Unternehmers mit dem Unternehmer
über Nichteinsteilung eines oder mehrerer Arbeiter gehört die Be>
nachrichtigung von Unternehmer zu Unternehmer über die be*
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KoaUtionsrecbt und Strafrecbt.
533
treflenden Arbeiter: das sind die schwarzen Listen; sie sind er-
laubt Ebenso gehört zur Vereinbarung unter den Arbeitern Uber
Nichtabschlufs eines Arbeitsvertrages mit einem Unternehmer
die Benachrichtigung an die hiervon nicht unterrichteten
Arbeiter. Für diese Benachrichtigung ist das Strikepostenstehen un-
entbehrlich in allen Fällen, in welchen die Arbeiter auf mündliche
Mitteilungen angewiesen sind. Das Strikepostenstehen ist aber
verboten und unter Strafe gestellt, es kann nach der Vorlage mit Ge-
fängnis bis zu I Jahr, bis zu 5 Jahren, nicht unter I, nicht unter 3,
nicht unter 6 Monaten, mit Zuchthaus bis zu 3 und mit Zuchthaus
bis zu 5 Jahren bestraft werden. Die Motive erklären es /^S. 1 3 ff.)
als verboten, auch wenn „die Postenstehenden sich der Droiiungen,
Ehrverlctzungen oder Thätlichkciten ^e^a-n .ArbeilswilliLjje enthalten."
Brentano') kennzeichnet diese „Parität" der Zuchthausvorla^e
treffend, indem er sagt: ,,\\'ohl nocii niemals, scittleni seit Ab-
schaffung der Hörigkeit alle Staatsbiirj^er als ^deich vor dem Rechte
erklärt worden sind, ist die Ungleichiieii ties Rechtes in ähnlicher
Weise als Prinzip hingestellt worden. Den Arbeitsverkäufern wird
es untersagt, zum Zwecke der Regelung des Arbeitsangebotes firied-
lieh miteinander in Verbindung zu treten; ihren Gegnern im
IVeiskampfe dagegen, den Arbeitskäufem, ynrd das erlaubt, was
ihnen verboten wird. Die Regelung des Angebotes der Ware,
welche die Arbeiter verkaufen, soll fortan nur mehr den Arbeit-
gebern überlassen sein. Und alles das gar noch nicht etwa im Interesse
der Arbet^;eber, nein, in dem der Arbeiter selbs t !" Die amtliche
„Berliner Korrespondenz'' findet, in Nr. 87 dieses Oi^nes vom
6. Oktober 1899, es sei der Brentano'sche Vergleich der erlaubten
schwarzen Listen mit dem verbotenen Strikepostenstehen „überhaupt
gänzlich unzulässig und geeignet, die öffentliche Meinung inrezu-
führen". „Dem Entwürfe zufolge soll es den Arbeitern nach wie
vor unbenommen sein, sich rocht blofs einzeln der Beschäftigun«^
in bestimmten Betrieben zu enthalten, sondern auch hierauf <^c-
richtete \'crabredun;j^en mit ihren Genossen einzui^^-hen und ihr
Fernhalten von >^'r\vissen Hetnehen j^anz allj^^^emein oder unter be-
liebigen BedinL;unL;en anzuküiuii^H-ii. Das Recht der Arbeiter, auf
Grund von X'erabreduri^aMi bestinunte Betriebe zu sj)crren . bedingt
aber das Recht der Arbeitgeber, sich untereinander — z. B. durch
') Brentano, Reaktion oder Kclorni. Gegen die ZuclithausvorUige 1 IJcrlin-
SchäDcberg. Verlag der „Hilfe" (1899) S. 37.
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534
Theodor Loewenfeld,
Mitteilung sog. schwarzer Listen — über die aus ihren Betrieben
fernzuhaltenden Personen zu verständigen. licht und Schatten
sind mithin zwischen Arbeiterkoalition und Untemehmerorganisatioa
völlig gleich verteih."
„Sich verständigen", so heilst es auch in den Motiven S. 15.
Die Arbeitgeber verständigen sich untereinander durch schwarse
Listen. Verständigen soll hierheifsen: miteinander Vereinbarung
treffen. Aber die schwarze Liste ist keine Vereinbarung, sie ist keine
„Verständigung" in diesem Sinne. Sie ist „Verständigung" im
Sinne der Benachrichtigung. Den Unternehmern ist die „Ver-
ständigung" in beiderlei Gestalt und Sinn erlaubt, sie
dürfen über die „fernzuhaltenden Personen" Vereinbarungen treffen
und sich diese Personen, deren Namen und interessanten Qualitäten
zum Zwecke der \'ereinbarunj^ mitteilen. Die Arbeiter dürfen
über das Fernbleiben \-on einem Betriebe ebenfalls \' er e i n barungen
treffen und daher in diesem Sinne sich \erstäncligen ; aber sie
dürfen sich nicht verständigen, sofern es ihnen bei schwerer
Strafe verboten ist, ihre Berufsgenossen über die Notwendigkeit des
Fernbleibens von einem bestinnnten Betriebe zu b e n a c h r ic h t i ge n.
Ihren zu diesem Zwecke aufgestellten Strikeposten ist die „\'er-
ständigung" der ankommenden Arbeitskaineraden verboten und
daher die erlaubte Verständigung m i t diesen Arbeitskameraden
unmöglich. Das Kontrahieren ist den Arbeitern erlaubt, das Reden
verboten. Oder wie sollen die Arbeiter mit den ohne Kenntnis
eines Strikes ankommenden arbeitswilligen Arbeitern ins Gespräch
kommen, wenn ihnen das Warten auf dieselben und das Heran-
kommen an dieselben bei Gefängnis- und Zuchthausstrafe untersagt ist?
Dafe also den Arbeitern nach wie vor eilaubt ist, Ar bei tsver*
träge nach Belieben einzugehen oder abzulehnen, ebenso wie den
Unternehmern, Arbeiter einzustellen oder nicht, das ist keine Recht-
fertigung dafür, daCs den Unternehmern die wirksamste Form der
Verrufserklärung, auf welche dieselben einen weit verbreiteten
Verfolgungs- und Zwangsapparat gegen die Arbeiter gegründet habend
die schwarzen Listen erlaubt sind. Wann soll denn die Vemi&-
erklSrung den Unternehmern überhaupt noch verboten sein und
welche Bedeutung hat die Bedrohung der VemifserldSrung gegen
Unternehmer in § i der Vorlage? Sie hat in derThat nur dekora-
tive Bedeutung. Dagegen ist die Vemifeeridärung der Arbeiter
untereinander nach wie vor verboten, das Geltungsgebiet des Ver-
botes der Vemifeerklarung wesentlich erweitert, die Strafen ver-
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KoaUdomredrt and flmftfedit
555
«diirft. Die Vereinbarui^ der Arbeiter, mit btstimmten Arbeitern
nicht zu arbeiten, und die Ausführung dieser Verdnbirvi^ durch
Mitteilung an den Unternehmer ist allerdings keine Vemifeerldinuig.
Aber Vemifserklärung ist jede Handlung unter Arbeitern, welche
die Mitteilung der schwarzen Listen seitens der Unter-
"nehm er entspricht.
Die öffentliche Bekanntmachung der Namen von Strikebrechem
z. B. in Arbeiterfachblättern zur Kenntnis der Koalitionsgenossen
ist nach wie vor Verrufserklärung obwohl auch sie notwendig ist
zur X'orbereitung der „Verständigung" im Sinne einer Vereinbarung
dahin, auf einer besimmten fietriebsstätte mit den betreffenden
Strikebrechem nicht zusammenzuarbeiten.
Verrufserklärung ist ebenso jede mündliche oder schriftliche
derartige Mitteilung; nir«^^ends ist in der Vorlage oder den Mo-
tiven eine Andeutung dahin, dals dies nicht metir Verruüserkiärung
sein soll.
Bisher aber ist Verrufserklärung erblickt worden z. B. in der
Bekanntgaiie derjenigen Arbeiter, welche während eines Strikcs
weiter arbeiten. Wegen einer solchen Mitteilung wurde auf Grund
von 153 der G.G. der Vorsitzende der Breslauer Kommission
für Bauarbeiter zu 2 Monaten Gefängnis, der Redakteur des
betreffenden Blattes zu I4 Tagen Gefängnis verurteilt. Zur
verbotenen Personalsperrc der Arbeiter unter sich durch Verrufs-
erklärung ist aber die Bekanntgabe von Namen nicht einmal
als erforderlich erachtet worden. In dem oben S, 502 behandelten
Falle , welcher durch /Aveinialiges Urteil des Oberlandesgerichtes
Kiel erledigt wurde, ^) wurden Verrufserklärung und Sperre, verübt
gegen einen Arbeiter durch Arbeiter, angenommen, weil der Be-
vollmächtigte eines Arbeiterverbandes die durch den VeHsand über
die Betriebsstätte eines Unternehmers verhängte Sperre in einem
Fachorgane auftragsgemäis veröffentlicht hatte mit dem Ersuchen:
die zureisenden Kdl^en auf diese WerkstStte aufinerksam zu machen,
da über diieselbe die Sperre verhängt sei. Hierin wurde eine von
dem Bevolhnächtigten gegen alle Mitglieder seines Ver-
bandes verQbte Drohung, Verrufeerldärung und Sperre erblickt,
weil die etwa entgegen jenem Ersuchen in der gesperrten Betriebs-
Stätte arbeitenden Verbandsmitglieder die Ausstolsung aus dem Ver-
bände und die Publikation ihrer Namen zu furchten hatten.
*) VgL Lcgien a. a. O. S.aosff.
ArcMv tOr iot. G«wttf«lHiaK «. StMiMOt. XIV. 3S
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336
-^Tbe.o^OT Lo«w.««feld,^
Die Personalsperre der ATbe^ter jgregenüber jdeo
Unternehmern.
Von diesem Falle und seiner verschiedenen Behandlung durch
die deutschen (ierichtc war bereits oben S. 514, 515 die Rede. Ks
handelt sich hier um den Versuch der strikenden Arbeiter, ihre Aus-
standskoalition soweit möglich auf alle inbetracht kommenden Berufs-
genossen auszutlehnen. Hierzu ist die Benachrichtigung der
Berufsgenossen erforderlich. Für diese Benachriciitigung sind an sich
verschiedene Wege denkbar: Mitteilung des Strike- oder Aussper-
rungsfaltes durch das Arbeitsnachweisbureau an die sich meldenden
Arbeitssucher, damit dieselben ihre Interessen zu wahren und den
gesperrten Betrieb zu meiden in der Lage sind; gesetzliche Ver^
Achtung eines Unternehmers» von dem Bestände eines Strikes oder
•einer Aussperrung den von ihm herangezogenen Arbeitern Mit*
^eüung SU machen; Bekanntgabe des Strike- oder Aussperrungs&Ues
in der Fachpresse der Arbeiter oder der T^;espresse; Plakate an den
-Gebäuden, der gesperrten Fabrik; endlich mündliche Bekannt-
gäbe des Strike- oder AusspemingsfoUes durch die Arbeiter an die von
'dem Unternehmer herangezogenen Arbeiter. Da es für die Arbeiter
von Wichtigkeit ist zu wissen, dafs die Stellen, welche sie besetzen
wUen, durch strikende oder vom Unternehmer ausgesperrte Arbeils-
-kameraden verlassen worden sind oder verlassen werden mulsten,
so ist ein berechtigtes Interesse derselben anzunehmen»
"hier\'on in Kenntnis gesetzt zu werden. Darum ist es Aufgabe
eines unparteiischen Arbeitsnaclnvcisamtcs, dicsciii hitercssc durch
Benachrichtigung der arbeitüucht luicn Arbeiter entgegenzukommen.
Die Unternehmer selbst hüten sich, davon den neuengagierten
Arbeitern, insbesondere ausländischen, Kenntnis zu geben, ilafs sie
bestimmt sind, ihre Helfer in einem Kampfe gegen Arbeiter um
die Arbeitsbedingungen zu werden. An sicii könnte eine sulche
Mitteilungspflicht bezüglich eines für den engagierten Arbeiter
jeriieWcfaen Umstandes schon aiis den den Dienstvertrag be-
lienrschenden Regeln der bona fides entnommen wöden. Aber
(ur den gewerblichen Dienstvertrag konunen bekanntlich die Grund-
satze der bona fides nur beschrankt zur Anwendung. Der Umstand^
da& einem Arbeiter bei Abschluls des Dienstvertrages verschwiegen
wurde, dals es sich um die Besetzung der Stelle eines strikenden oder
ausgesperrten Arbdters.handle, kommt unter den in § 124 G.O. auf-
gezahlten Gründen aufserordentlicher Kündigung des Arbeitsvertrages
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KoalHiniiw^ht nA Stnfieckt.
jiicht vor.')^ Nur wenn das Arbeitsverhältnis auf * mindestens
4 Wochen sich . erstreckt oder wenn -eine längere als* X4tägigf
KündigunjTsfrist vereinbart wurde, kann nach § 124^ G.O. -auch das
.gewerbliche Arbeitsverhältnis aus jedem „wichtigen Grrundc" ver-
lassen werden, d. h. es kommt dann das im gemeinen Zivilrecht
herrschende Priiizi]) der bona fides wieder zur Anwendung; Gleiches
gilt nach § 133^ G.O. vom Dienstverhältnisse der gewerblichen Be-
tricbsbeamlcn, Werkmeister und der mit höheren technischen Dienst-
leistungen betrauten Personen. Uebrigcns ist es fraghch, ol) als ein
wiclitiger Grund der Kündigung des DicnstvcrhäUnisses der l in-
stand anerkannt würde, dals dem Arbeiter das Bestellen eineü
Strikes oder einer Auss()errung nicht beim Engagement mitgeteilt
wurde. Dals thts Bestehen eines Strikes oder einer Aussperrung
durch Plakate — wie in Kngland — gestattet würde, ist ausgc-
^hlosseo. Es bleiben daher für die Regel nur übrig : Die Bekannt;
gäbe des Strikes oder der Aussperrung duicb die Presse und die
Bekanntgabe in mündlicher Ansprache an die von auswärts an»
kommenden ArbeitswiHigen. Mit Rücksicht auf die Lage der Vei>
hältntsse im Deutschen Reiche ist die Verbindung beider W^;e
jcgelmäisig unentbehrlich, wenn die strikenden oder ausgesperrten
Arbeiter nicht auf die Verfolgung des Zieles, ihre Koalition über
ihre eigene Zahl hinaus zu erweitem, und damit überhaupt auf das
Ziel der Koalition verzichten wollen. Die Bekanntgabe durxrh
die Presse ist vom Reich^richt (s. oben S. 5 1 5 ) als verbotene
X'errufserklärung bezeichnet worden und weder die Vorlage nodi
iiie Begründung 'S. 15) gestatten dieselbe, wie oben S. 516 darge-
legt wurde. Die mündliche Verständigung der vom Unter-
nehmer herangezogenen neuen Arbeiter geschieht durch Strike-
posteni dieselben werden, wie oben S. 514 erwähnt, seitens der
Polizeibellorden durch Krlassung stralsen- und verkelirspolizei-
lirher \'( >r^cllri^tcn oder \on X'orscliriften für den ein/einen h^all,
soweit möglich behintlert oder ihre Tliätigkeit ausgeschlossen.
Andrerseits werden sie von einem leile der tleutschcii (lerichte
•
wegen „groben L'nfugs" bestraft, während ein anderer Teil der (ic-
richte das Strikepostenstehcn alb erlaubte Ausübung des Koalitions-
rechtes erachtet. Die Vorlage verbietet in ^4 Abs. 2 die „plan-
*) Ucbcr iluh Vrrii.'iltnih des B.ü.B. zur G.O. besteht dne ConU-ovcn»«; , äb«r
dcMs richtif e Lösung auf GroDd w» Art. 3a 4«s E.G. nnn B.G.B, kein Zwcifal
lein V«««i«-
35*
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538
Theodor Loewenfeld,
in S fs i g e Ueberwachung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Arbeits-
stätten, Wegen, Stra&en, Plätzen, Bahnhöfen, Wasserstra&en, Hafen"
ioder sonstigen Verkehrsanlagen", indem sie solche „planmäla^
Ud)erwachung^ der strafbaren ,J>rohung^ gleichstellt und daher
mit Geiangnis bis tu einem Jahr, bis zu 5 Jahren, nidit unter i,
3, 6 Monaten, mit 3- und 5 jährigem Zuchthaus bestraft. Das Er^
fordernis der „Planmafsigkeit" des Postenstehens ist aus der bis-
herigen Gerichtspraxis entnommen. So hat z. B. ein Urteil des
Hanseatischen Obcrlandesgerichtes vom 12. Mai 1898 entschieden,
es komme fiir die Bestrafung des Postenstehens darauf an, ob das-
selbe „mehr oder minder straff oiganisiert sei**.*) „Planmäfsig**
ist jede Ueberwachung, die als geeignetes Mittel fiir den Zweck
der Kontrolle und F!rnuv^rii, i^mg einer Kommunikation mit Arbeits-
willigen erscheint. Nach den Motiven der Vorlage S. 14 setzt die
„planmäfsige Ueberwachung" keineswegs in allen Fällen eine aus-
drückliche Verabredung Mehrerer oder überhaupt eine Mehrheit
von Personen voraus. Auch dies entspricht der bisherigen Praxis,
Vonach „schon das einfache Stehen eines Postens unter Umständen
beunruhif^end wirken kann". So das eben erwähnte Urthcil des
Hanseatischen Obcrlandcsgerichts. Nur eine „blos zufällige
oder gelegentliche U e b e r w a c h u n g s t h ä t i g k c i t" ist nach
der Vorlage stratlos. Es ist einem .Xrbeiter also nicht geboten, beim
Vorbeigehen vor einer Fabrikkantine geradeaus zu schauen oder die
Augen /.u schliefscn , es ist ihm gestattet, einen Blick durch die
Fenster zu werfen; ob er aber nicht hierfür das Zuchthaus riskiert,
hängt von der richterlichen Feststellung des Thatbestandes ab, wo-
nach zu entsciiciilen, ob der Klick durch das Fenster auf einen vor-
her gefalstcn ,,Plan" ziiriit kzuführen ist oder nicht. Das SchötTen-
gericht Mühlhausen hat Arbeiter w'cgen Strikcpostcnstehens verurteilt,
die behaupteten, nur „spazieren gegangen zu sein". Das
Gericht erachtete dies als unrichtig, da die Arbeiter zum Spazieren-
gehen wohl eher das freie Feld aufgesucht hätten als die Chausseen,
auf welchen auswärtiger Arbeiterzuzug zu erwarten gewesen sei
Wegen Verdachts des Strikepostenstehens haben Polizeibe-
hörden Arbeitern den Aufenthalt auf Bahnhöfen und den Zugangs-
stralsen zu solchen durch allgemeine oder spezielle Anordnungen
untersagt ; ja es ist in einem vor dem Hanseatischen Oberlandes-
gerichte verhandelten Falle vorgekommen, da& man Arbeiter aus
einem Wirtshause herausholte und fortschickte, weil man annahm,
Vgl. Legien a. a. O. S. 97^98.
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KoaUtioiisnclit md Stnficchf .
539
dafs sie daselbst Strikeposten — nicht stehen, aber sitzen.^) Mit
Rücksicht auf diese bisherige Praxis nach Annahme des § 4 Abs. 2
der Vorlage für die Arbeiter vielfach bei Ausbruch eines Strikes an
einem kleinen und mittelt^rofscn Orte das Verbleiben daselbst eine
dringende Gefahr für die I-Veiheit bedeuten. Der Ver-
dacht des nicht blos zufälligen Strikeijostcn-Stehens oder Gehens
oder Sitzens ist bei jedem Aufenthalte in der Nähe einer gesperrten
Fabrik oder eines Bahnhofs oder auf öftcntlichen Strafsen möglich.
Nun sagen die Motive S. 14 allerdings, das Postenstehen sei nur als
Mittel der „in § i, 2 verfolgten Zwecke" strafbar. Dem Gesetz-
entwurf selbst ist diese Beschränkung freintl. Aufserdem wird,
wenn einmal Postenstehen nachgewiesen oder angenommen wird,
auch jeder andere Zweck nicht geglaubt oder schwer bewiesen
werden können, aber angesichts der I'assung des Gesetzes vom An-
geklagten bewiesen werden müssen.
V. Die bisherige Praxis der X'erwaltungsbehörden und Gerichte
in Sachen des Koalitionsrechtes der Arbeiter hat vom L'nter-
nehmerstandpunkte aus betrachtet zweifellos Vorzüge. Die
Verwaltungs* und Polizeibehörden wenden die Vorschriften des
Öffentlichen Rechtes, welche sowohl die Koalition der Unternehmer,
wie die der Aiiteiter betreffen, lediglich gegen die Arbeiter an. Die
Gerichte wenden die Vorschriften des § 153 und die härteren
Vorschriften des Strafgesetzbuches in den 240, 253, weiter den
groben Unfugsparagraphen, ausschliefelidi gegen Arbeiter an; die
Gerichte können nicht anders, da es zwar nicht an strafrechtlichen,
aber infolge des Anklagemonopols der Staatsanvradtschaft an straf-
prozessualen Voraussetzungen einer Verfolgung der Unternehmer fehlt.
Ohne alles Verschulden der von dieser Einseitigkeit des Verfahrens
betroffenen Arbeiterschaft ist dieser Zustand der Dinge indessen nicht
möglich. Denn § 170 St.P.O. giebt immerhin unter gewissen Um-
ständen eine Handhabe zur Erzwingung einer gerichtlichen Entscheidung
über einen AnzeigefalL Es ist indessen nicht anzunehmen, dals sich
die Gerichte dieser ihnen auferlegten Einseitigkeit ihres Vorgehens
überhaupt bewufst sind. Die Strenge der von ihnen wegen Aus-
schreitungen der Arbeiter über diese verhängten Strafen und noch
mehr die Begründung dieser Strafen läfst erkennen, dafs den Ge-
richten die Thatsache nicht oder nicht zur Genüge bekannt ge-
worden, dafs eine grofse Anzahl von Unternehmern in anderer
*) Vgl. Legicn ft. a. O. S. 92.
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540
Theodor Loewenfeld-, •
Weise als die Arbeiter, aber p^ccrcn die f^leichcn Bestiminunpfen de^
Gesetzes sich verfehlt, ohne übcrhaujn von der Strafjustiz behellig
7.U werden. Aus den ^^cfalltcn Kntscheidunfjen und den Enschei-
dungsgrundcn crj^ncbt sich ein Zweites. Die Forderung der Ge-
rechtigkeit, flafs der Richter alle rnistände des Falles bei Fällung
des l'rtcils und insbesondere bei Ausmessung der Strafe zu berück-
sichtigen habe, ist mangels der nötigen Kenntnis des Tiiatbestandes
auf Seiten der Organe der Gerechtigkeit unerlullbar. Hierfür bieten'
eine Reihe von in der Denkschrift zur Zuchthausvörlage genannten
Fälle und die in letzteren ergangenen Urteile drastische Belege.
Sie zeigen eine bedauerliche Unkenntnis der Verhältnisse der mo-
dernen Arbeiterbevolkening in Deutschland und der treibenden Ur-
sachen ihrer Koalitionsbestrebungen, dieselbe Unkenntnis, welche
den Bevölkerungsschichten eigen zu sein pflegt, aus welchen Richter
und Beamte der Anklagebehörde regelmäfsig hervorgehen. Infolge-
dessen spielt die Notorietät bei der Rechtsanwendung in der
uns hier beschäftigenden Materie eine her\'orragende Rolle. Es gilt
als notorisch, dafs die Arbeiter im allgemeinen zufrieden sein
könnten und zufrieden wären, wenn nicht „Hetzer" sich zwischen
Unternehmer und Arbeiter drängten und durch ein gemeingefähr-
liches I reiben Unzufriedenheit erregten, Intriguanten , welche ein
Interesse daran haben, dafs Unruhen und l'nordnung entstehen und
Ausschreitungen begangen werden, weil sie statt xon eigener Arbeit
von den sauer \erdienlen (Troschen \ertiihrter .Arbeiter leben und
prassen wollen, leitler aber nicht immer gefalst werden können.
Diese Hetzer bilden fürniliche \'erbändc, eine Agitationsleitung imd
tliese ist identisch mit der politischen Leitung der Sozialdemokratie.
Die Au.sijbung des KoaUtionsrechtcs ist im Lichte solcher .Auffas-
sung schliefslich nichts als ein Vorwand für das verwerllichc Treiben
einzelner weniger arbeitsscheuer und sicherheitsgefÜhrlicher Indivi*
duen, von welchem sich die Gerechtigkeit nicht täuschen läCst. —
Diese „ofifenkund^en" Thatsachen würden erheblich an ihrer Zweifel«
losigkeit verlieren, wenn nicht heute eine chinesische Mauer die
verschiedenen Zweige der Staatsverwaltung und das. in denselben
angesammelte amtliche Wissen trennen würde. Sonst mülste
ein Blick in die amtlichen Berichte der Fabrik- und Gewerbe«
mspektoren, in die Berichte des Reichsversicherungsamtes in
Sachen gewerblicher Unfälle, in die amtlichen Erhebungen
der von Reichswegen eingesetzten Kommission für die Arbeiter-
statistik, die amtlichen VVohnungsenqueten , die Feststellungen
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KotKtkiBtrecht and Sbmfireeht j^I'
SchulbefiÖMen über <Ue gewerbliche Beschäftigung schulpfliclw
figer Kinder, die Verhandlungen der Arbeitsnachweiskonferenzen
eilte andere Auffassung der Dinge hervorrufen, um:
ganz abzusehen von den entsetzlichen Aufschlüssen, welche die'
Forschungen der modernen deskriptiven Nationalökonomie über gc-'
wisse zum „dunkelsten Deutschland" gehörijre Gebiete des Deutschen'
Reiches und innerhalb derselben lebende Bevölkerungsschichten
liefern. Die Kntdeckungsreisen innerhalb des eigenen Volkes und
Landes und der eigenen Zeit sind ja viel weniger beliebt, als die
Durchquerung Grönlands oder Afrikas oder die Aufdeckung der
Zustände der Eiszeit. Es ist bemerkenswert, dafs die letzteren in
vielen Kreisen bekannt sind, während Gleiches von ersteren
nicht gesagt werden kann. An ihnen sollten aber Staat und Ge-
sellschaft ein dritv^fcndcrcs und näheres Interesse haben, als an den
Thatcn und Werken der Polar- und Ur^^eschichtsforscher, deren
hohen Wrdiensten dieser Vergleich durchaus keinen Abbruch thun
soll. Es soll hiermit nur auf eine der Ursachen einer patho-
logischen Erschein un^S nämlich einer die Arbeiter erbitternden
Klassenjustiz, und darauf hingewiesen werden, dals dieselbe
vereinbar ist mit dem subjektiven Streben nach ( i c r e c h t i g -
keit und mit d e r U e b e r z c u g u n g der Pflichterfüllung
bei den beteiligten Organen dieser selben Strafjustiz. Das eben
Gesagte wird durch die Thatsachc bestätigt, dals diejenigen un-
beteiligten Beobachter der Arbeiterzustände, welche sie durch ihre
tägliche Berufsarbeit kennen, ein ganz anderes, den Arbeiterkoalitionen
und ihren Bestrebungen wesentlich günstigeres Urteil fällen, als
Richter und Staatsanwälte. Zu diesen unbeteiligten Beobachtern
gehören zunächst die Beamten der Gewerbe- und Fabrikaufsicht
Aus den Berichten dieser Beamten ergiebt sich, dals dieselben die
Organisationen der Arbeiter, auch die „sozialdemokratischen" Ge--
werkschaften — angeblich lediglich Werkzeuge des „Umsturzes" — '
als nützliche Helfer und Förderer in der Erftlllung ihrer amtlichen
Pflicht kennen und schätzen, dals sie insbesondere die von den Ge-
werkschaften geschaffenen Organe zur Vermittlung zwischen Arbeiter-
schaft uind Gewerkeinspektion im Interesse der Hebung des amtlichen
Verkehrs und der Abstellung von Milsstanden als nützlich erachten
uiid die Bildung solcher Vermittlungsorgane für die auiserhalb der
Gewerkschaften organisierte Arbeiterschaft veranlassen, dals sie die
Bemühungen der Wortführer der Gewerkschaft, die wirklichen
Arbeiterinteressen zu fördern, anerkennen, ebenso ihr Streben
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54«
TJiaodor LQ«veBfeld,
nach Verhütung unnötiger oder aussiclitslosor Strikcs, nach friedlicher
Ausgleicliung von Lohn- und anderen auf das Arbeitsverhältnis be-
züglichen Streitigkeiten ihre V^erdienstc um gesittetere Formen der
Strcitausgleichung, um die geistige, sittliche und körperliche Hebung,
da* Arbeiter, auf die Herstelluiig von Organisatioacfi des Rccbts-
Mibuties, u. 8. w.^) Wer diese mit grolser Reserve verfalsten Be-
richte der Gewerbdnspektoren über ihre Erfahrungen liest»
mu& den Eindruck gewinnen, da(s hier von ganz anderen-
Personenldassen die Rede sei, als in den staatsanwaltschafUichen
Berichten. Die „bezahlten Hetzer", die zu jeder Gewaltthat
neigenden eigennützigen Verfuhrer uner&hrener Arbeiter sind die-
selben Manner, welche im Dienste der Gewerkschaften den Staats-
beamten in seinem Dienste unterstützen, welche fiir die Arbeiter
nützliche sozialpolitische Einrichtungen schaffen und deren erfolg-
reiche Arbeit der Disziplinierung und Hebung der Arbeiterklasse-
gewidmet ist. Auch den Fabrikin^>ektoren ist bekannt, dals bei
Ausständen und Aussperrungen Aussclireitungen vorkommen.
Wenn sie dennoch zu einem anderen Urteile kommen als die Ver-
fasser der Denkschrift, so liegt dies daran, dals ihnen die Arbeiter-
bewegung als (lanzes amtlich bekannt wird und ihnen daher die
fraglichen Ausschreitungen sich so darstellen, als was auch die
Statistik sie erweist: eine Ausnahme von der Kegel.
In seiner Abhandlung über ,,die Bedroluuig der (iewerbe-
gerichtc durch den (jeset/esentwurl zum Schul/.e der gewerblichen
Arbeitsverhältnisse" -) hat Jastrow treffend auf die Gründe der Ver-
schiedenheit der Beurteilung der Koalitionen durch die Staats-
anvnUte einerseits und die Gewerbegerichte andrerseits hin-
gewiesen, welche letzteren sich auf Grund ihnen zustehender gesetz*.
lieber Belugnis gutachtlich über die Vorlage und zwar in entschieden
ablehnendem Sinne geaufsert haben : „Wer mit den Koalitionen
. und ihren Vertretern in beständiger Fühlung ist, wer die tagliche
Arbeit kennt, die in diesen Vereinen und Versammlungen geleistet
wird, der wird zwar über Ausschreitungen auch nicht hinwegsehen,
«r wird in ihnen aber erblicken, was sie sind: die bedauerlichen,
vielleicht zu häufigen Ausnahmen, aber immerhin Ausnahmen»
1) Die preofttocbe Regienmg Tobot 1896 den Geirerbcaa&ldrtt'beuntcii jedm
•mtlichrn Verkehr mit den H r sc h w e rdekommistionen der GcweHndiaAeB,
Vdcfae die süddeutschen Gewerbeinspektoren als sehr nützlich erklären.
*) Jahrbücher (fix Nationalökoiioinie nod Statiatik, IIL Folge, 18. Bd. S. 72 ff.
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Koslitiaanrcdit «nd Stmfredit
543
Wer dagegen mit den Koalitionen von Berufswegfen nur zusammen-
stöfst, sobald sie sich Ausschreitungen zu Schulden kommen lassen,
der wird von ihnen die Vorstellung haben, dafs sie immer etwas
Böses im Schilde führen. Daher ist in diesen staatsanwaltschaft-
lichcn Berichten unaufhörlich von X'erfehlungen die Rede, die
thatsächlich oder vermeintlich auf die Leiter von Koalitionen
zurückzuführen , ohne dals an irgend einer Stelle der Versuch
gemacht würde, zu einem Urteile darüber zu gelangen, der
wievielte Teil der Koalitionsthätigkeit auf Ausschreitungen ent-
felle. Ja es wird sogar ganz ausdrücklich so gesprucheii, als
ob Ausschreitungen und Koalitionsthätigkeit im Grofsen und
Ganzen einander decken." Was hier \on den .Staatsanwälten
gesagt wird, gilt ii)rnso von den Auffassungen fler (iericlue. In
ihrer Kriminalpraxis lernen sie noch dazu nur Ausschreitungen der
Arbeiter, niemals solche der Unternehmer kennen. Dazu kommt,
da(s die Unternehmerauffassung, welche nur einen Terrorismus der
Arbeiter kennt, und nur Wohlfahrtseinrichtungen der Unternehmer,
keine positiven Leistungen der Arbeiterkoalitionen und ihrer Führer,
den Gerichten in neuerer Zeit vielfach au^estattet mit der über-
legenen Autorität oberster Reichs- und Staatsorgane entgegentritt
Und diese Autorität wird, wie oben bereits ausgeführt, weiter ver-
stärkt durch den materiellen Inhalt der gegen die Arbeiterkoalitionen
gerichteten Straf bestimmungen, deren Unbilligkeit an sich geeignet
ist, die Rechtsanwendung zu korrumpieren. Vergleiche oben S. 508.
Jeder, dem es Ernst ist mit dem Grundsatze, dafs die Gerechtig-
keit das Fundament der Staaten, mufs es mit tiefem Bedauern
wahrnehmen > wenn irgend etwas das Ansehen der berufenen
Organe der Gerechtigkeit beeinträchtigt Welche Schädigung dem
Ansehen der Gerichte aber die ihnen auferlegte Beschäftigung
mit einem inhaltlich unbilligen und formell jeder Präzision ent-
behrenden Gesetze wie § 1 55 G.O. schon in der öffentlichen Meinung
zugefügt hat, kann man ermessen, wenn man liest, daüs im deutschen
Reichstage der Führer der zur Zeit herrschenden Partei, welcher
?ine Reihe ausgezeichneter Richter angehören, von den „haar-
sträubenden'' Urteilen, welche gegen Arbeiter nicht selten ergangen
seien, sprechen konnte und von der „geradezu himmelschreienden
Parteilichkeit, mit der dieselben V'ergehen auf der einen Seite auf
das härteste und auf der anderen Seite auf das mildeste geahndet
Verden." In ähnlichem Sinne ist die in Frage stehende Gerichts-
pcaxis auch von den Vertretern anderer Parteien charakterisiert
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544
Tbeodor Loewenfeld, '
worden. Derartige Urteile sollen zu denken gjcbcn. Sie sollten
Insbesondere die Erwägung veranlassen , ob nicht die Stellunj;^ der
Arbeiterkoalitionen unter das gemeine Recht sich mehr em})fehlen
würde als der Versuch, durch neue Strafp^esetze , welche an
l)eliiil)arkeit und l'nl)illi<Tkcit noch nuhr leisten als >; 153, l'cbel-
ständen abzuhelfen, welche üherliaujit nur durch j)Ositive Mafs-
nahnien der Sozialpolitik und nicht auf dem mechanischen
W'cge einseitiger krimineller Repression geheilt werden kötuien.
Dais die \'or!age nunmehr den letzteren Weg betritt, ist
nach den Feststellungen in den Rcichstagsverhandlungen auf Andrängen
der Unternehmcrv'erbände geschehen, welche sich durch die dermalige
Rechtsanwendui^g bedrückt und geschädigt erklären. Nicht etwa
deswegen, weil das Gesetz gegen sie überhaupt jemab angewendet
worden wäre — das ist nicht der Fall und darüber können sie da-
her auch keine Kla^e fuhren — ; aber die Gesetzesanwendung gegen
die Arbeiter trägt nach ihrer Behauptung den berecht^en
Wünschen und den Bedürfnissen der Unternehmer nicht genügende
Rechnung. In der That war bisher von einer einheitlichen gegen
die Arbeiter gerichteten Gesetzesanwendung weder von Seiten der
Gerichte noch von Seiten der Polizeibehörden die Rede. Es ist
bereits oben S. 484 darauf hingewiesen worden, dafs die Ver-
waltun«^'shc]u")rden nicht die letzten Konsequenzen derjenigen Ur-
teile ziehen, welche geeignet wären, das Koaiitionsrecht der Arbeiter
überhaupt zu vernichten. Andererseits versagt auch die gerichtliche
Praxis nicht ausnahmslos den Arbeitern die Ausiibunt; des Koalitions-
rechtes. Zvun Beispiele hat die ( lerirhtspraxis neuerdinL^s die An-
wendung des ß 153 auf .Arbeiteraktionen L^ej^eniil )er den Koalitions-
gegnern mehrOirh abgelehnt; das Strikepostenstehcn ist, wie oben
S. 537 crwälint. in einer Reihe \'on Kntsrlieidun^en als erlaubte
Ausülnuii:,^ des Koalitionsrechtes anetkaiuit worden. Die Denkschrift
führt .S. 169 — 205 eine Anzahl von I'älleii aut, in welchen man auf
Grund richtiger Gesetzesanvvendung Arbeiterkoalitionen und
deren Führern nicht mit Erfolg zu Leibe gehen kcmnte.
Aus den Reichsts^verhandlungen ist bekannt, dafs das vertrau-
liche Rundschreiben des Staatssekretärs des Innern vom
.11. Dez. 1897, welches die in der Denkschrift verarbeiteten AeuGse-
ningen der Staatsanwaltschaften, Polizeibehörden und Kriminalgerichte
veranlafste, seinerseits durch Petitionen von Untemehmerverbanden,
insbesondere durch eine Eingabe des Ausschusses des Innungsver-
bandes der deutschen Baugewerkmeister veranlafst worden ist, derea
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KcnUtloäiTecln imd Stnifi«dit ^45
Inhalt teilweise wörtlich in das 'Rundschreiben des Reichsamtes
fibergegangen ist. >) Diese Eingabe ist eine Anklageschrift
gegen die Gerichte und Polizeibehörden. Die Behörden werden
beschuldigt, das geltende Recht nicht in genügendem Um&nge und
Aicht mit genügender Kiiergie gegen die Arbeiter angewendet £u
haben. Durch die Arbeitseinstellungen sei das Gemeinwohl ernst-
lich bedroht, die gesunde Fortentwicklung des Handels und der
Industrie bedroht, das gute Einvernehmen zwischen den Arl)eit»
gebern und Arbeitnehmern gestört Bei richtigem Verfahren
der Behörden lasse sich erwarten, „dafs innerhalb der Grenzen der
heutigen (iesetzgebung die so zahlreichen , frivol hervor-
gerufenen, meist ergebnislos verlaufenden Arbeitseinstellungen all-
mählich in Abnahme kommen und wieder der Friede zwischen ge-
werblichen Arbeitern und deren Arbeitsgebern eintrete, damit aber
eine geregelte ordnungsgemäfse Gewerbsthätigkcit sich einwickeln
werde." Nur „solange sie die Strikebeweguiigen leiten, haben die
Strikcführer die Mittel zu einem Lebensunterhalt, welcher sie
wirtschaftlich über den Kreis der durch sie verführten Arbeiter er-
hebt und davor bewahrt, selbst die niühe\olle Arbeit an Stelle der
leichten Agitation aufzunehmen." Ks wird daher von dem Innungs-
verbandc beantragt, „im Aufsichtswege Anordnungen zu treffen,
durch welche die X'erwaltungs- und Polizeibehörden angewiesen
werden, innerhalb der gesetzlichen (irenzen den arbeitswilligen
und friedlich lebende nArbeitern Schutz gegen Vergewaltigung durch
ruheslörendc arbeitsscheue Personen zu verschatfen, uml den
Anklagebehörden das Hriicbcn der öftentlichen Anklage gegen
solche, insonderheit gegen die Leiter der Strikcbewegung, als An-
stifter dazu, anempfohlen wird." Die in der Denkschrift zusammen-
gestellten Aeufeerungen der Anklage- und Polizeibehörden, sowie
von Strafkammern, nehmen sich wie ein Verteidigungspladoyer gegen
diese Anklagen der Unternehmer aus. Es wird insbesondere nach-
gewiesen, dais die dermalen geltenden Grundsatze des strafprozes-
sualen Verlahrens, insbesondere des Beweisverfehrens, und die Grund-
Satze des materiellen Strafgesetzes bedauerlicherweise nicht ennög*
liehen, die Strikefährer in jedem Falle zu treffen. — Indessen waren
die Anklage- und Polizeibehörden durch das in Frage stehende
Rundschreiben direkt angewiesen, sich darüber zu erklären, ob
iiicht eine Wiederaufnahme der in der Gewerbeordnungsnovelle
*) Vgl. den Wordaat bei Legien, Du KMlitumsrecfat, S. 113— 118.
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546
Theodor Loevenfeldt
vom Jahre 1890 zu § 153 gemachten Abänderunj^svorschlägc ge-
boten sei und zwar sowohl zur Erweiterung der strafbaren That-
beständc als auch zur Verschärfung des zur Anwendung kommenden
Strafmafses. Eine Reihe von weiteren Fragen fordern dazu auf, nach
Lücken des g c 1 1 e n d e n S t r a f r e c h t c s zu forschen. Die Denk-
schrift zeigt die Ergebnisse dieser den Staatsanwälten aufgetragenen
Forscliung. Dafs sie su bj e k t i v dazu nicht kumjietent gewesen, kann
man angesichts der aintliciien Veranl. issung ihrer I hätigkeit gewils
nicht sagen. Dadurch wird an der 1 hat>ache nichts geändert, dafs
der Gesetzgebung des Deutschen Reichs in dieser Materie andere
berufenere Organe für diese Begutachtung zur Verfügung standen,
wenn sie auch nicht auserwählt wurden. Die Frage, wie die Thätig«
keit der Koalitionen friedlicher gestaltet und vor Ausschreitungen
bewahrt werden könne, ist keine Frage der Kriminal- und Straf-
prozeGspolitik, (lir welche die Praktiker der Strafjustiz in erster
Reihe die richtigen Gutachter wären. Die zu entscheidende Frage
gehört vielmehr der Sozialpolitik an. Zu Gutachten in der-
artigen Fragen stehen den gesetzgebenden Faktoren des Deutschen
Reiches andere amtliche Organe kraft ihren Berufe und mit wirk-
lieber Sachkenntnis zur VeHiigung. Von Anhörung dieser Oi^^ane
hat man Umgang genommen« Jastrow') weist mit Recht darauf
hin, dafs das Reichsgesetz betreffend die Gewerbegerichte für Gesetz-
gebungsfragen der hier vorliegenden Art die Gewerbegerichte
zur Abgabe von Gutachten beruft und verpflichtet. Diese sind mit
Mertrauensmännern beider interessierter Parteien, der Unternehmer
wie der Arbeiter, und weiter mit völlig unbeteiligten Benife-
beamten besetzt. Die Gewerbegerichte haben auch das gesetzliche
Recht nach § 70 Abs. 3 des Gewerbegerichtsgesetzes, ohne Auf-
forderung Gutachten in solchen Dingen abzugeben. Der Verdrän-
gung aus ihrem Gutachterberuf durch die .Staatsanwälte haben sich
^e Gewerbegerichte nicht stillschweigend gefügt, sondern mehrfach
sich spontan über die Vorlage in Petitionen an den Bundesrat und
den Reichtag gcäulsert. Das Gewerbegericht Berlin hat sich unterm
17. Juni 1899 dahin ausgebrochen: „i. Die Bestimmungen des Ent-
wurfes liegen weder im Interesse der Arbeitgeber noch der Arbeit-
nehmer; 2. die durch den Gesetzentwurf angestrebte Beschränkung
des Koalitionsrechtes kann für die gesunde I'.ntwicklung ilcr gewerb-
lichen Verhältnisse im Deutsclien Reiche nur schädlich sein^ 3. die
») 1. c. S. S5 ff.
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KoflÜtioiisrecht und Strafrecbt.
547
z, Zt bestehenden gesetzlichen Bestimmungen bieten Arbeitswilligen
ausreichenden Schutz.** Dieser Erklärung hat sich eine Reihe von
Gewerbegerichten anfjeschlossen.
Neben den Gewerbegerichten waren die Fabrik- und Gc-
Werbeinspektoren berufene Gutachter, weil denselben die Be*
Ziehungen von Arbeitern und Unternehmern, die Arbeitszustände
überhaupt bekannt, weil sie ferner die Arbeiterbewegungen über-
aupt , niclit blofs diejenigen kennen lernen, bei welchen Aus-
tclircitungcn vorkommen. Die vorlicj:^enclen Berichte derselben,
die schon aus zeitlichen Gründen ohne jede Rücksicht auf die
Vorlage vcrfafst und seit Jahren veröffentlicht worden sintl, daher
auch der Kritik der (\'ffentlichkeit ausgesetzt waren, ergeben
aber, dafs Ausschreitungen bei Arbeiterbewegungen, so st.itthch
sich deren Zusammenstellung für das ganze Deutsche Reich für eine
bis 1H89 zurückreichende Zeit ausnehmen mag — soweit geht die
Denkschrift zurück zu den Ausnahmen gehören.
Das Reich besitzt fiir Erhebung von Arbeitsverhaltnissen femer
eine eigene Kommission für Arbeiterstatistik, und es wäre
daher auch leicht möglich gewesen, die Eindrüdce, welche sich aus
den Berichten der Fabrikin^ktoren aufdrangen, von derselben in
jenem geordneten Ver&hren nachprüfen zu lassen, auf Grund dessen
diese Kommisaon schon mit Erfo^ eine Reihe von Ermittelungen
angestellt hat, auf Grund desselben Verfiüirens, das auch in anderen
Ländern erprobt und vor allem in England von jeher angewendet
worden st Dabei hätten allerdings auch die Ursachen der Aus-
sei! reitungen zur Sprache kommen müssen, das Verhalten der Unter-
nehmer, die Zu- und Mifsstände in gewerblichen Unternehmuf^;en,
das Verhalten des flottanten Teils der Arbeiterkoalitionen, dem
von Sachkundigen die Ausschreitungen hauptsächlich zugeschrieben
werden, des ferneren das Verhalten der „Arbcitswilhgen" : es hätte
sich nicht um^^ehen lassen, die Provenienz der bei Ausschreitungen
beteiligten Arbeiter zu prüfen, wobei schon bei obertläcliücher Bc-
traciitung in die Aii^an fällt, dafs der grölscre Teil derselben auf Arbciter-
kategorieen fällt, die aus ländlichen Bezirken stammen, "^wie
zumeist die Maurer], ja teilweise aus kulturell ganz besonders ver-
nachlässigten Bezirken, die auch sonst eine höhere Deliktsfrcijucnz
-aufweisen. Der Ausscheidung derjenigen Ursachen von Roheits-
exzessen, wekhe mit der Arbeiterbewegung gar nichts zu thun haben,
irdche in den Berichten der Staatsanwaltschaften vollständig vemach-
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Theod»r jLoewenfeldt
lassifi^t worden, miifste die erfordcriiclie Aufmerksamkeit zugewendet
werden. Die Konunission hätte nicht blofs Zeuj.jen und Sach\ erstäiidi^e
aus den Kreisen der Beteih^ten und aus unbctciH<];^tcn Kreisen, insbe-
sondere aus \v i s s e n s c Ii a i 1 1 i c h e n und technischen Berufen, zu ver-
nehmen, sotidern vor allem die ^geschichtlichen Urkunden der Ar-
beiterbewcj^ung zu sammeln; die FrotoküUe der Arbeiterkongresse, ihre
Statistiken, ihre Rechnungsergebnisse, ihre gedruckten Ordnungen,
insbesondere ihre Strikereglements; ihre Arbeiten in&chen des
Arbeiterschutzes, ihre den Behörden eingereichten Petitionen und zu
deren Ergänzung die Berichte der Behörden der Unfiülverstcherung
und der Krankenversicherung. Des ferneren die auf die Arbeiterbewe^
gungen bezüglichen Urkunden derUnternehmerpartei, die Statuten
der Arbeitgeberkoalitionen, ihre Arbeitsnachweisr^lements, die
Formulare der Arbeiterentlassung und der schwarzen Listen, ihre Er-
klärungen und Petitionen in Sachen des Arbeitsnachweises. Es wäre
weiter festzustellen ihr Verhalten in Sachen des Arbeiterschutze^
insbesondere gegenüber den Behörden; die Statistik der Untcr^
nehmerdelikte in Sachen des Arbeiterschut/cs ; ihr Verhalten zu den
Organisationen der Arbeiter in Zeiten des Friedens und bei Strikes
und Aussperrun|Ten ; das Verfahren bei Heranziehen von Ersatzkräftea
für strikende und aus^^esperrtc Arl)eiter, insliesondcro das rro/.ent-
verhaltnis ausländischer Arbeiter, die Merknnfl dieser letzteren,
ihre Kultur- insbesondere Konsumverhältnissc, Srf- hall ig Weit, Binncn-
und Ruckwanderun^^^en derselben, ihr Anteil an TAlikten; ihre ge-
werbsniälsii^'c .\usl)ilduni^. Des ferneren l'rsachcn, Ziele, Verlauf,
Kriolge, Kosten, insl)esondere die \ erluste an Arbeitstai^en bei
Strikebewegungen überhaupt richtige Strikestatistik und Strike-
detiktastatistik ; die Hebung des V^erhandlungsprinzips durch
Arbeiter und Unternehmer, Arbeiterkoalitionen uimI Untomehmerr
koalitionen ; der Anteil der erstehen und der letzteren an friedlichen
Verhandlungen und die Verkehrsformen beider Parteien bei den
letzteren. Weiter Intervention und Nichtintervention der Behörden
') Im Jalirc 1897 fand bei 578 Strikt-s «in Ausfall von l' * Millionen Arlaits-
tagen statt. Das Jahr hat bei 6—7 Millionen Industriearbeitern iJioo— 2000 Mil-
lionen Arbeitstage. Ein einsiger neuer Feiertag, der angeordnet wird, bewirkt
mit dem Vencicht avf 6—7 Millionen Arbeitartageni einen gröfsem AnsfaU, als «iint>
liebe Strika. Die AibeitskMigkeit von nnr 300000 nnvcndiuldet itdlenkMen A>-
Iwitem bewirkt einen AusfaU ^von 60 Millionen Arbcilitagen (Soc. Praxis 189S
S. 1307).
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Ko»Mrtci(iMw;ht md Simfredit.
S49
im friedlichen und im streiti^ren Verkehr zwischen den l'nter-
nehmern und Arbeitern und ihr \'erhalten bei Ausschreitungen.
Vcrgleicliende Krhebungen der einzehien bei Ausschrcitunfjen vor-
kommenden Gattungen \c)n DeUkten mit dem X'orkommcn der-
selben Delikte bei anderen ]k'\ ölkerungsklassen. X'ergleichende Er-
mittelung der nach gehendem Rechte straflosen Arbeiterausschrei-
tungeu im Hinblicke auf das Vorkommen derselben straflosen Aus-
schreitungen bei anderen Bcvölkerungsklassen.
Diese Erhebungen würden allerdings eine bei weitem schwierigere
und umfassendere Arbeit, als die in der Denkschrift niedergelegte
darstellen; sie würden aber eine ungleich verlässigere Grund*
hge für die Beantwortung der vorliegenden Gesetzgebungsfragen
bieten ab die M^enkschrift". Die letztere hat in* und aufserhalb
des Reichstags einen derart schlechten Eindruck gemacht, da(s die
Vertreter der R^ierung sie zu desavouieren versuchten. \yährend
dieselbe ursprünglich eine „(jnindlage" für die Verhandlungen sein
sollte, wurde spater erklart, sie sei überhaupt „keine Begründung der
Vorlage, sondern solle nur „ein allgemeines Bild der Arbeiterbewegung^
geben. ^) Die Erklärung, dass die Denkschrift ein „Bild der Ar-
beiterbewegung" bietet« ist gewUs ungemein bezeichnend für
die Auffassung, die in gewissen Kreisen über die Arbeiterbewegung
herrscht. Was würde man wohl sagen, wenn eine Zusammen-
stcllutig aller studentischen Kohlu-itsdelikte und l'nfiiL,^sreate, welche
im Laufe von zt hn lahri ii in Deutschland sich ereit/iu t habt-n, als
„ein Bikl iler l in\ ersitat>i>L\vegung" «xler wenn eine Zusammen-
stellung der X'erurteilungen wegen betrüget isclien Hankerutts, wegen
Betrugs, rrkundenfälschung , wegen unlauteren Wettbewerbes,
Lebensmittel- und sonstigen W arenläischung , Zollbetrugereien,
wegen Vergehens wider das Arbeiterschutzgesetz als ein „Bild tler
Entwicklung von Handel und Industrie" ausgegeben würde ? Derartige
Denkschriften würden ja gewib ebenfalls sehr stattlich ausfallen.
Noch seltsamer als das angebliche ,3üd der Arbeiterbewegung"
ist die Statistik der Strikevei^rehen in der Begründung der Vorlage.
Sieteüt ein&ch die Zahlen der Verurteilungen aus § 153 mit, ohne
anzugeben, wie sich die Zahlen zur Zahl der an Strikes beteUigten
Personen verhalten. Letzteres hat einen sehr einfachen Grund.
Eine amtliche Strikestatistik für das Deutsche Reich,hat — abgesehen
*) VgL die Rede des StMtssekfctSrs der Jaatis Nicberding äm 20. Juni 1899.
Stca. Ber. m. a. O. S. 2675/4; des Staatssekretin des Innern am at. Juni 1899, S. 2617.
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550
Theodor Loewenfeld,
von einer höchst dilettantischen ungenügenden, im Jahre 1890 zum
Zwecke der Begründung der damals vorgeschlagenen Kontraktbradi-
strafen hei^estellten Arbeit — bisher überhaupt nicht existierL Erst
mit dem i. Januar 1899 haben für das ganze Gebiet des deutschen
keiches die auf einem Bundesratsbeschlusse vom 16. Juni 1899 be-
ruhenden amtlichen Erhebungen über Strikes und Aussperrungen
ihren Anfiuig genommen, durch welche eine fortlaufende Statistik
der Kampfe zwischen Unternehmern und Arbeitern gieschaffen
werden solL Für die Begründung war diese amtliche Statistik
nidit mehr verwendbar. In den Reichstagsverhandlungen wurde
ohne Widerspruch seitens der Regierung, auf Grund der Gewerk-
schaftsstatistik festgestellt, wie sich die Zahl der Verurteilungen
aus § 153 y.yxv Zahl der an Strikes und Aussperrui^n Beteiligten
in der Zeit stellt, mit welcher die Begründung rechnet, nämlich in
den Jahren 1S92 — 1897. Während dieser Zeit beteiligten sich an
Strikes 235675 Arbeiter. Davon wurden auf Grund von § 153
verurteilt: 758 == 3,6 Prozent, ein Prozentsatz, welcher weit unter
demjcniiren der Beteiligung der strafmündigen Bevölkerui^ des Reichs
an der ( iesamt/ahl der Delikte bleibt.') Aber auch, wenn man
ledii;Iich die miti^eteilten Zahlen der Verurteilungjen nach § 153
G.(^. ins Auge fafst, ergiebt sich das Gegenteil dessen, was diese
Zahlen beweisen sollen, sobald man hinter das willkürlich ge-
wählte Anfangsjahr 1892 zurückgeht und die Jahre 1889 — 1893 in
die Rechnung stellt. Dann crgiebt sich, dafs die X'erurteilungszahl
des Jahres 1890 seither n i c h t mehr erreicht worden ist trotz
der grofsen Zunahme der Zahl der industriellen Arbeiter. fc!s ergiebt
sich ferner, wie Tön nies nacliweist, dafs überhaupt. ..soweit an den
Vergehungen gegen den eigentlichen Slrikeparagraphen mefsbar. das
Betragen der industriellen Arbeiter hinsichtlich des Koalitionszwanges
sich erheblich gebessert hat".*) Mit Recht ist her\'orge hoben
worden, ilals die Kriminalstatistik der Strikeverirehen noch aus
einem anderen tirundc nichts oder <las Gegenteil dessen beweist,
was sie beweisen soll. •''1 Sie beweist, dafs auf ( irund des geltenden
Rechtes die Verurteilung in zahlreichen Fällen erfolgte, also mc^lich
*i Vgl. Sten. Ber. S. 2650.
-) Professor Ferdinand Tön&ies in Nr. 5 der „sotialen Pnuds" tocd 3. Nor.
1899, S. 106 ff. bes. S. 107.
*) Professor Dr. R. v. Lilientbal in Nr. 21 der deutschen Jnristenzcituns
Tom t. Not. 1899 S. 435.
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f
XoalitkMMKeht und Stnfreeht
war. Sic hat gar keine Beziehung zu Fällen angeblicher Aus-
schreitungen, in welchen keine Verurteilung oder nicht einmal eine
Anklage erfolgen konnte. Denn diese Fälle erscheinen in der
Kriminalstatistik nicht. Auch die sorgfaltigsten statistischen Er*
hebungen können in dieser Beziehung kein Material bringen, so-
lange nicht alle doMlnen Strikefalle daraufhin untersii^t würden,
•inwieweit das dabei von den Arbeitern eingeschlagene Verfahren
nach irgendwelchen noch nicht vorhandenen Strafgesetzen
Strafe verdient Dabei müfste aber der Arbeit des Statistikers ein
Material zu Grunde liegen, das erheblich zuverlässij^^er wäre, als das
derzeit in der Denkschrift vorliegende. Es liegt auf der Hand, dafs
dies iibcrhau])t keine Auft^^abe der Kriminalstatistik ist. Darum ist
alle Berufung auf die letztere einerseits nutzlos für die Freunde der
Vorlage, andrerseits gegen sie beweisend.
Die Begründung versucht, eine Zunahme der Verbrechen
und VY^gchen gegen die Person (Beleidigungen, Körpcr\'erletzungcn,
' Nötigungen, Bedrohungen) für die Behauptung einer angeblichen
Zunahme von Strikevergehen und Strikeverbreciien zu benützen.
Dieser X'ersuch steht in der Luft, da die Begründung selbst angicbt,
dafs die Statistik der nach gemeinem Strafrechte erfolgten
\'erurteilungen bisher eine Ausscheidung eigentliclier Suikereate
nicht vorgenommen hat Vergleicht man aber die Zahlen dieser
Kriminalstatistik mit einander einerseits und mit den durch die
Wissenschaft bisher festgestellten Bewegungen der Strikefrequenz
fiir die gleiche Zeit, so cigiebt sich, dals die Zunahme der Ver-
urteüui^en am stärksten ist während der geringsten Strikebewegung,
während welcher auch die Verurteilungen aus § 153 G.O. die ge-
ringste Zahl aufweisen, und dals die Zahlen der Statistik der Ver-
brechen gegen die Person sich vermindern zu einer Zeit „zu welcher
die Strikewogen am höchsten gingen".^) Des weiteren ergiebt
eine Untersuchung dieser allgemeinen Verbrechensstatistik nach
geographischen Bezirken, dals die Zahlen der Venirtdlui^n in
hochindustriellen Bezirken, in den Bezirken mit der stärksten
industriellen Bevölkerung, niedriger sind als in den überwiegend
agrarischen Gebieten, in welchen die Industrie am wenigsten
entwickelt ist, in welchen aber auch die Koalitionen der Arbeiter und
deren Disziplinierung die geringsten Fortschritte aufweisen und dals
diese letzteren Bezirke inbezug auf die Belastung dtirch diese
<) Tönnies L c. S. 108.
Afdav für Ml. GcMtic«baag o. Statbtik. XIV. 3^
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I
Kriminalstalistik gerade an der Spitze stehen. Das sind That-
-sachen, welche die Schlüsse der Denkschrift aus dem Zunehmen
-der Zahlen der KriminalsUtistik inbezug auf das Verhalten der ge-
•wcrtiMieti Arbeiter in das Gegeoteil verkehren.
Seither habe» Veröffentlichungen duier amtlichen Strikestatistik
.iur das ganze Deutsche Reich begonnen; ') dieselben bezeichnen sich
indessen selbst als nur provisorisch und deuten Fehlerquellen an»
welche mehrfach durch die Kritik bestätigt worden sind. Insbe-
sondere sind erhebliche Auslassungen inbezug auf die Zahl der
.Strikes und der bei solchen beteiligten Personen festgestellt worden.
.Man hat den Versuch gemacht» aus dieser Statistik eine Zunahme
von Kontraktbrtichen nachzuweisen. Die Vorlage hat zwar
die Vorschläge von 1890 inbezug auf die Bestrafung des
Kontraktbruches nicht offen wieder au%aiommen; sie strebt
dieselbe aber, wie noch zu zeigen ist, auf verstecktem Wege
an. Darum ist von Bedeutung, dafs auch diese Kontraktbruch-
statistik schon wegen der Mangelhaftigkeit der Krmittlungen,
die ihr zu drunde liegen, als verlässig nicht betrachtet werden
kann. l".s gilt von ihr alles das, was ich vor g Jahren gegenüber den
damaligen X'ersuchen, die Xotweruiigkeit einer Bestrafung des
Kontrakthruchcs statistisch zu beweisen, ausgeführt habe. Die
angeblicluMi Kontraktbruche der Arbeiter erweisen sich, wenn sie
gerichtlich geprüft werden, wozu das Gewerbegericht Veran-
lassung hat, nicht selten als Kontraktbrüche der Unternehmer;
•weiter müfste, um eine derartige Statistik der Vertragsverletzungen
.der gewerblichen Arbeiter zu würdigen, der statistische Stand der
Vertragstreue in der Bevölkerung überhaupt beleuchtet werden, wo-
■för die Justizstatistiken eine Grundlage bieten; und nur dann, wenn
-die Arbeiter sich zu ihrem Nachteile von der übrigen Bevölkerung,
ind>esondere den höheren Klassen derselben, unterscheiden würden
auf Grund einer Prüfung, welche die Umstände der einzelnen Fälle
mit ins Auge fassen müfste, könnten gesetzgeberische Schlüsse
gegen die Arbeiter gezogen werden. Die Verhandlungen der Ge-
Averbcgcrichtc bieten mehr Belege für Kontraktbrüche der gewerb-
lichen Unternehmer als für diejenigen der gewerblichen Arbeiter,
obwohl die Ansprüche der Arbeitgeber aus Kontraktbrüchen durch
■§ 124 b (i.O. — das Ergebnis eines, einjährigen Kampfes — von
Vit^rtrljahrshcftc zur Statistik des l)out>chcn Reiches, lieralUgcgeben von
kabtrUchcD Statistischen Amt II. u. III. Heft 1S99..
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KpaBtionmdit and StnfKdit
allen proaessualen Schwierigkeiten des gewöhnlichen Schadlos»
CTSatzanspruches befreit worden sind.
YL Wir haben im folgenden, nachdem wir bisher einzelne
Bestimmungen der Vorlage mit dem geltenden Rechte
und seiner Anwendung verglichen, den Gesetzent-
wurf als Ganzes zu besprechen.
I. Die Vorlage soll nicht lediglich einen Ersatz für § 153
G.O. bilden, welcher in § 11 derselben aufgehoben wird. Die Be»
gründung S. 8 sagt, es handle sich nicht „um ein besonderes Ge»
werberecht, sondern über das Gebiet der Gewerbeordnung hinaus-
gehend um das allgemeine Recht, Krwcrb und Arbeit da zu
suchen oder zu geben, wo und wie es jeder nach eigener Knt-
schlielsung am besten vermag, ohne zu Anderer V orteil durch Zwang
oder Einschüchterung sich an der liethaligung seines Kiitschlusses
gehindert zu sehen. Dem entspricht es, die X'orschriftcn zum Schutze
jenes Rechtes aus der Verbindung mit der Gewerbeordnung zu
lösen, damit daran, soweit ein Bedürfnis vorliegt, auch solche Be-
triebe teilhaben können, die den Bestimmungen der Gewerbeordnung
nicht unterliegen. Der Entwurf stellt sicii daher nicht als eine
Novelle zur Gewerbeordnung dar, sondern als ein Gesetz von allge-
meinerer Geltung, das zugleich die Vorschriften des i; 133 (j.O.
•zu ersetzen bestimmt ist." Mit dieser Erklärung steht die Bezeicii-
nung des Ciesetzentwurfes als „Enlwurl euies Gesetzes zum .Schutze
des gewerblichen Arbeitsverhältnisses" anscheinend in Wider-
spruch. Der Widerspruch wird jedoch durch § 10 der Vorlage
und die Begründung dazu beseitigt Durch die „allgemeinere"
•Geltung sollte vor allem ermöglicht werden, die Strafvorscfafiften
der Vorlage auch auf die Arbeiter anzuwenden, welche in gewissen
Reichs-, Staats- und Giemeinde- und Eisenbahnbetrieben beschäftigt
sind, bezüglich deren als zweifelhaft erachtet wurde, ob und wie
weit dieselben unter die Gewerbeordnung fallen. Im übrigen werden
in § 10 Z. I als Gegenstande der Vorschriften dieses Gesetzes er-
klärt: „Arbeits- und Dienstverhaltnisse, die unter § 152 G.O.
.fisdlen". Sie sollen hienach keine Anwendung finden z. B. auf
.die Arbeits- und Dienstverhältnisse des ländlichen und stadtischen
Gesindes, wohL aus dem Grunde, weil man der Ansicht ist, dafs
.Dienstboten überhaupt des Koalitionsrechtes entbehren, eine An-
nahme;, die indessen nicht durchgehends richtig sein dürfte. Nach
bayerischem Rechte z.. B. ist ein solches Verbot weder aus dem
36*.
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S54
Theodor Loewenfcld,
Pol i/ei recht überhaupt noch insbesondere aus dem Vereinsrechte
zu entnehmen.
2. §. 152 G.O. wird durch den Kntwurf nicht berührt. Die
Frage, ob etwa durch § 54 B.(t.H. die Ik\stimmiin}:;cn des Abs. II
von § 152 eine Aenderunj^ erfahren haben, ist zu verneinen. Die
in der Denkschrift S. 70 ff., in der Jk-^ründunjj^ S. 7 heliandcltc
Rechtssprechun<^ nimmt an, dafs eine Arbeitseinstelhinj:^ nicht unter
§ 152 G.O. fäUt, welche nicht eine „Hecinllussunj^ der Löhne und
konkreten Arbeitsbedingungen bezweckt, sondern andere Ziele ver-
folgt, z. B. die Entlassung; nicht orj^anisierter Arbeiter, mifslicbiger
Werkmeister und Betriebsbeamter, die Wiedereinstellung gemafs-
regelter Arbeiter, die Benützung oder Nichtbenützung eines be-
stimmten Arbeitsnachweises.*' Die Kämpfe um solche Ziele sollen
nicht unter den Begriff der „Erlangung günstigerer Lohn- und
Arbeitsbedingungen" fidlen und deswegen ist nach der Darstellung
der Denkschrift und der Begründung in einer Reihe von Fällen
eine Verurteilung aus § 153 unm^lich gewesen , da es sidi
gerade um solche Fälle von „Kraftproben und um Eingriffe in die
Selbständigkeit der Betriebsleitung" gehandelt habe.
Diese Auffassung verkennt den Begriff der „Arbeitsbedingungen"
vollkommen. VgL oben S. 475, 530. Wenn aber in der That diese
Dinge nicht unter §152 G.O. fallen würden, so könnten hierauf
bezügliche Vereinigungen und \'erabredungen der Arbeiter den
Schutz des § 54 B.G.B, und des Gesellschaftsrechtes des B.G.B,
beanspruchen, ohne Rücksicht auf die allgemeine l'rage, oh 152
der (j.O. durch das B.G.B, lierührt worden ist oder nicht. Auch liie
Unternehmerkoalition hat vielfacli mit derarti^^en angeblich nicht unter
den Begriff der Erlangung „günstiger Arbeitsbedingungen" fallenden
Zielen zu thun; bekanntlich sind Strikcs sehr häufig durch die
Forderung vcranlafst worden, dafs .Arbeiter aus ih rem Fachver-
cin austreten; der in der Denkschrift mehrfach erwähnte Strike
von Torgelow wurde dadurch veranlafst, dafs Unternehmer, welche
beim Gewerbegericfate sich verpflichtet hatten, .sich um den Fach»
verein der Arbeiter nicht mehr zu kümmern» dieser Verpflichtung
zuwider den Arbeitern längere Zeit hindurch die Unterzeichnung
eines Reverses abnötigten, worin sich dieselben verpflichteten, aus
dem Fachverein auszutreten. Die Zugehörigkeit zu einer Gre-
werkschaft wird unter allerlei beschimpfenden Umschreibungen
zu den Gründen gerechnet, aus welchen nach den Statuten der von
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Koaliüonsrecht und Stimfirecht
55S
den Arbeitgebern gegründeten Arbeitsnachweisanstalten Arbeitem
die Aufoahme nicht nur verweigert, sondern überhaupt das Er*
langen von Arbeit unmöglich gemacht werden soU. Der Arbeits-
nachweis des Metallarbeitgeberverbandes zu Berlin hat es, wie oben
S. 526 gezeigt» fertig gelMracht, einen Arbeiter blofs deswegen aus
Dcut^^rliLiiid ZU vertreiben, weil er einen Kranz mit roter Schleife
auf den Gräbern der Märzgefallenen zu Berlin niedergelegt hatte.
Das sind ebenfalls Dinge, welche mit der „Erlangung günstiger
Arbeitiibedin^un<^en" nach der Anschauung der Begründung dieser
Vorlaj^e nichts zu thun haben können, auf die sich § 152 G.O.
daher nicht bezieht. Dabei ist ein erheblicher Unterschied zwischen
den „Kraftijroben" der Arbeiter und denjcni^^en der Unternehmer
vorhanden. Die Arbeiter haben niemals \ erlan^^ , dafs die Unter-
nehmer überhaupt keiner Koalition an^eliören oder diejenii^'cn,
der sie an^eliören, verlassen. Kin dcrarti}.;es \'erlanj^fen würde trotz
aller Behauptungen über angeblichen „Terrorismus" der Arbeiter
dnfiwh als wahnsinnig erachtet werden. Seitens der Unternehmer
wird diese Fordernis alltaglich an Arbeiter gestellt. In diesen
1 agen eist haben die Bauunternehmer in Frankfurt a/M. die Aus-
sperrung von 2500 Bauarbeitern beschlossen; weiter beschäftigt
sollen nur diejenigen weiden, welche unterschriftlich ^ch ver-
pflichten, ihrer Organisation nicht mehr anzugehören.
Wenn aber derartige Verabredungen der Arbeiter oder Unter-
nehmer nicht unter § 152 G.O. (allen und auch nicht etwa wegen Ver-
stoßes gegen die guten Sitten ungültig sind (was inbezug auf den zuletzt
erwähnten Thatbestand behauptet werden kann) geniefsen dieselben
ab I. Januar I90O Klage- und Kinredeschutz auf Grund von § 54
B.GJi., ebenso wie solcher Schutz dann auch den Kartellen der
Unternehmer als Produzenten und Händler und den Berufsvereinen
der Händler und Produzenten nicht \ersagt werden kann, soweit
sie bisher rcchthch un;^eschützt waren. § IS3 G.O. vcrfol^'t den
Zweck, den Koalitions/.wang , welchen § 152 durch zivilrechtliciie
Normen ausschliefst, auch durch strafrechtliche Normen fern-
zuhalten. Sobald das Zivilrecht einen Koalitionszwanj^ zuläfst,
welchen bisiier die (iewerbeordnun^ niciit kannte lallt auch das
gesetzgeberische Motiv hinweg, welches für die Setzung der Aus-
nahmebestimmungen des § 153 niafsgcbend war. Das gemeine
Straürecht kennt keine Strafe gegen den Gläubiger, welcher seinen
Schuldner durch Drohung, Ehrverletzung oder Verrufeerfclärung zur
Erfüllung seiner Pflicht zu zwingen unteminunt Auch die Gewerbe-
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556
Theodor LoewenfeH,
ordätli^ Würde eine Strafe für solchen Zwanfj nicht eii^diihrt haben,
wenn sie überhaupt ein Recht, in Arbeiter-Koalitionssachen zu
zmn^en, anerkannt hätte. Die Vorlage soll in erster Linie den
§ 153 ersetzen. Nach § i soll insbesondere derjenige bestraft wer-
den, welcher einen anderen zum \'crhlciben in einer Koalition
zwinp^cn will. Die Rcr^ründung S. 11 sagt: Die Xöti'j^un«^ zur
Befoli^uiig einer Verabredung braucht nicht besonders verboten
zu werden , weil auch dieser Thatbestand durch das X'erbot der
Nötigung zur Teilnahme gedeckt ist." Kann die Befolgung der
Koalitionsverabredung zivilrechtlich eingeklagt und durch zivilrecht-
üche Mittel erzwungen werden, so kann nicht die „Drohung",
welche die EffiUlung'eine Verpflichtung erzwingen will, also
auf einen rechtmäfsigen Zweck gerichtet ist und sich keiner
durch das Strafgesetz verbotener Mittel (§ 240} bedient, unter Strafe
gestellt werden. Eben das Gleiche gilt in diesem Falle von der
Verru&erklärung und anderen durch das Stra%esetzbuch nicht
verbotenen Zwai^anitteln. Wenn und soweit es kraft Zivilredites
nicht Sache des „freien Willens^ eines Koalitionsteilnehmers
ist, ob er in einer Koalition verbleiben will oder nicht, kann ein
Schutz des freien Willens durch ein Ausnahmestraf recht
nicht verlangt werden.
3. Das ö f f e ntliche Vereinsrecht verbleibt zwar wie bisher
dem Landesrecht, wird aber durch die X'orlage mit reichsrechtlichen
Strafbestimmungen sehr gefälirlichcr Art ausgestattet. Der Wunsch
nach einem Rcichsvcrcinsgcsctzc wird hiermit in unerwarteter Weise
erfüllt. Während § 153 der (i.O. nur von ra b r e d u n ge n spricht,
zu welchen oder zu deren Befolgung kein Zwang stattfinden darf, spricht
§ I der Vorlage von ,,\' e r e i n i g u n ge n oder Verabredungen";
§ I bezieht sich al)er nicht blofs auf die V'crcinigungen und \'er-
abredungen, welche die Erlangung ;^'ünstiger Lohn- und Arbeits-
bedingungen in konkreten Fällen bezwecken, sondern auf Ver-
einigungen und Voabredungen, welche überhaupt „eine Einwirkung
auf die Arbeits- oder LohnverhSltnisse" bezwecken, IMe Arbeits-
und Lohnverhältnisse müssen nicht die Verhältnisse der sich Ver-
abredenden oder der Mitglieder der Vereinigung, nicht konkrete
„Arbeits- oder Lohnverhältnisse" der Kämpfenden sein. Begründung
S.g. Vereinigungen, welche sich nicht mit konkreten Arbdts-
und Lohnverhaltnissen be&ssen, sind aber nach der Praxis des gelten-
den, insbesondere des preulsischen Vereinsrechtes „politische"
Vereine.
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Koalitionsrecht und Strafrecbt.
*
Die Vorlage trifft daher politische Verdiie ebensogut wie
die den Beduigungen des § 152 G.O. entsprechende ArbeitetkoaHt
tionai. Die Diskuteion ttber sozialpolitische Gegenstände, so*
fem es sich handalt um Arbeits- oder LbhnverhSltnisse, hat nicht
mehr lediglich die Bestimmungen der Landesvereinsgesetse ta be*
achten, sondern wird nunmehr auch durch die Vorlage zum Schutze
des gewerblidien Arbeitsverhältnisses bedroht
Zu beachten ist dabei die Ausle^ng, welche bisher von Vei>
waltungsbehotden und Gerichten dem Be^^^ifTe des Zweckes einer
Vereinigung gegeben wurde (vgl. oben S. 481), wonach ein ein-
zelner einmaliger Vortrag, ein X'ortragteil einem Verein im Sinne
des Vereinsgesetzes zu einem „Zwecke" verhilft. Hiermit ist jeder
Verein, in welchem einmal ein auf allgemeine Lohn- oder Arbeits-
verhältnisse bezüglicher Vortrag gehalten wird, den Strafdrohungen
lier Vorlage ausgesetzt. Jede Erörterui^ wenn sie nicht rein histo-
risch oder theoretisch , hat den Zweck, fiir ein bestimmtes praktisches
Ziel zu werben, Anhänger festzuhalten, Gegner oder Gleichgültige
•lieranzuziehen , also zur „Teilnahme'" an der eigenen Vereinigung
zu l)cstimiTiC!i, \on der „Teilnahme" an ^et^nerischcn Vereinigungen
abzuhalten. W ie leicht im jioUtischcn Kampfe die energische \'er-
tretung des eigenen Standpunktes, die Hefehdun^^ des gegnerischen
zu Khrvcrletzungen und X'errufserklärungen fiihrt, zeigt die tä>^dirhe
Erfahrung, ja beweisen sogar die Namen, welche die pohtischen
und sozialpolitischen Parteien ^ich selbst und ihren (iegnern traditio-
nell beilegen und die Erklärungen der Partei] jrogramme. Die ,,staats-
erhaltendcn Parteien", die Ordnungspai teien, die „Patrioten" be-
deuten, wie die antiken Parteibezeichnungen der ItQiazoi und der
oplimatcs, nicht blofs eine lobende Scibstbezeichnung, sondern
zugleich ein Verrufserklärung der (legner, auch wenn diese nicht
ausdrücklich als Reichsfcii de, l Itramontane u. s. w. bezeichnet werden.
In der Begründung wird diese Seite des „Schutzes des gewerb-
lichen Arbeitsverhältnisses" nicht erwähnt, für die Rechtsanwendung
kommt aber lediglich das Gesetz inbetracht, dessen allgemeine
Fassung vollkommen genügt, um das Vereinsrecht milsliebiger Par-
teien in höchste Ge&hr zu bringen. Zu verweisen ist hier auf die
^ 5, 8 und f6 des preufsischen Vereinsgesetzes, welche Polizeibe-
horden und Gerichte zur Schlielsung eines Vereines berechtigen,
Wenn in einer Vereinsversammlung eine Aufforderung oder Anrei-
zung zu strafbaren Handlungen sich ereignet — umsomehr, wenn
nicht blols aufgefordert, sondern die strafbare Handlung selbst ver-
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55«
• Theodor Loewenfeld,
Übt wird. In Bayern würde diese Ausdehnung des Schutzes des
gewerblichen Arbeitsverhältnisses übrigens noch weiter gehen, da
durch die S. 481 aufgeführten oberstrichterlichen Entscheidungen die
sozialdemokratische Partei als Verein erklärt ist, welcher die Be-
schäftigung mit Fragen des gewerblichen Arbcits\crhältnisscs zum
Zwecke hat und die Gewerkschaftsbewegung nur als Mittel für
seinen WTeinszweck behandelt. Dadurch würde die X'orlage zum
Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses in diesem Bundes-
staate — wie in jedem anderen, wo sich die Rechtssprechung der
bayrischen oberstrichterlichen Auffassung anschliefst — in gewissem
Umfange eine W'iederaufnahme sozialistengesetzlicher Bestimmungen
bedeuten. Die Hrwägungen, aus welchen die sozialdemokratische
Partei durch flie ba\ rische Recht.ssprechung als \'erein erklärt wortlcn
ist, treffen übrigens auf jede politische Partei zu; auch kann sich
keine politische Partei die Beschäftigung mit sozialpoliti>ciien Gegen-
ständen, insbesondere mit den X'erhällnissen der arbeitenden Be-
völkerung und damit den „Zweck" einer ,Jiinwirkung auf die Ar-
beits- und Lohnverhältnisse" versagen. Die Erörterung der Vor-
lage selbst fallt unter diesen Zweck.
4. Auch von der Vorlage gilt, was vom bisherigen § 153 ge-
golten hat: sie hat es nicht zu thun mit Handlungen, wddie nach
gemeinem Strafrecht verfolgbar, sondern mit Handlungen, die vom
Standpunkte dieses Strafipechtes aus für jedermann straflos sind und
auch in Zukunft straflos bleiben, strafk>s auch für Arbeiter, wenn es
sich nicht um Arbeits- und Lohnbedingungen handelt, ebenso wie fiir
Unternehmer, wenn etwa ihre Produktions- oder Kandelskartelle durch
Handlungen dieser Art gefordert oder gestört werden sollen. Da
wir mit Strikeausschrdtungen, auf die das gemeine Recht
anwendbar uns nicht zu befassen haben, so haben wir
mit den in der Denkschrift angeführten Fällen solcher Ausschrei-
tungen, dem groCsten Teile aller berichteten Fälle, uns nidit zu
be&ssen.
5. Aus dem Usherigen Rechte und der bisherigen Rechtsan-
wendung übernimmt die Vorlage die Begriffe des körperlichen
Zwanges, der Drohung, Ehrverletzung und Verrufiserklärung als
nnter Strafe gestellter Zwangsmittel; die Gefahr der ausdehnenden
Ausl^ung, welche die Unbestimmtheit dieser Begriffe mit sich
jDringt, wird durch die verschärften Strafdrohungen der Vorlage
erheblich gesteigert.
6. Diese Begriffe werden in der Vorige für gewisse Falle
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■
KtMÜtioiMredit nd Stnfredit ^^g
erweitert — Der Begriflf der „Drohung*' und der Vemi&erklärung
wird nach einer mehrfach zum Ausdrucke gekommenen Ansicht zu-
gleich verengert Die Verengerung wird gefunden in § 4 Abs. 3,
soferne Drohung oder Verrufserklärung „im Sinne der §§ 1—3
nicht vorliegen soll, „wenn der Thäter eine Handlung vornimmt, zu
der er berechtigt ist" u. s. w. V^gl. oben S. 515, 516. Der Zweck
dieser Bestimmung ist nach den Motiven der Vorlage, die schwarzen
Listen der Unternehmer zu retten Wir haben bereits S. 532
nachgewiesen, dafs dieser löbliche Zweck durch § 4 Abs. 3 nicht
erreicht werden kann; die Technik des Gesetzgebers steht liier
nicht auf der Höhe seiner Absichten. Was § 4 Abs. 3 erlaubt,
war schon bisher erlaubt, da § 153 (i.O. auf das X'crhältnis der
koalierten Arbeiter zum Unternehmer überhaupt bei richtiger Ge-
setzesanwcndun^ nicht anwendbar war. Die Krlaubtiieit der Drohung
mit Arbeitseinstellung' hinderte ai)er nicht, dafs diese Drohun^s wenn
sie als Mittel zur Durchsetzung; eines Lohntarifs benützt wurde,
also als Mittel ini Lohnkauipfe, zum Thatbestandsmerkmal einer
Erpressung nach i; 253 G.O. wurde. Dabei wird es, wie weiter unten
S. 578 — 580 UDcli zu /.ci^fcn, auch in Zukunft sein Bewenden haben.
Dieser an^^eblichen V'eren^ernni; der liej^ritfe steht eine
mehrfache sehr erhebliche Erweiterung derselben gegenüber.
Eine „Druhunj^'" im Sinne des § 153 G.O. oder der §25 240,
253 St.G.B. wurde bisher als eine wörtliche oder thätliche A n -
kündi^mn;^' eines Uebels für die Zukunft ^'edacht. „Da eine Drohung
eine Ankündigung ist, so ist die Arbeitseinstellung u. s. w.
keine Drohung, bemerkt Jastrow ') treffend zu § 4 Abs. 3. In diesem
Sinne hat man denn auch bisher die „Drohung" ausnahmslos auf-
gefafst Die Vorlage erweitert den Begriff der Drohung in § 4
i^bs. 3, indem sie ihm auch die Zufügung von Nachteilen
tinterstellt l^ne Arbdtselnstdlung ist nach § 4 Abs. 3 nur dann keine
Drohung, wenn der Arbeiter befugterweise die Arbeit einstellt
oder die Arbeitseinstellung fortsetzt Auch die Motive S. 14, 15
wollen den Arbeitern nur dann nicht wegen Drohung oder Vcr-
ruüserklärung bestraft wissen, wenn er Mordnungsgemäfs'*
bestehende Arbeits- oder Dienstverhältnisse beendigt, und betonen
den „selbstverständlichen Vorbehalt der Einhaltung bedun-
gener Kündigungsfristen" Aus § 4 Abs. 3 wird daher die
Rechtsanwendui^ durch das bekannte argumentum a contrario ent-
') JahrbOehe^ für NatioMlflkoiiomie, HL Folge, 18. Bd., S, 75.
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560
Theodor Loew«vfeld,-
nehmen, dafs eine „Drohung" im Sinne der ßv? i — 3 vorliegt,
wenn eine Arbeitseinstellung unter K o n tra k t b ru c h erfolgt ist.
In ß 4 Abs. 3 hat somit die V^orlage die vom Reichstage 1891
abgekhnte Hcstrafung des Kontraktbruches wieder eingeführt; die
gegenwartige V^orlage unterscheidet sich von der im Jahre 1891
abgelehnten indessen wesentUcii dadurch, dafs jenem (ieselzes-
vorsclilage eine Zuchthausstrafe für Kontraktbruch unbekannt war.
