Skip to main content

Full text of "Archiv für sozialwissenschaft und sozialpolitik"

See other formats


Archiv  für 
Sozialwissen 
und 

Sozialpolitil< 


Heinrich  Braun, 
Werner  Sombart, 
Max  Weber, ... 


yi. jd  by  Google 


ARCHIV 
fOr 

SOZIALE  aE6£TZGEßUNG  UND  STATISTI£. 


Digitized  by 


ARCHIV 

FÜR 

SOZIALE  GESETZGEBUNG 
ÜND  STATISTIK. 

ZEITSCHRIFT 
ZUR  ERFORSCHUNG  DER  GESELLSCHAFTUCHEN 
ZUSTÄNDE  ALLER  LÄNDER 

IN  VERBINDUNG  MIT 

EINER  REIHE  NAMHAFTER  FACHNCANNER  DES 

IN-  UND  AUSLANDES 

HERAUSGEGEBEN  VON 

Dr.  HEINRICH  BRAUN. 


VIERZEHiNTER  BAND. 


BERLIN. 
CARL  HEYMANNS  VERLAG. 

1899. 

BMÜX&LLBS:  UBEAm  smoFima  a  miquABDT.  —  BUDAPEST:  ibdouid 

mmok  CHRISTI  ANJA:  h.  aschkhouo  &  co.  —  HAAG:  i.TBmnuE  BXUNPiütn 
nloam.  —  KOPENHAGEN:  avt>r.  kred.  host  &  sön.  —  LONDON:  da  vi©  kutt.— 
NEW-  YORK  :  oüstav  b.8tk(  hkkt  PARIS:  n.hs.  soxmiaa^  —  ST.  PETERSBURG : 
K.  u  aicuB.  —  ROM:  u>S8caEii  a  00.  STOCKHOLM i  samsom  &  walux.  — 
WIEN:  K.  K.  BomsLAflt-  vm»  onrafiTinBOOHBAimLO»».  —  ZOrICH: 

Mxm  nun. 


Digitized  by  Google 


Nachdruck  und  L'ebcTMUnng  vorMwIlen 


Vertag»<Arcbiv  309$. 


i^iyui^ud  by  Google 


INHALT  DES  VIERZEHNTEN  BANDES. 


ARHANDI.TTNGF.N. 

Seite 

Bernstein.  Eduard,  in  London,  Die  Arbeitsteilhaberschaft  in 

der  britischen  Genossenschaftsbewegung  406 

Cohn,  Prof.  Dr.  Gustav,  in  Göttingen,  Die  Entwicklung  der 

Bestrebungen  für  internationalen  Arbeiterschutz   «;  ^ 

Hof  mann,   Dr.  Emil,   Nationalrat   in  Frauenfeld,   Der  gegen- 
wärtige Stand  der  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schweiz     .  105 

Loewenfeld,  Prof.  Dr.  Theodor,  in  München,  Koalitionsrecht 

und  Strafrecht  471 

Rauchberg,  Prof.  Dr.  Heinrich,  in  Prag,  Die  Berufs-  und 

Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  18Q5  .    .  227 

VorhcMnerkung  227 

Erster  Teil.   Die  Methode  der  Ix-rul-^-  und  Cicwerhc/ahluii^  2 
Zweiter  Teil.   Berufsgliederung  und  soziale  Schichtung  261.603 

Sombart,  Prof.  Dr.  Werner,  in  Breslau,  Die  gewerbliche  Arbeit 

und  ihre  Organisation   i 

L  Die  gewerbliche  Arbeit  in  natur»  und  sozialwissenschaft« 

lieber  Betrachtung.    Bisherige  Litteratur   i 

II.  Grundzüge  einer  Prin/.ipienlehre  der  ökonomischen  Technik  1 7 

Iii.  Wirtschaft  und  Betrieb   310 

rv.  Betrieb  und  Betriebsformen   321 

V.  Wirtschaftsstufen,  Wirtschaftssysteme,  Wirtschaftsformen    .  36S 

Struve,  Peter  von,  in  St.  Petersburg,  Die  Marxsche  Theorie 

der  sozialen  Entwicklung.    Ein  kritischer  Versuch  658 

Vanderveldc,  Dr.  Emil,  Mitglied  der  Deputiertenkammer  in 
Brüssel,  Ein  Kapitel  zur  Aufsaugung  des  Landes  durch  die 
SiadL^  .  .    -    -  .  .  .  .  äa 


VI 


Inhalt. 


GESRTZGF.RnNQ. 

Deutsches  Reich.  Zur  Revision  des  deutschen  Ciewerbegerichts- 
gesetzes.  Von  M.  von  Schulz^  Gewerberichter  und  Vorsitzendem 
des  Gewerbegerichts  Berlin  1.^9 

Die   Novelle   7\\r   Gewerbeordnung.     Eingeleitet    von  Hermann 

Molkenbuhr,  Mitglied  des  Reichtags  iqi 

Wortlaut  des  Entwurfs  eines  (resetzes,  betr.  die  A])änderung  der 

(Gewerbeordnung  204 

Die  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte  aus  91,  Absatz  6  der 
deutschen  Handwerkemovelle.  Von  M.  von  Schulz,  Gewerbe- 
richter und  Vorsitzendem  des  ( lewerbegerirhts  Berlin    .    .    .  705 

Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  zum  Schutze  des  gewerblichen 

Arbeitsverhältnisses  71^ 

MISZELI.KN. 

F. nt^ländcr,  Dr.  Osknr,  in  Prag.  Die  Statistik  der  Unfall-  und 

Krankenversichemng  in  Oesterreich  für  das  Jahr  1896   .    .    .  422 

Frankenberg.  H.  von,  Stadtrat  in  Braunsrhweig ,  Die  Ver- 
sicherungspflicht der  Lehrer  210 

Westergaard,  Niels,  Arroeninspektor  in  Kopenhagen-Frede» 

riksberg,  Arbeiterbauvereine  in  der  Umgegend  Kopenhagens  .  716 


LITTERATUR. 

Bernstein,  Eduard,  Die  Voraussetzungen  des  Sozialismus  und 

die  Aufgaben  der  Sozialdemokratie  {Feter  von  Struve)    .    .    .  723 

Hallgarten,  Robert,  Dr.  jur.,  Die  kommunale  Besteuerung 
des  unverdienten  Wertzuwachses  in  England.  (Münchener  volks- 
wirtschaftliche Studien,  Stück  32)  (Dr.  Ludwig  Sinzhetmer)    .  739 

Hertz,  Friedrich  Otto,  Die  agrarischen  Fragen  im  V^erhältnis 

y.nni  So/i.-ilismiis  Hil  i-incr  \  Oirtde  von  Kdii.ird  HfinsttMii. 


(Dr.  0/to  Frings  heim)  751 

Kautsky,  Karl,  Bernstein  und  das  sozialdemokratische  Programm. 

{Peter  von  Struve)  723 

Kiaer,  A.  N.  und  Hanssen,  E.,  Sozialstatistik,  Band  I — III. 

(Dr.  Clemens  Heiss)  462 

Kistjakowsky,  Dr.  Th.,  Gesellschaft  und  Einzelwesen.  {Peter 

von  Struve)  222 


i  Google 


Inhalt.  Vll 

S<?itg 

Landolt,  Karl,  Die  Wohnungsen<}u6te  in  der  Stadt  Bern  vom 

17.  Februar  bis  11.  März  1896.    (Dr.  Emil  Ho/mann).    .    .  215 

M  a  1 1  b  i  e ,  M.  R.,  Municipal  Functions,  a  Study  of  the  Development, 

Scope  and  Tendency  of  Municipal  Socialism.  (Dr.  C.  Hugo)   .  746 

Natorp,  Paul,  Socialpädagogik.  Theorie  der  Willensery.iehunK 
auf  der  Grundlage  der  Gemeinschaft.  (Prof.  Dr.  Ferdinand 
Timnus)  445 


Verzeichnis  derjenigen  Autoren,  die  zum  XIV.  Bande  Beiträge 

lieferten. 


Bernstein,  K.,  in  London,  406.  Raiichbcrg,  11,,  in  Prag  227,  603. 

Cohn.  G.,  in  (i«)ttingen,  53.  Srhnlz,  M.  von,  in  Berlin  139,  705. 

Englander,  ().,  in  Prag,  422.  Sin/hciiuer,  L.,  in  Frankfurt  a.  M.  739. 

Frankenberg,  H.  von,  iniJraunschweig,  Sombart,  W.,  in  llrcslau,  i,  310. 

210.  Stnive,  P.  von,  in  St.  Petersburg, 
Heifs,  C,  in  Berlin,  462.  222,  658,  723. 

Hofmann,  E.,  in  Frauenfeld,  105,  2 1  5.  'l'onnies,  F.,  in  Hamburg,  445. 

Hugo,  C,  in  Stuttgart-Degerloch.  746.  Vander\ i-lde,  Iv,  in  Brüssel,  80. 

l.oewenteld,  Th.,  in  Muik  heu,  471.  Westergaard ,   N..    in  Kopenhagen- 
Molkenbuhr,  H.,  in  Mamburg,  191..     Frederiksberg,  716. 
Pringsheim,  O.,  in  Breslau,  751. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 

Von 

WERNER  SOMBART. 
L 

Die  gewerbliche  Arbeit  in  natur-  und  sozialwissenschaftlicher 
Betrachtung.    Bisherige  Litteratur. 

Wenn  die  Früchte  dem  mütterlichen  Boden  entnoiiimcn,  wenn 
das  Getreide,  die  Baumwolle  gccrntet ,  wenn  die  BiiuiiK'  ^'c- 
iallt,  die  Schafe  geschoren  sind,  dann  cil(-n  Tausend  und  aber 
Tausend  geschäftif^e  Hände,  sich  dieser  mannigfachen  Stoffe  zu  be- 
mächtigen, um  sie  dem  menschlichen  Bedarfe  tauglicher  zu  marhrn. 
Dort  wandert  das  Korn  zur  Mühle,  die  BaunnvoIIe  in  die  Spinnerei, 
das  Holz  des  Waldes  wird  zersäijt  und  \'()m  Zimmerer  oder  Tischler 
in  Bearbeitung  genommen,  die  Bäuerin  xerspinnt  ihren  Flachs  und 
ihre  Wolle,  der  Schuster  zerschneidet  seine  Haut  zu  Schuhen  und 
Stiefeln.  Und  all'  diese  Thätigkeit,  dieses  Wirken  ist  es.  was  wir 
zusammenzufassen  gewohnt  sind  unter  der  Bezeichnung:  gewerb- 
liches Leben,  in  dem  engeren  Sinne,  wie  gleich  hinzugefügt 
werden  mag,  der  „stoffvercdehiden  Thätigkeit."  P-s  ist  eine  bunte 
Reihe  von  Erscheinungen,  die  uns  dieses  „gewcrbUche  Leben"  dar- 
bietet: rauchende  Schornsteine,  zur  .-Xrbeit  ziehende  Männer  und 
Weiber,  spinnende  Bäuerinnen,  zuckende  1  )ainphna>ciiinen,  Kessel 
und  I-{uttiehe  mit  gärenden  .Substanzen,  Fabrikeninsj)ektoren.  Arbeit.s- 
einstclhinj.'-en .  Kartelli)il(lunL:i"n  und  was  sonst  noch  von  dem  tausend- 
(altigen  Leben  uns  zur  Lrscheinung  kommt. 

Und  mannigfaltig  ist  auch  die  Stellung,  die  wir  dieser  Fülle 
der  Gesichte  gegenüber  cinncimicn  können:  wir  können  das  Leben 

Arehir  fSr  to*.  Ctnugebung  u.  StatUtlk.  XIV.  > 


Digitized  by  Google 


2 


Werner  Sombart, 


selber  leben ,  selber  heim  Tagcsr^^raucn  in  die  Vorstadt  hinausziehen, 
wo  uns  für  lange  Stunden  die  riesige  Werkstatt  verschlingt,  selber 
hinter  dem  Kontortisch  sitzen  und  die  Fäden  eines  grofsen  Betriebes 
in  unserer  Hand  zusammenlaufen  lassen ,  selber  als  Bäuerlein  die 
Haut  des  eigenen  Ochsen  in  die  Loligrube  legen  oder  hinler  dem 
Webstuhl  Stoffe  aus  selbst  gesponnenen  Faden  weben  .  .  .  Wir  können 
aber  auch  nur  Beschauer  des  mächtigen  (ietriebes  bleiben  und  viel- 
leicht bcküinincrt  um  der  Seelen  Heil  derer,  die  in  jenem  Räder- 
werke mitleniii  ein  Rädchen  bilden,  helfend,  sorgend,  er- 
bauend uns  ihnen  nahen.  Wir  mögen  als  Dichter  die  Leiden 
und  hreudcn  jener  Kreise  besingen,  die  die  gewerbliche  Arbeit  ver- 
richteti.  ( ){ler  als  Staatsmann  ordnend  in  ihr  Dasein  eingreifen. 
Wir  können  ihr  Wirken  mit  Mammcnschrift  auf  der  Leinwand  als 
bildender  Künstler  verewigen.  Aber  wir  können  endlich  auch  mit 
dem  ordnenden  Geiste  jene  h'lut  von  Erscheinungen  in  Systeme 
und  (icsetzc  bringen;  wir  können  sie  uns  \erständlich  machen,  in- 
dem wir  sie  dem  Nachdenken  unterwerfen.  Wo  dieses  Nachdenken 
ein  methodisch  geordnetes  wird,  entsteht  eine  Wissenschaft,  so  hier 
eine  Wissenschaft  von  gewerblichem  I.  e b e  n ;  es  läge  nahe 
zu  sagen:  eine  ,.( icwerhswisscnschafl"  oder  „Gewerbelehre" .  wenn 
diese  Ausdrücke  nicht  zu  unbcstinmit,  zu  vielseitig,  zu  \  iel\erwandt 
wären.  Denn  der  (iesichtspunkte,  unter  denen  wir  die  Vorgänge  in  der 
Sphäre  gewerblicher  Produktion  wissenschaftlich  betrachten  können, 
giebt  es  mehrere,  so,  dafs  auch  mehrere  Wissenschaften  bei  dieser 
Betrachtung  sich  herausbilden  können   und  herausgebildet  haben. 

Die  eine  dieser  Wissenschaften,  die  das  gewerbliche  Leben  zum 
Gegenstand  haben,  fragt  danach,  wie  es  geschieht,  dals  aus  Baum* 
wolle,  Flachs  oder  sonst  dnem  Stoffe  Gespinnate  entstehen,  da& 
die  Rübe  sich  in  Zucker,  die  Kartoflel  in  Alkohol,  das  Eisenerz  sich 
in  Stahl  verwandle.  Sie  untersucht  die  natürlichen  Prozesse  me- 
chanischer oder  chemischer  Art,  die  ein  Stoff  durchlaufen  mu(s,  um 
in  einer  anderen  Gestalt  menschlichen  Zwecken  dienstbar  zu  werden. 
Dabei  betrachtet  sie  den  Menschen  in  keiner  anderen  Bedeutung,  als 
der:  Trager  von  Kräften  zu  sein,  die  in  dem  Produktionsprozels  zur 
Anwendung  gelangen.  Ob  eine  menschliche  Hand  den  Faden 
spinnt  oder  der  Sauerteig  das  Mehl  auftreibt,  ist  fär  jene  Betrach- 
tungsweise, wir  wollen  sie  die  naturwissen  schaftliche  nennen, 
gleichgültig.  Der  Mensch  verschwindet  hinter  den  Geschöpfen  seines 
Geistes:  die  Dampfmaschine  hat  eine  bestimmte  Zusammensetzung 
von  Eisenteilen,  auf  die  der  Dampf  in  bestimmter  Weise  wirkt;  die 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  nnd  ihre  Organisation.  ^ 

Sohlenuahina^i  hiiie  näht  in  bestimmter  Art  den  Faden  in  das  I-eder 
hinein;  die  l  arbstofife  in  einem  Bottiche  machen  bestimmte  \'er- 
äadcrunL;cn  durch,  um  die  gewünschte  Zusammensetzung  zu  er- 
halten u.  s.  w.  Es  giebt  von  diesem  Standpunkt  aus  in  aller  ge- 
werblichen Produktion  nur  Stoffe,  Kräfte,  Verbindungen,  Prozesse, 
alles  unter  der  Herrschaft  derselben  Gesetze  stehend,  die  in  der 
Natur  als  gültig  erkannt  sind.  Diese  Betrachtung  der  Vorgänge  in 
der  gewerblichen  Ftodukdon,  die  auf  der  naturwissenschaftlichen 
Baas  ruht,  wächst  sich  in  systematischer  Ordnung  zu  derjenigen 
Wissenschaft  aus,  die  wir  alsTechnologiczu  bezeichnen  gewohnt 
sind. 

Technologie  ist  dem  Wortsinnc  nach  die  Lehre  von  der  Tech- 
nik und  wurde  als  solche  ein  aufserordentlich  groises  (iebiet  um- 
spannen. Denn  Technik  in  einem  weitesten  Verstände  ist  jegliches 
„Kunstverfahren"  zur  zweckmäfsigen  Erziel ung  eines  Erfolges. 
Wir  sprechen  von  einer  Kriegstechnik,  von  einer  Gesangstechnik, 
Schaffle  sogar  von  einer  Technik  der  Religionsgesellschaften.  Aber 
*  auch  wenn  wir  den  Begriff  auf  diejenigen  „Veribhrungsweisen"  be- 
schränken, die  in  irgend  einer  Beziehung  zum  Wirtschaftsleben 
stehen  *),  umfafst  die  Wissenschaft  von  der  Technik  immerhin  noch 
ein  sehr  weites  Gebiet  Denn  eine  Technik  hat  der  Welthandel, 
eine  Technik  hat  jedes  Verkehrsinstitut  und  doch  denken  wir  an 
diese  „Kunstverfahren"  nicht,  wenn  wir  von  Technologie  sprechen. 
Vielmehr  möchten  wir  diesen  Begriff  eingeschränkt  wissen  auf  die 
Lehre  von  der  Gütererzeugung  und  dem  Gütertransport.  Denn  da- 
zu scheint  sich  die  moderne  Technolc^ie  ausgewachsen  zu  haben, 
während  üe  in  ihren  Anfangen  eine  noch  engere  Bedeutung  hatte 
und  thatsächlich  nur  die  Lehre  von  den  Produktionsverfehren  der 
stoflveredelnden  Thätigkeiten,  also  der  Gewerbe  im  engeren  Sinne, 
war.  Damals  verstand  man  aber  auch  unter  „Technik"  ebenfalls 
nur  die  stoffveredelnde  Produktion:  „unter  technisch  verstehen  wir 
immer  das,  was  sich  auf  die  Zurichtungsgewerbe  bezieht."')  So 
dafe  man  konsequent  zwischen  Bodennutzung,  technischer  Thätigkeit 


*1  Scbäffle,  Bau  nnd  Leben  des  sozialen  Käri>en.  4  Bde.  1881.  XIII.  liaupl- 
abcchnitt. 

*)  £  in.  H  c  r  r  m  ann ,  Tcchniscbe  Fragen  und  Probleme  der  modernen  Volkswüt- 
acbaft.    Leipzig  1891. 

P.  Pb.  Geier,  lieber  den  Hanabalt  in  der  Tedtnik.  Würzburg  tSao. 


Digitized  by  Google 


4 


Werner  Sombart, 


und  Handelsverkehr  unterschied.')  Noch  Karmarsch  will  im  Jahre 
1872  unter  Technologie  verstanden  wissen  „die  systematische  Be- 
schreibung und  rationelle  Erklärung  derjenigen  Veriahningsweisen 
und  HU&mittel,  vermöge  welcher  die  rohen  Naturprodukte  zu 
Gegenstanden  des  physischen  Grebrauchs  durch  menschlichen  Kunst- 
fleÜs  bearbeitet  werden."*)  Und  auch  heute  spricht  nian  noch  von 
„Technikern",  „Techniken,"  Pol3ftechniken  und  denkt  dabei  in  erster 
Linie  an  die  Technik  der  gewerblichen  Produktion. 

Uns  kam  es  an  dieser  Stelle  lediglich  darauf  an,  in  Erfahrung 
zu  bringen,  daSs  die  gewerbliche  Produktion  in  naturwissenschaft- 
licher Betrachtung  Anlais  zur  Existenz  einer  besonderen  Wissenschaft, 
der  Technologie,  genauer  eines  Zweiges  der  Technologie,  der  ge- 
werblichen Technologie,  als  einer  angewandten  Naturwissenschaft 
geboten  hat  Unser  Weg  fuhrt  uns  schon  jetzt  an  diesem  Wissens« 
gebiet  vorüber  zu  einer  uns  näher  ai^ehenden  Betrachtungsweise 
des  gewerblichen  Lebens,  die  wir  einstweilen  freilich  nur  um- 
schreiben ,  nicht  benennen  können,  weil  ihr  der  Name  annnoch 
fehlt 

Betrachtet  die  Technologie  die  Produktionsvotgange  als  Natur- 
prozesse, so  erscheinen  sie  in  derjenigen  Auffassung,  der  wir  nun- 
mehr unser  Interesse  zuwenden,  und  die  ich  um  dem  Kinde  einen 
Namen  zu  geben,  die  sozial  wissenschaftliche  ^)  ßetrachtui^- 

weise  hcifscn  will,  als  Arbeitsleistungen.  Damit  wird  denn  sofort 
der  Mensch  in  den  Mittelpunkt  der  Betrachtung  gerückt :  Der  Mensch 
als  Erzeuger,  der  Mensch  als  Persönlichkeit  mit  einem  fest  um- 
schriebenen Können  und  Wollen.  Was  unter  diesem  Gesichts- 
punkte unsere  Aufmerksamkeit  fesselt,  ist  nun  die  Art  und  Weise, 
wie  der  arbeitende  Mensch  sich  seiner  .Aufgabe,  Güter  zu  pro- 
duzieren entledigt:  gewits  sind  es  dieselben  Vorgänge,  bei  denen 

'1  So  noch  Schüz,  Pas  Prinzip  der  Ordnung  in  der  Volkswirtschaft,  (Zeit- 
schrift liir  die  gesamte  Staafswi^sf iisctuitt  II    184;)  S.  248}. 

Karmarsch,  Geschichte  der  1  cchnolojjie.    München  1872.    S.  2/3.  Vgl. 
Midi  S.  859:  „Lehre  von  der  künstlichen  Umwandlung  rober  Naturprodokte"  u.  s.ir. 

*)  Dicwea  alles  Wiitschaftsleben  des  Menschen,  also  auch  alle  wirtschaftliche 
Prodnktion,  nienak  das  Werk  eines  Einaelnen  ist,  sondem  stets  and  aberall  sich  in 
der  Gesellschaft  (oder  Gfwneinsdiaft)  abspielt,  so  gewöhnen  wir  mis  jetzt  alle  ökono- 
mische Betrachtung  als  einen  Teil  der  Sosialwissenschaft  anzusehen.  Daher  schien 
ms  auch  fttr  die  im  Text  umschriebene  Wissenschaft  die  Bezeichnung  als  Sozial- 
Wissenschaft  am  ehesten  am  Platze.  Es  wird  sich  im  weiteren  Verlauf  unserer  Dar- 
stellung noch  Gelegenheit  bieten,  darüber  zu  reden. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerblidie  Arbeit  und  ihre  Oiguisatioii. 


5 


wir  sein  Thun  beobachten,  die  auch  der  Technologe  der  Analyse 
unterzieht  Was  aber  sich  verändert  hat,  ist  der  Gesichtspunkt, 

unter  dem  wir  unsere  Betrachtung  anstellen.  Jetzt  fragen  wir,  ob 
die  Arbeit  durch  menschliche  Fingerfertigkeit  oder  durch  maschinelle 
£inricbtui^;en,  ob  durch  menschHche  Kraftanstrengung  oder  unter 
Benutzung  aufsermenschlicher  Kräfte  vollbracht  wird;  ob  ein  ein- 
zelner Mensch  oder  eine  Menge  von  Arbeitern  sie  vollbringt;  welcher 
Art  die  Ordnung  ist,  denen  diese  Vielheit  von  Arbeitern  untersteht; 
welche  Rechts-,  welche  Ueber-  und  Unterordnungsverhältnisse  sich 
unter  den  bei  der  Produktion  beteiligten  Personen  ergeben;  wir 
fragen,  welcher  Art  die  Organisationsformen  sind,  in  denen  die  Ver- 
wertung der  Produkte  erfolgt  und  weiteres  mehr. 

Ein  Beispiel  mag  den  Unterschied  der  beiden  Betrachtungs- 
weisen:  der  naturwissenschaftlichen  und  sozialwissenschaftlichen  ver- 
deutlichen. Ich  schlage  in  einem  der  neuesten  technologischen 
Handbücher,  in  dem  kompendiösen  „Reich  der  Erfindungen"  aut 
S.  554  den  Abschnitt  auf,  der  „die  Brotbäckerci"  behandelt.  Er 
lautet  im  Auszuge  also :  Als  Rohmaterial  für  die  Brotbereitung  dient 
das  aus  den  Zerealicn  gewonnene  Mehl  .  .  .  Die  Bereitung  des 
Brotes  beginnt  mit  dem  Anmachen  des  Teiges  und  dem  Kneten 
desselben.  Dabei  wird  das  Mehl  mit  Wasser  zu  einem  Teig  ver- 
arbeitet, wodurch  einige  Bestandteile  desselben  chemisch,  andere 
physikalisch  verändert  werden.  Das  Dextrin,  die  Dextrose  und 
einige  eiweifsartige  Körper  .  .  .  u.  s.  w.  Mit  dem  Wasser  zugleich 
hat  man  beim  Anmachen  des  Teiges  als  Gärungsmittel  entweder 
Hefe  oder  Sauerteig  hinzugesetzt.  Sauerteig  ist  .  .  .  u.  s.  w.  Xun 
überläfst  man  den  mit  Mehl  bestreuten  Teig  an  einem  mafeig 
warmen  Orte  ca.  12  Stunden  lang  der  Gärung.  Diese  spaltet . . .  u.s.  w. 
Das  Abteilen  der  Teigstücke  zu  je  einem  Brote  wird  in  den  Grofs- 
betrieben  der  Bäckereien  —  NB.  Das  ist  eine  dem  Technologen 
schon  nichts  mehr  angehende  Hinzufügung;  es  würde  genügt  haben, 
zu  sagen  „wurde"  oder  „wird" ;  „wird  entweder  oder"  —  jetzt  durch 
Teilmaschinen  vorgenommen  und  (es)  mufs  hierbei,  da  die  Brote 
ein  bestinnutes  Gewicht  haben  sollen,  die  während  des  Backens 
verdunstende  Wassermenge  berücksichtigt  werden  .  .  .  Aus  dem 
aufgegangenen  und  gekneteten  Teig  wird  durch  Backen  das  Brot 
erzeugt   Der  Backofen  besteht  . . .  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Und  nun  demgegenüber  die  Fragen  ganz  anderer  Art,  die  wir 


')  Henutsgegeboi  Ton  Dr.  H.  Samter,  3.  yerm.  Auft.  Berlin  1898. 


Digitized  by  Google 


6 


Werner  Sombart, 


unter  sozialwissenschaftlichem  Gesichtspunkte  bei  einer  Betrachtuiij^ 
derselben  Vorgänge  —  dem  Broterzeugunpsjjrozesse  stellen  würden: 
welcher  Art  ist  die  Arbeit:  manuell  oder  maschinell;  welche 
Wirkung  üben  etwa  verschiedene  Arbeitsmethoden  aus :  ist  die  eine 
leistungsfähiger  als  die  andere,  leichter  und  bc(]ucmcr  als  die  andere. 
Ist  es  die  Arbeitsleistung  einer  oder  weniger  oder  vieler  Personen, 
die  sich  in  die  Hände  arbeiten.  Wird  Tag  und  Nacht  gearbeitet, 
d.  h.  ist  der  Betrieb  ein  kontinuierlicher  und  eventuell  weshalb? 
Stehen  einzelne  der  Mitarbeiter  in  einem  Abhängigkeitsverhältnis 
zu  anderen?  in  welchem?  X'erzehren  dieselben  Personen  das  Brot, 
die  es  backen,  oder  andere  ?   Und  was  dcrgleiclien  Fragen  melir  sind. 

Ihre  systematische  Beantwortung  kann  man  die  Lehre  von 
der  (gewerblichen)  Arbeit  und  den  Formen  ihrer  (Or- 
ganisation nennen  und  sie  ist  es,  zu  der  im  Folgenden  einige 
Beiträge  geliefert  werden  sollen. 

Damit  sich  der  Leser  beijuenier  in  meinen  Gedankengang  hinein- 
finde, will  ich  versuchen,  ehe  ich  meine  eigene  Darstellung  gel)e, 
ihm  einen  Uebcrblick  zu  verschaffen  über  dasjenige,  was  bisher 
über  den  (jegenstand  an  Litteratur  vorliegt.  Um  dabei  nicht  ins 
Uferlose  uns  zu  \crlieren,  genügt  es,  unser  dogmengeschichtliches 
Resunie  mit  Adam  Smith  zu  beginnen.  Auch  in  der  Behand- 
lung derjenigen  I-ragen,  die  uns  hier  interessieren,  zeigt  sich  die 
Kigenart  dieses  wundersamen  Autors.  Was  er  in  den  drei  ersten' 
Kapiteln  seines  Wealth  of  Nations  vorträgt  —  und  diese  sind  es,  in 
denen  er  die  Probleme  der  Organisation  der  .\rbeit  behandelt,  die 
also  för  uns  in  Betracht  kommen  —  enthält,  wie  man  jetzt  weifs, 
kaum  einen  einzigen  Gedanken,  der  nicht  von  einem  anderen  Schrift- 
steller vorher  schon  ausges]>rochen  wäre.  Aber  diese  berühmten 
Kapitel  des  Smith^schen  Werkes  enthalten  dafür  auch  ungefähr 
alles,  was  man  zu  jener  Zeit  über  diesen  Gegenstand  zu  sagen 
Wulste.  Smith  gebührt,  trotz  des  Mangels  an  „Originalität",  doch 
auch  auf  dem  Gebiete,  auf  dem  wir  uns  bewegen  wollen,  wie  auf 
den  meisten  anderen  der  politisdien  Oekonomie,  thatsächUch.  die 
epochale  Stellung,  die  man  ihm  —  ursprünglich  kritiklos  —  einzü* 
räumen  gewohnt  ist  Denn  djenso  wie  in  ihm  die  Strahlen  bis' 
heriger  Forschung  zusammenlaufen,  so  gehen  sie  auch  von  ihm 
wieder  aus:  alle  späteren  Untersuchungen  fuhren  in  irgend  einer 
Beziehung  auf  Gedankengänge  des  Schotten  zurück.  Freilich  ein 
anderes  ist  es,  ob  man  die  Art,  wie  Smith  die  Organisation  der 
Arbeit  abhandelte,  für  eine  glückliche  anzusehen  Veranlassung  hat. 


Digitizcd  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


7 


Eher  sclieint  das  Gegenteil  der  Fall.  Es  ist  einmal  die  Komplexität 
des  in  jenen  berühmten  Kapiteln  zusanunen  abgehandelten  Problems, 
dann  aber  auch  —  und  vor  allem  —  die  unglückliche  Gruppierung 
der  verschiedenen  Probleme  um  den  Begriff  der  .^Arbeitsteilung", 
die  fiir  viele  der  späteren  Untersuchungen  veriiängnisvoU  geworden 
sind.  Es  hat  sich  hier  die  Wahrheit  des  Satzes  bewährt:  Citius 
emergit  veritas  ex  errore  quam  ex  confusione. 

Wenn  wir,  was  merkwürdigerweise  soviel  ich  weils  bisher  noch 
unversucht  ist,  den  Inhalt  der  Smith'schen  Kapitel  über  die 
„Arbeitsteilung"  zu  analysieren  unternehmen,  so  stoisen  wir  zunächst 
auf  eine  Reihe  von  Gedanken,  die  sich  mit  einem  bestimmten 
Frinzipe  des  gütererzeugenden  Arbeitens,  mit  einer  be- 
stimmten Verfahrungsweise,  einer  dementsprechenden  Stufe 
technischenKonnens  beschäftigen.  Das  sind  die  Ausführungen 
über  Arbeitsteilung,  wir  sagen  jetzt  besser  Arbeitszerlegung,  im 
engeren  Sinne.  Um  was  es  sich  dabei  handelt,  ist  die  bestimmte 
Art  des  Menschen,  Dinge  der  äusseren  Natur  seinem  Bedarf  dien- 
lieh  zu  machen:  und  zwar  die  Art,  die  Gesamtproduktion  in 
sehr  viele  Teilprozesse  au&ulösen  und  nun  die  so  ins  einzelne  zer- 
legten Teilverrichtungen  mit  kunstvoll  spezialisierten  Werkzeugen, 
und  entsprechend  entwickelter  manueller  Geschicklichkeit  zur 
Ausführung  zu  bringen.  Gegensätze  zu  dieser  auf  weitgehender 
Arbeitszerlegung  beruhenden  Technik  wäre  etwa  eine  komplexe 
Arbeitsthätigkeit  ohne  Werkzeuge  oder  mit  gair/  rohen,  noch  nicht 
differenzierten  Werkzeugen,  oder  eine  Technik,  die  in  gröfserem 
Umfalle  an  die  Stelle  von  manueller  Geschicklichkeit  Maschinen- 
arbeit gesetzt  hätte.  Adam  Smitli  spricht  dann  bekanntlich  mit 
breiter  Ausführlichkeit  von  den  segensreichen  Wirkungen  dieses 
technischen  Verfahrens  auf  die  Arbeiter,  auf  die  Produktivität  der 
Arbeit  u.  dgL  m. 

An  diese  Ausführungen  knüpfen  nun,  soviel  ich  sehe,  zwei 
wesentlich  verschiedene  Richtungen  der  i.itteratur  in  unserem  Jahr- 
hundert an.  Zunächst  eine,  die  sich  durch  eine  ungeheure  Masse 
von  Erzeugnissen  auszeichnet.  Ks  ist  diejenige,  die  sich  die  Be- 
handlung des  Masc h  i  n c  n  probl  c m  s  zur  Aufgabe  gemacht  hat. 
Hatte  Smith  um  dasjenige  Produktionsverfahren,  das  die  letzte  Zeit 
vor  der  durch  die  Dampfmaschine  bewirkten  umfassenden  Ein- 
bürgerung der  Maschinen  beherrscht  halte,  seine  Ausführungen 
gruppiert,  so  lag  es  nahe,  nun  in  ähnlicher  Weise  von  der  Maschine 
und  ihren  Wirkungen  zu  sprechen. 


Digitizcd  by  Google 


8 


Werner  Sombiirl, 


Dabei  ist  denn  naturgemäfis  mancherlei  nützliche  Erkenntnis 
zu  Tage  gefördert  Zumal  die  ältere  englische  Litteratur  über  das 
Maschinenproblem^)  ist  reich  an  allerhand  fruchtbaren  Erörterungen, 
sei  es  tiber  die  Gestaltung  des  Arbeitsmarktes  infolge  des  Ueber- 
gangs  zur  Maschinentechnik,  sei  es  über  die  Lage  der  Maschinen- 
arbeiter, sei  es  über  die  gesteigerte  Produktivität  der  maschinellen 
Produktionsweise:  im  grolsen  Ganzen  darf  jedoch  dieser  Versuch, 
allerhand  Probleme  divergentester  Art  um  ein  technisches  Produk- 
tionsprinzip :  die  Maschine  zu  gruppieren ,  als  verfehlt  bezeichnet 
werden.  Er  führte  die  meisten  Autoren  an  dem  grundl^;enden 
Problem  der  sozialen  Ordnung  vorüber  und  somit  ins  Uferlose,  ^e 
hier  nicht  weiter  zu  verfolgen  ist^) 

*)  Du  beste  findet  sich  in  den  Systemen  and  LehrbBcbem;  dedMlb  du  beste, 
weil  bier  die  Erdrtening  Aber  die  Wirkoag  der  Mascbine  in  den  Rabmen  der  Gc* 
«ain«il«wt«n«t^£  eingefltKt  und  somit  vor  allsn  starkem  Irrliditerieren  bewabrt  bleibt. 
Muä  erinnere  sich  der  einschligigen  Kapitd  bei  Ricardo,  Mac  CuUoch, 
James  und  Jobn  Stuart  Mill,  Torrens,  Senior  a.a.  Aus  der  alteren  eng« 
1isrh<*n  Spezialliteratur  (vgl.  Stammhammer,  Bibliograpbie  der  Sozialpol.  s.  v. 
Maschine)  ragt  hervor  Thas.  Knight,  Working  m<?n'<;  companion.  Th»-  results 
of  macbinery,  namcly  cheap  production  and  rncroasrd  rmployment  cxhibiled  etc. 
12.  London  1831.  6.  A.  1830,  ein  s.  /.  vielhmchtctps  liürhlrin.  von  Ch  almers, 
Pol.  econ.,  475  „an  admirablc  little  Ircalisc"  gciiaunl.  Ucbcr  Dabbagc,  Urc  und 
Genossen,  die  auch  der  MaschinenUttetatur  zugedblt  werden  könnten,  wird  weiter 
nnten  gebändelt  Aus  der  fiteren  franaCaiidten  Litteiatur  nenne  idi,  weil  sie  bei 
Stammhammer  fehlen:  Mad.  E.  Celnard,  Des  madiincs,  de  lenr  influfnff  sur  la 
prospAit^  de  la  nation  et  le  bien^tre  des  oanim.  Tnrck,  Dhüogue  entre  pln- 
sienrs  ouvriers  sur  les  avantages  des  machines.  B^renger,  De  Vinfluence  des 
m^caniques  sur  le  priz  des  salaires  et  le  bien«£tre  du  penple.  Simtiich  Paris,  183t. 
Pet  in-8vo. 

')  Nach  dem.  was  die  Engländer  und  Franzosen  in  der  frsten  HäUte  unseres 
Jahrhundivt^  über  die  ,, Maschine  und  ihre  Wirkungen"  gescliricben  hatten,  blieb  den 
späteren  Autoren  nur  noch  übrig,  i\i  wiederholen  oder  „zusammenzuras5en".  Die 
nm  bekanntesten  Abhandhmgen  ttber  die  Maschif  t  Roschers  Aufsatz  (1855)  und 
Passes  Rudi  (1866)  bringen  schon  gar  nichts  nenea  mehr.  Die  nach  ihnen 
Kommenden  natnigemlls  noch  viel  weniger.  Trotsdem  haben  eine  Reihe  von  An* 
loren  mit  einem  grofsen  Aufwand  von  Fleifs  und  Scharfsinn  andi  in  neuerer  Zeit 
immer  wieder  die  ftüochine  zum  Mittelpunkt  ihrer  Untersuchungen  gemacht.  Die 
vollendetsten  Darstellungen  dieses  Genres  sind:  J.  S.  Nicholson,  The  efTects  of 
machinery  on  wages,  2.  cd.  London  1892.  durch  seine  Beschränkung  auf  das  Lohn» 
probh  ni  .m  Wert  gewinnend,  und  A.  Graziani,  Studi  sulla  Teoria  economica  delle 
machine.  I'orino  1891  (ir,i/,iarii  bezeichnet  es  selbst  als  die  Aufgabe  seines  Buches 
„raccogliere  i  frammcnti  ad  unitä"  (p.  7).    Keine  wesentlich  neuen  Ergebnisse  fördern 


Digitized  by  Google 


Die  geweiidklw  4d%eit  «nd  ihre  Oigu^Mtioii. 


9 


Auf  dnsameo  Pladeh,  die  aber  wie  ich  glaube  zu  freiestem 
Ausblick  liihren  werden,  wandeln  einstweilen  diejenigen  Schriftstell<er, 
die  iniofem  an  das  von  Adam  Smith  in  den  Vordergrund  gerückte 
Arbeitsteilungsprinzip  anknüpfen,  als  sie  prinzipielle  Erörterungen 
über  die  Verfehrungsweisen  der  menschlichen  Arbeit  überhaupt  an- 
stellen. Sie  ari)eiten  an  dem,  was  man  die  Prinzipienlehre 
der  ökonomischen  Technik  nennen  könnte;  d  h.  sie  unter- 
suchen die  historisch  g^beoen  Arten  technischen  Verfahrens  unter 
dem  Gresichtspunkte  des  Arbeitsaufwandes  und  des  Arbeitserfolges. 
Besondere  Förderung  bat  dieser  Zweig  der  sozialen  Wissenschaft 
bidier  von  Gelehrten  anderer  Wissenschaften  erfahren :  von  Techno- 
logen, Kulturhistorikern,  Ethnologen  und  Erkenntnistheoretikem.') 
Aber  auch  vom  sozialwissenschaftHclien  Standpunkte  aus  hat  das 
beregte  Problem  wenigstens  einen  Bearbeiter  gefunden,  der,  sich 


«odi  die  Ictttea  Monographien  Aber  den  Gesenstaad  sa  Tage:  A..Körner,  Die 
indmtrielk  MaKhine  in  der  Volkiwirtsehaft  <ZdtJcfarift  Ar  VoUnwirtwfaaft,  So- 

lialpoL  o.  Venniltung  IV.  Band  [1895  ,  39S-458')  und  A.  Grasiadei,  II  kvoro 
nnailO  e  1a  macbina  (Giornal«*  degli  Economi&ti.    Aprile  1899). 

*)  Hier  sind  rine  Reihe  prächtiger  Bücher  zu  nennen,  die  alle  Deutsche  zu  Ver- 
fassern haben  und  unserer  nationalen  Litteralur  zu  höchster  Zierat  gr-rcicht-n.  Von  tech- 
nologischen Werken  verdient  hier  den  Ehrenplatz  das  Standard  work  von  F.  Reulea ux, 
TheoretiM:be  Kinematik.  Grundzüge  einer  Theorie  des  Maschinenwesens.  Brannachweig 
187$.  Ana  den  Gebiet  der  kidlmrgesehichtMdi-ethnologisdien  Litteiatnr  seien  die  Vor- 
US^  L.  Geigers,  Zur  Entwiddongsgeschichte  der  Menschheit,  Stott^  1878,  ge- 
nannt Daran  vidfach  anknüpfend,  dann  aber  die  erkenntnislfaeoretische  Seite  mehr 
hefmrkdirend  das  ansgeaeichnete  Buch  von  L.  Noir<,  Das  Weikteag.  1880. 
Bedcotsames  hStte  anch  Ernst  Kapp,  in  seiner  „Philosophie  der  Technik", 
Braunscbweig  1877,  leisten  können,  wire  er  nicht  der  unglückseligen,  völlig  mystischen 
Idee  von  der  „Organprojektion"  —  in  der  seine  ganze  I):ir>t.  llunp  kulminiert,  vgl. 
S.  27.  140  ff.  und  passim  —  in  dem  gefährlichen  Jalir/.chntc  zum  OptVr  ge- 
fallen. III  il.-m  der  schauerliche  (k-ist  des  ..L'uhrwurstcn"  zum  Schrecken  der  Mensch- 
heit bri  helkm,  lichten  läge  umging.  Ein  wie  zähes  Leben  diese  Wahnidee  von 
der  „Organprojektion"  hat,  von  der  nch  selbst  lOnner  wie  Noir^  nicht  gana  frei  in 
halten  wnlstcn,  nnd  dafr  sdbst  „anfgfktttte**  ,>bterialisten**  von  ihr  befisUen  werden 
kflanen,  aeigt  L.  Woltmann,  der  in  seiner  Schrifk,  Die  Darwinsdie  Theorie 
nnd  der  Soaialiwnns  (Dttsieldorf  1899),  noch  hevte  den  ^oicn  Emst  Kapps  folgt. 
VgL  die  Ahadmitte:  „Die  organischen  Grandlagen  der  Technik"  S.  248  fT.  und 
„Die  tcdnischen  Bedngnngen  des  logischen  Bewnfstseins"  S.  259  ff.,  die  unmittelbar 
auf  „Kapps  fruchtbarer  Theorie  von  der  Organprojektion"  (S.  266)  fufsen.  —  Fast 
völlig  wertlos  ist  das  trotzdem  (oder  deshalb  r)  vielzitierte  Buch  von  M.  W  einhold, 
Geschiebte  der  Arbeit.  1  (einzelner)  Band.    Dresden  1869. 


Digitized  by  Google 


10 


Werner  Sombftrt, 


selbst  vielleicht  nicht  völlig  bewulst  seiner  spezifischen  Arbeits» 
leistungen,  doch  zu  den  fruchtbarsten  Autoren  unseres  Faches  ge- 
hört und  dessen  Verdienste  längst  nicht  nach  Gebühr  geschätzt 
werden:  Emanuel  Herrmann,  Ihm  verdanke  ich  soviel  An- 
regung, dass  ich  es,  unbeachtet  wie  der  Autor  ist,  hier  ausdrücklich, 
aussprechen  möchte,  wie  hoch  ich  seine  Leistungen  schätze.') 

Aber  in  den  Ausführungen  des  Adam  Smith  steckte  noch 
etwas  ganz  anderes  als  die  Krörterung  eines  bestimmten  Arbeits- 
verfahrens. Wenn  er  dieses  Arbeitsverfaliren  —  die  Zerlegung  der 
Arbeit  —  beispielsweise  an  den  Vorgängen  in  einer  Stecknadel- 
xnanufaktur  verdeutlicht,  so  weist  er  damit  gleichzeitig  auf  bestimmte 
Formen  hin,  in  denen  die  produzierende  Menschheit  jenes  berühmte 
Verfahren  auszunutzen  wie  anzuwenden  sich  bestrebt;  so  weist  er 
auf  die  Orcranisationcn  hin ,  die  die  Menschen  in  den  modernen 
Grofsbetricben  geschaffrn  halten ,  die  seine  Zeit  als  Manufakturen 
bewunderte.  Mit  anderen  Worten;  er  schneidet  damit  das  Problem 
der  (gewerl)lichcn)  B  e  t  r i  e bs s\*  s  t  e  m  e  an,  das  von  nun  ab  Gegen- 
stand besonderer  wissenschaftlicher  Behandlung  zu  werden  be- 
stimmt war. 

Die  von  Smith  gegebenen  Anlegungen  sollten  sich  auf  einem 
ganz  anderen  Gebiete  zunächst  fruchtbar  erweisen  als  auf  dem  der 
wissenschaftlichen  Xationalökoiiomie.  W'eim  einige  Iheoretiker 
dieses  Faches  glaubten,  die  Lehre  xon  der  Arbeitsteilung  damit 
weiterführen  zu  koiuien.  dass  sie  der  Arbeitsteilung  den  noch  unglück- 
licheren Begriff  der  Arbeits\  ereiiiigung  gegenüberstellten,  so  irrten 
sie.  Was  insbesondere  Wakefiel  d  in  seiner  bekamiten  Ausgabe 
der  Smilhschetj  Werke  -l  in  dieser  Richtung  leistete,  forderte  /war 
einige  wichtige  Krkenntnisse  zu  Tage  —  dem  Hcgrit'f  der  Kooi)er;ition 
in  der  von  Marx  später  entwickelten  I^nin  verhalf  W.  wohl  zuerst 
zu  dem  ihm  gebührenden  Ansehen  —  fuhr  aber  die  ganze 
Materie  doch  schlielslich  tiank  dem  weil  völlig  unbestimmtem,  auch 
unverwendbarem  Begriff  der  „Arbeits\ereinigung",  um  den  er  seine 

')  b  BetiMht  kommen  fast  simüiche  Schriften  Em.  Herrmanns,  ins* 
besondere  r.  Muiiaturbilder  ans  dem  Gebiete  der  Wirtschaft.  Halle  aS.  1873. 
Nene  Ausgabe  1877.    2.  Prinzipien  der  Wirtschaft.   Wien  1873.    3.  Knltnr  und 

Natur.  Berlin  1SS7.  4.  Sein  und  Werden  in  Raum  und  Zeit.  Berlin  i8S<}.  5.  Tcdl> 
nische  Kraben  und  Proltlmir  d.  r  !:ii)ii<-rnen  Volkswirtschaft.    I.rip/.ip  1801. 

•)  4  Vol.  London  \S.\o.  Arlmlich  hatte  schon  vorher  Poulett  Scrope  in 
seinen  Principles  of  Ecouomy  eine  Weiterbildung  der  Smithschen  Lehre  mit  Hilfe 
des  netten  BegrifTes  der  „combination"  versucht. 


Digitized  by  Google 


Die  geverUicli«  Axbcit  und  ihre  ürganisatioo. 


II 


Ausfiibningen  gruppierte,  auf  ein  totes  Geleise.  Vielmehr  waren  - 
CS  Leute,  deren  praktische  Interessen  ihnen  ein  Ansporn  wurden, 
die  Vorstellungen  von  der  modernen,  insbesondere  durch  die  neue 
Technik  neugeschaiTenen  Betriebsformen  der  Industrie  zu  erweitern 
und  zu  berichtigen.  Da  war  es  zuerst  der  Gegensatz  zwischen  dem 
konzentrierten  Grolsbetrieb  und  der  hausindustriellen  Einzelarbeit, 
der  die  Aufmerksamkeit  namentlich  der  sozialen  Hygieniker  auf 
sich  lenkte:  man  suchte  die  sanitären  Uebelstände  der  grofsen 
Fabriken  aufzuhellen,  indem  man  ihnen  die  idyllischen  Hausindustriellen 
gi^enüberstellte  und  legte  damit  die  ersten  Grundlagen  zu  einer 
gewerblichen  Betriebssystematik.  Eines  der  ersten  und  jedenfalls 
das  bekannteste  Werk,  das  in  diesem  Sinne  Aufklärung  brachte,  ist 
das  des  Arztes  P.  (jaskcll,  das  zuerst  im  jährt-  1833  erschien') 
und  die  umfangreiche  dcskriptiv-moralisierende  Industrielitteratur  der 
1830er  und  1840  er  Jahre'  in  England  und  Frankreich  einleitete. 
Wie  fördernd  Gaskells  Darstellung  für  die  Lehre  von  den  gewerb- 
lichen Betriebssystemen  war,  geht  schon  aus  (len  beiden  ersten 
Kapitelüberschriften  hervor.  Ch.  1.  „Domestic  Manufacture";  Ch.  IL 
„Factoiy  System".  Aber  vor  allem  war  es  die  Neugestaltung,  die 
der  moderne  (irofsbetrieb  selber  infolge  des  Eindringens  der  durch 
die  Dampfkraft  bewegten  Maschinerie  erfuhr,  die  das  Interesse  weiter 
Kreise  wachzurufen  bestimmt  war.  Die  Angriffe  gegen  die  im  \'or- 
dringen  begriffene  Fabrikindustrie ,  wie  sie  in  England  im  ersten 
Drittel  unseres  Jahrhunderts  sich  immer  heftiger  einstellten,  erzeugten 
eine  Reihe  bekannter  Apologien  dieser  neuen  Ordnung  der  gewerb- 
liciien  Arbeit,  die  durch  die  eingehende  Analyse  der  grofsbetrieb- 
lichen  Organisation,  insbesondere  des  Unterschiedes  zwischen  Manu- 
und  Machinofaktur  ganz  ausserordentlich  die  Lehre  von  den  gewerb- 


'1  P.  Gaskell,  The  manutiicturinR  population  ot  l'.ngland.  it--  mural,  social 
and  jihysical  conditions  and  thc  (-/!to«i,v.  uhich  havc  amtn  froin  the  use  oj  steam 
imathtnerytlc.  London  1833.  Eine  ncucAullagc  luhrt  di-n  Titel:  Artisanü  and  machinery : 
tbc  mof«!  and  pbyücal  eonditioo  <tf  die  nuurafactnriug  population  oonsidcKd  with 
icference  lo  mtckaniad  n$i$titiites  for  k$$maM  UAonr.  London  1S36.  Gaakell  erhielt 
die  spcacUc  Aaiegnng  sn  lelner  Schrift  dorch  den  sich  gerade  in  jenen  Jahren  voll* 
adiendcn  Uebergang  der  Hand-  aar  mechaniachen  Weberd.  Vgl.  s.  B.  a.  Aoagabe 
S*  330«  334  f.  and  Schttlze-Gaevernitz,  Grofsbetrieb ,  71.  Aehnliche  Veran- 
^•wng  und  ähnliche  Tendenz,  aber  ohne  die  Tiefe  Gaskells,  hatten  etwa  zehn  J.ihrc 
»piter  in  Deutschland  die  Schriften  Treumund  Wclp*  (Pseudonym  für  Kduurd 
PelzK  Uelx  r  d^n  Finflufs  drr  Fabriken  tiiui  Manufakturrn  in  St  lilc^irn.  I.t  ip/ijj 
1Ö43  44.  \Velp>  »phcht  (S.  5J  von  dem  „in  Aoklagczustand  versetzten  FabrikencinHufs". 


Dlgitized  by  Google 


12 


Werner  Sombart, 


lichea  Betriebssystemen  förderten.  Man  wcifs,  dafs  ich  dabei  in 
erster  Linie  an  Babbage*)  und  Ure,')  den  „Pindar  der  modernen 
Fabrik",  wie  ihn  Marx  getauft  hat,  denke.  In  beiden  Werken  spielt 

sownhl  die  Lehre  von  der  Arbeitsteilung  als  auch  die  von  der 
Maschine  und  ihren  Wirkungen  eine  grofse  Rolle:  Der  Fortschritt  über 
Adam  Smith  und  die  Maschinentheoretiker  sans  phrase  hinaus  liegt 
nun  darin,  dafs  beide  technischen  Verfahrungsweisen  jetzt  unter  dem 
fruchtbaren  Gesichtspunkten  ihrer  betriebsbildcnden  Kraft  betrachtet 
werden.  Ausgangspunkt  für  beide  Autoren  ist  die  im  modernen 
(irorsbetriebe  treschafiene  Ordnung  der  gewerblichen  Arbeit:  erst 
innerhalb  dieser  werden  dann  die  genannten  technischen  Verfahrungs- 
weisen in  ihren  verschiedenen  Wirkungen  analysiert. 

l'nmittelbar  an  Babbage  und  I  re  knüpft  dann  der  beliebte 
vierte  Abschnitt  des  „Kapitals"  von  Karl  Marx  an.  Marx  ist  als 
Theoretiker  der  gewerblichen  Betriehss\stenic  der  Vollender  von 
Ure,  und  über  Marx  ist  bislang  dieser  Zweig  unserer  Wissenschaft 
noch  nicht  hinausgekommen,  wie  im  weiteren  Verlauf  unserer  Dar- 
stellung ersichtlich  werden  wird. 

Aber  wie  jedermann  weifs,  ist  es  Karl  Marx  gar  nicht  in  erster 
Linie  um  eine  Förderung  der  Lehre  von  den  gewerblichen  Betriebs- 
systemen zu  thun.  Vielmehr,  wo  er  von  der  modernen  Industrie 
und  ihrer  Organisation  spricht,  ist  es  ein  ganz  anderer  Grundgedanke, 
der  seine  Ausführungen  beherrscht:  der  (iedanke,  dafs  alle  die  ver- 
schiedenen Betriebsformen  —  I Iau>industrie,  Manufaktur,  |-"abrik  — - 
einer  ganz  bestimmten,  historisch  vergänglichen  Ordnung  des  ge- 
samten Wirtschaftslebens  angehören  und  in  Gegensatz  treten  zu 
Organi-sationsformen  der  .-Xrbeit,  die  anderen  Wirtschaftsstufen  eigen 
sind.  Das  war  ein  Gedanke ,  der  keinem  der  bisher  genannten 
Theoretiker  der  Betriebssysteme  gekommen  war.  Sie  alle  hatten 
es  als  selbstverständlich  angenommen,  dass  die  allgemeine  Ord- 
nung des  Wirtschaftslebens  die  modem-verkehrswirtschaftliche  sei 
und  hatten  nur  die  verschiedenen  Formen  der  gewerblichen  Be- 
triebsorganisation innerhalb  des  Rahmens  dieser  selbstverständlichen, 
fjiatürlichen''  Wirtschaftsverfassung  untersucht    Nun  mit  einem 


Cliarlc&  Babbage,  Oa  the  Ecoaomy  ol  machinery  and  manufacturcs. 
Zuerst  London  1832. 

*)  Andrew  Ure,  Tbc  Pbilosopby  of  Manufactures  er  an  exposition  of  ibe 
sdcnlific,  moiral,  «nd  comniereial  eoonony  of  the  lactory  system  of  Gmt  Biitaia. 
Zuerst  London  1835. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  OrguusatioD. 


13 


Male  dieser  ^nnz  andere  störende  (icdanke:  es  ist  nicht  nur  die 
verschiedene  Betricbsor^anisation  zu  prüfen,  sondern  das  Aup^enmerk 
auch  zu  richten  auf  die  Verschiedenheit  der  Produktionsoidiiung  in 
verschiedenen  Wirtschaftssystemen  überhaupt.  Ks  ^\chi  aufser 
einer  verkehrswirtschaftlichen  Verknüpfung  der  ein/ehien  dlieder 
einer  Gesellschaft  auch  noch  andere  Weisen,  die  zu  umfassender 
Analyse  Anlafs  geben.  Mit  dieser  Fragestellung  war  nun  aber 
auch*  nur  wieder  eine  Gedankenreihe  weitergeführt,  die  Adam 
Smith  in  seinen  oft  genannten  ersten  Kapiteln  freilich  noch  völlig 
ahnungslos  begonnen  hatte.  Was  er  —  neben  der  Analyse  eines 
bestimmten  Verfüitens  der  Firoduktionstechnik,  neben  der  Beschreib 
biiDg  modernen  Manuiakturbetriebe  —  unausgesetzt  im  Auge  hat: 
ist  die  tauschwirtschaftliche  Verknüpfung  der  einzelnen  „arbeits* 
teilig^  arbeitenden,  zu  spezialisierten  Berufen  verdichteten  Produ- 
zenten, ist  also  eine  ganz  bestimmte  Form  wirtschaftlicher  Ordnung, 
die  zunächst  gar  nichts  mit  jenen  beiden  anderen  Dingen,  von  denen 
er  auch  so  schön  zu  reden  verstand,  zu  thun  hatte.  Also  auch  die 
Lehre  von  den  Wirtschaftsformen,  den  Wirtschaftsstufen 
und  Wirtschaftssystemen*)  können  wir  in  nuce  eben&Us  bei 
Adam  Smith  feststellen  und  somit  auch  diesen  Zweig  unserer  Lehre 
von  der  Organisation  der  Arbeit  auf  den  Schotten  zurückfuhren. 
Es  macht  sich  besser.*) 

')  Für  das  prnaucrc  Eingehen  in  die  hier  angedeuteten  Unterschiede  zwischen 
gewerblichen  1'.  «trieb  s-  und  Wirtschaftsformen  ist  auf  die  systctnaüsdie 
Darstellung  in  den  folgenden  Aufsätzen  zu  verweisen. 

*)  Der  Vollständigkeit  halber  mag  erwähnt  werden,  dafs  bei  engstem  Anscblufs 
Ml  den  —  im  Sinne  der  Berafsdifferenslening  gefafsten  <-  B^ff  der  „Arbeits- 
teüiiiig**  endlidi  noch  eine  ganz  andere  Reihe  von  Gedanken  sich  entwidcelt,  die 
aber  den  von  ans  inne  gehaltenen  Bereich  einer  Organisarion  der  Arbeit  hinaas 
einer  allgemeinen  Gesdlschafislehre  sostiebt.  Es  ist  diejenige  wissenschaftliche 
Richtung,  die  heutzutage  die  sogen.  ,,Sozi olog i c"  vornehmlich  beherrscht  und 
deren  Wesen  darin  besteht,  dafs  sie  das  Prinzip  der  Arbeitsteilung  in  dem  oben 
näher  gekenn/eichnefen  Sinne,  aliis  verbis  das  Prinzip  der  Differenzierung 
in  starker  Anlehnung  an  <lif  Hiolo^'ir  /.um  l'iilw icklungsprinzip  der  menschlichen 
Oescllschafl  schlechthin  glaubt  erklären  zu  sollen.  Eines  Eingehens  auf  diese  meines 
Eracbtens  fehlgebende  Gedankenrichtung  bedarf  es  an  dieser  Stelle  nicht.  In  meinem 
Werk  Aber  die  Theorie  der  soxialen  Entwidclong,  in  dessen  ersten,  der  VoUendong 
entgegengehenden  Band,  sidi  diese  Anfsatnreihe  als  einführendes  Kapitel  etngliedera 
wild,  wird  ta  teigen  sein,  dafs  es  ein  vergebliches  Bemllhen  ist,  ohne  Rttdcsidit  auf 
die  historisch  gewordenen,  veisdtiedanen  Wirtsdiaftsoidmmgen  ein  einheitliches  Ent> 
widdongsprinsip  flir  die  menschUche  Gesellschalt  anfstellcn  tn  wollen.   Denn,  will 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


14 


Werner  Somb*rt, 


Wie  aber?  war  jene  Lehre  voo  den  historisch  verschiedenen 
Wirtschaftssystemen,  wie  wir  sie  bei  Marx  schon  in  seinen  Schriften 
der  1840er  Jahre  und  dann  im  „Kapital"  finden,  wie  Pällas  Athene 
ihm  aus  dem  Haupte  fertig  hervorgetreten?  Keineswegs,  Vielmehr 
hatte  eine  ganze  Reihe  von  Autoren  vor  ihm  zum  Teil  vorzüg- 
liches über  dieses  Problem  gedacht  und  geschrieben. 

Wer  gewohnt  ist,  in  allen  wissenschaftlichen  Entdeckungen 
nach  dem  Bodensatze  von  Interesse  zu  suchen,  der  jeder  Erkennt- 
nis beigemischt  ist,  wird  von  vornherein  geneifjt  sein,  die  Keime 
einer  Lehre  von  der  historischen  Bedingtheit  des  herrschenden 
kapitalistischen  Wirtschaftssystems  und  daran  anschliefsend  von  der 
Eigenart  der  verschiedenen  Wiri.^chafisordnungcn  hei  denjenigen 
Denkern  zu  suchen,  deren  (»raktisches  Interesse  oder  deren  Welt- 
auffassunff  sie  zu  Gegnern  der  modernen  Wirtschaftsweise  machten: 
also  bei  den  SoziaHsten  und  Reaktionären. 

In  der  That,  wenn  wir  von  der  g^anz  unbewufsten  und  von 
wissenschaftHchcr  Erkenntnife  noch  ziemlich  entfernten  Gej^enüber- 
stellung  stachw  irtschafthcher  und  verkehrswirtschaftlicher  Gewerbs- 
ordnung abschen,  wie  sie  —  allerdings  häufiq:  trenug  —  in  den 
Schriften  unserer  deutsch-österreichischen  Kameralistik  uns  begegnet'), 

man  es  wirklich  giilli;;  lur  v<T5.clnctleneu  Wirlschaftsstulcn  lurmulicrcn,  so  kommt 
es  über  eine  gemeinplätzige  Fassung  nicht  hinftns;  will  man  diese  vermeiden  und 
das  „Gcsets"  komiser  prägen,  so  mufs  man  notwendig  der  Geschidite  Gewalt  aa- 
dran,  indem  man  ihre  VarietiUm  ignoriert  Wfts  hier  an  Litterator  sn  nennen  ist, 
sind  die  bekannten  Werke  von:  H.  Spencer,  Sociology,  namentl.  VoL  HL 
G.  Simmcl,  lieber  soziale  DifTerenzierong.  Leipzig  1889.  Em.  Dnrkbeim,  De 
la  division  du  Travail  social.    Paris  180  ^  v.  j 

Wie  dann  die  moderne  liiologie  hieb  \\  icdiTum  <lfn  aus  dem  sozialen  Leben 
übcrnonmicncn  BcgrilT  der  „Arbcitsteiliinf;  '  zu  nutze  nuiclit,  zeigt  uns  die  kleine 
Schrift  von  E.  Haeckci,  Uober  Arbeitsteilung  im  Natur-  und  Menschenleben. 
Berlin  1869.  Er  untersucht  darin  ..namentlich  jene  Formen  der  Arbeitsteilung, 
welche  die  Natnrfoneher  ab  Sonderung  oder  DUKerenaierang,  als  Spezifikation  oder 
Spea^iaation,  als  Polymorphismus  der  Individuen  nnd  ab  Divergens  des  Charakters 
bezeichnen'*  (S.  4).  Es  ist  interessant  zn  sehen,  was  Haedrel  alles  ani  dem  Be- 
griffe der  „Aibeitsteilnng",  der  in  tausend  Farben  bei  ihm  sddUert,  hennsznhplea 
versteht! 

•)  Der  Gegensatz  d.  r  Wirtschaftssysteme  ist  jedenfalls  der  dnriL''  der  z.  B. 
Justi  uml  Sonnenfels  beschäftigt,  während  das  Interesse  an  einer  Betriebs- 
systematik n.irh  dem  bekannten  Wrsucli  im  17.  sc,  die  Anwendung  des  Feuers  zum 
Untersfheidungstnerkm.il  für  F.ibrik  und  Manufaktur  zn  niarhen,  bald  ganz  schwindet. 
Manutaktur,  Fabrik,  Kommerziaiiiandwerk,  Verlag:  alle  Ausdrücke  worden  promiscue 


Digitizcd  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


SO  sind  es  in  unserem  Jahrhundert  zunächst  die  groisen  „Utopisten", 
di^  an  den  Ketten  der  ehernen  naturgesetzlichen  Unveränderlich» 
keit  der  herrschenden  Wirtschaftsweise  rüttelnd,  getrieben  vom 
Willen,  sie  zu  beseitigen,  ihr  geistiges  Auge  nach  anders  gearteten 
Wirtschaftsformen  in  der  Vergangenheit  oder  —  freilich  vor- 
wiegend —  in  der  Zukunft  ausschauen  lassen.  Man  denke  an  die 
immerhin  kühnen  Wirtschaftsgeschichtskonstruktionen  St.  Simons 
und  Fouriers,  an  die  weniger  bekannten,  aber  doch  sehr  lehr- 
reichen Ausführungen  W.  Thompsons  über  die  Systems  of 
hbour.M 

Aber  die  Lehrgebäude  dieser  groisen  Traumer  bleiben  doch 
auch  in  diesem  Punkte  noch  recht  luft^  und  unsicher.  Den  mit 
starrem  Auge  auf  die  bessere  Zukunft  schauenden  Denkern,  auch 
Saint  Simon  nicht  ausgenommen,  fehlt  das  sichere  Fundament  der 
historischen  Kenntnisse,  ohne  die  jenes  Problem  einer  Systematik 
der  Wirtschaftssysteme  seiner  Lösung  nicht  näher  gefuhrt  werden 
konnte.  Es  ist  deshalb  auch  kein  Zufall,  wenn  wir  als  den  ersten 
grundlegenden  Theoretiker  auf  diesem  Gebiete  einen  Historiker  an- 
treflfen:  Sismondi,  der  ebenfalls  mit  kritischem  Blick  die  im  Vor- 
dringen begriffene  kapitalistische  Wirtschaftsordnung  musternd  doch 
ebenso  viel  wie  von  einer  wciterbikienden  Reform  von  einer  Wieder- 
belebung vorkapitalistischer  Wirtschaftsformen  erhofft  und  daher  die 
Schilderung  dieser,  namentlich  des  Handwerks  ein  reges  Interesse 
zuwendet  „Trois  systemes  se  sont  succM^  pour  le  travail  des 
pauvres  avant  cclui  oü  nous  entrons  aujourdhui"  — 
mit  diesem  Gedanken  war  der  Grund  für  die  Lehre  von  den  Wirt- 


febraucht.  um  das  Kinc,  die  kapitalistisch  vcrkehrswirtschaftlirhr  Form  <1rr  gewerblichen 
Organisation  gc{;inüb«'r  der  überkommenen  handwerksmäßigen  zu  bezoicimcn.  Vgl. 
z.  B.  Justi,  Von  d.  ntn  ManuLiktun-n  und  babriken.  2  Hde.  1758  6l:  „Alle  alten 
Bcarbeitangsarten  werden  al:>dann  Handwerke  genannt,  die  neuen  erst  einzufiüireu* 
de»  BcaibdtaiiceB  ai»er  «ordcfi  mit  d«n  Namen  der  MamilMrtnren  vcoA  Fabriken 
bdcgt'*  3).  Einmal  ipridit  er  —  borribÜe  dictu!  —  toq  dem  „Verlag  (I)  der 
ÜHmfäctorien  md  Fabrikanten**  (!)  (L  115}.  VgL  ancb  noch  II.  84,  93,  Ebenso 
kniet  die  Definition  in  seiner  „Staatswirtschaft**  I  (1758),  390:  ,>Ianufaktnffen 
«nd  Fabriken...  pfleget  man  diejenigen  verbesserten  Arten  von  diesen  Nahrungs« 
getchiften  zu  nennen,  die  erst  in  neaerer  Zeit  bei  uns  eingeführt  worden  und  in 
keine  Innungen  und  Zünfte  eingeschlossen  sind.**  Aehnlicb  Sonnenfels,  Grand» 
iiUe  II  <;)  toS. 

M  \V.  Thompaon,  An  inqair>'  into  tbe  principles  of  tbe  distribution  ot 
Wcaltb  (1824)  p.  XVUI.  363  seq.  &  passim. 


Digitized  by  Google 


l6  Werner  Sombart, 

schaftssystemeo  gelegt,  die  Siamondi  selbst  dann  noch  in  z.  T. 
glänzender  Weise  ausgebaut  hat^) 

Wohl  durch  Sismondi  beeinflußt,  bauten  dann  in  Deutschland 
zunächst  mehrere  konservative  und  „ethische"  Nationalökonomen  die 
S3^teniatlk  der  Wirtschaitsstufen  und  der  ihnen  je  entsprechenden 
Organtsationsformen  der  gewerblichen  Arbeit  weiter  aus,  vor  allem 
M.  von  Lavergn e-  Pcguilhen')  und  namentlich  der  von  der 
offiziellen  Geschichtsschreibung  aufiallend  stiefmütterlich  behandelte 
Schü  z.  ^) 

Schüz  unterscheidet  in  dem  Abschnitte  seiner  „Grundsätze 
der  Nationalökonomie"  (1843),  dem  er  die  Ueberschrift  giebt  ,3e- 
triebsformell  der  technischen  Gewerbe"  (i^i;  104  ff.) 

1.  das  bäuerliche  Hausgewerbe;  die  technische  Thätigkeit  als 
„Nebenbeschäftigung  der  ländlichen  Bevölkerung"; 

2.  den  verselbständigten  Gewerbebetrieb  in  erweiterten  F.igen- 
wirtschaften,  „wie  im  Mittelalter  auf  den  Domänen  des  Fürsten,  des 
Adels,  der  Klöster"; 

3.  den  „handwerksmäfsigcn  Betrieb";  „die  allgemeine  Verbreitung 
dieser  Betriebsform  bildet  bei  jedem  \'olk  eine  Epoche  in  der  Ent- 
wicklung des  öffentlichen  Lebens"  (S.  192); 

4.  die  kapitalistische  l^nternchmung^ ,  die  er  zwar  nicht  mit 
Natnoti  nennt,  wohl  aber  durchaus  richtig  dem  Wesen  nach  kenn- 
zeichnet. 

Srhiiz  ;4chürt  mit  dieser  l  iitt  rsclicidiing  neben  Sismondi  ZU 
den  unmittelbaren  X'orläufcrn  von  Karl  Marx. 

Was  nach  Schüz  und  Marx  in  Deutschland  —  die  übrigen 

'1  Vgl.  .Sismondi,  Nouvraux  principcs.  2.  «1.  1S27.  Vol.  II,  p.  434. 
namcnilicli  abt-r  den  ganzen  XIII.  u.  XIV.  cssai  im  2.  Bande  seiner  Ktudes  sur 
IVconomie  poliiitjur.  (Pari*  183S.)  /,.  H.  .S.  243  die  meisterhafte  Skiuicrung  der 
Grundzüjjc  handwerksmälbiger  Organisation. 

*)  Bewcgungs-  und  Prodvktionsgesetze.  (1838)  §§  25—49.  L»  ttBtetsdieidet 
3  „WirtschaftsfoiiiMn":  Zwangs-,  Antdl»>,  Geldwirtachaft. 

^  Schtt«  gehölt  »I  denjenigen  Autoren,  die  —  ttMuenllich  auch  in  der 
Lehre  von  den  Formen  gewerblicher  Organisation  —  am  unverfrorensten  ans- 
srhri<  bcn  ond  trotzdem  —  oder  deshalb?  —  am  wenigsten  dticrt  werden.  Dieses 
scheint  übrigens  zn  den  Grundgesetzen  d.  s  wis5en?chaftlichen  Betriebes  vieler  tmserer 
gefeiertesten  Gnifscn  zu  gelxiren,  d.ils  sie  in  dem  M.il'se  ihre  Vorgänger  totschweigen, 
wie  sie  ilir»  (ied.inkeii  ,  luu  lniiij)liiidtii.  '  I)ic.\rt.  wie  beispielsweise  Marx,  gerade 
auch  in  dem  uns  l)e^chrl^(i^,'endcn  Kapitel,  einfach  abgeschrieben  imd  ignoriert  wird, 
ist  schlechterdings  .schamlos. 


Digitized  by  Google 


gewclUklie  Arbeit  md  Hure  Orguiiaatk». 


17 


Länder  kommen  nicht  mehr  in  Betracht  —  zur  weiteren  Ausbildung 
der  Theorie  von  den  Wirtschaftssystemen  geleistet  wurde,  ist  dann 
vor  allem  eine  Vertiefung  der  Kenntnisse  von  den  vorkapitalistischen 
Wirtschaftsweisen.  Die  Stufe  der  erweiterten  Eigenwirtschaft 
(^Oikenwirtschaft")  findet  ihren  genialen  Historiker  und  Theoretiker 
in  Rodbertus,  die  Periode  der  handwerksmäfsigen  Organisation 
in  der  Stadtwirtschaft  wird  zum  Lieblingsstudium  der  hervorragendsten 
Vertreter  der  historischen  Schule  der  Nationalökonomie.  Die  be- 
kannten Schriften  der  Schönberg,  Sticda,  Stahl,  Schmoller 
und  Bücher  haben  eine  Fhit  von  Licht  über  die  gewerbliche  Or- 
ganisation der  stadtwirtschaftlichen  Epoche  aus<^ef^ossen  in  solcher 
Fülle,  dafs  uns  jene  Zeit  fast  vertrauter  erscheint  als  das  letzte  Jahr» 
zehnt  des  scheidenden  Jahrhunderts. 


IL 

Gnuidsflg:e  einer  Prinsipienlehre  der  ökonomischen 

Technik. 

Wenn  wir,  was  Menschen  je  ersonnen  haben,  um  sich  die 
(iaben  der  Natur  ihrem  Bedarfc  i^eiiuils  unizufornien,  in  seiner 
Kigenart,  seiner  prinzipiellen  Bedeutung  für  das  W  irtschaftsleben 
verdeutlichen  wollen,  so  werden  wir  gut  thun,  die  verschiedenen 
X'crfahrungsweisen  unter  einen  einheitlichen  Gesicht>ininkt  derart 
zu  gruppieren,  dafs  wir  sie  auf  ihre  Geeignetheit  hin  prüfen,  {lie 
materielle  Machtspiiäre  des  Menschen  zu  erweitern.  Bei  solcher 
Fragestellung  erscheint  uns  die  lange  Reihe  der  Protluktioiismethoden, 
die  das  Menschengeschlecht  in  der  unabsehbaren  Abfolge  der  Genera- 
tionen zur  Anwendung  gebracht  hat,  als  ein  in  gerader  Linie  sich 
vollziehender  Entwicklungsgang  zu  höheren  l"ormen  des  Daseins, 
zu  einer  Mehrung  der  Macht  und  daniil  zu  gröfserer  Freiheit,  weil 
grölserer  Beherrschung  der  (iewalten  in  der  Natur,  die  sich  der  un- 
behinderten Entfaltung  unseres  Wesens  henuncnd  entgegenstellen. 
Es  wäre  eine  reizvolle  Aufgabe,  der  sich  seltsamerweise  im  Zu- 
sammenhange noch  niemand  unterzogen  hat,  auf  diesem  Entwicke- 
lungsgange  die  Menschheit  zu  verfolgen:  es  hiefse  das  eine  wissen- 
schaftliche Kulturgeschichte  schreiben,  zu  der  wir  bisher  nur  wenige 
Bausteine  besitzen.  An  dieser  Stelle  muls  es  genügen,  mit  ein 
Paar  Strichen  jene  Evolution  des  technischen  Könnens  der  Menschen 
zu  sldzzieren,  einiges  wenige  prinzipiell  über  die  mannigfachen  Ver- 

AnUv  für  «ot.  G«MttgtbanK  u.  SMiktik.  XIV.  3 


Digitized  by  Google 


I8 


Werner  Sombart, 


fall ruii^^s weisen  ge\vcrl)lichcr  Produktion  in  ihrer  Richtung  auf  fort- 
schreitende Leistungsfähigkeit  menschlicher  Arbeit  zu  bemerken. 

Nach  zwei  Seiten  hin  cnltallet  sich  gleichzeitig  die  mensch- 
liche Fähigkeit  zum  Produzieren;  es  mehren  sich  die  Kenntnisse 
von  den  Eigenschaften  der  uns  umgebenden  Natur, 
mit  der  wir  uns  zur  Erreichung  unserer  Zwecke  notgedrungen  aus- 
einandersetzen müssen;  und  es  erweitert  sich  das  Mafs  des 
eigenen  Könnens,  die  Dinge  der  äufseren  Xatur  unsern  Wünschen 
entsprechend  umzuformen:  unsere  Arbeitsfähigkeit  wird  in 
ihrer  quantitativen  Ergiebigkeit  und  quahtativen  Anpassungskunst 
auf  eine  immer  höhere  Stufe  der  Vollendung  gehoben.  Beide  Seiten 
ergänzen  sich  notwendig  und  geben  zusammen  erst  das  vollendete 
Bild  je  von  der  Stufe  technischer  Leistungsfähigkeit,  auf  die  die 
Menschheit  sich  erhoben  hat 

Bei  Ludwig  Noir^,  in  der  Einleitung  zum  „Werkzeug"  (S.  IX) 
finden  sich  die  Worte:  „Wenn  ein  Kunstler  der  Zukunft  die  schöne 
Aufgabe  wird  verwirklichen  wollen,  den  ersten  Menschen  in  Marmor 
oder  Erz  darzustellen,  dann  wird  er  ihm  als  einziges  Attribut  die 
Axt  in  die  Hand  geben."  Ich  will  nicht  entscheiden,  ob  das  Werk- 
zeug, das  den  Menschen  geschaffen  hat,  die  Axt  oder  der  Hbmmer 
war,  —  beide  streiten  um  den  Siegespreis,  weil  beide  die  Schwung* 
kraft  zuerst  in  den  Dienst  der  Menschheit  stellen  —  aber  so  viel 
will  mir  als  sicher  bedünken:  Jener  Künstler,  den  Noire  kommen 
sieht,  würde  unvollkommenes  schaffen,  wollte  er  nur  jenes  Attribut 
menschlichen  Konnens  —  Hammer  oder  Axt  —  mit  dem  „ersten 
Menschen"  vereinigen.  Ich  meine,  wenn  die  Rechte  sich  auf  das 
erste  Werkzeug  höherer  Technik  stützt,  so  sollte  die  Linke  trium« 
phierend  das  Feuer  emporhalten  als  Symbol  jener  anderen,  nicht  ^ 
unwichtigeren  Seite  menschlicher  Vervollkommnung:  der  Mehrung 
^er  Kenntnisse  von  den  Vorgangen  der  Natur. 

Ein  solches,  wie  schon  die  Schöpfer  der  Prometheus -Sage 
wufsten,  für  alles  Menschtum  entscheidende  Wissen,  das  durch 
geschickte  Nutzung  aulserhalb  unserer  Selbst  wirkender  Kräfte  den 
Spielraum  unserer  materiellen  Existenz  erweitert  ist  aber  sicherlich 
das  Feuer.  Wenn  wir  uns  der  Hypothese  Ludwig  Geigers 
anschhefsen,  wonach  das  Feuer  religiöser  Kulthandlungen  seine  Ent- 
deckung verdankt'},  so  war  die  Kunst  der  Feuererzeugung  längst 


')  L.  Geiger,  Die  Entdedcang  des  Feoen.  (Zar  EntwiddiiDg^gpichichte  der 
Menschheit  [1878]  S.  86  ff..  99.) 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


19 


uoter  den  Menschen  verbreitet,  ehe  der  Gedanke  in  ihrem  Hirne 
aufleuchtete^  nun  diesen  gottlichen  Funken  auch  fiir  ihre  alltägUchen 
Bedürfiiisse  nutzbar  zu  machen. 

Auf  dreierlei  hat  ach  das  Augenmerk  des  Menschen  zu  richten, 
um  der  Natur  ihre  Geheimnisse  abzulauschen,  damit  sie  aus  einer 
spröden  Feindin  eine  willige  und  hingebende  Geßhrtin  werde:  auf 
die  Stoffe  und  ihre  Gee^enschaftung,  menschlichem  Bedarf  zu 
dienen,  auf  die  Kräfte,  die  in  der  Natur  verborgen  schlummern  und 
gezähmt  werden  und  in  unseren  Dienst  treten  können,  auf  die  Um- 
bildungsprozesse selbst  endlich,  in  denen  die  AUmutter  ewig  Neues 
zeugt  und  von  denen  wir  Nutzen  ziehen  können,  wenn  wir  sie  zur 
rechten  Zeit  und  am  rechten  Ort  selbst  ins  Leben  rufen  oder  uns 
ihrer  bedienen,  wo  und  wann  wir  sie  sich  abspielen  sehen. 

Täglich  vermehrt  sich  noch  heute  die  Anzahl  der  Stoffe,  die 
wir,  sei  es  zur  Nahrung,  zur  Kleidung,  als  Hilfsstoffe  oder  wie 
sonst  immer  als  geeignet  erachten,  unserem  Bedarfe  zu  dienen.  Von 
den  Erzen  und  der  Kohle  an  bis  zu  den  modernen  Farbmitteln 
und  Nahrungssurrogaten  zieht  sich  die  unabsehbare  Reihe  neu  ent- 
deckter und  unseren  Zwecken  nutzbar  gemachter  Bestandteile  der 
äulseren  Natur.  Und  sogar  die  Kräfte  in  der  Natur,  die  wir  in 
unseren  Dienst  zwingen,  mehren  sich  noch  immer:  Zu  Wind  und 
Wasser  und  Dampf  ist  nun  in  unserer  Zeit  die  Elektrizität  getreten.') 
Vorgänge  in  der  Natur  selbst  aber  haben  wir  uns  zu  nutze  ge- 
macht, seit  wir  mit  dem  Feuer  kochen  und  schmelzen»  seit  wir 
waschen  und  färben  lernten,  bis  zu  den  sich  beute  überstürzenden 
chemischen  Verfahrui^;swetsen,  deren  sich  unsere  Industrie  in  ewig 
wechselndem  Zusammenhange  zu  bedienen  versteht. 

Und  auch  das  wird  sich  feststellen  lassen :  daüs  die  Beherrschung 
der  Kräfte  und  Prozesse  in  der  Natur  eine  immer  sicherere  wird. 
Anfangs  müssen  wir  uns  begnügen,  wenn  wir  mit  benutzen  können, 
was  sich  ohne  unser  Zuthun  in  der  Natur  abspielt:  wir  segeln  mit 
dem  W'inde,  wie  er  sich  erhebt  und  lassen  von  dem  Bache  unsere 
Mühlen  treiben,  wie  stark  oder  schwach  er  fliefst.  Später  lernen 
wir  die  natürlichen  X'orgänge  lenken,  beeinflussen,  dafs  sie  rascher 
oder  lan'^samer,  stärker  oder  schwächer  in  ihren  Wirkungen  sich 
abspielen.  I'lndlich  vermögen  wir  den  l^rozefs,  die  Kraft  selbstthätig 
zu  erzeugen,  die  uns  dienen  sollen. 

')  Ueber  ihre  rasch  sieb  Mudebnende  Verwendung  in  der  modernen  Technik, 
■vgl.  F.  Uppenborn,  Der  g^cnwSitige  Stand  der  Elektrotechnik.  Berlin  189a. 
S.  18  ff. 


Digitized  by  Google 


20 


Werner  Sombart, 


Und  das  alles,  so  läfst  steh  zusammenfiisseiid  sagen,  läuft  darauf 
hinaus:  unsere  Gebundenheit  an  die  Natur  zu  mindern,  uns  freier  - 
zu  machen  von  Zufälligkeiten  und  Widerwärtigkeiten.   Es  ist  nütz- 
lich, sich  diese  Entwickelung  zur  Freiheit  in  ihren  einzelnen 
Etappen  zu  vergegenwärtigen. 

Unsere  Gebundenheit  verringert  sich,  soweit  es  eine  Gebunden^ 
heit  an  den  Ort  ist:  die  Nutzbarmachung  beispielsweise  der  mit 
Dampf  und  Elektrizität  gefesselten  Naturkräfte  hat  ihre  grofse  Be- 
deutung vor  allem  auch  in  der  damit  verknüpften  Befreiung  von  der 
Gebundenheit  an  bestinmite  Orte  der  Produktion:  den  Wasserlauf, 
die  freie  Ebene,  den  windigen  Hügel,  die  Windstrafsen  auf  dem 
Meere  etc.  Es  wird  erst  durch  Dampf  und  Elektrizität  eine  Ubi- 
quität  der  produzierenden  Thätigkeit  erzeugt.  Und  wie  hierdurch 
gleichsam  in  quantitativer  Hinsicht  eine  Befreiung  vom  festen  Stand- 
ort hervorgerufen  wird,  so  häufig  ähnlich  in  Hinsicht  auf  die  Quali- 
tät der  Erzeugnisse:  Holz,  Honig,  Wachs  u,  dergl.  Dinge  sind 
lokalen  Wechseln  in  ihrer  Beschaffenheit  ausgesetzt;  Eisen,  Zucker, 
Stearin  können  überall  in  gleicher  Qualität  nachgeschaffen  werden. 

Aber  von  noch  viel  entscheidenderer  Wichtigkeit  ist  die  Eman- 
zipation von  der  für  die  Erreichung  produktiver  Zwecke  erforder- 
lichen Zeitdauer.  Hier  Ist  zumal  in  neuer  Zeit  (icwaltiges 
geleistet  worden.  Eine  Reihe  der  wichtigsten  gewerblichen  Produk- 
tionsweisen haben  eine  schier  unglaubliche  Abkürzunj^  ihrer  Dauer 
erCsdiren.  Der  Eisen-  und  Stahlerzeugungsprozefs ,  der  Ledergerbe- 
prozefs  nehmen  heute  kaum  den  zehnten  Teil  der  Dauer  in  Anspruch 
wie  ehedem.  Und  ebenso  wie  von  der  Länge  der  Produktionsdauer 
technisches  Können  fortschreitend  emanzipiert,  so  gleiciienuafseh 
von  der  zufälligen  Gciegentlichkeit  der  Produktionsmöglichkeit:  die 
beliebige  Jederzeitigkeit  und  was  dasselbe  ist  Ununterbrochenheit 
wird  beispielsweise  mit  der  Nutzung  des  Dampfes,  init  der  Ein- 
flihrung  künstlicher  Kühlung,  künstlicher  Bleiche  u.  dgl.  hervor- 
gerufen. 

Was  aber  vor  allein  emanzijiatorisch  so  gut  in  räumlicher  als 
in  zeitlicher  Hinsicht  wirkt,  ist  ein  bedeutsamer  X'organg,  der  sich 
ganz  im  Stillen,  in  weiterem  Umfange  freilich  erst  in  unserer  Zeit 
vollzieht  und  dessen  Tragweite  noch  gar  nicht  abzusehen  ist.  Ich  meine 
das,  was  man  den  \'  e  r  /  i  c  h  t  a  u  f  d  e  n  Organisier  u  n  s  j)  r  o  z  e  f  s 
der  Natur  bei  unserer  gewerblichen  Thätigkeit  nennen  könnte.  Wir 
lernen  mehr  und  mehr  unorganisierte^)  Materie  zu  (iebrauchsgütern 

Dieses  ist  der  auch  Tom  Chemiker  anerkannte,  wohl  dauernde  Gcgensatr 


Digitized  by  Google 


Die  geweibUehe  Arbeit  und  ihre  Oi;gaikisatiML 


21 


ZU  nutzen  oder  umzuwandeln,  bei  deren  Erzeugung  ehedem  die 
ofganisierte  Materie  ein  unentbehrliches  Zwischenglied  bildete.  Mit 
anderen,  dem  ökonomischen  Interesse  noch  mehr  Rechnung  tragenden, 
Worten:  wir  steUen  eine  wachsende  Zahl  von  Gebrauchsgutem  her, 
decken  somit  einen  wachsenden  Teil  unseres  Bedarfs  ohne  dals 
die  betreffenden  Gegenstande  selbst  vorher  als  Pflanze  oder  Tier 
hatten  existieren,  also  mittelbar  oder  unmittelbar  als  pflanzliche  Er> 
Zeugnisse  des  Boden  hätten  zuvor  gewonnen  werden  müssen,  was 
bei  den  älteren  Verfahrungsweisen  unvermeidlich  gewesen  war.  Um 
wenigstens  an  die  wichtigsten  hierher  gehörigen  Beispiele  zu  er- 
innern: in  wie  grotsem  Umfange  hat  allein  das  Eisen  „organisierte 
Materie';  d.  h.  meistens  Erzeugnisse  des  Pflanzenreichs  verdrängt: 
das  Holz  im  Schiffs-,  Häuser-,  Brückenbau  so^vie  als  Material  von  Werk- 
zeugen und  Geräten ;  die  Hanf-  oder  Flachsfaser  als  Stoff  für  Taue 
und  Seile!  Und  die  Herstellung  dieses  vielleicht  revolutionärsten 
Stoffes  der  Technik  geschieht  ebenfalls  im  fortschreitenden  MaÜC 
ohne  Inanspruchnahme  organisierter  Materie,  d.  h.  unter  immer 
geringerer  Anwendung  von  Holz:  an  die  Stelle  der  Holzkohle-Hoch- 
öfen sind  die  Koksöfen,  an  die  Steile  des  Holzkohlefrischver£sihrenS 
ist  das  Puddel-  oder  Bessemer-  oder  Martin-Siemcns-\'crfahren  ge- 
treten, die  sämtlich  nur  der  Steinkohle  benötigen.  Als  Heizmittel 
ersetzt  die  Steinkohle  den  Torf,  das  Holz  und  die  Holzkohle,  als 
I.euchtmittel  ersetzen  Petroleum,  Gas  und  Klektrizität  Fett,  Unschlitt, 
Holzspälme,  Oel.  Die  alten  tierischen  und  pflanzlichen  Färbemittel: 
Purpur,  Cochenille,  Krapp,  Waid,  Indigo,  Saflor,  Scharte,  Farbhölzer 
werden  verdrängt  durch  die  AniUn-,  Xaphtalin-  und  andere  Kohlen- 
derivatfarben.  Die  neuere  Chemie  weifs  nun  auch  ein  Xahruiij^siniltcl 
nach  dem  anderen  aus  uni organisierter  Materie  /usanimcn/.ubrauen. 
S.c  will  die  Geschmacksemprmduni^'^  der  Siifse  auch  ohne  Hilfe  von 
Zuckerrohr  oder  Rübe  erzeugen;  sie  will  uns  jetzt  gar  berauschen 
ohne  vorher  die  zucker-  oder  stärkehaltige  Pflanze  dem  Gärungs- 
prozefs  unterworfen  zu  haben. \) 

Zu  .  dem  Kennen  muis  sich  das  Können  gesellen  \  neben  die 

„orfuniicite"  Und  „oidit  oiganiderte"  Materie,  die  dam  beliebig  den  sogen,  orga- 
audMB  oder  «oorgMitichen  Substuuen  ngehören  kum,  welch'  leUtere  Untenchddimg 
in  der  nenerea  Chenie  briwaiitlich  immer  melir  fallen  gelassen  wird,  jedenfalls 
kciBe  irgend  wie  feste  Grenzlinie  zu  ziehen  vennag,  wie  ei  mit  der  im  Test  ge* 
lieantcn  Unterscheidung  thatsächlich  der  Fall  ist. 

M  l'ehcr    die  Herstellung  von  Alkohol  aus  dem   Nebrnprodukt  der  Kokes- 
gewionoDg,  dem  Aethylen  vgl.  „Chemische  Industrie"  1897  S.  266  und  1S98  S.  37. 


Digitized  by  Google 


22 


Werner  Sombart, 


Nutzung  der  NafturkrSfte  muGi  die  Bethatigung  der  eigenen  Kräfte 
treten.  In  dem  Make,  wie  wir  den  Geheimnissen  der  Natur  nach- 
gehen,  Jn  ihre  tiefe  Brust,  wie  in  den  Busen  eines  Freundes  schauen" 
lernen,  mu(s  sich  unsere  FSlü^ceit  entwickeln,  gestaltend  auf  sie 
einzuwirken  mit  unserer  eigenen  Hände  Arbeit:  muls  sich  das  zu 
höheren  FcMinen  entfalten,  was  man  etwa  die  Arbeitskunst  zu 
nennen  versucht  wäre.  Verfolgen  wir  die  Menschheit  auch  auf 
cfiesem  Entwiddungsgange  und  suchen  wir  die  einzelnen  Stationen 
(fieser  Vtä  cnuis  uns  zu  vergegenwärtigen,  so  wird  unser  Augen- 
merk zunächst  auf  einen  Vorgang  gerichtet  sein  müssen,  in  dem 
sich  die  Methoden  des  Arbeitens  selbst  ver\-ollkommnen. 
Ich  meine  die  Art  und  Weise,  wie  sich  die  blofse  Fähigkeit  ent- 
wickelt, die  Gliedmafsen,  also  so  ffut  wie  ausschliefslich  die  Hände 
für  die  Bearbeitung  der  Sachen  durch  allerhand  ingeniöse  Hil&mittel 
geeigneter  zu  machen.  Dafs  auch  dabei  die  Finger  nur  die  willig 
gehorchenden  Organe  des  erfinderischen  Hirnes  sind,  braucht  nicht 
besonders  betont  zu  werden. 

Da  ist  es  nun  vor  allem  ein  D  ifferenzierungsprozefs  der 
Arbeitsaufgaben  und  damit  der  Arbeitsleistungen,  in  denen 
sich  die  menschliche  Arbeitskunst  verfeinert  und  läutert.  Mit  fort- 
schreitender  Kultur  mehren  sich  einmal  die  von  der  menschlichen 
Arbeit  zu  bewältigenden  Probleme:  es  werden  immer  neue  Güter 
in  den  Bereich  unserer  Bedarfebefriedigung  gezogen  und  schon  da- 
durch bereichert  sich  die  Skala  unserer  Arbeitsverrichtungen.  Von 
der  ursprünglich  einzigen  und  einheitlichen  Arbeitsleistung;:  dem 
Aufkratzen  der  Erde  zu  einer  Höhlung;')  bis  zu  der  tausendfach 
differenzierten  gewerblichen  Thätigkeit  unserer  Tage  ist  ein  weiter 
Gang,  den  die  menschliche  Arbeitskunst  zurückgelegt  hat.  In  diesem 
Entwicklungsgange  ist  nun  aber  zwischen  zweierlei  zu  unterscheiden : 
zwischen  der  Differenzierung  der  Arbcits\  crrichtungen ,  die  durch 
eine  Vermehrung  der  Produkte  hervorgerufen  ist  und  derjenigen, 
Differenzierung,  die  gleichsam  von  innen  heraus  durch  eine  be- 
wufste  Zerlegung  der  Arbeit  in  ihre  einzelnen  Teil- 
verrichtungen entstanden  ist.  .Man  achte  darauf:  es  handelt 
sich  für  uns  hier  einstweilen  nur  um  ein  bestimmtes  Produktions- 
verfahren,  eine  Produktionsniethoilc :  jenes  Verfahren,  das  einen 
Komplex    von  Arbeitsverrichtungen  —  sage   das  Spinnen  eines 


'  i  nie  mt)drmc  .^Sprachforschung  weist  uns  auf  diesen  einheitlichen  Ausgangs« 
ponkt  aller  produktiven  Thätigkeit  zurück.    Vgl.  N  o  i  r  e  ,  a.  a.  (.).  passim. 


Digitized  by  Googl 


Die  gcweiUiehe  Arbeit  md  ihie  OrfMiistion. 


23 


Fadens  —  in  seine  einzelnen  Bestandteile  mit  Bewufstseins  auflöst, 
mit  Erfolg  „versucht,  den  Geist  herauszutreiben"  und  dann  „die 
Teile  in  seiner  Hand"  hat.  Als  welches  \'erfahren  ganz  und  gar 
nicht  7A1  verwechseln  ist  etwa  mit  der  gesellschaftlichen  P^iiirichtung 
einer  Berufsspezialisierung  —  wenn  nun  eine  jener  Teilverrichtungen 
etwa  immer  nur  von  einer  Person  ausgeübt  wird  —  oder  etwa  mit 
einer  bestimmten  Anordnung  des  Arbeitsprozesses  zu  einem 
kooperativen  Betriebe,  in  dem  nun  die  einzelnen  Teilvcrrichtungen 
ie  von  Einem  oder  Einigen,')  die  einander  in  die  Hände  arbeiten, 
ausgeführt  werden.  Sondern  es  handelt  sich  vielmehr  zunächst  nur 
um  die  viel  einfachere  Thatsache ,  dals  die  Kunst  des  Arbeitens 
dahin  fortgeschritten  ist .  eine  Summe  von  l'eilarbeiten  aufzulösen, 
so  dafs  nun  jede  Teilarbeit  als  gesonderte  Arbeitsaufgabe  betrachtet 
werden  kann.  (lanz  nach  dem  Rezept  jenes  schon  citierten  und 
sehr  zu  Unrecht  verspotteten  Philosophen,  von  dem  wir  lernen 
sollen : 

,  JXU«,  was  wir  sonst  auf  einen  Sdilsg 
Gelrieben,  wie  Eiien  vod  Trinken  frei 
Efattt  Zwdl  Dreil  dacu  nötig  ad.** 

Dieses  damit  gekennzeichnete,  durchaus  nicht  unvernünftige,  sondern 
verwünscht  gescheute  Arbeitsverfahren  wollen  wir  in  Anlehnung  an 
einzelne  vorhandene  Ansätze  zur  Erkenntnis  A  r  b  e  i  t  s  z  e  r  1  e  g  u  n  g 
nennen.  Dabei  braucht  der  Produktionsprozefs  zunächst  gar  nicht 
verändert  zu  sein  und  es  kann  doch  das  Arbeitsverfahren  ein  neues 
sein ,  weil  dieselben  X'crrichtungen  wie  früher  nun  in  ihrer  Selb- 
ständigkeit erkannt  werden.  i:5eispiel :  Kine  Bäuerin  spinnt  ihren 
Flachs  zu  (larn  ohne  zu  wissen  und  sich  darum  zu  kümmern,  woraus 
sich  diese  ihre  durchaus  einheitliche  Arbeitsleistung  zu>annnensetzt. 
Ein  Arbeitszerlegendes  X'crfahren  löst  das  Spinnen  eines  Fadens 
mindestens  auf  in  l.  Kardieren;  2.  Strecken i  3.  Vorspinnen;  4.  Fein- 
spinnen. 

Die  grundlegende  Bedeutung  dieses  X'erfahrcns  liegt  nun  aber 
in  der  dadurch  erst  geschaft'enen  Möglichmachung  anderer  Kunst- 
griffe des  erfindungsreichen  Menschen  zur  besseren  Ikwälligung  .seiner 
Aufgaben.  Die  Arbeitszerlegung  bereitet  die  Arbeitsspeziali- 
sierung vor:  jene  Einrichtung,  bei  der  ein  und  dieselbe  Arbeits- 

*)  . . .  distinct  opcrationt,  whieh  in  sone  numfeetories  are  all  perfonncd  of 
tfidnci  lniid*,  thomh  in  otben  the  same  num  will  tometinies  pcrform  two  or  three 
of  tbem.»  (Ad.  Smith). 


i^iyui^ud  by  Google 


24 


Werner  Sombart, 


Verrichtung  jederzeit  von  demselben  Arbeiter  ausgeführt  wird.  Das 
mag  ein  isolierter  Arbeiter  oder  ein  Arbeiter  in  einem  grolsen  Be* 
triebe  sein.  Dals  aber  die  Spezialisierung  der  Arbeitsverrichtung 
die  Arbeitsfertigkeit  quantitativ  und  qualitativ  zu  steigern  vermag» 
wufste  schon  Adam  Smith  bekanntlich.') 

Die  Arbeitszerlegung  schafft  aber  weiter  erst  die  Möglichkeit, 
qualitativ  und  quantitativ  abgestufte  Arbeitsleistungen  an  Stelle 
vollwertiger  Totalleistungen  zu  nutzen:  durch  die  Zerlegung  des 
Gesamtproduktionsprozesses  in  einzelne  Teile  entstehen  viele  Teil* 
arten,  zu  deren  Ausfährung  Kinder,  Weiber,  Greise,  Krüppel  und 
geistig  Arme  gleichermaGsen  sich  eignen  wie  vollwertige  Arbeits- 
kräfte mit  Kraft  und  Geschick;  entstehen  aber  auch  so  vielerlei 
verschiedene  Teilarbeiten,  dals  die  qualitativ  unterschiedliche  Be- 
gabung  der  Menschen  zu  voller  Berücksichtigung  zu  gelangen  ver- 
mag.  Die  Arbeitszerlegung  verselbständigt  gleichsam  die  Teil- 
prozesse; sie  gestattet  dadurch  das,  was  früher  nur  nacheinander 
denkbar  war,  neben  einander  zu  legen:  die  gleichzeitige  InangrifT- 
nähme  sämtlicher  Arbeitsverrichtungen  eines  Gesamtarbeitsprozesses 
wird  möglich.  So  lange  es  nur  ein  „Spinnen"  giebt,  kann  dieser 
Gesamtprozels  immer  nur  als  Ganzes  zu  gleicher  Zeit  binnen 
werden.  Nun  das  „Spinnen"  in  seine  Bestandteile  au%elost  ist, 
kann  a  tempo  neben  einander  kardiert,  gestreckt,  vor-  und  fein* 
gesponnen  werden:  eins  der  wesentlichsten  Momente  für  die  Be- 
schleunigung des  Produktionsprozesses. 

So  wichtig  ist  dieses  Ver&hren  der  Arbeitszerlegung  dank  der 
daran  sich  knüpfenden  Möglichkeiten  zweckmäfsiger  Arbeitsorgani- 
sationen,  dals  es  uns  nicht  in  Erstaunen  setzt,  wenn  wir  die 
Oekonomen,  die  das  Prinzip  der  Arbeitszerlegung  freilich  in  etwas 
gebrochenem  Zustande  als  sogenannte  „Arbeitsteilung"  erspäht 
hatten,  durch  den  Glanz  dieser  folgenreichen  Methode  so  sehr  ge- 
blendet sehen,  daSs  sie  lange  Zeit  für  andere  anal<^e  Verfahrungs- 
weisen  zur  Ausgestaltung  der  Arbeitskunst  gar  keinen  Blick  hatten. 
Und  doch  giebt  es  deren  noch  manche.  Es  ist  eines  der  besonderen 
Verdienste  Emanuel  Herrmanns,  den  wie  hjrpnotisiert  auf  die  ewige 


*)  Wir  wissen  jetzt  insofern  mehr  wie  er,  ab  wir  die  Bedeotnng  der  Arbeits- 
spe^isiemng  fitr  die  Entfaltung  der  Prodaktivität  nicht  mehr  wie  er  ab  er  seh  ätzen. 
Von  nnrr  so  enormen  Vervielfältigong  des  Arbcitserfolges  wie  er  sie  annahm  ist 
gar  keiii'-  Knlr :  exakte  Berechnungen  ererben,  dafs  durch  Spexialisieruilg  der  Arbeit 
die  Arbeitjilcistung  um  etwa  ',4 — '  ^  sich  vergrölsert. 


Die  gewerbliche  Arbeit  uad  ihre  Ürgatii.->alion. 


25 


ftArbehsteUiuig"  gerichteten  Blick  von  dieser  weg  auf  andere  unsere 
Leistungsiahigkeit  ebenfells  und  zum  Teil  noch  mehr  steigernde 
Methoden  des  Arbeitens  hingelenkt  zu  haben.  So  erscheinen  mir 
beispielsweise  jene  „vier  Formen  der  Anordnung  und  Organisation'^, 
von  denen  Herrmann  spricht,*)  sehr  der  Betrachtung  wert  als  eben- 
soviel Arten  verbesserter  Arbeitsverfahren.  Er  nennt  sie  wenig 
glucklich  die  „universelle",  „individuelle",  „generelle"  und  „spezielle" 
^Organisation".  Zunächst  handelt  es  sich  dabei  noch  um  keinerlei 
bestimmte  Ordnung,  Organisation  des  Arbeitsprozesses,  sondern 
wiederum  nur  um  Arbeitsmethoden,  die  eine  bestimmte  Anordnung 
ermöglichen.  Und  dann  sagen,  wie  mir  scheint,  jene  Beiwörter 
noch  nicht  sehr  viel  aus.  Was  Herrmann  meint,  sind  bestimmte 
Metboden,  das  zu  ver-  oder  bearbeitende  Material  in  einer  vor- 
bedachten Weise  in  Angriff  zu  nehmen,  es  sich  in  einer  zweck- 
nüUsigen  Weise  zurechtzulegen,  damit,  wenn  die  Arbeit  dann  vor- 
genommen wird,  ein  Maximum  von  Effekt  herausspringt  Diese 
vier  Arten  sagen  wir  der  Materialanordnungsind:  I.Zusammen- 
legung des  Materials  zu  Bündeln,  die  eine  gleichzeit^  Behandlung 
von  vielen  Einzelgegenstanden  ermöglicht:  Beispiele  das  Draht- 
btindel,  an  dem  gleichzdtig  en  masse  Stecknadelköpfe  gefeilt  werden; 
das  Streichholzbündel,  das  zum  Eintauchen  in  die  Zündmasse  zu- 
sammenge&lst  wird;*)  2.  VerteUung  grofser  Materialmassen  zwecks 
besserer  Bearbeitung:  Stearin,  das  man  in  200  Kerzen-Gufsformen 
laufen  läfst ;  3.  ein  zweckmäfsiges  Nacheinanderordnen  des  Materials, 
damit  dieses  in  richtiger  Reihenfolge  die  verschiedenen  Stadien 
des  Arbeitsprozesses  passieren  kann:  Papier;  4.  Sortieren  des 
Materials,  um  es  seiner  Verschiedenheit  entsprechend  verschieden 
bebandeln  zu  können :  Hadern ! 

Nun  aber  vermögen  wir  allen  jenen  Verfahrungsweisen  nur 
dann  volles  X'crständnis  abzugewinnen,  wenn  wir  sie  noch  in  einer 
weiteren,  bisher  absichtlich  nicht  berührten  Wirkung  zu  begreifen 
versuchen :  Jene  bestimmten  Arbeitsweisen  sind  in  gro(sem  Um- 
fange Voraussetzung,  häuhg  Veranlassung,  um  beispielsweise  neu 

*}  Knltw  nnd  Katar.   S.  46. 

*)  Dftf»  et  tidi  bei  dieier  „Materi«Ia]iordniiii£"  nur  erst  mn  ein  Arbeitsver- 
fohrcii,  nodi  mcbt  nm  eine  bestimmte  Ordnimg  des  Arbcitsproiesses  handelt,  gttht 
<.  B.  aas  der  Tbatsadie  hervor,  dafs  jene  bttndelweise  Anordnnng  ebensowohl  vom 
cuuelnen  „VoUhandwerker"  in  isoliertem  Betriebe  wie  vom  Teilarbeiter  in  einem 
„arbeitsteiligen"  Grofsbetrieb  vorgenommen  werden  kann  (und  wurdel.  Jeder  Pfcrde- 
bahnichaflncr  ninmit  sie  vor,  der  mehrere  Fahrscheine  anf  einmal  dorchlocbt  u.  s.  f. 


26 


Werner  Sombart. 


gewonnene  Kenntntsse  etwa  von  chemischen  Pressen  zur  An- 
wendung zu  bringen.  Sie  bilden  vor  allem  aber  auch  erst  die 
Basis  für  die  Entwicklung  desjenigen  Faktors  der  schöpferischen 
Menschenarbeit,  dem  man  vielleicht  mit  Recht  die  vornehmste 
Stellung  unter  allen  Elementen  des  Arbeitsprozesses  anweisen  darf: 
Für  die  Entwicklung  und  Vervollkommnung  des  Arbeitsmittels. 
Darunter  wollen  wir  mit  Marx  verstehen:  ein  Ding  oder  einen 
Komplex  von  Dingen,  die  der  Arbeiter  zwischen  sich  und  den 
Arbeitsgegenstand  schiebt,  um  sie  als  Machtmittel  auf  andere  Dinge 
seinen  Zwecken  gemals  wirken  zu  lassen. 

Damals,  als  der  Urmensch  zum  ersten  Male  bewulst  jenen 
spitzen  Stein  wieder  au%riflr,  der  ihm  schon  einmal  gedient  hatte, 
um  mit  ihm  abermals  seine  kratzende  Thätigkeit  zu  unterstützen  — 
das  zufällige  Ergreifen  und  Wiederwegwerfen  eines  Steines  als 
Hilfsmittel  für  schls^ende  oder  kratzende  Bewegung  finden  wir  auch 
bei  höheren  Tieren  —  als  somit  die  Vermittlungsrolle  jenes  äufseren 
Dinges  der  Natur  bei  der  eigenen  produktiven  ThätiL^keil  vom  Men- 
schen kausal  teleolf^isch  erfaist  und  zum  ständigen  Besitztum  seiner 
Vorstellungswelt  gemacht  war :  da  war  das  erste  Werkzeug  auf 
Erden  erschienen,  jene  Schöpfung,  an  die  im  Verein  mit  Sprache 
und  Religion  die  Menschwerdung  anzuknüpfen  man  sich  mit  Recht 
gewöhnt  hat.  da  in  der  That  alle  Entwicklung  zur  höheren  In- 
telligenz sich  gleichsam  an  dem  Werkzeuge  emporrankt,  seit  dessen 
Nutzung  der  Mcnsrli  im  Kampfe  ums  Dasein  aufhört,  seinen  Körper 
und  seine  Gliedmalsen  umzuformen,  um  blofs  noch  seine  geistigen 
Fähigkeiten  weiter  zu  entwickeln. 

„Das  Werkzeug  hat  seinen  Namen  vom  Wirken.  Es  ist  ein 
Mittel  zur  Ausführung  eines  Werkes"  (Noir^).  Aber  wie  sogleich 
hinzugefügt  werden  mufs,  um  seine  Eigenart  zu  bezeichnen:  ein 
Mittel,  dessen  Funktion  darin  besteht,  das  menschliche  Wirken  zu 
unterstützen.  Tu  der  l' n  t  c  r  s  t  ü  t  z  u  n  g  unserer  j^iitcr  erzeugenden 
Thätigkeit  und  zwar  allzuineist  unserer  Ilandthatigkeit  liegt  das 
Wesen  des  Werkzeugs;  daher  man  auch  gut  thut,  immer  von 
Ha  n  d  Werkzeug  zu  sprechen. 

L'ebcrblicken  wir  den  Kiuw  icklungsgang,  den  das  Werkzeug 
im  Laufe  der  Jahrtausende  genomnun  hat,')  finden  wir  ihn 
parallel  verlaufen  demjenigen  der  Arbeitsverrichtungen  und  Arbeits- 


Dir  einschläpipr  I.itteratur  ist  natürlich  wieder  liodist  lUirftij;.    Vfjl.  aufscr 
Noire  und  Kapp  noch  Em.  Herrmann,  Das  Prinzip  der  Teilung  der  Funktionen 


Digitized  by  Google 


IMe  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


27 


lostungen,  die  wir  kennen.  Aus  einem  oder  wenigen  höchst  ein- 
6chen  und  unvottkommenen  Werkzeugen,  die  in  unbestinunter 
Allgemeinheit  gleichsam  alles  in  aUem  waren,  lösen  sich  immer 
neue  und  neue  Formen  los,  difTerenzieren  sich  die  Punktionen  der 
einzelnen  Werkzeuge  zu  immer  grö(serer  Mannigfaltigkeit  Es  ist 
dieselbe  Erscheinung,  die  wir  auch  bei  der  Entwicklung  der  Tier- 

te  der  Gctehifibtc  de*  BMUenweMas.  MioMturUlder  (1872)  S.  193  ff.  Hartig, 
üeber  den  Gebranchiweduel  als  BOdqag^etetx  Ar  Weriuengfonnes.  Vortrag  in 
der  78.  ÜMptfenunnlng  det  rildu.  IngcBienr-  n.  AibeitsvereiiM.  Dretdcn  1873. 

Rculeaux,  Ueber  die  Entwiddang  des  Werkzeugs  bei  den  Völkern  der  Sadsee 
und  des  Orients.  Vielerlei  Anregung  bietet  auch  Julius  Lippert,  Kalturgeschichte 
der  Menschheit  in  ihrem  organischen  Aufbau.    Bd.  I  <l886)  S.  250  ff.,  280  ff.,  3I3ff. 
Leider  berücksichtigt  Lippert  die  eigentliche  Spcziallittcratur  in  (iifsrr  Frage  so  gut 
wie  gar  nicht.    Ein  reiches  kohmatcrial  entbäh  A.  Kauber,   Lrg<->chichtc  des 
Menschen  l.  Band  [1884]  i>.  29 — 112;  ebenso,  wenn  auch  z.  T.  veraltet  Gustav 
Klemm,  Werioeoge  mä  Waffen.    Leipzig  1854.   Klemm  gebohrt  das  grotse  Ver> 
däenst,  wohl  als  erster  auf  den  wichtigen  Znsammeidmig  iwischen  der  Entwicklung 
des  Wedneuf»  vnd  der  fiitwidtlaiig  meiuchlseber  Knltnr  mit  vollem  Bewvfttseia 
hinfewieacn  za  haben.  Schon  der  Titel  seines  Werkes,  dessen  zweiter  Band  das 
oben  gensante  Bodi  bildet,  bedentete  Ar  die  damslige  Zeit  eine  wissenschaftliche 
Thmt  ersten  Ranges:  „.allgemeine  Kulturwissenschaft    Die  materiellen  Grund» 
lagen  menschlicher  Kultur."    Aber  auch  seine  Kenntnisse  von  dem  Entwicklungs- 
gange, den  die  Werkzeuge  thatsächlich  genommen  haben,  sind  bei  Herürksichtigung 
des  damaligen  Standes  der  Forschung  uufserDriirntlirli  tn  fc,   wenn   er  z.  B.  die  Axt 
„die  Blüte  der  Werkzeuge"  vor  der  Benutzung  der  Metalle  nennt  \.S.  04)  oder  mit 
aller  Deutlichkeit  schon  auf  den  Differenzierungsprozefs  der  Werkzeuge  hinweist 
(S.  75).   Dals  sidi  bei  Marz  sahireiche  geistvolle  Apercus  m  einer  Entwieklmigs- 
gcadiichte  des  Arbeitsmittds  6nden,  ist  bdnumt;  ebenso  sein  Hinweis  auf  die 
Wichtigkeit  einer  wittfiiifhsftlichen  „Büdnngsgesdiichte  der  produktiven  Organe  des 
Cesfllschaftsmenschen**,  als  Pendant  sn  der  damals  eben  von  Darwin  dargebotenen 
„GescMdlte  der  natürlichen  Technologie",  wie  er  die  Lehre  von  der  Bildung  der 
Pflanzen-  und  Tierorgane  in  einem  Wortspiele  bezeichnet.    Vgl.  Kapital  I  335 
Anm.  S9.    Bekannt  ist  anrli.   dafv  Marx  Ansätze  zu  einer  solchen  Entwicklungs* 
geschichte  der  menschlichen  ( iesellsohalt  zu  finden  glaubte  in  Lewis  H.  Morgans 
Ancient  society  or  kesearchcs  in  thc  Lines  of  Human  Progrcss  from  Savagcry  through 
Barbarism  to  Civilization.    London  1877  und  wie  F.  Engels  die  Morganschen 
Ergebnisse  in  seiner  Sdwift  über  den  Ursprung  der  Familie  ele.  (nierst  Hottingen* 
Zlildi  1884)  versibcitet  bat.  Die  engere  Beschiinknng  des  Problems,  wie  wir  sie  im 
Teste  voffenonunen  haben,  cntMndet  uns  von  der  Aufgabe,  nnsere  von  der  Votgu^ 
BngdmehcB  grofteateils  abweichende  Auffassung  von  den  Stufen  der  menschlichen 
Kultur,  d.  h.  also  von  der  Entwicklung  im  wesentlichen  der  Arbeitsmittel  an  dieser 
Stelle  des  niheren  su  b^rUnden. 


Digitized  by  Google 


28 


Werner  Sombart, 


gestalten  und  der  Sprache  beobachten:  die  X'ermannigiialti^iig  des 
Gfebrauchs  schafift  immer  neue  Formen,  die  sich  immer  vollkommener 
den  einzelnen  Gebrauchsakten  anpassen.  Aus  der  primitiven  Spitz- 
hacke oder  der  mit  einer  breiten  Schärfe  versehenen  Hacke 'j  entwickeln 
sich  langsam  die  Axt,  der  Hammer,  das  Messer,  der  Meisel,  die 
Säge,  der  ik>hi'er  und  was  sonst  an  Prototypen  späterer  Werkzeugs- 
kategorieen  zu  nennen  wäre.  Und  in  dem  IMafse,  wie  sich  das 
Prinzip  der  Arbeitszerlegung  durchsetzt,  verfeinert  sich  innerhalb 
jeder  Kategorie  dann  wiederum  das  einzelne  Werkzeug,  bis  zu 
jener  delikaten  Xüancienmg,  wie  wir  sie  heute  etwa  in  der  Uhren- 
industrie zu  beobachten  (lelcgenheit  haben.  Die  leiseste  Unter- 
scheidung der  Arbeitsverrichtung  wird  begleitet,  unterstützt,  er- 
mögliclit  durch  das  cntsi)recheMd  ihr  angeiiafstc  Werkzeug.-)  Und 
CS  liegt  auf  der  Hand,  wie  sehr  die  fortsclireitcndc  Zerlegung  der 
Arbeit  die  Ausbildung  der  Werkzeugtechnik  fördern  nuifs,  um  wie 
viel  besser  bei  jeder  neuen  Vereinfachung  der  TeiK  crrichtung  — 
denn  auf  V  c  r  e  i  n  fac h  u  n  g  läuft  doch  alle  Zerlegung  hinaus  — 
das  entsprechende  Werkzeug  der  menschlichen  Hand  angej)alst 
werden  kann  und  wie  auf  der  andern  Seite  jedes  neue  verfeinerte 
Werkzeug  die  Arbeitsleistung  wiederum  steigern  muls. 

„Müssen  wir  für  die  älteste  Zeit  geringfügige  Wirkung  nach 
aufsen  verbunden  mit  grofser  Anstrengung  und  geringer  Geschick- 
lichkeit des  Subjekts  in  Zusammenhang  bringen  mit  höchst  ein- 
fachen und  un\  ollk()mmcnen  WerkzcuLien ,  die  in  unbestimmter 
Allgemeinheit  gleichsam  alles  in  allem  waren .  so  setzt  uns  die 
heutige  Entwicklungsstufe  in  Erstauiuii  durch  die  grofsc  Mainüg- 
faltigkeit  der  W  irkungen,  welche  durch  höchst  einfache,  gleichsam 
elementare  mechanische  Totenzen  her\urgebracht  werden.  Wir  er- 
kennen aber  sofort,  dafs  die  letztere  Einfachheit  von  der  ersteren 
fundamental  verschieden  ist.  Jene  ist  die  Einfachheit  der  .\rmut, 
des  unvollkummenen  Keimleben>,  der  j)rimitiven  Bedürfnislosigkeit, 
welche  die  Thätigkeit  der  Urgeschlechtcr  auf  wenige  unmer  wieder- 

*)  „ZwiKfaen  diesen  beiden  Fonnen  werden  wir  ...  an  wiblcn  babcn,  wenn 
wir  nns  eine  Idee  von  den  Sltesten  Weriuenge  bilden  woUen*'.  Noirö  a.  a.  O. 
5.  279 

*j  Es  ist  eine  ganz  irrige  Meinung,  als  sei  die  Differenzierung  der  Werkzeuge 
in  einer  früheren  Zeit  —  der  sogen.  Manufakturperiode  —  schon  einmal  eine  höhere 
gewesen  als  heute,  wo  die  Dilicrcn/.irruiif^  durch  die  Maschine  eine  Riukbildung  er- 
fahren habe.  Im  Gegenteil :  die  DitTerenzierung  ist  vielmehr  auf  die  MaschiDehc 
aasgedehnt  worden,  wie  noch  zu  zeigen  sein  wird. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  ürgaoisatiou. 


29 


kehrende  Verrichtungen  beschränkte.  Diese  dagegen  ist  die  Ein- 
fachheit des  überlegenen  Geistes,  welcher  die  Mittel  aufe  voll- 
kommenste den  zu  erreichenden  Zwecken  anpafst  und  wie  ein  ge- 
übter Fechter  oder  Steuermann,  mit  dem  geringsten  Aufoirand  von 
Kraft  und  mechanischer  Komplikation  die  jedesmal  zu  erreichende 
Arbeitsleistung  ausfiUirt"*} 

Mit  dieser  fortsdirdtenden  Differenzierung  des  Handwerkzeugs 
und  seiner  Funktionen  im  engen  Zusammenhange  steht  nun  aber 
die  zunehmende  Vervollkommnung  in  der  Benutzung  des 
Werkzeugs.  Schon  in  eine  frühere  Periode  der  Entwicklung  fallt, 
wie  wir  aus  immer  zahlreicheren  Werkzeugfunden  schliefsen  dürfen, 
die  Verwendung  der  Schwungkraft  zur  Handhabung  des  Werk- 
zeugs.  Wie  wir  schon  hervorzuheben  Gelegenheit  hatten,  mufs  die- 
sem Fortschritt  in  der  Nutzung  ehedem  nur  durch  Druck  oder 
Stöfs  bewegter  Werkzeuge  eine  ganz  besondere  Bedeutung  für  die 
Kutturentwiddung  beigelegt  werden.  Nun  erst  treten  die  Axt  und 
der  Hammer  in  den  Dienst  des  Menschen,  die,  wie  wir  wissen,  ge- 
radezu als  Symbole  seines  schöpferischen  Wirkens  auf  Erden  dienen 
können  und  übrigens  unseren  Vorfehren  auch  gedient  haben. An 
die  Stelle  des  Schabens,  Stechens,  Schneidens,  Kratzens  tritt  das 
Hauen.  Und  unsere  Kultur  ist  nicht  erschabt,  erstochen,  erschnitten 
oder  erkratzt:  sie  ist  herausgehauen  aus  Erde  und  Stein,  aus 
Wald  und  Dickicht!  Wie  aber  an  der  Pforte  aller  Kultur  die  Nutzung  der 
Schwungkraft,  so  steht  an  der  der  unserigen  ein  anderes  Prinzip  der 
Werkzeugnutzung,  von  vielleicht  noch  grölserer,  noch  schöpferischerer 
Bedeutung.  Man  hat  es  das  Walzen-  oder  Rotationsprinzip 
genannt*)  und  es  besteht  in  der  Einführung  der  kontinuierlichen 
Drehbewegung  in  die  Technik. 

In  allen  unseren  Werkzeugen  etc.  lassen  sich  zwei  Formations- 


Noire  a.  a.  O.  S.  249  50. 

•1  Die  Verherrlichung  des  Hammers  und  seines  Gottes,  des  Donar  in  der  ger- 
manischen Nfythologie  ist  bekannt.  VgL  z.  B.  F.  Dahn,  Wodan  and  Donar  „Im 
Neuen  Reich"  1872  Nr.  S. 

')  Uebcr  das  Rotation.sprinrip  und  seine  Bedeutung  für  die  Technik  vgl. 
M.  Jobard,  Die  Industrie  und  das  Jahrhundert.  Grenzboten  2.  Band  1843,  S.  302  ff. 
(«oU  der  »»Entdecker"  dieses  Priudps).  Louis  Reyband,  L'indintrie  en  Europc. 
Pkris  1S56.  pag.  tz  seq.  Rndolf  Wagner,  Tcdmclogische  Stadien  anf  der  all- 
gemeinen Kunst-  md  LidnstricanisteUinig  im  Jahre  1867.  Leipzig  1868.  Em.  Herr» 
mann,  Das  Prinsip  der  Rotation.  Miniatubildcr  (187a)  S.  231—256.  Noir6 
a.  a.  O.  S.  293  ff.  F.  Reuleaux,  a.  a.  O. 


Digitized  by  Google 


30 


Werner  Sombart, 


Hauptperioden  unterscheiden:  die  Periode,  in  welcher  das  Werkzcu|f 
hin  und  her  oder  auf  und  ab  bewegt  wird,  also  immer  einen  toten 
Rückgang  machen  mu&,  um  einen  lebend ifj  wirkenden  Vor-  und 
Abwärtsgang  auszuführen  und  die  Periode  der  kontinuierlichen  Be- 
w^jung  nach  vor-  oder  abwärts.  So  unscheinbar  der  Fortschritt 
von  der  Periode  des  toten  Rückgangs  zur  Periode  der  kontinuier- 
lichen lebendit^^tn  Bewegung  zu  sein  scheint,  so  bedeutet  er  doch 
in  wirtschaftlicher  Beziehung  gerade  soviel  als  der  Fortschritt  der 
Pflanzen-  und  Tierformen  der  Grauwackcnperiodc  zu  jenen  der 
Kreideperiode.')  Und  doch  ist  das  Prinzip  der  kontinuierlichen  Be- 
wq[ung  nach  vor-  und  rückwärts  erst  der  Anfang  des  Rotations- 
prinzips :  ehe  die  Bandsäge  auftrat ,  hatte  ein  Fortschritt  darin  be- 
standen, die  Säge  beim  Ab-  und  Aufwärtsgehen  in  j  e  einem  Stamme 
oder  in  denselben  Stamm  zweimal  einschneiden  zu  lassen ;  und  ehe 
der  Kreisbohrer  in  Aufnahme  kam.  hatte  man  das  Hin  und  Her- 
bohren in  Halbkreise  ebenfalls  schon  gekannt.  Die  erste  bedeut- 
same Aiuvendung  des  Rotationsprinzips  in  der  i  echnik  dürfte  der 
auf  Rädern  bcwec^te  Wagen  gewesen  sein.  Heute  ist  das  Prinzip 
in  jeder  Sphäre  der  Technik  so  sehr  verbreitet,  dafs  es  1842  schon 
Jobard  „das  Kriterium  der  modernen  ( rewerbsthätii;keit"  nannte, 
,, weil  jedes  meclianische  X'erfahren,  jede  i*  ai^rikation ,  die  nicht  die 
fortwährende  ununterbrochene  rhäti;^fkeit  besitzt,  noch  im  Zustande 
des  embryonalen  Werdens"  sei.  IjkI  Reuleaux  kennzeicimet 
die  Bedeutung  dieses  selben  Prinzips  mit  den  \\  orten :  .,So  wie  der 
alte  Philosoph  die  stetig  steigende  N  eränderun^^  der  Dinge  einem 
F'liefsen  verglich  und  sie  in  den  Spruch  zusammen  drängte:  „Alles 
fliefst";  so  können  wir  die  zahllosen  Bewegungserscheinungen  in 
dem  wunderbaren  Krzeut:^Disse  des  Menschenverstands,  welches  wir 
Maschine  nennen,  zusamnientassen  in  das  eine  Wort:  „.A.lles  rollt." 

Aber  diese  Worte  Reuleaux,  eröffnen  in  einer  anderen  Richtung 
imserer  Betrachtung  eine  neue  Perspektive:  in  ihnen  wird  das 
Rotationsprinzip  —  und  mit  Recht  —  vor  allem  für  ein  (iebilde, 
eine  bortn  des  Arbeitsniittels  in  Anspruch  j:,renommen,  „welches 
w  i  r  M  a  s  c  h  i  n  e  n  e  n  n  e  n."  l 'n^er  Interesse  wird  nunmehr  durch 
die  Frage  in  Anspruch  genommen:  welches  ist  das  in  der  Maschine 
überhaupt  zum  Ausdruck  kommende  Prin/ip?  ist  die  Ak^schine  etwas 
Wesensanderes  als  das  Werkzeug?  bezugsweise  worin  unterscheidet 
sich  eine  Maschine  von  einem  Werkzeug? 


*)  Herrmann,  a.a.O.  8.  197. 


Digitized  by  Google 


Die  gewdbtich«  Arbdt  und  ihre  Orgaaiaadon. 


31 


Die  Wichtigkeit  der  klaren  Erfassung  des  Maschinenprinzips  iiir 
alles  Verständnis  auch  in  sozialen  Dingen,  \-crhiinden  mit  der  zum 
Teil  bedauernswerten  Unklarheit,  die  vielfach  noch  heute  auf  diesem 
Gebiete  herrscht,  zwingt  uns  mit  einiger  Ausführlichkeit  über  das 
Blaschinenprinzip  und  seine  Bedeutung  für  die  Entwicklung  der 
(gewerblichen)  Technik  an  dieser  Stelle  zu  handeln. 

Was  ist  eine  Maschine  ?  Die  Frage  ist  reichlich  oft  gestellt  und 
ebenso  oft  —  meist  recht  uDvoIlkominen  I  —  beantwortet  worden. 
Wenn  wir  heute  die  schier  endlose  Reihe  von  Definitionen  des 
Masels ii\enbegrifrs  überblicken,')  so  können  wir  zunächst  einmal  ohne 
viel  Eederlesens  die  Schafe  von  den  Böcken  sondern,  d.  h.  eine 
ganze  Gruppe  von  Begriffsbestimmungen  ohne  weiteres  ausscheiden: 
diejenigen,  die  zwischen  Werkzeug  und  Maschine  gar  keinen  oder 
nur  einen  Gradunterschied  —  etwa  die  I-ängc  und  Zahl  der 
Zwischenglieder  zwischen  dem  arbeitenden  Menschen  und  seinem 
Arbeits^^ejjenstande  —  anerkennen  wollen.  Ein  bekannter  I'yp 
dieser  yuantitatistcn  ist  Passy,  der  in  seinem  Essai  sich  auf  den 
Standpunkt  jenes  englischen  Arbeiters  stellt,  der  nach  einer  Dehnition 
der  Maschine  gefragt,  die  bedeutende  Antwort  erteilte-) :  „les  machines 
c'est  tout  ce  qui  en  plus  des  ongles  et  des  dents  sert  ä  l'homme 
pour  travailler"  (also  z.  B.  auch  der  Stuhl ,  auf  dem  er  sitzt  und 
der  Rock,  den  er  an  hat?!)  und  radikal  alle  weitere  l'nterscheidung 
für  ..subtilites  des  savants"  erklärt.  .Solch  eiwc  Auffassung  von  der 
Sache  ist  natürlich  nur  kompromittierend.  Wer  auf  dem  Stand- 
punkt steht,  dafs  der  Versuch  .scharfer  Begriffsbestimmungen 
eine  „subtiUte  des  savants"  sei ,  .soll  überhaupt  die  1-  inger  vom 
Theoretisieren  davon  lassen.  Was  aber  bleibt  übrig,  nachdem 
wir  die  Pas.sys  und  Konsurteti  hinausexpediert  hal)en  r  Immer 
noch  ein  überaus  seltsames  Gemisch  der  verschiedenartigsten  Auf- 
fassungen \om  Wesen  der  Ma.schine,  die  man  sich  nur  schwer 
icuNdniinenreimen  kann.  Mir  persönlicii  ist  es  seltsam  dabei  er- 
gangen,   bei  meinen  Studien  über  das  Maschinenproblem  ist  mir 

1)  Eine  TiwiminfiwrellBng  findet  rieb  bei  Renleaux,  Tbeor.  Kin.,  &  593  ff. 
Sie  ist  jedoch  insofern  nocb  adir  tuiTollständig  als  sie  im  wesentlidien  nur  die  De- 
finitiooen  der  Tecbnologen  enthält.    Dazu  käme  alao  noch  die  stattliche  Reihe 

der  von  Oekonomen  u.  a.  verbrochenen  Beßriffsbestimmungen.  Ucber  die  neueren, 
von  Keulraux  sämtlich  beeinflufsten,  Definitionf-n  giebt  eine  L'cbersicht  Lindncr, 
Art.  „Maschine"  in  (Jtto  Lucgers  Lexikon  der  gesamtea  Technik  und  ihrer  Hilfs- 
wissenschaften.   Band  VI. 

*)  Passy,  Les  machines.    2.  ed.  (1877).  p.  24,25. 


Digitized  by  Google 


32 


Werner  Sonbart, 


erst  verhaltnismäTsig  sfStt  das  schon  oft  genannte  Buch  von  Reuleaux, 
seine  theoretische  Kinematik  in  die  Hände  gefallen,  zu  einer  Zeit, 
als  ich  mir  schon  einen  ganz  festen  B^riff  von  der  Maschine  glaubte 
gebildet  zu  haben.  Da  mufste  ich  denn  nun  beim  Lesen  der 
Reuleauxschen  Kinematik  die  zunächst  recht  betrübende  Beobachtung 
machen,  dafs  meine  Auffassung  vom  Wesen  der  Maschine  mit  der 
von  Reuleaux,  den  ich  doch  in  jedem  Worte  als  eminenten  Greist 
bewunderte,  ganz  und  gar  nicht  fibereinstimmte.  Ich  ging  also 
daran,  meinen  eigenen  Standpunkt  genauer  zu  prüfen,  noch  einmal 
jeden  Gedanken  vorsieht^  durchzudenken.  Und  als  ich  mit  dieser 
Revtsionsarbeit  fertig  war,  war  das  Ergebnis  doch  nur  dieses:  dafs 
meine  eigene  Auffassung  jedenfalls  auch  nicht  üüsch  sein  konnte. 
Für  so  richtig  und  einleuchtend  ich  immer  die  Reuleauxsche  Be* 
griffs-  und  Wesensbestimmung  der  Maschine  halten  mochte.  Aus 
dieser  beunruhigenden  ,. Antinomie"  erlöste  mich  endlich  die  Er- 
kenntnis, dafs  es  sich  offenbar  um  zwei  toto  coelo  verschiedene 
Auffassungen  derselben  Sache  handele,  die  beide  nicht  falsch  zu 
sein  brauchten,  obwohl  sie  nicht  identisch  waren.  Und  nachdem 
ich  diese  tröstliche  Einsicht  gewonnen  hatte  und  nun  die  Super- 
re\-ision  der  l^eiden  so  verschiedenen  Definitionen  und  Erklärungen 
•  der  Maschine  vornahm,  da  ergab  sich  nicht  nur  die  schöne  Verein- 
barkeit beider,  sondern  des  weiteren  noch  die  erfreuliche  Thatsache, 
dafs  beide  Begriffsbestimmungen  und  Auffassungen  sich  einander 
ergänzten  und  gleichsam  sich  einander  kontrollierten .  sofern  vom 
Standpunkt  der  einen  aus  jeder  Zeit  mit  Bestimmtheit  die  richtige 
Gestaltung  der  anderen  mufste  abgeleitet  werden  können. 

Die  geistvolle  Definition  Reuleaux'  ist  nun  aber  diese:  „Kine 
Maschine  ist  eine  Verbindung  widerstandsfähiger  Körper,  welche  so 
eingerichtet  ist,  dafs  mittels  ihrer  mechanische  Naturkräftc  ge- 
nötigt werden  können,  unter  bestimmten  Bewegungen  7ai  wirken."  ' ) 
Und  etwas  genauer  die  „Einrichtung",  auf  die  es  ankommt,  kenn- 
zeichnend :  „Der  Mechanismus  ist  eine  geschlossene  kinematische 
Kette;  die  kinematische  Kette  ist  zusammengesetzt  oder  einfach 
und  besteht  aus  kinematischen  lilementenpaaren ;  diese  tragen  die 
L'mliüllungsformen  zu  flen  Bewegungen  an  sich,  welche  die  einander 
berühretulen  Körper  gegenseitig  haben  müssen,  damit  alle  anderen 
Bewegungen  als  die  gewünschten  aus  dem  Mechanismus  ausge- 
schlossen bleiben.    Ein  Mechanismus  kommt  in  Bewegung,  wenn 

')  F.  Reuleaux,  Theor.  Kinem.,  38. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


33 


anf  eines  seiner  beweg^chen  Glieder  eine  mechanische  Kraft,  welche 
die  Lage  desselben  zu  ändern  imstande  ist,  einwirkt  Die  Kraft 
verrichtet  dabei  eine  mechanische  Arbeit,  welche  unter  bestimmten 
Bewegungen  vor  sich  geht;  das  Ganze  ist  dann  eine  Maschine." ') 
In  einem  populären  Vortrage  hat  Reuleaux  dann  seinen  Gredanken 

diese  Prägung  gegeben:  ,J)as  allgemeine  Prinzip  der  Maschine 

ist  die  Bewegungserzwingung.  Mit  der  Maschine  will  man 
zunächst  Körpern  Bewegung  erteilt  wissen;  diese  Bewegung  soll 
dann  aber  nach  einem  bestimmten  Plane  vor  dch  gehen,  es  sollen 
gewisse  Wege  unter  gewissen  Geschwindigkeiten  und  in  gewisser 
Folge  durchlaufen  werde,  wie  es  eben  dem  zu  erreichenden  Zwecke 
entspricht"*) 

Diesen  Definitionen  will  ich  nun  gleich  die  meinige  gegenüber» 
stellen,  die  lautet:  Eine  Maschine  ist  dn  Arbeitsmittel  oder  dn 
Komplex  von  solchen,  welches  derart  eingerichtet  ist,  dals  es  dne 
Arbeit,  die  sonst  der  Mensch  venrichten  miüste,  an  Stelle  des 
Menschen  ausfuhrt,  ein  Arbeitsmittel  also,  welches  nicht  —  womit 
wir  die  Maschine  scharf  gegen  das  Werkzeug  abgrenzen  —  mensch- 
lidie  Arbeit  unterstützt,  sondern  menschliche  Arbeit  ersetzt. 

Die  bdden  verschiedenen  Auffassungen,  die  in  den  angeführten 
Definitionen  zum  Ausdruck  kommen,  lassen  sich  wie  fol^t  charakteri- 
sieren. Reuleaux  hat  seiner  Auffassung  vom  Wesen  der  Ma- 
schine <,'lcich  auch  die  Bezeichnung,  durch  die  er  sie  von  anderen 
—  fircilich  nur  technologischen,  wie  z.  B.  einer  „physikalischen"  — 
unterschiedet!  wissen  will,  hinzugefügt;  er  nennt  sie  die  „kinema- 
tische". Sie  kcnn/richnet  sich  dadurch,  dafs  sie  die  Gesetze  auf- 
stellt, „die  der  Bildung  der  Maschine  zu  Grunde  liegen" sie 
enthalt  somit  eine  „Theorie  der  Zusammensetzung  der  Maschine 
auf  neuer  Grundlage."  *)  Auf  alle  Fälle  lehrt  sie,  was  die  Maschine 
ist  und  kümmert  sich  nur  gel^entlich  um  die  Frage,  was  die  Ma- 
schine leistet.  Diese  Frage  nun  aber  nach  der  spezifischen 
Leistung  der  Maschine  im  Arbeitsprozels  ist  diejenige, 
die  bei  unserer  Begriffsbestimmung  in  den  Vordergrund  gerückt 

*)  Ebenda  S.  53'54-   Vgl.  daxn  S.  490,  492  flf. 

*)  F.  Realeanx,  Ueber  den  Einflnb  der  Masehine  auf  den  Gewerbebetrieb. 
Vottnc,  gehalten  in  der  MwennugcsellKbaft  in  Fhudcfnit  a^M.  abgednickC  in  „Nord 
nnd  Sad**.   1879.  5.113/114. 

«•  Reuleaux,  Thrur.  Kin.  S.  VII.  vgl.  S.  IX. 

*}  Ebenda,  S.  4.  dazu  S.  31  ff.,  wo  der  Verfasser  seinen  Standpunkt 

noch  pmauer  kcnnzrichnct. 

Archiv  für  *ot.  Gesctzgebuns  u.  ^jtati'ttik.   XI V.  3 


Digitized  by  Google 


34 


Werner  Sombart, 


ist.  VV^ir  erinnern  uns  dabei  der  Worte,  woiiiit  wir  diesen  unseren 
t e c hn i s c h  -  ö k o  II  o  m  i s c  h  e n  Standpunkt  genauer  präzisiert 
haben.  Dort  wurde  ausgeführt,  wie  es  die  Inbeziehungsetzung  der 
menschlichen  Arbeit  mit  dem  der  Natur  für  unsere  Bcdarfsbefrie- 
digun;^^  abzuringenden  Erfolge  ist,  die  die  spezifisch  technisch-öko- 
nomische Autiassung  von  dem  Produktionsverfahren,  also  auch  von 
dem  Maschincnj)rinzij>  ausmacht.')  Dem  Sclilufsworte  Rculeaux: 
„Das  allgemeine  Prinzip  . . ,  der  Maschine  ist  die  Ik-wegungs- 
erzwingung"  können  wir  nun  von  unserem  Standpunkt  aus  ein 
ebenso  kurzes  Motto  entgegensetzen:  „Das  allgemeine  Prinzip 
der  Maschine  ist  A  r  b  e  i  t  s  e  r  s  e  t  z  u  n  g."  Wie  sie  diese  Funk- 
tion erfüllt,  lehrt  die  Kinematik. 

Dafs  nun  aber  diese  beiden  Auffassungen  einander  nicht  aus- 
schlielsen,  sondern  wie  wir  schon  sagten,  sich  auf  das  glücklichste 
ergänzen,  wird  ersichtlich,  sobald  wir  nach  dem  P_i  n  t  w  i  c  k  1  u  n  g  s - 
p  r  i  n  z  i  p  der  M  a  sc  h  i  n  e  fragen.  Da  ergiebt  sich  nämlich 
folgende  i\insicht  xon  grolscr  Tragweite :  dafs  die  Maschine,  in  dem 
Malsc,  wie  sie  in  kitu  uialis«  1k  r  Beziehung  sich  vervollkommnet, 
auch  in  technisch-ökonomiM-hcr  Wirkung  an  W^llkommenheit  zu- 
nimmt. Was  wir  auch  sr»  ausdrucken  können:  Je  lückenloser  die 
Maschine  den  Bewegungszwaiig  ausübt,  desto  näher  kommt  sie 
dem  endlichen  Ziele  ihrer  Bestimmung,  der  vollständigen  Arbeits- 
ersetzung. 

Das  wird  ersichtlich  werden,  sobald  wir  die  beiden  Entwicke* 
lungsreihen  neben  einanderstellen.  Dabei  macht  es  keinen  Wesens- 
unterschted,  welchem  Zwedee  die  Maschine  dient  —  wir  teilen  die 
Maschinen  in  Kraft-  und  Arbeitsmaschinen,  je  nachdem  durch  die 
Maschine  eine  Kraftau(serung  oder  eine  Arbeitsleistung  im  engeren 
Sinne  erzielt  wird  und  letztere  wiederum  in  ortsverändernde  oder 
transportierende  und  formverandemde  oder  transformierende^,  — 
vielmehr  läfst  sich  för  alle  Kategorieen  folgendes  sagen: 

Unteir  kinematischem  Gesichtspunkt  wird  die  Entwicklung  der 
Maschinen  zu  höheren  Formen  charakterisiert  durch  den  allmählichen 
Uebergang  vom  Kraftschlufs  zum  Ftorschlufs,  d.  h.  von  der  Schlielsung 

*)  Marx  stn-ilt  die  Vf rschiedcnhcit  drr  Auffassung  von  dem  Wesen  der  M«- 
hi  hitif    ebentalh    lliicluij;    (Kapital    I*,  ohne   jedoch    die  l'nterschcidungs- 

kritcncn  anzugeben.  Die  eine  darauf  zu  bc/.ichcndc  Bcmcrkuiij^ :  ,, Vom  ökonomischen 
Standpunkt . . .  taugt  die  Erklärung  —  sc.  der  Mathematiker  und  Mechaniker  —  nichts, 
denn  ihr  fehlt  das  historische  Element,"  ist  zicnlich  unglücklich. 

*)  Vgl.  dazu  Rettleanz,  Theor-  Kin.,  479  ff. 


Die  gewerbUche  Arbdt  und  ihre  Organiwrinn, 


3S 


von  £]eiiieiitenpaai€n  duroh  sensible  Kräfte  zu  einer  Schlie&ung 
durch  btente  Kräfte,  d.  h.  solcher  Kräfte,  die  in  den  ein  Elementen* 
paar  zu  zwangsweiser  Bewegung  bringenden  Körpern  gebunden 
sind.')  Das  Kntwicklungqninzip  ist  danach  zundimende  Beschrän- 
kung der  Bewegung  in  gewollter  Richtung.  Dem  ungebandigten 
Walten  der  Naturkräfte,  welche  in  schrankenloser  Freiheit  auf 
einander  prallen,  um  im  Kampfe  aller  gegen  alle  das  unbekannte 
Erzeugnis  der  Notwendigkeit  hervorzubringen,  steht  gegenüber  die 
durch  Beschränkung  auf  ein  einziges  und  beabsichtigtes  Ziel  ge- 
lenkte  Kräftewirkung  in  der  Maschine.  Je  sicherer  und  exakter  also 
der  gewünschte  Erfolg  erzielt  wird,  desto  vollkommener  ist  die 
Maschine  in  kinematischer  Hinsicht  entwickelt.  Nun  stellt  aber 
auch  die  Mitwirkung  der  menschlichen  Hand  bei  der  von  der 
Maschine  zu  bewältigenden  Aufgabe  immer  noch  ein  Moment  der 
Unsicherheit,  einen  Kraftschlufs  dar.  Das  Streben  nach  kine- 
matischer Vollendung  deckt  sich  also  mit  dem  Bemühen,  den  An- 
teil der  menschlichen  Thätigkeit  zu  verringern.  Je  vollkomTnener 
also  das  Prinzip  des  Rewcg^un^rszwangcs  verwirklicht  wird,  desto 
vollkommener  wird  gleichzeitig^  -  pari  passu  —  dem  Prinzip  der 
Arbeitsersetzung  Geltung  verschafft.') 

Näheres  darüber  siehe  bei  Rculcaux,  a.  a.  O.  namentlich  im  VI.  Kapitel, 
und  ygU  ebenda  S.  i6i  ff.,  227  if.  und  patsim. 

*)  Du  Beispiel  des  jedenmum  bdumitea  Entwicklangsgaiifes  der  Dampf- 
maadiiBe  tcmg.  das  Gesagte  vcideatlidieii:  Die  Newaunensehe  libadiiBe  erforderte 
nocit  ia  weitestem  Umfinge  die  Mitwirkung  des  Menschee«  Der  Arbeiter  mnfste 
Tcgebnäfsig  mehrere  itthne  öilnen  ond  schliefsen  und  anfserdem  die  Dampfspannung 
kontrollieren,  bis  Newcomen  das  Sicherheitsventil  hinzufügte  und  der  Knabe  Humphrejr 
Pottcr,  um  sich  von  der  geisttötenden  Beschäftigung  des  Bewachens  der  Hähne  zo 
befreien,  die  Hebel  der  Hähne  durch  Stricke  mit  dem  Wagebalken  der  Maschine  ver- 
band und  so  die  mechanische  Steuerung  herstellte,  also  an  Stelle  des  Krai'thchlusses 
<lcn  raarscblufä  setzte.    Unter  den  Neuerungen  Watts  finden  sich  auch  mehrere,  die 
den  rein  «ntonatiMlMB  Gang  der  Dampflnaschine  beibdflilnlisii:  Sdiwnngrad,  Droüd- 
klappe,  mcclianischcr  Moderator,  in  denen  noch  mechaaisclic  Oelapparste,  Sidicrangen 
an  Schnaben  n.  dgL  hinsvtreten.  VgL  noch  Em.  Herrmann,  WirtachaftHche  Ur» 
sadien  nnd  Fdilerqnellcn  des  Denkens  in  „Knltnr  und  Nator**  S.  184  ft  vnd  fttr 
die  Entstehung  der  Dampfmaschine  insbesondere :  F.  Reulcaux,  Kurzgefafste  Ge- 
schichte der  Dampfmaschine.    Braunschweig  1859.    Th.  Beck,  James  Watt  und 
die   F.rhndung  der  Dampfmaschine.     S.  A.   aus  dem  Gewcrbcblatt  für  das  Grnfs- 
herzogtuin   Hrssrn.  Jalirgang   1894,    dessen  (nicht  genannte!)  Quelle  das  bekannte 
Werk  von  James  Patrick  Muirhead  ist:  The  origin  and  progress  of  thc  mechanical 
invenüon  of  James  Watt.   3  Vol.    London  1854. 

3* 


Digitized  by  Google 


36 


Werner  Sonbart, 


In  dieser  Arbeitsersetzung  ofTenbart  sich  nun  aber  nicht  nur 
das  innerste  Wesen  der  Maschine:  es  liegt  in  ihr  auch  die  Be- 
deutui^  eingeschlossen,  die  dem  Eindringen  der  Maschine  in  den 
Arbeitsprozcfe  für  die  gesamte  materielle  Kultur  beigelegt  werden 
xnuts.  Erinnern  wir  uns  des  leitenden  Gesichtspunkts,  unter  dem 
wir  alle  Eigenarten  des  menschlichen  Arbeitsverfahrens  zu  betrachten 
uns  vorgenommen  hatten:  des  Einflusses,  den  sie  auf  die  Erweite- 
rung der  Machtsphäre  des  Menschen  im  Bereiche  der  spröden 
Natur  auszuüben  vermögen,  so  mufs  der  Maschine  die  allergröfseste 
JFähigkeit,  jene  Machtsphäre  auszuweiten,  beigemessen  werden.  Sie 
ist  es,  die  das  Wort  des  Weisen :  „Du  bleibst  doch  immer,  was 
Du  bist",  was  technisches  Können  anbetrifft,  Lügen  gestraft  hat. 
Denn  sie  ist  es,  die  die  Leistungen  des  Menschen  über  das  natür- 
liche Ausmafs  seiner  Organe  hinauszuheben  xerniag.  Sie  reckt  den 
Arm  und  den  Ktkper  zu  riesigen  Verhältnissen,  >ie  schwellt  die 
Muskeln  ins  (ligantischc  und  verleiht  den  hingern  subtilste  Fein- 
fühligkeit, sie  trägt  den  Blick  über  Tausende  von  Meilen  und  leiht 
den  Füfsen  die  Schnelligkeit  des  Windes.  Planer  gesprochen :  in 
qualitativer  und  vor  allem  in  quantitativer  Hinsicht  steigert  die  Ma- 
schine das  men.schliche  Können  über  das  i  n  fl  i  \-  i  d  u  e  1 1  erreich- 
bare Maximum  von  Vollkommenheit  hinaus.  Auch  das 
feinste  Werkzeug,  der  delikateste  (iriffel  oder  Meifsel  in  der  Hand 
des  Arbeiters  kann  doch  nie  etwas  anderes  leisten  als  manuelle 
Fertigkeit  unterstützen:  die  Arbeitsmaschine  dagegen  kennt  diese 
Schranken  nicht.  Sie  braucht  nicht  den  Kontakt  zwischen  Auge 
und  Hand  niehi  ,  auf  dem  alle  X'crfeinerung  manueller  (ieschicklich- 
keit  beruht:  ^ie  kann  so  lein  schneiden,  so  sicher  und  regclniäfsig' 
eine  Verrichtung  wiederholen,  so  leise  klopfen,  so  fein  bohren,  wie 
niemals  die  menschliche  Hand,  in  der  das  warme  Blut  des  leben- 
digen Menschen  strömt,  es  vermöchte:  .sie  ersetzt  eben  in  voll- 
kommener Form  die  Arbeit  des  Arbeiters.  Kein  noch  so  kräftiger 
Schmiedegeselle  hebt  einen  Zuschlaghammer,  der  mehr  als  50  Pfund 
wöge,  keine  noch  so  geschickte  Spinnerin  vermag  mehr  als  einen, 
höchstens  zwei  Fäden  auf  einmal  mit  der  Hand  zu  spinnen:  der 
grofse  Dampfhammer  im  Kruppschen  Werke  wiegt  50  Tonnen,  das 
sind  1000  Zentner,  die  neuen  Spinnmaschinen  setzen  2  —  3000 
Spindeln  auf  einem  Wagen  in  Bewegung.  Um  diese  höchsten 
Leistungen  der  Maschinerie  zu  begreifen,  mufs  man  sich  folgender 
Momente  bewulst  sein:  in  jeder  menschlichen,  formverändemden 
Arbeitsleistung,  so  lange  sie  nkht  machinal  ausgefiihrt  wird,  steckea 


Digitizcd  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Orgniiaation. 


37 


zwei  Bestandteile :  die  geistig-manuelle  \'crrichtung  selbst  und  die 
dafür  aufzuwendende  Kraft,  beide  zunächst  organisch  und  scheinbar 
unlöslich  verbunden.  Nun  kann  die  eine  oder  die  andere  dieser  beideti 
Funktionen  allein  von  der  Maschine  übernommen  werden;  sodafs 
eine  Kraftniaschine  dem  Arbeiter  lediglich  den  eigenen  Kräfteauf- 
wand ersetzt,  er  aber  selbst  alle  eigentlichen  formverändernden 
Thatigkeiten  nach  wie  vor  ausführen  mu&:  ein  Fall,  der  adten  ist 
und  auch  nur  immer  fUr  Teile  des  gesamten  Kraftaufwandes  denk- 
bar  ist,  da  ja  auch  die  ein&chste  Formvetinderung  doch  immer 
noch  eines  wenn  auch  noch  so  leisen  Kraftaufwandes  bedarf;  oder 
aber:  es  geht  zunächst  die  eigentliche  Arbeitsverrichtung  auf  die 
^Arbeit&-)Maschine  über  und  dem  Menschen  verbleibt  einstweilen 
die  Leistung  des  Krafhiufwandes.  Dieses  ist  ein  in  der  That  sehr 
häufiger  Fall.  Er  ist  der  normale  in  allen  Anfängen  menschlicher 
Kultur  bis  tief  in  die  neue  Zeit  hinein.  „Was  der  zum  Bewu&tsein 
erwachte  Mensch  bei  Schaffung  der  Maschine  dunkel  wollte,  ist  die 
Erzwingung  bestimmter  Bewegungen  an  leblosen  Körpern  für  seine 
Zwecke.  Die  Kräfte  zur  Verursachung  dieser  Bewegungen  sucht  er 
zuerst  nur  in  sich  und  seines  Gleichen.  Fem  noch  liegt  ihm  die 
Unterjochung  der  Naturkrafte  au6er  ihm"  (Reulea ux).  Nun  ist 
iur  |len  Entwicklungsgang  der  Maschinerie  folgendes  zu  beachten: 
meistens  wird  eine  bestinunte  Arbeitsverrichtung  nicht  gleich  ganz 
von  der  Maschine  übernommen,  sondern  nach  und  nach,  Teil  fUr 
Teil.')  Die  Maschine  ist  nicht  gleich  von  Anfang  an  Voll- 
maschine, wie  ich  es  nennen  will,  sondern  häufig  erst  Teil- 
maschine. Ein  bekanntes  Beispiel  bietet  wiederum  die  Ent- 
wicklung der  Spinnmaschine.  Das  Spinnen  erfolgt  gleich  in  seinen 
AnGmgen  maschinell:  die  Spindel  ersetzt  die  sonst  vom  Menschen 
auszuführende  Drehbewegung.*)  Diese  machinale  Vorrichtung  wird 
nun  vervollkommnet  im  Spinnrade:  die  Hände  werden  völlig  von  der 
Verrichtung  des  Haltens  und  des  die  Spindel  in  Bewegungsetzens 
befreit  und  alle  Kraftzufuhr  erfolgt  durch  den  Fufe.  Es  verbleibt 
jedoch  die  Thätigkeit  des  Fadenherausziehens  —  wobei  es  darauf  an- 
kommt, der  Spindel  eine  entsprechend  geringe  Menge  Fasern  zuzu- 


*)  „Solo  «  pooo  a  pooo  1»  madiin«  si  perfesioDA,  dim  si  enaadp*;  diviene 
atta  al  nolo  mrmniro  cd  in  altimo  qoasi  cutoniaticft".  A.  F.  Labriola,  Tecnica 
•d  Eoaoottia.  Diw.  di  Laim«  (1894)  pag.  5. 

*)  Die  Spiadel  wild  riclitie  nm  Renleanz,  Thcor.  Kin.,  223  sdion  eine 
machiaale  Vorriditaiig  gtaaaat. 


38 


Werner  Sombart, 


fähren  —  Domäne  der  menschlichen  Hand;  ein  Teil  der  ibrmver- 
ändernden  Arbeitsverrichtung  also  dem  Arbeiter.  Diesen  letzten 
Rest  menschlicher  Mitwirkung  bei  dem  Spinnprozefs  zu  beseitigen» 
darin  beruht  die  Bedeutung  der  Erfindungen  des  i8.  Jahrhunderts.  Alle 
neuere  Maschinenspinnerei  beruht  auf  der  Anwendung  zweier  oder 
mehrerer  Walzenpaare,  die  sich  mit  ungleicher  Geschwindigkeit 
umdrehen  und  zwischen  denen  der  zu  spinnende  Stoff,  nachdem  er 
durch  die  Karde  in  lange  Bander  verwandelt  worden  ist,  hindurch- 
geführt  und  nach  einer  Spindel  oder  geflügelten  Spule  hingeleitet 
wird.  Es  werden  dann  nämlich  jene  Bänder,  weil  die  vorderen 
Walzen  eine  viel  schnellere  Bewegung  haben  als  die  hinteren,  zu 
einem  Faden  auaeinandergezc^n,  während  dieser  zugleich  durch 
die  schnell  sich  drehende  Spindel  die  nötige  Zwimung  erhalt*) 
Damit  war  die  Kette  der  machinalen  Einrichtungen  geschlossen  und 
der  gesamte  Spinnprozefe  der  Maschine  übertragen  —  bis  auf  die 
Zuführung  der  Kraft,  die  eine  Weile  noch  dem  Menschen  oblag. 
Die  ersten  Spinnmaschinen  wurden  bekanntlich  mit  der  Hand  ge- 
dreht.  Nun  aber,  worauf  es  ankonmit:  erst  in  dem  Momente,  und 
auch  keinen  Augenblick  früher,  wann  eine  bestimmte  Arbeitsver- 
richtung in  allen  ihren  Teilen  (ausgenommen  die  Kraitzufiihrung) 
dem  Bereich  der  menschlichen  Mitwirkung  entzogen  ist,  wird  es 
möglich,  das  Quantum  der  in  Finem  auszuführenden  Arbeit  beliebig 
zu  vermehren,  ohne  durch  die  Enge  des  individuellen  Arbeitsver- 
mögens beschränkt  zu  sein.  Nun  erst  nützt  die  Vcrgrofserung  der 
KiaftqueUe,  die  so  lange  unnütz  war,  als  die  Arbeitsverrichtung  an 
irgend  einer  Stelle  die  menschliche  Handthätigkeit  passieren  mufste. 
Man  kann  danach  ermessen,  welche  Bedeutung  fiir  die  Entwick- 
lung der  Maschinerie  die  vorherige  Zerlegung  eines  Gesamtarbeits- 
prozesses in  möglichst  viele  Teilvorrichtungen  hat.  Denn  offenbar 
genügt  es,  um  die  machinale  Thätigkeit  zu  voller  Entfaltung  zu 
bringen,  dafs  an  irgend  einer  Stelle  des  Arbeitsprozesses  eine  Vor- 
nahme sich  so  isolieren  läfsl.  dafs  sie  als  Einheit  erscheint  und  als 
solche  der  menschlichen  Handthätigkeit  entrückt  wird.   Sobald  das 

')  Meines  Enditeiis  mit  Recht  wiid  deshalb  auch  derjenigen  Erfindang  epochale 
Bedeutang  snsaericennen  sein,  wddie  nient  dieses  Vfahmptmdp  ftr  die  Faden- 
bildvng  nDtsbar  madite.    Es  ist  die  nomindl  Yon  L.  Fnnl,  thatiSchlich  vahr> 

sdicinlich  von  Wyatt  herrührende,  schon  im  Jahre  1738,  also  lange  vor  Ark» 
wright  patentierte  Erfindung.  Vgl.  Baines,  Geschichte  der  britischen  Baumwollen» 
manufaktur  etc.  Stuttgart  und  Tübingen  1836.  S.  44  ff.  Dieses  Urteil  teilt  fibrigeos 
aoch  Karmarscb,  Geschichte  der  Technologie  (1872)  S.  596  if. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbUche  Arbeit  und  ihre  OrganiMdoD. 


39 


der  Fall  ist,  kann  diese  Spezialvorriclitung  belicbi^^  über  individuelles 
Können  hinaus  beschleunigt  oder  ausgeweitet  werden.  Man  denke 
an  die  Steppmaschinen,  an  die  Knopf lochmaschinen,  die  l  alz  ,  I'räs-, 
Polier*  etc.  Maschinen  in  der  Schuhwarenindustrie,  an  die  Fädel- 
masdhine  in  der  Stickereiindustrie  etc.,  die  alle  nur  Teilverrichtungen, 
aber  diese  ganz  machinal  ausfuhren.  Die  Arbeitszerlegung  hat  die 
Maschinerie  viel&ch  erst  ermöglicht,  wie  umgekehrt  erst  die  Ma- 
schinentechnik das  Prinzip  der  Arbeitszerlegung  bis  in  seine  äuiser- 
sten  Konsequenzen  treibt.') 

*)  „Dm  Streben  gebt . .  im  gansoi  dabin,  di*  Arbelt,  nacbdem  sie  soveit  ge- 
teilt  ist,  d«&  die  rtttiehien  Arbeatsverfabren  nur  nocb  Kiaftanrtrmgwng  beuspmcben 
dem  Mcascben  abzunehmen  und  einer  Maschine  zu  übertragen."   Lindner,  a.a.O. 

„In  manchen  Maschinenfabriken  schreitet  dir  Spezialisierung  der  Arbeits*  und 
Werkzeugmaschinen  so  weit  fort,  dafs  für  icde  Fl.Hrhenart  und  Dinionsion 
des  Werkstücks,  ia  für  jede  Fläche  jedes  einzelnen  Teiles  des  \\'erk-.tiiikes  eigene 
Arbeit>niuschinen  vorhanden  sind.  Da  giebt  es  z.  H.  Kisenhobelniaschincn.  allein 
für  LokomotivtricbitMigeii  in  sechs  bb  zehn  Arten,  eigene  Drehbänke  fUr  Nebenteile, 
wie  die  obere  und  die  Breitseite  des  inneren  LokomotivfBdkniniesT  md  wieder 
eigene  Drdifalnke  fllr  die  iwei  bis  drei  Seiten-  md  obere  Flleben  des  Tyres, 
wddMr  «of  den  inneren  Radknuix  angeschweiftt  werden  soll.  Und  nrnr  bier 
wieder  dgene  ItoicMttfii  fllr  LotoauiU»ttiebi&der  und  fllr  einAche  Trag-  oder 
I^ufräder  je  nach  der  besondem  Dimension  derselben."  E.  Herr  mann,  Miniatur» 
bilder,  156.  In  einer  hiesigen  Schuhfabrik  zähle  ich  folj,'ende  Typen  von  Arbeits- 
ma«ichinen:  4  verschiedene  Stepp-,  Knopfloch-,  Knopf-  und  Heftmaschinen;  3  ver- 
schiedene Sohlenschneidemaschincn  ;  3  verschiedene  Stanzmaschinen  ;  1  i  verschiedene 
Maschinen,  die  der  Befestigung  des  Bodens  am  Schaft  dienen,  13  verschiedene  Ma- 
schinen, die  sich  mit  der  Appretur  des  fertigen  Stiefels  (Fräsen,  Polieren,  Ausglasen, 
Flibenete  elc)  besdiiftigen,  susaainen  34  verschiedene  Arten  von  Arbeits- 
oascbinen,  man  denke:  mm  Ersats  von  Friemen  und  Ibuamerl  In  der  Gewehr- 
fabrikation  werden  Uber  600  verschiedene  Maschinen  verwandt  Aehaliche  Mannig- 
faltigkeit der  Maschinerie  herrscht  in  der  Nähmaschincnfabrikation.  Selbst  eine  so  ein- 
gehe Prozedur,  wie  die  maschinelle  Herstellung  unserer  Zündhölzchen,  erfordert  ein 
ganzes  System  von  Arbeitsmaschinen.  Da  finden  wir:  1.  die  Dampfsäße;  2.  die 
Jkrhälmaschine ;  3.  die  Abschla^maschine ;  4.  die  Putznuisiiiine ;  5.  die  Gleiclilege- 
ma^schine;  6.  die  Einlegemaschine;  7.  die  Dampfhobclbank ,  8.  die  Schachtelschäl- 
majbchine;  9.  die  Schachtelspan-Teilmascbine ;  10.  die  Aufsen&chachtelmaschine ; 
lt.  dBe  EÜkctlieraMsddn»;  12.  die  InncnscbachtHmascbine;  13.  die  Einlegemaacbine; 
14.  Anstricbmaadiine;  15.  die  Einparkmaschine ;  16.  die  Etikettenlddmiascbine. 
Da&  in  anderen  FiUen  die  EinflOmmg  der  Masdiine  frOher  aerl^e  Arbeit  wieder 
konq>1cK  madl,  — >  oft  dtierte  Beiqpide  dafllr,  die  manche  Autoren  mit  Umecht  ver- 
allgemeinert haben,  sind  die  Nagel-  und  Enveloppemaschinen  .ändert  nichts  an  der 
Thatsacbe,  daCi  als  Regel  Arbeitsserkgung  und  Mascliinentechnik  Hand  in  Hand  geben. 


Digitized  by  Google 


40 


Werner  Sombart, 


Man  bat  häufig  unser  Jahrhundert  als  Maschinenzeitalter 
geschmeichelt  wie  verflucht."  Dachte  man  dabei  daran,  eine  be- 
sonders rasche  Entwicklung  der  Maschinerie  als  unserer  Zeit  charak* 
teristisch  hinzustellen,  so  läGst  sich  dagegen  nichts  einwenden.  Zu- 
weilen  b^^[net  man  aber  sogar  in  wissenscliaftlichen  Auslassungen 
auch  heute  noch  der  Vorstellung:  als  ob  um  die  Wende  des  vorigen 
Jahrhunderts  die  Maschine  überhaupt  erst  in  die  Erscheinung  gc* 
treten  und  die  Jahrhunderte  vorher  eine  maschinenlose  Zeit  gewesen 
seien.  Diese  Annahme  ist  ganz  und  gar  verkehrt  Die  Maschine 
ist  fast  so  alt,  möchte  man  sagen,  wie  das  Werkzeug;  sie  begleitet 
den  Menschen  auf  allen  Etappen  der  Kultur  und  wächst  in  lang- 
samer, schrittweiser  Entwicklung  zu  der  heute  erreichten  Voll- 
kommenheit heran. 

Wir  haben  uns  nach  dem  Vorgang  R  e  u  I  e  a  u  x  jetzt  daran  ge- 
wöhnt, als  erste  Maschine,  also  als  den  „ersten  schüchternen 
Versucli  des  Menschen,  /wn  aufser  ihm  stehende  Körper  zu  einer 
bestimmten  gegenseitigen  Bewegung  zu  /.wingcu,"  den  I' c  u  e  r  r]  u  i  r  1 
zu  betrachten.')  Dann  fällt  aber  der  Anfang  der  Maschinenent- 
wicklung in  eine  Zeit,  in  der  die  Mensrhen  das  Feuer  blols  erst 
zu  religiösen,  noch  nicht  7.u  gewerblichen  Zwecken  nutzten,  -)  also 
in  eine  aufserordentlich  frühe  Periode  der  Kultur.  .Aber  auch 
atidcrc  ohne  allen  Zweifel  inachinale  X'orrichtungcn  reichen  in  <lie 
Dämmerung  entlegenster  Zeiten  zurück:  Pfeil  und  Hogen.  .Sjjindel. 
Töpferscheibe,  von  der  flie  Drehbank  sich  ableitet,  unterschlächtigc 
Wasserräder,  Wagen  und  Wagenräder,  der  Pflug  sind  Maschinen- 
vorrichtungen, die  wir  schon  frühzeitig  im  Besitze  der  Menschen 
finden.  *)    Und  aus  den  ersten  Anlangen  sehen  wir  die  Maschine 


M  k«'ulcaux,  Thcor.  Kincin.,  I98  ff.  Vj^l.  über  dies«-  erste  M.Tschine" 
ferner  L.  r/cij^cr,  Zur  Entwicklungbge&chichte  der  Menschheit  (1878)  S.  93  ff. 
L.  Noire,  Das  Wcrkzcuji,  S.  298  ff. 

*)  Die  Geigersche  Hypothese  Aber  die  Entdeckung  des  Feuert  al$  richtig 
Migenomnien;  vgL  oben  S.  18. 

VgL  bierni  vor  «Uem  das  VL  Kapitel  der  Reuleauzsdien  Kinematik,  das 
einen  „Blick  auf  die  Entwicklungsgeschichte  der  Maschine"  enthilt 

üebrigens  sah  auch  Gustav  Klemm  schon  deutlich  die  AnfKnge  des  Ma- 
schinrnpriuzips  vor  .Vufjen,  als  er  folgendes  bemerkte :  ,,NVir  können  wolil  unter  die 
L'ranläiifj«-  der  .Maschinr-  da.-,  alte  Reibungsfeuerzeug,  den  Drillbohrer  und  die  Hand- 
mülili-  r'-rlunti.  Di-mnäclist  ist  Spindid  und  Webstuhl,  sowie  die  allerdings  erst 
ziemlich  spat  eiuirctcude  Drehscheibe  der  Tüpfcr  dabei  zu  beachten  .  .  .  Die  Wasser- 
räder, die  wir  in  Aegypten  und  China  sehen,  die  Wassermühlco,  ja  die  in  Polen 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihr«  Oiftaintion. 


4» 


sich  langsam  zu  höheren  Formen  entwickehi.  Ein  vortreffliches 
Schulbeispiel  fiir  diesen  organischen  Entwicklungsgang  der  Ma- 
schinerie bietet  die  Geschichte  der  Mehlbereitungsver&hreni  also 
der  Müllereitechnik. 

Wir  wissen,  dafs  schon  aulserordentlich  früh  machinale  Vor- 
richtungen zur  Zerkleinerung  der  Getreidekörner  bestanden  haben 
So  iiiufs  es  !)ci  den  Chinesen  früh  üblich  geworden  sein,  an  der 
Keule,  mit  der  in  dem  steinernen  Mörser  die  Kömer  gestampft 
wurden,  einen  horizontalen  Hebelarm  anzubringen,  der  mittels 
Zapfen  ungefähr  in  der  Mitte  seiner  Länge  zwischen  zwei  mit 
Löchern  versehenen  Steinen  beweglich  eingelagert  war.  Eine 
andere,  auch  noch  primitive,  aber  schon  entwickeltere  MaliN 
maschine  bietet  uns  das  Bild  einer  alten  ostindischen  Mühle  dar. 
Dort  ist  der  Mörser  bereits  ein  breiter  Kessel  aus  Stein,  welcher 
auf  einem  steinernen  Postamente  ruht.  Die  Keule  besteht  aus 
einem  schweren  Baumstrunke,  welcher  mittels  eines  daran  bc* 
festigten  horizontalen  Balkens  von  einem  Orlisenpaar  im  Kreise 
gedreht  wird.  Von  diesen  ürtypen  der  Mahhnaschine  gehen  dann 
die  zahllosen  Verbesserungen  und  Verfeinerungen  Schritt  für  Schritt 
weiter :  die  Mahlsteine  vervollkommnen  sich  und  ihre  Bewegungen, 
Sieb-  und  Reinigungsvorrichtungen  werden  dem  Mechanismus  ein- 
f^'cordnct,  die  ZufülirunL,'  und  Abführung  des  Materials  wird  auto- 
matisch bewirkt.  Und  mit  der  Vervoilkomniiaing  der  MahKDt  rich- 
iLin^  {parallel  geht  die  Xut/barinacluing  immer  stärkerer  und  Ireierer 
Kraftquellen :  zu  Ciceros  Zeil  wurden  Wasserräder  als  Motoren  an 
.Stelle  der  .Sklavinnen  eingeführt,')  seitdem  12.  Jahrhundert  datieren 
die  W  inthiuihlen.  Heute  liaben  wir  die  D.inijtfnuihie,  in  der  der 
.steinerne  Mühlstein  durch  die  eiserne  Walze  ersetzt  ist  und  in  der 
das  Prinzijj  der  Maschinerie  in  höchster  Vollendung  zur  Anwendung 
gebracht  ist. 

Immerinn  werden  die  gewaltigen  Fortschritte  der  Maschinen- 
technik seit  dem  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  nicht  nur  als  gleich- 

noeh  ttblkhen  HandmUhlen,  die  mit  dem  Hebelum  bewegt  werden,  sind  schon 
weiter  entwickelte  Mnscliinen."   VgL  Werkzeuge  and  Waffen  (1854)  S.  302/303. 
*)  „Dio  bat  die  Arbeit  der  BiGidchen  den  Nymphen  befohlen 
Und  it2t  hüpfen  sie  leicht  über  die  Räd«r  dahin, 
Dafs  die  orschütterten  Achsen  mit  ihren  Speichen  sich  wälzen, 
Und  im  Kreise  die  Last  drehen  des  wäl/.enden  Steinen." 
I Stolbergschc  UcberM-t/.unf;  eines  Gedichtes  des  griechischen  Dicitters  Antiparus; 
cilicrl  bei  Marx,  Kapital  I 373.j 


Digitized  by  Google 


42 


Werner  So m  bar  t , 


mSTsige  Weiterfuhrung  des  bisherigen  Entwicklungsganges  angesehen 
werden  dürfen,  man  wird  vielmehr,  um  sie  in  ihrer  prinzipiellen 
Bedeutung  zu  verstehen,  betonen  müssen,  dals  in  die  zweite  Hallte 
des  vorigen  Jahrhunderts  eine  Reihe  von  Ereignissen  auf  dem  Ge- 
biete der  Technik  lallt,  die  thatsachlich  berufen  waren,  den  Begimi 
einer  neuen  Aera  des  Maschinenwesens  zu  datieren.  Sie  beziehen 
sich  einmal  auf  die  Entwicklung  der  Arbeitsmaschinerie. 
Diese  erreicht  gerade  in  jener  Zeit  zwei  bedeutungsvolle  Etappen: 
sie  wird  vollendet  dar  einige  der  wichtigsten  Produktionszweige 
(Textilindustrie,  Papierfiibrikation)  und  sie  erobert  dasjenige  Gebiet, 
das  den  eigentlichen  Stützpunkt  für  ihre  weitere  Vervollkommnung 
erst  abgab:  die  Herstellung  wiederum  von  Maschinen.  Erst  von  dem 
Augenblick  an,  wo  dieser  Punkt  erreicht  war,  konnte  ein  rascheres 
Tempo  der  Maschinenentwicklung  einsetzen:  die  Verfeinerung'), 
wie  namentlich  die  Ausweitung  der  Dimensionen  ist  erst  möglich 
bei  maschinellem  Maschinenbau.  Das  entscheidende  Moment 
aber  war,  dafs  parallel  mit  diesen  bedeutsamen  Fortschritten  der 
Arbeitsniaschinerie  die  Nutzbarmachung  derjenigen  Naturkraft  sich 
vollzog,  die  an  Mächtigkeit  und  Beweglichkeit  alle  früher  genutzten 
Kräfte  um  ein  Vielfaches  übertraf :  des  Dampfes.  Auch  dem  „König 
Dampf'  mufs  eine  gerechte,  kritische  Würdigung  der  technischen 
Errungenschaften  unserer  Zeit  wieder  zu  seiner  alten  Würde  ver- 
helfen, die  ihm  eine  Reihe  von  Historikern,  in  berechtigter  Reaktion 
gegen  die  ursprünglich  kritiklose  Alleinbetonung  der  Bedeutung  der 
Dampfmaschine  und  in  ebenso  berechtigter  Hervorkehrung  des 
Einflusses  der  Arbeitsmaschine  auf  den  Entwicklung^ang  der  mo- 
dernen Industrie,  streitig  zu  machen  bemüht  gewesen  sind.  Beide 
Seiten  in  der  Entwicklung  der  Maschinerie-,  Arbeits-  und  Kraft- 
maschine müssen  eben  stets  als  sich  gegenseitig  bedingend  ange- 
sehen werden.  Gewifs  hätte  die  gezügelte  Dampfkraft  gar  keine 
vernünftige  X'erwendun^  gefunden,  wäre  nicht  eine  entsprechende 
Entwicklung  der  Arbeitsinaschinerie  vorausgegangen.  .Andrerseits 
aber,  muls  man  sagen,  würde  die  Weiterentwicklung  der  letzteren 
auiserordentUch  viel  langi>ainer  von  statten  gegangen  sein,  ohne  die 


Eine  der  töt  die  Entwiddinig  der  lUsduneric  cntscbeidciiden  Emmgeasdiaflca 

ist  die  derartig:  exakte  Herstellung  der  elBXclBcii  Maschinenteile,  dtü  diese  bdiebig 
von  einer  Maschine  in  die  andere  eingesetzt  werden  kfimien.  Dieses  System  der 
.\ustauschl>arkrit  der  einzelnen  Teile  ..interchangeaMr  System")  ist  «ber  erst  möflidl 
geworden  bei  maschinennaäfs>iger  Herstellung  der  Maschinen. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbUcbe  Arbeit  and  ihre  OrpuiimtiaiB. 


43 


in  der  F.rfitKlunj:^  der  Dampfmaschine  ersclilosseiic  neue  Kraftquelle. 
Die  Bedeutung  der  Dampfmaschine  liegt  in  zweierlei :  einmal  in 
der  durch  sie  bewirkten  ungeheueren  Steigerung  der  Kraftpotenz; 
sodann  aber  und  vor  allem  in  der  durch  sie  geschaffenen  Möglich- 
keit, zu  beliebigem  Zweck  an  beliebiger  Stelle  zu  beliebiger  Zeit 
eine  beliebig  grofse  Kraft  für  machinale  Zwecke  zur  Verfügung 
stellen  zu  können.  Damit  aber  wird  eine  Fülle  von  Hindernissen 
beseitigt,  die  der  Entwicklung  der  Arbcitsmaschincrie  entgegenstand: 
die  gesteigerte  Kraftentfaltung  macht  erst  in  weiterem  Lmfange 
Arbeitsmaschinen  gröfsercr  Dimensionen  verwendbar,  wie  sie  auch 
ihre  Herstellung  erst  ermöglicht;  beides  ohne  Beschränk-ing  in 
Raum  und  Zeit.  In  dieser  quantitativ  und  qualitativ  beliebigen 
Kraftentfaltung  ist  die  Dampfmaschine  in  keiner  früheren  Zeit  von 
irgend  einer  Kraftquelle  übertroffen  worden,  scheint  sie  aber  auch 
durch  neuere  Kraftquellen,  wie  die  Elektrizität,  die  durch  andere 
Vorzüge  ausgezeichnet  sein  mag,  kaum  übertroffen  zu  werden.  Und 
sofern  in  dieser  Beliebigkeit  der  Kraftentfaltung  das  wesentlichste 
Forderungsinittel  ffir  die  Entwicklung  der  modernen  Technik  er- 
bfickt  werden  muTs,  Ist  es  wohl  statthaft,  unser  2Seitalter  ab  das- 
jenige des  Dampfes  zu  bezeichnen.') 

Aber  nicht  die  rasche  Vervollkommnung  der  Arbeitsmaschinerie» 
nicht  die  Erfindung  der  Dampfmaschine  ist  es  am  letzten  Ende, 
was  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  für  die  Entwick* 
lung  der  Technik  jene  wirklich  einzig  epochale  Bedeutung  verleiht, 
die  sie  besitzt  Denn  ich  sehe  in  dieser  Entwicklung,  die  ihren 
Anfeng  mit  dem  ersten  Auftreten  des  Werkzeugs  nimmt,  thatsächlich 
nur  ein  einziges  Ereignis,  das  die  Zeit  vor  seinem  Eintritt  und  die 
Zeit  nachher  als  zwei  prinzipiell  von  einander  verschiedene  Perioden 
erscheinen  lälst,  derart,  da(s  wir  überhaupt  nur  zwei  Hauptepochen 
in  der  Entwicklung  der  menschlichen  Technik  unterscheiden  dürfen: 
die  erste  von  den  Anfangen  des  Menschengeschlechts  bis  in  die 
zweite  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  als  jenes  Ereignis,  an  das 
ich  denke,  eintrat,  die  zweite,  seitdem  bis  in  die  letzten  Tage  des 
Menschengeschlechtes  auf  Erden,  während  allen  übrigen  Verande- 
rungcn  der  Technik  nur  eine  quantitative,  keine  prinzipielle  Be- 


Die  neneste  Statiilik  der  Mot«»rcB  in  Dentidien  Reidie  (1895)  enaitteltc  im 
Gcweibe  Motoren  mit  mmmmen  3431 194  Pferdestiilcea,  tob  denen  J9A^,§  ^  ^ 
DampfkrBft,  18,4  \  «nf  die  Waiscrkiaft  endkUcn.  VierCdjdinheAe  der  Statiiük  des 
Dnitidien  Reidif.   1898.   Erginsnngabeft  zum  i.  Heft.  S.  37. 


Digitized  by  Google 


44 


Werner  Sorabart« 


deutung  zuzumessen  ist  Was  ich  meine  ist  die  Anwendung 
der  Wissenschaft  auf  die  Technik,  also  der  Ersatz  des  Kunst- 
verfahrens durch  das  rationelle  oder  wissenschaftliche 'Verehren. 

Ist  es  zunächst  berechtigt,  dieses  Ereignis  in  die  zweite  Hälfte 
des  vorigen  Jahrhunderts  zu  verlegen?  haben  nicht  frühere  Zeiten 
schon  das  wissenschaftliche  Verfahren  gekannt?  Zweifellos  hat  das 
Altertum,  namentlich  der  Orient,  in  einer  Reihe  von  Werken  uns 
Merkmale  einer  hochentwickelten  Technik  hinterlassen,  die  ein  aufser- 
ordentlich  reiches  Können  unzweifelhaft  machen.  Aber  alles»  was 
wir  von  der  Art  ihres  Schaffens  wissen,  läfst  doch  darauf  schlielsen, 
dafs  sie  nirgends  aus  der  Periode  der  Empirie  herausgekommen 
sind  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  ihnen  die  notwendige  Basis 
einer  nicht  mehr  einpirischen,  sondern  rationellen  Technik  fehlte: 
die  naturwissenschaftliche  Frkt-nntnis.  Diese  mufste  erst  eine  ge- 
wisse Reife  erlangt  haben,  ehe  die  I  cchnik  durch  sie  revolutioniert 
werden  konnte.  Das  aber  war  der  Fall  nicht  früher  als  eben  im 
Ausgange  des  vorigen  Jahrhunderts,  als  die  ersten  Früchte  der 
Geistesarbeit  jener  Heroen  des  17.  Jahrhunderts  geemtet  wurden, 
die  uns  das  Fundament  (K  r  nioderncn  Weltanschauung  zusammen- 
gezimmert haben.  Von  den  wirtschaftlich  hochentwickelten  italieni- 
schen Städten,  wo  in  Galileis  Schule  die  Grundlagen  für  die  be- 
obachtenden Naturwisse nsr haften  gelegt  wurden,  gehen  die  Strahlen 
des  Lichtes  aus,  das  die  Denker  des  18.  Jahrhunderts  zu  ihren  fiir 
«  die  Technik  erst  bedeutsamen  Entwicklungen  fuhrt.  Ich  erinnere 
an  die  Schöpfer  der  modernen  Mech  inik:  Lagrange  und  l^place, 
Poisson ,  Gauss ,  die  Begi-ünder  der  Hydrostatik  und  Dynamik; 
ich  erinnere  an  die  Schöpfer  der  modernen  Physik:  neben 
I^voisier  uiitl  Laplace  wiederum:  Galvani  (1789),  N'olta  (1792); 
an  die  Schöpfer  der  modernen  Chemie:  Black,  Priestley,  Ca- 
sendish ,  Kirwan,  Bergmann,  Wenzel  und  vor  allem  Lavoisier 

')  Speziell  über  den  Stand  der  Chemie,  deren  Entwicklung  die  Vorbedingung 
aller  modernen  Induitrie  mr,  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  urteilt  Kar- 
marsch,  Geschichte  der  Technologie  (1872)  S.  33,  wie  folgt:  „VerKtzt  num  mit 
dem  Bewnfstsein  des  jetsigen  Znstamdes  und  Wirkungskreises  der  Chemie,  seine  Ge> 
danken  in  das  Jahr  1750,  so  meint  man  sich  nicht  un  ein  Jahrhundert,  sondern 
um  Jahrtausende  und  in  dn  unbekanntes  Land  atrilckgerO^  wo  Wissen,  Vor- 
Stdlnnjren  und  Sprache  gßX  keinen  Anknüpfungspunkt  an  die  Gegenwart,  keine 
Möfilichkeit  des  Uebergangs  zu  derselben,  verraten.  Man  findet  die  Wissenschaft  in 
ciucf  Mellung  und  Bctrii-bsw.  isr  befangen,  wo  sie  dem  Leben  im  allgemeinen  und 
selbst  der  Industrie y^!)  gröfstentetls  fremd  ist;  alle  Forschungen  auf  das  Qualitative 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


45 


dessen  Haupt  im'  Jahre  1794  auf  der  Guillotine  in  den  Staub 
rollte:  sie  alle  gehören  fast  einer  und  derselben  oder  wenigen 
aufeinanderfolgenden  Generationen  an  und  alle  ihre  grundlegenden 
Entdeckungen  fallen  in  die  drei  letzten  Jahrzehnte  des  vorigen  Jahr* 
hunderts»  Da  nun  aber  auf  ihren  Entdeckungen  erst  die  moderne 
Industrie  ihre  rationellen  Verfessungsweisen  aufbaut,  so  scheint  es  in 
der  That  nicht  unberechtigt,  wie  wir  es  thun,  erst  von  jener  Zeit 
an  das  Eindringen  der  Wissenschaft  in  die  Technik  zu  datieren.') 


dageicliiiliikt,  du  Qntalitative  in  den  ZasamroentetsoDgen  md  bei  den  Piroienen, 
VM  jetst  die  wetendidute  Gnmdlage  aller  Unterradunigen  geworden  itt,  valiig  nn- 
berfldBncbtigt,  daher  keinen  Gedanken  an  analytische  Chemie,  noch  viel  weniger  an 
Natorgcsetze  in  den  Qoantitätsvcrhältnisse ;  keine  wissenschaftliche  Nomcnkhitur; 
die  Rcapentienkunde  in  der  unbeholfensten  Kindheit;  eine  profse  Armut  in  chcinib.chen 
Apparaten  und  sonstigen  Hilfsniiltcln ;  m<  i>t  ^'an/.  unklare  und  Ailschc  Vorstellungen 
von  den  iWstandteilen  der  alltäglichsten  Körper  und  eine  Menge  /.u^unimengesctzler 
Stoffe  fUr  einfach  gehalten ;  etwa  drei  V  iertel  der  gegenwärtig  &chou  cuiwickellcn 
fhrfMflirn  Slaffie,  wwie  eine  lalilkMe  Menge  von  Verbindungen  unbekamit  and  die 
OanteUnag  nener  Verbindungen  durchaus  dem  Zufall  flberlassen.** 

Und  genauer  die  Entstehungneit  der  modernen  Chemie  umschreibend  A. 
Ladenbarg,  Vorträge  Aber  die  Entwicltlmigsgeschichte  der  Chemie  in  den 
Idslcn  hundert  Jahren.  2.  Aufl.  Braunschweig  1887  S.  16  „Zwischen  den  Jahren 
1774  und  1794  ward  ein  für  die  Chemie  sehr  wichtiger  Kampf  geführt;  es  galt  die 
Befreiung  von  den  fesseln,  welche  die  griechischen  Philosophen  den  Denkern  jener 
Zeit  angelegt  hatten;  es  galt  die  Prinzipien  der  Bacosclien  l.ehrc  konsctjuent  durch- 
zufahren; es  handelt  sich  darum,  das  Experiment  ...  als  Grundlage  aller  thcore- 
tixhen  Folgerung  . . .  anznerlcenncn."  In  jene  Zeit  füllt  die  Aufstellung  des  Ge- 
tetaes  von  der  Unsenttfrbariteit  der  Materie  durch  Lavoisier  und  von  da  ab  datieren 
wir  „die  moderne  Chemie»  unsere  Chemie."  Dafs  die  moderne  Chemie  nidit  nur  die 
chemischen  Indnstricen  im  engeren  Sinne  geschaffen  hat,  sondern  auch  fllr  eine  ganse 
Reihe  der  wichtigsten  anderaii  Indutrie«!n  notwendige  Voraussetzung  ihrer  Entwiddung 
war,  dürfte  bekannt  sein.  Mul  denke  vor  allem  an  die  Eisenindustrie,  dann  aber 
an  die  Gährungsindustriecn  namentlich  also  die  Nahningsmittelgewerbe ,  an  die 
Hilfsinduslricen  der  Textilbranche  (Färberei,  Bleicherei),  an  die  ( "dasindustrie,  an  die 
|)olygr:iii!ii-chrii  (iL-wcrbc.  die  ihr.  I'iitwickluiig  zwar  vorwiegend  den  F'ortschritten 
der  Physik,  aber  doch  auch  eines  auiscronientlich  wichtigen  Zw^eiges  der  Chemie, 
der  Elektrochemie  verdanken.  Wie  der  Begründer  dieser,  Humphrey  Davy  (177S 
bb  1829)  so  gehören  übrigens  auch  eine  Reihe  anderer  bedeutender  Chemiker,  von 
deren  Entwicklungen  die  moderne  bdustrie  erst  recht  eigentlich  ihren  Ausgangs* 
IMnkt  nimmt,  sogar  erst  dem  19.  Jahrlrandert  an,  ich  erinnere  an  die  BegrOnder  der 
Rttbennickerindnstrie  Achard  (f  1821)  und  Klaproth  (f  1817),  an  denSdi0pfcr 
der  Atomtheorie  Dalton,  an  den  der Volumtheorie  Gay-I.ussac,  anTh^nard  u.a. 

'i  Wenn  A.  Riedier  in  seiner  vielbesprochenen  Schrift:  Unsere  Hochschulen 


Digitized  by  Google 


4« 


Werner  Sombart, 


Um  nun  aber  die  Bedeutung  dieses  Ereignisses  vollauf  ermessen 
zu  können,  müssen  wir  uns  in  den  Kinzelheiten  klar  zu  werden  ver- 
suchen, worin  denn  eigentlich  die  Verdrängung  des  empirischen 
durch  das  rationelle  Verfahren  <^i|)felt,  worin  der  Wesensunterschied 
zwischen  diesen  beiden  Methoden  der  Tcclinik  beruht. 

In  dem  K  u  n  s  t  v  e  r  f  a  h  r  e  n  äulsert  sich  ein  Können,  das  auf 
der  Unterlage  individuellen,  j)ersöiilichen  Wissens  von  der  Zweck- 
mäfsigkeit  bestimmter  X'ornahmen  zur  Krzieluiig  eines  bestimmten 
Erfolges  sich  aufbaut.  Der  Baumeister  weifs,  welcher  Art  das 
Material  sein  mufs,  wie  es  zueinander  zu  fügen  ist,  um  dem  Hause 
Stabilität  zu  geben,  der  (ierbcr  weifs,  dafs,  wenn  er  eine  Ochsen- 
haut ein  Jahr  lang  in  eine  Brühe  aus  Eichenlohe  legt,  sie  dann  ge- 
gerbt sein  wird;  der  Schuster  weifs,  wie  ors  anzufangen  hat,  um 
aus  einem  Stück  Leder  ein  Paar  Stiefeln  herzustellen:  sie  alle  kennen 
das  Was-  und  das  Wie des  Arbeitsverfahrens;  sie  alle  arbeiten 
nai  li  l)estimmten  Regeln.  Ihre  Auffassung  ist  insofern  eine  rein 
tele« »logische,  als  sie  stets  nur  im  Hinblick  auf  einen  zu  verwirk- 
lichenden Zweck  einen  Handgriff  oder  eine  andere  X'ornahme  zu 
beurteilen  verstehen.  Ist  die  (nundfrage  jeden  Kunst  Verfahrens 
somit:  wie  etwas  gemacht  wird:';  so  geht  das  rationelle  Ver- 
fahren von  der  Frage  aus:  warum  etwas  geschieht?  Ucber  die 
rein  teleologische  Betrachtung  des  Produktionsprozesses  dringt  es 

und  die  Anforderanfen  des  swMudgstcn  Jabriraaderts  (Berlin  1898)  leiiicii  Hymniis 

auf  die  , .Technik"  in  die  Worte  ausklinken  läfst  :  „die  Regel  ist  .  .  . ,  dafs  die  theore- 
tische Xaturforschung  der  Technik  nachgefolgt  ist"  (S.  48),  so  kann  das  in  dem  Ntunde 
eines  Wortführers  der  technischen  Ilruhsrhulen  zu  Mifsverständnisscn  .Anlals  geben, 
da  ja  das  Wort  ..Technik"  arg  unl>e-.tiiunU  ist.  Meint  Kiedler  Technik  im  Sinne 
von  techuischem  Können,  wie  i.  13.  a.  a.  O.  .S.  46  ;  „Der  Bergbau  ist  älter  aL»  die 
Geologie,  . . .  HBttenwescn  alter  ab  Chemie"  u.  s.  w.,  so  wird  ihm  die  Thafche, 
dais  die  BleiiidMii,  die  sie  denn  eine  Wissenschaft  achnfen,  ftlr  ihres  Leibes  Itebrang 
und  Notdurft  sorgen  molstea,  kaun  jemaod  bestreiten.  Es  fragt  sidi  nnr,  wie.  Und 
da  buitet  die  Antwort  empirisch.  Rationell  errt  nach  Entwicklnng  der  Wissenschaft' 
liehen  Einsicht  Man  wird  also  gut  thun,  den  Riedlerschen  Worten,  „dafs  die  theore- 
tische Naturforschung  der  Technik  nachgefolgt  ist",  binsusnftlgen:  „aber  der  Tech- 
nologie stets  voraufgegangen." 

'1  .\uf  diesem  empirischen  Standpunkt  stehen  auch  noch  die  älteren  Lehrbücher 
der  Technologie,  in  Deutschland  die  sogen.  Heckmannsrhe  Schule.  Sie  beschreiben 
„die  bei  technischer  Verarbeitung  irgend  eines  KohstotTes  und  Herstellung  gewisser 
Knnstecteagnisse  ans  denselben  Torfalleoden  Arbeiten  nebst  den  dasn  dienUdien 
A[^paralen,  Werfcsengen  und  Bfaschinen  in  dnondogiKher  Aufeinanderfolge.**  Kar- 
marsch a.  a.  O.  S.  89i. 


Digitized  by  Google 


Die  geweiblidie  Arbeit  «md  üire  Organisation. 


47 


zu  einer  kausalen  Erklärung  vor:  es  sucht  die  Ursachen  festzustellen, 
die  zu  einer  bestimmten  Wiikung  führen.  Nicht  dafs  eine  Ochsen- 
haut gar  wird,  wenn  sie  eine  Zeit  lang  in  einer  Brühe  von  be- 
stimmter Zusammensetzung  gelegen  hat,  ist  das,  was  interessiert, 
fiondcm  warum  sie  gar  wird,  welche  Vorgange  es  bewirken,  dals 
sich  jene  Umwandlung  in  der  Zusammensetzung  des  Leders  voll- 
zieht, die  wir  mit  dem  Ausdruck  des  Gerbens  bezeichnen.  Das 
rationdle  Verfahren  betrachtet  daher  in  erster  Linie  jeden  Produk- 
tionsvorgan^  als  einen  Xaturprozcfs ,  während  das  KunstveHahren 
ihn  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Arbeitsverrichtung  angesehen  hatte. 
War  diese  nach  R^eln  ausgeübt  worden,  so  vollzieht  sich  jener 
nach  Gesetzen,  deren  Ergründung  und  Benutzung  als  die  eigentliche 
Aufgabe  des  rationellen  Verfahrens  erscheint. 

Die  gewaltige  Bedeutung  dieser  scheinbar  unwesentlichen  Ver- 
änderung liegt  nun  aber  in  folgendem.  Zunächst  erfahrt  eine  gänz- 
liche Umgestaltung  dasjenige  was  ich  die  Art  des  Besitzes  des 
technischen  Könnens  nennen  möchte.  Dieses  wird  durch  die 
Einbürgerung  des  rationellen  Verfahrens  gleichsam  objektiviert.  Wir 
sahen  schon:  jedes  Kunstverfahren  ruht  in  der  Persönlichkeit  des 
iJMeisters"  eingeschlossen;  es  lebt  mit  ihm,  es  stirbt  mit  ihm.  Nur 
was  der  Lernende  ihm  abgelauscht  und  abgeschaut  hat,  das  dauert 
über  seinen  Tod  hinaus,  schlägt  Wurzel  abermals  in  einer  Persön- 
lichkeit, um  mit  dieser  wiederum  zu  Grunde  zu  gehen.  Es  ist 
schon  ein  sozialer  Fortschritt,  wenn  pjnrichtun^cn  zu  dem  Zwecke 
getroffen  sind,  das  technische  Können  solcherart  von  (ieneration  auf 
Generation  zu  übertra^a-ii.  Denn  in  den  Anfangen  menschlicher 
Kultur,  wo  diese  Rücksicht  noch  nicht  genommen  ist ,  ist  es  that- 
sächlich  die  Regel,  dals  die  Kette  der  Ueberlieferung  unaus<;csetzt 
abbricht  und  jede  Generation  vun  neuem  sich  in  den  Besitz  des 
alten  Könnens  zu  setzen  suchen  mufs.  Familie  und  Zunft  sind  dann 
sj>äter  solche  Bewahrer  und  Hüter  der  tecimischen  V'erfahrung^s- 
weiseii.  Aber  auch  wenn  durch  sie  schon  wenigstens  als  Regel  für 
die  Kontinuität  der  technischen  Entwicklung  gesorgt  ist:  oft  genug 
ereignet  es  sich  doch  immer  wieder,  dafs  mit  einem  grolsen  Meister 
ein  wichtiges  Kunstverfahren  für  immer  verloren  geht.  Man  denke 
an  die  Schicksale  so  mancher  Malmethode  in  früherer  Zeit,  (ie- 
bannt  an  die  Persönlichkeit  des  Meisters  uikI  in  den  Kreis  der 
Ixrnenden,  der  ihn  umgiebt,  erscheint  die  Kunst  leicht  als  Geheim- 
kunst,') wenigstens  dort,  wo  es  sich  um  höhere  I^ormcn  des  Könnens 

')  „Et  ist  charakteristisch,  dafs  bis  ios  iS.  Jahrhundert  hinein  die  besonderen 


Digitized  by  Google 


48 


Werner  Sombart, 


handelt  Das  rationelle  Verfahren  steht  demgegenüber  verselbst* 
ständigt,  objektiviert  als  ein  für  jedermann  beliebig  CaTsbares  und 
erreichbares  Wissen  aufserhalb  jeder  ausführenden  Persönlichkeit 
Einmal  durch  Wort  und  Schrift  fixiert  ist  es  unvergängliches 
Eigentum  aller  künftigen  Generationen.  Damit  ist  es  aber  in  doppelter 
Hinsicht  von  der  Zufälligkeit  des  rein  Persönlichen  befreit:  sofern 
einmal  seinem  gänzlichen  Verluste  vorgebeugt  ist,  sodann  aber  es 
nicht  notwendig  eines  bestimmten,  an  Ort  und  Zeit  gebundenen 
Individuums  bedarf,  um  das  betreffende  Verfehren  anzuwenden: 
solange  die  gewerbliche  Thätigkeit,  auch  schon  die  moderne 
kapitalistische  Industrie,  noch  im  Stadium  der  Empirie  sich  be&nd, 
konnten  neue  Industriezweige  in  einem  Lande  nur  begonnen  werden, 
wenn  man  Menschen  dahin  verpflanzte^  die  das  Geheimnis  mit  sich 
trugen:  Die  Hereinziehung  brabantischer  Tuchmacher  nach  England, 
italienischer  Seidenspinner  und  Weber  nach  Frankreich,  die  ganze 
Emigrantenpolitik  der  HohenzoUem  redet  eine  deutliche  Sprache 
dafür,  dafs  in  damaliger  Zeit  die  gewerbliche  Kunst  an  den  Künstler 
gebunden  war.  Dann  bleibt  sie  eine  Zeit  lang  an  die  Produkte  ge- 
bunden: Dann  sorgt  ein  Land  etwa  dafür,  dafs  bestimmte  Maschinen 
nicht  ins  Ausland  kommen :  England  im  Anfang  unseres  Jahrhunderts. 
Und  heute  braucht  eine  Nation  ihre  jungen  Ingenieure  und  Techniker 
nur  an  die  deutschen  Hochschulen  zu  senden ,  um  alle  Weisheit  in 
nuce  sich  zu  beliebiger  Verwendung  im  eigenen  Lande  zu  ver- 
schaflfen. 

Geweikc  mystarics  (mystiro)  hiefsen,  in  deren  Dimkd  nur  der  cm|^riidi  nnd  pro- 
fesrionell  Eingeweihte  eindringen  konnte."  Mnn,  Kapitel  I^  451.  „Every  craft . . . 
has  a  mystecy  which  mast  be  stndied  or  learned  by  a  regulär  apprenticeship." 
A.  Ferguson,  Essay  on  the  Historj-  of  Citü  lociety.     Hasil.  1 7S9    pap  274. 

\\"\f  denn  in  dt-r  Anschauunß  der  frülieren ,  vorwissrnsrhaltlichen  Zeit  •<-<Jem 
liMlwreii  Können  ftwas  IV bcrnatiirliches,  Zauberhaftes,  weil  rnrrklärliclifs  anbuftctc. 
Es  mag  daran  erinnerl  werden,  wie  diese  Auffassung  uns  zurucklührt  ru  den  Sagen 
Ton  der  göttlichen  Herkunft  der  Künste  und  Fertigkeiten,  die  allen  Völkern  gemein^ 
sam  ist.  In  den  Anlangen  der  Kultur  ist  e»  vor  allem  die  Eisenbcrntmig  and  Eisen» 
Verarbeitung,  die  man  mit  uystisdien  Vofsleilangen  unspMin.  „Wie  das  Stannen 
der  Menscbbett  über  die  wunderbare  Kunst,  weldie  es  Tentcht,  das  hatte  Metall  im 
Feuer  zo  schmelzen  und  kostbare  Dinge  aus  ihm  zu  schmieden,  dasu  geftthrt  bat, 
die  Erfindung  derselben  ilbcrirdisrhcn  Wesen  zuziisch reiben,  so  kann  man  sich  andi 
die  Aiisübunj;  dt-rselb<n  durch  irdische  Geschöpfe  nicht  ohne  die  Zuhilfenahme  pe- 
lieimiiisvDlIer  und  x;»ubrrhaftrr  Nlittrl  vorstellen.  Diese  Anschauun<j  gilt  .  .  .  durch 
qanz  l'urojia."  wie  tlurch  eine  prolsc  Ment;c  von  Belegen  erwiesen  w^ird :  O.  Schräder, 
i>prachvcrglcjchung  und  Urgeschichte.    2.  Aufl.  1890.  S.  SJ^  IT. 


^1  IM 


Digitized  by  Google 


Die  gewerblicke  Aibdt  and  ihre  OrsuiMtion. 


49 


Und  wie  die  Ausübung  und  Erhaltung  der  technischen  Kuiut 
ir.  der  Zeit  der  Empirie  an  die  Zufälligkeit  des  Individuellen  ge- 
buoden  bleiben,  so  in  noch  viel  höherem  Mafse  auch  die  Ver« 
mebrung  des  technischen  Könnens.  Diese  bleibt  entweder  ganz 
und  gar  dem  Zufall  überlassen,  so  dais  gar  kein  Wille  der  Aenderung 
oder  des  Bessermachens,  sondern  nur  der  VV^ille  des  Wiedereben- 
somachens  vorhanden  ist  und  lediglich  das  als  Neuerung  hinzutritt, 
was  zufallig  im  Laufe  der  Thätigkeit,  gleichsam  von  niifsen  herein, 
dem  Arbeiter  als  neue  Erfahrung  in  den  Schofs  fällt.  Oder  aber 
wo  überhaupt  narh  Verbesserung  gestrebt  wird,  da  ist  es  ein  unge- 
schicktes Herumta.steii  und  Hcrumprobieren  im  Dunkeln,  ohne  klares 
Bewufstsein  einer  bestimmt  zu  lösenden  Aufgabe.  .'\n  Stelle  dieses 
versuchsweisen  Fastens  tritt  nun  beim  rationellen  Verfahren  das 
planmäfsige  und  methodische  Suchen  auf  Grund  der  Kenntnis  der 
Zusammenhänge  der  bisherit^en  \'erfahrun;4s\veisen ;  an  Stelle  des 
Probierens  tritt  das  Kxperiinent,  aus  dem  Finder  wird  der  Krfinder 
und  das  Erfinden  selbst  aus  einer  L^ele^^entlich  geübten  dilettan- 
tischen Beschäfti^'un<^  geistvoller  Pfarrer  und  in^'cniöser  Barbiere  zu 
der  berufsmälsigen  Thätigkeit  gelehrter  Pachmänner.  Man  ermesse, 
was  diese  Aenderung  für  die  Entwicklung  der  Technik  bedeutet, 
"Aii  sie  das  lempo  der  Neuerungen  in  einer  aller  Empirie  un- 
l  ekaimten  und  unerreichbaren  Mafse  zu  steigern  imstande  sein 
niulste.') 

Aber  nicht  nur  werden  die  Zufälligkeiten  des  Bestandes  und  der 
V  ermehrung  technischen  Könnens  durch  die  Nutzbarmachung  tier 
Wissenschaft  bcseiti^n  .  es  verschwinden  aucli  die  Zufälligkeiten 
der  Ausführun«,^  mehr  und  mehr.  r).i>  technische  Können  wird 
sicherer,  kontrollierbarer,  exakter.  Begreiflicherweise.  Denn  nun, 
wo  alle  Zusammenhänge  des  Produktionsprozesses  begriften  werden, 
ist  CS  erst  möglich,  Schädlichkeiten  i)laiunärsig  zu  vermeiden  oder 
auszumerzen,  Lücken  dafür  auszufüllen,  wo  das  X'erfahren  solche 
aufweist.  Ganze  Industriezweige  sind  erst  zu  rechter  Blüte  gelangt, 
nachdem  die  Chemie  und  neuerdings  die  Bakteriologie  Ahttel  an 

')  Nicht  notwendig  n  steigern  brauchte.    Der  Uebergang  znm  viaienschaft- 

Ucben  Verfahren  klärt  uns  nur  über  das  Eine  auf:  wie  es  möglich  war,  dafs  in 
unserem  Jahrhundert  eine  solche  sich  überstürzende  Neugcstiiltunj;  aller  technischen 
Vornahmen  eintrat.  Warum  diese  nun  ihatsächlich  eintrat,  mufb  natürlich  erst  nach- 
gewiesen werden,  wonach  die  betreffende  Stelle  bei  Marx,  Kapital  I  *,  453  su  be- 
richtigen ist. 

Archiv  für  m.  Gescttgcbang  u.  StaUsUk.  XIV.  4 


Digitized  by  Google 


50 


Werner  Sombart, 


die  Hand  orab,  mit  Stetigkeit  unter  Mcidunjj  aller  \  orhcr  unkontrollier- 
baren Störunf:jen  die  Produktion  zu  \()llziehen.  Man  denke  an  die 
Brauerei.')  Zaiih eiche  Melswerkzeui^c  spezieller  Art  und  Dimen- 
sionieruni^.  ci^cntiiinliclie  KontrolK or^^än^^e.  präzise  Indikatoren,  Rc- 
gistrierapj)arate,  cheniische  Proben,  pli\  sikalisrlie  Hilfsv orrichtunf^en, 
wie  z.  h.  Polarisationsinstruincnlc.  Spektroskope,  Manometer,  Brems- 
dynamometer u.  s.  w.  stehen  der  modernen  lechnik  gegen- 
wärti«;  zur  X'erfüfjun^' ,  um  jene  Sirlieriieit  in  der  Ausfiihrung 
tler  Produktion  zu  erreichen. 'i  Auch  hierbei  \-ollzielit  sich  \-ielfach 
ein  Prozefs,  den  man  eine  Objektivierung  der  Ausführung  nennen 
küniit(  und  der  viel  zur  Sicherung  des  ganzen  Verfahrens  beiträgt: 
Alle  Kmpirie  ist  zur  Beurteilung  bestimmter  Aggregat-,  Wärme-  etc. 
Zustände,  zur  Messung  und  W  ägung  auf  die  menschlichen  Organe 
und  unvollkommene  .\j)j>arate  luiil  Instrumente  angewiesen,  (icfühl 
und  (ieschmack  s|iiekii  eine  grolse  Rolle:  der  Brauer  untersucht 
das  Br,iu\va>ser  durch  Kosten  mit  der  Zunge,  der  Färber,  der  (ierber 
prüfen  die  Müssigkeit  mit  Auge  und  Hand.  Das  rationelle  \'er- 
fahren  stellt  dieser  subjektiv  zufälligen  die  objektiv  exakte  Krmitte- 
lung  der  Schwere,  Länge,  Wärme,  Dicke  etc.  ilurch  wissenschaft- 
lich genau  konstruierte  Mel>  und  Wiegeai)j)arate  gegenüber.  Und 
\u  dem  Malse  wie  die  Mefstechnik  sieh  \  er\ oUkonnmiet,  wächst  tlie 
Sicherheit  des  technischen  Verfahrens,  das  sich  jener  Mefstechnik 
bedient. 

Aber  nicht  nur  sicherer  wird  das  einzelne  rationale  X'erfahren 
in  seinem  V^erlauf:  die  Basis  für  das  gesamte  technische 
Können  wird  in  einer  ungeahnten  Weise  durch  die  Anwendung  der 
Wissenschaft  verbreitert.  Und  das  geht  so  zu:  Die  weil  die 
Technologie  den  Produktionsprozefs  gleichsam  losgelöst  von  dem 
ausführenden  Organe,  dem  Menschen,  betrachtet,  vermag  sie  ihn 
derart  in  seine  Elemente  aufzulösen,  dafs  nicht  die  Rücksicht  auf 
die  schafTende  Hand,  sondern  lediglich  auf  eine  zweckmäfsige  Kausal- 
folge der  einzelnen  Vorgänge  dabei  den  Ausschlag  giebt  Das  ar- 
beitszerlegende  Verfahren  wird  damit  erst  methodisch  anwendbar. 

'  ..Audi  dl.-  Luft  im  Hrauhausc  wird  gegenwärtig  nicht  nur  auf  ihren  Staub- 
gehalt, ilire  Feuchtigkeit  weg.n  de,  M;dz'-n>i  sornh-m  auch  auf  ihren  Ohalt  .in 
Schimmel-,  Sprols-  und  stiihi  hrupd/.  ii  ;:e]iruft,  wobei  nuvii  -orr;f:ihij^  alle  Wr^^v  er- 
forscht, auf  welchen  1  emperaturändcrungcn.  Staub,  Feuchtigkeit,  l'ilzc  etc.  in  die 
Werksräume  niid  KcUer  gelangen.*'  Em.  Herrmann,  Technische  Fragen  (1S91) 
S.  297,9s. 

*)  Em.  Herrmann,  Tcclmisclie  Fragen  (1891)  S.  297. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  and  ihre  Organisation. 


Und  die  Wissenschaft  sorpt  dann  weiter  dafür,  indem  sie  kunstvolle 
machinale  Vorrichtungen  ersinnt,  dafs  die  betreffende  Teilvorrichtung 
im  Produktionsprozefs,  die  sich  bei  der  rationalen  Auflösung  er- 
geben hat,  nun  auch  exakt  ausfiihrbar  wird,  trotzdem  sie  gar  nicht 
mehr  der  natürlichen  Bethätigung  der  nienschliclien  Organe  ent- 
spricht. An  die  Stelle  der  durch  die  lebendige  Persönlichkeit 
notwendig  gebundenen  organischen  (ilicdcrung  der  Produktions- 
prozesse tritt  die  nur  im  Hinblick  auf  den  gewollten  Erfolg  zweck- 
mäfsig  mcciianisch  eingerichtete  Ciliedbildung.  Jetzt  begreifen  wir 
auch  erst,  warum  die  Entwicklung  der  Maschinerie  in  unserem 
Jahrhundert  eine  so  rapide  sein  konnte.  Sic  ist  einer  eigenlüm- 
lichen  und  richtigen  Wendung  in  der  Auffassung  des  Maschinen- 
crhndcrs  zuzuschreiben,  welche  darin  besteht,  dafs  nicht  mehr  die 
^laschine  die  Handarbeit  oder  gar  die  Natur  nachzuahmen  sucht, 
sondern  bestrebt  ist,  die  Aufgabe  mit  ihren  eigenen,  von  den  natür> 
liehen  oft  völlig  verschiedenen  Mitteln  zu  lösen  (Reuleaux).^)  Was 
der  kluge  Ure  so  ausdrückte,  da(s  er  sagte  :  Das  Prinzip  der  modernen 
Fabrik  bestehe  schlechthin  darin:  „to  Substitute  mttkmtkäl stkiut  for 
haod  skiU  and  the  partition  of  a  process  into  tts  essential  con> 
stituents»  for  the  division  or  graduation  of  labour  among  artisans." 

Ist  aber  einmal  erst  die  Schranke  des  Gebiuidenseins  an  die 
Naturbeschafienheit  der  menschlichen  Organe  ge&llen,  so  erolTnen 
sich  dem  technischen  Können  unermefsliche  Weiten.  Und  darin 
liegt  vor  allem  die  epochale  Bedeutung,  die  wir  dem  Eintritt  der 
Wissenschaft  in  den  Dienst  der  Technik  zuschreiben.  Die  Produk- 
tion wird  jetzt  eine  Synthese  beliebiger  Stoffe  und  Kräfte,  wie  sie 
für  menschliche  Zwecke  geeignet  sich  darbieten.  Die  eigentliche 
Neuerschafiiing  der  Erde  nimmt  damit  erst  ihren  Anfang:  und  die- 

*)  Du  tchlafcndite  Bcispid  bierftr  itt  wobl  die  Erfindong  der  Nähmaachine, 
die  bduumtlich  auf  einem  der  HandnBherei  völlig  fremden  Prinzip  des  Nähens  auf- 
gebaut ist.  Vgl.  neuerdings  R.  Es  eher,  Erfinden  und  Erfinder  in  der  ..Zeitschrift 
für  Sotialwisscnschaft  •  II.  lahrf^aii};  (iSoq)  S.  i6o  fT.  Im  Vorlx-iv^ihcn  l)ie  oben 
citierten  Worte  Reul'-aux  wir  überhaupt  di--  )^an/.e  Auslüliruiifj  im  IVxt,  an  die  sie 
sich  anschliefscn,  mmhte  icl)  tlen  Herrn  von  <ler  ..(")rßanprojcktion"  zur  getulligcn 
Beachtung  dringlichst  aa.s  Herz  legeu.  .Sic  genügen  völlig,  um  den  ganzen  mystischen 
Blech  jener  „Theorie"  nun  alten  Etien  sn  werfen. 

*)  Andrew  Ure,  The  Philosopby  of  Muinfactnrea;  3.  ed.  1861.  p.  20. 
Danach  Marx  Kapital  I*,  451,  es  sei  daa  Prinzip  der  grofsen  hidostrie,  «jeden 
Prodnktioasproieis  an  und  Air  sich  nniclist  ohne  alle  Rttdcsicht  auf  die  mensch« 
liehe  Hand,  in  seine  konatitnierenden  Elemente  anfralöscn." 

4* 


Digitized  by  Google 


Werner  Sombart»  Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organinlioii. 


selbe  Wissenschaft,  die  uns  von  dem  lan^e  innegehabten  Herrscher- 
throne herabgestoGsen  und  in  unserer  ganzen  Nichtigkeit  gcoffcnbart 
hat,  sie  hat  uns  gleichzeitig  die  Wege  gewiesen,  wie  wir  von  neuem 
die  Welt  erobern  und  die  Natur  zu  unserer  gefügigen  Dienerin 
machen  können;  wie  wir  die  eingebildete  und  verlorene  Herren- 
schaft verschmerzen  können  dadurch,  dafs  wir  uns  eine  wirkliche 
Herrschaft  neu  erringen.  Es  erscheint  nicht  als  eine  Entweihung, 
wenn  wir  auf  die  grundstürzenden  Erfolge  der  technischen  Wissen- 
schaften in  unserem  Jahrhundert  die  freilich  andersgemeinten,  herr* 
liehen  Worte  Hegels  beziehen:  ,,Das  zuerst  verborgene  und  ver- 
schlosaene  Wesen  des  Universums  hat  keine  Kraft,  die  dem  Mute 
des  Erkennens  Widerstand  leisten  könnte;  es  muls  sich  vor  ihm 
aufthun,  und  seinen  Reichtum  und  seine  Tiefen  ihm  vor  Augen 
legen  und  zum  Genüsse  geben." '  Was  der  Dichter  ahnend  voraus- 
sah, Eines  wenigstens  ist  davon  jetzt  ,,an  des  Jahrhunderts  Neige'' 
Wahrheit  geworden :  Du  bist,  o  Mensch  ,^titn  der  Natur,  die  deine 
Fesseln  liebet,  die  deine  Kraft  in  tausend  Kämpfen  übet,  und 
prangend  unter  dir  aus  des  Verwilderung  stieg  1" 


Die  Entwicklung  der  Bestrebungen  für  internationalen 

Arbeiterschutz. 

Von 

GUSTAV  COHN. 
I. 

Die  überaus  anreihenden  P^xperimcnlc  des  schweizerischen  Staats- 
lebcns  haben  mich  einstmals,  solange  ich  sie  aus  der  unmittel- 
baren Nähe  beobachten  konnte,  in  weit  höherem  Grade  gefesselt 
als  die  kleinen  Beiträge  gezeigt  haben,  welche  ich  in  früheren  Jahren 
aus  diesem  Zusammenhange  heraus  veröffentlichte.  Und  heute,  bei 
einem  breiten  Zwischenraum  der  Zeit  und  der  Umgebung,  ist  mir 
die  Lrinnerung  daran  mit  dem  Bedauern  gemischt,  dafs  jenes  hiter- 
esse  nicht  fruchtbarer  gewesen. 

Kins  aber  möchte  ich  dafür  in  Ans[>ruch  nehmen.  Ks  ist  der 
wissenschaftliche  Geist,  mit  dem  ich  die  Erscheinungen  jenes  merk- 
würdigen Gemeinwesens  betrachtet  liabe,  es  ist  der  Standpunkt,  dafs 
ich  in  ihnen  den  Stoff  zur  Fcinlerung  der  Erkenntnis  sah  und  was 
ich  erkannt  zu  haben  glaubte  ohne  jede  Rücksicht  auf  den  Beifall 
der  zunächst  beteiligten  Parteien  und  Menschen  aussprach.  Im 
Grunde  ist  das  etwas  Selbstverständliches;  aber  es  gehört  zu  den 
Scinvierigkeiten  eines  kleinen  Staatswesens,  dafs  dieses  Selbstver- 
ständliche zunächst  nicht  leicht  begriffen  wird. 

Ist  erst  eine  Reihe  von  Jahren  vergangen ,  ist  dasjenige ,  was 
einst  die  Leidenschaften  der  Parteien  erregte .  durch  die  Wohlthat 
der  langen  Zeit  in  den  kühlen  Schatten  der  (icschichle  gerückt,  in 
dem  die  wissenschaftliciie  Betrachtung  sie  stets  gesehen  hat  — 
dann  ist  der  .\ugenblick  gekommen,  ins  Gedächtnis  zurückzurufen, 
wie  dieselben  Wahrheiten,  die  vor  wenigen  Jahrzehnten  dem,  der 
sie  ausgesprochen,  Schmähungen  zugezogen,  unterdessen  durch  die 


54 


Gnitav  Cohn, 


Macht  der  Thatsachen  zur  stillschweigenden  Anerkennung  oder 
lauten  Verkündigung  gelangt  sind ,  öfters  durch  dieselben  Leute, 
welche  damals  die  Leidenschaftlichsten  unter  den  Gegnern  waren. 

Ein  Beispiel  ist  die  Entwicklung  des  schweizerischen  Stcuer- 
wesens.  Die  nur  in  einem  so  kleinen  Staatswesen  mögliche ,  zu 
so  plötzlichem  Aufschwünge  hervorgerufene  Steigerung  der  Kin- 
kommcns-  und  Vermögenssteuern  in  mehreren  Kantonen  und  deren 
Gemeinden,  zumal  im  Kanton  Zürich,  dem  Pionier  des  experimen- 
tellen Radikalismus  —  sie  legte  dem  wissenschaftlichen  Beobachter 
um  die  Mitte  der  siebziger  Jahre  die  Erkenntnis  nahe,  dafs  hier  — 
aus  mannigfaltigen  Gründen  —  im  schnellen  Anlauf  ein  (iij>fel 
erreicht  sei,  über  den  man  rncht  hinaus  kommen  k()nne :  dafs  daher, 
bei  dem  unvermeidlichen  Fortschritte  des  öffentlichen  Bedarfs,  die 
fernere  Entwicklung  des  schweizerischen  Steuerwesens  ihren  Nach- 
druck auf  die  indirekten  Steuern  zu  legen  habe,  die  um  jene  Zeit 
von  den  iierrsciienden  Parteiprogrammen  nach  bekannten  Rezepten  in 
den  Bann  gethan  worden  waren. 

Die  Zwisciienzeit  hat  erfahrungsmälsig  bestätigt ,  was  damals 
die  experimentelle  Beobachtung  gelehrt  hatte.  Die  Mnanzen  der 
Eidgenossenschaft  haben  eine  mächtige  Entfaltung  in  der  bezeich- 
neten Richtung  genommen  —  so  sehr,  dafs  sie  mehr  und  mehr 
selbst  die  Einzelheiten  verwirklichen,  die  damals  als  Pläne  der  Zu- 
kunft angedeutet  wurden. 

Ein  anderes  Beispiel  ist  die  A  r  b  e  i  t  e  r  s  c  h  u  t  z  g  e  s  e  t  z  - 
g  e  b  u  n  g  (oder,  wie  man  es  damals  noch  naiuUe,  die  Fabrikgesetz- 
gebung). 

Der  reizvolle  Versuch  mit  dem  „Normalarbeitstag"  in  dem 
Fabrikgesetze  von  1877,  die  Beziehungen  der  Fabriken  zu  den 
anderen  Formen  des  Gewerbes,  die  Versuche  der  Gesetzgebung  die 
Grenzen  abzustecken,  die  Einrichtung  eines  Inspektorats  u.  s.  w.  — 
dann  aber  namentlich  die  an  das  neue  Fabrikgesetz  steh  knüpfenden 
Agitationen  fiir  eine  ,4nternationale  Fabrikgesetzgebu  ng": 
alles  das  hat  gerade  in  jenen  Jahren  der  AniEnge  so  viel  Anregendes 
und  Anzielendes  dargeboten,  dals  hier  um  so  mehr  die  Aufgabe 
des  Forschers  von  der  Aufgabe  des  Parteimannes  sich  scheiden 
mu&te. 

Der  Verlauf  und  die  Etappen  auf  dem  Wege  der  „internationalen 
Fabrikgesetzgebung"  sind  es,  auf  welche  heute  der  Blick  mit  eigen» 
tOmlichem  Interesse  zuriickgelenkt  wird,  um  die  Thatsachen  von 
zwei  Jahrzehnten  an  die  damalige  Erkenntnis  anzureihen,  um  zu 


Digitized  by  Google 


Die  Entwicklung  der  Bestrebungen  für  internationalen  Arbeiter&chutz. 


fragen,  wie  die  Wirklichkeit  zu  demjenigen  stimmt»  was  ich  damals 
und  spater  gesagt  habe.^) 

n. 

Die  Standeskomniission  des  Kantons  Glarus  schreibt  am  26.  Sep- 
tember 1855  an  den  Regierungsrat  des  Kantons  Zürich:  „Um  die 

Konkurrenzverhältnisse  unter  den  Spinnern,  soweit  sie  von  diesen 
Punkten  (Ungleichheit  der  Fabrikgeset/^jelnin^^)  abhängen,  in  ganz 
befriedigender  Weise  zu  regeln,  müfste  freihch  durch  internatio- 
nale Stipulationen  zwischen  den  industriellen  Staaten  von  ganz 
Europa  ein  einheitliches  System  geschaffen  werden."  Daran  knüpft 
sie  die  weitere  Bemerkung:  ,4^a  dieses,  jedenfalls  vorläuhg,  in  das 
Gebiet  der  frommen  Wünsche  gehört,  so  sollte  wenigstens  der  Ver* 
such  nicht  gescheut  werden,  innerhalb  eines  engeren  Kreises  die 
Verschiedenheiten  soweit  tlniniich  aufzuheben  und  die  staatlichen 
Mafsregeln  auf  die  gleichen  Grundsätze  zurückzufuhren."  Damit 
begrenzte  sie  ihren  Plan  auf  das  Gebiet  der  Schweiz,  da  hier  doch 
„die  X'erhältnisse  fast  überall  in  den  industriellen  (ietjcndcn  an- 
nähernd dieselben  sind,  also  auch  eine  gleichmäisige  Regelung  des 
Gegenstandes  gestatten". 

L'ni  dieselbe  Zeit  (I857  versandte  ein  elsässischer  Fabrikant, 
Daniel  I.egrand,  ein  Rundschreiben  an  die  Regicrunt^en  der  indu- 
striellen Staaten,  worin  er  einen  in  Paris  abzuhaltenden  internatio- 
nalen Kongrefs  anregte,  bt-trctls  Krlasses  einer  ,.loi  internationale  sur 
le  travail  industriel".  Kr  fügte  auch  den  Entwurf  zu  einem  solchen 
internationalen  Gesetze  bei:  zwolfstündiger  Maximalarbeitstag,  X'er- 
bot  der  Arbeit  von  Knalx-n  uiittr  10  und  von  .Mädchen  unter  i2 
Jahren,  Beschränkung  der  KiiKicrarbcil  auf  6  Stunden,  W-rbot  der 
Sonntagsarbeit  und  der  Nachtarl)eit  für  alle  weiblichen  Personen 
und  für  männliche  Personen  bis  zum  18.  Lebensjahre. 

'J  Die  lücr  zu  ncnnendrn  Schrifu-n  sind  ihv  l(ilj,'rii<i<ii  L'cbrr  internationale 
Fabrikgesetzgebung ,  Conrads  Jalirbüchcr  für  Nationalukunomic  und  Statistik.  Neue 
Folge.  Bd.  III,  Jahrgang  1881.  Verhandlungen  de»  Vereins  für  Sozialpolitik  za 
Frmkfiut  *.  M.,  am  9.  und  10.  Oktober  tSSs  (Schriften  des  Vereins  IQr  Social» 
poUtik,  Bd.  XXI,  Leiptig  iSfo,  S.  57— Sl).  Volkswirtichafilicbe  AnfriUse.  Stattpirt 
188s,  S.  439  9.  Ueber  internationale  Arbeitcndratigetetigebattg,  FirettAiicfae  Jahr- 
bleher,  Bd.  65,  315  ff,  Jahrgang  1890.  Die  intcniatioaale  KooCerenc  rar  Bctpredmng 
der  Arbeiterscbutzgesetzgcbung  (Berlin,  1$.  bis  29.  Ittrs  1890),  Conrads  Jahrbttebefi 
Nene  Folge,  Bd.  XXI.  Jahrgang  1890. 


Digitized  by  Google 


^6  Gvstav  Cohn, 

In  der  Litteratur  sind  in  jenen  Jahren  eben£üte  einzelne 
Spuren  zu  finden.  Im  ,J>eutschen  Staatswörterbuch'' ^)  verweist 
eine  Anmerkung  der  Redaktion  |;^[enüber  den  Besorgnissen,  ,»die 
Wahrnehmung  des  Sabbathinteresses  möchte  den  technischen  und 
ökonomischen  Lebensvoraussetzungen  der  Fabriken"  schädlich  werden, 
auf  die  Losung  dieser  Frage  durch  „internationale  Verabredungen". 
Der  Artikel  „Sonntagsfeier",  in  welchem  eine  nähere  Erörterung 
erfolgen  sollte,  ist  dann  spater  leider  ausgefallen. 

In  der  Schweiz  ist  es  aber,  wo  den  Verabredungen  benach- 
barter Kantone  sehr  bald  die  neue  Bundesverfassung  von  1874,  die 
neue  Kompetenz  des  Bundes  für  die  Fabrikgesetzgebung  und  das 
gemeinsame  Fabrikgesetz  vom  21.  Oktober  1877  folgt,  welches  am 
I.  Januar  1878  in  Kraft  tritt. 

Hier  ist  es,  wo  bei  den  das  Fabrikgesetz  vorbereitenden  X'^er- 
handlungen  der  Präsident  des  Nationalrates  am  5.  Juni  1876  in  seiner 
Eröffnungsrede  sagt,  es  dürfte  sich  empfehlen,  die  Frage  in  Er- 
wägung zu  ziehen,  ob  nicht  seitens  der  Schweiz  der  Abschluls 
internationaler  X'erträge  zum  Zwecke  möglichst  gleichmäTsiger  Regu- 
lierung der  Arbeitsverhältnisse  in  allen  Industriestaaten  sollte  ai^eregt 
werden;  da  die  gröfste  Schwierigkeit  der  Fabrikgesetzgebung  in  der 
Thatsache  liegt,  dnfs  durch  das  vereinzelte  Vorgehen  eines  Staates 
die  Konkurrenzfähigkeit  seiner  Industrie  schwer  geschädigt  werden 
könne. 

Nachdem  das  neue  Fabrikgesetz  in  Kraft  getreten  war,  regte 
sich  teils  der  Widerstand  der  Fabrikanten,  teils  das  Interesse  der 
schweizerischen  Arbeiter  (oder  doch  ihrer  Organisatinni  an  der  \'er- 
teidigung  des  Ivi!)rik;^csetzes.  Am  27.  Juni  1 8<So  fand  in  Zürich 
eine  Versaninihinj^  von  Delej^nerten  des  Arbcilcrxcreins  aus  der 
<:^anzen  Schweiz  statt,  um  über  die  gegen  die  Agitation  der  Fabri- 
kanton /u  crj^neifenden  Mafsrcgeln  zu  beraten.  Die  Wrsanmilung 
falste  eine  Rcilic  von  Beschlüssen,  deren  einer  daliin  gin^,  ,,der 
Bundesrat  möge  in  X'erhandlungen  mit  den  Rei^ierungen  anderer 
1 -iindcr  treten,  um  eine  internationale  l-"abrik<4esetzgcbung  anzu- 
bahnen, sei  es  auf  dem  Wege  einer  Kon\  entiun  wie  der  Genfer 
Konvention  zur  Pflege  der  Verwundeten  im  Kriege,  oder  sei  es 
auf  dem  Wege  eines  Vertrages  wie  des  Weltpostvertrages". 


'1  Herausgegeben  von  J.  C.  Hluntsrhli  und  K.  Brate  i.  Stuttj^art  und 
L<-ipzig  1858.  Dritter  Bd.  Art.  Fabrikwesen  und  Fabrikarbeiter  von  Schäffle, 
S.  49». 


Digitized  by  Google 


Die  Entwicklung  der  Bcstrebnagen  fiir  interaationalea  Arbeitencbitts. 


Im  Xationalrat  brachte  im  Dezember  1880  der  einstige  Präsident 
des  Xatioiialrates  vom  Jahre  1876,  Oberst  Frey,  die  Motion  ein,  den 
Bundesrat  aufzufordern,  dafs  er  mit  den  hauptsächlichsten  Industrie- 
staaten Unterhandlunfijen  anknüpfe  bciiufs  Anbahnung  einer  inter- 
nationalen Fabrikgesetzgebung.  Der  Bundesrat  war  der  Motion 
wenig  geneigt,  mufste  aber  gemäfs  seiner  verfassungsinälsigen  Stellung 
derselben  F'olge  geben,  und  trotz  der  Klausel,  welche  er  in  dem 
Wortlaute  der  Motion  durchgesetzt  „zu  geeigneter  Zeit"  (Unter- 
handlungen anknüpfe),  ging  er  alsbald  an  die  Ausführung  des  Auf- 
trages, nachdem  am  30.  April  1881  der  Nationalrat  einstimmig  die 
Motion  angenommen  hatte. 

Der  Bundesrat  hatte  bei  den  Verhandlungen  des  Nationalrates 
das  Bedenken  gehend  gemacht,  die  hauptsächlichsten  Industriestaaten 
mü£sten  erst  selber  eine  Gesetzgebung  der  Art  besitzen,  ehe  man 
mit  ihnen  internationale  Vertrage  darüber  schliefsen  könne:  Italien 
habe  noch  gar  kein  Fabrikgesetz;  Frankreich  sei  erst  jetzt  mit  dem 
Werke  eines  solchen  Gesetzes  beschäftigt. 

Der  Erfolg  der  Einladungen,  welche  im  Juni  1 881  an  die  Staaten 
Europas  ergii^n,  war  in  der  That  ein  sehr  ungünstiger.  Von 
Berlin  und  von  London  wurde  ein  Eintreten  auf  den  Gregenstand 
abgelehnt  mit  der  Begründung,  dais  die  Materie  wegeü  der  be* 
sonderen  Verhältnisse  und  der  auseinandei^henden  Interessen  der 
verschiedenen  Länder  sich  zur  internationalen  Regelung  nicht  eigene. 
Auch  der  Bescheid  Frankreichs  lautete  ganz  aussichtslos;  Oesterreich 
und  Italien  knüpften  die  Annahme  der  Einladung  an  mehrere  Vor- 
behalte: vor  allem  wünschten  sie  näheren  Aufechlufs  zu  erhalten 
über  Inhalt  und  Ausdehnung  der  Gesetzesbestimmungen,  welche 
einer  internationalen  Sanktion  zu  unterbreiten  wären. 

Trotz  dieses  Mi&erfolges  hielt  die  schweizerische  Arbeiterpartei 
an  dem  Plane  fiest  Der  Widerhall  der  Bestrebungen  zeigte  sich  in 
der  Sozialdemokratie  der  umgebenden  Staaten.  Auch  durfte  die 
internationale  Richtung  dieser  Partei  in  dem  Projekte  ein  echtes 
Kind  ihres  Geistes  erkennen. 

Im  deutschen  Reichstage  stellte  im  Jahre  1885  die  sozial- 
demokratische Partei  den  Antrag,  „den  Reichskanzler  zu  ersuchen, 
möglichst  bald  eine  Einladung  zu  einer  Konferenz  an  alle  haupt- 
sächlich als  Produzenten  von  Industrieerzeugnissen  in  Betracht  kom- 
menden Staaten  eri^ehen  zu  lassen,  um  sich  über  die  Grundzüge 
einer  auf  gleichen  Grundsätzen  basierten  Arbeiterschutzgesetzgebung 
zu  verständigen,  welche  fiir  alle  beteiligten  Staaten  als  Norm  fest- 


uiyiii^üd  by  Google 


^8  Gttstay  Cohn, 

setzt,  da(s  i.  die  tagliche  Arbeitszeit  in  allen  Betrieben  höchstens 
lO  Stunden  betragt,  2.  die  Nachtarbeit  för  alle  Betriebe  mit  Aus- 
nahme solcher,  wo  durch  die  Natur  des  Betriebes  diesdbe  unum- 
gänglich ist,  au%ehoben  wird,  3.  die  gewerbsmäTsige  Beschäftigung 
von  Kindern  unter  14  Jahren  verboten  wird". 

Unterdessen  erhielt  sich  in  der  Schweiz  die  Bewegung  inner- 
halb der  Arbeiterpartei.  Bei  dem  Zentralfeste  des  Grütlivereins  am 
27.  Juni  1886  nahm  man  eine  Reihe  von  Resolutionen  für  An- 
bahnung ,4nternationaler  Fabrikgesetzgebung"  an,  darunter  nament- 
lich eine:  „als  internationales  Or^an  ist  ein  ständiges  Bureau  zu 
errichten,  welches  mit  den  P'abrikinspektoren  der  beteiligten  Staaten 
in  X'erbindung  steht  und  nach  einer  Statistik  der  Warenvorräte  und 
der  Produktivität  der  Arbeit  das  Maximum  des  Arbeitstages  fest- 
stellt". 

Die  Folge  jener  Resolutionen  war  ein  Antrag  im  N'ationalrate, 
über  welchen  sich  Vertreter  der  radikalen  Linken  und  der  ultra- 
montanen Rechten  einigten,  und  der  am  23.  Dezember  1887  zur 
Annahme  gelangte.  Er  lautete :  „In  Erwägung,  dafs  eine  Reihe  von 
Staaten  bereits  eine  Arbeitergesetzgebung  besitzen  oder  anstreben, 
mit  Tendenzen  gleich  denen  der  schweizerischen,  ersuchen  wir  den 
Bundesrat,  sich  mit  jenen  Staaten  in  Verbindung  zu  setzen,  um 
durch  internationale  Verträge  oder  eine  internationale  Arbeiter- 
gesetzgebun^  L[k'ichartic;e  Vorschriften  zu  erzielen  hinsichtlich  l.  des 
Schutzes  minderjähriger  Personen,  2.  der  Beschränkung  der  Frauen- 
arbeit. 3.  des  Xorniahu  bcitstages." 

Kine  erneute  Einladung  des  schweizerischen  Bundesrates  vom 
1 5.  Mär/.  1889  war  das  F-r^^ehnis  jenes  Antrajijes.  Das  Zirkularschreiben 
an  die  Regierungen  der  europäischen  Industriestaaten  wies  darauf  hin. 
dals  seit  dem  Jahre  1881  die  X^oraussetzungcn  für  eine  internationale 
Vereinbarung  sich  wesentlich  verbessert  hätten.  In  mehreren  euro- 
päischen Staaten  seien  unterdessen  umfassende  Srhut/malsregeln  für 
die  h'abrikarbciter  eingeführt  worden,  während  in  anderen  Staaten 
derartige  Gesetze  vorbereitet  würden.  Die  Litteratur,  die  gemein- 
nützigen Kongresse  u.  s.  w.  hätten  sich  mit  der  Sache  beschäftigt. 
Als  die  leitenden  (jründe  der  angeregten  Mafsregel  bezeichnete  die 
Note  des  Bundesrates  „eine  gewisse  Regelung  der  gewerblichen 
Produktion"  und  „die  Verbesserung  der  Lebensverhältnisse  der  Ar- 
beiter". 

Dieses  zweite  Mal  hatte  die  Einladung  besseren  Erfolg  als  das 
erste  Mal.    Aber  auch  jetzt  verzögerte  sich  die  Sache.    Für  den 


Die  Eatwicklang  der  Bcstrebvngen  fttr  intcniatioiiRlen  Arbeitencinitz. 


I^bst  1889  war  eine  internationale  Konferenz  in  Bern  geplant 
Sie  mufste  verschoben  werden  und  sollte  am  5.  Mai  1890  statt- 
finden. Unterdessen  hatte  bei  Gelegenheit  der  Pariser  Weltaus- 
stellung auf  dem  internationalen  Arbeiterkongrefe  die  Sozialdemo- 
kratie im  Juli  1889  eine  weitgehende  Resolution  gefafst,  welche  es 
iur  die  Pflicht  aller  Länder  erklärte,  die  schweizerische  Republik  in 
ihren  Schritten  für  eine  Konferenz  der  R^ierungen  über  den  Ar- 
beiteischutz  zu  unterstützen. 

Am  4.  Februar  1890  aber  erschienen  die  Erlasse  des  deutschen 
Kaisers,  deren  erster  die  Fortbildung  der  Arbeiterschutzgesetzgebung 
betonte,  deren  zweiter  hervorhob,  dafs  ,.(lic  in  der  internationalen 
Konkurrenz  begründeten  Schwierigkeiten  der  Verbesserung  der  Lage 
mserer  Arbeiter  sich  nur  durch  internationale  Verständi- 
gung der  an  der  Beherrschung  des  Weltmarktes  beteiligten  Länder, 
wenn  nicht  überwinden,  doch  abschwächen  lassen". 

In  der  üeberzeugung,  dafs  auch  andere  Regierungen  von  dem 
Wunsche  beseelt  seien,  die  Bestrebungen  einer  gemeinsamen  Prüfung 
zu  unterziehen,  über  welche  die  Arbeiter  der  verschiedenen  Länder 
unter  sich  schon  internationale  X'erhandlungen  führten,  sollten  die 
Regierungen  von  Frankreich,  England,  Belgien,  Schweiz  gefragt 
werden,  ob  sie  geneigt  seien,  in  Unterhandlung  zu  treten  „behufs 
einer  internationalen  Verständigung  über  die  Möglichkeit,  denjenigen 
Bedürfnissen  und  Wünschen  der  Arbeiter  entgegenzukommen,  welche 
in  den  Ausständen  der  letzten  Jahre  und  anderweit  zu  Tage  getreten 
wären". 

Der  Schweizer  Bundesrat  verziclitele  zufolge  dieser  Einladung 
auf  die  in  Bern  abzuhaltende  Konferenz  und  diese  wurde  auf  den 
15.  März  1890  nach  Berlin  verlegt. 

Das  Programm  srhlofs  sich  im  wesentlichen  an  das  Berner 
Programm  an.  Es  umfafste  sechs  Punkte :  Arbeit  in  Bergwerken, 
Sonniagsarbeit,  Kinderarbeit,  Arbeit  junger  Leute,  Arbeit  weiblicher 
Personen,  Ausführung  der  Bestimmungen. 

.■Xufser  den  oben  genannten  Staaten  nahmen  auch  Oesterreich, 
Ungarn.  Italien,  Belgien,  Niederlande,  .S{)anien,  Portugal,  Dänemark, 
Schweden,  Luxemburg  an  der  Konferenz  teil.  ^) 


Conference  internationale  concemant  le  rcglcincnt  du  travail  aux  Ptabli'^s«"- 
mcnts  industriels  et  dans  les  mincs.  Par  autorisation  olTjciillc.  I,<'ipzig  1.S90.  Kine 
deatsche  Uebcrsetzung.  ebenfalls  aiil  amtliche  Veranlassung:  Die  Protokolle  der 
internationalen  Arbeiterscbutzkonfereuz. 


Digitized  by  Google 


60 


Gustav  Cohn, 


Mit  der  ikrliner  Konferenz  haben  die  Bestrebungeo  für  inter- 
nationalen Arbeiterschutz  ihre  erste  Phase  al)f:jeschlossen.  So  sehr, 
dals  längere  Zeit  eine  Pause  der  Ruhe  und  des  Schweigens  einge» 
treten  ist. 

Wir  wenden  uns  daher  zu  einer  kritischen  Betrachtung. 

III. 

Ich  wollte  hier  \veni;;siens  einen  kurzen  Abrifs  der  historischen 
Entwicklung^  wiederg^cbcn.  um  das  Notwendigste  der  Thatsachea  für 
unsercMi  Zweck  lcbeii(ii<j^  zu  n^aclicn. 

Was  war  der  Inhalt  der  ersten  Phase  der  Bcw^;ung  fiir  inter- 
nationalen Arbeiterscliutz  r 

Mir  scheint,  nichts  andere^  als  die  Zurückführung  eines  hoch* 
gespannten  Ideals  auf  den  Boden  der  Wirklichkeit. 

Ein  überspaimtes  Ideal  war  der  Name  selber.  Es  ^iebt  keine 
»internationale  ( iesct/j^cbung".  Eine  (iesct/i^ebun^  ist  an  den  Staat 
geknüpft,  und  kann  von  einer  Mehrheit  der  Staaten  nur  ausg^ehen 
unter  der  Voraussetzung'  eines  Bundesstaates,  d.  h.  unter  der  Rc- 
dingunt,^  dals  diese  Mehrheit  ein  .Stück  ihrer  Souveränität  abge- 
treten habe  an  den  Hundesstaat  und  diesen  mit  einer  kollektiven  Sou- 
veränität ausgestattet.  Bekanntlich  ist  das  nur  innerhalb  der  Teile 
und  des  (ianzen  einer  Nation  bisher  geschehen  —  so  in  den  \'er- 
einigten  .Staaten  von  Amerika,  in  der  Pjdgenos>enschaft  der  Sclnveiz, 
im  Deutschen  Reich.  Etwas  .\ehnlirhes  über  tlie  (irenzen  der  ein- 
zelnen Reiche  hinauszutragen,  ist  nach  allgemeiner  Ueberzeugung 
auf  lange  hinaus  l  topie. 

Es  ist  aber  kein  müfsiger  Wortstreit .  wenn  jener  einst  so 
belieine.  dann  in  so  lehrreicher  Weise  seines  ( jlanzes  beraubte  Name 
beanstandet  ist.  Der  anspruchsxolle  Name  deckt  die  Schwierig- 
keiten zu,  welche  die  unbefangene  Ansicht  der  Sache  aufzudecken 
berufen  ist. 

Zwischen  souveränen  Staaten  giebt  es  keine  gemeinsame  Ge- 
setzgebung, sondern  nur  kündbare  Verträge. 

Die  thatsächliche  Gemeinschaft  der  Gesetzgebung  geht  vor  sich 
teils  ohne  jede  volkerrechtliche  Bindung  kraft  der  inneren  Gemein- 
samkeit der  Angaben,  Ziele,  Hindemisse,  Bedingungen  des  Völker- 
lebens innerhalb  der  gleichen  Kulturepoche.  Das  weckende  Bei- 
spiel, die  Vergleichung,  die  Wissenschaft  —  ste  führen  zu  Nach- 
ahmungen, zu  typischen  Malsregeln,  Reformen  innerhalb  einer  Völker- 
familie  im  selben  Zeitalter. 


Digitized  by  Google 


Die  Entwicklung  der  Bestrebongcn  ftr  mtemationalcn  ArbeitencboU.      5  t 

Teils  kommt  die  rechtliche  Bindung  hinzu  —  chejenige  Art  der 
Bindung,  welche  souveränen  Staaten  allein  möglich  ist.  Es  ist  das 
Gebiet  der  internationalen  Verträge,  Vereine,  Konventionen,  Unionen 
—  oder  welche  Namen  sonst  beliebt  werden. 

Iis  ist  ein  Irrtum,  wenn  so  oft  behauptet  wird,  dafs  wir  am 
Ende  des  19.  Jahrhunderts  auf  eine  lange  Reihe  gelungener  „Welt- 
vcreine"  dieser  Art  zurückblicken.  Viel  eher  läfst  sich  jene  andere, 
spontane,  rechtlich  nicht  gebundene  Gemeinschaft  der  kulturellen 
Entwicklung  betonen,  welche  freilich  nur  ausnahmsweise  eine  Ge* 
meiaschaft  von  gleicher  Genauigkeit,  wie  den  volkerrechtlichen  Ver- 
trag, zu  Wege  brii^ 

So  oft  diese  kulturelle  Gemeinschaft  der  Volker  auf  die  frohe 
der  Konsequenz  "eines  völkerrechtlichen  Vertrages  gestellt  wird, 
seht  man  ihre  Schwierigkeiten.  Und  zwar  zunächst  selbst  die 
Schwierigkeiten  des  blofsen  nationalen  Eigensinnes,  desselben  Eigen- 
Sinnes»  welcher  auch  innerhalb  der  einzelnen  Nationen,  solange  sie 
zeistückt  waren,  sich  erfolgreich  geltend  gemacht  hat  Ein  her- 
vorragendes Bei^iel  bietet  England,  nicht  allein  durch  diese  oder 
jene  einzelne  MaTsregel  internationaler  Gremeinschaft,  sondern  Eng- 
land ganz  und  gar  kraft  seines  harten  nationalen  Eigensinnes.  Für 
eine  solche  Nation  bedeutet  eine  internationale  Gemeinschaft  in  erster 
Reihe  die  Annahme  der  englischen  Einrichtungen  durch  die  anderen 
Nationen.  Durch  die  Zähigkeit  seiner  Gewohnheiten,  durch  das  seit 
'  jahriiunderten  eingesogene  Machtbewulstsein,  durch  die  Verquickung 
von  alten  Vorurteilen  mit  dem  Nationalstolz  setzt  man  in  diesem 
Volke  einer  internationalen  Gemeinschaft,  welche  ein  selbst  geringes 
Opfer  an  das  Neue  verlangt,  unbeugsamen  Widerstand  entgegen. 
Von  diesem  Volke  Nachgiebigkeit  in  grofsen  Dingen  der  Art  zu 
erwarten,  ist  eitel  Täuschung;  nicht  einmal  in  kleinen  Dingen  darf 
man  ae  ihnen  zumuten. 

Ein  denkwürdiges  Beispiel  ist  der  internationale  Metervertrag. 
Die  grolse  Mehrzahl  der  gesitteten  Nationen  schliefet  am  2a  Mai 
1875  den  „Vertrag,  betreifend  die  Errichtung  eines  internationalen 
Mals-  und  Gewichtsbureaus",  welcher  die  seit  Beginn  des  Jahr- 
hunderts mehr  und  mehr  zur  Anerkennung  bei  ihnen  gelangte  Ein- 
heit des  Metermafses  und  des  metrischen  Systems  in  die  rechtliche 
Form  einer  internationalen  Gemeinschaft  bringt.  Aber  Grofsbritannien 
schliefst  sich  nicht  an.  Hier  ist  im  Jahre  1864  ein  Gesetz  erlassen 
zur  fakultativen  Einfülirung  der  metrischen  Gewichte  und  Mafse  — 
in  der  That  ein  bloCser  Schein. 


Digitized  by  Google 


62 


Gustav  Cohn, 


Ein  Londoner  Kaufmann  wird  bestraft,  weil  er  sich  metrischer 
Mafee  bedient  hat  und  da  er  sich  auf  das  Gesetz  beruft,  wird  ihm 
bedeutet,  dafs  er  sich  nicht  geeichter  Mafse  bedient  habe,  die  in 
dem  Gesetze  nicht  vorgesehen  seien.  Im  Jahre  1873  wird  dem 
Unterhause  aus  seiner  Mitte  eine  Bill  vorgelegt,  um  vorwärts  zu 
kommen  und  an  die  Stelle  der  alten  englischen  Mabt  die  metrischen 
zu  setzen.  Aber  die  Bill  dringt  nicht  durch.  Endlich  nach  einem 
Vierteljahrhundert  das  Gesetz  von  1897,  welches  das  metrische 
S3^tem  in  erneuter  Auflage  als  „fakultatives"  einfuhrt. 

Was  ist  hier  im  Wege?  Nichts  weiter  als  die  nationale  2ähig> 
keit,  welche  am  Alten  haftet  und  die  geringen  Unbequemlich- 
keiten dem  Volke  nicht  zumuten  will,  welche  fast-alle  anderen  ge- 
sitteten Völker  sich  zugemutet  und  jetzt.  langA  tiberwunden  haben. 

Was  mu(s  man  nach  diesen  Erfahrungen  wohl  erwarten  dürfen 
bei  solchen  Materien,  welche  an  sich  grolse  Schwierigkeiten  einer 
internationalen  Einigung  entgegensetzen  —  nicht  aus  Vorurteilen, 
Haften  am  Gewohnten  u.  dergl.,  sondern  aus  den  Hindernissen  jeder 
gro&en  einschneidenden  gesetzlichen  Reform? 

Die  Erfahrungen  haben  hierauf  die  Antwort  gegeben.  Ich  er* 
innere  an  die  halbgelungenen  und  zuletzt  gescheiterten  Versuche  der 
lateinischen  Miinzkonvention  vom  Jahre  186$;  an  die  milslungeneo 
Versuche  der  internationalen  Wahrungskonferenzen  der  neuesten  Zeit 
Ich  erinnere  an  die  nicht  zum  Ziele  kommenden  Bemühungeo 
wegen  einer  internationalen  Regelung  der  Zuckerausfuhrprämien, 
welche  seit  dem  Jahre  1863,  dann  1876,  t88i,  1887  fT.  und  in  den 
letzten  Jahren  an  dieses  Ziel  gesetzt  worden  sind,  um  immer  wieder, 
zu  scheitern,  selbst  nachdem  (wie  am  30.  August  1888)  eine  förmliche 
internationale  Konvention  —  zwischen  dem  Deutschen  Reich,  Grofs- 
britannien,  Oesterreich,  Belgien,  Spanien,  Italien,  Niederlande,  Rul» 
land  —  abgeschlossen  worden  war. 

Und  doch  behaupte  ich,  wenn  einzelnes  davon  endlich  zustande 
kommen  sollte,  es  wäre  kein  Beweis  fiir  die  Durchführbarkeit  einer 
„internationalen  Arbeiterschutzgesetzgebung",  weil  deren  Schwierig- 
keiten noch  viel  gröfsere  sind. 

Jede  (ic.setzgel)un^  und  cfewils  jede  so/ial|)olitisclu'  ücsetz- 
crel)iiti''  ist  der  X'crsuch,  die  llial>a(h!ich  \ oiliaiuleiicii  Zustande 
eines  be'^titn inten  \'i)lkes  durcli  den  Zuan;^'  des  ol)ri>^keitliclien  Be- 
fehls fürl/.ubilden.  Dieser  Zwan^^  nuils  daher,  um  wirksam  zu  sein, 
an  das  Gegebene  anknüpfen.    Und  weil  die  gegebenen  Zustände 


Digitized  by  Google 


Die  Eatwicklnng  der  Bestrebungen  flir  interaationalcn  AifoeitecKhntc  63 

verschiedenartige  in  den  einzelnen  Ländern  sind,  müssen  auch  die 
Gesetze  der  einzelnen  Länder  verschieden  sein. 

Gelingt  es  jenen  oben  angedeuteten  freieren  Formen  der  inter« 
nationalen  Kulturgemeinschaft  die  Gleichartigkeit  gewisser  Zustände 
herbeizuführen»  so  ist  die  rechtliche  Gemeinschaft  überflüssig.  Ge- 
lingt es  auf  jenem  Wege  nicht ,  so  ist  die  rechtliche  Gemeinschaft 
unerreichbar. 

Würde  etwas  der  Art  dennoch  «^^elingen,  soweit  es  sich  um 
die  Fertigstellung  eines  internationalen  X'^ertrages  handelt,  so  würde 
gerade  da,  wo  dieser  X'^ertrag  —  wie  hei  der  Arbeiterschutzgesetz- 
gdMing  —  die  Aufgabe  hätte,  die  Sicherheit  für  die  Einhaltung  be- 
stimmter Schranken  der  Arbeit  zu  gewähren  gegenüber  dem  Miß- 
trauen wegen  eines  „unlauteren  Wettbewerbes"  der  einen  Volks- 
wirtschaft gegen  die  andere  —  sri  würde  gerade  hier  eine  Ueber- 
wachung  notwendig  sein,  welche  als  ein  internationales  Organ,  als 
ein  internationaler  X'erwaltungsapparat  einzurichten  wäre.  Man  kennt 
die  Schwierigkeiten  der  Entwicklung  jedes  Arbeiterschutzes  inner- 
halb der  einzelnen  Staaten  und  auch  die  erfolgreiclisten  .Xnstren- 
gungen  der  Gewerbeinspekti<incn  in  irgend  einem  Staate  der  (Gegen- 
wart sind  von  ihrem  Ziele  noch  weil  entfernt.  Was  kann  man  sich 
ernsthafterweise  von  einer  internationalen  Behörde  für  diesen  Zweck 
versprechen  ? 

Ich  bin  von  allen  idealistischen  und  realistischen  Motiven  jener 
Be>lrehungen  immer  lief  durrluJrungen  i^ewesen.  (ileichwohl  habe 
ich  mich  über  )cne  1  lin<lernisse  niemals  täus(Mien  können. 

(  ilucklicherwcise  fällt  aus  den  Bedürfnissen  nach  internationaler 
Flinigung  ein  erhebliches  Stück  heraus  zufolge  der  Krkenntnis,  lials 
die  Konkurrenzfähigkeit  der  Nationen  keineswegs  durch  die  (ileicli- 
heit  ihrer  Arbeitsschranken  bedingt  ist.  In  jenem  älteren  Artikel  des 
Deutschen  Slaatswörlerbuches .  den  wir  (jben  erwähnten,  wird  die 
Besorgnis  geäulsert,  die  Strenge  der  Sonntagsruhe  im  eigenen  Lande 
könnte  der  internationalen  Konkurrenzfähigkeit  der  heimischen  In- 
dustrie gefährlich  werden:  und  es  wird  in  demselben  auf  den  Aus- 
weg internationaler  Verträge  über  die  Sonntagsruhe  verwiesen. 
Aber  eine  tretVcndere  Antwort  auf  diese  Besorgnis  hat  längst 
Macaulay  gegeben,  wenn  er  in  seiner  denkwürtligen  Rede')  vom 
22.  Mai  1846  im  I  nterhause  sagte:  „Wenn  wir  und  unsere  \*or- 
fahrcn  während  der  letzten  drei  Jahrhunderte  ebenso  hart  am  Sonn- 


')  Speeches  of  Loril  Macaulay.    London  1875  p.  aiy 


Digitized  by  Google 


Gnttav  Cobn, 


tage  wie  an  den  Wochentagen  gearbeitet  hätten,  so  würden  wir  in 
diesem  Augenblick  ein  ärmeres  und  weniger  sivilisirtes  Volk  sein 
als  wir  sind:  es  würde  weniger  produziert  worden  sein,  die  Löhne 
der  Arbeiter  würden  niedriger  sein,  und  eine  an(iere  Nation  als  die 
englische  würde  heute  Baumwollenstoffe  und  Wolienstoffe  und  Stahl» 
waren  für  die  ganze  Welt  fabrizieren." 

IV. 

Die  Berliner  Konferenz  von  1890  ist  das  beweisende 
Experiment  für  die  oben  dar}:,^clef:,^en  Krwäf^unpen  gewesen. 

Die  einzelnen  Staaten  und  ihre  Vertreter  sind  cifrit^  bemüht, 
die  Unvci  bindlichkeit  der  hier  gefafstcn  Beschlüsse,  unbestimmt  und 
vag,  wie  dieselben  formuliert  werden  müssen,  zu  betonen.  Die 
Souveränität  wird  eifer.süchti^s  und  zumal  von  den  kleinen  Staaten 
mit  bemerkenswertem  Mifstrauen  f^cgenübcr  den  Zumutungen  anderer 
Staaten  gewahrt.  Der  Inhalt  der  X'erhandlungen  ist  wesentlich  eine 
wechselseitige  Mitteilung  des  in  den  verschiedenen  Ländern  be- 
stehenden gesetzlichen  Zustandcs.  Das  Resultat  ist  die  Bemühung, 
einen  ungefähren  Durchschnitt  aus  allen  den  V^erschiedenheiten 
dieser  Zustände  /.u  ziehen  und  darauf  eine  Empfehlung  aufzubauen, 
welche  als  „wünschenswert"  ein  gewisses  MaTs  von  Arbeitsschranken 
bezeichnet. 

So  gleich  bei  dem  ersten  Gegenstande  —  der  Sonntagsruhe. 
Grofsbritannicn  stimmt  für  jeden  Vorschlag,  welcher  die 

Sonntagsarbeit  einschränken  will. 

Belgien  umgekehrt  berichtet,  dafs  Art.  15  seiner  Verfassung 
vorschreibt:  NiemantI  kann  gezwungen  werden,  die  Ruhetage  einer 
Religionsgenos.senschaft  zu  beobachten.  Ks  sei  ferner  ein  Grundsatz 
der  belgischen  Gesetzgebung,  die  breiheit  der  .Arbeit  bei  den 
Grofsjährigen  zu  achten.  Hiernach  muls  sich  Belgien  gegen  jeden 
Vorschlag  erklären,  welcher  die  Sonntagsruhe  durch  ein  Gesetz 
auferlegen  will. 

Italien  erklärt,  dafs  es  erst  1886  begonnen  habe,  eine  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung für  seine  Industrie  einzuführen ;  dafs  die  Gesetz- 
gebung jedes  Landes  abhängig  sei  von  den  physischen  und  intellek- 
tuellen Entwicklung  seiner  Arbdtttbevölkerung,  von  den  Grundsätzen, 
welche  das  öffentliche  Recht  jedes  Landes  beherrschen,  von  den 
eigentümlichen  Konkurrenzverhältnissen  jedes  Industriezweiges.  Da- 
her schliefst  sich  der  Vertreter  Italiens  dem  Antrage  Belgiens  an. 

Frankreich  setzt  auseinander,  dafs  es  eine  moralische  und 


Die  Entwiddimg  der  Bestrebnagcn  flu-  inteniatioiialeB  Arbeitendiiits. 


materielle  Unmöglichkeit  sein  würde,  einen  einheitlichen  Ruhetag 
in  seinem  I^nde  anzuordnen;  ein  etwaiges  Gesetz  der  Art  würde 

ein  todter  Buchstabe  bleiben. 

Der  Vertreter  Deutschlands  ist  der  einzige,  welcher  über 
das  Mafs  der  im  eigenen  Lande  bereits  bestehenden  Gesetze  hinaus- 
geht —  und  zwar  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  es  mit  den  Vor- 
bereitungen dazu  (unabhängig  von  der  internationalen  Konferenz) 
längst  beschäftigt  ist. 

Und  ähnlich  die  übrigen  Staaten. 

„Wenn"  —  sagt  das  amtliche  Protokoll,  anscheinend  die  Worte 
des  Vorsitzenden  der  Konferenz  wiedergebend  —  „die  Konferenz 
sich  darauf  beschränkte,  eine  vage  und  platonische  Resolution  an- 
zunehmen, die  fast  gar  keinen  reellen  Wert  hätte,  so  würden  die 
Hoffnungen,  welche  man  von  allen  (?)  Seiten  an  die  Arbeiten  der 
Konferenz  knüpft,  vollständig  getäuscht  werden  und  die  Konferenz 
würde  sich  \'(irwürfcn  ausgesetzt  sehen,  die  sie  vermeiden  soll." 

Trotz  dieser  Mahnung  wird  nicht  einmal  die  Annahme  einer 
Resolution  durchgesetzt,  welche  es  als  hlofs  wünschenswert  be- 
zeichnet, (iafs  ein  wöchentlicher  Ruhetag  den  geschützten  Personen 
durch  t resetz  gesichert  werde.  Ks  muls  die  Einschaltung  auf- 
genommen werden  „vorbehaltlich  der  Ausnahmen  und  notwendigen 
Verzögerungen  in  jedem  Lande".  Ks  mufs  das  „durcli  Gesetz" 
beseitigt  werden,  „um  jeden  Staat  seinen  eigenen  Richter  über  die 
Mittel  sein  zu  lassen,  durch  welche  die  Verwirklichung  dieser 
Wünsche  zu  erreichen  ihm  belieht". 

.Xehnlich  wie  hei  der  SoniUag>ruhe  geht  es  bei  den  X'erhand- 
lungen  über  die  Schutzgesetze  für  Kinder  und  jugendliche 
Personen. 

Einstimmig  ist  man  für  die  Resolutinn :  ,,Ks  ist  wünschenswert, 
die  Kinder,  die  noch  nicht  ein  gewisses i, Ii  Alter  erreicht,  von  der 
Arbeit  in  der  Industrie  aus/.uschliefsen."  Welches  aber  dieses 
..gewisse"  .Alter  .sein  soll,  darüber  gehen  die  .Ansichten  weit  ausein- 
ander, regelmälsig  beslirnnil  (hireli  die  .Miersgrenzen,  welche  in  der 
Gesetzgebung  der  betretl'eiulen  M.iatcn  gerade  bestehen. 

Da  man   nun  versucht,  eine  gewis.se  gemeinsame  Altersgrenze 
durch  Abstimmung  als  das  „\\'üns(  lienswerte"  für  alle  Beteiligten 
festzusetzen ,  entsteht  das  bezeichnende  Schauspiel  einer  intematio 
nalen  Submission.    Die  Schweiz  beginnt  mit  dem  Höchstgebot  von 
-vierzehn  Jahren.   Ihr  schliefst  sich  nur  Oesterreich  an.  Aber 
stimmen  dagegen.   Auch  für  die  Altersgrenze  von  dreizehn  Jahren 

Archiv  (Sr  tot.  GMMasebung  u.  Suttttik  XIV.  5 


Digitized  by  Google 


66 


Gastav  Cohn, 


Stimmen  nur  dieselben  zwei  Staaten.  England  will  selbst  die  Grenze 
von  zwölf  Jahren  nur  ad  referendum  nehmen,  da  in  England  die  Ar- 
beit von  Kindern  von  lo — 12  Jahren  unter  pjewissen  Einschränkungen 
zugelassen  ist.  Italien  bekämpft  überhaupt  das  Bestreben,  dieselbe 
Altersgrenze  für  die  Kinderarbeit  der  Industrie  in  allen  Ländern  fest- 
zusetzen. 

Und  so  geht  es  weiter. 

F"ür  die  F  r  a  u  e  n  a  r  b  c  i  t  will  ( i  r  o  fs  b  r  i  t  a  n  n  i  c  n  ,  der  dort  be- 
stehenden Gesetzgebung  entsprcchendf  eine  Schranke  von  täglich 
zehn  Stunden. 

Heitel  eil  lehnt  jeden  Schutz  für  die  weiblichen  Personen  ab, 
die  älter  als  21  Jahre  sind,  aber  auch  für  die  16  -  2 1  jährigen  will 
Belgien  nur  ein  Maximum  \on  zwölf  Stunden  zugestehen.  Das 
belgische  Gesetz  vom  13.  Dezember  1889  lasse  die  Möglichkeit 
often,  dafs  künftig  dieses  .Maximum  verändert  werde:  „man  könne 
sich  aber  tlurch  eine  .Abstinuiunig  nicht  binden". 

Am  interessantesten  ist  der  letzte  Punkt  der  \^crhandlungen  — 
die  Frage  der  Durchführung  des  gesetzlichen  .'\rbeiterschutzes. 

Die  Schweiz  beantragt,  dafs  die  Staaten  obligatorische 
U  e  b  e  r  e  i  n  k  ü  n  f  t  e  schlössen,  die  darauf  gerichtet  sind,  dafs  die 
Duiehfuhiung  der  Beschlü.sse  auf  dem  Wege  der  nationalen  Gesetz- 
gebung stattfinde.  .Auch  soll  ein  spezielles  Organ  geschaflen 
werden  behufs  Zentralisation  der  .Ausweise  über  die  Durchfuhrung, 
behufs  regelmälsiger  X'erultcntlicluiii;^^  der  statisti.schen  Daten  und 
Vorbereitung  der  künftigen  Konterenzen,  welche  letztere  periodisch 
wiederkehren  sollen. 

Wesentlich  bescheidener  ist  der  deutsche  Antrag.  Er  will 
nur  die  Anerkennung  der  Unentbehrlichkeit  einer  Gewerbeinspektion 
in  jedem  beteiligten  Staate,  der  jährlichen  Ausweise,  will  den  Aus* 
tausch  dersdben  von  Staat  zu  Staat,  endlich  periodisch  wieder- 
kehrende Konferenzen  zur  Mitteilung  der  Erfahrungen  und  zur  Be- 
ratung von  Aenderungen. 

Gegen  den  schweizerischen  Antrag  erhebt  ^ch  Grofs- 
britannien.  Es  sieht  in  jenem  den  Versuch,  ein  internationales 
Uebereinkommen  an  die  Stelle  der  besonderen  Gesetzgebung  jedes 
Landes  treten  zu  lassen.  Die  Teilnahme  an  der  Konferenz  sei  von 
Grolsbritannien  nur  unter  der  Bedingung  bewilligt  worden,  dals 
eine  solche  Möglichkeit  ausgeschlossen  sei  Es  sei  den  englischen 
Staatsmännern  verboten,  ihre  Arbeitergesetzgebung  in  Abhängig* 
keit  zu  bringen  zu  dem  Willen  einer  fremden  Macht 


Die  Entwicklang  der  Bestrebungen  für  internationalen  Arbcitcrschutz. 


Man  debattiert  nur  fiber  die  Vorschlage  Deutschlands,  um 
sie  zu  mildem.  Belgien  beanstandet  an  dem  deutschen  Vorschlage, 
dals  er  von  „Vorschlagen"  der  Konferenz  spreche;  es  seien  nur 
^Wünsche".  Auch  dürfe  man  darum  nicht  von  der  „Unentbehrlich- 
keif  der  Inspektion  u. s.w.  reden;  das  piajudiziere.  zu  sehr  den 
Entschlüssen  der  einzelnen  Regierungen.  Dals  man  die  jährlichen 
Berichte  austausche,  könne  zu  Unzutraglichkeiten  fuhren  u.  dgL  m. 

Die  Vertreter  von  Frankreich  sind  prinzipiell  auch  gegen 
den  deutschen  Antrag.  Die  Instruktion  verbiete  ihnen,  einem 
Wunsche  beizupflichten,  welcher  —  mittelbar  oder  unmittelbar  — 
den  Anschein  erwecken  könnte,  als  wolle  er  den  anderen  Wünschen 
der  Konferenz  eine  unmittelbare  exekutivische  Kraft  geben.  ,JDie 
fraozösische  Regierung  habe  die  Konferenz  immer  nur  ausschlielslich 
als  ein  Mittel  zu  einer  Enquete  über  die  Lage  der  Arbeit  in  den 
beteiligten  Staaten  und  über  die  darauf  bezüglichen  Wünsche  der 
öffentlichen  Meinung  angesehen;  habe  aber  in  keiner  Weise  daraus 
den  Ausgai^punkt  für  internationale  Verpflichtungen  machen  wollen." 

V. 

Weder  eine  })crio(lischc  Wiederholung,  noch  irgend  eine  Wieder- 
holung jener  Berliner  Konferenz  hat  stattgefunden,  in  den  mehr  als 
neun  Jahren,  die  seitdem  verflossen  sind. 

Die  damals  gemachten  Erfahrungen  haben  für  einen  längeren 
21eitraum  ausgereicht 

Am  Schlüsse  nicines  ersten  und  eingehenderen  Aufsatzes  über 
die  „internationale  Fabrikgesetzgebung"  (1881)  sagte  ich: 

JEine  besonnene,  auf  das  zunächst  Erreichbare  konzentrierte  Be- 
wegung, welche  in  der  Sozialpolitik  von  den  englischen  Gewerk- 
vereinen, in  der  Technik  der  internationalen  Propaganda  von  der 
internationalen  Arbeiterpartei  ihr  Muster  entlehnte,  eine  derartige 
Vereinigung,  welche  Fabrikanten,  Arbeiterfreunde,  Arbeiterführer, 
mehr  oder  weniger  idealistische  und  realistische  (iesinnunj^en  in 
sich  verl)äiule,  könnte  vielleicht  das  Werkzeug  werden  zu  ansehn- 
licheren und  sciincUeren  Erfolgen  in  der  Fahriki^csetzgcbung  der 
einzelnen  Staaten  als  irgend  ein  Versuch  /u  inlenialionaler  I'^abrik- 
gesetzgebung  oder  zu  den  damit  verwandten  internationalen  Mafs- 
regeln.*' 

Das.  was  ich  damals  beim  Heijinn  der  Heslrclnni^'en  für  inter- 
nationalen Arbeiterschutz  geschrieben,  ist  der  Inhalt  der  zweiten 
Phase  dieser  Bewegung  geworden. 


Digitized  by  Google 


68 


Gttstav  Coho, 


Von  derselben  schweizerischen  Parteigruppe  her,  welche  die 
erslen  Anregungen  des  schweizerischen  Bundesrates  bei  den  anderen 
Regierungen  veranlalst  hatte,  ist  am  3*  April  1893  gelegentlich  des 
schweizerischen  Arbeiterkongresses  zu  Biel  beschlossen  worden,  sein 
Zentralkomitee  zu  beauftragen  mit  der  Einberufung  eines  neuen 
„internationalen  Kongresses",  welcher  aber  zusammengesetzt 
sein  sollte  nicht  aus  Vertretern  der  Regierungen,  sondern  aus  De- 
legierten der  Arbeiter  der  verschiedenen  Lander.  Für 
das  Jahr  1894  war  dieser  Kongreß  geplant  Mancherlei  Hindemisse 
verzögerten  sein  Zustandekommen  bis  zum  Jahre  1897. 

Inzwischen  hatte  der  schweizerische  Bundesrat,  im  Laufe  des 
Jahres  1896,  durch  seine  diplomatischen  Vertreter  die  Regierungen  der 
europäischen  Industriestaaten  sondiert,  um  zu  erfahren,  ob  ae  ge- 
neigt sein  würden  sich  bei  einer  internationalen  Konferenz  vertreten 
zu  lassen,  welche  den  Arbeiterschutz  diskutieren  sollte.  Die  Ant- 
wort der  meisten  Staaten  lautete  ablelinend. 

\'oiii  23. — 28.  Aii'Tust  1897  hat  jeiuM-  internationale  Kono^refe 
in  (kl  ToniiaUe  zu  Zürich  staltp^efunden. Hauptsächliche  l  eilnehmer 
desselben  waren  die  \' crtrctcr  der  schweizerischen  Arbeiterdemokratie 
und  des  arbeiterfreundlichen  Miigels  der  klerikalen  Partei  der  Schweiz. 
Daneben  aus  den  gleichen  beiden  Lagern  X'crtretcr  von  Deutschland, 
Oesterreich  •  l^ngarn,  Belgien,  Italien,  Frankreich ,  Grrolsbritannien, 
Spanien,  Rulsland. 

Kin  \'crsuch  also  in  zweierlei  Richtung:  einmal  in  der  Richtung 
einer  X'erstäiKligung  zwischen  den  beiden  Arbeiterparteien,  der  kirch- 
lichen und  der  unkirclilichcn  „Sozialisten",  zweitens  in  der  Richtung 
einer  intenialionak-ii  W  rständigimg  über  gewisse  gesetzliche  Schranken 
der  Arbeit.  Die  kirchliche  Partei  war  durch  98,  die  unkirchliche 
durch  1O5  Dclci^Mcrle  vertreten.  Nach  dem  Hcrichle  des  „Musec 
social"  waren  alle  ..(  'clebriläten  des  internationalen  Sozialismus  und 
des  sozialen  Katlu»li/isnnis"  auf  dem  Kongre.sse  vereinigt. 

In  dei"  Kroltnungsrede  sagte  der  Präsident  des  Organisations- 
koniilees,  Heinrich  Scherrcr  (Mitglied  des  Grofscn  Rates  von 
St.  tiallen;:  ,,I)er  gegenwärtige  Kongrels  ist  nicht  eine  Konferenz 
von  Diplomaten,  welche  einen  internationalen  Vertrag  beraten, 
den  zwei  Staatsregierungen  morgen  vniterzeichnen  sollen.  Wenn  das 
der  i  all  wäre,  so  wissen  wir  wohl,  tlals  nur  eine  kleine  Anzahl 

'i  ßcricht  (iarübiT  in  <lrin  trtll liiliLii  ..Mui.ee  social  *  Ciriulairc  Nu,  14,  S^rie  H. 
Bulletin  nn  usuil  15.  Oclobre  ibyy:  Lc  Congrcs  de  hx  Protection  ouvriere  a  Zürich. 


Dlgitized  by  Google 


Die  EatwicUnng  der  Bestrebvngen  fitr  inteniationalen  Arbdtenclrats. 


der  vorgescbbgeiieii  Resolutionen  darin  ihre  Statte  finden  könnte. 
Sondern  wir  haben  eine  höhere  Aufgabe  vor  uns,  die  Aufgabe 
einer  Enquete  über  die  Fr^e  des  internationalen  Schutzes  der 
Arbeit  in  seiner  ganzen  Ausdehnung,  die  Aufgabe,  den  Grundstein 
zu  legen  für  ein  Gebäude,  welches  vielleicht  Icaum  im  nächsten 
Jahrhundert  beendigt  werden  wird." 

\Va^  bat  nun  diese  „Enquete'"  zu  läge  gefördert? 

Zunäctist  eine  allgemeine  Wahrnehmung  über  das  Wesen  der> 
artiger  loserer  Versammlungen,  sei  es  daüs  sie  von  Parteien  be- 
stimmter Art,  sei  es  dafs  sie  mehr  zuiallij,^  von  verscliiedcnen  Partei- 
lagem  her  beschickt  werden  —  loserer  V  ersammlungen  im  Gegen- 
satz zu  den  amtlichen  Verti  etuiv^en  in  Konferenzen  von  der  Art, 
wie  es  die  Berliner  Konferenz  des  Jahres  1890  gewesen  ist 

Die  sämtlichen  Delegierten  einer  amtlichen  Konferenz  sind  ge- 
bunden durch  ihren  Auftrag.  Was  sie  sagen,  was  sie  beschliefsen, 
bindet  wiederum  ihre  Mandanten  und  das  sin  l  \eratit wortliche  Staats- 
r^crui^^en.  Das  Ergebnis  einer  solchen  Konferen/,  wie  negativ 
immer  es  auch  sein  mag,  ist  der  Niederschlag  der  thatsächlichen 
Möglichkeiten  in  der  wirklichen  ( icsctzgebung.  Ja,  der  negative 
Charakter,  den  wir  an  der  Berliner  Konferenz  kennen  gelernt  haben, 
ist  die  natürliche  Folge  der  Gebundenheit  und  Verantwortlichkeit 
fiir  den  wirklichen  Staat  in  seiner  mannigfaltio^en  Kischeinun*^. 

Hine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  dieser  Veranlworliichkeil  und 
dieser  Konseijuenz  für  den  wirklichen  Staat  hat  iinnur  noch  eirje 
Parteiversainmlung,  wemi  sie  die  Delektierten  einer  bestinimlen,  auf 
die  Gesetzgebung  in  einem  «jcler  mehreren  Staaten  einwirkenden  Partei 
zusammenführt.  Je  i^rolser  diese  Kinwirkun;^,  je  mehr  die  Partei 
den  Staatswillen  bestimmt,  um  so  enj^^er  wird  der  Zus.tmmenhang 
awischen  ihren  Bcschlusseti  und  der  thatsäehliclR  11  ( lesetz^abung  sein. 

Aber  ganz  am  ent^a-^en^e^el/ten  Hude  steht  eine  internationale 
Konferenz,  welche  erstens  nicht  durch  amtliche  l)elegierte  beschickt 
ist,  zweitens  nicht  eine  bestimmte  mais^^ebende  l'.irtei  rei)räscntiert, 
drittens  mannigfalti^fe  Parteien  aus  aller  Herren  Länder  und  jede  in 
einer  zufälligen,  bald  zahlreicheren,  bald  winzigeren  Vertretung  ver- 
sammelt. 

In  diesem  Sinne  wird  man  etwa  nach  Zahl  und  Qualität  der 
Vertreter  eine  nationale  Tragweite  für  die  schweizerische  (iesetz- 
gebung  aus  dieser  internationalen  Konferenz  von  Zürich  folgern 
dürfen.    Schwerlich  aber  eine  internationale. 

Ein  Beispiel!  Grofsbritannien  ist  durch  eine  Handvoll  ulira- 


i^iyui^ud  by  Google 


70 


Gustav  Cohn, 


radikaler  Mitglieder  vertreten,  welche  durch  ihre  extremen  Ten- 
denzen auch  innerhalb  dieses  wahrlich  nicht  an  Radikalismus  Mangel 
leidenden  Kreises  isoliert  auf  dem  äufsersten  Flügel  der  Linken  stehn. 

Und  man  braucht  nur  wenig  von  England  zu  wissen,  um  zu  er- 
kennen, dafs  in  der  „Enquete"  der  Züricher  Konferenz  die  Voten 
dieser  Engländer  ein  seltsames  Bild  \'on  den  heutigen  Forderungen 
der  englischen  Arbeiter  oder  Arbeiterfreunden  an  die  englische  Ge- 
setzgebung liefern. 

So  will  ein  Del^erter  der  Lotidoner  Social  Democratic  Föde- 
ration die  Ersetzung  des  puritanischen  Sonntags  durch  einen  anderen 
Ruhetag.  Nur  die  6  englischen  Delegierten  stimmen  dafür:  alle 
anderen,  schweizer  und  deutsche  Sozialdemokraten  wie  vollends 
die  Katholiken,  und  sämtliche  übrigen,  stimmen  dagegen. 

Dieselbe  englische  Delegation  verlangt  für  die  Kinderarbeit  die 
Altersgrenze  von  l6  Jahren  und  bleibt  damit  ebenfalls  so  gut  wie 
allein.  Dieselben  Engländer  bekämpfen  die  Delegierten  der  deut- 
schen Sozialdemokratie,  welche  die  I  lausindustrie  zwar  verurteilen, 
aber  die  Thatsachc  ihres  verbreiteten  \^orhandenseins  berücksich- 
tigen wollen.  Die  pjigländcr  gelten  zu  verstehen,  dafs  die  deutschen 
Sozialdemokraten,  welche  sich  gegen  die  sofortige  Unterdrückung 
der  Hausindustrie  auss|)rechen,  gewöhnliche  Reaktionäre  seien.  Lieb- 
knecht ist  ihnen  gegeniil)Ci'  der  gcmälsigtc  .Staatsmann,  der  ihr 
Ziel  als  ein  Ideal  i)ezeichMct,  dafs  man  unterdessen  aber  einen 
Schutz  und  eine  Verbesserung  der  hausindustriellen  Arbeit  fordern 
müsse. 

Welch  Hild  von  den  wirkHchen  englischen  Arbeiterparteien  oder 
wohl  gar  \on  den  .Xussichten  der  englischen  Gesetzgel)ung  würde 
tlerjenige  bekommen,  welcher  sich  aus  dieser  „Enquete"  darüber 
unterrichten  wollte : 

Etwas  ganz  Aehnliches  hat  man  wenige  \Vt)chen  später  auf 
einem  anderen  Kongresse  erlebt,  \'on  dem  wir  sogleich  zu  reden 
haben.  Auf  dem  Züricher  Kongresse  waren  die  Extremen  der 
Rechten  (des  I.ais.^ez-faire)  ausgeschlossen,  auf  dem  Brüsseler  Kon- 
gresse gerade  diese  nicht.  Ks  entstand  nun  das  Schauspiel,  dafs 
über  die  ersten  Klementc  des  X'crhältnisses  \on  Staat  und  Gesell- 
.schaft,  von  Gesetzgebung  und  Volkswirtschaft,  von  Freiheit  und 
Ordnung,  ernsthaft  debatiert  wurde,  ja  dafs  dieses  der  Mittelpunkt 
des  ganzen  Kongresses  wurde. 

Welche  Bedeutung  jene  Vertreter  der  alten  Doktrin  von  der 
wirtschaftlichen  Freiheit  für  die  wirkliche  Gesetzgebung  Belgiens 


Digitizcd  by  Google 


Die  Entwicklang  der  Bestrebungen  für  inlenntionalen  Arbeiterschutz.  ji 


oder  Frankreichs  haben,  ob  sie  eine  beträchtliche  ob  sie  eine 
Mehrheit  in  ihren  Staaten  hinter  sich  haben  —  aus  diesen  Debatten 
konnte  das  nicht,  konnte  überhaupt  gar  nichts  entnommen  werden. 
Denn  diese  Debatten  waren  „akademisch"  in  dem  Grade,  dals  sie 
ebensowohl  in  einem  staatswissenschaftlichen  Seminar  mit  oder 
ohne  internationale  Mitglieder  gehalten  werden  konnten,  mit  dem 
Eigebnis,  dals  tausendmal  wiederholte  Argumente  und  Zipfel  der 
Afgomentation  noch  einmal  in  das  Gefecht  gefUhrt  worden  waren. 

VL 

InnerhaU>  dieser  Bedingungen  einer  solchoi  Konferenz  —  was 
zeigt  uns  die  „Enquete"  über  die  Zustande  des  internationalen 
Arbdterschutzes  oder  richtiger  der  international  gemeinsamen  Be* 
strebungen  für  Arbeiterschutz? 

Weil  an  der  Züricher  Konferenz  unbestrittenermafsen  eine  Mehr* 
hett  der  sozialdemokratischen  Vertreter,  und  dieser  wiederum  vor- 
wiegend aus  der  Sclnvciz,  dann  eine  erhebliche  Minderheit  der 
kathohsch-sozialistischen  Delegierten  teIl<^cnoinmen  hat  (die  ersteren 
in  der  Zahl  von  165,  die  anderen  in  der  Zahl  von  98),  so  wird  man 
in  der  „Enquete"  eine  Kenntnis  dessen  zu  finden  vermögen,  was 
diese  beiden  Parteien  zur  Zeit  in  der  Arbeiterschutzgesetzgebung 
anstreben,  was  sie  gemeinsam  anstreben,  wie  weit  sie  sich  von 
einander  trennen.  Es  wird  in  erster  Reihe  diese  Kenntnis  uns  über 
die  nationalen  Zustände  und  Parteibestrebungen  der  Schweiz  unter- 
richten, da  aus  der  Schweiz  nicht  nur  die  Mehrzahl  der  Delegierten 
gdcommen  war,  sondern  hier  auch  der  Einfluls  beider  Parteien  in 
höherem  Malse  praktisch  ist  als  der  Einflufs  der  entsprechenden 
beiden  Parteien  in  den  anderen  Staaten. 

Zunächst  die  Schranken  der  Kinderarbeit. 

Die  Mehrheit  (132  Stimmen)  beschliefst  die  Schranke  des  Allers 
von  15  Jahren.  Die  Minderheit  (75  Stimmen)  will  nur  die  Grenze 
von  14  Jahren  und  will  die  Landarbeit  ausnehmen  von  dem  .Schutze. 
Die  Arbeit  der  Kinder  iin  Landbau  verbieten,  sagrt  der  geistliche 
Delcfrierte  des  V^erbandes  der  rheinischen  Bauernvereinc,  sei  un- 
möglich;  die  Bauern  von  den  I^yrenäen  bis  zur  Ostsee  würden  ein 
solches  \''crbot  verspotten. 

Dann  die  Arbeit  erwachsener  Männer. 

Eine  Mehrheit  von  170  gegen  80  Stimmen  beschliefst  die  Not- 
wendigkeit des  achtstündigen  l  agesmaximums  für  alle  Arbeiten  (für 
den  Ackerbau  nur  bei  dem  Grolsbetrieb  und  hier  mit  Zulassung  von 


Digitized  by  Google 


72 


Gustav  CobOt 


Ausnahmen  fär  die  Erntezeit).  Sofern  der  Uebefgang  zum  acht- 
stündigen Arbeitstage  nicht  augenbliddich  möglich  ist,  soll  die  Ge- 
setzgebung wenigstens  ein  Maximum  vorschreiben,  welches  möglichst 
sich  jener  Schranke  annähert 

Ein  Gegenantrag  Kulemann,  welcher  eine  Abstufung  des  Maxi- 
mums je  nach  der  Intensität  der  Arbeit  in  den  einzelnen  Industrie- 
zweigen will,  wird  mit  174  gegen  81  Stimmen  abgelehnt 

Bei  diesem  Gegenstande  der  Züricher  Resolutionen  empfindet, 
man  den  Abstand  derselben  von  den  wirklichen  Aussichten  auch 
der  schweizerischen  Geset^ebung,  weil  das  elfstündige  Arbeits- 
maximum des  Fabrikgesetzes  von  1877  in  den  mclir  als  zwei  Jahr- 
zehnten, die  seit  Erlafs  desselben  verflossen  sind,  Mühe  genug  ge- 
habt hat,  in  I'leisch  und  Blut  der  wirklichen  Arbeitsweise  über- 
zugeben und  die  Herabsetzung  dieser  Schranke  um  nur  eine  einzige 
Stunde  —  und  auf  das  Gebiet  des  Gesetzes,  auf  die  Fabriken  be- 
schränkt —  wohl  kaum  eine  Mehrheit  in  den  geset^ebenden  Fak- 
toren der  Schweiz  heute  hnden  würde. 

Dann  die  Frauenarbeit. 

Bei  dieser  Frage  entsteht  ein  Gegensatz  in  der  Versammlung 
ähnlich  demjenigen,  der  bei  der  Hausindustrie  sich  gezeigt  hat.  Nur 
dafs  dieses  Mal  es  nicht  ein  Konflikt  zwischen  der  deutschen  (und 
schweizerisclien)  Sozialdemokratie  einerseits,  der  äulsersten  Linken 
der  englischen  Arbeiterpartei  anderseits  ist,  sondern  der  Gegensatz 
zwischen  Sozialdemokratie  einerseits,  Klerikalen  anderseits.  Die  letz- 
teren wollen  die  Frauenarbeit  in  den  Bergwerken  und  der  grolsen 
Industrie  gänzlich  untersagen.  Bei  der  Abstimmung  bilden  sie  eine 
Minderheit  von  98  gegen  eine  Mehriieit  von  165,  welche  sich  mit 
einem  täglichen  Arbeitsmaximum  von  acht  Stunden  (44  wüchent- 
lichcn  Stunden)  begnügt,  sie  also  im  wesentlichen  unter  dieselben 
Schranken  stellt  wie  die  männliciien  erwachsenen  Arbeiter. 

Bekanntlich  ist  dieser  Gegensatz  in  der  Behandlung  der  Frauen- 
frage oft  hervorgetreten.  .Xuch  die  Parteigruppierung  ist  dieselbe 
und  die  seltsame  \' ersrhiebung  dieselbe,  dals  die  vermeintlich  Kon- 
servativen die  radikalsten  Returnur  sind. 

Und  was  soll  nun  das  Resultat  dieses  Kongresses  sein? 
Welches  sind  die  Mittel,  auf  dem  internationalen  Wege  vorwärts 
zu  kommen  ' 

Man  dürfe  sich,  sagt  der  Referent  ider  Führer  der  katliolisch- 
.sozialistischen  Partei  in  der  Schweiz),  durch  die  bisherigen  Mils- 
erfolge  nicht  abschrecken  lassen.    Man  müsse  sich  auf  eine  kleine 


Die  EatiricUanf  der  Bestreboagoi  Kr  intematUHMlen  Arbdteracfantz. 


Anahl  von  wicht^cn  Puokten  der  Gesetqfdmiig  beschranken  — 
Altersgrenze  (iir  Kinderarbeit  in  den  Fabriken,  Verbot  der  Nacht- 
arbeit in  den  Fabriken  (lir  weibliche  und  jugendliche  Personen; 
Verbot  der  Frauenarbeit  in  gefahrlichen  Industrieen;  Verbot  der 
Sonntagsarbeit;  Maximalarbeitstag^. 

Allerdings  erscheinen  als  „die  geeignetsten  Mittel,  um  am  sichersten 
und  ann  schnellsten  die  internationale  Gesetzgebung  für  den  Arbeiter- 
schutz zu  verwirklichen"  —  die  Aufklärung  der  öffentlichen  Meinung^ 
die  Agitation  in  der  Presse,  die  fortgesetzten  Bemühungen  insbe- 
sondere  der  schweizerischen  Arbeiterparteien,  den  Bundesrat  zu  er* 
Deuten  internationalen  Schritten  anzustacheln  —  denselben  Bundes- 
rat, der  am  i6.  Januar  1897  auf  die  Motionen  der  Bundesversamm- 
lung vom  Jahre  1895  geantwortet  hat,  „et  habe  den  Eindruck,  die 
Zeit  sei  noch  nicht  gekommen,  um  Verhandlungen  der  Art  mit 
irgend  einer  Aussicht  auf  Erfoli;  aufzunehmen". 

Selbst  auf  die  Anr^ung des  bescheidenen  Projekts  eines  inter- 
nationalen Bureaus  zur  Information  über  Arbeiter- 
schutzmafs regeln  der  verschiedenen  Länder  hat  der  schweize- 
rische Bundesrat  überwiegend  ablehnende  Antworten  erhalten.  Die 
Mehrzahl  der  Regierungen  hat  sich  dai^^ci^en  erklärt,  teils  überhaupt, 
teils  weil  der  Augenblick  noch  nicht  gekommen  sei,  über  Ein- 
richtung eines  solchen  Instituts  zu  diskutieren,  teils  weil  sie  wenig 
Wert  darauf  legen.  Andere  Regierungen  haben  ausweichend  ge- 
antwortet; nur  ein  (irofsstaat  hat  seine  Sympathie  bekundet. 

.•\ngesichts  des  jrcrin^en  Krfolges  selbst  einer  so  wenig  ver- 
bindlichen Institution,  welche  nur  zur  internationalen  Keniitnisnahtnc 
des  in  den  einzelnen  Ländern  ( ieleistelen  dienen  soll,  sieht  sich  der 
Kadikalismus  der  .schweizerischen  .Arbeiterpartei  durch  einen  seiner 
Führer  genötigt,  zu  bekennen,  der  ursprüngliche  Plan  einer  inter- 
nationalen Arbeitersciiutzgesetzgt  hung  sei  unausführbar  gewesen,  weil 
er  ein  zu  hohes  Ziel  ins  Auge  gcfafst  habe.  Um  etwas  zu  er- 
reichen, müsse  man  seine  Forderungen  herabstimmen  auf  ein  inter- 
nationales Bureau. 

Dessen  Thätigkeit  soll  die  folgende  sein; 

1.  Sammlung  und  Veröffentlichung  aller  Gesetze  und  amt- 
lichen Publikationen  über  Arbeiterschutz  samt  dahin  ge- 
hörenden Parlainentsverhandlungen,  Oesctzesmotiven,  .\us- 
führungsbcstimmungen ,  genchthchen  Entscheidungen,  Be- 
richten der  ( iewerbeinspektoren  u.  dgl. 

2.  Redaktion  eines  jährlichen  Berichtes  über  die  Thätigkeit, 


Digitized  by  Google 


74 


Goitav  Cohn, 


welche  durch  alle  gesetzgebenden  und  ausführenden  Be* 
hörden  entfaltet  worden  ist 

3.  Erteilung  von  Auskunft  an  die  Regierungenf  Kommunal* 
behörden,  Volksvertreter  u.  s.  w. 

4.  Zentralisation  der  Kongresse,  auf  welchen  die  Vertreter  der 
Regierungen,  die  Parlamentsmitglieder,  die  Arbeiterdel^erten 
Gelegenheit  hätten,  ihre  Ansichten  und  Erfahrungen  auszu- 
tauschen. 

Die  Kosten  für  den  Stab  vnn  Fach«^elehrten,  Korrespondenten, 
Uebersetzern  u.  s.  w.  sind  durch  dir  l)ctcihgten  Staaten  zu  decken. 
Der  Sitz  des  Bureaus  sollte  Brüssel  oder  Zürich  sein  —  also  der 
Hauptort  eines  neutralen  Staatswesens  und  eines  industriellen  Mittel* 
Punktes. 

VII. 

Wenige  Wochen  später  tagte  in  Brüssel  ein  internationaler 
Kongrefs,  welcher  an  sich  dieselben  Gegenstände  behandelte  wie 
der  Züricher  Kongreüs.  Nur  dals  die  Parteistellung  der  Mehrzahl 
seiner  Teilnehmer  eine  wesentlich  verschiedene  war. 

Das  Programm  des  Brüsseler  Kongresses  bestand  aus  den 
Frap^en:  Welche  Fortschritte  hat  die  Arbeiterschutzgesetzgebung  fiir 
Fabriken  und  Bergwerke  in  jedem  Lande  seit  der  Berliner  Kon- 
ferenz vom  März  1890  gemacht?  Sollen  die  erwachsenen  Arbeiter 
einer  gesetzlichen  Schranke  der  Arbeitszeit  unterworfen  werden  ? 
Ist  ein  internationaler  Arbeiterschutz  möglich  und  wünschenswert, 
inwieweit  und  in  welcher  Gestalt?  Hignet  sich  die  Arbeit  des 
Kleingewerbes  und  der  Hausindustrie  zum  Arbeiterschutze  ?  Lassen 
sich  die  V^orschriften  für  'gefährliche  Industriecn,  welche  in  vielen 
Ländern  bestehen,  cinheitlicli  für  alle  industriollen  Staaten  anordnen  ? 
Welches  sind  die  besten  Mittel  zur  Durchfülirun;^  der  Arbeiterschutz- 
L,'esetze  und  welches  sollen  die  Rechte  und  Pflichten  der  ( rcwcrbc- 
inspekt"! (11  sein'  Ist  es  wünschenswert,  internationale  Beziehungen 
zwischen  den  ArbcitsänUern  herzustellen  und  die  Statistik  der  Ar- 
beitsverhältnisse international  zu  organisieren? 

Die  Teilnehnn  r  waren  übcrwic<:^end  aus  den  Reihen  der  ge- 
mäfsigten  Sozialrelormer,  im  Sinne  etwa  des  deutsclien  „Vereins  für 

')  Musee  social,  ."^tru-  A,  (  irculain*  No.  19.  Bulletin  mrnsucl.  jo  Novetnbre 
l$97.  Congres  de  la  Ic^islatiun  du  travail  tenu  a  BruxcUes  du  au  30  Sep* 
tembrc  1S97. 


Digitized  by  Google 


Die  Entwiddaag  der  Bcstrebiuigen  flir  intematioiialen  Arbeitenchutz. 


Sozialpolitik",  welcher  thatsächlich  ein  Häuflein  seiner  Mitglieder 
von  der  Kölner  Generalversammlung  zu  einem  Nachspiel  nach 
Brüssel  entsandt  hatte.  Aehnlich  gesinnte  Teilnehmer  waren  aus 
Bdgien  und  Frankreich  erschienen.  Daneben  aber  etliche  Partei- 
manner  der  absoluten  wirtschaftlichen  Freiheit  aus  Belgien  und 
Frankreich  —  von  einer  Strenge  der  Folgerichtigkeit,  wie  sie  in 
Deutschland  seit  einem  Menschenaher  kaum  noch  ZU  finden  ist. 

Die  treiben' K  n  Kräfte  dieses  Kongresses  scheinen  gewesen  zu 
sein:  einmal  das  Bedürfnis  einzelner  Männer  in  Belgien,  welche  fiir 
die  zurückgebliebene  Entwicklung  des  Arbeiterschutzes  im  eigenen 
Lande  den  Succurs  des  ausländischen  Beispiels  und  der  ausländischen 
Intelligenz  heranzuziehen  bestrebt  waren;  dann  aber  das  Bedürfnis 
einzelner  deutscher  Soziairc  former,  welche  den  Wunsch  hatten,  die 
Versuche  der  Berliner  Konferenz  von  1890  nicht  völlig  im  Sande 
der  Vergessenheit  versiegen  zu  lassen. 

Nach  den  einleitenden  Worten  des  belgischen  Arbeitsministers 
handelte  es  sich  auch  auf  diesem  Brüsseler  Kongresse  (wie  auf 
den:  Züricher)  um  eine  „Enquete". 

Indessen  nicht  die  „Enquete"  wird  der  Mittelpunkt  des  Kon- 
gresses (weit  mehr  über  die  Zustände  der  Arbeiterschutzgesetzgebung 
in  den  verschiedenen  Ländern  ist  aus  den  litterarischen  Organen  zu 
entnehmen  als  aus  dieser  „Enquete").  Der  Schwerpunkt  fällt  in  die 
—  oben  bereits  berührten  —  Redekämpfe  um  die  ersten  Grund- 
lagen der  X'olkswirLschaft  und  ihrer  staatlichen  ()r(lnun<:^.  Kiiiige 
an  sich,  nach  dcni  Mafsc  ihrer  Ignoranz  und  Obcrilächlichkcit  ge- 
ringfügige Behauptungen  werden  die  Kletterstange,  an  der  einige 
der  wetterfestesten  internationalen  Koiigr(r>l)csurhcr  aus  Deutsch- 
land ihre  Turnkünste  zeigen.  Ihnen  schliclscn  sich  einzelne  fran- 
zösi'sche  Mitglieder  von  verwandter  (lesinnung  an.  Durch  Rede 
und  Gegenrede  ziehen  sich  diese  W'ortkäinpfc  in  die  I-änge. 

Was  die  Möglichkeit  einer  internationalen  .\rbeitcrschutzge.setz- 
gebung  anlangt,  so  sind  alle  Mitglieder  darüber  einig,  sie  abzu- 
lehnen. Nur  etwa,  wie  man  durch  v(tlkcrrcchtliche  X'erträge  flir 
den  Krieg  gewisse  extreme  Mittel  ausgeschlossen  hat.  so  sollte  man 
auch  einzelne  gesundheitsgefährliche  Arbeiten  für  den  Frieden  inter- 
national verbieten  können  —  so  raeint  der  eine  oder  der  andere 
Redner. 

Bei  dem  Thema  der  Gewerbeinspektion  schildert  ein  Referent 
aus  Frankreich  die  Hindernisse,  mit  welchen  dieses  Institut  in 
seinem  Vaterlande  noch  zu  kämplen  hat.    Der  früliere  preufsische 


Digitized  by  Google 


76 


Gustav  Cohn, 


Handelsniinister  berichtet  über  einen  befriedigenden  Zustand  der 
deutschen  Gewerbeinspektion. 

Einer  der  Gegner  jedes  staatlichen  Füiv^aiffes  erklärt,  diese  In- 
spektion j>asse  für  Länder  wie  Deutschland  und  Oesterreich;  bei 
freien  X'ölkern  sei  sie  unm^lich  und  unheilvoll.  Mifs  Anderson, 
ein  Mitglied  der  englischen  Gewerfoein^ektion,  protestiert  dag^n 
im  Namen  der  Freiheit  Englands. 

Damit  dann  ein  dauerndes  Ergebnis  von  diesem  Kongresse 
übrig  bleibt,  versammeln  sich  nach  SchluCs  des  „offiziellen  Kon- 
gresses" die  deutschen  Mitglieder  zu  einer  Besprechung  und  be- 
schliefscn.  ihre  Anstrengungen  auf  die  Erlangung  eines  inter« 
nationalen  Bureaus  zu  beschränken,  ungefähr  im  Sinne  dessen, 
was  in  Zürich  zuvor  beschlossen  worden  war.  Mit  der  weiteren 
Förderung  dieser  Angelegenheit  werden  einzelne  Mitglieder  des 
Vorstandes  betraut 

Der  letzte  Akt  dieser  Bestrebungen  ist  dann  die  Gründung 
einer  „internationalen  Vereinigung  lur  Förderung  des  Arbeiterschutzes", 
behufe  deren  am  3.  Mai  1899  in  Berlin  eine  Versammlung  statt- 
gefunden  hat. 