Eine fernere Erweiternug des Begrififes liegt in Gestalt des
vielbes|)rochenen X'erbotes des Postenstehens in § 4 Abs. 2, die
S. 536 ff. bereits gewürdigt ist. Die Durchführung dieses Ver-
botes „würde eine erfolgreiche Arbeitseinstellung einfach un-
möglich machen".') Hier ist noch zu erwähnen, dafs das Posten-
stehen nicht blofs unentbehrlich, weil ohne solches jede Kommuni-
kation mit den Arbeitswilligen und damit die Möglichkeit einer
erfolgreichen Koalition ausgeschlossen wird, sondern auch aus dem
Grunde, weil die Strikenden ohne Postenstehen nicht kontrollieren
können, ob diejenigen Arbeiter, welche ihre Strikeunterstützung
mit Rücksicht auf ihfen Anschluß an die Arbeiterkoalition erhalten,
•nicht trotzdem die Arbeit fortsetzen. Auch dies ist ohne „plan-
mäfsige Ueberwachung" nicht möglich. Die Begründung S. 13
^gt, eine Agitation zu Gunsten von Aibeiterkampfen könne auf
den dem gemeinen Gebrauch dienenden Verkehrsainlagen nicht g^
duldet werden. Zunächst ist „Ueberwachung" keine Agitation. Es
lälst sich aber auch nicht einsehen, warum die zum gemeinen Ge-
•brauch bestimmten Verkehrsanlagen nicht auch den Arbeitern
dienen sollen, warum sie nicht ebensogut wie andere Leute auf
andere auf der Straise warten und andere auf der Stralae an>
sprechen dürfen sollen. Die Begründung behauptet, die lieber-
wachung enthalte regelmäfsig „eine Beeinträchtigung des jedermann
zustehenden Rechtes auf ungestörte Benutzung von Stiaisen, Plätzen,
Häfen und Bahnhofeanlagen". Dieses „Recht'' wird bekanntlich ge-
rade in den verkehrsreichsten Hauptstädten des Reiches oft ohne
jede Not von ganz anderer Seite als von Arl>eitem auf das empfind-
lichste verletzt. Ich denke dabei nicht etwa an die Damen, die
durch Unterhaltung und Ansammlung vor Ladenauslagen den Ver>
kehr hemmen, da gewifs noch nie jemand auf den Ge-
danken gekommen ist, dafs sie deswegen ins Zuchthaus geschickt«
werden müfsten. G^[en wirkliche Verkehrsbehinderuf^en
Lilienthal in der dentiehen jfaristeucttui« IV. Nr, 31. S. 437.
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KoBlUionsraclit «nd Strafrecht
561
Igibt es 8tra(seBpolizeifiche Vorschriftea Dalk aber verkehrspolizei-
lichc Erwägungen Gef&ngnis- und Zuchthausstrafen g^en Arbeiter
beigründen sollen, gehört mit zu den merkwürdigsten Fiktionen
dieser „Begründung''. Was die . Gewaltthaten und gewaltthatigen
Ausschreitungen anlangt, welche anUUäich des Postenstehens sich
ereignen sollten, so genügt "zu ihrer Verfolgung, soweit sie wirklich
den von der Denkschrift behaupteten Charakter annehmen, das ge-
TneineStrafrecht vollkominen. Wenn man dieser Gefahr halber
dasPostenstehen, als wäre es selbst eine Ausschrotung, unter schwere
Strafe stellen will, während es eine iiir jedermann erlaubte Hand-
lung ist, so ist das gerade so logisch, als wenn man die „plan-
mälsige Ueberwachung", welche seitens der Polizei auf öffentlichen
Wegen u. s. w. geübt wird, deswegen abschaffen wollte, weil es
nicht selten vorkommt, dsSs von Organen der Polizei schwere Aus-
schreitungen begangen werden, welche bekanntlich längst in der
Presse zu einer ständigen „Schutz vor Schutzleuten" fordernden
Rubrik i:,'cführt haben.
Indessen ist zu zeij^cn. dals bei dem gewölinlichcn und ein-
fachen in § 4 Abs. 2 hcdrolitcn Postenstehen V'erkehrspolizei-
erwägungen garnicht in Betracht kommen können.
DasPostcnstchcn ist nämlich als„planmärsigeL'ebcrwncluing" durch
die Vorlage § 3 Abs. 2 bedroht, auch wenn eine V e r a l) r c d u n g
hierzu nicht vorlag, und auch, wenn nicht Mehrere, sondern nur
ein E i n ze 1 n e r Posten steht. Die Ueberwacliuiigsthätii,'keit braucht
"aber ferner selbstverständlich nicht im „Stehen" und ebensowenig
durch Aufenthalt auf der öffentlichen Strafse, auf öffentliclicn
Plätzen u. s. w. ausgeübt werden. »5 4 Abs. 2 verlangt als I hat-
1)estand nicht ein „Ueberwachen" auf der Strafse; es genügt ein
i/eberwachen von Strafsen, auch wenn diese völlig mensciienlccr
sind; es genügt eine Uel)er\vachung von dem Fenster eines Hauses
oder sonst \on dem hmern eines Hauses aus. Die Polizeipraxis,
welche eine Ueberwachungsthätigkeit, ein Postenstehen darin fand,
dafs strikende Arbeiter in einem Wirtshause salsen, und dieselben
als „Strikeposten" fortwies, findet durch § 4 Abs. 2 ihre gcsetz-
'geberische Sanktion. Verkehrs- und stralsenpolizeiliche Rück-
sichten können da offenbar nicht einmal als Vorwand mehr dienen.
Wenn in der That dagegen Mehrere auf der Strafse zu-
sammen Posten stehen, so ist dies nicht etwa einfaches Posten-
stehen, das nach § 4 Abs. 2 und § i regelmafsig „nur" mit Ge-
iangnb bis zu i Jahr und nur ausnahmsweise nach § 8 mit höheren
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Theodor Loewcnfeld,
GefangTii S.Strafen oder mit Zuchthaus bedroht ist ; solches Posten-
Stehen mehrerer auf der Stralse kann vielmehr «rcmärs § 7 als eine
„öffentliche Zusammenrottung" behandelt werden und ist dann als
solche mit Gefängnis bis zu 5 Jahren, an den Rädelsführern
mit Gefängnis nicht unter 3 Monaten zu bestrafen, unter X'orhchait der
härteren Strafe des § 8. Die Begründung S. 16 sagt, der Begriff der
„öffentlichen Zusammenrottung" in § 7 sei dem § 125 St.G.B. nachge-
bildet. Dies ist ein sehr bedenkliclier Irrtum des Verfassers der Be-
gründung, § 125 St.G.B. setzt voraus, dafs „sich eine .Mensch en-
menge ötl'entlich zusammenrottet"; § 7 der X'orlage setzt aber
nicht die Zusammenrottung einer Menschenmenge voraus, und
ist in der Tiiat nicht dem § 125 St.Ci.B., sondern dem i; 115 des-
selben nachgebildet. l l 5 bedroht die Tcihichmer an einer „öffent-
lichen Zusammenrottung", bei welciicr ein Widerstand gegen die
Staatsgewalt mit vereinigten Kräften begangen wird; diese Zu-
sammenrottung setzt nur eine Mehrheit von Menschen, nicht eine
Menschenmenge (wie die 116, 124 u. 125) voraus. Wie grofs
diese Mehrheit zur Annahme einer Zusammenrottung sein mu(s, ist
Sache des richterlichen Ermessens. Bei dem Widerstande gegen die
Staatsgewalt whrd eine grölscre Anzahl erforderlich sein, da die Zu-
sammenrottung geeignet sein soll, „gerade durch ihre Grö&e die
Begehung der Handlung den betreffenden Beamten gegenüber
durchzusetzen".^) Diese letztere Erwägung fallt bei dem Posten-
stehen weg, da ja die Möglichkeit einer „planmäfsigen lieber-
wachung" nach der Vorlage schon durch einen einzigen Strike-
posten erfüllt wird.
§ 7 bestraft aber, wie § 115 StG3., die blolse „Teilnahme^
an der Zusammenrottung. Teilnahme ist hier nicht im tech-
nischen Sinne (StGJB. § 4/) gemeint.^ Es ist daher nicht er^
forderlich, dais die Teilnehmer selbst Stiikeposten stehen. Es
geni^, wenn ^ch irgendwelche Personen den Strikeposten an-
schliefsen, wissend, dals dieselben Strikeposten stehen, wenn sie
bei denselben auch nur aus Neugierde oder um sich zu unterhalten
stehen bleiben.')
Bedroht ist femer in der Voiiage überall nicht blofe die voll-
*) *^^Pl><'nboff Cüniincmar zum St.G.B. § II5 Note 3.
*) Up penhoff zu § 115 Nr. la
') Oppenboff sn § 125 Nr. 7, Olshauscn Commcntar som StGS. n
§ IS5 Nr. a.
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Koftlitionsrecht und Strafrecbt.
563
endete und nicht blols die versuchte That, sondern schon das
„Unternehmen". Es muls daher auch zum Strilcepostenstehen
nicht einmal gekommen sein, um die Strafdrohungen der S§ 4
Abs. 2, 7 u. 8 zu verwirklichen, es genii^, wenn festgestellt wird,
dafs eine Vorbereitungshandlung vorliegt, z. B. da(s ein Zimmer
SU dem Zwecke gemietet worden ist, um von dessen
Fenster aus den Zugang zu einer Fabrik zu kon-
trollieren. Einen solchen Fall erwähnt die Denkschrift S. 49
als eine bei einem Porzellanarbcitcrausstande zu Altwasser
im Jahre 1895 vorj^ekommcnc Strikcpostcn - A u ss cii r e i t u n er ,
während S. 39 Fälle erwähnt werden , in welchen ausständige
Arbeiter als Strikepostcn in Wirtschaften und Spcise-
häuscr ^c^angen sind, um dort andere Arbeiter zur Arbeitsein-
stellung zu veranlassen.
Kiiie Erweiterung des Hegriflfes „körperlicher Zwang" enthält
§ 4 Abs. i: „dem körperlichen Zwange im Sinne der §§ i — 3 wird
die Beschädigung oder Vorenthaltung von Arbeitsgerät, Arbeits-
material, Arbeitserzeugnissen oder Kleidungsstücken gleich geachtet"
Professor von Lilienthal bemerkt, dals diese angeblich dem englischen
Rechte nachgebildete Bestimmung Ober das englische Recht weit
hinausgeht, weil sie die Bestrafung nicht davon abhangig macht, dafe
die „vorenthaltenen" Gegenstände Objekte des Eigentums oder Ge-
Inauchs der fraglichen Personen sind, so dals die StrafncMin des § 4
Abs. I eine Bedrohung der Sachsperre oder des Warenboykotts in
sfeh Schnelsen würde. Jedenfalls bedroht § 4 Abs. i denjenigen,
welcher einen Arbeiter am .Arbeiten dadurch hindert, dafs er ihm
zur Arbeit erforderliches Arbeitsmaterial oder Arbeitsgeräte oder
Arbeitsery.eugnisse vorenthält. Dagegen bedroht § 4 Abs. I nicht
als körperlicher Zwang die Vorenthaltung von Arbeitszeugnissen,
welche einen Arbeiter sehr erheblich am Arbeiten hindern kann,
indem sie an der Erlangung einer Arbeitsgelegenheit hindert. Nach
den Motiven ist ferner nur an die X'orcnthaltung von Arbeitsgerät oder
Arbeitsmaterial, welche durch Arbeiter gegenüber Arbeitern
verübt wird, gedacht. Der Fall der X'orcnthaltung von Arbeits-
material kommt aber nach der Darstellung zu S. Sl/f. häufig vor als
Koalitionszwang der l'nternelimer unter sich, indem Unter-
nehmer durch X'ertragsschlufs mit Materialliefcranten diese ver-
pflichten, einem sich nicht anschliefsenden Unternehmer das
zum Betriebe seines Gewerbes erfqrderlidie Material nicht zu liefem.
Diese Materialsperre ist zugleich ein Kampfmittel der 'Unter-
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Theodor Loewenfeld,
nehmer gegen die Arbeiter. Die einem Unternehiner durch die-
selbe zugefugte Schädigung geht jedenfalls weit hinaus über
den Schaden, der einem Arbeiter dadurch zugefugt wird, dals
ihm ein „Kleidungsstück", etwa eine Arbeitshosc vorenthalten wird.
Trotzdem scheint die Vorlage diesen Fall der „Vorenthaltuag" nicht
zu berücksichtigen.
7. Erweitert sind die Voraussetzungen des § 153 des ferneren
allgemein dadurch, dafs nicht, wie in bisherigem Rechte die Voll-
endung und der Versuch der einzelnen Delikte, sondern schon das
„Unternehmen" mit der vollen Erfolgsstrafe belegt wird. Das Unter-
nehmen gilt in der strafrechtlichen Praxis — al^esehen von dem
Unternehmen des Hochverrats ^St G.B. § 82) — als ein p^egenüber
dem „Versuch" weiterer Ausdruck, der jedenfalls die fortgeschrittenen
Stadien blofser Vorbereitungshandlungen mit umfafst^) Das ist
zwar in den Motiven und im Reichstage von der Regierung in Ab-
rede gestellt worden; indessen die Rechtsanwendung wird durch
derartif^c Erklärunj^en bekanntlich nicht gebunden.
8. Eine Erweiterung des Thatbcstandes des bisherigen Gesetzes
wird ferner in i in nuhrfaciier RiclUung geschaffen. \'on zwei
Erweiterungen des I hatbestandes durch § I war bereits die Rede.
Eine solche P>weitcruiig ist gegeben
Erstens datlurch, dafs nicht blofs dii Zwang zu Verabredungen,
sondern auch /u ,,\'erciniL,ain;^an" L^etrotien wird, womit nicht blofs
die konkreten auf eineti einzelnen Fall berechneten vorübergehen-
den Koalitionen dem (iesetze unterworfen sind, sondern auch die
dauernden \'creini^'un<4;cn der (iewerkschaften.
Zweitens daiiurch, dafs als die dem Gesetze unterstellten Koa-
litionen nicht wie im bisherigen § 153 diejenigen bezeichnet sind,
welche die Erlangung •günstiger Arbeits- und Lohnbedingungen
überhau[)t oder in konkreten Fällen anstreben, sondern jede \ er-
einigung, welche irgendwie eine I'jiiwirkung auf die Arbeits- oder
Lohnbestinimungen bezweckt. \'on diesen Thatbestandserweiie-
rungen war bereits oben S. 554 die Rede.
Drittens wird der Thatbestand des § 153 dadurch erweitert,
dafs der Zwanj^^ nicht mehr blofs als Zwang zur Koalition ;^etrotien
wird, was die Möglichkeit einer Zugehörigkeit oder Zu/.ichuiig des
Gezwungenen zur Koalition voraussetzt, sondern auch iler Zwang
gegenüber dem Koalitionsgegner, also der von den Arbeitern
')'v. Lilicnthal 1. c. S. 429.
Koatirtororccht and SUmfiecht
565
gegenüber den * UntencMehmern, von den Unteraehmern gegenüber
den Arbeitern geübte. £s ist bereits darauf hingewiesen, da Ts
dies mit dem Schutze der Arbeitswilligen gar nichts
mehr zu thun hat, sofern man darunter den Schutz der Arbeits-
willigen gegen ihre Berufsgenossen versteht; ferner ist klar, daSs
Jiiermit jeder Kampf um die Lohn- und Arbeitsbedingungen zu
einer kriminellen Gefahr sich gestaltet.
Viertens ist der Thatbestand des bisherigen Rechtes dadurch
erweitert, dafs die Anwendung der verpönten Zwangsmittel bestraft
werden soll nicht blois, wenn sie der Beförderung oder Begründung
einer Koalition dienen, sondern auch, wenn sie die Ver-
hinderung oder Zerstörung einer Koalition bezwecken.
Zwang in der Richtung auf die \' erhindcrung und Zerstörui^ von
Koalitionen ist bisher wohl ausschliefslich von Unternehmern gegen
Arbeiter geübt worden, insbesondere indem durch Drohungen und
Verrufserklärungen die Zugehörigkeit zu Fachvcrcinen den Arbeitern
unmöglich gemacht und die Angehörigen dieser h^achvereinc an der
Hrlangung von Arbeit durch schwarze Listen und ähnliche Mittel
möglichst gehindert wurden. Die Begründung mochte indessen ^'cradc
diesen H a u p t fa 1 1 eines g e g e n den Koalitionsbestand sich richtenden
Zwanges von der Strafdrohung ausnehmen. Die Vorlage bedroht ferner
zwar in § i den Zwang in beiderlei Richtung mit der gleichen
Strafe, Gefängnis bis zu einem Jahr oder Cieldätrafe bis zu lOOO .Mk.
ebenso auch in §§ 3 und 4. Hiernach würden die Lreneralsekretäre
der l^nternehmerverbändc , sofern sie sich etwa zum ,,( leschäfte"
machen, Arbeiterkoalitionen zu verhindern oder zu vernichten, und
sich hierzu des Mittels der Rhrverletzung , X'ernifserklärun;; oder
Drohung bedienen, mit (refängnis nicht unter drei Monaten und
bis zu fünf Jahren zu bestrafen sein, ebenso wie die huhrer der
Gewerkschaften, wenn sie derartige Handlungen zum Zwecke der
Förderung ihrer Verbände begehen oder zum Zwecke der Ab-
wehr von Unternehmerangriffen, welche auf Vernichtung der Ar-
beiterkoalitioncn abzielen.
D.igegen wird nach §8 der Zwang z u r K o a 1 i t i o n wesentUrli
härter bestraft als der gegen die Koalition gerichtete Zwanj;. In
Bezug auf den letzteren verbleibt es bei tien Strafdrohungen der
^ 1 — 4; dagegen w ird der Zwang zur Koalition nach § 8 Abs. i
mit Gefängnis nicht unter ein und sechs Monaten, und nach Abs. 2
mit Zuchthaus bis zu drei und fünf Jahren bedroht.
Nehmen wir an, ein Ausstand in einem Hütten- oder Bergwerk
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566
Theodor Loewenfeld,-
oder ein Hafenarbeiter -Ausstand ist im Sinne des § 8 Abs. I
„geeignet", eine Gefahr fUr das Eigentum herbeizuführen, oder
hätte im Sinne des § 8 Abs. 2 eine solche „GeCahi" — nicht aber
eine wirkliche Schädigui^ — herbeigeführt: so würden diejenigen,
welche den Ausstand und die Ausstandskoalition und damit die
Gefahr durch Ehrverletzunfjen, Drohunj;jen u.s.w. zu verhindern
suchten — wohl refjelmäfsijj die Unternehmer und deren Leute —
gemafs § i mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe
bis zu locx) Mk. zu bestrafen sein, diejenigen dagegen, welche den
Ausstand und die Ausstandskoalition durch Ehrverletzungen u. s. w.
befördern oder zu befördern unternehmen, würden nach § 8 mit
Gefängnis nicht unter einem, nicht unter sechs Monaten und bis zu
fiinf Jahren, mit Zuchthaus bis zu drei und bis zu fiinf Jahren zu
bestrafen sein*
Wenn nun aber die Sache so gcfaiirlich ist, dafs man den-
jenigen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten oder mit Zucht-
haus bedroht, welcher nur „unternimmt", einen Ausstand zu
veranlassen, der geeignet ist, eine „Gefahr" herbeizuführen, also
eine „(iefahr einer Gefahr ', ') dann sollte man doch diejenigen nicht
ebenfalls bestrafen, welche diese Gefahr oder die (rcfahr der Gefahr
abzuwenden sich bestreben, wenn auch mit Zuhilfenahme von
Ehrverlctzungcn u. s. w. Auch sie müssen nach der Vorlage bestraft
werden, wenn auch milder als die Förderer des Ausstandes.
g. Erweitert wird der Thatbestand des bisherigen Gesetzes
ferner durch § 2. Derselbe betrifft Handlungen, welche, ohne
dafs es sich um die zu erzwingende Teilnahme an
e i n e r K o a 1 i t i o n zu handeln braucht, gegen die Freiheit
des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers, insbesondere in der Wahl
und Gewinnung des Arbeitspersoiiales oder in der V^erwertung der
Arbeitskraft, gerichtet sind." Damit sollen Handlungen getrolTen
werden, „die zu einem Arbeiterausstande oder einer Arbeiteraus-
sperrung in Beziehung stehen oder zu deren Herbeifülirung cxlcr
Aufrechterhaltung oder zu deren Unterstützung bestimmt sind.'")
Hiermit soll nach der Begründung und Denkschrift eine l.ückc im
Gesetze ausgefüllt werden, die sich dadurch ergab, dafs in hallen
einer .Anklage nach 153 nicht nachgewiesen wertlen konnte, dafs
es sich um einen Zwang zur Koalition gehandelt, weil weder der
'j V. I.ilirnllial 1. c. S. 428.
') Begründung S. II.
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KcMlitionsfedit und Stnirecht
567
Bestand einer Koalition noch eine Verabredung überhaupt festzu»
stellen war. Deswegen bedroht § 2 Handlungen, welche keinen
Koalitionszwang darstellen; sie sollen nur in einer gedachten „Be-
ziehung" zu einer Koalition, ob letztere nun existiert oder nicht,
^ehen; indessen nicht in einer beliebigen Beziehung; die An-
wendung der in § I bezeirlmeten Zwangsmittel ist nach § 2 Ziffer 3
dann strafbar, wenn jemand durch dieselben unternimmt: „bei einer
Arbcitcraussperning oder einem Arbeiterausstande die Arbeitgeber
oder Arbeitnehmer zur Nachgiebigkeit gegen die dabei ver-
tretenen Forderungen zu bestimmen." Die Anwendung von M^hr-
verletzung", Drohung u. s. w. ist dagegen straflos, wenn sie als
Mittel dienen, um bei einer Arbeiteraussperrung oder bei einem
Arbeiterausstande zum Widerstande gegen die dabei vertretenen
Forderungen zu zwingen. Jastrow macht darauf aufmerksam,
dais durch diese Bestimmung die einigungsamtlichc Thätigkeit des
Gewerberichters, insbesondere aber die Bemühungen von Privat-
personen um Stillung des I'Vieclens in Lohn- und Arbeitskämpfen
geHihrclet werden und der I- r i e d e n s s t i f t c r der Gefahr straf-
reciitlicher \'erf(»li,aing ausL,a'setzt ist. wälirend die i,^c;^fen den
i c d e n z w i s c h e n A r b e i t e rn u n d A r b e i t g c b e r n gerichtete
Thätigkeit, welche sich ebenfalls der Drohungen, Khnerletzungen
u. s. w. bedient, straflos bleibt. .Auch bei Kiniguiigsversuchcn wird
des guten Zweckes halber hier uiul da von beteiligten untl ebenso
auch von unbeteiligten Vermittlern , besonders dann , wenn ein
Strike, eine Aussperrung die hiteressen weiter Kreise schädigen,
ein kräftiges Wort gesprochen werden müssen, aber innnerhin
ein Wort zum Frieden. „Vergebens wird man die Weltgeschichte
durchblättern , um noch bei irgend einem Volke zu irgend einer
Zeit ein Gesetz gegen hViedensstifter zu fiticien";') ebensuwenig
aber ein Gesetz, das den Friedensstifter bcstralt und den U n f r i e d e n -
Stifter frei lä Ist. Wie das letztere insbesondere mit dem mo-
dernen (irundsatze der Rechtsgleichheit vcrcnibar scm soll, ist un-
crhndlich.
10. Ebensowenig vereinbar mit dem bei dem Gesetzgeber
anzunehmenden Streben nach Beförderung des Friedens wie mit
dem Gebote der Rechtsgleichheit sind die Bestimmungen in 5
und 6. Nach § 5 bedarf es zur Strafverfolgung keines Antrages,
wenn gegen Personen, die an einem Arbeiterausstande oder einer
*) So treffend Jastrow 1. c. S. 81.
Arcluv für Mtt. OtMtsgebung u. Statistik. XIV. 37
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568
Theodor Loewenfeld,
Arbeiterausspeming nicht oder nicht dauernd teilnehmen oder
teilgenommen haben, aus Anials dieser Nichtbeteiligung
eine Beleidigung mittelsThätlichkeit, eine vorsätzliche Körperverletzung
oder eine vorsätzliche Sachbeschädigung begangen wird. Dagegen
bedarf es nach wie vor eines Stralantrages» wenn gegen Personen,
die sich an einem Ausstande oder einer Aussperrung beteiligt,
aus Anlals dieser Beteiligu ng eine Realinjurie, vorsatzliche Kikper-
verietzung oder vorsatzliche Sachbeschädigui^r b^angen wird. Zur Ver-
fo^ngvon Strikebrechern wegen der von denselben begangenen
Handlungen bedarf es nach wie vor eines Antrages, zur X'crfolj^ng
von Strikenden niclit. Diese Bestimmung ist ebenfalls geeignet,
den Erfolg von Einigungsbestrebungen in Frage zu stellen. Diese müssen
verständigerweise nicht blofs dahin gehen, dals überhaupt Friede
hergestellt, sondern auch dafs jeder Stein zu künftigem Anstofs be-
seitigt wird. Zu den regelmäfsigcn Bedingungen solcher Verträge
gehört denn auch , dals wegen Strikehandlungen niemand gemafs-
rcgclt oder geschädigt werden dürfe. Die X'orlagc erlaubt nur dem
strikenden Arbeiter, die ihm zugefügten Hcleidiguiigen und
Schiichgungen zu vcrzcilicu und auf deren \'crl<jlguiig zu verzichten;
der S t r i k eb r ech e 1 kann die ihm u idi-rfahn-ncn Heloidigungen u. s. \v.
nach der Vorlage nicht v c r z e iii c n , sie müssen von Amiswegen
verfolgt werden, wenn es ihm noch so unangenehm und noch so ge-
^rlidi fiir den Frieden sein sollte. Bfit Recht weist Jastrow ')
auf den Widerspruch hin, der zwischen der gesetzlichen Aufgabe
des Einigungsamtes und dieser Bestimmung der Vorlage besteht Dais
hiemit Beleidigungen an Arbeitern, weil sie Strikebrecher, auch
wenn sie nicht zum Zwecke eines Koalitionszwanges b^;angen
werden, als wichtiger behandelt werden als BdeLdigungen von
Bundesfürsten, als Beleidigungen von Bundesstaatsregenten (StG.R
§§99, loi), dals die Beschädigung der Arbeitshose eines Ar bei t8>
willigen als wichtiger behandelt wird, als die vorsätzliche und
rechtswidrige Beschädigung einer wertvollen dem Kaiser oder einem
Landesherrn gehörigen Sache, geschieht nicht wegen der Wich-
tigkeit, die das Gesetz der J:*crson des Arbeitswilligen als Arbeiter
beimilst, sondern wegen seiner Wichtigkeit als Strikebrecher.
Denn eine Beleidigung oder Sachbeschädigung, die ihm als Arbeiter
widi i'lahrt. die z. B. seitens seines Arl)citS'^'cl)ers trotz seiner Nicht-
bcteihgung am Strikt- ihm widerfahren würde, steht lediglich unter
dem gemeinen Strafrechte.
') Jastrow 1. c. S. 8i.
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KftftUtionsrecht and Strafrecbt
i.i. Während § 5 der Vorlage Handlungen betrifit, wekhe
unter gewissen Umstanden nach gemeinem Strafrecht verfolgt werden
können, und diese Verfolgung durch Besdt^ung von Prozefs-
Voraussetzungen in einer sehr bedenklichen Weise privil^ert,
obwohl sie nicht Mittel zum Koalitionszwange sind und sein sollen»
bestraft § 6 Handlungen, welche nach gemeinem Strafrecht über-
haupt straflos und zugleich nicht Mittel eines Koalitionszwanges sind;
auch bezüglich dieser Nonn ist mit Recht geltend gemacht worden,')
dafe sie geeignet ist, die Bestrebungen der Friedensstifter zu stören
oder illusorisch zu machen. Da(s Personen, welche an einem
Strike nicht teÜgenonunen haben, bedroht oder in Verruf erklart
werden, konunt vor; aber ungleich öfter kommt vor, da(s Personen,
die an einem Strike teilgenommen haben, deswegen bedroht
oder in Verruf erklärt werden. Die Bedrohuf^ und Verruls-
erklärung gegen NichtteÜnehmer will § 6 mit Gefängnis bis zu
I Jahre bestrafen. Die Bedrohung und Verrufiscrklärung ^gtn
Teilnehmer eines Strikes, welche z. B. in Gestalt von
schwarzen Listen tagtäglich geschieht, bleibt straflos und ist sogar
in der Begründung ausdrücklich als erlaubt erklärt Wohl mit
Recht äufsert v. Lilienthal ^) zu dieser Bestimmung, dafs sie «ch
nur „aus der tiefen Abneigung" gegen Strikes erklären lasse.
12) § 8 der \'orlagc, von welchem dieselbe die ihr bereits vor
ihrer Publikation volkstiimlicli zu teil gewordenen Bezeichnung
Zuchthausvorlage nicht erhallen, aber behalten hat, ist von
Freunden der Vorlage als bedeutungslos bezeichnet worden, weil
die hier vorausgesetzten Fälle verhältnismäfsig selten vorkommen
sollen. § 8 trifft nur den Fall, dafs durch Ehrvcrletzung u. s. w.
ein Arbeiterausstand oder eine Arbeiteraussperrung herbeige-
führt oder gefördert werden soll, nicht den entgegengesetzten
Fall. Ist der Ausstand oder die Aussperrung mit Kücksiclit auf die
NaturoderBestimmungdes Betriebes geeignet, die Sicher-
heit des Rcirhcs oder eines Bundesstaates zu gefährden oder eine ge-
meine Gefahr für Mcnsrhcnlcben oder für das Eigentum hcrljcizuführeti,
so tritt nach § 8 Abs. i (iclangnis nicht unter l Monat. i;e;.,'cn die
Rädelsführer nicht unter 6 Monaten ein. Absatz II droht Zuchthaus
bis zu 3 bzw. gegen die Rädelsführer bis z.ii 5 Jahren an, wcim
infolge des Ausstandes eine Gefährdung der in Abs. I bezeichneten
•) Jastrow, 1. c. S. 81.
•) a. a. O. S. 427.
37*
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570
Theodor Loewenfeld,
Art eingetreten ist. Mit Recht ist darauf hing[ewiesen worden, dafe
der Thatbcstand des Absatz i und derjenige des Absatz 2 trotz
der sehr xersrhiedcnen Strafminiiii.i nicht f^enügend \'on einander
ab^e^cn/.t seien. Die „F ü r d e r u n ^" eines Ausstandes, welche Alxs. i
erwähnt im (ie^ensatze zu der ebenfalls Absatz i erwähnten lierbei-
fülirun^ eines Ausstandes, Nctzt einen bestehenden Strike voraus.
Ist aber ein Strike wegen der Natur des Betriebes t^eeij^net, eine
Gefahr herbeizuführen, so tritt eben mit dem Strike auch im Sinne
des Gesetzes — wenn auch nicht notwendig in Wirklichkeit — die
„Gefahr" ein, Üir welchen Fall Absatz 2 2kichthaiis androht ')
Ueber die Fälle, welche § 8 im Auge hat, giebt die Denk*
achrift keine Aus^nft; die Begründung konstruiert einige Falle, die
indessen zur Erläuterung nicht genügen. Für die Gefahrdung der
„Sicherheit des Reiches oder eines Bundesstaates" wird als Beikel
angeführt eine Arbeitseinstcllui^ in militar-liskaliachen Betrieben.
Dieser Fall würde sonach sich in den zu § lO Z. 2 erwähnten
Dienstverhältnissen ereignen können. Des ferneren wird angeführt
die „Unterbrechung des Eisenbahnbetriebes im Mobilmachungsfalle**.
Dieser Fall könnte sich nur in zu lO Z. 3 bezeichneten Arbeits*
und Dienstverhältnissen der Fisenbahnunternehmungen ereignen;
ebenso wie der weiter erwähnte ball, dafs in FViedenszeiten ein
Mangel an den zur betriebssicheren Unterhaltung der Kaiman-
l.i;_,^en n<")tigen Arbeitskräften die I^ctricbssicMicrheit ;.n'fährdet und
deshalb zu Fisenbahnunfällen X'cranlassunfj triebt." Bcgrundun}T .S. i6.
Dieser I-"all ist schon bedenklich konstruiert. Man sollte «glauben,
wenn die Rahnanla;^en nicht in b e t r i c- 1) s s i cli e r e m Zustande,
gleichviel aus welchem (irunde. dann lälsl die i^ahin crwaltun}:^ den
Betrieb einstellen, damit kein Menschenleben trefährdet wird;
es scheint, lials nach der Aiuiahme des X'erfassers der Hegründung
in diesem Falle die Bahnverwaltung berechtigt ist, die Eisenbahn-
züge über betriebsunsichere Geleise zu filhren und dafs sie,
wenn infolge dessen Menschenleben gefährdet werden , nichtselbst
kriminell haftet, sondern die strikenden Bahnarbeiter, welche
doch darüber nicht zu entscheiden haben, ob der Betrieb f<»^-
fuhrt oder eingestellt wird, und jedenfalls die Fortfuhrung des Be-
triebes und die hierdurch eintretende Gefahrdung von Menschen-
leben nicht verschulden. Das ist doch eine merkwürdige Rechts-
'auffassungl —
1} So richtig v. Lilirnthal 1. c. S. 438.
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Koliricpnwdit und Stnfiedtt. j^I
Beispiele für eine gemeine Gefahr für das Eigentum
werden in der Begründung nicht gegeben , ebenso nicht Bei-
spiele einer Gefahrdung durch Ausstande von Arbeitern, welche
nicht fiskalisch und nicht in Eisenbahnbetrieben be-
schäftigt sind. Trot/.dem ist die Auffassung nicht mit Unrecht
verbreitet, dafs gerade der Kall „der gemeinen Gefahr für das Eigen-
tum" von der Rechtsanwendung am häufigsten und bei jedem
gröfseren Strike oder bei Strikes, welche gröfsere
Unternehmungeo betreffen, aDgeDommen werden
wird. Gememe Gefahr fiir das Eigentum muls der Ausstand her«
beiföhren mit Röcksicht auf „die Natur des Betriebes", so
dais also die Betriebseinscellung als solche — «n non &oere — eine
Gefahr mit sich bringt Dies kann der Fall sein, weil infolge der
Betriebseinstellung Eigentumsgegenstände, Sachen, verderben
und unbrauchbar werden, z. B. Lebensmittel, besonders Früchte, und
zwar Sachen nicht einzelner bestimmter, sondern einer unbestimmten
Anzahl von Personen. Dies setzt voraus, dais der Betrieb Sachen
einer unbestimmten Anzahl von Personen zum Gegenstande hat, wie
dies bei Verkehrsanstalten, insbesondere beim Seeverkehr und See»
hafenbetrieb der Fall, deren Arbeits- und Dienstverhältnisse unter
§ lo Ziffer i fallen.
Eine gemeine Gefahr für Sachen besteht aber auch, wenn
Maschinen und maschinelle Einrichtungen durch die Betriebsein«
Stellung infolge des Unterblcibcns der /.ur Instandhaltung erforder-
lichen Arbeiten Schaden leiden. Gemeine Gefahr für das Eigentum
kann auch dadurch entstehen, dafs Betriebseinrichtungen und Pro-
duktionsgegenstande entwertet oder im Werte geschädigt werden.
Dieser letztere Eall kann bei jedem gröfseren Strike wie bei jeder
grölseren Aussperrung eintreten. Gerade diese Gefahr tur das
Eigentum wurde immer von den Unternehmern betont und sie ist
auch von dem Handelsminister Brefeld mit besonderem Nachdrucke
zur Begründung der Vorlage dem Reichstage vor Augen gestellt
worden, indem er von den Folgen eines groisen Bergwerkarbeiter^
strikes fiir Handel und Gewerbe sprach. Das ist zwar keine Gefahr
Itir das Eigentum im ^nne von §§ 313, 314 St.G3. ; aber die Begrün-
dung nimmt auch auf diese Bestinunungen keinen Bezug. Wie man
aber den § 8 auf&ssen mag, unter allen Umständen, ist sehr be-
merkenswert, dafs die „gemeine Gefahr** nach § 8 nur dann zu
Gefangnb- und Zuchthausstrafe fuhren soll, wenn sie herbeigeftihrt
wurde durch einen Ausstand oder eine Aussperrung von Arbeitern,
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572
Theodor Lo«wenfeld.
also durch Kämpfe im Bereiche der Arbeitsverhältnisse; dafs dagegen
die Herbeiführung der gleichen gemeioeo Gefahr für die Sicherheit
des Reiches oder von Bundesstaaten oder von Menschenleben oder
für das Eigentum straflos bleibt, wenn sie die Folge einer Betriebs-
einstellung ist, welche durch eine Koalition von Unterneh-
mern gegen andereUnternehmerdurchdiegldcheaZwang»»
mittel herbeigeführt wird. „Bei Ausbruch eines Krieges würden die
Organisatoren eines Pulverrings straffrei den mit jenen Mittein er-
rungenen Gewinn einheimsen, während ihre Arbeiter, die mit den-
selben Mitteln einen Anteil am Gewinne verlangen, in das Zucht-
haus geschickt würden.') Die „gemeine Gefahr" ist bedeutungs-
los, wenn sie von Unternehmern als Produzenten und Handlern
zum Zwecke der Krliöhung ihres (iewinnes herbeigeführt wird,
während sie ein Thatbestandsmerkmal für ein mit Zuchthaus be-
straftes Verbrechen bildet, wenn sie herbeigeführt wird von Arbeitern
im Kampfe um ihre Arbeitsbedingungen.
Hieraus erj^iebt sich, dafs es nicht der gefahrliche Erfolg
oder vielmehr, da ein Schaden in § 8 ja gar nicht voraus-
gesetzt und verlangt wird , die (iröfse der Gefahr ist, welche den
Bestiinmuni(s<rruiu} lur tlie Strafdrohungen der Vorlage in § 8 ge-
bildet hat. Denn sonst wäre ja volikoinmen unverständlich , dafs
die Herbeiführung der glelciien (lefahr durch die gleichen Mittel für
die Unternehmer völlig straflos bleiben soll, wenn sie veranlafst
wird durch Kartellverabredungen der Produzenten und Händler unter-
doander. Die „Schwere und Gemeingefährlichkeit der Strafihat**,
auf welche die Begründung S. i6 verweist, ist doch in beiden FäUen
die gleiche. Dafs dne „Straf^hat**, wie etwa eine Ehrverletzung —
nicht etwa an einem Staatsoberhaupte, sondern an einem Arbeiter
— eine gemeine Gefahr für die Sicherheit des Reiches
oder für das Eigentum herbeiführen könnte, gehört an sich
mehr in das Berdch der juristischen Fiktionen als in das Gebiet der
Wirklichkeit Darum ist die Annahme^ dafs durch die drakonischen
Strafen des § 8 nicht Strafttiaten — die ja nach gemeinem Rechte gar
keine Strafthaten sind — verfolgt, sondern Ausstände unmöglich
gemadit oder mit anderen Worten indirekt verboten werden
sollen, eine wohlbegriindete. Man braucht dabei gar nicht darauf hbsu-
*) Vgl. jABtrow in der deutschen Jaristenzeitmig 1899 S. 259; Uem: Gtatg
Fevehter, Der dentache MOttSrpulrerriiig und das MUitirpalTeigeidiEft. Göpfringca
1896.
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Koalitionsrecht und Strafrecht.
573
wdseo, öa& § 8 Abs, 2 nicht melir von den Fällen der §§ i, 2, 4,
also nicht mehr von den Fällen einer Ehrverletzung u. s. w. spricht,
sondern als Thatbestandsmerkmal lediglich verlangt, da(s infolge
eines Arbeitsaasstandes eme Gefährdung der angegebenen Art ein-
getreten sei Denn weder Absatz i noch Absatz 2 des § 8 ver-
langen einen ursächlichen Zusammenhang der Ehrverletzung u. s. w.
mit dem Ausstande oder mit der durch letzteren herbeigdährten
Gefahr. Absatz I verlangt nicht einmal, dafs durch den Ausstand
eine Gefahr wirklich herbeigefährt worden ist, sondern nur, dafs der
Ausstand dazu «geeignet war, eine Gefahr herbeizufähren. Mit einer
nicht herbeigeführten Gefahr kann natfirlich die „Strafthat"
der Ehrverletzung u. s. w. auch nicht in ursächlichem Zusammen-
hange stehen. Aber auch in dem Falle des § 8 Abs. n wird nur
verlangt, dafs durch den Ausstand eine Gefehr emgetreten sei,
nicht auch dafs die Ehrverletzung u. s. w. mit dem Ausstande oder
mit dieser Gefahr in Kausalzusammenhang stehe. Es ist ja auch
keine vollendete That, sondern nur ein Untemdmien erforderUch,
also auch ein erfolgloser Versuch genügend.
13. Die „tiefe Abneigung" gegen Strikes, welche die Grund-
tendenz der Vorlage bildet, ist besonders intensiv gegen die Strike-
leiter, die Vertreter und Führer der Arbeiteroi^;anisationen. Sie
sollen zunächst durch § 3 der Vorlage getroffen worden: „Wer es
sich zum Geschäfte macht, Handlungen der in den §§ i und 2 be-
zeichneten Art zu begehen, wird mit Gefängnis nicht unter drei
Monaten bestraft." Sowohl die Denkschrift als auch die Begrün-
dung lassen darüber keinen Zweifel, wer mit diesen Personen ge-
meint ist. Die Denkschritt bezeichnet sie als „gewerbsmäisige und
bezahlte Agitatoren, gewohnheitsmä&^e Hetzer, Arbeiterverführer,
welche die blofse Lust an der Erregung von Unzufriedenheit treibt,
als berufsmäfsige Hetzer. Ja es wird aw^e^rochen, dafs bei
Arbeitskämpfen die organisierten Arbeiter einer gütlichen Einigung
weniger zugänglich seien als die unorganisierten, weil die Organisa-
tionen infolge des Besitzes gröfserer Geldmittel in der Lage sind,
die j^ewerbsmäfsigen Agitatoren zu unterhalten. ^) Besonders betont
wird, dafs die Agitatoren keine Arbeiter und daher nicht beteiligt
seien. Auch die Begründung spricht die Anschauung aus, dafs bei
Strikes es sich oft nur darum handle, dem Unternehmer die „Macht"
der Arbeiterführer zu zeigen (S. 7), und erklärt, dais eine besonders
>) Denluchiifl S. 59— 6j.
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574
Theodor Loewenfeld,
strenge Stfafe am Platze sei fiir die ..r^eschäftsmäfsig^en Hetzer und
Agitatoren**, die am Arbeitskampfe infolge ihrer Berufsstellung
kein unmittelbares Interesse haben. Diese Vorsteilungen
von der Thätigkeit der Beamten der Arbeiterorganisationen ent« *
stammen den Darstellungen der Unternehmer, ebenso wie die in
einer Reichstagsvoriage absonderlich anmutende Terminologie dem
Schimpfwörterlexikon der Untemehmerpresse und der Unter-
nehmereingaben entnommen ist, wie man l. B. durch einen Kin-
blick in das „Organ des Zcntralverbandes TJcutscher Industrieller"
und in die S. 545 erwähnte Eingabe des Innuii^sverbandes der Bau-
gewerketreif)enden an den Reichskanzler ersehen kann. Der „be-
zahlte Hetzer" ist offenbar nach dem Muster des besoldeten polizei-
lichen Agent provocateur gedacht. Sowohl die Akten der deut-
schen Gewerl)eG^ericlue als Kinif^ungsamter als auch die Berichte
der deutschen Fabrik- und Gewerbeinspektoren geben ein ganz
anderes Bild von den V^ert retern der Arbeiterorganisationen als
Denkschrift und Begründung; ja schon die Strikereglements der
Arbeiterverbände und die veröffentlichten Strikeberichte, sowie die
Protokolle über die Verhandlungen der Arbeiterverbande beweisen,
dafs die V'oraussetzungen der Begründung das Gegenteil der \\ ahr-
heit sind. Es steht über allen Zweite! durch die hundertfache Er-
fahrung der Fahrikinspektoren fest und entspricht auch der Natur
der Sache, dafs Arbeiterorganisationen die Arbeitskämpfe ruhiger
und friedlicher gestalten als unorganisierte und undisziplinierte Ar-
beitermassen ; es steht fest, dafs dem Strike organisierter Arbeiter
eine möglichst genaue Erhebung der Verhältnisse, der Besdiwerden,
wie der Auasichten eines Strikes statutenmäfsig voranzugehen hat,
dafi die Unterstützung eines Strikes durch die Zentralverbände und
die Gewerkschaftskartelle von der Einhaltung der Vorschriften der
' Strikereglements abhängt und dals diese insbesondere die Arbeiter
und die Arbeitervertreter verpflichten, zunächst die gütliche Eim-
gung mit den Unternehmern zu versuchen; es steht fest, dafi diesen
Regeln auch überall da, wo eine richtige Organisation
besteht, Folge geleistet wird; die öflentUchen Strikcberidite ver»
sdcfanen die Betriebe nach Zahl, Branche und Ort, von deren In-
habern Verhandlungen durch die Arbeiterorganisationen zugelassen,
mit wek:hen sie erfolgreich durchgeführt, die Unternehmer, welche
die Verhandlungen mit den Organisationen abgewiesen und den
Strike durch die Uebung der Nichtverhandlungsmaxime herbeigeführt
haben. Se verzeichnen als ebenso viele Erfolge der Organisation
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KoaUdonsredit and StmCrecht
575
die Fälle, in welchen Unternehmer sich nicht von vornherein gegen
jede Verhandlung gesträubt haben. ^) Diese Berichte werden übrigens
durch die eigenen Verhandlungen der Untemehmerverbände nur be-
stätigt Den „bezahlten Hetzern** erteilen die Gewerbeinspektoren
das Zeugnis besonnenen, ruhigen, die Arbeiterintereasen fördernden
Wirkens. Diese Hetzer sind zugleich — als Vertrauensmänner der
Arbeiterorganisationen — die berufenen Richter im Gewerbegerichte
und im Einigungsamte; ihre Thätigkeit in dieser öffentlichen Stellung
ist von allen Seiten anerkannt, abgesehen von einer kleinen Scharf-
macherpartei, welcher die Gewerbe<^erichte überhaupt ein Dorn im
Auge sind; im Jahre iSqq sah man die „Hetzer*' in grofser Zahl
an der Arbeit in der Versammlung des III. Gewerkschaftskoiij^Tesses
zu Frankfurt a. M. Die Beschlüsse dieses Arbeiterparlamentcs, das
aus den gewählten Vertretern der Arbeiteron^anisationen, eben jenen
„Hetzern" der Denkschrift und der ,.Hegründung'' sich zusammen-
setzte, der Ton ihrer Verliandkuigeii stehen mit der Polizeiromantik
der Denkschrift im schärfsten Widerspruch. Es genügt, die Hal-
tung dieses Kongresses der Gewerkschaftsführer zur Frage des
paritätischen Arbeitsnachweises zu vergleichen mit der Hal-
tung, welche ungefähr zur gleichen Zeit die Konferenz der Ver-
treter der Unternehmerverbande zu Leipzig gegenüber diesen ge-
meinnützigen kommunalen Anstalten friedlicher ArbeitsvermitUung
angenommen hat, um zu entscheiden, auf welcher Seite
„gehetzt" wird. Darüber sollte man an der Centraisteile aller
amtlichen Information genügenden Bescheid wissen. Zum Wesen
jeder Organisation gehören aber die Organe, welche die
Gemeinschaft vertreten, ihre Geschäfte nach Innen und nach
Außen leiten. Ohne solche Organe kein Gemeinschaftsleben, keine
Möglichkeit der Bethatigung. Nach dem Prinzipe divide et impera
ist daher von jeher das Streben der Unternehmer und ihrer Ver>
bände dahin gegangen, die Arbeiter ihrer Führer zu berauben;
daher deren Maisregelung, die Begleiterscheinung der Strikes, daher
die dauernde Aussperrung dieser Führer von Arbeiterorganisationen
durch schwarze Listen. Was der regelmäfstge und beabsichtigte Er-
folg der Unternehmeraktion, macht die Begründung und die
Denkschrift den Gewerkschaftsorganen zum Vorwurfe: da(s sie nicht
als Arbeiter beschäftigt seiea Sind infolge solcher Umstände
*) Vgl. s. B. PratokoU des V. wdendidicii VeibMdstagcs des Zentralverbaadei
der Ifanrcr. Berlin, Min 1899, S. 18.
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576
Theodor Loewenfeld,
die Führer der Arbeiterorganisationen nicht mehr in ihrem früheren
Berufe thatig, so ist es doch lediglich Sache der ( )rjTanisationen,
wen sie zu ihrem Renmten wählen. Den Geschaüstührern der
UnternehmerorgaiiisMtioiicn hat man noch nie einen Vorwurf da-
raus gemacht, dals sie nicht selbst Unternehmer und daher nicht
persönlich beteiligt sind, wenn sie die Interessen ihrer Verbände,
insbesondere gegen die Arbeiter, mit aller Energie vertreten, ob-
wohl auch sie bezahlt sind. Inbezug auf letztere Konstatierung
sind die (leneralsekretäre der Industrieberufsvereine allerdings sehr
empfindlich. In der Sitzung des Reichstages vom 26. April 1899
bezeichnete der Abgeordnete Frhr. v. Hcyl den Centraiverband
Deutscher Industrieller als einen Herufsverein der Industriellen,
der seine Interessen in ganz einseitiger V\ eise vertrete und führte
Klage über die Ungebührlichkeit des Tones, die Unreife des Aus-
druckes und den Dilettantismus der Auffassung in den Prefsartikeln
der „Generalsekretäre, dieser bezahlten Angestellten der Berufever-
eioe". Darauf antwortete der Generalsekretär Bueck'): „Dadiirdi,
dals der Freiherr von Hey! Kollegen und mich ausdrücklidi
als bezahlte Angestellte bezeichnet, will er uns unverkennbar in der
öfTentlichen Meinung herabsetzen; das scheint mir nicht der Aus-
fluls adeliger Gesinnung, wie sie einem Freiherm wohl zustände.*'
Das war „Ehrverletzung** im Sinne von § 153 G.O. und § i der Vor-
lage. Unternehmern, welche auf der von den Arbeitgeberver-
bänden veranstalteten Arbeitsnachweiskonferenz zu Leipzig gegen
den von den Sekretären des MetallindustrieUenverbandes ver-
tretenen Jcrassen Arbeitgeberstandpunkt** protestierten und em-
pfahlen, die Gleichberechtigung der Arbeiter im Arbeitsnachweise
anzuerkennen, rief bekanntlich Herr Bueck das Wort zu: „Die
Gleichberechtigung des Arbeiters ist ein Schlagwort, mit dem
ein ungeheurer Unfug getrieben wird**.^)
Herr Generalsekretär Dr. Beumer erklärte in einem Vortrage,
welchen er in der Hauptversammlung des Vereins der deutschen
Eisengiefsereien kürzlich hielt, die Ausföhrungen des Professors
Schmoller im preulsischen Herrenhause gegen die Vorlage als „m ehr
als wunderlich** und fiind es „unbegreiflich**, „dafs ein Professor
der Nationalökonomie der Gesetzgebung Rücksichtnahme auf
Deutsche Irulustriezcilung. Organ des Zentralvcrbandch Deutscher in-
dnstridler. Jahrg. XV III, Nr. 18 & 34a.
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577
die Gefühle eines Teiles der Bevölkerung vorschreiben
möchte".^)
Das ist doch gewifs, um bei der Terminologie der Denkschrift
und der Begründung zu bleiben, „gehetzt"! Und von solchen Hetz*
reden und Hetzartikeln der «bezahlten Angestellten'^ der Unter-
nehmerverbände läfst sich eine sehr dicke Denkschrift zusammen«
stellen. Die Herren wissen insbesondere, wenn ihnen eine Ansicht
aus Kreisen der Wissenschaft nicht in den Kram pafst, in sehr an-
mafsendem und sehr herabsetzendem Tone zu reden und nicht
minder despektierlich ist ihre Sprache gegen die Volksvertretung
und die Parteien des Reichstages. Aber die Denkschrift zur Vor-
lage weifs von ihnen gar nichts zu erzählen. Nur die Beamten der
Arbeiterkoalitionen sind in Denkschrift und Begründung die „be-
zahlten Hetzer . Sie werden in der Vorlage mit besonderen Straf-
drohungen bedacht.
Zunächst die oben erwähnte Strafdrohung des § 3. Zum „Ge-
schäfte" der Beamten der Organisationen gehört es zwar an sich
gewils nicht, Ehrverletzungen u.s. w, zu Koalitions/wecken zu begehen;
aber sie sind zunächst der Gefahr ausgesetzt, dafs ihnen, was im
Lohnkampfe in solchen Dingen geschieht, als „Anstiftern und Ge-
hilfen" zur Last gekgi wird. Inbezug auf das nach ij 4- der Vor-
lage mit Strafe bedrohte Postenstehen weist die Begründung auf
die selbstverständliche Anwendbarkeit der Jj>i 48, 49 St. G.B. hin:
„Nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen wird die Strafdroh-
ung nicht nur auf diejenigen Personen Anwendung zu finden haben,
welche selbst die Ueberwachungsthätigkeit auszuüben haben, sondern
.auch auf die Anstifter und Gehilfen*^. Da nun in all diesen Dingen
durch die Vorlage das blolse Unternehmen der vollendeten
That gleichgestellt ist, wir femer aber auch wissen, was
Alles als Postenstehen schon bisher angesehen worden ist, so kann
man schon hieraus die Gefahr entnehnaen, in welche die Leiter
der Arbeiterorganisationen bei einem Strike oder einer Arbdter-
aussperruDg geraten würden. Für sie würde es, wenn sie dringende
Ge&hr ftlr ihre Freiheit vermeiden wollen, überhaupt keine andere
*) Der .Schutz der Arbeitswilligen; voa Dr. Wüb. He um er, .SundcraWruck
aw „Stahl und Eisen" 1899 Nr. 20, S. j. Wir« der Verband der Eisengieisereien
aidit tclMn Todicr mdi den preofr. Vcreinsgesette „politisch" gewesen, so «be er
dies dnrdi dieMB VoitnK gcwowkn und Utte gemÜs dem GcMtw nnfgelost, der
Herr Vortnfcade aber beaCmft werden nflsscn.
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578
Theodor Loewcnfeld,
Möglichkeit geben, als sofort nach erfolgter Arbeitseinstellung oder
Arbdteraussperrung die Flucht zu ergreifeo, um nicht der Ansti^
tung oder Gehilfenschaft bei einem Spaziergange oder einena Wirts-
hausbesuche beschuldigt zu werden, in weichem die Anklage und
das Strafgericht ein strafbares Postenstehen finden können, inriie*
sondere, wenn eine solche „Stralthat** sich ereignen würde bei einem
jener grofsen Strikes, welche an sich zu den „gemeingefährlichen**
nach § 8 der Vorlage gehören.')
In unmittelbare Gefahr begeben sie sich nach ij 4 Abs. 3, wenn
sie etwa als „Lohnkommission'' namens ausstandiger Arbeiter
dem Unternehmer eine Mitteilung machen wollen. Eine „Verrufs-
erklärung oder Drohung im Sinne der iji; 1—3 liegt nicht vor,
wenn der Thaur eine Handlung vornimmt, zu der er berechtigt,
insbesondere, wenn er befugterweise ein Arbeits- oder Dienstver-
hältnis ablehnt, beendi^^t oder kündigt, die Arbeit ei n s t e 1 1 1 ,
eine Arbeitseinstellung oder Aussperrung fortsetzt oder wenn er
die Vornahme einer solchen Handlung in Aussicht stellt". Das
alles sind nach ,^ 4 Abs. 3 Handlungen der unmittelbar Betei-
ligten; nur von ihiien ist in ij 4 Abs. 3 die Rede, nicht von Per-
sonen, welche „vermöge ihrer Berufsstellung" (Begründung S. 12)
die .Sache selbst gar nichts angeht. Das Gesetz ericilt der Unter-
nehmerpraxis, die von den Arbeitern gewählten Vertreter, die Or-
ganisationen überhaupt, von den Verhandlungen auszuschliefsen, seine
strafrechtliche Sanktion. „Solch ein unberufener Dritter, sagt Herr
Beumer io dem oben angeführten Vortrage, ist aber ohne Zweifel
') „Die Geschichte des Stralrerhtcs lehrt, dals larmoiult- Hcstrcbungcn auf Straf-
vcrschärfung getjcn einzelne Vergclicu fast iniuicr da/u führen, diese Vergehen als so
bösartig und gemcingcflUulich hiimiiteUen, daft man den Kreis der Vciiolgtcn mög-
Udist weit cn adwn and im bteresse der AUgeneiiibeit den Verdacht der
Tbat möglichtt weit ausdehnen mttsse; eine Entwicklnng, die mit NoU
wend^^ccit an dar Gefahr Ähren mnls, daTs achlicfitlich Personen ohne korrdden
Beweis verurteilt werden." In dem mit dics< r Finleitung in der Frankfurter Zeitung
vom 25. Oktober 1899 Nr. 296 mitgeteilten I-alle beklagte sich ein Bauarbeiter über
eine ihm widerfahrene Hcsrhimpfung. olin«- dir I'fr>on des Thäters n:ih<'r htvcichncn
zu können. Darauf wurden den sämtlichen auf ilem betr. Üaur be^«ii:itti^ten Ar-
beitern die Invalidcnkartcu abgenommen und aut ürund der durch dieselben fcst-
gestdlten PerMmalien die Anklage gegen dUntlidie erlioben, jedoch alle bb aaf
einen freigesprochen; dieVemrteilnng des Einen war nach ttbereimtimmenden
richten der Presse nw dadurch möglich, dafs die Freigesprodiencn gleichaellig mit
dem Verarteiltctt angeklagt und damit der Entlastongsbeweis „abgeschnitten** war.
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KoaliüoDsrecht und Strafrecht. 579
immer die Strikekommission oder der Strikeposten, die einen
Arbeitswütigen hindern, bei einem Unternehmer zu arbeiten, der
-auch seinerseits gewillt ist, dem sich Anbietenden Arbeit zu geben.
-Deshalb werden die nach der heutigen Gesetzgebung möglicfaen
und durch die Gesetzgebung noch^einzuftihrenden Strafen stets nur
diesen sich zwischen die Arbeitskraft und Arbeitsgelegenheit drän-
genden Dritten treffen und ihn allein nur treffen könnend Die
Strikekommission, mag sie auch im Auftrage der Arbeiter erscheinen,
ist immer verdächtig, sich unberufen einzumischen und den
Strike an sich arbeitswilliger Arbeiter zu provozieren. Die Unter-
nehmerorganisation und deren Angestellte drängen sich natürlich
nie zwischen Arbeitskraft und Arbeitspjelegenheit! Dieser Unter-
nehmeranscbauung gab auch der Staatssekretär des Reichsjustiz-
amtes bei Vcrtretunj^ der Vorlage im Reichst^e Ausdruck. In
den drei von ihm demselben Reichstag mitgeteilten Fällen, in
welchen das Reichsgericht wegen Erpressung eine Lohn-
kommission verurteilt hatte, ersdüen ihm als wichtiges
Thatbestandsmerkmal , dafs es eine „fremde Lohnkommission'\
„nicht die Arbeiter der einzelnen Werkstätten für sich, sondern
eine an d c r \v ei t i e Lohnkommission" ist, welche bei dem
Unternehmer erscheint, den Strike ankündigt und die Forderungen
der Arbeiter mitteilt.')
Der Lohnkommission droht also, wenn sie, was die ..unmittelbar
Beteiligten" nach 4 Abs. 5 zu thun berechtigt sein sollen, für
diese thut, die .'\nklage und Verurteilung eben nach diesem § 4
Abs. 3 der Vorlage.
Es droht ihr aber auch die Verurteilung wegen I'>pressung.
Denn auch die Arbeiter selbst dürfen zwar die Arbeit ein-
stellen, sie dürfen dies auch ankündigen. Der (iesetzentwurf erklart
hiermit eine Handlung als erlaubt, welche zwar von jeher nach ge-
meinem und nach Gewerberecht als erlaul)t erschien, aber von den
Unternehmern ebenfalls als „Nötigung und Zwang", als unberechtigt
erklärt worden ist.-) Es ist erlaubt, die Arbeit einzustellen, erlaubt,
dies anzukündigen; dies hat auch das Reichsgericht in seinem Ur-
teil vom 6. Oktober 1890 anerkannt; es ist auch erlaubt, nach dner
Lohnerhöhung zu streben. Aber dieses Streben wird, sofern auf die
Lohnerhöhung noch kein vertragsmäfsiges Recht besteht, rechts-
') Sten. Ber. lo. Leptlatiirpcriode L Scu. 1898/99 S. 2751 S^-
*) Vgl. LeipsiKer AibeiUaadiweiH>rotokoU pMiim.
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580 Tbeodor Loewcafeld,
widrig; und zur Erpressung, wenn es sich des Mittels der fragtichen
an sich erlaubten Drohung bedient Erst die Kombination
der erlaubten Drohung als Mittel zu einem an sich erlaubten Zwecke
macht diesen Zweck und damit das Ganze rechtswidrig und zur
Erpressung. Dabei bleibt es auch nach der Vorlage § 4 Abs, IIL
Die Arbeiterfiihrer laufen also bei Vertretung einer Lohnforderung
für ihre Auftraggeber die Ge£ibr nicht blos einer Anklage nach
den Bestimmungen der Vorlage, sondern weiter nach gemeinem
Strafrecht wegen Erpressung.
Die i;§ 7 und 8 bedrohen speziell die „Rädelsführer". Nach
dem Inhalte dieser Paragraphen besteht in allen Fällen die dringende
Gefahr, dafs die Leiter einer Lohnbewegung als „Rädelsführer' haft-
bar gemacht werden. In § 8 ist speziell unklar, worauf sich die
That des „Radeisführers" beziehen niuls, ob auf die Organisation
des „gemeingefahrliclu ii" Ausstandes oder auf die wahrend oder
vor demselben von irgend einem Arbeiter begangene Drohung u.s.w.
Man wird wohl sagen müssen, auf die Drohung u. s, w.. solange nicht
der Ausstand selbst ausdrücklich als Strafthat erklärt ist. Aber die
Strafdrohung des § 8 will, wie oben gezeigt, mehr den „gemein-
gefährlichen'* Ausstand selbst, als die „Khrverletzung" u.s.w. treffen,
welche mit demselben in keinem ursachlichen Zusammenhange zu
stehen braucht, Angesichts der Fiktionen, mit welchen die
Rechtssprechung und die Vertreter der Vorlage inbczug auf die
Vertreter der Arbeiter überhaupt operieren, liegt es nahe, den
„Rädelsführer" des Ausstandes auch für die irgendwie vor dem-
selben und während desselben vorgekommenen Ehrverletzungen
verantwortlich zu machen und so eine indirekte Rädelsffihrer-
schaft inbezug auf diese — ohndiin nur als Vorwand för die
Strafdrohung dienenden — Strafthaten zu konstruieren.
VIL Vorlage beruft sich zur Begründung ihrer Gesetzesvor-
schläge auf das Ausland. Es wird behauptet, „da(s in fremden,
zum Vergleich hier vorzugsweise in Betracht kom-
menden Ländern die Strafgesetzgebung weit schärfere
Waffen zur Bekämpfung der Mifsbräuche des Koalitionsrechtes
gewährt als in Deutschland** (Begründung S. 9).
Zum Teil sei schon durch das allgemeine Strafrecht die WUlens-
freiheit des Einzelnen besser gegen Gewalt und Zwang geschützt
als bei uns. Zum Beleg wird auf das italienische Strafgesetzbuch,
das schwedische Strafgesetzbuch und die Strafgesetzbücher fiir die
Kantone Zürich und Solothum verwiesen. Warum diese Länder
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KoftUdflOsrecht und Stnficcht
581
•rar ^Vergldchuag vorzugsweise in Betracht kommen**, ist oicbt
einzuadieo. losbesondere dürften die italienischen Zustände
überhaupt und die der italienisdien Arbdterbevöikerung io^esondere
sich einigermaiseil von den deutschen unterscheiden; von letzterer
Thatsache wissen unsere Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zu
berichten, welche infolge des zunehmenden Imports italienischer
Arbeitswilliger eine starke Zunahme ihrer amtlichen Geschäfte
zu beklagen haben.
Wus die ,^änder'' Zürich und Solothurn betrifft, so gehören
me bekanntlich der Schweiz an.
Die Schweiz befafst sich z. Zt. mit der Einfühning eines neuen
Strafgesetzbuches. Der im Auftrage des Bundesrates von Carl
Stoo fs ausgearbeitete Vorentwurf eines schweizerischen Strafge-
setzbuches^) enthält im Art. 161 folgende Bestimmung:
„Wer jemand an der Ausübung eines ihm von der
Bundesverfassung gewahrleisteten Freiheitsrechtes , insbe-
sondere des Rechtes der freien Niederlassung, der Religions-
freiheit, Prefsfreiheit, Handels- und Ge Werbefreiheit,
oder an der Freiheit der Arbeit durch Gewalt oder
Drohung hindert, oder ihm den Genufs eines solchen Frei-
heitsrechtes böswillig schmälert oder unmöglich macht, wird
mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder mit Geldstrafe bis zu
5000 Franken bestraft."
Die Finlügung einer solchen Bestimmung in das deutsche Straf-
gesetzbuch könnte für verschiedene andere Klassen viel unange-
nehmere Folgen herbeiführen als für die Arbeiter. Der Art. 161
ist indessen gestrichen worden, weil man keinerlei Ausnahme-
gesetzgebung — auch in Gestalt von Bestimmungen des allge-
metnen Strafgesetzbuches nicht — aufzunehmen wünscht. — Nun
führt die Begrtindung an, dafs der Umfiuig des Ndtigungsbegriffes
nach den Strafgesetzbüchern von Zürich und Solothurn weiter
ist als der gleiche Begriff des Deutschen StGB. § 240. Des-
wegen sind diese 2 Kantonsgesetze für die Deutsche Strafgesetz-
gebung ein V o r b i 1 d. Die übrigen schweizerischen ICantonsrechte,
auf die man sich nicht berufen kann, sind für uns natürtich kein Vorbild!
Und doch sind auch die Strafgesetze von Zürich und Solothum mit
*) Schweizerisches Strafgesetsboch. Voreatwnrf mit Motiven, im Auftrage des
■chveizerischen Bnodesntes «otgearfaeitet von Carl Slofs and fmnsAsiscbe Ueber»
•ctnisg des Vorentworfii Ton Alfred Gatttier. Basel und Gcaf 1894.
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$82
Theodor Loewenfeld,
Unrecht von der Begründung angefiibrt. Denn sie stdlen keine
AusnahoQsrechte fiir die Arbeiter dar. Sie schreiben nidit vor,
dals Arbeiter fiir Drohungen bestraft werden, fiir welche andere
Unterthanen des Gesetzes straffrei bleiben sollen. Alles, was man
aus schweizerischen Rechtsquellen in der That an speziell arbeits-
rechtlichen Bestimmungen aozuföhren vermag, ist — eine Polizei-
verordnung der Stadt Zürich vom 5. April 1894, welche in 3 Ar-
tikeln die Anwendung von Zwang gegen Arbeiter und Arbeit-
geber, wodurch dieselben in der Ausübung ihres Berufs gehindert oder
gestört werden sollen, verbietet. Und das soll diese Vorlage recht-
fertigen! Das sind die „weit schärferen Waffen" des Auslands.
Aus Versehen hat man wohl mit abgedruckt den § 64 des
Strafgesetzbuches von Solothurn, welcher lautet:
„Mit Gefängnis oder Geldbulse bis zu 500 Franken wird be-
straft:
3. wer einen Bürger mit Gewalt oder durch Bedrohung zu
verhindern sucht, die ihm zustehenden politischen Rechte
auszuüben, oder ihm wegen Ausübung dieser Rechte mit
Strafe droht."
Es wäre sehr zu begrüfsen, wenn § 107 St.G.B. im Sinne dieser
Bestimmung^ ergänzt würde.
§ 3 des österreichischen Gesetzes vom 7. April 1870 in
Betreff der Verabreduncren von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
zur Rr/.wint^unf^ von Arbeitsbcclin^^unr^cn u. s. w., welchen die Be-
gründung,^ in Anlage 2 anführt, entspricht dem § 153 G.O., sofern
auch liier der Koalitionszwan^ verboten ist. Verbotene Mittel dieses
Zwanges sind Einschüchterung:^" oder „Gewalt", Die „Verrufs-
erklärung" und die .,I''hrverlctzung" werden nicht genannt. Die
strafbare Handlung ist eine „U eb er t r e t u n g" und ist mit Arrest
von 8 Tagen bis zu 3 Monaten bedroht. Das soll die Vorlage
rechtfertigen, durch welche „EhrverietzuQg" als Verbrechen mit
5 Jahr Zuchthaus bedroht wird !
In der Begründung der Vorlage, sowie in den Verhandlungen
des Reichstages ist „vor allem" auf die englische Gesetz-
gebung, auf die Bestimmungen der englischen Conspiracy- and
Protection Act vom 13. August 1875 hingewiesen worden als ein
gegenüber dem geltenden deutschen Gesetze „weitergehendes'
Strafgesetz.
Das englische Gesetz erlaubt ausdrücklich was die Vorlage
ausdrücklich verbietet: das Strikepostenstehen, welches lediglich
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Koalitionsrecht und Stmfrccht.
zu dem Zwecke der V'er.standic:^unf^ von Arbeitswilligen und der
Einziehun^^ von Nachrichten und Mitteilungen si itt-ns tlerselben er-
folgt. Im übrigen verbietet das englische Gesetz den Gebrauch
von Gewalt (violencei oder Ki n sch ii cht e r u n g 1 iritimidate)
gegen eine Person loder deren Ehefrau, oder Kinder i oder Sachbe-
schädigungen, welche zu dem Zwecke geschehen, um dirse Personen
zu einer Handlung oder Unterlassung zu nötigen (compell 1 : es verbietet
ferner als Nötigungsmittel anzuwenden gewisse im Gesetze genau
bezeichnete Belästigungen einer Person, insbesondere ist verboten,
dafs eine Person
watchs or besets the housc or other place where such
other person resides or works. or carrles on business or
happens to be, or the approach to such house or place.
Aber „attending at or near the house or place where a
person resides, or works. or carries on business. or happens to be,
or the approach to such house or place in order nurely to
obtain or communicate Information shall not be deemed a watciiing
or besetting within the meaning of this section."
Dieses englische Gesetz ist zunächst nicht ein Geset'/ gegen
Arbeiter und zur Verhinderung von Arbeiterkoalitionen. Ks
spricht nicht von Arbeitern, sondern wendet sich an Jedermann.
Die Einschüchterung oder Gewalt, welche es unter Strafe stellt, ist
nicht blofe verboten, wenn es sich um „Einwirkung auf Arbeits-
oder Lohoverhältnisse** handelt (§ i der Vorlage) oder darum,
jemanden zur Nachgiebigkeit gegen cfie bei mem Ausstande
oder einer Aussperrung erhobenen Forderungen zu veranlassen
(§ 2) oder einen Ausstand zu fördern (§ 8), sondern sie ist verboten
überhaupt als Mittel des Zwanges zu einem Thun oder Unter-
lassen. Sie ist daher auch Unternehmern verboten, wenn diese
nicht mit Arbeitern, sondern mit Unternehmern und zwar als Pro-
duzenten und Händler zu thun haben. Die deutschen Unter-
nehmer würden jeden Gefallen an der Vorlage verlieren, wenn deren
Strafdrohungen nicht als Ausnahmegesetz, sondern als gemeines
Recht für alle vorgeschlagen würden, insbesondere wenn
zugleich vorgeschlagen würde, das Anklagemonopol der Staats-
anwaltschaft aufzuheben und auch in dieser Bezi^ung das eng-
lische Recht emzufiihren.
Das im englischen Rechte zur Benutzung als Zwangsmittel
verbotene Strikepostenstehen ist des Femeren etwas ganz anderes
als die „planmäfsige Ueberwachung", welche g 4 Abs. 2 der Vorlage
Ardihr für «n. GeseticcbuoK u. Suti*tik. XIV. $8
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5^4
Theodor Loewenfeld,
verbifti't ; es ist nur als Zwanrrsmittel vcrlxjtcn und muis, wie die
Bestiniinunjicn des Gesetzes zeipren. nicht nur ein c^eei^netes Mittel
solchen Zuanc^es sein, smulcrn auch in der Absicht f:jel)iMi:cht
werden, zu /wint^en. Da'^eijeii schreibt das Gesetz ausdruciaicii
vor, dafs das Strikepostenstehen. das nur zu dem Zwecke geschehe,
um „Nachrichten einzuziehen und zu geben", erlaubt ist. In der
Sitzung des deutschen Reichstages vom 19. Juni itS99 hat der Staats-
sekretär des Innern behauptet, ein neueres englisches Urteil in einer
Sache Lyons & Sons habe ausgesprochen, .^dafs ein Bewachen
zum Zwecke der Ueberredung eines anderen (atteodiug in order
to persuade) nicht unter diese Ausnahme fallt und daher ungesetz*
Uch ist««
Das fragliche Urteil in Sachen Lyons v. Wilkins*) ist zur Zeit
noch nicht rechtskräftig, hat aber auch nicht den angegebenen
Inhalt Es sagt nur, dafs die Berufung auf die Absicht zu „über-
reden" nicht ausschliefst, dafs das Strikepostenstehen als verbotenes
Zwangsmittel dann erachtet wird, wenn /u^icich der ftir let&>
teres erforderliche Thatbestand vorliegt Das Urteil sagt also : das
Ueberreden von Arbeitern darf nicht in der Weise ausgeführt
werden, dafs der dabei entfaltete äulsere Apparat für einen An-
deren als belästigenden Zwang auftritt
Trotzdem dieser Ausspruch weit entfernt ist, das Strikeposten-
stehen überhaupt oder das Strikepostenstehen zum Zwecke der
Ueberredung von Arbeitswütigen ab verboten zu erklären, hat er
doch in England grofses Aufsehen erregt und der Fall wird von
beiden beteUigten Parteien mit allen Afittdn der engUschen Jurist
prudenz bis in die höchste Gericbtsinstanz des Landes gefiihrt In
Deutschland erregt eine VerurteUung von Strikeposten wegen groben
Unfugs oder die einfache Verhinderung desselben durch strafsen-
') Sten. Ber. S. 2642.
*) „Persons, sagt dos L'rteil des Bcrufunt«>riLhters, miglit be pcaccfully per-
suadcd, prtividcd that tlic mftho<l employed to juTsuadc was not a nuisance to lUher
p(opl(. Das Uobfrreden einer I'ersoti darf nicht in der Wcisi* geschehen, dafs da-
durch für eine andere Person a nuisancc daraus entsteht. Common Xutsance ist
eine widerrechtliche Handlung oder Unterlassung, wodurch die Sicherheit, die Ge>
snndheit, das Eigentnm oder das Leben oder Wohlbehagen der Gewuntheit gertdrt
wird. So nach der DeBnition des 1879 dem englischen Pnrlamente TOf^degten.
bisher nicht erledigten Entwurfes eines englisdien Strafrechtes. Vgl. Emst Schuster,
Das Stnfrecht Grolsbritanniens in von Lisst, tfStra^eset^bmig der Gegenwart*'
I, S. 7, 37.
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KoRlitionsrecht und ätrafrecbt.
poli/.eiliche für den einzelnen Fall erlassene Vorschriften schon
keinerlei Aufsehen mehr, so häuh£^ sind derartige gegen das Gesetz
verstofsende Urteile schon ergangen, derartige Unigehungen des
Gesetzes durch tendenziöse Verwendung von Kompetenzvorschriften
schon dagewesen. Die Denkschrift beruft sich sogar auf derartige
Poli/.civorschriften. aber nur. um dieselben als ungenügend für den
angestrebten Zweck, das Strikepostensteheii überhaupt zu verhindern,
zu bezeichnen. L nd auf diese englische Gesetzgebung und Rechts-
sprechung berutt mau sich, um einen (lesetzesvorschlag zu be-
gnuiden. der das Strikepostenstehcn überhaupt verbietet. Das eng-
lische Gesetz droht Geldstrafe bis zu 20 l oder Gefängnis bis zu
3 Monaten „with er withont hard labour." Die Strafe des eng-
lischen Gesetzes ist milder als die des § 153 G.G. Denn während
§ 153 nur Gefängnis bis zu 3 Monaten kennt, kann der englische
Richter auf Geldstrafe erkennen. Löning') findet, dafs das
englische Gesetz schwerere Strafen drohe als die Gewerbeordnung.
(^Wesentlich härtere Strafen^ sagt Löning in der ursprünglich ver-
teilten, später in einigen Stellen abgeänderten Abhandlung.) Die
„wesentlich härteren Strafen" bestehen in Geldstrafe oder Ge-
fängnis bis zu 3 Monaten. Geldstrafe gilt nirgends als härtere
Strafe als Geföognis, sondern umgekehrt als mildere. Aber Löning
meint, „für den Arbeiter müfste die Geldstrafe in Gefängnis um-
gewandelt werden, weil die Geldstrafe nicht beizutretben ist"
Auch wenn dies richtig wäre, würde dadurch nicht bewiesen, dafs
die englische Geldstrafe härter bt als die deutsche Gefängnis-
strafe. Gefängnis bis zu drei Mooaten ist ebenfalls nicht „wesent-
lich härter" als Gefängnis bis zu drei Monaten.
Aber nach englischem Rechte kann in „Verbindung" damit auf
harte Zwangsarbeit (hard labour) erkannt werden, die „nach deut-
schem Rechte nur mit Zuchthausstrafe verbunden ist*'*), und
deswegen erklärt Löning. die Behauptung, das englische Gesetz sei
milder als das deutsche, „beruhe auf Unkenntnis des englischen
und des deutschen Rechtes." „Gefängnis mit Zwangsarbeit, also
Zuchthaus", sagt R. van der Bofght*) auf Grund von Löning
kurz und bündig. Im englischen Rechte entspricht dem deutschen
>) Verhandltingeo desVerans fflr Sonalpolitik 1897, Leipzig 1898 S. 271.
*) Löning L c. S. 371.
^ Die Weiterbildung des Kotlltionsrecbtes der gewerblichen Arbeiter in Deataeh-
land (1899).
3»*
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586
Theodor Loewenfeld,
Zucfathause die 1853 eingeführte Strafe des penal servitude, dessen
Minimum seit 1891 drei Jahre beträgt. Die Verurteilung zu penal
servitude hat den Verlust aller Aemter, der Ansprüche auf Pen*
sionen, Entmündigung und Ernennung eines Pflegers zur Folge.
Die Strafe wird zunächst in Isolirhaft vollzogen, in einem zweiten
Stadium, während des Restes der Strafzeit, durch Verwendung der
Sträflinge zu Öffentlichen Arbeiten in dem Public Works
Prison. Das letztere ist ein scharfes Unterscheidungsmerkmal inbezug
auf die Beschäftigung der Zuchthaus- und der Gefangnissträflinge
nach englischem Rechte. Die englische Gefängnisstrafe dauert
regelmäfsig nur bis zu 2 Jahren, hat diesfalls nicht die Ehrenfolgen der
Zuchthausstrafe; die Beschäftigung mit hard labour ist ähnlich der-
jenigen des ersten Stadiums der Zuchthausstrafe. Die deutsche
Zuchthausstrafe hat nach § 31 St G.B. vor allem wie die englische
dauernde Ehrenfolgen kraft Gesetzes; des Femeren kann neben
jeder Zuchthausstrafe auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf
Zeit erkannt werden; neben Gefängnis kann auf Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte nur erkannt werden, wenn die Strafe drei
Monate übersteigt und das Gesetz den Verlust der bürgerHcheo
Ehrenrechte ausdrücklich zuläfst oder die Gefängnisstrafe
wegen Annahme mildernder Umstände an Stelle einer S^chthaus-
strafe ausgesprochen wird. Diese Ehrenfolgen sind das einzige
wirkliche Unterscheidungsmerkmal des deutschen Zuchthauses vom
deutschen Gefängnis; das Zuchthaus infamiert Dagegen io-
betreff der Beschäftigung der Zuchthaussträflinge einerseits, der
Gefangnissträflinge andrerseits ist kein irgend wesentlicher
Unterschied vorhanden. £s schreibt zwar das St.G.B. vor:
1. Die zur Zuchthausstrafe Verurteilten sind in der Straf-
anstalt zu den eitigeführten Arheittn nn/Aihalten. Sie können auch
ZU Arbeiten aufserhalb der Anstalt, insbesondere zu öffentlichen
oder von einer Staatsbehörde beaufsichtigten Arbeiten verwendet
werden (§ 15),
2. Die zur Gefängnisstrafe Verurteilten können in einer Ge-
fangenenanstalt auf eine ihren Fähigkeiten und X'erhältnissen an-
gemessene Weise beschäftigt werden. Auf ihr Verlai^en sind sie
in dieser Weise zu beschäftigen (§ 16).
Vgl. som folgenden: t. P. F. Aich rot t, Strmfenaystem nnd GeTiiignü*
Wesen in England. Berlin u. Leipzig 1887 iji; 5, (\ 14, 21. 2. V. F. Aschrott,
Strafen und Gefangniswescn in Fn^hind. Sonderalxiruck aus der Zeitschrift f&r <U<
gesamte Strafrechuwissenscbaft, Bd. XVII, Heft 1, Berlin 1896.
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Koalitionsrecht nnd Strafreclit 387
Dieser Unterschied Staad indessen bisher aufdem Papier und
wird in Zui<unft nur auf dem Papier stehen. „Die beiden wichtigsten
Arten der Freiheitsstrafen unseres Strafgesetzbuches, Zuchthaus*
und Gefängnisstrafe, im Vollzuge zu unterschdden und in wesent-
lichen Stücken verschieden zu gestalten, ist bisher nicht gelungen
und jeder darauf gerichtete Versuch wird an der Unmöglichkeit
scheitern, dne auf dem Gedanken der vergeltenden Gerechtigkeit
basierte Einrichtung, wie jene Zweiteilung der Strafe, ohne Ver-
letzung der wichtigsten und obersten Strafvoll/.ugsprin/Jpien ins
Werk zu setzen." So schrieb 1892 der deutsche Strafanstalts-
direktor Sichart. ' ) Kin StrafvoUzugsgeset/. ist bekanntlich in Deutsch-
land trotz 29jährigen Bemühungen bisher nicht zustande gekommen.
Im Jahre I.S()7 haben sich fiie verbündeten Regierungen über ge-
wisse (jründsatze geeinigt, welche bei dem Strafvoll/.uge bis zu
weiterer gt-mt-insamer Regelung zur Anwendung kommen sollen.
Dieselben sind am (>. November 1H97 durch den Reichskanzler ver-
öffentlicht worden.-) Inl)e/.ug auf den Unterschied der Be-
schäftigung von Gefangnissträflingen und von Zuchthaussträf-
lingen sagt der Direktor des Landesgefängnisses zu Mannheim, Re-
gierungsrat Dr. v. Edelmann in einer Besprechung dieser Grund-
sätze: 'i „Was die Regelung der Strafarten betrittt, so hat man
sich die denkbar grofste Mühe gegeben (18971», einen Unter-
hclued /.wischen der Zuchthausstrafe und der Gefängnisstrafe zu
schaffen. Die (jrund.^atze verlangtii Trennung von Zuchihaus-
und Gefangnissträflingen. sowie besondere Kleidung der Zucht-
hausstraflinge, sobald überhaupt Zwangskleidung eingeführt ist. Sie
gestatten längere Beschäftigung im Zuchthause, setzen
kleinere Arbeitsbelohnung daselbst fest, schliefsen gewisse Be-
güostigungen wie Selbstbeschäftiguog und eigene Kleidung für Zucht-
haujsträflinge aus** u. s. w. Inbezug auf die Beschäftigung
der GeTängnissträflinge sagt 17 der Grundsätze: „Den Get^gnis-
sträflingen, sowie den Gefongenen, welche geschärfte Haftstrafe ver*
hülsen, wird in der Regel Arbeit zugewiesen. Ausnahmsweise
wird Gefangnissträflingen, sofern sie im Besitze der bürgerlichen
*) E. Sichart, Eotworf eines Gdctceä Uber den Vollzog der Freihettntimfen
ftr dM Deutsche Reich. Berlin 1872, S. 2.
*) Bttndesratsbeschlufs rom 6. November 1897, den Volltti; gerichtlich er-
kannter Freibeilsstrafen betr.; bayr. Jostisminiaterialblatt 1898 Nr. 2« S. 25.
') Deutsche Jorislenzeitnag 1898. S. 19$ ff.
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588
Theodor Loewenfeld,
l'Lhren rechte sich befinden und Zuchthausstrafen noch nicht verbuftt
haben, mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde gestattet, sich selbst
zu beschäftifjen.
„Harte Arbeit'* kann nach Löning in Deutschland nur mit
Zuchthausstrafe, nicht mit Gefängnisstrafe verbunden werden.
Löning hat hiermit einen Unterschied entdeckt, über welchen
die deutschen verbündeten Regierungen und die Vorstände der
deutschen Zudtthaus- und Gefängnisanstalten sehr erstaunt sein
dürften; denn ihnen ist, wie man aus den nach 28 jährigem Ringen
auf dem Gebiete des Strafvollzuges aufgestellten „Grundsätzen** er-
sdien kann, es immer noch nicht gelungen, einen solchen Unter-
schied in Bezug auf die Art der Beschäftigung zu finden und durch-
zufahren. Man hat sich die „gröfste Mühe" gegeben, überhaupt
einen Unterschied im Vollzuge bei den Strafarten zu schaffen, man
hat vielfach für die Zuchthaussträflinge eine eigene Tracht, man
schert ihnen Haar und Bart u.s. w.; in der Beschäftigung erscheint
als der einzig wesentliche Unterschied, dals die der Zuchthausstrafe
linge etwas länger dauern kann, als die der Gefangnissträflinge und
dafs erstere eine geringere Bezahlung dafür bekommen als letztere.
Aber ein Unterschied in der Arbeitsart wird grundsätzlicfa nicht
aufgestellt und ebensowenig besteht grundsätzlich ein Unterschied
in Bezug auf Arbeitszwang.
Die Gefangnissträflinge müssen arbeiten wie die Zuchthaus-
sträflinge. Dals die Gefiingnissträflinge nach St.G.B. § 16 beschäftigt
werden können, die Zuchthaussträflinge nach § 15 beschäftigt werden
müssen, schHefst nur das Ermessen der Verwaltung bei Zucht-
haus aus, stellt aber nicht die Beschäftigung in das Belieben des Ge-
fängnissträflings. Diese werden nach den Grundsätzen regelmäfsig
mit der in der Anstalt überhaupt eingeführten Arbeitsart beschäftigt.
Eine Ausnalime hiervon, die Selbstbeschäftigung, ist nur mit Genehmi-
gung der Aufsichtsbehörde unter gewissen Umständen gestattet.
Darnach besteht der Unterschied zwischen der Strafe aus
§ 153 G.G. und der nach dem englischen Gesetze auf Grund der
Sektion VU der Conspiracy 6c Protection Act in folgendem:
1. Das englische Recht lafst Geldstrafe bis zu 20^" zu, das
deutsche Recht kennt nur Freiheitsstrafe.
2. Das englische Recht kennt Gcfanf;fnisstrate bis zu 3 Monaten
mit oder ohne hard labour, worüber der Richter ent-
scheidet; der deutsche Gcfangnisst ratün«^^ wird rege! ni a Ts i ^
ähnlich wie der Zuchthausstrafiing beschäftigt; ob er davon
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K.oaIitiun>rrcht und Strafrecht.
dispeoaert und zur Selbstbeschäfligung zugelassen werden kann,
entscheidet in den durch die Grundsätze überhaupt zugelassenen
AusnahmeMen nicht der Richter, sondern das Ermessen der
Aufsichtsbehörde der Gefängnisanstalt
3. Die Arbeitszeit beträgt im Public Work Prison, also für die
zu öffentlichen Arbeiten anzuhaltenden Zuchthaussträflinge, täglich
8* Stunden, in anderen englischen Zuchtfaausanstalten 9 — 10 Stunden.
Der Gefangene soll täglich 2 Stunden, sei es arbeitend, sei es spa-
zierengehend, sich im Freien aufhalten. Nach den deutschen
„Grundsätzen** (§ 20) beträgt „die tägliche Arbeitszeit in der Regel
für Zuchthaussträflinge nicht mehr als 12 Stunden, fUr Gefangnis-
und Haftsträflinge nicht mehr ab 11 Stunden. Nach § 31 der
Grundsätze wird „den Gefangenen, wo es ausführbar ist, täg-
lich mindestens Stunde Bewegung im Freien gestattet.
4. Sonach sind die deutschen Geföngnissträflinge überhaupt
ebenso wie die in England zu Gefängnisstrafe mit hard labour Ver-
urteilten gezwungen zu arbeiten. Zwischen ihrer Arbeit und der
Zuchthausarbeit ist der Art nach regelinäfsig kein Unterschied.
Wohl aber unterscheidet sich !t r deutsche Gefängnissträfling
von (!< m englischen Zuchthaussträflinge zu seinem Nachteil
dadurch, dafs letzterer um 3' ., — 2 Stunden kürzere Arbeitszeit hat
und dats der englische Zuchthaussträfling einen längeren Aufenthalt
im Freien geniefst, und zwar ist dies der in Deutschland auf Grund
einer Reformbewegung neuestens hergesteilte Zustand.
Wir sind nun in der Lage, die Löningsche Behauptung zu be-
urteilen, dals ..liarte Arbeit" in Deiitschlaiul nur mit Zuchthaus ver-
bunden wtrdrn kann, dafs das englische Strafgesetz „wesentlich
härtere Strafeir' verhängt als ^ 153 TlO. , ebenso wie die Be-
hauptung van der Borghts, dals das englische Gefängnis mit hard
labour dein deutschen Zuchfhause gleichstehe. Es sind dies V(>llifT
haltlosf. r(.-chisirrtriiiiliclie , die Thatsachen in ihr Gegen' eil ver-
kehrende Behaujnungen. -- Gegen die Autnahme der englischen Be-
stimmungen in das deutsche Recht wäre unter gewissen Be'lingungen
durchaus nichts einzuwenden, wenn einmal ein neues Recht ge-
schaffen werden soll. Es miilste durch klare Gesetzesnormen dafür
gesorgt werflen — wofür die V orlage, wie wir gesehen haben, nicht
sorjjt — dats auch die ei<j^entümlichen ^^^rn1en des von Unter-
nehmern g< g< n Arbeiter und von Unternehmern gegen l riter-
nehmer c:eul)ten Zwangs cjetroffen werrlen. Denn was vor allem
gegen das geltende Recht sowohl als gegen die V'orlage einge-
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590
Theodor Loewenfeld,
wendet WL-rdeii mufs, ist <iir Recht sun gleich hei t. die sie cferade
in dieser Heziehnii'^f schatfrii und zulassen, und die schwere Schadi-
gunij des otlent liehen Keclusl »ewulstseins, die hierdurch verschuldet
wird. Sodann ein Zweiie.>>: ^i liuo faciunt idein, nun est idem. Auch
das jci/.'v^v Gesetz schliefst die ^h>;^lichkeif nicht aus. wenij^stens
unter L^ewi^^en l'instanden den L'nternehnier/.wani; zu tretien. Ohne
Garantie L(e<^rj-ii die Mörrlichkeit, dats in Zukunft wie bisher ünter-
nelnner praktisch anders behandelt werden als Arbeiter, dafs sie
von der Gesetzesanwendung verschont bleiben, welche die Arbeiter
triflt, nützen alle paritätischen Ciesetze nichts. Kine solche Garantie
könnte zunachsi nur durch .Abschalhu);..; des Anklagemonopols der
Staatsaiuvaltschatuii und lünüihriuig des englischen S\stems ge-
Mchatlen werdi-n. :\uch in I>e..i;g aiit die l-.rorterung und Fest-
stellung der Thatsachen im Krimuialprozeis ist das deutsche Gesetz
anerkaimtermarsen vollkommen ungenügend. Auch hier müfste
durch Gesetzesanderung für jene Gründlichkeit und AUseitigkeit der
Beweiserhebung gesorgt werden, welche das englische Redit garanp
tieft. Wdter schaffe man dem deutschen Volke <fie englische
Freiheit des Verdös-, Versammlungs-, Prefsrechtes, die englischen
Garantien der Sicherheit der Person gegen Polizeiübergriffe, und eiv
mögliche dadurch jene Eotwickeluog der Arbeiterorgantsationeii,
wdche England auszeichnet und die sich in den schwersten Kämpfen
um die Arbeitsbedingungen gerade inbezug auf Beseitigung aller
wirklichen Ausschreitungen auf das Glänzendste bewährt und die
Anerkennung der Welt gefunden hat Dann wird man auch in
Deutschland die englische conspiracy- & protection Act ruhig ein-
fuhren können. Dann wird dieselbe im deutschen Rechte nicht zu
einer Waffe einseitiger Bekämpfung der Arbeiterkoalition werden,
was sie werden müfste, wenn sie ohne Erfüllung der vorbezeichneten
Voraussetzungen zur Einfuhrung gelangte. Was bei chemischen
Stoffen gUt, dals sie sich verändern, je nachdem sie mit deni einen
oder anderen chemischen Stoffe sich verbinden, das gilt auch von
Gesetzen. Auch sie sänd zur Wirksamkeit unter bestimmten
Verhältnissen berufen und wirken anders, segensreich oder un-
heilvoll, je nach der Art dieser Verhältnisse. Darum ist auch alle
Berufung der Begründung auf ausländisches Recht nichts als ein
Beweis des gesetzgeberischen Dilletantismus, der sich im deutschen
Rechte ganz besonders auf strafrechtUchem Gebiete unangenehm
bemerkbar maclit.
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Kualitiunsrecht und Strairecht.
VIIL Im Namen der „Freiheit", der ,,Freiheit des
Arbeitsvertrages" tritt die Vorlage zum Schutze des gewerb-
ficheo Arbeitsverhältnisses vor die deutsche Nation, die schon lange
nicht mehr so viel von „Freibeitsrechten" und „Grund-
rechten" gehört hat, als nunmehr seitens derjenigen Unternehmer,
die man die „Scharfmacher" nennt, derselben, welche ständig
nach Waffen gegen die Arbeiter rufen, die seit Jahren Knebelung
der Arbeiterklasse, Wiederaufnahme des Sozialistengesetzes, Um-
sturzgesetze fordern, denen der gesetzliche Schutz der Arbeiter
gegen Lebensgefahrduog als unberechtigter Einbruch in ihre Be-
triebe, die Gleichberechtigung des Arbeiters als blofses „Schlag-
wort" und Mittel zum Unfug gilt, die den Strike, die Arbeiter-
koalttion, die Ausübung politischer Rechte durch ihre Arbeiter als
„Unbotmäfsigkeit" erklären. Sie, welche Kartelle und Ringe
gründen und die fembleibenden, ihre Jf^reiheit" wahrenden Gewerbs-
genossen durch dn System von Vemifserklärungen zum Anschlüsse
zwingen, um dem Konsum Gesetze aufzuerlegen, sie fiihren nun
in den Kampf des Arbeitsmarktes, in den Kampf um die Arbeits«
bedin^ungen ein neues, aber dennoch aus der Geschichte bereits
wohlbekanntes Element ein: den Schutz der Freiheit der Ver-
trags^e^ner. Wie sie dereinst für die „Freiheit" der armen
Kinder in die Schranken traten, mehr als 10 Stunden in Fabriken
und Werkstätten arbeiten, ohne Schulunterricht aufwachsen und an
Leib und Seele verkrüppeln zu dürfen, wie sie sich der armen
Frauen annahmen, als durch den grausamen Staat und seine Schutz-
gesetze deren „Freiheit" bedroht wurde, zum Verdienste der Familie
auf Kosten ihrer Gesundheit und der Gesundheit der heranwach-
senden Generation beizutragen, so wollen sie nun den armen Arbeits-
willigen schützen, der keinen anderen Wunsch hegt, als in Ruhe
und zu den schlechtesten Arbeitsbedingungen für sie zu arbeiten
und daran von seinen Kameraden mit Gewalt gehindert wird.
Dieser arme Arbeiter ist ihnen — den Scharfmachern — vielfach
zwar so völlig fremd, wie ein Marsbewohner: Ob er aus dem
Reiche, aus Jtalien, aus Rufsland od« r aus China kommt, güt ihnen
gleich, ja sie bevorzugen die f r e m d e \V a r e Arbeit, wenn sie
billiger ist. Weil sie billiger sind, siedelt man die Polen, deren
Ausbieitunr^ die deutsche Regierung in Polen bekämpft, in den
urgermanischen westlichen Provinzen Deutschlands zu vielen Tau-
senden an. man ruft Italiener undCzechcn ins Land, man jagt
dafür die in der Kultur höher stehenden und daher auch „begehr-
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592
Theodor Loewenfeld,
Ucheren" deutschen Arbeiter hinaus« während man die Steuer-
kraft des deutschen Volkes, die Kriegsmacht des Deutschen Reiches
zum Schutze und zur Beförderung der „nationalen Arbeit** in
Anspruch nimmt. „Machtproben", die Tausende von Arbeitern
mit Weib und Kindern auf die Strafse werfen, sollen ihnen zeigen,
dafs ihr Schicksal in der Hand der Herren liegt; ja der deutsche
Unternehmer wird sofrar in sriner Weise international" und
leistet in der Aera der deutschen Dänenausweisungen dem däni^cli -n
Unternehmerverbande thatkrsü'tige Hilfe, wenn es sich d a r u lu han-
delt, in Dänemark ausjresperrte und expatriierte Arbeiter auch im
deutschen Gebiete noch zu verfolgen und denselben auch in der
Fremde die Arbeitsmöglichkeit abzuschneiden. Jene Tausende
von dänischen Arbeitern , die im Sommer dieses Jahres nach
Deutschland kamen, sie kamen, um Arbeit /.u suchen, sie wnren
Arbeitswillige, gelernte Arbeiter, es unterliegt keinem Zweifel,
dal's sie I^ror und .Vrbeitsc^^elegenheit hatten rinden können, wenn nicht
die stramme Organisation der deutschen Arheitgeherverhande auf
den Wink der danischen „Erbfeinde" sich zwischen Arbeiter und
Arbeitsgelegenheit gedrängt und den Ar bei ts willigen jede Thüre
verschlossen hatte.
Hekatomben von M e n sc h e n le h e n t.illcii nocii immer
jahraus iahrein der Gleichgültigkeit von Unternehmern gegen Leben
und (iesundheit der Arbeiter /.um Opfer und werden ihr auch in
Zukunft noch xum OplVr fallen, bis der Staat sich entschliel"st, in
ihre „Herrschaft" im Hetriebe mit der nötigen luiergie einzu-
greifen, Jiihraus, jaiireiii miissi-n Tausende von Unternehmern
zur Strafe gezogen werden wegen frevelhaften Gefahrdung des
Lebens, der körperlichen Integrität, der Gesumlluii. elementarer
Lebensgüter der Arbeiter. Jahraus, jahrein werden dieselben Unter-
nehmer aber durch die lächerliche Bedeutungslosigkeit der
vom Gesetz angedrohten und gegen sie ausgesprochenen Strafen —
die einen ständigen Gegenstand der Beschwerden der Fabrikinspek-
toren bildet — aufgemuntert, in ihrer Gleichgültigkeit gegen
Leben und Arbeitskraft „ihrer*' Arbeiter zu verharren: wenn man
als Gleichgültigkeit den erbitterten Kampf bezeichnen könnte,
den sie gegen die Schutzforderungen der Arbeiterorganisationen
fuhren, einen Kampf, in welchem sie Sieger bleiben müfsten, falls
die Vorlage zum Gesetze würde.
Es ist ein Zeichen der Zeit, dals gerade die Führer desjenigen
Gewerbes, des Baugewerbes, dessen Schuldkonto nach den Be-
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KoAlitiomrccht tind Stnfredit
593
richten des RetcfasversicheniDgsafntes das g^röfste, in diesem Kampfe
im Vordertreflen stehen und dafs diese Vorlage als eine ihrer £r-
foige gilt.
Wenn nun die Unternehmerverbände seit der ersten Lesui^
der V^orlage in lanf^er Reiht', und demnächst ihr Generalgewaltiger»
der „Zentralverband deutsclier Industrieller" auftreten und immer
stürmischer den „Schutz der Freiheit der Arbeitswilligen" fordern
und andrerseits die Arbeiter aller Parteien, aller Konfessionen ein*
mütig ebenso eoerg^h gegen diese Vertretung protestieren und
erklären, dafs der geplante „Schutz der Arbeitswilligen" ihre In-
teressen auf das schwerste gefährdet, wie dies im Reichstage und
neuestens im bayrischen Landtage festgestellt worden ist; dann darf
man wohl die Unternehmer mit Rücksicht auf ihre bisherigen Thaten
in Sachen der „Freiheit" der Arbeiter fragen, wer und was sie legi-
tim iert zur Vertretung dieser angeblichen Arbeit ersache. Wo
ist der Arbeitswillige, der diesen Schutz ge<^en seine Arbeits-
kameraden verlangt und diese Vertretung seiner Interessen durch
die Unternehmer? Er war und ist bisher unsichtbar und
unbekannten Aufenthalts! Man hat behauptet, in Krefeld
sei er aufi^elaucht. Das war eine klaglich inscenierte Theatererhn-
dung, die niemanden tauscht. Trotz, aller Macht, welche die Arbcit-
gebervcrbande auszuüben vermögen und obwohl sie sich erst in
diesem Jahre noch öffentlich ihrer „Zwangserziehung" der Arbeiter
gerühmt haben, ist es bisher doch allen diesen mächtigen Unter-
nehmerorganisationen nicht gelungen unter 7 Millionen deutscher
gewerblicher Arh- iter, von welchen noch nicht 9 Prozent organi-
siert sind, auch nur einen i'in/.i;^en zu tinden, der den ..Schutz der
Arbeitswilli;jjen" verlangt oder als iit a nklig otler aucli nur wün-
schenswert erklärt halte. Die Unteriu-lmier können im l\.ainpt\- um
die Arbeusbedingungcu ihre Macht zeigen, sie können die Arbeiter
zu Tausenden aussperren; Gerichte, Verwaltungsbehörden unter-
stützen sie in diesem ungleichen Kampfe; ihre Wünsche setzen die
Gesetzgebungsmaschinerie des Reiches in Bewegung, aber —
keinen Arbeiter; kein mziger von den Millionen, die tagtäglich
ihrem Gebot in Werkstätten, Fabriken, Bergwerken gehorchen, will
von den Herren etwas wissen, die plötzlich in dichter Schar die „Frei-
heit"* zu beschützen kommen. Wo sich Arbeiterstimmen vernehmen
lassen, rufen sie laut gegen die ihnen oktroierte „Freih«t**. Sonst
schweigt alles, so viel auch die Herren von ihren guten Absichten
reden und so erwünscht es ihnen wäre, wenn nihre" Arbeiter ihnen
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Theodor Loewenfeld,
ZU Hilfe kämen. Für diese höchst wichtig^e und dringliche Hilfs-
arbeit fand sich, wie es scheint, noch kein „Arbeitswillig^cr'I
Warum? Was erklärt diese Erscheinung, die unbc-f^reiflich wäre,
wenn die Scharfmacher mit ihren Bchaupt untren Recht hatten? Des
Rätsels Lösung ist, dafs die heute noch nicht or<^anisierten Arbeiter-
niassen darüber nicht getauscht wt-rden können, dafs die Arbeiter-
organisationen den Kampl auch tiir sie tiihreii, den Kampf tür die
Hebung der ( iesaintheit, lür Herstellung menschenwürdiger Lebens-
und Arbeitsbedingungen, für Sicherheit des Lebens, der (iesundheit,
der geistigen Interessen Aller: auch den ärmsten Arbeitern sagt der
Instinkt der Sell)^terhal^ung. d.il's bcssrre Arbeitsbedingungen schlech-
teren vorzuziehen, dafs es ihren Intin-^sen nicht entspricht, für die Ver-
schlechterung ihrer Lage einzutreten: auch ilen Aermsten sagt
terner die klare Ivrkenntnis, welche die tagliclu- Lrfalirung des Leiwens
und dir Not vi-rleiht, was dc ii Verfassern der lU'gründung und der
Denkschrift verborgen geblieben ist : dafs ArbeUcr und Unternehmer
in der heutigen Welt nicht wie Robinson und I^'reitag auf einer ein-
samen hisei leben und einen „individuellen" Arbeitsvertrag mitein-
ander abschliefsen, der niemanden als sie, diese beiden Kontrahenten,
berührt* Sie sehen die Unternehmerverbände sich zusammen-
schliefsen, um gemeinsame Arbeitsbedingungen gleichzotig Huo-
derttausenden von Arbeitern aufzuerlegen. Sie sehen, dais diese
Arbeitsbedingungen iobezug auf Ordnung der Produktion, Einridi-
tung der Betriebe und Regelung der Lohnverhältnisse, entsprechend
dem heutigen Länder und Wehteile umspannenden Band der Kon*
junktur des Arbeits- und Warenmarktes, nicht vom Belieben
des Einzelnen abhängen. Sie sehen also, dais „in den mo-
dernen Produktionsverhältnissen die Arbeitsbedingungen der grolsen
Masse der mit Durchschnittseigenschaften begabten Arbeiter nicht
mehr individuelle, sondern gemeinsame sind, ja dais die meisten
Arbeitsbedingungen andere als gemeinsame gar nicht mdir sein
können**.') Und daher wissen auch die unorganisierten Arbester,
dafs der Kampf der Unternehmer gegen die Arbeiterorganisationen
nicht blofs gegen diese, sondern auch gegen sie selbst gefuhrt wird
und umgekehrt der Kampf der Arbeiterorganisationen auch ihnen
selbst nützt. Dieser Kampf wird betd4»'seits von Mensdien, nicht
von Engeln geführt und es werden beiderseits Fehler begangen.
*) BreDtaoo, Vortraj; fiber den „Schuu des gewerbliclieii ArbeitsvcThSltnisses'*
in den „Verhandlungen des nationnlcozialen Vereins su Göttingen'* (1899) S. 73.
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Koalitioosrecbt und Stmfrecht.
595
Die veröffentlichen Strikeberichte der Arbeiter zeigen, dafs sie weit
entfernt sind, sich fiir unfehlbar oder stindenfrei zu halten. Aus den
Verhandlungen des L Verbandstages der deutschen Arbeitsnach-
weise zu München ( Sept. 1899) ergiebt sich, dafs es fiir die Arbeiter
nicht immer ein leichtes ist, die wirkliche Lage des Arbeitsmarktes
zu erl^ennen. Grundsätzlich abtT lehnen die Arbeiteroi^nisa-
tionen die Unterstützung jeder Lohnbewegung ab, die gegen ihre
Ueberzeugung und gegen die in den Strikereglements niedergelegten
Erfahrungen und Vorschriften geführt wird. Ucber den einzelnen
Lohnkampf können daher Meinungsversehiedenheiten bestehen, wie
über das einzehie Gefecht in einem Kriege. Dies ändert nichts an
der Thatsache, dafs die organisierten Arbeiter den Streit g<"i,^en die
Unternehmer im Interesse aller führen. Ein Bück in die Cjcschichte
des if). Jahrhunderts zeigt, dafs sie bisher schon wichtige Erfolge
erzielt, dals die anerkannte Hebung der Arbeiterklasse aus menschen-
unwürdigen Zustanden in erster Linie das \\ erk der Arbeiterorgani-
sation und ihren Kämpfen zu verdanken ist, auch da, wo ihr die
Geset/.c^ehuiig und der Sin.it zu HiltV- kamen. Auch zu diesem im
Gesamtinteres.se der Arbeiter notwendigen Kampfe ist — wie zu
dem in der Biirgerlegion des alten römischen Volkes nicht jeder
befähigt. Die Opfer, die er verlangt, bringt nicht jeder Arbeiter,
sondern nur derjenige, dessen materieller und geistiger Lebensstand
die dazu erforderliche Höhe erreicht hat. Al)er des h>folges freuen sich
alle und aller Interessen werden dadurch, unmittelbar oder mittelbar,
gefördert. Darum denken auch die den Organisationen fernblei-
benden Arbeiter nicht tlaran, in dem I-.ntscheidungskampte um die
Koalitionsfreiheit auf die Seite der Unternehmer zu treten und für
diese Wallen zu schmieden, gleichviel wie sie sich sonst im
einzelnen Lohnkampfe des Tages verhalten. Hier
führen gewifs vielfach Armut und Unwissenheit, welche bessere Re-
gungen, das Soiidaritätsbewufstsein verhindern oder abstumpfen, an*
geborene Indolenz, Unkenntnis der Sachlage Arbeiter ab Hilfstruppeo
den Unternehmern zu; — selbst arme Italiener haben aber heute
bereits nicht selten infolge der Aufklärung, welche eine von deut*
sehen Arbeitern liir sie gegründete italienische Zeitung ihnen ver-
schafft, vielfach die Rolle der Arbeitswilligen verschmäht
Wo und wann immer der „ArbeitswUlige^' aufbitt und gleich-
,,I/op«nio ItalUno". Vgl. Protokoll der Verkandloiigini des driUen Ge«
werkschaftskoDgrencs. HMsburg 1899» S. 35.
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596
Theodor Loewenfeld,
viel aus welchen (iründeii, verfügt er unter allen Umständen „nicht
„blos über seine eij:jent*n V e r h al t n i s s e. sondern -/.u<T^l«rich über
„die Verlialtiiisse aller, seiner Kollegen : er greift in deren rechtliche
JLa^e und wirtschanliche Stellung ein'*.')
Kt ijreitt in diese rechtliche La-^e und wirtschaftliche Stellung
ein. wie hinzugefügt werden mufs, indem er sie vielfach g e fä h r d et
und verschlechtert. Wo immer ferner der Arbeitswillige auf-
tritt und gleichviel wie das moralische Urteil seiner Kameraden und
der Welt über ihn lautet, übt er trotzdem lediglich ein R ec h t aus,
das heute jedem Staatsbürger und jedem Fremden zusteht, das
Recht der Freiheit der \\ illensbe>>tininrjiig im Vertrag.sschlusse und
er kann „denselben Schutz beanspruchen, wie jeder andere Staats-
bürger, gleichen Schutz durch das gemeine S t ra fr e ch t",*)
eben denselben, auf den auch die organisierten Arbeiter verwiesen
sind. Mehr als diese Gleichstellung mit allen anderen
Unterthanen des Gesetzeskannntchtverlangtwerden;
und der Arbeitswillige mufs auch noch erst entdeckt werden, det
jemals nach einer gesetzlichen Privilegierung überhaupt oder gar m
der Art der Vorlage ein Verlangen geäulsert hätte.
„Man nenntf sagt van der Borght,^ welcher den „Ausbau**
des § 153 G.O. fordert, die Koalitionsfreiheit oft ein Grundrecht
des Arbeiters. Das Recht, über die Verwendung seiner persönlichen
Arbeitskraft zu bestimmen, die Arbeitsgelegenheit zu benützen, die
ihm in seinem und der Seinigen Interesse angemessen erschdot, ist
nicht minder ein „Grundrecht**
„Hier steht also „Grundrecht" gegen „Grundrecht** und persön-
liche Freiheit gegen persönliche Freiheit und berechtigtes Interesse
gegen berechtigtes Interesse. In einem Rechtsstaate findet jedes
Interesse und jede Freiheit die Grenze der Bethätigung an dem be-
rechtigten Interesse und der Freiheit anderer. Ein Gebrauch der
Freiheit und eine Wahrnehmung des Interesses, die zu Eingriffen
in die Rechtssphäre anderer führt, ist ein Mifsbrauch, der nicht ge-
duldet werden kann und die staatliche Gesetzgebung mufs dem io
seinen Rechten Bedrohten den nötigen Rückhalt und Schutz geben".
Das ist ganz richtig. Recht gegen Recht und Frei-
^) So treffend Professor Dr. Sohm In den „Verhandlungen des nattonmboaalen
Vereins'* zu GöUingen 1899, S. 86.
«) Sohm SU a. O. S. 87.
*) Die Weiterbildung des Koalitionsrechtes S. 43.
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Koslitirasrecfat nnd Strtfrecht
597
heit gegen Freiheit. Das bedeutet aber doch blos, dafi beide
Parteien gleich geschützt werden müssen. Sdt 30 Jahren
besteht die Koalitionsfreiheit der Arbeiter, seit 30 Jahren müssen
sie sich mit dem Schutze des gemeinen Strafrechtes begnügen.
Die Arbeiterorganisationen verlangen auch keinen ausnahme-
rechtUchen Schutz für sich. Seit 30 Jahren besteht aber nicht
Rechtsgleichheit zwischen organisierten Arbeitern und Arbeits-
willigen, sondern ein ausnahmerechtlicher Schutz der Ar*
bdtswilligen in ^ 153 G.O.. wonach Handlungen bestraft werden,
wenn sie von koalierten Arbeitern gegen sie begangen werden, die
jeder Staatsbürger gegen jedermann, und die Arbeitswilligen selbst
straflos gegen ol^nisicr^e Arbeiter begehen dürfen, ebenso wie der
Arbeitgeber gegen den Arbeitswilligen und gegen Strikende sie
begehen darf.
Schon dieses angeblich gleiche Recht des § 153 ist, wie ge-
zeigt, ein ungleiches, unbilliges Recht, ein Unrecht
gegen die organisierten Arbeiter. Die dem § 153 angeblich zu
gründe liegende Gerechtigkeitsidee ist doppelt falsch; sie ist falsch,
sofern der Zwang zur Koalition gestnift wird, während der Zwang
gegen die Koalition stratlos bleibt. Sie ist aber auch falsch, weil
sie den Arbeitswilligen nicht etwa als den neutralen Zuschauer
des Arbeitskamples schützt, der in diesen Kampf nicht auf der
Seite der .\ r b e i t e r k o a 1 i t i o n hineingezogen werden, der in
Ruhe tür sich arbeiten und die anderen ebenso in Ruhe lassen will.
P^inen solchen „Arbeitswilligen" giebt es nicht und hat es
nie gegeben.
Die .'\rbeitswilligen als solche sind nichts als H i 1 f s t r u p p e n
des Unternehmers, 1 lilfstruppen, die zugleich Berufsgenossen der
orL^ain.Mi ru n Arbeiter sind, deren natürliche Stellung daher auf Seite
ihrer Berubgenossen wäre, aber nichtsdestoweniger lediglich die
Hilfstruppen des Unternehmers. In das Verhältnis des
Unternehmers selbst zu den ihm gegenüber stehenden organisierten
Arbeitern greift § 153 G.O. — als lediglich gegen Koalitionszwang
gerichtete Bestimmung ~ nicht eb; auf die zwischen diesen beiden
Parteien etwa sich ergebenden Ehrverletzungen u.s.w. sind
die gemeinen Strafrechtsgrundsätze anwendbar, d. h. sie sind straf-
los, wenn auch die Gerichtspraxis vielfach den nunmehr durch die
Vorlage wiederholten Versuch gemacht hat, auch hierauf den § 153
anzuwenden. Im Krieg wird niemand verbngen, dafs der Gegner
die g^nerischen Soldaten zarter behandelt als den gegnerischen
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598
Theodor Loewenfeld,
Führer, und war Soldaten, die ihrerseits zur fTleichen zarten Be-
handlunf; des Ge^^ners nicht verpflichtet sind. Kine solche wider-
sinnif^e Korderunj^, die gegen alle Billigkeil und Gleichheit verstobt,
stellt in tier That ^ 153 G.G.. einer solchen Forderung will die
Vorlaire durch Strafdrohungi-n Nachdruck verleihen, welche für
jedermann klar machen müssen, für den es nicht schon vorher
klar gewesen, wem eigentlich dieser „Schutz der Arbeitswilligen"
eilt: nicht den .Xrbiiiswiiiit'en. .sondern dem U n t e r n e h m e r. Die
Vorlage bedroht z. B. die .,Fiirverlet.auig", wenn begangen gegen
einen Arbeitswilligen mit Gefängnis bis zu i Jahr, bis zu 5 Jahren,
mit Zuchthaus bis zu 3 und bis zu 5 Jahren. Die Ehre des arbeits-
willigen Maurers gilt dann als ein teureres Gut, als die Ehre des
Kaisers, eines deutschen Landesherm (StG^. § 95), ab die Ehre
voo Btmdesftirsten (St.G.B. § 99) oder des Mitgliedes eines landes-
herrlichen oder bundesfürstlichen Hauses (§§ 97» loi St.G3.), ob-
wohl das Deutsche Reich keine Republik ist. Diesen hohen Wert
hat die Ehre des Arbeitswilligen aber nur, wenn die Ehrverletzong
verübt wird von einem Gegner des Unternehmers, um den
Arbeitswilligen zu beeinflussen, auf Arbeitsverhältnisse „einzuwirken**
oder einen Arbeiterausstand zu fördern (§§ i, 8 der Vorlage). Die
Ehre desselben Arbeitswilligen bt dagegen ohne jeden Wert
und die Ehrverletzung straflos, wenn sie gegen ihn von seinem
Arbeitgeber selbst verübt wird, was hie und da dem Arbeits-
willigen nicht erspart bleibt. Während femer seine Ehre gegenüber
den strikenden Arbeitskameraden so hoch im Preise steht, dals ihre
Verletzung unter Umständen nur mit Zuchthaus gesühnt werden
kann, stehen sein Leben, seine Leibesglieder, seine Ge-
sundheit in viel tieferer Schätzung, wenn sie seitens des Unter-
nehmers gefährdet werden. Der Unternehmer, welcher den „auf
Grund des § I20d endgiltig erlassenen Verfügungen oder den auf
Grund des § 120 e erlassenen Vorschriften" zuwiderhandelt, der also
den von der Behörde zur Beseitigung dringender, das Leben
oder die Gesundheit der Arbeiter bedrohender Milsstände getroffenen
Anordnungen oflenen und hartnäckigen Widerstand entgegenset7^
wird nach § 147 Abs. i Z. 4 der G.ü. mit Geld bis zu 3CO Mk.
bestraft. Abo für frevelhafte Gefährdung des Lebens eines Ar-
beitswilligen durch den Unternehmer bt nach dem Gesetze auch
eine Geldstrafe von i Mark eine genügende Sühne; die Ehre des-
selben Arbeitswilligen ist ganz wertlos, wenn sie der Lntep
nehmer verletzt, dagegen erhebt sie sich weit über den Kang
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Koalitionsredit und Stntfredit
599
kaiserlicher und färstlicber Ehren, wenn sie ein strikender Arbeiter
zu dem Zwecke verletzt, um hierdurch den Arbeitswilligen seinem
Herrn abspenstig zu machen und einen Arbettsausstand zu fördern.
Es ist klar, dafs dieser Schutz der Arbeitswilligen mit den
Arbeitswilligen selbst gar nichts zu thun hat Wenn man nun er«
wägt, dafs dieser Schutz der Arbeitswilligen jede wirksame Aus-
übung des K,oalttk>nsrechtes der Arbeiter ausschliefst, so wird
weiter klar, dafs die Vorlage, wie bisher § 155 G.O., nichts als eine
Waffe im Kampfe der Unternehmer gegen de Arbeiter ist und sein
soll. Darum sieht man jetzt die Unternehmerverbände in endloser
Reihe für die Verteidigung dieser Vorlage, die ihr Weik ist, ein-
treten, aber keinen einzigen „ArbettswilUgen**.
Fragt jemand, wie man es wagen kann , den geset^ebenden
Faktoren des Reiches die Erfiillunfr derartiger Forderungen zuzu-
muten, so ist zu erinnern daran, dafs es nicht blos im gewöhnlichen
Warenhandel eine erfolgreiche Reklame giebt, die den Händler
als Wohlthäter seiner Abnehmer oder gar der Menschheit preist,
dafs solche Reklame vielmehr auch von jeher dem Gesetzgeber
naht und die Vertretung egoistischer Klassenziele in das Gewand
idealen altruistischen Strebens hüllt. Wenn andere Leute Steuer
zahlen, so zahlen sie hiermit lediglich eine Schuld, welche nötigen-
falls der Vollstreckungsbeamte beitreibt. Wenn dagegen ^dustrielle"
die durch das Gesetz ihnen auferlegten Arbeit er Versicherungsbeiträge
entrichten, so spendet hiermit die „Industrie" den Arbeitern Wohl-
thaten, wofiir diese gebührenden Dank schuldig sind. Wenn
andere Leute fremde Waren kaufen oder die Nutzung fremden
Eigentums mieten , so wissen sie es nicht anders, als dafs sie den
Kauf- oder Mietpreis zu zahlen haben und dafs Zahlung und Libe-
ralität verschiedene Dinge sind. Wenn der gewerbliche Unternehmer
einen Arheitsvertrafr abschliefst, der ihm eine fremde Arbeitskraft
auf Zeit gegen Entgelt überantwortet, so ist die Zahlung des Ar-
beitslohnes nicht etwa eine gewuhnliche Schuld; der l'nternehmer
ernährt vielmehr den Arbeiter, der ihm dafür wieder zu Dank
verpflichtet ist. Der Unternehmer thut zwar gar nichts um der
schönen Augen anderer willen und würde den P'ortbetrieb einer in-
dustriellen Thatigkeit , die ihm selbst nicht mehr den gewünschten
Gewinn bringt, auch wenn .sie andere „ernährt", als Wahnsinn be-
trachten. Aber das heifst man „Verwaltung der Industrie", ,ycr-
waltung der gewerblichen Verhaltnisse" — nach Analogie der
Archiv für aot. GeaeUgebung u. Statistik. XIV. 39
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6oo
Theodor Loewenfeld^
„Staatsverwaltung" '} Diese ,,Verwaltun^ der Industrie" ist eine
„patriarchalische"') — die Aktiengesellschaften und Kartelle als
„Patriarchen" sich vorzustellen, dürfte wohl schwer sein — ; deswegen
sind die Bestrebungen, Schiedsgerichte, Einigungsärater unter Zu-
ziehung der Arbeiter zu schaffen , „die Arbeiter für sich oder in
Verbindung mit Unternehmern zu organisieren oder den bestehenden
Arbeiterorganisationen festere Formen zu geben" , z u r li c k z u -
weisen. Denn dadurch würde die „LoslÖsung des Arbeiters von
seinem Arbeitgeber, von seinem Werk" vollzogen. ^) Die General-
sekretäre der Unternehmerverbände arbeiten „für die Krhaltung un-
serer Staats- und Gesellschaftsordnung und für die P'örderung des
wirtschaftlichen Lebens unseres Vaterlandes" und werden in der
öffentlichen Meinung herabgesetzt, wenn man sie als „bezahlt" be-
zeichnet u. s. f.
Diesen Wohlthätern der Arbeiter, diesen Tatrioten, die das
Gewerbe aus Liebe zum Volk, im hiteresse des Staates und der
Gesellschaft betreiben, hat vor 67 Jahren, als es noch keine Sozial-
demokraten und noch keine Kathedersozialisten gab, Hermann
in seinen berühmten „staatswirtschaftlichen Untersuchungen" die
gebührende Antwort erteilt:
„Der Unternehmer eines Erwerbsgeschaües kauft bloss Arbeit
zum Wiederverkauf; erleichtert den wahren Absatz der Arbeit an
den Konsumenten. Für die Anwendung seines umlaufenden Kapitals
in diesem Geschäfte und die Entbehrung der eigenen Nutzung des-
selben erhält er Ersatz im Gewinn. Er ernährt also keines-
wegs den Arbeiter, sondern er benützt nur das Angebot der
Arbeiten zu vorteühafterein Verkaufseiner eigenen Kapitalsnutzungen.
Die Arbeiter und der Unternehmer erleichtem einander den Um-
tausch ihrer einseitigen Leistungen in die jedem tauglichere Form»
stehen sich sonach gleich. Es ist eine Schmach, dafs
sich die Regierungen so oft von Gewerbsunterneh-
mern vorwerfen lassen, sie ernähren so und so viele
Einwohner desStaates, da doch diese ebenso gut um-
gekehrt die Unternehmer ernähren. Nur grobe Un-
bescheidenheit der letzteren kann aus jenem Grunde
*) Vgl. iJcutscIic Industrie Zeitutnj Jahrfj. 18, Nr. 16 (1899^ S. 126.
*) ladosUie-Zcituiig 1899. Nr. 12, S. 158.
') Industrie-ZeitUDg 1899, Nr. 12, S. 158.
*) Friedr. Ben. Wilh. Herni»nn, StaatswtrUdwftl. Uatetmcbttiigcn, MAnchoL
1S32 S. 284/285.
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KoalitkmsKdit und Stnfiwdit
60i
BepiinstigungdurchAbcjabcnerlals und Unterstützung
durch Vorschüsse v-^ erlangen und es ist eine Verletzung
der Regierungspflichten, sie zu gewähren."
Heute begnügen sich die Leute, welche als Vertreter der „In-
dustrie" das Wort — unter dem Protest mancher hervorragender
Genossen — fuhren , nicht mehr mit Abgabenerlafs und Unter-
stützung durch Vorschüsse. Dafür sind sie zu reich und zu mäch-
tig geworden. Sie verlangen nunmehr, dafs ihnen die gewerbliche
Arbeiterbevölkerung gebunden ü!)erliffert werde. Die Methode,
welche der Gesetzgeber anwenden soll, um diese namens des Staates
und der Gesellschaft und der Freiheit von ihnen erhobene Forde-
rung zu erfüllen, ist einfach und erprobt, so einfach, dafs schon die
alten Romer vor ein paar Jahrlausenden sie ständig gegenüber be-
siegten Völkern zu Sicherung ihrer Herrschaft anwandten. Die
Mittel sind genau dieselben. A u f l o s u n g a 1 1 e r ü r g a ii i s a t i o n e n .
Isolierung der Gegner, Beseitigung ihrer Führer. Di-
vide et impera ! Da man aber dem Gesetzgeber nicht zumuten
kann, das eigene Volk wie einen äufseren Feind zu behandeln,
so ruft man ihn wider den Gegner auf als einen «inneren Feind**
der den Staat und die Gesellschaft bedroht; man kämpft gegen den
„Zukunftsstaat**, um im gegenwärtigen die Arbeitsbedingungen
nach Betieben diktieren zu können. Diese Taktik war in der
That bisher sehr erfolgreich, wie die gegen die ^meingefährUchen**
Bestrebungen der Arbeiterorganisationen sich wendende Praxis der
Gerichte, der LandesverwaitungsbehÖrden, der obersten Reichsstellen
und nunmehr die Vorlage „zum Schutze des gewerblichen Arbeits-
verhältnisses'* beweisen.
Im Vertrauen auf diesen bisherigen Erfolg holte nunmehr die
,Jndustrie** zum entscheidenden Schlage aus, der dem Rest des
Koalitionsrechts der Arbeiter, der bisherigen Scheinfreiheit des Ar-
. beitsvertrages ein Ende machen sollte, indem die nFreiheit** der
Scharfmacher offen zum Gesetze des Deutschen Reiches erklärt
würde. Die Vorlage stellt, historisch genommen, nicht eine völlig
neue Erscheinung, sondern das Ergebnis einer seit Jahren wahr»
zunehmenden unheilvollen Entwickelung dar. Sie enthielt wenig
völlig neue Gedanken, wie z. B. die Strafdrohungen gegen
die Friedensstifter in § 2*, die allerdings in der Rechtsgeschichte
aller Völker und Zeiten noch nicht da waren. Im wesentlichen
aber reproduzierte sie das UnbiUigkeitsrecht des § 153 G.G., sie re-
produzierte die Erweiterungen, welche eine sich seit Jahren aus-
39*
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602
Theodor Loewenfeld, Koalitknunckt und Stnfrccht
schliefslich und immer scharfer pjegen Arbeiter weodeade Gericbts-
und Vcrwaltungjspraxis diesem Kern hinzagefiif^t hat.
Der S t VI r m des Unwillens, welchen die Veröffentlichung der
Vorlage weit über die Kreise der Arbeiterbevölkerung hinaus im
deutschen Volke entfesselt hat, kam dadurch 7,um Ausbruch, dafs
man in dieser Vorlage zum erstenmale die bisher in so vielen ein-
zelnen gerichtlichen Urteilen und Verwaltungsakten zerstreute S u m m e
von Ungerechtigkeit vereinigt und konzeiUricrt sah in einem
lückenlosen System, welches der erlaubten Ausübung des Koahtions-
rechtes der Arbeiter jeden Weg versj)errt, der unerlaubten Aus-
übung des Koalitionsrechtes der Unternehmer freie Bahn öffnet.
Man sah und sieht in der V^orlage das Bild der .,Gerechtig-
k e i t" des bisherigen Rechtes, seiner Anwendung und
Nichtanwendung, ausgestellt vor allem Volk, vergleichbar einer
jener Kunstfiguren tier pathologischen Anatomie, welche zur Be-
lehruntr der zukiinfticren Aerzte die Schaden des kranken mensch-
liehen Körpers topographisch darstellen. Die ungewollte gewaltige
M asse n w i r k u n g dieser Demonstration wird noch vermehrt durch
die Mafslosigkeit der Steigerung unbilliger, parteiischer, teilweise auch
widersinniger Strafdrohungen, wodurch die „Gerechtigkeit" dieser
Vorlage sich vergeblich abmüht, das Recht der Armen und Schwachen
in Unrecht zu verwandeln, die Verteidigung ihrer Freiheit gegen
die Gewalt der Grofsen als infamierendes Verbrechen zu brandmarken.
Dieses Bild wird hoffentlich für immer verschwunden sein,
mit ihm aber nicht die nützliche Lehre, die seine Vorführung dem
deutschen Volke und der deutschen Gesetzgebung verschafft hat,
die Lehre, was dem deutschen Volke wirklich notthut uod fitxmilllt:
Nicht „Ausbau" des Unbilligkeitsrechtes des § 153 G.O^ nicht
neues Strafrecht gegen die Arbeiter, nicht Vernichtung ihrer Or-
ganisationen, sondern umgekehrt: zuerst Beseitigung des Un-
rechtes und der Ungleichheit des Rechtes. Dann aber Thaten
einer positiven Sozialpolitik, welche das Vereinigungsrecht der Ar»
heiter, den „freien Arbeitsvertrag" aus einer blofsen juristischen
Fiktion zur Wahrheit machen. Es ist anzuerkennen, dafs die Ar-
beiter för sich nicht Privilegien, Begünstigungen, Schutzzölle^ Ein-
fuhrverbote verlangen, sondern die einfache Gerechtigkeit und Frei-
heit der Bewegung. Und es bietet eine frohe Gewahr fiir die Zu-
kunft des deutschen Volkes unter den Völkern der Welt, da(s seine
unteren Klassen die Kraft in sich ftihlen, ohne andern Stab als
Gerechtigkeit den steilen Weg zu überwinden, welcher zu den
Höhen der Kultur ftihrt
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Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich
vom 14. Juni 1895.
Von
Prof, Dr. H. RAUCHBERG
in Prag.
Zweiter Teil.
BenifagliederunK und sociale Schichtung.
[Fortwttinc.]
V. Die soziale Schichtung im allgemeinen.
Die Berufsgliederung im Sinne der volkswirtschaftlichen Arbeits-
teilung ist der eine der beiden durchschlagenden Gesichtspunkte der
Benifsstatistik. Der andere ist die soziale Schichtung. Es gilt dabei,
die Bevölkerung nicht nur nach den Beru&zweigen, sondern auch nach
der sozialen Stellung darin zu kennzeichnen. Das wurde durch die
Frage nach der Beru&stellung angestrebt, ob nämlich der Beruf selb-
ständig ausgeübt wird oder in welcher anderen Stellung. Danach
* werden die Berufsthätigen zunächst in Selbständige, Angestellte und
Arbeiter eingeteilt, und jede dieser Kategorien zerfallt nach gewissen,
spater zu erörternden Merkmalen weiterhin in Gruppen von ver-
9chi(v!( nem sozialen Range. Auch die Familienangehörigen und
Dienenden werden der sozialen Gruppe ihrer Ernährer zugerechnet.
So erstreckt sich jene Einteihinf:^ auf die gesamte Bevölkerung.
Dürfen wir en^^arten, dadurch einen pjnblick in die Stärke und
das innere Gefüge der einzelnen sozialen Klassen zu erlangen? Be*
deuten die Ergehnisse — was die Kapitelüberschrift zu versprechen
scheint — wirklich die soziale Schichtung? Eine endgültige Antwort
auf diese Frage wird erst dann möglich sein, wenn wir die Ergeb-
nisse selbst kennen gelernt und kritisiert haben. Aber schon jetzt
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6o4
H. Rauchberg,
möchte ich den (icsiditspunkt bezeichnen, unter welchem allein sie
betraciltct werden dürfen. Die sozialen Klassen als solche statistisch
exakt zu erfassen, ist ein ^anz uinii<');^lichcs Herinnen. Sie können
nicht scharf pcfjcncinandcr aligcj^rrcnzt werden, weder im Leben,
noch bei statistischen lirliebun^aMi. Die Cirenzen sind fliefsendc; es
fehlt an durcligreifenden Merkmalen für die Zusammenfassung' und
Trennung, vollends an solchen, welche der Statistik zugänglich sind.
Am ehesten sind hierfür noch zu verwerten das Einkommen und
die Stellung in der Betriebsorganisation. Wo die Steuerveranlagung
Einblick in die Verteilung des Einkommens eröffnet hat, fehlt es
ja auch nicht an Versuchen, aus der Besetzung der verschiedenen
Stufen des Esnkommens auf jene der'sozialen Klassen zu schlielsen?^)
Aber man darf de nicht mit einander verwediseln. Das Steuerein*
kommen ist zwar eines der Merkmale einer gewissen sozialen
Stellung, aber keineswegs das einzige und häufig nicht das durch-
schlagende. Aehnlich verhält es sich mit der durch unsere Auf-
nahme ermittelten Berufsstellung. Sie ist nichts anderes als der
berufestatistische Niederschlag der Betriebsorganisation unserer Volks-
wirtschaft. Den Abstufungen des Arbeitsranges — Selbständige, An-
gestellte, Arbeiter und die feiiieren Unterscheidungen innerhaib dieser
Positionen — entsprechen ja gewisse soziale Klassen. Aber doch
nur ganz beiläufig; ihre Grenzlinien m^en in Wirklichkeit mitunter
wohl anders laufen. Aber da wir nun einmal kein anderes Mittel
haben, um sie zu verfolgen, und der Arbeitsrang in der That eines
der wichtigsten Merkmale der sozialen Stellung ist, so ist es, wenn
auch nicht ganz korrekt, so doch entschuldbar, wenn wir die so
gewonnenen Ergebnisse als „soziale Schichtui^" bezeichnen. Sie
sind nicht die soziale Schichtung schlechtweg, sondern die soziale
Schichtung unter dem Gesichtspunkte und mit den Hilfemitteln der *
Berufsstatistik dargestellt. Inwieweit dieses Bild mit der thatsäch-
liehen sozialen Schichtur^ übereinstimmt, das zu untersuchen ist
eine der wichtigsten aber auch der schwierigsten Aufgaben der
statbtischen Kritik.
Die Fragen der Haushaltungsliste nach der BerufesteUung
bezwecken also zunächst festzustellen, ob der Beruf selbständig aus-
geübt wird oder nicht Selbständige Berufsausübung in diesem
Sinne ist nicht gleichbedeutend mit Unternehmerstellung. Auch
Vgl S.B. CarlBöbmert, Die Vertdlong des VoUneiiikoinmeiis in PRoftco
imd Skchsen. Dresden 1898.
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Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895.
leitende Beamte und sonstige GeschäftsiÜhrer wurden zu den Selb-
ständigen gezählt Dals sie weder in der Berufsstatistik noch später-
hin in der Gewerbestatistik von den eigentlichen Unternehmern
getrennt worden sind, ist ein entschiedener Mangel Denn es interes-
siert uns nicht nur die leitende Stellung in der Betriebsorganisatton
sondern die Untemehmerstellung als solche: wir möchten gern
erfahren, wie viele Personen direkten Untemehmergewinn be-
ziehen. ^)
Noch zwei andere Gruppen von formell Selbständigen, welche
gleichwohl nicht Unternehmer sind, werden aus zählungstechnischen
Grründen mit diesen auf gleiche Linie gestellt: die Hausindustriellen
und die Storarbeiter. Die ersteren, Selbständige, die zu Haus fiir
fremde Rechnung arbeiten, werden von den anderen Selbständigen
(a) getrennt als Hausgewerbetreibende (afr) ausgewiesen. Die Stör-
arbeiter zu erforschen und separat auszuweisen war gelegentlich der
Beratung des Zählungsgesetzes in der hierfür eingesetzten Reichs-
tagskommission angeregt, nicht aber angenommen worden. Da
Störarbeiter nicht in einem festen Arbeitsverhältnisse stehen, werden
sie sich wohl durchaus als Selbständige bezeichnet haben. In
Wirklichkeit können sie weder ihrer wirtschafUichen noch ihrer
sozialen Stellung nach als solche gelten. Während, wie wir alsbald
hören werden, die Grewerbezählung manchen wertvollen Anhalts-
punkt fiir die weitere soziale Differenzierung der selbständigen
Beru£stellung im Sinne der Berufszählung bot, war dies bei den
Storarbettem nicht der Fall. Sie verstärken, ohne dafs eine Berich-
tigung möglich wäre, formell die Kategorie der Selbständigen. Die
franzosische Beru&zählung von 1896 hat dagegen zwecksmässiger-
weise die „travailleurs ind^pendants" gleich den „travailleurs ä
domicile" sowohl von den Selbständigen als auch von den Arbeit-
nehmern geschieden und zu einer eigenen Kategorie der Berufe-
Stellung erhoben. *)
Die Arbeitnehmer sollen schon nach der Anleitung zur Aus-
füllung der Haushaltungsliste weiterhin in zwei Gruppen zerfallen:
>) GewimbetdUgmig und Beng too Dividenden mlifsten dnbei an&er Anschlag
bleiben.
*) Nur ist wa tadeln, daJ« man bei der Eibdmng blob die Heimaibeiter scpaxat
erfragt hat (Etes vous ouvrirr ä fagon travaillant eher vous?), während die «travailleurs
ind^pendants« gleichsam als Kinder der Verlegenheit erst im Laofe der Bearbeitung
anerfragt aofgetaacht sind.
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6o6
H. Rancbberg,
in Angestellte und Arbeiter, wobei die weitere genaue Bezeichnung
des Dienst- und Arbeitsverhältnisses durch eine suf^gestiv wirkende
Exemplifikation angebahnt worden ist. Um die Schwierigkeiten»
die sich hierbei insbesondere hinsichtlich der mitwirkenden Fanülieo'
angebörigen ergeben, zu vermeiden, war die Bethätigung von Per-
sonen, die im Gewerbe des Haushaltungsvorstandcs regelmäl'sig als
Hilfspersonen verwendet werden, ohne eigentliche Gewerbsgehilfen
zu sein, mit „hilft" zu bezeichnen unter Angabe des betreffenden
Gewerbes als Hcrufszweig.
Auf Grund der so gewonnenen Angaben hat die Bearbeitung
der Berufszähluni,^ von 1805 Kategorien der Angestellten und
Arbeiter noch weiterhin anahsiert und damit einen wesentlichen
Fortschritt gegenüber der Zählung von 1882 angebahnt. Die An-
gestellten (b) werden nämlich weiter unterschieden in höhere (b l)
und niedere (b2l Betriebsbeanite und Aufsichtspersonen und in
Bureaubcamte (b3i. Bei den Hilfspersonen in .\rbeiterstellung (c)
ergiebt sich eine erste durch^reitende l iitersclu idunL; zunächst da-
durch, (lals die mitthätigen h'ainilienangehörigen durchaus als solche
gesondert ausgewiesen werden (c l ), während dies nur bei
der Landwirtschaft geschehen war. Für die .\usscheidung der
Familienangehörigen aus dem sonstigen Arbeitsj^erson.d bot tlie
Kennzeichnung der Berufsstellung in der Haushaltungslistc mit
„hilft", sowie die Angai)e über tlie Verwandtschaft zum Ilaushaltungs-
vorstaiuic oder die sonstige Stellung in der Haushaltung genügende
Anhaltsj)unkte.
Aber das Zählunj^swerk überrascht uns durch zwei weitere Unter-
scheitiungi-n, auf wi lche der baciunann selbst nach dem eifrigsten
Studium der Zälilpapiere nicht gefasst sein konnte. Die eine ist von
geringer, die andere von desto grösserer Tragweite. Die erste Ueber-
raschung besteht darin, dafs nunmehr auch das Arbeitspersonal der
Hausindustrie gesondert ausgewiesen wird (c 2 fr). Und doch war
die Zusatzfrage über die Heimarbeit nur an Selbständige gerichtet
gewesen. Woher weiss man aber, dals ein Arbeitnehmer gerade von
einem Hausindustriellen und keinem anderen Arbeitgeber beschäftigt
wird, wenn man ihn nicht darüber befragt hat? Das kann man in
der That nur von jenen wissen, die als Haushaltungsgenossen mit
den hausindustriellen Arbeitgeber zusammen auf der gleichen Liste
verzeichnet stehen; von den anderen nicht: sie entgehen der be-
absichtigten Kennzeichnung als Gehilfen von Hausindustriellen. Und
das ist bei der überwiegenden Mehrzahl der Fall. Die Ge-
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Die Bernfs- nnd GewerbeziLblnng im lieuUchen Kcicb vom 14. Juni 1895. (307
Werbestatistik hat 139063 nicht familienangehörige Gehilfen und
Arbeiter bei Hausindustriellen ergeben, die Berufestatistik deren aber
nur 43493 im Hauptberuf und 2669 im Nebenerwerb, zusammen
46163. Mehr als zwei Drittel sind der Berufestatistik entgangen
und sie mussten es, weil sie von ihr überhaupt nicht erfragt worden
sind. Eine derartige Frage wäre auch wenig am Platze gewesen,
denn der Gehilfe kann nicht immer wissen, ob der Arbeitgeber
auf eigene oder fremde Rechnung arbeitet In der That gehört
dieser Gesichtspunkt gar nicht der Berufestatistik sondern der Be»
triebsstatistik an, welche ihn auch keineswegs vernachlässigt hat
Aber freilich, über die personlichen Verhältnisse, Alter, Familien-
stand u. s. w. der hausindustriellen Gehilfen kann uns die Betriebs-
statistik nicht unterrichten. Der an sich sehr zu billigende Wunsch,
auch hierüber etwas herauszubringen, hat die Bearbeitung offenbar
veraniafst, sich mit dem Ausschnitt der haushaltungsangehörigen
Gehilfen zu begnügen, da die Daten für die Gesamtheit derselben
nun einmal nicht zu haben waren. *) Die Ausweise über die Ge-
hilfen der Hausindustriellen mufsten also notwendigerweise so un-
vollständig ausfallen,^) dafs auf die Ausscheidung derselben aus
der Kategorie der sonstigen Arbeiter besser verzichtet worden wäre.
Wer das Tabellenwerk zur Hand nimmt, erwartet darin prinzii^icll
nur jolche Angaben zu finden, welche den in den einzelnen Spal-
ten und Zeilenüberschriften bezeichneten Gegenstand soweit er-
schöpfen, als (lies nach dem Stande der Zählungstechnik überhaupt
möglich ist. Der Leser wird irregeführt, wenn die Angaben nur
etwa ein Drittel dieser Fälle umfassen, jene nämlich, welche ohne
dafs die Krhebung darauf gerichtet gewesen wäre, bei der Bearbei-
tung herausgefunden werden konnten. Die nachträgliche Konstatie-
run;^ dieser Thatsache im Textbandc des Zählunc^swerks genügt
nicht, um jene milsverständliche Auffassung bei der 1 landhahung der
'I alx'llenbände hintanzuhalten. L'eberdics kann einer Dai sirllung der
persönlichen Verhältnisse der Gehilfen von Hausindustriellen, die
Sie wlren, nebenbei bemerkt, n haben gewesen, wenn man — was ich im
ersten Teil S. 244 empfehle — jeden Arbeitnehmer um den Arbeitgeber befragt
bitte. Ans seiner Antwort hStte man entnehmen können, ob dieser ein Hansindn-
striellcr ist oder nicht und hätte danach auch seine Gehilfen klassifizieren können.
Das Ergebnis würde allerdings kaatn im richtigen Verhältnis zum Arbeitsautwand
stehen. Ahct wer das 7\r] nun rinmal will, muls auch den Wt-}; dahin gehen.
^) Was das Zäblungswerk ubrigeas keineswegs Übersieht, vgl. S. 218.
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6o8
H. Ramebberg ,
sich nur auf den dritten Teil der hierher gehörigen Personen be-
zieht, statistischer Wert nicht zuerkannt werden.
Ich komme nun zur zweiten Ueberraschung, der wichtigeren. Sie
besteht darin, dals die Unterscheidung zwischen gelernten (c2)
und ungelernten (c 3) Arbeitern getroffen ist, je nachdem die
— jamilienfremden — Hilfepersonen für den Beruf, den sie aus^
üben, vorgebildet werden oder nicht ^) Die Unterscheidung zwischen
gelernter und ungelernter Arbeit gehört zu den wichtigsten, aber
auch zu den schwierigsten Problemen der Berufestatistik. Sie hängt
enge mit einer Reihe von weiteren schwierigen Fragen zusammen:
nach dem Berufswechsel, dann inwieweit der vormahge Beruf in
dem demographischen Habitus narlnvirkt , nach dem Verhältnis
zwischen dem persönlichen Beruf und der Art der Unternehmung,
worin er ausgeübt wird, u. S. w. Es scheint, dafs das Statistische
Reichsamt das Problem ursprüglich von der Seite der Betriebs-
statistik aus anfassen wollte. Wenigstens erklärten die Regierungs-
Vertreter gelegentlich der Kommissionsverhandlungen des Reichstags,
die den l'ntcrnchmern auf der dritten Seite des ( lewerbebogens zu-
gemutete GUederui^ des Bctriebspersonals nach der thatsächlichen
Beschäftigung bezwecke, die beschäftii^ten Personen zunächst in
zwei Katc-.7orion zu teilen: in solche die eigentlich, und in solche
die uneigentlich (als Hilfspersonen) gewerblich im Betriebe thätig
sind, und ferner die beschäftigten Personen in die zwei Kategorien
der gelernten und ungelernten Arbeiter zu zerlegen. Ich habe s. Z.
schon bei der Besprechung der P'rhcbungsformularien Zweifel darüber
geäufscrt. ob diese Krklärun;^ den Intentionen der Statistiker beim
Entwurf der I'^M inulare t ritsprarh. ■) Thatsächlich ist darauf ver-
zichtet worden, jene .Angaben des Gewerbeboc^ens für unsere Frage
zu verwerten. Ihre Lösung steht ganz auf dem Boden der Berufs-
Statistik. Aber diese enthielt ja keine Frage über die Vorbildung
Im TabellcDwcrk »clbst lautet die Bezeiduillllg i,c 3: Gesellen, Lehrlinge
und sonstige Arbeiter Ittr Dienadeistnagcn, zu weldien in der RegA dne VoibildmiC
erforderiich ist" und „c 3: Andere Hilfsperaooen,' Handiirbdter, HaikUufer, lOMlice
Arbeiter flir Dienstleistungen, m welchen in der Regel eine Vorbildong nicht er-
forderlich ist, . . In der textlicbcn Bearbeitung ^ihlnngsverk S. 73 ff.) weiden
die crst«Ten schlechtweg als gelernte, die letzteren als ungelernte Arbeiter bezeichnet,
was j;\ der Absicht dieser UiU'-rschfidung in der That viilliß fntspricht. ich darf
mich il.ih'-r dieser Ausdrücke gh-ichfalls b<>dieiu-D, obwohl ii h sie — wie glddl
begründet werden soll — sachlich nicht für ganz zutrcifend halte.
*) Statist. Monauschr. Jalirg. 1895 S. 296.
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Die Berufs* und Gcwerbciählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 609
zum Berufe! Wie kam man also zu jener Unterscheidung? Durch
eine unmerkliche Veränderung des Standpunkts. Es handelt sich
jetzt nämlich nicht so sehr um Eigenschaften der gezählten Per-
sonen, als vielmehr um die Beschaflenheit der angegebenen Be-
schäftigung. Je nachdem die mit der Aufbereitung der Ma-
terialien befa&ten statistischen Aemter eine besondere Vorbildung
für die angegebene Beschäftigung als erforderlich erachteten oder
nicht, wurde der Arbeiter selbst zu den gelernten oder den un-
gelernten gerechnet Dem entspricht auch korrekterweise die schon
früher angemerkte Bezeichnung der betrefTenden Positionen: c 2 Ge-
sellen, Lehrlinge und sonstige Arbeiter für Dienstleistungen, zu
welchen in der Regel eine Vorbildung erforderiich ist, und c 3
Andere Hilfspersonen ... für Dienstleistungen, zu welchen in der
Regel eine Vorbildung nicht erforderlich ist Wenig pafst es aller-
dings dazu, wenn neben Gcschäfbkutschem , Fuhrleuten, Haus-
dienern u. s. w., auch Maschinisten und Heizer hierher gerechnet
werden, da doch die crsteren wenigstens sot^ar einer ganz beson-
deren Qualifikation bedürfen. Hier scheint der bei den Koniniissions-
beratungen aufgetauchte Gedanke an die Scheidung zwischen eigent-
lichen und unei^^cntlichcn Gewerbeangehörigen noch nachzuwirken.
Nur (!al< er auf dem Gebiete der Gewerbestatistik berechtigt ist,
auf dem Gebiete der Berufsstatistik kaum. Für diese letztere ist
das Individuelle mafsgcliend: der einbekannte Beruf mufs wohl
oder übel als der eigentliche angesehen werden.
Die Unlersciicidunt^ zwischen gelernten und un'^elernten .Ar-
beitern beruht also nicht, wie alle anderen Zählu^^^s^rlrcbnissc, auf
einer eisjjcns darauf gerichteten I*rage, sondern Icdi^flich auf dem
l'rteil der >>t.itistischen .Arbeitsstellen darüber, ol) die als Haupt-
beruf angegebene Bcsrhäftigung eine \'(irbiidun^^ erfordert oder
nicht. I'ikI dieses rneil ^niindet sich einzig und allein auf tlie Be-
rufsbenennungen. Genu;j;en diese wirklich für eine derartige Gruppie-
rung? Schwerlich. Idi glaube, dafs recht willkürliche oder gewalt-
same rntersrheidungen dabei un\ eriiieidlich waren. Die in dem
Zählun^swerke angeführten Beispiele ' bestärken mich nur flarin.
Es ist nicht abzusehen, warum z. B. in tler Textilindustrie zwar
die Sj)ulerin. Andreherin und .Vnsetzerin als gelernt, die .\ufsetzerin,
Haspleriii und Winderin aber als ungelernt gelten solle. In der
Seidenindustrie, wo diese Beschäftigungen ja auch vorkommen, er-
1) Zihlungswcrk S. 82.
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6io
H. Rauchberg,
fordert die Feinheit des Fadens bei allen derartigen Verrichtungen
eine feine und geschickte Hand, wie sie nur durch längere Uebung
erworben werden kann. Und mehr £inübung oder Abrichtung - ist
in der äu(serst arbeitsteiligen Fabriksindustrie auch zu den meisten
anderen Verrichtungen nicht erforderlich, die man als „gelernte**
gelten liels. Die ganze Unterscheidung ist also äuCserst problema-
tisch. Ich will sie als ein immerhin interessantes Esqieriment gera
gelten lassen. Aber man darf dabei nicht übersehen , dafe sie for-
mal auf ganz anderer Grundlage beruht wie alle anderen Zahlungs-
ergebnisse.
Da(s die hier besprochenen Unterscheidungen der sozialen
Stellung nicht auch für die Berufeabteilungen OefTentlicher Dienst
und Ireicr Beruf, Häusliche Dienste und Lohnarbeit wechselnder
Art zutreffen können, liegt auf der Hand. Für diese modifiziert
sich demnach die Bedeutung der drei Klassen a) Selbständige,
b) Angestellte und c) Arbeiter je nach dem besonderen Charakter
der einzelnen Berufsarten.
Gegenüber der Zählung von 1882 erscheint nunmehr die Ab-
grenzung der einzelnen sozialen Schichten wesentlich verfeinert, fast
über die Grenzen hinaus, welche durch die Art und Weise der Er-
hebung gezogen sind. Weitere Unterscheidungen werden sich für
die Kategorie der Selbständii^f ti aus der Benutzung der Betriebs-
daten ergeben. Hingegen ist bei der Landwirtschaft eine Position
aufgelassen, welche 1882 gcscliaffcn worden war: die landwirt-
schaftlichen Tagelöhner, die gleichzeitig selbständig Landwirtschaft
betreiben, mit ihren mithelfenden Familienangehörigen und ihrem (.ie-
sinde (aT). Je nachdem Tagclöhiicrei oder selbständige Landwirtschaft
überwiegt, wurden sie 1895 zu den Scll)ständigen oder zu den Ar-
beitern gezählt unter X'erweisung der anderen Beschäftigung in den
Nebenerwerb. Demzufolge zerfallen die landwirtschaftlichen Arbeiter
nunmehr in 4 Katcu^oricn : c i mitthätige Familienangehörige, c2 land-
wirtschaftliche Knechte und Mägde, c3 landwirtschaftliche Tage-
löhner und sonstige Arbeiter (Schäfer, I lirten u. s.w. l mit eigenem
oder gepachtetem Land ausschlicfslich des Deputat- und Halbpacht-
landes, c4 (lesL^ieichcn ohne eigenes oder L,^epachtctes Land. Für
die Bildung dieser Kategorien sind die .Angaben der Landwirtschafts-
karte mit verwertet worden. Sie ist 1895 zweifelsohne richtiger
M Das findet sich itn TabeUeswerke gar nicht hervorgehoben, im Textbande
nicht mit genügender Schärfe.
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Die Benift> und G««erbezählaiig im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 611
und konsequenter erfolgt als 1882. Aber die Vergleichbarkeit ist
infolgedessen aufgehoben, und die Beantwortung der wichtigen
Frage unmöglich gemacht, wie sich das Verhältnis zwischen Selb-
ständigen und Unselbständigen auf dem Gebiete der Landwirtschalt
seit 1882 verändert bat
Nach diesen methodologischen Bemerkungen gehe ich daran, die
Hauptergebnisse der BeruCszählung über die soziale Schichtung vor-
zufuhren. Die feineren Unterscheidungen innerhalb der einzelnen
Schichten sollen später erörtert werden. Um einen allgemeinen
Ueberblick zu erlanj^en, wollen wir uns vorläufig auf die 3 grofsen
Kategorien: Selbständige, Ani^c stellte und Arbeiter beschranken
und ihre Besetzung sowie die hierin seit 1882 eingetretenen Ver-
änderungen untersuchen. Da diese Kategorien nur in den 3 Be-
rufsabteilungen I Landwirtschaft, Industrie sowie Handel und Verkehr
ohne weiteres zutreffen, so sind die anderen Berufe in den gleich
mitzuteilenden Zahlen vorläufig noch nicht inbegriffen.
Es wurden gezählt:
Selbatlndige Angestellte Arbeiter
1S95 1882 189s i88s 1895 1882
in der Landwirtsdiaft 2568725 2288033 96173 66644 S^*7794 5881819
in der Indastrie . . 2061764 2201146 263745 99076 5955711 4096243
im Handeln. Verkehr 843557 701 50S 261907 141 548 1233047 727262
in ganzen . 5474046 5190687 621825 307268 12 816 552 10705324
\'on je 100 Erwerblhätij^aMi sind demnach:
Selbständige Angestellte Arbeiter
i«95
1882
1895
1882
1895
1882
in <lrr T iindwirtschaft
30.98
27,78
1,16
0,81
67,86
71.41
in der Industrie ....
24,00
34i4l
3.«8
'.55
71,92
64,04
im Handel und Verkehr .
36-07
44,67
11,20
9,02
Überhaupt . .
28,94
32,03
3i29
1,90
66,07
Absolut haben alle drei Klassen seit 1882 zugenommen, die Unselb-
ständigen aber viel mehr als die Selbständigen. Es beträgt nämlich
die Zunahme bei den Selbständigen nur 283 359 oder 5 %, bei den
Angestellten 314557, also mehr als iOO%, bei den Arbeitern aber
2 III 228 oder 20V ^^^^ als drei Viertel aller neu ins Erwerb-
leben Eintretenden gehören der Arbeiterklasse an. Demzufolge ist
der Anteil der Selbständigen an der Gesamtzahl der ECrwerbthätigen
von 32p3 auf 28,94% zurückgegangen, jener der Unselbständigen,
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6l2
H. Rauchberg,
insbesondere der Angestellten entsprcclicnd gestielten. Die Be-
wegung ist bei beiden Geschlechtern die gleiche, denn es waren:
crwerblhitigen 1895 i^S i^S
MSnneni . . 31,34 34,17 4,H Si43 64*5« 63,4t
Fianen . . . 9«,02 »5,43 0,81 0,39 77,17 74*28
An diesen gewaltigen Verschiebungen sind zweifelsohne auch
rein formale Momente bis zu einem gewissen Grade mitbeteiligt.
Dadurch, dais die mitwirkenden Familienglieder 18S2 vollständiger
erfafst und zu den Arbeitern gerechnet wurden, erscheint nunmtehr
die Arbeiterklasse verstärkt. Hingegen sind ihr 1895 infolge der ge-
naueren Erfassung der Angestellten manche Elemente, wie Aufseher
und Werkmeister nicht zugerechnet worden, die 1882 noch zu den
Arbeitern zählten. Speziell auf dem Gebiete der Landwirtschaft ist
der Vergleich durch die früher bereits erwähnte Auflassung der
Kategorie aT: Lnndwirtschaftsbetriel) verbunden mit landwirtschaft-
licher Tagelöhncrci erschwert. 866493 Personen waren 1882 hierher
gezählt worden, welche für die \'erglciclnin<t mit 1895 in der obigen
Ucbersicht zu den Arbeitern geschlai^eii wurden. Die Mehrzahl der
Personen in solcher La^^e wird sich 1895 wohl als Arbeiter be-
zeichnet haben, ein zitt'emiälsiL; nicht näher bestimmbarer Teil aber
auch als selbständiii^e Landwirte. Die Zunahme dieser letzteren
seit 1882 beträgt 3S0692. Inwieweit die Zunahme auf jenes
formale Moment /uriirkzuführen oder der Ausdruck einer thatsäch-
lichen Entwicklungstendenz ist, muls dahini^estellt bleiben. 1 )ie Er-
gebnisse der landwirtschaftlichen Betriebsau fnah in c -sprechen für
die letztere Annahme. Die Anzahl der Landwirt>i hatisbetriebc hat
danach nänilicii um 28 1 973 zugenommen, wox-on allerdings die gröfscre
Hälfte, nämlich 174536, auf Parzellenbetriebe unter 2 ha entfallt.
Warum weder die Zahl noch die X'ermehrung der Landwirtschafts-
betriebe mit jener der selbständigen Landwirte übereinstimmt, wird
im III. Teil dieser l'ntersuchungen zu erörtern sein. Auch die N'^er-
niehrung der Landwirtschaftsbetriebe erklart sich zum Teil aus
formalen l^rsachen. Ai)er die luitwicklungstendenz tliiiltc dann
wohl richtig zum Austlruck kommen utkI insofern stimmt sie ja
auch mit den Ergebnissen der Berufsstatistik überein.
In der Landwirtschaft iiabcn die .Selbständigen also zugenommen,
die Arbeiter aber um 254070, also nicht unerheblich abgenommen.
In den anderen Berufsabteilungen war die Bewegung die cntgegen-
Toa je 100
Sdbstiiidige
AngestelUe
Arbeiter
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Die Benifs- und Gewertwailhlung im Dentachcn Reich vom 14. Jim! 189$. 613
gesetzte; in der Industrie haben die Selbständigen sogar absolut,
um 139382 abgenommen. Demzufolge kommen auf je einen Selb-
ständigen
Angestellte Arbeiter zusammen
»»95
i88a
1895
»895
1882
in
der I^nd Wirtschaft.
• 0,04
0,03
2,19
2,57
2,23
2,60
in
der Industrie .
• 0,13
0,05
2,89
1,86
3,02
1.91
im
Handel utul \'<Tkchr
■ 0,31
0,20
1,46
1,04
«.77
1,24
\
im ganzen
. 0,1 1
0,06
»i34
2,00
2,45
2,12
Inwieweit hieraus auf die fortschreitende Konzentration der Ge-
werbebetriebe zu schlie(sen ist, wird im Teil unserer Unter-
suchungen zu erörtern sein. Vom Standpunkte der Berufsstatistik
aus stellt sicli die f^anze Bewegung zweifelsohne als eine erhc!)lirlie
Verstärkung der Arl < itrrklassc jener der Arbeitgeber gegenüber dar.
Dabei ist noch zu berücksichtigen, dafs auch Administratoren, Ge-
schäftsleiter und sonstige Beamte in Icitttidn Stellung zu den
Selbständigen gezählt wurden, also nicht durchaus solche Personen,
welche sich in Unternchmerstellung befinden.
Das Zählungswerk verwahrt sich dagegen, dafs die aus diesen
Ziffern hervorleuchtende Entwickln iil^ als eine fortschreitende IVole-
tarisierun^ der ( icscllschaft gekennzeichnet werde. \'ielmehr sei eine
derartii^c iMitwicklung bei starker Volk^scrmehrung und starker
Zunahme tler Krwi t!)stliäti,^'keit naturnotwendig. Xaturnotwendig
ist vielleicht etwas i;c\va|4t. Es ist ja richtig, dafs die Industrie,
denn diese koiiiint dabei in erster Linie in Betracht, nicht so sehr
tiurch die Hegrundung von neuen l'ntcrmhmungeii als \ielmehr
durch die Erweiterung von bereits l)estelienden sich entfaltet, so
dafs die Arbeitnehmer rascher anwachsen als die Arbeitgeber. Aber
hier lial)en die Arbeitgeber überhauj)l nicht zu;..{enoinin< !i , sotuiern
um mehr als 6" „ ahgem mimen. Eine notwendige Begleiterscheinung
aufstrebentler l\tit wicklung wird man darin nicht erblicken können.
Es ist ferner richtig, dafs der Nachwuchs, dem wir die Erhöhung
der Volkszahl verdanken , nicht gleich in die obersten sozialen
Stellungen gelangen kann, sondern sich, wenn überhaupt, zumeist
von unten aus hinaufarbeitet. Auch ist die gesamte industrielle Be-
völkerung seit 1882 jünger geworden, denn von je lOO Erwerb-
thätigen der Industrie waren
189s 1882
noch nidit 20 Jahre alt 21,84 19,66
n II
49,87 47ia3
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6i4
H. Raochberg,
Aber die Wrschärfung des l'cbcrg^cwichts der Arbeiter beschränkt
sich keineswegs auf die iui,a'n<lIiclK-n Altersstufen. Sic tritt nicht
minder entschieden in den mittleren und hüiicren uns ent^e^j^en,
kann also keincswep^s ausschlichü« Ii ofU r auch nur hau|itsächlich
auf die \arh\vuch^\ erhältnissc- zurück^etuhrt werden. \'oti je lOo
den neheiibezeidmeteii .Altersstufen an^rehörigen trwerbthätigcn
der Berufsabteilung Industrie waren nämlich:
»895
1882
Verstärkung
«i. l'ro/rntNat/es
Altersklassen
Selbst. Angest. Arbeiter
Selbst. Angest. Arbeiter
li. Arbeiter
1882—1895
uter ao Jahre
3.5«
I.S9
94.83
6.97
0,49
92,54
H- 2,29
ao— 30 ^
15.*»
3.35
80,84
22,70
1,99
75,3t
+ 5.53
30—40 r>
31.26
4,»7
64,57
41,98
1,99
56,03
-f S,54
40-50 „
39.74
3,96
56,30
50.71
1.74
47.55
+ 8,75
50-00 ..
46.59
3.42
49.09
59.26
1.49
39,25
+ 10,74
60 70
54.00
2,61
42.49
66. 78
1.12
32,10
+ 10,39
70 u. mehr Jalin
1.6S
32-39
75-^3
0.72
24.0;
4- S.34
im gaiucn
24,90
71,92
34,41
1,55
04,04
' -f 7,SS
Wir sehen also, dafs sowohl 1895 wie 1882 die Klasse der Selb-
ständigen mit zunehmendem Alter immer starker, jene der Arbeiter
immer schwächer besetzt ist Dabei erstreckt ach die 1895 für
den Durchschnitt konstatierte Verstärkung der Arbeiterklasse auf
sämtliche Altersstufen. Wäre sie nur eine Folge der Nachwucbs-
verhältnisse, so müGste sie in den jüngeren Altersstufen stärker her-
vortreten als in den höheren. Hätten Alter und Nachwuchs keinen
Einfluls darauf, so müCste die Verstarkui^ auf allen Altersstufen
die gleiche sein. Aber weder das Eine, noch das Andere ist der
Fall. Wir sehen vielmehr, dals die Verstärkung der Arbeiterklasse
seit 1882 von Altersstufe zu Altersstufe bis zum 60. Jahre zunimmt.
Es ist also felsch, sie aus der Volksvermehrung und den dadurch
bedingten Aendeningen des Altersaufbaues zu erklären: sie ist der
statistische Ausdruck einer ganz bestimmten sozialen Entfaltung.
Ob sie Proletarisierung zu nennen sei oder nicht, ist doch nur ein
Wortstreit. Ks häuL^'t davon ab, welchen Sinn man dein Worte
beilegen will. Proletarisierung im Sinne fortschreitender Trennun^j
des Arbeiters von seinem .Arbeitsmittel: ja; Proletarisierung im
Sinne fortschreitender Verelendung: nein. Denn die beiden Be-
wegungen, die Marx mit diesem Ausdruck bezeichnete, haben auf-
gehört identisch zu sein. Darüber ob sie wohlständig gewiikt
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Die Berufs- and Gewerberiihlnng im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95. 515
haben oder nicht, vermag die Beruisstatistik keinen Aufichluß zu
erteilen. Darauf will ich mich hier auch gar nicht einlassen. Es
kam mir nur darauf an zu zeigen, da(s das stärkere Uebergewicht
der Abhängen über die Selbständigen keineswegs, wie uns das
Zählungswerk glauben machen will,') als der statistische Nieder*
schlag der Volksvermehrung und erweiterter Erwerbthätigkeit an>
zusehen ist, sondern dafs wir es hier thatsächlich mit einer wirt-
schaftlichen Entwicklung von aufserordentlicher sozialpolitischer
Tragweite zu thun haben. Es steht eben fest, dals seit 1882 die
Selbständigen nur um 283559, Arbeiter aber um 21 11 228, also
7,5 mal so stark zugenommen haben.*) Um soviel ist, wenn wir
die Angestellten als neutral annehmen, die Verteilung der gegen-
satzlichen Klassen Interessen verschoben, die Wucht ihrer Vertretung,
wofern sie von der Zahl der Beteiligten abhängt, auf Seite der Ar-
heiter vergröfsert Und das ist eines der wichtigsten Ergebnisse
der Berufszählung.
Wesentlich anders stellt sich allerdings die soziale Schichtung
dar, wenn man die Angehörigen und Dienenden der einzelnen
sozialen Klassen mit in Rechnung stellt. Es betrug nämlich 1895
in der Klasse
der
SelbstXndigen
Angestellten .
Arbeiter
zusammen
die Zahl der ZagAMgn
Erweibthldgen Dieaendcn Aagthängea ttberhanpt
5474046 863940 12502592 18839578
621825 69522 928635 16199S2
12816552 46346 11398936 24261834
18912433 978808 24830163 44731394
Demnach entfallen auf die einzelnen sozialen Klassen von
je 100
Sociale
KlaiMii
Erwerb*
thitigen
Sdbttiiidige 88^94
Angestdlte 3,29
Arbeiter 67,77
Bcnifssngehörigen
einschlief iL aandilieisl.
der Dienenden
3,62
SMS
41,11
3,$«
55»33
Die Scll)ständigcn haben, wie nicht anders zu erwarten, die re-
lativ grörserc Fainilicntfaltung und Dienstbotcnlialtuiig. Werden die
') Ziihlungitwcrk S. 61.
*) Spezidl auf dem GeMete der hidnitrie itdit einer Timthme der Arbeiter
861468 eme'Abnahoie der SelbeOndigen um 139382 gegenflber,
Archiv für Mt. GeseUgebmc Statistik. XtV. 40
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6i6
H. Ranchberg,
Fainilicnangeliörigcn und Dicnciulcn. oder was jedenfalls zutreffender
ist, nur die crstcren zur sozialen Klasse ihrer Krnährer gerechnet,
so steigt der Anteil der Selbständigen sehr erheblich , jener der
Angestellten noch immer um ein Geringes, wogegen die Klasse
der Arbeiter \ crhälluismärsig schwächer besetzt erscheint. Näheres
über die Verteilung der Angehörigen und Dienenden nach Berufs-
zweigen und sozialen Schichten im IX. und X. Abschnitte.
Will man schliefslich noch die anderen Berufsabteilungen in die
soziale Schichtung mit einbeziehen, so sind sämtliche Erwerbthätige
der Abteilung D Häusliche Dienste und Lohnarbeit wechselnder
Art ebenso wie die Diefistboten den Arbeitern zuzuzählen. In der
Beru^bteüung E Oeffentlicher Dienst und freie Berufe werden zwar
so wie in A — C drei Abstufungen (a, b und c) unterschieden; sie
bezeichnen aber hier in erster Linie die Art des Dienstes oder der
Verwendung. So werden z. B. in der Armee und Kriegsflotte die
Offiziere und Beamten unter a den Selbständigen, die Unterofifiziere
und Gemeinen unter b den Angestellten gleichgestellt Im öflent-
liehen Dienst zahlen die höheren Beamten zu a, das Aufsichts- und
Bureaupersonal zu b, das Dienstpersonal, Bureaudtener, Boten zu c
Das gesamte Lehrpersonal ist zu a gerechnet Man sieht, es ist nur
eine ganz formale Gleichstellung, um die soziale Klassifizierung aller
Berufsthätigen zu ermöglichen, und ohne einige Willkürlichkeit
konnte das überhaupt nicht geschehen. Das Endergebnis dieser
Zusammenfassung ist das folgende:
Van je loo Enreibtliitigeii snid
in den 1895 1SS2
Benifsabteilungen selbständig abhängig
selbständig abhängig
A-
-C also bis einschl. IlamU-l u. Verkehr 28.04
71,06
32,03
67,97
A-
-C „ „ p Lohnarb. wcchs. Art 28,30
71,70
3«,27
^•8.73
-Ii „ „ „ offentl. Dienst , . 28,57
71,43
3>,44
6S,56
-E einscbliefslich der bäusl. Dienstboten 26,84
73,«6
29,25
70,75
Jede dieser Gruppierungen bestätigt das schon früher ge-
wonnene Erj^^ehnis: rlas stärkere Zurücktreten selbständiger Erwerb-
thätif^keit ^ef^enübcr der abhängigen. Das ist der Grundzug der
sozialen Entwirkhmg während des letzten Jahrzehnts.