So  hat  sich,  was  einst  in  seinen  Anfangen  ein  überschäumender 
Gebirgsbach  gewesen,  in  ein  friedliches  Gewässer  verwandelt  und 
damit  ist  die  dritte  Phase  des  internationalen  Arbeiterschutzes 
angebrochen. 

vin. 

Was  Vereine  dieser  Art  zu  leisten  fähig  sind,  dies  zu  beurteilen 
hat  uns  die  Wirksamkeit  des  „Vereins  für  Sozialpolitik"  einen  un- 
gefähren MaTsstab  gegeben. 

Zunächst  sind  sie  der  Anziehungspunkt  für  eine  Anzahl  von 
Männern  von  ungefähr  gleichartiger  Ge^nnung  und  Bfldung,  von 
ähnlichen  Zielen  und  Bestrebungen.  So  bunt  am  Anüinge,  wenn 
solche  Vereine  im  Entstehen  sind,  das  Gemisch  sich  zusammen- 
setzen mag,  welches  auf  einen  ersten  Aufruf  zusammenströmt,  so 
fragwürdig  dann  bei  längerem  Leben  des  Vereins  die  jeweilen  zu- 
strömenden Elemente  sind,  welche  von  der  nächsten  Umgebung  der 
jeweiligen  Wanderversammlung  deren  Quantität,  seltener  deren 
Qualität  erhöhen  —  es  ist  doch  ein  gewisser  Kreis  von  Persönlich- 
keiten, die  sich  periodisch  zusammenfinden,  zusammen  arbeiten, 
Ansichten  austauschen  und  gerade  im  zwanglosen  Verkehr,  oft  mehr 


Digitizcd  by  Google 


Die  Entwicklung  der  Bestrebungen  fttr  internationalen  Arbeitcrscbuts. 


als  in  der  parlamentarisch  gebundenen  Debatte,  die  crfreuliclisten 
Wirkungen  ihres  geineinsamen  Strebens  ausüben  und  empfangen. 

Für  Gebiete  wie  dasjenige  der  SozialpoHtik  und  für  die  eigen- 
tümlichen Verhältnisse,  welche  wir  in  deutschen  Landen  kennen, 
ist  CS  eine  besondere  Wohlthat  wenn  sich  die  Manner  der  Universi- 
täten  mit  den  Männern  der  Staate-  und  Kommunalverwaltungen 
lebendig  berühren,  wenn  diese  Berührung  dazu  dient,  dem  wissen- 
schaftlichen Denken  den  Zusammenhang  mit  dem  Leben,  wie  andrer- 
seits den  besten  Kräften  unsrer  öffentlichen  Praxis  die  Fühlung  mit 
den  vorwärts  treibenden  Ideen  zu  gewähren.  Nichts  ist  so  geeignet, 
das  Vorurteil  des  Philistertums  von  dem  inneren  Gegensatze  der 
IVasds  und  der  Theorie  zu  zerstören,  als  ein  solches  Zusammenarbeiten. 

Für  die  Theoretiker  unter  einander  hat  es  sich  längst  als  heil- 
sam erprobt,  dafe  ein  öfteres  menschliches  ein^hes  Zusammensein 
das  beste  Heilmittel  gegen  die  Federkämpfe  ist,  die  sich  in  der 
Kluft  räumlicher  Entfernung  am  liebsten  entfachen,  während  sie 
angesichts  der  lebendigen  Gegenwart  so  leicht  als  ein  Zerrbild  des 
geistigen  Streites  zerfallen,  der  ungesund  und  übertrieben  erst  durch 
das  räumlich  Abstrakte  der  streitenden  Persönlichkeiten  geworden  ist 

Die  hauptsächliche,  wohl  am  wenigsten  angezweifelte,  deut- 
lichste, ja  handgreiflichste  Leistung  eines  solchen  Vereins  ist  seine 
Utterarisdie  Produktion.  Unter  den  mannig&ltigen  Formen  der 
kollektivistischen  Herstellungsweise  von  litterarischen  Werken,  zumal 
des  staatswissenschafUichen  und  sozialpolitischen  Gebietes,  ist  die- 
jenige Form  eine  hervorragende,  welche  die  Mittel  und  Kräfite  eines 
solchen  Vereins  gebraucht,  um  gewisse  Gattungen  von  Arbeiten  zu 
leisten,  die  eine  Darstellung  vorhandener  Zustände,  ein  Bild  der  An- 
sichten von  deren  Reform,  eine  Sammlung  von  Urteilen  über 
schwebende  Streitfragen  aus  der  ganzen  Fülle  der  Wirklichkeit  zu 
gewinnen  suchen. 

Arbeiten  dieser  Art  werden  die  Vorbereitung  neuer  Mafsregeln 
der  Gesetzgebung  und  Verwaltung.  Und  wenn  sie  öfters  sich  damit 
begnügen,  geduldig  der  Stunde  zu  harren,  da  die  Zeit  für  sie  ge- 
kommen ist,  da  eine  unfreundliche  Strömung  umgesetzt  hat  —  so 
mag  diese  Situation  nur  desto  mehr  ihren  wissenschaftlichen  Charakter 
bewähren. 

Neben  den  litterarischen  Publikationen,  deren  wachsender  Tni- 
feng  wohl  als  ein  Kennzeichen  der  Hiiitf  eines  solchen  Vereins  be- 
trachtet werden  d  uf,  ist  von  den  Arbeiten  des  \*ereins  vielleicht 
dasjenige  Stück  das  bedeutsamste,  ernsthafteste,  intensivste,  welches 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


78 


Gustav  Cohn, 


die  Publikationen  vorbereitet  —  die  Thät^keit  in  den  Ausschüssen. 
Im  Gegensatze  dazu  sind  die  Debatten  in  den  Generalversammlungen, 
abgesehen  von  wohl  vorbereiteten  grölseren  und  doch  durchsichtigen 
Referaten,  ein  Ding  von  fragwürdiger  Bedeutung. 

Es  ist  verhältnismäfsig  selten,  daCs  durch  derartige  Redekämpfe, 
bei  der  notwendigen  Kürze  dessen,  was  jeder  einzelne  sagt,  bei  dem 
Uebergewiclitc  formeller  Momente  in  jeder  solcher  mündlichen  Ver- 
handlung, bei  der  Ungeduld  und  Ermüdung,  welche  nach  wenigen 
Stunden  schon  über  tlie  Zuhörer  zu  kommen  pflegt  —  es  ist  selten, 
dafs  für  die  Sache  dadurch  etwas  Ernsthaftes  entschieden  wird. 

Und  schlimmer  steht  es  damit  in  Fächern  wie  dem  unsrigen,  als 
etwa  bei  den  Juristen.  Historikern,  Philologen,  Medizinern,  Natur- 
forschern, die  ja  auch  und  viel  langer  als  wir  ihre  Kongresse  halten. 
Bei  diesen  ist  ein  Minimum  der  Kompetenz  durch  die  Statuten  der 
Versammlung  gewährleistet.  Zum  Juristentage  wird  ein  Harbar  nicht 
eingelassen,  der  nicht  weifs,  wozu  es  ein  Recht  und  einen  Staat  giebt. 
In  unserem  Fache  ist  eine  Scheidelinie  nicht  zu  finden,  die  ein  ähn- 
liches Minimum  sicherstellt;  es  würden  wesentliche  Quellen  der 
Kraft  eines  sozialpolitischen  \'ereins  abgegraben  werden,  wenn  man 
es  dennoch  \  ersuchen  wollte.  Wir  können  kein  Kxamcn  fonicrn. 
Aber  schlimme  Folgen  hat  es  trotzdem,  dafs  wir  es  nicht  fordern 
können.  Irt^end  ein  Fabrikdirektor  —  wie  wir  der<:jleiclien  erlebt 
haben  —  benutzt  die  Versammlung',  um  seinem  Aert;er  über  Arbeiter 
und  Arbeitcrireunde  Luft  zu  machen  mit  .-Xri^umentcn,  auf  die  man 
schweigt  mit  dem  Bedauern,  so  etwas  haben  anhören  zu  müs.sen. 

Wie  nun,  um  ein  neues  Land  zu  bevölkern,  man  in  den  An- 
fangen desto  nachsichtiger  ist  gegen  die  Qualität  der  An.siedler,  so 
muls  auch  ein  neuer  Verein,  um  überhaupt  Mitglieder  zu  be- 
kommen, um  eine  gewi.sse  Fülle  zu  erlangen,  ohne  die  er  nicht 
leben  kam;,  ohne  die  er  sehr  bald  wieder  einschläft,  auf  strenge 
Grenzziehung;  bei  der  Zulassung  verzichten. 

Aber  trot/.dem  wird  es  nicht  leicht  sein,  einen  neuen  Verein 
zu  scharten,  der  thatsächlich  vou  den  Kräften  des  alten  Vereins  sein 
Leben  zieht,  der  keinerlei  Hilfstruppen  xon  anderswoher  heranziehen 
kann,  als  woher  der  alte  bereits  seit  einem  Menschenalter  Erfolge 
und  Milserfolge  der  l\ckrutierun<^  erfahren  hat. 

Der  neue  Verein  von  Freunden  des  .Arbeiterschutzes  wird,  so- 
weit seine  deutsche  Sektion  in  Betracht  konmit,  kaum  etwas  anderes 
sein  können,  als  ein  Anhängsel  des  Vereiiis  für  Sozialpolitik.  Nicht 
nach  der  Zusammensetzung,  nicht  nach  den  Zielen.    Die  Propaganda, 


Digitized  by  Güü^9 


Die  Entwicklung  der  Bestrebungen  für  internationalen  Arbeiter&chutz. 


wdche  der  alte  Verein  su  machen  gestiebt  hat,  welche  gelegentlich 
auch  über  die  Grenzen  des  Deutschen  Reiches  hinausgetragen  ist, 
soll  in  dem  neuen  Verein  wohl  vorzugsweise  auf  das  Ausland  und 
zwar  der  Natur  der  Sache  nach  vorzugsweise  auf  die  am  meisten 
zurückgebliebenen  Staaten  gerichtet  sein;  ja,  wie  wir  gesehen  haben, 
haben  gesinnungsverwandte  Männer  um  der  Zurückgebliebenheit  der 
Gesetzgebung  ihres  Heimatlandes  willen  den  Sukkurs  von  aulsen 
herbeigeführt 

Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dals  alle  Au%;aben  eines  nationalen 
Vereins  für  Sozialpolitik  in  einem  internationalen  Vereine  der  Art 
sich  in  extensivem  Sinne  steigern.  Inwieweit  diese  Extensität  um 
den  Preis  der  Intensität  erkauft  wird,  das  mu(s  die  ErCsihrung 
lehren.  Unzweifelhaft  ist  es,  dafs  die  Schwierigkeiten  um  so  viel 
grolser  sind. 

Gerade  aus  diesem  Grunde  ist  es  zweckmälsig,  da(s  man 
wenigstens  den  G^enstand  des  neuen  Vereins  von  vornherein  ein- 
schränkt und  daraus  nicht  einen  internationalen  Verein  ftir  Sozial* 
Politik  überhaupt  macht  An  dem  einzelnen  Gegenstande  kann  man 
zunächst  die  Kräfte  erproben,  um  zuzusehen,  wie  weit  man  mit 
einer  solchen  Organisation  kommt  Es  hat  in  der  That  bereits  vor 
30—40  Jahren  Anläufe  zu  internationalen  Vereinen  für  Sozialpolitik 
g^^ben,  wdche  dann  bald  sich  in  ihr  Nichts  aufgelost  haben. 

Gelingt  der  neue  Verein  —  dann  ist  einstmals  die  Zeit  zu  er- 
warten, wo  man  nach  seinem  ermutigenden  Beispiele  die  gleich- 
berechtigten Aufgaben  der  Sozialpolitik  —  neben  dem  Arbeiter- 
schutz —  zum  Gregenstande  einer  internationalen  Vereinsorganisation 
macht  Denn,  wenn  ein  internationaler  Verein  für  Arbeiterschutz, 
warum  nicht  ein  internationaler  V'ercin  für  Arbeiterversicherung? 
Warum  nicht  ein  ähnlicher  Verein  für  Steuerreform  (Einkommens- 
und Vermögenssteuern,  Krbschaftssteuem,  Progressivsteuersystemc) 
für  internationale  Gemeinschaft  der  Steuergesets^bung  und  vieles 
ähnliche  aulserdem? 

Die  Antwort  ist:  Logisch  sind  diese  Dinge  allerdings  völlig 
gleichberechtigt;  taktisch  darf  der  eine  Gegenstand  den  Vortritt  in 
Anspruch  nehmen,  welcher  nun  einmal  seit  einem  Menschenalter 
mit  Vorliebe  für  internationale  Bestrebungen  ausgesucht  worden  ist. 


uiyiii^uü  Uy  Google 


Ein  Kapitel  zur  Aufsaugung  des  Landes  durch 

die  Stadt 

Von 

Dr.  EMIL  VANDERVELDE, 

Mitglied  der  Deputiertenkammer  in  BrtaeL 

„WclckcB Gründen  ist  es  bei  uns  zuzuschreiben, 
4»f%  dit  LudbevolkeruDg  immer  mehr  abnimmt : 
Ud«r  vielmehr,  welcbea  Grüaden  ttt  di«t  iridM 
/■i/  i  '  hreihf n  .■'  Krieg,  Flotte,  Finanz,  Justiz, 
Handel,  Künste,  ja  sogar  die  Kirche,  alle  rauben 
aai  fort  tmd  fort  die  Kioder  unieicr  Laadleoie, 
nehmen  sie  weg  aiu  d«a  Dörfern,  welche  wk 
werden  sahen." 

«Lea  EpbcBcridci  da  ciloyCB.  1765.) 

Ich  wohne  in  rler  I  .and«,'cmeindc  La  Hulpe,  einer  Ortschaft  in 

der  Nähe  der  Kbciie  von  Waterloo. 

Ks  ist  hier  die  ( i eisend  der  Maurer  und  Stuckateurc.  Sämt- 
liche ( )rtschaften  im  rmkreise  senden  jeden  Mor^i^en  Hunderte  \  on 
Bauarlieitern  zur  Arbeit  nach  I?riissel.  Die  (irofsstadt  ist,  achtzehn 
Kilometer  entfernt,  hinter  den  hohen  \\'ij>fehi  des  Waldes  von 
SoijTnes  versteckt.  Des  Nachts  nur  wird  ihr  heller  Widerschein  am 
dunkeln  W Dlkenhiminel,  einer  hata  Mor^ana  L,deich  ,  sichliiar.  Ein 
bezeichnendes  Schauspiel,  welches  uns  an  die  W  orte  Kmil  Verhaerens 
erinnert: 

„  Wenn  der  Abend 

Mit  schwarzem  Hammer  moifsi'lt  aus  d.is  FitTnanunit, 
Dehnt  sich  Um  die  Stadt,  H'w  1  I<'tr:>cherin  der  Eb«nc. 
Wie  ein  n.Hchtlich,  unpi'tiim  IMianlom, 
Gi«T  und  Pracht  und  WoUuvl  atnu  nd. 
Ihr  Liclitcrglanz  strahlt  bis  zum  Himmel, 
Ihr  Gas  lobt  auf  in-  Myriaden  Flammen. 


Bb  Kapitel  SU  AulMiiguiig  des  Landes  durah  die  Stadt 


8t 


Auf  ihren  eisernen  Gelci&cn  vermessen 

Eilt's  hin  zum  trügerischen  Glück, 

Vfit  es  den  Reichtnn  imd  die  Macht  b^(leit«t. 

Es  redwn  Oue  Ibvem  rieb  gleich  einem  Heer, 

Und  drohend  wilxt  sie  dichten  Qualm  nnd  Dnnst 

Hinaas  anfs  grOne  Land. 

Das  ist  die  Stadt  mit  ihren  Fühlern  ** 

Ja,  sie  ist  es,  die  grofscn  Städte  sind  es,  mit  ihren  ehernen 
Fühlern  —  Töchter  des  Kapitalismus  —  welche  mehr  und  mehr 
die  Menschen,  die  IVodukte  und  das  Geld  des  platten  Landes  auf- 
saugen: das  Geld  in  Fonn  von  Steuern  und  P^ht;  die  Produkte, 
welche,  durch  die  Weltkonkurrenz  entwertet,  heute  von  allen  Erd- 
teilen herbeiströmen,  um  den  Leib  von  Paris,  Berlin  oder  London 
zu  füllen;  die  Menschen  endlich,  die,  herausgerissen  aus  ihren  Ge- 
meinden,  ihren  häuslichen  Beschäftigungen,  ihrer  „Familienhabe" 
en^jwtzt,  herbeigezogen  werden  von  den  Kasernen,  den  Kauf  hausem 
oder  den  Fabriken,  geblendet  von  der  glänzenden  Stadt,  wie  jene 
Seevdgel,  die  nach  Sonnenuntergang  in  ihrer  Bestürzung  dem  Feuer 

Leuchtturms  zufliegen. 

In  England,  wo  Anderson  Graham  in  einem  sehr  lesenswerten 
Buche  die  Folgen  der  Entvölkerung  des  Landes  dargelegt,  wohnt 
die  Hälfte  der  Einwohner  in  den  j^iufsen  Städten;  die  Zahl  der 
Landarbeiter  ist  auf  800000  herabgesunken.  Und  am  22.  Februar  1892 
konnte  der  Landwirtschaftsminister  im  Unterhause  sagen,  dafs  die 
Frage  der  Zukunft  nicht  jene  der  ftemdländischcn  Konkurrenz  sei, 
sondern  die  Not  der  Farmer,  Arbeiter  zu  finden. 

In  iM-ankreich  l)il<lclc  die  Sia.lthcx  rOkcrun;^^  1846  24",,,  1891 
37"  ,,  der  Cicsamtbc^  (jlkcriitiL;  und  betrug  n.icli  den  IJcrcchnun^en 
von  Lanncs'l  die  F.inwaiuk  run;^^  in  den  53  bevölkerlslcn  Städten 
in  denjaln  cn  1881  —  1SS6  334021,  und  1886 — 1891  354  5  1 8  Personen. 

In  Deutschland  nimmt  die  Auswanderung  aus  den  I .andbezirken, 
wie  die  V'olkszählung  vom  l.  Di-zcniber  1890  beweist,  nachdem 
sie  hier  später  IjeL^onnen  als  in  Frankreich  imd  England,  jetzt  mit 
lawincnai-tiger  Schnelligkeit  zu.  In  den  Jahren  1885 — 18()0  kam 
die  Bevölkerungszunahme  von  2' ^  Millionen  (2764452)  in  ihrem 

'1  „L'inflnence  de  ränigration  des  cainpagnes  sor  la  natalit^  francaisc*'.  (Revur 
polst,  et  parlem.  1895.)  —  Vgl.  andi  Choisy,  „rimmigration  rarale  dans  les  vUles.'* 
(Kefonne  sociale  1892  L  S.  686  tC.) 

Archiv  rur  ms.  GMMsffcbvBf  n.  SUlittik.  XIV.  6 


82 


Emil  Vandervelde, 


ganzen  Umfange  den  Städten  (Orten  mit  über  2000  Einwohner) 
zugute;  die  Landbezirke  \  erloren  dagegen  I91686  Einwohner.  Nach 
Sohnrey')  ist  die  städtische  Bevölkerung  aUmählich  in  den  Jahren 
1875,  1880,  1885,  1890  auf  ,j6,i,  3g,0,  414,  43,7,  47,0«,,  der  ge- 
samten Einwohnerzahl  des  Reiches  angewachsen.  Daher  konnte 
Professor  Sering  mit  Recht  behaupten,  dafs  diese  modernen  Wande- 
rungen eine  weit  gröfsere  Bedeutung  haben,  als  jene,  welche  vor 
fiinfeehnhundert  Jahren  stattfanden. 

Derselben  Erscheinung  begegnet  man  in  VCfSChiedenem  Mafse 
In  allen  lindern,  wo  sich  die  Industrie  einigermafsen  entwickelt  hat 
Aber  mehr  als  anderswo  macht  sich  der  Einflufs  der  Städte  auf  das 
Land  nachhaltig  fühlbar  in  Belgien  mit  seinen  200  Einwohnern  pro 
Quadratkilometer,  seinen  Ameisenhaufen  von  Industriebetrieben, 
seinen  kaum  ein  oder  zwei  Stunden  Eisenbahnfahrt  voneinander- 
liegenden  Provinzialhauptstädten. 

Der  Zweck  der  nachstehenden  Zeilen  ist,  zu  untersuchen,  welche 
Folgen  diese  V^erhältnisse  für  die  Lage  der  Arbeiter,  den  Landbau 
und  das  Grundeigentum  in  diesem  Lande  mit  sich  bringen. 

T.  Das  goldene  Zeitalter  der  Grundbesitzer. 

Tn  seinem,  unterm  10.  Januar  1845  an  den  Senator  Hiollay 
gerichteten  Schreiben  über  die  Lage  der  ländlichen  und  industriellen 
Arbeiter  in  Belgien  schilderl  J.  Arrivabene  den  Einflufs,  welchen 
die  Entwicklung  der  städtischen  X'erhältnisse  auf  Rente,  Unter- 
nehmergewinn  und  Löhne  ausübt,  mit  fol^'cnden  Worten ; 

„Belgien  ist  von  der  X'orschung  mit  ihren  Wolilthaten  ebenso 
reich  als  schön  bedacht.  Seine  Städte,  mit  herrlirlien  Denkmälern 
geziert,  welche  Pietät  und  denie  ihrer  I-jnwolnier  errichteten,  seine 
riesenhalten  Kunstwerke,  seine  '^rnfsen  Industriebetriebe,  seine  schönen 
Dörfer,  seine  lachenden  1' luren ,  sind  ebenso  unbe^treitba^c  als 
nihinliche  Anzeichen  eines  Wohlstandes,  an  welchem  verschiedene 
Generationen  hintereinander  L^earbeitet  halien. 

Es  f^iebt  aber  auch  wenig  Länder,  in  denen  die  vou  uns  oben 
hervurj^a-hobene  Erscheinuiif^  -  -  die  Zun.ihme  des  \  erhältnismälsii^'ei^ 
Anteils  der  Grundeigentümer  am  V'olksvermögen  —  stäiker  hervor- 
tritt, als  in  HelL^ien. 

Wer  hier  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  sein  Geld  in  Grund- 

',j  „Der  Zug  vom  Lande."   Leipzig  1S94,  S.  3  fl. 


Digitized  by  Google 


Ein  Kafdtd  nur  Aofsaneimg  des  Landes  dnrch  die  Stadl. 


83 


Stucken  angelegt  hätte,  würde  sein  Kapital  mehr  als  verdoppelt  und 
sein  Einkommen  bedeutend  gesteigert  haben.  Wer  dagegen  einen 
gleichen  Betrag  wie  jenen,  zur  selben  Zeit  auf  Zinsen  angelegt  und 
dies  immer  fortgesetzt  hätte,  würde  nicht  nur  kein  gröfseres  Kapital 
als  damals  besitzen,  sondern  infolge  des  fortschreitenden  Fallens  des 
Zinsfufses  und  der  Entwertung  des  Geldes  eine  geringere  Zinsen- 
einnähme  haben.  Und  was  unsere  .Arbeiter  anlangt,  —  kann  man 
behaupten,  da(s  sie  an  dem  glänzenden  Los  der  Grundstückskaufcr 
teilgenommen?  —  Ganz  und  gar  nicht!"') 

Arrivabene  sagt  gleichwohl,  daüs  der  Reallohn  der  Arbeiter,  ihr 
„realer  Anteil  an  den  Produkten"  etwas  gestiegen  sei,  doch  genügt 
ein  Blick  auf  die  Diagramme  des  von  Hector  Denis  herausgegebenen 
„Atlas  ^conomique",  Um  die  Ueberzeugung  zu  gewinnen,  da(s  während 
jener  ganzen  Periode  die  kaum  merkliche  steigende  Bewegung  der 
Löhne,  und  namentlich  derjenigen  der  ländlichen  Arbeiter,  bei  weitem 
nicht  der  fortschreitctulcn  Erhöhung  in  den  Preisen  der  Lebensmittel 
und  im  Pachtzins  gefolgt  ist 

Die  Konkurrenz  der  neuen  Erdteile  drückte  noch  nicht  fühl- 
bar den  Preis  der  Lebensmittel,  das  Anwachsen  der  Bevölkerung 
und  die  Fortschritte  der  Industrie  steigerten  unausgesetzt  die  Nach- 
firage  nach  den  Erzeugnissen  der  Landwirthschaft :  kurzum,  es  war 
die  goldene  Zeit  der  Grundbesitzer.  Für  das  Proletariat  aber  war 
es  die  eherne  Zeit,  als  am  Lnde  des  fünften  Jahrzehnts  die  kapita- 
listische Umwälzung  iti  der  Textilindustrie  zusammen  mit  den  gleich- 
zeitigen schlechten  Ernten  tausende  von  Arbeitern  aulser  Brot  setzte. 

^Niemand",  schreibt  Ducpetiaux  1853  in  seinen  „Budgets 
economiques  de  ia  classe  om  rirre",  „wird  die  Schwierigkeiten  dieser 
Lage  verkennen,  welche  sich  be merklich  macht  in  den  hohen  Pacht- 
preisen, in  der  Konkurrenz  der  Pächter,  im  allmählicheti  Rückgange 
der  Verhältnisse  der  Ackerbautreibenden,  in  der  häufigen  Arbeits- 
losigkeit und  im  Sinken  des  Taglohns  der  Landarbeiter.  So  lange 
der  Klein-Grundbesitz  und  der  Kleinbetrieb  in  der  Landwirtschaft 
noch  als  der  Ausdruck  einer  normalen  Thatsache  betraclitet  werden 
konnten,  als  das  Anzeichen  eines  gewissen  gleichmäfsigen  Wohl- 
standes, solange  das  Zusammenwirken  der  landwirtschaftliclien  und 
der  gewerblichen  Thätigkeit  andauernd  seinen  wohlthätigcn  Eintiufs 
übte,  konnte  man  die  MiCsstande  dieses  Systems  übersehen,  konnte 


')  Arrivabene,  Svr  b  conditiont  des  laboureon  d  de»  oavrier»  beiges. 
Brax.  1845,  &  4^ 

6* 


uiyiiizied  by  Google 


84 


Emil  VanderTelde, 


man  seine  guten  Seiten  sogar  übertreiben  und  e«;,  anscheinend  mit 
Recht,  als  Muster  hinstellen.  Seitdem  aber  die  Grundeigentümer, 
zwecks  Erhöhung  ihres  Kinkonimcns,  fortL^csetzt  ihre  Ländereien 
zerstückeln,  seitdem  der  Verfall  der  Leinenindustrie  dem  kleinen 
Ackerbauer  seine  beste  Einkommensquelle  genommen,  seitdem  die 
Karte »ffelkrankheit  andauernd  wütet  und  sogar  ernstlich  die  P'xistenz 
der  Bedauernswerten  bedroht,  welche  wohl  oder  übel  auf  den 
Anbau  des  Knollengewächses  angewiesen  sind,  wird  es  immer 
dringlicher,  auf  Mittel  zu  sinnen  zur  Wiederherstellung  des  richtigen 
Verhältnisses  zwischen  dem  Umfange  des  Landwirtschafisbetriebes 
und  der  zur  Bewältigung  seiner  Arbeiten  erforderlichen  Kräfte,  und 
somit  zur  Erhöhung  des  Lohnes  der  Landarbeiter,  welche  diesen 
erm<%licht,  ihren  notwendigsten  Bedürfnissen  zu  genügen." 

Es  äufserte  si(  h  also,  kurz  gesc^,  in  jener  Zeit  der  EinfluGä 
der  Städte  auf  das  Land  in  der  Verteuerung  der  landwirtschaftlichen 
Erzeugnisse,  in  der  Steigerung  des  Pachtzinses  und  in  der  Ver- 
nichtung der  alten  IVoduktionsformen  durch  die  Maschinenindustrie. 

Vergleicht  man  die  damalige  La.^c  der  Landwirtschaft  mit  ihrer 
jetzigen,  die  Klagen  Ducpetiaux'  über  die  \'erhältnis<e  der  Land- 
arbeiter mit  denen  unserer  heutigen  Landwirte  über  ihre  eigene 
Lage,  so  läfst  sich  ein  stärkerer  Gegensatz  kaum  denken. 

Im  Jahre  1853  litt  die  gesamte  Bi  völkcrung  unter  dem  Steigen 
der  Rente,  ausschliefslich  zu  Gunsten  der  (irundeigentümer,  während 
diese  gegenwärtig  unter  der  Bodenentwertung  und  dem  Sinken  des 
Pachtzinses  seufzen. 

Heute  jammert  man  über  das  Heruntergehen  der  Preise  und 
die  Ueberflutung  init  ausländischem  Getreide:  vor  fünfzig  Jahren 
dagegen  entsetzte  sich  der  Pinanzminister  über  den  Ausfall  in  unseren 
Ernten. ' ) 

Man  klagt  darüber,  dal's  die  Zahl  der  ländlichen  Arbeiter  immer 
geringer  wird,  dafs  es  fast  unmöglich  ist,  brauchbare  Ackerknechte 

')  „Von  1830  bis  1839  betru«:;  unsere  Einfuhr  an  Getrcidr  (Koggen  und  Weizen) 
durchschniUltch  41  Millionen  im  Juhr;  von  1840  bis  1832  ist  dieser  Dorehschnitt 
auf  jührlicli  loz  Millionen  Hektoliter  gestiegen." 

„Wenn  unter  friedlichen  VerhSltnisscn  die  Bevölkemng  Belgiens  fortführt,  in 
demselben  Verhältnis  wie  bisher  zuzunehmen,  so  wird  in  noch  nicht  zehn  Jahren 
der  Ausfall  in  luis'-n  n  r,t  (!ri(l.-.  rnten  —  icli  \v.\-^r  iVu-  ZilTer  kaum  au!.zuprcchcn  — 
unt;<  f'älir  2  MilHuueo  lltkiulitcr  li>-tragrn.  Icli  bleib.'  noch  iintrr  der  eijjenüichen 
Ziffer,  damit  meine  Angabe  niclit  bvstriucn  worden  kann."  (Annales  parlementaires. 
Chambrc  des  Representants.    25.  Novcmbn-  1S53.) 


Digitized  by  Google 


Ein  Kapitel  zur  Aufsaugung  dcü  Laadcä  durch  die  SUdt. 


85 


ZU  finden,  da&  die  Arbeiter  immer  mehr  nach  den  Städten  und 
den  Industrieorten  ziehen.  Ftinfundachtzig  bis  neunzigtausend  auf 
dem  Lande  wohnende  Arbeiter  fahren  jeden  Morgen  mit  der  Eisen« 
bahn  nach  Brüssel,  Lüttich,  Antwerpen,  Charleroy  und  anderen 
Plätzen.  Vom  Frühjahr  bis  in  den  Winter  hinein  überziehen  Tausende 
von  Flamändem  —  als  Schnitter,  Ziegeleiarbeiter,  Erdarbeiter» 
Zuckerrüben-Arbeiter  —  die  ganze  Wallonei,  die  Departements  des 
nördlichen  und  selbst  des  mittleren  Frankreichs,  alle  Gegenden,  wo 
sie  Lebensunterhalt  für  die  schlechte  Jahreszeit  zu  finden  hoffen. 
Es  scheint,  als  ob  dieser  „Nomadentrieb"  den  Belgiern  überhaupt 
und  den  Flamändem  insbesondere  angeboren  sei,  während  Ducp^tiaux 
in  seinem  „Memoire  sur  le  paup^^isme  des  Flandres"  im  Gegenteil 
als  ihre  wesentliche  Eigentümlichkeit  betrachtet  ihren  „Hang  zur 
Abschliefsung",  ihren  „Widerwillen,  ihren  Aufenthaltsort  zu  wechseln", 
ihre  „Neigung  zur  Selshaftigkeit",  welche  sie  unter  allen  Umstanden  . 
an  den  heimatlichen  Boden  fesseln.') 

Um  diese  Leute  in  Nomaden  zu  verwandeln,  diese  Arbeiter» 
welche  ihren  Arbeitsvertrag  nach  einigen  Tagen  der  Abwesenheit 
von  ihrer  Heimat  brachen,  war  nichts  Geringeres  erforderlich,  als 
eine  voll  ige  Umwälzung  des  alten  Landwirtschaftsbetriebes. 

Und  diese  rnuviil/uiiL,"  ti  ;it  ein,  als  die  Konkurrenz  der  städtischen 
Industrie  auf  dem  I^iiidc  die  Leinetiiiidustrie  und  andere  Neben- 
i£e\vcrbe  der  Landwirtseliaft  verniclitete. 

o 


')  „Merkt  der  englische  odt-r  (Iputsclu-  Arlicitcr,  dafs  es  rail  seiner  Bescliäftigung 
immer  weniger  wird  und  die  Not  an  ihn  herantritt,  dann  Mcht  er  der  Gefahr  durch 
Ergreifmig  eines  anderen  Erwerfasxweiges  ansniweichen :  er  sucht  anderwärts  nach 
der  BeachiAigang,  welche  an  seinen  gegenwirtigen  Aufenthaltsorte  aufzuhören  be- 
ginnft,  er  sinnt  nach,  wie  er  sidi  wohl  aus  der  Verlegenheit  ziehe,  er  lübnpft  bis 
zoB  letzten  Augenblick.   Der  flänuschc  Arbeiter  dagegen  unterwirft  sich  an  seinem 
einmal  gewählten  Aufenthalt  den  härtesten  Entbehrungen:  ohne  irgendwie  seine 
Lebensgewohnheiten  zu  verändern ,  beschränkt  er  >irh  mehr  und  mehr  in  seiner 
diirftipen  Kost;   er  unterliegt,  ein  Opfer  dos  Sich^rlicnlassens,  srinrr  Umgebung, 
ohne   jeden  Versudi,   sie  zu  wechseln.     I  tul   käme   er  wirklich  auf  di--  Idee,  seine 
I>ieiistc  in  einer  anderen  l'rcjviiu,   in  einem  anderen  i,an<le  anzubieten,  so  hindert 
ihn  an  ihrer  Austiihrung  zumeist  die  Verschiedenheit  der  Sprache,  oder,  wenn  ihn 
dies  nicht  bindertt  zieht  ihn  die  Erinnerung  an  sein  Dorf,  seine  Familie,  das  Hehn» 
web  bald  wieder  nach  Hause.  Man  hat  den  Versuch  gemacht,  bei  Erdarbeiten  aufser- 
halb  Flandcms  flämiaehe  Arbeiter  anzustellen:  sie  haben,  dner  nach  dem  andern, 
auf  die  gebotenen  Vorteile  versiditet  und  sind  lieber  tarn  Elend  ihrer  beimstlichcn 
Hfttte  nvildigekehit". 


Digitized  by  Google 


86 


Emil  Vandervelde, 


n.  Die  industrielle  Umwälzung  auf  dem  Lande. 

Wie  aus  den  Zusamineiistellunfjen  ersichtlich,  welche  vom 
Dc|>ariement  des  Innern  im  „Munitcur  Beige"  vom  13.  Mai  1846 
vemtientlicht  wurden,  betrug  die  Zahl  der  in  den  verschiedenen 
Zweigen  der  Lcinenindustrie  im  Jahre  1843  beschäftigten  Personen 
jeden  Alters  und  beiderlei  (ieschleclUs  328249.  Nach  den  bezüg- 
lichen Angaben,  welche  vier  Provinzen  umfafsten ,  die  beiden 
Flandern,  Hennegau  und  Brabant,  bestand  diese  Zahl  aus 

57821  Webern 

194091  Spinnerinnen 
76  ;  ^7  Flachspochem  und  Hccblem 
zusammen  328249 

Fast  alle  dieser  Arbeiter  wohnten  auf  dem  Lande  und  ver» 
banden  mit  ihrer  Beschäftigung  den  Adcerbau.  Der  Boden 
lieferte  den  Rohstoff,  sämtliche  Familienmitglieder  wirkten  bei 
den  verschiedenen  Bearbeitungen  des  Flachses  mit  Die  Arbeiten 
wechselten:  Das  Familienhaupt  ging  von  der  Bebauung  seines 
Feldes  zu  seinem  Handwerk  über,  die  Hausmutter  verliels  ihr 
Spinnrad,  um  den  Anforderui^en  des  Fbushaltes  zu  entsprechen; 
jeder  hatte  seine  Aufgabe  und  kein  Augenblick  ging  verloren.  Aus 
dem  Erlöse  des  verkauften  Garns  und  der  verkauften  Leinwand 
konnten  Miete  und  Steuern  bestritten  werden.  ,J3ie  ländliche  Klein- 
wirtschaft verbunden  mit  Spinnen  und  Weben"  sagt  Ducp^tiaux, 
„galt  in  aller  Augen  als  der  Ausdruck  eines  Systems,  das  man 
anderen  Nationen  als  Vorbild  hinstellte". 

Man  kann  wohl  sagen,  dafs  von  diesem  Systeme  nur  noch  un- 
bedeutende Ueberbleibsel  vorhanden  sind.  Wer  die  früheren 
Spinnerinnen  wieder  aufleben  sehen  möchte,  würde  ebensowenig 
wie  John  Ruskin  in  Westmoreland  bei  uns  auf  dem  Lande  noch 
ein  Spinnrad  finden.  Die  letzten  Handweber  dürften  bald  ver- 
schwinden. Bei  der  letzten,  schon  sehr  \enilteten  Gewerbezählung 
(1880)  gab  es  nur  noch  35792  in  der  Leinenindustrie  beschäftigte 
Personen  —  zehnmal  weniger  als  vierzig  Jahre  früher ;  davon  waren 
17060  Fabrikarbeiter  und  -arbeiterinnen  und  nur  18732  Heim- 
arbeiter. 

Was  die  übrigen  anlangt,  oder  ihre  Nachkommen  —  welche 
genötigt  waren,  auswärts  den  Lebensunterhalt  zu  suchen,  den  sie 
nicht  mehr  zu  Hause  landen,  so  arbeiten  die  dnen  jetzt  in  den 


Digitize<j  Lj 


Ein  Kapitel  zur  Aufsaugung  des  Landes  durch  die  Stadt. 


Fabrikstädten,  andere  haben  die  Kundschaft  der  reichen  Armen- 
unterstützungskassen in  Ypem,  firugge  und  Oudenarde  vermehrt, 
andere  wieder  kommen  alltäglich  aus  dem  Herzen  Flanderns,  oder 
bilden  auch  förmliche  Kolonien  in  Wallonien,  um  in  den  Kohlen« 
bergwerken  des  Hennegau  zu  arbeiten;^)  die  allermeisten  endlich 
bSden  das  Hauptkontingent  jener  grofsen  Affoeiterarmee,  welche 
jedes  Jahr  nach  Frankreich  und  Luxemburg  zieht 

Es  ergiebt  sich  dies  mit  aller  Gewifsheit  aus  den  Sutistiken, 
wekhe  vom  Departement  des  Innern  geliefert  werden:  die  Arron- 
dissements  des  Landes»  welche  die  grölste  Anzahl  ländlicher  Arbeiter 
in  die  Fremde  senden,  sind  Alost,  Gent,  Termonde,  Oudenarde 
und  Ath,  d.  h.  also  jene,  welche  vor  fünfzig  Jahren  die  Hauptsitze 
der  Leinenindustrie  bildeten. 

Ebenso  ist  es  in  Deutschland,  wo  Solinrey  gleichfalls  den  Xieder- 
gang^  der  }  landwchcrei  als  eine  der  Hauptursachen  der  Wanderung 
aus  den  I^andbezirken  ansieht. 

Es  sind  also,  wenigstens  zu  Beginn  der  kapitalistischen  L'ni- 
wälzung,  nicht  die  Städte,  welche  die  ländlichen  Arbeiter  anziehen, 
sondern  das  Land  stöfst  sie  von  sich,  leitet  seine  iiberschüssige  Be- 
völkerung nach  den  Städten  und  Industriegegenden  ab. 

Dieser  Ueberschufs  ist  indessen  ein  durchaus  relativer.  Er  rührt 
her  aus  der  Veräufserung  der  Gemeindeländereien,  der  übermäfsigen 
Konzentration  oder  Zerstückelung  des  Grundeigentums,  aus  der  Ver- 
nichtung der  landwirtschaftlichen  Xebengewerbe. 

Alle  diese  VV'andlungen  aber  haben  im  letzten  Grunde  ein  und 
dieselbe  Ursache :  die  Einwirkung  der  Städte,  deren  Bewohner  das 
ländliche  Grundeigentum  erwerben  und  deren  Fabriken  die  alther- 
gebrachten Formen  der  Produktion  zerstörten,  welche  noch  auf 
dem  Lande  fortlebten. 

Wer  der  Ansicht  ist,  dals  die  Landwirtschaft  vom  Kapitalismus 
nur  wenig  beeinflufst  werde,  übersieht,  dals  allmählich  sämtliche 

M  In  der  Ortschaft  Taillis-Prf^  bei  Charlrroy  ist  dio  flämisch«*  Revölkemiig  ao 
•luk,  dafs  in  der  dortigi-n  Kirch»'  jeden  Sountag  fliimisch  gepredigt  wird. 

Die  flämischen  Arbeiter  aus  dem  Arrondisscment  Alost  und  dem  Süden  des 
Ammdissementä  Brüssel,  welche  alltäglich  zur  Arbeit  in  den  Kohlen  werken  mu- 
iMmb,  wendcD  sich  vonricgend  nach  den  Graben  des  Zentrums,  wo  die 'Arbeits* 
kiille  knapper  sa  wcfden  beginnen:  ein  pofser  Tdl  der  Grabenubeiter  nfanlicb, 
«dchen  ihr  Beraf  zu  mühsam  erschemt,  lassen  ihre  Kinder  HOttenarbeiter,  Kon- 
toriMen  n.  t.  w.  werden. 


Digitized  by  Google 


88 


Emil  Vandervelde, 


ZwcIljc,  welche  früher  zu  einem  Ackerbaubelricbc  gehörten,  sich 
von  dein  1  laujastaininc  sondern,  um  Industrieen  für  sich  zu  bilden. 

So  brauten  vor  fünfzig  Jahren  fast  sämtliche  I^ndwirte  ihr 
Bier  selbst;  an  diese  patriarchalische  Proiiuktion  erinnern  heute  nur 
noch  der  wilde  I  lopfen,  welchen  man  noch  öfters  in  den  Hecken 
im  wallonischen  Brabant  antrifft. 

Um  das  Jahr  1835  war  dicP  amilien-Destillalion  noch  im  Schwunj^e; 
man  zählte  damals  über  2000  ländliche  Destillationen:  nach  einer 
vor  kurzem  [niblizierten  Statistik  i^iebt  es  ihrer  nur  noch  hundert. 
Die  übrigen  sind  durch  ein  Dutzend  Grofsdestillationen  ersetzt, 
welche  nur  in  den  grofsen  Städten  betrieben  werden  und  ein  that- 
sächliches  Monopol  ausüljen. 

Die  belgische  Regierung  hat  zwar  vor  nicht  langer  Zeit  den 
Versuch  gemacht,  das  ländliche  Destillationsgewerbe  wieder  datlurch 
aufleben  zu  lassen,  dafs  man  den  lienossenschaflsdestillationen  \oii 
Landwirten  beträchtliche  Steuererleichterungen  bewilligte.  Allein 
die  iiulustriellen  Destillateure  haben  ein  Mittel  gefunden,  sich  tlie 
Wohlthaten  des  fraglichen  desetzes  zunutze  zu  machen:  sie  grün- 
deten, wie  der  Finanzminister  selbst  bestätigte,  aus  Strohmännern 
bestehende  Pseudo-ljenossenschaften.  in  denen  sie  durch  Zeichnung 
des  ganzen  Kapitals  die  gesamte  Leitung  und  alle  F^rträgnisse  in 
ihre  ilände  bekommen.  So  geschieht  es,  dafs  die  ländlichen 
Destillateure,  welche  nunmehr  gegen  die  falschen  Genossenschaften 
und  gleichzeitig  gegen  die  unüberwindliche  Dreiheit  der  Hefenhändler, 
der  Zuckersieder  und  der  Kornbrenner  zu  kämpfen  haben,  nur  noch 
rascher  vom  Schauplatz  verschwinden  als  zuvor! 

Dieser  unaufhaltsame  \' erfall  der  mit  dem  Ackerbau  verknüpften 
Industrie  des  Landwirtes  und  des  häuslichen  Herdes  zeigt  sich 
in  allen  Produktionszweigen  und  zeitigt  stets  das  Ergebnis,  dafs  er 
die  kleinen  Ackerbauer  und  die  ländlichen  Handwerker,  denen  ihre 
Produktionsmittel  genommen  sind,  in  umherziehende  oder  industrielle 
Aibeiter  verwandelt. 

Was  sich  in  Flandern  in  der  Leinenindustrie  vollzogen,  vollzieht 
dch  zur  Zeit  in  der  Lütticher  Gegend  in  der  Waffenschmiedekunst, 
und  anderwärts  bei  den  Holzschuhmachem. 

Die  Messerschmiede  aus  der  Umgegend  von  Gembloux,  welche 
früher  aeben  ihrem  Gewerbe  einen  kleinen  Grundbesitz  bebauten, 
sind  umherziehende  Arbeiter  geworden;  seitdem  es  mit  der  Messer» 
schmiede  nichts  mehr  ist,  lassen  sie  sich  in  den  Zuckerfabriken 
zum  Schleifen  der  Rübenmesser  anstellen. 


Ein  Kapitel  nur  AnfsanguDg  des  I^andes  durch  die  Stadt. 


«9 


Die  Weber  des  Lasnethals  —  in  Ohain,  Plancenoit,  Rixensart  — 
sind  seit  der  Einfuhrung  mechanischer  Webstühle  in  Braine  crAlleud 
Maurer  und  Stuckarbeiter  geworden  und  gehen  alltäglich  zur  Arbeit 
nach  Brüssel. 

Ebenso  gin^  es  mit  einer  Menge  von  Bretschnetdem ,  seitdem 
man  ambulante  Dampfsägen  anwendet 

Desgleichen  —  und  wir  kennen  kaum  noch  ein  ebenso  sciiiagcn« 
des  Beispiel  einer  vom  Kapitalismus  vernichteten  lokalen  Industrie  — 
mit  den  Strohhutmachcrn  des  Geerthales  (Lüttich  und  Limburg). 

Zur  Zeit,  als  K.  de  Lavelcye  diese  Industrie  in  seinem  Berichte 
über  die  belgische  I^ndwirtschaft  auf  der  Pariser  Weltausstellung 
1879)  beschrieb,  befand  sie  sicli  noch  in  voller  Blüte,  hatte  noch  einen 
Umsatz  von  sechs  bis  sieben  Millionen,  war  auf  unf^^eOilir  zwanzig 
Ortschaften  verteilt  und  ruhte  auf  der  natürlichen  Basis  der  geolo- 
{jischen  Bodenbeschaffenheit  und  den  besonderen  Verhältnissen  der 
Bebauung:  „Der  Kreideboden  von  Macstricht,  weicher  sich  in  das 
Geerl>ecken  erstreckt,  verleiht  floni  (ictrcidestroh  gewisse  besondere 
Eigenscliaften :  W'eichheit,  Festigkeit,  und  vor  allem  eine  Weifse, 
welche,  wie  man  sagt,  nirgends  sonst  im  selben  Cirade  erzielt  werden 
kann." 

Vor  ungefähr  zwanzig  Jahren  also  war  die  Hutindustrie  dieser 
Gegend  unmittelbar  mit  der  landwirtschaftlichen  Thätigkeit  ver- 
knüpft :  die  .Arbeiterfamilien  besorgten  sich  das  .Stroh  des  Dinkels, 
dessen  Halm  sie  vorzugsweise  zum  Flechten  verwendeten ,  in  den 
(iehöficn  der  Umgegend  oder  bauten  es  selbst  auf  gepachteten 
Grundstücken.  Kinder,  Mädchen  und  I-'raucn  besorgten  das  bleclitcn, 
entweder  beim  Hüten  der  Kühe,  oder  zu  Hause  beim  Besorgen  des 
Haushalts,  oder  ,,a  rsize",  des  .Abends,  wo  die  Flrchtciinnen  sich 
in  grölserer  Anzahl  in  ein  und  dasselbe  Haus  begaben,  um  dort 
ihrer  .Arbeit  geiiiein>ain  obzuliegen.  1  >ie  Hutmacher,  d.  h.  fast 
.Amtliche  leistungsUihigen  Männer,  reisten  nach  den  Hauptstädten 
Kuropas,  wo  sie  (la>  blechtwerk ,  welches  ihnen  von  (dons, 
Roclange  oder  einem  anderen  Dorfe  ihres  Hcimatthals  gesandt 
wurde,  dem  lokalen  (ieschmack  entsprecliend  /.usainniennähteii  und 
staffierten.  Kurzum,  .Ackerbau,  h'icchten  un<l  Hutmachen  bildeten 
damals  ein  (ianzes,  dessen  einzelne  Thätigkeiten  eng  miteinander 
verknüpft  waren. 

Heute  ist  die  Arbeitsorganisation  im  deerthale  unter  dem 
wachsenden  FiTitlu,-se  des  Kapitalismus  in  xoller  Auflösung  l)egriffen. 
Ganz  zu  Anfang,  um  1880,  machten  sich  infolge  der  Einführung 


90 


Emil  Vandervelde, 


des  Maschioennähens  \dele  Mädchen  im  Alter  von  15  bb  20  Jahren 
und  bis  zu  ihrer  Verheiratungr  auf  die  Wanderschaft  und  traten  an 
die  Stelle  der  Manner  in  den  Hutfabriken.  Wie  man  uns  berichtete, 
ziehen  aus  manchen  Orten,  z.  B.  aus  Rodange,  25%  der  Mädchen, 
von  Stellenvermittlern  gemietet,  alljährlich  nach  Paris,  Brüssel  und 
anderen  Städten.  Einige  bleiben  dort  und  verkommen,  andere  reisen 
allein  hin  und  kehren,  wie  man  sagt,  bald  zu  zweien  zurück.  Alle 
brii^n  in  diese  verlorene  Ecke  Limburgs  Sitten,  Gewohnheiten  und 
Kleidung  der  Pariser  Arbeiterinnen  mit  zurück.  Es  macht  einen 
sonderbaren  Eindruck,  wenn  man  an  Sonnt^en  auf  dem  Plane  von 
Roclange-la-Belle  eine  Menge  fein  geputzter  junger  Mädchen  be- 
merkt ,  deren  Gewand  merkwürdig  gegen  das  der  Bäuerinnen  der 
Umgegend  absticht 

Was  die  männlichen  Arbeiter  betrifft,  welche  durch  die  jungen 
Mädchen  ersetzt  wurden,  so  sind  tlie  einen  in  Industriebetriebe  ein- 
getreten, andere  arbeiten  bei  den  Gemüsegärtnern  in  der  Umgebung 
Lüttichs,  andere  wieder  sind  dadurch,  dafs  Frauen  die  Arbeit  der 
Männer  besorgen,  genötigt,  die  Arbeit  der  Frauen  zu  verrichten, 
und  beschäftigen  sich  gegen  lächerlich  geringen  Lohn  mit  dem  Flechten 
des  Strohs. 

Und  selbst  diese  jämmerliche  Einnahmequelle  wird  ihnen  bald 
genommen  sein:  die  althergebrachte,  seit  einem  Vierteljahrhundert 
immer  in  derselt>en  Weise  betriebene  Strohflechtindustrie  verschwindet 
mehr  und  mehr  vor  dem  Wettbewerb  Japans,  Chinas  und  Italiens. 
Sämtliche  Kaufleute  des  Geerthales,  mit  einer  einzigen  Ausnahme 
fast,  führen  nur  noch  einen  Verkauisartikel ,  die  blofsen  „sieben 
Enden",  d.  h.  das  Geflecht  aus  sieben  Strohhalmen.  ¥.s  braucht 
eines  der  Konkurrenzländer  nur  das  Mittel  zu  finden,  die  „sieben 
Enden"  nachzuahmen,  und  die  ortliche  Industrie  hat  aufgehört  zu 
existieren. 

Während  das  Flechten  zu  verschwinden  be<::^innt,  fangt  die 
kapitalistische  Hutfabrikation  an,  ach  im  Gccrtlialc  einzurichten. 
Um  die  von  den  Hutarbeitern  erworbene  Fertigkeit  an  Ort  und 
Stelle  zu  nutzen,  haben  neuerlich  mehrere  Unternehmer  Hutfabriken 
in  Roclange  und  anderen  Nachbarorten  gegründet.  Bezeichnender- 
weise aber  verwenden  diese  Fabriken  das  am  Orte  gearbeitete  Flecht- 
werk gar  nicht  und  nur  in  geringem  Mafse.  Sie  finden  es  vorteil- 
hafter, die  von  Japan  oder  China  gelieferten  Rohstoffe  zu  verarbeiten, 
während  die  „sieben  Enden"  der  örtlichen  Industrie  vorwiegend 
nach  den  X'^ereinigten  Staaten  exportiert  werden. 


Digitized  by  Google 


Ein  Kapitel  zur  Aufuugang  des  Laude»  durch  die  Stadt. 


91 


Kurzum,  die  Rtickentwicklung  ist  dne  vollständige:  Weide- 
flächen  treten  an  Stelle  der  Dinkelfelder,  die  Maschinen  verringern 
die  Zahl  der  Hutmacher,  die  beschäftigungslosen  Arbeiter  mehren 
die  Ueberproduktion  des  Flechtwerks  und  drttcken  die  Lohne;  mit 
einem  Worte,  in  der  Strohhutindustrie,  wie  in  der  Textilindustrie 
und  in  den  übrigen  ländlichen  Industrieen  macht  die  Arbeit  am  häus- 
lichen Herde  der  kapitalistischen  Produktion  Platz,  und  eine  Menge 
von  Arbeitern  ohne  Beschäftigung  werden  in  die  Industrieplätze 
oder  doch  in  Gewerbe  getrieben,  die  sich  von  der  Landwirtschaft 
völlig  abgesondert  haben. 

Man  gelangt  also  zu  dem  Resultat,  dafs  die  industrielle  Revolution 
das  Werk  vervollständigt,  das  mit  der  Veräufserung  der  Gremeinde- 
ländereien  und  der  Aufhebung  der  Nutzungsrechte,  vordem  die 
Stütze  der  kleinen  ländlichen  Wirtschaften,  einst  begonnen. 

Zu  Bq;inn  des  kapitalistischen  Regimes  —  wir  beziehen  uns 
hier  auf  die  berühmte  Schilderung  in  Marxs  „Kapital"  —  war  es  die 
brutale  Besitzentsetzung  der  Landleute,  welche  den  Industriellen 
billige  Arbeitskräfte  lieferten:  man  vertrieb  die  Pächter  (dearing 
of  estates)  und  eignete  sich  zu  Unrecht  die  Gemeindeländereien  an 
(inclosure  of  commons).  Heutzutage  zeitigst  die  technische  Ent- 
wicklung der  Industrie  und  der  Landwirtschaft,  sozusagen,  automa- 
tisch dieselben  Resultate:  die  alten  ländlichen  Gewerbe  verschwinden, 
die  neuen  Industrieen,  welche  auf  dem  Lande  entstehen,  —  Zucker- 
&briken,  Zichorienfebriken,  Dampfmolkereien  u.  s.  w.  —  beschäftigen 
ein  Personal,  welches  nicht  mehr  dauernd  an  der  Bebauung  des 
Bodens  teilnimmt 

An  Stelle  von  während  des  ganzen  Jahres  beschäftigten  Ar- 
beitern besteht  die  ländliche  Bevölkerung  mehr  und  mehr  aus  einer 
kleinen  Anzahl  ständiger  Arbeiter,  denen  sich  zu  gewissen  Zeiten 
zahlreiche  Haufen  gelegentlicher  Arbeiter  zugesellen. 

In  der  Umgebung  von  Städten  weicht  die  gewöhnliche  Boden- 
kultur zurück,  um  Weiden  und  Aufforstungen  Platz  zu  machen. 
Die  landwirtschaftlichen  Maschinen  verringern  die  notwendige  Ar- 
böterzahl,  oder  sie  füllen,  was  noch  häufiger,  die  von  der  An- 
ziehungskraft der  »^Tofscii  Zentren  geschaffenen  Lücken  aus,  denn  in 
dieser  vielseitigen  L'nij^estaltunf^  verwickeln  sich  L'r^achi-n  und 
Wirkungen.  Wenn  die  ländlichen  Arbeiter  und  die  kleinen  Land- 
wirte anfangs  sich  genötigt  sahen,  Beschäftigung  in  der  Stadt  zu 
suchen,  da  sie  zu  Hause  keinen  hinreichenden  L'nterhalt  fanden,  so 
bilden  heute  zweifellos  die  Leichtigkeit  des  Verkehrs,  der  Köder 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


92 


Emil  VanderTelde» 


der  höheren  Löhne,  das  ansteckende  Beispiel,  die  krankhafte  Schwäche 
für  das  geräuschvolle  städtische  Treiben  wesentliche  Faktoren  der 
Wanderung  aus  den  Landbezirken. 

Die  Städte  mit  ihren  Fühlern  saugen  nicht  nur  immer  mehr 
die  Ueberfölle  des  Landes  auf,  sondern  nehmen  der  Landwirtschaft 
auch  die  Arbeitskräfte,  welche  sie  unbedingt  nötig  hat 

Und  so  wird  allerwärts  in  der  Umgebung  der  grofsen  Städte 
die  landwirtschaftliche  Bevölkerung  .schwächer  und  schwächer,  mehr 
und  mehr  ändert  sich  die  herkömmliche  Bebauung  des  Bodens, 
mehr  und  mehr  endlich  schwindet  der  bäuerliche  Wohlstand,  um 
dem  Gedeihen  der  Parzellenwirtschaft,  des  Kapitalismus  Platz  zu 
machen. 

III.  Die  Abnahme  der  landbautreibenden  Bevölkerung. 

Der  Rück^an^  der  landbautreibenden  Bevölkerungszahl  Belgiens 
war  bis  1880  ein  lediglich  relativer;  seit  diesem  Jahr  ist  er  dn 
absoluter. 

Die-  X'olk^zälilun^  \<ni  1846  cr^ah  die  Zahl  von  1  0S3601 
ständig  in  den  landwirtscliaftlirhen  Arbeiten  lieschäftigten  Personen, 
gleich  24.98",,  der  ^ icsainthcx olkcrung.  1880  betrug  diese  ZilYer 
1  ir)<)3lo  oder  21,77",,.  Aber  auch  diese  geringfügige  Krhöluing 
der  absohlten  Ziffer  der  landwirtschafthchen  liexolkerung  liat  htiupt- 
sächhch  ihren  firund  in  der  Zuiiahnu-  tler  in  der  Landwirtschaft  be- 
schäftigten brauen,  deren  Anzahl  1846  425731  und  1880  527684 
betrug. 

Die  männliche  landbautreibende  lk\ölkerung  dagegen  hat  in 
dieser  Zeit  nur  sehr  wenig  zugenommen;  sie  betrug  1846  657  870 
und  18S0  671435  Personen.  Und  inneriialb  dieser  männlichen  He- 
\olkirung  i>t  tun*  dii"  Zahl  der  Arbeiter  gestiegen;  die  der  mit 
landwirtsciiaftlichen  .Arbeiten  beschäftigten  i'amilicnmitglieder  hat 
merklich  abgenommen,    hs  betrug 


Diese  Erscheinung  tritt  namentlich  in  den  beiden  grofsen  In- 
dustrieprovinzen Lüttich  und  Hennegau  zutage.   Es  betrug 


1846 
1880 


die  Zahl  der  Familienglieder 

550567 
519673 


der  Arbeiter 


107303 
141 76» 


Digitized  by  Google 


Ein  Kapitel  zur  Aafsaugung  des  Landes  durch  die  SUdt, 


93 


die  Znlil  der  Faniliengliedcr 


der  Arbeiter 


ia  Ldttich 


m  licnnegau 


ItSSo 


11846 
»1880 


37361 
30868 

886t6 
59817 


7J64 
10093 

12403 
16433 


Es  äufeerte  sich  also  während  der  Zeit  von  1846  bis  1880 
—  d.  h.  vor  dem  Niedergang  der  Preise  —  der  Einflufs  der  in- 
dustriellen und  städtischen  Entwicklung  auf  die  ackerbautreibenden 
Bevölkerung  in  der  Zunahme  der  Frauen  und  der  Proletarier,  sowie 
in  der  Abnahme  der  Anzahl  selbständiger  Landwirte. 

Seit  dieser  Zeit  ist  die  gesamte  landbautreibende  Bevölkerung 
in  rascher  Abnahme  begriffen.  Wir  besitzen  in  dieser  Hinsicht 
noch  keine  genauen  Ziffern,  da  der  betreffende  Teil  der  Ergebnisse 
der  Zahlung  von  1895  noch  nicht  erschienen  ist  Aber  schon  die 
Zahlung  von  1890  belehrt  uns,  dafs  es  in  diesem  Jahre  nur  noch 
eine  Million  ständig  in  der  Landwirtschaft  beschäftigter  Personen 
statt  der  früheren  zwölf  Hunderttausend  gab,  also  16,52  "  „  der  Ge« 
Samtbevölkerung,  ungefähr  ein  Drittel  der  Erwerbsthätigen.')  Diese 
Schätzung  entspricht  übrigens  auch  den  unlängst  veröffentlichten 
Angaben  der  ,3tatisti(iue  generale"  über  ,^e  Berufe  der  Wähler 
der  Abgeordnetenkammer  fär  die  Wahlen  von  1893"  [1S96). 

Nach  dieser  Zusammenstellung  repräsentieren  sogar  die  den 
landwirtschaftlichen  Berufen  angehörenden  Wähler  weniger  als  ein 
Drittel  der  gesamten  Wähler:  428952  von  1404823. 

Trotz  dieser  beträchtlichen  Abnahme  der  Landwirte  und  im 
Gegensatz  zu  dem,  was  in  anderen  Ländern  vorgeht,  nimmt  die 
Bevölkerung  unserer  Landbezirke  fortgesetzt  zu,  abgesehen  von 
einigen  Ciegenden,  wo  die  relativ  wenig  entwickelten  Transport- 
mittel den  Arbeitern  nicht  gestatten,  am  Abend  nach  Hause  zurück- 
zukehren, nachdem  sie  am  Ta^c  in  der  Stadt  gearbeitet  haben. 

Die  dem  „Annuaire  de  statistique"  für  1896  beige^^^ebenen 
Uebersichten  zeigen,  dafs  in  der  Zeit  zwischen  den  Zählungen  von 
1880  und  1890  die  Bevölkerung  pro  Quadratkilometer  in  allen 
Arroftdissements  zugenommen  hat,  mit  Ausnahme  von  Xeufchäteau. 


der  Mxbcu  crichicucuc  dritte  Üanci  il.  r  I  r^;il»m>sf  der  Undwirtx  h.iltlii'hcu  Zahlung 
die  obige  Annahme  nicht  besitaii^t.  Nach  diocr  Publikation  betrug  die  landbau- 
treibende Bevölkening  itn  Jahre  1895  l  204810  Personen,  was  der  GesamtberölkenuiK 
gegcnfiber  ehie  Abmbme,  aber  eine  Zunahme  in  der  absolnten  Ziffer  bedeutet. 


Digitized  by  Google 


94 


Emil  Vandervelde, 


WO  der  Status  quo  geblieben,  und  von  Ath,  PhilippevUle  und  Virton, 
wo  eine  Abnahme  von  l — ^4  Einwohnern  pro  QuadratkUometer 
stattgefunden. 

Die  Zunahme  in  den  industriellen  Arrondissements  allerdii^ 
ist  weit  starker  (16—45  Einwohner  pro  Quadratkilometer)  und  vor 
allem  in  den  Arrondissements,  welche  eine  grolse  Stadt  zum  Mittel- 
punkte haben,  wie  Antwerpen  (96  Einwohner  und  darüber  pro 
Quadratkilometer),  Brüssel,  Lütticfa,  Charleroy  {go  bis  60  Einwohner 
und  darüber).  Indessen  beträgt  auch  in  den  landlichen  Arrondisse- 
ments, in  den  bereits  so  dicht  bevölkerten  Landbezirken  die  Zu- 
nahme meist  I— 15  Einwohner  pro  Quadratkilometer. 

Es  sind  dies  Verhältnisse,  welche  scharf  von  denen  der  meisten 
französischen  Departements  oder  der  ländlichen  Grafechaften  Eng- 
lands abstechen. 

In  Norfolk  z.  B.  kann  man  fünfundzwanzig  Kilometer  weit 
reisen,  ohne  auf  ein  bewohntes  Gehöft  zu  stolsen  (Anderson 
Graham). 

In  Frankreich  überstieg  1895  in  58  Departements  von  87  die 
Zahl  der  Todesfälle  jene  der  Geburten. 

Wenn  es  in  Belgien  anders  ist,  so  hat  dies,  wie  wir  glauben, 
ohne  die  Wirkung  anderer  Ursachen  zu  verkennen,  zum  Teil  darin 
seinen  Grund,  da(s  hier  die  Eisenbahnen  nicht  von  Pri\'atgesell- 
Schäften  im  Interesse  ihrer  Aktionäre,  sondern  vom  Staate  betrieben 
werden,  der.  wenigstens  in  einem  gewissen  Grade,  dem  allgemeinen 
Interesse  Rechnung  trägt. 

Der  belgische  Staat,  dessen  Kisenbahntarife  schon  zu  den  billig- 
sten Europas  zählen,  liefert  den  Arbeitern  Wochenkarten  für  sechs* 
malige  Hin-  und  Rückfahrt,  die  viel  weni£;;er  kosten,  als  eine  ein- 
malige Fahrt  nach  dem  gewöhnlirlu-n  Tarif.  Fiir  fünfzig  Kilometer 
z.  B.  kostet  die  Wochenkarte  des  Arbeiters  2  Fr.  2$  c,  während 
andere  Passagiere  3  I*r.  5  c  fiir  ihre  einzige  Rüddalirtkarte  dritter 
Klasse  bezahlen  müssen. 

L'nler  diesen  I  niständen  ist  es  ganz  natürlich,  wenn  Tausende 
vor.  .Arbeitern  —  im  laiirc  1807  wurden  2  69<i504  Wochenkarten 
verabfolgt  —  sich  zu  ihrem  X'oricil  tägiicli  \t'm  I  an  de  in  die  Städte 
begeben,  statt  sich  dauernd  in  diesen  niederzulassen. 

In  Frankreich  <la<^'egcn,  wo  die  Fisenbahni^esellschaften,  ad 
hierum  tariendum  f^ebildet.  selbst\ erstän<lli(  Ii  nicht  von  denselben 
>(.'/iaIen  Rücksichten  geleliel  werden  können,  wie  der  Staat,  sind 
die  Tarife  zu  hoch,  als  dal»  diese  täglichen  Orlsveränderungen  der 


Digitized  by  Google 


Ein  Kapitel  zur  Aufsaugung  des  Landen  durch  die  Stadt. 

Albeiter  im  grolseii  Maisstabe  mägfich  wäre.  Die  ländlichen  Ar* 
heiter,  welche  industrielle  werden,  strömen  in  die  armen  Stadt* 
viertel,  zum  Vorteil  des  „Monsieur  Vautour",  und  da  es  immer  die 
jüngsten,  die  thätigsten,  die  furchtlxursten  Elemente  sind,  welche 
dergestalt  wandern,  so  ergiebt  sich  iiir  die  Landbevölkerung  ein 
zwie&cher  Verlust:  Einmal  die  durch  ihren  Abzug  verursachten 
Lüdcen,  und  sodann,  da  fast  nur  die  Alten  in  den  Dörfern  bleiben, 
eine  beträchtliche  Verringerung  der  Geburten. 

tjyie  Wanderung  vom  Lande  in  die  Städte,"  sagt  Lannes, '} 
Jst  der  hauptsächliche,  der  mechanische  Grund  der  Abnahme  der 
Geburtszifier.  Alle  jungen  Leute,  die  ihr  Dorf  verbssen,  nehmen 
der  Landwirtschaft  nicht  nur  ihre  Arbeitskraft,  wie  es  allgemein 
heilst,  sie  rauben  auch  ihrem  Heimatsorte  ihre  besten  Fortpflanzungs- 
£dctoren.  Die  Lehrer,  welche  die  Personenstandsregister  fuhren, 
werden  nicht  müde,  zu  vernchern:  „aus  Zeitvertreib  werden  wohl 
noch  immer  im  Winter  ein  paar  Kinder  ^cljoren,  aber  es  sind  nur 
noch  alte  I«eute  im  Orte;  alle  jungen  sind  in  die  Stadt  gezogen." 

Man  könnte  hiemach  die  Ebenbahngesellschaften  als  eine  der 
Ursachen  der  Entvölkerung  Frankreichs  bezeichnen. 

Ebenso  ist  es  in  England,  trotz  der  „Cheap  trains  Act"  (1883), 
welche  die  Eisenbahngesellschaften  verpflichtet,  Arbeiterzüge  mit 
billigen  Fahrpreisen  einzurichten,  aber  nur  ungenügende  Resultate 
gezeitigt  hat.  Die  Städte  mit  ihren  Fühlern  bemächtigen  sich  des 
gröGseren  Teik  der  ländlichen  Bevölkerung. 

,J)ie  Zunahme  der  Bevölkerung  Londons,"  sagt  C.  H.  Denyer 
in  einem  kürzlich  erschienenen  Artikel,  „hat  ihre  Hauptursache  in 
der  Einwanderung  aus  den  Landdistrikten;  man  schätzt  die  Zahl 
der  Leute,  welche  alljährlich  anziehen,  auf  50000;  die  letzte 
Volksnhlung  zeigte,  6a£s  ein  Viertel  der  Londoner  Einwohner» 
Schaft  aufserhalb  seiner- Grenzen  geboren  war." 

In  dieser  ungeheueren  Menschenanhäufung,  von  derselben  Volks- 
zahl wie  das  gesamte  Belgien,  befördern  die  auf  Grund  der  Akte 
von  1883  eingerichteten  Arbeiterzuge  von  den  Aufsen^Stadtteilen 
ins  Zentrum  alltäglich  eine  kolossale  .Anzahl  von  Arbeitern.  Nach 
dem  Berichte  des  Londoner  Grafschaftsrates  vom  27.  Januar  1897 
hat  die  Zahl  der  für  die  „Workmen's  trains"  ausg^ebenen  Billete 
sich  von  7987877  im  Jahre  1887  auf  31074812  im  Jahre  1896 


')  Laancs,  IMiifliieiice  de  l*6nigntkm  des  campagnes  sur  la  lutalU^  des  ▼tllcs. 
(RcvM  pol.  et  pwlement  1895,  S.  335  ff.) 


Digitized  by  Google 


96 


L  m  i  1  \'  a  n  d  e  r  V  c  1  d  e , 


erhöht,  und  da  jedes  Billet  zwei  Fahrten  repräsentiert,  betrug  die 
Zahl  der  durch  die  Arbeiterzüge  1896  beförderten  Passagiere  mehr 
als  zweiundsechzig  Millionen. 

Dieser  riesige  X'erkchr  indessen  bewerkstelligt  sich  nur  inner- 
halb des  Bereiches  der  Metropole  und  ihrer  Vorstädte.  Aufscrhalb 
der  V^orstädte  Londons  begannt  unmittelbar  die  Einöde,  die  fast 
entvölkerte  Zone  der  Obstgärten  und  der  Weideflächen,  welche  ihr 
(irün,  mit  Eichen  bepflanzt,  ins  Unabsehbare  erstreckt.  Zur  Zeit 
der  Heuernte  nur  belebt  sich  diese  Gegend,  wenn  die  stadtischen 
Arbeiter,  die  "unemployed"  der  Metropole,  die  Irregulären  der  Dock- 
arbeit, zum  Heumachen  kommen,  ehe  sie  nach  Kent  zur  Hopfen- 
ernte  ziehen.  Es  kann  nichts  mehr  überraschen,  ab  der  Gegensatz 
der  menschenleeren  Parks  in  der  Umgebung  Londons  und  die  so 
dicht  bevölkerte  Nachbarschaft  der  grofsen  Städte  Belgiens. 

Rings  um  Brüssel  z.  B. ,  und  nrinicntlich  im  walloni.Nchcn 
Biali.inl  >inti  alle  liip^t'l  \on  weifscn  lläu>chcii  bedeckt,  welche  zu- 
meist >lädtischc  Arbeiter  bewohnen:  Anstalt  L,Mn/.  in  <ler  Stadl  zu 
hausen,  '^a'hen  sie  liebt  r  alle  I  a^^e  dorthin  zur  Arl)cil.  In  halten  aber 
ihre  Schlalstätte  auf  dem  !  an  Ic  und  I)e/.aiilen,  dank  dem  sozialen 
Betriebe  tier  I'a>enl lahnen,  nit  drii^crc  Miete  als  d<;)rl.  -lehen  in  einer 
gesunderen  l'mgebuni;  und  >rhatlen  •=;ich  eine  weitere  l-.inkMinmcns- 
(juelle  dadurch,  dab  sie  ein  Stuck  Land  .oder  einen  Gemüsegarten 
bebauen. 

IV.  Die  kapitalistische  Umgestaltung  des  Landbaues. 

Die  .-Xusdelv  u  ;  des  bebauten  <  n  undeigontums,  die  Vermehrung 
der  Arbciterparzellen  auf  Kosten  tles  bäuerlichen  Besitztums,  sowie 
der  Fortschritt  des  internationalen  Verkehrs  zeiiiu^ten  als  Haupt- 
resuUate,  soweit  die  I^ndwirtschaft  in  Betracht  kommt,  die  Ab- 
nahme der  kultivierten  l^f »rlentiru  lic ,  die  Verringerung  der  Zalil 
selbständiger  Betriebe  und  die  rmwandiuug  der  Getreidefelder  in 
Weiden,  l  orsten  oder  anderen  Anbau. 

Was  die  Abnahme  der  kultivierten  Bodenfläche  an- 
langt, so  hat  sich  in  der  Zeit  zwischen  den  Zahlungen  von  1880 
und  1895  die  landwirtschaftlich  bebaute  Fläche  zu  Gunsten  des 
städtischen  Grundeigentums,  der  Industriebetriebe,  merklich  ver- 
•  ringert.  (\'gl.  Bd.  I  der  Veröflfentlichungen  über"  die  Zählung  von 
1895.)  Im  Jahre  1880  hatte  sie  einen  Gesamtumfang  von  2704958  h. 


Digitlzed  by  Google 


EiB  Kftpüd  nr  Aaftugaag  des  Laad«  dwdi  die  Stadt 


97 


im  Jahre  1895  von  nur  2  60/514  h,  was  eine  Abnahme  von  un« 
gefälir  hunderttausend  Hektaren  bedeutet. 

Der  wetteren  oben  angeführten  Folgeerscheinung,  der  Ver« 
ringerung  in  der  Zahl  selbständiger  Betriebe,  scheint 
auf  eleu  ersten  Blick  die  Thatsache  zu  widersprechen,  dafs,  trotzdem 
die  landwirtschaftlich  bebaute  Bodenfläche  und  die  ackerbautreibende 
Bevölkerung  abnehmen,  die  Zahl  der  angeblichen  landwirt* 
schaftlichen  Betriebe  in  allen  Ländern  und  besonders  in  Belgien 
zunimmt  Es  gab  hier 

1846    .    .    ,    572550  Bethebe 
1866    .    .    .    744007  „ 
18S0    .    .    .    910396  „ 

Die  Ziffern  der  Zählung  von  1895,  von  deren  Resultaten  bisher 
nur  der  oben  erwaliiitc  I.  Band  veröffentlicht  wurde,  kennen  wir 
noch  nicht;  nach  einzelnen,  uns  niiti;eteiltcn  Angaben  ist^die  Zu- 
nahme noch  stärker  hervorgetreten  als  zuvor.') 

Journalisten,  Parlamenlsredncr  und  andere  «gelehrte  Pan^losses, 
welche  oft  schlecht  zusammengestellte  Statistiken,  und  dazu  obenhin 
lesen,  ziehen  aus  diesen  Ziffern  die  l*olgerun<^,  daCs  im  Widerspruch 
mit  den  sozialistisrhen  Thcorieen  über  die  ka|)italistische  Konzen- 
tration die  Zahl  der  landvvirtsrhaftlichen  Hetriel)e  beständig  zunähnie, 
während  die  der  (irolsbetriebc  (von  50  Hektaren  und  darüber)  fort« 
während  abnähme. 

Diese  Auflassung,  wclclie  übrigens  mit  jener  der  offiziellen 
Publikationen  übereinstimmt,  beruht  auf  blofscm  Anschein,  oder 
vielmehr  auf  einem  offenbar  unzutreffenden  Begriff  dessen,  was 
unter  den  Worten  „landwirtschaftlicher  Betrieb"  zu  verstehen  ist. 

In  Wahrheit  cr<^ncbt  eine  Vcrglcichung  der  Resultate  der 
Zählungen  von  1866  und  1880  —  von  jenen  der  Zählun.;  \  on  1895 
müssen  wir  aus  dem  ang^ebenen  Grunde  absehen  — ,  daü  die  Zahl 


Beim  I.cs.  n  der  Korrektur  dioes  Artik«-!-  habe  ich  noch  hinzuzulii^'cn,  dat\ 
die  iuzwiicheu  vcrDlTcnllichtcn  Gcsanitrosultatc  dieser  Zählung  die>e  Angab<?n  nicht 
besULtigcD:  die  Jotalziffer  der  Betriebe  bcUiuft  sich  nur  auf  829625.  Die  Abnahme 
bctriflt  •ttMhliefilieh  die  Zahl  der  ArbdlerpaneUen.  Dagegen  Imt  seit  der  laadvirt* 
achafUichcn  Krisis  die  Zahl  der  Grolsbetriebe  (von  Aber  50  Hektaren)  ngenonniens 
fie  betrag  1880  3403  und  1895  3584. 

Aidiiv  für  m.  G«MCsg*taae  a  Statistik.  XIV.  7 


98 


Emil  VAnderTcld«! 


-der  kleinen,  miltlcren  und  grofsen  Landwirtschaftsbetriebe  abge- 
nommen hat    Es  gab 


1866 

1880 

Betriebe 

TOO 

i  SO  h  ad  dartber 

55*7 

3403 

II 

II 

40  bis  so  h  .  . 

1117 

1414 

•t 

n 

90  II  40  h  .  . 

3023 

1» 

•» 

90  II  3P  h  .  . 

9967 

7  749 

»» 

II 

10  II  ao  b  .  . 

30996 

«5983 

>i 

5  „  10  b  .  . 

52650 

48390 

1» 

4  .1  5h.. 

32165 

31408 

»1 

>< 

3  4h.. 

5*987 

3»3«3 

160391 

Es  ist  also  eine  Venin^Liung  für  sämtliche  Katefsjorieen  einge- 
treten, sowohl  für  die  von  3 — lO  h,  von  lO — 50  h,  als  für  jene 
über  50  h. 

Andererseits  haben  allerdings  die  Zähluns^^en  eine  beträchtliche 
Zunahme  der  angeblichen  Landwirtschaftsbetriebe  von  weniger 
als  3  h  festgestellt,  und  namentlich  eine  enorme  Vermehrung  der 
,X-andwirtschaftsbetriebe  von  50  Ar  und  darunter".  Allein  offenbar 
sind  winzige  Parzellen  —  Gemüsegärten,  kleine  Kohl-  oder  Kartoffel- 
äcker — ,  mit  seltenen  Ausnahmen  wenigstens,  keine  eigentlichen 
ländlichen  Betriebe.  Ihre  grofse  Mehrheit  bleibt  völlig  aufserhalb 
des  Bereichs  der  kapitalistischen  Produktion;  sie  erzeugen  nur  Ge- 
braudiswerte,  und  för  ihre  Bebauer  sind  sie  das  Anhängsel  einer 
anderen  Beschäftigung  in  Handwerk  und  Handel 

Was  die  wiildichen  Landwirtachaftsbetriebe  anlangt,  welche 
Tauschwerte  produzieren  und  folglich  den  Einflüssen  der  Konkurrenz 
unterliegen,  so  ist  ihre  Abnahme  begründet  in  der  Zunahme  der 
Parzellenbesitzes  einerseits  und  in  der  Einschränkung  der  landwirt- 
schaftlich  bebauten  Bodenflache  andererseits. 

Hinsichtlich  des  dritten  der  oben  genannten  Punkte,  der  Um* 
Wandlung  der  Bodenbebauung  ist  folgendes  zu  bemerken. 

Von  1880  bis  1895  hat  das  Anwachsen  der  Städte  und  die 
Entwicklung  der  Verkehrsmittel,  welche  sie  in  bequeme  Ver- 
bindung mit  überseeischen  Landern  bringen,  tiefgehende  Verande- 
•  Hingen  in  der  Art  der  Bodenkultur  hervorgerufen:  Die  Getreide- 
'  felder  verschwinden,  die  Industriekulturen  bleiben  ungefähr  die 
gleichen,  und,  wenn  auch  unangebaute  Landereien  immer  seltener 


Digitized  by  Google 


Ein  Kapitel  zur  Aufsaugung  des  Landes  durch  die  Stadt 


99 


werden,  so  nehmen  doch  Forsten,  Parks,  Obstgärten,  Weiden  einen 
stets  wachsenden  Teil  der  angebauten  Flache  ein. 

Die  Getreidefelder,  welche  1880  934663  h  einnahmen,  haben 
sich  im  Jahre  1895  auf  809  691  h  verringert  Diese  Abnahme  von 
über  lOOOOO  Hektaren  betrifft  ausschlielslich  die  zur  menschlichen 
Nahrui^  dienenden  Getreidearten,  Weizen  und  Spelz.  Diejenigen 
dagegen,  welche  man  vorwiegend  als  Viehfutter  benutzt,  Hafer  und 
Roggen,  sind  sich  ungefähr  gleich  geblieben.  Nach  der  letzten 
Zählung  wurde  ein  Eingangszoll  auf  Hafer  gelegt;  es  hat  infolge- 
dessen der  Ibferbau  sehr  zugenommen. 

Der  Anbau  der  Industriepflanzen  nahm  1895  105740  h  gegen 
96777  im  Jahre  1880  ein.  Diese  leichte  Zunahme  ist  verursacht 
durdi  den  um£issenderen  Anbau  von  Tabak,  Cichorien  und  Zucker- 
rüben,  welcher  die  Verminderung  im  Anbau  von  Flachs,  Hanf, 
Hopfen  und  Raps,  der  durch  die  Mineralöle  ersetzt  worden,  mehr 
als  ausgleicht. 

Kartoffeln  werden  etwas  weiii<^cr,  Flitterwurzeln  etwas  mehr 
gebaut.  Aber  nach  den  Waklunt^^cn ,  weiche  ungeföhr  hundert- 
tausend Hektare  mehr  einnehmen  (hauptsächlich  auf  Kosten  der 
unangebauten  Ländereien),  ist  als  wichtigste  Veränderung  seit  1880 
die  grofse  Ausdehnung  der  Obstgärten,  der  Heuwiesen  und  der 
Weideflächen  zu  verzeichnen.    Es  nahmen  ein 


1880  189s 

Obctgirten  .  .  .    37947  ^  4759^  b 

Henwiescn  .   .   .   313276  h  aja  135  h 

Weidewiesen  .   .    137S79  h  165  257  h 

389102  h  444982  h 


Kurzum,  Belgien  wird  mehr  uiul  mehr  ein  Land  der  Pflanzen- 
zucht, eine  grofse  Fabrik  für  Zucker,  Butter,  Fleisch  und  andere 
tierische  Produkte. 

Der  Gemüsebau  nimmt  fortwährend  zu.  Die  Molkereigenossen- 
schaften mehren  sich  fort  und  fort.  Der  „Butterzug",  welcher  tag- 
täglich von  Arlon  abfahrt,  nimmt  auf  seinem  Wege  den  l'eberflufs 
unserer  Produkte  auf,  um  ihti  nacli  dem  Londoner  Markt  überzu- 
führen. In  Brügge  hat  man  soeben  eine  grofse  Gesellschaft  „Mercurius" 
gegründet ,  welche  mit  den  Molken  der  flämischen  .Molkereien  ge- 
nährte Schweine  nach  England  ausfüiirt.  In  der  Umgegend  von 
Dornik  und  in  der  früheren  Grafschaft  Looz  (Limburg)  befassen  sich 

7* 


Digitized  by  Google 


lOO 


Emil  Vandervelde, 


ganze  Dörfer  mit  der  Erzeugung  von  Früchten,  fiir  welche  sie  an 
den  neuerdings  in  Belgien  gegründeten  Konfitüren&briken  Abnehmet 
finden.  Um  Brüssel  herum  entwickelt  sich  zusehends  die  Hühner- 
zucht,  die  Zucht  —  in  Treibhäusern  oder  Mistbeeten  —  von  Früh- 
obst, Erdbeeren,  Trauben,  Tomaten. 

Kurz  und  gut,  die  Landwirtschaft  zeigt  das  Bestreben,  eine 
Uidustrie  zu  werden.  Während  der  Umfang  der  landwirtschaftlich 
bebauten  Fläche,  die  Anzahl  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  und 
die  der  Betriebe  unter  dem  Einflufs  der  Städte  abnimmt,  steigt  die 
Produktion,  wird  die  Bebauung  intensiver,  entwickelt  sich  das  land- 
wirtschaftliche Maschinenwesen,  mehren  sich  die  ländlichen  Genossen- 
schaften, erlangt  das  im  Viehbestand  und  Boden  angelegt  Kapital 
wachsende  Bedeutung  und  steigenden  Wert 

Diese  drei  Erscheinungen  aber,  die  Verringerung  in  der  Anzahl 
der  Betriebe,  die,  zum  mindesten  relative  Abnahme  der  Arbeiter- 
zahl, das  Anwachsen  des  konstanten  Kapitals  im  Verhältnis  zum 
variablen,  kehren  in  verschiedenem  Mafse  in  allen  Industrieen  wieder, 
welche  die  kapitalistische  Form  annehmen. 

Es  liegt  uns  fem,  die  Umwälzung  der  Landwirtschaft  der  industri- 
ellen Entwicklung  in  enpereni  Sinne  gleichzustellen.  Es  wäre  ein 
schwerer  Irrtum,  zu  behaupten,  dafs  beide  denselben  Gesetzen  folgen. 
Es  hielse  aber  in  den  entgegengesetzten  Fehler  verfallen,  wollte 
man  die  wirkliche  und  weitgehende  Aehnlichkeit  verkennen,  welche 
die  kapitalistische  Entwicklung  in  den  verschiedenen  Produktions- 
zweigen zeigt. 

y.  Die  Konzentration  des  Grundeigentums. 

Wir  gelangen  iiumnchi"  zur  W  un li'.anig  eines  letzten  l'unktes  — 
auf  den  wir  übrigens  deiiniaclist  naher  einzugehen  hcahsiehtigen  — 
zur  Untersuchung  tles  liinllusses  der  Städte  auf  die  X'crleilung  des 
Grundeigentums. 

Mit  Hilfe  einiger  l-reunde  habe  ich  es  unternorntnen  ,  fünfzehn 
bis  zwanzig  tausend  Hände  des  Katasteis  —  tlies  RieNenwerk.  von 
einem  Riesen  erdacht  lial/aci  .nis/uziehen.  welche  verstaubt  in 
den  Aemtern  der  I'ro\  inzialverwaltung  schlummern. 

Da  uns  aus  den  riffi/irllcn  Statistiken  die  (iesamtzahl  der  (jfund- 
coten  bekannt  war,  haben  wir  für  die  26c30  Gemeinden  des  Landes 
die  Grundcoten  von  lOO  Hektaren  und  darüber  in  den  Jahren  1898 


Digitized  by  Google 


Em  Kapitd  rar  Anüttugung  de«  Landes  durch  die  Stadt.  loi 

und  1834,  in  welch  letzterem  das  Kataster  vollendet  wurde,  su* 
sammengestellt. 

Diese  Zusammenstellungen  ergaben  für  die  Provinzen  Brabant 
und  Antwerpen,  deren  Hauptpunkte  die  beiden  grofsten  Städte 
unseres  Landes  sind,  folgende  Resultate:  In  den  Kreisen,  welche 
den  Einfluß  Brüssels  und  Antwerpens  am  unmittelbarsten  er&hren, 
hat  das  Groisgrundeigentum  (Grundcoten  von  100  Hektaren  und 
darüber)  zugenommen,  abgenommen  dagegen  in  den  Kreisen,  wo 
sich  dieser  £influ(s  weniger  fühlbar  macht. 

Die  Erklärung  für  diese  zwiefache  Bewegung  scheint  uns  in 
der  Wirkung  zu  liegen  einerseits  der  gesetzlichen  Erbfolge,  welche 
das  Grundeigentum  beständig  teilt  und  immer  wieder  teilt,  und 
andrerseits  der  Neuerwerbungen,  welche  es  zusammenlegen  und  in 
immer  weni}:»er  Händen  vereinigen. 

Die  Wirkung  der  Erhfolgegesetze  fuhrt  es  in  abgelegene  (  legenden, 
wo  die  Spekulation  auf  den  steigenden  W'ert  sich  kaum  lohnt  und 
wo  aus  verschiedenen  Gründen  die  reichen  Industriellen  und  Banquiers 
sich  es  nicht  angelegen  sein  lassen,  Schlösser  zu  bauen  und  grofse 
Besitzungen  zu  kaufen. 

Die  Zusammenlegung  dagegen  zieht  es  in  die  der  l'iovin/.-  oder 
Landeshauptstadt  nahe  gelegenen  Bezirke,  wo  es  den  reichen  Leuten 
angenehmen  Aufenthalt  oder  vorteilhafte  Gelegenheit  zur  Geldanlage 
bietet. 

Hierdurch  sehen  wir  uns  einer  divergierenden  Entwicklung  des 
Grundeigentums  g^enüber:  trotz  der  Erbfolgcgesetze  der  franzd^- 
schen  Revolution,  welche  bezweckten,  das  Grundeigentum  im  Interesse 
der  bäuerlichen  Demokratie  zu  zerstückeln,  7u  rstäuben ,  bleibt 
die  Masse  des  Grofsgruadeigentums  intakt,  ja  wächst  sogar;  i  n  folge 
der  Erbfolgegesetze  und  der  viellachen  Faktoren,  welche  die  gleiche 
Wirkung  üben,  gewinnt  da-  klrinc,  und  namentlich  das  ganz  kleine, 
das  Parzellen-,  das  Zwerg-Gruadcigentum  ebenfalls  an  Umfang.  Es 
ist  also  das  mittlere,  das  Familien-Grundeigentum,  welches  durch 
2^rstücklung  oder  Aufkaufen  sich  mehr  und  mehr  verringert.  Wir 
eilen  also  mit  grofsen  Schritten  einem  Stande  der  Dinge  entgegen, 
wie  er  bereits  in  verschiedenen  Gegenden  vorhanden  ist,  wo  ausge- 
dehnte Besitzungen  den  gröfscren  Teil  des  Landes  einnehmen  und 
kleinste  Gütchen  sich  in  den  Rest  teilen. 

Andrerseits  —  und  es  ist  dies  ein  augenfälliges  Anzeichen  der 
Macht  der  Städte  über  das  Land  ist  der  l'mfang  der  pachtwoisi,- 
bewirtschafteten  Ländereien,  also  des  kapitalistischen  ürundcigen- 


i^iyui^ud  by  Google 


I02 


Emil  Vandcrvcldc, 


tums»  in  steter  Zunahme  auf  Kosten  des  bauerlichen  oder  selbst 
bewirtschafteten  Grrundbesitzes  begriffen. 

Im  Jahre  1880  wurden  i  270512  h  oder  474%  der  landwirt* 
schaftlich  bebauten  Fläche  von  Pächtern  bewirtschaftet;  im  Jahre 
1895  waren  es  1 320  358  h  oder  50,6°/o»  ein  wenig  über  die  Hälfte 
der  gesamten  Fläche. 

Es  ist  indessen  hierzu  zu  bemerken,  daGs  die  landwirtschaft- 
lichen Zählungen  unter  die  Kategorie  des  selbst  bewirtschafteten 
Grundeigentums  nicht  nur  die  gewöhnlichen  Kulturen,  sondern  auch 
die  unbebauten  Ländereien  und  die  Waldungen  einreihen,  welche 
für  sich  allein  über  fiinfhunderttausend  Hektare  einnehmen. 

Aus  diesem  Grunde  erscheinen  uns  in  Waldgegenden  —  so 
z.  K  in  Condrozet  und  in  den  Ardennen  —  einzelne  Gremeinden 
als  das  auserwählte  Land  der  Selbstbewirtschaftung,  da  fast  ihr 
gesamtes  Gebiet,  Wald  und  Feld,  einem  einzigen  Grundherrn 
gehört 

Berücksichtigt  man  nun  die  gewöhnlichen  Landwirtschafts- 
kulturen, so  wird  das  Verhältnis  ein  ganz  anderes. 

Im  Jahre  1880  wurden  713  059  h  selbst  bewirtschaftet,  gegen 
1 270512  in  Pacht  gegebene,  was  36  bis  64%  bedeutet  Im  Jahre 
1895  wurden  nur  noch  596331  h  selbst  bewirtschaftet,  gegen 
I  320358  in  Pacht  gegebene,  also  33  bzw.  67%. 

Von  hundert  Hektaren  gewöhnlicher  Kulturen  werden  jetzt 
also  nur  33  von  ihren  Eigentümern  bebaut,  und  67  —  über  zwei 
Drittel  —  sind  von  Pächtern  bewirtschaftet  und  gehören  Kapitalisten, 
die  zumeist  in  den  Städten  wohnen. 

Zu  den  Faktoren,  welche  diese  Verringerung  des  bäuerlichen 
Grundeigentums  fördern,  sind  in  neuester  Zeit  die  aufeinander- 
folgenden Konversionen  der  Staats-  und  Kommunalanleihen  zu  rech- 
nen. Je  weniger  Zins  die  öffentlichen  Fonds  abwerfen,  desto  häufiger 
werden  die  Grundstückskäufe,  namentlich  in  der  Umgebung  von 
Städten,  in  den  Gegenden,  wo  man  Vizinalbahnen  plant,  überall,  wo 
die  Kapitalisten  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auf  demnächstige 
Wertsteigerung  hoffen  dürfen. 

Seit  einigen  Jahren  ist  der  Wert  des  Grundeigentums  infolge 
der  zunehmenden  Verkehrserleichterungen  auf  mehrere  Meilen  weit 
um  die  grofsen  Städte  herum  im  Steigen  begriffen,  wo  es  im 
wachsendem  Mafse  als  Bauland  und  dem  Bedürfnisse  des  ange- 
nehmeren Aufenthaltes  dient  Während  die  Landbewohner  in  die 
Städte  strömen,  suchen  dagegen  viele  in  bescheidenen  Verhältnissen 


Digitized  by  Google 


Ein  Kapitel  zur  Aufsaugung  de»  Laades  dudi  die  Stadt. 


103 


lebende  Stadtbewohner,  Kommis,  Beamte  u.  s.  w.  auf  dem  Lande 
billigere  Wohnungen.  Wenn  die  ländlichen  Arbeiter  ihr  Dorf  ver> 
lassen,  um  liöhere  Lohne  zu  verdienen,  so  kommen  wiederum  eine 
gewisse  Anzahl 'Unternehmer  dahin,  um  niedrigere  Löhne  zu  zahlen. 
Endlich  empfinden  die  Stadtmenschen  mehr  und  mehr  das  Bedürfnis, 
sich  in  freier  Luft  zu  bewegen,  mit  der  Natur  in  Berührung  zu 
kommen,  wenigstens  in  einem  Teile  des  Jahres  das  Landleben  zu 
genielsen. 

Bis  jetzt  sind  diese  Thatsachen  nur  Ausnahmen,  und  auf  wenig 
zahlreiche  Bevölkerungsgruppen  beschränkt  Die  Zentripetalkraft 
uberwiegt  die  Zentrifugalkraft  bei  weitem.  Aber  vielleicht  kommt 
die  Taa\,  wo  immer  bequemere  Verkehrsmittel  die  Entfernungen  . 
beseitigen  und  die  Wanderung  aus  den  Städten  auf  das  Land  der 
umgekehrten  folgen  wird,  sodafs  man,  ein  berühmtes  Wort  ab- 
äindemd,  wuxl  sagen  können:  ein  wenig  Zivilisation  entfernt  vom 
Landleben,  viel  Zivilisation  führt  zu  ihm  zurück. 

Es  wäre  dies  die  Verwirklichung  des  Morris'schen  Traumes  in 
den  „News  firom  Nowhere":  London  wäre  nur  noch  der  Sammel- 
platz  der  gelehrten  Arbeit,  der  Vergnügungen,  der  sozialen  Be- 
ziehungen, St  Paul  ein  Trümmerhaufe,  das  Filament  in  eine 
Dungerstatte  verwandelt,  der  Himmel  nicht  mehr  durch  den  Fabrik- 
rauch  verfinstert,  die  Themse  nicht  mehr  von  den  Ausscheidungen 
einer  ungeheuerlichen  Menschenhaufung  getrübt  Das  platte  Land 
wäre  von  Landhäusern  bedeckt,  man  träfe  sich  in  den  Städten, 
wohnte  aber  auf  dem  Lande. 

Allem  das  Morris'sche  Land,  und  zweifellos  das  Land  der  Zukunft 
wäre  nicht  mehr  das  der  „guten  alten  Zeit".  Seine  Bewohner 
hätten  nichts  gemein  mit  den  Bauern  La  Bruy^res.  Sie  hätten  das 
Leben  der  Stadt  durchgemacht,  sie  blieben  in  steter  Berührung  mit 
ihr,  sie  behielten  alle  Vorteile  des  städtischen  Wesens,  aber  ohne 
seine  Mängel  und  Uebelstände. 

Vor  dieser  Zeit  der  Dezentralisation  aber  erscheint  uns  ab  ihre 
Anbahnung  die  sfidtische  Zentralisation,  trotz  alles  Leidens,  alles 
Elendes,  alles  Uebels,  das  sie  erzeugt,  —  unvermeidlich. 

In  den  Städten  entwickeln  sich  die  Ideen,  zeigen  sich  die  um- 
wälzenden Kräfte,  bereiten  sich  die  technischen  Umgestaltungen 
vor,  welche  die  neue  Welt  schaffen  werden. 

Es  mulsten  sich  die  uranfanglichen  Demokratien  in  absolute 
Monarchien  verwandeln,  die  auf  dem  Prinzipe  der  Gleichheit  be- 
ruhenden Zünfte  in  Kapitalistentrusts,  die  Naturalwirtschaften  in 


i^iyui^ud  by  Google 


I04    Emil  Vanderveld«,  Ein  Kapitel sur  Anfiaugung  des  Landes  durch  die  Stadt. 


Gceldwtrtschaften,  damit  die  Fonnen  der  Zukunft,  scbembare  Rtick- 
falle  in  die  ursprOnglidien  Formtti,  aus  dem  socialen  Mutlerleibe 
hervorgehen  können. 

Und  ebenso  wird  die  landliche  Bevölkerung  mit  ihren  unklaren 
Ideen,  ihren  beschrankten  Auflassungen,  ihrem  engen  Horizont  die 
Zucht  des  Kapitalismus  erfahren,  den  Zwang  der  Alles  aussaugenden 
Städte  durchmachen  müssen,  bevor  sie  zum  sozialistischen  Gemein- 
Wesen  eingeht 


Digitized  by  Google 


Der  gegenwärtige  Stand  der  Arbeitslosenversicherung 

in  der  Schweiz. 

Von 

•    Dr.  EMIL  HOFMAXX, 

Nationalrat  in  Frauenfeld. 

Der  Zusammenbruch  der  Arbeitslosenversicherung  der  Stadt 
St.  Gallen  hat  die  Entwicklung  dieses  Problems  blofs  für  Verhältnis- 
mafsig  kurze  Zeit  zu  hemmen  vermocht  Bald  ist  dem  sozusagen 
lahmenden  Schrecken  über  die  sang-  und  klanglose  Beerdigung 
dieses  Instituts  die  ruhige  Ueberlegung  gefolgt,  welche  die  schlimmen 
Er&farungen  St  Gallens  weniger  dem  Prinzip  der  Arbeitslosen- 
versicherung als  vielmehr  der  Organisation  und  den  mit  der  Leitung 
betrauten  Persönlichkeiten  in  die  Schuhe  schieben  mulste.  Immer- 
hin hatte  das  Beispiel  St  Gallens  das  Gute,  da(s  die  Schwierig- 
keiten und  Milslichkeiten  dieses  neuen  Zweigs  der  Arbeiterversiche- 
rung  namentlich  auch  von  der  Arbeiterschaft  mehr  ins  Auge  gefafst 
wurden  und  diese  in  Zukunft  nicht  mehr  auf  gewichtige  Postulate 
verzichten  wird,  um  unter  jeder  Bedingung  ein  derartiges  Institut 
erstehen  zu  sehen.  Den  Beweis  für  diesen  Umschwung  der  Ge- 
sinnung und  die  fortschreitende  Präzisierung  der  Arbeiterwünsche 
nach  dieser  Richtung  hin  erblicken  wir  unter  anderem  auch  in  der 
Haltung  der  Arbeiter  und  ihrer  Presse  gegenüber  dem  Beschlufs 
des  Grofsen  Stadtrates  von  Zürich,  welcher  nach  einer  viele  Stunden 
dauernden  Debatte  im  Juli  i8^  die  Einführung  der  Arbeitslosen- 
versicherung ablehnte.  Wohl  kämpften  die  Vertreter  der  Arbeiter- 
schaft in  dieser  Behörde  mit  Wärme  und  Geschick  für  das  Projekt 
Aber  man  merkte  es  sowohl  ihren  Voten  als  den  Aeufserungen  der 
Arbeiterpresse  an,  dafs  sie  der  Vorlage  gegenüber  schwere  Bedenken 
hatten  und  über  deren  Verwerfung  nicht  allzu  unglücklich  waren. 


uiyiiizied  by  Google 


io6 


Emil  Hofmann, 


Der  geplante  Umfang  des  Versicheningskreises  hatte  wohl  ziemlich 
sicher  grolse  Schwierigkeiten  im  Gefolge  gehabt,  für  welche  die 
versicherte  Arbeiterschaft  ohne  weiteres  die  Verantwortung  zuge- 
schoben erhalten  hätte,  wie  dies  in  St  Gallen  geschehen  war.  Unter 
diesen  Umständen  war  es  begreiflich,  daCs  sowohl  die  Arbeiterschaft 
von  Zürich  als  auch  die  von  St  Gallen  vorderhand  auf  weitere 
5)chritte  zur  Einbürgerung  dieses  VersicherungS9Bwe^;es  verzichtete. 

Diese  abwartende  Stellung  der  Arbeiterschaft  hindert  sie  natürlich 
nicht  an  der  fortwährenden  Betonuf^  der  Notwend^^t  der  Arbeits- 
losenversicherung  sowie  an  der  Diskussion  und  Erforschui^  des 
Problems.  So  hat  z.  B.  der  letzte  schweizerische  Arbeitertag  in 
Luzern  dieses  Thema  auf  seine  Traktandenliste  gesetzt  und  folgenden 
Thesen  seine  Zustimmung  gegeben: 

„Die  Arbeitslosigkeit  ist  für  die  Arbeiterschaft,  wie  für  den 
Staat  eine  so  grofse  und  schwere  Gefahr,  dals  kein  Mittel  zu  ihrer 
Bekämpfung  unversucht  bleiben  soll.  Dazu  jijehören  vor  allem  die 
Arbi'itslo.senversicherung  und  der  Arbeitsnachweis,  die  in  organische 
Verbindung'  mit  anderen  Mafsnahmen  gebracht  werden  müssen. 

Bei  Minführung  der  Arbeitslosenversicherung  sind  hauptsächlich 
folgende  Punkte  zu  beobachten : 

a)  Die  obligatorische  X'ersicherung  soll  sich  auf  möglichst  gleiche 
oder  ähnliche  Gefahrenklassen  beschränken  und  mit  den 
Saisonarbeitern  den  Anüsmg  machen.  Die  X'ersicherungs- 
pflicht  ist  möglichst  genau  zu  umschreiben.  Eine  Ober- 
gren/r  lU  s  .Alters  ist  festzusetzen.  Arbeiter  mit  Gebrechen 
und  beschränkter  Hrwerbsfaliigkeit  sind  nicht  veracherungs- 
pflichtig. 

b)  Neben  den  (lemeinde-Versichcrungskassen  für  die  am  meisten 
von  Arbeitslosigkeit  bedrohten  Arbeiterschichten  sollen  die 
Berufsvereine  mit  .Arbeitslosenversicherung  gefördert  werden, 
inileni  ihnen  unter  t;e\vissen  Bedingungen  die  gleiche  Geld- 
uiuerstützung  ticr  tiemeitulen,  Kantone  und  Gewerbeinhaber 
zu  teil  werden  soll,  wie  den  <"»ti'entlichen  \'ersicherun*zskassen. 

ci  Die  riaiuien  der  Arbeiter  und  die  Beiträge  der  Gewerbe- 
inhaber sind  nicht  zu  hoch  zu  bemessen.  Die  Beiträge  der 
tuMueiiiden  un*!  Kantone  sind  in  ein  bestimmtes  X'erliällnis 
zu  den  Ausgaben  der  K.isse  zu  setzen,  um  sie  zur  Be- 
schattung \on  Arbeitsgelegenheil  anzueifern.  Auch  der 
Bund  sollte  Beiträge  leisten. 

dl  Zur  X'ercintächung  der  Geschäftsführung  soll  blofs  eine  Klasse 


Digitized  by  Google 


Der  gegenwältige  Stand  der  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schweiz. 


ftir  Prämie  und  Entschädigung  aufgestellt  werden.  Will  man 
die  Verheirateten  begünstigen,  so  kann  man  die  Prämie  der 
Ledigen  um  ein  Geringes  erhöhen, 

e)  Nach  einer  gewissen  Karenzzeit  wird  nur  bei  unverschuldeter 
Arbeitslosigkeit  Unterstützung  ausbezahlt.  Die  Versicherung 
ist  durch  eine  planmälsige  Arbeitspolitik  der  Gemeinden  und 
Kantone,  wie  durch  Verbindung  der  Kassenverwaltung  mit 
gut  betriebenen  Arbeitsnachweisen  zu  ergänzen. 

f)  Solchen  Versicherten,  die  längere  Zeit  der  Kasse  angehören, 
ohne  sie  benützt  zu  haben,  sollen  die  Prämien  ermälsigt 
werden. 

g)  Die  Verwaltung  der  Arbeitslosenversicherung  ist  weitmög- 
liehst  den  Versicherten  selbst  zu  überlassen;  jedenfalls  sollen 
sie  mitzubestimmen  haben  bei  der  Wahl  des  Verwalters 
und  der  Angestellten. 

h)  Behufe  Gewinnung  des  so  nötigen  statistischen  Materials 
soll  mit  der  nächsten  eidgenossischen  Volkszählung  eine 
Zählung  der  Arbeitslosen  verbunden  werden." 

Unter  den  gelungenen  Versuchen,  die  Arbeitslosenversicherung 
innerhalb  beruflicher  Verbände  zu  organisieren,  nennen  wir  vor  allem 
die  Viatikums«  und  Konditionslosenkasse  des  schweizerischen  Typo* 
graphenbundes.  Diese  richtet  nach  zweijähriger  Mitgliedschaft  dem 
unverschuldet  arbeitslos  Werdenden  während  höchstens  sechs  Wochen 
^  Taggeld  von  2  Fr.  aus.')  Die  Bedeutung  dieses  Unterstützungs- 
Zweiges  mag  damit  illustriert  werden,  dafs  der  Verband  in  dem 
Zettraum  von  1888—97  fiir  Viatikum  52070  Fr.,  für  Konditions- 
losenunterstützung  43794  Fr.  und  für  Abreisegeld  und  Umzugs- 
kosten 7246  Fr.  angewendet  hat.*} 

Der  2^ichner-Fach verein  der  Ostschweiz  hat  vom  i.  Juli  1897 
an  fiir  seine  Mitglieder  ebenialls  eine  obligatorische  Arbeitslosen- 
kasse gegründet  Die  Statuten  derselben  zeigen  deutlich,  dafs  der 
P^asklent  der  Subkommission  der  Arbeitslosenkasse  der  Stadt  St  Gallen 
die  Mängel  und  Fehler  dieses  Instituts  klar  erkannte  und  nicht  ver- 

')  Vgl,  hierzu:  Sututcn  und  Reglements  des  Schweirerischen  Typograpbeo- 
bodci.  Benten  an  der  Delcgierten-Vemmniliiiig  Tom  35.  und  36.  Janiur  1896  in 
Luen,  bereinigt  ao  der  Ddegierteii-Veraunniliitig  vom  aj.  Mai  1896  in  Zttricb.  Basel 
iDrack  der  Vereindmckerei)  1896,  S.  19  ff. 

*)  J^^hresberieht  des  Scbweiierisehen  Tjrpograpbenbondes  fttr  das  Jahr  1897. 
Biiel  1898,  5.  102. 


Digitized  by  Google 


to8 


Emil  Hofroann, 


fehlte,  die  Kasse  seiner  Berufs^renossen  davor  möglichst  zu  be- 
wahren.') 

Die  Mitglieder  haben  die  Wahl  zwischen  den  zwei  Prämien- 
klassen, von  denen  die  erste  eine  Monatsprämie  von  30  Cts.  und 
die  zweite  eine  solche  von  60  Cts.  verlangt.  Diesen  verschiedenen 
Prämien  entspricht  die  Abstufung  der  täglichen  Entschädigung  auf 
I  Fr.  und  1,8  Fr.  Das  Maximum  der  Kntschädigungsdauer  inner- 
halb eines  Jahres  beträgt  50  Tage.  Um  die  Kasse  vor  allzu  starker 
Inanspruchnahme  durch  einzelne  zu  bewahren,  wird  die  Gesamt- 
dauer der  Unterstützung  auf  250  Tage  festgesetzt.  Wer  während 
seiner  Mitgliedschaft  so  lange  Entschädig uni,'  hczo^'en  hat,  kann  sich 
neue  Entschädigungsberechtigung  nur  durch  Rückzahlungen  an  die 
Kasse  erwerben  und  das  genannte  Maximum  um  letztere  verlängern. 
V^or  Inanspruchnahme  wahrend  kürzerer  Arbeitslosigkeit  soll  die 
Kasse  durch  die  Bestimmung  bewahrt  werden,  dafs  Arbeitslosigkeit 
während  einzelner  bis  und  mit  sieben  aufeinanderfolgenden  Tagen 
zu  keinen  Geldbezügen  berechtigt. 

Das  erste  Jahresergebnis  dieser  Arbeitslosenkassc,  welcher  bei 
der  Gründung  ein  Vereinsfond  von  lOOOO  Fr.  als  Reserve  über- 
wiesen werden  konnte,  ist  sehr  günstig  und  verdient  dieses  Institut 
die  fortgesetzte  Aufmerksamkeit  der  Theoretiker  und  Praktiker  dieses 
Versicherungszweiges. 

Daneben  wird  diese  Frage  aber  auch  sonst  lebhaft  diskutiert. 
Der  schweizerische  Handels-  und  Industrieverein  erstattete  ein  Gut- 
achten an  das  eidgenössische  Handels-,  Industrie-  und  Landwirt- 
schaftsdepartement über  Sparzwang,  Arbeitslosenstatistik  und  Arbeits- 
nachweis. Im  Kanton  Bern  soll  durch  eine  Motion  beim  Grofscn 
Rate  den  Gemeinden  das  Recht  zur  Einfuhrung  der  obligatorischen 
Arbeitslosenversicherung  gewährleistet  werden  und  in  Basel-Stadt 
ist  unlängst  der  Bericht  und  Gesetzesentwurf  der  ( Irofsratskomniission. 
betrefifend  Errichtung  einer  Versicherungsanstalt  iür  Arbeitslose,  dem 
Grolscn  Rate  als  X'orlagc  zur  zweiten  Beratung  zugestellt  worden. 
In  St.  (lallen  hat  die  Arbeitslosenversicherung  in  (Gestalt  eines  Pro- 
zesses des  ehemaligen  Kassenverwalters  gegen  den  verantworlliciicn 
Redakteur  des  ,.St.  (ialler  .Stadt-Anzeiger"  ein  interessantes  Xach- 
spiel  gelunden,  das  eine  Anzahl  höchst  charakteristischer  That>arlien 
zu  Tage  förderte  und  wohl  geeignet  ist,  die  Ursachen  der  Auf- 


^1  V^'i.  hierzu:  Statuten  des  Zeichncr-KachveKins  der  Ostachweis.   Su  GftUen 
(ZoUikofersche  Buchdruckerci)  1S97,  S.  13  fi*. 


Digitized  by  Google 


Der  gegeawänigc  Stand  der  Arbeitslosenv«r«cbcrung  in  der  Sdiwds.  109 

• 

hebung  der  dortigen  Arbeitslosenkasse  wesentiich  zu  ergänzen  und 
abzurunden.  Eine  kritische  Würdigung  dieser  Materialien  ist  am 
besten  imstande,  die  Entwicklungsphase,  in  welche  das  Problem 
der  Arbeitslosenversicfaerung  in  der  Schweiz  getreten  ist,  darzustellen. 
Als  Ausgangspunkt  wählen  wir  die  Aufhebung  der  Arbeitslosen- 
kasse der  Stadt  St  Gallen,  weil  diese  das  bereits  erwähnte  Gut- 
achten des  schweizerischen  Handels-  und  Industrievereins  ziemlich 
stark  beeinflufst  zu  haben  scheint  und  eine  kurze  Darstellung  der 
Gründe,  welche  in  St.  Gallen  dieses  Institut  so  rasch  und  so  gründ- 
lich verunmoglichten,  die  beste  Handhabe  zur  Beurteilung  der  An- 
sicht des  Vororts  des  genannten  Vereins  in  dieser  Frage  bietet 
Die  Erfahrungen  der  Arbeitslosenkasse  der  Stadt  Bern  in  diesem 
Winter  und  der  daraus  resultierende  Wunsch,  das  Obligatorium  ein- 
zuführen, werden  sodann  zur  Würdigung  des  neuesten  Basler  Ent- 
vrmfs  hinüberleiten. 

L  Die  Aufhebung  der  Arbeitslosenversicherung  der 

Stadt  St  Gallen. 

Der  Bcschlurs  der  Gcnicinclo  St.  Gallen  vom  8.  November  1896, 
welclier  die  Arbeitslosenversicherung  aufhob,  hat  im  hi-  und  Aus- 
lände mannigfache  und  nicht  immer  zutreffende  Konunentierung  ge- 
funden. Die  Meiirzahl  der  P>klärungen  gi])felte  in  der  Behauptung, 
dais  die  \  ersic  lu  rten  und  uberhaujjt  die  .Arbeiterschaft  am  l'ntcr- 
gange  dieses  Instituts  die  Haujitschuld  tragen.  Die  eifrigsten  der 
Kommentatoren  gingen  noch  weiter  und  leiteten  daraus  ohne  weiteres 
die  Unmöglichkeit  der  ])raktischen  Durchführung  dieses  X'ersiche- 
rung.'i/weiges  ab.  In  dieser  .Ansicht  dürften  sie  noch  bestärkt  worden 
sein  durch  das  bezirks-  und  kantonsgerichtlichc  Urteil  in  dem  er- 
wähnten Prers{)rozefs.  Diese  Deutung  des  ])ro/es>ualischen  Aus- 
gangs entspricht  aber  den  Thalsaclieii  nicht.  Die  gerichtlichen  \'er- 
handlungen  haben  im  (tegentiil  die  .Aufhebung  dieser  Kasse  ge- 
wisscrmalsen  als  Xaturnutwenthgkeit  erscheinen  lassen,  ohne  damit 
die  -Möglichkeit  der  \''ersicherung  gegen  unverschuldete  Arbeits- 
losigkeit umzustofscn.  Die  Dar.stcllung  vom  \'erlauf  und  Ausgang 
dieses  Prozesses  ist  deshalb  für  das  Problem  der  Arbeitslosen- 
versicherung wesentlich.  Sie  ist  imstande,  unsere  bereits  früher 
ausgesprochene  Ansicht  von  den  Gründen,  welche  zur  Aufhebung 
der  Versicherung  führten,  in  manchen  Punkten  zu  er^nzen.*) 

')  Vgl.  hienu:  ÜUtistik  des  Kantons  St  Gallen.  XI.  Heft.  Die  Arbeitslosen- 


Digitized  by  Google 


110 


Enil  Hofmann, 


Am  29.  Juni  1898  hielt  Armensekretär  Bärlocher  auf  Veranlas- 
sunf;  des  Gewerben  erb.indes  Zürich  vor  einer  Versammlung  von 
Mitgliedern  des  Grolsen  Stadtrates  und  Gewerbetreibenden  Zürichs 
einen  Vortrag  über  die  Arbeitslosenversicherung^,  wobei  er  sich 
nach  einem  Berichte  der  Neuen  Zürcher  Zeitung  ^)  folgendcrmafsen 
äuiscrte :  „Man  zählte  in  St.  Gallen  in  den  Wintern  189394  und 
1894 '95  im  Durchschnitt  300— 400  Arbeitslose.  VV^cnn  aber  z.  B.  die 
Arbeit  des  Schneeschaufclns  begann,  so  meldeten  sich  blofs  etwa 
200  Mann.  Im  Jahre  1894  wurde  in  der  Stadt  St.  Gallen  und  den 
anliegenden  Ortschaften  Tablat  und  Strauben/.ell  die  Arbcitsloscn- 
versicherungs frage  beraten.  Die  beiden  Ausgcnu  inden  wollten  nichts 
davon  wissen.  Nun  wurde  für  die  Stadt  St.  dallen  ein  Statut  ent- 
worfen und  am  23.  Juni  1895  beschlossen  die  Stimnil)erechtigten 
der  Stadt  die  Kinführung  der  Arbeitslosenversicherung  auf  die  Datier 
von  zwei  Jahren  in  der  Meinung,  dafs  das  Volk  sich  nach  einem 
Jahre  darüber  entscheiden  solle,  ob  es  das  Institut  weiterführen  oder 
aber  wieder  aufgeben  wolle.  An\  i.  Juli  1895  trat  die  Versicherung 
ins  Leben  und  schon  am  8.  November  1896  bcschl* jfs  das  Volk  die 
Liquidation  auf  den  I.  Juli  1897.  Es  waren  gerade  die  .Arbeiter, 
die  geschlossen  für  Abschatlung  stimmten.  Woher  diese  Erschei- 
nung? Es  hätten  sich  rund  5000  X'crsichcrungspflichtigc  einschreiben 
lassen  sollen.  Bei  der  ersten  Einschreibung  kamen  aber  blofs  1535. 
Auf  erneute  .Xufforderung  hin  stellten  sich  noch  weitere  579  und 
als  man  schlicfslich  alle  Ueberredungskunst  aufgeboten  hatte,  da 
war  man  auf  die  Zahl  von  2530  Mann  gekommen.  Man  kam  dazu, 
über  diejenigen,  die  sich  nicht  einschreiben  Helsen,  Bufsen  von  3  Fr. 
zu  verhängen.  Sie  zahlten  die  Bufsen,  schrieben  sich  aber  doch 
nicht  ein.  Schlicfslich  artete  die  ganze  Geschichte  in  Freiwilligkeit 
aus.  Es  ist  eben  selbstverständlich,  dafs  der  gute  fleifsige  Arbeiter 
nicht  gerne  für  den  .schlechten  zahlt.  Der  Prämieneingang  war 
schlecht  und  doch  hatte  man  alle  möglichen  Bequemlichkeiten  ein- 
geführt, um  die  Einzahlung  zu  erleichtern.  Man  war  sehr  nach- 
sichtig, wenn  eben  nur  bezahlt  wurde,  man  wollte  die  .Sache  beliebt 
machen  und  erreichte  das  Gegenteil.  Oft  liefs  man  drei  Monate 
zusammenkommen.    Im  Jahre  1895  waren  393  Bezüge  im  Rück- 


\ crsicliorunp  drr  Stadt  .^t.  Gallen.  Tm  .Auftrage  des  \  (jlkswirf.tliaftsdepart'-mciits 
des  Kantons  .St.  Gallen  bearbeitet  vun  Dr.  E.  Hof  mann,  IMarrer  in  Stcttfurt. 
St.  Gallen,  Dnick  der  Zollikofcrschen  Buchdruckerei  1898,  S.  40  ff. 

Neue  Züricher  Zeitung.   Beilage  zu  Nr.  iSo  vom  l.  Juli  1S9S. 


Digitized  by  Google 


Der  fegcnwirtige  Stand  der  ArbdtdoMnTcnidieniiis  in  der  Sdiwds.    1 1 1 

Stande,  im  Jahre  1896  schon  498.  Wie  die  Versicherunfj  auf  die 
Arbeiter  wirkte,  erhellt  aus  folj^enden  Thatsachen.  In  früheren 
Jahren  waren  die  Männer  im  Winter  vielfach  nach  dem  V^orarlberij 
gegangen,  um  dort  Schindeln  zu  machen!  Zur  Zeit  des  Bestehens 
der  Arbeitslosenvcrsichcrunr;;  blieben  sie  in  der  Stadt  und  bezogen 
ihre  Entschädir^unf^en.  Wenn  man  ihnen  Arbeit  anwies,  die  nicht 
gerade  in  ihren  Beruf  j)arstc.  so  erklärten  sie  fjanz  einfach,  die  wollen 
wir  nicht;  wir  arbeiten  nur  auf  unseren  Beruf.  Im  Jahre  189596 
waren  es  114  Mann,  die  für  mehr  als  50  Tage  die  Entschädigung 
bezogen,  im  zweiten  Jahre  waren  es  schon  198.  Es  kam  auch  sehr 
oft  vor,  dafs  Arbeiter,  die  beschäftigt  waren,  die  Entschädigung 
gleichwohl  bezogen.  Es  ist  eben  schwer  zu  wissen :  Wer  ist  arbeits- 
los und  wer  nicht?  Es  kamen  oft  Frauen,  die  sich  beklagten,  ihre 
Männer  kämen  nicht  mehr  heim,  seitdem  sie  die  Entschädigung  l)c- 
ziehcn  können.  Vorher  katten  sie  doch  noch  in  der  Haushaltung 
etwas  mitgeholfen.  Effektiv  Zahlende  waren  nie  über  30CX)  Mann.  Bei 
der  Liquidation  waren  2500  Pflichtige  im  Rückstände;  von  diesen 
zahlten  freiwillig  800.  weitere  780  wurden  betrieben  und  es  zahlten 
dann  600  Mann.  Von  den  übrigen  war  nichts  mehr  erhältlich.  Der 
Referent  kommt  zu  dem  S(  hlussc,  dafs  es  uiinu")glich  sei,  eine  ge- 
rechte Arbeitslosenversicherung  einzuführen!  Die  Statistik  des  Herrn 
Pfarrer  I  lofmann  über  die  St.  Galler  Arbeitslosenversicherung  er- 
streckt sich  auf  blofs  achtzehn  Monate  und  nur  l30oMann;  sie  kann 
also  keinen  Anspruch  auf  Vollkommenheit  machen,  sie  ist  übrigens 
auch  nicht  richtig  geführt." 

Dieses  Referat  scheint  wohl  den  Inhalt  des  Vortrags  ziemlich 
richtig  wiedergegeben  zu  haben,  wenigstens  sah  sich  Herr  Bärlochcr 
vcraiilalst,  in  einer  Zuschrift  an  die  Redaktion  dieser  Zeitung  blofs 
zwei  nebensächliclie  Punkte  zu  präzisieren.  l-.benso  sj^richt  ein 
„Mitgeteilt"  des  Gewerbeverbandes  Zürich  an  die  Presse  dafür,  dafs 
die  \eue  Züricher  Zeitung  die  Grundgedanken  des  Referates  gut 
erfalst  haben  dürfte. 

Diese  Darstellung  mufste  die  Freunde  der  Arbeitslosenversiche- 
rung um  so  eher  und  rascher  zu  einer  Antwort  veranlassen,  als  der 
Vortrag  unmittelbar  vor  den  V^erhandlungen  des  zürcherischen  Stadt* 
rates  über  den  Entwurf  einer  Arbeitslosenversicherung  gehalten 
wurde.  Wirklich  erschien  denn  am  1 1.  Juli  in  Nr.  159  des  „St  Galler 
Stadt-Anzeiger"  an  leitender  Stelle  eine  Korrespondenz  unter  dem 
Titel  „Die  Wahrheit  über  unsere  Arbeitslosenversicherung".  Dieselbe 
verwahrte  sich  ganz  energisch  gegen  die  Kritik  Barlochers  an  der 


i^iyui^ud  by  Google 


112 


Emil  Hofmann, 


St.  Galler  Arijcitsloseincrsicherunp;  und  wies  dem  Verwnlter  die 
Hauptschuld  *am  Zusaniineiibruchc  der  Arbeitsloscnkassc  zu.  Gegen 
diesen  Artikel  wurde  vom  \'crwaltcr  der  Arbcitslosenkasse  Klage 
eingereicht  und  der  Redakteur  des  „St.  Galler  Stadt  -  Anzeiger" 
welcher  die  X'erantworlung  für  diesen  .Artikel  übernommen  hatte, 
vom  Bezirksgericht  wegen  Verleumdung  und  Beschimpfung  zu  einer 
Bulse  von  500  Fr.  verurteilt.  Die  .Aiipeliation  des  Beklagten  und 
des  Klägers  an  das  Kantonsgericht  ergab  im  wesentliclien  Bestäti- 
gung tlcs  erstinstanzlichen  l'rteils  sowie  die  Zubilligung  einer  Ent- 
schädigung von  100  Fr.  an  den  Kläger.  Die  rrozefsverhandlungen 
und  deren  Präludium  bewiesen  unzweideutig  die  \on  uns  früher 
schon  bemerkte  und  in  ihren  Gründen  dargestellte  Thatsache,  dal's 
der  X'erwalter  sich  nicht  das  rechte  X'erlrauen  bei  der  versicherten 
Arbeiterschaft  erwerben  konnte. 

Schon  am  25.  Juli  1898  beklagte  sich  der  gewesene  Verwalter 
der  Arbeitslo.senkasse  der  .Stadt  .St.  (iallen  in  einer  Mitteilung  an 
die  Presse,  dais  er  bei  Dutzenden  von  Kränkungen  und  Unbilden 
nirgends  .Schutz  gefunden.  Hei  diesem  .Anlals  berichtet  er  ferner, 
dals  das  Bureaupersonal  mit  Titulaturen:  wie  Staatsschwindler, 
.Schelmen  u.  s.  w.  bedacht  wurde.  Auch  meldet  er  den  X'ersuch, 
die  Thüren  einzuschlagen.  Im  Prozefs  selber  tiguriert  unter  den 
Akten  ein  Scluc!l)en  des  X'erwalters  der  Kasse  an  das  Gemeinde- 
amt d.  d.  19.  Januar  1896,  worin  folgendes  ausgeführt  wird: 

„Gestern  wurden  an  180  \'crsichcrte  2000  Fr.  bezahlt  ....  Wir 
haben  morgens  7  Uhr  und  mittags  l'^  Uhr  die  .\rbeit  aufge- 
nommen und  geschafft,  was  möglich  war;  trotzdem  ereigneten  sich 
Scenen  und  Tumulte,  die  .schandbar  sind.  Hierfür  stellen  wir  un- 
verdächtige Zeugen.  Ein  I  eil  der  Bezugsberechtigten  war  wie 
ra.scnd.  Jeder  wollte  der  erste  sein  in  der  Kasse.  Die  Leute 
sticfsen,  drängten,  schupften  sich,  fluchten  einander  an.  Mit  Fäusten 
und  Scimhen  die  Thüren  bearbeitet,  mit  den  Händen  die  drei  SaaU 
fenster.  Zu  allen  drei  Thüren  drängten  sich  die  Leute  herein.  Um 
1 1  Uhr  stieg  die  Unvernunft  so  weit,  dafs,  wenn  nur  ein  einziges 
rasches  Wort  auf  unserer  Seite  gefallen  wäre,  Bureau  und  Kasse 
gestürmt  worden  wären ....  Ohne  polizeiliche  Unterstützung  ist 
eine  Arbeitslosenversicherung  nicht  dankbar." 

Diese  beredte  Schilderung  und  Situationsinalerei  ist  äulserst 
interessant  Sie  drängt  ohne  weiteres'  zur  Suche  nach  ähnlichen 
Tumulten  und  Scenen  in  der  Geschichte  der  Arbeitslosenversiche- 
rung und  der  Fürsorge  für  Arbeitslose.    Unwillkürlich  frägt  man 


Digitized  by  Google 


I>er  gegenwirtige  Staad  der  ArbeitatoMOTcnichentiig  in  der  Sdiweit.     1 1  j 

sich,  ob  die  Arbeitslosen  früherer  Jahre  in  St.  GaUen  sich  ein  ahn» 
liches  Betragen  zu  Schulden  kommen  llefsen.  Die  Antwort  auf 
diese  Frage  ist  um  so  leichter,  als  Polizeidirektor  Zuppinger  die 
Malsnahmen  früherer  Jahre  gegen  die  Arbeitslosigkeit  in  der  Stadt 
St.  Gallen  einer  ebenso  objektiven  als  gründlichen  Schilderung  unter- 
legen hat. ')  Dieser  Augenzeuge  falst  seine  Ansicht  dahin  zusammen, 
da&  einzelne  unerfreuliche  Züge  nicht  dazu  berechtigen,  ein  ungün- 
stiges Urteil  über  die  Arbeitslosen  in  ihrer  Gesamtheit  „auszufallen". 

In  Bern  sind  selbst  in  der  sogenannten  Wärmestube,  in  welcher 
sich  die  Arbeitslosen  taglich  zweimal  zum  Appell  einzufinden  hatten 
und  sich  aber  auch  sonst  aufhalten  konnten,  keine  Störungen  vor- 
gekommen, at^esehen  von  einzelnen  l'ällcn,  wo  Besucher  bezüglich 
Reinlichkeit  zu  wünschen  ührifj  licfsen.  *)  In  den  (ieschäftsberirhten 
der  Stadtkölnischen  Versicherungskas.se  gegen  Arbeitslosigkeit  im 
Winter  sucht  man  el)enfalls  vergeblich  nach  älinlichcn  Klagen. 

Wir  sehen  uns  da  '^^cwisscrmafscn  vor  ein  Rätsel  gestellt.  F^nt- 
weder  zeichnten  sich  die  Arbeitslosen  St.  (lallens,  solange  die  Ver- 
sicherung existierte,  durch  besondere  Rohheit  und  Taktlosigkeit  aus, 
ohne  dafs  die  Verwaltung  imstande  war,  die  Ausbrüche  derselben 
gehörig  zurückzuweisen,  oder  die  Verwaltung  trug  auch  sonst  noch 
einen  Teil  der  Schuld  an  den  erwähnten  Scenen.  Der  Verwalter 
der  Kasse  gibt  den  Schlüssel  zur  Lösung  dieses  Rätsels  übrigens 
selbst  in  die  Hand,  indem  er  die  Ikiiauptnng  aufstellt,  „es  steckt 
nun  einmal  im  gelernten  Arbeiter  ein  W  i-lri  wilic,  zum  Genüsse  der 
Versicheningskassc  zu  greifen,  indem  er  diesen  denufi»  auf  dii  Stufe 
der  Armcngenössigkeit  stellt".  ■  Dieser  Widerwille  gegen  den  Bezug 
von  Entschädigung  ist  jcdcuialls  dem  „gelernten  Arbeiter"  nicht 
angeboren  worden.  So  wenig  sieh  der  ökonomisch  gut  gestellte 
Landwirt  schämt,  die  von  uttentlichcn  Körpern  subventionierte 
Viehversicherung  im  Sehadenfalle  in  Anspruch  zu  nelimen,  gerade 
so  wenig  hat  der  versicherte  Arbeiter  Ursache,  die  Arbeilslosen- 

V  Statii^tik  des  Kantons  St.  Gallen,  II.  Heft.  IHc  Aibeitelosigkeit  in  St.  Gallen. 
<i  schicluc  ih-T  Arbritslosigkeit,  der  Ymichernng  R«*g«'n  ihre  Kolgen  und  drs  Arhotts- 

nachwcisc^j.  IVrn  1895. 

S.  Scherz.  Wrsiclientnj^skassc  gegen  ArbeitsltMigkeii  in  Bern.  Zriivclirift 
für  Schweiz.  Statistik.  Jahrgang  1S94.  S.  305. 

*i  Sparzwatifj,  .\rhfitslos'-ti>t;»tistik  und  Atll•■il^M;^'•ll\v -ii.     <  lut.iclttm  «TMattet 
an   <lai    Li:];;enos>iv:lir  H.in(l<  ls- ,   Imlu^tri**-  und   I  .;n»'iw  irt<rliatt>il.  pnrt- nviit  vom 
Vorort  Zürich  «Irs  M  h\vf  i/..j;ri>ch<-ii  llan<l<  I-.- und  lndusiri<.'vcr«nn.s.  Zürich  1899,  >i.ll. 
Archit  fui  kv>/.  (icicl/gcbuiig  u.  .S(ati>ti^.    XIV.  8 


Dlgitlzed  by  Google 


114 


Emil  Hofmann, 


entschädigung  als  eine  höhere  Form  des  Almosens  zu  betrachten. 
In  St.  Gallen  mag  schon  reitf  äufserlich  die  unglückselige  Ver- 
schmelzung der  Kas^nverwaltung  mit  dem  Armensekretariat  etwas 
zum  Aufkommen  dieser  das  Versicherungsinstitut  schwer  ge« 
iahrdenden  Meinung  beigetragen  haben.  Wurde  aber  diese  Ansicht 
durch  die  Geschäftsgcbahrung  noch  verstärkt,  so  begreift  man  zum 
mindesten,  da(s  das  Verhältnis  der  Versicherten  und  namentlich  der 
Arbeitslosen  zur  Kassenverwaltung  nicht  so  war,  wie  es  hatte  sein 
sollen  und  sein  können. 

Das  Gedeihen  eines  derartigen  Institutes  hän^,  wie  die  Er- 
fahrung zeigt,  wesentlich  \oii  den  mit  der  Leitung  betrauten  Per- 
sönlichkeiten ab.  Verfügen  dieselben  neben  der  nötigen  Geschäfts- 
kenntnis über  entsprecheiulcs  Wissen  und  l)esitzen  sie  vertrauen- 
erweckende Cliaraktereigcnsrhaften,  so  wird  es  ihnen  unter  Um* 
ständen  ;^'elingcn,  theoretiscli  ganz  verfehlte  Institute  am  Leben  zu 
erhahcn  und  auf  gedeihliche  Grundlagen  überzuführen.  Mangelt 
aber  die  nötige  Vorbildung  und  Erfahrung  sowie  die  Fähigkeit» 
sich  in  ganz  neue  Verhä1tnis->e  hineinzufinden,  so  ist  es  selbst  um 
In.stitute  geschehen,  welche  lel)enskTäftig  zu  werden  versprachen» 
ohne  dafs  deren  Leitern  bewufstes  X'erschulden  zuzuschreiben  wäre. 
Sic  sind  vielleicht  der  Ansicht,  ihre  Pflicht  vollständig  zu  erfüllen 
und  freuen  sich  ihrer  I.^istungen,  ohne  das  rngenügende  otler 
Mangelhafte  derselben  einzusehen.  Ganz  richtig  bemerkt  B.  clas 
Kantongericht  St.  Gallen  im  erwähnten  h'alle  hierüber,  dafs  solche 
Behauptungen  im  Zusammenhange  mit  dem  subjektiven  Empfinden 
und  Denken  st  (  In  n  und  aus  einer  rein  objektiven  Tritersuchung  der 
ihr  zu  Grunde  liegenden  Verhältnisse  nicht  absolut  abstrahirt 
werden  können. 

So  moclite  wohl  die  Kassenverwaltung  in  .St.  (i.ilkn  sich  be- 
wufst  sein,  alle  möglichen  Bequemlichkeiten  zur  !  i  leichterung  der 
Prämienzahlung  eingeführt  zu  haben.  .Allein  die  ürweiterung  der 
Bureauzeit  auf  10  Stunden  im  Tage,  die  I\iiifiihrung  der  Stellver- 
tretung bei  tler  Prämienzahlung  sowie  the  .\iisiellung  einer  ...Art 
W'cibel  ",  welcher  die  säumigen  Prämienzahler  zu  Hause  und  bei  der 
Arbeit  aufzusuchen  halle,  sowie  andere  WraiisiaUungen  bewiesen 
blois,  dafs  der  Kassenverwalter  über  die  besten  .Mittel  zur  Lrrcichung 
pünktlicher  Prämienzahlung,  wie  sie  andernorts  üblich,  nicht  im 
klaren  war.  Krst  wenn  der  X'erwalter  diese  Mittel  ebenfalls  ver- 
sucht hätte,  wäre  die  ewii;e  Klage  über  schlechten  l'rämieneingang 
gerechtfertigt  gewesen.    Dais  es  damit  in  Ihat  und  Wahrheit  gar 


Oigltized  by  Google 


Der  gegcnwirtige  Stand  der  Arbettsloscnverricbemiie  in  der  Schweiz.    1 1  ^ 

nicht  so  schlimm  bestellt  war,  diirftt-  ni(  ht  zuletzt  daraus  hervor- 
L,'ehen,  dals  der  Beitrag  tier  ( lemcinde  ' '  St.  dallen  an  die  Arbeits- 
losenkassc  während  ihres  zweijahrii^^en  Ik-standes  ins<,fesaint  12  235  Vr. 
betrafen  hat.  lu  Anbetraclit  der  Anzahl  der  X'ersirherteu  hätte  da- 
mit die  Stadt  bei  eineiu  i^esetzlich  fixierten  MaxiinalbeitniL;  \<>n 
2  Fr.  per  Jahr  und  X'ersicherten  allerlu)chstens  235  Kr.  zu\  iel  be- 
zahlt. ( )b  es  sich  au^a-sichts  dieses  liÖciist  unbedeutenden  Defizites 
lohnte,  über  das  miserable  Resultat  {les  Prämienein^an^'s  zu  jammern 
und  die  .Arbeiter  der  Zahlun^ssrhcu  und  Pflichtvergessenheit  anzu- 
klagen, mag  der  Leser  selbst  beantworten. 

Mit  dem  Arbeitsnachweis  verhält  es  sich  rranz  ähnlich.  .Aller- 
dings versteift  sich  da  der  Verwalter  auf  einen  Hcschlufs  der  Arbeits- 
losenkommi.ssion  \-<m\  4.  und  28.  Dezember   1895,  welcher  daliin- 
ging,   „den   Arbeitsnachweis   im    en,^slen    Raiunen   zu   halten  und 
weder  Statut  noch  Reglement  hierüber  aufzustellen  in  dem  .Sinne, 
dafs  der  (  icmeindcrat  von  sich  aus  mittels  Zirkularen  Meisler  und 
Korporationen  auf  diese  .Arbeitsvermittlung  aufmerksam  mache  und 
sokhe  einladend,  vorkommendenfalls  hiervon  Gebrauch  zu  machen". 
Als  aber   der  Verwalter  die   kläglichen  Resultate   dieser  Art  der 
.Arbeits\  ermittlun(f  bemerkte  und  sich  im  X'erlauf  der  \'ersicherun«::s- 
jähre  von  der  Notwendigkeit  richtig   funktioiüerenden  .Arijeitsnach- 
weises  auch  zur  Konstatii  i  un^^  der  l'nverschuldelheit  der  Arbeits- 
losigkeit überzeugen  konnte,  hätte  er  zum  allermindesten  die  Pflicht 
gehabt,  die  Behörden  hierauf  aufmerksam  zu  machen.     Auch  an 
Wegweisung  hätte  es  ihm  nach  dieser  .Seite  hin  nicht  gefehlt.  Die 
Thätigkeit  der  .Arbcitslosenkassc  der  Sladt  Hern  unterscheidet  sich 
ja  auch  nach  dieser  Seite  Inn  in  angenehm  berührender  Weise  \on 
derjenigen  der  Stadt  St.  (iallen.    Angesichts  des  sozusagen  völligen 
Versagens  rles  .Arlteitsnachweises  ist  es  uns  unerfindlich,  wie  man 
die  paar  Fälle,   wo  nicht  passende  Arbeit  oder  zu  weit  entfernte 
Arbeitsstelle  \"on  Arbeitslosen  zurückgewiesen  wurde,  brt.  il  n<  lilagen 
mochte.    Ebenso  ist  es  uns  unbegreiflich,  warum  in  St.  Ciallcn,  wie 
das  kantonsgcriclitliche  l'rteil  glaubt  konstatieren  zu  können,  die 
Einführung    der    Arbeitslosenversicherung     und    die  Zuversicht, 
bei  Arbeitslosigkeit  eine  tägliche  Kntschädigung  zu  erhalten,  auf 
das  Bestreben,  Arbeit  zu  erhalten,  lähmend  gewirkt  haben  soll.  Lst 
dies  aber  der  Fall  gewesen,  so  lag  es  doppelt  und  dreifach  im 

'   Hc'iiht'-  unil   lahr.srcclinuiijicii  tli-r  politixhcn  (»cmcinde  .Si.  ('»alh-ii  vom 
I.JaHi897  ^'i^  jo-  J""'  1898.  St.  Gallen  (Kuchdruckcrci  Victor  Schmid)  189S,  S.  05. 


Digitized  by  Google 


ii6 


Emil  llofmaan, 


Pflichtenkreis  des  \'cr\valters,  für  Beschati'unoj  von  Arbeit  bedacht 
zu  sein.  Wäre  solche  \orhanden  jijewesen,  so  hätten  die  Arbeiter 
in  St.  (  lallen  dazu  angehalten  werden  können.  Wenigstens  konstatiert 
die  Verwaltung  der  Arbcitsloscnkasse  der  Stadt  Bern,  dafs.  wenn 
Arbeit  angewiesen  werden  konnte,  sich  jeder  Arbeitslose  willig  da/u 
einstellte,  und  dafs  die  lautesten  Zweifler  an  der  wirklichen  Arbeits- 
losigkeit dieser  Männer  am  schnellsten  zum  Schweigen  gebracht 
wurden  tlurch  die  Offerte,  ihnen  sofort  so  viele  Arbeiter  zu  senden, 
ab  sie  beschäftigen  wollen.*) 

Schliefslich  noch  ein  Wort  über  das  Streben  einer  Anzahl 
Arbeiter,  sich  der  Versicherungspflicht  zu  entziehen  und  die  Rolle 
der  Arbeiterschaft  bei  der  Aufhebung  der  Versicherungskasse.  Der 
Widerwille  der  Arbeiter  gegen  die  Arbeitslosenversicherung  in 
St.  Gallen  hat  schon  oft  als  Argument  dienen  müssen,  dafs  es  sich 
wohl  der  Mühe  lohnt,  demselben  auf  die  Spur  zu  gehen.  Den  Ur> 
heber  dieser  Ansicht  braucht  man  wohl  nicht  lange  zu  suchen.  Der 
Verwalter  der  Kasse  hat  in  Zürich  in  dem  auf  &  i  lo  zitierten  Vortrag 
behauptet,  es  hätten  sich  5000  Versicherungspflichtige  einschreiben 
lassen  sollen,  während  man  es  schlielslich  auf  2530  Mann  gebracht 
habe.  Das  Kantonsgericht  konstatiert  nun  in  .seinem  Urteil,  da(s 
diese  Behauptung  nur  insofern  richtig  sei,  „als  man  im  Jahre  1894 
(ur  die  Berechnung  von  5000  Versicherungspflichtigen  den  Einbezug 
der  Gemeinden  Tablat  und  Straubenzell  neben  der  Stadt  Sl  Gallen 
in  Anschlag  gebracht  hatte  und  als  man  bei  Inkrafttreten  der 
Versicherung  im  Jahre  1895  die  Eisenbahn*,  Post«  und  Telegraphen- 
arbeiter, neben  Kommis,  Zeichner,  Bäcker,  Metzger,  Bierbrauer  auch 
als  unter  die  Versicherungskasse  fallend  betrachtet  hatte'*.  Um 
kein  Mifsverständnis  an  dieser  Stelle  aufkommen  zu  lassen,  fiigen 
wir  zur  Kennzeichnung  des  Grades  der  Richtigkeit  erwähnter  Be- 
hauptung bei,  dafs  das  Gutachten  betreffend  die  Gründung  einer 
gemeinsamen  Arbeitslosenversicherungskasse  für  die  Gemeinden 
St  Gallen,  Tablat  und  Straubenzell  für  die  Stadt  St.  Gallen  blois 
3000  versicherungspflichtige  Arbeiter  in  Rechnung  gestellt  hatte.  ^) 
Ebenso  wollen  wir  nicht  anzuführen  vergessen,  dafs  das  Kantons- 


*)  Bericlit  Aber  das  erste  GescliSftsjahr  der  Ver»icherungska.ssc  .\rbeits< 
losigkeit  in  der  Gemeinde  Bern  (ScparaUbdruck  des  Anhangs  zum  Verwaltungsbe» 
rieht  der  Gemeinde  Bern  pro  1893'»,  S.  8. 

^,  IVaktanden  der  Bttrgerversaromlung  der  iwlitischen  Gemeinde  St.  Gallen. 
Sonntag  den  2S.  Oktober  1894,  .S.  a. 


Digitized  by  Google 


Der  gegenwältige  Stand  der  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schweiz.  i 


gericht  die  Zahl  der  jeweilen  nebeneinander  Versicherten  je  nach 
der  Jahreszeit  auf  2800  bb  3000  Mann  veranschlagte.  Diese  beiden 
Zahlen  scheinen  uns  nicht  gerade  einen  grolsen  Widerwillen  der 
Arbeiter  gegen  die  Arbeitslosenkasse  zu  spiegeln.  Es  mögen  sich 
etliche  hundert  Pflichtige  der  Versicherung  zu  entziehen  gewufst 
haben,  aber  nicht  über  Zweitausend,  wie  man  nach  den  nur  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  Hrichtigen"  Behauptung  des  ehemaligen 
Kassenverwalters  glauben  möchte. 

Die  Rolle  der  Arbeiterschaft  bei  der  Aufhebung  der  Ver- 
sicheningskasse  erscheint  insofern  in  einem  milderen  Lichte,  als  der 
Verwalter  der  Arbeitslosenkasse  vor  Gericht  ausdrücklich  bestritt, 
von  einem  ,,geschlossenen"  Verwerfen  der  Fortfiihrung  der  Arbeits- 
losenversidierung  seitens  der  Arbeiterschaft  gesprochen  zu  haben. 
Uebrigens  ist  wohl  auch  die  abgeschwächte  Behauptung,  dafs  die 
Arbeiter  für  Abschaffung  der  Arbeitslosenversicherung  stimmten, 
nicht  ganz  richtig.  Wenigstens  verwahrte  sich  die  Vorstande» 
Versammlung  der  Arbeiterunion  der  Stadt  St  Gallen  in  ihrer  Sitzung 
vom  28.  Juli  1898  energisch  gegen  die  Behauptung,  „da(s  die 
oiganisierte  Arbeiterschaft  von  diesem  Institute  nichts  wissen  wollte 
und  dafs  sie  die  Schuld  an  dessen  Beseitigung  trage^ 

Diese  Darstellung  spiegelt  die  Stellung  des  gewesenen  Kassen- 
verwalters zu  dem  Institut  so  deutlich,  dals  wir  daraus  keine 
weiteren  Konsequenzen  zu  ziehen  brauchen. 

H.  Das  Gut  achten  des  X'ororts  des  schweizerischen 
Handels-  und  Industrievereins. 

Bekanntlich  hatte  das  eidgen.  Industrie-  und  Land  Wirtschafts- 
departement  durch  ein  Kreisschreiben  vom  30.  November  1894 
unter  anderen  auch  den  Vorort  des  schweizerischen  Handels-  und 
Industrie- Vereins  eii^laden,  eine  Reihe  von  Fragen  betrefTend 
Arbeitsnachweis  und  Schutz  gegen  die  Folgen  unverschuldeter 
Arbeitslosigkeit  zu  beantworten.  Den  Anlafs  zu  diesem  Kreisschreiben 
bildete  ein  Postulat  des  Nationalrates  anläfslich  der  Verhandlungen 
über  ,J>as  Recht  auf  Arbeit"  in  der  junisession  1894.  Das  Ziel 
derselben  war,  zur  Berichterstattung  über  das  Postulat  der  Räte 
Material  zu  sammeln  über  „Ursachen,  Umfang  und  Dauer  der  Arbeits- 
losigkeit, die  hauptsächlich  betroffenen  Berufsarten,  das  Verhältnis 
der  Zahl  der  Unbeschäftigten  zu  derjenigen  der  lieschäftigten  nach 
Berufsarten"  und  die  .Ansichtäufserung  der  interessierten  Kreise  über 


Digitized  by  Google 


Il8 


Emil  HofmanOt 


die  Arbeitslosenversicherung  etc.  bis  zum  30.  Juni  1895  zu  ver- 
nehmen. Der  Zentralvorstand  des  Schweiz.  Gcwerbevereins  ver- 
anstahetc  hierüber  eine  Erhebung,  deren  Resultate  Ende  September 
1895  bearbeitet  vorlagen  und  sjiätcr  als  XIV.  Heft  der  „Gewerb- 
lichen Zeitfragen"  publiziert  wurden.')  Der  X'orort  des  schweize- 
rischen  Handels-  und  IndustricA'crcins  liels  sich  zur  Beantwortung 
dieser  Frage  etwas  mehr  als  vier  Jahre  Zeit,  indem  sein  Gutachten 
vom  20.  März  1899  datiert  ist. 

Auf  die  Begründung  dieser  Verzögerung  mit  dem  Abwarten 
„der  Erfahrungen  bei  diesbezüglichen  Versuchen,  welche  in  mehreren 
schweizerischen  Städten  gemacht  wurden",  treten  wir  nicht  naher  ein. 
Wir  bemerken  blols,  da(s  die  Arbeitslosenversicherung  der  Stadt 
St  Gallen  beim  Erscheinen  des  Ghitachtens  schon  nahezu  zwei  Jahre  ' 
aufgehoben  war  und  die  Greschaftsberichte  der  Arbeitslosenkasse  der 
Stadt  Bern  schon  langst  nicht  mehr  viel  neue  Beobachtungen  mit- 
zuteilen vermochten.  Auch  der  Sparzwang  war  damals  schon  ziem- 
lich lange  von  Professor  Georg  Schanz  der  Arbeitslosenversicherung 
gegenübergestellt  worden. 

Das  Gutachten  selber,  soweit  es  die  Arbeitslosigkeit  betrifft,  ist 
folgendermalsen  g^Hedert: 

I.  Einleitung. 

1 )  Die  Voten  der  Sektionen  des  schweizerischen  Handeb-  und 
Industrie -Vereins  zum  Kreisschreiben  des  eidgenössischen 
Industrie-  und  Landwirtschaftsdepartements  vom  30.  No- 
vember 1894. 

2)  Nachteile  der  Arbeitslosenversicherung. 

3)  Der  Sparzwang,  sein  Prinzip,  seine  Vorteile  und  Nachteile. 

4)  Verfassungsrechtliches. 

n.  Statistik  der  arbeitslosen  Sparpflichtigen. 

1)  Bedürfnis  nach  einer  Arbeitslosenstatistik. 

2)  Die  Sparpflichtigen  Personen. 

3)  Meldewesen  in  der  Sparverwattung. 

4)  ßerufekategorieen  und  Lohnklassen. 

5)  Statistische  Ermittlungen. 

*)  Bericht  und  Gntachten  an  das  Schweizerische  Industriedepartemoit  betreffend 
Arbeitslosigkeit  and  Arbeitsnachweis.  Auf  Grund  der  vom  Schweizerischen  G<nvcr1>e- 
vcrein  veninstalten  diesbezUglichi-n  L'rhelnmpen  erstattet  vom  ZentralvorsUnd  des 
Schwcizcris.  Inn  ( 'icwerbcvcrcins.  Aii^^rai S.  it.  t  von  Dr.  jur.  Arthur  CurtL  Zürich 
(Verlag  des  Schweueriscben  Gewcrbcvcrciiiü^  1^96. 


Digitized  by  Google 


Der  gegenwärtige  Stand  der  Arbciuloacnvcrsicberung  in  der  Schweiz.  { 

HI.  Der  Sparzwang. 

1)  Theoretische  Darstellung  des  Prinzips  des  Sparzwanges. 

2)  Erhebung  der  Einlagen. 

3)  Die  täglichen  Bezüge  während  der  Arbeitslosigkeit. 

4)  Wechsel  des  Arbeits-,  Wohn>  oder  Heimatortes  des  Spar- 
pflichtigen. 

5)  Heimfall  des  Gesparten. 

6)  Organisation  und  Rechnungswesen  der  Sparverwaltung. 

7)  Rechtsverhältnisse. 

Bei  der  Zurückhaltung,  mit  welcher  die  Idee  der  Arbeitslosen* 
Versicherung  innerhalb  des  Kreises  der  Sektionen  behandelt  wird  und 
der  Ansicht,  dafe  es  sich  für  die  einzelnen  Industrieen  nicht  darum 
handle,  ob  die  Arbeitslosenversicherung  nötig  oder  nützlich  sei, 
sondern  bei  Zeiten  Stellung  zu  nehmen,  damit  der  Industrie  nicht 
ein  unerträgliches  System  aufgezwungen  werde,  ist  die  Bevorzugung 
des  Sparzwanges  von  dieser  Seite  leicht  verständlich.  An  die  Stelle 
des  Versicheningszwanges  soll  der  Sparzwang  treten,  damit  nicht 
nur  jeder  Beruf,  sondern  auch  jede  Einzelperson  ihr  eigenes  Risiko 
trage  und  zu  decken  suche.   Von  diesem  Standpunkte  aus  ist  es 
begreiflich,  dafs  das  Gutachten  dem  Spantwang  noch  mehr  Vorteile 
und  der  Arbeitslosenversicherung  noch  mehr  Mifslichkeiten  zuschreibt 
ab  Schanz  selber.   Allerdings  ist  das  Gutachten  hierin  nicht  be< 
sonders  glücklich.   Dasselbe  fuhrt  als  „MiCsstand"  der  Arbeitslosen- 
versicherung die  Thatsache  an,  dafs  zwischen  dem  erschöpften  Maximum 
von  Unterstützungstagen  und  dem  Wiederbeginn  der  Unterstützungs- 
berechtigung eine  bestimmte  Beitragszeit  liegen  müsse,  während 
beim  Sparzwang  grundsätzliche  Unbeschränktheit  der  Bezugsberecli- 
tigung  bestehe.  Die  Begründung  dieses  Vorzugs  fufst  darauf,  dafs 
infolge  der  vollständigen  Unabhängigkeit  der  Guthaben  voneinander 
ein  bezugsberechtigter  Sparpflichtiger  so  lange  Bezüge  machen  könne, 
als  er  ein  Guthaben  habe.    Leider  steht  diese  Begründung  auf 
äu(serst  schwachen  Füfsen.  Versucherte,  welche  unter  regclmäfsigcr 
Arbeitslosigkeit  leiden ,  werden  wohl  schwerlich  \'on  einer  arbeits- 
losen Periode  zur  anderen  soviel  sparen,  als  sie  bei  der  Versicherung 
im  Maximum  zu  beziehen  hätten.    Ist  aber  das  Sparguthaben  auf- 
gezehrt, so  verfliefst  auch  beim  Sparzwang  natui^emäfs  eine  be- 
stimmte Zeit,  während  welcher  wieder  Einladen  gemacht  werden 
müssen,  bevor  Bezüge  erlioben  werden  können.* 

Dem  Sparzwan^  wird  als  Vorzug  nach<:,'dvdct,  tlal's  er  in  Zeiten 
von  grofsen  Krisen,  Kriegen  u.  5.  w.  dem  wirtschaftlich  schwächeren 


Digitized  by  Google 


120 


Emil  Ilofmann, 


Teil  der  Bevölkerung  einen  finanziellen  Rückhalt  biete,  mittels  dessen 
dieser  während  der  Dauer  seiner  spezifischen  Arbeitslosigkeit  über 
Wasser  gehalten  werden  könne.  Dasselbe  soll  diese  „thatsachliche 
Volksversicherung"  auch  bei  einem  aufserordentlichen  Steigen  der 
Lebensmittelpreise  leisten,  wo  die  Guthaben  durch  ein  Spezialgesetz 
tlcn  Eigentümern  eröffnet  werden  konnten.  I^der  würde  dieses 
Ziel ,  dessen  Tragweite  und  Bedeutung  übrigens  nicht  unbestritten 
bleiben  dürfte,  nur  bei  dem  Bruchteile  der  Bevölkerung  erreicht, 
welcher  wenig  unter  der  Arbeitslosigkeit  zu  leiden  hat  Trotz  dieser 
nicht  allzu  fern  liegenden  Krwägung  wird  der  Sparzwang  unter  dem 
Gcsiclitsi)uiiktc  einer  Volks  Versicherung  gegen  die  Folgen  wirt- 
schaftlicher Krisen  behandelt,  wie  aus  der  Darstellung  des  Projekts 
unzweideutig  lier\'orgehen  dürfte. 

Dies  zeigt  sich  namentlich  in  der  l'ingrenzung  des  X'ersicherungs- 
kreises,  welche  im  Anschlufs  an  den  Entwurf  eines  Bundcsgcsctze> 
betr.  die  Krankenversicherung  folgendermassen  bestimmt  werden  soll: 

„Alle  in  der  Schweiz  und  innerhalb  einer  bestimmten  Grenz- 
Zone  der  Nachbarstaaten  ihren  rechtlichen  Wuhnsitz  habenden,  un- 
selbständig erwerbenden  männlichen  und  weiblichen  Personen,  welche 
auf  schweizerischem  Gebiete  oder  vorübeiigehend  im  .Ausland  im 
Auttrag  eines  in  der  .^rliwciz  domizilierten  schweizerischen  Arbeit- 
gebers in  inländischen  (Wrkehrs-,  industriellen,  gewerblichen,  kauf- 
mänfiiMMu  ii ,  l  uul-  und  forstwirtschaftlichen t  Betrieben  oder  in  in- 
ländischen Zweigniederlassungen  ausländischer  Betriebe  genannter 
Art  arbeiten,  sowit-  <lic  Taglöhncr  inländischer  Arbeitgeber  und  die 
Dienstboten  inländischer  Haushaltungen  sind  vom  zurückgelegten 
14.  AUersjahr  an  sparberechtigt  und  sparpflichtig,  sofern  ihr  jähr- 
Ii  hes  Hinkommen  nicht  weniger  als  600  und  nicht  mehr  als  1800  Fr. 
beträgt,  wobei  einen  Teil  des  Lohnes  ausmacheiuie  .Naturalleistungen 
eingerechnet  werden.  Nicht  sparpflichtig  sind  diejenigen  Personen, 
deren  jährliches  Bar- Einkommen  nicht  den  Betrag  von  200  Fr.  er- 
reicht. 

Selbstverständlich  macht  diese  geradezu  kühne  Ausdehnung  des 
Sparzwangs  ein  ziemlich  verwicktltos  .Meldewesen  nötig.  Da  erhält 
jeder  Sparj  »flichtige  von  der  Sparbehörde  seines  Wuhnorts  ein  Spar- 
und  Arbeitsl)üchlein  sowie  eine  Sparkarte,  welche  der  .\rbeitgeber 
einzuziehen  hat,  sofern  der  Sparpflichtige  mehr  als  einen  Tag  bei 
ihm  arbeitet,  um  darin  das  Datum  des  Diensteintritts,  die  anfangliche 
Lohnklasse  und  eventuelle  .\enderungen  sowie  das  Datum  der  F.nt- 
lassung  zu  notieren.   Der  Arbeiter  daK  diese  Papiere  erst  zuruck- 


Digitized  by  Google 


gegenwärtige  Stand  der  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schweis.  |2I 


x'crlangea  und  zurückerhalten,  wenn  er  den  Arbeitsvertrag  aufheben 
wiU;  denn  solange  der  Sparpflichtige  diese  Papiere  in  den  Händen 
hat,  wird  er  als  arbeitslos  behandelt  und  gilt  als  bezugsberechtigt. 
Die  Gesamtheit  der  Sparpflichtigen  bildet  eine  Korporation  mit 
eigener,  vom  Staate  getrennter  Rechtspersönlichkeit  Das  Gebiet  der 
Schweiz  wird  in  Sparbezirke  eingeteilt,  welche  die  Gemeindespar* 
behörden  zusammenfassen  sollen.  Die  Arbeitgeber  werden  in  melde- 
pflichtige und  nicht  meldepflichtige  unterschieden,  während  die 
Arbeiter  unterschieden  werden:  in  solche  mit  gleichem  festen  Wohn« 
und  Ai1>eitsort,  in  solche  mit  festem  Wohnort  und  wechselndem 
Arbeitsort,  in  solche  ohne  festen  Wohnort  und  ohne  festen  Arbeits- 
ort, in  solche  mit  festem,  aber  verschiedenem  Wohn-  und  Arbeits- 
ort, in  solche  mit  festem  Arbeitsort  und  wechselndem  Wohnort  und 
schlielslich  in  Arbeiter  aulserhalb  des  Geschäftsdomizils  oder  im 
Ausland.  Die  Berechnung  des  in  Waren  bezogenen  Lohns  und  die 
Umrechnung  des  Akkordlohns  in  Stücklohn,  die  Führung  der  Spar- 
pflichtigen-Register, die  Vierteljahrsrevtsionen ,  die  Meldungen  und 
Eintragungen  der  Arbeitgeber  erwähnen  wir  nur,  um  ungefähr  einen 
Begriff  von  der  Kompliziertheit  dieses  Meldewesens  zu  geben. 

Aehnliches  gilt  von  der  Einteilung  der  Sparpflichtigen  in  Be- 
rufekategorieen  und  Lohnklassen  zur  Ermittlung  der  Arbeitslosig- 
keitsdauer, welche  mafsgebend  ist  fUr  die  Hohe  der  täglichen  Ein- 
lagen und  Bez%e.    Von  je  gröfserer  Dauer  die  durchschnittliche 
Arbeitslosigkeit  ist,  um  so  höhere  Einzahlungen  müssen  gemacht 
werden.    Ist  deren  Dauer  kurz,  z.  B.  5  Tage  jährlich,  so  wird  zu- 
nächst nur  ein  für  5  Tage  ausreichendes  Guthaben  gesammelt.  Die 
Grrölse  der  Arbeitslosigkeit  ist  mehr  oder  weniger  gegeben,  ebenso 
die  Höhe  der  Einzahlungen  und  der  Bezüge.   Erstere  sollen  für  den 
Arbeiter  etschwii^lich  sein,  letztere  in  der  Regel  nicht  unter  das 
Existenzminimum  herabsinken.   Sparpflichtigen,  welche  nicht  einmal 
die  für  die  niedrigsten  Bezüge  notwendigen  Einzahlungen  machen 
können,  sollen  die  Arbeitgeber  Beitrage  leisten  und  zwar  nach 
einem  Vertdlungsmafsstab,  der  den  Arbeiter  um  so  mehr  bezahlen 
läfst,  einen  je  geringeren  Bruchteil  die  gesamte  Einzahlung  auf  seinen 
Lohn  ausmacht  und  umgekehrt  den  Arbeitgeber  um  so  mehr  leisten 
heilst,  je  stärker  der  Arbeiter  belastet  ist.  Die  Beiträge  der  Arbeit- 
geber beginnen  erst,  wenn  die  tägliche  Einlage  mehr  als  6%  des 
Tagelohns  ausmacht  und  sollen  zwischen  I  und  5%  desselben 
schwanken.   Als  oberste  Grenze  für  die  ganze  Einlage  werden  1 5 
vom  Lohn  angenommen,  wozu  der  Arbeiter  10%  und  der  Arbeit- 


L^iyiii^uü  Uy  Google 


122 


Emil  Hofmann, 


geber        zu  lebten  hätte.    Das  Minimum  des  taglichen  Bezugs 
soll  ein  Drittel,  das  ll/foximum  die  Hälfte  des  Tagelohns  der  durch* 
schnittlichen  Lohnldasse  des  Bezügers  ausmachen  und  zwar  in  der 
Weise,  dafs  das  Maximum  des  Bezugs  auf  das  Minimum  der  Dauer 
der  Arbeitslosigkeit  (5  Ta^e),  das  Minimum  des  Bezugs  aber  auf 
das  Maximum  der  Arbeitslosigkeit  (90  Tage)  zu  fallen  kommt,  die 
zwischen  Maximum  und  Minimum  des  Bezugs  liegenden  Beitri^ 
werden  ^leichmäfsig  auf  die  Stufen  der  Arbeitslosigkeit  verteilt.  — 
diese  Stufen  steigen  von  5  zu  5  Tagen  —  so  dal's  für  jede  Stufe 
der  Arbeitslosigkeit  einem   bestimmten  l.oiin  auch  ein  täglicher 
Bezug  entspricht    Die  tägliciien  Beziige  sollen  zwischen  0.5  und 
2  Fr.    -hw  inkcn.    Die  täghchen  Einlagen  betragen  beim  Minimum 
der   durchscimittlichen    Arbeitslosigkeit   0,8 — 3,4  Cts.     Bei  einer 
durchschnittlichen  Arbeitslosigkeit  von  45  Tagen  kann  der  Zwangs« 
Sparer  mit  einer  täglichen  Einlage  von  8,8  Cts.  sich  eine  tägliche 
Entschädigung  von  50  Cts.  und  mit  35,3  Cts.  eine  solche  von  2  Fr. 
sichern.    Sind  schon  diese  Beiträge  für  die  Arbeiter  einfach  uner 
schwinglich,  so  gilt  dies  noch  viel  mehr  von  den  Berufsklassen  mit 
einer    längeren    durchscimittlichen    Dauer    der  Arbeitslosigkeit. 
Wenigstens  ist  es  uns  einfach  unrrfnKllich,  wie  die  von  der  Arbeits- 
losigkeit am  stärksten  bedrohten  Arbeiter  täglich  21,4—85,7  Cts. 
ersparen  sollen.     Das  Gutachten  allerdings  scheint  sicli  deswegen 
keine  grofse  IHe( lenken  zu  machen.    Es  täuscht  sich  hierüber  mit 
folgenden  Worten  hinweg:  „Die  Ersparung  der  Sperrsumme  kann 
wohl  von  niemandem  als  eine  grofse  Last  empfunden  werden,  denn 
diejenigen,  die  relativ  hohe  Einlagen  machen  müssen,  haben  eine 
Sparsumme,  die  kaum  viel  niedriger  ist  als  die  Sparsummc,  und  es 
fällt  deshalb  für  diese  ein  erhebliches  Weitersparen  weg.    Bei  einigen 
Berufen  wird  die  Sperrsunnne  bereits  in  der  Sparsumnie  enthalten 
sein.     Am  längsten  sparen  müssen  die,  welche  nur  kleine  Beträi^e 
einzule;j^en   haben;   dic.sc  können   al)er  sehr  leicht  Jahre  hindurch 
sparen,  um  zu  einem  Reserwfond  zu   k<Mn.meii.  wenn  andere  viel 
höhere  I-,inla;.^en  Jahr  für  Jahr,  <»hne  he^linnnle  Zeilgreiize.  machen 
Muissrii,  nur  um  sich  i,^<'i;en  die  \rl)eitNl(>>i!.d<eit  eines  einzij:,^cn  Jahres 
zu  schutzeil."     Die  1  iauptklii>pr   diocs  l'Kijekles   lie^t  darin,  dais 
wir  auf  dei'  ciiii-ti  Seite  einfach  uner>chwini,diche  Beiträge  und  aut 
der   anderen  Seile    i;eringlüi;i^e   Lei>lunt;en    haben.     Die  LVsache 
hier\  <)n  liegt  in  dem  i;.inz  un\  erl>lumt  iier\  <  )i  tretenden  Streben,  den 
Arl)eilL;ebern  mc^lichst  ;^erinL,a'  Lasten  zu/nmulen  und  tlie  Gemein- 
den und  den  Staat  nur  durch  die  Leberbindung  der  \'ersvaltungs- 


i^iyui^ud  by  Google 


DcT  gegenwärtige  Stand  der  Arbeitslosenversichemng  in  der  Schweix.  123 

kosten  zu  belasten.  Es  ist  hier  nicht  die  Stelle,  die  Beitn^;spflicht 
der  Arbeitgeber  theoretisch  zu  beleuchten.  Dagegen  möchten  wir 
darauf  hinweisen,  da(s  es  sogar  der  Zentralvorstand  des  Schweizer 
riscben  Gewerbevereins  für  selbstverständlich  hält,  zur  Ermöglichung 
der  Arbeitslosenversicherung  neben  Arbeitern,  Gemeinden,  Kantonen 
und  Bund  auch  die  Arbeitgeber  zu  angemessenen  Beitragen  herbei- 
zuziehen.Ebenso  können  wir  es  uns  nicht  versagen,  auf  ein 
Referat  in  der  Delegiertenversammlung  des  Schweizerischen  Handels- 
und Industrievereins  aufmerksam  zu  machen  und  daraus  folgende 
Stellen  zu  zitieren : , Jst  aber  einmal  eine  Industrie  oder  ein  Gewerbe 
so  gestellt,  dafs  sie  für  eine  Fürsorge  gegen  Arbeitslosigkeit  nicht«: 
mehr  erübrigen  und  nur  durch  Mithilfe  der  übrigen  Arbeitenden 
das  Benötigte  zusammenbringen  kann,  so  verzichte  man  auf  deren 
Weiterfuhrung.  Oft  wird  man  übrigens  die  Erfahrung  machen,  dafs 
es  bei  diesem  Gewerbe  gar  nicht  vom  Können,  sondern  nur  vom 
Wollen  abhängt  und  daCs  sie  es  vorteilhafter  finden,  wenn  der  Staat 
oder  die  Stadt  die  Arbeitslosen  für  drei  Monate  übernimmt,  als  dafs 
sie  es  selbst  thun.  Niemand  wird  doch  behaupten,  dafs  z.  B.  das 
Baugewerbe  in  Zürich,  das  zur  Zeit  in  solcher  Blüte  steht,  nicht 
seine  Arbeitslosen  —  soweit  es  gelernte  Arbeiter  sind  —  zu  er- 
halten vermöchte.  Man  versuche  es  und  es  wird  gehen.  Wahr- 
licinlich  werden  dann  aber  auch  die  Arbeitslosen  in  dieser  Branche 
abnehmen;  denn  wenn  der  Unternehiupr  weife,  dafs  sein  Beitrag 
erhöht  wird,  sobald  die-  Ansprüche  an  die  Kasse  wachsen,  so  wird 
er  sicli  mit  der  Herbeiziehung  neuer  Kräfte  für  kurze  Zeit  mehr  in 
acht  nehmen  als  bisher."  ^) 

Diese  Fürsor<^e  für  die  Arbeitgeber  erstreckt  sich  aber  noch 
weiter.  In  allen  Fällen,  in  welchen  die  geringen  Löhne  der  Ar- 
beiter samt  grofsem  Risiko  der  Arbcitslosi^^keit  die  Arbeitgeber  zur 
fieitragsleistung  zwingen,  sollen  die  Beiträge  der  Arbeitgeber  sofort 
aufhören,  wenn  die  einfache,  d.  h.  die  in  einem  Jahre  zu  ersparende 
Sparsumme,  bezw.  iiir  iMchrfachcs  erreicht  ist.  Auf  diese  Weise 
brächte  man  es  glücklich  dazu,  den  Arbeitern  mit  erreichter  Spar- 


XIV.  Heft  der  gewerblichen  Zritfragen.  Zürich  (Verlag  des  Schweizerischen 
Gewerbevereins)  1896,  S.  78. 

*)  Zur  Frage  der  Arbeitslosenversidieroiig.  Referat  gehalteo  von  Dietrich 
Schindler-Httber  in  der  Delegiertenvertamrolung  des  Schweizerischen  Handrls* 
und  Industrievereins  am  27.  Aprtt  189$.  Zürich  (Druck  von  Ulrich  &  Cie.  im  Bericht- 
hans),  S.  19  f. 


Digitized  by  Google 


124 


Emil  Hofmann, 


summe  auf  dem  Arbeitsmarkte  einen  grofeen  Vorteil  tm  verschafien. 
Die  Unternehmer  würden  selbstverständlich  solchen  Arbeitern  den 
Vorzug  geben  vor  denen,  für  welche  sie  Beitrage  in  die  Sparkasse 
zu  leisten  hatten.  Die  Arbeiter  aber  würden,  um  die  Konkurrenz 
auch  nach  dieser  Seite  hin  aushalten  zu  können,  eifrig  bestrebt  sein, 
die  gesparte  Summe  niemals  anzutasten.  Hunger  und  Not  jeder 
Art  würden  sie  während  der  Periode  der  Arbeitslosigkeit  bis  an 
die  äufserste  Grenze  ertragen,  um  nicht  wegen  des  ganz  oder  teil- 
weise erschöpften  Spai^thabens  beim  Erlangen  einer  neuen  Arbeits- 
stelle gehemmt  zu  sein.  Dazu  wird  das  Aufhören  der  Beiträge  der 
Arbeitgeber,  wie  Schanz  richtig  hervorhebt,')  die  Sache  komplizieren, 
abgesehen  davon,  dafs  weitere  Zuschüsse  infolge  der  übrigen  gün- 
stigen sozialen  Wirkungen  ohne  weiteres  gerechtfertigt  werden  können. 

Nach  dem  Vorangegangenen  mufs  man  sich  wundem,  da(s  beim 
Todesfall  eines  Sparpflichtigen  der  von  den  Arbeitgebern  zum  Gut- 
haben geleistete  Beitrs^  nicht  an  diese,  sondern  entweder  an  die 
Erben  oder  unter  Umständen  der  Spnrverwnitung,  „hcimfallen"  soll, 
welche  dieses  Geld  in  erster  Linie  zur  Entschädigung  der  Arbeiter 
für  unerhältliche  Beiträge  von  Arbeitgebern  zu  verwenden  hat.  Von 
ähnlicher  Gesinnung  zeugt  das  voi^eschlagene  Verhalten  der  Spar* 
verwaltunj:^  bei  Ausstand  und  Aussperrung;.  Wo  keine  Kinlagen 
von  Arbeitgebern  in  Guthaben  sind,  soll  unbedingte  Bezugsberech- 
tigung bestehen,  wenn  die  formellen  V'oraussetzungen  der  Arbeits- 
losigkeit gegeben  sind.  Sind  dagegen  Einlagen  dritter  vorhanden, 
so  hat  der  Arbeitgeber  bei  Ausstand  oder  Aussperrung  das  Recht, 
zunächst  für  einen  Monat  Sperrung  sämtlicher  im  Guthaben  ent- 
haltenen Beiträge  der  Arbeitgeber  zu  verlangen.  Bei  Ausstand  kann 
diese  Sperrung  noch  verlängert  werden.  Diese  Bestimmung  Ijürdet 
der  .Sparverwaltung  wiederum  eine  ziemlich  kom|)Iizierte  Aufgabe 
auf.  Deshalb  wäre  eine  andere  Regelung  dieser  Verhältnisse  schon 
aus  diesem  Grunde  erwünscht,  abgesehen  davon,  dafs  Professor 
Dell)rii.  k  einen  Vorschlag  zur  Lösung  dieser  Schwierigkeiten  ge- 
macht hat,  welcher  geeignet  wäre,  die  unvermeidlichen  Kämpfe 
zwischen  Kapital  und  .\rbeit  abzustumpfen,  und  das  Strikcwesen 
mit  all  .seinem  Elend  und  seiner  namenlosen  X'erbitterung  zurück- 
zudrängen, ohne  die  Arbeiter  in  ihren  berechtigten  Forderungen  zu 
schädigen. 


Georg  Schanz,  Zur  Frage  der  Arbeitsloienverskhrniiig.   Bamberg  1845, 

S.  179. 


uiyiii^cü  Uy  Google 


l>er  geg«awärtige  Stand  der  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schwei«.  125 

Leider  scheint  dieser  so  schöne  Gedanken  wie  manch  anderer 
bei  den  Verfassern  des  Grutachtens  keinen  fruchtbaren  Boden  ge- 
funden zu  haben. 

Trotz  der  Erfahrungen  der  Arbeitslosenversicherung^  der  Stadt 
St.  Gallen  hinsichtlich  der  Verwaltung  und  der  sozusagen  allseitig 
anerkannten  Forderung,  der  Arbeiterschaft  einen  möglichst  grofsen 
Einflufs  auf  die  Verwaltung  derartiger  Institute  einzuräumen,  finden 
wir  im  Gutachten  hiervon  keine  Spur.  Dasselbe  beschränkt  sich  auf 
den  Rat,  (fie  VerwaltungssteUen  möf^ichst  mit  den  staatlichen  kom> 
munalen  Amtsstellen,  bei  denen  ähnliche  Meldungen  zu  machen  sind, 
zu  verbinden.  Dadurch  wird  die  Frage  der  Beteiligung  der  Arbeiter 
und  Arbeitgeber  an  der  Sparverwaltung  glücklich  umgangen,  wenn 
man  auch  über  die  Art  einer  alUSUigen  Lösung  durch  das  Gut- 
achten kaum  im  Zweifel  sein, kann.  Als  notwendige  Ergänzung  des 
Sparzwangs  wird  die  Arbeitsvermittlung  genannt.  Wie  denn  der 
Arbeitsnachweis  in  den  Kreisen,  welchen  das  Gutachten  entstammt, 
als  erstes  und  vornehmstes  Ziel  aller  Bestrebungen  zur  Abhilfe  gegen 
die  Arbeitslosigkeit  gilt.') 

Die  Organisation  dieser  Arbeitsvermittlung  wird  in  engster  Ver- 
bindimg  mit  der  Sparzwangverwaltung  gedacht  Die  Bureaus  der- 
selben, welche  sich  in  jeder  politischen  Gemeinde  befinden,  teilen 
die  bei  ihnen  gemeldeten  Entlassenen  und  Entlassenden  einer  Zentral» 
stelle  mit,  welche  periodisch  diese  Meldungen  den  anderen  Spar- 
behörden  und  sonstigen  Interessenten  bekannt  macht  Die  Bezirks- 
sparbehörden geben  wöchentlich  ein  Arbeitsbulletin  heraus,  während 
iur  Berufe,  in  denen  die  regelmä&ige  Wanderung  der  Arbeiterschaft 
sich  über  mehr  als  einen  Sparbezirk  erstreckt,  die  ganze  Schweiz  um« 
filssende  Bulletins  herausgegeben  werden.  Den  Arbeitern  und  .Arbeit- 
gebern steht  es  frei,  bei  ihren  Meldungen  und  Einsendungen  der 
Sparbehörde  das  Recht  und  die  Pflicht  zu  übertragen,  den  Arbeits- 
vertrag (ur  sie  direkt  gegen  eine  geringe  Taxe  abzuschliefsen.  Auf 
diese  Weise  soll  jeder  seinen  Arbeitsnachweis  unentgeltlich  besorgen 
können. 

Trotz  der  anerkennenswerten  Mühe,  welche  sich  das  Gutachten 
zur  mathematischen  Formulierung  des  Prinzips  des  Sparzwangs  ge- 
geben und  des  grofsen  .Aufwands  von  Scharfsinn  bei  der  tlieoreti- 


hierzu:  Bericht  Ober  Handel  und  Industrie  im  Kanton  Zürich  fUr  da 
Jalir  1S94.    Hmusgegebcn  von  der  Kaufmännischen  Ctesellschaft  Zürich.  Zürich 
(Art.  Institut  OrcU  Fdüslij  1895,  S.  14. 


Digitized  by  Google 


126 


Emil  Hofmftnii, 


sehen  Ausgestaltung  des  Projektes  und  der  subtilen  Behandlung  eines 
Teils  der  in  Betracht  fallenden  Verhältnisse,  haftet  dem  Projekt 
weithin  sichtbar  der  Stempel  der  Undurchftihrbarkeit  an.  Es  ist 
dies  umsomehr  zu  bedauern,  als  andrerseits  das  Projekt  mit  seiner 
Ausdehnung  des  Versicherungskreises  einen  Zug  ins  Gro(se  verrät 
und  bei  richtiger  Würdigung  der  Belastungsiahigkeit  der  Arbeiter 
und  der  ökonomischen  Leistungsiahigkeit  der  Unternehmer  sowie 
der  Beitragspflicht  der  Gemeinden,  Kantone  und  des  Bundes  einen 
wesentlichen  Beitrag  zur  Frage  des  Sparzwangs  abzugeben  imstande 
gewesen  wäre. 

• 

III.  Die  Stadtbernische  Versicherungskasse  gegen 

Arbeitslosigkeit. 

Diese  frciwillij^c  WMsichcriiiv^skasse  zeigt  seil  dem  Jalire  1894  9$, 
welches  mit  544  \'ersic!ierteii  den  luichsten  \'ersicherungsljcstaii>l 
erreichte,  eine  hesländij^e  Al)riahine  der  Nhti^Hederzahl.  Am  3I.März 
1897  betru^:^  dieselbe  iioeh  494,  ein  Jahr  sjjätcr  431.') 

Als  l  rsache  dieses  autliilii|::^en  Abnehniens  des  Mitgliederbestandes 
ist  neben  dem  geringeren  Zuwachs  an  neuen  Mitgliedern  die  Zu- 
nalime  der  Mitglieder  zu  nennen,  welclie  wegen  Nichtbezahlung  der 
Beiträge  gestrichen  werden  mulsten.  So  mufsten  beispielsweise  im 
Geschäftsjahr  1S9798  von  612  Mitgliedern  181,  also  beinahe  ein 
Dritleil,  aus  diesem  (  n  unde  von  der  Mitgliederliste  gestrichen  werden, 
trotzdem  im  Jahre  189697  in  Aiiweichung  von  den  Ausfiihrungs- 
bestimmungcn,  welche  nur  einen  zweimonatlichen  Rückstand  ge- 
statten, derselbe  auf  fünf  Monate  ausgedeiint  wurde.  Die  Kommission 
begründete  diese  Abänderung  damit,  dafs  infolge  des  regnerischen 
Sommers  namentlich  den  Handlangern  und  Erdarbeitern  der  Ver- 
dienst ganz  bedeutend  geschmälert  wurde.  Gehörten  Zahltage  mit 
vier  und  ftinf  Arbeitstagen  damals  nicht  zu  den  Seltenheiten,  so  ist 
der  Rückstand  einer  grofsen  Zahl  von  Mitgliedern  eigentlich  selbst- 
verständlich. Als  weiterer  Grund  dieser  Erscheinung  wird  folgendes 
angeführt:  „Leider  giebt  es  eine  grofse  Zahl  Mitglieder,  welche  in 
<ler  Voraussicht,  auch  während  des  Winters  Beschäftigung  zu  haben, 
einlach  (ur  das  betreffende  Jahr  den  Beitrag  nicht  zahlen  und  dabei 
im  Glauben  leben,  de  brauchen  die  Beiträge  nur  zu  leisten,  wenn 
sie  im  Winter  die  Versichcrungskasse  in  Anspruch  nehmen  müssen." 

')  Bericht  Über  das  5.  Geschäftsjahr  der  Versichening&luiisc  gegen  Arbeiulosig- 
keit  in  der  Gemeinde  Bern,  S.  11. 


Digitized  by  Google 


Der  g^cnvirtige  Stand  der  ArbeittloscnversacfaenuiK  in  der  Schweis.  i2J 

Der  Wrsuch,  (Uesen  ,,fiottanten  jMitglicdern"  der  Kasse  das 
Handwerk  durch  die  ßestimmung  ZU  legen,  dals  bei  Ausschlufe  oder 
Austritt  der  Wiedereintritt  nur  bei  vollständiger  Nachzahlung  er- 
folgen könne,  scheint  nicht  ganz  gelungen  zu  ^ein. 

Mit  der  X'erniinderung  der  Mitgliederzahl  ist  ein  Zurückgehen 
der  freiwilligen  Beiträge  zu  verzeichnen.  Im  vierten  Geschäftsjahr 
gingen  ca.  500  Fr.  weniger  freiwillige  Beiträge  ein  als  im  dritten. 
Der  fünfte  Geschäftsbericht  klagt,  dafs  1028,95  weniger*  an  frei- 
willigen Beiträgen  und  Geschenken  eingegangen  seien  als  ini  Vor- 
jahre und  3338,10  Fr.  weniger  als  im  zweiten  Gescliäftsjahr.  Dieses 
Zurückgehen  der  freiwilligen  Beiträ^^e  ist  übrigens  eine  auch  bei 
anderen  Instituten  ähnlicher  ■'\rt  beobachtete  Erscheinung.  Ist  der 
Reiz  der  Neuheit  verschwunden  oder  treten  andere  .Schöpfungen 
der  Wohlthätigkcit  in  den  V'ordergrund,  so  kommt  es  häufig  vor, 
dafs  alte  Gönner  erst  wieder  gemahnt  und  neue  Freunde  durch 
die  Not  der  Zeit  gewonnen  werden  müssen.  Für  die  Berner  .Arbeits- 
losenkasse  war  die  starke  Arbeitslosigkeit  des  Winters  189899  der 
Anlafs  hierzu.  Die  Veranstaltung  einer  Sammlung  für  die  Arbeits- 
losen ergab  in  .Anbetracht  der  über  die  .Arbeitsscheu  der  Arbeits- 
losen auch  in  Bern  kolportierten  (  lerüchte  einen  ganz  schönen  Ertrag, 

Die  Summe  der  ausbe/ahUrn  Taggclder  weist  dagegen  eine 
konstante  Zunahme  auf.  Vnn  0835,75  I-'r.  im  ersten  Jahre  wuclis 
diese  auf  Ii  635.2;  l"r.  im  Bcrichtsiahrc  180798  an.  Dif  .\rbcits- 
lo>enzitTcr  ^tei^a-rte  sich  in  demselben  Zeitraum  von  2l6  auf  205 
oder  \<)n  Ol",,  auf  68.5",,.  Die^e  HeweL^'uiiL,'  der  Arbeitslo^enzitlcr 
scheint  auf  den  ersten  Bück  denen  Recht  zu  ^eben,  welche  be- 
haupten, die  .Arbeitslosenversicherung  produziere  geradezu  die  Ai  beits- 
losigkeit  oder  lähme  wenigstens  das  Streben  zur  I-lriangung  einer 
.Arbeitsstelle.  Allein  hier  ist  vor  allem  darauf  hin/uwei^en,  dafs 
nach  den  Berichten  der  .Arbeitslosenkasse  auch  unter  dt  11  nicht- 
versicherten  Arbeitern  während  den  in  Betracht  fallenden  Wintern 
die  .Arbeitslosigkeit  jeweils  i^r^ls  ;^e\\esen  zu  sein  scheint  imd  dals 
be>onilers  im  W  inter  l8g8  mit  seinen  .Ausn.ihn)e\  ei  hältnissen  sich 
allein  beim  Arbeitersekretariate  167  nicht  der  \'ci  Sicherung  ange- 
h<'>reiide  .Arbeiter  als  arbeitslos  angemeldet  haben.  .Sodann  darf 
nicht  vergessen  werden,  dals  die  X'erw.dtung  dei  Kasse  jedes  Jahr 
wenigstens  .so\  ieI  Arbeil  zu  beschaffen  imstande  war.  um  weniL;>tens 
sämtliche  zweifelhafte  Bezüger  auf  ihre  .Arbiit-swilliL^keit  prüfen  zu 
können.  Endlich  wird  tlas  L  rteil  über  diesen  Tunkt  auch  von  der 
beruflichen  Gliederung  der  Arbeitslosen  abhängen.    Ein  Blick  hierauf 


128 


Emil  Hofmano, 


zeigt,  dafs  jeweils  die  Handlanger  mehr  als  70%  der  Arbeitslosen 
stellen,  wie  sich  überhaupt  die  als  arbeitslos  angemeldeten  Ver- 
sicherten zum  weitaus  gröfsten  I  cil  aus  jenen  Berufen  rekrutieren, 
in  denen  die  Beschäftigungsiosigkeit  itn  Winter  sozusagen  zur  Regel 
gebort.  ♦ 

Diese  Erfahrungen  zeigen  somit,  dafs  bei  der  fakultativen  Ver- 
sicherung sich  blofs  die  gröfsten  Risiken  beteiligen,  während  die 
anderen  fern  bleiben.  Dadurch  werden  die  Prämien  für  die  \'er- 
sichcrten  zu  hoch,  ohne  dafs  die  X'ersicherung  ihren  almosens- 
genössigen  Charakter  verliert.  Jedenfalls  ist  es  für  das  arbeitslose 
Mitglied  der  Kasse,  das  seine  Prämie  regelmäfsig  bezahlt  hat,  kein 
erhebendes  (jefühl,  wenn  eines  schönen  Pages  die  Kassenverwaltung 
die  Klage  über  baldiges  Knde  der  verfügbaren  Mittel  anstimmen 
und  einen  Aufruf  zur  Sjiendung  freiwilliger  Beiträge  erlassen  muls. 
Dies  ist  wohl  mit  ein  Grund  dafür  gewesen,  dafs  die  Mitglieder- 
zahl sich  nicht  wesentlich  vergröfserte.  Gcwils  trägt  die  Anstalt 
den  Charakter  des  Unfertigen  und  ist  die  Bewegung  zu  Gunsten 
der  Reorganisation  der  Kasse  und  des  Arbeitsnachweises  sowie  der 
Auftrag  des  Stadtrates  an  die  X'erwaltungskommission  zur  Aus- 
arbeitung eines  bezuglichen  Entwurfes  sehr  begreiflich.  Aber  des 
P.indrucks  kann  man  sich  nicht  erwehren,  dals  der  Berner  .Anstalt 
mancherlei  \*or würfe  und  Kin wände  entgegengehalten  werden,  die 
sie  nicht  verdient.  So  rügt  unter  anderem  Prof.  Dr.  A.  Reichesberg 
an  dieser  Kasse  die  Noiniierung  der  Prämie  auf  40  bezw.  50  Cts., 
weil  derselben  irgend  welche  mathematische  Berechnung  nicht  zu 
Grunde  lieL:i[e.')  Doch  hat  die  l\rfahrung  wenigstens  gelehrt,  dafs 
man  mit  dieser  Pestsetzung  der  Prämie  j^i  iade  die  Obergrenze  der 
Bela>tuiigsiahigkeit  iler  in  I  rage  konmietulen  Arbeiterkategorieen 
erreicht  habe.  Der  andere  Tadel,  welchen  Reichesberg  gegen  die 
Kasse  ausspricht,  scheint  auf  den  ersten  Blick  ebenfalls  völlig  be- 
recht ii^t  zu  sein.  Die  Beschränkung  der  Thätigkeit  der  ,\nstalt  auf 
die  Wintermonate  ist  gewils  sehr  zu  bedauern.  Man  möchte  den 
Versicherten  die  Bezugsberechtigung  fürs  ganze  Jahr  um  so  eher 
gönnen,  als  die  Anstalt  jeweils  auch  von  Arbeitslosigkeit  im  Sommer 
zu  berichten  weifs  und  beispielsweise  anfangs  Juni  des  vergangenen 
Jahres  unter  Führung  der  Stadträte  Moor  und  Wassilieff  etwa 
60  Arbeitslose  wegen  herrschender  Arbeitslosigkeit  beim  Gemeinde- 


')  Der  kanipr  jicgeii  die  Arbeitslo>ijiki  il  in  tler  .Schwei/..  Schweizt-rischc  Blätter 
fär  Wirtschaft»-  und  Siuialpolttik,  VII.  Jaiirg.  I.  Bd ,  S.  194. 


i^iyui^ud  by  Google 


Der  g^enwictige  Stand  der  Ariiettstosenversidienmg  in  der  Scliweix.  129 


rat  vorstellig  wurden.  Aber  diese  Ausdehnung  würde  für  die  KaSse 
eine  Erhöhung  der  Ausgaben  bedeuten,  die  sie  nie  zu  decken  ver« 
möchte. 

Die  Lehre  aber,  welche  man  aus  diesen  Erfahrungen  ziehen 
muiis,  wird  in  dem  Postulat  obligatorischer  Einführung  der  Arbeits- 
losenversicherung für  eine  beschränkte  Anzahl  von  Berufen  gipfeln, 
wobei  die  Festsetzung  der  ßeitragspflicht  der  Arbeitgeber  und  die 
Reduktion  der  Prämien  der  Arbeiter  und  der  Ausschluß  alter,  ge- 
brechlicher und  gänzlich  arbeitsunfähiger  Mitglieder  nicht  vergessen 
werden  sollte.  Da(s  diese  Konsequenz  in  den  nächst  beteiligten 
Kreisen  wirklich  gezogen  wird,  beweist  eine  Motion  von  Arbeiter- 
sekretär Dr.  WassiliefT,  welche  durch  das  kantonale  Parlament  den 
Genneinden  das  Recht  zur  Einführung  der  obligatorischen  Arbeits- 
losenversicherung und  zur  Schaffung  von  Arbeitsämtern  zur  Regelung 
des  Arbeitsnachweises  geben  lassen  will. 

TV.  Der  neueste  Gesetzesentwurf,  betreffend  Errich- 
tung einer  Versicherungsanstalt  für  Arbeitslose  in 

Basel -Stadt.') 

Die  Arbeitslosigkeit  anfangs  der  neunziger  Jahre  hatte  den  Re- 
gierungsrat von  Basel-Stadt  veranlafst.  der  Versicherungsfrage  näher 
zu  treten.  Das  Departement  des  Innern  beauftragte  Professor 
Dr.  G.  Adler  mit  der  Ausarbeitung  eines  Gutachtens,  auf  Grund 
dessen  eine  Ilglicderige  Kommission,  zu  welcher  neben  3  Arbeit- 
gebern auch  3  .Arbeiter  zählten,  einen  Gesetzesentwurf  aufstellte. 
Nach  eingehender  Beratung  durrh  den  Regierungsrat  wurde  der 
Entwurf  dem  Grofsen  Rate  am  8.  November  1894  zugestellt.  Mit  Be- 
schlufs  vom  14.  März  1895  überwies  dieser  den  Gesetzesentwurf  zur  \'or- 
bereitung  an  eine  Kommission  von  9  Mitgliedern.  Diese  machte  sich 
eifrig  an  die  Arbeit.  Die  Mitglieder  des  drofscn  Rates  und  die  ge- 
samte Bürgerschaft  wurden  eingeladen,  sich  über  den  Entwurf  des  Re- 
gierungsrales  zu  äufsern  und  der  Kommission  alltällige  Anträge 
einzureichen.  Das  Departement  des  Innern  veranstaltete  eine 
Statistik  der  in  und  aufser  dem  Kanton  wohnenden  und  in  den 
versicherungsptüchtigcn  Geschäften  des  Kantons  arbeitenden  l^ersonen. 


'  Bericht  und  Gesetzesentwurf  der  Grofsratskommission,  Ix-trr tT'-ud  I>riclituuf» 
«•int-r  Vcrsicherunfjs.iiistalt  für  Arb<it>lose,  Vorlage  zur  zweiten  Beratung.  Dem 
<iroi'»cn  Kate  zugestellt  dfn  20.  April  1S99. 

Archiv  (ur  Mz.  Geset/gebung  u.  Statistik.  XIV.  9 


IjQ  Emil  Hofmann, 

Die  Ergebnisse  dieser  Statistik  wurden  zur  Aufetellung  einer  Be- 
rechnung der  mutmafslichen  Finanzgebahrung  der  Arbeitslosen- 
versicherung durch  eine  Subkommission  benützt.  Nach  diesen  Vor- 
arbeiten wurde  der  Entwurf  einer  zweiten  Beratung  unterzc^en  und 
dem  Grofsen  Rat  am  23.  April  1896  zugestellt.') 

Die  Beratung  desselben  im  Grofsen  Rate  führte  am  6.  Mai  1 897 
zur  Zurückweisung  an  die  Kommission  zum  Behufc  der  Vorlage 
eines  nach  den  Verhandlungsergebnissen  abgeänderten  Entwurfs. 
Durch  verschiedene  Umstände  persönlicher  und  sachlicher  Natur 
wurde  die  Behandlung  der  Vorla'^c  im  Schofsc  der  Kommission 
verzögert  und  konnte  der  neue  Entwurf  dem  Grolsen  Rate  erst  am 
20.  April  1899  zugestellt  werden. 

Auch  dieser  Entwurf  hält  sich  sozusagen  konsequent  an  die 
von  Prof.  Dr.  (i.  Adler  in  dem  erwälinten  Gutachten  -)  klar  und 
scharf  vorgezeichneten  Grundlinien,  ohne  die  andernorts  gemacliten 
Erfahrungen  und  X'orschlägc  stark  zu  berücksichtigen. 

Unbckünmiert  um  die  Abnei^aing  der  \on  der  Arbeitslosigkeit 
weniger  bedrohten  Arljeiterkategorieen  gegen  die  Zwanc^sversicherun;^ 
und  der  speziellen  Schwierigkeiten,  welche  die  weibliche  Arbeiter- 
schaft der  l  echnik  der  Arbeitslüsenversicherung  verursacht,  wurde 
im  grofsen  und  ganzen  an  der  ursprünt^dich  ins  Auge  gefalstcn  Um- 
grenzung des  \''ersicherungskrcisps  fcstgelialten,  ohne  in  irgend  einer 
Weise  den  geringsten  Risiken  entgegenzukommen.  Diese  Unter- 
lassung wird  und  mufs  sich  schwer  rächen.  Sie  lälst  sich  nicht 
damit  rechtfertigen ,  tlafs  Reduktion  der  Prämien  für  langjährige 
Versichertc  ohne  Bezüge  aus  der  Kasse  sich  in  ihrer  finanziellen 
Trat^weite  nicht  berechnen  licfs;  denn  in  dem  X'oranschlac:  des  Eni- 
Wurfs  sind  noch  eine  ganze  Anzahl  von  Pdemcnten,  die  nur  auf 
„mutmafslichen"  Schätzungen  beruhen.  Auch  darf  nicht  vergessen 
werden,  dafs  dieser  Ersatz  für  die  alternative  Leistung  der  \'er- 
sicherung,  eine  Kautele  gegen  allzu  rasche  und  häutige  Inanspruch- 
nahme der  Kasse  zu  l)ilden  imstande  ist.  Statt  einer  dies- 
bezweckenden  Bestimmung,  wie  sie  sich  zum  Beispiel  im  Zürcher 
tintwurf  findet,  wurde  der  Maximallohn,  der  noch  zur  V^ersicherung 

'1  Bericht  und  Gesetzcseotwurf  der  Grofsrats^Koiiiiiiisrioii  betreffend  Versiehe« 
rung  gegen  Arbeitslosigkeit. 

•)  Die  VersiclnTuni;  «lor  Arlaiter  jjoß«*n  Arbeitslosigkeit  im  Kanton  Basel sta<t t . 
Gutachten,  erstattet  dem  I  )cparteni(-nt  dvs  Innern  des  Kantoiu  Ba.selstadt  von  Dr.  Georg 
Adler  ^Ba&el,  Verlag  von  H.  Müller,  1895).^^ 


üiyitizeü  by  GoOgle 


Der  gegmwitügc  Stand  der  Arbeitsloeenveniehennig  in  der  Schweis,  i^i 

verpflichtet,  von  2000  Fr.  auf  1800  Fr.  herabgesetzt,  da  die  höher 
entlohnten  Arbeiter  der  Arbeitslosigkeit  vvenior  ausgesetzt  und  daher 
einer  Versicherung  kaum  bedürftig  sind."  iJiese  Begriuidung  ist 
nicht  richtig.  Auch  unter  den  geringer  entlohnten  Arbeitern  giebt 
es  eine  ganze  Anzahl,  welche  der  Arbeitslosigkeit  wenig  ausgesetzt 
sind.  Diese  werden  es  als  eine  Ungerechtigkeit  betrachten,  dals 
sie  für  die  unter  starker  Arbeitslosigkeit  leidenden  Arbeitsgenossen 
aufkommen  sollen,  während  ihre  besser  entlohnten  Kollegen  dieser 
Pflicht  entledigt  sein  sollten.  An  Mitteln ,  sich  dieser  Pflicht  zu 
entziehen,  fehlt  es  um  so  weniger,  als  die  Möglichkeit  gegeben  ist, 
durch  die  Anrechnung  der  Gratifikationen  einen  Lohn  von 
1800  Fr.  und  darüber  „anzugeben".  Bietet  die  Steuergesetzgebung 
und  Steuerbelastung  nicht  ein  wirksames  Korrektiv,  so  werden  die 
.Arbeitgeber  aus  naheliegenden  Gründen  gegen  diese  Mafsregcl  zum 
mindesten  nichts  einzuwenden  haben.  Neben  dieser  Kinengung  des 
Versicherungskreises  ist  die  andere,  welche  den  Ausschluls  von  der 
Versicherungspflicht  auf  die  für  einen  Zeitraum  von  weniger  als 
zwei  Wochen  angestellten  Aushilfsarbeiter  ausdehnt,  kaum  der  Rede 
wert. 

Nach  den  genannten  Aenderungen  hinsichtlich  des  Versicherungs- 
kreises ist  es  nicht  recht  begreiflich,  warum  die  Bedingung  für  die 
Zulassung  anderer  Versicherungskassen  verschärft  wurden.  Gleich 
nach  dem  Erscheinen  des  regierungsrätlichen  h.ntwurfs  machten  sich 
Stimmen  geltend,  welche  für  die  Versicherungspflichtigen  Befreiung 
von  der  staatlichen  Zwangsversicherung  verlangten,  die  einer  Kasse 
zur  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  angehören ,  deren  Ver- 
sichcrungs-Bedingungen  und  Leistungen  als  genügend  erachtet 
werden  können.  Der  erste  Entwurf  der  Grofsratskommission  hat 
denn  auch  eine  derartige  Bestimmung  aufgenommen.  Diese  ist 
nun  dahin  verschärft  worden,  dass  derartige  von  der  Versicherungs- 
pflicht befreiende  Institute  sich  nicht  blofe  auf  den  Kanton  Basel- 
Stadt  und  die  umliegenden  Gebiete  beschranken  dürfen. 

Unbekümmert  um  die  durch  die  Unterscheidung  der  Ver- 
sicherten nach  Lohngruppen  und  Geiahrenklassen  herbeigeführte 
Kompliziertheit  der  Buchführung  und  Rechnungsstellung  und  um 
die  Abneigung  der  Arbeiter  vor  der  Einbeziehung  in  die  oberen 
Lohnklassen  hat  der  Entwurf  sowohl  die  Zahl  der  Risikogruppen 
als  auch  der  Lohnklassen  noch  um  eine  vermehrt  Die  Versicherten 
sollen  in  vier  Gruppen  zerfaülen. 

Zur  ersten  Gruppe  gehören  die  Arbeiter  in  den  der  Arbeits- 

9« 


132 


Emil  Hofmann, 


losigkeit  am  wenigsten  ausgesetzten,  dem  Fabrikgesetze  unterstellten 
Betrieben,  die  nicht  zum  Baugjcvverbe  gehören; 

zur  zweiten  Gruppe  die  Arbeiter  in  allen  übrigen,  dem  Fabrik« 
gesetz  unterstellten  Betrieben,  die  niclit  zum  Baugewerbe  gehören; 

zur  dritten  die  Bauarbeiter  in  den  der  regelmäisigen  Arbeits- 
losigkeit am  wenigsten  ausgesetzten  Betrieben; 

7ur  vierten  alle  übrigen  Bau-  und  Erdarbeiter,  die  vorwiegend 
auf  Arb(  it  im  Freien  angewiesen  sind  und  deren  Arbeitsbetrieb  von 
den  Witterungsverhältnissen  abhängig  ist. 

Sogar  der  Entwurf  selbst  scheint  von  dieser  Klassifizierung 
nicht  ganz  befriedigt  zu  sein.  Wenigstens  giebt  er  zu,  dafs  die 
Unterscheidung  der  I.  von  der  II.  Gruppe  schwerer  sein  werde  als 
die  Unterscheidung  der  III.  von  der  I\'.  Gruppe,  indem  auf  That- 
sachen  begründete  Erfahrungen  bis  jetzt  fehlen.  Dasselbe  scheint 
uns  auch  daraus  hcr\orzugehcn,  dafs  der  Entwurf  dem  Regierung?- 
rate  hier  das  Recht,  ir(lcr7('it  eine  Korrektur  vorzunehmen,  offen  iiäh. 

Mit  der  Ikifügung  einer  neuen  Lohnklasse  verhält  es  sich  ganz 
ähnlich,  (iewifs  ist  es  sehr  zu  begrüfsen,  dafs  auf  die  schlecht 
bezahlten  Arbeiter  Rucksieht  genommen  und  für  diese  eine  erste 
Klasse  bcp^eliigt  wurde,  welche  diejenigen  umfassen  soll,  deren 
Worhcnlohn  bis  und  nüt  12  Vv.  beträgt.  Allein  die  ErfahrunL^en 
St.  ( lallens  hätten  zum  mindesten  zeigen  können,  dals  derarti^^e 
IiinteiUiiiL;  der  \'er\\altung  der  Kasse  grolse  Mühe  und  viele  Reibe- 
reien \ cnn  ^arlitf  und  wcj^en  der  Ang^t  der  .Arbeiter  vor  den  höheren 
l.ohnklassen  auch  nach  der  finanziellen  Seite  hin  lange  nicht  das 
erhoffte  Resultat  erzielte.  ^ 

Der  gleiche  (irad  geringer  Rücksichtnahme  auf  eine  möglichst 
glatte  und  einfache  <  ieschäftsgebahrung  tiiulet  sich  hinsichtlich  tler 
Abstufutig  der  Entschädigungen  nach  tlem  h^amilienstande.  Statt 
einer  Erhöhung  der  Prämien  für  die  ledi'j^aMi  oder  die  alleinstehenden 
.\rbeiter  wird  an  der  l)ekannten  komplizierten  .Abstufung  fest- 
gehalten und  dieselbe  noch  nach  zwei  .Seiten  hin  ei^'änzt.  l'nbillig- 
keiten  \ orzulieu^en,  ist  die  neue  Bestimnunig  hinzugekonnnen,  dals 
\  on  den  X'ersicherten  unterhaltene  h.ltern  und  ( iochwister  bei  der 
l'Vst>tellung  der  l 'nterstulzung  der  k  rau  und  ilen  Kindern  gleich- 
geachtet Wenk  II  -llcn.  l  'm  .Mifsbräuchen  zu  wehren,  sollen  nur 
dii'  in  unL^etrenntiin  1  laiisiialtc  mit  den  V^ersicherten  lebenden  An- 
gehöri<.^en  in  Rechnung  gcbra<dit  wi-rden. 

Die  wichtigsten  Abänderungen  beschlagen  die  Reduktion  der 
Pränüon  u«id  der  Ent.schädigungen.    Die  \\  andlung,  die  sich  hier  voU- 


uiyiii^cü  Uy  Google 


Der  gegenwärtige  Stand  der  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schweiz. 

zogen  hat,  spiegelt  sich  am  besten  aus  einer  Gegenöberstellung  der 
Ansätze  der  drei  Entwürfe. 

Nach  dem  Entwürfe  des  Regierungsrates  sollten  die  wöchent- 
lichen Beiträge  der  Versicherten  betragen : 

in  IaIuiUmm      I  II  ni 

fVr  die  eiste  Gruppe   90  cts.       30  cts.       40  cts. 

„   „   tweite    „    40  50  «         60  „ 


Der  erste  Entwurf  der  Grofsratskommission  setzte  dieselben  fol- 
genderroaTsen  fest: 


in  Lohnklasse  I 

n 

m 

15  cts. 

90 

cts. 

30  „ 

50 

«• 

  30 

45 

60 

1» 

Die  weitere  Reduktion  durch  die  zweite  Vorlage  der  Grofs- 
ratskommission  lälst  die  wöchentlichen  Beitrage  der  Versicherten 
betragen: 

in  Lohnklasse      I  H  lU  IV 


fltar  die  erste  Gniippe   aVt  cts.  $  cts.  10  cts.  15  cts. 

11    if  JEweite     „   5    „  10  „  15  „  20  „ 

n     -   ''ritt«-       »»   10    „  20  „  30  „  40  „ 

H      r.    Vierte        „   »5-1  25    „  40  „  50  M 


Schon  bei  der  Diskussion  des  Kniwurfs  von  Prof.  Adler  er- 
regte die  Höhe  der  Beiträge  den  Haujitaiistofs  der  Arbeiter,  welche 
darin  neben  den  Zahlungen  an  die  Unfall-  und  Krankenversichcrungs- 
kassen  eine  allzuschwere  Belastung  des  Arbeiterbudgets  erblickten. 
Der  W'rfasscr  des  Entwurfs  konnte  sich  der  Bedeutung  dieses  Argu- 
ments nicht  vcrsciiliefscn  und  erklärte  sich  sofort  mit  einer  Reduk- 
tion der  Beiträge  einverstanden,  da  mit  Ausnahme  der  Prämien  der 
Bauarbeiter  die  Beiträge  eine  Herabsetzung  um  10  cts.  wöchentlich 
ganz  gut  vertragen,  ohne  dadurch  die  Solidität  der  Ka^e  zu  ge- 
fährden. ' ) 

Die  Skala  fiir  die  tägliche  rnterstützung  im  Falle  der  Arbeits- 
losigkeit zeigt  in  deji  drei  I'^iitwurfen  folgendes  Gesicht. 

Der  erste  Kntwurf  gewährte  den  Versicherten  im  Falle  der 
Arbeitslosigkeit  täglich  je  nach  dem  h amilicnstand : 

in  der  erbten  Lohnklasse     ....       80  cts.  120  cts.  150  cts. 

„    ..   /.weiten        „  ....       90   „  UO   „  9^^    140  „ 

„    „   driuen        „  ....      100   „         loo — 150   „         150—200  „ 

*)  Dr.  G.  Adler,  Die  Basier  Arbeitslosenversidienmg.  Scbweuerische  Bl&tter 
ftr  Wirtachnfts-  und  SorialpoUtik,  m.  Jahrgang,  L  Band,  S.  131  f. 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


134 


Emil  Hofmann, 


Der  zweite  Entwurf:  ' 


So  cts. 


I20  -150  CU. 

140—170  „ 
150-200  „ 


90 — 140 


»» 


dritten 


100 


100—150 


Der  dritte  Entwurf: 


in  der  ersten  LobnUaste 

„  „  zweiten  „ 
„  „  dritten  „ 
„   M  vierten  „ 


100 


70  cU. 
80  „ 


tl 


70— tOO  CtB. 

80— lao  „ 

90—140  .. 
100—150  „ 


100 — 130  cts. 

120—150  „ 
140—170  „ 
150—300  „ 


Das  im  ersten  Entwurf  auf  91  1  a^a-  angesetzte  Maximum  der 
Unterstützungsdauer  war  vom  Grofsen  Rat  auf  61  Tage  reduziert 
worden.  Die  Kommission  war  einstimmig  der  Ansicht,  dafs  diese 
zu  kurz  bemessen  sei  und  beschlols  eine  Erhöhung  auf  70  Tage 
oder  10  Wochen.  Der  Grund,  der  sie  hierzu  veranlafste,  war  ein- 
mal die  Thatsache,  dafs  die  Arbeitslosigkeit  je  nach  der  Strenge  des 
Winters  bis  zu  drei  Monaten  andauern  kann  und  dann  die  Ueber- 
Zeugung,  dais  die  Herabsetzung  der  gesetzlichen  Unterstiitzungs- 
dauer  im  Mittel  keinen  wesentlichen  Einflufs  auf  die  tbatsichliche 
Unterstützungsdauer  haben  könne.  Mit  Recht  bemerkt  der  Bericht 
hierzu:  ,,Die  thatsächliche  mittlere  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  ist 
nicht  ])roportional  zu  der  gesetzlichen  Unterstützungsdauer;  vielmehr 
wird  ihre  Grrenze  auch  bei  einer  kürzeren  gesetzlichen  Unterstütz- 
ungsdauer sich  nur  wenig  von  derjenigen  unterscheiden,  welche 
einer  längeren  entsprechen  würde.  Es  ist  nur  eine  verhältnismafsig 
geringe  Zahl  von  Arbeitern,  welche  bei  der  längeren  Dauer  der 
gesetzlichen  Unterstützung  diese  iiir  die  ganze  Zeit  beanspruchen 
muls.  Endlich  ist  zu  bemerken,  dafs  trotz  der  Unterstützung,  welche 
die  Versicherung  gewährt,  bei  lang  andauernder  Arbeitslosigkeit  ein 
Notstand  in  der  Familie  des  Arbeiters  eintreten  kann,  und  dals  dann 
eine  Unterstützung  erst  recht  angezeigt  ist." 

Den  Arbeitslosen  ihre  Bezüge  zu  sichern,  ist  aus  den  Entwürfen 
der  eidgenössischen  Kranken«  und  Uniallversicherung  eine  Bestimmung 
angenommen  worden,  welche  die  Pfändung,  die  Beschlagnahme, 
oder  die  vor  der  Zahlung  rechtsgültige  Abtretung  der  Unterstützungen 
der  Versicherungsanstalt  verunmöglichen  soll.  Der  Beginn  der 
Unterstützungsberechtigung  wird  auf  den  vierten  und  nicht  erst,  wie 
im  ursprünglichen  Entwurf  vorgesehen  war,  auf  den  6.  Tag  fest* 
gesetzt,  nachdem  der  Versicherte  seine  Arbeitslosigkeit  bei  der  Ver- 
sicherungsanstalt angemeldet  hat   Ebenso  wurde  den  Versicherten 


Digitized  by  Google 


Der  gegenwärtige  Stand  der  Arbciü>loäcnvcrsicberung  in  der  Schweiz.  i 


auch  noch  in  anderer  Weise  entgegengekommen.  Bei  der  Leistung 
eines  schweizerischen  Militärdienstes  durch  den  Versicherten  haben 
dessen  Angehörige,  soweit  er  seinen  Arbeitslohn  verliert,  den  An- 
spruch auf  Unterstützung.  Leider  fehlt  eine  Marc  Bestimmung,  welche 
die  Versicherten  liir  die  Zeit  des  Militärdienstes  von  der  Entrichtung 
der  Beiträge  befireit  Diese  Befreiung  ist  aber  wohl  in  dem  Para- 
graphen enthalten,  welcher  die  Versicherte  von  der  Bezahlung  der 
Beiträge  während  der  Zeit  der  Arbeitslosigkeit  enthebt 

Femer  sollen  die  Mitglieder,  welche  wegen  UnCaills  oder  Krank- 
heit von  der  Beitragspflicht  befreit  sind,  ihre  vollen  Ansprüche  be- 
halten, die  sie  zu  jenem  Zeitpunkt  inne  hatten,  wo  sie  die  Zahlung 
von  Beitragen  einstellten.  Die  unbillige  Bestimmung  der  früheren 
Entwürfe,  wonach  ein  Mitglied,  das  wegen  Krankheit  oder  Un&ll 
seine  Beiträge  während  20  oder  mehr  Wochen  nicht  bezahlt  hat, 
erst  nach  26  Beitragswochen  seine  vollen  Rechte  wieder  gewinnen 
sollte,  ist  mit  Recht  gestrichen  worden. 

Unter  den  Abänderungen  mehr  nebensächlicher  Natur  erwähnen 
wir  neben  der  Ersetzung  des  Wortes  Prämie  durch  Beitrag  die  Um- 
gestaltung des  Namens  der  Anstalt  in  Versicherungsanstalt  für 
Arbeitslose,  woiiir  die  Meinungsäulserung  einer  auch  in  Basel  an- 
erkannten Autorität  der  deutschen  Sprachwissenschaft,  des  Herrn 
Prof.  Dr.  M.  Heyne  in  Gottingen,  extra  eingeholt  wurde.  Hierher 
gehört  ferner  die  Bestimmung,  da(s  der  Verwalter  keinen  Neben- 
beruf treiben  dürfe  und  da(s  die  Mitglieder  der  Kommission  der 
Versk:herungsan8talt  iUr  Arbeitslose  nicht  nur  in  Basel  wohnende 
Schweizer  Bürger  sein,  sondern  auch  in  bürgerlichen  Rechten  und 
Ehren  stehen  müssen. 

Schlielslich  wurde  die  Bestimmung,  welche  den  Regierungsrat 
nach  dreijährigem  Bestände  der  Versicherungsanstalt  die  Frage  der 
Erweiterung  des  Versicherungskreises  prüfen  hiels,  dahin  abgeändert, 
dals  diese  Behörde  nach  dieser  Frist  verpflichtet  wurde,  dem  Grolsen 
Rate  zu  berichten,  ob  eine  Revision  des  Gesetzes  vorzunehmen  seL 

Selbstverständlich  hat  sich  mit  diesen  Entwürfen  der  Finanz- 
ausweis jeweib  verändert.  Das  Gutachten  von  Prof  Adler  rechnet . 
mit  einer  Arbeitslosenunterstützungssumme  von  155  100  Fr.,  einer 
Beitragsleistung  der  Arbeitgeber  und  Arbeiter  von  184200  Fr.  und 
einem  Staatszuschuls  von  25000  Fr.  ausschlielslich  der  Verwaltungs- 
kosten, so  dals  zur  Anhäufung  eines  Reservefonds  jährlich  rund 
48000  Fr.  übrig  blieben.  Der  erste  Entwurf  der  Grolsratskommission 
berechnet  die  Beiträge  der  Arbeiter  und  Arbeitgeber  auf  259201  Fr., 


Digitized  by  Google 


136 


Emil  Hofmann, 


die  Unterstätzungssumme  auf  3/3359  Fr.  Dieses  Defizit  wird  durch 
den  Staatsbeitrag  von  25000  Fr.  in  einen  jährlichen  Ueberscbuls 
von  rund  12000  Fr.  verwandelt 

Der  letzte  Entwurf  hat  sich,  wie  bereits  erwähnt  wurde,  ein- 
läislicher  mit  den  Arbeitern  befafst,  welche  ^ch  weniger  als  ein  Jahr 
in  Basel  aufhaken  und  somit  blofs  beitragspflichtig  und  nicht  be- 
zugsberechtigt sind.  Zu  diesem  Zwecke  Uels  das  Folizeidepartement 
ein  Verzeichnis  derjenigen  Arbeiter  der  verschiedenen  in  Betracht 
kommenden  Gewerbe  anfertigen,  welche  im  Jahre  1896  in  Basel 
Aufenthalt  nahmen  und  im  nämlichen  Jahre  wieder  abreisten.  An 
der  Hand  dieses  Verzeichnisses  wurden  drei  dem  Gesetzesentwurf 
als  Beilagen  angefügte  Tabellen  ausgearbeitet,  welche  die  Zahl  dieser 
Arbeiter  nach  den  einzelnen  Monaten  ihrer  Zu-  und  Wegwanderung 
sowie  nach  ihrer  Aufenthaltsdauer  in  Monaten  darstellen.  Danach, 
kämen  für  die  Versicherungskasse  1322  Arbeiter  in  Betracht  mit 
einer  durchschnittlichen  Aufenthaltsdauer  von  21,9  Wochen.  Der 
Gewinn  der  Kasse  an  diesen  „nichtständigen"  Arbeitern  beliefe  sich 
im  Jahr  auf  13  853  Fr.,  woran  die  Arbeiter  mit  8919  Fr.  und  die 
Arbeitgeber  mit  4934  Fr.  beteiligt  wären.  Diese  Belastung  der  in 
Frage  kommenden  Arbeiterkategorie  mag  vom  Standpunkte  der. 
Steuerpolitik  aus  gerechtfertigt  erscheinen,  weil  dieselbe  darin  ein 
Mittel  siebt,  die  Fremden,  wenn  auch  nur  indirekt,  zur  Besteuerung 
heranzuziehen.  Für  die  Versicherung  aber  dürfte  dieser  finanzielle 
Gewinn  mit  schweren  Opfern  erkauft  werden  müssen.  IVof.  Adler 
wufste  ganz  gut,  warum  er  in  seinem  Entwürfe  den  ehemaligen 
Mi^liedern  die  Nutzniefsung  ihrer  Leistungen  an  die  Kasse  möglichst 
zu  wahren  suchte.  Deshalb  ist  er  auch  mit  dem  Zürcher  Entwürfe, 
der  hier  noch  einen  Schritt  weiter  geht,  völlig  einverstanden.  Der- 
selbe bestimmt:  Wer  in  einer  anderen  schweizerischen  Gemeinde 
Mitglied  einer  .Arbeitslosenversicherung  war  und  seine  Beiträge  da- 
selbst ein  halbes  Jahr  lang  geleistet  hat,  wird  schon  nach  13- 
wöchentlicher  Mitgliedschaft  in  Zürich  bezugsberechtigt.  Die  Basler 
riKifsratskommission  hat  beim  1-allenlassen  dieses  Grundsatzes  wohl 
nicht  an  die  dadurch  mit  fier  Notwendigkeit  eines  Naturgesetzes 
eintretende  Abneigung  der  [getroffenen  Arbeiter  gegen  die  Arbeits- 
losenversicherung gedacht.  Bei  den  „ständigen  Arbeitern"  gestaltet 
sich  natui^emäfs  das  Rechnungsergebnis  ganz  anders.  Die  Prämien 
von  10000  Versicherten  sollen  82875  Fr.  betragen  und  die  Bei- 
träge der  Arbeitgeber  61  200  Fr.  Hiervon  waren  4615  Fr.  für  nicht- 
bezahlte Beiträge  der  Arbeitslosen  und  2950  Fr.  für  nichtbezahlte 


Digilized  by  Google 


Der  gegenwärtige  SUnd  der  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schweiz.  i 


Bdtiige  der  Arbeitgeber  wahrend  der  Zeit  der  Arbeitslosigkeit  ia 
Abzug  zu  bringen.  I>ie  Gresamteinnahme  beziffert  sich  somit  auf 
150363  Fr.,  was  bd  einer  Arbeitslosenentschädigung  von  163  580  Fr. 
einen  Ausgabenüberschuis  von  13  2 17  Fr.  ergiebt,  welcher  durch 
dm  von  25000  auf  50000  Fr.  erhöhten  Staatsbeitrag  ausgeglichen 
werden  solL 

Die  Annahme  dieses  Beitrages  stellt  die  Leistungen  des  Staats 
mit  der  Bestreitung  der  Ausgaben  für  die  Verwaltung  auf  ungefähr 
43000  Fr.  oder  27  der  gesamten  Ausgabe.  Diese  Normierung 
des  Jahresbeitrags  des  Staats  entspricht  einer  Leistung  von  nicht 
ganz  3  Fr.  per  Versicherten.  An  sich  betrachtet  mag  dieser  Bei- 
trag fiir  die  durchschnittlichen  Ansprüche  genügen.  Allein  wenn 
die  mit  22%  angesetzte  Arbeitslosenziffer  höher  und  die  in  Rech- 
nung gesetzte  durchschnittliche  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  länger 
werden  sollte,  könnte  die  Kasse  schweren  Erschütterungen  entgegen- 
gehen. Ebenso  könnte  unter  Umständen  die  Zahl  der  Versicherten 
gröfser  werden,  als  man  voraussah,  weshalb  die  Festsetzung  eines 
Minimalbeitrags  des  Staates  iur  den  einzelnen  Versicherten  ent- 
schieden den  Vorzug  verdient. 

Erst  auf  diese  Weise  kann  die  Leistung  des  Staates  in  ein  rich- 
tiges Verhältnis  zu  dem  Aufwand  der  Versicherten  gebracht  werden. 
Die  Versicherungsanstalt  kann  mit  einer  den  wechselnden  An- 
sprüchen angepafsten  Einnahme  rechnen,  während  die  nie  arbeits- 
los werdenden  Zwangsversicherten  wenigstens  den  Trost  haben,  dafe 
die  auCserhalb  des  Versichcrungskreises  Stehenden  auf  dem  Steuer- 
weg ein  allerdings  sehr  kleines  Opfer  für  dieses  Institut  zu  bringen 
haben. 

Das  Schicksal  dieses  Entwürfe  ist  zur  Stunde  nicht  bestimmt 
vorauszusagen.  Doch  darf  schon  jetzt  behauptet  werden,  dals  dem- 
selben ein  besonders  glücklicher  Stern  leuchten  müfste,  wenn  er 
ohne  schwere  Erschütterungen  sich  in  die  Praxis  einleben  würde. 
Könnte  man  nicht  nach  den  bisherigen  Leistungen  von  Baselstadt 
auf  dem  Gebiete  der  Sozialpolitik  auf  eine  kluge  und  loyale,  allen 
Verhältnissen  möglichst  Rechnung  tragende  Ausfuhrung  des  Ent- 
würfe hoffen,  so  wäre  selbst  vom  Standpunkte  des  Freundes  und 
Befürworters  der  Arbeitslosenversicherung  die  Verwerfung  desselben 
nicht  allzusehr  zu  bedauern.  Die  auffällige  Hintansetzung  der  Ar- 
beitsvermittelung und  ArbeitsbeschafTung,  welche  sich  auch  in  diesem 
Entwürfe  zeigt,  erscheint  uns  nämlich  als  ein  schwerer  Mangel 
Wir  können  uns  hierüber  nicht  hinwegtrösten  mit  der  Ansicht 


Digiiized  by  Google 


138 


Emil  Hofmann, 


Adlers,')  der  glaubt,  die  ArbeitsIosenverMcherung  würde  sich  auch 
ohne  ein  S3^eni  öffentlicher  Arbeiten  bewähren.  Gerade  weil  „die 
Direktion  öffentlicher  Arbeiten,  die  mit  einem  Personal  Arbeitsloser 
vollfiihrt  werden  sollen,  ein  ganz  besonderes  Mals  von  Umsicht  er- 
fordert," ist  es  dringend  nötig,  dals  die  Behörden  diese  schwere 
Au%abe  von  vornherein  und  ohne  weiteres  in  ihrem  ganzen  Um- 
iange  ins  Auge  iassen.  Geschieht  dies,  nicht,  so  entsteht  zum 
gröisten  Schaden  der  Versicherungskasse  nur  allzu  leicht  die  An- 
sicht, dals  mit  der  Subventionierung  der  Versicherungskasse  die 
Pflicht  der  öffentlichen  Körper  gegen  die  Arbeitslosen  erschöpft  sei. 
Die  Verwerfung  dieses  Entwurfs  würde  blofs  eine  Verzögerung  be- 
deuten; denn  die  selbst  in  dem  milden  Winter  1898/99  in  einer 
ganzen  Anzahl  von  schweizerischen  Städten  sich  bemerkbar  machende 
starke  Arbeitslosigkeit,  sowie  die  gegenwärtige  Betriebsweise  der 
Seiden&brikation  in  Basel,  welche  eine  zeitweilige  Arbeitslosigkeit 
des  darin  beschäftigten  Personals  nicht  vermeiden  lälst,  Werden  die 
Frage  der  Arbeitslosenversicherung  nicht  mehr  zur  Ruhe  kommen 
lassen. 


'  Zeitcdirift  für  Venidierai^irecht  und  -Wissentcbaft  V,  3—3,  S.  »34. 


uiyiiizied  by  Google 


GESETZGEBUNG. 


OBOT8CHB8  RBICIL 

Zur  Revision  des  deutschen  Gewerbegeiichtsgesetzes. 

Von 

M.  VON  SCHULZ, 

Gewerb«richter  und  VorsiUendem  des  Gewerbegerichts  Berlin. 

Die  Gewerbegerichte  sind  seit  ihrem  Bestehen  bis  heute 
häufigen  Angriffen  ausgesetzt,  welche  in  der  Mehrzahl  objektiv 
Oberhaupt  nicht  und  in  subjektiver  Beziehung  unzutreffend  oder 
mindestens  unzulänglich  begründet  sind.  Der  Kampf  wird  vorzugs- 
weise in  der  Tagespresse  gelÜhrt  Es  ist  erkläriich,  dafs  die 
Zeitungen  je  nach  ihrem  Pärteistandpunkte  über  den  Wert  oder 
Unwert  der  Gewerbegerichte  sich  äulsern,  so  da(s  man  aus  ihnen 
ein  völlig  wahrheitsgetreues  Bild  von  der  That^keit  dieser  Gewerbc- 
gerichte  und  von  den  etwaigen  Mängeln  des  Gewerbegerichtsgesetzes 
sich  nicht  verschaffen  kann. 

Der  Augenblick  zur  vorurteilslosen  Beschäftigung  mit  dem 
teilweis  angefeindeten  Gesetze  und  mit  den  ihm  nachgesagten 
Fehlem  ist  günstig,  da  zur  Zeit  Verhandlungen  im  Reichstage  über 
die  Revision  des  Gewerbegerichtsgesetzes  stattlinden.  Wir  sind  ge« 
willt,  hier  die  aus  den  Licht-  und  Schattenseiten  des  bestehenden 
Gewerbegerichtsgesetzes  gesammelten,  mehr  denn  sechsjährigen  Er- 
fahrungen des  Berliner  Gewerb^erichts,  und  die  aus  diesen  resul- 
tierenden Vorschläge  zur  Ausbesserung  und  Aenderung  des  Gesetzes 
zu  verwerten,  ohne  uns  indessen  anheischig  zu  machen,  eine  er- 
schöpfende Darstellung  aller  Reformpunkte  zu  geben. 

Den  AnlaGs  zu  den  Reichstagsdebatten  gab  der  Antrag  der 


L^iyiii^uü  Uy  Google 


I40 


Gesetzgebung:  Detttachec  Rdch. 


Sozialdemokraten  Agster  und  Genossen  und  der  Antrag  der  Zentrums- 
Abgeordneten  Trimbom  und  Dr.  Hitze.^) 

In  den  Reichstagssitzungen  vom  i8.  und  25.  Januar  1899  wurden 
diese  Antrage  verhandelt  —  Es  wurde  beschlossen,  die  Nr.  5$  und 
die  Nr.  85  Ziffer  l  (Forderung  auf  Vorlage  eines  Gesetzentwürfe 
betr.  kaufmännischer  Schiedsgerichte)  anzunehmen  und  den  Zentrums- 
antrag  (Nr.  85  Ziffer  2)  allein  einer  Kommission  von  14  Mitgliedern 
zur  weiteren  Beratung  zu  überweisen.  Es  liegen  bereits  die  Beschlüsse 

')  DicMr  Antrag  will,  d«fi 

1.  die  Eniehtniig  von  Geweibegerichten  obligatorisch  gemsiAi  und  denn 

ZtMtindigk<  it  auf  die  Entscheidung  von  Streitigkeiten  aasgedrhnt  wird, 
die  aus  doni  Lohn-,  ArV)eit>-  und  Dienstverhältnis  aller  im  Gewerbe  und 
Bergbau,  in  der  Land-  und  Forstwirtsrhiilt  und  Fischerei,  im  Handel  und 
Verkehr  oder  als  Gesinde  bcsrhältij^ten  Personen  entstehen  : 

2.  die  i'cilnahmo  an  den  Wahlen  und  die  Berufung  zu  Mitgliedern  eines 
GeweriMgerichts  anf  die  in  den  genannten  Berufen  beschäftigten  weiblichen 
Personen  auagedehnt  wird; 

3.  die  Verleihung  des  Wahlrechts  und  der  Wihlbarkeit  auf  das  volleodete 
30.  Lebensjahr  herabgesetzt  wird.  (Nr.  36  der  Drudsachen  des  Reichs- 
tages.) 

Zu  diesem  Antrage  ging  darauf  ein  Antrag  der  Herren  Abgeordneten  Trim« 
born  und  Hitze  ein.    Derselbe  enthält  die  Forderung: 

Der  Reichstag  wolle  -  unter  .\hl.-imung  des  Antrages  Agster  —  beschliefsen : 
die  Verbündeten  Ke^ierunj^en  zu  ersuchen 
dem  ktichstage  thunlichst  bald  einen  Gesetzentwurf  vorzulegen,  wonach 
snr  Entscheidung  von  Streitigkeiten  zwischen  Prinzipalen  einerseits  und 
Handlungsgehilfen  und  Lehrlingen  andrerseits  kaafinianische  Schicda- 
geridite  erriditet  werden; 
3.  dem  Reichstage  eine  Novelle  zn  dem  Gesetz  betreffend  die  Gewerbegerichtey 
vorzulegen,  zu  dem  Zwecke: 

a)  eine  geordnete  Aufstellnng  der  Wahlerlisten  wirksanmr  zn  sichern: 

b)  die  Errichtung  von  Gewerbegerichten  obligatorisch  zu  machen,  soweit 
nicht  die  Landesr^ierung  wegen  mangelnden  Bedürfnisses  Ausnahmen 

gestattet ;  . 
C)  die  Kompetenz  der  ( iewcrbe^erii  hte  als  [üiiigunpsämter  dahin  zu  er- 
weitern, dals  dieselben  auch  ohne  Anrufen  der  streitenden  Parteien  für 
die  Beilegung  der  Streitigkeiten  wiilcen  ktoncn.   (Nr.  85  der  Druck- 
sachen des  Reidistages.) 
Beide  AntrSge  sowohl  wie  der  Antrag  Bassermann  anf  Nr.  55  der  Dmdc- 
sachen,  welcher  sich  mit  Nr.  1  de«  Antrags  Trimbom  deckt,  standen  in  den  Sitzongen 
des  Reichstages  vom  la.  und  18.  Januar  d.  J,  zur  Diskussion.    (Siehe  auch  „Ge* 
werbegeridit"  vom  2.  Februar  d.  J.,  Nr.  5  Sp.  56.) 


Digitized  by  Google 


M.  von  Scbuls,  Zur  Revision  des  dentachcn  Gcwerb^eriditsgeteUe*.  i^i 

der  Kommission  in  erster  und  zweiter  Lesung  und  der  Bericht  der- 
sdben  vor.  Man  hielt  es  für  zweckmaisiger,  dem  Plenum  nicht,  wie 
es  in  dem  der  Kommission  über^viesenen  Antrage  geschieht,  eine 
Resolution,  sondern  einen  vollständigen  Gesetzentwurf  zur  Beschlufs- 
fassung  zu  unterbreiten.  Dieser  Entwurf  eines  Gesetzes  betrefTend 
Abänderung  des  Gesetzes  vom  29.  Juli  1S90  über  die  Gewerbe- 
gerichtc  besteht  aus  vier  Artikeln  ')  und  brachte  nach  erster  Lesung 
die  Bestimmiincren,  welche  von  der  Zentrumsfraktion  beantragt  sind, 
in  zum  Teil  verbesserter  Form,  aufserdem  aber  noch  auf  \'er- 
anlassung  der  sozialdemokratischen  Mitglieder  der  Kommission  im 
Artikel  II  folgende  Vorschriften: 
„Dem  §  3  Ziffer  3  hinzufügen 

„und  der  Beiträge  für  die  Invaliditäts  und  Altersversicherung 
96  des  Gesetzes  betreffend  die  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung vom  22.  Juni  1889)" 
„dem  §  3  folgende  neue  Bestimmung  hinzuzufügen 

»über  Entschädigungsansprüche  aus  gesetzwidrigen  Ein- 
tragungen in  Arbeitsbücher,  Zeugnisse,  Krankenkassenbücher 
und  Quittungskarten  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherungs- 
Anstalten,  sowie  wegen  widerrechtlicher  Vorenthaltung  dieser 
Papiere." 

Wir  werden  in  einem  ersten  Abschnitte  die  Bestimmungen 
des  Gesetzentwurfes  besonders  unter  Bezugnahme  auf  die  Praxis 
des  Berliner  Gewerbegerichtes  betrachten,  um  alsdann  in  einem 
zweiten  Abschnitte  über  die  notwendig  gewordonf^n  Abänderungen 
und  Ergänzungen  des  Gewerbegerichtsgesetzes,  welche  in  dem  Ent- 
wurf nicht  berücksichtigt  sind,  jedoch  nach  den  von  uns  gemachten 
Beobachtungen  einer  solchen  Berücksichtigung  wert  erscheinen, 
Bericht  zu  erstatten. 

I. 

Artikel  I  des  Entwürfe  der  Novelle  zum  Gewerbegerichtsgesetz 
bezweckt,  §  i  dieses  Gesetzes  durch  folgende  Vorschrift  zu  er- 
gänzen: 

In  Gemeinden  mit  mehr  als  20000  Einwohnern  mufs  die 
Errichtung  eines  Gewerbegerichts  von  der  Landes-Zentral- 

Nr.  a86,  Reichstag,  10.  Lcgislatarperiode,  1,  Session  1898  gq,  Bericht  der 
VU.  Kümmisston  über  den  Antrag  der  Abgeordneten  Trimbom  und  Dr.  Hit7.c,  bftr. 
die  Gewerbegeridite.  (Siebe  hierzn  Sozial«  PimzU  vom  16.  März  d.  J.  Nr.  24  Sp.  661.) 


Digitized  by  Google 


142 


Gcsetsgebang:  Deutsches  Reich. 


behörde  auf  Antrag  beteiligter  Arbeitgeber  oder  Arbeiter 

angeordnet  werden. 
Es  scheint  erforderlich,  derartig  einen  Druck  auf  die  ^rolseren 
Städte  auszuüben.  Nach  der  Mitteikni^^  von  Jastrow ' )  muls  man 
zu  dem  Verdachte  kommen,  dals  manchen  Orts  „eine  .\n  prinzipieller 
Gegenströmung  gCj^^en  das  Reichsgesetz"  besteht.  Derselbe  Schrift- 
steller hebt  mit  Recht  hervor:  „Wenn  eine  Stadt  von  mehr  als 
200CX)  Kiiiwohnern  kein  (iewerbegericht  erhält,  so  ist  die  Ver- 
n^utung  begründet,  dafs  es  ihr  durch  eine  ungerechtfertigte  Ab- 
neigung der  in  der  Kommunalverwaltung  malsgebcnden  Kreise 
vorenthalten  wird."  -)  F!in  eigentümliches  Beispiel,  wie  Kommunal- 
belu')rden  über  ( rewerbegerichte  denken,  giebt  B.,  eine  Stadt  von 
freilich  nur  ca.  i  i  ooo  Kinwohnern.  Knde  1898  hatte  das  B.'er  (ie- 
Werkschaftskartell  den  Magi.strat  zu  B.  um  Errichtung  eines  Gewerbe- 
gerichts ersucht.  In  dem  Antwortschreiben  dieser  Behörde  vom 
25.  Januar  d.  J.  wird  tlarauf  erklärt,  dafs  die  gehörten  Arbeit- 
geber einstimmig  ein  Urteil  dahin  abgegeben  hätten,  dafs  ,,die 
Errichtung  eines  solchen  Gerichts  für  alle  in  unserer  Stadt  vor- 
handenen Gewerbebetriebe,  wie  Petenten  beantragen,  als  e  i  n  U  n  d  i  n  g 
abzulehnen  sei.  Magistrat  muls  nach  eingehender  Prüfung  aller  Ver- 
hältnisse dem  Urteile  sich  anschliefscn  . .  .'* ')  Es  wird  hierzu  auf 
den  Bericht  der  Kommission  hingewiesen.    Nach  demselben 

wurde  während  der  Beratungen  ausgeführt ,  dafs  in  vielen  Ge- 
meinden und  Bezirken  Elemente  herrschten,  denen  die  Gewerbe- 
gerichte unter  anderem  schon  deshalb  unsympathisch  seien, 
weil  sie  auf  dem  Grundgedanken  der  sozialen  Gleich- 
berechtigung zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter 
ruhte  n.*) 

Bei  dieser  .Sachlage  ist  es  als  ein  glücklicher  Gezetzesvorschlag 
zu  begrülsen,  dals  unter  gewissen  Umständen  die  Schaffung  von 
Gewerbegerichten  erzwungen  werden  kann.  Es  bleibt  nur  zu  hotifen, 
dafs  dieser  Gedanke  auch  Gesetz  werde. 

')  Die  Erfahrungen  in  den  denttcben  Gewerbegerichten  in  den  Jahrbttdier  flir 
Nationalökonomie  und  Statistik  —  dritte  Folge  Bd.  XIV  (LXIX)  S.  335.* 

*)  J  a  s  t  r  o  w ,  a.  a.  O.  S.  333.  Vgl.  auch  die  AusfUinuigen  des  Abgeordneten 
Zubeil  in  drr  Keir)i<:taf;ssitzung  vom  18.  Januar  d.  J.  S.  265  und  266  und  die  Ans* 
AOmiDgen  des  Abpcfjrdnctcn  Trimborn  in  dcrsolben  Sitzung  S.  269  (A). 

•)  .^^ozialc  Praxi>  Nr.  21  vom  23.  Februar  1899  .S.  57^  und  574. 

*)  Siehe  auch  die  Ausführungen  des  Abgeordneten  Trimborn  in  der  Reichs« 
tags&itzuDg  vom  18.  Jtuiuar  d.  J.  S.  269  (A)  und  den  Bericht  der  VII.  Kommission  S.  6. 


Digitized  by  Google 


H.  von  Scbnix,  ZurRevisioo  der  deutschca  Gcwerb^ericbttcesetscs.  143 

Xach  Artikel  II  Satz  I  (erste  Lesung  des  Entwurfes)  sollte  dem 
§  3  Ziffer  3  ein  Zusatz  gemacht  werden,  nach  welchem  fürderhin 
das  Gewerbegericht  auch  über  die  Berecbnung  und  Anrechnung 
der  Beitrage  für  die  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  {§  96  des 
Gesetzes  betreffend  die  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  vom 
22.  Juni  18S0  zuständig  sein  soll.  Man  käme  hierdurch  den 
Wünschen  der  Arbeitnehmer  sicher  entgegen.  Von  uns  mufsten 
bisher  viele  Arbeitnehmer,  welche  Beschwerden  über  die  Berechnung 
der  Beiträge  hatten,  abgewiesen  werden.  Es  ist  dies  um  so  un- 
angenehmer, Weil  die  Differenzen  wegen  solcher  Beiträge  häufig  mit 
anderen  Streitigkeiten  aus  dem  Arbeitsverhältnisse,  für  die  das  Ge- 
vtrerbegericht  zuständig  ist,  zusammentreffen,  so  dafs  die  Anrufung 
zweier  verschiedener  Gerichte  erforderlich  wird.  Alsdann  würde 
femer  durch  die  neue  Bestimmung  den  Beteiligten  die  Befugnis  ab- 
geschnitten, da  es  sich  stets  um  ein  Objekt  von  unter  lOO  Mk. 
handeln  wird,  noch  eine  höhere  Instanz,  wie  bisher,  zu  beschreiten, 
(§§  122.  124  des  Gesetzes  betreffend  die  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung.) Bedauerlicherweise  ist  der  Beschluß  erster  Lesung 
aufgehoben,  weil  inzwischen  die  Kommission  zur  Beratung  der 
Novelle  zum  Invalidenversicherungsgesetze  einen  Antrag,  welcher 
för  die  dem  Gewerbegericht  unterstehenden  Personen  die  Entschei- 
dung der  Beitragsstreitigkeiten  dem  Gewerbegericht  überweisen 
wollte,  abgelehnt  hat. ') 

Wir  kommen  nunmehr  zur  Erörterung  des  Inhaltes  des  Artikel  II 
(Satz  2  des  Entwurfes  erster  Lesung).-)  Hier  hat  man  zu  unter- 
scheiden, einerseits  E  n  t  sch  ä  d  i u  n  gs  a  n  s  p  r  ü  c  h  c  iiifol^^^e  der 
durch  den  Arbeitgeber  verzögerten  Aushändigung  d  e  s  Zeugnisses 
und  des  .Arbeitsbuches  und  der  gesetzwidrigen  Eintragungen  iu 
das  Zeugnis  oder  in  d  a  s  Arbeitsbuch  fi;  3  Xr.  i  des  (ic  werbe - 
gerichtsgesetzes',  andererseits  Entschädigungsansprüche  aus 
gesetzwidrigen  Eintragungen  in  die  sonstigen  „Papiere"  des  Arbeiters 
und  wegen  widerrechtlicher  Vorenthaltung  dieser  Papiere.  Wir 
Ljlaubcn  uns  berechtigt,  den  liier  in  Betracht  kommenden  Gesetzes- 
vorschlag derartig  zu  zerlegen,  zumal  bei  der  X'erhandlung  über  die 
Vorschrift  auf  die  Ausführungen  des  \'erwaltungs!ierirhts  des  Berliner 
Gewerbegerichts  189697  unwidersprochen  autmcik>am  gemacht  ist. 
Es  heilst  nämlich  dort:  Nach  der  Fassung  des  bestehenden  Gesetzes 


I  Bericht  der  VII.  Kommission  S.  13. 
')  Siebe  Einleitung  dieses  Aufsatzes  a.  E. 


Digitized  by  Google 


144 


Gctetsgeboag:  Dentschcs  Rdch, 


(§  3  Abs.  I  \r.  1  u.  2)  muls  es  zweifelhaft  erscheinen,  ob  Ent- 
schädigungsansprüche, die  aus  Verweigerung  oder  Ver- 
zögerung der  Ausliändigung  des  Arbeitsbuches  oder  Zeugnisses 
oder  aus  dem  Inhalt  desselben  hergeleitet  werden,  zur  Zuständigkeit 
des  Gewerbegerichts  gehören  u.  s.  w.  Später  ist  die  Ansicht  alls^^emein 
beim  Berliner  Gewerbegericht  zur  Geltung  gelanf^t.  dafs  wegen  der  ge- 
nannten Ansj)nichc  das  Gewerbegericlu  unbedingt  sicli  tut  unzuständig 
zu  erklären  hat.    Es  soll  dies  nunmelir  von  uns  begründet  werden: 

Unter  „Zeugnis"  des  §  3  \r.  i  a.  a.  O.  ist  nur  das  im  i?  II3 
und  s?  127  c  Reichsgewerl)eordnung  behandelte,  welches  der  Arbeiter 
rcsp.  Lehrling  beim  Ausscheiden  aus  dem  Arbeits-  resp.  Lehr\-erhäknis 
verlangen  kann,  unter  „Arbeitsbuch"  desselben  l'aragraphen  lediglich 
das  in  den  i;t?  107  — 112  a.  a.  O.  für  minderjährige  Personen  be- 
stimmte zu  verstehen. 

Es  ist  die  l'iage,  ob  die  .Aushändigung  und  die  Eintragung  in 
das  Arbeitsbuch  oder  in  das  Zcui^tiis  ..Leistungen  aus  dem  Arbeits- 
verhähnissc  '  sind.  Zunächst  haben  wu*  festzustellen,  was  ein  Arbeits- 
verhältnis ist. 

Schon  nach  dem  Inhalt  des  §  105  R.G.(^.  (verba:  Fest- 
setzung derX'erhältnisse  —  Gegenstand  freier  eber- 
cinkunft)  wird  das  Arbeits\ erhällnis  allein  durch  den  Arbeits- 
vertrag hervorgerufen  und  durch  die  Abmachungen  in  demselben 
dem  Umfange  nach  festgestellt.  Das  Arbeitsverhältnis  ist  somit  die 
Art  und  Weise  des  durch  den  Arbeitsvertrag  geregelten  thatsäch- 
liclien  Wrhaltens  des  Arbeitgebers  und  Arbeitnehmers  zu  einander 
während  der  Dauer  dieses  Vertrages.') 

Es  soll  hier  gleich  l)emerkt  werden,  dafs,  wenn  der  Arbeitgeber 
den  geschlossenen  Arbeitsvertrag  \oi^  Anfan;^  an  ohne  Grund  zu 
erfüllen  sich  weigert  und  auf  den  Arbeitsantritt  ausdrücklich  ver- 
zichtet, der  Arbeitnehmer  wohl  in  der  Lage  ist,  wegen  entgangenen 
Lohnes  eine  Schadensforderung  zu  erstreiten,  die  Ausstellung  eines 
Zeugnisses  dagegen  trotz  vorhandenen  durch  den  Arbeitsvertrag 
erzeugten  Arbeitsverhältnisses  nicht  durchsetzen  kann.  Da  eine 
Beschäftigung  überhaupt  nicht  stattgefunden  hat,  so  ist  es  eben  dem 
Arbeitgeber  unmöglich,  über  Art  und  Dauer  der  Beschäftigung  ein 
Attest  zu  geben.   Aehnliches  trifil  auf  das  Arbeitsbuch  zu. 

Man  kann  deswegen  nur  sagen,  da(s  der  Anspruch  auf  das 
Arbeitszeugnis  oder  auf  die  Eintragung  in  das  Arbeitsbuch  ein  auf 

*)  M.  V.  Schulz  in  der  SoriAltn  Pnutis  vom  30.  Min  1899  Nr.  «6  Sp.  716a.  A. 


uiyiii^cü  Uy  Google 


M.  von  Scbnlt,  Zur  Revision  des  deatsehen  GewerbegeriditsceselMS. 

den  Leistungen  des  Arbeitnehmers  beruhendes,  vom  Arbeitsvertrage 
gesondertes  gesetzliches  Recht  ist.  Wir  werden  dies  weiter  unten 
noch  des  Näheren  ausführen.  Ihrer  Natur  nach  entsteht  ferner  die 
Pflicht  lur  Ausstellung  des  Zeugnisses  etc.  überhaupt  nach  Be- 
endigung des  Arbeitsverhältnisses.  Es  handelt  sich  also  bei  der 
Entschädigungsforderung  w  ep^en  verzögerter  oder  verweigerter  Aus- 
händigung der  genannten  Arbeiterpapiere  um  einen  Ausgleich  eines 
erst  nach  dem  Zeitpunkte  der  Auflösung  des  Vertrages  erwachsenen 
Schadens.  Dieser  kann  demnach  als  ein  während  des  Arbeits- 
%'erhältnis<cs  entstandener  nicht  erachtet  werden. ') 

Ueberdies  erhellt  aus  der  Entstehungsgeschichte  des  §  3  Ge- 
^\•erbegerichtsgesetzes,  dafs  das  Arbeitsverhältnis  auch  dort  streng 
durch  die  X'orschriften  des  Arbeitsvertrages  abgegrenzt  wird.  Die 
Folge  ist,  da&  als  „Leistungen  aus  dem  Arbeitsverhältnis"  nur  solche 
geschuldet  werden,  welche  die  Parteien  während  des  Bestehens  des 
Vertrages  unmittelbar  aus  di^m  zu  verlangen  befugt  sind. 

Die  Preufsische  Gewerbeordnung  vom  17.  Januar  1S45  zunächst 
enthält  im  §  137  folgenden  Satz: 

„Streitigkeiten    der    selbständigen  Gewerbetreibenden  mit 
ihren  Gesellen,  Gehilfen  oder  Lehrlingen,  die  sich  auf  den 
Antritt,  die  Fortsetzung  oder  Aufhebung  des  Arbeits-  oder 
Lehr\'erhältnisses  oder  auf  die  gegenseitigen  Leistungen 
während  der  Dauer  desselben  beziehen,  sind,  soweit 
fiir  diese  Angelegenheiten  besondere  Behörden  bestehen, 
bei  diesen  zur  Entscheidung  zu  bringen." 
Diese  Worte  des  §  137  a.  a.  O.  kehren  in  der  Gewerbeordnung 
von  1869      108)  wieder.   Eingefugt  sind  nur  hinter  den  Worten: 
„während  der  Dauer  desselben"  die  VV^orte  „oder  auf  die 
Erteilung^)  oder  den  Inhalt  der  in  den  §§113  und  124  cr\vähnten 
2Ieugnissc".    Die  Notwendigkeit  des  Zusatzes  wurde  im  Reichstage 
vom  23.  April  1869  damit  begründet,  dafs  „unter  den  Gegenständen, 
welche  im  ersten  Absätze  des  §  in  (§  108)  Gewerbeordnung  auf- 
gezählt werden  als  zur  Zuständigkeit  der  besonderen  Behörde  ge- 
hörig sich  ein  Gegenstand  des  Streites  nicht  mit  aufgeführt  finden, 
der   gar   nicht   selten   vorkomme:    das   sei    nämlich    der  Streit, 
der  entstehe,  wenn  ein  Zeugnis  ausgestellt  werden  solle 


'  Unger,  Entscheidungen  des  Gewerbegerichts  m  Berlin  Nr.  201  S.  233. 
^  Otto,  Die  Streitigkeiten  der  selbsttodigen  Gewerbetr«ibeiideii  mit  ihm 
Arbeitern,  S.  33  (ErteUnng  —  Aushändigung), 

Archiv  Tür  Mt.  G«9eUg«b«iBg  u.  Statistik.  XIV.  lO 


uiyiiizied  by  Google 


146 


Getet^bung:  Dentache»  Rdch. 


und  dieses  verweigert  werde  oder  dieses  Zeugnis  angeblich 
nicht  richtig  ausgestellt  sei.  Ks  seien  dies  die  allerwidcrwärtigsten 
Streitigkeiten,  die  sich  oft  jahrelang  hinziehen,  so  dafs  die  Par- 
teien daran  schliefslich  gar  kein  Interesse  mehr  haben  und 

nur  noch  der  Prozefskosten  willen  prozessieren". '  )  Es  war  daher 
augenscheinlich  die  einzige  Absicht,  derartige  Prozesse  einem  schleu- 
nigeren Verfahren  zu  überantworten.  Hiernach  ist  durchau>  klar, 
dafs  im  §  III  nicht  etwa  solche  Zeugnisse  gemeint  sind,  die  der 
Arbeiter  über  frühere  Arbeitsverhältnisse  besafs  und  dem  Arbcit- 
geljer  zum  Nachweise  über  seine  Befähigung  übergeben  hal.  -|  Im 
übrigen  ist  durch  die  nutuiiehrigc  Fassung  des  Paragraphen  dar- 
gethan,  dals  die  Aushänchgung  des  Zeugnisses  etc.  und  der  Lnl- 
schädigungsansj)iiich  we^^en  X'erzögerung  derselben  nicht  xu  den 
„Leistungen  und  Ktitschädigungsansprüchen  aus  dem  .Arbeitsver- 
hältnis" i^ehört.  Wäre  dieses  der  b'all,  so  wäre  es  überflüssig  ge- 
wesen, noch  besonders  in  diesem  Paragrapiien  eine  dieser  Leistungen 
„die  Aushändigung  odei  den  Inhalt  des  Arbeitsbuches  oder  des 
Zeugnisses  etc."  zu  erwähnen. 

Nach  der  ( lewerbeordnung  von  1869  erschien  der  Entu  iuf  der 
Novelle  vom  17.  Juli  1878  und  zugleich  ein  Entwurf  eines  (le- 
setzes,  betreffend  die  ( iewcrhcgerichtc,  weicher  den  §  108  a.  a.  O. 
beseitigen  sollte.  Da  letzterer  Ktitwurf  nicht  zur  .-\nnahme  j^elangte, 
mulste  108  wieder  in  die  (.Gewerbeordnung  hineingebracht  werden. 
Er  hat  als  §  I20a  geringe  retlaktionelle  Aenderungen  erfahren.  Hier 
ist  nur  anzuführen,  dafs  an  die  Stelle  der  Worte:  „auf  die  gegen- 
seitigen Leistungen  während  der  Dauer  desselben" 
die  Worte:  „auf  die  gegenseitigen  Leistungen  aus  demselben"  ge- 
setzt sind.  Als  Berichterstatter  der  Küiiinüssion  erklärte  der  Ab- 
geordnete Rickert bezüglich  der  erwähnten  Aenderung  —  ohne 
Widerspruch  von  anderer  Seite  — ,  dafs  die  Kommission  vorschlage 
zu  sagen:  „auf  die  gegenseitigen  Leistungen  aus  demselben",  weil 
dieser  Au.sdruck  korrekter  sei  und  weil  sich  aus  der  Praxis  ergeben 
habe,  dafs  die  W'orte :  „während  der  Dauer  desselben"  zu 
mifsverständlichen  Auslegungen  .A^nlafs  gegeben  haben.  Der  Ab- 
geordnete konstatierte  hinsichtlich  des  i;  I20a  wörtlich:  „Er  enthält 
genau  die  Bestimmung,  welche  der  §  108  der  Gewerbeordnung 


')  Reichstagssitzung  vom  2  \.  April  1869  S.  550. 

')  Unger  a.  a.  O.  Nr.  19S  S.  231  und  Nr.  203  S.  235. 

*)  in  der  53.  Sitzung  des  deutschen  Reichstages  vom  21.  Mai  1S78. 


M.  von  Schulz,  Zar  Revision  des  deutseben  Gewerbegericbtsgesetses.  i^j 


zum  Inliali  iiat,  so  dals  also  die  t^ewerblichen  Scliicclsj:^erichle  nach 
wie  \'  o  r  u  n  l  e  r  d  e  n>  c  \  1)  e  ii  B  e  d  i  n  g  u  n  c  ii  wie  b  i  s  Ii  e  r  f  u  r  t  - 
bestehen  werden."  Das  Reichsgericht  M  hat  dem  hiii/.ugefügt, 
6d[>  die  Abänderung  Icdighch  erfolgt  sei,  weil  in  der  I'raxis  die  \  oni 
Abgeordneten  Rickert  beanstandeten  Worte  insoiern  zu  mirsverständ- 
lichen  Auslegungen  geführt  hatten,  als  bezAveifelt  worden  war,  ob 
ruckständige  nach  Ausscheiden  des  Arbeiters  aus  dem  Arbeits- 
verhältnisse erhobene  Ansprüche  der  Bestimmung  des  §  io8  .(i20a) 
unterliegen. 

Der  §  I20a  a.  a.  O.  ist  durch  §  78  des  Gesetzes  über  die  Ge- 
werbegerichte aufgehoben.  Das  Gewerbegerichtsgesetz  hat  in  seinem 
§  3  Ziffer  2  anstatt  der  Worte:  „gegenseitig^en  Leistungen"  die 
Worte:  »J^eistungen  und  Entschädigungsansprüche"  aus 
dem  Arbeitsverhältnis  aufgeführt  und  die  Entscheidung  darüber  den 
Gewerbegerichten  übertragen.  In  den  Motiven  zum  §  3  des  Ge- 
werbegerichtsgesetzes heifst  es:  Die  Bezeichnungen  der  Streitig- 
keiten, auf  welche  die  Zuständigkeit  des  Gewerbegerichts  sich  er- 
streckt, entsprechen  im  wesentlichen  der  Bestimmung  in  §  120a 
der  Gew.Ordn.  Nur  ist  die  Zuständigkeit  insofern  bestimmter 
benachnet,  als  ausdrücklich  auch  alle  Ansprüche  auf  Ent- 
schädigung einschlielslich  derjenigen,  welche  erst  mit  dem  Zett- 
punkte der  Entlassung  oder  des  Austritts  des  Arbeiters  entstehen, 
vor  die  Gewerbegericbte  gewiesen  werden.*) 

Man  ist  auch  während  der  Kommissionsberatungen  zum  3 
a.  a.  O.  davon  ausgegangen,  dals  die  „Leistungen  und  Entschädigungs- 
ansprüche aus  dem  Arbeitsverhaltnisse''  in  dem  Arbeitsvertrage 
ihren  Grund  haben.  Damals  wurde  nämlich  zum  §  3  beantragt, 
dem  Absatz  i  desselben  am  Schluls  die  Worte:  „insofern  sie 
sich  aus  dem  Arbeitsvertrage  oder  aus  dem  Arbeits- 
verhältnisse ergeben"  hinzuzusetzen.  Es  wurde  zugestanden, 
dals  diese  Fassung  die  grundsätzlich  richtigere  sei  Doch  wurde  er- 
wogen, da(s  ein  solcher  allgemeiner  Satz  in  der  Praxis  ungelehrter 
Richter  zu  grofsen  Unzuträglichkeiten  (Uhren  müsse,  dais  es  darum 
praktischer  sei,  eine  Aufeählung  eintreten  zu  lassen,  wie  die  Vor- 
lage thue,  umsomehr,  als  diese  Aufzählung  an  eine  längst  bekannte 
und  eingebürgerte  Formulierung  (im  §  120a  der  Gew.Ordn.)  an- 
schlielse.   Der  Antrag  wurde  hierauf  zurückgezogen.^) 

Entsch.  Bd.  13  S.  343. 
*)  Nr.  5,  Reichstag,  8.  Legislaturperiode,  i.  Sesiimi,  1890  S.  au 
Ku  51,  Reichstag,  8.  Legislaturperiode,  t.  Session,  1890  S.  6. 


148 


GeseUgeboug :  Deutsches  Reich. 


Durcli  die  gegenwärtige  I'^assung  des  §  3  Ziffer  2  ist  nach  der 
Entscheidung  des  Reichsgerichts ')  namenthch  die  frühere  Streit- 
frage,  ob  auch  die  erst  nach  Beendi^^un^'  des  Arbeitsverhältnisses 
hervortretenden  Entschädigungsansprüche  der  Zuständigkeit  der 
ordenthchen  Gerichte  entzogen  seien,  im  bejahenden  Sinne  ent- 
schieden, im  übrigen  aber  die  frühere  Rechtslage  bezüglich 
der  Natur  und  des  Umfangs  der  Ansprüche  nicht  wesentlich 
verändert  worden.  Unter  den  Entschädigungsansprüchen  seien 
—  so  fuhrt  das  Reichsgericht  aus  hiernach  solche  zu  verstehen, 
welche  sich  unmittelbar  aus  dem  Arbeitsvertrage  oder  dem 
Arbeitsverhältnisse,  namentlich  wegen  NichterföUung  der  danach  den 
Beteiligten  obliegenden  gegenseitigen  Leistungen  während  der 
Dauer  des  Arbeitsverhältnisses  ergeben.  Zu  diesen 
Leistungen  gehört  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Aushändigung 
des  Zeugnisses  etp.  nicht  Es  kommt  infolgedessen  hier  nicht  ein 
Entschädigungsanspruch  nach  Ziffer  2  §  3  a.  a.  O.,  vielmehr  ein 
aus  allgemeinen  Rechtsgrundsatzen  herzuleitender  Entschädigungs- 
anspruch in  Frs^e.  Zur  Entscheidung  über  solche  Ansprüche  ist 
das  Gewerbegericht  bislang  nicht  befugt.'-) 

Wir  müssen  hierbei  auch  durchaus  berücksiciitigcn,  dafe  die 
Gewerbegerichte  Sonder ge richte  sind  und  als  solche  nur  inner- 
halb des  engen  Rahmens  der  ihnen  durch  das  Gesetz  zugewiesenen 
Streitigkeiten  fungieren  und  gelten  können.  Eine  extensive  Aus- 
legung der  gesetzlichen  Zuständigkeitsnormen  für  die  Gewerbe- 
gerichte ist  infolgedessen  unzulässig.  Selbst  wenn  also  der  Arbeit- 
nehmer durch  den  Arbeitsvertrag  sich  als  eine  Gegenleistung  des 
Arbeitgebers  die  nach  Beendigung  des  Arbeitsverhältnisses  statt- 
zufindende Ausstellung  eines  Zeugnisses  ausmachen  würde,  so  würde, 
falls  der  Arbeitgeber  nachträglich  nicht  erfüllen  will,  das  Gewerbe- 
gericht dennoch,  sobald  eine  eventuelle  Schadensforderung  (nach 
Lösung  des  Arbeitsvertrages)  in  Frage  kommt,  nicht  zur  Ent« 
Scheidung  berufen  sein.')  Bei  dieser  Gelegenheit  ist  hervorzuheben^ 
dals  ein  Urteil  des  Gewerbegerichts  in  einer  Sache,  zu  deren  Ent- 
scheidung es  nicht  zuständig  war,  nicht  als  Urteil  eines  Gerichts 
anzusehen  ist^)   Sobald  dieselbe  Sache  bei  dem  ordentlichen  Gie» 

•)  Bd.  41,  S.  137. 

*)  jastrow,  a.  a.  O.  S.  343  und  BläUer  fiir  soziale  Praxis  vom  37.  Dezbr.  1893. 

*)  Reg«r,  I.  Ergänzniigsbaiui  S.  47. 

*)  Eccitts  bei  Gruehot,  Bd.  36,  S.  145. 


Digitized  by  Google 


IL  von  Schals,  ZarRensUm  des  deoliehen  GeweibegerichtsgeseUes.  i^^^ 

rieht  anhängig  würde,  wäre  deswegen  der  Einwand  der  Rechts- 
hängigkeit bezw. Rechtskraft  nicht  begründet.  £$  können  dem- 
nach, wenn  die  ordentHchen  Gerichte  die  Bestimmungen  über  die 
Zuständigkeit  anders  interpretieren  wie  die  Gewerbegerichte,  un- 
liebsame Verwicklungen  entstehen. 

Der  Arbeitsvertrag  als  solcher  allein  verpflichtet  den  Arbeit- 
geber nicht,  sich  dem  Arbeitnehmer  gegenüber  schriftlich  über  die 
Beschaffenheit  der  geleisteten  Dienste  und  über  die  Führung  des 
Arbeitnehmers  auszulassen.')  Diesen  Standpunkt  vertritt  auch  ein 
in  einer  IVoze(ssache  eines  Handlungsgehilfen  gegen  einen  Kauf- 
mann ergangenes  Urteil  des  Reichsgerichts^)  unter  der  Motivierung, 
dafs  es  Sache  des  Klägers  gewesen  wäre,  sich,  wenn  er  einen 
Rechtsaniq>ruch  auf  denuiächstige  Zeugniserteilung  erwerben  wollte-, 
dies  bei  seinem  Engagement  auszubedingen.  Da  >  deutsche  Handels- 
gesetzbuch schweigt  sich  zwar  bezüglich  der  Zeugniserteilun'^  an 
Handlungsgehilfen  aus.  Die  Reichsgewerbeordnung  entliält  hier- 
über hing^cn  ausdrückliche  Bestimmungen  (sj  113  und  127  c  der 
Handwerkcrnovcllc  i  nach  woK  hcn  jeder  \i  Zeitgeber  verpflichtet  ist, 
nach  Lösung  des  Arbeits(Lchr)verhältnisscs  dem  Arbeitnehmer  resp. 
Lehrling  ein  Zeugnis  zu  erteilen.  Es  fragt  sich  nun,  ob  die  An- 
sprüche der  Arbeitnehmer  bezw,  Lehrlinge  auf  .Vushändigung  des 
Zeugnisses  und  des  Arbeitsbuches  (>;  107  Reichsgewerbeordnung) 
als  kontraktliche  zu  bezeichnen  o<lcr  ob  sie  als  aufeerkontraktliche, 
lediglich  auf  dem  Gesetze  beruhende,  zu  erachten  sind.  Wir  halten 
diese  Ansprüche  für  besondere,  durch  das  Gesetz  begründete  — 
nicht  aus  dem  Arbeits-  oder  Lchrvertrag  emanierende  —  und  zwar 
auf  gewerbepolizeilichem  Boden  erwachsene  Rechte  der  Arbeit- 
nehmer.'*) 

*i  Kcger,  Bl.  ib,  S.  369. 

•i  Sruirfrr>  Archiv,  Bd.  48  S.  .504;  siehe  dazu  aber  Zfit^chritt  liir  da-.  ;^c- 
fc.imt«-  Handelsrecht  Bd.  21  S.  566,  »emer  Bd.  40  S.  453  uud  BläUcr  lür  Rechls- 
ptlvgc  im  Bezirk  des  Kammergericbts  von  Terl  und  Wreschner,  1891  S.  113 
•89a  &  115. 

^  Die  Anwrelhmg  der  Zwtgiitor  naeli  §§  171,  172  der  Preafs.  Gestodeordiiaiig 
vcB  i8to  ist  noch  bevte  weder  in  das  Belieben  der  Dienstboten  noch  in  das  der 
HcRsdinft  gestellt,  sondern  positiT  Toigesdirieben.    Weigert  sidi  die  Heirsebalt, 

diese  Verpflidltnng  zn  eiflillen,  so  ist  sie  nach  §  5  der  V^erordn.  vom  39.  September  1846 
(Gesetz  vom  21.  Februar  1872)  durch  .Androhung  einer  Geldstrafe  von  der  Poli/. ci- 
behörde  dazu  anzuhaltm  .\ii<!<r'Tseit!.  kann  auch  dem  Dienstboten,  welcher  -.ich 
Weigert,  das  Dienstbuch  zur  tfäntragung  des  Zeugnisses  vorzulegen,  von  der  Polizei* 


Digitized  by  Google 


I50 


Gesetzgebung:  Devtsdhes  Reich. 


Was  zunächst  das  Arbeitszeugnis  anlangt,  so  muls  man  in 
dieser  Beziehung  bis  zum  Preufsischen  Allgemeinen  Landrecht,  der 
Grundlage  der  heutigen  Reichsgewerbeordnung,  zurückgehen. 

Dieses  Gesetz  verordnete  *)  fiir  die  Fabrikarbeiter:  Kein  Fabrik- 
Unternehmer  soll  diejenigen,  welche  in  einer  ähnlichen  Anstalt  bisher 
gearbeitet  haben,  in  die  seinige  aufnehmen,  ehe  dieselben  ihre 
Entlassung  durch  ein  schriftliches  Zeugnis  dargethan 
haben.  Aehnliche,  nur  noch  detailliertere  polizeiliche  Bestim- 
mungen sind  in  dem  Preufsischen  Allgemeinen  Landrecht  ^  fiir  die 
Handwerksgesellen  getroffen.  Die  Gesellen  müssen  sich  durch  die 
„Kundschaft"  ausweisen.  Die  Kundschaft  war  ein  von  der  Gewerk- 
schaft ausgestelltes  Führungsattest  för  die  Wanderschaft  und  zugleich 
Legitimation  iiir  den  wandernden  Gesellen.  Ohne  solche  durfte 
er  bei  schwerer  Strafandrohung  nicht  beschäftigt 
werden.  Beim  Eintritt  in  die  Arbeit  mufste  der  fremde  Geselle 
die  „Kundschaft"  nebst  Geburts-  und  Lehrbrief  in  die  Lade  nieder* 
legen.  Wollte  er  weiter  wandern,  so  war  er  gehalten,  nach  Ein- 
haltung einer  vierzehntägigen  Kündigungsfrist  ^)  sich  seine  Legitima- 
tion und  eine  neue  Kundschaft  *)  zu  verschaffen,  die  er  mir  bei  guter 
Führung  erhielt^)   Nach  Preufsischem  Landrecht  darf  der  Meister 


bchOrde  zu  diesem  Zwecke  das  Dienstbuch  abgenommen  werden  (Verf.  des  Ministers 
des  Innern  vom  30.  April  1867.).  —  Rönne,  IV.  Band  Ergänzungen  und  Erttnte- 
ningen  des  Prenss.  AUgemdaen  Landrechts  S.  969.  Die  anndiniende  Hemclmft 
mnfs  bei  Venneidung  einer  öflentlidien  Strafe  die  IHenstboten,  welche  schon  rtr- 
roielet  gewesen,  bei  dem  Antritt  des  neuen  Dienstes  vennlassen,  das  Zeognis  der 
vorigen  HerrKhaft  vorzuweisen  (S§  9  ff.  der  Gesindeordmmg).  ^  171  der  Gesinde« 
Ordnung  bat  übrigens  denselben  Wortlaut  wie  §  171  II5  A.L.R.  und  bestimmt  Bei 
dem  Ab/ugc  ist  die  Herrschaft  dem  Gesinde  einen  schriftlichen  Abst'hie<i  und  ein 
der  Walirlieii  gemfilses  Zeugnis  Uber  seine  geleisteten  Dienste  zu  erteilen  schuldig. 

')  J<  422  II  8  A.L.R. 

'-)  tj  355  IT.  und  §  389  ff.  II  8  A.L.K. 

»)  §  385  n  8  A.L.R. 

*)  In  den  Materialien  zum  A.LJL  Bd.  75  &  Mi  ist  bemerkt,  dals  die  Haiani- 
ffihe  der  alten  Knndsdiaft  nicht  hinreichend  sei,  sondem  es  müsse  voriier  von  den 
Bcisitiem  und  den  Aeltesten  (des  Gewerices)  danuiter  vermerkt  werden,  wie  lange 
der  Geselle  sich  an  dem  Orte  aufgehalten  and  wie  er  nach  dem  Zeugnis  seiner 

Meister  sich  aufgeführt  habe.  Siehe  hiersn  Bd.  80  der  Materialien  (Snares,  Revision 

der  Monita,  der  Abschrift  3.  Band)  S.  855. 

■'')  Ucber  diese  Verhältnisse  vorpleiclic  auch  Stieda  in  Conrad's  Handwörter- 
buch der  Staatswissenschalteu  i^.  VI  b>.  890.  Bruno  äcboenlank  ebendort  Bd.  III 


Digitized  by  Google 


M.  Ton  Schulz,  Zur  Revision  des  dentachen  GewcrbcgcrichUgcäctzes. 


in  die  Aushändigung  der  Kundschaft  bei  eigener  Vertretung  nicht 
willigen,  wenn  er  weiTs,  dafe  der  Geselle  Schulden  gemacht  oder 
Verbrechen  begangen  hat  Bei  Beratung  zur  Preufsischen  Gewerbe- 
ordnung vom  17.  I.  1845,  welche  die  gewerberechtlichen  Bestim- 
mungen des  Allgemeinen  Landrechts  zu  ersetzen  ausersehen  war, 
trat  die  unverkennbare  Tendenz  hervor,  den  polizeilichen  Charakter 
des  Abgangszeugnisses  ebenso  wie  im  Landrecht  zum  scharfen  Aus> 
druck  zu  bringen.  Nach  dem  Entwurf  eines  Gewerbepolizeigesetzes 
vom  21.  Januar  1835  z.  B.  wird  jedem  Gewerbsgehtlfen  das  Recht 
eingeräumt,  von  demjenigen  Meister,  der  ihn  beschäftigt  hat,  ein 
Zeugnis  zu  verlangen.  Es  wird  gefordert,  dafs  aulser  der  Zeit  und 
Dauer  der  Dienstleistung  das  Benehmen  während  derselben  in  ge- 
werblicher und  sittlicher  Hinsicht  angegeben  werden  soll.  Be« 
steht  bei  der  örtlidien  Polizeiverwaltung  kein  Zweifel  über  die 
Glaubwürdigkeit  eines  solchen  Zeugnisses,  so  solle  sie 
dieses  auf  Ansuchen  des  Inhabers  kostenfrei  darunter  vermerken. 
Man  wollte  femer  ausdrücklich  bestimmen,  dals  in  der  Regel  Ge- 
sellen nur  auf  Grund  solchergestalt  beglaubigter  Zeug« 


S.  830;  Hoffnann,  Die  Befugnis  zum  Gewcrbd>etriebe,  Berlin  1841,  S.  90  und 91, 

endlich  B  0  Ii  m  er  t ,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Zunftwesens,  1  .eipzig  bei  S.  Hirtel,  S.  50w 
I  »i*"  ..Kunrlscbaft"  war  übrigens  eines  der  Mittel  des  Reichsgesetaes  TOm 
16.  Augus-t  1731  (ki-i«hs/.unltordnung,  abgcilruckl  bc-i  Ma^ciier.  Das  ik-utsche  Ge- 
werbrrcrljt,  Potsdam  1866,  S. 771  j,  uro  die  Gesellen  unter  strengste  Aufsicht 
zu  stellen. 

Die  Preufsiacbe  Handwerksordnuug  vom  10.  Juni  1733  (abgedruckt  bt-i  Dr. 
Moriti  Meyer,  Gachichtc der  Preofsisdicn  Handwerkerpolitik,  IL  Band,  S.  329(1.), 
welche  die  schirfstcn  Strafen:  GefSngnis,  Znchtham,  Festungsbatt,  fltr  Renitente  den 
Tod  anf  Ventölse  gegen  die  reichsgesctzlichen  Bestimmaqgen  setzte,  enthSlt  im 
Art.  XVI  folgendes  Formular  der  „Kvndscliaft": 

„Wir  geschworen  Aelter-MSnner  andere  Meistere  des  Handwerks  der 
N.  in  der  Stadt  N.  bescheinigen  hicmit,  dafs  gegenwärtiger  Gesell,  Nahmens 
Jf.  von  N.  grbürtip.  so  .  .  .  Jahre  alt,  und  von  Statur  ....  auch  Haaren 
....  ist  bcy  Uns  allhier  .  .  .  Jahre  .  .  .  Wochen  in  .Arbeit  gestanden, 
und  sich  solrhf  Zeit  über  treu,  fleifsif^,  stille.  fric(i.s.ilnn.  und  ehrlich,  wie 
es  einem  jegliclien  llandwerk.s-Furschen  gebühret,  verhalten  liat,  welches 
wir  also  attestiren,  und  deshalb  onsere  sämtliche  Mit-Meistorc,  diesen  Ge- 
sellen nadi  Handwerks-Gebnndi  llbeimll  sn  fördeni,  gexiemend  ersuchen 
wollen.  N.  d.  o.  s.  w. 

N.  N.|  AeUermann 
N..N.,  A^enmum 

N.  N.,  als  Bfeister,  wo  obiger  Gesell  in  Arbeit  gestanden." 


L^iyiii^uü  Uy  Google 


152 


Gesetzgebang:  Deatidics  Reidi. 


nisse  in  neuen  Dienst  au^enommen  oder  mit  Reisepassen  ver- 
sehen werden.  Es  wurde  dabei  betont,  da(s  in  Ermangelung  eines 
derartigen  Zeugnisses  die  allgemeinen  Vorschriften  wegen  Legitima* 
tion  Reisender  oder  Dienstsuchender  einzutreten  hätten. 

Von  einer  Behörde  wurde  sogar  angeraten,  die  Verpflichtung 
festzusetzen,  da(s  Zeugnisse  gegeben  und  genommen  werden  müssten. 

Später  machte  man  sich  dahin  schlüssig,  da(s  die  Bestimmung, 
nach  welcher  die  Gewerb^ehilfen  nur  auf  Grund  b^laubigter 
Zeugnisse  in  den  Dienst  zu  nehmen  oder  mit  Reisepassen  zu  ver- 
sehen wären,  um  so  unbedenklicher  wegfallen  konnte,  als  dieselbe 
lediglich  sicherheitspolizeilicher  Natur  sei  und  mit  den 
allgemeinen  Vorschriften  über  die  Zulassung  und  Aufnahme  fremder 
Personen  und  der  Erteilung  von  Reisepassen  zusammenhän<^e. 

Hiernach  findet  sich  in  dem  gedruckten  Entwurf  eines  allge- 
meinen Gewerbepolizeigesetzes  ^)  nebst  Motiven  im  §  1 14  folgende 
Vorschrift:  Beim  Abgange  können  die  Gesellen  und  Gehilfen  ein 
Zeugnis  über  die  Art  und  Dauer  ihrer  Beschäftigung,  sowie  über 
ihr  Betragen  während  derselben  verlangen,  welches  von  der  Orts- 
kommunalbehörde,  sofern  diese  gegen  dessen  Inhalt  nichts  zu 
erinnern  findet,  kostenfrei  zu  beglaubigen  ist  In  den  Motiven 
zu  dem  Polizeigesetz  ist  angegeben,  dafe  besagte  Vor* 
Schrift  zumeist  nur  eine  Wiederholung  dessen  ist,  was  schon  im 
Allgemeinen  Landrecht  bestimmt  worden  sei. 

4;  142  der  preufsischen  (iewerbcordnuiig  von  1845  luil  im 
grolsen  und  L;an/(  n  den  j^leichen  Inhalt,  nur  dals  man  einer  An- 
regung nachj^fcbend  es  dem  freien  Hrmessen  der  Gesellen  und 
Gehülfen  überliefs,  das  Zeugnils  auch  auf  ihre  Führung  aus- 
dehnen zu  lassen.^) 

In  der  Gewerbeordnung  von  1869  ging  man  noch  einen  Schritt 
weiter.  Während  bis  dahin  jedes  Zeugnis  obrigkeitlich  bei^daubi^lt 
werden  mufste,  hatte  sich  die  Behörde  (( iemeindcbehörde  1  um 
den  Iniialt  der  Arlicitszeugnisse  und  um  deren  Beglaubiguni;  nur 
noch  zu  kümmern,  wenn  seitens  des  Interessenten  ein  bezü;4lirher 
Antrag  gestellt  winde.  Mit  der  durch  die  (icwcrbeordnung  vom 
21.  Juni  1869  geschaffenen  Gewerbefreiheit  schien  es  unvereinbar, 
eine  polizeiliche  Aufsicht  über  die  Gewerbsgehülfen  auszuüben,  wie 

')  ßrdnukt  l'urliii  1837  bei  A.  W.  Hayn. 

-)  Nach  §  145  a.  a.  O.  gilt  lür  Fabrikarbeiter  ebenfalls  g  142. 


Digitized  by  Google 


H.  von  Schnls,  Zur  Kevision  des  deutschen  Gewerbegerichtsgesetzes*  1^3 


dies  auch  durch  die  bisher  iibhchcn  W'atKlerbücher  geschah;  aus 
diesem  Grunde  wurden  letztere  ebenfalls  beseitigt') 

Die  Gewerbeordnungsnovelle  von  1878  verteilte  den  Inhalt 
des  §  113  der  Gewerbeordnung  von  1869  auf  2  Paragraphen  (i;§  113 
und  114)  und  erliefe  der  beglaubigenden  Behörde  den  hihalt  des 
Zeugnisses  zn  priifrn.  In  Zukunft  konnte  daher  nur  die  Beurkundung 
der  Echtheit  der  Unterschrift  inbetracht  kommen. 

Das  sog.  Arbeiterschutzgesctz  von  189I  endUch  hat  zunächst 
ergänzend  bestimmt,  dals  das  Zeugnis  auf  Verlangen  des  Arbeiters 
über  seine  Leistungen  auszustellen  ist  Ferner  hat  diese  Novelle  in 
Konse(]uenz  der  Ergänzung  des  weiter  unten  nocli  naher  zu  er- 
örternden §  107  der  Gewerbeordnung  vorgesehen,  dafs  —  selbst 
unabhängig  von  dem  Wunsche  des  Arbeiters  —  der  Vater  bezw. 
Vormund  auf  Grund  eigenen  Rechte^  das  Arbeitszeugnis  fordern 
rcsp.  die  Aushändiguncr  an  ihn  selbst  verlangen  kann  Mit  Ge- 
nehmigung der  Gemeindebehörde  des  im  §  108  bezeichneten  Ortes 
soll  auch  gegen  den  W  illen  des  Vaters  oder  Vormundes  die  Aus- 
händigung unmittelbar  an  den  Arbeiter  erfolgen  können. 

Wir  glauben  durch  diese  Darstellung  der  Geschichte  des  Arbeits- 
zeugnisses nachgewiesen  zu  haben,  dafs  die  Pflichten  des  Arbeit- 
gebers zur  Ausstellung  einer  solchen  Urkunde  keineswegs  auf  dem 
Arbeitsvertrag  beruhen,  sondern  auf  besonderer  gesetzlicher  Vor- 
schrift. 

Mit  Re(  In  liat  sclion  bei  den  Konmiissionsverhandlungcn  zum 
deutschen  ( iericlitsverfassungsgesctz  der  Abgeordnete  ])r.  Cirinim 
erklärt.  dal>  die  im  §113  iii).  statuierte  X^erpfhclitung  gc  werbe - 
polizeilicher  Natur  sei.-;  .^o  ist  es  noch  heute.  riiatsäclilich 
dient  das  Arbeits-  untl  lüiliassunifs/eucrnis  tiocli  heute  dem  .Arbeits- 
losen  auf  der  Landstrafsc  dem  Gendarmen  gc^fcnüber  /utii  .Ausweis 
und  ist  ihm  auch  vor  Gericht  eine  I  .ej^ntimation,  welche  ihn  vor 
der  X'erurteilung  wegen  Arbeitsscheu  bewahrt. 

Nach  alledem  wird  selbst  derjenige,  welcher  sich  mit  einer 
reinen  Wortinterpretation  des  ^  3  Nr.  2  des  Gewerbegerichtsgesetzes 

*}  Hilse  in  Goltdammer's  Archiv  Ar  Stnftecht  Bd.  37,  Berlin  1890  S.  423 
424.  Siehe  hferai  R^ulatiT  faibetreff  des  Wanden»  der  Geirerb»<xchilfen  vom 
24.  April  1S33  des  Frailiuchen  Iffiniiteni  des  bnem  und  der  Polizei. 

*)  C.  Hahn,  d\t  gesamten  Materialien  zu  dem  GerichtsveiftnaBgi^gesetZ, 
I.  Abt.,  Berlin  1879  (Protokolle  der  Kommission,  I.  Lesung,  .Sitzung  vom  12.  No- 
vember 18751  S.  444.  §  2;  <l<-s  <1<  utachen  Gerichtsvcrfassnngsgesetxes  und  ^  649 
Nr.  2  der  dcatscben  Civilpro^etMirdnung. 


154 


Gesetzgebung;  Deutsches  Reich. 


(.Leistungen  aus  dem  Arbeitsverhältnis")  begnügt,  nicht  mit  Recht 
behaupten,  dals  die  Pflicht  des  Arbeitgebers  zur  Aushändigung  des 
Zeugnisses  eine  kontraktliche,  eine  „Leistung  aus  dem  Arbeitsver- 
hältnisse" ist. 

Erwähnen  wollen  wir  noch,  dafs  durch  §  630  des  Bürgerlichen 
Gesetzbuches  an  dem  bestehenden  Recht  der  Gewerbeordnung  nichts 
geändert  ist  Dieser  §  erklärt,  dafs  der  Dienstpflichtige  bei  allen 
dauernden  Dienstverhältnissen  ein  Zeugnis  gleichen  Inhalts,  wie 
dies  bereits  §  113  GO.  vorschreibt,  zu  verlangen,  befugt  sein  solle.  In 
der  Denkschrift  zum  Entwurf  eines  Bürgerlichen  Gesetzbuches^) 
heilst  es,  dafs  der  Dienstpflichtige  ein  berechtigtes  Interesse  an  der 
Erlangung  eines  solchen  Zeugnisses  bei  allen  dauernden  Dienst- 
verhältnissen anderer  als  gewerblicher  Art  ebenüdls  habe.  Ganz  ab- 
gesehen davon,  dafe  §113  GO.  ein  dauerndes  Arbeitsverhältnis 
nicht  voraussetzt,  hat  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  durch  Aufnahme 
des  §  630  das  Recht  des  Dienstpflichtigen,  resp.  des  Arbeitnehmers 
auf  Aushändigung  eines  Zeugnisses  zum  Bestandteil  weder  des 
„Dienst V e rt r age s" ')  noch  insbesondere  des  Arbeitsvertrages  ge- 
macht. 

Wir  wenden  uns  nunmehr  zu  der  Frage  betrefls  der  Aus-* 
händigung  des  Lehrzeugnisses  und  des  Arbeitsbuches  und  der  aus 
der  Nichtaushändigung  dieser  Urkunden  sich  ergebenden  Folgen. 

Es  gehört  zur  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte,  eventuell 
über  die  Aushändigung  des  Lehrzeugnisses  zu  befinden.  Denn  nach 
dem  Gewerbegerichtsgesetz  gelten  auch  Lehrlinge  als  Arbeiter,  soweit 
der  Vn.  Titel  der  Gewerbeordnung  auf  sie  Anwendung  findet,^)  so  dafs 
die  Leistungen  aus  dem  Lehrverhältnisse  als  „Leistungen  aus  dem 
Arbeitsverhältnisse"  zu  bezeichnen  sind.  Es  war  demnach  unrichtig, 
wenn  eine  Abweisung  des  Entschädigungsanspruches  wegen  ver- 
zögerter Aushändigung  des  Lehrzeugnisses  in  einer  Entscheidung 
des  Berliner  Gewerbegerichts  damit  b^ründet  wurde,  dafs  nach 
dem  von  dem  Arbeitsverhältnisse  verschiedenen  Karakter 


>)  Reichstag,  Aktenstttck  Nr.  87  S.  641. 

')  Anderer  Ansicht  ist  Cuno  im  „Gcwerbegericht**  Nr.  6  vom  2.  Blire  1899, 
Sp.  67.  Siehe  dagegen  Dr.  Schalhorn,  Nr.  7  derselben  Zeitschrift  vom  6.  April 
1899.  Sp.  79. 

Deutscher  Reichstag,  38.  Sitzung  vom  2.  Mai  1S78,  S.  975  und  \r.  286, 
Reichstag  10.  Legistlaturperiode  1.  Session  189B  99,  Bericht  der  VIL  Kommission,  S.  15, 


Digitized  by  Google 


M.  von  Schals,  Zar  Revision  des  deatschen  GewerbegeiichUgesetzes. 

des  Leh r Verhältnisses ')  Entschädigungsansprüche  des  Lehrlings 
Siegen  den  Meister  überhaupt  nicht  zu  den  nach  ZifTer  2  §  3  des 
Geweriaegerichtsgesctzes  den  Gewerbegerichten  zur  Entscheidung 
überlassenen  ^^Entschädigungsansprüche  aus  dem  Arbeitsverhältnisse" 
zahlen.  Dennoch  mu(s  die  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte,  falls 
über  die  Entschädigungsansprüche  wegen  verwcij^erter  oder  ver- 
zögerter Aushändigui^  des  Lehrzeugnisses  ein  Urteil  zu  fallen  ist» 
verneint  werden. 

Die  Sachlage  ist  eine  ähnliche,  wie  wir  sie  bei  der  Besprechung 
<les  Rechts  auf  Aushändigung  des  Arbeitszeugnisses  kennen  gelernt 
habeü.  Die  Verpflichtung  des  Arbeitgebers  ist  unmittelbar  au^ 
dem  Lehr  vertrage  nicht  herzuleiten,  noch  ist  sie  während  der  Dauer 
des  L.ehrvcrhältnisses  zu  erfüllen. 

Das  Lehrzei^nis  verdankt  seine  Entstehung  dem  Lehrbrief 
de>  alten  Zunftwesens.  Auch  das  preutsische  allgemeine  Landrecht 
stellte  die  Regel  auf,  dafs  „dem  neu  au%enommenen  Gesellen  ein 
1  ,ehr})ricf  unter  Vollziehung  der  Aeltesten  und  der  Beisitzer  mit 
Beidrückung  des  Gewerkssicgels  ausgefertigt  werden'  mufs.  Eine 
gebietende  Norm,  welche  wir,  nachdem  die  preufsische  Gewerbe- 
ordnung von  1845  und  die  Reichsgewerbeordnung  von  1869  es  der 
Willkür  des  Lehrlings,  ein  Zeugnis  zu  beanspruchen,  anheim  gestellt 
hatten,  in  den  V^orschriften  der  Reichsgewerbeordnung  (Handwerker- 
novelle) über  die  Aushändigung  des  Lehrzeugnisses  in  ähnlicher 
Gestalt  wiederfinden. 

Im  übrigen  war  der  Lehrbrief  früher  ein  Legitimationspapier 
wie  die  „Kundschaft".  Ohne  Lehrbrief  und  ohne  Führungsattest 
erhielt  der  junge  Geselle  nirgends  Arbeit."') 

Lehrbriefe  werden  noch  heute  von  den  Innungen  oder  anderen 
Wrtretinigen  der  Gewerbetreibenden  ausgestellt.  Ein  Zwang  jedoch 
zur  hrlangung  eines  Lehrbriefes  ist  dem  Lehrling  durcli  das  ( ic- 
setz  nicht  gegebcti  worden.  Dagegen  mufs,  wenn  dem  Lciirling 
aus  irgend  welchem  Grunde  ein  Lehrbrief  nicht  verabreicht  wird, 

*)  Ueber  die  Untendiiede  des  Ldmrertioges  vom  Dienttvertnige:  Cosack, 
-Tichrboch  de»  bOigerlidien  deutschen  Rechtet,  S.  500;  Plank,  Bürgerliches  Cesets- 
buch,  Vorbemerkone  zum  VL  Titd  onter  in  5  S.  349:  Dernbarg,  Preafs.  Privat- 
rccbt,  Bd.  II  4.Attfl.  §  194  S.  581;  endlidi  Rohiner,  Handweikemovdle,  S.  aio 
und  an. 

»,  II  S  §  325. 

'i  Handweroks-Ordnung  vor  das  Königrrich  Prcussen.  Suh  Dato  Berlin  tU'ii 
10.  Junii  iJii,  Art.  XVI  a.  £.,  XIX  und  XX  (abgedruckt  bei  Meyrr  a.  a.  O.  S.  329  ff.). 


156 


Gcscti(cbiiiie :  Deataches  Reich. 


<lei  Lclirhcrr  ein  Lehr  Zeugnis  ausstellen.  Die  lui^enart  der  Vor- 
schrift als  einer  zwingenden  tritt  zu  Tag;t  '  i  iurch,  dalis  §  I4S 
Ziffer  9  a.  a.  O.  den  Lehrherrn  im  Falle  der  V^erweigcruii.,'  oder 
unvollständigen  oder  wahrheitswidrigen  Ausstellung  des  I^^hrzeug- 
nisses  mit  Strafe  bedroht 

Das  Lehrzeugnis  resp.  der  Lehrbrief  diene  1  nufserdem  öft'enllich- 
rechtlichen  Zwecken  insofern,  als  der  I.ehrUng  derselben  benötigt, 
um  sich  der  in  den  §§  Ißlff.  der  Handw  crkernovelle  vorgesehenen 
Gesellenprüfung  zu  unterziehen.  Das  Resultat  der  Prüfung  i^t  in 
Gemäfsheit  des  §  131  c  Abs.  3  auf  dem  Lehrzeugnis  oder  dem  Lehr- 
brief zu  beurkunden. ') 

Die  nicht  kontraktliche  Natur  des  Lehrzeugnisses  erhellt 
am  deullichstcti  aus  der  Thatsache,  dafe  nach  Inlialt  des  §  127c 
der  I.chi  ling  befugt  ist-*),  das  Zeugnis  zu  verlangen,  trotzdem 
vielleicht  der  Vater  oder  Vormund,  welche  den  Lchr\ertrag  mit 
dem  Lehrherrn  vereinbart  haben,  diesem  gegenüber  auf  Aushändigung 
eines  Zeugnisses  ausdrücklich  bei  dem  .Abkommen  verzichtet  haben. 
Das  gesetzUch  statuierte  Recht  auf  Aushändigung  des  Zeugnisses 
beruht  sonach  nicht  unmittelbar  auf  dem  Lehrvertrag. 

Was  endlich  das  Arbeitsbuch  anlangt,  so  bedeutet  die  Kin- 
fuhrung  desselben  —  nachdem  durch  §  113  Abs.  2  der  Gew.Ordn. 
vom  21.  Juni  1869  in  Verbindung  mit  den  Bestimmungen  des 
Reichsgesetzes  über  das  Pafswesen  vom  12.  Oktober  1867  die  ge- 
setzliche Verpflichtung  zur  Führung  von  Arbeitsbüchern  und  Reise- 
papieren  auft^'^elioben  worden  war  —  eine  Beschränkung  des  jugend- 
lichen Arbeiters  und  seines  Arbeitgebers  in  ihrer  wirtschaftlichen 
Bewegungs-  und  X'erkehrsfreiiieit.  Es  steht  den  Parteien  frei,  einen 
Arbeitsvertrag  einzugehen,  nur  die  .Ausführung  desselben  ist  davon 
abhängig  gemacht,  dafs  der  jugendliche  .Arbeiter  dem  Arbeitgeber 
das  .Arl)eit4iuch  überrciclit.  Der  .Arbeitsgeber,  welrher  <lri-  Arl)eits- 
buch  nicht  einfordert  und  trotzdem  den  jugendlichen  Arbeiter  in 
Beschäftigung  ninmn  oder  behält,  wird  in  (ieniäfsheit  des  150 
Reichsgewerbeordnung  Nr.  i  mit  Geldstrafe  bis  zu  20  Mk.  und  im 

*)  Siehe  anch  Rehmer,  llandwerkemovelle,  §  81  b  Note  4  S.  15,  §  129  Nr.  4 
&  245  und  §  I J3  S.  261. 

*)  Aach  wenn  der  Lehrling  es  nicht  ausdrOcUicb  verlangt,  ist  der  Lehrherr 

«ir  Ausstellung  des  Zeugnisses  verpflichtet  Rohm  er,  Hudweritemovelle,  Note  2 
zum  §  127  c.  Vgl.  dazu  §  156  der  Prenfs.  Gewerbeordnung  von  1845  und  §  127  der 
Rei(-hsi;cwerbeordn«ng  von  1869  (StenoKnq>hisdier  Bericht  des  Reichstages  187$, 
S.  1128). 


üiyitizcü  by 


M.  von  Schulz,  Zur  Revision  des  dcuucbcu  GewerbegcricbUigesetzes.  i^y 


Unvermögensfalle  mit  Haft  bis  zu  drei  Tagen  für  jeden  Fall  der 
Verletzung  des  Gesetzes  bestraft.  In  den  Motiven  ^)  wird  bemerkt, 
dafs  in  den  letzten  Jahren  sich  die  Klagen  über  die  Lockerung  der 
Zucht  und  Sitte,  über  das  Schwinden  der  elterlichen  Autorität  bei 
der.  jugendlichen  Fabrikarbeitern  gemehrt  hätten,  so  dafs  die  Gesetz- 
gebung versuchen  mufs,  die  elterliche  Autorität  zu  stärken  und  die 
allzu  gro&e  Bewegungsfreiheit  der  minderjährigen  Arbeiter  einzu* 
dämmen.  Hiemach  ist  die  Führung  von  Arbeitsbüchern  im  öffent- 
lichen Recht  begründet  Sie  hat  mit  dem  Arbeitsvertrage  als  solchem 
direkt  nichts  zu  thun. 

Dafs  schlielslidi  die  Aushändigung  des  Arbeitsbuches  nicht  den 
Ausflu(s  einer  privatrechtlichen  Pflicht  des  Arbeitgebers  bildet,  geht 
auch  daraus  hervor,  dals  das  Arbeitsbuch  an  den  Vater  oder  Vor- 
mund regelmäfsig  auszuantworten  ist,  wenn  der  Arbeitnehmer 
noch  nicht  das  Alter  von  i6  Jahren  erreicht  hat  und  dafs  Vater 
und  Vormund  das  Arbeitsbuch  des  Arbeiters,  welcher  sich  in  dem 
Lebensalter  von  i6  bis  21  Jahren  befindet,  ausgehändigt  verlange» 
können.  Diese  Rechte  sind  den  Eltern  und  Vormündern  einge- 
räumt, obgleich  thatsächlich  die  Kündigung  bestehender  und  Ein- 
gehung neuer  Arbeitsverhältnisse  der  Regel  nach  ohne  eine  Mit- 
wirkung der  genannten  Personen  allein  durch  den  minderjährigen 
Arbeiter  stattfindet.  Denn  wenn  der  Vater  oder  Vormund  seine 
Genehmigung  dazu  erteilt  hat,  dafs  der  Minderjährige  in  Dienst  oda* 
Arbeit  trete,  so  ist  dieser  wenigstens  nach  §  6  des  preutsischen  Ge- 
setzes vom  12.  Juli  1875  selbständig  zur  Eingehung  und  Auflösung 
von  Dienst-  oder  Arbeitsverhältnissen  der  genehmigten  Art  befugt, 
solange  der  Vater  oder  Vormund  die  erteilte  Genehmigung  nicht 
zurückzieht  oder  einschränkt,  wozu  er  berechtigt  ist.  Hieraus  geht 
zur  (tenüge  hervor,  dafs  die  Aushändigung  des  Arbeitsbuches  nicht 
in  Erfüllung  einer  Vertragspflicht  des  Arbeitgebers,  sondern 
auf  Grund  besonderer  gesetzlicher  Vorschrift  im  ofTentlichen  Interesse 
erfolgt. 

Die  Aushändigung  des  Zeugnisses  und  des  Arbeitsbuches  ist 
hiernach,  wie  wir  nachgewiesen  zu  haben  glauben,  als  eine  „Leistung 
aus  dem  Arbeitsverhältnis"  nicht  zu  erachten.*) 

*i  Nr.  4,  Reicfaiteg  8.  Leglslatnrperiode  i.  Session  1890,  S.  31  u.  IT. 

*)  Andrer  Ansicht  Cuno  im  Gewerbegericht  rom  3.  Min  1899.  Nr.  6  Sp.  67. 
Siebe  anch  Gewerbcsericht  Mttnchen  im  Gewerbegericht  vom  t.  Desember  1898, 
Nr.  3  Sp.  38. 


Digitized  by  Google 


15» 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


Es  dürfte  sich  daher  dringend  empfehlen,  durch  atisdrückliche 
gesetzliche  Bestimmung  die  Kompetenz'  der  Gewerbegerichtc  zum 
tiesten  der  Gewerbetreibenden  auszudehnen  auf  Entschädigungs- 
forderungen, welche  die  Arbeiter  wegen  verzögerter  Aushändigung 
der  bezeichneten  Urkunden  aufzustellen  genötigt  sind.  Hierauf  ist 
auch  augenscheinlich  in  dem  Entwürfe  der  Novelle,  wenigstens  nach 
dem  Inhalte  des  Berichtes  der  Vn.  Kommission,  Rücksicht  genommen. 
Es  erhellt  dies  aus  der  Thatsache,  dafs  bezüglich  der  fraglichen 
Punkte  auf  die  Ausfuhrung  des  Verwaltungsberichts  des  Berliner 
Gewerbegerichts  für  1896/97  hingewiesen  ist  Wir  hatten  damals 
erklart,  dafs  es  zweifelhaft  sei,  „ob  Entschädigungsansprüche, 
die  aus  Verweigerung  oder  Verzögerung  der  Aushändigung  des 
Arbeitsbuches  oder  Zeugnisses  oder  aus  dem  Inhalte  desselben  her- 
geleitet, werden,  zur  Zuständigkeit  des  Gewerbegerichts  gehören". 

Betrachten  wir  nunmehr  den  Wortlaut  der  Novelle.  Nach  Art.  II 
sollen  die  Gewerbegerichte  entscheiden:  „über  Entschäd^ngs- 
ansprüche  aus  gesetzwidrigen  Eintragungen  in  Arbeitsbücher- 
Zeugnisse,  Krankenkassenbücher  und  Quittungskarten  der  In* 
validitäts-  und  Altersversicherungs- Anstalten,  sowie  wegen  wider  . 
rechtlicher  Vorenthaltung  dieser  Papiete". 