Dieser Grundzu*^ kehrt auch bei der l'ntersuchung der ein-
zelnen Berufsgrii[>pen und I^erufsarten wieder. Unter den 26 in-
dustriellen Berui.sgru|)})en sind es 7, in denen die absolute Zahl
der Selhständif^en abt,fenonimcn hat, am meisten in der Textil-
industrie. Hier beträgt der Rückgang 139 374 i er ist zum guten
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Die 6cnif»> und GewerbeBtUung im Dentidieii Rdch vom 14. Jftmi 1895. 51/
Teile auf die Verdrängung der Hausindustrie in der Textilindustrie
zurückzuführen. Ferner fiilien durch starke Abnahme der Selb-
ständigen auf: die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe (— 21649),
Bekleidung und Reinigung ( — 16999), Metallverarbeitung ( — 10 715),
Industrie der Steine und Erde ( — 6129). Hingegen haben die
Arbeiter in keiner einzigen Berufsgruppe abgenommen. Die ge-
nauere Untersuchung der einzelnen Berufsarten läfst das leitende
Prinzip dieser X'erschiebungen deutlich erkennen: Die Abnahme der
Selbständigen und Zunahme der .Abhängigen, insbesondere der Ar-
beiter ist die Begleiterscheinung des Niedergangs des Handwerks
und der Ausbildung des Grolsbetriebs ; so in der Weberei, 'r(")[)ferei,
Tischlerei, Böttcherei, bei den Getreidemühlen, Schuhmaciicrn, Hut-
machern u. s.w. Hingegen sind mit den .\b}iängigcn zugleich auch
die Selb.ständigen, wenn auch zumeist nicht im gleichen Malse, in
solchen Berufen gestiegen, deren Thätigkeit sich mit der Bevölke-
rung und dem Wohlstande entwickelt, jedoch ohne dafs dabei die
Betriebsorganisation eine durchgreifende Umwälzung erfahren hätte;
hierher gehören Bäcker, Fleischer, Zigarrenmacher, Barbiere,
Uhrmacher, Maurer, Ciast- und Schankwirtschaft u.s. w. Auch
ist hier die Vertretung der Selbständigen in der Regel zurückge-
gangen, eine Folge der Konzentrationstendenz, welche die Organi-
sation der gesamten Volkswirtschaft beherrsciit. Fingehende Be-
lehrung hierüber wird die im IV. Teile zu besprechende Gewerbe-
statistik bieten.
Die hiermit angedeuteten Fnlwicklungstendenzen haben die
nachstehend ersichtlich gemachten Veränderungen in der sozialen
Schichtung der Frwerbthätigen nach einzelnen Berufsgruppen') zur
Folge gehabt.
(Siehe die nmstdieiide Tabelle.)
Danach sind 1895 die Selbständigen am stärksten vertreten in
den Gruppen Bekleidung und Reinigung, Handelsgewerbe, künst-
lerische Betriebe, Beherbergung und Erquickuog (Kleinbetriebe); am
geringsten im Bergbau und Huttenwesen u. s.w., Industrie der Steine
und £rden, chemische Industrie u.s.w. (Grolsbetriebe). Umgekehrt
stehen die Prozentsatze der Abhängigen, insbesondere der Arbeiter.
Die früber erwähnte Konzentrationstendenz beherrscht beide Gruppen,
jene des Grolsbetriebes vielleicht in noch höherem Ma(se. Denn
') Die absoluten Zahlen Uber die Erwerbthätigcn nach Benifsgruppen sind
M» der Uebetiidit auf S. 287 tn entnehmep.
46»
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6i8
H. Raacbberg,
Von je lOO Erwerbihätigen jeder Berufsgruppe sind:
Berufigriippen
Selbständige
Angestellte
Arbeiter
1895
1S83
i8<»5
1882
1895
lSo3
I. LaadwirfaidMftp Giitaerei vad
4* »"5
0.06
0.61
67.70
TT X^n Malt MiIwi-D-iilKaffc amj^ tTmiifii* ^y^S
11« rorscwinsciuin lUiQ rwcneFn
16 27
•"1*/
I9.Q0
IA.60
72 m
69.13
Iii. ntr^Dau, nuiicnwCvCu cm* •
0 Co
087
Q7.00
IV . inuu.sinc ucr Di^ine n« X!4ildi
6 Q2
12 II
Q0.7 X
85.84
\. ."Mi«iii\triiri>*nuiij^ , ,
1 87
0 SS
80,69
6S.70
VI. IMilNL lUlH II, »>trKZmt;C CIL,
22. 1 I
28.6g
8 i<;
» lA
Jt *"»
69.74
68.17
V 11« \^iicniiscuc inuuswic . . • •
10,20
16
10 IQ
807
7Q 61
viu> &dCiiciiiaHMiC| rcnSi vctc •
1 1
12,21
7 81
76.^8
7 1.8t
I ^ft
4,01
Sofie
34»w>
M7
•»<*4
09,75
0430
XII. llolr- II. Schiutzstoffe . . .
32,02
43i*7
»»49
0,50
00,49
55,57
XIII. Nahrangs- und OenuUmitti-l .
20,1 S
33.57
3.91
2.30
09,9*
64.13
XIV. Bekleidung und Keuugimg .
64.75
'.05
0.34
42,99
34,91
' 7- 3*^
■>
.V/"
^ r tt
•^,33
X\ I. Polygr. Ucwcrbc
II 1 '>
^.34
*>4,02
03,90
XVn. Kluuuer u. kaitttl. BetneDe etc.
36,46
37,a6
M3
1,06
61,11
6t,68
XVnL Fabrikanten, Fabrikubeiteretc.
ohne näherr Bezeiduraof . .
4,74
0,78
M7
1,7«
9«,79
97,46
48,00
57,24
",73
9,0«
40,27
33,68
XX. Versirhffningsgewerbe . , ,
28,24
37..';4
65.93
53,48
5.83
8,98
XXI. Vcrkchrsgowcrb«-
•3.36
16,40
16,47
13.00
70,17
70, 5 J
XXII. Behcrborgiing und Erquickung
35.67
5'r3«
0,49
0.60
63,84
48,09
28,94
32,03
3,29
1,90
67,77
66,07
hier trefTen ihre technischen Voraussetzungen in höherem MaGie zu
und hier spielen sie auch die entscheidende Rolle.
VI. Die einzelnen sozialen Klassen.
Die drei sozialen Klassen, mit welchen die (»sherige Darstel-
lung sich beiafst hat — Selbständige, Angestellte, Arbeiter — , sind
keineswegs von einheitlichem Gefiige. Für die weitere GUectening
der beiden Klassen der Unselbständigen sind durch die Beru&zäh-
lung selbst die nötigen Unterlagen gewonnen worden; wie, haben
wir im vorigen Abschnitte gesehen.') Unter den Selbständigen hat
die Berufszählung bloss die Hausindustriellen gesondert auagewiesen.
») Vgl. oben S. 606 ff.
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Die Berufs» und Gcwerbezählimg im Dentscbeo Reich vom 14. Juni 1895. 619
Es bedarf keiner besonderen Darlegung, dals sie nach dieser Aus-
scheidung noch Personen von der verschiedensten sozialen Stellung
um&Cst, denen nur das eine Merkmal gemeinsam ist» dals sie
eben nicht Arbeitnehmer sind. Das triflt fär den Grofsgrund'
besitzcr in gleicher Weise zu» wie für den Zwergwirt, för
den Industriemagnaten, wie för den Flickschuster, für den Grols*
händler, wie för den Krämer oder Hausierer. Weitere Difierenzie-
rung ist demnach för die soziale Klasse der Selbständigen nicht
minder dringend geboten, wie för jene der Abhängten. Die Er?
hebung von 1895 hat nkht nur ihrer Voigangerin von 1882 sondern
allen Aufnahmen ähnlicher Art gegenüber, die mir überhaupt be-
kannt sind, einen erheblichen Fortschritt dadurch erzielt, dals sie
die Angaben der landwirtschaftlichen und gewerblichen Betriebs-
zählung dazu benutzte, um die soziale Stellung der selbständigen
Erwerbthätigen in den 3 Berufeabtetlungen Landwirtschaft, Industrie,
Handel und Verkehr nach den Betriebsangaben des näheren zu
kennzeichnen. Es ist also die Analyse dieser bunt zusammenge-
setzten Klasse und damit auch eine wesentlich vertiefte Einsicht
in das soziale Gefüge des Deutschen \'olks überhaupt ermöglicht.*)
Auf Grund dieser Materialien soll zunächst die soziale Klasse
der Selbständigen für sich untersucht werden. Daran schliefst sich
die weitere Analyse der Klassen der Angestellten und der Arbeiter,
wobei insbesondere zwischen gelernter und ungelernter Arbeit zu
unterscheiden, und auch die Mitwirkung von Familienangehörigen
zu berücksichtigen sein wird. Eine Sonderstellung nehmen die
Hausindustriellen ihm! die Hausierer insofern ein, als diese durch
die eigentümliche Hetiicbsform auch in sozialer Hinsicht charakteri-
siert werden. Hierauf soll in besonderen Abschnitten näher einge-
gangen werden. Ebenso finden die häuslichen Dienst bnten als eine
eigene soziale Klasse, deren Verbreitung zugleich für die Dienst-
geber höchst bezeichnend ist, Herücksichtigiuig. Dann ist aueh die
Verteilung der nicht crwerlx tiden I'"aniilienangeli<'irigen nach lurufs-
zwcigen und sozialen Schichten zu untersuchen. Aus der Zusammen-
fassung aller dieser Klerrienle ergicbt -icli schliefslich die Uebersicht
über die soziale (iliederung der gesamten Bevölkerung, soweit die
Berufsstatistik hierüber überhaupt Aufschlufs zu gewähren vermag.
Damit ist der Weg für unsere weiteren Untersuchungen vorgezeichnet.
't V>;1. (»rorg Welker, Die Hauptberuf licli Selbständigen im prcufsischcn
Staate mit ilireti niittmerbenflen und nichti rwerbentlcö Angcburigell. ZciUcürift dt»
klg. preuls. btamtischen ÜUrcüiu. 1898, S. l ff.
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6ao
H. Rauchberg,
I. Di« selbständ iprn Erwcrbthäti gr n.
Die weitere soziale DifTcrenzicrung der sclbständi^'cn Erwerb-
thatigen ist (iurcli die licschaflenheit des hierfür verwendeten be-
triebsstatistischen Materials in formaler Hinsicht bedin^^. Al> An-
haltspunkte für die Gruppenbilduncr lieferte die landwirtschaftliche
Betriebszählung die ( Irürsenverhältnisse der- Hetriebsflachen. die Gc-
werbezählung die PersoMcn/ahl der Iktricbe.') Ausge>rhli)>scn von
der Kla.Nsiti/ic! ung bleiben die Leiter jener öffentlichen Bctnelu-, nut
welche die Gewerbestatistik sich nicht erstreckte. Eine weitere
Abweichung von den sonstigen Angaben der Berufsstatistik ergiebt
sich dadurch, dafs eben wegen der Kombination mit den Betriebs-
daten nunmehr der Wohnsitz und nicht mehr der Aufenthalt für
die nachfolgende Darstellung mafsgebend sein mu(s. Sie bezieht
sich also auf die Wohnbevölkerung. Die dadurch bedingten Ab-
weichui^en sind aber ganz unbedeutend und bleiben ohne Einfluß
auf das Ergebnis. Es werden in die geplante Untersuchui^ einbe-
zogen: in der Beru&abteilung I^ndwirtschaft 2562959 Personen,
in der Industrie 2048940, im Handel und Verkehr 822 504, im
ganzen 5434463 von den 5474046 Selbständigen der drei Berufe»
abteilungen A — C. Post* und Telegraphenbetrieb, sowie Eisenbahnen
mit Ausnahme der Stralsenbahnen bleiben dabei als ganz über*
wiegend öffentliche Betriebe ausgeschlossen.
Die Selbständigen der Berufsart Landwirtschaft (A la)
werden je nach der Grrölse der Gesamtfläche*) ihrer Betriebe*) zu
folgenden sozialen Gruppen zusammengefaßt:
Von je 100
Soziale
Klassen
Gröfsen-
klassen
Bttnner
Frauen
zusammen
Mannern Frauen
selbst.
Landw.
Parxellenbesitier vcater a lia
34«ao9
177088
5*5297
15.96
52.24
70.83
Landw.-
schafÜ.
3 bis anter 5
**
604563
7456s
679127
27,70
23^
26,93
S » » >0
•1
SO14S2
40059
541 S4I
32,98
11,82
21,48
Mittel-
stand
«o 1. 5«
11
636275
41 167
677442
39^15
13,14
36.87
50 „ „ 100
n
62920
4182
67103
8,88
M3
3,66
Grolssmndbes. 100 u. m.
28971
1 918
30889
1.33
0,57
M3_
«uammen .
•
2 182419
338979
2521398
100
100
100
*) Teflbetriebe im Sinne der Gewerbestatistik werden hieibei m Gcaamtbetricben
snsMunengefalst
') Hingegen sind in der landwiitsdaftliclien Betriebsstatistik die Gfü6enkale>
gorion nicht nacb dem Gesamtbetrieb sondern nach der Undwirtsdia^di benolitcn
Fläche gebildet
') Bei gemeinsamem BesiU bezw. Betrit^b ist jeder der Inhaber nach der Grofsen-
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Die Berufs- oad Gewerbeiihlnng im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. ^21
Danach würde auf die Fänellenbesitzer, die unbemittelte Klasse,
etwas mehr als ein Fünftel aller selbständigen Landwirte ent&llen;
nahezu vier Fünftel treffen auf die Bauern als den landwirtschaftlichen
Mittelstand, i»23^/o Chrolsgrundbesitzer als die vermögende
Khase. Wieweit diese Gliederung der selbständigen Landwirte
nach sozialen Kategorien zutrifft, hängt davon ab, ob die Grrölsen-
kategorien ihrer Betriebe richtig abgegrenzt sind. Es liegt auf der
Hand, dafe jede derartige mechanische Al^^renzung nur ein Not-
behelf ist Je nach der Güte des Bodens, der Intensität der Kul-
turen, der Gunst oder Ungunst der Lage mi^n die Grencen für
den landwirtschaftlichen Mittelstand in kleinere Besitzstände hinab-
reichen oder nach oben hin verschoben sein. Entscheidend sind
die Gutserträge ; allein hierauf ist ja die landwirtschaftliche Betriebs-
aufnahme nicht eingegangen.') Jedenfalls Gmgt der landwirtschaft-
liche Mittelstand erst bei Landgütern von solcher Grolse an, dafs sie
den Inhaber und seine Familie zu ernähK n vermögen. Hierfür ist
die von dem 2^hlungswerk gezc^^e Untergrenze von 2 ha Be-
triebsfläche entschieden zu niedrig gegriffen. Dazu kommt noch,
dafs die Bildung der Grölsenkategorien für die Zwecke der land-
wirtschaftlichen Betriebsstatistik nach der landwirtschaftlich benutzten
Fläche, für die in Rede stehende soziale Klassifikation der Inhaber
aber nach der Gesamtfläche der Betriebe erful ^t ist. Nachdem im
Durchschnitt nur etwa drei Viertel der Betriebsfläche landwirtschaft-
lich benutzt werden,*) so erscheinen dadurch die Grenzen noch
weiterhin nach unten zu verschoben. Auch die Stufe von 2 — 5 ha
umfafst jedenfalls zum grofsen Teil Parzellenbesitz, so dafs die hier-
her gehörigen forme!! selbständigen I^irulwirte eher zur unbe-
mittelten Klasse als zum landwirtschaftlichen Mittelstand zu rechnen
sind. Darauf deutet auch die Häufigkeit des Ncl)encrwcrbs in
dieser Kategorie liin. Während nämlich im Durchschnitte 20,Io'*,j
aller selbständigen I^aiuhvirte einen anderweitigen Xebenerweri)
haben, ist dies auf der Hctricbsstufe bis zu 2 ha schon bei 26,08,
auf der Stufe von 2 — 5 ha nocli bei 25,54",, der Fall. Die ge-
ringere Ausdehnung der Betriebsfläche wird keineswegs durch inten-
kategorie der gesamten Fläche eingereiht. Daher überragt die Zahl der Betriebs-
Inhaber nach der Berufsstalistik die von der Landwirtscbaftsstatistik ausgewiesenen»
ihnen zugehurigcn Betriebe.
') Vgl. oben S. 249 u. 250.
*) Im ganzen 74,08 Proz., Landwirtsduiftsband S, 22*
622
H. Raochberg,
sivere Kultur und höhere Bodenerträge aufgewogen. Denn nach
den preufsischen Materialien beträgt der durchschnittliche Grund*
Steuerreinertrag bei den selbständigen Besitzungen in den Klassen
der Grundsteuerreinerträge:
TOB 10—30 Thlr. 5,6 Mark
« 30—50 ti 9iO M
II 50 — I» Hi3 w
„ 100—500 „ IS.7 II
„ soo— aooo,, 16^3 „
„ aooo Thlr. and darüber 14,0 „
dmchichiiittlich . 13,6 Mark.
Auch sind die Verschuldungsverhältnisse ntit zu berücksichtigen.
Es ist ja richtig, dals sie bei der Klassenbildung im allgemeinen
nicht in Anschlag gebracht werden sollten, selbst wenn dies nach
der Lage der Materialien anginge. Denn der Besitz, nicht die Bi'
lanz ist maßgebend für die soziale Position. Aber das gilt doch
nur für die besser Gestellten, nicht fUr die Grrenzschichte zwischen
Proletariat und Mittelstand, um die es sich hier handelt Für die
Frage, ob ein kleiner Landwirt zu der einen oder anderen Klasse
zu rechnen sei, ist die Verschuldung gewifs nicht gleichgültig. Und
wenn nun Zweifel darüber bestehen, wie die Bewirtschafter von
2—5 ha Fläche nach den agrartechnischen Momenten sozial zu
klassifizieren seien, so dürften die eben angeführten Erwägungen es
eher rechtfertigen, sie der unbemittelten Klasse zuzuzählen. Auch
die preufsische amtliche Statistik hat bisher 5 ha als die Unter*
grenze für bäuerliche Wirtschaften angenommen,*) und es besteht
keine Veranlassung, dieselbe tiefer hinab zu rücken.*) Halten wir
' Gnindi-i|^< ntum und GebHude im preufsischen Staate auf Grund der Mate-
rialien der (}cbäudesteuerrevision vom Jahre 1893. Preuis. Statistik. 146. Band^
S. LXXXIi.
*) Sutistisches Handbuch für don preufs. Staat. 9. Bd. Berlto S. 192.
*) Conrad tnüat in dem Artlkd Bnurrngut and Bauernstand im Haadvöiterr
buch der StaatswiBcnich. 3. Anfl. das Bedenken, dals mdir th der flinfte TeQ d«
Anwesen mit 2 — 5 ha spannflUiig sei. Das wird dnrdi die landwiitsdiafUidie Be-
rufwihlnng bestttigt, indem 21,8 Prosent der Betridie jener Kategorie Pferde oder
Ochsen zur Ackerarbeit halteiL Es sind dies aber hauptsächlich die gröfscren Be-
triebe. Denn c«; hielten Pferde oder (^rlisf-n und zwar überhaupt, nicht nur zur
Ackerarbeit, von il- n 44S 333 Hetriebr-ii mit 2 — 3 lia Il,l6 Pro/.., in den 323S85
Betrieben mit 3 — 4 lia 18.20 I'roz. und von den 244 1 00 Betrieben mit 4 — 5 ha
20,41 Proz. Handelt es sich um die <>oziale Kias&itizierung der Gcstamtgruppe von
üigiiized by Goo*
Die Beruf»- imd Gewcrbezählung im Deuiscbcn Reich vom 14. Juni 1895. ^23
dafan fest, so entfallen auf den Parzellenbesitz oder die unbe*
mittelte Klasse 47,76 " q aller selbständigen Landwirte, also nahezu
die Hälfte derselben.
Will man aber nicht so weit gehen, so ist doch jedenfalb die
Urtteiigrenze für den landwirtschaftUdien Mittelstand bei 3 ha rich-
tiger gezogen als bei 2 ha.^) Dann scheidet nahezu die Hälfte der
hierhergezähhen Landwirte aus der Gröfsenkategorie von 5 — 10 ha
aus.*) Etwas mehr als der dritte Teil aller selbständigen Landwirte
ist dann noch immer der unbemittelten Klasse zuzuzählen, nicht ganz
zwei Drittel ent&Uen auf den Bauernstand, während der Grofsgrund-
besitz mit etwas mehr als i % von dieser Verschiebung unberührt
bleibt Auch die Grenze von 100 ha ist natürlich nur eine ganz
beiläufige, aber hier sind die Abweichungen von minderem Belang,
weil sie eine vergleichsweise nur geringe Anzahl von Landwirten
betreffen.
Bemerkenswert ist die verschiedene Verteilung der beiden Ge-
schlechter auf die hier untersdiiedenen Klassen der Selbständ^n.
Von den weiblichen selbständigen Landwirten trifft mehr als die
Hälfte auf den Parzellenbesitz, von den männlichen nur etwa der
fünfte Teil. Mehr als ein Drittel der Angehörigen dieser Klasse ist
weiblichen Geschlechts; in der nächsten Klasse — von 2 — 5 ha —
sind es nur noch 11%, in den höheren Klassen 6 — 7%, während
im Durchschnitt 13,44% cl^r selbständigen Landwirte dem weib-
a — 5 ha, so tritt die Spauifahigkett doch noch immer so sehr in den Hiittcrgnuid,
daft maa diese Gruppe eher dem PBneUcnbesitx niShlca sollte.
*) Die beiden Anloritäten Conrad nnd Bnchenberger, nif welche der
Laadwiitschaftibuid des Slblangnrerket sidi beraft, sind gv nicht ftr die Ab>
greazung bei 2 ha. Conrad'^agt a.a.O.'. „Sicher wäre es richtiger erst mit 3 ha
ta begimicn, doch hat die Statistik diese Unterscheidung nicht aufzuweisen." Und
Buch o n Ii o r r mrint <.\grarw«*srn und Apraqmlitik. I.pip/.if: 1R02. i. 1<<1. S. 423),
<iafs die ( jru|)j)o von 2 — 5 ha jedenlalls zu t iticni i ril iiocli uii5cU>stan(li^i-, /.ii einem
andern l<il noch bäuerliche Zwergbetriebe enthalte, so tlal.s die Gren/.e lür mittlere
binerliche Betriebe bei 5 ha xu ziehen sei. -- Selbst die b ad i seht- AgrarenquSte
UM die binerliciien Betriebe erst von to Morgen (3,6 ha) ab beginnen; md Baden
gehört doch an den Lindem mit gröfster BodenxerspUttenmg und intensirster BodcBp
kdtwl
*) Die Zahl der Betriebe mit 2—$ ^ landwirtschaftlich benotzter Fläche bc>
tifgt lOmlich im ^anaen 1016318, darunter 44S3J3 Betriebe mit 2 — 3 ha, das ist
fast die Hälfte. Man kann annehmen, dafs unter den — uns hier allein interessierenden —
Betrieben, die auch (lem Hauptberuf des Inhabers nach der Landwirtschaft xugchören,
das gleiche Vcrhältni:» besteht.
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624
H. Raachberg,
Ikhen Geschlecht angehören. Mehr als drd Viertel davon äiul
Witwen im Alter von 40 Jahren und darüber. Es liegt auf der
Handf dals hier Beruf und soziale Stellung last ausschlielslich durch
den ererbten Besitz bedingt sind.
Bei den übrigen Beni&arten der Berufeabteilung A Landwirt-
schaft U.S.W. werden die sozialen Klassen — ebenso wie in der
Industrie — nach dem Betriebspersonal abgestuft Die A11einbe>
triebe bilden die unbemittelte Klasse, die Betriebe mit 2 bis 30
Personen die Mittelklasse, die Inhaber der gröfseren Betriebe ge-
hören zur vermögenden Klasse. Demnach entfallen in den Berufe-
arten
Girtnerei und akbt
maf die landwirtschafll. Tierzucht Fischerei
Personen Prozente Personen Prozente
a) unbemittelte Klasse 12436 4^,21 10839 6S,SS
bl Mittelklasse . . . 13240 $0,93 4884 31,04
cj vermögende Klasse 121 0,86 12 0,08
zusammen . . 25797 100,00 1S735 100,00
Ob diese Abgrenzung als zutreffend angesehen werden kann,
soll alsbald anläfelich der Grui^penbildung auf dem Gebiete der
Industrie erörtert werden. Jedenfalls sind die Zahlen hier zu gering-
fiigig, um das Ergebnis für die Berufeabteilung A Landwirtschaft
I1.S.W. im ganzen zu beeinflussen. Ihre soziale Gliederung ist dem-
nach die folgende:
L nach der Beredmniig IL nach meiner
des ZiUmigswerks Bereduumg ')
SelbstiiKUge Praient Selbsttndife Protent
a) unbemittelte Klasse 548 S95 'M* ' 888158 34,65
b) Blittelklasse ... 1983942 77,38 1 643679 64,14
c) venaögende Klasse 31 las i,ai 3na» i,ai
zusammen . . 2562959 100,00 2562959 100^
Die von mir berechnete Besetzung der unbemitlellen Klasse
hat nur den Charakter eines Mininialsatzes. Läfst man den hmd«
wirtsrhafthchcD Mittelstand, was nach dem oben Bemerkten \iel-
leiclit das Riclitigere wäre, erst bei einer Betriebsfläche von min-
Das heifiit den landwirtscliaftlkliea Pandlenbesits bis sa 3 ha geiccbnet, in
welchem Falle rund die H&lfle der Landwirte mit einer BetriebsflSche von 2—5 ha
zu den Parzellenbesitzem oder Zwergbaaem und dcmnad&jnir nnbeiuittclten Klasse
so z&hlen ist. VgL Ann. a auf S. 623.
Die Berufs- und Gewerbezäblung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 625
bestens 5 ha beginnen, so würde ihm, wie gesagt, nur etwa die
Hälfte der selbständigen Landwirte angehören und es würde bei
der geringen Besetzung der vermögenden Klasse die andere Hälfte
{ast ganz durch die unbemittelte Klasse gebildet werden.
In den Benifsabteilungen B Industrie und C Handel und
Verkehr erfolgt die Scheidung der Selbständigen in soziale
Klaasea nach der Zahl der in ihren Betrieben beschäftigten Per-
sonen. Hierbei sind die selbständigen Gewerbetreibenden für eigene
Rechnung von den Ibusindustriellen zu trennen, deren soziale Stel- '
lung ja in der Regel schon von vornherein eine andere, wesentlich
geringere ist Durch diese Klassifikation soll der später zu er>
örtemden gewerblichen Betriebsstatistik keineswegs vorgegriflfen
werden. Es handelt sich hier nicht darum, die Betriebe als solche
zu kennzeichnen, sondern lediglich die soziale Stellung ihrer Inhaber.
Danach können die Selbständigen der Industrie in folgeiide
Klassen eingeteilt werden:
Inhaber ron
Industrielle SelbstSndigc
für eigene Rechnung
Betrieben
Ittmer
Franen
Ittaner
Frmnen
zusammen
mit
ftbiolat
in Prosenten
I Pen.
706930
398650
1035580
51,31
85,91
58,74
»-5 »
539980
46034
586014
39>»
13.03
6-10 „
62 864
5 iia
67 976
4.55
»,34
3,86
1 1-20 „
29622
1578
31 200
2,15
041
J.77
21 — 100 „
3233''
1028
33 364
2,34
0,27
1,89
über 100 ,.
8734
«43
8877
0.63
0,04
0.50
zu&ammcQ
1 380 466
382545
1 763011
100,00
iuo,oo
100,00
Inhaber von
Hansindnttrielle
Betrieben
BOimer
Frauen
Bünne r
Frauen
zusammen
mit
absolut
in
Prozenten
1 Pers.
1 12010
1 20023
232033
70,69
94,15
81,15
«— S M
43169
6S69
50038
77,24
5r39
17,50
5— »o »
2341
457
2798
1,4«
0,36
0,98
Uber 10 „
932
138
1060
0,59
o,to
037
sitSMumen
158452
127477
285929
100,00
100,00
100,00
Der AUeinbetrieb überwiegt demnach bei den industriellen
Selbständigen, und vollends in der Hausindustrie. Die Gewerbe-
arten, welche auch bei Alleinbetrieb reichlicheres Auskommen
bieten, sind eine seltene Ausnahme. Man wird daher mit voller
Beruhigung die Alleinmeister, wie wir die Gewerbetreibenden
ohne Hilfsarbeiter im Anschlüsse an das Zählungswerk der
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626
IL Rauchberg,
Kürze halber nennen wollen, der unbemittelten Klasse zuzahlen
dürfen. Zweifelhaft ist dagegen» ob sich die Inhaber der Betriebe
von 2—5 Personen der Mehrzahl nach darüber erheben. Offenbar
hat hier sowohl, als auch für die Abgrenzung der vermögenden
Klasse gegenüber der Mittelklasse das Betriebspersonal in verschie-
denen Gewerben eine sehr verschiedene Bedeutung. Der Wert der
verarbeiteten Stoffe, die Erhöhung der Leistungslahigkeit durch
motorische Kräfte und Arbeitsmaschinen, die Leistungsfähigkeit der
Hilfepersonen, das Alles kommt hierbei zu berücksichtigen. Diese*
Momente schwanken aber von Berufezweig zu Berufezweig und
lassen sich nur schwer auf einen einheitlichen Nenner bringen.
Immerhin scheint es mir zweifellos zu sein, dafe nicht blofe die
AUeinmeister, sondern auch ein guter Teil der Inhaber von kleinea
.GehiUienbetrieben mit zu den Unbemittelten gerechnet werden sollten.
Insbesondere gilt dies von jenen, die nur mit einem Gehilfen ar-
beiten. Es ist dies die gröfeere Hälfte der Selbständigen in der
Betriebskategorie von 2 — 5 Personen. Denn die Gewerbestatistik
zahlt 549399 gewerbliche Hauptbetriebe mit 2 Personen und nur
331327 Betriebe mit 3 — 5 Personen. Die Betriebe mit 2-5 Per-
sonen sind es auch fast ausschliefslich, in denen die Mitwirkung von
Familienangehörigen eine bedeutende Rolle spielt. Hier wurden
deren gezählt bei 586014 Gewerbetreibenden für eigene Rechnung
263 114 und bei 50038 Hausindustriellen 43215. Fast die Hälfte
der erstcren und mehr als vier Fünftel der letzteren arbeiten mit
mitlliätigen Familienangehörigen und es liegt die Vermutung nahe,
dafs das Personal der Betriebt" mit nicht mehr als 2 Personen zum
gröisten Teil .aus solchen besteht. Da nun die Mitwirkung von
Familienangehörigen, wie aucli das Zählungswerk zugesteht, nicht
als gleichwertig mit eigentlicher Gehilfenarbeit angesehen werden
kann, sind jene Betriebe auch nicht Gehilfenbetriebe im eigentlichen
Sinne. Ihre Leistungsfäiiigkeit und die soziale Stellung des Inhabers
ist offenbar eine wesentiicli geringere und es entspräche der Sach-
lage, diese letzteren noch der unbemittelten Klasse zuzuzählen.
Nehmen wir auch hier wieder an, dals die W-rhältniszahlen der
Betriebsstatistik auch für die Gliederung der Bctrichsinhaber ver-
wertet werden dürfen, so scheidet die Hälfte der Inhaber von Be-
trieben mit 2 — 5 Personen aus der Mittelklasse aus und verstärkt
die uiibeinittelte Klasse. Dann gehriren hierher drei X'iertel (75,36 " j,)
der industriellen Selbständigen für eigene Rechnung und neun
Zehntel (89,90*^/0) der selbständigen Hausindustriellen. Zur be*
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Die Berufs- und Gewerbezähluog im Deutseben Reich vom 14. Jud 1895. 62/
mittelten Klasse rechnet das Zahlungswerk die Inhaber von Be-
trieben mit mehr als 20 Personen. Es sind dies 2,39 der selb-
ständigen Geweibetreibenden. Für den Mittelstand erübrigen also,
wenn wir die Hauandustrie vorläufi^^ beiseite lassen, nach der
Berechnung des Zahlungswerks 38,8770» n^li meiner Berechnung
22,25 " 0.
Bevor wir auf die Verhältnisse der einzelnen Berufsgruppen
eingehen, mochte ich nur kurz auf die besondere soziale Gliederuog
der selbständigen weiblichen Gewerbetreibenden aufmerksam machen.
Ihr Anteil an der Klasse der Selbständigen steht mit 21,70% (in
der Hausindustrie sogar 44,58 %) erheblich hoher als auf dem Ge-
biete der Landwirtschaft, aber sie gehören in der Industrie noch
viel ausgeprägter als in der Landwirtschaft der untersten sozialen
Stufe an. Von je 100 selbständigen gewerbetreibenden Frauen ar-
beiten 85,91, in der Hausindustrie sogar 94,15 allein. Von den
Alleinmeistem ist nahezu ein Drittel, in der Hausindustrie sogar die
grolsere Hälfte weiblichen Geschlechts. Die industrielle Frauenarbeit
bat also, selbst wenn sie formell selbständig betrieben wird, ausge-
prägt proletarischen Charakter.
Die Untersuchung nach Gewerbegruppen zeigt, dafe die grölsere
Hälfte aller Alleinmeister für eigene Rechnung, 565 386 oder 54,60 \,
der Bekleidung und Reinigung sich widmet, wozu noch 9282 t haus-
indufltrieile AUeinmeister, das sind 40 % dieser Kategorie, kommen.
In dem Bekleidungsgewerbe sind 76,^4$ unter den Hausindustriellen
sogar 86,35 •/© Alleinmeister; die Mehrzahl davon — 308013 —
sind Frauen. Von selbständiger Stellung kann hier nur im formalen
Sinne die Rede sein. In Wirklichkeit haben wir es mit Stör- oder
Heimarbeit, wenn nicht gerade mit eigentlicher Hausindustrie zu
thun. Aehnlich verhält es sich mit den 43335 Alleinmeistcrn der
TextiUnciustric, die für cij^enc Rechnung arbeiten. In der Haus-
industrie aber beträgt hier die Zahl der AUeinmeister 105 572; sie
machen 45"/,, aller hausindustriellen Alleinmeister und 65,57 "0 aller
selbständic,'cn Hausindustriellen der Textilindustrie aus. Mehr als
lo" „ aller AUeinmeister entfallen ferner auf das Baugewerbe sowie auf
die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe. Hingegen zeichnen sich
durch eine relativ starke Vertretung der Inhaber von ji^rofseren Be-
trieben, also der bemittelten KJasse unter den Selbständigen aus
der Bergbau, die Industrie der Steine und Erden, die polygraphischen
Gewerbe, die Industrie der Leuchtstoffe u.s.w., die chemische In-
dustrie und die Textilindustrie. Dieser letzteren gehört mehr als
i^iyui^ud by Google
628
H. Raucbberg,
der vierte Teil aller Selbständigen an, die Betriebe mit über loo
Personen leiten.
Falst man schlielsUch die Zahlen der selbständigen Gewerbe-
treibenden (iir eigene Rechnung und der hausindustriellen Selb-
ständigen zusammen, so gelangt man unter Berücksichtigung der
früheren kritischen Bemerkungen för die gesamte Industrie zu fol-
gender sozialer Gruppierung der Selbständigen:
L nach der Bereelmiiag II. luidi ndncr
des Zählungswerk* Bcreclmillig
SflbstärKÜRe Prozent Selbständige Prozent
a) unbemittelte KJawe 1 267013 61,87 1585639 77,39
b) Mittclklass«- . . . 7390S6 36.07 421060 20.55
c) vermögende Klasse 42241 2,06 4-241 2.06
zasamroen . . 204S940 100,00 2048940 100,00
Für die Benifsabteilung Handel und Verkehr^) ergiebt sich
folgende Gliederung der Selbständigen nach den Grölsenstufen ihrer
Betriebe:
Inhaber von
Bfiniier
Fkmnen
munmcn
IHnner
Frauen
Betrieben mit
absolut
i n
Prozentes
I Pcrs.
304574
149 231
4^3805
4S.60
76,21
55t «7
2—5 „
271 671
43 165
314^36
43-35
22,05
38,28
6-10 „
32026
2432
34 45«
5r' >
•,24
4,19
11—20 „
12232
709
12 941
»,95
0,36
»,57
31 und mehr „
6944
380
6524
0,99
0,14
0,79
zimwtteD
636747
195817
822 564
100,00
100,00
100,00
Auch hier vereinigen die beiden untersten Gröfsenstufen mehr
als neun Zehntel aller Selbständigen; aber die Alleinbetriebe, die
u'-^rh immer die gröfsere Hälfte ausmachen, treten doch nicht so
stark in den Vordergrund, wie bei der Industrie. Von den Selb-
ständigen im Handel und Verkehr sind 23,81 also etwas mehr
wie in der Industrie weiblich. Drei Viertel davon treffen auf die
Alleinbetriebc , von deren Inhabern hinwiederum fast ein Drittel
— 32,88'*,, — weiblichen (leschlcchts ist; von den Inhabern der Be-
triebe niil 2 -5 I'ersonen sind es noch immer 13,71 und auch weiter-
hin fallt der Anteil der Frauen bei stcig^endcm l'mfang der Betriebe.
Malsgcbcnd für die jj^anze ßerufsabteilung sind die Verhältnisse im
Handelsgewerbe, wo 60,77 % Selbstäiuligen ihr (jeschäft allein
betreiben. Die Mittelstufen werden hauptsächlich verstärkt durch
*) mit AnMcblnfs von Fort-, Tel^frapbe»' and Eiienbahnbetncb.
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Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich vom 14. Juni iS95. 629
die Beherbergung und Erquickung; 58,46^/0 der hierher gehörigen
Selbständigen stehen Betrieben mit 2 — 5 Personeni 5,33 ^/^ derselben
Betrieben mit 6— 10 Personen vor.
Bei der Zusammenfassung der hier unterschiedenen Betriebs-
kategorien zu socialen Klassen sind auch hier die gleichen Korrek-
turen gegenüber dem Zahlungswerke am Platze wie bei der In-
dustrie. Denn auch in der Berufsabteilung Handel und Verkehr be-
steht die Mehrzahl der vom Zahlungswerke zu der Mittelklasse ge-
zahlten Inhaber von Betrieben mit 2 — 5 Personen aus solchen, die
nur von einer Hillsperson unterstützt werden; und diese ist in der
Mehrzahl der Fälle kein eigentlicher Gewerbsgehilfe, sondern nur
ein mitthätiges Familienglied.^) Es wird demnach auch hier rich-
tiger sein, zur unbemittelten Klasse nicht nur die Inhaber von
Alleinbetrieben, sondern zumindest auch die Hälfte der Inhaber
von Betrieben mit 2 — 5 Personen zu zählen. Als vermögend gelten
die Inhaber von Betrieben mit mehr als 20 Personen.
Demnach gelangen wir zu folgender Aufstellung:
I. nach der Berecfamiiig IL nadi meiner
des Zlhlan^nrerks Bcrediniuig
Sdbitlndige Pnwent Selbttiadige Prasent
a) nnberoUtelte Klasse 453805 55,17 606223 73,69
b) Mittelklasse . . . 362235 44/94 209817 25,52
c) vermögende Klasse 6 524 0,79 6 525 0^79
suanmcn . . 822564 100,00 832564 100,00
Stellen wir die Verhältniszahlen über die soziale Gliederung
der Selbständigen in den drei Berufsabteilungen: A Landwirtschaft,
B Industrie und C Handel und Verkehr neben einander, so ent-
eilen von je 100 Selbständigen
I. nadi der Beredmimg IL nach meiner
anf die des Ziblongswerla in Bttedmnog in
ABC ABC
a) unbemittelte Klasse 21,41 61,87 S5i»7 341^5 77tJ9 73,69
b) Mittelklasse . . . 77,38 36,07 44,04 64,14 20,55 25,52
c) Teimögende Klasse 1,3 x 3,06 <^79 1,31 2,o6 0,79
*) Die Betriebsstatistik bat in der Gewerbeabteilaiig Ibndel vnd Verkehr 196 361
Betriebe mit 2 Personen mid 160638 Betriebe mit 3 — 5 Personen ergeben. Nadk
der Bemfsstatistik wiricen in den Betrieben mit 2—5 Personen 204608 Familien-
angehörige mit. Es ist anzanehmen, dafs die Mebnahl derselben in Betrieben mit
2 Personen sich bethätigt und dort die bei weitem gröfsere HftUte des Betriebs-
personab ausmacht.
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630
II. Rauchberg,
Für die 3 Berufsabteilungen A — C zus3fxiiticn gelangen wir
aber zu folgender Aufteilung:
I. nach dir Berechnung II. nach meiner
des Zuliluiigswerks Berechnung
Selb^tändige Prozent Selbständige Prozent
a) uiil)i-min<lte Klasse 2270013 41,1? 3080020 5<>,68
b) Mittelklasse . . . 3 084 563 56,76 2274556 41,85
c) vennögende Kkne 79S77 147 79S87 1,47
»mmmea . . 5434463 100,00 5434463 100,00
Ebenso wie die Berechnung des Zahlungswerks will auch die
meinige nur als eine ganz beiläufige angesehen werden. Weder
nach der einen noch nach der anderen bedeuten die Zahlen die
wirkliche Besetzung der unbemittelten Klasse, Mittelklasse und ver-
mögenden Klasse. Sie zeigen blofe die Gruppierung der formell
Selbständigen nach dem Betriebsumfange, wobei aus gewissen
Merkmalen dieses letzteren auf die somle Stellung der Betriebs-
inhaber geschlossen wird. Dieser Schlufs wird in einer gewissen
Anzahl von Fällen nicht zutreffen, wie auch immer man die Grenzen
ziehen mag. Aber sie sollen doch so gezogen werden, da& er
wenigstens in der Regel zutrifft Und das, glaube ich, wird eher
der Fall sein, wenn man die Selbständigen in Industrie, Handel und
Verkehr, die nur mit einem Gehilfen, und zwar in der Regel nur
mit einem mithelfenden Familicngliede arbeiten, nicht der Mittel-
klasse, sondern der unbemittelten Klasse zuzählt. Sie fallen wohl
auch dem Sprachgebrauchc nach darunter. Zwischen diesen Per-
sonen und den Inhabern von Betrieben mit f^^röfserem Personal
besteht ein weiterer Abstand, als gegenüber den AUeinmeistem.
lieber die thatsächliche Lage und die Lebensverhältnisse soll damit
ja kein Urteil abgegeben werden, ebensowenig etwa über die Ent*
Wicklungstendenz. Denn die Berufszählung von 1895 ist die erste,
w^elche eine derartige Gruppierung überhaupt zuläfstj Vergleichs-
punkte aus früheren Jahren gicbt es nicht. Wenn ich es mir gleich-
wohl angelegen sein liels, der in dem Zählungswerke enthaltenen
Gruppierung eine etwas andere gegenüberzustellen, die ich für zu-
treffender halte, so ist dies hauptsächlich deswegen geschehen, weil
derartige Iirgcbnisse häufig ohne jedweden Vorbehalt in die öffent-
liche PJrörterung hinüber genommen werden. Dals nach den Kr-
gebnisseii der Herufszählung die gröfsere Hälfte der Selbständigen
— wie das Zähluagswerk behauptet — der Mittelklasse angehöre, kann
Die Berufs- und Gewerbezahlun^ im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 53 1
keineswegs als ein feststehender Satz gelten. Ich habe gezeigt,
daCs eine geringe und, wie ich glaube, den thatsachlichen Verhalt-
nissen besser entsprechende Modifikation der Klassenbildung genügt,
um die unbemittelte Klasse als die stärkere hervortreten zu lassen.
Weder das eine noch das andere Ergebnis soll zu einem populären
Schlagwort ausgeprägt werden. Das wird am besten dadurch ver-
hindert, dals man beide Berechnungen einander gegenüberstellt und
so den Leser veranlalst, die relative Berechtigung beider Stand-
punkte nachzuprüfen. — Die VerteUung der mitthätigen Familien-
ai^diörigen auf die einzelnen socialen Klassen der Selbständigen
soU unter Nr. 3 dieses Abschnitts, die Gliederung der nicht er-
werbenden Familienangehörigen später in dem Abschnitt X erörtert
werden.
2. Technisches, Aufsichts-. Rechnungspersonal.
Wie aus der I 'cbersicht auf S. 618 erhellt, sind die Angestellten
am meisten vertreten im \'ersirherun'^s<:;c\verbe (65,93 der Erwerb-
thätigen), dann im X'erkehrsgevverbe 1 16,47 in der Forstwirt-
schaft und Fischerei ( 12,90 in der Industrie der Leuchtstoffe,
Fette und Oele ( 12,21%), dem Haiidelsgewerbe (ii,73%j uud der
chemischen Industrie (10,19",,).
In der Ikrufsart Ai I^ndwirtschaft, sowie in der Berufsabteilun^
B Imlustrie werden die Angestellten noch weiterhin gegliedert, je
nachdem sie dem technischen, Aufsichts- oder Rechnuiigspersonal
angehören. Das Ergebnis ist das folgende:
Land w i r t > c Ii u 1 1 Industrie
unter icxx> unter looo
Personen
Erwerbthätigen
Personen
Enrerbthätigen
Tedmisdies Penonal (Wirt-
idiaibrtNMNnte) . . . . 46208
5»7
49493
6,0
AufsichtqtenoiMl .... 38326
3.S
105 120
W,7
Hnrhnongi" n. Bnremperion. 2444
0.3
109133
13,2
mumiMn 76978
9,5
3i>9
3. Die Arbeiter.
Die Arbeiter der Berufsabteilungen A — C, Landwirtschaft, In-
dustrie , Mandel und W^rkehr, werden weiterliiu uiiterschiedcn in
mithelfende h'amilienangehörigc, gelernte und ungelernte Arbeiter.
Die methodologisch-kritischen Bemerkungen hierüber habe ich be-
reits im V. Abschnitt S. 606 ff. vorgebracht Die Besetzung der ge-
nannten Arbeiterkategorien in den 3 Berufsabteilungen A— C ist:
ArcMv fiir Mi. Gcietigcbuaf u. SuuMk. XIV. 4^
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633 H. Rftuchberg,
Auf 100
Absolut orwcrbthätij^r Pcrsonrn
Miinner Frauen zusammen Männer Frauen Überhaupt
mithelfende Familien-
angehörige . . . 910 641 1158944 2069585 6,48 23,88 10,94
gdcnMc AiMter . . 474S747 1272894 6031641 33,78 26,23 31,84
ungelernte Arbeiter . 34« »709 i3»3ö<7 A7»SS»6 84,99
»iMimncii 9071097 374r455 ia«i655a 64,53 77.«7 67.77
Etwas mehr als der sehnte Teil der Erwerbthätig^en oder i6®/q
der Arbeiter in A — C wären danach mithelfende Familien-
angehörige. Diese Angabe muls jedoch erst richtig gestellt
werden.
Denn p^erndc die im Betriebe des Haushaltungsvorslandcs mit-
thätigcn Familienangehörigen sind es, bei welchen die Feststellung
der Thatsachc, ob crwerl)cnd oder nicht, gewissen Schwierigkeiten
begegnet. Damit hängt auch zusammen, dals jene Mitwirkung in
zahlreichen I-ällen nicht als Haui)t- sondern als Nebenberuf einge-
tragen worden ist. Insbesondere bei Ehefrauen hängt es wohl
mehr vom Zufall ab, ob das eine oder das andere geschehen ist.
Durch eine entsprechendere Anleitung zur Ausfüllung der Haus-
haltungsUste wird das ja für die Zukunft zu vermeiden sein. Für
die vorliegenden I^rgehnisse der Erhebung von 1895 ergiel>t ^ich
aber daraus, dafs der volle Umfang der Familienarbeit erst dann
erfafst ist , wenn auch der Nebenerwerb dabei mit berücksichtigt
wird. So verfährt in richtiger Beurteilung der Sachlage da^ Zah-
lungswerk, und (hni wollen auch wir uns, dem Gang der Dar-
stellung in diesem Punkte vorgreifend, anschlielsen.
Danach beträgt die Anzahl der mithelfenden Familien-
angehörigen
im ' im
in den Bemfsabteilongen Hauptberuf Nebenberuf nnmuicn
A 1 Landwirtschaft 189S867 I061419 2960346
Aa, 3, 5, 6 sonstige landw. Bemfscweige . 47^3 4^17 8999
B Industrie 56003 72560 128563
C Handel und Verkehr 109933 173594 283527
im ganzen 2069585 1311790 338137$
Die Landwirtschaft ist das eigentliche (iebiet der Familien-
arbeit. 87,82 „ aller mitthätigen Familienangehörigen gehören
ihr an, nur 3,80 der Industrie, 8,38 dem Handel und Verkehr.
Unter 4£.locx> Arbeitern sind helfende Familienangehörige
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Die Berufs- und GewerbezShlimg im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 633
im H(nq)tbenif im Hanpt> and Nebenberuf :
in A I I^nd Wirtschaft . . 348,7 43li3
in 6 Industrie .... 9,4 20,S
in C Handel und Verkehr 116,6 H5i3
Die Zahlen werden also durch die Einbeziehung des Neben-
erwerbs wesentlich erhöht In der Industrie, dem Handel und
Verkehr ist die Familienarbeit sogar häufiger ab Nebenberuf wie
als Hauptberuf eingetragen worden. Ganz besonders gilt das vom
weiblichen Geschlechte. Es sind nämlich von je 100 helfenden
Familienangehörigen
in den Bcrulsabteilungcn im Hauptberuf im Nebenberuf
mlmiL weibl. minnl. wcibl.
A I Laadwirtichaft . . 46,43 53,58 15,49 84,5t
B bdnstrie 21,48 78,52 20,81 79,18
C Handel and Veikehr t4fil 85,99 10,5t 89,49
Man sieht, wie stark die Frauen überwiegen, und zwar im
Nebenberuf noch mehr als im Hauptberuf. Aus dieser kleinen Zu-
sammenstellung fällt auch ein Streitlicht auf das Kapitel „Frauen-
arbeit". Es ist nunmehr klar, wie grofsen Einflufs die Art und
Weise der Erhebung auf die Erjijebnisse über die Retcilii,ning der
Frauen am Erwerbsleben hat. Je nachdem ihre Bethätigung überhaupt
als Erwerb und dann wieder als Hau[>t- oder Nebenberuf aufgefafst
wird, schwanken auch die Zahlen, ohne dafs der Verschiedenheit
der formalen Behandlung durchaus materielle Unterschiede ent-
sprächen.
Dies wird auch durch die Untersuchung iiacli einzelnen Berufs-
gruppen und Berufsarten bestätii^t. Am meisten sind die mithelfenden
Familienaiii^a-hörit^en in folL^endeii Berufsgrupjien vertreten, wobei
Haupt- und Ncbenbcrul zusammen genommen werden :
Prozentsatz der
Mitheltcndc Fainilicnaiij;. nutli<-lfr-ii(len Fraiu n im
absolut auf je 1000 Arbeiter Hauptberuf Nebcnberul
Bdierbe rguQg u. Erquickimg
143961
345,3
89,8
89,69
HandeUgewerbe ....
134928
231,6
84,34
91,25
Nahrungs» n. Genufsmittel .
63966
94,8
85,a9
86,41
Textaindostrie
22382
30,7
85,89
87,23
Bddeidnng n. Rdnignng . .
18408
«7,5
85,34
9i,a5
Wir sehen, es sind zumeist Berufe, die von der hauswirtschaft-
lichen Bethätigung abzweigen, wie Beherbergung und Erquickung,
41*
Digitized by Google
634
H. Rancbberg,
Weberei, Schneiderei, Wäscherei, oder in welchen den Frauen der
Verkauf der Waren obliegt, wie z. B. bei der Backerei, Fleischerei
oder im Waren» und Produktenhandel Die hier angeführten
5 Berufsgruppen umfassen nicht weniger als 93 7o
Industrie, dem Handel und Verkehr mithelfenden Familienangehor^en,
und in jeder derselben sind die Frauen mit mehr als 85^,»
an der Familienarbeit beteiligt Die Familienarbeit steht gleichsam
an der Schwelle beim Uebergang von der geschlossenen Hauswirt-
^aft zur Volkswirtschaft In solchen Berufen, weldie ausschlielslicb
mit hochentwickelter Technik betrieben werden oder eigentliche
Fachbildung voraussetzen, kommt sie fast gar nicht vor.
Wie verteilen sich die Familienangehörigen auf die einzelnen
sozialen Klassen der Selbständigen, in deren Betrieben sie mithelfen?
Auch darüber enthält das ?^hlungswcrk eine Uebersicht, welche —
wie die soziale Klassifikation der Sclhständif^cn überhaupt — durch
die Kombination der Berufs- mit den Betriebsdaten gewonnen worden
ist. Ich habe schon früher dar^cthan, ' ) n nriim diese kombinierten
Daten mit jenen der .Berufsstatistik zififermäisig nicht vollkommen
übereinstimmen können. Noch weitergehende Abweichungen er-
geben sich speziell für die mitthätigen Familienangehörigen. Bei
den bisherigen Untersuchungen sind nämUch zu dieser Kategorie
nur diejenigen gezählt worden, welche in den Zählpapieren mit dem
Beisatze ,, hilft" gekennzeichnet worden waren, und demnach nicht
als eigentliche Gewerbsgehilfen oder Dienende anzusehen sind. Bei
der sozialen Klassifikation nach den Gröfsenkategorien der Betriebe
sind aber auch eigentliche Gehilfen, sogar Dienstboten, welche mit
dem Betrichsinhabcr verwandt sind, mit zu den thätigen Familien-
angehörigen gczähh. Andererseits konnte bei dieser Zurechnung
nur die BctliätiuiunL; im llaupil)cruf berücksichtigt werden, während-
dem bisher auch (Hc Nebcnberufsfälle einbezogen worden situl.
Daraus ers^a-l)en sich so er]iehli( he Abweichungen, dafs die absoluten
Zahlen untereinander nicht \eiL;lichen werden können. Auch läfst
sich der Anteil der Faniilienaiu'ehori<7cn an dem gesamten Betriebs-
])ersonal der einzelnen Grörsenklass«'n nicht bestimmen, weil das
tamilientreinde rcrsonai nicht in dieser (iliederung nachgewiesen
ist. \\ ir müssen uns demnach darauf beschränken, die (iliederung
der mitthätigen h'amilienangeh('>riL;en nach Betriebsgr(>rseiiklasscn
und lin- Verhältnis zu den Selbständigen in jeder derselben dar-
*j Vgl. S. 620.
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Die Berufs* tmd Gewerbeilhlnof im Dealiehea Reich vom 14. Joni 1895. 635
lustellen. Das Verhältnis zu den nicht beruüsthätigen Familien'
angehörigen, sowie die Gesamtstärke der einzelnen sozialen Klassen,
wie sie sicli aus der Summierun^ der Daten über die erwerbs-
thäti^en Selbständigen und ihre Familienangehörigen ergiebt, sollen
späterhin erörtert werden. *)
Die hier in Betracht zu ziehenden Zahlen lasse ich in der folgen-
den Uebersicht zusammen:
Betriebe
mit
Mitthltige Familieo-
«ngebdr^*)
ia auf je 100
Abioliit Pros. Selbatandige
Auf 100 männl. Aaf 100 Selbständige
Selbständige
treffen mit-
thStige
Ehefrauen
I. Landwirtschaft*)
beiderlei Geschlechts
kommen mittbäügr
andcie
Sohne Töchter
Verwandte
I. imter a ha
«34 «33
io^3a
44,59
ai,7a
",47
»3,93
4,79
II. a— 5»
553864
81,85
a5,8o
«5.3«
«4,19
9,37
III. 5— 10 „
562914
24.81
103,95
2^42
37.95
30,60
13,7a
IV. 10— 50 „
832005
36,67
122,82
19,00
5 «,42
35r82
»7.75
V. 50 — ioo„
60 100
3,0s
102,98
9,79
50,15
27,57
16,07
0,6s
47,4a
5,08
34.32
tn aH
10,40
7,00
a 368763
100,00
89,98
at,8&
3a,8i
«6,48
»»,75
2. Industrie fOr eigene
Rechnung
I. . 2— 5 Pers.
263 114
84,87
44,90
8,60
29,21
3,02
4,74
n. 6— 10 „
39954
9.66
44,06
8,43
«7,18
4,99
4,«o
HL 11— ao „
9087
a,93
«9.13
a,96
af,io
«,«7
«,95
TV. 21 — 100 „
6759
2,18
20,26
i,04
16, II
1,06
2,09
V. Uber :oo ..
1 117
0,36
I2.';8
0.29
10,91
0.37
1,02
rasanunen
310031
100,00
42,62
7,86
«7,85
3,05
4,44
3. Hausindustrie
•
I. 2— 5 Peri.
43215
94,3«
86,36
.■?o.37
.■^0.07
20.93
8,26
II. 6—10 „
ao79
4,54
74,30
16,62
28,66
24,48
7,26
Ui. . über IG „
529
i.«5
49.90
_«o,94
19.81
15.57
4,91
zusammen
45 1>23
100,00
85.02
29,29
30,63
21,01
8.14
4-
Handel und Verkehr')
I. 2 — 5 Pers,
204608
90.28
64,99
36,95
14,01
13,68
5.42
n. 6—10 „
16639
7.34
48,26
16,67
15,79
»1.55
5.43
in. ii~ao
4oat
1.77
3«,o7
9,61
ia,4«
5.>6
4,4«
IV. fiberao „
»375
0,61
21,08
4,5a
11,17
a,38
3.ax
nsammen
aa66^
lOOyOO
61,46
33.a6
»4,07
ia,98
5,34
>) Vgl. den X. Abschnitt.
^ Dir ahNolutrn Zahlrn xm<\ (iif Glifdcrung der Selbständigen aoi'S. 620, 625 u. 628.
•) Ohne Giirtncrci, 1 i< rzucht und Fischerei.
*) Ohne Post-, Telegraphen« und EiseidMhiÜMtrieb.
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636 H. Raoehberg,
Hinsichtlich der Ycrhältniszahlen ist zu bemerken, dafs bei der
Berechnung der mitthätigen Familienangehörigen auf die Zahl der
Selbständigen die allein arbeitenden Selbständigen aulser Anschlag
geblieben sind. Danach findet Familicnarbcit noch immer in sehr
weitem Umfange statt. Auf je lOO Selbständige treffen in der
Landwirtschaft 89,98, in der Industrie auf eigene Rechnung 42,62,
in der Hausindustrie 8$,02, im Handel und Verkehr 61,46 mitthätige
Familienangehörige. Werden die Alleinmeister mit berücksichtigt,
so sinken die Verhältniszahlen auf 17,58 in der Industrie für eigene
Rechnung, 16,03 in der Hausindustrie und 27,55 im Handel und
Verkehr. Was die Gestaltung nach sozialen Klassen anbelangt, so
ist die Rolle der Familicnarbeit in der Landwirtschaft eine ganz
andere als in der hidustrie, dem Handel und X'erkehr. Hier >ind
die kleinsten Hetriebe die eigentliche Doniäne der Familien.ubeit.
F!t\va neun Zehntel der mitwirkenden I-'amilicnaiigehörigen entfallen
auf die unterste Stufe der ( ieliilfenbetriebe. Auch im Verhältnisse
zu den .Selbständigen sind sie auf dieser .Stufe am zahlreichsten, um
mit wachsendem Iktricbsumfange abzunehmen. In der Landwirt-
schaft tiagegen ist es die mittlere (Tr()^^e^klasse der eigentlich bäuer-
lichen Hetriebe von lO — 5^ ^velche sowohl almilut als auch im
Verhältnisse zu den Selbständigen (lie meisten mitthätigen Familien-
angehörigen umfafst, nämlich mehr als ein Drittel aller in der Land-
wirtschaft thätigen P'amilienangehörigen und 123 auf je lOO selbständige
Landwirte. Nach oben wie nach unten hin ninutu ihre Beteiligung
ab. Nach oben hin, weil der Betrieb immer aussclilieislicher durch
fremdes Tersonal besorgt wird, nach unten hin, weil der geringere
Betriebsumfang ihre 1 lilfe entbehrlich macht.
Die letzten \ier Spalten unserer Uebersicht stellai die Ver-
wandtschaftsverhältnisse der mitthätigen Familienangehörigen dar.
Ehefrauen wirken verhältnismäfsig am zahlreichsten mit im Handel
und Verkehr und in der Hausindustrie. Die ZiflTera fiir die Land«
Wirtschaft bleiben hinter der Wirklichkeit wohl erheblich ztirüdc
Die Bethätigung der Frauen steht durchaus im umgekehrten Ver-
hältnisse 2um Betriebsumfang, die unterste Stufe der landwirtschaft*
- liehen Parzellenbetriebe ausgenommen. Söhne und Tochter sind am
häufigsten in der Landwirtschaft mitthätig, hier wiederum zumeist
in den eigentlich bauerlichen Betrieben von lo—ioo ha. Während
die Beteiligung der Söhne in der eigentlichen Industrie noch immer
sehr beträchtlich ist, ergiebt sich hier ein starker Ausfall hinsichtlich
der Töchter. Anders in der Hausindustrie. Am geringsten sind die
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Die Bervfii» und Gewcrbedhlnng im Devtsdien Reich vom 14. Jud 1895. 637
Unterschiede zwischen Söhnen und Töchtern hinsichtlich der Mit-
wirkung im Handel und Verkehr, Im «ganzen aber darf konstatiert
werden, dai's der Familienbetrieb noch immer eine hcr\-orragende
Stellung iti der Organisation der deutschen Volkswirtschaft ein-
nimmt Insbesondere die mittleren landwirtschaftlichen und die
kleinen Gewerbe- und Handelsbetriebe, sowie die Hausindustrie finden
darin einen starken Rückhalt im harten Kampfe ums Dasein.
Die Berufsart der Landwirtschaft ist die einzige, für welche
die Mitwirkung von Familienangehörigen schon bei der Beruüs-
Zahlung von 1882 ausgewiesen worden ist. hi diesem Punkte, so-
wie hinsichtlich der Zahl der landwirtschaftlichen Knechte und Mägde,
können also die Ergebnisse der beiden Erhebungen von 1882 und 1895
mit einander verglichen werden. Hingegen ergiebt sich, wie bereits
früher erwähnt,'» eine unüberwindliche .Schwierigkeit hinsichtlich
der landwirtschaftlichen Taglöhncr mit Land, indem dieselben 1882
durchaus abgesondert waren aus^rcwiesen worclen, 1895 aber nur
sofern sie nicht ihrem Hauptberuf nach als selbständige Landwirte ein-
getragen waren. Diese letzteren werden 1895 unter den Selbständigen
ausgewiesen, so dals die Position „landwirtschaftliche Taglöhner mit
Land" nunmehr crhehlich schwächer besetzt erscheint. Trotz dieser
Abweichung vergleiche ich in der nachstehenden Uebersicht die
Details der sozialen Schichtung in der Landwirlschaft nach den
Aufnahmen von 1882 und 1895 tniteitiandcr, nicht nur um die Rolle
der Familienarbcit zu beurteilen, sundern auch um hinsichtlich der
anderen Gehilfen (lie Unterscheidung zwischen Lielernler und un-
gelernter Arbeit durchführen zu können, wovon alsbald die Rede
sein soll. Diese Unterscheidung trifft ja eigentlich nur für hidustrie,
Handel und X'erkehr zu. Um sie auch auf die Landwirtschaft aus-
dehnen zu können, soll die Arbeit der landwirtschaftlichen Knechte
ünd Mägde als gelernt, die Arbeit der Taglöhner mit und ohne
Land als ungelernt gelten.
Die grundlegenden Zahlen sind in der nachstehenden Ueber-
sicht enthalten.
(Siehe die nmsteheade TftbeDe.)
Bei der Vergleichung der Ergebnisse von 1882 und 1895 fällt
zunächst die starke Zunahme der Selbständigen und Angestellten
auf. Die erstere beträgt 270008 Personen oder 12 Prozent und ist
zum Teil wenigstens sicherUch auf die geänderte Behandlung der
») Vgl. S. 610.
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I
H. Ravehb«rg,
Auf
die nebenb«zeiclmetea
Absolute Zahlen') Bewftsidlimg» «nt-
Berufsstcllung Erwerbsthätige im Haaptberuf üUea von je looo (in
miiinlich weiblich iDammcii ^ >) crw«ri»tbltieen
I. nach der Zihlnng von 1895
a Selbsttndige . . .
3177778
344761
>5«S539
409,7
196,3
3x3.5
b Angestellte . . .
58931
18057
76978
11,1
6,6
9.5
ci HittliStise Familien.
anfjehiirige . . ,
881488
1017379
1898867
165,8
37>i6
336,0
C a Landw. Knechte a.
Mägdr ....
1 06S096
650789
1718885
201,0
238,4
«»3.7
c 3 Landw. Taglöhncr
mit Land . . .
3«5399
07473
3S2S72
59.3
24.7
47.6
«4 Landw. Taglöhncr
ohne Land . . .
S13543
631 757
»445300
153.1
331*4
»79.7
Mtawipen
a73oai6
8045441
1000,0
1000,0
1000,0
2. nach der Ziblnng von
i88a
a Selbstindige . . .
1976674
275857
2252531
357.0
109,2
279,3
b Angestellte . . .
41590
5*75
47465
7.5
3.3
5.9
c 1 Mitthfttige Familien-
angehörige . . .
101 1777
933838
1 93461s
183.7
365,3
ca Landw. Knechte n.
Mügde ....
973*58
615830
1589088
I7S.7
«43.7
»97^
c 3 Landw. Taglöhncr
mit Land . .
748240
118253
866493
46,8
»07,4
c 4 Landw. Taglöhner
ohne Land . . .
785 794
387980
1 373 774
142,0
332,8
»70,4
luiauuncn
5 537333
2526633
8063966
1000,0
1000,0
1000,0
landwirtschaftlichen Taglöhner mit Land zurückzuführen, deren nun-
mehr um 483621 weniger ausgewiesen werden, als früher. .\ber
9uch die Mitwirkung von Familienangehörigen im Landwirtschafts-
betrieb hat abgenommen und zwar aujschliefslich bei den Männern.
Hier ergiebt sich ein Ausfall von 130289 Köpfen, also von nahezu
13 Prozent, welclier nur zum Teil dadurch auf^ewof^en wird, dafs
94541 weibliche Familienan^'chörigc neu eingestellt wurden, so dals
die Abnaliine im ganzen 35 784 oder 2 Prozent beträgt. Die dadurch
Die ZiiTern stinunen mh den anf S. 611 angegebenen ans dem Gmnde nklit
tiberein, weil aie sich dort anf die Benifsabteilnng Uer anf die Beniftart
A I Landwiftscbaft besieben.
Digitized by~GöogIe
Die Benifs» und Gewevbeiililitnf kn ]>eiitadieii Reich vom 14. Jmi tS95. 639
entstehenden Lücken sind ausgefüllt durch reichlicbere landwirt-
schaftliche Dienst botenhaltung. Die Knechte haben um 94S38 oder
9^7 Prozent, die Mägde um 34959 oder 5,7 Prozent zugenommen,
woraus sich im ganzen eine Vermehrung um 129797 oder 8,2 Pro-
zent ergiebt ^) Früher entfielen 19,70 Prozent der in Landwirtschaft
thätigen Personen auf das Gesinde; jetzt sind es 21,37 Prozent.
Endlich steht der Abnahme der landwirtschafüichen Ta^döhncr mit
Land eine, wenn auch geringfiig^ Zunahme der Taglöhner ohne
Land — ae beträgt 71 526 — gegenüber. Im ^rofsen und ganzen
wäre demnach das Ergebnis; Zunahme der selbständigen Arbeit
gegenüber der unselbständigen der (iesindearbeit gegenüber dem
Taglohn. Da jedoch die Zahlen über die Taglöhner, wie bereits mehr-
fach hervorgehoben, nicht vergleichbar sind, so ist das Ergebnis in
letzterer Hinsicht mit grofserX^orsicht aufzunehmen. Aber zwei wichtige
und vielleicht unerwartete Details, welche durch die Erhebungsweise
nicht berührt werden, stehen fest: Die Familicnnrbeit hat auf dem Ge-
biete der Landwirtschaft, wo sie die breiteste Wiwcndung findet,
etwas abgenommen und ist mehr Sache der hraucii ;^feworden.
Die ländliche ( lesindchaltuii;^^ aber ist trotz aller Klai^clieder über
den I )icnstb()tcnmangel in Zunahme bcL,^riffcn, und zwar sind erheb-
lich nielir Knechte als Mägde cinf^a'stcllt worden. Als ein Synij)tom
ungünstiger Entwicklung wird man das nicht bezeichnen können.
Sieht man von den rein formalen \'crscliiebuji;^'en infolge der ge-
änderten Klassifizierung der Taglöhner ab, so findet die Annahme,
als ob die ländliche Arbeitsverfassung bisher ernstlichen .Schaden
genommen hätte, in den Ergebnissen der Berufsstatistik keine Be-
gründung.
') Dagegen haben allerdings die häuslichen Dienstboten in der Benifsabteilung
Landwirtschaft um 50216 abj^t-nommcn.
Es liegt die Annalinic nahe, der .Ausfall an landwirtbcliaftlichcn IlihVkriiftcn
habe die zahlreichere Bcthiitigung der Selbständigen vcranlafst. Sie sei notwendig
gewesen, am das Arbeitsdefizit der Landwirtschaft zu decken. So dürfen aber die
ZaUeik nicht gedeutet werden. Die sctbitändigc Stellung ist in enter Linie be-
stimmt dnich den Besitz. Indem dieser 1895 nnch bei den landwirtschaftlichen Tag-
löhnem als matsgebcnd angenommen wurde, wurden deren Reihen gdichtct, jene der
SeflMtlndigen aber im gleichen Vbiüit verstSvIct, und vmr dnrch ioldie, wdche
ihrerseits keine Hilfskräfte hatten , daher der relative Rückgang dieser letzteren.
Schalten wir aber (Vu- l.unhvirtschaftlichcn Taglöhner mit Land aus, und legen wir
das Hauptq<'wiiht aui <Iif alisoluteii Zahlen, so ist kein Rückj^'ang. son(l< rn 'ine
mäfsige \'ermrlirunf; der landwirtschaftlichen Hilfskräfte eingetreten, am stärksten in
der entscheidenden Kategorie der Knechte und Mägde.
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640
H. Rancbberg,
Die Besprechung der Familienarbeit hat dazu gefuhrt, die Ver-
änderungen in der sozialen Struktur der landwirtschaftlichen Be>
vöUcerung überhaupt zu besprechen. Dabei ist auch schon der
nunmehr zu erörternde Gesichtspunkt aufgestellt worden: die
Unterscheidung zwischen gelernter und ungelernter Arbeit.
Die Arbeiter, welche nicht biofs mithelfende Familie ncjlieder
sind, werden nämlich im Zählungswerke weiterhin geschieden in
gelernte und ungelernte Arbeiter. Ich liabc schon Ein-
gangs des \'. Alischnilts gezeigt, wie diese Unterscheidung lediglich
auf dem sul)jt'kti\en Krmcsscn der mit der Aufbereitung der
Materialien befar>teii statistisciien Steilen beruht. ') Werden auch
die laiitlwirt>ehattlichcn Hilf>kräftc einbezogen, so sind in den drei
Berufsabteilungen: Landwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr
zusammen
absolut unter 100 Ervperbthätigen
gclcrnic Arbeiter .... 6021621 31,84
nngelerate Arbeiter . . . 4725326 24|99
Die Gestaltung in der Landwirtschaft ist soeben besprochen
worden. Für die anderen beiden Berufsabteilungen aber ist das
Ergebnis das folgende:
gelernte Arbeiter «agelenite Arbeiter
mlniiL wetbL HMunmcii miuiL weibL mwnunea
B. IiMiutrie . . . ; 5S31473 5«»45« 38519^ »59990? 447*7» «047779
C. Handel a. Verkehr^ 269414 119029 388443 298378 149 131 447509
Dem zufolge kommen auf je 100 gelernte Arbeiter
OBgelernte Arbeiter
in minnl. weibl. * xusammen
Ai Landwirtschaft . . . 105 70 107,44 106,36
P. Industri«- 47.74 89,49 53- »6
C Handel und Verkehr') 216,48 127,24 1^9,13
Unter je 100 Erwerbthätigen überhaupt sind 31,84, also fast der
dritte Teil gelernte, 24,99, gerade ein Viertel ungelernte Arbeiter. Die
überwiegende Mehrzahl dieser letzteren gehört der Industrie an.
Verhältnismälsig treten sie aber im Handel und Verkehr am meisten
hervor. Schon die Untersuchung der einzelnen Berufegruppen lä£st
') VgL die AasfBhmngen anf S. 608 f.
^ Ohne Post*, Tel^raphcn* vnd Eisenbahnbetrieb.
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Die Benifs- nad Gcwfrt>etfHnng im Dentsdicii Reich yom 14. Juni 1895.
erkennen, wie ausserordentlich schwankend das Verhältnis ist Es
wurden gerechnet zu den
01106' md es entfallen auf
gdemten leinten je loo gdenile Arbeiter
Arbeitern
ungelernte
männl.
zus.
III Hcr{,'bau, Hüttenwesen «"tc. .
253042
287 538
107.6
44 SoS,S
1 13.6
IV'. Industrie der Steine und Erdca
»5550»
297 9S9
»79.-:
483,2
1 9, 1 0
V. Metallverarbeitung ....
586684
107 125
»4,7
249,9
»8,3
VL ft&uehinen,Werkceiige,Appante
176969
91692
47Ȁ
4*a.6
5«iO
Vn. Gtemtsche bidnstrie . . .
14936
66884
373*3
2183,1
447,8
Vm. Leoditstoffe, Fette, Oele . .
4936
27 721
5»9,a
1 a«3,9
5«i,6
380040
317 4S3
70,9
9»,6
8St5
41 5.^5
70 680
109,1
571.3
Wi
XI. Lr.l-T
86216
30785
29,3
2834
35,7
XII. Hol/.- und SchnitzstotTe .
361 987
643S8
1 3.2
126.2
17.8
Xlll. Nahrungs- und Gcnul^inittcl .
408 385
182228
•1 •>
«37.3
44,6
XIV. Bekleidung und Reinigung
576423
63709
5.4
18,7
11,1
706763
392 896
54,1
2502,3
5S.6
XVI. Polygrapbiiebe Gewerbe . .
81797
18961
10,0
398.8
23,2
XVIL Künitler o. kibutler. Betriebe
16340
957
4t5
38,9
5,9
XVni. Gewerbl. Pen. ohne nSh. Bei.
1055
«6743
2199,6
4985,0
3534,9
269650
164 169
76,9
60,9
XX. Versiclicninfjsßcwerbe . . .
2S6
1 177
404,6
1 066.7
41 1,>
20016
1 1 3 502
38CJ.6
5 946,9
391,2
XXil. Beherbergung und Erquickuug
89491
168 061
81,6
339,2
188,5
Die (iestaltung i.st bei den beiden Geschlechtern eine ^anz
verscliieficne. Für das männliche Geschlecht gilt ini allgcnicincn
das Prinzif). dafs jene ikrufe, die übcr\vie>^'erKl haiidwci k.sinäfsig
organisiert sind, die \'cr\vendung \on ungcleinlcr Arbeit so ziemlich
ausschlicfsen. Glaser, Klempner, Stellmacher, Grob- (Huf-) Schmiede,
Stubenmaler, Tischler, Zimmerer verwenden auch nicht 3 Pro-
zent ungelernter .Arbeiter. Umgekehrt Bauunternehmungen, Torf-
gräberei, Rübenzuckerfebriken, Gasanstalten, Ziegeleien u. s. w.,
welche ganz iibem iegcnd ungelernte Arbeiter beschäftigen. Weib-
liche Arbeit gilt in Schneiderei und Näherei fast ausnahmslos als
gelernt Außerdem überwiegen die gelernten Arbeiterinnen in
einigen anderen Berufszweigen der Bekleidungsindustrie und in der
Textilindustrie. Im übrigen wurden die den Frauen zugewiesenen
Verrichtungen zumeist als solche angesehen, die eine besondere
Vorbildung nicht erfordern.
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643
H. Ravchberg,
Ich schliefse diese Erörterung mit einer gewissen Enttäuschung,
Nach meiner Empfindung ist für die Kenntnis der Rolle gelernter
und ungelernter Arbeit in unserem Erwerbsleben nicht viei mehr
dabei herausgekommen, als wir schon von vornherein gewufst haben
oder annehmen konnten, l nd wenn man sich an meine früheren
kritischen Bemerkungen auf S. 608 f. erinnert, so wird man sich dar-
über kaum wundern können. Denn auch das Verfahren, wodurch
man zu den besprochenen Daten {:jelangt ist, war vöW'i^ aprioristisch.
Von vornherein wurde festgestellt, welche Berufsbenennungen als
gelernt, welche als ungelernt gelten sollen, ohne dafs die betreti'cnden
Personen darüber befragt worden wären. Sämtliche Näherinnen
haben z. K. von der Statistik den Lehrbrief criialtcii, sämtlichen
Arbeitern in (iasanstalten ist er abgesprochen worden. Was auf
diese Weise znstande gebracht wurde, ist nicht eine Statistik der
gelernten und ungelernten Arbeiter, sondern eine Klassifizierung der
Berufsbenennungen danach, ob Vorbildung hierfür \ orau<;gesetzt
wird odei nicht. Das ist nicht dasselbe. Das eigentliche Problem
ist noch ungelöst.
Inwieweit die bisher vorgetragenen Daten zu einer T)ar>tellung
tler sozialen Schichtung der (resamtbevölkerung verwendet werden
können, soll späterhin im XI. Abschnitte untersucht werden.
Vn. Die geographische Gestaltung der sozialen
Schichtung.
Die soziale Schichtung in den einzelnen (isbietsab.schnittcn des
Deutschen Reichs hängt in erster Linie von der besonderen tie-
.staltung ihrer Berufsgliederung ab. ' ) Wir wissen bereits, wie \ er-
schiedcn die Berufsstellung in den einzelnen IkM ufen ist "1 Je nach-
dem tler eine oder andere Beruf besonilers her\ ort rill, giebt er
auch für die soziale Schichtung des iKtretfeiulen (iebiets den .-Xus-
schlag. Die besonderen X'crhältnisse der ein/einen Berufe gleichen
sich dabei oft zu einem nichtssagenden Durchschnitt aus, z. B. wo
industrieller Grofsbetrieb mit landwirtschaftlichem Parzellenbesitz
zusammentrifft. Es ist daher nötig, die soziale Gliederung zumindest
der einzelnen Berufsabteilungen hinsichtlich ihrer geographischen
Gestaltung gesondert zu untersuchen. Ohne kartographische Behelfe
*) Vgl. darüber <ion IV. Abschnitt S. 294 ff.
■) Vgl. die Uebersicht auf S. 618.
Digitizcd by Ci
Die Bernfs» und Gewerbezählung im Deutichen Reich yom 14. Juni 1895. 643
und ufnfiuigrdche Tabellen ist dies nur schwer durchführbar. Ich
muls mich daher darauf beschränken, hier einige allgemeine Be-
merkungen vorzubringen.
Was zunächst die soziale Schichtung in der Landwirtschaft
anbelangt, so war ja schon von vornherein anzunehmen, dafs sie in
engem Zusammenhang mit der Verteilung des Grundbesitzes und der
Grölse der Betriebe stehe. Kleinbesitz und Kleinbetrieb verstärken
die Zahl der Selbständigen, Grolsgnindbesitz und Grolabetrieb lassen
sie gegen die Abhängigen staric in den Hintergrund treten. Heben
wir zunächst diejenigen Staaten, bzw. Landesteile hervor, woselbst
die gröfsere H^fte der landwirtschaftlich benutzten Fläche auf
Grofsbetriebe mit mehr als loo ha entfallt, so sind von je lOO in
der Landwirtschaft erwerbthätigen Personen
in
SdbitXadlge
Angeitdlte
Arbeiter
aa,96
a,68
74,36
3f33
76^a
Mecklenborg-Schwerin .
16,88
3,63
79,49
Mecklenbarg-Strelitz . .
ii,a8
3J»
«5*00
Uni|^rcki"hrl iti den durch Ikxlcnzcrstiickclun^ ausgezeichneten
Gebieten: Von 100 in der l^andwirtsclialt flrwcrbthätigen sind
in
Selbständige
AngesteUte
Arbeiter
0.31
5S,«o
0.26
57r33
EIsass-Lothringen . .
39.69
0,36
59,95
0,3»
S5,io
o,ti
bingegea im
Reich sdurcbscbnitt
30,98
1,16
67,86
In kleineren ( iebietsabscluiitten der letzterwähnten (iruppe er-
reicht die Zahl der Selbständi^^en häufif^ jene der Abhän^i<:jen ; unter
diesen letzteren sind daselbst hinwiederum die Faniilicnangehörip^en
besonders hüufi<:j. Ihr Anteil bcträjj^ in Hohenzollern 39,91, in
Württemberg 3^*.72, in l^adcn und h.lsal's-Lothrinfi^cn sos^ar über 40"',,.
Frühere l'ntersuchun^^en halu n bereits erijclien, welchen Kinflufs die
Grundbcsitzxerteilun«:^ und die landwirtschaftlichen Hetriebsverhält-
nisse auf die Dichtigkeit der landwirtschaftlichen Bevölkerung und
damit der Bevölkerung überhaupt haben. Wir haben gesehen, wie
der ostelbische Grofsbetrieb die Entwicklung der Bevölkerung
hemmt, die Bodenverteilung des Südwestens ilire Dichtigkeit steigert
Digitized by Google
644
H. Rauchberg,
NuD wird es klar, wie dies mit der sozialen Schichtung zusammen-
hängt: hier das günstigste dort das ungünstigste Verhältnis zwischen
SeltKständigen und Abhängigen. Da(s die spezifische Dichtigkeit
der landwirtschaftlichen Bevölkerung durch die hohe Zahl der
Selbständigen würde gesteigert werden, war ja von vornherein nicht
anders zu erwarten. Nun zeigt sich aber auch, dafs die gleich»
mäfsigcrc Ik sitzverteilung des Südwestens nicht nur die V'ertrctung
der Selbständi^'cn erhöht, sondern auch zu einer gröfscrcn Dichtig-
keit der landwirtschaftlichen Arbeiter führt. Auf 100 ha laodwiit»
schaftlich benutzter Flache kommen nämlich
Sclbstindige
Abhingige
im Refehidnrchidmitte .
7,76
16,98
«4,74
3.>7
11.14
14.31
4,12
14,9*'
19.08
„ Mcckk-nburp-Schwcrin
2,30
11.43
'3.73
„ Mecklcnbarg-Strelitz
1,38
11,00
12.38
Igen
in Ifobeittolleni . . .
14,48
17,80
3»,»8
„ Wflrttemberg . . .
»5,79
»1,04
36,83
„ Ehafs>Lot]iriiieeii
16,00
23,57
39,57
15,16
»»,57
37,73
18,96
»9,94
48,90
Der Kleinbetrieb der einen L^ndergruppc fuhrt also einer Ein-
heit der Bodenfläche nahezu zweimal soviel Arbeiter zu, wie der
Grofsbetricb der anderen. In Verbindung mit dem starken Hervor-
treten der Selbständip^en bei^ründct dies die populationistische Uebcr-
legenlicit des landwirtschaftlichen Kleinbetriebs. Kr hat von dctn
(jrofsbetricl^ sowohl die j^lcichmälslLjcrc Bcsctzun;^ der einzelnen
sozialen Klassen als auch die kräftigere Bevölkerungsentfaltung
voraus.
I'nii7ckehrt ist das \'erhältnis /.wischen Hetriebsumfaiiij, sozialer
Schiclitun;^ und BevölkerunLrsentfaltunL,^ in der Berufsabteilung Her
Industrie. Hier ist es der < nolsbetrieb, welcher zwar einerseits
die Ziffern der Selbständi.-en hcrabdnickt. andrerseits aber durch
gesteigerte I'!rwerbs<^^elegenheit die gesamte industrielle Re\ olkerung
erhöht. Ich stelle auch hier wieder die .Staaten, bezw. Landesteile
init gegensatzlicher Entwicklung einander gegenüber:
Digitized by Googl
Die Berufs- und ücwcrbczählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 645
Gebiete
mit schwacher
Vertretung der Sdb»
ständigen:
Renls iltere Linie .
Westfalen ....
Reufs jüngere Linie .
Rheinland ....
Stadt Berlin . . .
Anhalt
Schlesien ....
Gebiete mit starker
Vertretung der Selb*
«ständigen:
I lohciizollem .
Waldeck ....
Mecklenburg-Strelitz .
„ Sdiwerin
Oitprenfsen . . .
Lippe
Von 100 in der Industrie
Erwcrbthätigcn sind
Von 100 Gewerb-
drittigen treffen
auf Betriebe mit
Von 1000 Be-
wohnen ge>
hören der
Selb.
^. — y
Aa.
SMieUlc
Arbeiter
Hübet CO Personen
Industrie an
»5,91
4,53
79,56
56,8
677,0
16,89
3,16
79,95
53,3
533,6
17,75
3,55
78,70
Sa,o
590,7
21,26
3.35
75,39
46.4
5 »4,7
2 «,44
4,15
74,41
30,9
535,4
33,12
4,12
73,76
41.6
472,2
22,74
3,13
74,13
44,6
400,0
44,11
1,67
54,22
20.3
201,5
42,03
1,76
56,21
5,3
290,4
38,53
2,02
59,45
16,0
274,3
36,13
a,6o
61,27
*57,4
3Si99
«,44
61,57
"5,9
186,0
34,98
a,36
62,66
18,5
467,5
3«,5<»
8,68
65,8a
ai,7
«54,2
«4,90
3.18
71,9«
36,3
391 ,a
Reichsdnrchschn.
Aehnlichen Einflufs äufscrt der Bctriebsumfang in der Berufs-
abteilung Handel und Verkehr. Die starke Besetzunj^ der Grofe-
betriebe in den Hansestaaten, sowie in Berlin drückt hier den
Prozentsatz der Selbständigen erheblich unter den Reichsdurch-
schnitt. Dieser beträgt 36,07, in Lübeck sind aber unter lOO Er-
werbthätigen nur 26,58, in Bremen 26,68, in Hamburg 30,53, in
in Berlin 32,93 Selbständige. Hingegen sind es überwiegend agra-
rische Gebirgsteüe, in denen auch Handel und Verkehr in kleineren
Unternehmungen betrieben wird und der Prozentsatz der Selbstän-
digen jener Berufsabteilung verhältnismäGsig hoch steht
Was endlich die Veränderungen in der geographischen
Verteilung der einzelnen sozialen Klassen seit 1882 anbelangt,
so wiederholen sich die für das Reich im ganzen festgestellten Ver-
schiebungen mit merkwürdiger Rcgelmäfsigkeit in den einzchicii
Staaten und Laiidesteilen. 1/eheralI mit Ausnahme von Baden, Aniialt
und Hamburg haben in der Landwirtschaft die Selbständigen zu-
genommen, die Abhängigen abgenommeti. In tler Industrie hin-
gegen nehmen ausnahmslos die Selbständigen einen geringeren,
646
H. Rauehberc,
die Angestellten und Arbeiter einen umso gröfseren Raum in der
sozialen Schichtung ein. Im Handel und X'^erkehr ist die Bewegung
allenthalben ^anz die gleiche fjewesen wie in der Industrie, nur
dafs in Hessen, BraviiT^chweig, Sachsen-Koburg-Gotha, Reufs älterer
Linie und Lippe die Vertretung der Anfjcstelltcn um ein Geringes
zurückf^t i^angen ist. Dafs diese Entwicklung in allen Teilen des
Deutschen Reiches, trotz ihrer gewaltigen natürlichen, kulturellen
und wirtschaftlichen Verschiedenheiten, die gleiche war, beweist,
wie tief sie wurzelt und wie umfassend ihre Wirkung ist. Nicht
nur das Ausmafs, sondern auch die Allgemeinheit der £ew^;ung
ists, \v<^rauf ihre Bedeutung beruht.
Die besondere Gestaltung der sozialen Schichtung im Jahre
1895 nach < i I ü fs e n ka t c go r i c n de r VVohnplätze ist aus der
nachstehenden Uebersicht zu entnehmen.
Von je 100 Erworbthatigrn
Absolute Zahlen jeder Ortsgrofsenklassc sind
Ortsgröfsenklassen
Selbstind.
Angcst.
Arbeiter
Selbständ.
Angest.
Arbeit«
Grofsstädtc . . .
589 43S
205093
1633863
24,»7
8,45
67,28
Mittelstldte . . .
388907
IIIO44
»185 »35
»3.08
6,59
70,33
Kleinstidte . . .
566391
99874
1631396
34.65
4i3S
71,00
LtndstSdte . . .
678195
55973
1490726
3048
8,5«
67^
plattes Land . .
3*5« "S
14984s
687533a
31.^
1,46
66,90
Die Verliältniszahlen enthüllen eine gewisse Rcgelmäfsigkeit.
Je gröfeer die Wohnsitze sind, desto schwächer sind die Selbstän-
digen, desto starker die Angestellten vertreten, wovon allerdings
die Mittelstädte hinsichtlich der Selbständigen eine Ausnahme
bilden. Die Vertretung der Arbeiter ist in den Kleinstädten die
stärkste und nimmt sowohl mit steigender als auch mit lallender
£inwohnerzahl ab, nach untenhin rascher als nach obenhin. Man
kann demnach sagen, dafs mit den Grölsenklassen der Wobnplätze
auch der Betriebsumfang zunimmt und die höher qualifizierte Thätig-
kdt der Angestellten jener der eigentlichen Arbeiter gegenüba*
in den Vordergrund tritt Das fögt sich völlig in die VoisteUung,
dafe mit der Agglomeration der Bevölkerung die Betrieboorgani-
sationen sich sowohl erweitem als auch verfdnem. Die höhere
Volkszahl ist sowohl die Ursache ab auch die Wirkung gesteigerter
wirtschaftlicher Kultur.
Diese Gestaltung ist hauptsächlich auf Industrie, Handel und
Verkehr zurückzufuhren. Denn die Landwirtschaft sitzt zu neun
Zehnteln auf dem flachen Lande und die soziale Schichtung der
Digitized by Google
Die Berufs- und GewerbesDümig im Deotidica Rddi vom 14. Jud 1895. 1^47
Städte wird dadurch kaum beeinflufet. la den beiden anderen hier
in Betracht kommenden Beruüsabteilungen sind aber die Verhält-
nisse die folgenden:
Von je 100 Erwerbtbidgen jeder OrtaprSfifwIrlaw» sind
in der Indastrie
im Handel oad Veilcehr
OitBsrOlaenkluien
Selbsttbud.
AngesL
Arbeiter
Sdbitlnd.
Angest
Arbeiter
OrofoOldte . . .
4,7«
74,07
30,65
16,48
5a,«7
BBttrlitfiiltff . . .
»9,83
4.48
75,Ä9
32.43
13,79
53,78
Kleinstädte . . .
3.50
75.53
36,75
10,00
53,S5
Landstädte . . .
26,54
»,49
70,97
41,47
6,85
51,68
plattes Land . .
31,27
1,76
66,97
44,01
4,18
5».8»
Der Verlauf der Reihen ist im Handel und Verkehr rcgel-
mälsigcr als in der Industrie. Denn hier steht der Betriebsuitifimg
nicht ausnahmslos im direkten Verhältnisse zur Einwohnerzahl, son>
•dern er bleibt in den Grolsstädten hinter den Mittel- und Klein-
städten einigermaßen zurück. Das wird bewirkt durch die besondere
■Gestaltung in der Indtistrie der Steine und Erden, der chemischen,
Textil- und Lederindustrie, sowie der künstlerischen Gewerbe, während
alle anderen industriellen Beruisgruppen den Betriebsumfang, mit
der Einwohnerzahl aufsteigend, ununterbrochen bis zu den Grols-
städten erweitem.
Vm. Die Hausindustriellen und Hausierer.
Heimarbeit und Hausierhandel sind Betriebsformen, welche in
-zahlreichen Hcru£szweigen der Industrie und des Handels vorkonmien.
Als solche fallen sie eigentlich unter die Gesichtspunkte der Be-
triebsstatistik. Thatsächlich werden sie \'on ihr auch nicht übersehen.
Sie gehören aber auch der Berufsstatistik an, nicht nur aus tech-
nischen Gründen, weil nämlich jene Betriebsformen im Anschlufs
an die Beruüsfragen festgestellt worden sind, sondern auch materiell.
Denn sie sind von entscheidendem Einflüsse auf die soziale Stellung
und sollen daher hier in diesem Zusammenhange erörtert werden.
I. Die Hantindvstriellen.
Die soziale Stellung der Hausindustriellen ist insofern eine
mindere wie die der anderen Selbständigen, zu welchen sie von der
JBerulsstatistik im übrigen gerechnet werden, als sie nicht als
Unternehmer angesehen werden können. Weder steht ihnen die
ArdÜT für les. GeMttgcbing a. Statiitik XIV. 43
Digitized by Google
648
H. Ranchberg,
Leitung der Produktion zu, noch erfolgt sie auf ihre eigene Rech-
nung in Gefahr. Der cijT^cntlichc Unternehmer im volkswirtschaft-
lichen Sinne ist vielmehr der Verleger. Heimarbeit ist nur formell
selbständige, in Wirklichkeit aber abhängige Arbeit. Diese Zwitter-
Stellung hat zu einer Reihe von schweren Mifsständen geführt, welche
die Heimarbeit und ihre gesetzliche Regelung gerade jetzt in den
Vordergrund des öffentlichen Interesses rücken, Die Aufschlüsse
der Berulsstatistik über Hausindustrie und Heimarbeit kommen daher
sehr gelegen. Sie werden im IV. Teile unserer L'ntersuchungen er-
gänzt werden durch eine Erörterung der Hausindustrie vom Stand-
punkte der Betriebsstatistik aus.
Die Heimarbeit ist durch die Frage ermittelt worden, ob das
Geschäft vorwiegend in der eigenen Wohnung für ein fremdes Ge-
schäft (zu Haus für fremde Rechnung) betrieben wird. Ich habe
.schon im V. Abschnitte hervorgeholjen, dafs diese Fra<^^e nur an
die Selbständigen gcriciitct war, und daher zur Erfassung der Hilfs-
personen keinesueti^s ausreichte. Die Bearbeitung hat gleichwohl
die mitwirkenden l'anulicnangehörigen und tiic sonstigen (iehilfen der
Hausindustricllen in die Darstellung einbezogen, soweit sie nämlich
durch tlie Eintragungen in die Haushaltungsliste des Arbeitgebers
als solclie erkeruil)ar waren. Man konnte erwarten, auf diesem
Wige die hausindustricllc Familienarbeit leidlich vollständig zu er-
lassen. Mögen auch manche mithelfende I'amilienangehörige nicht
bei dem ihnen \'er\vantlten Arbeitgeber wohnen, und deninacli niclit
als Hausinduslrielle zu erkennen gewesen sein, das \crschlägt nichts,
weil die ( ienieinsanikeit des Haushalts doch als ein wesentliches
Merkmal des Faniilienbelriebs anzusehen ist. Anders bei den übrigen
Gcliilfen der Hausindustriellen. Ich habe schon früher gezeigt,
warum hier auf eine auch nur annähernde Vollständigkeit nicht zu
rechnen war. Das wird durch den \'ergleich mit den einschlägigen
P>gebnissen der (lewerbezählung bestätigt. Zu diesen^ Zwecke
müssen auch die Ergebnisse ül)er die nebenhcrufliiiie Ausübung ilcr
Hciniarlieit mit herangezogen werden, die daiier in diesem Ab-
schnitte zu besprechen sind, wogegen in dem Abschnitte über den
Nebenberuf hierauf nicht mehr zurückgegriffen werden soll. Es
wurden in der Hausindustrie Thätige verzeichnet:
'1 üntersuchuiigcn des Vcn-ins für Sozialimlitik über Hausindustrie und H< iin-
arbeit in Deutschland und Oesterreich, Band LXXXIV bis LXXXVll der Schriftcu
des Vereiiis für Soxtalpolitik.
Die beruf»» und Gewerbczäblung im DcuUchea Reidi vom 14. Juni 1895. 549
nach der Berufsstatistik
im im
Hjwptberaf Nebenbenif
Sdbitindigc . . .
287448
46782
334230
mithelfende Famflien-
«ngehSrige . . .
11570
1000 1
21571
«OBitige GdtOfca
43493
2669
46 162
im gaaseii
34«S"
5945a
401963
noch da Geirerbe-
Statistik, und swar
auf Grund der Angaben
der Haus-
der Untcfw
nehm er
industriellen
selbst
39s 768 430 482
139063 ^
60229
4579S4 4907"
Wir haben also dreierlei Angabeo über den Umfang der Haus-
industrie und sie stimmen mit einander nicht überein. Die Unter*
schiede zwischen den Zahlen der Gewerbestatistik nach den Angaben
der Hausndustriellen selbst und nach den Angaben der Unternehmer
sollen in dem vierten Teile dieser Abhandlungen, der sich mit der ge-
werblidien Betriebsaufnahme befafst, erörtert werden. Was aber die Ab-
weichungen den Ergebnissen der Berufsstatistik gegenüber anbelangt,
so sehen wir sofort, dafs dio nicht familienan^jehörigen Gehilfen von
dieser letzteren so unvf)llstänclig erfafst worden sind, dafs ich von der
Benutzung der einschlägigen Ergebnisse Heber absehe. Aber auch
hinsichtlich der Selbständigen hat die Berufsstatistilc die kleineren
Zahlen ergeben; im Vergleich mit den Angaben der Unternehmer
unbedingt, im Vergleich mit den Angaben der Hausindustricllcn
selbst doch für die selbständige Heimarbeit als Hauptberuf. Diese
Unterschiede sind zunächst aus formalen Momenten zu erklären :
die Angaben der Gewerbestatistik beziehen sich auf den jahres-
durrhsrhnitt, die Angaben der Berufsstatistik auf den 14. Juni 1895
als den Stichtag der l-ihclning. Hausindustrielle Bethätigung, die
nur währeiul (lo> W'iiiteis andauert, mag in einer Anzahl von h'ällen
nicht eingetragen worden >ein. Die .Angaben der l 'nternciimer
entli.ilten überdies manche 1 )t)i){n'l/ählung, indem Hausindustrielle,
tlic tur mehrere X'crleger arbeiten, ganz wohl von jedem derselben
zum auswärtigen Personal gezählt werden konnten. Aber auch hier-
von abgesehen, dürften die Angabrn der Berufsstatistik, insbesondere
hinsichtlich des Nebenerwerbs, hinter der W irklichkeit zurückbleiben.
Manche hausindustrielle Brthätigung, die sich ganz allnialilich aus der
Hauswirtsrhafi heraus erU wickelt und von ihr nicht völlig losgelöst
hat, wtjhl auch der hausindustrielle Nebenerwerb von Frauen des Mittel-
standes mag verschwiegen worden sein. Immerhin darf die Erhebung
4»*
Digitized by Google
Ii. Rauchberg,
hinsichtlich der Selbständigen im grolsen und ganzen als gelungen
gelten. Insbesondere bestehen keine Bedenken dagegen, aus dem
Vergleich mit den Ergebnissen von 1882 auf die Entwicklungs-
tendenz zurückzuschlielsen, da ja beide Aufnahmen den gleichen
Fahrlichkeiten ausgesetzt waren. Auch die Daten über die mit*
helfenden Familienangehörigen dnd, wie bereits erwähnt, verwend-
bar, wenn man den Begriff der Familienarbeit auf die Haus*
haltungsangehörigen einzuschränken gewillt ist. Hingegen können
die Zahlen über die sonstigen Grehilfen auch nicht als Näherungs-
werte gelten. Im ganzen kommt man so zu 342511 Personen, die
ihren Hauptberuf hausindustriell ausüben. Das sind 1,65 ^/^ aller
Erwerbthätigen, 1,21% der männlichen und 2,94% der weiblichen.
Die Frauenarbeit spielt nämlich in der Hausindustrie dne viel
grölsere RoUe als sonst In der gesamten Industrie sind nur 18,37 \
der Erwerbthätigen weiblich, in der Hausindustrie aber 45,14*/,.
Rechnet man zu den Erwerbthätigen der Hausindustrie noch
die dahin gehörigen 387047 Angehörigen ohne Hauptberuf und
3216 Dienstboten hinzu, so kommt man zu einem Kreis von 732774
Personen, aus welchem noch die bei der Erhebung und Beaibeitung
übergangenen Gehilfen fehlen. JedenfalU ist es eine im Hinblidc auf
die Familienentfaltun«:^ der Heimarbeiter sehr zahlreiche Bevölkerungs*
gruppe, welche der Hausindustrie zugehört, und von ihrer Lage auf
das engste berührt wird.
Indessen ist die Hausindustrie in den einzelnen Beru£szweigen
höchst ungleicbmäfsig verbreitet. Nach Beru&gruppen wird sie
in der umstehenden Uebersicht dargestellt:
(Siehe die aebenstebeade Tabelle.)
Bei weitem nm stärksten besetzt sind demnach die TextU-
industrie und das Bekleidungsgewerbe. Die erstere umfafst 47.07 " „,
das letztere 35,69",, aller Hausindustriellen. Daneben sind noch
hervorzuheben die Industrie der Holz- und Scbnitzstoffe , die
MetalKerarbeitung und die Industrie der Nahrungs- und Genufs-
mittel.
Eine sehr beträchtliche Rolle spielt der Nebenberuf in der
Hausindustrie. In 59452 Fällen wurde hausindustrielle Bethäti«^ung
als Nebenerwerb ano^prrebcn. Fs sind dies 17,4 der Haupt-
berulsfälle, während Ix-i der Industrie im <:,Mnzcii der auf loo Per-
sonen mit I l.-iuptbcrut nur 7,5 Ncbenerwerbsfällc kommen. Haupt-
und Nebenberuf zusammenj^^cnommcn, beträ«,^t somit die Anzahl der
Hausindustneilen 401963. Sind schon an der hauptberuflich aus-
i^iyui^ud by Google
IMe Beruft- und GcwvbedUÜQog im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 6^1
Hansindnttrielle Selbttindige Zunabne (-f-)
ttberhunpt 1895 Hausindttstrielle oder
unter 100 Abnahme ( — )
•bw>lnt Erwerbthätigen 1895 18S2 absolut in %
IV. Industrie der
Steine u. Erden
»475
0.49
»857
1983
— 126
- 6,35
V. MetuUmubcit
10653
1.H
8043
6027
•l* >oi6
+ 33i45
VL Masch., Werk-
«enge, Instnun.^
573»
Appatate . .
M9
44»!
3228
+ »183
+ 36,65
VII. Chem. Industrie
200
0^19
162
109
+ 53
+ 48,6a
VIILForstw. Ncbdi-
profl.,Lcuchtst.,
I CllV| ^-/CIC •
34
— 2.35
JX, Textilmdustne
161235
17,06
132614
205592
— 72978
— 35.50
X. Fupicf ...
1927
2,15
2077
is88
+ 789
+ 61,26
XI. Leder ...
3846
2381
934
+ «347
-f I44,M
Xn. HoU*n.Schnit2-
Stoffe ....
22399
3f46
16393
13677
+ 2716
+ 19,86
XIII. Isabruugs- und
Geim&mtttel
1007s
i,»S
«744
5758
+ 3986
+ 51.86
XIV. Bekleidung und
Reinigung . .
1232S7
8,08
i<»93>4
100260
+ 9054
+ 9.<^3
XV. Baugewerbe
0,0a
208
2
+ 306
XVI. Polygraphische
Gewerbe . .
546
506
321
+ 185
+ 57,63
XVn. Kttnstler und
känstl. Brtrirlv
f. gew. Zweckf
825
2,91
7. vi
431
-f 322
+ 74.71
zusammen
3425" *)
•
287 3Ö9
339 Ö44
— 52255
— 15.39
geübten Hausindustrie die Frauen ungewöhnlich stark beteiligt, so
überwiegen sie vollends int hausindustriellen Nebenerwerb: er wird
von 20540 M&nnem und von 38912 Frauen ausgeübt und zwar
zumeist von Familienangehörigen ohne eigenen Hauptberuf. £s
übten nämlich den bausindustriellen Nebenberuf aus
m selbst. Stellung in unselbst Stdlnng
ErwerfaChitige nut Hauptberuf 22873 >^4
Angehörige, Dienstboten u. BemMose »3909 10046
Von diesen Krwerbtliatif^en Ljehört hiinviecleruin die über-
wiegende iMehrzahl — e.s sind ihrer 19 loi — dem Hauptberufe
nach der Landwirt.-^chaft an. Achnlich \crhält es sich wohl auch
mit den Angehörigen, so dafs man sagen kann, daüs der industrielle
') Einschliefslich von 65 Hausindustriellen in der Gärtnerei (Kranzbinderei etc.).
653
H. R«nchb«rg,
Nebenerwerb in der Regel von der I Landwirtschaft aus ausgeübt
wird. 92",, aller hausindusiriclien Nebencrwcrbsfälle treffen auf
die drei Gruppen Textilindustrie 13H598), Bekleidung und Rei-
nij^un^f ( I04'>6i und Industrie der Holz- und Schnitzstoffe (5732 .
].> Ixsteht aber auch \on der Seite der Mausinduslricllcn aus eine
en^e nebenljerufliche X'erbiiidunj^ mit der I^mdwirtschaft. $S04g
Hausindustrielle, das sind 16.95",,, haben nämlich einen ander-
weitigen Nebenerwerb und darunter 52993 in der Landwirtsrhaft.
Der Nebenberuf ist aKo liauptsächlich für ilie I lausindustriellen des
flachen Landes xon In lang. ') Die städtischen Hausindustrielleu
entbehren in der Rei^el eines derartigen Rückhalts.
Fol;;eiulc Herufearten weisen die stärkste Besetzung mit Haus-
industriellen auf:
Hausinduitr ielle
im Haoptbernf
«Wter «if 100 »»^'-ben-
«berilMlpt Sclbstän- Erwerb- ocrni
dige
thätigc
B 39 Zfuj;- u. Messerschmiede . .
2928
2 188
11,07
59
B 54 Sonstige Musikiusiruiucute
2 989
2397
23,26
258
B 70 Spinnerei n. Spnlerei . , .
3452
3231
3,01
956
109 6S3
84802
«5.«9
33121
B 74 Stridccrd vu Wirkerei . . .
31 105
19347
36,45
5363
B 75 Hikelei, Stickerei ....
13704
11934
34^43
318t
IOI7I
9804
4081
5082
3674
571
7356
4641
1024
9995
8690
6,81
1549
29758
10,79
269S
B tat Schneider a. Schneiderinneo .
4^474
36 264
9,36
3 131
B 133 Kleider- «. Wtechekonfcklian
11 8I4
10383
30,08
1443
3163
21,90
840
33991
19583
5,73
1635
B 136 Wlccherei n. Flitterel . . .
35»7
3479
3,88
Wie seilen die l'ebersicht auf S. 651 erkennen lälst, wird die
Hausindustrie \^'My/ überwiegend in selbständiger Stellung ausgeübt,
wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dafs die Hilfspersonen der
Heimarbeiter nur unvollständig erfafst worden sind. Auf 287448
1) AUerdings bleibt bei vier Fanfiel dieser Hauiiidiutriellai die kndwirtaehidl-
lich beiratxte Fliehe antw l ha. Die üninUnglichkrit des Ludwirtichiftibetriehs
aäügt mr hawindustrieHen Bethlticiiiig. VetgL Landwirtachalbbaiid S. 48*.
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Di« Beni&> und Geweibwihlmig im Dentadifiii Reicb vom 14. Juni 1895. 6^3
selbständige Hausindustriette im Hauptberuf trefien 11570 mit*
tbatige Familienangehörige und 43493 sonstige Gehilfen. Aber
auch diese letzteren stehen zumeist in Familienbeziehungen zu ihrem
Arbeitgeber. Betrachtet man das Verwandtschaftsverhältnis als
malsgebend, so erhöht sich die Zahl der mitthätigen Familien-
angehörigen auf 45 833. Die hausindustrielien Betriebe sind also
ganz überwiegend Familienbetriebe. Die Mehrzahl der hausindu-
striellen Selbständigen — 233 552 — arbeiten allein, 53 896 aber
mit Gehilfen. Auf je lOO dieser letzteren treffen 85,02 mitthätige
Familienangehörige, ^) wogegen in der auf eigene Rechnung be-
triebenen Industrie auf lOO Selbständige nur 42,62 mitthätige Fa-
milienangehörige kommen. In der für die Verhältnisse der Heim*
arbeit entscheidenden Textilindustrie erhöht sich deren Prozentsatz
sogar auf 1 10,95, Stärke nach nächststehenden Gruppen
der Bekleidung und Reinigung, bezw. der Holz- und Schnitzstoffe
beträgt er 44,31 und 89,45. Genaueren Finblick in die familienhafte
Struktur der hausindustrielien Gehilfenbetrielse ermöglicht die nach-
stehende Uebersicht:
Mitthitise Familienangehörige
auf je 100 Selbständige
Famüienstellmig :
absolut
ohne die Alleinmeister
13601
Sölme
16511
30.63
II 324
21,01
andere Verwandte |
1 männl.
I wcibl.
I 801
2586
3,34
4,80
Vbeiliaapt j
^ wähl.
summoM
18312
27 511
sn 45823
33,98
85,0a
Von besonderem Interesse ist die Vergleichung der Ergebnisse
Über die Hausindustriellen von 1895 jenen von 1882, weil sich
daraus die Beantwortung der Frage ergiebt, ob die Heimarbeit im
Vordringen oder in Rückbildung begriffen ist. Die Vergleichung
ist allerdings nur hinsichtlich der selbständ^n Heimarbeiter möglich,
denn nur diese wurden bei der Zählung von 1882 berücksichtigt
Aber bei dem Ueberwiegen des Alleinbetriebs in der Hausindustrie
') Die Verteilung der in der HaiLsindustrie mitthätigen Farailienan^'>-hnri{jen
nach dem Hetriebsumfange und den sozialen Klassen der Betriebsinhaber wurde
schon im vorhergehenden Abschnitte dargestellt.
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654
H. Ranchbcrf ,
reichen die ZifTem über die SelbstämUgen voHkoinmen ans, um uns
über die Entwicklungstendenz aufzuklären. Dieselben sind in der
Uebersicht auf S. 651 enthalten. Danach hat es den Anschein als
ob die Heimarbeit im ganzen zurüclq;if^[e. Die selbständigen
Hausindustriellen haben um 52255 oder 15.39"'.. abgenommen.
Allein das erklärt sich fast ausschlieüslich aus der Rückbildung ia
der Textilindustrie, wo der Rückgang 7207X oder 35,50 "0 be-
trägt. Er wird hauptsächlich hervorgerufen durch die hausindu-
strielle Weberei, welche im Hauptberuf um 43 346 Köpfe oder 33,65 '/^
im Nebenerwerb überdies um 1397 I^'älle sich vermindert hat, dne
Folge der Konzentration der Textilindustrie in fabriksmäfsigen Grofs-
betrieben Hand in Hand mit der Verbreitung der mechanischen
Webstühle. Aber auch die Spinnerei und Weberei hat um 8300,
die Stickerei und Häckelei um H123, die lileiclierei, Färberei, Wir-
kerei und Appretur um 6365 hau{)tberuriieh beschäflii^te Heim-
arbeiter ab>^feiu »nimen, zumeist aus ähnlirhen l rsacheii. In den anderen
Berufsgruppen hat die Heimarbeit /ui^eiiominen, am raschesten in
solchen, in welchen sie bisher nur wenig verwendet worden ist, so
z. B. in der rapieniuhi.strie um 61,26 "i,, in der Industrie der Nah-
rungs- und (.tenulsmittel um 51.86",,. Ihr Gebiet ist also entschieden
in Erweiterung begriffen. Insbesondere ist hervorzuheben die \'er-
mehrung der Heimarbeit in der Schuhmacherei: um 6720 also fast
50"',,, und im Nebenerwerb um li62l''älle. ferner in der Tischlerei,
Korbm.ichcrei, Schuhmacherei. Wäscherei und Plättcrei u. s. w. Was
speziell die Schneiderei und die verwandten Berufe anbelangt, so
fallt die aufserordentliche Abnahme der hausindustriellen Näherinnen
auf. Sie sind von 48922 auf 29758 zurückgegangen, also um
191O4. *) Dieser Rückgang wird nicht kompensiert durch die Zu-
nahme in der Schneiderei, wdcher aHerdings 13429 beträgt, denn
daran sind die Frauen nur mit 1713 beteiligt. Die Heimarbeit in
der Kleider- und Wäschenkonfektion ist allerdings in rascher Zu-
nahme begriffen; sie hat sich seit 1882 mehr als verdoppelt. 5216
Heimarbeiter wurden hierfiir neu eingestellt, darunter 4226 weiblichei
wozu noch 921 neue NebenerwerbsßUle kommen, wovon 91 1 weibliche»
Aber das Alles wiegt der Aus&ll bei den hausindustriellen Nähe-
rinnen nicht auf, und so ist denn anzunehmen, dals nur der kleinere
Teil der hiervon Betroffenen in die strengere Organisation der Ver-
*) Haanndostrieile NSherei als Nebenenreib Int dag egco am 556 Ftlle M*
goionimen: sie ist von 1980 auf 2536 ga/ÜagoL
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Die Benifs« and Gewerfacilhlimg im Dtntadktn Rdch vom 14. Jani 1895. ^55
lagsgeschäfte einbezogen, der grölsere Teil aber aufser Arbeit gesetzt
worden ist.
Im Gegensatz zu der Hausindustrie als Hauptberuf hat die
nebenberuflicli ausgeübte Heimarbeit seit 1882 erheblich zuj^enommen.
Die Zahl der Selbständigen hierin ist von 32 184 auf 46775 ge-
stiegen, hauptsacblich wohl deshalb, weil 1895 der Nebenberuf der
Familienangehörigen ohne eigenen Hauptberuf genauer verzeichnet
worden ist.
Die geographische Verbreitung der Hausindustrie ist
bedinj^'t durch die Sitze derjenigen Berufszweige, worin sie
am iiäuligsten ausgeübt wird, in erster Linie also der Textil-
industrie. Die Maximn werden daher erreicht in den sächsischen
Kreishauptni.innsrhafton Zwickau und Bautzen, sowie im Regie-
rungsbezirk ( )l)crfrankcn mit 87,15. 71,71 und 59,07 hausindu-
stricllen rcrsoncn cinschHefsHch der .Angehörigen und Dienenden)
auf je ICOO Einwohner. L nd auch weiterhin ist der Einthifs der
sachsischen und rheinischen Textilindustrie in den Prozentsätzen
der Heimarbeit jener Gebiete zu erkennen, auch in dem aufser-
ordentlichen Rückgang, der hierin infolge des Uebergangs zur
mechanischen Weberei seit 1SS2 eingetreten ist. Aufserdem sind als
hausindustrielle Zentren noch zu erwähnen im Nordwesten der
Bezirk Minden (Weberei. Tabakfabrikation und Kontckunn und
Schaumburg-Lippe (Weberei) im .Südwesten der Schwar/.waldkrei.s,
der Bezirk Konstanz und Sigmaringen, dann Unterelsals (Weberei)
und die Pfalz (Schuhmacherei). W^ofern nicht die Textilindustrie
ausschlaggebend ist, nimmt die Heimarbeit fast allenthalben zu.
Nur die sächsische Konfektionsuidustrie macht hiervon eine be-
merkenswerte Ausnahme.
Nach Ortsgrölsenidassen ist die Vertretung der Heimarbeit
die folgende: Es treffen auf je 1000 Einwohner hausindustrielle
Personen in den Grofsstadten 21,97, Mittelstädten 14^3, in
den Kleinstädten 18,87, in den Landstädten 20^3, auf dem flachen
Lande Q^id Das Ergebnis wird wesentlich beeinflu&t durch die
Gestaltung in Sachsen, wo Klein- und Landstädte, sowie das flache
Land — mit S4*3Pt 103,28 und 43,58 Hausindustriellen auf je
ICOO Einwohner — die Hauptsitze der Heimarbeit sind. Im übrigen,
insbesondere in Norddeutschland sind es vorzüglich die Grofsstädte.
Obenan stehen die beiden Grofsstädte der Textilindustrie Krefeld
iind Elberfeld mit 97,04 und 62,24 pro Mille, dann Barmen mit
40,12 und Berlin mit 35P5 pro Mille. Hinsichtlich der absoluten
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6s6
H. Raaehberg,
21ahien überragt Berlin mit 27474 — einschliefslich des Neben-
berufs sogar 2S97.S — Hausindustriellen alle anderen Städte. Die
groOsstädtische Hausindustrie ist in der Mehrzahl ihrer Hauptsitze
in rascher Ausbreitung begriffen. So sind in Berlin die Allein-
meister 1882 — 1895 von 19212 auf 25449 gestiegen; die Zunahme
beträgt 6237, ^^^^ ^^^^ Drittel des Standes von 1882.
Die eindringenderc Untersuchung zeigt also, wie mannigfaltig
die Hausindustrie gestaltet ist in ihrer Wrbreitung nach Berufis-
zwetgen und Standorten, in ihren Entwicklungstendenzen und —
wie wir nunmehr dank der Untersuchungen des Vereins für Sozial-
politik wissen — auch in ihren Organisationsformen und Daseins-
bedingungen. Das wird jeder X'^ersuch, sie durch einen Akt der
Geset^ebung zu regeln, sorgfaltig zu berücksichtigen haben.
2. Die Hausierer.
Aehnlichc Erwägungen wie hinsichtlich der 1 lausindustrie führten
auch zur Verzeichium'^ der I lausiergewerljctrcibciulcn. Zu diesem
Zwecke ist an die .sell)stän(lij::jen ( Te\vcrl)etreibenden in der Haus-
haltungsliste die Frage gerichtet worden, ob die sie das Geschäft
im rniherzichcn als Hausiirer) betreiben. Ebenso wie bei der
llausin«histrie sind nachtrHghch noch jene Hilfspersonen in die
Darstellung einbezogen worden, die nach ihrer Stellung in der
Haushaltung als solche erkennbar waren. Hier wie dort konnte eine
solche Statistik ex post unmöglich zu befriedigenden Ergebnissen
führen. .\bcr auch die Zahlen über die selbständigen Hausier-
gewerbetreibciulen bleiben jedenfalls hinter der Wirklichkeit zurück.
Als Wandernde entziehen sie sich leichter der statistischen Erfassung.
Solche die nur im Winter hausieren, mögen nur den im Sommer
ausgeübten Ik^ruf angegeben haben. Endlich ist es wahrscheinlich,
dafs die im Umherziehen bewirkte X'eräufserung selbst hergestellter
Waren oder selbstgczogcner landwirtschaftlicher Produkte nicht als
Hausierbetrieb angeschen und angegeben worden ist, weil ja nicht
die X^eräufserung. sondern die Herstellung der Waren als das eigent-
liche, den Kriterien der Fragestellung unterworfene Geschäft er-
scheinen mufstc.
So sind denn im ganzen nur 126,885 Hausierer ermittelt worden,
darunter 113,329 Selbständige. Von diesen letzteren waren 74,844
männlich, 38485, rund ein Drittel, weiblich. In 13093 Fällen ist
der Hausierbetrieb als Nebenberuf angegeben. «
Man kann mit dem 21ahlungswerk drei Gruppen von Hatisierem
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Die Berufs- und GeweibcriUilaiig im Deoticlicii Reich Tom 14. Jon! 1895. 557
unterscheiden: Hausierhandwerker, Hausicrhändler und fahrendes
Volk. Hausierhandwerker wurden $222 ermittelt Die eij^'cmliclien
Störarbeiter, die im Hause der Kunden fjegen Lohn arbeiten, sollen
nach den Tntentionen der Erhebung darunter nicht begriffen sein.
Am zahlreichsten, mit S78, sind in dieser (liuppe begriffen die
Messer- und Scherenschleifer, dann folgen Korbniaclier , Weber,
Strohfleclitcr, Hürstentiiacher u. s. w., zum Teil wohl auch solche,
welche gleichzeitig eigene oder Ircnule Erzeugnisse ihres Gewerbes
feilbieten. Bc\ weitem am stärksten — mit 113505 — besetzt ist
der Hausierhantlcl. War die Warenart angegeben, so wurden die
Betreffenden zu dieser gerechnet . sonst zum Hausierhamlel im
engeren Sinne. So ergaiien >ich für diesen letzteren 43,510, für
den im Hausieren betriebenen Waren- und Produktenhandel 68 178
Gewerbthätige. Zum fahrenden Volk endlich werden 8118 Personen,
zumeist sogenannte Artisten, gerechnet.
Auf die geographische X'erbreilung der Hausierer einzugehen
mufs ich mir im Hinblick auf ihre vcrhältnismäfsig geringe Zahl
und den engeren Rahmen dieser Untersuchungen versagen. Es sei
nur bemerkt, dals einzelne Hausierbetriebe sich örtlich konzentrieren
und den hauptsächlichen Nahrungszweig gewisser Gegenden oder
Dörfer bilden. Bekannt mad die Hausierer des Erzgebirges, aus dem
Harz, dem Sauerland und Westerwald, dem Fichtelgebifge u. s. w.
Hierüber liegen ja nunmehr ausgiebigere Au&chlüsse in den Unter-
suchungen des Vereins für Sozialpolitik vor. *)
>) Sdififtcn des Vereiiis Ar Sosialpolitik Band LXXVH bis LXXXm.
(FortMUng fMft.)
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Die Marxsche Theorie der sozialen Entwicklung.
Ein kritischer Versuch.
Von
PETER VON STRUVE,
in St. Petersburg.
Die bürL,ftMlirhe W't'll scheint in eine Art angenehmer Auf-
regunj^ gekotnincn zu sein ob der kritischen Auflösun«^ des Marxis-
nnis. T)a5 ,,Knde des Marxismus" wird lebhaft diskutiert und nach
seiner wuhltiiäti^en Wirkung abi^ewogen. Doch sclieint mir hier
ein greises Milsverstänchiis obzuwalten und, wenn ich einen klang-
vollen Titel meinen Ausführungen geben wollte , so würde ich sie
eher „der Anfang des Marxismus" oder — noch lieber — „Marxis*
mus und kein linde" überschreiben.
Richtig ist es alhrdmgs, dals die Marxschen Lehren einer
kritischen Sichtung und Umarbeitung entgegengehen. Aber hierin
sehe ich nur den Beweis dafür, wie tief sie in das sozialpolitische
Denken eingegriffen haben, wie es sich immer mehr und mehr diese
Lehren wirklich zu assimiheren trachtet. Nun — keine Assimilierung
ohne Ausscheidung.
Und noch etwas: man wirft dem Marxschen Systeme mannig-
üaiche und tiefgehende Widersprüche vor. Nun glaube ich, dals
noch nie ein groises und inhaltreiches System geschaffen worden
ist, dem nicht wissenschaftliche Widerspräche und — noch kräftiger
gesprochen — Ungereimtheiten anhafteten. Grofse Ss^teme — die
wissenschaftlichen nicht ausgenommen — sind gleichsam prachtige
architektonische Schöpfungen grolser individueller Geister. Nach
ästhetischen Gesichtspunkten sind sie immer zusanunenfiigt, als
künstlerische Einheiten treten sie vor die kollektive Wissenschaft,
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IMe &bnsdie Theorie der sodalcn Entwiddong.
659
um von ihr — in mühsamer empirischer und erkenntniskritischer
Kleinarbeit — nach logischen Gesichtspunkten in Stücke zerlegt zu
werden. Aesthetische Kombinationen, und vielleicht die schönsten,
werden dabei grausam zerstört, der Reiz des Ganzen geht unrett-
bar verloren. Aber die Fülle und die Dignität der einzelnen
Bildungselemente, die Genialitat der Kombinationen kommen —
trotz dieser Zeij^törungsarbeit — der Wissenschaft zu gute. Aus
solchen Triinimern lässt sich eben vieles holen. So steht es auch
mit dem Marxschen Systeme, dem prächtigsten Ilm der neuzeit-
lichen Sozialwissenschaft. Um von der Wissenschaft wirklich ver-
nutzt zu werden, mufs es gewissermalsen um seine ästhetische
Integrität gebracht, es mufs zerstört werden. Die I.ehre vom
„Grenznutzen" wird nie zerstört werden, aber sie ist auch — die
österreichische Scluile in allen Ehren 1 — ein ^anz kleines Ding
gegenüber dem Marvschen Systeme — ein solider Baustein gegen-
über einem herrlichen hochragenden Bau. Als Marxist war es mir
Herzen^^ri' I10 , diese Zeilen niederzuschreiben: wie weit man auch
in der Kritik des Meisters geht, der bewufsten Pietät thut dies
keinen Abbruch.
Und nun zur Sachet
«
Die nachfolt^endcn Aiisführun<^cn gelten der Marxschen Theorie
der sozialen Entwicklung. Darunter verstehe ich nicht die materia-
listische (Tcsciiichtsauffassung in ilirem ganzen l iiifang . sondern
— inhaltlich — nur ihre spezielle Anwendung auf die iMitwickluiig
vom Ka|)italisnuis /um Sozialismus und — formeil — die bcgiilflich
abstrahierte horm dieser Entwicklung, nämlich die Entfaltung der
sozialen Widersprüche. Die materialistische ( icschirhtsauffassung
wird von mir nur insofern herangezogen werden, als die Richtig-
keit der speziellen Anwendung tlerselben — nach Inhalt und h^)rm
— an dem Grundschema gcme'^se^ werden wird. Die Koiitron-
tierung des allgemeinen Prin/.ij)s mit der .Spezialanweiidunj; wird
einige, wie mir scheint, bis jetzt unbeachtete logische Widert} »rüche
in der landläufigen marxistischen Entwicklungstheorie aufdecken.
Die von Marx begründete Theorie der sozialen Entwicklung
kann aus zwei (iesichtspunkten einer IVüfung unterworfen werden.
Erstens, kann gefragt werden, ob ihre X'oraussetzungen der sj)ezicllen
sozialen Erfahrung eiUs])rechen, d. h. in ihrer konkreten Bestimmt-
heit auf cmpirisclie Geltung Anspruch machen können. Zweitens
Digitized bv Google
660
Peter von Strnve,
erhebt sich die Frage, ob diese Theorie nach ihrem logisch-begriff-
lichen Gerüst sich in das Ganze unserer Erfahrung zwangslos eiiifiii^t.
Diese zweifache Fragestellung ist zum Teil dadurch bedingt , dais,
wie bei Aufstellung besonderer riicorien meistens ohne jede er-
kenntniskritische Ueberlegung verfahren wird , so — auch im Falle
von Mary und Engels: diesen beiden Denkern in ihrer doppelten
Eigenschaft als Hegelianer und Materialisten lagen erkenntnistheo-
retische h'rwäi^aingen ganz ferne. Zum Teil ist aber die gesonderte
BehaiulluuL; jener zwei h'ragen auch dadurch begründet, dafs es in
der Marxsciien Theorie nicht nur um Feststellung \'on 1 hatbestäriden,
die an sich eindeutig wären, sondern wesentlich um eine Deutung
solcher sich handelt, l'nd zwar ist es die sozialpolitische Zukunft,
welche aus den Thatsachen der W-rgangenheit und (legenwart
erschlossen werden soll. Eine solche Theorie kann nur unter
Zuhilfenahme erkeimtnistheoretischer Erwägun^^^en kritisiert werden.
Worin besteht nun die von Marx begründete Lehre von der
Entwicklung der modernen Ge.sellschaft? Drei grolse Thatbestände,
oder genauer, Thatsachengruppen wurden ihr zu gründe gelegt:
1. Die Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft in der
kapitalistischen Aera unter dem Kommando der Boui^^eoisie und
in Gestalt der anarchischen Konkurrenzwirtschaft — Theorie
der Vergesellschaftung und Konzentration der Produktion und
Theorie der Ptoduktionsanarchie in der kapitalistischen Gesellschaft.
2. Die fortschreitende soziale Herabdrückung der niederen Volks-
Massen und der Ruin der Mittelklassen im For^ange der kapita-
listischen Entwicklung — Verelendungstheorie und die Theorie von
der Expropriation der kleinen Kapitalisten durch die grofsen.
3. Das Auftreten des revolutionären Proletariates. Die proletarisch-
revolutionäre Bewegung findet ihren ideellen Ausdruck in dem
Kommunismus — die Theorie von der sozialistischen Mission des
durch die kapitalistische Entwicklung ge.schaftcncn und in ihrem
Fortgang anwachsenden Proletariates. Das Troletariat verelendet,
aber erreicht gleichzeitig eine solche soziale und politische Reife,
welche es befälligt, durch aktiven Klassenkampf das kapitalistische
System zu stürzen und an dessen .*^telle das sozialistische zu setzen.
Diese drei grundlegenden Thatbcstände wurden von .Marx
in Zusaninienhani^ miteinander gebracht und zu einer Theorie der
sozialen Hntwirkluiii^ \ i rarl)cilet. .Mle drei von Marx lichaupteten
Thatsachenkomj)lexe rr<-]\ lüitwicklunq^stendrnzeii waren — abge-
sehen von ihrer entschieden sozialistisclien Auslegung — dem realen
Digiti/Oü by Cjt.)0^lc
IXe Maniclie Theorie der tocbleii Eotwicklitag.
66l
Leben entnommen. Insofern war die Theorie völlig realistisch
und unabhängig von jedem rein gedanklichen Konstruktionsschema.
Sehen wir nun zu, wie die sozialistische Auslegung, also die e^ent-
liehe Theorie der sozialen Entwicklung oder der Entwicklung zum
Sozialismus, zu stände gebracht wurde. Sozialismus bedeutet Ver-
gesellschaftung der Produktion auf grund der gesellschaftlichen
Eigentums an Produktionsmitteln und Abschaffung jeder Form der
Klassenherrschaft. Die objektive Vergesellschaftung werde — so
lehrt die Tiieorie — durch die I-iitwicklung der Produktionskräfte
und der Produktionsverhältnisse besorgt. Der anarchische Charakter
der Konkurrenzwirtschaft werde unverträglich mit der \crgescll-
schaftetcn Produktion. Durch die X'erelendung der N'olksmas.scn
und das Hinabstürzen der Mittelklassen in das Proletariat, einerseits,
durch die Schulung, welche das Proletariat in seinem Existenzkampf
erhält, andererseits, werde in dieser sozialen Kla.s.se der subjektive
haktor geschaffen, der sowohl durch die .Xoi , als durch eigenen
bewussteii Willen zum Sozialismus bestimmt wird, den sozialistischen
Kampf zu kämi»fen. Die objektiven Entwicklungstendenzen ver-
bürgern den Erfolg dieses Kampfes.
Die „Verelendungstheorie" war in der ersten Hälfte des
XIX. Jahrhunderts eine einfache Konstatierung des wirklichen Verlaufs
der Dinge. Die Entwicklung der Produktivkräfte schlug schon
damals auch das blödeste Auge. RevolutionSre Regungen im Prole-
tariate — von elementaren Putschen bis auf kommunistische Be-
wegungen — waren bereits an der 1 agesordnung. Ich gehe gar
nicht darauf ein, ob die einzelnen Tendenzen in ihrer resp. Wirk-
samkeit von Marx richtig abgeschätzt worden sind, d. h. ob ihr
spezifisches soziales Gewicht fehlerlos festgestellt worden ist
Was aber sofort ins Auge springt und den realistischen Charakter
der ganzen Entwicklungstheorie in sein utopistisches Gegenteil ver-
kehrt — ist eben die sozialistische Auslegung der konstatirten Ent-
wicklungstendenzen. Aus den thatsächlich g^ebenen Voraussetzungen
der sozialen Entwicklung liefs sich eben in den 40er Jahren die Ent-
wicklung zum Sozialismus, wie Marx ihn sich dachte, realtstischer-
weise gar nicht ableiten. Es darf nicht vergessen werden, da(s der
Sozialismus für Marx uneingeschränkt die Blüte der Kultur bedeutete.
Er nahm dir seinen Sozialismus alle kulturellen Errungenschaften
der Bourgeoisie in Anspruch. Solange die fortschreitende Verelendung
der X'olksmassen eine über jeden Streit erhaltene Thatsache war
und als unabänderliche immanente Tendenz der herrschenden Wirt-
Dlgltlzed by Google
662
Peter von Strvve,
8diaftsordnung aufgefafst wurde, war das Eintreten der alle Kultur-
fortschritte der bürgerlichen Gesellschaft übernehmenden und sie
weiterführenden Sozialismus platterdings unmöglich. Eine Verelen-
dung und sozialpolitische Rcifwerdung der Arbeiterklasse, welche
dieselbe befähigen sollte, die denlcbar grofsartigste soziale Umwälzung
ins Werk zu setzen, schlössen einander fiir eine realistische Be-
trachtung einfach aus. Die thatsächliche soziale Entwicklung der
vierziger Jahre liefs, wenn die das Proletariat niederdrückenden
Tendenzen in ihrer Unabänderlichkeit feststanden, überhaupt keinen
auf realistischer (irvuidiagc aufgebauten sozialen Optimismus zu.
Realistisch war weder die liberale Apologetik noch der auf den „Zu-
sammenbruch" der herrschenden Wirtschaftsürdnun;^"^ seine Aussichten
stützende Sozialismus. Realistisch war allein der soziale Pessimis-
mus und höchstens — der Zerst(')rungssozialismus. Denn mag der
Zusaniinensturz des Kapitalisiiuis unvermeidlich gewesen sein , für
den sozialistischen Neubau — sollte dieser wirklich einen Forlschritt
der gesamten Kultur bedeuten - fehlte der soziale Haumeister,
eine wirklicii aufstrebende, erstarkende und für ihre geschichtliche
riiat auch bereits er>tarkte Klasse. Je niedergedrückter man sich
das Proletariat \orstcllt, desto mehr wird ihm — bei der Auf-
richtung der neuen (lescllschaftsorthiun;^^ — zugemutet und desto
weniger kann nüchternerweise \'on ihm erwartet werden.
Der psychologische Zwang — die historische Notwendigkeit
der kollektivistischen Wirtschaftsordnung zu erweisen, nötigte den
Sozialisten Marx in den vierziger Jahren, den Sozialismus aus mehr
als unzureichenden Piamissen zu deduzieren.
Marx hat späterhin — unter dem Eindrucke der Thatsachen —
seine pessünistischen Prämissen der Sache nach wesentlich modifidert,
sie aber nie bewulst und ausdrücklich fallen gelassen.') Er is^ ^ch
') Es genftgt der Hinweis auf die „Inaogunladresse** von 1864 und u jene
Abadtnitte des „Kapitnls". wo Man die engliidie Ftabrikgesetigttbimg «b die Uiv
Sache „der physischen und moraUschen Wiedergeburt der Fabrikarbeiter" preist
Andrerseits ist das. was Man in seiner klassischen Abldhnung des ehernen Lohn«
gesetres (in den Ik-nuTkungen zu dem Gothacr rrogrnmmentwurf. Neue Zeit IX, 1,
.S. 561 ff. I sa^t. nicht minder he/eichnend : „das System der Lohnarl)cit isl ein
System der Sklaverei und zwar einer Sklaverei, die im selben Mafse härter
wird, wie sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit
entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechter« Zahlung
empfange** (gesperrt too mir, L c. 571). Es entspricht gar nicht dem wirklichen
SadiTerlialte, wenn man behaiq>tet, Man habe in seinen qiltteren Schriften die Vcr>
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Die Mancsdie Theorie der sockkn Entwiddimg.
663
nie des schreienden Widerspruches der Verelendung mit der Ent-
wicklung zum Sozialismus bewufst geworden. Dieser reale Wider-
elenduiisitlieorie aufgaben (cüeie Aatlclit Tcrtrltt z. B. SimkhowitMh b seinem mir
erst nach Fertigsitellung dieses Aufsatzes zugdlcnden Artikel ,Die Krisis der Sozial-
demokratie", Conrads Jahrbücher f. N'ationalökonomie III. Folge 17, Band 6. Heft,
S. 147. Der Aufsatz enthält neben manchem schiefen anch richtige Gedanken und
ist an interessanten Citaten sehr reich). Es ist vielmehr <l.is direkte Gejjenteil richtig:
Marx hat im Kapital die Verelendungstheurie wissenschaftlich
mutgeffiliTt and begründet Eine Mdefae AnifiUmiDg und Begründung ist un«
beitrekbar iciae Lehre Ton der reladven UebervölkeniQg oder von der indutricllen
Reserveannce. Den Sinn dieser Lehre hat Marx selbst in der oben dtlerten Stelle
ans der Kritik des Gothaer Piogranmentwurfes xusanmengerasst. Die entsprediende,
ebenfalls gar nicht mifszuverstehende Stelle im „Kapital" lautet:
,,Man begreift die Narrheit der ökonomischen Wti'sliiMt. die den Arbeitern
predigt, ihre Zahl den Verwertungsbedürfnissen des Kai>i?als anzupassen. Der
Mechanismus der kapitalistischen Produktion und Akkumulation pafst diese Zahl be-
ständig diesen Verwertungsbediirfnissen an. Erstes Wort dieser Anpassung ist die
Schöpfung einer rdativen UebenrAUtemng oder indttstriellen Reservearmee, letztes
Wort das Elend stets wachsender Schichten der aktiTea ^beiteraimee nnd das tote
Gevridit des Fsnperismas.
Das Gesetz, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteint
dank dem Fortschritt in der Produktivität der gescllschaftlichea Arbeit, mit einer
progressiv abnehmenden Ausgabe von Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden
kann — dies Gesetz drückt sich auf kapitalistischer Cirundlage. wo niclu der Arbeiter
die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden, darin aus, dafs,
je höher die Prodaktivkraft der Ariieit, desto gröfser der Druck der Arbeiter auf
Ihre BesehSftigusgsmittel, desto prekirer also ihre Bxistenzbedbgnng: Verkauf der
eigenen Kraft zur Vennehmng des fremden Reiehtvms oder snr Selbstrerwertnag des
Kapitals. Rasdieres Wachstum der Prodoktioasmittel nnd der Prodokdvltit der
Arbeit als der produktiven Bevölkenuig diftl&t sich kapitalistisch also omgckdirt
darin aus. dafs die ArbeiterbeTölkerung stets rascher wächst als das Verwertungs-
bedurfnis des Kapitals Innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehen
sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen l'roduktivkraft der Arbeit
auf Kosten des iudtviducllcu Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der i'roduktion
schlagen nm In Beherischnn^ und Esploltationsmittd des Pradnzenteo, ventllmmeln
■den Arbeiter in einea Teilmensdien, entwflrdigen ihn zum Aahlogfd der Mswhine,
Temichten mit der Qoal seiner Arbeit Ihren Inhalt» «ntfreadea Ihm die geistigen
Potansen des ArbeltsprtMteaaes, Im selben Mafse, worin letzterem die Wlsseoschalfc
als sdbstfindige Potenz einverleibt wird, sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb
deren er arbeitet, unterwerfen ihn w.ihrend des Arbeitsprozesses der kleinlichst ge-
hässigen Despotie, verwandeln seine Lcbcns/cit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib
■und Kind unter das Juggernautrad des Kapitals. Aber alle Methoden zur Produktion
Archiv für tot, Gesetzgebung u. Statistik. XIV. 43
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664
Peter tob Struve,
Spruch legitimierte sich für ihn zugleich als ein der Aufhebung zu-
strebender dialektischer Widerspruch. In solchen Widersprüchen
sah er eben — nach Hegelscbem Vorgange — das ,^orUeiteade'*
der Be\vef,'un^.
Wir müssen uns also der Lehre von der Entwicklun;:;^ durch
Stci<4ci un^' der Widersprüche zuwenden und sie auf ihre Stichhaltig-
keit prüfen.
Nohnicii wir zwei widerstreitende lüschcinun^en A und B —
in ihrer Hntwicklung. Jede Kntwickluiif^ im Sinne einer Slei^arunjj
kann als Häufung des Gleichartigen, und zwar des das
E nil r e s u 1 1 a t bestimmenden Momentes e d a c h t w erden.
Wenn die Stcij^erun<:( des \\'i(lcrsj)ruches wirklich vor sicli i;eht,
so mufs die Entwicklung der widerstreitenden Momente so vorge-
stellt werden iFonnel I oder Widerspruchsformelj :
A
B
2A
2h
3A
3B
4A
4B
5A
SB
6A
6B
• • •
nA
• « •
nB
Jede von den beiden Erscheinungen A und B nimmt durch
Häufung des Gleichartigen för sich zu. Gleichzeitig und eben durch
diese Zunahme steigert sich der Widerspruch resp. der Gegensatz
der beiden Erscheinungen. Ist nun dieser Gegensatz wertlich real»
so wird er durch seine Steigerung inuner unertiiglicher — und er
des Mehrwert! thid logleicb Methoden der Akkomidatioii und jede Andehnnng der
Akkomttlatloo wird umgekehrt Mittel nur Eotwiddong jener Methoden. Es folgt
daher, dafs im Masse wie Kapital akkumaliert, die Lage des Ar»
beiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich
V e r s c h 1 e c Ii t c r ti mufs. Ihiviicsetz eiunich, welches die relative Uchcrvolkerun^
oder iiidustriclle Keservearince stets mit L'iiifaii,; und Encr^ne der Akkumulation in
Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus
die Keile des Hephüslos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von
Kapital entsprechende AUtnmulation von Elend. Die Akkumulation Ton Rdditum
auf dem einen ¥ol ist also sogleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei,
Unwissenheit, Brutalisiemng und moralischer D^rsdation auf dem Gegenpol« d. h.
auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produsleit" (gespent von
mir. D. Kapital I*, 662-664).
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Die Mansche Theorie der sozia]«« Entwieklnag.
665
wird endlich zu Gunsten der stärkeren Erscheinung gelöst: n A ver-
nichten n B. Der Widerspruch wird „aufgehoben". Wir unterstellen
in diesem Falle nicht nur Parallelität im Anwachsen der wider-
streitenden Erscheinungen, sondern auch eine Wechselwirkung der-
selben. A wirkt durch seine Zunahme steigernd auf B, und
dadurch wird auch der Gegensat/, ^esteiji^ert.
Nun können wir uns aber in der sozialen Wirklichkeit ganz
andere Vorgänge vorstellen (l'ormel II):
A B
2A 2B
3A 3B
4A 2B
5 A B
6A KeinB.
Hier verläuft die Entwicklung auf eine andere Art Im Falle
der Wechselwirkung zwischen A und B wirkt A durch seine Zu-
nahme nur bis zu einem gewissen Grade steigernd auf B; in einem
gewissen Zeitpunkt wird das B durch die Zunahme von A nicht
nur nicht gesteigert» sondern im Gegenteil reduziert Damit wird
nach unserer Unterstellung der Gegensatz abgeschwächt Schliefs-
lieh wird der Gegensatz durch «^Abstumpfung" aufjg^ehoben.
In beiden Beispielen, die ja höchst schematisch sind, wird —
•bis zur Aufhebung des Widerspruches durch den Sieg des stärkeren
Momentes — immer eine quantitative Wechselwirkung unterstellt
Der G^ensatz zwischen A und B kann aber nicht nur durch fort-
schreitende SteifjeruDg resp. Abnahme des einen oder des anderen
Momentes auf^jchohon werden: er kann durch (]uaUtative Wechsel-
wirkung aus der Welt geschafft werden« Beide gegensätzliche Er-
scheinungen können sich ja g^[enseitig eine an der andern ab-
stumpfen, sich aneinander nn passen und dabei und dadurch sich
wesentlich und zwar (jualitativ verändern.
Pls ist nun ein L^cradezu — um einen Marxsrhen Ausdruck zu
gebrauchen — labclhaites Dorrma, welches die soziale P^ntwicklunf^
in ihren entscheidenden Wendungen ausschlierslich nach der Formel I
verlaufen lässt.
Die Helrachtun<j der \\'i(lcrsj)riichsfortiicl bietet besonderes
Interesse, wenn man sie mit der Grundidee der materialistischen
Gesciiichtsaulfas>uii<^f zusammenhält. Diese Grundidee besteht
wesentlich darin, tlals „die Produktionsweise des materiellen Lebens
den sozialen, politischen und geistigen Lebeiisprozess überhaupt be-
43»
L iyiii^üd by Google
666
Peter von Struve,
ding^ .... Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die
materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch niit
den vorhandenen Produktionsverhältnissen, oder, was nur ein juris-
tischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, inner-
halb deren sie sich bisher bewej^t hatten. Aus Entwicklungsformen
der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben
um. Es tritt dann eine I'']>oche sozialer Revolution ein. Mit der X'erän-
derung der ökonoinisciien (inindlaf^e wälzt sich der i;aii/.e ungeheure
l'elxMhau (sc. der rechtlichen uml politischen Kinrichtungeii, denen
l)e>tiininte ;^H'sellschaftliche Bewusstseinsfornien entsprechen P. S.)
langsanier oder rascher um Eine ( icsellschaftsforniation geht
nie unter, bevor alle Produkt ixkräfte entwickelt sind, für die sie
weit genug ist uiul neue höhere I'roduktionsverhältni.sse treten nie
an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben
im Schoise der alten (lesellschaft selbst ausgebrütet sind" iZur
Kritik der politischen Oekonomie, Vorwort). Hier ist die Idee des
ständigen Angcpasstseins des Rechtes und der politischen Ein-
richtungen an die Wirtschaft als der normalen Form ihres
Zusammenseins Idar ausgesprochen. Das Auseinandergehen
der rechtlichen und der wirtschaftlichen Verhältnisse ist ein — '
Widerspruch. Er zwingt zur Anpassung des Rechtes an die Wirt-
schaft. Marx stellt als den kardinalen Widerspruch den Widerspruch
zwischen den Produktivkräften und den ProduktionsverhsUtnissen
(= Eigentumsverhältnissen) hin. Die Anpassung der Produktions-
verhältnisse an die Produktivkräfte macht den Inhalt der sozialen
Revolution aus* Es ist in der ganzen citierten Ausführung von _
Marx die Unklarheit enthalten, dafs die materiellen Produktivkräfte! _
einerseits, die Produktionsverhältnisse» andererseits, welche nichts
"^Is al)strakte Zusammenfassungen konkreter wirtsctiaftlicher resp.
"Tecfiitl icher Verhältnisse sind, zu efgenärtigen fWesen oder JDingen".
"verselbständigt werden. Nur dadurch wird es möglich dieselben
en bloc einander angcj^afst resp. widerstreitend vorzustellen und die
soziale Revolution als die (ob einmalige oder mehr weniger dauernde,
.ist unwesentlich; Kollision zwischen diesen Wesen aufzufassen. Es
ist klar, dafs man die gesellschaftliche lüitwicklung auch als einen
kontinuierlichen Prozefs mannigfacher Kolli-ionen und Anpassungen
auflassen kann. Marx scheint Ijeiden .\uffassungen iler sozialen
Revolution gleichzeitig gehuldigt zu haben, ohne sich ihrer Un-
vereinbarkeit bewufst zu werden. Speziell die sozialistische Re\ olution
hat sich Marx als einen grolsartigen Konflikt der W irtschaft mit
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Die Mansche Theorie der sosuJen EntwiddnnK.
66z
dem Rechte, weldier notwendig in €inern entschei* knien Er-
eignis, der eigentlichen »^zialen Revolution", kulminieren inuis» 'vor-
gestellt.
In der Marxschcn Theorie der sozialen f'lntwicklun^f dreht sich
also alles um das X'erhällnis bezw. den Widerstreit /wischen Wirt-
schaft und Recht. Marx hat ienc als die Trsache, lücscs als Wirkung
aufgefalst. Es ist aber von Stammler treffend ausi^fclührt worden,
dafs die Wirtschaft und das Recht lo'^ischerweisc trar nicht als
im \''erhciltnis des Bewirkenden zum Bewirkten zu einander stehend
gedacht werden können. Für ihr Verhältnis passe vielmehr die
Beziehung von Inhalt zur Form („geregeltem Stoffe" und „be-
dingender Form", Wirtschaft und Recht, S. 232 ). ')
^) yEs ist nicht futreffend, das Verhältnis drr rechtlichen Kegdang zu der
Sozial Wirtschaft als dasjenige eines kausalen Eiriwirkens zu erachten und unter
den (fcsichtspunkt von Ursach»- und Wirkunfj zu bringen. I)i-ni) dieses wurde
voraussetzen, dafs die beiden, Recht und Wirtschaft, als zwei selbständige, einander
gegeonberstehende Objekte beständen, während dieses gnr nicht der Fall ist, sondern
tie fir die toii*le Betnchtaag aor zwei notwendig Terbttndene Elemente ebe»
und dewelben Gegenitande* sind.
Dos Recht ist nicht ein für sich tiestehendes Ding, das dem socialen Zusanmien-
leben in Selbständigkeit gegenüberstände and auf dieses in bestimmter Weise ein-
wirkte, sondern in jeder rechtlichen Normierung liegt immer und notwendig eine
Regelung von unterliegender so^iialcr Wirtschaft. Es cjicbt gar keinen Rechtssatz,
der nicht als Inhalt eine bestiniiute Regelung des sozialen Zusammenwirkens von
Menschen enthielte. Es ist das Recht nicht wie ein Kleid, das man anzieht, oder
wie ein Hans, in das man eintritt, um darin z« wohnen oder es wieder sn Ter-
lasten. Recht bedeutet aii sich nur eine (spSter noch im einseinen su bestimmende)
^^nschaft bestimmter measchlidier Befehle, die auf Regelung von socialer Wirt*
sdiaft gehen; und dun hdlftfn so anch diese befehlenden Norroeo
in ihrem Gesamtbegriff. Aber das bleibt alles ganz leer und sinnlos, sofern man es
als ein eigenes Ding nehmen wollte, das äufserlich zu einer wieder für sich be-
stehenden Sozialwirlschafi hinzuträte und auf diese nun iirs;ichlicli finwirlctc ; die
Rechtsbefehle haben nur Sinn und Gehalt in ihrem regelnden I!e/,uge auf ein durch
sie als gesellschaftliches ermöglichtes menschliches Zusammenwirken.
Jede Rechtsnorm eothitlt also inhaltlich ganz von selbst eine bestimmte Regelung
des Zmammenlebens von Menschen. Sie alle znsammen, zunichst in der jeweiligen
Einheit eines bestimmten Rechtskreises, ergeben die Gesamtregeinng einer sozialen
Wirtschaft. Aber sie fuhren nidit eine Existenz für sieb, und wirken dann auf die
betreffende Sozialwirtschaft ein.
Es pafst die Kategorie d c r K a u s a I i t ii t hier gar nicht. 1 >ie recht-
lichen Regeln stellen viehnelir die formale Seite des einheitlichen Objektes sozial-
wisseoschaftlicber Untersuchung, des sozialen Lebens, dar und sind für diese
568 Peter von Strnve,
Diese Ausführungen sind zweifellos richtig. Das, was man
überhaupt Wirtschaft und Recht nennt, ist realiter gar nicht eines
ohne das andere denkbar — für die Wirtscliaft, wie sie der all-
gemeine Sprachgebrauch und auch Stammler versteht, sind recht-
liche Momente nicht nur wesentlich, sondern rlas absolut W'csent-
lichste. \ crlclilt ist alier das Restreben von Stammler, das höchst
verscliicdenarti^f <^festaltctc \'crhältnis von einzelnen wirtschaftlichen
und einzelnen rechtlichen Momenten iii die h'ormel „bedingende
Form" und ,,;.;eicgelter Stoff" hineinzwängen zu wollen. Der Be-
griff der W'irt.schaft (Wirtschaftsordnung, Produktionsverhältnisse)
deckt sich leider gar nicht mit dcniienigeii, was wir an ein-
zelnen sozialen Phänonienen für „wirtschaftlich" halten. ,, Wirt-
schaft" ist z. B. die kapitalistische Wirtschaftsordnung; der Grad
der Produktivkräfte, welches dieser Ordnung eigen ist, kaiin aber
auch in der sozialistischen Wirtschaftsordnung gedacht werden.
Und dieser Grad, welcher besagt, wie viel produziert wird, ist
eine wirtschaftliche und, vielleicht, die wesentlichste wirt>
Schaft liehe Thatsache. Wirtschaftliche Thatsachen können recht-
lieh oder anderswie geregelt sein, dals und ob sie überhaupt ge*
regelt sind, kann aber dabei fUr sie, als wirtschaftliche Phänomene,
nicht nur begrifflich sondern auch reell unwesentlich sein. Dies
bedeutet aber: das Wirtschaftliche an den sozialen Phänomenen ist
zwar meistens rechtlich geregelt, fuhrt aber dabei auch ein Dasein
iUr sich. Das moderne Lohnverhältnis z. R setzt bestimmte recht-
liche Regelung voraus resp. schliefst dieselbe in sich ein, für das
Wirtschaftliche aber dieses X^erhältnisses ist z. K die Höhe des
Lohnes, welche für das Rechtliche irrelevant ist, von gfrofeter Be-
deutung. Das Wirtschaftliche und das Rechtliche können in den
mannigüaltigsten, ihr gegenseitiges Verliältnis bestimmenden, Kom-
binationen an den sozialen Phänomenen auftreten. Die Kategorien-
beziehung „Inhalt — Form" i.st nur ein dürftiger Behelf — dieses
mannigfaltige Verhältnis auf eine Formel zu bringen. Diese Formel
erweist sich aber entsrliiedc ii irreführend insofern sie Stammler dazu
verleitet, das t;enetische KausaK erhältnis zwischen dem einzelnen
Wirtschaftlichen und dem einzelnen Rechtlichen zu leuL^men und ge-
.sellschaftliclie Wirtschaftsakte unai)häni4iL[ von der Heiiingun:^ recht-
licher Regelung für unmöglich zu erklären. Dals die Wirtüciiaft
Betrachtung' mit der von iliiicn gengeltcn Materie, dem l)e?ü{^lichen menschlichen
Zusammen wirkeD stets iu sielt vereint nur gegeben." (Stammler, ibidem, 229 — 2Jo.)
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Die Mansche Theorie der ■oriakn fiatwicklm^.
669
als (ianzes auf das Recht als (raiizes nicht einwirken kann, konnnt
daher, dafs beide ( iesamtbcj^riffe ein und dasselbe reale Substrat
unterstellen; in der Wirtschaft ist das Recht und vice versa bereits
enthalten. Es hiesse aber den Bepfriff des Rechtlichen nuiblos aus-
dehnen, wollte man alle sozialwirtsciiaftiiciie Handlungen und \'or-
gänge als rechtlich geregelt hinstellen, Sozialwirtschaitliche \'or-
gängc und Akte können — vom Standpunkte des Rechtes —
völlig indifferent sein^ sie können aber direkt widerrechtlich sein
(c B. Strikes in Rulsland, Trusts in Nordamerika) und trotzdem
grolses soziales Gewicht haben. Es handelt sich bei den sozialen
Ersdieinungcn, die man als wirtschaftliche Phänomene nehmen ma^,
nicht immer um sozialgercgelte Verhältnisse. Die Stammlersche
Definition: ,,dn ökonomisches Phänomen batst eine gleichheitliche
Massenerscheinung von Rechtsverhältnissen" (L c, S. 264) ist falsch.
Ein ökonomisches Phänomen kann auch eine Masseneischeinung
von Rechtsverletzungen sein, es kann aber überhaupt das wirtschaftlich
wichtigste an ihm, d h. das, was es eigentlich zu einem ökono-
mischen Phänomen macht, einen solchen Inhalt haben, iiir welchen
Rechtsverhältnisse an sich belanglos sind. Dals ich brotlos bin,
statuiert — abgesehen von dem Rechte auf die Armenunterstiitzung
— kein Rechtsverhältnis zwischen mir und meinen Mitbürgern.
Wo aber die Brotlosigkeit Massenerscheinung ist, sprechen wir von
dem ökonomischen Phänomen der Arbeitslosigkeit resp. der Ueber>
völkerung. Man darf nicht einwenden, da(s in einer anderen Ge-
sellschaftsordnung eine zweckentsprechende rechtliche Regelung das
ökonomische Phänomen der Arbeitslosigkeit ausschliefsen würde. ')
*) Es ist dM gtolse Verdienst von Malthns, ins helle Licht gerOckt in heben,
dafs es Uebervölkernngszostände geben kann und giebt, die eben von der jeweiligen
rechtlichen Regelung oder Nonniening des sozialen Lebens im Sinne der Verteilung
des gesellschaftlichen Gesamtproduktes d. h. aurli im Sinne der Marxschcn ,.F'ro-
duktionsvcrhiütni><se" real unabhän)^i^ sind. Solche L clx-rvulkcruiip bringt an der
mangelhaften Ausbildung der gesellschaftlichen I'rotluktivkraftc und kann mit Fug
als absolute bezeichnet werden. Dafs eine »olcbe Uebervölkerung nicht nur kein
nReebtsrerhiltnb**, sradern eben von jeder rediUicben Regelung unabhängig ist, ist
in ihiem Begriffe eingesddossen. Der Umstand, d«ls nnf dem Boden einer solchen
nnbsolnten" Uebervölkerung nch bestimmte „aodale" im engeren Sinn, d. h. dnreh
rechtliche Regelw^ bedingte Verfailtnisse entwickeln können und müssen, nimmt
der Uebervölkerung keineswegs ihren in jenem Sinne absoluten Charakter, Marx hat
awmr die Malthusschc Lehre als die Theorie der Armut in der kapitalistischen Gesell-
•cbaft glänzend widerlegt, den eben fonuolierten soziologisch wichtigen Gedanken
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6/6
Peter von StniTe,
Dies besagt nur, dafs dieses ökonomische riiänomen von der ge-
samten <Tc<^cbciicn Wirlschafts- resp. Rechtsordnung abhän^, macht
es aber nicht zu dem, was es nicht ist, zu einem Rechtsverhältnis,
wenn anders dieser Wortverbindung überhaupt irgendwelcher ge-
nauer Sinn zukommt.
Die AufEaissung , da& ökonomische Phänomene — ihrem Be-
griffe nach — Rechtsverhältnisse sind, fiihite Stammler auch dazu,
die innerhalb bestimmter Gesellschaftsordnung sich abspielenden
Phänomene von den auf Umänderung der bestehenden Rechtsord-
nung gerichteten Bestrebungen scharf zu scheiden.') Als ob Be-
strebungen letzter Art nicht in Phänomenen erster Art zum Aus-
druck gelangen können und als ob ökonomische Phänomene nicht
auch gegen die bestehende soziale Regelung sich abspielen können?
Wenn wir nun die Marxsche Theorie der sozialen Entwicklung
mit der Stammlerschen vergleidien, so sehen wir, da(s Stammler
den Widerstreit der ökonomischen Phänomene und der rechtlichen
Bedingunf^en innerhalb einer bcstiinniten Gesellschaftsordnung be-
grifflich negiert und nur den Widerstreit der ganzen Gesellschaft»-
Ordnung mit den gegen sie gerichteten Bestrebungen annimmt»
dieser Lehre liat i-r fiiifiich umgangen. Wie l)cdcatsani über dieser Gedanke für
die auf Wirlschaftsgeschichte basierte neuere Soziologie ist, beweist der Umstand,
dafs immer und immer an ihn aod nicht ohne Erfolg angeknüpft wird (ich nenne
nur Richard Hildebnnd, Muiim Kowalewsky und AdiUle Lori*).
„Von den Bestrebungen, die auf Hebung und Steigerung sotial
geordneter Produktion gehen, sind . . . diejenigen Bestiebongea scharf m
scheiden, welche auf Umftnderung der bestehenden Rechtsordnung ge-
richtet sind. Jene treten innerhalb bestimmter sozialer Regelung auf, haben diese
XU ihrer unerliifslichen Bcdingunc; und itellca die konkrete Ausführung derselben
dar, — die diir<h die ordnende Form geregelte Materie. Sic erschaffen und ent-
wickeln die verschiedenen sozialökonomischen i'hanotuene, in deren gewisser Ver-
folgung und Klarl^ung allein dasjenige gefunden werden loun, was tbomm ala
^manente Gctttse" einer bestimmten Froduktimisweise beseidmca mag. Bk ist
dabei abo naaMndidi auf die konkreten dringlichen Anlisse und wirklich be>
w^enden Triebfedern der idnsda«n handdnden Individuen unter Berttcksiditignag
Ton deren empiliacher sozialer Lage zu sehen; und es können dann danach, wie
früher bemerkt, vergleichsweise sichere Tendcnrcn der kommenden EnlwickUuig der
sozialw irtschaftlichen Phänomene erschaut werden. Aber inirner bewegt '^ich alles
dieses im kahnien der geltenden Rechtsordnung. Es ist alles Beobachtete nur unter
ihrer Bedingung sozial existent, und es fuhrt die Verfolgung dieser Art sozialer Be-
wegung niemals (sie!) zu der Uminderung einer reclillichett Ordnung, als der b^
dingenden Form dieses betreffenden sodalca Ldiens" (L c. 415).
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Die Maruche Theori« der soiUlen Entwicklung.
671
Marx dafje':[cn den vmi Stammler ab^fcwicscncn ersten Wiik-rstreit
bestehen laist iiiui ilm zum realen Boden für den W idei^treit der
gegebenen Wirtschaftsordnung und der grundsätzlich gegen sie ge-
richteten sozialen Bestrebungen macht. Der Unterschied dieser zwei
Aul&ssuc^ii ist übrigens — der Sadie nach — nicht so grofs, wie
er in sdner begrifTlich^abstrakten Form erscheinen mag: denn auch
nach Stammler erwachsen die gegen die bestehende Gesellschafts*
Ordnung gerichteten Bestrebungen „aus gegebenen sozialen Verhält-
nissen". Jeden&Ils aber ist itir die Marxsche Theorie die Annahme
einer Steigerung der Widerspruche zwischen den ökonomischen
Phänomenen und den Rechtsnormen charakteristisch. Für beide —
sowohl Marx als Stammler — ist die Aufstellung eines Begriffes
der sozialen Revolution gleich bezeichnend Bei Stammler erhält
dieser Begriff eine schärfere Fassung als bei Marx, weil Stammler
als Träger der Revolution nicht „ökonomische Phänomene" oder
.^Produktivkräfte" sondern direkt auf Abänderung der sozialen Ord-
nung gerichtete Bestrebungen utul Bewegungen hinstellt. Gegen
Marx und seine Widerspruchsformel können wir anfuhren, daüs der
Widerstreit der einzelnen konkreten ökonomischen Phänomene ^cf^en
die einzelnen rechtlichen Bedingungen notwendig — nach der
Grundansiclit des „historischen Materialismus" — auf die l'eber-
windun;^ dieses Widerstreites hindrängt. Die Ansicht aber, dnfs die
ganze Rcclitsortinunt;; der "ganzen Sozialwinschaft nicht entsj>richt,
ist unrealistisch: Rechtsordnun;^^ Si •/.ialwirlschaft sind abstrakte
Begriffe, alier keine realen Wesen noch Relationen. Es bleibt nur
noch die \*orstellun^ übrig, dafs die Entwicklunt; der ( iesellschaft
in allen Punkten des sozialen Lebens gleichzeitig unerträi^lichc
Widersprüche zciti<^t, die irgendwie — in Bausch und Bogen —
beseitigt werden. Diese Vorstellung einer völlig einförmigen und ein-
deutigen Entwicklung aller sozialen Phänomene ist ebensowenig empi*
risch begründet, wie jene Verselbständigung der Wirtschaft und des
Rechtes zu eigenartigen Substanzen. Das Ganze der sozialen Entwick-
lung wird somit in der Maneschen Theorie so schroff wie nur möglich in
,4critische" und „organische" Epochen zerlegt: fiir kritische wird Wider-
spruch, iiir organische Harmonie zwischen der Wirtschaft und dem
Recht statuiert. Demgegenüber muGi immer betont werden, da& i. real
und somit wirklich wirkend nur die einzelnen wirtschaftlichen und
rechtlichen Phänomene, als Massenerscheinungen, sind, dafe also das
Recht und die Wirtschaft nur in und an diesen einzelnen Thatsachen
wiridiche Existenz ftihren, und 3. dals der Schein, diese einzelnen
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673
Peter von Strove,
Phänomene könnleti alle gleichzeitig nacli einer eindeutigen Forme!
\('rlaufen, nur durch die eine solche Vorstellung vorwegnehmende
Zusammenfas>ung tlerselben als „Wirtschaft" einerseits, „R<-*cht'
andererseits erweckt wird. In der wirklichen Gesellschaft giebt
es keinen absoluten Widerstreit des Rechtes und der Wirtschaft
und keine absolute Harmonie zwischen ihnen, sondern fortwährende
partielle Kollisionen • und Anpassungen des Wirtschaftlichen und
des Rechtlichen. In ihnen und durch sie setzt sich die Umbildung
der Gresellschaft durch. Was das Verhältnis der wirtschaftlichen
Phänomene und der sie regelnden Rechtsnormen betrifft, so ist die
Thatsache, dafs den ersten genetisch der Primat zukommt, gar
nicht zu bezweifeln. Das liegt an dem grundl^nden Unterschied
zwischen dem Recht und dem von ihm geregelten „StofT': während
der letztere auch ohne rechtliche Regelung sehr gut existieren und
ein gewisses soziales Gewicht haben kann, fuhrt das erstere ohne
„Stot! ' oh derselbe wirtschaftlich oder anders geartet ist, ist un-
wesentlich) nur eine papierene Fxistenz. Es giebt nicht selten ein
papierenes oder, was in der Sach^ identisch ist, obliteriertes Recht,
aber von einer papierenen oder obliterierten Wirtschaft hat noch
niemand etwas gehört. Die die Wirtschaft regelnden Rechtsnormen
kommen und sind da wegen des von ihnen geförderten wirtscliaft-
lichen Zweckes, der das Motiv und somit die Ursache für die
Aufstellung jener NOrnicn abgiebt. Insofern die materialistische
(ieschiohtsaulfassung dieses i)ehaui)tet und daraus die Anpassung
und die An|)assungstt:ndenz des Rechtes an die Wirtschaft folgert,
spricht sie eine einlache, aber grolse Wahrheit aus.
Die von mir \ < iri/etragene Ansicht schlielst sowohl den Marxschen
als auch den .^tammlerschen Hegriff der „sozialen Revolution" aus.
Die Anpassung des Rechtes an tlie Sozialwirtschaft hört keinen
Augenblick auf und die Entwicklung der ökonomischen Phänomene
geht nicht nur im Rahmen der jeweiligen Gesellschaftsordnung vor
sich, sondern sie ist es eben, welche diesen Rahmen umformt und
ausweitet Es giebt nicht — wie Stammler meint — zwei qualitativ
verschiedene Formen der sozialen Bewegung — eine Beweg^ung
innerhalb bestimmter Gesellschafbordnungen und eine auf die Um-
wandlung und Sprengung der jeweil^en Gresellschaftsordnung ge-
richtete 6ew^[ung — , sondern es giebt nur eine Form der sozialen
Bew^^g, nämlich die Anpassung der Rechtsnormen an die sozial*
wirtschaftlichen Phänomene, an welchen sich auch die mannigfachen
sozialen Bestrebungen entwickeln und bethätigen.
iJiyilizea by v^üOgle
Die MktzidK TheCHie der aooileii &itwiddiiiig.
673
Es ist immer und immer in der marxistischen Litteratur das
Bestreben hervoi^treten, einen scharfen Begriff der sozialen tte-
volution im Gegensatze zur sozialen Reform auszuprägen. Stammler
hat ebenfalls — wie wir schon festgestellt haben — dieses Be-
streben übernommen und in eigenartiger Weise verwirklicht. Das-
selbe ist aber — soweit es sich um theoretische Erkenntnis» d. h.
um kausal-^enctischc Erklärung handelt — völlig verfehlL
Der BegrilT der sozialen Revolution ist als theoretischer Begriff
nicht nur wert- und zwecklos, sondern geradezu irreführend. Wenn
die ^^ziale Re\olution" eine totale Umwälzung der sozialen Ord-
nunpf bedeuten soll, so ist sie für das moderne Denken nicht anders
als ein langwieriger kontinuierlicher Prozess \on sozialen Umge-
staltungen vorstellhar. Mag eine j)olitisclK' Revolution der Schluls-
stein dieser Entwicklung sein, das Umwälzende des Prozesses hängt
nicht im mindesten an einem solchen Ereignis und kann sehr
gut ohne dasselbe gedacht werden, hür die Marxsche Theorie von
dem sich steigernden \\'ider^])ruche zwischen dem Rechte und
der Wirtschaft w.ir allerdings die den Widers|)ruch aufhebende
Revolution logisch notwendig. Für ilen, der die Wiilersjiruchsformel
in dieser allgemeinen Geltung abweist, ist die soziale Revolution
nur ein anderer Name für die soziale Evolution und deren Resultate,
kein neuer Begriff.
Die „dialektische" Aufiiissung fuhrt notwendig dazu, die soziale
Umgestaltung sich unter dem viel einfacheren Bilde der politischen
Revolution zu denken. Diese Vorstellungsweise ist nun entschieden
roh und unhaltbar: soziale Umwälzung ist begrifflich ein höchst
komplizierter Entwicklungsprozess, und je mehr Inhalt wir diesem
Prozess zusprechen, desto schwieriger la&t er sich als „Revolution"
vorstellen. Oder je grofser die Umwälzung, umso weniger kann
sie sich in einzelnen Revolutionsakten erschöpfen. £ine wirkliche
soziale Umwälzung setzt voraus und enthält viel mehr als einzelne
revolutionäre oder reformatorische Gesetzgebungsakte der die „poli-
tische Macht" jeweils innehabenden I\aktoren. Wenn wir unter
sozialer Re\ riIution uns eine totale Umgestaltung der Gesellschafts-
ordnung denken, so können wir das Wrhältnis einer solchen Re-
volution zu einer politischen, zu der „Revolution", folgenderweise
formulieren: je revolutionärer die soziale Umgestaltung ist, desto
weniger kann sie „revolutionär" sein. Die Kompliziertheit und der
Reichtum des Inhaltes schliefst die Euifachheit der Methode aus.