Dieser  Wortlaut  ergiebt,  dafs  über  Sciiadensansprüche,  welche 
<ler  Arl)eiter  erheben  will,  weil  ihm  die  in  dem  Artikel  angegebenen 
Papiere  widerrechtlich  nicht  ausgehändigt  sind,  in  Zukunft  von  den 
Gewerbegerichten  abgeurteilt  werden  soll.  Man  wird  uns  zugeben 
müssen,  dafs  mit  Bezug  auf  die  Worte  des  4;  3  Nr.  1  des  Gewerbe- 
gerichtsgesetzes ,,iiber  die  Aushändigung  oder  den  Inhalt  des  Arbeits- 
buches oder  Zeugnisses"  man  ohne  Kenntnis  des  Kommissions* 
berichtes  in  Zweifel  sein  kann,  ob  in  den  „Arbeitsbüchern,  Zeug- 
nissen" auch  das  Arbeitsbuch  und  das  Zeugnis  der  Nr.  i  des 
§  3  mit  enthalten  ist.  Nach  dem  Kommissionsberichte  und  den 
hierzu  von  uns  eingezogenen  Erkundigungen  mufs  dies  bejaht  xA  crden. 
Es  dürfte  jedoch  angebracht  sein,  des  ungeachtet  den  WiUea  des 
Gesetzgebers  piägnanter  zur  Anschauung  zu  bringen. 

Im  übrigen  wird  es  überall  von  den  Gewerbegerichten  mit 
Genugthuung  aufgenommen  werden,  dafs  man  zu  dem  Entsciiluls 
gekommen  ist,  die  Entscheidung  über  die  Entschädigung  wegen 
verzögerter  Aushändigung  der  „Papiere"  des  Arbeiters  den  Gewcrbe- 
gerichten  zu  überlassen.  Der  Arbeiter  ist  oft  in  seinem  Erwerbe 
lahm  gelegt,  wenn  sein  Arbeitgeber,  der  ihn  entlassen  hat,  diese 
Papiere  einbehält   Er  bedarf  derselben,  um  anderweit  Arbeit  zu 


Digilized  by  Google 


M.  von  ScbnUt  ZnrKeviaon  des  deutschen  Gewerbegerichtsgesetzes,  i^g 

bekommen.  Um  sich  ein  zuverlässiges  Urteil  über  die  Lei.stun<^.s- 
iabigkeit  eines  Arbeiters  bilden  zu  können,  fordern  Arbeitgeber  bei 
der  Anstellung  eines  neuen  Arbeiters  vielfach  nicht  nur  das  Zeugnis 
(bezw.  das  Arbeitsbuch)  über  das  letzte  Arbeitsverhältnis,  sondern, 
wenn  mocrlich.  auch  noch  Ausweise  über  frühere  Arbeitsverhältnisse. 
"Wie  bekannt  haben  bislang  die  Gewerbegerichte  sich  zumeist  hin- 
sichilicli  der  erwähnten  Ansprüche  der  Arbeiter  für  unzuständig 
erklärt.  Dasselbe  ist  geschehen,  wenn  Arbeiter  wegen  widcrrecht- 
lider  Ausstellung  des  Zeugnisses  und  w^en  gesetzwidriger  Ein- 
tragung in  das  Arbeitsbuch  mit  Schadensansprüchen  beim  Gewerbe- 
gericht vorsteilig  wurden.  Um  Abweisungen  der  Arbeiter  künftig 
zu  verhüten,  soll  Artikel  II  des  Entwurfes  der  NoveUe  ebenfalls 
Abhilfe  schaffen.  Denn  die  Worte:  „über  Entschädigungsan^rüche 
aus  gesetzwidrigen  P^intragungen  in  Arbeitsbücher,  Zeugnisse  etc." 
betreffen,  wie  wir  erfahren,  auch  das  Arbeitsbuch  und  das  Zeugnis. 
Wir  sind  uns  aber  nicht  darüber  klar  geworden,  an  welche  sonstigen 
geset7.\vielri((en  Eintragungen  in  Arbeitsbücher  etc.  bei  Abfassung 
des  Artikel  II  gedacht  worden  ist.  Man  wird  auch  hier  nicht  um- 
hin können,  den  Sinn  der  Gesetzesstelle  zu  deklarieren.  In  dem 
Bericht  der  VII.  Koniniission  findet  man  nicht  eine  Auskunft,  welche 
Zweifel  zu  zerstreuen  vermöchte. 

Artikel  III  des  Entwurfs  der  Novelle  enthält  in  der  Hauptsache 
das  Ertordernis,  dafs  die  Gemeindebehörde,  oline  Anträge  der  Be- 
teiligten abzuwarten.  Wahllisten  anzufertigen  hat. 

Die  Vorschriften  für  die  Wahl  der  Beisitzer  des  (jcwerhegerichts, 
insbesondere  für  die  Aufstellung  der  Wahllisten  sind  bi^lier  in  den 
§§  1 2  ti.  des  Gesetzes  betreffend  die  Gewerbegerichte  und  —  so 
weit  das  Berliner  Gewerbegericht  in  Betracht  kommt  —  ferner  in 
den  1 3  ff.  des  erlassenen  ürtsstatuts  für  die  Stadt  Berlin 
enthalten.  ^) 

')  §  13  Abs.  4  des  Gesetzes  verordnet,  dafs  die  näheren  Bestimmungen  Uber 
die  Wahl  und  das  Verfahren  bei  deradben  dtuch  das  Statnt  fetroflen  werden. 

S  13  des  S«atiits  lautet:  Zorn  Zwecke  der  Wahlen  aind  ffir  jeden  WaUbenrk 
▼00  dem  Magistrat  besondere  Listen  fllr  Arbeitgeber  vnd  Arbeiter  anzulegen,  in 
welchen  alle  WiUer  dnantiafen  sind,  deren  Stinunbereditigang  unter  Beifligong  der 
«rfbffdcrlichen  Bescbeinigangen  innerhalb  zweier  Wochen,  nachdem  der  Wahl» 
tag  er<:tmalig  bekannt  gemacht  ist,  bei  den  von  dem  Magistrat  zu  bezeichnenden 
Anmeldestellen  mündlich  oder  schriftlich  angemeldet  ist.  Bei  unter- 
lassener rechtzeitiger  A u m c  1  tl  11  u g  ruht  das  Stimmrecht.  Als  Aus- 
weis gentigt  für  die  Arbeitgeber  die  Bescheinigung  Uber  die  nach 


i6o 


CSeietzgrbung :  Deotsdiet  Reich. 


Zunächst  muk  die  beldagensweite  Thatsache  hervorgehoben 
werden,  dafs  die  Wahlen  bei  den  Arbeitgebern  in  Berlin,  wie  überall 
im  allgemeinen  recht  teilnahmlos  verlaufen.^)  Der  emsigen  Agitation 
des  Berliner  Arbeitgeberbeisitzerverbandes  ungeachtet  haben  das  letzte 
Mal  von  den  eingetragenen  Arbeitgebern  nur  68%  gestimmt.*) 
Auch  bei  den  Arbeitnehmern  ist  nicht  die  Rührigkeit  wie  in  irüheten 
Jahren  zu  verzeichnen.  Es  stimmten  von  den  eingetragenen  Arbeit- 
nehmern nur  rund  80%.*)  Diese  Resultate  sind  immerhin  noch 
so  günstige,  weil  wir  in  Berlin  sowohl  Arbeitgeber  wie  Arbeit- 
nehmer in  Verbanden  vereinigt  finden,  von  denen  aus  die  Wahl- 
arbeit besorgt  wird. 

Die  Wahlarbeit  stellt  an  die  Organisationen  beider  Interessenten- 
gruppen grolse  Anforderungen.  So  hat  der  hiesige  Arbeitgeberbei- 
sitzerverband iiir  die  Wahlen  1898  ca.  60000  Briefe  an  Arbeitgeber 
versandt.  Dieselben  enthielten  die  Aufibrderung,  entweder  beim 
Vorsitzenden  des  Verbandes  oder  direkt  bei  dem  städtischen  Wahl- 


§  14  der  G.O.  erfolgte  Anmeldung  des  Gewerbebetriebes  oder  die 
lettte  Quittung  über  Zalilunp  der  T,  e  w  e  rb  e  s  t  r  u  c  r ,  für  die  Arbeiter  ein 
Zeugnis  ihres  Arbeitgebers  oder  der  Polizeibehörde,  thirch  welches  bestätigt  wird, 
dafs  der  Arbeiter  seit  mindestens  einem  Jahre  inneriialb  des  QewertMgericbtsbesirkes 
in  Arbeit  stelu  oder  wohnt  u.  s.  w. 

Der  Entwurf  der  Novelle  (Artikel  ill)  fügt  in  §  I3  G.ü.G.  als  Absatz  5  die 
folgende  Bestimmung  biiuu ; 

„Die  Gemeindebehdrde  hat  eine  Liste  der  Wahlbeieditigten  anftnsteUcn.  Polixei- 
befaördcn,  Knnkenkassen,  welche  im  Bedvk  des  Gewerbegerichts  besteben,  nnd  Ter- 
pflichtet,  der  Gemehidebehörde  anf  Veriaagen  die  fltr  die  Fertigung  der  WiUerliste 
fttr  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  erforderlichen  Anskttnfte  xa  geben,  insbesondere 
Einsidit  der  MitgUederrerseichnisse  bexw.  der  Gewerbf  njyig«t  zn  gewihrca.  Die 
Liste  ist  während  vier  Wochen  vor  dem  zur  Wahl  bestimmten  Tage  zu  JedermauiB 
Einsicht  auszulegen  und  ist  dies  zuvor  öffentlich  bekannt  zu  machen.  Wer  bis  zum 
Ta^'e  vor  der  Wahl  seine  Wahlberechtigung  nachweist,  ist  nachtrSglich  in  die  Wähler- 
liste einzutragen." 

')  Jastrow  a.  a.  (>.,  S.  335,  Flesch,  in  Nr.  50  der  Sozialen  Praxis  vom 
9.  September  1895  Sp.  975  ff.  Das  „Gewerbegericht"  vom  6.  April  1899  Nr.  7 
Sp.  87  a.  E.  und  Sp.  88. 

*)  Weigert  in  Bfirgels  lodttstrie-  and  HandeUblatt,  Nr.  4  von  32.  Odober 
1898,  S.  54. 

*)  Für  die  Gewerbegerichttwablen  am  aa.  September  1898  waren  eingetragen 
1^  Arbeitgeber     10703  Wähler 

b)  Arb'  itTi'hmcr  22630  Wühler 
Zar  Wahl  erschienen  7481  Arbeitgeber  und  18065  Arbeiter. 


Digitized  by  Google 


)L  von  Schals,  Zur  Revision  des  denlschen  Gcverbcgerichugesetzcs.  i5i 


bureau  die  Anmeldung  zur  Wahlliste  zu  bewirken.  Zur  Bequem- 
lichkeit der  Wähler  war  jedem  Briefe  ein  Formular  zur  Anmeldung 
beigefögt  Es  gingen  ein  beim  Vorsitzenden  des  Verbandes  ca.  9000 
Anmeldungen,  beim  Wahlbureau  ca.  3000.  Von  den  Anmeldungen 
war  eine  nicht  geringe  Anzahl  ungültig,  da  die  Anmeldenden  als 
Innungsmeister  oder  aus  anderen  Gründen  nicht  wahlberechtigt 
waren.  Die  Normierung  der  Kandidaten  findet  soweit  sie  Arbeit- 
geber betrifft  statt  in  den  vom  Arbeitgeberbeisitzerverbande  einbe- 
rufenen Versammlungen. 

Von  den  Arbeitnehmern  sind  nach  unseren  Ermittelungen  vor 
der  letzten  Wahl  ca.  i  7«  Millionen  Flugblätter  verteilt  worden.  Die 
Verteilung  dieser  Blätter  geschah  an  drei  \'erschiedenen  Zeitpunkten. 
Das  erste  Flugblatt  verbreitete  sich  über  die  Gewerbegerichtswahlen 
im  allgemeinen  und  über  die  Notwendigkeit  der  Beteiligung  der 
Arbeitnehmer  an  den  Wahlen.  Alsdann  erfolgte  in  einem  zweiten 
Flugblatt  die  Aufforderung  zur  EintrriL^ung  in  die  Wählerlisten.  End- 
lich entliielt  das  dritte  Flu^^hlatt  den  Hinweis  darauf,  wo  und  wann 
die  Wahl  stattfinden  werde.  Ucberdies  wurden  mehrere  Male  im 
sozialdemokratischen  Organ  „Vorwärts"  die  Kandidatenliste  und  die 
Bezirke,  in  defien  zu  wählen  waren,  veröffentlicht.  Die  Feststellung 
der  Kandidaten  liegt  den  Gewerkschaften  ob.  Die  liinsammlung 
der  Anmeldungen  zur  Wahlliste  besorgen  bei  den  Arbeitnehmern 
viele  Hände,  während  die  Arbeitgeber  für  diese  Thätigkeit  leider 
nur  wenige  Personen  zur  Verfugung  haben. 

Beide  Teile,  Arbeitgeber  wie  Arbeitnehmer  müssen  also  bis 
jetzt  ein  ziemlich  lästiges  und  kostspieliges  \>rfahren  einhalten,  um 
die  Wähler  zur  Wahlurne  zu  bringen.  Hierbei  ist  nicht  zu  ver; 
gcssen,  dafs,  wie  der  Abgeordnete  Triinbom  zutreffend  geschildert 
hat, '  I  der  Regel  nach  erst  auf  Grund  einer  Legitimation  die 
P-intragung  in  die  Wählerlisten  bewirkt  wird.  Besonders  von  dem 
Arbeiter  mufs  dies  peinlich  empfunden  werden,  da  er  nach  dem 
Berliner  Statut  die  Bescheinigung  von  seinem  Arbeitgeber  sich  aus- 
stellen lassen  mufs.  Das  bisherige  Verfahren  führt  dazu,  dafs  bei 
der  Walil  selbst  viele  (iewerbetreibende,  welche  sich  für  wahlbe- 
rechtigt halten,  zurückgewiesen  werden  müssen.  Der  Abgeordnete 
Jacobskötter  hat  mit  Recht  ausgeführt, dafs  es  vielen  Arbeitgebern 
nicht  beizubringen  ist,  da£s  sie  zur  Ausübung  ihres  Wahlrechts  vorher 


•1  Reichstag  12.  Sitxung  den  18.  Januar  1899,  S.  270. 
-<  Reichstag  18.  Sitzung  den  25.  Januar  1899,  S.  434  (Ü). 
Archiv  für  soi.  Geseugebung  u.  Statistik.  XIV. 


II 


l52  Gactsgelmiig:  Deuttthct  Rckfa. 

* 

hingehen  müssen,  um  sich  durch  die  beanspruchte  Eintragung  in 
die  Wählerlisten  erst  ihres  Rechtes  zu  vexgewissem.  Für  unsere 
Verhältnisse  m  Berlin  ist  das  Urteil  jenes  Abgeordneten  richtig, 
dais  solche  Schwierigkeiten  die  bedauerliche  Lauigkeit  bei  den 
Wahlen  mit  hervorrufen.  Wie  wenig  eingehend  die  hiesigen  Ar- 
beitgeber  sich  um  die  Gewerbegerichtswahlen  künunem,  erhellt 
auch  aus  dem  Umstände,  dafs  noch  weit  über  den  Anmel- 
dungstermin  hinaus  Anmeldungen  zur  Wahl  dem  Arbeitgeber- 
verband  zugingen.  Ein  Gleiches  lässt  sich  durch  das  Wahlbureau 
konstatieren.  Die  in  Aussicht  genommene  Zusatzbestimmung  zum 
§13  des  Gewerbegerichtsgesetzes  wird,  so  hoffen  wir,  fär  die  vor- 
handenen Uebelstande  Abhilfe  bringen.  Wenn  den  Wählern  die 
Wahl  bequemer  gemacht  wird,  so  glauben  wir  auf  eine  grd(sere 
Beteiligung  der  Grewerbetreibenden  bei  den  Wahlen  rechnen  zu 
können,  zumal  alsdann  die  für  die  Wahlen  thätigen  Organisationen 
ihr  Augenmerk  zumeist  nur  auf  die  Ausübung  der  Wahl  seitens  der 
Interessenten  zu  richten  haben.  Bei  der  Beratung  der  MI.  Koni- 
mission wurde  der  Gesetzesvorschlag  mit  dem  Hinweis  bekämpft, 
dafs  die  Einführung  von  Wählerlisten  nicht  überall  erforderlich  er- 
scheine, und  dafs  sie  da,  wo  dies  der  Fall  sei,  schon  durch  Orts- 
statuten voigeschrieben  werden  könnte.  Es  wurde  entgegnet,  ,/da(s 
der  Schwerpunkt  des  Antrages  nicht  sowohl  in  der  Einführung  von 
Wählerlisten,  sondern  darin  liegt,  dafs  der  Wähler  in  dieselben  von 
Amtswegen  eingetragen  werde,  ohne  eine  besondere  Be- 
scheinigung über  seine  Wahlberechtigung  l)eibringen  zu  müssen. 
Soviel  bekannt,  würde  letztere  lieute  auch  da  \erlangt,  wo  Wahl- 
listen beständen  und  zwar  als  Vorbedingung  für  die  Eintragung  in 
dieselben.  Gerade  dies  sei  es,  was  der  Antrag  beseitigen  wolle.  *) 
Leicht  wird  der  Gemeindebehörde  freilich  die  Aufstellung  der 
Wahllisten  nicht  werden,  wenn  sie  nur  auf  die  Polizeibehörden  und 

')  Ik-rulit  ilcr  Koiiiuii-sion  S.  21.     Jeder  Wähler  ist  augenblicklich 

genötigt,  sich  durch  eine  besondere  licscheinigung  der  Polizeibehörde  oder  des  Orts- 
Tontandes  oder  des  Arbeitgebers  darttber  auszuweisen,  dafs  die  Vorbedingungen  der 
Wahlberechtigung  bei  ihm  «ttreflcn;  dabei  macht  es  keinen  Untencfaied,  ob  das 
Ortsstatnt  die  vorherige  Anfertigiuig  von  Wahllisten  durch  den  Wahlvorstand  vor* 
schreibt  cider  nicht  Wo  solche  Listen  nicht  vorgeschrieben  sind,  wird  die  Be> 
icheinignng  m  den  Akten  genommen.  Es  gelten  die  Bescheuugnngen  als  Bestand- 
teile der  Wahlakten  und  Ersate  der  Listen.  (Siehe  hierttber  Bericht  der  VDL  Kom- 
mission S.  20,  und  die  Ortsstatuten  der  Stadt  Nürnberg  §  12,  der  Stadt  Wttnbni^g 
§  la,  der  Stadt  Augsburg  Artikel  15  und  der  Stadt  München  §  i&. 


Digitized  by  Google 


M.  von  Schulz,  Zur  Revision  des  deutschen  Gcwerbegchcbtägesetzes.  jo 


die  Krankenkassen  angewiesen  sind.  Aus  den  Mitteilungen  der 
Krankenkassen  etc.  kann  die  Qualität  der  Wähler  (ob  sie  Arbeit- 
geber  oder  Arbeiter,  oder  ob  sie  überhaupt  wahlberechtigt  sind) 
genau  nicht  festgestellt  werden.  Wir  bemerken  hierzu,  dals  viele 
Arbeiter  bei  freien  Hilfekassen  und  bei  Zwangskassen  also  doppelt 
versichert  sind.  Besonders  wenn  sie  Selbstversicherer  sind,  ist  nicht 
zu  ermitteln,  ob  sie  als  Arbeitnehmer  zu  betrachten  sind.  Bei 
manchen  Ortskrankenkassen  sind  sowohl  Innungsaibeiter  wie  Ar- 
beiter von  nicht  zu  einer  Innung  gehörigen  Arbeitgebern  versichert 
Die  Kassen  halten  dies  nicht  auseinander,  sodals  sich  nicht  erkennen 
UUst,  ob  ein  Arbeiter  dem  Gewerbegericht  oder  dem  Innungsschieds- 
gericht untersteht. 

Die  Vorschrift,  dafs  Polizeibehörden  und  Krankenkassen  den 
Gemeindebehörden  Auskunft  in  Wahlangelegenheiten  zu  erteilen 
haben,  dürfte  im  Uebrigen  nur  für  kleinere  Städte  zweckdienlich 
sein.  Städte,  wie  Berlin,  welche  ein  gut  funktionierendes  Wahl- 
bureau besitzen,  werden  sich  mehr  auf  ihre  Personenblätter  ver- 
lassen können,  wie  auf  Berichte  der  Polizeibehörden  und  der  Kassen. 
Das  Berliner  Wahlbureau  verfahrt  unter  anderem  so,  dafs  es  nach 
den  von  ihm  geführten  Personenblättem  die  Veranlagung  zur  Ge- 
werbesteuer feststellt  Die  Standesbezeichnung  (Arbeitgeber  oder 
Arbeitnehmer)  wird  nach  den  Eintragungen  in  die  Staatseinkommen- 
steuer-Aufnahmelisten jähriich  berichtigt. 

Nur  auf  Grund  dieser  Personenblätter,  zu  deren  Vollständigkeit 
andere  Behörden  als  das  Wahlbureau  so  gut  wie  nichts  beitragen, 
wurden  bei  den  letzten  Grewerbegerichtswahlen  2593  zur  Wahl  An- 
gemeldete als  nicht  wahlberechtigt  festgestellt*) 

*)  2290  Personen  (Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer)  wurden  zurückgewiesen,  weil 
de  in  einem  Bcsirke  wohnten,  wddier  nidit  for  Wahl  stand.  Die  Eintragang  von 
303  Personen  vnrde  abgelehnt,  weil  von  denselben 

a)  96  noch  nicht  i  Jahr  in  Berlin  wohnten, 

b)  73  Zmhthansstrafe  erlitten  hatten, 

c)  4  bevormundet, 

d)  35  nidit  r)eutsche, 

e  I  1 1  weihlichen  Geschlechts, 

f)  21  zu  ]un'^. 

g)  38  Innungsnuiglifder, 

h)  3  t\x  spät  gemeldet  waren, 

ii  19  aufserhalb  gewohnt  hatten, 

3  im  Konkurse  waren. 
303  Pfefsoncn. 

II« 


Digitized  by  Google 


164 


Gesetzgebung :  DeotMii»  Rdeh. 


Endlich  sei  betont,  da(s  Nachtragungen  bis  zum  Tage  vor  der 
Wahl  wohl  undurchführbar  sein  dürften,  weil  die  Prüfung  hin- 
sichtlich der  Wahlfahigkeit  und  die  Aufteilung  von  Abstinunungs- 
listen  einen  bedeutenden  Zeitaufwand,  wenigstens  für  Berlin,  erfordert. 
Sobald  die  Listen  ausgelegen  haben  und  at^eschlossen  sind,  mufe 
mit  den  Vorarbeiten  für  die  Wahlen  begonnen  werden.  Zweck» 
mäfsig  erscheint  es  jedoch,  Anträge  auf  Nachtragung  bis  zum  Stchlufs 
der  Auslegefrist  der  Listen  zu  berücksichtigen.') 

Wenn  man,  veranlafst  durch  die  Novelle,  an  die  Verbesserung  des 
Wahlverfehreos  herangeht,  möchten  wir  darauf  aufmerksam  machen, 
dafs  die  Praxis  die  Notwendigkeit  ergeben  hat,  in  dem  Gewerbe- 
gericht^setz  den  Begriff  des  Arbeitgebers  aufeustellen,  um  die  noch 
zu  erwähnenden  Unzuträglichkeiten  für  spatere  Zeiten  zu  vermeiden. 
Der  Vorsitzende  des  Verbandes  der  Arbeitgeberbeisitzer  zu  Berlin 
fühlt  sich  beschwert,  da(s  zufolge  der  ungenügenden  Abgrenzung 
des  Begriffes  des  Arbeitgebers  von  dem  des  Arbeitnehmers  im 
Beriiner  Ortsstatut  „bis  zur  letzten  Wahl  10%  der  Arbeitgeber- 
beisitzer aus  dem  Stande  der  Arbeitervertreter  hervoi^^rangen  sind.*) 
Der  Magistrat  zu  Berlin  fordert,  wie  wir  bereits  oben  gesehen,  zum  Aus- 
weis als  Arbeitgeber  bei  den  Wahlen  die  Bescheinigung  über  die  nach 
§  14  der  Gewerbeordnung  erfolgte  Anmeldung  des  Gewerl>ebetriebes 
oder  die  letzte  Quittung  über  Zahlung  der  Gewerbesteuer.')  Dies 
scheint  dem  Beschwerdeführer  nicht  richtig.  Er  vertritt  denselben 
Standpunkt  wie  der  Magistrat  zu  Frankfurt  a.  O.,^)  dafs  nämlich  nach 
dem  Gesetz  nur  derjenige  Arbeitgeber  sei,  welcher  mindestens  einen 
Arbeiter  dauernd  beschäftige  resp.  zu  beschäftigen  pflege.  Nach 
dieser  Richtung  hin  verlohnt  es  sich  der  Mülie,  Kenntnis  zu  nehmen 
von  dem  die  Ansicln  des  Magistrats  zu  Frankfurt  a.  O.  billigenden 
Beschlüsse  tlos  rVankfurter  Bezirksausschusses  und  von  dem  Auf- 
sätze des  früheren  Beriiner  Gewerberichters  Schmieder.  *)  Beide 
kommen  zu  dem  Ergebnis,  daCs  bei  jedem  einzelnen  Unternehmer 

'1  \'crsc!iirdentlich  ist  di-r  Wunsch  geäulserl.  liie  Walilni  moclitt-u  diirrliwep 
>k>nmags  vorgeuDmmen  werden.  Man  würde  alsdaun  auf  j;rolserc  Beteiligung  der 
Arbeitgeber  wie  Arbeitnehmer  rechnen  kunncn. 

*)  Weigert  in  Bfli^els  itidii^e-  und  IlflndeM>1att,  Nr.  4  vom  M.  Octbbcr 
1898,  S.  56. 

*)  §  13  des  Ortsstatots  vom  a6.  October  1892. 

*)  Blitter  für  MBiale  Pruut,  Nr.  105  vom  3.  Januar  1895,  Sp.  22  ff. 

Nr.  II  der  Socialen  Praxis  vom  15.  Dexember  1898  Sp.  272  und  273  «nd 
Jastrov  a.  a.  O.,  S.  335. 


Digiiized  by  Google 


M.  von  Schulz,  Zur  Revision  tles  dcuUciicu  GewerbegcrichtsgcscUes. 

ennittclt  werden  müsse,  ob  er  wirklich  „Arbeit  giebt",  d.  h.  ob  er 
in  der  Regel  Arbeitnehmer  beschäftigt.  Es  wird  von  Schmieder 
nicht  verschwiegen,  dafs  man  nicht  immer  einen  strikten  Nachweis 
erfordern  könne,  da  sonst  in  grofeen  Städten  eine  geradezu  nicht 
zu  bewältigende  Arbeit  ftir  die  Magistrate  bei  Au&tdlung  der  Listen 
entstehe.  Er  schlägt  vor,  die  Sehwierigkeit  dadurch  zu  heben,  dafs 
man  solche  Unternehmer,  welche  notorisch  Grehülfen  beschäftigen, 
ohne  weiteres  eintrage  und  bei  den  übrigen  sich  mit  einer  Glaub- 
haftmachung  im  Sinne  der  Zivilprozelsordnung  begnüge. 

Wenn  in  den  erwähnten  Ortsstatuten  (Berlin  und  Frankfurt  a.  O.) 
der  B^;rifr  des  Arbeitgebers  verschieden  bestimmt  wird,  so  richtet 
dies  Verwirrung  an.  Das  Verschulden  aber  trägt  einzig  und  allein 
der  Gesetzgeber,  welcher  bei  Schaffung  des  Gewerbegerichtsgesetzes 
ohne  eine  Definition,  des  Begriffs  des  Arbeitgebers  auszukommen 
boflite.  Dafs  die  Unterlassung  der  Definition  ein  Fehler  war,  lehren 
die  beiden  Ortsstatute.  Wir  halten  mit  dem  Magistrat  von  Frank- 
ftirt  a.  O.  es  für  unbedenklich,  als  Arbeitgeber  denjenigen  selbst- 
ständigen  Gewerbetreibenden  zu  bezeichnen,  welcher  innerhalb 
seines  Gewerbebetriebes  und  zum  Zwecke  dieses  Betriebes  gegen 
Lohn  mindestens  einen  Arbeiter  dauernd  beschäftigt  bezw.  zu  be- 
schäftigen pflegt.  Man  kann  Arbeitgeber  sein,  ohne  das  Gewerbe 
angemeldet  zu  haben  oder  ohne  Gewerbesteuer  zu  zahlen.  Für  die 
Definition  des  Arbeitgebers  sind  weder  die  Anmeldung  des  Ge* 
werbes»  noch  die  Gewerbesteuerzahlung  von  Belang.'}  Um  zu  zeigen, 
zu  welchen  Konsequenzen  der  Inhalt  des  Berliner  Ortsstatuts  gefiShrt 


')  Fl  esc  h  will  übrigens  durch  die  EiniUhrun^;  des  ProportMnalwahlsjrstems 
die  aufgedeckten  Schäden  mildern  (das  „Gewerbcgericht"  Nr.  2  vom  3.  November 

1898  Sp.  261  und  meint,  dafs  Hioses  System  auch  das  gerechtere  sei,  weil  der  Minder- 
heit der  Wähler  wirkliche  \crtrpter  beschafft  würden.  iVgl.  hier/.u  Jastrow  a.a.O. 
S.  336,  I  locli  in  den  Blättern  für  ho/.i.ilr  Praxis  von  1894  Nr.  9  S.  147.  Nr.  55 
S.  24  und  Nr.  77  S.  217  und  im  .(Gewcrbo^ij.  richt  •  vom  5.  Januar  iSqo  Nr.  4  S]>.  41  ff.) 

Der  Map.slral  zu  Frankfurt  a.  M.  gedachtt-  das  l'roportionalwalilsystem  durch 
SuUatenänderung  einzuführen.  Diese  Aendenm};  ist  sowohl  vom  liczirksausschul»  zu 
Wicibsden  wie  tob  den  Prcmnaalnt  der  Provins  HesMiHNanMi  perhorrescicrt 
votdcn.  Der  Proriiixialrmt  hat  besonders  betont,  dab  die  EinfUhrung  des  Propor- 
tioftahrahlsystems  eine  gesetswidrige  sein  wOrde,  da  alsdann  das  Ergebnis  der 
Wahl  nicht  mehr  anmittelbar  ($  la  des  Geweibegerichtsgesetses)  von  der  nach 
freier  Ent&chliefsung  der  einaelncn  Wihler  erfo^enden  Abstimmnng  abhingig  wOrde 
(Nr.  6  des  Gewerb^erichts  rom  2.  Mtn  1899  Sp.  71). 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


i66 


Gcsctzgebang:  Deutsches  Reich. 


hat  und  fernerhin  (lihren  kann,  wollen  wir  aus  der  Ftaxis  des  Ber- 
liner Gewerbegerichts  zwei  Fälle  mitteilen: 

Es  wurde  dem  Gewerbegericht  gemeldet,  dals  der  Arbeit- 
nehmerbeisitzer X.  den  selbständigen  Gewerbebetrieb  in  seiner 
Branche  ausübe,  indem  er  fiir  eigene  Rechnung  die  Herstellung  und 
den  Vertrieb  von  Waren  besorge.  .Bei  seiner  Vernehmung  erklärte 
der  beanstandete  Arbeitnehmerbeisitzer,  dals  er  seit  etwa  2  Jahren 
einen  Hausierhandel  mit  von  ihm  selbst  fabrizierten  Waren  betreibe. 
Sein  Gewerbebetrieb,  welchen  er  bei  der  Steuerbehörde  angezeigt 
habe,  sei  ihm  von  dieser  erlaubt  worden.  Er  sei  nicht  gewerbe- 
steuerpflichtig und  beschäftige  keine  Arbeiter.  So  oft  sich  lohnen- 
dere Beschäftigung  als  Geselle  für  ihn  biete,  was  hin  und  wieder 
geschehe,  arbeite  er  als  solcher. 

Der  Beisitzer  wurde  auf  Grund  dieses  Thatbcstandes  seines 
Amtes  enthoben,  mit  der  Begründung,  dafs  der  Titel  Vü  der  Ge- 
werbeordnung auf  ihn  keine  Anwendung  finde  und  er  daher  nicht 
zu  den  gewerblichen  Arbeitern  im  Sinne  des  §  2  des  Ortsstatuts  ^) 
gehöre. 

Die  Enthebung  ist  zu  Recht  erfolgt.  Denn  als  Arbeitnehmer 
im  Sinne  des  Gewerbegerichtsgesetzes  kann  X.  nicht  angesprochen 
werden.  Als  Arbeitnehmer  kommen  nach  dem  Inhalt  des  an- 
gezogenen §  des  Statuts  nur  Gesellen,  Gehülfen,  Fabrikarbeiter  und 
Lehrlinge,  auf  welche  der  VII.  Titel  der  Gewerbeordnung  Anwendung 
findet,  in  Betracht.  In  keine  dieser  Kategorieen  fallt  X.,  da  er  der 
Regel  nach  seit  zwei  Jahren  einen  selbständigen  Gewerbebetrieb 
ausübt  und  nur  ausnahmsweise  („hin  und  wieder"  wie  er  bei  seiner 
Vernehmung  bemerkte),  Arbeit  als  Geselle  angenommen  hat  Da- 
raus, dafs  er  der  Klasse  der  Arbeitgeber  nicht  zugezählt  werden 
kann,  folgt  gegenüber  dem  klaren  Wortlaut  des  §  2  nicht,  dafe 
er  nun  als  Arbeiter  anzusehen  ist.  Es  ist  vielmehr  aus  der  doppelten 
Negation  nur  zu  schliefsen,  dals  er  weder  als  Arbeitgeber  noch  ab 
Arbeitnehmer  wahlberechtigt  ist  Er  ist  zweifellos  nicht  Arbeit- 
sgeber, er  ist  auch  nicht  —  mindestens  nicht  regelmäfsig  —  gewerb- 
licher Arbeiter;  dafe  er  gelegentlich  und  vereinzelt  in  ein  gewerb- 
liclies  Arbeitsverhältnis  eintritt,  kann  nicht  ausreichen,  ihn  als 
Arbeiter  im  Sinne  des  Gesetzes  zu  charakterisieren.  Darunter 
können  nur  Personen  verstanden  werden,  welche  regelmäfsig 
als  gewerbliche  Arbeiter  beschäftigt  werden   und  durch 

*)  Dieser  $  entbilt  den  Wordant  de«  §  3  des  Gcwcrb^eridttagotttics. 


Digitized  by  Gopgle 


M.  Ton  Schals,  Zur  Revision  de«  deotsdien  Gewerbegericbtsgesetaes.  j^j 

diese  Beschäftigung  ab  Arbeiter  ihren  Lebensunterhalt  der  Haupt- 
sache nach  erwerben,  so  dals  die  gewerbliche  Lohnarbeit  als  ihr 
Beruf  ersdieint  Demgegenüber  ist  X.  selbständiger  Gewerbe- 
treibender und  Handelsmann.  Er  findet  durch  Arbeit  für  eigene 
Rechnung  und  durch  Handel  mit  den  selbstgefertigten  Waren  seinen 
Lebensunterhalt  Mit  Fug  ist  ihm  nach  dem  Zweck  und  Sinn  des 
Gewerbegerichtsgesetzes  die  Wählbarkeit  abgesprochen  worden,  da 
er  für  gewöhnlich  nicht  in  die  Lage  kommen  kann,  vor  dem  Ge* 
wcrb^rericht  Recht  zu  nehmen  und  infolgedessen  kein  unmittel- 
bares rechtliches  Interesse  haben  kann  auf  die  Zusammensetzung 
oder  auf  die  Rechtsprechung  des  Gewerbegerichts  einen  Einfluß 
auszuübend)  Freilich  genügte  für  Berlin  zum  Nachweis  der  Quali- 
fikation des  X.  als  Arbeitgeber,  dafs  derselbe  nach  Anmeldung 
seines  Betriebes  im  Besitze  einer  Bescheinigung  der  Steuerbehörde 
hierüber  ist  (§  13  des  Ortsstatuts). 

In  der  zweiten  Sache  war  bemängelt  worden,  dals  der  Arbeit- 
nehmerbeisitzer Y.  zur  Zeit  seiner  Wahl  eine  Arbeiterin  zur  Orts- 
krankenkasse des  von  ihm  betriebenen  Gewerbes  angemeldet 
hatte.  Auf  Grund  dieser  Tliatsache  wurde  Y.  seines  Amtes  ent- 
hoben, weil  er  zur  Zeit  der  Wahl  und  geraume  Zeil  nach  derselben 
dem  Stande  der  Arbeitgeber  angehört  habe.  Gegen  diesen  Be- 
scheid erhob  \.  Beschwerde,  und  zwar  mit  Erfolg.  Er  behauptete» 
in  seiner  Häuslichkeit  wahrend  der  fraglichen  Zeit  nur  fiir  mehrere 
Arhtit^'cber  thäti<^  f^cwescn  zu  sein.  Er  sei  hierbei  von  der  Ar- 
beiterin (seiner  jetzigen  Ehefrau),  welche  auch  von  ihm  bei  der 
Krankenkasse  gemeldet  worden  sei.  unterstützt  worden.  Sonach 
sei  er  gewerblicher  Arbeiter  eventuell  Hausgewerbetreibender.  Die 
neueren  Erhebungen  ergaben  die  Wahrheit  der  Anführungen  des  Y. 
Er  hat  selbständig  für  Kunden  nicht  gearbeitet,  auch  ist  der  Steuer- 
behörde über  einen  damaligen  selbständigen  Betrieb  desselben  nichts 
bekannt  geworden.  Nach  dem  Thatbestande  muüs  deswegen  Y., 
selbst  wenn  er  als  gewerblicher  Arbeiter  rcsp.  Heimarbeiter  nicht 
anzusehen  ist,  als  Hausgewerbetreibender  erachtet  werden.  Hierbei 
ist  es  aber  nach  i;  10  Absatz  3  des  Ortsstatuts  nicht  von  Belang, 
ob  Y.  Arbeiter  beschäftigt  hat,  also  im  Verhältnis  zu  diesen  Arbeit- 
geber war.  Bei  dieser  Sachlage  war  es  gerechtfertigt,  dais  die  Be« 
schwerdeinstanz  dem  Ansuchen  des  W  statti^ab  und  seine  Wieder- 
einsetzung aU  Beisitzer  verfugte.   Im  Sinne  des  Gewerbegericbts- 

')  Wilhelmi  und  Fttrst,  Konunentar  mm  G.G.G.,  Note  2  la  §  la  S.  56h, 


Digitized  by  Google 


i68 


Geiietigebmig :  Denischef  Reich. 


gesetzes  besafs  Y.  zweifellos  seiner  Zeit  die  Eigenschaft  eines  Arbeit- 
gebers. 

Der  Fall  Y.  erregte  das  Interesse  Iiiesig^r  Arbeitgeber  derart, 
dafs  j^egen  ein  unter  Mitwirkung  des  Y.  ei^;angenes  L'rteil  seitens 
einer  Partei  die  Xicliti}4kcitsklage  —  vermutlich  auf  Veranlassung 
des  Arbeitgcberbcisilzer\ erbaue  los  —  erhoben  ist.  Die  auf  dieselbe 
ergangene  abweisende  (Mitschcidung  erscheint  von  grofser  \\'ichtii,^keit, 
denn  es  ist  klar,  da(s  die  Rechtssicherheit  nicht  unbedeutend  gefährdet 
werden  würde,  wenn  jedes  Urteil  eines  Gewerbegerichts  mit  der 
Behauptung  angefochten  werden  kann,  dafs  ein  Beisitzer  in  diesem 
oder  jenem  Zeitpunkt  zum  Arbeitgebe  r  I  rzw.  Arbeitnehmerbeisitzer 
nicht  wählbar  gewesen  sei.*)  Bei  dem  beklagenswerten  Unistande 
des  \on  den  Gewerbegerichten  getrennten  Bestehens  von  Innungs- 
schiedsgerichten wollen  wir  beispielsweise  darauf  hinweisen,  dals 
Arbeitnehmer  doch  sehr  häufig  ihre  Arbeitsstätten  wechseln.  Es 
kann  daher  vorkommen,  dafs  Arbeitnehmerbeisitzer  —  meist  ohne 
ihr  Wissen  —  während  ihrer  gewerbegericht  liehen  Amtsperiode  hin 
und  wieder  bei  Innungsmeistern  Arbeit  nehmen  und  aus  diesem 
Grunde  ihrer  Wählbarkeit  verlustig  gehen.  Wenn  hierdurch  die 
(lültigkeit  der  Urteile,  an  deren  P>lars  der  nicht  mehr  wählbare 
Beisitzer  teilgenommen  hat,  alteriert  werden  sollte,  so  inüfste  dies 
ausdrücklich  im  Gesetz  ausgesprochen  worden  sein.  Da  dies  nicht 
geschehen  ist,  hat  man  anzunehmen,  dafs  §  19  GGG.  durch  die 
Knthebuug  des  Beisitzers  nur  für  die  Zukunft  vorbeugen  will.  Bei 
der  Nichtigkeitsklage  hat  mit  Rücksicht  darauf  das  Gewerbegericht 
lediglich  festgestellt,  dafs  Y.  zum  Arbeitnehmerbeisitzer  gewählt 
worden  ist  und  sich  am  Tage  der  IVteilsfallung  noch  in  der  ord- 
nungsmälsigen  Ausübung  seines  auf  Grund  der  Wahl  erlangten 
Amtes  befunden  hat.  Bei  dem  grofsen  Interesse,  welches  die  Arbeit- 
nehmer von  jeher  dem  (lewcrbegericht  bewiesen  haben,  und  welches 
auch  bei  den  Arbeitgebern  für  diese  Institution  wachgerufen  worden 

*)  Sowohl  in  enter  wie  in  xweiter  Lesung  de^  Entwurfes  der  Novelle  zum 
GewerbegcricbtsgeseU  machte  ein  Vertreter  der  verbündeten  Regierangen,  ohne  indes 
in  deren  Namen  sprechen  an  woUen,  der  Reichstagskommisslon  gegenttbcr  versdiie» 
dene  Bedenken  gegen  die  obUgatoriacbe  Emflihnmg  von  Wählerlisten  geltend.  Es 
wttrde  sich  UnvoUstindigkeit  vnd  Fehlerhafti^eit  der  Listen  in  weitem  Umfange 
zeigen.  Infolge  dessen  kannten  viele  Wahlen  sich  als  ungültig  erweisen.  Diese 
Bedenken  seien  um  so  schwerwiegender,  als  von  der  Gültigkeit  der  Wahlen 
zum  Gcwcrbopcrirht  imter  L'mst.Hnden  auch  die  k  e  c  h  t  sg  ül  t  igk  <•  i  t  der  Urteile 
des  Gewerbi^erichts  abhängig  sei.    (Bericht  der  VII.  Kommission,  S.  23.) 


Digitized  by  Google 


M.  TOB  Sclmlt,  Zar  Revision  des  dentscbcn  Gewerb^ericbtsgesetses.  1O9 

ist,  pflegen  die  Gewerbetreibenden  sich  mit  der  gewerbegerichtUchen 
Judikatur  und  mit  den  für  dieselbe  malsgebenden  gesetzlichen  Vor- 
Schriften  eingehender  zu  beschäftigen,  als  dies  etwa  mit  der  Judikatur 
der  ordentlichen  Gerichte  der  Fall  ist  Urteile  der  Gewerbegerichte 
werden  in  Versammlungen  der  Arbeitgeber  sowie  der  Arbeitnehmer 
besprochen.')  Um  künftigen  Beunruhigungen  vorzubeugen,  mag 
die  Nichtigkeitsklage  eioen  Fingerzeig  dafür  abgeben,  in  das  Gewerbe- 
gerichtsgesetz die  Bestimmung  aufzunehmen,  dals  Urteile,  bei  deren 
Fällung  Beisitzer,  welche  weder  Arbeitgeber  noch  Arbeitnehmer 
sind,  aber  dennoch  ohne  Kenntnis  des  Gerichts  von  ihrer  Unfähig- 
keit zur  Ausübung  der  richterlichen  Thätigkeit  zu  dieser  zugezogen 
sind,  zu  Recht  begehen.*) 

Wenn  man  aber  nach  dieser  Richtung  hin  die  bestehenden 
Gesetze  fiir  ausreichende  hält  und  den  von  uns  angedeuteten  Weg 
nicht  geht,  so  wird  man  nicht  umhin  können,  den  Begriff  des  Ar- 
beitgebers unter  allen  Umständen  in  das  Gewerbegerichtsgesetz  auf- 
zunehmen. ^)  Nur  dann  sind  Komplikationen  durch  die  Wahlen 
nicht  zu  befürchten,  wenn  in  Zukunft  die  hier  in  Fra^'c  kommenden 
Bestimmungen  der  Ortsstatuten  fiir  die  deutschen  Gewerbegerichte 
hinsichtlich  der  Arbeitgeber,  etwa  nachdem  Vorbilde  von  Frankfurta  O. 
überall  gleichmäfsig  lauten. 

Der  Abgeordnete  v.  Stumm')  will  natürlich  von  den  Wahlen 


')  Siehe  darüber  M.  v.  Schulz  in  Nr.  16  der  Sosulen  Piazis  Tom  19.  Januar 
1(99,  Sp.  423  ff.  aad  in  divsem  Archiv,  Bd.  XHl  S.  394. 

*)  Aehnliches  bezweckt  der  Abändrnm^^samrmg  Totsauer  Nr.  90,  Reichstag 
Uk  Legislatnrperiodc  l.  Session  1898  qo,  VII.  Kommission: 

dem  §  13  als  .\l»sat/.  4  folgendes  liin/.uzufüjjen . 

Beisitzer,  welche  i-rst  nach  ihrer  Walil  .Mittjlii  il  einer  in  Abs.  3  be- 
zeichneten Innung  werden,  oder  erst  n.ich  ihrer  Wahl  bei  einem  Mitglicde 
einer  solchen  Innung  in  Arbeit  treten,  bleiben  bis  zum  Ablanf  der  Wahl- 
periode im  Aast. 

BoOglidi  der  ordcotlidicn  Gerichte  veigleiche  §  5a  des  Geriefatsverfassungs* 
Scsctscs  und  §  513  Nr.  a  der  Qvflprosefiordnniig. 

*)  Schmieder  will  in  seinem  Aufsatz  fiber  den  Eatwuf  eines  Reicbsgesctscs, 
betr.  die  Sidiemiig  der  Baofordenngca,  dafs  im  Gesetz  der  GnudstOdueigeiitamer 
nd  der  Baogddgebcr  fflr  den  Fall  ihrer  Haftung  als  „Arbeitgeber**  beaekbncc 

werden.  Auf  die  Weise  verhelfe  man  den  Arbeiter  schnell  zu  seinem  Albdtslolm, 
weil  dann  etwaige  Streitigkeiten  gemäfs  §§1,3  des  Gewerl>egcricbtsgcsetses  zur  Zu* 
fUndigkeit  der  prompt  arbeitenden  Gewerbegerichte  gehören  würden. 

*)  Rckhatagasilsang  vom  i8.  Januar  1899,  S.  375. 


Digitized  by  Google 


GesefatKebnif :  DenUdies  Reidi. 


durch  die  Gewerbetreibenden  selbst  überhaupt  nichts  wissen.  Er 
wünscht  die  Auswalil  der  Gevverbegerichtsbeisitzer  äluilich  so,  wie 
dieselbe  für  die  Schöffengerichte  vorgenommen  wird.  Zum  Nach- 
weise der  Güte  seines  Vorschlages  berief  er  sich  auf  den  verstorbenen 
Abgeordneten  Windthorst,  welcher  am  3.  Mai  1878  erklärte, 
dafe  es  seinen  Anschauun<;eti  sehr  \iel  mehr  entsprechen  würde, 
wenn  die  Konstruktion  der  ( iewerbe^erichtsbehörden  autoritativ 
geschähe.  Der  Abgeordnete  Windthorst  hat  aber  auch  in  derselben 
Sit^nnf^  im  Anschlufs  an  seinen  Vorschlag,  die  gewerblichen  Rechts* 
Streitigkeiten  einfach  durch  den  Amtsrichter  unter  Zuziehung  ge- 
werblicher Elemente  entscheiden  zu  lassen,  geaulsert:  »AVenn  man 
einmal  diese  nach  meiner  Ansicht  allein  richtii^c  Tdee  nicht  durch- 
fuhren will,  dann  bin  ich  der  Meinung,  flal's  die  ( 10 Werbegerichte, 
die  man  hier  vor  Augen  hat,  keinerlei  Effekt  haben,  keinerlei 
Vertrauen  finden  werden,  wenn  man  nicht  den  Beisitzer 
wählen  läfst."  Dieses  Vertrauen  «(cniefseti  die  (iewerbegerichte  und 
zwar  nach  unseren  Krfahruni^en  ledij^lich,  weil  die  Gewerbetreiben- 
den sich  ihre  bc  isitzeiKlcii  Richter  selbst  wählen  können.  Man  thut 
des\vo(;cn  r(M^ht,  Herrn  v.  Stumm  nirht  Ciehör  zu  schenken  und  es 
beim  alten  zu  lassen.  .\ur  auf  diese  Weise  werden  die  Freunde 
(k  r  ( iewerbet^erichtc  in  ihrem  Bestreben,  sie  aufrecht  zu  erhalten 
und  weiter  zu  entwickeln,  bestärkt,  und  die  Sympathieen  für  diese 
Gerichte  erhölit  werden. 

Zum  Schlufs  haben  wir  noch  im  lliiiblick  auf  Art.  I\'  des  Knt- 
wurfes  zur  Novelle  bei  der  Ihäti^'keit  des  ( iewerbef:jerichts  als 
EiiiiL^uiiL^samtes  zu  \er\veilen.  .Art.  I\'  entspricht  inhaltlich  in  seinen 
beiden  ersten  Al)schnitten  dem  6.  und  7.  Abschnitt  des  ^71  des 
Berliner  (  )rtsslatut>.  welclier  dem  N\>rni.ilstatut  für  ( iewerbegerichte 
entnonuuen  ist  'j  mit  Ausnalime  der  Worte:  „geeignet  erscheinenden 

■  -  -    -  ^ 

'j  Die  beiden  .VbächuiUc  lautcu : 

Erfolgt  die  Anrufung  nur  von  Seiten  einer  Partei,  so  hat  der  Vorsitzende 
hiervon  einer  oder  mebreren  der  ihm  «b  Vertranensmiinier  der  ■nderen 
Fartei  bekaimteii  Penooen  Kenntnis  xn  geben  nnd  zngleidi  nacb  Mö^idi- 
kett  dabin  n  wirken,  daft  auch  die  andere  Pute!  sich  snr  Aarafong  det 
Einigaiigninia  bereit  findet 

Auch  in  anderen  Fällen  soll  der  Vorsitzende  bei  Streitigkeiten  der  im 
§  61  bezichnetcn  Art  auf  die  Anrufung  des  Einigungsamtes  hinzuwirken, 
suclxMi  und  dieselbe  den  T'artcirn  hri  j:;rei<,nictor  Veranlassung  nahelegen. 
Si«"l)c  i!.-i/,u  >;  71  der  Vorschläge  zur  Auf^telUiiii,'  vnn  Ortsstatuten  für  (Iewerbe- 
gerichte aut  Grund  des  Keicbsgcsctzes  vom  29.  Juli  1890.    Veröfienüicht  aal  An- 


i^iyui^ud  by  Googl 


M.  TOB  Schals,  ZorRevisioa  dct  deotacfaen  Geirerbef»«ricbtsg<eseties.  iji 

Falles  persönlich".  Diese  letzteren  Worte  können  in  der  Bestimmung 
fehlen,  da  es  selbstverständlich  ist,  dafs  der  X'orsitzende,  wenn  er 
CS  für  geeignet  hält,  persönlich  einschreiten  wird. 

Der  Abgeordnete  Bassermann  hat  bereits  in  der  Reichstags- 
sitzung vom  25.  Januar  1899  betont,  dafis  die  Ausfuhrung,  nach 
welcher  das  Einigungsamt  nur  dann  eintreten  kann,  wenn  es  von 
beiden  Teilen  angerufen  wird,  unzutreffend  ist.  Die  Berufung  des 
Einigungsamtes  mufs  erfolgen,  wenn  beide  Parteien  anrufen.  Fakul- 
tativ kann  auch  auf  Veranlassung  einer  Partei  oder  aus  der  eigenen 
Initiative  des  Wirsitzenden  die  Vermittlui^r  versucht  werden.  Dies 
geht  aus  dem  Wortlaute  des  Gesetzes  hervcMr,  Unter  allseitigem 
Kinverstandnis  wurde  ein  Gleiches  bei  der  Beratung  der  VII.  Reichs- 
tagskommission  festgestellt')  Dir  Absätze  I  und  2  des  §  62a  sind 
demnach  lediglich  eine  authentische  Interpretation  des  Gesetzes.  Der 
Bericht  der  Kommission  fuhrt  mit  Recht  an,  dafs  diese  für  den 
Vorsitzenden  gegebene  Instruktion  von  solcher  Bedeutung  und  Trag- 
weite sei,  dafs  sie  in  das  Gesetz  und  nicht  in  das  Statut  gehöre. 
Das  Berliner  Gewerbegericht  hat  dem  ihm  durch  das  Statut  ge- 
wordenen Auftrage  entsprechend,  nachdem  es  eine  Zeit  lang  eine 
abwartende  Stellung  eingenommen ,  stets  aus  eigenster  Initiative 
heraus  bei  Strikes  interveniert*)  Auch  wir  haben  sehen  müssen, 
datCs  keine  der  sich  gegenüberstehenden  Parteien  der  Regel  nach 


Ordnung  des  Minist<rrs  für  Handel  und  Gewerbe.    Berlin-CharloltnibitrK,  Fr.  Kofft- 
kanpf,  nnd  S.  a6  des  Bcvichts  der  VIL  KomoiMsion  des  Reichttaces. 
*)  S.  35  und  26  des  Berichts  der  VIL  Kommiaiiaii. 

*)  Aas  dieser  Thitigkeit  des  Gcwerbegerichti  eigiebt  sich  folgende  T«bellc: 

Verwaltungsbericht» 
Strikes,  bei  denen  das  Gewerbegericht       lS95,96    9697    97 9& 

a)  mit  den  Bftciliptcn  Verhandlungen  gepflogen, 


eine  .\nrufung  des  Kinigungsamtes  aber  von 

36 

12 

8 

nur  von  einer  Seite  als  Einigungsamt  an- 

7 

2 

1 

TOD  beiden  Teilen  als  Einigw^sunt  ange- 

11 

4 

3 

Der  Strike  ad  b  1897/98  ist  selbstSndig  nicht  beendet. 

viehnehr  in  des 

allgcmeiiien  Strike  der  sftmtlichen  Arbeiter  der  betr.  Braach«  anf« 
gegangen,  welche  ihrerseits  das  Gewerbegericht  als  Einigungsamt  angerufen 
und  eine  Anrufung  des>.e1ben  auch  seitens  der  Arbeitgeber  erzielt  haben. 
Es  kam  su  einem  Vergleiche. 


172 


Gesefateebune :  Deutscbes  Reich. 


geneigt  ist,  den  ersten  Schritt  zum  Gewerbegericht  zu  thun  in  der 
Befürchtung»  liir  den  schwächeren  Teil  gehalten  zu  werden.'  l^ang 
und  gäbe  war  dabei  die  Erklärung:  „VVir  haben  die  Anrufung 
nicht  nötig,  wir  können  es  aushalten."  Der  Vorsitzende  des  Berliner 
Einigungsamtes  pflegt  deswegen  vor  B^;inn  dci  Verhandlunjr  zur 
Beruh ip^ung  der  Parteien  die  Bemerkung  vorauszuschicken,  dais  keine 
der  Parteien  aus  freien  Stücken  das  Gewerbcj^a-richt  angerufen  habe, 
dafe  vielmehr  auf  seine  Veranlassung  die  Parteien  sich  zur  An- 
rufung des  Einigungsamtes  bereit  gefunden  iiaben.  Im  übrigen  muls 
anerkannt  wei  rlt  ii,  dafs  mit  wenigen  Ausnahmen  Arbeitnehmer  so- 
wohl wie  Arbeitgeber  der  Einladung  des  Gewerbegerichts  zur  vor- 
läufigen Besprechung  der  Strikes  bereitwilligst  Folge  leisteten  und 
die  erforderliche  Auskunft  erteilten.  Häufig  bedurfte  es  freilich  der 
Mitwirkung  der  Beisitzer  bei  den  \''ergleichsverhandlungen,  um  mil's- 
trauische  .Arbeitgeber  über  die  .Aufgaben  des  Einigungsamtes  zu  be- 
lehren.-) Diese  Hinzuziehung  der  Beisitzer  von  Fall  zu  I*all  wünsclit 
der  Berliner  Arbcitgeberbei.sitzer  Weigert  ''l  zu  einer  ständigen  zu 
gestalten.  Nacli  iiini  soll  aus  der  Zaiil  der  Beisitzer  des  Geweri)e- 
gcrirhts  ein  ständiger  Ausschuls  gebildet  werden,  der  alle  X'orgängc 
in  der  Arbeiterbewegung  verfolgt  und  dadurch  in  die  Lage  kommt, 
rechtzeitig  mit  den  Parteien  Fühlung  zu  nehmen.  Es  dürfte  jedoch 
hier  zu  befürchten  sein,  dafs  dieser  Ausschufs,  besonders  wenn  der 
Vorsitzende  des  Einigungsamtes  nicht  zugleich  X'orsitzender  des 
Ausschusses  ist,  nicht  selten  seine  eigenen  Wege  wandeln  und 
ohne  Rücksicht  auf  das  Kinigungsamt  X'ermittlungen  anzu.->iellen 
versuchen  wird.  Xach  unseren  Erfahrungen  ist  es  aber  stet'^  vom 
l  ebe!  gewesen,  wenn  bei  Strikes  von  verschiedenen  Seiten  eine 
Eini'^'uni^  niiL^'cstrebt  wird.  Wenn  auch  zuzugeben  ist,  dais  die 
Tliätigkeil  des  KinigungsanUes  nicht  nur  hier,  sondern  auch  anderen 
C)rts  nur  als  eine  schwache  zu  bezeichnen  ist,'*)  so  darf  dennoch 
diese  als  eine  ^geringfügige  nicht  beurteilt  werden.  ')  Sobald  durch 
eine  Anrufung  des  Einigungsamtes  die  Gefahr  eines  ausgedehnten 

*)  Soiiale  Pruii  vom  37.  Febnur  1896,  Sp.  634,  Verwaltimgibttriclit  Ober  das 
Berliner  Gcwerbegeridit  1895/96  und  Jastrow  ft.  a.  O.,  S.  380. 

*)  Jastrow  a.  a.  O.,  S.  380.  ^ehe  auch  Blendermann  im  „Gcwerbegeridit**, 
ID.  Jahigang  Nr.  2  vom  4.  Kovembcr  1897,  Sp.  13. 

'1  Soziale  Praxis  vom  25.  Mai  1899,  Sp.  920. 

•  j  riewi-rli.  f^pricht  Nr.  8  vom  S.  Mai  1S9S,  Sp.  90. 

'■^1  (iewrl«'t;oricht  Nr.  12  vom  I .  .Scpti-mber  189S  III.  Jahrg.,  Sp.  143.  Soiial« 
Praxis  Nr.  ib  vom  19.  Januar  1899  Sp.  429  und  430  und  Jastrow  a.  a.  O.,  S.  375- 


Digitized  by  Google 


yt  Ton  Schulz,  ZurRevidmi  des  deutschen  Gewerbegericbtsgesetzes.  ij^ 

langwierigen  Strikes  auch  nur  von  einem  Inclustriezweige  be* 
seitigt  wird,  so  hat  auch  in  solchem  Falle  das  Einigungsamt  schon 
segensreich  gewirkt  Wir  dürfen  in  dieser  Beziehung  an  den  Strike 
in  der  Berliner  Konfektion  und  an  den  Formerstrike  erinnern.  Den 
Gegnern  der  Ein^ngsamter  ist  femer  entgegenzuhalten,  da(s  im 
allgemeinen  die  Gewerbegerichte  als  Einigungsamter  von  Jahr  zu 
Jahr  mehr  in  Anspruch  genommen  werden.')  Die  Einigungsamter 
würden  jedoch  an  Ansehen  gewinnen,  wenn  die  Gewerbetreibenden 
verpflichtet  werden  könnten,  vor  dem  Einigungsamt  zur  Aussprache 
über  die  ausgebrochenen  Dififerenzen  zu  erscheinen.  Denn  sind  die 
Parteien  nun  einmal  vor  dem  Einigungsamt  aufgetreten,  so  wird  es 
in  den  meisten  Fällen  nicht  zu  schwierig  sein,  sie  zu  einer  Ver- 
ständigung zu  fuhren. 

Bei  dieser  Sachlage  wird  der  im  Absatz  3  des  §  62  a  projek- 
tierte \>rhandlungszwang  kaum  auf  ernstlichen  Widerspruch  stolsen, 
zumal  die  deutschen  Gewerbegertchte  wohl  ohne  Ausnahme  einen 
solchen  Zwang  für  notwendig  halten  und  auch  ausländische  Ge- 
setzgelxi  mit  den  obligatorischen  Einigungsäititern  sich  befreundet 
haben.-)  Hier  will  Absatz  3  des  §  62a  des  Entwurfes  Fürsorge 
treffen  durch  Androhung  einer  Geldstrafe  fiir  den  Fall  des  Nicht- 
eischeinens  einer  Partei.  Es  ist  angebracht,  die  Befugnis  zur  Ver- 
hängung  einer  möglichst  hohen  Geldstrafe  dem  Vorsitzenden 
des  Gewerbegerichts  zu  geben,  da  der  \''orsitzende  des  Eini- 
gungsamts erst  durch  Wahl  der  Parteien  bestimmt  wird  und  bei 
gröfseren  Gewerbegerichten  mehrere  Gewerberichter  fungieren. 

*)  AnsfUhmnccn  des  Abgeordneten  Trimborn  in  der  Reichstagssitung  yora 
18.  Januar  1899,  Bericht  der  Vn.  Kommission,  S.  2$. 

Das  „Gcwcrbcßcricht'"  vom  2.  Juni  1899,  Sp.  97,  und  vom  4.  August  1898, 
Sp.  131.  Ucber  die  Kinführung  obligatorischer  Kinipnngsämter  in  Frankreich  siehe 
Nr.  17  der  Sozialen  Praxis  vom  26.  Januar  1800.  Sp.  461  und  über  den  Gesetzentwurf 
b«-tr.  Einigungsämter  in  Genf  Nr.  21  der  Soxialen  Praxis  vom  23.  t'ebruar  1S99, 
Sp.  574. 

Gegen  die  Einrichtung  ubligatoriscber  Einigungsamter  bat  neuerdings  der  Verein 
deutscher  Werkaengmaschinenfabriken  dnrdi  eine  Eingabe  an  den  StaatssekretSr  des 
Rdcbsamts  des  Innern  protestiert.  Der  Verein  erkennt  die  Gleichbcrechtigiing  der 
Asbciter  mit  den  Aibeitgebera  nicht  an.   (Smdale  Pnais  vom  2$.  Mai  1899  Sp.  934.) 

')  f,Der  Vorritcende  ist  befngt,  an  den  Streitigkeiten  beteiligte  Personen  vor- 
zuladcn  tmd  am  vernflmn^n.  Er  kann  hierbei  fiir  den  Fall  des  Nichtersdieincns  eine 
Geldstrafe  bis  zu  einhundert  Mark  androhen.  Gegen  dif  Festsetzung  der  Strafe 
findet  Beschwerde  nach  den  Besümmnngen  der  Zivilprozefsordnung  statt" 


174 


Gctetzgebong:  Dsntsche«  Rddi. 


Ausschlaggebend  fiir  den  Absatz  3  war  die  nachstehend  wieder- 
gegebene Erwägung:')  „Bei  Strikes,  bei  welchen  oft  tausende  von 
Arbeitern  beteiligt  seien  und  vielfach  weitere  Kreise  der  Bevölkerung 
in  Mitleidenschaft  gezogen  würden,  ständen  nicht  nur  Privatinteressen» 
sondern  in  hervorragendem  Malse  auch  das  öffentliche  Wohl  in 
Frage.  Man  könne  durchweg  jeden  Strike  als  öffentliche  Kalamität 
bezeichnen.  Von  diesem  Standpunkt  aus  erscheine  es  grundsatzlich 
gewils  gerechtfertigt,  die  Aktionsfähigkeit  und  die  Autorität  des 
Einigungsamtes  dadurch  zu  fördern,  dafs  es  mit  der  Befugnis  zur 
zwangsweisen  Vorladung  ausgestattet  werde.  Nach  §  40  des  Cie- 
setzes  könne  das  Gewerbegericht  in  einem  anhängigen  Rechtsstreit 
jede  Partei,  sei  es  zur  Sachaufklärung,  sei  es  (lir  die  Zwecke  des 
Vei^leichsversuches,  durch  Androhung  von  Geldstrafen  zum  persön- 
lichen Erscheinen  zwingen."  In  dem  Bericht  ist  mit  Recht  die 
Frage  aufgeworfen,  warum  die  Befugnis  die  dein  Richter  in  einem 
anhängigen  Gewerbestreit  gewährt  sei,  dem  Vorsitzenden  des  Ge- 
werbegerichts  versagt  sein  solle  bei  allgemeinen  Lohnstreitig- 
keiten, die  den  sozialen  Frieden  schwer  bedrohten.  Der  Bericht 
scheint  die  Hau jn Verhandlung  vor  dem  Einig^ngsamt  mit  im  Aui;^e 
zu  haben.  Nach  dem  Text  des  (lesetzentwurfes  handelt  es  sich 
nur  um  Vorvemehmungen.  Ks  wird  also  eine  präzisere  Fassung 
der  Bestinunung  am  Platze  sein.  Die  zu  erlassende  Zwangsvorschrift 
würde  ferner  noch  ihre  Rechtfertigung  finden  in  den  grofeen  beider- 
seitigen Opfern,  welche  ^sist  durchw^  bei  Strikes  von  den  Arl)eit- 
gebern  wie  Arbeitnehmern  gebracht  werden  müssen.  Die  Berliner 
Strikes,  welche  in  den  letzten  Jahren  ausgebrochen  sind,  dienen 
zum  Beweise  der  vorgetragenen  Thatsachen. 

Weigert  führt  in  seinem  von  uns  schon  genannten  Aufsatz  aus 
der  Berliner  Praxis  mehrere  Strikes  an,  die  besonders  klar  machen, 
wie  notwendig  eine  eventuelle  zwangsweise  Verhandlung  der  Striken- 
den  mit  ihren  .Arbeitgebern  \'or  dem  Kinigungsamt  ist.  Wir  greifen 
heraus  die  Strikes  in  der  Wollhutbranche  Mai  1896.  in  der  Metall- 
industrie Iloclisommer  1897  und  schliefslich  den  Strike  der  Setzer 
des  Berliner  Lokalanzeigers  Frühjahr  1899. 

Die  Hutfabrikanten  weigerten  sich  \or  dem  Einigungsamt  zu 
erscheinen  in  der  Absicht,  wie  die  Arbeitnehmer  behaupten,  die 
Or;:(anisation  derselben  zu  zerstören.  Sicher  kann  dieser  Grrund 
der  Absage  als  ein  stichhaltiger  nicht  erachtet  werden.   Bei  dem 


>j  Boidit  der  VII.  KominiMioii,  S.  26. 


Digitized  by  Google 


M.  Ton  Schule,  ZorRevitk»  des  dcotochcii Gewerbegerichtsgcsctxet. 

Metallarbeiterstrike  kostete  es  einem  Arbeitgeberbeisitzer  unseres 
Grerichts  unsägliche  Mühe  und  lange  Arbeit,  um  die  Unternehmer 
von  der  Nützlichkeit  der  Anrufung  des  Einigungsamtes  zu  überzeugen. 
Was  den  Strike  der  Setzer  des  Lokalanzeiger  anlangt,  so  drehte  sich 
derselbe  hauptsachlich  darum,  dafs  der  Eigentümer  des  Blattes  sich 
von  seinen  Setzern  einen  Revers  hatte  ausstellen  lassen,  in  welchem 
sie  veisprachen,  während  ihres  Arbeitsverhältnisses  in  seiner  Druckerei 
der  Organisation  des  Verbands  deutscher  Buchdrucker  nicht  anzu« 
gdiören.  Das  Anerbieten  des  Gewerbegerichts  zu  vermitteln  wurde 
bekierseits  abgelehnt.  Sechs  Wochen  aber  nach  Beginn  des  Strikes 
wurde  derselbe  durch  Vermittlung  eines  Arbeitgeberbeisitzers  bei- 
gelegt Der  Eigentümer  des  Lokalanzeigers  verzichtete  auf  den 
Revers  und  erkannte  an,  dass  er  mit  seinem  Verlangen,  die  Setzer 
zu  verpflichten,  dem  Verbände  nicht  anzugehören,  im  Unrecht  sei. 

Wie  ersprieÜslicli  für  die  Gewerbetreibenden  der  Zwang  zum 
Erscheinen  vor  dem  Einigungsamt  sein  würde,  illustriert  am  besten 
ein  augenblicklich  noch  anhängiger  Prozefs. 

Die  beklagten  Arbeiter  haben  die  von  ihnen  angefangenen 
Akkordarbeiten  rcclitswidrig  unbeendigt  liegen  gelassen.  Der  Arbeit* 
geber  fordert  auf  Grund  des  ^  124  b  Reich^ewerbeordnung  von 
jedem  von  ihnen  16,20  Mk.  als  Entschädigung.  Ein  Termin  würde, 
falls  die  Parteien  das  Einigungsamt  angerufen  hätten,  sofort  vor 
demselben  anberaumt  worden  sein  und  die  Wahrscheinlichkeit  hätte 
vorgelegen,  dals,  da  seil  der  Kinstellung  der  .Arbeit  erst  einige  Tage 
verflossen  waren,  eine  Wiederaufnahme  der  Arbeit  bewirkt  worden 
wäre.  Mit  Rücksicht  auf  die  Kürze  der  zwischen  der  Arbeitsnieder- 
legung und  dciTi  l  enuin  vor  dem  Einigungsamt  verflossenen  Zeit 
würde  der  Arbeitgeber  möglicherweise  wt-nn  ein  \>rgleich  nicht 
zustande  gekommen  wäre  und  wenn  die  Hckla^nen  dem  eventuellen 
Schiedssprüche  auf  alsbaldige  Wiederauihahmc  der  Arbeit  sich  ge- 
fügt hätten,  auf  jede  lüuschädigung  verzichtet  haben,  schlimmsten 
Falls  hätten  aber  die  Beklagten  immer  nur  eine  Entschädigung  üür 
die  wenigen  Tage  zwischen  Einsteilung  der  Arbeit  und  dem  Einigungs- 
amtstermin  zu  entrichten  gehabt 

Statt  dessen  haben  die  Parteien  den  länger  dauernden  und  das 
Vermögen  beider  Teile  mehr  belastenden  Prozessweg  gewählt 

Während  vor  dem  Einigungsamt  der  Streit  in  wenigen  Ta^j^cn 
erledigt  worden  wäre,  ist  Veigleichstermin  auf  die  gegen  einen  I  eil 
der  Arbeiter  Ende  März  eingereichte  Klage  .Anfang  April  und  aut 
die  gegen  die  übrigen  Beklagten  Anfang  April  eingereichte  Klage 


Digitized  by  Google 


176 


Gaetsgebang:  Deutiches  Reich. 


Mitte  April  anberaumt  p^ewesen.  Erster  Kanimertermin  für  beide 
Sachen  hat  am  21.  April  stattp^cfunden  und  hier  konnte  erst  die 
Vereinigung  beider  Sachen  beschlossen  werden.  In  diesem  Kammer- 
termin machten  verschiedene  Beklag^te  geltend,  dafs  Kläger  von 
ihnen  nicht  16,20  Mk.  als  Entschädigung  für  eine  Woche  fordern 
könne,  da  sie  mit  ihren  Akkorden,  wenn  sie  dieselben  vollendet 
hätten,  in  2  resp.  3—5  Tagen  fertig  geworden  wären.  Der  Arbeit- 
geber konnte  sich  nicht  darauf  erklären,  ob  bei  mehreren  Beklagten 
die  Vollendung  ihrer  Akkorde  weniger  als  eine  Woche  gedauert 
haben  würde.  Es  wurde  deshalb  auf  Antrag  der  Parteien  ein  neuer 
Termin  anberaumt,  vor  welchem  Beklagte  eine  Aufstellung  darüber 
einzureichen  hatten,  wie  lange  jeder  von  ihnen  an  seinem  Akkorde 
noch  zu  arbeiten  gehabt  hätte  und  Kläger  sich  auf  diese  Au&tellung 
zu  erklären  hau  Die  Aufstellui^  der  Reklagten  ist  eingegangen, 
die  Gegenerklärung  des  Klägers  steht  noch  aus.  Erkennt  er  im 
nächsten  Termin  die  Aufstellung  der  Rt  klaotcn  nicht  als  richtig  an, 
so  mülstc  bezüglich  eines  jeden  Beklagten,  bei  dem  er  die  von  ihm 
behauptete  Dauer  unter  einer  Woche  bis  zur  Fertigstellung  des 
Akkordes  bestreitet ,  besonderer  Beweis  erhoben  werden.  Die  Be- 
endigung des  Prozesses  erster  Instanz  kann  dadurch  noch  Monate 
hindurch  dauern.  Erwägt  man  .  dafs  vorliegend  den  Parteien  noch 
die  zweite  Instanz  oft'en  steht,  so  kann  für  den  Berufungsfall  die 
endgültige  Entscheidung  nocli  bis  /.um  nächsten  Jahr  sich  verzögern. 

Aber  auch  ein  \'erni(")gerisschacleii  würde  \on  beiden  Parteien 
durch  X'crhandlung  vor  dein  EinigungsaiiU  abgewendet  sein.  Was 
zunächst  die  Arbeiter  anljetrifft,  so  hätten  alle  nur  die  Entschädigung 
für  die  wenigen  läge  \-on  der  Einstellung  bis  zum  Einigungs- 
termin zu  tragen  gehabt.  Im  Prozefswegc  trillt  diejenigen  Beklagten, 
die  eine  Woche  oder  mehr  bis  zur  Eertigsteilung  ihres  .Akkordes 
gebrauclieii  würden,  eine  Entschädigung  von  einer  Woche.  Xicht 
minder  belrittt  auch  den  Kläger  durch  die  X'erhaiuilung  im  Prozefs- 
wege  ein  \'erm(')genssrliaden.  Im  Prozelswege  fordert  er  die  ein- 
wöclientliche  Entschädigung  des  «5  124  b  a.  a.  ( ).  lune  grofse  An- 
zahl der  Beklagten  hat  aber ,  wie  ihre  eigene  .Xulslcllung  crgiebt, 
bis  zur  Eertigsteilung  ihres  .\kkordcs  länger  wie  eine  Woche  zu 
arbeiten  (die  Zahlen  variieren  von  21  — 10  Tagen),  so  dals  Kläger 
immerhin  noch  den  .Schaden  zu  tragen  haben  würde  ,  welcher  ihm 
für  die  über  eine  \\  oche  hinausgehende  .•\rbeit6zeit  erwächst. 

;\ehnlich  lagen  die  X'erhältnisse  für  die  Parteien  im  grofsen 
Berliner  Lithograplienstrike  1096.    Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer 


Digitized  by  Google 


IL  von  Schult,  Zar Rcvidoa  des  dedtsdien Geweibegeridits^ietM  l-j-j 

W  ollten  von  dem  Hinigungsamt  nichts  wissen.  Mehrere  hundert 
Arbeiter  wurden  von  den  Unternehmern  damals  verklagt  und  grölsten- 
teils  zum  Schadensersatz  verurteilt.  Auch  der  Strike  der  Berliner 
Versilberer  zeitigte  gleiche  Resultate.  Hier  riefen  die  Arbeitgeber 
das  £imgungsamt  an,  während  die  Arbeitnehmer  das  Anerbteten  des 
Gewerbegaichts  zur  Vermittlung  ausschlugen.*) 

Sollten  auch  alle  bliese  Strikes  für  das  in  Aussicht  genommene 
Zwangs\  crfahren  vor  dem  Einigungsamt  nicht  sprechen,  so  möchten 
wir  die  Blicke  auf  den  Hamburger  Hafenarbeiterstrike  lenken,  welcher 
schliefslich  zu  einer  „öffentlichen  Kalamität"  geworden  war.  Jastrow, 
welcher  diesen  Strike  ausführlicher  behandelt,  eifert  mit  Fug  gegen 
die  Annahme,  dals  ein  Eingriff  des  Gewerbegerichts  hier  ein  durch- 
aus unberechtigter  gewesen  wäre,  w^ie  man  dies  glauben  zu  machen 
versuchte.  Er  sagt:  Eine  Verkehrssperre  über  den  ersten  Hafen 
Deutschlands  für  eine  private  Angelegenheit  der  Hamburger  Unter- 
nehmer auszugeben,  in  die  niemand  drein  reden  dürfe,  war  eine  zu 
groteske  Leistung,  als  dafs  nicht  gerade  an  diesem  Beispiel  das 
Gegenteil  besonders  hätte  klar  werden  müssen :  dafs  es  zu 
den  Aufgaben  der  öffentlichen  Gewalt  gehört,  bei  grofsen,  verkehrs- 
hindernden  Arbeitsstreitigkeiten  Organe  zu  schaffen,  welche  in  iri^end 
einer  l^orm  wenigstens  Verhandlungen  und  gegenseitiges  Anhören 
crmögliclien.-) 

Den  Verhandlungszwang  halten  wir  für  durchftihrbar  und  ge- 
eigneter ,,/.iitii  Schutze  des  ^gewerblichen  Arbeitsverhältnisses" 
wie  die  am  l.  Juni  er.  dem  Reichstage  zugegangene  sogenannte 
Zuchthausvorlage.  Nur  sollte  man  sich  bei  den  Arbeitgebern, 
welche  gröfsere  Betriebe  besitzen ,  soweit  sie  nicht  b()swillig  sind, 
d«imit  begnügen,  dafs  sie,  ebenso  wie  bei  Prozessen,  sich  durch 
ihre  Angestellten  (Direktoren  u.  s.  w.)  vertreten  lassen.  Hei  den 
Arbeitnehmern  müisten  die  Leiter  der  Strikes  (Mitglieder  der  Strike- 

')  Soaale  Praxis  Nr.  5  vom  3.  November  1898,  Sp.  1 14. 

*)  Jastrov  a.  a.  O.,  S.  384.  Unter  dem  23.  Februar  1899  baben  die  Abge- 
ordneten Heyl  SU  Hermibeim,  Baasennann  and  Gen.  im  Reicbatage  (Nr.  144  der 
Dnekaadien)  einen  Antrag  etngebracbt,  der  miter  Nr.  III  aiisdrttdclidi  verlangt,  dafs 
ein  gesetzlich  gesidiexter  Verbimdlnngszwaiig  eingeführt  werde.  Die  Sociale  Praxis 
vom  18.  Mai  er.  Sp.  910  berichtet,  dafs  di.-  Arbeitskommission  der  französischen 
Dfpnticrtenkammer  während  der  Beratung  des  Antrages  Ferry  (si»-}u-  Soziale  Praxis 
vom  26.  Januar  1899  Sp.  461)  sich  mit  der  J'.inführun^  d<'s  obli};alorischcii  Ki!ii{:unj:;.s- 
versuchcs  einvcrütauden  erklärt  hat  und  demzufolge  in  Kurzem  eiucu  (Je^clzeutwurf 
vorlegen  wird. 

Ardiiv  für  «m.  Gesetigebuog  u.  Statistik  XIV.  1 2 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


178 


Gcsctigtttning:  Deutaehcs  Rdclk 


kommission)  eventuell  für  haftbar  erklärt  werden,  dagegen  wird  es 
kein  Mittel  geben,  die  Parteien  zur  Befolgung  des  Schiedsspruches 
anzuhalten.*)  Jedenfalls  ist  es  unmöglich,  bei  Ausständen  etwa  die 
Arbeiter  zur  Arbeit  in  Gemäfsheit  des  Spruches  des  Einigungsamtes 
zu  zwingen.  Es  giebt  da  nur  ein  moralisches  Gewicht,  welches  von 
den  Leitern  der  Bewegung  und  von  der  Oefifcntlichkeit  auf  die  wider- 
strebenden Arbeiter  ausgeübt  wird.-)  Umgekehrt  wird  auch  der 
Arbeitgeber  bei  einem  gerechten  Schiedsspruch  die  Oeffentlichkeit 
scheuen  iincl  den  Forderungen  des  Spruches  Folge  leisten.  Leider 
haben  wir  auch  Ausnahmen  kennen  gelernt  -  sogar  bei  einem  ge- 
schlossenen \'ergieiche.  Schon  einen  Tag  nach  dem  Schlufs  des 
Vergleiches  in  dem  Ik-rliner  Konfcktionsstrike  erschienen  auf  dem 
Gewerbegericht  Arbeiter,  um  darüber  Klage  zu  fuhren,  dafs  ihre 
Arbeitgeber  die  Ik'stimniungen  des  \'erglciches  nicht  innehielten. 
Wir  möchten  jedoch  das  Gros  der  Arbeitgeber  mit  diesen  Unter- 
nehmern nicht  auf  eine  Stufe  stellen. 

Andere  Arbeiter  erklärten  übrigens  nach  .'Xuflicbung  des  Kon- 
fektionsstrikes  infolge  des  eigenartigen  Gebalirens  einer  Anzahl  von 
Konfektionären  bei  späteren  Ausständen  mehrere  Male,  dafs  sie  das 
Einigungsamt  nicht  anrufen,  da  sie  gegen  die  Arbeitgeber  milstrauisch 
gemacht  seien  durch  die  bösen  Erfahrungen,  welche  die  Konfektions- 
arbeiter mit  ihren  Arbcitgel)ern  gemacht  hätten. 

Zum  Schlufs  dieses  .Abschnitts  haben  wir  noch  zu  bemerken, 
dafs  in  Deutschland  Gewerbegerichte  vorhanden  sind,  welche  eine 
einigungsamtliche  Thätigkeit  nicht  entfalten  dürfen.  Es  sind  dies 
die  fünf  elsals-lothringischen  Gewerbegerichte  und  das  Gewerbe- 


*)  In  London  hat  eine  Versammlung  von  Gewerkvereins-  und  Untcmchmer- 
delegierteu  einen  Antrag,  demzufolge  die  Urteile  der  Schiedsgerichte  gesetzlich  bindend 
sein  sollten,  mit  grofscr  Majorität  abgelehnt.  Soziale  Praxis  Nr.  13  vom  29.  De- 
xenib«r  1898,  Sp.  350  und  351. 

*)  Besflcltch  des  Zimmerentrikcs  in  Bnndeiibiurg  «.  H.  i«t  es  tfbd  empAmden, 
dals  das  Einlgoiigasint  nach  FUlunc  eines  Schiedsspnicbes  nkht  dnieh  das  Gcsels 
bevonmKebtigt  ist  in  der  Venammlnng  der  InleressentieB,  midie  ttber  die  AuMhae 
des  Sdiledsspruches  bescbliefsen  soll,  eine  Darstellung  der  Gründe  des  SchiedsspmAes 
so  geben.  Man  failt  es  flir  praktisch,  wenn  der  Vorsitzende  des  Einigungsamtcs  in 
der  Lage  wäre,  allein  oder  in  Gemrinsrliaft  mit  den  Beisitzern  die  Versammlung  der 
Beteiligten,  in  der  die  Beratung  Uber  den  Schiedsspruch  statttindet,  /u  beruten  und 
zu  leiten  und  wünscht,  bei  einer  etwaigen  Novelle  solle,  um  die  diesbezügliche 
Thätigkeit  des  Vorsitzenden  resp.  des  Einigungsamtes  zu  einer  autoritativen  zu 
maebeni  eine  an&drflckUclie  Bestinnnung  getroffen  werden. 


Digitized  by  Google 


IL  von  Schule,  ZwReviiioii  des  dcaUchcn  GewerbcgcrichUgesettes.  ly^ 

gericht  in  Lübeck.^)  Vielleicht  kann  auf  diesen  Umstand  bei  einer 
Novelle  zum  Gewerbegerichtsgesetz  Rücksicht  genommen  werden. 

n. 

Walirend  der  zweiten  Lesung  des  Gesetzentwurfs  betr.  Ab- 
änderung des  Gewerbegerichtsgesetzes  beantragte  der  Abgeordnete 
Tutzaucr  §  3  dieses  Gesetzes  Ziffer  l  und  2  wie  folgt  abzuändern: 

Die  Gewerbe^^erichte  sind  ohne  Rücksicht  auf  den  Wert  des 
Streitgegenstandes  zuständig  für  Streitigkeiten: 

1.  wegen  der  aus  dem  Arbeitsverhältnis  folgenden  \>ri)flichtungcn 
und  Entschädigungsansprüche,  wegen  Nichterfüllung  derselben 
oder  nicht  gehöriger  Erfüllung,  insbesondere  der  Ansprüche 
über  den  Antritt,  die  Fortsetzung  oder  die  Auflösung  des  Ar- 
beitsverhältnisses, über  die  Aushändigung  oder  den  Inhalt  des 
Arbeitsbuches  oder  Zeugnisses,  sowie  über  die  sonstigen  Lei- 
stungen und  Entschädigungsansprüche  aus  dem  Arbeitsverhältnis, 
über  Zahlung  einer  Konventionalstrafe,  über  Rückgabe 
aus  A  n  1  a  Ts  des  Arbeitsverhältnisses  ü  b  e  r  g  e  b  c  n  e  r 
Zeugnisse,  Bücher,  Legitimationspapierc,  Ur- 
kunden, Gerätschaften,  Kleidungsstücke  oder 
Kaution  u.  d  e  r  g  1.,  sowie  die  Ansprüche  auf  Ent- 
schädigung wegen  verweigerter  oder  verzögerter 
Aushändigung  dieser  Sachen  oder  wegen  Ausstellung 
inhaltlich  unrichtiger  Zeugnisse; 

2.  wegen  vorsätzlicher  Schadenszufügung  in  einer  gegen  die  guten 
Sitten  verst<jlsendcn  Weise,  insbesondere  durch  Aneignung  der 
Arbeitszeugnisse  oder  durch  Verletzung  der  Betriebs-  oder  Ge- 
schäftsgeheimnisse, sowie  wegen  L'eberlassung,  Benutzung  oder 
Räumung  von  Wohnungen,  die  vom  Arbeitgeber  und  Arbeiter 
entgeltlich  oder  unentgeltlich  überlassen  werden,  und  wegen 
Zahlung  des  Mietspreises  oder  Herstellung  von  Reparaturen  für 
diese  W^ohnungen.-; 

*)  Siebe  „Gewcibegerklit**  Nr.  8  vom  6.  Mai  1897  U.  Jahrg.,  Sp.  7B  und  79,  und 

Jsstrow  a.  a.  O.,  S.  385  und  386. 

')  Abinderungsantra^  zu  dem  Antrage  der  Abci-ordnctcn  T r i m  b o rn ,  Dr.  Hitze, 
betr.  die  Gewerbegerichte  Nr.  85  Ziffer  2  df-r  Drucksurhen  —  Nr.  17,  Reichstaj,' 
10.  Lepslaturpcriodc  I.  Session  iHfjS  qq  VII.  Kommission.  lJurch  Ziffer  2  des  Ab- 
iDdcriinj,'iantnines  (vergleiche  da/u  820  des  Bürgerlichen  üeseUbuchcij  will  man 
in  erster  Lioie  die  Bauiicliwiudlcr,  welche  mit  dem  Arbeiter  nicht  direkt  kontrahieren, 
MBdem  eine  llittelspcnon  vorschieben,  dem  Gewerbegericht  onterttellen. 

la* 


Digitized  by  Google 


i8o 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


Leider  liat  die  Koininissioii  liier  ^ar  kein  Hntgegcnkommen 
bewiesen  uiul  unter  Hinweis  auf  Art.  II  des  Entwurfs  den  einiiaiiüs 
erwähnten  Antrag  verworfen.  Die  j^rulsc  Mehrheit  der  Kommission 
konnte  nach  dem  Berichte  sich  nicht  entschlicfsen,  in  der  Kompe- 
tenzerweiterung über  den  Beschlufs  erster  Lesung  hinauszugehen. 
Wenn  man  auch  die  Ansicht  der  Kommission,  dafs  \iele  der  in 
'dem  Antrage  speziell  aufgeführten  Streitfalle  schon  nach  dem  be- 
stehenden Gesetze  der  Rechtsprechung  des  Gewerbegerichts  unter- 
liegen (vgl.  §  3  Zifif.  [  u.  2),  teilen  mufs,  so  können  wir  doch  dem  nicht 
beistimmen,  dais  bereits  durch  den  Inhalt  des  Art  II  des  Entwürfe 
dem  Bedürfnis  der  Praxis  Rechnung  getragen  ist.  Wir  verzeichnen  in 
Berlin  nach  unseren  Verwaltungsberichten  jährlich  300 — 400  Prozesse, 
in  denen  es  steh  allein  um  Gerätschaften,  Kleidungsstücke,  Handwerks» 
zeug  u.  dergl.  handelt  Hinzu  kommen  dann  noch  eine  grofse  An* 
zahl  von  Prozessen,  durch  welche  in  der  Hauptsadie  andere  An- 
Sprüche  verfolgt,  in  Verbindung  damit  aber  auch  das  Handwerkszeug, 
die  Kleidungsstücke  U.S. w.  verlangt  werden.  Wenn  wir  hier  gegen 
unser  Gefühl  dem  Gesetze  gehorchend  abweisen  müssen,  haben  die 
Kläger  uns  oft  verzweifelnd  gefragt,  was  sie  denn  nun  anfangen 
sollten,  da  sie  ohne  Handwerkszeug  u.s.w.  nirgends  Arbeit  erhielten. 
Es  sind  uns  femer  Bescheinigungen  von  Arbei^ebem  vorgelegt 
worden,  in  denen  den  klagenden  Arbeitern  bestätigt  wurde,  dals 
sie,  wenn  sie  im  Besitz  von  Arbeitszeug  u.s.w.  gewesen  wären,  zur 
Arbeit  eingestellt  sein  würden.  So  werden  z.  E  in  der  Schub* 
branche  nur  ganz  ausnahmsweise  den  Arbeitern  die  Gerätschaften 
U.S.W.  geliefert 

Ein  Arbeiter  ohne  Handwerkszeug  u.s.w.  ist  hilflos  und  kann, 
wenn  ihm  nicht  durch  schnelle  Justiz  der  Gewerbegerichte  entgegen- 
gekommen wird,  sehr  leicht  zu  Grunde  gehen.  Will  man,  wie  der 
Bericht  der  MI.  Kommission  bemerkt,  die  Einheitlichkeit  der  Recht- 
sprechung wahren,  so  sollte  man  gerade  die  von  uns  genannten 
Rechtsstreitigkeiten  den  Gewerbegerichten  zur  Entscheidung  über* 
weisen,  denn  dadurch  würde  fortan  vermieden  werden,  dals 
ordentliche  Gerichte  und  Gewerbegerichte,  wie  dies  augenblicklich 
immerhin  geschieht,  über  die  besagten  Forderungen  entscheiden. 
Ks  giebt  Gewerberichter,  wenn  auch  wohl  in  der  Minorität,  welche 
die  Gewerbegerichte  für  zuständig  halten,  über  die  Herausgabe  von 
Handwerkszeug  u.s.w.  zu  befinden.') 

')  ("um.)  iin  <  irwerbcgcricht  vom  2.  März  1S99  und  siebe  dazu  M.  v.  bcbul/ 
in  der  äoziüku  l'raxis  vom  30.  März  1899,  Sp.  717. 


M.  TOB  Sebttli,  Zur  Revision  des  dentielicn  Gewerbegerichtsgesetzes,  igt 


\\\'is  die  Mielsstrciti^kcitcn  der  Arbcitrr  mit  ihrrn  Arbcit^a'bern 
anlangt,  so  lialteii  wir  daran  fest,  ilals  über  derartii^e  I'rozessc 
zwischen  Arbeit<,^ebern  und  Arbeitern  am  bestcri  die  <  iewcrlje- 
gcriclite  zu  urteilen  hatten.  Der  Hericht  der  Kommission  nimmt 
nach  dieser  Richtung  liin  Kenntnis  von  unseren  Ausführungen  in 
dem  Verwahungsbericht  für  189798.  Wir  l)efürrhten  nicht,  dafs 
die  Beisitzer  den  FJechtsbelehrungen  des  \'orsit/enden  ausueiclien 
werden,  so  dals  die  Kinhcithchkeit  der  Rechtspreclunig  getrülit 
würde.  Dem  Kommissionsbericht  gegenüber  sind  wir  deswegen 
der  Ansicht,  dals  es  nichts  schadet,  wenn  auf  dem  in  hVage 
kommenden  Rechtsgebiet  (He  de  Werbegerichte  mit  den  ordentlichen 
Gerichten  in  Konkurrenz  treten. 

Wir  kommen  jetzt  zu  der  Frage,  ob  man  (hc  Handlungs- 
gchülfen  und  Dienstl)olen  der  Jufhkatii)n  der  ( iewerbegcrichte  unter- 
stellen soll.  Beide  Kategorieen  pflegen  fast  tiiglich  das  Berliner 
(jrewerbcgericht  zur  .Anstellung  von  Klagen  in  meist  grofser  Zahl 
aufzusuchen.  Wie  die  in  den  Reichstags\ erhandlungen  genannten 
(  iewerbegcrichte  wirken  auch  wir  tlarauf  hin,  die  Parteien,  wenn  sie 
beitle  erscheinen,  zu  \  ergleichen  untl  wir  können  sagen,  dals  dies  uns 
durchaus  nicht  selten  gelingt.  Nach  Mafsgabe  der  hianspruchnahme 
unseres  Gerichts  durch  Handlungsgchülfen  und  Dienstboten  müssen 
wir  zu  dem  Schlufs  kcnnmen,  dals  gleichfalls  für  diese  Art  von  Ar- 
beitern es  dringend  erforderlirh  erscheint,  eine  schleunige  Justiz,  wie 
die  der  Gevvcrbegerichlc  zu  scIiatTen.  Niiher  auf  diesen  Punkt  einzu- 
gehen erübrigt  sich,  da  man  es  der  Reiclisregierung  ans  Herz  gelegt 
hat,  baldigst  eine  \'orlage  ubei  kautin.iinüsche  Schiedsgerichte:  ein- 
zubringen und  eine  Neigung,  die  llaiuilungsgehülfen  tlcn  (icwerbe- 
gerichten  zuzuweisen,  anscheinend  nicht  besteht.  Man  wird  daher 
wohl  dem  Wunsche  so  vieler  l  ausende  von  Handlungsgehülfen  — 
hoffentlich  baldigst  —  entgegenkommen  und  selbständige  kauf- 
männische Schiedsgerichte  kreiren.  Diese  Gerichte  werden  dann 
am  besten,  besonders  um  den  Kommunen,  welche  dieselbe  einzu- 
richten haben  werden,  Kosten  zu  sparen,  an  die  Gewerbegerichte 
angegliedert  werden.  Dies  entspricht  aufserdem  den  P>wartut)gcn, 
welche  von  der  Mehrheit  der  Mandl ung^ehülfen  gehegt  werden. 

Für  die  IXenstboten  sieht  es  mit  einer  Aenderung  <ler  Recht- 
sprechung über  deren  Angelegenheiten  nicht  so  gut  aus.  Auch  die 
Dienstboten  haben  es  nötig,  dafs  über  ihre  Arbeitsverhältnisse  schleunigst 
entschieden  wird;  dennoch  ist  bei  der  augenblicklichen  .Stimmung 
nicht  zu  erwarten,  dafs  man  hier  auf  Besserung  in  absehbarer  Zeit 


Digitized  by  Google 


I83 


Gctetigebaiig:  Dentsdics  Reidi. 


Bedacht  nehmen  wird.  Das  von  uns  gesammelte  Material  werden 
wir  deswef^en  für  'später  aufbewahren. 

Soweit  die  Landarbeiter  in  Betracht  kommen,  wollen  wir  nur  als 
Kuri(^sität  erwähnen,  dafs  drni  Berliner  ( lewcrbegerichte  Zuschriften 
aus  dem  ^^anzen  deutschen  X^iterlande  zu<^a-hcn ,  in  denen  Land- 
arbeiter um  Beistand  t^ej^cn  Uebcrgrift'e  und  V'ertrags Verletzungen 
ihrer  .Xrbeiti^ciier  ersuchen. 

Xachdcni  wir  bisher  über  die  sachliche  Zuständigkeit  uns  ge- 
äufscrt  haben,  müssen  wir  die  örtliche  Zuständifjkeit  der  Ge- 
werbegerichte ebenfalls  berühren.  Die  ortliche  Zuständigkeit  ist 
durch      25  des  (Tewerl)egerichtsgesetzes  geregelt: 

Zuständig  ist  dasjenige  ( iewerbegericht,  in  dessen  Bezirk 
die  streitige  X'erpflichtung  zu  erfüllen  ist. 

Die  Motive  fS.  17)  begründen  diese  Vorschrift  dahin,  dafs  die 
örtliche  Zuständigkeit  thunlichst  demjenigen  Gewerbegericht  bei- 
gelegt werden  nuisse,  welches  mit  den  für  die  Beurteilung  des 
streitigen  Arbeitsverhältnisses  mafsgcbendcn  örtlichen  Zuständen  am 
meisten  vertraut  ist.  „Weder  der  jeweilige  Wohnort  des  Beklagten« 
noch  der  Ort  der  gewerblichen  Niederlassung  des  Arfoei^bers 
oder  der  regelmälsigen  Arbeitsstelle  des  Arbeiters  bieten  in  dieser 
Hinsicht  unter  allen  Umständen  die  nötige  Gewähr.  Vielmehr 
empfiehlt  es  sich,  ...  den  Gerichtsstand  des  Erfüllungsorts  (§  29 
CP.O.)  entscheiden  zu  lassen.  In  den  weitaus  meisten  Fällen  wird 
dieser  Ort  mit  demjenigen  der  gewerblichen  Niederlassung  des  Ar- 
beitgebers und  der  regelmälsigen  Arbeitsstelle  des  Arbeiters  zu- 
sammen&llen  und  ohne  Prüfung  von  Rechtsfragen  zu  be- 
stimmen sein." 

Diese  Begründung  hat  sich  —  soweit  die  Erfahrungen  des 
Berliner  Gewerb^^richts  reichen  —  nicht  als  durchaus  stichhaltig 
erwiesen  und  demgemäCs  die  im  Gesetze  normierte  örtliche  Zu- 
ständigkeit des  Gewerbegerichts  als  vielfach  nicht  ausreichend  ge- 
zeigt 

Es  mufs  zunächst  im  Gegensatz  zu  der  Annahme  der  Motive 
gesagt  werden,  dafis  oft  schon  der  rechtliche  Begriff  der  „streitigen 
Verpflichtung"  sich  schwer  feststellen  läfst  Wenn  die  Motive  auf 
§  29  CTO.  als  das  Muster  unseres  §  25  verweisen,  so  ist  damit 
diese  Schwier^keit  nicht  gehoben,  sondern  durch  die  mannigfache 
Behandlung,  welche  der  §  29  CPO.  in  Theorie  und  Praxis  fortgesetzt 
gefunden  hat,  erst  recht  in  helles  Licht  gerückt  und  stellenweise 
verschärft   Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  diese  Rechtsfrage  einer  ein- 


Digitized  by  Google 


M.  von  Schulz,  Zur  Revision  des  deutschen  Gewerbcgcrichtägcüetzes.  183 

gehenden  Untersuchung  zu  unterziehen;  es  mag  genügen,  auf  das 
Material  bei  Wihnowsky  &  Lewy,  Kommentar  zur  Civilprozefsoidnung 
IV.  Auflage  S.  S4  ^>  sowie  auf  die  reiche  Judikatur  des  Reichs- 
gerichts zu  verweisen. 

Abgesehen  von  den  juristischen  Bedenken,  welche  dem  §  29 
CP.O.  und  dem  §  35  G.G.G.  ihre  Entstehung  verdanken,  bringt  die 
Prasds  Fälle,  in  denen  sich  ein  Erfüllungsort  der  streitigen  Ver- 
pflichtung und  damit  ein  zustandiges  Grewerbegericht  schlechterdings 
überhaupt  nicht  ermitteln  lalst 

Als  charakteristisches  Beispiel  iuhren  wir  an  den  vor  dem 
Berliner  Gewerbegericht  verhandeken  Rechtsstreit  des  Kellners  eines 
Restaurationswagens  im  Eiaenbahnzuge  (dem  sogenannten  Blitzzuge) 
Berlin — ^Köln  a.  Rhein  gegen  den  Restaurateur,  welcher  als  Pächter 
des  Restaurationswagens  denselben  bewirtschaftete.  Der  Klager  war 
ausdrücklich  ohne  Lohn,  lediglich  mit  Kost  und  unter  Hinweis  auf 
Trinkgelder  engagiert;  er  erfUllte  seine  vertraglichen  Verpflichtungen 
(Bedienung  der  Gäste  u.s.w.)  ausschliefslich  im  Restaurationswagen 
wahrend  der  Fahrt,  irgendwo  zwischen  Berlin  und  Köln;  eben« 
daselbst  nahm  er  die  ihm  zustehende  Beköstigung  und  die  ihm  zu- 
fliegenden Trinkgelder  entgegen.  Es  ist  nun  die  Frage,  wo  das 
Forum  der  Erfüllung  der  streitigen  Verpflichtung  für  die  Klage  des 
Kellners  wegen  angeblich  widerrechtlicher  Entlassung  aus  §§  122, 
124  b  Gewerbeordnung  ist 

Pervers  auch  erscheint  es,  dais  nach  den  Bestimmungen  des 
§  25  des  Greweibegerichtsgesetzes  die  Klage  eines  Berliner  Kellners, 
welcher  in  Berlin  seitens  eines  Berliner  Traiteurs  lediglich  für 
Dienstleistungen  bei  dem  Festessen  zu  Holtenau  gelegentlich  der 
Eröflfnung  des  Kaiser- Wilhelm-Kanab  engagiert  war,  mit  seiner 
Klage  wegen  Nichterfüllung  dieses  Engagementvertrages  vor  das 
Gewerbegericht  zu  Kiel  gehört. 

Die  Normierung  in  der  örtlichen  Zuständigkeit  nach  Mafsgabe 
des  §  25  ist  eben  unzurcicficiul.  Mögen  die  Motive  Recht  haben 
in  ihrer  Annahme,  dafs*  die  Mehrzahl  der  gewerblichen  Rechts» 
streit^eiten  ihr  Forum  ohne  Schwierigkeit  findet,  für  jene 
nicht  unerhebliche  Zahl  von  Prozessen  der  angedeuteten  Art  b^ 
darf  die  Bestimmung  der  örtlichen  Zuständigkeit  einer  Ergänzung 
und  zwar 

a)  hinsichtlich  des  gewöhnlichen  Gerichtsstandes  des  Beklaf^ten, 

b)  hinsichtlich  des  Gewerbebetriebes,  in  welchem  der  klagende 
Arbeiter  beschäftigt  war. 


Digitized  by  Google 


Gatetigebaiif :  Dentielict  Rcidu 


Die  örtliche  Zuständigkeit  wäre  demnach  wie  folgt  zu  regeln: 
„Zuständig  ist  dasjenige  Gewerbegericht,  in  dessen  Bezirk 
die  streitige  W^rpflichtung  zu  erfüllen  ist  (der  jetzige  §  25)» 
oder  der  Beklagte  seinen  ordentlichen  Gerichtsstand  hat 
oder  in  welchem  derjenige  Gewerbehetriel)  seinen  Sitz  hat, 
in  dem  oder  von  dem  aus  der  Arbeiter  beschäftigt 
worden  ist." 

„Unter  diesen  Gerichtsständen  hat  der  Kläger  die  W  ' ') 
Wir  schUeisen  unsere  Erörterungen  über  die  Revision  des  tie- 
werbegerichts^esctzes  mit  einer  kurzen  Betraciitung  dreier  Punkte, 
welche  flir  eine  Novelle  zu  dem  gedachten  Gesetze  von  Wichtigkeit 
sein  dürften :  der  Aufnahme  einer  Bestimmung  über  Prorogation,  der 
Aenderung  der  Berufungsinstanz  und  endlich  der  möglichsten  Be- 
schränkung, wenn  nicht  gar  Beseitigung  der  Innungsschiedsj^'cri(  hte. 

Während  der  Berliner  (iewerl)eaiisstcllung  in  Freptow  wurden 
eine  Menge  von  IVozessen  von  Münchener  Kellnerinnen,  von  Arabern, 
Aegyptcrn  n.  s.  w.  gegen  die  sie  auf  dem  Ausstellungstcrrain  be- 
schäftigenden Arbeitgeber  bei  dem  Berliner  <  leu  erbegerichl  anhängig 
gemacht.  Treptow  besitzt  kein  ( icwcrbcgericht.  Das  Berliner  (ic- 
werbegericht  hat  sich  damals  niangels  Widerspruchs  der  Prozefs- 
gegner  meist  für  zuständig  gehalten.  Das  Berufungsgericht  hat 
unseres  Wissens  die  .Auffassung  der  Unterin.stanz  niemals  gemifs- 
billigt.  Die  Zweifel  über  die  Zulässigkeit  der  prorogatio  fori  er- 
starkten jctloch  im  Richterkollegium  des  Berliner  (Tcwerbegericlits 
und  fülirten  zu  umfangreichen  Referaten  bei  den  Monatskonferenzcn 
der  Gewerberichter. 

Ks  feiilt  hier  der  Raum,  um  den  Inhalt  der  Referate  auch  nur 
annähernd  wieder/ugeljen.  Daher  mag  nur  bemerkt  werden,  dals  der 
eine  Referent,  iti  l'ebcreinstimmung  mit  dem  Reichsgericht^)  zu 
dem  Resultat  kam,  dafs  die  Prorogation  auf  ein  an  sich  unzustän- 
diges Gewerbegericht  überhaupt  unzulässig  ist.  Der  Korreferent 
gelangte  dagegen  zu  tlem  Ergebnis,  dafs  an  da.s  Gewerbegericht 
unbeschränkt  prorogiert  werden  kann,  soweit  seine  sachliche  Zu* 
standigkcit  gegeben  ist  Hierzu  verweisen  wir  auf  das  Gutachten 
-des  verstorbenen  Justizrat  Dr.  v.  WUmowsky,')  welcher  erklärt,  dals 


')  l>it-  Ausiüliruiititti  /um      25  Gewerbgerichts{;csi't/.e>  sind  mit  Erlaubnis  des 
Gewerberichters  Dr.  Leo  einem  Referat  desselben  entnommen. 
*)  Entsch.  Bd.  33  S.  430. 
*)  Unger  o.  a.  O.,  Anmerkong,  S.  335  K. 


Digitized  by  Google 


M.  von  Scholz,  Zur  Revision  des  deoUchen  Gewerbegcrichtsgesetzes.  185 

* 

die  Prorogation  der  Parteien  auf  ein  an  sich  nach  §  25  des  Gewerbe- 
gerichtsgesetzes örtlich  unzuständiges  -Gewerbegericht  an  Stelle  eines 
gesetzlich  nach  §  25  a.  a.  O.  ortlich  zustandigen  Grewerbegerichts 
oder  an  Stelle  eines  gesetzlich  zustandigen  ordentlichen  Gerichts 
ausgeschlossen  ist. 

Die  meisten  Kommentatoren  halten  die  Anrufung  eines  an  sich 
unzuständigen  Gewerbegerichts  an  Stelle  eines  anderen  an  sich  zu- 
standigen Grewerbegerichts  fiir  zulassigf  während  sie  die  Prorogation 
von  einem  ordentlichen  Gericht  auf  ein  Gewerbegericht  för  unzu- 
lässig ^erachten. 

Aus  den  Motiven  des  Gewerbegerichtsgesetzes  und  den  Ver- 
handlungen des  Reichstages  geht  deutlich  hervor,  dafs  keiner  der 
beteiligten  Faktoren  der  Gesetzgebung  an  die  Frage  der  prorogatio 
fori  gedacht  hat. 

Wir  wollen  ein  bereits  oben  eruäliiites  Beispiel  wicilerholen, 
Welches  wir  durch  viele  \erniehreii  könnten;  dasselbe  sollte  den 
Anlafs  geben,  dafs  bei  der  Scliaffung  einer  \o\elle  die  Zulässigkeit 
der  prorogatio  fori  erwogen  und  ausgesprochen  wird.  Jener  Ber- 
liner Kellnci,  welcher  lui  die  I'Ystc  in  Holtenau  \on  einem  Ber- 
liner (jastwirt  engagiert  war,  würde  nach  denjenigen,  welche  eine 
prorogatio  fori  als  unzulässig  \  erwerfen,  niemals  mit  dem  Berliner 
Arbeitgeber  vor  dem  Berliner  Gewerbegericht  Recht  zu  nehmen 
in  der  I-age  sein. 

Wir  wenden  uns  nun  zu  der  Berufung  gegen  die  Urteile  der 

Gewerbegerichte. 

Anfangs  des  Bestehens  des  Berliner  ( iewerbegerichts  war  das- 
selbe infolge  einiger  L'rteile  lieftigen  Angriffen  ausgesetzt.  l-.in- 
führung  der  Berufung  gegen  alle  iTteile  der  Gewerbegei  ichte 
wurde  erstrebt.  Ks  ist  allnitählich  mit  dieser  Forderung  stiller  ge- 
worden, weil  man  eingesehen  h.it,  flafs  in  Anbetracht  <ler  wenigen 
Urteile,  welche  vielleicht  Bedenken  erregen  köiuiten ,  kaum  die 
Schnelligkeit  des  gewerbegerichtlichen  X'erfahrens  |)reis  gegeben 
werden  würde.  ^)    Dagegen  hat  die  Praxis  klar  festgestellt,  dafs  die 


>)  VgL  Jastrov  a.  a.  O.,  S.  356  ff. 

Finirlnr  Berliner  Gewcrberichter  halten  es  für  gflsit^,  wenn  die  Benifang 
g^en  die  Gewerfaegerichttnrteile  überhaupt  abgeschafft  und  daftb-  die  Revision  gegen 
dieselben  eingeführt  würde.  Die  Eutschcidunp  der  Bt-rufungs-  rrsp.  Rcvisionsf&hig« 
kcit  eines  Urteils  bei  offenbarem  Feblspruch  dem  Vorsitxenden  zn  Überlassen,  wie 


uiyiiizied  by  Google 


i86 


G«Mtzgebung :  DeBtidiw  R«ich. 


jetzige  Berufungsinstanz  fUr  gewerbliche  Rectitsstreitigkeitenzu  langsam 
arbeitet  und  oft  sogar  mit  den  einschlagigen  gewerblichen  Verhält- 
nissen wenig  vertraut  ist  Besonders  hervorzuheben  ist  jener  Rechts- 
streit, in  welchem  das  Berliner  Landgericht  sich  bei  der  Beurteilung 
des  Benehmens  eines  Lehrlings  in  Gegensatz  zu  der  Auf&ssung  des 
Berliner  Gewerbegerichts  setzte.^)  Es  handelte  sich  Um  die  Ent- 
lassung des  Lehrlings  wegen  unbotmä(sigen  Verhaltens.  Nach  Inhalt 
des  Lehrvertrages  sollte  er  ,|Sich  jeder  Zeit  anstandig  und  bescheiden 
betragen".  Einmal  hatte  dieser  Lehrling  einem  Gehilfen  einen 
Hammer  weggenommen  und  versteckt  Alsdann  machte  sich  ein 
ferneres  Mal  der  Lehrling  über  die  krummen  Fülse  eines  in  der 
Werkstatt  vorsprechenden  Handwerksgesellen  lustig.  Dieser  drohte 
mit  Beschwerde  beim  Meister,  worauf  der  Lehrling  erwiderte:  er 
werde  ihm  eins  in  die  Fresse  geben.  Das  Gewerbegericlit  erblickte 
in  diesen  beiden  Vorkommnissen  Dummejungenstreichc  des  Lehr- 
lings, wie  sie  in  jeder  Werkstatt  sich  ereignen.  Die  Berufungsin- 
stanz hielt  jedoch  das  Benehmen  des  Lehrlings  für  ein  solches, 
welches  weit  über  sogenannte  Dummejungenstreiche,  wie  sie  in  jeder 

von  einer  Seite  vorgeschlagen  wurdi-,  fand  niclit  allgomeinen  Anklang,  weil  es  zu 
vcrmiiden  ist,  dal's  dem  Vorsitzondrn  Willkür  nadigesagt  werde. 

Bei  dieser  Gelegenheit  mag  auch  angeführt  werden,  dafs  die  Bestimmung  des 
§  41  G.G.G.  als  eine  Gefahr  flUr  die  Rechtaprechtmg  empfnoden  worden  ist  Nadi 
§  41  kann  in  Abweienheit  einer  Partei  ein  recbtskriUUges  Urteil  ceilOlt  werden. 
Tritt  s.  B.  in  einem  Termüi  nor  die  eine  Partei  und  der  van,  ihr  benannte  Zenge 
anf,  so  kann  die  Sadie  einen  ^uix  nnverflLnglichen  Eindndc  machen  nnd  das  Gericht 
snr  Abweisung  oder  zur  Vemrteilnng  des  Gegners  veranlassen.  Obwohl  dieser  in 
der  Lage  gewesen  wSre,  durch  Vorhaltungen  dem  Zeugen  gegenüber  oder  durch 
neue  Behauptungen,  die  er  im  ersten  Termine  noch  nicht  aufstellen  konnte,  eine 
ganz  abweichende  Kntschcidung  hcrbei/uführen,  unterliegt  er,  weil  er  sich  vielleicht 
nur  '  ,  Stunde  verspätet  hat  oder  aus  sonstigen  den  Einspruch  nicht  rechtfertigenden 
Gründon  am  Krscheincn  vcriiindert  war. 

Wir  möchten  endlich  die  Kemedur  eines  ferneren  Fehlers  anheimgeben.  Die 
Bestimmung  des  §  38  Abs.  4  G.G.G.  „gilt  als  snrfid%enommett",  wird  für  recht  un- 
gllicklicfa  gehalten.  Ein  Kliger  erhebt  einen  woUb^rttndcten  Ansprudi,  Bddagter 
erscheint  nicht;  gegen  das  VersiumnisurteU  legt  Bddagter  Binspnch  dn  aus  Chikane 
oder  swecks  Verschleppung.  Im  neuen  Termin  ersdiehit  er  wieder  nidit  Kllffar 
mafs  dennoch  rar  Wahrung  seiner  Rechte  zur  Stelle  sein.  Wenn  nun  lütn  Urteil 
mehr  ergclien  soll,  so  verliert  Kläger  sein  Recht  aus  §  52  Abs.  2  a.  a.  O.  ad 
erleidet  infolge  der  Vorschrift  des  §  38  Abs.  4  und  der  Chikane  des  Gegners  ehMtt 
nicht  zu  ersetzenden  I.ohnverlust. 

')  Soziale  Traxls  vom  3.  Juni  1S95  Sp.  O06  ff.  und  Jastrow  a.  a.  O.  S.  359. 


Digitized  by  Google 


M.  TOft  Schills,  ZarRcTUoii  des  d«atsch«a  Gewerbegerichtieesetses.  187 

Wcfkstatt  vorkommeii,  hinausgeht  Es  wurde  deswegen  die  Ent- 
lassung des  Jungen  ak  zu  Recht  erfe^t  angesehen.  Jastrow  äuTsert 
zu  diesem  Urteil  folgendes:  Woher  die  drei  studierten  Richter  die 
Kenntnisse  haben,  auf  Grund  deren  sie  besser  beurteilen  wollen,  was 
„zu  Dummejungenstreichen,  wie  sie  in  jeder  Werkstatt  vorkommen", 
gehört,  als  die  Handwerksmeister,  die  bei  der  ersten  Entscheidung 
mitwirkten,  ist  nicht  recht  zu  ersehen." 

An  einem  Versuch,  die  Berufungsinstanz  geeigneter  für  Gewerbe- 
gerichtssachen zu  gestalten,  hat  es  nicht  gefehlt.    Bei  den  Verband* 
lungen  über  den  Entwurf  eines  Gresetzes  betreffend  Aenderung  des 
GerichtBveriassungsgesetzes  *)  hat  man  beantragt,  dem  §  71  G.V.G«, 
welcher  von  den  Zivilkammern  der  Landgerichte  als  Berufungs*  und 
Beschwerdegerichten  spricht,  die  folgende  Bestimmung  hinzuzusetzen: 
„Als  Berufungsgerichte  in  den  vor  den  Gewerbef^erichten 
verhandelten  Streitigkeiten  verhandehi  und  entscheiden  die 
Zivilkammern  unter  Zuziehung  zweier  Beisitzer  des  Gewerbe- 
gerichts, eines  Arbeitgebers  und  eines  Arbeiters.  Ausge- 
schlossen sind  diejenigen  Arbeitgeber  und  Arbeiter,  welche 
in  demselben   Rechtsstreite  vor  dem  Gewerbegerichte  als 
Beisitzer  thatit;  i^ewescii  sind." 
Von  der  Rccjierun^sseite  wurde  betont,  dafs  Restinitnungeu  in 
der  Richtung  des  X'orschlagcs  in  das  Gewerbegerichtsgesetz,  nicht 
aber  in  das  Gerichts\  erfas<uii«;sgesetz  gehörten. 

Der  X'orsclilag  fiel  schlielslich  in  zweiter  Lesung.  Augenblicklich 
ist  wiederum  die  Au.ssicht  geboten,  die  Berufungsinstanz  der  Gewerbe- 
gerichte diesen  anzupassen.  Fs  würde  vorteilhaft  sein .  wenn  die 
(ic Werbegerichte  selbst  zuständig  gemacht  würden  als  Berufuns^^s- 
gerichte  und  zwar  in  der  Besetzunji^f  von  5  Mitgliedern  (drei  richter- 
lichen Beamten  und  2  Beisitzern).  Sobald  man  aber  die  Einheitlich- 
keit der  Rechtsprechung  vorzugsweise  im  Auge  hat,  wird  man  sich 
für  nur  eine  Oberinstanz  der  deutschen  Ge Werbegerichte  erwärmen, 
für  ein  Reichsgewerbegericht.  wcU  licm  auch  die  Entscheidungen  der 
Innungsschiedsgerichte  zur  i'rutung  zu  uberweisen  sein  würden.-) 

')  Nr.  240,  kfich'«tag  9.  I.egislaturperiodL-  V.  Session  18979S,  Bt-richl  der 
VI.  Kommission  über  die  Kniwürk-  cin<->  (jeset/es  betr.  AendeniDgen  des  Gerichts- 
▼erfassungsßfsetzes  u.  >».  w.  —  .Nr.  61  der  Drucksachen. 

*)  Ein  Bedürfnis  zu  einer  !>olchen  Einhcillichkeit  der  Kcchti>prechung  liegt  auch 
in  Frmnkreicb  vor  bei  den  Conseils  des  Pnid'hommes.  Nr.  12  der  Socialen  Fruit 
Tocn  22  Deiembcr  1898,  Sp.  326. 


Digitized  by  Google 


i88 


GcMtigcbaag:  Deotsehcs  Rddi. 


Wenn  die  Kosten  zur  Unterhaltung  eines  solchen  Gerichts  nicht 
gescheut  werden ,  würde  dasselbe  als  zweite  Instanz  viel  schneller 
und  sach^'cniäfser  wie  zur  Zeit  die  Landgerichte  entscheiden. 

W  as  endlich  die  Innungsschicdsgcrichte  anseht,  so  ist  über  die 
T  .an<isamkeit '  >  des  Verfahrens  derselben  —  um  von  anderen  Nach- 
teilen,  die  sie  brin}:(en,  zu  schwcij^en  —  schon  so  viel  «^esrhricbcn 
wortlen,  dals  wir  uns  mit  dem  Abgeordneten  Singer  beL,aui.;en 
können  auf  folgende  Ausführung  des  Gewerbegerichtsvorsitzendcn 
zu  Weimar  in  dem  Berichte  desselben  zu  \erweisen: 

„bs  mufs  als  ein  {lurchaus  wider.sj)ruclis\  ulk  s  Wrfahren 
bezeichnet  werden,  wenn  die  (icsctzgebung  einerseits  dem 
( rt'werbestand  in  den  Gewerbegerichten  eine  schnelle  l)illige, 
volkstümliche,  tlabei  aber  auch  durch  die  X'orschriften  der 
Zi\  ili)r()zefsordnung  streng  geregelte  Rechtspflege  gewähl  t, 
andrerseits  aber  diese   Rechtsptlegc   für  alle  in  Innungen 
vereinigten  Gewerbetreibenden  einschlielslich  deren  Arbeiter 
wieder  in  hVage  stellt.    Insbesondere  wird  die  bestimmung, 
dals  jede  Entscheidung  tler  Iiiming  unil  der  liuiungsschieds- 
gerichte  der  Anfechtung  durch  Klageerhebung  bei  den  ordent- 
lichen Gerichten  unterliegt,  lähmend  auf  die  richterliche 
Thätigkeit  der  Innungsschiedsgerichte  einwirken.  Neben- 
bei bemerkt  enthält  diese  Anreizung  zur  Verschleppung  eine 
gro(se  Benachteiligung  der  klagenden  Arbeiter." 
Die  Gewerbegerichte  laufen  überdies  Ge&hr,  dafs  ihnen  die 
Zuständigkeit  über  die  Streitigkeiten  der  Kleingewerbetreibenden 
durch  die  Zv^ngsinnungen  fast  gänzlich  entzogen  und  ihre  Kompe* 
tenz  auf  Arbeiter  und  Arbeitgeber  in  Cabrilonässigen  Betrieben  be- 
schränkt werden  wird.  Wir  werden  versuchen,  dies  an  den  Berliner 
Innungsverhältnissen  zu  erlautem. 

Dem  hiesigen  Innungsausschuls  gehören  45  Innungen  an.^  24 

')  Wir  wollen  nicht  verfehlen,  hervorzuheben,  dafs  eine  gleiche  Langsamkeit 
des  Verfahrens  die  Gewerbeperichte,  welche  die  ordentlichen  (ierichtc  um  V'emeh- 
mungt-n  orsuch<n  niiissin,  gleichfalls  leicht  überkommen  kann  —  besonders  wenn 
die  c)rd>  ritUclirn  (ierichte  sich  in  den  Ferien  befinden.  Siebe  darüber  Jastrow 
a.  a.  O.,  S.  353  fl. 

*)  Nach  dem  Vcnraltmigsbeiiciht  des  Berliner  Magistrate  für  1897/98  bestanden 
am  ScMafs  des  Bericbtsjahres  67  Innungen  in  Berlin. 

Ein  Abgeordnete  sprach  in  der  Reicbstagasitenng  vom  25.  Januar  er.  (S.  433BI 
seine  Verwunderang  aus«  dafs  die  Arbeiter  die  Innnngnchicdsgerichte  so  abflÜIig 
benrteilen.    Wir  verweisen  znr  Anfkllrong  auf  die  an  den  Reichstag  gerichtete 


Digitized  by  Google 


M.  Ton  Schalt,  Zar  Revision  des  deutschen  Gewerbegerichtsgetetxet. 

dieser  Innungen  haben  Anträge  auf  Zwangsinnungsbildung  gestellt. 
Genehmigt  sind  bisher  die  Anträge  der  Innungen  der  Drechsler, 
Korbmacher,  Maler,  Posamentierer  und  Seidenknopfmacher,  Sattler, 
Riemer  und  Täschner,  Schneider,  Schornsteinfeger  und  endlich  der 
Stell-  und  Radmacber.  Abgelehnt  sind  die  Anträge  von  9  Innungen. 
Es  haben  sich  jedoch  dem  Vernehmen  nach  4  der  Innungen  über 
den  ablehnenden  Bescheid  beschwert.  Noch  kein  Bescheid  ist  nach 
unseren  Ermittlungen  erteilt  den  Innungen  der  Damenmantel* 
Schneider,  Glaser,  Kupferschmiede,  Schmiede,  Steinsetzer,  Töpfer  und 
Zeugschmiede ;  die  Anordnung  der  Zwangsinnung  soll  aber  dem  Ver- 
nehmen  nach  sicher  erfolgen  bei  den  Schmieden  und  Steinsetzern.^) 

Man  hat  uns  auch  mitgeteilt,  dafs  der  Zahl  nach  von  den  bereits 
genehnoigten  Zwangsinnungen  im  Vergleich  mit  den  alten  freien 
Innui^en  einen  wesentlichen  Zuwachs  an  Mitgliedern  erhalten  die 
Zwangsinnungen  der  Maler  (von  bisher  rund  500  auf  7 — 800,  nach 
Schätzuni^  des  Ortskrankenkassenvorstandes  auf  bis  1000  Personen). 
Bei  den  Schneidern  kommt  das  Gcwerbc^cricht  noch  schlechter 
W^.  Hier  steigt  die  Mitgliederzahl  von  bisher  annähernd  1400  auf 
6000  und  darüber,  da  auch  die  weiblichen  Gewerbetreibenden  der 
Zwangsinnung  angehören.  Eine  beträchtliche  Anzahl  der  dem  Ge* 
Werbegericht  unterstehenden  Gewerbetreibenden  geht  demselben 
alsdann  ebenfalls  verloren,  wenn  noch  andere  Gewerbe  besonders 
das  Damenmäntelschneidergewerbe  —  wie  wahrscheinlich  —  in 
Zwangsinnungen  zusammengefügt  werden. 

Die  angegebenen  Zahlen  beruhen  freilich  auf  Schätzungen,  welche 
zwar  unsicher,  aber  annähernd  riclitii,^  sein  werden. 

Jedenfalls  niufs  man  nach  den  uns  bekannt  ^^cniachten  Thatsachen 
die  Besorgnis  haben,  dais  die  Konstituierung  zahlreicher  Innungsschieds- 
gericlite  die  Gewerbegerirhte  zu  bedeutungslosen  Fabrikengerichten 
herabdrücken  wird.  Es  bleibt  allein  die  Hoffnung,  dafs  der  preulsische 

Petition  der  Hcrliii'  r  ArbeMtgebcr-  und  ArluMiii<'hiniTb--i>it/  r  hi-tr.  die  Abänderung 
der  Bestimmuugeu  über  die  Inuung^schicdägcrichtc  in  dem  Lulwurk  einer  Novelle 
sar  GcweriMordnnng,  Berlin  den  11.  Juni  1897. 

Die  Abneigung  der  Arbeiter  sn  den  LDnungsschiedsgeriditen  trat  nach  dem 
Vcnraltmgsbericht  des  Magiitrats  sa  Berlin  fftr  1897/98  dadurch  su  Tage,  dab  von 
den  mm  Innnngaaiisschnfs  gehörigen  Inmmgen  9  keinen  GesellenMnachnfs  besafsen. 
Bei  7  iBBniifen  wurden  die  Mitgtieder  des  Gesellenausscbusses  vom  Innungsvorstaad 
eiaaant  Die  Gesellenscbaft  hatte  somit  die  Wahl  eines  Ausschusses  bei  16  Innungen 
venreigert. 

*)  Innriachen  ist  die  Zwangsinnung  der  Steiu^eUer  angeordnet  worden. 


L^iyiii^uü  Uy  Google 


I90 


G««ctBfdMing:  Oeaticlics  Reich. 


Handelsminister  seiner  Zusage  im  Reichstaj^e  entsprechend,  Innungs- 
schiedsgerichten, deren  Rirrichtung  ein  bestehendes  Gevverbegericht 
beeinträchtigen  würde,  die  gesetzhch  erforderliche  Genehmigung 
versagen  werde.  Denn  leider  ist  nicht  zu  erwarten ,  dafs  der  Ab- 
änderungsantrag ,  welcher  bei  den  Verhandlungen  der  V'II.  Kom- 
mission gestellt,  aber  abgelehnt  wurde,  nachträglich  vom  Reichstage 
angenommen  werden  wird.    Dieser  Antrag  lautet : 

In  §  13  des  ( iewerbcgerichtsgesetzes  den  Absatz  3  zu 
streichen  und  dafür  zu  setzen: 

„In  (ienicinden,  fiir  welche  ein  Gewerbegericht  besteht, 
dürfen  Innungsschiedsgerichtc  in  Gemäfsheit  des  §  97  e,  lOO  d 
der  Gewerbeordnung  nicht  errichtet  werden.    Besteht  ein 
Innungsschiedsgericht,  so  ist  dasselbe,  wenn  ein  Gewerbe- 
gericht errichtet  wird,  au&uheben." 
Wenn  die  Retchsr^erung  der  Schafiang  einer  Novelle  geneigt 
sein  wird,  so  steht  zu  erwarten,  dafe  vorlier  die  Interesrnten:  Ge- 
werbq[erichte,  Arbeitgeber  und  nidit  am  wenigsten  die  Arbeiter 
gehört  werden.   Wur  meinen,  dafs  alsdann  ein  Gesetzeswerk  zu- 
stande kommen  wird,  welches  den  Beifell  aller  Parteien  finden  mufs 
und  berufen  ist,  der  Förderung  des  sozialen  Friedens  zu  dienen. 

*)  Von  besonderer  Bedeutung  ist  übrigens  die  Ausdehnung  des  Innungsschieds- 
gerichts auf  die  „Arbeiter".  Die  Wahlen  der  Gesellenbcisitzer  fanden  bisher  durch 
die  Gcscll(^nau<.schüsse  statt.  Hi<T  waren  also  Organe  vorhanden.  Die  Arbeiter 
liaben  aber  keine  Vertretung  oder  Körperschaft  in  ilcii  Innungen.  Es  wird  also  ent- 
weder für  sie  allt  in  oder  für  Gesellen  und  Arbeiter  zusammen  ein  neuer  W  ahlmodus 
gefondeu  werden  müssen.  Dies  wird  bei  grofsen  Itmungen,  wie  derjenigen  der 
Schneider,  nicht  fo  leicht  tein. 


üiyiiized  by  Google 


Die  Novelle  zur  Gewerbeordnung. 

(Dem  Deutschen  Reichstag^  vorgelegt  am  3.  März  1899.) 

Eingeleitet  von 

HERMANN  MOLKENBUHR, 
Mitglied  des  Rficbrtay. 

Die  Novellen  zur  Geu  cibtui dnuii^'  j^chören  /um  ständigen  In- 
ventar der  deutschen  (iesct/.i;i'hung.  Der  ununterbrochene  Knt- 
wickiungsprozefs  des  wirtsciialtlichen  Lebens  zeitigt  täglich  neue 
Eischeinungen,  die  bald  als  grofser  KuJturfortschritt  gefeiert,  bald 
ab  grofser  Uebelstand  empfunden  werden.  Aufgabe  der  Gesetz- 
gebung wäre  CS,  hervorbrechende  Schäden  im  Keime  zu  er- 
sticlwn.  Da  die  Organe  des  Reiches  dem  praktischen  Leben  ziem- 
üdt  fem  stehen, '  werden  die  Mi(sstande  eist  dann  erkanirt,  wenn 
unsäglicher  Schaden  angerichtet  ist  und  dann  auch  scheut  man  vor 
energischen  Ma&nahmen  surück,  weil  die  Unternehmer  in  den  geringsten 
gesetzlichen  Eingriffen  eine  Gefahrdung  ihrer  Existenz  erblicken. 

Die  Anwendung  des  §  t2oe  auf  das  Backergewerbe  hat  einen 
solchen  Sturm  unter  den  Innungsmeistem  hervorgerufen,  dals  man 
in  den  leitenden  Kreisen  zu  der  Ansicht  kam,  wenn  man  auch  die 
iwstehenden  Schutzbestimmungen  nicht  wieder  aufheben  könne, 
mindestens  innegehalten  werden  müsse,  mit  dem  Erlafs  weiterer 
Schutzbestimmungen.  Unstreitig  war  es  bitterer  Emst,  als 
Graf  Posadowslgr  in  seiner  ersten  sozialpolitischen  Rede,  die  er 
als  Staatssekretär  des  Reichsamts  des  Innern  am  13.  Dezember 
1897  hielt,  sagte:  ,>Ieine  Herren,  wir  werden  uns  aber  weder  durch 
die  Agitationen  der  Sozialdemokratie,  noch  durch  die  Lehrmeinungen 
ihrer  bewulsten  oder  unbewulsten  Mitläufer  in  mifiibräuchlicher 
Ausdehnung  des  Staatsbegriffes  dazu  bewegen  lassen,  alte  Erwerbs- 
zweige polizeilich  zu  reglementieren,  um  schlielslich  einen  sozia- 


Digitized  by  Google 


192 


GcMUgebaag:  Deutsches  Reich. 


listischcn  Polizeistaat  hcrbcizufülircn,  in  dem  sich  die  Arbeiter  nicht 
wohlcr  befinden  dürften  als  bisher,  in  dem  aber  die  besitzenden 
Klassen  sich  zu  bewulstcn  Gef^fnern  des  Staates  herausbilden 
würden."  In  dieser  Rede  entwickelte  der  Staatssekretär  ein  Pro- 
gramm, welches  von  allen  Gegnern  des  Arbeiterschutzes  mit  Jubel 
begrüfst  wurde.  Nun  hatte  Graf  Posadowsky  aber  bei  seinem  Amts- 
antritt eine  Erbschaft  übernommen,  che  sich  durch  keine  Reden  aus 
der  Welt  schaffen  liefs.  Durch  die  Erhebungen  der  Koniniission 
für  Arbeiterstatistik  war  festj^fcsteiit,  dafs  in  I.adcnr^eschäften  sowie 
itn  Müllereigewerbe  so  lange  Arbeitszeiten  üblich  sind,  dafs  durch 
dieselben  die  (lesundheit  der  Arbeiter  aufs  schwerste  gefährdet 
wird.  P'erner  waren  durch  den  Strike  der  Koiifektionsarbeiter  im 
Jahre  1896  so  viele  Mifsstände  ans  Tageslicht  gezogen,  die  durch 
die  Untersuchungen  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  bestätigt 
wurden,  dafs  es  einfach  unmöglich  war,  diese  Dinge  zu  ignorieren. 
Graf  Posadowskys  Abneigung  gegen  das  polizeiliche  Reglementieren 
bekam  auch  noch  von  einer  anderen  Seite  einen  Stöfs.  Im  April 
1898  wurde  die  bekannte  I.eutenotinterpellation  des  Herrn  S/.mula 
zum  ersten  Male  im  preuisischen  Landtage  verhandelt.  Die  schrift- 
lich erteilte  Antwort  des  Gesamtministeriums  hatte  in  ihrem 
achten  Punkte  folgenden  W  ortlaut:  ,,Dic  körügliche  Staatsregierung 
wird  beim  Bundesrat  beantragen,  dafs  dem  nächsten  Reichstage  ein 
Gesetzentwurf  \orgelegt  wird,  durch  welchen  das  Gewerbe  der  Ge- 
sindevermietcr  und  Stcllenvermittler  konzes>,ionspflichtig  gemacht 
wird."  Die  Konzessionsptlicht  fällt  unstreitig  in  das  Gebiet  des 
polizeilichen  Reglementierens,  da  aber  hierdurch  die  besitzenden 
Klassen  sicii  nicht  zu  bewufsten  Ciegnern  des  Staates  herausbilden, 
so  konnte  tlieser  Schritt  ohne  (icfahr  gemacht  werden.  Würde 
die  KonzcssionspHicht  der  ( ic^iiuiex  crinieter  als  einziger  Artikel 
eingel)r.icht  sein,  dann  hätte  die  Debatte  über  tlie  Novelle  von 
vornherein  eine  Richtung  genoimnen,  die  schwerlich  im  Reichstage 
zu  einem  befriedigenden  Abschlufs  geführt  hätte. 

Nun  wurde  ein  ganzes  Bündel  verschiedener  hVagen  zusammen- 
gesucht, um  jedem  etwas  zu  bieten.  Der  Artikel  I  soll  die  Unter- 
nehmer vor  Querulanten  uikI  unredlichen  Sacln  erstäiuligen  schützen. 
Artikel  II  giebt  §  23  der  Gewerbeordnung  eine  im  Interesse  der 
Kommunen  nötige  klarere  Fassung.  Im  .\rtikel  III  werden  die 
Wünsche  der  ostelbischen  Agrarier  mit  einigen  anderen  Sachen 
vermengt.  Artikel  IV  soll  ein  Bedürfnis  der  Aktien-  und  Handels- 
gesellschaften befriedigen,  Artikel  V  soll  die  selshaften  Bandagisten 


Digitized  by  Google 


Hermann  Molkenbabr,  Die  Novdle  nur  Gewerbeordnung. 


vor  der  Konkurrenz  der  Hausierer  schützen,  während  die  Artikel 
VI  bis  Vm  dem  Arbeiterschutz  gewidmet  sind. 

Die  Vorsicht  der  Rcichsregierung,  zu  \'crhüten,  dais  die  be- 
sitzenden Klassen  zu  bewufstcn  (icgnern  des  Staates  werden,  wird 
dazu  beigetragen  liabcn.  dafs  in  den  Artikeln  eins,  zwei  und  vier 
das  Richtige  getroffen  ist.  §  19  der  Gewerbeordnung  soll  das 
Publikum  vor  Schaden  und  Belästigungen  durch  gewerbliche  An- 
lagen scliützen.  Diese  Bestimmungen  können  aber  von  Queru- 
lanten und  Feinden  der  l'ntcrnehmer  in  böswilliger  W^eise  aus- 
genutzt werden.  Der  Schutz  des  Publikums  soll  in  demselben 
Umfai)}^  eriialten  bleiben,  wie  er  jetzt  besteht.  Nur  soll  dem 
Unternehmer  das  Recht  eingeräumt  werden,  auf  seine  Gefahr  mit 
der  Anlage  von  Bauten  beginnen  zu  können,  bevor  ein  etwaiger 
Einspruch  durch  alle  Instanzen  entschieden  ist.  Von  diesem  Recht 
wird  wohl  nur  dann  (iebrauch  gemacht  werden,  wenn  der  ünter- 
nehrjier  sicher  ist,  dafs  er  aus  einem  .Streitverfahren  als  Sieger 
hervorgeht.  Gleiclifalls  ist  es  nur  zu  billigen,  wenn  die  bei  einem 
Streitverfahren  über  Anlagen  von  Unternehmungen  hinzugezogenen 
Sachverständigen  ebenso  zur  Bewahrung  des  ( lesehäftsgehrimnisses 
verpflichtet  werden,  wie  die  Personen,  welche  zur  Ucbcrwachung 
der  Unfallverhütung  oder  zur  Untersuchung  von  Uniallen  in  Betriebe 
kommen. 

Die  Zusarnnienziehung  der  Schlächterei  in  öffentliche  -Schlacht- 
häuser ist  unstreitig  im  Interesse  des  I*ublikums  geboten.  Nicht 
nur,  weil  die  Nachbarn  von  Schlächtereien  durch  den  Geruch  und 
den  Lärm  belästigt  werden,  sondern  hauiitsächlich ,  weil  das 
Schlachten  in  öffentlichen  Schlachthäusern  einen  gewissen  Schutz 
gegen  das  Schlachten  und  X'crkaufen  von  krankem  Vieh  bietet. 
Wenn  nun  nach  flcm  Wortlaut  des  >;  23  der  ( iewerbeurdnuni;  das 
Verbot  der  Privatschläehtereien  nur  dann  erlassen  werden  konnte, 
wenn  in  dem  Orte  ein  öffentliches  Scidachthaus  ist,  so  ist  es  nur 
zu  billigen,  wenn  dieses  Verbot  auch  erlassen  werden  kann,  wenn 
für  den  Ort  ein  Schlachthaus  besteht,  mag  es  auch  auf  einem 
Grund.-tück  lie^a-n,  welches  zu  einer  anderen  Ortschaft  gehört. 

.\riikel  I\"  will  neben  beeidi'^'^ten  M.iklern,  Feldmessern  u.  s.  w. 
auch  beeidi-^te  Hüchcrre\  isoren  >chalTen. 

Ktwas  bunter  ist  Artikel  III.  Es  ist  möfTljch,  dals  sjrh  bei  der 
gewerl>->maisigen  rfandvirniitlelung  uiid  den  Rückkauf>;^r,.scliärten 
l  ebel>tände  heraus-ehildi  t  haben,  die  man  durch  die  Bestiniinuiv^^en 
für  I'landleiiigeschäfte  zu  beseitigen  hoft't.     Ks  sind  verwandle  (le- 

Archiv  für  sox.  GeseUgeliuni;  u.  Siatislik.  XIV.  13  . 


194 


GeMtigebanc:  Deuticlics  Riddu 


Schäfte  und  deshalb  können  für  dieselben  bestehende  Vorschriften 
glcichmäfsi^  angewandt  werden.  Nun  wird  in  demselben  Artikel 
ein  wichtiges  (Tcbict  des  sozialen  Lebens,  die  Arbeitsvcnnittluni; 
mit  hineingcruiirt.  in  der  Arbeits-  und  Stellenvermittlung  bestehen 
schwere  Milsstände.  Das  wäre  ein  (iebiet,  wo  die  Sozialgesetz- 
gebung Grolses  Kisten  krmnte.  Wir  hätten  gewiitischt,  wenn  hier- 
bei die  Abneigung  tlo  Staatssekretärs  Pdsadnwsky  gege  n  jx  »hzcihrhes 
Reglementieren  schiirfcr  hervorgetreten  untl  an  Stelle  des  1  Icil- 
mittels  ..Konzessioim  rung"  rine  positive  ( )rganisation  getreten  wäre. 
Den  Stellenvermittlern  und  ( resitidevermietern  winl  in  den  Motiv  en 
ein  rerlit  umfangreiches  Sijntlenregister  vorgehalten.  Da  tragt  man 
sich  unwillkürlich:  wenn  den  Behörden  alle  diese  Sünden  bekannt 
siutl,  weshalli  haben  sie  denn  so  wenig  \on  dem  F^echt  (Gebrauch 
gemacht,  welches  der  35  der  Gewerbeordnung  giebt,  und  dea 
unzuverlässigen  Leuten  den  Betrieb  des  (iewerbes  nicht  untersagt? 

Die  Motive  teilen  mit,  dals  unter  52 16  gewerbsinälsigen  Stcllen- 
vermitllern  Ö32  waren,  welche  wegen  Vergehen  oder  Verbrechen 
vorbestraft  sind.  Lnter  30  Theateragentcn  befanden  sich  7,  welche 
10  Mal  vorbestraft  sind,  und  unter  350,  die  für  (iast-  und  5>chank- 
wirtschaftsj)ersonal  Sü  llen  \crmittelt,  befanden  sich  73  X'orbestrafte^ 

Unter  den  aufgezählten  .Süntlen  der  Stellenvermittler  und  (xe* 
Sindevermieter  werden  u.  a,  aufgeführt,  dals  sie  den  I  lerrschaften 
unzuverläs-sige  Leute  empfehlen,  dafs  sie  Kuppelei  treiben,  uiu  er- 
hältnismäfsig  hohe  Gebühren  nehmen  und  die  Stellensuchenden  oft 
in  unverschämter  Weise  ausbeuten,  dafs  sie  Gesinde  vermieten, 
welches  kdnen  rechtsgültigen  Kündigungs-  oder  Entlassungsschein 
vorlegt  Wie  ein  solcher  „rechtsgültiger  Kündigungs»  oder  Entlas* 
sungsschein"  aussieht  und  wer  ihn  ausstellen  mufs,  darüber  schweigen 
die  Motive.  Die  Motive  teilen  auch  nicht  mit,  ob  diese  Sünden 
nur  oder  hauptsachlich  von  den  Bestraften  begangen  werden,  oder 
ob  auch  die  Unbescholtenen  in  gleichem  Verhältnis  daran  beteiligt 
sind.  Femer  wird  nicht  einmal  angedeutet,  wie  und  wodurch  die 
Konzessionierung  die  Uebelstande  beseitigen  soll.  In  der  Fest- 
setzung der  Taxen  bleibt  auch  der  konzessionierte  Vermittler  unbe- 
schrankt  Es  ist  eine  alte  durch  Erfahrung  bestätigte  Erscheinung^ 
dafe  das  Publikum  nicht  billiger  wegkommt  t>ei  einem  konzessio- 
nierten  als  bei  einem  freien  Geschäft.  Bei  der  Debatte  über  die 
Vorlage  wurde  die  Befiirchtung  aussprechen,  dafe  die  Konzessio- 
nierung dazu  führen  könne,  gemeinnützige  Einrichtungen,  wie  die 
Arbeitsnachweise  der  Gewerkschaften  und  der  Fachvereine  zu  hin- 


Digitized  by  Google 


Hermann  Molkcabuhr,  Die  Novelle  zur  ücwcrbcurdnung.  [ 


dcrn.  Da  grolse  Gewerkschaften  oft  einen  angestellten  und  besol- 
deten Geschäftsführer  im  Arbeitsnachweisbureau  h^>en,  kann  man 
dessen  Tbätigkeit  als  gewerbsmäfsige  Stellenvermittlung  auf« 
fassen  und  von  einer  Konzesston  abhangig  machen.  Vereine  können 
aber  die  Konzession  nicht  erwerben  und  deshalb  liegt  die  Gefahr 
nahe^  dals  die  Uebelstände  nicht  allein  nicht  beseitigt,  sondern  noch 
verschärft  werden.  In  der  Kommission  wurde  aber  von  Vertretern 
der  verbündeten  Regierungen  die  Erklärung  abgegeben,  daCs  solche 
Arbeitsnachweise  niemals  als  gewerbsmaüstge  Stellenvermittlung  im 
Sinne  dieser  Bestimmung  angesehen  werden.  Ob  die  Gerichte  sich 
durch  diese  Erklärung  gebunden  erachten  und  die  Rechtsprechung 
danach  einrichten,  mufs  at^ewartet  werden.  In  der  Kommission 
wurde  noch  eingeschaltet,  dafs  den  Gesindevermietem  und  Stellenr 
vermittlem  die  Ausübung  des  Gewerbes  im  Umherziehen  sowie 
der  Betrieb  einer  Grast*  und  Schankwirtschaft  beschränkt  oder  unter» 
sagt  werden  kann. 

£s  ist  möglich,  dafs  durch  diese  Beschrankungen  dem  Menschen- 
handel aus  dem  Osten  einige  Schranken  gesetzt  werden.  I  licrdurch 
werden  aber  in  erster  Linie  die  Grundbesitzer  profitieren.  Die 
schweren  Schäden,  wodurch  hauptsächlich  die  Stellensuchenden 
geschädigt  werden,  bleiben  unberührt.  Nicht  in  der  Person  der 
Stellenvermittlcr.  sondern  in  dem  Fehlen  vernünftiger  Organisationen 
ist  das  Uebel  be<^'ründct.  Kine  «geringe  Sicherheit  gegen  Uebervor« 
teilung  wird  den  Stcliensuchenden  durch  den  §  75  a  j^eboten,  welcher 
vorschreibt,  dafs  die  Stellenvermittlcr  Taxen  aufzustellen  haben,  die 
der  Ortspolizeibehörde  einzureichen  sind  und  in  dem  Geschäftslokal 
an  in  die  Augen  fallender  Stelle  angeschlagen  werden  müssen. 
Ferner  sollen  die  Stellenvermittlcr  verpflichtet  werden,  dem  Stclien- 
suchenden vor  Al)schlufs  des  X^ermittlungs^cschäfts  die  für  ihn  zur 
Anwendung  kommende  Taxe  mitzuteilen.  Durch  diese  Vorschrift 
wird  die  l  Cherxorteilung  unerlalircncr  leichtsinni;^er  Leute  eini^e- 
schränkt  wenlen.  Wenn  auch  nicht  verkannt  werden  d.irl,  dals  ein 
Teil  der  l'ebelslände  in  der  Lnerfalireiiheit  und  dem  Lc  irlit-^inn 
der  Stellensuchenden  l)e<^^ründet  ist;  so  sind  die  hierdurch  ^etr« »tinien 
Fälle  doch  die  .-Xusnaluiie.  Schauspieler  und  Säntjer,  welche  sich 
durch  l'nterzeichnun^  eines  Reverses  auf  Jahre  hinaus  an  einen 
Agenten  binden,  handeln  weder  aus  rnerfahrenheit  noch  aus  Leiclit- 
sinn.  Die  hohen  .-X^cnturhonorare  sind  ein  L' ebelstand,  der  weder 
durch  die  KonzcssionierunL,'  des  .\f:,'cnten,  noch  durch  die  polizei- 
lich abgestempelte  Taxe  beseitigt  wird. 

13»  ' 


Digitized  by  Google 


196 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


Aehnlich  verhalt  es  sich  mit  der  Stellenvermittlung  im  Gast- 
und  Schankwirtschaftsgewerbe.  Bei  den  Erhebungen  der  Kommis- 
sion iur  Arbeiterstatistik  waren  Wirte  und  Kellner  einig  in  der  Ver^ 
iirteilung  des  Kellnervermittlungswesens.  Hier  tritt  der  umgekehrte 
Uebelstaiid  ein,  den  die  Landwirte  aus  dem  Osten  beklagen.  Dort 
vermieten  die  Gesindevermieter  Gesinde,  welches  noch  in  Stellung 
ist  und  nicht  gekündigt  hat  Im  Gastwirtagewerbe  besetzen  die 
Stellenvermittler  Stellen,  die  noch  besetzt  sind  und  wo  der  Kellner 
oder  die  Kellnerin  gar  nicht  daran  denkt,  diiBselbe  au&ugeben.  Oft 
ist  der  Stellenvermittler  ein  guter  Gast  und  aus  reiner  Grcschäfts- 
freundschaft  wechselt  der  Wirt  sein  Personal,  weil  ihm  der  Wechsel 
kein  Geld  kostet  In  anderen  Fällen  kommt  der  Vermittler  in  die 
Wirtschaft  und  gerat  mit  dem  Kellner  in  Streit,  der,  da  der  Ver- 
mittler ein  guter  Gast  ist,  zu  Ungunsten  des  Kellners  entschieden 
wird.  Dem  Kellner  sind  die  Praktiken  der  Vermittler  bekannt,  er 
weifs  auch,  daTs  er  unverhaltnismälsig  hohe  Gebühren  zahlen  mulis, 
da  er  aber  die  gewünschte  Stelle  nur  durch  den  Agenten  erlangen 
kann,  so  mufs  er,  wenn  auch  mit  Widerwillen,  sich  an  den  ver- 
halsten Vermittler  wenden  und  diesem  einen  nicht  geringen  Teil 
seiner  Jahreseinnahme  opfern.  In  anderen  Fällen  sind  die  Wirte 
abhängig  von  dem  Stellenvermittler,  weil  dieser  dem  Wirte  nur 
dann  Haus-  und  Küchenmädchen  zufuhrt,  wenn  der  Wirt  auch  die 
Kellner  von  ihm  nimmt 

Die  Wirte  klagen  selbst,  dafs  die  von  den  Wirtevereinen  ge- 
gründeten Nachweisbureaus  so  wenig  benutzt  werden.  Sie  selbst 
sind  ohnmächtig,  weil  die  eigenen  Vereinsmitglieder  sich  nicht  an 
die  Vereinsbureaus  wenden.  Besonders  häufig  wechseln  die  Kellne- 
rinnen ihre  Stellungen.  Nach  den  im  Jahre  1893  angestellten  Er- 
hebungen der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  waren  in  Leipzig 
90,4",,  in  Breslau  86,7  "„  in  Königsberg  81,2%  weniger  ate  3 
Monate  in  ihrer  jetzigen  Stellung.  Wenn  die  Vermittlungsgdtlühr 
sicli  aucli  durclisclmittlich  zwischen  5  und  10  Mark  hält,  so  müssen 
die  Kellnerinnen  doch  einen  nicht  unbedeutenden  Teil  ihres  Ver- 
dienst für  Stellenvermittler  hergeben,  weil  sie  die  Gebühr  mehr- 
fach im  Jahre  7.u  entrichten  haben.  Hier  könnte  der  Uebelstand 
viel  besser  als  durch  Konzessionierung  und  Taxen  dadurch  bekämpft 
werden,  wenn  dem  Unternehmer  die  Kosten  aufgebürdet  werden. 
Alle  Auskunftspersonen  waren  darin  einig,  dafs  die  Wirte  direkten 
o(I<  r  indirekten  Nutzen  von  dem  Stellenvermittler  haben.  Würde 
der  Wirt  die  Kosten  zu  zahlen  haben,  dann  würde  er  entweder 


Digilized  by  Google 


Hermann  Molkenbnhr,  Die  Nofvelle  rar  Gewerbeoidnung. 


'97 


weniger  häufig  sein  Peisonal  weldiseln,  oder  solche  Stellen  zu  finden 
wissen,  wo  die  Vermittlung  wenig  oder  gar  nichts  kostet  Die  be- 
stehenden Bureaus  der  Vereine  würden  mehr  frequentiert  werden 
und  dort,  wo  solche  nicht  bestehen,  würde  man  mit  der  Gründung 
vorgehen. 

Vnttr  ähnlichen  Mi(sständen  wie  die  Kellner  haben  die  See- 
leute zu  leiden.  Auch  hier  wird  die  Konzessionierung  der  Heuerbaase 
und  die  vorgeschriebenen  Taxe  wenig  ändern.  Der  Seemann,  welcher 
von  einem  Heuerbas  eine  Stelle  haben  will,  zahlt  in  der  Regel 
direkt  nur  ganz  kleine  Summen.  Er  kann  aber  oft  nur  auf  eine 
Stelle  rechnen,  wenn  er  seine  Ausrüstungpgegenstände  von  dem  vom 
Heuerbaas  bezeichneten  Kaufmann  für  lächerlich  hohe  Preise  be- 
zieht. Oft  hat  der  Seemann  bedeutende  Summen  ausgegeben  und 
er  weifs  selbst  kaum  wofür.  Denn  die  Gegenstände,  tlie  er  für  sein 
Geld  bekommen  hat,  sind  kaum  ein  Viertel  des  Geldes  wert,  was 
er  dafür  zahlen  mufste.  Direkt  hat  er  dem  Heuerbaas  wenig  ge- 
geben, die  Haupteinnahme  des  Heuerbaases  kommt  aus  dem 
Schlef^erlohn,  den  er  von  den  „reellen"  Geschäften  einkassiert,  in 
die  er  seine  Opfer  geführt  hat. 

Sieht  man  das  Uebel  nicht  nur  in  dem  Umstand,  dafs  Agenten 
als  Werber  für  Zuckerfabrikanten,  Erdarbeitunternehmer  oder  Betg- 
werksbesitzer  die  besten  Arbeitskräfte  vom  I^nde  entführen ,  dann 
hätte  man  sich  nicht  darauf  beschränken  dürfen,  die  Machtbefugnisse 
der  Polizei  zu  erweitern,  sondern  man  hätte  mit  o^anisatorischen 
Malsregeln  eingreifen  müssen. 

In  Artikel  VI  versucht  die  X'orlage  einen  Teil  der  Mifsstände  zu 
beseitigen,  welche  durch  die  Hrhcbungen  der  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik ermittelt  sind.  Nach  §  114a  sollen  durch  Beschlufs  des 
Bundesrats  für  solche  Gewerbe,  in  denen  die  Unklarheit  des  .Arbeits- 
vertrages zu  Mifsständen  gefuhrt  hat,  Lohnbücher  oder  Arbeitszettel 
vorgeschrieben  werden  dürfen.  Solche  schriftliche  Arbeitsverträge 
zu  besitzen,  war  der  Wunsch  der  strikenden  Konfektionsarbeiter. 
Es  war  das  eine  sehr  bescheidene  Forderung  der  Arbeiter,  vor  Be- 
ginn der  Arbeit  zu  wissen,  welche  Art  von  Arbeit  sie  liefern  sollen 
und  welchen  Lohn  sie  beanspruchen  können.  In  vielen  Fällen 
können  die  .Arbeiter  erst  an  der  Höhe  des  Lohnes  erkennen,  welche 
Arbeit  sie  zu  liefern  haben. 

Besonders  vorsichtig  wird  die  Vorlage  in  §  137  a,  in  welciiem 
verlangt  wird,  dafs  der  Bundesrat  das  Recht  haben  soll,  W^rschriften 
gegen  Umgehungen  der  §  135  bis  137  der  Gewerbeordnung  zu  er- 


üiyitizcü  by  GoOglc 


198 


GeaHUgAmg:  Deutadies  Reich. 


Insscn.  Es  ist  ein  grofser  Mifsstand  unserer  Arbeiterschutzgesetze, 
dals  der  Arbeiter  nicht  ohne  weiteres  geschützt  wird,  sondern  den 
Schutz  der  Gesetze  nur  dann  L,fcnicfst ,  wenn  er  die  Arbeit  in  der 
I'  ahrik  verrichtet.  Der  Zi^arrt-nfabrikant .  dem  es  untersagt  ist, 
schulpflichtige  Kinder  in  der  Fabrik  zu  beschäftigen,  kann  diesen 
Kindern  Tabak  zur  Bearbeitung  geben,  wenn  die  Kinder  die  Arbeit 
im  Hause  ven  ichten  wollen.  Die  Weifsnäherin ,  welche  in  tier 
Fabrik  II  Stunden  an  der  Maschine  gesessen  hat.  kann  nach  be- 
endeter Fabrikarbeit  dieselbe  Arbeit  für  denselben  Fabrikanten  zu 
Hause  fortsetzen.  In  der  iVaxis  sieht  es  fast  so  aus,  als  habe  der 
(iesetzgebcr  mit  den  §§  135  bis  137  nur  die  Fabriken  und  die 
darin  beiuitzten  Maschinen  und  Werkzeuge  \or  übergrofser  Ab- 
nutzung, aber  nicht  die  Arbeiter  schützen  wollen,  .\nstatt  kurz  zu 
erklären,  dals  Kinden  sowie  jugendlichen  und  weiblichen  Personen, 
welche  in  der  habrik  arbeiten  nicht  neben  der  habrikarbeit  noch 
Hausarbeit  übergeben  werden  darf,  ist  iler  ganze  Paragraph  eine 
Häufung  \  on  Kautelen  zum  Schutze  der  l 'nterneimier.  Die  Fassung 
soll  aber  notig  sein,  weil  im  Konfektionsgtwerhe  die  Hausarbeiter 
wöchentli(  Ii  einige  Stunden  zum  Bügeln  und  Steppen  in  die  Werk- 
statt konmicn.  I  ni  hier  Weiterungen  zu  vermeiden,  wird  der  ernst- 
hafte Schutz  der  l  abrikarbeiter  aufgigeben.  Der  Fntwurf  vom 
18.  Mai  1897  hatte  noch  die  Bestimmung,  dals  .Arbeiterinnen  und 
jugendlichen  Arbeitern  ,  welche  mehr  als  sechs  Stunden  täglich  in 
der  Fabrik  beschäftigt  wertien,  keine  Hausarbeit  mehr  mitgegeben 
werden  dürfe.  Nach  dem  jetzigen  Entwurf  ist  die  Mitgabe  von 
Hausarbett  an  geschützte  Personen  noch  zulässig,  wenn  jugendliche 
Arbeiter  9*  2  Stunden  und  weibliche  Arbeiter  10*,«  Stunden  in 
der  Fabrik  beschäftigt  werden.  Bei  diesen  Bestimmungen  bleibt 
aber  immer  noch  abzuwarten,  ob  und  in  welchem  Umfang  der 
Bundesrat  dieselben  in  Kraft  treten  lassen  wird.  Es  ist  ein  un- 
erträglicher Uebelstand  in  der  Gewerbeordnung,  da(s  die  Aus- 
drücke: Arbeiter,  Fabrik,  Werkstatt  u.  s.  w.  sich  immer  wieder* 
holen,  ohne  dafs  der  Versuch  gemacht  ist,  die  Begriffe  zu  de- 
finieren. Je  nach  der  Form  des  Arbeitsvertrages  wird  derselbe 
Arbeiter  bei  derselben  Arbeit  bald  Arbeiter,  bald  Arbeitgeber. 
Der  Schneider,  welcher  mit  seiner  Frau  zusammen  im  Hause  des 
Unternehmers  arbeitet,  ist  bald  Werkstatten-,  bald  Fabrikarbeiter 
und  wird  zum  Arbeitgeber  nach  §  154,  sobald  er  die  Arbeit  mit 
nach  seiner  Wohnung  nimmt  Die  falsche  Ansicht,  dals  durch  den 
Arbeiterschutz .  die  Unternehmer  geschadigt  werden,  halt  die  Ge- 


Digitized  by  Google 


Herrnsnii  Molkcnbnlir,        Novelle  wr  Gewerbeoväimiig. 


setzgebung  davon  ab,  die  als  notwendig  anerkannten  Schutz- 
besttmmungen  allgemein  durchzuführen. 

Artikel  VIII  sucht  in  den  §§  139  c  bis  139  h  einige  Schutzbe- 
Stimmungen  für  die  in  offenen  Verkau&stellen  beschäftigten  Personen 
durchzuführen.  Den  Gehilfen,  Lehrlingen  und  Arbeitern  soll  eine 
ununterbrochene  Ruhezeit  von  mindestens  10  Stunden  und  eine 
Mittagspause  gewährt  werden.  Um  eine  Arbeitsruhe  von  10  Stunden 
durchzuführen,  mufe  in  45,5  der  Betriebe  die  Ladenzeit  abgekürzt 
werden.  Vorwi^end  werden  hierdurch  die  Geschäfte  mit  Kolonial« 
waren  und  Tabak  und  Zigarren  getroffen.  Nach  den  Erhebungen 
der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  hatten  84,4%  der  Kolonial- 
warengescliäfte  und  72,2%  der  l  abak-  und  Zigarrengeschäfte  eine 
Ladenzeit  von  über  14  Stunden.  Ferner  soll  auf  Antrag  von  zwei 
Drittel  der  Geschäftsinhaber  eines  Ortes  ein  einheitlicher  Laden- 
schlufs  in  einzelnen  (iemeinden  eingeführt  werden  Icönnen  und  aufser- 
dem  sollen  sowohl  Polizeibehörden  wie  der  Hundesrat  (la>  Recht 
haben,  X'orschriften  zu  erlassen,  um  die  in  62  des  Haiulelsgesctz- 
buchs  aufgestellten  (irundsätzc  durchzuftihrcn.  Es  sind  dieses  die- 
selben Grundsätze,  die  in  $  120a  der  (icwcrbcorflnung  enthalten  sind. 

In  diesem  Paragraphen  vcriälst  die  Novelle  den  Grundsatz,  der 
sonst  in  der  Gewerbeordnung  /uin  Ausdruck  gekommen  ist.  dals 
jugendlichen  und  weiblichen  l\rsoiuii  ein  weitergehender  Scluit/. 
als  erwaeJisenen  männlichen  Arbeitern  zukommen  niuls.  Bisher  war 
<las  weibliche  Personal  günstiger  gestellt,  weil  es  in  .SuddeulNchland 
und  in  Nordtleutschlaiul  vorwiegend  in  solchen  (ieschaften  beschäf- 
tigt ist,  wo  die  uherniäfsig  langen  ( lesclüiftszeiten  w  eniger  \'or- 
kommen.  Nur  in  <  ic-^chäflen  nnt  frischen  .Nahrungsmitteln  werden 
in  77,1",,  weibliche  Angestellte  beschäftigt.  Diese  haben  ebenfalls 
eine  uberniälsig  lange  Arbeitszeit  und  w  enig  I  lolfiunig,  eine  Besserung 
yu  erlangen,  weil  nach  i;  l^Qe  Arbeiliii  zur  Wriuitung  des  \*er- 
tlerbens  \un  Waren  aueli  wiihrenil  der  Kuliepause  \ orgeiionnnen 
werden  tlürlen.  Den  einheitlichen  Ladenschluls  fordert  die  \'or- 
läge  nicht. 

Die  I'Vage  des  einheilliclien  Ladenschlusses  ist  erst  durch  die 
X'or.schlägc  kaufmännischer  Wreiiu  in  hlufs  gekommen.  .Als  im 
Herbst  I<S93  die  Kommission  für  .\rl)eilerstalislik  an  kaufmännische 
Vereine  die  I'Vage  richtete:  ..Ist  die  Anordnung  crwmisrlu  und 
tlurchfiihrbar,  dals  die  Läden  taglich  regelmälsig  nur  14  .Stunden 
oder  eine  kürzere  in  der  Antwort  niilur  anzuL;<'bcnde  Zeit  otten 
gehalten  werden  dürfen ':"  antworteten  mehrere  X'ereinc,  ilaLs  eine 


Digitized  by  Google 


200 


Gesetzgebung:  DeutidieB  Rcicb. 


einheitliche  Schltifsstunde  wünschenswert  sei.  Darauf  wurden  <fie 
Vereine  direkt  gefragt,  ob  eine  einheitliche  SchluGstunde  wünschens- 
wert und  durchführbar  sei.  Nun  antworteten  acht  von  neun  be- 
fragten Verbände  mit  Ja.  Der  einzige  Verband,  der  die  Frage  ver- 
neinte, war  der  Verband  ivaufmännischer  Vereine  Württembergs. 
Die  ablehnende  Haltung  der  württemhergischen  Kaufleutc  ist  er- 
klärlich, weil  dort  nur  in  I7i3%  der  Geschäfte  eine  längere  als  14- 
stündige  Ladenzeit  vorkommt.  Selbst  eine  Anzahl  reiner  Prinzipal- 
vereinc,  worunter  der  Verein  der  Kolonialwarcnhändler  im  Norden 
Berlins,  erklärten  sich  für  den  einheitlichen  I^enschlulii.  Erst 
spater  wurden  in  \  ielen  Vereinen  Resolutionen  angenommen,  die 
sich  gegen  den  einheitlichen  Ladenschlufs  aussprachen. 

Die  Vorlage  will  nun  dem  Beispiele  Englands  folgen  und  dort 
den  einheitlichen  Ladensclilufs  eintreten  lassen,  wo  zwei  Drittel  der 
beteiligten  Geschäftsinhaber  es  beantragen.  Dieser  Antrag  wird  in 
Grofsstädten  sehr  schwer  gestellt  werden  können,  da  das  Gesetz 
gar  keine  Form  vorgesehen  hat.  wie  der  Antrag  gestellt  werden 
soll.  Will  man  den  Wünschen  der  Beteiligten  und  der  öffentlichen 
Meinung  Rechnung  tragen,  dann  hätte  man  einem  Beispiele  der 
New  England  Staaten  in  Amerika  folgen  können,  wo  in  gewissen 
Zeiträumen  darüber  abgestimmt  wird,  ob  in  der  kommenden  Periode 
Wirtschaftskonzessionen  ausgegeben  werden  sollen  oder  nicht.  Würde 
nach  Inkrafttreten  der  X'^orlage  in  jedem  ( )rte  oder  in  zusammen- 
liegenden Ortschaften  jedes  Jahr  von  den  Beteiligten  darüber  ab- 
gcstinnnt  werden  müssen,  ob  sie  einen  einheitlichen  Ladenschlufs 
wollen,  und  wenn  dieser  durchgeführt  wird,  sobald  sich  zwei  Drittel 
für  denselben  erklaren,  dann  würde  die  Agitation  für  und  gegen 
in  Flufe  bleiben,  wobei  auf  jeden  Fall  die  menschenfreundlichste 
Richtung  in  kurzer  Zeit  den  Sieg  davontragen  würde.  Die  Kom- 
mission hat  einige  Verbesserungen  für  die  Angestellten  angenommen. 
Sie  hat  die  Ruhezeit  der  Angestellten  in  Gemeinden  mit  mehr  ab 
20000  Einwohnern  auf  n  Stunden  festgesetzt  und  für  kleinere  Orte 
die  Bestimmung  getroffen,  dafs  dort  die  Ruhezeit  durch  Ortsstatut 
auf  1 1  Stunden  ausgedehnt  werden  kann.  Ferner  hat  sie  die 
Mittagspause  liir  die  Personen,  welche  die  Hauptmahlzeit  aufserhalb 
des  (iebäudes,  in  welchem  das  Geschäft  sich  befindet,  einnehmen 
piüssen,  auf  mindestens  eine  und  eine  halbe  Stunilc  festgesetzt. 

Die  Geschäftsinhaber  sollen,  nach  den  Beschlüssen  der  Kom- 
mission, zu  einer  Aeusserung  über  den  einheitlichen  Ladenschlufs 
aufgefordert  werden,  sobald  ein  Drittel  der  beteiligten  Geschäfts- 


Hermann  Molkenbuhr,       Novelle  xnr  Gcwerbeordnonc.  2OI 


Inhaber  es  beantiagt  Ferner  hat  die  Kommission  beschlossen, 
dals  die  Verkau&steUen  zwischen  9  Uhr  abends  und  5  Uhr 
morgens  geschlossen  sein  müssen,  jedoch  darf  an  Tagen,  wo 
besondere  Notfalle  es  gebieten,  sowie  an  40  von  der  Polizei- 
behörde  bestimmten  Tagen  und  nach  näheren  Bestimmungen  der 
höheren  Verwaltungsbehörde  für  landliche  Gemeinden  an  einzelnen 
Tagen  in  der  Woche  die  Ladenzeit  bis  10  Uhr  ausgedehnt  werden. 
Aufeerdem  ist  von  der  Kommission  beschlossen,  da&  in  Geschäften 
mit  mdir  als  20  Gehilfen  und  Lehrlingen  Arbeitsordnungen  erlassen 
werden  müssen,  wie  solche  durch  die  §§  134  a  und  folgende  fiir 
Fabriken  vorgeschrieben  sind  Femer,  dafs  die  Bestimmung  des 
§128  über  das  Halten  von  Lehrlingen  auch  auf  das  Handels- 
gewerbe Anwendung  findet 

Einige  neuere  Artikel  wurden  durch  die  Beschlüsse  der  Kom- 
mission in  die  Vorige  aufgenommen.  Nach  einem  neuen  9  41  b 
soll  auf  Antrag  von  mindestens  zwei  Drittel  der  beteil^en  Ge- 
schäftsinhaber die  Sonntagsruhe  &ar  alle  Barbier-  und  Friseurgeschäfte 
für  die  Zeit  vorf,^esrh rieben  werden  können,  in  welcher  Gehilfen  und 
Lehrlinge  nicht  beschäftigt  werden  dürfen. 

Ein  von  der  Kommission  eingeschalteter  Artikel  5  a  soll  den 
§  105  c  er^aoßn,  um  zu  verhüten,  dafs  die  höheren  Verwaltungs- 
behörden einen  zu  weitgehenden  (iebrauch  von  dem  Rechte  machen, 
dafs  sie  Ausnahmen  von  der  Sonntagsruhe  zulassen  bei  Betrieben, 
die  durch  unregelmä£sige  Wasserkraft  getrieben  werden. 

Der  neue  Zusatz  lautet:  „Der  Bundesrat  hat  über  die  Voraus- 
setzungen und  Bixlingungen  der  Zulassung  von  Ausnahmen  nähere 
Bestimmungen  zu  treffen;  dieselben  sind  dem  Reiciistage  bei  seinem 
niichsten  Zusammentritt  zur  Kenntnisnahme  mitzuteilen."  Dieser 
Be.>>cliluls  wurde  auf  .\nrci,nin;j;  rheinischer  Papierfabrikanten  herbei- 
geführt, die  sich  darüber  beschwerten,  dafs  den  sächsischen  und 
bayerischen  Papierfabriken  fast  regelmäisig  Sonntagsarbeit  ge- 
stattet ist. 

Ein  neuer  .Artikel  6a  will  herbeiführen,  dafs  durch  statutarische 
Bestimmungen  für  sämtliche  Arbeiter  sowie  für  weibliche  Handlungs- 
gehilfen und  Lehrlinge  unter  18  Jahren  eine  Verpflichtung  zum 
Besuch  der  I'ortbildungsschule  herbeigeführt  werden  kann.  Eine 
Schulpflicht  für  sämtliche  .Arbeiter  unter  iS  Jahren  hatte  die  Novelle 
vom  6.  Mai  1890  auch  vorL^eschlagcn.  Damals  wurde  auf  Drängen 
der  konservativen  Partei  und  des  Zentrums  vor  dem  Worte  „Arbeiter" 
das  Wort  „nuiunliche"  eingeschaltet. 


Digitized  by  Google 


202 


G«wtigebiiiig:  Denlscfacs  Rddi. 


Durch  einen  neuen  Artikel  6  b  soll  der  §  124  a  der  Gewerbe- 
ordnung mit  dem  §  626  des  Bürjjerlichen  Gesetzbuchs  in  Einklang 
gebracht  werden,  wonach  das  Arbeitsverhältnis  ohne  Kündigung  auf- 
gegeben werden  kann,  wenn  ein  wichtiger  Grund  vorliegt. 

Durch  einen  neuen  Artikel  VIc  sollen  für  Betriebsbeamte,  Werk- 
meister und  Tcrlinikcr  dieselben  Kündigungsfristen  gelten,  die  im 
Handclsgesctzbucii  für  Handclsnuc^estcllto  \ or^fosehcn  sind. 

DuK^h  Artikel  \'Id  soll  durchgeführt  werden,  dals  in  I'abriken 
die  I.Dhn/ahlung  nicht  an  einem  Sonnabend  oder  Sonntag  statt- 
finden darf. 

In  der  Kommission  wurilc  derdedankc  wieder  aufgenommen, 
den  die  Regierung  durch  die  X'orlage  \  oin  18.  Mai  1897  durcliführcn 
Wollte,  indem  sie  aulser  der  Abänderung  der  (iewcrbeordnung  eine 
Abänderung  des  Krankem  ersichcrunggeset/es  verlangte,  um  die  Kon- 
fektionsarbeiter der  Krankcnkasscnplhcht  mit  unterwerfen  zu  können. 
Jetzt  hat  die  Regierung  den  ( ledanken  aufgegeben,  weil  sie  h<>tl't, 
nach  zwei  Jahren  eine  allgemeine  Revision  des  Krankenkassen- 
gesel/.es  vornehmen  zu  können.  Die  Mehrheit  dei  Kommission 
glaubte,  es  dürfe  mit  der  Krnnkcn\ 1 1  >ichcrimg  tler  HauN.irl )eiier 
niciit  so  latige  gewartet  werden  und  nahm  de.sslialb  den  Artikel  II 
der  damaligen  X'orlage  in  die  jetzige  N')\clle  auf. 

Durch  .\rtikel  VII  b  soll  der  letzte  Absatz  des  §  138  a  der  Ge- 
werbeordnung dahin  geändert  werden,  dals  weibliche  .Arbeiter, 
welche  kein  Hauswesen  zu  besorgen  haben,  an  V^orabenden  von 
Sonn-  und  b'esttagen  nur  dann  länger  als  bis  5  '  .,  Uhr  bei  den 
dort  bezeichneten  Arbeiten  beschäftigt  werden  dürfen,  wenn  sie 
keine  Fortbildungsschule  besuchen.  Ferner,  dafs  die  behördliche 
Erlatibnis  iur  die  Ueberschreitung  in  Abschrift  an  einer  den  Arbeitern 
zugänglichen  Stelle  angehängt  werden  muls. 

Die  weiteren  Aendeningen  sind  teils  nur  Klarstellungen  des 
bestehenden  Gesetzes  oder  eine  Beseitigung  von  Mifsstanden,  die 
sich  aus  der  buchstäblichen  Anwendung  des  Gesetzes  ergeben 
haben.  Z.  B.  war  es  bisher  erlaubt,  jugendliche  Arbeiter  von  6V« 
bis  7  ' arbeiten  zu  lassen  und  dann  eine  Pause  bis  8  Uhr  eintreten 
zu  lassen,  um  nach  der  Pause  bis  \2  Uhr  zu  arbeiten.  Am  Nach- 
mittag konnte  nach  \'ierstündiger  Arbeit  eine  Pause  eintreten  und 
dann  wieder  fortgearbeitet  werden.  Der  Unternehmer  macht  sich 
aber  einer  strafbaren  Handlung  schuldig,  wenn  er  die  jugend- 
lichen Arbeiter  erst  nach  Beendigung  der  Vormittagspause  antreten 
liels  und  sie  bei  Beginn  der  Nachmittagspause  entlieCs.   Denn  nach 


Digitized  by  Google 


Hermann  Molkenbnhr,  Die  Novelle  war  Geweibeordnung. 


dem  Buchstaben  des  Gesetzes  sollen  jugendliche  Arbeiter  eine  Vor- 
und  eine  Nachmittagspause  haben.  Dieses  soll  jetzt  beseitigt  werden, 
indem  die  Pause  fUr  die  jugendlichen  Arbeiter  wegfallen  kann,  wenn 
sie  taglich  nicht  mehr  als  acht  Stunden  beschäftigt  werden. 

Der  Artikel  IX  schreibt  die  Strafbestimmungen  für  die  Ueber« 
tretung  der  neugeschaiTenen  Bestimmungen  vor.  Ferner  sollen  die 
Färagraphen  der  Gewerbeordnung  mit  neuen  ZilTem  versehen  werden, 
damit  die  endlosen  Reihen  von  Buchstabenbezeichnungen  einmal 
wieder  herausgebracht  werden. 

Drei  Resolutionen  wurden  von  der  Kommission  dem  Plenum 
zur  Annahme  empfohlen.  IMe  erste  fordert  Regierungen  auf, 
von  den  durch  §  154  Absatz  4  gegebenen  Rechten,  die  Aus* 
dehnung  der  Arbeiterschutzbestimmungen  §§  135 — 139  b  auf  Ge- 
werbe und  vor  allem  auf  die  Hausindustrie,  mehr  als  bisher  Ge- 
brauch zu  machen.  Einer  der  schlimmsten  Fehler  liegt  hier  aber 
im  Gesetz.  Jeder  Arbeiterschutz  ist  dort  verboten,  wo  er  am 
nötigsten  ist,  bei  der  Heimarbeit,  wo  nur  Familienmitglieder  be- 
schäftigt werden.  Will  der  Unternehmer  die  Kinderarbeit  haben, 
dann  braucht  er  die  Arbeit  nur  an  mit  Kindern  reich  i^esc^nete 
Familicnhäupter  oder  deren  Frauen  zu  geben  und  er  ist  jeglicher 
Belästii^ung  durch  Schutzmafsregeln  entrückt  Es  mülste  der  letzte 
Satz  des  Absatzes  4  im  §  154  gestrichen  werden,  damit  die  letzte 
Freistatt  schlimmster  Ausbeutung  wenigstens  theoretisch  beseitigt 
ist.  Gewi(s  ist  es  eine  der  schwierigsten  Aufgaben  der  Sozialpolitik, 
den  Arbetterschutz  in  der  Hausarbeit  durchzuführen. 

Hier  i(rcifen  Wohnungspflege  und  Arheiterschutz  ineinander. 
Krst  hei  praktischen  Versuchen  wird  man  herausfinden,  was  auf 
dem  einen  und  was  auf  dem  anderen  Gebiet  zu  regeln  ist.  Je 
län^'er  man  vor  den  ersten  Versuchen  'zurückschreckt,  desto 
mehr  Opfer  forderte  das  System  der  schlinunsten  Ausbeutung. 
Die  zweite  Resolution  fordert  die  Regierung  auf,  durch  die 
Kommission  für  Arbeiterstatistik  die  Mifsständc  im  Handels-Engros- 
gcschäft,  sowie  im  Verkehrsgewerbe  erforschen  zu  lassen. 

In  der  dritten  Rcsokition  wenleii  die  Re«^ieruni;en  aufgefordert, 
die  Verhältnisse  der  liureau-Angestellten  durch  Gesetz  zu  regeln. 

Wir  lassen  nun  den  Wortlaut  des  Gesetzentwurfs  folgen : 


L^iyiii^uü  Uy  Google 


204 


Gcsetigebidig:  Deutsches  Rddi. 


Satwttff  eine«  Oeteisea,  betreffmd  die  AMndenniK  d«r  0«wMb«Ofdnm>g.») 

Wir  WOhebn,  toh  Gottes  Gnaden  Deatsclier  Kaiser,  Kdnig  von  Prealsen  etc. 
TerordiMB  im  Namen  des  Reichs,  nach  erfolgter  Znstimmmig  des  Bmdcsnls  nnd  des 
Reichstags,  was  folgt: 

Artikel  i. 

I.    Hinter  §  19  der  Gewerbeordnung  wird  eingeschaltet : 

§  19a.  In  dem  Bescheide  kann  dem  Unteroehmer  auf  seine  Gefahr 
unbeschadet  d<-5  Kt-kursverfalirt-ns  (§  20)  die  unvcrrügliche  Ausführung  der 
baulichen  Anlagen  <^tstatiet  wcnKii,  wenn  er  dies  vor  SchlufÄ  der  Erörle« 
rung  beantragt.  Die  Gestattung  kann  von  einer  bicberbeit&leistung  abhängig 
gemacht  Verden. 
U.   Hinter  §  21  der  Gewerbeotdnnng  wird  eingesdialtct: 

§  31  a.  Die  Sachverständigen  (§  31  Ziffer  t)  haben  aber  die  That- 
sachen,  welche  durch  das  Verfahren  zn  ihrer  Kenntnis  kommen,  Ver> 
achwiegenheit  zu  beobachten  nnd  sich  der  Nachahmung  der  von  dem 
Cntemchmcr  geheim  gehaltenen,  zu  ihri-r  K'-nntnis  gelanf^t<  n  Betriebsein- 
richtungen und  Betriebsweisen,  solange  als  diese  Betriebsgcbeimniase  sind, 
zu  enthalten. 

Artikel  2. 

I.    Der  sj  23  Abs.  a  der  Gewerbeordnung  erhalt  folgende  Fassung: 

Der  Landesgesetzgebung  bleibt  vorbehalten,  die  lemere  Benutzung  be- 
stehender nnd  die  Anlage  neuer  Pri\'atschlächtereien  in  solchen  Orten, 
fllr  welche  öffentliche  Sdiladithlascr  in  genügendem  Umfange  vorbanden 
sind  oder  errichtet  werden,  xn  untersagen, 
n.   Der  §  aj  Abs.  3  der  Gewerbeordnung  erhilt  folgende  Fassung: 

Soweit  durch  landcsreditliche  Vorschriften  Bestimmungen  getroffen  werden, 
wonach  gewisse  Anlagen  oder  gewisse  Arten  von  Anlagen  in  einaelnen 
Ortsteilen  gar  nicht  ofler  nur  unter  besonderen  Beschränkungen  zugelassen 
sind,  finden  diese  Bestimmungen  auch  auf  Anlagen  der  im  §  16  erwähnten 
Art  Anwendung. 

Artikel  3. 

I.  hn  §  34  Abs.  1  der  (iewcrbi  Ordnung  werden  nach  den  Worten  „Geschäft 
eines  Pfandleihers"  im  ersten  Sat/e  die  Worte  „Gesindevermieters  oder  Stcllenver- 
mittlers"  und  nach  den  Worten  „die  Erlaubnis**  im  dritten  Satie  die  Worte  „zum 
Betliebe  des  Pfandleü^^erbes"  eingeschaltet 

n.  Der  §  34  Abs.  a  der  Geweibeordnung  wird  wie  folgt  abgeändert: 

Die  Bestinmongen  ttber  das  Pftndleihgeweibe  gelten  andi  fUr  den  ge* 
werbcnAfsigen  Ankauf  beweglicher  Sachen  mit  Gewährung  des  RQdckaufa- 
rechts  sowie  für  die  gewerbsmäfsige  Flandvermittelung. 

')  Drucksachen  des  Reichstags.  lo.  Legislatur-Periode,  I.  Session  1898/99, 
Nr.  165. 


Digitized  by  Google 


Entwtuf  eines  Gcseties,  betr.  die  AbindenuiK  der  Gewerbeordnimc.  205 

m.  Im  ersten  Satie  des  §  35  Abs.  3  der  Gewerbeordnanf  kommen  die  Worte 
„von  dem  Geschlft  eines  Gesinderermielers  und  eines  StellenTermiMlers"  in  Wegfall. 

IV.    Der  §  38  Abs.  1  der  Gewerbeordnung  erhält  die  folgende  Fassung: 

Dif  Z«nU(mU>eliörden  sind  befogt,  Uber  den  {^mfzng  der  Befugnisse  und 
Verpflichtungen  sowie  über  dm  Geschäftsbetrieb  der  I'fandleiher,  Gesinde- 
vermieter, Stellcnvemüttler  und  Auktionatoren,  soweit  darüber  die  Landes- 
Rcsctzc  nicht  Bcstimniun(;en  treffen,  Vorschriften  /.u  erlassen.  l)\r  in  Jicser 
Beziehung  hint>ichtlich  der  Pfandlciher  bc!>tchendeu  landesgcsctzlichcn  Be* 
Stimmungen  finden  auf  die  im  §  34  Abs.  S  bezeichneten  Gesdiiftsbctriebe 
Anwcndong.  Soweit  es  sidi  vm  den  geweriMmälsigen  Anlanf  beweglicher 
Sachen  mit  Gewihrang  des  Rflckkanfsredits  bandelt,  gilt  die  ZaUong  des 
Kaufpreises  ab  Hingabe  des  Darlehns,  der  Unterschied  xwisdien  dem 
Kanfpreb  und  dem  verabredeten  Rflcfckauf^reis  als  bedungene  Vergtitung 
für  das  Darlehn  und  die  Uebergabe  der  Sache  ab  Verpfkndung  dersdben 
für  das  Darlehn. 

V.  Im  ersten  Satze  des  §  53  Abs.  3  der  Gewerbeordnting  werden  nach  den 
Worten  „begonnen  hal>en,"  die  Worte  „sowie  Gesindevermictcm  und  Stellenver« 
mittlem,  w.-lcbe  vor  dem  .  den  Gewerbetrieb  begonnen  haben,"  ein- 

gCbclialtet. 

Vi.    Hinter  ij  75  der  Gewerbeordnung;  wird  eingeschaltet: 

§  75  a.  Die  Gesinde\ cmiieter  und  Stellenvcrmittlfr  sind  verpflichtet, 
das  \'cr7,eichnis  der  von  ihnen  für  ihre  j^cwcrblicbcn  Leistungen  aufge- 
stellten Taxen  der  Ortspulizcibehurde  einzureichen  und  in  ihren  Geschäfts- 
itomen  anmsfhlagrn,  Diese  Taxen  dflifen  swar  jedeneit  abgelndeit 
werden,  bleiben  aber  sohqge  in  Kraft,  bis  die  AbSnderung  der  Poliaei- 
bdiörde  angeteigt  und  das  abgdbiderte  Veneidmb  in  den  Ceschiftsriumen 
angeschlagen  ist 

Artikel  4. 

In  §  36  Abs.  I  der  Gewerbeordnung  wird  nach  dem  Worte  „Auktionatoren" 
etngefllgt:  „Bücherrevisoren". 

•Artikel  5. 

Der  Ziffer  9  des  §  56  Abs.  2  der  Gewerbeordnung  werden  die  Worte  „sowie 
firudbhfndei"  hinzugefügt. 

Artikel  6. 

L    Hinter  §  114  der  Gowerbeordnuuf;  wird  eingeschaltet: 

§  114  a.  Für  die  Kleider-  und  Wüschekonfektion  sowie  für  andere  Ge- 
werbe, in  denen  die  Unklarheit  der  Arbeitsbedingungen  tu  Mifsstinden 
geftthrt  bat,  kann  der  Bundesrat  Lohnbücher  oder  Arbeilsrettel  vorschreiben, 
in  welche  Art  und  Umfang  der  ttbertragenen  Arbeit,  bei  Akkordarl>eit  die 
StOcksahl,  femer  die  Lohnsitze  und  die  Bedingungen  für  die  Lieferung 
von  Werfcseugen  und  Stoffen  zu  den  Qbertragenen  Arbeiten  von  dem 
Arbeitgeber  oder  dm  dazu  BevoUmSchtigtcn  einzutragen  sind. 


L^iyiii^uü  Uy  Google 


206 


Gtutagiibuag:  Deatsch«i  Reich. 


t 


Auf  dir  Eintracun^en  üadea  die  VonchhftMi  des  §  iii  Ab«,  a  bis  4 

CD  tsp  reell  endo  A 11  w  .  tu  i  u  ii  p . 

I>as  Lolinburh  <n\vr  «irr  Arln-itszeffl  ist  von  dem  Arbeitgeber  auf  seine 
Kiistfii  /u  btsrliallrii  und  <Kin  Arbeiter  nach  Vollziehung  der  vorge- 
schriebeueii  Eintragungen  vor  oder  bei  der  Uebergabe  der  Arbeit  kosten- 
frei aiiiiiBliitidtgen. 

IMe  EinricbtUDg  der  Lohnbücher  md  Arbeits^ttel  wird  durcli  den 
Reichtkinzler  bestiimnt 

Aaf  die  von  dem  Bundesrate  getroffenen  Anoidmiiigeil  findet  die  Be« 
Stimmung  im  §  I20e  Abt.  4  AftwendtmK. 

II.    Im  §  119b  wird  statt         I13  bis  119»"  gesetzt. 
„§Jf  114  a  bis  119  a". 

III.  Hinter  §  137  wird  eiiij^oclmltct : 

§  137  a.  Kür  die  Kleid. r-  und  \\  uschikoulektion  sowie  für  andfre  (ic- 
werbe,  in  denen  Arbeitcnnueu  txler  jugeniUichc  Arbeiter  neben  iiirer  Be- 
schfiftigung  in  der  Fabrik  vom  Arbeitgeber  zu  Hanse  beschäftigt  werden, 
kann,  sofern  hierbei  Mifsstinde  in  Besag  anf  die  Ansdefannng  der  Arbeits* 
seit  sn  Tage  getreten  siwl,  dnrch  Beschlnfs  des  Bundesrats  angeordnet 
werden,  dafs  Arbeiterinnen  nnd  jagendUchen  Arbeitern  vom  Arbeitgeber 
für  die  Tage,  an  welchen  sie  in  der  Fabrik  die  gesetzlich  snlissige 
Arbeitszeit  hindurch  beschäftigt  waren,  .Arbeit  znr  Verrichtung  auf>.erhalh 
der  Fabrik  überhaupt  nicht ,  für  die  Tage,  an  welchen  sie  in  der  Fabrik 
kürzere  Zeit  bcs(  liältigt  waren,  ann.^hernd  nur  in  dem  l'mlang  iib«Ttragen 
oder  für  die  kn  Imun;^  Dritter  überwiesen  werden  darf,  in  wrlrliciu  Durch- 
schmttsarbcitrr  ihrer  Art  die  Arbeit  voraussichtlich  in  der  l-abrik  während 
des  Restes  der  gesetzlich  zulässigen  Arbeitszeit  würden  herstellen  können, 
nnd  flir  Sonn-  and  Festtage  nur  insoweit,  als  die  BeschSftignng  dieser 
Personen  in  Fabriken  gestattet  ist. 

Auf  die  von  dem  Bandesrate  getroffenen  Anordnongen  findet  die  Be« 
Stimmung  des  §  laoe  Abs.  4  Anwendmig. 

IV.  Hinter  §  154  a  der  Gewerbeordnung  wird  eingeschaltet: 

§  iS4b.  Auf  dk  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und  jugendlidien 
Arbeitern  in  Werkstätten,  fttr  welche  die  Arbeitszeit  anf  Grand  der  Vor- 
schriften im  §  154  Abs.  3  bis  S  geregelt  ist,  finden  die  Bestimmungen 
des  §  137  a  entsprechende  Anwendung. 

Artikel  7. 

Der  §  136  Abs.  I  der  Gewerbeordnnng  erhält  folgenden  Zusatz: 

Eine  Vor-  und  Nacliniiltagspausc  braucht  nicht  gewahrt  /,u  werden,  so- 
fern die  jugendlichen  Arbeiter  täglich  nicht  länger  als  acht  Stunden  be- 
schäftigt werden  und  die  Dauer  ihrer  durdi  eine  Pause  nidit  unterbrochenen 
Arbeitsteit  am  Vor-  und  Nachmittage  je  vier  Stunden  nicht  tfbersteigt. 


Digitized  by  Google 


Eütvurf  eines  Gcieties,  betr.  die  Abiademng  der  Gcwerbeordming. 


Artikel  8. 

I.   Hinter  §  139  b  der  Gewerbeordnung  wird  eingcselialtet: 

VL  Gdrilfea,  Lehrlinge  und  Arbeiter  in  offenen  Verlranftttellcn. 

§  139c  In  offenen  Verkanfotclkn  iit  den  Gehilfen,  LdurUngen  und 
Arbeitein  nnch  Becodigong  der  tigUcbea  Arbeitoeit  eine  nannteibrochene 
Rnbeieit  von  nindeitens  sehn  Stunden  sn  gewihren. 

InneriMlb  der  Aibeitsseit  nrafs  den  GehQfen,  Lehrlingen  und  Arbeitern 
eine  angemessene  Mittagspause  gewährt  werden. 

Für  Betriebe,  in  denen  dif  Hauptmahlzeit  aufscrhalb  des  die  Verkaufs- 
stelle enthaltenden  (>ebäu(ics  cinzuncbmen  ist,  wird  dir  Mindestdauer  dieser 
Pause,  und  zwar  einheitlich  i"ür  sämtliche  Vcrkaufsstt-lh-n .  durcli  die 
(Jemcindebehurdc  festgesetzt.  Die  Pause  muü  mindestens  eine  .Stunde 
bctngcn. 

§  139  d.   Die  Bestimmongen  des  §  139  c  finden  keine  Anwendm^ 
1.  anf  Arbeiten  mr  Verhfltnng  des  Verderbens  von  Waren, 
9,  für  die  Anfnahne  der  gesetslidi  vorgeschriebenen  fovcntnr, 

3.  während  der  letzten  zwei  Wochen  vor  Weihnachten, 

4.  anfserdem  an  jährlich  höchstens  zehn  von  der  Ortspolizeibehörde  alU 
gemein  oder  für  einzelne  (leschäftszwrifje  zu  bestimmenden  Tagen. 

§  139  e.  Auf  .Antrag  von  mindestens  /.wei  Dritteln  der  bctcili^;t<  n  de- 
vchäftsinhaber  kann  für  eine  (iemeindc  oder  mehrere  urtlichc  unmittelbar 
zusammenhangende  Gemeinden  durch  Anordnung  der  hühcreo  Vcrwaltungs- 
.  behflffde  nach  Anhörang  der  Gemeindebehörden  fllr  alle  oder  einielne  Ge* 
schäftszwelge  angeordnet  werden,  dafs  während  bestimmter  Sttmden  in  der 
Zeit  «wischen  acht  Uhr  abends  vnd  sechs  Uhr  moigens  oder  in  der  Zeit 
swisehen  nenn  Uhr  abends  nnd  sieben  Uhr  morgens  die  Veikanfsstellen 
(§  '39  c  Abs.  1)  für  den  gesehiftlichen  Verkdir  geschlossen  sein  müssen. 
Die  Bestinunnngen  der  §§  139  c  nnd  I39d  werden  hierdurch  nicht  be> 
rttbrt. 

Während  der  Zeit,  wo  die  VerkauisstcUcn  geschlossen  sein  müssen,  ist 
das  Feilbieten  von  Waren  auf  üflTcntlichcn  Wegen ,  .Siralscu  un<l  Tlätzcn 
oder  an  anderen  öffentlichen  Orten  oder  ohne  vorherige  Bestellung  von 
Hans  m  Hans  im  stehenden  Gewerbebetriebe  ($}  42 1>  Abs.  1  Ziffer  t)  so- 
wie im  Gewerbebetrieb  im  Umhersiehcn  (§  55  Abs.  i  Ziffer  l)  verboten. 
Ansnahmen  köimen  von  der  Ortspolizeibehörde  xogelassen  werden.  Die 
Bestimmang  des  §  55«  Abs.  a  Sats  2  findet  Anwendong. 

g  139  f.  Die  Polizeibehörden  sind  befugt,  im  Wege  der  VerfUgung  Wr 
einzelne  offene  Verkaufsstellen  diejenigen  Mafi^nahmcn  anzuordnen,  welche 
zur  Purchflilirung  der  im  62  Ab--  i  <K"s  J  lantK-lsgesetzbuchs  <  ntli.ih-  ncn 
drundsat/e  in  .\nsehun};  der  Finrichtung  und  rnti-rh.iltung  der  (  ;>--i1ki1is- 
räumc  und  der  lür  den  (Jescliälthbctrieb  bestimmten  Vorrichtungen  und 
Gerätschaften  sowie  in  Ansehung  der  Regelung  des  Geschiftsbetriebs  er> 
fordcrUdi  nnd  nach  der  Beschaffenheit  der  Anlage  ansfUirbar  erscheinen. 


Digitized  by  Google 


208 


G«seligebimg:  Deutsches  Reidi. 


Die  Besämmangen  im  §  i2od  Abs.  2  bis  4  tinden  entsprechende  An- 
wendung. 

§  139  g-  Durch  Bescbiufs  des  Bundesrats  können  Vorschriften  darttber 
erlassen  werden,  welchen  Anforderungen  die  htdeo^f  Aibeito-  and  Lager- 
rfnme  and  deren  Knrichtimg  sowie  die  Maschinen  nnd  GerXtschaften  xom 
Zwecke  der  DardifUhniiig  der  im  §  6a  Abs.  i  des  Handdsgcsetzbachs 
«ÜiaUcnen  Gmndsitie  sn  genflgen  haben.  Die  Bestimmung  im  §  lao  e 
Abs.  4  findet  Anwendung. 

Soweit  solche  Vorschriften  durch  Beschluss  des  Bundesrats  nicht  er- 
lassen sind,  können  sie  durch  Anordntmg  der  im  §  laoe  Abs.  2  bezeich- 
neten Behörden  erlassen  werden. 

§  139  h.  Die  durch  §  76  .\bs.  4  des  Handelsgeset/buchs  sowie  durch 
§  120  Abs.  I  begründete  V'crptiichlung  des  Geschäftsinhabers  bndet  an  Orten, 
WO  eine  vom  Staate  oder  der  Gemeindebdiörde  anerkannte  Fachschule  be* 
•tdit,  hinsichtlidi  des  Besuchs  dieser  Schule  eatsprechende  Anwendimg. 

Der  Gescteftsinhaber  hat  die  Gehttlfen  und  Lehrlinge  unter  achtaehn 
Jahren  zum  Besuche  der  Fortblldungs-  und  Fachschule  awsnhalten  und  den 
Schulbesuch  tu  Oberwachen. 

1391.    Die  Bestimmungen  der      139  c  bis  i^h  finden  auf  Konsum- 
und  andere  Vereine  entsprechende  Anwcndunp 
II.    Im  §  154  .\bs.  I  der  Gewerbeordnung  wird  anstatt         105  bis  133  c**  ge- 
setzt: ,,§§  105  bis  I33e,  139  c  bis  I39i"  und  hinter  ,,§§  105,   106  bis  119  b"  ein- 
geschaltet: „sowie  vorbehaltlich  des  g  139  f  Abs.  1  und  der  §§  139  g  und  139  i  die 
Bestfamnoi^  der  §§." 

Artikel  9. 

L  Im  §  145  Abs.  I  der  Gewerbeordnung  wird  statt  ,.§§  146  und  153"  ge- 
«etat:  „S§  145*»  14*  vmd  153". 

IL   Hinter  §  145  der  Gewerbeordnung  wird  eii^eschaltet : 

§  145  a.  Die  in  den  FSUen  der  §§  16,  24  nnd  3$  gemftfs  §  ai  Ziffer  1 
angesogenen  Sachverständigen  werden  bestraft, 

1.  wenn  sie  unbefugt  Betriebsgeheimnisse  offenbaren,  welche  durch  das 
Verfahren  lu  ihrer  Kenntnis  gelangt  sind ,  mit  Geldstrafe  bis  zu  ein- 
tausendliinf  hundert  Mark  <><ier  mit  Grf.^ingnis  bis  zu  drei  Monuieii ; 

2.  wenn  sie  absichtlich  2um  Nachteile  der  lietricbsuntemehmer  lietriebs- 
geheimnisse ,  welche  durch  das  Verfahren  zu  ihrer  Kenntnis  gelangt 
sind,  offenbaren  oder  geheim  gehaltene  Betriebseinrichtungen  oder 
Betriebsweisen»  welche  durch  das  Verfahren  m  ihrer  Kenntnis  gdangt 
sind,  solange  ab  diese  Betriebsgeheimnisse  sind,  nachahmen,  mit  Ge> 
fangnis,  neben  welchem  auf  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  er« 
kannt  werden  kann.  Thon  sie  dies,  um  sich  od  r  rinem  Anderen 
einen  Vermögensvorteil  zu  verschafTen ,  so  kann  neben  der  Gefängnis* 
>trafe  auf  GehlMrafe  bis  zu  dreitau^'  iid  Mark  erkannt  werden. 

Im  Falle  d.  r  Ziffer  1  tritt  die  Verfolgung  nur  auf  Antrag  des  Betriebs- 
unlernehnicr-s  ein. 


Digitized  by  Google 


Entwurf  cinek  Gesetses,  betr.  die  Abindenng  der  Gewerbeordnoiig. 


III.  Im  §  146  Abs.  1  der  Gewelbeordnung  erhalten  die; Ziffern  3  und  3  folgende 
Fassung: 

Geweibetfobcadsi  wddic  den  §§  135,  136,  137,  139c  Abt.  1  oder  t 
oder  den  «nf  Grand  der  §§  137  a,  139,  139a,  139c  Abi.  3,  154  b  go* 
troflcnen.  Verfttgingen  ntwiderhoiidelni 
3.  Gewerbetrdbcnde,  wddfce  dem  §  Iii  Abc  3,  §  113  Abi.  3  oder  dam 
§  114«  Abt.  3,  soweit  daselbst  die  Bestinunongen  des  §111  Abc  3  Ar 
anwendbar  «rklärt  worden  sin^  suwidcrhandeln. 

IV.  Im  §  146  a  der  Gewerbeordnung  wird  der  Schlnis  nach  den  Worten  mBc- 
scbiftigun^  picbt"  wie  loljjt  abgeändert: 

odt-r  den  §§  4I  a,  55  a,  I39e  Abs.  2  oder  den  auf  (irund  dc5  §  105  b 
.\bs.  2  erlassenen  statutariscbca  Botimmungen  udcr  den  auf  Grund  des 
§  I39e  Abc  I  getroffenen  Anordnungen  znwiderbandelt 

V.  In  §  147  Abc  I  Ziffer  4  der  Gewerbeordnung  werden  die  Worte  „eaf  Gmnd 
des  §  I20d"  dufch  die  Worte:  „anf  Grand  der  fi§  laod,  139!**  und  die  Worte 
„aaf  Grand  des  %  taoc**  dnrdi  die  Worte:  „anf  Grand  der  $§  lloe,  139g**  eraefit 

VL  Der  §  148  Abc  1  der  Gewerbeordnung  wird  wie  folgt  abgdndert: 

1.  Hinter  Ziffer  4  wird  einpesrhaltet : 

4.a.  wer  aufser  den  Fällen  des  §  360  Nr    12  des  Strafgesetzbochi  den  anf 
Grund  des  §  38  erlassenen  Vorschriften  zuwideriuuldeU ; 

2.  die  Ziffer  8  erhält  folyrnde  Fassung: 

wer  bei  dem  Betriebe  seines  Gcwcrl>eb  die  durch  die  Obrigkeit  oder 
dorch  Anaeige  bei  detadben  festgelegten  Taxen  überadueitet  oder  ea 
nnterliftt,  daa  genlb  §  75  oder  §  75  a  vorgeaduiebene  Veneidmb 
einanrddien  oder  anaoachlagen; 
VIL  &n  I  150  Abc  I  Ziffer  3  der  Gewerbeordnung  werden  die  Worte  „in  An- 
tehm^  der  Arbeitsbücher"  durch  die  Worte  ,,in  Ansehung  der  AibeitabMdier,  Lohn« 
bächcr  odrr  Arbcitszettel"  ersetzt. 
VIII.    Im       150  .Vbs.    I  Zifler  4  der  Gewerbeordnung  werden  die  Worte  „des 

5  120  Abs.  I"  durch  die  Worte  ,.«les      120  .\bs.  i,  des  §  139  h"  ersetzt. 

Artikel  10. 

Dieses  GeseU  tritt  mit  dem  in  Kraft. 

.\  r  1 1  k  c  1  II. 

Drr  Reich skantler  wird  ermächtigt,  den  Text  der  Gewerbeordnung,  wie  er  sich 
aus  den  Aenderungen  ergiebt,  weldie  in  diesem  Gesetz  und  den  Gesetzen  vom  15.  Juni 
1S83  R.G.BL  S.  73,  I.  Juni  1891  R.G.BI.  S.  361 ,  19.  Juni  1893  R.G.B1.  S.  197, 
6.  August  1896  ILG.B1.  S.  685,  18.  August  1896  R.G.BL  S.  604,  la  Mai  1897  R.G.BL 

6  437»  und  vom  a6.  Juli  1897  R.G.BL  S.  663,  sowie  durch  die  am  1 3.  Juli  1884, 
31.  Januar  1885,  1$.  Febraar  1886,  16.  Juni  1M6,  16.  Juli  1S88  und  9.  Februar  1898 
bdunat  gemachten,  vom  Reichstage  genehmigten  Beschlüsse  des  Kunde^mtv  R.G.BL 
von  1884  S.  118,  von  1885  S.  S,  von  1886  S.  28  und  204,  von  1888  S.  2]?.  und  von 
1898  S.  27)  festgestellt  sind,  durch  das  keicb»-Gesetzblatt  bekannt  zu  machen. 

Urkundlich  etc. 

Gegeben  etc.  .—   

Archiv  für  mz.  Gesctxfebunc  «.  Siatistilt.  XIV.  I4 


Digitized  by  Google 


MISZELLEN. 

Die  Versicheningspflicht  der  Lrehrer. 

Von 

H.  VON  1-RAXKENRKRG, 

Stadtrat  in  Braunschweig. 

Die  Privatidiier  und  -lehrerinnen  sind  in  Deutschland  keineswegs 
auf  Rosen  gebettet.  Sobald  die  Kräfte  nachzulassen  anfangen,  beschleicht 
manchen  von  ihnen  bange  Sor^c  um  die  Zukunft.  In  den  l)eteili^'ten 
Kreisen  ist  nach  S.  240  der  Ik^^rundung  zu  dem  neuen  „Invaliden- 
versiclierungsgesetze",  mit  welchem  sicli  in  letzter  Zeit  der  Reichs- 
tag beschäftigt,  iioiiier  dringender  der  Wunsch  laut  geworden,  dafs  der  im 
Lehrerberufe  vielfach  beobachtete  wirtschaftlichen  Notlage  durch  An- 
schluft  an  die  staatliche  Versicherung  nach  Möglichkeit  ahg^olfen  werden 
möchte.  Dabei  ist  hervorgehoben,  dafs  die  in  Frage  kommenden  Per* 
Bönen  aus  eigoien  Kräften  trotz  des  Bestehens  besonderer  Pensions- 
anstalten  und  ähnlicher  Einrichtungen  nicht  genügend  imstande  seien« 
ihren  Lebensabend  sicherzustellen 

.  Es  verdient  als  erfreulich  erwähnt  zu  werden,  dafs  der  Gesetz- 
entwurf in  Js  I  Nr.  2  diesen  Bestrebungen,  die  in  einer  Reihe  von  Ein- 
gaben der  Vereinsvorsiaiide  namens  einer  erheblichen  Zahl  von  Lehrern 
und  Lehreruuien  au  die  Keiclisregierung  herangetreten  smd,  verständnis- 
volles Entgegenkommen  gezeigt  hat,  indem  er  die  „Lehrer  und  Erzieher**, 
welche  Lohn  und  Gehalt  beziehen,  deren  regelmaisiger  Jahreaarbeitsver- 
dienst  aber  2000  Mk.  nicht  übersteigt,  den  Betriebsbeamten  gleichstellen 
und  dem  Versichenmgszwange  unterwerfen  will. 

Nur  insofnn  ist  mit  Recht  ihre  Behandlung  in  den  neuen  Be- 
stimmungen eine  von  den  Betriebsbeamten  abweichende,  als  sie  niemals 
einer  niedrigeren  Lohnklnsse  als  der  vierten  (mehr  als  850  .Mk.  jährlich) 
anpeliort-n  sollen,  aucii  wenn  thatsächlich  ihre  Beschäftigung  mit  allen 
Nebcnenmalmien  weniger  einbringt.')    Die  von  den  Motiven  (S.  268J 

*)  Vgl.  §  aa  Abs.  2  am  Ende  des  „Entwurfs  eines  InTalidenversicbeniacs- 
grsetxes**,  Nr.  93  der  Reichstagsdmeksachen  von  1898/99. 


Digitized  by  Google 


H.  von  Frankenberg,  Die  Venichemngspilicht  der  Lehrer.         21 1 


bierfiir  ins  TteSka  geführte  Erwägung,  dais  auf  diese  Weise  eine  ange- 
messene Versorgung  erzielt  werde,  ist  allgemeiner  Billigung  gewifs.  Nach 
den  üblichen  Auslegungsregeln  gilt  derselbe  Mindestlohnsatz  ni(  ht  allein 
für  die  männlichen  Personen  des  Lehrerstandes,  sondern  auch  fiir 
Lehrerinnen,  Gouvernanten  u.  s.  w.  Ebenso  liegt  kein  Grund  dafiir 
vor,  diejenigen  Erzieher  und  Erzieherinnen  auszunehmen,  welche  Air 
fremde  Redmung  eine  Anstalt  (Pensionat,  Pädagogium  u.  dgl.)  leiten 
und  deshalb  als  fietriebsbeamte  angesehen  werden  könnten. 

Der  Wodienbeitrag  berechnet  sich  hiernach  auf  30  Pf.  Wird  ein 
Jahresarbeitsverdienst  von  mehr  als  X150  Mk.  nachgewiesen,  so  ist  die 
fiinfte  Ixihnklasse  roafsgebend,  die  von  der  Novelle  neu  vorgeschlagen 
wird,  und  der  Wochenbeitrag  stellt  sich  auf  36  Pf.  Da  die  Versicherten 
aus  eigenen  Mitteln  nur  die  Hälfte  der  Beiträge  aufzubringen  verpflichtet 
sind,  so  handelt  es  sich  für  die  Beteiligten  um  eine  jährliche  Aus- 
gabe von  7,80  bis  9,36  Mk 

Nachdem  der  Entwurf  die  Zustimmung  der  gesetzgebenden  Körper- 
schaften erlangt  hat,  wird  ein  Privadehrer,  der  dreiisig  Jahre  hindurch 
ohne  wesentliche  Unterbrechungen  in  seinem  Berufe  thätig  gewesen  ist 
und  bei  der  dann  emtretenden  Invalidität  1500  Beitragswochen  erftUlt 
hat,  eine  Invalidenrente  von  290 — 330  Mk.  jährlich  beziehen.*)  Die 
Altersrente  stellt  sich,  je  nachdem  die  eine  oder  and^e  der  beiden 
obersten  Lohnklassen  inafsgebend  ist,  auf  200 — 230  Mk.  im  Jahre.  Es 
ist  ja  freilich  nicht  zu  leugnen,  dafs  oft  stH)^t  für  die  bescheidensten 
Ansprüche  ein  Auskommen  mit  diesen  Betragen  allein  kaum  möglich 
sein  mag,  aber  es  wird  sich  dabei  in  vielen  Fallen  um  einen  sehr  will- 
kommenen Zuschufs  handehi,  der  in  \'erbindung  mit  Ersparnissen,  mit 
Beihülfe  von  Verwandten  und  mit  der  etwaigen  beschränkten  Möglich- 
keit eigenen  Erwerbs  ausreicht,  die  Betreffenden  vor  Not  su  bewahren. 

Mutmafslich  wird  die  Versicherungq)flicht  der  Lehrer  mit  ddm 
I.  Januar  1900  in  Kraft  treten  163  der  Novelle).  Wer  von  ihnen 
zu  dieser  Zeit  das  70.  Lebensjahr  zurückgelegt  hat  und  den  sonstigen 
gesetzlichen  Bedingimgen  genügt,  tritt  sofort,  ohne  bisher  Bei- 
träge geleistet  zu  haben,  in  den  (lenufs  der  Altersrente.  Wer 
dauernd  crwcrl)sunläing  wird,  erhält  die  Invalidenrente,  sofein  er 
wenigstens  40  IJeitragswochen  auf  Clrund  der  Versicherungspllicht  erfiillt 
hat;  die  Invalidität  darf  also  nicht  vor  Anfang  Oktober  1900 
eintreten       156  das.).     Die  alsdann  zu  gewährende  Rente  beträgt 

')  Nach  der  in  §  26  der  Kommissionsvorsclilä^"-  vdrf^'esehenen,  Regen  die  bis- 
herige Rechtslage  erhcbhch  veränderten  Reutenberechnuiij^  kommt  zu  dem  Keichszu- 
«■chufs  von  50  Mk.  ein  Grundbetrap  von  <^>c>  Mk.  und  eine  kcntensteifjrrunj,'  von 
0,10  .  i  500  ^  1  sO  Mk.  in  viert<T  Lulinkla>sc.  also  zusamnun  2<)o  Mk.  jährlich. 
Findet  die  fünfte  l.obnklabse  Anwendung,  so  beträgt  die  Rente  50 -f-  100^10,12. 
1 500)  —  330  >lk. 

14* 


Digitized  by  Google 


212 


MiszeUen. 


mindestens  204  Mk.  jährlich^  sie  steigt  mit  jeder  Beitra^woche  um 
10  bis  12  Pf. 

In  Lehrerkreisen  könnte  die  Besorin^^is  platzgreifen,  da&  bei  der 
Flrage,  ob  dauernde  Erwerbsunfslhigkeit  vorliege,  mit  grofser  Strenge  ver- 

fähren  und  eine  ihnen  völlig  fremde  Lohnarbeit  inbetracht  gezogen 
würde,  zu  der  der  Betreffende  zwar  allenfalls  im  stände  ist,  die  aber  fiir 
ihn  nach  allgemein  üblicher  Anschauung:  srhlerhterdings  nicht  j)afst.  In 
dieser  Heziehung  darf  die  boruhigciide  (iewifshcit  gegeben  werden,  dafs 
der  Kntwurf  mehr  ;ils  bisher  (he  aequitas  zur  (ieUuni:  bringt,  ohne  welche 
die  wohlwulleiaien  Gedanken  der  so/ialpolitisihen  Fürsorge  leicht  ihren 
Zweck  verfehlen  würden.  Invalidität  ist  dann  anzunehmen,  wenn  jemand 
in  Folge  von  Alter»  Krankheit  oder  anderen  Gebrechen  nicht  mehr  im- 
stande ist,  durch  eine  seinen  Kräften  tmd  F^igkeiten  entsprechende 
Lohnarbeit,  die  ihm  unter  billiger  Berücksichtigung  seiner 
Ausbildung  und  bisherigen  Berufsthätigkeit  zugemutet 
werden  kann,  den  dritten  Teil  desjenigen  zu  erwerben,  was  körjjer- 
lieh  und  geistig  gesunde  Lohnarbeiter  derselben  Art  durch  Arbeit  zu 
verdienen  pflegen.  Mit  den  Motiven  (S.  24711.)  ist  anzunehmen,  dafs 
eine  vcrstäiulige  l'ra.vis  mit  dieser  Hcstiinmung  ganz  wohl  werde  aus- 
kommen ktjnnen.  wenn  auch  die  (irenze  der  Invalidität  etwas  zu  Gunsten 
der  \'ersi(  heften  gegen  fViiher  vers(  hoben  wird.  Selbst  in  den  östlichen 
Bezirken  unseres  X  ateilandes,  in  denen  die  Lehrer  leider  oft  inbezug 
auf  Unterkommen  und  Besoldung  sehr  schlecht  gestellt  »nd,  wird  es 
nach  den  obigen  Ausführungen  schwerlich  einem  Vorstande  der  Ver- 
sicherungsanstalt einfallen,  dem  zur  Ausübung  des  Lehramts  unßihig  Ge- 
wordenen die  Verrichtung  niederer  Tageldhnerdienste  u.  dgl  zuzumnten. 

Uebrigens  sind  diejenigen  Lehrer,  welche  die  Eigenschaft  als  Be- 
amte des  Reichs  oder  eines  Bundesstaats  besitzen,  von  der  Versiche- 
ningspflicht  attsgenomrnen,  solange  sie  lediglich  zur  Ausbildung  für  ihren 
zukünftigen  IkTuT  beschäftigt  werden  (V{  4).  Dasselbe  gilt,  sofern  die 
Versorginig  der  P.ctreffeiKien  durch  .\  n  w  a  r  t  s c  h  a  f  t  auf  Pension 
itn  Miiniesibetrage  der  Invalidenreiite  1  1 1 1  Mk.)  gewährleistet  ist.  und 
zwar  hinsichtlich  der  Lehrer  und  Erzieher  an  öffentlichen  (Ge- 
meinde* u.  s.  w.)  Schulen  und  Anstalten  unbedingt,  für  die  an  Privat- 
einrichtungen Besdiäft  igten  auf  Grund  emes  etwa  in  dieser  Richtung 
ergehenden  Bundesratsbeschlusses  ($  4b).  Auf  ihren  Antrag  sind 
von  der  Versicherungspflicht,  die  in  solchen  FäUen  einen  überflüssigen 
Zwang  bedeuten  würde,  diejenigen  Personen  zu  befreien,  welchen  auf 
Grund  früherer  Besc  hältigung  als  Lehrer  oder  Krziehcr  an  öffentlichen 
Schulen  oder  .\nstalien  i'ensionen,  Wartegelder  oder  ähnliche  Bezüge  im 
Miiu!e>tl)etiagc  einer  Invalidenrente  bewilligt  sind       4  a). 

l.>ie  \'ersicherung-[)llir!it  soll  na<  h  den  Darlegungen  der  Regierungs- 
vorlage den  Lehrerstaiid  im  wi  iicstcn  Lmfange  erfas>en :  eine  Unter- 
scheidung  zwischen   einer   ihrer  Natur   nach   höheren,  mehr  geistigen 


H.  von  Frankenberg,  Die  Versidieningspflicbt  der  Lehrer.  213 


(wissenschaftlicheo,  künstlerisclien  etc.)  Thätigkeit  und  solchen  Unter- 
weisungen, denen  ein  wissenschaftlicher  Charakter  fehlt,  die  mehr  zur 
Förderung  der  leihlirhen  Kntwicklung  erfolgen  oder  rein  technische 
Natur  haben,  wird  fortan  nicht  mehr  stattfinden.  Jetler  Praktiker  wird 
der  Begründung  heistiuimen,  welche  ausilrücklic  h  (S.  241»  darauf  auf- 
merksam macht,  dafs  jene  Trennung  sich  bisher  bei  Streitfällen  als  sehr 
schwierig  erwiesen  habe  und  zu  einer  für  die  Beteiligten  kaum  ver- 
ständlichen verschiedenen  Behandlung  sozial  gleichstehender  Personen 
fuhren  könne. 

Von  diesem  nivellierenden  Grundgedanken  geht  überhaupt  der  neue 
Entwurf  aus:  er  will  schlechthin  (»sonstige  Angestellte,  deren  dienstliche 
Beschäftigung  ihren  Hauptberuf  bildet",  in  den  Vxrsicherungszwang  hinein- 
ziehen, sofern  die  Gehaltsgrenze  von  2000  Mk.  jahrlich  nicht  übers*  hrittcn 
wird,  insbesondere  die  sog.  Hausbeamten,  Hausdamen,  Privatsekretärc 
und  ähnliche  Hilfskräfte  des  Haushaltes  in  einer  über  den  Stand  der 
Dienstbott^n  hinaus  rai^'enden  Stellung  S.  239  das.).  Bisher  waren  /ahl- 
reiclic  dieser  rersonen  ausgeschlossen,  auf  die  sich  die  „.Anleitung  des 
Reicbsversicherungsamts  betreft'end  den  Kreis  der  nach  dem  Invalidltäts- 
tmd  Altersveracherung  versicherten  Personen"  vom  31.  Oktober  1890 
bezog  (vgl.  Nr.  4  und  13  das.).  In  Zukunft  kommt  es  nicht  mehr 
darauf  an,  ob  Jemand  „durch  seine  soziale  Stellung  (Iber  den  Personen- 
kreis sich  erhebt,  der  nach  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  und  vom 
Standpunkte  wirtschaftlicher  Auffassung  dem  .Arljeiter  und  niederen  Be- 
triebsberimtenstande  angehört";  auch  die  Gesellschafterinnen,  Leibärzte, 
Hausgeistlichen,  Hausbibliothekarc  u.  s.  w.  werden  neben  den  eben  Ge- 
nannten versit  herungspfli(  htiLT,  und  sie  l'efnulen  sich  mit  den  „Lehrern 
und  Erziehern"  jedentälls  in  guter  (k-sellst  liaft, 

Unklar  ist  es  deshallt,  wie  die  .M()ti\e  da/u  gelangten,  diejenigen 
Hilfsarbeiter  der  inneren  Mission,  welche  eine  höhere,  mehr  wissenschaft- 
licbe  Thätigkeit  ausüben,  von  dem  Versicheningszwange  befreien  zu 
wollen.  Was  dem  Kandidaten  der  Theologie  recht  ist,  der  den  Sohn 
eines  Gutsherrn  zu  erziehen  hat,  das  mufs  seinem  Amtsbruder  billig  sein, 
der  als  Hilfsgeistlich^  der  Berliner  Stadtmission  eine  nicht  mit  Pen- 
sionsanwartschaft verbundene,  aber  gleichwohl  auf  längere  Zeit  bemessene 
Thätigkeit  gegen  entsprechende  Vergütung  ausübt.^) 

Während  hier  also  die  (irenzen  der  VersicherungspHicht  zu  eng  gc- 
gesieckt  waren,  schiefst  an  einer  anderen  Stelle  der  Verfasser  der  Be- 

l>urcli  die  Kcichtagskommission  ist  liitr  eine  Vcrhfs^truug  geschaffen:  es 
BoUes  diejenigen  Personen  von  der  Vcrsichcrung.>>pflicht  befreit  sein,  welche  Unter- 
ricM  gegen  Entgelt  erteilen,  sofern  dies  während  ihrer  wissenschaftlichen  Ausbildung 
nr  iuen  zukOofUgen  Lebensberuf  geschieht  (§  4  Absatz  3).  Man  bat  dadurch  z.  B. 
Studeaten,  welche  während  ihres  Studiums  durch  Privatunterricht  sich  die  nötigen 
Mittel  «rwerbcn,  von  dem  Zwange  ausgeschlossen  ^Bericht  No.  370  S.  31). 


Digitized  by  Google 


214 


Missellcn. 


gründung  in  dem  dankenswerten  Bestreben,  möglichst  viden  Lehrern  und 
Erziehern  den  Nutzen  der  Invalidenversicherung  zuzuwenden,  beträchlich 
über  das  Ziel  hinaus:  er  will  auch  diejenigen,  welche  aus  der  Erteilunp^  ein- 
7c1ner  Stunden  ein  rjcwerhe  machen,  vcrsirherunpsrerhtlirh  ebenso 
behandeln,  wie  andere  nie  ht  ständig  beschäftigte  Personen,  ja  er  glaubt 
selbst  die  Lehrer,  die  in  ihrer  eigenen  U'ohnung  den  Unterricht 
geben,  dem  Zwange  unterwerfen  zu  sollen  (S.  242).  Das  entspricht 
weder  dem  Bedfirfob,  noch  ist  es  juristisch  zti  voteidigen.  Wer  in 
semer  eigenen  Behausung  sich  dem  Erwerbe  widmet,  ist  r^ehnäfsig 
selbständig  und  steht,  von  den  hier  nicht  in  Frage  kommenden 
Hau^ewerbetreibenden  abgesehen,  nicht  in  einem  AbhjLngigkettsverhültnis, 
wie  es  bei  der  Versichcrungs{)tlicht  und  der  damit  verknüpften  anteQ> 
mäfetgen  Verbindlichkeit  des  Arbeitsgebers  die  Voraussetzung  bildet. 

Dieser  Gnindsatz  ist  bisher  bei  zahlreichen  Personenklassen  fest- 
gehalten, wcl(  he  der  staatlic  hen  Fürsorge  ohne  Fraire  noch  mehr  be- 
dürfen, als  der  Stand  der  Lehrer,  z.  H.  bei  den  Nahennnen,  Waschfrauen, 
Spinnerinnen  u.  dgl.  vgl.  auch  S  ^58  Nr.  3  der  Nc)velle\  Bei  Schneidern 
ist  sogar,  wenn  sie  in  den  Wohnungen  ihrer  Kunden  den  Beruf  ausüben, 
häufig  Versicherungsfreihett  angenommen.^) 

Um  so  weniger  gerechtfertigt  wäre  es,  zu  Gunsten  einer  emzelnen, 
neu  in  die  Versicherung  eintretenden  Abteilung  erwerbsthätiger  Personen 
hiervon  abzuweidien.  Nebenbei  mag  darauf  hingewiesen  werden,  dais 
Air  manche  Lehrer  und  Lehrerinnen,  die  in  ihren  eigenen  Räumen 
Unterricht  gegen  Entgelt  erteilen,  und  bei  deren  V^ergUtung  man  weder 
\on  „Lohn  oder  (jchalt"  noch  von  einem  „Arbeitgeber"  zu  reden  pflegt, 
auch  aus  einem  anderen  Clrundc  die  Vcrsii herunus(»tlicht  ausgesc  hlossen 
sein  wird,  deshalb  nämlich,  weil  sie  durch  Krmietimg  und  Herric  htung 
der  zu  Lelu/wecken  dienenden  Räume,  (iegcnständc  und  (ierätschaften 
oft  ein  namhaftes  Risiko  eingehen,  das  den  erzielten  Reinertrag  als 
Untemehmergewinn  erscheinen  lälst*);  auch  verschafien  sie  sidi  nicht 
selten  zugleidi  mit  ihrer  Lehrthätigkeit  durch  Veräulserung  der  ihrem 
wissenschaftlichen  oder  künstlerischen  Wirken  entsprungenen  Objekte  eine 
mehr  oder  minder  bedeutende  Einnahmequelle  (Honorar  der  Schrift« 
steller  und  Komponisten,  Verkauf  von  Bildern,  Skulpturen  u.  dgl.). 

Uebrigcns  hat  bereits  die  Reichsgewerbeordnung  damit  gerechnet, 
dafs  die  Erteilung  von  Unterricht  gegen  Entgelt  als  ein  selbständiges 
l^nternehmen  angesehen  werden  könne.  J«|  6  das.  nimmt  ausdrüc  klich 
die  entgeltlic  he  Erziehung  von  Kindern  und  das  l'nteiri*  htswesen  von 
der  Wirksamkeit  der  R.ücw.O.  aus,  weil  man  in  dieser  Beziehung  der 

')  Amtliche  Nachricht<Mi  des  ReichsversicliervngMmts,  InvaliditSts-  und  Alten* 
Tersichentng,  1803  S.  81  Nr.  236. 
«)  Ebenda,  1S94  S.  3»  Nr.  327. 


Digitized  by  Google 


H.  von  Frankenberg,  Die  Veraidienmgspilicht  der  Lehrer.  215 


Landogesettgebung  vollständig  frden  Spielnuim  lassen  wollte.^)  Andrer- 

seits  behandelt  Jl  35  Abs.  i  das.  die  „Erteilung  von  Tanz-,  'l'um-  und 
Schwimm-Unterricht  als  Gewerbe",  also  im  Gegensatze  zu  dem  .,Unter- 
richtswescn"  des  J>  6,  mit  welchem  insbesondere  die  Thätigkeit  an 
öffentlichen  oder  privaten  T.ehranstalten  gemeint  ist.-) 

Nur  wenn  man  diese  l'nterscheidung  zwischen  selbständiger  und 
abhängiger  Ausübung  des  Lehrcrberutes  gelten  läl'st,  wird  die  Ausdehnung 
des  Versicherungszwanges,  inbesondere  auch  die  Entrichtung  der  Bei- 
trage durch  Einklebung  von  Marken,  ohne  nennenswerte  Sdiwierigketten 
▼on  statten  gehen. 

Die  Erwartung  der  Motive  (S.  24a),  es  würden  die  Weiterungen  bei 
Feststdlung  des  verpflichteten  Arbeitgebers  dadurch  abgeschwächt  werden, 
dafe  der  in  seiner  eigenen  Wohnung  Unterricht  gebende  Lehrer  die 
Beiträge  selbst  leisten  und  sich  den  Rückgriff  auf  den  betreffenden 
Arbeitgeber  vorl)ehalten  könne,  vermag  ich  nicht  zu  teilen.  Zunächst 
ist  es  sehr  fraglich,  ob  in  solchen  Fällen  der  Lehrer  selbst  sich  ent- 
schliefst, das  Markenkleben  seinerseits  zu  besorgen.  Aber  auch  wenn  er 
dazu  geneigt  wäre,  so  bereitet  bei  mehreren  gleichzeitig  unterrichteten 
Kindern  verschiedener  Familien  und  bei  zahlreichen  sonstigen  Fällen  die 
Beitragseinforderung  derartige  Unbequemlichkeiten,  dafs  er  liebor  sich 
dazu  versidien  wird,  aus  dgenen  Mitteln  den  ganzen  Beitrag  allein  zu 
bestrntcn,  und  das  wieder^bt  dem  Grundgedanken  der  Invalidenver- 
sicherung, solange  nicht  gemäfs  §  2  Abs.  i  Nr.  i  des  Inv.Vers.Ges. 
durch  Beschluß  des  Bundesrats  die  Versicherungqyflicht  auf  Unternehmer 
ausgedehnt  ist 


')  Koliscb,  Die  Retchs>Gewerbeord&niig,  Hannover  1898,  S.  11  Anm.  4  und 

5      §  6 

")  Keger,  Entfcheidongea,  Bd.  7  S.  3;  Bd.  16  .S.  9. 


Digitized  by  Google 


LITTERATUR. 


Lando It ,  Carl,  Die  Wohnungsenqueie  tn  der  Stadt  Bern  vom 
ly.  Februar  bis  ii.  März  iSgö.  Im  Auftrag  der  städtischen 
Behörden  bearbeitet.  Bern  (Druck  und  Kommissionsverlag 
von  Neukomm  &  Zimmermann]  1899.  XXXIX  u.  712  S. 
gr.  8* 

Die  Bearbeitung  der  Wohnungsenquete  der  Stadt  Bern  hat  Im  Qrunde 
gmommen  weit  mehr  gehalten,  als  man  von  ihr  erwartete.  Dieses 

Zeuofnis  ist  um  so  ehrenvoller,  als  die  Anlage  der  Erhebung  und 
die  Ziele,  welche  sich  dieselbe  ;,^esteckt  hatte,  von  \ornherein  einen 
wertvollen  Beitrag  zur  Kenntnis  städtischen  Wohnungswesens  und  einen 
kräftigen  Ansporn  /u  rationeller  Wohnungsgeselzgebung  und  Wolinungs- 
poUtik  erwarten  liefsen.  Prof.  Karl  Büchers  Bearbeitung  der  Basier 
Wohnungserhebung  vom  i.  bis  19.  Februar  1889  hatte  der  Bemer  Er- 
hebung wie  allen  übrigen  in  der  Schweiz  den  Stempel  au^edrfickt  und 
konnte  man  darum  schon  aus  diesem  Grunde  berechtigte  Hoffnungen 
auf  die  Nachfolger  setzen.  Dazu  liefs  sich  namentlich  in  Bern  und 
Zürich  das  Streben  erkennen,  sich  die  Basler  £rfalirung:en  auch  noch 
nach  einer  anderen  Seile  hin  zu  Nutzen  /u  mnchen,  die  dort  gewiesenen 
Wege  weiter  auszubilden  und  dort  /u  Tage  getretene  Lücken  bestmöglichst 
zu  ergänzen.  Der  l'mfang  der  Erhebung  wurde  weiter  ausgedehnt,  der 
Wohnungsstatistik  auch  die  Geschäftsräume,  Werkstätten  etc.  unterstellt. 
Die  Erforschung  der  baulichen  Verhältnisse  der  Wohnung  ging  gleichfalls 
viel  weiter  als  in  Basel,  indem  nach  der  Zahl  der  lichtgebenden  Fenster 
und  Gtosthttren,  der  Art  der  Beheizung  und  der  Ausnutzung  der  Wohn* 
räume  und  Küchen  gefragt  wurde.  Der  allgemeine  Zustand  der  Wohnimg 
sollte  neben  den  in  Basel,  Bern  und  Winterthur  erforschten  Merkmalen 
auch  noch  dahin  untersucht  werden,  ob  die  Wohnung  sonnig,  hell  odm 
dunkel  sowie  ob  die  Ventilation  möglich,  unmöglich  oder  erschwert  sei. 
F.l)enso  wurde  die  Bcschatilenheit  der  Treppen  und  die  Möglichkeit  der 
Rettimg  für  die  Bewohner  bei  l-'euerausbruch  erfragt.  Die  L'nigebung 
der  W  ohnung,  über  welche  in  Basel  blofs  bei  ungünstiger  und  zweifei- 


Digitized  by  Google 


Landolt,  Carl,  Die  Wohnmigieiiqaete  io  der  Stadt  Bern  etc. 


217 


hafter  Beschaffenheit  einzelner  Räume  nähere  Auskunft  verlangt  wurde, 
soüte  in  Hern  viel  gründlicher  erforscht  werden.  Dasselbe  gilt  vom 
sozialen  Qiarakter  der  Wohnung,  der  Zusammensetzung  der  Haus- 
haltung etc.  Aehnliches  trifft  man  l»ci  der  Statistik  der  Mietpreise.  Die 
Thatsache,  dafs  im  Mict/.iiis  tast  nirgends  die  ganze  N'erglitvmg  enthalten 
zu  sein  ptlc^^t,  welciie  der  Mieter  fiir  die  Benutzung  einer  Wohnung  zu 
bezahlen  hat,  sollte  durch  die  Frage  nach  der  Bezahlung  der  VVasserzinse 
imd  Illuminationsgebühren  erforscht  werden.  Zur  näheren  Charakteri- 
aerang  der  MietverhältnisBe  im  allgemeinen  sowie  der  sozialen  Stufe  der 
Vermieter  und  Mieter  wurde  auch  nach  der  Zahlungsfrist  des  Miet> 
Zinses  gefragt. 

Der  Erfolg  dieses  tieferen  Eindringens  ist  kein  ganz  gleichmä&iger.  Rr 

ist  geringftigiger  an  allen  Punkten,  auf  welchen  das  meist  dem  Arbeiter- 
stande angehörende  Krhebungspersonal  auf  relative  Merkmale  angewiesen 
war,  was  übrigens  vorauszusehen  und  von  uns  vorausgesagt  war.  .Archiv 
für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik  X.  Bd.  S.  61  7.1  .\ls  Beweis  hier- 
für weisen  wir  auf  die  Darstellung  der  Trcppcnverhahnisso  hin.  hei 
welchem  .\nlafs  der  Bearl)eiter  der  K,iK|uete  sich  folgendermafsen  aulsert  : 
„Da  die  Erhebungsbeamteu  zum  ^rulsten  Teil  aus  Volksschichten 
stammten,  die  nicht  an  luxuriöse  oder  auch  nur  behagliche  Wohnver- 
hdtnisse  gewöhnt  sind,  roufste  ihre  Beurteilung  der  Verhältnisse  der 
Wohnungen  notwendigerweise  anders  ausfallen,  d.  h.  günstiger  lauten, 
als  das  Urteil  von  Leuten,  die  selbst  an  eine  bessere  Wohnung  gewöhnt 
sind.  So  wird  jeder  Kenner  der  Treppenverhältnisse  erstaunt  sein  über 
die  in  tmserer  Enquete  nachgewiesene  geringe  Anzahl  \nu  Wohnungen 
mit  schlechten  Treppen.  Hier  hat  das  erwähnte  Wohnverhältnis-Milieu 
dt-r  Krhebungsbeamten  die  Beurtoihin^i  der  'rrei)|>enverhältnisse  l)eeintlufsf'. 
Knie  ähnliche  Kiiischränkunf;  giebt  der  Bearbeiter  der  'labollo  (CXCVT) 
über  die  Zimmer  nach  ihrer  Ventilierbarkeit  und  ihrem  baulichen  Zustand 
mit  auf  den  Weg. 

ErfreuKch  dagegen  ist  der  Erfolg  dieses  tieferen  Eindringens  nach 
allen  anderen  Punkten  und  ist  es  sehr  zu  bedauern,  dafs  der  Bearbeiter 
durch  äufeere,  nicht  in  seinem  Willensbereich  liegende  Verumständungen 
verbindert  war,  alle  Vergleiche,  welche,  nach  den  Vorarbeiten  zu  urteilen, 
hätten  vorgenommen  werden  sollen,  wirklich  auch  vorzimehmen.  So 
konnten  die  Verhältnisse  der  ZinniK  r  weder  mit  der  Rendite  der  Wohn- 
häuser, in  denen  sie  liegen,  noch  mit  dem  relativen  Mietpreis  pro  Kubik- 
meter, noch  mit  der  Zimmerzahl  der  Wf)hnnng  verglichen  werden.  I>ic 
Arbeitsraumzahlkarte  blieb  ohne  \erwoiiduiig.  Unausgeführt  blieb  tlie 
beabsichtiirte  Darstellung  der  hauserweisen  .Vlietiireise  pro  Wohnraum,  <lie 
gesonderte  Beschreibung  der  kleinen  und  libervölkertcn  Wohnungen  und 
der  wichtigsten  Wohnungserscheinungen  in  einigen  Hauptstrafsen.  Ebenso 
konnten  die  Wohnverhältnisse  nicht  mit  der  Sterblichkeit  in  Beziehung 
gesetzt  werden.   Diese  Unterlassung  ist  um  so  stärker  zu  bedauern,  als 


Digitized  by  Google 


2l8 


Littemtar. , 


die  ganze  Arbeit  sich  durch  die  durchaus  systematische  Anlage  aus* 
zeichnet  und  vom  Allfiemcinen  zum  Besonderen,  vom  Ganzen  zum  Teile 
schreitend  den  V'orteil  leichten  Uel)crl)lirks  und  rascher  Orientierung 
über  jefilichon  Punkt  bietet.  Dies  ergiebt  sich  übrigens  schon  aus  bei- 
folgender Gliederung  des  Inhalts. 

Nach  der  Einleitung,  welche  in  die  Darstellung  der  Veranlassung 
der  Untenudiung,  der  im  Laufe  der  Verhandlungen  zu  Tage  getretenen 
Gesichtspunkte»  der  Durchführung  der  Untersuchung,  des  Umfangs  der 
Erhebung  und  der  Vollständigkeit  und  Richtigkeit  des  Materials»  der 
VorberdtuDg  des  Materials  zur  statistischen  Behandhing  und  methodolo* 
gischc  Bemerkungen  zerPällt.  folgen  die  statistischen  Ergebnisse.  Diese 
behandeln  im  ersten  Teil  die  Flächenverhältnisse,  Ueberbauung  und  Be- 
völkernnpsdichtijjkeit  des  Stadtgebiets.  Der  zweite  Teil  befafst  sich  mit 
der  Benützung  und  dem  Assekuranzwert  der  (!el)äu(le  und  dem  Grund- 
steuerweit der  überhauten  ( Grundstücke,  wahrend  tier  dritte  Teil  die 
Wohnhäuser,  der  vierte  die  Wulmungen  und  der  fünfte  die  Räume  der 
bewohnten  Wohnungen  darstellt.  Dem  Mietpreis  der  Wohnungen  wendet 
sich  der  sechste  Teil  zu,  während  der  siebente  Teil  die  Bodenrente, 
Wert»  Preis  und  Rendite  der  normal  bewohnten  Grundstücke  darzusteUen 
sucht  und  der  achte  Teil  einer  Uebersicht  der  Hauptergebnisse  der 
Wohnungsenquete  giebC. 

Neben  diesem  Vorzug  der  Bearbeitung  darf  nicht  vergessen  werden» 
dafs  die  Berner  Enquete  die  wirtschaftliche  Lage  des  Individuums  als 
Ursache  gewisser  Massenerscheinungen  mön^lichsl  zu  erforschen  suchte. 
r)ie  Individuen,  deren  wirtschaftliehe  Laire  eine  ähnliche  ist,  wurden  in 
40  so^.  „soziale  (iruppen"  vereinigt.  Einzelne  (iruppen  sind  hierbei  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  auch  nach  Berufsgrupiiea  unterschieden.  So 
treffen  wir  die  „Arbeiter"  in  drei  verschiedenen  Gruppen.  Die  Gewerbe- 
treibenden sind  nach  einem  allerdings  etwas  schwankenden  Maisstab  in 
Klein»  tmd  Grofsgewerbetreibende»  die  Handeltreibenden  in  eigentliche 
Grossisten,  im  Handelsregister  Eingetragene  und  Nichteingetragene  unter- 
schieden. Die  Bezeichnungen  dieser  sozialen  Gruppen  haben  natürlich 
nicht  immer  auf  jeder  Tabelle  in  ihrem  vollen  Umfange  reproduziert 
werden  können,  weil  dies  zu  viel  Raum  beansprucht  hätte.  Deshalb 
wurden,  wenn  gröfsere  und  damit  dcutlicliere  Vergleichszahlen  gewonnen 
werden  sollten,  die  sozialen  Gruppen  in  drei  ,, soziale  Schichten"  zu- 
sammengefalst.  Dadurch  wurde  es  möglich,  den  Zusammenhang  zwischen 
den  Wohnverhältnissen  und  der  allgemeinen  ökonomischen  Lage  der 
Bewohner  so  gründlich  aufzudecken,  wie  dies  bisher  noch  nirgends  ge- 
schehen ist  Statt  einer  Aufzählung  der  *kesultate  dieser  durch  die 
ganze  Arbeit  konsequent  und  subtil  durchgeführten  Unterscheidung  be- 
gnägen  wir  uns  mit  einer  Gegenüberstellung  der  beiden  sozialen  Gruppen  , 
welche  die  besten  und  die  schlechtesten  Wohnverhältnisse  aufweisen: 


Digilized  by  Google 


Landolt,  Carl,  Die  W<duiiiiigsenquete  in  der  Stadt  Bero  etc. 


• 

f  rrofshändler, 

H  inkiers  u.  dgl. 

Bauarbeiter 

Absolut 

relativ 

absolut 

relativ 

Praxent 

Prosent 

— 

6.9 

1.8 

— 

o,9 

— 

a.5 

112  khm  Luftraum  pro  Kopf  (cxkl.  Kttche)  . 

— 

59 

— 

»4 

Wohnungen  ohne  Küche  

— 

84 

5.5 

Wohnungen  mit  mangelhaften  KUcben  .    .  . 

I 

».5 

676 

46,7 

WoteoDfai  nit  gemeiiucliafUiefaen  Aborten  . 

— 

973 

63.3 

Wobnongen  mit  nurngdbaften  Aborten  .   .  . 

33t3 

I4S8 

95.4 

Wobnnngcn  ohne  Dependenzen  

— 

93 

6,0 

Wohnungen  obne  Aoscfalui»  an  die  Wasser- 

9 

1 126 

73.3 

W<dimmgen,  deren  KttchenschUttstein  keinen 

Ablauf  bat  

— 

— 

618 

43,6 

Wohnnngen  mit  mangelhaften  Treppen    .  . 

3 

4.4 

304 

Wohnungen,  dcrrn  Tnsa>*;cn  sich  bei  Feuer- 

ausbrucl)  nirht  leicht  retten  können   .  . 

2,9 

a6» 

20,7 

4» 

8,2 

15.5 

Zimmer  mit  scblccbter  Bdeaebtmig  .... 

S 

1.6 

n? 

4,3 

Fencbtc  und  baulich  anbefriedigende  Zimmer 

37 

1.4 

4«o 

i6.9 

Dnrchscbnittlirhrr  Preis  pro  kbm  Luftraum 

3.94  ^  r• 

4,25  Fr. 

Darchschnittlichcr  rrei>  pro  Zimmer 

209  „ 

•50  " 

Dieser  bcdeutunt^svollc  Gegensatz  wird  (knch  die  Ziffern  des 
schichteiiweisen  Zusammenziigs  dahin  ergänzt,  dafs  die  W'ohnungsverhält- 
nisse  mit  ganz  unbedeutenden  Ausnahmen  in  jeder  Hinsicht  um  so 
schlechter  sind,  einer  je  niedereren  sozialen  Gruppe  bezw.  Schicht  der 
Haushaltungsrorstand  angehört.  Der  Bearbeiter  sieht  die  Konsequenz 
dieses  Beweises  in  der  Erkenntnis,  „dals  wir  es  in  der  Wohnungsfrage 
mit  einer  sozialen  Massenerscbeinung  zu  thun  haben,  tind  dafs  alles,  dem 
bei  der  Lösung  dieser  Frage  einigermaisen  Bedeutmig  zukommen  kann, 
nicht  vom  Willen  des  einzelnen,  weder  des  Mieters,  noch  des  Grund- 
eigentümers bezvv.  W'ohnhauseigentÜniers  abhängig,  sondern  einzig  und 
allein  von  wirtschaftlichen  Gesetzen  bedingt  ist,  deren  Funktionen  gegen- 
über der  einzehic  um  so  weniger  ausrichtet,  je  schwacher  er  in  uirt- 
schafthcher  Hinsicht  ist.  Darum  kann  allfallig  zu  erlassenden  gesetz- 
lichen ]5estimmungen  nur  dann  eine  jjr.iktisi  he  Ik'deutung  zugesjui«  hen 
werden,  wenn  die  wirtschaftlichen  Bedingungen  zu  ihrer  praktischen 
Durchführung  geschaffen  worden  sind.  Die  Verhältnisse  sind  mächtiger 
als  alle  Gesetze,  imd  wo  sie  einander  entgegenstehen,  wird  das  Gesets 
mit  allen  ihm  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  nichts  ausrichten.  Bekannt 
genug  ist  ja  ein  in  dieser  Hinsicht  typisches  Vcwkommnis  in  unserer 
Stadt   Es  wurde  vor  einigen  Jahren  auf  Verfügung  der  Behörden  eine 


Digitized  by  Google 


220 


Litteimtnr. 


Wohnung  als  gesundheitswidrig  geschlossen.  Kurze  Zeit  darauf  mufste 
die  nämliche  Wohnung,  ohne  dafs  an  ihr  Veränderungen  vorgenummea 
worden  wären,  wieder  zum  Bewohnen  geöffnet  werden,  weil  eben  die 
Wohnungsnot  hierzu  zwang". 

Wir  unsrerseits  bezweifeln  die  Erfüllung  dieser  mit  jngendfrischem 
Wagemut  ausgesprochenen  Hofihung  und  wagen  es  nicht  zu  glauben,  dafs 
die  Beroer  Erhebung  einen  derartigen  Umschwung  in  der  (jkonomischen 
Weltanschauung  der  dortigen  Bevölkerung  bewirken  werde.  Auch  hier 
gelten  die  Gesetze  der  Kntwickhing.  wenn  auch  nicht  ui  Abrede  zu 
stellen  ist,  dafs  eine  derartige  Demonstration  aus  nächster  Nähe  und  ge- 
wissermafsen  am  eigenen  Leib  das  Pul)likura  wie  die  Hehörden  viel 
rascher  und  gründlicher  zu  beiehren  und  zu  bekehren  imstande  ist,  als 
irgend  eine  abstrakte  Abhandlung. 

Die  konsequent  durchgeführte  Unterscheidung  der  Mieter  und  Ver- 
mieter in  soziale  Gruppen  und  Schichten  fuhrt  namentlich  auch  bei  der 
Darstellung  des  Mietpreises  der  Wohnung  zu  äu&erst  wertvollen  Ergeb- 
nissen. Die  höchsten  absoluten  Wobnungsmieten  bezahlen  die  (jrofs- 
händler,  Bankiers,  Fürs[)recher,  Aerzte,  Notare.  Grolsgewerbetreibende, 
„bessere  Kleinhändler",  Professoren,  Lehrer,  Pfarrer.  Baumeister  und 
Architekten,  die  kleinsten  die  verschiedenen  Arbeitergruppen.  1  )ie 
Durrhschnitt>preise  pro  Wohnraum  sind  wie  diejenigen  der  Wohnungen 
um  so  kleiner,  einer  je  niederen  sozialen  Schicht  der  Haushaliung-.- 
vorstand  angehört.  Doch  ist  die  Ditlerenz  zwischen  dem  Durchschnitts- 
preis, den  die  obere  Schicht,  und  demjenigen,  den  die  untere  Schicht 
für  einen  Wohnraum  bezahlt,  bei  weitem  nicht  so  grofs  wie  diejenige 
zwischen  der  durchschnittlichen  Wohnungsmiete  dieser  beiden  Schichten. 
Noch  kleiner  wird  diese  Differenz  auf  das  Zimmer  berechnet.  Für  den 
Kubikmeter  Luftraum  einschliefslich  die  Küchen  zahlen  alle  drei 
Schichten  ungefähr  den  gleichen  Preis.  Kur  den  Kubikraum  exklusive 
Küche  znhit  die  untere  soziale  Schicht  einen  höheren  Preis  als  die  obere 
und  mittlere  soziale  Schicht. 

Lie  eingehende  lleschreibung  des  \  erhalinisNes  der  Preisgestaltung 
je  nach  der  Gruppenzugehorigkeii  des  Wohnungsmieters  einerseits  und 
der  Wohnungsvennieter  andrerseits  erforderte  eine  Ausscheidung  der 
kleineren  Mieter-  und  Eigentümergruppen.  Doch  hindert  dies  nicht,  am 
Vorkommen  von  Relativzahlen,  deren  Berechnung  weniger  als  20  Bälle 
/u  ('.runde  liegen.  Darum  mögen  die  I>etails  dieser  Nachweisungen  für 
die  Bewohner  der  Bundesstadt  von  Interesse  sein. 

Weiteren  Kreisen  genügt  die  zahlenmäfsig  festgestellte  Thatsache, 
dafs  die  Wohnungsmieter  der  unteren  sozialen  Schicht  an  die  Wohnungs- 
vermieter der  luiteren  sozialen  Sc  hicht  die  absolut  kleinsti-n,  aber  die 
relativ  höchsten  Mietpreise  bezahlen,  welcher  Satz  sich  aus  anderen 
Thatsachen  dahin  ergänzt,  dafs  die  Wohnungsmieter  an  die  Wohnungs- 
vermieter Air  um  so  schlechtere  W<^nungen  einen  relativ  um  so  höheren 


Dlgitlzed  by  Google 


Kistjakowski,  l'h.,  Gcscllächatt  und  Cinzclwcäcn. 


221 


KiGetaiis  bezahlen,  einer  je  niedereren'  sozialen  Gruppe  der  Wohntings* 
mieter  einerseits  und  der  Wohnungsvemiieter  andrerseits  angehören. 
Aehnllche  Erscheinungen  zeigt  die  Vergleichung  des  relativen  Mietpreises 

der  Wohnungen  mit  ihren  Dependenzen,  zu  welchen  Keller,  Vorrats* 
magazine,  Stallungen,  Gärten,  Jucharten  Land,  offene  Veranden,  Terassen, 
Balkone  und  dergleichen,  Si)ei5ekammem,  VVaschkürhen,  Schwarzzeug- 
Holz- \'orfensterkammera  und  dergleichen,  sowie  Badezimmer  gezählt 
wurden. 

Die  Erforschung  und  Darstellung  der  Bodenrente,  des  Wertes,  des 
Preises  und  der  Rendite  der  normal  bewohnten  Grundstücke  ist  eine 
der  meist  umstrittenen  Positionen  der  ganzen  Bemer  W(^ungserhebung 
gewesen.  Die  Durchführung  sowie  die  Ergebnisse  der  Aufnahme  nach 
dieser  Seite  hin  lassen  dies  erklärlich  erscheinen.  Zwar  hat  die  Theorie 
der  Bodenrente  durch  die  Bearbeitung  keine  Bereicherung  erfahren. 
Aber  die  Art  der  Berechnung  und  die  eingehende  Betrachtung  derselben 
hat  entschieden  einen  wesentlichen  Beitrag  zur  rationellen  Lösung  der 
Wohnungsfrnf^e  geliefert.  Die  Totalrente  wird  als  licrjenige  Teil  des 
Bruttoertrages  eines  zum  Wohnungsbau  dienenden  Grundstückes  be- 
zeichnet, welcher  nach  Abzug  von  jährlich  6 "  ^,  des  in  den  Häusern 
angelegten  Kapitals  für  Zins,  Amortisation,  Arbeitslohn  des  Eigentümers 
und  Rinkoprämie  übrig  bleibt  Die  Totahrente  wird  in  die  kapitalisierte 
und  die  reine  Rente  unterschieden.  Erstere  soll  den  Teil  umfassen, 
der  auf  die  landesübliche  Verzinsung  des  Bodenkaufpreises  entfiUlt.  Zur 
Feststellung  des  Bauwertsmaximums  der  ILiuser  diente  der  auf  das  Jahr 
1896  berechnete  Assekuranz  wert.  Der  Nachweis,  dafs  der  Assdturanz- 
wert  das  Bauwert- Maximum  der  Häuser  relativ  substituieren  kann,  wird 
dadurch  zu  leisten  versucht,  dafs  der  Bauart  und  dem  zum  Bau  eines 
Wohnhauses  verwendeten  Material  der  ausschlaggebende  Einflufs  zuge- 
schrieben wird. 

Dieser  Nachweis  ist  insofern  gelungen,  als  deutlich  gezeigt  werden 
iRNinte,  dafs  der  Raumgehalt  der  Gebttude  auf  deren  Assekuranzwert 
ohne  Einwirkung  ist  und  dafs  das  Alter  der  Gebäude  auf  den  gleichen 
Wert  ganz  untergeordnet  wirkt.    Auf  diese  Weise  wurde  durch  eine 

ganze  Reihe  sehr  einläfslicher  Berechnungen  festgestellt,  dafs  ein  um  so 
kleinerer  Teil  der  Totalrente  kapitalisierte  Rente  und  ein  um  so  gröfseier 
Teil  reine  Rente  ist,  je  weiter  entfernt  die  (irundstiicke  vom  Stadtkern 
liegen.  Damit  ist  auch  die  weitere  Thatsache  gegeben,  dafs  die  (irund- 
stiicke der  niederen  so/Jalen  Gruppen  eine  relativ  pröfscre  Rente  ab- 
werten oder  dafs  der  in  der  reinen  Rente  repräsentierte  (iewinn  bei 
Grundstücken  mit  schlechten  Wohnhäusern  gröfser  ist  als  bei  denjenigen 
mit  guten  oder  befriedigenden  Wohnhäusern.  Selbst  das  Verhältnis 
zwischen  dem  letzten  Raufpreis  der  Grundstücke  und  ihrem  aus  dem 
fottoertrag  des  Jahres  1896  berechneten  Wert  wurde  ermittelt  Unter 
den  Momenten,  welche  reduzierend  auf  den  Preis  der  Grundstücke 


Dlgitlzed  by  Google 


232 


Litterator. 


gegenüber  ihrem  Werte  einwirken,  wird  hauptsachlich  die  wirtschaftliche 
Schwäche  vieler  „Hauskäufer"  angeführt.  Diese  Hegründung  scheint 
uns  nicht  ganz  stichhaUig  zu  sein.  Vielleicht  hatte  eine  Darstellung  der 
sozialen  Gruppen/ugehörigkeit  der  Eigentümer  jener  (irundstücke,  deren 
drei  letzte  Kaufpreise  ermittelt  wurden,  hier  aufsteigende  Einwände  zu 
zerstreuen  vermocht. 

Mit  Recht  enthilt  sich  der  Bearbeiter  der  Eoquete  socnsagen  jeg- 
licher Wegleitung  zur  Verbessenmg  der  bestehenden  Wohnungszustände. 
Seine  Aufgabe  ist  erflUlt  mit  der  Darlegung  und  Eikllrung  der  vot- 
handenen  Verhältnisse.  Gesetzgebung  und  rationelle  Wohnungspolttik 
werden  hieraus  die  praktischen  Zielpunkte  leicht  zu  finden  vermögen. 
Sozusagen  das  einzige  Mittel,  das  der  Bearbeiter  anrät,  ist  eine  |>eriodische 
Beobachtung  des  Wohnungsmarktes  durch  Zählung  der  leerstehenden 
Wohnungen ,  um  dadurch  jeweils  Auskunft  zu  erhalten,  an  welchen 
(irofsenklassen  von  Wohnungen  in  Ijcstitnmten  Lagen  Mangel  herrscht. 
Diese  Zurückhaltung  ist  zudem  noch  aus  Gründen  mehr  persönlicher 
Natur  zu  begreifen.  Die  Wohnungsenquete  in  Bern  hat  viel  Sttiub  auf* 
gewirbelt  und  zur  Verwerfung  des  Budgets  durch  die  Stimmbefechtigten 
der  Stadt  Bern  w6h\  nicht  unwesentlich  beigetragen.  Am  8.  Februar  a.  c 
hat  sie  bei  der  zweiten  Budgetberatung  im  Grofsen  Stadtrat  eine  lange 
Debatte  heraufbeschworen,  welche  nicht  ohne  .Angriffe  auf  die  Person 
des  Bearbeiters  verlief.  Gerade  weil  der  Bearbeiter  eine  weit  und  tief 
angelegte  Durchdringung  des  vorhandenen  Materials  in  verhältnismafsig 
kurzer  Zeit  und  ohne  die  ublulien  .Abschlagszahlungen  statistischer 
Aemter  in  Form  der  rublikaiion  sog.  „vorläufiger  Ergebnisse"  erstrebte, 
blieben  ihn»  Vorwürfe  nicht  erspart.  Der  gelungene  Abschlufs  der 
ganzen  Erhebung  mag  ihm  hierfür  Ersatz  sein  und  denjenigen  zum  Tröste 
dienen,  welche  sich  um  die  rund  40  000  Fr.  betragende  Ueberschreitung 
des  ursprünglichen  Kredits  von  6000  Fr.  allzusehr  kümmerten.  Die  auch 
hinsichtlich  der  Ausstattung  mustergültige  Bemer  Wohnungsenquete  bildet 
hoffentlich  blofs  den  Anfang  zu  ähnlichen  Publikationen  des  wohl  bald 
ins  Leben  tretenden  statistischen  Amtes  der  Stadt  Rem. 

Frauenfeld.     •  E.  HOFMANN. 


Ä is  ij  a   ou>  s  k  i ,    Th.  Dr..   Crsi  llschaft  und  Einzelwesen.    Fline  nie- 
th«  KlolDgische  L'ntcrsuchuii^.    Berlin  1899.    X  u.  205  S. 

Das  Buch  ist  W  ilhelm  Windelband  und  Georg  Simmel  als  „Lehrern" 
des  V'erfassers  gewidmet.  Der  Name  Siumu'l  umschiiefst  für  die  sozio- 
logische Forschung  ein  l'iogramm.  Simmel  war  namlich  der  erste, 
welcher  den  soziologischen  Problemen  erkennt uiskritisch  beizu> 


Digitized  by  Google 


Kifttjakowski,  Tb.,  Gesellachaft  ond  Einwlwesen. 


223 


kommen  suchte.    Und  auf  diesem  Gebiete  liegt  ja  die  hoffiiungsvoUe 

Zukunft  der  soziolojarischen  Forschung.  Wenn  ich  dies  ausspreche,  so 
will  ich  andrerseits  hinzufügen,  dafs  ich  auf  die  Pflege  der  Soziolo^'io 
als  v()l1i£^  verseil )st.indifrter  Disziplin  gar  wenig  Wert  lege.  Im  Gegenteil. 
In  der  aufdringlichen  Hetonung  der  vermeintlichen  Selhsiändigkoit  der  , 
soziologischen  Forschung  sehe  ich  ein  dcutli<  lies  Symptom  wissenschaft- 
licher Unreife  und  methodologischer  Unklarlieit.  Soziologie  wird  m.  E. 
immer  nur  eine  erkcnntnistheuretische  Einleitung  in  die  und  allgemeine 
Methodeolehre  der  SosialwisBeaschaften  bleiben.  Es  ist  dies  eine  andere 
Aufiaasimg  des  ,»Problems  der  Sosiologie**,  als  die  von  Simmd  vorgetragene. 

Von  diesem  Standpunkte  aus  ist  dne  „methodologische  Studie'*, 
als  die  sich  die  Arbeit  Kistjakowskis  auf  dem  Titel  aufweist,  lebhaft 
zu  l>egrüfsen.  Ich  sehe  in  meiner  liesprcchung  von  einer  eigentlichen 
Inhaltsangabe  ab  und  .werde  nur  einzelne  Punkte,  die  mir  entweder 
besonders  wichtig  erscheinen  oder  mich  zum  Widersprudi  auffordern, 
herausgreifen  und  in  Kürze  besprechen. 

Im  ersten  Kapitel  weist  Kistjakowski  nach,  dafs  die  älteren  an- 
thropomorphistischen  Anschauungen  über  das  Wesen  des  Staates 
von  den  neueren  naturalistischen,  der  sog.  „organischen  Theorie" 
wesentlich  verschiedoi  sind  (S.  i — 18).  Die  Kritik  der  organischen 
Theorie  (U  Kap.  Gesellschaft  und  Organismus,  S.  19 — 55)  ist  dem 
Verfasser  auch  entschieden  gelungen.  Kistjakowslqf  hebt  trefTend  her* 
vor,  dais  „in  den  letzten  Jahrzehnten  es  sehr  geläufig  geworden  (ist) 
zu  behaupten,  dafs  die  Naturgesetze  auch  für  gesellschaftliche  Er- 
scheinungen gelten^  oder  dafs  diesell>en  allgemeinen  Gesetze  in  der 
Gesellschaft  wie  auch  in  der  Natur  herrschen  müssen.  Solche  an- 
geblich wissenschaftlichen  Redensarteu  vertlanken  ihre  Entstehung  haupt- 
sächlich dem  oberflä«  hlichen  (iebrauche  der  Worte  „Gesetz"  und  „Natur- 
gesetz" ...  In  Wirklichkeit  haben  wir  keine  Gesetze  im  allgemeinen. 
Was  die  Naturwissenschaft  bis  jetzt  erreicht  hat,  besteht  in  der  Ent- 
deckung der  mechanischen,  astronomischen,  physischen,  chemischen, 
physiologischen  und  sonstigen  Gesetze.  Der  Begriff  „Naturgesetz^  falst 
bio&  diese  getrennten  Klassen  von  Gesetzen  in  eine  gemeinsame  be- 
griffliche Gruppe  zusammen.  Es  giebt  aber  kdn  höheres  Naturgesetz, 
in  dem  diese  Gesetze  auch  wirklich  aufgehen  kimnten.  Wenn  wir  also 
IMTÜfen,  was  diesen  einzelnen,  verschiedenen  Reihen  der  Naturgesetze 
gemeinsam  ist,  dann  können  wir  nur  die  kausale  N'erbindung  der  Er- 
s(  hcinuiigcii  als  soh  lie  au'^scheidell.  Dieser  gemeinsame  Zug 
aller  Naturgesetze  ist  jedoch  selbst  kein  Gesetz,  sondern 
eine  Norm  unseres  Denkens"  (33).  Diese  ganze  Ausfuhrung 
mitsamt  dem  von  mir  gesperrten  Satze  bietet  freilich  für  philosophisch 
Geschulte  nichts  Neues.  Wie  es  aber  wichtig  ist,  solche  erkenntnis- 
theoretische Gemdnplätze  dem  allgemeinen  Bewußtsein  beizubringen, 
beweist  die  an  Dilettantismus  geradezu  einzig  dastehende  Litteratur  des 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


224 


Lhteratur. 


historischen  Materialismus.   Wenn  ein  lo  herviniagendar  Schriftsteller 

wie  Bernstein  erklärt,  dafii  „die  Frage  nach  der  Richtigkeit  der  materia- 
listischen (ieschichtsaufTassung  die  Frage  ist  nach  dem  Grade  der 
geschichtlichen  N  o  t  w  e  n  d  i  k  e  i  t" ,  so  ist  das  kein  lapsus 
calami,  sondern  nur  ein  deutlicher  Beweis  heilloser  Bc^'rittsverwirrung 
infolge  mangelnder  erkenntnistheorctisrhcr  Bildung.  Durch  die  hier  zu 
Tage  tretende  gerade/.u  stupende  philosophische  Unklarheit  beweist  Bern- 
stein schlagend,  wie  Recht  Conrad  Schmidt  hatte,  als  er  den  Marxisten 
Kantstudinm  empfahl.  Mäfsiges  Kantstudium  hätte  Bernstein  davor  be* 
wahrt»  nach  dem  „Grade"  der  Notwendigkeit  zu  fragen^).  Das  Kausai- 
gesets ist  oberste  Nonn  des  Denkens  und  als  solche  gilt  es  für  alle  Er* 
kenntnisobjecte.  In  diesem  Sinne  ist  alles  —  Natur.  J)k  Soziologen 
der  organischen  Schule  haben  also  vollständig  Recht,  wenn  sie  die 
Gesellschaft  als  direkte  Fortsetzung  der  Natur  . . .  auf&ssen.  Um  jedoch 
zu  beweisen,  dafs  wir  die  sozialen  Erscheinungen  nur  dann  begreifen 
können,  wenn  wir  sie  unter  dem  (lesichtspunkte  der  kausalen  Verbindung 
betrachten,  braucht  man  nicht  den  ganzen  Aj)[)arat  der  Naturwissen- 
schalten imd  die  Analogie  /.wischen  den  gesellschaftlichen  und  rein  natür- 
lichen Erscheinungen.  Dazu  genügt  schon  das  logische  Postulat,  dals 
wir  nur  das  verstehen,  was  wir  als  notwendig  o<ter  im  kausalen  Zu- 
sammenhang  auffassen,  tmd  die  daraus  folgende  emfache  methodologische 
Ueberlegung"  (S.  33—34)- 

In  Anlehnung  an  Windelband  „Geschichte  und  Naturwissenschaft** 
und  Rickert  „Die  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Pegriftbildung^ 
deckt  Kistjakowski  den  begrifflichen  Gegensatz  der  Naturgesetze  im 
eigentlichen  \'cistande  und  der  sog.  „KiUwicklungsgcsetze'',  die  im  Grunde 
genommen  gar  keine  Gesetze  sind,  auf.  Doch  vermisse  ich  in  den  Aus- 
fuhrungen Kistjakowskis  die  logische  Schärfe  und  Sicherheit,  welche  die 
eben  genannten  Arbeiten  Windelbands  und  Rickerts  auszeichnet  und 
ihren  Hmptwcrt  ausmacht. 

Im  Anschlufs  an  Simmel  (III.  Kap.  Staat  und  Gesellach^  S.  56 
bis  87)  entwickelt  Kistjakowski  den  Begriff  der  Gesellschaft.  Er  wendet 
sich  gegen  Stammlers  Definition  des  sozialen  Lebens  und  von  seinem 
methodologischen  Standpunkte  gewifs  mit  Recht  Leid»  versäumt  er 
es  den  b1eil)enden  Verdienst  Stammlers  ins  richtige  Licht  zu  rücken, 
nämlich  den  Überaus  wichtigen  Nachweis,  dafs  das  Verhältnis  zwischen 

'1  K(l.  Hrriivtein.  Di.-  \ Draussctzuugcn  des  Socialiärnus  und  die  Aufgaben 
Sozialdcniokrati«-.    Stuttgart  1S99.  S.  4. 

*)  Mit  dieser  Bemerkung  will  ich  keineswegs  den  son^ti^<-n  Wert  der  verdienst» 
liehen  Schrift  Bernsteins  irj^dwie  herabsetxen.    Was  den  sosialpoUtischen  Inba 
derselben  betrifft,  stehe  ich  Bernstein  viel  nfiher  als  »einen  Gegnern  und  halte 
das  Hervortreten  Bernsteins  fttr  eine  ebenso  seitgemäfse  als  mntvoUe  und  folgen- 
schwere  Handlung,  ich  mücbte  sagen,  für  eine  That. 


Digitized  by  Google 


Kistjak owski,  1  h.,  (jcscUschalt  und  Einzelwei rn. 


225 


Wirtschaft  und  Recht  logischerweise  garaidit  als  ein  Verhältnis  zwischen 
Ursache  and  Wirkung  aufgefa&t  werden  kann.  Das  IV.  (Die  Anwendung 
der  Kategorien  des  Raumes,  der  Zeit  und  der  Zahl  auf  die  Kollektiv- 
emheiten,  S.  88 — iio)  und  V.  Kap.  (Kollektivbegriffe  und  Kollcktiv- 
wesen,  S.  iii  — 144)  bilden  den  wertvollsten  Teil  der  Studie  Kistjakowskis. 
Sehr  t:ut  weist  Kistjakowski  nach,  dafs  Rümelin  einen  fjrofsen  Fehler 
be^^clit ,  wenn  er  reale  Kiiiheiten  wie  Fainilicfi  und  (Gemeinden,  und 
die  i>o^.  statistischen  (»esamtheiten  als  etwas  vom  logischen  Standpunkte 
beinahe  Identisches  behandelt  und  unter  einem  und  demselben  Namen 
„Koflektivbegrifr'  suhsnmiert. 

Die  Gesellschaft  ist  mehr  als  ein  KoUektivbe griff,  sie  ist  eine 
reale  Einheit,  ein  Kollektiv wesen.  „Die  Hauptatifgabe,  welche  bei  der  • 
Erkenntnis  der  Natur  des  gesellschaftlichen  Wesens  gestellt  werden  Itann, 
besteht  ...  in  der  Unterscheidung  zwischen  der  rein  be^^rifflichen  Zu- 
sammenfassung  vieler  einzelner  Individuen  in  einem  Zahl-  oder  Gesamt- 
heitsbcfrriff  und  der  realen  Einheit,  in  welche  diese  Individuen  in  einer 
gesellschaftlit  lu-n  Hildinig  voreinigt  werden."    S.  126 — 127.) 

Wenn  wir  bisher  der  Kistjakowskisehcn  Anerkennung  zollen  zu 
müssen  glaubten,  so  macht  das  Kapitel  (Der  allgemeine  und  der 
individuelle  Geis^  S.  145—196)  uns  stutzig.  Es  ist  sehr  unklar  ge- 
halten und  in  ihm  werden  Ansichten  vorgetragen,  welchen  wir  wissen» 
schaftlicfae  Bedeutung  von  vorneherein  absprechen  müssen. 

Nur  eine  Probe  davon: 

„Der  allgemeine  Geist,  der  sich  zu  seiner  Wirkimg  im  einzelnen 
l'ewufstsein,  wie  der  Gattungsbegriff  zum  F.xemplar  verhält,  mufs  natur- 
gcnials  nach  anderen  Gesichtspunkten  untersucht  werden  als  der  allge- 
meine (ieist,  der  sich  aus  dei\  einzelnen  Funktionen  itn  individuellen 
Bewufstsein  allmählich  zusannnensetzt  und  ein  Ganzes  ausmacht,  zu  dem 
sich  die  einzelnen  Geister  als  Teile  verhalten.  Die  erste  Fonn  des  all- 
gemdnen  Geistes  bildet  das  Reich  der  Normen;  dieses  Gebiet  der 
Realen  wird  in  den  besonderen  normativen  Wissenschaften  behandelt . . . 
Die  Normen  als  solche  machen  nämlich  nicht  (sie!)  einen  untrennbaren 
Ik>standteil  der  Gesellschaft  als  Gesamtheit  der  Individuen  aus,  sie  stellen 
sich  der  kritischen  (!)  Betrachtung  als  vom  empirischen  Thatbestande 
tuuibhängiger,  überindividueller  Geist  dar.  Zwar  gehören  sie  gleichfalls 
zum  allgemeinen  Geiste,  aber  nicht  als  ein  aus  der  jjsyclio-genetischen 
Fntwi<  klang  analytisch  (?)  zu  gewinnendes  Resultat,  sondern  als  neues 
eigenartiges  Element"  ''S   183 — 184). 

Hier  schlägt  Kistjakowski  eine  Brücke  zwischen  seinen  Ansichten 
und  dem  wissenschaftlich  bedenklichsten  Teile  der  Stammlerschen  Lehren. 
Was  bei  Kistjakowski  als  „vom  empirischen  Thatbestande  unabhängiger, 
ttberindividneller  Geist"  erscheint,  sieht  dem  Stammler'schen  „objectiven 
Wollen",  „objectiv  berechtigten  Wollen"  verzweifelt  ähnlich.  Diese  ganze 
Auffassung  beruht  auf  der  m.  E.  völlig  unhaltbaren  Loslösung  der  Kate- 


Digitized  by  Google 


226 


Littentnr. 


gorie  des  Oiyektiven  (und  des  Gesetzraäfsigen)  von  der  Kategorie  des 
Seins.  l'nd  da  das  Sollen  und  das  Sein  —  wie  dies  Sinunel  zu- 
treft'end  in  der  „Einleituuf^  in  die  MoiaUvisscnschaÜ"  (Hd.  1|  cm- 
wickelt  hat  —  als  qualitativ  verschiedene  \' o  r  s  t  e  1 1  u  n  g  s - 
modi  sich  aut  das  schärfste  scheiden,  so  kann  es  objektives  Sollen 
ebensowenig  wie  etwa  seiendes  Sollen  geben.  Auf  der  TrugvorstcUung 
des  objektiven  WoUens  bat  Stammler  seinen  sozialen  Idealismus  auf- 
gebaut; auf  der  TrugvorsteUong  eines  allgemeinen  Geistes  will  auch 
Kistjakowdd  ein  Reich  allgemeingültiger  Normen  aufrichten.  Beide 
wollen  die  Sanktion  der  „grauen  Theorie"  für  etwas,  was  gar  keiner 
theoretischen  Sanktion  bedarf:  für  die  Praxis. 

ist  schade,  dafs  die  anregende  methodologische  Studie  Kistji- 
kowskis  in  einer  radikalen  methodologischen  uder  vielmehr  erkenntnis- 
theoretischeii  Verirrung  ppfelt. 

Aber  trotz  alledem  suid  solche  Untersuchungen,  wie  die  Arbeit 
Kistjakowskis,  das,  was  uns  eben  notthut  Denn  der  mediodologischen 
UnUarhdt  entspringen  nicht  nur  die  formsle  UnbehoUienheit  der  modernen 
Sozialwissenschaftai,  sondern  auch  die  grö&ten  materiellen  Iirtttmer. 
Am  meisten  sollten  es  eigentlich  die  Nati<Mialökonomen  empfinden,  die 
sich  noch  auf  ganz  andere  methodologische  Fragen  als  die  Srhulkontro* 
verse:  Induktion  oder  Deduktion,  realistische  oder  abstrakte  Volkswirt- 
schaftslehrer /u  besinnen  haben.  Ohne  solche  methodologische  und  ich 
sage  heber  gleich  erkenntnistheoretische  Selbstbesinnung  ist  die  wich- 
tigste Aufgabe  der  modernen  Nationalökonomie:  den  „Marxismus''  kritisch 
zu  revidiren  und  weiterzubilden,  schleciithin  unlösbar. 

St.  l'etersburg. 

PKTER  V.  STRUVE. 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich 

vom  14.  Juni  1895. 

Von 

Prof.  Dk.  H.  RAL'CHBEKG 

m  Prag. 

Vorbemerkung. 

Durch  die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich 
vom  14.  Juni  1895  sind  sowohl  der  Wissenschaft  als  aucii  der  prak- 
tischen Sozialpolitik  neue  und  wichtige  Materialien  erschlossen 
worden.  Schon  ihr  äufserer  Umfang  ist  ganz  aufserordentlich.  Sie 
umfassen,  von  den  Veröffentlichungen  der  einzelnen  Bundesstaaten 
abgesehen,  nicht  weniger  als  18  Bande  in  dem  grofsen  Quellen- 
werke der  (Statistik  des  Deutschen  Reichs".  Die  Bände  102  bis 
HO  ihrer  neuen  Folge  enthalten  das  Zahlenmaterial  der  Berufs- 
statistik, die  Bände  113 — 118  das  Zahlenmaterial  der  Gewerbe- 
statistik. Der  Band  112  ist  der  landwirtschaftlichen  Betriebszählung 
gewidmet  Die  zusammen&ssende  Darstellui^  der  bera£»tatistischen 
Ergebnisse  ist  kürzlich  als  Band  III  erschienen.*)  Nur  die  zu- 
sammenfassende Darstellung  der  Gewerbestatistik,  welche  den  iig. 
Band  ausmachen  soll,,  steht  noch  aus.  Ihre  Hauptergebnisse  sind 
jedoch  bereits  in  Ergänzung  zu  dem  l.  Hefte  des  Jahrgangs  1898 
der  Vierteljahrshefte  zur  Statistik  des  Deutschen  Reichs  veröffent- 
licht worden. 

Mit  dem  Erscheinen  des  Textbandes  zur  Beruisstatistik  ist 
der  Zeitpunkt  gekommen,  die  Ergebnisse  der  gesamten  Erhebung 
den  Lesern  dieses  Archivs  in  wissenschaftlicher  Bearbeitung  vor- 
zuführen.  Es  wäre  ja  verlockend  gewesen,  die  einzelnen  Teile, 


')  Die  bonflichr  um)  so/.ialc  Gliederung  des  Deutschen  Volkes  nach  der  Bc- 
rnfszählung  Tom  14.  Juni  1895.    Berlin  1809. 

Archiv  fm  Ms.  Gesetzgebung  u.  Statiuik.  XIV.  15 


228 


H.  Kanchberg, 


etwa  in  der  Reihenfolge  des  Erscheinens,  abgesondert  zu  besprechen. 
Das  Archiv  wäre  dann  schon  zu  einem  viel  früheren  Zeitpunkte  in 
der  Lage  gewesen,  die  Zählungsergebnisse  auszugsweise  mitzuteilen. 
Gleichwohl  hat  der  Bearbeiter  im  Einvernehmen  mit  dem  Heraus- 
geber in  der  Erwägung  darauf  verzichtet,  dafs  eine  erschöpfende 
und  endgültige  wissenschaftliche  Ausbeutung  der  Materialien  erst 
dann  mö<^Mirh  ist,  wenn  sie  vollständig  vorli^^en.  Denn  die  einzelnen 
Teile  der  Erhebung  stützen  und  ergänzen  einander.  Ihre  Ergebnisse 
stehen  in  einen»  engen  inneren  Zusammenhange,  und  in  diesem 
Zusammenhange  sollen  sie  auch  vorgetragen  werden.  Und  dann 
brauchen  wir  hierfür  auch  die  Verhältnisberechnungen  und  Zu> 
sammenzüge  des  amtlichen  Textbandes.  Ein  privater  Bearbeiter 
hätte  dieselben  unmöglich  in  der  gleichen  X'ollständigkeit  und 
Verläfslichkeit  sich  verschaffen  können.  Auch  hätte  eine  solche 
Arbeit  ihren  Wert  nur  kurze  Zeit  behalten,  da  sie  durch  die  viel 
umfassendere  Bearbcituui^  des  Kaiserl.  Statistischen  Amtes  alsbald 
überholt  worden  wäre.  Ich  habe  es  daher  \()r<^czogen  zu  warten, 
bis  ich  diese  .Arbeit  für  meine  ci;^'ene  würtle  henützen  können. 

Nachdem  dies  nunmehr  der  l'"all  i>t,  freue  ich  mich  zu  sehen, 
wie  berechtijTjt  meine  Ilaltunj^^  war.  Denn  die  \on  dem  Referenten 
für  die  Berufs-  und  ( leu  erbezahlung  im  Kaiserl.  .Statistischen  .Amte, 
dem  Kgl.  Bayerischen  Hezirksamts-.Assessor  I  >r.  I'ricdrich  Zahn, 
vcrfafste  amtliche  Bearbeitung  der  Zähluni^seri^ebnisse  mufs  als  eine 
der  hervorragendsten  I.eistunc'en  der  modernen  .Statistik  anerkannt 
werden.  Der  Inhalt  des  Riesenwerks  ist  durch  umsichtiije  Anah-se 
völlig  erschlossen,  die  X'ergleichung  mit  den  Mri^^ehnisscn  der  .Auf- 
nahme von  1S82  soweit  als  irgend  möglich  liurchgefulirt,  che  l'eber- 
sieht  durch  zweckmäfsig  entworfene  und  sauber  ausgeführte  graj>hisrhe 
Darstellungen  erleichtert.  Das  Zählungswerk  erscheint  damit  in  glück- 
lichster Weise  ahL,feschl()ssen,  und  eine  xerläfslichc  Grundlage  ist 
geschaffen  für  alle  weiteren  I  ntersuchungen. 

Die  nachfolgerule  Darstellung  \erfolgt  den  Zweck,  die  Krgeb 
iiisse  der  Berufs-  und  ( iewerbezählung  den  Konsumenten  der  Sta 
tistik  sowohl  auf  dem  (icbielc  der  Wissenschaft  als  auch  der  Praxis 
näher  zu  rucken.  Zu  diesem  Zweck  sollen  zunächst  einige  mctho- 
dologi«s(Mie  I'.rorterungen  Platz  finden.  Sic  sind  notwendig  sowohl 
zur  Kritik  der  Zahlen  al>  auch  zur  Beurteilung  des  gcsiimien 
Zählungswerkes.  Wir  wollen  sehen,  welche  Aufgaben  es  sich  ge- 
stellt, und  welche  Wege  es  zu  ihrer  Lösung  eingeschlagen  hat. 
Die  gleichen  Bedürfnisse  wie  im  Deutschen  Reich  haben  im  Jaiire 


uiyiii^cü  Uy  Google 


Die  Benifii>  und  GcwerbedlMinig  im  Devtschen  Reicüi  vom  14.  Juni  189$.  229 

1896  auch  in  Frankreich  und  Belgien  zu  Berufs-  und  Betriebs- 
zahlungen geführt.  .  Sehr  interessante  methodologische  Verglei- 
chungen  sind  dadurch  möglich  geworden.  Nicht  minder  wichtig  ab 
die  Formulierung  der  allgemeinen  Aufgaben  der  Zählung  ist  aber 
die  Fassung  der  einzelnen  Fragen,  ja  selbst  die  Technik  der  Auf> 
bereitung  der  Ergebnisse.  Denn  von  der  Statistik  ganz  besonders 
gilt  in  dieser  Beziehung  der  alte  Satz,  dafs  kleine  Ursachen  oft 
grofse  Wirkui^^  haben.  So  bedarf  es  denn  keiner  besonderen 
Entschuldigung,  wenn  ich  nicht  sofort  in  die  Besprechung  der  Er- 
gebnisse eingehe,  sondern  vorerst  den  Vorhang  vor  der  Werkstätte 
der  Statistik  lüfte  und  zeige,  wie  man  zu  ihnen  gelangt  ist. 

Sodann  will  ich  aus  dem  riesigen  Ziflfernmaterial  diejenigen  That- 
sachen  herausheben ,  welche  die  gesellschafthche  Organisation  der 
deutschen  N'olkswirtschaft  und  ihre  Entwicklung  während  der  Zeit 
zwischen  den  beiden  Berufszählungen  zu  kennzeichnen  geeignet  sind. 
Auf  die  Kon.statierung  des  ThatsächHchen  durch  Mitteilung  wenig- 
stens der  wichtigsten  Zahlen  kann  nun  einmal  nicht  verzichtet  werden, 
wenn  es  gilt  die  Ergebnisse  grolser  statistischer  Aufnahmen  vorzuführen 
und  wissensciiaftlich  zu  er(")rtern.  Erst  wenn  wir  die  grundlegenden 
Zahlen  kennen,  dürfen  wir  daran  gehen  sie  zu  deuten,  Einblick 
zu  gewinnen  in  die  gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen  X'erhält- 
nisse,  die  darin  ihren  Ausdruck  finden,  und  zu  untersuchen,  welche 
allgemeinen  Entwicklungstendenzen  sich  daraus  etwa  ableiten  lassen, 
und  wie  sich  unsere  bisherigen  AnNchauungcn  dazu  veriialten:  ob 
sie  bekräftigt  werden  oder  vielmehr  nach  den  neu  erschlossenen 
Materialien  zu  berichtigen  sind. 

Hierbei  gelangen  zunächst  die  Ergebnisse  der  Berufszählung 
zur  Erörterung,  dann  jene  tier  landwirtschaftlichen  Bctriebszählung, 
zuletzt  der  Gewerbezählung,  Es  ist  aber  in  dem  inneren  Zusammen- 
hange der  drei  Teile  der  gesamten  Erhebung  begründet,  dafe  auch 
die  betriebsstatistischen  Ei^ebnisse  mit  zur  Beurteilung  der  Berufe- 
Statistik  herangezogen  werden,  wie  denn  auch  umgekehrt  von  dieser 
letzteren  aus  mancherlei  Streiflichter  auf  die  Betriebsverhältnisse 
&]]en. 


15* 


Digitized  by  Google 


310 


H.  Ranchbcrg, 


Erster  Teil. 

Die  Methode  der  Berufs-  und  Gewerbezählung. 

Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  vom  14.  Juni  1895  ist  be- 
kanntlich nicht  die  erste  Erhebung  dieser  Art  im  Deutschcfi  Reich. 
S^ie  ist  imgrofsen  und  ganzen  eine  Wiederholung  der  gleichartij.^en 
Erhebung  vom  5.  Juni  1882,  welche  in  der  Botschaft  Kaiser  Wil- 
helm I.  vom  17.  November  1881  als  die  X'orbedingung  der  sozial' 
politischen  Reformgesetzgebung  bezeichnet  worden  war,  die  durch 
jene  Botschaft  eingeleitet  werden  sollte.  Bei  der  raschen  Kntwicklung 
des  wirtschaftlichen  Lebens  und  insbesondere  der  deutschen  In- 
dustrie mufsten  die  Ergebnisse  der  Zählung  von  1882  schon  seit 
Jahren  als  veraltet  gelten.  Eine  neue  Aufnahme  war  unab\vci^bar 
geworden,  wenn  anders  das  bereits  erreichte  Niveau  unserer  Kennt- 
nisse nicht  durcli  das  allniählige  V'ersicgen  der  wichtigsten  Infor- 
mations(|uellc  erheblich  herabgedriickt  werden  sollte.  Die  Wieder- 
holung der  bcrufs/.ählung  war  schon  seit  Beginn  der  neunziger 
Jahre  \oti  der  \'olks\erlretung,  der  Wissenschaft  und  der  Presse 
verlangt  und  von  den  X'erwaltungsbehörden,  insbesondere  vom  Kaiserl. 
Statistischen  Amt  als  geboten  anerkannt  worden.  Dem  ist  auch  der 
Bundesrat  mit  l^eschlufs  vom  4.  Oktober  1894  beigetreten.  So  ging 
denn  dem  Reichstag  am  12.  Dezember  1894  ein  Gesetzentwurf  be- 
treffs Wiederholuii'^^  der  Berufs-  und  ( icwerhezählung  zu,  welcher 
unverändert  angenonmien  worden  ist  (Keich^esctz  vom  8.  April 
1895,  R.G.Bl.  S.  225). 

Das  Gesetz  ist  überaus  knapp  gehalten.  Es  beschränkt  sich 
darauf  anzuordnen,  dafs  im  Jahre  1895  eine  Ik^rufs-  und  Gewerbe- 
zäliluiiL^  für  den  l'mfang  des  Reiches  \orzunehmen  sei,  weist  die 
.•\ufnahme  selbst  den  Landesregierungen,  die  Ko>ten  für  die  Er- 
hebungsformularien  und  für  die  Wrarbeitung  dem  Reiche  /u,  be- 
schränkt die  Eragestellung  —  von  tiem  Personen-  und  bamilien- 
stande  und  der  R(  lii(ii>n  abgesehen  —  auf  die  Bcruts\  crhältiusse 
und  sonstige  regt  linat^igc  Lrwerbsthätigkeit.  sch Heist  jedes  Eindringen 
in  tlie  \'erm<)gens-  unti  lunkommensverhältnisse  aus,  und  sichert 
die  wahrheitsgemälsc  Beantwortung  der  I-'ragen  durch  Strafan- 
drohungen. Das  i>t  alles.  Nach  dem  4  des  Gesetzes  blieb  das 
Entscheidende  in  der  Sache  dem  Bundesrat  Überlasseti:  dfii  Tag 
der  Autnahine  anzusetzen,  die  Fragepunkte  zu  bestimmen,  die  I  ragen 
zu  formulieren,  die  b'ormularien  für  die  Erliebung  und  die  Bearbeitung 
der  Ergebnisse  festzustellen.    Auf  den  materiellen  Inhalt  der  Er- 


Digitized  by  Google 


Die  Beruf;»-  und  Gewerbezählung  im  Deutlichen  Reich  vom  14.  Juni  1S95.    23 1 

bebung,  die  auf  mindestens  ein  Jahrzehnt  hinaus  das  Terrain 
för  die  deutsche  Sozialpolitik  aufldaren  soll,  war  der  Reichstag  nur 
in  der  Form  von  Resolutionen  Einfluls  zu  nehmen  in  der  Lage. 
Die  parlamentarischen  Verhandlungen  haben  übrigens  nur  geringe 
Veränderungen  in  den  vom  Kaiseri.  Statistischen  Amte  entworfenen 
und  in  der  Konferenz  der  Landesstatistiker  vom  5.  bis  13.  November 
1894  gebilligten  Entwürfen  zur  Folge  gehabt,  weshalb  hier  auf  die 
verschiedenen  Anregungen  nicht  weiter  einzugehen  ist^) 

Freie  Hand  hatte  keiner  der  bei  der  Feststellung  der  Formu- 
larien  beteiligten  Faktoren,  weder  die  Statistiker,  die  sie  entwarfen, 
noch  der  Bundesrat,  der  darüber  entschied.  Denn  vor  allem  mulste 
man  darauf  bedacht  sein,  die  Vergleichbarkeit  der  neuen  Erhebung 
mit  jener  von  1882  zu  sichern.  Die  Möglichkeit  dieser  Vergleichung 
verleiht  nunmehr  beiden  Aufnahmen  doppelte  Bedeutung.  Sie 
liefern  nicht  nur  Momentbilder,  sondern  lassen  in  ihren  Abweichungen 
auch  die  Entwicklung  während  der  Zwischenzeit  erkennen.  Jede 
einzelne  von  ihnen  vermag  nur  das  Thatsächliche  zu  konstatieren, 
den  Zustand  am  Stichtage  der  Erhebung.  Gegeneinander  gehalten 
umschlielsen  sie  einen  fest  umschriebenen  Ausschnitt  aus  dem  grolsen 
sozialen  und  volkswirtschaftlichen  Entwicldungsprozels.  Wir  dürfen 
hoffen,  daraus  zu  entnehmen,  nicht  nur  wo  wir  stehen,  sondern  auch 
wohin  wir  steuern.  So  mulste  denn  die  Einrichtung  der  Aufnahme 
von  1882  malisgebend  werden  für  jene  von  1895,  nicht  nur  in  ihren 
Grundzügen,  in  der  Auswahl  der  Erhebungsobjekte  und  in  der 
Formulierung  der  Probleme,  sondern  auch  in  den  Details  und  der 
Textierung  der  Fragen.  Jeder  in  der  praktischen  Statistik  halbwegs 
Erfehrene  wdls,  wie  empfindlich  die  Volksseele  auf  die  feinsten 
Nuancen  der  Fragestellung  reagiert,  und  wie  sehr  die  Ergebnisse 
durch  scheinbar  geringfügige  Aenderungen  hierin  beeinflufst  werden. 

Das  organisatorische  Grundprinzip  der  Zahlungen  von  1882 
und  1895  mulste  also  das  gleiche  sein.  Es  besteht  darin :  zunächst 
eine  vollständige  Volkszahlung  vorzunehmen  und  dabei  jene  statistisch 
erfaTsbaren  Erscheinungen  auch  des  natürlichen  Lebens  der  Be- 
völkerung  zu  erheben,  die  (ur  ihre  wirtschaftliche  Bethatigung 
von  Belang  sind  oder  durch  dieselbe  sozial  differenziert  werden; 


*)  Eine  TollstSadige  Uebcnicht  darftber  findet  sieb  in  ndner  Besprechung  der 
Oi^udinlk»  der  Eibebatv  in  der  Statistischen  Monatschrift  XXI.  Jahig.  S.  2790; 
Vgl.  an^  G.  Majrr,  Die  Reicbstagsverhandinngen  Aber  die  Denlsche  Berafii»  und 
Gewerbczihlung  vom  14.  Juni  1895.   Allgem.  Statistisches  ArcbiT        S.  356  fr. 


Digitized  by  Google 


232 


H.  Ravcbberg, 


sodann  die  SteOung  der  so  charakterisierten  Individuen  in  dem 
volkswirtschaftlichen  Ftoduktioiisprozels  nach  BerulsKweigen  und 
sozialer  Schichtung  zu  ermitteln,  wobei  sich  Gelegenheit  ergiebt, 
die  Verhaltnisse  von  gewissen»  unter  speziellen  Gesichtspunkten 
interessanten  Ghruppen,  z.  B.  der  Heimarbeiter  oder  der  Arbeitslosen 
durch  Zusatzlragen  genauer  zu  kennzeichnen ;  endlidi  die  individuellen 
Berufeangaben  dazu  zu.  benutzen,  um  gleich  bei  der  Zahlung  die 
Unternehmer  oder  Betriebsleiter  herauszufinden  und  den  wichtigeren 
von  ihnen  durch  besondere  Formulare  Angaben  über  ihre  gewerblichen 
und  landwirtschaftlichen  Betriebe  abzuverlangen.  So  fiihrt  die  Volks- 
zählung zur  Berufszählung,  die  Berufszahlung  zur  gewerblichen 
und  landwirtschaftlichen  Betriebszählung.  Berufs-  und  Betriebs- 
Zählung  stehen  in  einem  notwendigen  Zusammenhange  zu  einander. 
Die  Berufsszählung  zeigt  uns  die  soziale  Stellung  der  einzelnen 
Metischen  gleichsam  reflektiert  in  dem  Spiegel  ihres  subjektiven  Be- 
wufstseins,  also  von  einem  mehr  atomistischen  Standpunkte  aus;  die 
Betriebszählung  hingegen  will  sie  in  jener  thatsächlichen  sozialen 
und  technischen  Gruppierung  erfassen,  in  welcher  sie  in  den  gesell- 
schaftlichen Produktionsprozefs  eingefügt  sind,  und  sie  charakterisiert 
überdies  diesen  letzteren  selbst  durch  die  Angaben  über  die  Unter- 
nehmungen und  ihre  technische  Ausrüstung.  Durch  diese  organische 
Verbindung  wird  die  schwierige  Frage  umgangen,  ob  für  die  Be- 
rufsangaben der  Arbeitnehmer  ihr  persönlicher  Beruf  oder  der 
Charakter  der  Unternehmung  mafsgebend  sein  solle,  wo  sie 
beschäftigt  sind,  also  der  Beruf  des  Arbeitgebers.  Thatsächlicli 
brauchen  wir  beides,  sowohl  die  Gruppierung  der  Bevölkerung  nach 
dem  persönlichen  Berufe,  als  auch  nach  dem  Charakter  der  Unter- 
nehmungen. Wir  erhalten  die  eine  durch  die  Berufs-,  die  andere 
durch  die  Betriebszälilung.  Daraus  fol«];t  ?ui(  h,  dafs  diese  letztere 
sich  nicht  etwa  blofe  auf  die  „etablierten",  von  den  Verwaltungs- 
behörden registrierten  Betriebe  beschränken  darf,  wie  dies  kürzlich 
aus  vermeintlichen  zählungstechnischen  Gründen  empfohlen  worden 
ist. ')  .\uch  die  Betriebsstatistik  soll  sämtliche  Erwerbsthätige  uni- 
fassen, sonst  kann  sie  ihrer  Aufgabe  nicht  entspreclicn,  das  gesamte 
arbeilende  Volk  in  seinen  Betriebsorganisationen  aufzuzeigen.  Noch 
eine  andere  Erwägung  spricht  gegen  die  reaktionäre  Beschränkung 


*)  Richard  Riedl,  Die  Deutschen Gewcrbczählungen  und  die  Refonn  dr r  Go» 
Werbestatistik  in  r)esterreich.  Statistische  Mitteilungen  der  niederösterreichiscbcB 
Haadek-  u.  Gcwerbduannier.   Heft  3.   Wien  1S98. 


uiyiii^cü  Uy  Google 


Die  Bcrnft'  vad  Gewerfarrlhlmig  im  Dcutidicii  Reich  vom  14.  Jnii  1895.  233 

auf  die  etablierten  Betriebe.  Die  Statistik  soll  nicht  zeigen,  was 
die  Verwaltung  von  Beruf  und  Betrieb  weifs,  sondern  auch  was  sie 
nicht  weifis.   Wir  brauchen  den^  Ueberblick  über  die  Gesamtheit, 

nicht  über  den  verwaltungsrechtlich  bereits  geregelten  Ausschnitt, 
und  zwar  einen  möglicli^t  freien  und  weiten  Ausblick.  Handelt  es 
sich  doch  darum,  Grundlagen  fiir  die  Fortbildung  der  sozialen 
Verwaltung,  also  möglicherweise  auch  üir  neue,  erst  zu  schaffende 

Organisationen  zu  erlangen. 

Die  deutsche  Betriebsstatistik  beruht  also  auf  den  Angaben  der 
Unternehmer  oder  Betriebsleiter.  Andere  Staaten  haben  es  ver- 
sucht, ihre  Betriebsstatistik  ganz  unmittelbar  auf  den  Angaben  der 
Arbeitnehmer  aufzubauen  oder  dieselben  doch  zur  Kontrolle  der 
Betriebsangaben  der  Arbeitf^ebcr  zu  verwenden.  5>chon  die  eid- 
genössische X'olkszähluiig  vom  i.  Dezember  1888  liat  im  An- 
schluls  an  die  Berufsfragen  auch  ..Ort,  Sitz  (und  allfälligc  I*"irma) 
des  Geschäfts,  des  ( icwerl^cs  oder  der  X'erwallung",  also  den  Arbeit- 
■^eber  l>eini  Arheilnclinicr  erfra^^t.  Aber  nicht  etwa,  uni  danacli  die 
Betriebe  selbst  zu  ermitteln,  sondern  \ielmchr.  um  —  eben  in  Er- 
mangelung einer  eigentlichen  Betriebsaufnahnie  —  die  Kinreihung 
tler  Arbeitnehmer  in  das  Berufsschema  nach  dem  Charakter  der 
Unternehmungen,  also  nach  dem  Arbeitgeberberuf  vornehmen  zu 
können,  worauf  es  wegen  der  X'orarbeiten  für  die  P^infiihrung  der 
sozialen  Versicherung  in  der  .Schweiz  damals  in  erster  IJnie  ankam. 
Hingegen  wurden  bei  der  Bearbeitung  der  ungarischen  X'olks- 
zählung  von  1890  die  Angaben  der  gewerblichen  .'\rbeitnehmer 
iibcr  ihre  Arbeitgeber  zur  Aufstellung  einer  gewerblichen  Betriebs- 
statistik benutzt,  in  welcher  auch  der  individuelle  Beruf  der  Arbeit- 
nehmer sehr  eingehend  mit  dem  Betriebszweige  oder  der  Art  der 
L'nternchmung  kombiniert  wurde.  Dieser  organisatorische  Grund- 
gedanke ist  bei  der  französischen  Volkszählung  vom  29.  März  1896 
weiter  ausgebildet  worden.  Nachdem  die  Regierung  das  Projekt 
einer  selbständigen  Betriebsaufnahme  nach  deutschein  Muster  ab- 
gelehnt hatte,  suchte  man  einen  Ersatz  dafür  in  der  Weise  zu 
schaffen,  da&  man  gelegenUich  der  Volkszahlung  die  Arbeitgeber  um 
die  Zahl  der  von  ihnen  beschäftigten  Personen,  die  Arbeitnehmer 
aber  um  Namen,  Adresse,  femer  um  die  Art  des  Berufes,  des  Ge- 
werbes oder  des  Handelszweiges  des  Arbeitgebers  befragte.  Nach 
diesen  Angaben  wurden  sodann  die  PersonalverhSltnisse  der  Betriebe 
konstruiert  Man  hat  also  eine  Art  Betriebsstatistik  aulgestellt  ohne 
Betriebsaufnahme,  lediglich  auf  Grund  der  Beru6ermittlung  bei  der 


Digitized  by  Google 


234 


H.  Ranchberc, 


Volkszählung.  Der  Vorzug  dieser  Methode  gegenüber  der  deutschen 
liegt  zunächst  in  der  aufserordentlichen  Einfachheit  und  in  der 
völligenVerschmelzung  von  Berufs-  und  Betriebsstatistik.  Jede  Differenz 

der  Ergebnisse  .wird  dadurch  von  vornherein  vermieden,  während 
sonst  sowohl  weisen  der  Verschiedenheit  der  Auskunftspersonen 
aiicli  des  Standpunktes  erhebUche  Abweichungen  sich  ei^eben, 
welche  zwar  dem  Fachmann  nicht  unerwartet  kommen,  das  grolse 
Publikum  aber  verwirren.  Freilich  hat  jene  Verschmelzung  in 
Frankreich  dazu  geführt ,  dafs  die  Gesirhtspunkte  der  Rcrufs- 
statistik  fast  völlig  zu  gunsten  der  Betriebsstatistik  geopfert  worden 
sind.  Das  ist  jedoch,  wie  ich  an  anderer  Stelle  gezeigt  habe, ') 
keine  unvermeidliche  l'olgc  dieser  Methode.  Sie  hat  aber  andere 
<»ch\vcr\vie^^ende  Nachteile:  I\s  fehlt  an  jedem  objektiven  Merkmal 
für  die  Betriebe;  das  technische \'erfahrrn  ist  ein  ziemlich  umständ- 
liches, ja  zeitraubendes,  so  dafs  die  X  erotleiulichung  der  luj^ebnisse 
sich  notwendigerweise  erheblich  verspätet ;  die  arbeitende  Bevölkerung 
selbst  wird  in  anderer  territorialer  (Tliedcrnng  vorgeführt  als  die 
sonstigen  Zälilungsergebnisse,  nämlich  nach  dem  Arbeitsorte,  nicht 
mehr  nach  tlem  Aufenthaltsorte  gruj)piert,  so  dafs  die  Kinbeziehung 
der  nicht  Erwerbenden  in  die  Berufsstatistik  sehr  erscliwert,  wenn 
nicht  gänzlich  uiniioglich  ist.  —  in  Frankreich  hat  man  1896  gänzlich 
darauf  verzichtet  — ;  und  schlielslich  ist  das  eigentlich  betriebs- 
statistische Ergebnis  doch  nur  ein  vergleichsweise  dürftiges.  Ks  be- 
schränkt sich  im  wesentlichen  auf  die  ( iliederunc:  der  Betriebe  nach 
Grölsenkategorien  und  bleibt  hinter  den  im  Deutschen  Reiche  er- 
zielten I*lrgel)nisse  weit  zui  ück.  Ks  kann  kein  Zweifel  darüber 
bestehen,  dafs  eine  eigene  Betriebsaufnahme  in  Verbindung  mit 
einer  allgemeinen  Berufszälilung  das  einzig  Richtige  ist,  und  dafs  man 
die  in  Frankreich  —  und  früher  schon  in  Ungarn  —  angewendete 
Methode  lediglich  ab  einen  Notbehelf  gelten  lassen  kann. 

Wesentlich  anders  ist  die  belgische  Industriezählung  vom 
31.  Oktober  1896  zu  beurteilen.  In  Belgien  hat  damals  eine 
do]>pelte  Erhebung  stattgefunden:  eine  industrielle  Betriebszahlung, 
und  eine  2Uihlung  der  gewerblichen  Arbetterscliaft,  also  eine  partielle 
Volkszählung.   Für  beide  Erhebungen  bildeten  die  Bevölkerungs- 


')  Die  Hfriir>>-  u.  ßclricbsaurnahtnc  in  Frankreich  von  1896.  Allgem.  statistisches 
Archiv.    V.  S.  440  ff. 

-)  Vgl.  die  offizielle  Pablikation:  R^snltati  Statistiqoes  da  RecenKmcnt  drs 
Industrie«  et  Professions,  wofim  soeben  der  i.  Band  enchienen  ist 


Digitized  by  Google 


Die  Berafs'  und  Gewerbedhliiiig  im  Dentiehen  Reich  Tom  14.  Juni  1895.  235 

register  die  Grundlage,  indem  die  Erhebungslisten  danach  au^esteltt 
und  die  Penonalangaben  der  Arbeiter  daraus  entnommen  werden 
sollten.  Im  Anschlüsse  daran  wurden  bei  der  Arbeiterzahlung  samt* 
Uche  gewerblichen  Arbeiter  um  Namen  und  Industriezweig  der 
Unternehmung  oder  des  Arbeitgebers  und  die  Adresse  des  Betriebes 
befragt.  Die  Bearbeitung  beider  Aufnahmen  war  im  Arbeitsamte 
xentralisiert.  Dortselbst  wurden  die  Arbcilncliincr  nach  ihren  An- 
gaben über  die  Betriebe  gruppiert,  und  das  Ergebnis  mit  den 
Iwrrespondierendcn  Ei^ebnissen  der  eigentlichen  Betriebsaufnahme 
verglichen.  Hieraus  ergab  sich  eine  sehr  wirksame  Kontrolle  für 
beide  Erhebungen.  Das  Arbeitsamt  war  auf  eine  derartige  Kontrolle 
um  so  mehr  angewiesen,  als  die  Aufnahme  jenes  sicheren  Fundaments 
entbehrte,  welches  nur  eine  gleichzeitige  Volks/ählung  zu  verschaffen 
vermag.  Die  Bevölkerungsregister,  wonach  die  Erhebungslisten  auf 
gestellt  worden  sind,  beruhen  auf  einer  Zählung,  die  sechs  Jahre 
vorher  stattgefunden  hatte,  und  haben  sich  denn  auch  in  der  I'hat 
als  sehr  unzuverlässig  erwiesen.  Die  Erfahrungen  der  belgischen 
Aufnahme  zeigen,  (lafs  eine  annähernd  vollständige  Hetriebsaufnahnie 
ohne  die  Grundlage  einer  allgemeinen  X'olks-  und  Hctriebszählung 
zwar  möglich,  aber  dorh  nur  mit  un\ crhältnisinäfsig  groisem  .\r- 
beitsaufwande  durchfvhrbar  ist.  In  meinen  .Augen  liefern  die  bel- 
gische und  französische  Hetricl)sstatislik  den  Beweis  für  die  Richtig- 
keit der  deutschen  Organisation,  d.h.  der  organischen  X'erbindung 
von  Berufs-  und  lk*triebsaufnahine.  M  Frankreich  hat  erfahren,  dafs 
eine  befriedigende  Betriebsstatistik  ohne  eigentliche  Betriebsaufnahnie 
unmöglich  ist;  Belgien,  dals  >ie  fast  ebenso  sehr  eine  Durchsiebung 
der  gesamten  Bevölkerung  durrh  die  V'olk.s/ählung  voraussetzt.  Hin- 
gegen scheint  mir  allerdings  die  belgische  Organisation  einen  erheb- 
lichen Fortschritt  hinsichllich  der  Kontrolle  des  Materials  und  der 
Zuverlä-ssigkeit  der  Ergebnisse,  die  Bearbeitung  der  französischen 
wie  der  belgischen  Materialien  einen  Fortschritt  in  der  Gliederung  und 
Detaillierung  des  Ik-rufsscl  einas.  ije/w.  tler  Klassifikation  der  Gewerbe 
zu  bedeuten.    Hierauf  wird  >[)äter  norh  /.urückzukommen  sein. 

Bevor  ich  auf  tiie  l-jörterung  der  Zählpapiere  und  der  einzelnen 
Eragepunkte  unserer  1  ilul)ung  eiiigthe.  ist  noch  ein  anderes 
Moment  kurz  zu  berühren,  das  für  alle  ihre  Teile  von  Belang 
ist:   die  Bestimmung   des  Zeitpunkts.    Nicht  nur  die  Landwirt- 


')  Vgl.  darüber   meine  Abhandlung:    Die  Berufs-   u.  Botri••l^s^ahlun^;••n  de* 
Jahres  1896  in  Frankreich  u.  Belgien.  Statistische  Monatächrift  XXV.  Jahrg.  S.  237  ff. 


uiyiii^üd  by  Google 


236 


H.  Rauchberg, 


Schaft,  auch  zahlreiche  gewerbliche  Betriebe  hängen  im  hohen 
Mafse  von  der  Jahreszeit  ab,  teils  ganz  unmittelbar,  teils  mittelbar 
wegen  der  dadurch  bedingten  Periodizität  der  menschlichen  Bedürf- 
nisse und  der  auf  ihre  Befriedigui^  gerichteten  Produktion.  Die 

Statistik  hat  daher  sOfgfiUtig  zu  unterscheiden  zwischen  den  perio- 
dischen Schwankungen  in  der  Berufsgliederung  und  Betriebsstärke» 

die  lediglich  dem  WVchscl  der  Jahreszeiten  entspringen,  und  jenen 
tiefer  greifenden,  langfristigen  Veränderungen,  die  das  Ergebnis 
sozialer  oder  technischer  Evolution  sind.  Der  Einflulij  der  Saison 
auf  das  Ergebnis  wird  so  ziemlich  ausgeschaltet,  wenn  die  beiden 
miteinander  zu  vergleichenden  Erhebungen  zu  annähernd  gleichen 
Terminen  stattgefunden  haben ;  die  vorhergehende  ist  in  dieser 
Hinsicht  mafsgebcnd  für  die  nachfolgende.  Die  Zählung  von  1882 
hatte  am  5.  Juni  stattgefunden.  Das  ist  vielleicht  nicht  der  beste 
Zeitpunkt  für  eine  Berufs-  und  Betriebsaufiiahme.  Im  Juni  ist  der 
sonmierliche  Charakter  des  Erwerblebens  allzu  einseitig  ausgeprägt. 
Ich  stimme  mit  dem  Direktor  des  Kaiserlichen  Statistischen  Amts 
darin  überein,')  dals  der  September  wühl  geeigneter  wäre,  „wo  die 
Landwirtschaft  noch  nicht  ruht  und  die  Industrie  voll  zu  arbeiten 
pflegt".  Eine  derartige  Uebergangszeit  ist  für  die  Krhebung  solange 
vorzuziehen,  als  man  nicht  in  der  Lage  ist,  das  Bild  der  Sonmier- 
zählung  durch  eine  W'interzählung  zu  ergänzen.  -  |  Daran  ist  aller- 
dings wegen  des  (l()j)])eltcn  Arbeits-  und  Kostenaufwandes  \  orläufig 
nicht  zu  denken.  Allein  jene  Hedenken  sind  mit  Recht  beiseite 
gesetzt  worden,  um  die  Ver^lcichbarkeit  der  Aufnahme  von  1895 
mit  jener  von  1882  zu  sichern.  Auch  die  zweite  Zählung;  mulste 
gleich  der  ersten  im  Sommer  und  zwar  im  Juni  stattfinden.  Nur 
war  eine  kleine  Verlegung  des  Termins  im  Hinblick  darauf  geboten, 
dafs  1895  der  Stichtag  von  1882,  der  5.  Juni,  in  die  Pfingstwoche 
fiel.  So  hat  man  sich  denn  für  den  14.  Juni  entschieden.  In  einer 
Hinsicht  muls  der  14.  Juni  allerdin^js  als  besonders  ungeeignet 
angesehen  werden;  für  die  mit  der  Bcrufszählung  zu  verbindende 
Erhebung  der  Arbeitslosen.    In  dieser  Richtung  ist  dadurch  Abhilfe 


'1  H.  V.  Scheel,  Die  deutsche  Berufs-  u.  Gcwcrbczählung  vom  14.  Juni  1895. 
Jahrbücher  f.  Nationalökonomie  u.  Statistik.    3.  Folge.  Bd.  XV.  S.  1  ff. 

-)  Für  eine  .\usbeutttng  des  berursstati.>itischen  Materials  der  Volk&zähliuig 

vom  2.  Dezember  189;  ist  in  dieser  Absicht  eingetreten  G.  v.  .Mayr  in  seiner  .Ab- 
handlung ,,Zur  Technik  der  Ausbeutung  beruf s&tatistiscber  Angaben".  AUg.  Staü»t. 
Archiv  IV.  Bd.  S.  499. 


Digitized  by  Google 


I>ie  Beruf»»  und  GewerbesShluiig  im  Dentochen  Reich  vom  14.  Jnni  1895.  2$J 

geschafTen  worden,  dais  die  Frage  nach  der  Arbeitslosigkeit  bei  der 
Vc^kszahkin*,^  vom  2.  Dezember  1895  wiederholt  wurde.  In 
diesem  Punkte  besitzen  wir  die  prinzipiell  ganz  allgemein  geforderte 
Ei^änzung  einer  Sommerzählung  durch  eine  Winterzahlung.  Der 
gewaltige  Unterschied  der  Ergebnisse  zeigt,  wie  notwendig  sie  ist. 

Das  Prinzip  des  Stichtages  ist  für  die  Betriebsaufnahme  nicht 
im  gleichen  Mafse  anwendbar  wie  fiir  die  Benifszählung.  Hier  er- 
scheint es  zur  Vermeidung  von  Auslassungen  und  Doppelzählungen 
unbedingt  geboten  und  ist  zumeist  auch  unbedenklich,  weil  der  Beruf 
der  einzelnen  Menschen  in  der  Kegel  ein  ständiger  ist.  Auch  rleutet 
schon  die  Stilisierung  der  Frage  nacli  dem  Hauptberuf  und  die 
weitere  Definition  des  Berufszweiges  darin  als  die  hauptsächliche 
oder  alleinige  R!r\verbs(]ucllc  darauf  hin,  dals  man  nicht  etwa  eine 
davon  zufällig  abweichende.  that>achlichc  Bc'schäfligun;^^  sondern 
denieni'^'cn  Beruf  angegeben  sehen  wolle,  worauf  die  c,'c>amte  Lebens- 
stellung beruht,  welcher  also  die  soziale  Signatur  einer  jeden  Person 
ausmacht.  Mag  das  auch  mitunter  milsverstandcn  worden  sein, 
im  t^rolsen  und  ganzen  hat  die  für  den  Stichtag  ermittelte  Bcrufs- 
glieiit  rung  typische  Bedeutung  für  das  ganze  Jahr.  Anders  in  der 
Betriebsstatistik.  Hier  macht  sich  der  Kinflufs  der  Saison  in  \iel 
höherem  .Malse  geltend,  sowohl  hinsichtlich  des  Botandes  und  der 
'1  hätigkeit  als  auch  in.sl)esondcre  hinsichtlich  des  l'mfangs  der  Be- 
triebe. Dem  ist  bei  der  (iewerbezählung  zunächst  dadurch  Rechnung 
getragen  worden,  dals  auch  für  zeitweilig  ruhende  (unterbrochene) 
dewerbebetriebe  (Campagne-,  Saisonbetriebe)  ein  (iewerbebogen 
aufzu.stellen  war.  l  erner  sollten  die  Angaben  über  das  Betriebs- 
personal ,  welche  mit  vollem  Detail  nach  dem  Stande  vom 
14.  Juni  1895  einzutragen  waren,  ergänzt  werden  durch  die  An^^abc 
des  in  der  Regel,  im  Jahresdurchschnitt  oder  in  der  Betriebszeit 
beschäftigten  Personals.  Diese  Durchschnittsangaben  sind  deim  auch 
bei  der  Bearbeitung  der  Ergebnisse  voll  ausgebeutet  worden.  Auch 
waren  für  Gewerbe,  die  nicht  während  des  ganzen  Jahres  in  gleich- 
maTsigem  Betriebe  stehen,  die  Monate  des  vollen  Betriebes  an* 
zugeben.  DarUber  hinaus  haben  Erhebungen  über  die  Periodicitat 
der  Betriebe  und  die  Schwankungen  des  Betriebsumiiangs  nicht 
stattgefunden.  Und  doch  wäre  eine  Ergänzung  der  Antworten  auf 
die  eben  erwähnte  Frage  durch  die  Angabe  des  Personalstandes  am 
Schlüsse   eines   jeden    Monats   iur   das   der  Zahlung  vorher- 


')  Vgl.  V.  Scheel  a.a.O.  S.  6. 


Digitized  by  Google 


238  Rauchberg, 

gehende  Jahr  dringend  erwünscht  gewesen.  Dadurch  hätte  man 
den  Einflufs  des  subjektiven  Urteils  über  die  GleichnuUsigkeit 
des  Betriebs  ausschalten  und  ein  sicheres  Mafs  für  die  monatlichen 
Schwankungen  des  Betriebsumfanges  gewinnen  können.  Die  Trübung 
des  Bildes  durch  <len  zufälH^en  Charakter  des  Stichtages  wäre  vcr^ 
mieden  worden.  Und  endlich  hätten  die  Differenzen  zwischen  den 
Maxinialzahlen  und  den  einzelnen  Monatszahlen  sowohl  in  den  ein- 
zelnen Gewerben  als  auch  in  der  Industrie  überhaupt  höchst  be- 
merkenswertes Material  geliefert  für  die  Frage  des  Personalaus- 
tausches zwischen  den  einzelnen  (lewerben,  sowie  zur  Beurteilung 
der  durch  den  Saisonwechsel  bedingten  Arbeitslosigkeit.')  Das  leitet 
aber  schon  über  zur  Erörterung  der  Erhebungsformulare  und  der 
einzelnen  Erhebungsmomente. 

Die  Berufszähluncf  war  eine  Listenzählung.  Die  höhere  Er- 
hebungseinheit ist  die  Haushaltung  als  die  Gesamtheit  der  zu 
einer  wohn-  und  hauswirtschaftlichen  Gemeinschaft  vereinigten  Per- 
sonen. Dafs  sie  in  einer  gemeinsamen  Liste  verzeichnet  und  in 
einer  besonderen  Spalte  auch  hinsichtlich  der  X'erwandtschaft  zum 
Haushaltungsvorstand  oder  ihrer  «^'^nstigen  Stellung  in  der  Haus- 
haltung gekennzeichnet  werden,  ist  für  die  spätere  Bearbeitung  von 
grofser  Wichtigkeit.  Dadurch  wird  es  ermöj^hcht,  die  Anj^ehörijren 
ohne  eigenen  Hauptberuf  und  die  im  Haushalte  ihrer  Herrschaft 
lebenden  Dienenden  für  häusliche  Dienste  dem  Hauptberufe  und  der 
sozialen  Klasse  des  Ernährers,  bezw.  Dienstgebers  zuzurechnen  und  so 
für  jede  Berufsart  und  soziale  Klasse  das  Verhältnis  zwischen  den 
volkswirtschaftlich  Thätlgen  und  den  von  ihnen  erhaltenen  Personen 
dni  zustellen.  Auch  erlangen  wir  dadurch  einen  P-inblick  in  die  familien- 
iialte  Struktur  der  Betriebe:  die  Familienbeziehungen  können  zur  ge- 
naueren Kennzeichnung  der  sozialen  Stellung  im  Berufe  oder  des 
Arbeitsranges  der  Berufsthätigcn  mit  verwertet  werden.  Hingegen 
hat  eineVerwertung  der  so  gewonnenen  Ergebnisse  unter  dem  Gesichts- 
I)unkte  der  Familien-  oder  Haushaltungsstatistik,  welche  von  den 
höheren  Krhebungseinheitcn  ausgeht,  niclit  stattgefunden.  Man  hat 
diesen  ( lesichtspunkt  higher  noch  nicht  von  derX'olkszählung  in  dicBe- 
rufsstatistik  hinübcrgenonimen,  obwohl  er  hier  einer  besonderen  Knt- 
wicklung  fähig  und  wohl  auch  bedürftig  ist  Ist  das  Erhebungsformular 


Vgl.  25.  Annual  Report  of  th«*  (Massachusscts)  Bureau  of  Statistics  of  Labor. 
Boston  1894  und  m-Mne  Besprechung  ih-r  amerikanischen  Arbeitslosenstatistik  in  der 
Statistischen  Monatsschrift  XXIV.  Bd.  S.  201  ff. 


Die  Bends-  und  GewerbciiUiiiig  im  Dentidieii  Reich  vom  14.  Jnni  1S95.  239t 

eine  Individualkarte,  so  mufs  der  Zusammenhang  zwischen  Erwerbenden 
und  Erhaltenen  erst  hinterdrein  hergestellt  werden ;  er  kann  aber  — 
wie  dies  bei  der  letzten  französischen  V^olks-  und  Berufszählung  der 
Fall  gewesen  ist  —  durch  eine  unf^eschickte  Organisation  der  Auf- 
bereitungsarbeiten auch  gänzlich  verloren  gehen. 

Den  gleichen  Zwecken  dient  auch  die  Verzeichnung  der  aus 
der  Haushaltung  vorübergehend  abwesenden  Personen.    Sie  werden 
also    nicht   erfragt   zur   Ermittlung   der   Wohnbevölkerung.  Die 
Beniisstatistik  bezieht  sich   vielmehr  auf  die   ortsanwesende  Be- 
völkerung.' )    Es  liegt  der  Gedanke  nahe,  die  örtliche  Verteilung 
der  arbeitenden  R(  \  ölkerung  nicht  nach  dem  Aufenthaltsorte,  sondern 
nach  dem  Arbeitsorte  darzustellen  und  den  Tabellen  zu  gründe  zu 
l^^en,  also  die  bei  der  Erhebung  ermittelte  ortsanwesende  Be- 
völkerung, wie  dies  bei  der  eben  erwähnten  Aufnahme  in  Frankreich 
thatsächlich  der  Fall  gewesen  ist,  im  Laufe  der  Bearbeitung  zur 
.Arbeitsbevölkerung   umzubilden.     Prinzipielle   und   technische  Er- 
wägungen sprechen  jedoch  dagegen.  Denn  nicht  die  Fabrik  oderWerk- 
stätte,  sondern  die  W  ohnung  ist  die  eigentliche  Bühne  tles  [,cbens,  wie 
denn   auch  wirtschaftliche  Produktion  nicht  der  Daseinszweck  des 
Menschen  ist.    Wo  mit  der  Berufszählung  eine  Betriebsaufnahme  ver- 
bunden ist,  wie  im  Deutschen  Keicii,  crgitht  übrigens  diese  letztere 
ganz  von  selbst  die  .Arbeitsbevölkerunf;;.   iMullich  ist  die  Kinhezieluing 
der  nicht  Berufsthätigen  nur  möglich,  wenn  auch  die  Berutsthäli^^cn  in 
der  gleichen  ortlichen  X'crteilung  vorgeführt  werden,  also  mit  jenen 
vereint  als  Ortsanwesendc.    leinen  technischen  Fortschritt   in  dieser 
Richtung  hat  die  Aufnahme  von  iSg5  jener  von  1882  gci,'enüber  insofern 
erzielt,  als  nunmehr  auch  die  Kinder  unter  14  Jahren  individuell  ein- 
zutragen waren,  während  sie  früher  nur  summarisch  erfragt  worden  sind, 
woraus   1882   eiti  Ausfall  von  etwa  3  -  400000  Kindern,  also  eine 
erhebliche  Störung  des  durch  die  sogenannte  Hclastungs/itl'er  aus- 
gedrückten X'erhältnisscs  erwuchs.     Nun  hat  zwar,  wie  wir  s})äter 
hören    werden,  auch   die  Berufszählung   \on    1895   eine  geringere 
Volkszahl  ergeben  als  nach  der  X'olkszählung  vom  2.  r)ezember  1895 
unter   Herücksichtigung   der  Wanderbewegung    für    den     14.  luni 
1895     berechnet    wird.      Allein    der    Ausfall    ist    diesmal  doch 
erheblich  geringer.     Er   beträgt    rund    etwa    200000  Personen 

•)  Einr  .\usnahme  bildet  nur  die  soziale  Klassifikation  der  Selbständigen, 
wrlche  nach  ih  n  Prinxtpien  der  Wohnbevölkerung  erfolgt  ist.  Vgl.  den  zweiten  Teil, 
VL  Abschnitt,  l. 


340 


H.  Ranchberg, 


und  erklart  sich  zur  Genüge  daraus,  dals'  die  Berufszählung^ 
eine  Sommerzählung  war,  bei  welcher  gewisse  Bevölkenings^ 
kategorien,  wie  Reisende  im  Auslindc,  Schiftcr,  \'aganten  etc.  der 
Verzeichnung  entgehen.  Das  Verhältnis  zwischen  tlen  Erwerbenden 
und  den  von  ihnen  Ernährten  kommt  also  diesmal  richtiger  heraus, 
und  wenn  diese  letzteren,  wie  wir  später  sehen  werden,  vergleichsweise 
abgenommen  haben,  so  ist  die  X'erschiebung  in  Wirklichkeit  noch 
stärker  gewesen  als  es  die  Zahlen  erkennen  lassen. 

\'on  den  Individual-KrhchunL^smomenten  der  Haushaltungsliste 
sind  aus  der  Zählung  von  1882  unverändert  übernommen  worden 
die  Fragen  nach  dem  \'or-  und  hainlHcnnamen,  nach  der  X'erwandt- 
Schaft  zum  Haushalt  untrsvorstand  oder  rler  sonstitren  Stellunt:  in 
der  Hauslialtung,  nach  dem  (resrhlccht,  dem  Familienstand  und 
dem  Rehgionsl)ekenntnis.  Die  letztere  h'rage  war  1882  nicht  von 
Reichswegen,  sondern  nur  in  einigen  Bundesstaaten  ausgebeutet 
worden;  jetzt  erstreckt  sich  die  Bearbeitung  aucli  von  Reichswegen 
darauf.  Das  Alter  war  früher  in  vollendeten  Altcrsjahren  erfragt 
worden;  1S95  waren,  was  das  Richtigere  ist,  (icburtst.ag  und  Ge- 
burtsjahr anzugeben.  Hingegen  fehlt  bei  beiden  Frhebungen  die 
Frage  nach  dem  ( ieburtsortc.  Fiin  schwerwiegender  Mangel,  denn 
aus  der  Beantwortung  dieser  Frage  ergiebt  sich  die  Wanderbewegung, 
tlercn  inniger  Zusammenhang  mit  der  gesamten  wirtschaftlichen 
und  sozialen  Fntwicklung  nicht  erst  besonders  betont  zu  werden 
braucht.  Der  rasche  Uebergang  breiter  Bevölkerungsschichten 
von  der  Landwirtschaft  zur  Industrie  —  eines  der  Hauptergebnisse 
unserer  Aufnahme  —  ist  begleitet  von  tiefgreifenden  örtlichen  Ver- 
schiebungen der  Bevölkerung.  Nur  zum  geringsten  Teile  sind  sie 
auf  den  natürlichen  Wechsel  der  Bevölkerung  durch  Geburt  und  Tod 
zurückzuführen.  Sie  stellen  sich  vielmehr  dar  als  eine  Ausgleichung 
zwischen  dem  örtlichen  Arbeitsbedarf  und  der  durch  jene  natür- 
lichen Faktoren  gegebenen  Verteilung,  bewirkt  durch  die  Wander- 
bewegung. Dais  die  Berufszählung  in  diese  wichtigen  Zusammen- 
hänge nicht  hineingeleuchtet  hat,  ist  ihre  g^röfste  Unterlassungssünde. 
Die  Darstellung  der  Ergebnisse  nach  Ortsgrölsenldassen  vermag 
über  diesen  Mangel  ebensowenig  hinweg  zu  helfen,  wie  der  Hin- 
weis auf  die  Ermittlung  der  Wanderungen  bei  den  gewöhnlichen 
Volkszahlungen.  Erstens  fehlt  hier  der  Zusammenhang  mit  den 
Berufeverhältnbsen,  und  zweitens  war  die  Volkszahlung  vom  2.  De- 
zember 1895  eine  sogenannte  „kleine  Zählung";  sie  hat  die  Gre- 
bürtigkeitsdaten  überhaupt  nicht  aufbereitet.  Dafs  aber  di^  dn- 


Digitized  by  Google 


Die  B««fi>  u&d  Gewefbedhfan^  im  Deutidieii  Rcidi  vom  14.  Juni  1895.  24I 

acfalagigen  Ergebnisse  von  1890  nicht  mehr  herangezogen  werden 
können,  liegt  auf  der  Hand.  Nebenbei  sei  noch  bemerkt,  dafs  die 
Frage  nach  dem  Geburtsort,  insbesondere  för  die  Zwecke  der 
KommunalstatistU^  durch  die  an  Fremdgebürtige  zu  richtende  Zu- 
satxfirage  nach  der  Dauer  des  Aufenthalts  an  dem  Zahlungsorte 
zweckmalsig  zu  erganzen  gewesen  wäre. 

Das  Gerüste  der  eigentlichen  Benifefragen :  die  Unterscheidung 
zwischen  Haupt-  und  Nebenberuf  und  innerhalb  derselben  zwischen 
Berufszweig  und  Berufestellung  ist  unverändert  geblieben.   In  der 
Textierung  und  insbesondere  in  der  Anleitung  zur  Beantwortung 
dieser  Fragen   haben  jedoch  gewisse  Aenderungen  stattgefunden, 
wekhe  nicht  ohne  Einflufs  auf  die  Ergebnisse  waren  und  daher 
besser  in  Verbindung  mit  diesen  letzteren  erörtert  werden.  Gleich 
1882  ist  auch  1895  durch  die  Zusatzfn^e,  ob  das  Geschäft  vor- 
wie<:^cnd  in  der  eif^cnen  Wohnunp^  fiir  ein  fremdes  Geschäft  (zu 
Haus  für  fremde  Rechnung  —  z.  H.  f.  fr.  R.)  betrieben  wird,  die 
Heimarbeit  (Hausindustrie)  ermittelt  worden.    Die  gleiche  Spalte 
diente  1895  aber   auch  zur  Erkundung  des  Geschäftsbetriebs  im 
Umherziehen,  also  der  Hausierer.    In  technischer  Hinsicht  ist  die 
Kumulierung  von  verschiedenen  Fragen  in  einer  und  derselben 
Spalte  zu  tadeln,  insbesondere  aber,  dafs  nach  der  ganzen  Anlage 
des  Formulars  nicht  erhellt,  ob  die  Antworten  auf  diese,  sowie  tlio 
gleich  zu  erwähnenden  und  noch  wichtigeren  weiteren  Zusatzfragen 
auf  den  Hauj)t-  oder  Nebenberuf  sich   beziehen.     Diese  Zusatz- 
fragen sind  an  den  gleiclien  Personenkreis,  nämlich  an  die  selb- 
ständigen ( iewerbetreibenden ,  Hausindustriellcn   und  Heimarbeiter 
gerirliict  und  betreffen  die  X'erwenduiig  von  Gehilfen,  Lehrlingen, 
sonstigen    Arbeitern ,    tliätigen   Mitinhabern    oder  miterwerbenden 
Familienangehörigen,    sodann    \on    l 'mtriebsmaschincn    l  Motoren), 
Dampfkesseln ,  Dampffässern,  Dami)f-  oder  Segelschiffen.  Wurde 
eine  dieser  I-ragcn  bejaht,  so  war  für  die  Zwecke  der  Betriebs- 
statistik ein  eigener  ( iewerbebogen  auszufüllen,  während  für  alle 
anderen,  die  sogenannten  AUeinbctriebe,  die  Angaben  der  Ilaus- 
haltung>liste  auch  für  die  Zwecke  der  Gewerbestatistik  auslangen 
niulsteii.    In  ähnlicher  Weise  wurden  die  Voraussetzungen  für  die 
Ausfüllung  einer  „Uandwirtschaftskarte"  durch   eine  auf  der  Rück- 
seite  der  Haushaltungsliste    angebrachte    Zu->atztiage  festgestellt. 
So    wurden    die    Materialien    der    landwirischaftlichcn  Betriebs- 
statistik  beschafft.     Neu    hinzugekommen    sind     1895    die  aus- 
schliefslich  für  Arbeitnehmer  bcrcclineteu  Fragen  zur  Ermittlung 


Digitized  by  Google 


242 


H.  Raachberg, 


der  Arbeitslosij;(keit,  ob  sie  nämlich  am  Stichtage  der  Zählung  in 
Arbeit  (in  Stellung)  waren,  und  verneinendenfalls  seit  wieviel  Tagen 
sie  aufscr  Arbeit  (Stelluii<^^  waren  und  ob  dies  durch  vorübergehende 
Arbeitsuniahiglceit  veranlalst.  Die  Arbeitslosenerhebung  ist,  wie 
bereits  erwähnt,  ganz  in  der  gleichen  Weise  bei  der  Volkszählung 
vom  2.  Dezember  1895  wiederholt  worden.  Ihre  Ergebnisse  sind 
schon  im  Jahre  1896  in  einem  Ergänzungshefte  zu  den  Vierteljalirs- 
heften  zur  Statistik  des  Deutschen  Reiches  veröffentlicht  und  in 
der  wissenschaftlichen  Litteratur  mehrfach  erörtert  worden.  *)  Es 
Hegt  daher  kein  Aniais  vor,  hier  auf  diesen  Gegenstand  nochnuds 
zurückzukommen. 

Dagegen  sind  im  Vergleiche  zur  Zählung  von  1882  bei  der 
letzten  Erhebung  entfallen  die  Fragen  nach  dem  vormaligen  Beruf 
der  Personen,  welche  früher  einen  Hauptberuf  gehabt  hatten,  aber 
w^en  hohen  Alters,  infolge  von  Verletzung  oder  Krankheit  dauernd 
erwerbsunfähig  geworden  waren,  und  bei  Witwen  die  Frage  nach 
dem  Hauptberuf  des  (letzt-)  verstorbenen  Ehemannes.  Damals  waren 
diese  Fragen  notwendig,  UQi  die  l'nterlagen  für  die  Organisation 
der  Invaliditätsversicherung  zu  schatten.  Gleichsam  als  Gegenstück 
dazu  war  auf  Wunsch  des  Reichsversicherungsamtes  in  den  Ent- 
wurf der  Zählpapicre  für  1895  eine  Frage  darüber  aufgenommen 
worden,  ob  für  die  betreffende  Person  eine  Quittungskarte  für  die 
L,'csctzlichc  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  ausgestellt  und  in 
Gebrauch  ist.  Infolge  von  Bedenken,  die  bei  den  Komniissions- 
\  erhandiungen  auftauchten,  ist  auf  diese  Frage  bei  der  deiinitiven 
Redaktion  der  Formulare  verzichtet  worden. 

Auch  eine  Reihe  von  .Anregungen,  die  in  der  Kommission  des 
Reichstags  zur  Beratung  des  Zählungsgesetzes  gegeben  worden 
waren,  ist  schliefslich  unberücksichtigt  geblieben.  In  erster  l.inir 
ist  hier  die  von  mir  bereits  t  rc>rtcrte  l'rage  nach  dem  Geburtsort 
zu  erwähnen,  dann  die  Krhebunj^  di  r  Störarbeit,  welche  gleichsam 
als  .Soitenstiick  zur  Krmittlung  der  lit.imarl)cit  j^edacht  war,  die 
I-'raL^c  danach,  oh  dir  .Arbeitnehmer  j^ei^en  baren  Lohn  (liares 
iieiiait  i  beschältij^^t  sind,  (he  l^ra'^^a*  nach  der  Ai  beits/.eit  der  lut^end- 
lichcn  Arbeiter,  endlich  die  i^ragc  nach  dem  letzten  Arbeitgeber 


')  Georg  Schanz,  Die  neuen  statistischen  Erhebungen  Uber  .Arbeitslosigkeit 
in  r)rut<t  ))1;in(1.  Archiv  für  soziale  •Gesetzgebung  und  Statistik.  X.  Bd.  S.  325. 
In  Buchform;  Neue  Hciträge  zur  Arbeitslosenversicbrrung.  Herlin  1897.  Vgl.  auch 
denArtikelArbeitslosigkeit  vonGeorgAdler  im Handwb.  der Staatsw.  2.Aufl. 


Digitized  by  Google 


Die  Berof»*  ud  GcwerbeKShlung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  243 

des  Arbeitslosen.  Gleichsam  als  Ersatz  für  die  Ablehnung  der  in 
der  Koniinission  an^crej^ten  Krwciterun^'cn  sind  in  den  Ausführungs- 
bestimm unj^en  des  Bundesrats  zu  dem  Zählun^^fsgcsct/  redaktionelle 
Acnderungen  und  die  Aufnahme  von  Zusatzfragen  den  Landes- 
regierungen anlieim  gestellt  wurden.  Von  dieser  P>mächtigung  i.st 
aber  nur  von  wenigen  Bundesstaaten  und  auch  von  tliesen  nicht 
in  sehr  weitgehender  Weise  (iebrauch  gemacht  worden.  Bayern 
hat  zu  Kontrollzwtrkcn  Xamc  und  Wohnort  des  letzten  .Arbeit- 
gebers der  Arbeitslosen  erfragt,  .^ach.sen  den  l^ezug  \  on  Alters-.  In- 
validen- oder  l 'nfallsrenten,  Hamburg  die  Ortsgebürtigkeit.  Aulser- 
dem  war  in  Hamburg  für  vorübergehend  .Anwesende  der  Wohnort, 
für  vorübergehend  Abwesende  der  mutmalsliche  .Aufenthaltsort  an- 
zugeben. Sachsen  liefs  auch  gewisse  Maschinenangaben,  sowohl 
hei  der  landwirtscliaitlichcn  .ils  auch  bei  der  gewerbliciien  Betriebs- 
Zahlung  näher  detailieren.  Auch  ist  hier  zu  erwähnen,  dals  eine 
Reihe  von  deutschen  GroCsstädten  im  .An.schluls  an  die  beiden  von 
Reichswegen  veranstalteten  Arbeitslosenzählungen,  besondere  nach- 
trägliche Erhebungen  über  die  Arbeitslosen  veranstaltet  haben, 
welche  teils  die  Richtigstellung,  teils  die  Ergänzung  der  diesbezüg- 
lichen Angaben  bezweckten.') 

Es  kann  nicht  meine  Aufgabe  sein,  an  der  Fragestellung  und 
an  den  einzelnen  Bestimmungen  der  Anleitung  zur  Ausfüllung  der 
Haushaltungsliste  im  einzelnen  Kritik  zu  üben.  Ich  habe  ja  auch 
selbst  schon  früher  bemerkt,  dafs  die  Wahrung  der  Vergleichbar- 
keit mit  der  Erhebung  von  1882  der  malsgebende  Gesichtspunkt 
sein  mufste,  so  da(s  erhebliche  Aenderungen  au^eschlossen  waren. 
Gleichwohl  müssen  wir  die  Frage  aufwerfen,  ob  das  Prinzip  der 
Berufezahlung  keiner  durchgreifenden  Verbesserung  mehr  fähig  sei. 
Der  Direktor  des  Kais.  Statistischen  Amts  hat  in  seiner  kritisch- 
vorsichtigen Weise  selbst  auf  die  grolsen  Schwierigkeiten,  mit 
welchen  eine  Definition  des  Hauptberufs  verbunden  ist,  hingewiesen, 
und  anerkannt,  da(s  eine  Berufszahlung  schon  deswegen  auf  etwas 
schwankender  Grundlage  beruhen  müsse,  weil  bei  den  Gezählten 
eine  ganz  gleichmäßige  Auffassung  des  Begriffs  „Beruf"  nicht  zu 
erzielen  sei.^)    Ich  stimme  darin  mit  ihm  vollkommen  überein, 

1)  Niheie  Mitteilmigen  darQber  im  Statistischen  Jahrbach  deutscher  Städte  6. 
Jahrgang,  Breslau  1897  S.  364fr.  woselbst  auch  die  eiiuel&en  einscbligigen  Ver- 
öffentUchmgen  aufgexSUt  werden. 

^     Scheel  a.  a.  O.  S.  6. 
Archiv  für  «er.  GeteUffebuRg  u.  Sutisiik.  XIV.  ]6 


Digitized  by  Google 


244 


H.  Ranchberg, 


auch  darin,  dals  einer  der  HauptvortciU-  der  I*"r.it::^e  nach  dem  Neben- 
beruf in  der  Ausschäking  des  Hauptberufs  \oii  Pers<men  mit  mehr- 
facher Beschäftif^ung  zu  suchen  sei,  wohinj^ci^cn  sie  mitunter  ver- 
sa<:^t,  wenn  es  f^ih,  (He  nel)ensärhliche  ErwerbslhäliL^keit  von  Per- 
sonen ohne  eij^'cnen  Haui)tberuf  /..  R  von  Ehefrauen  und  heran- 
wachsenden bamilicnangeh(»ri^en  herauszubekoinmen.  Die  Schwierig- 
keit Hei^'t  hauptsächhch  ,mf  Seite  der  L'nsclbständigcn,  der  Arbeit- 
nelimer.  Denn  für  die  genauere  Rerufsbestimmun^  von  solchen 
Arbeitgebern,  welche  die  rnterschciduji;^^  /wischen  Haupt-  und 
Nebenberuf  nicht  in  zutreffencler  \\'ei>e  getroffen  haben,  bieten  ja 
die  Betriebsangaben  in  der  Regel  ausreichende  Anhaltspunkte.  Bei 
den  Arbeitnehmern  könnte  aber  gröfsere  Siclierheit  erzielt  werden 
durch  die  h'ragc  nach  dem  Namen,  der  Art  des  Betriebes  in  der 
Adresse  des  Arbeitgebers.  Diese  I'Vagc  ist,  wie  bereits  erwähnt, 
aus  anderen  (iründen  bei  den  Berufszählungen  der  Schweiz,  l'n- 
garns,  Frankreichs  und  Belgiens  bereits  gestellt  worden.  In  der 
Schweiz  um  die  Kl.is.silizierung  nach  dem  Unternehmerberuf  zu  be- 
wirken, in  Ungarn  und  Frankreich  übe  rdies,  um  die  Betriebe  seilest 
daraus  zu  konstruieren,  in  Belgien  stnvohl  für  die  Berufsgliederung 
der  Arbeitcrbe\ (ilkerung,  als  auch  zui  Kontrolle  der  Betriebs/.ählung. 
Im  Deutschen  Reich  wird  an  dem  Prinzip  der  Betriebserhebungen 
am  Sitze  der  ( iewerbeljelriibc  selbst  voraussichtlich  festgeh.ikeii 
wertleii.  Die  Frage  nach  dem  Arbeitgeber  wäre  hier  also  nicht  im 
Interesse  der  Betriebsstatistik,  sondciii  der  Berufsstatistik  zu  stellen, 
(lanz  ungezwungen  könnte  dadurch  die  genaueste  Bezeichnung  und 
Spezialisierung  der  Produktions-  und  1  landelszweige  erzielt  werden, 
denen  tlie  einzelnen  Befragten  angehören.  Antworten,  wie  Fabrikarbeiter. 
Taglöhncr,  Kutscher,  Heizer  u.  s.  w.  wären,  da  sie  sofort  richtig 
gestellt  werden  könnten,  unschädlich.  Wie  wichtig  das  ist,  erhellt 
daraus,  dafs  auch  die  Zählung  von  1895  noch  immer  27800  Fabrik- 
arbeiter und  Gehilfen  ergeben  hat,  deren  nähere  Erwerbsthätigkeit 
zweifelhaft  blieb,  und  nicht  weniger  als  200919  Fälle  von  Lohn- 
arbeit wechselnder  Art,  welche  zuzüglich  der  Dienenden  und  An- 
gehörigen 504406  Personen  betreffen*  Anderenfalls  hätten  sie  zum 
größten  Teile,  dem  Prinzip  des  Stichtags  gemäfs,  nach  dem  Beruf 
des  Arbeitgebers  klassifiaert  werden  können,  wobei  ihrem  minderen 
Arbeitsrange  bei  der  Berufsstellung  Rechnung  zu  tragen  gewesen 
wäre.  Auch  die  Benifestellung  kann  danach  in  vielen  zweifelhaften 
Fällen,  wenn  man  es  mit  Angaben  zu  thun  hat,  die  sowohl  einen 
Meister  ak  auch  einen  Gehilfen  bezeichnen,  wieSchuster,  Schneider  u.s.w. 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  Gewerbezäblung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  245 

sofort  klar  gestellt  werden.  Es  Helsen  sich  femer  durch  die  zweck- 
mäßige Ausbildung  der  Frage  nach  dem  Arbeitgeber  bei  den 
Hausindustriellen  tiefere  Einblicke  in  die  Organisation  der  Heim- 
arbeit und  des  Verlagssystems  erschlielsen,  und  endlich  böte,  wie 
schon  Hasse  hervoigehoben  hat,*)  die  Frage  nach  dem  letzten 
Arbeitgeber  einen  willkommenen  Kontrollbehelf  für  die  Angaben 
über  Arbeitslosigkeit  Dafs  überdies  die  Angaben  der  Arbeit- 
nehmer über  die  Arbeitgeber  auch  för  die  Ueberprüfung  der 
^faterialien  der  Betriebsstatistik  mit  Erfolg  benutzt  werden  können, 
haben  die  Erfahrungen  in  Belgien  erwiesen,  auf  welche  ich  spater 
noch  zurückzukommen  gedenke. 

Noch  nach  einer  anderen  Richtung  hin,  könnte  die  Ermittlung 
der  Arbeitgeber  bei  den  Arbeitnehmern  von  Belang  werden,  näm- 
lich um  eine  engere  Verbindung  zwischen  den  Gesichtspunkten 
der  Beru&statistik  und  der  Betriebsstatistik  herzustellen.  Ich  habe 
schon  früher  darauf  aufmerksam  gemacht,  dafs  zahlreiche  Gewerbe- 
treibende in  Betrieben  beschäftigt  sind,  welche  durch  ihren  person- 
lichen Beruf  keineswegs  bezeichnet  werden,  so  z.  B.  der  Böttcher 
in  der  Brauerei,  der  Maschinenschlosser  in  der  Spinnfabrik  u.  s.  w. 
In  allen  diesen  Fällen  könnte  dir  Beruf  sowohl  nach  der  persön- 
lichen Qualifikation  des  Gezahlten  als  auch  nach  dem  Charakter 
des  Betriebs  gezahlt  werden.  Bei  der  Berufsstatistik  ist  das  erstere, 
bei  der  Betriebsstatistik  das  letztere  der  Fall.  Nun  handelt  es  sich 
aber  auch  darum,  beide  Gesichtspunkte  miteinander  zu  verbinden. 
Das  kann  in  zwei&cher  Weise  geschehen,  sowohl  von  der  Berufs- 
statistik als  auch  von  der  Betriebsstatistik  aus.  Während  die  Er- 
hebung von  1882  diese  Frage  übergangen  hatte,  wurde  ihre  Lösung 
bei  der  Zählung  von  1895  durch  die  Betriebsstatistik  angestrebt 
Auf  dem  Gewerbebogen  war  das  gewerbliche  Hilfepersonal  nach 
der  thatsächlichen  Beschäftigung  im  Betriebe  zu  gliedern.  Sie 
wird  sich  mit  dem  von  der  Berufszählung  erfafsten  individuellen 
Berufe  zwar  nicht  völlig  decken,  kommt  ihm  aber  ziemlich  nahe. 
So  ist  die  um&ngrekhe  Tabelle  6  der  Gewerbestatistik  zustande 
gekommen:  „Die  Arbeiter  nach  ihren  besonderen  Beschäftigungen 
in  den  einzelnen  Gewerbearten welche  49  individuelle  Be- 
schäftigungen unterscheidet.  Damit  ist  gewifs  ein  aufserordent- 
licher  Fortschritt  erzielt  worden.    Gleichwohl  glaube  ich,  dals 


*)  Zur  Methode  der  Beruft*  n.  Gewerbcxälilniis;  vom  14.  Jtmi  1895.  Sozial- 
politisches Zentrslbktt,  IV.  Jahrg.  S.  209. 

16* 


Digitized  by  Google 


246 


H.  Rftiichber^, 


das  Problem  mit  noch  grofserem  Erfolge  von  Seite  der  Berufe* 
Statistik  aus  anzutissen  wäre.  Die  Verzeichnung  der  thatsäch- 
liehen  Beschäftigung  auf  dem  Gewert>ebogen  mutet,  wie  schon 
V.  Mayr  tadelnd  bemerkt  hat, ')  dem  Unternehmer  eine  statistische 
Funktion  zu.  Das  ist  nicht  nur  für  ihn  unangenehm,  sondern  auch 
nachteilig  fiir  die  Statistik,  weil  die  Gruppierung  von  den  ver* 
schiedenen  Unternehmern  offenbar  nach  verschiedenen  Gesichts- 
punkten vorgenommen  wird,  so  daGs  sich  aus  der  Summierung 
der  annähernd  gleichnam^n  Positionen  bei  der  Bearbeitung  keines- 
wegs gleichartige  Beschäftigungs-  oder  BeruCsarten  ergeben.  Ganz 
anders,  wenn  der  Arbeiter  selbst  den  Betrieb  bezeichnet,  und  die 
Aufbereitung  dann  von  der  berufenen  statistischen  Arbeitsstelle  ein- 
heitlich nach  Gewerbegruppen  und  -Arten  vorgenommen  wird. 
Alle  Gründe,  die  überhaupt  für  die  Zentralisation  der  statistisch- 
technischen Thätigkeit  sprechen  und  sie  auch  allenthalben  herbei- 
geführt haben,  sprechen  auch  zu  Grünsten  meines  Vorschlages.  Ob 
es  auch  in  materieller  Hinsicht  richtiger  ist,  wie  ich  es  will,  die 
Wrteilung  der  einzelnen  Berufe  auf  die  \  cr<;chiedenen  Betriebszweige 
oder,  was  jetzt  thatsächlich  vorliegt,  die  Zusammensetzung  dieser 
letzeren  nach  Berufsspc/ialitäten  darzustellen,  läfst  sich  nicht  von 
vornherein  sagen.  Die  Betriehsstatislik  erfordert  dieses,  die  Be- 
rufsstatistik jenes.  Beides  ist  berechtigt  und  erwünscht.  Aber  die 
Beruisstatistik  kann  das  Problem  technisch  zweckmäfsiger  lösen. 
Darum  möchte  ich  es  ihr  überweisen  untl  befürworte  die  dazu  er- 
forderliche, und  auch  aus  den  früher  angeführten  Gründen  dringend 
gebotene  Frage  nach  dem  Arbeitgeber. 

Hinsichtlich  der  Formularicn  für  die  landwirtschaftliche  und 
gewerbliche  Betriebsstatistik,  der  Landwirtschaftskarte  und  des  Ge- 
werl)cl)ogens,  darf  ich  mich  kurz  fassen.  Die  Erörtern n;:  der 
einzelnen  darin  enthaltenen  Fragen  (nulet  besser  in  Verbindung 
mit  der  Besprechung  der  materiellen  Ergebnisse  statt.  Hier  sind 
nur  die  prinzipiellen  und  technisch  wichtigen  Gesichtspunkte  zu  be- 
rühren. Beiden  Erhebungen  ist  in  dieser  Hinsicht  gemeinsam,  dafs 
sie  an  die  Berufszählung  anknüpfend  und  von  den  Personeti  aus- 
gehend, die  Betriebe  zu  erfassen  suchen.  Schon  die  Berufsangaben 
haben  auf  das  Vorhandensein  v<»n  Betrieben  hingedeutet.  Zur  .Aus- 
füllung der  diesbezüglichen  Zählpapiere   leiten  sodann  besondere 

M  Die  Grenzen  des  gewöhnlichen  vcliriftlicht-n  Vi-rfabrais  bei  staHstiscbea 
Ermittlungen  etc.    AUgcm.  Statist.  Archiv,  IV.  Bd.  S.  128. 


Digitized  by  Google 


Die  Benifs-  und  Geweibedibliing  im  Deatscben  Reich  vom  14.  Juni  1S95.  247 

Bemerkungen  auf  der  Rückseite  der  HaushaltuogsUste  an.  Die  dazu 
zu  bewirkenden  Eintragungen  dienen  zugleich  zur  Evidenzhaltung 
des  Materials.  Das  typographische  Arrangement  ist  als  wenig  ent- 
sprechend bemängelt  worden, scheint  aber  doch  die  Ergebnisse 
nicht  wesentlich  beeinträchtigt  zu  haben.  Auch  das  Prinzip  selbst 
ist  —  wenigstens  hinsichtlich  der  ( icwerbestatistik  —  heftig  ge- 
tadelt worden.*)  Es  sei  verfehlt,  die  Gewerbetreibenden  personlich 
zum  Aus^anj^punkt  der  Erhebung  zu  machen,  da  doch  die  that* 
sächliche  ZähhmjTjseinhcit,  worauf  es  bei  der  Zusammenstellung  an- 
komme, der  Betrieb  sei.  Wie  bereits  früher  bemerkt,  erblicke  ich 
darin  keinen  Mangel,  sondern  vielmehr  einen  wesentlichen  Vorzug 
unserer  Betriebsstatistik.  Nur  so  liels  es  sich  erm<%lichcn,  die  Be- 
triebe in  solcher  Vollständigkeit  zu  erfassen,  dafs  die  Betriebs- 
statistik zugleich  die  technische  Organisation  des  arbeitenden  Volkes 
darstellt. 

.Allerdings  ist  dieser  Erfolg  nur  hin-^irhtlich  der  gewerblichen 
Bethätigung  erzielt  worden.  Auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft 
ist  die  Sachlage  eine  andere.  Hier  fehlt  jene  innige  Verbindung 
zwischen  den  Pcrsonaldaten  der  Berufe-  und  Betriebszählun^.  Das 
zeigt  sich  schon  bei  derBegriffsformuIierung  und  statistischen  Erfassung 
der  Landwirtschaftsbetriebe.  Das  Kriterium  fiir  die  .Ausstellung 
einer  I^andwirtschaftskarte  bildeten  nicht  die  Angaben  der  Haus- 
haltungsliste über  den  Hauptberuf,  sondern  es  war  dafür  die  auf 
der  Rückseite  der  Haushaltungsliste  zu  konstatierende  Thatsache 
maßgebend,  dafs  von  einem  Mitglicde  der  Hauslialtung  Land-  oder 
Forstwirtschaft  betrieben  wird.  In  diesem  Falle  wurde  ein  land- 
wirtschaftlicher Betrieb  selbst  dann  angenommen,  wenn  im  Innern 
der  Haushaltungsliste  die  I-andwirtschaft  weder  als  Haupt-  noch  als 
Nebenberuf  angegeben  war.  Man  unterliefs  es  1895  korrekter- 
weise die  Berufsangaben  bei  der  Bearbeitung  darnach  zu  korrigieren, 
was  1882  der  Fall  gewesen  war.  Das  hat  die  .\nzahl  der  Neben- 
erwerbsfalle hcrabgedrückt  und  zu  dem  auf  den  ersten  Blick  befremd- 
lichen Ergebnis  geführt,  dafs  nunmehr  die  .Anzahl  der  Landwirtschafts- 
betriebe jene  der  selbständigen  Landwirte  nicht  unwesentlich  über- 
ragt. Hierauf  wird  bei  der  Froitei  ung  der  der  landwirtschaftlichen 
Betriebsstatistik  nocli  des  näheren  zurückzukommen  sein;  hier  ge- 
nügt es  zu  konstatieren,  da(s  —  im  Gegensätze  zu  den  Prinzipien 


')  V.  Mayr,  a.  a.  O.  S.  II3. 
*i  Riedl  a.  ft.  O.  S.96ff. 


L.iyiii..cü  Uy  Google 


H.  Ranchbcrgt 


der  Gewerbestatistik  —  Landwirtscliaftsbctricbc  ohne  Landwirte  und 
Landwirte  ohne  Betriebe  als  möglich  angenommen  wurden. 

V^iel  schwerer  fallt  ins  Gewicht,  dafs  in  der  Landwirtschaftskart c 
die  Frage  nach  dem  landwirtschaftlichen  Betriebspersonal  gänzlich 
fehlt.  Schon  in  der  Reichstagskommission  ist  dies  als  Mangel  ge- 
rügt und  die  Einschaltung  einer  diesbezüglichen  Frage  angercj^t 
worden.  Schliefslich  ist  man  im  Hinblick  auf  die  damit  verbundenen 
Schwierigkeiten  davon  abgekommen.  P-s  ist  unbestreitbar,  dals  auf 
dem  Gebiete  der  Landwirtschaft  der  Begriff  des  Betriebspersonals 
viel  schwieriger  abzugrenzen  ist,  als  auf  dem  Gebiete  der  Industrie. 
Der  Arbeitsbedarf  wechselt  sehr  stark,  Hilfskräfte  müssen  zeitweili-^, 
insbesondcTe  zur  Erntezeit  herangezogen  werden.  Wie  soll  man 
sie  am  Stichtage  der  Lrlichung  erfassen,  wie  in  Rechnung  stellen? 
Wie  könnte  die  nur  gcle^^cntliche,  aber  für  die  Landwirtschaft  doch  so 
wichtige  Mitwirkung  der  l'amilienangehörigen  in  .-XnschlaL;  i:;el>racht 
werden?  Diese  Bedenken  waren  durchschlagend.  Sowohl  der 
Direkt« tr  des  statistischen  Reichsamts,  ')  als  auch  das  offizielle 
Zählungswerk '-')  bezeichnen  die  Aufnahme  des  landwirtschaftlichen 
Hetrieljspersonals  als  unmöglich,  l^rauchbare  Angaben  würde  man 
nicht  erlangen.  ^1  Das  mag  zutreffen  hinsichtlich  der  zeitweiligen 
Hülfskräfte,  nicht  auch  hinsichtlich  des  ständigen  Personals.  Hei  der 
Bearbeitung  der  Berufsstatistik  iiat  man  den  richtigen  Weg  eiti- 
geschlaji^en ,  welcher  .schon  von  vornherein  ins  Auge  gefafst  ni  d 
könnet juent  verfolgt,  auch  hinsichtlich  des  landwirtschaftlichen  Be- 
triebs! )ers()nals  zu  einem  betriedigenden  Ergebnisse  geführt  halte. 
Gleich.sam  als  Ersatz  für  diese  Lücke  bringt  die  Berufsstati>tik  an 
der  S|)itze  tler  Tabelle  3 :  ,, Einige  besondere  Berufsklassen  der  Be- 
völkerung nach  ihrer  sozialen  Bedeutung"  eine  l'ebersichl  über  die 
familienhafte  Struktur  der  Landwirtschaftsbetriebe  mit  l'nterscheidimg 
der  wichtigsten  ( irolsenkategorieen,  sowie  des  Haupt-  und  Neben- 
erwerbs. Man  hat  zu  diesem  Zwecke  .Angaben  der  Berufszälilung 
und  der  landwirtschaftlichen  Betriebsaufnahme  miteinander  kombi- 
niert. In  dieser  Richtung  hätte  meines  Erachtens  nach  ein  Schritt 
weiter  gemacht  werden  sollen,  um  in  die  Personal  Verhältnisse  auch 

')  V.  Scheel,  a.  a.  O.  S.  17. 

')  Die  Landwirtschaft  im  Dcuftscben  Reich.  Statistik  des  Oeotschen  Reichs. 
Neue  Folge  Band  112.    S.  4*. 

•)  Anderer  Ansicht  ist  Paul  Kollmann.  Deutschlands  landvrirtschaftliohrr 
Betrieb  etc.  lahrboch  für  Gesetzgebung,  Verwaltung  u.  Volkswirtschaft.  2^  Jahrg. 
1899.    S.  97. 


uiyiii^cü  Uy  Google 


Die  Berufs-  und  Gewerbezälilung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  249 

der  landwirtschaftlichen  Betriebe  Einblick  zu  erhalten.  Es  hätten 
die  Angaben  der  Haushaltungsliste  auch  über  das  landwirtschaftliche 
Giesinde  mit  herangezogen  werden  können,  welches  ja  einen  be- 
trachtlichen Teil  des  landwirtschaftlichen  Betriebspersonals  stellt.  In 
der  Landwirtschaftskarte  aber  hätte  zunächst  die  Frage  nach  dem 
standigen  Betriebspersonal  gestellt  werden  sollen.  Dasselbe  wäre 
nach  den  Kategorien:  Familienangehörige,  landwirtschaftliches  Ge- 
sinde, Haushaltungsfremde  zu  gliedern  gewesen.  Vielleicht  wäre 
auch  über  das  Arbeitsverhältnis  der  ständigen  aber  haushaltungs- 
fremden  Hül6kräfte  etwas  zu  erfahren  gewesen.  Auch  eine  Frage 
darüber,  ob  überdies  Aushülfekräfte  zeitweilige  Verwendung  finden, 
wäre  am  Platze  gewesen.  Durch  eine  zweckmäfsige  Kombination 
der  auf  solche  Weise  ermittelten  Angaben,  für  die  der  Platz  jedoch  in  der 
Landwirtschaftsstatistik  und  nicht  in  der  Berufsstatistik  ist,  hätte 
man  sicherlich  wertvolle  Anhaltspunkte  erhalten  für  die  Beurteilung 
der  Arbeitsverfassung,  insbesondere  der  kleineren  und  mittleren  Be- 
triebe.  Dafs  die  stärker  schwankenden  Personalverhältnisse  der 
Grrofsbetriebe  auf  solche  Weise  nicht  genügend  scharf  zu  erfossen 
sind,  sei  ohne  weiteres  zugegeben.  Aber  deswegen  brauchte  man 
noch  nicht  gänzlich  auf  die  Erhebung  des  landwirtschaftlichen 
Betriebspersonals  zu  verzichten. 

Die  Landwirtschaftsstatistik  beschränkt  sich  also  auf  die 
objektiven  Merkmale  des  Betriebes:  die  bewirtschaftete  Fläche 
nach  Eigentumsverhältnissen  und  Verteilung  der  Kulturen,  denVteh- 
stand,  soweit  dadurch  der  Betrieb  als  solcher  charakterisiert  wird, 
und  die  Benutzung  landwirtschaftlicher  Maschinen.  Den  Schlufs 
bilden  einige  besondere  Fragen  über  den  Anbau  von  Rüben  zur 
Zuckerproduktion,  den  Betrieb  von  Milchhandel  oder  Molkerei,  die 
Beteiligung  an  einer  Molkereigenossenschaft  oder  Sammelmolkerei 
und  den  Anteil  an  Allmendland,  dessen  V^orhandensein  überdies  auch 
direkt  bei  der  Gemeinde  erfrs^  worden  ist. 

Nicht  erfragt  sind  die  gezogenen  Bodenprodukte,  die  Anbau- 
flächen und  Erntemengen.  Gelänge  es  auch  darüber  Auskunft  zu 
erhalten,  dann  wäre  allerdings  ein  ^anz  aufserortlciitlicher  Fortschritt 
erzielt:  wir  würden  unterrichtet  über  den  Anteil  der  verschiedenen 
Betriebsgröfsen  an  der  gesamten  landwirtschaftlichen  Produktion 
und  über  ihren  Einftuls  auf  die  Produktivität  der  Betriebe.  Und 
wir  könnten  unter  Benutz unrr  der  eben  geforderten  Personalangaben 
fernerhin  berechnen,  welche  Betriebe  nur  ihren  eigenen  Nahrungs- 
bedarf decken,  und  welche  für  den  Markt  produzieren,  von  welcher 


250 


H.  Rancbbcrg, 


Grolsenstufe  an  dies  geschieht,  und  welcher  Teil  der  landwirt- 
schaftlichen Bevölkerung  an  der  einen  und  der  anderen  Gruppe  be- 
teiligt ist  lieber  die  Wichtigkeit  solcher  Informationen  ist  kein 
Wort  zu  verlieren.  Ob  sie  aber  zu  erlangen  sind?  v.  Scheel 
verneint  es :  „IMe  Antworten,  die  man  auf  solche  Fragen  zu  hören 
bekommen  würde,  könnte  sich  der  Statistiker  nur  mit  Grauen  vor- 
stellen". Kollmann,  der  doch  auch  kein  Neuling  auf  dem  Ge- 
biete der  Statistik  ist,  ist  viel  weniger  zartbesaitet.  Er  erhebt 
wenigstens  (lir  die  Zukunft  die  Forderung,  dals  die  Statistik  auch 
nach  dieser  Seite  au^ebaut  werde.  Und  ich  möchte  ihm  bei- 
pflichten, wenngleich  mir  der  Erfolg  einigermaCsen  zweifelhaft  er- 
sclieint.  Aber  der  Gewinn  ist  zu  grofs,  als  dafs  man  nicht  den 
Versuch  wagen  müfste,  selbst  auf  die  Gefahr  des  Milslingens  hin. 

Viel  kotiiplizierter  als  die  landwirtschaftliche  ist  die  gewerb- 
liche Betriebsaufnahme.  Zwei  wichtige  X'orfragen  sind  hier  zunächst 
zu  erledigen :  Erstens  wie  weit  der  Kreis  der  einzubeziehenden  Ge- 
werbe gefafst  werden  solle,  und  zweitens,  wie  die  Zählungseinheit 
„Betrieb"  aufzufassen  sei.  In  der  emteren  Hinsicht  hat  man  1895 
wie  1882  den  Umfang  der  Erhebung  ganz  weit  gespannt  und  sie 
keineswegs  auf  die  Industrie  i.  e.  S.  und  ihre  besonderen  Inter- 
essen beschränkt.  Und  zwar  mit  vollem  Recht.  Denn  erst  wenn  mr 
über  die  Organisation  der  gesamten  volkswirtschaftlichen  Produktion 
und  Verteilung  unterrichtet  sind,  vermögen  wir  die  Rolle  der 
Industrie  i.  e.  S,  oder  der  bei  der  Handelskammerstatistik  so  be- 
liebten „etablierten  Betriebe",  richtig  zu  beurteilen.  Unter  den  Be- 
griflf  „rrewrrbr"  im  Sinne  der  Gewerbestatistik  fällt  also  Alles,  was 
nicht  Landwirtschaft  oder  .Ausübung  freier  Berufe  ist.  Eine  Aus- 
nahme bilden  ~  wie  1882  —  nur  die  Post-,  Telegraphen-  und 
Eisenbahnbetriebe.  Die  spezielle  Statistik  dieser  Verwaltungszweige 
bietet  zwar  Ersatz  für  den  Ausfall,  gleichwohl  empfinde  icli  ihn  als 
eine  Art  Schönheitsfehler.  Warum  diese  Lücke  in  der  gesamten 
Betriebsorganisation  des  deutschen  \'olks? 

Das  schwierigste  Problem  in  der  ganzen  Betriebsstatistik  viel- 
leicht ist  die  Definition  des  Begriffs  Betrieb  als  Zählungseinheil. 
Er  ist  weder  identisch  mit  der  I Unternehmung,  noch  mit  dem 
Betrieb  im  technischen  Sinne.  Den  .\usgani^.>.j)unkt  bilden,  wie  be- 
reits bemerkt,  die  Berufsangaben  des  Betriebsleiters,  welche  zur 
Aufstclhiii'^^  des  (iewerbebogens  überleiten.  Damit  ist  schon  eine 
einheitliche  Organisation  vorausgesetzt,  welche  in  dieser  Person 
kulminiert.  Sind  aber  verschiedenartige  Gewerbe  zu  eüiem  Betriebe 


uiyiii^cü  Uy  Google 


Die  Berufs*  und  Gevreibexililiing  im  Deatsdien  Kcidi  vom  14.  Juni  1895.    25 1 

\'«^inigtt  so  war  zunächst  für  jeden  Betriebszweig  dn  besonderer 
Gewerbebogen  aufzustellen,  „weil  die  Gewerbestatistik  den  Zustand 
der  einzelnen  Gewerbszweige  zeigen  soll".  Danach  Aufteilung  des 
Personals  und  der  motorischen  Kräfte,  aber  nachträgliche  Zusammen- 
fassung  derselben  zum  Gesamtbetrieb.  Wie  weit  die  Aussonflei  ung 
der  Betriebszweige  gehen  solle,  wird  in  der  Anleitung  zur  Ausfüllung 
des  (lewerbebogens  nicht  prinzipiell  ausgesprochen,  sondern  nur 
durch  eine  Reihe  von  Betspielen  anj:^cdcutet.  Danach  schliefst  sich 
die  Krhebung  ziemlich  eng  an  die  Produktionsteilung  und  arbeits- 
teilige Spezialisation  der  volkswirtschaftlichen  Produktion  an. So* 
wobl  die  einzelnen  Abschnitte  eines  Produktionsprozesses,  die  markt* 
gängige  Halbfabrikate  liefern,  wie  Leinenspinnerei-,  Weberei  und 
Färberei,  als  auch  technisch  ähnliche  Produktionsprozesse,  die  ver- 
schiedenartige Rohmaterialien  zu  marktgängigen  Waren  verarbeiten, 
wie  BaunnvüU-  und  Wollspinnerei  sollen  als  getrennte  Betriebe  aus- 
gewiesen werden.  Das  fuhrt  7.u  einer  unter  Umständen  sehr  weit- 
gehenden Zerlcf^ung  der  (Tesamtbetricbc.  welche  zwar  im  Interesse 
der  Spczialisicrun;^'  der  Prodiiktionszwei'^c  gelegen  ist.  in  jeder 
anderen  Hinsiclit  alier  \erwirrend  wirken  niufs.  Notorische  Grofs- 
hctriebe  \crschu Inden  dal)ei  j^änzlicli  durch  Parzellierung.-)  }n 
statistisch-technischer  1  hnsicht  ist  insl)esondere  bedenklich,  dals  diese 
Zerlcf^'ung,  wie  sich  die  Anleitun^^  ausdruckt,  (gänzlich  ,,dcm  sach- 
geniälsen  P>mes>eii  des  ( Teschäftsleiters  überlassen  werden  muls". 
X'erschiedene  ( lochäftsieiter  werden  in  der  gleichen  I-age  eine 
verschiedene  und  doch  noch  immer  ihres  Ermessens  sachgemälse 
Knts<:hei<lung  treft'cn,  so  dafs  die  Grun(lla<ren  der  Gewerbestatistik 
ganz  bedenklich  ins  Schwanken  ^^eraten.  L'nd  doch  ist  dagegen 
kein  Kraut  gewachsen.  Denn  der  Wert  der  Gewerbestatistik  be- 
ruht zum  guten  Teile  auf  ihrer  Spezialisierung,  und  diese  ist  wieder 
undurchführbar  ohne  die  Auflösung  der  zusammengesetzten  Unter- 

')  Ich  gebranehe  diese  Aatdrtclw  in  dem  Sime,  den  Carl  Bücher  ihnen 
beigelc^  hat  VgL  seine  Entstehung  der  Volknriitschalt  a.  Aufl.  TttUngen  1898, 
S.  282. 

*^  Nach  dieser  DanteUangsvdse  gibe  es  t.  B.  im  Deutschen  Reidie  nur  255  Ge* 
wrrbebetriebc  mit  Uber  1000  Personen;  ihr  Person.)!  h.-trUgc  44S  731  Personen.  Bc- 
rficitsichtigt  man  hingegen  die  Gesamtbelriebe  ah  Belricbscinheitcn.  so  entfallen  auf 

dirsc  olxTst*-  Grnfsrnkateporir  2()6  Betrieb.-  mit  562  62S  INT-oncn.  41  Ricsenlx-tri'-!  '' 
mit  I  13897  Pcrson.-n  siml  infolge  <l'-r  /i-rl-'^^ung  auf  nicilrigerc  ( lroU»*n>tulcn 
hrrabpiMl rückt  w  erden.  I  >.i/.u  kommen  nm  h  •ii.-  bei  der  Gewerbciählung  gänzlich 
übergangenen  lüsenbahn-,  l'ost-  u.  Tclcgraphenbctriebc. 


Digitized  by  Google 


252 


H.  Raaehberg, 


nehmungen.  Auch  die  belgische  Industriestatistik  verfahrt  in  der 
gleichen  Weise,  während  die  ungleich  naivere  franzosische  sich 
darüber  keine  grauen  Haare  wachsen  lä&t  Aber  aus  der  Zerlegung 
der  Gesamtbetriebe  bei  der  Erhebung  erwächst  der  Statistik  eine 
neue  wichtige  Au%abe  bei  der  Bearbeitung:  ihre  schlielsltche  2Ui- 
sammeniassung.  Die  Gesamtbetriebe  werden  der  Darstellung  aller 
jener  Ergebnisse  zu  Grunde  zu  legen  sein,  bei  welchen  es  auf  den 
Betricbsumfang,  auf  die  Macht  der  Oi^^isation,  auf  die  Wucht  der 
konzentrierten  Kräfte  und  Massen  ankommt,  also  ganz  insbesondere 
in  sozialpolitischer  Hinsicht  Ohne  eine  derartige  Synthese  inuüs 
die  Zerlegung  geradezu  zu  einer  Fälschung  des  Gesamtbildes 
fuhren.  Es  ist  ein  wesentliches  Gebrechen  der  Gewerbezählung 
von  1882,  dafs  damals  eine  derartige  Zusammenfassung  unterblieben 
ist.  Man  hatte  es  schon  bei  der  Redaktion  der  Gewerbekarte 
verabsäumt,  die  hierfür  erforderlichen  Fragen  zu  stellen.  Die 
Gewerbeaufnahme  von  1895  verfällt  nicht  in  den  gleichen  Fehler. 
Betriebsleiter,  weiche  Gewerbebogen  über  verschiedene  Gewerbs- 
zweige ausfüllten,  hatten  anzugc!)cn,  ob  und  in  welcher  Weise  die- 
selben einen  Gesamtbetrieb  bilden,  für  welchen  dann  das  Personal 
und  die  motorischen  Kräfte  nochmals  summarisch  zu  verzeichnen 
waren.  Bei  der  Bearbeitung  und  Darstellung  der  Ergebnisse  hat 
man  jedoch  die  Gesamtbetriebe  vielleicht  nicht  ausführlich  genug 
berücksichtigt.  Blofs  die  beiden  letzten  Tabellen  der  Gewerbe- 
statistik sind  ihnen  gewidmet.  Die  eine  enthält  Zahl,  Personal 
und  motorische  Kraft  der  Gesamtbetriebe  nach  Gewerbeklassen 
und  Gröfsenkategorieen  der  Betriebe,  die  aiulcre  gliedert  sie 
nach  dem  juristischen  Charakter  der  Betriebsinhaber  oder  nach 
den  Unternehmungsformen.  Das  ist  alles.  .Alle  anderen  Ueber- 
sichten,  also  auch  die  in  sozialpolitischer  Hinsicht  belangreichen, 
beziehen  sich  nur  auf  die  leilbetriebe.  Ich  wünschte,  wenig- 
stens die  Uebersichten  über  die  Gliederung  des  Persunnls  auch 
nach  Gesamtbetrieben  aufgestellt  zu  finden.  Denn  hier  betrifft, 
wie  schon  die  Anmerkung  2  auf  Seite  25 1  zeigt,  die  Versetzung  der 
Betriel)e  von  einer  Gröfsenstufc  zur  anderen  einen  unter  Umständen 
sehr  erheblichen  Personenkreis  und  führt  demnach  zu  einer  ganz 
anderen  Gruppierung  des  Personals  nach  Gröfsenkategorien  der 
Betriebe. 

Für  die  \'ergleichung  mit  den  Ergebnissen  von  1882  können,  wie  be- 
reits bemerkt,  überhaupt  nur  die  Zahlen  über  die  Teilbetriebe  in 
Betracht  kommen.  Da  nun  bei  ihrer  Ausscheidung  dem  subjektiven 


Digitized  by  Gopgle 


Die  Berufs-  und  Gewrrbczählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  189^. 


Ermessen  weiter  Spielraum  gewährt  war,  und  überdies  die  dies* 
bezüglichen  Anleitungen  bei  beiden  Erhebungen,  wenn  auch  nicht 
dem  Sinne,  so  doch  dem  Wortlaute  nach  von  einander  abweichen, 
so  ergeben  sich  daraus  rein  formale  Abweichungen  in  den  Er- 
gebnissen, welche  die  Beurteilung  der  materiellen  Verschiebungen 
empfindlich  beeinträchtigen.  Das  wird  man  also  für  die  Folge  mit 
zu  berücksichtigen  haben. 

Die  bis  jetzt  erörterte  Begriffsbestimmung  betrifft  die  Ab- 
grenzung der  Betriebe  nach  oben  hin,  nämlich  die  Ausscheidung 
der  Betriebe  im  zählungstechnischen  Sinne  aus  den  umfassenderen 
wirtschaftlichen  Unternehmungen.  Die  Untergrenze  ftir  den  Begriff 
des  Betriebes  ist  aber  nicht  durch  die  Gewerbe-  sondern  durch  die  Be- 
rufezählung gezogen  worden.  Die  Gewerbestatistik  entnimmt  der 
Benifezählung  noch  die  Angaben  hinsichtlich  aller  Alleinbetriebe,  so 
dafs  Schliefelich  die  Eintragung  in  der  Haushaltungsliste  über  die 
selbständige  Berufestellung  mafsgebend  wird  für  die  Anerkennung 
als  Betriebseinheit.  Jede  gewerbliche  ßerufsthätigkeit,  die  nicht  im 
ständigen  Ix)hnvcrhällnis  ausgeübt  wird,  stellt  solchermafsen  einen 
Betrieb  dar,  auch  Storarbeit  und  Heinnarbeit.  Das  Wort  wird  damit 
gcwifs  in  einem  weiteren  Sinne  angewendet,  als  dem  gewöhnlichen 
Sprachgebrauch  entspricht.  Aber  einen  Nachteil  kann  ich  darin, 
wie  bereits  bemerkt,  nicht  erblicken.  X'ielmehr  begrüfsc  ich  es 
als  einen  Vorzug,  dafs  der  Kreis  der  Gewerbestatistik  die  gesamte 
volkswirtschaftliche  Produktion  umfafst,  und  dafs  neben  der  eigent- 
lichen Industrie  auch  jenes  weite  Gebiet  aufgeschlossen  wurde,  das  in 
ihre  kapitalistische  Organisation  noch  nicht  cinbezo|^cn  ist.  Nimmt 
denn  dann  wirklich,  wie  Riedl  es  beklagt, 'j  der  Kleinbetrieb  in 
den  Schlufsergebnissen  der  Statistik  einen  Raum  ein,  „der  über  seine 
thatsächlichc  Bedeutung  weit  hinausgeht"?  Oder  erhellt  nicht  viel- 
mehr diese  seine  thatsächliche  Bedeutung  erst  aus  dem  so  er- 
möglichten Teberblick  ?  Dazu  kommt  noch  zu  berücksichtigen, 
dafs  die  Gewerbestatistik  die  Beiriebe  nicht  nur  zählt,  sondern  auch 
nach  ihrer  Ausstattung  tnit  ijcr^önlichen  und  motorischen  Kräften  und 
mit  Arbeitsiiiaschinen  gleichsam  d\  namisch  in  Rcf'hnunL^  stellt,  (  rcijjen 
eine  einseitige  L'eberschätzung  des  Klcini)ctnel)cs  i>t  also  zur  Genüi^e 
vorgesorgt.  Dagegen  beklage  ich  es,  dals  man  nicht  versucht  hat, 
ihn  noch  weiter  zu  analvsieren  und  <;leich  der  Heimarbeit  auch  die 
charakteristischen  Formen  der  Störarbeit  auszuscheiden.  Eine  darauf 

'j  a.  a.  o.   5>.  103. 


Digitized  by  Google 


254 


H,  R«ttchberg, 


abzielende  Frage,  ob  „im  Hause  der  Kunden  gegen  Lohn"  gearbeitet 
wird,  ist  im  Laufe  der  Reichstagsverhandlungen  zwar  angeregt, 
nicht  al)er  angenommen  worden. 

Während  die  (rewerbestatistik  hinsichtlich  der  sogenannten  AUein- 
betriebe  mit  den  Auskünften  der  Haushaltungsliste  sich  begnügt, 
hat  sie  über  die  Gehilfen-  und  Motorenbetriebe  vermittelst  des 
Gewerbebogens  w^eitergeluMulc  Informationen  über  deren  allL^i^meinen 
Charakter,  die  Unternehtnungsformen,  das  Betriebspersonal,  die  an« 
gewendeten  Motore,  Arbeitsniaschinen  und  sonstigen  Apjiarate  ein- 
gezogen. Auch  in  dieser  Richtung  sollen  die  Details  der  Frage- 
stellung zugleich  mit  den  materiellen  Ergebnissen  erörtert  werden. 
Gegenstände  der  Produktions-  oder  Lohnstatistik')  sind  grund- 
sätzlich ausgeschlossen  geblieben.  Mit  Recht,  denn  sie  sind  an 
ganz  andere  methodologische  Voraussetzungen  gebunden  und  be- 
flin«:^'(  n  eine  eigene  Organisation.  Der  Rahmen  der  Erhebung  war 
ohnedies  weit  genug  gespannt.  Die  Zumutungen  an  das  Verständnis 
des  Publikums  und  an  die  Leistungsfähigkeit  der  Zählorgane  waren 
bis  an  die  äufserste  Grenze  gespannt,  mitunter  wohl  darüber  hin- 
aus.Die  Einbeziehung  neuer  Erhebungsmomente  hätte  das  Ge- 

')  Mit  <l»"r  Vx-lgisi  licn  Industrir-^tatr^tik  von  iS'ih  war  auch  eine  Lohnerln-bung 
vo'bundcu.  AUciu  sie  crM'ics  sich  als  unzulänglich  und  wurde  durch  umfassende 
Nachtngterhebangen  auf  Gmnd  der  LohnliBtan  «rgiait.  In  WirklkUceit  ist  also  die 
Loimstatistik  in  Belgien  niclit  durch  die  bidostriesSblnng  scmdem  im  Ansdilosse  daran 
dnrch  besondere  Erbebungen  erstellt  wOfden. 

Uebenriebene  Beflirchtangen  in  dieser  Riditung  inlseit  v.  Mayr  in  seinem 
TttfenriUinten  Aufsatie  Aber  die  Grenien  des  gewöhnlichen  schrifUidien  Verfahrens. 
Sie  verleiten  ihn  dazu,  die  panze  Orfjanisation  der  Rrhobung  zu  ven»-erfen  und  an  die  Stelle 
der  schriftlichen  Ausfüllung  der  Fragebogen  durch  die  Betriebsleiter  deren  Einver- 
nehmung vor  eigenen  Zählungskonimissionen  vorzusclilagcn.  Dir  hierfiir  erforderlichen 
r)rganis;itio!irn  sind  praktisch  wohl  undurchführbar.  Ks  würden  sich  dabei  in  per- 
sönlicher Richtung  noch  gröl'srre  Schwierigkeiten  ergeben,  als  jetzt  in  sachlicher. 
Auch  ist  V.  Mayr  der  irrigen  Ansicht,  als  ob  das  Material  an  Landwirtschafts-  und 
Gewerbdmrten  selbständig  wäre  und  getrennt  von  den  HanshaltnngsUsten  der  Be- 
mfsiihlong  verarbeitet  würde.  Das  ist  nicht  der  FalL  Gerade  die  Kombination  bader 
Seiten  der  Erhebung  hat  erhebliche  FortschriUe  ermöglicht,  vgL  s.  B.  die  Tabelle  3 
der  Bemfsstatistik,  gans  davon  abgesehen,  dafo  die  Vergleichnng  von  Betriebs-  und 
Bemfsangaben  ein  wichtiger  KontroUbehelf  fflr  beide  ist.  Nicht  in  der  Rück- 
bilMiing,  in  der  Durchbildung  des  schriftlichen  Verfahrens  ist  der  Fortschritt  solcher 
Erhebungen  gelegen,  welche  das  ganze  Volk  umfassen.  Damit  soll  die  Pererhtigung 
von  mündlichen  F.nqueten  für  eindrin\jendere  l'ntersuchungen  natürlich  nicht  im  min- 
desten in  Frage  gestellt  werden.    Aber  hier  verbietet  sich  das  von  selbst. 


uiyiii^cü  Uy  Google 


Die  Benifs-  und  Gcwerbciihluiig  im  Dentschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  25 


lingen  der  f^ranzen  Aufnahme  in  Frage  gestellt.  Anders  verhält  es 
sich  mit  der  Ausbildung  und  schärferen  Präzislcrung  der  bereits  im 
Zahlungsplane  gelegenen  Fragen,  wie  ich  sie  im  Laufe  meiner  Aus- 
führungen mehrfach  angeregt  habe.  Denn  dadurch  wird  der  Be- 
fragte genötigt,  die  Lebensverhältnisse,  über  welclu-  er  ohnedies 
Auskunft  zu  erteilen  hat,  unter  den  Gesichtspunkten  der  Aufnahme 
genauer  durchzudenken,  und  das  kann  ihr  nur  zum  Vorteil  gereichen. 

Eine  so  umfangreiche  und  in  mancher  Hinsicht  komplizierte 
Erhebung  wie  die  vorliegende  bedingt  eine  genaue  Nachprüfung  der 
von  den  Befragten  ausgefüllten  Zählpapiere.  Diese  Aufgabe  war  in 
erster  Linie  den  Zählern,  in  zweiter  Linie  den  Gemeindevorständen 
zuL^ewiesen,  welche  überliaupt  mit  der  Ausführun^f  der  Zähhing  inner- 
halb jedes  ( rcmcindebezirks  licfalst  waren  und  hierfür  eigene  Zählungs- 
kommissionen einsetzen  konnten.  In  Städten  mit  geordnetem  sta- 
tistischen Dienst  haben  dabei  selbst\crständlich  auch  die  kommunal- 
statistischen  AniUof  mitgewirkt.  Es  entsteht  nun  die  hra^^a", 
inwieweit  eine  s« »!(  In- Xachprüfurjg  als  ausreichend  bezeichnet  werden 
kann,  l'ür  den  erfahrenen  praktischen  Statistiker  kann  kein  Zweifel 
darüber  bestellen,  daf^  sie  in  Wirklichkeit  äulserst  ungleichmalsig 
ausfallen  mulVte.  Die  k(  »mmunal-statistisrhen  Aemter,  welche  an  dem 
Ausfall  der  Erhebung  das  höchste  sachhche  uiui  persönliche  Interesse 
haben,  sind  jedenfalls  am  grünfUichstcn  \orgegangen  und  iiiursleii 
sich  dabei  wühl  \ielfach  davon  überzeugen,  dals  zur  Erlair^'ung 
völlig  zutreffentler  Angaben  eine  förmliche  kritisrhe  N'achziihking 
erforderlich  sei,  deren  Arbeits-  und  Kostenaufwand  mitunter  den 
der  eigentlichen  Zählung  sogar  übertraf,  (deiches  Eindringen  kann 
von  statistischen  Laien  nicht  erwartet  werden,  und  so  hat  man  sich 
denn  wohl  in  den  meisten  ( iemeinden  damit  l)eruhigt,  wenn  nur 
die  Zählpai)iere  in  formaler  Einsicht  korrekt  aufgefüllt  schienen. 
L'nd  auch  der  Stand|)unkt  der  nüt  der  .Aufbereitung  der  Ergebnisse 
befafsten  Stellen  konnte,  wenigstens  in  den  gröfseren  Bundesstaaten, 
kein  anderer  sein.  Die  .Aufbereitung  ist  in  10  Staaten  von  den 
statistischen  Landcsämtern,  für  die  anderen  16  Staaten  durch  das 
Kaiserliche  Statistische  Amt  bewirkt  worden.  Eine  materielle  Nach- 
prüfung der  Ergebnisse  war  bei  dem  Umfange  der  Materialien  hier 
wohl  ganz  ausgeschlossen;  es  konnte  sich  höchstens  um  die  Be- 
hebung formaler  (iebrechen,  ungenügender  Angaben  oder  innerer 
Widersprüche  in  den  ZähliKipicren  handeln. 

So  ist  es  denn  selbstverständlich,  dafs  der  —  durch  die  Intensität 
der  Nachprüfung  wesentlich  bedingte  —  statistische  Wert  der 


Digitized  by  Google 


256 


H.  R&iichberg, 


Materialien  kein  gleichmärsiger  ist.  Bisher  hat  man  noch  allent- 
halben dieses  Uebel  als  unvermeidlich  angesehen.   Die  statistischen 

Aenitcr  organisieren  die  Erhebungen  technisch  so  /weckmalsig  wie 
möglich  und  halten  sich  dann  für  befugt,  die  Angaben  von  fonfiell 
korrekt  ausgefüllten  Zählgapieren  auch  als  materiell  richtig  an- 
zusehen. Bei  formaler  Richtigkeit  wird  auch  die  materielle 
präsumiert.  Daher  die  glückliche  Sicherheit,  mit  welcher  der  letzte 
Bearbeiter  der  Materialien  in  der  statistischen  Zentralstelle  hantiert, 
und  der  kühle  Skeptizismus,  womit  der  an  der  Zählung  beteiligte 
Kommunalstatistiker  die  Ergebnisse  aufnimmt 

Wesentlich  anders  ist  in  dieser  Hinsicht  die  Stellung  der  sta- 
tistischen Zentralstelle  dann,  wenn  schon  die  Organisation  der  be- 
triebsstatistischen Erhebung  in  ihr  selbst  kulminiert,  wie  dies  bei 
den  Industriezählungeii  Belgiens  und  I'raiikreichs  vom  Jahre  1896 
der  Fall  gewesen  ist.  hi  l^eiden  Staaten  hat  man  bei  der  im 
Arbeitsamte  zentialisicrttii  Aufbc-roitLuv^  der  Ergebnisse  die  l'ersonal- 
verhältnissc  der  ( iewcrlH  lietricbe  aus  den  Angaben  der  Arbeit- 
nehmer über  die  ArbcittTchci'  konstruiert.  In  Frankreich  um  damit 
einen  Ersatz  für  die  unterlassene  Betriebszählung  zu  schaftcn,  in 
Bejt^ien.  wo  eine  solche  vorgetiommen  worden  war,  um  ihre  Er- 
gebnisse hinsit-htiicii  des  Bestandes  und  der  Personalangaben  der  Be- 
triebe zu  überprüfen  und  richtig  zu  stellen.  Die  statistische  Zentral- 
stelle setzt  in  Belgien  nicht  die  Richtigkeit,  sondern  vielmehr  die 
l'nrichtigkeit  der  Betriebsausweise  voraus.  Sie  betrachtet  es  als 
ihre  Aufgabe,  die  materielle  Wahrheit  zu  erlorschen.  welche  ihr 
durch  die  formal  ordnungsgemäfse  Ausfüllung  der  Zählpapiere  nicht 
verbürn^t  erscheint.  Damit  ist  zweifelsohne  ein  wichtijjer  Fortschritt 
erzielt,  zwar  nirht  nach  aulsen  hin,  wohl  aber  in  der  inneren 
Solidität  drr  .Arbeit,  und  es  ergiebt  sich  auch  für  uns  die  Frage, 
ob  dem  gegenüber  der  Standpunkt  der  Deutschen  statistischen 
Stellen  noch  immer  als  gerechtfertigt  erscheint. 

Dabei  kommt  nun  in  erster  Linie  zu  berücksichtigen,  dafs  die 
belgische  Organisation  volle  Zentralisation  der  Aufbereitungsarbeiten 
bedingt.  Dagegen  sprechen  im  vorliegenden  Fall  schwere  Bcdmken. 
Wenn  das  grofse  Zählungswerk  in  verhältnismälsig  kurzer  Zeit  zum 
Abschlufs  gebracht  werden  konnte,  so  ist  dies  nicht  zum  geringsten 
Teile  dem  Zusammenwirken  von  il  statistischen  Aemtern  zuzu- 
schreiben. Völlige  Zentralisation  bedingte  hier  ein  nur  schwer  zu  re- 
krutierendes, noch  schwerer  zu  organisierendes  Heer  von  Hil&arbeitem 
und  trotzdem  wohl  noch  immer  eine  erhebliche  Verzögerung  in  der 


Digltized  by  Google 


Die  Beruf**  und  Gewerbciililiuig  im  Dentidieii  Reich  vom  14.  Juni  1895.  257 

Fertigstellung  der  Arbeit  Haben  doch  die  Arbeiten  ira  Statistischen 
Reichsamt  und  insbesondere  im  Königl.  Preußischen  Statistischen 
Bureau  ohnedies  einen  kaum  noch  zu  bewältigenden  Umfiuig  erreicht 
Was  in  einem  Mittelstaat  wie  Belgien  mit  rund  350000  Gewerbe- 
betrieben und  einer  Million  darin  beschäftigten  Personen  noch  möglich 
ist»  geht  nicht  mehr  an  in  einem  industriellen  Grolsstaat  mit  4658088 
Gewerbebetrieben  und  lo  269  269  Personen  darin.  Und  selbst  in 
Belgien  hat  das  Revisionsverfahren  ein  volles  Arbeitsjahr  in  Anspruch 
genommen.  Der  Statistiker  arbeitet  ohnedies  unter  dem  Druck  der 
Unjreduld,  womit'die  statistischen  Konsumentenkreise  und  die  Oeffent- 
lichkeit  die  Ergebnisse  erwarten.  Er  wird  sich  nur  schwer  dazu  ent- 
schliefsen,  sie  noch  ein  Jahr  länger  warten  zu  lassen.  Der  in  Belgien 
eii^eschlagene  Weg  scheint  also  für  Deutscliland  nicht  gangbar  zu 
sein.  Wir  werden  nach  wie  vor  die  Gcwälir  für  die  materielle 
Richtigkeit  der  Krj^^cbnisse  nicht  in  einer  bis  zur  Rekonstruktion 
der  Betriebe  aus  den  Berufsdaten  gesteigerten  Revision  des  Materials 
bei  der  statistischen  Zentralstelle  zu  suchen  haben,  sondern  in  der 
zweckmäfsigen  Organisation  der  P>hebung  selbst,  in  der  V'erbesserung 
der  Fragestellung  und  in  der  schärferen  Ueberprüfung  der  Angaben 
durch  die  mit  der  Aufnahme  befafsten  Ortsbehörden.  Und  es 
scheint  mir  nicht  zweifelhaft,  dais  Fortschritte  in  dieser  Richtunp^ 
noch  immer  möglich  sind,  wenn  der  Einfluüs  der  subjektiven  Be- 
urteilung der  Berufs-  und  Betriebsverhältnisse  seitens  des  Befragten 
thunlichst  eingeschränkt  wird,  und  dafür  mehr  objcktixc  Kriterien 
aufgestellt  werden,  wie  z.  B.  durch  die  Frage  nach  dem  Arbeitgeber, 
nach  dem  Barlohn,  nach  der  Störarbeit  etc.  Dies  würde  auch  die 
Revision  bei  der  aufbereitenden  Zentralstelle  erheblich  erleichtern, 
indem  in  einer  ganzen  Reihe  von  sonst  zweifelhaften  I'cällen  die 
Richtigstellung  nach  jenen  Angaben  getroffen  werden  könnte,  wäli- 
rend  jetzt  entweder  Rüclcfragen  oder  mehr  oder  weniger  willkür- 
liche- Entscheidungen  unvermeidlich  sind. 

Die  Erörterung  der  Revision  hat  übergeleitet  zur  Organisation 
der  Aufbereitungsarbeiten.  Ich  habe  soeben  hervorgehoben,  dafs 
sie  durch  das  planmäfsige  Zusammenwirken  einer  ganzen  Reihe 
von  statistischen  Acnitcrn  erleichtert  und  wcsentlirh  beschleunigt 
worden  sind.  ^)    Wenn  auch  dieser  Vorzug  als  der  durchschlagende 

')  Sehr  interessante  Mitteilungen  Uber  den  Umfong  der  Materialien  enthält  das 
amtlicln:  Zählungswerk.  41.6  Millionen  Formulare  wurden  ausgegi-ben;  nebenein- 
andergelegt bilden  sie  eine  Bahn  von  10000  km  Länge,  wUrden  also  den  Pol  mt 


Digitized  by  Google 


258 


H.  Ranchberg, 


anzuerkennen  ist,  so  darf  man  darüber  die  Nachteile  nicht  übersehen, 
die  regelmäfsi^r  mit  der  Dezentrahsation  der  statistischen  Auf- 
bereitungstliätigkeit  verknüpft  sind.  Sie  sind  darin  begründet,  dai's 
keine  der  hieran  beteiligten  Stellen  über  den  Gang  der  Arbeiten 
und  die  X'erwcrtun^  der  Materialien  frei  verfügen  kann,  sondern 
dafs  hierüber  ein  von  vornherein  vereinbarter  Plan  bis  in  die  kleinsten 
[Details  herab  entscheidet.  Die  ( ie^ichtspunkte  und  Krfahruni^eii, 
die  erst  aus  der  durclRiriui^ender,  Kenntnis  des  Materials  im  Laufe 
der  Arbeit  selbst  "cwonnen  wcnlen,  können  hierfür  nicht  mehr 
verwendet  werden.  Auch  ist  die  Hewahrun<^  der  Kinheitlichkeit 
nicht  ;^erat.le  leicht.  Im  vorlieLitiiden  I'alle  wurde  sie  erzielt  durch 
Konferenzen  tler  an  der  Bearbeitung  beteiliL^ten  statistischen  Landes- 
ämtcr,  welche  der  Aufstellun«,^  der  Arbeitsformulare  und  der  IVin- 
/ipien  für  die  Bearbeitung  galten,  'i  und  durch  stete  gegenseitige 
I'ülilung  dieser  Stellen  im  Laufe  der  .Arljciten. 

Insbesondere  wirkt  die  Organisation  der  Aufbcreitungsarl)eiten 
zurück  auf  die  Hinrichtung  des  Ikruls-  Ijczw.  Betriebsschemas  und 
die  danach  zu  bewiikcnde  Klassifikation  der  Berufs-  und  Gewerhe- 
arten.  Das  ist  ein  ( ie>ichts|n.uikt  von  ganz,  allgemeiner  prinzijjieller 
Bedeutung,  weshalb  ich  ihn  hier  zur  LrcWterung  bringe.  Soll  die 
ganze  bunte  Mannigfaltigkeit  der  Berufe  und  Betriebe,  wie  sie  in 
den  Zählpapieren  verzeichnet  sind,  auch  aus  den  verarbeiteten  Er- 
gebnissen noch  zu  entnehmen  sein  ?  Oder  müssen  wir  uns  bescheiden 
und  damit  vorlieb  nehmen,  dafs  die  thatsächlich  vorkommenden 
Benennungen  reduziert  werden  auf  die  vergleichsweise  wenig  zahl- 

dem  Aeqnator  vefbmden,  Übereinander  gcschtehtet  titnnen  sie  %\cb  sa  einer  Skale 
von  2500  Meter  Höhe.  Fttr  die  Bearbeitung  worden  Uber  60  Millionen  ZlhlblSttchen 
ausgeschrieben.  Zirka  1600  Personen  waren  direkt  cur  Bearbeitung  angestellt;  unter 
BeHIcksichtigung  ihrer  mithelfenden  Familienangehörigen  wird  das  gesamte  Arbeits- 
personal aur  mindestens  6500  Personen  veranschlagt.  Der  Kostenaufwand  desK  i'  l  ^ 
wird  mit  3610000  Mk.  bf/.ifTorl.  wovon  2374900  Mk.  auf  die  Bcnil-st:iti>tik.  40q90(.i.Mk. 
auf  'Ii'-  l.indw  irtsrhiUtlichc  uml  S7;  200  Mk.  auf  die  f;r\viTblirlir-  H.  tri.-h^stati-tik 
»•iitlalli  ii.  Ii  Ii  t.'ilr  ilicsf  /aliK-ii  iiii  ht  \>\oi\  als  Kuriosa  mit.  souderii  iiu<  li  um  iw 
/.eig«  n ,  wie  erwüiiM  hi  0  sriii  niulste,  ••ine  derartif;»'  Arlicitslast  auf  eim-  Ki  ihc 
von  örtlich  getrennten  Stellen  verteilen  zu  können,  und  dafs  ernstliche  Erwägungen  der 
Arbeitspolitik  und  Personalbeschaffung  gegen  die  im  tibrigen  technisch  gcwifs  erwttnschte 
Zentralisierung  der  Aufbereitungsarbeiten  sprechen. 

'j  Eü  fanden  3  Konferenzen  statt,  eine  im  Mai  189$  fUr  die  Bearbeitung  der 
Benifsstatistik,  zwei  für  die  Betriebsstatistik,  eine  im  Oktober  1895,  dit  andere  im 
Mai  1897. 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  GewerbaSbltmg  fan  Dcvtichcn  Reich  vom  14.  Juni  1895.  259 

reichen  Positiooen  eines  im  voraus  vereitibarten  Berufs-  oder  Ge- 
werbeschcmas,  worin  sod.nnn  jede  einzelne  Position  eine  ganze 
Reihe  von  verschiedenen  Berufen  oder  Benennui^en  umfafst?  G. 
V.  Mayr,  welcher  die  Thäti^keit  unserer  gesamten  amtlichen 
Statistik  als  scharfer  Beobachter  und  Kritiker  verfolgt,  stellt  sich 
auf  den  ersterwähnten  Standpunkt  und  verlangt,  „daGs  neben  an- 
derem auch  das  wirkliche  zur  I^eklarierung  gekommene  Detail  der 
Berufsausübung  des  deutschen  X'^olkes  ersichtbar  gemacht  werde".') 
Diese  Forderung  ist  wohl  nicht  wörtlich  zu  nehmen;  nicht  auf  die 
einzelnen  Berufsbenennungen,  sondern  auf  die  dadurch  bezeichneten 
Berufsspczialitätcn  ist  sie  gerichtet.  Denn  die  Berufsbenennungen, 
die  sich  in  den  Zählpapieren  finden ,  sind  der  Niederschlag  aller 
Stadien  der  technischen  Entwicklung  und  der  Arbeitsverfassung 
unserer  Volkswirtschaft  und  alle  Dialekte  der  deutschen  Sprache 
khngcn  darin  durcheinander.  .Schon  die  BerufszähluiiL,'  von  1882 
hat  6179  Berufsbenennungen  verzeichnet,  die  Zählung  von  1895  gar 
10  397.  Solche  Fortschritte  hat  die  technische  .Arbeitsteilung  in  der 
Zwischenzeit  gemacht  und  so  stark  hat  sie  den  Sprachgebraucii 
beeinflufst.  Ks  liegt  auf  der  Hand,  dafs  sieh  die  Statistik  nicht  so- 
weit ins  Detail  einlassen  kann,  sondern  die  .Synonyma  zusammen- 
fassen mufs.  Die  von  v.  Mayr  pcrhorreszierte  .Subsumtion  unter 
ajjrioristi.sch  konstruierte  Sammelpositionen  ist  somit  unvermeidlich. 
.Allein  ich  bin  mit  ihm  der  Ansicht,  dals  man  darin  zu  weit  ge- 
gangen ist. 

Das  Herufssclit  ina ,  welches  der  gesamten  Bi  rufsstatistik  /u 
'  irunde  liegt,  uiuerschcidet  6  grolsc  Herufsabteilungen,  welche  in  25 
Berutsgrup[)en  und  207  Berufsarten  zerfallen.  .Auch  die  Berufsarten 
sind,  wie  bereits  bemerkt,  .Sammelpositionen,  weiche  nicht  nur  ver- 
schiedene Berufsbcncnnungen.  sondern  auch  thatsächiich  verschiedene 
Berut>arten  oder  Be-^chäflii^inigen  umlassen.  ( legen  das  .Schema  der 
Zählung  von  18S2  ist  das  \  nrliegende  um  58  Berufsarten  bereichert. 
.Aber  das  reicht  nicht  aus,  um  einen  vollen  Einblick  in  die  Mannig- 
faltigkeit   der    thatsächlichen    Berufsausübung    zu    ermöglichen.  '•) 

Zur  Tecbuik  der  Ausbentuuf;  benirsstaUstischer  Angaben.   Allgem.  Statist. 
Archiv  IV.  Bd.  S.  4830: 

*)  Bei  der  Enreitemng  der  Klassifikation  wurden  nicht  immer  gerade  die  wich- 

tifrstcn  von  den  bi^hc^  in  Sammelpositionen  verborgenen  Bemfsspczialitäten  herror- 
geholt.    7  Positionen  wurden  ai^ewendet,  um  die  Spielwarcnindustrie  herauszuschälen. 
'Sie  erscheint  nunmehr  ilber  Ticbähr  spezialisi'Tt  au^jirwirvon .  auf  Kt)sten  andcrt-r, 
viel  stärker  besetzter  rositidiirii,  deren  Auflösung  dringender  erwütUscht  gewesen  wäre. 
Archiv  für  soi.  Ge<>cugcbuii(  u.  Scatiittik.  XIV. 


Digitized  by  Google 


26o 


H.  Rauchberg, 


Einer  weitergehenden  AusfaseruiiL,'  des  Hcrufs^cliemas  stnnd  wohl 
das  Bedenken  entfliegen,  dafs  der  l  'nifanfj  der  X'erötTentHchung  da- 
durch all/.usehr  erweitert  würde  und  die  L  cbcrsichtlichkcit  \  crloren 
riehen  miilste.  dewils!  Aber  doch  nur,  wenn  man,  was  jetzt  aller- 
din^js  der  l  all  ist,  sämtliche  Kombinationen  für  die  einzelnen  Be- 
rufsarten wicderluilt.  Aber  nichts  notiert  da7.u.  Alle  Bedenken 
entfallen,  wenn  man  ein  doppeltes  Berufsschema  aufstellt:  ein  bis 
zu  den  belangreichen  Berufsspezialitäten  herabreichendes,  wonach 
diese  selbst  vorgeführt  werden  mit  den  notwendigen  Unterschei- 
dungen zwischen  Ilaujjt-  und  Nebenberuf  und  der  sozialen  Stellung 
darin,  ai)er  (ihm-  weitergeherule  Kombinationen,  und  dann  ein  redu- 
ziertes Berufsschema  für  die  kombinierten  Tabellen.  I)ieses  letzteres 
hätte  gegenüber  dem  thatsächlicli  angewendeten  sogar  noch  manche 
Vereinfachung  vertragen,  so  dafs  der  Unifang  der  Veröffentlichung 
kaum  erweitert,  ihre  Uebersichtlichkcit  aber  erhöht  worden  wäre. 

Dieser  Weg  ist  bei  der  französischen  und  der  belgischen  Zäh- 
lung von  1896  eingeschlagen  worden.  Als  ein  ausgezeichneter  Be- 
helf für  die  Gewinnung  einer  derartigen,  gleichsam  elastischen 
Klassifikation  hat  sich  dabei  die  von  Professor  De  wey  empfohlene 
Methode  erwiesen,  welche  die  einzelnen  Positionen  des  Berufe- 
Schemas  mit  den  Nummern  des  dekadischen  Zahlensystems  bezeichnet, 
und  für  jede  neue  Unterteilung  eine  neue  Dezimalstelle  eröffnet') 
Dadurch  wird  es  ermöglicht,  zwar  die  Grundzüge  der  Klassifikation 
aprioristisch  aufzustellen,  ihre  Details  aber  erst  im  Laufe  der  Be- 
arbeitung nach  Mafsgabe  der  Materialien  auszugestalten.  Andrer- 
seits können  bei  der  schlieCslichen  Redaktion  für  die  Veröffentlichung 
jene  Details,  die  man  au&ugeben  beabsichtigt,  nach  Belieben  wieder 
zusammengezogen  werden,  ohne  daGs  sich  die  übrige  Klassifikation 
und  die  Bezeichnung  ihrer  Positionen  ändern.  Dieses  System  hat 
vor  der  von  v.  Mayr  a.  a.  O.  empfohlenen  Methode,  die  er  bei 
der  Bearbeitung  der  Gewerbestatistik  von  1875  für  Bayern  ange- 

'1  NäluTc  Mittrihin^'rn  darüber  in  mt-incr  Abhandlung  über  die  Berufs-  und 
Botrieb>aufnahmt"  in  !•  r.inkn  ich  von  1896  im  Allj;.  >tatiNti>rli.  n  Archiv,  V.  Rd.  S.  453. 
Das  System  von  l'rol.  Drwt-y  ist  lür  die  statistische  Technik  deshalb  von  be- 
sonderer Wichtigkeit,  weil  es  auch  aul  die  Bearbeitung  der  Ergebnisse  mit  der  elek- 
trischen ZShlnuudiine  anwendfau-  iit  und  dabei  eine  viel  gröfsere  Mannigfaltigkeit  und 
BewegUchkeit  der  Benifcdaten  ermügUcht,  als  sie  mit  dieser  Technik  bish«r  erreidit 
werden  konnte.  Vgl.  dazu  Lucien  March,  Le»  procM^  du  recensement  des 
indastries  et  professions  en  (S96.  Mimotres  de  la  sociA<  des  i^gteievis  ciTÜs  de 
France.   BttUetin  de  Mars  1899. 


Digitized  by  Google 


Die  Berafs-  nud  GeverbexÜilting  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.    26 1 

wandt  hat,  den  grofsen  Vorzug^  voraus,  dals  dabei  die  sogenannte 
^Auszeichnung"  der  Beru6benennungen  beibehalten  wird,  d.  h.  die 
Bezeichnung  derselben  mit  den  Nummern  des  Beru&schemas  noch 
vor  der  Umlegung  der  Individualdaten  auf  Zahlblattchen,  ein  Vor- 
gang, wodurch  diese  Arbeit  sowohl  als  die  8i»tere  Gruppierung 
der  Zahlblättchen  völlig  mechanisiert,  also  wesentlich  erleichtert 
und  beschleunigt  wird. 

Ich  habe  mich  damit  vielleicht  schon  zu  weit  ins  technische 
Detail  eingelassen.  Allein  nach  meiner  Meinung  ist  es  unzulässig 
zu  kritisieren,  und  zu  sagen:  die  Klassifikation  der  Berufe  genügt 
mir  nicht,  wenn  man  nicht  zu  zeigen  imstande  ist,  durch  welche 
technischen  Behelfe  man  eine  bessere  zustande  bringen  kann,  ohne 
dabei  andere  Nachteile  mit  in  Kauf  nehmen  zu  müssen.  Doch 
nun  genug  der  methodolc^^ischen  Erörterungen !  Es  wäre  zwar  noch 
manches  in  dieser  Richtung  zu  bemerken;  allein  es  wird  sich  bei 
der  Besprechung  der  materiellen  Ergebnisse,  der  ich  mich  nunmehr 
zuwende,  noch  Gelegenheit  ergeben,  den  einen  oder  anderen  Punkt 
zu  berühret! ,  der  für  die  Gestaltung  oder  die  Beurteilung  der  Zahlen 
von  Belang  ist 


Zweiter  Teil. 

Berufsgliederung  und  soziale  Schichtung. 

I.  Die  Gestallung  der  Volkszahl. 

Die  Berufszähiung  war,  wie  wir  wissen,  zugleich  eine  Volks- 
zählung. Das  gesamte  Volk  wurde  gleichsam  durchgesiebt,  um  die 
für  die  berulliche  und  soziale  S(  hichtung,  sowie  für  die  Betriebs- 
Organisation  belangreichen  Thatsachen  statistiscli  zu  erfassen.  Als 
willkommene  Nebenwirkung  dieser  Organisation  der  Erhebung  haben 
wir  die  Daten  über  die  Gestaltung  der  Volkszahl  und  über  die  —  auf 
den  natürlichen  Faktoren  des  Generationswechsels,  sowie  auf  der 
Wanderbewegung  beruhende  —  Zusammensetzung  der  Bevölkerung 
erhalten.  Sic  bilden  gleichsam  den  Untergrund,  worauf  die  wirt- 
schaftliche und  soziale  Schichtung  sich  aufbaut,  wie  denn  auch  um- 
gekehrt alle  W'ränderungen  in  dieser  letzteren  zurüclcR^irkcn  auf  die 
physische  Entwicklung  des  Volkes  und  auf  ihren  statistischen  Nieder- 
schlag. 

Die  grundlegenden  Verhältnisse  sind  die  folgenden:  Die  orts- 

17* 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


262 


H.  RAttchberg, 


anwesende  Bevölkerung  des  Deutschen  Reiches  betrug  nach  der 
BerufszähluDg 

vom   5.  Juni  1883  45222113  Einwohner 

„    14.   „    1895       _  $1770284 

«omit  die  Zunahme  wihrend  der  Zwischensdt  6548171  Einwohner  oder 

14,48  Prozent,  jährlich  also  i,li  I'rozent.  Diese  \'crnu-hi uii^^ 
eine  sehr  rasche,  M  und  sie  hat  sich  im  Laufe  der  Zeit  beschleunigt, 
(lehen  wir  nämlich  von  den  \'olkszählun*^'en  jener  F.poche  aus,  so 
beiru^^'  die  durchschiiilllirhe  jährliche  \"olks\  eriiu'iu  un^  in  den 
Jahren  188085  0,70,  1S8590  1,07  und  180^095  1.12  l'ro/.ent.  Die 
durch  die  Berufs/ähluii}^  festj^estellten  X'erschiebunt^en  in  der  beruf- 
lichen und  sozialen  (Gliederung  des  deutschen  X'olkes  fallen  also  in 
eine  Periode  beschleunigter  X'olkszunahme.  In  W  irklichkeit  ist  sie 
etwas  geringer  gewesen,  als  sich  aus  den  durch  die  beiden  Herufs- 
Zählungen  ermittelten  Volkszahlcn  ergiebt.  Wie  schon  früher  er- 
wähnt und  begründet,  -)  bleiben  sie  hinter  den  aus  den  angrenzenden 
Volkszählungen  berechneten  Zahlen  einigermafsen  zurück,  1882 
stärker  als  1895.  Diesmal  ist  der  Ausfall  auf  etwa  lOOOOO  zu  ver- 
anschlagen, früher  betrug  er  3 — 4CX)ooo;  um  die  Differenz  erscheint 
die  Zunahme  zu  grofs.  Die  Vergleichbarkeit  der  Daten  wird  da- 
durch im  allgemeinen  nicht  berührt;  höchstens  hinsichtlich  der 
untersten  Altersstufe,  welche  an  dem  Aus^l  bei  der  Zählung  von 
1882  stärker  beteiligt  gewesen  ist 

Es  ist  selbstverständlich,  da(s  die  Zunahme  in  den  einzelnen 
Gebietsteflen  des  Deutschen  Reiches  eine  sehr  verschiedene  war, 
aber  höchst  bemerkenswert,  dafs  mit  ganz  genngfügigen  Aus- 
nahmen^) nirgends  ein  Rückgang  der  Volkszahl  eingetreten  ist, 
während  die  letzten  Zählungen  in  Oesterreich  und  Frankreich  Ver- 
schiebungen in  der  örtlichen  Verteilung  der  Bevölkerung  ergeben 
haben,  die  för  weitausgedehnte  Gebiete  eine  absolute  Abnahme  der 
Bevölkerung  zur  Folge  hatten.  Auch  die  örtliche  Entfaltung  des 
deutschen  Volkes  wird  von  der  für  die  ganze  neuzeitliche  Ent* 
Wicklung  charakteristischen  Konzentrationstendenz  beherrscht.  Die 


')  Von  den  ib  Zäblungspcriodcn  sfil  1816  haben  nur  4  höhere  Zuwachspro/cntc 
ergehen,  nämlich  1816,20  1,43,  1S20  25  1,34,  183540  I,i6  und  L873  80  1,14  i'rozent 
jährlich. 

'1  Vgl.  oben  S.  230. 

^)  Keg.'hci.  Koülin,  Sigmarlugcn  und  der  Jag!>tkrcis. 


Digitized  by  Google 


Die  Berulä-  und  Gewcrbezählung  im  Dculschcn  Reich  vom  14.  Juni  1895.  263 

Agglomeration  der  Bevölkerung  macht  rasche  Fortschritte;')  die 
Unterschiede  in  der  Volksdichtigkeit  prägen  sich  immer  mehr  aas,*) 
indem  gerade  die  dichter  bevölkerten  Grebiete  auch  die  raschere 
Volkszunahme  haben,  nicht  nur  absolut,  sondern  auch  relativ.  Die- 
selben Momente,  welche  schon  früher  eine  grölsere  Anhäufung  der 
Bevölkerung  hervorgerufen  haben,  erweisen  sich  gerade  jetzt  ab 
besonders  wirksam  und  fiihren  auch  zu  einer  rascheren  Vermehrung.  * 
Da  die  Frage  nach  dem  Geburtsort  bedauerlicherweise  unterblieben 
ist,  können  wir  nicht  konstatieren,  in  welchem  Mafee  die  Wander- 
bewegung daran  beteiligt  war.  Darüber  aber,  dals  sie  die  haupt- 
sachliche Ursache  dieser  Erscheinung  ist,  besteht  kein  Zweifel. 

Hand  in  Hand  mit  den  eben  erwähnten  Veränderungen  der 
Dichtigkeitsverhaltnisse  geht  auch  eine  rasche  Verschiebung  der  Be- 
völkerung zwischen  Stadt  und  Land  und  zwischen  den  verschiedenen 
Gröfsenkategorien  der  städtischen  Wohnplätze.  Dies  erhellt  aus 
der  nachlösenden  Zusammenstellung: 

PrcweiitsitteU 

Wohnorte         Zah]  der        Bevölkerung       d. Ortsgidisen- 

Ortsgröfsen-  mit  Wohnplätzc   am  14.  Juni  am  5.  Juni   klassen  an  der 

kla$sen       Einwobnem       1S95  1880       1895  1882  Gesamtbevolkg. 

1895 

Grofsstädte  looooo  u.  mehr  28  14  7030530  3327435  '3-5'*^  7  3^' 
Mittelstädte  20000 — looouo  150  102  5376340  4147535  10,39  9,17 
Kleinstädte  5000—  aoooo  796  641  7073531  5694383  13,66  12,59 
Landstädte       aooo—   5000  2068  1950    6317883    5734344     l3,so  12,68 


Stadt  3O0O  u.  mehr    3043  2703  25797483    18903695     49,83  41,80 

plattes  Land  unter  2000  —  —  25972801  26  31 841 8  50,17  58,20 
GewntbcTSlkening  —  51770384   45223113    100,00  loo,00 

Danacli  hat  die  Stadtbcv^ölkerung  um  6893788  Personen  oder 
36,47  Prozent  zugenommen,  die  Bevölkerung  des  flachen  Landes 
aber  um  345617  Personen  oder  1,31  Prozent  ab<:^cnommcn.  Die 
Abnahme  ist  nur  eine  scheinbare,  dadurch  liervor^ijcrufen,  dals  die 
Wohnplätzc.  welche  die  kritische  Einwohnerzahl  von  2000  über- 
schritten iiabcn ,  aus  der  Kategorie  der  Landorte  ausscheiden 
und  fortab  von  der  Statistik  zu  den  städtischen  Wohnplätzen  ge- 


')  Paul  Meuriot,  Des  agglom^rations  urbaines  dans  l'Europe  contemporaine. 
Färb  1897. 

*)  Obenan  stehen  selbstreistindlich  die  3  Hansestaaten,  dann  kommt  Sadisen 
mh  350  Einwohnem  auf  den  qkm.  Die  geringste  Volksdichtlgkeit  haben  die  agra> 
fischen  beiden  Heddenborg  mit  46  md  35  Bewohnern  auf  den  qkm. 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


264 


H.  Rauehbcrg, 


rechnet  werden.  Das  gleiche  gih  auch  von  den  weiteren  Ver- 
schiebungen nach  oben  hin.  Von  einer  allgemeinen  Landflucht  oder 
drohenden  Entvölkerung  des  i)latten  Landes  durch  den  Zug  nach 
der  Stadt  kann  demnach  absolut  nicht  die  Rede  sein.  Das  geht 
auch  schon  daraus  her\'or,  dafs  von  den  oben  erwähnten  gering* 
fugigen  Ausnahmen  abgesehen'),  1882 — 1895  nirgends  im  Deutschen 
*  Reich  eine  Abnahme  der  Bevölkerung  stattgefunden  hat.  Die 
„Landflucht"  ist  ein  agrarisches  Märchen. 

Je  gröfser  die  Kinwohnerzahl  bereits  ist,  desto  rascher  steigt 
sie  weiterhin,  nicht  nur  absolut,  sondern  auch  relativ:  es  beträ^^t 
das  Zuwachsprozent  bei  den  Landstädten  10,16,  bei  den  Kieinstädten 
24,22 ,  bei  den  Mittelstädten  29,62 ,  bei  den  Grolsstädten  aber 
111,29.  ■•;  Wir  begegnen  hier,  in  der  Welt  der  sozialen  Ciebilde, 
einer  PJrsclieinung,  deren  Athiiliciikcit  mit  dem  ( iravitations^esetz 
der  Mechanik  un\'erkeiuil)ar  ist.  Der  Schwerpunkt  der  Be\"ölkerung 
wird  immer  mehr  in  der  Richtung  nach  der  Stadt  verschoben. 
1882  hatte  das  Land  nocji  das  l  eber^rc wicht.  1895  safs  bereits 
nahezu  dieselbe  Bevölkerung  in  städtischen  Wohnplätzen,  jetzt  hat 
die  Stadt  schon  das  Uebergewicht.  Lnd  liier  tritt  wieder  der  .An- 
teil der  Grol'sstädte  immer  mehr  in  den  \\)rdergrund:  1882  um- 
fafsten  sie  erst  7,36,  1895  bereits  13,58  Prozent  der  Bevölkerung. 
Ihre  Kinwohnerzahl  hat  sich  —  wenigstens  in  formaler  Hinsicht  — 
während  der  dazwischen  hetzenden  1 3  Jahre  mehr  als  verdoi)|)elt. 
Wie  das  mit  Beruf  und  sozialer  Schichtung  zusammenhängt,  wird 
sich  später  zeigen.  Iiier  aber  darf  ich  an  dieser  Thatsaclie  nicht 
vorbeigehen,  ohne  auf  ihre  ungeheure  Bedeutung  lur  unser  ganzes 
Volksleben  hingewiesen  zu  haben.  Ls  gilt  jene  Massen,  welche 
durch  die  Macht  der  wirt.schaftlichen  Kntwicklung  den  Städten  zu- 
geführt wurden,  dort  dauernd  einzurichten,  ihnen  die  liir  die  Be- 
wahrung der  physischen  Kraft  und  fiir  die  kulturelle  Entwicklung 
erforderlichen  Lebensbedingungen  zu  schaffen,  sie  dem  neuen  Gemein- 
wesen einzugliedern  nicht  nur  als  TrStger  von  Arbdtsldstungen. 
sondern  als  vollberechtigte,  an  seiner  Blüte  interessierte  und  be- 
teiligte Genossen.  Die  verschiedenartigen  Au%aben,  welche  der 
Stadt  daraus  erwachsen»  fasse  ich  unter  dem  Schlagworte  „das 
Stadtproblem"  zusammen.    Ich  kann  hier  nicht  von  seiner  Losung 


')  Vgl.  Aura.  3,  S.  262. 

*)  Nürnberg  hatte  18S2  swar  die  Grause  von  100000  Einwohnern  bereito  ttbcr 
schritten,  ist  aber  damals  noch  m  den  Mittdstftdtcn  gerechnet  wwden. 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  Gewerbetililuiig  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95.  265 

sprechen.  Aber  es  war  vielleicht  nicht  überflössig,  es  zu  formulieren, 
bevor  wir  jene  grofse  Bewegung  zu  verstehen  suchen,  die  es 
hervorgebracht  hat 

Von  den  allgemeinen  demographischen  Momenten  sind  noch 
Geschlecht,  Alter  und  Familienstand  der  Bevölkerung  als  solche  zu 
berühren,  welche  auch  üir  den  Beru(  und  die  soziale  Stellung  von 
Belang  sind. 

Dem  Geschk'oht  nach  waren  am  14.  Juni  1895  35409161 
Personen  männlich  und  26361  123  weiblich,  also  um  951962  mehr 
weiblich  als  männlich.  Auf  100  Männer  trafen  1895  103,75,  1^^* 
104.16  Frauen.  Der  IVaucnübcrschufs  hat  sich  vermindert  haupt- 
sächlich  w<^en  der  Abnahme  der  überseeischen  Answnncierun^, 
woran  zumeist  Männer  beteiligt  sind.  Er  ist  auf  dem  flachen  Lande 
stärker  als  in  den  Städten:  hier  102,16,  dort  105,34  Frauen  auf  je 
100  Männer.  Nur  in  den  Grofsstädten  erhöht  die  gesteigerte 
Dienstbotenhaltung  und  sonstige  Gelegenheit  /.ur  Frauenarbeit  den 
Frauenüber.schuls  sehr  erheblich.  Ks  kommen  nämlich  auf  ICO 
.Männer  Frauen:  in  Landstädten  103,47.  Kleinstädten  99,15,  in 
Mittelstädten  99,6,  in  (irolsstädten  aber  106. 14. 

Der  .Altersaufbau  ist  nur  für  dir  (  u  >aintl)c\  (UkcriinL^  und 
für  die  ( Trofsslädtc,  nicht  auch  für  die  andt  ren  ( ii<  il>rnstufi  n  dar- 
ge>ullt  worden.  Ich  fasse  die  \viclitiL;->tcn  X'crhällniszahlen  in  der 
nachstehenden  L'ebersicht  zusammen.    Es  stehen  im  .\lier 


i  m  ganzen 

in  den  ( 

j  r  1  r  V  s  t  ä  d  t  e  n 

von  Jahren 

von 

je  100  Person 

♦•n 

von  j<* 

100  IVrsonrn 

männl. 

weibl. 

alu-rh. 

inäuul. 

weibl.  übcrh, 

unter  20 

4S.49 

43.99 

44,73 

38.9a  39.55 

20—40 

29^8 

37,73 

35.7*  36,70 

40—60 

17.63 

i«.53 

18,09 

»7.55 

18,62  18,09 

Aber  60 

7.17 

7,ao 

7,70 

4.49 

6,74  5.66 

Die  ( irund/üj^'c  der  .Altcr-j^licdcrung  sind  aus  diesen  N'erhähnis- 
zaiilen  zwar  drutlicli  7ai  cntnciimen :  der  pyramidenähnliche  Aufbau, 
die  -Stärkcrc  lksct/un;4  der  höheren  .Mtersstufen  beim  weiblichen 
Geschlechte.  Aber  die  produktiven  Altersklassen  sind  auf  dem 
flachen  I^nde  unternormal,  in  den  Städten  übernormal  besetzt. 
Die  Regelmäfsigkeit  des  Altersaufbaues,  die  bei  der  Betrachtung 
der  Gesamtbevölkerung  hervortritt,  ist  gestört,  einseitig  verzerrt,  sobald 
wir  Stadt  und  Land  fiir  sich  ins  Auge  üsissen.  Denn  der  Kreislauf 
des  Lebens  spielt  sich  nicht  mehr  auf  derselben  Bühne  ab.  Produktion 
und  Konsumtion  von  menschliche  Arbeitskraft  beginnen  sich  örtlich 


Digitized  by  Google 


266 


H.  Rancbberg, 


ZU  differenzieren  zwischen  Stadt  und  Land.  Erst  wenn  wir  beide 
zusammenfassen,  finden  wir  wieder  den  typischen  Verlauf  der 
Aiterslinie,  wie  sie  durch  Geburt  und  Tod  gezogen  ist. 

Lassen  wir  hol  der  Betrachtung  der  Familienstands- 
vcrhältnisse  die  Kinder  unter  i6  Jahren  beiseite,  so  sind  im 
ganzen  53.76,  in  den  GroOsstädten  aber  nur  49,96  Prozent  der  über 
16  Jahre  aUcn  IV-rsoncn  verheiratet  Das  spätere  Heiratsalter,  sowie  die 
höhere  Sterbhchkcit  der  Männer,  auch  die  besseren  Heiratschancen 
der  Witwer  bewiri<en,  dafs  unter  den  Ledigen  das  männliche  Ge- 
schlecht stärker  vertreten  ist  (39,56  ^'Cgen  34.87,  im  ganzen  37- '4 
Prozent;,  unter  den  Verwitweten  und  ( ieschiedenen  das  weibliche 
(J3.0'^  J^cgcn  4,87,  im  ganzen  9. 10  IVozcnt  .  In  flcr  Altersklasse 
von  16-30  Jahren  überwiegen  hingegen  die  Junggesellen  um 
624648  über  die  Jungfrauen.  Iis  liegt  danach  oti'en,  wie  sehr  die 
I U  iratschanccn  der  Frauen  —  von  der  Hcirat^/iffcr  abgesehen  — 
bedingt  sind  durch  den  Altersabstand  der  Kheschliefsenden  und 
durch  alle  fliejenigen  sozialen  und  wirtschaftlichen  Momente.  \on 
welchen  dieser  letztere  hinwiederum  abhängt.  Der  Fraueniiberschuls 
in  der  liesanitbevölkerung  gewinnt  erst  Bedeutung,  nachden\  das 
durchschnittliche  Heiratsalter  schon  überschritten  ist  Er  ist  also 
nicht  entscheidend  für  die  iieiratsfrage. 

II.  Erwerbthätigkeit  und  Berufszugehörigkeit. 

Die  Berufsstatistik  will  das  ganze  Volk  unter  dem  Gesichts- 
punkte  des  Berufs  und  der  sozialen  Stellung  erfassen,  nicht  blofs 
die  Berufe-  oder  Erwerbthätigen.  Zunächst  aber  gilt  es,  diese  selbst 
als  den  malsgebenden  Teil  der  Bevölkerung  herauszuheben.  Wer 
ist  erwerbend,  wer  ist  es  nicht?  Volkswirtschaitliche  Gesichtspunkte 
müssen  hierfür,  wie  das  Zählungswerk  mit  Recht  sagt, entscheidend 
sein:  die  Stellung  in  der  arbeitsteiligen  Organisation  der  Volks- 
wirtschaft, die  Teilnahme  an  der  gesellschaftlichen  Produktion 
materieller  oder  immaterieller  Güter.  Hauswirtschaftliche  Bethatigung 
begründet  keinen  eigentlichen  Beruf,  auch  nicht  jene  der  haus- 
lichen Dienstboten.  Familienangehörige  und  Dienstboten  leiten  ihr 
Einkommen  aus  dem  Arbeitsertrag  der  Berufsthätigen  ab,  sind  aber 
nicht  selbst  erwerbend  in  diesem  Sinne.   Doch  (arben  Beruf  und 

')  So  oft  in  diesem  tlaupUbscimittc  das  Z;ililuughwcrk  citicrt  wird,  ist  darunter 
der  III.  Band  der  Statistik  des  Deotschen  Reichs  N.  F.,  Die  bemfliche  imd  soaale 
Gliedemng  des  Deiitsdieii  Volks,  rentanden.  ~  Vgl.  S.  14  dieses  Bandes. 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs*  und  Gewerbezählnng  im  Deubchcn  Reich  vom  14.  Juni  1895.  267 

soziale  Stellung  ihrer  Erhalter  auch  auf  sie  ab,  wie  sie  denn  auch 
umgekehrt  ihre  Erhalter  zu  kennzeichnen  geeignet  sind^  Sie  werden 
ihnen  daher  zugerechnet;  danach  bestimmt  sich  ihre  indirekte  Be- 
ni6zugehörigkeit.  So  erhalten  wir  denn  unter  dem  Gesichtspunkte 
der  Stellung  zum  Beruf  drei  grofse  Gruppen:  Erwerbthätigc, 
Dienende,  Angehörige.  Es  erübrigt  dann  noch,  eine  vierte  Gruppe: 
die  Berufelosen,  teib  wirtschaftlich  Selbständige,  teils  aus  fremden 
Mitteln  Erhaltene,  bei  welchen  jedoch  die  Zurechnung  zum  Berufe 
des  Ernährers  entweder  aus  sachlichen  oder  aus  zahlungstechnischen 
Gründen  unzulässig  ist 

Diese  wissenschaftlichen  Gesichtspunkte  waren  ma&gebend  für 
die  Organisation  der  Erhebung  und  für  die  Bearbeitung  der  Ergeb- 
nisse. Aber  sie  eignen  «ch  nicht  unmittelbar  zur  Fragestellung. 
Diese  geht  vielmehr  davon  aus,  dafs  die  Sprache  für  alle  Fälle 
direkter  Teilnahme  an  der  volkswirtschaftlichen  Produktion  eigene 
Worte  geprägt  hat,  wie  sie  denn  auch  die  Thatsache  selbst  mit 
jenen  beiden  Worten  bezeichnet,  mit  welchen  ich  diesen  Abschnitt 
überschrieben  habe,  mit  Beruf,  indem  sie  die  soziale,  mit  Er* 
werb,  indem  sie  die  privatwirtschaftliche  Seite  der  Bethätigung 
hervorhebt  In  dieser  Voraussetzung  wird  also  die  Frage  nach  dem 
Haupt*  und  Nebenberuf  gestelh.  Nur  auf  den  ersteren  kommt 
CS  hier  an;  es  ist  derjenige,  auf  dem  hauptsächlich  die  Lebt 
stellung  beruht  und  von  dem  der  Krwerb  oder  dessen  gröfster  Teil 
herrührt.  Wer  sich  hier  mit  Worten  einj^etragen  hat,  die  eine  Be- 
rufe- oder  Ervverbsthätigkeit  bezeichnen,  wird  als  erwerbend  ange- 
sehen; wer  dies  nicht  gethan  hat,  nicht.    Genüj^t  das? 

Soweit  der  Sprachgebrauch  der  Erhebung  durch  die  Ausbildung 
.  von  eigenen  Berufsbenennungen  oder  Erwerbsarten  vorgearbeitet 
hat,  reicht  diese  Fragestellung  aus.  Das  trifft  wohl  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle,  nicht  aber  immer  zu.  Dann  nicht,  wenn  die  That- 
sache i^asellschaftlicher  Bethätigung  oder  des  Erwerbs  in  dem  Be- 
wufetsein  der  Befragten  nicht  lebendig  genug  ist,  um  sie  zur  Wahl 
des  bezeichnenden  Worts  zu  veranlassen.  Das  ist  hauptsächlich 
der  Fall  in  dem  weiten  Grenzgebiet  /.wischen  geschlossener  Haus- 
wirtschaft und  volkswirtschaftlither  Produktion.  Für  den  Wirt 
selbst  hat  die  Sprache  freilich  bezeichnende  Worte  geprägt,  und 
wir  werden  nicht  anstehen,  seinen  Hauptberuf  danach  zu  bestimmen, 
weni^rleich  sie  an  sich  nicht  volks-  sondern  hauswirtschaftliche  Be- 
thätigung bedeuten.  Denn  heutzutage  ist  auch  die  entlegenste 
Bauemwirtschaft  schon  unentrinnbar   in  die  volkswirtschaitliche 


L^iyiii^uü  Uy  Google 


268 


H.  Ranchberg, 


Organisation  einbezogen,  so  dals  ihre  Produktion  als  volkswirtschaft- 
lich, die  darin  geleistete  Arbeit  als  gesellschaftlich  gelten  mufs. 
Auch  für  die  richtige  Behandlung  des  Gesindes  wird  der  Sprach- 
gebrauch in  der  Regel  hinreichen,  obwohl  hier  in  zahlreichen  Fällen 
die  Entscheidung  erst  im  Laufe  der  statistischen  Bearbeitung  ge- 
troffen werden  niufs.  Aber  die  Bezeichnung  des  Arbeitsverhält- 
nisses unter  dem  ( lesichtsjnmkte  der  Herulsstellung  wird  in  \'er- 
bindung  mit  den  Bcriil>anL,Ml)en  des  l  nterneluners  in  der  Regel 
genügende  Aiihaltsjmnkte  hieriür  bieten.')  Hingegen  besteht  Un- 
sicherheit hinsichtlich  der  Familienangehörigen,  insbesondere  auf 
dem  (iel)iete  der  Landwirtschaft  und  solclier  Berufe,  die  nur  in 
unmerkliclien  Uebergängen  von  der  geschlossenen  I  lauswirlschaft 
sich  l()sl(")sen.  An  objektiven  Kritericti  fehlt  es  hier;  ein  sicherer 
Sprachgebrauch  besieht  nicht,  und  es  wird  die  Eintragung  ganz 
davon  abhängen,  ul)  das  Berufsbewufstsein  der  Befragten  ausgebildet 
genug  ist,  als  dals  sie  auf  die  Berufsfragen  überhaupt  reagieren.-) 
Es  liegt  auf  der  1  land,  dafs  hierin  grolse  Schwankungen  von  Ort 
zu  Ort,  von  Zählung  zu  Zählung,  von  Beruf  zu  Beruf  stattfinden. 
E)urch  die  zunehmende  X^ergesellsciiaftung  des  Produktionsprozesses 
wird  das  Berufslx  w  uKtsein  jedes  {-.inzeinen  gekräftigt,  und  die  Be- 
rufsfragen Ijcgegnen  grülserem  V^erständnis.  Produktixe  1  iiatigkeit 
innerhalb  des  Kreises  der  Hauswirtschaft  oder  in  der  Form  des 
Gesindedienstes,  die  früher  nicht  als  Beruf  war  empfunden  worden, 
wird  jetzt  in  höherem  Mafse  als  solcher  eingetragen. 

So  kommt  es,  dafs  gerade  die  scheinbar  einfachste  Frage  der 
Berufsstatistik,  wer  erwerbend  ist,  wer  nicht,  mit  den  grö&ten 
Schwierigkeiten  zu  kämpfen  hat  und  nirgends  ganz  gleichmäßig 
beantwortet  wird.  Ich  bin  geneigt,  die  sehr  erheblichen  Verschie- 
bungen, die  1882— 1895  hierin  eingetreten  sind,  zum  guten  Teil 
auf  diese  psychologischen  und  formalen  Momente  zurückzuföhren. 
Vollends  bei  internationalen  Vergleichungen  spielen  sie  eine  gerade- 
zu entscheidende  Rolle,  wegen  des  Einflusses  der  SprachpsNxhologie 
der  verschiedenen  Nationen  und  der  abweichenden  prinzipiellen 
Stellune  der  statistischen  Aemter,  denen  die  Bearbeitung  oblag,  in 
dieser  Frage. 

Und  nun  zu  den  Ergebnissen! 

')  Vgl.  z.  B.  die  auf  S.  60  des  Zählungswcrkc!»  auszugsweise  mitgclcille  In- 
•troktion  Ar  die  Bearbeitung  nach  sorialen  Klauen. 

*)  oder  die  Haiuhaltimgsvontinde ,  welche  die  Zkhipapiere  aasfäUcn  an 
ihrer  Statt. 


Digitized  by  Google 


Die  Beni£i>  «od  GewerbeiiMui^  im  Dentaclicii  Reich  vom  14.  Juni  1895.  269 


&  waren 


«bioliit 

1895 


1895  1883 

40,12  38,99 

259  a,93 

53,15  55.08 

4,14  3,00 


in  PnMentcn 


Zauhme  in 
Prozenten 


Erwerbtbitige    .   .  . 

EHenende   

An^^'-borige  .  .  .  . 
bcrulslostr  Selbständige 


«0770875 

1  339316 
27517285 

2  142  808 


10,46 
58,20 
14,48 


17,80 


1.09 


zusammen 


51  770  2S4 


100,00  100,00 


Alle  Kategorien  haben  zugenommen,  die  berufslosen  Selbstän- 
digen am  meisten,  die  Erwerbthatigen  aber  viel  starker  als  die 
Dienenden  und  Angehörigen,  so  da(s  diese  nunmehr  relativ  schwächer 
vertreten  erscheinen.  Die  Erwerbsarbeit  des  deutschen  Volkes  ist 
also  intensiver  worden,  in  dem  Sinne  wenigstens,  daüs  nunmehr  ein 
relativ  gröfserer  Teil  desselben  berufsthatig  ist  Für  die  Frage,  ob 
erwerbthatig  oder  nicht,  kommt  hier  zunächst  nur  der  Hauptberuf 
in  Betracht. 

Um  die  Verschiebungen  gegenüber  der  Zahlung  von  1882 
richtig  zu  beurteilen,  müssen  wir  vorerst  die  durch  ihr  rasches 
Anwachsen  aufifallige  Sammelposition  „beru&Iose  Selbständige"  in 
ihre  einzelnen  Bestandteile  auflösen.  Daran  sind  die  einzelnen  Be* 
ruCsarten,  wenn  hier  von  solchen  überhaupt  die  Rede  sein  kann, 
mit  folgenden  21ahlen  beteiligt,  denen  ich  die  Zuwachsprozente  seit 
1882  in  Klammern  beifüge:  Von  eigenem  Vermögen,  Renten  oder 
Pensionen  Lebende  i  288484  (-|-  59,0),  von  Unterstützung  Lebende 
^73**^53  ( — 2,3),  Studierende,  Schüler,  Zöglinge  in  Unterrichts-  und 
Waisenanstalten  414587  {+185,2),  Anstaltsinsassen  und  ohne  Be- 
rufeangaben 265  884  (-)-  20,4).  F'.ntscheidcnd  ist  die  Zunahme  der 
Rentner  (-|-  478026).  Inwieweit  die  allgemeine  Zunahme  des 
Wohlstands,  oder  das  Anwachsen  des  Pcnsionsetats  oder  die  Sozial- 
versicherung daran  Anteil  hat,  steht  dahin.  Die  Verschicbungen 
sind  übrigens  zum  Teil  dadurch  hervorgerufen,  da(s  1895  tlie  Alten- 
teilcr,  sowie  die  Pfl^[e-  und  Ziehkinder  nicht  —  wie  1882  —  zu 
den  Angehörigen,  sondern  in  diese  Gruppe  gerechnet  wurden,  was 
auch  das  Richtige  ist. 

Auch  das  stärkere  Ueberwiegen  der  Lrwerbthätigcn  ist  zum 
Teü  auf  die  früher  erwähnten  formalen  Momente  zurückzuführen. 
Dienende  und  Familienangehörige,  die  im  Betriebe  des  Haushaltun^s- 
vorstands  sich  bcthUtigen,  hnden  sich  nunmehr  in  höherem  Maüse 
als  früher  als  berufsthatig  ausgewiesen.  Dadurch  erscheinen  die 
männlichen  Dienenden  stark  vermindert,  die  weiblichen  Btrufs- 
thätigen  auf  Kosten  der  Familienangehörigen  stark  vermehrt.  Das 


Digitized  by  Google 


370 


H.  Kaachberg, 


wird  späterhin  bei  der  Beurteilung  der  Ziffern  über  Frauenarbeit 
mit  zu  berücksichtigen  sein.  Betrachten  wir  nämlich  jedes  der 
beiden  Geschlechter  für  sich,  so 

w»ren  von  je  loo  bcCiigt  die  proxentuale 

miimUchen         wciblicben    Za-  besw.  Abnahme  bei 

Personen  den 


1805 

1S82 

«893 

18S3 

Männern 

Weibeni 

Erwerbthätige  .... 

6 1 .03 

60.38 

«9.97 

18,46 

+  15.95 

0, 10 

0, 19 

4.99 

5.56 

—  40,35 

+  2.46 

3".49 

70,81 

7*.94 

+  9A9 

+  »0.93 

berufslose  SelbstMndige  . 

4.04 

2.94 

4.23 

3,04 

+  57.47 

H-5«.8« 

zusainfnen  . 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

+ 14,71 

-f  I4.a6 

Die  markanteste  ErsoluiiuinL^  ist  die  Zunaliiiic  der  \veil)lichen 
Erwerbthätigen.  Diese  haben  um  I  003  290,  die  männlichen  um 
2133577  zui]jenommen.  Absolut  -benommen  sind  zwar  die  männ- 
lichen doppelt  >o  stark  i^H  wai  hsen,  im  X'erhältnisse  zum  .Stande 
von  18S2  aber  die  weiblichen  anderthalbma!  so  rasch  wie  die 
männlichen.  I  )ars  dies  nicht  ausschlielslich  aus  formalen  l'rsachen 
zu  erklären,  .sdudern  auch  iler  Au.sdruck  einer  thatsächlichen  Ent- 
wicklung ist,  wird  durch  die  }''eststellutij2fen  der  ( lewerbcaulsicht.s- 
beamten  über  die  Fabrikarbciit  rinncn  '  1  uiul  ilurch  die  X'erände- 
rungen  im  Mit*:,dicderstand  der  Krankenkassen  -)  aulscr  jeden  Zweilel 
gesetzt.  .\uch  die  ( iewerbezähluiuT;  liat  zu  dem  j^lei(^hen  Kr;.;cbnis 
}:jeführt :  In  Namtliclien  darein  einbezt)^enen  Betrieben  enttielen  im 
Jahre.sdurchschnitte  auf  je  100  Männer  1882  erst  25,88,  1895  bereits 
29,49  Frauen.  Die  Erwcrbthätigkeit  der  Frauen  ist  also  1893  von 
der  Berufszählung  der  Frauen  nicht  nur  vollständiger  erfafst  worden, 
sondern  sie  hat  auch  thatsächlich  noch  stärker  zugenommen  als 
jene  der  Männer.  Näheres  hierüber  später  in  dem  Abschnitt  ,4^rauen- 
aibeit".  Und  Aehnliches  gilt,  wie  sich  bei  der  Besprechung  der 
Altersverhältnisse  zeigen  wird,  von  dem  früheren  Eintritt  der 
Familienangehörigen  ins  Berufeleben. 

Eine  Untersuchung  über  die  geographische  Gestaltung 
des  Verhältnisses  zwischen  Erwerbthätigen,  Angehörigen,  Dienenden 
und  beru&losen  Selbständigen,  wie  sie  das  Zählungswerk  anstellt, 

'1  1892  erst  649668,  1S97  bereits  822462  Fabrikarbeiterinnen,  also  jährlich 

durch>chnitllicli  3455')  neu  eingestellt. 

-  iSSo  bis  iSu;  liaiu-n  dir  inimiilicliiu  Kassonmitglieder  um  17.7,  die  wcib- 
lich..-n  um  4i.4l'rü£cnt  iugenommcn,  Icl/.tcrc  zum  Teil  allerdings  infolge  Aeuderung 
der  einschlägigen  Normen. 


Die  Berufs-  und  GewerbezShlang  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.    27 1 

hat  nur  morphologischen  Wert.  Denn  es  wirken  verschiedenartige 
Umstände  darauf  ein,  die  wir  zunächst  noch  nicht  isolieren  können, 
in  erster  Linie  die  besondere  Gestaltung  dieses  Verhältnisses  in 
den  einzelnen  Berufen ,  die  hinwiederum  hauptsächlich  von  dem 
relativen  Ausniafs  der  Frauenarbeit  abhängt.  Wir  werden  spater 
noch  ausführlicher  darauf  zu  sprechen  kommen.  Hier  will  ich  nur, 
dem  Gange  der  Darstellung  vorgreifend,  einige  charakteristische 
Ziffern  herau^^ifen.   Es  sind  1895  erwerbthätig 

in  der  Land>  in  der  im  Hsuidel  und 

Wirtschaft  Industrie  Verkehr 

TOD  100  bcrufszugehörigea  Per* 

iOnt'Ti  üh<rhnu])t                                48,83  40*^  39il9 

von  je  100  bcrul-./u;jt  h<)ritjen  Per- 
sonen weiblichen  Geschlechts           28,58  'Si^?  '^|25 

Diese  Momente  sind  es  auch,  welche  die  Gestaltung  des  in 
Rede  stehenden  Verhältnisses  in  Stadt  und  I^d  und  nach  Orts* 
grötsenldassen  stark  beeinflussen.  Dasselbe  ist  aber  auch  an  sich 
von  hoher  Wichtigkeit,  weshalb  die  wichtigsten  Zahlen,  wodurch  es 
gekennzeichnet  wird,  hier  Platz  finden  mögen.  Es  sind  1895  in 
den  nebenbezeichneten  Wohnplätzen  von  je  foo  ortsanwesenden 
Personen 


Erwerbthätise 

Dienende 

Angehörige 

berufslos«* 

S«'lbständige 

( Irofs^tädtc 

4,12 

49,61 

4,89 

^Iitt<•I^t:i<ltc  39,54 

3.64 

5 '  .43 

5o9 

KU-in>t:idtc  38,27 

2,81 

Landstädte  3^,50 

2,48 

54,57 

4  45 

Plattes  Land  40,80 

1,92 

53,94 

3.34 

Sberliaupt  40,12 

a.59 

53,  «5 

4.J4 

Die  Erwerbthäti^keit  ist  am  ^'cringsten  in  den  Kleinstädten. 
Sie  erhöht  sich  in  den  Landstädten  und  auf  dem  Bachen  Lande, 
insbesondere  we^^en  der  stärkeren  Vertretunrj  (kr  Landwirtschaft 
und  der  Frauenarbeit  darin,  noch  mehr  aber  nach  obenhin,  wej^en 
der  mit  der  Einwohnerzahl  wachsenden  Intensität  der  Krwerbs- 
arbeit.  Diese  ist  also  in  den  ( rrok^tädten  die  höchste.  Im  direkten 
Verhältnisse  zur  Einwohnerzahl  steht  die  V'ertretung  der  Dii  lu  nden, 
im  umgekehrten  jene  der  Angehörigen.  Nur  das  flai  hc  I^nd 
macht  in  letzterer  Hinsicht  eine  Ausnahme,  wegen  des  früheren 


*)  Ueber  die  Abstufungen  siehe  oben  S.  263. 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


272 


H.  Ravehberf, 


Eintritts  in  die  landwirtschaftliche  Arbeit.  Die  berufslosen  Selb- 
ständigen sind  am  stärksten  in  den  Mittelstädten  vertreten. 

Sind  schon  die  Ziffern  über  die  Erwerbthätigkeit  innerhalb 
des  Crebiets  einer  einheitlichen  Erhebung  in  so  hohem  Mafse  von 
formalen  Momenten  abhänj^^ir]^,  so  können  internationale  Ver- 
gleich ungen  nur  mit  besonderer  Vorsicht  angestellt  werden.') 
Selbst  dann  wird  sich  nicht  mit  voller  Sicherheit  feststellen  lassen, 
inwieweit  die  durch  die  Zahlen  aufgezeigten  Abweichungen  in  den 
thatsächlichen  X'erhältnisscn  oder  durch  die  Methode  der  Erhebung 
und  der  Bearbeitung  begründet  sind.  L'eber  die  X'ertretung  der  Rr- 
werbtliätigen  ^)  unter  der  ( icsaintbcv  ölkerung  der  wichtigsten  Kultur- 
staaten erteilt  die  folgende  Uebersicht  Auskunft: 


Z.=ih- 

rjesair.t- 

Ks  sind  e r w 

erb- 

lungs- 

bcvölke- 

E  r  w  <• 

rbth.Htigc") 

tbätig 

von  j 

e  100 

Länder 

jähr 

run« 

männl. 

weibl. 

überh. 

mannl. 

weifal. 

Pen. 

in  Millionen 

Personen 

ttberh. 

Deotadies  Reich  . 

1895 

5  «.77 

»5.53 

6,5« 

22,11 

6f,i 

35,0 

4a.7 

Oesterreich  .   .  . 

1890 

33,90 

7,39 

5.77 

13,16 

47.3 

55.1 

Ungatn  .... 

1890 

»7.46 

5.45 

3,19 

7.64 

63,8 

34.9 

43.7 

1881 

«8,46 

9.45 

5.70 

15.15 

66,3 

40,3 

53.a 

Schweiz  .... 

18S8 

2,92 

0,87 

0,44 

«.31 

61,4 

29,0 

44.8 

Frankreich  *) .    .  . 

1891 

38,13 

11,14 

5>9 

'6,33 

58.8 

27,0 

42.8 

Belgien  *).... 

iS«X) 

6,07 

1,81 

o,So 

2,01 

59,8 

26,2 

43.0 

Niederlande  .    .  . 

1889 

4.51 

»,3° 

035 

1.65 

58.3 

»5Ö 

36,6 

Dänemark.    .    .  . 

1890 

2,17 

0,61 

0,23 

0,84 

57.5 

21,0 

38.8 

Schweden .  •   •  • 

1890 

4.79 

i,a6 

0,49 

>t75 

54.5 

19.7 

36,6 

Nonregen.   .   .  . 

1891 

1.99 

0,53 

o,«5 

0,78 

55.« 

33,6 

39,0 

Groftbrit.  u.  Irland 

1891 

37.73 

11,61 

5.a« 

16,82 

63,4 

26,8 

44.5 

V.  St.  von  Amerika 

1890 

62,62 

18,21 

3.9a 

22,74 

5«.7 

13,8 

36.3 

')  Das  Zählimgswerk  enthilt  in  seinem  14.  AbMrhiiitt  .sehr  dankenswerte  Aui- 
tOgc  aus  den  Bemftalatistiken  der  wichtigsten  KaltntalaateB«  Wlhrend  die  inter« 
nationalen  Uebenichten  bei  der  Bearbeitung  der  BernfsiiUaitg  von  1883  synoptisch 
angelegt  waren,  werden  naundir  die  Ergebnisse  flir  die  einseinen  Staaten  snniciut 
gesondert  vorgeftthrt.  Das  ermöglicht  detailliertere  lUtteilmigen,  tnsbetondere  aodi 
über  die  für  die  Gestaltung  der  Ergebnisse  entscheidende  Art  der  Erhebung  und  Be- 
arbeitung. Hingegen  sind  die  synoptischen  Ucbcrsichtcn  rediuiert,  die  Verglcichtmgen 
hiermit  erschwert.  AVirr  freilich,  je  besser  man  weifs,  wie  die  ZifTem  zustande  ge- 
kommen sind,  desto  schwerer  entschliefst  man  sich,  sie  ohne  weiteres  nebeneinander 
zu  scrzeu. 

*)  EinschliefsUch  der  Dienenden  für  häusliche  und  persönliche  Dienste. 
")  Die  Ergebnisse  der  franxösisdien  und  der  belgisdien  Berafioihlung  von  1896 
liegen  zur  Zeit  (Joni  1898)  noch  nicht  vor. 


Digitized  by  Google 


Dei  Berufs-  und  Ge^rerbezählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  273 

Das  Deutsche  Reich  nimmt  unter  den  hier  verglichenen 
Staaten  hinsichtlich  der  Beteiligung  der  Bevölkerung  am  Erwerb 
eine  Mittebtellung  ein.  Durch  intensivere  Berufearbeit  in  diesem 
Sinne  ragen  hervor  zunächst  Oesterreich  und  Italien,  dann  Grrols- 
britannien  und  Irland,  sowie  die  Schweiz,  durch  geringere  ins- 
besondere die  skandinavischen  Staaten,  die  Niederlande  und  die 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  Die  genauere  Analyse  der 
Zifiemreihen  lehrt,  da(s  die  Abweichungen  ganz  überwiegend  das 
weibliche  Geschlecht  betreffen  und  hier  insbesondere  bei  der  Land*  • 
Wirtschaft  auffallig  zu  Tage  treten.  Die  mehrfach  erwähnten  Unter« 
schiede  in  der  &unmlung  und  Bearbeitung  der  Materialien  haben 
daran  groisen,  wenn  auch  nicht  ziffermäisig  genauer  bestimm- 
baren Anteil.  Es  ist  bei  dieser  Sachlage  schwer,  zu  einem  all- 
gemeinen Urteil  zu  gelangen.  Immerhin  möchte  ich  die  Behauptung 
wagen,  daSs  ein  relativ  hoher  Anteil  der  Erwerbthätigen  an  der 
Gesamtbevölkerung  eher  ein  Anzeichen  niederer  denn  hoher  wirt- 
schaftlicher Kultur  ist  Denn  er  wird  hauptsachlich  bewirkt  durch 
die  Beteiligui^  der  Frauen  und  des  heranwachsenden  Geschlechts 
an  der  Berufinrbeit,  die  bei  gesteigerter  Kultur  in  höherem  Mafse 
davon  befreit  sind.  Und  das  wird  dort  m^^lich  durch  die  grö(sere 
Produktivität  der  Arbeit  der  Erwerbthätigen,  die  eines  der 
wichtigsten  Kennzeichen  höherer  wirtschafUicher  Kultur  ausmacht. 
Aber  nur  langsam  durchdringt  der  technische  Fortschritt  alle  Volks- 
schichten und  fuhrt  zu  einer  Aenderung  der  Arbeitssitten  in  dieser 
Hinsicht  Auch  hängt  dabei  viel  von  den  sozialpolitischen  Ver- 
hältnissen ab.  Man  muis  sich  daher  vor  voreiligen  Generalisationen 
hüten  und  kann  höchstens  von  allgemeinen  Entwicklungstendenzen 
sprechen,  welche  die  Ziffern  andeuten. 

in.  Die  Berufsgliederung  im  allgem einen. 

Schon  in  der  mcthodolo^isclicn  Kinlcitunt^  wurde  dargethan, 
in  welcher  Weise  die  in  den  Zählpapieren  thatsächlich  eiithahetien 
Beruisangaben  klassifiziert  worden  sind,  um  L'cbersichten  über  die 
Berufsgliederunj^^  des  Deutschen  X'olkes  aufzustellen.  Die  Kl;issi- 
fikation  uinfaüt  6  grolse  Berufsabteiiungen,  25  Bcrufsgruppcn  und 

^)  Oaft  die  Veicletclrang  der  Ergeboisse  der  beiden  deubchen  fienifnihliingen 
von  1883  und  1895  unter  diesem  Gesichtipnnkte  nicht  zn  bttndigen  Schnitten  fttbrt, 
weil  die  Frauen-  und  Kinfleniheit  1895  vollständiger  erfafst  worden  ist,  habe  ich 
•dion  froher  dargetban;  es  sei  hier  aber  nochmals  daran  erinnert 


Üiyitizcü  by  GoOgle 


274 


H.  Ranchberf, 


207  Berufsarten. ')  Die  Einreiluin^  der  Erwerbthätigen  ist  nach 
ihrem  jicrsönlichen  Hauptberuf  erfolj^t,  jene  der  Dienenden  und  An- 
gehörigen nach  dem  Hauptberuf  des  Dienstgebers  bczw.  des  Er- 
nährers. Die  Berufsghederung  umfalst  also  die  L,'csamte  Bevölkerung. 
Sie  kann  aber,  auch  das  wurde  schon  früher  bcrülirt,  tiirht  die 
feineren  X'erzw  eigungen  der  Arbcitsteihin;^  x  crfolL^en,  hnmcrliin 
lassen  die  in  den  Zäiilj)apieren  verzeichneten  Berufsbnu  iuunigen  er- 
kennen, welch  aulserordeiithclie  hOrtsciiritte  sie  von  Zähking  zu 
Zählung  gemacht  hat.  1882  sind  6179  Berufsbenennungen  vor- 
gekommen, 1895  aber  deren  10397.  meisten,  2079.  fallen  in 
die  Berufsgruppe  tles  ötlentlichen  Dienstes,  an  zweiter  Stelle  steht 
mit  1464  Benennungen  das  Handelsgewerbe.  .Am  raschelten  aus- 
gebildet haben  sie  sich  in  der  Industrie.  So  sind  die  Benennungen 
in  der  ( iruppe  Metallverarbeitung  von  3C0  auf  708,  in  der  Maschinen- 
indu.strie  von  335  auf  653,  in  der  chemischen  hidustrie  von  182 
auf  331,  in  der  Berufsabteilung  der  Industrie  überhaupt  von  2661 
auf  5506  gestiegen.  Diese  Zahlen  /eigen  zunächst,  wie  die  h'ort- 
schritte  der  technischen  .Arbeitsteilung  auf  den  Sprachgebrauch  ein- 
gewirkt haben.  Kr  bietet  allertlings  kein  \ollig  getreuo  ."Spiegel- 
bild des  technischen  Fortschritts.  Einerseits  liefert  er  eine  gewisse 
Anzahl  von  Synonyma,  andrerseits  haben  noch  lange  nicht  alle 
technischen  Berufsspezialitätcn  sprachlichen  .Ausdruck  gefunden. 
Aber  die  Mächtigkeit  der  Bewegung  spiegelt  sich  darin  doch  zurück. 
Und  diese  technische  Entfaltung  ist  zugleich  eine  soziale,  denn  die 
Differenzierung  der  Arbeitsprozesse  ergreift  die  darin  bethätigten 
Menschen  mit  ihrer  ganzen  Persönlichkeit  und  wird  dadurch  zur 
Berufsbildung.  ')  Auf  diesen  Prozefs  wirft  die  Auszahlung  der  Be» 
rufsbenennungen  ein  rasches  Streiflicht.  Er  kann  von  der  Berufs- 
statistik nicht  weiter  verfolgt  werden,  weil  sie  die  Tausende  von 
Berufsbenennungen  in  den  engen  Rahmen  von  207  Berufsarten  zu- 
sammenprefst. 

Das  ist  also  die  Form»  in  der  uns  die  Berufsgliederung  des 
Deutschen  Volkes  von  der  Berufestatistik  vorgeführt  wird.  Es  ist 
weniger,  als  wir  zu  einem  völligen  Einblick  benötigen,  aber  mehr  als 
in  dem  knappen  Rahmen  dieser  zusammenfassenden  Darstellung  unter- 
gebracht werden  kann.  Hier  gilt  es  zunächst  einen  allgemeinen 
Ueberbltck  zu  gewinnen  durch  die  Betrachtung  der  grofsen  Berufs- 

*)  Vgl.  ob«n  S.  359  f. 

*}  B fleher,  Entstehung  der  Volkswirtschaft.   3.  Anft.  S.  386,  337. 


Digitized  by  Google 


Die  Bemft*  und  Gewerbedhlniig  im  Destiebeii  Reicli  vom  14.  Juni  189$.  27$ 

abteilungen  und  der  Aendcrunj^en  in  ihrer  Besetzung  seit  1S82.  Das 
ist  die  Aufgabe  der  nachstellenden  Uebersicht: 


Berafsberölkerung  Erwerbthltige  im 

BerafMbteilniigen  *)  ttberiiaapt  Htuptberaf 


1895 

188a 

»«95 

1882 

A.  Landwirtschaft  .   .  . 

18501307 

>9»54SS 

8192693 

8336496 

B.  Industri«"  

«0253241 

16058080 

838iaao 

639646$ 

C.  Handel  u.  Verkehr .  . 

5  966  846 

4531080 

1 570318 

D.  Häusliche  Dienste  .  , 

886  S07 

938294 

43249» 

397  582 

E.  OeffentliclitT  Dienst 

2835014 

2  222  982 

I  425961 

1031  147 

F.  Berufslose  

3327069 

2  246  222 

2  142  808 

I  354 480 

zusammen  . 

51770  284 

45 222  II j 

22913083 

18986494 

Daraus  werden  die  folgenden  Verhältniszahlen  über  die  Gliederung 
sowohl  der  Gesamtbevolkerung  als  auch  der  Erwefbthatigen  im 
Hauptberuf,  sowie  über  die  Veränderungen  seit  1882  abgeleitet: 


Prozentuale  Glied  fr  unp  d^r 
Berufsabteilusgen        Gesamtbevölkemn^  l-'.rwrrl)thhtigen 


1895 

1882 

««95') 

1882 

A.  Landwirtschaft.    .  . 

35.74 

42,51 

36,19 

43.3^ 

39.  »2 

35.5' 

36,14 

33,69 

C.  Handel  und  Verkehr 

11,52 

iO,02 

10,21 

8.27 

D.  IfioBUelie  Dienste 

2,07 

1,89 

2,10 

E.  Oeflentlidier  Dienst  . 

5.4S 

4t9S 

6,22 

5.43 

F.  Berufslose  .... 

6,43 

4.97 

9.35 

7.13 

im  gansen.  . 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

*j  Die  gena.uere  Beieicbnung  der  einzelnen  lierulsabtcilungen  lautet; 

A.  Landwirtschaft,  Girtnerei  and  Tierzucht,  Forstwirtschaft  und  Fischerei. 

B.  Beigban  und  Hflttenwesen,  bdostrie  and  Banweien.  , 
C  Handel  nnd  Veriiehr. 

D.  IBhultche  Dienste  (einsdbliefslich  persönliche  Bedienong),  Lohnaibeit 
wechselnder  Art 

F.  Armee-,  Hof-.  Staats-.  r,,  ri:  inde-,  Kirchendienst,  freie  Berafsarten. 

F.  Ohne  Beruf  und  Berufbangabc. 
Für  (lif  Folge  bediene  ich  mich  immer  der  obi^'en,  }jekUr/ten  Bezeichnungen, 
ZU  deren  Verständis  ein  für  allemal  auf  die^e  Erläuterung  verwiesen  wird. 

*)  Charakteristische  Abweichungen,  auf  welche  >pät<'r  mKh  /.urück/.ukommen 
sein  wird,   in  der  BcrufNgliederunp  d-r  beiden  GeschlerhtT.    Von  ]<•   100  Frauen 
haben  ihren  Haupterwerb  in  der  Landwirtschaft  43,15.  in  d-T  Industrie  23,84,  von 
je  100  Männern  in  der  Landwirtschaft  33,50,  in  der  Industrie  40,89. 
Archiv  für  tot.  GeMttgebooff  «.  Staüitik.  XIV.  18 


L^iyiii^uü  Uy  Google 


2;6 


H.  Ranchberg» 


Zu- 

oder  Abnahme  seit  i88a 

Beruf^Ucilungen 

beruf&bev 

ülkerung 

Erwerbtbätige 

absolut 

Protent 

absolut 

Proient 

A.  LandwiftadMft  .  .  . 

—  724148 

—  3,77 

+  56196 

+  0.68 

4- 4 195 161 

26,12 

-I-IM4755 

+  »9.47 

C  Handel  und  Veikelir  . 

+  1435766 

+  31.69 

+  768193 

+  48,9» 

D.  HKnsUche  Dienste  .  . 

—  5I4«7 

—  5r49 

+  34909 

+  8,78 

B.  OeffcntUcher  Dienst 

-)-  612032 

+  «7.53 

+  394814 

+  38,29 

-f- 1080847 

+48,12 

+  7883a» 

+  58,20 

im  ganten    .  . 

+  6548171 

+  «4,48 

+  3927189 

~+  20,68 

Maf{  man  bei  der  Beurteilung  der  Ergebnisse  von  <ien  Erwcrb- 
thätigen  allein  oder  von  der  Berufsbevölkerung  ausgehen,  also  die 
Dicnetiden  und  Angehörigen  als  zum  Berufe  des  R^rhalters  gehörig 
mit  berücksichtigen,  in  beiden  ballen  tritt  als  Grundzug  der  Ent- 
wicklung die  X'erstäikung  der  biduslric,  des  Handels  und  X'erkehrs 
auf  K(»sten  der  Landwirtschaft  in  der  Berufsgliederung  deutlich 
zu  I  age. 

Der  Landwirtschaft  gehören  1895  8292692  Personen  nut 
ihrem  Hauptberuf  als  It^rwerbthätige  an.  Seit  1882  haben  sie  um 
ein  Geringes,  um  56 196,  zugenommen.  Dagegen  haben  in  der 
Landwirtschaft  seit  1882  die  Dienenden  um  50216,  die  Angehörigen 
um  73*^  ^28  abgenommen,  so  dafs  sich  für  die  gesamte  landwirt- 
schaftliche Bevölkerung  ein  Rückgang  von  724 148  Personeti  oder 
3,77  Prozent  ergiebt.  An  der  Berufegliederung  der  (iesamt- 
bcvölkerung  war  sie  1882  mit  42,51  Prozent  beteiligt,  1895  ist  sie 
es  nur  noch  mit  35,74  Prozent  Nicht  nur  Dienende  und  ins 
Berufsleben  eintretende  Angehörige,  sondern  auch  männliche  Er> 
werbthätige  hat  die  Landwirtschaft  an  die  anderen  Berufsabteilungen 
abgegeben,  denn  gegen  1882  haben  die  in  der  Landwirtschaft 
hauptbtraflich  thätig^en  Männer  um  1(12049,  die  männlichen  Htlfe- 
arbeiter  sogar  um  389949  abgenommen.  Sie  sind  durch  Frauen  er- 
setzt  worden;  diese  letzteren  haben  im  ganzen  um  218245,  die 
weiblichen  HiliskiiLfte  speziell  um  136288  zugenommen,  so  dafs  der 
Anteil  der  Frauen  an  dem  landwirtschaftlichen  Berufe  1882 — 1895 
von  30,78  auf  33,20  Prozent  gestiegen  ist,  an  der  landwirtschaft- 
lichen Hilfsarbeit  speziell  von  38,29  auf  42,43  Prozent 

Während  1882  die  Landwirtschaft  die  stärkstbesetzte  Berufe* 
abteilung  im  Deutschen  Reiche  war,  ist  jetzt  die  Industrie  mit 
20253241  Beru6»ngehörigen,  darunter  16058080  Erwerbthätigen, 
an  die  erste  Stelle  getreten.  Bei  diesen  beträgt  der  Zuwachs  seit 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  Gewcrbczähluag  im  DentBchen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


18S2  1884755  oder  29^47  Pirozent,  bei  jenen  4195161  oder  26,12 
Prozent.  Fast  zwei  Drittel  der  ganzen  Volkszunahme  des  Deutschen 
Reiches  konzentrieren,  sich  auf  die  Industrie.  Von  je  100  Personen 
der  Reichsbevolkerung  gehörten  ihr  früher  55,51,  1895  bereits  39^12 
an.  Noch  rascher  haben  sich  im  Vergleiche  zum  Stande  von  1882 
Handel  und  Verkehr  ent&ltet  Hier  bedeutet  die  für  1895  ver- 
zeichnete Beru^>evolkerung  von  59^^846  eine  Vermehrung  um 
1435766  oder  31,69  Prozent.  Fassen  wir  die  drei  Berufeabteilungen 
der  materiellen  Produktion  und  Distribution  zusammen,  so  entfielen 
von  je  100  hierher  gehörigen  Personen 

1895  '^^2 

auf  die  Landwirtschaft  4'. 37  48,29 

auf  Industrie,  üandel  und  Verkehr   .    .    58,63  5I>7I 

Was  bedeutet  diese  weitgehende  und  in  Anbetracht  der  Kürze 
des  Zeitraumes  aufföllig  rasche  Verschiebung,  welche  übrigens  in 
fest  allen  Kulturstaaten  wiederkehrt?  Das  oft  wiederholte  Schlag- 
wort) Deutschland  verwandle  sich  aus  einem  Agrikulturstaat  in 
einen  Industriestaat,  vermag  ofTenbar  ihre  Bedeutung  nicht  zu  er- 
schöpfen,  nicht  einmal  richtig  zu  bezeichnen.  Die  Bewegung  will 
tiefer  verstanden  sein.  Sie  beruht  auf  zwei  gewaltigen  Triebkräften : 
zunächst  auf  der  starken  Volksvermehrung  des  Deutschen  Reiches, ') 
und  dann  auf  der  modernen  technischen  F\olution,  die  sowohl  die 
Entwicklung  als  auch  den  Arbeitsbedarf  und  die  Aufnahmsiahigkeit 
•  der  grofsen  Berufszweige  bestimmt.  Davon  hängt  es  ab,  welche 
X'olksmassen  alljährlich  neu  ins  Erwerbsleben  eintreten,  und  welchen 
Berufen  sie  sirh  zuwenden  werden. 

•Nun  ist  die  Entwicklung  auf  dem  (icblete  der  I.andwii-tscli.ift 
notwendigerweise  eine  ganz  andere  als  auf  dem  Gebiete  der  Industrie. 
Auch  die  Landwirtschaft  hat  sich  intensiv  und  ex'tensiv  fortentwickelt: 
die  Anbauflächen,  die  Krntemengcn  und  der  spezifische  Bodenertrag, 
d.  h.  der  durchschnittliche  Ernteertrag  einer  I'Mächeneinheit  sind  er- 
heblich gewachst-!!.  -'1  wenn  auch  nicht  ini  ;^k-ichcn  MmIsc  wie  die 
Bevölkerung  und  der  K()n>u!ii,  so  daK  allerdings  auch  die  Einfuhr 
von  landwirtschaftlichen  Produkten  /unininit.  1  )iesc  .^tei^^erung  der 
Produktion  bei  annäliernder  Konstanz  der  landwirtschaftlichen  Arbeits- 


M  Vj«!.  den  Ab^chuitt  I.  (icstultunf;  d.-r  Volks/.ahl,  S.  262. 

Die  Landwirtschaft  im  l>cut^tii<  !i  K'  i<  Ii  nach  der  laiulwirtscbaitl.  Uetricbs- 
Zahlung  vom  14.  Juni  1S95.  Matialik  df>  Deutschen  Reichs.  Neue  Folge  Bd.  112 
S.  36. 

i8* 


Digitized  by  Google 


2/8 


H.  Ranehberg, 


krafte  bedeutet,  da(s  auch  die  Produktivität  der  auf  die  Landwirt- 
Schaft  verwendeten  menschlichen  Arbeit  durch  die  technischen  Fort- 
schritte  und  den  Einsatz  von  Kapital*)  gesteigert  worden  ist  Aber 
die  Ausdehnung  der  landwirtsdiafUichen  Produktion  ist  bedingt 
durch  die  verfügbare  Bodenfläche.  Umbildung  der  Besitzformen 
und  der  Kulturen  vermögen  dem  Ackerbau  zwar  neue  Gebiete  zu 
erschliefsen,  aber  doch  nur  ganz  allmählig,  langsamer  als  die  Be- 
volkerung  anwächst  Bald  ist  eine  absolut  unübersteigbare  Grenze 
erreicht  Daher  ist  auch  die  Bevölkeningskapazttat  der  Landwirt- 
schaft enge  begrenzt  Durch  den  technischen  Fortschritt  wird  sie 
eher  eingeschränkt  als  erweitert,  denn  hier  wird  die  Arbeitsersparnb 
durch  Einfiihrui^  von  Maschinen  nicht  —  wie  auf  dem  Gebiete 
der  Industrie  —  kompensiert  durch  die  neu  entstehenden  oder  er- 
weiterten komplementären  Betriebe. 

Ganz  anders  wirkt  der  technische  Fortschritt  auf  dem  Ge- 
biete der  Industrie.  Weder  der  Steigerung  der  Produktion  noch 
der  Entfaltung  der  Produktivität  sind  Schranken  gezogen  und  eine» 
prinzipiell  wenigstens,  unbegrenzte  Zahl  von  Arbeitskräften  kann 
eingestellt  werden.  Mehrfache  Momente  wirken  zusammen,  dafs 
diese  Möglichkeiten  gerade  jetzt  in  besonderem  Mafse  zur  Wirklich- 
keit werden.  Es  sind  dieselben,  welche  unserer  Zeit  überhaupt  die 
Signatur  verleihen :  die  gesellschaftliche  Arbeitsteilung  in  allen  ihren 
Formen  ist  in  voller  Ausbildung  begriffen.  Ein  Produktionsakt  nach 
dem  anderen  wird  aus  der  Hauswirtschaft  ausgelost  und  auf  die  . 
gesellschaftliche  Produktion  übernommen.  Immer  mehr  treten  Ge- 
werbserzeugnisse  an  die  Stelle  von  Naturprodukten.  Der  technische 
Fortschritt  ermöglicht  neue  Güter  und  verfeinert  die  bereits  be- 
kannten und  eingeführten.  Jede  neue  Produktion,  jeder  neue  Beirieb 
bedingt  und  schafft  eine  ganze  Reihe  anderer  komplementärer  Pro- 
duktionszweige und  Betriebe.  Auf  der  Basis  der  altbekannten  Roh- 
stoffe erhebt  sich  ein  gewaltiger  industrieller  Ueberbau»  der  Stock- 
werk auf  Stockwerk  türmt,  »nd  andrerseits  emanzij)iert  sirh  die 
Industrie  immer  mehr  von  den  Rohstoffen,  die  sie  der  Landwirt- 
schaft verdankt,  und  gräbt  sie  selbst  aus  der  Erde,  zieht  sie  in  che- 
mischen Prozessen  aus  Luft  und  Wasser.  *)   Im  Vergleich  zu  dieser 

Siebe  z.  B.  die  Zunalmie  der  laadwirtsdMlUidieii  tbscliinen  nftdi  der  had- 
wvtoclwftlidien  BetriebuShlnng. 

Vgl.  WernerSombart,  Entwickeln  wir  uns  snm  „ExportindastriestMtc"? 
Soziale  Praxii,  XIII.  Jahrgang  1899,  Nr.  34. 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  Gewcrbeühlung  im  L)eutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


kraftvcdlen  Ent&ltung  nimmt  sidi  der  bedächtige  Fortschritt  der 
Landwirtflchaft  wie  Stillstand  aus.  Ein  stets  wachsender  Teil  der 
Arbeitskräfte,  die  sie  aufeieht,  strömt  der  Industrie  zu,  deren  Arbeits- 
nachfrage  ihr  unendlicb  überlegen  ist.  Denn  neue  Kapitals-  und  Ar- 
bdtszu^Ktze  sind  auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft  von  sinkender, 
auf  dem  Gebiete  der  Industrie  von  steigender  Produktivität.  Die  Land- 
wirtschaft mu(»  demnadi  in  der  Konkurrens  auf  dem  Arbettsmarkte 
notwendigerweise  der  Industrie  gegenüber  den  Kürzeren  ziehen,  ganz 
davon  abgesehen,  dafs  diese  schon  durch  ihre  relativ  freiere  Arbeits- 
ver&ssung  beliebter  ist  als  ländlicher  Gesindedienst  oder  TaglöhnereL 
Der  Arbettsmarkt  befindet  sich  immer  in  einem  Zustande  labilen 
Gleichgewichts.  Die  Arbeitskräfte  strömen  dahin,  wo  ihnen  bessere 
Lebensbedingungen  geboten  werden,  wo  sie  reicheren  Anteil  er- 
langen oder  doch  erhoffen  an  dem  Kulturbesitz  der  Menschheit  Er 
winkt  ihnen  auf  der  Seite  der  Industrie.  Sie  hat  die  freieren  Ent- 
wicklungsmöglichkeiten, für  sich,  wie  ftir  ihre  Angehörigen.  Und 
so  wendet  sich  denn  der  Volkszuwachs  Deutschlands  der  Landwirt- 
schaft ab,  und  der  Industrie  zu.  Und  infolgedessen  auch  dem  Handel 
und  Verkehr.  Die  industrielle  Produktion  ist  örtlich  konzentriert 
und  spezialisiert.  Je  stärker  ihr  Anteil  gegenüber  der  Landwirtschaft 
an  der  Gesamtproduktion,  desto  grolser  ist  auch  der  Wirkungskreis 
der  distributiven  Gewerbe,  des  Handels  und  des  Transports.  Denn 
sie  vermitteln  nicht  nur  die  genuMertigen  Güter  an  die  Konsu- 
menten, sondern  auch  die  Halbfabrikate  an  die  Betriebe,  die  sie 
weiter  verarbeiten.  Mit  jedem  Fortschritt  der  arbeitsteiligen  Pro- 
duktionsorganisation bekommen  sie  mehr  zu  thun.  So  erklärt  es 
sich,  dalis  die  Berufeabteilung  „Handel  und  Verkehr"  noch  rascher 
—  wenn  auch  natürlich  in  engeren  Grenzen  —  gewachsen  ist,  als 
die  Industrie. 

Industrie  und  Handel  entwickeln  also  den  grölseren  Menschen- 
bedarf und  die  wirksamere  Arbeitsnachfrage.  Ihr  Bedarf  über- 
schreitet ihren  eigenen  Nachwuchs.  Aber  die  überlegene  Stellung 
auf  dem  Arbeitsmarkte  führt  ihnen  den  Nachwuchs  der  Landwirt- 
schaft zu.  Es  sind  nicht  eigentiich  überschüssige  Arbeitskräfte,  die 
abströmen;  die  Landwirtschaft  bedarf  ihrer  gar  sehr,  aber  sie  ver- 
mag sie  nicht  zu  halten.  Die  Abgieichung  geschieht  nicht  so  sehr 
aus  den  {Leihen  der  Erwerbthätigen  als  vielmehr  der  Familien- 
angehörigen heraus,  die  ins  Berufsleben  eintreten.  Die  erbliche  Be- 
rufefolge  verliert  an  Boden.  Dabei  spielt  auch  der  Unterschied  in 
der  Produktivität  der  einzelnen  Berufeabteilungen  mit  Je  produk- 


Oigitized  by  Google 


28o 


H.  Rkvchberg, 


tiver  die  Bethätigung  darin  wirkt,  eine  desto  grö&ere  Quote  von 
Familienangehörigen  vermögen  sie  zu  erhalten.  So  kommt  es,  daLs 
der  Uebergang  aus  der  Kategorie  der  Angehörigen  in  jene  der  Er- 
werbthatigen  in  Gewerbe,  Handel  und  Industrie  langsamer, 
in  der  Landwirtschaft  aber  so  rasch  vor  sich  gegangen  ist,  daTs 
hier  die  Angehörigen  gegen  18&2  sogar  absolut,  und  zwar  nicht 
unerheblich  abgenommen  haben.  Man  betrachte  nur  die  folgende 
Aufstellung: 

Es  tiod  Angehörige  1895  i88a  1895  1882 

in  der  BernfiMbteilnng  abtolnt  unter  je  100  Berufs- 


Der  Ausfall  in  der  Kat^^ie  der  landwirtschaftlichen  Familien- 
angehörigen taucht  —  von  den  übrigen  Berufsabteilungen  voHäufig 
abgesehen  —  wieder  auf  in  der  Kategorie  der  Berufethätigcii  in 
Industrie,  Handel  und  Verkehr.  In  Verbindung  damit  steht  die 
schon  mit  der  Gestaltung  der  Volkszahl  besprochene  örtliche  Ver- 
schiebung der  Bevölkerung. Denn  das  flache  Land  als  der  haupt- 
sächliche Sitz  der  I^ndwirtschaft  hat  den  ungleich  grölseren 
Geburtenüberschufs.  Seiner  höheren  Reproduktionskraft  *)  verdanken 
die  Städte,  der  Sitz  der  Industrie  und  des  Gewerbes,*)  ihre 
rasche  Entfaltung.  Aber  auch  ftir  die  Produktion  menschlicher 
Arbeitskraft  gilt  das  Gesetz  der  Statik.  Die  städtische  Industrie 
darf  nicht  Raubbau  treiben  an  der  Reproduktionskraft  des  lindes. 
Eine  so  gewaltige  Verpflanzung  fertiger  Arbeitskräfte  ist  nur  möglich 
und  notwendig  in  dem  Uebergangszeitalter,  in  dem  wir  leben. 
Auch  die  Industrie  mufs  in  sich  selbst  den  Kreislauf  des  mensch- 
lichen Lebens  vollenden  lassen  und  ihren  Angehörigen  die  Lebens- 
*  bedingungen  schaffen,  in  welchen  der  volle  Einsatz  der  einen  Gene- 
ration sich  in  ihrer  Nachkommenschaft  reproduziert.  Lokal  be- 
trachtet, ist  dies  das  Stadtproblem,  allgemein  genommen,  ein 
gewaltiges  Stück  sozialer  Frage. 


■)  Vgl.  oben  S.  263. 

')  Auf  je  tooo  der  mittleren  Bevölkerung  betrag  189s  Gebnitenflbcndn& 
in  Preufsen  in  den  Stidten  i2,o,  auf  dem  flachen  Lande  aber  17,3. 

*)  Die  Berufsgliederung  in  Stadt  «nd  Land  und  nach  Gröfsenkategoriecn  der 
Wohnplatze  siehe  weiter  unten  S.  305. 


zugehörigen 


Landwirtschaft    .  . 

lndv:stri<"  .... 
Handel  und  l'ran&port 


9833918 

1 1 65 1  887 

3344358 


10  564046 

9359054 
2665311 


53.^5 
57t53 
56.05 


54.95 

5S.28 


Digitized  by  Google 


Die  Brrufä-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Kcich  vom  14.  Juni  1S95.  28I 


Wir  sehen,  die  Vefschiebung  der  Berufegliederung  in  der 
Richtung  nach  der  Industrie  ist  nicht  etwa  eine  isolierte,  technische 
Thatsache,  sondern  sie  bedingt  zugleich  tie^;retfende  Aenderungen 
in  der  wirtschaftlichen  und  gesellschaftlichen  Organisation  des 
Deutschen  Volkes.  Seitdem  die  Landwirtschaft  so  entschieden  in 
die  Minorität  geraten  ist,  geht  es  offenbar  nicht  mehr  an,  ihre  be- 
sonderen Interessen  schlechtweg  als  gleichbedeutend  anzusehen  mit 
dem  Staatsinteresse,  selbst  dann,  wenn  sie  zu  den  anderen  Berufe- 
Ständen  in  Gegensatz  treten.  Das  Volksleben  beruht  lange  nicht 
mehr  im  gleichen  Mafee  wie  ftüher  auf  der  Landwirtschaft:  für 
Volksvermehrung  und  Heeresdienst,  Steuerleistung  und  Kulturent- 
feltung  haben  ihr  gegenüber  die  anderen  Berufe  gewaltig  an  Be- 
deutung gewonnen.  Zugleich  mit  ihren  Leistungen  für  Staat  und 
Gesellschaft  mufe  auch  ihr  Einfiufe  auf  den  Gang  der  Politik  und 
der  öffentlichen  Angelegenheiten  immer  deutlicher  hervortreten. 
Trotzdem  ist  Deutschland  doch  noch  weit  davon  entfernt  ein  reiner 
Industriestaat  zu  sein.  Ein  Reich  mit  solcher  Flächenausstattung  und 
so  ausgedehnter  landwirtschaftlicher  Produktion  kann  es  überhaupt 
nicht  werden.  Einen  sehr  erheblichen  Teil  seines  Nahrungsbedarfe  wird 
das  Deutsche  Reich  immer  selbst  produzieren.  Landwirtschaftliche 
und  gewerbliche  Interessen,  so  gegensatzlich  sie  auch  in  ihrer  ein- 
seitigen Formulierung  erscheinen,  greifen  doch  vermöge  ihrer  sub- 
jektiven Vereinigung  in  Haupt-,  und  Nebenberuf  vielfech  meinander 
über.  Und  noch  immer  ist  es,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Landwirt- 
schaft, welche  den,  über  den  eigenen  Nachwuchs  hinausgreifenden 
Arbdtsbedarf  der  Industrie  deckt 

Auch  retchen  die  Erzeugnisse  der  deutschen  Landwirtschaft  noch 
immer  aus,  um  den  bei  weitem  gröfeeren  Teil  unseres  Nahrungs- 
mittelbedarfes zu  decken.  Freilich  nimmt  die  Bevölkerung  des 
Deutschen  Reichs  rascher  zu  ak  seine  landwirtschaftliche  Produktion. 
Der  Passivsaldo  der  Nahrungsbikuiz,  der  durch  die  Einfuhr  aus  dem 
Auslande  beschafft  und  durch  den  Export  von  Industrieprodukten 
oder  mit  den  Zinsen  von  im  Auslande  angelegten  deutschen 
Kapitalien  bezahlt  werden  mufe,  wachst  von  Jahr  zu  Jahr.  Es  fehlt 
nicht  an  Stimmen,  welche  diese  Gestaltung  ak  imerwünscht,  ja  ge- 
fährlich bezeichnen. ')   Als  ob  eine  andere  überhaupt  denkbar  wärel 


*)  K.  Oldenberg,  Ueber  Deutiehlaiid  ak  IndtutriestML  Verhandlimgen  det 
adtftcs  ETM^diich-ioiialen  Koncrenet.  Güttnigeii  1897,  S.  64  ff.  Znstimneiid  Ad. 
Wagner,  S.  116  ff.,  im  Sinne  mdner  AufUinuigen  dag^en  Max  Weber,  S.  105^ 


Digitized  by  Google 


282 


H.  Ranclibcrg, 


Wäre  es  besser,  wenn  jene  Volksmassen,  welche  die  Landwirtschaft 
nicht  lohnend  zu  beschäftigen  verm^,  übers  Meer  zogen  ?  Und  ist 
die  reichere  Produktivität  der  gewerblichen  Arbeit,  wodurch  die 

auiSstrebende  Kulturentfaltung  der  Arbeiterklasse  erst  möglich  ge- 
worden ist,  nicht  dem  dumpfen  Dasein  in  den  Banden  der  agrari- 
sehen  Arbeitsver&ssung  vorzuziehen?     Kräftige  Volksvermehrung 
ist  aber  auch  aus  politischen  Gründen  zu  begrüCsen.    Denn  nicht 
nur  das  wirtschaftliche,  auch  das  politische  Leben  der  modernen 
Völker  wird  von  mächtigen  dynamischen  Tendenzen  beherrscht. 
Von  der  freieren  Warte  säkularer  Politik  aus  erscheint  eine  kräftige 
und  wohlständige  Volksvermehrung  als  die  Vorbedingung  fiir  die 
Bewahrung  und  Befestigung  nationaler  fTröfsc.     Sic  ist  einzig  und 
allein  möglich  durcii  die  industrielle  Kntfaltiing.    Die  Besrhränkving 
auf  den  Xahrungsspiclrauni  der  heimatlichen  Scholle  bedeutett-  den 
Verzicht  auf  die  eine  wie  auf  die  andere.     Hätten  wir  überhaupt 
eine  Wahl,  so  könnte  sie  keinen  Augenblick  zweifelhaft  sein.  Aber 
wir  haben  keine.     Die  weltwirtschaftliche  Stellung  des  Deutschen 
Reichs  ermöglicht   seine   aufstrebende  Volksentfaltung    und  diese 
letztere  zwingt  hinwiederum  zur  Befestigung  der  weltwirtschaftlichen 
Stellung.     In  den   wenigen  Jahrzehnten  seit  der  Aufrichtung  des 
Deutschen  Reichs  hat  sich  der  ganze   Erdball   den  europäischen 
Kulturvölkern  erschlossen.     Unemiersliche  (iebiete  stehen  ihrem 
Nahrungsbedarf  offen.     Die  internationale  Produktionsteilung  hat 
gewaltige  Fortschritte  gemacht,  und  je  sicherer  und  planmäfsiger 
alle  technischen  Errungenschaften  dazu  verwendet  werden,  um  die 
Arbeit  der  alten  Kulturvölker  der  produktivsten  Richtung  zuzu- 
wenden, desto  sicherer  und  ausgiebiger  wird  auch  ihr  Anteil  an 
den  Erträgnissen  jener  neu  erschlossenen  Gebiete  aus£ülen.  Glückt 
dies,  so  giebt  es  keine  Uebervolkerungsge&hr  mehr.   Der  Verzicht 
darauf  aber,  die  Beschrankung  der  Volkszahl  und  der  nationalen 
Arbeit  auf  den  Rahmen,  der  durch  die  eigene  Landwirtschaft  ge- 
zogen ist,  bedeutete  schon  jetzt  zugleich  den  Verzicht  auf  die 
Weltmachtstellung,  in  Zukunft  vielleicht  auch  auf  die  GroGsmacht- 
stellung.  Denn  nur  Weltmächte  werden  dereinst  noch  als  GroCs- 
mächte  gelten. 

Die  Ergebnisse  der  Berufszählung  über  die  Verstärkung  der 
Industrie,  des  Handels  und  Verkehrs  zeigen,  dafs  die  wirtschaftliche 
Entwicklung  des  Deutschen  Reiche  jenen  Weg  eingeschlagen  hat, 
der  allein  zur  Gröise  nach  aufsen  und  zur  wohlständigen  sozialen 
Entfaltung  im  Innern  fiihrt.    Schon  jetzt  hat  es,  wie  die  inter- 


Digitlzed  by  Google 


Die  Berufs-  und  Gewerbczablung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95.  283 

nationale  Uebersicht  auf  Sdte  285  erkennen  lälst,  nächst  England  den 
ersten  Platz  unter  sämtlichen  Industriemächten  errungen«  Nichts  wäre 
indessen  irriger  wie  die  Annahme,  als  ob  diese  Industrie  hauptsäch- 
lieh  Exportindustrie  wäre,  oder  auch  nur,  als  ob  die  thatsächlich 
eingetretene  Erweiterung  der  Industrie  ausschliefslich  dem  Export 
zu  statten  käme.  Die  Mehrproduktion  infolge  der  industriellen  Ent- 
feltung  wird  nicht  etwa  au%ebraucht  zur  Deckung  des  vollen  Be- 
darf an  Nahrungsmitteln  aus  dem  Auslande,  sondern  es  ist  sicher, 
dals  nur  eine  —  zifTermälsig  allerdings  nicht  genauer  bestimm- 
bare —  Quote  ^)  ins  Ausland  geht,  während  sie  im  übrigen  der 
Konsumtion  im  Innern  zugeführt  wird.  Die  Produktionsmengen 
der  Industrie  sind  infolge  der  gesteigerten  Produktivität  der  Arbeit 
und  der  Produktionsprozesse  erheblich  rascher  gestiegen,  als  das 
Betriebspersonal,  die  Ausfuhrwerte  aber  in  den  wichtigsten  Export- 
industrien langsamer,  wofern  sie  nicht  in  geradezu  rückläufiger  Be- 
wegung begriffen  sind.*)  Das  berechtigt  zu  dem  Schlüsse,  dafs 
die  Ud)erleitung  breiter  Volksmassen  von  der  Landwirtschaft  zur 
Industrie  die  Produktivkraft  der  deutschen  Volkswirtschaft  weit  über 
das  Mafs  hinaus  erhöht  hat,  das  zur  Deckung  der  Unterbilanz  an 
Nahrungsmitteln  erforderlich  gewesen  ist.  Wir  stehen  vor  einer 
Erhöhung  des  gesamten  wirtschaftlichen  Kultumiveaus,  bedingt 
durch  eine  technisch  zweckmäCsigere  Aufteilung  der  Arbeitskräfte 
und  durch  das  entschlossene  Eintreten  Deutschlands  als  Industriemacht 
in  das  System  der  internationalen,  weltwirtschaftlichen  Produktions- 
teilung. Die  Umbildung  der  Beru%liederung  in  der  Richtung  der 
Industrie  entspricht  sowohl  dem  Produktionsinteresse  der  deutschen 
Volkswirtschaft  als  der  äufseren  Machtstellung  des  Deutschen  Reichs. 
Derartige  wirtschaf Itich-technische  Fortschritte  bedeuten  an  und  für 
sich  noch  nicht  soziale  Fortschritte.  Aber  sie  ermöglichen  sie. 
Darum  ist  diese  Entwicklung  auch  vom  sozialpolitischen  Stand- 
punkte aus  zu  begrüfsen. 

Was  endlich  noch  die  beiden  anderen  Berufsgruppen  „Häusliche 
Dienste  und  Lohnarbeit  wechselnder  Art"  sowie  „Oefientlicher 

')  Werner  Sorobart  nimmt  a.a.O.  an,  dafs  der  Export  in  den  letzten 
beiden  Jahndinten  wn  mindestens  50  Pro«,  hinter  der  Ansdehmmg  der  gewerblichen 
Thltigkeit  in  DevtscUand  flberhaupt  zortldEgcblieben  sei. 

*)  Vgl.  Hauptergebnisse  der  gewerblichen  Betriebstihlung  vom  14.  Jnni  1895. 
Ergiuang  nun  Ersten  Heft  der  Vieitelsjahrshcfte  nur  Statistik  des  Dcntsdien  Reichs. 
1898  S.  46  ff. 


Digitized  by  Google 


2S4 


H.  Rauchberg, 


Dienst"  anbelangt,  so  besteht  die  eratcrwälinte  aus  zwei  völlig  ver- 
seil icdcncn  Bestandteilen  von  entgegengesetzter  Bewegung.  Die 

häuslichen  Dienste  haben  zuj^enommen;  die  Lohnarbeit  wechselnder 
Art  erscheint  infoli^c  der  j^TÖfscren  Genauigkeit  der  Erhebung  von 
1895  schwächer  besetzt.  Personen,  die  früher  hierher  gerechnet 
worden  sind,  wurden  nunmehr  denjenigen  BerufszweitTtri  zugezählt, 
in  denen  sie  sich  haujnsächlich  bethätigen.  Im  ölTcntlichen  Dienst 
haben  sämtliche  Zweige  infolge  der  Erweiterung  der  Staatsthätig- 
keit  erheblich  zugenommen,  am  raschesten  Armee  und  Marine, 
woselbst  der  Zuwachs  der  Eingestellten  179153  Mann,  d.  i.  39,65 
Prozent  de>  Standes  \on  1882  beträgt. 

Wesentlich  anders  stellt  sich  die  Berufsgliederung  dar,  wenn 
auch  der  Xebenerwerl)  mit  berücksichtigt  wird.  Davon  soll  später 
noch  ausführlicher  die  Rede  sein.  Ich  möchte  aber  doch  nicht 
weiter  gehen,  ohne  das  Bild  der  Berufsgliederung,  w^elches  unter 
dem  Gesichtspunkte  des  Hauptberufs  etwas  einseitig  erscheint, 
durch  eine  Ueberstcht  ergänzt  zu  haben,  in  welcher  zu  dem  Haupt- 
beruf  auch  alle  Nebenerwerbsfalle  der  einzelnen  Ben]£abtefltti^;en 
hinzu  gezahlt  sind.  Haupt-  und  Nebenerwerb  zusammengenommen, 
entfallen  auf  die  nebenbcseichneten  Berufeabteilungen 

Praaeote  aller  Erwerbsfiülc 


1895 

1883 

A.  Lmdwktsefaaft    .  . 

.  42,86 

51,00 

>  3li94 

C  Handel  und  Verkehr 

.  10,44 

8,29 

D.  HiiiHliclir  Dienste 

1,61 

iji 

F.  » '-»it.'iitlichcr  Dienst . 

.  5.46 

4.67 

>  7.69 

5,62 

Hiemach  stellt  sich  die  Landwirtschaft  erheblich  stärker,  jede 
andere  ßcrufsabteilung,  insbesondere  die  Industrie,  entsprechend 
schwächer  besetzt  dar,  als  nai  !i  dem  Hauptberuf  allein. ')  Der 
Nebenerwerb  ist  das  Band .  welches  zahlreiche  gewerbliche  und 
Handelsberufe  mit  der  Landwirtschaft  noch  immer  verbindet,  von 
der  sie  durch  den  Prozess  der  Berufsbildung  allmälig  sich  abge- 
zweigt haben.  Dieser  Gesichtspunkt  wird  späterhin,  bei  der  Er- 
örterung der  Nebenerwerbsverhältnisse,  noch  weiterhin  zu  ver« 
folgen  sein. 

Bevor  wir  uns  tiefer  in  die  Einzelheiten  der  Berufsgliederung 


•)  Vgl.  die  Uebcrsicbt  .S.  275- 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  aod  Gewerbczählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S93.  285 

einlassen,  ist  die  Frage  zu  beantworten,  wie  die  Gliederung  des 
Deutschen  Volkes  nach  den  bis  jetzt  unterschiedenen  grofsen  Be- 
ruisabteilungen  zur  Beru&gliederung  in  den  schon  früher  zur  Ver- 
gleichung  herangezogenen  Staaten  sich  verhält.  Nachdem  die  ab* 
soluten  Zahlen  über  die  Gewerbthätigen  schon  weiter  oben')  mit- 
geteilt worden  sind,  genügen  hier  die  Gliederungszahlen: 

Von  je  100  Erwerbtbitigen  entfallen  auf 


f  .flIlH»  II 

Mandel 

Armee 

öffentl. 

P'orstw., 

und 

und 

und 

Dienst  u. 

u.  pera. 

Er- 

Fischerei 

Bergbau 

Verkehr^) 

Marine  fr.Berufc 

Dienst 

werb 

Dcutschfs  Reich  . 

•  37,5 

37.4 

10.6 

2.S 

3.6 

6.1 

3,0 

Oesterreich .    .  . 

•    64.3  ^1 

21,9-1 

6,4') 

1.4 

2,5 

3.5 

Ungarn  .... 

.  58.6 

12,6  =  1 

3.3 

1.5") 

2.1 

4  9 

17.0') 

•  56.7 

27,6 

3.9 

1,0 

3>3 

3.9 

3.0 

.  37.4 

40,7 

10,7 

0,1 

3.8 

6,3 

l.l 

Frankreich .   .  . 

.  40.0 

«7.9 

13.4 

3.4*) 

4.7 

9,9 

0,7») 

Belgien»)   .   .  . 

.  23,9 

38,3 

11,6 

1,7 

35.6 

Kiedertende   .  . 

.  3».7 

33.2 

i«,3 

«.3 

5.9 

10,1 

1.5 

DSnenark  .   .  . 

.  «Tri 

»3.9 

8,3 

1.0 

5.3 

35.8 

8.7 

Schweden  .   .  . 

.  54.0 

»5»o 

3.3 

3,6 

13,6 

6,7 

Korwc^cn  •   .  . 

.  49.6 

33.9 

II.7 

O.S 

3,0 

io,s 

1.8 

Grofsbrit.  u.  Irland 

.  15.1 

53.7  •) 

10,0 

1,0 

6,4 

13,8 

V.  St.  Ton  Amerika  38,0 

34.1 

14,6 

0,1 

4.0 

19.3  «•) 

Auch  bei  dieser  Vergleichung  ist  an  den  Einflufe  formaler 
Momente,  insbesondere  hinsichtlich  der  Behandlung  der  Frauen, 
jugendlichen  Familienangehörigen  urtd  Dienenden  zu  erinnern.  Un- 
vermeidliche Abweichungen  in  der  Klassifikation  sind  in  den  An- 
merkungen ersichtlich  gemacht 

Als  Hauptergebnis  erhellt  die  Stellung  des  Deutschen  Reichs 
als  Industriemacht.   Der  Prozentsatz  industrieller  Berufebethatigung 

>)  Vgl.  S.  272. 

*)  Einschliefslich  Gast-  und  Scliankwirtschaft. 

')  Auch  Torfgräberei  und  Gewinming  tor^twirtscbaftlicher  Nebenprodukte. 
*)  Einschlin'slich  I.olinarbcit  wccli^i  lnihr  Art. 
*)  Auch  Kohlenbrennerei  ohne  Gewerbebetrieb. 
*)  Einschliefslich  Gendarmerie. 

^  HanptsSchlich  Tagelöhner  ohne  nShere  Angabe,  unbekannte  Berafe  etc. 
*)  Im  Dienste  von  Rentnern  thitige  Angestellte  und  Arbeiter. 
*)  Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  Berarsftile.  nicht  auf  thJttige  PerMnen. 
Aach  Gast*  und  Scfainkwirtschaft.  WSsdierei,  Barbiere  und  Arbeiter  ohne 
nihere  Angabe. 


Digitized  by  Google 


286 


H.  Rftvehberg, 


im  Deutschen  Reiche  wird  nur  von  Gro&britannien  und  Irland, 
der  Schweiz  und  Belgien  übertroflfen.  Hinsichtlich  der  absoluten 
Zahl  der  gewerblich  Thätigen,  8281220,  überragt  Deutschland  alle 
Staaten  mit  alleiniger  Ausnahme  von  Grofsbritannien  und  Iriand, 
hier  9025902,  auch  die  Vereinigten  Staaten  mit  5478541  Gewerb- 
thätigen.  Hingegen  ist  das  Deutsche  Volk  unter  allen  hier  x'er- 
gfichenen  Grofsstaaten  mit  Ausnahme  von  England  relativ  am 
schwächsten  an  der  Landwirtschaft  beteiligt;  auch  hinsichtlich  der 
absoluten  2^1en  wird  es  übertroffen  von  Oesterreich,  Italien  und 
den  Vereinigten  Staaten.  Nach  der  Besetzung  des  Handels  und 
Verkehrs  nimmt  es  eine  Mittelstellung  ein.  Auf  die  Besetzung  der 
anderen  Beru^btetlungen  haben  Verschiedenheiten  der  Klassi> 
fikation  zu  grolsen  Einfluls,  als  dais  sie  mit  Nutzen  verglichen 
werden  könnten. 

Die  Berufiiabteilungen,  womit  die  Darstellung  bis  jetzt  sich 
befafst  hat,  zeigen  die  Beru&gUederung  nur  in  ihren  ganz  allgemeinen 
Zügen.  Tieferes  Eindringen  bedingt  weitere  Unterscheidung  nach 
den  einzelnen  Berufsarten.  Durch  die  Rücksicht  auf  den  verfug* 
baren  Raum  sind  uns  dabei  ziemlich  enge  Schranken  gezogen. 
Ich  werde  nur  die  wichtigsten  Ergebnisse  herausheben  können,  die> 
jenigen  welche  fiir  allgemeine  Entwicklungstendenzen  charakteristisch 
sind.  Um  aber  doch  einen  besseren  Einblick  in  das  innere  Gefuge 
zumindest  der  Berufeabteilungen  Landwirtschaft,  Industrie,  Handel 
und  Traiisi)ort  zu  ermöglichen,  werden  dieselben  in  der  nach- 
stehenden Tabelle  in  Berufsgruppen  aufjg^elöst,  und  werden  die 
Verhältniszahlen  über  ihre  Gliederung  und  über  die  Verschiebungen 
seit  1882  hinzugefügt.  Die  Basis  für  die  Berechnung  der  GUede- 
rungszahlen  bildet  hierbei  nicht,  wie  bisher,  die  Gesamtbevölkerung, 
sondern  die  Summe  der  Erwerbthätigen,  beziehuf^;sweise  der  Be- 
rufszugehörigen jener  drei  Berufsabteilungen. 

(Siebe  die  nebenstehende  Tabelle  1 

Am  stärksten  hcst  t/.t,  mit  mehr  als  einer  MilUon  Erwerbthätigen, 
sind  —  von  der  Landwirtschaft  al^esehen  —  das  Bekleidungs- 
gewerbe, Baugewerbe  und  Handelsgewerbe.  Ihnen  stehen  zunächst 
die  Textilindustrie,  die  Industrie  der  Xahrungs-  und  Genufsmittel, 
sowie  die  Metallverarbeitung.  Dafs  hierbei  auch  die  Abgrenzung 
der  einzelnen  Gruppen  mitspielt,  ist  selbstverständlich ;  ebenso  wird 
auch  späterhin  bei  der  Darstellung  nach  ßerufsarten  ihre  Bildung 
aus  einer  grölseren  oder  geringeren  Anzahl  von  Beruüsbenennungen 
von  Belang  sein.   Das  ist  bei  der  Beurteilung  ihres  gegenseitigen 


Digitized  by  Google 


Die  Beruf»-  imd  Qe«r«rt)etihlung  im  Dmrtsdcn  Rddi  rom  14.  Jmd  1895.  287 


T 

s 

•e 

1 

1  i 

•f 

# 

i 

« 
c 

9 

■erbt 

1 

S 


O  90 
-  •« 

ei 


0^00 


in 


N 


»3  « 
«f. 


t«.  00 


M  00 


^  m  — 

i-T,  « 

00  CT> 


•*Q0 


C 


00  »*> 


CO  r* 


•*      I*»  W  «I  CK 

r<2  q_\o^     o        o_  p«. 


CO 


v|  «  O 


O  M 


ro  «f  — 

•T  O  10  rr,  p» 

00  vO  f.  tnoc 
ur»^  (*>  ^ 


I 


vo      N  a  o 


r»  m  O' 


8 


O  M  WIto  tN.  tf-OO 
^  »»>  m  N  tri      —  u~i 

—  f*  —  ▼ 


O  O  CT»  — 

«  >3  »  PI  PI 

vO  —  — 

tO  —  N 

I 


P< 
r-. 

2. 


o 


=  i 

s 


PI  r--. 


3-  lAi 


o 


«4  >0  trtcc  ^  C4  00  9>  C)  M 


8 


00"     '#«f^  tfrf 


o  moe  <o  00  u"i  ono 
m  M^e  9k  t^>e  o  «t 


r~  t«.NO  00  PO 


o 

J3 


00 


^T^S^  p«      0  fo  PO 

O  »f-  '•l  C>  Q   O  P«  O 

"■.  ")  ""»\£ 

i9  «S'PkS'  H  ^Fk^^^li^ 


o 

PO 


oc  C 

T  PI  O 


O  »n 


M  M  fl  M 


Q        \e  9«     M  ^ 


Cl 


«  w  ««  « 


~  Ol 

r  3  ■ 


so 

00 


00 


N  PI 

—  r>. 

cT 


rO  M 


i  00 


PI  v/^O 

o  p« 


O  \0 
PO 

O 


tl  6 


p«_         ''i  H  'l.  ^ 

o*  »n  o  d      00  »A  o 


'O  C  P»        N        0  C  'O 

o  >Ä  d  d  *ö      t4  d 


d  »A  o  ei"  - 


'2       t  * 

©■»d  d  •öti 


tr,  r-» 

O  <o 
PO 


ro  ^  u-i 
rO 

»-«.  PO  O 

—  M 

>o  o  <o 


PI  '< 

P4  C 

'S»® 
CO 


I  f,  sc    0^  f^*  >»•  t>» 

r  c  c  ir.  —  o  p«  PO  ^ 
~  —  X      o      —  o  e» 

N  i/-,  ir>cc  1^00  PO  PO 


00 
M 


•»r     O  'o 

rOOO  fO  o 
0\  ««  p<l  rOvO 

9\  vr^  LT)  N 
«  Q  «  -  3: 


8 
8 

8" 

p« 

O» 
CO 


d 

u 

9 


s 


Ii 

1  ^ 


•  § 

•  '5 


3. 


1 

I 


1 

'1 


JA 


2  ac^  ä 


^-1 


Mal 


rt  y  S  B 


ü  3 

s/j   S  k. 


Digitized  by  Google 


388 


H.  Rancliberg, 


Gröfsenverhältnisses  zu  berücksichtigten.  Für  die  \''erschiebungen  seit 
1882  kommt  es  nicht  in  Betracht,  weil  die  Subsumtion  beidemal 
nach  den  L^lciclicn  Grundsätzen  geschehen  ist.  Durch  die  rascheste 
Zunahme,  Heimlich  mehr  als  Vcrdoppcluii;^,  zeichnet  sich  das  Vcr- 
sichcrungsr:^e\verbc  aus.  Es  folgen  der  Reihe  nach :  die  chemische 
Industrie.  Beherbergung  und  Hr(]uickung,  das  polygraphische  Gewerbe, 
die  Metallverarbeitung,  die  hidustrie  der  Steine  und  Krden.  Hier 
übersteigt  die  Zunahme  der  Iirwerbthätigen  seit  1882  50  Prozent, 
(ianz  nahe  tlaran  reicht  die  Papierindustrie  heran.  Der  grofse  Aus- 
tall  in  der  (nuppe  W'III  ..Geuerbtreibende  ohne  nähere  Angabe" 
erklärt  sich  aus  der  gröfscren  Genauigkeit  der  Eriicbung  von  1895. 
Um  die  DitTerenz  gegen  1882  erscheinen  die  anderen  Gewerbe 
aus  dieser  rein  formalen  Ursache  nunmehr  höher  besetzt.  Ucbcr 
den  Stillstand  bezw.  Rückgang  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung 
ist  schon  früher  gesprochen  worden.  Durch  eine  hinter  dem  Durch- 
schnitt zurückbleibende  Zunahme  fallen  aufserdem  auf  die  Textil- 
industrie, das  Bekleidungs-  und  Reinigungsgewerbe,  die  Forstwirt- 
schaft und  Fischerei. 

Um  auch  über  die  Besetzung  der  einzelnen  Beruüsarten  einige 
Mitteilungen  zu  machen,  werden  nachstehend,  nach  der  Höhe  ihrer 
Besetzung  angereiht,  diejenigen  angeführt,  welche  1895  mehr  als 
eine  halbe  Million  Berufeangehörige,  also  Erwerbthätige,  Angehörige 
und  Dienende  zusammengenonunen,  umfafsten.  Den  absoluten 
Zahlen  über  die  Besetzung  fuge  ich  den  Prozentantdl  an  der  Ge- 
samtbevölkerung  und  (in  Klammem)  die  prozentuale  Zu-  oder  Ab- 
nahme seit  1882  hinzu:  Landwirtschaft  17 81 5 187,  34,41  Prozent 
(—  4,8);  Rentner  und  Pensionäre  2389525,4,61  Prozent  (+50,0); 
W  aren-  und  Produktenhandel  2  364  51 1,  4,57  Prozent  {-|-  30^9); 
Maurer  1 321 188,  2,55  Prozent  -j-  18,4);  Stein-  und  Braunkohlen-  etc. 
Gewinnung  1078094,  2,08  I'rozent  (+  50,2);  Bauuntemehmung 
1 076441,  2,08  Prozent  (  -h69,8);  Schuhmacher  I  063  721,  2,05  Pro- 
zent f —  2,9);  Eisenbahnbetrieb  969060,  1,87  Prozent  (4  4'  ^'  ; 
Beherbergung  und  Krquickung  954  S; 7,  1,84  Prozent  (-f-26,2);  i  ischlcr 
933  5^5 .  ^'^^  Pro/ent  (-j-  28.4  ;  Schneider  und  Schneiderinnen 
917708,  1.17  l'ro/.ent  i-f-  2I,Oi;  Staats-  und  Gemeindedienst  9OO433, 
174  Prozent  !-\-  2jg};  Weberei  894016,  1,73  Prozent  ( —  ^.g'; 
Armee  und  Kriegsflotte  736692,  I.42  Prozent  (4-35.9,'^  Schlosserei, 
( ieldschrankfabriken  672322,  1,30  Prozent  (-|-  133.O  ;  Erziehung 
und  Unterricht  628943,  1,21  Prozent  f-f  19.91:  Zimmerer  583  117, 
1,12  Prozent  (-|-  4,4);  Grob-, Huf- jSchmiede   529743,    1,02  l'ro- 


Digitized  by  Google 


Die  Benift-  und  Gew«rbeilUiliiiig  im  DenUcben  Reidt  vom  14.  Joni  1895.  289 


zent  (-|-  23,0);  Lohnarbeit  wechselnder  Art  504406,  0,97  Prozent 


Alle  diese  Berufe  mit  Ausnahme  des  letzterwähnten  umfassen 
also  mehr  als  1  Prozent  der  Bevölkerung. 

Besonderes  Interesse  rufen  diejenigen  Berufe  hervor,  welche 
durch  ihre  rasche  Zunahme  hcr\  orragen,  dann  jene,  die  im  G^en- 
satz  zur  allgemeinen  Entwicklungstendenz  zurückgegangen  sind« 
Es  ist  jedoch  schwer,  ein  allgemeines  Prinzip  aufzustellen,  aus  welchem 
diese  Bewegung  zu  erklären  wäre.  Nahe  liegt  es.  sie  mit  der 
verschiedenen  Expansion-^fähigkeit  unserer  Bcflürfnissc  und  der 
wachsenden  Intensität  ihrer  Hefric(hgung  in  X'erhiiuhing  /.u  bringen. 
Dadurrh  wird  gewil's  che  Entfahung  der  I'r(xUikli<ni  sell)Sl  in  ent- 
scheidender Weise  beeinflufst.  Aber  die  Zahl  der  Krwerbthätigen 
und  vollends  der  Berufszugeiiörigen  nnils  nicht  notwendigerweise 
in  <ierselben  Kiehtung  und  im  gleichen  Mafse  sich  \erändern,  wegen 
der  durch  den  technischen  Fortschritt  bewirkten  Erhöhung  der 
lVodukti\  ität  ihrer  Leistungen.  Auch  wird  der  Zusammenhang 
zwischen  Volksl)e(iürfnis,  X'olksproduktioii  und  Berufsgliederung  ge- 
stört durch  den  Aursenhaiulel.  welcher  die  Produktion  der  Export- 
industrien,  die  den  inländischen  Absatz  uberragt,  zur  Deckung  des 
Bedarfs  an  Waren  verwendet,  die  im  Inlande  nicht  oder  nicht  in 
genügendem  Mafse  hergestellt  werden.    Doch  sehen  wir  die  ZifTera 


Die  folgenden  25  Bent&arten  haben  seit  1882  ihre  Angehörigen 
um  mehr  als  75  Prozent  vermehrt  Ich  iuhre  sie  in  der  Reihen* 
folge  des  systematischen  Verzeichnisses  und  mit  den  Nummern 
derselben  versehen  an: 


(-  18,6). 


selbst  I 


Aniahl  der  Zunahme  der 

BenifsxDgehörigen  Bcnifxngeböricen 


Bcraftartrn 


1895 


absolut     in  Proz. 


A  2  Kunst  und  HandelsgirUicrei    .   .   .  . 

B  8  Frinc  Stt'inwarrn  

B  <>  Ki»•^-,  Sand-,  Kalkj^rwinming  etc.     .  . 

B  18  Sicgclgl.i>-  und  SpicKcHabrikcn    .    .  . 

B  26  Sonstige  Verarbeitung  unedler  Metalle  . 

B    30  EiMügiefiem  

B   38  Schlonerei  

B  55  Verf.  pbjrsUuü.  v.  chinirgiscber  Apparate 

B    56  Laupcnfitbrikcn  

B    58  Chenüsdie  Priparate  


248227  "4  537  85.67 

22727  10005  78,64 

137  iSi  71  452  loS,7i 

18065  IÜ069  1-5,93 

146296  72349  97i84 

210920  IM  496  113,I4 

672322  3S3765  »3«.99 

93313  53428  128,23 

11823  5971  I02P3 

112  717  54359  93iiS 


Digilized  by  Google 


390 


H.  Rftuchberg, 


Anzahl  der 

Zunah 

me  d«*r 

Berufszugebörigen 

Beruf szxigehorigen 

Berufsarten 

189s 

Mit 

1882 

«beohit 

inFroK. 

55«« 

24955 

82,46 

45990 

«3883 

"1.57 

3*346 

16841 

108,62 

B    69  Zubereitung  von  SpimutoflTen  .... 

33  199 

15418 

86,71 

33856 

15498 

89,28 

B  109  Rübenzuckerfabriken  

96822 

42  586 

78,52 

B  1 10  Andere  vepetahilischc  Nahrungsmittel  . 

47916 

21  264 

79.7S 

B  Ii2  Andere  animalische  Nahrungsriiitt-'l  . 

41  711 

22  1 79 

"3-55 

B  113  Wasserw  erke,  Mincralwasscrfabriken  .  . 

2S433 

13788 

94.15 

16444 

10679 

185,24 

B  148  Gas-  und  WasseriastallatMire  .... 

«4587 

17196 

232,66 

71252 

43371 

155.56 

69664 

35546 

104,19 

F     3  Schiller  etc.,  ntcbt  bei  den  Angehörigen 

414959 

269483 

1S5.H 

F     6  InwKffn  von  Siechen*'  und  Inenuiitaken 

81 750 

38037 

87,0« 

Die  Vermehrung  in  der  Berufsart  F  3  ist,  wie  bereits  früher 
einmal  angedeutet,  zum  Teil  darauf  zurückzufuhren,  da(s  die  Zieh- 
und  Haltekinder  jetzt  hier  mitgezählt  sind;  zweifellos  hat  aber  auch 
thatsächlich  infolge  der  Fortschritte  sowohl  des  BUdungswesens 
als  auch  der  Verkehrsanstalten  die  Zahl  der  Schüler  aulserhalb  des 
Elternhauses  stark  zugenommen.  Im  übrigen  aber  haben  wir  hier 
gewife  verlälsliche  Anhaltspunkte  dafiir,  nach  welcher  Richtung  hin 
die  volkswirtschaftliche  Thäti|^eit  des  deutschen  Volkes  in  raschester 
Entdaltung  begriffen  ist.  Und  es  ist  kein  Zufall,  wenn  Berufsarten 
der  Metallverarbeitung  und  der  chemischen  Industrie  hierbei  oben- 
an stehen, denn  sie  sind  es,  die  den  anderen  Berufszweigen  jene 
machtigen  Produkttonsbehelfe  liefern,  die  ihre  Leistungsfälligkeit  so 
gewaltig  erhöht  haben.  Die  hier  hervorgehobene  Aenderung  in 
der  Berufegliederung  stellt  sich,  unter  dem  Gesichtspunkte  der  ge- 
sellschaftlichen Arbeitsteilung  betrachtet,  als  Arbeitsverschiebung 
im  Sinne  Carl  Büchers  dar.*)  Verhaltnismaisig  weniger  Hände 
sind  nunmehr  damit  beschäftigt,  zum  Genufs  unmittelbar  bereite 
Güter  zu  produzieren,  aber  mehr  Hände,  um  die  Hil&mittel  jener 
Produktion  herzustellen.   Eine  neue  Arbeitsorganisation  der  \'olks- 

*)  Vgl.  auch  die  Darstellung  nach  Berufsgruppen  S.  2S7.    Zunabme  bei  der 
Metallverarbeitung  <j3,04  Pro/.,  in  der  themischcn  Industrie  78,73  Proz. 
Entstehung  der  Volkswirtschaft.  2.  AuH.  S.  289. 


Digitized  by  Google 


Die  Benils-  nnd  GewerbetSblu^g  im  DcttUchea  Reich  vom  14.  Jidü  1895.  291 

wiitschaltHchen  Produktion  ist  geschafTen,  die  einen  gröfiseren 
Teil  der  gesamten  Arbeitsleistung  in  frühere  Arbeitsstadien  verlegt, 
indem  sie  ihn  der  Herstellui^  von  Produktionsmitteln  zuwendet 
Die  in  diesen  letzteren  angehäufte,  gleichsam  vorgethane  Arbeit 
steigert  die 'Produktivität  der  auf  die  Herstellung  von  Gebrauchs- 
gütem  verwendeten  Arbeit  so  sehr,  da(s  die  Produktivität  des 
gesamten  P^uktionsprozesses  nunmehr  eine  höhere  ist.  Die 
Theorie  Böhm-Bawerks  von  der  gröfseren  Ergiebigkeit  der 
Jangeren  Produktionsumwege",')  die  er  erst  neulich  in  einer  glän- 
zenden Abhandlung  verteidigt  hat,  *)  findet  in  den  von  mir  hervor- 
gehobenen Verschiebungen  der  Berufegliederung  eine  eklatante 
empirische  Bestätigung.  Denn  was  hätte  jene  Verschiebungen 
hervorgerufen,  wenn  nicht  ihre  technische  Zweckmäßigkeit,  die  da- 
durch bewirkte  Steigerung  der  Produktivität  der  Arbeit? 

Von  den  205  Beruisarten,  welche  die  deutsche  Benifsstatistik 
unterscheidet,  haben  182  ihre  Berufszugehdrigen  vermehrt,  und  nur 
25  sind  darin  zurückgegangen.   Es  sind  dies  die  folgenden: 


Aaahl  der 

Abnahme  seit 

Berafsarten 

Bemfta^hörigen 

1882 

1895 

absolut 

in  Pros. 

A 

17815187 

888851 

4.75 

A 

33690 

836 

2,4a 

B 

17710 

3987 

18,38 

B 

84  654 

1 5  306 

15.3» 

B 

36  Stifte-,  Ketten-,  Schraul>«-nfiil>rik.uiuu  . 

50  303 

6301 

",13 

B 

4821 

1  202 

20,75 

B 

64  Köhlerei,  HolzteerfftbrilMtioii  etc. .  . 

4325 

1 624 

27.30 

B 

1039388 . 

64779 

5.«7 

B 

61  164 

3657 

5.64 

B 

437«« 

6097 

12,22 

B 

153632 

7.7a 

B 

98  sonstige  Flechtcrei  von  Stroh  etc.  .  . 

24647 

8004 

34>Si 

B 

277827 

53  307 

16,10 

B 

116  Ifranntwfinbrennerei  

6:483 

I  102 

1.79 

B 

^  5  •  <>c6 

28  661 

7.47 

B 

1003721 

33025 

3,02 

Kapital-  und  Kapitalzins  II.  Bd.  S.  16  fl*.  Böhm-Bawerki  „längere  Pro- 
daktioofamwege'*  und  Bliche rs  „Arbeitsverschiebung"  bezeichnen  dieselbe Thatsache. 
Die  dtierten  Werke  enthalten  keine  Andentnng  dieser  Uebereinrtimmnng. 

*)  Einige  strittige  Fragen  der  Kapitalstheorie.  Zeitschriit  f.  Volkswirtschaft. 
Sosialpolitik  nnd  Verwaltnng.   VIII.  Bd.  S.  105  AT. 

Archiv  fiir  tot.  GcMUgcbuiif  11.  Sutiitik.  XIV.  19 


Digitized  by  Google 


2^2 


H.  Kauchberg, 


Anaahl  der 

Aboaliii 

ae  Kit 

Beroftarten 

Beruftsugehörigen 

1882 

1895 

aijsoiui 

in  Proi, 

B 

1^)1  F.ihrik.int<*n  <-tc.  ohne  nähere  Angab« 

76748 

•5°  43/ 

67.37 

C 

93437 

45966 

3 '49 

C 

16  Rhederei  umJ  SchifisbctrachtuHg     .  . 

10015 

7503 

42.»:) 

C 

17  See-  und  Küstenschiffahrt  .... 

5054« 

16697 

24.83 

c 

50080 

9398 

15.80 

D 

3  Arbeiten  wediselnder  Art  .... 

504406 

115116 

18.58 

F 

2  Von  Unterstatning  Lebende  .... 

148535 

1058s 

4.08 

F 

7  Imawin  Ton  Stnfiuistalten  .... 

61156 

7913 

11.44 

F 

38596 

17  481 

31.17 

Verschiedene  Ursachen  spielen  dabei  mit  Die  grossere  Genauig* 
keit  der  Berufserhebung  hat  die  Positionen  B 161  „Fabrikanten,  Fabrik- 
arbeiter  etc.  ohne  nähere  Angabe"  D  2  „Arbeiten  wechselnder  Art^, 
sowie  F  8  „ohne  Berufeangabe"  stark  herabgemindert«  vieUeicht  auch 
C20  „Dienstmänner»  Boten".  Näherinnen,  B 120,  wurden  jetzt  auf  Grund 
genauerer  Berufeangabe  in  höherem  MaCse  mit  zur  Schneiderei,  Kleider- 
undWäschekonfektion  gezählt.  Nimmt  man  diese  3  Berulsarten  zu- 
sammen,  so  ergiebt  sich  kein  Riid^ang,  sondern  ein  Zuwachs  von  13,9 
Prozent,  beim  weiblichen  Geschlecht  von  14,9  Prozent.  Die  Schif- 
ahrt, C 17,  erscheint  wohl  nur  deswegen  schwächer  besetzt,  weil  die 
auf  hoher  See  befindlichen  Schiffer  1895,  dem  Prinzip  der  Ortsanwesen- 
heit zufolge,  konsequenter  ausgeschieden  worden  sind  als  1882.  Der 
Hausierhandel  ist  durch  Verwaltungsmafsregeln  zurüd^^edrängt  worden. 
An  Stelle  von  Almosenempfangem  erscheinen  nunmehr  Rentner 
derlnvaliditäts-  und  Altersversicherung.  Der  RUckgaog  der  Landwirt- 
schaft ist  bereits  erörtert  Er  fallt  übrigens  zum  Teil  mit  unter 
den  Gesichtspunkt  der  Arbeitsverschiebung,  insofern  er  nämlich 
durch  arbeitsersparende  Maschinen  und  Verrichtungen  bei  gleich- 
zeitiger Steigerung  der  Ernteerträge  ermöglicht  worden  ist.  Ganz 
fiadlen  darunter  die  Berufsarten,  deren  handwerksmälsige  Organisation 
durch  das  Aufkommen  von  Grofs-  und  Maschinenbetrieben  bedroht  oder 
beeinträchtigt  wird  Nicht  nur  die  hier  angeführten  rückläufigen  Berufe- 
arten,  sondern  auch  eine  Reihe  von  anderen  gehören  hierher,  bei 
welchen  die  Zunahme  der  Berufethätigen  und  Angehörigen  hinter 
jener  der  Gesamtbevölkerung  mehr  oder  weniger  zurückgeblieben 
ist.  Doch  sind  die  Materialien  der  Berufisstatistik  weder  geeignet 
noch  auch  dazu  bestimmt,  diese  Frage  gründlich  zu  beleuchten. 
Dafür  haben  wir  die  Gewerbestatistik.  Denn  die  Umformung  der 
Betriebe  und  ihrer  Technik  vermindert  nicht  notwendigerweise  die 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs«  and  Gcwerbexähltmg  im  Dentachen  Reich  Tom  14.  Juni  1895.  293 

Zahl  der  Kruerbthätigen.  Die  dadurch  ^estei}:jerte  Leistuii^- 
fahigkeit  kann  mit  dem  Absatz  auch  das  Personal  über  den 
früheren  Stand  hinaus  erhöhen.  Riols  wenn  diese  Kompensation 
nicht  möglich,  oder,  weil  der  l'mbiUluiii^sprozers  erst  im  Zuge,  noch 
nicht  eingetreten  ist,  kommt  es  zum  Rückgange. ')  Aber  liarüber 
soll  uns,  wie  bereits  bemerkt,  späterhin  die  gewerbliche  Betriebs- 
statistik belehren. 

Die  Klassifizierung  der  Berufe  nach  den  einzelnen  Zweigen  der 
volkswirtschaftlichen  Produktion  und  Distribution  bringt  es  mit 
sich,  dafs  gewisse  individuelle  Berufsspezialitäten,  welche  in  den 
verschiedensten  Branchen  vorkommen,  wie  Ingenieure,  Chemiker, 
Buchhalter,  Geschäftsreisende,  Maschinisten,  Kutscher  u.  s.  w.  als  solche 
verschwinden,  indem  die  Personen,  welche  derartige  Einträge 
machten,  jenen  Grewerbc-  oder  Handelszweigen  zugerechnet  wurden, 
in  denen  sie  sich  bethätigen.  Da  aber  daneben  doch  auch  ein  ge- 
wisses' Interesse  daran  besteht,  die  Besetzung  dieser  Berufe- 
Spezialitäten  kennen  zu  lernen,  so  wurden  die  einschlägigen  Angaben 
besonders  ausgezählt   Das  Ergebnis  war  das  folgende: 


Berufe  im 

ganzen 

L^enieore,  Techniker  .    .    .  35650 

Cbemilwr   3  003 

Boclnlter  etc..  Kainerer  .  .  71 14a 

Gcsch&ft>-  iLHandlmganisende  33  357 

Schreiber  etc.,  Kopisten    .   .  41  501 

Maschinisten,  Heizer     ...  41  623 

Fährleute,  Kutscher  ....  105  836 


davon  beschäftigt  in 


Landwirt- 

In- 

Handel u. 

lrci<n 

schaft 

dustrie 

Verkehr 

Berufen 

36 

25  439 

15a 

23 

6 

2974 

16 

7 

1277 

30313 

37909 

1643 

5 

7613 

3567a 

68 

386 

14704 

4017 

33494 

380 

33660 

6  888 

69s 

3306 

39303 

69875 

«353 

Es  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dals  diese  Zift'ern  hinter 
der  Wirklichkeit  mehr  oder  weniger  zurückbleiben.  Zunäclist  sind 
die  bei  Staats-  und  ( lemeindebehördcn  und  in  deren  Betrieben  be- 
schäftigten Personen  prinzipiell  nicht  einlx'zogcn  worden.  Dann 
wurden  nur  jene  Personen  liierher  gerechnet,  welche  sieh  in  den 
Zählpapieren  ausdrücklich  eine  der  oben  aiiL^fcführten  Hcrufs- 
spezialitäten,  und  zwar  mit  einem  der  angegebenen  Ausdrücke,  bei- 
gelegft  hatten.   Dazu  fühlten  sich  aber  durchaus  niciit  alle  hierher 

Untersuchungen  aber  dii  Lage  des  Handwerks  in  Deatacfaland.  P a ul  V  o  i  g  t , 
Das  deutsche  fbodw^k  nach  den  Bentfserhebangen  von  1883  und  1895.  Schriften 
des  Vemias  f.  Sonalpolitik  LXX.  &  631  ff. 

19» 


Digitized  by  Google 


294 


H.  Rftmchberg, 


gehörigen  Personen  veranlalst  Ein  Fabriksingenieur  kann  ach 
ebenso  gut  als  Abteilungsvorstand,  technischer  Leiter  etc^  ein 
Buchhalter  als  Kontorist  etc.  bezeichnen.  Ebenso  wie  die  Wahl 
der  Ausdrucke  mufe  demnach  auch  das  Ergebnis  der  Zusanunen- 
Stellung  ab  ein  mehr  oder  weniger  züfiilliges  bezeichnet  werden. 
Ihr  statistischer  Wert  ist  ein  geringer,  i  Kr  besteht  darin,  da&  iiir 
jenen  Ausschnitt  aus  den  genannten  Berufen,  der  auf  solche  Weise 
erfiEi(st  werden  konnte,  auch  die  Alters-  und  Familienstandsgliederung 
sich  ergab,  deren  innere  Struktur  vielleicht  iiir  die  Gesamtheit  der 
Personen  in  gleicher  Lage  zutrifft. 

Anders  verhält  es  sich  mit  zwei  anderen  Beni^pezialitaten, 
die  gleichfalls  verschiedene  Gewerbe-  und  Handelszweige  durch- 
setzen, mit  den  Hausindustriellen  und  Hausierern.  Diese  sind  durch 
eigene  Zusatzfiragen  ermittelt  worden.  Da  jedoch  jene  Besonder^ 
heiten  der  Betriebsweise  zugleich  von  Belang  fiir  di6  soziale 
Klassenzugehörigkeit  sind,  sollen  die  einschlägigen  Ergebnisse  erst 
Spaterhin  im  Zusammenhang  mit  der  sozialen  Schichtung  erörtert 
werden. 

IV.  Die  geographii^clie  (ie staltung  der  Berufs- 
gliederung. 

Das  Deutsche  Reich  schliefst  die  verschiedenartigsten  Gebiete  zu 
einem  einheitlichen  Ganzen  zusammen.  Das  gilt  auch  von  seiner  Be> 
rufegliederung.  Sie  ist  in  den  einzelnen  Gebietsabschnitten  überaus 
mannigfach  gestaltet.  Diese  zunächst  rein  geographische  Thatsache 
ist  wirtschafUich  und  sozialpolitisch  so  wichtig,  dafs  sie  eines  der 
konstitutiven  Elemente  unseres  Volkslebens  bildet  und  vom  Volks- 
bewufstsein  als  solche  auch  empfunden  wird.  So  drücken  Ost-  und 
Westelbien,  eigentlich  geographische  Begriffe,  zugleich  Wirtschaft- 
Uche  und  soziale  Gegensätze  aus.  Eine  eindringendere  Untersuchung 
über  die  örtliche  Verteilung  der  einzelnen  Berufe  und  über  das 
berufliche  Gepräge  der  einzelnen  Gebietsabschnitte  würde  daher 
sehr  wohl  in  den  Rahmen  meiner  Aufgabe  fallen.  Allein  sie  ist 
oline  den  gro(sen  Apparat  tabellarischer  und  kartographischer 
Behelfe,  wie  sie  dem  Quellenwerk  zur  Verfügung  stehen,  kaum 
durchführbar.  Ich  beschränke  mich  daher  in  dieser  Hinsicht 
darauf,  die  nachstehende  Tabelle,  welche  eine  gute  allgemeine 
Orientierung  ermöglicht,  mit  einigen  Erweiterungen  aus  dem 
Zählungswerke  zu  übernehmen,  um  daraus  einige  Bemerkungen  all- 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs*  und  Gewerbezäh  lang  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95.  295 

• 

gemeiner  Natur  abzuleiten.  In  ihren  ersten  3  Spalten  weist  diese 
Tabelle  (ur  die  einzelnen  Staaten  und  Landesteile  den  Anteil  jeder 
der  3  grolSien  Benifsabteilungen  Landwirtschaft,  Industrie,  Handel 
und  Verkehr  an  der  Gesamtbevölkerung  im  Jahre  1895 
Sodann  wird  das  Verhältnis  der  landwirtschaftlichen  zur  gewerb- 
lichen und  handeltreibenden  Bevölkerung  för  die  Jahre  1895  und 
1882  berechnet.  In  den  letzten  3  Spalten  sind  die  Gebiets* 
abschnitte  mit  Ordnungsnummern  versehen:  1.  nach  der  Verteilui^ 
der  gewerblichen  und  Handelsbevölkerung,  2.  nach  der  Volks« 
dichtigkeit  und  3.  nach  dem  Anteil  der  städtischen  Bevölkerung, 
um  dadurd)  einen  Einblick  in  den  inneren  Zusammenhalt  dieser 
3  Reihen  von  statistischen  Thatsachen  zu  erzielen. 

(Siehe  die  umstehende  Tabelle.) 

Nur  6  von  den  hier  unterschiedenen  39  Gebietsabschnitten 
sind  es  noch,  in  denen  die  gröfsere  Hälfte  der  Bevölkerung  von 
der  Landwirtschaft  lebt:  } lohen/.nllern,  Posen,  Ostpreufsen, 
W'estpreufsen,  Waldeck  und  Poniniern.  Die  absolute  Majorität  der 
Be\  <  >lkei  uuL,'  i^^ehört  der  Industrie  an  in:  F^eufs  ä.  I..,  Reufs  j.  L., 
Königreich  Sachsen,  Berlin,  Westfalen,  Rheinland  und  Sachsen- 
Altcnburg.  Handel  und  X'^erkehr  vermögen  selbstverständlich 
nirgends  so  beträchtliche  Teile  der  Bevölkerung  für  sich  in  Anspruch 
zu  nehmen;  sie  sind  am  stärksten  vertreten  in  den  3  Hansestaaten, 
in  Berlin  und  in  Schleswig-Holstein,  das  vermöge  seiner  Küstenlage 
für  den  Seeverkehr  ganz  besonders  begünstigt  erscheint.  Hinsicht- 
lich des  weiteren  X'erlauts  der  Reihen  darf  ich  auf  die  nachstehende 
Tabelle  selbst  verweisen.  Sie  zeigt  ferner,  dafs,  wie  im  Reichs- 
durchschnitte, auch  in  allen  einzelnen  hier  unterschiedenen  Staaten 
und  Landesteilen  seit  1882  die  Vertretung  der  Landwirtschaft  ge- 
sunken,  jene  von  Industrie,  Handel  und  Verkehr  gestiegen  ist, 
mit  alleiniger  Ausnahme  der  Industrie  in  dem  kleinen  Hohenzollem. 

Die  letzten  drei  Spalten  unserer  Tabelle  deuten  auf  den  Zu- 
sammenhang hin  zwischen  der  Berufsgliederung  einerseits  und  der 
Volksdichtigkeit,  sowie  dem  Anhäufungsverhaltnis  der  Bevölkerung 
in  städtischen  Wohnplätzen  (Agglomeration)  andrerseits.  Dals 
Industrie  und  Handel  die  dichtere  Bevölkerung  hervorrufen  und 
dieselbe  in  städtischen  Siedelungen  zusammen&ssen,  gehört  zu  den 
elementaren  Thatsachen  der  Wirtschaftsgeschichte  und  -Geographie. 
Wir  finden  sie  sowohl  auf  den  obersten  als  auch  auf  den  untersten 
Stufen  unserer  Reihen  bestätigt  Höchster  Dichtigkeit  und  Agglo- 
meration der  Bevölkerung  in  Berlin,  den  3  Hansestaaten,  dem 


Digitized  by  Google 


296 


H.  Ravchberg, 


Von  je  tooo  Ein- 

Von 1000  zu  den  Berufs- 

Nummer in 
der  Reihen- 
folge  nach 

wohnern  llberfc. 

abteilungen  A,  B  n.  C 

entfallen  auf  die 

gehörenden  Personen 

Staaten 

BerufsabteUung 

kommen  auf 

und 

C 

1 

A      J   B  n.  C 

■z  i 

—  V 
r 

Wirt- 

Indu. 
ttric 

lian* 
dcl  U. 

Landwirt»  |l  Industrie 

et  2  0 

schaft 

1 

1 

V«r> 
kebr 

•cbaft 

jj  Handclctc. 

%  *  > 

im  Jahre  1895 

189s  1  iSBa  H  1895  1  1W3 

in  Jahre  1 

k- 

Prov.  Ostpretilscil 

59«t» 

186,0 

69.8 

698,0 

1 

737,1  302,0  262.9 

38 

37 

Wf  tpfeuften  .  . 

560,0 

216,4 

76,3 

656,7  691,8  343.3  308.2 

36 

33 

33 

Sudt  Berlin  .... 

5.5 

435.4  255,5 

6.9 

9,7,  993,1  990,3 

1 

1 

Fror.  Brandenbiirg  .  . 

377,8|  114,3 

411,9  512,1  588,1  487,9 

21  *  28 

12 

PomincfB    •  • 

502.2 

100.') 

585,8 

629,8  414,2  370.2 

35 

37 

28 

„    Posen  .... 

593,8  206,8, 

73.8 

679.11 

728.1  320,9  271.9 

37 

31 

35 

.„    Schienen    .   .  . 

373.S 

400,0 

93,9 

430,8 

506,9  569,2  403.1 

23 

19 

22 

„     Sachsrn  ... 

43 '-3 

117,3 

368.0' 

425,2  632,0  574.8 

17 

20 

13 

»  Schlesw.-ilolstein. 

364,5 

.■)•  .iij 

141,2 

439,7 

513.2  560,3  48Ü.8 

25 

29 

14 

tt  Hannover 

438,8 

334,5 

113,8 

488,9 

560,0  5 ii.i  440.0 

20 

30 

29 

„    Weitfiden  .   .  . 

261,8 

533.6 

99,4 

292,6 

■386,7  '707,4  613,3 

9 

1 1 

7 

„    HcsteD*Namu .  . 

342,4 

377,0 

133-3 

401.5 

463,2  598,5  536,8 

18 

18 

18 

RhenUml 

244,2 

514.7 

124,7 

276,4 

348,0  723,6  652.0 

8 

1 

^ 

HohenzoUera  .... 

647,3 

201,5 

56,5; 

7K,o 

675.1  285,0  324,9 

39 

32 

39 

458,1 

j  310.4 

97.7 

528.9 

581,7  471,1,418.3 

31 

27 

31 

150,6 

580,4 

140,0 

172.9 

226,5  827,1  773.5 

6 

S 

8 

Wttrttenbcig  .... 

4^o.^ 

349.5 

70,6 

512.3 

535,7  487.7  464,3 

29 

21 

35 

424,1 

347,9 

99,5 

486,6 

547,5  513,4  452,5 

27 

15 

17 

360,3  382,0 

119,6 

418,1 

468,4  581,9  531,6 

22 

10 

16 

M«*rkl(  nbiirg-Schwerin  . 

487,4 

257,4 

96,5 

579,3 

621,8  420,7  378,2 

33 

38 

23 

Sachsen- Weimar  .    .  . 

379.61 389,1 

95.2 

439,4 
563.0 

493,5  560,6  506,5 

24 

25 

26 

Mecklenborg -Strelits .  . 

480,1-274.3 

98.4 

603,6  437,0  396.4 

32 

39 

»7 

463,1 

321,8 

108,0 

518.7 

579.0  48 1.3  421.0 

30 

34 

6 

Braoniicbweig  .... 

287,8, 453.7 
314,41496,1 

120,8 

333.8 

393,5  066.2  606,5 

12 

14 

»5 

Sachsen-Mefaiin^en    .  . 

86.3 

350.5 

399.9  649,5  600.1 

14 

24 

30 

Sachscn-Altenburfj 

273,9 

512,1 

101,5 

308,6 

304. (>  601,4  605.4 

1 1 

9 

20 

SachscD-Koburg-Gotha  . 

303.6,475.» 

100,7 

345,2 

394,9  654,8  005,1 

13 

17 

2t 

261,1 

1  472,2  127,7 

303  3 

377.9  696,7  622,1 

to 

12 

9 

1 1  n  ii  1  /iL/UI  l;'*r'WUUv  I  Till  •  . 

35«, 7 

42Q,Q 

01,0 

403, 1 

462.6  506.0  537.4 

19 

26 

24 

Schwarzburg  •  Rudolstadt 

323,4  498,9 

81,3 

35i>-o 

1  406,0  642,0  504.0 

15 

23 

32 

510,3 

290,4 

79.8 

579,3 

608,0  420,7  392.0 

34 

35 

38 

Rcufs  .Hltcrrr  Linie   .  . 

'53-3 

677,0 

97.0 

165,3 

1236,3  834.7  763.7 

5 

6 

10 

Kculs  jüngerer  Linie 

200,2 

.590.7 

i  109,1 

224,4: 300,9  777,6  699,1 
366,8:427,9  633,2  57«,  I 

7 

8 

11 

Sdianmbarg'Lippe   .  . 

315,7  461.3 

83.7 

16 

13 

36 

371,1 

467.5 

69,5 

408.7  468.3  501.3  531.7 

20 

22 

34 

Lübeck  

1*3.4  396,2 

,  253,8 

143,01  189,4  ü57,o  810,6 

4 

4 

1  4 

60,81 467,9 

304.4 

72.9 

1  89,4.927,1  910,6 

3 

3 

3 

36,5  399,8 

377,8 

44,9 

50.5  055.1  040. s; 

2 

2 

Elsal>-Lothnii{,'fii  .    .  . 

379,6.  373,1 

,  96,4 

447-0|  477,7,  553,o  522,3 

16 

«9 

Deutsches  Reich   .  . 

1 357,4j  391,2. 1 15,3|  4l3,7|  4«*,9j,  S«6,3|  5i7,i|  — 

Digitized  by  Googl 


Die  Berufs-  und  Gewerbesfthlung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


Kön^reich  Sachsen,  dem  Rheinland,  West&len,  Reu(s  ä.  und 
j.  L.  u.  s.  w.  entspricht  durchaus  eine  den  Reichsdurchschnitt  weit 
ifcenageude  Vertretung  der  industriellen  und  kommerziellen  Be- 
völkerung und  eine  entsprechend  geringe  der  landwirtschaftlichen. 
Ebenso  zeigen  Ostpreulsen,  Westpreu&en,  Pommern,  Posen  u.  s.  w. 
wie  beträchtlich  die  landwirtschaftliche  Bevölkerung  über  die  ge- 
werbliche und  handelstreibende  bei  dünner  Besiedelung  überwiegt 
Aber  es  besteht  ebensowenig  ein  mechanisch  wirkender  Gegensatz 
zwischen  der  Volksdichtigkeit  und  der  relativen  Besetzung  der 
Landwirtschaft,  als  etwa  ein  unbedingter  Parallelismus  in  der  rela- 
tiven Ent&ltung  von  Industrie  und  Handel  und  der  Besiedelung 
anzunehmen  wäre.  Das  bestätigen  z.  B.  Württemberg,  Baden  und 
Hessen,  woselbst  sich  sowohl  die  Bevolkerungsdichtigkeit  als  auch 
die  Vertretung  der  Landwirtschaft  weit  über  den  Reichsdurchschnitt 
erheben,  während  die  relative  Vertretung  von  Industrie  und  Handel 

—  trotz  ihrer,  absolut  genommen,  sehr  ansehnlichen  Entwicklung 

—  ebensosehr  dagegen  zurückbleibt 

Wir  müssen  also  tiefer  auf  den  Grund  gehen,  um  den  Zu- 
sammenhang richtig  zu  erkennen.  Den  Ausgangspunkt  ftir  unsere 
Untersuchung  bildet  die  Thatsache,  da(s  die  Landwirtschaft  das  Ver- 
hältnis zwischen  Boden  und  Besiedelung  viel  strenger  bedingt  als 
die  meisten  anderen  Berufe.  Sie  ist  der  Typus  des  bodenständigen 
Gewerbes.  Die  spezifisch  landwirtschaftliche  Bevölkerung  ist  das 
Produkt  von  Agrauverfassung  und  Bodenbeschaifenheit  Die  Frei- 
heit der  Entschließung  spielt  hier  liir  die  Berufszugehörigkeit  und 
die  örtliche  Verteilung  eine  geringere  Rolle  als  in  den  anderen 
wirtschaftlichen  Berufen.  Besser  gesagt:  bei  diesen  letzteren  giebt 
CS  eine  gröfsere  Mannig&ltigkeit  der  Motive  für  Berufswahl,  Nieder- 
lassung und  Familiengründung,  woraus  schlieislich  die  örtliche  Ver- 
teilung der  Bevölkerung  resultiert.  Von  einigen  —  gleich  der 
Landwirtschaft  bodenständigen  —  Industrien  abgesehen,  sind  Ge- 
werbe und  Handel  freier,  oder  vielmehr  mannig&cher  determiniert 
in  der  Wahl  ihrer  Standorte,  in  der  örtlichen  Konzentration,  kurz 
in  ihrer  besonderen  geographischen  Gestaltung.  Wir  werden  also 
die  beiden  Hauptzweige  der  Berufsthätigkeit:  Landwirtschaft  einer- 
seits, Gewerbe  und  Handel  andrerseits,  in  ihrem  Einflüsse  auf  die 
Volksdichtigkeit  zunächst  abgesondert  zu  untersuchen  haben. 

Die  örtliche  Verteilung  der  landwirtschafUichen  Bevölkerung 
kann  weder  nach  ihrem  Verhältnisse  zu  den  anderen  Berufen  noch 
zur  gesamten  Bodenfläche,  sondern  nur  nach  ihrem  Verhältnisse  zur 


Digitized  by  Google 


298 


H.  Raachberg, 


landwirtschaftlich  benutzten  Fläche  richtijr  beurteilt  werden.  Hierfür 
enthält  der  Rand  über  die  Ergebnisse  der  landwirtschaftlichen 
triebszählung  die  erforderlichen  rntorla^en.*)  Auf  je  100  Hektar 
landwirtschaftlicher  Fläche  entfielen  1895  54,79.  1882  aber  noch 
58,69  dem  Hauptberufe  nach  der  Landwirtsrhaft  zugehörige  Per- 
sonen. Die  spezifische  Dichtigkeit  der  landwirtschaftlichen  Be- 
völkerung hat  also  abgenommen ;  wie  wir  bereits  wissen,  hauptsäch- 
lich infolge  des  I/cbertritts  aus  der  Kategorie  der  Familien- 
angehörigen in  andere  Berufe.  Die  nähere  Betrachtung  der 
spezitischen  1  )ichtigkL'it  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  ergiebt 
nun,  dals  ihre  Schwankungen  keineswcgN  mit  der  \'crtrotung  der 
Landwirtscliaft  unter  der  ( iesamtbevölkerung  übereinstimmen,  was 
man  von  \  nrnherein  vielleicht  erwarten  möchte.  Im  ( icgenteil.  wäh- 
rend es  die  ostelbischen  preulsischen  Provinzen  sind,  deren  Bcrufsauflxiu 
auf  breitester  agrarischer  Basis  beruht,  bleibt  die  s])ezifiM'he  Dichtig- 
keit der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  daselbst  erheblich  hinter 
dem  Keiehsdurchschnitt  zuriiek,  den  sie  im  industriellen  Westen, 
insbesondere  im  Rheniland,  der  Pfalz,  in  Baden,  Hessen,  Klsals- 
Lothringen  und  Württemberg  um  ein  Bedeutendes  überragt,  in 
Gebieten  also,  die  sich  überhaupt  durch  dichte  Bevölkerung  aus- 
zeichnen. Dichte  landwirtschaftliche  Bevölkerung  und  hohe  industrielle 
Entfaltung  stehen  einander  keineswegs  im  Wege,  s(Midern  bahnen  ge- 
meinsam eine  höhere  Entwicklungsstufe  an.  So  wird  die  spezifische 
Dichtigkeit  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  zu  einem  konsti> 
tutiven  Elemente  der  allgemeinen  Volksdichtigkeit,  wie  denn  auch 
die  geographische  Gestaltung  beider  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  übereinstimmt.  Nicht  völlig,  denn  die  Schwankungen  der 
allgemeinen  Dichtigkeit  sind  viel  beträchtlicher  wegen  der  stärkeren 
örtlichen  Konzentration  der  anderen  Berufe.  Die  technischen  Be- 
dingungen der  Landwirtschaft  bedingen  eine  gleichmäfsigere  Aus- 
teilung ihrer  Bevölkerung.  Aber  sie  gelangen  nirgends  rein  zum 
Ausdruck,  denn  die  sozialen  Elemente  der  Agrarverfiissung  machen 
sich  dabei  übermächtig  geltend. 

l^m  den  Rijiflufs  der  .Agrarverfassung  auf  die  Stellung  und  Ver- 
breitung der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  klar  zu  legen,  habe 
ich  in  der  nachstehenden  l'ebersicht  diejenigen  gröfseren  Ver- 
waltungsgebiete hervorgehoben,  welche  sich  dun  h  die  gröfste  und 
durch  die  kleinste  Durchschnittsfläche  der  landwirtschaftlichen  Be- 

')  StAtUtik  des  Deutschen  Reichs.  Neue  Folge.  Band  iia. 


iJiyilizeQ  by  VoüOgle 


Die  Berufs-  cmd  GewerbedLUung  im  Deotschen  Reich  Tom  14.  Juni  1S95.  299 

triebe  auszeichnen.  Die  Zwergbetriebe  von  unter  i  ha  sind  dabei, 
um  das  Bild  nicht  zu  trüben,  ausgeschieden  worden.  Die  Landes- 
teile mit  überwiegendem  Grofsbetrieb  sind  nach  den  Durchschnitts- 
flachen der  Betriebe  in  fallender,  die  Landesteile  mit  überwiegendem 
Kleinbetrieb  in  steigender  Reihe  angeordnet  Die  Durchschnitts- 
gröfse  der  Betriebe  ist  gewifs  kein  erschöpfender  Ausdruck  för  die 
Agrarverlassung.  Aber  sie  fafet  doch  die  grundlegenden  Verhält- 
nisse knapp  und  plastisch  zusammen  und  entfernt  sich  nicht  allzu- 
sehr von  den  thatsächlichen  Eigentumsverhältnissen.  >)  Ueber  diese 
letzteren  besitzen  wir  keine  Nachrichten  för  das  Reich  im  ganzen,  ^ 
so  dafs  wir  hier  eben  auf  die  Ergebnisse  der  Betriebszählung  an- 
gewiesen bleiben.  Zu  den  Betriebsgröfsen  werden  fernerhin  die 
charakteristischen  Zahlen  über  die  relative  Vertretung  und  die 
spezifische  Dichtigkeit  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung,  über 
die  allgemeine  Volksdichtigkeit  und  über  die  prozentuale  Volks- 
zunahme seit  1892  hinzugefögt: 

(Siehe  die  umstehende  Tabelle.) 

Gleich  auf  den  ersten  Blick  entnehmen  wir,  dals  die  spezifische 
Dicht^keit  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  und  weiterhin  die 
allgemeine  Dichtigkeit  in  den  beiden  Hälften  unserer  Uebersicht 
im  enti^cgeiigesetzten  Verhältnisse  zu  einander  stehen.  Hohe  Durch- 
schnitte der  landwirtschaftlichen  Betriebsfläche  bedingen  dünne  Be- 
völkerung, kleine  Betriebseinheiten  ermöglichen  hohe  Bevölkerung. 
Die  Rc^'clmäfsigkeit  des  Verlaufe  schlagt  selbst  innerhalb  jeder  der 
beiden  Gruppen  durch.  Der  kulturelle  Ueberbau  in  der  Form  an- 
derer Berufe,  welcher  durch  die  Differenz  zwischen  der  spezifisch 
agrarischen  und  der  allgemeinen  Dichtigkeit  gekennzeichnet  wird, 
erhebt  sich  viel  höher  in  der  zweiten  Gruppe:  auch  er  steht  im 
umgekehrten  Verhältnisse  zur  Grröfse  der  landwirtschaftlichen  Betriebe. 
Dabei  ist  auch  in  dieser  Gruppe  die  Zunahme  seit  1882  durchaus  in 
mälsigen  Grenzen  geblieben;  sie  hat  den  Reichsdurchschnitt  nur  in  2 
von  den  unter  II.  angeführten  Landesteilen,  und  auch  hier  nicht  er- 
heblich überschritten,  wogegen  sie  in  der  Abteilung  I  zumeist  in  sehr 
auffälliger  Weise  zurückgeblieben  ist  Diese  zeigt  also  im  allgemeinen 

*)  Vgl.  Landwiitschaftsband  S.  ti  u.  S.  16. 

*)  Ftlr  Prettfsen:  A.  Meilsen,  Der  Boden  und  die  landwirtschaftlichen 
VeihUtnisse  des  preufsischen  Staats  Bd.  V.  Berlin  1894.  Das  dort  enthaltene  Mate- 
rial hat  Kollmann  a.  a.  O.  S.  103  verarbeitet 


Digitized  by  Google 


300 


H.  Rauebberg, 


o 
er 
a 
n 

CO 

A  ^ 

n 

5  er 
n  — 

"  i- 


r 

\ 
i 


I 


s 

\ 

a 

n 


w  "c  3c  r  -c 

2  ?  f»  »  3 

•:.  S  w  s  5 
a  2.  r-  c  2.. 

^       5  jjL  N 
f*i  SS 

X^sn  S  c/) 
7  2.  ?^  3  |. 
E  =•  ^  i  2 


R  3 


ST  5 


1  X 

H  »  2.  g 
2  s:"  3 


3  3  3  S 


^  S  ?, 
S"  E*  E 

^  S  s  : 
er  cr 
e  c 


5C 

90 


9 

9<a 


■5 


N 

o 

er 


t  2. 


r. 


3  3 


3   3  3 


S*      B   »  u 


S.  /.  X 


75 

er 
o 

N 


C 

e 


—  —  '-fi  C  C       •»»   C  C  4- 

—  ^1   C  IJ  C   —  -  I  -.J   C    C  ^  Ä 


g. 


fr  a 
B       Oa  Ol  ^  ^  M  «  ^         *  ^  ^  ? 

j»,      oe  cftCn  c»  Q.  o»    M  ^  b 'oolao  ?r- 


 --3 


o^-t  ^  ^  ^  i/t  Q>M  oo>o  ^  M  E: 


3 


bMUiOU'-t^MOOC^JCOCiC  2. 

j>  —  'VI  ly»  ■»       4»   —  —  W        —  3 

Q    -ii  ^  Qp'li  b\  M  ö  "o  ~i»  0  T 

I  i 


vD  'oi b  b  V»  w  "atio  *■>  ^ 


I.  i.r 


w 
s 
s 
fr 


M^kV»    M<A    •«    »•>«    MV»    M  O 

M  M  wwk  <e  o  o     9>  55  ee^  v» 


3 

0>  4»  —  C"  v>  '^1  ^       *  T" 

4-  V*  O  .C  -f-  ^  O  M  O-  O'vi  —  3 
—  \f\  —  4-  O-  ^  --1  ^  4»   —  ~ 

ce  b  ^  V»  Vi  b-  *-i  b»  —  "o  "W  vD  £: 
O^^^>"**M0  Ovo«!  bn  O  0>  - 

3 

.   „  .    ft: 


«J     —     o>A  ^  o»«c  o><^ 

_  <  /I  ^  C-  t,,       U<  0\  ( 

ns  o^Cn  beb  ^  'b  00^  (*»  w  <i  v#«  n 

to  *4  wt  v/>  ^  «o  w  OD    X  u>  n 


00 

5^ 


s 

Vsj  ^  yi  ^  N  j-  _o>y»  j-  4k  j-  jjo^  g 

«  »  Wi  OOM  <^  VI  M  «  s: 

_.  _       -         —         _       <  A 

Ln  V«       4>  'X  4>  M  1*4  c2 

4^  y  o^j^  y  V    J*^       ^  ^ 

^  w  V 't;  M    w  1*  Ol  )k  'oe'MOt  s; 

  «* 

r. 

•^1  ">j  — 4  4»  0<      C'  tiw  V«  ~ 

O  C>  Ä  O  4»  OC'x  06  0^  Cv  O^vx  4»  vr 

b  ^  00  b^'jn  Cw  ~  oa'u  ^  M  ^  4^  ?* 

•>  w  4k  4k  *•    w  vSr  VI     5  «  Ci  2. 


P  ■/"  y  ^  ^*  J* 

•b  b  b>-ik    "b'i«       Co "»»  w 


r 

s 

A 

•> 
«• 

a 


I  11  - 

B  a.  £:  S' 

-  2-  5' 

_  <T   D  7 

y  C"  o.  • 


zr 


QO 
M 


f» 
2 

3 
«0 


oe 


3C 
OD 


> 

e 


28 


er 

BT 


sC  c 
V/.  3- 


P5  > 

■  c  — > 

3  _ 


3  g- 


—  5'  cc  ^' 


i  £ 

00  3  2 

^3« 


TT  S 


Digitized  by 


Die  Berufe*  imd  Gewerbeillilang  im  Deatsdicn  Rädi  vom  14.  Juni  1895.    30 1 

ein  Bild  stagnierender  Bevölkerung. ')  Ist  es  notig,  die  ZiiTem  noch 
weiterhin  zu  kommentieren?  Sie  lehren  eindringlicher  als  Worte 
es  vermögen,  was  die  Agrarveriassung  des  Ostens  für  die  Entwick- 
lung  des  Deutschen  Volks  bedeutet.  Eine  eiserne  Fessel  ist  sie 
ihm  geworden,  da  es  nun  in  erneuter  Jugend  seinen  gewaltigen 
Leib  recken  will. 

Untersuchen  wir  nunmehr  die  «Tcojrraphischc  X'erbrcitung  der 
anderen  Berufe  und  ihren  Kinflufs  auf  die  Volksdichtigkeit  Einen 
Gewinn  hierfür  hat  die  soeben  abgeschlossene  Untersuchung  schon 
ergeben:  sie  hat  gezeigt,  dafs  eine  dichte  landwirtschaftliche  Be- 
völkerung mit  der  Steigerung  der  gewerblichen  und  Handclsbc\ölke- 
rung  Hand  in  Hand  zu  gehen  pflegt.  Ms  ist  kein  zufälliges  Zu- 
sammentretten  sondern  der  Ausdruck  einer  eiiiiieitliclien  Kultur- 
entfaltung. Sie  fiihrt  zu  vollständigerer  Beherrschung  der  Xaturkräfte 
und  intensiverer  Ausnutzung  derselben,  teils  noch  in  Berührung  mit 
<leni  Boden  selbst:  Landwirtschaft,  teils  von  ihm  losgelöst:  hidustrie. 
l  rul  je  weiter  diese  Kntwicklung  fortschreitet,  desto  weniger  bleibt 
die  ( iesamti»ro(luktion  an  tlen  Boden  gebunden  und  desto  freier 
wird  die  örtliche  X'erteilung  der  Bc\ülkerung. 

Dieser  allgemeinen  Entwicklungstendenz  tritt  jedoch  auch  \on 
der  Seite  der  hulu>trie  her  ein  mächtiges  Hemmnis  entgegen, 
indem  einzelne  hidustriezweige  noch  mehr  an  örtliche  Produktions- 
bedingungen gebunden,  noch  strenger  lokalisiert,  bodenständig  sind, 
wie  die  Landwirtschaft.    Den  Ausgangspunkt  hierför  bildet  ge- 


')  Paul  KoUmann  tindct  a.  ;i.  (  >.  S.  104,  dafs  der  Kiukfjanj;  der  .»j)c/.iti*ch 
landwirtschaftlichen  Bevulkcrung  lu  den  Gegenden  mit  grofsen  Gülcni  vielfach  lang- 
Mmer  stattgefunden  b«be  «k  in  den  Gegenden  des  Kleinbetrieb«;  bier  biafig  ein 
RlIckgutK  ^  >o  Köpfen  und  darttber  auf  je  too  ba  landwirticbaftlicber  Flicbe, 
dort  tdten  von  mebr  ab  6.  Allein  die  Aboabme  darf  nicbt  abiolat  genommen,  aondrro 
«ie  mn&  sa  der  qieafiadicn  Dicbtigkelt  der  laadwiitBcbaftlidien  Berölkcrang  te  Be- 
ziehung  gesetzt  wer<!'-n.  Da  dies*-  in  der  Gruppe  II  (Kleinbesitz)  unterer  l'<  b«-r-ic  ht 
beiläufig  doppelt  so  hoch  >t«'lit  als  in  Gruppe  I  1  (jrofsbesitrl,  so  fällt  in  Gruppe  II 
scltot  rin  etwas  höherer  Rückgang  rcl.iiiv  weniger  ins  Gewicht.  I'rozentual 
sind  es  eher  die  Gegenden  des  Klcinbclrieli>,  welche  die  grofscre  Widerslanüskraft 
rntfaltet  haben.  Wozu  noch  kommt,  dal»  .><ie  es  hauptsächlich  sind,  welche  den 
Kooloirrenikanpf  mit  der  indutrie  auf  dem  Arbeitsmarktc  sn  beateben  haben.  Wäre 
der  Oiten  ihm  so  direkt  anageietit  wie  die  Landwirtsdiaft  de«  Wetten«,  «o  würde 
seine  Arbeittverfascnng  noch  gans  andere  Verluste  an  Meucbenmaterial  tu  verzeichnen 
Imben.  Sie  mttfste  darunter  «naammenbrechcn.  Vermag  sie  sich  doch  schon  jetzt 
knnm  der  wcetlidien  Industrie  zn  erwehren,  tmd  doch  liegt  gans  Detttschland  dazwischen! 


L  iyiii^üd  by  Google 


302 


H.  Rauchberg, 


wisscrmafscn   die  Gruppe  des  Bergbaus  und  Hüttenwesens,  die 

der  Hauptsache  nach  an  die  natürliclien  Lager  der  verarbeiteten 
Materialien  gebunden  ist.  Dalier  ihre  aufserordentliche  örtliche 
Konzentration.  Während  sie  im  Reichsdurchschnitt  3.57  Prozent 
der  He\  ölkerung  umfafst ,  erreicht  ihr  Prozentanteil  in  Westfalen 
18,44.  in  Schaumburg-Lippe  10,87,  im  Rheinland  9,53  und  in  Schlesien 
8,30.  Daran  schliefsen  sich  naturgemäfs  an  die  Gruppe  der  Metall- 
verarbeitung, deren  Zentruni  mit  8,15  und  6,80  Prozent  der  Be- 
völkerung in  Westfalen  und  dem  Rheinland  gelegen  ist.  und  —  in 
viel  freierer  Weise  —  die  Maschinenindustrie.  Ihre  örtliche  \'er- 
teilung  ist  nur  noch  zum  geringeren  leile  bedingt  durch  den 
Standort  der  Hüttenwerke;  die  Rücksicht  auf  den  Bedarf,  also  auf 
den  Standort  der  Industrien,  die  sich  ihrer  I*"abrikate  bedient,  ül)cr- 
wiegt.  Daher  stärkere  Dezentralisation.  Die  Maxima  erreichen 
in  Berlin  3,77,  iiTi  Kcinij^Teich  .Sachsen  noch  3,43  Prozent,  gegen 
einen  Reichsdurt  lis(Minitt  \  (>n  2,01  Prozent.  Aehnlirh  wirken  die 
Standorte  der  iTj^roduktion  nach  in  der  Industrie  der  Steine  und 
Erden  und  in  der  Holzindustrie. 

Je  mehr  Zwischenstufen  mit  fortsrlireitender  Protluktionstcilung 
in  den  gesamten  Produktionsprozels  sich  einschieben,  je  mehr 
die  Arbeit  von  der  Gewinnung;  \-on  Rohmaterialien  \orschreitet  zur 
Herstellung  vnn  Hnlbfahrikateii,  von  (janzfabrikaten  und  vollends 
von  solchen  ttutcni,  weiche  aus  verschiedenartigen  Halhf;»brikaten 
zusammengesetzt  sind,  desto  mehr  wird  der  Zusammeniiang  mit 
den  natürlichen  Lagern  gelockert :  die  Wahl  der  .Standorte  wird 
freier.  X'ertcilung  und  Pjgiiung  der  .\rl)eitskräfte ,  altererl)te 
Fertigkeiten,  erbliche  Herufsfolge,  xorhandene  Triebkräfte,  der 
örtliche  Bedarf,  die  Rucksicht  auf  den  leirhteren  Transport  u.  dergl. 
mehr  gewinnen  Linflufs.  Zwei  (irujjj.>en  sind  hier  wieder  zu  unter- 
scheiden: (lewerbe.  welche  hauptsächlich  für  den  grolsen  Markt 
produzieren  und  zumeist  in  ( irulsbetrieben  organisiert,  grofser  ört- 
liclKT  Kf)nzentration  fällig  sind,  und  dann  jene  Gewerbe,  welche, 
hauptsäehlich  für  den  örtlichen  Bedarf  arbeitend,  sich  ihm  aueh 
in  ihren  Standorten  anj^assen  müssen  und  demnach  ziemlich  gleich- 
mälsig  über  das  Land  ausgebreitet  sind.  Als  Ts'jjus  der  ersten 
Art  hebe  ich  die  Textilindustrie  hervor,  der  im  Reichsdurchschnitte 
3,67  Prozent  der  Bevölkerung  angehören,  die  aber  in  Reuls  ältere 
Linie  38,15,  in  Reuls  jüngere  Linie  21, 60  im  Königreich  Sachsen 
13,43,  in  tlsafs-Lüthringen  7,8  und  im  Rheinland  noch  immer  7,53 
Prozent  der  Bevölkerung  umfafst.    Bei  derartigen  Gewerben  über* 


Digitized  by  Google 


Die  Bernls-  uul  GcwerbnKhlottg  im  Dentichen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  303 

ragen  also  die  Ziffern  iiir  die  Hauptsitze,  ebenso  wie  bei  den  an 
bestimmte  Standorte  gebundenen,  gewaltig  den  Durchschnitt,  um 
in  weit  ausgedehnten  Gebieten  erheblich  darunter  zu  sinken.  Viel 
geringer  sind  die  Differenzen  bei  den  Industrien,  die  hauptsachlich 
für  den  lokalen  Bedarf  arbeiten  und  an  ihn  gebunden  sind,  wie 
z.  B.  das  Baugewerbe  und  die  Industrie  der  Nahrungs*  und  Genufs- 
mittel.  Für  ihre  örtliche  Verbreitung  ist  die  Konzentration  des 
Bedarfs  in  den  verschiedenen  Kategorien  der  Wohnplätze  und  die 
Verteilung  der  Bevölkerung  auf  dieselben  mafsgebend.  Betrachten 
wir  z.  B.  die  Verteilung  der  Gruppe  Nahrungs-  und  Genufemittel : 
Reichsdurchschnitt  4,0  Prozent;  stärkste  Vertretung  in  Bremen  8,52, 
Anhalt  7,35,  Lippe  6,66,  Braunschweig  6,34,  Lübeck  6,09,  Baden 
5,55  Prozent  u.  s.  w.,  wobei  die  an  sich  wenig  belangreichen  Diffe- 
renzen durch  die  ortliche  Konzentration  der  Z^rreniabrikation 
noch  erheblich  verschärft  erscheinen. 

Die  örtlich«  stark  konzentrierten  Industrien  sind  es,  welche  die 
Dichtigkeit  der  Bevölkerung  gewaltig  erhöhen,  besonders  dort,  wo 
verschiedene  derartige  Knotenpunkte  der  industriellen  Entfaltung 
zusammentreffen,  wie  z.  B.  im  Rheinland  Bergbau  und  Hüttenwesen 
und  Textilindustrie,  im  Königreich  Sachsen  Metallverarbeitung, 
Textilindustrie,  Papierindustrie  u.  s.  w.  Dazu  kommt  noch,  dafs  — 
wie  bereits  erwähnt  —  die  industrielle  Entfaltung  Hand  in  Hand 
zu  gehen  pfl^  mit  höherer  spezifischer  Dichtigkeit  auch  der 
landwirtschaftlichen  Bevölkerung.  Diese  bildet  gleichsam  das  Fun- 
dament  fiir  die  örtliche  Gestaltung  der  Bevölkerungsverhältnisse, 
über  welchem  sich  der  industrielle  Ueberbau  erhebt,  desto  höher, 
je  kräfUger  dieses  Fundament  ist.  Denn  die  landwirtschaftliche 
Bevölkerung  deckt  seinen  Arbeitsbedarf  und  bildet  zugleich  den 
lokalen  Markt  für  den  Absatz  der  Produkte. 

Diese  Vorbedingungen  fehlen  in  jenen,  weitgestreckten  Landes- 
teilen, wo  mindere  Ergiebigkeit  des  Bodens,  die  ungleiche  Grund- 
besitzverteilung und  die  Starrheit  der  ländlichen  Arbeitsverüissung 
die  spezifische  Dichtigkeit  der  ländlichen  Bevölkerung  herab- 
gedrückt  haben.  Ihre  geringen  Bedürfnisse  vermögen  keine  In- 
dustrien ins  Leben  zu  rufen,  wo  sie  nicht  etwa  durch  natürliche 
Lager  an  gewisse  Standorte  geknüpft  sind;  Industrie  und  Handel 
werden  hier  die  Entwicklung  der  Bevölkerung  nicht  wesentlich 
beschleunigen.  Die  Abteilung  L  der  Uebersicht  auf  S.  300  hat 
gezeigt,  wie  wenig  die  agrarische  und  die  allgemeine  Dichtigkeit 
in  jenen  Gebieten  differieren,  und  wie  langsam  die  Bevölkerung  sich 


Digitized  by  Google 


304 


H.  Raaehberg, 


daselbst  entwickelt  Gewerbe  und  Handel  wirken  also  nicht  etwa 
wie  eine  Kompensation  gegenüber  der  durch  die  Agranerfassua^ 

bedingten  Austeilung  der  Bevölkerung,  sondern  sie  verschärfen  ihre 
Unterschiede.  Daher  sind  auch  1882 — 1895  die  Abstände  zwischen 
den  Dichtigkeitsstufen  der  einzelnen  Gebietsabschnitte  des  Reichs» 
insbesondere  zwischen  dem  Westen  und  Osten,  noch  erhebüch  ge- 
wachsen. 

Bisher  ist  die  örtliche  Verteilung  der  Berufe  und  ihr  Zusammecio 
hang  mit  der  Dichtigkeit  und  der  Entwicklung  der  Bevölkerung" 
erörtert  worden,  ohne  dal's  dabei  auf  die  besonderen  Verhältnisse 
von  Stadt  und  Land  und  den  Kinflufs  der  Agglomeration  Rücksicht 
genommen  worden  wäre.  Icli  habe  diesen  (icsichtspunkt,  dessen 
allgemeine  Wichtigkeit  schon  früher')  angedeutet  wurde,  vorläufig 
zurückgestellt,  um  ihn  nunmehr  ai^esondert  zur  Sprache  zu  bringen. 

Es  entfallen  auf  die  unten  bezeichneten  Benifeabteilungen 

Personen  UberhlRapt 


in  den  StSdten 

auf  dem  fladicn  Lande 

Berufsabt«*  i  langen 

1S95 

1882 

•895 

1882 

A.  Landwirtschaft  .    .  . 

2  450  1 88 

2256931 

16051 1 19 

16968  524 

B.  Industrü;  

.    13671  103 

9627  290 

6582  138 

6  430  790 

<'.  Hamlfl  u.  Verkehr 

•  4644534 

3  243370 

I  322312 

1  2S7  7 10 

747  087 

761544 

139720 

176  750 

E.  OefTentlicher  Dienst  . 

2 180 197 

1^19709 

654817 

603382 

2104374 

1394860 

122269$ 

851362 

«5797483 

18903695 

25972801 

26318418 

Daher  treffen  auf  die  unten  bezeichneten  Berufsabteilungen 

von  je  1000  Bewohnern 
der  Städte     des  flachen  Landes 


Berufsabteilungen 

1895 

1882 

1895 

1882 

A.  Landwirtschaft  .     .    .  . 

1 19,3 

61S.0 

644.7 

530,0 

509.3 

253-4 

244,4 

C.  Handel  und  Verkehr  .  . 

180,0 

171,6 

50iy 

48,9 

»9,0 

40,3 

5.4 

6.7 

E.  Oeflentl.  Dienst     .   .  . 

84,5 

85.7 

32,9 

8j,5 

73.8 

47- 1 

32.4 

1000 

1000 

1000 

tooo 

Der  hervorsteciiende  Charakterzug  der  Entwicklun-^  ^eit  1882, 
die  Industrialisierung  der  Bevölkerung,  erstreckt  sich  demnach  auch 

')  VgL  oben  S.  264. 


Digitized  by  Google 


Di«  Berefs-  and  Gewerbetlldaiif  im  DeutadieB  Reich  vom  14.  Jmii  1895.  305 


auf  das  flache  Land.  Aber  die  Städte  bilden  doch  den  eigentlichen 
Boden  dieser  Bewegung.  Hier  hat  die  industrielle  Bevölkerung; 
cinschiefslich  der  nur  indirekt  Benilszugehörigen,  um  4043813  Per- 
sonen, auf  dem  flachen  Lande  nur  um  151348  zugenommen. 
Wenn  die  prozentuale  X'erschiebui^  auf  dem  flachen  Lande  gleich' 
wohl  eine  so  beträchtliche  i^^t,  so  erklärt  sich  dies  aus  der  schon 
früher  erörterten  absoluten  Verminderung  der  eigentlich  landwirt- 
schaftlichen Bevölkerung^.  Ks  darf  bei  der  Beurteilung  dieser  Ziflern 
jedoch  nicht  aufser  acht  gelassen  werden,  dals  sie  den  fmschwuf^, 
der  auch  auf  dem  flachen  Lande  eingetreten  ist,  nicht  in  seinem 
vollen  Umfange  aufzeigen.  Denn  die  aufstrebende  gewerbliche 
Entfaltung  hebt  ländliche  Wohnplätze  gar  bald  über  die  Einwohner- 
zahl von  2000,  und  dann  werden  sie  von  der  Statistik  zu  den 
Städten  gezählt.  Ihr  gewerblicher  Fortschritt  verhilft  ihnen  also 
zu  einem  formalen  Avanceinent,  vermöge  welches  er  dann  scheinbar 
nicht  mehr  der  Kategorie  des  flachen  Landes,  sondern  der  Städte 
zu  gute  kommt.  In  den  Städten  aber  ist  die  Zunahme  der 
industriellen  Bevölkerung  eine  so  aufscrordentliche,  dals  die  prozen- 
tuale V ertretung  der  anderen  Berufsabteilungen  trotz  ihrer  absoluten 
Vermehrung  herabgedrückt  erscheint.  Nur  Handel  und  Verkehr, 
sowie  die  Abteilung  F  —  ohne  Beruf  oder  Berufsangabe  —  machen 
hiervon  eine  Ausnahme.  Dafs  das  stärkere  Hervortreten  dieser 
letzteren  zum  guten  Teil  auf  formale  Ursachen  zurückzufuhren  ist, 
wurde  schon  früher  hervorgehoben. 

Innerhalb  der  einzelnen  Gröfsenkategorien  der  städtischen 
Wohnplätze  war  die  Beruüigliederung  die  folgende: 


Von  je  1000  Bewohnern  jeder  OrtsgrOrsrnkksBe  entfallen  raf  die  «nten 

Beratebteilungen 


Bernfsabteilungen 

A.  Landwirtschaft  etC  . 

B.  Industrie  .... 

C.  Handel  und  Verkehr. 

D.  Lobnarb.  wechs.  Art. 

E.  OeffenÜicher  Dienst . 

F.  Oline  Bemf    .    .  . 


in 

Grofsstidten 

1895  1882 

473,4 
266,1 

50.4 
»07,3 
«9,0 


tn 

MittelstSdten 

1895  '882 


in 

Kleinstädten 
1895  1882 


beteidmeten 
in 

Landstädten 
1895  1S82 


'3J 
508,6 
261,1 

37.4 
94.5 
84,7 


3«, 3 
54'' 

iS9,8 

33.6 
112,6 
91,6 


34.2 

1 95 ,0 

45.3 
111,7 

85.5 


89.7 

146,0 
27.» 

i2,0 
«2.7 


98.7 

535.8 
155.7 
42,6 

90.9 
76,3 


245.6 

497.2 
I  18.9 

17.7 

5a.4 
68,3 


262,8 
490.' 

"5.5 
28,5 

49.a 
53,9 


Handel  und  X'erkehr,  sowie  die  Lohnarbeit  wechselnder  Art 
sind  demnach  die  cii^cntlirh  städtischen  Berufe:  ihre  Vertretung 
wächst  mit  den  Grölsenkategorien  und  ist  in  den  Gro(sstädten 


Digitized  by  Gopgle 


306 


H.  Rauchberg, 


am  höchsten.  Octttiithchcr  Dienst  und  Berufslose  treten  in  den 
Mittelstädten  am  stärksten  hervor,  in  den  ( irofsstädten  etwas 
schwädicr,  viel  schwächer  in  den  Kleiti-  uiul  Landstädten  und 
vollends  auf  dem  flachen  Lande.  Kein  direkter  Zusiunmcnhang 
scheint  zu  bestehen  zwischen  der  relativen  X'ertretung  der  Industrie 
und  den  Ortsgröfsenklassen.  Sie  tritt  in  den  Kleinstädten  am 
stärksten  hervor,  dann  folgen  der  Reihe  nach:  Mittelstädte,  Gro(s- 
Städte,  Landstädte*  In  sämtlichen  Wohnplätzen  hat  ihr  F^rocentsatz 
seit  1883  erheblich  /.u genommen,  und  es  gehört  ihr  in  allen 
Stadtkategorien  mit  Ausnahme  der  Landstädte  die  grölscre  Hälfte 
der  Bevölkerung  an,  auf  dem  flachen  Lande,  wie  bereits  bemerkt, 
noch  immer  mehr  als  der  vierte  Teil.  Sind  es  auch  nicht  gerade 
die  Brennpunkte  der  Volksanhäufung,  in  denen  die  Industrie  ver- 
hältnismärsig  am  meisten  hervorragt,  so  ist  ihre  Entfaltung  doch 
entscheidend  gewesen  fiir  die  allgemeine  Gestaltung  der  Be- 
volkerungsdichtigkeit.  Denn  jene  hohen  Abstände  zwischen  all- 
gemeiner  und  spezifisch  agrarischer  Dichtigkeit,  welche  den  volks- 
reichen Westen  DeutschkuKls  charakterisieren,  werden  hauptsächlich 
hervoi^erufen  durch  industrielle  Agglomerationen.  Von  diesen 
hängt  also  auch  die  Gestaltung  der  allgemeinen  Dichtigkeit  zum 
guten  Teile  ab.  *) 

Bisher  haben  wir  die  Berufs-^^liederung  in  den  verschiedenen 
Ort^öfsenkiassen  untersucht.  Daneben  ist  es  \'on  Interesse,  zu 
sehen, 'wie  sich  die  Zugehörigen  der  einzelnen  Beruüsabteüungen,  auf 
die  einzelnen  Grofsenkategorien  der  Wohnplätze  verteilen.  Bei  den 
Verhältnisberechnungen  der  nachstehenden  Ucbersicht  werden  daher 
die  Zugehörigen  der  eiti/.elnen  Berufsabteilungen  gleich  1000  gesetzt. 
Wo  keine  Jahreszahl  beigefügt  ist,  gelten  die  2^ilen  für  1895. 

Von  je  1000  den  nnten  bezeiclin<  tcn  Bcrafnbteiliiiigen  socehörigen  Penonen 

entlall>-n  auf 

Grofs-    Mittel-  Kk  in-  I^and-     Städte  iibcrh.  d.  tiachi- Land 
Bcrufabteilungen   stüdt«-    städtc   städtc   .städtc      1S95     188:     1895  1882 

A.  Landwirtschaft   .    .  5,2  9,1  34,3  83,8  i;>J.4  117.4  867,6  882,6 

B.  Industrie    ....  176,5  143,6  199,8  155,1  675,0  599,6  325,0  400,4 

C.  Mandel  Wd  Verkehr  307,7  171,0  173^8  125,9  778,4  715,8  321,6  384,3 

D.  Lohnarbeit  .  .  .  396,9  203,6  316,0  126,0  842,5  811,6  157,5  188,4 
F.  DefTcntlicher  Dienst  2344  213,5  204,5  '»^'^  769,0  728,6  231,0  271,4 
F.  Ohne  Beruf  .   .    .  178.9  148,1  175,9  129,6  632,5  621,0  367,5  379,0 

Im  ganzen   .    135,8    103.9    136,6    122.0     498,3   418,0   501,7  582,0 


')  Die  abweichende  AufTassong  des  Zählunghwerks  S.  46,  scheiirt  mir  darauf 


üiyiiizc-d  by  Googl 


Die  Bcraf»>  und  CSewcrbciKhlmig  im  Deutadien  Reich  vom  14.  Juni  1895.  ^07 

Aus  dieser  Uebersicht  erhellt  die  gewaltige  Bedeutung  der 
Städte  und  insbesondere  der  Grrolsstädte  für  das  deutsche  Wirt- 
schaftsleben erst  in  voller  Deutlichkeit  Die  Berufsabteilungen  C, 
D  u.  £  finden  ihren  Schwerpunkt  in  den  Grrofsstädten.  Die  In- 
dustrie ist  auf  die  einzelnen  Städtekategorien  annähernd  gleich- 
maisig  aufgeteilt.  Zusammengenomment  behert>ergen  sie  mehr  als 
zwei  Drittel  der  industriellen  Bevölkerung;  ein  Drittel  davon  hat 
auf  dem  flachen  Lande  ihren  Sitz.  Der  Anteil  der  Städte  an  sämt- 
lichen Berufsabteilungen  ist  seit  1882  erheblich  gestiegen,  am  meisten 
der  Anteil  an  der  Industrie;  der  Anteil  der  Grofsstädte  aber  hat  in 
sämtlichen  Beru&abtetlungen  mit  Ausnahme  der  Landwirtschaft 
gewaltig  zugenommen. 

Untersuchen  wir  die  Verteilung  der  einzelnen  Berufsarten  auf 
Stadt  und  Land  und  fernerhin  auf  die  oben  unterschiedenen  Gröfsen- 
kategorien,  so  ist  die  Unterscheiduntir  zwischen  städtischen  und 
landlichen  Berufen  leicht  zu  treffen.  Zu  den  ländlichen  Berufen  ge- 
hören die  folgenden,  bei  deren  Benennung  durch  die  eingeklammerten 
Zahlen  angedeutet  wird,  wie  viclnial  ihre  Besetzung  auf  dem  flachen 
Lande  stärker  ist  als  im  Rcichsdurchschnitte :  Landwirtschaft  (1,75), 
Forstwirtschaft  (1,69),  Torfgräberei  (1,67),  Steinbrüche  (li43),  Binnen- 
fischerei (1,33),  Stellmacher,  Wagner  {1,30),  See  und  Küstenfischerei 
(1,29),  Getreidemühlen  (1,26),  andere  animalische  Nahrungsmittel 
(1.13),  Grob-  (Huf-)  Schmiede  (l.ll).  Alle  anderen  Berufe  sind  in 
den  städtischen  Wohnplatzen  relativ  stärker  besetzt  als  im  Reichs- 
durchschnittc ;  sie  tragen  also  überwiegend  städtischen  Charakter. 

Es  ist  indessen  nicht  leicht,  ein  allgemeines  Pritizip  ausfindig 
zu  machen,  welches  die  Aufteilung  der  einzelnen  Berufe  nach  Orts- 
grölsenklassen  erklärt.  Zwei  verschiedene  Momente  scheinen  sich 
hier  zu  durchkreuzen:  die  Konzentration  des  örtlichen  Bedarfs  und  die 
Produktion  für  weiteren  Absatz,  wobei  gewisse  Produktionszweige 
dadurcii,  daGs  sie  auf  eine  höhere  technische  oder  wirtschaftliche 
Kultur  oder  auf  die  Örtliche  Kombination  mit  anderen  Gewerbe« 
zweigen,  die  ihnen  Halbfabrikate  liefern,  angewiesen  sind,  gröCsere 
Städte  aufzusuclien  vcranlaGst  werden,  wogegen  die  anderen  die 
günstigeren  Froduktionsbedingungen  kleinerer  Städte  sich  /u  nutze 
machen.  Bekleidung  und  Reinigung,  Baugewerbe,  Handels-  und 
Versicherung^werbe,  Belierbei^ung  und  Erquickung  etc.  sind  vor- 


n  beruhen,  dafs  duelbtt  nicht  genOgend  swischen  Agglomeration  und  Dichtigkeit 

nnterKhieden  wird. 

Afdiiv  für  tos.  G«sea(ebung  u.  Sutittik.   XIV.  20 


Digitized  by  Gopgle 


3o8 


H.  Kauchberg, 


züglich  grofsstädtiscli  we^eii  der  örtlichen  Konzentration  des  Be- 
darfs, polygraphische  Gewerbe,  Künste  etc.  und  gewisse  Zweige 
der  Maschinenindustrie  wegen  der  gesteigerten  Kulturbedingungen; 
die  sonstige  Metallverarbeitung  und  die  chemoche  Industrie  bevor- 
zugen die  Mittelstädte,  Bergbau  und  Hüttenwesen,  sowie  Textil- 
industrie die  Kleinstädte,  während  in  den  Landstädten  die  Industrie 
der  Steine  und  Erden,  dann  der  Nahrungs-  und  Genuismittel  relativ 
am  stärksten  vertreten  ist.  Endlich  giebt  es  eine  Reihe  von  Ge> 
werben,  welche  insofern  allgemein  städtischen  Charakter  haben,  als 
ihre  Vertretung  von  den  Gröfsenstufen  unabhängig  ist  Es  sind 
dies  solche,  welche  einen  durch  die  Einwohnerzahl  unmittelbar  be> 
dingten  lokalen  Bedarf  zumeist  noch  in  handwerksmälsigen  Formen 
befriedigen,  wie  Farbereien,  Brauereien,  Barbiere,  Fleischer,  Bäcker, 
Schuhmacher  u.  s.  w.  Es  ist  aber  bezeichnend,  dals  es  unter  den 
307  Berulsarten  unseres  Schemas  nur  1 5  derartige,  dem  besonderen 
Einflüsse  des  Standorts  entrückte  Berudsarten  giebt,  deren  Vertretung 
in  Städten  überhaupt  den  Reichsdurchschnitt  erreicht  oder  über» 
trifit.  Alle  anderen  städtischen  Berufe  treten  vorzugsweise  auf  ge- 
wissen Gröfsenstufen  der  städtischen  Wohnplätze  auf. 

Besonderes  hiteressc  erweckt  dabei  das  berufliche  Gepräge  der 
Gro(sstädte.  Schon  die  rebersichten  auf  S.  305  und  306  enthalten 
gewisse  Andeutungen  hierüber,  ausgehend  von  der  Gesamtzahl  der 
Berufszuprchörigen.  Beschränken  wir  die  l'ntersuchunfT  auf  die  Er- 
werbthätitren  und  rechnen  wir  auch  die  Dienenden  hinzu,  so  ent- 
fallen  von  je  loo  Erwerbthätigen  in  sämtlichen  deutschen  Grols- 
Städten 

Im  Jahre 

auf  die  BeiufsabteUimg        1S95  1882 

A.  LMidwirtscIiaft  ....      1.4  1,3 

B.  Indastrie  50,3  47,2 

C.  Handel  and  Verkehr   .   .     84,3  33,6 

D.  LobnarlxMt  4,4  5,3 

E.  Oeflentlicher  Dienst  .  .  10.6  11.4 
G.  Dienende   9,1  12,3 

Hinsichtlich  Ihrer  beruflichen  Struktur  ist  nun  jede  einzelne 
Grofsstadt  für  sich  eine  Individualität.  Da  es  der  Raum  nicht  ge- 
stattet, hierauf  des  einzelnen  einzugehen,  so  be^Miüge  ich  mich  da- 
mit, nachstehend  einige  der  auffälligsten  Züge  hervorzuheben,  wobei 
die  den  Städtenamen  in  Klammem  beigefügten  Verhältniszahlen 
den  Prozentsatz  der  Erwerbthätigen  in  den  einzelnen  Berufsabteilungen 


üiyilizeQ  by  GoO^Ic 


Die  BcruCs*  und  Gewerbeiählung  im  Deutseben  Reich  von  14.  Juni  1S95.  J09 

citiM  hlielslicli  der  Dienenden  angeben.  Die  Mälftc  der  grofs- 
städtisrluMi  Berufsarbeit  i>t  der  Industrie  gewidmet  und  gerade 
die  Hälfte  der  28  deutschen  (irofsstädte  ist  es,  in  welchen  die 
grölsere  Hälfte  aller  Erwerbthätigen  der  Industrie  angehört.  Am 
stärksten  ist  der  industrielle  Typus  ausgebildet  in  Barmen  (74,5), 
Krefeld  (67,2),  Chemnitz  (67,0),  Elberfeld  (65,8)  und  Dortmund  (64,3), 
dun  luius  Städte ,  welche  eben  infolge  ihres  industriellen  Auf- 
schwungs erst  während  der  Zwischenzeil  zwischen  den  beiden  He- 
rufszählungen  die  Grenze  von  lOOOOO  Einwohnern  überschritten 
haben.  Der  Typus  der  Handelsstadt  ist  am  stärksten  ausgeprägt 
in  Hamburg  (37,4),  Stettin  (30,1),  Bremen  (29,1;,  Frankfurt  a.  M. 
(28,2),  und  Leipzig  (26,3).  Der  öffentliche  Dienst  ragt,  hauptsäch- 
lich wohl  infolge  der  Garnisonen,  am  meisten  hervor  in  Strafs- 
burg i.  E.  (29,3),  Danzig  (19,5),  Königsberg  (16,9),  Dresden  (14,6) 
und  Hannover  (14,1}.  Die  Dienstbotenhaltung  endlich  ist  am 
stärksten  in  Charlottenburg  (16,9),  Frankfurt  a.  M.  (14,8  ,  Stutt- 
gart (14,0)  uikI  l^renicn  ill.Oj.  Ihre  sozialpolitische  Bedeutung  als 
Merkmal  hohen  örtlichen  W  ohlstandes  soll  später  in  anderem  Zu- 
sammenhang erörtert  werden. 


10* 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 

mQhI  bcn*  lUttingiiit,  btm  dectt" 

Von 

WERNER  SOMBART. 
III. 

Wirtschaft  und  Betrieb. 

Alle  vernünftige  Arbeit  ist  eine  Verwirklichung  bewufster  Zwecke 
und  bedarf  zu  ihrer  Durchfiihrung  eines  Planes.  Sofern  es  aber 
Arbeit  ist,  die  in  Gemeinschaft  von  Menschen  verrichtet  wird,  so, 
da(s  eine  wenn  auch  nur  gel^entliche  und  nur  oberflächliche  Inbe- 
ziehungsetzung  zu  anderen  Personen  notwendig  wird,  so  bedarf  eine 
solche  Arbeit  des  weiteren  zu  dem  subjektiven  Plane  dessen,  der 
sie  ausfährt,  noch  der  objektiven  Regelung,  welche  fär  das  Ver- 
halten aller  in  der  Gemeinschaft  Arbeitenden  bindende  Kraft  besitzt: 
es  wird  eine  Ordnung  der  Arbeit  notwendig.  Alle  Wirtschaft- 
liehe  Thätigkeit  des  Menschen,  d.  h.  alle  durch  die  Notwendigkeit 
einer  Beschaffung  von  Dingen  der  äu&eren  Natur  —  Sachgiitem  — 
zur  Ergänzung  unseres  individuellen  Daseins  hervorgerufene  Thätig- 
keit ist  nun  aber  eine  solche  in  der  Gesellschaft,  mithin  eine  objektiv 
geordnete.  Sobald  wir  also  von  wirtschaftlicher  Arbeit  handeln, 
müssen  wir  notwendig  in  den  Bereich  unserer  Ueberlegung  auch 
die  Ordnung  ziehen,  in  der  die  Einzelarbeit  eingeschlossen  ruht') 


')  Man  käiuite  auch  sagen  „WirtschaAlicfae  Thitigkcit'*  sei  „geordnete 
Lebensfit r sorge"  (in  dem  oben  umschriebenen  Sinne).  Gegen  diese  Fassmig 
wird  andi  Bttcher  nichts  eiwmwenden  haben.  Denn  wenn  er  auch  in  srinea 
letzten  Stadien  mit  besonderem  Nachdruck  daraaf  hingewiesen  hat,  dafs  das  „Wirt» 
schaftsieben"  der  Naturvölker  sich  gerade  durch  seine  Ungeregeltheit,  seme  SpnmS' 


Digitized  by  Google 


Die  geweiblidie  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


Den  Inbegriff  alter  das.  wirtschaftliche  Verhalten  der  Menschen 
äuiserlich  regelnden  Normen  wollen  wir  die  Wirtschaftsordnung 
nennen.  Sie  l»ldet  einen  Teil  der  Gesellschaftsordnung  oder  der 
sozialen  Ordnung  überhaupt')  Wie  die  durch  Sitte  oder  Recht 
geschaffiene  Wirtschaftsordnung  dem  Handeln  des  Individuums  bei 
Erzeugung  und  Verzehr  der  Güter,  „Produktion",  „Zirkulation", 
„Konsumtion"  feste  objektive  Schranken  setzt,  so  enthSlt  sie  vor 
allem  auch  den  Entscheid,  welche  Organe  —  Einzel-  oder  Kollektiv- 
peisonlichkeiten  —  für  die  Gestaltung  des  Wirtschaftslebens  maß- 
gebend sind.  Wir  können  diese  Persönlichkeiten,  von  deren  Willen 
also  die  wirtschaftliche  Thätigkeit  der  eigenen  Person  oder  Fremder 
bestimmt  wird,  bei  denen,  im  Bilde  gesprochen,  der  Schwerpunkt 
des  Wirtschaftslebens  liegt,  Wirtschaftssubjekte  nennen  und 
unter  ihnen  Konsumtions-  und  Produktionswirtschaftssubjckte  unter- 
scheiden. Nur  mit  den  letzteren  haben  wir  es  im  Folgenden  zu 
tliun.  Der  Passivität  der  Wirtschaftsordnung  gegenüber  vertreten  die 
W'irtschaftssubjekte  alles,  was  das  Wirtschaftsleben  Aktives»  Thätiges» 
Schaffendes  in  sich  birgt,  sofern  \on  ihrer  Initiative  es  abhängt 
(lafs  sicli  überhaupt  ein  Leben  entfalte,  der  Güterproduktions-  und 
Reproduktionsprozers  in  regelmäfsigem  Verlauf  sich  abwickeln  könne. 
Auf  ihrem  zweckbcwufsten  Handeln  beruht  das  Wirtschaftsleben, 
ihr  Handeln  aber  wird  bestimmt  und  geleitet  durch  Zwecksetzupgen, 
die  selbst  wiederum  in  l)cstimmtcn  Motivreihen  ihren  Grund  haben« 
Wollen  wir  also  das  Wirtschaftsleben  einer  Zeit  recht  in  seinem 
innersten  Wesen  \erstehen  lernen,  so  müssen  wir  die  Motive  bloüs- 
legen,  die  das  Verhalten  der  Wirtschaftssubjekte  bestinunen.  Aber 
wir  dürfen  uns  nicht  damit  genügen  lassen,  eine  allgemeine  Motiv- 
tafel aufzuzustellen,  auf  der  eine  bunte  Reihe  einzelner,  individueller 
Motive  verzeichnet  steht,  sondern  wir  müssen  in  unserem  Bestreben, 

haftißkeit  seinen  Impressionismus  anszr>ichn't,  und  dafs  der  „Wilde"  sich  uUt- 
hand  künstlicl>er  Hülf>mitt»-1  li><lirii.'n  niü^M'  (khythmusi,  um  M-itu-r  „wirlsilult- 
lichen  TlKili^'krit"  d;i>  «•rl'ordcrliili.'  Mal\  von  St<Hi>,'ktMt  m  verM-hatTcti,  so  Aaht 
doch  dicic  zwcilfllos  richlijjc  Darlegung  nur  in  einem  scijcinbaren  Widerspruch  mit 
ndner  Auffassung.  Ich  nenne  eben  eine  Lebensfilrsorge  erst  dann,  wenn 
lie  und  darum,  weil  sie  eine  geordnete  geworden  ist,  wirtschnftlielie  Thltigkeit, 
d.  Ii.  Buche  dM  Moment  der  Ordnung,  welcher  Art  immer  sie  «neb  sei,  zum  Er- 
heonongHcidien  des  WirtschnfUichcn.  Es  kommt  also  wesentlich  nur  auf  eine  etwas 
veiscldcdcne  Terminologie  heraus,  was  meine  von  Bflchen  Auflassung  trennt 

Ist  nicht  mit  ihr  identisch,  wie  ich  schon  gegen  Stammler  bemerkt  habe. 
Vgl  Archiv  fUr  soziale  Geseugebung  etc.   Bd.  X  (1897)  S.  6. 


Digitized  by  Google 


312 


Werner  Sombart, 


in  dem  Mannigfaltigen  das  Typische,  in  dem  Wechsel  die  Kt  L^el 
zu  suchen  darauf  bedacht  sein,  die  in  einer  bestimmten  Zeit  über- 
einstimmend wiederkehrenden  Motivreihen  der  Wirtschaftssuhjckte 
aufzudecken.  Diese  das  Wirtschaftslehen  einer  Zeit  in  seinen  charakte- 
ristischen Eigenart  bestimmenden,  also  historisch  bedingten,  zu  Grund- 
sät7xn  und  Maximen  des  Verhaltens  der  Wirtschaftssubjekte  ver- 
dichteten, prävalierenden  Beweggründe  wollen  wir  Wirtschafts- 
prinzipien nennen. 

Wir  finden  somit,  dafs  das  Wirtschaftsleben  der  Menschen 
jeweils  einer  bestimmten  Wirtschaftsordnung  und  bestimmteti  Wirt- 
schaftsprinzipien untersteht  Eine  Wirtschaftsordnung  aber,  die  von 
einem  hervorstechenden  Wirtschaftsprinzipe  beherrscht  wird,  stellt, 
wie  wir  es  nennen  wollen,  ein  Wirtschaftssystem  dar. 

Nun  noch  einen  Schritt  und  wir  sind  an  unserem  ersten  Ziele  t 

Um  die  Gütererzeugui^  den  Wirtschaftsprinzipien  gemäls  zu  ge- 
stalten, um  die  in  den  Wirtschaftsprinzipien  zum  Ausdruck  kommenden 
Zwecke  durch  die  Produktion  zu  verwirklichen,  muss  diese,  jo  einer 
bestimmten,  zweckentsprechenden  Weise  organisiert  werden.  Dabei 
ergeben  sich  regelmafsig  wiederkehrende  Vornahmen  der  Wirt> 
schaftssubjekte  und  ihrer  Organe,  der  von  ihrem  Willen  abhängigen 
Personen;  es  entstehen  bestimmte  tyi)ische  Beziehungen  vonMensdien 
zu  einander:  es  ergiebt  sich  eine  Summe  von  Rechtsverhältnissen, 
Sitten  und  Gebräuchen,  die  eine  Summe  bestimmter  Handlungen 
und  Vornahmen  umschliefsen.  Es  entsteht  dasjenige,  was  wir  als  Or- 
ganisationsformen der  Produktionswirtschaft,  kürzer  als  (Froduktions-) 
Wirtschaftseinheiten  bezeichnen  dürfen.  In  ihnen  —  darauf 
kommt  es  an  —  ist  der  gesamte  Produktionsprozcfs  von  dem  Augen- 
blick an,  wo  er  als  Plan  in  dem  BewuTstsein  des  W'irtschaftssubjekts, 
das  hier  als  Produktionsleiter  erscheint,  auftritt  bis  zu  dem  Augen- 
blick, WC)  er  mit  der  dem  Zweck  der  Produktion  entsprechenden  \*er- 
wertung  der  Protlukte  abschlicfst.  also  von  Anfang  bis  zu  Ende  ein- 
geschlossen. Was  somit  das  Wesen  einer  i)cstiinniten  Wi  r  t  sc  h  a  f  l  s  - 
form  charakterisiert,  ist  der  h^nd/.weck  der  Produktion,  auf  den  das 
Wirtschaftsprinzip  hingedrängt  hatte.  .Sufcrn  dieser  Kndzweck  nur 
verwirklicht  wird,  wenn  die  Produkte  in  einer  den  Absichten  des 
Produktionsleiters  entsprechenden  Wei.sc  verwertet  werden,  können 
wir  auch  kürzer  sagen  :  d  i  c  W  i  r  t  s  c  h  a  f  t  s  f  o  r  m  w  i  r  d  b  e  s  t  i  m  m  t 
durch  den  Verwertungsprozefs  der  Produktion. 

Damit  nun  aber  eine  Pkroduktion  überhaupt  zustande  komme, 
mufs  notwendig  ein  Arbeitsprozefs  erfolgreich  zu  Ende  gefuhrt  sein. 


._  Digitiz'-ui  by  Google 


IMe  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Orsanisation. 


(Offenbar  ist  dieses  aiicli  wiederum  nur  unter  der  Voraussetzung 
denkbar,  dals  der  Arbeitsprozels  zu  einem  planmäfsigen  und  geord> 
neten  bewulst  gestaltet  worden  war.  Zu  diesem  Behufe  aber  mufsten 
Arbeitskräfte  durch  einen  einheitlichen  Willen  dazu  angehalten 
werden,  nach  bestimmten  Verfahrungsweisen  ihre  Arbeit  zu  be- 
thäligcn,  um  ein  Werk  zu  verrichten.  Es  entstand  ein  einheit- 
lich geordneter  A  r  b  e  i  t  s  p  r  o  z  e  f  s  zu  dessen  regelmäfsiger 
Wicdcrholuii;^^  (lanri  beslinimtc  X'eranstaltungcn  getroffen  werden 
nuilsten,  die  wir  Betriebe  nennen  wollen.  Jeder  solcher  Betrieb 
hat  ebentalls  eine  bestimmte  I'orm,  so  dals  wir  befugt  sind,  von 
ver>chietlenen  He  t  r  i  e  bs f  o  r  m  e  n  zu  sprechen. 