Es ist kein Zufall, dais .Marx — wie Bernstein mit feinem
Digitizoü by C3t.)0^lc
674
Peter tob Strave,
historischen Verständnis ausführt (Die Voraussetzungen des Soziahs-
nius und die Aufj^abcii der Sozialdemokratie, S. 27 — 371. hlcmentc
des Rabouvismus untl Blan(|uisiuus übcrnumnicn hat. Es ist ja —
wie bereits betont — nur ^anz fol^ericiiti^. dals. wenn die soziale
Entwicklung nach der Formel tler Stcij^crunj^' der Gegensat/o ver-
läuft, die „soziale Revolution" unter dem Bilde ilcr j)olitischen
Revolution vorgestellt wird. Diese .Xuffassung — die der berüliiiuen
Lehre von der Diktatur des l'rolvtariates zu («runde liegt — bricht
aber mit dem dialektischen Entwicklungsgesetz zusammen. Sobald
die soziale Entwicklung einen Prozefs darstellt, der in den mannig-
ialtigsten Formen — als Steigerung, Abschwächung und neutrali-
sierende Anpassung der Gegensatze — vor sich geht, kann er gar
nicht unter dem eindeutigen Bilde der „Revolution" vorgestellt
werden. Der übliche Sprachgebrauch ist hierin, indem er dem
Wesen nach verschiedene Dinge durch dasselbe Wort belegt, irre-
führend. Nun ist dieser verwirrende Sprachgebrauch allerdings eine
einfache Folge der irrtümlichen Auf&ssung der Sache.
Wir sagten bereits, dafs jene Formel I in welcher wir einen
sinngemäfsen Ausdruck der ,3teigerung der Widersprüche" glauben
gefunden zu haben, auf empirische Allgemeingültigkeit keinen
Anspruch erheben kann. Eine Menge sozialer Entwicklungen
verläuft erfahrungsmäfsig auf andere Weise.') Wir sind somit be-
rechtigt den Verlauf durch Steigerung der Gegensätze als einen
relativ seltenen Fall anzunehmen. Dies ergiebt sich aus seiner
näheren Hctrachtung. Eine Wechselwirkung der widerstreitenden
Monicnte kann im Falle der Formel 1 -- der Voraussetzung nacl) —
nur im Sinne der Potenzierung dos Gci^cnsatzes aufi^^efafst werden.
Nehmen wir an, dafs die uns beschältigcuticn l'-rsi hcinuiigoii .-\ und
H zwei widerstreitende Hcstrebungeri gegensätzlicher sozialer Gruppen
sind. Wird ihre .Aufeinanderwirkung nicht häufiger in einer fort-
schreitenden .Abschwächung der Bestrebung der schwächeren
sozi.ilen Gruppe als in einer Potenzierung der gegenseitigen Wider-
stände kulminieren? Ein jeder konkrete soziale Kampf l)elehrt uns
darüber. Soziale Siege werden viel liäufiger durch
schrittweise Abschwächung der Widerstände als
durch revolutionäre Aufhebung potenzierter Gegen-
sätze errungen. Sowohl im kleinen als auch im grofsen. Wir
Ich sehe gans daTon ab, dafs es vid« geieUschafUiche Prosesse giebt. bei
welchen von einem Spiel der Gegensltse überhaupt keine Rede s«n kann.
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Die MMXsdie Theorie der tonialen Entwiddmg.
können nicht iur die soziale Entwicklung im ganzen ein Gesetz
postulieren, welches der empirischen Gestaltung deijenigen Vor*
ginge, welche wir wirklich übeisehen und in ihren Kausalzusammen«
hängen wirklich zu erfassen imstande sind, in der Regel nicht ent-
spricht. Denn das Ganze der Kntwicklung ist hier eine begrififliclie
Zusammenfassung der einzelnen Vorgänge in ihrer Aufeinanderfolge
und Wechselwirkung.
Icli will den Gedanken an zwei Beispielen erläutern. Gesetzt
es entsteht infolge der Entwicklung der Industrie eine praktisch-
wirtschaftliche Arbeiterbewe;^ning. Es wird ein Streik- und Koalitions-
verbot erlassen resp. verschärft. Die Repression und somit der
Gcjzcnj^atz nimmt zu. Im weiteren \'erlauf der I)iii<rc wächst die
Arbcitcrl)o\\ ci^^uiil; der Repression über den Kopf, die W'affen der
Repression stumplen >irh ab, und schlielslich werden die t;e;4eii die
Arljeiterbcwc'j[ung gerichteten Gesetze aufgehoben, i Her können
wir nacheinander Steigerung der reziproken W iderspriiche resp.
Widerstände, dann ihre Abschwächung und schließlich den Sieg
einer der Parteien wahrnelimcn.
Hin anderes Beispiel derselben .\rt ist (\\c Geschichte des
Sozialistengesetzes. Eine Reaktion der herrschenden Klas.sen und
ihrer R^ierung gegen die aufstrebende Arbeiterbewegung hat sich
das Gresetz sowohl in seiner Ausführung als auch in seiner Wirkung
an der wachsenden Macht der Bewegung in steigendem Mafse ab*
geschwächt und mufste schlielslich als nutzlose al^;estumpfte WafTe
weggeworfen werden. War das eine Steigerung oder nicht viel-
mehr eine Abschwächung der Widerstande?
Wir müssen nochmals mit Nachdruck hervorheben, dafs, die
Allgemeingültigkeit des dialektischen Entwicklungsgesetzes einmal
zugestanden, die „materialistische Geschichtsauffassung" als die Lehre
von der sich immer durchsetzenden Anpassung des Rechtes an die
Wirtschaft den grölsten Teil ihrer Geltung verliert: sie erweist sich
dann nur als ein Erklärungsmittel der „sozialen Revolutionen", und
ist auf die Kleinarbeit der sozialen Evolution gar nicht mehr an*
zuwenden.
Man ist bis jetzt an dieser wichtigen Konsequenz der sog.
dialektischen Zusammenbruchstheorie fast immer achtlos vorbei-
gegangen und doch mufs diese Konsequenz ins helle Licht gerückt
werden, damit die vollkommene UnwissenschaftUchkeit jener Theorie
^blofsgelegt werde.
Man vergleiche mit der haltlosen auf die Dialektik aufgebauten
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676
Peter TOn Strnve,
Zusammenbruchstheorie ') jene oben citierte berühmte Stelle aus ..Zur
Kritik". Marx hält — bei aller theoretischen Unklarheit, die durch
bildliche Ausdrücke nur verdeckt wird — an der einzi<^^ realistischen
\V.r<tellun((. dafs der ^^an/.e Ueberbau der rccliliichen uiul |)oruischen
Einrichtungen sich „mit der Vcränderunj^' der ökoiioniischeii ( rrund-
la^e" umwälzt, fest. Nach der neuesten Lesart der marxistischen
Theorie fler suzialen Revolution heilst es aber: der j^janz rechtlicli-
politischc l cberhau der kapitalistisc lien ( leselKschaft verändert sich
in dem der l'mwälzun^ der (')koiK)nnsciHMi (Trundlaj^c direkt ent-
gegen^^esetztcii Sinne. Das soziale Leben wird \on dieser Zu-
samnienl)ruchstheorie mit der '^rörsteu Willkür in mehr oder weniger
grofse begrififliche Segmente zerlegt, deren Wechselwirkung sich in
der Steigerung ihrer Gegensätze erschöpft. Hier Wirtschaft dort
Recht. Dieses wird immer kapitalistischer, jene immer sozialis-
tischer. Wie es immer bei sachlich und begrifflich unklaren Kon-
struktionen geschieht, werden Unklarheiten durch bildliche Aus-
drücke verdeckt und scheinbar aus der Welt geschafft. Doch nur
ganz scheinbar. Das was nach Marxschem Vorgange ProdukticMis-
Verhältnisse genannt wird, schliefst in äch begrifflich und historisch
schon die rechtliche Regelung der Eigentumsverhaltnisse ein.*)
Allein schon dadurch kann vom Marxschen Standpunkte logiscber-
weise von einer gegensatzlichen Entwicklung der Produktions-
verhältnisse und der Rechtsordnung gar nicht gesprochen werden.
Noch viel wichtiger ist es aber, dafs die Annahme einer solchen
Entwicklung thatsächlich und absolut jede realistisch gedachte Ein-
wirkung des wirtschaftlichen Phänomene auf die Rechtsordnung
ausschliefst. Denn man bedenke : die Produktionsverhältnisse, welche
immer sozialistischer werden, erzeugen den Klassenkampf, der
Klassenkampf — die Sozialreformen, letztere aber verschärfen den
kapitalistischen Charakter der Gesellschaft. Also — die immer
sozialistischer werdenden Produktionsverhältnisse erzeugen eine
immer mehr und mehr kapitalistische Rechtsordnung. Die Lin-
wirkung der Oekonomie auf das Recht erzeugt nicht nur keine
' Als Specimen kann die Schrift von Dr. Rosa Lttxemburg: „SoMalreform
öder Revolution", Leipzig 1899, dienen.
'1 Vgl. die oben zitirte Stelle des Vorwortes aus ..Zur Kritik ', w d die Eigen-
tumsverhältnisse für den juristischen Ausdrucli der Pro(!uktionsverhiihnis->c erklärt
werden, und aus anderen Schriften von M.nrx insbesondere das vorletite (51.) Kapitel
des III. Üandes des „Kapitals" (III. 2, 413—421).
Die Mansche Theorie der socialen Entwicklung.
6/7
gegenseitige Anpassung, sondern ste^^ert immer mehr den Wider-
spruch beider. Dies ist nicht nur barer Widersinn vom Standpunkte
der Logik und der Empirie, sondern auch eine runde Lossage von
der materialistischen Geschichtsauffassung. Ich will keinesw^s den
neueren „Revolutions"-Theoretikern des Marxismus vorwerfen, dafs
sie ihren Lehrer einfach nicht verstanden haben. Im Gegenteil:
ihre verkehrte I heorie verdanken sie der Konsequenz, mit welcher
sie die Formel der Steigerung Her Gegensätze im .Sinne von Marx
als allgemeingültige Formel für den Verlauf der sozialen I'mwcäl-
zungrn ausdenken. Der Konse(|uenz alle ( icrcchtigkeit ! Wenn liier
ein W iderspruch ist, so ist dies der \\'iders|)rucli des Marxsciifn He-
griffcs der sozialen Rexolution mit der nialerialisiisciicn ( iescliichts-
auttassung. Die tieuesic ni.irxislische Ortiiodoxie giebt die letztere
einfach zu Gunsten des ersteren preis.
Mai'x hat dies nie in einer so oflenkuiidigen Weise gethan.
Zu seinen Lebzeiten hat die Lntwicklung der kapitalistischen Ge-
sellschaft jene Probleme noch nicht gezeitigt, an welchen der in
Rede stehende Widerspruch notwendig zum Vorschein kommen
muiste. In einer iiir unsere Zeit unmöglichen Weise konnte Marx
die G^ensätze: Evolutionismus und Revolutionismus in sich ver-
einigen. Oft liels er ach durch die Thatsachen belehren, ohne aber
nach ihrem Sinne fiir das Ganze seiner Theorie zu fragen. So
hat Marx als Verfasser des „Kapitak" die Bedeutung der Fabrik-
gesetzgebung in einer Weise gewürdigt, welche mit der in der
nächsten Nachbarschaft in aller Schroffheit vorgetragenen Ver-
elendungstheorie gar nicht zu vereinigen war. Dafs er dabei aus
den Thatsachen gelernt hat, beweist der Vergleich der Aus-
führungen von Marx über die Zehnstundenhill u. dgl. im „Kapital"
mit der BeurteilutiL: derselben in dem Aufsätze von Engels in
der Revue „Neue Rheinische Zeitung*', welche Beurteilung zweifel-
los auch dem Standpunkt von Marx in jener Zeit entsprochen hat.
Da der letztere Aufsatz wenig bekannt ist will ich daraus einige
charakteristische Aeurscrun<.^cn riticren.
„W'ar die Zehnstundenliill haupt'-ai lilich von Reaktionären \er-
treten , und ausschließlich \ on reaktionären Klassen durchgesetzt
worden, so sehen wir .... dals >ie in der Weise, wie sie durch-
gesetzt wurde, eine durchaus reaktionäre Malsregel war. Die ganze
gesellschattliche l'~ntwicklung Lni^lands ist gel)unden an tlie Lnt-
wicklung, an den h'ortschritt der Industrie. Alle Institutionen, die
diesen Fortschritt hemmen, die ihn beschränken, oder nach aulser
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678
Peter tob Strnve,
ihm liegenden Mafsstäbcn regeln und beherrschen wollen , sind
reaktionär, sind unhaltbar und müssen ihm erliegen. Die revolu-
tionäre Kraft, die so spielend mit der ganzen ])atriarrhalischcn Ge-
sellschaft des alten Kurlands, mit der Aristokratie und der Finanz-
bourgeoisie fertig geworden ist, wird sich wahrlich nicht in das
gemäfsiglc Netz der Zehnstundeiibill eiiulämmen lassen Die
Arbeiter haben durch die kurze Lebensdauer der Hill, durch ihre
leichte \'ernichiung — ein einfacher Gerichtsbcschluls, nicht einmal
eine Parlamentsakte reichte hin, sie zu aniuillieren — durch das
spätere Auftreten ihrer reaktionären ehemaligen Bundesgenossen
erfahren, welchen Wert eine Allianz mit der Reaktion hat. Sie
habe^n erfahren, was es hilft einzelne Detailmafs*
regeln gegen die industriellen Bourgeois durchzu»
setzen.') Sie haben erfahren, dals die industridlen Bourgeois
zunächst noch die Kbsse sind, die allein imstande ist im gegen-
wärtigen Augenblick an die Spitze der Bewegung zu treten, dafs es
vergeblich wäre ihnen in dieser ])rogrcssiven Mission entgegen zu
aibeiten. Trotz ihrer direkten und nicht im mindesten eingeschlafenen
Feindschaft gegen die Industriellen sind die Arbeiter daher jetzt
viel geneigter, sie in ihrer Agitation fiir vollständige Durcbluhrung
des Freihandels, Finanzreform und Ausdehnung des Wahlrechts zu
unterstützen als sich abermals durch philanthropische Vorstellungen
unter die Fahne der vereinigten Reaktionäre locken zu lassen. Sie
fiihlen, dafs ihre Zeit erst kommen kann, wenn die Industriellen sich
abgenutzt haben, und deshalb haben sie den richtigen Instinkt, den
Entwicklungsprozefs, der diesen die Herrschaft geben und damit
ihren Sturz vorbereiten mufs, zu beschleunigen. Aber darum ver-
gessen sie nicht, dals sie in den Industriellen ihre eigensten, direk-
testen Keinde zur Herrschaft bringen und daÜB sie nur durch den
Sturz der Industriellen, durch die Eroberung der politischen Macht
für sich selbst zu ihrer eigenen Befreiung gelangen können
Die erste Folge der |irolctarischcn Revolution in England wird die
Zentralisation der grolscn Industrie in den Händen des Staates, d. h.
des herrschenden Proletariats sein, und mit der Zentralisation der
Industrie fallen alle jene Konkurrenzverhältnisse weg, die heutzutage
die Regulierung tier Arbeitszeit mit dem Fortschritt der Industrie
in Konflikt bringen. L ud so liegt die einzige Losung der Zehn-
stundenfrage wie alle Fragen, die auf dein Gegensatz von Kapital
') Gesperrt TOn mir. P. S.
Die Manucbe Theorie der sozialen Entwicklung.
679
und Lohnarbeit beruhen, in der proletarischen Revolution" (Revue
„Neue Rheinische T^chung" 4. Heft 1850 S. 13 — 16).
In der „Inauguraladresse" v. J. 1864 ') und im Kapital" ist
Marx ül)er diesen naiv revolutionären Standpunkt hinaus^ekonunen,
war aber noch nicht in der Lage sich die li) perre\ olutionäre Frage:
ob durch lebensfähige Sozialreforinen die Wand zwischen der
kapitalistisclien und sozialistischen Gesellschaft nicht höhergemacht
werde — vorzulegen. Er brauchte sich gar nicht um diese lieikle
Frage zu kümmern. Erst die Wucht der neuesten Entwicklung des
sozialen Lebens und namentlich die wirkliche Erstarkung des
Proletariates haben die Frage in Begleitung einer Reihe mehr
oder minder mit ihr zusammenhängender rein praktischer Probleme
auf die Tagesordnung gestellt Somit blieb es unserer Zeit Vorbe-
halten, hinter den sozialen Reformen Fallstricke des Opportunismus
zu wittern. Auch ein kleiner historischer Widerspruch : ideol<^sche
Unreife als Ausdruck wirtschaftlicher Reife. Solche ideologische
Unreife heilst aber: Dogmatismus der Epigonen.
Es ist oben bereits angedeutet worden, daCs die neueste mand-
stische Litteratur sich sehr viel mit dem Begriff der „sodalen Re-
volution" abquält. Der ursprünglichen Naivetat, welche die Marx>
sehe Auffassung auszeichnet, beraubt, fühlt sie sich gezwungen, die
Berechtigung dieses thecwreti sehen Pseudobegriffes philosophisch und
soziologisch zu erweisen. Diese Versuche müssen aber kläglich
daran scheitern, daCi eine realistische Auffassung die selbständige
Geltung jenes B^iffes neben dem Begriffe der sozialen Evolution
nicht verträgt.
Die meisten Marxisten scheinen im Krnste daran zu glauben,
dafs die Phrase von dem Umschlag der blofsen (]uantitativen V^er-
änderung in eine neue Quantität eine reale Erklärung des \''organges
der sozialen Re\olution gicbt. Leider ist sie nichts anderes als
eine Umschreibung des \'organges durch logische Kategorien. Eine
erkenntnis-theoretische Ueberlegung wird den wahren Sinn dieser
Umschreibung, welcher unkritische Geister eine mystisch-dialektische
Erklärungskraft \indi/.iercn, feststellen.
Zwei (jualitativ verschiedene Wahrnehmungen werden nicht
ohne weiteres von uns als verschiedene Gestaltungen „desselben
') Daraus ist das Molto des BcmsteinschcD Buches genommen: ,,Und deshalb
war die ZehottvndenbiU nicht blofs ein grofser praktischer Erfolg, sie war der Sieg
•eines Priosips.**
Archiv fiir im«. Gemttfebimg a. Statistik. XIV 44
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68o
Peter von Strove,
Dinges" erkannt Es sind immer gewisse Bedingungen notwendig,
um uns in diesem Falle die Dieselbigkcit des Dinges annehmbar
zu machen. £rkenntnis*theoretisches Problem ist also
nicht die Qualitätsveränderung, welche unmittelbar
gegeben ist, sondern die Deutung derselben als Ver-
änderung desselben „Dinges". „Wir . . . fragen natürlich
nicht, wie ist es sachlich möglich, dals ein Ding seine Qualitäten
verändert, sondern wie und in welchem Sinne ist es mißlich zu
behaupten, dals es eben dasselbe sei, was vorher diese und jetzt
eine andere Qualität hat." ') Hieraus ergeben sich weitere für den
uns interessierenden Fall nicht unwichtige Folgerungen. Quaii->
tätsveränderunL^cn desselben „Dinges" (und unter den
Begriff des „Dinges" iallt auch die Gesellschaft*)) sind nur unter
bestimmten Bedingungen denkbar. Es sind dies, nämlich dieselben
Bedingungen, wclciic uns veranlassen die Idoiilität des „Diiii^cs" trotz
der (]ualitalivcn Aciiderungcn der unmittelbaren Wahrnehmung an-
zunchmcfi. Die kardinalste dieser Bedingungen ist — neben der
kausalen Hei^rüiulung — ilic erwiesene oder v c» r a u > g e s e t z t e
Stetigkeit der \^ e r ä n d e r u n g. Dieses .,rn<(tz der Kon-
tinuität aller X'eräiulerung" welches die hegelisch ani^ehauchten
Marxisten - nach dein Vorgänge Hegels — als sinnlose Tau-
tologie hinstellen und für so etwas wie reaktionären Blödsinn"')
ausgeben, hat kein Geringerer als der Begründer der deutschen
idealistischen Philosophie Kant aufgestellt. „Alle Veränderung
ist nur durch eine kcmtintiiiliche Handlung der Kau-
salität möglich Es ist kein Unterschied des
Realen in der Erscheinung, so wie kein Unterschied in der Crrölse
der Zeiten, der kleinste, und so erwächst der neue Zustand der
') Vgl. Wilhelm Schuppe, Erkeautnlüthcuretiscbc Logik, Boun 1S78,
') Vgl. Th. K i s t i a k u \v s k i . ( iesdlscbaft und Einzelwesen, S. I2r'--I33.
(Sl. l'etersburjj 1895. Z. 74 — 77, meines Erachtcus die weitaus beste Darsicüuug
der geschicbtsphilosophischen GrundlagcQ des ortbodosea Manitmtu) nod gaas in
demselben Sinne Plechnnow, „Beiträge sur Geschichte des Mnterisl^ns'« (Stntt>
gart 1896, S. 159—160) und „Zu Hegels sechsaigstem Gdiortstage" in der „Neuen
Zeit" X, I, bes. S. 379—881. Aus diesen Schriften hat Dr. Rosa Luxemburg ihre
pbiloeophische Begrftnduag der socialen Rerolntion als „politischen Schöpfongs-
aktes'* geschöpft.
S. 445)-
1. das russische Uuch von licltow, ,,M<inistisrhe Gesohii htsauffassunL: '
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Die Mansche Theorie der socialcii Entwicklong.
6Sl
Realität von dem ersten an, darin diese nicht war, durch alle un-
endlichen Grade derselben, deren Unterschiede von einander ins-
gesamt Ideiner sind, als der zwischen o und a." ^)
') Kritik der reinen Verounft. 2. Autl. der K e h r b a c h sehen Ausgabe, S. 194 bis 195.
Zar ErlSaterung mögeo die Torzäglicben AuflÜmmgen ton Ziehen Bod Sigwart
dieneo. Vgl des Brsterai FkychofAjiiologiache Brkett&toisüworie, Jena 1898, S. 1 1 — la :
^Die UKiiMfilidM Bedingoag füg das namittelbaie Auftreten der BetiehnngiTonteUang
„desselben Dings" ist nicht die qoalitntivc Gleichheit der •oocessiven Empfindungen
noch auch die rchcrcinstimmung ihrer raumlichen Lage, sondern die Stetigkeit
der (lualitiitivcn und räumlichen Veränderung. Seihst wenn wir später durch Ver-
gleichung un/.jhüfjer komplizierter koexi-itenter und succos>ivcr limprinilun^jcn, d, h.
s. ü. durch die Naturwissenschaften die Dicselbigkcit auch in scheinbaren unstetigen
Veilnderungen anffindeo, 10 bcfttht der Nach««» einer lokhen Dieselbigkeit doch
itets auf demjenigen einer versteckten, aber jedenblls thatsicblich vorhandenen
Stetigkdt. Wenn ein Taschenspieler dieselbe Karte, wdche er soeben in seiner
Hnnd seigt, unmittelbar nachher ans metner Rocktasche hervortleht, so aoceptieie
ich die Vorstellung der Dieselbigkeit für die Karte nur dann, wenn mir die Stetige
keit der räumlichen VerätKlerunj; für die Karte gezeigt wird. Es ist nun psycho-
logisch, d h. nach den 'lesetzrn dor physiologischen PsvcholOj^ic sehr wühl ver-
ständlich, dafs succcssive, stetig sich verändernde Empfindungen die Vorstellung
eines Dings hervorrufen. Zwei gleiche Empfindungen im Nebeneinander haben ver-
tchiedene rlumlidke KoefBnenten und sind insolem qualimtiT dniehnus verschieden.
Daher trots der Vorstellung der Gleichheit die Vontellung mehrerer Gcgenstinde.
Unter sncoessiven, stetig sich verindemden Empfindungen werden je swei seitlich
benachbarte qualitativ (eiDSchliefsüch der räumlichen Qualität) völlig übereinstimmen
und daher nur die Vorstellung eines Dings hervorrufen. Da die Veränderung stetig
ist. wird diese Vurstcllung eines Dings sich fortwährend, trotz der zunehmenden
DilTcrcnz zwischen der au;^pnhlicklichen und der anTänglichen Empfindung, erhalten.
Anschaulicher kann man sich diesen Thatbestand machen, wenn man erwagt, dafs
die Trägheit unserer Rindenelemente jeder Erregung eine gevrisM Nachdauer sidiert
und dnher eine Verschmeltnng der suocessiven Vorstellungen begftnst^. Wollte
SM» ein voUkommencs Analogon sn dieser Snocession stetig verschiedener Em-
pfindungen auf dem Gebiet des Nebeneinanders aufsuchen, so müfste man z. B. eine
Fläche nehmen, deren Farbe sich stetig von der einen Grenzlinie bis zur anderen
verSndcrtc o<hT ;iui h völlig gleich hliebe. In einem solchen Fall wird auch für
das Nchenciiiatulrr /inuichst die Vorstellung der Dieselbigkeit oder der Eitiheit sich
ciastellen, und nur uuf Grund sekundärer Ueberlcgungcn werden wir die Flaclic in
eine Vidheit von kleineren Flichendnhdten «erlegen. Die sog. analytisdie Geo-
metrie beruht im wcsentlidien auf der eben nnfgestellten Analogie/* Wesentlich
iberebstiflsmend damit sind die lichtvollen Ausführungen von Sigwart in dessen
„Loctk" (IL Band, 2. Aafl. Freiburg und ]>ipsig 1893, S. 12$— 127): „Wenn
vor unseren Augen ein blaues Papier sich rötet, ein auf den Ofen gelegtes StOdt
44*
682
Peter von Struve,
Diese Ausfuhrui^^en enthalten eine erkenntnistheoretische
Deutunj^ des E vol u t i o n ism u s. Die Stetigkeit jeder
auch der durchgreifendsten Veränderung ist ein not«
wendiges erkenntnistheoretisches und psychologi-
sches Postulat ihrer Begreiflichkeit. Das Evolutions*
prinzip nimmt eine Stellung analog dem Kausalgesetz ein : es ist
eine allgeineingiltige Form, unter welcher wir die durchgreifende
Veränderung der Dinge uns v»)rstellcn müssen, um sie zu be-
greifen. Ueber den Inhalt und flie Kausalität der Veränderung
sagt das pAolutionsprinzip nichts aus: es giebt nur ihre Form
an, und dirsr I'\)rm ist - - Stetigkeit. Der alte Satz: natura non
facit Salt US ist dem entsprechend dahin ahzuäiulern, dals man
sagt: intcllectus non patitur saltus. Eines möchte ich
allerdings hervorheben : wie die Kausalität des men.schlichen Thuns
sich nur gleichsam bildlich in den sinnfälligen Terminis der mecha-
nischen Kausalität ausdrüdten lädst, so kann auch dk Stetigkeit der
psychischen und sozialpsychischen Vorgänge durch die Berufung
auf die stetige Veränderung der physischen, chemischen und son-
stigen ,J>inge^ eben nur versinnbildlicht werden. Wenn aber
die Subsumption der menschlichen Handlungen unter das allge-
meine Kausa^esetz immer auf die psycholc^i^ische Opposition des
jedem gesunden Menschen eignen Gefühles seiner Freiheit"
stölst, so bat andererseits der Gedanke, dals Veränderungen in
menschlichen Dingen nur als stetige möglich sind, im gewöhnlichen
Bewußtsein \-iel tiefere psychologische Wurzeln und ist ihm viel
geläufiger als die entgegengesetzte „revolutionäre" Anschauung. So
kommt es, dafs der Evolutionismus SO oft mit konsen'ativcn Ge-
danken ver(]uickt wird (man denke nur an die historische Rechts-
schulcl) und im Gegensatz hierzu der Determinismus „revolutionärer''
\V.arhs zcr^Lliiiiilzt, wenn in unscrt-r Hand ein kalter Körper sich erwärmt, ein
harter erweicht : so haben wir überall einen ganz kontinuierlicbcD Uebergang. der
•n deiselbcii Stelle des Rann«* ticb voUsidit, md dw Motiv tritt nirgends ein,
«twa aosuiiehmea, dafs, was frOber da war, dardi eine gaos andere Sobstaas
ersetit wordeD sei; die Einheit des Dinget haftet in dieser Hinsicht, wie vorher
an der räumlichen Abgegrenztheit, SO jetst an der seitliehen Kontinnitit der
Empfindungsäbergänge innerhalb dieser Grenzen, hctv. an der stetigen Veränderung
dieser (Frenzen selbst. Um dieser Stetifjkeit willen glauben wir die Einheit auch
dann festhalten /.u müssen, wenn, wie im Falle des si hinel/cndcs Kiscn. alle und
jede uumiUelbar emptiudbaren Qualitutco sich änderu — Karbe, Gestalt, Temperatur,
Härte n. s. f.** (1- c. ii6).
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Die Manucbe Theorie der socialeii EntwieUnnc.
683
Konsequenzen beschuldigt wird. Trotzdem hat logisch der Evo
lutionismus ebensowenig mit konservativen wie der Determinismus
mit „revcdutionären" Ideen zu thun.
Für unsere Sireitfrage bedeuten che obigen Ausführungen die
erkenntnistheoretische Abschaffung des Begriffes der Revohition als
eines selbständigen t h e o r e t i s c h e n Begriffes, der angcbhch eine
besondere Art der sozialen L mgestaltung aus/udrii(^ken vermag.
Der Begriti der Revohition wird dadurch in (l.iNsrllir (iebict, wo
sich die W illensfreiheit im Sinne ursachelo.sen I luinsi, die Substan-
zialität der Seele etc. seit Kant befinden, verwiesen: es sind dies
praktisch höchst wichtige, theoretisch aber uiigiltige Begriffe.
Was den ,, Umschlag der Quantität in Oualilät" betrifft, so ist
diese Formel nur ein anderer logischer .XuMlruck, um eine durch-
gfreifende Veränderung „desselben Dinges" als eine stetige und
mefsbare zu charakterisieren. Es wird durch diese Vorstellung
eine gegebene Qualttätsrveränderung fiir uns b^^iflich gemacht.
Wenn es nun den Uebergang vom Kapitalismus zum Sozialismus
als notwendig zu erweisen gilt, so ist dieser Uebergang als ein all-
gemein begreiflicher Prozess darzustellen, das heiTst als stetige
und kausal begründete Veränderung der Gesellschaft
nachzuweisen. Es ist daher erkenntnistheoretisch von vorn-
herein klar, dafs es völlig verfehlt ist, wenn man bei genetischer
Erklärung des Sozialismus ihn in einen unüberbrückbaren G^en-
satz zum Kapitalismus versetzt — dadurch wird der theoretische
Nachweis seiner Notwendigkeit — auf realistischem Wege —
einfach unmöglich gemacht. Hier arbeitet die neuere orthodoxe
marxistische Dialektik mit für den gegebenen F'.rkcnntniszweck
absolut un verwendbaren Begriffen. Dafs der Sozialismus nicht
identisch ist mit dem Kapitalismus, ist aus diesen Begriffen ohne
weiteres zu ersehen. Bei der Begründung des Sozialismus als
einer historisch notwendigen (iestaltung der Gesellschaft gilt es
aber — da der Kapitalismus dns in der Wirklichkeit (iegebene, der
Sozialismus das /u Krschlielsende ist — nicht, tlas beide liestaltungen
Treniicntle, sondern umgekehrt, das sie notwendig — d. h. in durch-
gängiger Kau-salilät und in .stetigen l'ebergängen — Wrbindende
auszufindcn. l'ür die theoretische, d. h. entwicklungsgeschichtliche
Betrachtung ist der in der marxistischen I.itteratur äulserst beliebte
Hinweis auf die völlige W'esensvcrschiedenheit des Sozialismus untl des
Kapitaiismus und auf die Unmöglichkeit den Soziali.smus im Rahmen
der kapitalistischen Gesellsciiaft und mit den Mitteln derselben zu
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684
Peter tob StroTe,
verwirklichen — eine Instanz ^'(i,'eii die historische N'otwendij^keit
und selbst gc^en die Möglichkeit des Sozialismus. Um das heiis
ersehnte Unmögliche schlidslich doch als notwendig zu erweisen,
wird das soziale Wunder zu Hife gerufen — die soziale Revolution,
die den l mschlag der Quantität in die Qualität durch die ihr inne-
wohnende schöpferische Kraft zu stände bringL Ks liegt in dieser
ganzen Auh<'issung ein sonderbarer Widerspruch : die \\ csens\ er-
schiedi nheit des Kapitalismus und des Sozialismus erfordert not-
wendig soziale Revolution, letztere (Umschlag der Quantität in
Qualität) unterstellt aber begrifilich den stetigen Uebergang vom
Kapitalismus zum So^alismus, der durch ihre Wesensverschiedeaheft
ausgeschlossen war«
Wenn man dem konkreten Gedanken, welcher dieser logisch
höchst mangelhaften Auflassung zu gründe liegt, nachspürt, so findet
man immer den simplen Satz: die soziale Umwälzung ist nur durch
das Mittel der politischen Revolution vollziehbar. Dieser Gedanke
bringt uns aber theoretisch keinen Schritt weiter, denn die politische
Revolution, welche als Werkzeug der sozialen Umwälzung dienen
soll, setzt schon — nach der Grundansicht der materialistisdien
Gesduchtsaui&ssung — die ganze soziale Umwälzung voraus.
Wie hoch man auch die Bedeutung der Eroberung der poli-
tischen Macht durch das Proletariat bewerten möge, so ist sie doch,
halbwegs realistisch aufgefalst, nur ein Resultat und ein Index
der sozialen Umwälzung, keineswegs aber ihr ausschlieCslicher Inhalt.
Die trul)erung der politischen Macht der Gesetzgebung und der
gesetzlichen Reformarbeit als wesentlich verschiedene Momente
gegenüberzustellen, ist einfach sinnlos. Die Eroberung der poli-
tischen Macht lälst logischer- und em|)!rischerweise verschiedene
Methoden zu. Andererseits, ist einmal die l--r< )l)erung der politischen
Macht vollzogen, so ist aus dieser Macht kein anderer (ul)rauch zu
machen, als — kraft ihrer — „gesetzliche Ketürniarbeif zu ver-
richten. „Politische Macht" wird erobert, um sie — im Wege der
Gesetzgebung und X erwaltung — auszuüben.
Trotz aller evolutionistisrhcn Zuthaten kehrt — im Gefolge
der diakklischcri \'orstellun,_;sweise — die alte utopische .Auf-
la.s.sung der sozialen Umwälzung als einer politischen Revolution
immer wieder zurück. ')
') Hier noch ein pa.-ir Worte über die „Dikt.atur des Proletariates". Dieser
jakobinitch-bluiqttUititclie Begriff ist m. E. dam aDgethan, die somle Umwälxaag
Die Marxscbe Theorie der sozialen Entwicklung.
685
Wir haben gesehen, daCs diese ganze Vorstellungsweise darin
gipfelt, da& die „materialistische Geschichtsauffassung'' aus einem
Mittel der wirklichen Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung
ein Mittel wird, realistisch nicht vorstellbare soziale Wunder schein-
bar zu erklaren. Materialistische oder ich sage lieber realistische
Geschichtsauffassung schlägt hier thatsachlich in eine sublimiert
idealistische und utopistische Ansicht um. Wenn die politischen
und rechtlichen Verhältnisse der ka|>ilalistisclicn Gesellschaft — die
Entwicklung der Sozialreformen und der Demokratie darin einge-
schlössen — „eine immer höhere Wand zwischen der kapitalistischen
und der sozialistischen Gesellschaft errichten", so führen hier in
Wahrheit Leib und Seele ganz getrenntes und anta<,'onistisches Da-
sein. Der Leib des Kapitalismus wird immer sozialistischer, seine
Seele immer kapitalistischer, umgekehrt der Leib des sozialistischen
Agenten — der Arbeiterklasse — wird immer kaj)itaHstischcr, seine
Set.'le aber — im Vereine mit dem Leibe des Kaj)itaHsmus -- immer
boziahstischer. Und so ist es ganz konsequent, wenn man uns
sagt, dafs die stufenweise sozialisierende Wirkung des gewerkschaft-
lichen und parlamentarischen Kampfes auf die kapitalislisclie Wirt-
schaft blofs imaginär sei (Luxemburg 1. c. 28 — 29). ,,Die grofse
sozialistische liedeutung des gewerkschafthcheii Kampfes jjcstehe
darin, dafs sie (err) die Erkenntnis, das Bewufstsein der
Arbeiterklase soziaUsieren". Hier wird — übrigens ganz logisch
von dem einmal angenommenen Standpunkte aus die Einwirkung
des Klassenkampfes auf die Wirtschaft geleugnet und der Klassen-
kampf zu einer ideellen oder spirituellen Potenz, welche sich in
fortwährendem und steigendem Gegensatz zur sozialen Wirklichkeit
bewegt, verflüchtigt Oder vielmehr: hier tritt an Stelle des viel
gerühmten und höchst biegsamen Monismus ein starrer Dualismus,
mit welchem man jede Empirie unbarmherzig über den Haufen
wirft, um schliefslich durch das Wunder des „politischen Schopfui^;s-
aktes" in den ruhigen Hafen des Monismus der au%ehobenen
7U einer Regierungsmafsregel ili r demokratische» < *hrl;;keit zu degradieren. Die „1 )ikta-
tur des Proletariates" — weuu solche überhaupt denkbar ist — ist mit der sozialen
Umwdnmg ganz inkomacasiiiibel: rie ist entweder fOr sie völlig übertlüs.sig uder
mehr als numreidieod. Je mdir die Geiellsdwft — knift dem ErsUirkea der Ar-
bdterklasse — rieh dem SodaUsmas nähern wird, desto weniger kann nnd braudit
an die Diktatur dieser Klasse gedacht sa weiden; je grflläer der Abstand, der die
Gesellschaft vom Sozialismos trennt, desto weniger kann das Kraftndttel der n^ik>
tatst" über diese Unreife ntn Soaalisnuis hinw^helfen.
686
Peter von Strnve,
Widersprüche zu gelangen. Dieser Dualismus inufs folgerichtig
das „Bewußtsein" der Arbeiterklasse von ihrerr» „Sein" loslösen.
Konsequent durchdacht erweist sich somit die ,,parteiübliche
Auffassung" oder der othodoxe ^alektische" .Marxismus als eine
höchst originelle Art des Utopismus, welche ich — im Gegensatz
zu anderen utopistischen Systemen — als entwicklungsgcschicht-
lichen oder historischen lUopistnus bezeichnen würde. In der Ent-
wicklnn«[slchrc . welche unstreiliL; das Charakteristikum und die
ülanzleistuii^ des Marxschen l^ozialismus bildet , liegt auch seine
verwundbare Stelle, und sie liegt eben in der angeblich unüberwind-
lichen „Dialektik".
Man wird die vielen Widerspruche nicht los, wenn man nicht
ganz entschieden den ( ledaiiken der „sozialen Revolution" als theo-
retischen Begrifif fallen lälst. Mit ihm fällt aber jene Betrachtung
der kapitalistischen Entwicklung, welche die begrifflichen Gegen-
satze Kapitalismus und Sozialismus in die Entwicklung selbst hinein-
legt. Dsidurch erst wird der Satz, dals der Kapitalismus sich zum
Sozialismus entwickelt, zur vollen Wahrheit. Die Notwendigkeit des
Sozialismus wird dann nicht durch das Wunder der „sozialen Re-
volution", welche an die Stelle der kapitalistischen Gesellschafts-
Ordnung die sozialistische setzt, sondern allein durch die stetige
Entwicklung der ökonomischen Phänomene und ihrer rechtlichen
Normierung in der kapitalistischen Gesellschaft begründet Der
Sozialismus als reale Potenz mufs entweder in der wirklichen, d. tu
der kapitalistischen Gesellschaft anzutreffen sein oder er hat über-
haupt keine Exbtenz. Soweit also der Sozialismus historisch be-
trachtet und von einer Entwicklung zum Sozialismus gesprochen
werden soll, muls eben der begriffliche Gegensatz zwischen Ka-
pitalismus und Sozialismus geschichtlich aufgelöst werden. .Mle
Unklarheiten und P^hlgriffc der marxistischen Entwicklungslehre
hängen mit der Betonung der begrifflichen Gegensätzlichkeit des
Kapitalismus und Sozialismus zusammen. Dieser Gegensatz wird
in Wahrheit nicht sowohl aus den realen Kämpfen der sozialen
Kl.isseii innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung als ihr er-
schlossenes und abstrakt hingestelltes Imdresultat abgeleitet, als zu
dem KaTn])fe zweier im (irunde xersrhicdener Wesen, iles Kapitalis-
mus und des .Sozialismu.s, liyposlasieri. I^als diesen Wesen subjek-
tive Träger — Bourgeoisie und Proletariat — sul)stituiert werden,
verdeckt zwar diese I I\ ()o.stasicrung, .schafft sie aber nicht aus der
Welt. Denn es sind die begrifflichen Gegensätze, Kapitalismus und
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Di« Marxsche 'i'heorie der sotialcu Lntwicklung.
687
Sozialismus, an welchen der gesamte Entwicklungsprozeß thatsach-
lieh gemessen und gewürdigt wird; und sie bestimmen somit von
vornherein die Vorstellung von seinem Gang. Nur dadurch wird
es möglich, von der „Aufhebung" des Kapitalisnius durch das
Proletariat zu sprechen. Dafs die „Aufhebung" einer Gesellschafts-
Ordnung ein gar nicht vollziehbarer Gedanke ist — scheinen die-
jenigen, die darüber sprechen, nicht zu ahnen.
Es ist hier nicht der Ort die „Dialektik" eingehend darzulegen
und zu kritisieren. Gegenüber aber der fortgesetzten Verherrlichung
derselben (in eine solche ist selbst Bernstein verfallen) ist es mehr
als an^M brarht auf das Schärfste zu Ijctoncn, dafs es keineswegs
richtig ist die „Dialektik" mit dem Evolutionsprinzip zu identifizieren.
Die „Dialektik" ist eine auf einem bestimmten metaphysischen
Prinzip — nämlich auf der Identität von Denken und Sein — auf-
gebaute logische Methode. Die „Dialektik" macht somit die Logik
zur Ontologie. Wenn aber in dem was wir Wirklichkeit nennen
Alles flüssig ist, so kommt anrlrcrseits das logische Denken nur mit
Hilfe tler Konstan/. und Bestimmtheit der l'rteilc und Hci:,friflc zu
Stande. „Die Bedingung der MÖL^Hchkeit vollkommener L rteilc ist
durchgängige Konstanz, \ollkommene Bestimmtheit, allgemeine
IJebereinstimmung luid unzweideutige spraciilichc Bezeichnung der
X'orstellungcn, welche als Prädikate beziehungsweise als .Subjekte in
das Urteil eingehen. Eine Vorstellung, welche diese h'ordcrungen
erfüllt, nennen wir Begritt" im logisciien Sinn des Wortes." ') Ist die
Wirklichkeit „dialektisch", .so ist das logische und somit das wissen-
schaftliche Denken — seinem Wesen nach — undialektisch.
Der beliebten Art aber die Starrheit des Denkens gegenüber der
' „Dialektik", d. h. der Flüssigkeit des Realen als eine unvermeidliche
Schwäche des menschlichen Geistes anzufahren, kann mit ebenso
viel Recht die Auflassung entgegengestellt werden, dafs es lediglich
dem starren Denken mit seinen konstanten Vorstellungen und Be-
griffen gelingt, die „natürliche Anarchie" der „dialektischen" Wirklich-
keit, d. h. der Welt der unmittelbaren Wahrnehmungen praktisch
und theoretisch zu überwinden. In der Starrheit des ,J>enkens"
liegt aber nicht sowohl seine Starke als die Bedingung seiner Möglich-
keit eingeschlossen: ohne dieselbe kann es eben selbst nicht gedacht
werden. Es ist ein ontologisches Vorurteil, die absolute Veränder-
1) Vgl. Christoph Sigwsrt, Logik, I. Bd. (a. Aufl.), Freiburg 1. B. iS89^
s. 315.
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688
Feter toq Striive,
lichkeit der Welt, welche übrigens ihrerseits nur mit Hilfe des Be-
{Triflfes einer absolut beharrlichen Substanz und einer ebenso absolut
beharrlichen Kraft gedacht werden kann, in der angeblichen „Flüssig-
keit" der Begrifife wiederfinden zu wollen. Das Veränderliche so-
wohl wie das Unveränderliche der Welt wird durch konstante Be-
griffe der menschlichen I^rkenntnis einverleibt.
Ks ist höchst reizvoll zu betrachten, wie der dialektisciic Marxis-
mus, durch praktisch-politische Motive <:jcleitet, oder besser i^esas^t.
verleilet, an der unkritisriicn Vcrweiidun;^' der starren Ik-i^ritVe
scheitert. Der Marxist, ausgerüstet mit der „Widerspruchslormcl",
legt mit einem wahrlich „undialektisrhen" Nachdruck die starren
begrifflichen (TCgcnsätze in die Wirklichkeit hinein. Und so kommt
es, dafs der dialektische Marxismus st-in cntwirklungsgcschichtliches
Bild zum guten Teil mit Hille lic r aufs I'cinlichste. geradezu religiös
in ihrer Starrheit und ihrem AIjsolutiMnus gewahrten Begriffe: „So-
zialismus". „Klasse" etc. konstruiert. Was gegen den sogenannten
Opportunismus in der Partei auch theoretisch immer ins Feld ge-
führt wird, sind ja nichts anderes als die absoluten B^^ffe des So-
zialismus und des Klassenkampfes.
Der dem orthodoxen Blandsmus eigene Begriffsabsolutismus ist
im gewissen Sinne das direkte Gegenstück der „Dialektik" oder —
wenn man will — treibt hier das dialektische „Denken" ein tücki-
sches Spiel mit dem „Sein": das Denken gieist, kraft seiner
Identität mit dem „Sein" das letztere in die ihm genehmen und
•r- o wehe! — starren Formen. Die materialistische Identitats-
philosophie wird durch ihre praktische Vernunft auf im schlimmsten
Sinne idealistische und „undialektische" Bahnen geführt und so in
ihr Gegenteil verkehrt Es ist allerdings das gute Recht dieser
{»-aktischen Vernunft — des Sozialismus — gegenüber der sozialen
Wirklichkeit ihre sozialpolitischen Postulate mit dem gröfsten Nach-
druck geltend zu machen, vor dem Forum der theoretischen Er-
kenntnis ist aber der Streit mit anderen Waffen zu fuhren.
Denn dies mufs doch gesagt werden: wenn man sich nach der
Herkunft der ßegrift'e „Soziale Revolution", ., Zusammenbruch der
kapitalistischen GeselLschaft" etc. fragt, so ist keine andere Antwort
auf diese Frage möglich als folgende: diese theoretischen Pseudo-
begrih'e sind dem unvermeidlich irreführenden Bestreben erwachsen
praktisch-i)olitischc Postulate des Soziahsnuis, d. h. eines sozialen
Ideals, in theoretische Begriffe im Dienste einer geschicinliciien
d. h. kausal-genetischen Betrachtung umzuprägen. Was als leitende
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Die iSaxiMtätt Theorie der «nialen Eniwiddiiiig.
689
Ideen im sozialen Ideal einer streitbaren sozialen Gruppe Itir einen
bestimmten historischen Moment berechtigt sein mag, ist keinesw^s
ohne weiteres für die theoretische Erkenntnis des wirklichen gesell-
schaftlichen Geschehens verwertbar. Die Stärke des wissenschaft-
lichen Sozialismus — die von ihm angestrebte und z. T. verwirk-
lichte Verbindung zwischen der Theorie der sozialen Entwicklung
und dem sozialpolitischen Programm eines Klassenkampfes — ist
gleichzeitig auch zur Quelle nicht geringer w^issenschaftlichcr Irr-
tümer f^ewortlcn. Wenn der Umstand, dafs Marx selbst Sozialist
war, seinen Sinn für die geschichtliche Rclatixität der kapitalisti-
schen \\ irtschaftsordnung ungemein gcschäi ft hat und sonnt seiner
theoretischen Leistung in nicht zu überschätzendem Malse zu ^ute
gekommen ist, so hat ainlrerseits flersclbc l'mstand seinen Blick
auf die entwicklungsgcschiciitlicii i^^ar nicht falsbare Grenze zwischen
dem Kapitalismus und dem Sozialismus geheftet. Datlurch wurde
er verleitet, den begritf liehen ( Ic^ensalz zu einem objekti\en zu er-
heben, ihn in die Wirklichkeit willkürlich zu projizieren. Daraus,
dafs der Sozialismus ein revolutionärer Begriff ist, d. h. dafs seinen
Inhalt eine vollständige Umwälzung der scudalen Zustände ausmacht,
folgt aber keineswegs, dafs dieser Inhalt sich in einer oder mehreren
als eine reale Einheit gedachten menschlichen Handlungen d. 1l als
Revolution realisieren kann. Marx hat aber aus dem revolutionären
Inhalt des praktischen Begriffes Sozialismus eine gewisse Art seiner
Verwirklichung gefolgert und so den theoretischen Begriff der
sozialen Revolution geschaffen. Eine regulative sozialpolitische Idee,
ein soziales Ideal, welches starr ist und starr sein soll, ist aber für
das Er&ssen des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses gar nicht
verwendbar. Für die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung ist der
SozialbmuSy wenn sie diesen Begriff und dieses Wort benützen will,
in so und so beschaffenen realen A'^orgängcn und Tendenzen der
kapitalistischen Gesellschaft erschöjift. der praktische Sozialist aber
kann und meinetwegen darf in denselben nur — „V'erewigung" der
kapitalistischen ( lesellschaft erblicken. Es ist offenbar aussichtslos
diese zwei Standpunkte \ersöhncn zu wollen: denn sie arbeiten mit
ganz verschiedenen Bei^ritien und wenden ganz verschiedene Mafs-
släbe an. Sie können sich gegense itig psychologisch aushelfen —
aber logisch müssen sie innner grundsätzlich autonom bleiben.
Es hiefse sich überhaujjt einem Wahne hingeben , wollte man
[)raktische Ideale mit theoretischen Plirisichten zur vollständigen
Deckung bringen. In diesem Sinne liegt in der Wortverbindung:
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690
Peter von Strave,
wissenschaftlicher Sozialismus eine grofse Utopie einge-
schlossen. Der Sozialismus kann — seiner N'atur nach, als soziales
Ideal — in der Wissenschaft nie aufgehen und sich der Wissen»
Schaft nie unterordnen.
Der Marxismus auch in seiner realistischen Fassung enthält
nicht so viel Wissenschaft, tlafs Einem da\or, dafs die soziale Zu-
kunft \of seinem Hewulstsein völlig prädeterminiert läge, die lel>en-
dige Schadenslust \ ergingc. Kr ist aber wissenschaftlich genug um
für seine Adepten das kühne Ficlitcsche Wort:
„Man mufs nicht nur kämpfen, sondern auch
siegen wollen"
zur Wahrheit zu machen.
Die in diesem Aufsatze vorgetragene rtalistisrhe Aulfassung ist
ebenso auf die Marxschen Ideen und namentlich auf die Grund-
ansicht des historischen Materialismus von der sich immer durch-
setzenden Anpassung des Rechtes an die Wirtschaft begründet wie
die unrealistische Betrachtungsweise, welche mit dem theoretischen
Pseudobegriff der „sozialen Revolution'* arbeitet. Marx versus Mancl
Der utopistische Zug tnufste dem Marxismus als theoretischer
B^;ründung des Sozialismus notwendig anliaften, solange er von
den thatsächlichen Voraussetzungen der 40 er Jahre, d. h. von der
Verelendungstheorie au^ng und ausgehen mulste. Seither wurde
aber der reale Boden der Entwicklung zum Sozialis-
mus sichtbar bezw. ist dieser erst geschaffen wor-
den: ich meine die wirkliche wirtschaftliche und poli-
tische Machtentfaltung der Arbeiterklasse innerhalb
der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Diese alles
andere überragende Thatsache weist dem Klassenkampfe des Pro-
letariats eine ebenso natürliche als wichtige Funktion zu. Die An-
sicht, welche die allmähliche Sozialisierung der kapitalistischen Ge-
sellschaft negiert, ist — wie wir dies festzustellen schon Gelegenheit
hatten — gezwungen, den wirkUchen wirtschaftlichen und ])olitischen
Klassenkampf, welcher sich niigendwo anders als in der kapitali-
stischen Gesellschaft, unter den Voraussetzungen und mit den Mitteln
derselben abspielt, als eine Art geistiger und politischer Trainierung
(\c'< Proletariates für den entscheidenden Schlag der sozialen Revolu-
tion aufzufassen. Der tägliclie Klassenkampf wird dadurch zu einem
an sich inhaltsleeren Vorbereitungsmitlei ge.slcmjjelt und des leben-
digen Zu.sammenhangs mit dem realen Leben — gluckliciierweise
nur in der Theorie — beraubt. Nach der realistischen oder evolu-
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Die Abncsche Theorie der sodalen Entwiddimg.
tionistischcn Ansicht, welche wir vertreten, ist der Klassenkampf
eine ebenso reale wie ideale Potenz. Er ist das Werkzeug und der
Ausdruck der Machtenfaltung des Proletariates. Allerdings der
Glaube, dafe die Entwicklung des Kapitalismus zum Sozialismus von
einer ins Unbestimmte, bis zum Eintritt der scMoalen Revolution fort-
schreitenden Zuspit7.un<^' des Klassenkampfes und der Klassengegen-
sätze abhänj^t, ist mit der Lehre von der allmählichen Sozialisicrung
der ticsellschafl nicht vereinbar. Soll <lie Sozialisirun^ wirklich werden,
so TTuifs sie fortsc^hreilende Abscinvächung und schlicblichcs \'cr-
schwinden der Klassengegensätze mit sicii führen. Dieses Resultat
wird selbstverständlich auch von dem orthodoxen Marxismus an;^c-
nommcn, nur dafs dieser das X'^ersclnvinden der Klassenj^e^aiisätze
von ihrer Zuspitziitii; und schlielslichen „Aufhebung" durch die
Diktatur des TroU tariates erwartet, wir aber dasselbe aus seiner
fortschreitenden Machtentfaltung und seiner sozial-reformatorischen
Thätigkeit ableiten.
Ich befiirdite, dafs mir — wegen der theoretischen Negation des
Begriffes der sozialen Revolution — der Vorwurf reaktionärer nicht-
sofldalistischer Gesinnung nicht erspart bleibt. Dieser Vorwurf würde
aber ebenso geistreich sein, wie etwa jener, gegen den theoretischen
Idealisten gerichtete : er n^ere die „Existenz" des Hauses, welches
er bewohne. Man würde vergessen, dafe jede wirkliche „Revolution"
innerhalb der Evolution ihren Platz findet, und da(s es weder wirk-
liche Thatsachen noch reale Bestrebungen einzelner Leute und ganzer
Gruppen sind, welche meine Ansicht negiert, sondern einzig und
allein eine ganz bestimmte Art ihrer begriffsmäisigen Aul&ssung.
Auch meiner Ansicht nach ist der Sozialismus revolutionär und das
Proletariat soll es sein.
Aber die soziale Revolution ist nichtsdestowenig^cr ein Landing:
Sie ist es deshalb, weil in dem Sinne, in welchem von ihr als Re-
volution gesprochen wird, sie allen irgendwie als Einheit gedachten
menschlichen Handlungen völlig inkommensurabel isL Man kann
die soziale Revolution anstreben, aber — wenn man realistisch
denkt — immer mit dem Rewulstsein. dafs weder der Einzelne,
noch seine ;^anzc Klasse, noch überhau])t eine menschliche Genera-
tion sie iiiai lu ii kann. Alles was wir als einheitliche menschliche
That oder lliätigkeil uns denken können, erweist sich — nach
realistischer Ueberlegung — als völlig diesem grofsen Zwecke
inadä()uat. Inir das praktische Bewufstsein ein einheitlicher Zweck-
gedanke, zerrinnt die soziale Revolution für das theoretische Bcwulst-
Digiti/oü by Cjt.)0^lc
692
Peter ron Strnve,
sein in eine Reihe von \'orc^änj]fen, wird zu einem Prozcfs, über
welchen keinem realen ps\'chisclicn Subjekt die Macht zugesprochen
werden kann. Der gifilse Unterschied /.wischen dem, was wir
politische Revolution, und dem, wa.s wir soziale Revolution nennen,
liegt eben tiarin, dafs wir jener ein wirkliches Subjekt, welches sie
zu seiner That maclit, substituieren können, diese aber nur subjekt-
los, weil alle möglichen historischen Subjekte überragend, gedacht
werden kann. Auch iür das Proletariat, als ein reales, mit einheit-
lichem Willen ausgestattetes Subjekt, mache ich — aus begreif-
lichen Gründen — in dieser Hinsicht keine Ausnahme. In der
Grölse der sozialen Revolution als Zweckgedankens manifestiert sich
ihr Charakter eines mit diueliien moischlichen Handlungen unver-
gleichbaren Entwicklungsprozesses: soziale Revolution ist entweder
das begrifflich antizipierte Resultat der sozialen Evolution oder sie
ist diese selbst
Die sogenannte »^usammenbruchstheorie" oder die Theorie
von der sozialen, Revolution" hat sich somit für uns als eine logisch-
begrifflich unhaltbare Lehre erwiesen. Sie bedeutet konsequent
durchdacht eine Absage von der realistischen Grundansicht des
Marxismus.
Ihre empirische B^ründung fand die „ZusammefdMrudistheorie*
bei Marx in der Lehre von der naturnotwendigen Verelendung der
\'olksmassen im Fortgange der kapitalistischen Entwicklung. Diese
Lehre hat Marx zwar nie fallen gelassen, sie ist aber durch That>
Sachen widerlegt und von Marxisten fast durchgängig aufgegeben
worden. Und wäre diese Lehre richtig, so wäre ihre Richtigkeit
nur ein Beweis gegen die Möglichkeit eines Sozialismus, der Sei bst-
befreiung des Proletariates und Fortschritt der Kultur ist, also gegen
die Möglichkeit des Marxschen Sozialismus.
Die Zusammefibruchstheorie in ihren neuesten Lesarten knüpft
£eist ausschliefshch an die Lehre von der wachsenden Anarchie der
kapitalistischen Produktion im (legcnsatz zur gleichzeitigen foii-
.schreitenden Vergesellschaftung der Produktion und Wachstum der
Produkti\kräfte an. Der Fluch der Anarchie thue sich danach in
Krisen kund. Nun hat .Marx, dem dieser Gedankengang entnommen
ist, „den letzten (irund aller wirklichen Krisen" in der ...Ainiut
und Konsumtion.sbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb
der kapitalistischen Produktion die Produktivkräfte so zu entwickeln,
ab ob nur die absolute Konsumtionslahigkett der Gesellschaft ihre
Grenze bilde" erblickt (Das Kapital m, 2, 21). „Je mehr sich
L iyiii^üd by Google
Die l&nudie Theorie der somlcn Entwiddime.
693
die Produktivkraft entwickelt, umsomehr gerät sie in Widerstreit
mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnissc beruhen"
(1. c. III, I, 226). Diese allgemeine Begründung der Krisen durch
den Widerspruch der Aneignungs- und Produktionsweise wird ja —
wie l)ckannt — auch in dein ersten Bande des ,,KniMt.i!s" mit
Naciidruck ausgesprochen. Die Bemerkungen im zweiten Hände,
welciie Bernstein in seinem Buche (S. 68—691 anführt, enthalten
keinen Widerspruch mit dieser Theorie. .-Xllerdings hat Mar.\ anders
als Rodbcrtus das X'erhältnis zwischen Pro^luktionsbcwegung und
Krisen einerseits, LoimbeweguuL; andrerseits, aufgefalst. Allgemeine
Lohnsteigerung war für Marx — eo ipso — kapitalistische
Lohnsteigerung und als solche mit der Verschlechterung der I^e
der arbeitenden Klassen nicht nar vereinbar, sondern notwendig
verbunden. Die Planlosigkeit der Produktion begründete aber bei
Marx nur die Möglichkeit, nicht die Notwendigkeit der Krisen.
Den Boden für wirkliche Krisen giebt die planlose Mehr wert -
erzeugung ab.') Und diese heidst Kapit^ismus. Kapitalismus
aber erfordert notwendig die Unterkonsumtion und die Verelendung
der Massen.
Man kommt also nicht um die Verelendung herum. Wie eben
angedeutet, ist die Verelendungstheorie auch von den meisten ortho-
doxen Marxisten in ihrer ursprünglichen und iÜr die Vergangenheit
lebenswaliren konkreten Fassung aufgegeben worden. Sie wird
aber nichtsdestoweniger hartnäckig „uminterpretiert". -) Ein Beispiel
solcher Uminterpretierung führt Bernstein (1. c. S. 148) an. Unter
„wachsender Masse des Llends" meinten — nach ("unow — Marx
und Lngels „nur einen Rückgang seiner 'des Arbeiters) gesellschaft-
lichen (iesamtlage im X'erhältnis zur Zunahme der Produktivität
und der Steigerung der allgemeinen Kulturbedürfnisse". hs ist
richtig, dafs Marx (und noch schärfer Rodbertusi neben der ab-
soluten auch die relative Verschlechterung der Lage der Arbeiter
energisch betonten. Marx drückte diesen von ihm angenonmienen
Sachverhalt in der Sprache seiner Begriffe so aus, dals er das
Wachstum tier Rate des Mehrwertes
M (Mehrwert)
V (Variables Kapital =«= Gesamtsumme der Arbeitslöhne)
') Vgl. die Auslassungen ira „Kapital" Band I, 3. Aufl. S. 84—85.
-I Nach dem Ausdrucke von K r i e d r i c h Otto Hertz. Wrfasscr eines Icsrn?-
wr-rtcii Autsat/c?: „Rcrnstcia und die Sozialdemokratie" in Ferncrslorfers „Deuuclien
Worten' Junibeft 1099.
Digitlzed by Google
694
Peter von Struve,
im Fortgänge der kapilalistischeii Entwicklung behauptete. Aber
eben diese Behauptung läfst sich mit den Thatsachen sehr schlecht
in Einklang bringen. Für die Anfange der grolskapitalistischen
Entwicklung (erste Triumphe des Maschinenwesens!) dürfte sie wohl
allgemein das Richtige treffen, in den weiteren Stadien und vollends
ins Unbestimmte hinaus ist ein Steigen des Exploitationsgrades
der Arbeit gar nicht anzunehmen. Die Mehrwertsrate kann näm-
lich nur dann wachsen, wenn entweder der Arbeitslohn, aus wel-
chen Gründen es sei, sinkt oder der Mehrwert steigt Das Sinken
das Arbeitslohnes ist aber wahrlich nicht die Signatur der neuesten
wirtschafUichen Entwicklung aller kapitalistischen Lander. Ohne
Sinken des Arbeitslohnes kann der Mehrwert entweder der Ver-
längerung der Arbeitszeit oder der Intensifikation der Arbeit ent-
springen. Verläi^erung der Arbeitszeit ist für alle kapitalistischen
Länder im Fortgange ihrer kapitalistischen Entwicklung ebenfalls
nicht zu konstatieren, vielmehr ist das Gegenteil im allgemeinen zu
beobachten. Intensifikation der Arbeit findet wirklich überall statt,
ist aber aus physiologischen Gründen erstens häufig mit ent-
sprechender Steigerung des Arbeitslohnes verbunden, zweitens an
eine unüberschreitbarc Grenze gebunden. Dciiina( h scheint mir an-
gcsicius der neuesten wirtschaftlichen luilwicklun^ die Lehre, dals
die Mehrwertsrate ndcr der IvxploitationsL^rad der .Arbeit im Fortgänge
der kapitalistischen Entwicklung immer anwächst, unhaltbar zu sein.
Mit Erfolg ist die entgegengesetzte These zu vertreten, welche sich
auch widerspruchslos in das (iesamtbild der neuesten ökonomischen
Entwicklung einfügt. Die zu den besten Hoffnungen berechtigende
Signatur dieser iMitwicklung ist ja die stetige wirtschaftliche Er-
starkung der Arbeiterklasse, die reale Basi.s auch ihrer politischen
Machtcntfaltung. Diejenigen aber, die sich auf die Autorität von
Rodbertus, welcher angeblich unwiderlegbar nachgewiesen hat, dafs
der Anteil der Arbiter an dem Nationalprodukte mit zunehmender
Induktivität der Arbeit immer kleiner werde, berufen, sollten
sich doch erinnern, dafs Rodbertus mit diesem Satze eigentlich
nichts anderes als das Lassallesche „eherne Lohngesetz" seligen
Angedenkens vertrat, und genau mit denselben Argumenten. Für
ihn und für Lasalle, welcher ihm hierin treu folgte, waren eben die
rein wirtschaftlichen Widerstände der Arbeiter gegen die Ansprüche
■) Dieser Gesichtspuiikt wird sehr gut von Pattl Kampffmeyer iD teiocr
BrosehOie „Mehr Macht** (Berlin 1898) aiugeffthrt
Die Mansche Theorie der aotialen Entwicklung.
des Kapitals, ilire ^ c \v c r ks c h a f 1 1 i c Ii c Selbsthilfe u. a. mehr,
gleich Null. Dies ist aber sowohl theoretisch als praktisch —
ein überwundener Standpunkt, auf den sich auch die sozialistische
Arbeiterschaft nie mehr stellen wird.
Aber ich will davon absehen, dals die Zusammenbruchstheorie
als eine Theorie der allgemeinen Krise notwendig auf die Lehre
von der fortschreitenden Verelendung resp. der sozialen Herab>
drückung der arbeitenden Bevölkerung zurückfuhrt Eine ganz
andere Fra^e drängt sich mir au£ Ich bin ketzerisch genug zu
fragen: würde der „Zusammenbruch" der kapitalistischen Gesellschaft
wirklich einen Sieg des Sozialismus bedeuten? Hier erweist sich
m. wie jener oben gekennzeichnete BegrüTsabaolutismus und Be-
griffsrealismus des Marxismus der utopistischen Betrachtungsweise
Thor und Thür öffnet Die einander ausschliefsenden Begriffe:
Kapitalismus — Sozialismus werden zu realen Wesen umgebildet
und umg^edichtet. Der Widerstreit dieser angeblich realen Wesen
wird so vorgestellt, als ob das eine das andere zu verschlingen be-
rufen wäre. Und doch sind es nur verschiedene Gestaltungen des
einen lebendigen Ganzen, der Gesellschaft. Dafs in ihr Klassen-
kämpfe vor sich gehen, soll uns nicht vergessen lassen, dafs das
gemeinsame Substrat, an und in welchem jene Klassenkämpfe sich
abspielen, gewisse allgeiueine Kxistenzbc(liu<^ainL^eii hat, die durch
keinen Widerstreit der Interessen aui^ijchobeii werden können.
Ist der Zusammenbruch der kapitalistisrlien Gesellschaft infolge
Ausbildung des Weltmarktes als etwas Greifbares, Reales zu denken,
so muG» er eine objektive „materielle" Unterlage voraussetzen. In
') ..In einem sich selbst übcrlassenen Verkehr mit den lieiitij;rn Eigctitums-
Terhältnissen ist es ein Gesetz su gewifs, wie das von Ursache und Wirkung über-
•haupt, dafs Ihr (d«r Arbeiter) wirklicher Arbeitslohn fortwifhieiid sv dem Betrage
bciabgcsogea wird, der xur Erhsltai^ Ihrer Krifte and sor Versorgung der Gesell-
schaft mit aenen Arbdtera erforderlich ist — dem sogenannten notwendigen Arbeits»
lohn. Dies Gesetz ist eben so gewifs wie das, dafs sich in einem solchen Verkehr
die Preise nach den Kosten regulieren und beruht znletxt auch auf denselben
Gründen. Lassalc hat Ihnen dies Gesetz, sowie die pcrin^en Modalitäten, unter
denen es gilt, so genügend auseinandergesetzt, dafs darüber kein Wort mehr zu
verlieren ist. Es ist, wie man gesagt hat, ein „natürliches Gesetz", das alle grulscn
Ifatiooalökonomen aller zivilisierten Völker unumwunden anerkannt haben." (Rod*
iierttts, Offener Brief an das Komitee des dentsdica Arbeiterverebs sn Leipzig,
1863, in „Gesammelte Kleine Sdiriften" heraoag. von M. Wirth, Ausg. 1899^ Berlin
J899. S. 320.) .
Archiv fiir tot. Get«U(«binc u. Statistik. XIV. 45
L iyui^ed by Google
696
Peter von Struvc,
der TKat haben Marx und Engels immer an eine Wddcrise, d. b.
an eine Verschiebung resp. einen Bankerott der bereits entwickelten
resp. sich noch zu entwickelnden internationalen Arbeitsteilung ge-
dacht Es ist dies auch ganz richtig: denn der „Zusammenbruch*
der kapitalistischen Gesellschaft ist nur auf diesem Boden real vor-
stellbar. Ich frage nun: wird durch einen solchen i^Zusammcn-
bruch" der Sozialismus etwas gewinnen? Diese Frage muls m. £.
entschieden im verneinenden Sinne beantwortet werden. Ich will
diese These etwas näher ausfuhren.
Realistischerweise kann an eine gleichmäfsige Ausbildung der
kapitalistischen Industrie in der gesamten Welt gar nicht gedacht
werden. Die natürlichen Unterschiede einzelner wirtschaftlichen
Gebiete werden immer die materielle Basis für die unterschiedlichen
wirtschaftlichen Gestaltungen abgeben. Aber es wäre auch redit
traurig, mit dem Sozialismus auf die kapitalistische Umbildung des
ganzen Erdballes warten zu müssen. Wir haben uns also den „Zu*
sammenbruch" nicht in der gesamten VVeltwirtschaft, welche immer
nicht kapitalistische und — was ebenso wichtig — nicht industrielle
Wirtscliaftsgebietp umfassen wird, sondern in einem mehr oder
minder begrenzten Industri^eWet denken. \) Für ein solches Gebiet
würde aber der reale Zusammenbruch, d. h. die akute oder chronische
Zusammenschrumpfung des Absatzes unheilvoll werden und würde
speziell die Trägerin des Sozialismus, die industrielle Arbeiterklasse,
auf (las schwerste schädigen und sciiwächen. Aus dem „Z u -
s a ni m e n b r u c h e" des K a p i t a 1 i s m u s z. B. in Deutschland
würde d i e S 0 z i a 1 d e ni o k r a t i c auf tl c n K o p f g e s c h 1 a g e n
und das A g r a r i e r t u ni siegreich und gestärkt heraus-
komnicii. Kin solcher Zusammenbruch würde in Wirklichkeit
agrarische Rückbildung bedeuten. I\)siti\- ausgedrückt: der wirk-
lich in der heutigen \\'irtschafti)urdnung begründete Sozialismus
•) .\uch die glcichmSfsigc Ausbildaag der kapitaUstitdien Wirtstliaft auf drr
guiscn Erde vorausgesetzt, bildet ihr Zusammenbruch erst recht ein Problem, das
notwcii'lij^ — wie ich sehe — auf die Prufuiii; der fundamentalsten Partieen der
Marxschcn Theorie des Kapitals fuhren mufs. Denn eine Marktverschiebung inner-
halb der Weltwirtschaft ist etwas ganz anderes als die in jenem Falle angenommene
Unmöglidikeit der Wcitcrentwicklnog des völlig ausgebUdeteo wdtwirtsdMAUcliett
Kqiitalismiu all eloes Ganien. Diese UBtnAgUelikcit ist keinesircgs eioe ofane
ireitcres «ugemachte Sache, sondern ein ProUen, von welchem diejenigen, Um
immer vom Zasammenbmdie reden, eigeadich kdne Ahnung haben.
Digitizoü by Cjt.)0^lc
Die Manuebe Theorie der scNdalai Entwiddong.
697
kann sich nur im Anschluis an die gegebene internationale Arbeits-
teilung entwickeln.
Selbst zugegeben, dafs — wie es Kautskys Meinung zu sein
scheint^ — der Sozialismus in der That eine Periode agrarischer
Rückbildung der modernen sog. „Industriestaaten" auf neuer
gesellschaftlicher Grundlage inaugurieren wird (woran ich übrigens
gar nicht glaube), so werden doch — unter der Voraussetzung des
„Zusammenbruches" — so £jut wie gar keine positiven Ansätze zu
dieser af^rariscii-sozialistisciien Riickliildung in (k^r so/,iak'n Wirklich-
keit anzutreffen sein. Kinc agrarist lie Rückbihkmg im soziaHstischen
Sinn — mir scheint sie für eine ahsehlxue Zukunft eine Utopie zu
bleiben*) — ist eben denkbar nur. wenn inan Stetif^keit der Ent-
wicklung, langsame Ueberführung der Wirtschaft auf neue Bahnen
voraussetzt.
Sollte man uns einwenden, dafs bei dem , .Zusammenbruch"
der kapitalistischen Gesellschaft an keine gewaltsame Verschiebung
der Absatzverhältnisse gedacht wird, so sind wir berechtigt zu
fragen : was at denn dieser un&I^i e „Zusammenbruch", wenn er
keine materielle Basis, weder Verelendung noch Marktverengerung,
hat ? Ist er dann nicht einfoch eine hochtönende Umschreibung der
*) „Bauern und Landarbeiter müssen bei dem Uebergang von der kapitalisti-
schen zur sozialistischen Gesollschaft besomlers j^eschätzte Arbcitskr.-iftc werden.
])\c enorme Ausdchnuni^ der Itidiistric für den Weltmarkt und die ^^Icichzcitije
L ebcrschwemmuug des Marktes mit auswärtigem Getreide — iwei Erscheinungen,
die in Ini^er Weehsclwirkang mit eiuaader tteben, treiben die LnndbcTÖlkenug
In die Stildle nnd vnr voizngiweise ihre arbeittfthigiten Elemente. Sobald der
innere Markt wieder in den Vorde^mnd der natioanlen Oelionomie tritt, ninfs sich
dint vor allen in der «mdmieoden Wichtiglceit der Landwirticluft zeigen. Die
höhere Koosurnfthigkeit der Massen verlangt nach mehr Nahrungsmitteln, die Ver>
minderiin^ Hes Kxports verringert die Zofnlir von auisea." (Kautsky, Die Agrar-
frage, Stulti^art iHq9, S. 442.)
-) Ein kühner Verfechter dieser Utopie iNt Erich Rother („Der Indnitrie»
Staat und die arbeitenden Klassen" Berlin , welcher aas derselben kon-
sequenterweise nicht anwichtige and sehr greifbare programmatische Folge-
rongen sieht. Die neueste Kontroverse Oldenberg>Sombart (Oldenberg, Deutsch-
land als Indnstriestaat, G5ttingen 1897, lodnstricataat nnd Eiportindnstrie, Sosiale
Praxis 1899 Nr. 28, Sombart, Entwickeln wir uns zum „Exportindustriestaat''' und
Export und Kultur, ebd. Nr. 24 u. 31) über die wirtschaftliche Entwicklung Deutsch-
lands ist interessant .luch vom Stand])unkte des sozialistischen Problems Aus dem
Obigen ist klar, dafs ich die Ansicht Soiubarts über den Wert der indusliicUen
Entwicklung teile.
45*
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698
Peter ron Strsve,
erwarteten Verwandlung der kapitalistischen Wirtschaft in die
sozialistische, eine Umschreibung, welche als irreführend aus dem
wissenschaftlichen Bc^niftsschatzc und Sprachgebrauche un-
verzüglich und ohne N'achsirht zu verweisen ist '
Hier mufs ich es mir versagen, weitere positive Andeutungen
darüber zu geben, wie nach meiner Ansicht die Kntwicklung zum
Sozialismus real ist iscli im einzelnen vorgestellt werden kaim
und soll. Ich glaube übrigens, dafs einer detaillierten wissenschaft-
lichen Entwicklungslehre des Sozialismus überhaupt sehr enge
( Uenzen gesteckt sind. Das unsterbliche \'crdien.st von Marx und
KnL;cls ist es jedenfalls, den Sozialismus als den Ausdruck und das
Ziel der Arbeiterbewegung erkannt zu haben. Ist diese Erkenntnis
richtig, so ist durch mt das Verhältnis von Endziel und
Bewegung entwicklungsgeschicbtlich endgültig festgelegt
worden. Die Bewegung ist das historische Prius. Der Sozialismus
besitzt immer soviel Realität, als er in der aus der heutigen ^^'irt-
schaftsordnung entspringenden Bewegung enthalten ist, nicht mehr
und nicht weniger. Die begriflTliche Verselbständigung der Gegen-
satze Kapitalismus — ^Sozialismus iuhrt aber zu einer iormlichen 6e-
griflsmythologie und zu der aller menschlichen Erfahrung wider-
sprechenden Verallgemeinerung der „Widerspruchsformel" — diese
Verselbstandigung ist ja das eigentliche psychologisch-ethische Motiv
des entwicklungsgeschichtlichen Utopismus. Und so unternimmt
der entwicklui^sgeschichtliche Utopismus — um ein Heinesches
Bild zu gebrauchen — ,,auf dem Rücken der Idee in die Zukunft
hinauszugaloppieren".
Ist er im Unrecht damit? Entwicklutigsgeschichtlich entschieden
ja, indem und insoweit er eine pliant;isti>che BegriffsmN-thologie an
Stelle eines empirisch-realistischen Hildes setzt unfl jene für dieses
ausgiebt. Dies ist ja gerade das Bedenkliche an ihm, dals er als
Entwicklungslehre von vornherein Wissenschaft sein will und als
solche auch hingenommen winl. Fassen wir aber die Frage von
einem anderen finde an : nehmen wir das Problem des Sozialismus
nicht oder besser gesagt nicht nur als enlwicklungsgeschichtliches,
sondern als p r a k t i sc h - p o 1 i t i sc h e s. Dann kehrt sich das
Verhcältnis zwi.schcn Fndziel und Bewegung um. Dann mufs das
Fndzicl die Bewegung notwendig beherrschen. Hier liegt der
Schlüssel zur erkenntnistheoretischen Erklärung und der sozial-
psychologischen Würdigung des entwicklungsgeschichdichen Utopis-
mus. Jeder Sozialist geht von dem Sozialismus als dem moralisch-
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Die Jfonsche Theorie der socialen Eatwiddnng.
699
politischen Ideale aus; er ist ihm die regulative Idee, an welcher
die einzelnen Thatsachen imrl I landlungen ethiscb>poHtisch gemessen
und bewertet werden. Und nicht anders ist es auch mit einer
Klasse, die, in einer Partei organisiert, als et b i sch - jx)! i t isches
Subjekt nach aulsea und innen hin einheitlicli auftritt. Die sozial-
demokratische Bewegung mufs von einem Endziel ideal beherrscht
werden oder — sie wird sich auflösen. Der Glaube an das End-
ziel ist die Reli'^ioii der Sozialdemokratie und diese Religion ist
keine „Privatsache", sondern die wichtigste öffentliche Angelegenheit
der Partei.
Vielleicht ist aber der ..Marxismus" — Privatsache?')
Der Inhalt der sozipldcmokratischcii Reli«^i(jii ist durch die He-
weguiij^f und ihren Träger — das Proletariat und durch das Kiid-
ziel gegeben. Einzelne Sozialisten können an dem Klas-senkampfe
verzweifeln und bürgerlich - sozialistisch , rcgicrungs - sozialistisch,
kirchensozialistisch und was noch mehr werden, die als Partei
organisierte Klasse oder die als Klasse sich fühlende
Partei kann dies nie thun, ohne der Auflösung zu verfallen. Der
Klassenkampf ist ihr Dasein, über welches man nicht diskutiert
Soweit also „Marxismus^ den auf das sozialistische Endziel gerich-
teten Klassenkampf bedeutet, ist er, ob richtig oder unrichtig, gar
nicht aufzugeben. Man kann sich nicht behaupten, indem man
seine lebendige Persönlichkeit aufgiebt und man kann seine lebendige
Persönlichkeit nur dann behaupten, wenn man ihren idealen Gehalt
und ihren physischen Trager eben — behauptet. Soweit ist der
„Marxismus" das eigenste Wesen der Sozialdemokratie.
Der sonstige Inhalt der herrschenden sozialdemokratischen Re»
l^on ist — mit Einschluis des entwicklungsgeschichtliclu n l topis-
mus — keineswegs notwendig mit der sozialdemokratischen Be-
wegung verbunden. Er kann hinweggedacht werden. Das
Hinwegdenken geschieht allerdings viel leichter als geschichtliche
Loslösung und l'eberwindung.
Und hier komme ich auf das Hernsteinsche Buch, welches den
äulseren Anlaüs zu diesen Ausführungen gab -j, zu sprechen. Der
' Diese Frage i^t schon eintnal in dieser F'assung, aber in einem aiidrreii Zu-
sammenhange voD Dr. Schitlowsky in deo .»Denlscliea Woitea" aufgewoifco
worden.
Die in diesem Aufsätze vcrj^etrai^cne Auff.iüsuii^; <leckt sich im wesentlichen
mit den all^emciueo Gedanken, welche ich iu meiner rus&ischeo Schrift „Krili&cbe Be-
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700
Pet«r TOB Struve,
cntwicklungsgcschichtliclic Utoplsmus, dessen Bekämpfuni^ Bernstein
unterniinnit und den er auch zum Teil mit Erfolg bekämpft, ist
geschichtlich auf das engste mit dem begrifflich notwendigen Inhalt
der sozialdemokratischen Religion verwachsen. Man kann den ent-
wicklungsgeschichtlichen Uto])ismus niclit einfach amputieren, auch
wenn man über schärfere geistige Instrumente als Bernstein ver-
fugt. Kr ist dafür zu tief in das sozialdemokratische Bewußtsein
eingedrungen.
Dies entspricht auch vollkommen seiner grolsartigen gesell iclu-
lichen I'unktion. Es ist ein rationalistischer Aberglaube, dals nur
inhaltlich richtige oder wahre Ideen fordernd auf das persönliche
oder gesellschaftliche Leben einwirken können. Wissenschaftlich
fidsche Gredanken können durch ihre psychologisch bedingte
Wirkung auf das gesellschaftliche Leben einen mächtigen und wohl-
thätigen Einfluls ausüben. Sie können sich in politisch richtigen
Handlungen auslosen. Nicht nur die realistischen Elemente des
Marxismus, auch der entwicklungsgeschichtliche Utoplsmus hat der
sozialistischen Propaganda und Agitation unsch&tzbare Dienste ge*
leistet: durch seine quasi'Wissenschaftliche Begrifismythologie und
durch die „Widersprudisformel" hat er die vollendete lUuaon einer
klaren und lückenlosen Vorstellungareihe geschafTen. Und das war
in der verflossenen Periode der sozialdemokratischen Bewegung das
praktisch Wichtigste und Wertvollste: es bedeutete die sozialdemo-
kratische Erziehung des Proletariates.
Ob das Erziehungsmittel sich bereits überlebt hat ist schwer
zu urteUen. Jedenfalls ist es inzwischen zu einer festen Ueber«
lieferung geworden. Die Ueberlieferung ist weit davon entfernt
für die Mehrheit das zu sein, was sie für Bernstein geworden ist,
ein unerträglicher C a n t. Sie ist noch wahr fiir die Gläubigen :
einen objektiven Cant giebt es aber nicht.
Die sozialdemokratische Religion kami aber ihren Inhalt wech-
seln, in.sofern sie sozialdemokratisch bleibt. Und sie wird es. Sie
wird mit der Zeit den cntwicklungsgcächichtUchen Utopismus ab-
nerkungen zur Krage der wirtschaftlichen Entwicklung Rufslands". St. Petersburg 1894
ausg<*«iprocli<-ii habe. In der Vorrede dieser Schrift hatte ich mich bereits gejren
den Vorwurf marxistischer Orthodoxie verwahrt. Trotzdem stehe ich nicht an. auch
für meine Auffa-ssung die Hezeichnung „marxistisch" in Anspruch zu nehmen. Sie
knüpft nämlich au die realistische Grandaasicht der Marxschea Geschichtspbilo«
4ophie an.
Die Marxiiche Theorie der sozialen Entwicklung.
8tm£en: eine Reihe von Vorstellungen, die jetzt religiös ünd, werden
vernichtet oder durch andere, welche keinen rd^iösen Charakter
tragen, ersetzt werden. Es wird scheinbar ein Rückschritt statt-
finden: an Stelle vernichteter klarer Vorstellungen werden unklare
weil allgemeine Postulate oder praktische und, ich möchte fast
sagen, kldnliche Progrannmpunkte treten. Aber so geht die Um-
wandluno^ religiöser oder religionsähnlicher Ideologieen immer vor
sich. Es sei mir eine Analogie (gestattet: dem Sozialismus wird es
einigermarsen wie dem Gottgedanken ergehen: der letztere hat
während seiner Entwicklungsgeschichte in menschliclien Köpfen
entschieden an Klarheit eingebiifst und manches an die Wissenschaft
und ihre Begriffe abtreten müssen — die klassischen Götter und
der alte Jehovah waren viel ;^rrein)arere Gestalten als der Gott des
De ismus, und vollends in den ncuotci'. reli^^nösen Ideologieen ist der
persönliche Gott fast ganz zerfiossciL Ik'i der Religion als solcher
kommt es aber überhaupt nicht auf den Inhalt, sondern immer —
wie Fr. Alb. Lange klar auseinandergesetzt hat — auf „die Form
des seelischen Prozesses" an, auf die besondere Art (iefühle, die
sich an diesen oder jenen Inliait knüpfen und sich an ihm ent-
wickeln.
Bernstein hält an dem Sozialismus und dem Klassenkampfe
fest Er ist somit — und das sollten eigentlich ihm seine Gegner
billigerweise nicht absprechen — Sozialdemokrat geblieben. Den
entwiddungsgeschichdidien Utopismus hat er aber ganz aufgegeben.
Alle seine Bedenken, den ganzen Abbruch und Neubau seiner
sozialpolitischen Auf&ssung hat er in seinem Buche niedergelegt.