Die  Wesenheit  der  Betriebsform  liet^t  in  der  bestimmten  .\n- 
ordnung  von  .Arbeitskräften  zu  <lem  Zwecke,  (iebrauchsgütcr  herzu- 
stellen, liegt  in  dem  von  diesen  also  disjjonierten  .Arbeitern  ange- 
wandten X'erfahren,  oder  wie  man  es  mit  einem  Worte  l)ezeichnen 
kann:  in  dem  H  e  r  s  t  e  1 1  u  n  gs  m  o  d  u  s.  Ks  liegt  mir  nun  ganz 
b  e  s  o  n  tl  e  r  s  viel  daran,  diese  Unterscheidung  zwischen 
Wirtschaftsformen  und  Betriebsformen,  sc.  —  wie  wir 
beschränkend  unserer  Aufgabe  gemäfs  hinzufugen  können  —  der 
gewerblichen  Arbeit,  zu  einem  sicheren  Besitzstande  un- 
serer Wissenschaft  zu  machen,  da  ich  ihr,  wie  sich  im 
Folgenden  zeigen  wird,  eine  grofse  Bedeutung  für  die  richtige  Be- 
urteilung des  Wirtschaftslebens  beimesse. 

Der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  mag  es  zugute  gehalten 
werden,  wenn  ich  noch  einmal  die  Ei^ebnisse  unseres  Nachdenken^ 
die  zu  jener  Zwdteilung  führten,  zusammenfasse :  eine  Wirtschafts- 
form  ist  eine  auf  Grund  der  Wirtschaftsordnung  von  dem  Wirt- 
schaftssubjekte geschaffene  Einrichtung,  welche  derart  gestaltet  ist, 
dafs  in  ihr  die  gesamten  Elemente  der  Produktion  in  einer  dem  End- 
zweck dieser,  nämlich  der  Verwertung  der  Produkte  entsprechenden 
Weise  zu  einer  Einheit  zusammengefefst  werden;  eine  Betriebs- 
form ist  die  bestimmte  Art  und  Weise,  Arbeitskräfte  zu  einem 
Betriebe,  d.  h.  einem  einheitlich  geordneten  ArbeitSprozefs  zu  ver- 
einigen, mit  dem  Zweck,  bestinunte  Gebrauchsgüter  nach  bestimmter 
Methode  herzustellen.  .Sofern  dieser  Zweck  —  die  Gebrauchsgüter- 
herstellung —  bei  welcher  Betriebsform  auch  immer  der  gleiche 
ist.  sich  aber  stets  nur  als  Mittel  zu  dem  Endzweck  der  IVoduktion: 
der  X'erwertung  der  Produkte  verhält,  können  wir  Wirtschafts-  und 
Betriebsformen  auch  so  unterscheiden,  dafs  wir  jene  als  Zweck-, 
diese  als  Mittel-  bestimmt  bezeichnen. 


Digilized  by  Google 


314 


Werner  Sombart, 


Unsere  späteren  Ausfuhrungen  werden  durch  eine  eingehende 
Schilderung  der  verschiedenen  Wirtschafts-  und  Kctriebsformen  das 
bisher  Gesagte  in  eine  hinreichend  helle  Beleuchtung  rücken.  Hier 
jedoch  bedarf  es  noch  eines  Wortes,  um  die  Wichtigkeit  unserer 
Unterscheidung  aufscr  allen  Zweifel  zu  setzen  und  damit  den  \'rr- 
dacht  zu  zerstreuen,  als  hätten  wir  aus  purer  I'Veudc  an  Begritfs- 
spalterei  die  alten  Bahnen  \  erlassen,  die  die  „Lehre  von  den  gewerb- 
lichen Betriebssystemen",  wie  der  Ausdruck  lautet,  bisher  gewandelt  ist. 

Die  Notwendigkeit  unserer  Neuerung  wird  durch  die  schlichte 
Thatsache  begründet,  dals  sich  Wirtschaftsfornien  und  Belriebsformcn 
historisch  thatsächlich  als  etwas  Wesensverschiedenes  trennen  lassen 
und  dals  allein  ihre  begriffliche  1  rennung  in  entscheidenden  Punkten 
ein  richtiges  wissenschaftliches  Urteil  ermöglicht.  Einige  Andeutungen 
werden  es  jedoch  schon  jetzt ')  evident  erscheinen  lassen,  dafs  Wirt- 
schafts-  und  Betriebsformen  sich  keineswegs  decken,  vielmehr  in 
verschiedenartiger  Kombination  zueinander  in  ein  Verhältnis  treten 
können.  In  einer  und  derselben  Wirtschaftsform  können  die  \'er* 
schiedensten  Betriebsformen  zur  Anwendung  gelangen  und  sind  zur 
Anwendung  gelangt :  die  Hauswirtschaft  hat  Klein-  und  Ghrofsbetrieb 
umschlossen  (man  erinnere  sich  der  Oikenwirtschaften  im  Altertum 
und  Mittelalterl);  das  Handwerk  nicht  minder  (Baugewerbe  1);  und 
ebenso  bedient  sich  die  kapitalistische  Unternehmung  abwechselnd 
für  ihre  Zwecke  des  Kleinbetriebes»  wie  des  Grofsbetriebes,  des  letz- 
teren bald  als  Manu&ktur,  bald  als  Fabrik.  Womit  denn  auch  schon 
ausgesprochen  ist,  da(s  eine  und  dieselbe  Betriebsform  den  ver- 
schiedensten Wirtschaftsformen  angehören:  beispielsweise  die  Fabrik 
als  eine  Form  des  Grofsbetricbcs  ebenso  gut  in  der  erweiterten  Eigen- 
wirtsrh aft,  wie  in  der  kapitalistischen  Unternehmung,  wie  in  der  Ge- 
meinwirtschaft ihren  Platz  finden  kann.  Mit  anderen  Worten:  es 
können  verschiedene  /wtkt  wie  sie  den  Wirtschaftsformen  zu 
Grunde  liegen)  mit  den  gleichen  Mitteln  (einer  und  derselben  Be- 
triebsform) Ncrwirklicht  werden;  und  verschiedene  Mittel  können 
demselben  Zwecke  dienen. 

Recht  greifbar  wird  der  Untci*schied  zwischen  Wirtschaft  und 
Betrieb,  wenn  wir  uns  vergegenwärtigen,  wie  häutig  Wirtschafts- 
einheit und  Betriebseinheit  ungleiche  ( ir^ilsen  sind,  so  dals  Line 
W^irtschaft  mehrere  Betriebe  cinschliersen,  h.  i  n  Betrieb  melireren  W  irt- 
schaften angehören  kann.  Dafür  mögen  folgende  Beispiele  sprechen : 


')  Vgl.  im  übrigen  die  fulgeiidcu  Abschnitte  dieser  Abhandlung. 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Oisaniaatloii. 


Wirtschaften,  die  mehrere  Betriebe  umfassen: 
Eine  Hauswirtschaft  enthält  niiadestens  landwirtschaftlichen  und 

gewerblichen  Betrieb; 
Ein  Hcrrenhof  (Fronhof,  otTtog)  umschliefst  meist  eine  fjanze  Aü/ ahl 
von  Betrieben,  •  als  Landwirtschaft  auf  dem  Salland.  Land- 
wirtschaftsbetriebe der  Pflichtigen  Bauern,  Müllerei,  Brauerei, 
gewerbliche  Thätigkeit  der  Frauen,  Schmiedereibet  riebe  etc. 
Eine  kapitalistische  Unternehmung  kann  zahlreiche  Betriebseinheiten 
bei  hausindustrieller  Organisation  umschlieüsen,  aber  auch  bei 
grofsindustrieller  BetriciManordnung  mehrerer  Werke,  Ab- 
teilungen eines  Etablissements,  die  als  selbständige  Betriebe 
anzusehen  sind. 

Eine  Genossenschaft  (Konsumvereini)  hat  häufig  verschiedene  Be- 
triebe:  Bäckerei,  Fleischerei  etc. 

Betriebe,  die  mehreren  Wirtschaften  angehören 
sind  seltener,  kommen  aber  docli  vor.  Ich  denke  /.  B.  an  die  Zunft- 
einrichtungen  des  Mittelalters;  die  Schleifereien,  l'uchrollen,  Mang- 
und  Färbehäuser,  an  die  Walkmühlen  und  Wollkürhen,  die  von 
samtlichen  Handwerkern  genützt  wurden;  auch  die  Spinnstube 
kann  man  hierher  rechnen;  ich  denke  an  Lohnschneiderelen,  wenn 
'^ie  von  einer  Anzahl  Tischlern  eingerichtet  für  diese  thätig  sind;  an 
Zwischenmeisterwerkstätten,  die  für  mehrere  Verleger  arbeiten  u.dgl. 

Von  wie  entscheidender  Bedeutung  nun  aber  unsere  Einteilung 
für  die  Beurteilung  wirtschaftlicher  Zusammenhänge  ist,  möge  die 
eine  Thatsache  erweisen,  dafs  eine  bestimmte  Betriebsform  —  sage 
die  Fabrik  —  ganz  verschieden  zu  werten  ist,  je  nachdem  sie  l)ci- 
spielsweise  kapitalistischen  otk  r  LTcmeinwirtschaftlichen  Zwecken  dient, 
dais  man  also  gar  nicht  von  der  Leistungsfähigkeit  einer  bestimmten 
Betriebsform  spricht,  wenn  man  etwa  die  Arbeitsresultate  einer  kapi- 
talistisch geleiteten  Fabrik  ins  Auge  fafst  —  z.  K  Lieferung  von 
Schleuderware  —  sondern  es  vielmehr  dabei  mit  den  verschiedenen 
Zwecksetzungen  verschiedener  Wirtschaftsformen  zu  thun  hat. 

Und  ach  I  wie  häufig  sind  Verwechslungen  solcher  Art  beisj/icls- 
weise  zwischen  Handwerk  und  Kleinbetrieb,  zwischen  Groisbetrieb 
und  kapitalistischer  Unternehmung! 

EiA  grolser  Teil  der  Unklarheiten,  die  uns  heute  bei  der  Be- 
urteilung unserer  gewerblichen  Kntwicklung  begegnen,  ist  zweifellos 
auf  die  ungenügende  Systematik  der  Wirtschafts-  und  Betriebsformcii 
zurückzuführen.  Die  Untersuchungen  des  Vereins  für  Sozialpolitik 
über  die  Lage  des  Handwerks  hätten  noch  manche  weitere  Einsicht 


Digitized  by  Google 


Werner  Sombart, 


verbrcittMi  k(>niicn,  wären  sich  die  Autoren  völlig  im  klaren  gewesen 
über  den  Lnterschied  der  verschiedenen  Organisationsformen  ge- 
werblicher Arbeit,  wie  er  jetzt  vor  unseren  Augen  ausgebreitet  liegt 
Man  darf  jedoch  den  jungen  Leuten,  die  jene  Enquete  mit  ihren 
Arbeiten  unterstützt  haben,  nicht  all/u  sein  ihren  Mangel  an  klarem 
Ueberblick  verübeln,  wenn  man  bedenkt,  dafs  auch  den  Meistern 
noch  manches  zur  völligen  Durchdringung  des  Stoffes  fehlt.  Was 
wir  an  systematischen  Darstellungen  der  Lehre  von  der  (^rganisatiwi 
gewerblicher  Arbeit  besitzen,  läfst  durchgängig  unbefriedigt,  vor 
allem,  weil  keine  getragen  ist  von  dem  entscheidenden  (redanken 
einer  Trennung  der  Organisationsformen,  wie  sie  unseren  Ausführungen 
zu  (irunde  liegt.  Ein  Blick  auf  die  bedeutendsten  der  fraglichen 
Darstellungen  wird  das  Gesagte  bestätigen. 

An  einer  früheren  Stelle  habe  ich  schon  darauf  hingewiesen, 
wie  in  dem  vierten  Abschnitte  des  Hauptwerkes  von  Karl  Marx 
sowohl  die  Lehre  von  den  gewerblichen  Betriebsformen  *)  eine  aus* 
gezeichnete  Vertiefung  erfahrt  als  auch  die  Lehre  von  den  den  ver- 
schiedenen Wirtschafbstufen  entsprechenden  Wirtschaftsformen  und 
ihren  Grundzügen  vor  unserem  Blicke  hingebreitet  wird.  Aber  wir 
würden  fehlgehen,  daraus  zu  schliefsen,  dafs  Marx  eine  befriedigende 
Darstellui^  der  Organisationsformen  gewerblicher  Arbeit  gegeben 
hatte.  Abgesehen  von  seiner  Eigenart,  niemals  sich  mit  einer  schul- 
gerechten Definition  oder  methodisch  etnwandfi'eien  Systematik 
lange  abzumühen,  stofsen  wir  doch  zu  unterschiedlichen  Malen  selbst 
bei  Marx  aufstellen,  die  uns  die  Ueberzeugung  verschaffen,  dak 
sich  unser  Autor  nicht  zu  völlig  klarer  Auflassung  des  Wesens- 
unterschiedes der  beiden  Typen  gewerblicher  Organisation  durch- 
gerungen habe.  Was  dem  ganzen  vierten  Abschnitte  des  Kapitab 
seine  Grundstimmung  verleiht,  ist  die  Tendenz,  Manu&kt.ur  und 
l  abrik  als  spezifisch  kapitalistische  Betnebsformen  zu  kennzeichnen. 
Dagegen  wäre  an  sich  noch  nichts  einzuwenden,  wenn  nicht  Marx 
durch  dieses  Bemühen  dahin  geführt  wurde,  schliefslich  den  Unter- 
schied zwischen  den  beiden  Formen  des  Grofsbctriebs  und  der 
kapitalistischen  l'nternehmung  bis  zur  l^nkenntlichkeit  zu  verwischen. 
Zu  vergleichen  sind  namentlich  das  elfte  Kapitel  und  der  vierte 

Ich  bespreche  im  Folgenden  die  verschiedenen  Autoren  mter  BennUung  der 

von  mir  gebildeten  Tt-rminologic ,  auch  wenn  diese  mit  derjenigen  der  analynertcn 
Schriftsteller  nicht  tibereinstimmt.  Es  wird,  soweit  nötig,  auf  die  diesen  idbst  eigene 
Terminologie  verwiesen  werden. 


Digitized  by  Gopgle 


Die  gewerbliche  .\rbeit  und  ihre  Organisation.  ^ij 


Unterabschnitt  des  zwölften  Kapitels,  wo  „manutakturniäfsigcr  Be- 
trieb" promiscue  für  kapitalistische  Unternelirnung  (z.B.  S.  318  und 
324)  und  arbeitsteilige  Kooperation  als  Betriebsform  (z.  B.  S.  323) 
gebraucht  wird.  Des  Ferneren  iäfst  die  Unterscheidung  zwischen 
der  Hausindustrie  als  einer  Erscheinungsform  der  kapitalistischen 
Unternehmung  und  der  Betriebsform  des  isolierten  Arbeitsprozesses, 
auf  der  sich  die  Arbeit  der  einzelnen  Hausiiidustricllcii  aufbaut,  an 
Schärfe  zu  wünschen  übrig,  /..  B.  auf  .S.  307.  wo  das  „Indels"  der 
letzten  Zeile  eine  bei  Marx  sonst  völlig  unbekannte  Unsicherheit 
verrät. ' ) 

Lälst  sciion  die  Darstellung  bei  Marx  unbefriedigt,  so  cnscheincn 
mir  die  s})ätcren  X'ersuche  einer  Systematik  der  Wirtschafls-  und 
Betriebsformen  noch  unzulänglicher. 

Im  unmittelbaren  .\nscliluls  an  Marx  hat  Alphons  Tii  u  n 
eine  vielbenutzte  Tafel  der  „gewerblichen  Betriebssysteme"  als  An- 
hang zu  seinem  Werk  über  die  Industrie  am  Niederrhein  veröffent- 
licht, ^  ohne  jedoch  über  Marx  hinauszukommen,  den  er  vielmehr 
an  Tiefe  der  Einsicht  noch  nicht  einmal  erreicht. 

Thun  unterscheidet  „vier  Formen^  in  denen  die  Gewerbe  „be- 
trieben" werden:  Handwerk,  Hausindustrie,  Manu&ktur  «ind  Fabrik. 
Diese  ^^etriebs^steme"  charakterisiert  er  dann  im  wesentlichen 
nach  den  Abhängigkeitsverhältnissen  der  Arbeiter,  also  nach  historisch* 
rechtlichen  Momenten  als  Wirtschaftsformen,  was  schon  ein  grober 
Irrtum  ist  Denn  ab  solche  stehen  Hausindustrie,  Manu&ktur  und 
Fabrik  sich  nicht  unterschiedlich  gegenüber,  sondern  stimmen  mit- 
einander überein.  Wenn  Thun  dann  (a.  a.  O.  S.  242)  fortfahrt: 
fjyit  genannten  vier  Betriebssysteme  lassen  sich  vor  allem  in  der 
Verkebrswirtschaft,  aber  auch  in  der  Eigenwirtschaft  verfo^en,"  so 
legt  er  ihnen  nun  offenbar  eine  ganz  andre  Bedeutung  unter,  nämlich 
die  der  Betriebsformen  in  unserm  Sinne.  Aber  auch  das  wieder 
nicht  konsequent ,  da  er  alsobald  wieder  das  Handwerk  mit  Merk- 
malen einer  historisch  bestimmten  Produktionsform  (,.die  Masse  der 
Arbeiter  ist  Unternehmer,  ausgestattet  mit  einem  kleinen  Anlage- 
kapital" etc.  S.  242,43)  belegt. 

Eine  bedeutsame  Förderung  hat  unsere  Lehre  durch  die  Arbeiten 

'   Vgl.  auch  noch  Misere,  ISS. 

'  .\.  riiun,  Die  Industrie  am  Nirdrrrhcin.  Bd  II  (1879)  S.  242  ff.  Darauf 
fofseod  Ad.  Braun,  Zur  Frage  der  gewerblichen  Betriebssysteme.  (Deutsche  Worte. 
IX.  Jahrg.  1SS9.  .S.  248  ff. j 


üiyiiized  by  Google 


3i8 


Werner  Sombart, 


Karl  Hiichcrs')  erfahren,  in  denen  er  die  Theorie  von  Marx  und 
Rodhcrtus  mit  den  schon  erwähnten  F'orschunj^en  der  historischen 
Nationalökonomie  iiber  das  Handwerk  zu  vereinijijen  bemüht  ist. 
Büch  er  s  Tafel  der  fünf  „Hauptbetriebssysteine  des  Gewerbes"  ist 
fülgeiide : 

1)  das  Hauswerk  (früher  Hausfleils  genannt j, -) 

2)  das  Lohn  werk, 

3)  das  Handwerk, 

4)  das  X'erla^ssystem  („Hausindustrie"), 

5)  die  Fabrik. 

Daj^egen  habe  ich  I'olgendes  zu  bemerken.  Ab<:^esehcn  von 
Einzelheiten  der  Systematik,  in  denen  ich,  wie  im  weitcrem  \'erlauf 
meiner  Darstellung  sich  ergel)en  wird,  von  Bücher  abweiche,  be- 
mängele ich  an  seiner  Tafel  wiederum  die  Durcheinandermischung 
von  Betriebs-  und  Wirtschaftsformen.  „Hauswerk",  Lohnwerk.  Hand- 
werk, \'erlagss\  stem  drücken  bestimmte  X'erwertungs/.wecke  aus,  wie 
sie  in  den  Wirtschaftsformen  zum  Niederschlag  gelangen;  die  Fabrik 
ist  eine  beslimnUe  .Anordnung  des  Arbeitsprozesses,  die  gegenüber 
dem  \'erwertungs/,weck  indifferent  ist.  Das  ist  ganz  richtig  fest- 
gehalten, wo  Bücher  diese  Betriebsform  von  der  der  isolierten  Klein- 
betriebe, die  die  Basis  des  X'erlagssystems  bildet,  unterscheidet:  „die 
Fabrik  organisiert  den  ganzen  Produkt ionsprozefs"  u.  s.  w.  Dann 
aber  verschmilzt  der  Bcgritf  der  Fal)rik  wieder  mit  der  kapitalistischen 
Unternehmung:  es  sind  Pligentümlichkeiten  der  Fabrik:  „das  be- 
deutende Kapitalerfordernis,  die  wirtschaftliche  Unselbständigkeit  der 
Arbeiter"  (a.  a.  C).  S.  155).  Aber  sind  diese  Merkmale  nicht  auch 
dem  Verlagssystem,  als  einer  anderen  horm  der  kapitalistischen  Unter- 
nehmung, eigen?  Und  —  umgekehrt  —  würden  die  Arbeiter  in  der 
von  einem  so/ialisti>chen  ( lemeinwesen  betriebenen  Fabrik  ..wirt- 
schaftlich unselbständig"  sein:  oder  sind  dies  aucli  nur  die  Arbeiter 
einer  Genossenschaftsbäckerei  ^ 

Mancheilei  beachtenswerte  h.rörterungen  zu  unserem  Thema 
enthält  die  Inauguraldissertation  J.  Helphands,  eines  Schulers 
Büchers,  tler  aucli  in  Marx  beschlagen  ist.    Diese  Kreuzung  Marx- 

'1  V|^l.  .Artikel  ,,( ji-wcrbi-"  in  II.  St.  und  den  Aufsalz  „Die  gewerblichen  Bc- 
tricb.s.systeme  in  ilir-  r  K'"^ti»ichtlichen  Entwicklung"  in  der  EnUteliung  der  Volks- 
wirtschaft.   2.  Aull.  1S9S. 

Uiichcr  hat   in  d<-r  2.  .\ufla<jo  den  .Vusdruck  ,,1  lauitleil>  ■  .lu»  den  von  mit 
in  dem  .-Vrtikcl  „Hausindustrie"  geltend  gemachten  Gründen  l&llcn  lassen 


Die  gcwerbliciie  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


3»9 


Bücherscher  Gedankengänge  läfst  von  vornherein  Tüchtiges  erwarten. 
Leider  aber  versagt  dem  Autor  die  Kraft  im  entscheidenden  Momente. 
Seine  Unterscheidung  in  „technische"  und  „ökonomische"  Organisation 
der  Arbeit  kommt  der  richtigen  Auflassung  ziemlich  nahe.')  Doch 
nimmt  der  Verfasser  die  Frage  gerade  der  „Organisation"  im 
weiteren  Verlauf  seiner  Arbeit  nur  gelegentlich  wieder  auf  und 
verzichtet  gänzlich  darauf,  die  verschiedenen  Formen  der  beiden 
Organisationsweisen  zu  charakterisieren  und  in  eine  systematisch 
gegliederte  Gegenüberstellung  zu  bringen. 

Endlich  müssen  hier  noch  die  neueren  Arbeiten  Gustav 
Schmollers  Erwähnung  finden,  die  sich  mit  unserem  Probleme 
beschäftigen.*)  Während  Schmoller  in  seiner  Abhandlung  über 
die  Arbeitsteilung,  ihre  Ursachen  und  ihre  Wirkungen,  wo  Gelegen- 
heit gewesen  warfc,  eine  S3^tematik  der  Betriebsformen  zu  geben, 
nur  gelegentlich  die  Frage  der  Organisation  überhaupt  streift,  ist 
seine  Artikelserie  über  die  geschichtliche  Entwicklung  der  Unter- 
nehmung recht  eigentlich  eine  Geschichte  sozialer  Organisations- 
typen. Sc  hm  oll  ers  Darstellung  kommt  der  hier  vertretenen  Auf- 
&ssung  insofern  am  nächsten,  als  er  unter  Unternehmung  wesentlich 
dasjenige  versteht,  was  wir  mit  Wirtschaftsformen  bezeichnet  haben. 
Was  ich  vermisse,  was  aber  auch  nicht  eigentlich  in  der  Aufgabe 
der  Schmollerschen  Arbeit  lag,  ist  die  bewufste  und  ausdrückliche 
Gegenüberstellung  der  beiden  wesensverschiedenen  Formen  der 
Arbeitsorganisation,  wie  sie  von  mir  vorgenommen  worden  ist.  Die 
DtfTerenzpunkte  zwischen  Schmoller  und  mir  in  der  Auflassung  der 
einen  Reihe  von  Organisationen,  der  Wirtschaftsformen,  zu  deren 
Erforschung  er  so  außerordentlich  viel  lehrreiches  Material  beige- 
bracht hat,  werden  besser  dort  ausgetragen  werden,  wo  ich  die 
spezielle  Aufgabe  einer  systematischen  Darstellung  dieser  Gebilde  zu 
losen  unternehme. 

Die  übrige  Litteratur,  die  etwa  noch  in  Betracht  zu  ziehen 
wäre,  übergehe  ich  an  dieser  Stelle,  weil  sie  nur  wenig  zur  Losung 
unseres  Problems  beigebracht  hat,  wie  die  Arbeit  von  Held,') 


*)J.  Helphand,  Tedmische  Organisation  der  Arbeit.   Zttrich  1891.  S.  6  -9. 

*)G.  ScbmoUer,  Die  Tbatsachen  der  Aibdtiteilai^,  in  sdncm  Jahrbuch 
Xm.  Jahrg.  (1889)  S.  1003  f.  Derselbe,  Die  geschichtliche  Entwickliing  der  Unter- 
aebnnnig,  ebenda  Jahrg.  XIV— XVn  (1890—94). 

*)  Ad.  Held,  Handwerk  und  Grofstndostrie  im  Anbang  so  seinen  zwei  Büchern 
tor  socialen  Geschichte  Englands.    Lpz.  1881.    Held  unterscheidet  in  bekannter 


Digitized  by  Google 


320 


Werner  Somb*rt, 


oder  sich  mit  D^taÜfragen  beschäftigt,  wie  die  Aufsätze  von 
Schwarz^)  und  Schäffle,*)  die  nur  von  den  verschiedenen  Be- 
triebsformen einer  und  derselben  Wirtschaftsform,  der  kapitaUstischen 
Unternehmung,  handeln.') 


Weise  „drei  FomicD  des  Gewerbebetriebe»",  nämlich  Handwerk,  Hausindustrie  und 
Fabrik  industrie. 

')  O.  Schwarz,  Die  Betriebsformen  der  modernen  Grofsindustrie  in  derZeit- 
schrift  mr  die  ges.  StaaUwissentdiRften,  XXV.  Jahrg.  (1869)  S.  535  tT. 

*)  A.  E.  Fr.  Schiffle,  Die  Anwendbarkeit  der  Tendiiedenen  CntecnebmnnK»> 
formen.  Ebenda  S.  361  ff. 

*)  Mehrend  der  Korrektor  erhalte  ich  das  Buch  von  R.  Lief  mann,  Ud»er 
Wesen  and  Formen  des  Verlags  (der  Haasindnstrie).  Ein  Beitrag  rar  Kenntnis  der 
volkswirtschaftlichen  Or^^anisationsformen.  Freibuig  1899,  das  sich  vielfach  mit  den 
Gedankengängen  dieser  Studien  berührt.  Liefmanns  scharfe  Kritik  der  früheren 
Theoriern.  einschliefslich  meiner  eigenen,  ist  grofsenteils  berechtigt.  Seine  eigene 
Theorie  dagegen  halte  ich  für  verlehlt  und  Liefmann  seihst  wird  jetzt,  da  er  meine 
neueren  Arbeiten  kennt,  nicht  /.wt  ifelhaft  sein,  dafs  er  den  Kern  der  Sache  nicht 
getroffen  hat,  der  eben  in  nichts  anderem  als  in  der  Unterscheidung  zwischen  (tro' 
daktions-)Betrieb  und  (Prodaktloas-)Wirtachaft  betteht  Ueber  da«  Wesen  beider  ist 
Liefinann  noch  einigcrmafsen  im  Unkkren,  sonst  würde  er  nicht  behaopten  bei« 
spleifweiae,  dafs  es  nur  awei  Arten  von  Betrieben  (Klein-  und  Grofsbetriebe)  gebe, 
da(s  Einheit  der  Betriebsstitte  Kriterium  der  Betriebseinheit  sei.  oder  gar  den 
ongdienerlicben  Gedanken  einer  Prodoktion  ohne(i)  Betrieb  anisprechen  (S.  63). 
Ein  tieferes  Nachdenken  würde  ihn  aber  auch  dazu  gefllhrt  hallen,  die  trennenden 
Merkmale  zwischen  Froduktions»  and  Handel sunternehmong  ra  finden  und  damit 
zur  Annahme  eines  l'roduktionswirtschaftsleiters  i\x  kommen,  der  weder  Betriebs- 
leiter noch  blo(>  Hiiiidler  ist.  Was  Liefmann,  wie  allen  bisherigen  Autoren  fehlt, 
ist  der  befreiende  (;.-(l.inko,  dalsdie  1' r  o  d  u  k  ti  <>  n  s  w  i  r  l  sc  h  a  f  t  nicht  im  Zweck 
der  Güter  erzeugung,  sondern  in  dem  der  Güter  Verwertung  ihre 
Einheit  findet.  Selbständige  Produktionswirtschaften  neben  den  Betrieben  an- 
sunehmen ,  ist  aber  nicht  nur  möglich ,  sondern  sdilediterdings  unentbehrlich  fir 
ein  richtiges  Verstlndnis  snmal  des  modernen  Wirtschaftslebetts.  Der  Hanplgedanke 
Liefmanns,  die  Organisatiottsformen  gewerblicher  Arbeit  nach  dem  Charakter  des 
ihnen  an  Grande  liegenden  Arbeitsvertrages  (ob  ein  Produkt  oder  ebe  Leistung 
tauscht"  wird)  zu  unterscheiden,  ist  deshalb  ganz  verfehlt,  weil  er  uns  der  Möglich* 
keit  beraubt,  die  Schwerpunkte  des  Wirtschaftslebens  zu  bestimmen,  die  eben  in  den 
die  Produktion  organisierenden  Troduktionswirtschaftsubjekten  liegen.  Bei  Annahme 
der  Liefmannschen  Aiittav-ung  wurd>'  un-  nichts  als  ein  ung^licderter  Haufen  von 
einzelnen  Arbeitsverträgen  in  der  Hand  bleiben. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


321 


IV. 

Betrieb  und  Betriebsformen. 

I.  Begriff  und  Wesen  des  Betriebes. 

Unter  einem  Betrieb  wollen  wir  verstehen  eine  Veranstal- 
tung^ zum  Zwecke  fortgesetzter  Werkverrichtung. ^) 
In  dieser  Begrififsbestimmungf  ist  Folgendes  enthalten: 

An  Thätigkeit,  an  Ausfuhrung,  an  W'crkverrichtung  denken  wir 
zunächst,  wenn  wir  von  dem  „Betreiben"  einer  Sache  sprechen. 
Diese  Vorstellung  mufs  auch  in  dem  wissenschaftlichen  Begrift 
des  Betriebes  zum  Ausdruck  gebracht  und  damit  gleichzeitig 
einer  Ablenkung  der  Gedanken  in  anderer  Richtung  vorgebeugt 
werden.  Wir  sollen  weder  an  die  Veranlassung,  noch  an  die  Ver- 
wertung der  Thätigkeit  denken,  wo  wir  von  ,3^trieben"  reden. 
Aber  nicht  jede  Thätigkeit  an  sich  ist  schon  ein  „Betrieb".  Viel- 
mehr müssen  einschränkende  Merkmale  hinzutreten,  um  aus  aller 
irgendwie  sich  vollziehenden  Thätigkeit  ,3ctriebe"  auszusondern. 
Indem  wir  von  einer  Werkverrichtung  ^echen,  drücken  wir  schon 
aus,  dals  es  sich  um  einen  Komplex  von  Thätigkeiten  um  ^ne 
Summe  von  Arbeitsprozessen  handeln  muls.  Nun  ist  aber  auch 
nicht  jeder  Komplex  von  Thätigkeiten  zur  Werkverrichtung  ein 
„Betrieb".  Man  mufe  weiter  einschränken.  Das  geschieht,  indem 
man  von  fortgesetzter  Werkverrichtung  spricht.*)   Nun  ist  aber 

')  Was  hier  i-rstmalig  versucht  wird  ist  Hie  F'-stl<-^'unt^  des  Ökonomie  h»  n  l'.e- 
griifes  des  Betriebes.  Er  unterscheidi^t  sich  von  dem  juristischen.  Der  Jurisprudcui 
liat  sidl  die  Notwendigkeit  einer  genauen  Formulierang  des  BetriebsbegrifTes  vor 
«nein  doch  die  neoere  Arbeitergesetzgebung  aufgedrängt.  Am  ansfllhrUcfasten  und 
•diarfaiimigiten  iitinder  jttriitisehcn  Litteratnr  dasTlieina  »bgehandelt  bn  H.  Ro$in, 
Du  Recht  der  Arbeitenrenichcniiig.  Bd.  L  Die  reichsreditliclien  Gnudlagen.  Berlin 
>^3*  §8  33  ff*  Rotin  definiert  den  „Betrieb**  ,4m  Sinne  des  Gesetiei**  ab  einen 
„bb^rüT  erlaubter  wirtschaftlicher  Thätigkeiten  von  verhältnismäfäiger  Kontinuitfit 
od  Dnner*'  (a.  a.  O.  S.  209).  Das  „erlaubt"  giebt  die  rechtliche  Färbong,  die  dem 
olionomiachen  Hc^TilT  U-hh. 

')  Das  thut  auch  nach  Meinung  Ro->ins  die  Definition  in  Anni.  l  — 

dt-r  (Jcsct/.pcbcr  in  den  Arbciterver.sichcrung.s<,'e5ot/cn.  N  idU-ichl  bccinflul>t  durch  die, 
sagen  wir  „herrschende"  Auffassung  der  offiziellen  deutschen  Nationalökonomie,  wie 
ne  in  Schönbergs  Handbuch  immer  ihren  Ausdruck  findet.  Dort  definiert  Klein- 
wichter  (I  *,  303)  wie  folgt:  „Nimmt  die  Produktion  einen  (mehr  oder  weniger!) 
davcmden  Chankter  an,  so  spricht  man  von  einem  Betriebe  der  Produktion  und 
vcistebt  darunter  die  (mdir  oder  weniger!)  dauernde  Vereinigung  und  Verwendung 


Digitized  by  Google 


322 


Werner  Sombart, 


offenbar  das  Kriterium  der  Fortsetzung  auch  noch  nicht  genugead, 
um  den  Begriff  des  ,3ctriebes"  zu  konstituieren,  da  es  beispiels- 
weise auch  der  Thätigkeit  vieler  Tiere  innewohnt,  ohne  diese  zu 
Betrieben  zu  gestalten.  Die  Thätigkeit  des  Tieres,  das  seine  Höhle 
baut,  seine  Nahrung  einsammelt,  die  Thätigkeit  des  Biber,  der 
Bienen,  des  Maulwurfs  ist  doch  sicherlich  eine  fortgesetzte.  Werden 
wir  aber  von  einem  Betriebe  dieser  Tiere  reden  dürfen?  Doch  ge- 
wifs  nicht.  Also  mufs  ein  anderes  Spezifikum  dem  Begriffe  des 
Betriebes  eigen  sein,  wodurch  wir  ihn  von  einer  beliebigen  Thätig- 
keit des  Menschen  und  von  einer  selbst  dauernden  und  kontinuier- 
lichen des  Tieres  unterscheiden.  Das  ist  nun  aber,  wie  mir  scheint, 
das  PlanmäTsige,  Ordnunghafte,  was  jedem  Betriebe  eigentümlich 
ist.  Dieses  rückt  unsere  Begriffsbestimmung  in  den  Vordergrund, 
indem  sie  ihn  eine  Veranstaltung  nennt. 

Betreibt  eine  Person  allein  eine  Arbeit,  so  ist  die  Ordnung,  die 
diese  Arbeit  zum  Betriebe  macht,  eine  nur  subjektive,  sie  erscheint 
lediglich  als  vernünftiger  Plan  des  arbeitenden  Individuums.  Aber 
ein  solcher  ist  sicherlich  immer  vorhanden,  wo  es  sich  um  Arbeit 
zu  wirtschaftlichen  Zwecken  handelt,  mag  auch  die  Arbeit  so  „planlos" 
wie  möglich,  mag  sie  ungeregelt  und  launenhaft  erscheinen. 

Der  undisziplinierte  Hausindustrielle  stellt  in  manchen  Fällen 
den  Typus  eines  solchen  scheinbar  planlosen  Arbeiters  dar:  wenn 
er  bald  feiert,  bald  bis  tief  in  die  Xacht  arbeitet,  wie  ihm  gerade 
die  I.ust  dazu  ankommt.  Aber  solche  Unregelniäfsigkeit  der  Arbeit 
benimmt  dieser  doch  nicht  völlig  das  Merkmal  des  Planmäfsigen, 
sonst  wäre  es  keine  vernünftige,  d.  h.  eben  menschliche  Thätigkeit. 
Jedem  noch  so  liederlichen  Betriebe  eines  HausindustricUen  liegt 
ein  Arbeitsplan  zu  Grunde:  danach  sind  die  Produktionsmittel 
angeschafft,  danach  wird  die  Arbeitskraft  verwendet,  danach  wird 
Arbeit  gesucht  u.  s.  w. 

Der  Plan  der  Produktion  ol^jekti viert  sich  nun  aber  notwendig 
in  einer  Ordnung,  sobald  mehrere  Personen  ihre  Arbeit  zu  gemein- 
samem WirkiMi  \  ereinigen.  Denn  damit  alsdann  die  Thätigkeit  des 
einzelnen  sich  planmäfsig  einfüge  in  die  Gesamtarbeit,  mufs  sie  von 
vornherein  an  die  richtige  Steile  und  die  richtige  Zeit  und  zur 
richtigen  Art  disponiert  sein.  Es  ergiebt  sich  danach  stets  eine 
Betriebsordnung  :  sie  mag  gedacht,  gesprochen,  geschrieben,  gedruckt 
sein;  sie  mag  stillschweigend  vereinbart  oder  ausdrücklich  erlassen, 

produktiver  Knfte  tarn  Zwecke  der  Produktion  in  einer  Wirtachalt**  An  Stelle  des 
j.dftoeroden"  glaubte  ich  besser  du  .«fortgesetzte"  treten  lassen  zu  sollen. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


3»3 


sie  mag  autonom  oder  heteronom  fiir  die  einzelnen  Organe  des 
Arbeitsprozesses  sein  —  das  bleibt  sich  gleich,  genug  sie  ist  da. 

Das  Merkmal  der  Ordnung  erweist  sich  nun  aber  noch  des 
weiteren  insofern  fiir  unsere  Zwecke  fruchtbar,  als  es  uns'in  den  Stand 
setzt,  mit  seiner  Hilfen  den  einzelnen  Betrieb  ab  Einheit  zu  erkennen, 
ihn  zu  individualisieren,  wahrend  das  bei  einer  Begriflsbestimmung 
ohne  unser  Kriterium  nur  schwer  möglich  ist  Rosin  kommt  denn 
auch  zu  dem  Ergebnis:  „Nach  welchem  Gesichtspunkte  (Moment)  nun 
ein  Betrieb  zusammengehalten  und  von  anderen  gesondert  wird, 
laCst  sich  ein  fiir  allemal  nicht  feststellen;  ein  einheitliches  Indivi- 
dualisierungsmoment  giebt  es  nicht." Für  uns  dagegen  giebt  es  sehr 
wohl  ein  solches;  das  ist  die  Einheit  der  Betriebsordnung, 
wie  sie  der  Bctricbsveranstaltung  zu  Ci runde  liegt  Wobei  es  nun 
freilich  noch  erst  darauf  anl«>mmt  das  Moment  der  einheitlichen 
Ordnung  in  allen  seinen  Nuancen  genau  zu  bestimmen. 

Die  Gesamtaufgabe  der  Betriebsanordnung,  können  wir  sagen, 
ist  die  zweckentsprcrlicndc  Zusanimc  nfügung  der  einzelnen  Produk- 
tionsfaktoren zu  einem  (lanzet.  durrh  ihre  richtige  Disposition  über 
Raum  unfl  Zeit.*)  Im  einzelnen  bezieht  sich  die  Betriebsanordnung 
auf  f(jlgcnde  Punkte,  in  denen  allen  die  Feinheit  tler  Anordnung 
nachweisbar  sein  mufs,  damit  wir  von  Kincm  Betriebe  reden  dürfen: 

a)  die  Einleitung  des  Arbeitsprozesses ;  dazu  gehört  \'er- 
fügungsgcwalt  über  .Annahme,  Anstellung,  Entlassung  der 
Arbeiter  in  quantitativer  wie  qualitativer  Hinsicht,  sowie 


'l  A.  a.  O.  S.  212.  k.  /iililt  dann  nacheinander  dieimiKen  Merkmale  auf, 
die  im  Sinne  der  Versichcrungsgesetzc  jeweils  die  Einheit  des  lletriebc>  bestimmen  : 
I.  Idenlitäl  des  BeUiebsanternebmers,  für  dessen  Rechnung  gewisse  Komplexe  von 
Thiligkritgii  ikh  ToUiidien.  2.  Dm  pendnlidie  Moment  des  Unteraelunen  ttod  das 
«ichlichf'  des  Betrieb^gegeutaiMles  maanmen.  3.  Das  bcmutelleBde  opus.  4.  Be« 
tricbsmittel  and  Betiicbsstltte.   5.  Nor  dk  Betriebntitte  (a.  a.  O.  S.  si3>-ai7). 

*)  „Die  teclmitclie  OrgantaadoB  —  da  aodcKr  Anadnidc  Dir  das,  was  wir  Be- 
tMmmofäamg  aMmen  —  besteht  darin,  die  Arbeitskitfte  für  die  crfonleilichen 
Kunst-  und  Gcwaitverriclxtungen  anzuwerben,  nie  mit  den  erfotderlichen  Werk«  und 

Machtmitteln  aasrustatten,  beide  zu  einem  wirkungsföhigen  (echni-<h'-n  Körper  zu 
gliedern  und  zu  schulen."  „Die  technische  r)rjTanisation  l)esteht  -»onarh  in  fort- 
gesetzter Anscliaffung  und  Zusammenfassung  der  Ar()ri'>kr.ülte,  d<  r  Bearl)eitun>,'s^totTe, 
der  HiU's&tofTe,  der  Lmsalznoittel,  der  stehenden  Werkvorrichtungen,  der  chemi>chen 
Apparate,  der  Trieb*  oad  Tfanaportmatdifaiea  (der  Waffen  und  sonstigen  Schutz* 
werineoge)  m  Einem  Inuiitfeitigen  Körper.**  Scliiffle,  Ban  und  Leben  des  sot. 
Körpers.  I.  S73. 

Afdiiv  l&r  «M.  GMMigviMiiiK  u.  Sutiitik.  XIV.  31 


Digitized  by  Google 


^24  Werner  Sombart, 

Verfügungsgewalt  über  die  zur  Produktion  nötige  Werkstatte 
und  die  erforderlichen  Arbeitsmittel ; 

b)  die  Gestaltung  des  Arbeitsprozesses,  d.  h.  die  Bestimmung 
über  den  Ort,  wo  ?  und  die  Zeit  wann }  produziert  werden  soll ; 

c)  die  Ausführung  des  Arbeitsprozesses»  d.  h.  die  Fürsorge 
für  die  thatsächliche  Durchführung  des  vofgezeichneten 
I^esi  für  die  vorschriftemafsige  Abwicklung  des  Arbeits- 
prozesses; mit  andern  Worten:  es  muls  auch  die  Leitung 
eine  einheitliche  sein,  was  sich  äuiserlich  in  der  Identität  der 
leitenden,  aufsichtführenden  Organe  kundgiebt. 

Das  mag  an  einigen  Beispielen  verdeutlicht  werden.  Ein  ein* 
heitlich  geordneter  Betrieb  ist  in  der  R^el  der  Betrieb  eines  Haus- 
industriellen. Denn  alle  drei  Anforderungen  werden  von  ihm  er- 
füllt: ad  a)  er  stellt  die  Arbeitskräfte  nach  Belieben  an,  so  viel 
und  welcher  Art  er  will;  er  versieht  sie  mit  den  nötigen  Arbeits- 
mitteln, wobei  es  gleichgültig  ist,  ob  er  etwa  Werkzeuge  und 
Rohstoffe  vom  X'^erl^er  geliefert  erhalt,  was  nur  eine  vermögens- 
rechtliche Beziehung  ausdrückt;  er  stellt  ihnen  die  Werkstätte  zur 
Verfügung;  kurz  er  ist  der  Organisator  des  Arbeitsprozesses,  der  die 
Ausführung  eines  Werkes  zum  Inhalt  hat;  ad  b)  er  bestimmt 
den  Ort  der  Produktion  —  beispielsweise  ob  bei  ihm  oder  in  einer 
andern  Werkstatt  gearbeitet  werden  soll  —  er  bestimmt  die  Arbeits- 
zeit: Anfang,  Knde,  Pausen;  ad  c)  er  führt  die  Aufsicht,  bei  ihm 
ruht,  wie  man  sagen  könnte,  die  Betriebspolizei.  All  diese  Momente 
sind  einheitlich  geordnet  in  Kinem  Hausindustriellenbetriebe,  ver- 
schieden in  den  verschiedenen  Betrieben.  NB.  Trotzdem  diese  den 
Anstoss  zur  Produktion  möglicherweise  von  Einer  Stelle  aus,  von 
Einem  kapitalistischen  Unternehmer  erhalten  können.  Es  genügt 
also  die  Zuteilung  der  Arbeit  an  einzelne  Hausindustrielle,  auch 
wenn  sie  nach  einem  einheitlichen  Plane  erfolgt,  nicht,  um  die 
Einheit  eines  Betriebes  zu  konstituieren.  Diese  heischt  nicht  nur,  SO 
UUst  es  sich  in  Einem  Wort  ausdrücken,  einheitliche  Produktions- 
leitung, sondern  einheitliche  Werkleitung. Ebensowenig  genügt 

Dafs  die  Hclricbscinlicil  bei  der  hausindustriellen  Orjianisatiüii  nicht  von 
der  Gesamtheit  der  dem  Kommando  des  Verlegers  unterstehenden  HausindustricUen, 
somdeni  von  dem  einwliieii  Hrasindnstrielleii  dargestellt  wird,  prägt  sich  mu  be- 
sonders deutlidi  ciUi  wo  die  hausindutriellen  Betriebe  sidi  so  gröbetcn 
i^wischenmeisterwerkstitten"  answaduen.  Diese  oft  redit  stattlkhen  Betriebe 
irird  iedemuum  notwendig  als  einheitlidie,  abgeschlossene  Lulividaen  ansehen 
nflssen;  smual  wenn  sie  bald  fitr  diesen,  bald  fttr  jenen  oder  sogar  sogleich  flir 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


dazu  die  emheitliche  kaufmännische  Spitze  eines  „Geschäfts",  d.  h. 
einer  Unternehmung:  eine  Unternehmung,  die  an  ganz  verschiedenen 
Orten  je  eine  Spinnerei,  eine  Weberei,  eine  Druckerei  etc.  hat,  ist 
nicht  Ein  Betrieb,  sondern  zerfallt  in  eine  Anzahl  Betriebe.  Das 
äulsert  sich  bebpielsweise  in  einer  vielleicht  völlig  verschiedenen 
Betriebsordnung  bei  den  einzelnen  Betrieben:  wenn  in  diesem 
katholische  Feiertage  eingehalten  werden,  in  jenem  nicht;')  wenn 
'  in  diesem  eine  chikanöse  Behandlung  der  Arbeiter  stattfindet,  in 
jenem  nidit;  wenn  in  diesem  gestrdkt  wird,  in  jenem  nicht;  wenn 
in  diesem  ein  neues  Verlahren  eingeführt  wird,  in  jenem  nicht; 
wenn  dieser  ganz  eingestellt  wird,  jener  nicht;  wenn  in  diesem  die 
Arbeitszeit  verkürzt  oder  verlängert  wird,  in  jenem  nicht  u.  s.  w.  u.  s.w. 

Genügt  danach  einheitliche  Produktionsorganisation  nicht,  um 
die  Einheitlichkeit  eines  Betriebes  zu  begründen,  so  ist  umgekehrt 
nicht  etwa,  wie  aus  den  angeführten  Beispielen  irrtümlich  gefolgert 
werden  könnte,  Einheit  der  VVerkstätte  immer  notwendiges  Er- 
fordernis für  die  Einheitlichkeit  eines  Betriebes:  diese  kann  auch 
vorliegen,  trotzdem  sich  der  Betrieb  an  verschiedenen  Punkten  ab- 
spielt. Geschieht  dies  nacheinander,  so  dürfte  überhaupt  kein 
Zweifel  an  der  Einheit  des  Betriebes  aufkommen;  so  bei  der  Arbeit 

mehrere  Verleger  arbeiten.  Letzteres  ist  auch  bei  eiiuchien  Ilausindustriellen  häufig 
der  Fall:  in  wdcbem  Betriebe  wfliden  sie  alsdaiia  arbeiten?  oder  wttide  der  Hcim- 
aibeiter  in  einen  anderen  Betrieb  eintreten,  wenn  er  die  Hosen  des  Einen  Verlegers 
wefl^  und  die  Weste  des  anderen  in  Angriff  ninuntt!  Interessant  ist  es,  «a  beob> 

achten,  wie  durch  allerhand  Auskünfte  die  Verleger  die  offenbaren  Mingel  der 
Nichteinheitlichkett  der  hausindustriellen  BetriFhc  ni  verringern  bemüht  sind.  So 
durch  Anstrllunj;  sop.  „F.intreibrr",  über  die  c1<t  ..Konfektionär"  vom  16.  März  1890 
folgendes  bemerkte:  ,,F.  i  n  t  r  c  i  b  e  r  wrrden  j.;  «•  s  ur  h  t '  Dieser  Ausdruck  mag 
wohl  neu  sein,  bisher  gab  es  in  der  Kualcktiuu  nur  tinrichlcr.  „Einlreibcr"  werden 
solche  junge  Leute  genannt,  welche  während  der  Saison  täglich  von  morgens  früh 
bis  abends  spit  die  Schneider  besodien  mttssen  nnd  daflir  su  sorgen  haben,  dals  die 
Lieferangen  pOnkdich  heranakommcn,  dafs  die  Schneider  flott  liefern,  dafs  sie  not- 
wendige und  eilige  Sadien  raerst  vornehmen,  dafs  sie  jetat  gestickte  Kragen  nnd 
keine  Tüllkragen  ablirfem,  die  noch  nicht  gebraucht  werden  rtc  Solche  Eintrdber 
sind  jetrt  sehr  gesucht." 

'  Vgl.  /.  H.  den  viel  besproch'  n.-n  Kall  der  .Aussperrung  der  .\rl)eitcr  auf  dem 
l'u-Nberg,  welche  der  GeorgN-Marienluittr  angehörten.  I)er  Streit  w;ir  entstünden, 
weil  aul  diesem  Bergwerk  andere  kathulischc  Feiertage  eingehalten  werden  sollten 
als  auf  den  fibrigen.  ScUicftdtch  wnr^  der  Kesberg  gar  nicht  mehr  in  Betrieb 
cfhalten,  das  Beifweric  ersoff'.  Siehe  Deutsche  Indnstrieseitung  XVII  (1898)  Nr.  9^ 
S.  193  f- 


üiyiLized  by  Google 


326 


Werner  Sombart, 


des  Störers,  der  russischen  Artele  u.  Aber  es  gilt  audi  für  die 
gleichzeitige  Arbeit  an  verschiedenen,  räumlich  getrennten  Stätten. 

Das  ist  Mar,  z.  B.  bei  einer  vieUeicht  über  dreifstg  oder  vierzig 
Hektare  ausgedehnten  Waggonmanufaktur,  deren  einzehie  Werk- 
stätten doch  alle  unter  Einer  straffen  Zentralleitung  stehen,  trotzdem 
sie  oft  halbe  Stunden  lang  auseinanderliegen.  Aber  auch  die  ge- 
trennt liegenden  Werke  eines  Hochofen-  und  Eisenhüttenwerks 
können  unter  Umständen  Einen  Betrieb  formieren.  Beispielsweise 
der  Hochofen  und  die  Kokerei,  oder  der  Hochofen  und  das  Puddel- 
öder  Schmelzwerk,  oder  das  Stahl*  und  das  Walzwerk  u.  s.  w.  Ein 
Bergwerk,  das  doch  sacher  einen  einheitlichen  Betrieb  bildet,  ist 
seiner  Natur  nach  über  melircrc  räumlich  voneinander  getrennte 
Stätten  ausgebreitet.  Wenn  auch  die  verschiedenen  Arbeitsstellen, 
die  nach  Einem  Förderschacht  gravitieren,  in  diesem  auch  ihre  räum- 
liche Vereinigung  finden,  so  hat  doch  ein  und  dasselbe  Bergwerk 
oft  mehrere  Förderschächte;  und  auüser  dem  Förderschachte  ge- 
hören zu  dem  Betriebe  beispielsweise  eines  Eisenerz-  oder  Zink- 
bergwerks noch  die  Aufbereitungs-  und  Waschanstalten,  die  oft 
Stundenweit  von  der  Förderstelle  entfernt  auf  den  Halden  liegen. 
Die  Bleicherei  und  Färberei  einer  Weberei  können  j^anz  «^'ctrennt 
von  dem  Websaalc  sein  und  docii  mit  der  Weberei  Einen  Betrieb 
bilden,  ebenso  wie  die  Sjnilerei.  Schererei  und  Aufl)äumcrei. 

Dann  gicht  es  auch  Fälle,  in  denen  die  über  ein  grolses  Ge- 
biet ganz  separiert  ari)eitenden  Einzelarbeiter  doch  als  Zugehörige 
zu  Einem  Betriebe  angesehen  werden  müssen,  weil  sie  einer  ihren 
Arbeitsprozels  bis  in  dir  Details  regelnden  —  d.  h.  auch  die  Interna 
der  Produktion  umfassenden   —  einheitlichen  Leitung  unterstehen. 

Hierhin  rechne  ich  z.  B.  die  von  einer  Zentrale  ausgesandten 
Malergehiilfen,  die  in  den  einzelnen  Wohimngen  ihre  .Arbeit  ver- 
ricliten  :  sie  erhalten  nicht  nur  den  Plan  der  Produktion,  sowie  die 
Details  der  .Xusführiuig  ganz  genau  vorgeschrieben,  sondern  sie 
unterstehen  auch  dei  unausgesetzten  Kontrole  des  reiheumpassierenden 
Malermeisters,  haben  vorgeschriebene  Anfangs»  und  Endtermine, 
Pausen  u.  s.  w.  So  kann  auch  —  wenn  es  auch  nicht,  wie  oben 
schon  gesagt  wurde,  die  R^l  bildet  —  doch  gelegentlich  eine 
Zusammenfassung  mehrerer  isoliert  arbeitender  Hausindustriellen 
zu  Einem  Betriebe  erfolgen ;  sobald  nämlich  die  interne  Leitung  der 
Arbeitsverrichtung  eine  einheitliche  wird.  Das  würde  ich  beispiels- 
weise behaupten  ftir  eine  Organisation,  wie  sie  etwa  Thun  ab  der 
älteren  Krefelder  Seidenindustrie  eigentümlich  uns  geschiklert  hat 


Digitizedby  Goe^ilc 


Die  gewerblicbe  Arbeit  und  ihre  Oisaaisation. 


3*7 


Dort  ,, stellte  die  Firma  bei  (.intretenclciii  Hedurfiiis  einen  Webstuhl 
neu  in  der  Wohnung  des  Meislers  auf,  ihm  wurden  dann  (iesellen 
zu^^eteilt,  für  deren  Beaufsichtigung  er  einen  Teil  am  Weblohn  er- 
hielt bei  schlechtem  (ieschäftsgange  wurde  der  5.,  4.,  3.  Stuhl 

bei  den  gröfscren  Meistern  stillgesetzt  und  ihnen  die  Arbeitszeit  be- 
stinunt.  Eine  Kontrole  war  in  dem  Städtchen  leicht  auszuüben."') 
Kbensü  kt')nnte  man  versucht  sein,  den  Betrieb  der  verschiedenen 
Handwerksmeister  mancher  mittelalterlichen  Zunft  als  Kinen  an- 
zusprechen. Denn  oft  erstreckte  sich  das  Aufsichts-  und  Kontrol- 
recht  der  Zunft  nicht  nur  auf  die  Qualität  der  Ware,  die  Zuziehung 
von  Hilfskräften,  die  Nutzung  von  Arbeitsmitteln,  sondern  auch  auf 
die  Arbeitssceit,  deren  An&ng  und  Ende,  ihre  Päusen  etc.  „In 
Aachen  ertonte  um  11  Uhr  vormittags  und  um  9  Uhr  abends  eine 
Glocke,  auf  deren  Läuten  alle  Tucharbeiten  eingestellt  werden 
mufsten."*)  Ist  das  nicht  einheitliche  Leitung  des  Arbeitsprozesses? 

Umgekehrt  wiederum  können  unter  Einem  und  demselben  Dach, 
in  Einer  und  derselben  Stube  zwei  oder  mehrere  Betriebe  sich  ab- 
spielen. Ich  denke  im  letzteren  Falle  an  zwei  Nähmamsells  oder 
zwei  Sitzgesellen,  die  in  demselben  Zimmer  doch  möglicherweise 
völlig  verschieden  geartete  und  disponierte  Arbeitsprozesse  verrichten. 
Aber  wie  oft  beg^;nen  wir  auch  in  einem  industriellen  Etablissement 
abgeschlossenen  Arbeitsverrichtungen,  die  ganz  deutlich  das  Merk- 
mal eines  selbständigen  Betriebes  in  einem  andern  an  sich  tragen; 
wenn  beispielsweise  eine  mit  einem  Patent  arbeitende  Bleicherei 
in  eine  Spinnerei  eingeschlossen  ist,  an  deren  Spitze  ein  eigens 
engagierter  Sachverständiger  steht,  die  ihre  besonderen  Arbeitszeiten 
hat,  die  bald  das  Gespinnst  der  Einen,  bald  das  der  andern  Spinnerei 
bleicht:  so  müssen  wir  uns  dafür  entscheiden,  hier  einen  selb- 
ständigen Betrieb  zu  sehen.  Kbenso,  wenn  wir  auf  einem  Schlacht* 
hofe  einer  Häutesalzerei  oder  einer  Talgschmelze')  begegnen. 

*)  A.  Thun,  Industrie  am  Nicdcrrbcin.    I.  S7  f. 
*)  a.  a.  O.  S.  10.11. 

*)  Im  Bericht  Aber  die  Verwaltimg  des  stidtischcn  Schhidit»  und  Viehhofs  m 
Bresk«  fllr  1896—1898  heilst  es  bebpielsweise:  „Die  Talgschmelze  ist  an  die 
Breshmer  Prodnktea-,  Spar*  imd  Darlehnsbank  auf  sdn  Jahre  verpachtet.  Gegen- 
stand der  Verpachtung  ist  nur  die  f\\r  die<;en  Zweck  erri^tete  Baulichkeit,  einschlief»» 
lieh  Wasserleitung,  femer  der  Betricb>>danipf .  dagegen  ausschliefslich  sämtlicher 
ma-schineller  F.inrichtunfjrn.  welch«*  von  der  Mieterin  hergestellt  worden  sind  .  .  .  I>ie 
Talgschmelze  wurde  am  i.  Dezember  1896  in  Hctrieb  genommen."  (S.  26.J  Der 
Schlachthot  ist  am  l.  Oktober  ii>96  eruiTnet  worden. 


iJiyiiized  by  Google 


328 


Werner  Sombart, 


Wenn  es  in  dem  Büchlein,  das  die  statistiNrhen  Angaben  über 
Friedrich  Krupps  Geschäft  entliält  iX.  1896),  auf  Seite  II  ff. 
heilst:  ,,Zur  Gufsstahlfabrik  in  Es^,en  (gehören  folgende  „Betriebe": 
2  Be>senier\verke,  4  Martiinverkc,  2  Stahlfonnp^iefsereien,  Puddel- 
vverke,  Schwcilswcrke,  Schmelzbau  für  Tie<^elstaiil,  Eisen^ielserei, 
Geschofs^^iefserei,  Messinf]^f^ierserei,  Glühhäuser,  Märtekamnier,  Tie>:jel- 
kainmer,  Blockwalzwerk,  Schienenwalzwerk,  Blechwalzwerk,  Laschen- 
und  l'ederstahlwalzwerk,  I*'achwerkstatt,  Prefsbau  und  Panzerplatten- 
Walzwerke,  Hammerwerke,  Räderschmiede,  Herdschmiede,  Huf- 
schmiede, Bandagenwalzwerk,  Satzaxendreherei ,  Kesselschmiede, 
Feldbohrbau,  mechanische  Werk>tatt  T,  Feilenfabrik,  4  Rcj)aratur- 
werkstätten,  iMscnbahnreparaturwerkstatt,  (iesrhütz-  und  Munitions- 
werkstätlen  urul  zwar  —  ^"'^t  ^^'t?  Aufzühiun«^  von  abermals 
36  Werkstätten  —  Probier.nistalt,  Chemisches  Laboratorium  l  und  II, 
Werkstätten  der  Bauhandwerker  und  zwar  I  Zinunerwerk^tatt, 
I  Klempnerwerkstatt,  i  Bauschreinerwerkstatt,  i  Mobclschreiner- 
werkstatt,  1  Stellmacherwerkstatt,  i  Anstreicherwerkstalt,  i  Säi^e- 
werk ;  Sattlerei,  Schneiderei,  Damptlsesselaiilagen,  Elektrizitätswerk, 
Gaswerk  mit  3  Gasometern,  Wasserwerk  mit  3  verschiedenen  Wasscr- 
gewinnun;^sanlagen,  Fabrik  für  feuerfeste  Steine  und  lki(]uettes, 
Ringofenziegelei,  Kokerei.  Steinbrüche,  Feldofenziegelei,  litho 
graphische  und  photographische  Anstalt  nebst  Buchbinderei,  Güter- 
exi)edition,  l'uhrwesen,  Telegraphie,  relej)honbetrieb,  Feuerwehr- 
und Sicherheitsdienst,  Konsum-Anstalt"  etc.  —  so  ist  hier  allerdings 
wohl  der  Begriflf  des  Betriebes  etwas  enger  gefafst  als  von  uns. 
Sicher  aber  ist  andererseits  dieses,  dafs  die  ,,Gulsstahllabrik  in 
Essen"  keineswegs  Ein  Betrieb  ist,  dafs  sie  vielmehr  verschiedene 
Dispositions-  und  Leitungszentren  hat,  die  in  der  Regel  mit  der 
Charge  eines  , .Direktors"  in  den  grofskapitalistischen  L'nternehmungen 
zusammenzufallen  pflegen.  Was  Eines  Mannes  l'msichi  /.u  leiten 
vermag,  wird  zu  Einem  Betriebe  zusammengefalst,  dessen  Leiter 
wesentlich  selbständig  ist  untl  von  dem  Oberlciter  —  dem  „(ieneral- 
direktor"  —  lediglich  allgemein  gefafste  Instruktionen  empfangt.  Die 
praktisch  durchaus  scharfe  Trennung  der  verschiedenen,  zu  be- 
sonderen Betrieben  ausgebildeten  Departements  eines  grofsindustriellen 
Werkes  ist  eine  jedem  F^ingewcihten  bekannte  Thatsache,  in  der 
unsere  Begrififsbestinuiunig  so  recht  die  Bestätigung  ihre  Richtigkeit 
erhält.  „Das  geht  mich  nichts  an,  das  ist  Sache  meines  Kollegen" 
ist  die  oft  gehörte  Antwf)rt  eines  solchen  Departementschefe 
eines  grölseren  Etablissements,  der  zuweilen  auch  schon  in  seinem 


Digitized  by  Google 


Die  gewerfalkhe  Arbeit  und  ihre  Organtsfttioo. 


Titel  —  „Betriebsdirektor"  —  die  Bctriebseinheit  ia  Wissenschaft« 
lieber  Auffassung  zum  Ausdruck  zu  bringen  pflegt.  Tn  einem 
gröfseren  Montanwerke  Oberschlesiens  fand  ich  als  selbständige,  teil- 
weise aber  räumlich  scheinbar  ungetrennte  Betriebe,  deren  Vorstände 
alle  direkt  von  der  -—  an  einem  andern  Orte  gelegenen  —  „Zentral' 
direktion"  ressorti orten,  d.  h.  eben  doch  nur  Produktionsanwdsungen, 
nicht  eigentlich  Bctriebsanleitunj:,'en  empfingen,  folgende:  l.  die 
Eisenerzförderung;  2.  den  Hocliofenbetrieb;  3.  die  Kokerei;  4.  das 
Puddehverk;  5.  das  Stahlwerk;  6.  das  Walzwerk.  Diese  Organisation 
bildet  überall  die  Regel,  wo  die  Teilwerke  zu  solchem  Umfang 
ausgewachsen  sind,  dals  sie  die  Thätigkeit  eines  technisch  geschulten 
Mannes  voll  in  Anspruch  nehmen. 

2.  Formen  des  Betriebes. 

Bei  dem  ganzlichen  Mangel  einer  kritischen  Betriebssyste- , 
matik')  scheint  es  wänschenswert,  unserem  eigenen  System  eine 
Kritik  der  Kriterien,  der  principia  divisionis,  die  für  die  Artenunter- 
scheidung des  Betriebes  vornehmlich  inbetracht  kommen,  voraus» 
zuschicken. 

Es  liegt  nahe,  daran  zu  denken,  den  Zweck,  zu  dessen  Ver- 
wirklichung ein  Betrieb  ins  Leben  tritt,  zum  Unterscheidungsmerkmal 
für  die  einzelnen  Betriebsarten  und  Betriebsformen  auszuersehen. 
Dieser  Zweck  ist,  wie  wir  wissen,  die  Gebrauchsgüterherstellung. 
Wollte  man  nun  die  Einteilung  der  Betriebe  nach  den  Modalitaten 
ihres  Zweckes  vornehmen,  so  wären  zwei  Möglichkeiten  denkbar: 
entweder  man  sähe  bei  den  in  einem  Betriebe  hergestellten  Ge« 
brauchsgütem  auf  ihr  Wesen,  das  darin  besteht,  Gebrauchswert  zu . 
sein  —  Gebrauchsgut  in  abstracto  —  oder  auf  ihre  äulsere  Er- 
scheinungsform,  wie  sie  in  der  bunten  Reihe  der  verschiedenen 
Gebrauchsguter  —  Stiefel,  Röcke,  Bibeln  —  zum  Ausdruck  kommt 
—  Gebrauchsgut  in  concreto.  Im  ersteren  Falle  gestaltet  sich  der 
Zweck  der  Gebrauchsgüterherstellung  zu  einem  einheitlichen,  in 


*)  AH:  nachmandacher  Litteratnr  kommen  in  Betmeht  nur  einxelne  Stdlen  in 
den  Schriften  von  Bflcher  und  Herrmann,  die  gerade  al>er  diekritiacbe  Bebandlimg 
des  Stoffes  nicht  eigentlich  zu  ihrer  Angabe  gemacht  haben.  Auch  Hux  stand  ja 
bdmnntltch'  einer  kritisdien  Anfiaasmig  unserer  Probleme  fem.  Seine  ^stematik 
selbst,  so  geistx'oU  sie  ist  und  so  sehr  wir  durch  sie  gefördert  sind,  UisC  doch 
beote  begreiflicherweise  unbefriedigt.  £5  wird  sich  im  weiteren  Verlauf  Gelegenheit 
bieten,  den  Manischen  GedankengSngen  die  richtige  Stellung  anzuweisen. 


Digitized  by  Google 


Werner  Sombart, 

leuterem  ist  die  Zahl  der  Einzelzwecln  unendlich;  in  beiden 
Fallen  aber  erweist  sich  das  Merlanal  der  Zwecksetsung  als  gleich 
ungeeignet,  ein  System  der  Betriebsarten  zu  schaffen:  das  eine  Mal, 
well  der  Zweck  überhaupt  nicht  unterschiedlich,  sondern  uniform 
ist;  <)as  zweite  Mal,  weil  die  Unterscheidung  nach  dem  Eiozelzweck 
der  konkreten  Gebrauchsgüter  nichts  als  eine  wertlose  Au&ahlung 
einzelner  Produktionsbranchen  zu  Tage  fördern  würde. 

Dazu  kommt  das  weitere  Bedenken,  dals  der  Zweck,  auch  wenn 
er  Singular  bestinunt  wäre,  über  wicht i<;e  Merkmale  des  Betriebes 
gar  nichts  aussagen  würde,  auf  deren  Unterschiedlichkeit  wir  gerade 
besonderes  Gewicht  legen.  So  ist  der  Zweck  indifferent  g^fenüber 
dem  Moment  der  Gröfse,  des  Arbeitsverfahrens  u.  s.  w. 

Aus  diesen  und  anderen  Gründen  erscheint  die  Wahl  des  Be- 
triebszweckes  als  Einteilungsprinzip  gänzlich  verfehlt;  wir  werden 
vielmehr  ein  solches  in  den  Modalitäten  der  Betriebs - 
gestaltung,  also  in  der  Eigenart  der  Mittel  —  wir  nannten  die 
Betriebsform  mittelbestimnil  I  —  ausfindig'  /u  machen  haben. 

Das  haben  unkritisch  die  meisten  bi.siierigen  Betriebssystematiker 
gelhan.  indem  sie  die  betriebe  nach  dem  Merkmal  der  Grölse 
oder  des  Umfan^^es  ein^feteilt  liaben.  Dals  damit  ein  aulseronlent- 
lich  bedeutsames  Moment  der  Iktriebsgestaltun^^  ^'ctruti'cn  ist,  unier- 
liegt keinem  Zweifel.  Trotzdem  habe  ich  Bedenken,  den  Betriebs- 
umfang  zum  fundamentum  divisionis  zu  wählen.  Und  zwar  aus 
folgenden  Gründen:  i.  weil  es  Schwierigkeiten  macht,  zu  bestimmen 
der  Umfang  welches  Betriebsfaktors  für  die  Kinteilung  entscheidend 
seui  soll.  Es  bieten  sich  hier  verschiedene  Möglichkeiten  dar.  Man 
kann  nach  der  räumlichen  Ausdehnung  die  Betriebe  unterscheiden,  oder 
nach  der  Menge  der  Produkte,  oder  nach  der  Grölse  und  Zahl  der 
verwendeten  Arbeits-  und  Kraftmaschinen,  oder  endlich  —  was  am 
häufigsten  geschieht  —  nach  der  Zahl  der  beschäftigten  Personen. 
Je  nach  der  Wahl  eines  dieser  Faktoren  würden  die  verschiedenen 
Betriebe  je  in  eine  andere  Rubrik  des  „Grolsbetriebs",  „Mittelbetriebs", 
,4Cleinbetriebs"  einzuordnen  sein«  Aber  auch  angenonmien,  eine 
Einigung  über  das  ab  Unterscheidungsmerkmal  zu  wählende  Grö&en- 
moment  sei  herbeigeführt,  es  sei  etwa  die  Anzahl  der  beschäftigten 
Personen  als  solches  anerkannt,  so  wären  alle  Bedenken  gegen  dieses 
Kriterium  noch  nicht  erschöpft.  Zunächst  bliebe  2*  noch  zu  erinnern, 
dals  die  Gröfse  ja  immer  nur  eine  differentia  gradualis,  keine 
differentia  specifica  bildet:  wo  soll  die  Grenze  zwischen  Klein-, 
Mittel*  und  Groisbetrieb  liegen?  Etwa  da,  wo  sie  traditioneUer  Weise 


Uiyitizcd  by  Google 


Die  gewerblkke  Arbeit  imd  ihre  OrgaiUMtioo. 


331 


die  Statistik  hinverlegt  hat?  Und  warum  bei  5  und  20  Personen? 
Warum  nicht  bei  10  und  30?  Will  man  darauf  eine  befriedigende 
Antwort  geben,  so  niüfste  man  die  spezifischen  Unterschiede  der 
verschiedenen  Gröisenklassen  bc/eiclmen  und  würde  ja  damit  schon 
das  Kriterium  der  reinen  Grölse  fallen  lassen.  Des  weiteren  aber 
krankt  dieses  Kriterium  3.  noch  an  dem  Uebelstande,  dafs  es  doch 
nur  sehr  imhestimmt  die  Eigenart  eines  Betriebs  zum  Ausdruck 
brinj^'^t.  Es  ist  vor  allem  indifferent  i^c^^eniiber  einem  aufscrordcntlich 
wichtii^en  Charakteri'-tikum  der  Belriehsfi^estaltun^ :  gegenüber  dem 
Arbeitsverfahren.  Diese  Erwägungen  he>timnien  inicli,  die  Bi  tricbs- 
gröfse  in  Ansehung  ihrer  Wichtigkeit  /war  als  Einleihingsprinzip 
nicht  gänzlich  unberücksichtij^'t  zu  lassen,  sie  jedoch  zum  Range 
eines  principium  subdixisioiiis  zu  de^^radieren. 

Ein  Merkmal  des  Betriebes,  das  uhne  Zweifel  nicht  nur  graduelle 
«sondern  spezifische  Unterschiede  bej^ründet,  ist  nun  das  schon  mehr- 
fach erwähnte  .Arbeitsverfahren,  so  in  einem  Betriebe  zur  An- 
wendung gelangt.  Wir  sind  über  die  verschiedenen  Methoden  der 
Arbeit  soweit  unterrichtet,')  um  überblicken  zu  können,  welche  Art 
Unterscheidung  und  Einteilung  sich  ergeben  würde,  wollte  man  die 
Veriahrungsweise  zum  Unterscheidungsmerkmal  wählen.  Wir  er- 
hielten  alsdann: 

1.  Betriebe  mit  arbeitszerlegendem  Verfahren  und  solche  ohne 
dieses  Verfahren,  sagen  wir  der  Kürze  halber:  arbeitsteilige 
und  nicht  arbeitsteilige  Betriebe  f 

2.  Materialvereinigende  und  nicht  vereinigende  Betriebe; 

3.  Werkzeug-  und  Maschinenbetriebe,  je  nach  der  BeschafTen- 
hett  des  Arbeitsmittels; 

4.  manumotorische  und  mechanomotorische  Maschihenbetriebe, 
je  nachdem  die  Maschinen  durch  menschliche  oder  elemen- 
tare Kraft  in  Bewegung  gesetzt  würden: 

5.  empirisch  und  rationell  geleitete  Betriebe,  je  nach  der  Be* 
schaffenheit  des  (iesamt Verfahrens. 

Gegen  diese  Art  der  Einteilung  walten  nun  aber  >^dcichfalls 
nicht  unwesentliche  Bedenken  ob.  Zunächst  eines  mehr  formaler 
Natur:  dafs  nämlich  nach  der  Verschiedenheit  des  in  einem  Betriebe 
zur  Anwendung  gelangenden  Verfahrens  zwar  sich  mit  Leichtigkeit 
eine  lange  Reihe  von  Zweiteilungen  bilden  läfst,  wie  aus  unserer 
Au^hlui^  schon  hervorgeht;  dafs  es  aber  autserordentlich  schwer 

')  Vgl.  den  vorliegenden  Band  dieses  Archiv»,  S.  17  ff. 


üiyiiized  by  Google 


332 


Werner  Sombart, 


fallt,  nun  diese  nebeneinander  stehentlen  Doppclfornien  zu  einem 
wirklichen  System  über-  und  unterzuordnen,  was  (ioch  einmal  mit 
Vng  beanspruclit  werden  darf.  Dazu  nämlich  fehlt  es  an  der  hervor- 
stechenden \\'ichti<^kcit  und  Bedeutung  eines  der  {gemachten  Unter- 
schiede, die  diesen  befähigten,  die  Hauptteilung  zu  bestimmen,  in 
die  dann  tlie  anderen  unterschiedenen  Artpaare  eingeordnet  werden 
könnten.  Dazu  kommt  aber  auch  noch  ein  mehr  sachHches  Be- 
denken gegen  die  Einteilung  nach  Verfahrungsweisen :  dafs  diese 
nämlich  ebenso  wie  das  Moment  der  Gro&e  faedetttsamen  anderen 
Merkmalen  der  Betrid)sgestaltung  gegenüber  indifferent  sind,  mithin 
doch  keine  genügend  klare  Sonderung  wirklich  verschiedener  Arten 
mit  ihrer  Hilfe  allein  möglich  ist  Verhielt  sich  das  Moment  der 
GröGse  indifferent  g^enüber  dem  Arbeitsverfahren,  so  ist  dieses 
noch  viel  gleichgültiger  gegenüber  der  Groise  eines  Betriebes. 

Das  arbeitszerl^ende  oder  materialvereinigende  Verfahren  kann 
ebensogut  von  einem  Einzelarbeiter  wie  von  einer  tausendköpfigen 
Menge  zur  Anwendung  gelangen  und  auch  die  anderen  Verfahrungs* 
weisen  sind  prinzipiell  nicht  an  eine  bestimmte  Betrieb^frofse  ge- 
bunden. Bestimmte^  konkrete  Verfahren  mögen  zu  ihrer  Anwendung 
eines  bestimmten  Betriebsumfangs  bedürfen:  ich  kann  keine  moderne 
Papiermaschine  und  keinen  modernen  Hochofen  im  Rahmen  eines 
Kleinbetriebes  zur  Verwendung  bringen.  Aber  das  Prinzip  des 
maschinellen  oder  automatischen  Betriebes  ist  ebenso  realisierbar  in 
dem  kleinsten  wie  im  grötsten  Betriebe.  Es  giebt  keinen  reineren 
Maschinenbetrieb  als  den  der  ,^rmen  Nähterin"  oder  des  Haus- 
webers im  Kulengebirge  und  auch  die  mechanische  Kraft  wird  heut- 
zutage in  Pferdestärken  ebenso  sehr  von  dem  Zwergbetriebler 
benutzt  wie*  von  dem  Riesenbetriebe.  Offenbar  sind  wir  aber  um 
keinen  Schritt  in  der  Betriebs^rstematik  gefordert,  wenn  wir  die 
VVeifszeugnähcrin  und  Krupp  zusammen  geworfen  und  in  Gegensatz 
gebracht  haben  zu  unserem  Schuster  und  der  Pariser  Gobelinmanu- 
faktur blois  deshalb,  weil  jenes  maschinelle,  dieses  keine  maschinellen 
Betriebe  sind.*) 


^)  Es  mag  hier  im  Vorttb«rgehcn  dannf  hingcwiesca  werden,  dafi  die  Ergeb- 
nisse unserer  Untersuchung  fUr  die  Ficantvortung  der  von  der  sogen,  materialistischen 

Gfsohichl-sauftassung  aufgeworfenen  Frage  nach  <l«Tn  Zusammenhange  zwischen 
,,'rcchnik",  ,.\Virt--chafts-"  und  „Ge>cllsihaft3or'lnuut;"  \on  BciJcutung  sind.  Will 
man  einnul  metbodiäch  einwandsfrei  jene  /usammenhäoge  darlegen,  &o  wird  man 
udi  zunächst  i.  Ober  die  Begriffe  „  l'echnik „WirtMimftsweise*',  „sodale  Ordnnng** 


Digiiized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  md  ihre  Oiganintioii. 


333 


Was  sich  aus  diesen  Betrachtungen  jeden^ls  als  zwingend  er> 

giebt,  ist  die  Erkenntnis,  dafs  eine  glückliche  Betriebs^stematik  die 

beiden  für  die  Betriebsgestaltung,  wie  wir  sehen,  entscheidenden 
Merkmale :  GröCise  und  Verfahren  gleichmäisig  als  Einteilungsprinzip 
berücksichtigen  mufs.  Will  sie  das  nun  nicht  in  der  gedankenlosen 
Weise  thun,  dals  sie  das  eine  Kennzeichen  zum  principium  divisionis, 
das  andere  zum  principium  subdivisionb  wählt  —  was  bei  der 
(ileichwertigkeit  der  beiden  Merkmale  immer  nur  durch  einen  Akt 
der  Willkür  geschehen  könnte  —  so  wird  darauf  gesonnen  werden 
müssen,  die  beiden  genannten  Kriterien  zu  einem  höheren  Begriffe 
zunächst  7.U  vereinigen,  und  dann  mit  seiner  Hilfe  dir  Einteilung 
in  die  Hauptkategorien  vorzunehmen.  Xun  finden  aber  unsere  beiden 
Momente  der  Bctriebsgestallung  ihre  Einheit  in  dem  Moment  der 
Anordnung  der  P  r  o  d  u  k  t  i  o  n  s  f  a  k  l  ( >  r  e  n. 

Die  Zusammenfassung  mehrerer  Arbeitskräfte  zu  Einem  Betriebe, 
wotlurch  seine  (irölVc  l)estimmt  wird,  ebenso  wie  das  Anwenden 
eines  bestimmten  \  erfahrens  in  diesem  Betriebe,  gehen  gleicher- 
weise auf  eine  bestimmte  Anordnung  zurück.  Wenn  wir  aber  diese 
zum  Unterscheidungsmerkmal  der  verschiedenen  Betriebsarten  wählen, 

XL  dgl.  dnigen  mlbsen.  Einen  Anfang  dam  glaaben  wir  mit  tinseren  Diatinktionen 
gemacht  m  haben.  Danach  wtre  a.  genau  fcaUutdlen,  awiichen  was  der  Zuaanunen- 
bang  nachgewiesen  werden  soll.  Nach  unserer  Terminologie  .  .\.  zwischen  Vcr> 
fahrnngsweisc  und  Betriebsfomien;  B.  zwischen  Vcrfahrungswcisc  und  Wirtschafts- 
formen; C.  zwischen  Betriebs-  und  Wirtschaflsfornirn.  Kndlich  wäre  3.  zu  er- 
initt<-ln,  welcher  ,\rt  die  ZusammenliänKc  t;edacht  >ind,  ob  als  so^t  ii.  n.ituniotwendijje, 
die  nicht  anders  sein  können ;  oder  als  zwcckmäfsige,  die  vernünftigerweise  von 
swcckaetzenden  Menschen  hergestellt  werden  n.  dgL  An  dieser  Stelle  haben  wir 
alle  diese  Fragen  nicht  weiter  sn  verfolgen.  Wenn  wir  aber  in  Kflne  ans  den 
Ergebnissen  unserer  bisberigen  Untersocfanngen  das  Fasit  riehen  wollen,  so  ist  es 
dieses,  dafr  swischen  den  Verfabnmgsweisen  —  gemeinhin  „Technik**  genannt  — 
und  den  charakteristischen  Merkmalen  der  Betriebsgestahmg  ein  Zusammenhang 
derart  nicht  besteht,  dafs  durchgängig  bestimmte  W-rfahrungsweisrn  z.  H.  bestimmte 
Brtriebsprofsen  erheischten  und  letztere  nur  je  bestimmten  \\rfahrunK< weisen  /.u- 
^unj.;lich  waren.  l)af>  vielmehr  ein  weiter  Spielraum  in  der  Anweii(lunj.;!<.irt  einer 
gegebenen  Verfahrungsweise  besteht,  dafs  also,  um  die  Gcsctzmälsigkeit  eines  Ent- 
wicklungsganges in  Richtung  auf  bestiinnite  Betriebsgcbtaltungen  naduuweisen,  jeden- 
falls die  Mofse  Existent  eines  bestimmten  Verfahrens  nicht  geMgt  Der  Grund« 
gedaake  des  Boches,  an  dem  die  hier  sum  Abdruck  gelaagenden  Kapttd  die  Ein« 
fttbrung  bilden  sollen,  ist  es,  dieses  an  erweisen  und  gldcbaeit^  dÜejeaigta  Potewwn 
aufzudecken,  aus  deren  konstantem  und  notwendigem  Wirken  sich  dasjenige  ergiebt, 
was  wir  als  sociale  Gcsetsm&Cugkett  ansuspredien  gewöhnt  sind. 


üiyiiized  by  Google 


334 


Werner  Sombart, 


so  geniigen  wir  auch  noch  insofern  einer  anderen  Anforderung 
sauberen  Denkens,  als  wir  für  die  Kinleiluii^'  des  Hctricbes  auf  die 
diftercntia  S])ct-ihca  tUese--  He^'riHes  zurückgreifen,  somit  unsere  Kin- 
teilung  gründen  auf  Modifikationen  eines  konstitutiv  wesentHclien 
Merkmals  unseres  Begriffes.  Endlich  kommt  dieser  Kinteilungsmodus 
auch  der  üblichen  Terminologie  entgegen,  sofern  die  von  uns  nach 
dem  Merkmal  der  Anordtumg  zu  sondernden  Betriebsarten  in 
einer  gleichsam  plastisciien  Gestalt  von  unserer  Anschauung  erfafst 
werden  können  und  daher  aucli  füglicli  als  Betriebs  fo  r  m  e  n ,  wie 
sie  in  Zukunft  nur  noch  heifscn  sollen,  bezeichnet  werden  dürfen. 

Die  Produktionsfaktoren,  die  Objekte  der  Anordnung  in  einem 
Betriebe  werden  können,  sind  die  menschliche  Arbeitskraft 
und  die  äufsere  Natur.')  Wir  können  jene  als  den  personlichen, 
diese  als  den  sachlichen  Produktionsfaktor  bezeichnen.  Die  ,,aufsere 
Natur"  ist  aber  eine  zu  weite  Umschreibung,  als  dafs  wir  nicht 
das  Bedürfnis  föhhen,  etwas  genauer  zu  sagen,  was  darunter  zu 
verstehen  sei.  Die  Natur  erscheint  in  jedem  IVoduktionsvorgange 
I.  als  Arbeitsbedii^ng;  2.  als  Arbdtsgegenstand;  3.  als  Arbeits- 
mittel. In  ihrer  ersteren  Funktion  schafft  sie  die  sachlichen  Be- 
dingungen produktiver  Arbeit,  ohne  die  überhaupt  keine  Arbeit 
stattfinden  kann,  mögen  nun  diese  Bedingungen  von  Natur  gegeben 
sein,  wie  die  Erde  als  Standort,  die  Luft  als  Atmosphäre,  die  Kräfte; 
oder  erst  vom  Menschen  in  der  ihm  dienlichen  Form  hergestellt 
werden,  wie  Arbeitsgebäude,  Wege,  Kanäle.  Der  Arbeitsgegenstand 
ist  dasjenige  Ding,  an  dem  sich  die  menschliche  Arbeit  bethätigt. 
Auch  er  wird  entweder  in  der  Natur  fertig  vorgefunden,  wie  das 
Erz  oder  die  Kohle  oder  der  Feuerstein,  den  der  Mensch  zuerst 
ergriff,  um  sich  ein  Werkzeug  daraus  zu  fertigen;  oder  aber  er  ist 
selbst  schon  und  das  der  R^el  nach  Arbeitsprodukt.  In  diesem 
Falle  nennen  wir  den  Arbeitsgegenstand  Rohmaterial.  Das  Roh- 
material kann  ein  genufsreifes  Gebrauchsgut  sein,  wie  die  Traube 
als  Rohmaterial  der  Weinbereitung,  die  Kohle,  das  Salz,  das  Oel 
u.  dgl.  als  sogenannte  Hilfsstoffe  der  Produktion.  Oder  aber  sich 
in  einer  Forn)  l)efindcn ,  in  der  es  lun-  als  Rohmaterial  weiterer 
Verarbeitung  dienen  kann,  in  diesem  Kalle  hcifst  es  Halb-  oder 
(nach  Marx)  Stukiifabrikat,  wie  Roheisen,  Holzfaser,  Baumwollgarn. 
Das  .Arbeitsmittel  endlich  kennen  wir  schon.  Wir  definierten  es  als 


'  )  Vgl.  fiir  das  folgende  K.  Marx,  Kapiul.    FUnrtes  Kapitel,    t.  „Der  Ar> 

beit!>prozeÄ$". 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


335 


ein  Ding  oder  einen  Komplex  von  Dingen,  die  der  Arbeiter  zwischen 
sich  und  den  Arbeitsgegenstand  schiebt,  um  sie  als  Macht- 
mittel auf  andere  Dinge  seinem  Zwecke  gemäß  wirken  zu  lassen. 
Genauer  können  wir  dann  aktive  und  passive  Arbeitsmittel  unter- 
scheiden. Marx  bezeichnet  die  ersteren  als  „die  mechanischen  Arbeits- 
mittel, deren  Gesamtheit  man  das  Knochen-  und  Muskelsystem  der 
Produktion  nennen  kann";  es  sind  Werkzeuge  und  Maschinen,  die 
thätig  unter  der  Leitung  des  Menschen  in  die  neuzuformende  Materie 
eingreifen,  während  die  andere  Kategorie  der  Arbeitsmittel  die  mehr 
passive  Rolle  in  der  Produktion  spielt,  als  Behälter  für  Stoffe  und 
Kräfte  zu  dienen,  es  sind  dies  die  Kessel,  Röhren,  Bottiche,  Fässer, 
Körbe,  Krüge  etc^  jene  Arbeitsmittel,  „deren  Gesamtheit  ganz  all- 
gemein ab  das  GefaTssystem  der  Produktion  bezeichnet  werden 
kann".  Sämtiiche  Bestandteile  des  sachlichen  Produktionsfaktors 
können  wir  auch  Produktionsmittel  im  weiteren  Sinne  nennen 
und  unter'  ihnen  diejenigen  als  Produktionsmittel  im  engeren  Sinne 
unterscheiden,  die  bereits  Arbeitsprodukte  sind.  Wir  werden  im 
folgenden,  wo  nichts  besonders  gesagt  ist,  von  Produktionsmitteln 
in  jenem  weiteren  Verstände  ab  dem  InbegrifT  sämtiicher  sachlicher 
Produktionsfaktoren  sprechen  und  also  alle  Betriebsanordnung  in 
der  Ausstattung  der  menschlichen  Arbeitskraft  mit  den  für  die 
Zwecke  der  Produktion  geeigneten  P^uktionsmitteln  sich  er- 
schöpfen lassen. 

Alle  Organisation  menschlicher  Arbeit  beruht,  seitdem  die  aller- 
ersten Anfange  planmäbigen  Produzierens  überwunden  sind,  auf  nur 
zwei  verschiedenen  Prinzipien:  auf  der  Spezialisation  und  der 
Kooperation.  Nichts  anderes  vermag  der  Mensch  zu  ersinnen, 
als  diese  beiden  Organisationsprinzipien,  die  auch  der  voUendesten 
Betriebsanordnung,  freilich  in  mannigfacher  Kombination'  aUein  zu 
Grunde  liegen. 

Unter  Spezialisation  verstehe  ich  diejenige  Art  der  An- 
ordnung, welche  Einenn  und  demselben  Arbeiter  gleiche,  wieder- 
kehrende Verrichtungen  dauernd  zuweist.  Sie  bt  also  diejenige 
Form  der  Organisation,  in  der  das  arbeitszerlegende  Verfahren  recht 
eigentlich  erst  nutzbar  gemacht  wird.  So  lange  dieses  Verfahren 
von  Einem  Arbeiter  angewandt  wird,  so  lange  bleiben  seine 
produktivitätssteigernden  Vorzüge  noch  wesentiich  latent  Erst 
wenn  der  Eine  inrnier  dasselbe  thut,  brechen  sie  mächtig  hervor. 
Nun  müssen  wir  uns  aber  darüber  klar  sein,  dab  der  Grad  der 
SpeziaUsation  ein  auberordentiich  verschiedener  sein  kann.  Es  war 


Digitized  by  Google 


336 


Werner  Sombart, 


eine  Anwendung  des  Prinzips  der  Spezialisation,  als  zuerst  die 
Schmiedearbeit  oder  die  Töpferei  dauernd  von  demselben  Arbeiter 
ausgeübt  wurden,  und  es  ist  nur  ein  Gradunterschied  in  der  An» 
Wendung  desselben  Prinzips,  wenn  in  der  modernen  Konfektion  eine 
Arbeiterin  ihr  ^nzes  Leben  nur  Hornknöpfe  an  Männerwesten 
annäht.  F,s  bleibt  sich  ebenso  ij^lcich,  ob  die  Teilverrichtung,  die 
ein  Arbeiter  dauernd  vornimnit,  durch  horizontale  oder  vertikale 
Spaltung  des  vorher  vereinigt  gedachten  Gesamtarljcitsprozesses 
entsteht:  ob  zwischen  Schlosserei  und  Schmiederei  oder  zwischen 
Gerberei  und  Schuhmacherei  die  Trennung  sich  \ollzicht.  Ks  ist 
aber  endlich  für  den  Begriff  der  Spezialisation,  die,  worauf  noclimals 
nachdrücklich  hingewiesen  w  erden  mag ,  kein  Arbeitsverfahren, 
sondern  ein  Organisationsj»rinzip  ist,  d.  Ii.  erst  entsteht  auf  der 
Basis  einer  bestimmten  Betriebsanordnung,  gleichgültig,  ob  die 
Sp  e  z  i  a  1  i  sa  t  i  o  n  zwischen  Betrieben  oder  innerhalb  Kines 
Betriebes  erfolgt.  Im  ersleren  I'alle  entsteht  das,  was  wir  Spezial- 
betriebe nennen,  unter  denen  es  nun  abennals  eine  aufserordentlich 
mannigfadic  Graddsstufung  giebt,  innerhalb  deren  aber  keinerlei 
irgendwie  feste  Grenze  für  eine  spezifische  Unterschddung  gezogen 
werden  kann.')  Die  Schmiederei  als  Ganzes  ist  ein  Spezialbetrieb, 
verglichen  mit  der  ehemals  sie  mit  umfassenden  bausgewerblichen 
IVoduktion;  die  Scbmiederei  ist  ein  spezialisierter  Betrieb,  nach- 
dem sich  die  Schlosserei  von  ihr  geschieden  hat;  die  Wericzeug- 
schmiederei  ist  inneriialb  der  so  qiezkdisierten  Schmiederei  wiederum 
ein  Spezialbetrieb,  die  Sensenschmiederei  innerhalb  der  Werkzeug- 
schmiederei  u.  &  f. 

Damit  das  Prinzip  der  Spezialisation  innerhalb  eines 
Betriebes  zur  Anwendung  gelangen  könne,  d.  h.  damit  in  einem 
und  demselben  Betriebe  der  eine  inrnier  dies,  der  andere  immer 
jenes  zu  thun  imstande  sei,  muls  nun  aber  offenbar  eine  bestimmte 
Bedingung  in  der  betreffenden  ßetriebsanordnung  erfüllt  sein,  die- 
jenige nämlich,  dafs  mehrere  Arbeiter  zu  gemeinsamem  Wirken 
zusammengegliedert  seien,  d.  h.  es  mufs  d?s  zweite  Prinzip  der 
Arbeitsorganisation,  von  dem  wir  schon  Kenntnis  haben,  zur  An- 

')  Etwas  anderes  ist  es  natürlich,  wenn  wir  einen  bestimmten  Grad  der  Spe- 
zialiiatiaa  als  fest  gegthtn  annebmen,  diejenigen  Betriebe,  die  ihn  aufweisen,  als 

Vollhot  rifbe"  und  alle  nur  Teile  dieses  Vollhetriebos  umfassende  Betriebe  als  ^Spt" 
zialbeU'iebe"  bezeichnen.    So  verfahren  wir  mit  vollem  Kocht,  wo  wir  die  Zetsetmi|SS> 
rozessc  des  alten  „Handwerks"  uns  klar  zn  machen  haben. 


üiyiiizc-d  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  and  ihre  Organisation. 


337 


Wendung  gebracht  werden:  die  Kooperation.  Diese  besteht 
zunächst  in  nichts  anderem  als  in  einer  Summierung  individueller 
Arbeitskräfte,  die  erst  später  eine  bestimmte  Gliederung  zu  einem 
organischen  Ganzen  erüabren.  In  ihrer  primitiven  Form  nennen  wir 
sie  einfache  Kooperation,  in  ihrer  Kombination  mit  der 
Spezialisation  arbeitsteilige  Kooperation.  So  erhalten  wir 
folgendes  Schema  für  die  Anwendunj:^  der  Organisationsprinzipien: 

1.  Robinson  deckt  seinen  Gesamtbcdnrf  allein;  er  kann  zwar 
das  arbeitszerlegcndc ,  das  niatcriaK  crcinigcndc  X'crfahren 
anwenden,  al)cr  weder  sich  spezialisiren,  noch  kooperieren; 

2.  Robinson  und  IVeitai^  verteilen  ihre  Gesanitarbeit  so,  dafs 
jener  auf  die  Ja<^d  ^a-ht  und  Fische  fängt,  dieser  die  Haus- 
arbeit \  crrichtet :  einfache  Spczialisation  ; 

3.  Robinson  und  Freitag  \crcinigen  ihre  Arbeit,  uin  den  Baum- 
stamm ,  aus  dem  ihr  Boot  angefertigt  werden  soll ,  /.um 
Strande  zu  rollen :  einfache  Kooperation : 

4.  Robinson  und  hVcitag  gehen  zusaninien  aut  die  Jagd;  Freitag 
treibt  das  Wild  zu,  Robinson  schiefst  es  ab:  Vereinigung 
von  Kooperation  und  Spezialisation  «*  arbeitsteilige  Koope- 
ration. 

Alle  weiteren  Unterschiede  der  Betriebsgestaltung  sind  nun 
entweder  nur  quantitativer  Art,  d.  h.  eine  Folge  stärkerer  Speziali- 
sation oder  vermehrter  Kooperation,  oder  aber  sie  werden  begründet 
durch  die  verschiedenartige  Gestaltung  des  sachlichen  Ptoduktions- 
fektors:  durch  die  verschiedene  BeschafTenheit  oder  verschiedene 
Anordnung  der  dem  Arbeiter  zur  Verfugung  stehenden  Produktions- 
mittel. 

Jedenüüls  ergebt  sich,  wie  aus  dem  oben  Gesagten  erhellt,  eine 
grofse  Mannigfaltigkeit  der  Betriöbsformen  auch  wiederum  nach 
der  Verschiedenheit  der  Anordnung  der  Produktionsfoktoren  zu 
einem  Betriebe.  Deshalb  wird  es  wünschenswert  sein,  einen  einheit- 
lichen Gesichtspunkt  für  die  sachgemäTse  Gruppierung  dieser  ver- 
schiedenen Anordnungsmodalitäten  zu  wählen.  Als  solcher  bietet 
sich  nun  aber  am  besten  dar :  das  Verhältnis  des  einzelnen  Arbeiters 
zu  dem  Gesamtprozefs  und  dem  Gesamtprodukt,  als  dem  Ge- 
samtbetriebe im  Zustande  des  Wirkens  und  dcs  Ge\v!r1<ten.  der 
Vollbringung  und  des  V^oUbrachten,  der  Bewegung  und  der  Ruhe. 
Dieses  Verhältnis  kann  ein  prinzipiell  zweifaches  sein:  entweder 
Wirken  und  Werk  gehören  einem  Individuum  eigentümlich  an,  sind 
der  erkennbare  Ausflufs  seiner  und  nur  seiner  höchstpersönlichen 


üiyiiized  by  Google 


33» 


Werner  Sombart, 


Thätigkeit,   sind   somit  selbst  individuell  und  persönlich;  oder 

Wirken  und  Werk  sind  das  gemeiosame,  nicht  in  '=?einen  Einzel- 
teilen als  individuelle  Arbeit  unterscheidbare  Ergebnis  der  Thätigkeit 
vieler,  existieren  nur  als  (iesamtwirken  und  (3esamtwerk,  sind  also 
nicht  persönlich,  sondern  kollektiv,  nicht  individuell,  sondern  i^esell- 
schaftlich.  Danach  lassen  sich  alle  Betriebe  in  zwei  ^rofse  (iruppen 
einteilen :  in  solche,  in  denen  die  Anordnutif^  der  l'roduktiuiislaktoren 
derart  ist,  dafs  das  Prtxlukt  als  Produkt  eines  einzelnen  Arbeiters 
erscheint,  ')  und  solche,  in  denen  die  Anordnun^^  der  Produktions- 
faktoren derart  ist,  dals  das  Produkt  als  Produkt  eines  Gesaint- 
arbeiters  erscheint.  Ersterc  sollen  individuelle,  letztere  gesell- 
schaftliche Ret  riebe  heifsen. 

Ehe  wir  nun  aber  nach  diesem  Merkmal  eine  Betricl)ss\  stematik 
entwerfen,  wird  es  notwendig  sein,  den  Leser  davon  zu  überzeugen, 
dafs  unser  Unterscheidungsmerkmal,  das  wir  nach  so  vielem  Suchen 
endlich  gefunden  haben,  thatsächUch  die  Rolle  zu  spielen  berufen 
ist,  die  wir  ihm  zuweisen  wollen.  Die  Gründe,  nach  dem  \'crgcsell* 
Schaftungsmoment  die  Betriebe  einzuteilen,  sind  folgende: 

1.  Das  Merkmal  ist  ein  konstitutiv  wesentliches  des  Begriffes, 
dessen  Arten  wir  unterscheiden  wollen,  sofern  es  das  Moment 
der  Anordnung  selbst  betrifft; 

2.  das  Merkmal  rrestattet  eine  einheitliche  Systematik,  sofern 
alle  sonstigen  Merkmale  \on  Bedeutung  notwendig  in  ihm 
eingeschlossen  sein  müssen; 

3.  da>  Merkmal  gestattet  eine  deutliche,  d.  h.  spezifische  Unlcr- 
scheidutig  der  verschiedenen  Betriebsarten  und  schliefst 
—  im  Prinzip  wenigstens,  werni  auch,  wie  wir  sehen  werden, 
nicht  durchgängig  in  der  praktischen  Anwendung  —  jeden 
Zweifel  aus; 

4.  das  Merkmal  ist  das  wichtigste  der  Betriebsanordnung  über- 


*)  Soweit  es  sich  utu  dicjcuigc  I'ruduktion  bandelt,  die  »ich  innerhalb  de* 
lUhmeiis  Eines  Betriebes  abspielt:  vom  Augenblick,  da  das  Leder  in  die  Gerberei 
eintritt,  bis  zu  dem  Angenblidte,  da  es  sie  TerUUsL  Dals  ohne  diese  Besdufinkni^ 
individuelle  Produktion  kaum  je  existiert  bat,  jedenfalls  nur  in  der  SfAire  primi* 
tivster  Eigenwirtscbaft  existieren  ksmn,  ist  klar  und  oft  ausgesprochen.  In  einem 
eini^^ermafsen  ettt«'ickelten  Wirtschaftsk-brn  ist  auch  die  Arbeit  des  alleralleinigsten 
Protluzentrn  nur  <la>  (ilird  in  einer  unübersilibarfn  Kttto  von  and-Ten  l'roduzfnti-n, 
sodafs  der  priniilivstc  Bedarf  nur  «lurcli  das  /.usammenwirk'-n  Vieler  gedeckt  werden 
kann.    Siehe  schon  den  Schafhirten  des  alten  Adam  Smilli« 


Digilized  by  Google 


Die  ipewerfaBdie  Aibdt  and  ihre  Orguittdon. 


339 


haupt,  deshalb,  weil  es  für  den  gesamten  Produktionserfolg, 
also  den  Betriebs/Aveck  das  entscheidende  ist. 
Dieser  letztere  Punkt  wird  noch  eine  eingehendere  Begründung 
erheischen. 

Will  man  die  Bedeutung  der  \'ergesellschaftun^  des  Arbcits- 
pro/.esses  in  einem  Satze  zum  Ausdruck  brin*^en,  so  läfst  sich  etwa 
sagen :  dals  sie  dasjenige  Prinzip  der  Betriebsorganisation  ist,  durch 
welches  die  aller  technischen  Kntwicklung  zu  (irunde  gelegte  Idee: 
die  Hinaushebung  des  menschlichen  Könnens  über  die 
organischen  Schranken  der  Individualität  zur  Reali- 
sierung, verhilft.  Wozu  die  Fortschritte  menschlicher  Kenntnisse 
und  K&iste  mtr  die  Möglichkeiten  schaffen,  das  fuhrt  die  gesell« 
achafUiche  Anordnung  des  Betriebes  im  Leben  aus;  sie  nur  alleia 
ist  die, Vollenderin  und  VoUstreckerin  der  Gedanken,  auf  denen 
sich  dasjenige  aufbaut,  was  wir  als  technischen  und  mithin  ^cono- 
mischen  Fortschritt  zu  bezeichnen  uns  gewöhnt  haben. 

Schon  ohne  dals  irgend  eine  vollkommene  Verfahrungsweise 
in  Frage  stände,  ermöglicht  die  blolse  Thatsache  einer  Zusammen- 
gliederung vieler  Arbeitskräfte,  ihre  Vereinigung  zu  gemeinsamem 
Werke  eine  Steigerung  der  Leistungsiahigkeit  nicht  nur,  was  selbst* 
verständlich  ist,  über  das  Vermögen  des  Einzelnen,  sondern  auch 
über  die  Summe  der  sämtlichen  Arbeitsleistungen  in  ihrer  Vereinzelung 
hinaus. 

Wir  beobachten  diese  Erscheinung  in  den  Wiricungen  der  so- 
genannten einfachen  Kooperation,  über  die  in  geistvoller  Weise 
wiederum  Marx')  sich  ausgelassen  hat.  Da  sehen  wir  aus  dem 
kooperativen  Zusammenwirken  viele  Nutzeffekte  herausspringen,  die 
überhaupt  nicht  ohne  dieses  gemeinsame  Wirken  erzielt  werden' 
könnten :  wenn  es  sich  um  das  Jagen  eines  grolsen  Tieres,  oder  um 
das  Heben  und  Fortschaffen  einer  Last  also  um  die  Notwendigkeit 
handelt,  eine  höhere  Kraftpotenz  als  sie  dem  einzelnen  zu  Gebote 
steht,  zu  entwickeln;  oder  wenn  es  darauf  ankommt,  gröfsere  Arbeiten 
in  kurzer  Zeit  zu  bewältigen:  bei  der  Ernte,  beim  Hcringsfang;  oder 
wenn  eine  I'hätigkeit,  damit  sie  von  P!rfolg  gekrönt  sei,  auf  gröfserem 
Gebiete  mit  einem  Male  unternoninicn  werden  mufs:  beim  Kin- 
fangen  eines  Tieres,  beim  Umzingeln  des  l'eindcs,  beim  Kindämmen 
eines  Stromes  u.  dergl.  Aber  auch  wo  die  X'erriehtung  derselben 
Arbeit  im  einzelnen  möglich  ist,  wird  sie  in  einfacher  Kooperation 


')  Vgl.  Kapiul  1*  2Jiylt.,  und  djua  HclphanU,  a.a.O. 
Archiv  fSr  «m.  GMtUgebung  u.  Slatiatfk.  XIV.  M 


L  iyiii^üd  by  Google 


340 


Werner  Sombart, 


häufig  um  ein  Vielfaches  rascher  und  korrekter  vollzogen.  Ich  denke 
an  das  bekannte  Schulbeispiel  des  Hinaufwerfens  von  fiacksteinen 

oder  des  Weiterreichens  von  Feuereimern  in  einer  geschlossenen 
Kette.  Auch  das  psychologische  Moment  ist  zu  berücksichtigen. 
da(s  das  Zusammenwirken  vieler  zum  Wetteifer  anspornt  und  die 
Intensität  der  Arbeit  mindestens  auf  einen  guten  Durchschnitt  der 
Arbeitsintensität  je  aller  einzelnen  Arbeitenden  emporhebt. 

Um  wie  viel  Gröfseres  wirkt  nun  aber  das  Zusammenarbeiten 
vieler  dort,  wo  es  auf  der  Basis  vollkommener  Vcrfahrungsweisen 
sich  aufbaut!  Mag  es  sich  um  das  arbeitszerlegende  oder  material- 
vereinigende Verfahren,  um "  die  Anwendung  chemischer  Prozesse 
oder  die  Nutzung  des  Maschinenprinzipes  handeln:  immer  wird  die 
Werkvereinigung  erst  die  notwendige  Bedingung  sein,  damit  jene 
Methoden  der  Arbeit  sich  recht  fruchtbar  erweisen.  W  ir  haben 
früher  gesehen,  wie  alle  diese  höheren  Arbeitsweisen  darauf  hinauf- 
laufen, die  Produktion  von  der  qualitativen  und  quantitativen  Un- 
zulänglichkeit des  individuellen  Arbeiters  zu  emanzipieren.  Aber 
die  stillschweigende  Voraussetzung  war  doch  dabei:  dafs  nun  an 
die  Stelle  des  einzelnen  Arbeiters  ein  Gesamtarbeiter  tritt,  der 
gleichsam  der  Träger  jener  riesigen  Arme  und  Lungen  oder 
jener  zwerghaft  zarten  Stech-  und  Stöfs-  und  Klopf-  und  Mefs- 
Organe  wird.  Erst  wenn  ich  die  im  rationell  zerlegenden  Verfahren 
ausgeschiedene  Teilverrichtung  der  H.ind  oder  der  Arbeitsmaschine 
als  die  besondere  Funktion  einem  bestimmten  Organe  in  dem 
Organismus  eines  Gesamtarbeiters  zuweisen  kann,  bringe  ich  den 
Gedanken  der  betreffenden  Arbeitsmethode  voll  zur  Geltung;  und 
dafs  ich  Tausendzentnerhämmer  arbeiten  lasse,  hat  doch  nur  dann 
einen  Sinn,  wenn  ich  einen  Ciesamtarbeiter  durch  zweckmäfsige 
Bctriebsorganisatiorj  geschaffen  habe,  dem  dieser  Cyklopenhammer 
ebenso  bequem  in  der  Hand  ruht,  ebenso  angepafst  ist,  wie  dem 
Schmiedegescllen  sein  Dreirsigpfuiidhanimer. 

Ersichtlich  kann  nun  aber  auch  das  rationelle  Verfahren  iiber- 
hauj)t,  kann  die  Wissenschaft  in  der  FVoduktion  erst  Ainvendun'^ 
finden,  wenn  und  soweit  eine  kunsi\olle  Organisation  an  die  .Stelle 
des  cinzehien  Arbeiters  oder  einer  Summe  von  Arbeitern  den  Ge- 
samtarbeitcr  setzt.  Denn  wie  wir  wi.sscn,  beruht  gerade  das  wis^en- 
schaltlichc  X'erfahren  darin,  den  T'rodiiktions])n»zels  ohne  Ruck<icht 
auf  die  Leistungsfähigkeit  und  ( ieeigiietheit  der  menschHclien  ( )r- 
gane  in  seine  Bestandteile  aufzulösen  und  die  Feilprozesse  in  neuer 
Zusammenfügung  zu  einem  Ganzen  zu  verbinden.   Da  müssen  nun 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Art>cit  uud  ihre  Organisation. 

.SO  viel  Träger  der  Teüverrichtungen,  so  viel  Beaufeichtiger  vonTeil- 
Prozessen  geschaffen  werden,  wie  es  das  Ver&hren  rationell  er- 
achtet, und  diese  Teilarbeiter  fiigt  dann  erst  .die  gesellschaftlidie 
Betriebsform  zu  einem  Gesamtarbeiterorganismus,  der  dann  den 
Gesamtprozefs  repräsentiert,  kunstvoll  wieder  zusammen.  Das 
wissenschaftliche  Veriahren  der  Produktion  hat  sein  Substrat  ebenso 
im  Gesamtarbeiter  des  gesellschaftlichen  Betriebes,  wie  die  Empirie 
in  der  individuellen  Persönlichkeit  des  einzelnen  Produzenten. 

Wir  werden  im  Verlauf  unserer  Darstellung  noch  öfters  Ge- 
legenheit haben,  auf  die  Wesensunterschiede  zwischen  individueller 
und  gesellschaftlicher  Betriebsanordnung  einzugehen.  Was  jedoch 
schon  jetzt  deutlich  erkennbar  sein  dürfte,  ist  doch  wohl  die  her- 
vorragende  Bedeutung  dieses  Unterscheidungsmerkmab  für  die  Ein- 
teilung der  Betriebe,  eine  Bedeutung,  die  keines  der  Kriterien,  die 
wir  kennen  gelernt  haben,  erreichte.  Auch  nicht  das  Moment  der 
GröDse.  Denn  wie  bedeutsam  auch  immer  die  Gröfsenverhältnisse 
eines  Betriebes  die  Produktionsergebnisse  beeinflussen  mögen:  zu 
grundstürzender  Rolle  gelangt  die  Grröfse  doch  immer  nur,  wenn 
und  soweit  sie  gleichzeitig  den  Betrieb  zu  gesellschaftlicher  An- 
ordnung emporhebt  Nicht  die  Zahl  der  Arbeiter  ist  es,  die  schon 
dem  einfachen  kooperativen  Arbeitsprozefs  seine  dynamische  Wirkung 
verleiht,  sondern  erst  ihr  Zusammenwirken;  nicht  die  Zahl  steigert 
die  Leistungs&higkeit  der  Arbeiter  im  arbeitsteiligen  Betriebe, 
scMidem  mt  ihre  Verschlingung  zu  einem  Ganzen,  nicht  die  Zahl 
endlich  der  Arbeiter  in  einem  Maschinenbetriebe  erzeugt  den  ge- 
waltigen I&afteffekt,  sondern  ihre  Gruppierung  um  gemeinsam  ge- 
nutzte und  darum  in  ihren  Verhältnissen  ins  Grofse  ausgeweitete 
Produkttonsmittet. 

Schreiten  wir  nunmehr  zur  Aufstellung  eines  Systems  der  Be- 
triebsformen, wie  es  sich  nach  unscrm  Kriterium  ergicbt,  so  erhalten 
wir  folgende 

Ja/g/  der  Bttriebsformen, 

Individuul-  GesellschaftL 
betrieb  Uebergangsbetrieb  Betrieb 


1.  Alkiii-B.  4.  erweiterter  Gehilfcn-B.    6.  Individual-H.       7.  Manulaklur. 

2.  I-amihcn-h.       5.  gesell&chaltl.  B.  im  Grolseu.         b.  tabnk. 

3.  Gebilfen-B.  im  Kiemen.   


sog.  „Kleinbetr.'*         sog.  „Mittdbetricb**.  sog.  „Großbetrieb**. 

22* 


Digitized  by  Google 


342 


Werner  Sombart, 


Was  zunächst  an  dieser  Tafel  auffallen  dürfte,  ist  ihre  Drei- 
teUung,  die  durch  das  Dazwischenschieben  einer  Gruppe  „Ueber* 
gai^sbetriebe"  zwischen  die  beiden  <^cf:^rnsät7.1ichen  Hauptgruppen 
hervorgerufen  ist  Sclbstverständlicli  bin  ich  mir  darüber  durchaus  im 
Klaren,  dafs  eine  so  unbestimmte  Bezeichnung,  wie  ich  sie  für  die  dritte 
Kategorie  von  Betrieben  gewählt  habe,  weit  entfernt  von  idealer  Voll- 
kommcniieit  ist  und  in  gewissem  Sinne  die  scharfe  und  einwands- 
freic  Zweiteilung  in  indi\  idualc  und  gesellschaftliche  Betriebe  wieder 
aufhebt.  Trotzdem  h;\hc  irli  mich  zu  der  Einfügung  entschlossen, 
weil  ich  sie  am  letzten  {■.luie  für  die  Sichtung  des  empirischen 
Materials  doch  für  mehr  nvitzltch  als  schädlich  erachtete.  Das 
wirkliche  I.eben  schaftt  eine  solche  aursernrdentliche  l'"ülle  \on  ver- 
schiedenen Betriel)sfnrmen,  dais  es  ihm  ( lewalt  anthun  heilst,  will 
man  nun  jeiler  einzelnen  gegenüber  das  Entweder  —  Oder  unseres 
Hauptgegensatzes  stellen.  Theoretisch  ist  das  natürlicTi  in  jedem 
Falle  möglicii,  für  das  j)raktische  Bedürfnis  auch  der  Wissenschaft 
ist  eine  gewisse  Latitude  fruchtbarer.  L'ebrigens  mag  zu  weiterer 
Rechtfertigung  dieser  Dreiteilung  noch  angeführt  werden,  dafs  ge- 
rade die  Einfügung  einer  derartigen  Zwischengruppc,  wenn  ich  sie 
so  nennen  darf,  zwischen  zwei  sich  gegentibersCehende  Hauptgruppen 
in  Fällen  wie  unserm  ein  dem  Lc^iker  durchaus  vertrauter  Vorgang 
ist  „Die  Trichotomie  findet  in  der  Regel  da  Anwendung,  wo  sich 
eine  selbständige,  auf  inneren  Ursachen  beruhende  Entwicklung  er- 
kennen läfet,  weil  diese  sich  in  der  Form  des  zweigliedrigen  Gegen* 
Satzes  und  der  Vermittlung  als  des  dritten  Gliedes  zu  voUzidien 
pflegt".')  Von  dem  Gedanken,  durch  unsere  Systematik  gerade 
dieser  Entwicklung  von  der  primitivsten  Form  des  individualen  Be- 
triebes zur  höchsten  Form  des  gesellschaftlichen  Betriebes  zum  Aus- 
druck zu  bringen,  ist  auch  jene  Untereinteilung  innerhalb  der 
einzelnen  Gruppen,  wie  sie  unsere  Tafel  enthält,  diktiert  worden. 
Es  ist  eine  Kette  zu  höherer  Entwicklung  aufsteigender  Betriebs- 
formen, *)  die  in  den  nunmehr  im  einzelnen  zu  analysierenden  Typen 

•|  L' c  be  r  w  r    -  I  ü  r  >;  «•  II  Hon  a  Meyer,  Syst«-«!  der  Logik.  Bonn  1S82.  S.  iSi. 

*j  Mit  der  tiniichränkung,  dals  in  der  Betrtrb&talel  Nr.  6  hinter  Nr.  5  plfizicrt 
ist,  obwohl  sie  eine  niedrigere  Stufe  der  Entwicklnng  darstellt.  Es  ist  desbalb  ge- 
schehen, weil  Nr.  6  mit  Nr.  7  n.  8  unter  der  tradiooetten  Beieichnung  ah  „Grofs- 
betrieb"  sttsammengefalst  werden  sollte.  Dafs  die  „Stnfeitfolge''  hier  nicht  im  Sinne 
der  empirisch-historischen  Aufeinanderfolge  zu  verstehen  ist,  bedarf  fttr  den  Kundigen 
keine»  besonderen  Hinweises.  Neuerdinj^^  hat  Hiich-r  wnhl  mit  Recht  darauf  auf- 
merksam gemacht,  dafs  die  gesellschaftlichen  Betriebe,  alierdiogs  wesentlich  in  der 


Digitized  by  Goo^^lc 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Orgiuiisation. 


zur  DaiBteUnng  gebracht  wird  Zu  besserem  Verständnis  folgt  hier 
zunächst  noch  einmal  die  T3rpenreihe  ohne  die  zerreifsencie  Ein- 
teilung in  Gruppen  und  mit  Umstellung  von  $  und  6,  wozu  die 
Erklärung  in  Anmerkung  2  auf  S.  342  gegebenen  worden  ist: 

1.  Alleinbetrieb; 

2.  Familienbetrieb; 

3.  Gebülfenbetrieb; 

4.  erweiterter  Gebülfenbetrieb; 

5.  Individualbetrieb  im  Grofsen; 

6.  gesellschaftlicher  Betrieb  im  Kleinen; 

7.  Manufaktur; 

8.  Fabrik. 

Auf  der  untersten  Stufe  des  individualen  Betriebes  steht 

I .   der  A  1 1 1-  Ml  b  f  t  r  i  e  b. 

Kr  bringt  naturgemäls  das  Wesen  der  indixidualcn  Hctricbs- 
{^estaltung  am  reinsten  zimi  Ausdruck,  obwohl  er  keineswegs  der 
empirisch  häutigste  X'ertreter  dieser  Betriebsform  ist.  Der  Allein- 
ari^eiter  umspannt  mit  seiner  Thätigkeit  sämtliche  Phasen  des 
I'rtKluktionsprozesses,  die  gesamte  dabei  zur  \'erausgabung  gelangende 
Arbeit  ist  seine  höchstpersönliche  Kigenarbeit.  Der  gesamte  Apparat 
elcr  Produktionsmittel  ist  im  kleinsten  Mafsstabe  zugeschnitten,  um 
Arbeitsraum,  Rohstoff,  Arbeitsmittel  der  Wirkungssphäre  des  alleinigen 
Arbeiters  anzupassen.  Dieser  kann  dabei  in  beliebiger  Ausdehnung 
das  arbeitsteilige  oder  materialvereinigende  X'crfahren  zur  Anwendung 
bringen;  seine  Arbeit  als  Ganzes  betrachtet,  kann  einen  höheren 
oder  geringeren  Grad  von  Spezialisation  aufweisen  (vgl.  oben  S.  338) 
und  thut  es  in  Wirklichkeit  auch :  von  dem  sogen.  Vollbetriebe  des 
Handwerkers  alten  Stil^an  bis  zu  den  zu  höchster  Spezialisierung 
gelangten  Einzelbetrieben  der  modernen  Hausindustrie.  Die  Arbeits- 
verrichtung selbst  nimmt  danach  einen  auCserordentlich  verschiedenen 
Charakter  an:  sie  weist  in  einem  Falle  eine  grofse  Mannigfoltigkeit 
verschiedenster  Vornahmen  auf:  dort  wo  ein  Arbeiter  —  denken 
wir  etwa  an  den  Kunsthandwerker  —  eine  ganze  Folge  von  Form- 
vefänderung  an  einem  und  demselben  Gegenstande  der  Reihe  nach 
vornimmt;  im  andern  Falle  zeichnet  sie  sich  durch  grofse  Ein- 

Form  einfacher  Kuopuratiun  in  einer  Zeit  unrutwickeltrr  1  cclinik.  .ihu  bcispii-lswcise 
bei  den  alten  Aegyptem  abrr  auch  bei  vielen  Naturvulkern  eine  verhältnismafsig 
böbere  Rolle  ge&pielt  haben  a1«  tpiter.  Bflcber,  Arbeit  and  Rbythmvs.  2.  Aull. 
1899»  S.  370  ff. 


iJiyiiizea  by  CjüOgle 


344 


Werner  bombart, 


förmigkeit  aus,  wenn  dem  einzelnen  Arbeiter  nur  ein  kleiner  Anteil 
vom  Gesamtproduktionsprozefs  dnes  vielleicht  schon  einfacheren 
Erzeugnisses  zufallt:  Blankputzen  von  AMenidebestecken,  etwa  nach 
dem  Vorbild  der  Heldin  in  Hirsch felds  „Müttern".  Wir  können 
dieses  noch  hinzufögen :  nur  wo  die  Arbeit  des  Alleinarbeiters  —  und 
ebendasselbe  gilt  für  alle  Formen  des  Individualbetriebes  —  eine 
gewisse  Reichhaltigkeit  der  Verrichtungen  aufweist,  ist  sie  eine  der 
Idee  jener  Betriebsform  angepafste.  Denn  weil  das  Wesen  dieser 
Betriebsform  darauf  beruht»  der  Bethatigung  der  Persönlichkeit  eines 
Einzelnen  den  nöt^en  Spielraum  zu  verschaffen,  so  kommt  es  auch 
nur  zu  voller  Entfaltung,  wenn  die  Individualitat  sich  nun  wirklich 
ausleben  kann.  Jeder  Menschennatur  entspricht  nun  aber  nicht  die 
die  Einförmigkeit,  sondern  die  \^elseitigkeit  des  Arbeitens.  Es  ent- 
steht eine  unnatürliche  Verkümmerung  und  Verkrüppelung  der 
Individualität,  wenn  ihr  stets  dieselben  eintönigen  Arbeitsverrichtungen 
obliegen.  Was  in  dem  gesellschaftlichen  Betriebe  zu  einer  höheren 
Einheit  wiedc  r  /usammengefafst  wird,  in  der  jener  Widerspruch  sich 
auflöst:  die  I eilverrichtung  des  Individuums:  das  erscheint  In  dctn 
iibermäfsig  spezialisierten  und  darum  einförmigen  Individualbetriebe 
als  eine  Abart,  wenn  wir  so  sagen  dürfen,  der  natürlichen  Ent- 
wicklung: CS  ist  der  IVozcfs  der  X'^ergescllschaftung  gleichsam  auf 
halbem  Wege  stehen  geblieben.  (^der  hegclsch  gesprochen:  die 
individuelle  Arbeit  hat  ihre  Antithese  —  in  der  die  Iiidi\itlualität 
verneinenden,  aufhebenden  Spc/.ialarbcit  —  erhalten,  aber  es  fehlt  noch 
die  Negation  dieser  Negation,  die  Synthese  zu  der  höheren  Einheit 
—  in  unserm  Falle  dem  Gesamtarbeiter  des  gesellschaftlichen  Be- 
triebes. 

Dafs  der  AUeinbcirieb  Maschinenbetrieb  oder  W'erkzeugbetrieb. 
mechanischer  oder  Handbetrieb  sein  kann,  mag  im  X'orübergehen 
erwähnt  werden:  von  grundsätzlicher  Bedeutung  ist  es  nicht.  Be- 
kannte Fälle  des  maschinellen  Alleinbetriebes  sind  die  schon  er- 
wähnten des  Hauswebers  und  der  Schneiderin,  die  in  den  ver- 
schiedensten Produktionssystemen  eine  stereotype  Erscheinung  sind. 

Nun  ist  aber  der  Alleinbetrieb,  wie  schon  hervorgehoben  wurde, 
keineswegs  die  einzige,  ja  nicht  einmal  die  wichtigste  Form,  in  der 
der  Individualbetrieb  erscheint.  Häufig  finden  wir  ihn  erweitert  zum 

3.  Familienbetrieb. 

Die  eigentliche  Sphäre  dieser  Betriebsform  ist  nicht  sowohl  die 
gewerbliche  Produktion  als  vielmehr  die  Landwirtschaft  Hier  spielt 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  tmd  ihre  OrgMÜtttton. 


345 


:iie  eine  CMtscheidendc  Rolle  und  bcstiinnit  so  rcciu  die  Kii:,'^eiiart 
der  landwirtschaftlichen  Produktion :  sie  ina^  als  Kinzclfaiiiilienbetrieb 
für  das  Kleinbauerntuni,  als  ( Trüfsfamilicnbctrieb  für  das  Grols- 
baiierntum  die  charakteristische  Hetriebsfonn  abgeben.  Der  Grund, 
weshalb  in  der  Sphäre  der  landwirtschaftlichen  Produktitm  der 
Familienbetrieb  so  sehr  viel  bedeutsamer,  als  in  irgend  einem  andern 
Zweige  des  Wirtschaftslebens  ist,  liegt  in  dem  Umstände,  dafs  in 
der  I^ndwirtschaft  Produktions-  und  Konsumtionswirtschaft  sowohl 
nach  Umfang  wie  Inhalt  von  Natur  viel  enger  miteinander  ver- 
knüpft sind,  sodafs  das  Departement  der  Frau  —  die  Konsumtions- 
wirtschaft —  nicht  eine  so  völlig  von  dem  Arbeitsgebiete  des 
Mannes  —  der  Produktionswirtschatt  —  geschiedene  VVirkenssphärc 
bildet,  wie  beispielsweise  bei  dem  gewerblichen  Produzenten.  Hier 
mufs  doch  stets  eine  künstliche  Einbeziehung  der  Familienglieder 
in  den  Arbeitsbetrieb  des  Familienoberhauptes  erfolgen. 

Die  bekanntesten  und  wichtigsten  Beispiele  gewerblicher 
Familienbetriebe,  die  natürlich  auch  dir  alle  hausgewerbliche  Eigen* 
Produktion  die  Regel  bilden,  liefern  in  neuester  2^\t  die  in  ihren 
letzten  Resten  in  Westeuropa  noch  erhaltenen,  in  Osteuropa  dagegen 
noch  in  Blüte  stehenden  ländlichen  Hausindustricen,  die  ja  zumeist  in 
organischer  Verbindung  mit  der  Bauernwirtschaft  erwachsen  sind: 
so  vor  allem  die  Weberei,  wo  der  Mann  webt,  die  Frau  scheert 
und  die  Kinder  spulen;  teilweise  die  Wirkerei  und  Strickerd  in 
Sachsen,  im  Vorarlberg  und  in  der  Schweiz;-)  die  Spielwaren- 
industrie Thüringens;')  die  Instrumentenmacherei  des  sächsischen 
Voigtlandcs.  *) 

Was  den  Familienbetrieb  charakterisiert,  ist  eine  physiologisch 
begründete  Arbettsverteilung  unter  die  einzelnen  Familienglieder 
derart,  daüi  neben  einem  vollwertigen  Hauptarbeiter  eine  kleine 
Anzahl  meist  minderwertiger  Arbeitskräfte  durch  Ausscheidung 
leichterer  Teilverrichtungen  aus  dem  Gesamtarbeitsprozds  genutzt 


')  Vgl.  für  den  Nicderrlicm  A.  Thun,  u.  a.  C).  Bd.  l;  für  Sachsen  L.  Bein, 
Die  l^doitrie  des  •Ichs.  Voigtlandcs.  Bd.  II.  Leipzig  1884;  für  Schienen  A.  GUcks- 
Baan,  IMe  Weberei  im  EtdengdurKe  (Sdir.  d.  V.  f.  S.-P.  Bd.  84). 

*)  VgL  MH  der  reidil»ltigen  Litterstor  Aber  diese  Industrie  namemlid)  G.  A. 
Laorent,  Die  Stickerdindnstrie  der  Ostscfaweis  und  des  Vorarlbergs.   Bas.  Diss. 

*)  Vgl.  £ni.  Sas,  Die  Hansindnstrie  in  Tbflrii«en.  Jena  1884 «$• 
L.  Bein,  Die  Industrie  des  sichs.  Voigtlandes.   Bd.  L  Lcipsig  1884. 


Digitized  by  Google 


346 


Werner  Sombart, 


werden.')  Diese  Gruppierung  einiger  Nebenarbdter  um  einen 
Hauptaibeiter  bewirkt  es,  dals  der  Familienbetrieb,  wenn  er  auch 
^ichsam  die  Zellenibnn  des  gesellschafUichen  Betriebes  daivtellt, 
doch  iiiglich  noch  als  Individualbetrieb  angesehen  werden  mtils:  er 
besteht  nur  in  einer  Auaweitung  einzelner  Organe  des  Haupt- 
arbeiters, als  dessen  individuelles  Produkt  das  Erzei^is  der  Familie 
in  Wirklichkeit  doch  erscheint  Der  Familienbetrieb  stellt  noch 
nicht  die  Zusammenfiosung  von  Teilaibeitem  zu  einem  geseUsdiaft- 
lichen  Gesamtarbeiter,  sondern  nur  die  Unterstützung  eines  einzigen 
Arbeiters  durch  einige  Hülfsarbeiter  dar.  Dieses  Merkmal  hat  nun 
mit  dem  Familtenbetrieb  gemeinsam  unsere  dritte  Betriebsform,  die 
wir  als 

3.  Gebftlfenbetrieb 

bezeichnet  haben.  Was  den  Gehülfenbetrieb  jedoch  sofort  scharf 
von  dem  vorhergehenden  Typus  unterscheidet,  ist  die  Beschaffenheit 
der  Hülfspersonen,  die  sich  der  eigentliche  Träger  des  Arbeits* 
Prozesses  als  Stützorgane  angliedert:  es  sind  dies  nämlich  nach 
Quantität  und  Qualität  nicht  mindere,  sondern  eben&lls  vollwertige 
Arbeitskräfte,  die  entweder  den  Betriebsleiter  bei  seinem  e^[enen 
Werk  durch  wichtige  Hülfeverrichtungen  unterstützen  oder  neben 
jenem  gleküier  Ari>eit  wie  er  obliegen.  In  ersterem  Falle  konnte 
man  daran  denken,  von  einem  Gesamtwerk  zu  sprechen,  wäre  das 
Ausmaals  des  Gesamtarbeiters  nicht  ein  so  geringes,  dals  es  der 
individualenAibettspersonlichkett  näher  kommt  und  lieCse  sich  nicht 
füglich  die  Arbeit  des  Leiters  doch  als  solche  unterscheiden  und 
in  ein  Verhältnis  der  Haupt-  zur  Nebenarbeit  setzen  wie  wir  es  ge- 
than  haben.  Schulbeispiel  für  diesen  Typus  des  Gehülfenbetriebes 
im  eigentlichen  Sinne  ist  der  Betrieb  des^  Schmiedes,  meistens  mit 
einem  Schmiedegesellen,  der  den  Hammer  schwingt  und  dem  Lehr- 
ling, der  den  Blasbalg  zieht,  die  alle  drei  in  der  That  zu  einem  un- 
trennbaren Ganzen  zusammenwachsen.  Aber  es  ist  doch  unserm 
Empfinden  angemessen,  den  Meister  Heinrich  von  drei  Zwergen 

*)  „L'industrie  domcMitui«*,  dans  sa  forme  primitive,  est  essfntirllrmrnt  bftsee 
sur  le  travail  des  membres  de  la  famillc,  homroes,  fcmnics,  vi<  illuril>,  lulultc*  et 
enfants.    Plus  les  Operations  <iu'«dle  comportc  peuvent  ctre  r(  j  artics  raliom  llcment 

cntrc  tous  k-s  membres  de  la  lamille,  plus  Tindustrie  dcvicnt  avanlageiue"  

„les  travanx  Mut  r^rüi  enU'e  les  divers  metnlires  des  fiunilk«  teton  Icnr  impor- 
ttknce  et  Beton  l'Age  et  rhabilct«  des  travulkuis."  W.  Wescbniakof  f ,  Notice 
sur  r^t  actnel  de  rindastrie  domesüqtte  en  Rnssic.  St.  Petersbourg.  1873  p.  12/13. 


Digitized  by  G 


Die  gewt-rblichc  Arbeit  und  ihre  Organisatiun. 


347 


bei  seiner  Schmiedearbeit  unterstützt  zu  sehen.  Er  tileibt  der 
Schöpfer,  jene  sind  Gebülfen!  Im  andern  Falle,  wenn  nämlich  die 
Geholfen  gleicher  Arbeit,  wie  der  Betriebsletter  obliegen,  entsteht 
überhaupt  kein  Gesamtwerk,  sondern  nur  eine  Anzahl  von  indi- 
vidualen  £inzelwerken  der  in  einem  Betriebe  vereinigten  Personen. 
Das  ganze  Arbeitspensum  eines  solchen  Betriebes  wird  nach  Gut* 
dünken  des  Betriebsleiters  zwischen  ihm  und  seinen  Gehülfen  ent- 
sprechend der  Leistungsfähigkeit  der  einzelnen  verteilt.  Zuweilen, 
aber  nicht  als  Regel,  findet  die  Verteilung  der  Arbeiten  in  der 
Weise  statt,  da(s  die  aufeinanderfolgenden  Stücke  des  Gesamt* 
afbeitsprozesses  verschiedenen  Arbeitern  zugewiesen  werden.  Diese 
Form  eines  Gehülfenbetriebes  ist  nun  die  eigentlich  das  alte  Hand- 
werk  in  seinen  Hauptzweigen  beherrschende:  Schneiderei,  Kürschnerei, 
Schuhmadierei,  Tischlerei,  Schlosserei,  Klempneret,  Buchbinderei 
e  tutti  quanti  sind  in  der  angedeuteten  Weise  organisiert  gewesen, 
solange  sie  in  den  alten  Traditionen  sich  erhielten:  mä(sig  speziali- 
sierte, daher  ziemlich  mannigfache,  eine  Durchschnittsindividualität 
auf  nicht  sehr  hoher  Entwicklungsstufe  ausföllende,  koUegialisch 
mehr  als  gesellschaftlich  ausgeübte  Thätigkeit  mit  einfachen  Werk- 
zeugen und  überhaupt  klein  dimensionierten  Produktionsmitteln, 
selbstverständlich  rein  empirisch  gestaltet:  das  etwa  sind  die 
charakteristischen  Züge  der  Betriebsform,  die,  wie  wir  noch  genauer 
erkennen  werden,  in  der  handwerksmäfsigen  Pjroduktion  vorherrschend 
gewesen  ist. 

Rein  quantitativ  zunächst  sind  nun  von  den  bisher  betrachteten 
Betriebsformen  unterschieden  diejenigen,  die  wir  unter  der  Be- 
zeichnung „Uebergangsbetriebe"  zusammengefaGst  haben,  weil 
sie  zwar  entweder  auf  grofser  Stufenleiter,  aber  ohne  das  Moment 
der  Vergesellschaftbng  oder  gesellschaftlich,  aber  im  Kleinen  be- 
trieben werden. 

4.  Erweiterter  Gehttlfenbetrieb. 

Er  entsteht  durch  bloCse  Addierung  der  in  einem  Gehülfen- 
betrieb  entweder  gruppenweise  oder  einzeln  thätigen  Arbeitskräfte. 
Eine  Schmiedewerkstatt  mit  mehr  als  einem  Schmiedefeuer,  eine 
Tischlerwerkstatt  mit  mehreren  Hobelbänken,  eine  Schlosserei  mit 
zahlreichen  Schräubstöcken,  eine  Drechslerei  mit  verschiedenen 
Drehbänken,  eine  Bäckerei  mit  mehreren  Oefen  u.  dgl.  sind  solche 
erweiterten  Gehülfenbetriebe.  In  ihnen  ist  der  Arbeitsprozeß  im 
Prinzip  derselbe  wie  im  Allein-  oder  Gehülfenbetriebe;  auch  die 


Digitized  by  Google 


348 


Werner  Sombart. 


Dimensionierung  der  Produktionsmittel  ist  kaum  verändert  Gleich» 
wohl  stellt  er  ein  Wesensverschiedenes  gegenüber  den  bisher  be- 
trachteten Formen  des  Betriebes  dar:  er  bahnt 'insofern  wenigstens 
ein  neues  Prinzip  der  Betriebsgestaltung  an,  als  er  die  Grenze 
individuell  •  personlicher  Wirksamkeit  überschreitet    Im  .JClein- 
betriebe")  so  kann  man  die  drei  erstgenannten  Betriebsformen 
zusammenfassend  nennen,   bleibt  alle  Arbeit  doch  im  Grunde 
gruppiert  um  den  Mittelpunkt,  den  der  Betriebsleiter  mit  seiner 
Hauptarbeit  bildet,  auch  dort,  wo  er  nicht  mehr  völlig  Alleinarbeiter 
ist    Diese  höchstpersönliche,  konzentrische  Gestaltung  ist  im  er- 
weiterten Gehülfenbetriebe   erstmalig   verlassen;   die  vermehrte 
Gehülfenzahl  drängt  nach  Verlegung  des  Schwerpunkts  aus  dem 
Zentrum  eines  Hauptarbeiters  in  die  Persönlichkeiten  der  ver- 
schiedenen Hül&personen.  Die  Einheitlichkeit  des  Geistes,  der  den 
Betrieb  beherrscht,  vermindert  sich,  trotzdem  die  bewu(ste  und  aus- 
drückliche Leitung  des  Betriebes  vielleicht  zunimmt:  der  Betriebs- 
chef widmet  von  seiner  Thatigkeit  von  nun  ab  einen  Teil  der  Be- 
aufsichtigung seiner  Gehülfen.   Aber  diese  Au&icht  vermag  nie  die 
intime,  unwillkürliche  Beeinflussung  ganz  zu  ersetzen,  der  die  wenigen 
Gehülfen '  oder  gar  nur  der  Gehülfe  im  Kleinbetriebe  seitens  des 
durch  sein  Können  und  sein  Vorbild  praponderanten  Hauptarbeiters 
unterliegen.  Dazu  kommt  noch  das  weitere  Moment,  dals  im  Klein- 
betriebe die  eigentlich  verantwortliche  Thatigkeit,  die  durch  die 
Art  ihrer  Ausübung  recht  eigentlich  dem  Betriebe  seinen  Charakter 
verleiht,  immer  dem  Betriebschef  vorbehalten  bleibt,  wodurch  also 
die  persönliche  Färbung  der  Betriebsleistungen,  wiederum  erhalten 
wird.    Im  erweiterten  Gehülfenbetriebe,  wo,  wie  wir  sahen,  dem 
Hauptarbeiter  ein  Teil  seiner  Zeit  durch  die  blofse  Au&icht  und 
Leitung  genommen  wird,  kann  nicht  mehr  eine  so  ausschlie&liche 
Vertretung  des  ganzen  Betriebes  und  seiner  Leistungen  nach  auisen 
hin  durch  ihn  allein  stattfinden.    In  dem  Entwicklungsprozeß  zu 
höheren  Betriebsformen  fallt  diesem  Typus,  der  übrigens,  wie  aus- 
drücklich betont  werden  mufs,  ganz  besonders  schwer  von  den  \'er- 
wandten  Typen  namentlich  nach  unten  hin  abzugrenzen  ist,  vor- 
nehmlich die  Aufgabe  der  Zerstörung  prinzipiell  individual-personlicher 
Betriebsanordnung  zu :  er  enthält  Elemente,  die  diese  negieren,  ohne 
noch  Elemente  zu  positiver  Neubildung  in  sich  aufgenommen  zu  haben. 

Nimmt  die  Zahl  der  in  einem  Betriebe  beschäftigten  Personen 
nun  weiter  zu,  ohne  dafs  sich  die  Form  der  Arbeit  im  Prinzipe 
ändert,  so  entsteht  ein 


Digitized  by 


Die  gewerbliche  Arbeit  and  ihre  Organbation. 


349 


5.  Individualbetrieb  im  Grofsen. 

Er  läfst  sich  scharf  gegen  jede  andere  Betriebsform  abgrenzen : 
gegen  den  gesellschaftlichen  Betrieb  durch  das  negative  Moment, 
dafe  er  noch  keinerlei  Umgestaltung  der  Individualarbeit  aufweist; 
gegen  den  erweiterten  Gehülfenbetrieb  dadurch,  da(s  er  grofs  genug 
geworden  ist«  um  die  Funktion  der  Leitung  zur  ausschlielslichen 
Thatigkeit  einer  Person  zu  machen. 

Der  Individualbetrieb  im  Groden  ist  als  geschlossener  Betrieb 
in  einem  Etablissement  in  seiner  reinen  Form  kaum  denkbar,  jeden- 
Ms  nicht  praktisch.  Ihm  angenähert  ist  beispielsweise  eine 
Weberei,  die  eine  gröfsere  Anzahl  Handweber  unter  einem  Dache 
vereinigt  Nur  dals  in  diesen  Fällen  Teile  des  Produktionsprozesses 
fast  immer  schon  in  gesellschaftlichen  Betrieb  übergeführt  sind,  wie 
das  Spulen  und  Scheren,  wenn  nicht  gar  schon  die  Appretur. 
Immerhin  lafst  sich  ein  Betrieb  denken,  der  viele  Arbeiter  unter 
einheitlicher  Leitung  in  einem  Räume  umfafst,  in  deren  individualen 
Arbeitsprozeß  nicht  mehr  als  Gebäude,  Beleuchtung  und  Heizung 
als  gesellschaftliche  Bestandteile  eingehen;  diese  freilich  immer. 
Wenn  wir  nun  trotzdem  eine  besondere  Kategorie  von  Betrieben 
als  „Individualbetriebe  im  Grofsen"  ausgeschieden  haben,  so  geschah 
es  deshalb,  weil  sie  unter  andern  Bedingungen  zu  groGser  Bedeutung 
im  gewerblichen  Leben  gelangen  können.  Dort  nämlich,  wo  es  sich 
um  Betriebe  handelt,  die  sich  über  mehrere  Betriebsstätten  erstrecken, 
um  aufgelöste  oder  fliegende  Betriebe,  wie  man  sie  auch  wohl 
nennen  könnte.') 

Einen  solchen  fliegendcnlndividuall)etrieb  im  GroTsen 
stellt  z.  B.  ein  modernes^  grolsstadtisches  Malereigeschäft  dar.  In  ihm 
unterstehen  Hunderte  von  Malergehülfen  einer  durchaus  einheitlichen 
Leitung:  sie  erhalten  Arbeit  und  Arbeitsstätte  von  Tag  zu  T:irr  an- 
gewiesen, müssen  zu  bestimmten  Zeiten  bestimmt  vorgeschriebene 
Arbeiten  ausftihren  und  unterstehen  dabei  der  unausgesetzten  Kontrole 

')  Die  Yon  O.  Schwärs,  a.a.O.  S.  542  ff.,  616  ff.  eingeführte,  dann  von 
Bücher  u.  a.  aufKcnomraene  Bcz»Mchnung :  „zentralisierter"  und  „dezenirali.sirrtcr" 
Grofsbctricb  i>»t  nicht  nur  sprachlich  häülich.  sondern  auch  falsch  .  ,,zentrali>i«Tt" 
ist  jedi-r  B'-tri<-l).  soii>.t  wärr  ts  rh<-i\  ijicht  Ein  Ht>trieb.  Wie  denn  auch  jcn--  .Au- 
toren unti-r  d"-ni  ..dj-zentralisirrtr-n  ( Irol'sbetriehe'-  di<>  Hausindustrie  verstehen,  die 
{eradr  iladurcli  charakterisiert  wird,  daf»  sie  nicht  aus  Grofs-  sondern  aus  Klein- 
betrieben l>esteht.  Absichtlich  habe  ich  auch  die  Beseichniing  „Groftbelrieb'*  fOt  die 
vMcr  Nr.  5  abgehandelte  Betriebsform  vermieden. 


Digitized  by  Google 


350 


Werner  Sombart, 


des  „Meisters"  oder  besonderer  Auüsichtspersonen  in  ganz  grotsen 
Betrieben.  Weiter  aber  reicht  die  Vereinheitlichung  der  verschiedenen 
Arbeiten  nicht:  diese  werden  vielmehr  mit  denselben  Werkzeugen 
und  derselben  Technik  ausgeführt  wie  in  Zwergbetrieben,  die  je 
nur  eine  Arbeitsstätte  haben.  Woran  auch  durch  die  Thatsache 
nichts  geändert  wird,  dafs  in  den  gro(sen  Betrieben  die  einzelnen 
auszuführenden  Arbeiten  bestimmten  Spezialarbeitern  überwiesen 
werden:  ihre  Ausführung' bleibt  doch  immer  eine  durchaus  indivi- 
duale.  Auch  von  den  sogn.  „Anbringungsgewerben"  im  Bau&che 
können  manche  im  Grofsen  betrieben  werden  und  doch  Individual- 
betriebe sein.  Der  Beurteilung  von  Fall  zu  Fall  muls  es  vor- 
behalten bleiben  zu  bestimmen:  wann  ein  Individualbetrieb  im 
Grolsen,  wann  ein  gesellschaftlicher  Grolsbetrieb  vorliegt;  ebenso 
aber  auch:  wann  es  sich  um  einen  einheitlichen  Betrieb  und  wann 
blofs  um  eine  einheitliche  Disposition  der  Produktion  beispielsweise 
in  Einer  Unternehmung,  aber  ohne  wirklich  einheitliche  Betriebs- 
Ordnung  handelt.') 

Es  heilst  nun  keineswegs,  sich  der  Haarspalterei  schuldig 
machen,  wenn  man,  wie  es  hier  geschieht,  diese  eigenartige 
Betriebsform,   die  gewöhnlich  mit  den  übrigen  sogn.  „Grols- 
betrieben"  zusammengeworfen  wird,  zu  selbständiger  Bedeutung  er- 
hebt   Die  Theorie  bringt  dadurch  vielmehr  nur  einen  praktisch 
aufserordentlich  wichtigen   Unterschied  zum  richtigen  Ausdruck. 
Was  nämlich  jeden  noch  so  grolsen  Individualbetrieb  von  jedem 
noch  so  kleinen  gesellschaftlichen  Betriebe  unterscheidet,  ist  einmal 
der  Umstand,  dafs  in  ihm  irgend  welche  höhere  Arbeitsoiganisation, 
vor  allem  irgend  welche  an  die  gesellschaiUiche  Nutzung  von 
Produktionsmitteln  gebundene  höhereVerfahrungsweise  ausgeschlossen 
ist.  Von  der  Spezialisierung  der  Arbeitsverrichtungen  abgesehen,  (fie 
aber  schon,  wie  wir  sahen,  bei  einheitlicher  Produktionsorganisation 
ausfuhrbar  ist,  also  der  Einheitlichkeit  des  Betriebes  gar  nicht  erst 
bedarf,  ist  die  Form  des  Arbeitsprozesses  im  grofsen  Individual- 
betrieb nicht  höher  und  potenter  als  im  kleinen.    Sodann  ist  ein 
jedem  Individualbetrieb,  dem  „grolsen"  wie  dem  „mittleren"  gemein- 
sames .  Merkmal ,  das  ihn  eben&lls  von  jeder  gesellschaftlichen 
Betriehsgestaltung  unterscheidet,  dieses:  dafs  er  kein  organisches 
Ganzes,  sondern  immer  nur  ein  Aggregat  darstellt:  also  beliebig 


1)  Vgl.  (kfliT  vaaen  AntflBbniiigeQ  Aber  die  Kriterien  eililieitlidicr  Betrieb«- 
Kestaltung  oben  S.  323  fg. 


Digitized  by  Gopgle 


Die  geweiblidie  Arbeit  und  ihre  Otiganisatiaa. 


35» 


vergrö(sert  und  verkleinert  werden  kann.  Ein  Malereigeschäft,  um 
bei  diesem  Beispiel  zu  bleiben,  kann  heute  30,  morgen  300,  über- 
morgen 200  und  am  nächsten  Tage  wieder  20  Gehülfen  beschäftigen, 
ohne  Irgend  welche  Betriebsumgestaltung  erforderlich  zu  machen. 
Man  kann  einen  Individualbetrieb  imGro&en  zerschneiden  wie  eine 
Wurst,  während  es  das  eigentümliche  Charakteristikum  jedes,  auch 
noch  so  kleinen  gesellschaftlichen  Betriebes  ist,  dafe  er  stets  nur  in 
einem  ganz  bestimmten  Gröfsenverhältnis  erweitert  oder  verkleinert 
werden  kann.  Wie  wichtig  dieses  Moment  ist,  wird  noch  ersichtlich 
werden,  wenn  wir  jetzt  die  gesellschaftlichen  Betriebe  analysieren, 
unter  denen  uns  zunächst  diejenige  Betriebsgestaltung  entgegentritt, 
die  als 

6.  gegellftchaftlicher  Betrieb  im  kleinen 

von  uns  bezeichnet  worden  ist  Wer  die  Betriebsformen  lediglich 
nach  der  Grö&e  unteracheidet,  insbesondere  nach  der  Zahl  der  in 
einem  Betriebe  beschäftigten  Personen,  kann  diese  Betriebsform 
von  der  des  erweiterten  Gehilfenbetriebes  (Nr.  4)  nicht  trennen. 
Beide  haben  das  gemeinsame  Merkmal  „mittlerer  Grofee",  d.  h.  sie 
gehören  beide  etwa  den  von  der  Statistik  aufgebrachten  Grofsen* 
kategorieen  der  Betriebe  mit  ca.  6— 10  und  Ii — 20  Personen  an, 
sind  bddes  also  sog.  „Mittelbetriebe".  Und  doch  wäre  das  ein 
stümperhafter  Betriebssystematiker,  der  den  erweiterten  Gehilfen« 
betrieb  eines  Schneidermeisters  alten  Stils,  in  dem  sage  15  Gehilfen 
thätig  sind,  nicht  als  ein  Wesensverschiedenes  dem  Betriebe  einer 
Zwischenmeisterwerkstatt  in  der  Konfektionsindustrie  mit  genau  der 
gleichen  Anzahl  von  Hilfskräften  gegenüberstellen  wollte.  Dort, 
das  ist  das  Charakteristische,  hat  der  Arbeitsprozeß  kaum  erheb- 
liche Aenderungen  er&hren,  verglichen  mit  dem  Arbeitsprozefs  in 
der  kleinen  Meister-  und  Gesellenwerkstatt,  hier  dagegen  ist  er  auf 
eine  vollständig  neue  Basis  gestellt  Der  Gesamtproduktionsprozefe 
ist  in  seine  einzelnen  Bestandteile  aufgelost,  die  von  je  einer  Arbeits- 
kraft vertreten  werden  und  ihre  Einheit  nicht  mehr  in  der  schöpfe- 
rischen Individualität  der  Einzelpersönlichkeit  sondern  nur  noch  in 
dem  Organismus  des  Gesamtarbeiters  finden.  Die  Differenzierung 
und  Integrierung  zu  einem  neuen  Gebilde  —  das  wesentliche  Merk- 
mal des  gesellschaftlichen  Betriebes  — ,  die  sowohl  durch  Zerlegung 
des  Gesamtprozesses  und  X'^erteilung  der  Finzelverrichtung  unter 
die  verschiedenen  Arbeiter,  als  auch  durch  die  gemeinsame  Nutzung 
'Von  Produktionsmitteln  erfolgt,  finden  in  der  von  uns  hier  be- 


Digitized  by  Google 


35« 


Wrrmvr  Sorobart, 


sprochenen  liciricbsform  zwar  auf  kleiner  Stufenleiter  statt,  sie  finden 
aber  ducli  schon  statt.  So  treffen  wir  —  um  bei  dem  Schulbei- 
. spiel  der  hausindustriellen  Schneiderwerkstatt  zu  bleiben,  —  in 
einem  solchen  Konfektiond^etr^be  auf  den  Zuschneider,  der  mit 
oder  ohne  Maschine  (Ur  sämtliche  Arbeiter  zuschneidet,  und  auf 
den  Bügler,  der  ebenfalls  manuell  oder  maschinell  das  Bügeln  aller 
fertiggestellten  Kleidungsstücke  besorgt;  zwischen  diesen  beiden 
Arbeiten  vollzieht  sich  der  HersteUungsprozeis  der  einzelnen  Klei- 
dungsstücke in  der  Weise,  dafs  sowohl  eue  horizontale,  wie  eine 
vertikale  Zerlegung  der  Gesamtarbeit  stattfindet:  wir  sehen  Rock», 
Hosen-,  Westenarbeiter  und  innerhalb  dieser  Kategorieen  wieder 
Hefter,  Zusammennäher,  Knopflochnäher,  Knopfannäher  etc.  Schriebe 
Adam  Smith  heute  sein  erstes  Kapitel  über  die  „Arbeitsteilung",  so 
würde  er  gewifs  eine  solche  Zwischenmeisterwerkstatt  der  Kon* 
fektionsindustrie  als  Beispiel  wählen,  um  daran  die  manulaktur* 
mäfsige  Organisation  eines  arbeitsteiligen  Betriebes  zu  erlautem. 
Seine  Stecknadelmanufaktur  ist  etwas  ganz  Analoges.  Was  er  in 
ihr  schildert,  ist  durchaus  der  Typus  eines  gesellschaftlichen  Be- 
triebes „im  kleinen",  denn  seine  bekannte  falsche  Berechnung 
der  4800  fachen  Steigerung  der  Produktivität  durch  die  Arbeits- 
teilung stellt  er  mit  einer  nur  aus  10  Personen  bestehenden  Steck- 
nadelmanufaktur an.  Aber  was  Adam  Smith  nicht  wissen  brauchte, 
was  wir  heute  täglich  vor  Augen  sehen,  Ist  dies:  dafs  die  \'erge- 
sellsrhaftung  des -Arbeitsprozesses  nicht  notwendig  durch  t-inc  arbeits- 
teilige Ik'triebsorganisation  hervorgerufen  zu  sein  braucht,  sondern 
l)eispicl>\vcise  auf  gemeinsamer  Nutzung  von  Produktionsmitteln  lie- 
rulien  kann.  Auch  dieses  ist  nun  auf  kleiner  Stufenleiter  möglich. 
Ich  denke  an  kleine  Schäftefabriten,  kleine  Lederfabriken,  kleine 
chemiclic  Fabriketi  u.  dg!.,  die  sich  trotz  ihrer  gleichen  .Arbeiterzahl 
doch  alle  al^  wesciis\  erschieden  von  grolsen  Schuhmacherbetrieben, 
grolsen  (lerbcreien  u.  dgl.  erweisen.  Was  aber  diese  ganze  Kate- 
gorie schon  gesellschaftlicher  Betriebe  doch  untersclieidet  als  Be- 
triebe „im  kleinen"  ist  dasselbe,  was  uns  als  Unterscheidungsmerk- 
mal für  die  Individualbetriebe  im  kleinen  und  im  grofeen  bereits 
diente:  das  Moment  nämlich,  dafs  in  der  Regel  die  Funktion  der 
Leitung  in  diesen  Betrieben  „mittlerer  Grofse^'  noch  nicht  zu 
völliger  Selbständigkeit  in  einer  ausschlielslich  damit  betrauten 
Person  gelangt  ist.  Wo  dieses  nun  der  Fall  und  der  gesellschaft- 
liche Charakter  des  Betriebes  ebenfalls  gewahrt  ist,  erscheint  der 
gesellschaftliche  Betrieb  recht  eigentlich  erst  in  seiner  Vollendung, 


Digitized  by  Googlf 


Die  ge  lirerbliche  Arbeit  and  ihre  OrgAiÜMtion. 


353 


für  die  nun  in  dem  Ausmafs  seiner  einzelnen  OjqgangUeder  keinerlei 
Schranken  mehr  bestehen. 

Die  erste  der  beiden  Formen  solcher  gesellschaftlichen  Grofs- ' 
betriebe  haben  wir  * 

7.  Manufaktur 

genannt. 

Ich  verstehe  darunter  denjenigen  ^'cscllsi  haftlichen  ( irofsbclrieb, 
in  dem  vvesentHche  Teile  des  Produktionsprozesses  durch  Handarbeit 
ausgeführt  werden. ') 


*)  Die  ßezeichnang  „Mannfaktur"  glaubte  ich  beibehalten  lu  sollen,  da  »ie 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  sich  Bürgerrecht  in  unserer  Wissenschaft  erworben  hat 
und  doch  wobl  andi  in  der  Mehnahl  der  FlUe  in  dem  im  Teste  angegebenen  Sinne 
gebnncbt  wird.   Einen  nnbeitritten  eindeutigen  Sinn  hat  das  Wort,  aovid  ich  sehe, 
nie  gdmbt  In  merkantilistischer  Zeit  wnvde  Manttfaktmr,  wie  oben  sdion  er- 
tHUmt,  mditcni  praniscae  mit  Fabrik,  Kommenialhaadwerk  n.  dgL  gebraucht, 
am  die  kapitalistische  Industrie  zu  bezeichnen:  siehe  die  oben  dticrten  Stellen  und 
weitere  Belege  bei  Stieda,  .\rtikel  „Fabrik"  im  H.-St.  und  etwa  noch  Schröder, 
Fürstliche  Schatz-  und  Rcntkamnier  16861,  /..  H.  S.  LXXXVII.    Auch  in  der  Gesetzes- 
und Amtssprache  jener  /.<  it  finden  wir  „Manufaktur"  meist  in  dem  angegebenen  Sinne 
gebraucht:  vgl.  das  ..Manufakturliaus  auf  dem  Tabor  in  Wien";  sowie  die  zahllosen 
.Schriften,  die  sich  aufgezählt  linden  in  Joh.  Jac.  Mosers  ...  iUbliothec  von  Oekono» 
mischen-Cameral-  FoUcey»  Handlungs-  Manufactnr-  MeehanisdMn  und  Bergwerks 
Schriften  und  kleinen  Abhandlungen  (Uhn  1758)  s.    „Cameral-wesen";  „Fabriqnen**; 
HHandlnng**;  „hfanufocturen";  Miscellanea** ;  „rohe  Waaren** ;  ,3pAnien" ;  „Waaren"; 
„Wolle'*;  „Woil«llanttfiMtnrcn".  Wo  man  ihm  einen  Ton  dem  Begriffe  der  Falwik 
abweidienden  Snn  onterlegte,  war  es  der  eines  Betriebes,  in  dem  ohne  Fener 
nnd  Hammer  gearbeitet  wurde:  vgl.  Justi.  Staats  Wirtschaft  I.  291  und  des- 
selben Werk  Von  denen  Manufakturen  und  Fabriken  (1758,61)  I.  5.    ,, Manufaktur 
und  Fabrik  werden  gemeiniglich  vor  gleichbedeutende  Wtirter  gehalten  und  {:leichgiltig 
gebraucht.    Ihre  Bedeutung  aber  ist  in  der   l'at  von  einander  unterschieden.  Unter 
Manufaktur  versteht  man  «  igentlich  diejenigen  Hcarbeilunjjen,  die  blofs  mit  der  Hand 
ohne  Feuer  und  Hammer  geschehen,    i  ubrikcn  aber  heifsen  diejenigen  .\rbeitcn, 
sa  welchen  Feuer  und  Hammer  oder  fthnltche  Wericieuge  angewendet  werden" ;  nnd 
n.  303  f.,  wo  J.  sniritehst  diese  Begriftbestimmnng  wiederholt  und  dann  fortAhit: 
..Dieser  Begriff  verrtehet  sich  aber  in  allgemeiner  Bedeutung,  in  welcher  alle  Hand- 
werker,  die  in  Fener  arbeiten,  Fabricatenrs  sind,  sowie  man  jeden  Handwerksmann, 
der  in  Wolle,  Leinen,  Baumwolle  und  Seide  arbeitet,  in  diesem  Verstände  einen 
Manufactnriers  nennen  kann.  Allein  in  einer  engeren  Bedeutung  versteht  man  unter 
einer  Fabrik  eine  zusammenhängen<!e  .Anstalt  verschiedener  Art  von  Arbeiten,  wo- 
durch die  Metalle  und  mineralischen  Produkte  vermittelst  Feuer  und  Hammer  und 
andere  ähnliche  Wcrlueuge  zu  vollkommenen  Waaren  gemacht  werden."  Danach 


Oigltized  by  Google 


354 


Werner  Sombart, 


Zum  Wesen  der  Manufaktur  gehört  also: 
I.  das  Moment  der  Gröfse.   Es  läge  an  sich  kein  sprach* 
liches  Hindernis  vor,  auch  die  gesellschaftlichen  Betriebe  im 


iChwankt  unser  Autor  zwi&cben  der  L'nterM:heidung  zweier  \-crschiedcncr  Vcrfabrungi* 
weisen  und  zweier  verscbiedener  BeUiebsformen  und  bleibt  im  übrigen  den  in  obigen 
Worten  getroffenen  Distliiktionen  nidit  einmal  treu.  So  ipriclit  er  beiqilelsweise 
a.  a.  O.  n.  »aS  von  .«Ideinea  Fabriken**,  wo  er  Meiiter,  IL  9a  von  den  „Fabrikanten 
in  Schienen**,  wo  er  die  Hansweber  meint.  Sonnenfels  meint  dann  schon  (Grand* 
Sätze  der  Polizi'v,  Handlung  ond  Finanzwissenschaft  II.  [177O»  Seite  8):  „Puritaner(l) 
in  den  Handlungskunstwörtem  sprechen  Manufakturen  wo  Hammer  und  Feuer  ent- 
behrt wird :  als  Tuchmanufaktur,  Cottonmanufaktur.  Hingegen,  wo  diese  beide  er- 
erfordert werden,  das  nennen  sie  Fabriken;  Suihlfabriken,  Messinj^fabriken.  Der 
Gebrauch  hat  diesen  Unterschied  beinahe  ganz  aufgehoben:  das  Wort  Fabrtke  ist 
allgemeiner:  man  sagt  tägUch  Tw^frbrike,  Cottonfabrike."  Eine  Ansicht,  die  jeder 
bestldgt  finden  wird,  dem  die  ökonomiache  Litteratnr  Deutschlands  und  Oesterreichs  aas 
jener  Zelt  vertraut  ist.  So  sprldit  beispidsw.  Justus  Möser  fast  stets  von  „Fabriken**, 
unter  denen  er  sogar  mweilen  die  Haurindustric  mit  ventdit  V^.  Falrk>t.  Phantss. 
(1780)  I.  184.  II.  124  ff.  in  dem  „Schreiben  über  die  Cultur  der  Industrie";   139  ff. 

„Zur  Beförderunt;  einheimischer  Wollfabriken".  In  einem  völlig  anderen  Sirmc  braucht 

• 

das  Wort  der  in  seiner  Zeit  als  Autorität  auf  dem  Gebiete  der  ( Jcwerbcwissenschaf\ 
anerkannte  Adrianus  Hei  er.  Kr  schwat/,t  in  seiner  Tractatio  iuridica  de  manu- 
facturis  (Jcnac  1795)  also;  „usus  .  .  .  eflicit,  ui  sub  hac  figura  —  sc.  manufactura  — 
unusqttisqoe  waudiat  spedes  iUas,  quae  Opifidbus  artia  sua«  bcnefiew  de  rnnmi 
pradennt,  de,  nt  Germanns  id  qtt0(|ue  assnmserit,  sunmque  fecerit  Manafiwtnren**  (9  1) 
„eritque  adco  Mann&ctnia  Corpordinm  remn  spedes  qnsn,  cum  Natura  Islis  non 
eaiet,  medianicns  manu  sua,  per  introductionem  foimae,  pro  oonditione  artis  snae  in 
materiam  snbstratam,  extra  suas  elidt  canaas  atque  conspectui  sistit  etc.  (pag.  5 :  cf. 
pag,  24),  was  bedeuten  zu  sollen  scheint,  dafs  manufactura  jedes  gewerbliche  Er- 
zeugnis sei.  Soviel  ist  sicher;  will  man  dem  Ausdruck  seinen  Wortsinn  unterlegen, 
so  kann  man  entweder  nur  das  darunter  verstehen,  was  Beier  meint,  oder  ein  be- 
stimmtes V  e  r  f  ah  re  n ,  nämlich  dasjenige,  welches  auf  liaudarbeit  beruht  im  Gegen* 
satt  etwa  snr  „Machinofaktur**,  dieser  lieblichen  Woribiklnng  des  ctfindungs* 
reidien  Reuleaux.  Dann  muls  die  Besdehnung  aber  konsequenterweise  fitr  jedas 
Handverfahren,  mag  es  in  einer  Betriebsform  wddier  Art  andi  immer  angewandt 
werdan,  gelten:  dann  ist  eben  der  Betrieb  der  Handolherin  eine  „Manufaktur**,  der* 
jenige  ihrer  Kollegin  an  der  Nähmascbine  eine  „Machinofaktur"  'v.i  offenbar  aller 
Absicht  auch  der  Nomenklatoren  selbst  widerspricht.  Wir  denken  doch,  wenn  wir 
von  Manufakturen  sprechen,  jedenfalls  an  Grofsbetriebe,  und  trotz  der  angeführten 
QucUcnstellen  hat  sich  olmc  Zweifel  noch  die  weitere  \orstcllung  mit  d>-ni  Worte 
verknüpft,  dafs  es  sich  um  Grofsbetriebe  bandele,  in  denen  Maschinen  und  Dampf 
kdne  entscheidende  Rolle  spielen.  SdiUeCdich  trift  ja  dieses  Charakteristikum  sdbst 
fOr  die  sogen.  „Fabriken**  der  Josti  und  Sonnenfels  zu,  sodafs  jene  Vor>Watt9chen 


Die  gewcrblidie  Arbeit  tmd  ilm  OrKaointion. 


355 


kleinen  in  Manufaktur  und  Fabrik  zu  sondern.  Aus  den 
in  der  Anmerkunt^  auf  S.  35/  58  angeführten,  sprachgcbräuch- 
lich-histohschen  Gründen  beschränken  wir  jedoch  die  Be> 


und  Vof^Gaitwri^tschen  Aatoren  aoch  in  nnsereni  Sinne  nicht  so  unrecht  hatteiit 
etnro  Wesensanterschied  zwischen  Fabriken  und  Manufakturen  für  ihre  Zeit,  die  eben 
flbcrhaupt  Grofsbctricbe  nur  als  Manufakturen  kannte-,  nicht  gelten  zu  lassen.  — 
(janz  wie  in  Deutschland  nannte  man  auch  in  den  übrigen  europäischen 
Ländern  die  aufkommende  kapitalistische  Industrie  zum  Unterschiede  vom  Hand- 
werk zunächst  ganz  allgemein,  ohne  einzelne  Betriebsformen  zu  unterscheiden: 
MMiafiAtwcn;  nannftctares,  numifattiire,  namifactures  oder  manafaetorl«««  Icts* 
teren  TermiiiBs  too  voraherein  mehr  nnf  die  Grofibccriebe  beachriakciid.  In 
der  Colbert'Mihcii  GctelaeMpnche  iit  ftat  nur  von  |,naniifactiiret'*  die  Rede, 
von  der  „nanufacture  royale  des  menblcs  de  In  coutonne",  von  der  „manufac- 
turrs  des  porcelaines"  zu  Sivres,  etc.  „Arts  et  manufactures"  ist  eine  gebräuch- 
liehe  Zusammenstellung.  Es  rivalisiert  in  den  Anfängen  des  Kapitalismus  der 
Ausdruck  ,,manufacture"  mit  demjenigen  ,,industric" ,  um  alle  moderne  Oewerbe- 
thätigkeit  auszudrücken.  Noch  Sismondi  braucht  das  Wort  vorwiegend  in  diesem 
ursprünglichen  Sinne  von  Imf^tilfatlMAer  Pradnkdmitwdse.  —  Ebemo  iA  in 
England  nrsprttnglidi  „nnaDfMtiire'*,  wo  es  nidit  schlechthin  im  Sime  von  ge- 
werblicher Thltigkeit  gebrnndit  wird,  gldchbedcvtend  mit  knpitsliitischer  Indostrie; 
so,  wenn  Jos.  Child  (A  new  disconrse  of  Trade  t.  ed.  1693)  p«g.  158  (der 
vierten  Auflage)  fragt:  „what  will  improve  our  WooUen-ManufactTires  in  quality 
and  quantity?"  oder  William  Petty  (Sevrral  Essays  etc.  11699^1  pag.  176 
meint ;  ,,it  is  commonly  seen,  thal  cach  Couiitrs  Ünurislietli  in  the  Manufacture  "f  its 
own  .Native  Commodities,  viz.  England  for  WooUcn  .Manutaclure,  1-raucc  lor  i'aper, 
Sttic-Land  for  Iron-Ware,  Portugal  for  Confcctnres,  Italy  for  Silks"  oder  wenn 
Jan  es  Stenart  den  Standort  derjenigen  gewerblichen  Anlagen  besthnmt,  die  snm 
Unterschiede  „von  anderen  Gewerben  im  etgentlidicn  Sinne  ,JtfanBfaktnren"  genannt 
werden  mOssen"  („what  may  pioperly  be  eaUcd  mannfikctores,  distiogaidKd  ftom 
trades";  Inqniry  into  the  principlcs  of  political  economy  etc.  Basel  1796  Vol.  I. 
pag.  64).  Adam  Smith  braucht  dann  den  .\usdruck  „manufacture"  mehr  im  .Sinne 
von  gewerblicher  Thätigkeit"  und  bezeichnet  arbeitsteilige  Grofsbetriebr  getiaurr  als 
..manufactorv".  Vgl.  das  l.  Kapitel  des  \V.  of  N.  [Cndlich  ist  auch  ursprünglich 
in  der  italienischen  Littcratur  „maniiattura"  synonym  mit  „kapitalistischer 
indostrie;"  oder  wenn  man  will  „Grofsindnstrie**  scliledithin.  Freilidi  nur,  soweit  das 
Wort  ttberiiavpt  schon  snr  Be«icfannng  gewerblicher  Tliitigkeit  imd  nidit  etwa  noch, 
was  ursprünglich  aoch  im  italienischen  der  Fall  gewesen  zn  sein  sdieint,  im  Sinne 
von  Maanfidct  «  gewerbliches  Eneognis  gebraucht  wird.  Letsteres  geschidit  nodi 
durchgehrnds  z.  B.  in  Broggias  Trattato  de'  Triboti  (1743).  Siehe  in  der  Amgabe 
des  Trattato  in  der  Sammlung  der  Scrittori  rliiiisici  italiani  di  Fronomia  politica 
Parte  antica  Tome  IV  iMilano  1S04»  ])ag  228:  ,.si  proibiscono  le  nuinifatture  forastiere"  ; 
p-  234 :  ,,le  manifatture  che  si  fabbricano  ncU'  cmporio";  pag.  296:  „proibir  Ic  manifat- 
Archiv  {itT  Stil,  GcMtzgebung  u.  Statistik.  XIV.  ^3 


Digmzed  by  Google 


356 


Werner  Sombart, 


Zeichnung  auf  GroOsbetriebc,  d.  h.  solche  Betriebe,  in  denen 
die  Funktion  der  Leitung  bereits  spezialisiert  ist; 


ture  forastirre"  und  {Kl^siln.  Aber  schon  In-i  ( i  c  n  o  v  t?  s  i  (-{-  17691  fin«Ji  n  wir  il<'n  Ausdruck 
„manifatturc  -  m  di-ni  oben  angedeuteten  \  erstände  gebraucht.  Sein  „Ragiouaniento  t>u  le 
lüMiifiithirc",  diese  Quintetieitt  nerkuntiliatiieiMr  Wbtemchaft,  will  tdehtt  «iidera  he- 
weisen  ab  die  Notwendigkeit  einer  Vcrmehning  der  In^taUstisdien  Indiistrie:  „di  totte 
le  Biti  che  piü  oonferiscono  «IIa  popoUsiooe  e  alla  riochenn  di  an  popolo,  sono 
le  nwniftttore**  und  anch  in  der  AnfTaMung  des  ItaUeners  und  es  wiedenun  vor  alkm 
die  Textilindustrieen,  die  unter  „manifattare"  zu  verstehen  sind  (vgl.  Scrittori  rlassici 
eil.  Parti"  mod.  Tomo  X.  pag.  731.  Dies«*  Gcpr-nübt-rstclhing  von  Art«*  —  ILindw-erk 
unti  Manifattura  -  kapitalisti!>chf  Indu.strie  finden  wir  dann  in  der  äUeren  itaii<  ni>ch»*n 
Litteratur  häutiger.  So  überschreibt  1'. cccaria  dm  dritten  Teil  seiner  Elementi  di 
economia  politica  ^als  Vorträge  zuerst  1 77 1  gehalten;  „Delle  arti  e  manifatture"  u.  s.  w.  — 

Die  Beieicbnang  „Mannfaktnr**  fttr  alles,  was  moderne  lta|ntalistisdie  Industrie 
war,  bleibt  nun  auch  noch  in  Uebung,  nachdem  schon  der  Dampf  die  Entwicklung 
an  automatischer  Fabrik  zum  Abschluss  gebracht  hatte,  also  beim  besten  Willen  von 
einer  Manufaktur  nichts  mehr  erblickt  werden  konnte.  Mit  Recht  beginnt  Ure 
seine  Philosophy  ol  M  ;in  n  f  a  c  t  u  ro  s  .  dessen  erstes  Buch  die  general  prinriplr>  ot 
m an u  f  a c  t  u  re s  d.lr^tl•llen  will,  mit  den  Worten  „Manufacture  is  a  word,  which, 
in  the  vicissitiidf  ot  language,  iias  come  to  signify  the  rever'»e  ol  its  intrinsic  m.-;»- 
ning,  lor  it  now  denotes  vvery  extensive  product  ot  art  which  in  madc  by  machincrj-, 
widi  Uttle  or  no  aid  of  the  human  hand"  .  .  .  Aber  trots  dieses  Widersinns  bat  das 
Wort,  zumal  im  Englischen  und  noch  mehr  im  Fransösischcn,  ein  riihes  Leben  bia 
anf  den  heutigen  Tag  bewiesen.  In  -der  englischen  Spradie  ist  der  Ausdrude 
mannfoctory  noch  nicht  dnrcbgingig  durch  factory  enetst  und  die  Beseichnnog 
„mannfacturc"  im  Sintie  \on  manufacturing  industry  finden  wir  noch  überaus  häutig 
angewandt ;  ebenso  «ia.s  korrespondierende  Wort  „manufactures" :  vgl.  z.  B.  die  Royal 
Commission  on  I  abonr.  I)ij,;fst  of  th'-  Kvidenre  Vol.  I.  'IVxlile.  London  1S92.  p. 
303I:  den  Second  .unuüil  ri-port  ol  ihr  I. abonr  I  •cpartniml  ot  the  Board  of  Trade. 
London  1805  p.  V.,  wo  von  I'ig  Iron  Manutaclure  die  Rede  ist;  ferner  die  englische 
Uebersetzung  des  russischen  Ausslellungswerkes  Aber  das  Wirtsdiaftsldien  Rnislands, 
deren  erster  Band  den  Titel  trKgt:  „Manufactures  and  Trade**  (St  Petersboorg  1893) 
und  dann  im  Text  abwechselnd  von  manufactures  und  industries  spricht;  etwa  wir 
wir  unsinnigerwdse  von  „Gewerbe  und  Industrie"  reden.  Daneben  findet  rieh  ibun 
aber  anch  die  Beseichnung  manufactor)'  Air  factory:  vgl.  a.  a.  O.  pag.  lU.  XVIIL 
XXXIl.  LIII.  i',,manufactories  and  mills"),  10,  76  u.  pa^s.  — 

\ocli  m-dir  in  ( ii  brauch  ist  <h»s  Wort  ..luainitactur' "  in  Krankn'ich  j;-"- 
geblicben  und  zwar  obonlalls  in  einem  nu  hrlachen  >inne ,  sowohl  als  ,,lie- 
werbc"  wie  als  ,, Produktion",  wie  endlich  als  gewerbliches  Etablis&ement  oder 
Grofsbetrieb.  Bekannt  ist  aus  den  iS4u<-r  Jahren  Villermös  Taubleaux  de  VtM 
physique  et  moralc  des  ouvrier  eplo)*^  dans  les  manufactures  de  coton, 
de  lainc  et  de  soie  (Part»  1840):  ebenso  bekannt  sind  aus  den  1860 er  Jahren 


L  iyui^üd  by  Google 


Die  gewerbikbe  Arbeit  wid  ihre  OrgttiisatiaQ. 


357 


3.  das  Moment  der  Gesellschaftlichkeit  des  Betriebes. 
Damit  unterscheiden  wir  die  Manufaktur  von  den  Individual- 
betrieben  im  grofeen; 


Reybands  Etndes  sor  le  regime  des  manafactares"  —  ac.  der  Seide  iSte; 
der  BMonwoUe  t86a ;  der  WoUe  1867.  —  Aber  auch  noch  in  aenester  Zeit  begegnen 
irir  der  offiziell  anerkannten  Bezeiefaming  „manufacturc"  im  Sinne  von  Fabrik.  Im 

,,Anniiairi-  dr  Statistiquc"  findet  man  „manufacturcs  do  l'Etat";  „manufactur«*s  de 
flr-urs  H  plumes" :  „manufacturcs  d'armes"  und  ähnliche.  An  Colbertscbe  Zeiten 
«rinnert  <lif  „F.cole  centrale  des  arts  H  manutacturfs"  zu  l'aris.  — 

Am  wenigsten  hat  das  Wort  „Manufaktur"  wohl  in  Deutschland  Bestand 
gehabt.  Nor  die  „Manofakturwarenhandlnng"  erhmeit  noch  an  die  alte  hisloriidie 
Bedeotnng  des  Wortes;  nnd  rereinselt  bat  ^b  die  Besdcbnong  fllr  die  Betriebe 
bestimmter  Indostrieiweige  erhalten.  So  hat  das  K.P.M.  wohl  Tonehmlidi  bewirkt, 
dafs  wir  nicht  von  Ponellanfabriken,  sondern  von  Porzcllanroanufakturen  sfMechen. 
Das  ist  aber  wohl  fast  die  einzige  gebräuchliche  Anwendung  des  Wortes  in  der 
Vulpärsprachc.  Da^ie^en  hat  die  ökonomiNchr'  Wissenschaft  nicht  aufgehört,  sich 
der  Hezeichiuinj^  uikI  des  Begriffes  der  „Manufaktur"  /.u  bedienen.  Noch  wesentlich 
im  alten  merkantiliitischen  Sinne  gebraucht  das  Wort  Friedrich  List  in  seinem 
nationalen  System  (1842),  wo  er  seine  Theorie  vom  Segen  der  „Manufaktorkraft" 
eHtwidtelL  Später  haben  rieh  dann  Tcrschiedene  AufÜMSungen  lieraasgebUdet.  Die 
mgladdidiste  ist  die  von  W.  Roscher  in  seinen  ««Anriditeik  der  Volkswirtschaft** 
(3.  Avil.  1861)  vertretene,  wonadi  Mamifaktur  dasselbe  wie  Hansindastiie  bedenten 
soll:  „eine  höchst  interessante  {!)  Mittelstufe  (!)  zwischen  der  eigentlichen  (!)  Fabrik 
und  dem  Handwerke  ist  die  für  den  Handel  arbeitende  Hausindustrie  oder  wie  ich 
sie  vnrztij;swei<:e  nennen  mucVite,  die  Manufaktur"  (a.  a.  O.  S.  140  .  Diese  viillig  verfehlte 
Aulfassunj,'  hat  denn  ;uu  Ii,  soviel  mir  bekannt,  nur  einen  Anhänger  in  der  I.itleratur 
gefunden,  nämlich  F.  mminghau>  >.  Allgemeine  Gewerkslehre.  1868.  S.  295).  Dem 
Roscherschen  Sprachgebrauch  gegenüber  steht  ein  anderer  in  der  ökonomischen 
Littentnr,  den  wir  wohlfl^jlidi  den  Marxsehen  nennen ddrfcn.  Nach  Marx  sind 
viler  „Ibanfaktnren*^  „alle  Werkstitten  anf  grofser  Stufenleiter  anfser  eigentlichen 
Fabriken**  m  verstehen  (Kapital  430).  In  ^eidiem  $>tnne  gelmnelit  das  Wort 
G.  Schmolle r.  Thatsachen  der  Arbeitsteilung  in  seinem  Jahrbuch  XIII  (1889)  S. 
1050/51  und  wie  ersichtlich  bewegt  sich  auch  die  Darstellung  im  Texte  in  einer  der 
Marxschrn  Definition  verwandten  Richtung,  Worin  meine  Auffassung  von  derienigrn 
Marxcn.s  abweicht,  wird  der  Kundige  leicht  le.^tstellen  können  Ich  meine  nun  doch, 
der  Gebrauch  des  Wortes  „Manufaktur"  in  der  hier  gewalillcn  Bedeutung  i»t  mehr 
geruditfcrtfgt  als  etwa  die  Rosdicrsdie  Verwendungsart.  Gemein  haben  beide  Auf- 
fsssnngcn  die  Anknüpfung  an  den  in  früherer  Zeit  flblich  gewesenen  Sprachgebrauch : 
in  der  merkantilistischen  Epoche  bedentete  Manufaktur  sowohl  Hausindustrie  wie  Grofs» 
betrieb.  Aber  es  kann  m.  E.  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  unmerklich  im  Lauf  der 
Zeit  sich  der  Begriff  der  Hausindustrie  durchaus  zu  einer  selbständigen  Nomenklatur 
durchgerungen  hat  und  somit  der  Grofsbetrieb  alten  Stils  allein  noch  übrig  geblieben 

23* 


Digitized  by  Google 


358 


Werner  Sombart, 


■3.  das  Moment  des  band  arbeit  enden  Verfahrens  in 
entscheidenden  Partieen  des  Produktionsprozesses.  Damit 
sondern  wir  die  Manufaktur  von  der  l  abrik. 

Dals  im  einzelnen  auch  bei  dieser  Betriebstorm  wieder  Zweifel 
der  Rubrizier« n}:^  entstehen  können,  ist  gewifs;  prinzipiell  sind  die 
unterscheidenden  Merkmale  klar  und  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird 
die  Zugehörigkeit  eines  Betriebes  zur  Kategorie  der  Manufakturen 
auch  sich  leicht  feststellen  lassen. 

Durch  die  Abschnitte  bei  Marx,  die  von  der  Manufaktur  handeln, 
ist  es  üblich  f^eworden,  in  dieser  Betriebsart  eine  l'eber^^an^s- 
form  zu  erblicken,  die  eine  Stufe  unvollkommener  Entwicklung  der 
Individualbetriebe  auf  dem  Wege  zur  vollständigen  Verge^cll.scbaf- 
tung  in  der  h'abrik  darstelle.  In  diesem  Sinne  sprächen  wir  dann 
von  einer  „Manufakturperiode",  die  die  Industrie  etwa  von  1650  bis 
1750  durchlaufen  haben  soll,  als  schon  gesellschaftliche  Grofsbetriebe 
aber  ohne  starke  \'erwendung  von  Arbeitsmaschinen  und  ohne  An- 
wendung des  Dampfes  existierten.  Noch  täglich  aber  könnten  wir 
wahrnehmen,  dafs  ein  Industriezweig  sich  in  jenem  Stadium  halb- 
vollzogener P^ntwicklung  l)efände,  wie  wir  jeden  Tag  beobachten 
könnten,  dafs  Industriccn  aus  der  manufakturmafsigen  in  die  fabrik- 
mäfsige  (Organisation  übergingen.  Beides  sind  unzweifelhaft  richtig 
beobachtete  Thatsachen  :  sowohl  jener  \-orwiegend  manufakturmälsige 
Charakter  einer  ganzen  ( Tcschichtsperiode  wie  auch  die  noch  heute 
sich  stetig  vollziclien<ic  rmwandlung  von  Manufakturen  in  {""abriken. 
Beispiele  für  die  erstere  Thatsache  sind  wichtige  grolse  Industricen 
wie  die  Weberei  mit  ihren  Hilfsverrichtungen,  zahlreiche  F.isen 
verarl)citende  Industrieen,  u.  s.  w. ;  Beispiele  für  letztere  Thatsache 
sind  in  unserer  Zeit  etwa  die  Schuhwarenindustrie,  einige  Zweige 
der  Wäschekonfektion  u.  a. 

ist  al.s  Hedcutuiif;  iles  Wortes  ManufakUir  im  historischen  Sinne.  Das  Beispiel 
der  „Porzcllanmanuiaktur"  ist  dafür  ein  Beleg.  Spricht  so  historische  Rücksicht 
cineneiU  fBr  unseren  Sprachsebrauch,  ao  findet  dieser  weiter  seine  Reditfertigung  in 
der  noch  hente  flblichen  Venrendunf  des  gicidien  Wortes  im  Englischen  und 
Fruttösischen  fHr  geschlossene  Grofsbetriebe.  ISndUch  aber  aneb  in  dem  Wortsinn 
selbst,  der  anf  die  Handarbeit  als  das  nntencheidende  Meilnnal  dieser  Betriebe- 
form  hinweist  omI  sie  damit  in  einen  gewollten  Gegensatt  n  der  anderen  Form  des 
gesellschaAlichen  Grofsbetriebes  stellt.  Warum  wir  aber  fibabanpt  diesen  Gegen* 
satz  aufrecht  erhalten  und  sogar  noch  schärfer  als  bisher  betonen  wollen,  während 
seine  Beiliehaltung  von  autoritativer  Seite  als  Spitsfindigkeit  gekennzeichnet  wird, 
werden  die  Ausführungen  im  Text  klarstellen. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


559 


Trotzdem  ist  es  falsch,  hier  ein  allgemein  gültiges  „Entwick- 
lungsgesetz" aufstellen  zu  wollen,  wonach  der  Prozefs  der  Vergesell- 
schaftung individualer  Betriebe  sich  stets  in  der  Weise  vollzöge,  dafs 
er  das  Stadium  der  Manufaktur  durchliefe  und  im  Zustande  der 
Fabrik  endigte.  ^)  Das  wäre  eine  doppelt  falsche  Annahme.  Erstens 
nämlich  braucht  ein  fabrikmäfsiger  Betrieb  keinesw^[s  immer  vorher 
eine  manufakturmäfsige  Organisation  gehabt  zu  haben.  Sehr  viele 
mechanische  und  die  meisten  chemischen  Fabriken  sind  hierfür  als 
Belege  anzuführen.  Zweitens  aber  ist  es  nicht  richtig,  dafs  die 
Manufaktur  gegenüber  der  Fabrik  stets  eine  unvollkommene  Ent- 
wicklungsstufe darstelle.  Beide  Betriebsformen  können  vielmehr 
durchaus  gleichwertig  nebeneinander  bestehen,  so  dafs  also  die  Ent- 
wicklung zwei  Höhepunkte  haben  kann:  Fabrik  und  Manufaktur. 
Der  Stammbaum  der  gesellschaftlichen  Grofebctricbc  sieht  demnach 
so  aus: 

Fabrik 

o 

t 

I  Fabrik 
B€aiui&ktor  y 

Indhridwdbetrieb 

Das  Wesen  der  Manufaktur  ist  also  doppelt  bestimmt:  einmal 
als  Uebergangsform,  sodann  als  selbständige,  voll  entwickelte  Form 
des  gesellschaftlichen  Groüsbetriebcs.  Im  crsteren  Falle  besteht  ihre 
eif;entümliche  Funktion  vornehmlich  darin,  die  Anwendung  des 
maschinellen  Verfahrens  vorzubereiten.  Ich  habe  an  anderer  Stelle 
p^ezeigt,  wie  dieses  zu  fruchtbarer  Entwicklung  nur  gelangen  kann, 
wenn  einmal  der  Träger  der  Maschinerie  sich  zu  einem  in  seinen  Orga- 
nen unbegrenzten  Gesamtarbeiter  ausgewachsen  hat)  und  sodaan  die 


V)  Marx  spricht  ron  einem  „geschichtlichen  Entwicklungsgang  der  grofsen  In- 
dustrie, auf  deren  Hintergrund  die  üherlieferte  Gestalt  von  Manufaktur,  Handwerk 
und  Hausarbeit  gänzlich  umgewälzt  wird,  die  Manufaktur  hcsländig  in  di<-  f  abrik, 
das  Handwt'rk  beständig  in  dir  Manuf:iktur  umsrliHi^'t"  ilirs  übergeht).  Marx, 
Kapital  I*,  455.  Dieser  Gedanke  findet  sich  bei  Marx  :scit  der  Misere  (vgl.  p.  13t 
tq.)  md  dem  kommniiistiidieii  Mbaifest  (vgl.  S.  10  der  6.  deoiieheii  Aiug.). 


Manufaktur 


Digitized  by  Google 


360  Werner  Sombart,  ^ 

Arbeitsverrichtungen  schon  dermalsen  zerlegt  und  vereinfocht  sind,- 
dafe  sie  vom  Ingenieur  nun  der  Maschine  überwiesen  werden  können. 
Beide  Voibedingungen  schafft  die  Manufaktur,  indem  sie  den  Pro> 
duktionsprosefe  in  ein£u:he  Teile  zerlegt  und  die  Teilverrichtungen 
an  die  einzelnen  (Personen-)Organe  eines  Gesamtarbeiters  verteilt. 
Was  die  manuiaktuniiäfsige  Organisation  hier  leistet,  ist  also  gleicih- 
sam  die  Entgeistigung  des  Arbeitsprozesses,  seine  Emanzipation  von 
der  lebendigen  Persönlichkeit  des  Individualarbeiters. 

Nicht  nur  völlig  anders,  sondern  geradezu  entgegengesetzt  ist 
nun  aber  die  Funktion,  die  der  Manu&ktur  als  selbständiger,  voll 
entwickelter  Form  des  gesellschaftlichen  Betriebes  zu  erfüllen  obliegt. 
Hier  soll  sie  nämlich  nicht  die  schöpferische  Individualitat  des  ein- 
zelnen Arbeiters  unterdrücken,  sondern  sie  soll  ihr  gerade  erst  zur 
rechten  Entfaltung  verhelfen.  Sie  ist  in  diesem  Falle  diejenige  Be- 
triebsform,  welche  die  Vorteile  des  gesellschaftlichen  Betriebes  ver- 
einigt  mit  dem  für  bestimmte  Leistungen  unersetzlichen  höchst- 
persönlichen Schaffen  des  Individuums.  Sie  ist  alsdann,  woUte  man 
sich  in  weiterer  Ausgestaltung  der  Betriebssystematik  gefallen,  gerade- 
zu die  Synthese  von  gesellschaftlichem  und  individualem  Betriebe,  so 
unvereinbar  diese  beiden  auf  den  ersten  Blick  zu  sein  scheinen. 
Beispiele  werden  das  erst  deutlich  erkennbar  machen. 

Oft  beschrieben  ist  die  Manufaktur  in  ihrer  ersteren  Bedeutung. 
Wir  brauchen  nur  an  Adam  Smithens  nun  schon  zur  Klassizität 
emporgehobenes  Beispiel  der  Stecknadelmanufaktur  zu  erinnern  und 
können  hier  auf  eine  wiederholte  Vorführung  dieser  T)rpen  der 
sog,  „arbeitsteiligen  Manufakturen"  verzichten.  Viel  zu  geringe  Be- 
achtung hat  dag^fen  die  Manufaktur  bis  heute  in  ihrer  zweiten 
Form  gefunden,  so  dafs  es  notwendig  erscheint,  hierfür  einige  lehr- 
reiche Beispiele  beizubringen. 

Ich  wähle  als  solche:  die  Porzellanmanu&ktur  und  die  Kunst- 
möbel manuüiktur. 

Die  Herstellung  des  Porzcll ans  umfafst  vier  unterschied- 
liche Teilprozesse  der  Produktion:  l.  die  Herrichtung  des  Materials ; 
2.  die  Formgebung;  3.  den  Brennprozefii;  4.  die  Farbengebung.  Von 
diesen  Teilprozessen  sind  —  in  einem  grofsen  Betriebe,  wie  er  hier 
allein  inbetracht  kommt  —  zwei  (i.  und  3.)  vollständig  gesellschaft- 
lich organisiert;  zwei  (2.  und  4.)  fast  überall  der  Individualarbeit 
vorbehalten.  Eine  Reihe  mächtiger  Maschinen  hilft  das  Roh- 
material für  die  Porzellanbereitung  zerkleinern,  das  dann  wiederum 
auf  maschinelle  Weise  in  riesigen  Mischkesseln  die  rechte  Zusammen- 


Digitized  by  Google 


Die  gcwerblicb«  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


361 


Setzung  und  Durchnässung  empfangt.  Aus  der  zurechtgekneteten 
Thonmasse  wird  nunmehr  ein  Kubus  losgetrennt:  das  Material  für 
die  Thätigkeit  des  Formers.  Diese  ist  durchaus  individualisierte 
Handarbeit:  selbst  bei  der  rohesten  Ware,  die  an  der  Dreh- 
scheibe zu  Hunderten  von  Dutzenden  gleicher  Grö(se  und  Form 
abgedreht  wird.  Geschweige  denn  bei  kunstvolleren  Gebilden,  fiir 
die  recht  eigentlich  die  Individualarbeit  ihre  Bedeutung  empfängt 
Hier  sitzt  Künstler  neben  Künstler  mit  Griffel  und  Spartel  in  der 
Hand  und  formt  die  Lieblichkeiten,  deren  wir  uns  als  der  Erzeug- 
nisse Berliner,  Mei(sener,  Sivrescher  Kunst  erfreuen.  Hat  er  sein 
Wunderwerk  vollendet  und  seinen  Geist  ihm  eingehaucht,  so  wird 
es  nun  wieder  in  den  Strudel  gesellschaftlicher  Produktion  hinein^ 
gerissen  und  wandert  mit  vielen  Brüdern  in  den  Brennofen:  diesen 
mächtigen,  an  Hochöfen  erinnernden  ingeniösen  Gebilden,  die,  selbst 
das  kunstvolle  Werk  vieler,  zu  ihrer  Bedienung  eines  Stabes  ge- 
schulter Arbeitskräfte  und  reichlichen  Materials  im  groCsen  bedürfen. 
Und  nun  öffnet  sich  nach  12-  oder  14  stündigem  Brand  der  Ofen. 

„Wird's  auch  scht»n  zu   I  uf^c  kommen, 
„Dal's  CS  I-'leir>  und  Kunst  vergilt? 

Ist  das  Stück  gelungen  in  diesem  so  durchaus  gesellschaftlich 
betriebenen  Teil  der  Produktion,  in  dem  jede  individuelle  Macht- 
vollkommenheit verschwindet,  so  wandert  es  nun  wieder  in  die 
Hände  des  Einzelarbeiters  zurück,  um  mit  Farben  geschmückt  zu 
werden.  Ist  es  ein  ein&ch  Gebilde,  so  werden  es  halbreife  Arbeits- 
kräfte sein,  die  ihre  Abziehbilder  auf  die  Tassen  und  Teller  ab- 
klatschen; ist  es  eine  jener  kunstvollen  Vasen  oder  jener  Schalen, 
Teller,  Nippes,  mit  denen  wir  unser  Heim  schmücken,  so  muls  die 
Künstlerhand  wiederum  dem  Stück  sein  individuelles  Gepräge  ver- 
leihen. Eine  eigenartige  Begabung  giebt  hier  die  Farbe,  eine  andere 
hatte  die  Form  gegeben:  beide  in  voller  Entfeütung  ihrer  künstle- 
rischen Individualität.  Dann  kommt  das  Glasieren  und  noch 
mancherlei  Verrichtung,  die  sämtlich  abermals  auf  gesellschaftlicher 
Organisation  beruhen. 

Ganz  ebenso  eine  Verschlingung  individualer  und  gesellschaft- 
schaftlicher  Produktion  stellt  der  zweite  Typus  der  Manufaktur  dar, 
den  ich  dem  Leser  anschaulich  machen  möchte:  die  Kunst- 
möbelmanufaktur  und  zwar  schon  in  ihrer  einfachsten  Ge- 
staltung, in  der  wir  sie  betrachten  wollen,  schon  als  Holzmöbel- 
manuiaktur.   Im  Prozefs  der  Kunstmöbelherstellung  lassen  sich  drei 


Digitized  by  Google 


3(5« 


Werner  Sombart, 


Hauptteile  unterscheiden,  die  wir  als  Holzbearbeitung,  Montage  und 
Verzierun«::^  be/cichnen  können.  Von  ihnen  ist  der  erste  Teilprozels, 
der  aber  nicht  notwendig  nur  in  Einen  Zeitpunkt  der  Produktion 
zu  fallen  braucht,  sondern  sich  meistens  s()*:^ar  über  die  ganze  Pro- 
duktionszeit \ertcih,  sich  also  mit  den  beiden  anderen  zum  1  eil  kreuzt, 
durchaus  der  individualeii  Arbeit  entzogen  und  auf  gesellschaftliche 
Hasis  gestellt ;  die  beiden  anderen  dagegen  sind,  wo  es  sich  thatsächlich 
um  die  Erzeugung  kunstvoller  Möbel  handelt.  Domänen  persönlichen 
Wirkens  geblieben.  Verfolgen  wir  den  Koh>tofl'  in  den  verschiedenen 
Stadien  seiner  Bearbeitung,  so  sehen  wir  die  rohen  Stämme  zu- 
nächst in  die  1  iorizontalgaller  eintreten,  die  sie  als  Bretter  wieder 
verlassen.  Diese  Bretter  erhalten  nun,  je  nach  ihrer  Bestimmung 
in  dem  Maschinenraum  weiter  ihre  Bearbeitung:  an  Band-  und  Kreis- 
säge; Abriebt-  und  Dickehobel.  So  zubereitet  nimmt  sie  der  ein- 
zelne Tischler,  um  sie  nun  zu  dem  iodividualen  Werke»  dem  Stuhl, 
dem  Bufiet,  dem  Schrank  etc.  zusammenrusetzen.  Oft  in  mühe- 
voller, wochenlanger  Arbeit,  die  der  einzelne  stets  demselben  Stik;ke 
widmet  Zwischendurch  bedient  er  skh  der  Decoupier-,  Fräs-  und 
Kehlmaschinen,  die  nebenan  zu  seiner  Verfügung  stehen.  Und  unter- 
dessen arbeitet  in  einem  anderen  Saale  die  Schar  der  eigentlichen 
Künstler:  die  Schnitzer  oder  wie  sie  heute  al^emdn  hei&eo:  die 
Bildhauer,  die  all  die  Schnurrpfeifereien  heraidlen,  mit  denen  wir 
noch  immer  in  blinder  Abhängigkeit  von  früheren  Geschmacks- 
richtungen unsere  Möbel  zu  belasten  lieben.  Sie  sorgen  zusammen 
mit  den  Drechslern  dafiir,  dals  die  vom  Tischler  heigestellten  Ge- 
stelle die  nötigen  X'erzierungen  erhalten.  Dann  kommt  wohl  noch 
der  Polierer,  der  Lackierer,  der  Vergolder,  die  dem  Möbel  die  letzte 
N'^erfeinerung  angedeihen  lassen.  Auch  hier  also  wiederholt  sich 
dasselbe  BUd  wie  bei  der  PorzeUanmanufaktur :  in  einem  im  grofsen 
Ganzen  auf  cresellschaftlicher  Basis  ruhenden  Betriebe  i^t  Spielraum 
geblieben  für  individuale  .-Xrbeitsentfaltung  einzelner  Persönlichkeiten. 
Was  übrigens  beiden  Betriel)styi>en  noch  ganz  besonders  ihr  gesell- 
schaftliches Ciepräge  verleiht,  ist  —  aufser  der  Vergesellschaftung 
sagen  wir  der  elementaren  Arbeitsverrichtungen,  wie  wir  sie  ge- 
sehen haben  —  gerade  die  Vergesellschaftung  auch  der  rein 
geistigen,  eigentlich  k  ü  n  s  1 1  e  r  i  s  c  h  -  s  c  h  o  p  f  e  r  i  s  c  h  e  n 
(nicht  blols  ausführenden)  l'unktion  der  ( i  e  sa  m  t  a  r  b  e  i  t.  Das 
geschieht  durch  die  Eingliederung  von  eigenen  Zeichnern  und  EjU- 
wurfmalern  in  den  Betrieb,  von  Personen  also,  die  für  sämtliche 
Arbeiter  gemeinsam  die  künstlerische  Konzeption  übernehmen. 


uiyiiizc-d  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organiüalion. 


8.  Fabrik. 

„Noi  sem  venoti  «1  luogo  ov'  io  t*  ho  detto 

,,Che  vederai  le  gcnti  dolorosf 

„Ch'  luuiiio  perduto  1  beo  dello  'ntelleUo." 

,  J)as  Fabrikwesea  ist  eine  so  überaus  vielgestaltige,  dem  ganzen 
wirtschaftlichen  Leben  der  Neuzeit  nach  vielen  Seiten  den  bezeich- 
nenden Stempel  auldniclcende  Erscheinung,  dats  es  kein  Wunder  ist, 
wenn  —  namentlich  im  gemeinen  Sprachgebrauch  —  der  Begrift' 
des  Fabrikwesens  ein  äußerst  flieisender  und  um&ssender  ist  Schon 
die  Fabrikation,  d.  h.  das  Fabrikwesen  nach  der  ausschlielslich 
privatwirtschaftlichen  Seite,  wird  in  sehr  verschiedenem  Sinne  ver- 
standen;  von  der  Manchester  Spinnmühle,  welche  mit  Zehntausen- 
den  von  Spindeln  arbeitet,  von  der  Uhrenfabrikation,  welche  in  den 
Befgen  des  schweizerischen  Jura  ganze  Kantone  gleichsam  zu  Einem 
Groisbetriebe  zusammenschlielst,  bis  herab  zum  Posamentierer, 
welcher  mit  einem  halben  Dutzend  Arbeiter  und .  einigen  Zwirn- 
maschinen  thätig  ist,  bis  zur  Boutique  des  Schneiders,  welcher  zur 
Zeit  als  „Bekleidui^i;sakademiker"  Rock  und  Pantalons  „trigono- 
metrisch" aufnimmt,  bis  zur  Werkstätte  des  Schuhmachers,  welcher 
ins  Grolae  für  Messe  und  Export  arbeitet,  ohne  Leisten  und  Pfriemen 
anders  ab  nach  Väter  Sitte  zu  handhaben,  ist  von  Fabriken  und 
Fabrikanten  die  Rede  . . .  Dann  aber  das  Fabrik wesen,  wie  viel- 
seitig sind  nicht  die  allgemein  volkswirtschaftlichen,  gesellschaft- 
lichen, staatlichen  Umgestaltungen  und  Eigenwirkungen,  welche  von 
der  Fabrik  ausgegangen  sind  und  fortwährend  ausgehen  . . ."  Also 
klagend  leitete  Schäffle  vor  nunmehr  vierzig  Jahren  seinen  Auf- 
satz über  das  „Fabrikwesen"  im  „Deutschen  Staatswörterbuch" 
ein.  Wie  laut  aber  und  schmerzerflillt  mülste  erst  das  Klagelied 
sich  gestalten,  das  wir  heute  einer  Erörterung  dieses  Begriffes  vor- 
ausschicken wollten,  nachdem  vierzig  Jahre  ins  Land  gegangen 
sind,  ohne  dafs  auch  nur  ein  einziges  befriedigendes  Wort  zur 
Klarung  des  B^riffes  Fabrik  gesprochen  wäre,  der  vielmehr  ver- 
schwommener, unklarer,  mehrdeutiger,  mifsbrauchter  geworden  ist, 
je  reicher  sich  das  Wirtschaftsleben  in  diesem  Mensclieualter  gje- 
staltet  hatl  Keiner  der  Ausdrücke,  die  wir  bisher  für  Hetriebsformen 
kennen  gelernt  haben,  ist  auch  nur  annähernd  so  viel  verwandt  wie 
der  Ausdruck  Fabrik,  aber  gerade  deshalb  vielleicht  ist  auch  keiner, 

1)  Hennigegeben  ron  Blnntschlt  und  Brater.   Band  lU.  1858. 


Digitized  by  Google 


3Ö4 


Werner  Sombart, 


weder  in  der  wissenschaftlichen  Litteratur  noch  in  der  Gesetzes-  und 
Richtersprache  noch  im  täglichen  Leben  so  unbestimmt  wie  er. 

Charakteristisch  für  die  Unsicherheit  des  Sprachgebrauchs  ist 
die  Thatsache,  dafs  unser  oberster  (jerichtshof  überhaupt  keine  all" 
gemein  gültige  Bestimmung  des  Begriffes  „Fabrik"  mehr  aufzu- 
stellen f'ir  Lnit  befindet !  Wie  mufs  es  da  in  den  einzelnen  Gesetzen 
aussehen!  „Die  zahlreichen  Versuche,  heilst  es  in  Motiven  zum 
UnfallversicheruniTst^esetz ,  welche  in  der  Gesetzgebung  verschie- 
dener Länder  bisher  in  dieser  Richtung  —  sc.  den  Begriff  der  Fabrik 
zu  definieren  —  unternoiiinien  sind,  haben  in  der  \'ielgestaltigkeit  des 
praktischen  Lebens  ilire  Schranken  gefunden."  Mutlos  erklärt  das 
Kaiserliche  !^latistische  Amt:  „Es  gicbt  .  .  keine  allgemein  gültige  De- 
finition des  Hegriti'es  Fabrik"  und  sucht  sich  mit  einem  schuciUernen 
„Als  Fabriken  gelten"  —  praktisch  aus  der  Verlegenheit  zu  ziehen.') 
l'nd  .Stieda  kommt  ebenfalls  zu  dem  Frgebnis,  dafs  „der  Begriff  ein 
flielsender  list,)  und  von  den  entsprechenden  Begriffen  „Handwerk" 
und  „Hausindustrie"  nicht  schart  /.u  trennen.  ')  l'ntcr  sothaiicn  l  in- 
ständen  er.sciicint  es  last  vermessen,  den  Begriff  habrik  iilxriiaupt 
bestimmen  zu  wollen,  geschweige  denn  in  der  festen  üeberzeugung, 
eine  durchaus  allgemein  anwendbare,  unzweideutige  Definition  geben 
ZU  können.  Immeihin  soU  wenigstens  der  Versuch  nicht  unter- 
bleiben, in  das  herrschende  Chaos  hineinzuleuchten. 

Wenn  wir  die  schier  unabsehbare  Reihe  der  Definitionen  des 
Begriffes  ,J<'abrik"  vor  unserem  geistigen  Auge  Revue  passieren 
lassen,  so  mufe'uns  vor  allem  die  Wahrheit  des  Satzes  zum  Be- 
wufstsein  kommen :  „Qui  trop  embrasse,  mal  Greint."  Woran  fast 
alle  Definitionen  gleichmafsig  kranken,  ist  das  vergebliche  Bemühen, 
eine  Betriebsform  und  eine  Wirtschaftsform  (kapitalistische 
Unternehmung)  in  Einem  Begriffe  zusammenfassen  zu  wollen.  Das 
ist  natürlich  unmöglich  und  mufs  notwendig  zu  Unklarheiten  führen, 
zumal  wenn  man  sich  des  Unterschiedes  dieser  beiden  toto  coelo 
verschiedenen  Dinge  nicht  bewufst  ist.  Als  Paradigma  für  diese 
ganz  allgemeine  Art  zu  definieren,  mag  die  Begriffsbestimmung 
Stiedas  dienen,  die  ich  der  Uebersichtüchkeit  halber  in  ihre  beiden 
Bestandteile  schematisch  trennen  wilP): 


Erbebong  Aber  die  VerhSltnisse  im  Handwerk.   Veraast»Uet  im  Sommer  1895. 
(Berlin  1895)  ^  3. 

*)  Artikel  „Fabrik"  im  H.St. 


üiyitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihn  Organisation. 


Merkmale  der  Betriebs-  Merkmale  der  Wirtschafts* 
form:  form: 
„Die  Fabrik  stellt  eine  Ver- 
einigung einer  gröfseren  Zahl  von 
Arbeitern  zu  Produktionszweckcn 
in  einem  Gebäude  dar,  die  unter 
vor/ugsweiser  Anwendung  von 
JMaschinen  und  Motoren  sich  ge- 
genseitig in  die  Hände  arbeiten, 
so  dafs  alle  an  der  Hersteilung 
eines  und  desselben  Gegenstands 
mit  bestimmten  Leistungen  be- 
teiligt sind. 

Die  Anordnung  der  Arbeiten, 
sowie  die  Lieferung  der  Rohstoffe, 
(Kr  Werkzeuge  und  Maschinen 
ubernimmt.dcr  Inhaber  der  Fabrik, 
dem  auch  die  Sortrc  für  den  Ab- 
sat/.  der  angefertigten  P>zeugnisse 
obliegt.  Für  die  Errichtung  der 
[•abriken  sind  malsgcbcnd  gewesen 
die  veränderte  (icstahung  des  Ab- 
satzes, der  auf  dem  örtlichen  Markt 
nicht  mehr  ausreichend  erschien, 

die  sich  weiter  entwickelnde  Ar- 
beitsteilung und  die  Erfindung  von 
Arbeitsmaschinen/' 

Also  hier  gilt  es  zunächst  sich  fUr  das  eine  oder  das  andere 
zu  entscheiden:  ob  mit  dem  Ausdruck  «fFabrik**  eine  bestimmte  Be- 
triebsform oder  eine  bestimmte  Wirtschaftsform  bezeichnet  werden 
soll.  Der  Leser  weiüs,  dals  wir  mit  dem  Worte  ,,Fabrilc"  die  Vor- 
stellung einer  Betriebsform  verbinden. 

Fragt  sich  nunmehr,  welche  unterscheidenden  Merkmale  wir 
dem  Begriffe  Fabrik  beilegen  wollen.  Unsere  bisherigen  Ausfuh- 
rungen haben  bereits  einige  dieser  Merkmale  festgestellt :  Fabrik  ist, 
wie  wir  wissen,  ein  gesellschaftlicher  Grofsbetrieb.  Es  handelt  sich 
iiir  uns  also  nur  noch  darum,  ihn  von  den  übrigen  Arten  dieser 
Betriebsgattung  abzusondern.  Zu  diesem  Zwecke  können  folgende 


Digitized  by  Google 


366 


Werner  Sombartt 


Kriterien  —  in  Anlehnung^  an  den  doch  immerhin  nicht  ganz  zu 
ignorierenden  Sprachgebrauch  —  in  Betracht  kommen: 

1.  Das  Moment  der  Einförmigkeit,  Massenhaftigkeit 
oder  sogar  der  Minderwertigkeit  der  Erzeugnisse.  In  diesem 
Sinne  spricht  man  von  „Fabrikware",  von  „Doktor-Fabriken*'  in 
übertragenem  Sinne.  Es  ist  aber  durchaus  unberechtigt,  das  Wesen 
der  Fabrik  in  den  genannten  Momenten  m  erblicken.  Es  giebt 
Betriebe,  die  jedermann  ohne  jedes  Bedenken  fiir  Fabriken  erklaren 
würde,  die  aber  keineswegs  einförmige  oder  gar  minderwertige 
Massenware  liefern.  Ich  denke  an  mechanische  BUdwebereie&;  an 
die  modernen  Buntdruckereien,  in  denen  Jugend,  Simplizissimus 
und  ähnliche  Blatter  oder  gar  unsere  reizvoll  ausgestatteten  Kunst- 
und  Kunstgewerbezeitschriften,  vom  Range  des  Pan,  des  Studio, 
der  Deutschen  Kunst  und  Dekoration  etc.  hei^^tellt  werden. 

2.  Wohl  das  beliebteste  Unterscheidungsmerkmal  für  Fabriken 
ist  die  in  dem  Betriebe  zur  Anwendung  gelangende  Maschinen- 
technik.  Man  hat,  wie  schon  erwähnt  wurde,  Fabrik  geradezu 
mit  „Machinofaktur"  identifiziert.  Insbesondere  seit  Marx,  ist  es 
üblich  geworden,  maschinellen  Grolsbetrieb  und  Fabrik  als  gleich- 
bedeutend anzusehen.  ,JDen  Ausgangspunkt  der  grofsen  Industrie 
bildet  .  .  die  Revolution  des  Arbeitsmittels  und  das  umgewälzte 
Arbeitsmittel  erhalt  seine  meist  entwickelte  Gestalt  im  gegliederten 
Maschinensystem  der  Fabrik." ')  Aber  diese  Begriffsbestimmung 
ist  entschieden  zu  eng.  Hier,  wie  so  oft  bei  Marx  läfst  sich  der 
übermäfsig  beherrschende  Eindruck  verspüren,  den  die  Baumwoll- 
spinnerei auf  ihn  gemacht  hat.  Seine  ganze  Theorie,  möchte  man 
sagen,  bt  auf  diesen  Produktionszweig  zugeschnitten.  Man  könnte 
von  Anfang  bis  zu  Ende  im  „Kapital"  an  Stelle  von  Ware  =■  Garn, 
an  Stelle  von  Produktion  =  Baumwollproduktion ,  an  Stelle  von 
Fabrik  =  Baumwollspinnerei ,  an  Stelle  von  Arbeiter  Spinner 
setzen,  ohne  den  Sinn  zu  beeinträchtigen.  So  sehr  nun  auch  mit 
Marx  die  hervni  r atmende  Geeignetheit  dieser  Branche,  ab  Schulbei- 
spiel moderner  Industrie  /u  dienen,  anzuerkennen  ist,  so  ist  es  doch 
natürlich  nicht  zulässig,  Baunnvollspinnerei  und  Grofsindustric 
schlechthin  gleich  zu  setzen.^)   Es  genügt,  auf  die  auiserordentlich 

*)  K.  Marx,  KapiUi  I«,  358.  Vgl.  dua  die  AuflUiniiigen  S.  3840!:  „Die. 
Fabrik". 

*)  Diese  oft  sidter  nnbeviifste  Identifisieniiig  ▼crfllhit  Marx  n  gdegeatlidi 
recht  fakeben  Veiallfeneineniiigcii.  So  x.  B.  in  seiner  Charakteristik  de*  WeMW 
moderner  Maiehinerie,  die  seiner  Meinung  nach  (wie  in  der  BamnwoUsptnnerei)  Ab«' 


Digitized  by  Gopgle 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organitttioo. 


367 


wichtige  Kategorie  aller  sog.  chemischen  Fabriken  L  e.  S.,  femer  der 
Brennereien,  Brauereien  u.  s.  w.  hinzuweisen,  um  die  Bestimmung 
des  Begriffes  der  Fabrik  ausschliefslich  mit  Hilfe  des  Maschinen- 
prinzips  als  verfehlt  zu  kennzeichnen. 

3.  Auf  das  richtige  Kriterium  der  Fabrik  werden  wir  geführt, 
sobald  wir  nach  dem  aller  entwickelten  Maschinerie  und  aller 
chemischen  Industrie  im  weiteren.  Sinne  gleichermalsen  zu  Grande 
liegenden  Prinzipe  fragen.  Dieses  ist  unzweifelhaft  das  des  auto* 
matischen  Produktionsprozesses.  Haben  wir  die  Idee  der 
Vergesellschaftung  des  Produktionsprozesses  überhaupt  in  der  Emanzi- 
pation von  der  Beschränktheit  des  individuellen  Arbeiters  erblickt, 
so  liegt  diejenige  der  Fabrik  im  Besonderen  in  der  Emanzipation 
von  der  mitwirkenden,  gestaltenden  .Anteilnahme  des  Arbeiters  an 
der  Produktion.  Objektivierung  des  Produktionsprozesses,  seine 
völlige  Loslosung  von  dem  lebendigen  Menschen,  seine  Ueber- 
tragung  auf  ein  System  lebloser  Korper,  die  durch  Mitteilung 
einer  künstlich  erzeugten  Kraft  gleichsam  mit  Leben  eriiillt 
werden,  Schöpfung  eines  selbstthätig  wirkenden,  an  die  Stelle 
des  Menschen  tretenden  Mechanismus:  das  ist  es  offenbar,  was 
uns  vorschwebt,  wenn  wir  von  einer  „Fabrik"  sprechen,')  oder 

all  ,^1»  drei  wewntlich  vcncbicdenen  Tdlcn,  der  BevcgaapiiMKUne,  dem  Trans- 
missionsmechaiiisinas ,  endlich  der  Werkzeuge  oder  Arbeitsmaschinc"  bestehen  SoU 
(Kapital  I*,  336fr.),  vobei  Marx  wiederum  Ure  fPhiloi>uphy  of  Manufactnres.  pa£. 
271  strictisiimo  folgt.  Ucber  das  Irrtümliche  dieser  Auffassung  verhrfitet  sich  schon 
tingehend  F.  Rculeaux,  TlK  orctischc  Kinematik  (18751  129  fr.  <  )der  man  vgl. 
L.  B.  S.  391,  wo  er  ,,dic  materiellen  Hedin;,'uii<;<  u,  unte«-  denen  die  K  ;i  l>  r  i  k  a  r  b  e  i  t 
verrichtet  wird",  aufzählt,  wie  folgt:  „Alle  .Sinnesorgane  werden  gkichmätbjg  ver- 
letit  durcb  die  kflnstlich  gesteigerte  Temperatur,  die  mit  Abfillen  des  Robnuiterials 
geschwliigertc  Atmocphlre,  den  bctilal»enden  Linn  n.  s.  w.  abgesehen  von  der  Lebens- 
geftbr  miter  ^drtgehXnfter  M Hchinerie.*'  Nu  denke  man  sich  etwa  veraetst  in  eine 
Rostige,  lantloie  Bnaerei,  in  eine  laabere  Bantdradcereif  in  eine  chcmisdie  Fabrik, 
«o  flberbanpt  keine  Maschinerie,  geschweige  gehinfte  ist. 

*)  „1  COOCeire,  that  this  title,  in  its  strictest  sense,  involves  the  idea  of  a  vast 
antomaton,  coroposed  of  various  mechanical  and  intellectual  organs,  acting  in  un- 
interrupted  concert  for  the  production  of  a  common  object.  all  of  th»-m  being  sub- 
ordinated  to  a  -~ell-regiilat<  il  rnoving  force."  1' r  e ,  l.  c.  jiaj;.  1 3.  Als  au^<,"•sJ)rt)c■hene 
Typen  vollcntleter  Fal)rikhattigkeit  können  für  die  m  e  c  h  a  n  i  ?.  e  h  e  liulustrie  die 
Dampfmühlen,  für  die  chemische  Industrie  die  retroleumraffinericn  angesehen 
»erden.  Unbewanderte  verweise  idi  ittr  die  entere  Fabrikform  an  die  Darstellung 
bei  Em.  Herrmann,  Miniaturbilder  ans  dem  Gebiete  der  Wirtschaft.  N.  A. 
Halle  1S77.   Fünftes  Bild:  Die  Dampfmflhle  an  Ebemliirth. 


Digitized  by  Google 


368 


Werner  Sombart, 


was  wir  doch  wenigstens  uns  gewöhnen  sollten,  in  den  Begriff 
hineinzulegen,  da  dieser  dann  erst  seine  spezifisch  klare  und 
wertvolle  Bedeutung  für  das  System  der  Betriebsformen  erhält 
Fabrik  wäre  demnach:  Diejenige  Form  des  gesellschaftlichen  Gto(s- 
betriebes,  in  welchem  die  entscheidend  wichtigen  Teile  des  Pro- 
duktionsprozesses von  der  formenden  Mitwirkung  des  Arbeiters  un- 
abhängig gemacht,  einem  selbstthätig  wirkenden  System  lebloser 
Körper  übertragen  worden  ^nd.  Ihre  spezifische  Funktion  wäre 
dann  die:  eine  Hetriebsform  zu  sein,  in  welcher  die  durch  die  Ein- 
führung der  Maschinerie  und  des  wissenschaftlidh  chemischen  Ver- 
fahrens in  die  Produktion  ermöglichte  Ueberwindung  der  qualitativen 
wie  quantitativen  Beschränktheit  des  individuellen  Arbeiters  in  je- 
weils höchst  vollendeter  Weise  in  die  Wirklichkeit  übertragen 
wird  In  einem  etwas  kühnefi  Bilde  gesprochen :  die  Fabrik  ist  das 
Werkzeug  des  kollektiven  Gesamtarbeiters,  mittels  dessen  er  Kraft, 
Feinheit,  Sicherheit,  Schnelligkeit  über  die  Schranke  des  Organischen 
hinaus  zu  entwickeln  vermag.  Des  Gesamtarbeiters,  der  in  der 
Fabrik  allein  noch  waltet;  denn  das  ist,  negativ  ausgedrückt,  Qia- 
rakteristikum  der  Fabrik,  dals  in  ihr  für  irgend  welche  Ent£dtung 
individuell  -  persönlichen  Wirkens  kein  Raum  mehr  ist  Deshalb 
stellt  die  Fabrik  die  konsequenteste  Durchbildung  des  Prinzips  ge- 
sellschaftlicher Produktion  dar,  ohne  doch  als  die  höchste  Form 
der  Betriebsanordnung  überhaupt  gelten  zu  dürfen,  die  \ielmehr, 
wie  wir  gesehen  haben,  in  zwei  Gestaltungen  zu  jeweils  höchster 
Vollendung  gelangt:  in  Fabrik  und  Manufaktur. 

V. 

Wirtschaftsstufen,   Wirtschaftssysteme,  Wirtschaftsformen. 

Wenn  wir  nach  dem,  was  wir  bereits  ausgeführt  haben 

Produktionswirtschaft  nennen 

die  Organisation,  welche  ein  Wirtschaftssubjekt  schafft,  um 
durch  Erzeugung  von  Sachgütern  einen  seinem  Wirtschafts- 
prinzip entsprechenden  Nutzeffekt  zu  erzielen, 

so  führt  uns  eine  genauere  Untersuchung  und  Zergliederung  dieses 

Begriffes  zu  folj^ender  Krkenntnis: 

I.  Die  subjektive  Bestimmtheit  der  Wirlschaftson^anisation  liegt 

in  dem  Verwertungszweck.     Nicht  der  Zweck  der  (lüter- 

her^tt  Iking,  sondern  die  hinter  dieser  HerstelluiiL,^  liegenden  Zwecke. 

die  ich  die  Verwertungszwecke  nenne,  entscheiden  über  Art  und 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


369 


Form  der  Organisation.  Dadurch  tritt  die  Wirtschaftsorganisation 
in  einen  deutlichen  Gegensatz  zur  Betriebsorganisation,  welch  letztere 
wir  durch  den  Zweck  der  GebrauchsgüterhersteUung  bestimmt 
sahen.  Um  Stiefeln  anzufertigen,  kann  ich  mich  des  manuellen  oder 
maschinellen  Verfahrens,  der  indiv  idiialen  oder  kollektiven  Betriebs- 
anordnung bedienen  und  erhalte  alsdann  einen  bestimmten  Betrieb, 
der  immer  als  letzten  Zweck  —  SticfcK  erfertii^uni^  hat.  Je  nachdem 
nun  aber  Stiefeln  zum  eigenen  (icbraucli  oder  Sticfehi  für  den  Ge- 
brauch eines  Kunden  oder  Stiefeln  zum  Zweck  des  GehKerdieiiens 
o<lcr  Stiefeln  für  eine  Armetu  erwaltung  angefcrti<^t  werden,  entstellen 
mannigfache  Organisationen,  eben  bestimmt  geartete  Produktions- 
wirtschafien.  Zweck  einer  kapitalistischen  Sticfelfabrik  ist  niemals 
die  Anfertigung  von  Stiefeln,  sondern  immer  nur  die  Krzielung  von 
Profit;  Zweck  einer  l)äuerlichen  Eigenwirtschaft  ist  ebenfalls  111 -ht 
Stiefel  zu  machen,  sondern  die  Pulse  durch  Stiefel  gegen  P'cuchtig- 
keit,  Kälte  etc.  zu  schützen  u.  s.  w. 

2.  Die  objektive  Bestimmtheit  der  Wirtschaftsorganisation  wird 
gegeben  durch  das  jewdls  herrschende  Wirtschaftssystem, 
d.  h.  die  geltende  Wirtschaftsordnung  und  die  herrschenden 
Wirtschaftsprinzipien,  denen  sich  das  einzelne  Wirtschaftssubjekt 
doch  stets  als  einer  objektiven  Thatsache  gegenüber  befindet 

Durch  diese  Gebundenheit  an  die  in  der  gesellschaftlichen 
Ordnung  gegebenen  Bedingungen  erhalt  die  Wirtschaft  stets  ein 
bestimmtes,  historisches  Kolorit,  das  sie  abermals  von  der 
Betriebsorganisation  unterscheidet,  die  —  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  wenigstens  —  von  der  jeweils  herrschenden  Wirtschafts- 
verfassui^,  wie  wir  gesehen  haben,  unabhängig  ist. 

Wie  sehr  die  Wirtschaftsform  durch  das  Wirtschaftssj^tem  be- 
dingt ist,  vermögen  wir  erst  völlig  zu  ermessen,  wenn  wir  uns 
darüber  unterrichtet  haben,  worauf  sich  im  einzelnen  die  An- 
ordnungen und  Hinrichtungen  beziehen,  die  durch  die  Organisation 
der  Wirtschaftsform  ins  Leben  gerufen  werden.    Diese  bestimmt 

I.  die  Art  und  Weise,  wie  die  für  die  Produktion  notwendigen 
Faktoren  —  Produktionsmittel  und  Arbeitskräfte  —  zu  produktiver 
Thätigkeit  herangezogen  werden:  ob  beispielsweise  die  Arbeitskräfte 
als  P'amilicnangehörige  dem  Befehle  des  i'amilienobcrhauptes  folgend 
zur  Arbeit  kommen;  oder  ob  sie  als  Fremde  zwangsweise  herbei- 
geschle])pt  werden;  ob  sie  von  der  staatlichen  Obrigkeit  in  einer 
(iesellsehaft  freier  Menschen  /.ii  bestimmten  Arbeiten  designiert 
werden ;  ob  sie  als  gleichberechtigte  Genossen  sich  zu  gemeinsamer 


üiyiLized  by  Google 


370 


Wemvr  Somb«rt, 


Arbeit  verabreden;  ob  sie  als  Ware  auf  dem  Markte  gekauft;  ob 
als  Gehulfen  gegen  Entgelt  vielleicht  nach  obrigkeitlich  fes^estellten 
Taxen  angeworben  werden  u.  s.  w.; 

2.  die  Art  und  Weise,  wie  die  bei  der  Produktion  mitwirkenden 
Personen  Kinflufs  ausüben  auf  die  Gestaltung  und  den  (iang  jener. 
Produktionsleiter  ist  ja  das  Wirtschaftssubjekt.  Aber  die  Stellung 
der  ubri^^en  Produklionsleilnehmer  zu  diesem  kann  trotzdem  eine 
aulserordentlich  verschiedene  sein :  vom  unbeschränktesten  Despotismus 
bis  zur  frcioten  demokratischen  \'crfa.ssung  sind  hier  Abstufungen 
in  den  Beziehungen  des  Leiters  zu  den  Geleiteten  denkbar  und 
wirklich ; 

3.  die  Art  und  Weise,  wie  das  Produkt  verwendet  wird :  ob 
es  bestellenden  Kunden  gegen  Entgelt  geliefert,  ob  es  auf  dem 
Markte  verkauft,  ob  es  in  der  Wirtschaft  des  Produzenten  verzehrt, 
ob  es  auf  dem  Meierhofe  oder  in  der  Abtei  abgeliefert,  ob  es  in 
einem  staatlichen  Magazine  deponiert  wird  u.  s.  w.; 

4.  die  Art  und  Weise,  wie  die  bei  der  Produktion  Mitwirkenden 
am  Produktionsotr^e  teilnehmen:  ob  gar  nicht  —  man  denke  an 
den  abgabenpflichtigen  Fronbauern!  —  ob  mit  einer  Quote  des 
Ertrages»  ob  mit  einer  unabhängig  vom  Ertrage  festgesetzten  Wert> 
summe  —  in  Natura  oder  in  Geld  — ;  ob  die  Anteilnahme  auf 
dem  W^e  stillschweigender  Vereinbarung,  oder  freier  ausdrück- 
licher Abmachung  oder  obrigkeitlicher  Normierung  oder  sonstwie 
stattfindet. 

Diese  Einsicht  in  die  historische  Bedingtheit  der  Wirtschaft 
lä(st  es  nun  aber  auch  als  notwendig  erscheinen,  um  die  ver- 
schiedene Gestaltung  der  Produktionswirtschaft,  d.  h.  die  ver- 
schiedenen Wirtschaftsformen  —  wie  wir  in  Zukunft  immer  der 
Einfachheit  w^en  statt  Produktionswirtschaftsformen  sagen  wollen 
-  anschaulich  zu  machen,  zuvor  eine  Charakteristik  der 
Wirtschaftssysteme,  in  die  je  eine  bestimmte  Wirtschaftsform 
eingc  i^ücckrt  ist,  zu  geben. 

An  Versuchen  fehlt  es  nicht,  die  verschiedenen  Wirtschafts- 
systeme, oder  wie  dafür  promiscue  wohl  gesagt  wird:  W'irtschafts- 
stufen,  Wirtschaftsweisen,  Wirt  schaftsverfas.sungen,Wirtschaftszustände, 
Wirtschaftsepochen  einer  systematischen  Betrachtung  zu  unterziehen, 
l'nserer  Gepflogenheit  gemäfs,  unsere  Meinung  stets  nur  im  Zii- 
sannnenhange  mit  früheren  Ansichten  vorzutragen,  um  damit  endlich 
eine  Art  \on  Kontinuität  der  I-"orschuiig  in  unserer  Wissenschaft 
anzubahnen,   liegt  uns  die  Verpflichtung  ob,  über   die  früheren 


Digitized  by  Google 


Die  gcweibUebe  AibcU  und  ihte  Orgmintioo. 


Theoriecn  eine  kritische  Uebersicht  zu  j:jebcn,  unter  Beschränkung 
selbstN  orständhch  auf  die  entweder  verbreitetsten  oder  gescheitesten 
dieser  Lehren. ') 

Durch  ihr  ehrwürdiges  Alter  nicht  iiiiiulcr  als  durch  ihre '^rnfse 
Lebensfähigkeit  und  weite  Verbreitung  /ei(  hnct  sich  jene  Theorie 
aus.  welche  die  wirtschaftende  Menschlicit  sich  naciieinander  als 
Jäger-,  Hirten-,  Ackerbau-  und  Industrie  V( ilker  bethätigen 
sieht.  Vater  dieser  Lehre  in  ihrer  ausgebildeten  horin  ist  wolil 
Friedrich  List,  tler  sich  für  seinen  I  iau^liedarf  das  .Schema  zu- 
recht gemacht  hatte.  *)  Noch  heute  trifft  man  sie  in  unseren  ver- 
breitetsten Leinbüchern  an.'')  Abgcseiien  da\on,  dals  tliese  liieorie 
in  wesentlichen  Punkten  Im,*)  bleibt  sie  durchaus  an  der  Ober- 
fläche der  Erscheinungen.   Es  mag  statthaft  sein,  die  primitiven 

^  sc.  der  Wirtschaftsstafcn  im  engeren  Simw.  Alle  Theorieen,  die  eine 
Slafcnfolgc  getellirlinffliriier  Zattiade  im  sUgemdBcn  ohne  besondere  BerBcksiditigmif 
des  WirtsdmftiMMns  Iduen,  bleiben  deshalb  uAeiidniehtigt.  Es  fddea  also  so  lie> 
deotsame  „EntwiddungiUieorieen**  wie  diejenige  Fonriers,  Comtes  xl  «. 

•)  Fr.  List,  Das  nationale  System  in  den  Ges.  Schriften.  Bd.  III.  S.  14. 
List  unterscheidet;  ai  Wilden  Zustand;  b)  Hirtenstand;  c)  Ainikultunstand ;  d)  Agri- 
külturmanufuktur>tand  ;  r  j  Aprikultumiiinufakturhandclsstand.  Ansätze  zu  dieser  Stufcn- 
thmri'"   tintl'-n    >ich   natürlirli    -.choii  trüh'-r;    <iO  vielfach   in  der  franzosi^^chen 

Literatur  des  XVlli.  Jahrhunderts.  Im  Kt  im  i>l  die  I  hcorie  schon  bei  A  r  i  s  to  t  e  1  e  s 
vorhanden,  der  Völker  mit  vo/iadixoff,  ycco^x^xos,  ItjatQtnoSt  alannmoSf  dij^evrtxog 
(sc.  /iiot)  «ntersclkeidet  od  andi  schon  die  ridtice  Bcobaditong  madit,  dafr  naaclie 
Völker  diese  Lebensweisen  kombinieren    (Ari&tot  Pol  L  3). 

^  s.  B.  in  Sehönbergs  Handbodi  Band  I,  wo  S.  29 f.  (der  3.  Aufl.)  Wirtschafb- 
atttfen  nach  dem  Zustande  der  „mlkswiitschafllidien  Frodoktion**  wie  folgt  aufgeslUt 
werden:  a)  das  Jigenrolk;  b)  das  Fischervolk;  c)  das  Hirten-  oder  Xomadenvolk ; 
d)  das  spfshafte  roine  Ackerbauvolk;  «•!  das  dcwcrbe«  md  Handebvolk;  f)  das  In- 
dnstric%dk.    Aehnlicb  Koscher,  Syst.  II.  S.  7  ff. 

*  S>o  in  der  Annahme  eines  repelmäfsi^jcn  StufenRan^jes  vom  Jäj^'ervolk  über 
die  Nomadenvolker  zum  Ackerbauvolk.  Neu.  re  L'nter>urhun;:r  11  li.il>.  n  im>  .l.irüber 
belehrt,  dafs  es  sich  hier  nicht  um  ein  zeitliche-.  N.irlninander,  Mindern  um  ein 
räumliches  Nebeneinander  handelt.  Die  Ackcrbauvulkcr  der  hcifscn  Zone  waren 
nie  Hirtenvölker  and  die  Nomaden  Zentialasiens  werden  nie  Ackerbauer  werden; 
ebenso  wie  die  amerikantsdien  oder  arlctischen  ,  Jigervidker**  weder  xom  „Hirten« 
Tolk"  noch  zum  „Ackerbaavolk**  eine  Vorstufe  bilden.  Zu  vgl.  F.  Ratzel,  Völker- 
kunde, 3  Binde,  Leipzig,  und  namentlich  Ernst  Grorse,  Die  Formen  der  Fa> 
milie  und  die  Formen  der  Wirtschaft,  Freiburp  und  I.eipzi}::  1896,  S.  25  fl".  ins» 
bes.  S.  .:o.  Femer:  Rieh,  Hildebrand,  Recht  und  Sitte  auf  den  verschiedenen 
wirtschaftlichen  Kulturstufen.    I.  Teil.    Jena  1896;  z.  B.  S.  43  f. 

Archiv  für  SOI.  (ie»e(^gebuiig  u.  Statulik.   XIV.  24 


Digitized  by  Google 


372 


Werner  Sombart, 


WirtschaftsverhältiiLsse  nach  der  Richtung  der  Produktion  zu  cha- 
rakterisieren, wie  CS  die  S.  371  Anm.  4  citicrten  Autoren  that- 
sächlich  noch  heute  und  mit  glücklichem  Erfolge  thun.  Es  heilst 
doch  aber  die  Sache  sich  etwas  zu  leicht  machen,  wenn  man  alle 
Unterschiede  zwischen  der  Wirtschaftsweise  eines  Negerstanimes, 
des  europäischen  Mittelalters  und  unserer  Zeit  charakterisieren  will, 
lediglich  nach  der  vorherrschenden  iVoduktionsrichtung.  Dafs  dieser 
Unterscheidung  richtige  Gedanken  mit  zu  Grunde  liegen,  ändert 
nichts  an  dem  Urteil,  da(s  sie  in  der  Walil  ihrer  Merkmale  zu 
äuiscrlich  verfährt. 

Ein  Gleiches  gilt  von  der  zweiten  ebenfalls  noch  sehr  ver- 
breiteten Wirtschaftsstulenthcorie ,  die  ihre  Einteilung  ,,nach  dem 
Zustande  des  Tausch  Verkehrs"  ^)  trifft  und  als  deren  geistiger  Vater 
der  ältere  Hildebrand  verehrt  wird.*)  Es  war  einer  jener  un- 
glücklichen (iriffe,  an  denen  die  I  hätigkeit  dieses  (iclehrten.  wo  sie 
auf  das  theoretische  (lebiet  hinüberragte,  so  aufserordcntlich  reich 
^var,  als  er  die  drei  Stufen  der  \  a  t  u  r  a  1  - .  Geld-  und  Kredit- 
wirtschaft  proklamierte.  Ich  kenne  kaum  eine  zweite  Theorie,  die, 
trotzdem  sie  so  arg  oljerflächlich  ist ,  doch  gleichzeitig  so  viel 
Fehler  enthielte.  I^enn  wenn  man  auch  das  gröbste  Versehen 
—  Eigenproduktion  mit  Naturalwirtschaft,  d.  h.  einen  Zustand,  in 
dem  man  „Güter  unmittelbar  gegen  Güter"  umsetzt,  zu  ver- 
wechseln —  aus  dieser  „Theorie"  eliminiert, so  bleiben  noch  so  viel 

')  Amdmek  Schönbergs,  der  «ncfa  dieser  Theorie  neben  der  eben  be- 
sprochenen in  seinem  Handbocfae  Unterkunft  gewihrt:  a.  a.  O.  S.  44  f.  Nenerdings 

ist  sie  wieder  in  J.  Conrads  Gnindrifs  zum  Studium  der  politischen  Oekonomie, 
1.  Teil.  Jena  1896,  iji;  31 — 33  aufgetaucht  und  auch  in  freilich  etwas  moderni- 
sierter Fassung  —  von  Maxime  Kovalcwsky  zu  der  scinigen  f^cmacht.  (Coup 
d'tcil  sur  l'evolution  du  regime  ctonomiiiuc  et  üa  division  en  pcriode?  im  l>evenir 
social.  Deuxiemc  annec.  1896.  pag.  4Ü1.)  Selir  beliebt  ist  sie  bei  Historikern,  die 
der  Nationalökonomie  fem  stehen.  So  arbeitet  z.B.  Ed.  Meyer  in  seinem  bekannten 
Anfsatse  ttber  die  wiitidMftUche  Entwiddnng  des  Altertnma  (Jahibücher  flir  Nat> 
Odron.  m.  F.  Bd.  IX,  S.  696  ff.)  viel  mit  Sir.  . 

*)  Bruno  Hildebrand,  Natwalwirtschaft,  Geldwirtsehaft  und  Kreditwirt- 
ichaft  in  den  Jahrbitchem  flbr  Nat.«Oekon,  Band  n  (1864)  S.  i  ff. 

So  Adolph  Wagner,  Grundlegung  1.  1.  i  (3.  Aufl.  1893)  §  188  («  §  113 
in  der  2.  Anfl.),  der  „Natural-  nn<1  den  tauschwirtschaftlichen  Zustand"  von  den 
„Formen,  in  welchen  sich  der  Vorkehr  im  tauschwirtschaftlirhen  Zustande  der 
Volkswirtschaft  vollzielit  und  den  A  u  >  g  1  e  i  c  h  u  n  g  s  m  i  1 1  c  1  n  ,  deren  er  sit  li  zur 
Bcwerkstelligung  d<  r  Unisiit/c  In-dicnt'  vinti  rschcidet,  für  letztere  aber  die  Dreiteilung 
in  Natural-,  Geld-,  Kreditwirtschafl  beibehält. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 

Intämer  wie  Sätze  übrig,  auf  die  schon  so  oft  hingewiesen  ist, 
dals  wir  es  uns  hier  versa^n  dürfen,  langer  dabei  zu  verweilen. 
Aber  auch  soweit  dem  Schöpfer  dieser  Theorie  ein  richtiger  Ge- 
danke vorschwebte,  ist  er  denkbar  oberflächlich  gewesen:  er  unter- 
schied die  verschiedenen  Wirtschaibweisen  nach  ihren  Symptomen, 
statt  nach  ihrem  Grundcharakter,  der  jene  Sympttmie  erzeugt  Es 
wäre  wirklich  an  der  Zeit,  bei  einer  der  nächsten  Inventuren,  diesen 
alten  Ladenhüter  von  Theorie  auszumerzen. 

Es  ist  eine  eigentümliche  Erscheinung  in  unserer  Litteratur, 
(lafs  derselbe  Autor  in  der  Lehre  von  den  Wirtschaftsstufen  oder 
Wirtschaftssystemen  sich  häufig  nicht  mit  einer  Theorie  begnügt, 
sondern  zwei  oder  mehrere  auf  Lager  hält,  um  sie  je  nach  dem 
augenblicklichen  Bedürfnisse  zu  verwerten  und  ohne  sich  viel  darum 
zu  kümmern,  ob  die  betreffenden  Theorieen  vereinbar  sind  oder 
nicht,  ob  sie  sich  teilweise  ausschliefsen,  nh  sie  sich  ergänzen,  ob 
sie  imV'erhältnis  der  lieber-  oder  Unterorclnuni:,^  zueinander  stehen  oder 
sich  sonstwie  auleinander  beziehen.  So  halion  wir  schon  bei  S  c  h  ö  ti- 
berg  zwei  ganz  verscliic(icne  Slufenreihen  der  Wirtschaft  kennen  ge- 
lernt, die  einfach  mit  der  Bemerkung  eingeführt  werden :  ,.inan 
unterscheidet  in  der  ...  (ieschichte  zwei  (irupj)en  von  Wirtschafts- 
stufen. Das  hauptsächlichste  (!)  Unterscheidungsmerkmal  ist  für  die 
eine  der  Zustanfl  der  volkswirtsihaftiichen  Produktion,  für  die 
andere  der  Zustand  des  lausciiverkehrs."  Aber  auch  Ad.  Wagner 

')  E$  m»g  genftgen,  eine  der  nblrekbcn  Kritiken  der  Hildebrandsctaen  Stnfen» 
thcorie  sa  bencmieil,  diejenige  Gustav  Cohns  in  seiner  Grundlegung  (Stuttgart  1885) 
§  337,  wo  fs  n  a.  sehr  trcfTfiid  lirifst:  „Die  Drt-itrilunp  ist  schon  darum  unhaltbar, 
weil  sie  dir  wcsciitlu  hr  Funktion  des  Geldes  übersieht  .  .  .  nämlit  h  <li'  Funktion  des 
Wertmafses :  letztere  Funktion  bleibt  unberührt  davon,  ob  beim  L  ni»atz  Kredit  ge- 
währt wird  oder  nicht;  der  wirkliebe  Qcgensatz,  der  hier  Toneliwebt,  wire:  „Bar- 
wirtkhaft»  and  „KreditwiTtadmft",  «ihiend  in  beiden  Fallen  „Gddwirticfaaft"  statt- 
üiidct  Es  ist  «ach  nieht  einnud  riditig,  dafr  der  „Umantz  gegen  Kredit",  wie  auf 
Grand  jener  DreiteOong  behauptet  wird,  sich  mit  äa  höheren  EnHriddang  der 
Wirtschaft  immer  mehr  aasbreite  und  den  Barurosatz  verdlinge:  im  Gegenteil  dir 
fortschreitende  Wirtschaft  löst  den  Kredit  immer  mehr  von  dem  Umsatz  ab  und 
maiht  aus  der  KrcditKewührunj:  i-in  besonderrü  Grsoh.äft,  wrh  hes  dm  Käufer  in  drn 
.Stan<l  se  tzt,  gegrn  bar  /u  kautm.  Eine  brschcidtnr  Krnnlnis  (lr>  niodrnien  Gfsihäfls- 
verkflirs  in  hngland,  Amerika  u.  s.  w.  bestätigt  diese  Ucbauptung."  Das  ist  ja  aber 
gerade  ein  Spexifikiim  Br.  Hildebrands,  dalk  er  diese  Kenntnis  nicht  hatte,  seine 
Theorieen  vidniehr  anfbante  auf  Grand  der  Anschamngen,  die  er  in  seiner  rflck- 
stindigen  Umgebong  allein  gewann.  Erst  bedeutete  die  Provinz  Oberhessen,  später 
bedeuteten  die  thüringischen  Fttrstentttmer  fUr  ihn  die  ökonomische  Welt. 

::4» 


L  iyiii^üd  by  Google 


374 


Werner  Sombart, 


verliigt  über  verschiedene  Reihen  von  Wirtschaftss3rstemen,  ohne, 
so  viel  mir  bekannt,  irgendwo  den  Veisuch  zu  machen,  ihre  etwa 
vorhandenen  Beziehungen  zueinander  naher  festzustellen,  es  sei  denn, 
was  aber  nicht  ausdrücklich  geschieht  und  gar  keinen  Sinn  hätte, 
dals  die  eine  Einteilung  der  Wirtschaftsweisen  fiir  die  „Volks* 
Wirtschaft  als  natürlicher  Organianus",  die  andere  für  die  „Volks- 
wirtschaft als  künstliche  Organisation"  reserviert  bleiben  sollte. 
So  erfahrt  der  I  .cscr  der  „Grundlegung",  nachdem  ihm  in  §  l88  die 
modifizierte  Hildcbrandsche  Einteilunj:^  xon^^etragen  worden  ist,  in 
§  300^  dafs  die  „Organisation  der  X'olkswirtschaft"  „auf  drei  ver« 
schiedenen  Prinzipien"  beruhe  und  dafs  auf  einem  jeden  derselben 
wieder  je  ein  besonderes  Wirtschaftssystem  (beruht  in  welchem  die 
dazu  gehörigen  Kinzelwirtschaften  vornehmlich,  doch  nicht  aus- 
schliefslich,  nach  dem  betreffenden  IVinzip  fungieren.'* 

Wagner  unterscheidet  dann  hokaniitlich  das  privat- 
wirtschaftliche,  g  c  m  e  i  n  w  i  r  t  s  c  h  a  f  1 1  i  c  h  c  uik!  k  a  r  i  t  a  t  i  v  e 
Prin/ip  be/.w.  Ss-stem, '1  im  Ansrhlufs  an  Scbäfflc,  bei  dem  .>ich 
zurrst  ilicsc  S\-stctiiatik  lindet.  nur  mit  etwas  abweichender  Tcr- 
miiiolögic  und  trcilich  auch  glücklicherer  (  harakterisicrung  des 
wichtigsten  der  verscliiedencn  ,,\\'irtscliaftsprinzipien".  des  sogen, 
privatwirtsciiaftlichcn,  das  Schätflc  viel  treti'endcr  das  speku- 
lative nennt.  Sch.äffle  unterscheidet  -')  die  sj>ekulative ,  kaj)i- 
t  a  1  i  s  t  i  s  c  h  j)  r  i  \  a  t  w  i  r  t  sc  h  a  f  1 1  i  c  h  c  Organisation  \  i>n  der 
öffentlichen  Organisation  und  der  Organisaljon  der  freien 
Hingabe. 

So  sympathisch  mir  nun  auch  der  Gedanke  ist,  nach  „WirtschafksF 
Prinzipien''  Wirtschaftsweisen  zu  unterscheiden,  so  kann  ich  in  der 
Schäffle-Wagnerschen  Theorie  doch  keine  glücldklie Lösung 
der  Aufgabe  erblicken,^)  weil  sie  mir  in  folgenden  entschddraden 
Punkten  fehlerhaft  zu  sein  scheint :  Einmal  in  der  Charakterisierung 
bezw.  Unterscheidung  der  Wirtschafbprinzipien.  Diese  ist  derart, 
dafs  ganz  disparate  Wirtschaftsepochen —  man  denke  an  die  mittel- 
alterliche Stadtwirtschaft  und  die  moderne  kapitalistische  Verkehrs- 

'1  .\<1.  Wiigm-r.  <  irundlcjjunj:,  3.  Aufl    1    1.    S  770IT. 

-I  .\.  K.  1'.  Schältlc,  Das  gi-M>llsrliattliihf  System  der  menschlichen  Wirt- 
schaft, 3.  Aufl.,  l  übingcn  1873.    Siehe  Bd.  II.  S.  25  ff. 

*)  Auch  das  Bach  von  G.  Grofs,  Wirtschaftsformen  and  WiiticfaafUprituipicn, 
Leipzig  1888,  das  im  wea^mtlidien  anf  der  Ldire  der  beiden  oben  genaaaten  Au* 
torcn  fufst,  bringt  trotz  zahlreicher  treifender  Etnidbemerknngen  doch  keine  be- 
friedigende Lösung. 


Digitizea  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  nad  ihre  Orgaaitatioik. 


375 


Wirtschaft  —  mit  ihrer  Hülfe  gar  nicht  auseinander  gehalten  werden 
kt>nnen.  Beide  sind  sicherlich  von  verschiedenen  W'irtschaftsprin/ipien 
beherrscht,  aber  nach  den  Schäffle-Wagncrsclun  Kategorieen  lassen  sie 
sich  nicht  unterscheiden.  Ofifenbar  haben  nun  aber  diese  Autoren 
auch  gar  nicht  historisch  differente  \Virtsc  hafts{)erii)den  mit  ihrer 
Unterscheidung  treffen  wollen;  sie  erblicken  vielmehr  die  ver- 
schiedenen W'irtschaftsprinzipien  und  (^rganisationsfurnien  der  Wirt- 
schaft jeweils  neben-  unil  durcheinander  herrschend.  So  sagt 
Wagner  (a.  a.  O.  S.  778)  ausdrücklich:  „Kaum  auch  nur  denkbar, 
geschweige  geschichtlich  vorgekommen,  ist  eine  Volkswirtschaft, 
welche  ausschlierslich  auf  einem  und  selbst  nur  ausschließlich  auf 
zweien  dieser  Oiganiaationsprinzipien  beruht,  sondern  immer  besteht 
eine  Kombination  der  letzteren,  nur  mit  wechselnder  Stellung  und 
Bedeutung  jedes  Prinzips.  Das  Ganze  der  Volkswirtschaft  beruht 
eben  auf  dieser  Kombination.''  Mit  dieser  Auf&ssung  ist  nua 
aber  die  Unzulänglichkeit  der  genannten  Merkmale  erwiesen, 
historisch  unterschiedliche  Wirtschaftsepochen  voneinander  zu 
sondern.  Und  darauf  muls  doch  vor  allem  unser  Augenmeric  ge- 
richtet sein. 

Allen  im  folgenden  noch  zu  besprechenden  Theorieen  ist  nun 
dieses  Bemühen  gemeinsam,  historische  Unterschiede,  also  wirklich 
Wirtschafts  e  p  o  c  h  e  n ,  Wirtschafts  s  t  u  f  e  n  zu  charakterisieren.  Kurz 
vorübei^hen  wollen  wir  an  deijen^en  Gruppe  von  Autoren,  die  die 

Unterscheidung  der  historisch  bedeutsamen  Wirtschaftsweisen  nach 
den  rechtlichen  Beziehungen  treffen  wollen,  in  denen  in  der 
einzelnen  Froduktionswirtschaft  die  Personen  zu  einander  stehen.*) 


*)  Als  Reprlsentsüten  <fieter  Gruppe  nuig  ««s  der  englischen  Litteratar 

W.  T  h  o  ni  ]  i  -  f)  n  erwähnt  werden,  auf  dessen  Systems  of  labour  schon  an  anderer  Stelle 
(vgl.  in  diesem  iJande  des  Archivs  S.  15)  hingewie<;en  wurdi-.  Th.  unterscheidet  1.  laboar 
by  force  or  compulsion ;  direct  or  indircct ;  2.  labour  by  uiirrstrict'-d  iruilvidual  com- 
petition;  3.  labour  by  niutual  Cooperation  (  \V.  T  Ii  o  ni  p  s  n  11 .  An  iTiijuiry  into  tlic  prin- 
ciples  of  the  di:itribution  of  Wealth.  1S24.  p.  X\  III.  363  11.  und  pass.  1.  Durch  Th.  be- 
ciBÜnfit  dichdnt  der dienlaUs schon  (ohenS.  16)  ellierte  Lavergne-Peguilhen, 
wenn  er  in  seinem  Bnche  Aber  die  Prodnktionssesctse  (S.  224  ff.)  „Zwanfs*  nnd  Anteil- 
wiiticliAft"  «Ii  die  beiden  der  modernen  ,,WirtsdMftsform"  vornnfgelienden  Formen 
bezeichnet.  Ihnen  stellt  er  dann  die  „Gtldwiltscfaaft"  gegenüber,  wechselt  also  den 
Einteilongsgrund  und  macht  damit  seine  Systematik  unbrauchbar,  soviel  beachtens- 
werte Bemrrkungen  sie  im  «in/ibifn  nithiih.  So  ist  beispielsweise  alles,  was  HiUlt- 
brand  in  seiner  berühmten  Mutt  nihi  onr  an  richtigen  (Icdanken  vorbrin^jt ,  länjist 
alles  von  L.  P.  gesagt  worden.    Gelrgcntbch  unterscheidet  auch  Sismondi  nach 


üiyiLized  by  Google 


376 


Werner  Sombar 


So  wichtig  dieses  Moment  gewils  auch  ist,  so  unterUegt  es  doch 
m.  E.  ebensowenig  einem  Zweifel,  dafs  es  nicht  geeignet  ist,  zum 
obersten  Einteilungsprinzip  der  Arten  des  Wirtschaftslebens  gemacht 
zu  werden.  ¥,s  hat  doch  ganz  gewifs  für  die  Frage  nach  dem 
Charakter  einer  Wirtschaftsepoche  nur  sekundäre  Bedeutung,  sobald 
man  es  mit  den  übrigen  die  Art  der  Produktion  selbst  be- 
einflussenden und  bestimmenden  Momenten  und  den  hierdurch  her- 
vorgerufenen eigenartigen  Beziehungen  der  einzelnen  Produktions- 
wirtschaften unter  einander  in  Vergleich  setzt.  Erst  mufs  die  Pro- 
duktion doch  selbst  Richtung  und  Umfang  erhalten  haben,  ehe  an 
die  Konstatierung  der  Beziehungen  der  einzelnen  Produktionstcil- 
nehmer  gedacht  werden  könne. 

Als  letzte  Gruppe  von  Theorieen  über  Wirtschaftsepochen  lassen 
sich  alle  diejenigen  Lehren  zusammenfassen,  die  eine  Unterscheidung 
nach  der  Gliederung  der  bei  Erzeugung  eines  Gesamt- 
produkts beteiligten  Produktionswirtschaften  vulgo 
Arbeitsteilung  vornehmen.  So  wenigstens  müssen  wir  das 
Kriterium  ihrer  Unterscheidung  richtig  formulieren,  obwohl  dies  bei 
keinem  einzigen  der  hierher  gehörigen  Autoren  in  einwandfrner 
Weise  geschieht,  wie  wir  noch  des  genaueren  sehen  werden.  Ich 
begnüge  mich ,  die  Theorien  von  vier  bezw.  iiinf  Autoren  kurz  zu 
skizzieren,  die  geistvollsten  und  selbständigsten  derer,  die  in  Frage 
kommen:  die  Theorieen  von  Rodbertus  —  Marx  und  Engels  — 
Schmoller  und  Bücher. 

Es  ist  unleugbar  das  Verdienst  von  Karl  Rodbertus  — 
und  diejenige  Leistung,  die  ihm  den  hohen  Rang  unter  den  National- 
ökonomen des  19.  Jahrhunderts  verschafft,  —  zum  ersten  Male  mit 
allem  Nachdruck  als  das  charakteristische  Merkmal  unserer  Wirt- 
schaftsweise  die  Verschlingung  zahlloser  Einzelwirtschaften  zu  einem 
gesellschaftlichen  Ganzen  betont  zu  haben.  Zwar  hatten  Adam 
Smith  und  andere  vor  ihm  an  dieser  Thatsache  nicht  vorübergehen 

den  Abhängigkeitsverhältnissen  des  Arbeiters  die  verschiedenen  Wirtschaftsstufea; 
▼gl.  s.  B.  Nouv.  principcs  II.  434 ff.  In  gewissem  Sinne  ist  auch  Marx  hier  zu 
nennen.  Fr  hat  IVrirnlen  gehabt,  in  denen  er  der  rechtlichen  SteUung  der  „Pro 
duktion>aginl("n"  zu  i-inand-  r  f\i\c  aiiNsrhlajjpebende  Bedfutung  für  die  Unterscheidung 
der  \Virt.-.chafts>tuton  beili-f^tc.  Siinc  und  Engelsen^  endgültige  Liintcilung  war  ja 
dann  freilich  eine  andere,  wie  ich  weiter  unten  zeigen  werde.  Besonden»  berausge> 
arbeitet  wifd  dieser  Manucbe  Gedanke  von  seEnem  SchVler  H.  M.  Hyadmana, 
The  EGonomics  of  Socialism.  London  1896.  t  Scct.  A  brief  bistoric  mrv^  ol 
Metbods  of  Production. 


Digitized  by  CjüOgle 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Ürgani^atiun. 


377 


können.  Aber  sie  zum  Ausgangspunkte  fiir  ein  ganzes  System  zu 
nehmen,  damit  gleichzeitig  die  herrschende  Wirtschaftsweise  als 
eine  historisch  bedingte  zu  charakterisieren  und  sie  in  einen  be- 
wu(sten  Gegensatz  zu  einer  nicht  gesellschaftlichen  Wirtschafts* 
weise  zu  stellen:  das  hatte  doch,  soviel  ich  sehe  vor  Rodbertus 
niemand  geleistet  und  das  leistete  er  im  Prinzip  schon  in 
seinen  ersten  beiden  Hauptwerken. Auch  auf  die  verschiedenen 
Arten,  spezialisierte  Produktionsthätigkeitcn  untereinander  zu  ver- 
knüpfen, sei  es  durch  Tauscti,  sei  es  durch  das  Kommando  eines 
Grundherrn  oder  sonstwie  und  die  dadurch  entstehenden  Varietäten 
arbeitsteiliger  VVirtschaftsstufen  hat  Rodbertus  seit  seinen  Studien 
aus  dem  Jahre  i&p  hingewiesen.  *  i  Dann  hat  er  die  Unterschiede 
eigenwirtschaftlicher  und  tauschwirtschaftlicher  Zustände  im  einzelnen 
dargelegt  in  seinen  bekannten  Studien  über  die  römischen  Grund- 
herr'scliaftcn  '  und  endlich  in  seinem  posthumcn  \ierten  Briefe  an 
von  Kirchmann  *j  eine  leider  nicht  sehr  glückliche  Zusammenfassung 

\)  Zur  Erkenntnis  un«;erer  staatswirtschaftlichen  Zustände.  Neubrandenburg  1842. 
S.  67  ff.  Zweiter  Sozialer  Brief  an  von  Kirchmann  (1851).  In  dem  Neudruck  (  Berlin 
1875)  ^-  25  f.  32.  35.  4243.  „.Anstatt  .  .,  dafs  die  Wissenschaft  von  der  Erkenntnis 
hätte  ausgehen  müssen,  dafs  durcli  die  Teilung  der  Arbeit  die  Gesellschaft  zu  einem 
inmflÖtUdien  wirtsdiafUichen  Ganicn  Tencblongen  wird,  anitatt  daft  sie  rem  Staad» 
jmnkt  dieses  Ganzen  aas  an  die  ErkUnmg  der  einielnen  ataatswiztsdiaftUcben  Be* 
griffe  und  Encbdmngen  bitte  gehen  mflasen  .  .  bat  auch  die  Staatswirtscbait  nicht 
der  ttbertriebenen  indiTidnalirtitchcn  Neigung  der  Zeit  entgehen  können"  (S.  25  26). 

•)  „Im  Altertum  kann  man  es  als  Regel  annchm«  n,  dafs  das  Produkt  nicht  eher 
verlau.scht  oder  verkauft  ward,  aN  bis  es  seine  VoUtmlunp  r-rhalten  hattr.  Allerdings 
hat  es  auch  damals  Teilung  der  .\rbcit  grgcben,  <i.  Ii.  <-inigr  haben  da-  kohprodukt 
hergestellt,  andere  dasselbe  rum  Fabrikat  umgewandelt,  noch  andere  <la>selt)e 
transportiert,  allein  alle  diese  Arbeiten  hat  ein  EigentOmer,  der  Gmndcigentilmer,  von 
Anfang  bb  m  Ende  roraehmen  lassen,  sei  es,  was  das  gewöhnlichere,  darch  dgeae 
SUaren,  sei  es  durch  gedungene  freie  Arbeiter . . .  Erst  mit  der  Büdnng  der  mo- 
dernen Stidte,  mit  dem  gesctxlidien  Gcgennts  twischen  Stadt  tmd  Laad,  mit  dem 
MUadÜie&lidien  Recht  der  letzteren  mm  ausschliefsHchen  Betriebe  der  meisten  Fa- 
taffikationsgewerbe,  mit  der  daraus  notwendig  hervorgehenden  Folge,  dafs  dir  Roh- 
produkte den  Eigentümer  wechseln  mn(sten"  u.  s.  w.  Zur  Erkenntnis  etc.  (1&42) 
S.  7<>— 78- 

*)  Untersuchungen  auf  dem  Gebiete  der  Nalionalukonomie  des  klassischen 
Altertums;  Jahrbücher  Ar  Nat-Oek.  Bd.  H  (1864),  Bd.  IV  (1865},  Bd.  V  (1865), 
Bd.  Vm  (1S67.) 

*)  Das  KapitaL  Vierter  sioi.  Brief  an  v.  Kirdimann.  Herausgegeben  von  Tlu 
Koaak.  Berlin  1884.  S.  74. 


Digitized  by  Google 


37«. 


Werner  Sombmrt, 


seiner  Einzeluntersuchungen  über  die  verschiedenen  Wirtschafts- 
weisen unternommen.  Rodbertus  unterscheidet  Idar  den  Zustand 
der  isolierten  Wirtschaft,  den  „Zustand  des  vollendeten  Individualis-, 
mus"  vom  Zustand  der  Arbeitsteilung ')  und  teilt  letzteren  wiederum 
ein  in  einen  Zustand  ohne  und  einen  solchen  mit  Grund-  und 
Kapitaleigentuoo.  Dabei  ist  es  denn  freilich  auch  geblieben.  Wie 
in  jeder  Hinsicht,  so  hatte  auch  in  der  Lehre  von  den  Wirtschafts*- 
weisen  Rodbertus  nach  1851,  allenfalls  nach  1864  nichts  neues  mehr 
zu  sagen;  ja  in  mancher  Beziehung  verballhomisierte  er  in  seinen 
späteren  Arbeiten  die  Ansichten  seiner  eigenen  Jugendschriften. 
Grauenvoll  geradezu  ist  die  zu  obigem  Schema  im  vierten  sozialen 
Briefe  hinzugefugte  Gegenüberstellung  der  Staatswirtschaft  als  eines 
besonderen  auf  Teilung  der  Arbeit  beruhenden  Wirtschaftssystems 
und  der  privaten  Produktions-  und  Konsumtionswirtschaft.  Danach 
ergiebt  sich  die  fürchterliche  Dreiteilung  in  die  JSystetnt" {\)  der: 

1.  Produktionswirtscliaft, 

2.  Konsumtionsvvirtschaft, 

3.  Gesellschaftswirtschaft. 

.  Dieses  dritte,  lediglich  durch  die  wirtschaftliche  Gemeinschaft,, 
wclclic  die  Teilung  der  Arbeit  unter  den  Individuen  gründest,  be-. 
dingte  Wirtschaftssystem  (I),  das  deshalb  auch  in  keiner  Weise  «einen 
kommunistischen  Charakter  verleugnen  kann,  ist  —  die  NajUoiial- 
Ökonomie  oder  Staatswirtschaft."  Solche  einer  senilen  Dcmens  zu- 
gute zu  haltende  Konfusion  darf  uns  aber  die  Freude  an  den 
genialen  Leistungen  des  jungen  Rodbertus  nicht  verkümmern,  die 
iiir  alle  folgenden  Theoretiker,  vor  allem  auch  für  Karl  Msürx  von 
grundlegender  Bedeutung  waren. 

Wenn  wir  die  Frage  aufwerfen,  was  Marx  und  Engeis  für 
die  Lehre  von  den  VX'irtschaftsepochen  geleistet  haben,  so  ist  eine 
präzise  Antwort  nicht  leicht  zu  geben.  Zunächst  freilich  ist  eine 
Thatsache  für  keinen  Kundigen  zweifelhaft:  da(s  die  herrschende 
kapitalistische  Verkehrswirtschaft  von  niemandem  vor  ihnen  auch- 
nur  annähernd  so  treffend,  so  tief,  so  genial  gekennzeichnet  worden 
war.  Aber  län^'st  nicht  die  gleiche  Sorgfalt  ist  von  den  beiden 
auf  einer  Charakterisierung  anderer  Wirtschaftsweisen  gelegt  worden. 
Als  sie  dazu  Gelegenheit  gehabt  hätten  —  im  komunistischen 

,^it  der  Teilung  der  Arbeit  eneogt  sich  unter  den  bdividoen  eine  Gemeift- 
schaft,  die  allen  BcgriiTm  der  isolierteii  M^itKlnft  einen  neuen  Cbunktcr  anf» 
drückt'*  Q.  s.  w.  ebenda  S.  77,  vgL  feiner  S.  119^  tao. 


Digitized  by  Gopgle 


Die  gewerbliche  Arbeit  and  ihre  Oisuisation. 

Manifest  (1847},  in  der  Misere  (1847)  —  waren  ihre  Anschauungen 
über  vorkapitalistische  Wirtschaftsarten  offenbar  noch  keineswegs 
geklärt;  später  hat  Marx  nie  wieder  Veranlassung^  i^ehabt,  eine 
s\'Stematische  Uebcrsichl  über  die  verschiedenen  V\  irtschaftsstufcn 
zu  geben,  hat  sich  vielmehr  mit  j^elc^cntlichcn  Apcrgus  im  Kapital 
begnügt;  und  auch  was  Engels  im  Anti-Dühring  und  in  der  Ent- 
stehung der  Familie  darüber  sagt,  trägt  den  Stempel  des  Skizzen- 
haften an  sich.  So  stellt  sich  auch  das.  was  uns  die  l)ciden  Männer 
als  ihre  Ansichten  von  den  Wirtschafts.stufeii  in  ihren  zahlreichen 
S>chriften  liinterlassen  haben,  wie  ich  es  sehr  zum  Aerger  blind- 
wütiger Marxbewunderer  niederer  Ordnung  in  meinem  Sozialismus 
formulierte,  „uns  zunächst  als  ein  wirrer  Haufe  verschiedenartigsten 
Gedankenmaterials  dar". 

Soviel  ich  sehe,  gehen  bei  Marx  und  Engels  verschiedene 
Auffassungen  vom  Wesen  wirtschaftlicher  Entwicklung  und  somit 
auch  heterogene  Unterschetdui^methoden  durchdnaiider,  die  bei 
Bilarx  überhaupt  nicht  zu  einer  Vereinigung  geführt  werden,  bei 
Engeb  in  seinen  letzten  Schriften  dagegen  mit  dem  Siege  der 
einen  AuCbssung  über  die  andere  zu  endigen  scheinen.  Allzu  häufig 
jedoch  finden  wir  auch  gar  keine  scharfe  Unterscheidung  nach 
einem  principium  divisionis»  sondern  eine  blo(se  Aufeahlung  der 
mamiigfiichen  Verschiedenheiten  zweier  oder  mehrerer  „Produktions- 
weisen". Oder  aber  es  werden  uns  nur  mehrere  solcher  Wirt- 
schaftsstufen genannt,  auf  eine  Charakterisierung  wird  aber  über- 
haupt verzichtet^  Vornehmlich  sind  es  aber  doch  wohl  folgende 
Kriterien,  die  fiir  die  Unterscheidung  verschiedener  Wirtschafts- 
weisen bei  den  beiden  eine  Rolle  spielen: 

I.  Die  rechtliche  Stellung  des  „Arbeiters",  bezw. 
Produzenten  in  der  einzelnen  Produktionswirtschaft.  Wie  sehr  aut 
sie  zumal  in  den  früheren  Schriften  Wert  ^legt  wurde,  zeigt  schon 
die  häufige  Bezeichnung  der  vorkapitalistischen  Produktionsweise  als 
„feudale"  im  kommunistischen  Manifest,  in  der  Misere  etc.  Aber 


')  Vgl.  X.  B.  Komnumist  Manifest,  cd.  dt.  S.  lo.  Marx,  Misere  113  f. 
Engels,  Anti-DOhring,  ^$4. 

')  So  in  der  bcrflchtigten  Stelle  des  Vorworts  „Zur  Kritik  der  pdit.  Oekononie** 
(1859)  S.  VI.:  „In  groben  Umrissen  können  asiatische,  antike,  feudale  und  modern 
bürgerliche  Prodaktionsweis«n  als  progressive  Epochen  der  ökonomischen  Gesi-U- 
schaftsformation  bi-zcichnrt  wrrdrn.'  !?»  Ganz  Uhnlirli  !>chon  lautet  eine  Stelle  in 
Loboarbeit  und  Kapiul  (1^49)  in  der  Ausgabe  von  1884  S.  15. 


Digitized  by  Google 


38o 


Werner  Sombart, 


auch  noch  im  Kapital  finden  sich  Stellen,  in  denen  tjerade  dieses 
Moment  zum  Charakteristikum  einer  Wirtsch.iftscpoche  gemacht 
wird,  ')  so  dals  es  Darsteller  der  Marx 'sehen  Lehre  giebt.  die  bei 
Marx  überhaupt  nur  diesen  Unterscheidungsmodus  finden  wollen.-) 
Dals  Marx  bis  in  sein  spätes  Alter  so  grofsen  Nachdruck  auf  das 
Merkmal  der  rechtlichen  Abhiin^ngkeits-  und  Schichtungs\erhältnisse 
legte,  steht  mit  seiner  Neigung  im  Zusammenhange,  die  Um- 
gestaltung bestehender  (lesellschaftszustände  aus  dem  Antagonismus 
der  Klassengegensätze  abzuleiten  und  diese  Neigung  wiederum  er- 
klärt sich  leicht  aus  der  Richtung  seiner  praktisch-politischen  hiter- 
essen.  Nun  ist  es  aber  bekannt,  dals  ihm  bei  der  Konstruktion 
seiner  ökonomischen  Entwicklungstheorie  die  Hegeische  F'ormel  von 
der  Negation  der  Negation  wertvolle  Dienste  leistete.  Mit  ihrer 
Hilfe  werden  daher  auch  häufig  genug  die  verschiedenen  Wirt- 
schaftsweisen konstruiert;  sodals  wii*  als  weiteres  Unterscheidungs* 
merkmal 

2.  die  Stellung  einer  Wirtschaftsepoche  im  Schema  der 
Hege  Ischen  Trichotomie  bekommen.  Dieses  Schema  wird 
abermals  nicht  eindeutig,  d.  h.  mit  Rücksicht  auf  nur  Ein  Merkmal, 
sondern  in  wechselnder  Bedeutung  angewandt  Die  wichtigsten 
Fälle  seiner  Anwendung  and  wohl  folgende: 

Thesis.  Antithesis.  Synthcsis. 

I.  Urwüchsiger  Kuromu-      Warcnpruüuktion.  Bcwulster  Koiumuaismus. 


n.  UnmittdlMr  v<>rgeseU- 
schiftete  Produktion. 

HI.  Arbeiter  im  Besitze  der 
Prodtiktioiiiainittel. 


Planloie  Produktion. 

Arbeiter  von  den  Produk- 
tiantmittelB  getrennt. 


Mittelbar  vergesellschaftete 

Produktion. 
Arbeiter  und  ProdukttuQs- 

mitt-'l  auf  höherer  Stufen- 
leiter wieder  vereinigt. 


Vgl.  z.  B.  Kapital.  I*.  43  ff.  133.  ,,\Vas  ilie  kapitalisti--.cho  Kpoc  lu'  cha- 
raJctcrisiert,  ist,  dafs  die  Arbeitskralt  für  den  .Arbeiter  selbst  die  Form  einer  ihm 
gehörigen  Ware,  seine  Arbeit  daher  die  Form  der  Lohaaibeit  erhllt."  197  f. 

So  L.  Stein,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  nritosophie,  1897,  S.  383  ff., 
wo  angenommen  wird,  die  Mantsehcn  Wirtschafisstofen  sden:  i.  Sklavcnwirtsdiaft; 
a.  Fronwirtschaft;  3.  Kapitalistische  Wirtschaft:  4.  Soaialistisdie  Vt^rtschaft.  Eine 
Kombination  der  verschiedenen  Einteilungen  enthilt  die  neuerlich  von  K.Kantsky 
atifgestellte  Tlieorio  der  Wirtschaftsstufen.  K.  unterscheidet  folgende  grofse  Epochen 
wirtschaftlicher  Entwicklung :  Naturalwirtschaft;  Feodalwirtschaft ;  ^ünfti^^e  Monopol- 
wirtschaft, Warenproduktion:  letztere  zerfallt  wifilt-r  in  einfache  und  kapitalistische. 
^Vgl.  k.  Kautsky,  Die  .Agrarfrage.    Stuttgart  lik9S.    S.  öo6i.) 


Digilized  by  Google 


Die  geverblidie  Arbeit  tmd  ihre  Orguisation. 


Lcdiglicli  ein  Postulat  ist  bei  Marx  und  Iüi;^els 
3.  die  Unterscheidung  verschiedener  W'i  r t  sc  hafts- 
stufen  nach  der  Produktionstechnik,  nach  den  X'erfahrungs- 
weisen  geblieben.  Sollte  dieses  Kriteriuni  wirklich  Verwendung 
finden,  so  müfsten  Qualitätsunterschiede  der  Produktionsverfahren 
gemacht  werden,  was  aber  weder  \'on  Marx  noch  von  Engels  auch 
nur  versucht  ist  So  bleiben  denn  Wendungen  wie :  „n'est-ce  pas 
dire  assez  que  le  mode  de  production,  les  rapports  dans  les  quels 

les  forces  productives  se  de\eloppent    correspondent  ä  un 

developpementdetermin^  des  hommcs  et  de  Icurs  forces  productives"') 
oder:  „in  der  gesellschafdichen  Pro<luktion  gehen  die  Menschen  be- 
stimmte, notwendige,  von  ihrem  Willen  unabhängige  Verhältnisse 
ein,  Produktionsverhältnisse,  die  einer  bestimmten  Entwicklungsstufe 
ihrer  materiellen  Produktivkräfte  entsprechen",  oder :  „nicht  was 
gemacht  wird,  sondern  wie,  mit  welchen  Arbeitsmitteln  gemacht 
wird,  unterscheidet  die  ökonomischen  Epochen"  *)  —  nichts  weiter  als 
—  leider!  —  unausgeführte  Programmsätze. 

Will  man  von  einer  partiellen  Ausführung  dieses  Programms 
reden,  so  könnte  man  nur  etwa  die  Skizzierung  der  VVirtschafts- 
epochen  anführen,  wie  sie  Engels  in  seinen  späteren  Schriften*), 
schon  unter  dem  Einflüsse  I.ewMs  H.  Morgans  stehend,  unter- 
nommen hat.  Nun  sind  hier  allerdings  die  „Produktivkräfte"  als  das 
entscheidende  Moment  für  die  Gestaltung  des  Wirtschaftslebens 
/um  Teil  mit  glücklichem  Erfolge  festgestellt  worden.  \'on  einer 
eigentlichen  Durchfuhrung  des  in  den  citierten  Sätzen  aufgestellten 
Programms  kann  aber  gleichwohl  auch  nicht  entfernt  die  Rede  sein. 
Denn  abgesehen,  dals  dazu  die  Darstellung  zu  skizzenhaft  ist.  so 
hat  Engels  seine  Aufgal)c  selbst  doch  wesentlich  anders  aufgefalst 
als  sie  in  strikter  Auslegung  der  Marxschcn  Sätze  hätte  gestellt 
wenlen  müssen.  Er  hat  nämlich  gar  nicht  nach  der  X'cr.^chicdeii- 
hcit  der  Produktionstechnik,  insbesondere  der  Arbeitsmittel  die 
ökonomischen  Epochen  unterschieden,  sonilern  er  hat  lediglich  den 
X'crsuch  gemacht,  den  Finflufs  der  (|  u  a  n  t  i  t a  t  i  v e  n  Steigerung 
der  Produktivität  auf  die  (lestaltung  des  Wirtschaftslebens  nach- 
zuweisen und  zwar  in  einer  ganz  bestimmten  Richtung,  nämlich  in 


')  Misere,  115. 

*)  Zur  Kritik  etc.    Vorwort  S.  V. 

')  Kapital  I 142. 

*)  Vgl.  namentlich  Ursprung  der  Familie  etc.  (zuer&t  18^4)  b.  i2l  ff. 


382 


Werner  Sombart, 


ihrer  Kinwirkung  auf  die  Kntwicklun^  iler  Arbeil.steilung.  Damit 
ist  aber  zum  Principium  divisionis  nicht  mehr  die  —  ül)ri^ens 
stets  inkommensurable  und  inkomparable  —  Produktionstechoik, 
sondern  cbtn 

4.  die  Gliederung;  der  bei  I-. rzeui^ung  eines  Ge- 
samtprodukts b  t- 1  e  i  1  i  t  e  n  P  r  o  d  u  k  t  i  o  n  s  w  i  r  t  s  c  h  a  f  t  e  n 
zum  l'nterscheidungsmcrkmal  der  Wirtschaftsstufen  gemacht  und 
damit  einem  Gedanken  zum  Siege  veriiolfen  worden ,  der  neben 
den  bisher  angeführten  ebenfalls  seit  den  1840  er  Jahren  in  den 
Schriften  von  Marx  und  Engels  eine  Rolle  gespielt  hatte.  Ohne  auf 
die  gelegentiicfaen,  zahlreichen  Bemerkungen  näher  einzugehen,  die 
uns  die  Ueberzeugung  verscfaafien,  dals  Marx  und  Engels  eine 
Unterscheidung  der  Wirtschaftsstufen  auch  nach  dem  Grad  der 
Arbeitsteilung  von  früh  an  vorgenommen  haben,')  wül  ich  nur 
kurz  die  letzte  Darstellung  resümieren,  die  Engels*)  gegeben  hat 
Danach  sind  drei  Hauptetappen  und  innerhalb  der  zweiten  drei 
Zwischenstufen  in  der  bisherigen  ökonomischen  Entwicklung  zu 
unterscheiden: 

1.  Eigenwirtschaft:  Produktion  lur  den  eigenen  Bedarf; 

2.  Tauschwirtschaft,  die  sich  verschieden  gestaltet,  je 
nachdem  der  Tauschverkehr  ist; 

a)  eine  gelegentliclie  Erscheinung:  Austausch  von  Ueberfluls; 

b)  eine  regelmäfsige  Erscheinung:  Differenzierung  der  Nah- 
rungsmittelproduktion  zwischen  Hirten«  und  Ackerbau- 
stämmen ; 

c)  eine  notwendige  Erscheinui^:  Trennung  von  Ackerbau 

und  Handwerk; 

3.  kapitalistische  Wirtschaft:  charakterisiert  durch 
Warenproduktion,  die  der  Leitung  des  Kaufmanns  unter- 
liegt.    Dessen   Auftreten    ist   nötig   geworden  durch  die 

Ausweitung  des  \\'irtschaftsgci)iets. 
Dals  hier  und  da  andere  princij)ia  divisionis  selbst  an  dieser 
Stelle  noch  störend  dazwischen  geraten,  ändeit  nichts  an  der  ent- 
sclieidenden  Thatsache.  dafs  der  Grad  der  Arbeitsteilung  hier  aus- 
drücklich und  abschlielsend  zum  Merkmal  der  verschiedenen  Wirt- 
schaftsej)ochen    erklärt   wird    und    deshalb    die  Marx  -  Engeische 


'  '  Fs  kommen  vornrlin)li<  h  folgeiulc  Stellen  inbctracht:  Marx,  AUs^re,  6  ff. 
Kapiul  I*,  46,  78,  322  f.    Inytls,  Aiiti-Dühriii};,  ijS  f, 
'J  Lntt«tchung  der  Kamilie  etc.  (1884)  .S.  12  J  ff. 


Diyilizea  by  C 


Die  gcwerbliclic  Arbeit  und  ihre  Organisation. 

Theorie  dogmengeschichtUch  an  die  Stelle  gehört,  wo  wir  sie  be- 
handelt haben. 

Als  dritter,  der  selbständig  —  denn  er  hat  wohl  weder 
Rodbertus  noch  die  beiden  zuletzt  genannten  Autoren  als  Theoretiker 
gerade  der  Wirtschaftsstufen  gekannt  —  zu  ähnlichen  Ergebnissen 
wie  sie  gelangt  ist,  darf  Gustav  Schmoller  genannt  werden, 
dessen  Theorie  —  er  mufe  mir  das  Wort  schon  gestatten  I  — 
freilich  in  einem  entscheidenden  Punkte  von  den  ihr  verwandten 
Lehren  abweicht  Unterscheidet  Schmoller  auch  wie  Rodbertus, 
Bffarx  und  Engels  die  verschiedenen  Wirtschaftsepochen  nach  dem 
Grade  der  Arbeitstdlung  kurz  gesagt  und  der  dadurch  notwendig 
werdenden  Verschling^ng  mehrerer  oder  vieler  Wirtschaften  zu  einem 
sogrn.  Organismus,  so  begründet  er  die  Unterschiede  der  einzelnen 
Wirtschaftssysteme  doch  völlig  anders  als  die  übrigen  Autoren. 
Während  diese  nämlich  die  Unterschiede  rdn  kausal  erklären  — 
durch  die  Einwirkung  der  Produktivkräfte  —  zeichnet  sich  die 
Schmollersche  Theorie  dadurch  aus,  dafe  sie  eine  Motivierung  unter 
rein  teleologischem  Gesichtspunkte  versucht:  die  Unterschiede  der 
Wirtschaftsstufen  stammen  daher,  daß  jeweils  verschiedene  —  vor- 
wiegend politische  —  Zwecke  verwirklicht  werden  sollen,  wonach 
denn  auch  schon  die  Terminologie  gebildet  worden  ist.')  Die 
nicht  sehr  glückliche,  weil  allzu  bilderreiche  Formulierung  der 
Schmollerschen  Theorie  ist  im  wesentlichen  folgende:  Bedeutungs- 
voll ist  „der  Zusammenhang  des  wirtschaftlichen  I^bens  mit  den 
wesentlichen  und  leitenden  Organen  des  sozialen  und  politischen 
Lebens  überhaupt  die  Anlehnung  (!)  der  jeweiligen  wesent- 
lichen wirtschaftJich-sozialen  Einrichtungen  an  die  wichtigsten  oder 
an  einzelne  wichtige  politische  Körper".  „Im  Anschlufs  an  den 
Stanrni,  die  Mark,  das  Dorf,  die  Stadt,  das  Territorium,  den  Staat 
und  den  Staatenbund  entwickeln  sich  successiv  bestinunte  soziale 
Wirtschaftskörper  immer  umfassenderer  Art;  wir  haben  damit  einen 
einheitlichen  EntwicklungsprozeCs  vor  uns,  der  natürlich  das  wirt- 
schaftliche Leben  niemals  erschöpft,  der  es  aber  jeweilig  bestimmend 
und  beherrschend  umschlie(st.  Innerhalb  des  Dorfes,  der  Stadt,  des 
Territoriums  und  des  Staates  bleibt  dem  einzelnen  und  der  Familie 
ihre  selbständige  und  bedeutsame  Stellung,  geht  die  Arbeitsteilung, 


*)  G.  Schmoll  er,  Studien  Uber  die  wiitsclwftliche  Politik  Friedriclis  des 
Groftcn.  II.  Du  Merkantilsjntem  in  seiner  hirtoriachen  Bedeutung:  stSdtisdie,  terri* 
toriale  und  staatliche  Wirtschaftspolitik  in  seinem  Jahrbuch  VIII  (1884)  S.  15  ff. 


Digitized  by  Google 


384 


Werner  Sombart, 


gehen  die  Fortschritte  des  Geldwesens,  der  Technik  ihren  Gang 
voUziehen  sich  bestimmte  soziale  Klassenbildungen;  aber  die  eigent* 
liehe  Signatur  empfangen  die  volkswirtschaftlichen  Zustände  da- 
durch ,  ob  jeweilig  die  Dorfwirtschaft,  die  Stadtwirtschaft,  die 
Territorialwirtschaft  oder  die  Staats«  und  Volkswirtschaft  im  Vorder- 
grunde (I)  steht,  ob  ein  Volk  in  eine  Zahl  lose  ver- 
bundener Dorf-  und  Stadtwirtschaften  zerfällt  oder 
ob  sich  landschaftliche  und  nationale  Wirtschafts- 
korper,  die  alten  wirtschaftlichen  Organe  in  sich 
aufnehmend  und  beherrschend  schon  gebildet 
haben.'*')  In  ein  Stufenschema  gebracht  ergeben  sich  alsdann  als 
Wirtschaftsstufen  im  SchmoUerschen  Sinne: 

1.  Stamm-,  Dorf-  oder  Markwirtschaft; 

2.  Stadtwirtschaft; 

(3.  Territorialwirtschaft); 

4.  Staats-  oder  Volkswirtschaft 

Also  —  auch  bei  Schmoller  ist  das  Ma&  ökonomischer  Ver- 
gesellschaftung zum  entscheidenden  Merkmal  für  die  einzelnen 
Wirtschafbstufen  gemacht  worden,  und  zwar  sind  die  raumliche 
Ausdehnung  eines  einheitlichen  „Wirtschafborganismus"  und  die  ihm 
entsprechende  Wirkungssphäre  der  die  Einzelwirtschaften  in  ihrem 
Verhalten  bestimmenden  einheitliche  Ordnung  der  Mafsstab,  an  dem 
er  jene  für  das  Wirtschaftsleben  entscheidende  Thatsache  gemessen 
wissen  will. 

Wir  kommen  zu  der  letzten  der  hier  zu  besprechenden 
Theorieen  der  Wirtschaftsstufen,  der  zur  Zeit  wohl  bekanntesten 
und  verbreitetsten,  derjenigen  Karl  Büchers.')  Sie  verdankt 
ihre  {^rofsc  Popularität  der  unzweifelhaft  glänzenden  Darstellung  und 
vor  allem  der  grofsen  Vereinfachung,  die  in  ihr  das  abgehandelte 
Problem  erfahren  hat  Während  die  bisher  besprochenen  Lehren 
der  Rodbertus,  Marx,  Engels,  Schmoller,  auf  denen  Bücher  in  allen 
wesentlichen  Punkten  fufst,  durch  die  eigentümliche  äufscreArt  der 
Behandlung,  die  häufig,  namentlich  bei  Marx  und  Engels,  nur  eine 
gelegentliche  und  skizzenhafte  ist,  und  durch  die  tiefere  Anlage  der 
gan/en  Systematik  an  die  Denkkraft  des  Durchschnittslesers  un- 
verhältnismäfsig  hohe  Anforderungen  stellen,  hat  Bücher  seine 

>)  a.  a.  O.  S.  16,17 ;  vgl.        S-  aa»  3«.33.  49t  59- 

*|ICarlBflc1ier,  Die  Entsteliiing  der  Volkswirtschaft,  a.  Aufl.  TfiMacoi 
1898.   S.  49—134- 


Digitized  by  Google 


THt  gcwerblidie  Arbeit  mä  9ik  Ofganintion. 


385 


Theorie,  freilich,  wie  mir  scheint,  nicht  ohne  ihren  wissenschaftlichen 
Wert  stark  zu  beeinträchtigen,  so  auiserordentlich  mundgerecht  zu 
machen  gewuist,  dafs  sie  auch  dem  Verständnis  des  Anfängers 
keinerlei  Schwierigkeiten  bereitet.  Dieselbe  Einteilung  der  Wirt- 
schaftsstufen nämlich,  zu  denen  auch  seine  Voiganger  gelangt 
waren  und  die  er  wie  folgt  charakterisiert: 

1.  die  Stufe  der  geschlossenen  Hauswirtschaft  (reine 
Eigenproduktion,  tauschlose  Wirtschaft); 

2.  die  Stufe  der  Stadtwirtschaft  (Kundenproduktion  oder 
Stufe  des  direkten  Austausches); 

3.  die  Stufe  der  Volkswirtschaft  (Warenproduktion, Stufe 
des  Güterumlaufe) 

trifft  er  nach  einem  scheinbar  äulserst  plausibeln  und  jedenfalls  sehr 
einfachen  Gesichtspunkte:  dem  der  Länge  des  Weges,  welchen  die 
Güter  vom  Produzenten  bis  zum  Konsumenten  zurücklegen.  „Wollen 
wir,  heilst  es  a.  a.  O.  S.  57,  diese  ganze  Entwicklung  unter  einem 
Gesichtspunkte  begreifen,  so  kann  dies  nur  ein  Gesichtspunkt  sein, 
der  mitten  hineinfuhrt  in  die  wesentlichen  Erscheinungen  der  Volks- 
wirtschaft, der  uns  aber  auch  zugleidi  das  organisatorische  Moment 
der  früheren  Wirlschaftsperioden  auCschliefst.  Es  ist  dies  kein 
anderer  als  das  Verhältnis,  in  welchem  die  Produktion  der  Güter 
zur  Konsumtion  derselben  steht,  oder  genauer:  die  I.ange  des 
Weges,  welchen  die  Güter  vom  Produzenten  bis  zum  Konsumenten 
zurücklegen." 

Während  nun,  wie  ich  im  Anschluls  an  meine  eisi^enc  Dar- 
stellung zeigen  werde,  die  Tlieorieen  von  Rodljcrtus,  Marx-Engels, 
Schmoller  teilweise  einseitig,  tcihvcise  lückenhaft,  teilweise  un- 
glücklich formuliert  sind,  halte  ich  die  Büchersche  Theorie,  obwohl 
sie  j^'leiclisain  die  gereinigte  Lelire  der  vorbenannten  Männer  zu 
enthalten  scheint,  in  der  von  Bücher  ihr  gegebenen  Fassung  für 
geradezu  falsch,  mindestens  ftbr  aulserqrdentlich  leiciit  irreführend, 
wie  mit  einigen  Worten  gezeigt  werden  soll.  Es  ist  meines  Er- 
achtens nicht  möglich,  das  ungeheure  komplizierte  Problem  der 
Unterschiede  verschiedener  Wirtschaftsweisen  restlos  in  jenen  Schema- 
tismus Büchers  aufzulösen,  der  auf  relevanteste  Punkte  der  wirt- 
schaftlichen Organisation  entweder  gar  keine  Rücksicht  nimmt  oder 
aber  den  Thatsachen,  die  er  meistern  will,  geradezu  (icwalt  anthun 
mufs.  Es  wird  mein  Widerspruch  am  besten  deutlich  werden, 
wenn  ich  einige  Beispiele  herau^reife:  das  Tuch  des  mittelalterlich- 
städtischen Tuchproduzenten,  das  er  auf  Märkten  und  Messen  ab- 


Digitized  by  Google 


386 


Werner  Sombart, 


setzte,  die  Erzeugnisse  der  alten  bergisch-märldschen  Kleineisen- 
indtistrie,  das  Silber  aus  den  Bergwerken  des  Mittelalters  hätten  keinen 
längeren  und  keinen  kürzeren  Weg  aus  der  Produktions>  in  die  Kon- 
sumtionswirtschaft zuritekzulegen,  als  heute  die  gleichen  Erzeugnisse 
aus  der  Fabrik  zum  Schneider  oder  Schlosser  oder  Juwelier,  und  doch 
gehören  die  Vorgänge  damals  und  heute  ganz  verschiedenen  Welten 
an.  Der  Weg  des  Rockes,  der  Stiefeln  etc.  aus  dem  modernen 
kapitalistischen  Mafsgeschält  in  die  Wirtschaft  des  Konsumenten  ist 
nicht  einen  Schritt  länger  als  ihr  Weg  im  Mittelalter.  Reine  und 
echte  Kundenproduzenten  sind  Krupp  und  ähnliche  für  den  Staat 
oder  die  Gemeinde  liefernde  Geschäfte;  jede  moderne  Waggon* 
manuiaktur,  jede  Lokomotivenfabrik  liefern  reinste  „Kundenarbeitf'. 
Und  diese  Erscheinungen  sind  nicht  etwa  vereinzelt  in  unserer  Zeit: 
sie  stellen,  wie  Bücher  selbst  am  besten  weils,  grofse  Entwiddungs- 
tendenzen  dar.  Die  vielfach  beobachtete  Ausschaltung  der  Zwischen- 
glieder,  die  Annäherung  des  Konsumenten  an  den  Produzenten: 
(Uhren  sie  uns  zur  Organisation  der  mittelalterlichen  Stadtwirtschaft 
zurück?  Oder  kann  das  „Kundenverhältnis^  nicht  vielleicht  ganz 
heterogenen  Wirtschaftsperioden  angehören  ?  Das  Brot  hat  einen  gleich 
langen  Weg  zurückzulegen  vom  Handwerker,  aus  der  kapitalistischen 
Brot&brik,  aus  der  Bäckerei  des  Konsumvereins  und  aus  der 
Militärbrotbäckerei,  um  in  die  Wirtschaft  des  Konsumenten  zu  ge- 
langen: sollen  alle  vier  toto  coelo  verschiedenen  Wirtschafts- 
organisationen darum  als  gleich  behandelt  werden?  Aber  auch  die 
Konstruktion  der  modernen  Verkehrswirtschaft  gelingt  nach  dem 
Schema  Büchers  nicht.  Denken  wir  uns  eine  sozialistisch  organi- 
sierte  Gesellschaft,  die  unter  Beibehaltung  der  heutigen  Arbeits- 
spezialisieriin«^  ]  )roduzierte,  SO  würde  für  zahlreiche  Produkte  der  Weg 
von  der  Produktions-  zur  Konsumtioiiswirtschaft  ebensoweit  sein 
wie  er  heute  ist:  sollte  ich  darum  die  wiederum  weltverschicdcnen 
Organisationen  nicht  unterscheiden  dürfen  blols  wegen  des  gleich 
langen  W'ej^es,  den  das  Produkt  zurücklegt,  ehe  es  konsumiert 
wird  r  Worauf  Bücher  auch  nicht  erwidern  könnte :  heute  wird  das 
Produkt  als  Ware  produziert,  in  einem  sozialistischen  Gemeinwesen 
nicht.  Denn  mit  diesem  Finwand  würde  er  nur  unsere  Kritik  als 
richt^  bestätigen,  da  ja  die  Betonung  der  Warenproduktion  ein 
ganz  anderes  Kriterium  zur  Unterscheidung  benutzt,  als  es  jene  von 
Bücher  als  solches  proklamierte  Weglänge  ist.  Wo  auch  immer 
man  die  Büchersche  Theorie  angreifen  mag:  sie  erweist  sich  als 
unhaltbar. 


Digitized  by  CjüOgle 


Die  gewerbliche  Arbeit  imd  ihre  Organiaatian. 


Wenn  wir  nunmehr  daran  gehen,  selbst  eine  Theorie  der  Wirt- 
schallsj^iufen  oder  \Virtschaftss\'steme  —  wir  werden  erst  später 
die  präzisere  Fassung  vornehinen  können  —  zu  entwerfen,  so  werden 
wir  uns  vor  allem  vor  den  Fehlern  zu  hüten  haben,  deren  sich  alle 
bisher  besprochenen  Theorieen  mehr  oder  weniger  schuldig  gemacht 
haben.  Ich  denke  dabei  gar  nicht  an  die  Verschen  im  einzelnen, 
sondern  nur  an  die  Verfehlungen  im  Prinzip  und  in  der  Methode. 
Was  sich  in  dieser  Hinsicht  an  Irrungen  und  Unvollkommenheiten 
nachweisen  läfst.  ist  vornehmlich  das  Folgende: 

1.  keine  der  früheren  1  heorieen  —  allenfalls  mit  Ausnahme 
derjenigen  Büchers,  der  aber,  wie  wir  gesehen  haben  ihr  Kritizis- 
mus sehr  schlecht  bekommt  —  ist  kritisch,  d.  h.  sich  klar  über 
Tragw'eitc  und  Bedeutung  ihres  Kinteilungsprinzips,  dessen  sich  sehr 
viele  unserer  Theoretiker  nicht  einmal  bewufst  zu  werden  scheinen; 

2.  keine  handhabt  das  von  ihr  erkorene  principium  divisionis 
in  einwandfreier  Weise;  das  gilt  insbesondere  auch  von  der  zuletzt 
besprochenen  Gruppe,  die  das  Moment  der  Vergesellschaftung  keines- 
wegs genügend  klargestellt  hat  und  keineswegs  mit  der  nötigen 
Rigorosität  als  Unterscheidungsmerkmal  zur  Anwendung  bringt; 

3.  keine  vermag  mit  ihrer  Einteilung  die  Fälle  der  wirtschaft- 
lichen Erscheinungen  zu  erschöpfen;  das  gilt  auch  wiederum  von 
den  Theorieen  der  letzten  Kategorieen;  denn  wie  sehr  auch  das 
Moment  der  Vergesellschaftung  an  Wichtigkeit  hcrxurragen  mag: 
andere  Eigentümlichkeiten  wirtschaftlicher  Organisation  -  wie  die 
Art  der  Verknüpfung  arbeitsteiliger  Produktion,  die  Prinzipien  der 
Wirtschaftsführung,  die  Abhängigkeitsverhältnisse  der  bei  der  Produk- 
tion mitwirkenden  Personen  u.  a.  —  vermag  es  naturgemäfs  nicht 
ebenfalls  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Marx  und  Engels,  die  unzweifel- 
haft am  tiefsten  dachten,  wurden  durch  diesen  L'mstand,  wie  wir 
gesehen  haben,  gehindert,  überliaujit  eine  eindeutige  Einteilung  vor- 
zunehmen und  haben  bis  zuletzt  zwischen  den  verschiedenen  Ein- 
teilungsmöglichkeiten  geschwankt. 

Was  zunächst  keinein  Zweifel  unterliegen  kann,  ist  dieses:  dais 
das  Merkmal,  nach  dem  die  Arten  menschlicher  Wirtschaft  unter- 
schieden werden  sollen,  eine  für  die  Gestaltung  des  Wirtschaftslebens 
relevante  Thatsache  sein  mufs.  L'nd  zwar  thunlichst  eine  solche, 
die  für  alle  übrigen  Erscheinungen  bestimmend,  also  primär  ist. 
Als  solche  bietet  sich  nun  den  Blicken  des  aufmerksamen  Beschauers 
vor  allem  Eine  dar:  das  ist  das  Mafs  von  Produktivkräften, 
über  die  eine  Zeit  für  ihre  wirtschaftlichen  Zwecke  verfiigt.  Deut- 

Archiv  fiir  tot.  Geacugcbung  «.  Statitlik.  XIV.  2$ 


uiyiii^üd  by  Google 


388 


Werner  Sombart, 


lieh  erscheint  der  Grad  der  KntwickluivT  produktiven  Könnens  als 
die  Schranke,  in  die  alles  wirtschaftHclic  \'erhaltcn  und  Streben  je- 
weils oitv^^oschlosscn  ist,  als  die  somit  recht  eigentlich  objektiv  alles 
Wirtschaltslchen  hcstiniincndc  Thatsache.  Es  läge  daher  nahe,  sie 
als  Merkmal  für  die  Unterscheidung  verschiedener  Wirtschaftsstufen 
zu  wählen.  Un<l  wenn  man  etwa  in  der  Weise,  wie  es  im  \  nriiien 
Hefte  dieser  Zeitschrift  versucht  wurde,  die  ökonomlsclie  rcchnik 
nach  den  ihr  zu  Grunde  liegenden  Trinzipien  anal\  siert.  so  lälst  sich 
auch  ohne  Schwierigkeit  eine  Stufenfolge  der  X'erfahrungsweiscn  und 
der  an  sie  sich  anknüjjfenden  Kntwicklung  der  produktiven  Kräfte 
aufstellen.  Niclit  in  der  äufserlichen  Art,  nach  der  man  Steinzeit, 
Bronzezeit,  Kisenzeit  unterschieden  hat;  wohl  aber  so  etwa,  dafs 
man  den  F.intritt  des  h'euers,  des  Werkzeugs,  des  Rotationsprinzips, 
des  Dampfes,  der  Wissenschaft  u.  s.  w.  in  das  Wirtschaftsleben  zu 
Marksteinen  verschiedener  Wirtschaftsepochen  machte.  Dagegen 
liefse  sich  nun  aber  folgendes  mit  Recht  einwenden : 

1.  würde  einer  solchen  h.inteilung  stets  etwas  Willkürliches  an- 
haften, da  ja  die  Auswahl  der  entscheidenden  Thatsachen  durch 
keinerlei  Regel  bestimmt  ist;') 

2.  würde  eine  derartige  Einteilung  keinerlei  Vcrglcichung  der 
verschiedenen  Wirtschaftsepochen  gestatten,  an  der  uns  doch  ge- 
legen sein  muCs  und  zwar  deshalb  nicht,  weil  ja  den  verschiedenen 
Verfahrungsweisen  das  tertium  comparationis  fehlt.  Um  dieses  zu 
beschaffen,  könnte  man  daran  denken,  die  ihnen  innewohnende  Pro- 
duktivität zu  ermitteln  und  ihr  Mafs  der  Einteilung  der  W'irt- 
schaftsstufen  zu  Grunde  zu  legen;  könnte  also  —  ein  Produktivi- 
tätssim[>lum  angenommen  —  etwa  doppelt-,  vierfach-,  zehnfach-  u.  s.  f. 
produktix  e  I^pochen  unterscheiden.  Böte  sich  dazu  eine  Handhabe, 
so  läge  kein  formaler  Grund  vor,  eine  derartige  Einteilung  nicht  zu 
trcti'cn.  Einstweilen  freilich  müssen  wir  darauf  verzichten,  denn  jene 
Handhabe  fehlt.  Weder  vermögen  wir  die  Produktivitätshöhe  ein- 
zelner X'erfahrungsweiscn  ein  wandsfrei  zu  bestimmen,  noch  viel 
weniger,  was  doch  aber  notwendige  Voraussetzung  wäre,  die  ge- 
samte Technik  einer  Zeit  auf  einen  einzigen  Nenner  zu  bringen  und 

M  Kür  (lii'M  Willkiirluhkeit  li.-fiMt  t;in  l)<-ti-dt<->  /.•UKni>  die  K.intcilun«;  der 
priiniliven  Wirt>chaflh/.usiaiulf.  <lic  Lew.  U.Mor(;;in  vornimmt.  Icli  hal)c  nie  be- 
griffen, warum  er  i.  B.  der  F.ründung  der  TupferscWcibo  eine  so  fundamentale  Be- 
deutung zuschreibt.  Die  angeftthiten  Grande  enthalten  keineswegs  eine  befriedigende 
Erkl&nmg.   Vgl.  Urgesellschaft,  deutsch  1S91,  S.  9  ff. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


sie  mit  etnem  einzigen  Produktivitätskoeffizienten  zu  belegen.  Aber 
auch  diese  Lücken  in  unserem  Wessen  ausgefüllt  gedacht,  würde 
sich  jene  Art  der  Gruppierung  doch  kaum  als  glücklich  erweisen. 
Was  sich  nämlich  * 

3.  gegen  eine  Einteilung  der  Wirtschaftsepochen  nach  Pro- 
duktivkräften einwenden  läist,  ist  dieses:  da(s  sie  kein  *  eigentlich 
ökonomisches  Kriterium  der  Einteilung  zu  Grunde  legt  Nicht  die 
potentielle  Fähigkeit  zu  produzieren,  nicht  also  das  blofse  Vor> 
handerisein  produktiver  Kräfte  ist  es,  was  uns  interessiert,  sondern 
die  An  und  Weise,  wie  die  Ver&hrungs weisen  genutzt  worden. 
Ihre  Anwendung  zu  wirtschaftlichen  Zwecken,  ihre  Inbeziehung- 
Setzung  zu  wirtschaftlicher  Thatigkeit  macht  die  Produktivkräfte  erst 
zu  ökonomisch  relevanten  Erscheinungen.  Wollen  wir  sie  daher  in 
ihrem  objektiv  bestimmenden  Einfluls  auf  das  Wirtschaftsleben  er- 
&sBen,  so  müssen  wir  sie  gleichsam  erst  in  sozialem  Gewände  er- 
scheinen lassen,  d.  h.  unbildlich  gesprochen  irgendwelche  Phänomene 
sozialer  Organisation,  die  wir  von  ihnen  unmittelbar  verursacht  sehen, 
als  ihren  repräsentativen  Ausdruck  zu  kennzeichnen  versuchen.  Als 
solches  Phänomen  bietet  sich  uns  nun  aber  im  Grunde,  wenigstens 
bei  dem  heutigen  Stande  unseres  Wissens  nur  ein  einziges  dar:  die 
beniismälsige  Spezialisierung  oder  wenn  man  die  Bezeichnung,  die 
den  Naturwissenschaften  entlehnt  ist,  vorzieht:  die  Differenzierung 
wirtschaftlicher  Thatigkeit  Zwischen  dieser  ökonomischen  Thatsache 
und  der  Entwicklung  der  Produktivkräfte  besteht  nämlich  die  em- 
pirisch feststellbare  Thatsache :  dals  einer  Steigerung  der  Produktiv- 
kräfte eine  zunehmende  Spezialisierung,  also  Differenzierung  parallel 
geht  Diese  Beobachtung  giebt  uns  die  Berechtigung,  das  Mafs 
der  ökonomischen  Differenzierung  als  den  Ausdruck 
des  Entwicklungsgrades  der  Produktivkräfte  zu  be- 
trachten. ^) 

')  Man  hüte  sich  nur,  diese  empirisch  festgeitellte  und  in  diesem  Zusammm- 
luuige  lediglich  als  methodisches  Hilf>mittrl  verwendet!"  Thatsache  nun  gleich  als 
„Entwicklungsgesetz"  auszugeben.  Kreilirh  kennen  wir  aucli  schon  in  einer  ganzen 
Reihe  von  Fällen  die  (iründc,  weshalb  einer  F.rhohung  der  Produktivkräfte  eine 
Steigerung  der  Spezialisation  entspricht ;  wenn  auch  die  Kausalverknüpfung  ver- 
schiedene Nuancieningen  aufweist,  bald  nämlich  die  .Spezialisation  durch  die  Ent- 
Wicklung  der  Fkoduktivkfifte  enwungen,  bald  nnr  ermöglicht  wird.  So  möchte  ich 
«gen  liegt  implidte  schon  der  ganzen  physiokratischen  Lehre  der  fnndamentale  Ge- 
danke zu  Gmnde:  dab  erat  bei  einem  bestimmten  Grade  der  Produktivit&t  landwirt- 
achaftlicher  Arbeit  eine  bemfunifsige  Ausflbnng  gewerblicher  Thitigkeit,  also  auch 

»5* 


Digitized  by  Google 


390. 


Werner  Sombart, 


Nun  ist  aber  jede  Spezialisierung  wirtschaftlicher  Thäligkeit 
immer  nur  eine  Seite  eines  komplexen  Phänomens.    Sie  bedeutet 

erst  irgend  welcher  Tauschverkehr  möglich  ist.  (ilcich  «irr  erste  Paragraph  der 
Reflexions  Turgots  'Oeuvres,  t-d.  l>aire,  1S44,  I.  "J)  hrbt  iiKo  an  ,,Si  la  terre 
^tait  tclli  niriit  distribucc  «  ntrc  tous  les  habitants  d  un  pavs,  <|ur  rharun  cn  eut  pre- 
ciscmcut  la  quantitc  n^ce&hairc  puur  le  nourrir  et  ricn  de  plus  . . .  personne  n'aurait 
de  qjooi  p«yer  k  tnmO  dhm  «ttre,  car  chacan  n'Kfuit  de  terre  qne  oe  qu*il  en 
firadndt  poor  piodnir  la  nbditaiice,  eonwinmenit  tont  oe  qu'ü  aonit  recaeiUi  et 
a^ainait  rien  qn'U  pflt  ^hanger  contre  le  travail  des  aotres.**  Taifot  ipricht  von 
^divitioiB  dei  terres",  nimint  aber  atOlacbweigcDd  einen  entsprechend  niedrigen  Pn>> 
duktivititsgnul  als  entscheidendes  Moment  an.  Rodbertus  hat  dann  diesen  Ge- 
danken insbesondere  für  die  Begründung  der  Rentenmöglichkeit  ausgebaut  Zur  Er- 
kenntnis <-tc.  S.  67  f[.]  und  bei  Engels  kehrt  er  als  Lieblingsgt-danke  häutig 
wieder.  Vgl.  namentlich  Entstehung  der  Familie  etc.  S.  121  ff.  Wenn  dann  Ad.tnj 
Smith  den  Satz  aufstellte,  dafs  die  Entwicklung  der  beruflichen  Differenzierung 
mm  der  GröÜM  des  Mulctet  bedingt  lei,  so  hat  er  swar  eine  nnsweifelhaft  riditige 
Bcobacbtnng  gemacht,  ohne  jedoch  den  Dingen  anf  den  Grand  sn  gehen.  Denn 
•obald  wir  die  berechtigte  F>age  anfwerfen :  wovon  die  Grefte  des  Marittcs  abhinge, 
to  erhalten  wir  die  Antwort:  von  dem  Entwicklungsgrade  der  produktiven  Kräfte. 
Denn  damit  der  einer  bestimmten  Berufsspezialisierang  entsprechende  Reichtumsgnd 
herrschen  könne,  mnfs  zunächst  die  Produktivität  eine  jjewisse  Ib'he  erreicht  haben. 
Ebenso  müssen  die  tcclinischcn  Fertigkeiten  in  bestimmter  W.iv«  rmwickelt  sein, 
ehe  die  bei  einem  noch  gar  nicht  so  hohen  Grade  der  Spezialisierung  nutwendigen 
Transportschwierigkeiten  überwanden  werden  können:  die  Benutzung  der  Tiere  zum 
Tragen  oder  Ziehen»  die  Erfindung  des  Wagens,  des  Ruder-  und  Segelboots,  des 
Kompasses,  der  Kammeischlease,  des  Dampfschiffes  und  der  Eisenbalm  bedeuten 
ebenso  viele  Etappen  in  der  Entwicklung  des  solisngen  Grades  wirtsdiaftlicber  Spe> 
«alisierung.  Und  wie  an  diesen  Beispielen  ersichtlich  wird,  dafs  Entwicklung  pro- 
duktiver Kräfte  conditio  sine  qua  non  ökonomischer  Differenzierung  ist,  so  lassen 
sich  andere  anführen,  die  uns  zeigen,  wie  berufliche  Spezialisierung  tiurch  bestimmte 
Verfahrungsweisen,  die  in  dicken  Fällen  durch  ilire  qualitative  Eigenart  ausschlag- 
gebend sind,  erzwungen  werden  kann.  Die  Schwierigkeit,  Kompliziertheit,  Lästig- 
keit eines  Verfahrens  wirken  darauf  hin,  dieses  ans  dem  Gesamdcomplex  der  wirt- 
schafUichen  Tiiitigkeiten  des  Hanses  anssnsondera  und  sie  berufsmäfsig  ansttben  m 
lassen.  A.  Schulte  hat  nachgewiesen,  dafs  der  Wslkproscfs  in  der  Tnchfsbrikation 
den  stets  vorwiegend  stidtiscben  Charakter  dieses  Gewerbes  gcgenOber  der  vid 
länger  hauswirtschaftlich  betriebenen  Leinenindustrie  begründet  habe,  l'nd  für  viele 
Thätigkeiten  läfst  sich  ein  Gleiches  zeigen.  „Ein  f'h;Araktermerkmal  unterscheidet  ... 
die  handwerksmafsigc  Ortstechnik  von  der  Hauitechnik.  l>as  ist  das  exakte  Ver- 
fahren, untl  zwar  speziell  das  heifse  und  nasse  Verfahren,  die  beide  im  Hause  aus 
technischen  Gründen  nicht  leicht  exakt  betrieben  werden  können.  Darum  scheidet 
sich  die  Eisen-  und  Metallbearbeitung  soweit  sie  anf  dem  Glühen  und  f^hmelsen 


üiyitized  by  C(xigle 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  OrganiiattoiL 


zunächst  eine  Eiiibufee  an  wirtsciiaftlicher  Selbständigkeit  und  hat 
zur  stillschweigenden  Voraussetzung  die  VViedererwerbung  ökono- 
mischer Existeuzmögliclikcit  durch  die  Inbeziehungsetzung  zu  anderen 
spezialisierten  Thätigkeiteii,  die  jene  ersterc  ergänzen.  Damit  ein 
Gesainibedarf  gedeckt  werde,  ist  die  Zusammenfügung  spezialisierter 
I  hätigkciten  notwendig.  Vom  Standpunkt  dieses  Gesamtbedarfs 
aus  stellt  sich  also  die  Spezialisierung  als  Mit-  oder  Teilarbeit  an 
einem  Gesamtwerk  dar  (daher  der  mifsvcrständliche  Ausdruck  Arbeits- 
teilung!). Die  Zusammenfügung  einzelner  Spezialthätigkeiten  zu  einem 
Gesamtprodukt  können  wir  nun  zwar  nicht  schein,  aber  treffend 
V^ergesellschaftung  nennen.  .-Msdann  erhalten  wir  den  Satz :  der 
Grad  der  Spezialisierung  wirtschaftlicher.Thätig- 
keiten  entscheidet  über  den  Grad  der  Vergesellschaf- 
tung des  Wirtschaftslebens,  was  in  naturwissenschaftlicher 
Terminologie  hei(st:  der  Grad  der  Differenzierung  bestimmt  den 
Grad  der  Integrierung.  Indirekt  also  ist  auch  der  Grad  der  Ver- 
gesellschaftung der  Ausdruck  für  den  Grad  der  Entwicklung  der 
produktiven  Kräfte.  Wenn  wir  nun  das  Mafs  der  Vergesellschaftung 
zum  Einteilungsprinzip  der  Wirtschaftsstufen  wählen,  so  werden  wir, 
denke  ich,  allen  Anforderungen  gerecht,  die  an  ein  solches  zu  stellen 
sind,  denn: 

1.  ist  es  dn  soziales  Phänomen,  an  das  wir  anknüpfen; 

2.  ermöglicht  es  die  Vergleichbarkeit  verschiedener  Wirtschafts- 
weisen, ist  aber 

3.  doch  ein  solches,  das  die  für  die  Gestaltung  des  Wirtschafts- 
lebens relevanteste  Thatsache:  die  Entwicklung  der  Produktivkräfte 
in  unmittelbare  Berücksichtigung  zieht  und 

4.  wird  es  der  thatsächUchen  historischen  Entwicklung  des  Wirt- 
schaftsleben am  ehesten  gerecht 

Nur  einer  Feststellung  bedarf  es  jetzt  noch,  damit  wir  unsere 
Tafel  der  Wirtschaftsstufen  entwickeln  können:  die  Spezialbierung 
kann  sich  innerhalb  Einer  —  sei  es  Produktions-  sei  es  Konsum- 
tions-'  —  Wirtschaft  vollziehen  oder  aber  zwischen  verschiedenen 
Wirtschaften  stattfinden.  In  letzterem-  Falle  stellt  die  Thätigkeit  der 
einzelnen  Produktionswirtschaft  die  Spezialitat  dar.  Nur  in  diesem 


beruht,  wie  hchtnic(it?arbeit,  Ziungufs,  lironzegufs,  Gold-  und  Silbcrarlx-it,  Emaillie- 
rung etc.  zuerst  aus,  ebenso  die  Färberei  mittels  Kochen,  die  Gerberei  mittels  lang- 
wierigen, nawen  BBttenverfahreu,  die  Töpferei  mittels  Bretmens  etc.'*  E.  Hert- 
mann,  Tedmische  Fngen  nnd  Probleme  (1891)  S.  33. 


Digitized  by  Google 


392 


Werner  Sombart, 


Sinne  wollen  wir  im  folj^enden  den  Begriff  der  Spezialisierung  und 
somit  also  auch  der  Vergesellsrhaftun<;  verwenden. 

Ks  sind  nun  f( tilgende  drei  Wirtschaitsstufen  zu  unterscheiden: 

I.  I  n  il  i  V  i  d  u  a  1  w  i  r  t  s  c  h  a  f  t ; 

II.  L'  e  b  e  r  g  a  n  5:j  s  w  i  r  t  s  c  h  a  f  t ; 

III.  ( T  e  <  c  1  N  c  Ii  a  f  t  s  w  i  r  t  s  c  h  a  f  t. 

Diese  Dreiteilung,  auf  deren  Parallelität  zu  tler  Tafel  der  Bc- 
triebsfonnen  schon  hier  hingewiesen  werden  mag,  ist  nach  folgen- 
den desichtsjjunktcn  \  orgcnonuiicn : 

I.  Die  Stufe  der  I  n  d  i  v  i  d  u  al  w  i  r  ts  c  h  a  ft ')  ist  diejenige,  auf 
welcher  der  ( iesainlbe<l.irf  einer  Kunsunitionswirtschaft  in  dcr.selbcn 
Wirtschaft,  die  also  gleichzeitig  Troduktionswirtschaft  ist,  hergestellt 
wird  und  höchstens  eine  Berührung,  keine  Verschlingung  mit  anderen 
Wirtschaften  besteht. 

II.  Die  Stufe  der  Uebergangswirtschaft  auch  als  Gesell- 
schaftswirtschaft niederer  Ordnung  zu  bezeichnen,  wird 
charakterisiert  dadurch,  dafs  bereits  eine  ständige  Trennung  von 
Konsumtions-  und  Produktionswirtschaft  eingetreten  ist  Der  Ge> 
samtbedarf  einer  Wirtschaft  wird  r^elmäfsig  durch  Mitwirkung 
andererwirtschaften  gedeckt  Ks  herrscht  also  bereits  ein  Zustand 
der  Vergesellschaftung.  Jedoch  einer  noch  nicht  sehr  hochentwickelten 
und  stark  dififerenzierten  Vergesellschaftung.  Ein  beträchtlicher 
Teil  des  Gesamtbedarfs  wird  vielmehr  noch  innerhalb  derselben 
Wirtschaft  erzeugt,  in  der  er  konsumiert  wird,  so  dals  die  Verun- 
selbständigung  der  einzelnen  Wirtschaft  noch  keine  absolute  ist;  das 
Füreinanderproduzieren  der  verschiedenen  Wirtschaften  aber  erfolgt 
noch  grofeenteib  im  Rahmen  der  alten  Gemeinschaftsformen,  die 


•)  Die  Bezeichnung  „Individualwirtschaft"  ist  nicht  sehr  glücklich,  deshalb 
weil  gerade  dieser  Wirtsrhaftsslufe  ein  kommunistischer  Zug  anhaftet ;  aber  ich  finde 
keine!»  hesseren.  ,, Isolierte  '  Wirts^chaft  ist  auch  nicht  *.cJioncr  Ii  Ii  denke  aber, 
dafs  nach  <lii-s<-m  Hinweise  und  unter  Periicksiiiiti^Miii^;  <lrr  wridi fii  1  )arl<-j,'unt;<n 
Mifsverst.^ndnisi»e  ausge:>chlo>M-n  sind.  Wenn  Marx  cmmal  bemerkt  Lohnarbeit  und 
Kapital,  S.  15),  dsfs  alle  Produktion  als  „gesellschaftliche**  erfolge,  indem  die 
Menschen  «fftiif  bestimmte  Weise  niMmmciiwirken  and  Thitiglceitcn  gegencimuider* 
«astwnchen**  so  ist  das  nattfilich  imzweifelhaft  fttr  alle  Wirtsckaflitnfen  richtig  nod 
von  mir  selber  ansdrficklich  an  anderer  Stelle  anerkannt  Es  schliefst  aber  nkht 
aus,  dafs  wir  in  der  Weise,  wie  es  im  Text  geschieht,  nach  einem  ganz  bestimmten 
Kriterium  •  -  tler  Trennung  von  Konsumtions-  und  f'roduktionswirtschaft  —  einen 
Zustand  der  „IndividualwirtschaU"  demjenigen  einer  Gesellscbaftswirtschaft  gegen* 
öbcrütellen. 


iJiyilizeQ  by  VoüOgle 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ittrc  Orga^ni^ation. 


393 


auch  für- -die  Interlokalen  Beziehungen  noch  Ma(s-  und  Richtung- 
gebend bleiben. 

in.  Die  Stufe  der  GeselUchafts Wirtschaft  im  eigent- 
lichen Sinne»  der  Geaellschaftswirtschaft  höherer  Ord- 
nung endlich  ist  diejenige,  auf  welcher  die  DifTerenzierung  der  Pro- 
duktionswirtschafiten  und  ihre  Verschlingui^  zu  einem  untrennbaren 
Ganzen  vollkommen  gewcMPden  ist  und  einen  solchen  Grad  in  quan- 
titativer wie  räumlicher  Beziehung  erreicht  hat,  dafs  neben  und 
über  den  alten  Gemeinschaften  neue  Formen  für  die  Verknüpfung 
der  einzelnen  Produktionswirtschaften  künstlich  geschaffen  werden 
müssen,  also  dafs  an  Stelle  der  einstigen  Organismen  ein  Mechanis- 
mus des  W  irtschaftslebens  tritt.^) 

Mehr  lä&t  sich  über  die  verschiedenen  Wirtschaftsweisen  nun 
aber  nicht  aussagen,  wenn  wir  lediglich  das  Moment  der  grofseren 
oder  geringeren  Vergesellschaftung  zur  Charakterisierung  in  Betracht 
ziehen ;  und  das  ist  nicht  \  iel.  Ks  sind  f^lcirhsatii  nur  die  Konturen 
zu  den  Bildern,  die  nun  eigentlich  erst  liineingc/.cichnet  werden 
sollen.  Was  aber  ists.  das  dem  Wirtschaftsleben  im  Rahmen  der 
einzelnen  Wirtschaftsstufc  das  unterschiedliche  Kolorit,  die  charakte- 
ristische Form  verleiht?  Es  ist  unzweifelhaft  das  W' irtschafts - 
System,  das  jeweils  zur  Anwendun^^  gelangt.  In  ihm  tritt  erst 
ilas  gleich.sam  schöpferische  Klemcnt  des  wirtschaftenden  Menschen 
hervor.  Die  W  irtschaftsstufc,  d.  h.  eben  den  (irad  der  X'ergesell- 
schaftung  uberkonnnt  er  als  eine  objektive  Thatsache,  wie  das 
Ausmafs  seiner  produktiven  Kräfte:  tlic  ()rdnung  der  wirtschaft- 
lichen Beziehungen,  die  Belebung  des  Ganzen  durch  tlie  Zweck- 
setzung im  VVirtschaftsprinzip  und  seine  Verwirklichung  —  sie 
sdialft  er.  Und  indem  er  sie  verschieden  schafft,  gestaltet  er  das 
Wirtschaftleben  zu  bunter  Mannigfeltigkeit  aus.  Neben  eine  Syste- 
matik der  Wirtschaftsstufen  gehört  also  nun  erst  recht  notwendig 
eine  solche  der  Wirtschaftss>-steme. 

Unter  einem  Wirtschaftssysteme  wollten  wir  eine  bestimmte 
Wirtschaftsordnung  verstehen,  in  der  bestimmte  Wirtschaftsprin- 
zipien zur  Verwirklichung  gelangen.  Man  könnte  danach  zweifel- 
haft sein,  ob  man  eine  Systematik  der  Wirtschaftssjrateme  nach 
der  Verschiedenheit  der  Wirtschaftsordnungen  oder  der  Wirt- 
schaftsprinzipien entwerfen  sollte.    Eine  Reihe  schwerwiegender 


1)  Im  Some  vod  F.  Tönnics,  GemeioichaA  und  GcseUidMft,  1887,  wie 
weiter  unten  des  niheren  darzulegen  sein  wird. 


Digitized  by  Google 


2^  Werner  Sorobart, 

Gründe  lalst  uns  den  Entscheid  zu  Gunsten  der  letzteren  treffen: 
einmal  weil  die  Wirtschaftsprinzipien  nicht  jene  bunte  Zusammen- 
setzung aus  zahlreichen  Bestandteilen  aufweisen  wie  die  Wirtschafts- 
ordnungen, bei  denen  es  stets  eines  gewissen  Willküraktes  bedarC 
um  nun  denjenigen  Punkt  herauszugreifen,  nach  dessen  Fassung  ihre 
Verschiedenheit  bestimmt  werden  soll,  sondern  sich  in  einer  mehr 
einheitlichen  Gestaltung  darstellen,  also  auch  leichter  unterschieden 
werden  können;  sodann  aber  vor  allem  weü  mir  die  Unterschied- 
lichkeit der  Wirtschaftsprinzipien,  wenigstens  iiir  die  Einteilung  der 
Wirtschaftss3^teme  in  grolse  Gruppen,  von  aufserordentlichster  Be- 
deutung zu  sein  scheint  Keine,  auch  noch  so  einschneidende  Be- 
stimmung der  Wirtschaftsordnung,  also  der  das  wirtschaftliche  Ver- 
halten der  einzelnen  objektiv  bestimmenden  Normen,  ist  so  aus- 
schlaggebend (ur  den  ganzen  Charakter  dner  wirtschaftlichen 
Epoche,  ist  so  bestimmend  för  alle  Einzelheiten  des  Wirtschafts- 
leben als  die  eigentümliche  herrschende  Mottvrichtung,  wie  sie  in 
der  Zwecksetzung  ftir  die  wirtschaftliche  Thätigkeit  zum  Ausdruck 
gelangt  Dies  gilt  aber  insbesondere  ftir  jenes  Wirtschaftsprinzip, 
das  alle  andern  an  Bedeutung  überragend  jeweib  ftir  die  gesamte 
Produktionsrichtung  einer  Zeit  ausschlaggebend  ist,  dem  somit 
alle  übrigen  Maximen  des  wirtschaftlichen  Verhaltens  sich  unter- 
ordnen oder  anpassen  müssen.  V^r  können  es  als  Hauptprinzip 
oder  als  Leitmotiv  einer  Wirtschaftsepoche  bezeichnen. 
Solcher  Leitmotive  finden  wir  nun,  wenn  wir  das  gesamte 
Wirtschaftsleben  tiberblicken,  das  je  sich  auf  der  Erde  ab- 
gespielt hat  und  noch  heute  abspielt,  ja  man  wäre  fast  versucht 
hinzuzuftigen,  sich  in  aller  Zukunft  abspielen  wird,  zwei,  die  sich 
zu  verschiedenen  Zeiten  in  der  Herrschaft  abgelöst  haben,  nach 
denen  jeweils  die  Produktion  gestaltet  worden  ist  Jene  selben 
Prinzipien,  die  uns  Aristoteles  schon  mit  Meisterhand  skizziert 
hat*)  deren  Gegensätzlichkeit  die  Bu&predigten  aller  grofsen  Mahner 
der  neuen  Zeit  betonen  von  Luther  an  bis  zu  Sismondi,  Carlyle, 
Treltsrhke  herüber.  Es  sind  die  beiden  Prinzipien,  deren  eines  die 
Produktion  als  Mittel  zum  Zweck,  als  Mittel  zur  Bedarfsbefriedigung 
betreiben  heilst,  während  das  andere  seine  Verwirklichung  findet,  wenn 
die  Erzeugung  des  Reichtums  Selbstzweck  wird,  des  Reichtums  dann 
natürlich  nicht  in  der  bunten  Manniorfaltigkeit  zahlreicher  Gebrauchs- 
güter, deren  Erzeugung  docli  immer  im  Hinblick  auf  einen  ferneren 

*)  Vgl.  Aristoteles.  PoL  I.  3. 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


Zweck,  wenn  es  auch  nur  die  kindische  Freude  an  ihrem  Besitze 
wäre,  erfolgt,  sondern  des  .Reichtums  in  seiner  allgemeinen  Form, 
seiner  quaUtatslosen  Gestalt  des  allgemeinen  Wertäquivalents. 

Diese  zwei  Prinzipien  scheiden  in  der  That  zwei  Welten  und 
je  nachdem  ein  Wirtschaftssystem  von  dem  einen  oder  von  dem 
anderen  beherrscht  wird,  können  wir  die  beiden  groisen  Gruppen 
von  Wirtschaftssystemen  unterscheiden  als: 

1.  Bedarfsdeckungs wirtschaften,*) 

2.  Erwerbswirtschaiten. 

Die  Wesensverschiedenheit  dieser  beiden  Gruppen  von  Wirtschafts- 
Systemen  äufeert  sich  aber  vor  allem  in  folgendem:  Ausmafs  und  Art 
der  Produktion  wird  in  beiden  Fällen  verschieden  Ix  stimmt;  im  ersten 
Falle  ist  es  der  Bedarf  irgend  einer  Person  oder  einer  Gruppe  von 
Personen,  der  über  Quantum  und  Quäle  der  Produktion  entscheidet 
Er  kann  von  gröCster  Einfachheit  zu  wahnwitzigstem  Raffinement 
wechseln;  gebunden  bleibt  er  immer  an  die  effektive  Aufnahme- 
fähigkeit einzelner  Personen :  diese  Menschlichkeit  gewährt  auch  hier 
das  Mafs  aller  Produktion.  Khenso  wie  deren  Ausmafs  und  Art 
durch  den  Bedarf  bestiiiinit  wiid,  so  geht  auch  die  Anregung  zur 
Produktioti  von  dem  Bedürfenden,  vulgo  dem  KonsuuRntcn  aus. 
Dagegen  giebt  es  für  die  Krwerbswirtschaft  nur  Kine  (irenzc  für 
die  Menge  der  Produktion  und  nur  Rline  Direktive  für  die  Art  der 
Produktion :  das  ist  die  Möglichkeit,  durch  Verwertung  der  Produkte 
Gewinn  zu  erzielen.  An  sich  besteht  daher,  da  die  X'erniehrung 
des  ( lewiimes  ebenso  wie  das  daraufgerichtete  Streben  praktisch 
unctuilich  ist,  keinerki  Begrenzung  der  Produktion  weder  nach 
Quantität  noch   nach  (^)u.ilität.")    Anregung  zur  Produktion  giebt 

')  Das  Wort  „Wirtschaft"  wird  hier  wie  ersichtlich  in  einem  etwas  anderen 
Sinne  als  dort  pehraucht.  wo  wir  von  „Produktion^wirtschaftcn"  sprechen,  (lenau 
genommen  müüte  es  hier  immer  heifsen:  „BeUartsdeckungswirtächaltssystem"  etc. 
Der  gute  Gmhmack  hilt  mich  von  dieser  nwttrtrdien  Wortbildung  zorikk  und  ver* 
•alAfst  mdkf  lieber  eine  etwM  laxere,  aber  ^fXUigere  Amdmclrwreise  xn  wihlen: 
hc^enkUch  nicht  sum  Sdwden  der  Klarheit  und  Treffsicherheit 

*)  „Tirvri7(  r^f  jQ^uHtiOtm^t  toö  rilopg  ir^as,  tUot  dl  6  wtoZtOi 

nlovroi  xtti  XQTjTdrcov  xrrff«^  "  Aristol.  Pol.  I.  3.  9.  Dafs  natürlich  alle  Pro- 
duktion am  letzten  Ende  durch  individuelle  Konsumtionsmöglichkeit  beschriinkt  i>t, 
also  schliefslich  auch  alle  Produkte  persnnliclicm  Bedarf  dienen,  ist  srlb-tverstaml- 
lirh.  Fs  ändert  aber  niclits  an  <ler  Thatsachc,  dafs  in  der  r.rwerb>wirt>chalt  h<-- 
.sinniuciid  tür  dai>  WirLschaltssubjekl  niemals  ein  objektiver  Bedart  an  Gebrauch»- 
gütem,  sondern  inuner  nnr  die  Aussicht  auf  Gewinn  ist.  Geirinn  ist  aber  t.  quali« 
titslos,  2,  quantitativ  unendlich. 


L  iyiii^üd  by  Google 


396 


Werner  Sombart, 


ebenfalls  die  Aussicht  auf  Gewinn;  sie  geht  also  vom  Konsumenten 

auf  den  Produzenten  über. 

Dieser  Unterschied  in  der  Zwecksetzung  der  Produktion  ist 
nun  aber  von  ausschla^'gcbendcr  Bcdcutun^j  für  die  «gesamte  Ge- 
staltun^^  des  Wirtschaftslebens.  \'or  allem  bestimmt  sie  den  Art- 
charakter des  Produzenten.  Ist,  wie  bei  der  Bedarfswirtschaft, 
Cjuantiiin  und  Quäle  tlie  durch  den  Bedarf  fest  j^egebenc  drölse, 
so  besteht  die  Auf^'abe  des  Produzenten  lediglich  in  der  .Ausführun^T. 
Er  ist  te^hIn^^her  Arbeiter,  wie  man  es  kurz  i)ezeichnen  kann. 
Muls  da^^e^'en  Ausmals  und  .Art  der  Produktion  erst  bestimmt 
werden,  sind  .sie  variabel  und  abhän^if^  vtjn  wechselnden  <ie\vinn- 
chancen,  so  wird  tlie  wesentliche  Auf^Mbe  des  Produzenten  darin 
bestehen,  diese  richtig'  zu  beurteilen.  Die  Produktion  hurt  auf,  ein 
Problem  des  technischen  Könnens  zu  sein  und  wird  zu  einem 
Problem  spekulativer  Berechnung.  Der  Produzent  ist  nicht  mehr 
technischer  Arbeiter,  sondern  in  erster  Linie  Kaufmann.  ^) 

*)  Sc.  des  KAufiaimii  im  heirtigen  Voitude.  Ei  «Mg  bimngeftigt  werden,  dab 
der  HSndlcr  seiner  Natnr  nach  anf  dem  Enrerbsprindp  seilte  Thltiekelt  anfmbauen, 
wenigstens  die  Tendenx  bat.  Seine  Funktion  bestebt  tn  allen  Zeiten  darin,  ans 
Geld,  Geld  sn  macben.   Trotzdem  bat  es  Zeiten  gegeben ,  denen  der  Gedanke, 

die  wirtschaftliche  Thätigkeit  um  des  Erwerbes  willen  auszuüben,  so  fern  lag, 
<lafs  man  selbst  die  kaufmännisilic  Tliäti^'keil  der  allgemeinen  Regel  unterstellt 
wissen  wollte,  dals  si«"  keinem  ainK  ni  /wecke  diene,  als  dem  HetrefTcnden  die 
„Nahrung"  /.u  vcrsdialTen.  l>arin  stimmt  .\  r  i  s  t  o  t  e  1  e  s  ,  dieser  verdammte, 
huchmütige,  »chaikiiaitige  Heide'"  wie  ihn  Luther  in  seiner  drolligen  Manier  nennt, 
mit  diesem  sdbst  vüUig  Uberetn.  Es  ist  der  Grundgedanke  des  Wittenberger  Moncbs, 
wo  er  über  die  ükonomischen  ProUeme  lospoltert:  dafs  in  neuerer  Zeit  das  Gewisn- 
streben,  der  „Geiz**  die  Kasfleute  (an  andere  Möglichkeiten  denkt  er  oiTenbar  noch 
gar  nicht)  beseele,  statt  dafs  sie  den  Handel  nur  trieben,  um  sich  ihren  Unterhalt 
zu  schaffen.  „Wahrlich,  hie  kann  man  nicht  anders  lehren  man  mafs  Dir's  auf 
r>ein  Gewissen  lieimgeV)en,  daü  Du  zusehest  und  Deinen  Nähisten  nicht  übernehmest, 
und  nicht  d<-n  Geiz  sondern  Di-iue  /.lemlich«-  Niihrnn;,'  surhc->t.  ...  Darumb  mufst 
Du  Dir  fürsetzen,  nichts  denn  Deine  ziemlichi-  Nahrung  zu  suchen  in  solchem 
Handel,  darnach  Kost,  Mfihe,  Aerbeit  und  Fahr  rechen  und  Uberschlahen  und  also 
denn  die  Waar  selbst  setzen,  steigern  oder  niedem,  dals  Du  selbst  Aeibcit  und 
Mflhe  Lohn  davon  habest."  Von  Kaufsbandlung  und  Wucher  (1524).  Werke  ed. 
irmischer.  XXL  204/205.  Was  gerade  den  Vergleich  swtschen  Aristoteles  und 
Lnther  so  interessant  macht,  ist  dieses,  dafs  ihre  Schriften  ja  aus  einer  gleichen  Zeit 
Mammen :  einer  Zeit,  in  der  das  alle  Prinzip  der  Bedarfsdeckung  und  die  ihm  ent- 
sprechenden Wirtschaftssysteme  der  Eigen-  un<l  Tauschwirtschaft  im  Begriffe  sind, 
von  dem  andringenden  Erwerbsprinzip,  das  die  beginnende  Verkehrswirt!>cbaft  be- 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation. 


397 


Da  es  im  Plane  clie<;er  Studien  liefet,  zwei  historische  Wirtschafts- 
systeme mit  den  ihnen  entsprcclicndc-n  Wirtschaftsformen,  deren  je 
eines  einer  der  beiden  genannten  <  iruj)j)en  ani^ehört,  eingehender  zu 
analysieren,  so  können  wir  es  einstweilen  bei  diesen  allgemeinen 
Bemerkungen  sein  Bewenden  haben  lassen  und  dazu  übergehen, 
innerhalb  der  beiden  grofsen  Gru|)peii  \oti  Wirtschaftssystemen  nun 
Einzelheiten  unterschiedlich  zu  markieren.  Wenn  ein  Wirtschafts- 
system eine  von  bestimmten  Wirtschaftsprinzipien  beherrschte 
Wirtscharisordnuiig  ist,  so  mufs  ofifenbar  die  Unterschiedlichkeit 
iler  einzelnen  \\'irtschaftss\'steme  bei  denselben  Wirtschaftsj)rinzipien 
in  der  Verschiedenheit  der  Wirtschaftsordnungen  begründet 
sein?  Nun  giebt  es  aber  so  viele  Wirtschaftsordnungen,  wie  viele 
verschiedene  das  Wirtschaftsleben  regelnde  Sitten  und  Gebräuche, 
wie  viele  verschiedene  Rechtsordnungen  es  je  gegeben  hat,  giebt 
und  geben  wird.  Ihre  Zahl  ist  also  Legion.  Wollen  wir  unter- 
scheiden, so  kann  es  sich  somit  nur  darum  handeln,  die  prinzipiell 
bedeutsamen  Elemente  je  in  den  verschiedenen  Wirtschaftsordnungen 
in  ihrer  Divergenz  darzustellen,  d  h.  also  markante  Typen  der 
verschiedenen  Wirtschaftsordnungen  vorzufuhren. 

Wie  aber,  so  könnte  man  fragen:  ist  denn  die  Gestaltung  der 
Wirtschaftsordnung  so  ganz  beliebig,  so  gar  nicht  abhängig  von  dem 
herrschenden  Wirtschaftsprinzipe?  Bis  zu  einem  gewissen  Grade, 
wie  gleich  sich  ergeben  wird,  in  der  That  Nur  freilich  gilt  dies 
mit  einer  wesentlichen  Einschränkung:  die  Herrschaft  des  Erwerbs- 
prinzips  setzt  stets  bestinunte  Bestandteile  in  einer  Wirtschafts- 
Ordnung  als  notwendig  voraus,  ohne  deren  \'orhandensein  es  nicht 
gedacht  werden  katm.  Ks  mufs  nämlich  die  Wirtschaftsordnung 
jeder  Erwerbswirtschaft  folgende  Elemente  enthalten;  sie  mub  er* 
m^lichen : 

1.  Produktion  für  den  Austausch:  Warenjjroduktion ; 

2.  l'roduktionsfreiheit  nach  Ort,  Zeit,  Art  etc.  der  Produktion. 
Letztere  dort  wenigstens,  wo  die  Frwerbswirtschaft  zu  reinster 

Blüte  gelangt.  Sie  strebt  jedenfalls  immer  eine  im  Prinzijie  frei- 
wirtschaftliche Ordnung  an .  wenn  aiu  li  /ugegebeii  werden  muls, 
dafs  sie  bedeutsame  Ansätze  zu  kräftiger  Entwicklung  auch  ohne 


hemcbt,  verdrängt  zu  werden.  Es  ist  nur  selbrtveiitlndlidi,  dafs  im  Geiste  aller 
ecbten  „ethischen"  Nationalökonomie  diesem  stereotypen  Erzeugnis  profser  l'eb«-r- 
ganpspcriü<len.  die  Aristotclc?  und  I.uthrr  li.i^  alte  Prinzip  als  das  sittlich  gute  ver- 
teidigen, da&  neue  als  das  moralisch  verwerl  liehe  verdammen. 


Digitized  by  Google 


39» 


Werner  Sorobart, 


das  Requisit  der  Verkehrsfreiheit  als  integrierenden  Bestandteil  der 
Wirtschaftsordnung  aufweist  Aber  auch  die  Erwerfoswirtschaft  la(st 
doch  nach  anderer  Seite  wesentliche  Nuancier  un^cn  der  Wirtschafts- 
ordnung zu:  insbesondere  in  der  rechtlichen  Stellung  des  Arbeiters 
zum  Produktionsleiter.  Diese  ist  in  zwei  grundverschiedenen 
Formen  möglich:  als  Zwangsstellung  oder  als  freie Vertragsstellungr. 
Es  können  die  Oigane  der  Erwerbswirtschaftseinheit  Sklaven,  Hörige 
oder  freie  Lohnarbeiter  sein  und  sind  es  gewesen.  Die  historisch 
bedeutsamen  Erscheinungsformen  der  Erwerbswirtschaft  weisen 
samtliche  Möglichkeiten  auf:  die  römische  Kaiserzeit  war  ent- 
schieden  eine  Zeit  hochentwickelter  Erwerbswirtschaft  und  ba- 
sierte  die  Produktion  ebenso  auf  Unfreien  wie  die  Kolonialunter- 
nehmungen  der  neuen  Zeit  Während  wir  heute  gewohnt  sind,  die 
Erwerbswirtschaft  im  Zustande  freier  Lohnarbeiterschaft,  in  der 
Form  der  kapitalistischen  Verkehrswirtschaft  zu  denken. 

Noch  viel  indifferenter  verhält  sich  nun  aber  der  Wirtschafts- 
Ordnung  gegenüber  das  Bedarfedeckungsprinzip.  Es  gestattet  auch 
eine  unterschiedliche  Gestaltung  derjenigen  Bestandteile  der  Wirt- 
schaftsordnung, welche  die  produktive  Thätigkdt  selbst,  sowie  die 
Verwendung  der  Produkte  regeln.  Um  nun  ein  Schema  zu  ge- 
winnen, in  das  wir  die  verschiedenen  Typen  der  Bedarfededcungs- 
Wirtschaft  übersichtlich  einordnen  können,  wählen  wir  das  durch 
die  Anordnung  der  Produktionsvorgange  zu  dem  Verwendungsakte 
bestimmte  Verhältnis  des  Arbeitsaufwandes  zu  demjenigen,  dem  der 
Effekt  der  Arbeit  zugute  kommt  und  können  alsdann  vier  Haupt- 
typen von  Wirtschaftssystemen  dieser  Gruppe  unterscheiden,  je  nach- 
dem es  sich  handelt  um: 

I.  Deckung  des  eigenen  Bedarfs  durch  eigene  Arbeit; 

3.  Deckung  des  eigenen  Bedarfs  durch  fremde  Arbeit; 

3.  Deckung  des  fremden  Bedarfs  durch  eigene  Arbeit; 

4.  Deckung  des  fremden  Bedarüs  durch  fremde  Arbeit 

ad  I.  Deckung  des  eigenen  Bedarfs  durch  eigene 
Arbeit  erfolgt  in  allen  Sjrstemen  der  Eigenwirtschaft,  solange  die 
Glieder  der  Wirtschaft  Eines  Blutes,  also  Einer  Gemeinschaft  sind. 
Hierher  geiiören  somit  von  historisch  bedeutsanfen  Typen:  alle 
Wirtschaften  urwüchsiger  Geschlechtergemein- 
schaften,')  die  Wirtschaften  der   chinesischen,  südslavischea 


*)  Da  e«  nicht  die  Aufgabe  dieser  Studien  i«t,  eine  Charakteristik  aller  Wirt- 
schaftssysteme tmd  Wirtschaftsformen  zu  geben«  sondern  lediglich  den  Gnmdrifs  n 


Digitized  by  Google 


Die  gewerbliche  Arbeit  mcl  ihre  Organifatioo. 


399 


keltischen  r)  und  anderer  (t  r  o  Isfa  m  i  1  i  e  n  , ')  die  W  irtschaft  der 
Dorfgemeinschaften  von   den  indischen  Anfängen   bis  auf 

unsere  Zeil.  - 

ad  2.  Dekung  des  eigenen  Bedarfs  durch  fretnde 
Arbeit  bezwecken  —  vom  Standpunkt  des  \Virtschaftsoberhau})ts 
aus  —  alle  Kigenwirtschaften,  die  ich  unter  der  Bezeichnung  e  r  - 
w  e  i  t  e  r  t  e  E  i  g  e  n  w  i  r  t  s  c  h  a  f  t  e  n  zusammenfasse,  „erweitert"  näm- 
lich über  den  Krei>  der  Blutsverwandten  oder  doch  wenigstens 
gleichgestellten  I  >()rfgenüssen  hinaus.  I-  s  gehören  hierher  die  be- 
kannten Erscheinungen  der  von  Roilbertus  entdeckten  ( )iken- 
wirtschaften  des  Altertums,  die  kaiserlichen  Villen-,  die  Frohnhof- 
und  Kloslerwirtschaften  des  Mittelalters  mit  grundherrlichen  Wirt- 


einer  Systematik  «a  entwerfen,  in  die  sich  zwei  niher  su  betrachtende  Wirtschafts- 
aysteme  bezw.  Fonnen  einordnen,  so  begnflfe  id»  mich  hier  mit  der  knnwn  Auf- 
zählung der  verschiedenen  Wiftschaftstyprn  und  verweise  den  Leser  im  übrigen  auf 
die  cinsrhläpige  Litteratnr,  von  der  die  wichtigsten  Werke  namentlich  deutscher 

Sprache  Krwähnung  finden  mögen:  Bücher.  Arbrit  und  Rhythmus.  Leipzig  1897, 
2.  Aufl.  i  Jcrsclhe,  Fntstehung  firr  \  olk>\virts(  haft  2.  Aufl.   lSo8,  I.  und  II. 

Vortrag.  Daselbst  zahlreiche  Hinweise  aul  Speiiallutcratur.  H.  t  unow,  Die  uko- 
noniaclMn  Gnmdlagen  der  Mntterhemch&ft  (Nene  2Seit  1897,9s,  Bd.  1).  Lngd^, 
Entatehmg  der  Familie  etc.  18M.  E.  Grotte,  Die  Formen  der  Familse  und  die 
Formen  der  Wiitidiaft.  1896.  R.  Hildebrand,  Recht  und  Sitte  auf  den  ver- 
schiedenen  irirtschaftlichen  Kulturstufen.  1896.  E.  Laveleye,  Das  Ureifentum, 
flbersctst  von  K.  Bllcber.  1879.  A.  M  ritzen,  Siedelung  und  Agrarwesen  der 
Westgermanen  und  nstgerm m- n,  der  Kelten,  Kömer,  Finnen  und  Slaven.  Bände 
und  .\tla>.  1895.  Lt  w.  II.  Morp.in.  Dir  l'rgcsellschaft,  «leutscli  iSqi.  ('•. 
.^(  hnioller,  Dif  gcschichtl.  Fntwu klun^'  l-r  l  iit<-mchmung ;  bv^ond.  II.  (in  ^einem 
Jahrbuch  Bd.  XIV.    1890  I.    Ratzrl.  V  «IkerkuiKic. 

K.  Bücher  a.  a.  O.  —  K.  Lavcleye  a.  a.  (>.  —  A.  M  e  i  t  z  c  n  a.  a.  <  >. 
Utiescnoric,  Hauskommonioncn  der  Südslaven.  1859.  M.  Zoricic,  Die  biuer- 
lidien  Hanskommnnionen  in  den  Kteigreichen  Kroatien  und  Slavonien.  (DI.  Omgris 
intern.  d'Hygiene  et  de  Ddnographic.  Comptes  rendua  Tome  VII.  1896.) 

*)  W.  J.  Ashley,  Engl.  Wiitschafbgeschicbte  I.  1896.  George  Campbell, 
Modem  India.  1853.  H.  Cnnow,  Die  sociale  Verfaammg  des  Inkar.Mclis.  1896. 
K.  Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittdalter.  4  Bde.  1885. 
Laveleye- BUche  r  a.a.O.  G.  L.  van  Maurer,  Einleitung  in  dir  M.irk-,  Hof>, 
Dorf-  und  Stadtverfassung  etc.  2.  Aufl.  1S96.  Meitzcn  a.a.O.  1  Ii  u  r.  Rogers, 
r>ie  (»eschit'hte  der  cujjHsclieii  .Arbeit.  I S96.  K.  Seebohm.  I  lif  mgli'-h  \  illage 
cumniunity;  deutsch  vun  Buuücu  1885.  F.  Tunnies,  (jcnicinschalt  und  (ioelN 
schalt.  1687. 


L  iyiii^üd  by  Google 


400 


Werner  SombArt, 


schaftsoi^nisationen  *)  etc.  Ausschlidslich  mais-  und  richtunggebend 
für  die  gesamte  Produktion  bleibt  auch  in  diesen  Wirtschaften  der 
Bedarf  des  Wirtschaftsherm  und  seiner  Leute.  Aber  es  wirken  bei 
seiner  Befriedigung  auch  gezwungen  fremde  Leute :  Sklaven,  Hörige, 
Hintersassen  etc.  mit  Wie  wir  sehen  werden,  kann  dieses 
Wirtschaftssystem  auf  Einer  gemeinsamen  Produktions-  und  Kon- 
sumtionswirtschaft beruhen  oder  auf  dem  Zusammenwirken  mehrerer 
Einzelwirtschaften. 

ad  3.  Deckung  fremden  Bedarfs  durch  eigene 
Arbeit  findet  statt  überall  dort,  wo  iiir  den  Austausch  produziert 
wird,  ohne  dafs  das  Erwerbsprinzip  bereits  Boden  gefalst  hat.  Alle 
mittelalterliche  Stadtwirtschaft  wie  überhaupt  alle  uns  bekannte 
Tauschwirtschaft  in  primitiven  Wtrtschaftsverhältnissen  gehört  hier* 
her.")  Es  mag  die  Konstruktion  dieses  Wirtschaftssystems  auf 
den  ersten  Augenblick  seltsam  berühren.  Trotzdem  ist,  wie  noch 
ausfuhrlich  zu  ze^en  sein  wird,  aUe  vorkapitalistische  Tausch- 
Wirtschaft  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  Wechsel- 
seitigen  Bedarfsdeckung  zu  verstehen.  Jener  Formel  am 
Eingang  dieses  Abschnitts  ist  freilich  zur  Vervollständigung  hinzu- 
zufügen, „Deckung  des  eigenen  und  fremden  Bedarfs  durch 
eigene  Arbeit"  —  wiederum  vom  Standpunkt  des  Produktions- 
Wirtschaftssubjekts,  sage  des  Handwerkers  oder  einer  Zunft,  aus. 
Leitendes  Prinzip  bei  all  seiner  Thät^keit  und  trotz  allen  Austausches 
bleibt:  G ebrauchsgüter  in  der  Menge  und  Art  herzustellen,  wie  sie 
ein  anderer  nötig  hat;  um  dadurch  den  eigenen  Lebensunterhalt  zu 
'l^ewinnen  in  dem  Mafse  und  der  Beschaffenheit,  wie  er  den  über- 
kommenen Anschauungen  entspricht. 

ad  4.  Deckung  fremden  Bedarfs  durch  fremde 
Arbeit  würde  das  Prinzip  eines  Wirtschaftssystems  sein«  wie  es  in 
einem  sozialistisch  organisierten  Gemeinwesen  höherer  gesellschaft- 

'1  K.  Büch.T.  a.  a.  < ).    K.  1. a m  p  r e ch  t ,  a.  a.  U.    A.  M  sitzen.  ;i.  a.  o. 

G.  Schmoll  er,  a.  a.  O.  K.  von  Inama -Stern egg,  Dcuuchc  Wirtscbaftsgr- 
schichte.  Bd.  I  Bis  zum  Schlüsse  der  Karolingerperiode.  1879.  Bd.  II.  X. — XIL 
Jahrhundert.  1891.  Derselbe,  Die  Ausbildung  der  grofsen  Gmndhcnschaften  in 
Deutschland  während  der  Karolingeneit  1878.  G.  L.  von  Maurer,  Geschichte 
der  FröhnhöfCf  der  Bauernhöfe  u.  der  Hofverfastung  in  Deutschland.  4  Bde.  l86aC 

H.  Weber,  Römische  iXgrargeschicbte.  1891.  Derselbe,  Die  socialen  Gitnde 
des  Untergangs  der  antiken  Kultur  in  der  Zeitschrift:  „Die  Wahrheit",  her.  von 
Chr.  Schrempf.    B.J.  M.  Nr.  3. 

*)  Wegen  der  Litteratur  sei  aut  die  folgende  Studie  verwiesen. 


Digitized  by  Google 


Die  geverbliche  AibeH  und  ihn  OigaidMtioo.  I 

Ucher  Ordnui^  herrschen  rnüfste.')  Die  Regelung  der  Produktion 
würde  durch  den  irgendwie  ermittelten  Bedarf  aller  Bürger  erfolgen. 
Das  Wirtschaftssystem  würde  also  jeden&lls  der  Grruppe  der  Bedarfes 
deckungswirtschaften  angehören.  Da  aber  das  Wirtschaftssubjekt 
die  Eine  Zentrale  wäre,  von  der  alle  Produktionsbetriebe  ihre 
Direktive  erhielten,  so  würden  jeweils  die  in  einem  Phxluktions- 
betriebe  thätigen  Personen,  die  vom  Standpunkt  des  Wirtschafts* 
Subjektes  als  fremde,  d.  h.  Kommandierte  anzusehen  wären,  den  Bedarf 
iur  andere  Bürger  —  Fremde  —  decken.  Lediglich  der  Symmetrie 
zu  Liebe  habe  ich  übrigens  diesen  vierten  Fall  der  Bedar&deckungs- 
wirtschaften  angelegt  und  l^e  auf  die  Konstruktion,  zumal  sie  ja 
gar  keiner  empirischen  Erscheinung  gerecht  zu  werden  braucht,  kein 
übermälsig  gro(ses  Gewicht. 

So  haben  wir  denn,  wie  mir  scheint,  den  Kreis  aller  denkbaren 
Wirtschaftssysteme,  aller  die  jemals  waren  und  jemals  sein  können, 
durchmessen  und  sie  zu  einem  Systeme  kunstvdl  zusammengefiigt 
Nun  aber  bleibt  Eins  noch  zu  thun  übrig.  Der  Leser  wird  sich 
des  Tadeb  entsinnen,  den  wir  g^tn  eine  Reihe  von  Vorgäi^rn 
glaubten  erheben  zu  sollen,  weil  sie  achtlos  unter  verschiedenem 
Gesichtspunkte  die  Arten  menschlicher  Wirtschaft  gruppiert  hätten, 
ohne  sich  darum  zu  kümmern,  eine  Vereinigung  jener  mannigfachen 
Gruppierungen  herbeizuluhren.  Ein  gleicher  Vorwurf  der  Un* 
einheitlichkeit  würde  nun  aber  auch  diese  Darstellung  treffen,  wenn 
wir  das  System  der  Wirtschaftsstufen  und  das  System  der  Wirtschafts- 
systeme nebeneinander  bestehen  lassen  wollten,  ohne  sie  irgendwie 
miteinander  zu  verbinden.  Das  muCs  also  noch  i^eschehen,  und  es 
kann  nach  allem,  was  wir  nun  vom  Wesen  der  Wirtschaftsstufen 
und  Wirtschaftssysteme  wissen,  mir  in  der  Weise  erfolgen,  dafs  wir 
die  verschiedenartigen  Wirtschaftssysteme  in  das 
Schema  derWirtschaftsstufen  einzuordnen  versuchen. 
Da  ergiebt  sich  folgendes  Resultat: 

I.  auf  der  Stufe  der  Individualwirtschaft  können  stets 
nur  Wirtschaftssysteme  bestehen,  die  auf  dem  Prinzip  der  Bedarfs- 
deckung au%ebaut  sind.  Und  zwar  gehören  hier  alle  Eigenwirtschaften 


>)  Vgl.  u.  a.  Schiffte,  Die  Quintessenz  des  Sosialtsmus.  O.  Köhler,  Der 
soualdemokiatisclie  Stut.  Gninclxflge  einer  mutmafslichen  ersten  Form  socialdemo- 
Inatischer  GeaellschaftsTerfassang  etc.  1891.  Atlanticus,  Ein  Blick  in  den  Zu- 
kanftsstaat.  Produktion  und  Konsumtion  im  Sozialstaat.  1898.  G.  Sttlser,  Die 
Zukunft  des  Sozialismus.  1899. 


402 


Werner  Sombart, 


her,  soweit  sie  auf  einer  Identität  von  Pi  otluktions-  und  Kon- 
sumtionswirtschaft  beruhen.  Also  alle  VV'irtschaften  der  Rlutsgemein- 
schaften.  die  Hauskommunionen  etc.,  die  erweiterte  Eigenwirtsciiaft 
mit  einheithcher  Wirtschaft; 

2.  auf  der  Stufe  der  U  ebe  rgan  gs  w  i  rt  s  c  h  a  ft  e  n  ist  eben- 
falls, aus  naheliegenden  Gründen,  das  Bedarfsdeckungsprinzij)  allein 
herrschend.  P-s  gehören  hierher:  die  erweiterten  Eigenwirtschaften, 
bei  denen  jedoch  eine  Trennung  der  Produktions-  \on  den  Kon- 
sunilionswirtschaften  erfolgt  ist,  wie  bei  den  Grundherrschaften  des 
römischen  Kaiserreichs  und  des  europäischen  Mittelalters;  die  Dorf- 
wirtschaften ;  die  Tauschwirtschaft  mit  ihrem  wichtigsten  1  ypua  der 
Stadtwirtschaft ; 

3.  auf  der  Stufe  der  (j  e  s  e  1 1  s  c  h  a  f  t  s  w  i  r  t  s  c  h  a  ft  ist  erst- 
malig Raum  fiir  die  Herrschaft  des  hrwerbsprinzips;  ihr  gehören  an 
die  Erwerbswirtschaftssystenic  der  römischen  Kaiserzeit,  die  Sklaven- 
wirtschaftcn  der  modernen  Koloniccn  und  die  heule  herrschende 
kapitalistische  Verkehrswirtschaft  mit  freier  Lohnarbeit.  P-s  kann 
aber  auf  dieser  Stufe  sehr  wohl  auch  das  Bedarfsdeckungsprinzip 
herrschen,  wenn  wir  uns  nämlich  einen  siozialistischen  Staat  unter 
Zugrundelegung  des  heute  in  Pluropa  und  Amerika  erreichten 
Grades  wirtschaftlicher  Differenzierung  errichtet  denken  wollen. 

Bringen  wir  nun  alle  diese  Unter-  und  Einordnungen  in  einer 
einzigen  Tafel  zur  An.schauung,  so  ergiebt  sich  folgendes  Bild. 


Wirttchaftsstnfen: 


Wirtschaftssysteme: 


Gruppen vonW  irtschafts- 
systeneii  mh  eiaheit« 
lidiem  Wirtschaftspruiap : 


Individual- 
Wirtschaft. 


ü 

•■s 

t 


«2 
p 


s 

I 

s 

c 


9 

es 


N 


c 


1 


Ucbergangs- 
wirt^iaft. 


e 


't  's  si   .« e 


-3 
(xJ  Ü 


it2 


r 


SO 


Gesellächafts« 
Wirtschaft. 


I 


Bedarfidecknogswirtschaften. 


s 

V 


e 


B 


r. 


o 

c 
c 

E 
4» 

•g 


■f. 


V 

> 

V 

2 

«  — 


Frwerbs- 
wirtiK.- haften. 


Digitized  by  Google 


IKc  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Oisaniaadon. 


403 


Es  erübrigt  nun  nur  noch,  um  den  Kreis  unserer  Betrachtungen 
zu  schlieüsen,  in  die  einzelnen  Wirtschaftssysteme  die  ihnen  je  ent- 
sprechenden  Wirtschaftsformen  einzuordnen. 

Begreiflicherweise  finden  wir  auf  den  primitiven  Wirtschafts- 
stufen  selbständige  Organisationen  fiir  die  Produktionswirtschaft  noch 
nicht.  Diese  bildet  einen  integrirenden  Teil  der  gesamten  Wirt- 
schaftsverfassung, die  ihrerseits  selbst  wieder  mit  der  sozialen 
Ordnung  überhaupt  zusammenfallt.  Die  Träger  der  wirtschaftlichen 
Initiative  sind  somit  in  jenen  Anfangen  des  Wirtschaftslebens  Stamm, 
Geschlecht,  Familie.  Wollen  wir  eine  Wirtschaftsform  für  diese 
primitiven  Zustände  gleichwohl  namhaft  machen,  so  können  wir 
von  Geschlechterwirtschaft  und  Familienwirtschaft 
Rechen. 

Ansätze  zu  einer  selbständigen  Organisation  der  Produktion 
innerhalb  des  Gesamtlebens  und  somit  Ansätze  zu  Produktionswirt- 
schaften lassen  sich  innerhalb  der  Sphäre  erweiterter  Eigenwirtschaft 
feststellen.  Als  Wirtschaftsform,  die  diesen  Wirtschaftssystemen  ent- 
sprechen, können  wir  ansehen  Oikos,  Fronhof  oder  Villa. 

Wenden  wir  uns  dem  System  der  Dorfwirtschaft  zu,  so  werden 
wir  hier  unterscheiden  müssen,  ob  wir  eine  Organisation  vor  uns 
haben,  bei  der  der  Schwerpunkt  noch  in  der  Dorfgemeinc  oder 
schon  in  den  einzelbäuerlichen  Wirtschaften  liegt.  Danach  ergeben 
sich  zwei  verschiedene  Wirtschaftsformen,  die  wir  bezeichnen  wollen 
als  Gemeindewirtschaft  und  als  Bauernwirtschaft. 

Schon  in  der  erweiterten  Eigenwirtschaft  und  in  der  Dorfwirt- 
schaft kann  eine  berufsmäCsige  Ausübung  gewerblicher  Thiitigkcit 
stattfinden.  Doch  erst  der  Tausch-  insbesondere  der  Stadtwirtschaft 
gehört  die  Schaffung  selbständiger  Organisationen  für  die  gewerb- 
liche Produktionswirtschaft  an.   Es  ist  dies  die 

h  a  n  d  w  e  r  k  s  ni  ä  f  s  i  g  e  Organisation 

die  wir  somit  zunächst  ganz  grob  definieren  können  als  die  dem 
tauschwirtschaftlichen  .System  entsprechende  Wirtschaftsform  für  ge- 
werbliche Thätigkeit.  Sie  erscheint  ebenfalls  dop|)elt  bestimmt,  je 
nachdem  der  Schwerpunkt  der  Organisationen  bei  dem  Fin/.el- 
produzenten  oder  bei  einer  Gesamtheit  von  Protluzenten  ruht. 
Danach  können  wir  genauer  als  handwerksmäfsigc  Wirtschafts- 
formen ansprechen  Hand  Werkergenossenschaften  und  Ein- 
zel h  a  n  d  w  e  r  k. 

Es  wurde  schon  darauf  hingewiesen,  dafs  beabsichtigt  ist,  die 

Archiv  für  sox.  Getcugcbung  u.  Statistik.  XIV.  36 


uiyiiizied  by  Google 


404 


Werner  Sombart, 


Eigjenarl  dieser  Wirtschaftsform  genauer  zu  untersuchen,  so  dals  es 
hier  bei  tlicscr  kurzen  Skiz/.ierung  sein  Bewenden  haben  mag. 

Wollen  wir  uns  aber  die  Wirtschaftsfonnen  vorstellen,  wie  sie 
in  einer  sozialistischen  (iemeinwirtschaft  wahrscheinlich  sich  ge- 
stalten würden,  so  werden  wir  sie  uns  entweder  (bei  zentralistischer 
Organisation)  als  g e m  e  i  n  wi  rtsc  haft  1  i  c h  e  Anstalten,  Ver- 
waltungen, Direktionen  oder  wenn  die  Organisation  des 
Wirtschaftslebens  mehr  dezentralisiert  wäre,  als  Produktiv- 
genossenschaften denken  müssen. 

Allen  bisher  aufgezählten  Wirtschaftsformen  gemeinsam  ist  nun 
aber  dies,  dafs  sie  auf  dem  Bedarfsdeckungsprinzip  aufgebaut  sind, 
d.  h.  dafs  in  ihnen  die  Produktion  organisiert  ist  zum  Zwecke,  einen 
bestimmten  Bedarf  an  Gebrauchsgütem  zu  dedcen.  Dadurch  treten 
sie  in  einen  scharf,  gar  nicht  genug  zu  betonenden  Gegensatz  zu 
denjenigen  Wirtschaftsformenf  die  den  Erwerbswirtschaftssystemen 
entsprechen  und  die  wir  unter  der  gemeinsamen  Bezeichnung  der 

Unternehmungen 

zusammenfassen  wollen. 

Diese  einschränkende  Verwendung  des  Wortes  „Unternehmung" 
lediglich  im  Sinne  der  Wirtschaftsform  der  Erwerbswirtschaften  ist 
eine  wohlüberlegte :  sie  soll  der  Kigenart  des  Charakters  dieser  Wirt- 
schaftsformen schon  im  Ausdruck  gerecht  zu  werden  suchen.  Ueblich 
ist,  wie  bekannt,  diese  Einschränkung  nicht.  Man  spricht  vielmehr 
gewöhnlich  ebenso  von  einer  ,,Handwerksunternehmung"  wie  von 
einer  kapitalistischen  Unternehmung.  Gusta\-  Schnioller  will  das 
W^ort  sogar  auf  alle  Wirtschaftsformen,  die  fiir  den  Austausch  pro- 
duzieren, angewandt  wissen.  Mir  scheint  das  unzulässig,  weil  es 
die  üebertragung  eines  scharf  geprägten  modernen  Ausdrucks  auf 
ganz  heterogene  Dinge  bedeutet.  Mit  dem  Worte  p,Untemehmung" 
bezeichnet  die  deutsche  Sprache  stets  etwas  Wagemutiges,  Speku- 
latives, Aleatorisches. 

,,$agt,  wms  Ihr  wohl  in  deuUchcD  Landen 
Von  unserer  Untemehmnng  hofft." 

Wie  wir  denn  auch  von  einem  „unternehmenden''  Menschen 
sprechen  als  von  jemand,  der  Initiative,  Entschlufe,  Energie  besitzt 
Ich  meine  nun,  ein  Teil  dieses  ursprünglichen  Sinnes  ist  auf  den 
ökonomischen  Ausdruck  fiir  eine  bestimmte  Wirtschaftsform  über- 
gegangen und  deshalb  sollten  wir  uns  hüten,  ihn  anzuwenden  auf 
Wirtschaftszustande,   die    gerade  durch   die    Abwesenheit  alles 


Digitized  by  Google 


Die  geweibliche  Aibeit  «nd  ihre  Ofcaniaation. 


405 


spekulativen  charakterisiert  werden,  wie  also  beispielsweise  das 
europäische  Mittelalter.  Es  hciGst  unbistorisch  verfahren,  wenn  man 
den  Handwerker  einen  Unternehmer  nennt  Sein  Wesen  gipfelt  darin, 
dafs  er  keiner  ist.  Deshalb  war  unser  Bestreben,  an  Steile  des 
SchmoUerschen  .Ausdrucks  „Unternehmung"  den  allgemeinen  „Wirt- 
schaftsform" zu  setzen  und  die  Unternehmung  als  eine  bestimmte 
unter  \  ielen  Wirtschaftsformen  zu  charakterisieren,  wie  es  im  obigen 
geschehen  ist. 

Diese  Charakteristik  zu  vertiefen  und  \or  allem  die  Wesens- 
unterschicdlichkciten  der  historisch  allein  inbelracht  kommenden 
Formen  verselbständij^ter  gewerblicher  Produktion :  des  Hand- 
werks und  der  gewerblichen  Unternehmung  näher  zu  be- 
gründen, soll  nun  die  Auijgabe  der  folgenden  Studien  sein. 


üiyiiized  by  Google 


1 


Die  Arbeitsteilhaberschaft  in  der  britischen 
Genossenschaftsbewegung. 

Von 

ED.  BERNSTEIN, 

in  London. 

Die  britische  Gcnosscnschaflsbewcfjun«;'  ist  heute  zum  weitaus 
üherwiet^'cnden  Teil  Orcjanisation  zur  vorteilhaften  Beschaffung  von 
Gebrauchsj^^ütcru,  -Konsum Vereinsbewegung.  Nach  dem  fünften  Jahres- 
bericht des  Arbeitsamts  des  Handelsministeriums  (1897  K^gS)  waren 
Ende  1897  1710  ( lenossenschaften,  die  dem  Amt  Bericht  er- 

stattet hatten,  1485  Kinkaufsgcnossenschaften  und  nur  225  produ- 
zierende (lenossenschaften.  Der  (iesamtumsatz  der  Konsumgenossen- 
schaften betrug,  nach  .Abzug  der  zwei  (irolseinkaufsgenosscnschalten, 
40175774  r,  der  (resamtwert  der  in  Genossenschaftswerkstätten 
hergestellten  Produkte  945 1  572  jt.  Von  diesem  Produktionswert 
entfällt  indes  der  bei  weitem  gröfsere  Teil  auf  Werkstätten,  die 
nur  Produktionsanstalten  im  Dienste  von  Einkaufsgenossenschaften 
waren.    Es  wurden  nämlich  produziert: 

im  Dienste,  besw.  »nf  Rechnang  der  Grofseinkauf^enoMWurhaften  3905167  ^ 

im  Dienste,  bczw.  auf  Rechnung  von  Konsiunvcrcincn     ....  3297816  ., 

von  ( M-iiossrnscliaftskommiihlen   1264402  „ 

von  .imleren  selbständigen  Produktion -j^-  nossenschaften    ....  1984  1&7  ., 

In  der  grofsen  Mehrzahl  der  Einkaufi^eno.ssenschaften  ist  die 
rechtliche  Stellung  der  in  ihren  Produktionsanstalten  beschäftigten 
Arbeiter  keine  andere  als  in  jedem  kapitalisti-^chen  Unternehmen. 
Sie  sind  auch  da  einfache  Lohnangestellte.  Indes  gewähren  über 
dreihundert  Genossenschaften  ihrem  .\rbeitsj)ersona!  aufser  dem, 
von  den  Gewerkschaften  anerkannten  Lohn  noch  gewisse  Extra- 
vergütigungen,  und  zwar  meist  in  Form  von  Dividenden  auf  die 


Digitized  by  Google 


Die  ArbeitateUhabcffMlMft  in  der  iMritischeB  Genocsenselurfbbeir^gnig.  ^07 

im  Laufe  des  ("reschäftsjahres  (oder  Halbjahres)  erarbeitete  Lohn- 
summe. Die  Ro\al  Arsenal  Coopcratixc  Society  in  Woolwich 
z.  B.  zahlt  ihren  Arbeitern  wie  dem  <  leschäftspersonal  denselben 
Dividendensatz  auf  den  Lohn,  den  sie  den  (ienossen Schaftsmitgliedern 
auf.  den  Betrag  ihrer  Einkäufe  auszahlt  oder  gutschreibt.  Für  das 
Halbjahr  von  Mitte  Juli  1898  bis  Mitte  Januar  1899  {die  letzte  Ge- 
schäfts} )criode,  über  die  mir  ein  Bericht  vorliegt)  wurden  bei  einem 
Gcsanulohnbetrag  von  1 1  $35  rund  1007  /*  Zuschufs  vcrcrütet,  bezw. 
I  Sh.  10  Pence  oder  g\  Prozent  auf  jedes  Pfund  Sterling  Lohn 
(die  kleine  Differenz  in  der  Rechnung  —  es  sollten  1057  £  Ver- 
gütung sein  —  koninit  daher,  tlafs  nur  solche  Arbeiter  dividenden- 
berechligt  sind,  die  mindestens  tirci  Monate  im  Dienst  der  Ge- 
nossenschaft thätig  sind  und  Genossenschaftsanteile  besitzen  oder 
gezeichnet  haben). 

Für  das  System  oder  Prinzip  nun,  wonach  die  Arbeiter  der 
Genossenschaft  kraft  ihrer  Kigenschaft  als  Angestellte  Anspruch 
auf  einen  Anteil  am  Geschäftsertrag  liaben  und  ermuntert  oder  an- 
gehalten werden,  tier  Genossenschaft  beizutreten,  was  ihnen  auch 
einen  EinHuls  auf  die  Geschäftsleitung  verschaft't,  ist  in  England 
der  Name  „Labour  Co*partnership"  aufgekommen,  den  man  wohl 
am  passendsten  mit  Arbeitsteilhaberschaft  übersetzt  Er  soU  im 
speddlen  bedeuten«  dafii  die  Arbeiter  Anteil  an  Eigentum,  Leitung 
und  Gewinn»  aber  weder  den  vollen  Gewinn,  noch  die 
volle  Leitung  des  Unternehmens  haben  sollen.  Die  Propaganda 
fiir  diese  Aibeitsteilhaberschaft  ist  auf  die  Initiative  der  christlichen 
Sozialisten  zurückzuführen  und  wird  heute  vornehmlich  von  einer 
Vereinigung  betrieben,  die  sich  „Labour  Association"  nennt  und  ein 
Monatsblatt  JLab<mr  G^partnership"  herausgiebt  Bekannte  Veteranen 
der  Genossenschaftsbewegung,  wie  G.  J.  Holyoake,  J.  M  Ludlow, 
Ed.  Owen  Greening,  Hodgson  Ftatt,  T.  A.  Brasse/,  sitzen  in  ihrem 
Vorstand,  ihr  Präsident,  Fred  Maddison,  und  ihr  Sekretär,  Heniy 
Vivian,  sind  aus  der  Arbeiterklasse  hervorgegangen  und  stehen  in 
enger  Fühlung  mit  der  Gewerkschaftsbewegung. 

Wie  sie  von  den  Genannten  aufgefafst  und  propaf^ert  wird,  ist 
die  Arbeitsteilhaberschalt  nicht  auf  Arbeitergenossenschaften  be- 
schränkt, sondern  kann  auch  in  wesentlich  kapitalistischen  Geschäften 
durchgeführt  werden.  Ein  Beispiel  dafür  ist  die  Südlond^uK  t  ( i.Ls- 
geseUschaft  („South  Metropolitan  Gas  Company"),  die  ihr  Arbeits- 
und sonstiges  Geschäftspersonal  an  (jieschäftsgewinn ,  Geschäfts- 
ka|Htal  und  Geschäftsleilung  beteiligt  Es  wurden  für  das  Geschäfts- 


Digilized  by  Google 


4o8 


Ed.  Bernstein« 


jähr  1897/ 1898  den  Arbeitern  19256  jB  Geschäftsgewi nn  über- 
wiesen, der  Aktienbesitz  des  Arbeits-  und  Bureaupersonals  beiauit 
sich  gegenwärtig  auf  55000  £  mit  einem  Kurswerth  von  80000  Jß 
neben  30000  £  fest  verzinslichen  Spareinlagen,  und  zwei  Ver- 
treter der  Arbeiter,  sowie  ein  \>rtretcr  des  Bureaupersonals  sitzen 
im  Verwaltungsrat  der  Gesellschaft.  Aehnliche  Einrichtungen  hat 
die  Gasgesellschaft  für  den  Krystallpalast  und  Umgebunj:^  einorefuhrt, 
desgleichen  das  grofse  Druckerei-Unternehmen  von  Hazell,  Watson 
und  Viney  in  London,  die  Firma  Crown  Printing  Works  in  West- 
hartlepool  und  andere  kapitalistische  Geschäfte  mehr.  Die  erst- 
genannte Firma  steht  mit  der  Gewerkschaft  des  Berufs  der  von  ihr 
beschäftigten  Arbeiter  seit  1S89  auf  dem  Kriegsfufs,  die  letzt- 
genannte beschäftigt  ausschliefslich  Gewerkschaflsniit<2^liedcr,  die 
anderen  überlassen  es  dem  h'eien  Entschlufs  der  Arbeiter,  ob  sie 
der  Gewerkschaft  angehören  wollen  oder  nicht 

Auf  der  Mitte  zwischen  kapitalistischem  und  genossenschaftlichem 
Teilhaberschaftsunternehmen  steht  die  Aktiengesellschaft  William 
Thompson  and  Sons,  Tuchfabrik  in  Huddersfield.  Der  frühere  Be- 
sitzer des  Geschäfts,  W.  Thompson,  ist  noch  heute  der  Leiter  des 
Unternehmens  und  auch  sein  Hauptaktionär.  Das  Geschäft  weist, 
nach  Zahlung  eines  festen  Zinssatzes  von  5  Prozent  auf  das  ein- 
gelegte Kapital,  den  LVherschufs  zur  grüfseren  Hälfte  -  fünf 
Neuntel  —  den  Arbeitern  in  I'orm  von  Anteilen  zu,  während  der 
Rest  zu  Tantiemen  für  Extraleistungen  und  Vergütungen  an  die 
Kundschaft  verwendet  wird.  Zur  Zeit  beläuft  sich  der  Kapital- 
anteil der  Arl)eiter,  flie  durcli  vollberechtigte  Delektierte  in  der  (  le- 
schäftsleitung  vertreten  sind,  auf  über  2CXX)  Die  l  inna  hat  den 

Achtstundentag  eingeführt  und  hält  streng  darauf,  nur  reine  Wolle  zu 
verarbeiten.  I'^ür  den  Geist  ihrer  Arbeite^schaft  ist  folgendes  be- 
zeichnend; Das  (jeschäfts)aiir  l8o<S  war  iniolge  der  hohen  Preise 
des  Roliprfulukts  sehr  ungünstig,  so  dafs  nach  Abschreibung  von 
10  Prozent  für  Amortisation  und  Zahlung  von  5  Prozent  Zinsen  auf 
das  X'orschufskapital  ein  P'ehlbetrag  von  55  £  verblieb.  Das 
Komite  schlug  nun  vor.  den  für  die  Verzinsung  des  AktienkajiitaU 
erforderten  Betrag  aus  dein  Reservefonds  zu  nehmen,  die  .Arbeiter 
aber  fanden,  wie  die  ,,( "ooperative-News"  unterni  20.  Januar  1899  be- 
richten, „dafs  sie  ihren  Anteil  an  dieser  X'erpflichtung  in  mehr 
direkter  Weise  tragen  sollten  und  beschlossen  einstimmig,  zu  den 
erforderten  545  £  250  /'  aus  i  h  r  e  n  e  i  g  e  n  e  n  M  i  1 1  e  1  n  b  e  i - 
zusteuern."    Zu  bemerken  j^t  hierbei,  dafs  Mr.  Thompson  heute 


Digitized  by  Google 


Die  Arbeitstcilhabribchaü  in  drr  britischen  (Jcnosscn^cbaltsibcwcgung. 


nur  noch  durch  den  Willen  der  Arbeiter  an  der  Spitze  der  Leitung 
des  Unternehmens  steht 

Die  Arbeitsteilhaberschaft  bei  den  Einkau£5(Konsum)-Geno8sen- 
schaften  der  Arbeiter  bietet  keine  Züge  dar,  die  diesen  Geschäften 
einen  prinzipiell  neuen  Charakter  verleihen.  Da  ihre  VeHassung 
ohnehin  eine  demokratische  ist,  wird  an  ihrem  Wesen  nichts  ge- 
ändert, wenn  die  Angestellten  des  Geschäfts  auch  als  solche  in  den 
Kreis  der  Gewinnteilhaber  einbezc^en  werden.  G^en  eine  grund- 
satzliche Veränderung  des  Charakters  der  Unternehmung  durch  die 
Stimmen  des  in  oder  von  ihr  beschäftigten  Personals  —  etwa  Ver- 
wandlung des  Geschäfts  aus  einer  Genossenschaft  (ur  Konsumenten 
in  eine  solche  von  Produzenten  —  bietet  das  grofse  numerische 
Uebergewicht  der  Aktionäre  der  ersteren  Kat^orie  ausreichende 
Gewähr.  So  beträgt  in  der  Arsenal-Konsumgenossenschaft  Woolwich 
die  Zahl  der  Aktionäre  13040,  die  der  Angestellten  (Bureau-, 
Laden-  und  Arbeiterpersonal)  420,  eine  üeberstimniuni:  der  Ersteren 
durch  die  Letzteren  ist  absolut  ausgeschlossen.  Atlinlich  ist  das 
Verhältnis  in  den  anderen  Konsumgenossenschaften.  £s  lie^'  "  der 
Natur  der  Dinge,  dafs  eine  solche  niemals  auch  nur  annähernd  so 
viel  Angestellte  haben  kann  wie  Genossenschafter. 

Mit  Bezug  auf  (las  Rurcau-  und  I  .adenpersonal  leuchtet  dies 
ohne  weiteres  ein.  Was  die  Produktionsabteilungen  der  Konsum- 
genossenschaften anbetrifft,  so  bietet  der  Markt,  wie  ihn  die  Mit- 
gliedschaft des  einzelnen  Konsumvereins  darstellt,  nur  für  unindi- 
vidualisirtc  Artikel  des  regelmäßigen  Massenverbrauchs  oder  für  noch 
der  handwerksmäfsigcn  .Arbeit  angehörende  Produkte  genügenden 
Absatz,  um  ihre  Herstellung,^  in  eigenen  Werkstätten  lohnend  er- 
scheinen zu  lassen.  Zur  eigenen  Herstellung  von  .\rtikeln  der  C'irofs- 
industrie,  tlie  keinen  regchnälsigen  Massenal>salz  haben,  entschlielsen 
sich  <iogar  die  grofsen  Einkaufsgeriuxsenschafteii  nur  >ehr  schwer, 
trotzdem  sie  mit  einem  viel  umfangreicheren  Markt  rechnen  dürfen, 
als  die  lokalen  X'ereine.  ')  Allerdings  sind  es  nicht  die  Absatz- 
schwierigkeiten allein,  die  der  Kigenproduktion  der  Konsum-  oder 
Einkaufsgenossenschaften  Grenzen  ziehen,  sondern  auch,  —  wenn 


'J  So  wehrt  sicli  die  grof&c  englische  Grol!icinkaul!>gcuu:><>ciischaÜ  noch  immer 
dagegen,  xnr  Eigenproduktioo  vom  farbigen  Baumwollgeweben  überzugehen.  Die 
Didrastionen  der  Genoasen«cliaft«kongretse  Aber  diesen  Punkt  sind  ttbcrans  lehrreich. 
Im  Jahre  1895  cnt6elen  xwei  Drittel  des  Werts  der  gesamten  Eigenproduktion  eng- 
lischer Genossenschaften  auf  Brotbickerci  und  Mehlfabrikation. 


iJiyiiizea  by  CjüOgle 


410 


Ed.  Bernstein, 


nicht  vor\vie;^a"nd  —  Srinvierigkeitcn  der  Organisation  und  Ver- 
waltung;^. Iis  fällt  aufserhalb  dt  s  Rahmens  der  vorsteilenden  Unter- 
suchung, auf  diese  wichtige  Seite  der  Frage  im  speciellen  einzugehen, 
für  ihren  Zweck  genügt  es  festzustellen,  dafs,  wenn  wir  von  Mehl 
und  Brot  absehen,  von  dem  (lesamtumsatz  der  britischen  Arbeiter- 
konsumgenossensrhaften  noch  nicht  der  zehnte  Teil  in  selbst- 
produzierten Werten  besteht,  und  dals  auf  eine  Mitgliedschaft  von 
insgesamt  I  500000  nicht  mehr  als  rund  20000  direkt  von  den 
Konsumgenosscnschalteii  beschäftigte  Arbeiter  entfielen,  (Die  genaue 
Zahl  für  1897  ist:  20287.) 

Dieser  Thatsache,  dafs  die  Welt  der  Konsumgenossenschaften 
einen  grofsen  Markt  darstellt»  den  die  Eigenproduktion  dieser  Ge- 
nossenschaften selbst  nur  zu  einem  sehr  geringen  Teil  deckt,  ist  es 
vornehmlich  zuzuschreiben,  dafs  auch  die  Bewegung  der  Produktions- 
genossenschaften seit  einiger  Zeit  in  England  ein  entschiedenes 
Wachstum  aufweist  Unter  Produktion^enossenschaften  sind  hier 
solche  Genossenschaften  verstanden,  die  unabhängig  von  einzelnen 
Konsumgenossenschaften  die  Produktion  bestnnmter  Gebrauchs* 
gtiter  betreiben.  Von  den  früheren  Produkti^^nossenschaften  unter- 
scheiden sie  sich  meist  dadurch,  dals  sie  nicht,  wie  diese,  die  Ver- 
wandlung der  Arbeiter  des  einzelnen  Unternehmens  in  Eigentümer 
und  selbstregierende  Leiter  desselben  zum  Zweck  oder  Ziel  haben, 
sondern  audi  als  Produkt ionsuntemehmen  nur  Teilhabergenossen- 
schaften sein  wollen.  Die  Arbeitsteilhaberschaft  ist  bei  ihnen  das 
leitende,  tlem  Unternehmen  seinen  Stempel  aufprägende  Prinzip,  sie 
sind  zugleich  seine  eigentlichen  und  rharakteristischen  Träger. 

Wie  schon  erwähnt,  ist  ihre  V'erbreitung  auf  die  Agitation  von 
christlichen  Sozialisten  zurückzuführen.  Diese  fühlten  sich  von  dem 
Aufgehen  der  Konsumgenossenschaften  in  reine  Dividendenjägerei, 
wie  es  sich  in  den  sechziger  und  siebziger  Jahren  offenbarte,  ebenso 
enttäuscht  wie  abgestofsen.  Die  Konsumgenossenschaften  und  des- 
gleichen die  (Trofseinkaufsgennsscnschaft  stellten  sich  um  jene  Zeit 
den  von  ihnen  bes<  häfti'j^tcn  Arbeitern  gerade  so  gegenül)er  wie  die 
kapitalistischen  Unternehmer.  Die  Kr/ielung  eines  rnTtglichst  liohcn 
Profits  war  das  ausschliersliche  Ziel  geworden,  das  alte  (ienosscn- 
schaftsideal  völlig  beiNeite  geschoben.  Da  nahm  der  um  das  eng- 
lische ( ienossenschattswesen  hoclnerdiente  K.  \'ansittart  Xeale  die 
Agitation  für  dieses  Ziel  von  neuem  auf.  erreichte  es  nach  \'er- 
schiedenen  fruchtlosen  Anläufen,  dals  1884  auf  dem  ( lenossenM  hafts- 
kongrefs  /.u  Derby  eine  von  250  Personen  (meist  Delegierte)  be- 


Digitized  by  Google 


Die  AibeititeQlub«ndnft  ia  d«r  britisdieB  CkaowensclMiftBbewegmig.    ^  1 1 

suchte  Konferenz  die  Bildung  eines  Komitees  beschloß,  dessen  Auf- 
gabe sein  sollte,  die  Bewegung  für  die  Verwandlung  der  Arbeiter 
in  Teilhaber  an  Vermögen  und  Ertrag  des  Unternehmens,  in  dem 
sie  arbeiten,  progagandistisch  zu  unterstützen  und  zu  diesem  Behufe 
einen  Propagandafonds  zu  sammeln.  In  Ausführung  dieses  Be> 
Schlusses  war  die  „Labour  Association  for  Promoting  Co^perative 
Production  based  on  thc  Co-partnership  of  the  Workers"  gegründet, 
Neale  selbst  hatte,  wie  aus  einem  in  Hebden  Bridge  von  ihm  ge- 
haltenen Vortrag  über  die  Ziele  der  Association  hervorgeht,  dabei 
immer  noch  als  ideelles  Ziel  die  „gesunde  Grundlage"  im  Auge, 
vcm  der  die  Genossenschaftsidee  ursprünglich  ausging",  nämlich  die 
Arbeiter  zu  Eigentümern  des  Geschäfts  zu  machen,  für  das  sie 
arbeiten.  Nur  sollte  durch  Vermittlung  der  Grolseinkau&genossen- 
schait,  um  deren  Errichtung  sich  Neale  grofse  Verdienste  erworben 
hat  und  der  er  die  Au%abe  zuschreibt,  jene  Produktivgenossen- 
schaften heranzuziehen,  ihre  Verbindung  mit  den  Konsumvereinen 
beigestellt  und  gesichert  werden.  Ein  fast  kindliches  Vertrauen  in 
die  Produktionsform,  der  Neale  ein  Hespes  Vermögen  geopfert  hat, 
(fast  800000  Mark)  spricht  aus  diesem  Plan,  der  indes  Projekt  ge- 
blieben ist.  Aber  (He  „Labour  Association"  hat  sich  am  Leben  er- 
halten und  ihre  Thätigkeit  ist  soweit  nicht  erfolglos  geblieben. 

Allerdings  hat  es  längere  Zeit  gedauert,  bis  sie  es  zu  Schöpfungen 
erwähnenswerter  Art  gebracht  hat  So  weife  G.  von  Schulze- 
Gävernitz  in  seinem  1890  erschienenen  Werk  „Zum  sozialen  Frieden" 
noch  wenig  über  sie  zu  sagen.  Von  den  wirklichen  Produktions- 
genossenschaften, die  er  beschreibt,  ist  nur  die  eine,  weniger  be- 
deutende, auf  die  Propaganda  der  Labour  Association  zurückzuführen, 
die  andere,  weit  bedeutendere,  aber  zehn  Jahre  älter  als  sie.  Auch 
das  etwas  später  veröffentlichte  Werk  der  Frau  Beatrice  Potter 
(«  VVebb)  über  das  britische  Genossensrhaftswesen  kennt  noch 
wenige  der  neuen  Genossenschaften  und  kritisiert  sie  vorwiegend 
unter  dem  Gesichtswinkel  des  Nealeschen  Projekts,  das  die  \'er- 
Easserin  mit  Recht  als  widerspruchsvoll  verwirft.  Sie  giebt  den  Ge- 
samtwert der  Produktion  der  ihr  bekannten  Produktionsgenossen- 
schaften aller  Art  auf  noch  nicht  eine  halbe  Million  Pfund  Sterling 
an.  Nach  dem  letzten  der  von  der  Labour  Association  heraus- 
gq^benen  Berichte  ( Au'^UNt  1898)  war  dagegen  im  Jahre  1897  ein 
Absatz  von  mehr  als  fünffacher  Höhe  erzielt  worden.  Folgendes 
die  von  der  Association  aufgestellte  Statistik  der  britischen  Teil- 
haberschafts-Produktionsgenossenschaften : 


412 


Ed.  Bernstein, 


1883 

1897 

Grnosscnschaften :      1 5 

loS 

i6q 

Vcrkfculc  (Absau)  .   .  . 

.    £  160751 

I  292  68ä 

2714346 

lUphal  

•  »03436 

639  8S4 

1 180906 

.    ..  9031 

67663 

137506 

2984 

12441 

Dividenden  auf  Lohnr 

It 

8283 

X6253 

Diese  Ziffern  sind  offenbar  mittels  sehr  freier  Interpretation 
des  Begriffs  der  Produktionsgenossenschaft  gewonnen  worden.  That- 

säclilich  zeigen  jedoch  eine  Anzahl  von  solchen  ein  ganz  bemerkens- 
wertes Wachstum,  das  es  der  Mühe  wert  erscheinen  läfst.  zu  unter- 
suchen, ob  in  ihnen  wirklicli  eine  Ichens-  und  leistungsfäliigc  I'orm 
genossenschaftlicher  IVoduktion  \or  uns  liegt,  der  Stein  der  Weisen 
endlich  gefuntlen  ist,  vermöge  dessen  die  genossenschaftlirhe  Arbeit 
auch  aufserhalb  des  Rahmens  des  Konsumvereins  Wirklichkeit 
werden  kann. 

.Sehen  wir  /u  dioein  Behufe  einige  der  in  Frage  kommenden 
Unternehmungen  genauer  an. 

Das  bedeutendste  der  hierhergehörigen  (ieschäfte  ist  die  schon 
1870  gegründete  I'abrik  \  on  (  irob-  und  Halbsanunetwarcn  1 1- ustian  etc.) 
zu  Hebden  Bridge  '  bamashire!,  die  Schul/.e-Gävernit/  (a.  a.  O. 
S.  363  ff.  )  näher  beschreibt.  Sic  ist  sozusagen  das  Paradestück  der 
Produktionsgenossenschaftsbewegung,  wie  der  Konsumverein  der 
„Pkmiere^  von  Rochdale  lange  das  Faradestück  der  Konsumgenossen- 
schaftsbewegung war.  Sie  hatte  beim  letzten  Geschäftsabschluß 
(zweites  Halbjahr  1898  )  ein  Anteilsvermögen  von  27889  Ihr 
Absatz  an  Waren  betrug  für  das  angegebene  Halbjahr  24640  dt^ 
der  Reingewinn  (nach  Abzug  für  Amortisationen)  £  2382.  5.  4Vs> 


£r  ward  wie  folgt  verteilt: 

£  Sh.  Pc. 

Zinsen  auf  Cpnostensduiflmiteile  (Jabresmte  5  Proient)  .  695  12  7 
DlTidende  an  Käufrr: 

Käufr  von  Mitpliedfm  l  Sh.  pro  €'   954  15  — 

Kiiufr  \oii  Niclitnütgliedem  6  Pence  pro  £  ,    .    .  58  3  6 
Dividende  au  die  Arbeiter: 

1  Sh.  Mif  jedes  £  Lohn   389  16  — 

Erxiehongsfonds   30  —  — 

VerstchcmDgsfoiKU   100  —  — > 

Unfallvendchemiigsfonds   50  —  *  — 

Reservefonds   100  -  ■ — 

Bilanz  iVortrag)   3  18  3'/« 


«38«      5     4  Vi 


Digitized  by  Google 


Die  Arb«itsteilhaberschKft  in  der  britischen  GenoMemchafttbewcguiiK. 


Es  ist  hierbei  zu  bemerken,  daTs  die  Kaufer,  an  die  iiir  die  ge- 
machten  Kaufe  Dividende  gezahlt  wurde,  Konsumgenossenschaften 
waren.  Die  Genossenschaft  findet  ihren  Absatz  last  ausschlielslich 
in  der  Genossenschaftswelt  und  sichert  ihn  sich  durch  Gewinn- 
beteiligung der  Käufer. 

An  Genossenschaften,  die  Anteile  des  Geschäfts  nehmen,  wird 
höhere  Dividende  gezahlt:  i  Sh*  aufs  Pfund  Sterling  an  Mitglieder. 
Ende  1898  gehörten  dem  Geschäft  331  Konsumvereine  als  Mit- 
glieder an,  die  zusammen  1 1 033  Anteile  hatten.  Die  gesamten  An- 
teile des  Geschäfts  verteilen  sich  wie  folgt: 

331  Genossenschaften  ....11 033  Antcfle 
336  Arbeiter  de«  Gesdilfte  .  .     8734  „ 
198  PriTatpersoncn.*)   8133  „ 

Die  Dividenden  der  Arbeiter  werden  solange  akkumuliert,  bis 
jeder  Arbeiter  mindestens  20  in  der  Genossenschaft  liegen  hat, 
was  heute  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  schon  der  Fall  ist. 
Auf  diese  Wdse  ist  der  Anteil  der  Arbeiter  am  Geschäftskapital 
von  I  Prozent  auf  31  Prozent  heraufgebracht  worden,  und  das  Ge- 
schäft bildet  heute  „eine  Teilhaberschaft  von  Arbeiterkonsumvereinen 
(die  seine  Hauptkundschaft  stellen),  Anteilsbesitzern  aufserhalb  des 
Geschäfts  und  den  Arbeitern  selbst''.  (H.  Vivian,  Partnership  of 
Capital  and  Labour,  London,  S.  6.) 

Dieser  Form  nun  nähern  sich  fast  alle  Produktionsgenossen- 
schaften, die  dem,  mit  der  Labour  Association  eng  verbundenen  Ver- 
band der  Produktion^^nossenschaftien  (.^Cooperative  Produktion 
Federation")  angehören,  wenn  auch  das  Verteilungsverhältnis  der 
Anteilscheine  zwischen  Vereinen  und  Individuen  und  das  der  Ge- 
winne zwischen  Kunden  und  Arbeitern  bei  ihnen  variirt  In  der 
Webereigenossenschaft  „S^lf  Help"  zu  Bumley  gehören  z.  B.  den 
Arbeitern  zwei  Drittel,  in  der  Genossenschaft  Schuh&brik  Kettering 
ein  Drittel  der  Anteilsscheine.  Es  giebt  Genossenschaften,  die  den 
Kunden  eine  höhere  Dividende  einräumen  ab  den  Arbeitern,  solche, 
die  umgekehrt  den  Arbeitern  einen  höheren  Dividendensatz  zahlen, 
wie  den  Kunden,  und  solche,  die  auf  strikte  Gleichheit  halten. 


*)  Ein  grofscr  Teil  davon  frühere  Arbeiter  des  Gesch&As.  Seh  1877  weiden 
an  Einaelpersoaen,  die  nicht  Arbeiter  des  Geschkfts  rind,  keine  Anteile  mehr  ab- 
gegeben. Seit  1889  berechtigt  der  Antcilsichein,  dessen  Nennbetrag  l  ist,  nur 
mm  Besag  eines  festen  Zinssatzes  von  5  Procent  (bis  dahin  7*.'«  Proient).  Darüber 
hinaus  erhilt  „das  Kapital"  nichts. 


414 


Ed.  Bernstein, 


Aber  der  Grundsatz,  dafs  die  Käufer,  die  selbst  Genossenschafter 
sind,  so  gut  wie  die  Produzenten  zur  Teilhaberschaft  am  (Tcuinn 
berechtigt  sind,  gewinnt  immer  mehr  Hoden  und  ebenso  der  Grund- 
satz, dals  dem  ruhenden  Kapitalanteil  entweder  nur  ein  fester  Zins- 
satz, aber  keine  Dividende  oder  nur  Dividende  bis  zu  einer  be- 
grenzten Höhe  (gewöhnlich  7^  ..  Prozent)  zugewiesen  werden  soll. 
So  verleilten  für  das  zweite  Halbjahr  1898: 

Die  Trikotwaren-Genossenschaft  zn  Leiceater 

€    Sh.  Pc. 

5  F'roicht  Dividendi-  ;iut  ( i.  ni>-->rns(-haftsanteile  ....  71Q  7  8 
4  Pence  Dividende  an  kund<*ii  aul  da>  /  verkaufter  Ware  497  15  2 
4  Penee  DiTidende  tm  Arbeiter  auf  jedo  l  Lohn.    .    .    108    16  4 

Die  Genossenschaft  Schuhfabrik  Keitcring 

£  Sh.  Pc. 

aV«  PrawBt  IHvidende  {uAea  5  Proseot  festem  Zins)  an 

Genossensdiaflsaaiteile  75  o  9 

6  Pence  pro  ^  DiTidende  an  Kfinfer  387  4  — 

I  Sh.  6  Pence  pro  £  Lohn  DiTidende  an  die  Arbeiter  .   369  15  — 

Die  KleiderkonfektionS'Genossenschaft  Kettering 

£   Sh.  Pe. 

1V4  DiTidende  (neben  5  Prosent  Sns)  auf  Übertragbare 

Anteilscheine  41    —  4 

4  Pt'nre  pro  /   Dividende  .in  Käufir    .......    195      l  4 

t  Sh.  pro       Lohn  DiWdendr  an  .\rbeiter    .    .    .   .   •    192     9  — 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  wenn  die  an  die  Käufer  zu  zahknde 
Di\idende  nach  dem  Preis  des  fertigen  Produkts  gerechnet  wird, 
dieselbe  Kate  bei  zwei  verschiedenen  Produkten  ein  sehr  ver- 
schiedenes X'orliältnis  vnu  faktischer  Käuferdividende  zu  fakti.scher 
Arbcitslohndividende  ergeben  und  umgekehrt  die  gleiche  Masse 
Dividende  verschiedene  Raten  darstellen  mufs.  So  ist  das  be- 
stimmende Prinzip  bei  den  zwei  zuletzt  aufgeführten  Genossen- 
schaften, von  der  f;iktischen  Profitmasse  40  Prozent  unter  die  Arbeiter 
und  40  Prozent  unter  die  dividendenberechtigten  Käufer  zu  ver- 
teilen, was  dann  die  angegebenen  ganz  verschiedenen  Raten  aus- 
macht. 

Hine  ähnliche  Wrschredenheit  wie  hinsichtlich  der  \'er- 
teiluiig  der  ( \'berschüssc  zeigen  die  Teilhabergenossenschaften  mit 
Bezug  auf  die  X'crteilung  der  Rechte  in  der  Verwaltung.  So  haben 
in  der  Genossenschaft  der  ( irobsammetarbeitcr  \  on  Hebden  Bridge 
die  von  ihr  beschäftigten  Arbeiter  wohl  Stimmrecht  für  die  Wahl 


iJiyiiized  by  Google 


Tüm  Aibeiliteilliabendwft  ia  d«r  biHiidieii  GenoneuMltftftriiewegun^.    ^  j  ^ 

des  GeschäftsvorsUndes,  dürfen  ihm  aber  nicht  selbst  angehören. 
Umgekehrt  wählen  in  der  Equity  Schuh&brik  von  Leiceater  die 
Arbeiter  den  Geschaftsvorstand  aus  ihrer  Mitte.  In  anderen  Teil- 
habergenossenschaften  haben  die  Arbeiter  das  Recht,  eine  bestimmte 
Anzahl  von  Vorstand^nitgliedern  aus  ihrer  Mitte  zu  ernennen. 

Die  Ursache  dieser  Verschiedenheiten  ist  hier  und  da  vor- 
ge&lsten  Doktrinen,  oft  aber  auch  in  den  Umstanden  der  Ent- 
stehung und  Ausbildung  der  betreffenden  Genossenschaften  zu 
sucrhen.  In  der  Hebden  Bridge  Genossenschaft  ward  ursprünglich 
last  das  ganze  Genossenschaftskapital  von  Leuten,  die  nicht  in  der 
Genossenschaft  arbeiteten,  bezw.  von  über  ganz  England  verteilten 
Konsumvereinen  gestellt,  während  die  Equity  Schuh&brik  in  Leicester 
die  ersten  Jahre  &st  nur  über  Kapital  verftigte,  das  die  in  ihr 
thatigen  Arbeiter  im  Verein  mit  Kollegen  von  der  Schuhmacher- 
gewerkschaft angebracht  hatten.  Produkt  eines  Konflikts  in  der 
grolsen  Schuhfabrik  „Wheatsheaf,  welche  die  englische  Grofsein- 
kaufsgenossenschaft  in  leicester  errichtet  hat,  fing  sie  als  Produktiv- 
genoflsenschaft  alten  Stils  an,  um  sich  nach  und  nach  dem  Typus 
der  Teilhaberproduktionsgenossenschaft  zu  nähern.  Aber  ihre  Ver- 
fiuisung  ist  noch  die  alte,  und  im  ganzen  mufs  dieses  Unternehmen 
als  das  Beispiel  einer  erfolgreichen  gewerkschaftlichen  Produktiv- 
genossenschaft bezeichnet  werden,  die  sich  aus  winzigen  Anfangen 
in  verhältnismäls^  kurzer  Zeit  zu  einer  konkurrenzßUiigen  Fabrik 
grofseren  Stils  emporgearbeitet  hat  Ihr  Wachstum  veranschaulichen 
folgende  Zahlen: 


Jahr 

Mitgliedenahl 

Kapital 

Umsatz 

£ 

£ 

18S7 

aao 

420 

2800 

1888 

304 

1430 

8600 

1889 

578 

3480 

13^74 

1890 

708 

4371 

19730 

1891 

737 

4776 

25  »34 

1892 

846 

6666 

33954 

•89.^ 

925 

9009 

33373 

1894 

964 

II  502 

37077 

1895 

1  021 

16 126 

3«  390 

1896 

1  070 

»9595 

47  296 

Der  Rückgang  des  Proportionsverhältnisses  zwischen  Umsatz 
und  Aktienkapital  von  7:1  auf  2,4:1  illustriert  das  Wacbstnm  des 
fixen  Kapitals  der  Genossenschaft,  die  heute  groise  Fabrikräume 


L^iyiii^cü  Uy  Google 


4i6 


Ed.  Bernstein, 


mit  den  modernsten  Maschinen  eignet.  Sie  beschäftigt  zur  Zeit 
zwischen  500  tmd  400  Arbeiter  aller  Grade. 

Im  ganzen  stellt  kein  Gewerbe  so  viele  Produktionsgenossen> 
Schäften  wie  die  Schuh  Warenfabrikation.  Es  wird  sogar  schon  zur 
Zelt  der  Plan  eines  Syndikats  der  genossenschaftlichen 
Schuhfabriken  ernsthaft  inbetracht  gezogen.  Am  15.  Juni 
dieses  Jahres  fand  in  Leicester  eine  von  13  solcher  Fabriken  be- 
schickte Konferenz  statt,  die  nach  Anhören  eines  Referats  über  die 
Natur  und  Vorteile  der  Syndikate  den  Beschlufs  fafste,  den  Vorstand 
des  Verbands  der  Produktionsgenossenschaften  mit  der  Ausarbeitung 
des  Statuts  eines  Syndikats  zu  beauftragen,  das  elastisch  genug  sein 
soll,  den  einzelnen  Genossenschaften  Entscheidungsfreiheit  über  den 
Grad  der  Benutzung  des  Syndikats  zu  belassen. 

Nach  einer  von  der  Labour  Association  im  Juli  1S9S  aufge- 
stellten Liste  verteilen  sich  in  England  und  Wales  die  gewerblichen 
Teilhaberschafts*Produktionsgenossenschaften  gruppenweise  wie  folgt: 


Es  ist  jedoch  zu  bemerken,  dafs  nur  ein  Bruchteil  dieser  Ge- 
nossenschaften dem  Grofsbetrieb  angehören.  Eine  Anzahl  von  ihnen 
sind  recht  bescheidene  Genossenschaften  von  Handwerlo^m  oder  gar 
Hausarbeitern,  und  nur  ein  Teil  dieser  letzteren  Genossenschaften 
zeigt  Anzeichen  eines  nennenswerten  Aufschwungs.  L^eberhaupt  ist, 
wie  schon  bemerkt,  die  weiter  oben  angeführte  summarische 
Statistik  der  I^bour  Association  durchaus  nicht  einwandfrei.  Die 
groisen  Zahlen* sind  offenbar  nur  dadurch  zustande  gekommen,  dafs 
auch  Unternehmungen  lierangezogen  wurden,  die  nur  Produktiv- 
abteilungen von  Konsumvereinen  sind.  Die  Zahl  der  leistungs- 
fähigen selbständigen  Produktionsgenossenschaften  dürfte  mit  fünfzig 
schon  hoch  gcgritien  sein.  Natürlich  wird  dabei  von  solchen  In- 
stituten wie  die  irischen  Molkereigenossenschaften  abgesehen,  die 
auf  ein  anderes  Kapitel  der  ( ienossenschaftsbewegung  gehören. 

Indes  kommt  es,  wenn  sich  einmal  herausgestellt  hat,  dafs  Pro- 
duktionsgenossenschaften groisen  Stils  lebensfällig  siiul.  ni<'lu  so  sehr 
darauf  an,  in  wie  grolser  Anzahl  sie  vorhanden  sind,  als  darauf, 
unter  welchen  Umständen  sie  lebensfähig  sind,  und  ob  sie  danach 


Lederwaren  (hanptsicUich  Sdiuhwerk)  . 

Bauarbeit  und  Holzgewcrbe  

Textilgewerbe  und  Klciderverfertigiing  . 

Metallgewrrbe  

Bucbdnuk   . 


24 
18 

17 

«5 
6 


Verschiedene  Gewerbe 


Digitized  by  Google 


Die  ArbeittteiUMbenchaft.üi  der  britiachoi  GenosaenKhaftabewegiuig.  j^iy 

und  kraft  ihrer  Leistungen  nennenswerte  Bedeutung  für  die  Fort- 
bilduc^  der  Produktionsformen  beanspruchen  dürfen. 

Hier  haben  wir  zunächst  festzuhalten,  dafs,  wenn  auch  einzelne 
dieser  Genossenschaften  für  den  weiteren  Markt  produzieren,  die 
Mehrzahl,  und  obendrein  die  gro&ten  von  ihnen,  ihren  Absatz  fast 
ausschiiiMsüc  h  und  ihr  Kapital  zum  erheblichen  Teil  in  den  Konsum- 
vereinen  hnden.  Man  kann  daher  diese  neueren  Genossenschaften 
als  ein  Gewächs  auf  dem  Boden  der  Konsumvereinsbewegung  be- 
zeichnen und  die  Frage  auch  so  stellen,  ob  sie  nicht  doch  mit  Bezug 
auf  diese  nur  eine  parasitäre  Erscheinung  darstellen. 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  ist  nicht  ganz  einfach.  Für  den 
Konsumverein,  der  z.  B.  aus  der  Kcjuity  Fabrik  in  Leicester  Schuhe 
bezieht,  niaj^  sich  die  Sache  scheinbar  ganz  gut  lohnen,  er  mag 
im  Durchschnitt  am  Paar  Schuhe  dieser  Marke  soviel  oder  vielleicht 
noch  et\va.->  mehr  verdienen,  wie  an  solchen  irgend  einer  anderen 
Fabrik.  Kr  wird  aber  doch  der  Verlierer  sein,  wenn  der  Käufer  sie 
zu  leuer  bezahlt  und  dadurch  in  seinem  Konsum  anderer  Waren 
!:)eeinträchtigt  wird.  Auf  einen  ^rol'sen  Teil  der  Konsum\creins- 
niiti^lieder  wirkt  nun  der  h'abrikatsstempel  einer  (ienossenschaft 
unzweifelliaft  als  Reizmittel,  flas  sie  beim  Kauf  beeinflufst,  und  so 
könnte  bei  dem  Umfan;^,  den  der  Konsunnereinsmarkt  allmählich 
angenommen  hat,  eine  ziemliche  Zeit  vergehen,  bis  es  sich  allge- 
mein herausstellt,  dafs  für  das  betreffende  Produkt  ein  zu  hoher 
Preis  verlangt  wird.  Im  Falle  der  Equity  I'al)rik  i>t  eine  solche 
Ueberteuerung  nun  nirht  anzunehmen,  da  sie  mit  zu  vielen  ( ie- 
nossenschaftsschulifabriken  zu  konkurrieren  hat,  darunter  die  beiden, 
auf  noch  \'iel  gröfserem  Mafsstab  produzierenden  Schuht  iln  iken  der 
Grolseinkaulsgenossenschaft,  aber  bei  anderen  Fabrikalionszweigen 
ist  ein  derartiges  parasitäres  X'crhältnis  nicht  ausgeschlossen. 

Wo  es  indes  nicht  stattfindet,  wö  die  genossenschaftliche  habrik 
wirklicii  ihre  Erzeugnisse  den  Konsumenten  zum  Marktpreis  liefert^ 
da  wird  die  I  hatsarhe,  dafs  sie  sozusagen  ein  sekundäres  Organ 
des  (ienossenschaft.skörpcrs  darstellt,  ihrem  Wert  nichts  neiimen, 
sofern  sie  nur  sonst  als  ein  hOrtschritt  gegenüber  der  bisherigen 
Produktionsfortn  bezeichnet  werden  kann. 

Ist  dies  jetlocii  der  hall? 

Es  sind  da  drei  ( iesichtspunkte  zu  berücksichtigen:  die  mate- 
riellen bezw.  Kinkoniniensverhältnisse  der  beschäftigten  .Arbeiter, 
ihre  rechtlichen  \  crhältnisse  im  Unternehmen  und  die  allgemeine 
soziale  Wirkung  desselben. 


Digitized  by  Google 


418 


Ed.  Bernttcin, 


W'as  die  Krsieren  betrifft,  so  ist  vielfach  bestritten  worden, 
die  Produktions^'cnossenschaften  einen  in^'cndwie  nennenswerten 
materiellen  Vorteil  für  die  in  ihnen  bcschäfti^ften  Arbeiter  zur  Fol^e 
hätten,  und  es  kann  in  der  That  nicht  ^^elcuf^net  werden,  dafs  in 
vielen  Fällen  die  Mehreinnahme  der  Arbeiter  eine  sehr  geringe 
war  und  durch  mancherlei  Nachteile  erkauft  wurde.  Aber  man 
vergleicht  dabei  gewöhnlich  sehr  verschieden  geartete  Unternehmen, 
z.  B.  eine  wohleingerichtete  kaj)italistische  Fabrik  mit  einer  im 
mühsanun  Aufkommen  begriffenen,  kapitalarmen  (ienossenschaft. 
Dafs  jedoch  bei  sonst  gleichen  Umständen  die  (ienossenschaft  ihrea 
Angestellten  ein  besseres  Einkommen  muls  gewähren  können,  als 
das  kapitalistische  Unternehmen,  versteht  sich  eigentlich  von  selbst, 
da  der  Kapitalprofit,  bezw.  der  k^talistische  Untemehmergewinn 
hier  dispcMubel  wird.  Und  diese  Gleichheit  der  Umstiiide  ist  heute 
schon  in  verschiedenen  Fällen  da  und  wird  durch  die  wachsende 
Kapitalakkumulation  der  Genossenschaften  immer  mehr  ermöglicht 
Da  aber  die  Profitrate  allgemein  im  Fallen  b^ifien  ist,  so  wird 
auch  die  Genossenschaftsdividende  eine  immer  kleinere  Rate  aus* 
machen.  Dies  namentlich  dort,  wo  den  Anteilen  ein  höherer  Zins- 
satz vorweg  angewiesen  wird.  Nun  erhohen  aber  eine  Genossen- 
schaft nach  der  anderen  den  Mindestsatz  von  Anteilen,  den  der  be- 
scbäftigte  Arbeiter  erwerben  soll,  so  dals  ein  immer  gröberer  Teil 
des  KapitaNoses  fektisch  an  diesen  zurückfUeTst,  wShrend  der 
andere  an  Kunden  aus  der  Genossenschaftswelt,  d.  h.  Arbeiter- 
konsumvereine  geht  (Nebenbei  sei  bemerkt,  dals  von  den  Ar- 
beitern nicht  verlangt  wird,  die  Anteilsschcine  durch  Bezahlung 
zu  erwerben,  sondern  nur,  ihre  Dividenden  oder  einen  Teil  der- 
selben solange  sich  auf  Anteilkonto  gutschreiben  zu  lassen,  bis  die 
genügende  Zahl  von  Anteilen  —  5,  10  oder  20  angesammelt  ist.  — 

Es  ist  ferner  verschiedentlich  (u.  a.  auch  von  Frau  Webb)  be- 
hauptet worden,  dafs  die  Produktionsgenossenschaften  ihren  Arbeitern 
in  der  Regel  unternormalc  Löhne  verrechnen  und  daher  häufig  von 
den  (iewerkschaften  L'es|nTrt  werden.  Unbestritten  sind  solche 
Fälle  vorgekonmien,  aber  sie  nehmen  mit  dem  Wachstum  der  Ge- 
nossenschaften ab.    Von  der  iiquity  Schuhfabrik  sagte  der  ücneral- 

')  Allerdings  vrrüins<-n  die  Genosseoscbaften  ihr  Leihkapital  gewöhnlich  noch 
zu  hoch.  Es  sind  aber  j^<  r:*dc  jetzt  Si  liopfunqen  im  Wrrk,  aucli  diesem  Uebel  abzu- 
helfen,  l'ehrigens  sind  die  /inscmpfanj,'cr  tiirr  oft  si  lbst  wieder  Arbeiter,  die  ihre 
Ersparuii&c  in  der  Gcnosscubcbafl  aU  Leihkapital  dcpunicrcn. 


Digitized  by  Google 


I 


Die  AibdlsteiUuibencbftft  in  der  britiaclien  GcnoMeniclwftsbeweginiK.  ^ig 

Sekretär  der  Schuhmachergewerkschaft  T.  Inskip  am  25.  Februar  1898 
vor  der  Königlichen  Arbeitskommission  aus: 

„Nach  flliif  Jahren  praktischer  Erfahnag  bin  ich  der  Ansicht,  dafs  die 
auf  der  Arbeitsteilhaberscbaft  beruhende  genossenschaftliche  Produktion 
nfthczu  alle  Schwierigkeiten  zwisclien  Kapital  und  Arbeit  beseitigen  würde. 

„Alle  erwachsenen  männlichen  Arbeiter  ider  Genossenschaft)  sind  Mit- 
glieder der  Gewerkschaft,  und  doch  hat  sie  in  der  ganzen  Zeit  ihres  Be- 
stehen-» die  Gewerkschalt  nicht  cintn  I'fennig  gekostet. 

Heute  legen  fast  alle  Produktionsgenossenschaften  ihrer  Lohn- 
berechnung die  Normalsätzc  der  Gewerkschaften  zu  gründe,  und 
wenn  die  Dividende  auch  im  Durchschnitt  selten  lO  Prozent  über- 
steigt, so  ist  sie  darum  nicht  minder  reell. 

Was  die  rechtliche  Stellung  der  Arbeiter  in  der  Produktions- 
genossenschaft mit  .-Xrbeitsteilhaberschaft  anbelangt,  so  liegt  es 
eigentlich  schon  in  dem  Namen  ausgedrückt,  dafs  es  sich  nur  um 
ein  Recht  der  Mitbestimmung,  nicht  um  die  ausschliefsliche  Re- 
gierung in  der  Fabrik  handelt.  Ks  ward  schon  gezeigt,  dafs  der 
Grad  der  Mitbestimmung  bei  den  verschiedenen  Genossenschaften 
wechselt.  Im  allgemeinen  kann  das  alte  Gcnossenschaftsidcal  der 
„Selbstregierung  in  der  Werkstatt"  —  the  sclf-governing  Workshop  — 
als  aufgegeben  betrachtet  werden.  Die  Praxis  hat  seine  Unzweck- 
mäfsigkeit  gelehrt.  „Als  unsre  Vereine",  heifst  es  in  einem  polemi- 
schen Artikel  der  „l^bour  Co-partnership",  „unter  dem  Druck  der 
Umstände  (!)  von  der  Theorie  der  selljstregierenden  Werkstatt  teil- 
weise zur  Teilhaberschaft  übergingen  und  die  neue  Methode  noch  nicht 
endgültig  acreptiert  war,  traf  der  (von  einem  Kritiker  erhol)ene)  Tadel 
vielleicht  für  die  älteren  Leute  ins  Schwarze.  Jetzt  aber,  wo  die 
Arbeitsteilhaber.schaft  unser  bestimmtes  Ziel  i.st  und  wir  zu  den 
früheren  Idealen  weder  zurückkehren  k  ö  n  n  e  n  n  och  wollen, 
.sollten  un.scre  Kritiker  allmählich  begreifen,  dals  sie  mit  ihren  Hin- 
weisen auf  die  „selbstregierenden  Werkstätten"  in  die  Luft  schlagen" 
(„Co-partnership",  Januar  l89<);. 

Damit  aber,  dafs  die  Selbstrcgierung  der  Fabrik  durch  die  ihr 
angehörenden  .Arbeiter  tmd  ihr  l'ebergang  in  deren  Eigentum  prin- 
zipiell aufgegeben  wird.  hTiri  incht  nur  die  Schwierigkeit  auf,  an 
welcher  die  früheren  Pruduktivgenosscnschaften  scheiterten,  wenn 
sie  nicht  an  Kapitalmangel  zu  grinidc  gingen  —  tlas  Problem  der 
Di.sziplin  —  es  wird  auch  der  Tendenz  entgegengewirkt,  der  die 
erfolgreichen  (ieno.ssen.schaften  erlagen,  nämlich  der  Sucht,  sieli  nach 
aufsen  hm  abzuschlielscn ,  bezw.  die  Zulassung  neuer  Mitglieder  zu 

Archiv  für  tos.  Geseugebung  u.  StatUtik.  .\IV.  27 


uiyiii^üd  by  Google 


420 


Ed.  Bernstein, 


erschweren,  sobald  das  Geschäft  Hrtra«;^  abwarf.  Der  Arbeiter  er- 
w'irbt  eiiRii  Rechtstitcl  an  dem  Unternehmen,  in  dem  er  arbeitet, 
der  ^aols  ^enu<^  ist,  ihm  eine  gröfsere  Sicherheit  und  Annchmhch- 
keit  des  Arbeitsvci  iiältiiisses  zu  bieten,  als  er  sie  in  der  kapitalisti- 
schen i  ahrik  ^enielst,  aber  nicht  nrrofs  <^enug,  ihn  in  Gegensatz  zu 
den  Arbeitern  in  andern  Unternehmungen  zu  bringen,  (ierade  der 
Umstand,  dafs  er  seinen  Anteil  an  den  Ueberschüssen  beständig 
mit  Aufsenstchcndcn  teilen  muis,  ist  in  dieser  Hinsicht  ein  grosser 
Vorzug. 

Und  damit  ist  auch  drittens  die  soziale  Rückwirkung  des  Teil- 
habcrschaftsprinzijis  in  der  Geno.Nscnschaftsfabrik  angezeigt.  Wo  es 
überhaupt  in  lebensfähigen  l'nternehmen  durchgeführt  wird,  muls 
es  notwentlig  den  beteiligten  Arbeiter  heben,  aber  es  führt  nicht  zu 
seiner  Ueberhebung.  I'!s  macht  ihn  nicht  nur  nicht  zum  l'nter- 
nehmer,  es  täuscht  ihn  auch  nicht  mit  der  Illusion,  Unternehmer 
zu  sein.  Seine  reilhabei>chaft  am  Unternehmen  steht  seiner  gröfseren 
Teilhaberschaft  im  ( lemeinweseti  seines  Berufs,  seiner  Klasse,  des 
Staats  nicht  im  Wege,  l)as  1  eiihaberschaftsprinzip  ist  wesentlich 
ein  demokratisches  Prinzip. 

Aber  all  das  ist  noch  kein  Heweis  für  die  Notwendigkeit  und 
Zweckmälsigkeit  der  Errichtung  von  Teilhaljerscfiaftsgenossenschaften. 
Sie  würden  überflüssig  und  zweckwidrig  sein,  weiui  das,  was  durch 
sie  erreicht  werden  kann,  durch  andere  Mittel  schneller  und  leichter 
für  die  Allgemeinheit  zu  erzielen  ist.  Die  Praxis  hat  gezeigt,  dafs 
der  Aufbau  einer  Arbeitsteilhaberschafts-(ienossenschaft  keine  sehr 
einfache  Sache  ist.  In  vielen  (iewerben  ist  sie  erst  in  kleinen  An- 
fangen da  (so  z.  B.  in  der  Maschinenbranche),  aus  einer  ganzen 
Reihe  von  Unterneinnungen  (die  grolsen  Transjiortanstalten  etc.  t  ist 
sie  wegen  deren  Gröfse  ausgeschlossen.  Die  Demokratie  in  Staat 
und  (lemeinde  kann  dagegen  nüt  einem  Schlage  Reformen  zur 
Heining  der  Arbeiterklasse  durchsetzen,  zu  deren  X'erwirklichung 
hunderte  und  tausende  von  Genossensciialten  nicht  ausreichten,  und 
gut  organisierte  Gewerkschaften  können  elurrh  eine  umsichtige  de- 
werbepolitik  Verbesserungen  im  (iewerbe  erzielen,  die  in  dieser 
Allgemeinheit  die  Teilhabei^enossenschaft  ebenfalls  nicht  durch- 
fuhren kann,  ao  lange  sie  nicht  selbst  stark  verallgemeinert  üst. 

Es  fragt  sich  also,  ob  die  Kraft,  die  auf  diese  Produktions- 
genossenschaften verwendet  wird,  nicht  als  vergeudet  zu  l>etrachtcn 
ist,  als  eine  Ablenkung  von  zweckmäisigerer  Reformthätigkeit.  Es 
ist  dies  der  Gesichtspunkt,  unter  dem  solche  Unternehmungen  zuletzt 


Digitized  by  Google 


Die  Arbeilsteilliaberschaft  in  der  britischen  GeoossenschafUbewegung. 

beurteilt  sein  wollen,  denn  irgend  ein  bestimmtes  Ziel  gestellt,  ist 
die  entscheidende  Frage,  was  fordert  und  was  verzögert  die  all- 
gemeine Erreichung  des  Ziels.  Wenn  es  gelii^  das  allgemeine 
Niveau  von  Millionen  um  ein  noch  so  kleines  Mals  zu  heben,  so 
ist  das  sicher  sozial  von  grolserem  Wert,  als  wenn  das  Niveau  von 
ebensoviel  Zdintausenden  um  das  zehn-  oder  zwanzig£ache  gehoben 
würde  —  vorausgesetzt,  dafs  diese  Hebung  jener  im  W^fe  steht 
Das  mufs  im  vorliegenden  Falle  für  die  Gegenwart  Englands 
indes  bezweifelt  werden.  Es  fehlt  der  Demokratie  in  Staat,  Ge- 
meinde und  Berufs  verbänden  nicht  an  Kräften,  es  fehlt  ihr  aber  viel'' 
fach  an  Möglichkeiten  des  Eingreifens.  An  der  gegebenen  Form  und 
•Struktur  der  gewerblichen  Unternelimungen  findet  die  Gewerkschafts* 
politik  und  ebenso  auch  die  sozialreformatorische  Gesetzgebung  und 
Verwaltung  wiederholt  Grenzen,  über  die  sie  nicht  hinaus  können. 
Die  Weiterbildung  dieser  Formen  ist  daher  eine  Vorbedingung  der 
gesteigerten  Thätigkeit  jener  Kräfte.  Staat  und  Gemeinde  können 
in  den  ihnen  in  iiiinicr  ^röfserein  Umfange  zufallenden  Belriebs- 
unternehmungen  viele  Reformen  durchführen,  aber  der  Umkreis 
dieser  Unternehmungen  ist  bei  alledem  beschränkt.  Ebenso  haben 
wir  gesehen,  dafs  selbst  die  grofsen  Zentraleinkaufsgenossen- 
schaften, diese  „Staaten  im  Staate",  sich  Beschränkungen  hinsicht- 
lich der  Uebernahme  von  Produklionsanstalten  selbst  da  auferlegen, 
wo  es  sich  um  Artikel  handelt,  für  die  sie  einen  fast  sicheren  Markt 
haben.  Die  erspriefsliche  Eigenproduktion  dieser  grofsen  Institute 
findet  ihre  tirenze,  wo  die  Mugüchkeit  aufliört,  von  einer  Zentral- 
stätte aus  die  verschiedenen  Produktionsinstitute  zu  leiten  oder  selbst 
nur  zu  übersehen.  Von  diesem  Punkt  ab  wird  eine  stärkere  DifTe- 
renzierung,  bezw.  eine  VerselbstSndigung  der  Letzteren  uneriäfidich, 
statt  der  zentralistischen  die  föderative  Verbindung.  Und  iör  diese 
relative  Verselbstandigung  oder,  von  einer  anderen  Seite  her,  fOr 
den  Aufbau  eines  föderativen  Zusammenhanges  zwischen  Produktions- 
und  Vertriebsorganisationen  scheint  die  Teilhaberproduktions^ 
genossenschaft  eine  geeignete  Form.  So  wenig  sie  ab  eine  F^naoee 
bezeichnet  werden  kann,  so  wenig  kann  ihre  Entwicklung  als  eine 
der  Beobachtung  unwerte  Sache  bezeichnet  werden. 


27« 


L  iyiii^üd  by  Google 


MISZELLEN 


Die  Statistik  der  Unfall-  und  Krankenversicherung 
der  Arbeiter  in  Oesterreich  für  das  Jahr  1896. 

Von 

Dr.  OSKAR  ENGLÄNDER, 

in  Prag. 

Im  XIL  Bande  dieaer  Zdtschiift  Seile  64781  finden  sich  die 
wichtigsten  Ergebnisse  der  Statistik  der  (fsteneichischen  Arbeiterver- 
Sicherung  ron  ihrem  Beginn  bis  snm  Jahre  1895  znsammengestdlt.  Da- 
selbst  ist  auch  alles  angegeben,  was  zum  Verständnis  der  Zittern,  not* 
wendig  ist.  Fortab  sollen  diese  Berichte  alljährlich  fortgesetzt  werden. 
Um  nicht  die  gleichen  Erläuterungen  Jahr  für  Jahr  wiederholen  zu 
miissen,  l)eschränke  ich  mich  auf  die  Mitteilung  des  Ziffernmaterials  und 
verweise  mit  Anmerkungen  auf  jene  Stellen  des  ersten  Berichtes,  welche 
mit  /u  berücksichtigen  sein  werden.  Den  Ziffern  für  das  Berichtsjahr 
,  werden  die  konespondierenden  Angaben  fOr  die  beiden  voihexgehenden 
Jahre  beigegeben,  um  die  Vergleichung  zu  erleichtern.  Zeitliche  Be- 
aeilningen  Uber  die  Entwidüung  der  Osterreichischen  Arbeiterversiche- 
rung unterlasse  ich  in  diesen  Jahresberichten.  Dergleichen  Unter- 
suchungen werden  zweckmäfsigerweise  dann  zu  wiederholen  sein,  wenn 
wieder  das  Material  für  eine  längere  Reihe  von  Jahren  vorliegt 

A.  Unfallversicherung. 

I.  Versicherungsbestand 

im         gewerbliche         Imndwiitichaftliche  im 
Jahre  Betriebe  Betriebe  ganzen 

Zahl  der  versicherten  Betriebe  am  Jahresschlüsse 

iSq4  66690  125336  192026 

1S95  81 516  »34257  215773 

1896  86658  137649  224307 


iJiyiiized  by  Google 


Oskar  Engländer,  Unfall-  a.  Krankenversicherung  d.  Arbeiter  in  Oesterreich.  423 


im 

Cewcrtdidhie 

UndwiilsdMftlidw  im 

Jahre 

Betriebe 

Betriebe  gaiuea 

Versicherte  Penooen  im  Uhrctduichschnitte 

1894 

I  124675 

473729  1598404 

189s 

1  381307 

495887  1877194 

1S96 

147«  «75 

503369  1974644 

lune  in  Milliflnfii  FL  a  W. 

1894 

390.9S 

3.96  3«4.94 

1895 

433.33 

3.99  437.3« 

1896 

470i»5 

3,84  474^ 

Unter  den  Veracherten  wuen 

Arbeiter 


im 

Betriebs- 

voUcntlohnte 

Kind 

er 

im 

Jahre 

beamte 

männlich 

weiblich 

männlich 

weiblich 

gatueo 

1894 

32530 

937453 

502  840 

108074 

17507 

1  589404 

1895 

96707  >) 

1 127214 

531 »»S 

»07  43» 

»47^7 

I  877  »94 

1896 

106935  *) 

1  «>09S8 

544 «43 

110529 

II609 

1974664 

Wird  das  Personal  der  landwirtschaftlichen  Betriebe  ausgeschieden, 
so  waren  von  je  zooo  versicherten  Arbeitern  in  gewerblichen  Betrieben 

Erwachaoie  Jagendliche 
im  Jahre      mlimÜHi  wdbUch        mtimlirh  weibUdx 

1894  697        »37  54  IS 

1895  695        »43  S«  «o 

1896  717        237  48  8 

Die  freiwillige  UnfaUvenBchening  beschränkte  sidi  1896  anf  4526 
Betliebe  und  11682  Personen  mit  einem  Lohnbetrage  von  324232  Fl. 

Die  einschläfrigen  Verhältnisse  der  einzelnen  territorialen  Versiehe- 
ningsanstalten  waren  1896  die  folgenden: 


Versicherte  Personen 


1896 

Zahl  der 

Aa- 

ver> 

Be- 

Arbeiter 

italtn 

sicherten 

triebs- 

voUentlohnte 

Kinder 

im 

inMill. 

in 

Betriebe 

beamte 

männl. 

weibl. 

minnl. 

weibl. 

ganzen 

Fl.o.W. 

Wien 

34  if>o 

7907 

242  738 

81046 

«6553 

2469 

356713 

120,82 

Salzburg 

17562 

I  284 

86054 

30276 

6483 

1785 

125882 

25.04 

86825 

11655 

374970 

998 161 

«9999 

3683 

638468 

197,36 

$8238 

6999 

19977a 

15s  335 

56570 

9597 

417503 

Graz 

11923 

I  3'» 

65541 

12062 

5  «5» 

217 

84284 

22,00 

Triest 

3399 

1037 

36  264 

10294 

2309 

657 

50561 

14,15 

Lemberg 

12  162 

4124 

75*56 

26714 

1 916 

271 

108281 

n.98 

Berafi^aa 

lonmchal 

U.  Ammlt  d.  Mmri 

r.  EiMii> 

38 

733«7*) 

190333 

3755 

1547 

19895a 

9«,90 

1914307  106935 

1 900998 

544643 

1 10599 

11609 

1974644 

474.09 

*)  Hierbei  ist  das  itliidife  Penoaal  der  EiienbaluMia  sn  den  BetiidiAeamten  gcrediMt 


Digitized  by  Google 


434 


Mimlltn 


Ueber  die  Verteilung  der  Betriebe  mit  Anwendung  von  Motoren 
nach  Unfallversicherungsanstalten,  sowie  über  die  Art  der  verwendeten 
Motore  erteilen  die  nachstehenden  Uebersichten  Auskunft. 


Betriebe  mit 

Anzahl  der  hierbei 

1896 

Anvcndunp  von 

verfügbaren 

Aortaltcn  in 

BfotorcB 

Pfcrdekxifte 

Wien 

ajaoo 

156839 

13 146 

8858a 

Plag 

«7575 

4>3047 

Brünn 

52079 

196  861 

Gnu 

7584 

90557 

Triest 

1 195 

22  576 

Lemberg 

8165 

69205 

172944 

* 

1 037  667 

• 

Es  wurden  veiwern 

det: 

1S95 

1896 

18975 

19356 

19764 

IS7I 

1688 

I  826 

35012 

37489 

37027 

122  1S8 

129939 

»33  3t'2 

693 

968 

1417 

Dampfkeuel  ohne  Motore  , 

4538 

5577 

587^« 

1039 

taoS 

Anfiwrdcm:  Enengmg  vei 

i  csplodicreoden  Stoffen 

3084 

331* 

3067 

Uebeffaaapt:  Zahl  der  Betriebe  anter  Amrendong 

159068 

168686 

172944 

910  108 

10164x0  I 

037667 

Nach  den  wicbtigaten  Betriebsgroppen  >)  gegliedert  stellt  »ch 
der  Verncheningsbestand  nachAusscheiduDg  der  LwidwirticlMft  folgender- 
maften  dar: 

Ansahl  der 
Betriebe 

1895  1896 

Ibw  MShlenbetrieb    ....  13044  12976 

n.  EiMababnen  ....  74  90 
DL  Hüttenwerke  and  deren 

Nebenbetriebe     .    .    .  334  39 1 

IV.  Steine  und  Krden    .    .  13590  14440 

V.  Metallverarbeitung  .    .  2341  2465 

')  Vgl.  in  dieiem  Archiv  XU.  Bd.  S.  653  f. 


Versicherte  LohBianune  in 
Penoocn  Min.  Fl.  ö.MT. 


189s 

1896 

1895 

1896 

«774« 

37161 

5.98 

5.» 

17a  695 

904305 

89i99 

95>44 

29026 

31926 

»3.SO 

15.47 

149356 

»55567 

34,65 

37,4» 

62755 

65105 

»4.70 

26,78 

Digitized  by  Google 


Oskar  Englander,  UnfaU- u.  KraakciNvviicbcniiig d.  ArbeHcr in  Oesterreich. 


Anzahl  der  Versicherte  Lohnsummc  in 

Betriebe  Pcnooca  MilLFL&W. 


1095 

I09D 

1095 

1095 

VI.  MMchincn,  Werioenge, 

Apparate,  Instmmeille . 

1431 

1471 

73955 

79307 

36,38 

40,29 

Vll. 

Chemische  Industrie 

704 

19215 

19749 

6,60 

6,85 

VDL 

Heiz-  und  I.>ucbtstoffr, 
Ocle ,    Beheizung  und 

Beleucbtong  .... 

84s 

893 

143»8 

«5364 

6,28 

6,86 

IX.  TcxHUiidiittrie   .  .  . 

«74S 

2810 

265  248 

266976 

68.34 

7  »,03 

X. 

Papier,  Leder  o.  Gummi 

1516 

1533 

51 170 

52290 

16^ 

17.43 

XL  Hob-  md  Sclinitnlaire 

7947 

8S67 

58707 

62630 

14,87 

15,85 

Xn.  Nahningi>  und  Gcotift- 

mittel  

4526 

4568 

135005 

136239 

38-52 

40,74 

XIII. 

Brkleidg.  u.  Reinigong 

570 

605 

23240 

24863 

7,51 

8,03 

XIV.  Baugewerbe  .... 

17  696 

18999 

227059 

246697 

44-22 

53.49 

XV.  Polygraph.  Gewerbe  . 

482 

501 

19041 

20020 

10,03 

10,71 

TranipotiHHeindimg. 
au>  chlielfL  d.  Eisen- 

bahiiml  n.  Baggereien 

S014 

8606 

29567 

32896 

10,24 

11,24 

XVI 

Strafsenreinigungsunler» 
nehmangen,  Untemeh- 
nninnen  »tr  Instand - 

hallung  von  Bauten ; 
BcmftfenerwebreD .  . 

1337 

1437 

4038 

4008 

I.I9 

I.ll 

Thcatefwiteiiidiingii. . 

58 

5« 

4354 

4536 

«.59 

1.77 

Waradagcfbcftriebe  . 

1096 

1587 

757« 

100S4 

a.47 

3.5S 

im  ganaen 

784S1 

8s  403 

137406s 

I4S9S9S 

433,33 

469,93 

Unter  Berücksichtigung  der  thatsac  hliclu-n  Arbeitszeit  der  einzelnen 
Betriebe  berechnet  sich  danach  für  eine  300  ugige  Beobachtung  die 
Amdü  der 

Vulliirbt  iicr  '  \  in 


im 

gewrrblichrn 

landwirlMThaftlicben 

sämtlichen 

Jahre 

Betrieben 

Betrieben 

Betrieben 

1894 

9Ö2577 

27  110 

989957 

1895 

I  189148 

27583 

1216731 

1876 

1257550 

258B3 

t  383433 

Die  Zahlen  über  die  Vollarbeiter  sind  es,  welche  sowohl  der  I^hn* 
Statistik  als  auch  der  Berechnung  der  Unfallgefahr  zu  Grunde  Hegen. 


')  Vgl  a.  a.  U.  XU.  Bd.  S.  657. 


L  iyiii^üd  by  Google 


426 

TL  Lohnstatistik. 

Durchschnittlicher,  bei  der  Berechaung  des  Versicheruogsbeitrags  angerechneter 

tiglicher  Arbeitsverdienst  eines  Verndieiten  (in  FL  9.  W.) 

Betriebsgruppen  1891  1892  1893  1894  1895  iS'y> 

Ib.  Mühlenbetrieb   0,84  0,84  0,87  0,9 J  0,95  0,94 

Tl.  Eisenbahnen   1,59  1,67  l,6o  1,69  1,83  1,86 

HL  Hüttenwerke    und  deren 

Nebenbetriebe   1,57  1,60  l,6l  I,6l  1,66  1,64 

IV.  Steine  und  Erden    ,    .    .  0^96  0^99  1,05  I.IJ  1,13  1,14 

V.  MetallTcnriieitiae   .   .   .  1,31  1,34  1,39  1,4a  1,38  1,44 
VL  Maschinen,  Wericzenge,  In- 

stmmente,  Apparate.   .   .  1,69  1,67  1,70  1,73  1,68  1,75 

Vn.  awmiadie  üidastrie .  .  .  0,99  tjm  ifls  1,09  1,13  1,14 
VUL  Heia-  n.  Lenchtstofle,  Ode, 

Bdieiaiuig  tmd  Belcuchtimg  1,30  1,38  1,38  1,44  147  1,47 

DC  Textilindustrie   0,84  0,86  0,86  0,88  0^90  0^93 

X.  Papier,  Lcder  and  Gummi  0,98  0,99  1^2  1^  1,13 

XL  Hoia-  and  Sdudtistoffe    .  0,91  0^96  0,99  1,08  1^  1,06 

Xn.  Nahrangs*  u.  Gennfsmittel  0,81  o39  0,9s  0,94  0,98 

XnL  Bekleidung  und  Rcinigu^  0,95  ifi9  ijog  1,11  t,i3  1,14 

XIV.  Bangewerbe   1,03  I.00  1,06  i,to  1,14  i,t6 

XV.  Polygraphische  Gewerbe  .  1,54  1,65  1,73  1,73  1,75  1,80 


DorchschnittUch  1,03  1,06  1,09  1,11  i,si  1,24') 

UnfaUversicberungaanstalten 

Wien   1,31  1,39  1,43  1.47  1,5«  «»5« 

Salzburg   1,19  1,14  1,12  1,12  1,09  1,15 

Praj:   0,94  0,95  0.98  0,98  0,99  1,04 

Brünn   0,86  0,93  0,92  0,95  0,97  0,98 

Graz   1,14  1,13  1,16  1,18  1,19  1,21 

tkiest   I.0I  1,09  i.os  1,07  1,11  1,12 

Lemberg   0,6$  0^67  0^71  0,73  0,71  0^74 

Eisenbahnen   1,37  1,66  1,67  1,69  1^3  1*84 

im  ganien  i/>3  1^6  1^09  Ml  l^l  1,34 


>)  Vgt  a.  a.  O.  Xn.  Bd.  S.  658  f. 

.*)  Darunter  die  aufolge  des  Ausdehnungsgesetaes  dnbeaogenen  BetriebiartcB 
mit  folgenden  Durdtschnittslöhnen:  Traasportuntemehmungen  (anwcMieftlich  der 

Eisenbahnen)  und  Baggereien  1,23,  Strafsenreinigung,  Instandhaltung  von  Bauten, 
Berafsfeocrweliren  1,07,  Theateruntemebmungen  1,57,  Warenlagerbetriebe  1,34  Gulden. 


Digitized  by  Google 


OskarEngländer,  Unfall»  u.  Krankenversicherung  d.  Arbeiter  in  Oesterreich.  42jr 


m.  Unfälle.  Es  worden  eistattet 

im  UnfiOb. 
Jahn  mdfeii*) 

1894  40259 

1895  54$** 

1896  646SS 


•«f  je  10000 
VoUarbeiter 

406.7 
503.« 


Nadi  der  Entschädigungspflicht  gliedern  sich  diese  Zahlen  folgender- 

Unftlle,  die  olme  RnfiriilHigmig  blieben 


im 
Jahie 


Entsch&- 
dignngs- 
fälle 


UiifSlle, 
die  keine 
Entachi« 

digung 
begrün- 
deten 


weil  die  Er- 
werbsunfähig- 
keit weniger 
als  4  Wochen 
dauerte 


weil  der 

Unfall  sich 
nicht  beim 
Betriebe 
ereignete 


weil  der  Be- 
trieb nicht 


pflichtig  und 
nicht  freiwillig 
▼ersichert  war 


ans 

sonstigen 
Gründen 


1894     12552  27707 

26077 

854  182 

594 

1895    16395  3SI67 

355»! 

1541  318 

797 

1896     18544  46111 

4*392 

1 906  131 

1  692 

Unter  den  zu  entschädigenden 

UnfiÜlen  hatten  zur  Folge: 

danerade  vorflbergehende '^j 

im  Jahre 

Tod 

Erwerbsonföhigkeit 

1894 

670 

3701  8181 

«895 

4924  lo6j6 

1896 

939 

$399  13316 

Es  entfielen  demnach  auf  je  loeoo  versicherte  VoUarbeiter 


dauernde  vorttbergebende 


im  Jahre 

Tod 

Erwerbsunfähigkeit 

1894 

6.8 

37,4  8a,s 

i«9$ 

6,8 

40.S  87.4 

1896 

7.a 

43,1  95.3 

Fntschädi- 
gungsfälle 
flberliaupt 
116.8 

I34t7 
144.S 


Unßllf.  die  kfinp 
Entschädigung 
b^^rilndetflB 

«79.9 

3«3.7 
357.3 


Der  gesteigerten  Zahl  der  Unfallsanzeigen  entsprechend  haben  auch 
die  Klagen  bei  den  Schiedsgerichten'')  erheblich  zugenommen. 
1896  wurden  deren  2  26S  eingebracht,  darunter  936  wegen  Ablehnung 
der  Entschädigung. 

*)  Vgi  «.  a.  O.  Xn.  Bd.  &  69a. 
")  Jedoch  von  mehr  als  4  Wochen. 
VgL  a.  a.  O.  Xn.  Bd.  S.  663. 


Digitized  by  Google 


438 


MisKUen. 


Ueber  die  Verteilung  der  Unfälle  des  Jahres  1896  auf  die  einzelnen 
Versicherungsanstalten  erteilt  die  nachstehende  Uebersicht  Auskunft 


■  nfallsfol^t  Vi 


AllBVliICCn 

t/BHUJI* 

£m  cimciiMii|gcmic 

•  1  fhende 

• 

u 

anwigen 

UnfiÜle 

EnrcrbMmlthic^it 

Wien 

34546 

51*4 

3018 

1984 

18a 

Salsbnrg 

3008 

913 

576 

286 

51 

Prag 

12896 

5230 

342« 

I56I 

948 

BrUnn 

10523 

2646 

I  735 

801 

110 

Graz 

3282 

1003 

673 

289 

41 

Tri  est 

1855 

667 

488 

25 

Lemberg 

1765 

903 

648 

14» 

H4 

Eisenbftbnen 

77«o 

1998 

1657 

183 

158 

in  guuMn 

64655 

18544 

12  216 

5399 

929 

Auf  je  zoooo  versicherte  VoUarbeiter: 

(te£üIsfulgcD 

Anitalten 

Unialb. 

Zb  cnticbadigende  vo 

rttbogtlMnde 

dauernde 

in 

anzeigen 

UnflUe 

Enrerbsonfthigkeit 

lon 

Wien 

928,6 

196,1 

114,3 

75,1 

6^ 

Salzburg 

«75,4 

79,0 

39^ 

7,0 

Prag 

312,8 

ia6,9 

83,0 

37,9 

6^ 

Brttnn 

508,1 

"7,7 

83,8 

38»6 

S.3 

Graz 

540,7 

165,2 

110,9 

47,6 

6b7 

Trirst 

440,5 

158,4 

115,9 

36,6 

5.9 

Lemberg 

305,3 

1 56.2 

1 12,1 

»4,4 

19,7 

Eisenbahnen 

465,9 

119,2 

98.6 

11,0 

9,5 

im  ganzen 

503,8 

144,5 

95,2 

4a,i 

7.» 

Die  Unfallsgefahr  in  den  einzelnen  Betriebsgruppen  war  die  folgende: 


Personen,  welche  von  einem  eine  Entschädigung  begründenden  Unfälle 

betroffen  worden  lind. 


Von  je  lOOOO 

AI  IM 

i)lutc  /a 

hlen 

Vollarlicitcm 

Betriebtgrnppen 

1894 

189s 

1896 

1894 

1895 

1896 

I.  Land-  v.  forstwirtachaftt. 

Betriebe  nnd  Mahlmflhlen 

804 

901 

876 

164,8 

«85,7 

t87,ß 

456 

1  91a 

ao79 

185,1 

116,9 

tai,5 

ID.  Hiittrnwrrkr  und  deren 

Ncbfiibctriebe  .... 

680 

813 

876 

288,5 

301,2 

279,3 

IV.  Steine  und  I >(1,  n  .    .  . 

1  106 

I  391 

1  640 

102,6 

125,6 

"37.0 

V.  Metallverarbeitung .    .  . 

773 

793 

953 

139,9 

133,7 

153,6 

Digitized  by  Google 


OskarEnglSnder,  Unfall-  n.  KnuikfiiTenlchennig  d.  Arbeiter  m  Ocsterreieb.  ^29 


Von 

je  10000 

Absolute  Zahlen 

Vollarbcitem 

Betriebsgruppen 

1894 

1895 

1896 

1894 

1895 

1896 

VI.  Maschinen,  \Vrrkz*Migc,  In» 

1  628 

I  628 

I  844 

231.4 

226.8 

Vn    ("^hemische  Industrie 

172 

# 

201 

87.5 

88,3 

1 

VIII  Heiz-  u  Leuchtstoffe  Ocle 

Beheizung  n.  Bdenchtun? 

179 

170 

133>I 

146,2 

"DL  TextflindiHtrie  .       .  . 

1  055 

1 186 

1  a49 

43,9 

45i6 

48,5 

X.  Psnier.  Leder  u.  Gummi 

438 

483 

8M 

94,6 

iii|6 

XL  Höl^  tmd  SdmitBtolk  . 

1053 

1341 

1390 

«87.4 

«79*3 

Xn.  Nabnmgi- v.  Gcnalnkittel 

1  tSo 

I  283 

1399 

«9,4 

97,9 

ioa,7 

XnL  Bekleidung  o.  Reinigiing 

69 

«5 

61 

33i5 

38,1 

a6,3 

XIV.  Baugewerbe  

2879 

3431 

4009 

«44,9 

264,2 

a6Q,3 

XV.  Poly^aphische  Gewerbe 

80 

91 

96 

43,8 

48,2 

48.3 

XVI.  Neu  einbezogene  Betriebe 

816 

I  02g 

172,5 

221.3 

zusammen 

12552 

16395 

18511 

126,8 

U4,7 

»44.4 

Die  ZaU  der  UnfiUle  ist  nach  Alter  und  GcacUedit  venchieden, 
wie  es  der  verschiedenen  Art  der  Verwendung  der  betreffenden  Personen 
eDtq>richt   Es  entfielen  eine  Entschädigung  begründende  UnMe  auf 


je  10000 

erwachsene  jugendliche 

im  mSmilichc     weibliche  minnliche  weibliche 

Jahre  Personen  Personen 

1894  »40  30  84  75 

1895  152  33  106  III 

1896  t6i  36  103  129 


Ziehen  wir  die  Art  der  Unfälle  in  Betracht,  so  entfielen  auf  je 
10000  männliche,  beziehungsweise  weibliche  Personen  Unfälle,  welche 
zur  Folge  hatten 

iwiimMdie  wcifalidb« 
Personen 

Tod   8,3  (7,9)         1*0  (0,9) 

dauernde  ErwerbnmllUc^Bett  .  .  44,9  (42,9)  12,9  (13,7) 
vorübergehende  105^  (98,2)       24,8  (21,3) 

Gehen  wir  nun  sur  Darstellung  der  Folgen  der  UnfUle  übeihaupt 
fiber,  so  zogen  von  je  100  Unffillen  nach  sich 
im  vorBber;gebende  dauernde 


Jahre  Enrerbmmflhigkeit  Tod 

»894  «5.«            »9,5  5,3 

1895  64,9  30,0  5,1 

1896  65,9  29,1  5,0 


L^iyiii^uü  Uy  Google 


430  AGstellen. 

ifln  letiigeiiAiiiiteB  Jahre  bei  den  einselnen  Anstalten 


▼orflberfdicnde 

dauernde 

In 

ErweriMonflUiigkeU 

lOu 

Wien 

SM 

3<,3 

3,S 

Sdsborg 

63.1 

31,3 

5,6 

Prag 

65.4 

4,7 

Brtbui 

«5,« 

30,3 

4,1 

Gras 

67,1 

«8,8 

4.1 

Tricat 

73,« 

«3,1 

3.7 

Lembeif 

71,« 

15,6 

i».6 

Eiwtnhnlme) 

9,a 

7,9 

Ende  1896  standen  28 11  Personen  im  Bezüge  einer  Heflvcrfahren- 

rente.  Im  Laufe  des  Jahres  1896  sind  16623  Personen  in  das  Heil- 
verfahren eingetreten  und  16  176  aus  demselben  ausgetreten. 

Von  je  100  der  letzteren  haben  —  von  der  vierw<>chentUchen 
Karenzzeit  aagesehen  —  die  Heüverfahrensrente  bezogen 

dnith  Wochen 

■ 

0—2  4       4 — 9       9 — 16       16—34       *4 — 48      über  48 

32,0        18,6        22,2        13,6  5,3  5,1  3,2 

Bei  53,9  Fn»enten  dieser  Personen  endete  das  Heüvetfthren  mit 
gänzlidier  Herrtellung  und  bei  0,6  Procent  mit  Tod,  bei  s  1,6  Fkocent 
hinterblieb  voraussiclididi  votfibergebende  ErwerbsunfUhigkett  tud  bei 
33,9  Prozent  voraussichtlich  dauernde  Erwerbsunfähigkeit. 

Ueber  den  Grad  der  Invalidität  der  dauernd  Rrwerbstinßihigen, 
von  welchem  das  Ausmafs  der  UnfaUsrente  abhängt,  erteilt  die  nach- 
stehende Uebersicht  Auskunft: 

Grad  der  EnretbMmfSbigkeit  im  gmien 

im  weniger  meiir 

Jahn  o— «/.     •     %     »  .— %     *             %  als  halbe  Invaliditit 
der  vollen  Erwerbwinfthigkeit 

Ansahl  der  Vernnglftckten 


1894 

assi 

53t         357         376  116 

305a 

649 

1895 

3252 

695        378        396  ao3 

3  947 

977 

1896 

3019 

817        346        417  200 

5  399 

930 

Auf  je  10000  versicherte  Vollarbeiter 

1894 

25.5 

5-3          2,6          2,8  1,2 

30,8 

6,6 

1895 

26,7 

5.7          31          3.2  1,7 

32,4 

«,0 

1896 

38,2 

6,4          2,7          3,2  1,6 

34.6 

7,5 

üiyiiized  by  Google 


Oskar  Engliader,  Uniiütii. Knakoivciadicniigd.  Arbeiter m  4^1 

Unter  je  100  InvaliditätsßtUen  waren  demnach  Mddie,  in  denen  die 
Erwerbifiüiigkeit  beeintiJlchtigt  war  am 


im 

•!!•-*/.  */«-»/. 

Jahre 

der  volleB  ErwetbiflUii^eit 

TM 

14,3          6.S  6^ 

«.9 

•«95 

66.t 

«4.«  7.7 

4.1 

1896 

67,0 

1S.>          6.4  7.7 

3.S 

Auf  je  100  tödlich  verunglückte  Personen  entiit-len  im  Gesamt- 
durchschnitt 61  (58,  60)  Witwen,  107  io5,  1231  Kinder  unter  15  Jahren 
und  7  (9,  10)  anspruchsberechtif,'te  .\.szcndenteii. 

Die  Art  der  Verletzungen,  welche  durch  die  Unfälle  verursacht  wurden, 
eigiebt  sich  aus  nachstehender  Tabelle: 


VoD  je  100  eine  Firticihidigiing  begründenden  UnfiUlen 

katten 

zur  Folge 

• 

i«94 

1895 

1S96 

VcrletiiiBCc&  von  Kopf  und  Getickt,  eskkinve  Augen.   .  . 

3.7 

4.1 

4.» 

5.1 

4.6 

S.< 

16.7 

15.3 

15,6 

3M 

29,6 

29,1 

»5.1 

»7.7 

26,8 

„          „  anderen  oder  mdueica  Körpertdlea  ngjlekk 

13.9 

14.9 

>5.3 

3.4 

3.0 

».9 

0.4 

0.3 

0,2 

0,1 

0,1 

0,2 

0.4 

OA 

0,6 

Ziehen  wir  die  Veranlassungen  der  Unfälle  in  Betracht,  so  hatten 
von  je  100  eine  Entschädigung  begründenden  Unßillen  die  neben- 


bezeichnete Ursache  in  den  Jahren 

1894  1895  1896 

Motoren   l,o  0,9  0,8 

Transmissionen   3*9        3.'  ».9 

A  rbeiUmay  hinen   24,0  20,1  18,8 

Fakrttttkle,  Anftllge,  Kndme  und  Hebeaenge   1,9        1,3  1,4 

Dampfkessel,  Dampncitingcn  und  Dampfkockapparate  (Ea« 

plosion  und  anderes)   0,2  0,1  0,2 

EaplorioB  von  Sprengstoffen  (PnlTer,  Dynamit  n.  s.  w.)  .  .  0,5  0,5  0,5 
Fenergeflkrlichr,  giftige,  keifse  und  Ittcnde  Stoffe  11.  s.  w., 

Gase  und  Dämpfe  n.  s.  w.   5,7  4.9  4.5 


Digitized  by  Google 


I 

I 


MitzeUen. 


••9» 

floe 

ZosMninMibnicbt  Henb«  and  UmAUcn  von  Gegeutindcn 

19,0 

«7f9 

Fall  Toa  Ltttern,  GtrOitcD,  Stt^en,  in  Vertiefugtn  «.  t.  w. 

«$•7 

«5.5 

8.4 

9a 

«,T 

Fahren  und  Reitan,  Ueberfthren,  Schlag,  Bib  von  Tieren  n.  s.  w. 

5*4 

SA 

6.5 

Gebtanch  von  Handwerksieng  und  einfachen  Getiten  .   .  . 

7»« 

6.5 

5.7 

5.3 

6.9 

».» 

9.3 

7.S 

IV.  Rentner  nnd  Entschädigangen 


Rentner  mdi 

Geeamtbetrag  der  im      Jahrubetrag  der  anf 

im 

Unflllen  des 

Rechnangsjahre  ang 

e-      einen  Rentner  d«r^ 

Jaiure 

Rechnangs- 

fallcnen  Renten 

schnitt!  ■  entfallenden 

jahres') 

FL  ö.  W. 

Rente  in  FL  ö.  W. 

1894 

4987 

•  336871 

67.55 

1895 

5087 

404528 

79.5« 

1896 

6471 

S4SOIO 

84,aa 

Die  in 

den  einzelnen 

Jahren  ant^efallenen 

Renten  verteilen  sich 

folgendennafsen  auf  die  einzelnen  Kategorieen  von  Bezugsberechtigten : 

danemd  Erwcrfawmfthif« 

im  Jabre       gänslich       teilweise       Witwen       Kinder    Aszendenten    im  ganzen 

Zahl  der  Rentner 


1894 

116 

3585 

401 

821 

64 

.  4<«7 

189s 

234 

3294 

5«5 

957 

67 

5087 

1896 

365* 

4*5* 

618 

1 131 

93 

«471 

£s  beträgt  der 

Jahresbetrag  der  auf  einen  Rentner  durchsdmittlich  entfiülenden  Rente  FL  ö.  W. 

bei  den 

dauernd  Erwerbsoufahigen 


im  Jahre  ginslicb  teilweise  Witwen  Kindern  Asaendenten  im  ganien 

1894  »5,96         69»o6  67,82  42,78          48,06  67,55 

189s  230,65        88,09  79.36       Si.aS         46,87  79.5* 

1896  256,99        77,25  87.98  53.71         70,61  84.82 


«)  VgL  XIL  Bd.  S.  67a. 


üiyiiizea  by  CjüOgle 


UskarEngläoder,  Lniall-  u.  Krankenversicbcruag  d.  Arbeiter  in  Oesterreich, 


Ueber  den  Grad  der  Enrerbsunfthigkeit  erteilt  nachstehende  Ueber- 
sicht  Auskunft: 

Zahl  der        DnrcIucbnUt  des 


Jahrcsb<-tragcs 

1896 

dauernde 

einer 

Rente 

Voraussichtlich 

ilanerad 

Renten  zu- 

Iii 

in    0.  ii^c 
111       Q  UCs 

Erwerbsunfähige : 

eikannt 
w  luden 

vi, 

ö.  w. 

Arbeits- 
verdst. 

Grad  der  Er- 

wrrb>unnihig- 
keit  in  Bruch- 
teilen der  vollen 
ErweibsfUIg« 
keit 

•;.-•/. 

*/•-*/. 

II 

1623 

713 

366 

552 

365 

44,83 

"»3.53 

»43i75 

153.26 

256,99 

11,60 

a«,33 

38.91 
48,81 

66,05 

zusammen 

4  619 

91.45 

24,50 

628 

87.98 

20,6ä 

I  13« 

53,71 

Aawadentea  . 

93 

70.91 

nt).  I i) 

im  gimea 

6471 

84.2a 

aa,03 

Die  Steigerung  der  Kenten  hat  auch  im  Jahre  1896  angehalten. 
Was  insbesondere  das  Verhältnis  der  lerritorialeo  Anstalten  zu  der  berufs- 
genoasenschaftUchen  Anstalt  der  (toteneichiscihen  Eisenbahnen  anbelangt, 
serbetrug: 

die  Zahl  der  Dorchächnitttbetrag  einer 

der  Jahreireoke 
Rentner         in  FL  ö.  W.   in  %  d.  Verdienstet 

hei  dt-n  t^rritorialon  Anstalten     .       5914  7S»'*  (75'70       20,22  f20.38l 

bei  der  Anstalt  der  Eisenbaltnen .        557        i8i,oo  ^131,13)     36,4a  (28,43) 

Die  Steigerung  ist  also  auch  fttr  das  Jahr  1896  nur  auf  die  höheren 
Renten  bei  der  Anstalt  der  Eisenbahnen  zurückzuführen. 

Ztt  Ende  der  ndkcabeaeidineten  Jahre  ttandcn  im  GenvMe  daacnder  Renten 


Reehanagi- 

Zahl  der 

Jahreabetng 

Dorchschnittsbetnf 

jahre 

Penoncn 

derReiiteninFLö.W. 

einer  Rente  FL 

««94 

IS  267 

960790 

78.3» 

1895 

16627 

1  306376 

7«.57 

1896 

aai5i 

1845387 

83.30 

speziell  1 896 

dauernd  gänzl.  Erwerbsunfähige 

1  1 16 

«5' 378 

225,25 

„     teilweise  „ 

13S11 

I  159388 

83.95 

Witwen  

«5»7 

196272 

77,98 

Kinder  

43*5 

216883 

50,15 

38a 

21366 

55,93 

Oigitized  by  Google 


434 


IfiucUeB. 


V.  Rechnungsabschlüsse. 

Es  betragen  bei  sämtlichen  Versicherangsanstalten 

im  Jahre  die  Einnahmen  die  Ausgaben  der  Abgang 

■894            sjtt^at^  6698630  979S01 

1^5            7S6i76a  7429314  867453 

1896            8480964  11843975    *  3363011 

Hatten  die  Versicherungsanstalten  bereits  in  den  Vorjahren  an  einem 
Gebarungsdefizit  zu  leiden,  so  ist  dasselbe  im  Berichtsjahre  in  l>esonders 
auffalliger  Weise  zu  Tage  getreten.   Dies  zeigt  sich  bei  der  Mehzzahl 

der  Anstalten. 

Mit  einem  Uebcrsrhufs  schlössen  ah  die  Anstalten  in  Salzburg  mit 
1521  Fl.  (gegen  95  707  Fl.  im  Vorjahrcj,  Brünn  mit  22501  (8554)  und 
Graz  52143  (gegen  einen  Abgang  von  11 0505).  Dagegen  wiesen  einen 
Abgang  in  der  Jahresgebarung  aus  die  in  Wien  mit  941 491  (gegen 
183837  im  Vorjahre)»  Prag  mit  2316998  (gegim  650544),  Triest  mit 
36069  (gegen  einen  Ueberschuls  von  33  537  im  Jahre  95)  und  Lemberg 
mit  143  619  FL  (gegen  79364  Fl  ). 

Durch  die  Summierung  der  Jahresdefizite  ist  der  unbedeckte  Ab- 
.gang  angewachsen  auf 


im 

Proaentc  der 

Jahre 

F1.Ö.W. 

Drckangikapitalien 

1894 

1704637 

lOA 

1895 

3581508 

1896 

5910919 

19.9 

Was  die  wichtigsten  Einnaluneposten  betrifft,  so  betrugen 

Versicheningt«  Zinsen  <lcr 

im-  beitiige  Deckungakapitalien 

Jahre  ¥\.  ö.  W. 

1894  4  7'Q539  4«.';  355 

1895  6901  156  586 177 

»896  7  557  3»?  740*135 

Die  wichtigsten  Ausgaben  waren 

Rfiddagen  sn  den 

im  Entflchldigangs-   Deckimgskapitalien  und      Gesamte  Ver> 

Jahre  Iciitnngcn  Schadenreienren  «altaagmnsbfCB 

in  Fl.  o.  W. 

1K94  1691199  4005607  67SS95 

1895  2250309  5372970  753  335 

i«96  ii534'9  7806696  813758 


Digitized  by  Google 


Oikar  EagUnder,  ünftiH«  11.  Kiankeavcfiichitrung  4.  Arbeiter  in  Oeitengi^ 


Setzt  man  die  in  den  einzelnen  Jahren  ausgezahlten  Entschadigungea 
in  Beziehung  einerseits  zur  Lohnsumme,  andrerseits  zu  den  Beiträgen,  so 
erliält  man  folgende  Verhältniszahlen. 

im  in  Prozenten  in  Permillen 

Jahre  der  BcitiSge  der  LohaamauBe 

1894  35i3  5t«> 

1895  3a.7  5.17 

1896  41.7  6,6$ 

Die  \'er\valtungsauslagen  setzen  sich  zusammen  aus 

ttafiÜilerbebuiigsko:>ten  129976  Fl.  (gegen  110379  im  Vorjahre) 

ScUedageritihlakoatcn  3S843      (   ••      22423  „      „  ) 

lanfenden  VeiwahimgaBiialagen .   .  .   630039  „  (   „     599603  „      „  ) 

Die  Unfallerhebungskosten  per  Unfall  betrugen  7  Fl  01  Kr.  (gegen 
6  Fl.  74,  6  Fl.  84  Kr.  in  den  N  orjahren). 
fis  betrugen  die 

Verwalt  angsau  ilagen 

in  Frmentcn  der 


im 

in  PenniUen 

Vcrricheroig«-  Ei 

■tsdildigaoga* 

Jahre 

der  Lohimmme 

bdtrige 

lejatangai') 

1894 

3,09 

14.2 

40 

1895 

1,7« 

10^9 

33 

1896 

1,7» 

10,8 

36 

Was  die  BOanxen  der  Versicherungsanstalten  betrifit,  so  waren  die 
wichtigsten  Posten  auf  der  Passivseite 

Deckangs-  Eatiehidigimgt-    Zuaammew  Gesamte 

im            kapitdien  rc!.rrvf-  Rucklagen  Paaaiven 

Jahre  in  Tausenden  FL  ö.  \V. 

1894  11574  5052  16626 

1895  15507  6492  21999  22803 

1896  20976  8706  29682  30838 

Unter  den  Aktiven  sind  besonders  hervorzuheben 
Wertpapiere    ....   14546474  FL 

Realititen  i  149  519  „ 

Hypothekardarleh«"!!  .  .  3  394067  „ 
Beitragsfordeninpfn   .    .     5062441  „ 

Eine  Anstalt  hat  einen  Ueberschufs  der  .\ktiva  über  die  Passiva: 
Brünn  mit  22  501  Fl.  Die  übrigen  haben  zusammen  einen  unbedeckten 
Abgang  von  5  910  019. 


')  VrI.  a.  a.  ( ».  XU.  Bd.  S.  677. 
Archiv  für  Mt.  Gesetzgobunc  0.  Sutiatik  XIV.  ^8 


L  iyiii^üd  by  Google 


Mindlen. 

Der  gemeinsame  Reservefonds  betrug  3390g  M.  (gegen  68759 
Vorjahre).    Zuschüsse  wurden  daraus  geleistet:  für  Prag  5oooo  Fl.  and 
Lemberg  6000  Fl. 


B.  Krankenvmiehening. 

Thätig  waren  im  Jahre  1896  überhaupt  2929  (2942)  Kranken- 
lussen,  von  denen  8  (27)  keine  brauchbaren  Nachweisungen  lieierten. 
Von  diesen  Kassen  hatten  2916  ganzjährige  Funktionsdauer. 

Nach  der  Art  der  Kassen  gab  es: 


im 

Btmk»- 

Betriebs- 

Bau-  GnowenichaA«- 

Vereins- 

im  guH 

Jahre 

KrankenkMMit 

1894 

557 

i  41 1 

9  833 

105 

2915 

1895 

561 

»395 

4  «4» 

113 

2915 

1896 

566 

1382 

7  844 

isa 

2921 

Demnach  sind  von  je  100  Kassen 

im  Bezirks-  Betriebs-  odt  r  Hau-      (  i'  nossenschafts-  V'ereins- 
Jahre  Krankenkassen 

1894  :9,l                  48,7                       28,6  3,6 

1895  19.2                  48,0                       28,9  3,9 

1896  19,4                47.5                     «8,9  4,» 

Fassen  wir  die  Zahl  der  Mitglieder  ins  Auge,  so  betrug  diese 
im     Bexirks»     Betriebs-      Hau-     ('i<-nossenscbafts-     Vereins.  Krankenkassen 
Jahre  Krankenkas^»<"n  überhaupt 

1894  74<'S35      549494     3479  326900  320277  1040985 

1895  814259      504869        347  341058  345902  2066435 

1896  880784      586496     1545  357  »79  362036  2188010 

Die  jälirliche  Zunahme  beträgt 

im  an  Kassen  an  Mitgliedern 

Jahre  absolut       in  Pruzenten  ab>>ilut       in  I'roxenten 

1894  39  14  100942  5,5 

1895  —  —  125450  6,5 

1896  6  0,2  121 575  5,9 

Von  je  100  Mitgliedern  sind  versichert  bei 

im      Bezirks-     Betriebs«  and  Bau-     GenoMenschafts-  Vcreim* 
"^-^——1  .  II   ■  ' 

Jahre  Krankenkassen 

«894       38.2  28,5  16,8  .16,5 

»895       39.4  27.4  >6,5  16,7 

1896       40,2  26,9  16,3  16,6 


uiyiii^üd  by  Google 


Bei  den  einzebien  Kiaenarten  betraft  der  dorchichiutlliche  Stand 
der  Mitgliedschaft 

im  BcsiriB*  Betriebs*  Bau-  GenoMcnickafts*  Vereins«')  KnuBkcnkaticn 
Jaiire  Krudcadpuscn  flbcriiMi|it 


1894 

1332 

39i 

435 

404 

3140 

674 

1895 

U59 

408 

87 

410 

3061 

7J5 

1896 

1567 

434 

434 

304a 

7S0 

Ueber  die  territoriale  Verteflung  der  eintdnen  Kasienarten  giebt 
folgende  Tabelle  Auskunft: 

Von  je  100  Mitglicdcm  sind  bei 


Anzahl 

Mitglieder 

Betriebs-  Genossen- 

Ver- 

1896 

der  Kj 

Bezirks- 

u.  Bau-  Schafts» 

Linder 

Krankenkassen 

Wien  

104 

4^678 

a7,S 

3.9 

43i^ 

se,! 

Nicderöeterr.  (ohne  Wien) 

Sil 

14s  837 

43i7 

26,3 

10^9 

>9il 

ObcriMciTcidi  .... 

SO9 

71411 

35.7 

IS.I 

S3.9 

3>.3 

39 

16966 

37.« 

11.S 

SI,S 

S9.8 

IS5 

iiS56a 

354 

11.3 

7.4 

45.9 

47 

S47S6 

46.9 

".7 

1,8 

39.6 

4« 

so  232 

68,0 

s6^i 

1.3 

4.6 

4« 

66080 

67,9 

13.9 

>>3 

«5.9 

Tirol  und  Vonurlbcrg  .  . 

165 

69944 

47.5 

S4.0 

■3.7 

i4tS 

1  17s 

6534*3 

49.4 

3i>5 

ro,5 

«.6 

407 

239821 

3«.» 

35.9 

"N7 

16,6 

160 

7«  754 

33.3 

35.6 

ia.4 

18,8 

Galiiien  

»35 

106086 

7M 

13.« 

7J 

0.3 

24 

10596 

68,8 

19.S 

13^ 

Dalniaticii  

6 

5*3« 

100 

Eisenbahn-  und  Dampf- 

28 

146096 

100 

Es  entfielen  im  Jahre 

auf  die  Griifsenkategpriecn 

mit  Mitgliedein  Kassen 

mit  Mitgliedern 

1 

bis  300 

(24) 

3143    (3  437) 

n 

201—500 

154  (169) 

54636  (38 

597) 

III 

s;oi  1000 

'45 

('53) 

105319  (113 

296) 

IV 

1000 — 5000 

223  (197) 

413253  (370  120) 

V 

ttber  5000 

SO 

(18) 

304403  (208  259) 

*)  Vgl.  a.  a.  O.  Bd.  XU  S.  68a 

38*  ' 


L  lyiii^üd  by  Google 


438 


MineUen. 


Von  je  ZOO  BearlcBkrankenlMasen  gehören  den  nebenbeieichneten 
Gidfienkategorieen  an 


1804 

1896 

r 

5i74 

4i" 

4»*4 

n 

ti.as 

10.12 

m 

•7»*/ 

9C  fis 

TV 

35» 

39i4" 

V 
w 

3,«i 

3i53 

Dichüg- 

Zuaalime  bexw. 

Anzahl  der 

1895 

1896 

Abnahme  der 

kftte- 

MitgUeder 

Anzahl 

der 

Mitglieder 

foiiccn 

«nf  I  qkm 

Kasaea  Mitglieder 

Kassen 

Mitglieder  absolut   in  Proc. 

I 

weniger  ab  1 

13«  73507 

137 

79679     +6172  -+-8^ 

n 

«—5 

300  281429 

293 

275406     — 6032    —  2,1 

m 

5-50 

100  217936 

1 1 1 

365106   4-47170  -1-21.5 

IV 

über  50 

33  241387 

23 

260563   4-19176   -H  7.» 

Vergleicht  man  das  Verhältnis  von  Bezirks-  und  Genossenachafis- 
kassen,  so  entfallen 


Gröfsenkategorieen 


von  je  100 
Benrks-  Genossenschafts- 
Kjrankenkas!ien 


I 

4.24 

66,35 

11 

27,21 

20,02 

m 

25,62 

6,40 

IV 

39,40 

6,04 

V 

3.53 

i,»9 

Was  das  Verhältnis  der  Geschlechter  anlangt,  so  waren 


Besiiks- 


von  je  1000  mtgliedem  der 
Betriebs*        Bau-    Genossenschafts-  Vereins- 


im 

Jahre  m. 

1 894  S44 

1895  841 

1896  838 


kassen 
flberbanpt 


w. 

156 

162 


m. 

688 

tn)  I 
696 


3>2 

300 

304 


m. 

988 
9S6 
94» 


12 
«4 
59 


m. 

815 
809 
790 


185  743 
191  743 
2tO  741 


257  770  22t 
257       778  222 

a59    776  224 


Bei  den  Schiedsgerichten  der  Krankenkassen  wurden  1364  (gegen 
1686)  Klagen  erhoben.  Von  diesen  wurden  erledigt:  durch  Rack* 
Ziehung  29  (87),  Klaglosstellung  44  (195).  Vergleich  85  (218),  Ab- 
weisung des  Klägers  670(565),  Stattgebung  der  Klage  485  (5 14).  Un- 

Crledi^jt  blie!)cn  51  Klapen. 

Auf  10000  Mitglieder  entfielen  6,2  (8,2)  Klagen. 


Digilized  by  Google 


Otkftr  Engliader,  Uafidl-  a.  Krukeiivenicbcrung  d.  Arbeiter  in  Oesterreich, 

n.  Monatliche  Schwankungen  des  Mitgliedstandes. 
Wird  die  MügUedaM  am  i.  Januar  eines  jeden  Jahfts  gleich  xooo 
gestellt,  so  betragt  der  Stand  der  Mitglieder: 


1894 

i«9$ 

1896 

ff  TttVMMlV 

!•  Jalliilu 

1  vww 

1  UDO 

I  ODO 

ff     V^lum«  V 

I«  rCWlMu 

990 

99» 

994 

1  •  JVIBIZ 

I  wwD 

I  000 

ff  #«ff  k 

I  OlZ  ■ 

I .  April 

I  064 

I  040 

1 079 

I.  Mai 

1  127 

I  I  1  2 

1 147 

I.  Juni 

1  11^8 

1  160 

I IS2 

I.  Juli 

1  177 

X 174 

1 198 

I.  August 

1  18s 

I  »74 

1 198 

1.  September 

I  176 

I168 

1186 

1.  Oktober 

1175 

1164 

II74 

I.  November 

1  150 

1146. 

iiSi 

1.  Dcwmber 

I  183 

1 100 

1 109 

31.  Deicmber 

1073 

1041 

losa 

Bei  den  einzelnen  Kassen  war  die  Bewegiing  die  folgende: 


Bezirks- 

Betrieb»- 

Bau- 

GenoaMOSchafts- 

Vereini' 

Krankenkassen 

.  Januar     .    .  . 

.    .     1 000 

1000 

1  000 

I  000 

1000 

.  Februar  .    .  , 

.   .  988 

1  006 

762 

98  S 

993 

[.  März  .... 

.    .     1 022 

I  CXXJ 

889 

1  018 

1007 

.  April  .... 

.    .  1155 

1 006 

1432 

1  091 

1  026 

1.  Mai  .... 

.  .  1386 

IOI7 

1983 

I  164 

1054 

1.  Juni  ...  . 

1356 

1016 

2972 

II97 

1073 

i.  J«H  

,  .  1376 

IOS4 

2948 

1115 

1092 

i.  Ai^ast    .   .  . 

.  .  1379 

loaa 

307« 

1207 

IÖ96 

September 

135a 

1034 

3011 

1195 

1093 

l.  Oktober  .  .  . 

.  .  1311 

1065 

274» 

1159 

1080 

1.  November    .  . 

.   .  1247 

1094 

2093 

1 127 

I  065 

.  Dezember    .  , 

1  168 

1081 

I  010 

1 092 

1047 

[.  Dezember    .  . 

1065 

1040 

521 

1063 

1037 

Die  Schwankungen  sind  im  ganzen  entsprechend  jenen  im  Jahre 
1895;  ^  <^  ^  Schwankungen  im  Mitgliedstande  der  Baubahken- 

kasien  noch  weit  gröfsere  sind  als  im  Vorjahre.  Ebenso  haben  sich  die 
Sdiwankungen  bei  den  Betriebskassen  verschoben,  so  dafs  die  Konklu- 
sionen,  die  im  XII.  Band  dieses  Archivs  Seite  685  aufgestellt  wurden, 
durch  die  Ergebnisse  dieses  Jahres  nicht  vollständig  bestätigt  eischeinen. 


uiyiii^üd  by  Google 


440 


ni.  Gebahrung  und  Leiitungea. 

Die  wichtigsleii  Eigebniiie  der  Kancogclbaraiig  tm  Jahre  1896  im 
Vergleiche  zu  den  Voijahren  waren  folgende: 


im 
Jahre 

1894 
1895 
1896 

im  Jahre  1896 


BankiMikeiikMien 


Davon 

Der  Ueber* 

En. 

•B  Ina- 

Ueber- 

schuft  bettlet 

nah- 

f enden 

Aus- 

schufsder 

Proicnte  der 

men 

Bei- 

gaben 

Ein- 

laufenden 

trägen 

nahracn 

beitrage 

in 

Tausenden 

Fl.  ö.  W. 

16  181 

15  131 

»4463 

1  71S 

11,36 

17544 

16447 

t6 180 

1364 

8,a9 

X784I 

17387 

1754 

9,84 

66i6 

6248 

6aio 

416 

6^ 

S«35 

5*47 

5098 

737 

i4»o5 

18 

>7 

16 

a 

11,11 

1968 

«795 

«703 

«65 

9.48 

3«93 

3531 

3359 

334 

9r47 

Die  Krgebnissc  des  Jahres  1896  waren  also  etw.is  bessere  als  die 
des  Vorjahres,  wenn  sie  auch  noch  nicht  zur  geäCUmaiüigeu  Dotierung 
des  Reiervefimds  ausnichten.   Dessen  Stand  betrug: 

die  Reservefondsquote 

absolut 


im  Jahre 


1894  I07907«3 

1895  la 143571 

1896  13907968 

im  Jahre  1896  bei  den 

Beärlcskrankenkasicn  .   .   .  2870087 

Betriebskninkenkassen  .  .  .  6641347 
Baukraakenka5sen    ....  3  «55 

Genossenschaftskrankenkassen  2  212 '17 

Vereinskrankenkassen  ...  2  iikOO02 


auf  I  lütslied 
in  FL  6.  W. 

5»56 
5.88 

6.36 

3.«6 

11.3« 

a," 

6,19 
6,02 


Von  allen  Kassen  schlössen  mit  emem  Uebenchu^  besiehungVRreise 
Oebaningsdefiait : 


t:iU 


Gefannmgs» 
flbandmft 


1894 

i»95 
1896 


aa7i 

2  123 
2215 


Detisit 

644 

79a 

706 


Betng  des  GdMianga* 

Ueberschunes  De&dts 
in  Fl.  ö.  W. 

1 898914  180952 

«45587 


1  609  370 
2026031 


271 191 


Digitized  by  Google 


Otkar  Engländer,  UiBfSdl-ii.ICniikaimikilMnii^d.AilMi^ 

Zdü  der  Kutrn  «U        Betrag  det  Gebenmgs- 


Gebanings-                      UdMnchuises  Defi^ 

Ubencbafs  Deüät  in  FL  ö.  W. 

im  Jahre  i So6  bei  den 

B€£irk.:>kruakcakasMn     .    .      438  138  520702  104659 

Betriebskrankenkassen    .   .    1059  323  ^44538  107079 

BnaknokMikuMii ....        3  4  9650  730 

Gfnowwuclwftilminkmli.  .     634  aao  3» 714  4765a 

Vereimkrittkwifcama    .  .     tot  ai  3454a7  11084 


Berücksichtigen  wir  bei  den  BezirkskrankenkasseQ  den  Mit^edstand, 

so  erp:eben  sich 

in  den  die  Resenrefonds- 

Grö^en-         die  die  der  der  quote  auf  l  BGt* 

katefforieen  Ehmalimfa  Ausgaben  Ucbcndraft  Rescrrefonds  glied 

FL  ft.  W. 


I 

1945> 

»9595 

—  ■44 

9409 

a.99 

n 

365519 

364331 

19 188 

109307 

a,oo 

m 

680669 

6567*7 

32942 

226  992 

a.6 

IV 

2  797  900 

2  543 192 

254708 

I  239772 

3.00 

V 

2754039 

2  644  690 

109349 

1  284  607 

4,22 

Im  Jahre  1896  haben  sich  also  die  Verhältnisse,  insbesondere  die 
Reservefondsquote  noch  zu  Gunsten  der  grölseren  Kassen  verschoben. 

Auf  du  Mitglied  entfiden  an  Gesamteinnahmen  (in  R  6.  Vf.) 


bei  bei  bei  bei  bei  bei 


im 

Bflsifk»- 

Betii^M* 

ib*  Verdaa- 

allen 

Jahn 

KrudteiikaneB 

>994 

7^ 

9i39 

ii,aa  7,66 

10,09 

8.34 

1895 

7.41 

9.45 

ia.80  7.96 

9^99 

8,49 

1896 

7.5a 

9.9S 

lt,6i  8,3t 

io,ao 

8,78 

Auf  je  X  Mitglied  Icamen  demnach  1895  ^  Durchschnitte 


taufende  Beitrige 


der 

drr 

zu- 

Einnahmen 

bei  den 

Mitglieder 

Arbeitgeber 

sammen 

überhaupt 

in  PL  4».  W. 

4.71 

2,38 

7.09 

7.5« 

1liilri«liilli|ankfnWnni  .  .  . 

5.69 

8,95 

9^5 

748 

3.76 

ii,H 

11,61 

Ctmmin'  ntch*ftTkrwak— *" 

5.«6 

a.57 

7.83 

8,31 

Vereinskrankenkassen    .    .  . 

8,13 

1,63 

9.75 

to,ao 

•"^MV***"  Knakenkassea 

5,631 

a.5»3 

8,154 

8,779 

Digilized  by  Google 


442 


Miszellen. 


Betrachten  wir  demgegenüber  die  Leistungen  der  Kassen  für  ihre 
Mitglieder,  so  verteilen  sich  diese  folgendermafsen : 

Leistungen  der  Kassen  flir  ihre  Mitglieder 


Beerdi-  Verwral-  Sonstige 


im 

Kranken» 

ärztliche 

Medika»  Spitalver* 

gungs- 

zu- 

tungs- 

Aus- 

Jahre 

geld 

Hilfe 

mente  pflegung 

kosten 

sammen 

kosten 

gaben 

in  Tausenden  Fl. 

ö.  W. 

1894 

7330 

2381 

1 704  843 

429 

12687 

1  m 

1895 

8499 

am 

1 843  880 

4Si 

14248 

I  273 

66q 

1896 

9015 

2755 

2014  991 

425 

15252 

1378 

in  Prozenten  aller  Ausgaben 

1894 

50.7 

i6,S 

LL8 

hä 

87,7 

8j 

1895 

»M 

UA  i4 

2i8 

88,0 

L2 

1896 

5«.9 

«5,8 

Uiö  Sil 

2i2 

87,7 

4>4 

Leistungen  der  Kassen  flir  ihre  Mitglieder  ' 

Bcerdi-  Verwal-  Sonstige 

Kranken-  ärztliche  Medika-  Spitalver-  gungs-     zu-       tungs-  Aus- 
geld      Hilfe     mente    pflegung  kosten  samroen  kosten  gaben 
im  Jahre  1896:  in  Tausenden  Fl.  ö.  W. 


Bezirkskrankenk. 

2938 

1013 

696 

115 

522Q 

254 

236 

Betriebs  „ 

2694 

961 

700 

«29 

LH 

4668 

24 

395 

Bau  „ 

6^ 

M 

li5 

2il 

2J 

«4,4 

I 

£i5 

Genossenschkrk. 

1332 

m 

274 

240 

8a 

2287 

329 

88 

Vereinskrankenk. 

2043 

418 

241 

123 

3061 

262 

in  Prozenten  aller  Ausgaben 

Bezirkskrankenk. 

47.3 

\^ 

iLil 

hl 

2.2 

84,1 

12.1 

Betriebs  „ 

52.9 

i8,9 

UJ. 

hl 

2i6 

91.6 

Oi2 

2i2 

Bau  „ 

42.9 

22.4 

13.6 

L2 

Q0.2 

§A 

Genossenschkrk. 

49.3 

«3.3 

lO.I 

§19 

84.6 

«M 

hl 

Vereinskrankenk. 

60,8 

\1A 

10,2 

ii2 

iZ 

9«.i 

2A 

i.i 

Fassen  wir  die  Bezirkskrankenkassen  nach  ihrer  Gröfse  ins  Auge,  so 


ergeben  sich 

die  durchschnitt*  die  Kosten  eines  die  Verwaltungs- 

bei  den  Kassen         liehen  Leistungen  Krankentages  Hir  kosten  für  ein 

der                   Tür  ein  Mitglied  ärztliche  Hilfe  Mitglied 

L  Gröfsenkategorie             4,75  (3,98)  0,84  l,lo 

IL      ,.                           5i«6  (4,77)  ojS  0^25 

HL      „        „                  5^1  (4.77)  0,76  0.86 

IV.      „        „                 5ii8  (5.3«)  Oi24  M5 

2i32  (7.05;)  0.84  0.98 


0«k*r  Englindcr,  Unfall-  «.  Knidtcwerridimiiig  d.  Arbeiter  in  (Destcrreiich. 
IV.  Erkrankungsstatistik. 

Die  wichtigsten  Zahlen  der  Erkrankung»-  und  Sterblichkeitsstatistik 
sind  folgende: 


Zahl  der 

Zahl  der 

Aanhl  der  Entb 

indongcn 

ZaU  der 

im 

erkrankten 

Erkraa- 

Kranken-  Anxahl 

Kranken*  ' 

Sterbe* 

Jalue 

MhgUeder 

kmigea 

tage 

tage 

fUle 

1894 

681687 

840386 

14609979  39011 

1019277 

«9377 

1095 

783883 

971 753 

1639*459  41846 

1 124522 

30094 

>8q6 

813087 

1000651 

17026 157  45558 

7234465 

20611 

Auf  je  100 

Von  je  100 

JifitgUeder 

veibUche 

EikrattF     Mitgliedern  afaid 

entfallen 

SGtgliedcr  cn 

it-  ktmgsfall  dauert     im  täglichen 

Von  je  100 

in 

Frkran- 

fallen  Ent- 

durchschnittlich Dorchschnitte 

Mitglieder 

Jahre 

kungcii  ^) 

bindungen 

Tage«) 

krank 

starben 

1894 

43,3 

9.08 

«7.4 

2,21 

1,00 

1895 

47.0 

9.13 

t6.8 

2,32 

0,97 

1896 

45.7 

9,29 

17.0 

2,28 

0,91 

Auf  j 

e  rin 

Auf  ;e  ein  weibliches 

männliches 

■weibliches 

Mitf^lied  «-ntfallrn 

Auf  ie  1 

Mitglied 

Mitglied  entliclen  aul 

Krankentage  ^ululgc 

eultallen  Krankentage 

Krankentage  *) 

flberhanpt «) 

1894 

7.47 

7,74 

2.37 

8,05 

1895 

7.85 

8,23 

a.45 

8y«8 

1896 

7,80 

7.7a 

2,52 

8,35 

Die  Morbilitätsziffer  für  das  Tk-richisjahr  ist  also  gegenüber  dem 
\'orjahr  wieder  etwas  j^esunken.  was  auch  die  günstigeren  Gebarungs- 
ergebnisse für  das  Jahr  1896  erklart. 

Auf  je  100  I>urchsrhnittliche 
männliche  weibliche ')  Kraukheil&daucr  der 


im  Mitglieder  entfallen  minnlichen  weibUchen 

Jahre  Erkrankingen  Mit^eder:  Tage 

1894  44.«  40,6  16,9  19,1 

«895  47.9  44,0  16.3  ««.7 

1896  47.«  40^5  ««.5  «9.» 


Auch  für  das  Jahr  1896  läfst  sich  also  die  Erscheinung  konstatieren, 
da6  atif  die  weiblichen  Mitglieder,  abgesdien  von  den  Entbindungen, 
weniger  Erkrankungen  und  mehr  Krankentage  entCdten,  als  auf  die  männ- 


')  <Amt  BerflckMchtigiing  der  End»indangcn. 
*)  eiuchlielslich  der  Enttnnddngen. 


Digitized  by  Google 


444 


BfisadleB. 


liehen.  Bei  der  Kombination  dieser  Zahlen  jedoch  ergiebt  sich  für  das 
Berichtsjahr  im  Gcfjensatz  zur  Periode  1890—95  eine  geringere  Morbilität 
der  Frauen  (Morbilität  der  Zahl  der  auf  ein  Mitglied  eotfallendeo 
Krankentage). 

Auf  Je  I  Mitglied  entfiden  Krankentage  bei  den 


im 

Betirk»- 

Betrieb»- 

B«i< 

Genoasenschaft»* 

Vcrdas* 

Jdue 

K 

nolnakm 

ten 

1894 

6^ 

10,17 

«,70 

5.^3 

9.81 

1895 

7.30 

10.59 

6,05 

10.19 

1896 

7.37 

10,30 

9i4a 

6M 

9.63 

Auch  dM  Berichtiyahr  weiat  also  grofie  Veiadiiedenheftep  in  der 

Morbilität  bei  den  einzeln  Kassen  auf,  welche  wohl  auf  denselben  Grund 
wie  im  Vorjahre  (vgl.  a.  a.  O.  XII.  Seile  694)  zurückzuführen  sein  werden. 

Bei  den  verschiedenen  Kategorieen  der  Bezirkskrankenkassen  betrug  die 
Morbilität:  I.  5,52  (4,68),  II.  6,52  (6,20),  III.  6,61  (6,50),  IV.  6,90  (7,01), 
V  8,43  (8,21).  Die  Verschiedenlieilen  der  ersten  4  Kategorieen  haben 
sich  etwas  ausgeglichen,  während  freilich  der  Unterschied  zwischen  ihnen 
und  den  gröfsten  Kassen  ein  noch  gröfserer  geworden  ist. 

Was  endlich  die  durchschnittlichen  Kosten  anbelangt,  so  betrugen 
diese  für  einen 


im  Jahre  Krankentag 

Erkrank  ungsfall 

Sterbefall 

1894 

0,78 

13.94 

22,11 

1895 

0,79 

13,61 

1896 

0,81 

14,1a 

«3.03 

speddl  im  Jahre  1896  bei  den 

Bezirkskraakenkaiseii    .   .  . 

0,78 

12,93 

i»,79 

Betrieb»             „        •    .  . 

0,75 

t3»U 

23.46 

Baa   

0,97 

11.04 

22,17 

( 1  enossenschu  1 1  :i  k  r  .1  n  k  c  nkassen 

0,99 

«8.77 

26.22 

Vereinskrankcnkasäen    .    .  . 

0.»4 

»5.54 

26,90 

Digitized  by  Google 


LITTÜRATUR. 

Natorps  Foul,  Sotialpädagügik.  Theorie  der  Willenserziehun^ 
auf  der  Grundlage  der  Gemeinschaft  Stuttgart,  Fr.  From- 
manns  Verlag  (E.  HaufT)  1899. 

Es  war  in  Kngland  vor  einigen  Jahren  eine  gangbare  Rede  geworden, 
zur  Rechtfertigung  der  „UniversitätsausdehDung" :  „VVir  müssen  unsere 
Henscher  enidien"  ( We  musi  tdiuaU  cur  ruUrs),  und  auch  heute  mag 
diese  Rede  dort  vernominen  werden.  Mit  UUsUchem  Humor  eigiebt  man  sich 
in  die  Thatsache  und  Notwendigkeit,  dafs  mehr  und  mehr  die  Geschicke 
der  Nation  durch  das  Wollen  der  grofsen  Menge,  des  werktätigen  Volkes, 
bestimmt  werden.  Darum,  so  meint  man,  muis  die  grofse  Menge  ge* 
bildet  werden.  Das  Volk  mufs  sich  selbst  zu  regieren  lernen;  zum 
Selbst-Bewufstsein  gelangend,  mufs  es  auch  zur  Selbst-E r  ken  n  t  n  is 
sich  erheben,  die  wiederum  der  Selbst-Beherrschung  unerläfsliche 
Bedingung  ist.  Dies  alles  —  will  jene  Rede  besagen  —  ist  in  unserem, 
der  bisher  herrschenden  Klasse,  eigenem  Interesse:  die  Menge  wird  uns 
van  so  besser  behandeln,  je  besser  die  Menge  erzogen  ist. 

Auch  m  der  vorliegenden  deutschen  Schrift,  dem  eisten  Entwürfe 
einer  Sozialpädagogik,  finden  wir  Anklänge  an  diesen  Gedanken- 
gang (z.  B.  S.  i85). 

Ihrem  Gesammtchaiakter  nach  steht  sie  aber  auf  einer  höheren 
Warte,  ^^'enn  dort  die  Betrachtung  einigermafsen  auf  ein  pü-aller  zu- 
geschnitten ist,  so  haben  wir  es  hier  mit  einer  Idee  zu  thun,  die  auf  eine  Ver« 
vollkommnung  der  gesamten  menschlichen  Kultur  abzielt.  In  seiner 
inneren  Anlage  und  in  einzelnen  Ziigen  erscheint  das  Werk  als  eine  Er- 
neuerung der  Republik  des  Plat(} ,  die  es  mit  allem  Ernste  auszulegen, 
aber  auch  zu  berichtigen  sich  angelegen  sein  läfst.  Man  erinnert  si(  h, 
welche  supreme  Bedeutung  der  intellektuellen  und  sittlichen  Ausbildung 
der  I&mdier  —  freilich  aber  eines  henschenden  Standes  —  in  jener 
Idealverfassung  einer  Stadtgemeinde  (so  möchte  ich  was  Pbto  im  Auge 
hatte  bezeichnen)  eingeräumt  wurde.  So  will  auch  Natorp  „zwei 
sonst  getrennte  Wissenschaften:  Gesellschaftslehre  und  Erziehungsiehre, 


Digitized  by  Google 


446 


Litteratnr. 


als  in  der  tiefsten  Wurzel  eins  und  zusammengehörig  erweisen*'.  Er- 
ziehung, (leren  Kern  die  Erziehung  des  Willens  bilde,  sei  ebenso  be- 
dingt durch  das  „Leben  der  Gemeinschaft",  wie  sie  auf  dessen  Gestaltung 
mitbestiininond  einwirke.  Diese  Werliselwirkunj:  aber  wird  wesentlich  aus 
dem  ( iesi(  litspunkte  der  mafs^a'bendeii  Idee  hcschriebcii,  in.  a.  W.  niclit 
wie  sie  ist,  war,  oder  —  vielleicht  zum  Unheil  —  sein  wird,  sondern 
wie  sie  sein  ,,soll  '.  iJies  aber  will  niclit  als  ein  Spiel  der  Phantasie  er- 
scheinen und  ergötzen,  sondern  die  ausgesprochene  Endabsicht  geht  dahin, 
das  Ganze  der  Erziehung  in  sozialem  Sinne  zu  fördern  —  der  Zweck 
des  Theoremes  ist,  an  der  Lösung  gegenwärtiger  Probleme  mttzu« 
wirken.  Anstatt  des  unbestimmten  ,,8ein  soll'*  sagen  wir  daher  lieber: 
die  Erziehung  wird  beschrieben,  wie  äe  sein  müfs,  um  der  Idee  zu 
entsprechen,  die  in  ihrem  eigenen  Wesen,  und  zugleich  im  Wesen 
menschlicher  Gemeinschaft  angelegt  sei.  Das  erste  Buch  (§  i — lo)  führt 
uns  in  die  Welt  der  Hegriffe  ein,  die  hier  zu  (irunde  lief:cn.  Eine  freie 
Ausbildung  kantischer  Lehre,  die  als  tiefer  Parallelisnuis  theoretischer 
und  praktischer  Erkenntnis  vorgetragen  wird  und  in  einer  Deduktion  des 
Willens,  vom  Triebe  durch  eigentlichen  Willen  zum  Vernunfiwillen 
sich  ertiiUt  Das  zweite  Buch  (§  ii — 19)  giebt  eine  systematische  Skizze 
der  Ethik  und  Socialphilosophie:  .das  Sittliche  wird  in  individualer  und 
in  sozialer  Bedeutung  dargestellt,  die  individuellen  Tugenden  werden  be> 
schrieben,  daran  knüpft  sich  die  Vorstellung  der  „(kundklassen"  sozialer 
Thätigkeiten ,  des  Grundgesetzes  der  sozialen  Entwicklung  und  der 
„Tugenden  der  Gemeinschaft**.  Hier  zumal  findet  vielfache  Anknüpfung 
an  die  Leitgedanken  Piatos,  kriti.sche  Erörterung  dieser  (iedanken,  statt. 
Das  dritte  Buch  endlich  (§  20  —  34)  l>ehandclt  „Organisation  und  Me- 
thode der  Willenserziehung".  Hier  ist  es  der  Geist  Pestalozzis,  dein 
ein  l>estitnniender  EinHufs  ge};önnt  wird.  ')  Li  dem  ganzen  W  erke  al>er 
ist  doch  der  Verfasser  er  selber,  die  Kraü  cmes  auf  das  Wesentliche 
und  Echte  gerichteten  Denkens  tritt  uns  auf  allen  Blättern  entgegen.  In 
diesem  letzten  Buche,  das  den  eigentlich  i)ädagogisch«i  Teil  enthält,  werden 
als  „soziale  Organisationen  zur  Willenaerziehung"  unterschieden  und 
betrachtet  x.  das  Haus,  2.  die  Sehlde  —  die  dritte  aber  empfUngt  keinen 
gleichartigen  Namen;  wir  dfirCeo,  im  Sinne  des  Autors,  das  „öffentliche 
Leben^'  dafür  einsetzen.  Entsprechender  Weise  werden  dann  als  Stufen 
der  Erziehung  die  Hauserziehung,  die  Schulerziehung  und  die  „freie 
Selbsterziehung"  erörtert :  für  die  Möglichkeit  auch  solche  freie,  nicht 
autoritative  Bildunt:stliatigkeit  zuorganisiren,  gelve  die  Hochschule 
das  beweisende  Muster.  S.  216.)  Ueberall  wird,  wie  sich  leicht  versteht, 
auf  den  .Anteil  der  intellektuellen  Ausbildung  an  der  WiUenserzieiiung, 


1)  Aaf  Natorps  gleldueitig  encbienene  Schrift  „Hcrbwt  aad  Pcstaloni**  werde 
lungewicseii,  die  schon  eine  lebhafte  Bewegimg  unter  den  Pidagogcn  Hertwriaeber 
Obwnraiit  hemngcnifen  hat 


Digitized  by  Google 


Natorp,  Paul,  Sozial pädagogik. 


447 


das  gröiste  Gewicht  gelegt ;  schließlich  noch  der  üsthetischen  Kultur,  ja 
auch  der  Religion  eine  heilsame  Mitwirkung  eingeräumt. 

Wir  finden  so  ein  festbegründetes,  wohlgeformtes  Gedankensystem,  das 
giBS  dazu  angethan  ist,  dem  der  sich  darin  vertieft,  lebliafte  Sympathien 
fOen^'erken,  kühne  Gedanken  zu  entfesseln,  prog;rammatisch  für  denkende 
Pädagogen,  aber  auch  für  ernstliafte  Politiker  zu  wirken.  Hier  ist 
einmal  Philosophie,  die  sich  niclit  in  psychophysische  Laboratorien  ver- 
schliefst, oder  mühsam  die  Karren  philologiscliet  Textkritik  schiebt,  sondern 
die  aus  den  Bedrängnissen  des  Lebens  entsprungen,  an  das  Leben  sich 
wendet,  lebendig  sa  wiricen  verlangt  und  sich  zutraut  Nicht  als  ob 
dies,  auch  in  unseren  Zeiten,  durchaus  neu  und  unerhört  wäre.  Den 
mächtigen  und  sich  steigernden  Ringen,  die  durch  die  Seele  Europas 
gehen,  haben  auch  die  deutschen  Universitäten,  trotz  der  gonv^nemen- 
talen  Bemühungen,  sie  zu  Beamtenschaften  und  Beamten-TninieranstaUen 
zu  erniedrigen,  sich  nicht  ganz  imd  gar  entziehen  können.  Was  aber 
Natorf)  vor  den  meisten  akademischen  Denkern  über  Ethisches  und 
Politisches  auszeichnet,  ist  der  radikale  I  d  e  a  Ii  s  niii  s  ,  der  uns  weit 
über  die  bestehentle  gesellsc  hafili(  ho  l'nordnung  emporhebt,  auf  deren 
„Boden'' jene  in  der  Kegel  bedächtig  verharren.  Nicht  als  wölke  dieser  Sozial- 
pädagoge irgend  etwas,  was  lebensfähig,  lebenswürdig  und  im  rechten 
Sinne  ehrwürdig  ist,  vernichten  oder  gar  „umstürzen'*.  Aber  er  verleugnet 
nicht,  ja  es  ergiebt  sich  aus  allen  Prämissen  der  Schrift,  dals  seine  Idee 
der  sittlichen  Erziehung  emer  ganzen  Volksgenossenschaft  mit  den  kapi- 
talistischen  Formen  der  bestehenden  VoUts-Wirtschaft  unverträglich  ist 
In  der  „Diskontinuität"  der  sozialen  Klassoi  und  Unterklassen  sieht  er 
„das  auiTallendste  Krankheitssymptom  des  gegenwärtigen  schwierigen 
Uebergangsstadiums"  (173)  „Kine  {resonderte  Klasse  wirtschaftlich 
Arbeitender  {gestattet  das  sittliche  Grundgesetz  des  sozialen  Lebens 
so  wenig,  wie  es  eine  Klasse  Regierender  oder  eine  Klasse  im  Allein- 
besitz der  Bildung  erlaubt"  (186).  Und  „darauf  kommt  nicht  weniger 
als  alles  an",  das  Gesetz  der  Idee  mit  den  allgemeinen  Gesetzen  der 
Er&hrung  in  Verbindung  zu  setzen.  „Die  venranftmäftige  Gestaltung 
des  sozialen  Lebens  kann  nur  geschehen  durch  das  Mittel  der  sozialen 
Regelung,  diese  aber  hat  ihre  letzte  materiale  Grundlage  in  der  Tech« 
nik;  deren  Fortschritt  endlich  ruht  unmittelbar  auf  dem  Fortschritt  der 
Naturerkenntnis"  (163).  Diesen  „allgemein  zugestandenen,  ja  für  selbst- 
verständlich gehaltenen"  Fortschritt  „von  festbestiramter  Richtung"  (168) 
macht  Natorp  zum  Eckstein  seines  Baues.  Die  Gesetzlichkeit  der  Natur 
ist  —  von  der  Erkenntniskritik  aus  verstanden  —  Gesetzlichkeit  des 
Bewufstseins.  darum  läfst  sich  der  allein  mögliche  Fortgang  ihrer  Er- 
kenntnis auf  einen  allgemeinen  Ausdruck  bringen,  wie  er  in  Kants  regu- 
lativen Prinzipien  vorliege.  Diese  Priiuipicn  heifsen  hier:  Gene- 
nüisation,  Individndisation,  stetiger  Uebergang  (169);  sie  entsprechen 
der  Natur  des  Bewufstseins  überhaupt  als  der  Einheit  des  Mannigfaltigen 


Digitized  by  Google 


448 


Littcntor. 


durch  Kontinuität  —  die  Erwartung  bewährt  sich ,  dafs  dieselbe  Ge- 
setzlichkeit durchgehend  auf  allen  ( rehieten  des  Bewufstseins  angetroffen 
werde.  Insonders  „drangt  dieselbe  ?^ni\vicklung,  die  zur  immer  einheit- 
licheren Erfassung  der  naturwissenschaftliclien  und  technischen  Probleme 
trieb,  auch  zur  immer  einheitlicheren  Lösung  der  Probleme  sozialer 
Organisation  (172),  durch  wdche  die  Naturteclinik  dem  Zwecke  der 
socialen  Tedinik  systematisch  ontergeordnet  wird,  wie  beide  endlich  dmch 
die  bildende  ThMtigkeit  geleitet  werden;  ancb  in  dieser,  daher  in  der 
sittlichen  Entwicklung,  waltet  jenes  Gesetz  des  Bewufstseins.  So  „ergiebt 
sich  die  Idee  eines  allgemeingültigen  funktionalen  Zusammenhanges  unter 
den  notwendigen  (irundfaktoren  des  sozialen  Lebens"  (176)  und  damit 
die  Idee  einer  Selltsterziehung  menschlirher  (iemeinschaft  (177). 

Mit  vollkuraraener  Bestimmtheit  stellt  sich  diese  Ideologie  dem 
sozialen  Materialismus«  nicht  sowohl  gegenüber  als  über  ihn,  und  be- 
flissen, solche  „gemeine  Ansicht*'  (ohne  sie  ausdrücklich  so  zu  nennen) 
gleichsam  zu  sich  empomiheben.  Diese  knüpfe  mit  Recht,  memt  Natorp 
(264),  die  GesetsUchkeit  der  sozialen  Entwiddung  an  den  gesetzmäßigen 
Fortschritt  der  Technik,  also  zuletzt  der  Naturwissenschaft  an;  aber 
dieser  eine  Faktor  der  Entwicklung  müsse  in  genauen,  innerlich  ver- 
mittelten Konnex  gesetzt  werden  mit  dem  anderen,  den  die  materialistische 
(ies(hichts;iutfassung  abzulehnen  scheine:  mit  der  sittlichen  hiee.  Dazu, 
dafs  sich  die  sozialen  Ordnungen  den  neuen  Bedingungen  anpassen,  ge- 
höre erstlich  ein  neuer  Fortschritt  technischer,  nun  aber  sozialtech- 
nischer  Enuncht,  dann  aber  und  hauptsächlich  die  Umwandlung  des 
Willens  derer,  von  denen  die  Gestaltui^  der  sozialen  Ordnung  abhängt 
Und  diese  Umirandhn^  des  Willens  sei  bedingt  durch  eine  Prüfung  des 
Zweckes»  also  durch  eine  Idee  von  der  bestmöglichen  Ordnung  der 
Zwecke,  diese  aber  falle  gamicht  mehr  unter  technische,  sondern  unmittel- 
bar unter  s  i  1 1 1  i  r  h  c  Erwägung.  Mithin  sei  diese  zuletzt  der  entscheidende 
Motor,  um  , .soziale  Regelung"  in  einem  bestimmten  Sinne  herbeizuführen.  — 
Nun  al>er  soll  „(lesetzlichkeit"  hier  nicht  verstanden  werden  im  Sinne  eines 
„Naturgesetzes"  oder  „empirischer  Verursachung"  (162).  Es  lasse  sich  immer 
nur  behaupten:  Wenn  die  bisher  beobachtete,  „im  Ganzen  fortschreitende" 
Entwicklung  sich  audi  ferner  bewährt,  so  müssen  dies  und  dies  die  zu- 
nächst zu  erreichenden  Stufen  sein.  Dieses  „Müssen"  wiederum  ist  mehr 
moralischer  Lnpemtiv,  als  physische  Notwendigkeit,  wenn  dies  auch  nicht 
so  deutlich  ausges[)rorhen  wird,  wie  wir  es  auseinander  zu  halten  wünschen 
mögen.  Hierin  aber  liegt  die  tiefste  Abweichung  von  jenem  historischen 
Materialismus,  eine  Abweichung,  die  nun  merkwürdigerwei>e  nicht  als 
solche  accentuiert  wird.  Der  historische  Materialismus  will  allerdings  — 
nicht  allein  „einen  dtvchgehenden  gesetzlichen  Zusammenhang  von  der 
untersten  Grundlage  bis  zur  obersten  Spitze  des  sozialen  Lebens  voraus- 
setzen"  (167)  und  behaupten,  sondern  —  will  „ein  Naturgesetz  der 
sozialen  Entwicklung,  wenigstens  dieser  gegenwärtigen  Kultur,  au6tellen"i 


Dlgitlzed  by  Google 


Natorp,  Paul,  Sonalpidagogik. 


449 


was  Natorp  kunerhand  abldiot,  weil  es  tMsbjer  auch  an  den  notwendigsten 

Voraussetzungen  dazu  fehle  (162).  Wenn  das  richtig  wäre,  so  würde 
dadurch  jene  berufene  Ansicht  nicht  berichtigt ,  sondern  vernichtet ; 
Natorp  erwähnt  aber  solchen  Anspruch  pamirlit  als  den  Anspruch  der 
materialistischen  Geschichtsciuffa-ssung,  sondern  charakterisiert  diese  so,  als 
ob  sie  die  Gesetzlichkeit  der  sozialen  Kntwicklung  schlechterdings  nur 
in  seinem  Sinue  darstellen  wolle  und  blofs  darin  verfehlt  sei,  dafs  sie 
die  Herrtchift  des  Bewufstseins  von  der  für  den  Menschen 
scUieUicb  nicht  weniger  als  alles  abhänge,  anzuerkennen  sich  bisher 
gesträubt  habe  (165).  Wir  kOnnen  daher  Natorp  in  allem,  was  er  nach 
dieser  Richtung  treffend  und  scharf  ausführt,  /custimmen,  so  weit  es  sich 
dabei  um  „praktische"  Philosophie  handelt.  Wir  finden  auf  den  wenigen 
Seiten  den  ganzen  Inhalt  des  S t a m m  1  e r sc h en  Buches  nicht  allein 
/usanimengefafst,  sondern  besser  befjren/.t  und  knapper  begründet,  als  dort 
irgendwo  geschehen.  Und  doch  halten  wir  die  Frage  nach  der  ( iesetz- 
lichkeit  des  wirklichen  Verlaufes  sozialer  Wandlungen  durch  alle 
diese  Postulate  praktischer  Philosophie  nicht  flbr  erledigt,  kaum  für  be- 
rührt, und  den  Versuch,  solche  GesetanSfirigkeit,  ihren  Elementen  nach, 
zu  entdecken,  nicht  für  so  hoffimngdos,  wie  Natorp  ihn,  ohne  zulflnglidie 
B^ründung,  darstellt. 

So  oft  aber  die  „materialistische  Geschichtsauflässung^  erörtert  und 
kritisiert  wird,  halte  ich  für  angezeigt,  daran  zu  erinnern,  dafs  eine  durch- 
geführte rheorie  von  dieser  Art,  bisher  nicht  vorhanden,  dafs  solche 
Durchführung  nicht  einmal  versucht  worden  ist. 

Dem  wahren  Sinne  der  von  Marx  aufgestellten  Leitsätze  entspricht 
eine  Darstellung  wie  z.  B.  Stammler  (Wirtadiaft  und  Recht  S.  32  ff.: 
die  sociale  Wirtsdiaft  ist  das  alleinig  Iflcale  im  sozialen  Leben,  ihre  Be- 
w^;ungsgesetze  sind  die  einzigen  Wahrheiten  in  diesem  Gebiete  ...  die 
gemeinsamen  Geisteserscheinungen  sind  nichts  als  wiedergespiegelte  Ab- 
bilder der  wirtschafdichen  Verhältnisse*  .  .  blofs  unselbständige  Erschei- 
nungen .  nur  Reflex  .  .  lediglich  Spiegelbilder  u.  s.  w  ")  vorgetragen  hat, 
nicht,  wenn  sie  auch  durch  einzelne  salopj)e  Aussprüche  (dieal)er  mehr  auf 
Engels  zunirkgehen )  unterstutzt  wird.  Dem  wahren  Sinne  der  Tlieorie  würde 
eine  rem  psychologische  Auslegung  jener  Leitsätze  weit  näher  kommen. 
Die  „Fonniüienmg^  des  „allgemeinen  Residtats",  das  „einmal  gewonnen, 
seinen  Studien  zum  Leitfaden  diente"  (Zur  Kritik  der  pol.  Ök.  Ausg. 
Kautsky  p.  XI)  würde  Marx  selber  als  mangelhalten,  fragmentarischen 
Ausdruck  seiner  Ansicht  der  Geschichte  anerkannt  haben,  wie  folgende 
Erwägung  wahrscheinlich  macht.  Es  war  ihm  in  jener  Vorrede  darum 
zu  thun,  darzustellen,  wie  der  Gegensatz  zu  He-^'el  in  ihtn  gereift  sei 
und  ihn  aus  einem  Juristen  und  Philosojthen  zum  ]>olitis(  lien  Ökonomen 
gemacht  habe.  Seine  UniersuchuiiL'  der  Hegeischen  Rerhts[)hilosophie 
1844  —  an  die  er  bis  dahm  geglaubt  haue  —  „mündete  m  dem  Er- 
gebms,  dafs  Rechtsverhältnisse  und  Staat^ormen  weder  aus  sich  selbst 


Digitizeo  by  Google 


450 


Littentur. 


zu  begreifen  sind,  noch  aus  der  sogenannten  allgemeinen  Ent- 
wicklung des  raenschlictien  (ieistes,  sondern  vielmehr  in  den  materiellen 
Lebensverhältnissen  wurzeln,  deren  Gesamtheit  Hegel  .  ,  unter  dem 
Namen  „bürgerliche  Gesellschaft''  zusammenfalst  ..."(ich  habe  unter- 
atridien).  lo  der  folgenden  Ausführung,  „dals  die  Anatomie  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  In  der  politischen  Ökonomie  xu  siichen  sei,"  legt  er 
den  Begriff  der  „materiellen  Produktivkräfte"  zu  Grunde  —  diese  ent- 
wickeln sich  primär  und  (so  ist  zu  interpretieren)  nach  ihrer  eigenen, 
immanenten  Gesetzlichkeit,  die  relativ  einfach  und  „naturwissenschaft- 
lich treu  konstatierbar"  ist,  selbst  dann,  wenn  diese  Entwicklung  mit  den 
Eigentumsformen  in  Konflikt  gerat.  Man  mufs  —  sagt  Marx  —  stets 
unterscheiden  zwischen  der  „materiellen"  Umwälzung  in  den  ökono- 
mischen Produktionsbedingimgeu  und  den  .  .  .  „ideologischen  Formen, 
worin  sidi  die  Menschen  dieses  Konfliktes  bewufst  werden  und  ihn  aus- 
fechten*'.  Es  ist  nicht  leicht  zu  Terstehen,  wie  man  diese  Sentenz  so 
verstehen  konnte,  als  ob  daraus  folgte,  i.  dafi  diese  Formen  wesenlos, 
nichts  als  Schein  u.  dergl.  seien,  2.  dafs  der  gegenwärtige  Konflikt  zwischen 
Produktivkräften  und  Eigentumsverhältnissen n i c h t  mehr  in  ideologischen 
Formen  bewufst  werde  und  ausgefochten  werden  könne  oder  solle  oder 
thatsät  hlich  werde.  Zu  den  ideologischen  Formen  gehören  ohne  Zweifel 
auch  die  wissenschaftlichen  Ansichten  und  Erkenntnisse.  Ist  es  die 
Meinung,  diese  als  nichtig,  unwirklich  und  unwirksam  hinzustellen  ?  Dies 
die  Meinung,  wenn  (einige  Jahre  später)  die  Wissenschaft  des  ökonomi- 
schen Prozesses  als  eme  Kraft  dargestellt  wird,  die  sozialen  Geburta- 
wehen  abzukürzen  und  zu  mildem?  Allerdings:  diese  Erkenntnis  ent- 
springt aus  ihrem  Objekt,  dem  Prozefs,  der  Prozefs  nicht  aus  ihr.  Sie 
ist  einem  Reflexe  vergleichbar;  der  ganze  „moderne  Sozialismus  ist  der 
Gedankenreflex  des  thatsachlichen  Konflikts  zwischen  Produktivkräften 
und  Produktionsweise,  seine  ideelle  Rückspiegelung  in  den  Köpfen  zu- 
nächst der  Klasse,  die  direkt  unter  ihm  leidet,  der  Arbeiterklasse" 
(Engels  Antidühring  S.  287,  3.  Aufl.)  wo  man  aber  gerade  das  „zu- 
nächst**  mit  gutem  Grunde  anfechten  mag.  Hier  ist  aber  nidit  nur  der 
wissenschaftliche,  d.  h.  Marx-Engels^sche  Sozialismus  gemeint,  sondern  die 
gesamte  ideelle  Nation  des  Kapitalismus,  die  in  ihren  früheren  Phasen 
—  und  Engels  wufste  wohl,  wie  stark  diese  noch  lebendig  sind  — 
wesentlich  auf  die  ewigen  Prinzipien  der  Gerechtigkeit  oder  auf  das  ab- 
solute Ideal  der  dleichhcit  und  Hrüderlichkeit  sich  berief.  Auch  in 
diesen  spezifisch  ideologischen  Formen,  aber  nicht  in  ihnen  allein, 
gelangt  der  Konflikt  zwischen  Ökonomie  und  Recht  zum  Bewufst  sein. 
Wenn  nun  der  hirtorisdie  Materialismus  lehrt:  diese  angeblich  ewigen 
Ideen  smd  eine  unzulängliche,  der  l>üigeriichen  Erhebung  gegen  den 
Feudalismus  entlehnte  Ansicht,  das  moderne  Proletariat,  kann  dieser 
Wafl'en  entraten,  es  kann  sich  genügen  lassen  (wie  wir,  seine  wissen- 
schaftlichen  Wortführer),  die  Forderung  des  Sozialismus  zu  gründen  auf 


Dlgitized  by  Google 


Natorp,  Pftttl,  Sosialpidagogik.  45 1 

die  Thatsache  der  inneren  Wktoprtiche  und  des  dadurch  notwendiger- 
webe bewirkten  Zusammenbruchs  der  kapitalistisrlien  Produktions- 
weise und  dies  sei  die  einzig  richtige,  d.  Ii-  wissenschaftliche  Be- 
gründung: —  folf^t  daraus,  dafs  von  nun  an  niciit  mehr  in  ideologischen 
Formen  frekämpft  werden  solle,  >;eschweiKe,  dafs  es  nicht  mehr  ge- 
sciiehen  werde?  würde  denn,  wenn  wirklich  aus  dem  Bcwufstsein  einer 
unterdrückten  Klasse  aller  moralische  Unwille  und  alle  phantastischen 
Ideale  ausgemerzt  würden,  wenn  wirkUdi  nur  die  nüchternen  Eifeennt- 
nisse  übrig  blieben  —  würde  dann  zu  i^eicher  Zeh  die  idedle  Ver- 
tretung dnes  Klassenstandpunktes  hinftilig  und  bedeutungslos  w«den, 
ja  ganz  und  gar  aufhdren?  Oder  würde  sie  nur  eine  andere,  klarere, 
intellektuellere  Gestaltung  annehmen,  die  ganz,  dem  allgemeinen  Fort- 
f^ange  des  wissenschaftlichen  gegen  das  mythologische  Denken,  dem 
Siege  des  Verstandes  über  das  Gemüt,  <ier  Kritik  über  die  Phantasie 
angemessen  wärer  Wie  Marx  hierüber  gedacht  hat,  ist  aus  der  Stelle 
selber  und  aus  den  übrigen  zerstreuten  Anmerkungen  nicht  völlig  deut- 
lich, und  jedenfalls  ist  es  ein  i-ehler,.  dals  er  politische  Wirklichkeiten 
und  politische  Theoreme,  rechtliche  Institutionen  und  juridische,  wie 
moralische  Ansichten  in  den  einen  Mischkessel  der  ideologischen 
Formen  zusammenwirft,  ohne  sie  wieder  analytisch  als  gesonderte  Kssifiniien 
darzustellen,  bidessen,  wenn  Müsverstandnisse  durch  gelegentliche  Aus- 
drücke nahe  gelegt  sind,  SO  mab  das  richtige  Verständnis  um  so  mehr 
durch  lo^sche  Folgerungen  gewonnen  werden.  Auf  die  sachgemäfse 
Deutung  weist  alxjr  Marx  selber  hin,  wenn  er  die  „Eigentumsverhältnisse'* 
d.  h.  einen  Ausdruck  des  gültigen  Rechtes,  Kntwicklungsforraen  oder 
P'csseln  der  Produktivkräfte  sein  lafst,  und  weiui  er  kurz  vorher  scharf 
unterscheidet  zwischen  dem  juristischen  und  politischen  Ueberbau, 
der  sich  über  der  ökononuschen  Struktur  erhebe,  und  den  gesellschatt- 
lichen  Bewulstseinsformen,  die  dieser  „realen  Hasis'*  entsprechen. 
Zum  juristischen  und  politischen  „Überbau**  gehören  in  der  That  nicht 
die  juristischen  und  politischen  Theoreine,  wohl  aber  gehören  dazu 
ElenieBte  auch  des  „geistigen  Lebeosprozesses**,  nämlich  alles»  was 
jeweilig  den  Charakter  sozialer  Realität  mit  sich  flihrt:  diese  Realität 
aber  besteht,  wo  immer  sie  als  solche  gedacht  wird,  und  gedacht 
wird  sie,  wo  sie  sozial  gewollt  wird. .  Soziale  Realität  hal>en  die  Kirchen 
so  gut  wie  die  Staaten,  haben  die  Universitäten  und  ihre  Fakultäten,  die 
Akademien  und  gelehrten  Gesellsrliafteti,  haben  \'erl)ände  und  \'ereuic 
aller  Art,  also  auch  solche,  die  nur  „künstlerischen  oder  philosophischen" 
Ideen  Ausdruck  geben.  Die  soziale  Realität  ist  —  wie  sich  von 
selbst  verstehall  sollte,  in  der  That  aber  fast  niemals  verstanden  wird  — 
das  eigentliche  Problem  der  Soziologie.  Was  insbesondere 
alle  konstituierten  Verbände  (Gemeinschaften  und  Gesellschaften)  anlangt, 
so  existieren  sie  nur  kraft  sozialen  Wollens,  und  sind  selbst  wieder  Träger 
sozialen  Wollens  —  diese  ihre  zwiefache  Natur  darf  niemals  aus  den 

Archiv  für  toc  Gtteciccbiuif  o  Sutiidk.  XIV.  39 


Digitized  by  Google 


Litteratnr. 

Augen  gelassen  werden.     >Iar\  unterscheidet,   wie  pesagt,  sowohl  von 
den  gesellsrhalthchen  Bewur>itseins!ormen,  als  von  dem  juristischen  und 
])olitischen  l'eberhau,  die  Gesamtheit  der  Produktionsverhältnisse,  deren 
Begrift"  er    mit  dem  wichtigsten,    schwierifisten,    vielleicht  aber  auch 
am  wenigsten  klaren  Satze  einführt:  „In  der  gesellschaftlichen  Produktion 
ihres  Lebens  gehen  die  Menschen  bestimmte,  notwendige,  von  ihrem 
WiUen  imabhüngige  Veffaältnisse  ein  .  /'  mid  deren  Gesamtheit  bilde 
eben  die  ökonomische  Struktur  der  Gesellschaft,  die  reale  Basis  .  .  . 
Hier  also  wird  ihr  gegenüber  der  ganze  „Ueberbau"  nicht  minder  als  die 
gesellschaftlichen  Rewufstseinsfonnen  in  das  Reich  der  „Ideologie"  ver- 
wiesen;  und  doch    werden   gleich   nachher  die  Produktionsverhältnisse 
identisch  gesetzt  mit  ihrem  „juristischen  Ausdnick',  den  Kigentums- 
vcrhältmssen.    In  Wahrheit  —  so  möchte  ich  meine  Ansicht  der  Sache 
feststellen  —  handelt  es  sich  um  soziale  Realitäten  verschiedener  ( )rd- 
nung,  die  aber  auf  das  Innigste  ineinander  verwoben  sind:  die  (aller- 
dings einer  bestimmten  Entwicklungsstufe  der  materiellen  Produktivkräfte, 
eben  damit  aber  auch  klimatischen  und  anthropologischen  Bedingungen 
entsprechenden)  ökonomischen  Verhältnisse,  d.  h.  Thatsachen  der  Arbeit 
und  der  Arbeitsteilung,  fer  tonsiquens  der  Verteilung  des  Produktes,  sind 
soziale  Realitäten  erster  Ordnung  —  auch  sie  sind  allerdings  von  dem 
Willen  der  Einzelnen  sehr  wenig  abhängig,  bedürfen  aber  zu  ihrer  Er- 
haltung des  sozialen  Willens,  der  als  Ueberlieferung,  als  Sitte,  als  natür- 
liche Ordnung    oder   als    ^^ottlicher  Wille  schon    in    diesen  einfachen 
Thatsachen  sich  regelnuifsig  j^rojiziert.     Auch  wo  die  lieruiswahl  „trei'' 
ist,  bewef^t  sich  diese  innerhalb  vorges(  hriebener,  zumeist  sehr  enger 
Gren-cen;  und  selbst,  wenn  diese  Grenzen  sich  erweitern,  ändern  sie  so 
gut  wie  nichts  an  der  „ökonomischen  Struktur",  die  in  den  Eigentams- 
verhähnissen  fixiert  ist,  daher  an  dem  Dasein  und  den  Lebensbedingungen 
der  socialen  Stände  oder  Klassen,  Rangstufen  oder  Schichten,  mögen 
auch  manche  Individuen  innerhalb  dieser  hin«  und  hergeworfen  werden. 
Und  diese  Lebensbedingungen  sind  allerdings  wesentlich  verschieden, 
je  nach  Umfang  und  iurgiebigkeit  des  Ackerbaues,  je  nach  Besitz  an 
domestizierten  Tieren  und  an  Werkzeugen,  je  nach  Art  und  Ausdehnung 
der  Warenproduktic^n    und   der    mechanischen    Technik,  je  nach  dem 
flacheren  oder  tieferen  Kindringen  des  Ka|)ilalismus  in  die  soziale  \  er- 
fassunp.       Der   sozialen  \  erfassunp    ^e.<;enul)er   hat    aber   die   tre^  unte 
politische  Verfassung  ;^in  ihrem  ßegnrte  kann  man  alles  zusammea- 
fassen,  was  den  Charakter  der  Institution  im  eigentlichen  Sinne  an 
sich  trägt)  die  Merkmale  der  sozialen  Realität  zweiter  Ordnung;  sie 
wird  nicht  mehr  blofe  als  Thatsache  durch  sozialen  Willen  bestätigt, 
sondern  verdankt  ihr  Dasein  als  Thatsache  sozialem  Willen  ganz  und 
gar.    Was  schon  daher  wahrscheinlich,  dafs  sie  ihrem  Wesen  nach  jenen 
Thatsachen  gef:eniiber  sekimdär,  das  wird  durch  die  einfache  Beobachtung 
verifiziert,  dafs  Hirtenvölker  andere  politische  und  rechtliche  Einridi- 


Digitized  by  Google 


Natorp,  Panl,  SoxialpSdagogik. 

tungen  haben,  als  Ackerbauvölker,  diese  andere  als  Handelsnationen,  und 
insbesondere,  dafs  der  eigentliche  Staat  d.  Ii.  eine  souveräne.  Gesetze 
p^ebende.  öftentliche  <^'.e\valt.  zuerst  in  Städten  und  dann  pari  passu  mit 
der  städtischen  F,ntwickliin<:  aus;;ebildet  wird.  Es  ist  darin  sogleich 
sichtbar,  dal's  diese  Gewalt  durch  die  zunehmende  Differenzierung,  anderer- 
seits durch  die  grüfsere  Mannigfaltigkeit  der  Beziehungen  zwischen 
innerlich  unzusammenhängenden  Individuen  immer  mehr  notwendig  wird. 
—  Engels  unterscheidet  Religion  und  Philosophie  als  „hdhere,  d.  h. 
noch  mehr  von  der  materiellen  ökonomischen  Grundlage  sich  entfernende 
Ideologien*';  der  thatsächlich  vorhandene  Zusammenhang  der  Vorstel- 
lungen mit  ihren  materiellen  Daseinsbedingungen  werde  hier  immer  ver- 
wickelter, immer  mehr  durch  Zwischenglieder  verdunkelt. Ich  meine, 
dafs  man  in  viel  bestimmterer  Weise  sagen  kann :  wie  die  individuellen 
Bedürfnisse.  Sorgen  und  Wünsche  fortwährend  das  individuelle  Denken 
anstacheln,  fuhren  und  irrefuhren,  erweitern  vmd  beschränken,  so  stehen 
die  sozialen  Angelegenheiten  zumeist  unmittelbar  hinter  dem  sozialen 
Denken.  Not  lehrt  beten  und  Not  niacht  erfinderisch  —  und  wiederum 
ist  es  auch  der  Ueberflufs»  der  den  Göttern,  daher  der  Kunst  und  aller 
Mnfie,  der  Mutter  der  Studien,  zugute  kommt  Diese  Studien  aber  ge- 
hören, insofern  sie  produktiv  sind,  unmittelbar  dem  ökonomischen  Leben 
an,  das  ihrer  fast  nie  völlig  oitbehrt;  wie  auch  die  Wehrverfassui^;,  das 
fundamentale  Stück  des  politischen  Zustandes,  zugleich  unmittelbare 
ökonomische  Thatsache  ist.  Die  subjektive  oder  rein  ideelle  Seite  aber 
jener  ..kleologien"  ist  zum  gröfsten  Teile  das  soziale  Wollen  selbst, 
direkt  und  indirekt,  in  seiner  Einheit  und  seiner  N'ielfachheit,  seinen 
Widersprüchen  und  (ie^;ensätzen :  daher  sowohl  insofern  es  realisiert  ist 
und  den  von  ihn»  geschafTenen  Realitäten  (wenn  auch  ohne  sie  als  solche 
zu  erkennenj  sich  gegenüberstellt  —  als  auch  insofern  es  nicht  mehr 
oder  noch  nicht  realisiert  ist,  in  jenem  Falle  nach  Wiederherstellimgen, 
in  diesem  nach  Neuerungen  sozialer  Realitäten  (d.  i.  von  sozialer  und 
politischer  Verfassung  —  Gesellschafts-  und  Staatsordnung)  trachtet 
Verschiedene  Meinungen  aber  gehören  verschieden  gearteten,  verschieden 
bedingten,  verschieden  mächtigen  Menschen  an ;  und,  wo  es  sich  um 
ganze  Gruppen  handelt,  ist  X'erschiedenheit  der  Macht  nichts  als  Ver» 
schiedenheit  des  Besitzes  oder  hJnkommens,  darauf  beruhen  Lebensweise, 
Lebensbedürfnisse,  (Gewohnheiten,  aus  allen  diesen  cntsprinf:en  unnnttel- 
bar  die  Ansichten  dessen,  was  notwendig,  was  schön  und  gut,  was  er- 
strebenswert und  veral)scheuens\\ert ,  soweit  solche  Ansichten 
überhaupt  ausgebildet  sind,  und  soweit  diese  .Ausbildung  nicht 
gehemmt  wird  durch  die  mächtij^n  Ideen  des  Gehorsams  und  der 
Frömmigkeit,  die  aber  selber  in  Lebensweise  und  Gewohnheit,  wenn 

')  Vgl.  Engels,  Fcut  rhach  S.  52  vgl.  Bricl  vom  27.  Oktober  IÜ90.  Lpz. 
Volkszeitung  26.  Oktober  iÖ95 

29* 


Digitized  by  Google 


454 


Ltttemtitr. 


auch  zugleich  in  Furcht  und  Nachahmung  beruhen.     Nach  ni  einen 
Begriffen  ist  es  nicht  allein  der  Gegensatz  und  Streit,  gemeinschaftlicher 
tind  gcflellschaftlicher  Gruppen^Ideeii,  sondern  auch  der  gemcinschaftüchen 
Gruppen  g^gen  einander  auf  der  einen,  der  gesdlsdiaMichen  Gruppen 
gegen  einander  auf  der  anderen  Seite,  was  dem  Prozeft  der  Ideen  seine 
kompltaerte  Gestalt  verleiht    Wenn  nun  der  historische  Materialnmus 
sajjen  wollte:  die  Entwicklung  der  Produktivkräfte  vollzieht  sich  ganz, 
ohne  Mitwirkung  von  Ideen,  so  wäre  das  absurd;  freilich  stelh  auch 
Natorp  diese  Entwicklung  nicht  richtig  dar,  wenn  er  sie  als  ganz  und 
gar  abhängig  vom  Fortschritte  des  Natur  er  ke  n  ne  ns  darstellt.  Dieser 
Fortschritt  hat  allerdings  im  letzten  Jahrhundert  (und  schon  früher  dann 
und  wann,  hie  und  da)  ungeheure  Wirkungen  auf  die  Technik  der 
Produktion  ausgeübt    Aber  unterhalb  dieser  Wirkungen,  innerhalb  ihrer 
und  vor  ihnen,  liegen  die  im  Einzelnen  £ast  unmerklichen  V^eränderungen 
der  Praxis,  die  fortwähren''  auch  auf  die  Theorie  befruchtend  wirken, 
und  die  (hirch  ihre  allmähliche  Häufung  auf  allen  Gebieten  von  Zeit  /u 
Zeit  totale  ..I  niwälzungcn"  liervorrufen ;  auch  uiunittelbar  epochemachende 
Erfuidun^on  snid,  zumal  in  älterer  Zeit,  last  ohne  alle  Naturwissenschaft 
geschehen,  snid  als  kleine  Vereinfachungen,  Erleichterungen  alltäglicher, 
gdäufiger  Arbdtquroiesse,  als  glückliche,  zuweilen  genialische  Einftlle  von 
Leuten,  deren  theoretisches  Wissen  tief  unter  dem  Niveau  ihres  Zeitalters 
stand,  ins  Leben  getreten.   An  solche  Veränderungen  dachte  wohl  Engels, 
wenn  er  die  „erwachende  Einsicht,  dafs  die  bestehenden  gesellschaftlichen 
Kiiirichtungen  unvernünftig  und  unprerccht  sind",  als  „Anzeichen  davon" 
deutet  „dafs  in  den  Produktionsnicthodcn  und  Austausch  formen  in  aller 
Stille  \"eräiiderungen  vor  sich  gegangen  sind  .  . ."  ( Anti-Duhriiig  3.  Aufl. 
S.  286\    Denn  es  korninen  die  vereinzelt  oft  minimalen,  und  doch  durch 
ihre  Suminierung  höchst  bedeutenden  Momente  liinzu,  die  das  Wachstum 
des  Transports  tmd  Verkehrs  auch  in  ftfiheren  Jahrhunderten  bezeichnet 
haben.   Aber  auch  insoweit  als  wirklich  die  Wissenschaft  mit  einigem 
Getöse  alle  Veränderungen  dieser  Art  hervorruft,  so  ist  es  immer  das 
an  der  Wissenschaft,  was  am  wenigsten  sozialen  Gehalt  besitzt,  was 
daher  am  wenigsten  den  Charakter  sozialen  W'ollens  trägt;  es  sind 
Theoreme,  die  in  den  Dienst  des  unmittelbaren  Lebens  und  der  daraus 
entspringenden  technischen  Bedurfnisse  gezwungen  werden,  aus  denen 
sie  sogar  oft  hervorgclien ,  duri  h   die  sie  am  meisten   sich  gefordert 
ftuden  (^„hai  die  Gesellschaft  ein  leciunschcs  Bedürfnis,  so  hilft  das  der 
Wissenschaft  mehr  voran,  als  10  Untverritäten",  Engels  im  s.  Briefe 
Sozialdem.  a.  a.  O.);  Theoreme,  die  hierbei  nicht  durch  das  wirken, 
was  etwa  aus  ihnen  den  religiösen,  politischen,  ethischen  Denkweisen 
störend  und  aufregend  sich  mitteilt.    Sicherlich  mufs  gegen  Marx  und 
EngeN,  oder  ihre  falschen  Interpreten,  die  psychologische  Einheit  des 
gesamten    Kulturlebens    hervorgehoben    werden,    aber  auch    für  die 
iudividual-Psycholugic  ist  es  von  höchster  Bedeutung,  dafe  das  vege- 


üiyiiized  by  Google 


Natorp,  Paul,  Sozialpädagogik. 


455 


tative  Leben  in  setnen  Funktionen  und  seiner  Entwicklung  wesent- 
lich unabhängig  vor  nch  gdit  von  Wahrnehmungen,  Vorstellungen 
und  Gedanken,  wenn  diese  es  auch  stark  modifisieren;  wXhreod  das 
animalische  Leben  ganz  und  gar  bedingt  ist  durch  Emähning,  Stoff- 
wechsel, Wachstum  und  zugleich  gelenkt  wird  durch  die  cerebralen 
ThätitrUciteii.  Denn  das  vegetative  Lehen  im  sozialen  Sinne  ist  Pro- 
duktion, Austausch,  Konsum:  kurz  die  Üekonomie;  das  aniinahsche  Lehen 
im  sozialen  Sinne  ist  wesentlich  Politik,  die  für  uns  Dasein  nnd  Funktion 
des  Rechtes  einschliefst. 

Natorp  lehrt  (S.  i66):  „Daxu  (dass  die  sozialen  Ordnungen 
sich  den  neuen  Bedingungen  anpa^en)  gehört,  ersüidi  ein  Fortschritt 
technischer,  nämlich  sosialtechnisdier  Einsicht,  dann  aber  „und 
hauptsächlich  die  Umwandlung  des  Willens  derer,  von  denen  die 
Gestaltung  der  sozialen  Ordnung  abhängt"  —  hierfür  aber  sei  der  Ge- 
sichtspunkt der  bestinöghclien  OrdnuiiL'  der  Zwecke  entscheidend 
und  dieser  falle  unmittelbar  unter  sittliche  K-rwaKunf.  Aber  auch  volle 
Kinräumung  dieser  begritl  liclien  \\'ahrlieit  würde  uns  nicht  von  der 
Untersuchung  entbinden,  wann  denn  solche  Einsicht  w  a  h  r  s  c  Ii  e  i  n  i  i  c  h 
werde,  unter  welchen  Umstanden  tmd  anf  welchen  Wegen  die  Um« 
Wandlung  der  Willen  wirklich  geschehe?  Und  wenn  sich  in  der 
That  ergeben  sollte,  dafs  neue  Gedanken  ethisch-poKtiachen  Charakters 
in  langwierigem  Streite  der  Meinungen,  vielleicht  sogar  der  WaffeUi 
ihr  Terrain  erobern  müssen;  dafs  sie  zunächst  da  sich  ausbreiten,  wo 
der  alte  Glaube  und  Wille  den  geringsten  Widerstand  leistet;  und 
dafs  dies  da  ist,  wo  die  bestehenden  Zustände  am  meisten  mit  Schmerzen 
empfunden  werden;  dafs  der  l/nwille  darüber  keineswegs  immer  in 
eine  „soziaUechuische  Einsicht",  in  die  Erkenntnis,  dafs  eine  Veränderung 
der  geltenden  Rechtsordnung  „wünschenswerter  Zweck"  sei,  sich  übersetzt, 
sondern  in  der  Regel  des  bisherigen  historischen  Verlaufes  die 
„ideologische  Form"  einer  Auflehnung  gegen  gültige  Vorschriften,  Gesetze 
luid  Riten,  etwa  g^en  Fastengebote  und  Sabbatismus,  oder  gegen  den 
Kultus  des  r  äsarischen  Genius,  oder  gegen  die  Messe  und  Entziehung 
des  Laienkelches,  oder  auch  die  abstrakte  Form  einer  naturrechtlichen 
Lehre,  einer  demokratischen  Begeisterung  und  Schwärmerei  annnnmt; 
dafs  auf  diesem  meist  sehr  indirekten  ^\ege,  indem  die  bestrittenen 
Dogmen  uiid  Riten  nachgeben  müssen,  indem  eben  dadurch  die  lie- 
streiter  und  Neuerer  „hoch  kommen"  und  ihren  WÜlen  als  Willen 
auf  alle  zugänglichen  Gebiete  ausbreiten  und  geltend  machen,  die 
allmähliche  Anpassung  der  Rechtsordnung  an  veränderte  Bedingungen 
des  soiialen  Lebens  zu  ^schehen  pflegt,  das  ideell  Notwendige  also 
relativ  unbewufst  sich  durchsetzt  —  wie  würde  sich  zu  solclien  Ergeb- 
nissen Natorps  Lehre  verhalten?  —  Sie  redet  nicht  und  weifs  scheinbar 
nichts  von  Widersprüchen,  niihts  von  Kämpfen,  nichts  von 
irrationaien  Ausdrucken  eines  über  sich  selbst  unklaren  Strebens  und 


iJiyiiizea  by  CjüOgle 


456 


LUtcianur. 


Wollens;  hingegen  postalierk  und  statuiert  sie  die  Einheit,  die  Kon- 
tinuität „des  B e  w  u  f s  t  s  e  ins'',  den  inneren,  methodisch  zu  begründenden, 

mithin  gesetzmäfsigen  Zusammenhang  alles  dessen,  was  von  irgend  einer 
Seite  lior  das  Hewufstsein  Ix^nihrt  S.  i66)  .  .  .  dies  folge  deduktiv 
aus  den  rrinzipien  des  Idealismus,  walirend  es  aus  denen  des  Ma- 
terialismus auf  induktivem  Wege  niemals  herauskommen  könne.  Wir 
werden  dies  erst  richtig  verstehen,  wenn  wir  uns  erinnern,  dafs  das.  w;is 
Natoi))  widerlegen  will,  eine  praktische  Folgerung  aus  jener  ,,ma- 
terialistischen"  Ansicht  ist.  Diese  praktische  Folgerung  wurde  etwa 
lauten:  es  giebt  überall  nichts  absolut  Erstrebenswertes,  auch  nicht  die 
formale  Einheit  der  Zwecke  kann  als  ein  Seinsollendes  ))ehattptet  werden; 
sondern  es  ist  immer  ein  Wahn,  vielleicht  gar  ein  Betrug,  wenn  ein 
Einzelner  oder  eine  Klasse,  das.  was  er  oder  sie  erstrebt,  für  das 
einzig  Wahre,  für  das  schlechthin  Richtige  hält  und  ausgiebt.  Auch 
die  Philosophie,  die  mit  diesem  Ansprüche  auftritt,  ist  nur  die  ver- 
kleidete Form  eines  Denkens  und  Sirebcns,  das  zuletzt  in  wirtschaftlichen 
Verhältnissen  wurzelt ;  nicht  ^wa  in  den  persönlichen  des  Philosophen  — 
obwohl  auch  hier  gewisse  Zusammenhänge  sich  beobachten  lassen,  — 
wohl  aber  in  allgemeinen  Verhältnissen  dieser  Art,  die  ach  seiner  Em- 
pfindung, seiner  Ueberzeugung  irgendwie  mitgeteilt  haben;  jedenfalls 
in  den  Aspirationen  einer  Partei,  d.  h.  einer  Klasse,  die  gegen  die 
überlieferten  moralischen  Ik-grilTc,  gegen  die  Heiligtümer  der  uideren 
sich  kritisch  verhält;  so  aber  wird  sich  gegen  die  ihren  dereinst  eiiu-  ut-ue 
Partei  kritisch  verhalten,  denn  Kampf  ist  eindeset/.  des  Lel>ens,  Kampf 
der  Interessen  imd  Klassen  ein  Gesetz  des  sozialen  Lebens."  Dies  ist 
es,  wogegen  der  Kantianer  sich  empört,  der  zwar  nicht  die  Erreichung 
des  Ideals  in  irgendwelcher  Zeit,  wohl  aber  eine  beständige  Annäherung 
dahin  erwartet,  und  der  in  der  begriflflichen  Formulierung  und  Deduktion 
des  absoluten  Ideals  seine  vornehmste  Aufgabe  erblickt.  Bei  näherer  Be- 
trachtung dieses  (legensatzes  ist  es  nun  merkwürdig,  dafs  auch  Marx  und 
seine  Schule  die  bezeichnete  praktische  Folgerung  nicht  bis  zu  F.nde 
gelten  l.isseu.  Auch  sie  s;iL'<"ii  ein  Aufhören  der  Klassen  und  mithin 
der  Klassenkampfe  voraus,  auch  sie  verkünden  eiu  Reich  der  Freiheit, 
worin  die  Menschen  mit  völlig  klarer  Bewufstheit  ihre  gemeinsame  Ai- 
beit  regehl  und  die  zum  Bdiufe  der  Produktion  notwendigen  Verhältnisse 
zu  einander  nicht  mehr  als  natürliche  oder  gar  von  den  Göttern  gewollte 
Verhältnisse  mifsverstehen  werden.  Warum  aber  wird  dieses  Reich  des  Ideales 
kommen?  Nicht,  weil  wir  uns  ihm  schon  bisher  innerlich  genähert  haben  und 
es,  seinen  Wert  erkennend,  mit  Begeistenmg  erstreben?  Nein,  wird  uns 
Marx  erklären,  sondern  weil  wir  uns  ihm  äufserlich  {lenähert  haben,  und 
weil  wir  der  uuueriellen  Hedmjiungen,  e>  zu  erreic  hen,  mächtig  geworden 
sind,  darum  können  wir  uns  ihm  auch  innerlicii  nähern  und  dürfen  uns 
dafür  begeistern,  ohne  uns  der  Schwärmerei  und  des  Utopisnms  schuldig 
zu  machen.    (Ob  Marx  sich  in  dieser  Zuversicht  geirrt  habe,  ob  etwa 


üiyiiized  by  Google 


Natorp,  Paul,  Soüialpädagogik. 


457 


seine  ganze  Epocheneinteilung  der  Geschichte,  und  die  darin  beruhende 
Idee  einer  eingehen  Skala  der  Kultur  fiüsch  sei,  das  ist  eine  andere 
Fraife;  vielleicht  teilte  Marx  hier  seine  Intfimer  mit  allen  modernen 
Idealisten  und  Propressisten).  —  Aber,  wird  der  Kantianer  einwenden,  die 
Wahrheit  und  Richtigkeit  des  Ideales  ist  von  der  Walirscheinlichkeit  seiner 
Erfüllung,  von  seiner  ,.Zeitp^emäfsheit"  ganz  und  gar  unabhängig;  diese 
sind  glückliche  Umstände,  fjeeignet  die  Hinsicht  zu  licfördcni  und  den 
Willen  /u  stärken,  der  aber  um  so  mehr  ein  guter  und  ta|)fercr  Wille 
ist.  je  weniger  ihm  solche  Konjunktur  zu  Hilfe  konnnt.  —  Ich  sehe  nie  lit, 
Uafs  Marx  Grund  hätte,  dieser  Auffassung  zu  wehren.  Wenn  gesagt 
worden  ist,  im  „Kapital"  sei  „kein  Atom  Ethik"  zu  finden,  so  ist  das 
für  den  Kern  der  Theorie  durchaus  wahr:  dieser  ist  Kritik  der  politischen 
Oekonomie,  in  dem  Snne»  dafs  die  begriffliche  Allgemeinheit  und 
Notwendigkeit  der  Kategorieen  „Kapital",  ^Lohnarbeit"  u.  s.  w.  und  die 
Vorstellung  von  der  Natürlichkeit  eines  auf  die  Waarenqualität  der 
Arbeitskraft  gegründeten  Zustandi  s  der  Oesellschaft  aufgelöst  wird.  Diese 
Xatürlichkeit  involviert  aber  auch  Ideen  der  (Icrerlitigkeit  und  moralischen 
\  ortrefflichkcit,  im  C.efrcnsatze  zu  allen  Systemen  der  l'nfreihcit,  des 
Z\v,!iii:es  flei  ixesel/lichen  Un},deichheit.  So  ist  auch  die  Kritik  jener 
« )konomi><  hon  Uegriti'e  nicht  möglich  ohne  eine  l'nterstimme  der 
moralischen  Kritik,  die  nun  in  der  Ihai  durch  fast  jede  Seite  des 
„Kapitals"  liand  I  hindurchtönt.  Ueberall  wird  die  kapitalistische  Ent- 
wicklung auch  ideell  negiert,  nur  werden  auf  diese  ideelle  Nation 
keine  Erwartungen  oder  Hoflhungen  begründet»  sondern  ihre  reale  Selbst- 
negation soll  aus  ihren  eigenen  Lebensgesetzen  deduziert  werden.  — 
Kehren  wir  nun  zu  Natorp  zurttck,  so  bemerken  wir,  dafs  auch  ihm 
die  fortschreitende  Annäherung  an  das  Ideal  nicht  feststeht  als  eine 
Folgerung  aus  der  Natur  des  Ideales  selbst,  dafs  er  vielmehr  in  der 
Erfahrung  eine  „stufenmäfstge  PLrhebung  zu  dem  Ziele  einer  gesetz- 
mäfsigen  Kinheit  der  praktischen  Erkenntnis"  162)  entdecken  und 
so  die  „X'erbindung  zwischen  dem  (lesetze  der  Idee  und  den  allgemeinen 
Gesetzen  der  Erfahrung"  herstellen  will  (163  ff.;.  Die  Erfahrung  ties 
sozialen  Lelnrns  zeige  in  der  That  diesen  Zusammenhang  durch  eine 
„notwendige,  innerlich  begründete  Beziehung  der  Grundgesetzlichkeit 
des  praktischen  auf  die  des  theoretischen  Bewulstseins"  (163);  indem 
nämlich,  wie  oben  entwickelt,  auf  dem  Fortschritte  der  Naturerkenntnis 
der  Fortschritt  der  Technik  und  so  endlich  die  vemunfbnäfsige  Cve- 
staltung  des  sozialen  Lebens  überhaupt  beruhe.  Denn  „die  (Gesetzlich- 
keit der  Entwicklung  mufs  im  letzten  Grunde  eine  und  dieselbe  sein 
fUr  alles,  was  irgend  eine  Gestaltung  des  Rewufstseins  ist"  !  i68|. 

Diesen  Satz  anerkenne  ich  allerdings,  und  sehe  darin  einen  anderen 
Ausdruck  dessen,  was  ich  als  die  allgemeine  Kntfaltunp  des  Rationalis- 
mus darzustellen  pflege;  nur  dafs  für  mich  eine  gesetzliche"  Kntwi»  k- 
luDg  nicht  in  jedem  Sinne  „eine  im  ganzen  fortschreitende"  ist.  Ob< 


458 


Littentnr. 


gleich  aber  dies  auch  gegen  Marx  zu  gelten  hat,  so  verhehle  ich  doch 
nicht :   wenn   es  gilt ,    die    W  a  h  r  s  c  h  e  i  n  1  i  c    k  c  i  t    einer  unkapita- 
listischen Produktionsweise  und  ihr  entsprechenden  Rechtes,  oder,  wie 
Natorp  sagt,  einer  organischeren  sozialen  Ordnung  (173)  zu  begründen, 
SO  halte  ich  die  vcm  Man  vorgetragenen  Beweisgründe  für  sicherer.  Nur 
um  die  WahtsdieiiiUchkeit  kann  es  sich  handelD,  nicht  um  eine  unbe- 
stimmbare, sondern  die  der  Notwendigkeit  i^eicfa  is^  soweit  die  betrachtete 
Gruppe  von  Ursachen  als  wirksam  gedacht  wird:  „die  geschichtliche 
Tendenz   der   kapitalistischen    Akkumulation",   so    hat   Marx  das 
kurze  Kapitel   überschrieben,   das    seine  berühmte  Prognose  enthält; 
er  niufs  wohl  gewufst  haben,  dafs  er  nur  Tendenz  und  Wahrschein- 
lichkeit   /ei<  hnen    konnte;  scheint    es    doch    sehr,  dafs  er  die  Mög- 
lichkeit  einer   dauernden    Perturbation   dieser    gesamten  Entwicklung 
(durdi  den  Sieg  des  Sltvismus  in  Europa)  säi  immer  vor  Augen 
gebahen  hat  Ich  sage»  dais  idv  imerhalb  ihrerGrensen,  seine  Beweisgründe 
für  sicherer  halte;  nicht,  daft  ich  ae  fUr  schlechthin  sicher  ausgeben 
möchte.    Der  Punkt,  der  mir  immer  als  unbewiesen  erschienen  ist,  liegt 
in  Marxens  Behauptung,  dafs  „die  Verwandlun^j;  des  thatsächlich  bereits 
auf  «resellschaftlichem    Produktionsl^etrieb    heruhenden  ka]>italistischen 
Eigenturas  in  gesellschaftliches"  oder  ,,die  Expropriation  einiger  Usur- 
patoren durch  die  Volksmasse"  „ungleiih  weniger'*  langwierig,  liart 
und  schwierig  sei  als  „die  Verwandlung  des  auf  eigener  .\rbeit  der 
Indivklnen  beruhenden  zersplitterten  Privateigentums  in  k^utalistisches 
Eigentum"  (Kapital  I4  S.  729,  der  Satz  ist  von  mir  invertiert  worden); 
das  Wort  »^natürlich",  das  diesen  Gedanken  empfehlen  soll,  unterstützt 
ihn  nicht.    Den  vorausgehenden  Satz  aber:  „das  Kapitalmonopol  wird 
ziu-  Fessel  der  Produktionsweise,  die  mit  und  unter  ihm  aufgeblüht  ist", 
betrachte  ich   als  Ausdruck  einer  richtig  beobachteten  Thatsache  und 
den  folgenden  Satz:  „die  C^entralisation  der  Produktionsmittel   und  die 
\  ergesellscliaftung  der  Arbeit  erreichen  einen  Punkt,  wo  sie  unvertraglich 
werden  nnt  ihrer  kapitalistischen  Hülle",  als  eine  Folgerung,  die  ins 
Futurum  übersetzt  nicht  allein  sehr  grofse  Chancoi  llir  sich  hat,  sondern 
noch  nicht  eimnal  die  ganze  Labilität  des  Glddigewichts  in  dieser  Ge- 
sellschaftsordnung erschöpfend  ausdrückt;  daft  die  sachgemälse  Bewirt- 
sdiaftung  des  Ackers,  Waldes  und  der  mineralischen  Schätze  des  Bodens 
von  vornherein  und  prinzipiell  unverträglich  ist  mit  kapitalistischen 
Eigentumsformen  und  Interessen,  wurde  dabei  no<  h  nicht  in  Rechnuntr  ge- 
zogen, so  wenig  als  andere  Umstände,  die  den  Kapitahsmus  noch  ,. tauler" 
machen,  als  er  hier  tiargestellt  wird.   Marx  sieht  den  Konflikt  /wis(  heti  Pro- 
duktionsweise und  Rechtsordnung  als  objektiv  wirklich  an  und  nennt  dies 
materidl ;  es  besteht  kein  Grund  zu  vermuten,  dals  er  die  psychologisdie 
Fundierung  von  Produktionsweise  und  Rechtsordnung  und  vollends  ihres 
Konfliktes  nicht  erkannt  habA.  Aber  er  will  sagen:  der  reale  Konflikt 
und  Widerq>rudi,  m.  a.  W.  die  Unzweckmäfsigkeit  der  „kapita- 


Digitized  by  Google 


Natorp,  Paul,  Soxialpädagogik. 


459 


listtsdieii  HtiUe"  existiert  und  wftchst,  ob  sie  ericaimt  wiid  oder  nicht  ^. 
sie  macht  sidi  geltend  in  Thatsachen,  die  als  Uebel  empfunden  werden, 
ohne  da&  man  deren  wahre  Ursache  gewahr  wird,  z.  B.  in  Handds- 

krisen,  relativer  Uebervölkerung ,  Arbeitslosigkeit,  tmd  schlechthin  in 
Zunahme  des  Proletariats,  Abnahme  der  Kapitalisten,  wenigstens  relativ 
zur  Vermehrung  des  Kapitals.  Das  Proletariat,  dies  Uebel  am  schärfsten 
empfindend,  orgainsiert  und  empört  sich.  Die  „.Arbeiterbewegung",  und 
durch  sie  das  so/.iale  „Bewufstsein"  Uberhaupt,  reagiert  gegen  den  gesell- 
schalilichen  Produktionsprozcls,  vermöge  wachsenden  Druckes  auf  die 
pofitische  Gewalt,  die  endlich  der  arbeitenden  Klasse  völlig  in  die  HÜnde 
fidlen  mnft:  mit  der  zunehmoiden  Unzweckmäfsigkeit  der  Insti- 
tutionen  nimmt  ihre  Haltbarkeit  ab,  vermindert  sich  die  Energie,  mit 
der  sie  verteidigt  werden  kOnnen,  und  die  Masse  der  Interessen,  die  sie 
um  sich  zu  sammeln  vermögen.  So  vollzieht  sich  „mit  der  Notwendig- 
keit eines  Naturprozesses**  der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Pro- 
duktionsweise, oder  die  Umwälzung  der  F.igentuinsordnung.  Diese  ist 
kein  F.reignis,  und  nicht  an  ein  ein/.ehie-^  Kreignis,  eine  sogen.  Revolution, 
gebunden,  sie  ist  ein  „Umwälzungspro/cls"  (Kapital  1*  S.  VllI),  die 
jetzige  Gesellschaft  ist  „ein  beständig  im  Prozeft  der  Umwan^ong  be- 
griffener Organismus"  (ib.  S.  IX).  In  England  war  dieser  Prozeis  für 
Marx  schon  1867  „mit  Händen  greifbar",  obgleich  die  englische  Arbeiter* 
klasse,  geschweige  die  englische  Gesellschaft  als  Ganzes,  weit  davon 
entfernt  war.  „dem  Naturgesetz  ihrer  Bewegung  auf  (Ue  Spur  gekommen 
zu  sein."  Sie  haben  aber  —  und  eljen  dies  ist  die  negative  Funktion 
der  kapitalistischen  Entwicklung  selber  —  der  gesetzgebenden  Gewalt 
„die  Notwendigkeit  aufgezwungen ,  aufserordentliche  und  au.sgcdehnte 
Idaisregeln  gegen  die  Uebergriffe  der  kapitalistischen  Exploitation  i  m 
Prinzip  anzundonen*'  (das.  S.  460).  So  Ist  „die  erste  bewuiste  und 
planmafsige  Rtidcwirkung  der  Gesellsdiaft  auf  die  naturwüchsige  Gestalt 
ihres  Produktionsprozesses"  (S.  446)  zustande  gekommen,  unabhängig 
von  aller  Theorie  und  ohne  dafs  die  „aozialtechnische  Einsicht"  als 
abstrakte  einen  Fortschritt  gemacht  hatte,  geschweige  dafs  der  Wille 
derer,  von  denen  diese  Geset/gebung  abhing,  innerlich  „umgewandelt" 
war.  Der  Chaiti>mus  wirkte  im  Hmtergrunde ,  die  Trades  Unions 
wuchsen  an  Geltung,  Vermögen  und  Einflufs,  Strikes  waren  an  der 
Tagesordnung,  die  Konkurrenz  der  Parteien  um  Sympathie  und  Stimmen 
der  Arbeiter  macht  wilUUurig  f&r  daen  Forderungen  —  so  wirken  die 
Faktoren  noch  heute  dort,  wo  die  imposanteste  bürgerliche  Gesellschaft 
sich  selbst  regiert;  der  entscheidende  Faktor  ist  aber  die  Macht  der 
Arbeiterklasse  selber.  Inzwischen  ist  zwar  auch  die  sozialpolitische 
Einsicht  in  der  herrschenden  Klasse  gewachsen,  aber  auch  die  für 
ihre  Interessen  nicht  minder  einsichtige  Opposition  gegen  solche 
Reformen  liat  an  Bewufstheit  zugenommen  und  umklammert  die  „be- 
währten Institutionen"  des  Landes.    Nur  gegen  die  \  cranderungen  der 


Digilized  by  Google 


460 


LiUeriUur. 


Basis,  d.  h.  ^;egcn  die  Verallgemeincrun;;  der  ka|)italistisciicn  Industrie 
—  wenn  diese  auch  stellenweise  schon  durch  Kooperation  angenagt 
wird  —  will  sie  weder,  noch  kann  sie  sich  wehren,  denn  »e  endiält 
ihre  eigenen  Wurzeln,  und  diese  Veränderungen,  so  darf  man  erwarten, 
werden  auch  die  Arbeiterklasse  immer  mächtiger  machen  und  die 
Rechtsbildung  immer  mehr  in  ihre  Hände  bringen.  —  Ich  weife  wohl, 
dafs  auch  diese  Rechnung  ihre  Löcher  hat :  aber  ich  wiederhole,  da(s 
ich  sie  doch  für  zuverlässiger  halte,  als  die  Identität  der  Gesetzlich- 
keit in  „allen  Gestaltunp^en  des  Bewufstscins". 

Sirherlich :  alle  Gebiete  wirken  aufeinander,  alle  sind  miteinander 
verwandt,  alle  werden  beherrscht  durch  die  Tenden/  /um  ^\"achstllm.  zur 
Komplikation,  und  eben  dadurch  zur  Kegel,  zur  Klarung,  zur  \'erein- 
fachung,  zur  Beschleunigung;  als  Zielpunkte  dürfen  allerdings  jene  Prin- 
zipien gelten,  die  Natorp  als  Generalisation,  Individttalisalkm  und 
stetigen  Uebergang  •  begreift.  Aber  ist  in  dieser  Hinsicht  das  theoretische 
Bewu&tsein  das  Primäre,  ist  die  Naturwissenschaft  das  schlechthin  Leitende? 
Gilt  dies  etwa  für  die  Zeit  des  römischen  Reiches?  oder  für  die  Ent- 
wicklung Europas  vom  13.  bis  Ende  des  16.  Jahrhunderts?  Ich  meine 
vielmehr  zu  sehen,  dafs  auf  allen  Gebieten  eine  gleichartige  Bewegung 
sich  vollzieht,  ü  b  e  r  a  1 1  z  u  g  1  e  i  <  h  in  universalistischer,  in  individualistischer 
und  in  der  Richtung  auf  immer  dichtere  X'erflechtung  aller  ein/'clnen  Be- 
ziehungen. Zu  (Irunde  lag  (d.  h.  relativ  am  wenigsten  bedingt  durch 
die  Bewegungen  der  anderen  Gebiete)  die  Entwicklung  des  Handels  und 
Verkehrs,  die  Verallgemeinerung  des  Geldes  und  der  Geldrechnung,  die 
jeden,  der  daran  teilnimmt,  zugleich  unabhängiger  itellt  und  in  ein  Netz 
von  wirtschaftlichen  Beziehungen  hineinzwingt.  Ihrer  Idee  nach  können 
diese  Tendenzen  auf  dem  Boden  der  kapitalistischen  Produktionsweise 
durchaus  sich  vollenden,  nämlich  ihre  äufsersten  Konsequenzen  er- 
reichen. Diese  würden  gegeben  sein :  durch  eine  sich  stetig  vermindernde 
Zahl  grofser  ges(  haftlicher  Mechanismen,  und  durch  einen  so  sehr  als 
möglich  universellen  Staat  mit  streng  „hierarchischer"'  .Adtninistration. 
Von  einem  ,,I)rängen  zu  immer  organischeren  Formen"  (Natorp 
S.  172)  vermag  i(  h  darin  nichts  zu  entdecken. 

Ethische  Gedanken  drangen  allerdings  dahin.  Sie  sind  darum  nicht 
wertlos,  weil  sie  thatsaehlich  einen  sehr  geringen  Eintlufs  auf  den  Wandel 
der  menschlichen  Geschicke  ausüben.  Mitwirkend,  wenn  auch  zumeist 
in  religiöser  Verkleidung,  nnd  sie  auch  in  der  ganzen  antikapitalistbchen 
Bewegung.  Wie  wenig  sie  aber  ftir  sich  allein  vermögen,  dafür  giebt 
die  Geschichte  des  Christentums  ein  einziges  lehrreiches  Exempel.  Die 
philosophische  Ethik  muss  sich  allerdings  formell  als  allgemein  gültig 
und  notn'endig  behaupten.  Sie  wird  dies  imi  so  mehr  verm<^n,  je 
mehr  sie  auf  Verständnis  des  wirklichen  Handelns  und  seiner  Motive 
sich  stutzt,  je  mehr  sie  ihre  (Irenzen  erkennt,  und  je  mehr  es  ihr  ge- 
lingt, die  Normen  des  vernünftigsten  Egoismus  mit  den  Gesetzen  der 


Digitized  by  Google 


Natorp,  Paul,  Sozialpädagogik. 


461 


Natur  und  der  Kultur  in  N'erbindung  /u  hrin^^en.  Die  verminft:c;e 
Selbsterkenntnis  und  St-lbsthcratunf^  kann  des  Ideales  nicht  entbehren. 
Dafs  aber  auch  im  Finden,  im  Schauen  des  Ideales  mehr  als  ein  I  ort- 
schritt, als  eine  Approximation  in  Wahrheit  geschehe,  ist  nach  allen 
Analogieen  nidit  wahnchdniich ;  wir  bleiben  nicht  blols  von  seiner  Wirk- 
lichkeit, sondern  auch  von  seiner  Erkenntnis  und  der  echten  Liebe  zu 
ihm  inuner  weit  entfernt.  HoffiMmg  und  Mut  sind  der  Menschheit 
bestes  Teil;  aber  die  Bescheidung  ist  ein  Hauptstück  der  Weisheit,  und 
zur  Bescheidung  gehört  es,  dafs  wir  die  Bedingtheit  unserer  je- 
weiligen Stellung  zum  Idealen  ni(  ht  blofs  zugeben,  sondern  mit  allem 
Nachdruck  behaupten.  Praktische  Politik,  die  sich  durch  das  Ideal 
einer  (ienicinscliait  ,,frei  wollender  Menschen"  leiten  liefse,  käme  den  wirk- 
lichen Problemen  dadurch  nicht  näher.  Der  praktische  Politiker  ist  von 
altersher  dem  Ar/te  oft  verglichen  W(jrden.  Kr  soll  in  der  Thal  zuerst 
wissen  was  ist,  er  soll  unterscheiden,  was  zum  Leben  dient,  was  zum 
Sterbm  fährt,  was  gesund  und  was  krank  ist  und  seine  leitende  Maxime 
bleibe:  „Qucd  medicamenta  nun  sonanty  ferrum  sanat,  quod  ferrum  non 
sanat,  ^nis  sanai**. 

Anders  ist  es  mit  der  Pädagogik,  soweit  sie  denn  unabhängig 
von  der  Politik  ifire  eigenen  (besetze  hat.  Sie  mufs  direkt  das  ethisch 
Ideale  m  die  Wirklichkeit  einzuführen  verlangen,  auch  wenn  sie  es  nicht 
unternehmen  kann.  Ungeachtet  der  eminenten  Förderung  ihrer  Gesichts- 
punkte durch  die  Beziehung  auf  das  soziale  Leihen,  die  das  vorliegende 
Werk  uns  so  lebendiu  zeigt,  behält  sie  <l()ch  als  ihr  eigentliihes  (Jbjekt 
den  einzelnen  Men>rhen,  gleich  der  Kthik  selber.  Natorp  l)ezeichnet 
einmal  tias  \  erhältnis  der  Intellcktbildung  zur  Willensbildung  als  „die 
zentrale  Frage  (S.  281).  Das  Vortreüliche  und  Einleuchtende,  was  er 
(gegen  die  Herbartianer)  hierüber  ausführt,  gipfelt  in  Darstellung  der 
Ethik  als  Lehrfach.  Sdner  wohlbegründeten  Ansicht  möchte  ich  nichts 
hinwegnehmen  und  nichts  hinzusetzen;  sie  betriflt  etwas,  dessen  innere 
Notwend^keit  wir  zugleich  mit  den  Anfängen  seiner  Verwirklichung  or 
Augen  sehen,  und  entwickelt  zugleich  jene  sozialwissenschaftliche  Ein- 
sicht, die  ich  als  Bescheidung  zu  charakterisieren  wünschte.  ,,I)ie 
Orgain'sation  des  bezüglichen  l'nterrichts  betrefiend.  versteht  man  schon, 
dafs  wir  uns  die  philosophis<  he  VAh'ik  als  einen  Hauptgegenstand  all- 
gemeiner und  freier  Volksbelehrung  auf  dem  Wege  der  Volkshoch- 
schulkurse" denken.  Wenn  in  irgend  einem  Punkte,  so  .sollte  hier  klar 
sein,  dafs  der  Erwerb  der  Wissenschaft  nicht  ihren  bestellten  Pflegern 
allein  gehört  und  auch  nicht  blofs  auf  dem  Wege  der  SchuUehre  mittlerer 
Stufe,  d.  h.  in  notwendig  abgeschwächter,  nur  vorbereitender  Form  der 
Allgemeinheit  zu  gute  kommen  darf;  dafs  sie  vielmdir  den  denkbar 
gröfsten  Anspruch  hat,  soviel  davon  unmittelbar  mitgeteilt  zu  bekommen, 
als  irgetul  sie  im  stände  ist,  mit  dem  Verständnis  zu  durchdringen  und 
in  That  und  Leben  zu  übersetzen.    Ein  direktes  Mittel,  Gesiimung  da 


Digitized  by  Google 


462 


Littcratur. 


eunufiflanzeD,  wo  sie  nicht  zuvor,  wenigstens  der  Gruodlftge  nach,  schon 
TorhttMlen  war,  sehen  wir  auch  in  der  bis  zur  Höhe  der  Philosophie 

sich  erhebenden  ethischen  Lehre  allerdings  nie  bt.  Der  Grund  zum  sitt- 
lichen Leben,  und  damit  auch  zur  sittliclicn  Ue])cr^eugunf;  mufs  schon 
anderweitig  gelegt  sein,  das  Leben  sell)st  mufs  ihn  gelegt  haben.  Kehlt 
es  aber  an  dieser  Grundlage  nur  nicht  ganz  und  gar,  so  kann  die  hinzu- 
kommende, auf  die  letzten  der  FTkenntnis  zuganglichen  (irunde  gestützte 
Hinsicht  des  Sittlichen  unzweifelhaft  sehr  viel  thun,  dieses  Fundament 
weiter  zu  sichern  und  andi  zu  reinigen ;  dem  erst  nach  seiner  Selbst- 
vergewisserung  ringenden  guten  Willen  eine  mächtige  Stütze  zu  schaffen, 
dem  schon  vorhandenen  neue  weitere  Ziele  und  reinere  Wege  zu  weisen, 
und  so,  in  Verbindung  mit  allen  anderen  Faktoren  der  Willenserziehung, 
den  sittlicben  Charakter  des  Einzelnen  und  schliefslich  des  ganzm  Ge« 
meinlebens  zu  einer  höheren  Stufe  der  Vollendung  zu  bringen  .  .  . 
Diese  Bedingtheit  ihrer  \\'irkung  sclimälert  nicht  die  Würde  der  sitt- 
lichen Lehre;  aber  ihre  Würde  darf  auch  nicht  darüber  taiisrhen,  dafs 
eine  unmittelbare  und  gar  unfeiilbare  \\  irkung  auf  die  Versiiilicimng  des 
Menschen  von  ihr  nicht  zu  erwarten  ist"  (S.  310  f.). 

FERDINAND  TÖNNIES. 


Xiaer,  A,  N.^  und  Hansstn^  E.,  SüMUÜstaäsHk, 

Bilag  til  den  parlainentariske  Arbeiderkommissions  Indstilling.  So* 
dalstatistik  Bind  L  Indledning  indeholdende  Forklaring  angaaende  de 
af  Kommissionen  ivaerksatte  socialstatistiske  Unders0ge1ser  samt  Oversigt 
Over  de  vigtigste  Resultater  af  den  af  sanime  udgivne  Sodatetatistik. 

(Bind  II  og  III)  (Statistique  sociale  et  du  travail.  Apercu  gcntfral  des 
resultats  des  tableaux  dans  les  volumes  II  et  III).  Udarbeidct  ved 
Direktor  A.  N.  Kiaer  og  Pastor  F.  Hanssen.  Kristiania,  ().  Christiansens 
Bogtrj'kkeri  1898 — 1899.  \'1II.  108  u.  119  S.  und  i  Karte.  —  Social- 
statistik  Bind  iL  Slatistiske  üplysninger  om  Alders-  og  Indtaegtsforholde  etc. 
da  begyndt  at  arbeide,  og  Intaegtsforholde  1S94  (Statistique  sociale  et 
du  travaiL  L^dge  et  les  salaires  au  commencement  de  la  vie  profesno* 
nelle;  les  revenus  en  1894.)  Tabeller  —  Rigets  Byer  (Tableaux.  — 
Les  villes.)  Udarbeidet  ved  Kommissionens  Sekretariat.  Kristiania. 
A.  W.  Brepgers  Hogtrykkeri  1897.  XII.  u.  615  S.  Tabellen.  — 
Socialstatistik  Bind  III.  etc.  Tabeller  —  Rigets  Bygder.  (Tableaux  — 
Les  campagnesi.  Kristiania.  Thronsen  6:  Co.s  Bogtrykkeri  1898.  X. 
u.  S.  610 — 1303  Tabellen. 

Die  im  Jalire  1894  gewählte  parlamentarische  Kommission  zur  Vor- 
bereitung der  Invalidität»-  und  Altersversicherung  hat  in  den  genaimten 


Digitized  by  Google 


Kiaer,  A.  N.,  und  ilan!»!>en,  E.,  So£iaUutUtik. 


drei  Bünden  das  wesentliche  Ergebnis  iluer  sjihrigen  Thatigkeit  ver- 
öfientttcht  Die  Gesamtresultate  sind  in  den  ersten  108  Seiten  des 
ersten  Bandes  und  den  diesen  beigegebenen  Tabellen  kurz  und  übersicht- 
lich zusammengestellt.  Den  Namen  Statistik  legen  sich  die  Publikationen 
mit  Unrecht  bei.  Denn  es  handelt  sich  eigentUch  nur  um  eine  Knquete, 
die  sich  nur  auf  81  942  Personen  erstreckte  und  im  Wesentlichen  fol- 
gende Fragen  untersuchte: 

I.  Die  Alters-  und  Einkommensverhältnisse  für  Personen  in  den 
verschiedensten  Berufen  und  zwar  wie  sich  dwse  Verhältnisse  stellten 
a)  zu  Beginn  der  Arbeit  dieser  Personen  und  b)  im  Jahre  1894. 

3.  Die  InvaliditätsverhSltnisse  der  von  der  repräsentativen  Zählung 
umfa&ten  81943  Pfersoncn   samt  den  im  Jahre  1895  1896  ver- 

storbenen Personen,  nach  den  Angaben  der  Pfarrer  des  Landes, 

3.  Die  Morbilitätsvcrhältnisse  —  vonilx?rgclicnde  Krankheiten  und 
teilweise  Invalidität  sowie  dauernde  Invalidität  der  von  der  roprasi-n- 
tativen  Zählung  erhobenen  81  942  Personen.  Angaben  über  Krankheiten, 
die  sich  anf  mehrere  Jahre  erstreckten. 

4.  Arbeitslosigkeit,  wesentlich  im  Jahre  1894  der  von  der  repräsen- 
tativen Zählung  erhobenen  Personen. 

5.  Angaben  über  4ie  in  verschiedenen  Jahren  Verstorbenen,  deren 
Einkommensverhältnisse,  Invalidität  u.  s.  w.  Diese  Angaben  wurden  trleich- 
aeitig  gesammelt,  aber  aufserhab  der  81  942  repräsentativen  Personen. 

6.  Kr^anzonde  Anfraben  zu  den  unter  i  —  5  genannten,  speziell  für 
die  ArbeiterbeNölkeruug,  45000  Personen  aufserhalb  der  repräsentativen 
Zalilung  umfassend. 

7.  Spezialangaben  über  Betriebsausgaben,  Gewinn,  Uber  die  Ver- 
hältnkse  der  Pächto;  des  Gesindes  iL  s.  w.  beim  Ackerbau. ') 

Die  Erhebung  erstreckte  sich,  wie  schon  erwähnt,  auf  81 943  Per- 
sonen, welche  sich  f<%endermalsen  auf  die  Geschlechter  und  Stadt  und 
Land  verteiKen. 


Um  sich  soweit  als  möglich  den  repräsentativen  Charakter  der  in 
Betracht  kommenden  Angaben  za  sichern,  befolgte  man  folgendes  Ver- 
ehren : 

Die  gesamte  .\nzahl  der  Personenlisten,  für  welche  das  Schema  aus- 
gefüllt werden  sollte,  wurde  zuerst  derart  festgesetzt,  dafs  sie  80000  Per- 
sonen umtafste,  20000  in  Städten  und  60000  in  Landbezirken.  Dabei 

*i  Di'-  unter  ZitTcr  2 — 7  grnannten  statistischen  Angaben  werden  veröffentlicht 
werden  unter  dem  Titel:  SociaUuiiätik  Bind  IV  og  V. 


StSdte 

Männer  (Iber  15  Jahren    9 104 
Frauen    „    15     „  12340 
nuanunea  S1444 


Laadbesirke 


a8s93 
60498" 


sttsamnen 


37  «97 
44^45 
81942 


Digitized  by  Google 


1 


464  Littentur. 

hatte  man  im  Aupe  ein  X'erhältnis  zu  We^e  zu  bringen,  das  sich  in 
allen  Fällen  der  den  Landesteilen  im  Jahre  1891  ents] »rechenden  Be- 
völkerung nähert.  Das  will  sa<ren  die  Si  942  Personen,  welche  die  re- 
}ir;isentativc  Zählung  uratal'ste,  waren  derart  auf  die  St.uite  und  Land- 
bezirke verteilt,  dals  davon  36,2  Prozent  auf  die  erstgenannten  73,8  Pro- 
zent auf  die  letzgenannten  entfielen.  Nach  der  Volkszählung  vom  Jahre 
1891  war  das  entsprechende  Verhältnis  33,5  und  76,5  Prozent  für  die 
gesamte  ortsanwesende  Bevölkerung  und  24,0  bezw.  75,0  Prozent  für  die 
erwachsene  Bevölkerung. 

Der  Unterschied  zwischen  der  repräsentativen  Zihlnng  vom  31.  Der 
zember  1894  und  der  gew()hnli(  hen  Volkszählung  vom  i.  Januar  i8gi 
war  der,  dals  die  Stadtbevölkerung  bei  der  erstgenannten  etwas  stärker 
vertreten  war  als  bei  der  allgenuinen  X'olks/ählung.  Hierbei  ist  zu  lie- 
merken,  dafs  die  stadlisciie  Bevölkerung  rascher  /uniuuni  als  die  länd* 
liehe  und  zu  Beginn  des  Jahres  1896  schon  25,2  Pn»ait  der  orts- 
anwesenden und  25,7  Prozent  der  erwachsenen  Bevölkerung  des  Reichs 
tietrug. 

Was  die  Verteilung  der  Erhebungsformulare  auf  die  Städte  l)etrif!t, 
so  scheint  mir  diese  trotz  der  gn^fsen  Verschiedenheiten  zweckmäfsig 

vorgenommen  zu  sein.  Dafs  gerade  die  kleineren  und  mittleren  Städte 
von  2000  —  20000  Kinwohncrn  besonders  stark  berücksichtigt  wurden, 
entspricht  ihrer  Bedeutung  in  der  norwegischen  Hevölkerungsschichtung. 
Die  schwache  Berucksicliiigung  der  kleinsten  Städte  rechtfertigt  sich 
durch  die  besondere  Erhetmng  Uber  die  ländliche  Bevölkerung,  die  ja 
einen  verbältnismäfsig  größeren  Teil  der  Gesamtbevölkerung  erfa&te. 
Unter  diesen  Umständen  ist  es  im  Gegenteil  zu  begrti&en,  dais  die  un- 
günstigere Stellung  der  Städte  bei  der  Erhebung  dadurch  wenigstens 
etwas  ausgeglichen  wurde,  dafs  wenigstens  diese  den  Namen  „Stadt" 
fuhrenden  Landgemeinden  innerhalb  der  Städte  in  die  ihnen  gebührenden 
(irenzen  gewiesen  svurden.  Das  Uel)erwiegen  der  städtix  hen  Bevölkerung, 
bei  den  in  die  l^ntersuchung  einbezogenen  .\uskunttsiiersonen  wird  da- 
durch noch  erheblich  verschärft.  Es  ist  dies  aber  im  Interesse  der 
Sache  von  Vorteil,  da  die  Verhältnisse  auf  dem  Lande  derart  gleich- 
mäfsige  zu  sein  pflegen,  dafs  sie  sich  innerhalb  ein  und  desselben  Be- 
zirks wenig  von  einander  unterscheiden,  währ^d  umgekehrt  die  wirt- 
schaftliche I^gc  der  Stadtbevölkerung  in  ein  und  derselben  Stadt  sclion 
nach  den  einzelnen  sozialen  Gruppen  die  gröfsten  Unterschiede  aufweist 
und  das  wirtschaftliche  Gesamtbild  einer  Stadt  im  Vergleich  zu  anderen 
sehr  abweicht.  In  den  landli(  hen  Bezirken  verteilen  sich  die  .\uskunft- 
personen,  (hir<  hs(  hnitthch  i>,2  Prozent  der  Bevtjlkerung,  so  gleichmafsig 
auf  die  18  Aemter,  dafs  das  Maximum  ^Lister  og  Mandal)  nur  6,6  Pro- 
zent, das  Minimum  (Bratsberg)  5,2  Prozent  der  Bevölkerung  aufweist, 
ersteres  also  vom  Durchschnitt  nur  um  0,4,  letzteres  dagegen  um  1,0 
Prozent  abweicht.  Gröfser  sind  die  Abweichungen  innerhalb  der  Städte: 


Digitized  by  Google 


Kiaer,  A.  X.,  and  Hanssen,  £.,  Sosialctalictik. 


6»4  Prozent  in  Kristiania  und  31,7  Prozent  in  Kager0  (die  in  Bd.  L  S.  3 
angegebenen  i5,9  Prozent  beruhen  auf  einem  Rechenfehler);  Tromsa, 
das  nach  der  „Sozialstatistik"  das  Maximum  aufweist,  zeigt  nur  27,3  Pro» 
zent.    Dafs  die  beiden  gröfsten  Städte  Kristiania  und  Bergen,  die  nur 

6,4  und  8,6  Prozent  aufweisen,  nicht  starker  Ijcrücksirhtifjt  wurden,  mag 
allerdings  bedauert  w  eiden.  Allein  es  hätte  dies  wiederum  zur  I  olge 
gehabt,  dafs  das  l'oborgo wicht  der  Stiidte  gegenüljcr  den  Landbezirken 
noch  viel  beträchtlicher  geworden  wäre.  Nach  alledem  kann  die  Aus- 
wahl der  der  Erhebung  unterstellten  Personen  im  allgemeinen  als  eine 
glückliche  bezeichnet  werden. 

Was  nun  die  Auswahl  der  Auskunftspersonen  auf  dem  Lande  betriill, 
so  unterschied  man  xwisdien  Ackerbau-,  Viehzuchtsv  Wald*,  Fischerei», 
Schiffahrts-  und  IndustriebearlKn  und  verteilte  hiernach  die  einzuver- 
nehmenden Auskunftspersonen  auf  die  einzelnen  Unterabteilungen  (  Herreder) 
eines  Amts.  So  hat  z.  B.  das  Amt  Buskerud  3  reine  Ackerbaudistrikte 
(Herreder  ,  6  Viehzuchts-  oder  Feldbau-,  3  Waldbau-,  4  Industrie-  und 
2  Schiflahrtsbezirkf.  So  ergab  die  von  der  parlamentarischen  Kommission 
vorgenommene  Auswahl  der  Herreder  im  Amt  Buskerud  eine  zu  starke 
Vertretung  der  Industriellen,  während  die  Vieh/uchtcr  zu  schwach  ver- 
treten waren.  Die  Unterschiede  in  der  Listen  Verteilung  ergeben  sich 
aus  folgendem  Beispiele  in  dem  Amt  Nordre  Bergenhus  wurden  die 
Fragebogen  ausgefüllt  fiir  der  erwachsenen  Bevölkerung  in  3  Herreder, 
für  '/i^  in  2  Herreder  und  für  Vis  einem  Herred  und  im  Amt 
Nordland  hinwiederum  Vg»   */»  und        in  sieben  verschiedenen 

Herreder.  Die  Zähler  waren  instruiert  in  den  auf  die  genannte  Weis^ 
näher  begrenzten  Ortschaften  die  Zählung  so  viel  als  möglich  so  vor- 
zunehmen, dafs  sie  den  wirtschaftlichen  und  sozial. -n  \'erhältnissen  am 
meisten  entspricht.  lns<^esamt  erstreckte  sich  die  Untersuchung  auf  109 
Herreder  oder  dur(  lisi  hnittlich  6  Herreder  auf  jedes  Amt  und  etwas 
über  *  samtlicher  Herreder  des  Reichs.  Die  Grolse  eines  Herred  ist 
sehr  verschieden.  Nach  dem  beigegebenen  Verzeichnis  der  untersuditen 
Herreder  schwankt  sie  zwischen  683  (Fjotland)  und  6557  Einwohnern 
über  1$  Jahren  (Ringsaker). 

Was  die  Bertlckiächtigung  von  Stadt  und  Land  sowie  der  einzelnen 
Landesteile  bei  der  Knciuete  anlangt,  so  giebt  sie  hiemach  su  ernsten  Be- 
denken keinen  Anlafs.  Es  wird  immer  ein  Mangel  der  Enqutlte  gegenüber  der 
Statistik  bleiben,  dafs  ihr  manche  Einzelheiten  entgehen,  die  diese  ert'afst, 
da  sie  alle  Personen,  bei  denen  das  betret^'ende  Merkmal  zutnt^t  zählt. 
Dagegen  sind  der  Enquete  manche  Din;,^e  zuganL,'lirlt.  die  die  Statistik 
nicht  erfassen  kann,  da  sie  nicht  /.ahll)ar  sind.  In  dieser  Hiiisic  iit  kommt 
aber  der  vorliegenden  Erhebung  der  Charakter  einer  Enqucie  nicht  zu. 
Der  von  ihren  Bearbeitern  gebrauchte  Ausdruck  „repräsentative  Zählung" 
charakterisiert  sie  am  besten :  Es  ist  eine  auf  einen  besthnmten  Personen- 
kreis  beschränkte  Teilstatistik.   Methodisch  ist  es  ein  Fehler,  dafs  — 


Digitized  by  Google 


466 


Littemtur. 


wenigstens  soweit  sich  dies  aus  den  Angaben  über  die  Städte  beurteUen 
iMfst  —  nirgends  eine  ganze  Gemeinde  der  Erhebung  unterzogen  wurde, 

sondern  überall  nur  eine  von  den  Zählern  ausgewählte  Anzahl  von  Per- 
sonen. Dadurch  verlieren  nicht  nur  die  immerhin  verhältnismäfsig  kleinen 
absoluten  Zahlen,  sondern  auch  die  daraus  berechneten  Prozent  Verhält- 
nisse an  Zuverlässii^keit  und  Beweiskraft.  Es  liätte  nicht  versäumt  werden 
dürfen  —  wenigstens  zur  Kontrolle  —  einige  Gemeinden  (städtische 
wie  ländliche)  ganz  auszuzählen,  zumal  durchweg  nur  zählbare  Dinge 
erhoben  worden  sind. 

Wenn  hiemach  schon  gegen  den  Utnfang  der  Statistik  erhebliche 
Bedenken  auftauchen,  so  ist  auch  ihr  Inhalt  keineswegs  einwandfrei. 
Der  Fragebogen  verlangt  Auskunft  über  Name,  Ort  und  Jahr  der  Ge- 
burt, damalige  Lebensstellung  (Livsstilling)  des  Vaters,  über  Schul-  und 
Fachbildung,  liber  das  fahr  des  Heginns  der  Arbeit,  in  welcher  Stellung 
(Stillingj,  für  welchen  Lohn,  über  spatere  Lebensstellungen  und  Arbeits- 
einkommen oder  anderen  Ertrag  der  Thätigkeit  (Virksomhed)  (besonders 
für  die  Jahre  1875,  i885,  1890  und  1894).  Hierfür  soll  so  speziell 
wie  möglich  die  Lebensstelhmg  und  Erweibsart  (Lirsstilling  og  Erhvenrets 
Art)  angegeben  werden.  Eine  weitere  Frsge  lautet :  „Welches  Einkommen 
hat  er  im  letzten  Jahr  aufser  dem  oben  angeführten  Arbeitseinkommen 
gehabt  imd  zu  welchem  Betrag  kann  dieses  angesetzt  werden  (Unfer- 
nehmereinkommen  und  Kapitalrenten  nicht  eingerechnet)?  a)  aus  Neben- 
erwerb, b)  lieldeinkonnnen  durch  Arbeit  der  Hausfrau,  cl  durch  Arbeit 
der  erwachsenen  Kinder,  d)  aus  eigenem  Hause,  c)  anderes  V'ermögens- 
einkommen,  f)  Leibrenten  tmd  Pensionen,  g)  anderes  Einkommen,  welches? 
Hierauf  folgen  Kontrollfragen  über  die  Besteuerung,  sowie  Armen- 
unterstatzung,  flber  Miete  und  Wert  der  Wohnung  im  eigenen  Hause. 
Hieran  schliefsen  sich  Fragen  über  den  jährlichen  Aulwand  für  Essen 
und  Trinken  in  Geld  oder  Geldeswcrt,  für  Feuerung,  Kleidung,  für 
Kranken-  und  Pensionskassen,  Lebensversicherung  u.  dergl.  Wieviel  Er- 
wachsene und  Kinder  umfafst  der  Hausstand,  auf  die  sich  diese  .\usgal)en 
beziehen?  Es  f(jlgen  Fragen  über  regclmäfsige  oder  mehr  gelegentliche 
und  wechselnde  .Arbeit,  über  Zahl  der  Arbeitstage  im  Jahr,  über  Arbeits- 
losigkeit wegen  Krankheit,  Mangel  an  Arbeitsgelegenheit  oder  aus  anderen 
Gründen.  Hieran  reihen  sich  mehrere  Fragen  über  volle  oder  teilweise 
Erwerbsfähigkeit.  Für  voll  oder  teilweise  Arbeitsunfithige  wird  der  Zeit- 
I)unkt,  die  L^rsach«^  Dauer  der  Arbeitsunfähigkeit  erhoben,  sowie  die 
Höhe  des  Einkommens  vor  und  nach  Eintritt  der  Arbeitsunfähigkeit. 
Weiter  wird  für  diese  Kategorie  der  jetzige  oder  für  Verstorbene  der 
letzte  Familienstand  erhoben,  das  Jahr  der  Klieschliefsung.  das  (icburts- 
Jahr  der  Ehegatten,  für  W  itwer  und  Geschiedene,  in  welchem  Jahr  sie 
ihren  Gatten  verloren  haben  oder  geschieden  wurden,  wieviele  Kiuder  am 
Leben  oder  gestorben  sind,  in  welchem  Jahre  sie  geboren  wurden  oder 
starben.   Für  Einwanderer  und  Auswanderer  ist  das  Jahr  der  Ein«  o<ler 


üiyiiized  by  Google 


Kiaer,  A.  N.,  und  Hansscn,  E.,  Sozialstatistik. 

Auswandening  zu  erheben,  flir  Verstorbene  das  Todeqabr  und  die 
Todesmsache,  für  Abwesende  der  letzte  bekannte  Wohnsitz  oder  Arbeits- 
ort. Bei  einer  kritischen  Würdigung  dieses  Fragebogens  ßUlt  sofort  auf, 
dafs  die  bei  den  deutschen  Berufs-  und  Gewerbezähliingen  gemachten 
Erfahrungen  nicht  verwertet  worden  sind.  Es  ist  überhaupt  auffallend, 
dafs  sich  ^UT  keine  X'ergleichungen  mit  Kipcbnisscu  der  Statistik  anderer 
l-äncier  in  dem  Berichte  hnden.  Hatte  man  diese  Erfahrungen  beruck- 
sithtigt,  so  konnte  sich  unmöglich  eitie  soich  verschwommene  l'rage 
finden,  wie  z.B.  Nr.  6  „Faderens  davaerende  Livssiilling :"  Die  Klarheit 
gewinnt  dadurch  nicht,  dafs  die  Tabelle  über  die  Ejokommensverbähnisse 
f&r  die  Jahre  1875  —  1894  im  Fragebogen  überschrieben  ist:  „LivsstilUng 
og  Erhverrets  Art"  und  sich  hierzu  die  Anmerkung  findet:  „Livsstillingen 
og  Erhverrets  Art  anf0res  saa  specielt  som  muligt.  For  Hustruerog 
Enker  anfores  titlige  Mandens  Livsstilling."  Hier  hätte  vor  allem  unter- 
schieden werden  müssen  zwischen  Haupt-  und  Nebenberuf.  Sodann 
hätte  der  Beruf  erhot>en  werden  müssen  und  davon  getrennt  die  Stellung 
im  Beruf,  ob  selbständig  oder  un5ell)ständi;.^.  L'eberhaujit  wäre  die  Haus- 
haltungsliste der  hier  verwendeten  Kinzelzahlkarte  vorzuziehen  gewesen. 
In  einer  solchen  hätten  auch  Fragen  darüber,  ob  der  Betreflende  l)ei 
seinem  Arbeitgeber  wohnt  oder  nit.ht,  Aulnaijme  tmden  können.  Zu 
▼ermissen  sind  Fragen  über  die  Hausindustrie.  Diese  schwerwiegenden 
Mängel  der  Erhebung  dürften  allerdings  in  milderem  Lichte  erscheinen, 
wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  dafs  die  ganze  Erhebung  zur  Vorberei- 
tung ekes  Invaliditäts-  und  Attersversicherungsgesetzes  unternommen 
worden  ist  Doch  ist  auch  die  Invaliditätsgefahr  in  den  einzelnen  Be- 
rufs/.weigen  je  nach  ihrer  Gesundheitsgefahrlichkeit  sehr  verschieden,  so 
dafs  schon  aus  diesem  Grunde  auf  eine  genaue  Berufserheining  nicht 
verzichtet  werden  durfte.  Ferner  ist  nicht  zu  vergessen,  dafs  die  Frage 
der  Krankenversicherung  in  Norwegen  immer  noch  nit  ht  gelöst  ist  und 
dafs  diese  Frage,  weiui  sich  das  am  i  Juli  i8o5  in  Kraft  getretene  Un- 
fallversi(  herungsgesetz  ganz  eingelebt  hal)en  wird,  immer  dringender  werden 
wird,  in  dieser  Beziehung  können  die  in  den  Tabellen  unterschiedenen  aS 
soadalen  Gruppen  nicht  geniigen.  Was  wollen  deim  Bezeichnungen  wie 
Handwerker  flir  eigene  Rechnung  und  Handwerksarbeiter,  oder  Selbständige 
in  Handel  und  Geschäften  und  Privatbeamte  im  Fabrikbetrieb,  in  der 
Schiffahrt,  in  Handel  und  Geschäften,  in  anderer  Thätigkeit  und  Fabrik- 
arbeiter sagen?  Innerhalb  des  Handwerks  sind  die  Gesundheitsverhält- 
nisse und  damit  auch  die  Invaliditätsgefahr  z.  B.  der  S<hneider  und 
Bäcker  ganz  andere  als  diejenigen  der  Maurer  und  Zimmerleute.  Die 
-Arbeiter  einer  SchwefelkohlenstotTfabrik  sind  so  gut  Fal)rikarbeiter  wie 
diejenigen  einer  Maschinenlabrik  inid  doch  sind  ihre  .Vrbcitsl;cdingungen 
für  die  Gesundheit  viel,  viel  nachteiliger  als  diejenigen  der  letzteren. 
Wenn  anders  diese  l'ahebungcn  für  die  Frage  der  Invaliditatsversicherung 
einen  Zweck  haben  sollten,  durften  diese  so  grundverschiedenen  Berufe 

Ardihr  f&r  tot.  G«aet«gel>tiag  u.  Suüstik.  XIV.  30 


Digitized  by  Gopgle 


Litteratur. 


flicht  in  deo  emen  Topf:  Handweilcer  oder  FabrOesifaeiter  geworfen 
werden.  Unter  diesem  pfimipidlen  Mangel  leiden  sämtlidie  Ergefanisae 
der  Eriiebimg. 

Dies  ist  um  so  bedauerlicher  als  die  Bearbeiter  der  Enqudte  sonst 
ein  grofses  (beschick  in  der  übersichtlichen  Aufbereitung  des  frewonnenen 
statistischen  Materialcs  zcit,'en.  Ein  nicht  zu  unterschätzender  Vorteil  der 
Erhebung  ist  die  streng  durcii^^eluhrte  rnterscheidun^^  zwisc  hen  Stadt  und 
Land.  Von  besonderem  Interesse  sind  die  in  unserer  Statistik  u.  W. 
zum  ersteonial  angestellten  Erhebungen  über  das  Aller,  in  welchem  der 
Beruf  ergriffen  wurde. 

Es  zeigt  sich,  dafe  die  Arheit  auf  dem  Lande  viel  frtKher  bq;innt 
als  in  den  Städten  und  es  ist  namentlich  auch  die  Zahl  derjenigen, 
welche  im  Alter  von  6 — 13  Jahren  zu  arbeiten  beginnen,  auf  dem  I^nde 
viel  gröfser  als  in  den  Städten.  Aus  den  für  die  Zeiträume  vor  1855, 
1855  —  "^M.  1865  —  74,  1875 — 84  untl  1885  —  94  durchgeführten  l^nter- 
sucliungen  erjjiebt  sich,  dafs  es  seit  1855  mit  der  Zeit  immer  mehr 
Leuten  vergönnt  war,  später  mit  der  Kerulsarbeit  zu  beginnen  und  eine 
längere  Zeit  für  die  allgemeine  Ausbildung  und  Vorbereitung  auf  den 
Beruf  zu  verwendoi.  Es  ist  <Ues  zugleich  ein  &ichen  daflir,  dals  das 
Verständnis  für  den  Nutzen  der  sich  in  Norwegen  auf  hoher  Stufe  be- 
findenden Volksschulen  bei  der  Bevölkerung  im  Zunehmen  begriffen  ist. 
Aus  der  Uebersicht  über  den  Reruf  und  den  Beginn  der  Arl>eitszeit  er- 
giebt  sich  eine  beträchtliche  Al)nahme  der  landwirtschaftlichen  Berufs- 
thätigkeit.  Vor  1.S55  Ix  gannen  ihren  Beruf  als  landwirtschaftliche  Ar- 
beiter im  weitesten  Sinne  72,8  Prozent  männliche  und  71,4  Prozent 
weibliche  Arbeiter,  1885  —  1894  dagegen  nur  noch  52,3  und  49,5  Pro- 
zent. Die  Fabrikarbeiter  weisen  dem  gegenüber  eine  Zunahme  von  1,9 
und  0,9  auf  6,6  und  1,3  Prozent  auf.  Die  vergleichende  Zusammen- 
stellung des  Berufs  des  Vaters  mit  den  Altersjahren,  in, welchen  die 
Arbeit  begann,  erbringt  den  sahlenmäfiigai  Nadiweis  daflir,  da&  die 
sozial  besser  gestellten  Klassen  ihren  Kindern  eine  längere  Ausbildung 
zu  teil  werden  lassen  können,  wie  folgende  Extreme  zeigen,  be- 
gannen zu  arbeiten  in  Prozenten  im  Alter 


iroimil. 


von   6-13  Jahren 


von  14 — 19 


männl. 


l  weibl. 


imätml. 

^»^^    "  {weibl. 

imännL 

von  25  oder  mehr  .^^ 

nicht  b<'j;onni^n  ori.'r^miiiinl. 
aufgcgcbcu  (weibl. 


Beruf  des 

Vaters 

Beamter 

Fischer 

a,i 

5».o 

33,6 

4*.5 

29.9 

47,0 

28,2 

0,4 

1,1 

3J,0 

IM 

ao,9 

0,0 

15,2 

0,7 

23.0 

0.9 

Digilized  by  Google 

I 


Kifter,  A.      und  Hunssen,  E.,  Soxialstatistik. 


469 


Neu  und  von  grolsem  Interesse  ist  auch  die  X'ergleichung  des  Be- 
ruls  des  Vaters  mit  demjenigen,  in  welchem  die  Kinder  zu  arbeiten  be- 
gannen. Beispielsweise  sei  hier  erwähnt,  da(s  von  980  Söhnen  von 
Fabrikarbdteni  437  wieder  Fabrikarbeiter,  147  Handwerkslehrlinge, 
87  Sedeute,  60  Dienstboten  wurden  und  81  den  landwirtschaftlichen 
Beruf  ergrUTen.  Von  2506  der  Enqu^e  unterzogenen  Söhnen  von 
Fischern  begannen  nur  46  als  selbständige  Fischer  zu  arbeiten,  1068 
dagegen  arbeiteten  in  der  I>andwirtschaft  bei  ihren  Eltern,  899  als 
andere  Arbeiter.  Xur  62  oder  2'  ,  Prozent  wurden  Handwerker,  91  oder 
3.6  Prozent  Seeleute,    13  oder  '2  Arbeiter  im  Handelsgewerbe. 

Wie  diese  Beispiele  zeigen,  heleri  eme  solche  Vergleichung  sehr  inter- 
essante Ergebnisse,  es  würde  jedoch  zu  weit  führen,  hier  auf  die  Einzel- 
heiten näher  einzugehen.  D»  gleiche  trifft  zu  über  die  Vergleichung 
des  anfänglichen  Berufs  mit  dem  zur  Zeit  der  Erhebui^;  aii^ieQbten, 
wobei  es  sich  also  um  eine  Statistik  des  Berufswechsels  handelt.  Der 
Berufsw  echsel  kommt  natürlich  am  häufig^en  beim  Gesinde,  am  seltensten 
bei  den  Beamten  \  ot. 

Von  ganz  besonderem  Interesse  sind  die  Ergebnisse  der  Erhebung 
über  die  Kinkominensverhältnisse.  Sie  wurden  durch  zwei  Schwierig- 
keiten beeinträchtigt,  die  die  Schätzung  des  Xaturaleinkomniens  und  des 
Einkommens  der  Frau  boten.  In  beiden  Fällen  wurde  der  Knoten  nicht 
gelöst,  sondern  durchhauen.  Das  Naturaleinkommen  wurde  allgemein  für 
Kost  und  Wohnung  auf  100  Kr.  und  für  Kost,  Wohnung  und  Kleidung 
auf  i5o  Kr.  festgesetzt,  und  für  das  ^kommen  der  verheirateten  Ehe- 
frauen wurde  einfach  eine  Null  eingesetzt.  Da  leider  die  Einkommen- 
steuerstatistik *)  noch  viel  zu  wenig  gepflegt  wird  —  eine  nach  Berufen 
gegliederte  Einkommensstatistik  besitzen  von  deutschen  Staaten  nur  Ham- 
buri;  und  Oldenburg  und  von  aufserdeutschen,  wenn  hier  auch  nur  nach 
grofsen  ( iruppen  Finnland,  verdienen  diese  Ergebnisse  besondere  Be- 
achtung. 