Sein Buch ist ein bedeutsames Symptom der Umbildung der sozial-
demokratischen Ideologie, und zugleich — denn Bernstein ist neben
Engels und Kautsky der Mitbegründer der marxistischen Orthodoxie
— eine moralisch imponierende Handlung. Aber es braucht Zeit
zu wirken.
Andererseits ist es theoretisch sehr mangelhaiL Eine wissen-
schaftlich fruchtbare Kritik des Marxismus mufs überhaupt erkenntnis-
theoretisch anheben. Marxismus ist nicht eine empirische Kon-
struktion, wie es solcher Dutzende giebt Es ist ein grofsartiges
philosophisches System, aufgebaut unter dem Einflüsse von Denkern
wie Hegel, Feuerbach, Saint-Simon, Fourier, Proudhon. .-^lle solche
Systeme, so sehr sie auch mit empirischem Stoffe durchsetzt sein
mögen, müssen auf ihre |>hiIosophischen Fundamente hin <:^eprüft,
d. h. erkenntniskritiscli und logisch zergliedert werden. Was Bem-
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702
Peter von Struve,
Stein aber als Kritik der philosophischen Fundamente des Mandsmus
bietet« ist sehr schwach. Er glaubt die materialistische Geachichts»
auf&ssung durch „weniger deterministische" Deutung mildem zu
müssen. Als ob es überhaupt ein mehr oder weniger von Determi-
nismus resp. Freiheit geben könne! Kant hat solche konfuse Ge-
danken ein für alle mal als „elende Behelfe" abgefertigt.
Bernstein aeht überhaupt nicht, dafs Marx — wie ich in dieser
Abhandlung zu zeigen trachtete — in meiner sozialen Entwicklungs-
lehre sich nicht streng genug an seine eigenen realistischen fvulgo —
materialistischen) Voraussety.unt^en hält. Er glaubt den Marxschen
sozialen „Materialismus" durch mifsvcrstandcneii Idealismus kurieren
zu müssen. Hier liegt entschieden eitic falsche Diagnose vor: als
soziologische Lehre muls der Mar.vismus eine tüchtige realistische
Kur durchmachen. Der theoretische ,,klea]ismu.>" Hernsteins ist un-
kritisch, sein jiraktischer Realismus nicht nur nicht „zynisch" , wie
ein ratlikaler Gegner meinte, sondern im Gegenteil nicht genug
selbstbewufst. sogar schüchtern, rnd rlas Ganze, diese \'er<]uickung
von milsvcrstandenem theoretischen Idealismus und zaghaftem prak-
ti.schen Realismus hinterläfst einen — sit venia verbo! — philister-
haften Eindruck. Bernstein hat sich selbst — mit Hilfe des ge-
sunden Menschenverstandes — aus den Fallstricken der Hegeischen
Dialektik befreit. Aber der Wissenschaft bietet diese ,3elbstrettung"
— aulser einigen glücklichen Gedanken — fast gar nichts. Die
„Zusammenbruchstheorie" mufs in ihrem logisch-b^prifllichen Gerüste
angegriffen werden. Hier mufs die Wissenschaft wirklich einsetzen.
Ohne Anerkennung der „Starrheit" der Begriffe, welche keine „Ab-
bilder" transzendenter Dinge sind, kann sie nicht einen Tag existieren
und weder das Veränderliche noch das Unveränderliche der Wek
der menschlichen Erkenntnis unterwerfen. Sie muls sich mit der
„Widerspruchsformel" auseinandersetzen und ihre AUgemen^ltigkett
als der allgemeinen Erfahrung widersprechend abweisen. Die
spezielle Erfahrung mit der sog. „materialistischen Ge-
schichtsauffassung" an der S p i t z e protestiert auch gegen
die auf der Widerspruchsformel aufgebaute „Zusammenbruchs-
theorie". Und so ist es: diese Theorie war von vornherein eine
Theorie des „sozialen Wunders". Solche Theorieen können keinen
Kurs in der Wissenschaft haben bezw. müssen ihn unvermeidlich
verlieren.
Der wissenschaftliche Sozialismus ist keine Reinkultur der
Wissenschaft: als soziales Ideal ist er notwendig eine X'erbindung
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Die Marxscbe Theorie der <>0£ia.len Entwicklung. 703
von >^^ssenschaft und Utopie. Das Utopische an ihm stammt
daher, dais die soziale Zukunft nicht einüich erschlossen, sondern
erstrebt und erkämpft werden mufs. Sie nimmt Teil an der
Unsicherheit, welche für unser psychologisches Bewulstsein alle zu*
künftigen menschlichen Handlungen auszeichnet Sie kann nie
ganz prädeterminiert vor unserem geistigen Blick liegen, dies
würde jeden Antrieb zum zweckmäfsigen Handeln im Keime er-
töten. Je mehr sie aber prädeterminiert ist, je mehr sie in ihrer
geschichtlichen Notwendi^^kcit auch inhaltlich \on uns erkannt ist,
je kleiner also im sozialen Ideale das Feld des Unsicheren, der
Utopie ist, desto besser begründet ist unser Ideal, desto sicherer
sind wir auch des ewig Unsicheren — unserer Utopie. Hierin
liegt die Bercchti^ning und die Bedeutung der wissenschaftlichen
und speziell der entwickluiv^^si^a-schichtlichen Ik-j^friiiukini^ des So-
zialismus. Dieselbe muls darnach streben, soweit es an ihr liegt,
das soziale Zukunftsbild ausMi-iinefslicli mit der Farbe iler geschicht-
lichen Notwendigkeit auszunialen. Aber als Wissenschaft hat sie
lediglich nach wisseuseliaftlichen Prinzipien und Kriterien zu ver-
fahren. Sie hat darauf zu sehen, dals iiire Kreise durch das Minein-
spielen der L'topie nicht gestört werden.
Andererseits iiat auch die Utopie ihr Recht. Sie ist der in
die Wi.ssenschaft nicht aufgegangene auiononie Rest des sozi.ileii
Ideals. Man verhilft auch der Utopie zu ihrem Recht, wenn man
eine reinliche Scheidung zwischen ihr und der Wissenschaft verlangt.
Die Utopie soll der Wissenschaft nicht widersprechen, sonst aber
kann und soll sie autonom sein. Die marxistiache Krise als ideo-
logische Erscheinung läTst sich zum guten Teil auf die Verkennung
dieser Wahrheit als auf ihren Grund zurückführen. Man wollte
allzu wissenschaftlich sein und hat vielfach sowohl die Wissenschaft
dem Sozialismus tendenziös untergeordnet, als auch die Würde und
den Wert des Sozialismus von der nach vielen Richtungen noch
zweifelhaften oder ausstehenden wissenschaftlichen Begründung ab-
hängig gemacht. Man vergafs, dals Sozialismus ein soziales Ideal
ist und als solches immer ein göttliches Recht auf ein gut Stück
Utopie besitzt. £ine Reaktion gegen die orthodoxe PseudoWissen-
Schaft, welche in sich den ganzen Sozialismus absorbieren will,
konnte nicht ausbleiben.
Jedem, der sich als Sozialist fühlt, ist das Utopistische und
Revolutionäre an ihm ebenso teuer oder noch teuerer als das
Realistische. Unwahr ist nur der Utopismus, der sich als Wissen-
704 Peter voa Struve, Die llkrxielie Theorie der fodaleii EntwicUmf.
Schaft giebt. Dafs Marx und Engels Utopisten und Revolutionäre
waren, macht ihre menschliche und zum guten Teil auch ihre ge-
schichtliche (iröTsc aus. Aber insofern sie sich die titanische
^Aufgabt- stellten, das zu vollständiger Deckung und Einheit zu
bringen, was immer und immer eine Einheit 7,u werden strebt und
dazu nie gelangen kann : das Sein und das Scinsollen, scheiterten
sie und mulsten scheitern als Männer der Wissenschaft. Dieses
wissenschaftlich aussichtslose Streben hat sie aber als Männer der
That emporgehoben. „Pour faire de grandes choses, il faut ctre
passionn^" — dieses denkwürdige Wort des grofsen l^ehrers Saint-
Simon hat sich auch an den grofsen Schülern Marx und Engels
bewahrheitet...
Zum Schlüsse sei ein Gedanlce mit dem grölsten Nachdruck
ausgesprochen: soll der kritische Marxismus in seiner Weiterbildung
der Marxschen Lehre wirklich auf festen Füfsen stehen, so hat er
sich an die realistische Grundansicht von Marx selbst, an seine
„materialistische", richtiger ökonomische Geschichtsauflbssung zu
halten.
In hoc signo vincesl
GESETZGEBUNG.
DSUT8CHBS RBICH.
Die Zuständigkeit der Gewerbegerichte aus ^ 91
Absatz 6 der deutschen Handwerkernovelle. ^)
Von
M. VON SCHULZ,
GcwerberiditcT loid Voiiitieiidem des Geverb«gerichtt Bcritn.
Das Gewerbegerichtsgesetz bestimmt im § 79 Abs. 2 , dafs
durch die Zuständigkeit einer Innung oder eines Innungsschiedsgerichts
die Zuständigkeit eines für den Bezirk der Innung bestehenden oder
später errichteten Gewerbegerichts ausgeschlossen sei. Diese
ausschliefs liehe Zuständigkeit kann nun auf Grund des § 91
Abs. 6 der Handwerkernoveile eingeschränkt resp. beseitigt werden«
Es heifst dort:
Die Anberaumung des ersten Termins soll innerhalb
acht Tagen nach ICingang der Klage erfolgen und die Ent-
scheidung nach Möglichkeit beschleunigt werden. Wird die
achttägige Frist nicht innegehalten, so kann der Kläger
verlangen, dafs statt des Innungsschiedsgerichts an den
Orten, wo Gewerbegerichte bestehen, diese, und wo solche
nicht bestehen^ die ordefitHdieD Gerichte entscheiden. Dies
Verlangen ist dem darnach zuständigen Gewerl>ege-
rieht oder ordentlichen Gericht und dem Innungsschieds-
gericht schriftlich mitzuthetlen.
Bei der Auslegung des Gesetzes hat man zunächst den Sinn
des Ausdruckes „Anberaumung" zu erforschen. Unter „anberaumen*^
hat man zu verstehen : einen Tag oder Termin festsetzen, an welchem
Gesetz vom 26. Juli 1897 Abäadeniog der Gewerbeordnung.
Digitizoü by C3t.)0^lc
7o6
Gcsetsgcbang: Dentadicc Rdcb.
die Erledigung einer Angelegenheit in Aussiebt genommen wird.')
Somit würde das Gebot, dafs „die Anberaumung des ersten
Termins innerhalb acht Tagen nach Eingang der Klage ertolgen"
solle, den Richter ermächtigen, wahrend der gedachten Frist zu
verfügen, wann die Klagesache zum ersten Male zu verhandeln ist.
Der Richter hat dabei freie Hand, den V'erhaudlungstag über die
„acht Tage" hinauszurücken.
Derartiges kann Jedoch hier der Gesetzgeber nicht bezweckt
haben, da er ja wünscht, dais Eotschekiung nach Möglichkeit
beschleanigt werde", auch sonst das Verfahren vor dem ordentlichen
Gerichte und dem Gewerbegerichte ein schnelleres wäre, wie vor
dem Innungsschiedsgerichte. Denn nach der Ziviiprozelsordnung
(§ 216 früher § 19Q hat der Vorsitzende den Termm binnen
24 Stunden zu bestimmen.
Wir stehen also einer Gesetzesstell^ gegenüber, aus welcher der
Wille des Gesetzgebers sich nicht sofort deutlich ersehen läist.*)
Bei dieser Sachlage sind wir genötigt, auf die Entstehungsgeschichte
des Abs. 6 § 91 a. a. O. zurückzugehen:
Während der dritten Beratung des Entwurfes der Handwerker-
novelle ^) beantragten die Abgeordneten Auer und Genossen dem
§91 des Entwurfes am Schlufs einen Zusatz zu geben.*) Der Zu-
satz fordert zunächst, dafs „die Entscheidung über eingereichte
Klagen innerhalb 14 Tagen nach Eingang der Klagen erfolgen
solle und dem Kläger bekannt gemacht werde". Im übrigen decken
sich alsdann der Inhalt des Auer'.scht-ii Gt-setzvorschlages mit den
beiden letzten Sätzen des am Eingang dieses Artikels angegebenen
Gesetzeste.xtes. Es ist dabei nur zu bemerken . dafs anstatt der
Worte des Gesetzes zum Beginn des zweiten Satzes: „Wird die acht-
tägige Frist nicht innegehalten" sich die Worte befinden: „Ist die
M Deutsches WortcrUuch von Moritz Heyne, I. Bd., Leipzig bei S. Ilirzel 1890
Sp. 75 ; deutsches Wurterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, I. Bd., Leipzig
bei S. Hirzel 1854 Sp. 293: Die Stunde, welche sie dem Sophisten anberaumt
hAtte, war nnn gekommeo Wieland 1,198; der WahlLuuveut war eudlich auf dem
3. Min mnberanmt Goethe 24, eine Ztuammeokuift «nberatmieD.
•} Siehe hier Rohmer, Die HaadwerkernovcUe, MflndieD 1898, S. 58 Anm. i
vaä Berger-Wilhelmj, Reicbsgewerbcordnuiig S. 188 anler „sn Abs. 6**.
*) Reichstag — 335. Sitsong — Mittwoch den 23. Juni 1897« S. 6184 C
n. 6204.
*) Nr. 915 der Dmcksachen.
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M. Ton Scbnls, Die Zutliidigkeit 6at Gewcrbegericbte aus § 91 Ab«. 6 ete. yoy
I4tägige Frist ohne eine solche Entscheidung und Bekanntnoachung
verstrichen.^'
Der Antrag wurde damit begründet, dafs in den Gewerbe-
gerichten der erste Termin nach fast allen Statuten schon inner-
halb der ersten Woche anberaumt werden müsse. % der gesamten
Klagen wären schon innerhalb zweier Wochen erledigt.') Dem
gegenüber fühlten sich die Recht suchenden Parteien beschwert,
dafs es manchmal drei, vier Wochen und noch lani^ere Zeit ge-
dauert habe, ohne dafs vom Innunf^sschicdsi^erichtc Ladungen /.u
einem Termine für die angestrengten Riagen t-rgangen waren. Ks
sei zu bewirken, dafs innerhalb 14 Tagen die Parteien die Vorent-
scheidung und das Recht des ordentlichen Rlageweges haben. Der
beantragte Schlufssatz zum § 91 a. a. ü. solle die Hilfe bringen.
Der Abgeordnete Gamp hielt den Antragstellern wohl nicht
mit Unrecht entgegen, dafs bei der grofsen Wichtigkeit ihres An-
trages derselbe eigentlich bereits früher einzubringen gewesen wäre.
Zur Sache üelb.st erklarte der Redner seine Zustimmung, dafs
auf eine möglichste Beschleunigung in der Recht-
sprechung der Innungsschiedsgerichte hingewirkt werde.
Es sei aber nicht gut möglich, schwierige Prozesse innerhalb
14 Tagen zu entscheiden. Deshalb werde die Folge der Annahme
des Auerschen Antrages sein, dafs die schwierigen Prozesse ohne
weiteres auf die Gewerbegerichte übergehen. Dies wäre nicht an-
') Die Statistik Ober das Jahr 1896 bietet bezüglich der S<:hleunigkeit des
Verfahrens der ricwr-rbr-gerichte folgende ErfiabraDgeii. VoD den Prozessen des
Jahres wurden crk-difft;
in weniger als I Woche 34098 = 56,9 Pros,
in weniger als 2 Wochen 15297 — 25,5 „
in 2 Wochen und nu-hr 10546 — 17,6 ,,
die meisten Prozesse wurden also in weniger als I Woche beendet; und dafs ein
Piozers sieb bis in die 3. Woche btnxog, kam nv in etwa >/• ^ V93iit vor.
Zufolge der örtlichen Sdiwierigkeiten einer besonden umfangreichen Verwal*
tong ist in Berlin die Zahl der binnen i Woche erledigten Fülle verhiltnisnifsig
gering (18,5 Pros.). Bnmerhin ist es doch «ach dort die Ausnahme (etwas mehr als
''4 der Fälle a8,7 Proz.), dafs eine Sache bis in die 3. Woche hinein dauert (Jastrow
Die Erfahrungen in den deutschen Gewerbegerichten in den Jahrbuchern für
Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, Bd. XIV (LXIX} .S. 347 ff.). Spätere
statistische Erhebungen sind nicht vorhanden. Wir wollen abwarten, mit welcher
Schleunigkeit das Berliner Innungsschicdsgcricht zukünftig arbeiten wird.
yo8 GtMtifelNiiig: DevtidMS Rddi.
gangig, da man die Innungsschiedsgcrichie Qicht wesentlich schiechter
stellen könne als die Gewerbegerichte.')
Um Zeit zu einer Verständigung zu finden, wurde vom Reichs-
tage die Diskussion über den § 91 bis auf weiteres ausgesetzt.
Noch in derselben Sit/,ung gab man dem Entwürfe des letzten Ab-
satzes des § 91 die Fassung des jetzigen § 91 Abs. 6 der Hand-
werkernoveile. Bei Wiederaufnahme der Verhandlung über den
Paragraphen eben&Us an demselben Tage nahm das Haus auf
Empfehlung des Abgeordneten Gamp den umgestalteten Antrag
der sozialdeoiokratischen Fraktion debattebs an. Nachdem atidi
der Bundesrat mit demselben sich einverstanden erklärt hatte, ist
er Gesetz geworden.
Aus dem Werdegang unserer Gesetzesstelle muls man ohne
wdteres folgern, dafs die Entscheklung der Pk-ozesse durch das
Innungsschiedsgericht möglichst beeilt werden sollte. Nach dem
Beispiele der Gewerbegerichte, wekhe der Regel nach die Prozesse
innerhalb der ersten Woche zu Ende bringen, sollen die Innung»-
schiedsgerichte gleichfalls ihre Arbeiten verrichten. Die Abskfat des
Gesetzgebers ging demnach zweifellos dahin, den Innungsschieds>
gerichten durch § 91 letzter Absatz a. a. O. aufzueri^eo, wenigstens
innerhalb der ersten 8 Tage nach Einbringung der Klage zu ver-
handeln, zumal da durch Beschreiten des ordentlichen Rechtsweges
der Austrag des Prozesses hingezögert werden kann. Keineswq;s
hatte man im Sinne, dem Richter des Innungsschiedsgerichts einen
längeren Zeitraum zur Terminsansetzung wie dem ordentlichen
Richter und dem Gewerberichter zu gewähren.
Wenn niso der Gesetzgeber von der „Anberaumung des
crstrri Termins" spricht, so hat er im Drange der Geschatte einen
falschen Ausdruck für seinen Gedanken gewählt. Deswegen ent-
steht hier die Frage, wie der Richter sich zu einem solchen „Re-
daktionsfehlcr" zu verhalten hat. Sontag -'i behauptet, dals der
Richter unbedingt befugt ist, den auf Redaktionsfehler beruhenden
Gesetzestext dem gesetzgeberischen Gedanken gemäfs zu berich-
tigen. Die selbstverständliche, aber auch einzige Voraussetzung für
') Der Abgeonlnctf hat <itTeiihar hii-r ^ j.^ G.G.G. im Aui:;e Nach dem die
Klage eingereicht oder zum l'rotokoll des ( n-nchisschrcibers an^jcbracht ist, hat der
VorsiUeode einen möglichst nahe 11 Termin zur Verhandluug anzuseUcn.
*) Die Redaktioosveiselieii Gesetzgebers, Freibuig i. Br., Fr. Wagnendie
BuchhADdlaog 1874, S. 33.
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IL TOA Schulz, Dfe ZiuHbidis^uit der Gcwerbcgericiite MS § 91 AI». 6 etc.
diese Aenderung sei der zweifellose Nachweis des Redaktionsfehlers.
Die Reichsregierung steht auf dem gleichen Standpunkt. Es ist
dies aus den Aeufserunpen des Regierungsvertreters bei den Er-
örterungen des Reichstages über das Rcdaktionsvcrschcn im § 13^3
der Gewerbeordnung zu entnehmen. Der Regierungsverireter be-
zeichnete die vom Reichstage beanstandete formlose „Berichtigung**
des ij 138 a. a. O. im Reichsgesetzblatt für eine ausreichende.')
Noch heute wird seitens der Reichsregierung anscheinend die Mei-
nung vertreten, dafs bei Rcdaktionsverschen der Text von den
Interessenten dem gesetzgeberischen Willen entsprechend geändert
werden darf.-) Dem gegenüber erklären es andere wiederum für
unzulässig, dafs Behörden, Richter und Privatpersonen ein vor-
sdiriftsoDäfsig pubUdertes Gesetz, wdches nidit den Gedanken des
Gesetzgebeis zum Ausdruck bringt, einer diesbezüglichen Aeoderung
unterriehen.") Sie verlangen, dais die Textberichtigung durch ein
neues Gesetz geschehe. Demzufolge ist es sehr wahrscheinlich, dafs die
Meinungen der Gewerberichter, wdche § 91 Abs. 6 anzuwenden haben,
sich teilen werden. Die einen werden sich der Sontagschen Ansicht
anschlieisen und bei Benutzung des § 91 das Wort ^Anberaumung**
durch das Wort „Abhaltung" oder ein ahnfiches Wort ersetzen.
Die anderen werden «di lediglich mit der Auslegung des Gesetzes
begnügen und den Vorsitzenden des Innungsschiedsgerichts iiir ge-
setzlidi befugt erachten, vom Eingang der Klage an gerechnet
dner achttägigen Frist sich zur Ansetzung des Verhandlungstermins
zu bedienen. Nach Auffasung der letzten Kategorie von Gewerbe-
richter wird „auf Verlangen des Klägers" das Gewerbegericht
nur für den Fall zuständig, dafs die adittägige Frist zur Termins-
bestimmung versäumt ist. Die Kläger werden freilich kaum Kenntnis
davon erlangen, ob der Vorsitzende des Innungsschiedsgerichts die
Zeit des ^91 a. a. O. innegehalten hat. Wir behaupten, dafs bei
der Lage der heutigen Gesetzgebung das Innungsschiedsgericht zur
Auskunft über den fraglichen Punkt von der Partri nicht genötigt
werden kann. Selbst wenn die Vorladungen den Klägern zugestellt
sind, werden sie aus denselben nicht ermitteln können, ob ihnen
das Recht der Ablehnung des Innungsschiedsgerichts freisteht.
Die Form, in welcher die Geltendmachung dieses Rechts statt-
') .Siehe .M. v. Schulz in diL'sem .Archiv Hd. S. 429 ff.
') Lindemaun un Archiv für uflfeutliches Recht, Bd. XIV, S. 145 ff.
M. V. SebnU ft. a. O. S. 447.
GeseUgebung : Deatachci Reich.
findet, ergiebt der letzte Satz des § 91 a. a, O.: Dies Verlangen
ist. dem darnach zuständigen Gewerbegericht oder ordentlichen
Gericht und dem Innuogsschiedsgericht schriftlich mitzu-
teilen. Rohmer') sagt, durch diese Vorschrift werde wohl ver-
langt, dafs die Klage auch dort schriftlich eingereicht werden
müsse, wo, wie beim Gewerbegericht und Amtsgericht eine münd-
liche Anbringung der Klage sonst möglich wäre. Wir können
dieser Ansicht nicht zustimmen. Es wird genügen, wenn die Kläger
dem Gewerbegerichte resp. dem ordentlichen Gerichte schriftlich
melden, dals sie, da seitens des Innungschiedsgerichts „die Anberaumung
des ersten Tenmns innerhalb 8 Tagen nach Eingang der Klage*'
nicht erfolgt ist, die Entsdieidung jener Gerichte anrufen. Hierauf
wird es Sorge der zuständig gewordenen Gerichte sein, sich die
Prozessakten einzufordern. Auf Grnnd derselben werden demnächst
diese Gerichte sich damit beschäftigen, ob die ausschliefsiiche Zu-
ständigkeit des Innungsschiedsgerichts gemäfs 91 Abs. 6 aufge-
hoben ist.') Das revidierte Nebenstatut des Innungsausschusses der
vereinigten Innungen zu Berlin betr. das Schiedsgericht u. s. w.
vindiziert mit Unrecht für das Innun^sschicdsgericht die Rofufi^nis,
über die Voraussetzungen seiner Unzuständigkeit und über die Ab-
gabe der Akten an das Gewerbegericht zu beschliefsen.'^) Sicher
ist esjaicht absichtslos, wenn in der soeben angeführten Gesetzes-
stelle Gewcrbegcricht und ordentliches Gericht vor dem Innungs-
schiedsgericht genannt sind. In erster Linie soll das Gewerbe-
gericht die schriftliche Ik iiachrichtigutig empfangen. Dies entspricht
auch der Thatsache, dafs durch das schriftliche „Verlangen" des
Klägers das Innungsschiedsgericht seine Zuständigkeit überhaupt
eingebüfst und daher dem „darnach zuständigen*' Gewerbegericht
oder ordentlichen Gericht Platz zu machen hat Wenn das Innungs-
schiedsgericht wegen der Langsamkeit seines Ver&hrens die Zu-
ständigkeit einmal verioren hat, darf es sich fernerhin mit der Be-
schlufsfessung Über Anträge der Parteien nicht befassen. Dies
'1 Rohmcr n. a. O. S. 58.
*J R nhmcr a. a. O. S. 58.
*) § 24 Abs. 2 des SUtates: „Der Aotrag des KUgers, die Entscheidung des Ge-
werbcgericbti herbcizaflihren , ist vor der Vcriwadlnog vn Haaptaaehe anxabrinteB*
Wird dem Antrage stattg^eben, so ist sogleich die Abigabe der Prosefskoatxai aa
das Gewerbegericht sa verftgea.** Dieser Regdong des Verfidiiens sind Georerbe-
gericht und ordrntlicbcs Gericht sich zu beugen nicht verpflichteL ^
Das Statut braucht übrigens den Ausdmck des GesetMs: ABberaumungt
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M. Ton Schnix, Die ZuÜhidigkeit der Geweibegerichte «os § 91 Abs. 6 etc. ji %
würde umso-vveniger erlaubt sein, falls die Klager zugleich mit ihrem
„Verlangen" die Klage zurückziehen. Unter den vorliegenden Um-
ständen erscheint es nicht ausgeschlossen, dafs Gewerbegericht und
Innungsschiedsgericht in unliebsame Differenzen gerathen. Noch
verwickelter dürfte der Hergang werden, wenn das Innungsschieds-
gericht das „Verlangen" des Klägers als ein ungi-rechttertigtes be-
trachtet, und hiernach in der Sache erkennt. Klager hätte zwar
den Einwand der Unzuständigkeit für den ordentlichen Rechtsweg,
so dal's er vielleidit die Aufhebung der Entscheidung des Innungs-
schiedsgeridits und Verweisung des Prozesses an das Gewerbe-
gericht erzielt Ganz abgesehen jedoch davon, dafs ihm bei der
Verfolgung seines Rechtes viel Zeit verloren geht, ist es denkbar,
dafe der ordentliche Richter sich auf Seiten des Innungsschieds-
gerichts stellt Wenn dann mittlerweile der Gewerberichter unbe-
kümmert um den Veriauf des Prozesses vor dem Innungsschieds-
gericht auf Antr^ des Klägers die Klage vor sdn Forum gezogen
hat und gegensätzlich der Entscheidung des Innungsschiedsgerichts
und seiner Oberinstanzen erkennt, würden 2 verschiedene Entschei-
dungen über eine und dieselbe Rechtsstreitigkeit vorliegen.')
Klarheit wird man hier nur schaffen durch die ausdrückliche
Vorschrift, dafs Gewerbegericht und ordentliches Gericht über ihre
Zuständigkeit aus § 91 Abs. 6 a. a. O. zu entscheiden haben. Bei
allen diesen Erwägungen mufs man aufserdem berücksichtigen, dafs
bei den Innungsschiedsgerichten und den Gewerbegerichten juristisch
vorgebildete Personen nicht durchweg den Vorsitz führen und es
dem Laienrichter ungemein schwer fallen wird , insbesondere sich
über die diverL^icrcnden Ansichten bezüglich dt-r Heilung der Re-
daktionsversehen zu intbrmieren. Ks ist ü-rnt-r offensichtlich, dafs
es dem einfachen Arbeiter und kleinen Meister noch schwieriger
werden wird, aus § 01 a. a. ( X zu entnehmen, ob und wann er die
Abgabe des Prozesses an das Gewerbegericht oder an das ordent-
liche Gericht zu fordern berechtigt ist.
Nach alledem glauben wir dargethan zu haben, dafs der letzte
Absatz des ^ (ji a. a. O. nach den von uns gekennzeichneten Rich-
tungen hin der Ergänzung und Berichtigung dringend bedarf. Zur
Vermddung eintretender Reditsunsicherheit ist ein baldiger Erla(s
') Das Urteil etiics Gerichts in einer Sache, zu deren Entscheidung es nicht
xustftndig war, ist als das Urteil eines Gerichts nicht aoznschen. Eccins bei
• Gruchot Bd. 36 S. 145.
Archiv für tot, Gctcugebung a. Sutistik. XIV. 4^
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^12 GcMUgebung : Deutsches Reich.
eines Gesetz notwendig geworden. Gdegeaheit, die gesetzficfaen
Aenderungen des § 91 vonunehmen, bietet sich bei den Ver-
handlungen des Reichstages über die Abänderung der Gewerbe-
ordnung. Nützlich würde es auch sein, wenn bei der in Aussidit
stehenden Novelle zum Gewerbegerichtsgesetz § 79 dieses Gesetzes
einen dem verbesserten § 91 der Gewerbeordnung entsprechenden
Zusatz erhielte.
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Bntwuif eines Gfresetzes zum Schutze des gewerb-
lichen Arbeitsverhältnisses. ^)
Wir Wllhalm, tod Gottes Gnaden DeoUclwr Kaiier, König tob PrealMn de.
TMOtdMtt im Nnmea des RddH. anelt «rfb%tar Znstiiiiiniu{ den Bnndciiats und
des Reichstags, was Iblgt:
§ I, Wer es anternimmt, durch körperlichen Zwang, Drohung, Ehrvcrlctzung
oder Vrrrufserklärung Arbeitgeber oder Arbeitnehmer zur Teilnahme an Ver-
einigungen oder Verabredungeo, die eine Eiowirkung auf Arbeits- oder Lohaver-
bältaissc bezwecken, zu bestimmen oder von der Teilnahme an aolchen Ver-
«niguogen oder Veiafatedungen alnabaltenf wird mit Geftnpiis bis tn Eiaem
Jahre bestraft
Sind müdende ümitfade Toriwadcsi so ist naf Gddstmfe bis sn datansctid
Bbrk xa erkennen.
§ 2. Die Strafvorschriften des § I finden auch auf denjenigen Anwcndnng,
welcher es unteminunt, durch körperlichen Zwang, Drohung, fihrrerlelxuag oder
Verrufserklärung.
I. zur Herbeiführung oder Förderung einer Arbeiteraussperrung Arbeitgeber
zur Entlassung Foa Arbcitndunera sn bestimmen oder an der Annahme
oder Heransiehnag solcher sn Irinden,
3. znr Heibetfidimog oder FArdetug eines Afbelteraasstaades Arbeitfiduner
zur Niederlcgnng der Arbeit zu bestimawo oder aii der Annalmie oder
Aufsuchun{T von Arbeit zu hindern,
3. bei einer Arbeiteraussperrung oder einem Arbeiterausstande die Arbeit-
geber oder Arbeitnehmer znr Nachgiebigkeit gegen die dabei vertretenen
Forderungen zu bestimmen.
§ 3. Wer es sich zum Geschäfte macht. Handlangen der in den §§ i, 8 be-
seidmelen Art sn bsfeben, wird mit Gcfllngnis nlAt «itar drei Momrtea bestraft
§ 4. Dem kB^erlidten Zwange im Sinne der §9 ■ ^ 3 *M ^ ^
*) Vgl. za diesem dem Rddislaf mitsr dem 96. Mni 1899 voifdegton «id am
an. November 1899 in 2. Lesung abgelehnten Gesetzentwurf die Abhandlung vom
?nt Dr. Theodor Loeweafeld im vorlisgeBdcn Bande des Archivs, S. 471 ff>
46*
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GcMtzgebong: Deotiehet Reidi.
.schadij^uiig oder VorcnthuUunj^' von Arbeitsgerät, Arbeitsmaterial, Arbeitscneugnisccn
oder Kleidungsstücken j;lcichgcuchtct.
Der DruhuDg im Sinuc der §§ I bis 3 wird die planmäfsige Ueberwachung von
Arbeitgebern, Arbeitnehmern, ArbdtntBtten, Wegen, Stnfien, PUtien, BahahMen,
Wasserstrafien, Hafen* oder sonstigen Verkehisaalagen gleieligencbtet
Eine VermfserkUntng oder Drohang im Sinne der §§ i bis 3 li«gt nidit tot,
wenn der Thiiter eine Handlung vornimmt, zu der er berechtigt ist, insbesondere
wenn er bcfugterweise ein Arbeits- oder Dienstverhältnis aUehat, beendigt oder
küiidijjt, die Arln-it finstcllt, eine Arheitseiiistellung oder Aussperrung fortsetzt« oder
wenn er die \'urnuhine einer sulchen Handlung in Aussiebt stellt.
§ 5. Wird gegen I'crsonen, die an einem Arbeiteraussland oder einer Arbeiter-
aussperrung nicht oder nicht dauernd Teil nehmen oder Teil genommen haben, aus
Anlafs dieser Ntchibeteilignag etoe Beleidigung mittelst Tbl^bkeit, eine vonits-
liche Kttrperverletsttng odeV Xue' vorsStzliche Sachbeschädigung begangen, so bedarf
es tax Verfolgung keines Antrags.
$ 6. Wer Personen, die an einem Arbeiteransstand oder einer Arbeiteniis«
Sperrung nicht oder nicht dauernd Teil nehmen oder Teil genommen haben, ans
Anlafs dieser Nicbtbetciligung bedroht oder in Verruf erklirt, wird mitGeftngais
bis zu Einem ];\hrv bestraft.
19 *
Sind niiMerndc Umstände vorhanden, so ist auf Geldstrafe bis zu eintausend
Mark zu erkennen.
§ 7. Wer an einer otienllichcn Ziisaiamenrüttung, hei der eine Handlung der
in den 1 bis 6 bezeichneten Art mit vereinten Kräften begangen wird, Teil
aimm^ wird mit Gcfllngnis bestraft.
Die Rädelsführer sind mit Gefibignis nicht unter drei Monaten tu bestrafen.
§ 8. Soll in den Fällen der §§ 1, 2, 4 ein Arbeiteransstand oder eine Arbeiter-
ausspemag berbeigefthrt oder gefördert werden und ist der Ausstand odn dio
Attsspemtag mit Raeksicht auf die Natur oder Bestimmung des Betriebs geeignet,
die Sicherheit des Reichs oder eines Bundesstaats tu gefährden oder eine gemeine
Ckfahr für Mensdicnlcben oder für das Eigentum herbeizuführen, so tritt (lefangnis-
strafe niebt unter Einem Monate, gegen die Rädelsfabrer Gefängoisstrafc nicht unter
secb.<i .Monaten ein.
Ist in Folge des Arbeiterausstandes oder der Arbeiteraussperrung eine Cie-
fährduug der Sicherheit des Reichs oder eines Bundesstaats eingetreten oder eine
gemeine Gefahr tHr Menschenleben oder das Eigentum herbeigeführt worden, so ist
auf Zuchthaus bis nt drei Jahren, gegen die Ridelsfährer auf Zuchthaas bis sn fttnf
Jahren zu erkennen.
Sind in den Fällen des Abs. 2 mildernde Umstände vorhanden , so tritt Ge-
fängnisstrafe nicht unter sechs Monaten, für die Rädelsführer Geiangnisstrafe nicht
unter Einem Jahr ein.
9. Soweit nach diesem Ge.?etz eine gegen einen .\rbcitgeber gerichtete
H.Mi-ilmig mit Strafe bedrolit ist, findet die Strr.fvorsclirift aueh dann .\nwendung,
wenn dio Handlung gegen einen Vertreter des Arbeitgebers gerichtet ist.
Entwarf eines Gesetxes xiun Sdratze des gewerblichen ArbeitsrerbSltnisses. yi^
§ lo. Die Vorschriften flicscs (lesetzes finden Anwendung
I. auf Arbeits- .»der DicastverhaltQtsse, die unter den § 152 der Gewerbe-
ordnung fallen,
3. «Bf alle Aibcits» oder DicnstTertüfltDiaw in soldien Reichs-, Staats- oder
Konunonalbetrieben, die der Landesverteidignagi der öffentlichen Sicher»
heit, dem öflentlicben Verltehr oder der öffentlichen Gesnndheit^flege
dienen,
3. Mf alle Arbeits» oder DienstverhSltnisse in Eisenbalinanternehmangen.
§ II. Der § 153 der Gewerbeordnong wird aafgehoben.
Urkondlich etc.
Gegeben etc.
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MISZELLEN
Arbeiterbauvereine in der Umgegend Kopenhagens.
Von
NIELS VVKSTKRGAARD,
Anneninspektor ia Frederikaberg bei Kopeahagen.
Durch das Gesetz vom 29. März 1887 wurde das Finanzministerium
bevollmächtigt, bis zum Ablauf des Jahres 1897 aus den Mitteln der
Staatskasse eineii Betrag bis zur Hfibe von i Bültuni Kr. Kommunen
oder Vereinen vonnistrecken, welche in Kopenhagen oder dessen NiKhe^
in Fkovinzia]atädten beziehungsweise deren Umgegend gute und gesunde
Arbdterwohnungen erbauen wttrden. Das Darlehen sollte mit 4 ^ „ ver-
zinst und amortisiert werden. Für von Vereinen aufgeführte Gebäude
wurde die liedin^ning gestellt, dafs die Mitglieder des Vereins von ihrem
zu dem Zwecke beigesteuerten Kapital huchstcns eine \'erzinsung von
4 % geiiiefsen, und ein eventueller Ueberschufs für die Zwecke des
betreffenden Vereins verwendet werden sollte.
Von diesem Gesetz wurde wenig Gebrauch gemacht Die Arbeiter-
bevölkerung schien zunächst kein lebhaftes Bedflrfhis nach anderen
Wohnungen als den bisher benutzten zu haben. Die Bewegung zur
Schaffung besserer Wohnungen hatte ihre thatkräf^ige Stütze \'ielmehr in
den höheren Klassen der Bevölkenmg. Aber die Anwendung des
Gesetzes durch deren Vereine wurde durch die Forderung des Finanz-
ministeriums beeinträchtigt, wonach die Kommunen, in denen Arbeiter-
wohnungen auf diesem W eg entstanden, durch Bürgschaft oder Zuschufs
ihr Interesse dafür bezeugen sollten, eine Fordenmg, die die Kommunen
nicht gern erfüllen aus Furcht vos dem Zuzüge einer unbemittelten Be-
völkerung, die das Armen- und Schulbudget schwer belasten könnte.
Erst gegen Ablauf der Zeitperiode^ innerhalb welcher das Gesetz
gelten sollte, erhob sich in der Axbeiterbevölkerung von Kopenhagen
imd Umgegend eine kräftige Bewegung zur Verbesserung der Wohnungs-
verhältnisse. In den letzten Jahren waren die Mietpreise bedeutend
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Niels Westergaard, Arbeiterbauvereine in der Umgegend Kopenlwgeiis. j\j
und schndl gesti^n. Diese Stdgaung machte sich am mebten bei
Wohnangen von zwei Zimmern fühlbar, deren Zahl verhäknismäfsig
zurückging. Die gröfsere Nachfrage nach solchen Wohnungen veranlafste
die Hausbesitzer, in der Auswahl von Mietern rücksichtslos vorzugchen,
um sich von solchen mit einer grofscn Anzahl von Kindern zu befreien.
Diese mufsten infolgedessen entweder eine höhere Miete als andere be-
zahlen, oder sie waren gezwungen, gröfsere Wohnungen zu beziehen.
Auch bewiricte der Man^^l an Wohnungen mit a Zimmern, dafs eme
grOfieie Anzahl von Arbeitern Wohnungen von 3 Zimmern mieten
mulsten, ftir welche der Mietsrins gewöhnlich höher war ala er dem
Einkommen einer Arbeiterfamilie ents])rarh, wenn sie nicht ein Zimmer
an einen Aftennieter abgeben und sich den daraus entspringenden Un-
bequemlichkeiten und dem damit verbundenen Risiko aussetzen wollten.
Die Kopenhagener Arbeiterbevölkerung hat durth ihre sehr ent-
wickelten Fachverbände ein aufserordentiiches Selbstvertrauen gewonnen.
Wo sie einen Druck empfindet, ist bei ihr der Weg zum Versuche, die
Last absuschüttehi, nicht weit. Ihr Mick ist für die Macht, die ein
Zusammenschlnfs mit sich brhmt, gteöflhet worden und sie filrchtet
nicht, sich auf grofse Aufgaben einzulassen. Sie hatte schon immer
an solche Gebäude gedacht, die allein für die auf den Bauten
stehenden Prioritäten aufgeführt werden, (lebäude, welche Personen ge-
hörten, die Bauherren ohne Mittel waren. Waren die Gebäude nur
vermietet, so konnten sie sich verzinsen und noch Gewinn abwerfen.
Der (iedanke lag also nicht so fern, dafs ein Kreis von Mietern selbst
Bauherren wurden und das Haus bauten, das sie bewohnen wollten.
Während ein unbemittelter Bauherr keine wirtschaftliche Garantie
bietet und nur Kapital fttr sein Unternehmen findet auf die Gewinn-
Aussicht hm, die es an und f&r sieh eröffnet, liefert ein Kreis von Per-
s(men, der groft genug ist, alle Wohnungen in einem Häuserkomplex zu
besetzen, eine ausreichende wirtschaftliche Basis. Wenn sich 100 Per-
sonen als ständige Mieter zusammenfinden, welchen es zum Vorteil ge-
reicht, für einen Mictszins, der ihren Verhältnissen entspricht, in den
Häusern wohnen zu bleiben, so ist eine zuverlässige Grundlage für ein
Bauuntemehmen geschaffen. Eine einzelne Person kann im Stich lassen,
aber die meisten werden darnach streben, ihre Verpflichtungen au er-
füllen. Bringt die Versäumnis des Elnzefaien grö&eäre Verpflichtungen
für die Anderen mit sich, so wird jeder im voraus vorsichtig in der Wahl
derer gewesen sein, mit denen er sich verbind«! wiU, so dafs au er-
warten steht, dafs die 100 Personen einander als snverUte^e Menschen
kennen.
So entstand also der Gedanke, sich in ( icsellsrhnften von loo
Mitgliedern zu verbinden, um durch gemeinsamen Beistand und gemein-
same Verpflichtungen Wohnhäuser für die Mitglieder aufiniflihren. Die Zahl
100 ist nicht wiUkfirlich gewählt. Es ist eine m Dänemark gewöhnliche
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7i8
Missellen.
Form für gegenseiti^^e Hilfsvereine, dafs sich loo Personen zusammen
srhlicfseii zur Sicherheit ^^-gen die l'ol^^en von Todesfällen, Krankheit
etc., so, cLifs -ie n lies mal, wenn das betretende Ereignis ein Mitglied
trililt, einen gewissen lieitrag geben.
Dieser ftus Unzufriedenheit mit den herrschenden Wohnungsverhält«
Dissen hervorgenifene Wunsch, sein eigner Hauswirt zu werden, fid mit
einem anderen von frtther gewohnten Bedürfnis zusammen. In der Peri-
pherie der Stadt sind während ein«" Reihe von Jahren Kolonieen von
kleinen Gärten gebildet worden, Arbeiterfamilien, sogar weit entfernt
wohnende, pachteten hier ein kleines Stück Land, welches sie zum
Nutzen untl Vergnügen bebauten. In jedem dieser kleinen (iarten be-
findet sich eine Laube, und an Sommerabcnden und Sonntagen ist hier
ein Leben, welches deutlich die Freude zeigt, die es dem Pächter ge-
währt, aus seiner beschränkten Wohnung in den engen Gassen zu flfiditen,
um sich nach seinem eigenen kleinen Garten zu begeben und dort die
frische Luft unter Ireiem Himmel zu genielsen.
Den vielen, die an diesem Leben Freude empfanden, mufste der
Gedanke nahe liegen, wenn sie selbst fiir Aufführung von Wohnungen
sorgten, diese- in einen solchen (larten zu legen, und ohne dafs man
auch nur an andere Baulonnen gedacht hätte, sind kleine H»iuser in einem
entlegenen leil der Stadt, in kleinen Gärten gelegen, die Losung ge-
worden.
Der etste Vordn, welcher gebildet wurdet war „der Bauverein der
loo Arbeiter, Einigkeit". Er fing im Jahre 1897 mit dem Einsammdn
von wöchendichen Beiträgen von 2 Kr. *) bei den Mitgliedern an.
Im Anfang des Jahres 1898 erwarb er eine ca. 100000 Quadrat*
Ellen -) grofse Haustelle in der nördlich von Kopenhagen gelegenen
Kommune Bründsh<)j. Im Anfange des Jahres 1890 wurde mit Auf-
führung der (iebäude begonnen und sie wären gewifs im Herlist iSgc;
fertig geworden, wenn nicht die Arbeitersperre der Arbeitgeber dem
Bauen während des ganzen Sommers Einhalt geboten hätte.
Der BröndshöJ-Verein agitierte eifrig für die Durchführung seiner
Gedanken, und es gelang ihm durch die Repräsentanten der sozial-
demokratischen Partei im Reichsteige durchzusetzen, dafs das im Anfimg
erwähnte Gesetz vom 26. Februar 1898 bis zum Schlufs des Jahres 1907
erneuert wurde, so dafs in diesem 2^itraum bis zu 2 Millionen Kr. aus-
geliehen werden dürfen.
Nach dem Muster des genannten Vereins sind eine Reilie von
Vereinen gegründet worden. Soweit uns bekannt, war der lirondsboj«
Verein der erste, der mit den Bauarbeiten anfing*
Die wirtschaftliche Basis für die Unternehmungen besteht in der
1) 89 Kr. s 100 M.
*) SS» ca. 39400 □ Meter.
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Niels Wcstcrgaard, Arbciierbauvcrcinc in der Umgegend Kopcnliagcns. jiq
VerpOichtting der Mitglieder, den jährlichen Betrag zu bezahlen, welcher
zur Verzinsung und Amortisation des Anlagekapitals, sovrie zum Instand-
halten des Gebäudes und Deckung etwaigen Ausfalls von Miete etC.
erforderlich ist. Wenn dieser lietra? nicht sonderlich höher angesetzt
zu werden braucht als die ühhc he jahrh( he Miete für eine Arbeiter-
wohnung, jedes Mitglied ein wirtsi hafiliches Interesse daran hat, in dem
Hause zu bleiben, das allmählich in seinen Besitz ubergeht, und, solidarisch
verantwortlich fUr die Verpflichtungen der übrigen Mitglieder, nator-
geniä& dafür sorgt, dafs nur zuverlässige Personen diesem Verein bei-
treten, wird seine wirtschaftliche Basis hinreichend sein, und es hat
sich gezeigt, dafs das ])rivate Kapital ■ nicht fürchtet, sich gegen ver-
BttnAige Zinsen an diesen Unternehmungen zu beteiligen.
Infolge der .Statuten des I'.röndshoj- Vereins, mit weh hen die der
anderen \'ereine im wcscntUi hen übereinstimmen, ist es die .\ufi,Mbe
des Vereins, loo Häuser mit Arbeiterwohnungen aufzufuhren und diese
zu administrieren, bis jedes einzelne derselben in den Besitz der Mit»
glieder übergehen kann. Die Mittel zur Erreichung dieses Zweckes be>
stehoi in den Emzahlungen der Mitglieder, ihrem persönlichen Kredit
und dem Ertrag der Administration des Vereins. Zur Erfüllung des
Zweckes kauft der Verein den nötigen (irund, der in loo Parzellen ge-
teilt und d:irn3( h durch das Los an die einzelnen Mitglieder verteilt
wird. .\ul jeder Par/.elle wird ein Haus erbaut, welches nicht mehr als
2 Etagen hoch sein und nicht mehr als eine \\ ohnung in jeder Etage
entlialten darf. Alle Häuser werden von gleicher Grufse und mit gleichem
Kostenaufwand erbaut Jedes Mitglied hat das Recht, Seltzer des ihm
zuerteiHen Hauses zu werden. Dies kann erst geschehen, wenn die
Verpflichtungen des \'ereins, für welche sämtliche Mitglieder solidarisch
haften, erfüllt sind, so dafs die noch restierenden X erptlichtungen auf
die einzelnen Gnmdstücke verteilt werden. Iiis dahin ist der X'erein
Besitzer sanulicher Grundstücke und bestimmt die jährliche Abgabe, die
jedes Mitglieil zu cntrii hten hat, so wie er auch fiir das X'ermieten der
Wohnungen, die nicht von Mitgliedern bewohnt werden, zu sorgen hat.
Für die jährliche Abgabe ist das Mitglied beredttigt eine Wohnung in
dem ihm zuerteilten Haus zu bewohnen, und es ist verpflichtet, diese
Wohnung zu bewohnen, wenn es nicht seiner Arbeit wegen genötigt ist,
eine andere Wohnung inne zu haben.
Jedes Mitglied, welches eine Wohnung in den Grundstucken des
Vereins bewohnt, bezahlt am ersten jedes Monats ' , . der jälirlichen
Abgabe. Das MitglietI, welches nicht das ihm zuei teilte Haus l)ewohnt.
iK'zahll am 5. jedes Monates ^ der jahrhchen Abgabe, iusoletu sie
nicht durch Vermieten der Wohnung eingekommen ist Was am 5. in
jedem Monat von der Abgabe oder der Miete der Wohnungen des
Vereins restiert oder bis zum selben Zeitpunkt durch leerstehende
* Wohnungen verloren gegangen ist, wird so weit als nötig zur Deckung
Digitizoü by C3t.)0^lc
720
Ml«f Um.
der Verpflichtiin^ren des Vereins auf die Mitglieder verteilt, von welchen
jeder Anteil spätestens am 15. des Monats zu bezahlen ist. Der Verein
kann einem Mitgliedc eine Zahlungsfrist bis zu 3 Monaten gewähren.
Wenn ein Mitglied in einem der Häuser des Verefns wohnt, ist es
verpfliditet, sich nach den Regeln, welche mit Besag auf Ordnung und
Sauberkeit vom Verein aufgestellt sind, zu richten.
Ein Mitglied kann aus dem Verein aufgeschlossen werden, wenn es
nicht innerhalb einer vom Verein gegebenen Frist von 2 Tagen seine
verfallene Schuld berichtigt, wenn es zum 6. male im Laufe der beiden
letzten Jahre eines Vcrstofses gegen Ordmini.'^ und Sauberkeit schuldig
gefunden wird, wenn es sich einer ik r ofteiulichen Meinung nach ent-
ehrenden Handlung schuldig gemacht hat, oder ohne Berechtigung fort«
zidbt Das ausgestolsene Mitglied veriiert jeden Anspruch an den Verein.
Wenn ein Mitglied stirbt, ist seine Gattin, der Witwo- jedodi nur,
wenn der Verein sich dem nicht widersetzt, berecht^ an die Stelle des
Verstorbenen zu treten Findet ein snK hes F.intreten nidlt Statt, so er-
halt der Ucberlebende das Geld, welches dadurch gewonnen wird, dafs
ein anderer an seine Stelle tritt. Ein gleiches Recht haben, wenn keine
Frau vorhanden ist die Kinder oder die durch das Testament bestimmten
Erben des \ erstorbenen.
Ein Mitglied kann aus dem Verein ausscheiden, wenn gleichzeitig
daflir ein vom Verdn für gut befundenes Mitglied eintritt Wird ein
Los durdi die Aussehlielsung oder den Tod eines Mitgliedes frei, so
muft der Verein so bald als möglich em neues Mitglied aufnehmen,
welches eine entsprechende Vergütung im Verhältnis zu dem Wert,
welchen die Berechtigung des abgegangenen Mitgliedes hatte, zahlen mufs.
Das Aufhören der Mitgliedschaft bedingt ni( ht das Aufhören der
Verantwortlichkeit der Mitglieder mit I^r/iig auf die vom N'erein einge-
gangenen Verpflichtungen, für welche die Mitglieder solidarisch haften.
Die bei der fi«^tlndung des Unternehmens erwachsenden Kosten
werden unter die Mitglieder gleichmäisig anf alle Grundstücke ver-
teilt Alle Zinsen, Steuern, Kanalisations- und Straftenabgsben etc sowie
<lic Kosten für Instandhaltung werden als Betriebskosten \om Verein
bezahlt, doch so, dafs der Verein bestimmen kann, das jedes Mit-
glied für die Instandhaltung seines Besitztums selbst sorgt. Daüir
ist es elicnso verantwortlich wie für die Bezahlung der jahrlic iien
Leistungen. Was nach Verlauf des Jahres, nachdem die betrertenden
Ausgaben berichtigt sind, übrig bleibt, wird den gesamten Grundstücken
zu gleichen Teilen gutgeschrieben und zur Sicherheit für zukfinftige
Verpflichtungen und eventuell zur Abwicklung von Prioritfttsschidden
zurückgelegt.
Der Grund, welchen der Bröndshöj -Verein gekauft hat, beträgt
ca. 3Q 400 (]m. Nach .\bzug des Areals für Wege bleiben für jedes
Haus ca. 280 qm. Hiervon nimmt das Gebäude 52 qm ein, das übrige
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Niels Westergaard, Arbeit erbauTeieiiie in der Umgegend Kopenhagens. y2l
bleibt Air Hof und (harten. I^e Häuser sind je 2 und 2 so ziuammen-
^rebaut, dafs sich der genieinsame Giebel auf der Grenzlinie z%\'ischen
den beiden (irundsiücken befindet. Von jedem Hause ist ein Ausgang
auf einen der zu dem Komplex pehör*nden Wege über den /.um Hause
gehörenden Grund. Jedes Gebäude besteht aus i Etage und einer
Dacbetage. Jedes Haus hat eioe aparte Treppe; im Erdgesdiolt be-
finden sich 2 Zimmer beziehungsweise 14 V« und 13 qm groft und die
Küche. In der Dachetage ist ein Giebdsiniiner, i Dachkanuner und
ein Bodenrauna. Unter der Küche befindet sich ein Keller. Die Hohe
der Zimmer beträgt im Erdgeschois 2,59 ^ ^ jedem Haus gehört
eine besondere Retirade.
Die Kosten für den Bau der 100 Hauser, den Ankauf des Grund-
stückes mit mbegritTen, werden sich vermutlich auf ca 470000 Kr. be-
laufen. Es ist walirscheialich, dafs die Staatskasse hiervon ca. 350000 Kr.
ttbemehmen wird, der Rest wird auf die Kommune, die die NeU'Anlage
übernommen hat, das Gaswerk, einige private Kreditoren und Arbeit*
geber verteilt; letztere lassen, was vcm den Mitteln zur Begründung
des Unternehmens nicht von den Darlehen gedeckt werden kann, zu
einem Zinsfufs von 5 „ p. a. darauf stehen, so dafs 10 Jahre hindurch ' ,0
in jedem Jahr, doch wenigstens 5000 Kr. im Jahre abgezalilt werden.
Der Betrag, welchen die Unternehmer darauf stehen haben, beträgt wohl
50 000 Kr.
Um die bedeutenden Absüge zu bezahlen, müssen die Mi^eder
anfangs eine Abgabe leisten, die tun einiges gröfier ist als der Mietszins»
den Arbeiter&milien zu bezahlen pflegen. Die monatliche Miete eines
Arbeiters soll gegenwärtig nicht mehr als 20 Kr. betragen. Allerdings
mieten viele .Arbeiter W ohnungen von 3 Zimmern, für welche 25 — 28 Kr.
monatlich bezahlt werden müssen, doch vermieten sie gewohnlich ein
Zimmer da\on. Hier müssen die Mitgheder in recht bedeutender Ent-
fernung von Kopenhagen, ohne sonderliche Aussicht Aftermieter zu be-
kommen, anfangs 25 — 27 Kr. monatlich bezahlen. Die Abgabe wird
jedoch mit der Zeit geringer, wenn die Batisumme alhnählich abgezahlt
ist Schon nach Verlauf von 10 Jahren wird sie um 7 Kr. monatlich
gefallen sein; nach 15 Jahren wird die Abgabe nur noch 16—18 Kr.
monatlich betragen, und wenn das Darlehn der Staatskasse amortisiert
sein wird, werden die Mitglieder eine ganz unbedeutende jährliche Aus-
gabe für die Miete haben.
Die Abgabe, womit hier angefangen wird, ist so grofs, dafs wohl
nur die bestentlohnte Klasse der Arbeiter sie bestreiten kann. Andere
Banvereine haben, tun die Ausgaben zu vermindern, daran gedacht, die
Häuser in 2 Etagen oder mit einer Parterre- imd einer Dachwohnimg
zu bauen, was verhältnismäfsig billiger ist als Häuser mit einer
Etage. So entstehen soo Wohnungen, und jedes Mitglied erhält eine
W(dinnng zum Vermieten, aufser der, welche es selbst bewohnt. Wegen
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«
Mistellea.
der Entfernung' von Kojicnliagcn, in welcher die Baustellen des Brönds-
höj-Vereins lie{;en, würde hier weniger gute Aussicht sein, die loo übrigen
Wohnungen zu vermieten, wenn der Verein, wie er eine Zeit lang be-
absichtigte, Häuser mit je 2 Wo)ftiung<. n gebaut hätte. Die Kommune
von Bröndshöj war aufserdem dagegen, dafs andere Familien als die der
Mitglieder des Vereins in die Häuser aufgenommen würden, da sie dicht
neben einer grofsen Kommune liegend, eine Vergröfsenmg des Aimen-
und Schulbudgcts durch das Zuziehen von Unbemittelten fürchtete.
Weil die Kommune zu kk-in ist, konnte sie es nämlich nicht zur Be-
dingung machen, dafs die Wohnungen nur an Arbeiter vermietet werden
durften, die bereits zur Kommune gehörten.
Die Kommune Frederiksberg, welche Kopenhagens Nachbarkommune
ist und ca. 70000 Einwohner hat, hat fUr einen Verein von Arbeitern
am Frederiksberger Gaswerk eine beschränkte Bürgschaft geleistet, um
die Ausführung eines ähnlichen Bauuntemehmens zu ennöglichen.
Die Bausti lle ist bedeutend teuerer als die des Bröndshöj-V'ereins
(i So 000 Kr. gegen 30000 Kr.), aber die (iarantie der Kommune er-
möglicht ein liilligeres Bauen, und da Häuser mit je 2 Wohnungen
(Parterre und Dachwohnung) gebaut werden, bleiben 100 Wohnungen
zum Vermieten aufser den von den Mitgliedern des Vereins bewohnten.
Die Mitglieder wtirden sich daher viel leichter als die des Bröndshöj-
Vereins eine Bebteuer zur jährlichen Bezahlung der Abgabe verschaffen
können, indem sie eines der 3 Zimmer der Wohnungen — dank der
günstigeren Lage — vermieten, so dafs das Unternehmen möglicherweise
fiir die Mitglieder leichter zu bestreiten sein wird, als das Unter-
nehmen in Brönd.sh<)i. Die Kommune iiat jedenfalls das Unternehmen
für wohl fundiert angeschen. Da aufserdem die Mitglieder innerhalb der
Kommune ihre Thätigkeit haben mid es ausbedungen ist, dafs in
Fiedoiksberg besdiäftigte Arbeiter bei dem Vermieten der v<hi den
Iifitgliedem nicht benutzten Räume den Vorzug haben sollen, so gewährt
die Kommune ihre Hilfe ohne sonderliche Ge&hr, eine unbemittelte Be-
völkerung heranzuziehen.
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LITTI' RATL R.
H ernste in, Eduard, Die Voriritssetziin^en des Sczialisnins und die
Auf gilben der Si>ziiildcj>iokrtitie. Stutti;art 1899. X u. ibiS S.
Kautsky y Karl, Bernstein und das sozialdemokratische Frogramni.
\ Stuttgart 18^9. VllI u. 195 S.
,,In der Litteratur der deutschen Soztaldemolaratie bfldet das Bern-
stcinschc P.tich die erste Sensationsschrift" — sagt Kautsky in seiner
Ocgenschrifi (S. 1). Das Sensationelle liege darin, dafs „einer der ortho-
doxesten" Marxisten ein Buch schreibt, in dem er feierlich verbrennt,
was er l)isher angebetet, und anbetet, was er bisher verbrannt hat"
(ibidemj. Dieses l'rteil wird von Rautsky auf nahezu 200 Seiten aus-
geführt und begründet Es wäre swecklos, in diesem Archiv ein Ke«
ferat der beiden Streitschriften zu gei3en — wer sich über den Stand
der Kontroverse gehörig unterrichten will, muis sie ein&ch lesen. Da
ich in meiner im vorliegenden Bande abgedruckten Abhandlung mich
bereits über den Wert und die Bedeutung der vielbesprochenen Bern-
steinschen Schrift ausgesprochen habe, so wird diese P>e^iire( hung sich
mehr mit dem Buche Kautskys befassen. Die Beziehung auf die Bern-
steinsche Kritik der So/ialdemokratie wird dabei nicht im iniiidcstcn
verloren gehen, detm diese Kritik wird ja von der .Vntikritik Kautskys
vorausgesetzt Die Absicht der höchst offenaven Defensivschrift des
Redaktears der Neuen Zeit ist, — die Diskussion über „die Probleme
des Bemsteinschen (sie!) Soziallsmus" zum Abschluß zu bringen. Diese
Absicht ist v(äUg verfehlt. MaL: mm das Bemsteinsche Buch noch so
niedrig bewerten, es hat doch das Verdienst, dafs es angeblich endgültig
entschiedene Fraisen des Sozialismus als Probleme aufgcfafst und aufge-
stellt hat. Ks dankt mich, dafs der Kautsky des Stuttgarter Parteitages
vom Jahre 189S und \"i( tor Adler gegenüber 15emstein einen viel
richtigeren Ton angeschlagen haben als der Kautsky der ad usun»
defr Hannoverschen Parteitages bestimmten Streitschrift. Adler dankte
bekanntlich Bernstein dafttr, dafs dieser „mit kräftiger (?) Hand einen
Stein in die mitunter (?) stagnierenden Wässer der theoretischen Diskussion
724
Littentnr.
in der Partei geworfen hat." Fürwahr, nicht nur der ortliodoxe Bern-
stein verdiont Dank und Anerkennung, sondern nocli mehr der Zweitier.
Uebrigens mufs der Referent mit Genugthuung hervorheben, dafs Kautsky
selbst in seinem Vorworte scharf der hämischen Verkleinerung Bernsteins
entgegentritt
AUerdiogs ein giofier Mangd haftet den Zweifeln und Bedenken
Bernsteins an. Dafs er wenig Positives auszusagen vennodit hat,
darin finde ich weder etwas Auffallendes noch ihn Belastendes —
in vielen Fragen ist wirklicli nichts anderes als das bescheidene und
ehrliche: non licjuet, vorzubrincren. Aber dieses non liquet. diese Un-
klarheit des Thatbestandes lafst sich immer mit völliger Klarheit und
Bestimmtheit nachweisen. Bernstein hat seine Bedenken selbst sehr un-
klar empfunden und üb dedialb in unklare und versdiwommene Form
gekleidet Er aeli»t hat das Gewicht der einseinen Argumente, weldie
er der Orthodoxie entgegenstellt, eigentlich gar nicht festgesteUt und
sdieint sogar kein Bedürfnis darnach gehabt zu haben. Ganz im Gegen-
satze zu Bernstein ist Kautsky völlig seiner Wissenschaft sicher und tritt
dementsprechend auf Wenn die Kritiker der Orthodoxie keine Ix;-
stimmte Antwort auf diese oder jene Frai;e haben, so folgert er daraus,
dafs die orthodoxe Lösung des Problems unantechtbar dastehe. Durch
das subjektive GefUhl der theoretischen Klarheit befangen, schreitet er
mutig von Positifm zu Position, frei ron Bedenken, völlig auf die un-
flberwindliche Macht der »aMnistiachen Methode" vertrauend. Es ist
aber unventändüch, wie man überhaupt von ^^marxistischer Methode'*
sprechen kann. Mandnaus ist eine inhaltlich bestimmte Lehre, ein
Standpunkt, meinetwegen ein heuristisches Prinzip, aber eine Methode
kann es ebensowenig sein wie etwa der Daruinisiiius. Auch das was
man gewöhnHch in der marxistischen Litteratur „Dialektik" nennt, ist
eigentlich eine Methode nur unter der metaphysischen Voraussetzung der
Identität des Denkens imd des Seins: sie ist eine Methode der cmtolo-
gischen Logik. Ohne diese metaphysische Grundlage ist sie nichts weiter
als das Evolutionsprinzip. Wenn Kautsky sagt, dals „das Entscheidende
am marxistischen Sozialismus die Methode nicht die Residtate sind"
(S. I 7) und dabei die materialistische Geschiclitsauffassung meint, so ist
er offenbar völlig im unklaren darüber, dafs die „materialistische Ge-
schichtsauffa-ssunf^" das wichti^^ste „Resultat" des Marxismus als wissen-
schaftlichen Systems ist. Diese Auffassung sollte aber für ihn um so mehr
verbindlich sein, als er fest daran zu glauben scheint, dafs die materialistische
GeschichtsaufTassung von Marx in regelrechtem induktiven Verfidiien ge>
Wonnen worden ist. kh gbnbe dieq, gar nicht, bin viefanehr geneigt in
der materialistischen GeschichtsaufTassung eine Ahnung, ein unter dem Ein*
drucke der Thatsachen konzipiertes Schema zu sehen, welches Marx und
Engels als a priori feststehendes heuristisches Prinzip ihrer bahnbrechenden
Forschung diente. Dafs das wichtigste „Resultat" des Systems ihm als
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Bernstein, Eduard, Die VQnmnetsangen des Sodalismus etc.
ein Apriori dient — ist eine häufige Erscheinung und läfst sich auch in
den sogen. „Erfahrungswissenschaften" an l>erühmten Beispielen nach-
weisen. Marx hatte zwei Apriori: ein theoretisches — die materialistische
Geschichtsauffassung, und ein praktisches — den Sozialismus. Dieses
letztere Apriori macht das Kapital — wie Bernstein richtig ausführt
(S. 177 — 178) — zu einem Teodenzwerk, welches „die Lösung der
Utopisten" ttbenununen hat Was Kautsky dagegen vorbringt, läuft
darauf hinaus, da& Man seine sozialistische Aufftssnng duidi zweimalige
„Untersuchung" gewonnen habe. „Die erste Untersuchung endigte mit
dem kommunistischen Manifest. Damit hielt Marx seine These so wenig
für fertig, dafs er nach der Revolution nochmals ipit neuem Material
„von vorne anfing". Er kam dabei im wesentlichen zu demselben Re-
sultat wie das erste Mal" (S. 30). Dafs Marx gründlicher Forscher war,
dürfte weder Bernstein noch Anderen unbekannt sein. Für mich steht aber
dennoch psychologisdi fest, dafs Marx Tom Sozialismus ab von einer
fertigen Tböe immer ausgegangen Ist Als Forscher verdankt er dieser
Voreingenommenheit nicht nur seine Fehler sondern auch seine glän-
zendsfen Leistungen. Denn zu Marx' Zeit konnte nur ein sozialistischer
Kritiker die grofsartige geschichtliche Bedeutung des Kaj)italisraus wür-
digen und gleichzeitig dessen geschichtliche Relativität klar erfassen.
Dafs, und wie die sozialistische Disposition auch die Schwäche von Marx
ausmachte — iiabe ich in meiner obigen Abhandlung gezeigt.') Kautsky
stiänbt sidi natürlich gegen eoie striche Aul&ssung von Marx, weil er
den ganzen Inhalt der mandstischen Uebertieferung als objektive Wahr-
heit erhalten will Aber jene Auf&ssung ist niditsdestoweniger psycho-
logisch wahr.
Dafs Bernstein in der Aufspürung des Blanquismus im Marxschen
Ifleenkreise ebenfalls auf die richtige Fährte gekommen ist, ist durch
die gegenteiligen Behauptungen von Kautsky und Diehl nicht wider-
legt worden. Diehl fuhrt gegen die Ansicht Bernsteins die unzweifel-
hafte Thatsache an, dafs der Marxsche ökonomische Evolutionismus
sidi im schroffen G^^satz zum politischen Revoluticmismus von Blanqni
befindet. Man kann allerdings aus Marx einen rein Olu»M»nlschen und
widerspruchslosen Evolutionismus herausdestSlteien, der ganze histo-
rische Marx und der an ihn aoknl^fende Mandsmns, wie ihn Kautsky.
Plechanow u. a. vertreten, hat genug Blanquismus in sich. „Das Wort
„revolutionär" hat bei Marx ... nur die Bedeutung, dafs nicht durch
irgendwelche Reformen auf dem Boden der bestehenden
') Kautsky bestreitet, dafs die Utopisten eine „Losung" gehabt haben^
Will er auch bestretten, dafs die Utopisten Sozialisten waren? Die Lösung der
*) Vgl. denen Uequedwag tob BerMtda in Connds |ahr1>flcheni, HL Folge
tS. Band, 1. Heft. S. 97—116.
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726
Littenttur.
Rechtsordnung die soziale l'nigestaltiinj,^ erfolgen könne, s<jndern
nur durch railikale Umwälzung der Grundlagen dieser Ordnung"' ^Dichl
1. cS. 106. gesperrt von mir). In dieser „Bedeutung", wddier ein
unschuldiges „n u r" vorsteht^ liegt aber auch der ganze Blanquismus von
Marx, nämlich der Wunde^laube an eine politische Hauptaktion des
Proletariates eingeschlossen. Vom konse<iuent evolutionistischen Stand-
punkte ist eben die grundsätzliche Gegenüberstellung von „Reformen auf
dem Hoden der bestehend<'n Rerhtsordinnig" und der „radikalen Um-
wal/.uiig der GrinidlnL^en dieser Ordnunu" einfach sinnlos Nicht um
Verherrlichung von „Revolution" im Polizj:ismn (Aufruhr) handelt es sich
beim Blani|uismus als einer sozialpolitischen Auffassung, sondern um den
Glauben an die grundlegende Bedeutung der politischen Machtergreifung
fiir die radikale Umwälzung der Gesellschaft. Dieser Glaube ist innig
mit dem Glauben an die Möglichkeit einer „Aufhebung*' der kapitalisti-
schen GeseUscha(\sordnung verbunden. Der Widerspruch zwischen dem
„blanquistischen" Revolutionismus und marxistischen Kvolutionismiis
ist ein immanenter Widerspruch der sozialen Knt\vicklunj;slehre von Marx
in ihrer h i s t »j r i s c h e n Bestimmtheit. 1 !ern>tcin hat den scharfen
begrililichen Gegensatz dieser zwei Auffassimgeu nicht mit der nutigen Klar-
heit formul^r^ vielmehr ihn durch die unwesentlidie und störende Unter-
scheidung der friedlichen Reform und der gewaltsamen Umwälzung so
verdunkelt, dais Victor Adla* ihm mit Recht spöttisch entgegenhalten
konnte, er „definiere das Wort Revolution wie nur noch ganz alte Staats-
anwälte" ( Wiener .Arbeiterzeitung vom 2. April 1899.
Das W ertproblem ist von Bernstein in seinem Biu he in vorsichtiger
und wenig selbständiger W eise angefafst worden. Etwas weiter ist er in
einem .Artikel der „Neuen Zeit" („.Arbeitswert oder Nutzwerl", XVII. Jahr-
gang. II. Bd. Nr. 44) gegangen. Kautsky hat Recht, wenn er seinem
Gegner Eklektizismus vorwirft. Dieser Eklektizismus liegt nicht darin,
daß Bernstein die Grenznutzentheorie und die Kostentheorie ftir gleich
annehmbar erklärt — dies ist in gewissem Sinne ganz richtig — wohl
aber rührt er daher, dafs Bernstein den Sinn mid die Tragweite der
Marxschen \N'erttheorie nicht klar genug erfafst hat. Seit Marx selbst
im III. liande des ..Kapitals" als reale Warenwerttheorie die Prcfduktions-
kostentheorie in ihren Rechten wiederhergestellt hat, ist eigentlich das
') Aat die Bexeichnuug „blauquittitch" lege ich keinen besonderen Wert,
obgleich sie sich vom getcbicbtlicheii Staadpankt enpfiebU. Desto mehr aber aaf
den Sinn dieser Bezeichnung, wie er oben angedeutet ist ond noch klarer aus
meiner Abbandluag hervorgeht
*i Kautskys Kritik von Bernstein deckt sich in ihren Hauptmotiven mit der
Adlerschcn, i]e?<cn zwei Aufsät/e ülicr Bernstein in der „Arbciterzeitnng*' (vom
16. Oktolier und vom 2. April 1899) wahre Prachtstücke publizistischer
Kunst sind.
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Bernstein, Eduard, Die VonnflMtsangen des Sozialismoi etc.
grofse Olli pro quo des ganzen ökonomischen Systems von Karl Marx
klar freworden. ') Marx hat mehrere Werthegrirte ohne es zu inerken.
Es kommt daher, weil er zwei ganz verschiedene l'rol »lerne, das sozio-
logische Problem der Ausbeutung überhaupt und speziell der kapita-
listischen Ausbeutung und das ökonomische Problem des Wertes und
qpeziell des Verkehrswertes als ein einheitliches Problem und
swar als das Wertproblem behandelt Somit laufen bei Marx m seiner
Werttheorie zwei verschiedene Gesichtspunkte neben- und ineinander:
der Gesichtspunkt der soziologischen Betrachtung, wonach die kapitalis-
tische Vroduktion eine besondere historisch bestimmte Form der Aus-
beutung der Produzenten und tier Am'i[;nung des Mehr[)rodukles ist,
und der Gesichtspunkt der ökonomischen Betrachtung, in deren Feld
die Erscheinungen des Verkehres und somit auch das eigentliche Wert-
probicm gehört Marx hat diese awd Gesichtspunkte, wie gesagt, nie
klar auseinandergehalten. Dazu kam bei ihm noch ein dritter Gesichts-
punkt, welcher in der mechanisch-naturalistischen Auf&ssung
der Wertsubstanz gipfelte. Diese Auffassung schafft ein angeblich
obfektives Fundament des Wertes. Diese Objektivität spottet aber jedw
Erfassung und zerrinnt bei näherem Zusehen in subjektive Momente.
Dafs der IJcgritV der gesellschafdich-notwcndigen Arbeitszeit auf dem
gesellschaftlichen Bedürfnis ruht, ist von Marx selbst sehr stark betont
worden. Noch wichtiger ist es aber, dafs die wirkliche Wertschätzung
der verschiedenen Arbeitsarten in der Gesellschaft sich nicht auf den
objektiven Unterschied des resp. Arbeitsaufwandes, sondern auf die so-
ziale Gebrauchswertschätzung gründet — die Reduktion der qualifizierten
Arbeit auf die einfache, von welcher Mni\ ii det, setzt sich in Wirklich-
keit in gesellschaftlichen Werturteilen durch, welche qualitative Unter-
schiede berücksichtigen. Mit anderen Worten: es giebt keine objektive
W e r t s u bs t a n z, deren (Juanta völlig vergleichbar und mefsbar wären.
Objektivität kann dem Werte nur insofern zugesprochen werden, als
man die Objektivierung der Wertschätzung in geseUschaltlichen Wert-
urteilen, sc. in den Preiserscheinungen den subjektiven Werturteilen ent-
gegensetzt Aber das Objektive flieist hier in letzter Instanz aus dm
Subjektiven und kann audi nur aus ihm deduziert werden.
Marx erkannte die sozialpsychische Natur des Wertes an, denn er
definierte ihn als ein „gesellschaftliches Verliältnis" von Menschen.
Gleichzeitig hat er, auf seinem Begriffe der Wertsubstanz •) fufseud, die
*) Die nadistehenden AufähraDgen enthalten ia gedrüngter FaHung eine kri-
tiKbe Attteinandenetang mit der Maruchen Werttheorie, die Ich Ia Form einer
besonderen Abbandlnng in nicht alba femer Zeit der Oeffentlidikeit abergeben werde.
*) Der Widerspruch der sozialpsychologischcü Auffassung des VVertbegriffes als
Re 1 a t i o n sbegriffes, und der inccbanisch-matcrialistischen Auffassung derselben als
Subst:inzbegrilTcs zieht sicli durch das ganze ökonomische System von Marx.
Archiv für so». GeHcUgcbung u. Statistik. XIV. 47
LiUciatnr.
Kostenwerttheorie in einer extrem-objektivistischen, mechanisch-naturalis-
tttcben Ausgestaltung, als Afbeitswerttheorie, Torgetngen lud den sono»
logiidiefi Gesichbq>aDkt mit dem ökooomischen venneDgt. Was diese
Vermengung bedeutet, dürfte aus folgenden Ueberlegungen klar werden.
Das Marxscbe sogen. „Arbeitswertgesetz" gilt auch in der kapitalistischen
Gesfllschaft nur für das ganze gesellsi haftliclie Produkt und nur flir den
ganzen Mehrwert. Dieser Mehrwert würde aueh ohne die einzelnen
Warenwerte existieren : er ist völlig von den Erscheinungen des Ver-
kehres imabliangig, er setzt nur Mehrarbeit und Aneignung des Pro-
duktes durch Ni^tproduaenten (Ausbeuter) voiaus. Dä& er Wert ge>
nannt wird, stiftet gar kein reales VetblUtnia awischen ihm und den
wirklichen Warenwerten. Da& das gesamte gesdlschaftliche Produkt
nur Arbeitsprodukt ist, kann aber nur etwa so verstanden werden. Da
dieses Produkt — als eine [physische Masse von Gebrauchsgütem — offen-
bar keine Sch(>pfung der menschlichen Arbeitskraft ist, so ist es aus-
schliefsliclies Produkt der Arl)cii nur in dem Sinne, dafs seine Schöpfung
der Arbeit sozial „zugerechnet"^) wird. Der Grund für diese
soziale „Zurechnung" liegt darin, dafs der Mensch als solcher, als phy-
nsch - geistiges Subjekt niur durch die Arbeit dieser oder jener Art an
der Schdpftmg der Güter mitwirkt. Man denke nur diese Mitwirktug
des Menschen hinweg, man denke sich den unmöglichen, aber als
exemi)lum fictum höchst lehrreichen Fall, dafs alle Produkte ohne
menschliches Zuthuii genufsfertig an ihn gelangen, dann scheidet das
ProUuktionsproblem völlig aus der Nationalökonomie aus, die letztere
verwandelt sich in eine reine Lehre von d e r An e i g n u n g. Wenn
die „freien" Güter in begrenzter Quantität da sein werden, so werden
«e, auch ohne Arbeitsprodukte au sein, einen Wert erhalten.
Ich habe dieses ausgeführt, um darsuthun, dafs <Ue Frage des „Arbeits-
wertes" sozusagen in dem Kreuzungspunkt des Produktions- und des
Aneignungsproblems ihre Stelle findet Der „Arbeitswert** steht mit dem
ökonomischen Wertprol)lem in einem viel komplizierteren Zusammenhang,
als es Marx angenommen hat, und dieser Zusammenhang fuhrt nicht an
dem Gebrauchswert vorbei, sondern über denselben. Der Wert ist an
seinen physischen Träger, das Produkt gebunden ; der Wert ist somit in
letzter Instanz immer Geturauchswert. Geschaffen wird das Produkt und
nicht der Wert Dafs aber die Schöpfung des gesellscbaftli<^en Pro-
duktes der Arbeit sozial zugerechnet wird, hat seinen guten Grund
vom Standpunkte des Produktioo^wozesses als menschlicher Tliiltig>
keit Es ist von Kritikern von Marx riditig darauf hii^;ewiesen worden.
'! Der Kuiiilijjo wird sofort erkennen, dafs der lirj^ritf .. Zurechnung"' Friedrich
von \\'ii-<(T ein'! lint i>t vs^l. dessen Werk ,,Der naturliche Wert", Wieti 18S9 S. Ojff.i.
Meine „Soziale Zurechnung" deckt sich mit dem, was er „moralische Zurechnung"
neDDt.
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Bernstein, Eduard, Die VoiBattctzongen dci Soiiatiimwi etc.
dafs die Arbeit der Tiere ganr. in dem gleichen Sinne wie die Arbeit
der Menschen Mehrprodukt schafft. Dafs aber die Menschen dieses Mehr-
produkt den Tieren nicht „zurechnen", hängt daran, dafs die Menschen
die Tiere „ausbeuten". Dementsprechend kann mit gutem Grunde ge-
sagt werden, dafs jede ,,Ausbeutiiog'' der Menschen durch die Menschen
(inklusive des Kapitalismus) darin besteht, dals die Mensdien von ihres-
gleichen als Tiere behandelt werden. Der Begriff der Ausbeutung hat
seinen Inhalt zunächst in der Aneignung von Gütern, an deren Produktion
(= Schöpfung) die ausgebeuteten Produktionsfaktoren (Menschen, Pferde,
Maschinen, Bodenkräfte u. s. w.) mitgewirkt haben. Der Inhalt dieses
Begriffes als einer sozialwirtschaftlichen Kategorie ist durch den Begriff
der sozialen Zurechnung gegeben. Ausbeutung im sozialen Smne liegt
überall vor, wo Nichtproduzenten auf Grui^ eines Herrschaftstitels Arbeits-
produkte sich aneignen. Nochmals: die ausgebeuteten Ikfenschen unter»
scheiden sidi als Arbeitskräfte in nichts von den ausgebeuteten Tieren.
Man soll mir nicht einwerfen, dafs diese Auffassung t^ethisch" ist: das
ethische Moment wird hier nicht vom Sul)jekte von aufsen her in die
Sache hineingetragen, es geht in den objektiven Thntbestand als sein
integrierender Teil ein. Wenn anders, wolle man mir erklaren, wodurch
sich die Ausbeutung eines Pferdes von der Ausbeutung eines Menschen
objektiv unterscheidet.
Aus dieser Auseinandersetzung ergiebt sich, dafs für die Theorie
der sozialen Ausbeutung der Begriff des Wertes nutzlos ist; die national-
ökonomische Theorie des Verkehres weifs aber auch nichts mit dem
reinen B^iffe des Arbeitswertes anzufangen. Diese letztere Theorie hat
von dem Begriffe des subjektiven Wertes auszugehen und seinen
objektiven (jestaltungcn nachzuspüren: sie hat also eine subjektivistische
Produktionskostcntiicorie zu sein. Dafs sie sich dabei auf die Lehre vom
Grenznutzen stützen mufs und beide Lehren ohne jeden W iderspruch
sich zu einem einheitlichen (nicht eklektischen) Ganzen zusammenlügen, be-
weisen die Schriften sowohl der Grenznutzentheoretiker als auch
ihres hervorragendsten G^ers Dietzel; nicht minder auch das öko-
nomische System des Engländers Marshall. Sofeme also Marx als
Produktionskosientheoretiker auftritt — und das thut er im III. Bande —
ist seine Theorie des Verkehrswertes sehr gut mit der (irenzntitzentheorie
zu vereinigen. Uas die reine .Arbeitswerttheorie von Mar.\ anbetrifft,
so ist sie die soziologisclie Lehre von der Ausbeutung, wfiche in na-
lionalükonomischer Verkleidung uufiriit und mit nationaiokonomischen
Begriffen arbeitet. Daft die Vereinigung der soziologischen und der
nationalökonomischen Betrachtung bei Marx gleichzeitig eine störende
Vennengung der Probleme war, lag an der methodologischen Unklarkeit,
mit welcher fast alle weitausschauenden bahnbrechenden System-
schöpfer ihre grofsen Leistungen erkaufen müssen. In der vereinigten
soziologisch-ökonomischen Erforschung der heutigen Wirtschaftsordnung
47*
730
Littermtor.
liegt meines Erachtens sowohl das gröfste \'erclienst und die wissen-
schaftliche Stärke von Marx, welche ihn zum grofsten Nationalokonoraen
der Neuzeit maclit, als auch die Quelle seiner einzelnen Irrtümer auf
dem Gebiete der politischen Oekonomic. Denn die nationalökonomische
Betxachtuo^ zieht bei Maxx Uberall den kttneren, wo sie mit der sozio-
logischen in Konkurrenz tritt Als Beispiel kann die soziol(^isch tief-
sinnige, nationaUjkonomisch aber zuweilen geradezu irrcfilhrendc Ein-
teilung des Kapitals in den konstanten und den variablen Teil dienen.
Die Verkniipfung zwischen der soziologischen l.ehrc von der Aus-
beutung und der nationalökononiischen Theorie des Verkehres und des
Wertes hegt darin, d;tfs die cr>tere der letzteren ihr soziologisches Apriori
liefert: denn das Privateigentum, die V'ertragsfreiheit und die trcic Kon-
kurrenz, weldte die rechtlichen Prinzipien des Systems der kapitalisttschen
Ausbeutung bilden, sind ja die. sozialen Prämissen der modernen
Verkehrswirtschaft.
Die oben in groisen Zügen vorgetragene kritische Auffassung des
ökonomischen Systems von Karl Marx wird vielleicht von Kautsky al?.