Den  .-Vrbeiten  der  Kommission  mufs  ein  grofses  Geschick  in  der 
statistischen  Aufbereitung  des  gewonnenen  Materials  nachgerühmt  werden. 
Um  so  lebhafter  ist  der  schon  gerügte  Mangel  zu  bedauern,  dafs  hierbei 
die  einsdnen  Berufsgruppen  nicht  weitergehend  spezialisiert  worden 
.  sbd  und  dafs  namentlich  bei  der  Nachweisung  der  einzelnen  Ein- 
kommensklassen  nach  den  Bcrufsgnii)i)en  statt  dieser  sehr  verschieden- 
artige Berufe  umfassende  grofsc  soziale  Klassen  gewählt  worden  sind. 
Doch  wird  der  SoziaUtatistiker  bei  dem  fast  vollständigen  Mangel  solcher 

')  Eine  sasammenfass'  n  1.  H.arl)fitung  der  Kinkoir.nn  nst.u.rst.itistik  vi  ml  Ii  eher 
deutM'lirn  Staatf-n  h.xhc  irli  j^-^i  h<  n  in  nn  inem  Aut.vat/f  iibt  r  Ziin.iliiii«-  iltT 

grofs.-ii  I  iiikuiniii.  n  in  1  )cut><  lil  uui  während  «Icr  1<  t/.tcn  Jahm-hutc*'  in  G.  Hifths 
Antialfii  des  DcuIncIu-h  Reicht».    Jahrg.  1893  S.  i  — 107. 

30» 


Digitized  by  Google 


470 


Litteratur. 


Statistiken  auch  für  das  hier  Gebotene  dankbar  sein,  da  sich  ihm  neue 

Gesichtspunkte  eröffnen  und  man  in  der  Beurteilung  eines  ersten  Ver- 
suchs auf  diesem  Gel)iete  nicht  den  strengsten  Mafsstab  anlegen  darf. 

Jedenfalls  erscheint  die  Kn.|iRte  geeignet,  eine  sichere  (Grundlage  für 
die  Rentenbercchnunj,'  dt-r  Im aiiditäts-  und  Altersversicherung  zu  bieten 
und  genügt  dalier,  wenigstens  in  der  Hauptsache  ihrem  nächsten  Zwecke» 

Berlin. 

CLEMENS  HEISS. 


Digitized  by  Google 


Koalitionsrecht  und  Strafrecht. 


Von 

Prof.  Dr.  THEODOR  LOEWENFELD. 

in  MflncbeiL 

I.  Der  „Entwurf  eines  Gesetzes  zum  Schutze  des  j^'cwcrhlichen 
Arbeitsverhältnisses"  ist  dem  deutschen  Reichstage  mit  Schreiben 
vom  26.  Mai  1899  vorgelegt  worden.  Am  22.  Juni  1899  lehnte  der 
Reichstag  nach  dreitägiger  Verhandlung  die  beantragte  kommissa- 
rische Brratung  und  damit  die  Vorlage  selbst  mit  grofser  Mehrheit 
ab.  Auch  wenn  hiermit  das  Schicksal  der  „Zucht hausvorlage"  be- 
siegelt wäre,  würde  doch  die  Bedeutung  des  Gesetzentwurfes  eine 
Besprechung  in  diesem  Archiv  rechtfertigen.  Der  „Schutz  der 
Arbeitswilligen",  welchen  der  Entwurf  anstrebt,  steht  seit  mehr  als 
zwei  Jahren  im  Mittelpunkte  der  sozialpolitischen  Erörterung.  Er 
wurde  und  wird  namens  und  im  Interesse  der  Arbeiter  \erlangt 
von  den  Unternehmern;  die  Arbeiter  haben,  wo  sie  zu 
Worte  kamen,  sich  gegen  diese  Vertretung  ihrer  Interessen  energisch 
zur  Wehr  gesetzt  und  gegen  den  ihnen  zugedachten  Schutz  mittels 
eines  neuen  ausnahmerechtlidien  Stra%esetzes  protesticat.  Im  Fol- 
genden soll  das  geltende  Recht,  seine  Anwendung  und  Nicht- 
anwendung dargestellt  und  die  Frage  untersucht  werden,  ob  die 
allseitig  als  notwendig  erklärte  Reform,  statt  mit  einer  Ver- 
schärfung, nicht  mit  Beseitigung  des  bestehenden  Aus- 
nahm erechts  zu  beginnen  habe.  Für  die  wünschenswerte 
richtige  Er&ssung  des  letzteren  durch  die  weitesten  Kreise  bietet 
die  Vorlage,  gleichviel  wie  die  Entscheidung  über  dieselbe  fallt, 
ein  sehr  wirksames  DemonstrationsmitteL 

n.  Dem  Entwürfe  schreibt  die  be^gebcne  amtliche  ,3cgrün- 
dung"  die  Bestimmung  zu,  „die  Freiheit  des  Arbeitsvertrages  und 
das  Selbstbestimmungsrecht  der  daran  Beteiligten  wirksamer  als 

Archiv  für  «M.  GcMUgcbmc  u.  SiMiilik.  XIV.  3I 


üiyiiized  by  Google 


472 


Theodor  Loewcnlcld, 


bisher  zu  schützen".  Der  Arbeitsvertrag,  dessen  Freiheit  hiermit 
geschützt  werden  soll,  ist  der  Vertrag  des  einzelnen  Arbeiters 
mit  dem  einzelnen  Unternehmer,  der  Vertrag,  wodurch  der  Arbiter 
seine  Arbeitskraft  dem  Unternehmer  auf  Zeit  verkauft.  Geschützt 
werden  kann  nur,  was  existiert  Es  ist  aber  allgemein  anerkannt, 
daTs  der  einzelne  Arbeiter  als  solcher  die  „Freiheit  des  Arbeits- 
vertrages" praktisch  nicht  zu  üben  vermag,  daßs  sie  iiir  ihn  nur 
theoretisch  besteht,  da  er  genötigt  ist,  seine  Ware  vorbehaltlos 
dem  Kaufer  anzubieten.  Auch  die  Reichsregierung  hat  sich  dieser 
Erkenntnis  früher  nicht  verschlossen.  In  der  Begründung  der  Novelle 
zur  Gewerbeordnung  von  1891  wird  festgestellt,  dals  „der  einzelne 
Arbeiter,  welcher  Beschäftigung  sucht,  in  der  Regel  keine  Wahl  hat, 
ob  er  sich  den  in  der  Arbeitsordnung  festgestellten  Bedingungen 
unterwerfen  will  »dor  nicht,  daSs  ihm  also  beim  Vertrags- 
schlusse  jede  Hinwirkung  auf  die  einzelnen  Re> 
dingungen  des  Arbeitsvertrages  entzogen  ist."  (Motive 
S.  44  zu  §  I34d  des  Entwurfs  der  Novelle  von  1891.)  Die  Gründe 
für  diese  Thatsache  bestehen  bekanntlich  in  der  regelmäfsigen  wirt- 
schaftlichen Ohnmacht  des  Arbeiters  als  isolierten  Kontrahenten 
gegenüber  dem  Unternehmer,  welche  durch  die  Konkurrenz  der 
Arbeiter  unter  sich  gestciL^crt  wird.  Ihren  Wirkunj^^cn  kann  der 
Staat  dadurch  direkt  AMnueli  thun,  dafs  er  sich  in  den  Abschlufs 
der  Ari)eilsvertriii;e  einnii>cht  und  die  Arl)eitsbedingun|4en  im  Inter- 
esse der  Arbeiter  diktiert.  Dies  «^a'schielit  auf  dem  Wege  der  Ar- 
beiterschutzgesetze. Soweit  fliesell)en  reichen,  ist  von  Freiheit  des 
Arbeitsvertrages  weder  für  den  rnternehmcr  noch  für  den  .Arbeiter 
die  Rede.  Die  „Freiheit"  des  .Arbeitsvertrages  wird  durch  die  .\r- 
beiterschutzgcsetzgcbung  nicht  geschützt,  sondern  beseitigt.  Be- 
kanntlich ist  aber  das  (jeltungsgebiet  der  deutschen  Arbeiter^chulz- 
gesetzgebung  zur  Zeit  eng  begrenzt.  Sie  regelt  die  Kinderarbeit 
und  zum  Teil  die  I  Vauenarbeit  in  Fabriken,  normiert  einen  gesetz- 
lichen Ruhetag  und  bezweckt  endlich,  gewisse  physische  und 
geistige  Gefährdungen  wenigstens  von  der  Betriebsstätte  der  ge- 
werblichen Arbeit  ferne  zu  halten.  Die  Wichtigkeit  auch  einer  so 
begrenzten  Arbeiterschutzgesetzgebung,  insbesondere  in  Bezug  auf 
den  Schutz  der  heranwachsenden  Generation,  soll  nicht  verkannt 
werden.  Aber  es  bleibt  die  Thatsache  bestehen,  da(s  grundsatzUch 
die  wesentlichsten  Elemente  des  Arbeitsverhältnisses  aller  er- 
wachsenen Arbeiter,  die  R^elung  der  Zeit,  der  Dauer  und  der 
Art  der  Arbeit,  sowie  der  Gegenleistung  des  Arbeitgebers  der 


Digitized  by  Google 


Koalitiolureeht  und  Strafredit 


473 


„freien  Vereinbarung"  bisher  vorbehalten  sind;  es  besteht  auch  für 
die  nächste  Zeit  keine  Aussicht  auf  Erstreckunj^^  der  staatlichen 
Schutzgewalt  auf  diese  Gebiete.  Bleibt  hier  der  Arbeiter  isoliert 
dem  l'nternehmer  gegenüber,  so  diktiert  zwar  nicht  der  Staat,  aber 

der  Arbeitgeber  die  Bedingungen  des  Arbeitsvertrages.  Von  einer 
durch  den  Staat  zu  schützenden  Freiheit  der  A^cr ei  nbarung 
kann  dann  wieder  praktisch  keine  Rede  sein.  W  ill  man  diese 
überhaupt    ermöglichen    und  damit  ein  Objekt  des  staatlichen 

Schutzes  schaffen,  so  giebt  es  hierfür  bekanntlich  einen  einzigen 
Weg:  Die  Koalition  der  Arbeiter,  die  organisierte  Selbsthilfe.  Sie 
hebt  die  Ohnmacht  des  einzelnen  Arbeiters  gegenüber  dem  Unter- 
nehmer auf;  sie  beseitigt  ferner  oder  beschränkt  die  diese  Ohn- 
macht noch  steigende  Konkurrenz  der  Arbeiter  unter  einander. 
Mit  Recht  ist  darauf  hingewiesen  worden,  welche  verschiedene  Be- 
deutung den  Koalitionen  der  Arbeiter  einerseits,  der  Arbeitgeber 
andererseits  zukommt.  Der  einzelne  Arbeitsgeber  bedarf  keiner 
Koalition,  um  dem  einzelnen  Arbeiter  gegenüber  seine  wirtschaft- 
liche Selbständigkeit  und  damit  seine  V^crtragsfrciheit  zu  wahren. 
Wühl  aber  bedarf  der  Arbeiter  zu  solchem  Zweck  der  Vereinigung 
mit  seinen  Berufsgenossen.  Die  Freiheit  des  Arbeitsvertrages  kann 
wohl  ohne  l'ntei  nehmerkoalitionen ,  nicht  aber  ohne  Arbeiter- 
koalitionen für  die  Regel  bestehen.  Dies  ist  vor  mehr  als  30  Jahren 
bereits  in  den  .Motiven  zu  dein  im  Februar  1866  von  der  preulsi- 
srhen  Fvegieruiig  dem  I.andta!:,'e  vorgelegten  Kntwurfe  eines  die 
Koalitions\  erböte  aljscliatlenden  (iesctzes  anerkannt  worden. 

Darüber,  wie  weit  das  (iehict  des  Arheiterschutzgesetzcs  sich 
zu  er.strecken,  wo  das  (iebiet  der  Wrlragslreilieit  zu  beginnen  hat, 
können  Zweifel  bestehen;  dai^egen  ist  aufser  allem  Zweilel,  dafs,  wo 
das  Arbeiterschutzgesetz  aufhört,  der  freie  W-rtrai:  bcr- innen 
mufs,  dafs  der  Staat  nicht  die  eine  Partei  des  .Arbeil-^verhahnisses 
der  Willkür  der  anderen  Partei  ausliefern  darf;  fehlt  dem  .Arbeiter 
gegenüber  dem  rnternehmer  tlie  wirkliche  X'ertragsfreiheit,  so  ist 
überhaupt  alle  staatsbürgerliehe  und  rechtliche  l^'reiheit  ein  leeres 
Wort.  Ein  solcher  Zustand  einer  i^anzen  groTsen  Be\ r)lkerungsklasse 
ist  unvereinbar  mit  Grundeinrichtungen  des  modernen  Staates, 
welche  eine  freie  Bevölkerung  voraussetzen;  er  ist  ferner  auf  die 
Dauer  unvereinbar  mit  dem  Ik^stande  der  modernen  Kultur.  Es 
ist  ein  feststehender  F^rfalH•ung^^at/,  dafs,  wo  und  wann  immer  die 
l'nternehmer  die  Bedingungen  des  .Arbeitsvertrages  einseilig  auf- 
zuerlegen vermochten,  diese  Arbeitsbedingungen  zu  einer  öttent- 

31« 


by  Google 


474 


Theodor  Loewenfeld, 


liehen  Gefahr  geworden  sind,  dafs  körperliches,  geistiges  insbe- 
sondere sittliches  Verderben  der  abhängigen  Arbeiterschichten  die 
Begleiterscheinungen  des  „freien"  Arbeitsvertrages  waren,  Begleit- 
erschemungen  von  solcher  Regelmäisigkdt,  dals  die  nationalökono- 
mische  Theorie  sie  früher  als  Naturnotwendigkeit  und  in 
ewigen  Gesetzen  begründet  erklären  konnte.  Das  Anwachsen  der 
Gefahr  zwang  endlich  den  Staat,  diesen  angeblich  ewigen  Natur- 
gesetzen mit  seinen  Arbeiterschutzgesetzen  entgegenzutreten.  Die 
Thatsache,  dals  dies  in  allen  Ländern  der  europaischen  Kultur  not- 
wendig geworden,  beweist,  wie  Brentano  mit  Recht  au^[e(uhrt  ha^ 
dals  es  unmöglich  ist,  die  Gestaltung  des  Arbeitsverhältnisses  einfach 
dem  Belieben,  dem  Wohlwollen,  der  vernünftigen  Erwägung  oder  Ge- 
rechtigkeit der  Unternehmer  zu  überlassen.  Für  den  heutigen  Staat 
giebt  es  dalur  nur  zwei  Wege:  die  Beseitigung  der  Vertragsfreiheit 
und  die  Regelung  des  Arbeitsverhältnisses  durch  zwingende  Rechts- 
normen, oder  die  V^erwirklichung  der  Vertragsfreiheit  durch  die 
Koalition  der  Arbeiter.  Wenn  und  soweit  er  das  erste  nicht  will, 
insoweit  mufs  er  das  zweite  wollen.  Ks  ist  nicht  Saclic  des  freien 
Beliebens  des  Staates,  ob  er  ( iercclitigkeit  üben,  ob  er  die  X'crtrags- 
freiheit  der  Arbeiterklasse  auf  dem  einzig  möglichen  Wege  .sclnit7.en 
will  oder  nicht.  Die  (ierechtii^keit,  die  er  den  Arbeitern  gegenüber 
übt,  ist  am  letzten  Kndc  ein  Akt  der  (ierechtigkeit  gegen  sich 
selbst,  eine  unentbehrliche  Mafsnalnne  der  Selbstcrliaitung. 

Hiermit  soll  selbstverständlich  nicht  gesagt  sein,  dafs  die  Be- 
deutung der  Arbdterkoalition  lediglkh  in  der  durch  äe  zu  verwirk- 
lichenden Vertragsfreiheit  des  Arbeiters  gegenüber  dem  Unter- 
nehmer beschleusen,  dais  sonach  die  Wirkungsbereiche  der  Arbeiter- 
schutzgesetze einerseits  und  des  Koalitionsrechtes  andererseits  von 
einander  vollständig,  verschieden  seien.  Die  Koalition  hat  ftir  die 
Hebung  der  Arbeiterklasse .  eine  viel  weiterreichende  Bedeutung. 
Insbesondere  die  Arbeiterschutzgesetzgebung  ist  in  keinem  Kulturlande 
ohne  Mitwirkung  der  Arbeiter  begründet  worden  und  sie  ist  nirgends 
ohne  ihre  Mitwirkung  durchführbar.  Die  Geschichte  der  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung zeigt,  dafs  sie  Schritt  für  Schritt  .1  die 
Unternehmer  erkämpft  werden  mufste  und  dafs  in  diesem  Ivampfe 
die  Arbeiter  selbst  in  erster  Reihe  standen.  Was  die  Vergangen- 
heit lehrt,  bestätigt  die  Gegenwart.  Kines  der  wichtigsten  Ziele 
der  heutigen  deutschen  (lewerkscliaftsbewegunL^  ist  die  Beseitigung 
von  lebcnsgcfährlichtii,  ungesuntleii  oder  sitlcinvidi  igen  Betriebs- 
einrichtungen und  Betriebsweisen,    üs  genügt  hier  wohl,  an  ein 


Digitized  by  Google 


Koalitionsrecbt  und  StrafrecbL 


475 


paar  Beispiele  zu  erinnern:  den  zähen  Kampf  der  Bauarbeiter  um 
Abstellung  der  offenen  Koaksfeuer,  um  bessere  Unterkunftsein- 
richtungen, ihre  Bestrebungen  in  der  sog.  Fensterfirage,  um  eine 
wirksame  Hochbai^werbeau&icht,  die  von  den  Bauariieitem  oiga- 
nisieite  Unfallstatistik,  ihre  Vorstellungen  bei  den  Reichsbehörden, 
die  Veranstaltung  eines  eigenen  Arbeiterschutzkoi^resses  im  gegen- 
wärtigen Jahre;  den  Kampf  der  Bäckergesellen  gegen  die  den 
Anforderungen  an  Reinlichkeit  und  Hygiene  nicht  genügenden  Zu- 
stande der  Bäckereien;  die  Forderung  der  Schneidergesellen,  dafs 
ihre  Arbeiten  aus  ihren  engen  eigenen  Wohnungen  in  ordentliche 
Betriebswerkstatten  von  den  Meistern  verlegt  werden,  und  deren 
Durchsetzung  auf  dem  Wege  des  Strikes;  die  Forderungen  der 
Hafenarbeiter  zu  Hamburg  vor  dem  grotsen  Strike  1896/97  in  Be- 
zug auf  die  Uniallverhütung  und  Aufstellung  eines  eigenen,  mit 
genügender  gesetzlicher  Vollmacht  ausgestatteten  Hafeninspektors; 
der  Hergarbeiter  in  Bezug  auf  Einrichtungen  zur  Beseit^ung  der 
Unfallgcfahren  und  genü<:jcnde  Bergwcrksaufeicht  u.  s.  w.  —  In  der- 
artigen Bestrebungen  erblicken  Unternehmer  vielfach  Kingriffe  in 
die  Selbstherrschaft  über  ihre  Betriebe  und  die  Koalitionen  ZU 
solchem  Zweck  sollen  nicht  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  zum 
Gegenstände  liaben,  sondern  „Machtproben".  Mit  diesem  Begriff 
operiert  die  Gerichtspraxis,  die  Denkschrift  und  die  Begründung 
(S.  7).  Auch  die  bei  einer  überaus  grofsen  Anzahl  von  Strikes  er- 
hobene Forderung  der  Arbeitszeitverkürzung,  fWc.  Forderung  der 
Einführung  eines  Maximalarbeitstages,  insbesondere  für  ;,^csund- 
heitsgcfährliche  Betriebszweige,  u.  s.  \v.  gehört  hierher.  J.Ik  mso  be- 
weisen die  Berichte  der  deutschen  Gewerbe-  und  I-'abrikinspekt.oren 
die  rege  und  nützliche  .Anteihiahnie  der  Arbeiterkoalitionen  an  der 
Durchführung  der  e  r  k  ä  ni  p  f  t  e  n  Arbeiterschutzgesetze.  Welche 
Bedeutung  der  Arbeiterkoalition  auf  diesem  Gebiete  zukommt, 
springt  in  die  Augen,  wenn  man  die  Zustände  in  jenen  Betriebs- 
zweigen vergleicht,  in  welchen  den  Arbeitnehmern  die  Kraft  zur 
freien  Koalition  fehlt,  den  „klassischen  Gebieten  der  Arbeitswilligen", 
je  notwendiger  hier  der  Kingriff  der  Schutzthätigkeit  des  Staates 
wäre,  desto  unmöglicher  ersclieint  sie,  so  dafs  Zustände  bestehen 
bleiben,  die  mit  Recht  als  barbarisch  bezeichnet  wertlen. 

Dais  die  Koalition  der  Arbeiter  im  öffentlichen  Interesse  unent- 
behrlich ist,  hat  denn  auch  früher  wenigstens  die  deutsche  Reichs- 
regfierung  anerkannt.  Sie  liefs  1891  bei  Beratung  der  erwähnten 
Novelle  zur  Gewerbeordnung  in  der  Reichstagskommission  erldären: 


Oigitized  by  Google 


476 


Theodor  Loevcnfeld, 


dafs  die  verbündeten  Regierungen  dem  Koalitionsrechte  der  Arbeiter 

in  keiner  Weise  zu  nahe  treten  wollen;  sie  erkennen  dieses  p^esetz- 
liehe  Recht  nicht  nur  an,  sondern  sind  auch  überzeugt,  dafe  das- 
selbe nach  Lage  der  Saciie  im  Interesse  der  Arbeiter  nicht  ent- 
behrt werden  kann."  Kann  die  Arbeiterkoalition  im  Interesse 
der  Arbeiter  nicht  entbehrt  wertlen,  so  ist  sie  im  öffentlichen 
Interesse  unentbehrlich.  Das  tiffeiUliche  Interesse  ist  be- 
teiligt, wenn  es  sich  um  die  Kxistenz.  das  Wohl  und  Wehe  ciiu  i  viele 
Millionen  umfassenden  Volksklassc  handelt.  Es  kann  tlaher  den 
gesetz;;^el)iiulcn  ( iewalten  auch  nicht  gleichgültig  sein,  ob  und  wie 
die  .\i beiterkoaiition  ins  Dasein  tritt.  Wenn  auch  Selbsthilfe  im 
Wege  der  \'ercinigung  der  Beteiligten  in  I""rage  ist,  so  ist  doch  mit 
Rücksicht  auf  das  öffentliche  Interesse  diese  Selbsthilfe  so  zu  orga- 
nisieren, dais  sie  den  anzustrebenden  Zweck  in  mc^lichst  vdl- 
kommener  Weise  erreicht.  Dais  der  Staat,  anstatt  in  das  vnrtschaft- 
liehe  Getriebe  direkt  einzugreifen,  die  Selbsthilfe  zu  organisieren 
sucht,  ist  eine  Erscheinung,  welche  im  modernen  Deutschland  häufig 
ist,  gewils  viel  häufiger  z.  &  als  in  England.  Die  Formen,  in 
welchen  dies  geschieht,  sind  mannigfaltig.  Es  genügt,  hier  darauf 
hinzuweisen,  dafs  der  Staat  den  dem  „Mittdstande"  angehörigen 
Warenverkäufem  dadurch  zu  helfen  sucht,  da&  er  denselben  das 
Recht  des  Zwangs  zu  r  Organisation  verleiht,  vgl.  die  Hand- 
werkcrnovclle  vom  26.  Juli  1897  §§  100  ff.  In  anderen  Fällen 
erzwingt  der  Staat  direkt  die  Organisation  und  prägt  sorgiältig 
Formen  aus,  welche,  dem  Bedürfnisse  des  einzelnen  Falles  genau 
angepafst,  ein  geordnetes  Rechtsleben  der  Vereinigung  nach  innen 
und  nach  aufsen  gewährleisten.  Auch  dem  nicht  eingetragenen 
und  nicht  konzessionierten  Vereine  gewährt  das  H.d.H.  ijsj  54,  705  ff. 
wenigstens  den  Rechtsschutz  des  Ci  e  sei  1  Schafts  rechts  und  damit 
eine  Rechtsstellung,  welche  nach  innen,  den  Mitgliedern  gegenüber, 
derjenigen  der  X'creine  gleiciiwertig  ist,  nach  aulsen  in  der  Hau|)tsache 
gleichwertig  gestaltet  werden  kann.  ')  Dieser  Rechtsschutz  ist  ins- 
besondere den  Beruls\  ereinen  der  l'nternehmer  als  Produzenten  und 
Händler  erteilt.  Wären  die  Koalitionen,  welche  zum  Zweck  an* 
geblicher  „Kraftproben"  (oben  S.  475,  Begründung  S.  7)  begründet 
werden,  in  der  That  das,  wofiir  man  sie  ausgiebt,  so  würde  ihnen 
ebenfalls  der  Schutz  des  §  54  B.GB.  zur  Seite  stehen,  da  ja  solchenüüls 
§  152  *  G.O.  für  sie  nicht  gilt  Sie  wären  also  gesetzlich  begünstigt 
gegenüber  den  angeblich  allein  rechtmäßigen  Arbeiterkoalitioaea. 

')  Vgl.  Planck,  Kommenlftr  mm  B.G.B.  m  §  54. 


Digitized  by  Google 


KcNÜitionsrecbt  und  StrafrecbU 


477 


HL  Die  Koalition  der  Aibeiter  war  bis  vor  50  Jahren  verboten 
und  strafbar;  dann  hat  man  —  in  §  152  *  der  G.O.  —  diese  Verbote 
imd  Strafbestimmiingen  au%ehöben,  aber  der  Sdiutz  des  Rechtes  ist 
der  Arbeiterkoalition  in  keiner  derjenigen  Formen,  die  das  Vereins-  und 
Gesellschaftsrecht  der  deutseheti  Gesetse  kennt,  niteQ  geworden. 
§  151*  sagt:  „Jedem  Teilnehmer  steht  der  Rücktritt  von  solchen 
Vereinitj^ungen  und  Verabredungen  frei  und  es  findet  aus  letzterem 
Weder  Kla^e  noch  Einrede  statt." 

Im  Regierungsaitwurfe  der  Gewerbeordnui^  für  den  Nord- 
deutschen Bund')  waren  diese  Verabredungen  als  „nichtig"  erklärt. 
Die  Motive  heiTierken  hierzu ,  dafs  „den  Koalitionsverabredungen 
der  staatliche  Schutz  \orcnthalten"  bleibt.  Nach  der  auf  die  Anträge 
der  Abgeordneten  Lasker  und  Friedcnthal  zuriickzulühreiHleii  jetzigen 
I'assung  des  ij  l  52  Abs.  2  ist  die  Koalitionsverahredung  nicht  nichtig. 
Die  Koahtion  ist  demgemäfs  kein  blofs  thatsächlicher ,  sondern  ein 
Rechtsverband.  Derselbe  stellt  aber  insoferne  nicht  unter  den  Regeln 
des  Gesellschafts-  und  Vereinsrechtes,  als  ihm  der  Klage-  und  Ein- 
redeschutz versagt  ist  und  der  Rücktritt  jedem  Teilnehmer  jeden 
Augenblick  freisteht  Diese  beiden  Bestimmungen  sind  selbstver« 
ständlidi  nfcht  identisch.  IMe  VcHTKhrift,  dafs  jedem  Teilnehmer 
der  Rücktritt  freisteht,  würde  nur  bewirken,  dafs  nach  eriolgtem 
Rucktritte  keine  Verbindlichkeiten  aus  den  Verabredungen  oder 
dem  Statut  der  Vereinigung  dem  Teilnehmer  mehr  erwachsen 
können;  dagegen  würden  in  der  Vergai^enhdt  bereits  begründete 
Verbindlichkeiten  fortbestehen;  also  k.  B.  die  wegen  verabredunga* 
widrigen  Verhaltens  nach  dem  Statut  der  Koalition  einem  Mitgliede 
auferlegte  Vertragsstrafe  bliebe  begründet  und  könnte  eingeklagt 
werden.  Die  Hinzufiigung  der  selbständigen  Bestimmung,  dals  aus 
den  fraglichen  Verabredungen  weder  Klage  noch  Einrede  statt* 
findet,  bedeutet,  dafs  auch  während  des  Bestehens  und  FcMtbestehens 
der  Mitgliedschaft  ^ne  Klage  aus  Koalitionsverabredungen  nicht  zu- 
lässig ist,  ebensowenig  wie  eine  Geltendmachung  derselben  im  Wege 
der  Einrede.  Die  Verbindlichkeiten  sind  blofs  natürliche ,  durch 
Klage  o<ler  Einrede  nicht  geschützte  \>rbindlichkeiten.  Ks  ist  z.  B. 
daher  wohl  die  Festsetzung  von  Konventionalstrafen  für  den  Fall 
des  Zuwidcrhandclns  gegen  Koalitionsverabredungen  in  einem  Grün- 


')  Sten.  Bericht  de<;  K<'ichstag>.  dxs  Nordd.  Bundes  I.  Leg.>Pcriodc  I.  Scsf. 
1869,  III.  Anl.  Kd.  Dnick.sachen  Nr.  148  §  168. 
*)  t.  c.  Drucks.  13  S.  I85. 


Digilized  by  Google 


Theodor  Loeweafeld, 

dungsvertrage  zulässig,  da  dies  zunächst  nur  die  freiwÜ^e  Unter- 

werfunfj  der  Koalition  unter  derartige  Straft-n  bedeutet;  ebenso  ist 
die  Zahlung  einer  derartigen  Konventionalstrafe,  wie  die  Zahlung 
von  Beiträ!;rrTi,  nicht  als  Schenkung  zu  betrachten.  Aber  sie  kann 
nicht  mit  Erfoij^  im  Klagewe^c  verlangt  werden  und  die  Auf- 
forderung zur  Zahlung  unter  Androhung  der  Klage  oder  sonstiger 
Drohung  würde  nicht  nur  gegen  153  (i.O. ,  sondern  auch  gegen 
den  von  der  Erpressung  handelnden  i;  233  des  St.li.H.  ver>tolscn. ') 
wenigstens  nach  der  derzeit  mafsgebenden  Anwendung  tlieser  letzteren 
Bestimnuing  durch  das  Reichsgericht.  Diese  Schutzlosigkeit  ist  in 
§152  auch  gegen  die  Koalitionen  der  Arbeitgeber  ausgesprochen. 
Indessen  Parität  in  dieser  Beziehung  ist  nur  scheinbar  vorhanden. 
Die  Koalition  der  Arbeiter  ist  ihre  V'ereinigung  als  Verkaufer  ihrer 
einzigen  Ware,  der  Ware  „Arbeit".  Die  Vereinigungen  der  Unter- 
nehmer in  ihrer  Eigenschaft  als  Warenverkaufer  stehen  nicht  unter 
der  No^  des  §  152  G.O.,  sie  sind  nicht  ungeschützt,  sondern  ge- 
niefsen  in  den  mannigfaltigen  Formen,  die  das  deutsche  Recht 
kennt,  den  Schutz  des  Gesetzes.  So  kennt  das  Handwerkergesetz 
als  Zweck  der  Zwangsinnung  auch  einen  gemeinsamen  Gewerbe- 
betrieb  der  Innungsmi^lieder.  Ungeschützt  gemals  §  152  G.O.  ist 
nur  die  Koalition  der  Unternehmer  als  Käufer  der  Ware  Ar- 
beit Indessen  stehen  den  Unternehmern  auch  in  Bezug  auf  die  den 
Arbeitsvertrag  betreffenden  Verein^rungen  mannigfache  Wege  zur 
Umgehung  des  Gesetzes  zur  Verfügung.  So  greifen  z.  B.  Innungen 
und  Innui^verbände  in  den  Lohnkampf  ein  und  benutzen  hiermit 
die  Organisation  und  Zwangsgewalt,  welche  das  Gesetz  denselben 
als  X'crbänden  von  Warenproduzenten  und  Waren  Verkäufern  ver- 
leiht, zum  Kampf  um  die  Bedingungen  des  Arbeitsvertrages,-)  also 
als  Koalition  im  Sinne  des  §  152  G.O.  So  verpflichtete  z.  B.  der 
Innungsverband  der  deutschen  Haugewerkmeister  im  September  1897 
auf  dem  Verbandstage  zu  Leipzig  seine  Mitglieder,  keine  Arbeiter 
aus  Strikeorten  in  Arbeit  zu  stellen.  Der  gleiche  In nungs ver- 
band beschlofs  im  September  1S9S  die  Gründung  eines  ganz 
Deutschland  umfassenden  A^rbeitgeberbundes  des  Baugewerkes,  zu 


*)  Was  hingegen  von  Hilse  in  Goltdammen  Archiv  ftix  Strafrecbt  Bd.  37 
S.  377  vorgebracht  wird,  ist  vollkommen  luiUlos. 

*)  Vgl.  Lcgien,  KoaliUunärccbt  S.  133,  vgl.  aach  dic&es  Archiv  Bd.  III 
S.  4S1 ;  Pr.  de*  V.  ordoBtUchai  Vcrbuidiligcs  de»  ZcntnlvobMides  der  Ifaaier  ad 
Tcnrandter  Bernf^enoocn  Dcutaichhmdi  (1899)  Hambaxg  1899  SS.  7.  3a. 


Üiyitizcü  by  GoOglc 


Koalitioosrecbt  und  Strafrecht. 

welchem  nkht  nur  die  Innungsmeister,  sondern  auch  die  ungeprüften 
Bauunternehmer  herangezogen  werden  sollten.  Nach  den  Verhand« 
hingen  sollte  dieser  mittlerweile  begründete  Arbeitgeberbund  u.  a. 
den  Zweck  haben,  eine  allgemeine  Aussperrung  der  Gehilfen  zum 
Zwecke  der  Sprengung  ihrer  Strikekasse,  eine  „grolse  Kraftprobe", 
durchzuführen.  Es  ist  bemerkenswert,  dals  das  Reichsamt  des 
Innern  sich  mit  dieser  Praxis  der  Innungen  einverstanden  erklärt 
hat  Im  Juni  1897  hat  der  Vorstand  des  Innungsverbandes  Deutsdier 
Baugewerkmeister  den  Reichskanzler  um  Entscheulung  der  Frage 
ersucht,  ob  es  nach  Lage  der  Geseta^ebung  zulassig  sei,  von  den 
Angehörigen  der  Verbandsinnungen  zu  verlangen,  dal's  sie  keine 
Gesellen  aus  Orten,  in  denen  Ausstände  ausgebrochen  seien,  in 
Arbeit  nehmen.  Dem  Vorstande  ist  vom  Reichsamte  des  Innern 
eröffnet  worden,  daSa  §  104  G.O.  dem  Reichskanzler  keinen  Anlals 
geben  werde,  gegen  einen  Beschlufs  des  Innungsverbandes  in  be- 
zeichneter Richtung  einzuschreiten.  Hiernach  hätte  nach  der  Ent- 
scheidung der  obersten  Keiciisbehörde  der  Innungsverband  das 
Recht,  die  Durchführung  eines  solchen  Aussperrungsbeschlusses 
seitens  der  zu  ihm  gehörigen  Innungen  und  Innungsmeister  zu 
erzwingen.  Damit  ist  die  Innung  und  der  Innungsverband  offi- 
ziell zum  Koalitionsvcri)and  erklärt;  der  Unternchinerkoalition  wird 
eine  Zwangsgewalt  /-uerkannt,  währciul  die  Arbcitcrkoalition  iür 
jeden  Versuch,  ihre  Verabredungen  /wan^^sweise  aufrecht  zu  erhalten, 
mit  den  Strafen  des  !^  153  belegt  werden. 

W.  Die  Gewerbeordnung  spricht  der  Arbeiterkoalition  den 
Rechtsschutz  ab.  Damit  ist  die  Arbeitcrvcrcinigung  auf  den  mora- 
lischen Halt  verwiesen,  welchen  die  Erkenntnis  der  .Notwendigkeit 
des  Zusanuncnstehens  zur  Krringung  angemessener  Arbeitsbedin- 
gungen ihr  zu  verleihen  vermag.  Das  gellende  Recht  enthält  aber 
Weiler  eine  Reihe  von  Bestimmungen,  welche  geeignet  sind,  auch 
dieses  moralische  Band  zu  .schädigen  oder  die  Ari)eiterkoalilion 
jeder  thatsächlichen  Wirkung  zu  berauben.  Diese  Ikstimniungen 
gehören  dem  öffentlichen  Reciite  an.  Sie  stellen  insbesondere  in 
der  Anwendung,  welciie  sie  bisher  durch  Gerichte  und  X'erwaltungs- 
behörden  erfahren  haben,  ein  komi)liziertes  System  von  Veran- 
staltungen zur  Unterdrückung  und  Behinderung  der  Arbeiterkoa- 
litionen dar,  ein  System,  das  treffend  durch  den  bekannten  Aussprudi 
&«ntanos  gekennzeichnet  ^rd:  ,J>ie  Arbdter  haben  das  Koalitions* 
recht,  wenn  sie  aber  davon  Gebrauch  machen,  werden  sie  gestraft" 
Im  folgenden  soll  dieses  System  kurz  dargestellt  und  sodann  die  Frage 


Digilized  by  Google 


Theodor  Loewenfeld, 

erörtert  werden,  wie  weit  dasselbe  durch  die  Vorlage  ergänzt  und 
verstärkt  wird. 

•  ■  I.  §  152'  G.O.  hat  es  nach  Entscheidung  des  Reichsgerichtes  *) 
,^usschlieGslich  mit  den  konkreten  Arbdterverträgen  zwischen  Ar« 
beitgebern  und  Arbeitnehmern,  mit  den  unmittelbar  durch  diese 
Verträge  geregelten  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  und  mit  dem 
Gegensatze  und  Kampf  der  sozialökonomischen  Interessen  un- 
mittelbar um  diese  Bedingungen  zu  thun."  Sowie  die  Koalition 
Veränderungen  der  Arbeits-  oder  Lohnbedingungen  verfolgt,  welche 
äich  nicht  auf  bestimmte  Arbeitsverhältnisse  in  einem  bestimmten 
Gewerbezweig  an  einem  bestimmten  Orte  beziehen,  überschreitet 
sie  das  Gebiet  des  reichsrechtlichen  Koalitionsrechtes  und  unter- 
steht damit  dem  I.an(lcsrecht  über  Vereine  und  Versammlungen. 
Ob  §  152  in  der  That  in  diesem  enjjen  Sinne  zu  interpretieren, 
Ist  zweifelliaft,  jedenfalls  entspricht  diese  Auslegung  der  ständigen 
gerirhtHchen  und  verwaltungsrechtlichen  Praxis. 

Die  Aufüassung  der  kgl.  sächsischen  Staatsregierung  geht  weiter. 
Hiemach  soll  unter  allen  l^mstäiulen  auf  die  Koalitionen,  auch 
wenn  ae  sich  auf  die  Zwecke  des  §  152  im  vorerwähnten  engen 
Sinne  beschränken,  auch  das  I^ndesvereinsrecht  angewendet  werden. 
Mit  dieser  Auffassiin«^  steht  intlesscn  die  sächsische  Regicruni;  allein. 

Die  Beschränkung  auf  die  „konkreten"  Arbcitsvcrträt:,'c  ist 
nun  bei  Anwciidun»^  des  Koalitionsrechtes  durch  die  Arbeiter  nicht 
leicht.  ..Hamirlt  es  sich  etwa  für  die  Arbeiter  einer  i^rofsen  I'^abrik 
tlarum,  durch  Koalition  und  gemeinsame  Arbeitseinstellung  eine  Ab- 
kürzung (Irr  Arlieitszeit  zu  erringen,  so  wird  es  in  der  Regel  gar 
nicht  zu  umgehen  sein,  in  der  Agitation  die  wirtschaftlichen  und 
sozialen  Verhältiüsse  wenigstens  in  dem  gesamten  Industriezweige, 
die  bestehende  Gesetzgebung,  die  Zuständigkeit  des  Bundesrates  zur 
Festsetzung  des  sog.  saiütären  Miiximalarbeitstagcs  nach  G.O.  >;  I20e, 
eine  etwaige  Weiterbildung  der  Gesetzgebung  u.  dgl.  zu  erörtern 
und  zu  beraten.  Damit  sind  aber  die  (irenzen  des  152  G.O. 
verlassen,  damit  luiren  die  X'ereine  und  Wrsanuulungen  der  Ar- 
beiter auf,  dem  Landesrecht  entzogen  zu  sein"  ')  Die  Koalitionen 
der  Arbeiter,  wenn  sie  die  Besserung  der  Lage  ihrer  I^achgenossen 
im  allgemeinen  anstreben,  insbesondere  wenn  sie  hierzu  eine  Thätig- 
kdt  der  Organe  des  Staates  oder  der  Gesetzgebung  in  Aussicht 


*)  Bntacheidnngen  in  Stnfsadien  XVI  385. 

^  Löning  itt  den  Verhandliingai  de*  Vereines  flr  Sorialpolilik  1897  96&. 


Digitized  by  Google 


Koalitionsrecbt  und  Strafrecht. 


481 


nehmen,  sind  auf  Grund  des  öffentlichen  Vereinsrechtes  im  groisten 
Teile  Deutschlands  polizeilichen  Beschrankungen  unterworfen.  Ob 
ein  solcher  Zweck  angestrebt  wird,  hat  der  Richter  nach  freiem  Er« 
messen  festzustellen.  Nach  der  Praxis  genügt  hierzu  ein  einzelner 
Vortrag  oder  Vortragsteil,  womit  auf  jenes  allgemeine  oder  öfTent- 
Ikhe  Gebiet  hinübergegriffen  wird.  Nach  einem  Urteile  des 
preufsischen  Kammergerichtes  vom  1 1.  Januar  1897  —  Goltdammers 
Archiv  XLV  S.  309  —  kann  der  Zweck  ,,auf  öffentliche  Angelegen- 
heiten einzuwirlwn"  auch  durch  eine  Darstellung  lebender  Kider 
mit  Musikbegleitung  genügend  zum  Ausdruck  gebracht  werden. 

Die  Praxis  geht  aber  noch  weiter.  Nach  einem  Urteile  des 
Oberlandesgerichtes  München,  des  bisherigen  Revisionsgerichtes  in 
bayerischen  schölTrnc^crichtUchen  Sachen,  vom  29.  Dezember  1894 
ist  eine  Gewerkschaftsversammlung^  als  Versammlung  eines  politi> 
sehen  Vereines  möglicherweise  auch  dann  zu  erachten,  wenn  in 
dieser  Versammlung  keinerlei  „öffentliche  Angelegen- 
heiten" im  erwähnten  Sinne  besprochen  werden.  Nach  jenem 
Urteil  —  mit  welchem  ein  früheres  Urteil  des  bayerischen  Obersten 
Gerichtshofes  vom  29.  Mai  1876  übereinstimmt  —  ist  die  sozial- 
dcniokr.itischc  Partei  Deutschlands  ein  poHtisrhcr  X'ercin,  die  ge- 
werkschaftliche Bewegung  eine  „Vorschule"  für  die  politische  Be- 
wegung, die  Leitung  eine  [lolitischc.  Aus  dem  l'nistandc,  dafs  Ein- 
berufer, Leiter  und  Beriehttrstatter  in  der  fraglichen  Gewerk- 
schaftsNcrsaninilung  Sozialdemokraten  waren,  wiril  weiter  ge- 
schlossen, dafs  die  sozialdiinokratische  Partei  und  damit  ein 
politischer  \'erein  jene  ( ie\verkschafts\ersaninilung  abhielt,  dals 
sie  also  die  X'ersammlung  eines  politischen  X'ercines  war,  „ohne 
dafs  es  darauf  ankommt,  ob  öffentliche  Angelegen- 
heiten auch  wirklich  bcsj)  rochen  wurtlen."')  An  der 
Hand  dieses  l'rteils  kann  auf  alle  (iewerksrhatten,  deren  Mitglieder 
Sozialdemokraten  sind,  das  politische  Wrcinsrecht  zur  Anwendung 
gebracht  wertlen,  auch  weiui  sie  sich  auf  die  „konkreten"  Arbeits- 
verträge und  Arl)eits\  erhältnisse  ihrer  eigenen  Mitglieder  beschrän- 
ken. Dafs  die  G.C).  in  152  Arbeiterkoalitionen,  welche  sich  zur 
Erlangung  günstiger  Arbeits-  und  Lohnbedingungen  bilden,  erlaubt 
hat,  kommt*  dann  nicht  weiter  in  Betracht.  Es  hängt  vielmehr 
trotz  des  Rechtssatzes,  dafs  Reichsrecht  dem  Landesrecht  vorgeht  — 


')  Sammluug  der  Eauchcidungcn  des  kgl.  bayerischen  Oberst,  Landcsgcriditi 
m&dcii  ia  Stnft.  Vni  S.  iSl. 


iJiyilizeQ  by  VoüOgle 


482 


Theodor  Loewrnfeld, 


dann,  wenn  die  Arbeiter  Scnialdemokraten  sind,  von  dem  Inhalte 
der  Landesgesetz^^ebung  ab,  ob  und  unter  welchen  Be- 
dingungen Arbeiterkoalitionen  bestehen  können. 

Das  öflentliche  Vereinsr<  ( In  Ist  bekanntlich  in  den  verschiede- 
nen deutschen  Staaten  versciiicdcn  gestaltet.  In  einem  Kleinstaat 
(Rcufs  ä.  I  sind  politische  Vereine  überhaupt  verboten;  in  den 
beiden  Mecklenburg  bedürfen  sie  der  Genehmigung  des  Ministe- 
riums des  Innern;  in  einer  Reihe  von  Klein-  und  Mittelstn.iten 
sind  Arbeitervereine,  welche  politische  Zwecke  verfolgen, 
verboten.  In  den  meisten  anderen  deutschen  Staaten  bringt 
die  Ik-schäftigung  eines  Vereines  mit  „öti'cntlichcii  Angelegen- 
heilen"'  oder  mit  „politischen  C iegenständen"  (cf.  ij^  2  u.  8  des 
preufsischen  Vereinsgesetzes  vom  il.  März  1850;  bayerisches 
Vereinsgesetz  von  1850/1898  Art.  14}  polizdliche  Beschränkungen 
mit  sich,  welche  die  Anwendung  des  Koalitionsrechtes  teils  aus- 
schlieisen,  teils  behindern.  Als  solche  Beschränkungen  kommen 
insbesondere  in  Betracht: 

a)  Der  Ausschluß  der  Frauen.  Im  neuen  bayerischen  Vereins- 
gesetz vom  15.  Juni  1898  bezieht  sich  dieses  Veiix>t  nicht  mehr 
auf  solche  „politische  Vereine,  welche  nur  den  besonderen  Berufe- 
und  Standesinteressen  bestimmter  Personenkreise  dienen."  Nach 
der  Erklärung,  welche  die  Regierung  hierzu  abgegeben  hat,  kann 
es  sich  hier  „nur  um  Gewerkschaften"  handeln.  „Ein  Verein 
gewerblicher  Taglöhner"  z.  B.  entspricht  nicht  dem  Begriffe  eines 
„bestimmten  Personenkreises",  es  müssen  Arbeiter  einer  bestinmiten 
gewerblichen  Branche  sein. 

b)  Der  Ausschluüs  der  Minderjährigen  (auch  „Schüler",  „Lehr- 
linge")- 

c)  Das  Vcrbiiulungsverbot.  Dieses  ist  in  den  \erschieclenen 
Wreinsgesetzen  verschieden  weit  gefafst.  In  Bayern  verljot  Art.  17 
des  Vereinsgesetzes  von  1850  nur  eine  X'erbindung  von  der  Art, 
dafs  ein  X'ercin  den  Beschlüssen  eines  anderen  oder  den  Organen 
eines  anderen  sich  unterwarf,  otlcr  dafs  mehrere  X'ercine  sich  unter 
einem  gemeinsamen  Organe  zu  einem  gegliederten  Ganzen  ver- 
einigen (Dieses  Verbindungsverbot  untersagt  nunmehr  nur  die 
Verbindung  mit  ausländischen  Vereinen).  Hiemach  stellt 
z.  B.  der  schriftliche  Verkehr  von  Vereinen  unter  einander  oder 
der  Verkehr  durch  Absendung  und  Empfang  von  Delegierten  keine 
„Verbindung",  die  unter  das  Verbot  iallt,  dar.  Dagegen  sagt 
das  preufsische  Vereinsgesetz  §  8  von  den  Vereinen,  welche 


Üiyitizcü  by  GoOglc 


Koditionsrecht  oad  Stnfrecbt 


483 


i,poKtischc  (ic^enständc"  erörtern:  sie  dürften  niclu  mit  anderen 
Vereinen  gleicher  Art  zu  {gemeinsamen  Zwecken  in  Vcrbindnn^r  treten, 
insbesondere  nicht  durch  Komitees,  Aussciuisse,  Zentralorj^^ane  oder 
ähnliche  Einrichtungen  oder  durch  ge ge  n s e  i  t  i  gc n  Sc h  r  i  f t  e n  - 
Wechsel.  Werden  diese  Beschränkungen  überschritten,  so  ist  die 
Ortspoii/.eibehörde  berechtigt,  vorbehahhch  des  gegen  die  Be- 
teiligten gesetzlich  einzuleitenden  Strafverfahrens,  den  Verein 
bb  zur  ergehenden  richterlichen  Entscheidung  zu  schliefsen. 
Aehnliche  weiter  reichende  Verbindungsverbote  bestehen  in  einigen 
anderen  Bundesstaaten. 

d)  Politische  Vereine  sind  nach  mehreren  Vereinsgeselzen,  z.  B. 
dem  preufsischen  §  2,  verpflichtet,  ein  Verzeichnis  ihrer  Mitglieder 
der  Ortspolizeibehorde  einzureichen  und  Uber  dieselben  auf  Ver> 
langen  Auskunft  zu  erteilen. 

Von  diesen  Beschrankungen  sind  von  hervorragender  Wichtigkeit 
die  zu  a  und  c.  Der  Ausschlufs  der  Frauen  ist  bei  der  erwähnten 
weitreichenden  Auffassung  des  politischen  Vereins  geeignet,  die  Frauen 
dauernd  an  der  Ausübung  des  Koalitionsrechtes  zu  verhindern.  — 
Das  Verbindungs verbot  hindert  die  Organisationen  der  Arbeiter 
an  derjenigen  Ausdehnung  der  Koalition,  welcher  sie  im  Ernstfalle 
bedürfen,  wenn  die  Koalition  der  Arbeiter  nicht  gegenüber  den 
Unternehmern  und  insbesondere  der  Unternehmerkoalition  \öHig 
unwirksam  sein  soll.  Beschränkt  sich  die  Koalition  auf  die  Arht  itrr 
einer  i)tstinimten  l'abrik  otler  des  (u  werhes  eines  bcstinniiten 
Ortes,  so  ist  es  bei  den  jetzigen  X'erkehrsv  ei  liältiiissen  und  der  Gröfse 
der  zur  X'erfügung  stehenden  inländisrlien  und  ausländischen  Rescr\  c- 
annce  für  den  Unternehmer  leicht,  für  die  koaliierten  Ausständigen 
Ersatz  zu  finden.  Dann  ist  die  Koalition  ebenso  machtlos  dem  Unter- 
nehmen gegenüber,  wie  der  einzelne  Arbeiter  es  wäre,  wenn  er,  um 
bestimmte  Lohnforderungen  zu  vertreten  oder  Ansprüche  des  Arbeit- 
gebers ablehnen  zu  können,  das  Recht  der  Arbeitseinstellung  aus* 
üben  würde.  Die  Koalition  hat  nur  dann  Aussicht  auf  Erfolg, 
wenn  sie  soweit  mißlich  alle  Berufisgenossen  der  Ausstandigen  und 
deren  Organisationen  heranziehen  kann.  Dies  verhindert  das  Ver- 
bindungsbot,  wenn  die  Arbeitervereinigungen  als  politische  Vereine 
behandelt  werden.  Seit  Jahren  sind  denn  auch  viel&ch  Arbeiter- 
gewerkschaften auf  Grund  des  Verbindungverbotes  au%elöst  oder 
«geschlossen"  worden,  welchen  eine  verbotene  „X^erbindung"  mit 
anderen  Gewerkschaften  nachgewiesen  wurde.  Wollen  die  Gewerk- 
schaften demnach  nicht  auf  diejenige  Organisationsausdehnung  ver- 


üiyiiized  by  Google 


484 


Theodor  Loewenfcld, 


ziehten,'  ohne   welche   vielfach    ihre  Rcstrebungcn    zwecklos  sein 
würden,  so  schwebt  über  denselben  die  fortwahrende  (iefahr  der 
Verfolgung  und  Auflösung  in  den  Reclitsgt  biclcn,  in  welchen,  wie 
in  Prculscn,   das  Vcrbindungsxcrljot  noch  besteht.     Auch  die  in 
einzelnen    Bundesstaaten    erfolgte    Aufhebung    des  Verbindungs- 
verbotes  \  erhilft  den  dortselbst  bestehenden  Gewerkschaften  und 
Koalitionen  der  Arbeiter  nicht  zu  einer  geeigneten  Organisation, 
wenn  es  erforderlich  ist,  diese  auf  Bundesstaaten  zu  erstrecken,  in 
welclien  das  Koalitionsverbot  noch  besteht,  was  meistens  der  FalL 
Es  ist  bemerkeiOTcrt,  daTs  die  Verwaltungsbehörden  von  denjenigen 
Befugnissen,   von  welchen  sie  bei  energischer  Ausbeutung  ge- 
wisser gerichtlicher  Präjudizien  gegen  die  Koalitionen  Gebrauch 
machen  könnten,  nicht  immer  Gebrauch  machen.  In  der  Arbeiter- 
presse wird  diese  Sachlage  anerkannt  durch  die  Feststellung,  dais 
die  Gewerkschaften  eigentlich  von  der  Gnade  der  Landespolizei- 
behörde leben.   Dieser  Zustand  ist  nicht  geeignet,  eine  stet^e  und 
den  Bedürfnissen  entsprechende  Entwicklung  der  Gewerkschaften 
in  Deutschland  zu  befördern.  Bei  den  Verhältnissen  der  Landes- 
gesetzgebung in  dem  Hauptlande  des  Verbindungsverbote^  in  Preufsen, 
besteht  auch  keine  Aussicht  darauf,  dafs  er  in  absehbarer  Zeit  ge* 
ändert  werde,  obwohl  im  Reichstage  bei  Beratung  des  Bürgerlichen 
Gesetzbuchs  namens  der  verbündeten  Regierungen  die  Aufhebung 
der  bestehenden  Verbindungsverbote  versprochen  worden  ist 

Die  Verpflichtung  politischer  Vereine,  Mitgliederverzeich- 
nisse der  Behörde  einzureichen,  ist  gelegentlich  dazu  benutzt  worden, 
den  Fabrikanten  die  Herstellung  schwarzer  Listen  zu  erleichtern. 
Es  ist  voigekommen,  dafs  eine  Polizeibehörde  die  ihr  eingereichte 
Liste  eines  Fabrikarbeiter\'erbandes,  der  als  Gewerkschaft  überhaupt 
kein  politischer  Verein  ist,  aber  als  solcher  behandelt  wird,  den 
Unternehmern  zur  Einsicht  vorlegte;  es  ist  auch  vorgekommen,  dals 
eine  andere  Polizeibehörde  die  aus  dem  gleichen  Grunde  einge- 
reichten Mitgliedrr\  cizeichnissc  eines  Hüttenarbeiterverbandes  den 
Unternehmern  der  Bequemlichkeit  halber  vervielfältigt  übersandte.  *) 
Wo  ein  Unternehmer  zugleich  Amtsvorsteher  ist,  gestaltet  sich  die 
S.ichc  noch  einfacher.  Die  Befürchtungen,  welche  Gewerkschaften 
bezüglich  der  Einsicht  in  ihre  Mitgliederver/.eichnisse  durch  die  Be- 
hörden hegen,  kommen  in  der  grofsen  Anzahl  von  Strafprozessen  zum 


Vgl.  Lcgien,  Das  Koalitionsrccht  der  dettticheii  Arbeiter  in  Theorie  und 
Praxis.   Hamburg  1899  S.  44,  45. 


Digitized  by  Google 


Kpalitionsncht  und  Stralrcdit. 


48s 


Ausdrucke,  welche  durcli  die  Weiterung  von  Koalitionen,  ihre  Mit- 
gliederlisten einzureichen,  veranlalst  wurden;  die  Rechtssprechung 
war  übrigens  hier  den  Arbeitern  teilweise  g^.in^tig. 

Wie  steht  diesen  vereinsgesetzlichen  Schwierigkeiten  die  Koa- 
lition der  Arbeitgeber  gegenüber  ? 

Ein  Teil  derseli)en  kann  sie  niemals  treffen.  Wenn  z.  B.  in 
einigen  Rechtsgchieten  Arbeitervereine  \  erboten  sind,  welche  poli- 
tische Zwecke  verfolgen,  so  l)esteht  ein  ahnliches  Verbot  in  Bezug 
auf  L'nternehinervereine  daselbst  überhaupt  nicht.  Der  Ausschlufs 
der  Frauen  und  der  Minderjährigen  von  politischen  Vereinen  ist  für 
die  Unternehmervereine  mit  Rücksiclit  auf  deren  andersartige  Ver- 
haltnisse  vollkommen  bedeutungslos.  Die  Listen  ihrer  Mitglieder 
der  Polizeibehörde  vorzulegen,  wäre  für  sie  gewils  ungefährlich» 
wenn  sie  überhaupt  jemals  dazu  aufgefordert  würden;  es  ist  kein 
Fall  einer  solchen  Aufforderung  bekannt  Am  klarsten  tritt  der 
Unterschied  der  Lage  der  Untemehmervereine  und  der  Arbeiter« 
koalitionen  in  Sachen  des  Verbindungsverbotes  hervor.  Die  Be- 
schäftigung mit  „politischen  Gegenständen'^  oder  „öffentlichen  An- 
gelegenheiten", welche  in  so  zahlreichen  oberstrichterlichen  und 
verwaltungsgerichtlichen  Entscheidungen  gegen  die  Arbeiter  unter 
Aufgebot  grofsen  juristischen  Scharfsinnes  festgestellt  wird,  findet 
sich  auch  bei  zahlreichen  und  hervorragenden  Untemehmerverbanden 
—  zwar  nicht  in  gerichdichen  Urteilen  —  aber  urkundlich  und 
öfientlich  festgestellt  und  tritt  in  den  Publikationen  und  öffentlichen 
Verhandlungen  dieser  Verbände  klar  zu  Tage.  An  dieser  Stelle 
gentigt  folgendes: 

Der  am  1 5.  Februar  1876  gegründete  Zentralverband  deutscher 
Industrieller  mit  dem  Sitze  in  Berlin  hat  nach  §  2  seiner  neuen 
Satzungen  vom  28.  Februar  i8()9  zum  „Zwecke":  ,,Die  Wahrung 
der  industriellen  und  wirtschaftlichen  Interessen  des  Vaterlandes 
und  hörderung  der  nationalen  Arbeit."  Diesen  Zweck  sucht  der 
Zentral  verband  nach  dem  gleichen  §  2  der  Satzungen  zu  erreichen 
„vorzüglich  dadurch,  dafs  er  die  vereinzelt  bestehenden  itulustriellen 
und  wirtschaftlichen  Vereinigungen  unter  sich  in  Verbindung 
bringt  und  denselben  zur  Vertretung  ihrer  gemeinsamen  Interessen 
dient."  Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  wird  der  Verban  l  ferner 
nach  dem  erwähnten  Statut  „seine  Aufgabe  auch  vorzüglich  darin 
sehen,  den  Wünschen  und  Anträgen  seiner  Mitglieder  in  Bezug  auf 


*)  Vgl.  Legien  a.  a.  O.  S.  49  fr. 


Oigitized  by  Google 


4S6 


Theodor  Loewenfeld, 


1.  die  wirtschaftliche  und  sozialpolitische  Gesetzgebung 
des  Reichs,  be/.\v.  der  einzelnen  Staaten, 

2.  auf  den  Aljschluls  L^ünsti^^er  Handels-  und  Scliiffahrts\-erträge, 

3.  auf  \'cr\ ollstär)di;4un^  der  Verkehrsmittel,  insbesondere  der 
Eisenl)ahnen  Und  Kanäle,  auf  die  Besserung  des  Betriebes 
und  günstigere  Gestaltung  der  Tarife, 

4.  auf  Regelung  der  Arbeiterverhältnisse  

gerecht  zu  werden." 

Diese  Zwecke  und  Mittel  des  ZetitraKereins  waren  indessen 
schon  in  den  früheren  Statuten  des  Vereins,  insbesondere  denjenigen 
vom  30.  März  1889,  vorgeschrieben.  Mitglieder  des  Verbandes  sind 
aufser  Einzelpersonen  eine  ganze  Reihe  von  gewerblichen  Ver- 
einigungen aus  allen  Teilen  des  Deutschen  Reiches,  daneben  aber 
auch  Berufsgenossenschaften  und  Handelskammern. 

Dafs  dieser  Verband  „politische  Gegenstände"  im  Sinne  des 
preufsischen  Vereinsgesetzes  zum  Zwecke  hat,  unterliegt  nicht  dem 
geringsten  Zweifel;  diesen  statutarischen  Zweck  hat  der  Verband 
auch  fortgesetzt  durch  eine  lange  Reihe  von  Verhandlungen  verfolgt, 
welche  in  den  Organen  des  Verbandes,  z.  B.  den  „Verhandlungen, 
Mitteilungen  und  Berichten  des  Zentralverbandes  deutscher  Indu- 
strieller'', ferner  in  der  „Deutschen  Industriezeitung"  sowie  in  der 
Tagespresse  zur  Veröffentlichung  gelangt  sind.  Er  hat  diesen  Zweck 
femer  verfolgt  durch  vielfache  Petitionen  und  Anträge  an  die  Gre- 
setzgebungsoi^ane  des  Reiches.  Nach  dem  Preufsischen  Landrecht 
ist  dieser  Verband  zu  den  unerlaubten  Privatgesellschaften  (L.R.  T. 
n  Titel  6  §§  3  fr.)  zu  zählen.  Nach  §  8  des  preußischen  Vereins- 
gesetzes müfste  dieser  Verband,  ebenso  wie  die  in  demselben  ver- 
einigten einzelnen  industriellen  Vereine  aufgelöst  und  gegen  die 
Mitglieder  Strafverfolgung  eingeleitet  werden.  Dies  ist  bisher  nicht 
geschehen,  wohl  aber  ergeben  die  Verhandlungen  des  Reichstages, 
dafe  das  Reichsamt  des  Innern  Beamte  zur  Teilnahme  an  den  Be- 
ratungen dieses  gesetzlich  verbotenen  Verbandes  delegiert. 

Aehnliches  gilt  von  einer  langen  Reihe  anderer  deutscher 
Untemehmcrverbände,  die  sich  mit  ..politischen  Gegenständen  '  be- 
fassen. '1  Kein  einziges  von  den  vielen  oberstrichterlichen  Urteilen, 
welche  die  „Verbindungen"  der  Arbeitergewerkschaften  behandeln, 
nennt  den  Namen  eines  der  in  derselben  Richtung  sündigenden 
Unternehmerverbände.  Damit  ist  den  Gerichten  kein  Vorwurf 


'}  Beispiele  in  jeder  Nummer  der  „Deutschen  Indastriezeitung". 


Digitized  by  Google 


Koalitkrasveeht  mid  Stnfiredit 


487 


gemacht,  denn  wo  kein  Kläger,  da  kein  Richter,  und  bisher  hat 
sich  noch  kein  Staatsanwalt  und  keine  Polizeibehörde  gefunden, 
welche  gegen  einen  Unternehmerverband  wegen  Verirrung  auf  das 
politische  Gebiet  vorgegangen  wären.  Dafs  gewerbliche  Unter- 
nehmer\''ereine  und  A'erbänclc  die  staatlichen  Verbindungsverbote 
nicht  beachten,  ist  bei  der  modernen  r\ntwicklung  der  Industrie, 
welche  Zusammenfassung  aller  Kräfte  und  einiieitliches  \''orgehen 
in  Fragen  des  nationalen  und  internationalen  Marktes  verlangt  und 
ohne  Eingriff  des  St;uates  vielfach  ihr  Ziel  nicht  erreichen  kann,  ganz 
natürlich.  Die  wirkliche  Geltendmachung  des  Verbinduugsverbotes 
seitens  der  staatlichen  Organe  gegen  die  Unternehmerverbände  würde 
die  mifslichsten  Folgen  herbeifuhren.  Es  soll  daher  auch  deswegen 
gar  kein  Vorwurf  erhoben  werden,  dals  die  Verwaltungsbehörden 
eine  gesetzliche  Bestimmung,  die  den  modernen  Verhaltnissen  gegen- 
fiber  ohne  Schaden  nicht  durchführbar  ist,  nicht  anwenden.  Dagegen 
ist  es  eine  die  Arbeiterklasse  mit  Recht  erbitternde  Un  gerecht  ig- 
keit,  daCs  die  gleiche  gesetzliche  Bestimmung  gegen 
der^n  Verbände  zur  Anwendung  kommt,  obwohl  sie  hier 
ebenso  widersinnig  ist,  wie  gegenüber  den  Interessen  der  Unter- 
ndmierveib&nde.  Dies  um  so  mehr,  wenn  diese  Unternehmerverbände 
sich  nicht  blofe  als  Verbände  von  Warenproduzenten  und  Waren- 
verkäufern darstellen,  sondern  als  Arbeitgeber  verbände  und 
sich  die  Aufgabe  setzen  — -  wie  dies  nicht  nur  durch  den  Zentral- 
verband der  Industriellen  Deutschlands  geschieht  —  die  „Arbeits- 
verhältnisse zu  regeln".  Dann  wirkt  das  Verhalten  der  Be- 
hörden als  eine  einseitige  Begünstigung  dieser  Arbeitgeberverbände 
gegen  die  Koalition  der  Arbeiter.  Man  versagt  dann  diesen  eine 
notwendige  Orgaiiisatiotisausdehnung,  die  man  jenen  gestattet.  Die 
Schärfe  des  Gesetzes  wird  einseitig  gegen  die  Arbeiterkoalitionen 
gewandt.  Die  Unternehmer  haben  nach  Lage  der  Sache  gar  kein 
Interesse  an  der  Aufhebung  des  Verbindungsverbotes,  im  (legenteil, 
es  ist  für  sie  wünschenswert,  dafs  es  fortbestehe ;  ihnen  wird  damit 
nicht  geschadet,  wohl  aber  wird  ihnen  die  Sprengung  der  Arbeiter- 
koalitiuncn  erleichtert,  indem  der  §  152'  G.O.,  welcher  die  letzteren 
gestattet,  den  Arbeitern  gegenüber  auf  dem  Wege  des  Landes- 
rechtes „korrigiert"  wird.  Es  ist  aber  gewils  kein  erhebendes  Bild, 
den  Staat  beim  flagranten  Delikt  der  Grolsen  als  geladenen  höf- 
lichen Zuschauer  und  gleichzeitig  als  Rächer  des  gleichen 
Deliktes  der  Kleinen  und  Niedrigen  zu  sehen. 

2.  Von  dem  Versuche,  die  Gewerkschaften  als  Versicherui^s- 

Arelnv  fiir  ml  Geacctg cbtmff  u.  Stuia^  XIV.  3^ 


Digitized  by  Google 


488 


Theodor  Loevcnfeld, 


anstaltcn  der  Staatsaufsicht  zu  unterstellen  und  dieselben  von  der 
Genehmigung  der  obersten  X'crwaltungsbehörde  abhängig  zu  machen, 
kann  hier  abgesehen  werden,  weil  dieser  in  Preufsen  von  den  Be- 
hörden unternommene  Versuch  zwar  den  Gewerkschaften  groise 
Schwierigkeiten  bereitet  und  finanzielle  Opfer  auferlegt  hat,  aber 
im  übrigen  erfolglos  geblieben  ist,  da  die  Gewerkschaften  in  den 
verschiedenen  anlafsltrh  solcher  Versuche  geführten  verwaltungs- 
rechtlichen  und  stra4>rozessualen  Kämpfen  Sieger  geblieben  sind.') 

3.  Dagegen  konamt  als  eine  Waffe,  die  sich  bisher  praktisch 
ausschliefslich  gegen  die  Arbeiterkoalitionen  gerichtet 
hat,  §  IS3  G.O.  inbetracht 

§  153  bezweckt  den  „Schutz  der  Ari^eitswilligen".  Die  Praxb 
hat  indessen  die  Strafdrohungen  des  §  153  in  ausdehnendem  Sinne 
interpretiert  und  insbesondere  auch  auf  das  Verhältnis  von  Arbeitern 
zu  Unternehmern  angewendet;  sie  hat  ferner  diese  Strafdroliungen 
durch  Heranziehung  des  neben  und  hinter  denselben  stehenden 
gemeinen  Strafrechts  verschärft;  andrerseits  hat  man  auf  dem 
gleichen  VV'ege,  vor  allem  durch  die  Anwendung  des  §  366** 
St.G3.,  vermeintliche  l  ückcn  derselben  auszufüllen  versucht. 

Diese  strafrechtlichen  Drohungen  des  i;  153,  deren  Anwendungen, 
Erweiterungen  und  Krgänzungen  folgen  der  Uebung  des  Koalitions- 
rechtes auf  Schritt  und  Tritt.  Im  Reichstage  haben  die  Staats- 
sekretäre des  Innern  und  der  Justiz  die  in  der  Denkschrift  zur  \'or- 
lage  verarbeiteten  Berichte  der  deutschen  Staatsanwaltschaften  und 
Polizeibehörden  über  die  Erfolge  und  Milserfolge  der  gegen  Ar- 
beiterausschreitungen  gerichteten  strafrichterlichen  und  polizeilichen 
Thätigkeit  als  ein  allgemeines  „Bild  der  Arbeiterbewegung" 
bezeichnet  Das  ist  richtig,  wenn  auch  in  einem  anderen  Sinne  als 
es  gemeint  war.  Kriminell  ist  im  Grunde  den  Ver&ssern  der  Denk- 
schrift die  ganze  Arbeiterbewegung.  Sie  besteht  aus  lauter  straf- 
würdigen Handlungen.  Die  einen  konnte  man  schon  bisher  ver- 
folgen, flur  die  anderen  muls  ein  neues  Strafrecht  geschaffen  werden. 
Diese  Auffassung  war  wohl  auch  schon  bisher  die,  wenn  auch  un> 
bewulste,  Triebfeder  der  ausdehnenden  Anwendung  des  §  153. 

Im  folgenden  sollen  die  Bestimmungen  des  §  153,  die  sich  an 
denselben  anschliefsendc  Praxis  erörtert,  die  darin  enthaltenen 
Ansätze  zu  den  Bestimmungen  der  Vorlage  dargelegt,  sowie  im 
Anschlüsse  hieran  die  Möglichkeiten  geprüft  werden,  welche  für 


Vgl.  Legien  a.  a.  O.  S.  66  ff. 


Digitized  by  Google 


Kotlitioosreeht  und  Sbmfndit 


489 


eine  strafireic  L'cbunj;  des  Koalitionsrcclitcs  noch  iibrij^  bleiben. 
Die  Reclitsgrundlaci^o  des  bislicrif,fen  Sxslcnis  einer  den  §  153 
ausdchnciulcii,  verschärfenden,  ergänzenden  Rechtsanweiuhin^  ist  eine 
zweifelhafte  und  darum  diese  Praxis  selbst  nicht  sicher,  nicht  kon- 
secjucnt,  nicht  allgemein.  N'ui.nu  lir  tritt  in  (lestnh  der  Vorlage 
an  die  Stelle  des  §  153  und  des  sich  daran  ansciiliefsenden  Straf- 
apj)aratcs  ein  umfassenderes  System  von  zuj^lcich  wtsentlich  ver- 
schärften Strafdrohungen.  In  der  Vorlage  wird  die  bisher  z  \v  e  i  fe  1 - 
hafte  Praxis  gesetzlich  festgelegt  und  damit  zur  sicheren 
allgemeinen  Norm  erhoben,  diese  zugleich  aber  auch  durch  n  e  u  e 
schwere  Strafdrohungen  gegen  die  wichtigsten  Fälle  und  Arten 
der  l'ebung  des  Koalitionsrechtes  der  Arbeiter  bereichert.  Dieser 
ganze  Apparat  bedroht  I  landlungen,  welche  für  alle  anderen  Staats- 
angehörigen straflos  sind.  Neben  ihm  steht  das  gemeine  Straf- 
recht fiir  diejenigen  Handlungen,  welche  allgemein  als  strafbar 
gelten  und  bedroht  sind,  und  des  Ferneren  diejenigen  Einschrän- 
kmigeii  des  KoaUtionsrechte^  die  in  dem  öffentlichen  Vereinsrechte 
enthalten  sind.  Auch  diese  letztere  Schranke  wird  aber  durch  die 
Vorlage  weiter  befestigt  xind  erhöht 

A.  Die  Arbeiterkoalition  soll  die  Willens-  und  Handlungsfreiheit 
des  Albeiters,  welche  das  Gesetz  anerkennt,  verwirklichen.  Das 
Gesetz  thut  nichts,  um  ihr  hierbei  zu  helfen  und  sie  zu  fordern;  es 
stellt  der  Koalition  der  Arbeiter  insbesondere  nicht  etwa  jene  Zwangs- 
gewalt zur  Verfügung,  welche  es  den  Innungen  zur  Wahrung  ge- 
meinsamer Interessen  zur  Verfügung  stellt.  Die  Arbeiter  haben 
bisher  nicht  das  Recht,  einen  Bendsgenossen  zum  Beitritte  zur 
Koalition  zu  zwingen.  Aber  ebensowenig  ist  jemand  berechtigt, 
sie  an  dem  Beitritte  zur  Koalition  und  an  dem  Verbleiben  in  der- 
selben zu  hindern.  In  beiden  Richtungen  kann  nach  geltendem 
Recht  ein  geübter  Zwang  keinen  Anspruch  auf  Anerkennung  er- 
heben. Aber  nicht  alles,  was  das  Gesetz  nicht  anerkennt,  nicht 
alles,  was  das  Gesetz  nicht  erlaubt,  wird  vom  Gesetzgeber  ver- 
folgt und  bestraft  Das  gemeine  Strafrecht  enthält  das  Verzeichnis 
derjenigen  Handlungen,  welche  nicht  nur  unerlaubt,  sondern  auch 
g^en  jedermann  mit  Strafe  verfolgt  werden.  Dafs  unter  diesen  durch 
das  gemeine  Strafrecht  bedrohten  Handlungen  sich  diejenigen  nicht 
befinden,  welche  §  153  G.O.  bedroht,  ist  klar,  da,  wenn  und  soweit 
dies  der  V:\\\  wäre,  es  der  besonderen  Strafdrohung  des  §153 
nicht  bedurft  hätte.  „Körperlicher  Zw'ang,  Drohung,  Hhrverletzung, 
Verrufserklärung"  sind  in  der  That  dem  gemeinen  Strafrecht  unbe* 

3a* 


Digitized  by  Google 


490 


Theodor  Loewenfeld, 


kannt.  Das  St.G.B.  verfolgt  den  körperlichen  Zwan^  nur  unter  f^c- 
wissen  Umständen,  z.  B.  als  Mittel  zum  Kaub  (§  249),  die  Drohung 
als  Bedrohung  mit  einem  Verbrechen  oder  X'ergchcn,  als  Mittel  der 
Nötigung  (§§  240,  241)  oder  allgemein  als  Mittel  zur  Erpressung 
(§  253),  die  \'errufserklärung  in  keiner  Gestalt.  Ist  eine  dieser 
Strafthatcn  des  gemeinen  Strafrechles  für  oder  gegen  die  Zwecke 
einer  Arbeiterkoalition  begangen,  so  ist  dies  selbstverständlich  kein 
Schuldausschliefsungsgrund.  Aber  was  §  153  —  unter  ausdrück- 
lichem Vorbehalt  der  Verfolgung  nach  gemeinem  Strafrecht  - —  als 
körperlichen  Zwang,  Drohung,  Vemifserklärung  bezeichnet  und 
unter  seine  besondere  Strafe  stellt,  ist,  wie  bemerkt,  vom  Stand* 
punkte  des  gemeinen  Strafirechts  aus  straflos,  für  alle  Bevölke- 
rungsklassen straflos»  auch  für  die  Arbeiter,  wenn  es  sich  nicht 
um  Koalitionen  handelt,  fär  alle  anderen  ak  die  in  §  153  ge> 
meinten  Bevölkerungsklassen  auch  dann  straflos,  wenn  es  sich  um 
Beförderung  ihrer  Koalitionen  durch  solche  Mittel  handelt  Es  muls 
dies  hervorgehoben  werden  mit  Rücksicht  auf  eine  nicht  selten  vor- 
kommende und  den  Fürsprechern  des  Regierui^;sentwurfes  besonders 
geläufige  Behauptung,  daCs  die  Bekämpfung  des  in  §  153  ent- 
haltenen Sonderrechts  und  der  beabsichtigten  Verschärfung  de^elben 
vom  Standpunkte  der  Moral  aus  verwerflich  sei,  ja  den  Gegner 
solcher  Bestimmungen  in  den  Verdacht  bringe,  mit  solchen  Hand- 
lungen zu  sympathisieren.  Bei  den  Verhandlungen  über  die  Vor- 
lage hat  der  frühere  Reichstagspräsident  von  Levetzow  eine  solche 
Behauptung  ausgesprochen ;  er  erklärte :  „Niemand  kann  etwas  dagegen 
haben,  dafs  die  Gesetzgebung  es  hindere,  dafs  gegen  irgendwen  ein 
körperlicher  Zwang  ausgeübt,  eine  Bedrohung,  eine  Ehrverletzung 
gerichtet,  eine  Verrufserklärung  in  die  Welt  gesetzt  werde.  Das  ist 
ein  Recht,  auf  das  jedermann  Anspruch  hat;  und  wer  die  Be- 
stimmungen der  Gesetzesvorlage,  die  solchen  Unfug  ausschlieisen 
will,  für  unberechtigt  hält,  der  setzt  sich  dem  Verdachte  aus, 
ein  Freund  von  Zwang,  von  Beleidigungen,  von  Be- 
drohungen und  von  Verrufs crklärungen  zu  sein." 

Wäre  dies  richtig,  dann  würde  sich  Herr  v.  Levetzow  selbst, 
um  mit  ihm  zu  reden,  „dem  Verdachte  aussetzen,  ein  Freund  von 
Beleidigungen,  von  Bedrohung  u.s.w.  zu  sein.  Denn  auch  er  ver- 
langt nicht,  dafs  das  Gesetz  ,, solchen  I  riluf;"  überhaupt  aus- 
schliefse;  er  befürwortet  nur  eine  X'orlage,  welche  allen  Bevölkerungs- 
klassen, daher  auch  derjenigen,  welcher  er  selbst  angehört,  solchen 
Unfug  straffrei  hingehen  lassen,  dagegen  bei  denjenigen  Klassen, 


Digitized  by  Google 


KoalitioBsredit  and  Strafrecht. 


491 


mit  welchen  §  153  sich  beschäftigt,  bestrafen  will.  Sind  Zwang, 
Vemi&erklaning  u.  &  w.  strafwürdig,  dann  mufste  ihre  Kriminali- 
siening  im  aUgemeinen  Stra%esetxbuch  erfolgen  und  ohne  die 
Verklausulierungen  des  §  153  und  der  jetzigen  Vorlage. 

Was  würde  man  dazu  sagen,  wenn  jemand  vorschlagen  würde, 
das  Verbrechen  des  Mordes  oder  das  Vergehen  des  Betruges  aus 
dem  Strafgesetzbuch  zu  streichen  und  die  Strafilrohung  auf  die 
Handwerker  oder  auf  die  Kaufleute  zu  beschranken?  Man  kann 
sich  auch  nicht  darauf  berufen,  dals  dies  strafbare  Handlungen  seien, 
welche  bei  allen  Bevolkerungsklassen  vorkommen.  Denn  auch  die 
in  $153  unter  Strafe  gestellten  Handlungen  werden  ebenso  zahl- 
reich von  anderen  Bevölkerungsklassen  begangen  wie  von  Arbeitern. 
Wer  z.  B.  die  „Ehrverletzungen"  inul  die  „Verrufserklärungen", 
welche  in  den  durch  ,3ildung  und  Besitz"  ausgezeichneten  Klassen 
der  Bevölkerung  jahraus  jahrein  vorkommen,  registrieren  wollte,  der 
könnte  eine  viel  umfangreichere  Denkschrift  verfassen  als  die  mit 
der  Vorlage  dem  Reichstage  überreichte.  Man  könnte  sagen,  dafs 
die  „Ehrverletzungcn,  Verrufserklärungen"  u.s.  w.  des  §  153  im  ein- 
zelnen Falle  schwerere  l'  olgcn  für  die  N  ä  c  h  s  t  b  e  t  e  i  1  i  g  t  e  n  her- 
vorrufen, also  gefahrlichere  Thaten  seien  als  die  gleichen  Handlungen 
anderer  Klassen  —  abgesehen  nämlich  von  den  Folgen  für  die 
Aufrechterhaltung  oder  Zerstörung  von  Koalitionen,  von  denen  so- 
fort zu  sprechen  sein  wird.  Auch  das  ist  nicht  richtig.  Verrufs- 
erldirungcn  z.  B.  fuhren  in  den  sog.  höheren  Klassen  vidfisich  zu 
erheblich  schwereren  Folgen  als  in  den  Kreisen  der  Arbeiter. 

Allgemeine  strafrechtliche  Erwägu ngen  können  sonach  nicht 
dazu  (Uhren,  die  in  Frage  stehenden  Handlungen  gegen  eine  be- 
stimmte Klasse  zu  kriminalisieren,  wenn  man  deren  Einreihung  in  das 
gemeine  Stralrecht  und  damit  deren  Bestrafung  gegen  jedermann 
nicht  will.  Dagegen  ist  noch  zu  fragen,  ob  deren  Verfolgung  er- 
forderlich ist  im  Interesse  derjenigen  Zwecke,  welchen  das  Koalitions- 
recht dienen  soll.  Diese  Frage  ist  gegenstandslos.  Denn  §  153 
schützt  nicht  das  Koalitionsrecht  gegen  rechtswidrige  Vergewalti- 
gung und  L^nterdriickung.  Körperlicher  Zwang,  Drohung,  Ehrver- 
letzung und  Verrufserklärung  sind  nach  §  15  5  straflos,  wenn  diese 
Mittel  dem  Zwecke  der  Zerstörung  eines  bestehenden,  der  Verhintle- 
rung  eines  zu  grüntlcnflen  Koalitionsverbandes  dienen.  Nur  dann 
werden  diese  Handlungen  l)e  straft,  wenn  sie  dienen  sollen  zur 
Begründung  eines  Kualitionsverbandes  oder  zur  .-Xufrechterhaltiing 
und  Rettung  eines  solchen.    ^  153  entliält  also  ein  Ausnahnicrecht 


Digitized  by  Google 


492 


Theodor  Loc wen  leid, 


in  doppelter  Richtung:  nicht  nur  bestraft  diese  Gesetzbestiromung 
Handlungen  g^n  Angehörige  eines  bestimmten  Berufs»  welche  bei 
anderen  Unterthanen  des  Gesetzes  straflos  bleiben;  es  straft  audi 
diese  Handlungen  nur  dann,  wenn  sie  einer  vom  Staate  nicht 

nur  als  erlaubt,  sondern  auch  als  notwendig  anerkannten  Aufgabe 
dienen,  während  sie  straftrei  bleil>en,  wenn  sie  die  Vereitelung  dieses 
Zweckes  h(!  bei  führen  wollen.  Verweist  also  §  152  die  Koalition 
lediglich  auf  den  moralischen  Zusammenhalt  ihrer  Teilnehmer, 
so  privilegiert  andrerseits  153  die  (iewaltthaten ,  welche  sich 
gegen  eine  Konlition  richten,  durch  Befreiung  von  derjenigen 
Strafe,  welche  über  die  zum  Schutze  der  Koalition  verübte  (iewalt 
verhängt  wird.  Auf  diese  merkwürdige  Art  der  Hcschützung  des 
Koalitionsreciiles  habe  ich  l)ercits  vor  9  Jahren  hingewiesen  'j  bei  Be- 
sprechung des  ij  153  der  G.O.  in  der  Fassung  des  Entwurfes  vom 
6.  Juli  1890  (Anlage  1  der  Begründung  S.  18).  Der  F-ntwurf  der 
Novelle  von  1890  enthält  diese  Privilegierung  der  gegen  die 
Koalition  gerichteten  Gewaltthatcn  ebenfalls.  Auch  die  Vorlage 
stellt  eine  Paritat  zwischen  dem  Koalitionszwai^  und  dem  gegen 
die  Koalition  gerichteten  Zwang  nur  scheinbar  her. 

§  153  bedroht  nur  den  von  Genossen  der  Gezwungenen,  den 
von  Arbeitern  gegen  Arbeiter,  von  Grewerbetretbenden  gegen  Ge- 
werbetreibende zur  Aufrechterhaltung  oder  Begrihidung  der  Koalition 
geübten  Zwang.  Das  Gesetz  will  zwar  nicht  die  Freiheit  der  Aus- 
übung, aber  die  Freiheit  der  Nichtausübung  des  Koalitionsrechtes 
beschützen.  Es  bedroht  daher  Zwang  mit  Strafe,  ob  er  geübt 
wird  von  Gewerbetreibenden  gegen  Gewerbetreibende  oder  von  Ar- 
beitern gegen  Arbeiter.  Auch  diese  Parität  ist  nur  scheinbar 
vorhanden.  Wie  die  früheren  Koalitionsverbote  und  Koalitions- 
strafen des  preussischen  ( iewc  rbegcsetzes  sich  auch  grundsätzlich 
g^en  die  Arbeitgeber  kehrten,  aber  praktisch  gegen  dieselben  keine 
Bedeutung  hatten,  *)  so  ist  dies  auch  bei  153  (i.O.  der  Fall.  Die 
(iründe  sind  sehr  maniii'^talii  und  teihveile  bereits  aus  dem  \  or- 
stehenden  ersichtlich.  Zunächst  bedürfen  die  Unternehmer  der 
Koalition  weni-jer  als  die  .Arbeiter.  Sodann  sind  die  Unternehmer 
inbezug  auf  die  Gründung  und  Aufrcchterhaltung  einer  Koalition 

')  In  (liorm  .\rihiv  Bd.  III  S.  472-474. 

*)  Vgl.  Strnographisriu'  Herjchle  des  preuls.  Abgeordnetenhause»  über  den  An- 
trag von  Schulde- Delitzsch  betr.  das  Koalition; recht  der  Arbeitgeber  and  Arbeiter 
(1865).  Berlin,  W.  Mocser.   S.  15,  16. 


Digitized  by  Google 


Kealftioinredit  und  Stnfirccbt 

günstiger  gestellt  als  die  Arbeiter.  Schon  die  Motive  zum  preufsischen 
Koalitionsgesetze  von  l866  stellten  fest,  dals,  ialls  der  Unternehmer 
zur  Koalition  schreitet,  „die  Verabredung  auf  weniger  Teilnehmer 
beschränkt  und  vermöge  dieses  Umstandes  und  vermine  der  Mittd, 
die  die  gröfsere  Umsicht  und  gröfseres  Vermögen  gewahren,  in  der 
Stille  eingeleitet  und  durchgeführt  werden  kann,  ohne  dafs  sie 
nachweisbar  ist".  Dies  trifft  auch  jetzt  noch  zu  und  ist  mit 
Rcclit  bei  den  Reichstagsvcrhandlungen  über  die  \'orlagc  hcrvor- 
eciioben  worden.  20  Unternehmer  können  sich  leichter  verstäntlii/en 
und  sind  leichter  zusammenzuhalten  als  2000  Arbeiter,  zumal  im 
Ernstfalle  von  den  Mitgliedern  der  Arbeiterkoalition  schwerere  Opfer 
verlangt  werden  als  von  Unternehmern.  Es  liegt  nahe,  dafs  anderen 
Zwecken  gesetzlich  gewidmete  Organisationen,  wie  die  Berufs- 
genossenschaften der  Unfallversicherung  auch  zu  Verabredungen  gegen 
die  Arbeiter  iobezug  auf  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  benutzt 
werden.  Darauf  deutet  z.  B.  das  zeitliche  und  ortliche  Zusammen- 
treflfen  von  Verbandstagen  der  Berufsgenossenschaften  mit  Verbands" 
tagen  der  Kampforganisationen  der  Unternehmer.  Den  letzteren 
steht  aber  sogar,  wie  oben  S.  479  gezeigt,  die  Möglichkeit  offen,  eine 
ihnen  fär  andere  Zwecke  verliehenen  Zwangsgewalt  beruflicher 
Organisation  zum  Zwecke  der  R^felung  der  Arbeitsbedingungen  im 
Kampfe  g^en  die  Arbeiter  offen  zu  benützen.  Sie  haben  femer  es  in 
der  Hand,  manche  Zwangsmittel  versteckt  zu  üben,  welche  den 
Arbeitern  verschlossen  sind,  da  diese  mit  Rücksicht  auf  ihre  gröCiere 
Zahl,  insbesondere  die  Mängel  ihrer  Organisation,  aber  auch  aus 
anderen  Gründen  der  Oeffentlichkeit  und  des  öffentlichen  Vor- 
gehens bedürfen,  während  die  Unternehmer  den  VN'cg  vertraulicher 
Korrespondenz,  des  Telegramms  oder  Telephons  wählen  können.  Aus 
alledem  iäfst  sich  indessen  die  Thatsache  nicht  vollständig  er- 
klären, dafs  l)isher  fast  keine  \''erfolgung  \  on  Unternehmern  wegen 
Vergehens  wider  §  153  zu  konstatieren  ist,  obwohl  halle  solcher  Ver- 
gehen in  grofserZahl  öffentlich  festgestellt  und  in  der  Presse  bc- 
s|)roclien  worden  sind.  Ich  ilcnkc  hierbei  zunächst  an  die  bekanntlich 
häufig  \on  Unternehmerverbänden  geübte  Praxis,  gegen  Rücktritt 
von  der  Koahtion  sich  dadurch  zu  sichern,  dals  jedes  Mitglied  der 
Koalition  einen  „trockenen  Wechsel"  bei  dner  Gesct^ftsstelle  htnto^ 
legt,  welcher  für  den  Fall  der  Zuwiderhandlung  gegen  die  —  nach 
§  152  n  nicht  bindenden  — Verabredungen  begeben  und  einge- 
klagt wird.  Vgl.  oben  S.  477, 478.  Die  Aufforderung  zur  2^1ung  unter 
Klageandrohung  ist  hier  nicht  blofe  nach  §  153  der  G.O.,  sondern  auch 


üiyiiized  by  Google 


Theodor  Loewenfeld, 

nach  §  253  St. G.B.  strafbar.  Es  ist  ferner  z.  B.  eine  seit  Jahren 
immer  häufiger  werdende  Uebung,  den  Koalitionsverband  dadurch 
aufrecht  zu  erhalten  oder  den  Beitritt  zu  demselben  zu  erzwingen, 
dafs  widerstrebenden  Unternehmern  die  Entziehung  der  zur  Ge- 
werbeausübung erforderHchen  Materialien  angedroht  und  der 
Drohung  durch  vor  gängige  Verabredung  mit  den  .Materialliefe- 
rantcn  Xachdruck  und  Erfolg  verliehen  wird.  Drahtstiftfabrikanten 
wurde  die  Vorenthaltung  des  zur  Gewerbeausübung  erforderlichen 
Drahtes,  Maurermeistern  die  Entziehung  der  Ziegel-,  Kalk-  und 
sonstigen  Materiallieferung,  Fafsfabrikanten  die  Entziehung  des  nötigen 
Holzes  angedroht  und  diese  Drohung  für  den  hall  des  Fernbleibens  oder 
Rücktrittes  von  der  Koalition  auf  Grund  der  vorher  mit  den  Liefe- 
ranten dieser  Materialien  abgeschlossenen  Verträge  auch  ausgeführt. 
Die  betreffenden  Fälle  sind  in  der  Fach-  und  in  der  Tagespresse  be- 
sprochen und  dadurch  zur  allgemeinen  Kenntnis  gelangt.  Insbesondere 
die  Drohung  der  üibterialentziehung^  fUr  Neubauten  ist  ein  belidytes 
Mittel  bei  Bauarbeiterstrikes,  diejenigen  Bauarbeitgeber,  welche  sich  den 
Forderungen  der  Arbeiter  f üge  n  wollen,  hiervonabzuhalten,  also 
der  Koalition  der  Bauunternehmer  beizutreten  oder  in  derselben  zu  ver- 
bleiben. Es  ist  aber  kein  Fall  einer  Strafverfolgung  bekannt  geworden. 

Nach  Wortlaut,  Zweck  und  Geschichte  des  §  153  bedroht  der- 
selbe, wie  erwähnt,  nur  den  Zwang  zur  Koalition,  den  Zwang, 
welcher  bezweckt,  den  Beitritt  zu  einer  Koalition  herbeizuführen 
oder  den  Rücktritt  von  derselben  zu  verhindern.  §  153  will  hiemach 
die  Bestimmung  des  §  152*  unter  strafrechtlichen  Schutz  stellen. 
Mit  dem  Gesetz  steht  in  Widerspruch,  daüs  ein  nicht  von  Berufe* 
genossen  gegenüber  Beruisgenossen,  sondern  gegenüber  dem  Koali- 
tionsgegner geübter  Zwang  unter  die  Strafe  des  §  153  gestellt 
wird.  Eine  Bestrafung  dieses  Zwanges  bedeutet,  wie  mit  Recht 
gesagt  worden  ist,  die  Bestrafung  der  Teilnahme  am  Strike  über* 
haupt  und  damit  die  strafrechtliche  Verfolgung  jeder  Arbeiter- 
koalition för  den  Fall  des  Strikes.  Ein  Strike,  bei  welchem  nicht  dem 
Arbeitgeber  gegenüber  „gedroht"  wird,  ist  überhaupt  undenkbar;  die 
Arbeitseinstellung,  wenn  sie  auch  vollkommen  rechtsmäfeig  und  unter 
Einhaltung  flcr  Kündigungsfrist  erfolgt  ist,  mufs  für  den  Arbeitgeber, 
sofern  die  Arbeiter  an  dieselbe  eine  Hoffnung  knüpfen,  die  Vor- 
stellung eines  Schadens  oder  einer  Unannehmlichkeit,  also  ihre  Ankün- 
digung eine  Drohung  bedeuten;  denn  um  dem  eigenen  Arbeitgeber 

>)  VgL  HeinenAnn  in  der  Nation  1899.  Nr.  33  S.  338. 


Digitized  by  Google 


Koalitioiisradit  «nd  StmfMcht 


495 


getSllig  zu  sein  oder  ihm  einen  Vorteil  zuzuwenden,  striken  die  Ar- 
beiter gewifs  niemals,  —  wenn  es  auch  voricommt,  dals  ein  Strike  von 
Arbeitern  im  Interesse  und  auf  Veranlassung  anderer  Arbeitgeber 
desselben  Gewerbes  angekünd^  und  durchgeiiihrt  wird,  um  den  Voll- 
zog von  Tarifvereinbarungen  und  anderen  kollektiven  Vorträgen 
gegen  sich  fernhaltende  oder  Vertragsbrüchige  Unternehmer  zu  sichern. 
Wenn  also  die  Arbeiter  eine  Arbeitseinstellung  ankündigen  und 
hierbei  i  h  rem  Arbeitgeber  sagen,  warum  un<l  zu  welchem  Zwecke 
sie  dies  thun,  so  müssen  sie  Immer  „drohen".  Ist  auf  das  \''er- 
hältnis  von  Arhcitj^ebtrn  zu  Arbeitern  und  umgekehrt  üljcrliaupt 
§  153  anwendbar,  so  fallt  jede  Strikeankündigung  untt-r  die  in 
§  153  mit  Strafe  bedrolilc  „Drohung".  Die  Denkschrift  .S.  06 — 99 
führt  eine  Reihe  von  l'rteilen  an,  in  welchen  §  153  auf  Handlungen 
angewendet  wurde,  wodurch  von  Arbeitern  gegenüber  Arbeit- 
gebern ein  Zwang  im  Sinne  des  §  153  geübt  worden  sein  solL 
Darunter  sind  Urteile  einer  Reihe  von  Oberlandesgerichten,  insbe- 
sondere des  Kammergerichtes  Berlin.  Ebenso  hat  auch  das  Reichs- 
gericht es  als  gleichgültig  erklart,  ob  diejenige  Person,  gegen  welche 
ein  Zwang  durch  eine  der  in  §  153  genannten  Handlungen  geübt 
wird,  ein  Berufisgenosse  des  Zwingenden  ist  oder  nicht  (Entscheidungen 
in  Stra&achen  Bd.  30  S.  359). 

Neuerdings  hat  das  Kammeigtricht  Berlin  diese  Anschauung 
mit  Recht  verlassen.  —  Auch  bei  dieser  gegen  §  153  versto(senden 
Praxis  der  Gerichte  fallt  in  die  Augen,  dafs  sie  sich  bisher  aus- 
schlicfslich  gegen  die  Arbeiter  gerichtet  hat 

B.  In  Fällen,  wo  von  Arbeitern  einem  Unternehmer  mit  Arbeits- 
einstellung „gedroht"  wurde,  hat  die  (ierichtspraxis  indessen  sich 
nicht  auf  die  Anwendung  des  §  153  G.G.  beschränkt:  man  hat  in 
solchen  Fällen  auch  wegen  Erpressung  bestraft  und  die  bürger- 
lichen Ehrenrechte  aberkannt. 

Vorbiklhch  für  diese  Praxis  ist  das  Urteil  des  R.(  i.  in  K.  f. 
Strafs.  FW.  21.  S.  1146'.  (1891 1.  In  dem  Urteile  ist  festgestellt,  dafs 
die  strikenden  Arbeiter  vertragsgcmäfs  das  Recht  hatten,  jeder- 
zeit die  Arbeit  ohne  Kündigung  niederzulegen,  und  andrerseits 
ebenso  jederzeit  von  dem  Arbeitgeber  ohne  Kündigung  entlassen 
werden  konnten.  Festgestellt  ist  ferner,  dads  auf  Veranlassung  der 
Strikenden  die  Arbeitervereinigung,  zu  welcher  dieselben  gehörten, 
zum  Arbeitgeber  mehrere  Mitglieder  (die  „Lohnkommission")  ab- 
ordnete, um  demselben  zu  eröffnen,  dais  für  den  Fall  der  Nicht- 
erfüllung einer  gestellten  Lohnforderung  (in  den  betreffenden  Fällen 


Digitized  by  Google 


1 


Theodor  Loeweafeld, 

ein  Lohn  fiir  eine  Zeit,  während  welcher  der  Arbeitgeber  nicht 
hatte  arbeiten  lassen,  bezw.  in  einem  Falle  die  Arbeiter  entlassen 
hatte)  die  Arbeit  in  seinem  Betriebe  nicht  wvirdc  aufj^'cnommen 
werden.  Der  Arbeiti^eber  war  berechtigt,  diese  I'orderung  abzulehnen, 
die  Arbeiter  waren  bcrcchtiL^t,  fiir  den  Fall  der  Ablehnung  die 
Arbeit  nicht  wietler  aufzunehmen.  Das  Reichsgericht  bezeichnet  als 
festgestellt,  „dafs  den  Arbeitgebern  hiermit  etwas  angedroht  wurde, 
was  von  ihnen  als  Uebel  empfunden  werden  sollte  und  empfunden 
wurde  und  dessen  Androhung  nach  dem  Willen  der  Angeklagten 
bezweckte  und  bewirkte,  einen  Zwang  auf  den  Willen  der  Arbeit- 
geber zu  üben''.  Das  Reichsgericht  anerkennt,  dals  §  105  der  G.O. 
den  Vertragsschltefsenden  bei  Eingehung  des  Arbeitsvertrages  volle 
Vertragsfreiheit  gewährt  und  dafs  deshalb  der  Arbeiter  rechtlich 
nicht  behindert  ist,  das  Angebot  seiner  Arbeitsleistung  an  will- 
kUrliche  Bedingungen  zu  knüpfen.  Man  sollte  nun  glauben, 
dals  diesem  Grundsatze  gemäls  die  Arbeiter  gethan  haben,  was 
ihnen  zustand.  Der  Umstand,  dafs  eine  „Lohnkommission"  als 
Vertreterin  der  Arbeiter  auftrat,  kann  doch  an  der  materiellen  Sach- 
lage nichts  ändern,  da  dieselbe  ja  nur  namens  der  Arbeiter  mit- 
teilte, daCs  diese  zur  Wiederaufnahme  der  Arbeit,  also  zum  Abschlüsse 
eines  neuen  Vertragsverhältnisses,  nur  unter  bestimmten  Bedingungen  1 
bereit  seien,  unter  anderen  dagegen  nicht.  Das  Auftreten  der  Lohn- 
kommission an  .'Stelle  der  unmittelbar  beteiligten  .Arbeiter  ist  auch 
an  sich  nach  dem  l'rteile  des  Reichsgcrichcs  gleichgültig.  Ent- 
scheidend nach  diesem  l'rteile  ist  die  Thatsache,  dafs  „ein  rechts- 
begrüiuicter  Anspruch  auf  (iewähruni^'^  einer  bestimmten  \'crglituiig 
nicht  1)  c  r  e  i  t  s  b  e  s  t  a  n  d  ,  als  die  !.<  »hnkoinmission  die  Forderungen 
der  .Arl)eiter  mitteilte  mit  der  .Atiküiidigung  der  eventuellen  Xicht- 
wiederaufnahme  der  .Arbeit.  ,..Soferne  ein  rechtsl)cgriindeter  .An- 
spruch auf  Gewährung  einer  l)estimmtcn  X'ergütung  niciit  bereits 
bestand,  gelangt  die  Straf be.stimmung  des  §  253  St.G.B.  zur  An- 
wendung, wenn  zur  Erlangung  der  bezeichneten  Vergütung  das 
Mittel  der  Nötigung  im  Sinhe  des  §  253  gebraucht  wird",  sagt  das 
Reichsgericht  Nun  ist  klar,  dafs  inkeinemPalle,  wo  ein  Vertrag 
erst  abgeschlossen  werden  soll,  bereits  der  „rechtsbegründete  An- 
spruch" för  eine  der  beiden  Parteien  besteht,  welchen  ihr  der  Vertr^ 
verschaffen  solL  Der  Kaufmann,  welcher  för  seine  Ware  einen  be- 
stimmten Preis  verlangt  und  für  den  Fall  der  Nichtzahlung  dieses 
Preises  seine  Ware  dem  Kaufsliebhaber  nicht  überlä&t,  hat  vor  Ab- 
schluls  des  Kaufvertrages  noch  keinen  rechtsbegründeten  Anspruch 


Digitized  by  Google 


Koalitioasrecht  und  Stmfrecht. 


497 


auf  den  Preis,  ebensowenig  wie  der  Bankier,  welcher  iUr  Ein- 
•räumung  eines  Kontokorrentlcredites  von  dem  Kunden  aufser  dem 
Zins  die  sogenannte  Abscblufsprovision  verlangt,  einen  Anspruch  auf 
Zins  undPro%^ion  hat  Erpressung  ist  nach  dem  Reichsgericht 
gegeben,  wenn  ein  rechtsbegründeter  Anspruch  noch  nicht  bestand 
und  zur  Erlangung  desselben  das  „Mittel  der  Nötigung"  gebraudit 
wurde.  Das  „Mittel  der  Nötigung"  bestand  im  vorliegenden  Falle 
in  der  Weigerung  des  Abschlusses  eines  Arbeits- 
vertrages. Wenn  dies  ein  „Mittel  der  Nötigung"  gemä(s  §  253 
StG.B.  ist,  so  begeht  jeder  Kaufmann  Erpressung-,  der  seine  Ware  nur 
zu  bestimmtem  Preise  abgiebt.  Das  Reichsgericht  versucht,  sich 
dieser  naheli^endcn  Schlufsfolgerui^  durch  folgende  merkwürdige 
Ausfuhrung  zu  entziehen:  Es  sei  „zuzugeben,  da(s  von  dem  That- 
bestände  der  Erpressung  der  Fall  ferne  zu  halten  ist,  wenn  lediglich 
ein  Paktieren,  ein  gegenseitiges  Fordern  und  Verwilligen  unter 
Wahrung  beiderseitiger  Vertragsfreiheit  vorliegt.  Zur  Drohung  ge- 
hört der  Wille,  durch  Ankündigung  eines  Uebels  und  durch  die 
hierdurch  in  dem  anderen  erregte  Furcht  vor  ihrer  Verwirkhchung 
einen  Zwang  auf  dessen  Willen  auszuüben.  Wesentlich  verschieden 
davon  ist  die  Aufstellung  einer  Vertragsposition ,  die  dem 
antU-rcii  unter  Wahrung  der  I^Vcihcit  seiner  Hntschlicfsung  gc- 
niarlite  MitlcilnnL^  über  die  Brdingungcn,  unter  denen  der  Projtonent 
seincr>eils  eine  \'ertrag>leistung  zu  übernehmen  oder  sonst  eine 
Recfitsliaiidlung  auszuführen  gewillt  ist.  Im  einzelnen  I""alle  kann 
eine  konkrete  Aeulserung  ihrer  l^orm  nach  es  zweifelhaft  er- 
scheinen lassen,  ob  sie  der  einen  oder  anderen  Art  angehöre;  es 
kann  insbesondere  auch  eine  reine  \'ertragsf)osilion,  um  den  anderen 
zur  Annahme  geneigt  zu  machen,  mit  der  X'orstcllung  der 
dem  anderen  nachteiligen  Folgen  der  Ablehnung 
V  c  r  l)  u  n  d  e  n  werden,  ohne  d  a  f  s  s  i  e  d  a  durch  s  c  h  o  n  z  u 
einer  Drohung  wird,  durch  die  ein  W  i  1 1  e  n  s  z  w  a  n  g  g  e  - 
übt  werden  soll  "  Im  vorliegenden  halle,  sagt  das  Reichsgericht, 
kamen  nicht  \\  1  h.incllungen  über  zu  vereinbarende  Vertrags- 
bedingungen in  Frage.  „Vielmehr  sind  die  Angeklagten  B.,  Bl.  und 
M.  dem  S.  in  höhnischer  und  dreister  Weise  mit  der  einseitigen 
Aufforderung  und  Ankündigung  gegenübergetreten,  dafs  der  ge- 
forderte Arbettdohn  „noch  an  demselben  Tage  bis  Nachmittag  an 
die  Lohnkonunission  auszuzahlen  sei,  widrigenfalls  von  den  Arbeitern 
-gestrikt  wihrde"  (oder:  „widrigenfalls  die  Arbeit  von  den  Arbeitern 
am  nächsten  Morgen  nicht  wieder  au%enonunen  würde").   Nun  ist 


Digitized  by  Google 


498 


Theodor  Loewenfeld, 


klar,  was  das  Reichsgericht  unter  „Paktieren"  versteht,  wobei  Er- 
pressung nicht  gegeben  ist!  Die  „einseitige  Ankündigung"  einer 
bestimmten  Forderung,  von  welcher  nicht  abgegangen  wird,  ist 
nicht  Paktieren.  Erpressung  ist  also  dann  nicht  gegeben,  wenn 
der  eine  Kontrahent  dem  anderen  gegenüber  sich  darauf  einläfst, 
dats  gefeilscht  wird.  Erpressung  wäre  hiernach,  wenn  ein  Kauf- 
mann in  seinem  Geschäfte  anschreibt  „feste  Preise"  und  demgemafs 
in  seinem  Gewerbebetriebe  verfahrt.  Man  müfste  denn  sagen,  dafs 
es  einen  rechtHchen  Unterschied  macht,  dafs  der  Kaufmann  hierbei 
vielleicht  höflich  den  Kunden  anlächelt,  während  die  Arbeiter  bei 
ihrem  Festhalten  an  der  Forderung  in  „höhnischer  und  dreister 
Weise"  aufgetreten  sein  sollen!  An  der  Thatsache,  dals  auch  der 
fragliche  Kaufmann  nicht  „])aktiert",  k<)nntc  doch  sein  (loichts- 
ausdruck  nichts  ändern,  abgesehen  davon,  dals.  die  Arbeiter  in 
den  Augen  des  l  nternehmers  wohl  zumeist  danti  „dreist"  sind, 
wenn  sie  überhaupt  Forderungen  stellen.  Fs  ist  anzuerkennen,  dafs 
das  Reichsgericht  in  diesem  Urteile  lediglich  seiner  ständigen 
l'raxis  auf  dem  Gebiete  des  Frj^ressungsbegrifl'es  gefolgt  ist.  Hier- 
nach erfordert  der  Begrifil'  der  Rechtswidrigkeit  des  Vermögens- 
vortcils  auf  dem  Gel)icte  der  Flrprcssung  weiter  niciits  als  das 
Nichtl)estehen  eines  Rechtes  oder  eines  begründeten  Anspruchs 
auf  den  erstrebten  Vermogensvorteil  in  X'erbindung  mit  dem  Um- 
stände, dais  zu  dessen  Erreichung  das  Mittel  der  Gewalt  oder 
Drohung  angewendet  wird,  wobei  es  gleichgültig  ist,  ob  die  Drohung 
die  Ankündigung  einer  erlaubten  oder  unerlaubten  Handlung,  die 
Ausübung  eines  Rechtes  oder  einer  gesetziich  überhaupt  gleichgültigen 
Handlung  ist  Gleichgültig  ist,  ob  der  „rechtswidrige"  Vemiögensvorteil 
dem  angeblichen  Erpresser  selbst  zukommt  oder  einem  Dritten. 
Das  letztere  ist  in  §  253  direkt  ausgesprochen.  Infolgedessen  hat  das 
Reichsgericht  eine  Verurteilung  wegen  Erpressung  in  einem  Falle 
gebilligt,  in  welchem  jemand  einen  anderen  durch  die  Drohung, 
ihn  wegen  eines  ihm  zur  Last  gelegten  Did)Stahls  zur  strafrecht- 
lichen Verfolgung  zu  bringen,  zur  Zahlung  einer  Bulse  an  die 
Armenkasse  nötigte  (E.  in  Strafe.  26  Nr.  136  S.  354ff.).  Binding 
bezeichnet  dieses  letztere  Urteil  in  seinem  Lehrbuch  des  gem. 
deutschen  Strafrechts,  besonderer  Teil  I S.  205  als  „sehr  bedenklich", 
wahrend  er  dem  reich^^erichtlichen  &kenntnisse  gegen  die  Lohn« 
kommission  der  strikenden  Arbeiter  das  Lob  spendet,  dals  es  den 
»juristischen  Standpunkt"  gut  wahre.  Der  »Juristische  Standpunkt" 
ist  in  beiden  Urteilen  der  gleiche,  rein  formalistische;  er  fuhrt  dazu. 


Digitized  by  Google 


Koditioosredit  und  Strafirecht 


499 


flafs  über  die  Frage,  ob  eine  Strafbare  Handlung  vorliegt,  die  nach 
der  Anschauung  des  Volkes  infamiert,  auch  wenn  die  Ehren- 
rechte nicht  aberkannt  werden,  oder  eine  völlig  erlaubte  Handlung, 
Erwägungen  entscheiden,  welche  jede  Bestimmtheit  vermissen  lassen ; 
dafs  die  Fntsriieidmif^  im  einzelnen  Falle  von  dem  mehr  oder 
weniger  lempcrameiilvollen  oder  iiöflichcn  Auftreten  des  Angeklagten 
ahhäni^t ,  dafs  die  Entschcithin;^  jeden  ZusaiTitnenhang  mit  der 
nioralisciit  n  Qualität  der  Handlung  verliert  und  es  schliefslich  nicht  ^ 
blofs  dem  Rechtsunkundigen,  sondern  auch  dem  gebildeten  Juristen 
schwer  wird,  vorauszusagen,  ob  ein  bestimmtes  \'erhaltcn  als  er- 
laubt oder  aber  als  infamierendes  Delikt  beurteilt  werden  wird. 
Man  sollte  glauben,  dass  eine  Rechtssprechung,  die  zu  solchen  Er- 
gebnissen  auf  dem  Gebiete  des  Strafrechtes  liilut,  nidit  auf  dem 
fichtigen  Wege  sein  kann. 

Im  Reichstage  wurde  bei  den  Verhandlungen  fiber  die  Vor- 
lage von  den  Al^eordneten  Bassermann  und  Heine  auf  die  Ent- 
wicklung dieser  Erpressui^praxis  der  Landgerichte  und  des 
Reichsgerichtes  hingewiesen,  insbesondere  hatte  der  Abgeordnete 
Bassermann  ausgeführt:  „Wenn  diese  Rechtssprechung  sich  weiter 
entwickdt,  dann  ist  ja  klar,  dals  ein  ganz  grofser  Teil  des  Koali- 
tionsrechtes überhaupt  in  Frage  gestellt  ist.  Das  Reichsgericht  hat 
eine  Entscheidung  bestätigt,  in  der  ein  Mann  bestraft  wurde  wegen 
Erpressung,  weil  er  im  Auftrage  von  Arbeitern  einen  Lohntarif 
präsentiert  und  gesagt  hat,  für  den  Fall  der  Ablehnung  werde  die 
Sperre  über  den  Betrieb  eröffnet."  Mit  anderen  Worten:  die  Ar- 
beiter kündigen  für  den  I^'all  der  Ablehnung  ihrer  ^^)rdcrun!.;<■I1  den 
Strike  an  untl  kündigten  an,  dafs  sie  ihrer  Arbeiterkoalition  durch 
Verständigung  anderer  Arbeiter  die  erforderliche  Ausdehnung  geben 
werden.')  Der  Staatssekretär  Dr.  Nieberding  erwiderte  hierauf, 
man  solle  duch  aus  ein/einen  Urteilen  des  Reichsgerichtes  keine  all- 
gemeinen Schlüsse  ableiten.  Er  selbst  aber  hat  sofort  drei  Urteile  des 
Reichsgerichtes  angeführt,  die  vollständig  auf  dem  Boden  der  soeben 
enrahnten  Entscheidung  (Bd.  21  S.  ii4Üf.)  stehen.*)  In  allen  drei 
Fallen  hat  es  sich  darum  gehandelt,  dals  die  Arbdter  durch  eine 
Lohnkommission  für  den  Fall  der  Nichtannahme  der  von  ihnen  ge- 
stellten Lohnforderungen  Strike  und  Sperre  angekündigt  hatten.  Zu 
beidem  waren  sie  vollständig  berechtigt,  zum  Streik  auf  Ghund  des 


*)  SteB.  Ber.  S.  2669. 
*)  Seen.  Btt.  S.  S751. 


Digitized  by  Google 


500 


Theodor  Loewenfald, 


§  105  der  G.O.,  der  dem  Arbeiter  die  Vertragsfreiheit  ausdrücklich 
zuspricht,  zur  Sperre  auf  Grund  des  §  152  G.O.,  der  die  Koalition 

zur  Erlangun«:^  j:jünstiger  Arbeits-  und  Lohnbedin<Tunfjen  ausdrück- 
lich erlaubt  und  die  früher  bestehenden  Strafbestimmungen  aufhebt. 
Die  Arbeiter  haben  also  Vertrn^'sfreiheit  und  können  —  vorbehalt- 
lich des  W'uchergesetzes  —  für  ihre  Arbeitsleistun[^en  bclicbic^c  Hc- 
dingungen  von  Reciitswcgcn  stellen;  —  sie  haben  das  Koalitions- 
recht und  können  davon  Gebrauch  machen  zur  Krlangung  günstiger 
Lohnbcdiii'^ungen.  d.  h.  doch,  um  ihren  bezüglichen  Forderungen 
Nachdruck  zu  verleihen.  Wenn  sie  dies  aber  thun,  so  werden  sie 
wegen  Krpressung  bestraft,  sofern  sie  ihre  Forderungen  dem  Arbeit- 
geber mitteilen.  Dieser  Gefahr  können  sie  nicht  einmal  dann 
entgehen,  wenn  sie  jede  Mitteilung  an  den  Unternehmer  vermeiden 
und  es  diesem  überlassen,  sich  in  Vermutungen  darüber  zu  ergehen, 
warum  die  Arbeiter  strikcn  und  seinen  Betrieb  sperren.  J  )eiin 
wenn  er  sie  etwa  nach  dem  Grunde  fragen  und  sie  sodann  (  irund 
und  Zweck  der  Arbeitseinstellung  ihm  eröfifnen  würden  mit  der 
Bemerkung,  dafe  sie  an  diesem  Zwecke,  etwa  Lohnerhöhung,  fest- 
halten, so  wäre  dies  sofort  nach  dem  reichsgerichtlichen  Urteile 
wieder  eine  Hl^rohting",  soferae  der  Unternehmer  —  wie  natüriidi  — 
die  Fortsetzung  des  Strikes  und  der  Sperre  als  ein  „Uebd"  empfinden 
wüvde. 

Auch  bei  dieser  Gerichtspraxis  fallt  die  Einseitigkeit  auf; 
genau  die  gleiche  Verhaltensart  auf  der  Untemehmerseite  ist  bisher 
niemals  angeklagt  und  niemals  verurteilt  worden.  Empfinden  die 
Unternehmer  die  Arbeitseinstellung  der  Arbeiter  als  ein  „Uebel^ 
so  ist  gewUs  auch  die  Aussperrung  der  Arbeiter  durch  die  Unter- 
nehmer för  die  ersteren  ein  sehr  erhebliches  „Uebel".  Striken  die 
Arbeiter,  um  höheren  Lohn  zu  erhalten,  so  sperren  die  Unternehmer 
die  Arbeiter  aus,  um  eine  Lohnreduktion  oder  Verlängerung  der 
Arbdtszeit  durchzusetzen.  Auf  Arbeit  zu  geringerem  Lohne  oder 
auf  längere  Arbeit  zum  gleichen  Lohne  haben  die  Unternehmer 
ebensowenig  einen  „rechtsbegründeten  Anspruch",  wie 
die  Ari>eiter  auf  Lohnerhöhung  oder  Arbeitszeitverkürzung.  Teilen 
die  Unternehmer  ihre  Forderungen  den  Arbeitern  mit, 
indem  sie  Aussperrung  für  den  Fall  androhen,  dafs  sich  die  Arbeiter 
nicht  unterwerfen,  so  ist  das  nach  dem  reichsgerichtlichen  Urteil 
vom  6.  Oktober  1890  (Bd.  21  der  strafr.  Sammlung  S.  1  i4fif,)  eben- 
falls eine  Erpressung.  Dabei  tritt  besonders  jenes  Thatbestands- 
merkmal,  auf  welches  das  Reichsgericht  so  groises  Gewicht  legt, 


Dlgitized  by  Google 


Koalitioaircebt  und  Sbrnfredit. 


501 


in  einer  ungemein  j^Tofsfii  Zalil  von  Fällen  auf  das  schärfste  hervor: 
die  Ablehnung  der  Verhandlung  über  die  gestellten  Forderungen, 
die  Zumutung  der  unbedingten  Unterwerfung  unter  die  er- 
hobenen Forderungen.  F.ine  Anzahl  von  Unternehmerorganisationen 
hat  prinzipielle  Beschlüsse  dahin  gcfafst,  mit  ausstcändigen  Arbeitern 
nicht  zu  unterhandeln.  Die  ilein  \'.  N'crhanclstag  des  Zentral- 
verbandes der  Maurer  in  Berlin  vor;^'ckgtc  Strikestatistik  ent- 
hält die  Feststellung,  dafs  1808  die  L'nternciimcr  sich  in  109  Orlen 
in  Unterhandlungen  mit  den  Gehilfen  eingelassen  haben,  in  80  .'^trike- 
orten  dagegen  nicht.  Der  Vorsitzende  des  lnnungs\ crhandcs  der 
dcvit-^chcn  Baugewerkmeister  soll  auf  einem  X'erbandstagc  zu 
Breslau  den  .Ausspruch  gethan  haben:  „VVenn  Ihr  mit  den  Arbeitern 
paktieren  wollt,  so  braucht  Ihr  mich  nicht  zu  wählen."  Derselbe 
hat  kürzlich  auf  don  ersten  VerlMuidstage  des  von  dem  glekrhen 
Innungs\  erbande  neugegründeten  ArbeitgeberverbaAdes  der  Bau- 
gewerbetreibenden und  Bauunternclimer  Deutschlands  eine  allgemeine 
Aussperrung  der  Bauarbeiter  Deutschlands  als  die  einzig  richtige 
Maßregel  empfohlen,  um  ,J(uhe"  vor  den  Arbeitern  zu  bekommen. 
Bei  solcher  Auffassung  an  der  Spitze  der  Organisation  der  Bau- 
gewerbetreibenden  ist  es  nicht  verwunderlu:h,  dals  dieselben  in  so 
zahlreichen  Fallen  den  Arbeitern  gegenüber  das  Prinzip  des  Nicht- 
verhandelns,  des  einseitigen  Diktierens  ihrer  Forderungen  durchzu- 
fuhren suchen.  Bekannt  ist,  (laf-;  im  grofsen  Ilafcnarbeiterstrike  ZU 
Haniburg  die  Unternehmer  jeden  Vorschlag  zu  \'erhandlungen,  auch 
die  Intervention  der  Staatsbehörden,  auf  Grund  dieses  Nirhtv  crhand- 
lungsprinzips  zurückgewiesen  haben.  Vom  Rechtsstandpunkte  aus 
wäre  dagLL^cn  nichts  einzuwenden,  weim  nur  die  .Anwendung  des 
gleichen  riin/ijis  durch  die  Arbeiter  nicht  als  Erpressung  ge- 
brandmarkt  wurde. 

Bei  I'reundcn  und  (iegnern  der  X'orlage  ist  der  ( daube  ver- 
breilcl.  tials  eine  X'erurleilung  nach  ij  15^  (i.O.  oder  wegen  Kr- 
|)ressung  nach  i;  253  .St.Ci.B.  nicht  mehr  vorkonmien  könnte, 
wenn  die  X'orlage  /.um  (iesctz  erhtil)cn  würde,  dafs  dieselbe  also  hier 
einen  I-ortschritt  bedeute.  Dies  ist  nicht  richtig.  Auch  nach  der 
Vorlage  setzt  sich  eine  Lohnkommission  der  Verurteilung  wegen 
Erpressung  und  zwar  in  „idealem"  Zusammenfluß  mit  einer  Verur- 
teilung aus  §§  I,  3,  4  des  Gesetzentwurfs  aus,  wenn  sie  namens  der 
durch  sie  vertretenen  Arbeiter  dem  Unternehmer  einen  neuen  Lohn- 
tarif  überreicht  und  ftir  den  Fall  der  Ablehnung  den  Strike  ihrer 
Auftraggeber  ankündigt.   Was  bisher  eine  gegen  das  Gesetz  ver- 


Digitized  by  Google 


^02  Theodor  Loeweafeld» 

stofeende  Praxis  der  Gerichte  war,  die  Anwendung  des  Begriffes 
der  .^Drohung''  in  §  153  G.O.  auf  Drohungen  gegenüber  dem  Koa- 
litionsgegner, wird  in  der  Vorlage  zum  Gesetz  erhoben  und 
das  Gleiche  i^'ilt  von  den  anderen  Mitteln  des  Zwanges  des  §  153, 
der  Verrufserklärung,  Ehrverletzung  u  s.  w. 

Vor  allem  ist  die  Dehnbarkeit  und  Vagheit  des  Be- 
griffes der  Drohung  geeignet,  die  Rechtsanwendung  auf  Abwege 
zu  führen. 

Wenn  ein  ausständiger  Arbeiter  Arbeitswilligen  nachruft :  „Seht 
Kuch  die  Kollej^cn  an",  so  wird  dies  als  „Drohung"  mit  I  Monat 
riefänu,niis  bestraft');  die  Aeufserung  eines  strikenden  Maurers  zu 
einem  Rerufsj;enossen :  „Kollega,  ich  mache  Sie  darauf  aufmerksam, 
dafs  die  Maurer  hier  sinken",  war  „Droliung"  ').  Die  Aeufserung 
eines  .strikenden  Zimmermanns  zu  Arbeitswilligen :  Leute,  hier 
ist  Strike,  Ihr  seid  noch  jung  und  wifst  nicht,  was  Ihr  thut  — 
aber  hütet  Kucii'  ,  ist  als  mit  2  Monat  Gefänj^nis  zu  ahndende 
„Drohung"  erachtet  worden.'*)  Immerhin  ist  in  diesen  Fällen  fest- 
gestellt worden ,  dafs  irt^^endwer  irgendwen  „bedroht"  hat.  Die 
neuere  Gericlitspraxis  hat  auch  diese  heststellung  eines  bestimmten 
Bedrohten  nicht  mehr  als  erforderlich  erachtet.  Der  Bevoll- 
mächtigte einer  Gewerkschaftszahlstelle  wurde  wegen  Bedrohung 
vom  Schöffengerichte  Apenrade  zu  4  Wochen  Gefängnis  ver- 
urteilt und  sofort  verhaftet,  weil  er  den  Beschluls  der  betreffenden 
Gewerkschaft,  über  die  Werkstatte  eines  Meisters  die  Sperre 
zu  verhängen,  der  eine  von  allen  anderen  Gewerbetreibendea 
des  Faches  angenommene  Arbeits-Bedin>,amg  ablehnte,  in  einer 
Fachzeitung,  der  Holzarbeiteneitung,  aufbagsgemäfs  veröffentlichte 
und  die  Zahlstellenverwaltungen  ersuchte:  die  zureisenden  Kollegen 
auf  die  betreffende  Werkstatte  aufmerksam  zu  machen,  da  über 
dieselbe  die  Sperre  verhängt  sei.*)  Der  Verurteilte  hatte 
also  einen  Koalitionsbeschlufs  in  der  von  den  Grehilfen  gelesenen 
Fachzeitung  im  Auftrage  der  Koalition  veröffentlicht  und  dafür  ge- 
sorgt, dals  der  Beschlufs  den  Berufs-  und  Verbandsgenossen  zur 
Kenntnis  kam.  Wer  war  hier  bedroht?  Man  könnte  wohl  lange 
raten,  wenn  es  das  Urteil  nicht  verraten  wurde.  Bedroht  wurde 
durch  jene  Bekanntmachung  ein  Gehilfe  S.,  welcher  bei  dem  be- 

')  Vgl.  Heine  mann  in  der  „Nation  '  Nr.  24  (1899),  .S.  329. 
*)  Vgl.  Legicn,  Das  Koolitionsrecbt.  b.  all. 
*)  Vgl.  Legten  «. «.  O.  S.  211. 
*)  Vgl.  Legicn  a.a.O.  S.  291. 


Digitized  by  Google 


KoalitiaiisKeht  und  Stnfredtt 


503 


treffenden  Meister  Arbeit  erlangt  hatte  und  auf  die  Nachricht  von 
der  über  die  Werkstätte  verhängten  Sperre  dieselbe  verliefs;  er 
mufste  dies  nach  der  Annalunc  des  Urteils  thun,  weil  er  bei  Un- 
gehorsam gegen  den  Koalilionsbeschluls  fürchten  mufste,  aus  der 
Koalition,  dem  Gehilfenverbande  ausgeschlossen  zu  werden  und  die 
Unterstützung  seitens  desselben  zu  verlieren,  auch  von  Koalitions- 
genossen mehrfache  Unannehmlichkeiten  zu  erfahren.  Die  öffent- 
liche Mitteilung  tjcr  Sperre  seitens  der  Koalition  enthält  nach  dem 
Urteile  eine  Droh  u  ng  —  gegen  jedes  Mitglied  der  Koalition,  dalier 
auch  fiir  den  erwähnten  G«hflfen  S. 

Letzterer  war  aber  nun  überhaupt,  wie  nachträglich  festgestellt 
wurde,  nicht  Verbandsmitglied,  konnte  also  auch  als  Verbands- 
mitglied  nicht  bedroht  werden.  Das  Oberlandesgericht  Kid  be- 
stätigte trotzdem  das  schöiTengerichtliche  Urteil  auf  Revision  des 
Staatsanwaltes  gegen  das  freisprechende  Berufungsurteil.  Eine 
,J)rohung"  sei  genügend  festgestellt,  indem  der  Angeklagte  allge- 
mein den  Mitgliedern  des  Verbands  gedroht  und  durch  die  Ver- 
öffentlichung auf  einen  unbestimmten  grofsen  Personen- 
kreis eingewirkt  habe.  Wenn  also  Jemand  im  Auftrage 
eines  Verbandes  einen  erlaubten  Koalitionsbeschlufs  veröffent- 
licht, so  „bedroht"  er  hiermit  Mitglieder  und  Nichtmitgiieder  des 
Verbandes ! 

C.  Die  „Ehrver letzung"  des  §  153  O.O.  stammt  aus  dem 
preufsischen  Strafgesetzbuch  vom  14.  April  1851.  Der  13.  Titel 
desselben  handelt  von  den  „Verletzungen  der  Ehre"  und  §§  160 
bis  163  von  der  Bestrafung  einer  „Flhrverletzung"  im  allgemeinen. 
Unterarten  derselben  sind  die  „Heleidi^ung"  und  die  \\  rleumdung 
(Behauptiinj^  und  X'erbrcitung  uinvalner  1  hais.ichen  über  einen 
amkren,  welche  denselben  dem  Hasse  oder  der  Verachtunt,'  aus- 
setzen). .Aus  dem  preuls.  Strafgesetzbuch  von  1851  ist  die  ,,I'.hr\'cr- 
Ictzung"  zunächst  übergegangen  in  den  „Entwurf  eines  Handelsge- 
setzbuches für  die  preufsischen  Staaten"  Art.  Ol,  wonach 
„schwere  Ehrverletzung"  den  Handlung.sgchilfen ,  „erhebliche  Ehr- 
verletzung"  den  Prinzipal  zur  Aufhebung  des  Dienstverhältnisses 
berechtigt  Dieser  Entwurf  war  die  Grundlage  des  Allg. 
Deutschen  Handelsgesetzbuches;  die  Bestimmung  des  Art  61  des 
preufsischen  Entwurfes  entspricht  den  Bestimmungen  des  H.G£. 
Art  63,  64*,  nunmehr  den  Bestimmungen  des  neuen  Handels- 
gesetzbuches §§  71  ^  72  ^  Ebenso  war  nach  dem  Regierungsent- 

Archhr  fiw  mc  GtMUgebung  u.  SutiMik  XIV.  33 


üiyiü^ed  by  Google 


Theodor  Loeweiifcld, 


würfe  der  Gewerbeordnung  für  den  n  o  r  d  tl  e  u  t  s  c  h  c  n 
Buntl  114  „Ehrverlctzung"  ge^en  den  Arbeitsgeber  ein  (iriind 
für  sofortige  lüitlassung  des  (icluUcn,  währciul  nach  §  115 
der  Gehilfe  den  Dienst  dann  alsbald  verlassen  konnte,  wenn  der 
Arbeitgeber  „sich  thätlich  an  ihm  vergreift".  Auf  Grund  der  Be- 
schlüsse des  Reichstages  dagegen,  die  in  das  Gesetz  übergegangen 
sind,  war  nur  „grobe  Ehrverletzung"  begangen  am  Atbeitgehex 
oder  an  Mit^ifidem  seiner  Familie  ein  Grund  der  Entlassung  des 
.Gehilfen,  ebenso  aber  auch  „grobe  Ehrverletzung",  begangen  vom 
Albeitgeber  am  Gehilfen,  ein  Grrund  för  diesen,  den  Dienst  ohne 
Aufkündigung  sofort  zu  verlassen  (§§  114,  115).  Durch  die  No- 
velle zur  G.O,  vom  17.  Juli  1878  erhielten  die  §§  114,  115  »den 
nunmehrigen  §§  123  ^  124*  der  R.G.O.  ihre  jetzige  Fassung,  indem 
die  „grobe  Ehrverletzung"  durch  „grobe  Beleidigung"  ersetzt 
wurde. 

Dagegen  ist  §  153  der  G.O.  g  169  des  Regierungs- 
entwurfes —  §  147  der  G.O.  von  1869)  in  der  Fassung  des 
Regierungsentwurfes  vom  4.  März  1869  stehen  ge- 
blieben. Der  Gattungsbegriff  der  Ehrverletzung  des  preufk 
StG3.  von  185 1  erlitt  durch  seine  Aufnahme  in  §  153  der  G.O. 
eine  radikale  Aenderung  im  Gegensatz  zu  der  Ehrverletzung 
als  Kündigungsgrund  in  den  §§  123*,         der  G.O. 

Indem  der  Reichstag  bei  Beratung  der  Gründe  einer  auOser- 
ordentlichen  Kündigung  des  Arbeitsverhältnisses  —  entgegen  dem 
Regierungsentwurfe  —  nur  „grobe  Ehrverletzung",  welche  der  Ge- 
hilfe am  Gewerbsmeister  verübt,  als  einen  Entlassung^rund  er- 
achtete, ebenso  wie  nach  dem  H.G.B.  Art.  64  nur  eine  „erhebliche 
Ehrverletzung"  ein  Grund  zur  Entlassui^  des  Kommis  sein  sollte, 
war,  wie  das  R.O.H.G.  in  einem  Urteile  vom  30.  April  1873  (Seuflferts 
Arch.  Bd.  28  Nr.  156)  ausführt,  anerkannt,  „daCs  nicht  jede  be- 
leitlii;cnde  Aeufserung,  nicht  jedes  Schimpfwort  genüge".  Dies  gilt 
im  X'erhältnis  des  Arbeiters  zum  Arbeitgeber  wie  umgekehrt 
Andrerseits  soll  nach  jenem  Urteil  auch  nicht  die  Schwere  der 
beleidi<,fenden  Aeurserun;^^  für  sich  allein,  sondern  auch  der  Um- 
stand iiihetraclit  <^czo^^en  werden,  oh  und  inwieweit  die  beleidii^'ciide 
Aeulserung^,  welche  etwa  als  drund  der  AuHiei)iuv.;  des  Arbeits- 
vertrac^es  geltend  gemacht  wird,  durch  vorhergehende  seitens  des  Be- 
leiili;4ien  verübte  Beschimpfungen  provoziert  worden.  Ks  finden 
überhaupt  auf  die  Ehrverletzung  oder  nunmehr  Beleidigung, 
als  Grund  der  Aufhebung  des  Dicustvertragsverhältnjsses,  die  für  die 


Digitized  by  Google 


KoilitMNitredit  mul  Stnfredit. 


Strafrechtliche  Ahndung  der  Beleidigung  malsgebenden  Grundsatze 
Anwendung,  um  so  mehr  als  nach  den  Bestimmungen  der  G.O. 

eine  Beleidigjung,  die  zur  strafrechtlichen  Aburteilung  g[enügt,  zur 
Aufhebung  des  Dienstverhältnisses  nicht  einmal  immer  genügt,  so- 
feme  eine  „grobe  schwere  Ehrverlctzung"  verlangt  wird  (R.O^G. 
a.  a.  O.).  Aeufserungen ,  die  wahr  sind  oder  welche  zur  Ver- 
teidigung von  Rechten  oder  zur  Wahrnehmung  berechtigter  Inter« 
essen  gemacht  werden,  sind  daher,  sowie  sie  zu  keiner  Bestrafung 
nach  dem  St.G.B.  fuhren  können,  auch  ungenügend,  als  Grund 
für  die  Aufhebung  des  Dienstverhältnisses  zu  dienen.  Im  übrigoi 
•  ist  überall,  wie  im  gemeinen  Strafrecht,  Rücksicht  zu  nehmen 
auf  den  Bildungsgrad  und  die  Umgangsformen  der  Beteiligten,  eine 
Rücksicht,  die  dahin  führt,  nianche  Aeufserungcn  als  vollkommen 
belanglos  oder  als  keine  „grobe"  Beleidigung  zu  erachten,  die 
unter  anderen  Beteiligten  schwerste  Beschimpfungen  darstellen 
würden. 

Die  „Eh r ve r  1  e t z u n g"  in  t?  153  (i.O.  unterscheidet  sich 
wesentlich  von  der  „  B  e  1  e  i  tl  i  g  u  n  g  "  des  deutschen 
Strafgesetzbuches  und  der  §§  123,  124  G.O.  Zunächst  ist 
es,  entsprechend  der  Herkunft  dieses  Begriffes  aus  dem  preulsischen 
Strafrecht,  für  die  Annahme  einer  Elirvcrletzung  nicht  erforderlich,  dafs 
die  ehrverlctzende  Acufscrung  über  einen  arideren  geeignet  ist,  „den- 
selben verächtlich  zu  maciien  oder  in  der  (iftcntliciien  Meinung  herab- 
zuwürdigen" (St.G.B.  §§  186,  187) ;  esgcnügt,  wcrui  eine  Acufserung  über 
einen  anderen  denselben  einem  „I I  a  f  s"  aussetzt.  Des  weiteren  ergiebt 
sich  aus  Wortlaut  und  Zweck  des  §  153,  dafs  die  ehrverletzende 
Aeufserung  nur  dann  strafbar  ist,  wenn  sie  als  Mittel  dienen  soll, 
jemand  zu  bestimmen,  an  einer  Koalition  teilzunehmen  oder  bei 
einer  Koalition  zu  bleiben.  Der  Zweck  der  Gründung  oder  Erhal- 
tung einer  Koalition  zum  Behufe  der  Erlangung  günstiger  Lohn* 
und  Arbeitsbedingungen  ist  zwar  in  §  152  als  erlaubt  erklärt  und 
erscheint  daher  als  „berechtigtes  Interesse"  im  Sinne  des  §  193 
StG£.  Objektiv  beleidigende  Aeu&erungen,  welche  zur  Wahrung 
berechtigter  Interessen  gemacht  werden,  sind  nach  dem  Strafgesetz* 
buche  nicht  strafbar,  sofeme  nicht  auch  subjektiv  eine  Beleidigung 
gegeben  ist,  d.  h.  eine  Absicht  der  Beleidigung  anzunehmen  ist  §  153 
G.O.  erklärt  dagegen  umgekehrt  die  Absicht  der  Wahrung  eines 
bestimmten  berechtigten  Interesses  als  ein  Thatbestands- 
merkmal  seiner  Strafdrohung. 

Die  blofse  Ehrverletzung,  die  nicht  zugleich  eine  Be- 

33» 


Digitized  by  Google 


So6 


Theodor  Loewenfeld, 


leidigung  entsprechend  den  Bcstinimun^cn  des  StG3.  ist,  ist  für 
jedermann  straflos.  Sic  ist  auch  straflos,  wenn  sie  von  einem 
Arbeiter  an  einem  Arbeiter  zu  keinem  anderen  Zwecke  begangen 
wird,  als  zu  dem,  den  Verletzten  zu  ärgern  oder  ihm  zu  schaden 
oder  aus  blolsem  Uebermut  Strafbar  nach  §  153  wird  die  Khr' 
Verletzung  erst  dann,  wenn  sie  einem  bestimmten  löblichen 
Zwecke  dient,  eben  jcnrm  Zwecke,  welchen  das  Gesetz  selbst  in 
§  152  als  erlaubt  erklärt  und  welcher  nach  gemeinem  Strafrecht 
einen  Gegenstand  „berechtigter  Interessen"  darstellt.  Nicht  die  Khr- 
Verletzung  als  solche  ist  daher  in  ij  153  bedroht,  sondern  die 
P-hrvcrletzuiu,'  als  Mittel  zur  Aufrecliterhaltung  oder  Begründung 
eines  Koalitionsv  erbandes.  Dagegen  bleil)l  die  l'.lirverlet/.ung  wieder 
straflos,  wenn  sie  als  Mittel  /um  e  11 1  g  e  gc  n  g  e  s  c  t  /  t  e  n  Z  w  c  c  k  e , 
dem  Zwecke  der  \  crhindcrung  oder  Zerstörung  eines  KoaUtions- 
verbandes  dienen  soll. 

Auch  nach  der  V^orlage  ist  die  lihrvcrlclzung  an  sich  straflos; 
sie  wird  auch  nach  der  X'orlage  strafbar  erst  durch  den  Zweck,  zu 
welchem  sie  begangen  wird.  Sie  wird  strafbar  durch  den  Zweck 
der  Heschützuiig  und  Hefiwtlei  ung  eines  Koalitions\erbandes ,  sie 
wird  aber  auch  strafbar  durch  den  entgegengesetzten  Zweck,  der 
Hinderung  oder  Zirstin  iing  eines  Koalitionsverbandes.  Nur  wird 
unter  Umständen,  wenn  die  h.hrvcrlelzung  einer  Koalition  dienen 
soll,  dieselbe  härter  bestraft,  als  wenn  sie  ihr  schaden  soll;  in  den 
Fällen  des  §  8  wird  die  Khrverletzung  zu  erstercm  Zwecke  mit 
Gefängnis  bis  zu  iunf  Jahren  und  mit  Zuchthaus  bis  zu  fünf  Jahren 
bedroht,  während  die  zur  Wirkung  gegen  eine  Koalition  bestimmte 
Ehrverletzung  mit  Gefängnis  bis  zu  einem  Jahre  bedroht  wird.  Im  Falle 
des  §  2  wird  die  „Ehrverlctzung",  womit  jemand  seine  Mahnung 
zur  Nachgiebigkeit  und  zum  Frieden  veretarkt,  mit  Ge* 
iangnis  bis  zu  einem  Jahre  bedroht,  w<^^en  derjenige,  welcher  den 
Friedensstifter  durch  Ehrverletzung  bekämpft,  straflos  bleibt 
Darüber  des  Genaueren  weiter  unten. 

Der  Begriff  der  Ehrverletzung  steht  aufserhalb  der  Begriffe  und 
Anschauungen  des  gemeinen  Strafrechtes;  er  ist  in  der  Gestaltung, 
die  er  in  §  153  erfahren  hat  und  noch  mehr  in  der  Gestaltung 
durch  die  Vorlage  eine  strafrechtliche  Anomalie.  Wie  weit  sich  der 
Begriff  der  Ehrverletzung  von  dem  Boden  des  gemeinen  Strafrechtes 
entfernt,  kann  man  daraus  ermessen,  da&  der  Schutz  der  Berufung 
auf  berechtigte  Interessen  sogar  bei  Majcstätsbeleidigungen  aner- 


Digltized  by  Google 


Koalitionncdit  und  Stnfredit 


507 


kannt  ist.*)  Man  sollte  glauben,  dafs  tlcrjenige,  welcher  durcli  Khr- 
verlctzung  einen  „gemeingefährlichen",  die  „Sicherheit  des  Reichs" 
bedrohenden  Strike  zu  verhindern  sucht,  hierfür  keinen  Tadel 
und  keine  Strafe  verdient.  Die  X'orla^^e  f)estraft  ihn  mit  Gefängnis 
bis  zu  einem  Jahr,  dafür  aber  allerdings  auch  seinen  ( rc;^aier,  welcher 
den  Strike  auf  dem  gleichen  Wege  herbeiführt,  ei)eiifalls  und  zwar 
mit  ( lefängnis  bis  zu  fünf  und  mit  Zuchthaus  bis  zu  fünf  Jahren. 

Iliernarh  wird  als  Klirverletzung  gestraft,  was  nach  gemeinem 
.Strafrcclile,  .luch  bei  \'orliegen  des  Antragserionlcrni^ses  nicht  ge- 
straft werden  könnte,  gleichviel  gegen  wen  sich  die  hhiAcrU  tzung 
richtet,  Aeufserungen ,  die  straflos  bleiben,  wenn  sie  sich  gegen 
Kaiser,  Landesherm,  Bundeslursten,  gesetzgebende  Körperschaften, 
Beamte  oder  Privatpersonen  richten.  Da&  ein  solch  abnormer 
Begriff  der  Rechtsanwendung,  die  mit  demselben  zu  operieren  hat, 
zum  Verderben  gereicht,  liegt  nahe,  umsomehr  als  die  Ge* 
richte  durch  das  Gesetz  selbst  darauf  hingewiesen  werden,  Be- 
strebungen zur  Gründung  und  Erhaltung  von  Koalition  als  etwas 
Schädliches,  strafrechtlich  zu  Bekämpfendes  anzusehen.  Daraus  er- 
klären sich  dann  Urteile,  welche  allenthalben  in  den  Kreisen  des 
Volkes  berechtigtes  Aufsehen  erregen.  Eine  Notiz  in  einem  Arbeiter- 
blatte  lautet:  ,JDie  und  die  Kollegen  handeln  gegen  unser  Interesse 
und  unterstützen  die  Unternehmer."  Der  Arbeiter,  welcher  .die 
Notiz  verfaCste,  der  Redakteur,  welcher  sie  aulhahm,  wurden  wegen 
Ehr\  erletzung  zu  je  vier  Wochen  Gefängnis  verurteilt.  Hin  Arbeiter, 
welcher  nn  ArheitswilHge  die  Mahnung  richtete,  die  Arbeit  einzu- 
stellen, mit  der  Hcnurkun-^f ,  „es  sei  nicht  schön,  KollcL.'cn  in  den 
Rücken  zu  fallen,"  erhielt  einen  Monat  (lefängnis.  Die  Bezeichnung 
als  S  t  r  i  k  e  1)  r  c  c  her,  die  ledit,'Iich  den  s  u  b  s  t  a  n  t  i  v  i  e  r  t  e  n  V  o  r  - 
halt  einer  wahren  1  hatsache,  der  Thatsache  des  Strike- 
bruches,  darstellt,  wird  in  eirier  Reihe  von  Urteilen  mit  mehreren 
Wochen  ( icfangnis  gesühnt. 

Durch  die  Uebcrnahme  des  Begriffes  der  „Ehrverletzung"  in 
die  Vorlage  wird  ein  Zustand  geschaffen,  der  die  Erörterung  eines 
Strikes,  die  Beratung  über  Beginn  oder  Nichtbeginn,  Fortsetzung  oder 
Beendigung  desselben  für  jeden  Beteiligten,  ja  auch  fUr  unbeteiligte 
Friedensstifter,  zu  einer  hohen  kriminellen  Gefahr  gestaltet, 
immer  vorausgesetzt,  dafs  <iie  —  sehr  mangelhafte  —  „Parität"  des 
Gesetzes  in  der  praktischen  Anwendung  desselben  nicht  ebenso 


>)  Vgl  Olshaaten  Komm,  u  SLG.B.  I  sn  §  95  Nr.  7. 


Digitized  by  Google 


508  Theodor  Loewenfeld, 

völlig  verschwindet  wie  bei  dem  geltenden  Gesetze.  Der  Begriff 
der  Ehrverletzung  in  seiner  bisherigen,  gege  n  Arbeiter  sich 
kehrenden  Anwendung  ist  besonders  deswegen  so  ge- 
fahrlich, weil  er  von  Arbeitern  in  einer  Zeit  der  heftigsten 
Erregung,  in  einer  Zeit  von  Existenzkämpfen  parlamentarische 
Formen  verlangt,  welche  ihnen  auch  in  gewöhnlicher  Zeit  fremd, 
ja  welche  gebildete  Berufsparlamentarier  nicht  immer  einzuhalten 
vermögen.  Der  deutsche  Reichstag  ist  gewifs  eines  der  ruhigsten 
Parlamente  Pairopas.  Die  stenographischen  Berichte  über  seine  Ver- 
handlungen wimmeln  von  „Khr\  crlctzungen",  wenn  man  an  dieselben 
den  Mafsstab  der  Praxis  des  i?  153  anlegt.  Ein  berühmter  Meister 
parlarncnlarisclRr  Höflichkeit ,  der  langjährige  erste  Präsident 
v.  Lcvctzow  hat  gerade  hei  der  ersten  Beratung  der  hier  be- 
sprochenen Vorlage  l)ei  der  Befürwortung  derselben  Worte  ge- 
sprochen, wegen  dereri  er,  wenn  er  sie  als  Arbeiter  zu  Gunsten 
einer  Loiinkoalition  gesagt  hätte,  wegen  Ehrverletzung  verurteilt 
worden  wäre  und  zwar  \  on  Rcclitswegen.  Er  hat  (vgl.  oben  S.  490;  be- 
hauptet, ,, niemand  könne  etwas  dagegen  haben,  dafs  die  Gesetzgebung 
es  hindere,  dals  gegen  irgendwen  ein  körperlicher  Zwang  ausgeül)t, 
eine  Bedrohung,  eine  I^hrverletzung  gerichtet,  eine  Verrufserklärung 
in  die  Welt  gesetzt  werde.  Das  ist  ein  Recht,  auf  das  jedermann 
Anspruch  hat  —  und  wer  die  Bcstinmuingen  des  Gesetzes,  das 
solchen  Unfug  ausschliefsen  will,  für  unberechtigt  hält,  der  setzt  sich 
dem  Verdacht  aus,  ein  Freund  von  Zwang,  von  Beleidi- 
gungen, von  Drohungen  und  von  Verrufserklärungen 
zusei  n."  Dies  wäre  ein  S  c  h  u  1  f a  1 1  der  nach  §  1 5  3  strafbaren  Ehr- 
varletzung,  wenn  die  Worte  mtitalts  mutandis  von  Aibeitem  zu 
Arbdtem  zwecks  Aufrechterhaltung  einer  Koalition  gesprochen 
Mrden. 

Der  Schaden,  welchen  das  Gesetz  dadurch  anriditet,  dals  es 
dem  Richter  befiehlt,  in  den  Fällen  des  §  153  mit  zweierlei  Mafs 
zu  messen,  dals  es  den  Richter  zwingt,  Handlungen,  die  tagtäglich 
tausendfach  von  jedermann  straflos  begangen  werden,  an  Arbeitern 
zu  strafen  und  gerade  dann  zu  strafen,  wenn  diese  Handlungen  als 
Mittel  für  einen  an  sich  erlaubten,  ja  selbst  von  den  gesetzgebenden 
Faktoren  als  wichtig  und  unentbehrlich  erklärten  Zweck  dienen,  ctieser 
Schaden  reicht  weit  über  das  Anwendungsgebiet  des  §  155 
G.O.  hinaus.  Hat  das  Gesetz  einmal  die  Rechtsanwendung  darauf 
hingewiesen,  in  derartigen  Koalitionsbestrebungen  —  da  sie  zum  That- 
bestandsmerkmal  eines  besonderen  Deliktes  erhoben  sind  —  etwas 


Digitized  by  Google 


Koaliüonsrecht  and  Strafrecht.  ^09 

Strafbares  zu  sehen  und  an  sich  straflose  Handlungen,  weS  hiermit 
in  Zusammenhang  stehend,  alsDelikte  zu  behandeln,  so  wird  der 
Richter,  wenn  in  Zusammenhang  mit  solchen  Bestrebungen  nach  ge* 
meinem  Strafrechte  strafwürdige  Handlungen,  wirk- 
liche „Ausschreitungen"  begangen  werden,  dazu  kommen  müssen,  an 
derartige  Ausschreitungen  ebenfalls  einen  anderen  Mafsstab  anzu- 
legen, als  den  gegenüber  anderen  Bevölkerungsklassen  gehandhabten. 
So  erklaren  sich  ps3fchol<^;i8ch  Urteile,  wie  das  in  dem  bekannten 
Löbtauer  Falle,  wo  wegen  Ausschreitungen  53  Jahre  Zuchthaus  ver- 
hangt wurden,  welche,  wenn  sie  bei  einer  Kirchweihfeier  begangen 
worden  wären,  mit  einigen  Monaten  Gefängnis  ihre  entsprechende 
Sühne  gefanden  hätten,  Urteile,  die  weit  über  die  Kreise  der  Arbetter- 
bevölkerung  hinaus  den  Eindruck  der  Klassenjustiz  erregen  müssen. 

D.  Die  Verrufserklärung,  welche  §  1 53  unter  Strafe  stellt, 
ist  nach  gemeinem  Strafrecht  straflos.  „Ungestraft",  sagt  mit  Recht 
Brentano'),  „wird  in  allen  Gesellschaftsklassen  von  Verrufserklärungen 
gegenüber  solchen  Gebrauch  gemacht,  welche  gegen  die  Interessen  und 
Anschauungen  der  Kreise,  denen  sie  angehören,  verstofeen".  Man  kann 
die  Verrufserklärung  in  der  That  als  eine  bei  keinem  Beruf,  keinem 
Stand,  keiner  Klasse  fehlende  Einrichtung  bezeichnen,  deren  Bestim- 
mung ist,  das  Urteil  der  Berufs-,  Standes-  oder  Klassenmoral  über  die 
den  Grundsätzen  derselben  zuwiderhandelnden  Genossen  zu  verkün- 
digen. Staatlich  org^aiiisierte  Berufsklassen  haben  zum  Schutze  der 
materiellen  und  idealen  Interessen,  die  sie  \  crlrcten,  gegen  die  sie 
schädif;cndcn  Anii^'chörjfTcn  staatsamtlichc  Kinrichtunf.yen  der  \^crrufs- 
erklärunj^'  und  den  X'ollzug  derselben  durch  Suspension,  AusschluCs, 
Geld-  und  P-hrcnstrafcn ;  den  deutschen  Offizier  belehrt  eine  all- 
jährlich neu  einzuschärfende  Kaiserliche  Verordnun«^  vom  2.  Mai  1874, 
dafs  er  unter  gewissen  Umständen  die  Staiideschre  und  Standessitte 
durcii  einen  vom  s^eineincn  Strafgesetzbuche  verbotenen  Zweikampf 
unter  Aufsicht  und  nach  den  Anordnungen  seiner  Vorgesetzten  zu 
wahren  hat  bei  Vermeidung  des  A  u  ssc h  1  u  s s e s  aus  dem  Offizier- 
korps und  eine  Militärzeitung  veröffentlicht  die  „Vorschriften",  „die  bei 
einer  standesgemäfsen  Austragung  und  Beilegung  von  Ehrenhändeln 
zu  beachten  sind.  -')    Analog  ist  die  Bedeutung  der  Verrufserklärung 

')  liRcdctioa  odm  I^orm.  Gegen  die  Zncbdurasvorlage.**  Bo^Un-Sdiöiiebeif 
Verlag  der  ,,HUfe**  (Fr,  Naumann)  1899.  S.  32. 

*)  Vgl.  die  Schrift-.  y,T)\t:  konvcntionillcn  (irbräiioh''  heim  Zweikampf"  nebst 
Auhang:  Verordnung  über  die  Ehrengerichte  im  preufäicbcn  Heere  vom  2.  &Iai  1874« 
Berlin  i88l.    Verlag  von  K.  Eisenschmidt. 


Digltized  by  Google 


JIO  Theodor  Loevenfeld, 

bei  den  nicht  staatlich  oder  amtlich  organisierten  Ständen  und  Be- 
rufen :  es  ist  die  Kennzeichnung  einer  zugehörigen  Person,  mit 
welcher  ein  gesellschafthchcr  oder  geschäftlicher  oder  beruflicher 
Verkehr  wegen  Verfehlung  gegen  allgemeine  oder  spezielle  Standes- 
und Berufsgrundsätze  nicht  gestaltet  ist.  Auch  hier  ist  der  wichtigste 
Fall  der  V^errufserklärung  derjenige,  durch  welchen  das  persönliche 
Koninierzium  der  Genossen  mit  dem  Verrufenen  aufgehoben  wird. 
Was  aber  bei  den  amtlich  organisierten  Berufen  nicht  oder  nicht 
immer  oder  nur  in  mangelhafter  Weise  möglich,  die  X'errufscr- 
klärung  durch  einen  Nichtgenossen,  ist  bei  nicht  organisierten  oder 
nicht  amtlich  organisierten  Berufen  und  Klassen  überall  und  jederzeit 
möglich,  vorausgesetzt,  dafs  eine  V  e  r  k  e  h  r  s  v  e  r  b  i  n  d  u  n  g  statt- 
findet, sei  es  eine  gesellschaftliche  oder  geschäftliche. 

Der  Kaufmann  kann  von  Fabrikanten  und  bei  l'abi  ik.mten,  der 
Fabrikant  \'on  Materiallieferanten  und  bei  Materiallieferanten,  jeder 
Verkäufer  von  seinen  Kunden  und  bei  seinen  Kunden,  der  Arbeit- 
geber von  Arbeitern  und  bei  Arbeitern,  der  Arbeiter  von  Arbeit- 
gebern und  bei  Arbeitgebern  in  Verruf  erklärt  und  gebracht 
werden.  Da  hier  verschiedene  und  sich  widersprechende  Interessen 
sich  gegenüberstehen,  so  kann  es  vorkommen,  dals  ein  Verhalten, 
das  unter  Genossen  standeswidrig  erscheint  und  daher  zum  Verruf 
unter  den  Genossen  führt,  der  gegenüberstehenden  ¥artd  vom  Stand- 
punkte ihres  Klassen-  oder  Standesegoismus  aus  nützlich  und  daher 
löblich  erscheint  Ebenso  ist  umgekehrt  möglich,  dafe  ein  Ver- 
halten, das  die  Standies-  oder  Klasseninteressen  den  Angehörigen  einer 
Klasse  gebieten,  als  schädlich  den  wirklichen  oder  vermeintlichen 
Interessen  einer  anderen  Klasse,  eines  anderen  Berufes  deren  Ange- 
hörigen erscheint  und  deswegen  bei  dieser  Gegenpartei  zum  Verruf 
führt  Beispiele  für  beide  Fälle  bieten  die  Untemebmerurteile  über 
Arbeitswille  einerseits,  über  strikende  Arbeiter  andrerseits,  welche 
sich  die  Begründung  der  Vorlage  aneignet,  indem  sie  die 
Arbeitswilligen  als  „für  den  Staat  besonders  nützliche  Elemente" 
bezeichnet,  dagegen  die  Wortführer  und  Vertreter  der  strikenden 
Arbeiter  mit  Bezeichnungen,  wie  Hetzer  und  ähnlichen  Titeln  belegt 

Das  Standes-  oder  Klasseninteresse,  das  in  dieser  Weise  ver- 
fährt, kann  blofe  inseitiges  Standeanteresse  sein  oder  mit  dem- 
allgemeinen  Volksinteresse  zusammenfallen  oder  demselben  feindlich 
^tg^enstehen ;  jedenfalls  gehört  aber  zu  den  Gepflogenheiten  des 
Verrufsverfiüirens  jeder  Partei,  ihre  Interessen  und  ihre  Moral,  soweit 
möglich  unter  allen  Umständen  mit  den  allgemeinen  Interessen,  mit 


Digitized  by  Google 


Koalitionsrecht  und  Strafrecht. 


der  aUgemeinen  Mond  zu  identifizieren  und  daher  auch  ihrem  Ur- 
teile allgemeine  Bedeutung  zuzuschreiben.  Ob  dieses  Urteil  richtig, 
kann  nur  von  der  Bedeutung  der  einzelnen  Klassen-  oder  Standes- 
oder speziellen  Vereinsziele  für  die  Allgemeinheit  abhängen,  ob  sie 
derselben  nützen  oder  schaden,  notwendig  oder  entbehrlich  erscheinen. 
In  allen  Fällen  ist  aber  die  Verrufserklärung  eine  ,4^rklär ung", 
d.  h.  eine  für  andere  bestimmte  Kundgebung,  welche  in 
diesen  einen  bestimmten  Entschlufs,  ein  bestimmtes  Verhalten,  den 
Abbruch  oder  Ausschlufs  irgendwelchen'  Wrkehrs,  irgendwelcher 
BezirluingcM  lierl)cin.i!ireii  soll  oder  kann.  Dagegen  ist  Verrufser- 
klärung n  i  c  h  t  der  thatsächliclie  Abbrucli  oder  Ausschlufs  des  \*er- 
kehrs,  ob  er  auf  (iruiul  einer  konkreten  Vereinbarung  oder  auf 
Grund  der  Satzungen  eines  X'^crbandcs  oder  ohne  solche  Gruntllage 
und  solchen  Zusammenhang  spontan  durch  mehrere  erfolgt.  Dies 
ist  vielmehr  die  angestrebte  Folge  einer  \'errufserkl;iriuig,  ihr 
Vollzug  durch  die  Adressaten  derselben.  Soll  die  \'erruf>erklarung 
im  juristischen  Sinne  existieren,  so  ist  irgendeine  dem  Abbruche  oder 
dem  Ausschlüsse  der  Beziehungen  vorausgehende,  ihn  veran- 
lassende äufsere  Kundgebung  erforderlich,  welche  einen  bis  dahin 
nicht  bekannten  Thatbestand  mitteilt  ohne  oder  mit  der 
Aufforderung  zum  Abbruche  der  Beziehungen,  zur  Sperre.  Jene 
Benachrichtigung  ist  allein  wesentlich;  eine  Willenserklärung 
gerichtet  auf  die  Sperre  ist  dann  nicht  erforderlich,  wenn  mit 
Rücksicht  auf  die  Ansichten  oder  Interessen  des  Kreises,  an  welchen 
sich  die  Erklärung  richtet,  die  Nachricht  allein  genügt  den  Er- 
folg herbeizuführen,  wie  dies  nicht  nur  bei  Interessenverbänden  mit 
festgelegten  Zwecken  der  Fall,  sondern  auch  bei  ganzen  Standen 
mit  feststehenden  Anschauungen  über  einen  Fall  einer  Ijcstimmtcn 
Art.  Sowenig  ein  ausdrücklicher  Befehl  von  oben  erforderlich  ist, 
um  einen  Offizier,  der  einen  vom  Ehrenrate  für  erforderlich  erachteten 
Zweikampf  ablehnt,  gesellschaftlieh  und  beruflich  unmöglich  zu 
machen,  ebensowenig  bedarf  es  bei  Ucbersendung  einer  s c  h  w  ar  z  e  n 
Liste  an  einen  U  n  t  c r  n  e h  m  e  r v e  r ba n d  seitens  eines  Mitgliedes 
eines  auf  Ausschlufs  der  in  der  Liste  bcnaruiten  .Arbeiter  ge- 
richteten Irrsuchens.  Dieser  Au.sschluls  versteht  sich  von  selbst.  1  )aher 
katm  Non  X'errufserkiärung  im  Sinne  des  Gesetzes  iiberhau])t  keine 
Rede  sein,  wenn  an  eine  Thatsache  sicli  ein  .Ausschluls  oder  Al)l)rueh 
von  Heziehungen  anknii|)ft.  ohne  dafs  überhauj)t  eine  eigene  Kund- 
machung derselben  erfolgen  mufste,  weil  sie  von  vornherein  allge- 
mein in  den  beteiligten  Kreisen  bekannt  war.  Verrufserklärung 


Digitized  by  Google 


$12 


Theodor  Loewcnfeld, 


in  diesem  juristischen  Sinne  ist  nicht  vorhanden,  wenn  jemand  ge- 
Sellschafthch  von  seiner  i)islieri^cn  Umj^rebumj  i^'emieden  wird  auf 
Grund  eines  tkirch  ^ericlithche  \'erhandkiiit;en  bekannt  t^ewordencn 
\  ci  haltens,  ebenso  ist  \'on  X'errufs  e  r  k  1  ä  r  u  n  nicht  /.u  sprechen, 
wenn  Unternehmer  mit  einem  Unternehmer  den  X'erkefir  abbrechen 
auf  Grund  von  Thatsachen,  die  o  ff  e  n  k  u  n  d  i  rr ;  oder  wenn  Arbeiter 
sich  weigern,  mit  einem  Arbeiter  zusammen  zu  arbeiten,  den  sie 
als  Strikebrccher  kennen,  den  sie  als  ihnen  bekannten  Strike- 
brecher  daher  kuch  unter  sich  behandeln.  Dagegen  ist  es  m^- 
ücherweise  Verrufiserkläning,  wenn  der  Name  des  StrikebrechcfS 
z.  B.  durch  eine  Fachzeitui^  Ariseiterkreisen  bekannt  gemacht 
wird/  die  ihn  noch  nicht  als  Strikebiecher  kennen,  sofern  diese 
Benachrichtigung  den  Erfolg  des  Ausschlusses  des  Betrefifenden  von 
einer  sonst  möglichen  Arbeitsgemeinschaft  haben  soll. 

Wenn  auch  jede  Verru&erldärung  im  eigentlichen  Sinne  den 
Zweck  verfolgt,  einen  sachlichen  oder  persönlichen  Vericehr  auszu* 
schliefen,  so  ist  andrerseits  selbstverständlich  die  Verfolgung  dieses 
Zweckes  auch  ohne  Verrufeerklärung  möglich.  Die  Bekanntgabe, 
dafs  in  einer  Stadt  eine  gelahrliche  epidemische  Krankheit  ausge- 
brochen, ist  keine  Verruiserklarung  gegen  die  Bewohner,  aber  ge- 
eignet, sie  vom  Verkehr  abzuschneiden.  Die  Ablehnung  eines  Ver- 
tragsverhältnisses, die  Beendigung  eines  Vertragsverhältnisses  sind 
an  sich  keine  Vemifserldärung,  ob  auf  der  einen  oder  anderen 
Seite  einer  oder  mehrere  Beteiligte  vorhanden;  der  Strike  der  Ar- 
beiter, die  Aussperrung  derselben  durch  den  Unternehmer  oder  die 
Untefnehmer  sind  nicht  Vemifserkläning.  Von  Strike  wie  von 
Aussperrung  der  Arbeiter  spricht  man  nicht,  wenn  die  austretenden 
Arbeiter  nicht  beabsichtigen,  das  Arbeitsverhältnis  wieder  au&u- 
nehmen,  sondern  z.  B.  die  Arbeit  einstellen,  weil  sie  an  einem 
anderen  Orte  engagiert  sind  oder  Arbeit  suchen  wollen,  und  ebenso 
ist  \on  Aussperrung  nicht  die  Rede,  wenn  die  Unternehmer  nicht 
beabsichtigen,  die  entlassenen  Arbeiter  wieder  einzustellen,  sondern 
ihren  Betrieb  einstellen  oder  ein  für  allemal  andere  Arbeiter  zu 
engagieren  beabsichtigen.  Von  Strike  wie  Aussperrung  der  Arbeiter 
ist  die  Rede  als  \  on  Mitteln  der  Beteiligten  zur  Erlangung  günst^er 
Arbeits-  und  Lohnbedingungen  einander  gegenüber,  also  wenn  die 
Arbeitseinstellung  oder  Arheiterentlassun^  dazu  dienen  soll,  dicStriken- 
dcn  oder  Ausgesperrten  in  citiem  neuen  Arbeitsvertrage  unter  anderen 
Bedingungen  zu  vereinigen,  kurz  gesagt  als  Kampfmittel  der 
Regulierung  der  Arbeits-  und  Lohnbedingungen.  Das 


Digitized  by  Google 


KoalitioiDSiecht  «nd  Stcmfrecbt 


alles  fallt  nicht  unter  den  Betriff  der  Vcrrufserklärun;:^  und  hat  gar 
nichts  damit  zu  thun,  ist  \iclmchr  Icdij^lich  Ausuhuni;  dos  Koali- 
tionsrechles  in  Zusammenhang  mit  dem  Rechte,  inbezu^^  auf  Ein- 
gehung von  Vertragsverhältnissen  beliebige  Bedingungen  zu  setzen. 
Es  ist  daher  auch  keine  Vemifimrldärung,  wenn  Ari3eitgeber  gleich« 
zeitig  mit  Entlassung  ihrer  Arbeiter  zum  Zwecke  der  Stärkung  ihrer 
Positionen  im  Lohnkampfe  gegen  die  Entlassenen  an  andere  Untere 
nehmer  das  Ersuchen  richten,  die  Entlassenen  nicht  au&unehmen, 
um  so  die  Letzteren  zu  zwingen,  unter  den  Bedingungen  der  Unter« 
nehmer  in  das  alte  Lohnverhältnis  zurückzukehren.  Dieses  Ersuchen 
und  dessen  Gewährung  oder  die  bezügliche  Vereinbarung  schliefst 
nicht  notwendig  eine  Vemifserklärung  in  sich,  während  es  den 
Zweck  der  Verrufserklärung  verfolgt:  Verbindungen  abzuschneiden. 
Ebenso  ist  es  nicht  Verrufserklärung,  wenn  strikcnde  Arbeiter  zur 
Stärkung  ihrer  Position  im  Kampfe  c^egen  den  Unternehmer  andere 
Arbeiter  ersuchen  oder  mit  denselben  Vereinbarungen  dahin  treflfen, 
dafs  diese  nicht  die  von  ihnen  verlassenen  Stellen  besetzen,  um  so 
den  Tnt  ernehm  er  zu  zwingen,  das  Arbeitsverhältnis  zu  den  Be- 
dingungen der  Arbeiter  zu  erneuern;  rhensowcnii^^  wie  es  X'errufs- 
crklärung  ist,  wenn  zu  diesem  Zwecke  die  ausstämligen  Arbeiter 
zunächst  danach  streben,  mit  anderen  Arbeitern  in  Verkehr  zu 
treten  und  sie  von  der  Sachlage  und  ihren  Zwecken  zu  unter- 
richten. Das  alles  ist  lediglich  Ausübung  des  Koalitionsrechtes, 
wenn  auch  der  Erfolg  der  gleiche  wie  bei  der  X'errufserklärung  ist, 
den  Arbeitgeber  oder  Arbeiter  von  Verbindungen  abzuschneiden. 

Die  auf  Sperre  gerichtete  Aktion  kann  Verrufserklärung  sein, 
ist  aber  nicht  identisch  mit  Vemifserklärung.  Man  käme  sonst  zu 
dem  Ergebnisse,  dafs  die  Ausübung  des  KoaUtionsrechtes  durch 
den  Versuch  der  Arbeiter,  sich  mit  Berufegenossen  in  Verbindung 
zu  setzen  gegen  einen  Arbeitgeber,  überhaupt  identisch  sei  mit 
Vemifserklärung.  Ob  letztere  vorliegt,  kommt  eben  auf  die  Um* 
stände.  Form  und  Inhalt  der  Erklärung  an.  Verrufserklärung  ist 
zweifellos  das  Mittel  der  Sperre  bei  den  sog.  schwarzen  Listen,  so- 
fern in  denselben  der  Arbeiter  in  abfälliger  Weise  charakterisiert, 
damit  als  ungeeignet  zur  Einstellung  gekennzeichnet 
wird. 

Die  Gerichtspraxis  ist  geneigt,  Verrufserklärung  und  Sperre 
zu  identifizieren.  Sie  nimmt  insbesondere  Verrufserklärung  schlechthin 
dann  an,  wenn  von  Arbeitern  «lic  Sperre  der  Betriebsstätte  eines 
Unternehmers  versucht  wird,  indem  die  Strikenden  durch  .\uä- 


Digitized  by  Google 


5^4 


Theodor  Loewcnfcld, 


Schreibung  in  Fachorganen  oder  der  Tagespresse  ihre  Koalitions* 
oder  Beruisgenossen  auffordern,  ihren  Strike  zu  unterstützen  durch 
Nichteintritt  in  die  von  ihnen  verlassenen  Arbeitsstellen.  Die  Plraxis 
verfährt  hierbei  nicht  konsequent  Wäre  die  auf  die  Sperre 
gerichtete  Thätigkeit  der  Arbeiter  schlechthin  Vemifeerklärung,  so 
würde  das  Strikepostenstehen,  welches  zu  dem  Zwecke  geschieht, 
um  arbeitswillige  Arbeiter  von  der  Existenz  eines  Strikes  zu  be- 
nnchrichti;:^cn  und  von  dem  Eintritte  in  die  bisherigen  Arbeitsplätze 
der  Strikcnden  abzuhalten,  selbst  Verrufserklärung  in  dem  Augen- 
blick, in  welchem  es  den  beabsichtigten  Erfolg  erzielt. 

Von  diesem  Standpunkte  geht  weder  die  bisherige  Praxis  aus, 
noch  auch  ist  dicsell)e  in  der  X'orlage  zu  finden.  Die  bisherige 
Praxis  bestraft  das  Strikepostenstehen  als  „groben  l'nfug"  wegen 
Belästigung  des  Publikums  oiler  der  Arbeitswilligen;  als(^  wegen 
der  Form,  in  welcher  angeblich  äufscrlich  das  .Strikepo.stt  n^U  hen 
in  die  Erscheinung  tritt  oder  wegen  UeberUelung  wm  strafsenpolizci- 
liehen,  gelegentlich  eigens  zur  Behinderung  des  Strikepostenstehens 
erlassenen  Vorschriften,  aber  wenigstens  regelmäßig  nicht  wegen 
des  Zweckes,  der  durch  dasselbe  verfolgt  wird,  den  Arbeitswilligen 
Auskünfte  zu  erteilen  und  dieselben  durch  Ueberredung  abzuhalten, 
bei  dem  gesperrten  Arbeitgeber  in  Arbeit  zu  treten,  also  nicht  auf 
Grund  von  §  153  G.O.,  sondern  auf  Grund  von  §  366"  StGB. 
Ob  solche  Mitteilung  an  einzelne  Arbeitswillige  mündlich  erfolgt, 
oder  auf  dem  Wqre  der  Presse  durch  die  Bdcanntmachung  „Zuzug 
ist  fernzuhalten",  oder  „Ueber  die  und  die  Werkstatt  ist  die  Sperre 
verhängt"  kann  keinen  Unterschied  begründen. 

In  beiden  Fällen  liegt  lediglich  eine  erlaubte  Ausübung 
des  Koaliat ionsrechtes  vor.  Inbezug  auf  die  Verhängung  der 
Sperre  durch  die  Bekanntmachung:  „Zuzug  ist  von  der  und  der 
Betriebsstätte  fernzuhalten"  oder  „die  Sperre  ist  verhängt  über  die 
und  die  Betriebsstätte"  wird  in  einer  Reihe  von  IVtcilen  anerkannt, 
dafs  dieselbe  lediglich  eine  erlaubte  Ausübung  des  KoaliiiiMisrcchtcs 
darstellte.  So  hat  z.  B.  entschieden  ein  Urteil  des  Civilsenates 
des  Oberlandc.sgerichts  Hamburg  vom  ILp^bruar  1898*)  unter  aus- 
driicklicher  Bezugnahme  auf  t?  152  G.O. :  es  sagt:  ,.Zu  gestatteten 
Verabredungen  und  Wreinigungefi  gehören  aber  nicht  blofs  aus- 
sclilielslich  WMsammluiigen,  iti  denen  Beschlüsse  über  gemeinschaft- 
liches Handeln  gefafst  werden,  sondern  ebensowohl  auch  alle  Mafs- 


1)  Dentüdie  Jnrutcn-Zdtang  IV  11  (1899). 


Digitized  by  Gopgle 


KoaHdaasrBelit  und  Stiafrecht 


regeln,  wdche  darauf  abzielen,  den  nicht  am  Ort  anwesenden 
Arbeitsgenossen  Kenntnis  von  den  im  Lohnkampfe 
gefafsten  Beschlüssen  zu  geben  und  Einflüssen  von  g^^e* 
rischer  Seite  entgegenzuwirken.  Dazu  sich  auch  der  Presse  zu  be- 
dienen, kann  den  im  I,<)lmk<un|ifc  stehenden  Arbeitern  nicht  ver- 
W'clirt  werden,  denn  die  durch  die  Presse  vermittelten  Warnungen 
der  hier  frafjlichen  Art  ersetzen  insoweit  auch  <iic-  X'crabredungen, 
welche  den  am  Orte  selbst  W-rsammelten  in  ihren  X  ercinii^unt^en 
ZU  trcÜVn  erlaul)l  ist."  Ebenso  wies  das  I.and^^H  richt  Herlin  in  einem 
Urteile  xom  II.  Januar  1896  und  auf  Rtrufun.;  ;^^ct,aii  dasselbe  das 
Kanuner^^ericht  rlin  eine  Anklage  wegen  groben  l'nfugs  zurück, 
die  in  <ler  .Ximoncc  „Zuzug  ist  fernzuhalten"  gefuiuU-n  worden 
war.')  .Anderweitig  wurde  eine  solche  Bekanntmachung  als  ,,g rober 
Unfug"  bestraft,  so  von  den  Gerichten  in  Dresden,  Rudolstadt, 
vom  Oberlandesgericht  Naumburg.  -)  Letzteres  Gericht  findet  in 
der  Notiz:  „Zuzug  ist  fernzuhalten"  die  Kriterien  des  groben  Un- 
fugs, weil  darin  die  Aufforderung  enthalten  sei,  „mit  allen,  auch 
mit  den  vom  Gesetze  verbotenen  Mitteln  der  Beleidigung,  Be- 
drohung, Nötigung  und  Aechtung  von  solchem  Arbeitseintritt  abzu- 
halten" und  weil  die  Notiz  auch  „von  jedem  Durchschnittsleser  in 
diesem  Sinne  aufgefafst  werden  mufste".  Man  möchte 
fragen,  warum,  wenn  diese  Auslegung  richtig,  nicht,  die  Anklage 
wegen  ,3edrohung  und  Aechtung",  d.  h.  Vemifigerklärung  erhoben 
wurde.  Auch  dem  Obcrlandesgerichte  Naumburg  ist  jene  Notiz 
selbst  noch  keine  Verrufserklärung.  Dag(  . n  liat  das  Reichs- 
gericht z.  B.  in  einem  Urteile  vom  i.  April  1891  die  von  Ar- 
beitern über  eine  Betriebsstätte  \erhängte  Sperre  als  V'crrufserklä- 
rung  im  Sinne  von  §  153  (j.O.,  die  Androhung  derselben  als  Er- 
pressung nach  §  253  St.G.B.  erklärt. ") 

Diese  Praxis  zu  erörtern  und  einer  Kritik  zu  unterstellen,  ist 
mit  Rücksicht  auf  die  Vorlage  und  deren  Begründung  veranlafst. 
Sie  übernimmt  aus  dem  bisherigen  Rechte  auch  den  Begriff  der 
Ve  r  r  u  fse  r  k  1  Ti  r  u  n  g  und  giebt  zu  diesem  Begrill  in  ij  4  .\l>s.  3  eine 
Erklärung  folgenden  Inhalts;  „Eine  Verrufserklärung  oder  Drohung 
im  Sinne  der      l — 3  hegt  nicht  vor,  wenn  der  Thäter  eine  liand- 

')  Legien  a.  a.  O.  100,'toi. 

'  I.  r  glen  a.  a.  O.  loi. 

*}  Reger,  EntscbcidoDgcn  der  Gerichts-  und  Verwaltungibebörden  XI  S.  280  ff. 


Digitized  by  Google 


5'6 


Theodor  Loewenfeld, 


lung  vornimmt,  zu  der  er  bercchtic^t  ist,  insbesüncicrc  wean  er  bc- 
fu^terweisc  ein  Arbeits-  oder  Dit-iistverhällnis  ablehnt  oder  kündigt, 
die  Arbeit  einstellt,  eine  Arbeitseinstellun<^'  oder  Aussperrung  fort- 
setzt, oder  wenn  er  die  Vornaimie  einer  solchen  Handlung  in  Aus- 
sicht stellt."  Die  Motive  hierzu  S.  14,  15  sagen,  es  stehe  den  Ar- 
beitern frei,  die  Beendigung  oder  Ablehnung  einer  Beschäftigung 
auch  „mit  anderen  zu  vereinbaren",  mit  anderen  Worten,  zu  diesem 
Zwecke  mit  anderen  Koalitionsverträge  zu  schliefsen.  „Auch  im 
Wege  der  öffentlichen  Bekanntmachung  wird  eine  Kündigung  oder 
Nichtbeschäftigung  oder  Ablehnung  gewisser  Dienste  unbedenklich 
in  Aussicht  gestellt  werden  dürfen,  wobei  allerdings  vorauszusetzen 
ist,  dafs  die  Bekanntmachung  nicht  etwa  aus  anderen 
Gesichtspunkten,  insbesondere  wegen  ihrer  Form 
eine  strafbare  Handlung  darstellt/'  Diese  Erlaubnis  des  Gesetz- 
entwurfes  und  seiner  Begründung  bezidit  sich  nicht  auf  den  Fall,  dals 
Arbeiter  andere  Arbeiter  veranlMses  wollen,  sidi  dem 
Strike  anzuschlielsen  oder  den  Strike  dadurch  zu  unterstützen,  daCs 
sie  bei  dem  Arbei^eber  nicht  in  Arbeit  treten.  Die  Arbeiter 
dürfen  zwar  ihre  eigene  Absicht  kundthun,  zu  striken,  sie  dürfen 
hierüber  mit  anderen  Vereinbarungen  abschlielsen  aber  der 
Versuch  solcher  Vereinbarung  durch  Aufforderung  an  andere  und 
durch  Benachrichtigung  anderer  von  der  erfolgten  Thatsache  des  Aus« 
Stands  ist  nicht  von  der  Verrufeerklärung  gemäfe  §§  i  und  4  *  der  Vor- 
lage ausgenommen,  wie  dies  angesichts  der  vorliegenden  gerichtlichen 
Entscheidungen,  wenn  beabsichtigt,  am  Platze  wäre.  Die  Verrufs- 
erklärung ist  im  Sinne  der  Vorlage  grundsatzlich  mit  Sperre 
identifiziert,  soweit  nicht  positive  Ausnahmen  gemacht  sind.  Solche 
sollen  nach  der  Begründung  för  die  schwarzen  Listen  der 
Unternehmer  gemacht  werden.  Um  die  Sachlage,  welche 
bei  Annahme  der  Vorlage  gegeben  wäre,  zu  übersehen,  sollen  im 
folgenden  vom  Standpunkte  der  reichsgerichtlichen  Entscheidung 
vom  I.  April  i8gi  Vemifeerklärung  und  Sperre  als  identisch  ange- 
schen und  danach  die  verschiedenen  Fälle  der  Sperre  kurz  klassi- 
fiziert werden.  Es  wird  sich  hieraus  ergeben,  dals  bisher  lediglich 
die  Sperre  der  Arbeiter  gegen  Unternehmer,  die  Verrüfe- 
crld.uung  durch  Arbeiter  bestraft  wurde,  dafs  ferner  dies 
auch  in  Zukunft  trotz  scheinbarer  Parität  der  Vorlage  der  Fall  sein 
wird,  so  dafs  die  Verrufserklärung  als  Waffe  der  Unternehmer  g^en 
die  Arbeiter  privilegiert  wird. 


Digitized  by  Google 


KoslitiooiKcht  vad  Sbrnfreclrt. 


5»7 


Es  sind  zu  unterscheiden  : 

1.  Saclispcrrc  und  Personals jierre. 

2.  S{)crre  der  Unternehmer  ^'e^en  Unternehmer;  Sperre  der 
Arbeiter  gegen  Arbeiter;  Sperre  der  l'nternehmer  gegen 
Arbeiter,  der  Arbeiter  gegen  Unternehmer; 

3.  mittelbare  und  unmittelbare  Sperre. 

Sperre  von  L'iiternehmern  unter  sich  kann  zum  Ziele  eine 
Sperre  von  Unternehmern  gegen  Arbeiter  oder  die  Bekämpfung 
einer  von  Arbeitern  ansgehenden  Sperre  oder  Arbeitseinstellung 
haben.  Sadisperre  kann  den  Zwecken  der  Personalsperre  dienen. 
Alle  diese  Arten  von  Sperre  l^nnen  die  Folge  einer  Verrüfe- 
erklarung  sein  und  sind  dies  vielfach. 

Die  Sachsperre  kann  sein:  Materialsperre.  Dem  Gewerbe- 
treibenden werden  die  zur  Gewerbeausübung  nötigen  Rohprodukte, 
Halbfabrikate,  Werkzeuge^  Waren  entzogen  durch  ein  System  von 
Vereinigungen  der  Sperrenden  mit  den  Lieferanten  dieser  Gegen- 
stände; dem  Bauhandwerker  werden  die  zur  Gewerbeausübung 
nötigen  Ziegel,  Kalkquantitaten,  Metallfabrikate  seitens  einer  Ver- 
einigung von  Baugewerketreibenden  durch  Vertrage  mit  den  Liefe- 
ranten entzogen,  die  sich  verpflichten,  an  den  betreffenden  Bau- 
handwerker, z.  B.  weil  er  im  Strike  mit  seinen  Arbeitern  nach- 
gegeben oder  nachgeben  will,  bis  auf  weiteres  nicht  zu  liefern;  dem 
Fafsfabrikantcn  wird  das  Holz,  dem  Drahtstiftfabrikanten  der  er- 
forderliche Draht,  dem  Rrothändicr  werden  die  Backwaren  entzogen. 

Diese  Falle  tler  Materialspcrrc  \  on  l  "iitertichincrn  unter  sich 
sind  sämtliche  zugleich  Fälle  einer  indirekten  l'ersonalsj)erre  der 
Unternehmer  gegen  Arbeiter.  Die  über  einen  Unternehmer  ver- 
hängte Materialsperre  ist  das  Mittel  des  Kampfes  der  l^nteriiehmer 
um  die  Arbeitsbedinguiij^cii  gegen  die  Arl)eiU'r.  Diese  Art  der  in- 
direkten Bekämpfung  der  Arbeiter  durch  die  Unternehmer  ist 
neuestens  in  einem  zivilrechtlichen  Urteile  des  Reichsgerichts  vom 
.1 1.  März  1899  behandelt. ') 

Die  Bäckerinnung  zu  Hamburg  klagte  eine  Konventionalstrafe 
zu  je  1000  Mk.  gegen  mehrere  Angehörige  ein,  welche  sich  gegen 
eine  Vereinbarung  vrrfehlt  hatten,  wonach  während  eines  Bäcker- 
strikes  keinem  Brothändler  Backwaren  geliefert  werden  durften, 
welcher  nicht  schon  vorher  regelmäfsiger  Abnehmer  der  liefernden 


*)  Seorferti  AichiT  für  Eotsdieidaiig  der  obenten  Gerlclite  in  den  deotacben 
StanUn,  Bd.  45  Nr.  241. 


Digitized  by  Gopgle 


5i8 


Theodor  Loewenfeld, 


Bäcker  gewesen  war.  Dadurch  sollte  verhütet  werden,  dafe  die 
Meister,  welche  von  dem  Strike  berührt  wurden,  die  bisher  zu  ihren 
Abnehmern  zählenden  Brothändler  verloren  und  dadurch  ihr  Ge- 
werbebetrieb lahm  gel^t  wurde.  \''ornehmlich  handelte  es  sich 
aber  darum,  der  Einwirkung  der  Gehilfen  auf  die  Brothändler  ent- 
g^enzutreten.  Die  Brothändler  sollten,  aus  welchen  Ursachen  sie 
auch  immer  ihren  bisherigen  Lieferanten  zu  verlassen  f^cnci^t  sein 
mooiuen,  diesen  trot/,  des  Strikcs  der  (ichiifen  hchahcii  und  ge- 
nötigt werden,  von  demselben  weiter  zu  beziclien.  Das  Urteil 
stellt  fest,  dafs  die  X'ercinbarung  zunächst  auf  die  Hrot- 
händler  eine  Hin  Wirkung  zu  üben  bezweckte.  „Hätte  die  \'er- 
cinbaruDg  sich  darauf  beschränkt,  so  würde  sie  niciu  unter  die 
\'orsrhriften  des  (iesetzes  fallen;  denn  die  Brothändler  ;^aliören 
niciit  zu  den  (lewerbegehilfen  und  mit  ihnen  waren  Lohn-  und 
Arbeitsbedingungen  nicht  zu  regeln.  Der  degenstand  der  X'erein- 
barung  aber  erseluipft  sich  hierin  nicht,  sie  ist  nicht  nur  durcii  den 
Strike  der  (7iehilfen  veranlaist,  sondern  auch  dazu  bestimmt,  auf 
den  X'erlauf  desselben  im  Sinne  der  Arbeitgeber  mafsgeliend  ein- 
zuwirken. Ol)  die  Mittel  zu  diesem  Zwecke  „ausschlielslich 
dem  Bereiche  der  Sachen  angehören,  also  rein  gegenständlicher, 
in  Bcschafifung  von  Kapitalien  oder  anderer  materieller  Unterstützung 
bestehender  Art  sind,  vermag  eine  Unterscheidung  nicht  zu  be- 
gründen." Das  Reichsgericht  nimmt  infolgedessen  an,  daCs  die 
Vereinbarung  unter  §  152-  G.O.  fiel,  daher  eine  Klage  aus  derse&en 
auf  die  vereinbarte  Konventionalstrafe  unzulässig  sei.  Ebenso  sind 
die  oben  erwähnten  Fälle  der  Materialentziehungen  an  Baugewerke- 
treibende,  Drahtstiftiabrikanten,  Hafnermeister  u.  s.  w.  zu  behandeln. 
Vorausgehende  Vertrage  mit  den  Materiallieferanten  fidlen  unter  §  152 
G.O.  Wird  auf  Grund  derselben  ein  Unternehmer  bedroht  oder  mit 
Verrufeerklärung  bedacht,  d.  h.  thatsachlich  mit  Materiabperre  belegt, 
um  denselben  der  Untemehmerkoalition  gegenüber  gefi^^jg  zu  machen, 
so  fallt  der  Thatbestand  unter  §  153  G.O.,  da  es  sich  um  Koalitions- 
zwang von  Berufsgenossen  unter  sich  handelt  Von  einem  straf- 
rechtlichen Einschreiten  auf  Grnind  von  §  153  ist  jedoch  nichts 
bekannt  geworden. 

Materialsperre  ist  selbstverständlich  nicht  lediglich  Afittel  der 
indirekten  Führung  eines  Untemehmerkampfes  gegen  die  Ar* 
b  e  i  t  e  r.  Diese  Art  der  Interdiktion  ist  vielmehr  ein  ungemein  häufiges 
Kampfmittel  der  Kartelle  und  Ringe  der  Unternehmer  als  Produ- 
zenten  und  Händler  gegen  die  ihren  Produktions-  und  Preis- 


Digitized  by  Google 


KosUlioiimdit  mid  Stnfinccht« 


bestimmuni^en  sich  nicht  fugenden  Berufsgenossen  und  zwar  gegea 
abtrünnige  Kartellmitglieder,  wie  Nichtmitglieder.  Es  genügt  hier 
an  dn  paar  Beispiele  zu  erinnern :  Die  Materialsperre  von  Petroleum- 
ringen  i^cgcn  Petrolcumhändler,  von  Kohlenringen  gq;en  Kohlen- 
Jiändler,  des  Börsenvereins  der  deutschen  Buchhändler  gegen  unter 
den  Rabattnormen  des  Börsenvereins  verkaufende  Buchhändler. 
Diese  Materialsperre  und  die  zu  ihr  führende  Verrufserklärung  ist 
straflos,  da  4}  153  darauf  nicht  anwendbar  ist.  In  zivilrecht- 
licher Beziehung,'  unterscheidet  das  Reichsgericht  in  einem  Urteile 
vom  25.  Juni  1890:')  Vereinigungen  von  Gewerbegenossen  zu  dem 
in  •^aitcm  Glauben  verfolgten  Zwecke,  einen  Gewerbebetrieb  durch 
Schutz  j^cgen  Entwertung  der  Gewerbeerzeugnisse  und  die  sonstigen 
aus  Preisunterbietungen  Einzelner  hervorgehenden  Nachteile 
lebensfähig  zu  erhalten,  sind  durchaus  erlaubt;  es  wird  dabei  die 
Frage  oti'cn  gelassen,  ob  denselben  ein  Anspruch  auf  Zivilrcclitsschutz 
zusteht,  ob  ihnen  insbesondere  für  die  Geltendmachung  der  \  on  den 
Mitgliedern  zur  Bestärkung  der  Erfüllung  ihrer  Verpflichtungen 
übernommenen  Strafleistungen  der  Rechtsschutz  zu  gewähren  oder 
zu  versagen  ist,  eine  Frage,  welche  ein  Urteil  des  bayerischen 
obersten  Landesgerichtes  vom  7.  April  1888  im  ersteren  Sinne  be- 
antwortet hat.  -')  Diese  Frage  ist  nunmehr  gemäfs  §  54  des  B.G.B, 
allgemein  zu  bejahen.  Von  diesen  Vereinigungen  —  den  Kartellen 
zur  Regulierung  der  Produktions-  und  Preisverhältnissc  eines  Gewerbe- 
zweiges —  unterscheidet  das  Reichsgericht  „eine  \'ereinigung  von  Per- 
sonen, welche  wegen  eines  spekulativen  Zweckes  dieser  Einzelnen 
die  Beherrschung  des  Marktes  iUr  tme  Ware  und  die  Unterbindung 
freier  wirtschaftlicher  Kräfte  welche  sich  diesem  Zwecke  entgegen- 
steUen  könnten,  zum  Gegenstände  hat"»  eine  Ringbildung  zur  künst- 
lichen Steigerung  der  Preise  eines  Artikels.  Eine  solche  Ringbildung 
kann,  wie  das  Reichsgericht,  wenn  auch  nicht  ßestimmtheit»  an- 
nimmt, eine  Verletzung  der  öffentlichen  Ordnung  oder  auch  der 
guten  Sitte  darstellen.  Aber  auch  dem  erlaubten  Kartell  wird  der 
Rechtsschutz  fUr  eine  Vemifserklärung  und  damit  erzielte  Material- 
sperre versagt,  welche  den  ganzen  Geschäftsbetrieb  des  Gesperrten 
unmöglich  zu  machen  geeignet  ist  Es  wird  vielmehr  auf  Grund 

• 

EatsAddimgcn  des  Reidiageridits  in  avilaadien  Bd.  s8  S.  338  01 
*)  Sammlimg  von  Entschddnpgen  des  obentan  Landeigeriditet  fltr  Bayern  in 
iGccenMinden  des  Civilredites  und  OrilpraceBses  Bd.  XU  S.  67  ff.,  Bl.  t  RA.,  m- 
Hiebst  in  Bayern,  Bd.  53  S.  199  ff. 

Ardäw  für  MM.  GeMtxgebanK  a.  Sutktik.  XIV.  34 


Digitized  by  Google 


Theodor  Loaweiifcld, 

von  Vemi&erldäruiigen  zu  solchem  Zwecke  und  mh.solcber  Wirkung 
dem  Verrufenen  in  dem  erwähnten  UrteÜe  des  Reichsgerichtes  ein 
Anspruch  auf  Unterlassung  und  in  einem  weiteren  Urteile  des 

Reichsjjerichtes  vom  5.  Juli  1891  (das  in  der  Sammlung  nicht  ge- 
druckt ist)  im  Prinzipe  ein  Anspruch  auf  Schadensersatz  zuerkannt 
Von  einem  strafrechtlichen  Veigehen  wegen  solcher  Vcrrufe- 
erklärung  ist  nicht  die  Rede. 

Die  Sachsperre  kann  femer  sein:  Waren-  oder  Kund- 
schaftssperre. Sie  hat  den  Zweck,  den  Warenabsatz  oder  Ab- 
satz seiner  sonstigen  Leistungen  dem  Gesperrten  und  Verrufenen 
unmöglich  zu  machen  oder  zu  erschweren.  Wie  die  Materialsperre 
den  Gesperrten  von  IJeferantcn,  so  soll  die  Warensperre  den  Ge- 
sperrten von  den  Kunden  ai3S()erren.  Die  Lieferun^jssperre  fuhrt 
indirekt  zur  Warcns[)(M  re.  Die  letztere  kann  aber  auch  direkt  ver- 
hängt werden.  Dieser  I-all,  der  gewöhnlich  besonders  als  Boykott 
bezeichnet  wird,  koninit  im  X'erkehr  \on  Unternehmern  unter  sich 
vor,  sowohl  zwecks  Aufrechterhaltuni^  von  Kartellbedin^ungen,  wie 
als  Mittel  im  Lohnkampfi-  j^egen  die  Arbeiter.  So  wurden  z.  B. 
im  Münchner  Schreinerstrike  die  kleineren  Baugewerkmeister  von 
den  gröfseren  Bauunternehmern,  von  deren  Aufträgen  sie  ökonomisch 
abhängig  sind,  mit  Kundschaftsentziehung  für  den  hall  bedroht,  dals 
sie  den  Arl)eilerforderungen  nachgeben  würden.  Einen  Fall,  der 
nicht  zum  I-Jiigriffe  in  den  I.ohnkampf  bestimmten  Warensperre 
behandelt  ein  Urteil  des  bayerischen  obersten  Landesgerichtes  vom 
7.  April  1888^)  und  erklärt  dieselbe  als  zulässig.  Ein  Ziegelei- 
besitzerkartcU  verbietet  seinen  Mitgliedern,  von  Nichtmitgliedem, 
insbesondere  früheren  Mitgliedern  unter  irgend  welcher  Bedingung 
Steine  zu  kaufen  bei  VermeuSung  einer  nach  der  Produktionshöhe 
der  zuwiderhandelnden  Ziegelduntemehmungen  sich  bemessenden 
Konventionalstrafe.  Diese  Vereinbarung  ist  vom  obersten  Landes* 
gerichte  als  zulassig  und  rechtsverlHndlich  erldärt  worden.  Da- 
gegen fallt  die  oben  erwähnte  Kundensperre  der  Baugewerkmeister 
im  Schreinerstrike  unter  §  152  bezw.  §  153  G.O.  als  ein  Fall  des 
Koalitionszwanges  der  Unternehmer  unter  sich  im  Kampfe 
gegen  die  Arbeiterkoalition. 

Die  Personensperre  a)  der  Unternehmer  unter  sich. 
Unternehmer  verhängen  über  Unternehmer  bezw.  deren  Betriebsstätten 


1)  Sammlung  von  Entschddvigcii  d«  obmtcn  Lndemerichtes  in  Gcgentliadai 
des  Ovflrecbtts  Bd.  XII  Nr.  35  S.  67  IT. 


Digitized  by  Google 


Xoalitioluredit  und  StimfraefiL 


521 


die  Personensperre  im  Zusammenhange  mit  der  Organisation 
der  Arbeitsnachweise  der  Untemdimer.  Der  Nachweis  von  Arbeits« 
kraften  wird  z.  B.  denjenigen  Arbeitgebern  im  Buchdruckergewerbe 

entzogen,  welche  sich  nicht  dem  von  der  Vertretung  der  Buch- 
druckereibesitzer mit  dem  Gehilfenverbande  durch  das  gemeinsame 
„Tarifamt"  vereinbarten  Tarif  anschlielsen.*)  Insbesondere  wird  von 
den  seitens  der  Arbeitgeber  organisierten  Arbeitsnachweisen,  z.  B. 
der  Metallindustrie,  denjenigen  Unternehmern  der  Gehilfennachweis 
entzogen,  welche  sich  für  die  Gewinnung  von  Arbeitskräften  nicht 
ausschließlich  des  Arbeitsnachweises  der  Arbeitgeber  bedienen, 
sondern  entweder  auch  des  Arbeitsnachweises  der  Gehilfen  oder 
eines  paritätischen  Arbeitsnachweises.  Im  ersten  Falle  hat  die  Per- 
sonensperre den  Zweck,  einen  von  Arbeitgebern  und  Arbeitern  für 
eine  Reihe  von  Jahren  vereinbarten  Lohntarif  zu  schützen,  dessen 
Aufrechterhaltung  durch  Minderzahlung  seitens  anderer  Buchdruckerei- 
besitzer gefährdet  wird,  da  liierdurrh  den  tariftreucn  Prinzipalen 
eine  gewerbliche  Schmutzkonkurren/.  Ijereitet  werden  kann.  Im 
zweiten  l'ViUe  handelt  es  sich  umgekehrt  darum,  den  Kampf  der 
Arbeitgeber  gegen  die  Arbeiter  durch  die  Macht  der  Arbeitsnach- 
weise in  den  Händen  der  Unternehmer  zu  stärken.  Die  fragliche 
Aussperrung  richtet  sich  nur  zunächst  gegen  die  Unternehmer, 
mittelbar  gegen  die  Arbeiter,  und  gegen  diese  sind  sie  als  Kampf- 
organisation überhaupt  gerichtet.    Vgl.  hierzu  SS.  523  ff. 

b)  Die  Personensperre  der  Unternehmer  gegen 
Arbeiter. 

Diese  .Sperre  wurtle  ursprünglich  ausschliefsiich  und  wird  heute 
noch  hauptsächlich  vollzogen  durch  die  Versendung  sog.  s  c  h  w  a  r  z  e  r 
Listen,  in  welchen  bestimmte,  namentlich  bezeichnete  Arbeiter  den 
Adressaten  mit  dem  P>suchen  mitgeteilt  werden,  dieselben  nicht 
einzustellen.  Der  Zweck  dieser  schwarzen  Listen  war  und  ist  in 
erster  Reihe,  strikenden  Arbeitern  die  anderweitige  Arbeitserlan- 
gung unmöglich  zu  machen  und  dadurch  den  Strike  zu  erschweren, 
indem  die  för  den  Strike  erforderlichen  Kosten  erhöht  und  die 
Mittel  der  Strikenden  und  der  fiir  sie  eintretenden  Arbeiterorgani- 
sationen früher  erschöpft  werden.  Die  schwarzen  Listen  beschränkten 
sich  indessen  nicht  auf  die  Mitteilung  der  Thatsache,  dafs  die  ge- 
nannten Arbeiter  sich  im  Strike  befinden;  sie  bezeichnen  auch  Einzelne 


■)  Dentidier  Bnchdziickertarif  nebst  Kommcntur.  Laut  Bcacblflssen  de*  Tarif- 
«imcliaaK»  hcraugegebcn  vom  Tarifamt  der  dentachen  Bndidmdcer  (1899)  S.  tS,  ao,  33. 

34* 


Digitized  by  Google 


532 


Theodor  Loewenfeld, 


als  Führer,  Rätlelsfülirer,  Aj^itatoren,  I  let/.cr  zu  dem  Zwecke,  um 
dieselben,  als  vennutlirhc  ofler  wirkliche  Arbeiterführer  oder  Gewcrk- 
sehaftsniit»jlieder  uiischädlicli  zu  machen.  Die  so  Bezeichneten  sollen 
dauernd  von  den  Betriebtii  des  X'erbandes,  dessen  Mitgliedern  die 
sciuvarzen  Listen  zugehen,  ausgeschlossen  werden.  Bei  dieser 
Form  der  \'errufserklärung  geht  mit  dieser  vielfach  auch  die  ,^hrvcr- 
leUung"  Hand  in  Hand  Insbesondere  ist  dies  der  Fall  bei  den  nicht 
wahrend  oder  wegen  eines  Strikes,  sondern  währe n d  des  Fri edens 
versandten  schwarzen  Listen.  Der  Anlals  dazu  besteht  regdmälsig 
darin,  dals  strikende  Arbeiter  Aufnahme  in  Betrieben  eines  Unter- 
nehmerverbandes gefunden  haben  und  deren  Entlassung  auf  Grund 
der  getroffenen  Vereinbarungen  unter  Hinweis  auf  die  Qualität  des 
betreffenden  Arbeiters  verlangt  wird.  Da  sich  die  Unternehmer  bd 
dieser  Fersonalsperre  der  Form  des  vertraulichen  Zirkulars  bedienen 
und  selbstverständlich  den  betreffenden  Arbeitern  niemals  die  Mög- 
lichkeit einer  Verteidij^ung  ^a^en  diese  Art  von  Verruiserklärung 
gei^eben  ist,  so  sind  irrtümhche  Angaben  in  den  schwarzen  Listen 
nicht  selten,  zumal  die  schwarzen  Listen  oft  höchst  umfangreich 
sind.  Die  Nichteinsteilung  wird  vielfach  verlangt  unter  Hinweis 
auf  die  Verpflichtungen  aus  <lcni  nnternehmcr\'erbaiule,  auf  die  im 
Weigerungsfalle  drohenden  Nachteile  ATaterialenlzug,  Konventional- 
strafe). Das  System  der  ^rlnvar/cn  Listen  ist  heute  inrhilach  \cr- 
vollkoninniet  und  ausgebildet.  Zunächst  ist  die  Hebung  der  l'au- 
schalverrufserklärimg  und  rauschalaussperrung  entstanden.  Wird  an 
einem  Orte  gestrikt,  so  ergeht  .seitens  de  r  l  nternehnier  des  Ortes  an 
die  Unternehmer  iles\'erbandcs  das  Krsuchen,  keine.-\rbeiter  aus  diesem 
Orte  und  Umgebung  aufzunehmen.  So  verlangt  ein  Rundschreiben 
der  Flensburger  Schiffsbaugesellschaft,  welches  die  Namen  von  55  aua^ 
standigen  Arbeitern  den  Mitgliedern  des  betr.  Untemdmierverbandes 
mitteilt,  da(s  die  Angehörigen  des  Verbandes  Arbeiter  dieser  Werft 
bis  auf  weiteres  nicht  annehmen.  Bei  Ausführung  dieser  Pauschal- 
sperre mülsten  auch  diejenigen  Arbeiter,  denen  vom  Unternehmer 
selbst  gekündigt  worden,  stellenlos  bleiben  und  zwar  „bis  auf  wei- 
teres".') Ganz  besonders  häufig  ist  diese  Art  von  genereller  Aua- 
sperrung im  Baugewerbe.  Die  Berliner  Baugewerbetreibenden  in- 
scenierten  in  diesem  Sommer  mitten  in  der  Bauzeit  eine  al^emeine 
Aussperrung  der  Maurer  und  regten  die  Ausdehnung  auf  ganz 
Deutschland  an,  um  den  „Ucbermut"  der  —  Arbeiter  zu  brechen 


')  Frankfurter  Zeitniig  vom  24.  Mai  1Ü99  Nr.  143  AbeiulblaU  S.  I. 


Digitizect  by  Google 


Koalitioosrecbt  und  Strafrecht. 


Der  Vorsitseiide  des  Innungsverirandes  der  deutschen  Baugeweric- 
xneister  hat  auf  dem  i.  Verbandstagc  des  deutschen  Bauarbeit^ebet^ 
bundes  zu  Karlsruhe  im  Oktober  d.  J&  eine  Generalaussperrung  aller 
Bauhanduverker  Deutschlands  auf  die  Dauer  von  einigen  Wochen 
in  Anregung  gebracht,  „um  Ruhe  zu  bekommen".  Indessen  ist 
in  diesem  Jahre  bereits  der  Untemehmerverband  fär  die  Zwecke 
der  Arbeiterausspeming  über  die  Grrenzen  Deutschlands  hinausge- 
gangen und  international  geworden.  In  Danemark  wurden  von 
den  Bauunternehmern  30000  Arbeiter  ausgesperrt.  Da  ein  Teil  der 
Ausgesperrten  sich  nach  dem  Deutschen  Reiche  wandte,  so  riefen  die 
dänischen  Unternehmer  die  Deutschen  zu  Hilfe  und  zwar  mit  Erfolg. 
Allenthalben  blieben  den  danischen  Arbeitern  die  deutschen  Betriebs- 
stätten verschlossen.  E&  war  dies  kein  Zufall,  sondern  die  Folge 
einer  an  den  Industriecentren  Berlin,  Bremen,  Hambui^^  eingeleiteten 
Untemehmeraktion  auf  Gegenseitigkeit. 

Dafs  derartige  Päuschalaussperrungen  mit  Erfolg  durchgeführt 
werden  können,  dazu  dient  die  Organisation  des  „unparitäti- 
schen" Arbeitsnachweises  der  Arbeitgeber.  V^on  einem 
dieser  Arbeitsgebernarh w  eise  und  zwar  einenv  der  mächtigsten  und 
bestorganisierten,  dem  Arbeitsnachweise  des  Verbandes  der  deutschen 
Metallindustriellen ,  sagt  der  Fabrikant  O.  Weigert  (Arbeitgeber- 
beisitzer des  Gewerbegerichtes  Berlin)  in  seiner  Schrift  „Arbeits- 
nachweise und  Schutz  der  Arbeitswilligen"  (Berlin  1899),  dafs  er 
nicht  zu  dem  Zwecke  errichtet  worden  sei,  „um  den  friedlichen  Ver- 
kehr zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitern  zu  erleichtern,  sondern 
lediglich  um  als  Kampfmittel  nicht  nur  gegen  renitente  Ar- 
beiter, sondern  auch  zur  Zerstörung  der  von  den  Arbeitern  auf  ge- 
setzlicher Basis  begründeten  Organisationen  benutzt  zu  werden,  mit 
dem  ausgesprochenen  Vorsatze,  nicht  nur  in  Berlin,  sondern  aucli  in 
dcnjenif^uii  Stiidten  Deutschlands,  die  analoge  Arbcitervcrbäntie 
errichteten ,  die  Kinstcllung  der  durch  diese  schwarzen  Listen  ge- 
kennzeichneten Arbeiter  dauernd  zu  verhindern,  und  auf  diese  Weise 
sie  allmählich  zu  e  x  jja t  r  i  i  e  r  e  n."  Abgeseiien  von  schwarzen  Listen 
und  Pauschalaussperrungen  dient  hierzu  insbesondere  die  mit  den 
Arbeitsnachweisen  der  Unternehmer  zusammenhängende  Linrichtung 
eines  einheitlichenfcintlassungsscheincs,  welcher  eine  ver- 
steckte X'crrufserklärung  ermöglicht.  Die  einem  bestiinniteti  Arbeit- 
gebervcrbandc  angeiiörigen  Mnternehmcr  vereinbaren,  unter  einander 
ein  einheitliches  Formular  eines  dem  Gesetze  entsi)rechenden  Ent- 
lassungsscheines zusammenhängend  mit  einem  !•  ormular  eines 


Digilized  by  Google 


524 


Theodor  Loewenfeld, 


Zeugnisses,  wie  solches  der  Arbeiter  bei  der  Entlassung  verlangen 
jcann.  Nach  §  115  G.O.  können  die  Arbeiter  ein  Zeugnis  über  die 
Art  und  Dauer  ihrer  Beschäftigung  beim  Abgange  fordern.  Dieses 
Zeugnis  ist  nach  dem  Gesetze  auf  ihr  Verlangen  auch  auf  ihre 
Führung  und  ihre  Leistungen  auszudehnen.  „Den  Arbeitgebern  ist 
untersagt,  die  Zeugnisse  mit  Merkmalen  zu  versehen,  welche  den 
Zweck  haben,  den  Arbeiter  in  einer  aus  dem  Wortlaut  des  Zeug- 
nisses nicht  crsiclitlichen  Weise  zu  kennzeichnen."  Mit  Rücksicht 
auf  die  Gefährlichkeit  solcher  geheimer,  früher  vielfach  geübter 
Kennzeichnung  und  Ikandmarkung  eines  Arbeiters  schreibt  die  G.O. 
in  4?  146  Abs.  I  Z.  3  eine  ganz  ungewöhnlich  hohe  Bestraiung  der 
zuwiderhandelnden  Unternehmer  vor:  Geldstrafe  bis  zu  2000  Mk. 
und  im  Unvermogensfalle  Gefängnis  bis  zu  sechs  Monaten.  Diese 
gesetzliche  Bestimmung  wird  nun  auf  folgende  ein£siche  Weise  um- 
gangen. Das  einheitliche  At^angszeugnisformular  enthält,  wie 
bemerkt,  zweierlei :  erstens  ein  Zeugnis  über  die  Zelt  und  Art  der 
Bcscliäftigung  und  zweitens  damit  zusammenhängend  ein  abrcils- 
bares  Zeugnisformular  betr.  die  l'iihrung  und  die  Leistungen  des 
Arbeiters.  Wenn  nun  ein  Arbeiter  lediglich  das  Zeugnis  ül)er  .-Xrt 
utul  Dauer  der  Beschäftigung  \erlangt,  weil  er  fürchtet,  daLs  das 
Zeugnis  liher  die  Art  seiner  1^'ührung  und  Leistungen  nicht  zu  seiner 
Zufriedenheit  ausfällt,  so  wird  das  zweite  L'ornnilar  vom  ersten  ab- 
gerissen und  das  erste  entsprechend  ausgefüllt  ihm  eingehändigt. 
Es  ist  aber  (jrundsatz  der  Arbeitsnachwcisstellen  der  .Arbeitgeber 
der  Verbände,  welche  jenes  sinnreiche  Formular  des  Entlassungs- 
scheines benutzen,  einen  Arbeiter,  der  lediglich  das  Zeugnis 
über  Art  und  Dauer  der  Beschäftigung  brin<^t,  nicht  zuzu- 
lassen. Wer  blofs  dieses  eine  Zeugnis  bringt,  gilt  vereinbarungs- 
gemäfs  als  „gekeiuizeiclinet",  ohne  dafs  das  Zeugnis  selbst  anscheinend 
irgend  ein  Kennzeichcfi  enthält.  Eine  weitere  Art,  den  §113  G.O. 
zu  umgehen,  ist  folgende:  Dem  Arbeiter,  welcher  sein  Abgangs- 
zeugnis verlangt,  wird  dasselbe  gemäfs  §113  G.O.  Abs.  I  zu  seiner 
Zufriedenheit  ausgehändigt;  gleichzeitig  wird  aber  ein  anderes 
Zeugnis  über  den  Ausgetretenen  nach  einem  vom  Verbände  der 
Arbeitgeber  ausgearbeiteten  Formular  entsprechend  ausgefüllt  an  den 
Vorstand  des  Verbandes  gesandt,  welcher  dasselbe  für  die  Zwecke 
des  Arbeitsnachweises  verwendet  Es  kommt  vor,  dals  fiir  die. 
Zwecke  dieses  Verbandsarbeitsnachweises  die  Einsendung  dieses 
anderen  Zeugnisses  an  den  Vorstand  bei  Konventionalstrafe  vor- 
geschrieben ist  Als  Beispiel  für  ein  solches  Zeugnisformular 


Digitized  by  Google 


Koalitknisrceht  md  StrmfrechL 


diene  das  kürzlich  veröflentUchte  Formular  der  Innung  der 
Hafnermeister  zu  Nürnberg :  ^) 

„Zeugnis  über 

den  Hafnergehilfen  

Unterzeichneter  bestätigt  hiermit,  dals  oben  angeführter  Gehilfe 

als  bei  mir  in  Arbeit  bis  Heutigen 

stand. 

Derselbe  wurde  w^en  

entlassen  und  ist  ein  Setzer  (oder  als  was 

er  beschäftigt  war), 

1.  61a  um  acher 

2.  Hetzer 

3.  Frecher 

4.  Brauchbarer 
5'  Heirsi}:^er 
6.  ZuN'erlässiger 

so  dafs  ich  ihn  kann. 

Nürnberg,  den  189 


(ausgestrichen  mufs  werden 
was  nicht  der  Fall  ist) 


Hafnermeister  oder  Ofenfabrikant. 

NE  Zeugnisse  können  jeden  ersten  Mittwoch  im  Monat  ein- 
gesehen werden. 

Wer  von  den  entlassenen  Gehilfen  kein  Zeugnis  an  den  Vorstand 
innerhalb  14  Tagen  sendet,  wird  nach  §  15  der  Statuten 
bestraft 

Gleichzeitig  ist  beim  Einstellen  des  Gehilfen  eine  Karte  (nur 
iiir  die  alte  Grenze  von  Nürnberg  giltig,  mit  Glaishanmier)  auszu- 
füllen und  dem  Vorstand  zu  senden,  damit,  wenn  ein  Gehilfe  sein 
Arbeitsverhältnis  nicht  richtig  löst,  er  bei  selbigem  Meister  wieder 
entlassen  werden  nuils.  Die  Aufforderung  geschieht  durch  die 
Vorstandschaft  des  Vereins. 

Sämtlicfae  Zeugnisse  sind  an  den  Vorstand  zu  senden." 

Das  System  der  schwarzen  Listen  ist  hier  auf  jeden  in  Dienst 
tretenden  und  austretenden  Arbeiter  au^edehnt  Hinter  dem  Rücken 
des  Arbeiters  wird  das,  was  offen  nicht  geschehen  duf,  ins  Werk 
gesetzt  und,  während  dem  Arbeiter  selbst  ein  unverfängliches  Zeugnis 
ausgehändigt  wird,  wandert  hinter  ihm  her  ein  Uriasbrief  an  den 
Verband,  der  ihn  zur  Stellenlosigkeit  verurteilt 

*)  StcnognipUsdwr  Beridit  Aber  die  Vcrhandlimgqt  der  bftyeriidiai  Kanunfr 
da  Al^geordnelea  1899  Baad  I  S.  257. 


Digilized  by  Google 


536 


Theodor  Loewenfeld, 


Die  schwarze  Liste  hat  nicht  blofs  den  Zweck,  im  aktuellen 
Lohnkanipfe  als  Waffe  zu  dienen ,  entsprechend  der  von  den  Ar- 
beitern angewendeten  Waffe  des  Strikcs  und  der  Sperre  des  IJntcr- 
nehmerbetriebes;  wie  die  Dinge  sich  thatsächlich  gestalten,  geht  der 
Zweck  der  schwarzen  Listen  wie  der  Pauschalausspcrrungen  viel 
weiter.  Die  Verrufenen  werden  auf  diesem  Wege  „bis  auf  weiteres", 
oder  auf  bestiniinte  längere  Zeit,  auf  ein  Jahr,  zwei  Jahre,  fünf  Jahre 
oder  iür  immer  ausgesperrt.  Fs  soll  ihnen  überhaupt  unmöglich 
gemacht  werden,  wieder  eine  Stelle  zu  linden,  ohne  die  (inade  des 
Verbandes  anzurufen.  Weigert  erzählt  folgenden  Lall:  Jm  Jahre  1891 
wurde  von  der  Aktiengesellschaft  Schwarzkopff  &  Cie.  ein  Former 
entlassen,  weil  er  am  18.  März  1891  einen  Kranz  mit  rother  Schleife 
auf  den  Gräbern  der  Märzgefallenen  niedergelegt  hatte.  Der  Former 
wurde  für  die  Werkstätten  des  Verbandes  der  deutschen  Metall- 
industriellen  vom  Arbeitsnachweis  dauernd  gesperrt  Infolge  dessen 
mulste  er  Berlin  verlassen  und  ging  nach  dem  Auslande.  Nach 
fiinf  Jahren  meldete  er  sich  in  Berlin  auf  dem  Arbeitsnachweis  des 
erwähnten  Verbandes  in  der  Hoffnung,  wieder  Arbeit  zu  erhalten, 
erhielt  aber  den  Bescheid,  dals  er  noch  gesperrt  sei  und  zur  Beseitigung 
der  Sperre  den  Nachweis  erbringen  müsse,  dafs  die  Direktion  der  Ak- 
tiengesellschaft Schwarzkopff  &Cie.  sein  Vergehen  gegen  die  Satzungen 
des  Arbeitsnachweises  verziehen  habe.  Der  Arbeiter  wandte  sich 
auch  um  „Verzeihung^  an  die  firagliche  Direktion;  diese  machte  in 
einer  längeren  brieflichen  Erklärung  zur  Bedingung,  dals  der  Former 
vorher  schriftlich  den  Verzicht  auf  die  Zugehörigkeit  zur  sozialdemo- 
kratischen Grewerkschaft  erkläre,  was  die  Direktion  allerdings  anders, 
nämlich  inbeschimpfenden  Umschreibungen  fär  die  Bestrebungen 
dieser  Gewerkschaften  und  diese  selbst  zum  Ausdruck  bringt. 

Nach  dem  Statut  des  Arbeitsnachweises  des  Verbandes  Berliner 
Metallindustrieller,  welches  auf  der  Arbeitsnachweiskonfeicnz  ZU 
Leipzig  als  Muster  den  Unternehmern  empfohlen  wurde,  werden 
Strikende  sofort  und  „bis  auf  weiteres"  au^esperrt,  Strikeposten  für 
längere  Zeit,  die  „Agitatoren"  dauernd.  Die  letzteren,  wurde  ge- 
sagt, „müssen  aus  dem  Arbeiterstande  rücksichtslos  herausge- 
drängt werden.'")    ,J>ie  Strikenden  müssen  erkennen,  dals 

')  Vgl.  Otto  Weigert,  Arbeitnacbweise  imd  Schute  der  AibeitswUligen, 
BeiUn  1899  S.  7. 

*)  Bericht  S.  49.  „Agitatoren"  sind  fllr  die  Unteroehmer,  wie  mui  ans  den 
Jahresberiehten  der  FabfikiiispdcloreB  ersdien  kann,  Fachvereinsmitglieder,  teibe* 
aoodere  Mitglieder  tob  BeachwerdefcoamiittioncD,  nicht  blofs  „Fttbrer**. 


Digilized  by  Google 


Koalitkwiiwdht  tmd  Stnfraebt 


527 


jeder  Strike,  d  h.  jedes  gleichzeitige  Niederlegen  der  Arbeit  durch 
eine  gewisse  Anzahl  von  Arbeitern,  als  eine  Nötigung  und  als  Aus- 
nutzung einer  Zwangslage  angesehen,  beurteilt  und  geahndet  wird.*'^) 

Wie  in  dem  von  Weigert  erwähnten  Fall  haben  die  Ent- 
lassungsgründe mit  den  Arbeitsleistungen  und  der  Führung  der  be- 
treffenden Arbeiter  oft  gar  nichts  zu  thun.  Sie  betreffen  Dinge, 
um  welche  sich  die  Arbeitgeber  bei  Achtung  der  gesetzlichen 
Gleichberechtigung  der  Arbeiter  überhaupt  nichts  zu  kümmern 
hatten,  die  Ausübung  politischer  und  sozialpolitischer  Rechte  der 
Arbeiter,  des  Koalitionsrechtes,  ja  sogar  den  Verkehr  der  Arbeiter 
mit  den  Behörden,  insbesondere  Fabrikinspektoren,  auf  Verlangen 
der  letzteren.  Eine  grofse  Anzahl  von  Strikes  ist  auf  den  Umstand 
zurückzuführen,  dafs  von  Arbeitern  der  Austrittaus  ihrer  Organisation 
gefordert  und  das  Gelübde  der  Nichtzugehörigkeit  abgenommen 
wird.  Die  Berichte  der  Gewerbe-  und  Fabrikinspektoren  lassen  aber 
auch  ersehen ,  mit  welch  unbegründetem  und  jedenfalls  sehr  ver- 
dächtigem Milstrauen  die  Arbeil<^'ei)er  den  Verkehr  der  Arbeiter  mit 
den  Fabrikinspcktoreii  beobachten ,  so  dafs  letztere  mit  Rücksicht 
auf  die  Angst  der  Arl)eitcr  vor  Kntlassunj^  wegen  solclien  Wrkchrs, 
um  den  Arbeitern  nicht  zu  schaden,  oft  nicht  waiTeii,  die  Arbeiter 
anzusprechen,  und  die  Rildunj^  von  Arbeiterkoalitionen  (s.  [f.  Bc- 
schwerdekommissionen)  be^^ünstif^en  oder  wünschen,  welche  den 
Arbeiterverkehr  ohne  solche  Gefahr  für  die  einzelnen  Arbeiter  mit 
ihnen  vermitteln.  Weder  die  Koalition  noch  der  staatliche  Schutz 
soll  dem  Arbeiter  helfen,  er  soll  einfach  dem  Belieben  des  Arbeit- 
gebers anheimgegeben  sein.  Das  ist  in  Kui/a  der  Zweck  der 
komplizierten  und  scharfsinnig  ausgedachten  Arbeitsiiachweisein- 
richtungen  der  Unternehmer,  gegen  welche  die  ^gewöhnliche  ur- 
sprüngliche schwarze  Liste  eine  höchst  primitive  Einrichtung  ist. 

Auf  der  von  dem  Arbeitgebervereine  Hamburg-Altona  be- 
rufenen Arbeitsnachweiskonferenz  zu  Leipzig  vom  5.  September  1898 
ist  dies  vom  Vertreter  des  Verbandes  Berliner  Metallindustrieller 
besonders  Idar  zum  Ausdruck  gebracht  worden;  er  sagt,  der  in  den 
Händen  der  Arbeitgeber  befindüche  Arbeitsnachweb  habe  „die 
Bdacht,  den  Arbeiter  zu  dem  zu  zwingen,  was  sie  (die  Arbeit- 
gebervereinigung) in  beiderseitigem  Interesse  für  notwendig  erachtet 
Sie  habe  durch  Verweigerung  der  Einstellung  in  den  Verbands- 
werkstatten  —  auf  längere  oder  kürzere  Zeit  —  eine  Waffe  in  der 


>)  Bericht  S.  49. 


Digitized  by  Google 


Theodor  Loewenfeld, 


Hand,  welcher,  sofern  nur  eine  entsprechend  straffe  Organisation 
auch  bei  den  Arbeitgebern  vorhanden  ist,  kein  Arbeiter  auf 
die  Dauer  widerstehen  kann."') 

Um  diese  Macht  zu  üben,  zu  erlangen  und  zu  behahcn,  be- 
■kämpfen  die  Arbeitgeber  nicht  blofs  die  Arbeitsnachweisstellen  der 
Arbeiter,  sondern  verfolgen  vor  allem,  wie  aus  dem  erwähnten  Be- 
richte sich  crgicbt,  mit  ganz  besonderem  Hafs  die  von  den  ver- 
schiedenen deutschen  Stadtgemeinden  als  gemeinnützige  Anstalten 
errichteten  ,, paritätischen",  d.  h.  unparteiischen  Arbeitsnachweise.*) 
Als  Prinzip  für  die  von  den  Arbeitgebern  einzurichtenden  Arl)eits- 
naclnveise  wurde  auf  der  Leipziger  Konferenz  von  dem  Vertreter 
des  einberufenden  X'erbandes  bezeichnet,  „dafs  man  den  Arbeits- 
nachweis in  die  eigene  kräftige  Hand  neiimen  müsse  und  jede 
Einmischung,  woiier  sie  auch  kommen  möge,  sei  es  von  den  Ar- 
beitern, von  selten  der  Behörden  oder  von  selten  der  soge- 
nannten Unparteiischen  entschieden  zurückweisen  müsse."  ^) 

Bemerkenswert  ist,  dafs  die  Leute,  die  selbst  solchen  Terroris- 
mus organisiert,  die  demselben  immer  weitere  Verbreitung  geben 
wollen,  die  sich  nicht  nur  die  „Einmischung"  der  .Arbeiter,  sondern 
auch  der  Unparteiischen  und  des  Staates  in  ihrer  Organisation  ver- 
bitten, als  die  Hüter  der  „I'Veiheit  der  .Arbeitswilligen"  auftreten, 
dafs  sie  über  Beeinträchtigung  der  „Willensfreiheit"  der  Arbeiter 
durch  deren  Kameraden,  über  Arbeiterterrorismus  Kkige  fuhren 
und  den  Staat  und  die  Gesetzgebung  zum  Schutz  der  Freiheit  in 
die  Schranken  rufen.  Die  „Frethett"  der  Arbeiter,  wie  sie  die 
Herren  dieser  'Arbeitsnachweise  verstehen  und,  wenn  sie  imter  sich 
sind,  ungeniert  deklarieren,  bedeutet  ihre  eigene  Herrschaft  über 
eine  Reservearmee  willenloser  Sklaven,  die  man  nach  Bdieben  ein- 
stellt  oder  entlälst,  welche  die  Erlangung  einer  bezahlten  Arbeit 
als  Gnade  der  Herren  empfinden  und  für  die  Anmalsung  der  Be- 
kundung  einer  eigenen  politischen  Ansicht  noch  nach  Jahren  der 
Expatriierung  um  Verzeihung  bitten  müssen,  all  dies  —  zur  Zeit  — 
aber  nicht  auf  Grund  einer  wirklichen  Rechtsbasis,  wie  solche  den 

')  Bericht  Uber  die  Verhandlungea  der  Arbeitsnachweiskonfej-enz  xu  Leipzig, 
Hamburg  1898,  S.  37. 

•)  \ßl.  .Schriften  des  Verbandes  deutscher  Arbeitsiuu:hweise  Nr.  1  (Verhand- 
lungen der  eraten  Verbmdwwnunlwig  und  ArbeitaMdiweisiraaifcrei»  rem  27.  Sep- 
tember 1S98  M  Manchen),  Berlin  1899,  S.  3,  ilo— IIS;  die  RcMlntum  der  AibeÜ* 
geberkonferens  in  dem  S.  saa  Note  i  genannt en  Beridite  S.  92,  93. 

*)  Kmiferensbericbt  S.  aiff. 


Digitized  by  Google 


KoolitioDsrecht  und  Strafrecbt.  ^29 

antiken  Sklavenherren  und  den  mittelalterlkhen  Herren  von  Leib» 
ebenen  zu  dgpn  war,  sondern  durch  Organisation  derselben  Vemi&> 
erklärung,  welche  die  deutschen  Gerichte,  wenn  geübt  von  Ar« 
beitern  auf  Grund  von  §  153  G.O.  oder  als  groben  Unfug  nach 
§  366  *  St.G.R  verfolgt  und  bestraft  haben  oder,  wenn  die  Verruis- 
erklärung  dem  Unternehmer  angedroht  war,  als  Nötigung  und 
Erpressung  nach  f§  240^  253  StGB.  Von  Anwendung  irgend 
eines  dieser  Strafgesetzparagrapben  gegen  einen  Unternehmer  auf 
Grund  des  dargelegten  Systems  der  schwanen  Listen  hat  man 
•noch  nie  etwas  gehört.  Die  Vorlage  zum  „Schutz  des  gewerb- 
lidien  Arbeitsverhältnisses"  privilegiert  dieses  System  der 
schwarzeti  Listen  und  gtebt  demselben  hiermit  nunmehr  die  bisher 
fehlende  Rechtsgrundlage. 

Um  den  Unterschied  des  Verhaltens  der  Vorlage  g^;en- 
über  der  von  den  Unternehmern  geübten  Verrufeerklärung  und 
Personalsperre  und  der  durch  Arbeiter  geübten  Verruiserklärung 
und  Personalsperre  festzulegen,  ist  noch  auf  folgendes  hinzuweisen. 
Nach  den  Ausführungen  zu  S.  513  ist  die  Vereinbarung  der 
Arbeitgeber  unter  sich,  einen  Arbeiter  einer  bestimmten  Art  oder 
Herkunft  niclit  einzustellen,  der  vereinbarungsgemäfse  Ausschlufs 
solcher  Arbeiter  von  den  Bctrirhsstätteii  so  wciii^  X'errutscrklärung, 
wie  die  Ahlclinutig  der  Kinstclluii^'^  eines  einzt-hien  .'\rbciters  durch 
einen  ein/t  lucn  rntcrnehmer  Verruiserklärung  ist.  Verrufserklärung 
ist  dagegen  die  schwarze  Liste,  das  Ve  r  s  t  ä  n  d  i  u  n  g  s - 
mittel,  welches  jenen  vcrciiiljarungsgeniärsen  Ausschlufs  herbei- 
führen oder  vorbereiten  oder  ermöglichen  soll.  Wie  überall,  so  ist 
auch  hier  die  \'en ufserklärung  in  erster  Linie  Nachricht,  Mit- 
teilung eines  ohnedies  nicht  bekannten  Thatbestandes.  Das 
System  der  schwarzen  Listen,  wie  der  darauf  sich  gründende  un- 
paritätis(  he  Arbeitsnachweis  der  Arbeitgeber  stellen  einen  gewaltigen 
sozialen  Koinmunikationsapparat  dar,  ohne  welchen  jene  X'erein- 
barung  belretfeiul  den  Ausschlufs  gewisser  Arbeiter  von  den  Be- 
triebsstätten nicht  denkbar  ist.  Dieser  Apparat  —  ein  Apparat  der 
Verrufserklärung  —  wird  durch  die  Begründung  zur  Vorlage  aus- 
drücklich erlaubt  erklärt.  Dagegen  wird  den  Arbeitern  diejenige 
Kommunikationsart,  die  für  sie  allein  nach  Lage  der  Sache  in- 
betracht  kommt  zur  Vorbereitung  einer  Voreinbarui^  mit  ihren 
Arbdtagenossen,  zum  Zwecke  der  erforderlichen  Ausdehnung  ihrer 
Koalition,  die  Kommunikation  mit  den  „Arbeitswilligen'*  zwecks 
Verständigung  derselben  von  einem  bestehenden  Strike  durch 


Digitized  by  Google 


530 


Theodor  Locwenfeld, 


Strikrpostcn  durch  4  Abs.  2  der  Vorlage  versagt  und  das  Unter- 
nehmen soll  her  X'crständigung  unter  harte  Strafe  gestellt,  wie  sich 
aus  dem  I^'olgendcni  ergiebt. 

Die  Personalsperre  der  Arbeiter  unter  sich. 

Wie  bei  der  Personalsperre  der  Unternehmer  unter  sich  und 
gegenüber  den  Arbeitern  ist  auch  hier  zu  unterscheiden :  die  V  e  r  - 
einbarung  der  Arbeiter,  mit  einem  bestimmten  Arbeitsgenossen 
nicht  zusammenzuarbeiten  einerseits  und  die  etwa  dieser  Verein- 
barung vorausgehenden  und  sie  ermöglichenden  Benachrichtig 
gungen  an  die   zur  Vereinbarung   heranzuziehenden  Arbeiter 
andrerseits.    Die  Vereinbarung  der  Arbeiter,  mit  einem  be- 
stimmten  Arbeiter  nicht  zusammen  zu  arbeiten,  ist  nicht  Vemils- 
erklarung;  ebensowenig  ist  die  Ausführung  einer  solchen  Ver- 
einbarung durch  entsprechende  Aktion  gegenüber  dem  Arbeit- 
geber Verrufserklärung.    Unter  welchen  Bedingungen  die  Arbeiter 
bereit  sind,  einen  Arbeitsvertrag  abzuschlicfsen  oder  fortzusetzen,  ist 
•nach  dem  Gesetze  Sache  ihres  freien  Beliebens.    Zu  den  Be- 
dingungen, welche  sie  zu  stellen  berechtigt  sind,  gehört  nicht  blofs 
ein  bestimmter  Lohn,  eine  bestimmte  Art  und  Dauer  der  Arbeit, 
die  Bereitstellung  bestimmter  Schutzvorrichtungen,  sondern  gerade- 
sogut eine  gewisse  Gestaltung  und  Qualität  des  Betriebes  und  der 
persönlichen  Arbeitsverhältnisse.  Wie  die  Arbeiter  das  Recht  haben, 
einen  Arbeitsvertrag  mit  einem  bestinmiten  U  n  t  e  r  n  e  h  ni  c  r  über- 
haupt abzulehtien,  so  können  sie  auch  ablehnen,  unter  einem  be- 
stiminten  Werkrneisler  oder  mit  einein  bestimmten  Mitarbeiter  in 
das  Arbeitsverhältnis  einzutreten  oder  dieses  X'erhältnis  fortzusetzen. 
Die  Ablehnung  bestimmter  Mitarbeiter  ist  sogar  vielfach  im  Interesse 
des  Lebens  und  der  körperlichen  Sicherhdt  der  Arbeiter  er- 
forderlich, z.  B.  —  nach  dem  Zeugnisse  der  Gewerbeinspek« 
toren  —  die  Ablehnung  ungelernter,  ungeschulter,  der  deutschen 
Sprache  nicht  kundiger  Mharbeiter  in  gefährlichen  Betrieben,  wie 
in  Beiigwerken.    Audi  in  anderen  Betrieben  wird  durch  die  Zu- 
mutung der  Zusammenarbeit  mit  derartigen  Elementen  das  Arbeits* 
ergebnis  der  einzelnen  davon  betroffenen  Arbeiter  auf  das  Empfind- 
lidiste  beeinträchtigt 

Auch  sonst  »nd  eine  Menge  von  jedermann  sofort  verstand- 
lichen allgemeinen  Veranlassungen  gegeben,  die  Zusammenarbeit 
mit  bestimmten  Arbeitsgenossen  abzulehnen,  cbensoviele  Gründe, 
wie  im  gesellschaftlichen  Leben  dazu  führen,  den  V^erkehr  mit  be- 
stimmten Personen  zu  meiden.   Aber  die  Gründe  der  Ablehnung 


Digitized  by  Googl( 


eines  Arbeitsvertrages  sind  überhaupt  vollkommen  gleichgültig,  da 
solange  die  Arbeiter  nicht  zu  Sklaven  erklärt  sind,  kein  Mensch  das 
Recht  hat,  ihnen  vorzuschreiben,  unter  welchen  Bedingungen  sie  zu 
arbeiten  haben.  Die.  Arbeiter  haben  daher  auf  Grund  des  ge- 
meinen Privatrechtes  die  selbstverständliche  Befugnis,  zu  er- 
klären, dals  sie  ein  Arbeitsverhältnis  nicht  eingehen  oder  nicht  fort- 
setzen,  sofern  dies  mit  einem  bestimmten  Mitarbeiter  geschehen 
mü(ste.  Die  Ausübung  dieses  Rechtes  ist  nichts  als  Rechtsaus- 
fibung  und  daher  unter  keinen  Umständen  X'errufserklärung.  Es 
mufs  dies  bet<Mlt  werden,  weil  neuerdini^^s  von  den  Wortführern  der 
Schariinacher  unter  den  Grofsindustriellen  diese  einfache  Rechts- 
ausübung als  eine  strafwürdij^e  Ausschreitung  hinbestellt  worden 
ist  Es  m.T^  wohl  auch  die  Aiastcht  bestanden  haben,  die  Arbeits- 
einstellung oder  Arbeitsablehnung  oder  die  Ankündigung  derselben, 
wenn  erfolgt  mit  Rücksicht  auf  die  Mitbeschäftigung  von  nicht 
organisierten  Arbeitern  in  dem  betreffenden  Betriebe,  unter  Strafe 
zu  stellen.  Kine  kurz  vor  Bekanntwerden  der  X'orlage  erschienenen 
Schrift  eines  Jk-rliner  Staatsanwalles  ')  schlug  die  Wiederaufnahme 
der  in  dem  Entwürfe  der  Novelle  zur  G.O.  von  1890  zu  §  153  ent- 
haltenen Strafbestimmungen  vor,  dahin,  es  solle  gestraft  werden, 
„wer  es  unternimmt,  durch  Drohung  oder  durch  h",hr\crletzung 
Arbeitgeber  zur  P^ntlassung  von  Arbeitern  zu  bestimmen".  Die 
Denkschrift  zur  Vorlage  enthält  auf  SS.  21—25,  27  unter  dem  Titel 
„Ausschreitungen  von  .Arbeitnehmern  gegen  Arbeitnehmer" 
ausschliefsl  ich  eine  Zusammenstellung  von  Berichten  der  Staats- 
anwälte und  ?olizcil)ehörden  über  eine  Reihe  von  Fällen,  in  weichen 
organisierte  Arbeiter  sich  geweigert  haben,  mit  Nichtorganisierten 
oder  mit  Streikbrechern  zusammenzuarbeiten,  d.  h.  die  Arbeit  aus 
diesem  (irunde  kündigten  oder  die  Arbeitseinstellung  in  Aussicht 
stellten.  Es  ist  daher  bemerkenswert,  dafs  ilie  X'orlage  in  ii;  4  Abs.  3 
diese  „Ausschreitungen"  nicht  bestraft  wissen  will  und  die  Motive 
zu  §  4  Abs.  3  auf  S.  15  dieselben  ausdrücklich  als  vollkommen  er- 
iaubte  Handlungen  erklären.  §  2  Ziff.  i  will  denjenigen  bestrafen, 
welcher  es  unternimmt,  durch  körperlichen  Zwang,  Verrufserkla- 
rung  u.  s.  w.  „zur  Herbeiführung  oder  Forderung  einer 
Arbeiteraussperrung  Arbeitgeber  zur  Entlassung  von  Arbeit- 
nehmern zu  bestimmen".   Diese  Strafdrohui^  trifft  nicht  die  Ar- 


*)  E.  Cany,  Der  Schutz  der  Arbeitswilligen.  Berlin,  C.  Heymanns  Verlag 
1899)  &  aS. 


Oigitized  by  Google 


532 


Theodor  Locwenfeld, 


beiter,  sondern  die  Unteradimer  und  deren  Helfer.  Die  Erklärung 
dieses  merkwürdigen  Widerspruches  zwischen  der  B^^ründung  einer<« 
seits  und  der  Denkschrift  —  die  nur  die  weitere  Ausfuhrung  und 
die  Illustrierung  zur  ersteren  sein  soll  —  andrerseits  liegt  wohl 
darin,  dafe  man  sich  rechtzeitig  daran  erinnerte,  dafs  das  Gesetz 
doch  „paritätisch"  sein  wolle,  und  befürchtete,  dafs  die  Anwendung 
der  Parität  gerade  auf  diesem  (iehicte  /.u  liöchst  unangenehmen 
Folgen  füliren  könnte  mit  Rücksicht  anf  das  X'crhaltcn  vieler  L^nter- 
nchmer  gegenüber  ilcn  Mitgliedci  ii  der  Gewerkschaften,  den  organi- 
sierten Arbeitern  übcrhauj>t,  utui  die  Hebung  der  „schwarzen  Listen" 
in  den  Arbcitsnachweisburcaux  der  Arbeitgeber.  Infolgedessen 
schreiben  nun  tlic  Motive,  es  werde 

„den  Arbeitgebern  nicht  /.u   verwciircn  sein,  dafs  sie 
sich  über  die  Nichtbeschäftigung  gewisser  Arbeiter  unter- 
einander verständigen  und  sich  gegenseitig  Ver- 
zeichnisse derjenigen  Personen  mitteilen,  die 
sie  in  ihren  Betrieb  nicht  aufnehmen  wollen. 
Will  ein  Arbeitgeber  Mitglieder  einer  bestimmten  Ver* 
einigung  nicht  beschäftigen,  so  kann  er  dies  ungehindert 
thun  und  ankünd^^,  wie  umgekehrt  Arbeitnehmer 
sich  der  Beschäft^ng  bei  beliebigen  Personen,  z.  B.  bei 
Mitgliedern  gewisser  Verlade  od  er  bei  Unternehmern, 
die  unorganisierte  Arbeiter  beschäftigen,  ent* 
halten,  die  Absicht,  dies  zu  thun,  gegen  jedermann  aus* 
sprechen  oder  hierauf  gerichtete  Vereinbarui^en  mit  anderen 
eingehen  dürfen." 
Indessen  sind  die  „schwarzen  Listen"  auf  diesem  Weg 
nicht  zu  retten.    I->cilich,  die  Arbeitgeber  wie  die  Arbeiter  dürfen 
\' e  r  c  i  n  b a  r  u  n  ge  n  tretlen  und  zwar  die  Arbeitgeber,  dafs  sie 
gewisse  Arbeiter,  z.  H.  Mitglieder  \  on  dew  crkschaften,  nicht  einstellen, 
die  Arbeiter,  dafs  sie  bei  gewissen  l  iiternehmern,  /..  H.  bei  solchen, 
die  unorganisierte  Arbeiter  beschäftigen,  nicht  in  Arbeit  treten  oder 
nicht   in  Arbeit   bleiben.    Heide  liürfen  nicht  blofs   solche  X'erein- 
barungen  treffen,  sondern  auch  diese  \'creinbarungen  ausführen,  also 
die  Arbeitgeber  ablehnen,  organisierte  Arbeiter  einzustellen,  die 
Arbeiter,  bei  einem  Unternehmer,  der  nicht  organisierte  Arbeiter 
beschäftigt,  einzutreten  oder  zu  bleiben.  Soweit  reicht  die  Pari  tat. 
Aber  zur  Vereinbarung  des  Unternehmers  mit  dem  Unternehmer 
über  Nichteinsteilung  eines  oder  mehrerer  Arbeiter  gehört  die  Be> 
nachrichtigung  von  Unternehmer  zu  Unternehmer  über  die  be* 


Digitized  by  Google 


KoaUtionsrecbt  und  Strafrecbt. 


533 


treflenden  Arbeiter:  das  sind  die  schwarzen  Listen;  sie  sind  er- 
laubt Ebenso  gehört  zur  Vereinbarung  unter  den  Arbeitern  Uber 
Nichtabschlufs  eines  Arbeitsvertrages  mit  einem  Unternehmer 
die  Benachrichtigung  an  die  hiervon  nicht  unterrichteten 

Arbeiter.  Für  diese  Benachrichtigung  ist  das  Strikepostenstehen  un- 
entbehrlich in  allen  Fällen,  in  welchen  die  Arbeiter  auf  mündliche 
Mitteilungen  angewiesen  sind.  Das  Strikepostenstehen  ist  aber 
verboten  und  unter  Strafe  gestellt,  es  kann  nach  der  Vorlage  mit  Ge- 
fängnis bis  zu  I  Jahr,  bis  zu  5  Jahren,  nicht  unter  I,  nicht  unter  3, 
nicht  unter  6  Monaten,  mit  Zuchthaus  bis  zu  3  und  mit  Zuchthaus 
bis  zu  5  Jahren  bestraft  werden.  Die  Motive  erklären  es  /^S.  1 3  ff.) 
als  verboten,  auch  wenn  „die  Postenstehenden  sich  der  Droiiungen, 
Ehrverlctzungen  oder  Thätlichkciten  ^e^a-n  .ArbeilswilliLjje  enthalten." 

Brentano')  kennzeichnet  diese  „Parität"  der  Zuchthausvorla^e 
treffend,  indem  er  sagt:  ,,\\'ohl  nocii  niemals,  scittleni  seit  Ab- 
schaffung der  Hörigkeit  alle  Staatsbiirj^er  als  ^deich  vor  dem  Rechte 
erklärt  worden  sind,  ist  die  Ungleichiieii  ties  Rechtes  in  ähnlicher 
Weise  als  Prinzip  hingestellt  worden.  Den  Arbeitsverkäufern  wird 
es  untersagt,  zum  Zwecke  der  Regelung  des  Arbeitsangebotes  firied- 
lieh  miteinander  in  Verbindung  zu  treten;  ihren  Gegnern  im 
IVeiskampfe  dagegen,  den  Arbeitskäufem,  ynrd  das  erlaubt,  was 
ihnen  verboten  wird.  Die  Regelung  des  Angebotes  der  Ware, 
welche  die  Arbeiter  verkaufen,  soll  fortan  nur  mehr  den  Arbeit- 
gebern überlassen  sein.  Und  alles  das  gar  noch  nicht  etwa  im  Interesse 
der  Arbet^;eber,  nein,  in  dem  der  Arbeiter  selbs  t !"  Die  amtliche 
„Berliner  Korrespondenz''  findet,  in  Nr.  87  dieses  Oi^nes  vom 
6.  Oktober  1899,  es  sei  der  Brentano'sche  Vergleich  der  erlaubten 
schwarzen  Listen  mit  dem  verbotenen  Strikepostenstehen  „überhaupt 
gänzlich  unzulässig  und  geeignet,  die  öffentliche  Meinung  inrezu- 
führen".  „Dem  Entwürfe  zufolge  soll  es  den  Arbeitern  nach  wie 
vor  unbenommen  sein,  sich  rocht  blofs  einzeln  der  Beschäftigun«^ 
in  bestimmten  Betrieben  zu  enthalten,  sondern  auch  hierauf  <^c- 
richtete  \'crabredun;j^en  mit  ihren  Genossen  einzui^^-hen  und  ihr 
Fernhalten  von  >^'r\vissen  Hetnehen  j^anz  allj^^^emein  oder  unter  be- 
liebigen BedinL;unL;en  anzuküiuii^H-ii.  Das  Recht  der  Arbeiter,  auf 
Grund  von  X'erabreduri^aMi  bestinunte  Betriebe  zu  sj)crren  .  bedingt 
aber  das  Recht  der  Arbeitgeber,  sich  untereinander  —  z.  B.  durch 


')  Brentano,  Reaktion  oder  Kclorni.    Gegen  die  ZuclithausvorUige  1  IJcrlin- 
SchäDcberg.    Verlag  der  „Hilfe"  (1899)  S.  37. 


Digitized  by  Google 


534 


Theodor  Loewenfeld, 


Mitteilung  sog.  schwarzer  Listen  —  über  die  aus  ihren  Betrieben 
fernzuhaltenden  Personen  zu  verständigen.  licht  und  Schatten 
sind  mithin  zwischen  Arbeiterkoalition  und  Untemehmerorganisatioa 
völlig  gleich  verteih." 

„Sich  verständigen",  so  heilst  es  auch  in  den  Motiven  S.  15. 
Die  Arbeitgeber  verständigen  sich  untereinander  durch  schwarse 
Listen.  Verständigen  soll  hierheifsen:  miteinander  Vereinbarung 
treffen.  Aber  die  schwarze  Liste  ist  keine  Vereinbarung,  sie  ist  keine 
„Verständigung"  in  diesem  Sinne.  Sie  ist  „Verständigung"  im 
Sinne  der  Benachrichtigung.  Den  Unternehmern  ist  die  „Ver- 
ständigung" in  beiderlei  Gestalt  und  Sinn  erlaubt,  sie 
dürfen  über  die  „fernzuhaltenden  Personen"  Vereinbarungen  treffen 
und  sich  diese  Personen,  deren  Namen  und  interessanten  Qualitäten 
zum  Zwecke  der  \'ereinbarunj^  mitteilen.  Die  Arbeiter  dürfen 
über  das  Fernbleiben  \-on  einem  Betriebe  ebenfalls  \' er  e  i  n  barungen 
treffen  und  daher  in  diesem  Sinne  sich  \erstäncligen ;  aber  sie 
dürfen  sich  nicht  verständigen,  sofern  es  ihnen  bei  schwerer 
Strafe  verboten  ist,  ihre  Berufsgenossen  über  die  Notwendigkeit  des 
Fernbleibens  von  einem  bestinnnten  Betriebe  zu  b  e  n  a  c  h  r  ic  h  t  i  ge  n. 
Ihren  zu  diesem  Zwecke  aufgestellten  Strikeposten  ist  die  „\'er- 
ständigung"  der  ankommenden  Arbeitskaineraden  verboten  und 
daher  die  erlaubte  Verständigung  m  i  t  diesen  Arbeitskameraden 
unmöglich.  Das  Kontrahieren  ist  den  Arbeitern  erlaubt,  das  Reden 
verboten.  Oder  wie  sollen  die  Arbeiter  mit  den  ohne  Kenntnis 
eines  Strikes  ankommenden  arbeitswilligen  Arbeitern  ins  Gespräch 
kommen,  wenn  ihnen  das  Warten  auf  dieselben  und  das  Heran- 
kommen an  dieselben  bei  Gefängnis-  und  Zuchthausstrafe  untersagt  ist? 

Dafe  also  den  Arbeitern  nach  wie  vor  eilaubt  ist,  Ar  bei  tsver* 
träge  nach  Belieben  einzugehen  oder  abzulehnen,  ebenso  wie  den 
Unternehmern,  Arbeiter  einzustellen  oder  nicht,  das  ist  keine  Recht- 
fertigung dafür,  daCs  den  Unternehmern  die  wirksamste  Form  der 
Verrufserklärung,  auf  welche  dieselben  einen  weit  verbreiteten 
Verfolgungs-  und  Zwangsapparat  gegen  die  Arbeiter  gegründet  habend 
die  schwarzen  Listen  erlaubt  sind.  Wann  soll  denn  die  Vemi&- 
erklSrung  den  Unternehmern  überhaupt  noch  verboten  sein  und 
welche  Bedeutung  hat  die  Bedrohung  der  VemifserldSrung  gegen 
Unternehmer  in  §  i  der  Vorlage?  Sie  hat  in  derThat  nur  dekora- 
tive Bedeutung.  Dagegen  ist  die  Vemifeeridärung  der  Arbeiter 
untereinander  nach  wie  vor  verboten,  das  Geltungsgebiet  des  Ver- 
botes der  Vemifeerklarung  wesentlich  erweitert,  die  Strafen  ver- 


Digitized  by  Google 


KoaUdomredrt  and  flmftfedit 


555 


«diirft.  Die  Vereinbarui^  der  Arbeiter,  mit  btstimmten  Arbeitern 
nicht  zu  arbeiten,  und  die  Ausführung  dieser  Verdnbirvi^  durch 
Mitteilung  an  den  Unternehmer  ist  allerdings  keine  Vemifeerldinuig. 
Aber  Vemifserklärung  ist  jede  Handlung  unter  Arbeitern,  welche 
die  Mitteilung  der  schwarzen  Listen  seitens  der  Unter- 
"nehm er  entspricht. 

Die  öffentliche  Bekanntmachung  der  Namen  von  Strikebrechem 
z.  B.  in  Arbeiterfachblättern  zur  Kenntnis  der  Koalitionsgenossen 
ist  nach  wie  vor  Verrufserklärung  obwohl  auch  sie  notwendig  ist 
zur  X'orbereitung  der  „Verständigung"  im  Sinne  einer  Vereinbarung 
dahin,  auf  einer  besimmten  fietriebsstätte  mit  den  betreffenden 
Strikebrechem  nicht  zusammenzuarbeiten. 

Verrufserklärung  ist  ebenso  jede  mündliche  oder  schriftliche 
derartige  Mitteilung;  nir«^^ends  ist  in  der  Vorlage  oder  den  Mo- 
tiven eine  Andeutung  dahin,  dals  dies  nicht  metir  Verruüserkiärung 
sein  soll. 

Bisher  aber  ist  Verrufserklärung  erblickt  worden  z.  B.  in  der 
Bekanntgaiie  derjenigen  Arbeiter,  welche  während  eines  Strikcs 
weiter  arbeiten.  Wegen  einer  solchen  Mitteilung  wurde  auf  Grund 
von  153  der  G.G.  der  Vorsitzende  der  Breslauer  Kommission 
für  Bauarbeiter  zu  2  Monaten  Gefängnis,  der  Redakteur  des 
betreffenden  Blattes  zu  I4  Tagen  Gefängnis  verurteilt.  Zur 
verbotenen  Personalsperrc  der  Arbeiter  unter  sich  durch  Verrufs- 
erklärung ist  aber  die  Bekanntgabe  von  Namen  nicht  einmal 
als  erforderlich  erachtet  worden.  In  dem  oben  S,  502  behandelten 
Falle ,  welcher  durch  /Aveinialiges  Urteil  des  Oberlandesgerichtes 
Kiel  erledigt  wurde, ^)  wurden  Verrufserklärung  und  Sperre,  verübt 
gegen  einen  Arbeiter  durch  Arbeiter,  angenommen,  weil  der  Be- 
vollmächtigte eines  Arbeiterverbandes  die  durch  den  VeHsand  über 
die  Betriebsstätte  eines  Unternehmers  verhängte  Sperre  in  einem 
Fachorgane  auftragsgemäis  veröffentlicht  hatte  mit  dem  Ersuchen: 
die  zureisenden  Kdl^en  auf  diese  WerkstStte  aufinerksam  zu  machen, 
da  über  diieselbe  die  Sperre  verhängt  sei.  Hierin  wurde  eine  von 
dem  Bevolhnächtigten  gegen  alle  Mitglieder  seines  Ver- 
bandes verQbte  Drohung,  Verrufeerldärung  und  Sperre  erblickt, 
weil  die  etwa  entgegen  jenem  Ersuchen  in  der  gesperrten  Betriebs- 
Stätte  arbeitenden  Verbandsmitglieder  die  Ausstolsung  aus  dem  Ver- 
bände und  die  Publikation  ihrer  Namen  zu  furchten  hatten. 


*)  VgL  Lcgien  a.  a.  O.  S.aosff. 
ArcMv  tOr  iot.  G«wttf«lHiaK  «.  StMiMOt.  XIV.  3S 


Digitized  by  Google 


336 


-^Tbe.o^OT  Lo«w.««feld,^ 


Die  Personalsperre  der  ATbe^ter  jgregenüber  jdeo 

Unternehmern. 

Von  diesem  Falle  und  seiner  verschiedenen  Behandlung  durch 
die  deutschen  (ierichtc  war  bereits  oben  S.  514,  515  die  Rede.  Ks 
handelt  sich  hier  um  den  Versuch  der  strikenden  Arbeiter,  ihre  Aus- 
standskoalition soweit  möglich  auf  alle  inbetracht  kommenden  Berufs- 
genossen auszutlehnen.    Hierzu  ist  die  Benachrichtigung  der 
Berufsgenossen  erforderlich.   Für  diese  Benachriciitigung  sind  an  sich 
verschiedene  Wege  denkbar:  Mitteilung  des  Strike-  oder  Aussper- 
rungsfaltes  durch  das  Arbeitsnachweisbureau  an  die  sich  meldenden 
Arbeitssucher,  damit  dieselben  ihre  Interessen  zu  wahren  und  den 
gesperrten  Betrieb  zu  meiden  in  der  Lage  sind;  gesetzliche  Ver^ 
Achtung  eines  Unternehmers»  von  dem  Bestände  eines  Strikes  oder 
•einer  Aussperrung  den  von  ihm  herangezogenen  Arbeitern  Mit* 
^eüung  SU  machen;  Bekanntgabe  des  Strike-  oder  Aussperrungs&Ues 
in  der  Fachpresse  der  Arbeiter  oder  der  T^;espresse;  Plakate  an  den 
-Gebäuden,  der  gesperrten  Fabrik;  endlich  mündliche  Bekannt- 
gäbe  des  Strike-  oder  AusspemingsfoUes  durch  die  Arbeiter  an  die  von 
'dem  Unternehmer  herangezogenen  Arbeiter.   Da  es  für  die  Arbeiter 
von  Wichtigkeit  ist  zu  wissen,  dafs  die  Stellen,  welche  sie  besetzen 
wUen,  durch  strikende  oder  vom  Unternehmer  ausgesperrte  Arbeils- 
-kameraden  verlassen  worden  sind  oder  verlassen  werden  mulsten, 
so   ist  ein  berechtigtes  Interesse  derselben  anzunehmen» 
"hier\'on   in  Kenntnis  gesetzt  zu  werden.    Darum   ist  es  Aufgabe 
eines  unparteiischen  Arbeitsnaclnvcisamtcs,  dicsciii  hitercssc  durch 
Benachrichtigung  der  arbeitüucht luicn  Arbeiter  entgegenzukommen. 
Die   Unternehmer    selbst   hüten  sich,   davon   den  neuengagierten 
Arbeitern,  insbesondere  ausländischen,  Kenntnis  zu  geben,  ilafs  sie 
bestimmt  sind,  ihre  Helfer  in  einem  Kampfe  gegen  Arbeiter  um 
die  Arbeitsbedingungen  zu  werden.     An  sicii  könnte  eine  sulche 
Mitteilungspflicht    bezüglich   eines   für  den   engagierten  Arbeiter 
jeriieWcfaen  Umstandes  schon   aiis   den  den  Dienstvertrag  be- 
lienrschenden  Regeln  der  bona  fides  entnommen  wöden.  Aber 
(ur  den  gewerblichen  Dienstvertrag  konunen  bekanntlich  die  Grund- 
satze der  bona  fides  nur  beschrankt  zur  Anwendung.  Der  Umstand^ 
da&  einem  Arbeiter  bei  Abschluls  des  Dienstvertrages  verschwiegen 
wurde,  dals  es  sich  um  die  Besetzung  der  Stelle  eines  strikenden  oder 
ausgesperrten  Arbdters.handle,  kommt  unter  den  in  §  124  G.O.  auf- 
gezahlten Gründen  aufserordentlicher  Kündigung  des  Arbeitsvertrages 


Digitized  by  Google 


KoalHiniiw^ht  nA  Stnfieckt. 

jiicht  vor.')^  Nur  wenn  das  Arbeitsverhältnis  auf  *  mindestens 
4  Wochen  sich  .  erstreckt  oder  wenn  -eine  längere  als*  X4tägigf 

KündigunjTsfrist  vereinbart  wurde,  kann  nach  §  124^  G.O.  -auch  das 
.gewerbliche  Arbeitsverhältnis  aus  jedem  „wichtigen  Grrundc"  ver- 
lassen werden,  d.  h.  es  kommt  dann  das  im  gemeinen  Zivilrecht 
herrschende  Priiizi])  der  bona  fides  wieder  zur  Anwendung;  Gleiches 
gilt  nach  §  133^  G.O.  vom  Dienstverhältnisse  der  gewerblichen  Be- 
tricbsbeamlcn,  Werkmeister  und  der  mit  höheren  technischen  Dienst- 
leistungen betrauten  Personen.  Uebrigcns  ist  es  fraghch,  ol)  als  ein 
wiclitiger  Grund  der  Kündigung  des  DicnstvcrhäUnisses  der  l  in- 
stand anerkannt  würde,  dals  dem  Arbeiter  das  Bestellen  eineü 
Strikes  oder  einer  Auss()errung  nicht  beim  Engagement  mitgeteilt 
wurde.  Dals  thts  Bestehen  eines  Strikes  oder  einer  Aussperrung 
durch  Plakate  —  wie  in  Kngland  —  gestattet  würde,  ist  ausgc- 
^hlosseo.  Es  bleiben  daher  für  die  Regel  nur  übrig :  Die  Bekannt; 
gäbe  des  Strikes  oder  der  Aussperrung  duicb  die  Presse  und  die 
Bekanntgabe  in  mündlicher  Ansprache  an  die  von  auswärts  an» 
kommenden  ArbeitswiHigen.  Mit  Rücksicht  auf  die  Lage  der  Vei> 
hältntsse  im  Deutschen  Reiche  ist  die  Verbindung  beider  W^;e 
jcgelmäisig  unentbehrlich,  wenn  die  strikenden  oder  ausgesperrten 
Arbeiter  nicht  auf  die  Verfolgung  des  Zieles,  ihre  Koalition  über 
ihre  eigene  Zahl  hinaus  zu  erweitem,  und  damit  überhaupt  auf  das 
Ziel  der  Koalition  verzichten  wollen.  Die  Bekanntgabe  durxrh 
die  Presse  ist  vom  Reich^richt  (s.  oben  S.  5 1 5 )  als  verbotene 
X'errufserklärung  bezeichnet  worden  und  weder  die  Vorlage  nodi 
iiie  Begründung  'S.  15)  gestatten  dieselbe,  wie  oben  S.  516  darge- 
legt wurde.  Die  mündliche  Verständigung  der  vom  Unter- 
nehmer herangezogenen  neuen  Arbeiter  geschieht  durch  Strike- 
posteni  dieselben  werden,  wie  oben  S.  514  erwähnt,  seitens  der 
Polizeibellorden  durch  Krlassung  stralsen-  und  verkelirspolizei- 
lirher  \'( >r^cllri^tcn  oder  \on  X'orscliriften  für  den  ein/einen  h^all, 
soweit  möglich  behintlert  oder  ihre  Tliätigkeit  ausgeschlossen. 
Andrerseits  werden  sie  von  einem    leile  der    tleutschcii  (lerichte 

• 

wegen  „groben  L'nfugs"  bestraft,  während  ein  anderer  Teil  der  (ic- 
richte  das  Strikepostenstehcn  alb  erlaubte  Ausübung  des  Koalitions- 
rechtes erachtet.  Die  Vorlage  verbietet  in  ^4  Abs.  2  die  „plan- 


*)  Ucbcr  iluh  Vrrii.'iltnih  des  B.ü.B.  zur  G.O.  besteht  dne  ConU-ovcn»«; ,  äb«r 
dcMs  richtif  e  Lösung  auf  GroDd  w»  Art.  3a  4«s  E.G.  nnn  B.G.B,  kein  Zwcifal 
lein  V«««i«- 

35* 


Digitized  by  Google 


538 


Theodor  Loewenfeld, 


in  S  fs  i  g  e  Ueberwachung  von  Arbeitgebern,  Arbeitnehmern,  Arbeits- 
stätten, Wegen,  Stra&en,  Plätzen,  Bahnhöfen,  Wasserstra&en,  Hafen" 
ioder  sonstigen  Verkehrsanlagen",  indem  sie  solche  „planmäla^ 
Ud)erwachung^  der  strafbaren  ,J>rohung^  gleichstellt  und  daher 
mit  Geiangnis  bis  tu  einem  Jahr,  bis  zu  5  Jahren,  nidit  unter  i, 
3,  6  Monaten,  mit  3-  und  5  jährigem  Zuchthaus  bestraft.  Das  Er^ 
fordernis  der  „Planmafsigkeit"  des  Postenstehens  ist  aus  der  bis- 
herigen Gerichtspraxis  entnommen.  So  hat  z.  B.  ein  Urteil  des 
Hanseatischen  Obcrlandesgerichtes  vom  12.  Mai  1898  entschieden, 
es  komme  fiir  die  Bestrafung  des  Postenstehens  darauf  an,  ob  das- 
selbe „mehr  oder  minder  straff  oiganisiert  sei**.*)  „Planmäfsig** 
ist  jede  Ueberwachung,  die  als  geeignetes  Mittel  fiir  den  Zweck 
der  Kontrolle  und  F!rnuv^rii,  i^mg  einer  Kommunikation  mit  Arbeits- 
willigen erscheint.  Nach  den  Motiven  der  Vorlage  S.  14  setzt  die 
„planmäfsige  Ueberwachung"  keineswegs  in  allen  Fällen  eine  aus- 
drückliche Verabredung  Mehrerer  oder  überhaupt  eine  Mehrheit 
von  Personen  voraus.  Auch  dies  entspricht  der  bisherigen  Praxis, 
Vonach  „schon  das  einfache  Stehen  eines  Postens  unter  Umständen 
beunruhif^end  wirken  kann".  So  das  eben  erwähnte  Urthcil  des 
Hanseatischen  Obcrlandcsgerichts.  Nur  eine  „blos  zufällige 
oder  gelegentliche  U  e  b  e  r  w  a  c  h  u  n  g  s  t  h  ä  t  i  g  k  c  i  t"  ist  nach 
der  Vorlage  stratlos.  Es  ist  einem  .Xrbeiter  also  nicht  geboten,  beim 
Vorbeigehen  vor  einer  Fabrikkantine  geradeaus  zu  schauen  oder  die 
Augen  /.u  schliefscn ,  es  ist  ihm  gestattet,  einen  Blick  durch  die 
Fenster  zu  werfen;  ob  er  aber  nicht  hierfür  das  Zuchthaus  riskiert, 
hängt  von  der  richterlichen  Feststellung  des  Thatbestandes  ab,  wo- 
nach zu  entsciiciilen,  ob  der  Klick  durch  das  Fenster  auf  einen  vor- 
her gefalstcn  ,,Plan"  ziiriit  kzuführen  ist  oder  nicht.  Das  SchötTen- 
gericht  Mühlhausen  hat  Arbeiter  w'cgen  Strikcpostcnstehens  verurteilt, 
die  behaupteten,  nur  „spazieren  gegangen  zu  sein".  Das 
Gericht  erachtete  dies  als  unrichtig,  da  die  Arbeiter  zum  Spazieren- 
gehen wohl  eher  das  freie  Feld  aufgesucht  hätten  als  die  Chausseen, 
auf  welchen  auswärtiger  Arbeiterzuzug  zu  erwarten  gewesen  sei 
Wegen  Verdachts  des  Strikepostenstehens  haben  Polizeibe- 
hörden Arbeitern  den  Aufenthalt  auf  Bahnhöfen  und  den  Zugangs- 
stralsen  zu  solchen  durch  allgemeine  oder  spezielle  Anordnungen 
untersagt ;  ja  es  ist  in  einem  vor  dem  Hanseatischen  Oberlandes- 
gerichte verhandelten  Falle  vorgekommen,  da&  man  Arbeiter  aus 
einem  Wirtshause  herausholte  und  fortschickte,  weil  man  annahm, 

Vgl.  Legien  a.  a.  O.  S.  97^98. 


Digitized  by  Google 


KoaUtioiisnclit  md  Stnficchf . 


539 


dafs  sie  daselbst  Strikeposten  —  nicht  stehen,  aber  sitzen.^)  Mit 
Rücksicht  auf  diese  bisherige  Praxis  nach  Annahme  des  §  4  Abs.  2 
der  Vorlage  für  die  Arbeiter  vielfach  bei  Ausbruch  eines  Strikes  an 
einem  kleinen  und  mittelt^rofscn  Orte  das  Verbleiben  daselbst  eine 
dringende  Gefahr  für  die  I-Veiheit  bedeuten.  Der  Ver- 
dacht des  nicht  blos  zufälligen  Strikeijostcn-Stehens  oder  Gehens 
oder  Sitzens  ist  bei  jedem  Aufenthalte  in  der  Nähe  einer  gesperrten 
Fabrik  oder  eines  Bahnhofs  oder  auf  öftcntlichen  Strafsen  möglich. 
Nun  sagen  die  Motive  S.  14  allerdings,  das  Postenstehen  sei  nur  als 
Mittel  der  „in  §  i,  2  verfolgten  Zwecke"  strafbar.  Dem  Gesetz- 
entwurf selbst  ist  diese  Beschränkung  freintl.  Aufserdem  wird, 
wenn  einmal  Postenstehen  nachgewiesen  oder  angenommen  wird, 
auch  jeder  andere  Zweck  nicht  geglaubt  oder  schwer  bewiesen 
werden  können,  aber  angesichts  der  I'assung  des  Gesetzes  vom  An- 
geklagten bewiesen  werden  müssen. 

V.  Die  bisherige  Praxis  der  X'erwaltungsbehörden  und  Gerichte 
in  Sachen  des  Koalitionsrechtes  der  Arbeiter  hat  vom  L'nter- 
nehmerstandpunkte  aus  betrachtet  zweifellos  Vorzüge.  Die 
Verwaltungs*  und  Polizeibehörden  wenden  die  Vorschriften  des 
Öffentlichen  Rechtes,  welche  sowohl  die  Koalition  der  Unternehmer, 
wie  die  der  Aiiteiter  betreffen,  lediglich  gegen  die  Arbeiter  an.  Die 
Gerichte  wenden  die  Vorschriften  des  §  153  und  die  härteren 
Vorschriften  des  Strafgesetzbuches  in  den  240,  253,  weiter  den 
groben  Unfugsparagraphen,  ausschliefelidi  gegen  Arbeiter  an;  die 
Gerichte  können  nicht  anders,  da  es  zwar  nicht  an  strafrechtlichen, 
aber  infolge  des  Anklagemonopols  der  Staatsanvradtschaft  an  straf- 
prozessualen Voraussetzungen  einer  Verfolgung  der  Unternehmer  fehlt. 
Ohne  alles  Verschulden  der  von  dieser  Einseitigkeit  des  Verfahrens 
betroffenen  Arbeiterschaft  ist  dieser  Zustand  der  Dinge  indessen  nicht 
möglich.  Denn  §  170  St.P.O.  giebt  immerhin  unter  gewissen  Um- 
ständen eine  Handhabe  zur  Erzwingung  einer  gerichtlichen  Entscheidung 
über  einen  AnzeigefalL  Es  ist  indessen  nicht  anzunehmen,  dals  sich 
die  Gerichte  dieser  ihnen  auferlegten  Einseitigkeit  ihres  Vorgehens 
überhaupt  bewufst  sind.  Die  Strenge  der  von  ihnen  wegen  Aus- 
schreitungen der  Arbeiter  über  diese  verhängten  Strafen  und  noch 
mehr  die  Begründung  dieser  Strafen  läfst  erkennen,  dafs  den  Ge- 
richten die  Thatsache  nicht  oder  nicht  zur  Genüge  bekannt  ge- 
worden, dafs  eine  grofse  Anzahl  von  Unternehmern  in  anderer 


*)  Vgl.  Legicn  ft.  a.  O.  S.  92. 


Digitized  by  Google 


540 


Theodor  Loewenfeld-,  • 


Weise  als  die  Arbeiter,  aber  p^ccrcn  die  f^leichcn  Bestiminunpfen  de^ 
Gesetzes  sich  verfehlt,  ohne  übcrhaujn  von  der  Strafjustiz  behellig 
7.U  werden.  Aus  den  ^^cfalltcn  Kntscheidunfjen  und  den  Enschei- 
dungsgrundcn  crj^ncbt  sich  ein  Zweites.  Die  Forderung  der  Ge- 
rechtigkeit, flafs  der  Richter  alle  rnistände  des  Falles  bei  Fällung 
des  l'rtcils  und  insbesondere  bei  Ausmessung  der  Strafe  zu  berück- 
sichtigen habe,  ist  mangels  der  nötigen  Kenntnis  des  Tiiatbestandes 
auf  Seiten  der  Organe  der  Gerechtigkeit  unerlullbar.  Hierfür  bieten' 
eine  Reihe  von  in  der  Denkschrift  zur  Zuchthausvörlage  genannten 
Fälle  und  die  in  letzteren  ergangenen  Urteile  drastische  Belege. 
Sie  zeigen  eine  bedauerliche  Unkenntnis  der  Verhältnisse  der  mo- 
dernen Arbeiterbevolkening  in  Deutschland  und  der  treibenden  Ur- 
sachen ihrer  Koalitionsbestrebungen,  dieselbe  Unkenntnis,  welche 
den  Bevölkerungsschichten  eigen  zu  sein  pflegt,  aus  welchen  Richter 
und  Beamte  der  Anklagebehörde  regelmäfsig  hervorgehen.  Infolge- 
dessen spielt  die  Notorietät  bei  der  Rechtsanwendung  in  der 
uns  hier  beschäftigenden  Materie  eine  her\'orragende  Rolle.  Es  gilt 
als  notorisch,  dafs  die  Arbeiter  im  allgemeinen  zufrieden  sein 
könnten  und  zufrieden  wären,  wenn  nicht  „Hetzer"  sich  zwischen 
Unternehmer  und  Arbeiter  drängten  und  durch  ein  gemeingefähr- 
liches I  reiben  Unzufriedenheit  erregten,  Intriguanten ,  welche  ein 
Interesse  daran  haben,  dafs  Unruhen  und  l'nordnung  entstehen  und 
Ausschreitungen  begangen  werden,  weil  sie  statt  xon  eigener  Arbeit 
von  den  sauer  \erdienlen  (Troschen  \ertiihrter  .Arbeiter  leben  und 
prassen  wollen,  leitler  aber  nicht  immer  gefalst  werden  können. 
Diese  Hetzer  bilden  fürniliche  \'erbändc,  eine  Agitationsleitung  imd 
tliese  ist  identisch  mit  der  politischen  Leitung  der  Sozialdemokratie. 
Die  Au.sijbung  des  KoaUtionsrechtcs  ist  im  Lichte  solcher  .Auffas- 
sung schliefslich  nichts  als  ein  Vorwand  für  das  verwerllichc  Treiben 
einzelner  weniger  arbeitsscheuer  und  sicherheitsgefÜhrlicher  Indivi* 
duen,  von  welchem  sich  die  Gerechtigkeit  nicht  täuschen  läCst.  — 
Diese  „ofifenkund^en"  Thatsachen  würden  erheblich  an  ihrer  Zweifel« 
losigkeit  verlieren,  wenn  nicht  heute  eine  chinesische  Mauer  die 
verschiedenen  Zweige  der  Staatsverwaltung  und  das.  in  denselben 
angesammelte  amtliche  Wissen  trennen  würde.  Sonst  mülste 
ein  Blick  in  die  amtlichen  Berichte  der  Fabrik-  und  Gewerbe« 
mspektoren,  in  die  Berichte  des  Reichsversicherungsamtes  in 
Sachen  gewerblicher  Unfälle,  in  die  amtlichen  Erhebungen 
der  von  Reichswegen  eingesetzten  Kommission  für  die  Arbeiter- 
statistik, die  amtlichen   VVohnungsenqueten ,  die  Feststellungen 


Digitized  by  Google 


KotKtkiBtrecht  and  Sbmfireeht  j^I' 

SchulbefiÖMen  über  <Ue  gewerbliche  Beschäftigung  schulpfliclw 
figer  Kinder,  die  Verhandlungen  der  Arbeitsnachweiskonferenzen 
eilte  andere  Auffassung  der  Dinge  hervorrufen,  um: 
ganz  abzusehen  von  den  entsetzlichen  Aufschlüssen,  welche  die' 
Forschungen  der  modernen  deskriptiven  Nationalökonomie  über  gc-' 
wisse  zum  „dunkelsten  Deutschland"  gehörijre  Gebiete  des  Deutschen' 
Reiches  und  innerhalb  derselben  lebende  Bevölkerungsschichten 
liefern.  Die  Kntdeckungsreisen  innerhalb  des  eigenen  Volkes  und 
Landes  und  der  eigenen  Zeit  sind  ja  viel  weniger  beliebt,  als  die 
Durchquerung  Grönlands  oder  Afrikas  oder  die  Aufdeckung  der 
Zustände  der  Eiszeit.  Es  ist  bemerkenswert,  dafs  die  letzteren  in 
vielen  Kreisen  bekannt  sind,  während  Gleiches  von  ersteren 
nicht  gesagt  werden  kann.  An  ihnen  sollten  aber  Staat  und  Ge- 
sellschaft ein  dritv^fcndcrcs  und  näheres  Interesse  haben,  als  an  den 
Thatcn  und  Werken  der  Polar-  und  Ur^^eschichtsforscher,  deren 
hohen  Wrdiensten  dieser  Vergleich  durchaus  keinen  Abbruch  thun 
soll.  Es  soll  hiermit  nur  auf  eine  der  Ursachen  einer  patho- 
logischen Erschein  un^S  nämlich  einer  die  Arbeiter  erbitternden 
Klassenjustiz,  und  darauf  hingewiesen  werden,  dals  dieselbe 
vereinbar  ist  mit  dem  subjektiven  Streben  nach  ( i  c  r  e  c  h  t  i  g  - 
keit  und  mit  d  e  r  U  e  b  e  r  z  c  u  g  u  n  g  der  Pflichterfüllung 
bei  den  beteiligten  Organen  dieser  selben  Strafjustiz.  Das  eben 
Gesagte  wird  durch  die  Thatsachc  bestätigt,  dals  diejenigen  un- 
beteiligten Beobachter  der  Arbeiterzustände,  welche  sie  durch  ihre 
tägliche  Berufsarbeit  kennen,  ein  ganz  anderes,  den  Arbeiterkoalitionen 
und  ihren  Bestrebungen  wesentlich  günstigeres  Urteil  fällen,  als 
Richter  und  Staatsanwälte.  Zu  diesen  unbeteiligten  Beobachtern 
gehören  zunächst  die  Beamten  der  Gewerbe-  und  Fabrikaufsicht 
Aus  den  Berichten  dieser  Beamten  ergiebt  sich,  dals  dieselben  die 
Organisationen  der  Arbeiter,  auch  die  „sozialdemokratischen"  Ge-- 
werkschaften  —  angeblich  lediglich  Werkzeuge  des  „Umsturzes"  — ' 
als  nützliche  Helfer  und  Förderer  in  der  Erftlllung  ihrer  amtlichen 
Pflicht  kennen  und  schätzen,  dals  sie  insbesondere  die  von  den  Ge- 
werkschaften geschaffenen  Organe  zur  Vermittlung  zwischen  Arbeiter- 
schaft uind  Gewerkeinspektion  im  Interesse  der  Hebung  des  amtlichen 
Verkehrs  und  der  Abstellung  von  Milsstanden  als  nützlich  erachten 
uiid  die  Bildung  solcher  Vermittlungsorgane  für  die  auiserhalb  der 
Gewerkschaften  organisierte  Arbeiterschaft  veranlassen,  dals  sie  die 
Bemühungen  der  Wortführer  der  Gewerkschaft,  die  wirklichen 
Arbeiterinteressen  zu  fördern,  anerkennen,  ebenso  ihr  Streben 


Dlgitized  by  Google 


54« 


TJiaodor  LQ«veBfeld, 


nach  Verhütung  unnötiger  oder  aussiclitslosor  Strikcs,  nach  friedlicher 
Ausgleicliung  von  Lohn-  und  anderen  auf  das  Arbeitsverhältnis  be- 
züglichen Streitigkeiten  ihre  V^erdienstc  um  gesittetere  Formen  der 
Strcitausgleichung,  um  die  geistige,  sittliche  und  körperliche  Hebung, 
da*  Arbeiter,  auf  die  Herstelluiig  von  Organisatioacfi  des  Rccbts- 
Mibuties,  u.  8.  w.^)  Wer  diese  mit  grolser  Reserve  verfalsten  Be- 
richte der  Gewerbdnspektoren  über  ihre  Erfahrungen  liest» 
mu&  den  Eindruck  gewinnen,  da(s  hier  von  ganz  anderen- 
Personenldassen  die  Rede  sei,  als  in  den  staatsanwaltschafUichen 
Berichten.  Die  „bezahlten  Hetzer",  die  zu  jeder  Gewaltthat 
neigenden  eigennützigen  Verfuhrer  uner&hrener  Arbeiter  sind  die- 
selben Manner,  welche  im  Dienste  der  Gewerkschaften  den  Staats- 
beamten in  seinem  Dienste  unterstützen,  welche  fiir  die  Arbeiter 
nützliche  sozialpolitische  Einrichtungen  schaffen  und  deren  erfolg- 
reiche Arbeit  der  Disziplinierung  und  Hebung  der  Arbeiterklasse- 
gewidmet ist.  Auch  den  Fabrikin^>ektoren  ist  bekannt,  dals  bei 
Ausständen  und  Aussperrungen  Aussclireitungen  vorkommen. 
Wenn  sie  dennoch  zu  einem  anderen  Urteile  kommen  als  die  Ver- 
fasser der  Denkschrift,  so  liegt  dies  daran,  dals  ihnen  die  Arbeiter- 
bewegung als  (lanzes  amtlich  bekannt  wird  und  ihnen  daher  die 
fraglichen  Ausschreitungen  sich  so  darstellen,  als  was  auch  die 
Statistik  sie  erweist:  eine  Ausnahme  von  der  Kegel. 

In  seiner  Abhandlung  über  ,,die  Bedroluuig  der  (iewerbe- 
gerichtc  durch  den  (jeset/esentwurl  zum  Schul/.e  der  gewerblichen 
Arbeitsverhältnisse"  -)  hat  Jastrow  treffend  auf  die  Gründe  der  Ver- 
schiedenheit der  Beurteilung  der  Koalitionen  durch  die  Staats- 
anvnUte  einerseits  und  die  Gewerbegerichte  andrerseits  hin- 
gewiesen, welche  letzteren  sich  auf  Grund  ihnen  zustehender  gesetz*. 
lieber  Belugnis  gutachtlich  über  die  Vorlage  und  zwar  in  entschieden 
ablehnendem  Sinne  geaufsert  haben :  „Wer  mit  den  Koalitionen 
.  und  ihren  Vertretern  in  beständiger  Fühlung  ist,  wer  die  tagliche 
Arbeit  kennt,  die  in  diesen  Vereinen  und  Versammlungen  geleistet 
wird,  der  wird  zwar  über  Ausschreitungen  auch  nicht  hinwegsehen, 
«r  wird  in  ihnen  aber  erblicken,  was  sie  sind:  die  bedauerlichen, 
vielleicht  zu  häufigen  Ausnahmen,  aber  immerhin  Ausnahmen» 


1)  Die  preofttocbe  Regienmg  Tobot  1896  den  Geirerbcaa&ldrtt'beuntcii  jedm 

•mtlichrn  Verkehr  mit  den  H r sc h w e rdekommistionen  der  GcweHndiaAeB, 

Vdcfae  die  süddeutschen  Gewerbeinspektoren  als  sehr  nützlich  erklären. 

*)  Jahrbücher  (fix  Nationalökoiioinie  nod  Statiatik,  IIL  Folge,  18.  Bd.  S.  72  ff. 


Digitized  by  Google 


Koslitiaanrcdit  «nd  Stmfredit 


543 


Wer  dagegen  mit  den  Koalitionen  von  Berufswegfen  nur  zusammen- 
stöfst,  sobald  sie  sich  Ausschreitungen  zu  Schulden  kommen  lassen, 
der  wird  von  ihnen  die  Vorstellung  haben,  dafs  sie  immer  etwas 
Böses  im  Schilde  führen.  Daher  ist  in  diesen  staatsanwaltschaft- 
lichcn  Berichten  unaufhörlich  von  X'erfehlungen  die  Rede,  die 
thatsächlich  oder  vermeintlich  auf  die  Leiter  von  Koalitionen 
zurückzuführen ,  ohne  dals  an  irgend  einer  Stelle  der  Versuch 
gemacht  würde,  zu  einem  Urteile  darüber  zu  gelangen,  der 
wievielte  Teil  der  Koalitionsthätigkeit  auf  Ausschreitungen  ent- 
felle.  Ja  es  wird  sogar  ganz  ausdrücklich  so  gesprucheii,  als 
ob  Ausschreitungen  und  Koalitionsthätigkeit  im  Grofsen  und 
Ganzen  einander  decken."  Was  hier  \on  den  .Staatsanwälten 
gesagt  wird,  gilt  ii)rnso  von  den  Auffassungen  fler  (iericlue.  In 
ihrer  Kriminalpraxis  lernen  sie  noch  dazu  nur  Ausschreitungen  der 
Arbeiter,  niemals  solche  der  Unternehmer  kennen.  Dazu  kommt, 
da(s  die  Unternehmerauffassung,  welche  nur  einen  Terrorismus  der 
Arbeiter  kennt,  und  nur  Wohlfahrtseinrichtungen  der  Unternehmer, 
keine  positiven  Leistungen  der  Arbeiterkoalitionen  und  ihrer  Führer, 
den  Gerichten  in  neuerer  Zeit  vielfach  au^estattet  mit  der  über- 
legenen Autorität  oberster  Reichs-  und  Staatsorgane  entgegentritt 
Und  diese  Autorität  wird,  wie  oben  bereits  ausgeführt,  weiter  ver- 
stärkt durch  den  materiellen  Inhalt  der  gegen  die  Arbeiterkoalitionen 
gerichteten  Straf  bestimmungen,  deren  Unbilligkeit  an  sich  geeignet 
ist,  die  Rechtsanwendung  zu  korrumpieren.  Vergleiche  oben  S.  508. 
Jeder,  dem  es  Ernst  ist  mit  dem  Grundsatze,  dafs  die  Gerechtig- 
keit das  Fundament  der  Staaten,  mufs  es  mit  tiefem  Bedauern 
wahrnehmen  >  wenn  irgend  etwas  das  Ansehen  der  berufenen 
Organe  der  Gerechtigkeit  beeinträchtigt  Welche  Schädigung  dem 
Ansehen  der  Gerichte  aber  die  ihnen  auferlegte  Beschäftigung 
mit  einem  inhaltlich  unbilligen  und  formell  jeder  Präzision  ent- 
behrenden Gesetze  wie  §  1 55  G.O.  schon  in  der  öffentlichen  Meinung 
zugefügt  hat,  kann  man  ermessen,  wenn  man  liest,  daüs  im  deutschen 
Reichstage  der  Führer  der  zur  Zeit  herrschenden  Partei,  welcher 
?ine  Reihe  ausgezeichneter  Richter  angehören,  von  den  „haar- 
sträubenden'' Urteilen,  welche  gegen  Arbeiter  nicht  selten  ergangen 
seien,  sprechen  konnte  und  von  der  „geradezu  himmelschreienden 
Parteilichkeit,  mit  der  dieselben  V'ergehen  auf  der  einen  Seite  auf 
das  härteste  und  auf  der  anderen  Seite  auf  das  mildeste  geahndet 
Verden."  In  ähnlichem  Sinne  ist  die  in  Frage  stehende  Gerichts- 
pcaxis  auch  von  den  Vertretern  anderer  Parteien  charakterisiert 


Oigitized  by  Google 


544 


Tbeodor  Loewenfeld,  ' 


worden.  Derartige  Urteile  sollen  zu  denken  gjcbcn.  Sie  sollten 
Insbesondere  die  Erwägung  veranlassen ,  ob  nicht  die  Stellunj;^  der 
Arbeiterkoalitionen  unter  das  gemeine  Recht  sich  mehr  em})fehlen 
würde  als  der  Versuch,  durch  neue  Strafp^esetze ,  welche  an 
l)eliiil)arkeit  und  l'nl)illi<Tkcit  noch  nuhr  leisten  als  >;  153,  l'cbel- 
ständen  abzuhelfen,  welche  üherliaujit  nur  durch  j)Ositive  Mafs- 
nahnien  der  Sozialpolitik  und  nicht  auf  dem  mechanischen 
W'cge  einseitiger  krimineller  Repression  geheilt  werden  kötuien. 

Dais  die  \'or!age  nunmehr  den  letzteren  Weg  betritt,  ist 
nach  den  Feststellungen  in  den  Rcichstagsverhandlungen  auf  Andrängen 
der  Unternehmcrv'erbände  geschehen,  welche  sich  durch  die  dermalige 
Rechtsanwendui^g  bedrückt  und  geschädigt  erklären.  Nicht  etwa 
deswegen,  weil  das  Gesetz  gegen  sie  überhaupt  jemab  angewendet 
worden  wäre  —  das  ist  nicht  der  Fall  und  darüber  können  sie  da- 
her  auch  keine  Kla^e  fuhren  — ;  aber  die  Gesetzesanwendung  gegen 
die  Arbeiter  trägt  nach  ihrer  Behauptung  den  berecht^en 
Wünschen  und  den  Bedürfnissen  der  Unternehmer  nicht  genügende 
Rechnung.  In  der That  war  bisher  von  einer  einheitlichen  gegen 
die  Arbeiter  gerichteten  Gesetzesanwendung  weder  von  Seiten  der 
Gerichte  noch  von  Seiten  der  Polizeibehörden  die  Rede.  Es  ist 
bereits  oben  S.  484  darauf  hingewiesen  worden,  dafs  die  Ver- 
waltun«^'shc]u")rden  nicht  die  letzten  Konsequenzen  derjenigen  Ur- 
teile ziehen,  welche  geeignet  wären,  das  Koaiitionsrecht  der  Arbeiter 
überhaupt  zu  vernichten.  Andererseits  versagt  auch  die  gerichtliche 
Praxis  nicht  ausnahmslos  den  Arbeitern  die  Ausiibunt;  des  Koalitions- 
rechtes. Zvun  Beispiele  hat  die  ( lerirhtspraxis  neuerdinL^s  die  An- 
wendung des  ß  153  auf  .Arbeiteraktionen  L^ej^eniil )er  den  Koalitions- 
gegnern mehrOirh  abgelehnt;  das  Strikepostenstehcn  ist,  wie  oben 
S.  537  crwälint.  in  einer  Reihe  \'on  Kntsrlieidun^en  als  erlaubte 
Ausülnuii:,^  des  Koalitionsrechtes  anetkaiuit  worden.  Die  Denkschrift 
führt  .S.  169  —  205  eine  Anzahl  von  I'älleii  aut,  in  welchen  man  auf 
Grund  richtiger  Gesetzesanvvendung  Arbeiterkoalitionen  und 
deren  Führern  nicht  mit  Erfolg  zu  Leibe  gehen  kcmnte. 

Aus  den  Reichsts^verhandlungen  ist  bekannt,  dafs  das  vertrau- 
liche Rundschreiben  des  Staatssekretärs  des  Innern  vom 
.11.  Dez.  1897,  welches  die  in  der  Denkschrift  verarbeiteten  AeuGse- 
ningen  der  Staatsanwaltschaften,  Polizeibehörden  und  Kriminalgerichte 
veranlafste,  seinerseits  durch  Petitionen  von  Untemehmerverbanden, 
insbesondere  durch  eine  Eingabe  des  Ausschusses  des  Innungsver- 
bandes der  deutschen  Baugewerkmeister  veranlafst  worden  ist,  derea 


Digitized  by  Google 


KcnUtloäiTecln  imd  Stnifi«dit  ^45 

Inhalt  teilweise  wörtlich  in  das  'Rundschreiben  des  Reichsamtes 
fibergegangen  ist. >)  Diese  Eingabe  ist  eine  Anklageschrift 
gegen  die  Gerichte  und  Polizeibehörden.  Die  Behörden  werden 
beschuldigt,  das  geltende  Recht  nicht  in  genügendem  Um&nge  und 
Aicht  mit  genügender  Kiiergie  gegen  die  Arbeiter  angewendet  £u 
haben.  Durch  die  Arbeitseinstellungen  sei  das  Gemeinwohl  ernst- 
lich bedroht,  die  gesunde  Fortentwicklung  des  Handels  und  der 
Industrie  bedroht,  das  gute  Einvernehmen  zwischen  den  Arl)eit» 
gebern  und  Arbeitnehmern  gestört  Bei  richtigem  Verfahren 
der  Behörden  lasse  sich  erwarten,  „dafs  innerhalb  der  Grenzen  der 
heutigen  (iesetzgebung  die  so  zahlreichen ,  frivol  hervor- 
gerufenen, meist  ergebnislos  verlaufenden  Arbeitseinstellungen  all- 
mählich in  Abnahme  kommen  und  wieder  der  Friede  zwischen  ge- 
werblichen Arbeitern  und  deren  Arbeitsgebern  eintrete,  damit  aber 
eine  geregelte  ordnungsgemäfse  Gewerbsthätigkcit  sich  einwickeln 
werde."  Nur  „solange  sie  die  Strikebeweguiigen  leiten,  haben  die 
Strikcführer  die  Mittel  zu  einem  Lebensunterhalt,  welcher  sie 
wirtschaftlich  über  den  Kreis  der  durch  sie  verführten  Arbeiter  er- 
hebt und  davor  bewahrt,  selbst  die  niühe\olle  Arbeit  an  Stelle  der 
leichten  Agitation  aufzunehmen."  Ks  wird  daher  von  dem  Innungs- 
verbandc  beantragt,  „im  Aufsichtswege  Anordnungen  zu  treffen, 
durch  welche  die  X'erwaltungs-  und  Polizeibehörden  angewiesen 
werden,  innerhalb  der  gesetzlichen  (irenzen  den  arbeitswilligen 
und  friedlich  lebende  nArbeitern  Schutz  gegen  Vergewaltigung  durch 
ruheslörendc  arbeitsscheue  Personen  zu  verschatfen,  uml  den 
Anklagebehörden  das  Hriicbcn  der  öftentlichen  Anklage  gegen 
solche,  insonderheit  gegen  die  Leiter  der  Strikcbewegung,  als  An- 
stifter dazu,  anempfohlen  wird."  Die  in  der  Denkschrift  zusammen- 
gestellten Aeufeerungen  der  Anklage-  und  Polizeibehörden,  sowie 
von  Strafkammern,  nehmen  sich  wie  ein  Verteidigungspladoyer  gegen 
diese  Anklagen  der  Unternehmer  aus.  Es  wird  insbesondere  nach- 
gewiesen, dais  die  dermalen  geltenden  Grundsatze  des  strafprozes- 
sualen Verlahrens,  insbesondere  des  Beweisverfehrens,  und  die  Grund- 
Satze  des  materiellen  Strafgesetzes  bedauerlicherweise  nicht  ennög* 
liehen,  die  Strikefährer  in  jedem  Falle  zu  treffen.  —  Indessen  waren 
die  Anklage-  und  Polizeibehörden  durch  das  in  Frage  stehende 
Rundschreiben  direkt  angewiesen,  sich  darüber  zu  erklären,  ob 
iiicht  eine  Wiederaufnahme  der  in  der  Gewerbeordnungsnovelle 


*)  Vgl.  den  Wordaat  bei  Legien,  Du  KMlitumsrecfat,  S.  113— 118. 


Digitized  by  Google 


546 


Theodor  Loevenfeldt 


vom  Jahre  1890  zu  §  153  gemachten  Abänderunj^svorschlägc  ge- 
boten sei  und  zwar  sowohl  zur  Erweiterung  der  strafbaren  That- 
beständc  als  auch  zur  Verschärfung  des  zur  Anwendung  kommenden 
Strafmafses.  Eine  Reihe  von  weiteren  Fragen  fordern  dazu  auf,  nach 
Lücken  des  g  c  1 1  e  n  d  e  n  S  t  r  a  f  r  e  c  h  t  c  s  zu  forschen.  Die  Denk- 
schrift zeigt  die  Ergebnisse  dieser  den  Staatsanwälten  aufgetragenen 
Forscliung.  Dafs  sie  su  bj  e  k  t  i  v  dazu  nicht  kumjietent  gewesen,  kann 
man  angesichts  der  aintliciien  Veranl. issung  ihrer  I  hätigkeit  gewils 
nicht  sagen.  Dadurch  wird  an  der  1  hat>ache  nichts  geändert,  dafs 
der  Gesetzgebung  des  Deutschen  Reichs  in  dieser  Materie  andere 
berufenere  Organe  für  diese  Begutachtung  zur  Verfügung  standen, 
wenn  sie  auch  nicht  auserwählt  wurden.  Die  Frage,  wie  die  Thätig« 
keit  der  Koalitionen  friedlicher  gestaltet  und  vor  Ausschreitungen 
bewahrt  werden  könne,  ist  keine  Frage  der  Kriminal-  und  Straf- 
prozeGspolitik,  (lir  welche  die  Praktiker  der  Strafjustiz  in  erster 
Reihe  die  richtigen  Gutachter  wären.  Die  zu  entscheidende  Frage 
gehört  vielmehr  der  Sozialpolitik  an.  Zu  Gutachten  in  der- 
artigen  Fragen  stehen  den  gesetzgebenden  Faktoren  des  Deutschen 
Reiches  andere  amtliche  Organe  kraft  ihren  Berufe  und  mit  wirk- 
lieber  Sachkenntnis  zur  VeHiigung.  Von  Anhörung  dieser  Oi^^ane 
hat  man  Umgang  genommen«  Jastrow')  weist  mit  Recht  darauf 
hin,  dafs  das  Reichsgesetz  betreffend  die  Gewerbegerichte  für  Gesetz- 
gebungsfragen der  hier  vorliegenden  Art  die  Gewerbegerichte 
zur  Abgabe  von  Gutachten  beruft  und  verpflichtet.  Diese  sind  mit 
Mertrauensmännern  beider  interessierter  Parteien,  der  Unternehmer 
wie  der  Arbeiter,  und  weiter  mit  völlig  unbeteiligten  Benife- 
beamten  besetzt.  Die  Gewerbegerichte  haben  auch  das  gesetzliche 
Recht  nach  §  70  Abs.  3  des  Gewerbegerichtsgesetzes,  ohne  Auf- 
forderung Gutachten  in  solchen  Dingen  abzugeben.  Der  Verdrän- 
gung aus  ihrem  Gutachterberuf  durch  die  .Staatsanwälte  haben  sich 
^e  Gewerbegerichte  nicht  stillschweigend  gefügt,  sondern  mehrfach 
sich  spontan  über  die  Vorlage  in  Petitionen  an  den  Bundesrat  und 
den  Reichtag  gcäulsert.  Das  Gewerbegericht  Berlin  hat  sich  unterm 
17.  Juni  1899  dahin  ausgebrochen:  „i.  Die  Bestimmungen  des  Ent- 
wurfes liegen  weder  im  Interesse  der  Arbeitgeber  noch  der  Arbeit- 
nehmer; 2.  die  durch  den  Gesetzentwurf  angestrebte  Beschränkung 
des  Koalitionsrechtes  kann  für  die  gesunde  I'.ntwicklung  ilcr  gewerb- 
lichen Verhältnisse  im  Deutsclien  Reiche  nur  schädlich  sein^  3.  die 


»)  1.  c.  S.  S5  ff. 


Digitized  by 


KoflÜtioiisrecht  und  Strafrecbt. 


547 


z,  Zt  bestehenden  gesetzlichen  Bestimmungen  bieten  Arbeitswilligen 
ausreichenden  Schutz.**  Dieser  Erklärung  hat  sich  eine  Reihe  von 

Gewerbegerichten  anfjeschlossen. 

Neben  den  Gewerbegerichten  waren  die  Fabrik-  und  Gc- 
Werbeinspektoren  berufene  Gutachter,  weil  denselben  die  Be* 
Ziehungen  von  Arbeitern  und  Unternehmern,  die  Arbeitszustände 
überhaupt  bekannt,  weil  sie  ferner  die  Arbeiterbewegungen  über- 
aupt ,  niclit  blofs  diejenigen  kennen  lernen,  bei  welchen  Aus- 
tclircitungcn  vorkommen.  Die  vorlicj:^enclen  Berichte  derselben, 
die  schon  aus  zeitlichen  Gründen  ohne  jede  Rücksicht  auf  die 
Vorlage  vcrfafst  und  seit  Jahren  veröffentlicht  worden  sintl,  daher 
auch  der  Kritik  der  (\'ffentlichkeit  ausgesetzt  waren,  ergeben 
aber,  dafs  Ausschreitungen  bei  Arbeiterbewegungen,  so  st.itthch 
sich  deren  Zusammenstellung  für  das  ganze  Deutsche  Reich  für  eine 
bis  1H89  zurückreichende  Zeit  ausnehmen  mag  —  soweit  geht  die 
Denkschrift  zurück      zu  den  Ausnahmen  gehören. 