„eklektisch", von Diehl als „Malbheit" abgefertigt werden. Durch xjlche
Bezeichnungen wird aber an sich liber den sai hliciien Wert der in lie-
tracht konunenden Auffassungen wenig ausgesagt. „Kklekiik" .sollte eigent-
• lieh nur eine schlechte Auswahl heifsen. Lud was die „Halbheit"
betrifft, warum nicht die Hälfte nehmen, wenn eben nur die Hälfte der
Wissenschaft frommt? Von der Auffassung Sombarts, des bahnbrechenden
Mandcritikers, scheidet sich die meinige scharf dadurch, dafs sie von
vornherein bewufst darauf verzichtet, dem Marxschen (ledankenbau eine
widerspruchslose Deutung zu geben, Sic geht vielmehr darauf aus, in
ihm das reiche S[)iel verschiedener Denkmotixe und Denkrichtun;;en blofs-
zulegen. W idersprüche sollen da nicht nur niclu aus dem System we^-
geschaflt, sondern im (iegeuteil in ihrer i)sychologischcn Notwendigkeil
und logischen Bedingtheit aufgezeigt werden. Nachdem dies geschehen,
kann die Kritik den einzelnen Denkmotiven ihre Geltungsgebiete
zuweisen. Hierin besteht ja die eigenste Aufgabe der erkenntnistheöre-
tischen Kritik jeder wissenschaftlichen Leisttmg.
Die Bemsteinsche Kritik der Zusammenbrut hstheorie beantwortet
Kautsky mit der Behauptung, dafs es eine soK ho l lieorie als mafs-
gebcnde l.elnineinung der Sozialdemokratie überhaupt nicht gebe. Wii
könnten diese etwas sonderbar aiunuteiule ' i Behauptung mir lebhaft als
eine Absage vom cntwicklungsgebchichllichen Utopismus begrülsen, wurde
*) In idnem Artikel im VMivSris (Nr. 235 vom 7. Oktober 1899, Ein Wort
der Abwelir") bilt Bernstein dem entgegen: „Ich habe «e (die Zusammenbrucbs-
tbeorie) im Züricher Sozialdemokrat, ich weifs nicht, wie oft, vcrtnlea". Vgl. R.
Luxemburg, Sozialreform oder Revolution? S. 56: „Da ... der Zusammenbruch der
borgerlichen Gesellschaft «n Eckstein des wissenschaftlichen Sozinlismus isf * u.s.w.
Digitized by
Bernstein, Eduard, Die VonuMctningen des Soxialitmas etc. jrjl
sie nur lialbwegs rirlit;^^ sein. Leider aber steht Kautsky selbst unter
dem Hanne der Zus;iiunieubruchsthcorie, die er für nicht existierend er-
klärt, die aber das ureigenste Wesen des orthodoxen Marxismus ausmacht.
Denn sonst wäre die ganze zuweilen erbitterte Polemik gegen Bernstein
unverständlich. „Die Triebkraft aller Entwicklung ist der Kampf
der Gegensätze" — sagt Kautsky (1. c. 33). Wozu kann aber der fort-
schreitend sich zuspitzende (das ist ja die Pointe der Widerspruchs*
formel!) Kampf «1er (iegcnsat/c fiiliren? Zur „Aufhebung" dieser Gegen-
sätze. Ich meine nämlich : wenn man die l'oteii/.ierunji der Gegensätze
und die ,..\ufhel)un<^" der auf die Spit/e getriebenen Gegensätze als all-
gemeines Schema der gescUsciiafilichen fclntwicklung im einzelnen und
im Ganzen annhnmt, so folgt daraus ganz logisch die — Zusammen»
bruchstheorie.
Die Frage, ob die Zahl der ,3esi(zenden" im Fortgange der kapi-
talistischen Entwicklung anwachse oder .1 u 'ime, wurde von Anfang an
von Bernstein ohne nähere Präzisierung des licgritTes „Besitzende" ge-
stellt, woraus Mifsvcrständnisse und eine völlig unfruc htl)are Polemik er-
wachsen i^t. \'om Standpunkte des Sozialismus ist e> meines Krachtens
einzig und allein wichtig, ob die Besitzer von Produktionsmitteln
im Fortgange der Entwicklung einen immer kleineren Bruchteil der Ge»
sellscbaft ausmachen. Dies ist aber in der kapitalistisdien Gesellschaft
eine ausgemachte Sache. Die allgemeine Hebung der Lebenshaltung steht
mit dieser Thatsache nicht nur nicht im Widerspruche, sondern hängt
von ihr wesentlicli ab, denn dir Konzentration der Produktionsmittel
als Eigentum ist gleichzeitig au« Ii tlie Konzentration dieser Produktions-
mittel als solcher und schliefst m >-h \\ sowohl das W'achstinn der gesell-
scliaftliclieu Produktix kraft als au« Ii die Bedingungen eines erfolgreic hen
Kla.ssenkampfes cm. Auf diesen beiden Momenten beruht aber letztlich
auch die Erhöhung der Lebenshaltung der breiten Massen. Bernstein hat
den Wohlstand und den Besitz von Produktionanitteln nicht auseinander-
gehalten. Kautsky hat vollständig Recht, wenn er ihm diese {Hrinzipielle
Unklarheit zum N'orwurfe macht, und hier ist seme Kritik ~ oligleich
sie auch m'cht scharf genug das punctum saliens der ganzen Frage her-
vorhebt — treftend und unwiderlegbar S. 46 — 55 bei Hernstein, S. 80
bis 98 bei Kantskv . Dafs in der Landwirtschaft im altuemeirien keine
^'er^linderung tler Zahl der Besitzer von Produklionsmilleln und kein
Siegeslauf der grufsen Unternehmung vor sich geht — ist eine Sache
fltr sich. Auf diesem Gebiete hat Kautsky meines Erachtens in seiner
„Agrarfrage" vielfach zu gezwungenen Interpretationen Zuflucht genonomen.
Aber soweit es sich um die Industrie handelt, hat die soziale Wirklich-
keit der Marxschen Ansicht Recht gegeben.
Die ..Verelenilungstheoric'*, welche Bernstein entsc hietlen verwirft, wird
von Kautsky in ihrei relativi>tisclien Fassung mit grofsem Nachdruck auf-
rechtgchaltcn. Kr schliefst sich darin Marx und noch mehr Kodbertus, den
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732
LHteratur.
er auch anführt, an. Kr sajrt dabei viel Richtifres (z. B., dafs die Zähigkeit
des Kleinbetriebes vielfach eine (Quelle der Verelendung bilde), aber die
Hauptthese: „der Anteil des Arbeiters an der von ihm geschaffenen
Produktenmenge nimmt ab" (S. 128) diese Haupthese hat er nicht be-
wiesen. Man ktonte den Beweis für erbracht halten, wenn jemand be-
weisen könnte» daft die „industriette Reservearmee" oder die relative
Uebervölkerang" wirklich im Fortgänge der kapitalistischen Entwicklnng
relativ gewachsen ist unri notwendig waclisen mufste. Ich glaube aber,
daft es jedenfalls viel U iiliter ist, das Gegenteil dieser These 7U be-
weisen. Auch mit der riiatsache des fallenden Profites müfste sich
jeder, der die Frage zu einem klaren Entscheid bringen will, kritisch
auseinandersetzen. Denn die von Marx gegebene Erklärung dieser That-
sache (»Gesetc des tendentiellen Falls der Fkofitrate'S Das Kapital III, i,
S. 19 1 — 350) ist erstens imaginär und zweitens hat sie mit der Frage
der Aufteilung des jährlichen Nationalproduktes begrifflich nichts zu
schaffen.
Das Hau])targument für die Annahme der „sozialen Verelendung"
sieht Kautsky in der Zunahme der Kinder- und Frauenarl>eit. Es würde
mich zu weit führen diese .Ansicht mit nötia;er .Ausführlirhkeit zu be-
spreclien. Was Kautsky über die Frauenarbeit sagt ') erinnert lebhaft
an die klerikalen Angriffe und Deklamationen gegen sie. Als ich
Kautsky las, glaubte ich den wackeren Decurtins auf dem Züricher Kon-
grefs von 1897 zu hören. Die Frauenarbeit führt zu grolsen Uebel*
ständen, aber es ist keineswegs ausgeschlossen, dals diese Uebelstände
durch soziale Reformen behoben werden können. Bishin ist die
Sozialdemokratie immer für die Frauenarbeit an sirli eini^etreten. Es
wäre dies viillit: •sinnlos, wenn die Ausbreitung; der Frauenarbeit an sich
und für immer ein nutwendiges Moment der Verelendung der Arbeiter*
*) ,.Die Zttnnmhme der Frmuenarbeit ist da lidwicr Ani^er der Zamlmie
des Elends. Aas ihm ciitq>rocsen, eneeugt sie neues Elend. Dean die kapitalistische
Gesellschaft bildet keine höheren Fonnen des Haashalts, dordi die der Eiaselhans*
halt eisctst wtrde. IK« Lohnatbeit der Fnn führt su Ihrer eigenen Abtackemng,
da zur .Xrbcit (\es Haushalts Lohnarbeit sich gesellt, zur Verkümmerung des prala'
tarischen Haushalts, tut Vrrwahrl<isu'ip der proletarischen Jugend, zur Begünstigung
des Wirtshausbcsuclis. /.ur W-rf^fudung an Material aller Art durch die uberbürdete,
zu den Geschäften der Hauswirtschaft nicht cr/ojjenc, des Kochens und Nähens un-
kundige Lohnarbeiterin. Was nfttzt dem Lohnarbeiter das Steigen der Lohne, dos
Siniten der Getreidepreise, wenn seine Frau nicht mdir versteht, ans dem Mehle in
sparsamer Weise wohlschmeckende, nahrhafte Gerichte ss bereiten! Was ntttst ihm
das Sinken des Preises von KleidnngsstOckeo, wenn seine Fran die abgetragenen
nicht flicken kann, so dafs er jetzt doppelt so viel anschaffen roufs, wie ehedem!
WMe leicht führt die Lohnarbeit der Fran m physischem, nicht blois socialem Elend!'*
(t. c. 124).
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Bernstein, Ednard, Die VbraaneUnngen des Sodalismus etc.
kla<?se wäre. Die Thatsachen berechtigen Kautsky nur zu sagen: die
Frauenarbeit, soweit sie lohnsenkend wirkt resp. wirkte, trägt resp. trug
dazu bei, den Ausbeutungsgrad zu steigern. Ob entgegengesetzte Ten-
denzen diese nachteilige Wirkung der Frauenarbeit nicht überwiegen,
ist bei Weitem nicht bewiesen. Wenn man aber sagt, daft die Fmien-
arbeif in der kapitalistischen Gesdlschaft ein Moment der fortschrdtenden
Verdendmig ist, in der sozialistischen ab» eine Forderung der Kultur
und der Gleichberechtigung sein wird, so sehe ich keinen Grund, warum
man bis zur ..Einführung" des Sozialismus diese Quelle der Verelendung
nicht verstojiten soll. Würde ich die Auffassung Kautskys von der
Frauenarbeit teilen, so würde ich auch die praktischen Vorschlage der
katholischen Sozialpolitiker inbezug auf sie acceptieren . . . Uebrigens ist
es tmbewiesen, dafs die wachsende Teilnahme der Frauen an der Er-
werbsarbeit dme weiteres die Steigerung des Ausbeutungsgrades bedeute:
es müssen auch speziell bestimmte Entwicklungstendenzen der
wichtigsten Momente dieser Erscheinung, der Arl)eitszeit und des Arbeits-
lohnes, festgestellt werden. Es ist aber überhaupt schwer einen Vergleich
zwischen der vorkapitalistischen und der kapitalistischen Zeit in dieser
Beziehung durchzuführen, denn als Massenerscheinung ist die Frauenarbeit
eine Signatur des Kapitalismus. Infolge der Benützung der Frauenarbeit
hat sich auch die Gesamtmasse der gesellschaftlichen Arbeit verändert,
und wenn man auf die niedrigeren Arbeitslöhne der Frauen hinweist, so
ist auch die geringe bitensität und Produktivität der Frauenarbeit mit zu
berücksichtigen. Wenn auch die Zuziehung der Frauen zur gewerblichen
Arbeit bis jetzt die Masse des sozialen Elends vermehrt haben sollte,
so geht daraus keineswegs hervor, dafs man diese Wirkung für eine
immanente d. h. unwandelbare Tendenz der kapitalistischen Fintwicklung
halten darf. Der Sinn der „Verelendungstheorie"' geht al>cr dahin, eine
solche Tendenz festzustellen. Um die Tendenz — ob Verelendung oder
allmähliches, aber sicheres wirtschaftliches Aufsteigen — wird ja der Streit
geführt Ich sage: wirtschaftliches Aufsteigen, denn an dem politischen
Aufsteigen der Arbeiterkhisse zweifelt auch Kautsky nicht
Wie vorsichtig übrigens bei der statistischen Begründung so allge-
meiner Hehauptungen zu verfahren ist. /ciut eine eingehendere Betrachtung
der Statistik der Frauenarbeit. Natürlich beruft sich Kautsky auf Deutsch-
land, wo die Zunahme der Frauenarbeit von 1882 bis 1895 eine aufser-
ordentli':h grofse war. Er führt auch eine Tabelle der prozentualen
Vertretung der weiblichen Lohnarbeiter in den einzelnen Gewerbegruppen
an. Er geht aber gar niclit auf den Sinn dieser Tabelle ein, sondern
bietet dem Leser einfoch die oben von mir citierte Charakteristik der
verderblichen Wirkung der Frauenarbeit Relativ besonders grofs und ab-
solut sehr ansehnlich ist die Zunahme der weiblichen Arbeiter im Handels-
gevvcrbe einschliefslich Gast- und .Schankwirtschaft (ca. 360000 = 178" ,,).
Aber „gerade im Handelsgewerbe spielen unter den Arbeiterinnen die
Digitizoü by C3t.)0^lc
734
Lhtcntor.
mitarbeitenden Fainilicnaugeliörigen eine nicht unerhebliche Rolle, liier
arbeite;!! die weiblichen Mitglieder der Familie in stärkerem Maise im
Geschäfte des Haushaltungsvorstandes mit als in der Industrie, und sind
hinwiederum in Handel und Industrie in stärkerem Malse mitthätig als
die männlichen Familienangehörigen . . . Die meisten von diesen Familien«
angehörigcn, die im Geschäfte des Haushaltungsvorstandes mitarbeiten,
ohne eifjentliclie Gewcrbsgehilfen zu sein, sind also weibliclien Cicschlcclites,
nämlich 89,6",,. Sie sind in dir IVbiT/;)!)! hei Kleinbetrieben nüt-
thätig . . . Es handelt sich... vornchniiit ii um weibliche Faniilienange-
hörige, die in der Ga^t- und Schankwirtbchaft, im Gescliäftsladen (be>
sonders fOi Kolonial«, £fi^ und Trinkwaren), sowie im Bäcker« und
Fleischergeschäft des Familienhauptes mithelfen" Die von Kautsky so
absolut hingestellte Ausl^ung der Zunahme der Frauenarbeit im Sinne
der Verelendungstheoric mufs also mit einer gehürigwi Portion Salz auf«
genommen werden, üeberhaupt ist die Hntwicklun^j gar nicht so ein-
förmig und eindeutig, wie sie sich im Schema der \'erelendungstlienrie
ausnimmt. In lien X'ereinigten Staaten 7.. K. hat die Zahl der weiblichen
Arbeitskralle in den gewerblichen Lntcrneliraungen i^mauul'acturing eslab-
lislimcDts) im Zeitraum 1850—1890 relativ, die Zalü der Kinder (im
Zeitraum 1870*) — 1890 nicht nur relativ sondern auch absolut abge-
nommen. Diese Abnahme ist in erster Linie auf den gesetzlichen
Kinderschutz zurückzuführen. Die Tendenz der Entwicklung falst der
berühmte Statistiker (' a r r o 1 D. \V r i g t h folgenderweise zusammen :
„As women have ])rogressed froni entire want of einployinent to
emi)loynient, which i>ays a tew dollars per weck, men, too. hnve progres-
sed in their employments and occupied entirely new fields not knowu
before. So the facts certainly indicate tliat women, instead of crow«
ding upon th^ men to as great an extent as is generally supposed, are
rapidly taking the pku»5 of boys and girls and doing the work, * which
they formerly did in our factories. The constantly encreasing propoition
of men indicates thes, but supplemented by the constantly decreasing
tuim!)er of children, the fact ])er()mes api)arcnl'' (Tlie industrial evolution
oft the l'uited States. New-\ork 1.S95, S. 2 11- -21 2).
Ikveichncnd tur den Standpunkt Kautskys sind die Auslühiungen über
„Politik und üekonumie". Er polemisiert gegen AN ollmann, welcher erklürt
hat : ,,Die Arbeiterklasse kann politische Rechte und Einflüsse nicht erringen
ohne wirtschaftliche Organisation". „Ohne ökonomische Macht gelangen wir
nicht SU poliUschen Rechten und ohne politische Rechte nicht zu ökono«
mischer Macht" — dieser ,,Zwickmtthle zu entrinnen*' giebt es nach
') Hauptergebnisse der gcwcrlilichcii Iktricbszählung vom I4. Juni 1895.
Vicrtcljuhrslu-ftc zur Stutlstik des iJeutschcn Reichs. Ilerauftg. vom Kais. Stat. Amte.
Jahrg. 1898. Ergänzung zum ersten Heft. S. 15*— l6*.
In diesem Jahre crfoigle die erste bezügliche AufDahme.
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Bernstein, Eduard, Die VoramBeUmigen des Somlismus etc.
Kautsky „ein höchst einfaches Mittel : man l)raucht blofs die Vervverhs-
luni^ von (')k()nomischer Macht und ökonomischer ( > i g a n i s a t i o n zu
beseitigen, auf der das gan/;e Raisonnement Wohuiann beruht. 15es;ifse
das Proletariat nicht ökonomische Macht, so könnte es sicherlich nicht
politische Rechte eningen. Die Grundlage seiner ökononnschen Macht
ist aber die Rotte, die es im Produktionsprozefs spielt, und diese
hängt nicht vom Gutdünken der Regierung ab . . . Das ist der Macht»
titel , auf Grund dessen die ArbeiterkLisse vom Staate politische Rechte
fordert , auf Grund dessen sie aucli si hon poUtische Rechte erlangt hat
und weiterhin erlangen wird. Dafs sie aber diese jjolitischen Rechte
anwendet, um sich eine Organisation zu geben und ihre Macht dadurch
noch weiterhin /.u vermehren, das ist ganz selbstverständlich... Aber
die grundlegende ökonomische Macht des Proletariats
ist jene, die selbstthätig durch die ökonomische £nt-
wickelung geschaffen wird. Und die höchste Form des Klassen»
kampfes, die allen anderen ihren Stempel aufilrückt, ist nicht der Kampf
einzelner ökbnoraischer Organisationen, sondern der Kampf der Gesamt-
heit des Proletariats um die mächtigste der gesellschaftlichen Organisa-
tionen den Staat, das ist also der politis*!ie Kampf. Er ist der in
letzter Linie entscheidende" (162 — 163). l)iescs Raisonnement Kautskys
scheint mir theoretisch unhaltbar zu sein. Allen unmittelbaren Prudu-
zenten, Sklaven oder Freien, kommt eine elementare ökonomische Macht
zu. Als man die Negersklaven in Westindien emanzipierte und sie so
in den Stand setzte, ihrem eigenen Willen zu gehorchen, brach die
Plantagenwirtschaft z. Teil zusammen. Die selbstthätig aus der Oekono-
mie hervorgehende Maclit der unmittelbaren Produzenten konnte nicht
besser dokumentiert werden. Nicht um diese Macht handelt es sich bei
der Sozi.ilisieruiig der Gescllsclialt , sondi-rn um die organisatorische
Maciit, die nur allmählich auf dem lioden der wirtsciialilichen Organisa-
tionen und Institutionen gewonnen werden kann. Ohne diese Macht
wird jede politische Aktion machtlos der kapitalistischen Gesellschafts-
ordnung gegenüberstehen. Diese mufs von verschiedenen Punkten aus
mit wirtschaftlichen Waffen angegriffen werden. Der Staat ist in ebem
nur formalen Sinne „die »nächtigste der gesellschaftlichen Organisa-
tionen wie ihti Kautsky nennt. Fa kann und wird nur das l azit aus
der inneren l eheiwuidung des Kapitalismus ziehen. Die hyperpolitische
Auffassung des sozialistischen Problems — wie sie Kautsky vertritt —
tiberschätzt mafslos die Macht der politischen Aktion. Die politische
Aktion der staatlichen Zentralgewalt kann nur soviel wirkliche Kraft ent-
falten, als dies in den realen zentraltstischen Tendenzen der Sozialwirt-
schaft begründet ist. Man kann z. B. meinetw^en sofort sämtliche
Apotheken Deutschlanes verstaatlichen, al)er die WrstaatUchong des ge-
samten Zwisc henhandels für möglich zu halten und ZU versuchen wäre
Utopisinus der allerschlechtestcn Sorte.
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736
Litteimtar.
In dicsein l'iinkte ist Hernstein Kaiitsky unendlich überleiten. Diehl
hat ihm allerdings vcrarj^t, dafs i s über die Unmü^jlirhkeit einer ein-
fachen Uebernahnie der Produktion durch den Staat oder die Kommune
nicht viel Worte verloren hat. „Marx würde zweifellos eine ökono-
mische Organisation, wie sie Bernstein Tonchwebt, von unten auf, also
durch allmählichen Aufbau von genossenschaftlichen Bildungen, bis suletzt
die ganze Industrie und Landwirtschaft sozialisiert sd, weit von sich
gewiesen haben" (Diehl 1. c. 114). Sehr möglich, aber was beweist dies
Oregon die realistische Auffassimp: von Bernstein? Bernstein überschätzt
vielleicht die (ienossenschaft und ihre sozialistische Mission, aber er hat
jedenfalls imbedingt Recht, wenn er den (ledanken, man könnte die
sozialistische Wirtschaftsordnung durch politische Akte in die Welt setzen,
als unhaltbar keiner eingehenden Diskusston würdigt.
• Die ,,antii>arlamentarischen Kommunisten", welche der politischen
Aktion Jede Bedeutung absprechen, und die hyperpolitischen Marxisten,
welche in dieser Aktion das „Entscheidende" sehen, geraten beide auf
Irrwege. Was das „Entscheidende" ist, darüber kann vom Standpunkte
der materialistischen ( '»esc liit htsanffnssunfj nicht gestritten werden. Es ist
dies die reale ökonomische Macht, welche organisiert ist und organisieren
kann. Sobald die formalen Probleme der Demokratie leidlich gelöst
sind, wird sofort klar, dafs in der Erlangung dieser Macht das Ent-
scheidende li^.
Kautsky nimmt den höchst zweifelhaften Gedanken von Marx, dals
wirldiche soziale Fortschritte („Revolution*') nur in den Perioden der
Krisen möglich seien, auf und erklärt das AuAreten Bernsteins „materia*
listisch" aus der ökonomischen Situation des Momentes, deren Signattur
wirtschaftlicher Aufschwunj: und allceraeine Prosperität ist. ..In dicker
Situation lies^t /um Teil die Stärke des Bernsteinschen Hurhes. Seine
Betonung der praktischen okonomi.schen Kleinarbeit entspricht einem
thatsachlich vorhandenen Bedürfnis; seine Zweifel an der Wahrschein-
lichkeit grofser und rasch eintretender politischer Veitnderungen
Katastrophen — entspricht den Erfahrungen der letzten Jahre. Den
Praktikern aber, die das Bemstelnsche Buch lesen, sind seine Theorieen
sehr gleichgültig, sie interessieren nur seine Ausführungen über Aufgaben
und Bedingimgen der Gegenwart. Jedoch gerade darin, dafs Bernsteins
Buch einer besonderen Situation entspricht, liegt auch seine Schwäche,
denn es will nicht von den \'oraussetzun^en unserer nächsten Fort-
schritte handeln , sondern von den „Voraus.sctzungen des Sozialismus",
nicht von den Aufgaljcn des heutigen Tages, sondern von „den Aufgaben
der Sozialdemokratie" Im allgemeinen". (S. 165.)
Dieses Raisonnement fu&t, m. £., ganz auf dem theoretisch un«
haltbaren Begriffe der sozialen Revolution (siehe meine Abhandlung im
vorliegenden Band). Wenn es wahr ist, dafs wir einer alluemeinen und
vehementen Wirtschaftskrise entgegengehen, so darf man dieser beian-
Digiti/Oü by Cjt.)0^lc
Bernstein, Edoftrd, Die VomuseUungen de« Soaalitma« etc.
brechenden Krise doch nicht mit alhsugrofser Begeisterung entgegensehen.
Sie wird im besten Falle soviel sozialistische Energie auslösen , als die
vorangehende Periode der Prosperität akkumuliert hat. Man soll aber .
nicht vergessen, dafs eine ernste Krise die Arbeiter wirtschaftlich schwächen
wird, und dadurch kann sie nicht nur ihre Angriflfs- sondern auch ihre
VN lUeibtandskraft brechen.
Diehl hat Bernstein zu der süddeutschen Volkspartei abkommandiert
Die Schrift Kautskys gegen Bernstein spitzt sich zu der Anklage zu,
Bernstein wolle die Sozialdemokratie mit HQfe opportunistischer Ideen
2» einer Volkspartei, in der „die KUssenmteressen der Bauernschaft und
des Kleinbürgertumes mafsgebenden Einflufs haben" (179) verdünnen.
Es scheint mir dies gar nicht erwiesen zu sein. Erstens dürfte Bern-
stein wohl klar sehen, dafs in einem Staate, welcher wie Deutschland
ein so ausgeprägter „Industriestaat" zu werden strel)t , eine wirkliche
Volkspartei von den Interessen der industriellen Arbeiterschaft beiierrscht
werden mufs. Und, zweitem^ wenn Bernstein eine neue Taktik wirklich
vorschlägt, 1) 'so behält diese Taktik vollständig ihren Sinn, auch wenn
eine völlig geschlossene Proletarierpartei vorausgesetzt
wird. „Organisiert sich das Proletariat als selbständige Partei, die be-
wuist den Klassenkampf kämpft, dann mufs die Aufhebung des Privat-
eigentums an den kapitalistischen Produktionsmitteln und die Aufhebung
der ka])italistischen Privatproduktion ihr Ziel werden , sie nmfs den So-
zialismus nicht als Vollendung, sondern als Ueberwindung des Liberalis-
mus zu ihrem Panier machen, sie kaim uiciit eine Partei sein, die sich auf
demokratisch-sozialistische Reformen beschränkt, sie mufs
eme Partei der sozialen Revolution werden" — sagt mit Emphase
Kautsky(S. 181). Dieser SaU enthält das oben so ausführlich behandelte
Mi&versländnis. Wir fassen die Sache anders auf und würden dement-
sprechend sagen : Die Sozialdemokratie setzt sich als Endziel die „so-
ziale Revolution" und erkämpft dieses F.ndziel durch demokratisch-sozia-
listische Reformen ^ (vgl. meine obige Abhandlung).
') Diese I-'ragc la>se ich dahingestellt. Es ist auf sie meines Erachtens keine
eindeatige Antwort möglich. AndreneiU fahle ich mich gnr nicht benifen, ttber
taktiiche Fngea der devtichen Sorisldenmkmtie ahcmirteilea.
") „Zweierlei mufs ein proletariiches Regnne überall anstreben: Einmal
die Aafhebnng des privaten Charakters der grofsen kapitalisti-
schen Monopole und dann die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die
Aufhebung der industriellen Reservearmee. Dnmit nher trifft es die
kapitalistische Produktionsweise ins Herz. Ohne monopolistischf n Untcrnclimcr-
vcrbarul und ohne Arbeitslose, «lic bereit sind, die Stellen Streikender einzunehmen,
wird <iie Stellung des organisierten Proletariats gegenüber den Kapitaliiten über-
machtig. Wenn diese heote schon Ober den Tenorismns des Froletarinti klagen,
so ist dM eine alberne Redensart Dagegen mulii ihm die Diktator in der Fabrik
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738
LiUeratiir.
In seinen Schlufszcilen tritt Kautsky Re/^en „gnnulioses Verkleinern
der politischen Fähigkeiten'' des Proletariats auf und warnt davor, dal's
„nicht die nüchterne Alltäglichkeit den Idealismus überwuchert, dafs nicht
das Bewufstsein der grolsen historischen Aufgaben verloren gdi^ die dem
Proletariat gestellt smd'' (195).
Ich bin der letzte die Berechtigung dieser Stimmung und dieser
Mahnung zu bestreiten. Das politische Problctii besteht aber nicht nur
darin , ideale /.werke aufzustellen . sondern aucli ihnen die Macht der
.,nu( htcrneii Alltä<;lirhkeii" dienstbar zu machen. Hii-i/u bedarf es aber
klarer Einsicht in ilie realen Zusammenhänge des sozialen Lebens. Und
um klar ZU sehen, thut vor allem Eines not: kritische Rücksicht s-
losigkeit, die auch vor dem „Verkleinem" und selbst vor dem Auf*
räumen mit imaginären Gröfsen nicht zurückschrickt. Dieses Recht der
freien Forschung soll grundsätzlich auch an den Grundsätzen
der Partei, soweit sie wissenschaftliche Erkenntnisse sind oder zu sein
beanspruchen, keine Scliraiike finden.
Die einpanLjs dieser lioiircrhunp an^^cführte von Kautsky her-
rührende Charakteristik des Auftretens ['»ernsteins ist richtig in dem
Sinne, dafs Bern.siein einzelne Lehrsalze des Marxismus aufgegeben hat.
Dals er dies inkonsequent gethan hat, dafs er seme realistische Ansicbten
in dner Anwandlung von mi&verständlichem Idealismus ihrer besten
Stütze — der materialistischen GeschichtsauJÜusung — beraubt hat, hat
seine Stellung in der Polemik ungemein erschwert Und dennoch hat
er sich in dieser im allgemeinen seinen Gegnern überlegen gezeigt.
Die scharfe Logik Kautsk)s ist durch seinen Hogmatismus in entschei-
denden Punkten zur Unfruchtbarkeit verdammt worden, der — trotz
seiner Nüchternheit — als Theoretiker höchst unklare, im Vergleich
zu Kautsky wenig disziplinierte liernsiein hat dank seiner kritischen
Vorurteilslosigkeit neue Gesichtspunkte zu l äge gefördert oder wenigstens
solche, die stark vernachlässigt wurden, ins helle Licht gerückt. Dies
notwendigerweise zufBlIen, wenn es einmal die Hemcbaft im Stante «rlragt bat.
Die Lage der Kapitalisten, die nach der Verstaatlichung der Kartelle und Trusts
noch bleiben, mufs dann eine unerträgliche werden; f\c haben nnr noch das Risiko
ihres Betriehs zu tragen, ohiu- Innger seine Herren 7u sein Mit
anderen Worten: kapilaltsti'sche Troduklion und politische Herrschaft des Proletariats
sind nnvereiobar mit eioander." «Kautsky S. 180.^ la dieser Form leuchtet mir der
von Kantsky angenommene Thatbestand gar nwht ein. Kanlsky unterstdlt, dafs —
unter der Voranssetsung der politischen Herrschaft des Proletariates — das letstere
in allen wirtschaftlichen Kämpfen Sieger bleiben wird. Er vergifst nnr eine Klein^>
kcit — die wirtschaftliche Konjunktur. Diese unpersönliche Macht wird nach wie
vor beide Parteien — Kapitalisten und Arln iter — beherrschen , solange unorgani-
s^icrte l'rodiil.tinti für den Markt walten wird. Das okouombcbe Problem wird durch
die poluiiächc Lmwälzung nicht uliQc weiteres gelost.
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Hallgartea, R., Vie I^munale Bestencrung d. onverd. Wertsmradwes eic
gilt weit weniger für die Wissenschaft, als ein kollektives Ganze, als
für den sozialdemokratischen Gebrauch derselben. Dafs die Sozialdemo-
kratie in ilirer Personifizierung durch Bernstein eine ordentliche Anleihe
bei der ,, bürgerlichen" \\ issenschaft gemacht hat, ist weder eine Schande
noch ein Unglück. Hoffentlich wird es dazu beitragen, dafs die Phrase
von der „bürgerlichen Wissenschaft" ihre Herrschaft über die Geister
Tcrliert Das meiste hat übrigens Bernstein von den Fabiern und spe-
ziell von den Webbs ttbernommen.
St. Petersburg.
PETER VON STRU^'E.
Hallg a I t (■ ti , Robert. Dr. jur., Die kommunale Besfetterung des
unieraiintin WeitzWicachscs m England. (Müiirhencr X'olks-
wirtschaftliche Studie. 1 Icrausf;egcben \on Lujcj Bientatio
und Walther Lötz. 32. Stück.) Stuttgart 1899. J* ^•
Cottasche Buchhandlung Nachfolger.
Der Verfasser dieser verdienstlichen Krstlingsschrift j^eht davon aus,
dafs John Stuart Mill, der Schöpfer des Wortes „unearned iiurcuient",
in den Betrachtungen , die er dem unverdienten Wertzuwachse des
Grundeigentunaes widmete, zwei Lücken offen gelassen habe. Er habe
die Verschiedenheiten des städtischen und ländlichen Grundeigentumes
übersehen. Femer habe er versäumt , darauf hinzuweisen , dafs aufser
dem \Vachstume der Zahl und des Wohlstandes der Bevölkerung die
Vornahme aus kommunalen Mitteln unternommener städtischer Ver-
besserungsanlagen, wie Strafscner^veiterungen , Durc hbräche etc., ein
wesentliches F.lenrent der Wertsteigerungen des stadtischen (Jrund- und
Hauseigentunies bildet. Von den Mitteln, die in England als passend
befunden werden, den durch kommunale Vcrbesscrungsanlageu produ-
zierten unverdienten Wertzuwachs des städtischen Grund* und Hauseigen-
tumes fUr den kommunalen Finanzbedarf nutzbar zu machen , behandelt
Hallgarien auf Grund eines umfassenden, auf Amerika übergreifenden, ver-
ständnisvoll erläuterten und unparteiisch kritisierten Thatsachenmaterials
am ausführlichsten die sogenannte Bettermentabgabc d h. eine auf den-
jcni;^! n Teil des städtischen ( irund- und Hauseigentunies gelegte Abgabe,
der durch eine bestimmte kommunale \'erbcsserungs;mlage jeweils in seinem
Werte gehoben wird. Aufser der iluciaig gestreiften liaustellcnsteuer
wird auch das sogenannte Recouimient berührt. Es besteht darin, dais
die kommunale Behörde vor der Ausführung einer Anlage aufeer dem
Lande, das technisch fUr die betreffende Anlage benötigt wird, andere
Liegenschaften, von denen zu erwarten steht, dafs ihr Wert durch die
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740
Litteratv«
betreffende Anlage gesteigert werden wird, entweder freihändig oder
auf dein Wege des Enteignungsverfahrens zu dein Werte erwirbt , den
sie vor Inangriffnahme der betreffenden Anlage haben, und dann nach
Vollendtiag dieser Anlage zu den höchstmöglichen Ptetsen verkauft.
Die VorzOge der Hallgartenschen Schrift würden noch vermelut
worden sein, wenn ihr Verfasser das von ihm behandelte Thema im Zu-
sammenhange mit einem Clrundproblem der modernen englischen Stadt-
verwaltung behandelt hätte. Bis 7,u der im Jahre 1889 erfolgten Be-
gründung des Londoner Grafschaftsrates war man gewohnt, die Frage
nach der Stärke des englischen So/ialisiin!s' aufCirund von Beobaciitungen
des politischen Parteiiebens, der Gewcrksciialicn und Genossenschaften
zu beantworten. Zu diesen Beobaditungsfeldem ist seit der Begründung
des Londoner Gra6chaftsntes die englische Stadtverwaltung hinzugetreten
als eines der Gebiete, auf denen die Stärite sozialistischer Bestrebungen
in England erprobt wird. Hallgarten hat versäumt, der Frage nach-
zugehen, welche Aufklärungen die Entwicklung der kommunalen Be-
steuerung des unverdienten Wertzuwachses in England für die Bemessung
der Ausljreilung des Siv.ialismus' in England liefert. Uafs er die versäumte,
ist bedauerlich auch deshalb, weil seine Schrift manciien zur Losung
dieser Aufgabe brauchbaren Rohstoff enthält.
Das trifit schon für einen der ersten Abschnitte zu, in dem uns die
Fälle der Bettermentbesteuerung vor der Begründung des Londoner Graf-
schaftsrates vorgeführt werden. Unbewufst liefen nämlich hier Hallgarten
verschiedene Belege für den Satz, daf^ der Gedanke der Bettennent-
besteuerung in England nicht aus .sozial tleniokratischer Saat hervorging.
Wir können jene Revue der englischen l'räc eden/tälle der Better-
mentbesteuerung dahin resümieren, dafs eine Reihe von Gesetzen, die mit
den Bettermentgcsetzen der Zeit nach der Begründung des Londoner
Grafschaftsrates zwar nicht vollständig sich decken, aber sich mehr
mit ihnen berühren, in einer Zdt zustande kamen, in der individua-
listische Grundanschauungen unbestritten herrschten und die moderne
sozialdemokratische Bewegung Englands noch nicht in Flufs gekommen war.
Die Aehnlii hkeit der Zeit vor und nach der Renaissance der englischen
Sozialdemokratie, soweit die Bettermentbesteuerung in Erage kommt,
wurde uns noch klarer entgegentreten, wi-nn niclit Hailgarten irrtüm-
licherweise zwischen früheren und spateren i-ulleu der Betiernientbesteue-
rung neben thatsädilich esdstierenden und scharfsinnig herausgearbeiteten
Unterschieden auch manchmal Gegensätze sähe, die nicht vcnhanden sind.
Beispielsweise schaftt Hallgarten einen künstlichen Gegensatz zwischen
den die Bettermentsidee enthaltenden Bestininumgen der Wohnungs- und
Gesundheitsgesetzgebung aus den sechziger, siebziger Jahren und aus dem
Anfange der achtziger Jahre dieses Jahrhunderts einerseits , den Better-
mentgeset/en uml den Betterracniprojektcn des folgenden Dezenniums
andrerseits dadurch, dafs er von jenen Geset/eu der früheren Jahrzehnte
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Hallgftrten, R., Die kommuMle Bcatenemag d. unverd. Wertzuwachses etc. j^j
behaui)tet, es hahc sich bei ihnen nicht darum jjehandelt, den Wert von
(Irund- und Hausei<;entum zu steif^crn, sondern der inafsgcbcndc (jesichts«
punkt sei die Verbesserung der Wolmungsverhälmisse der unteren Klassen
oder die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse überhaupt gewesen.
m Hallgarten vergilst, hiniuzulügen , dafi auch bei der Vornahme der
Stralseoanlagen, für die zur Zeit des Londoner Grafschaftsrates eine
Bettermentbesteuerung erreicht oder verlangt wurde, keineswegs die
Hebung des Grund- und Hauswertcs der maJsgebende Gesichtspunkt
war, dafs es sich hier vielmehr in erster Linie um Anlajien für die F,r-
leichterunf,'^ des Strafsenverkehres iiandeUe. Dafs auch das Rccoupment
keine unter sozialdeniukratischein Drucke zustande pekonnnene Neuerung;
ist, hätte Hallgarten darthun können , wenn er statt aügemenier An-
detttUQgen über den Zeitpunkt der erstmaligen Anwendung des Recoup-
ment die Mitteilung gegeben hätte, dafs es bereits im Jahre 1877
mit Bewilligung des Parlaments in London durchgeführt wurde, also
in einer Zeit, in der im englischen Parlament eine fast völlig; reine in-
dividualistische Stimmung überwog imd keine englisclie Sozialdemokratie
vorlianden war. (Vgl. Report fromthe Select Committee of the Uouse of
Lords on Town bnpro\ cnients, 1894, (ju. 356.)
Selbst dann aber, wenn vor der Zeit der Begründung des Loiuloner
üralschaltsrates kein Fall von Bettermentbesteuerung vorgekommen und
selbst wenn das Recoupment erst nach der Begründung des Londoner
Graüwhaftsrates angekommen wäre, wäre es klar, dafs weder die Better-
mentbesteuerung noch das Recoupment einer koUektivistuchen Grund-
anschauung entsprangen. I'ast alles, was Hallgarten in seinem Schlufskapitel
über das Verhältnis der Bettermentbesteuerung zum unverdienten
Wertzuwachse sa;;t, erhält erliöhte He<leutung dadurch, dafs es den (Hauben
daran zerstört, die Bcwc^uhl; zu (Junsten der BetternR-ntbeslcuerung
sei eine Bewegung, die von prinzi[iieller Gegnerschaft gegen das Privat-
eigentum überhaupt ihren Ausgang nehme. Da(s sie eine solche Be-
wegung nicht ist, zeigt schon dies, dafe in den Bettermentgesetzen der
neunziger Jahre der Steuerfufs nur die Hälfte des veranlagten Wertzu-
wachses beträgt und nach den Wünschen für die Zukunft weiter gehender
Anhänger der Bettermentbesteuerung nur ^ 4 des W ertzuwachses betragen
soll. Zu demselben Resultat fiihrt eine Thatsache, die zugleich zeigt,
dafs auch bei einem Steuerfufse von 100",, die Bettermentbesteuerung
weite 'rolle des nicht auf perstjnlirhc .\ufu eiidun^en der Ki^'entünier
zurückzuführenden Wertzuwachses in privatem Ligeniuuie belassen wurde.
Kein einziger Anhänger der Bettermentbesteuerung in England denkt
daran, den in der Vergangenheit durch kommunale Anlagen geschaffenen
Wertzuwachs der Kommune wieder zuzuführen ; nicht um eine Revision
bestehender, sondern um eine Regulation zukünftiger Kigcntumsvcrhältnisse
handelt es sich. Noch eine andere Schranke bringt die Begrenzimg
des sozialistischen Charakters der Bettermentsteuer ztun Bewufstsein.
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742
LitteTatur.
Es handelt sich bei dieser Steuer keineswegs um die Besteuerung des
ganzen unverdienten W'ert/.uwaclises im Sinne John Stuart Milis, sondern
lediglici» um die Besteuerung einer Art des unverdienten Wertzuwachses,
nicht um die Besteuerung der durch das Waclistum der Zahl und des
Wohlstandes der Bevölkerung veruisacbten Wertmehning, sondern lediglich
tun die Besteuerung des durch kommunale Anlagen erzeugten Wert-
Zuwachses. Es nimmt daher nicht Wunder, zu erfahren , dafs englische
Laiidsozialisten die Betterinentbesteuerung nur als eine haU)e Mafsregel
betrachten, und es ist leicht zu begreifen, dafs das Or^an der Social
Deniocratic Fcderation, die ..Justice" l vgl. Nummer vom 23. Feliruar 1S95),
das Projekt der Bcttermentbesteuerung einen wertlosen Vorschlag der
Mittelklasse nennt.
Auch der sozialistische Charalrter des Recoupment ist in enge
Schranken gebannt. Es gehört mit der Bettennentsteuer zur Kategorie
der Mafsregeln, die nur einen Teil des tmverdienten WertEUwachses an-
packen. Schon deshalb ist dies der Fall, weil wie die Bettennentsteuer
auch das Recoupment infolge kommunaler Anlagen in früheren Zeiten
bezorjene Werisleitjerunjjen unangetastet Llfst. Auch das, was dem
Kccoupincnt t i!u-ii stärkeren sozialistischen Stempel aufdrückt, als ihn
die Ik'ttcrmentbcstcueruny tra^;t, die 'l'hatsache, dals bei .Anwendung
des Recoupment die Kommune Cirund- und Hauscigentümerin wird,
läßt bei gründlicher Betrachtung das Recoupment nur in emem sehr
beschrltnkten Sinne als eine die Ausdehnung des Privateigentumes min-
dernde Mafsregel erscheinen. Ist doch das Recoupment keineswegs
darauf gerichtet, (Grundstücke dauernd in das Eigentum der Gemeinde
Uberzuleiten. Vielmehr gehört zum Wesen des Recoupment dies, dafs
die (lemeinde Grundstücke zum Zwecke des gewinnbringenden Wieder-
verkaufes ankauft, dafs sie (Irundstücke, die sie von Trivaten ulx rnonimen
hat, an Private wieder zuruckgiebt. Unter diesen Verhältnissen ist das
Verständnis dafür nicht schwer, dafs gerade die energischsten Befürworter
des Recoupment in England zugleich die wärmsten Freunde des Privat-
eigentumes sind und dafs auch bei Hallgarten einer der lautesten Ver-
teidiger des Recoupment deutlich seine Sympathien für den privaten
städtischen Grundbesitz erkennen läfst.
Wie so mancher Zweig der modernen englischen Stadtverwaltung, der
als Symptom der angeblich wachsenden M;u ht der Sozialdemokratie in
England l)e/eichnet wird oder bc/.eichnct werden k<jnntc. ist deshalb auch
die Art, wie man in England den unverdienten Wertzuwachs für die kom-
munalen Finanzen nutzbar zu machen versucht, ungeeignet, das Bild zu
ändern, das die unbefangene Beobachtung des Rampfes der politischen
Parteien, der Gewerkschafts« und Genossenschaftsbew^tmg in England
wahniinimt. Auch 'die Bettermentbesteuerung und das Recoupment in
England sind Produkte eines Volkes, in den^ v ialdemokratische Strömungen
nur einen geringen Raum sich erobert haben. Diejenigen, die aus dem
Digitizoü by C
liallgarlcn, k., Die kommunale Besteuerung d. unvcrd. Wertzuwachses etc.
Hallgartenschen Buche die Anregung schien sollten, Air die Einflibning
oder weitere Verbreitung von Mafsregeln zu wirken, die den engUschen
Bettermentsteuem und dem englischen Recoupment entsprechen, werden
demnach ^cnüpendes Material haben, um den sicher zu erwartenden Ein-
wand ab/.uwehren, dais es sich hier um die Rezeption sozialdemokratischer
Muster handele.
Was nun die Lehren anlangt, die durch das Hallgartensche Buch
huisichtlich da zweckmafidgen Ao^estaltung der Bettermentabgnbe hin«'
durchschimmern, so scheinen sie mir in emem Punkte der Ergänzung zu
beddrfen. Hallgarten leitet die Thalsache, dais in den engUschen
Betterraentgesetzen der neunziger Jahre der Steuerfufs nur einen Brach-
teil des ^schätzten Wertzuwachses beträgt, aus der Neuheit der Betterment-
besteuerung und aus der l'iisicherheit der Abscliätzungen des Wertzu-
wachses al), was den alltriiueiiien Satz einschliefst, dafs in der ersten
Zeit des I5esiehens der lietiennentbesteueruuir ein nietlrigerer Steuerfufs
als fiir spätere Zeiten anzuempfehlen ist, dafs aber die Beschränkung des
Steueriu&es auf nur einen Teil des Wertzuwachses zu rechtfertigen ist
damit, dais eine solche Beschränkung den Steuerzahler gegen die
Eventualität schirmt, infolge zu hodi gespannter Einschätzungen mehr
als den Wertzuwachs, der seinem Grundstücke zu teil geworden ist,
herausgeben zu müssen. Wir erhalten eine Vervollständigung dieses all-
jremeinen Sat/es wenn wir einen dritten Grund l>crücksichti^'en , den
Hallgarten ubersehen hat. Ks scheint mir keinem Zweifel zu unter-
liegen, dafs bei der Beschrankung des Steuerfufses auf einen Teil des
Wertzuwaclises die Erwägung mitgespielt hat, dafs die Wegsteuerung des
vollen durch eine bestimmte kommunale Anlage hervorgerufenen Wert>
Zuwachses Eigentümer davon abgehalten werden könnten, Umbauten vor-
ztmehmen, weil die Umbauten ihnen keinen höheren Gewinn in Aussicht
stellen als sie bei Fortdauer der bestehenden bauliclien Verhältnisse be- '
ziehen können. (\'gl. beispielsweise Report a. a. ( ). , ([u. 1858.) Die
]>erücksichtigiuig dieses dritten (Irundes scheint mir deshall) nützlich,
weil er eine nur für einen Teii der \on der liettermcntabuabe erfafsten
Grundstücke -/utreliende Keclitfertigung der Begrenzung des Steuerfufses
auf einen Teil des Wertzuwachses enthält und weil er demgemäis die
Forderung stützt, den Steuerfufs für verschiedene Eigentumskat^orien
verschieden zu normieren. Für Eigentum, das ohne bauliche Umänderangen
eine ^^■ertsteigerung erfährt, erscheint ein höherer Steuerfufs ab fÜr Eigentum,
bei den die Vornahme baulicher Veränderungen die Voraussetzung der
Weitsteigerung ist, deshalb gerechtfertigt, weil dort der Ueberschufs des
Wertzuwachses über die .Steuer nur gegen irripe A1>schätzungen eines
technisch sich gleich bleibenden Objektes Schutz, zu bieten hat, während
hier auch die Kosten des Umbaues ein tmsicheres Schätzungselement
tnlden und eine irrige Schätztmg hier eher als dort, wo private Auf-
wendungen nicht in Betradit zu ziehen sind, mit der Auftaugung einer
Afchiv fär MC. GeieUf etMnff u. Statistik. XIV. 4^
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Littemtnr.
den unverdienten Wertzuwachs übersteigenden Summe bedroht, Überdies
in dem einen Falle die Freilassung eines Teiles des unverdienten Wert-
zuwachses die .\uf>;abe hat, einen Anreiz zu Handlung^en zu schaffen,
die da, wo es um ohne bauliche rnianderungen im Werte f^ehobenes
Eigentum sich dreht, nicht notwendig sind. V ielleicht wird in England
die nächste Etappe in der Entwicklung der Bettennentbesteuerung die
Erhöhung des Sceueribfres für diejenige Eigentumsgruppe sein, flir die
nach dem Gesagten ein höherer Steuerluls verteidigt werden kann. Jeden*
falls scheint mir in der Festsetzung einer Disparität des Steuerfufses, die
das ohne private bauliche Umänderungen im Werte steigende Eigentum
mit einer höheren Steuer belastet als es die letzten englischen Betterment-
iresetze thun. eine unanfechtbare M«iplichkeit dafür zu liegen, das eng-
lisclie Muster aufserhalb Enj^lands in verbesserter Form zu reproduzieren.
Auch das, was Hallgarten über die praktische Bedeutung des Re-
coupm<mt und über die hinsichtlich dieses Punktes in England herr-
schende Stimmang vortritgt, fordert zu einigen ergänzenden Bemeikimgen
heraus. Der Verfasser beugt der Vermutung, die in England gemachten
Erfahrungen sprächen gegen das Recoupment tiberhau])t imd in England
bestehe eine starke prinzipielle Ojjposition gegen das Recoupment, nicht
so energisch vor, wie es auf Grund der vorliegenden Thatsachen möglich
gewesen wiire. Dafs in England zahlre!( lie beachtenswerte Stimmen die
meisten früheren Falle der Anwendung des Recoupment als verlust-
bringend für die Kommune bezeichnen, ist allerdings richtig. Dafs sie
hierin recht haben, ist um so weniger zu leugnen, da die Belege, die
Hallgarten beibringt, durch ein kttrdich erschienenes, von ihm nicht be-
rUdcsichtigtes Werk des Herrn* Percy J. Edwards: „History of London
Street Improvements, 1855 — 1897" (1898) beträchtlich vermehrt wurden.
Trotzdem wäre es falsch, zu glauben, dafs man aus England brauch-
bare Warten zur Bekamptung des Recoupment schlechthin beziehen
könne. Wir haben es eben hier mit einem Falle zu thun, der die Be-
rechtigung der Wahrheit erhärtet, dafs es nicht genügt, Thatsachen fest-
zustellen, son^iem daft es auch notwendig ist, ihre Ursachen zu erkennen,
tmd dais wir, um Argumente richtig wüidigcai zu können, versuchen
müssen, in die Motive derer einzudringen, die sie beibringen.
2Sor Bdeuc]ittin<: der Motive, durch die die englischen Kritiker des
Recoupment gelenkt wurden, bringt Hallgarten gar nichts, zur Auf-
deckung der Ursachen, die das Scheitern des Recoupment in Elngland
veranlafsten^ nur Lückenhaftes bei. Hei der Scliildorung der gegen das
Recoupment vorgebrachten Einwände vcrgifst Hallgarten ganz den von
ihm in einem anderen Zusammenhange aufgestellten richtigen Satz, dab
«ine Hauptbedeutung der neueren Bettermentbesteuenmg in der teilweisen
Entlastung der zu Gmisten der Grundeigentumer überbordeten Grund-
stQcksbenützer liegt. Weil die Anhänger der Bettermentbesteuenmg mit
in erster Linie eine gesonderte Heranziehung der Eigentümer zur Deckung
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Hallgarten, R., Die kommunale Besteuerung d. nnrerd. Wertzuwachses etc.
des koiniuunaien Fiuaiubedarts erstreben, weil andererseits das Recoup-
ment keine Gdegenheit ca einer getrennten Belastung der Grundeigen-
tümer und der Pächter bietet, «dso aus ebem mit dem englischen
Leasesystem eng «wammenhangenden Grunde, deshalb sind die An-
hünger der Bettermentbesteuerung in England vielfach überscharfe Kri-
tiker des Recoupment an sich. Ein ReHex dieser Tendenz ist der aus
diesem Kreise hervorpcganKene Versuch, die Wirksamkeit einer Ursache
abzuschwächen, die in weit stärkcrem Mafse für das Scheitern des Re-
coupment in London haftl)ar zu machen ist, als Hallgarten zuzugeben
wagt. Nach den Enthüllungen der im Jahre 1888 eingesetzten könig«
liehen Kommisnon, deren Anfgabe war, die in der Londoner Stadtver-
waltung herrschende Korruption zu untersuchen (vgl. Metropolitan Board
of Works Commission: .Jnterim Report", 1888), nach den in den Jahres-
berichten des Metropolitan Hoard of Works zerstreut naiven Inforroationen
Über eine iinj^laublic h elende Organisation der kommunalen ( Jrundstiicksum-
sätze, i^raucht man nicht zu zögern, in dcui Fiasko des Rccoupnient
zum guten Teil «las Werk bis ins Mark korrumpierter kommunaler Be-
amter und ücmemdevertreter zu sehen. Dem zutreffenden Hinweise
Hallgartens darauf, dafs die Konunune gesetzlich zur Erlegung enorm
hoher Expropriationssummen verpflichtet war, muls hinzugefügt werden,
dafii auch die ttbergrofse HOhe der an die Kommune gezahlten Ankauft-
preise zum Teil eine Konsequenz des Leasesystems bildet Zum Teil
ist die Muhe dieser Preise allerdings auf die einzige Ursache zurückzuführen,
die bei Hallgarten in bestimmter Weise für das Kiaski» des Recoup-
nient haftbar gemacht sind, nämlich darauf, dafs die ankaufende kom-
munale HehDriie gesetzlich verpflichtet war, fur Handelsinteressen Ent-
schädigungen zu bieten, die nicht wieder einzubringen waren. Es wäre
gut gewesen, wenn Hallgarten darauf aufmerksam gemacht hätte, dals
diese gesetzliche Entschädigungspflicht in Stadtteilen, die völlig unbebaut
sind oder ausschlielslich otter vorwiegend für Wohnzwecke benfitzt
werden, entweder bedeutungslos wird oder nur zu unbedeutenden Aus-
gaben nötigt, was aus dem Grunde beachtenswert ist. weil fast sämtliche
Londoner Strafsenanlagen , bei denen das Recou])nient in Verlusten
endigte, in alti-n. seit längerer Zeit und dicht l>ewolinten. reichlich nnt
gewerblichen iietrieben durchsetzten Quartieren stattfanden. In Leber-
eimtunnMing mit dieser Sachlage haben auch scharfe Kritiker des Re-
coupment nicht nur in allgemeiner, wenig Aberaeugender Phraseologie
sich dagegen verjvahr^ das Recoupment völUg in Bausch und Bogen zu
verdammen, sondern audi ausgesprochen, dafs sie in gewissen Fällen
unbedingte Anhänger des Recoupment sind, ich verweise, um ein Bei-
spiel herauszugreifen, auf die AussaL'c eines der strengsten Beurteiler
lies Recoupment, des Parlanientsnutglietles Fletcher Moultun, vor der
Kommission des Oberhauses aus dem Jahre 1894, vor der er unzwei-
deutig bekennt, dals er das Recoupment dann, wenn es sich um Strafsen-
4«*
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746
Littemtur.
anlagen auf ti eiern Terrain oder in W olun|uarlieren handelt, für erfolg-
reich hält. (Vgl. Report a. a. O. qu. 1055, 1132.)
Nach allem ist man berechtigt, mit stärkerem Nachdrucke, als es
bei Hallgarten der Fall ist, der Vermutung entgegenzutreten, die in Eng-
land gemachten Erfahrungen stellten ein absolute^ \\ r(l:itiimungsurteil
des Recoupment dar oder es sei irgend jemand in England geneigt,
ein solches VerdainmunLrsurteil /u fallen. Man würde sich — natürlirh
unter der \'orausset/ui!g völliger Intet^ritat und scharfer Kontrolle der
ausführenden Organe — durchaus im Einklan;^ mit englisciien Krfah-
rimgen und im Einklänge mit der AufTassung aller englischen Sachkenner
befinden, wenn man in Deutschland das Recoupment so oll anwendete,
wie es sich um Strafsenanlagen auf brach liegendem Gelände oder in
Wohnquartieren handelt Ja, im Hinblick darauf, dafs in Deutschland
das englische Leasesystein fehlt, kann sogar der Anwendung des Re-
coupment in Deutschland auch in manchen Fällen ein <riinstige-> Horo-
skop gestellt werden, in denen es sich in England nicht bewährt hat
und als verwerflich betrachtet wird.
Das Vorwort der HallgaMensthen Schüft weckt die Hoffnung, aus
der Feder des gleichen VeHassevs flir die Aufstellung eines allgemeinen
Programms der zweckmäßigsten Erfassung des unverdienten Wertzu-
wadises eine breite Basis in einem Vergleiche der Kommunalbesteuerung
und der Expropriationsrechte verschiedener Länder zu erhalten. Die
tlichtigen Eigenschaften, die in der angezeigten Schrift zutage treten,
berechtigen zu der Krwartuni:, dafs die wichtigen in dieser Perspektive auf-
tauchenden Themata eine lehrreiche Bearl>euung finden werden.
Frankfurt a. M.
LUDWIG SINZHEIMER.
Maitbie, M. K., Munkipal Ftmciions, Study of tiu DeotU^ment,
Scopt and Tendency of Municipal Socialism in „Municipal
Affairs". Vol. II. No. 4. New York.
Das Buch Maltbies hat in erster Linie praktische Bedeutung: es
will den Anhängern einer umfassenderen Thätigkeit der Städteverwaltungen
in den Vereinigten Staaten für ihren Kampf gegen privates Monopol
und private Ausbeutung der Stadtgenossen ein nutzbringendes Rüst»
zeug sein, ihnen die F.rfiihrungen anderer Städte und anderer Länder in
gedrängter Idini zur Verfügung stellen. W ie die im Jahre 18117 heraus-
gegebene „Bibliügraphy of Municipal Admiinstration and City Condition>"
von Robert C. Brooks ist es eine Veröfl'entlichung des Reform Club
Committee on Municipal Administration, zugleich Fortfilhrtuig und Er-
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Maltbie, M. R., Mnnicipal Ftmctioiis, a Stndy of the Development, etc. j^^^
gänzung des mit joncr be^'onnencn rntornehmens. l ebor die Art und
Weise der Materialbeschatfung gibt uns ein Vorwort des Ausschusses
selbst kurze Auskunft; man beSchritt in der Hauptsache den Weg der
Enquete und Fragebogen und ergänzte die so gewonnenen Resultate
durch das Studium von Konsulatsberichten, städtischen Verwaltungs-
bericbten, Artikeln und Schriften, lüe sich mit der städtischen Verwaltung
beschäftigen. Kin ausführlicher Fragebogen wurde von 150 amerikani-
schen und ,350 ausländischen Städten raeist in vortrefflicher Weise be-
antwortet , (las ülK'rreiche Material dann von einer grösseren Zahl von
Bearbeitern kompiliert und geordnet : die eigentliche \'erarbcitung des-
selben und die Abfassung des Berichtes von M. Maltbie ausgeführt.
Es liegt in der Natur des aufserordentlich weitschichtigen und sehr
wenig in zusammenfassender Weise traktierten Stoffes, dals ein solcher
Versuch, einen Ueberblick Uber die Städteverwaltung der. wichtigeren
Kulturstaaten zu gel)en, wenn auch mit noch so vielen Mitteln unter-
nommen, eben ein Versuch und ni< ht nu hr sein konnte. Trotz alles
Strebens nach Vollständigkeit ül)erall Lückenhaftigkeit! Das soll kein
Vorwiirf sein, <ien zu erheben völlig unbeiechtigt wäre; wir wollen nur
diese Thatsache feststellen, um dadurch die ( Grundlage für unsere Kritik
zu gewinnen und uns Uber die Möglichkeit und Ausdehnimg einer solchen
klar zu werden. Wir nehmen also das Material, wie es tms in den
Kap. in — Vin dargeboten wird, dankbar an und werden nur gegen die
Gnippienuig desselben einige Bedenken vorzubringen haben; müssen
uns aber ausführlicher mit dem Kni>itel II ..The City of To-Day" und dem
letzten Abschnitte des lUiches beschäftigen, der von der „Tendency Toward
Mnnicipal Socialism" handelt.
Maltbie teilt den Hauptteil seines Huches, der eine Darstellung der
städtischen Verwaltung in den verschiedensten Ländern der Welt sein
will, in acht Kapitel ein: Polizeiliche Schutz-Funktionen (Protective Func-
tions), Wohlthätigkeit, Erziehung, Erholung, Stralsenverkehr (Street Faci-
lities) und Industrielle Funktionen. Diese Einteilung kann durchaus nicht
als eine glückliche bezeichnet werden. ^Veshalb z. B. Strafienbahnen
unter „Industrielle Funktionen" und nicht in dem Kapitel Strafsenverkehr
behandelt werden, weshalb die Verwaltung von Märkten, Schlachthäusern,
Wasserwerken /uden industriellen Funktionen i^'crcchnet wird, während doi h
gerade hei solchen Einrichtungen die Rucksic ht auf industriellen Profit
die geringste Rolle zu spielen pllegt ; wesiialb i. B. die Einrichtung von
Arbeitsämtern, die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit zu den Institutionen
der Wohlthätigkeit gezählt werden und dgl., läfst sich in keiner Weise
einsehen noch rechtfertigen. Die bunteste Misdiung von Funktionen
weist natürlich das Kapitel ,|Industrielte Funktionen" auf. Da finden
wir Märkte und Schlachthäuser neben Begräbnisplätzen, Wasserw^erke,
Gaswerke und elektrische Heleuchtimgsanlagen neben Docks, (Juais, Fähren
imd dgl.; Straisenbahnen neben Leihhäusern und Sparkassen, Banken
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748
Littcratur.
neben Restaurants und dgl Bei der ZttsammeiiJassiiiig so ungleicher
l^unktionen kann den Verfasser ofienbar nur der eine Gesichtspunkt ge-
leitet hal>en : die Möglichkeit ihres Betriebes nach dem Grundsatze in-
dustrieller Proütmacherei. Diese Mö^chkeit liegt aber bei dem Betriebe
von Bädern, Wasclihäusern, Theatern u. s. f. in gleicher Weise vor und
doch hat sie der V'crfasscr in anderen Kapiteln abgehandelt. Dieser
Mangel an systematischer Kinteilung muss als der Hauptfehler der
MaterialordnuDg bezeichnet werden. Zusammenhängendes wird dadurch
von einander getrennt und ein rascher oriratimMier Uebwblidc über
ganze Gruppen von Funktionen geradezu unmöglich gemacht. Ein wei-
teres Emgehen auf das dargebotene Material würde uns zu ti^ in Einzel*
heiten führen ; wir müssen daher darauf verzichten, auf einselne Fehler
der Darstellung und wichtige Unterlassungen aufmerksam zu machen und
wenden uns gleich zu einer Besprechung der allgemeinen Kapitel.
Das 2. Kapitel ist der ,,('ity of To-Day' gewidmet, nachdem das
erste Ka[)itcl in allerdings sehr lapidarer Weise The Historie City" be-
handelt hat. Der Verfasser geht von dei Unterscheidung zwischen „Ur-
ban Center*', was wir wohl am besten als städtisdie Agglomeration Über-
setzen können, und ^munidpality** aus. Die Agglomeration ist in erster
Linie eine Ökonomische Ecsdieinung, die durch die ökonomische Ent-
wicklung eines Volkes urs^ächlich bedingt und durch eine gewisse Gros-se
und Dichtigkeit ihrer Bevölkerung charakterisiert ist. Weder der Clrad
der Dichtigkeit, noch die ('«rofse der agglomerierten Bevölkerung, diuch
die sich das städtische Centrum von dem Dorfe, Mei ken el< . unter-
scheidet, lassen sich quantitativ genau beslunmen. variieren vielmehr von
Land zu Land, ja von Provinz zu Provinz. Mit den städtischen Agglo*
merati<»ien entwickeln sich die zahlreidien, ihnen allein eigentümlichen
Bedürfiiisse , entstehen Verwaltungsprobleme . ganz dgenartiger Natur.
^Die Municipalität wird nun mit der ausdrückUdien Aufgabe geschalfen,
diese Bedürfnisse zu befriedigen. Die Centialregierung mag sie gleidi-
falls zu einem Agenten des Staates raachen, aber sie wird nicht für diesen
Zweck geschaflen; ihre Funktion als eine Ai;entin des Staates ist imr eine
Begleiterscheinung, nicht die Ursache ihrer Existenz, nicht einmal ihre
gegenwärtige raison d'etre. Sic ist daher vor allem eine Behörde für
die Befriedigung spezieller lokaler Bedürfnisse, die durch die Existenz
eines städtkchen Centrums» oder um uns schSrfer und bestimmter ausni-
drücken, direkt oder hidirekt durch die Dichtigkeit der Bevölkerung ent-
stehen. Genau definiert ist die Municipalität eine lokale Behörde, die
nur in städtischen Centren besteht tmd hauptsächlich die Aufgabe hat,
specielle lokale Bedürfnisse 7\\ befriedigen, die ihre Ursache in der Kon-
zentralion der Bevölkerung haben." (p. 40.1 Kaum in einem Staate sind
aber die Munizipalitäten im Hesit/e so weitgehender und umfassender Voll-
machten ; sehr häufig ubernehmeu nicht nur der Staat, sondern auch andere
lokale Verwaltnngskörpersdiaften Funktionen, die als spezifisdi der Muni-
Maltbie, M. R., Municipal Functions, a Mudy of thc Dcvclopnu-nt, etc. 749
xipulität zukominend aimierkeimen sind. Neben der Munizipalität be>
g^en wir dem Institut der Zweckausschiisse. Wie man aus dem kun
ikizcierten Gedankengange des Verfassers ersieht, begreift derselbe also
unter munizipalen Funktionen nur die Thatigkeit der Munizipalität, die
sich auf die Befriedigung sitczicllor lokaler Ik'durfnissc bezieht, und zieht
nur aus /.weckinässigkeitsgnniden au( Ii die Funktionen, die derselben als
Agentin d£s Sta^ites obliegen, in den Bereich seiner Darstellung. Auch
mit dieser Unterscheidung, die im Grunde mit der zwischen eigenem
und äbertragenem Wirkungskreise der Gemeinde identisch ist, kdnnen
wir uns keineswegs bc^mmden. Sie stützt sich auf eine rein formale
Betrachtung der Verhältnisse und wird durch den ganzen darstdlenden
Teil widerlegt. Was hier zum übertr^enen Wirkungskreise gerechnet
wird, pilt dort als eine sj>ezifisch munizipale Funktion. Die Relativität
dieser Tnteisc hcidun},^ beweist entscheidend, dafs dieselbe in einem
Werke über die Städtcverwaltung der Welt ohne jede BerechtigunR ist.
Uebrigens bindet sich der \'erfasser selbst gar nicht durch diese Distink-
tion und behandelt daher eine ganze Reihe vcm Funktionen, die aller-
dings ihrem Wesen nach rein munizipale sind» bei deren Verwaltung
aber die Städte meist als Agenten des Staates erscheinen.
Von grösserem Interesse als diese nur kurz skizzierten Definitionen
sind die Schlufsbemerkungen des Verfassers« in denen derselbe auf (irund
seines Ma(erials die Richtung zu bestiintnen sucht, in der sich voraus-
sichtlich die Städtcverwaltung der Zukunft bewegen wird. Kr fasst das
Resultatseiner rntcrsuchung in den folgenden Worten zusaintneu: ,,I)ie
Entwicklung der munizipalen Funktionen in der Vergangenheit ist, wie
man sieht, nicht ausschlidTsHch ein Prozess der Aimahme neuer Fuaktionen,
sondern auch der Aufgabe alter. . . . Die Tendenz ist klar und dauernd;
sie bewegt sich in der Richtung des Verzichtes der Stadt auf alle die-
jenigen Fimktionen, durch die sie das Leben des Individuums im In-
teresse der Wohlfahrt oder der angeblichen Wohlfnhit des Staates regelte,
und in der Richtung der .Vufnahnie anderer, durch die sie dem indivi-
duellen Behagen und Interesse dient, und der freien X'erleiUmL: von
Dicnstlcistimgen. Mit anderen Worten, die alte Stadt war die Souveränin
ihrer Bewohner^ die neue ist ihre Dienerin.*' (p. 207, 208.) Die Ursachen
dieser Tendenz sind zahlreich. In dem Midse, wie die Konzentration
der Bevölkerung wächst, wird kollektive Aktion nicht nur in grösserem
Mafsstabc möglich, sondern auch vorteilhafter. Alle die bedeutsamen
Unternehmungen, wie Wasser- und Gaswerke, Stiafsenbahnen, öffentliche
Parks, Bibliotheken sind nur da möglich, wo eine bedeutende Konzen-
tration der Bevölkerung besteht. \'on gnmdlegcnderer Wirkung ist die
monopolistische Tendenz der uKKiernen industriellen Produktion tiber-
haupt, die mit besonderer Klarheit auf dem Gebiete der stadtischen
Untemdmiungoi zu Tage tritt Die ursprüngliche Konkurrenz der
Wasser- und Ga^esellschaften, der Verkehrsgesellschaften etc. verschwindet
L iyiii^üd by Google
750
Litteratnr.
sehr schnell und macht der Verschmelzung der antagonistischen Unter-
nehraiuigen, der Schöpfung alleinherrschender Monopole Platz. Alle Ver-
suche, diese Konsolidierung und Monopolisierung zu verhindern, sind er-
folglos uewesen. Die Folgen iler Monopolisiei ung sind bisweilen ein
Kntsiehen des bisher fehleiulen Profils, in den meisten Fällen aber ein
rapides Anwachsen der früher geringen Probte, die um so schneller
wachsen, je grufser infolge der Bevölkerungszunahme der Bedarf und je
kleiner zugleich damit die Einheitskosten des Betriebes werden. Die
räumliche Verdichtung des gesellschaftlichen Lebens aller sich entwickdn-
den Städte kommt diesen Gesellschaften mühelos zu Gute und wirft
ihnen, den beati possidentes, ein stets sich vergröfscrndcs Stück des
„unearned inereraenl" /u. Aus diesen ungewoiwili( h hohen Monopol-
profiten in erster Linie leitet die auf Monopolisierung der gesamten Be-
triebe gericluctc politische liewegimg die Berechtigung ihres Vorgehens
ab ; die Steuerzahler sehen in ihr ein willk<mimenes Mittel, die fortgesetzt
drückender werdenden städtischen Steuern zu erleichtem, die Ronsu«
meotea, wie der Verfasser sehr richtig hervoihebt, das Werkzeug; hohe
Preise durch niedrige zu ersetzen, die Arbeiterschaft den Hebel, die
Arbeitsbedingungen /.u verbessern. Der Steuerzahler strebt in erster
Linie nach Herabsetzung der Steuern; er will die munizipalisierten Be-
triebe kapitalistisch, d. Ii. allein mit Rücksicht auf den Profit Ix'trieben
wissen. Die Konsumenten, bei denen die Kousumcnteneigenschafteu
gegenüber der Eigenschalt des Steuerzahlers in den Vordergrund treten,
deren Aufwendungen für Wasser, Gas etc. die von ihnen gezahlten
Steuerbeträge, weil die ersteren sehr gross, die letzteren sehr klein, be-
deutend übertreffen, streben natürlich nach Herabsetzung der Preise tmd
bekäm|jfen die Ueberstundenwirtschaft im Interesse ihres Geldbeutels. In
derselben Richtung bewegen sich die {Bestrebungen der ArbeiterorLrani-
sationen, deren .-Vngehörige in lioppelter Kigenschaft als Konsimientcn
und -Vrbeiter an der Preisherabsetzung interessiert sind.
Welches sind nun die Grenzen dieser sich stetig erweiternden mtuii-
zipalen Thätigkeit? Der Verfasser untersucht diese Frage nicht näher;
er beschränkt sich auf den nichtssagenden Satz, dals dieselbe durch die
Natur der verschiedenen Industrien besthnmt werden, und weist an dem
Beispiel der Wasserwerke, der Strafsenbahnen, der Gasanstalten u. a. in
Kürze nach, inwiefern die Sehwierigkeiten der Technik und des Betriebes
ihre Wirkung auf die Munizipalisierung derartiger .\nstatten ausüben.
Diese ganze l'ntersuchung ist leii^ler in lioheni Malse oliertlachlich ge-
führt worden, i^eine Beispiele beweisen durchaus nichts für die Grenzen
der munizipalen Thätigkeit, denn in der eben Stadt sind nur die Wasser-
werke, in einer anderen nur die Gasanstalten, in einer dritten au&erdem
noch die Stn&enhehnen im städtischen Betriebe trotz der Verschieden-
heiten in der Schwierigkeit der Technik und des Betriebes. Wäre der
Verfasser von den entwickelten Verhältnissen munizipaler Thätigkeit aus-
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Hertz, Fr. O., Di« agrarischen Fragen im Verhältnis zum Sozialismus etc. j^i
gegangen, so wäre er lehr bald zu dem Resultate gekommen, dafs es
nicht die Schwierigkeiten der Technik und des Betriebes sind, welche die
Cremen der Munizipalisierung bedingen, dafs vielmehr durch diese hü( :h>
stens der Zeitpunkt einer Munizipalisierung bestimmt werden kann. Im
Uebrigen ist dieses ganze Problem aufserordentlich kompliziert und würde
allein schon ein Buch von gleicher Ausdehnung wie das uns vorliegende
erfordern.
Stuttgart-Degerloch.
C. HUGO.
Htrt»t Friedrich Otto^ Die agrarischen Fragen im Verhältnis
tum Sotialismus. Mit einer i'orrede von Ed, Btrustein,
Wien, 1899. L. Rosner. 8". VU u. 141 S.
Die interessante Studie polemisiert hauptsächlich gegen die Auffassung
der Agrarfrage, die Karl Kautsky in seinem Buche fiber dieses vielum-
strittene Thema vertreten hat. „Für Kautsky, sagt der Verfasser, ist die
Agrarfrage überall und jederzeit diesdbe, überall ist der Grofsbetrieb
überl^en, Uberall verelendet der Banor , . . Am liebsten möchte er wohl
die pnnze Erde glatt rasieren und einen einzigen Landwirtschaftsbetrieb
einric Ilten, hoftentlich mit der Zentrale in Friedenau lx*i Berlin." (S. 02.^
Im Gegensatz hierzu finden wir l)eini Verfasser der vorliegentlen
Schrift folgenden Gedankengang. Die Zahl der selbständigen Besitzer
Ton Grund und Boden nimmt stark zu, noch stäricer die Zahl der am
Boden Berechtigten, der Hypothekenbesitser. Der landwirtschaftliche
Mittel- und Kleinbetrid> halten sich im allgemeinen besser als der
Grofsbetrieb. Die technische Ueberlegenheit des letzteren wird gewöhn-
lich tiberschätzt, dagegen übersehen, dass ökonomische und natürliche
Vorteile (bessere Bodenklassen und ähnliolies) den Kleinbetrieb befähigen,
erfolgreich mit dem ( irolsbeti ieb zu konkutrii-ren. Dieser kann weder
langsam, noch plötzlich infolge einer Ueberproduktion die Kleinbetriebe
beseitigen. In einigen Ländern nimmt der Mittelbetrieb auf Kosten des
kleinsten und gröfsten Betriebs zu, in anderen Gebieten, wie in Belgien,
Nordfiankreich verdrängen Parzellenpachten die grolsen und mittleren
Betriebe. So verläuft nadi Hertz die agrarische EIntwickluug, würde
aber, wie vielfach angenommen, die Expropriation der Bauern durch den
Kapitalismus erfolgen, so wäre dies der gröfste Schlag lür die ganze
Volkswirtschaft und ein .Aufsteigen zu liöheren Gesellschaftsformen wäre
unmöglich. Parum sei der enorme Aufschwung des landwirtschaftlichen
Genossenschaftswesens freudig zu begrüfsen und Aufgabe des Sozialismus
sei es, die Teilnahme der Bauern an der genossenschaftlichen Bewegung
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Lhtentor.
in jeder Weise zu fördern. Dem gegenüber trete die Bedeutung des
Arbdterschtttzes für die Landmrtsriiaft /.urück, der hier überdies leiditer
timi^angen werden könne, als in der Industrie.
Go<:cn die BeweisfiiliruMg des W'rTnsscrs lassen sich mancherlei
methodologische F.iinvendiiii<ren erhi-hcn. Kr schreibt (S. 39.) wenn,
wie geschehen ist, die eine Seite den hessischen oder Pfälzer Kleinbesitz
«dar extensivsten msäsdien Groftwirtsdiaftf die andere etwa den galizischen
Bauer der englischen Grofepachtung g^nttberstellt, um damit die Über-
legenheit der Betriebsform darzuthim, so ist das eine so wertlos» wie das
andere." Nichtsdestoweniger werden S. 66 ff. ungarische Grofsbetriebe
mit badischen Kleinbetrieben verglichen, van das „Märchen von der
absoUilcn l\'bcrlegenlK-it des Grofsbetriebs in seiner ganzen l.ä( herlii hkeit
zu zeigen", l'.bensuwenig beweiskräftig ist die Verglcichuiig englischer
und französischer Hodenerträge. (S. 48 ff.), wobei übrigens die von
Conrad und von der Goltz betonte Unzuverlässigkeit der Erntestatistik
ganz unbeachtet bleibt. Aus Bernsteins Artikel „Agrarisches aus England"
t(Neue Zeit XIV, 2 S. 338) konnte der Ver&sser ersehen , da(s, wenn
«die Erträge der englischen Farmen nicht die technisch mögliche Höhe
•erreichen, dies durch Kigentlunlichkdten des englischen P.u ht rechts,
:nicht durch den Grofsbetrieb an sich verursacht wird. Beachtenswerter
sind die Bemerkungen iiber die beschränkte Anwendbarkeit des Dampf-
jiüuges, dessen Bedeutung au( h Kautsky übersc hätzt. Die .\usfuhrungen
des Verfassers decken sich mit den Ans( hauungen hervorragender land-
wirtscliaftlicher Praktiker (vgl. hierüber den V^ortrag von Rimpau-
-Schianstedt Jahrbuch der Deutschen Landwf rtacbaft^gesellschaft XU S. I ff.)»
Irrtümer laufen aber auch hier unter. So hält der Verfasser die An-
wendung des Damp^flugs im Weinbau für ausgeschlossen, während gerade
hier sowohl in Ungarn, wie in Frankreich mit Fowlerschen DampfrigoU
Apparaten bedeutende Erfolge erzielt wurden (Jahresbericht über die
Erfahrungen und Fortschritte auf dem ( iesamigebiet der Landwirtschaft,
II. Jahrgang 1896 herausgegeben von Dr. Emil Pommer S. 27 u. 2S).
Die Frage, ob die Wirkung des elektrischen Pfluges nicht ungleich
revoluti<Miierender sein wird, borfihrt der Ver&sser flberfaaupt nicht —
Alles zusammengenommen» kann ich nicht finden,, dals die lange und
meistens unfruchtbare DelMtte tlber landwirtschaftiichen Gio&- und Klein-
betrieb durch die .Ausführungen des Verfassers wesentlich gefördert wird.
Auch die Abschnitte der vorliegenden Arbeit über Gnmdbesitz-
verteilung unddie Tendenz ihrer Entwicklung sind geeignet, lebhaften Wider-
spruch hervorzurufen. Der Verfasser weist die Annahme Kautskys. als
ob der Mittelbetrieb dem (irofsbetrieb einerseits, dem Parzellenbetrieb
andrerseits miterliege, zurück, seine eigene Darstellung scheint mir aber
die Frage der Grundbesitzvertdlung nich^ widersprudürios su behandeln.
S. 53 heilst es: „Mit Ausnahme jener libider, in denen der Großbetrieb
eine sehr geringe Rolle spielt und die Parzellenkultur die höchste Intensität
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Herls, Fr. O., Die agiwiichcB Fntgeo im Verhiltni« xam Soxiftlwau» etc. j^^
erreicht (Belgien), verlieren die kteiosten Betriebe fast (iberall an Boden.*'
Dagegen erklärt der Verfasser .«n anderer Stelle : „Die Tendenz sur
Parzellcnpacht nimmt stetig zu , die äufserstc Form des agrarischen
Kapitalismus ist die l'arzellenpacht , das letzte Ziel der kapitalistischen
Landwirtschaft ist nicht der Grofsbetrieb , sondern die Harzelleni)acht
(S. 9, 21, 89.) Die deutsche Entwicklung scheint mir die These des
VerfiuBers nicht zu bestätigen. Aus der Provinz Sachsen z. B. hören
vir: |,Die Gelegenheit zur Pachtung kleiner Parzellen ist eme sehr ge-
ringe . . . Die Möglichkeit zum Erwerb von Parzellen ist noch weit
geringer, als in den ösdich der Elbe gel^;nen Kreisen der Provinz . .
In den Hauptrübenkreisen ist der Arbeiter vom Landerwerb gänzlich
ausgeschlossen und hat keinerlei Möglichkeit zum Kleinbesitzer aufzu-
steigen." (Die Landarbeiter in ilen evangeüschen (icbieten Norddeutsch-
lands herausgegeben von Max Weber, i Heft S. 21. vgl. auch S. 79 u. 80).
Wenn der Grofsgrundbesitz in den 6 östlichen preufsischen Provinzen
von i88a b» 1895 an Areal abgenommen ha^ so ist dies nach von der
Goltz hauptsächlidi eine Folge der Ansiedlungsgesetze und Rentengut»>
gesetze. Gleidizeit^ vermehrte sich der Grofsgrundbesitz in den anderen
preufsischen Provinzen und in Süddeutschland. Die grolse Zahl der
Parzellenbetriebe im nordöstlichen Deutschland stellen , wie von der
Goltz weiter bemerkt, zum weit überwiegenden Teil die den Tagelöhnern
von der Gutsherrschaft überwiesenen Deputatlandereien dar.
Als Hauptmittel zur Besiegung aller agrarischen Nöte feiert der Ver-
fasser das landwirtschafüiche Genossenschaftswesen. Mit Recht weist er
darauf hin, dafs die Mehrzahl aller deutschen Genossenschaften (72'*/o)
der Landwirtschaft angehören, mit Recht weist er auf die imponierenden
Zahlen hin, in denen der Aufschwung der genossenschaftlichen Bewegung
sich ausq>richt, mit Recht betont er Kautsky gegenüber die starke Be-
teiligung auch der Bauern an den ( Genossenschaften. \\ rnn er aber die
bestehenden Cienossenschatten als wahre Keime einer vollständigen Wirt-
schaftsgenicinde bezeichnet, so scheint er mir, um mit Heine zu reden,
von den Eichenwäldern zu träumen, die in der Eichel schlummern. So über-
trieben der Verfasser die Bedeutung des Gaiossenschaftswesen veranschlagt,
so wenig wird er der Wichtigkeit des landwirtschaftlichen Arbdterschutzes ge-
recht Seine Polemik gegen denselben verkennt, dafs die in der ersten Zeit
jedenfalls sehr milden Arbeiterschutzgesetze nicht die von ihm befürchteten
Betriebsänderungen hervorrufen werden. Der Verfasser scheint übrigens
nicht zu wissen, dafs schon jetzt vereinzelte .Arbeiterschutzbestinimungen
für die Landwirtschaft vorhanden .sind. So existieren i'ulizciverordnungen
über Sonntagsarbeit, so verbieten die Unfallverhütungsvorschriften mehrerer
Berufsgenossenschaften die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren be
*) Ton der Golts, Voricnmgen Aber Agnxweun und Agrarpolitik. Jena
.1899. S. 88.
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754
Littcrator.
Dreschmaschinen. (\'gl. c R UnfallverhUtungsvoischriften der ■chtemchen
Eisen- und Stahl) )erufsi;enosSfnschaft Nr. 3.")
Als Ausdruck einer weitverbreiteten Strömuni,' wird die vorliegende
Arbeit viele Leser und <;rorse Beachtung finden, (krade deshall) muliste
an dieser Stelle auf ihre schwachen Seiten hingewiesen werden.
Breslau.
O. PRINGSHEIM.
UNIV. C? - ...-.-».if
t-Lb 3 1912
Lippert ji; Co. (G. l'äu'xche Bucbdr.;, Naumburg j.d.
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edby GooqI'