Das  Reich  besitzt  fiir  Erhebung  von  Arbeitsverhaltnissen  femer 
eine  eigene  Kommission  für  Arbeiterstatistik,  und  es  wäre 
daher  auch  leicht  möglich  gewesen,  die  Eindrüdce,  welche  sich  aus 
den  Berichten  der  Fabrikin^ktoren  aufdrangen,  von  derselben  in 
jenem  geordneten  Ver&hren  nachprüfen  zu  lassen,  auf  Grund  dessen 
diese  Kommisaon  schon  mit  Erfo^  eine  Reihe  von  Ermittelungen 
angestellt  hat,  auf  Grund  desselben  Verfiüirens,  das  auch  in  anderen 
Ländern  erprobt  und  vor  allem  in  England  von  jeher  angewendet 
worden  st  Dabei  hätten  allerdings  auch  die  Ursachen  der  Aus- 
sei! reitungen  zur  Sprache  kommen  müssen,  das  Verhalten  der  Unter- 
nehmer, die  Zu-  und  Mifsstände  in  gewerblichen  Unternehmuf^;en, 
das  Verhalten  des  flottanten  Teils  der  Arbeiterkoalitionen,  dem 
von  Sachkundigen  die  Ausschreitungen  hauptsächlich  zugeschrieben 
werden,  des  ferneren  das  Verhalten  der  „Arbcitswilhgen" :  es  hätte 
sich  nicht  um^^ehen  lassen,  die  Provenienz  der  bei  Ausschreitungen 
beteiligten  Arbeiter  zu  prüfen,  wobei  schon  bei  obertläcliücher  Bc- 
traciitung  in  die  Aii^an  fällt,  dafs  der  grölscre Teil  derselben  auf  Arbciter- 
kategorieen  fällt,  die  aus  ländlichen  Bezirken  stammen,  "^wie 
zumeist  die  Maurer],  ja  teilweise  aus  kulturell  ganz  besonders  ver- 
nachlässigten Bezirken,  die  auch  sonst  eine  höhere  Deliktsfrcijucnz 
-aufweisen.  Der  Ausscheidung  derjenigen  Ursachen  von  Roheits- 
exzessen, wekhe  mit  der  Arbeiterbewegung  gar  nichts  zu  thun  haben, 
irdche  in  den  Berichten  der  Staatsanwaltschaften  vollständig  vemach- 


Digitized  by  Google 


Theod»r  jLoewenfeldt 

lassifi^t  worden,  miifste  die  erfordcriiclie  Aufmerksamkeit  zugewendet 
werden.  Die  Konunission  hätte  nicht  blofs  Zeuj.jen  und  Sach\  erstäiidi^e 
aus  den  Kreisen  der  Beteih^ten  und  aus  unbctciH<];^tcn  Kreisen,  insbe- 
sondere aus  \v  i  s  s  e  n  s  c  Ii  a  i  1 1  i  c  h  e  n  und  technischen  Berufen,  zu  ver- 
nehmen, sotidern  vor  allem  die  ^geschichtlichen  Urkunden  der  Ar- 
beiterbewcj^ung  zu  sammeln;  die  FrotoküUe  der  Arbeiterkongresse,  ihre 
Statistiken,  ihre  Rechnungsergebnisse,  ihre  gedruckten  Ordnungen, 
insbesondere  ihre  Strikereglements;  ihre  Arbeiten  in&chen  des 
Arbeiterschutzes,  ihre  den  Behörden  eingereichten  Petitionen  und  zu 
deren  Ergänzung  die  Berichte  der  Behörden  der  Unfiülverstcherung 
und  der  Krankenversicherung.  Des  ferneren  die  auf  die  Arbeiterbewe^ 
gungen  bezüglichen  Urkunden  derUnternehmerpartei,  die  Statuten 
der  Arbeitgeberkoalitionen,  ihre  Arbeitsnachweisr^lements,  die 
Formulare  der  Arbeiterentlassung  und  der  schwarzen  Listen,  ihre  Er- 
klärungen und  Petitionen  in  Sachen  des  Arbeitsnachweises.  Es  wäre 
weiter  festzustellen  ihr  Verhalten  in  Sachen  des  Arbeiterschutze^ 
insbesondere  gegenüber  den  Behörden;  die  Statistik  der  Untcr^ 
nehmerdelikte  in  Sachen  des  Arbeiterschut/cs ;  ihr  Verhalten  zu  den 
Organisationen  der  Arbeiter  in  Zeiten  des  Friedens  und  bei  Strikes 
und  Aussperrun|Ten ;  das  Verfahren  bei  Heranziehen  von  Ersatzkräftea 
für  strikende  und  aus^^esperrtc  Arl)eiter,  insliesondcro  das  rro/.ent- 
verhaltnis  ausländischer  Arbeiter,  die  Merknnfl  dieser  letzteren, 
ihre  Kultur-  insbesondere  Konsumverhältnissc,  Srf- hall  ig  Weit,  Binncn- 
und  Ruckwanderun^^^en  derselben,  ihr  Anteil  an  TAlikten;  ihre  ge- 
werbsniälsii^'c  .\usl)ilduni^.  Des  ferneren  l'rsachcn,  Ziele,  Verlauf, 
Kriolge,  Kosten,  insl)esondere  die  \  erluste  an  Arbeitstai^en  bei 
Strikebewegungen  überhaupt  richtige  Strikestatistik  und  Strike- 
detiktastatistik ;  die  Hebung  des  V^erhandlungsprinzips  durch 
Arbeiter  und  Unternehmer,  Arbeiterkoalitionen  uimI  Untomehmerr 
koalitionen ;  der  Anteil  der  erstehen  und  der  letzteren  an  friedlichen 
Verhandlungen  und  die  Verkehrsformen  beider  Parteien  bei  den 
letzteren.  Weiter  Intervention  und  Nichtintervention  der  Behörden 


')  Im  Jalirc  1897  fand  bei  578  Strikt-s  «in  Ausfall  von  l'  *  Millionen  Arlaits- 
tagen  statt.  Das  Jahr  hat  bei  6—7  Millionen  Industriearbeitern  iJioo— 2000  Mil- 
lionen Arbeitstage.  Ein  einsiger  neuer  Feiertag,  der  angeordnet  wird,  bewirkt 
mit  dem  Vencicht  avf  6—7  Millionen  Arbeitartageni  einen  gröfsem  AnsfaU,  als  «iint> 
liebe  Strika.  Die  AibeitskMigkeit  von  nnr  300000  nnvcndiuldet  itdlenkMen  A>- 
Iwitem  bewirkt  einen  AusfaU  ^von  60  Millionen  Arbcilitagen  (Soc.  Praxis  189S 
S.  1307). 


Digitized  by  Google 


Ko»Mrtci(iMw;ht  md  Simfredit. 


S49 


im  friedlichen  und  im  streiti^ren  Verkehr  zwischen  den  l'nter- 
nehmern  und  Arbeitern  und  ihr  \'erhalten  bei  Ausschreitungen. 
Vcrgleicliende  Krhebungen  der  einzehien  bei  Ausschrcitunfjen  vor- 
kommenden Gattungen  \c)n  DeUkten  mit  dem  X'orkommcn  der- 
selben Delikte  bei  anderen  ]k'\  ölkerungsklassen.  X'ergleichende  Er- 
mittelung der  nach  gehendem  Rechte  straflosen  Arbeiterausschrei- 
tungeu  im  Hinblicke  auf  das  Vorkommen  derselben  straflosen  Aus- 
schreitungen bei  anderen  Bcvölkerungsklassen. 

Diese  Erhebungen  würden  allerdings  eine  bei  weitem  schwierigere 
und  umfassendere  Arbeit,  als  die  in  der  Denkschrift  niedergelegte 
darstellen;  sie  würden  aber  eine  ungleich  verlässigere  Grund* 
hge  für  die  Beantwortung  der  vorliegenden  Gesetzgebungsfragen 
bieten  ab  die  M^enkschrift".  Die  letztere  hat  in*  und  aufserhalb 
des  Reichstags  einen  derart  schlechten  Eindruck  gemacht,  da(s  die 
Vertreter  der  R^ierung  sie  zu  desavouieren  versuchten.  \yährend 
dieselbe  ursprünglich  eine  „(jnindlage"  für  die  Verhandlungen  sein 
sollte,  wurde  spater  erklart,  sie  sei  überhaupt  „keine  Begründung  der 
Vorlage,  sondern  solle  nur  „ein  allgemeines  Bild  der  Arbeiterbewegung^ 
geben.  ^)  Die  Erklärung,  dass  die  Denkschrift  ein  „Bild  der  Ar- 
beiterbewegung" bietet«  ist  gewUs  ungemein  bezeichnend  für 
die  Auffassung,  die  in  gewissen  Kreisen  über  die  Arbeiterbewegung 
herrscht.  Was  würde  man  wohl  sagen,  wenn  eine  Zusammen- 
stcllutig  aller  studentischen  Kohlu-itsdelikte  und  l'nfiiL,^sreate,  welche 
im  Laufe  von  zt  hn  lahri  ii  in  Deutschland  sich  ereit/iu  t  habt-n,  als 
„ein  Bikl  iler  l  in\ ersitat>i>L\vegung"  «xler  wenn  eine  Zusammen- 
stellung der  X'erurteilungen  wegen  betrüget isclien  Hankerutts,  wegen 
Betrugs,  rrkundenfälschung ,  wegen  unlauteren  Wettbewerbes, 
Lebensmittel-  und  sonstigen  W  arenläischung ,  Zollbetrugereien, 
wegen  Vergehens  wider  das  Arbeiterschutzgesetz  als  ein  „Bild  tler 
Entwicklung  von  Handel  und  Industrie"  ausgegeben  würde  ?  Derartige 
Denkschriften  würden  ja  gewib  ebenfalls  sehr  stattlich  ausfallen. 

Noch  seltsamer  als  das  angebliche  ,3üd  der  Arbeiterbewegung" 
ist  die  Statistik  der  Strikevei^rehen  in  der  Begründung  der  Vorlage. 
Sieteüt  ein&ch  die  Zahlen  der  Verurteilungen  aus  §  153  mit,  ohne 
anzugeben,  wie  sich  die  Zahlen  zur  Zahl  der  an  Strikes  beteUigten 
Personen  verhalten.  Letzteres  hat  einen  sehr  einfachen  Grund. 
Eine  amtliche  Strikestatistik  für  das  Deutsche  Reich,hat  —  abgesehen 


*)  VgL  die  Rede  des  StMtssekfctSrs  der  Jaatis  Nicberding  äm  20.  Juni  1899. 
Stca.  Ber.  m.  a.  O.  S.  2675/4;  des  Staatssekretin  des  Innern  am  at.  Juni  1899,  S.  2617. 


Digiiized  by  Google 


550 


Theodor  Loewenfeld, 


von  einer  höchst  dilettantischen  ungenügenden,  im  Jahre  1890  zum 
Zwecke  der  Begründung  der  damals  vorgeschlagenen  Kontraktbradi- 
strafen  hei^estellten  Arbeit  —  bisher  überhaupt  nicht  existierL  Erst 
mit  dem  i.  Januar  1899  haben  für  das  ganze  Gebiet  des  deutschen 
keiches  die  auf  einem  Bundesratsbeschlusse  vom  16.  Juni  1899  be- 
ruhenden amtlichen  Erhebungen  über  Strikes  und  Aussperrungen 
ihren  Anfiuig  genommen,  durch  welche  eine  fortlaufende  Statistik 
der  Kampfe  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern  gieschaffen 
werden  solL  Für  die  Begründung  war  diese  amtliche  Statistik 
nidit  mehr  verwendbar.  In  den  Reichstagsverhandlungen  wurde 
ohne  Widerspruch  seitens  der  Regierung,  auf  Grund  der  Gewerk- 
schaftsstatistik festgestellt,  wie  sich  die  Zahl  der  Verurteilungen 
aus  §  153  y.yxv  Zahl  der  an  Strikes  und  Aussperrui^n  Beteiligten 
in  der  Zeit  stellt,  mit  welcher  die  Begründung  rechnet,  nämlich  in 
den  Jahren  1S92 — 1897.  Während  dieser  Zeit  beteiligten  sich  an 
Strikes  235675  Arbeiter.  Davon  wurden  auf  Grund  von  §  153 
verurteilt:  758  ==  3,6  Prozent,  ein  Prozentsatz,  welcher  weit  unter 
demjcniiren  der  Beteiligung  der  strafmündigen  Bevölkerui^  des  Reichs 
an  der  ( iesamt/ahl  der  Delikte  bleibt.')  Aber  auch,  wenn  man 
ledii;Iich  die  miti^eteilten  Zahlen  der  Verurteilungjen  nach  §  153 
G.(^.  ins  Auge  fafst,  ergiebt  sich  das  Gegenteil  dessen,  was  diese 
Zahlen  beweisen  sollen,  sobald  man  hinter  das  willkürlich  ge- 
wählte Anfangsjahr  1892  zurückgeht  und  die  Jahre  1889 — 1893  in 
die  Rechnung  stellt.  Dann  crgiebt  sich,  dafs  die  X'erurteilungszahl 
des  Jahres  1890  seither  n  i  c  h  t  mehr  erreicht  worden  ist  trotz 
der  grofsen  Zunahme  der  Zahl  der  industriellen  Arbeiter.  fc!s  ergiebt 
sich  ferner,  wie  Tön  nies  nacliweist,  dafs  überhaupt.  ..soweit  an  den 
Vergehungen  gegen  den  eigentlichen  Slrikeparagraphen  mefsbar.  das 
Betragen  der  industriellen  Arbeiter  hinsichtlich  des  Koalitionszwanges 
sich  erheblich  gebessert  hat".*)  Mit  Recht  ist  her\'orge hoben 
worden,  ilals  die  Kriminalstatistik  der  Strikeverirehen  noch  aus 
einem  anderen  tirundc  nichts  oder  <las  Gegenteil  dessen  beweist, 
was  sie  beweisen  soll.  •''1  Sie  beweist,  dafs  auf  ( irund  des  geltenden 
Rechtes  die  Verurteilung  in  zahlreichen  Fällen  erfolgte,  also  mc^lich 


*i  Vgl.  Sten.  Ber.  S.  2650. 

-)  Professor  Ferdinand  Tön&ies  in  Nr.  5  der  „sotialen  Pnuds"  tocd  3.  Nor. 
1899,  S.  106  ff.  bes.  S.  107. 

*)  Professor  Dr.  R.  v.  Lilientbal  in  Nr.  21  der  deutschen  Jnristenzcituns 
Tom  t.  Not.  1899  S.  435. 


Digitized  by  Google 


f 


XoalitkMMKeht  und  Stnfreeht 

war.  Sic  hat  gar  keine  Beziehung  zu  Fällen  angeblicher  Aus- 
schreitungen, in  welchen  keine  Verurteilung  oder  nicht  einmal  eine 
Anklage  erfolgen  konnte.  Denn  diese  Fälle  erscheinen  in  der 
Kriminalstatistik  nicht.  Auch  die  sorgfaltigsten  statistischen  Er* 
hebungen  können  in  dieser  Beziehung  kein  Material  bringen,  so- 
lange nicht  alle  doMlnen  Strikefalle  daraufhin  untersii^t  würden, 
•inwieweit  das  dabei  von  den  Arbeitern  eingeschlagene  Verfahren 
nach  irgendwelchen  noch  nicht  vorhandenen  Strafgesetzen 
Strafe  verdient  Dabei  müfste  aber  der  Arbeit  des  Statistikers  ein 
Material  zu  Grunde  liegen,  das  erheblich  zuverlässij^^er  wäre,  als  das 
derzeit  in  der  Denkschrift  vorliegende.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs 
dies  iibcrhau])t  keine  Auft^^abe  der  Kriminalstatistik  ist.  Darum  ist 
alle  Berufung  auf  die  letztere  einerseits  nutzlos  für  die  Freunde  der 
Vorlage,  andrerseits  gegen  sie  beweisend. 

Die  Begründung  versucht,  eine  Zunahme  der  Verbrechen 
und  VY^gchen  gegen  die  Person  (Beleidigungen,  Körpcr\'erletzungcn, 
'  Nötigungen,  Bedrohungen)  für  die  Behauptung  einer  angeblichen 
Zunahme  von  Strikevergehen  und  Strikeverbreciien  zu  benützen. 
Dieser  X'ersuch  steht  in  der  Luft,  da  die  Begründung  selbst  angicbt, 
dafs  die  Statistik  der  nach  gemeinem  Strafrechte  erfolgten 
\'erurteilungen  bisher  eine  Ausscheidung  eigentliclier  Suikereate 
nicht  vorgenommen  hat  Vergleicht  man  aber  die  Zahlen  dieser 
Kriminalstatistik  mit  einander  einerseits  und  mit  den  durch  die 
Wissenschaft  bisher  festgestellten  Bewegungen  der  Strikefrequenz 
fiir  die  gleiche  Zeit,  so  cigiebt  sich,  dals  die  Zunahme  der  Ver- 
urteüui^en  am  stärksten  ist  während  der  geringsten  Strikebewegung, 
während  welcher  auch  die  Verurteilungen  aus  §  153  G.O.  die  ge- 
ringste  Zahl  aufweisen,  und  dals  die  Zahlen  der  Statistik  der  Ver- 
brechen gegen  die  Person  sich  vermindern  zu  einer  Zeit  „zu  welcher 
die  Strikewogen  am  höchsten  gingen".^)  Des  weiteren  ergiebt 
eine  Untersuchung  dieser  allgemeinen  Verbrechensstatistik  nach 
geographischen  Bezirken,  dals  die  Zahlen  der  Venirtdlui^n  in 
hochindustriellen  Bezirken,  in  den  Bezirken  mit  der  stärksten 
industriellen  Bevölkerung,  niedriger  sind  als  in  den  überwiegend 
agrarischen  Gebieten,  in  welchen  die  Industrie  am  wenigsten 
entwickelt  ist,  in  welchen  aber  auch  die  Koalitionen  der  Arbeiter  und 
deren  Disziplinierung  die  geringsten  Fortschritte  aufweisen  und  dals 
diese  letzteren  Bezirke  inbezug  auf  die  Belastung  dtirch  diese 


<)  Tönnies  L  c.  S.  108. 
Afdav  für  Ml.  GcMtic«baag  o.  Statbtik.  XIV.  3^ 


Digitized  by  Google 


I 


Kriminalstalistik  gerade  an  der  Spitze  stehen.  Das  sind  That- 
-sachen,  welche  die  Schlüsse  der  Denkschrift  aus  dem  Zunehmen 
-der  Zahlen  der  KriminalsUtistik  inbezug  auf  das  Verhalten  der  ge- 
•wcrtiMieti  Arbeiter  in  das  Gegeoteil  verkehren. 

Seither  habe»  Veröffentlichungen  duier  amtlichen  Strikestatistik 
.iur  das  ganze  Deutsche  Reich  begonnen; ')  dieselben  bezeichnen  sich 
indessen  selbst  als  nur  provisorisch  und  deuten  Fehlerquellen  an» 
welche  mehrfach  durch  die  Kritik  bestätigt  worden  sind.  Insbe- 
sondere sind  erhebliche  Auslassungen  inbezug  auf  die  Zahl  der 
.Strikes  und  der  bei  solchen  beteiligten  Personen  festgestellt  worden. 
.Man  hat  den  Versuch  gemacht»  aus  dieser  Statistik  eine  Zunahme 
von  Kontraktbrtichen  nachzuweisen.  Die  Vorlage  hat  zwar 
die  Vorschläge  von  1890  inbezug  auf  die  Bestrafung  des 
Kontraktbruches  nicht  offen  wieder  au%aiommen;  sie  strebt 
dieselbe  aber,  wie  noch  zu  zeigen  ist,  auf  verstecktem  Wege 
an.  Darum  ist  von  Bedeutung,  dafs  auch  diese  Kontraktbruch- 
statistik schon  wegen  der  Mangelhaftigkeit  der  Krmittlungen, 
die  ihr  zu  drunde  liegen,  als  verlässig  nicht  betrachtet  werden 
kann.  l".s  gilt  von  ihr  alles  das,  was  ich  vor  g  Jahren  gegenüber  den 
damaligen  X'ersuchen,  die  Xotweruiigkeit  einer  Bestrafung  des 
Kontrakthruchcs  statistisch  zu  beweisen,  ausgeführt  habe.  Die 
angeblicluMi  Kontraktbruche  der  Arbeiter  erweisen  sich,  wenn  sie 
gerichtlich  geprüft  werden,  wozu  das  Gewerbegericht  Veran- 
lassung hat,  nicht  selten  als  Kontraktbrüche  der  Unternehmer; 
•weiter  müfste,  um  eine  derartige  Statistik  der  Vertragsverletzungen 
.der  gewerblichen  Arbeiter  zu  würdigen,  der  statistische  Stand  der 
Vertragstreue  in  der  Bevölkerung  überhaupt  beleuchtet  werden,  wo- 
■för  die  Justizstatistiken  eine  Grundlage  bieten;  und  nur  dann,  wenn 
-die  Arbeiter  sich  zu  ihrem  Nachteile  von  der  übrigen  Bevölkerung, 
ind>esondere  den  höheren  Klassen  derselben,  unterscheiden  würden 
auf  Grund  einer  Prüfung,  welche  die  Umstände  der  einzelnen  Fälle 
mit  ins  Auge  fassen  müfste,  könnten  gesetzgeberische  Schlüsse 
gegen  die  Arbeiter  gezogen  werden.  Die  Verhandlungen  der  Ge- 
Averbcgcrichtc  bieten  mehr  Belege  für  Kontraktbrüche  der  gewerb- 
lichen Unternehmer  als  für  diejenigen  der  gewerblichen  Arbeiter, 
obwohl  die  Ansprüche  der  Arbeitgeber  aus  Kontraktbrüchen  durch 
■§  124  b  (i.O.  —  das  Ergebnis  eines,  einjährigen  Kampfes  —  von 


Vit^rtrljahrshcftc  zur  Statistik  des  l)out>chcn  Reiches,  lieralUgcgeben  von 
kabtrUchcD  Statistischen  Amt  II.  u.  III.  Heft  1S99.. 


Digitized  by  Google 


KpaBtionmdit  and  StnfKdit 

allen   proaessualen  Schwierigkeiten   des  gewöhnlichen  Schadlos» 

CTSatzanspruches  befreit  worden  sind. 

YL  Wir  haben  im  folgenden,  nachdem  wir  bisher  einzelne 
Bestimmungen  der  Vorlage  mit  dem  geltenden  Rechte 
und  seiner  Anwendung  verglichen,  den  Gesetzent- 
wurf als  Ganzes  zu  besprechen. 

I.  Die  Vorlage  soll  nicht  lediglich  einen  Ersatz  für  §  153 
G.O.  bilden,  welcher  in  §  11  derselben  aufgehoben  wird.  Die  Be» 
gründung  S.  8  sagt,  es  handle  sich  nicht  „um  ein  besonderes  Ge» 
werberecht,  sondern  über  das  Gebiet  der  Gewerbeordnung  hinaus- 
gehend  um  das  allgemeine  Recht,  Krwcrb  und  Arbeit  da  zu 
suchen  oder  zu  geben,  wo  und  wie  es  jeder  nach  eigener  Knt- 
schlielsung  am  besten  vermag,  ohne  zu  Anderer  V  orteil  durch  Zwang 
oder  Einschüchterung  sich  an  der  liethaligung  seines  Kiitschlusses 
gehindert  zu  sehen.  Dem  entspricht  es,  die  X'orschriftcn  zum  Schutze 
jenes  Rechtes  aus  der  Verbindung  mit  der  Gewerbeordnung  zu 
lösen,  damit  daran,  soweit  ein  Bedürfnis  vorliegt,  auch  solche  Be- 
triebe teilhaben  können,  die  den  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung 
nicht  unterliegen.  Der  Entwurf  stellt  sicii  daher  nicht  als  eine 
Novelle  zur  Gewerbeordnung  dar,  sondern  als  ein  Gesetz  von  allge- 
meinerer Geltung,  das  zugleich  die  Vorschriften  des  i;  133  (j.O. 
•zu  ersetzen  bestimmt  ist."  Mit  dieser  Erklärung  steht  die  Bezeicii- 
nung  des  Ciesetzentwurfes  als  „Enlwurl  euies  Gesetzes  zum  .Schutze 
des  gewerblichen  Arbeitsverhältnisses"  anscheinend  in  Wider- 
spruch. Der  Widerspruch  wird  jedoch  durch  §  10  der  Vorlage 
und  die  Begründung  dazu  beseitigt  Durch  die  „allgemeinere" 
•Geltung  sollte  vor  allem  ermöglicht  werden,  die  Strafvorscfafiften 
der  Vorlage  auch  auf  die  Arbeiter  anzuwenden,  welche  in  gewissen 
Reichs-,  Staats-  und  Giemeinde-  und  Eisenbahnbetrieben  beschäftigt 
sind,  bezüglich  deren  als  zweifelhaft  erachtet  wurde,  ob  und  wie 
weit  dieselben  unter  die  Gewerbeordnung  fallen.  Im  übrigen  werden 
in  §  10  Z.  I  als  Gegenstande  der  Vorschriften  dieses  Gesetzes  er- 
klärt: „Arbeits-  und  Dienstverhaltnisse,  die  unter  §  152  G.O. 
.fisdlen".  Sie  sollen  hienach  keine  Anwendung  finden  z.  B.  auf 
.die  Arbeits-  und  Dienstverhältnisse  des  ländlichen  und  stadtischen 
Gesindes,  wohL  aus  dem  Grunde,  weil  man  der  Ansicht  ist,  dafs 
.Dienstboten  überhaupt  des  Koalitionsrechtes  entbehren,  eine  An- 
nahme;, die  indessen  nicht  durchgehends  richtig  sein  dürfte.  Nach 
bayerischem  Rechte  z..  B.  ist  ein  solches  Verbot  weder  aus  dem 

36*. 


Digitized  by  Google 


S54 


Theodor  Loewenfcld, 


Pol i/ei recht  überhaupt  noch  insbesondere  aus  dem  Vereinsrechte 
zu  entnehmen. 

2.  §.  152  G.O.  wird  durch  den  Kntwurf  nicht  berührt.  Die 
Frage,  ob  etwa  durch  §  54  B.(t.H.  die  Ik\stimmiin}:;cn  des  Abs.  II 
von  §  152  eine  Aenderunj^  erfahren  haben,  ist  zu  verneinen.  Die 
in  der  Denkschrift  S.  70  ff.,  in  der  Jk-^ründunjj^  S.  7  heliandcltc 
Rechtssprechun<^  nimmt  an,  dafs  eine  Arbeitseinstelhinj:^  nicht  unter 
§  152  G.O.  fäUt,  welche  nicht  eine  „Hecinllussunj^  der  Löhne  und 
konkreten  Arbeitsbedingungen  bezweckt,  sondern  andere  Ziele  ver- 
folgt, z.  B.  die  Entlassung;  nicht  orj^anisierter  Arbeiter,  mifslicbiger 
Werkmeister  und  Betriebsbeamter,  die  Wiedereinstellung  gemafs- 
regelter  Arbeiter,  die  Benützung  oder  Nichtbenützung  eines  be- 
stimmten  Arbeitsnachweises.*'  Die  Kämpfe  um  solche  Ziele  sollen 
nicht  unter  den  Begriff  der  „Erlangung  günstigerer  Lohn-  und 
Arbeitsbedingungen"  fidlen  und  deswegen  ist  nach  der  Darstellung 
der  Denkschrift  und  der  Begründung  in  einer  Reihe  von  Fällen 
eine  Verurteilung  aus  §  153  unm^lich  gewesen ,  da  es  sidi 
gerade  um  solche  Fälle  von  „Kraftproben  und  um  Eingriffe  in  die 
Selbständigkeit  der  Betriebsleitung"  gehandelt  habe. 

Diese  Auffassung  verkennt  den  Begriff  der  „Arbeitsbedingungen" 
vollkommen.  VgL  oben  S.  475,  530.  Wenn  aber  in  der  That  diese 
Dinge  nicht  unter  §152  G.O.  fallen  würden,  so  könnten  hierauf 
bezügliche  Vereinigungen  und  \'erabredungen  der  Arbeiter  den 
Schutz  des  §  54  B.G.B,  und  des  Gesellschaftsrechtes  des  B.G.B, 
beanspruchen,  ohne  Rücksicht  auf  die  allgemeine  l'rage,  oh  152 
der  (j.O.  durch  das  B.G.B,  lierührt  worden  ist  oder  nicht.  Auch  liie 
Unternehmerkoalition  hat  vielfacli  mit  derarti^^en  angeblich  nicht  unter 
den  Begriff  der  Erlangung  „günstiger  Arbeitsbedingungen"  fallenden 
Zielen  zu  thun;  bekanntlich  sind  Strikcs  sehr  häufig  durch  die 
Forderung  vcranlafst  worden,  dafs  .Arbeiter  aus  ih  rem  Fachver- 
cin  austreten;  der  in  der  Denkschrift  mehrfach  erwähnte  Strike 
von  Torgelow  wurde  dadurch  veranlafst,  dafs  Unternehmer,  welche 
beim  Gewerbegericfate  sich  verpflichtet  hatten,  .sich  um  den  Fach» 
verein  der  Arbeiter  nicht  mehr  zu  kümmern»  dieser  Verpflichtung 
zuwider  den  Arbeitern  längere  Zeit  hindurch  die  Unterzeichnung 
eines  Reverses  abnötigten,  worin  sich  dieselben  verpflichteten,  aus 
dem  Fachverein  auszutreten.  Die  Zugehörigkeit  zu  einer  Gre- 
werkschaft  wird  unter  allerlei  beschimpfenden  Umschreibungen 
zu  den  Gründen  gerechnet,  aus  welchen  nach  den  Statuten  der  von 


Digitized  by  Google 


Koaliüonsrecht  und  Stimfirecht 


55S 


den  Arbeitgebern  gegründeten  Arbeitsnachweisanstalten  Arbeitem 
die  Aufoahme  nicht  nur  verweigert,  sondern  überhaupt  das  Er* 
langen  von  Arbeit  unmöglich  gemacht  werden  soU.  Der  Arbeits- 
nachweis des  Metallarbeitgeberverbandes  zu  Berlin  hat  es,  wie  oben 
S.  526  gezeigt»  fertig  gelMracht,  einen  Arbeiter  blofs  deswegen  aus 
Dcut^^rliLiiid  ZU  vertreiben,  weil  er  einen  Kranz  mit  roter  Schleife 
auf  den  Gräbern  der  Märzgefallenen  zu  Berlin  niedergelegt  hatte. 
Das  sind  ebenfalls  Dinge,  welche  mit  der  „Erlangung  günstiger 
Arbeitiibedin^un<^en"  nach  der  Anschauung  der  Begründung  dieser 
Vorlaj^e  nichts  zu  thun  haben  können,  auf  die  sich  §  152  G.O. 
daher  nicht  bezieht.  Dabei  ist  ein  erheblicher  Unterschied  zwischen 
den  „Kraftijroben"  der  Arbeiter  und  denjcni^^en  der  Unternehmer 
vorhanden.  Die  Arbeiter  haben  niemals  \  erlan^^ ,  dafs  die  Unter- 
nehmer überhaupt  keiner  Koalition  an^eliören  oder  diejenii^'cn, 
der  sie  an^eliören,  verlassen.  Kin  dcrarti}.;es  \'erlanj^fen  würde  trotz 
aller  Behauptungen  über  angeblichen  „Terrorismus"  der  Arbeiter 
dnfiwh  als  wahnsinnig  erachtet  werden.  Seitens  der  Unternehmer 
wird  diese  Fordernis  alltaglich  an  Arbeiter  gestellt.  In  diesen 
1  agen  eist  haben  die  Bauunternehmer  in  Frankfurt  a/M.  die  Aus- 
sperrung von  2500  Bauarbeitern  beschlossen;  weiter  beschäftigt 
sollen  nur  diejenigen  weiden,  welche  unterschriftlich  ^ch  ver- 
pflichten, ihrer  Organisation  nicht  mehr  anzugehören. 

Wenn  aber  derartige  Verabredungen  der  Arbeiter  oder  Unter- 
nehmer nicht  unter  §  152  G.O.  (allen  und  auch  nicht  etwa  wegen  Ver- 
stoßes gegen  die  guten  Sitten  ungültig  sind  (was  inbezug  auf  den  zuletzt 
erwähnten  Thatbestand  behauptet  werden  kann)  geniefsen  dieselben 
ab  I.  Januar  I90O  Klage-  und  Kinredeschutz  auf  Grund  von  §  54 
B.GJi.,  ebenso  wie  solcher  Schutz  dann  auch  den  Kartellen  der 
Unternehmer  als  Produzenten  und  Händler  und  den  Berufsvereinen 
der  Händler  und  Produzenten  nicht  \ersagt  werden  kann,  soweit 
sie  bisher  rcchthch  un;^eschützt  waren.  §  IS3  G.O.  vcrfol^'t  den 
Zweck,  den  Koalitions/.wang ,  welchen  §  152  durch  zivilrechtliciie 
Normen  ausschliefst,  auch  durch  strafrechtliche  Normen  fern- 
zuhalten. Sobald  das  Zivilrecht  einen  Koalitionszwanj^  zuläfst, 
welchen  bisiier  die  (iewerbeordnun^  niciit  kannte  lallt  auch  das 
gesetzgeberische  Motiv  hinweg,  welches  für  die  Setzung  der  Aus- 
nahmebestimmungen des  §  153  niafsgcbend  war.  Das  gemeine 
Straürecht  kennt  keine  Strafe  gegen  den  Gläubiger,  welcher  seinen 
Schuldner  durch  Drohung,  Ehrverletzung  oder  Verrufeerfclärung  zur 
Erfüllung  seiner  Pflicht  zu  zwingen  unteminunt  Auch  die  Gewerbe- 


Digitized  by  Google 


556 


Theodor  LoewenfeH, 


ordätli^  Würde  eine  Strafe  für  solchen  Zwanfj  nicht  eii^diihrt  haben, 
wenn  sie  überhaupt  ein  Recht,  in  Arbeiter-Koalitionssachen  zu 
zmn^en,  anerkannt  hätte.  Die  Vorlage  soll  in  erster  Linie  den 
§  153  ersetzen.  Nach  §  i  soll  insbesondere  derjenige  bestraft  wer- 
den, welcher  einen  anderen  zum  \'crhlciben  in  einer  Koalition 
zwinp^cn  will.  Die  Rcr^ründung  S.  11  sagt:  Die  Xöti'j^un«^  zur 
Befoli^uiig  einer  Verabredung  braucht  nicht  besonders  verboten 
zu  werden ,  weil  auch  dieser  Thatbestand  durch  das  X'erbot  der 
Nötigung  zur  Teilnahme  gedeckt  ist."  Kann  die  Befolgung  der 
Koalitionsverabredung  zivilrechtlich  eingeklagt  und  durch  zivilrecht- 
üche  Mittel  erzwungen  werden,  so  kann  nicht  die  „Drohung", 
welche  die  EffiUlung'eine  Verpflichtung  erzwingen  will,  also 
auf  einen  rechtmäfsigen  Zweck  gerichtet  ist  und  sich  keiner 
durch  das  Strafgesetz  verbotener  Mittel  (§  240}  bedient,  unter  Strafe 
gestellt  werden.  Eben  das  Gleiche  gilt  in  diesem  Falle  von  der 
Verru&erklärung  und  anderen  durch  das  Stra%esetzbuch  nicht 
verbotenen  Zwai^anitteln.  Wenn  und  soweit  es  kraft  Zivilredites 
nicht  Sache  des  „freien  Willens^  eines  Koalitionsteilnehmers 
ist,  ob  er  in  einer  Koalition  verbleiben  will  oder  nicht,  kann  ein 
Schutz  des  freien  Willens  durch  ein  Ausnahmestraf recht 
nicht  verlangt  werden. 

3.  Das  ö  f  f  e  ntliche  Vereinsrecht  verbleibt  zwar  wie  bisher 
dem  Landesrecht,  wird  aber  durch  die  X'orlage  mit  reichsrechtlichen 
Strafbestimmungen  sehr  gefälirlichcr  Art  ausgestattet.  Der  Wunsch 
nach  einem  Rcichsvcrcinsgcsctzc  wird  hiermit  in  unerwarteter  Weise 
erfüllt.  Während  §  153  der  (i.O.  nur  von  ra  b  r  e  d  u  n  ge  n  spricht, 
zu  welchen  oder  zu  deren  Befolgung  kein  Zwang  stattfinden  darf,  spricht 
§  I  der  Vorlage  von  ,,\' e  r  e  i  n  i  g u  n  ge  n  oder  Verabredungen"; 
§  I  bezieht  sich  al)er  nicht  blofs  auf  die  V'crcinigungen  und  \'er- 
abredungen,  welche  die  Erlangung  ;^'ünstiger  Lohn-  und  Arbeits- 
bedingungen in  konkreten  Fällen  bezwecken,  sondern  auf  Ver- 
einigungen und  Voabredungen,  welche  überhaupt  „eine  Einwirkung 
auf  die  Arbeits-  oder  LohnverhSltnisse"  bezwecken,  IMe  Arbeits- 
und  Lohnverhältnisse  müssen  nicht  die  Verhältnisse  der  sich  Ver- 
abredenden oder  der  Mitglieder  der  Vereinigung,  nicht  konkrete 
„Arbeits-  oder  Lohnverhältnisse"  der  Kämpfenden  sein.  Begründung 
S.g.  Vereinigungen,  welche  sich  nicht  mit  konkreten  Arbdts- 
und  Lohnverhaltnissen  be&ssen,  sind  aber  nach  der  Praxis  des  gelten- 
den, insbesondere  des  preulsischen  Vereinsrechtes  „politische" 
Vereine. 


Digitized  by  Google 


Koalitionsrecht  und  Strafrecbt. 

* 

Die  Vorlage  trifft  daher  politische  Verdiie  ebensogut  wie 
die  den  Beduigungen  des  §  152  G.O.  entsprechende  ArbeitetkoaHt 
tionai.  Die  Diskuteion  ttber  sozialpolitische  Gegenstände,  so* 
fem  es  sich  handalt  um  Arbeits-  oder  LbhnverhSltnisse,  hat  nicht 
mehr  lediglich  die  Bestimmungen  der  Landesvereinsgesetse  ta  be* 
achten,  sondern  wird  nunmehr  auch  durch  die  Vorlage  zum  Schutze 
des  gewerblidien  Arbeitsverhältnisses  bedroht 

Zu  beachten  ist  dabei  die  Ausle^ng,  welche  bisher  von  Vei> 
waltungsbehotden  und  Gerichten  dem  Be^^^ifTe  des  Zweckes  einer 
Vereinigung  gegeben  wurde  (vgl.  oben  S.  481),  wonach  ein  ein- 
zelner einmaliger  Vortrag,  ein  X'ortragteil  einem  Verein  im  Sinne 
des  Vereinsgesetzes  zu  einem  „Zwecke"  verhilft.  Hiermit  ist  jeder 
Verein,  in  welchem  einmal  ein  auf  allgemeine  Lohn-  oder  Arbeits- 
verhältnisse bezüglicher  Vortrag  gehalten  wird,  den  Strafdrohungen 
lier  Vorlage  ausgesetzt.  Jede  Erörterui^  wenn  sie  nicht  rein  histo- 
risch oder  theoretisch ,  hat  den  Zweck,  fiir  ein  bestimmtes  praktisches 
Ziel  zu  werben,  Anhänger  festzuhalten,  Gegner  oder  Gleichgültige 
•lieranzuziehen ,  also  zur  „Teilnahme'"  an  der  eigenen  Vereinigung 
zu  l)cstimiTiC!i,  \on  der  „Teilnahme"  an  ^et^nerischcn  Vereinigungen 
abzuhalten.  W  ie  leicht  im  jioUtischcn  Kampfe  die  energische  \'er- 
tretung  des  eigenen  Standpunktes,  die  Hefehdun^^  des  gegnerischen 
zu  Khrvcrletzungen  und  X'errufserklärungen  fiihrt,  zeigt  die  tä>^dirhe 
Erfahrung,  ja  beweisen  sogar  die  Namen,  welche  die  pohtischen 
und  sozialpolitischen  Parteien  ^ich  selbst  und  ihren  (iegnern  traditio- 
nell beilegen  und  die  Erklärungen  der  Partei] jrogramme.  Die  ,,staats- 
erhaltendcn  Parteien",  die  Ordnungspai teien,  die  „Patrioten"  be- 
deuten, wie  die  antiken  Parteibezeichnungen  der  ItQiazoi  und  der 
oplimatcs,  nicht  blofs  eine  lobende  Scibstbezeichnung,  sondern 
zugleich  ein  Verrufserklärung  der  (legner,  auch  wenn  diese  nicht 
ausdrücklich  als  Reichsfcii de,  l  Itramontane  u.  s.  w.  bezeichnet  werden. 

In  der  Begründung  wird  diese  Seite  des  „Schutzes  des  gewerb- 
lichen Arbeitsverhältnisses"  nicht  erwähnt,  für  die  Rechtsanwendung 
kommt  aber  lediglich  das  Gesetz  inbetracht,  dessen  allgemeine 
Fassung  vollkommen  genügt,  um  das  Vereinsrecht  milsliebiger  Par- 
teien in  höchste  Ge&hr  zu  bringen.  Zu  verweisen  ist  hier  auf  die 
^  5,  8  und  f6  des  preufsischen  Vereinsgesetzes,  welche  Polizeibe- 
horden  und  Gerichte  zur  Schlielsung  eines  Vereines  berechtigen, 
Wenn  in  einer  Vereinsversammlung  eine  Aufforderung  oder  Anrei- 
zung  zu  strafbaren  Handlungen  sich  ereignet  —  umsomehr,  wenn 
nicht  blols  aufgefordert,  sondern  die  strafbare  Handlung  selbst  ver- 


Digilized  by  Google 


55« 


•  Theodor  Loewenfeld, 


Übt  wird.  In  Bayern  würde  diese  Ausdehnung  des  Schutzes  des 
gewerblichen  Arbeitsverhältnisses  übrigens  noch  weiter  gehen,  da 
durch  die  S.  481  aufgeführten  oberstrichterlichen  Entscheidungen  die 
sozialdemokratische  Partei  als  Verein  erklärt  ist,  welcher  die  Be- 
schäftigung mit  Fragen  des  gewerblichen  Arbcits\crhältnisscs  zum 
Zwecke  hat  und  die  Gewerkschaftsbewegung  nur  als  Mittel  für 
seinen  WTeinszweck  behandelt.  Dadurch  würde  die  X'orlage  zum 
Schutze  des  gewerblichen  Arbeitsverhältnisses  in  diesem  Bundes- 
staate —  wie  in  jedem  anderen,  wo  sich  die  Rechtssprechung  der 
bayrischen  oberstrichterlichen  Auffassung  anschliefst  —  in  gewissem 
Umfange  eine  W'iederaufnahme  sozialistengesetzlicher  Bestimmungen 
bedeuten.  Die  Hrwägungen,  aus  welchen  die  sozialdemokratische 
Partei  durch  flie  ba\  rische  Recht.ssprechung  als  \'erein  erklärt  wortlcn 
ist,  treffen  übrigens  auf  jede  politische  Partei  zu;  auch  kann  sich 
keine  politische  Partei  die  Beschäftigung  mit  sozialpoliti>ciien  Gegen- 
ständen, insbesondere  mit  den  X'erhällnissen  der  arbeitenden  Be- 
völkerung und  damit  den  „Zweck"  einer  ,Jiinwirkung  auf  die  Ar- 
beits- und  Lohnverhältnisse"  versagen.  Die  Erörterung  der  Vor- 
lage selbst  fallt  unter  diesen  Zweck. 

4.  Auch  von  der  Vorlage  gilt,  was  vom  bisherigen  §  153  ge- 
golten hat:  sie  hat  es  nicht  zu  thun  mit  Handlungen,  wddie  nach 
gemeinem  Strafrecht  verfolgbar,  sondern  mit  Handlungen,  die  vom 
Standpunkte  dieses  Strafipechtes  aus  für  jedermann  straflos  sind  und 
auch  in  Zukunft  straflos  bleiben,  strafk>s  auch  für  Arbeiter,  wenn  es 
sich  nicht  um  Arbeits-  und  Lohnbedingungen  handelt,  ebenso  wie  fiir 
Unternehmer,  wenn  etwa  ihre  Produktions-  oder  Kandelskartelle  durch 
Handlungen  dieser  Art  gefordert  oder  gestört  werden  sollen.  Da 
wir  mit  Strikeausschrdtungen,  auf  die  das  gemeine  Recht 
anwendbar  uns  nicht  zu  befassen  haben,  so  haben  wir 
mit  den  in  der  Denkschrift  angeführten  Fällen  solcher  Ausschrei- 
tungen, dem  groCsten  Teile  aller  berichteten  Fälle,  uns  nidit  zu 
be&ssen. 

5.  Aus  dem  Usherigen  Rechte  und  der  bisherigen  Rechtsan- 
wendung übernimmt  die  Vorlage  die  Begriffe  des  körperlichen 
Zwanges,  der  Drohung,  Ehrverletzung  und  Verrufiserklärung  als 
nnter  Strafe  gestellter  Zwangsmittel;  die  Gefahr  der  ausdehnenden 
Ausl^ung,  welche  die  Unbestimmtheit  dieser  Begriffe  mit  sich 
jDringt,  wird  durch  die  verschärften  Strafdrohungen  der  Vorlage 
erheblich  gesteigert. 

6.  Diese  Begriffe  werden  in  der  Vorige  für  gewisse  Falle 


Digilized  by  Google 


■ 


KtMÜtioiMredit  nd  Stnfredit  ^^g 

erweitert  —  Der  Begriflf  der  „Drohung*'  und  der  Vemi&erklärung 
wird  nach  einer  mehrfach  zum  Ausdrucke  gekommenen  Ansicht  zu- 
gleich verengert  Die  Verengerung  wird  gefunden  in  §  4  Abs.  3, 
soferne  Drohung  oder  Verrufserklärung  „im  Sinne  der  §§  1—3 
nicht  vorliegen  soll,  „wenn  der  Thäter  eine  Handlung  vornimmt,  zu 
der  er  berechtigt  ist"  u.  s.  w.  V^gl.  oben  S.  515,  516.  Der  Zweck 
dieser  Bestimmung  ist  nach  den  Motiven  der  Vorlage,  die  schwarzen 
Listen  der  Unternehmer  zu  retten  Wir  haben  bereits  S.  532 
nachgewiesen,  dafs  dieser  löbliche  Zweck  durch  §  4  Abs.  3  nicht 
erreicht  werden  kann;  die  Technik  des  Gesetzgebers  steht  liier 
nicht  auf  der  Höhe  seiner  Absichten.  Was  §  4  Abs.  3  erlaubt, 
war  schon  bisher  erlaubt,  da  §  153  (i.O.  auf  das  X'crhältnis  der 
koalierten  Arbeiter  zum  Unternehmer  überhaupt  bei  richtiger  Ge- 
setzesanwcndun^  nicht  anwendbar  war.  Die  Krlaubtiieit  der  Drohung 
mit  Arbeitseinstellung'  hinderte  ai)er  nicht,  dafs  diese  Drohun^s  wenn 
sie  als  Mittel  zur  Durchsetzung;  eines  Lohntarifs  benützt  wurde, 
also  als  Mittel  ini  Lohnkauipfe,  zum  Thatbestandsmerkmal  einer 
Erpressung  nach  i;  253  G.O.  wurde.  Dabei  wird  es,  wie  weiter  unten 
S.  578 — 580  UDcli  zu  /.ci^fcn,  auch  in  Zukunft  sein  Bewenden  haben. 

Dieser  an^^eblichen  V'eren^ernni;  der  liej^ritfe  steht  eine 
mehrfache  sehr  erhebliche  Erweiterung  derselben  gegenüber. 
Eine  „Druhunj^'"  im  Sinne  des  §  153  G.O.  oder  der  §25  240, 
253  St.G.B.  wurde  bisher  als  eine  wörtliche  oder  thätliche  A  n  - 
kündi^mn;^'  eines  Uebels  für  die  Zukunft  ^'edacht.  „Da  eine  Drohung 
eine  Ankündigung  ist,  so  ist  die  Arbeitseinstellung  u.  s.  w. 
keine  Drohung,  bemerkt  Jastrow  ')  treffend  zu  §  4  Abs.  3.  In  diesem 
Sinne  hat  man  denn  auch  bisher  die  „Drohung"  ausnahmslos  auf- 
gefafst  Die  Vorlage  erweitert  den  Begriff  der  Drohung  in  §  4 
i^bs.  3,  indem  sie  ihm  auch  die  Zufügung  von  Nachteilen 
tinterstellt  l^ne  Arbdtselnstdlung  ist  nach  §  4  Abs.  3  nur  dann  keine 
Drohung,  wenn  der  Arbeiter  befugterweise  die  Arbeit  einstellt 
oder  die  Arbeitseinstellung  fortsetzt  Auch  die  Motive  S.  14,  15 
wollen  den  Arbeitern  nur  dann  nicht  wegen  Drohung  oder  Vcr- 
ruüserklärung  bestraft  wissen,  wenn  er  Mordnungsgemäfs'* 
bestehende  Arbeits-  oder  Dienstverhältnisse  beendigt,  und  betonen 
den  „selbstverständlichen  Vorbehalt  der  Einhaltung  bedun- 
gener Kündigungsfristen"  Aus  §  4  Abs.  3  wird  daher  die 
Rechtsanwendui^  durch  das  bekannte  argumentum  a  contrario  ent- 


')  JahrbOehe^  für  NatioMlflkoiiomie,  HL  Folge,  18.  Bd.,  S,  75. 


Digitized  by  Google 


560 


Theodor  Loew«vfeld,- 


nehmen,  dafs  eine  „Drohung"  im  Sinne  der  ßv?  i — 3  vorliegt, 
wenn  eine  Arbeitseinstellung  unter  K  o  n  tra  k  t  b  ru  c  h  erfolgt  ist. 

In  ß  4  Abs.  3  hat  somit  die  V^orlage  die  vom  Reichstage  1891 
abgekhnte  Hcstrafung  des  Kontraktbruches  wieder  eingeführt;  die 
gegenwartige  V^orlage  unterscheidet  sich  von  der  im  Jahre  1891 
abgelehnten  indessen  wesentUcii  dadurch,  dafs  jenem  (ieselzes- 
vorsclilage  eine  Zuchthausstrafe  für  Kontraktbruch  unbekannt  war. 

Eine  fernere  Erweiternug  des  Begrififes  liegt  in  Gestalt  des 
vielbes|)rochenen  X'erbotes  des  Postenstehens  in  §  4  Abs.  2,  die 
S.  536  ff.  bereits  gewürdigt  ist.  Die  Durchführung  dieses  Ver- 
botes „würde  eine  erfolgreiche  Arbeitseinstellung  einfach  un- 
möglich machen".')  Hier  ist  noch  zu  erwähnen,  dafs  das  Posten- 
stehen nicht  blofs  unentbehrlich,  weil  ohne  solches  jede  Kommuni- 
kation mit  den  Arbeitswilligen  und  damit  die  Möglichkeit  einer 
erfolgreichen  Koalition  ausgeschlossen  wird,  sondern  auch  aus  dem 
Grunde,  weil  die  Strikenden  ohne  Postenstehen  nicht  kontrollieren 
können,  ob  diejenigen  Arbeiter,  welche  ihre  Strikeunterstützung 
mit  Rücksicht  auf  ihfen  Anschluß  an  die  Arbeiterkoalition  erhalten, 
•nicht  trotzdem  die  Arbeit  fortsetzen.  Auch  dies  ist  ohne  „plan- 
mäfsige  Ueberwachung"  nicht  möglich.  Die  Begründung  S.  13 
^gt,  eine  Agitation  zu  Gunsten  von  Aibeiterkampfen  könne  auf 
den  dem  gemeinen  Gebrauch  dienenden  Verkehrsainlagen  nicht  g^ 
duldet  werden.  Zunächst  ist  „Ueberwachung"  keine  Agitation.  Es 
lälst  sich  aber  auch  nicht  einsehen,  warum  die  zum  gemeinen  Ge- 
•brauch  bestimmten  Verkehrsanlagen  nicht  auch  den  Arbeitern 
dienen  sollen,  warum  sie  nicht  ebensogut  wie  andere  Leute  auf 
andere  auf  der  Straise  warten  und  andere  auf  der  Stralae  an> 
sprechen  dürfen  sollen.  Die  Begründung  behauptet,  die  lieber- 
wachung  enthalte  regelmäfsig  „eine  Beeinträchtigung  des  jedermann 
zustehenden  Rechtes  auf  ungestörte  Benutzung  von  Stiaisen,  Plätzen, 
Häfen  und  Bahnhofeanlagen".  Dieses  „Recht''  wird  bekanntlich  ge- 
rade in  den  verkehrsreichsten  Hauptstädten  des  Reiches  oft  ohne 
jede  Not  von  ganz  anderer  Seite  als  von  Arl>eitem  auf  das  empfind- 
lichste verletzt.  Ich  denke  dabei  nicht  etwa  an  die  Damen,  die 
durch  Unterhaltung  und  Ansammlung  vor  Ladenauslagen  den  Ver> 
kehr  hemmen,  da  gewifs  noch  nie  jemand  auf  den  Ge- 
danken gekommen  ist,  dafs  sie  deswegen  ins  Zuchthaus  geschickt« 
werden   müfsten.    G^[en   wirkliche  Verkehrsbehinderuf^en 


Lilienthal  in  der  dentiehen  jfaristeucttui«  IV.  Nr,  31.  S.  437. 


Digitized  by  Google 


KoBlUionsraclit  «nd  Strafrecht 


561 


Igibt  es  8tra(seBpolizeifiche  Vorschriftea  Dalk  aber  verkehrspolizei- 
lichc  Erwägungen  Gef&ngnis-  und  Zuchthausstrafen  g^en  Arbeiter 
beigründen  sollen,  gehört  mit  zu  den  merkwürdigsten  Fiktionen 
dieser  „Begründung''.  Was  die  .  Gewaltthaten  und  gewaltthatigen 
Ausschreitungen  anlangt,  welche  anUUäich  des  Postenstehens  sich 
ereignen  sollten,  so  genügt  "zu  ihrer  Verfolgung,  soweit  sie  wirklich 
den  von  der  Denkschrift  behaupteten  Charakter  annehmen,  das  ge- 
TneineStrafrecht  vollkominen.  Wenn  man  dieser  Gefahr  halber 
dasPostenstehen,  als  wäre  es  selbst  eine  Ausschrotung,  unter  schwere 
Strafe  stellen  will,  während  es  eine  iiir  jedermann  erlaubte  Hand- 
lung ist,  so  ist  das  gerade  so  logisch,  als  wenn  man  die  „plan- 
mälsige  Ueberwachung",  welche  seitens  der  Polizei  auf  öffentlichen 
Wegen  u.  s.  w.  geübt  wird,  deswegen  abschaffen  wollte,  weil  es 
nicht  selten  vorkommt,  dsSs  von  Organen  der  Polizei  schwere  Aus- 
schreitungen begangen  werden,  welche  bekanntlich  längst  in  der 
Presse  zu  einer  ständigen  „Schutz  vor  Schutzleuten"  fordernden 
Rubrik  i:,'cführt  haben. 

Indessen  ist  zu  zeij^cn.  dals  bei  dem  gewölinlichcn  und  ein- 
fachen in  §  4  Abs.  2  hcdrolitcn  Postenstehen  V'erkehrspolizei- 
erwägungen  garnicht  in  Betracht  kommen  können. 

DasPostcnstchcn  ist  nämlich  als„planmärsigeL'ebcrwncluing"  durch 
die  Vorlage  §  3  Abs.  2  bedroht,  auch  wenn  eine  V  e  r  a  l)  r  c  d  u  n  g 
hierzu  nicht  vorlag,  und  auch,  wenn  nicht  Mehrere,  sondern  nur 
ein  E  i  n ze  1  n  e r  Posten  steht.  Die  Ueberwacliuiigsthätii,'keit  braucht 
"aber  ferner  selbstverständlich  nicht  im  „Stehen"  und  ebensowenig 
durch  Aufenthalt  auf  der  öffentlichen  Strafse,  auf  öffentliclicn 
Plätzen  u.  s.  w.  ausgeübt  werden.  »5  4  Abs.  2  verlangt  als  I  hat- 
1)estand  nicht  ein  „Ueberwachen"  auf  der  Strafse;  es  genügt  ein 
i/eberwachen  von  Strafsen,  auch  wenn  diese  völlig  mensciienlccr 
sind;  es  genügt  eine  Uel)er\vachung  von  dem  Fenster  eines  Hauses 
oder  sonst  \on  dem  hmern  eines  Hauses  aus.  Die  Polizeipraxis, 
welche  eine  Ueberwachungsthätigkeit,  ein  Postenstehen  darin  fand, 
dafs  strikende  Arbeiter  in  einem  Wirtshause  salsen,  und  dieselben 
als  „Strikeposten"  fortwies,  findet  durch  §  4  Abs.  2  ihre  gcsetz- 
'geberische  Sanktion.  Verkehrs-  und  stralsenpolizeiliche  Rück- 
sichten können  da  offenbar  nicht  einmal  als  Vorwand  mehr  dienen. 

Wenn  in  der  That  dagegen  Mehrere  auf  der  Strafse  zu- 
sammen Posten  stehen,  so  ist  dies  nicht  etwa  einfaches  Posten- 
stehen, das  nach  §  4  Abs.  2  und  §  i  regelmafsig  „nur"  mit  Ge- 
iangnb  bis  zu  i  Jahr  und  nur  ausnahmsweise  nach  §  8  mit  höheren 


Digitized  by  Google 


$62 


Theodor  Loewcnfeld, 


GefangTii S.Strafen  oder  mit  Zuchthaus  bedroht  ist ;  solches  Posten- 
Stehen  mehrerer  auf  der  Stralse  kann  vielmehr  «rcmärs  §  7  als  eine 
„öffentliche  Zusammenrottung"  behandelt  werden  und  ist  dann  als 
solche  mit  Gefängnis  bis  zu  5  Jahren,  an  den  Rädelsführern 
mit  Gefängnis  nicht  unter  3  Monaten  zu  bestrafen,  unter  X'orhchait  der 
härteren  Strafe  des  §  8.  Die  Begründung  S.  16  sagt,  der  Begriff  der 
„öffentlichen  Zusammenrottung"  in  §  7  sei  dem  §  125  St.G.B.  nachge- 
bildet. Dies  ist  ein  sehr  bedenkliclier  Irrtum  des  Verfassers  der  Be- 
gründung, §  125  St.G.B.  setzt  voraus,  dafs  „sich  eine  .Mensch  en- 
menge  ötl'entlich  zusammenrottet";  §  7  der  X'orlage  setzt  aber 
nicht  die  Zusammenrottung  einer  Menschenmenge  voraus,  und 
ist  in  der  Tiiat  nicht  dem  §  125  St.Ci.B.,  sondern  dem  i;  115  des- 
selben nachgebildet.  l  l  5  bedroht  die  Tcihichmer  an  einer  „öffent- 
lichen Zusammenrottung",  bei  welciicr  ein  Widerstand  gegen  die 
Staatsgewalt  mit  vereinigten  Kräften  begangen  wird;  diese  Zu- 
sammenrottung setzt  nur  eine  Mehrheit  von  Menschen,  nicht  eine 
Menschenmenge  (wie  die  116,  124  u.  125)  voraus.  Wie  grofs 
diese  Mehrheit  zur  Annahme  einer  Zusammenrottung  sein  mu(s,  ist 
Sache  des  richterlichen  Ermessens.  Bei  dem  Widerstande  gegen  die 
Staatsgewalt  whrd  eine  grölscre  Anzahl  erforderlich  sein,  da  die  Zu- 
sammenrottung geeignet  sein  soll,  „gerade  durch  ihre  Grö&e  die 
Begehung  der  Handlung  den  betreffenden  Beamten  gegenüber 
durchzusetzen".^)  Diese  letztere  Erwägung  fallt  bei  dem  Posten- 
stehen  weg,  da  ja  die  Möglichkeit  einer  „planmäfsigen  lieber- 
wachung"  nach  der  Vorlage  schon  durch  einen  einzigen  Strike- 
posten  erfüllt  wird. 

§  7  bestraft  aber,  wie  §  115  StG3.,  die  blolse  „Teilnahme^ 
an  der  Zusammenrottung.  Teilnahme  ist  hier  nicht  im  tech- 
nischen Sinne  (StGJB.  §  4/)  gemeint.^  Es  ist  daher  nicht  er^ 
forderlich,  dais  die  Teilnehmer  selbst  Stiikeposten  stehen.  Es 
geni^,  wenn  ^ch  irgendwelche  Personen  den  Strikeposten  an- 
schliefsen,  wissend,  dals  dieselben  Strikeposten  stehen,  wenn  sie 
bei  denselben  auch  nur  aus  Neugierde  oder  um  sich  zu  unterhalten 
stehen  bleiben.') 

Bedroht  ist  femer  in  der  Voiiage  überall  nicht  blofe  die  voll- 


*)  *^^Pl><'nboff  Cüniincmar  zum  St.G.B.  §  II5  Note  3. 
*)  Up  penhoff  zu  §  115  Nr.  la 

')  Oppenboff  sn  §  125  Nr.  7,  Olshauscn  Commcntar  som  StGS.  n 
§  IS5  Nr.  a. 


Digitized  by  Google 


Koftlitionsrecht  und  Strafrecbt. 


563 


endete  und  nicht  blols  die  versuchte  That,  sondern  schon  das 
„Unternehmen".  Es  muls  daher  auch  zum  Strilcepostenstehen 
nicht  einmal  gekommen  sein,  um  die  Strafdrohungen  der  S§  4 

Abs.  2,  7  u.  8  zu  verwirklichen,  es  genii^,  wenn  festgestellt  wird, 
dafs  eine  Vorbereitungshandlung  vorliegt,  z.  B.  da(s  ein  Zimmer 
SU  dem  Zwecke  gemietet  worden  ist,  um  von  dessen 
Fenster  aus  den  Zugang  zu  einer  Fabrik  zu  kon- 
trollieren. Einen  solchen  Fall  erwähnt  die  Denkschrift  S.  49 
als  eine  bei  einem  Porzellanarbcitcrausstande  zu  Altwasser 
im  Jahre  1895  vorj^ekommcnc  Strikcpostcn  -  A  u  ss  cii  r  e  i  t  u  n  er , 
während  S.  39  Fälle  erwähnt  werden ,  in  welchen  ausständige 
Arbeiter  als  Strikepostcn  in  Wirtschaften  und  Spcise- 
häuscr  ^c^angen  sind,  um  dort  andere  Arbeiter  zur  Arbeitsein- 
stellung zu  veranlassen. 

Kiiie  Erweiterung  des  Hegriflfes  „körperlicher  Zwang"  enthält 
§  4  Abs.  i:  „dem  körperlichen  Zwange  im  Sinne  der  §§  i — 3  wird 
die  Beschädigung  oder  Vorenthaltung  von  Arbeitsgerät,  Arbeits- 
material, Arbeitserzeugnissen  oder  Kleidungsstücken  gleich  geachtet" 
Professor  von  Lilienthal  bemerkt,  dals  diese  angeblich  dem  englischen 
Rechte  nachgebildete  Bestimmung  Ober  das  englische  Recht  weit 
hinausgeht,  weil  sie  die  Bestrafung  nicht  davon  abhangig  macht,  dafe 
die  „vorenthaltenen"  Gegenstände  Objekte  des  Eigentums  oder  Ge- 
Inauchs  der  fraglichen  Personen  sind,  so  dals  die  StrafncMin  des  §  4 
Abs.  I  eine  Bedrohung  der  Sachsperre  oder  des  Warenboykotts  in 
sfeh  Schnelsen  würde.  Jedenfalls  bedroht  §  4  Abs.  i  denjenigen, 
welcher  einen  Arbeiter  am  .Arbeiten  dadurch  hindert,  dafs  er  ihm 
zur  Arbeit  erforderliches  Arbeitsmaterial  oder  Arbeitsgeräte  oder 
Arbeitsery.eugnisse  vorenthält.  Dagegen  bedroht  §  4  Abs.  I  nicht 
als  körperlicher  Zwang  die  Vorenthaltung  von  Arbeitszeugnissen, 
welche  einen  Arbeiter  sehr  erheblich  am  Arbeiten  hindern  kann, 
indem  sie  an  der  Erlangung  einer  Arbeitsgelegenheit  hindert.  Nach 
den  Motiven  ist  ferner  nur  an  die  X'orcnthaltung  von  Arbeitsgerät  oder 
Arbeitsmaterial,  welche  durch  Arbeiter  gegenüber  Arbeitern 
verübt  wird,  gedacht.  Der  Fall  der  X'orcnthaltung  von  Arbeits- 
material kommt  aber  nach  der  Darstellung  zu  S.  Sl/f.  häufig  vor  als 
Koalitionszwang  der  l'nternelimer  unter  sich,  indem  Unter- 
nehmer durch  X'ertragsschlufs  mit  Materialliefcranten  diese  ver- 
pflichten, einem  sich  nicht  anschliefsenden  Unternehmer  das 
zum  Betriebe  seines  Gewerbes  erfqrderlidie  Material  nicht  zu  liefem. 
Diese  Materialsperre   ist  zugleich   ein  Kampfmittel  der 'Unter- 


Dlgitized  by  Google 


Theodor  Loewenfeld, 


nehmer  gegen  die  Arbeiter.   Die  einem  Unternehiner  durch  die- 

selbe  zugefugte  Schädigung  geht  jedenfalls  weit  hinaus  über 
den  Schaden,  der  einem  Arbeiter  dadurch  zugefugt  wird,  dals 
ihm  ein  „Kleidungsstück",  etwa  eine  Arbeitshosc  vorenthalten  wird. 
Trotzdem  scheint  die  Vorlage  diesen  Fall  der  „Vorenthaltuag"  nicht 
zu  berücksichtigen. 

7.  Erweitert  sind  die  Voraussetzungen  des  §  153  des  ferneren 
allgemein  dadurch,  dafs  nicht,  wie  in  bisherigem  Rechte  die  Voll- 
endung und  der  Versuch  der  einzelnen  Delikte,  sondern  schon  das 
„Unternehmen"  mit  der  vollen  Erfolgsstrafe  belegt  wird.  Das  Unter- 
nehmen gilt  in  der  strafrechtlichen  Praxis  —  al^esehen  von  dem 
Unternehmen  des  Hochverrats  ^St  G.B.  §  82)  —  als  ein  p^egenüber 
dem  „Versuch"  weiterer  Ausdruck,  der  jedenfalls  die  fortgeschrittenen 
Stadien  blofser  Vorbereitungshandlungen  mit  umfafst^)  Das  ist 
zwar  in  den  Motiven  und  im  Reichstage  von  der  Regierung  in  Ab- 
rede gestellt  worden;  indessen  die  Rechtsanwendung  wird  durch 
derartif^c  Erklärunj^en  bekanntlich  nicht  gebunden. 

8.  Eine  Erweiterung  des  Thatbcstandes  des  bisherigen  Gesetzes 
wird  ferner  in  i  in  nuhrfaciier  RiclUung  geschaffen.  \'on  zwei 
Erweiterungen  des  I  hatbestandes  durch  §  I  war  bereits  die  Rede. 
Eine  solche  P>weitcruiig  ist  gegeben 

Erstens  datlurch,  dafs  nicht  blofs  dii  Zwang  zu  Verabredungen, 
sondern  auch  /u  ,,\'erciniL,ain;^an"  L^etrotien  wird,  womit  nicht  blofs 
die  konkreten  auf  eineti  einzelnen  Fall  berechneten  vorübergehen- 
den Koalitionen  dem  (iesetze  unterworfen  sind,  sondern  auch  die 
dauernden  \'creini^'un<4;cn  der  (iewerkschaften. 

Zweitens  daiiurch,  dafs  als  die  dem  Gesetze  unterstellten  Koa- 
litionen nicht  wie  im  bisherigen  §  153  diejenigen  bezeichnet  sind, 
welche  die  Erlangung  •günstiger  Arbeits-  und  Lohnbedingungen 
überhau[)t  oder  in  konkreten  Fällen  anstreben,  sondern  jede  \  er- 
einigung,  welche  irgendwie  eine  I'jiiwirkung  auf  die  Arbeits-  oder 
Lohnbestinimungen  bezweckt.  \'on  diesen  Thatbestandserweiie- 
rungen  war  bereits  oben  S.  554  die  Rede. 

Drittens  wird  der  Thatbestand  des  §  153  dadurch  erweitert, 
dafs  der  Zwanj^^  nicht  mehr  blofs  als  Zwang  zur  Koalition  ;^etrotien 
wird,  was  die  Möglichkeit  einer  Zugehörigkeit  oder  Zu/.ichuiig  des 
Gezwungenen  zur  Koalition  voraussetzt,  sondern  auch  iler  Zwang 
gegenüber  dem  Koalitionsgegner,  also  der  von  den  Arbeitern 


')'v.  Lilicnthal  1.  c.  S.  429. 


Koatirtororccht  and  SUmfiecht 


565 


gegenüber  den  *  UntencMehmern,  von  den  Unteraehmern  gegenüber 
den  Arbeitern  geübte.  £s  ist  bereits  darauf  hingewiesen,  da  Ts 
dies  mit  dem  Schutze  der  Arbeitswilligen  gar  nichts 
mehr  zu  thun  hat,  sofern  man  darunter  den  Schutz  der  Arbeits- 
willigen gegen  ihre  Berufsgenossen  versteht;  ferner  ist  klar,  daSs 
Jiiermit  jeder  Kampf  um  die  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  zu 
einer  kriminellen  Gefahr  sich  gestaltet. 

Viertens  ist  der  Thatbestand  des  bisherigen  Rechtes  dadurch 
erweitert,  dafs  die  Anwendung  der  verpönten  Zwangsmittel  bestraft 
werden  soll  nicht  blois,  wenn  sie  der  Beförderung  oder  Begründung 
einer  Koalition  dienen,  sondern  auch,  wenn  sie  die  Ver- 
hinderung oder  Zerstörung  einer  Koalition  bezwecken. 
Zwang  in  der  Richtung  auf  die  \' erhindcrung  und  Zerstörui^  von 
Koalitionen  ist  bisher  wohl  ausschliefslich  von  Unternehmern  gegen 
Arbeiter  geübt  worden,  insbesondere  indem  durch  Drohungen  und 
Verrufserklärungen  die  Zugehörigkeit  zu  Fachvcrcinen  den  Arbeitern 
unmöglich  gemacht  und  die  Angehörigen  dieser  h^achvereinc  an  der 
Hrlangung  von  Arbeit  durch  schwarze  Listen  und  ähnliche  Mittel 
möglichst  gehindert  wurden.  Die  Begründung  mochte  indessen  ^'cradc 
diesen  H  a  u  p  t  fa  1 1  eines  g  e  g  e  n  den  Koalitionsbestand  sich  richtenden 
Zwanges  von  der  Strafdrohung  ausnehmen.  Die  Vorlage  bedroht  ferner 
zwar  in  §  i  den  Zwang  in  beiderlei  Richtung  mit  der  gleichen 
Strafe,  Gefängnis  bis  zu  einem  Jahr  oder  Cieldätrafe  bis  zu  lOOO  .Mk. 
ebenso  auch  in  §§  3  und  4.  Hiernach  würden  die  Lreneralsekretäre 
der  l^nternehmerverbändc ,  sofern  sie  sich  etwa  zum  ,,( leschäfte" 
machen,  Arbeiterkoalitionen  zu  verhindern  oder  zu  vernichten,  und 
sich  hierzu  des  Mittels  der  Rhrverletzung ,  X'ernifserklärun;;  oder 
Drohung  bedienen,  mit  (refängnis  nicht  unter  drei  Monaten  und 
bis  zu  fünf  Jahren  zu  bestrafen  sein,  ebenso  wie  die  huhrer  der 
Gewerkschaften,  wenn  sie  derartige  Handlungen  zum  Zwecke  der 
Förderung  ihrer  Verbände  begehen  oder  zum  Zwecke  der  Ab- 
wehr von  Unternehmerangriffen,  welche  auf  Vernichtung  der  Ar- 
beiterkoalitioncn  abzielen. 

D.igegen  wird  nach  §8  der  Zwang  z  u  r  K  o  a  1  i  t  i  o  n  wesentUrli 
härter  bestraft  als  der  gegen  die  Koalition  gerichtete  Zwanj;.  In 
Bezug  auf  den  letzteren  verbleibt  es  bei  tien  Strafdrohungen  der 
^  1 — 4;  dagegen  w  ird  der  Zwang  zur  Koalition  nach  §  8  Abs.  i 
mit  Gefängnis  nicht  unter  ein  und  sechs  Monaten,  und  nach  Abs.  2 
mit  Zuchthaus  bis  zu  drei  und  fünf  Jahren  bedroht. 

Nehmen  wir  an,  ein  Ausstand  in  einem  Hütten-  oder  Bergwerk 


Digitized  by  Google 


566 


Theodor  Loewenfeld,- 


oder  ein  Hafenarbeiter -Ausstand  ist  im  Sinne  des  §  8  Abs.  I 
„geeignet",  eine  Gefahr  fUr  das  Eigentum  herbeizuführen,  oder 
hätte  im  Sinne  des  §  8  Abs.  2  eine  solche  „GeCahi"  —  nicht  aber 
eine  wirkliche  Schädigui^  —  herbeigeführt:  so  würden  diejenigen, 
welche  den  Ausstand  und  die  Ausstandskoalition  und  damit  die 
Gefahr  durch  Ehrverletzunfjen,  Drohunj;jen  u.s.w.  zu  verhindern 
suchten  —  wohl  refjelmäfsijj  die  Unternehmer  und  deren  Leute  — 
gemafs  §  i  mit  Gefängnis  bis  zu  einem  Jahr  oder  mit  Geldstrafe 
bis  zu  locx)  Mk.  zu  bestrafen  sein,  diejenigen  dagegen,  welche  den 
Ausstand  und  die  Ausstandskoalition  durch  Ehrverletzungen  u.  s.  w. 
befördern  oder  zu  befördern  unternehmen,  würden  nach  §  8  mit 
Gefängnis  nicht  unter  einem,  nicht  unter  sechs  Monaten  und  bis  zu 
fiinf  Jahren,  mit  Zuchthaus  bis  zu  drei  und  bis  zu  fiinf  Jahren  zu 
bestrafen  sein* 

Wenn  nun  aber  die  Sache  so  gcfaiirlich  ist,  dafs  man  den- 
jenigen mit  Gefängnis  nicht  unter  sechs  Monaten  oder  mit  Zucht- 
haus bedroht,  welcher  nur  „unternimmt",  einen  Ausstand  zu 
veranlassen,  der  geeignet  ist,  eine  „Gefahr"  herbeizuführen,  also 
eine  „(iefahr  einer  Gefahr ', ')  dann  sollte  man  doch  diejenigen  nicht 
ebenfalls  bestrafen,  welche  diese  Gefahr  oder  die  (rcfahr  der  Gefahr 
abzuwenden  sich  bestreben,  wenn  auch  mit  Zuhilfenahme  von 
Ehrverlctzungcn  u.  s.  w.  Auch  sie  müssen  nach  der  Vorlage  bestraft 
werden,  wenn  auch  milder  als  die  Förderer  des  Ausstandes. 

g.  Erweitert  wird  der  Thatbestand  des  bisherigen  Gesetzes 
ferner  durch  §  2.  Derselbe  betrifft  Handlungen,  welche,  ohne 
dafs  es  sich  um  die  zu  erzwingende  Teilnahme  an 
e  i  n  e  r  K  o  a  1  i  t  i  o  n  zu  handeln  braucht,  gegen  die  Freiheit 
des  Arbeitgebers  oder  Arbeitnehmers,  insbesondere  in  der  Wahl 
und  Gewinnung  des  Arbeitspersoiiales  oder  in  der  V^erwertung  der 
Arbeitskraft,  gerichtet  sind."  Damit  sollen  Handlungen  getrolTen 
werden,  „die  zu  einem  Arbeiterausstande  oder  einer  Arbeiteraus- 
sperrung in  Beziehung  stehen  oder  zu  deren  Herbeifülirung  cxlcr 
Aufrechterhaltung  oder  zu  deren  Unterstützung  bestimmt  sind.'") 
Hiermit  soll  nach  der  Begründung  und  Denkschrift  eine  l.ückc  im 
Gesetze  ausgefüllt  werden,  die  sich  dadurch  ergab,  dafs  in  hallen 
einer  .Anklage  nach  153  nicht  nachgewiesen  wertlen  konnte,  dafs 
es  sich  um  einen  Zwang  zur  Koalition  gehandelt,  weil  weder  der 


'j  V.  I.ilirnllial  1.  c.  S.  428. 
')  Begründung  S.  II. 


Digitized  by  Google 


KcMlitionsfedit  und  Stnirecht 


567 


Bestand  einer  Koalition  noch  eine  Verabredung  überhaupt  festzu» 
stellen  war.    Deswegen  bedroht  §  2  Handlungen,  welche  keinen 
Koalitionszwang  darstellen;  sie  sollen  nur  in  einer  gedachten  „Be- 
ziehung" zu  einer  Koalition,  ob  letztere  nun  existiert  oder  nicht, 
^ehen;  indessen  nicht  in  einer  beliebigen  Beziehung;  die  An- 
wendung der  in  §  I  bezeirlmeten  Zwangsmittel  ist  nach  §  2  Ziffer  3 
dann  strafbar,  wenn  jemand  durch  dieselben  unternimmt:  „bei  einer 
Arbcitcraussperning  oder  einem  Arbeiterausstande  die  Arbeitgeber 
oder  Arbeitnehmer  zur  Nachgiebigkeit  gegen  die  dabei  ver- 
tretenen Forderungen  zu  bestimmen."   Die  Anwendung  von  M^hr- 
verletzung",  Drohung  u.  s.  w.  ist  dagegen  straflos,  wenn  sie  als 
Mittel  dienen,  um  bei  einer  Arbeiteraussperrung  oder  bei  einem 
Arbeiterausstande  zum  Widerstande  gegen  die  dabei  vertretenen 
Forderungen  zu   zwingen.    Jastrow  macht  darauf  aufmerksam, 
dais  durch  diese  Bestimmung  die  einigungsamtlichc  Thätigkeit  des 
Gewerberichters,  insbesondere  aber  die  Bemühungen   von  Privat- 
personen um  Stillung  des  I'Vieclens   in   Lohn-   und  Arbeitskämpfen 
geHihrclet   werden    und   der  I- r  i  e  d  e  n  s  s  t  i  f  t  c  r  der   Gefahr  straf- 
reciitlicher  \'erf(»li,aing  ausL,a'setzt  ist.  wälirend   die  i,^c;^fen  den 
i  c  d  e  n  z  w  i  s  c  h  e  n  A  r  b  e  i  t  e  rn  u  n  d  A  r  b  e  i  t  g  c  b  e  r  n  gerichtete 
Thätigkeit,  welche  sich   ebenfalls  der  Drohungen,  Khnerletzungen 
u.  s.  w.  bedient,  straflos  bleibt.    .Auch  bei  Kiniguiigsversuchcn  wird 
des  guten  Zweckes  halber  hier  uiul  da  von  beteiligten  untl  ebenso 
auch   von   unbeteiligten    Vermittlern ,   besonders   dann ,   wenn  ein 
Strike,  eine  Aussperrung  die  hiteressen   weiter  Kreise  schädigen, 
ein  kräftiges  Wort  gesprochen  werden  müssen,  aber  innnerhin 
ein  Wort  zum  Frieden.  „Vergebens  wird  man  die  Weltgeschichte 
durchblättern ,  um   noch  bei  irgend  einem  Volke  zu  irgend  einer 
Zeit  ein  Gesetz  gegen  hViedensstifter  zu    fiticien";')  ebensuwenig 
aber  ein  Gesetz,  das  den  Friedensstifter  bcstralt  und  den  U  n  f  r  i  e  d  e  n  - 
Stifter   frei  lä  Ist.    Wie  das  letztere  insbesondere  mit  dem  mo- 
dernen (irundsatze  der  Rechtsgleichheit  vcrcnibar  scm  soll,  ist  un- 
crhndlich. 

10.  Ebensowenig  vereinbar  mit  dem  bei  dem  Gesetzgeber 
anzunehmenden  Streben  nach  Beförderung  des  Friedens  wie  mit 
dem  Gebote  der  Rechtsgleichheit  sind  die  Bestimmungen  in  5 
und  6.  Nach  §  5  bedarf  es  zur  Strafverfolgung  keines  Antrages, 
wenn  gegen  Personen,  die  an  einem  Arbeiterausstande  oder  einer 

*)  So  treffend  Jastrow  1.  c.  S.  81. 
Arcluv  für  Mtt.  OtMtsgebung  u.  Statistik.  XIV.  37 


Dlgltized  by  Google 


568 


Theodor  Loewenfeld, 


Arbeiterausspeming  nicht  oder  nicht  dauernd  teilnehmen  oder 
teilgenommen  haben,  aus  Anials  dieser  Nichtbeteiligung 
eine  Beleidigung  mittelsThätlichkeit,  eine  vorsätzliche  Körperverletzung 
oder  eine  vorsätzliche  Sachbeschädigung  begangen  wird.  Dagegen 
bedarf  es  nach  wie  vor  eines  Stralantrages»  wenn  gegen  Personen, 
die  sich  an  einem  Ausstande  oder  einer  Aussperrung  beteiligt, 
aus  Anlals  dieser  Beteiligu  ng  eine  Realinjurie,  vorsatzliche  Kikper- 
verietzung  oder  vorsatzliche  Sachbeschädigui^r  b^angen  wird.  Zur  Ver- 
fo^ngvon  Strikebrechern  wegen  der  von  denselben  begangenen 
Handlungen  bedarf  es  nach  wie  vor  eines  Antrages,  zur  X'crfolj^ng 
von  Strikenden  niclit.  Diese  Bestimmung  ist  ebenfalls  geeignet, 
den  Erfolg  von  Einigungsbestrebungen  in  Frage  zu  stellen.  Diese  müssen 
verständigerweise  nicht  blofs  dahin  gehen,  dals  überhaupt  Friede 
hergestellt,  sondern  auch  dafs  jeder  Stein  zu  künftigem  Anstofs  be- 
seitigt wird.  Zu  den  regelmäfsigcn  Bedingungen  solcher  Verträge 
gehört  denn  auch ,  dals  wegen  Strikehandlungen  niemand  gemafs- 
rcgclt  oder  geschädigt  werden  dürfe.  Die  X'orlagc  erlaubt  nur  dem 
strikenden  Arbeiter,  die  ihm  zugefügten  Hcleidiguiigen  und 
Schiichgungen  zu  vcrzcilicu  und  auf  deren  \'crl<jlguiig  zu  verzichten; 
der  S  t  r  i  k  eb  r  ech  e  1  kann  die  ihm  u  idi-rfahn-ncn  Heloidigungen  u.  s.  \v. 
nach  der  Vorlage  nicht  v  c  r  z  e  iii  c  n ,  sie  müssen  von  Amiswegen 
verfolgt  werden,  wenn  es  ihm  noch  so  unangenehm  und  noch  so  ge- 
^rlidi  fiir  den  Frieden  sein  sollte.  Bfit  Recht  weist  Jastrow ') 
auf  den  Widerspruch  hin,  der  zwischen  der  gesetzlichen  Aufgabe 
des  Einigungsamtes  und  dieser  Bestimmung  der  Vorlage  besteht  Dais 
hiemit  Beleidigungen  an  Arbeitern,  weil  sie  Strikebrecher,  auch 
wenn  sie  nicht  zum  Zwecke  eines  Koalitionszwanges  b^;angen 
werden,  als  wichtiger  behandelt  werden  als  BdeLdigungen  von 
Bundesfürsten,  als  Beleidigungen  von  Bundesstaatsregenten  (StG.R 
§§99,  loi),  dals  die  Beschädigung  der  Arbeitshose  eines  Ar  bei  t8> 
willigen  als  wichtiger  behandelt  wird,  als  die  vorsätzliche  und 
rechtswidrige  Beschädigung  einer  wertvollen  dem  Kaiser  oder  einem 
Landesherrn  gehörigen  Sache,  geschieht  nicht  wegen  der  Wich- 
tigkeit, die  das  Gesetz  der  J:*crson  des  Arbeitswilligen  als  Arbeiter 
beimilst,  sondern  wegen  seiner  Wichtigkeit  als  Strikebrecher. 
Denn  eine  Beleidigung  oder  Sachbeschädigung,  die  ihm  als  Arbeiter 
widi  i'lahrt.  die  z.  B.  seitens  seines  Arl)citS'^'cl)ers  trotz  seiner  Nicht- 
bcteihgung  am  Strikt-  ihm  widerfahren  würde,  steht  lediglich  unter 
dem  gemeinen  Strafrechte. 

')  Jastrow  1.  c.  S.  8i. 


Digitizer 


KftftUtionsrecht  and  Strafrecbt 

i.i.  Während  §  5  der  Vorlage  Handlungen  betrifit,  wekhe 
unter  gewissen  Umstanden  nach  gemeinem  Strafrecht  verfolgt  werden 
können,  und  diese  Verfolgung  durch  Besdt^ung  von  Prozefs- 
Voraussetzungen  in  einer  sehr  bedenklichen  Weise  privil^ert, 
obwohl  sie  nicht  Mittel  zum  Koalitionszwange  sind  und  sein  sollen» 
bestraft  §  6  Handlungen,  welche  nach  gemeinem  Strafrecht  über- 
haupt straflos  und  zugleich  nicht  Mittel  eines  Koalitionszwanges  sind; 
auch  bezüglich  dieser  Nonn  ist  mit  Recht  geltend  gemacht  worden,') 
dafe  sie  geeignet  ist,  die  Bestrebungen  der  Friedensstifter  zu  stören 
oder  illusorisch  zu  machen.  Da(s  Personen,  welche  an  einem 
Strike  nicht  teÜgenonunen  haben,  bedroht  oder  in  Verruf  erklart 
werden,  konunt  vor;  aber  ungleich  öfter  kommt  vor,  da(s  Personen, 
die  an  einem  Strike  teilgenommen  haben,  deswegen  bedroht 
oder  in  Verruf  erklärt  werden.  Die  Bedrohuf^  und  Verruls- 
erklärung  gegen  NichtteÜnehmer  will  §  6  mit  Gefängnis  bis  zu 
I  Jahre  bestrafen.  Die  Bedrohung  und  Verrufiscrklärung  ^gtn 
Teilnehmer  eines  Strikes,  welche  z.  B.  in  Gestalt  von 
schwarzen  Listen  tagtäglich  geschieht,  bleibt  straflos  und  ist  sogar 
in  der  Begründung  ausdrücklich  als  erlaubt  erklärt  Wohl  mit 
Recht  äufsert  v.  Lilienthal  ^)  zu  dieser  Bestimmung,  dafs  sie  «ch 
nur  „aus  der  tiefen  Abneigung"  gegen  Strikes  erklären  lasse. 

12)  §  8  der  \'orlagc,  von  welchem  dieselbe  die  ihr  bereits  vor 
ihrer  Publikation  volkstiimlicli  zu  teil  gewordenen  Bezeichnung 
Zuchthausvorlage  nicht  erhallen,  aber  behalten  hat,  ist  von 
Freunden  der  Vorlage  als  bedeutungslos  bezeichnet  worden,  weil 
die  hier  vorausgesetzten  Fälle  verhältnismäfsig  selten  vorkommen 
sollen.  §  8  trifft  nur  den  Fall,  dafs  durch  Ehrvcrletzung  u.  s.  w. 
ein  Arbeiterausstand  oder  eine  Arbeiteraussperrung  herbeige- 
führt oder  gefördert  werden  soll,  nicht  den  entgegengesetzten 
Fall.  Ist  der  Ausstand  oder  die  Aussperrung  mit  Kücksiclit  auf  die 
NaturoderBestimmungdes  Betriebes  geeignet,  die  Sicher- 
heit des  Rcirhcs  oder  eines  Bundesstaates  zu  gefährden  oder  eine  ge- 
meine Gefahr  für  Mcnsrhcnlcben  oder  für  das  Eigentum  hcrljcizuführeti, 
so  tritt  nach  §  8  Abs.  i  (iclangnis  nicht  unter  l  Monat.  i;e;.,'cn  die 
Rädelsführer  nicht  unter  6  Monaten  ein.  Absatz  II  droht  Zuchthaus 
bis  zu  3  bzw.  gegen  die  Rädelsführer  bis  z.ii  5  Jahren  an,  wcim 
infolge  des  Ausstandes  eine  Gefährdung  der  in  Abs.  I  bezeichneten 


•)  Jastrow,  1.  c.  S.  81. 
•)  a.  a.  O.  S.  427. 

37* 


Digitized  by  Google 


570 


Theodor  Loewenfeld, 


Art  eingetreten  ist.  Mit  Recht  ist  darauf  hing[ewiesen  worden,  dafe 
der  Thatbcstand  des  Absatz  i  und  derjenige  des  Absatz  2  trotz 
der  sehr  xersrhiedcnen  Strafminiiii.i  nicht  f^enügend  \'on  einander 
ab^e^cn/.t  seien.  Die  „F  ü  r  d  e  r  u  n  ^"  eines  Ausstandes,  welche  Alxs.  i 
erwähnt  im  (ie^ensatze  zu  der  ebenfalls  Absatz  i  erwähnten  lierbei- 
fülirun^  eines  Ausstandes,  Nctzt  einen  bestehenden  Strike  voraus. 
Ist  aber  ein  Strike  wegen  der  Natur  des  Betriebes  t^eeij^net,  eine 
Gefahr  herbeizuführen,  so  tritt  eben  mit  dem  Strike  auch  im  Sinne 
des  Gesetzes  —  wenn  auch  nicht  notwendig  in  Wirklichkeit  —  die 
„Gefahr"  ein,  Üir  welchen  Fall  Absatz  2  2kichthaiis  androht ') 

Ueber  die  Fälle,  welche  §  8  im  Auge  hat,  giebt  die  Denk* 
achrift  keine  Aus^nft;  die  Begründung  konstruiert  einige  Falle,  die 
indessen  zur  Erläuterung  nicht  genügen.  Für  die  Gefahrdung  der 
„Sicherheit  des  Reiches  oder  eines  Bundesstaates"  wird  als  Beikel 
angeführt  eine  Arbeitseinstcllui^  in  militar-liskaliachen  Betrieben. 
Dieser  Fall  würde  sonach  sich  in  den  zu  §  lO  Z.  2  erwähnten 
Dienstverhältnissen  ereignen  können.  Des  ferneren  wird  angeführt 
die  „Unterbrechung  des  Eisenbahnbetriebes  im  Mobilmachungsfalle**. 
Dieser  Fall  könnte  sich  nur  in  zu  lO  Z.  3  bezeichneten  Arbeits* 
und  Dienstverhältnissen  der  Fisenbahnunternehmungen  ereignen; 
ebenso  wie  der  weiter  erwähnte  ball,  dafs  in  FViedenszeiten  ein 
Mangel  an  den  zur  betriebssicheren  Unterhaltung  der  Kaiman- 
l.i;_,^en  n<")tigen  Arbeitskräften  die  I^ctricbssicMicrheit  ;.n'fährdet  und 
deshalb  zu  Fisenbahnunfällen  X'cranlassunfj  triebt."  Bcgrundun}T  .S.  i6. 
Dieser  I-"all  ist  schon  bedenklich  konstruiert.  Man  sollte  «glauben, 
wenn  die  Rahnanla;^en  nicht  in  b e t  r  i  c- 1) s s i  cli  e r  e m  Zustande, 
gleichviel  aus  welchem  (irunde.  dann  lälsl  die  i^ahin crwaltun}:^  den 
Betrieb  einstellen,  damit  kein  Menschenleben  trefährdet  wird; 
es  scheint,  lials  nach  der  Aiuiahme  des  X'erfassers  der  Hegründung 
in  diesem  Falle  die  Bahnverwaltung  berechtigt  ist,  die  Eisenbahn- 
züge über  betriebsunsichere  Geleise  zu  filhren  und  dafs  sie, 
wenn  infolge  dessen  Menschenleben  gefährdet  werden ,  nichtselbst 
kriminell  haftet,  sondern  die  strikenden  Bahnarbeiter,  welche 
doch  darüber  nicht  zu  entscheiden  haben,  ob  der  Betrieb  f<»^- 
fuhrt  oder  eingestellt  wird,  und  jedenfalls  die  Fortfuhrung  des  Be- 
triebes  und  die  hierdurch  eintretende  Gefahrdung  von  Menschen- 
leben nicht  verschulden.  Das  ist  doch  eine  merkwürdige  Rechts- 
'auffassungl  — 


1}  So  richtig  v.  Lilirnthal  1.  c.  S.  438. 


Digitized  by  C'c 


Koliricpnwdit  und  Stnfiedtt.  j^I 

Beispiele  für  eine  gemeine  Gefahr  für  das  Eigentum 
werden  in  der  Begründung  nicht  gegeben ,  ebenso  nicht  Bei- 
spiele einer  Gefahrdung  durch  Ausstande  von  Arbeitern,  welche 
nicht  fiskalisch  und  nicht  in  Eisenbahnbetrieben  be- 
schäftigt sind.  Trot/.dem  ist  die  Auffassung  nicht  mit  Unrecht 
verbreitet,  dafs  gerade  der  Kall  „der  gemeinen  Gefahr  für  das  Eigen- 
tum" von  der  Rechtsanwendung  am  häufigsten  und  bei  jedem 
gröfseren  Strike  oder  bei  Strikes,  welche  gröfsere 
Unternehmungeo  betreffen,  aDgeDommen  werden 
wird.  Gememe  Gefahr  fiir  das  Eigentum  muls  der  Ausstand  her« 
beiföhren  mit  Röcksicht  auf  „die  Natur  des  Betriebes",  so 
dais  also  die  Betriebseinscellung  als  solche  —  «n  non  &oere  —  eine 
Gefahr  mit  sich  bringt  Dies  kann  der  Fall  sein,  weil  infolge  der 
Betriebseinstellung  Eigentumsgegenstände,  Sachen,  verderben 
und  unbrauchbar  werden,  z.  B.  Lebensmittel,  besonders  Früchte,  und 
zwar  Sachen  nicht  einzelner  bestimmter,  sondern  einer  unbestimmten 
Anzahl  von  Personen.  Dies  setzt  voraus,  dais  der  Betrieb  Sachen 
einer  unbestimmten  Anzahl  von  Personen  zum  Gegenstande  hat,  wie 
dies  bei  Verkehrsanstalten,  insbesondere  beim  Seeverkehr  und  See» 
hafenbetrieb  der  Fall,  deren  Arbeits-  und  Dienstverhältnisse  unter 
§  lo  Ziffer  i  fallen. 

Eine  gemeine  Gefahr  für  Sachen  besteht  aber  auch,  wenn 
Maschinen  und  maschinelle  Einrichtungen  durch  die  Betriebsein« 
Stellung  infolge  des  Unterblcibcns  der  /.ur  Instandhaltung  erforder- 
lichen Arbeiten  Schaden  leiden.  Gemeine  Gefahr  für  das  Eigentum 
kann  auch  dadurch  entstehen,  dafs  Betriebseinrichtungen  und  Pro- 
duktionsgegenstande entwertet  oder  im  Werte  geschädigt  werden. 
Dieser  letztere  Eall  kann  bei  jedem  gröfseren  Strike  wie  bei  jeder 
grölseren  Aussperrung  eintreten.  Gerade  diese  Gefahr  tur  das 
Eigentum  wurde  immer  von  den  Unternehmern  betont  und  sie  ist 
auch  von  dem  Handelsminister  Brefeld  mit  besonderem  Nachdrucke 
zur  Begründung  der  Vorlage  dem  Reichstage  vor  Augen  gestellt 
worden,  indem  er  von  den  Folgen  eines  groisen  Bergwerkarbeiter^ 
strikes  fiir  Handel  und  Gewerbe  sprach.  Das  ist  zwar  keine  Gefahr 
Itir  das  Eigentum  im  ^nne  von  §§  313,  314  St.G3. ;  aber  die  Begrün- 
dung nimmt  auch  auf  diese  Bestinunungen  keinen  Bezug.  Wie  man 
aber  den  §  8  auf&ssen  mag,  unter  allen  Umständen,  ist  sehr  be- 
merkenswert, dafs  die  „gemeine  Gefahr**  nach  §  8  nur  dann  zu 
Gefangnb-  und  Zuchthausstrafe  fuhren  soll,  wenn  sie  herbeigeftihrt 
wurde  durch  einen  Ausstand  oder  eine  Aussperrung  von  Arbeitern, 


Digilized  by  Google 


572 


Theodor  Lo«wenfeld. 


also  durch  Kämpfe  im  Bereiche  der  Arbeitsverhältnisse;  dafs  dagegen 
die  Herbeiführung  der  gleichen  gemeioeo  Gefahr  für  die  Sicherheit 
des  Reiches  oder  von  Bundesstaaten  oder  von  Menschenleben  oder 
für  das  Eigentum  straflos  bleibt,  wenn  sie  die  Folge  einer  Betriebs- 
einstellung  ist,  welche  durch  eine  Koalition  von  Unterneh- 
mern gegen  andereUnternehmerdurchdiegldcheaZwang»» 
mittel  herbeigeführt  wird.  „Bei  Ausbruch  eines  Krieges  würden  die 
Organisatoren  eines  Pulverrings  straffrei  den  mit  jenen  Mittein  er- 
rungenen Gewinn  einheimsen,  während  ihre  Arbeiter,  die  mit  den- 
selben Mitteln  einen  Anteil  am  Gewinne  verlangen,  in  das  Zucht- 
haus geschickt  würden.')  Die  „gemeine  Gefahr"  ist  bedeutungs- 
los, wenn  sie  von  Unternehmern  als  Produzenten  und  Handlern 
zum  Zwecke  der  Krliöhung  ihres  (iewinnes  herbeigeführt  wird, 
während  sie  ein  Thatbestandsmerkmal  für  ein  mit  Zuchthaus  be- 
straftes Verbrechen  bildet,  wenn  sie  herbeigeführt  wird  von  Arbeitern 
im  Kampfe  um  ihre  Arbeitsbedingungen. 

Hieraus  erj^iebt  sich,  dafs  es  nicht  der  gefahrliche  Erfolg 
oder  vielmehr,  da  ein  Schaden  in  §  8  ja  gar  nicht  voraus- 
gesetzt und  verlangt  wird ,  die  (iröfse  der  Gefahr  ist,  welche  den 
Bestiinmuni(s<rruiu}  lur  tlie  Strafdrohungen  der  Vorlage  in  §  8  ge- 
bildet hat.  Denn  sonst  wäre  ja  volikoinmen  unverständlich ,  dafs 
die  Herbeiführung  der  glelciien  (lefahr  durch  die  gleichen  Mittel  für 
die  Unternehmer  völlig  straflos  bleiben  soll,  wenn  sie  veranlafst 
wird  durch  Kartellverabredungen  der  Produzenten  und  Händler  unter- 
doander.  Die  „Schwere  und  Gemeingefährlichkeit  der  Strafihat**, 
auf  welche  die  Begründung  S.  i6  verweist,  ist  doch  in  beiden  FäUen 
die  gleiche.  Dafs  dne  „Straf^hat**,  wie  etwa  eine  Ehrverletzung  — 
nicht  etwa  an  einem  Staatsoberhaupte,  sondern  an  einem  Arbeiter 
—  eine  gemeine  Gefahr  für  die  Sicherheit  des  Reiches 
oder  für  das  Eigentum  herbeiführen  könnte,  gehört  an  sich 
mehr  in  das  Berdch  der  juristischen  Fiktionen  als  in  das  Gebiet  der 
Wirklichkeit  Darum  ist  die  Annahme^  dafs  durch  die  drakonischen 
Strafen  des  §  8  nicht  Strafttiaten  —  die  ja  nach  gemeinem  Rechte  gar 
keine  Strafthaten  sind  —  verfolgt,  sondern  Ausstände  unmöglich 
gemadit  oder  mit  anderen  Worten  indirekt  verboten  werden 
sollen,  eine  wohlbegriindete.  Man  braucht  dabei  gar  nicht  darauf  hbsu- 


*)  Vgl.  jABtrow  in  der  deutschen  Jaristenzeitmig  1899  S.  259;  Uem:  Gtatg 
Fevehter,  Der  dentache  MOttSrpulrerriiig  und  das  MUitirpalTeigeidiEft.  Göpfringca 
1896. 


Digitized  by  Google 


Koalitionsrecht  und  Strafrecht. 


573 


wdseo,  öa&  §  8  Abs,  2  nicht  melir  von  den  Fällen  der  §§  i,  2, 4, 
also  nicht  mehr  von  den  Fällen  einer  Ehrverletzung  u.  s.  w.  spricht, 
sondern  als  Thatbestandsmerkmal  lediglich  verlangt,  da(s  infolge 
eines  Arbeitsaasstandes  eme  Gefährdung  der  angegebenen  Art  ein- 
getreten sei  Denn  weder  Absatz  i  noch  Absatz  2  des  §  8  ver- 
langen einen  ursächlichen  Zusammenhang  der  Ehrverletzung  u.  s.  w. 
mit  dem  Ausstande  oder  mit  der  durch  letzteren  herbeigdährten 
Gefahr.  Absatz  I  verlangt  nicht  einmal,  dafs  durch  den  Ausstand 
eine  Gefahr  wirklich  herbeigefährt  worden  ist,  sondern  nur,  dafs  der 
Ausstand  dazu  «geeignet  war,  eine  Gefahr  herbeizufähren.  Mit  einer 
nicht  herbeigeführten  Gefahr  kann  natfirlich  die  „Strafthat" 
der  Ehrverletzung  u.  s.  w.  auch  nicht  in  ursächlichem  Zusammen- 
hange stehen.  Aber  auch  in  dem  Falle  des  §  8  Abs.  n  wird  nur 
verlangt,  dafs  durch  den  Ausstand  eine  Gefehr  emgetreten  sei, 
nicht  auch  dafs  die  Ehrverletzung  u.  s.  w.  mit  dem  Ausstande  oder 
mit  dieser  Gefahr  in  Kausalzusammenhang  stehe.  Es  ist  ja  auch 
keine  vollendete  That,  sondern  nur  ein  Untemdmien  erforderUch, 
also  auch  ein  erfolgloser  Versuch  genügend. 

13.  Die  „tiefe  Abneigung"  gegen  Strikes,  welche  die  Grund- 
tendenz der  Vorlage  bildet,  ist  besonders  intensiv  gegen  die  Strike- 
leiter,  die  Vertreter  und  Führer  der  Arbeiteroi^;anisationen.  Sie 
sollen  zunächst  durch  §  3  der  Vorlage  getroffen  worden:  „Wer  es 
sich  zum  Geschäfte  macht,  Handlungen  der  in  den  §§  i  und  2  be- 
zeichneten  Art  zu  begehen,  wird  mit  Gefängnis  nicht  unter  drei 
Monaten  bestraft."  Sowohl  die  Denkschrift  als  auch  die  Begrün- 
dung lassen  darüber  keinen  Zweifel,  wer  mit  diesen  Personen  ge- 
meint ist.  Die  Denkschritt  bezeichnet  sie  als  „gewerbsmäisige  und 
bezahlte  Agitatoren,  gewohnheitsmä&^e  Hetzer,  Arbeiterverführer, 
welche  die  blofse  Lust  an  der  Erregung  von  Unzufriedenheit  treibt, 
als  berufsmäfsige  Hetzer.  Ja  es  wird  aw^e^rochen,  dafs  bei 
Arbeitskämpfen  die  organisierten  Arbeiter  einer  gütlichen  Einigung 
weniger  zugänglich  seien  als  die  unorganisierten,  weil  die  Organisa- 
tionen infolge  des  Besitzes  gröfserer  Geldmittel  in  der  Lage  sind, 
die  j^ewerbsmäfsigen  Agitatoren  zu  unterhalten.  ^)  Besonders  betont 
wird,  dafs  die  Agitatoren  keine  Arbeiter  und  daher  nicht  beteiligt 
seien.  Auch  die  Begründung  spricht  die  Anschauung  aus,  dafs  bei 
Strikes  es  sich  oft  nur  darum  handle,  dem  Unternehmer  die  „Macht" 
der  Arbeiterführer  zu  zeigen  (S.  7),  und  erklärt,  dais  eine  besonders 


>)  Denluchiifl  S.  59— 6j. 


Digitized  by  Google 


574 


Theodor  Loewenfeld, 


strenge  Stfafe  am  Platze  sei  fiir  die  ..r^eschäftsmäfsig^en  Hetzer  und 
Agitatoren**,  die  am  Arbeitskampfe  infolge  ihrer  Berufsstellung 
kein  unmittelbares  Interesse  haben.  Diese  Vorsteilungen 
von  der  Thätigkeit  der  Beamten  der  Arbeiterorganisationen  ent«  * 
stammen  den  Darstellungen  der  Unternehmer,  ebenso  wie  die  in 
einer  Reichstagsvoriage  absonderlich  anmutende  Terminologie  dem 
Schimpfwörterlexikon  der  Untemehmerpresse  und  der  Unter- 
nehmereingaben entnommen  ist,  wie  man  l.  B.  durch  einen  Kin- 
blick  in  das  „Organ  des  Zcntralverbandes  TJcutscher  Industrieller" 
und  in  die  S.  545  erwähnte  Eingabe  des  Innuii^sverbandes  der  Bau- 
gewerketreif)enden  an  den  Reichskanzler  ersehen  kann.  Der  „be- 
zahlte Hetzer"  ist  offenbar  nach  dem  Muster  des  besoldeten  polizei- 
lichen Agent  provocateur  gedacht.  Sowohl  die  Akten  der  deut- 
schen Gewerl)eG^ericlue  als  Kinif^ungsamter  als  auch  die  Berichte 
der  deutschen  Fabrik-  und  Gewerbeinspektoren  geben  ein  ganz 
anderes  Bild  von  den  V^ert retern  der  Arbeiterorganisationen  als 
Denkschrift  und  Begründung;  ja  schon  die  Strikereglements  der 
Arbeiterverbände  und  die  veröffentlichten  Strikeberichte,  sowie  die 
Protokolle  über  die  Verhandlungen  der  Arbeiterverbande  beweisen, 
dafs  die  V'oraussetzungen  der  Begründung  das  Gegenteil  der  \\  ahr- 
heit  sind.  Es  steht  über  allen  Zweite!  durch  die  hundertfache  Er- 
fahrung der  Fahrikinspektoren  fest  und  entspricht  auch  der  Natur 
der  Sache,  dafs  Arbeiterorganisationen  die  Arbeitskämpfe  ruhiger 
und  friedlicher  gestalten  als  unorganisierte  und  undisziplinierte  Ar- 
beitermassen ;  es  steht  fest,  dafs  dem  Strike  organisierter  Arbeiter 
eine  möglichst  genaue  Erhebung  der  Verhältnisse,  der  Besdiwerden, 
wie  der  Auasichten  eines  Strikes  statutenmäfsig  voranzugehen  hat, 
dafi  die  Unterstützung  eines  Strikes  durch  die  Zentralverbände  und 
die  Gewerkschaftskartelle  von  der  Einhaltung  der  Vorschriften  der 
'  Strikereglements  abhängt  und  dals  diese  insbesondere  die  Arbeiter 
und  die  Arbeitervertreter  verpflichten,  zunächst  die  gütliche  Eim- 
gung  mit  den  Unternehmern  zu  versuchen;  es  steht  fest,  dafi  diesen 
Regeln  auch  überall  da,  wo  eine  richtige  Organisation 
besteht,  Folge  geleistet  wird;  die  öflentUchen  Strikcberidite  ver» 
sdcfanen  die  Betriebe  nach  Zahl,  Branche  und  Ort,  von  deren  In- 
habern Verhandlungen  durch  die  Arbeiterorganisationen  zugelassen, 
mit  wek:hen  sie  erfolgreich  durchgeführt,  die  Unternehmer,  welche 
die  Verhandlungen  mit  den  Organisationen  abgewiesen  und  den 
Strike  durch  die  Uebung  der  Nichtverhandlungsmaxime  herbeigeführt 
haben.  Se  verzeichnen  als  ebenso  viele  Erfolge  der  Organisation 


Digitized  by  Google 


KoaUdonsredit  and  StmCrecht 


575 


die  Fälle,  in  welchen  Unternehmer  sich  nicht  von  vornherein  gegen 
jede  Verhandlung  gesträubt  haben.  ^)  Diese  Berichte  werden  übrigens 
durch  die  eigenen  Verhandlungen  der  Untemehmerverbände  nur  be- 
stätigt Den  „bezahlten  Hetzern**  erteilen  die  Gewerbeinspektoren 
das  Zeugnis  besonnenen,  ruhigen,  die  Arbeiterintereasen  fördernden 
Wirkens.  Diese  Hetzer  sind  zugleich  —  als  Vertrauensmänner  der 
Arbeiterorganisationen  —  die  berufenen  Richter  im  Gewerbegerichte 
und  im  Einigungsamte;  ihre  Thätigkeit  in  dieser  öffentlichen  Stellung 
ist  von  allen  Seiten  anerkannt,  abgesehen  von  einer  kleinen  Scharf- 
macherpartei,  welcher  die  Gewerbe<^erichte  überhaupt  ein  Dorn  im 
Auge  sind;  im  Jahre  iSqq  sah  man  die  „Hetzer*'  in  grofser  Zahl 
an  der  Arbeit  in  der  Versammlung  des  III.  Gewerkschaftskoiij^Tesses 
zu  Frankfurt  a.  M.  Die  Beschlüsse  dieses  Arbeiterparlamentcs,  das 
aus  den  gewählten  Vertretern  der  Arbeiteron^anisationen,  eben  jenen 
„Hetzern"  der  Denkschrift  und  der  ,.Hegründung''  sich  zusammen- 
setzte, der  Ton  ihrer  Verliandkuigeii  stehen  mit  der  Polizeiromantik 
der  Denkschrift  im  schärfsten  Widerspruch.  Es  genügt,  die  Hal- 
tung dieses  Kongresses  der  Gewerkschaftsführer  zur  Frage  des 
paritätischen  Arbeitsnachweises  zu  vergleichen  mit  der  Hal- 
tung, welche  ungefähr  zur  gleichen  Zeit  die  Konferenz  der  Ver- 
treter der  Unternehmerverbande  zu  Leipzig  gegenüber  diesen  ge- 
meinnützigen kommunalen  Anstalten  friedlicher  ArbeitsvermitUung 
angenommen  hat,  um  zu  entscheiden,  auf  welcher  Seite 
„gehetzt"  wird.  Darüber  sollte  man  an  der  Centraisteile  aller 
amtlichen  Information  genügenden  Bescheid  wissen.  Zum  Wesen 
jeder  Organisation  gehören  aber  die  Organe,  welche  die 
Gemeinschaft  vertreten,  ihre  Geschäfte  nach  Innen  und  nach 
Außen  leiten.  Ohne  solche  Organe  kein  Gemeinschaftsleben,  keine 
Möglichkeit  der  Bethatigung.  Nach  dem  Prinzipe  divide  et  impera 
ist  daher  von  jeher  das  Streben  der  Unternehmer  und  ihrer  Ver> 
bände  dahin  gegangen,  die  Arbeiter  ihrer  Führer  zu  berauben; 
daher  deren  Maisregelung,  die  Begleiterscheinung  der  Strikes,  daher 
die  dauernde  Aussperrung  dieser  Führer  von  Arbeiterorganisationen 
durch  schwarze  Listen.  Was  der  regelmäfstge  und  beabsichtigte  Er- 
folg der  Unternehmeraktion,  macht  die  Begründung  und  die 
Denkschrift  den  Gewerkschaftsorganen  zum  Vorwurfe:  da(s  sie  nicht 
als  Arbeiter  beschäftigt  seiea   Sind  infolge  solcher  Umstände 


*)  Vgl.  s.  B.  PratokoU  des  V.  wdendidicii  VeibMdstagcs  des  Zentralverbaadei 
der  Ifanrcr.  Berlin,  Min  1899,  S.  18. 


Oigitized  by  Google 


576 


Theodor  Loewenfeld, 


die  Führer  der  Arbeiterorganisationen  nicht  mehr  in  ihrem  früheren 
Berufe  thatig,  so  ist  es  doch  lediglich  Sache  der  (  )rjTanisationen, 
wen  sie  zu  ihrem  Renmten  wählen.  Den  Geschaüstührern  der 
UnternehmerorgaiiisMtioiicn  hat  man  noch  nie  einen  Vorwurf  da- 
raus gemacht,  dals  sie  nicht  selbst  Unternehmer  und  daher  nicht 
persönlich  beteiligt  sind,  wenn  sie  die  Interessen  ihrer  Verbände, 
insbesondere  gegen  die  Arbeiter,  mit  aller  Energie  vertreten,  ob- 
wohl auch  sie  bezahlt  sind.  Inbezug  auf  letztere  Konstatierung 
sind  die  (leneralsekretäre  der  Industrieberufsvereine  allerdings  sehr 
empfindlich.  In  der  Sitzung  des  Reichstages  vom  26.  April  1899 
bezeichnete  der  Abgeordnete  Frhr.  v.  Hcyl  den  Centraiverband 
Deutscher  Industrieller  als  einen  Herufsverein  der  Industriellen, 
der  seine  Interessen  in  ganz  einseitiger  V\  eise  vertrete  und  führte 
Klage  über  die  Ungebührlichkeit  des  Tones,  die  Unreife  des  Aus- 
druckes und  den  Dilettantismus  der  Auffassung  in  den  Prefsartikeln 
der  „Generalsekretäre,  dieser  bezahlten  Angestellten  der  Berufever- 
eioe".  Darauf  antwortete  der  Generalsekretär  Bueck'):  „Dadiirdi, 
dals  der  Freiherr  von  Hey!  Kollegen  und  mich  ausdrücklidi 
als  bezahlte  Angestellte  bezeichnet,  will  er  uns  unverkennbar  in  der 
öfTentlichen  Meinung  herabsetzen;  das  scheint  mir  nicht  der  Aus- 
fluls  adeliger  Gesinnung,  wie  sie  einem  Freiherm  wohl  zustände.*' 
Das  war  „Ehrverletzung**  im  Sinne  von  §  153  G.O.  und  §  i  der  Vor- 
lage. Unternehmern,  welche  auf  der  von  den  Arbeitgeberver- 
bänden veranstalteten  Arbeitsnachweiskonferenz  zu  Leipzig  gegen 
den  von  den  Sekretären  des  MetallindustrieUenverbandes  ver- 
tretenen Jcrassen  Arbeitgeberstandpunkt**  protestierten  und  em- 
pfahlen, die  Gleichberechtigung  der  Arbeiter  im  Arbeitsnachweise 
anzuerkennen,  rief  bekanntlich  Herr  Bueck  das  Wort  zu:  „Die 
Gleichberechtigung  des  Arbeiters  ist  ein  Schlagwort,  mit  dem 
ein  ungeheurer  Unfug  getrieben  wird**.^) 

Herr  Generalsekretär  Dr.  Beumer  erklärte  in  einem  Vortrage, 
welchen  er  in  der  Hauptversammlung  des  Vereins  der  deutschen 
Eisengiefsereien  kürzlich  hielt,  die  Ausföhrungen  des  Professors 
Schmoller  im  preulsischen  Herrenhause  gegen  die  Vorlage  als  „m  ehr 
als  wunderlich**  und  fiind  es  „unbegreiflich**,  „dafs  ein  Professor 
der  Nationalökonomie  der  Gesetzgebung  Rücksichtnahme  auf 


Deutsche    Irulustriezcilung.     Organ    des    Zentralvcrbandch   Deutscher  in- 
dnstridler.   Jahrg.  XV III,  Nr.  18  &  34a. 


Digitized  by  Google 


577 


die  Gefühle  eines  Teiles  der  Bevölkerung  vorschreiben 

möchte".^) 

Das  ist  doch  gewifs,  um  bei  der  Terminologie  der  Denkschrift 
und  der  Begründung  zu  bleiben,  „gehetzt"!  Und  von  solchen  Hetz* 
reden  und  Hetzartikeln  der  «bezahlten  Angestellten'^  der  Unter- 
nehmerverbände läfst  sich  eine  sehr  dicke  Denkschrift  zusammen« 
stellen.  Die  Herren  wissen  insbesondere,  wenn  ihnen  eine  Ansicht 
aus  Kreisen  der  Wissenschaft  nicht  in  den  Kram  pafst,  in  sehr  an- 
mafsendem  und  sehr  herabsetzendem  Tone  zu  reden  und  nicht 
minder  despektierlich  ist  ihre  Sprache  gegen  die  Volksvertretung 
und  die  Parteien  des  Reichstages.  Aber  die  Denkschrift  zur  Vor- 
lage weifs  von  ihnen  gar  nichts  zu  erzählen.  Nur  die  Beamten  der 
Arbeiterkoalitionen  sind  in  Denkschrift  und  Begründung  die  „be- 
zahlten Hetzer  .  Sie  werden  in  der  Vorlage  mit  besonderen  Straf- 
drohungen bedacht. 

Zunächst  die  oben  erwähnte  Strafdrohung  des  §  3.  Zum  „Ge- 
schäfte" der  Beamten  der  Organisationen  gehört  es  zwar  an  sich 
gewils  nicht,  Ehrverletzungen  u.s.  w,  zu  Koalitions/wecken  zu  begehen; 
aber  sie  sind  zunächst  der  Gefahr  ausgesetzt,  dafs  ihnen,  was  im 
Lohnkampfe  in  solchen  Dingen  geschieht,  als  „Anstiftern  und  Ge- 
hilfen" zur  Last  gekgi  wird.  Inbezug  auf  das  nach  ij  4-  der  Vor- 
lage mit  Strafe  bedrohte  Postenstehen  weist  die  Begründung  auf 
die  selbstverständliche  Anwendbarkeit  der  Jj>i  48,  49  St. G.B.  hin: 
„Nach  allgemeinen  strafrechtlichen  Grundsätzen  wird  die  Strafdroh- 
ung nicht  nur  auf  diejenigen  Personen  Anwendung  zu  finden  haben, 
welche  selbst  die  Ueberwachungsthätigkeit  auszuüben  haben,  sondern 
.auch  auf  die  Anstifter  und  Gehilfen*^.  Da  nun  in  all  diesen  Dingen 
durch  die  Vorlage  das  blolse  Unternehmen  der  vollendeten 
That  gleichgestellt  ist,  wir  femer  aber  auch  wissen,  was 
Alles  als  Postenstehen  schon  bisher  angesehen  worden  ist,  so  kann 
man  schon  hieraus  die  Gefahr  entnehnaen,  in  welche  die  Leiter 
der  Arbeiterorganisationen  bei  einem  Strike  oder  einer  Arbdter- 
aussperruDg  geraten  würden.  Für  sie  würde  es,  wenn  sie  dringende 
Ge&hr  ftlr  ihre  Freiheit  vermeiden  wollen,  überhaupt  keine  andere 


*)  Der  .Schutz  der  Arbeitswilligen;  voa  Dr.  Wüb.  He  um  er,  .SundcraWruck 
aw  „Stahl  und  Eisen"  1899  Nr.  20,  S.  j.  Wir«  der  Verband  der  Eisengieisereien 
aidit  tclMn  Todicr  mdi  den  preofr.  Vcreinsgesette  „politisch"  gewesen,  so  «be  er 
dies  dnrdi  dieMB  VoitnK  gcwowkn  und  Utte  gemÜs  dem  GcMtw  nnfgelost,  der 
Herr  Vortnfcade  aber  beaCmft  werden  nflsscn. 


Oigitized  by  Google 


578 


Theodor  Loewcnfeld, 


Möglichkeit  geben,  als  sofort  nach  erfolgter  Arbeitseinstellung  oder 
Arbdteraussperrung  die  Flucht  zu  ergreifeo,  um  nicht  der  Ansti^ 
tung  oder  Gehilfenschaft  bei  einem  Spaziergange  oder  einena  Wirts- 
hausbesuche beschuldigt  zu  werden,  in  weichem  die  Anklage  und 
das  Strafgericht  ein  strafbares  Postenstehen  finden  können,  inriie* 
sondere,  wenn  eine  solche  „Stralthat**  sich  ereignen  würde  bei  einem 
jener  grofsen  Strikes,  welche  an  sich  zu  den  „gemeingefährlichen** 
nach  §  8  der  Vorlage  gehören.') 

In  unmittelbare  Gefahr  begeben  sie  sich  nach  ij  4  Abs.  3,  wenn 
sie  etwa  als  „Lohnkommission''  namens  ausstandiger  Arbeiter 
dem  Unternehmer  eine  Mitteilung  machen  wollen.  Eine  „Verrufs- 
erklärung oder  Drohung  im  Sinne  der  iji;  1—3  liegt  nicht  vor, 
wenn  der  Thaur  eine  Handlung  vornimmt,  zu  der  er  berechtigt, 
insbesondere,  wenn  er  befugterweise  ein  Arbeits-  oder  Dienstver- 
hältnis ablehnt,  beendi^^t  oder  kündigt,  die  Arbeit  ei  n  s  t  e  1 1 1 , 
eine  Arbeitseinstellung  oder  Aussperrung  fortsetzt  oder  wenn  er 
die  Vornahme  einer  solchen  Handlung  in  Aussicht  stellt".  Das 
alles  sind  nach  ,^  4  Abs.  3  Handlungen  der  unmittelbar  Betei- 
ligten; nur  von  ihiien  ist  in  ij  4  Abs.  3  die  Rede,  nicht  von  Per- 
sonen, welche  „vermöge  ihrer  Berufsstellung"  (Begründung  S.  12) 
die  .Sache  selbst  gar  nichts  angeht.  Das  Gesetz  ericilt  der  Unter- 
nehmerpraxis, die  von  den  Arbeitern  gewählten  Vertreter,  die  Or- 
ganisationen überhaupt,  von  den  Verhandlungen  auszuschliefsen,  seine 
strafrechtliche  Sanktion.  „Solch  ein  unberufener  Dritter,  sagt  Herr 
Beumer  io  dem  oben  angeführten  Vortrage,  ist  aber  ohne  Zweifel 


')  „Die  Geschichte  des  Stralrerhtcs  lehrt,  dals  larmoiult-  Hcstrcbungcn  auf  Straf- 
vcrschärfung  getjcn  einzelne  Vergclicu  fast  iniuicr  da/u  führen,  diese  Vergehen  als  so 
bösartig  und  gemcingcflUulich  hiimiiteUen,  daft  man  den  Kreis  der  Vciiolgtcn  mög- 
Udist  weit  cn  adwn  and  im  bteresse  der  AUgeneiiibeit  den  Verdacht  der 
Tbat  möglichtt  weit  ausdehnen  mttsse;  eine  Entwicklnng,  die  mit  NoU 
wend^^ccit  an  dar  Gefahr  Ähren  mnls,  daTs  achlicfitlich  Personen  ohne  korrdden 
Beweis  verurteilt  werden."  In  dem  mit  dics<  r  Finleitung  in  der  Frankfurter  Zeitung 
vom  25.  Oktober  1899  Nr.  296  mitgeteilten  I-alle  beklagte  sich  ein  Bauarbeiter  über 
eine  ihm  widerfahrene  Hcsrhimpfung.  olin«-  dir  I'fr>on  des  Thäters  n:ih<'r  htvcichncn 
zu  können.  Darauf  wurden  den  sämtlichen  auf  ilem  betr.  Üaur  be^«ii:itti^ten  Ar- 
beitern die  Invalidcnkartcu  abgenommen  und  aut  ürund  der  durch  dieselben  fcst- 
gestdlten  PerMmalien  die  Anklage  gegen  dUntlidie  erlioben,  jedoch  alle  bb  aaf 
einen  freigesprochen;  dieVemrteilnng  des  Einen  war  nach  ttbereimtimmenden 
richten  der  Presse  nw  dadurch  möglich,  dafs  die  Freigesprodiencn  gleichaellig  mit 
dem  Verarteiltctt  angeklagt  und  damit  der  Entlastongsbeweis  „abgeschnitten**  war. 


Digitized  by  Google 


KoaliüoDsrecht  und  Strafrecht.  579 

immer  die  Strikekommission  oder  der  Strikeposten,  die  einen 
Arbeitswütigen  hindern,  bei  einem  Unternehmer  zu  arbeiten,  der 
-auch  seinerseits  gewillt  ist,  dem  sich  Anbietenden  Arbeit  zu  geben. 
-Deshalb  werden  die  nach  der  heutigen  Gesetzgebung  möglicfaen 
und  durch  die  Gesetzgebung  noch^einzuftihrenden  Strafen  stets  nur 
diesen  sich  zwischen  die  Arbeitskraft  und  Arbeitsgelegenheit  drän- 
genden Dritten  treffen  und  ihn  allein  nur  treffen  könnend  Die 
Strikekommission,  mag  sie  auch  im  Auftrage  der  Arbeiter  erscheinen, 
ist  immer  verdächtig,  sich  unberufen  einzumischen  und  den 
Strike  an  sich  arbeitswilliger  Arbeiter  zu  provozieren.  Die  Unter- 
nehmerorganisation und  deren  Angestellte  drängen  sich  natürlich 
nie  zwischen  Arbeitskraft  und  Arbeitspjelegenheit!  Dieser  Unter- 
nehmeranscbauung  gab  auch  der  Staatssekretär  des  Reichsjustiz- 
amtes bei  Vcrtretunj^  der  Vorlage  im  Reichst^e  Ausdruck.  In 
den  drei  von  ihm  demselben  Reichstag  mitgeteilten  Fällen,  in 
welchen  das  Reichsgericht  wegen  Erpressung  eine  Lohn- 
kommission verurteilt  hatte,  ersdüen  ihm  als  wichtiges 
Thatbestandsmerkmal ,  dafs  es  eine  „fremde  Lohnkommission'\ 
„nicht  die  Arbeiter  der  einzelnen  Werkstätten  für  sich,  sondern 
eine  an  d  c  r  \v  ei  t  i  e  Lohnkommission"  ist,  welche  bei  dem 
Unternehmer  erscheint,  den  Strike  ankündigt  und  die  Forderungen 
der  Arbeiter  mitteilt.') 

Der  Lohnkommission  droht  also,  wenn  sie,  was  die  ..unmittelbar 
Beteiligten"  nach  4  Abs.  5  zu  thun  berechtigt  sein  sollen,  für 
diese  thut,  die  .'\nklage  und  Verurteilung  eben  nach  diesem  §  4 
Abs.  3  der  Vorlage. 

Es  droht  ihr  aber  auch  die  Verurteilung  wegen  I'>pressung. 
Denn  auch  die  Arbeiter  selbst  dürfen  zwar  die  Arbeit  ein- 
stellen, sie  dürfen  dies  auch  ankündigen.  Der  (iesetzentwurf  erklart 
hiermit  eine  Handlung  als  erlaubt,  welche  zwar  von  jeher  nach  ge- 
meinem und  nach  Gewerberecht  als  erlaul)t  erschien,  aber  von  den 
Unternehmern  ebenfalls  als  „Nötigung  und  Zwang",  als  unberechtigt 
erklärt  worden  ist.-)  Es  ist  erlaubt,  die  Arbeit  einzustellen,  erlaubt, 
dies  anzukündigen;  dies  hat  auch  das  Reichsgericht  in  seinem  Ur- 
teil vom  6.  Oktober  1890  anerkannt;  es  ist  auch  erlaubt,  nach  dner 
Lohnerhöhung  zu  streben.  Aber  dieses  Streben  wird,  sofern  auf  die 
Lohnerhöhung  noch  kein  vertragsmäfsiges  Recht  besteht,  rechts- 


')  Sten.  Ber.  lo.  Leptlatiirpcriode  L  Scu.  1898/99  S.  2751  S^- 
*)  Vgl.  LeipsiKer  AibeiUaadiweiH>rotokoU  pMiim. 


Digitized  by  Google 


580  Tbeodor  Loewcafeld, 

widrig;  und  zur  Erpressung,  wenn  es  sich  des  Mittels  der  fragtichen 
an  sich  erlaubten  Drohung  bedient  Erst  die  Kombination 
der  erlaubten  Drohung  als  Mittel  zu  einem  an  sich  erlaubten  Zwecke 
macht  diesen  Zweck  und  damit  das  Ganze  rechtswidrig  und  zur 
Erpressung.  Dabei  bleibt  es  auch  nach  der  Vorlage  §  4  Abs,  IIL 
Die  Arbeiterfiihrer  laufen  also  bei  Vertretung  einer  Lohnforderung 
für  ihre  Auftraggeber  die  Ge£ibr  nicht  blos  einer  Anklage  nach 
den  Bestimmungen  der  Vorlage,  sondern  weiter  nach  gemeinem 
Strafrecht  wegen  Erpressung. 

Die  i;§  7  und  8  bedrohen  speziell  die  „Rädelsführer".  Nach 
dem  Inhalte  dieser  Paragraphen  besteht  in  allen  Fällen  die  dringende 
Gefahr,  dafs  die  Leiter  einer  Lohnbewegung  als  „Rädelsführer'  haft- 
bar gemacht  werden.  In  §  8  ist  speziell  unklar,  worauf  sich  die 
That  des  „Radeisführers"  beziehen  niuls,  ob  auf  die  Organisation 
des  „gemeingefahrliclu  ii"  Ausstandes  oder  auf  die  wahrend  oder 
vor  demselben  von  irgend  einem  Arbeiter  begangene  Drohung  u.s.w. 
Man  wird  wohl  sagen  müssen,  auf  die  Drohung  u.  s,  w..  solange  nicht 
der  Ausstand  selbst  ausdrücklich  als  Strafthat  erklärt  ist.  Aber  die 
Strafdrohung  des  §  8  will,  wie  oben  gezeigt,  mehr  den  „gemein- 
gefährlichen'* Ausstand  selbst,  als  die  „Khrverletzung"  u.s.w.  treffen, 
welche  mit  demselben  in  keinem  ursachlichen  Zusammenhange  zu 
stehen  braucht,  Angesichts  der  Fiktionen,  mit  welchen  die 
Rechtssprechung  und  die  Vertreter  der  Vorlage  inbczug  auf  die 
Vertreter  der  Arbeiter  überhaupt  operieren,  liegt  es  nahe,  den 
„Rädelsführer"  des  Ausstandes  auch  für  die  irgendwie  vor  dem- 
selben und  während  desselben  vorgekommenen  Ehrverletzungen 
verantwortlich  zu  machen  und  so  eine  indirekte  Rädelsffihrer- 
schaft  inbezug  auf  diese  —  ohndiin  nur  als  Vorwand  för  die 
Strafdrohung  dienenden  —  Strafthaten  zu  konstruieren. 

VIL  Vorlage  beruft  sich  zur  Begründung  ihrer  Gesetzesvor- 
schläge auf  das  Ausland.  Es  wird  behauptet,  „da(s  in  fremden, 
zum  Vergleich  hier  vorzugsweise  in  Betracht  kom- 
menden Ländern  die  Strafgesetzgebung  weit  schärfere 
Waffen  zur  Bekämpfung  der  Mifsbräuche  des  Koalitionsrechtes 
gewährt  als  in  Deutschland**  (Begründung  S.  9). 

Zum  Teil  sei  schon  durch  das  allgemeine  Strafrecht  die  WUlens- 
freiheit  des  Einzelnen  besser  gegen  Gewalt  und  Zwang  geschützt 
als  bei  uns.  Zum  Beleg  wird  auf  das  italienische  Strafgesetzbuch, 
das  schwedische  Strafgesetzbuch  und  die  Strafgesetzbücher  fiir  die 
Kantone  Zürich  und  Solothum  verwiesen.   Warum  diese  Länder 


Digitized  by  Google 


KoftUdflOsrecht  und  Stnficcht 


581 


•rar  ^Vergldchuag  vorzugsweise  in  Betracht  kommen**,  ist  oicbt 
einzuadieo.  losbesondere  dürften  die  italienischen  Zustände 
überhaupt  und  die  der  italienisdien  Arbdterbevöikerung  io^esondere 
sich  einigermaiseil  von  den  deutschen  unterscheiden;  von  letzterer 
Thatsache  wissen  unsere  Polizei-  und  Strafverfolgungsbehörden  zu 
berichten,  welche  infolge  des  zunehmenden  Imports  italienischer 
Arbeitswilliger  eine  starke  Zunahme  ihrer  amtlichen  Geschäfte 
zu  beklagen  haben. 

Wus  die  ,^änder''  Zürich  und  Solothurn  betrifft,  so  gehören 
me  bekanntlich  der  Schweiz  an. 

Die  Schweiz  befafst  sich  z.  Zt.  mit  der  Einfühning  eines  neuen 
Strafgesetzbuches.  Der  im  Auftrage  des  Bundesrates  von  Carl 
Stoo  fs  ausgearbeitete  Vorentwurf  eines  schweizerischen  Strafge- 
setzbuches^) enthält  im  Art.  161  folgende  Bestimmung: 

„Wer  jemand  an  der  Ausübung  eines  ihm   von  der 
Bundesverfassung  gewahrleisteten    Freiheitsrechtes ,  insbe- 
sondere des  Rechtes  der  freien  Niederlassung,  der  Religions- 
freiheit, Prefsfreiheit,  Handels-  und  Ge Werbefreiheit, 
oder  an  der  Freiheit  der  Arbeit  durch  Gewalt  oder 
Drohung  hindert,  oder  ihm  den  Genufs  eines  solchen  Frei- 
heitsrechtes böswillig  schmälert  oder  unmöglich  macht,  wird 
mit  Gefängnis  bis  zu  6  Monaten  oder  mit  Geldstrafe  bis  zu 
5000  Franken  bestraft." 
Die  Finlügung  einer  solchen  Bestimmung  in  das  deutsche  Straf- 
gesetzbuch könnte  für  verschiedene  andere  Klassen  viel  unange- 
nehmere Folgen  herbeiführen  als  für  die  Arbeiter.    Der  Art.  161 
ist  indessen  gestrichen  worden,  weil  man  keinerlei  Ausnahme- 
gesetzgebung —  auch  in  Gestalt  von  Bestimmungen  des  allge- 
metnen  Strafgesetzbuches  nicht  —  aufzunehmen  wünscht.  —  Nun 
führt  die  Begrtindung  an,  dafs  der  Umfiuig  des  Ndtigungsbegriffes 
nach  den  Strafgesetzbüchern  von  Zürich  und  Solothurn  weiter 
ist  als  der  gleiche  Begriff  des  Deutschen  StGB.  §  240.  Des- 
wegen sind  diese  2  Kantonsgesetze  für  die  Deutsche  Strafgesetz- 
gebung  ein  V  o  r  b  i  1  d.  Die  übrigen  schweizerischen  ICantonsrechte, 
auf  die  man  sich  nicht  berufen  kann,  sind  für  uns  natürtich  kein  Vorbild! 
Und  doch  sind  auch  die  Strafgesetze  von  Zürich  und  Solothum  mit 


*)  Schweizerisches  Strafgesetsboch.  Voreatwnrf  mit  Motiven,  im  Auftrage  des 
■chveizerischen  Bnodesntes  «otgearfaeitet  von  Carl  Slofs  and  fmnsAsiscbe  Ueber» 
•ctnisg  des  Vorentworfii  Ton  Alfred  Gatttier.  Basel  und  Gcaf  1894. 


Digitized  by  Google 


$82 


Theodor  Loewenfeld, 


Unrecht  von  der  Begründung  angefiibrt.  Denn  sie  stdlen  keine 
AusnahoQsrechte  fiir  die  Arbeiter  dar.  Sie  schreiben  nidit  vor, 
dals  Arbeiter  fiir  Drohungen  bestraft  werden,  fiir  welche  andere 
Unterthanen  des  Gesetzes  straffrei  bleiben  sollen.  Alles,  was  man 
aus  schweizerischen  Rechtsquellen  in  der  That  an  speziell  arbeits- 
rechtlichen Bestimmungen  aozuföhren  vermag,  ist  —  eine  Polizei- 
verordnung der  Stadt  Zürich  vom  5.  April  1894,  welche  in  3  Ar- 
tikeln die  Anwendung  von  Zwang  gegen  Arbeiter  und  Arbeit- 
geber, wodurch  dieselben  in  der  Ausübung  ihres  Berufs  gehindert  oder 
gestört  werden  sollen,  verbietet.  Und  das  soll  diese  Vorlage  recht- 
fertigen!   Das  sind  die  „weit  schärferen  Waffen"  des  Auslands. 

Aus  Versehen  hat  man  wohl  mit  abgedruckt  den  §  64  des 
Strafgesetzbuches  von  Solothurn,  welcher  lautet: 

„Mit  Gefängnis  oder  Geldbulse  bis  zu  500  Franken  wird  be- 
straft: 

3.  wer  einen  Bürger  mit  Gewalt  oder  durch  Bedrohung  zu 
verhindern  sucht,  die  ihm  zustehenden  politischen  Rechte 
auszuüben,  oder  ihm  wegen  Ausübung  dieser  Rechte  mit 

Strafe  droht." 

Es  wäre  sehr  zu  begrüfsen,  wenn  §  107  St.G.B.  im  Sinne  dieser 

Bestimmung^  ergänzt  würde. 

§  3  des  österreichischen  Gesetzes  vom  7.  April  1870  in 
Betreff  der  Verabreduncren  von  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern 
zur  Rr/.wint^unf^  von  Arbeitsbcclin^^unr^cn  u.  s.  w.,  welchen  die  Be- 
gründung,^ in  Anlage  2  anführt,  entspricht  dem  §  153  G.O.,  sofern 
auch  liier  der  Koalitionszwan^  verboten  ist.  Verbotene  Mittel  dieses 
Zwanges  sind  Einschüchterung:^"  oder  „Gewalt",  Die  „Verrufs- 
erklärung" und  die  .,I''hrverlctzung"  werden  nicht  genannt.  Die 
strafbare  Handlung  ist  eine  „U  eb er t  r e t  u  n g"  und  ist  mit  Arrest 
von  8  Tagen  bis  zu  3  Monaten  bedroht.  Das  soll  die  Vorlage 
rechtfertigen,  durch  welche  „EhrverietzuQg"  als  Verbrechen  mit 
5  Jahr  Zuchthaus  bedroht  wird ! 

In  der  Begründung  der  Vorlage,  sowie  in  den  Verhandlungen 
des  Reichstages  ist  „vor  allem"  auf  die  englische  Gesetz- 
gebung, auf  die  Bestimmungen  der  englischen  Conspiracy-  and 
Protection  Act  vom  13.  August  1875  hingewiesen  worden  als  ein 
gegenüber  dem  geltenden  deutschen  Gesetze  „weitergehendes' 
Strafgesetz. 

Das  englische  Gesetz  erlaubt  ausdrücklich  was  die  Vorlage 
ausdrücklich  verbietet:  das  Strikepostenstehen,  welches  lediglich 


Digitized  by  Google 


Koalitionsrecht  und  Stmfrccht. 


zu  dem  Zwecke  der  V'er.standic:^unf^  von  Arbeitswilligen  und  der 
Einziehun^^  von  Nachrichten  und  Mitteilungen  si  itt-ns  tlerselben  er- 
folgt. Im  übrigen  verbietet  das  englische  Gesetz  den  Gebrauch 
von  Gewalt  (violencei  oder  Ki  n  sch  ii  cht  e  r  u  n  g  1  iritimidate) 
gegen  eine  Person  loder  deren  Ehefrau,  oder  Kinder  i  oder  Sachbe- 
schädigungen, welche  zu  dem  Zwecke  geschehen,  um  dirse  Personen 
zu  einer  Handlung  oder  Unterlassung  zu  nötigen  (compell  1 :  es  verbietet 
ferner  als  Nötigungsmittel  anzuwenden  gewisse  im  Gesetze  genau 
bezeichnete  Belästigungen  einer  Person,  insbesondere  ist  verboten, 
dafs  eine  Person 

watchs  or  besets  the  housc  or  other  place  where  such 
other  person  resides  or  works.  or  carrles  on  business  or 
happens  to  be,  or  the  approach  to  such  house  or  place. 

Aber  „attending  at  or  near  the  house  or  place  where  a 
person  resides,  or  works.  or  carries  on  business.  or  happens  to  be, 
or  the  approach  to  such  house  or  place  in  order  nurely  to 
obtain  or  communicate  Information  shall  not  be  deemed  a  watciiing 
or  besetting  within  the  meaning  of  this  section." 

Dieses  englische  Gesetz  ist  zunächst  nicht  ein  Geset'/  gegen 
Arbeiter  und  zur  Verhinderung  von  Arbeiterkoalitionen.  Ks 
spricht  nicht  von  Arbeitern,  sondern  wendet  sich  an  Jedermann. 
Die  Einschüchterung  oder  Gewalt,  welche  es  unter  Strafe  stellt,  ist 
nicht  blofe  verboten,  wenn  es  sich  um  „Einwirkung  auf  Arbeits- 
oder Lohoverhältnisse**  handelt  (§  i  der  Vorlage)  oder  darum, 
jemanden  zur  Nachgiebigkeit  gegen  cfie  bei  mem  Ausstande 
oder  einer  Aussperrung  erhobenen  Forderungen  zu  veranlassen 
(§  2)  oder  einen  Ausstand  zu  fördern  (§  8),  sondern  sie  ist  verboten 
überhaupt  als  Mittel  des  Zwanges  zu  einem  Thun  oder  Unter- 
lassen. Sie  ist  daher  auch  Unternehmern  verboten,  wenn  diese 
nicht  mit  Arbeitern,  sondern  mit  Unternehmern  und  zwar  als  Pro- 
duzenten und  Händler  zu  thun  haben.  Die  deutschen  Unter- 
nehmer würden  jeden  Gefallen  an  der  Vorlage  verlieren,  wenn  deren 
Strafdrohungen  nicht  als  Ausnahmegesetz,  sondern  als  gemeines 
Recht  für  alle  vorgeschlagen  würden,  insbesondere  wenn 
zugleich  vorgeschlagen  würde,  das  Anklagemonopol  der  Staats- 
anwaltschaft aufzuheben  und  auch  in  dieser  Bezi^ung  das  eng- 
lische Recht  emzufiihren. 

Das  im  englischen  Rechte  zur  Benutzung  als  Zwangsmittel 
verbotene  Strikepostenstehen  ist  des  Femeren  etwas  ganz  anderes 
als  die  „planmäfsige  Ueberwachung",  welche  g  4  Abs.  2  der  Vorlage 

Ardihr  für  «n.  GeseticcbuoK  u.  Suti*tik.  XIV.  $8 


Digitized  by  Google 


5^4 


Theodor  Loewenfeld, 


verbifti't ;  es  ist  nur  als  Zwanrrsmittel  vcrlxjtcn  und  muis,  wie  die 
Bestiniinunjicn  des  Gesetzes  zeipren.  nicht  nur  ein  c^eei^netes  Mittel 
solchen  Zuanc^es  sein,  smulcrn  auch  in  der  Absicht  f:jel)iMi:cht 
werden,  zu  /wint^en.  Da'^eijeii  schreibt  das  Gesetz  ausdruciaicii 
vor,  dafs  das  Strikepostenstehen.  das  nur  zu  dem  Zwecke  geschehe, 
um  „Nachrichten  einzuziehen  und  zu  geben",  erlaubt  ist.  In  der 
Sitzung  des  deutschen  Reichstages  vom  19.  Juni  itS99  hat  der  Staats- 
sekretär des  Innern  behauptet,  ein  neueres  englisches  Urteil  in  einer 
Sache  Lyons  &  Sons  habe  ausgesprochen,  .^dafs  ein  Bewachen 
zum  Zwecke  der  Ueberredung  eines  anderen  (atteodiug  in  order 
to  persuade)  nicht  unter  diese  Ausnahme  fallt  und  daher  ungesetz* 
Uch  ist«« 

Das  fragliche  Urteil  in  Sachen  Lyons  v.  Wilkins*)  ist  zur  Zeit 
noch  nicht  rechtskräftig,  hat  aber  auch  nicht  den  angegebenen 
Inhalt  Es  sagt  nur,  dafs  die  Berufung  auf  die  Absicht  zu  „über- 
reden" nicht  ausschliefst,  dafs  das  Strikepostenstehen  als  verbotenes 
Zwangsmittel  dann  erachtet  wird,  wenn  /u^icich  der  ftir  let&> 
teres  erforderliche  Thatbestand  vorliegt  Das  Urteil  sagt  also :  das 
Ueberreden  von  Arbeitern  darf  nicht  in  der  Weise  ausgeführt 
werden,  dafs  der  dabei  entfaltete  äulsere  Apparat  für  einen  An- 
deren als  belästigenden  Zwang  auftritt 

Trotzdem  dieser  Ausspruch  weit  entfernt  ist,  das  Strikeposten- 
stehen überhaupt  oder  das  Strikepostenstehen  zum  Zwecke  der 
Ueberredung  von  Arbeitswütigen  ab  verboten  zu  erklären,  hat  er 
doch  in  England  grofses  Aufsehen  erregt  und  der  Fall  wird  von 
beiden  beteUigten  Parteien  mit  allen  Afittdn  der  engUschen  Jurist 
prudenz  bis  in  die  höchste  Gericbtsinstanz  des  Landes  gefiihrt  In 
Deutschland  erregt  eine  VerurteUung  von  Strikeposten  wegen  groben 
Unfugs  oder  die  einfache  Verhinderung  desselben  durch  strafsen- 

')  Sten.  Ber.  S.  2642. 

*)  „Persons,  sagt  dos  L'rteil  des  Bcrufunt«>riLhters,  miglit  be  pcaccfully  per- 
suadcd,  prtividcd  that  tlic  mftho<l  employed  to  juTsuadc  was  not  a  nuisance  to  lUher 
p(opl(.  Das  Uobfrreden  einer  I'ersoti  darf  nicht  in  der  Wcisi*  geschehen,  dafs  da- 
durch für  eine  andere  Person  a  nuisancc  daraus  entsteht.  Common  Xutsance  ist 
eine  widerrechtliche  Handlung  oder  Unterlassung,  wodurch  die  Sicherheit,  die  Ge> 
snndheit,  das  Eigentnm  oder  das  Leben  oder  Wohlbehagen  der  Gewuntheit  gertdrt 
wird.  So  nach  der  DeBnition  des  1879  dem  englischen  Pnrlamente  TOf^degten. 
bisher  nicht  erledigten  Entwurfes  eines  englisdien  Strafrechtes.  Vgl.  Emst  Schuster, 
Das  Stnfrecht  Grolsbritanniens  in  von  Lisst,  tfStra^eset^bmig  der  Gegenwart*' 
I,  S.  7,  37. 


Digitized  by  Google 


KoRlitionsrecht  und  ätrafrecbt. 


poli/.eiliche  für  den  einzelnen  Fall  erlassene  Vorschriften  schon 
keinerlei  Aufsehen  mehr,  so  häuh£^  sind  derartige  gegen  das  Gesetz 
verstofsende  Urteile  schon  ergangen,  derartige  Unigehungen  des 
Gesetzes  durch  tendenziöse  Verwendung  von  Kompetenzvorschriften 
schon  dagewesen.  Die  Denkschrift  beruft  sich  sogar  auf  derartige 
Poli/.civorschriften.  aber  nur.  um  dieselben  als  ungenügend  für  den 
angestrebten  Zweck,  das  Strikepostensteheii  überhaupt  zu  verhindern, 
zu  bezeichnen.  L  nd  auf  diese  englische  Gesetzgebung  und  Rechts- 
sprechung berutt  mau  sich,  um  einen  (lesetzesvorschlag  zu  be- 
gnuiden.  der  das  Strikepostenstehcn  überhaupt  verbietet.  Das  eng- 
lische Gesetz  droht  Geldstrafe  bis  zu  20  l  oder  Gefängnis  bis  zu 
3  Monaten  „with  er  withont  hard  labour."  Die  Strafe  des  eng- 
lischen Gesetzes  ist  milder  als  die  des  §  153  G.G.  Denn  während 
§  153  nur  Gefängnis  bis  zu  3  Monaten  kennt,  kann  der  englische 
Richter  auf  Geldstrafe  erkennen.  Löning')  findet,  dafs  das 
englische  Gesetz  schwerere  Strafen  drohe  als  die  Gewerbeordnung. 
(^Wesentlich  härtere  Strafen^  sagt  Löning  in  der  ursprünglich  ver- 
teilten, später  in  einigen  Stellen  abgeänderten  Abhandlung.)  Die 
„wesentlich  härteren  Strafen"  bestehen  in  Geldstrafe  oder  Ge- 
fängnis bis  zu  3  Monaten.  Geldstrafe  gilt  nirgends  als  härtere 
Strafe  als  Geföognis,  sondern  umgekehrt  als  mildere.  Aber  Löning 
meint,  „für  den  Arbeiter  müfste  die  Geldstrafe  in  Gefängnis  um- 
gewandelt werden,  weil  die  Geldstrafe  nicht  beizutretben  ist" 
Auch  wenn  dies  richtig  wäre,  würde  dadurch  nicht  bewiesen,  dafs 
die  englische  Geldstrafe  härter  bt  als  die  deutsche  Gefängnis- 
strafe. Gefängnis  bis  zu  drei  Mooaten  ist  ebenfalls  nicht  „wesent- 
lich härter"  als  Gefängnis  bis  zu  drei  Monaten. 

Aber  nach  englischem  Rechte  kann  in  „Verbindung"  damit  auf 
harte  Zwangsarbeit  (hard  labour)  erkannt  werden,  die  „nach  deut- 
schem Rechte  nur  mit  Zuchthausstrafe  verbunden  ist*'*),  und 
deswegen  erklärt  Löning.  die  Behauptung,  das  englische  Gesetz  sei 
milder  als  das  deutsche,  „beruhe  auf  Unkenntnis  des  englischen 
und  des  deutschen  Rechtes."  „Gefängnis  mit  Zwangsarbeit,  also 
Zuchthaus",  sagt  R.  van  der  Bofght*)  auf  Grund  von  Löning 
kurz  und  bündig.  Im  englischen  Rechte  entspricht  dem  deutschen 


>)  Verhandltingeo  desVerans  fflr  Sonalpolitik  1897,  Leipzig  1898  S.  271. 
*)  Löning  L  c.  S.  371. 

^  Die  Weiterbildung  des  Kotlltionsrecbtes  der  gewerblichen  Arbeiter  in  Deataeh- 
land  (1899). 

3»* 


Digitized  by  Google 


586 


Theodor  Loewenfeld, 


Zucfathause  die  1853  eingeführte  Strafe  des  penal  servitude,  dessen 
Minimum  seit  1891  drei  Jahre  beträgt.      Die  Verurteilung  zu  penal 
servitude  hat  den  Verlust  aller  Aemter,  der  Ansprüche  auf  Pen* 
sionen,  Entmündigung  und  Ernennung  eines  Pflegers  zur  Folge. 
Die  Strafe  wird  zunächst  in  Isolirhaft  vollzogen,  in  einem  zweiten 
Stadium,  während  des  Restes  der  Strafzeit,  durch  Verwendung  der 
Sträflinge  zu  Öffentlichen  Arbeiten  in  dem  Public  Works 
Prison.  Das  letztere  ist  ein  scharfes  Unterscheidungsmerkmal  inbezug 
auf  die  Beschäftigung  der  Zuchthaus-  und  der  Gefangnissträflinge 
nach  englischem  Rechte.  Die  englische  Gefängnisstrafe  dauert 
regelmäfsig  nur  bis  zu  2  Jahren,  hat  diesfalls  nicht  die  Ehrenfolgen  der 
Zuchthausstrafe;  die  Beschäftigung  mit  hard  labour  ist  ähnlich  der- 
jenigen des  ersten  Stadiums  der  Zuchthausstrafe.  Die  deutsche 
Zuchthausstrafe  hat  nach  §  31  St  G.B.  vor  allem  wie  die  englische 
dauernde  Ehrenfolgen  kraft  Gesetzes;  des  Femeren  kann  neben 
jeder  Zuchthausstrafe  auf  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  auf 
Zeit  erkannt  werden;  neben  Gefängnis  kann  auf  Verlust  der 
bürgerlichen  Ehrenrechte  nur  erkannt  werden,  wenn  die  Strafe  drei 
Monate  übersteigt  und  das  Gesetz  den  Verlust  der  bürgerHcheo 
Ehrenrechte  ausdrücklich  zuläfst  oder  die  Gefängnisstrafe 
wegen  Annahme  mildernder  Umstände  an  Stelle  einer  S^chthaus- 
strafe  ausgesprochen  wird.    Diese  Ehrenfolgen  sind  das  einzige 
wirkliche  Unterscheidungsmerkmal  des  deutschen  Zuchthauses  vom 
deutschen  Gefängnis;  das  Zuchthaus  infamiert   Dagegen  io- 
betreff  der  Beschäftigung  der  Zuchthaussträflinge  einerseits,  der 
Gefangnissträflinge  andrerseits  ist  kein  irgend  wesentlicher 
Unterschied  vorhanden.   £s  schreibt  zwar  das  St.G.B.  vor: 

1.  Die  zur  Zuchthausstrafe  Verurteilten  sind  in  der  Straf- 
anstalt zu  den  eitigeführten  Arheittn  nn/Aihalten.  Sie  können  auch 
ZU  Arbeiten  aufserhalb  der  Anstalt,  insbesondere  zu  öffentlichen 
oder  von  einer  Staatsbehörde  beaufsichtigten  Arbeiten  verwendet 
werden  (§  15), 

2.  Die  zur  Gefängnisstrafe  Verurteilten  können  in  einer  Ge- 
fangenenanstalt auf  eine  ihren  Fähigkeiten  und  X'erhältnissen  an- 
gemessene Weise  beschäftigt  werden.  Auf  ihr  Verlai^en  sind  sie 
in  dieser  Weise  zu  beschäftigen  (§  16). 

Vgl.  som  folgenden:  t.  P.  F.  Aich  rot  t,  Strmfenaystem  nnd  GeTiiignü* 

Wesen  in  England.  Berlin  u.  Leipzig  1887  iji;  5,  (\  14,  21.  2.  V.  F.  Aschrott, 
Strafen  und  Gefangniswescn  in  Fn^hind.  Sonderalxiruck  aus  der  Zeitschrift  f&r  <U< 
gesamte  Strafrechuwissenscbaft,  Bd.  XVII,  Heft  1,  Berlin  1896. 


Digitized  by  Google 


Koalitionsrecht  nnd  Strafreclit  387 

Dieser  Unterschied  Staad  indessen  bisher  aufdem  Papier  und 
wird  in  Zui<unft  nur  auf  dem  Papier  stehen.  „Die  beiden  wichtigsten 
Arten  der  Freiheitsstrafen  unseres  Strafgesetzbuches,  Zuchthaus* 
und  Gefängnisstrafe,  im  Vollzuge  zu  unterschdden  und  in  wesent- 
lichen Stücken  verschieden  zu  gestalten,  ist  bisher  nicht  gelungen 
und  jeder  darauf  gerichtete  Versuch  wird  an  der  Unmöglichkeit 
scheitern,  dne  auf  dem  Gedanken  der  vergeltenden  Gerechtigkeit 
basierte  Einrichtung,  wie  jene  Zweiteilung  der  Strafe,  ohne  Ver- 
letzung der  wichtigsten    und  obersten   Strafvoll/.ugsprin/Jpien  ins 
Werk  zu  setzen."     So  schrieb   1892   der  deutsche  Strafanstalts- 
direktor  Sichart. '  )   Kin  StrafvoUzugsgeset/.  ist  bekanntlich  in  Deutsch- 
land trotz  29jährigen  Bemühungen  bisher  nicht  zustande  gekommen. 
Im  Jahre  I.S()7  haben  sich  fiie  verbündeten  Regierungen  über  ge- 
wisse (jründsatze  geeinigt,  welche  bei  dem  Strafvoll/.uge  bis  zu 
weiterer  gt-mt-insamer  Regelung  zur  Anwendung  kommen  sollen. 
Dieselben  sind  am  (>.  November  1H97  durch  den  Reichskanzler  ver- 
öffentlicht   worden.-)     Inl)e/.ug    auf    den    Unterschied    der  Be- 
schäftigung von  Gefangnissträflingen  und  von  Zuchthaussträf- 
lingen sagt  der  Direktor  des  Landesgefängnisses  zu  Mannheim,  Re- 
gierungsrat Dr.  v.  Edelmann  in  einer  Besprechung  dieser  Grund- 
sätze: 'i    „Was  die  Regelung  der  Strafarten  betrittt,  so  hat  man 
sich  die  denkbar  grofste  Mühe  gegeben  (18971»,  einen  Unter- 
hclued  /.wischen   der  Zuchthausstrafe  und   der  Gefängnisstrafe  zu 
schaffen.   Die  (jrund.^atze  verlangtii  Trennung  von  Zuchihaus- 
und  Gefangnissträflingen.  sowie  besondere  Kleidung  der  Zucht- 
hausstraflinge,  sobald  überhaupt  Zwangskleidung  eingeführt  ist.  Sie 
gestatten    längere    Beschäftigung    im    Zuchthause,  setzen 
kleinere  Arbeitsbelohnung  daselbst  fest,  schliefsen  gewisse  Be- 
güostigungen  wie  Selbstbeschäftiguog  und  eigene  Kleidung  für  Zucht- 
haujsträflinge  aus**  u.  s.  w.    Inbezug  auf  die  Beschäftigung 
der  GeTängnissträflinge  sagt     17  der  Grundsätze:  „Den  Get^gnis- 
sträflingen,  sowie  den  Gefongenen,  welche  geschärfte  Haftstrafe  ver* 
hülsen,  wird  in  der  Regel  Arbeit  zugewiesen.  Ausnahmsweise 
wird  Gefangnissträflingen,  sofern  sie  im  Besitze  der  bürgerlichen 


*)  E.  Sichart,  Eotworf  eines  Gdctceä  Uber  den  Vollzog  der  Freihettntimfen 
ftr  dM  Deutsche  Reich.   Berlin  1872,  S.  2. 

*)  Bttndesratsbeschlufs  rom  6.  November  1897,  den  Volltti;  gerichtlich  er- 
kannter Freibeilsstrafen  betr.;  bayr.  Jostisminiaterialblatt  1898  Nr.  2«  S.  25. 

')  Deutsche  Jorislenzeitnag  1898.  S.  19$  ff. 


Oigitized  by  Google 


588 


Theodor  Loewenfeld, 


l'Lhren rechte  sich  befinden  und  Zuchthausstrafen  noch  nicht  verbuftt 
haben,  mit  Genehmigung  der  Aufsichtsbehörde  gestattet,  sich  selbst 
zu  beschäftifjen. 

„Harte  Arbeit'*  kann  nach  Löning  in  Deutschland  nur  mit 
Zuchthausstrafe,  nicht  mit  Gefängnisstrafe  verbunden  werden. 

Löning  hat  hiermit  einen  Unterschied  entdeckt,  über  welchen 
die  deutschen  verbündeten  Regierungen  und  die  Vorstände  der 
deutschen  Zudtthaus-  und  Gefängnisanstalten  sehr  erstaunt  sein 
dürften;  denn  ihnen  ist,  wie  man  aus  den  nach  28 jährigem  Ringen 
auf  dem  Gebiete  des  Strafvollzuges  aufgestellten  „Grundsätzen**  er- 
sdien  kann,  es  immer  noch  nicht  gelungen,  einen  solchen  Unter- 
schied in  Bezug  auf  die  Art  der  Beschäftigung  zu  finden  und  durch- 
zufahren. Man  hat  sich  die  „gröfste  Mühe"  gegeben,  überhaupt 
einen  Unterschied  im  Vollzuge  bei  den  Strafarten  zu  schaffen,  man 
hat  vielfach  für  die  Zuchthaussträflinge  eine  eigene  Tracht,  man 
schert  ihnen  Haar  und  Bart  u.s.  w.;  in  der  Beschäftigung  erscheint 
als  der  einzig  wesentliche  Unterschied,  dals  die  der  Zuchthausstrafe 
linge  etwas  länger  dauern  kann,  als  die  der  Gefangnissträflinge  und 
dafs  erstere  eine  geringere  Bezahlung  dafür  bekommen  als  letztere. 
Aber  ein  Unterschied  in  der  Arbeitsart  wird  grundsätzlicfa  nicht 
aufgestellt  und  ebensowenig  besteht  grundsätzlich  ein  Unterschied 
in  Bezug  auf  Arbeitszwang. 

Die  Gefangnissträflinge  müssen  arbeiten  wie  die  Zuchthaus- 
sträflinge. Dals  die  Gefiingnissträflinge  nach  St.G.B.  §  16  beschäftigt 
werden  können,  die  Zuchthaussträflinge  nach  §  15  beschäftigt  werden 
müssen,  schHefst  nur  das  Ermessen  der  Verwaltung  bei  Zucht- 
haus aus,  stellt  aber  nicht  die  Beschäftigung  in  das  Belieben  des  Ge- 
fängnissträflings.  Diese  werden  nach  den  Grundsätzen  regelmäfsig 
mit  der  in  der  Anstalt  überhaupt  eingeführten  Arbeitsart  beschäftigt. 
Eine  Ausnalime  hiervon,  die  Selbstbeschäftigung,  ist  nur  mit  Genehmi- 
gung der  Aufsichtsbehörde  unter  gewissen  Umständen  gestattet. 

Darnach  besteht  der  Unterschied  zwischen  der  Strafe  aus 
§  153  G.G.  und  der  nach  dem  englischen  Gesetze  auf  Grund  der 
Sektion  VU  der  Conspiracy  6c  Protection  Act  in  folgendem: 

1.  Das  englische  Recht  lafst  Geldstrafe  bis  zu  20^"  zu,  das 
deutsche  Recht  kennt  nur  Freiheitsstrafe. 

2.  Das  englische  Recht  kennt  Gcfanf;fnisstrate  bis  zu  3  Monaten 
mit  oder  ohne  hard  labour,  worüber  der  Richter  ent- 
scheidet; der  deutsche  Gcfangnisst  ratün«^^  wird  rege!  ni  a  Ts  i  ^ 
ähnlich  wie  der  Zuchthausstrafiing  beschäftigt;  ob  er  davon 


Digitized  by 


K.oaIitiun>rrcht  und  Strafrecht. 


dispeoaert  und  zur  Selbstbeschäfligung  zugelassen  werden  kann, 
entscheidet  in  den  durch  die  Grundsätze  überhaupt  zugelassenen 
AusnahmeMen  nicht  der  Richter,  sondern  das  Ermessen  der 
Aufsichtsbehörde  der  Gefängnisanstalt 

3.  Die  Arbeitszeit  beträgt  im  Public  Work  Prison,  also  für  die 
zu  öffentlichen  Arbeiten  anzuhaltenden  Zuchthaussträflinge,  täglich 
8* Stunden,  in  anderen  englischen  Zuchtfaausanstalten  9 — 10  Stunden. 
Der  Gefangene  soll  täglich  2  Stunden,  sei  es  arbeitend,  sei  es  spa- 
zierengehend, sich  im  Freien  aufhalten.  Nach  den  deutschen 
„Grundsätzen**  (§  20)  beträgt  „die  tägliche  Arbeitszeit  in  der  Regel 
für  Zuchthaussträflinge  nicht  mehr  als  12  Stunden,  fUr  Gefangnis- 
und  Haftsträflinge  nicht  mehr  ab  11  Stunden.  Nach  §  31  der 
Grundsätze  wird  „den  Gefangenen,  wo  es  ausführbar  ist,  täg- 
lich mindestens      Stunde  Bewegung  im  Freien  gestattet. 

4.  Sonach  sind  die  deutschen  Geföngnissträflinge  überhaupt 
ebenso  wie  die  in  England  zu  Gefängnisstrafe  mit  hard  labour  Ver- 
urteilten gezwungen  zu  arbeiten.  Zwischen  ihrer  Arbeit  und  der 
Zuchthausarbeit  ist  der  Art  nach  regelinäfsig  kein  Unterschied. 
Wohl  aber  unterscheidet  sich  !t  r  deutsche  Gefängnissträfling 
von  (!<  m  englischen  Zuchthaussträflinge  zu  seinem  Nachteil 
dadurch,  dafs  letzterer  um  3'  ., — 2  Stunden  kürzere  Arbeitszeit  hat 
und  dats  der  englische  Zuchthaussträfling  einen  längeren  Aufenthalt 
im  Freien  geniefst,  und  zwar  ist  dies  der  in  Deutschland  auf  Grund 
einer  Reformbewegung  neuestens  hergesteilte  Zustand. 

Wir  sind  nun  in  der  Lage,  die  Löningsche  Behauptung  zu  be- 
urteilen, dals  ..liarte  Arbeit"  in  Deiitschlaiul  nur  mit  Zuchthaus  ver- 
bunden wtrdrn  kann,  dafs  das  englische  Strafgesetz  „wesentlich 
härtere  Strafeir'  verhängt  als  ^  153  TlO. ,  ebenso  wie  die  Be- 
hauptung van  der  Borghts,  dals  das  englische  Gefängnis  mit  hard 
labour  dein  deutschen  Zuchfhause  gleichstehe.  Es  sind  dies  V(>llifT 
haltlosf.  r(.-chisirrtriiiiliclie ,  die  Thatsachen  in  ihr  Gegen' eil  ver- 
kehrende Behaujnungen.  -- Gegen  die  Autnahme  der  englischen  Be- 
stimmungen in  das  deutsche  Recht  wäre  unter  gewissen  Be'lingungen 
durchaus  nichts  einzuwenden,  wenn  einmal  ein  neues  Recht  ge- 
schaffen werden  soll.  Es  miilste  durch  klare  Gesetzesnormen  dafür 
gesorgt  werflen  —  wofür  die  V  orlage,  wie  wir  gesehen  haben,  nicht 
sorjjt  —  dats  auch  die  ei<j^entümlichen  ^^^rn1en  des  von  Unter- 
nehmern  g<  g<  n  Arbeiter  und  von  Unternehmern  gegen  l  riter- 
nehmer  c:eul)ten  Zwangs  cjetroffen  werrlen.  Denn  was  vor  allem 
gegen  das  geltende  Recht  sowohl  als  gegen  die  V'orlage  einge- 


Digilized  by  Google 


590 


Theodor  Loewenfeld, 


wendet  WL-rdeii  mufs,  ist  <iir  Recht  sun  gleich  hei  t.  die  sie  cferade 
in  dieser  Heziehnii'^f  schatfrii  und  zulassen,  und  die  schwere  Schadi- 
gunij  des  otlent liehen  Keclusl »ewulstseins,  die  hierdurch  verschuldet 
wird.  Sodann  ein  Zweiie.>>:  ^i  liuo  faciunt  idein,  nun  est  idem.  Auch 
das  jci/.'v^v  Gesetz  schliefst  die  ^h>;^lichkeif  nicht  aus.  wenij^stens 
unter  L^ewi^^en  l'instanden  den  L'nternehnier/.wani;  zu  tretien.  Ohne 
Garantie  L(e<^rj-ii  die  Mörrlichkeit,  dats  in  Zukunft  wie  bisher  ünter- 
nelnner  praktisch  anders  behandelt  werden  als  Arbeiter,  dafs  sie 
von  der  Gesetzesanwendung  verschont  bleiben,  welche  die  Arbeiter 
triflt,  nützen  alle  paritätischen  Ciesetze  nichts.  Kine  solche  Garantie 
könnte  zunachsi  nur  durch  .Abschalhu);..;  des  Anklagemonopols  der 
Staatsaiuvaltschatuii  und  lünüihriuig  des  englischen  S\stems  ge- 
Mchatlen  werdi-n.  :\uch  in  I>e..i;g  aiit  die  l-.rorterung  und  Fest- 
stellung der  Thatsachen  im  Krimuialprozeis  ist  das  deutsche  Gesetz 
anerkaimtermarsen  vollkommen  ungenügend.  Auch  hier  müfste 
durch  Gesetzesanderung  für  jene  Gründlichkeit  und  AUseitigkeit  der 
Beweiserhebung  gesorgt  werden,  welche  das  englische  Redit  garanp 
tieft.  Wdter  schaffe  man  dem  deutschen  Volke  <fie  englische 
Freiheit  des  Verdös-,  Versammlungs-,  Prefsrechtes,  die  englischen 
Garantien  der  Sicherheit  der  Person  gegen  Polizeiübergriffe,  und  eiv 
mögliche  dadurch  jene  Eotwickeluog  der  Arbeiterorgantsationeii, 
wdche  England  auszeichnet  und  die  sich  in  den  schwersten  Kämpfen 
um  die  Arbeitsbedingungen  gerade  inbezug  auf  Beseitigung  aller 
wirklichen  Ausschreitungen  auf  das  Glänzendste  bewährt  und  die 
Anerkennung  der  Welt  gefunden  hat  Dann  wird  man  auch  in 
Deutschland  die  englische  conspiracy-  &  protection  Act  ruhig  ein- 
fuhren können.  Dann  wird  dieselbe  im  deutschen  Rechte  nicht  zu 
einer  Waffe  einseitiger  Bekämpfung  der  Arbeiterkoalition  werden, 
was  sie  werden  müfste,  wenn  sie  ohne  Erfüllung  der  vorbezeichneten 
Voraussetzungen  zur  Einfuhrung  gelangte.  Was  bei  chemischen 
Stoffen  gUt,  dals  sie  sich  verändern,  je  nachdem  sie  mit  deni  einen 
oder  anderen  chemischen  Stoffe  sich  verbinden,  das  gilt  auch  von 
Gesetzen.  Auch  sie  sänd  zur  Wirksamkeit  unter  bestimmten 
Verhältnissen  berufen  und  wirken  anders,  segensreich  oder  un- 
heilvoll, je  nach  der  Art  dieser  Verhältnisse.  Darum  ist  auch  alle 
Berufung  der  Begründung  auf  ausländisches  Recht  nichts  als  ein 
Beweis  des  gesetzgeberischen  Dilletantismus,  der  sich  im  deutschen 
Rechte  ganz  besonders  auf  strafrechtUchem  Gebiete  unangenehm 
bemerkbar  maclit. 


Digitized  by  C^cx^gle 


Kualitiunsrecht  und  Strairecht. 


VIIL  Im  Namen  der  „Freiheit",  der  ,,Freiheit  des 
Arbeitsvertrages"  tritt  die  Vorlage  zum  Schutze  des  gewerb- 
ficheo  Arbeitsverhältnisses  vor  die  deutsche  Nation,  die  schon  lange 
nicht  mehr  so  viel  von  „Freibeitsrechten"  und  „Grund- 
rechten" gehört  hat,  als  nunmehr  seitens  derjenigen  Unternehmer, 
die  man  die  „Scharfmacher"  nennt,  derselben,  welche  ständig 
nach  Waffen  gegen  die  Arbeiter  rufen,  die  seit  Jahren  Knebelung 
der  Arbeiterklasse,  Wiederaufnahme  des  Sozialistengesetzes,  Um- 
sturzgesetze fordern,  denen  der  gesetzliche  Schutz  der  Arbeiter 
gegen  Lebensgefahrduog  als  unberechtigter  Einbruch  in  ihre  Be- 
triebe, die  Gleichberechtigung  des  Arbeiters  als  blofses  „Schlag- 
wort" und  Mittel  zum  Unfug  gilt,  die  den  Strike,  die  Arbeiter- 
koalttion,  die  Ausübung  politischer  Rechte  durch  ihre  Arbeiter  als 
„Unbotmäfsigkeit"  erklären.  Sie,  welche  Kartelle  und  Ringe 
gründen  und  die  fembleibenden,  ihre  Jf^reiheit"  wahrenden  Gewerbs- 
genossen durch  dn  System  von  Vemifserklärungen  zum  Anschlüsse 
zwingen,  um  dem  Konsum  Gesetze  aufzuerlegen,  sie  fiihren  nun 
in  den  Kampf  des  Arbeitsmarktes,  in  den  Kampf  um  die  Arbeits« 
bedin^ungen  ein  neues,  aber  dennoch  aus  der  Geschichte  bereits 
wohlbekanntes  Element  ein:  den  Schutz  der  Freiheit  der  Ver- 
trags^e^ner.  Wie  sie  dereinst  für  die  „Freiheit"  der  armen 
Kinder  in  die  Schranken  traten,  mehr  als  10  Stunden  in  Fabriken 
und  Werkstätten  arbeiten,  ohne  Schulunterricht  aufwachsen  und  an 
Leib  und  Seele  verkrüppeln  zu  dürfen,  wie  sie  sich  der  armen 
Frauen  annahmen,  als  durch  den  grausamen  Staat  und  seine  Schutz- 
gesetze deren  „Freiheit"  bedroht  wurde,  zum  Verdienste  der  Familie 
auf  Kosten  ihrer  Gesundheit  und  der  Gesundheit  der  heranwach- 
senden Generation  beizutragen,  so  wollen  sie  nun  den  armen  Arbeits- 
willigen schützen,  der  keinen  anderen  Wunsch  hegt,  als  in  Ruhe 
und  zu  den  schlechtesten  Arbeitsbedingungen  für  sie  zu  arbeiten 
und  daran  von  seinen  Kameraden  mit  Gewalt  gehindert  wird. 
Dieser  arme  Arbeiter  ist  ihnen  —  den  Scharfmachern  —  vielfach 
zwar  so  völlig  fremd,  wie  ein  Marsbewohner:  Ob  er  aus  dem 
Reiche,  aus  Jtalien,  aus  Rufsland  od«  r  aus  China  kommt,  güt  ihnen 
gleich,  ja  sie  bevorzugen  die  f  r  e  m  d  e  \V  a  r  e  Arbeit,  wenn  sie 
billiger  ist.  Weil  sie  billiger  sind,  siedelt  man  die  Polen,  deren 
Ausbieitunr^  die  deutsche  Regierung  in  Polen  bekämpft,  in  den 
urgermanischen  westlichen  Provinzen  Deutschlands  zu  vielen  Tau- 
senden an.  man  ruft  Italiener  undCzechcn  ins  Land,  man  jagt 
dafür  die  in  der  Kultur  höher  stehenden  und  daher  auch  „begehr- 


Digitized  by  Google 


592 


Theodor  Loewenfeld, 


Ucheren"  deutschen  Arbeiter  hinaus«  während  man  die  Steuer- 
kraft des  deutschen  Volkes,  die  Kriegsmacht  des  Deutschen  Reiches 
zum  Schutze  und  zur  Beförderung  der  „nationalen  Arbeit**  in 

Anspruch  nimmt.  „Machtproben",  die  Tausende  von  Arbeitern 
mit  Weib  und  Kindern  auf  die  Strafse  werfen,  sollen  ihnen  zeigen, 
dafs  ihr  Schicksal  in  der  Hand  der  Herren  liegt;  ja  der  deutsche 

Unternehmer  wird  sofrar  in  sriner  Weise  international"  und 
leistet  in  der  Aera  der  deutschen  Dänenausweisungen  dem  däni^cli -n 
Unternehmerverbande  thatkrsü'tige  Hilfe,  wenn  es  sich  d  a  r  u  lu  han- 
delt, in  Dänemark  ausjresperrte  und  expatriierte  Arbeiter  auch  im 
deutschen  Gebiete  noch  zu  verfolgen  und  denselben  auch  in  der 
Fremde  die  Arbeitsmöglichkeit  abzuschneiden.  Jene  Tausende 
von  dänischen  Arbeitern ,  die  im  Sommer  dieses  Jahres  nach 
Deutschland  kamen,  sie  kamen,  um  Arbeit  /.u  suchen,  sie  wnren 
Arbeitswillige,  gelernte  Arbeiter,  es  unterliegt  keinem  Zweifel, 
dal's  sie  I^ror  und  .Vrbeitsc^^elegenheit  hatten  rinden  können,  wenn  nicht 
die  stramme  Organisation  der  deutschen  Arheitgeherverhande  auf 
den  Wink  der  danischen  „Erbfeinde"  sich  zwischen  Arbeiter  und 
Arbeitsgelegenheit  gedrängt  und  den  Ar  bei  ts  willigen  jede  Thüre 
verschlossen  hatte. 

Hekatomben  von  M  e  n  sc  h  e  n  le  h  e  n  t.illcii  nocii  immer 
jahraus  iahrein  der  Gleichgültigkeit  von  Unternehmern  gegen  Leben 
und  (iesundheit  der  Arbeiter  /.um  Opfer  und  werden  ihr  auch  in 
Zukunft  noch  xum  OplVr  fallen,  bis  der  Staat  sich  entschliel"st,  in 
ihre  „Herrschaft"  im  Hetriebe  mit  der  nötigen  luiergie  einzu- 
greifen, Jiihraus,  jaiireiii  miissi-n  Tausende  von  Unternehmern 
zur  Strafe  gezogen  werden  wegen  frevelhaften  Gefahrdung  des 
Lebens,  der  körperlichen  Integrität,  der  Gesumlluii.  elementarer 
Lebensgüter  der  Arbeiter.  Jahraus,  jahrein  werden  dieselben  Unter- 
nehmer aber  durch  die  lächerliche  Bedeutungslosigkeit  der 
vom  Gesetz  angedrohten  und  gegen  sie  ausgesprochenen  Strafen  — 
die  einen  ständigen  Gegenstand  der  Beschwerden  der  Fabrikinspek- 
toren bildet  —  aufgemuntert,  in  ihrer  Gleichgültigkeit  gegen 
Leben  und  Arbeitskraft  „ihrer*'  Arbeiter  zu  verharren:  wenn  man 
als  Gleichgültigkeit  den  erbitterten  Kampf  bezeichnen  könnte, 
den  sie  gegen  die  Schutzforderungen  der  Arbeiterorganisationen 
fuhren,  einen  Kampf,  in  welchem  sie  Sieger  bleiben  müfsten,  falls 
die  Vorlage  zum  Gesetze  würde. 

Es  ist  ein  Zeichen  der  Zeit,  dals  gerade  die  Führer  desjenigen 
Gewerbes,  des  Baugewerbes,  dessen  Schuldkonto  nach  den  Be- 


Digitized  by  Google 


KoAlitiomrccht  tind  Stnfredit 


593 


richten  des  RetcfasversicheniDgsafntes  das  g^röfste,  in  diesem  Kampfe 
im  Vordertreflen  stehen  und  dafs  diese  Vorlage  als  eine  ihrer  £r- 

foige  gilt. 

Wenn  nun  die  Unternehmerverbände  seit  der  ersten  Lesui^ 

der  V^orlage  in  lanf^er  Reiht',  und  demnächst  ihr  Generalgewaltiger» 
der  „Zentralverband  deutsclier  Industrieller"  auftreten  und  immer 
stürmischer  den  „Schutz  der  Freiheit  der  Arbeitswilligen"  fordern 
und  andrerseits  die  Arbeiter  aller  Parteien,  aller  Konfessionen  ein* 

mütig  ebenso  eoerg^h  gegen  diese  Vertretung  protestieren  und 
erklären,  dafs  der  geplante  „Schutz  der  Arbeitswilligen"  ihre  In- 
teressen auf  das  schwerste  gefährdet,  wie  dies  im  Reichstage  und 
neuestens  im  bayrischen  Landtage  festgestellt  worden  ist;  dann  darf 
man  wohl  die  Unternehmer  mit  Rücksicht  auf  ihre  bisherigen  Thaten 
in  Sachen  der  „Freiheit"  der  Arbeiter  fragen,  wer  und  was  sie  legi- 
tim iert  zur  Vertretung  dieser  angeblichen  Arbeit  ersache.  Wo 
ist  der  Arbeitswillige,  der  diesen  Schutz  ge<^en  seine  Arbeits- 
kameraden verlangt  und  diese  Vertretung  seiner  Interessen  durch 
die  Unternehmer?  Er  war  und  ist  bisher  unsichtbar  und 
unbekannten  Aufenthalts!  Man  hat  behauptet,  in  Krefeld 
sei  er  aufi^elaucht.  Das  war  eine  klaglich  inscenierte  Theatererhn- 
dung,  die  niemanden  tauscht.  Trotz,  aller  Macht,  welche  die  Arbcit- 
gebervcrbande  auszuüben  vermögen  und  obwohl  sie  sich  erst  in 
diesem  Jahre  noch  öffentlich  ihrer  „Zwangserziehung"  der  Arbeiter 
gerühmt  haben,  ist  es  bisher  doch  allen  diesen  mächtigen  Unter- 
nehmerorganisationen  nicht  gelungen  unter  7  Millionen  deutscher 
gewerblicher  Arh-  iter,  von  welchen  noch  nicht  9  Prozent  organi- 
siert sind,  auch  nur  einen  i'in/.i;^en  zu  tinden,  der  den  ..Schutz  der 
Arbeitswilli;jjen"  verlangt  oder  als  iit a nklig  otler  aucli  nur  wün- 
schenswert erklärt  halte.  Die  Unteriu-lmier  können  im  l\.ainpt\-  um 
die  Arbeusbedingungcu  ihre  Macht  zeigen,  sie  können  die  Arbeiter 
zu  Tausenden  aussperren;  Gerichte,  Verwaltungsbehörden  unter- 
stützen sie  in  diesem  ungleichen  Kampfe;  ihre  Wünsche  setzen  die 
Gesetzgebungsmaschinerie  des  Reiches  in  Bewegung,  aber  — 
keinen  Arbeiter;  kein  mziger  von  den  Millionen,  die  tagtäglich 
ihrem  Gebot  in  Werkstätten,  Fabriken,  Bergwerken  gehorchen,  will 
von  den  Herren  etwas  wissen,  die  plötzlich  in  dichter  Schar  die  „Frei- 
heit"* zu  beschützen  kommen.  Wo  sich  Arbeiterstimmen  vernehmen 
lassen,  rufen  sie  laut  gegen  die  ihnen  oktroierte  „Freih«t**.  Sonst 
schweigt  alles,  so  viel  auch  die  Herren  von  ihren  guten  Absichten 
reden  und  so  erwünscht  es  ihnen  wäre,  wenn  nihre"  Arbeiter  ihnen 


Oigitized  by  Google 


Theodor  Loewenfeld, 

ZU  Hilfe  kämen.  Für  diese  höchst  wichtig^e  und  dringliche  Hilfs- 
arbeit fand  sich,  wie  es  scheint,  noch  kein  „Arbeitswillig^cr'I 
Warum?  Was  erklärt  diese  Erscheinung,  die  unbc-f^reiflich  wäre, 
wenn  die  Scharfmacher  mit  ihren  Bchaupt untren  Recht  hatten?  Des 
Rätsels  Lösung  ist,  dafs  die  heute  noch  nicht  or<^anisierten  Arbeiter- 
niassen  darüber  nicht  getauscht  wt-rden  können,  dafs  die  Arbeiter- 
organisationen den  Kampl  auch  tiir  sie  tiihreii,  den  Kampf  tür  die 
Hebung  der  ( iesaintheit,  lür  Herstellung  menschenwürdiger  Lebens- 
und Arbeitsbedingungen,  für  Sicherheit  des  Lebens,  der  (iesundheit, 
der  geistigen  Interessen  Aller:  auch  den  ärmsten  Arbeitern  sagt  der 
Instinkt  der  Sell)^terhal^ung.  d.il's  bcssrre  Arbeitsbedingungen  schlech- 
teren vorzuziehen,  dafs  es  ihren  Intin-^sen  nicht  entspricht,  für  die  Ver- 
schlechterung ihrer  Lage  einzutreten:  auch  ilen  Aermsten  sagt 
terner  die  klare  Ivrkenntnis,  welche  die  tagliclu-  Lrfalirung  des  Leiwens 
und  dir  Not  vi-rleiht,  was  dc  ii  Verfassern  der  lU'gründung  und  der 
Denkschrift  verborgen  geblieben  ist :  dafs  ArbeUcr  und  Unternehmer 
in  der  heutigen  Welt  nicht  wie  Robinson  und  I^'reitag  auf  einer  ein- 
samen hisei  leben  und  einen  „individuellen"  Arbeitsvertrag  mitein- 
ander abschliefsen,  der  niemanden  als  sie,  diese  beiden  Kontrahenten, 
berührt*  Sie  sehen  die  Unternehmerverbände  sich  zusammen- 
schliefsen,  um  gemeinsame  Arbeitsbedingungen  gleichzotig  Huo- 
derttausenden  von  Arbeitern  aufzuerlegen.  Sie  sehen,  dais  diese 
Arbeitsbedingungen  iobezug  auf  Ordnung  der  Produktion,  Einridi- 
tung  der  Betriebe  und  Regelung  der  Lohnverhältnisse,  entsprechend 
dem  heutigen  Länder  und  Wehteile  umspannenden  Band  der  Kon* 
junktur  des  Arbeits-  und  Warenmarktes,  nicht  vom  Belieben 
des  Einzelnen  abhängen.  Sie  sehen  also,  dais  „in  den  mo- 
dernen Produktionsverhältnissen  die  Arbeitsbedingungen  der  grolsen 
Masse  der  mit  Durchschnittseigenschaften  begabten  Arbeiter  nicht 
mehr  individuelle,  sondern  gemeinsame  sind,  ja  dais  die  meisten 
Arbeitsbedingungen  andere  als  gemeinsame  gar  nicht  mdir  sein 
können**.')  Und  daher  wissen  auch  die  unorganisierten  Arbester, 
dafs  der  Kampf  der  Unternehmer  gegen  die  Arbeiterorganisationen 
nicht  blofs  gegen  diese,  sondern  auch  gegen  sie  selbst  gefuhrt  wird 
und  umgekehrt  der  Kampf  der  Arbeiterorganisationen  auch  ihnen 
selbst  nützt.  Dieser  Kampf  wird  betd4»'seits  von  Mensdien,  nicht 
von  Engeln  geführt  und  es  werden  beiderseits  Fehler  begangen. 


*)  BreDtaoo,  Vortraj;  fiber  den  „Schuu  des  gewerbliclieii  ArbeitsvcThSltnisses'* 
in  den  „Verhandlungen  des  nationnlcozialen  Vereins  su  Göttingen'*  (1899)  S.  73. 


Digitized  by  Go^ 


Koalitioosrecbt  und  Stmfrecht. 


595 


Die  veröffentlichen  Strikeberichte  der  Arbeiter  zeigen,  dafs  sie  weit 
entfernt  sind,  sich  fiir  unfehlbar  oder  stindenfrei  zu  halten.  Aus  den 
Verhandlungen  des  L  Verbandstages  der  deutschen  Arbeitsnach- 
weise zu  München  (  Sept.  1899)  ergiebt  sich,  dafs  es  fiir  die  Arbeiter 
nicht  immer  ein  leichtes  ist,  die  wirkliche  Lage  des  Arbeitsmarktes 
zu  erl^ennen.  Grundsätzlich  abtT  lehnen  die  Arbeiteroi^nisa- 
tionen  die  Unterstützung  jeder  Lohnbewegung  ab,  die  gegen  ihre 
Ueberzeugung  und  gegen  die  in  den  Strikereglements  niedergelegten 
Erfahrungen  und  Vorschriften  geführt  wird.  Ucber  den  einzelnen 
Lohnkampf  können  daher  Meinungsversehiedenheiten  bestehen,  wie 
über  das  einzehie  Gefecht  in  einem  Kriege.  Dies  ändert  nichts  an 
der  Thatsache,  dafs  die  organisierten  Arbeiter  den  Streit  g<"i,^en  die 
Unternehmer  im  Interesse  aller  führen.  Ein  Bück  in  die  Cjcschichte 
des  if).  Jahrhunderts  zeigt,  dafs  sie  bisher  schon  wichtige  Erfolge 
erzielt,  dals  die  anerkannte  Hebung  der  Arbeiterklasse  aus  menschen- 
unwürdigen Zustanden  in  erster  Linie  das  \\  erk  der  Arbeiterorgani- 
sation und  ihren  Kämpfen  zu  verdanken  ist,  auch  da,  wo  ihr  die 
Geset/.c^ehuiig  und  der  Sin.it  zu  HiltV-  kamen.  Auch  zu  diesem  im 
Gesamtinteres.se  der  Arbeiter  notwendigen  Kampfe  ist  —  wie  zu 
dem  in  der  Biirgerlegion  des  alten  römischen  Volkes  nicht  jeder 
befähigt.  Die  Opfer,  die  er  verlangt,  bringt  nicht  jeder  Arbeiter, 
sondern  nur  derjenige,  dessen  materieller  und  geistiger  Lebensstand 
die  dazu  erforderliche  Höhe  erreicht  hat.  Al)er  des  h>folges  freuen  sich 
alle  und  aller  Interessen  werden  dadurch,  unmittelbar  oder  mittelbar, 
gefördert.  Darum  denken  auch  die  den  Organisationen  fernblei- 
benden Arbeiter  nicht  tlaran,  in  dem  I-.ntscheidungskampte  um  die 
Koalitionsfreiheit  auf  die  Seite  der  Unternehmer  zu  treten  und  für 
diese  Wallen  zu  schmieden,  gleichviel  wie  sie  sich  sonst  im 
einzelnen  Lohnkampfe  des  Tages  verhalten.  Hier 
führen  gewifs  vielfach  Armut  und  Unwissenheit,  welche  bessere  Re- 
gungen, das  Soiidaritätsbewufstsein  verhindern  oder  abstumpfen,  an* 
geborene  Indolenz,  Unkenntnis  der  Sachlage  Arbeiter  ab  Hilfstruppeo 
den  Unternehmern  zu;  —  selbst  arme  Italiener  haben  aber  heute 
bereits  nicht  selten  infolge  der  Aufklärung,  welche  eine  von  deut* 
sehen  Arbeitern  liir  sie  gegründete  italienische  Zeitung ihnen  ver- 
schafft, vielfach  die  Rolle  der  Arbeitswilligen  verschmäht 

Wo  und  wann  immer  der  „ArbeitswUlige^'  aufbitt  und  gleich- 

,,I/op«nio  ItalUno".   Vgl.  Protokoll  der  Verkandloiigini  des  driUen  Ge« 
werkschaftskoDgrencs.  HMsburg  1899»  S.  35. 


Digitized  by  Google 


596 


Theodor  Loewenfeld, 


viel  aus  welchen  (iründeii,  verfügt  er  unter  allen  Umständen  „nicht 
„blos  über  seine  eij:jent*n  V  e  r  h  al  t  n  i  s  s  e.  sondern  -/.u<T^l«rich  über 
„die  Verlialtiiisse  aller,  seiner  Kollegen :  er  greift  in  deren  rechtliche 
JLa^e  und  wirtschanliche  Stellung  ein'*.') 

Kt  ijreitt  in  diese  rechtliche  La-^e  und  wirtschaftliche  Stellung 
ein.  wie  hinzugefügt  werden  mufs,  indem  er  sie  vielfach  g e  fä  h  r  d  et 
und  verschlechtert.  Wo  immer  ferner  der  Arbeitswillige  auf- 
tritt und  gleichviel  wie  das  moralische  Urteil  seiner  Kameraden  und 
der  Welt  über  ihn  lautet,  übt  er  trotzdem  lediglich  ein  R ec h t  aus, 
das  heute  jedem  Staatsbürger  und  jedem  Fremden  zusteht,  das 
Recht  der  Freiheit  der  \\  illensbe>>tininrjiig  im  Vertrag.sschlusse  und 
er  kann  „denselben  Schutz  beanspruchen,  wie  jeder  andere  Staats- 
bürger, gleichen  Schutz  durch  das  gemeine  S  t  ra fr e ch  t",*) 
eben  denselben,  auf  den  auch  die  organisierten  Arbeiter  verwiesen 
sind.  Mehr  als  diese  Gleichstellung  mit  allen  anderen 
Unterthanen  des  Gesetzeskannntchtverlangtwerden; 
und  der  Arbeitswillige  mufs  auch  noch  erst  entdeckt  werden,  det 
jemals  nach  einer  gesetzlichen  Privilegierung  überhaupt  oder  gar  m 
der  Art  der  Vorlage  ein  Verlangen  geäulsert  hätte. 

„Man  nenntf  sagt  van  der  Borght,^  welcher  den  „Ausbau** 
des  §  153  G.O.  fordert,  die  Koalitionsfreiheit  oft  ein  Grundrecht 
des  Arbeiters.  Das  Recht,  über  die  Verwendung  seiner  persönlichen 
Arbeitskraft  zu  bestimmen,  die  Arbeitsgelegenheit  zu  benützen,  die 
ihm  in  seinem  und  der  Seinigen  Interesse  angemessen  erschdot,  ist 
nicht  minder  ein  „Grundrecht** 

„Hier  steht  also  „Grundrecht"  gegen  „Grundrecht**  und  persön- 
liche Freiheit  gegen  persönliche  Freiheit  und  berechtigtes  Interesse 
gegen  berechtigtes  Interesse.  In  einem  Rechtsstaate  findet  jedes 
Interesse  und  jede  Freiheit  die  Grenze  der  Bethätigung  an  dem  be- 
rechtigten Interesse  und  der  Freiheit  anderer.  Ein  Gebrauch  der 
Freiheit  und  eine  Wahrnehmung  des  Interesses,  die  zu  Eingriffen 
in  die  Rechtssphäre  anderer  führt,  ist  ein  Mifsbrauch,  der  nicht  ge- 
duldet werden  kann  und  die  staatliche  Gesetzgebung  mufs  dem  io 
seinen  Rechten  Bedrohten  den  nötigen  Rückhalt  und  Schutz  geben". 

Das  ist  ganz  richtig.  Recht  gegen  Recht  und  Frei- 


^)  So  treffend  Professor  Dr.  Sohm  In  den  „Verhandlungen  des  nattonmboaalen 
Vereins'*  zu  GöUingen  1899,  S.  86. 

«)  Sohm  SU  a.  O.  S.  87. 

*)  Die  Weiterbildung  des  Koalitionsrechtes  S.  43. 


Digitized  by  Google 


Koslitirasrecfat  nnd  Strtfrecht 


597 


heit  gegen  Freiheit.  Das  bedeutet  aber  doch  blos,  dafi  beide 
Parteien  gleich  geschützt  werden  müssen.  Sdt  30  Jahren 
besteht  die  Koalitionsfreiheit  der  Arbeiter,  seit  30  Jahren  müssen 
sie  sich  mit  dem  Schutze  des  gemeinen  Strafrechtes  begnügen. 
Die  Arbeiterorganisationen  verlangen  auch  keinen  ausnahme- 
rechtUchen  Schutz  für  sich.  Seit  30  Jahren  besteht  aber  nicht 
Rechtsgleichheit  zwischen  organisierten  Arbeitern  und  Arbeits- 
willigen, sondern  ein  ausnahmerechtlicher  Schutz  der  Ar* 
bdtswilligen  in  ^  153  G.O..  wonach  Handlungen  bestraft  werden, 
wenn  sie  von  koalierten  Arbeitern  gegen  sie  begangen  werden,  die 
jeder  Staatsbürger  gegen  jedermann,  und  die  Arbeitswilligen  selbst 
straflos  gegen  ol^nisicr^e  Arbeiter  begehen  dürfen,  ebenso  wie  der 
Arbeitgeber  gegen  den  Arbeitswilligen  und  gegen  Strikende  sie 
begehen  darf. 

Schon  dieses  angeblich  gleiche  Recht  des  §  153  ist,  wie  ge- 
zeigt, ein  ungleiches,  unbilliges  Recht,  ein  Unrecht 
gegen  die  organisierten  Arbeiter.  Die  dem  §  153  angeblich  zu 
gründe  liegende  Gerechtigkeitsidee  ist  doppelt  falsch;  sie  ist  falsch, 
sofern  der  Zwang  zur  Koalition  gestnift  wird,  während  der  Zwang 
gegen  die  Koalition  stratlos  bleibt.  Sie  ist  aber  auch  falsch,  weil 
sie  den  Arbeitswilligen  nicht  etwa  als  den  neutralen  Zuschauer 
des  Arbeitskamples  schützt,  der  in  diesen  Kampf  nicht  auf  der 
Seite  der  .\  r  b  e  i  t  e  r  k  o  a  1  i  t  i  o  n  hineingezogen  werden,  der  in 
Ruhe  tür  sich  arbeiten  und  die  anderen  ebenso  in  Ruhe  lassen  will. 
P^inen  solchen  „Arbeitswilligen"  giebt  es  nicht  und  hat  es 
nie  gegeben. 

Die  .'\rbeitswilligen  als  solche  sind  nichts  als  H  i  1  f s  t  r  u  p  p  e  n 
des  Unternehmers,  1  lilfstruppen,  die  zugleich  Berufsgenossen  der 
orL^ain.Mi  ru  n  Arbeiter  sind,  deren  natürliche  Stellung  daher  auf  Seite 
ihrer  Berubgenossen  wäre,  aber  nichtsdestoweniger  lediglich  die 
Hilfstruppen  des  Unternehmers.  In  das  Verhältnis  des 
Unternehmers  selbst  zu  den  ihm  gegenüber  stehenden  organisierten 
Arbeitern  greift  §  153  G.O.  —  als  lediglich  gegen  Koalitionszwang 
gerichtete  Bestimmung  ~  nicht  eb;  auf  die  zwischen  diesen  beiden 
Parteien  etwa  sich  ergebenden  Ehrverletzungen  u.s.w.  sind 
die  gemeinen  Strafrechtsgrundsätze  anwendbar,  d.  h.  sie  sind  straf- 
los, wenn  auch  die  Gerichtspraxis  vielfach  den  nunmehr  durch  die 
Vorlage  wiederholten  Versuch  gemacht  hat,  auch  hierauf  den  §  153 
anzuwenden.  Im  Krieg  wird  niemand  verbngen,  dafs  der  Gegner 
die  g^nerischen  Soldaten  zarter  behandelt  als  den  gegnerischen 


Digitized  by  Google 


598 


Theodor  Loewenfeld, 


Führer,  und  war  Soldaten,  die  ihrerseits  zur  fTleichen  zarten  Be- 
handlunf;  des  Ge^^ners  nicht  verpflichtet  sind.  Kine  solche  wider- 
sinnif^e  Korderunj^,  die  gegen  alle  Billigkeil  und  Gleichheit  verstobt, 
stellt  in  tier  That  ^  153  G.G..  einer  solchen  Forderung  will  die 
Vorlaire  durch  Strafdrohungi-n  Nachdruck  verleihen,  welche  für 
jedermann  klar  machen  müssen,  für  den  es  nicht  schon  vorher 
klar  gewesen,  wem  eigentlich  dieser  „Schutz  der  Arbeitswilligen" 
eilt:  nicht  den  .Xrbiiiswiiiit'en.  .sondern  dem  U  n  t  e  r  n  e  h  m  e  r.  Die 
Vorlage  bedroht  z.  B.  die  .,Fiirverlet.auig",  wenn  begangen  gegen 
einen  Arbeitswilligen  mit  Gefängnis  bis  zu  i  Jahr,  bis  zu  5  Jahren, 
mit  Zuchthaus  bis  zu  3  und  bis  zu  5  Jahren.  Die  Ehre  des  arbeits- 
willigen Maurers  gilt  dann  als  ein  teureres  Gut,  als  die  Ehre  des 
Kaisers,  eines  deutschen  Landesherm  (StG^.  §  95),  ab  die  Ehre 
voo  Btmdesftirsten  (St.G.B.  §  99)  oder  des  Mitgliedes  eines  landes- 
herrlichen oder  bundesfürstlichen  Hauses  (§§  97»  loi  St.G3.),  ob- 
wohl das  Deutsche  Reich  keine  Republik  ist.  Diesen  hohen  Wert 
hat  die  Ehre  des  Arbeitswilligen  aber  nur,  wenn  die  Ehrverletzong 
verübt  wird  von  einem  Gegner  des  Unternehmers,  um  den 
Arbeitswilligen  zu  beeinflussen,  auf  Arbeitsverhältnisse  „einzuwirken** 
oder  einen  Arbeiterausstand  zu  fördern  (§§  i,  8  der  Vorlage).  Die 
Ehre  desselben  Arbeitswilligen  bt  dagegen  ohne  jeden  Wert 
und  die  Ehrverletzung  straflos,  wenn  sie  gegen  ihn  von  seinem 
Arbeitgeber  selbst  verübt  wird,  was  hie  und  da  dem  Arbeits- 
willigen nicht  erspart  bleibt.  Während  femer  seine  Ehre  gegenüber 
den  strikenden  Arbeitskameraden  so  hoch  im  Preise  steht,  dals  ihre 
Verletzung  unter  Umständen  nur  mit  Zuchthaus  gesühnt  werden 
kann,  stehen  sein  Leben,  seine  Leibesglieder,  seine  Ge- 
sundheit in  viel  tieferer  Schätzung,  wenn  sie  seitens  des  Unter- 
nehmers gefährdet  werden.  Der  Unternehmer,  welcher  den  „auf 
Grund  des  §  I20d  endgiltig  erlassenen  Verfügungen  oder  den  auf 
Grund  des  §  120 e  erlassenen  Vorschriften"  zuwiderhandelt,  der  also 
den  von  der  Behörde  zur  Beseitigung  dringender,  das  Leben 
oder  die  Gesundheit  der  Arbeiter  bedrohender  Milsstände  getroffenen 
Anordnungen  oflenen  und  hartnäckigen  Widerstand  entgegenset7^ 
wird  nach  §  147  Abs.  i  Z.  4  der  G.ü.  mit  Geld  bis  zu  3CO  Mk. 
bestraft.  Abo  für  frevelhafte  Gefährdung  des  Lebens  eines  Ar- 
beitswilligen durch  den  Unternehmer  bt  nach  dem  Gesetze  auch 
eine  Geldstrafe  von  i  Mark  eine  genügende  Sühne;  die  Ehre  des- 
selben Arbeitswilligen  ist  ganz  wertlos,  wenn  sie  der  Lntep 
nehmer  verletzt,  dagegen  erhebt  sie  sich  weit  über  den  Kang 


Digitized  by  Googl 


Koalitionsredit  und  Stntfredit 


599 


kaiserlicher  und  färstlicber  Ehren,  wenn  sie  ein  strikender  Arbeiter 
zu  dem  Zwecke  verletzt,  um  hierdurch  den  Arbeitswilligen  seinem 
Herrn  abspenstig  zu  machen  und  einen  Arbettsausstand  zu  fördern. 

Es  ist  klar,  dafs  dieser  Schutz  der  Arbeitswilligen  mit  den 
Arbeitswilligen  selbst  gar  nichts  zu  thun  hat  Wenn  man  nun  er« 
wägt,  dafs  dieser  Schutz  der  Arbeitswilligen  jede  wirksame  Aus- 
übung des  K,oalttk>nsrechtes  der  Arbeiter  ausschliefst,  so  wird 
weiter  klar,  dafs  die  Vorlage,  wie  bisher  §  155  G.O.,  nichts  als  eine 
Waffe  im  Kampfe  der  Unternehmer  gegen  de  Arbeiter  ist  und  sein 
soll.  Darum  sieht  man  jetzt  die  Unternehmerverbände  in  endloser 
Reihe  für  die  Verteidigung  dieser  Vorlage,  die  ihr  Weik  ist,  ein- 
treten, aber  keinen  einzigen  „ArbettswilUgen**. 

Fragt  jemand,  wie  man  es  wagen  kann ,  den  geset^ebenden 
Faktoren  des  Reiches  die  Erfiillunfr  derartiger  Forderungen  zuzu- 
muten, so  ist  zu  erinnern  daran,  dafs  es  nicht  blos  im  gewöhnlichen 
Warenhandel  eine  erfolgreiche  Reklame  giebt,  die  den  Händler 
als  Wohlthäter  seiner  Abnehmer  oder  gar  der  Menschheit  preist, 
dafs  solche  Reklame  vielmehr  auch  von  jeher  dem  Gesetzgeber 
naht  und  die  Vertretung  egoistischer  Klassenziele  in  das  Gewand 
idealen  altruistischen  Strebens  hüllt.  Wenn  andere  Leute  Steuer 
zahlen,  so  zahlen  sie  hiermit  lediglich  eine  Schuld,  welche  nötigen- 
falls der  Vollstreckungsbeamte  beitreibt.  Wenn  dagegen  ^dustrielle" 
die  durch  das  Gesetz  ihnen  auferlegten  Arbeit  er  Versicherungsbeiträge 
entrichten,  so  spendet  hiermit  die  „Industrie"  den  Arbeitern  Wohl- 
thaten,  wofiir  diese  gebührenden  Dank  schuldig  sind.  Wenn 
andere  Leute  fremde  Waren  kaufen  oder  die  Nutzung  fremden 
Eigentums  mieten ,  so  wissen  sie  es  nicht  anders,  als  dafs  sie  den 
Kauf-  oder  Mietpreis  zu  zahlen  haben  und  dafs  Zahlung  und  Libe- 
ralität verschiedene  Dinge  sind.  Wenn  der  gewerbliche  Unternehmer 
einen  Arheitsvertrafr  abschliefst,  der  ihm  eine  fremde  Arbeitskraft 
auf  Zeit  gegen  Entgelt  überantwortet,  so  ist  die  Zahlung  des  Ar- 
beitslohnes nicht  etwa  eine  gewuhnliche  Schuld;  der  l'nternehmer 
ernährt  vielmehr  den  Arbeiter,  der  ihm  dafür  wieder  zu  Dank 
verpflichtet  ist.  Der  Unternehmer  thut  zwar  gar  nichts  um  der 
schönen  Augen  anderer  willen  und  würde  den  P'ortbetrieb  einer  in- 
dustriellen Thatigkeit ,  die  ihm  selbst  nicht  mehr  den  gewünschten 
Gewinn  bringt,  auch  wenn  .sie  andere  „ernährt",  als  Wahnsinn  be- 
trachten. Aber  das  heifst  man  „Verwaltung  der  Industrie",  ,ycr- 
waltung  der   gewerblichen  Verhaltnisse"   —  nach  Analogie  der 

Archiv  für  aot.  GeaeUgebung  u.  Statistik.   XIV.  39 


Digitlzcd  by  Google 


6oo 


Theodor  Loewenfeld^ 


„Staatsverwaltung" '}  Diese  ,,Verwaltun^  der  Industrie"  ist  eine 
„patriarchalische"')  —  die  Aktiengesellschaften  und  Kartelle  als 
„Patriarchen"  sich  vorzustellen,  dürfte  wohl  schwer  sein  — ;  deswegen 
sind  die  Bestrebungen,  Schiedsgerichte,  Einigungsärater  unter  Zu- 
ziehung der  Arbeiter  zu  schaffen ,  „die  Arbeiter  für  sich  oder  in 
Verbindung  mit  Unternehmern  zu  organisieren  oder  den  bestehenden 
Arbeiterorganisationen  festere  Formen  zu  geben" ,  z  u  r  li  c  k  z  u  - 
weisen.  Denn  dadurch  würde  die  „LoslÖsung  des  Arbeiters  von 
seinem  Arbeitgeber,  von  seinem  Werk"  vollzogen.  ^)  Die  General- 
sekretäre der  Unternehmerverbände  arbeiten  „für  die  Krhaltung  un- 
serer Staats-  und  Gesellschaftsordnung  und  für  die  P'örderung  des 
wirtschaftlichen  Lebens  unseres  Vaterlandes"  und  werden  in  der 
öffentlichen  Meinung  herabgesetzt,  wenn  man  sie  als  „bezahlt"  be- 
zeichnet u.  s.  f. 

Diesen  Wohlthätern  der  Arbeiter,  diesen  Tatrioten,  die  das 
Gewerbe  aus  Liebe  zum  Volk,  im  hiteresse  des  Staates  und  der 
Gesellschaft  betreiben,  hat  vor  67  Jahren,  als  es  noch  keine  Sozial- 
demokraten und  noch  keine  Kathedersozialisten  gab,  Hermann 
in  seinen  berühmten  „staatswirtschaftlichen  Untersuchungen"  die 
gebührende  Antwort  erteilt: 

„Der  Unternehmer  eines  Erwerbsgeschaües  kauft  bloss  Arbeit 
zum  Wiederverkauf;  erleichtert  den  wahren  Absatz  der  Arbeit  an 
den  Konsumenten.  Für  die  Anwendung  seines  umlaufenden  Kapitals 
in  diesem  Geschäfte  und  die  Entbehrung  der  eigenen  Nutzung  des- 
selben erhält  er  Ersatz  im  Gewinn.  Er  ernährt  also  keines- 
wegs den  Arbeiter,  sondern  er  benützt  nur  das  Angebot  der 
Arbeiten  zu  vorteühafterein  Verkaufseiner  eigenen  Kapitalsnutzungen. 
Die  Arbeiter  und  der  Unternehmer  erleichtem  einander  den  Um- 
tausch ihrer  einseitigen  Leistungen  in  die  jedem  tauglichere  Form» 
stehen  sich  sonach  gleich.  Es  ist  eine  Schmach,  dafs 
sich  die  Regierungen  so  oft  von  Gewerbsunterneh- 
mern vorwerfen  lassen,  sie  ernähren  so  und  so  viele 
Einwohner  desStaates,  da  doch  diese  ebenso  gut  um- 
gekehrt die  Unternehmer  ernähren.  Nur  grobe  Un- 
bescheidenheit  der  letzteren  kann  aus  jenem  Grunde 

*)  Vgl.  iJcutscIic  Industrie  Zeitutnj  Jahrfj.  18,  Nr.  16  (1899^  S.  126. 
*)  ladosUie-Zcituiig  1899.  Nr.  12,  S.  158. 
')  Industrie-ZeitUDg  1899,  Nr.  12,  S.  158. 

*)  Friedr.  Ben.  Wilh.  Herni»nn,  StaatswtrUdwftl.  Uatetmcbttiigcn,  MAnchoL 
1S32  S.  284/285. 


Digitized  by  Google 


KoalitkmsKdit  und  Stnfiwdit 


60i 


BepiinstigungdurchAbcjabcnerlals  und  Unterstützung 
durch  Vorschüsse  v-^ erlangen  und  es  ist  eine  Verletzung 
der  Regierungspflichten,  sie  zu  gewähren." 

Heute  begnügen  sich  die  Leute,  welche  als  Vertreter  der  „In- 
dustrie" das  Wort  —  unter  dem  Protest  mancher  hervorragender 
Genossen  —  fuhren ,  nicht  mehr  mit  Abgabenerlafs  und  Unter- 
stützung durch  Vorschüsse.  Dafür  sind  sie  zu  reich  und  zu  mäch- 
tig geworden.  Sie  verlangen  nunmehr,  dafs  ihnen  die  gewerbliche 
Arbeiterbevölkerung  gebunden  ü!)erliffert  werde.  Die  Methode, 
welche  der  Gesetzgeber  anwenden  soll,  um  diese  namens  des  Staates 
und  der  Gesellschaft  und  der  Freiheit  von  ihnen  erhobene  Forde- 
rung zu  erfüllen,  ist  einfach  und  erprobt,  so  einfach,  dafs  schon  die 
alten  Romer  vor  ein  paar  Jahrlausenden  sie  ständig  gegenüber  be- 
siegten Völkern  zu  Sicherung  ihrer  Herrschaft  anwandten.  Die 
Mittel  sind  genau  dieselben.  A  u  f  l  o  s  u  n  g  a  1 1  e  r  ü  r  g  a  ii  i  s  a  t  i  o  n  e  n . 
Isolierung  der  Gegner,  Beseitigung  ihrer  Führer.  Di- 
vide et  impera !  Da  man  aber  dem  Gesetzgeber  nicht  zumuten 
kann,  das  eigene  Volk  wie  einen  äufseren  Feind  zu  behandeln, 
so  ruft  man  ihn  wider  den  Gegner  auf  als  einen  «inneren  Feind** 
der  den  Staat  und  die  Gesellschaft  bedroht;  man  kämpft  gegen  den 
„Zukunftsstaat**,  um  im  gegenwärtigen  die  Arbeitsbedingungen 
nach  Betieben  diktieren  zu  können.  Diese  Taktik  war  in  der 
That  bisher  sehr  erfolgreich,  wie  die  gegen  die  ^meingefährUchen** 
Bestrebungen  der  Arbeiterorganisationen  sich  wendende  Praxis  der 
Gerichte,  der  LandesverwaitungsbehÖrden,  der  obersten  Reichsstellen 
und  nunmehr  die  Vorlage  „zum  Schutze  des  gewerblichen  Arbeits- 
verhältnisses'* beweisen. 

Im  Vertrauen  auf  diesen  bisherigen  Erfolg  holte  nunmehr  die 
,Jndustrie**  zum  entscheidenden  Schlage  aus,  der  dem  Rest  des 
Koalitionsrechts  der  Arbeiter,  der  bisherigen  Scheinfreiheit  des  Ar- 
.  beitsvertrages  ein  Ende  machen  sollte,  indem  die  nFreiheit**  der 
Scharfmacher  offen  zum  Gesetze  des  Deutschen  Reiches  erklärt 
würde.  Die  Vorlage  stellt,  historisch  genommen,  nicht  eine  völlig 
neue  Erscheinung,  sondern  das  Ergebnis  einer  seit  Jahren  wahr» 
zunehmenden  unheilvollen  Entwickelung  dar.  Sie  enthielt  wenig 
völlig  neue  Gedanken,  wie  z.  B.  die  Strafdrohungen  gegen 
die  Friedensstifter  in  §  2*,  die  allerdings  in  der  Rechtsgeschichte 
aller  Völker  und  Zeiten  noch  nicht  da  waren.  Im  wesentlichen 
aber  reproduzierte  sie  das  UnbiUigkeitsrecht  des  §  153  G.G.,  sie  re- 
produzierte die  Erweiterungen,  welche  eine  sich  seit  Jahren  aus- 

39* 


Digitized  by  Google 


602 


Theodor  Loewenfeld,  Koalitknunckt  und  Stnfrccht 


schliefslich  und  immer  scharfer  pjegen  Arbeiter  weodeade  Gericbts- 
und  Vcrwaltungjspraxis  diesem  Kern  hinzagefiif^t  hat. 

Der  S  t  VI  r  m  des  Unwillens,  welchen  die  Veröffentlichung  der 
Vorlage  weit  über  die  Kreise  der  Arbeiterbevölkerung  hinaus  im 
deutschen  Volke  entfesselt  hat,  kam  dadurch  7,um  Ausbruch,  dafs 
man  in  dieser  Vorlage  zum  erstenmale  die  bisher  in  so  vielen  ein- 
zelnen gerichtlichen  Urteilen  und  Verwaltungsakten  zerstreute  S  u  m  m  e 
von  Ungerechtigkeit  vereinigt  und  konzeiUricrt  sah  in  einem 
lückenlosen  System,  welches  der  erlaubten  Ausübung  des  Koahtions- 
rechtes  der  Arbeiter  jeden  Weg  versj)errt,  der  unerlaubten  Aus- 
übung des  Koalitionsrechtes  der  Unternehmer  freie  Bahn  öffnet. 
Man  sah  und  sieht  in  der  V^orlage  das  Bild  der  .,Gerechtig- 
k  e  i  t"  des  bisherigen  Rechtes,  seiner  Anwendung  und 
Nichtanwendung,  ausgestellt  vor  allem  Volk,  vergleichbar  einer 
jener  Kunstfiguren  tier  pathologischen  Anatomie,  welche  zur  Be- 
lehruntr  der  zukiinfticren  Aerzte  die  Schaden  des  kranken  mensch- 
liehen  Körpers  topographisch  darstellen.  Die  ungewollte  gewaltige 
M  asse n  w  i  r  k  u  n  g  dieser  Demonstration  wird  noch  vermehrt  durch 
die  Mafslosigkeit  der  Steigerung  unbilliger,  parteiischer,  teilweise  auch 
widersinniger  Strafdrohungen,  wodurch  die  „Gerechtigkeit"  dieser 
Vorlage  sich  vergeblich  abmüht,  das  Recht  der  Armen  und  Schwachen 
in  Unrecht  zu  verwandeln,  die  Verteidigung  ihrer  Freiheit  gegen 
die  Gewalt  der  Grofsen  als  infamierendes  Verbrechen  zu  brandmarken. 
Dieses  Bild  wird  hoffentlich  für  immer  verschwunden  sein, 
mit  ihm  aber  nicht  die  nützliche  Lehre,  die  seine  Vorführung  dem 
deutschen  Volke  und  der  deutschen  Gesetzgebung  verschafft  hat, 
die  Lehre,  was  dem  deutschen  Volke  wirklich  notthut  uod  fitxmilllt: 
Nicht  „Ausbau"  des  Unbilligkeitsrechtes  des  §  153  G.O^  nicht 
neues  Strafrecht  gegen  die  Arbeiter,  nicht  Vernichtung  ihrer  Or- 
ganisationen, sondern  umgekehrt:  zuerst  Beseitigung  des  Un- 
rechtes und  der  Ungleichheit  des  Rechtes.  Dann  aber  Thaten 
einer  positiven  Sozialpolitik,  welche  das  Vereinigungsrecht  der  Ar» 
heiter,  den  „freien  Arbeitsvertrag"  aus  einer  blofsen  juristischen 
Fiktion  zur  Wahrheit  machen.  Es  ist  anzuerkennen,  dafs  die  Ar- 
beiter för  sich  nicht  Privilegien,  Begünstigungen,  Schutzzölle^  Ein- 
fuhrverbote  verlangen,  sondern  die  einfache  Gerechtigkeit  und  Frei- 
heit der  Bewegung.  Und  es  bietet  eine  frohe  Gewahr  fiir  die  Zu- 
kunft des  deutschen  Volkes  unter  den  Völkern  der  Welt,  da(s  seine 
unteren  Klassen  die  Kraft  in  sich  ftihlen,  ohne  andern  Stab  als 
Gerechtigkeit  den  steilen  Weg  zu  überwinden,  welcher  zu  den 
Höhen  der  Kultur  ftihrt 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich 

vom  14.  Juni  1895. 

Von 

Prof,  Dr.  H.  RAUCHBERG 

in  Prag. 
Zweiter  Teil. 

BenifagliederunK  und  sociale  Schichtung. 

[Fortwttinc.] 

V.  Die  soziale  Schichtung  im  allgemeinen. 

Die  Berufsgliederung  im  Sinne  der  volkswirtschaftlichen  Arbeits- 
teilung ist  der  eine  der  beiden  durchschlagenden  Gesichtspunkte  der 
Benifsstatistik.  Der  andere  ist  die  soziale  Schichtung.  Es  gilt  dabei, 
die  Bevölkerung  nicht  nur  nach  den  Beru&zweigen,  sondern  auch  nach 
der  sozialen  Stellung  darin  zu  kennzeichnen.  Das  wurde  durch  die 
Frage  nach  der  Beru&stellung  angestrebt,  ob  nämlich  der  Beruf  selb- 
ständig ausgeübt  wird  oder  in  welcher  anderen  Stellung.  Danach 
*  werden  die  Berufsthätigen  zunächst  in  Selbständige,  Angestellte  und 
Arbeiter  eingeteilt,  und  jede  dieser  Kategorien  zerfallt  nach  gewissen, 
spater  zu  erörternden  Merkmalen  weiterhin  in  Gruppen  von  ver- 
9chi(v!(  nem  sozialen  Range.  Auch  die  Familienangehörigen  und 
Dienenden  werden  der  sozialen  Gruppe  ihrer  Ernährer  zugerechnet. 
So  erstreckt  sich  jene  Einteihinf:^  auf  die  gesamte  Bevölkerung. 

Dürfen  wir  en^^arten,  dadurch  einen  pjnblick  in  die  Stärke  und 
das  innere  Gefüge  der  einzelnen  sozialen  Klassen  zu  erlangen?  Be* 
deuten  die  Ergehnisse  —  was  die  Kapitelüberschrift  zu  versprechen 
scheint  —  wirklich  die  soziale  Schichtung?  Eine  endgültige  Antwort 
auf  diese  Frage  wird  erst  dann  möglich  sein,  wenn  wir  die  Ergeb- 
nisse selbst  kennen  gelernt  und  kritisiert  haben.   Aber  schon  jetzt 


Digitized  by  Google 


6o4 


H.  Rauchberg, 


möchte  ich  den  (icsiditspunkt  bezeichnen,  unter  welchem  allein  sie 
betraciltct  werden  dürfen.  Die  sozialen  Klassen  als  solche  statistisch 
exakt  zu  erfassen,  ist  ein  ^anz  uinii<');^lichcs  Herinnen.  Sie  können 
nicht  scharf  pcfjcncinandcr  aligcj^rrcnzt  werden,  weder  im  Leben, 
noch  bei  statistischen  lirliebun^aMi.  Die  Cirenzen  sind  fliefsendc;  es 
fehlt  an  durcligreifenden  Merkmalen  für  die  Zusammenfassung'  und 
Trennung,  vollends  an  solchen,  welche  der  Statistik  zugänglich  sind. 
Am  ehesten  sind  hierfür  noch  zu  verwerten  das  Einkommen  und 
die  Stellung  in  der  Betriebsorganisation.  Wo  die  Steuerveranlagung 
Einblick  in  die  Verteilung  des  Einkommens  eröffnet  hat,  fehlt  es 
ja  auch  nicht  an  Versuchen,  aus  der  Besetzung  der  verschiedenen 
Stufen  des  Esnkommens  auf  jene  der'sozialen  Klassen  zu  schlielsen?^) 
Aber  man  darf  de  nicht  mit  einander  verwediseln.  Das  Steuerein* 
kommen  ist  zwar  eines  der  Merkmale  einer  gewissen  sozialen 
Stellung,  aber  keineswegs  das  einzige  und  häufig  nicht  das  durch- 
schlagende. Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  durch  unsere  Auf- 
nahme ermittelten  Berufsstellung.  Sie  ist  nichts  anderes  als  der 
berufestatistische  Niederschlag  der  Betriebsorganisation  unserer  Volks- 
wirtschaft. Den  Abstufungen  des  Arbeitsranges  —  Selbständige,  An- 
gestellte, Arbeiter  und  die  feiiieren  Unterscheidungen  innerhaib  dieser 
Positionen  —  entsprechen  ja  gewisse  soziale  Klassen.  Aber  doch 
nur  ganz  beiläufig;  ihre  Grenzlinien  m^en  in  Wirklichkeit  mitunter 
wohl  anders  laufen.  Aber  da  wir  nun  einmal  kein  anderes  Mittel 
haben,  um  sie  zu  verfolgen,  und  der  Arbeitsrang  in  der  That  eines 
der  wichtigsten  Merkmale  der  sozialen  Stellung  ist,  so  ist  es,  wenn 
auch  nicht  ganz  korrekt,  so  doch  entschuldbar,  wenn  wir  die  so 
gewonnenen  Ergebnisse  als  „soziale  Schichtui^"  bezeichnen.  Sie 
sind  nicht  die  soziale  Schichtung  schlechtweg,  sondern  die  soziale 
Schichtung  unter  dem  Gesichtspunkte  und  mit  den  Hilfemitteln  der  * 
Berufsstatistik  dargestellt.  Inwieweit  dieses  Bild  mit  der  thatsäch- 
liehen  sozialen  Schichtur^  übereinstimmt,  das  zu  untersuchen  ist 
eine  der  wichtigsten  aber  auch  der  schwierigsten  Aufgaben  der 
statbtischen  Kritik. 

Die  Fragen  der  Haushaltungsliste  nach  der  BerufesteUung 
bezwecken  also  zunächst  festzustellen,  ob  der  Beruf  selbständig  aus- 
geübt wird  oder  nicht  Selbständige  Berufsausübung  in  diesem 
Sinne  ist  nicht  gleichbedeutend  mit  Unternehmerstellung.  Auch 


Vgl  S.B.  CarlBöbmert,  Die  Vertdlong  des  VoUneiiikoinmeiis  in  PRoftco 
imd  Skchsen.   Dresden  1898. 


Digilized  by  Google 


Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


leitende  Beamte  und  sonstige  GeschäftsiÜhrer  wurden  zu  den  Selb- 
ständigen gezählt  Dals  sie  weder  in  der  Berufsstatistik  noch  später- 
hin in  der  Gewerbestatistik  von  den  eigentlichen  Unternehmern 
getrennt  worden  sind,  ist  ein  entschiedener  Mangel  Denn  es  interes- 
siert uns  nicht  nur  die  leitende  Stellung  in  der  Betriebsorganisatton 
sondern  die  Untemehmerstellung  als  solche:  wir  möchten  gern 
erfahren,  wie  viele  Personen  direkten  Untemehmergewinn  be- 
ziehen. ^) 

Noch  zwei  andere  Gruppen  von  formell  Selbständigen,  welche 
gleichwohl  nicht  Unternehmer  sind,  werden  aus  zählungstechnischen 
Grründen  mit  diesen  auf  gleiche  Linie  gestellt:  die  Hausindustriellen 
und  die  Storarbeiter.  Die  ersteren,  Selbständige,  die  zu  Haus  fiir 
fremde  Rechnung  arbeiten,  werden  von  den  anderen  Selbständigen 
(a)  getrennt  als  Hausgewerbetreibende  (afr)  ausgewiesen.  Die  Stör- 
arbeiter zu  erforschen  und  separat  auszuweisen  war  gelegentlich  der 
Beratung  des  Zählungsgesetzes  in  der  hierfür  eingesetzten  Reichs- 
tagskommission angeregt,  nicht  aber  angenommen  worden.  Da 
Störarbeiter  nicht  in  einem  festen  Arbeitsverhältnisse  stehen,  werden 
sie  sich  wohl  durchaus  als  Selbständige  bezeichnet  haben.  In 
Wirklichkeit  können  sie  weder  ihrer  wirtschafUichen  noch  ihrer 
sozialen  Stellung  nach  als  solche  gelten.  Während,  wie  wir  alsbald 
hören  werden,  die  Grewerbezählung  manchen  wertvollen  Anhalts- 
punkt fiir  die  weitere  soziale  Differenzierung  der  selbständigen 
Beru£stellung  im  Sinne  der  Berufszählung  bot,  war  dies  bei  den 
Storarbettem  nicht  der  Fall.  Sie  verstärken,  ohne  dafs  eine  Berich- 
tigung möglich  wäre,  formell  die  Kategorie  der  Selbständigen.  Die 
franzosische  Beru&zählung  von  1896  hat  dagegen  zwecksmässiger- 
weise  die  „travailleurs  ind^pendants"  gleich  den  „travailleurs  ä 
domicile"  sowohl  von  den  Selbständigen  als  auch  von  den  Arbeit- 
nehmern geschieden  und  zu  einer  eigenen  Kategorie  der  Berufe- 
Stellung  erhoben.  *) 

Die  Arbeitnehmer  sollen  schon  nach  der  Anleitung  zur  Aus- 
füllung der  Haushaltungsliste  weiterhin  in  zwei  Gruppen  zerfallen: 


>)  GewimbetdUgmig  und  Beng  too  Dividenden  mlifsten  dnbei  an&er  Anschlag 
bleiben. 

*)  Nur  ist  wa  tadeln,  daJ«  man  bei  der  Eibdmng  blob  die  Heimaibeiter  scpaxat 

erfragt  hat  (Etes  vous  ouvrirr  ä  fagon  travaillant  eher  vous?),  während  die  «travailleurs 
ind^pendants«  gleichsam  als  Kinder  der  Verlegenheit  erst  im  Laofe  der  Bearbeitung 
anerfragt  aofgetaacht  sind. 


i^iyui^ud  by  Google 


6o6 


H.  Rancbberg, 


in  Angestellte  und  Arbeiter,  wobei  die  weitere  genaue  Bezeichnung 
des  Dienst-  und  Arbeitsverhältnisses  durch  eine  suf^gestiv  wirkende 
Exemplifikation  angebahnt  worden  ist.  Um  die  Schwierigkeiten» 
die  sich  hierbei  insbesondere  hinsichtlich  der  mitwirkenden  Fanülieo' 
angebörigen  ergeben,  zu  vermeiden,  war  die  Bethätigung  von  Per- 
sonen, die  im  Gewerbe  des  Haushaltungsvorstandcs  regelmäl'sig  als 
Hilfspersonen  verwendet  werden,  ohne  eigentliche  Gewerbsgehilfen 
zu  sein,  mit  „hilft"  zu  bezeichnen  unter  Angabe  des  betreffenden 
Gewerbes  als  Hcrufszweig. 

Auf  Grund  der  so  gewonnenen  Angaben  hat  die  Bearbeitung 
der  Berufszähluni,^  von  1805  Kategorien  der  Angestellten  und 
Arbeiter  noch  weiterhin  anahsiert  und  damit  einen  wesentlichen 
Fortschritt  gegenüber  der  Zählung  von  1882  angebahnt.  Die  An- 
gestellten (b)  werden  nämlich  weiter  unterschieden  in  höhere  (b  l) 
und  niedere  (b2l  Betriebsbeanite  und  Aufsichtspersonen  und  in 
Bureaubcamte  (b3i.  Bei  den  Hilfspersonen  in  .\rbeiterstellung  (c) 
ergiebt  sich  eine  erste  durch^reitende  l  iitersclu  idunL;  zunächst  da- 
durch, (lals  die  mitthätigen  h'ainilienangehörigen  durchaus  als  solche 
gesondert  ausgewiesen  werden  (c  l ),   während  dies  nur  bei 

der  Landwirtschaft  geschehen  war.  Für  die  .\usscheidung  der 
Familienangehörigen  aus  dem  sonstigen  Arbeitsj^erson.d  bot  tlie 
Kennzeichnung  der  Berufsstellung  in  der  Haushaltungslistc  mit 
„hilft",  sowie  die  Angai)e  über  tlie  Verwandtschaft  zum  Ilaushaltungs- 
vorstaiuic  oder  die  sonstige  Stellung  in  der  Haushaltung  genügende 
Anhaltsj)unkte. 

Aber  das  Zählunj^swerk  überrascht  uns  durch  zwei  weitere  Unter- 
scheitiungi-n,  auf  wi  lche  der  baciunann  selbst  nach  dem  eifrigsten 
Studium  der  Zälilpapiere  nicht  gefasst  sein  konnte.  Die  eine  ist  von 
geringer,  die  andere  von  desto  grösserer  Tragweite.  Die  erste  Ueber- 
raschung  besteht  darin,  dafs  nunmehr  auch  das  Arbeitspersonal  der 
Hausindustrie  gesondert  ausgewiesen  wird  (c  2  fr).  Und  doch  war 
die  Zusatzfrage  über  die  Heimarbeit  nur  an  Selbständige  gerichtet 
gewesen.  Woher  weiss  man  aber,  dals  ein  Arbeitnehmer  gerade  von 
einem  Hausindustriellen  und  keinem  anderen  Arbeitgeber  beschäftigt 
wird,  wenn  man  ihn  nicht  darüber  befragt  hat?  Das  kann  man  in 
der  That  nur  von  jenen  wissen,  die  als  Haushaltungsgenossen  mit 
den  hausindustriellen  Arbeitgeber  zusammen  auf  der  gleichen  Liste 
verzeichnet  stehen;  von  den  anderen  nicht:  sie  entgehen  der  be- 
absichtigten Kennzeichnung  als  Gehilfen  von  Hausindustriellen.  Und 
das  ist  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fall.    Die  Ge- 


Digitized  by  Google 


Die  Bernfs-  nnd  GewerbeziLblnng  im  lieuUchen  Kcicb  vom  14.  Juni  1895.  (307 


Werbestatistik  hat  139063  nicht  familienangehörige  Gehilfen  und 
Arbeiter  bei  Hausindustriellen  ergeben,  die  Berufestatistik  deren  aber 
nur  43493  im  Hauptberuf  und  2669  im  Nebenerwerb,  zusammen 
46163.  Mehr  als  zwei  Drittel  sind  der  Berufestatistik  entgangen 
und  sie  mussten  es,  weil  sie  von  ihr  überhaupt  nicht  erfragt  worden 
sind.  Eine  derartige  Frage  wäre  auch  wenig  am  Platze  gewesen, 
denn  der  Gehilfe  kann  nicht  immer  wissen,  ob  der  Arbeitgeber 
auf  eigene  oder  fremde  Rechnung  arbeitet  In  der  That  gehört 
dieser  Gesichtspunkt  gar  nicht  der  Berufestatistik  sondern  der  Be» 
triebsstatistik  an,  welche  ihn  auch  keineswegs  vernachlässigt  hat 
Aber  freilich,  über  die  personlichen  Verhältnisse,  Alter,  Familien- 
stand u.  s.  w.  der  hausindustriellen  Gehilfen  kann  uns  die  Betriebs- 
statistik nicht  unterrichten.  Der  an  sich  sehr  zu  billigende  Wunsch, 
auch  hierüber  etwas  herauszubringen,  hat  die  Bearbeitung  offenbar 
veraniafst,  sich  mit  dem  Ausschnitt  der  haushaltungsangehörigen 
Gehilfen  zu  begnügen,  da  die  Daten  für  die  Gesamtheit  derselben 
nun  einmal  nicht  zu  haben  waren.  *)  Die  Ausweise  über  die  Ge- 
hilfen der  Hausindustriellen  mufsten  also  notwendigerweise  so  un- 
vollständig ausfallen,^)  dafs  auf  die  Ausscheidung  derselben  aus 
der  Kategorie  der  sonstigen  Arbeiter  besser  verzichtet  worden  wäre. 
Wer  das  Tabellenwerk  zur  Hand  nimmt,  erwartet  darin  prinzii^icll 
nur  jolche  Angaben  zu  finden,  welche  den  in  den  einzelnen  Spal- 
ten und  Zeilenüberschriften  bezeichneten  Gegenstand  soweit  er- 
schöpfen, als  (lies  nach  dem  Stande  der  Zählungstechnik  überhaupt 
möglich  ist.  Der  Leser  wird  irregeführt,  wenn  die  Angaben  nur 
etwa  ein  Drittel  dieser  Fälle  umfassen,  jene  nämlich,  welche  ohne 
dafs  die  Krhebung  darauf  gerichtet  gewesen  wäre,  bei  der  Bearbei- 
tung herausgefunden  werden  konnten.  Die  nachträgliche  Konstatie- 
run;^  dieser  Thatsache  im  Textbandc  des  Zählunc^swerks  genügt 
nicht,  um  jene  milsverständliche  Auffassung  bei  der  1  landhahung  der 
'I  alx'llenbände  hintanzuhalten.  L'eberdics  kann  einer  Dai  sirllung  der 
persönlichen  Verhältnisse  der  Gehilfen  von  Hausindustriellen,  die 


Sie  wlren,  nebenbei  bemerkt,  n  haben  gewesen,  wenn  man  —  was  ich  im 
ersten  Teil  S.  244  empfehle  —  jeden  Arbeitnehmer  um  den  Arbeitgeber  befragt 
bitte.  Ans  seiner  Antwort  hStte  man  entnehmen  können,  ob  dieser  ein  Hansindn- 

striellcr  ist  oder  nicht  und  hätte  danach  auch  seine  Gehilfen  klassifizieren  können. 
Das  Ergebnis  würde  allerdings  kaatn  im  richtigen  Verhältnis  zum  Arbeitsautwand 
stehen.    Ahct  wer  das  7\r]  nun  rinmal  will,  muls  auch  den  Wt-};  dahin  gehen. 
^)  Was  das  Zäblungswerk  ubrigeas  keineswegs  Übersieht,  vgl.  S.  218. 


Digltized  by  Google 


6o8 


H.  Ramebberg , 


sich  nur  auf  den  dritten  Teil  der  hierher  gehörigen  Personen  be- 
zieht, statistischer  Wert  nicht  zuerkannt  werden. 

Ich  komme  nun  zur  zweiten  Ueberraschung,  der  wichtigeren.  Sie 
besteht  darin,  dals  die  Unterscheidung  zwischen  gelernten  (c2) 
und  ungelernten  (c  3)  Arbeitern  getroffen  ist,  je  nachdem  die 
—  jamilienfremden  —  Hilfepersonen  für  den  Beruf,  den  sie  aus^ 
üben,  vorgebildet  werden  oder  nicht  ^)  Die  Unterscheidung  zwischen 
gelernter  und  ungelernter  Arbeit  gehört  zu  den  wichtigsten,  aber 
auch  zu  den  schwierigsten  Problemen  der  Berufestatistik.  Sie  hängt 
enge  mit  einer  Reihe  von  weiteren  schwierigen  Fragen  zusammen: 
nach  dem  Berufswechsel,  dann  inwieweit  der  vormahge  Beruf  in 
dem  demographischen  Habitus  narlnvirkt ,  nach  dem  Verhältnis 
zwischen  dem  persönlichen  Beruf  und  der  Art  der  Unternehmung, 
worin  er  ausgeübt  wird,  u.  S.  w.  Es  scheint,  dafs  das  Statistische 
Reichsamt  das  Problem  ursprüglich  von  der  Seite  der  Betriebs- 
statistik aus  anfassen  wollte.  Wenigstens  erklärten  die  Regierungs- 
Vertreter  gelegentlich  der  Kommissionsverhandlungen  des  Reichstags, 
die  den  l'ntcrnchmern  auf  der  dritten  Seite  des  ( lewerbebogens  zu- 
gemutete GUederui^  des  Bctriebspersonals  nach  der  thatsächlichen 
Beschäftigung  bezwecke,  die  beschäftii^ten  Personen  zunächst  in 
zwei  Katc-.7orion  zu  teilen:  in  solche  die  eigentlich,  und  in  solche 
die  uneigentlich  (als  Hilfspersonen)  gewerblich  im  Betriebe  thätig 
sind,  und  ferner  die  beschäftigten  Personen  in  die  zwei  Kategorien 
der  gelernten  und  ungelernten  Arbeiter  zu  zerlegen.  Ich  habe  s.  Z. 
schon  bei  der  Besprechung  der  P'rhcbungsformularien  Zweifel  darüber 
geäufscrt.  ob  diese  Krklärun;^  den  Intentionen  der  Statistiker  beim 
Entwurf  der  I'^M  inulare  t  ritsprarh.  ■)  Thatsächlich  ist  darauf  ver- 
zichtet worden,  jene  .Angaben  des  Gewerbeboc^ens  für  unsere  Frage 
zu  verwerten.  Ihre  Lösung  steht  ganz  auf  dem  Boden  der  Berufs- 
Statistik.   Aber  diese  enthielt  ja  keine  Frage  über  die  Vorbildung 

Im  TabellcDwcrk  »clbst  lautet  die  Bezeiduillllg  i,c  3:  Gesellen,  Lehrlinge 
und  sonstige  Arbeiter  Ittr  Dienadeistnagcn,  zu  weldien  in  der  RegA  dne  VoibildmiC 
erforderiich  ist"  und  „c  3:  Andere  Hilfsperaooen,'  Handiirbdter,  HaikUufer,  lOMlice 
Arbeiter  flir  Dienstleistungen,  m  welchen  in  der  Regel  eine  Vorbildong  nicht  er- 
forderlich ist,  . .  In  der  textlicbcn  Bearbeitung  ^ihlnngsverk  S.  73  ff.)  weiden 
die  crst«Ten  schlechtweg  als  gelernte,  die  letzteren  als  ungelernte  Arbeiter  bezeichnet, 
was  j;\  der  Absicht  dieser  UiU'-rschfidung  in  der  That  viilliß  fntspricht.  ich  darf 
mich  il.ih'-r  dieser  Ausdrücke  gh-ichfalls  b<>dieiu-D,  obwohl  ii  h  sie  —  wie  glddl 
begründet  werden  soll  —  sachlich  nicht  für  ganz  zutrcifend  halte. 
*)  Statist.  Monauschr.  Jalirg.  1895  S.  296. 


Digitized  by  Googl 


Die  Berufs*  und  Gcwerbciählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  609 

zum  Berufe!  Wie  kam  man  also  zu  jener  Unterscheidung?  Durch 
eine  unmerkliche  Veränderung  des  Standpunkts.  Es  handelt  sich 
jetzt  nämlich  nicht  so  sehr  um  Eigenschaften  der  gezählten  Per- 
sonen, als  vielmehr  um  die  Beschaflenheit  der  angegebenen  Be- 
schäftigung. Je  nachdem  die  mit  der  Aufbereitung  der  Ma- 
terialien  befa&ten  statistischen  Aemter  eine  besondere  Vorbildung 
für  die  angegebene  Beschäftigung  als  erforderlich  erachteten  oder 
nicht,  wurde  der  Arbeiter  selbst  zu  den  gelernten  oder  den  un- 
gelernten gerechnet  Dem  entspricht  auch  korrekterweise  die  schon 
früher  angemerkte  Bezeichnung  der  betrefTenden  Positionen:  c  2  Ge- 
sellen, Lehrlinge  und  sonstige  Arbeiter  für  Dienstleistungen,  zu 
welchen  in  der  Regel  eine  Vorbildung  erforderiich  ist,  und  c  3 
Andere  Hilfspersonen  ...  für  Dienstleistungen,  zu  welchen  in  der 
Regel  eine  Vorbildung  nicht  erforderlich  ist  Wenig  pafst  es  aller- 
dings dazu,  wenn  neben  Gcschäfbkutschem ,  Fuhrleuten,  Haus- 
dienern u.  s.  w.,  auch  Maschinisten  und  Heizer  hierher  gerechnet 
werden,  da  doch  die  crsteren  wenigstens  sot^ar  einer  ganz  beson- 
deren Qualifikation  bedürfen.  Hier  scheint  der  bei  den  Koniniissions- 
beratungen  aufgetauchte  Gedanke  an  die  Scheidung  zwischen  eigent- 
lichen und  unei^^cntlichcn  Gewerbeangehörigen  noch  nachzuwirken. 
Nur  (!al<  er  auf  dem  Gebiete  der  Gewerbestatistik  berechtigt  ist, 
auf  dem  Gebiete  der  Berufsstatistik  kaum.  Für  diese  letztere  ist 
das  Individuelle  mafsgcliend:  der  einbekannte  Beruf  mufs  wohl 
oder  übel  als  der  eigentliche  angesehen  werden. 

Die  Unlersciicidunt^  zwischen  gelernten  und  un'^elernten  .Ar- 
beitern beruht  also  nicht,  wie  alle  anderen  Zählu^^^s^rlrcbnissc,  auf 
einer  eisjjcns  darauf  gerichteten  I*rage,  sondern  Icdi^flich  auf  dem 
l'rteil  der  >>t.itistischen  .Arbeitsstellen  darüber,  ol)  die  als  Haupt- 
beruf angegebene  Bcsrhäftigung  eine  \'(irbiidun^^  erfordert  oder 
nicht.  I'ikI  dieses  rneil  ^niindet  sich  einzig  und  allein  auf  tlie  Be- 
rufsbenennungen. Genu;j;en  diese  wirklich  für  eine  derartige  Gruppie- 
rung? Schwerlich.  Idi  glaube,  dafs  recht  willkürliche  oder  gewalt- 
same rntersrheidungen  dabei  un\  eriiieidlich  waren.  Die  in  dem 
Zählun^swerke  angeführten  Beispiele  '  bestärken  mich  nur  flarin. 
Es  ist  nicht  abzusehen,  warum  z.  B.  in  tler  Textilindustrie  zwar 
die  Sj)ulerin.  Andreherin  und  .Vnsetzerin  als  gelernt,  die  .\ufsetzerin, 
Haspleriii  und  Winderin  aber  als  ungelernt  gelten  solle.  In  der 
Seidenindustrie,  wo  diese  Beschäftigungen  ja  auch  vorkommen,  er- 


1)  Zihlungswcrk  S.  82. 


Digitized  by  Google 


6io 


H.  Rauchberg, 


fordert  die  Feinheit  des  Fadens  bei  allen  derartigen  Verrichtungen 
eine  feine  und  geschickte  Hand,  wie  sie  nur  durch  längere  Uebung 
erworben  werden  kann.  Und  mehr  £inübung  oder  Abrichtung  -  ist 
in  der  äu(serst  arbeitsteiligen  Fabriksindustrie  auch  zu  den  meisten 
anderen  Verrichtungen  nicht  erforderlich,  die  man  als  „gelernte** 
gelten  liels.  Die  ganze  Unterscheidung  ist  also  äuCserst  problema- 
tisch. Ich  will  sie  als  ein  immerhin  interessantes  Esqieriment  gera 
gelten  lassen.  Aber  man  darf  dabei  nicht  übersehen ,  dafe  sie  for- 
mal auf  ganz  anderer  Grundlage  beruht  wie  alle  anderen  Zahlungs- 
ergebnisse. 

Da(s  die  hier  besprochenen  Unterscheidungen  der  sozialen 
Stellung  nicht  auch  für  die  Berufeabteilungen  OefTentlicher  Dienst 
und  Ireicr  Beruf,  Häusliche  Dienste  und  Lohnarbeit  wechselnder 
Art  zutreffen  können,  liegt  auf  der  Hand.  Für  diese  modifiziert 
sich  demnach  die  Bedeutung  der  drei  Klassen  a)  Selbständige, 
b)  Angestellte  und  c)  Arbeiter  je  nach  dem  besonderen  Charakter 
der  einzelnen  Berufsarten. 

Gegenüber  der  Zählung  von  1882  erscheint  nunmehr  die  Ab- 
grenzung der  einzelnen  sozialen  Schichten  wesentlich  verfeinert,  fast 
über  die  Grenzen  hinaus,  welche  durch  die  Art  und  Weise  der  Er- 
hebung gezogen  sind.  Weitere  Unterscheidungen  werden  sich  für 
die  Kategorie  der  Selbständii^f  ti  aus  der  Benutzung  der  Betriebs- 
daten ergeben.  Hingegen  ist  bei  der  Landwirtschaft  eine  Position 
aufgelassen,  welche  1882  gcscliaffcn  worden  war:  die  landwirt- 
schaftlichen Tagelöhner,  die  gleichzeitig  selbständig  Landwirtschaft 
betreiben,  mit  ihren  mithelfenden  Familienangehörigen  und  ihrem  (.ie- 
sinde  (aT).  Je  nachdem  Tagclöhiicrei  oder  selbständige  Landwirtschaft 
überwiegt,  wurden  sie  1895  zu  den  Scll)ständigen  oder  zu  den  Ar- 
beitern gezählt  unter  X'erweisung  der  anderen  Beschäftigung  in  den 
Nebenerwerb.  Demzufolge  zerfallen  die  landwirtschaftlichen  Arbeiter 
nunmehr  in  4  Katcu^oricn  :  c  i  mitthätige  Familienangehörige,  c2  land- 
wirtschaftliche Knechte  und  Mägde,  c3  landwirtschaftliche  Tage- 
löhner und  sonstige  Arbeiter  (Schäfer,  I  lirten  u.  s.w.  l  mit  eigenem 
oder  gepachtetem  Land  ausschlicfslich  des  Deputat-  und  Halbpacht- 
landes, c4  (lesL^ieichcn  ohne  eigenes  oder  L,^epachtctes  Land.  Für 
die  Bildung  dieser  Kategorien  sind  die  .Angaben  der  Landwirtschafts- 
karte mit  verwertet  worden.    Sie  ist  1895  zweifelsohne  richtiger 


M  Das  findet  sich  itn  TabeUeswerke  gar  nicht  hervorgehoben,  im  Textbande 
nicht  mit  genügender  Schärfe. 


Digitized  by  Google 


Die  Benift>  und  G««erbezählaiig  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  611 

und  konsequenter  erfolgt  als  1882.  Aber  die  Vergleichbarkeit  ist 
infolgedessen  aufgehoben,  und  die  Beantwortung  der  wichtigen 
Frage  unmöglich  gemacht,  wie  sich  das  Verhältnis  zwischen  Selb- 
ständigen und  Unselbständigen  auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschalt 
seit  1882  verändert  bat 

Nach  diesen  methodologischen  Bemerkungen  gehe  ich  daran,  die 
Hauptergebnisse  der  BeruCszählung  über  die  soziale  Schichtung  vor- 
zufuhren. Die  feineren  Unterscheidungen  innerhalb  der  einzelnen 
Schichten  sollen  später  erörtert  werden.  Um  einen  allgemeinen 
Ueberblick  zu  erlanj^en,  wollen  wir  uns  vorläufig  auf  die  3  grofsen 
Kategorien:  Selbständige,  Ani^c stellte  und  Arbeiter  beschranken 
und  ihre  Besetzung  sowie  die  hierin  seit  1882  eingetretenen  Ver- 
änderungen untersuchen.  Da  diese  Kategorien  nur  in  den  3  Be- 
rufsabteilungen I Landwirtschaft,  Industrie  sowie  Handel  und  Verkehr 
ohne  weiteres  zutreffen,  so  sind  die  anderen  Berufe  in  den  gleich 
mitzuteilenden  Zahlen  vorläufig  noch  nicht  inbegriffen. 

Es  wurden  gezählt: 

Selbatlndige  Angestellte  Arbeiter 

1S95        1882  189s       i88s  1895  1882 

in  der  Landwirtsdiaft   2568725    2288033  96173     66644  S^*7794  5881819 

in  der  Indastrie  .   .  2061764  2201146  263745     99076  5955711  4096243 

im  Handeln.  Verkehr     843557      701 50S  261907    141 548  1233047  727262 

in  ganzen    .   5474046   5190687   621825   307268  12  816  552  10705324 

\'on  je  100  Erwerblhätij^aMi  sind  demnach: 

Selbständige  Angestellte  Arbeiter 


i«95 

1882 

1895 

1882 

1895 

1882 

in  <lrr  T  iindwirtschaft 

30.98 

27,78 

1,16 

0,81 

67,86 

71.41 

in  der  Industrie  .... 

24,00 

34i4l 

3.«8 

'.55 

71,92 

64,04 

im  Handel  und  Verkehr  . 

36-07 

44,67 

11,20 

9,02 

Überhaupt   .  . 

28,94 

32,03 

3i29 

1,90 

66,07 

Absolut  haben  alle  drei  Klassen  seit  1882  zugenommen,  die  Unselb- 
ständigen aber  viel  mehr  als  die  Selbständigen.  Es  beträgt  nämlich 
die  Zunahme  bei  den  Selbständigen  nur  283  359  oder  5  %,  bei  den 
Angestellten  314557,  also  mehr  als  iOO%,  bei  den  Arbeitern  aber 
2  III 228  oder  20V  ^^^^  als  drei  Viertel  aller  neu  ins  Erwerb- 
leben Eintretenden  gehören  der  Arbeiterklasse  an.  Demzufolge  ist 
der  Anteil  der  Selbständigen  an  der  Gesamtzahl  der  ECrwerbthätigen 
von  32p3  auf  28,94%  zurückgegangen,  jener  der  Unselbständigen, 


Digitized  by  Google 


6l2 


H.  Rauchberg, 


insbesondere  der  Angestellten  entsprcclicnd  gestielten.  Die  Be- 
wegung ist  bei  beiden  Geschlechtern  die  gleiche,  denn  es  waren: 


crwerblhitigen     1895  i^S  i^S 

MSnneni  .  .  31,34  34,17  4,H  Si43  64*5«  63,4t 
Fianen .   .   .   9«,02      »5,43      0,81      0,39      77,17  74*28 

An  diesen  gewaltigen  Verschiebungen  sind  zweifelsohne  auch 
rein  formale  Momente  bis  zu  einem  gewissen  Grade  mitbeteiligt. 
Dadurch,  dais  die  mitwirkenden  Familienglieder  18S2  vollständiger 
erfafst  und  zu  den  Arbeitern  gerechnet  wurden,  erscheint  nunmtehr 
die  Arbeiterklasse  verstärkt.  Hingegen  sind  ihr  1895  infolge  der  ge- 
naueren Erfassung  der  Angestellten  manche  Elemente,  wie  Aufseher 
und  Werkmeister  nicht  zugerechnet  worden,  die  1882  noch  zu  den 
Arbeitern  zählten.  Speziell  auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft  ist 
der  Vergleich  durch  die  früher  bereits  erwähnte  Auflassung  der 
Kategorie  aT:  Lnndwirtschaftsbetriel)  verbunden  mit  landwirtschaft- 
licher Tagelöhncrci  erschwert.  866493  Personen  waren  1882  hierher 
gezählt  worden,  welche  für  die  \'erglciclnin<t  mit  1895  in  der  obigen 
Ucbersicht  zu  den  Arbeitern  geschlai^eii  wurden.  Die  Mehrzahl  der 
Personen  in  solcher  La^^e  wird  sich  1895  wohl  als  Arbeiter  be- 
zeichnet haben,  ein  zitt'emiälsiL;  nicht  näher  bestimmbarer  Teil  aber 
auch  als  selbständiii^e  Landwirte.  Die  Zunahme  dieser  letzteren 
seit  1882  beträgt  3S0692.  Inwieweit  die  Zunahme  auf  jenes 
formale  Moment  /uriirkzuführen  oder  der  Ausdruck  einer  thatsäch- 
lichen  Entwicklungstendenz  ist,  muls  dahini^estellt  bleiben.  1  )ie  Er- 
gebnisse der  landwirtschaftlichen  Betriebsau fnah in c  -sprechen  für 
die  letztere  Annahme.  Die  Anzahl  der  Landwirt>i  hatisbetriebc  hat 
danach  nänilicii  um  28 1  973  zugenommen,  wox-on  allerdings  die  gröfscre 
Hälfte,  nämlich  174536,  auf  Parzellenbetriebe  unter  2  ha  entfallt. 
Warum  weder  die  Zahl  noch  die  X'ermehrung  der  Landwirtschafts- 
betriebe mit  jener  der  selbständigen  Landwirte  übereinstimmt,  wird 
im  III.  Teil  dieser  l'ntersuchungen  zu  erörtern  sein.  Auch  die  N'^er- 
niehrung  der  Landwirtschaftsbetriebe  erklart  sich  zum  Teil  aus 
formalen  l^rsachen.  Ai)er  die  luitwicklungstendenz  tliiiltc  dann 
wohl  richtig  zum  Austlruck  kommen  utkI  insofern  stimmt  sie  ja 
auch  mit  den  Ergebnissen  der  Berufsstatistik  überein. 

In  der  Landwirtschaft  iiabcn  die  .Selbständigen  also  zugenommen, 
die  Arbeiter  aber  um  254070,  also  nicht  unerheblich  abgenommen. 
In  den  anderen  Berufsabteilungen  war  die  Bewegung  die  cntgegen- 


Toa  je  100 


Sdbstiiidige 


AngestelUe 


Arbeiter 


Digitized  by  Google 


Die  Benifs-  und  Gewertwailhlung  im  Dentachcn  Reich  vom  14.  Jim!  189$.  613 

gesetzte;  in  der  Industrie  haben  die  Selbständigen  sogar  absolut, 
um  139382  abgenommen.  Demzufolge  kommen  auf  je  einen  Selb- 
ständigen 

Angestellte  Arbeiter  zusammen 


»»95 

i88a 

1895 

»895 

1882 

in 

der  I^nd Wirtschaft. 

•  0,04 

0,03 

2,19 

2,57 

2,23 

2,60 

in 

der  Industrie  . 

•  0,13 

0,05 

2,89 

1,86 

3,02 

1.91 

im 

Handel  utul  \'<Tkchr 

■  0,31 

0,20 

1,46 

1,04 

«.77 

1,24 

\ 

im  ganzen 

.   0,1 1 

0,06 

»i34 

2,00 

2,45 

2,12 

Inwieweit  hieraus  auf  die  fortschreitende  Konzentration  der  Ge- 
werbebetriebe zu  schlie(sen  ist,  wird  im  Teil  unserer  Unter- 
suchungen zu  erörtern  sein.  Vom  Standpunkte  der  Berufsstatistik 
aus  stellt  sicli  die  f^anze  Bewegung  zweifelsohne  als  eine  erhc!)lirlie 
Verstärkung  der  Arl  <  itrrklassc  jener  der  Arbeitgeber  gegenüber  dar. 
Dabei  ist  noch  zu  berücksichtigen,  dafs  auch  Administratoren,  Ge- 
schäftsleiter und  sonstige  Beamte  in  Icitttidn  Stellung  zu  den 
Selbständigen  gezählt  wurden,  also  nicht  durchaus  solche  Personen, 
welche  sich  in  Unternchmerstellung  befinden. 

Das  Zählungswerk  verwahrt  sich  dagegen,  dafs  die  aus  diesen 
Ziffern  hervorleuchtende  Entwickln iil^  als  eine  fortschreitende  IVole- 
tarisierun^  der  ( icscllschaft  gekennzeichnet  werde.  \'ielmehr  sei  eine 
derartii^c  iMitwicklung  bei  starker  Volk^scrmehrung  und  starker 
Zunahme  tler  Krwi  t!)stliäti,^'keit  naturnotwendig.  Xaturnotwendig 
ist  vielleicht  etwas  i;c\va|4t.  Es  ist  ja  richtig,  dafs  die  Industrie, 
denn  diese  koiiiint  dabei  in  erster  Linie  in  Betracht,  nicht  so  sehr 
tiurch  die  Hegrundung  von  neuen  l'ntcrmhmungeii  als  \ielmehr 
durch  die  Erweiterung  von  bereits  l)estelienden  sich  entfaltet,  so 
dafs  die  Arbeitnehmer  rascher  anwachsen  als  die  Arbeitgeber.  Aber 
hier  lial)en  die  Arbeitgeber  überhauj)l  nicht  zu;..{enoinin<  !i ,  sotuiern 
um  mehr  als  6"  „  ahgem  mimen.  Eine  notwendige  Begleiterscheinung 
aufstrebentler  l\tit wicklung  wird  man  darin  nicht  erblicken  können. 
Es  ist  ferner  richtig,  dafs  der  Nachwuchs,  dem  wir  die  Erhöhung 
der  Volkszahl  verdanken ,  nicht  gleich  in  die  obersten  sozialen 
Stellungen  gelangen  kann,  sondern  sich,  wenn  überhaupt,  zumeist 
von  unten  aus  hinaufarbeitet.  Auch  ist  die  gesamte  industrielle  Be- 
völkerung seit  1882  jünger  geworden,  denn  von  je  lOO  Erwerb- 
thätigen  der  Industrie  waren 

189s  1882 

noch  nidit  20  Jahre  alt     21,84  19,66 

n  II 

49,87  47ia3 


Digitized  by  Google 


6i4 


H.  Raochberg, 


Aber  die  Wrschärfung  des  l'cbcrg^cwichts  der  Arbeiter  beschränkt 
sich  keineswegs  auf  die  iui,a'n<lIiclK-n  Altersstufen.  Sic  tritt  nicht 
minder  entschieden  in  den  mittleren  und  hüiicren  uns  ent^e^j^en, 
kann  also  keincswep^s  ausschlichü«  Ii  ofU  r  auch  nur  hau|itsächlich 
auf  die  \arh\vuch^\  erhältnissc-  zurück^etuhrt  werden.  \'oti  je  lOo 
den  neheiibezeidmeteii  .Altersstufen  an^rehörigen  trwerbthätigcn 
der  Berufsabteilung  Industrie  waren  nämlich: 


»895 

1882 

Verstärkung 

«i.  l'ro/rntNat/es 

Altersklassen 

Selbst.  Angest.  Arbeiter 

Selbst.  Angest.  Arbeiter 

li.  Arbeiter 

1882—1895 

uter  ao  Jahre 

3.5« 

I.S9 

94.83 

6.97 

0,49 

92,54 

H-  2,29 

ao— 30  ^ 

15.*» 

3.35 

80,84 

22,70 

1,99 

75,3t 

+  5.53 

30—40  r> 

31.26 

4,»7 

64,57 

41,98 

1,99 

56,03 

-f  S,54 

40-50  „ 

39.74 

3,96 

56,30 

50.71 

1.74 

47.55 

+  8,75 

50-00  .. 

46.59 

3.42 

49.09 

59.26 

1.49 

39,25 

+  10,74 

60  70 

54.00 

2,61 

42.49 

66. 78 

1.12 

32,10 

+  10,39 

70  u.  mehr  Jalin 

1.6S 

32-39 

75-^3 

0.72 

24.0; 

4-  S.34 

im  gaiucn 

24,90 

71,92 

34,41 

1,55 

04,04 

'  -f  7,SS 

Wir  sehen  also,  dafs  sowohl  1895  wie  1882  die  Klasse  der  Selb- 
ständigen mit  zunehmendem  Alter  immer  starker,  jene  der  Arbeiter 
immer  schwächer  besetzt  ist  Dabei  erstreckt  ach  die  1895  für 
den  Durchschnitt  konstatierte  Verstärkung  der  Arbeiterklasse  auf 
sämtliche  Altersstufen.  Wäre  sie  nur  eine  Folge  der  Nachwucbs- 
verhältnisse,  so  müGste  sie  in  den  jüngeren  Altersstufen  stärker  her- 
vortreten als  in  den  höheren.  Hätten  Alter  und  Nachwuchs  keinen 
Einfluls  darauf,  so  müCste  die  Verstarkui^  auf  allen  Altersstufen 
die  gleiche  sein.  Aber  weder  das  Eine,  noch  das  Andere  ist  der 
Fall.  Wir  sehen  vielmehr,  dals  die  Verstärkung  der  Arbeiterklasse 
seit  1882  von  Altersstufe  zu  Altersstufe  bis  zum  60.  Jahre  zunimmt. 
Es  ist  also  felsch,  sie  aus  der  Volksvermehrung  und  den  dadurch 
bedingten  Aendeningen  des  Altersaufbaues  zu  erklären:  sie  ist  der 
statistische  Ausdruck  einer  ganz  bestimmten  sozialen  Entfaltung. 
Ob  sie  Proletarisierung  zu  nennen  sei  oder  nicht,  ist  doch  nur  ein 
Wortstreit.  Ks  häuL^'t  davon  ab,  welchen  Sinn  man  dein  Worte 
beilegen  will.  Proletarisierung  im  Sinne  fortschreitender  Trennun^j 
des  Arbeiters  von  seinem  .Arbeitsmittel:  ja;  Proletarisierung  im 
Sinne  fortschreitender  Verelendung:  nein.  Denn  die  beiden  Be- 
wegungen, die  Marx  mit  diesem  Ausdruck  bezeichnete,  haben  auf- 
gehört identisch  zu  sein.    Darüber  ob  sie  wohlständig  gewiikt 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  and  Gewerberiihlnng  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95.  515 


haben  oder  nicht,  vermag  die  Beruisstatistik  keinen  Aufichluß  zu 
erteilen.  Darauf  will  ich  mich  hier  auch  gar  nicht  einlassen.  Es 
kam  mir  nur  darauf  an  zu  zeigen,  da(s  das  stärkere  Uebergewicht 
der  Abhängen  über  die  Selbständigen  keineswegs,  wie  uns  das 
Zählungswerk  glauben  machen  will,')  als  der  statistische  Nieder* 
schlag  der  Volksvermehrung  und  erweiterter  Erwerbthätigkeit  an> 
zusehen  ist,  sondern  dafs  wir  es  hier  thatsächlich  mit  einer  wirt- 
schaftlichen Entwicklung  von  aufserordentlicher  sozialpolitischer 
Tragweite  zu  thun  haben.  Es  steht  eben  fest,  dals  seit  1882  die 
Selbständigen  nur  um  283559,  Arbeiter  aber  um  21 11 228,  also 
7,5  mal  so  stark  zugenommen  haben.*)  Um  soviel  ist,  wenn  wir 
die  Angestellten  als  neutral  annehmen,  die  Verteilung  der  gegen- 
satzlichen  Klassen  Interessen  verschoben,  die  Wucht  ihrer  Vertretung, 
wofern  sie  von  der  Zahl  der  Beteiligten  abhängt,  auf  Seite  der  Ar- 
heiter  vergröfsert  Und  das  ist  eines  der  wichtigsten  Ergebnisse 
der  Berufszählung. 

Wesentlich  anders  stellt  sich  allerdings  die  soziale  Schichtung 
dar,  wenn  man  die  Angehörigen  und  Dienenden  der  einzelnen 
sozialen  Klassen  mit  in  Rechnung  stellt.   Es  betrug  nämlich  1895 


in  der  Klasse 

der 

SelbstXndigen 

Angestellten  . 
Arbeiter 

zusammen 


die  Zahl  der  ZagAMgn 

Erweibthldgen    Dieaendcn     Aagthängea  ttberhanpt 

5474046         863940         12502592  18839578 

621825          69522            928635  16199S2 

12816552          46346         11398936  24261834 

18912433         978808         24830163  44731394 


Demnach  entfallen  auf  die  einzelnen  sozialen  Klassen  von 


je  100 


Sociale 
KlaiMii 


Erwerb* 
thitigen 


Sdbttiiidige  88^94 

Angestdlte  3,29 
Arbeiter  67,77 


Bcnifssngehörigen 
einschlief  iL  aandilieisl. 
der  Dienenden 


3,62 
SMS 


41,11 

3,$« 
55»33 


Die  Scll)ständigcn  haben,  wie  nicht  anders  zu  erwarten,  die  re- 
lativ grörserc  Fainilicntfaltung  und  Dienstbotcnlialtuiig.   Werden  die 


')  Ziihlungitwcrk  S.  61. 

*)  Spezidl  auf  dem  GeMete  der  hidnitrie  itdit  einer  Timthme  der  Arbeiter 
861468  eme'Abnahoie  der  SelbeOndigen  um  139382  gegenflber, 
Archiv  für  Mt.  GeseUgebmc     Statistik.  XtV.  40 


Oigitized  by  Google 


6i6 


H.  Ranchberg, 


Fainilicnangeliörigcn  und  Dicnciulcn.  oder  was  jedenfalls  zutreffender 
ist,  nur  die  crstcren  zur  sozialen  Klasse  ihrer  Krnährer  gerechnet, 
so  steigt  der  Anteil  der  Selbständigen  sehr  erheblich ,  jener  der 
Angestellten  noch  immer  um  ein  Geringes,  wogegen  die  Klasse 
der  Arbeiter  \  crhälluismärsig  schwächer  besetzt  erscheint.  Näheres 
über  die  Verteilung  der  Angehörigen  und  Dienenden  nach  Berufs- 
zweigen und  sozialen  Schichten  im  IX.  und  X.  Abschnitte. 

Will  man  schliefslich  noch  die  anderen  Berufsabteilungen  in  die 
soziale  Schichtung  mit  einbeziehen,  so  sind  sämtliche  Erwerbthätige 
der  Abteilung  D  Häusliche  Dienste  und  Lohnarbeit  wechselnder 
Art  ebenso  wie  die  Diefistboten  den  Arbeitern  zuzuzählen.  In  der 
Beru^bteüung  E  Oeffentlicher  Dienst  und  freie  Berufe  werden  zwar 
so  wie  in  A — C  drei  Abstufungen  (a,  b  und  c)  unterschieden;  sie 
bezeichnen  aber  hier  in  erster  Linie  die  Art  des  Dienstes  oder  der 
Verwendung.  So  werden  z.  B.  in  der  Armee  und  Kriegsflotte  die 
Offiziere  und  Beamten  unter  a  den  Selbständigen,  die  Unterofifiziere 
und  Gemeinen  unter  b  den  Angestellten  gleichgestellt  Im  öflent- 
liehen  Dienst  zahlen  die  höheren  Beamten  zu  a,  das  Aufsichts-  und 
Bureaupersonal  zu  b,  das  Dienstpersonal,  Bureaudtener,  Boten  zu  c 
Das  gesamte  Lehrpersonal  ist  zu  a  gerechnet  Man  sieht,  es  ist  nur 
eine  ganz  formale  Gleichstellung,  um  die  soziale  Klassifizierung  aller 
Berufsthätigen  zu  ermöglichen,  und  ohne  einige  Willkürlichkeit 
konnte  das  überhaupt  nicht  geschehen.  Das  Endergebnis  dieser 
Zusammenfassung  ist  das  folgende: 

Van  je  loo  Enreibtliitigeii  snid 

in  den  1895  1SS2 


Benifsabteilungen                 selbständig  abhängig 

selbständig  abhängig 

A- 

-C  also  bis  einschl.  IlamU-l  u.  Verkehr  28.04 

71,06 

32,03 

67,97 

A- 

-C    „     „        p       Lohnarb.  wcchs.  Art  28,30 

71,70 

3«,27 

^•8.73 

-Ii    „     „        „       offentl.  Dienst   ,    .  28,57 

71,43 

3>,44 

6S,56 

-E  einscbliefslich  der  bäusl.  Dienstboten  26,84 

73,«6 

29,25 

70,75 

Jede  dieser  Gruppierungen  bestätigt  das  schon  früher  ge- 
wonnene Erj^^ehnis:  rlas  stärkere  Zurücktreten  selbständiger  Erwerb- 
thätif^keit  ^ef^enübcr  der  abhängigen.  Das  ist  der  Grundzug  der 
sozialen  Entwirkhmg  während  des  letzten  Jahrzehnts. 

Dieser  Grundzu*^  kehrt  auch  bei  der  l'ntersuchung  der  ein- 
zelnen Berufsgrii[>pen  und  I^erufsarten  wieder.  Unter  den  26  in- 
dustriellen Berui.sgru|)})en  sind  es  7,  in  denen  die  absolute  Zahl 
der  Selhständif^en  abt,fenonimcn  hat,  am  meisten  in  der  Textil- 
industrie.   Hier  beträgt  der  Rückgang  139  374  i  er  ist  zum  guten 


Digitized  by  Co 


Die  6cnif»>  und  GewerbeBtUung  im  Dentidieii  Rdch  vom  14.  Jftmi  1895.  51/ 

Teile  auf  die  Verdrängung  der  Hausindustrie  in  der  Textilindustrie 
zurückzuführen.  Ferner  fiilien  durch  starke  Abnahme  der  Selb- 
ständigen auf:  die  Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe  (—  21649), 
Bekleidung  und  Reinigung  ( —  16999),  Metallverarbeitung  ( —  10  715), 
Industrie  der  Steine  und  Erde  ( —  6129).  Hingegen  haben  die 
Arbeiter  in  keiner  einzigen  Berufsgruppe  abgenommen.  Die  ge- 
nauere Untersuchung  der  einzelnen  Berufsarten  läfst  das  leitende 
Prinzip  dieser  X'erschiebungen  deutlich  erkennen:  Die  Abnahme  der 
Selbständigen  und  Zunahme  der  .Abhängigen,  insbesondere  der  Ar- 
beiter ist  die  Begleiterscheinung  des  Niedergangs  des  Handwerks 
und  der  Ausbildung  des  Grolsbetriebs ;  so  in  der  Weberei,  'r(")[)ferei, 
Tischlerei,  Böttcherei,  bei  den  Getreidemühlen,  Schuhmaciicrn,  Hut- 
machern u.  s.w.  Hingegen  sind  mit  den  .\b}iängigcn  zugleich  auch 
die  Selb.ständigen,  wenn  auch  zumeist  nicht  im  gleichen  Malse,  in 
solchen  Berufen  gestiegen,  deren  Thätigkeit  sich  mit  der  Bevölke- 
rung und  dem  Wohlstande  entwickelt,  jedoch  ohne  dafs  dabei  die 
Betriebsorganisation  eine  durchgreifende  Umwälzung  erfahren  hätte; 
hierher  gehören  Bäcker,  Fleischer,  Zigarrenmacher,  Barbiere, 
Uhrmacher,  Maurer,  Ciast-  und  Schankwirtschaft  u.s. w.  Auch 
ist  hier  die  Vertretung  der  Selbständigen  in  der  Regel  zurückge- 
gangen, eine  Folge  der  Konzentrationstendenz,  welche  die  Organi- 
sation der  gesamten  Volkswirtschaft  beherrsciit.  Fingehende  Be- 
lehrung hierüber  wird  die  im  IV.  Teile  zu  besprechende  Gewerbe- 
statistik bieten. 

Die  hiermit  angedeuteten  Fnlwicklungstendenzen  haben  die 
nachstehend  ersichtlich  gemachten  Veränderungen  in  der  sozialen 
Schichtung  der  Frwerbthätigen  nach  einzelnen  Berufsgruppen')  zur 
Folge  gehabt. 

(Siehe  die  nmstdieiide  Tabelle.) 
Danach  sind  1895  die  Selbständigen  am  stärksten  vertreten  in 
den  Gruppen  Bekleidung  und  Reinigung,  Handelsgewerbe,  künst- 
lerische Betriebe,  Beherbergung  und  Erquickuog  (Kleinbetriebe);  am 
geringsten  im  Bergbau  und  Huttenwesen  u. s.w.,  Industrie  der  Steine 
und  £rden,  chemische  Industrie  u.s.w.  (Grolsbetriebe).  Umgekehrt 
stehen  die  Prozentsatze  der  Abhängigen,  insbesondere  der  Arbeiter. 
Die  früber  erwähnte  Konzentrationstendenz  beherrscht  beide  Gruppen, 
jene  des  Grolsbetriebes  vielleicht  in  noch  höherem  Ma(se.  Denn 


')  Die  absoluten  Zahlen  Uber  die  Erwerbthätigcn  nach  Benifsgruppen  sind 
M»  der  Uebetiidit  auf  S.  287  tn  entnehmep. 

46» 


Digitized  by  Google 


6i8 


H.  Raacbberg, 


Von  je  lOO  Erwerbihätigen  jeder  Berufsgruppe  sind: 


Berufigriippen 

Selbständige 

Angestellte 

Arbeiter 

1895 

1S83 

i8<»5 

1882 

1895 

lSo3 

I.  LaadwirfaidMftp  Giitaerei  vad 

4*  »"5 

0.06 

0.61 

67.70 

TT      X^n  Malt  MiIwi-D-iilKaffc     amj^     tTmiifii*  ^y^S 

11«  rorscwinsciuin  lUiQ  rwcneFn 

16  27 
•"1*/ 

I9.Q0 

IA.60 

72  m 

69.13 

Iii.  ntr^Dau,  nuiicnwCvCu  cm*  • 

0  Co 

087 

Q7.00 

IV .  inuu.sinc  ucr  Di^ine  n«  X!4ildi 

6  Q2 

12  II 

Q0.7  X 

85.84 

\.  ."Mi«iii\triiri>*nuiij^          ,  , 

1  87 

0  SS 

80,69 

6S.70 

VI.    IMilNL  lUlH  II,     »>trKZmt;C  CIL, 

22. 1  I 

28.6g 

8  i<; 

»  lA 

Jt  *"» 

69.74 

68.17 

V 11«  \^iicniiscuc  inuuswic .    .    •  • 

10,20 

16 

10  IQ 

807 

7Q  61 

viu>  &dCiiciiiaHMiC|  rcnSi  vctc  • 

1 1 

12,21 

7  81 

76.^8 

7 1.8t 

I  ^ft 

4,01 

Sofie 

34»w> 

M7 

•»<*4 

09,75 

0430 

XII.  llolr-  II.  Schiutzstoffe    .    .  . 

32,02 

43i*7 

»»49 

0,50 

00,49 

55,57 

XIII.  Nahrangs-  und  OenuUmitti-l  . 

20,1  S 

33.57 

3.91 

2.30 

09,9* 

64.13 

XIV.  Bekleidung  und  Keuugimg  . 

64.75 

'.05 

0.34 

42,99 

34,91 

'  7- 3*^ 

■> 

.V/" 

^  r  tt 

•^,33 

X\  I.  Polygr.  Ucwcrbc  

II     1  '> 

^.34 

*>4,02 

03,90 

XVn.  Kluuuer  u.  kaitttl.  BetneDe  etc. 

36,46 

37,a6 

M3 

1,06 

61,11 

6t,68 

XVnL  Fabrikanten,  Fabrikubeiteretc. 

ohne  näherr  Bezeiduraof  .  . 

4,74 

0,78 

M7 

1,7« 

9«,79 

97,46 

48,00 

57,24 

",73 

9,0« 

40,27 

33,68 

XX.  Versirhffningsgewerbe   .    ,  , 

28,24 

37..';4 

65.93 

53,48 

5.83 

8,98 

XXI.  Vcrkchrsgowcrb«-  

•3.36 

16,40 

16,47 

13.00 

70,17 

70, 5  J 

XXII.  Behcrborgiing  und  Erquickung 

35.67 

5'r3« 

0,49 

0.60 

63,84 

48,09 

28,94 

32,03 

3,29 

1,90 

67,77 

66,07 

hier  trefTen  ihre  technischen  Voraussetzungen  in  höherem  MaGie  zu 
und  hier  spielen  sie  auch  die  entscheidende  Rolle. 


VI.  Die  einzelnen  sozialen  Klassen. 

Die  drei  sozialen  Klassen,  mit  welchen  die  (»sherige  Darstel- 
lung sich  beiafst  hat  —  Selbständige,  Angestellte,  Arbeiter  — ,  sind 
keineswegs  von  einheitlichem  Gefiige.  Für  die  weitere  GUectening 
der  beiden  Klassen  der  Unselbständigen  sind  durch  die  Beru&zäh- 
lung  selbst  die  nötigen  Unterlagen  gewonnen  worden;  wie,  haben 
wir  im  vorigen  Abschnitte  gesehen.')  Unter  den  Selbständigen  hat 
die  Berufszählung  bloss  die  Hausindustriellen  gesondert  auagewiesen. 

»)  Vgl.  oben  S.  606  ff. 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs»  und  Gcwerbezählimg  im  Dentscbeo  Reich  vom  14.  Juni  1895.  619 

Es  bedarf  keiner  besonderen  Darlegung,  dals  sie  nach  dieser  Aus- 
scheidung noch  Personen  von  der  verschiedensten  sozialen  Stellung 
um&Cst,  denen  nur  das  eine  Merkmal  gemeinsam  ist»  dals  sie 
eben  nicht  Arbeitnehmer  sind.  Das  triflt  fär  den  Grofsgrund' 
besitzcr  in  gleicher  Weise  zu»  wie  für  den  Zwergwirt,  för 
den  Industriemagnaten,  wie  för  den  Flickschuster,  für  den  Grols* 
händler,  wie  för  den  Krämer  oder  Hausierer.  Weitere  Difierenzie- 
rung  ist  demnach  för  die  soziale  Klasse  der  Selbständigen  nicht 
minder  dringend  geboten,  wie  för  jene  der  Abhängten.  Die  Er? 
hebung  von  1895  hat  nkht  nur  ihrer  Voigangerin  von  1882  sondern 
allen  Aufnahmen  ähnlicher  Art  gegenüber,  die  mir  überhaupt  be- 
kannt sind,  einen  erheblichen  Fortschritt  dadurch  erzielt,  dals  sie 
die  Angaben  der  landwirtschaftlichen  und  gewerblichen  Betriebs- 
zählung dazu  benutzte,  um  die  soziale  Stellung  der  selbständigen 
Erwerbthätigen  in  den  3  Berufeabtetlungen  Landwirtschaft,  Industrie, 
Handel  und  Verkehr  nach  den  Betriebsangaben  des  näheren  zu 
kennzeichnen.  Es  ist  also  die  Analyse  dieser  bunt  zusammenge- 
setzten Klasse  und  damit  auch  eine  wesentlich  vertiefte  Einsicht 
in  das  soziale  Gefüge  des  Deutschen  \'olks  überhaupt  ermöglicht.*) 
Auf  Grund  dieser  Materialien  soll  zunächst  die  soziale  Klasse 
der  Selbständigen  für  sich  untersucht  werden.  Daran  schliefst  sich 
die  weitere  Analyse  der  Klassen  der  Angestellten  und  der  Arbeiter, 
wobei  insbesondere  zwischen  gelernter  und  ungelernter  Arbeit  zu 
unterscheiden,  und  auch  die  Mitwirkung  von  Familienangehörigen 
zu  berücksichtigen  sein  wird.  Eine  Sonderstellung  nehmen  die 
Hausindustriellen  ihm!  die  Hausierer  insofern  ein,  als  diese  durch 
die  eigentümliche  Hetiicbsform  auch  in  sozialer  Hinsicht  charakteri- 
siert werden.  Hierauf  soll  in  besonderen  Abschnitten  näher  einge- 
gangen werden.  Ebenso  finden  die  häuslichen  Dienst bnten  als  eine 
eigene  soziale  Klasse,  deren  Verbreitung  zugleich  für  die  Dienst- 
geber höchst  bezeichnend  ist,  Herücksichtigiuig.  Dann  ist  aueh  die 
Verteilung  der  nicht  crwerlx  tiden  I'"aniilienangeli<'irigen  nach  lurufs- 
zwcigen  und  sozialen  Schichten  zu  untersuchen.  Aus  der  Zusammen- 
fassung aller  dieser  Klerrienle  ergicbt  -icli  schliefslich  die  Uebersicht 
über  die  soziale  (iliederung  der  gesamten  Bevölkerung,  soweit  die 
Berufsstatistik  hierüber  überhaupt  Aufschlufs  zu  gewähren  vermag. 
Damit  ist  der  Weg  für  unsere  weiteren  Untersuchungen  vorgezeichnet. 

't  V>;1.  (»rorg  Welker,  Die  Hauptberuf licli  Selbständigen  im  prcufsischcn 
Staate  mit  ilireti  niittmerbenflen  und  nichti  rwerbentlcö  Angcburigell.  ZciUcürift  dt» 
klg.  preuls.  btamtischen  ÜUrcüiu.    1898,  S.  l  ff. 


Digitized  by  Google 


6ao 


H.  Rauchberg, 


I.   Di«  selbständ  iprn  Erwcrbthäti  gr  n. 

Die  weitere  soziale  DifTcrenzicrung  der  sclbständi^'cn  Erwerb- 
thatigen  ist  (iurcli  die  licschaflenheit  des  hierfür  verwendeten  be- 
triebsstatistischen  Materials  in  formaler  Hinsicht  bedin^^.  Al>  An- 
haltspunkte für  die  Gruppenbilduncr  lieferte  die  landwirtschaftliche 
Betriebszählung  die  ( Irürsenverhältnisse  der-  Hetriebsflachen.  die  Gc- 
werbezählung  die  PersoMcn/ahl  der  Iktricbe.')  Ausge>rhli)>scn  von 
der  Kla.Nsiti/ic!  ung  bleiben  die  Leiter  jener  öffentlichen  Bctnelu-,  nut 
welche  die  Gewerbestatistik  sich  nicht  erstreckte.  Eine  weitere 
Abweichung  von  den  sonstigen  Angaben  der  Berufsstatistik  ergiebt 
sich  dadurch,  dafs  eben  wegen  der  Kombination  mit  den  Betriebs- 
daten nunmehr  der  Wohnsitz  und  nicht  mehr  der  Aufenthalt  für 
die  nachfolgende  Darstellung  mafsgebend  sein  mu(s.  Sie  bezieht 
sich  also  auf  die  Wohnbevölkerung.  Die  dadurch  bedingten  Ab- 
weichui^en  sind  aber  ganz  unbedeutend  und  bleiben  ohne  Einfluß 
auf  das  Ergebnis.  Es  werden  in  die  geplante  Untersuchui^  einbe- 
zogen: in  der  Beru&abteilung  I^ndwirtschaft  2562959  Personen, 
in  der  Industrie  2048940,  im  Handel  und  Verkehr  822  504,  im 
ganzen  5434463  von  den  5474046  Selbständigen  der  drei  Berufe» 
abteilungen  A — C.  Post*  und  Telegraphenbetrieb,  sowie  Eisenbahnen 
mit  Ausnahme  der  Stralsenbahnen  bleiben  dabei  als  ganz  über* 
wiegend  öffentliche  Betriebe  ausgeschlossen. 

Die  Selbständigen  der  Berufsart  Landwirtschaft  (A  la) 
werden  je  nach  der  Grrölse  der  Gesamtfläche*)  ihrer  Betriebe*)  zu 
folgenden  sozialen  Gruppen  zusammengefaßt: 


Von  je  100 


Soziale 
Klassen 

Gröfsen- 
klassen 

Bttnner 

Frauen 

zusammen 

Mannern  Frauen 

selbst. 
Landw. 

Parxellenbesitier  vcater  a  lia 

34«ao9 

177088 

5*5297 

15.96 

52.24 

70.83 

Landw.- 
schafÜ. 

3  bis  anter  5 

** 

604563 

7456s 

679127 

27,70 

23^ 

26,93 

S  »    »  >0 

•1 

SO14S2 

40059 

541  S4I 

32,98 

11,82 

21,48 

Mittel- 
stand 

«o      1.  5« 

11 

636275 

41  167 

677442 

39^15 

13,14 

36.87 

50  „    „  100 

n 

62920 

4182 

67103 

8,88 

M3 

3,66 

Grolssmndbes.  100  u.  m. 

28971 

1  918 

30889 

1.33 

0,57 

M3_ 

«uammen  . 

• 

2  182419 

338979 

2521398 

100 

100 

100 

*)  Teflbetriebe  im  Sinne  der  Gewerbestatistik  werden  hieibei  m  Gcaamtbetricben 
snsMunengefalst 

')  Hingegen  sind  in  der  landwiitsdaftliclien  Betriebsstatistik  die  Gfü6enkale> 
gorion  nicht  nacb  dem  Gesamtbetrieb  sondern  nach  der  Undwirtsdia^di  benolitcn 

Fläche  gebildet 

')  Bei  gemeinsamem  BesiU  bezw.  Betrit^b  ist  jeder  der  Inhaber  nach  der  Grofsen- 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  oad  Gewerbeiihlnng  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  ^21 


Danach  würde  auf  die  Fänellenbesitzer,  die  unbemittelte  Klasse, 
etwas  mehr  als  ein  Fünftel  aller  selbständigen  Landwirte  ent&llen; 
nahezu  vier  Fünftel  treffen  auf  die  Bauern  als  den  landwirtschaftlichen 
Mittelstand,  i»23^/o  Chrolsgrundbesitzer  als  die  vermögende 

Khase.  Wieweit  diese  Gliederung  der  selbständigen  Landwirte 
nach  sozialen  Kategorien  zutrifft,  hängt  davon  ab,  ob  die  Grrölsen- 
kategorien  ihrer  Betriebe  richtig  abgegrenzt  sind.  Es  liegt  auf  der 
Hand,  dafe  jede  derartige  mechanische  Al^^renzung  nur  ein  Not- 
behelf ist  Je  nach  der  Güte  des  Bodens,  der  Intensität  der  Kul- 
turen, der  Gunst  oder  Ungunst  der  Lage  mi^n  die  Grencen  für 
den  landwirtschaftlichen  Mittelstand  in  kleinere  Besitzstände  hinab- 
reichen oder  nach  oben  hin  verschoben  sein.  Entscheidend  sind 
die  Gutserträge ;  allein  hierauf  ist  ja  die  landwirtschaftliche  Betriebs- 
aufnahme  nicht  eingegangen.')  Jedenfalls  Gmgt  der  landwirtschaft- 
liche Mittelstand  erst  bei  Landgütern  von  solcher  Grolse  an,  dafs  sie 
den  Inhaber  und  seine  Familie  zu  ernähK  n  vermögen.  Hierfür  ist 
die  von  dem  2^hlungswerk  gezc^^e  Untergrenze  von  2  ha  Be- 
triebsfläche entschieden  zu  niedrig  gegriffen.  Dazu  kommt  noch, 
dafs  die  Bildung  der  Grölsenkategorien  für  die  Zwecke  der  land- 
wirtschaftlichen Betriebsstatistik  nach  der  landwirtschaftlich  benutzten 
Fläche,  für  die  in  Rede  stehende  soziale  Klassifikation  der  Inhaber 
aber  nach  der  Gesamtfläche  der  Betriebe  erful  ^t  ist.  Nachdem  im 
Durchschnitt  nur  etwa  drei  Viertel  der  Betriebsfläche  landwirtschaft- 
lich benutzt  werden,*)  so  erscheinen  dadurch  die  Grenzen  noch 
weiterhin  nach  unten  zu  verschoben.  Auch  die  Stufe  von  2 — 5  ha 
umfafst  jedenfalls  zum  grofsen  Teil  Parzellenbesitz,  so  dafs  die  hier- 
her gehörigen  forme!!  selbständigen  I^irulwirte  eher  zur  unbe- 
mittelten Klasse  als  zum  landwirtschaftlichen  Mittelstand  zu  rechnen 
sind.  Darauf  deutet  auch  die  Häufigkeit  des  Ncl)encrwcrbs  in 
dieser  Kategorie  liin.  Während  nämlich  im  Durchschnitte  20,Io'*,j 
aller  selbständigen  I^aiuhvirte  einen  anderweitigen  Xebenerweri) 
haben,  ist  dies  auf  der  Hctricbsstufe  bis  zu  2  ha  schon  bei  26,08, 
auf  der  Stufe  von  2 — 5  ha  nocli  bei  25,54",,  der  Fall.  Die  ge- 
ringere Ausdehnung  der  Betriebsfläche  wird  keineswegs  durch  inten- 


kategorie  der  gesamten  Fläche  eingereiht.  Daher  überragt  die  Zahl  der  Betriebs- 
Inhaber  nach  der  Berufsstalistik  die  von  der  Landwirtscbaftsstatistik  ausgewiesenen» 
ihnen  zugehurigcn  Betriebe. 

')  Vgl.  oben  S.  249  u.  250. 

*)  Im  ganzen  74,08  Proz.,  Landwirtsduiftsband  S,  22* 


622 


H.  Raochberg, 


sivere  Kultur  und  höhere  Bodenerträge  aufgewogen.  Denn  nach 
den  preufsischen  Materialien beträgt  der  durchschnittliche  Grund* 
Steuerreinertrag  bei  den  selbständigen  Besitzungen  in  den  Klassen 
der  Grundsteuerreinerträge: 

TOB    10—30  Thlr.  5,6  Mark 

«     30—50    ti  9iO  M 

II  50 — I»  Hi3  w 

„  100—500  „  IS.7  II 

„  soo— aooo,,  16^3  „ 
„  aooo  Thlr.  and  darüber    14,0  „ 

dmchichiiittlich  .   13,6  Mark. 

Auch  sind  die  Verschuldungsverhältnisse  ntit  zu  berücksichtigen. 
Es  ist  ja  richtig,  dals  sie  bei  der  Klassenbildung  im  allgemeinen 
nicht  in  Anschlag  gebracht  werden  sollten,  selbst  wenn  dies  nach 
der  Lage  der  Materialien  anginge.  Denn  der  Besitz,  nicht  die  Bi' 
lanz  ist  maßgebend  für  die  soziale  Position.  Aber  das  gilt  doch 
nur  für  die  besser  Gestellten,  nicht  fUr  die  Grrenzschichte  zwischen 
Proletariat  und  Mittelstand,  um  die  es  sich  hier  handelt  Für  die 
Frage,  ob  ein  kleiner  Landwirt  zu  der  einen  oder  anderen  Klasse 
zu  rechnen  sei,  ist  die  Verschuldung  gewifs  nicht  gleichgültig.  Und 
wenn  nun  Zweifel  darüber  bestehen,  wie  die  Bewirtschafter  von 
2—5  ha  Fläche  nach  den  agrartechnischen  Momenten  sozial  zu 
klassifizieren  seien,  so  dürften  die  eben  angeführten  Erwägungen  es 
eher  rechtfertigen,  sie  der  unbemittelten  Klasse  zuzuzählen.  Auch 
die  preufsische  amtliche  Statistik  hat  bisher  5  ha  als  die  Unter* 
grenze  für  bäuerliche  Wirtschaften  angenommen,*)  und  es  besteht 
keine  Veranlassung,  dieselbe  tiefer  hinab  zu  rücken.*)   Halten  wir 

'  Gnindi-i|^<  ntum  und  GebHude  im  preufsischen  Staate  auf  Grund  der  Mate- 
rialien der  (}cbäudesteuerrevision  vom  Jahre  1893.  Preuis.  Statistik.  146.  Band^ 
S.  LXXXIi. 

*)  Sutistisches  Handbuch  für  don  preufs.  Staat.    9.  Bd.    Berlto  S.  192. 

*)  Conrad  tnüat  in  dem  Artlkd  Bnurrngut  and  Bauernstand  im  Haadvöiterr 
buch  der  StaatswiBcnich.  3.  Anfl.  das  Bedenken,  dals  mdir  th  der  flinfte  TeQ  d« 
Anwesen  mit  2 — 5  ha  spannflUiig  sei.  Das  wird  dnrdi  die  landwiitsdiafUidie  Be- 
rufwihlnng  bestttigt,  indem  21,8  Prosent  der  Betridie  jener  Kategorie  Pferde  oder 
Ochsen  zur  Ackerarbeit  halteiL  Es  sind  dies  aber  hauptsächlich  die  gröfscren  Be- 
triebe. Denn  c«;  hielten  Pferde  oder  (^rlisf-n  und  zwar  überhaupt,  nicht  nur  zur 
Ackerarbeit,  von  il- n  44S  333  Hetriebr-ii  mit  2 — 3  lia  Il,l6  Pro/..,  in  den  323S85 
Betrieben  mit  3  —  4  lia  18.20  I'roz.  und  von  den  244  1 00  Betrieben  mit  4 — 5  ha 
20,41  Proz.     Handelt  es  sich  um  die  <>oziale  Kias&itizierung  der  Gcstamtgruppe  von 


üigiiized  by  Goo* 


Die  Beruf»-  imd  Gewcrbezählung  im  Deuiscbcn  Reich  vom  14.  Juni  1895.  ^23 

dafan  fest,  so  entfallen  auf  den  Parzellenbesitz  oder  die  unbe* 
mittelte  Klasse  47,76  "  q  aller  selbständigen  Landwirte,  also  nahezu 
die  Hälfte  derselben. 

Will  man  aber  nicht  so  weit  gehen,  so  ist  doch  jedenfalb  die 
Urtteiigrenze  für  den  landwirtschaftUdien  Mittelstand  bei  3  ha  rich- 
tiger gezogen  als  bei  2  ha.^)  Dann  scheidet  nahezu  die  Hälfte  der 
hierhergezähhen  Landwirte  aus  der  Gröfsenkategorie  von  5 — 10  ha 
aus.*)  Etwas  mehr  als  der  dritte  Teil  aller  selbständigen  Landwirte 
ist  dann  noch  immer  der  unbemittelten  Klasse  zuzuzählen,  nicht  ganz 
zwei  Drittel  ent&Uen  auf  den  Bauernstand,  während  der  Grofsgrund- 
besitz  mit  etwas  mehr  als  i  %  von  dieser  Verschiebung  unberührt 
bleibt  Auch  die  Grenze  von  100  ha  ist  natürlich  nur  eine  ganz 
beiläufige,  aber  hier  sind  die  Abweichungen  von  minderem  Belang, 
weil  sie  eine  vergleichsweise  nur  geringe  Anzahl  von  Landwirten 
betreffen. 

Bemerkenswert  ist  die  verschiedene  Verteilung  der  beiden  Ge- 
schlechter auf  die  hier  untersdiiedenen  Klassen  der  Selbständ^n. 
Von  den  weiblichen  selbständigen  Landwirten  trifft  mehr  als  die 

Hälfte  auf  den  Parzellenbesitz,  von  den  männlichen  nur  etwa  der 
fünfte  Teil.  Mehr  als  ein  Drittel  der  Angehörigen  dieser  Klasse  ist 
weiblichen  Geschlechts;  in  der  nächsten  Klasse  —  von  2 — 5  ha  — 
sind  es  nur  noch  11%,  in  den  höheren  Klassen  6 — 7%,  während 
im  Durchschnitt  13,44%  cl^r  selbständigen  Landwirte  dem  weib- 

a — 5  ha,  so  tritt  die  Spauifahigkett  doch  noch  immer  so  sehr  in  den  Hiittcrgnuid, 
daft  maa  diese  Gruppe  eher  dem  PBneUcnbesitx  niShlca  sollte. 

*)  Die  beiden  Anloritäten  Conrad  nnd  Bnchenberger,  nif  welche  der 
Laadwiitschaftibuid  des  Slblangnrerket  sidi  beraft,  sind  gv  nicht  ftr  die  Ab> 

greazung  bei  2  ha.  Conrad'^agt  a.a.O.'.  „Sicher  wäre  es  richtiger  erst  mit  3  ha 
ta  begimicn,  doch  hat  die  Statistik  diese  Unterscheidung  nicht  aufzuweisen."  Und 
Buch  o  n  Ii  o  r  r  mrint  <.\grarw«*srn  und  Apraqmlitik.  I.pip/.if:  1R02.  i.  1<<1.  S.  423), 
<iafs  die  ( jru|)j)o  von  2  —  5  ha  jedenlalls  zu  t  iticni  i  ril  iiocli  uii5cU>stan(li^i-,  /.ii  einem 
andern  l<il  noch  bäuerliche  Zwergbetriebe  enthalte,  so  tlal.s  die  Gren/.e  lür  mittlere 
binerliche  Betriebe  bei  5  ha  xu  ziehen  sei.  --  Selbst  die  b ad i seht-  AgrarenquSte 
UM  die  binerliciien  Betriebe  erst  von  to  Morgen  (3,6  ha)  ab  beginnen;  md  Baden 
gehört  doch  an  den  Lindem  mit  gröfster  BodenxerspUttenmg  und  intensirster  BodcBp 
kdtwl 

*)  Die  Zahl  der  Betriebe  mit  2—$  ^  landwirtschaftlich  benotzter  Fläche  bc> 
tifgt  lOmlich  im  ^anaen  1016318,  darunter  44S3J3  Betriebe  mit  2 — 3  ha,  das  ist 

fast  die  Hälfte.  Man  kann  annehmen,  dafs  unter  den  —  uns  hier  allein  interessierenden  — 
Betrieben,  die  auch  (lem  Hauptberuf  des  Inhabers  nach  der  Landwirtschaft  xugchören, 
das  gleiche  Vcrhältni:»  besteht. 


Digitized  by  Google 


624 


H.  Raachberg, 


Ikhen  Geschlecht  angehören.  Mehr  als  drd  Viertel  davon  äiul 
Witwen  im  Alter  von  40  Jahren  und  darüber.  Es  liegt  auf  der 
Handf  dals  hier  Beruf  und  soziale  Stellung  last  ausschlielslich  durch 
den  ererbten  Besitz  bedingt  sind. 

Bei  den  übrigen  Beni&arten  der  Berufeabteilung  A  Landwirt- 
schaft U.S.W.  werden  die  sozialen  Klassen  —  ebenso  wie  in  der 
Industrie  —  nach  dem  Betriebspersonal  abgestuft  Die  A11einbe> 
triebe  bilden  die  unbemittelte  Klasse,  die  Betriebe  mit  2  bis  30 
Personen  die  Mittelklasse,  die  Inhaber  der  gröfseren  Betriebe  ge- 
hören zur  vermögenden  Klasse.  Demnach  entfallen  in  den  Berufe- 
arten 

Girtnerei  und  akbt 

maf  die  landwirtschafll.  Tierzucht  Fischerei 

Personen      Prozente        Personen  Prozente 

a)  unbemittelte  Klasse       12436         4^,21  10839  6S,SS 

bl  Mittelklasse  .    .    .        13240  $0,93  4884  31,04 

cj  vermögende  Klasse  121  0,86  12  0,08 


zusammen  .    .       25797        100,00  1S735  100,00 

Ob  diese  Abgrenzung  als  zutreffend  angesehen  werden  kann, 
soll  alsbald  anläfelich  der  Grui^penbildung  auf  dem  Gebiete  der 
Industrie  erörtert  werden.  Jedenfalls  sind  die  Zahlen  hier  zu  gering- 
fiigig,  um  das  Ergebnis  für  die  Berufeabteilung  A  Landwirtschaft 
I1.S.W.  im  ganzen  zu  beeinflussen.  Ihre  soziale  Gliederung  ist  dem- 
nach die  folgende: 

L  nach  der  Beredmniig  IL  nach  meiner 

des  ZiUmigswerks  Bereduumg ') 

SelbstiiKUge  Praient        Selbsttndife  Protent 

a)  unbemittelte  Klasse        548  S95      'M*  '         888158  34,65 

b)  Blittelklasse  ...      1983942      77,38  1 643679  64,14 

c)  venaögende  Klasse  31  las       i,ai  3na»  i,ai 

zusammen  .   .      2562959     100,00  2562959  100^ 

Die  von  mir  berechnete  Besetzung  der  unbemitlellen  Klasse 
hat  nur  den  Charakter  eines  Mininialsatzes.  Läfst  man  den  hmd« 
wirtsrhafthchcD  Mittelstand,  was  nach  dem  oben  Bemerkten  \iel- 
leiclit  das  Riclitigere  wäre,  erst  bei  einer  Betriebsfläche  von  min- 

Das  heifiit  den  landwirtscliaftlkliea  Pandlenbesits  bis  sa  3  ha  geiccbnet,  in 
welchem  Falle  rund  die  H&lfle  der  Landwirte  mit  einer  BetriebsflSche  von  2—5  ha 
zu  den  Parzellenbesitzem  oder  Zwergbaaem  und  dcmnad&jnir  nnbeiuittclten  Klasse 
so  z&hlen  ist.  VgL  Ann.  a  auf  S.  623. 


Die  Berufs-  und  Gewerbezäblung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  625 

bestens  5  ha  beginnen,  so  würde  ihm,  wie  gesagt,  nur  etwa  die 
Hälfte  der  selbständigen  Landwirte  angehören  und  es  würde  bei 
der  geringen  Besetzung  der  vermögenden  Klasse  die  andere  Hälfte 
{ast  ganz  durch  die  unbemittelte  Klasse  gebildet  werden. 

In  den  Benifsabteilungen  B  Industrie  und  C  Handel  und 
Verkehr  erfolgt  die  Scheidung  der  Selbständigen  in  soziale 
Klaasea  nach  der  Zahl  der  in  ihren  Betrieben  beschäftigten  Per- 
sonen. Hierbei  sind  die  selbständigen  Gewerbetreibenden  für  eigene 
Rechnung  von  den  Ibusindustriellen  zu  trennen,  deren  soziale  Stel-  ' 
lung  ja  in  der  Regel  schon  von  vornherein  eine  andere,  wesentlich 
geringere  ist  Durch  diese  Klassifikation  soll  der  später  zu  er> 
örtemden  gewerblichen  Betriebsstatistik  keineswegs  vorgegriflfen 
werden.  Es  handelt  sich  hier  nicht  darum,  die  Betriebe  als  solche 
zu  kennzeichnen,  sondern  lediglich  die  soziale  Stellung  ihrer  Inhaber. 

Danach  können  die  Selbständigen  der  Industrie  in  folgeiide 
Klassen  eingeteilt  werden: 


Inhaber  ron 

Industrielle  SelbstSndigc 

für  eigene  Rechnung 

Betrieben 

Ittmer 

Franen 

Ittaner 

Frmnen 

zusammen 

mit 

ftbiolat 

in  Prosenten 

I  Pen. 

706930 

398650 

1035580 

51,31 

85,91 

58,74 

»-5  » 

539980 

46034 

586014 

39>» 

13.03 

6-10  „ 

62  864 

5  iia 

67  976 

4.55 

»,34 

3,86 

1 1-20  „ 

29622 

1578 

31 200 

2,15 

041 

J.77 

21  — 100  „ 

3233'' 

1028 

33  364 

2,34 

0,27 

1,89 

über   100  ,. 

8734 

«43 

8877 

0.63 

0,04 

0.50 

zu&ammcQ 

1  380  466 

382545 

1 763011 

100,00 

iuo,oo 

100,00 

Inhaber  von 

Hansindnttrielle 

Betrieben 

BOimer 

Frauen 

Bünne  r 

Frauen 

zusammen 

mit 

absolut 

in 

Prozenten 

1  Pers. 

1 12010 

1 20023 

232033 

70,69 

94,15 

81,15 

«— S  M 

43169 

6S69 

50038 

77,24 

5r39 

17,50 

5— »o  » 

2341 

457 

2798 

1,4« 

0,36 

0,98 

Uber  10  „ 

932 

138 

1060 

0,59 

o,to 

037 

sitSMumen 

158452 

127477 

285929 

100,00 

100,00 

100,00 

Der  AUeinbetrieb  überwiegt  demnach  bei  den  industriellen 
Selbständigen,  und  vollends  in  der  Hausindustrie.  Die  Gewerbe- 
arten, welche  auch  bei  Alleinbetrieb  reichlicheres  Auskommen 
bieten,  sind  eine  seltene  Ausnahme.  Man  wird  daher  mit  voller 
Beruhigung  die  Alleinmeister,  wie  wir  die  Gewerbetreibenden 
ohne   Hilfsarbeiter   im   Anschlüsse   an   das  Zählungswerk  der 


Digitized  by  Google 


626 


IL  Rauchberg, 


Kürze  halber  nennen  wollen,  der  unbemittelten  Klasse  zuzahlen 
dürfen.  Zweifelhaft  ist  dagegen»  ob  sich  die  Inhaber  der  Betriebe 
von  2—5  Personen  der  Mehrzahl  nach  darüber  erheben.  Offenbar 
hat  hier  sowohl,  als  auch  für  die  Abgrenzung  der  vermögenden 
Klasse  gegenüber  der  Mittelklasse  das  Betriebspersonal  in  verschie- 
denen Gewerben  eine  sehr  verschiedene  Bedeutung.  Der  Wert  der 
verarbeiteten  Stoffe,  die  Erhöhung  der  Leistungslahigkeit  durch 
motorische  Kräfte  und  Arbeitsmaschinen,  die  Leistungsfähigkeit  der 
Hilfepersonen,  das  Alles  kommt  hierbei  zu  berücksichtigen.  Diese* 
Momente  schwanken  aber  von  Berufezweig  zu  Berufezweig  und 
lassen  sich  nur  schwer  auf  einen  einheitlichen  Nenner  bringen. 
Immerhin  scheint  es  mir  zweifellos  zu  sein,  dafe  nicht  blofe  die 
AUeinmeister,  sondern  auch  ein  guter  Teil  der  Inhaber  von  kleinea 
.GehiUienbetrieben  mit  zu  den  Unbemittelten  gerechnet  werden  sollten. 
Insbesondere  gilt  dies  von  jenen,  die  nur  mit  einem  Gehilfen  ar- 
beiten. Es  ist  dies  die  gröfeere  Hälfte  der  Selbständigen  in  der 
Betriebskategorie  von  2 — 5  Personen.  Denn  die  Gewerbestatistik 
zahlt  549399  gewerbliche  Hauptbetriebe  mit  2  Personen  und  nur 
331327  Betriebe  mit  3 — 5  Personen.  Die  Betriebe  mit  2-5  Per- 
sonen sind  es  auch  fast  ausschliefslich,  in  denen  die  Mitwirkung  von 
Familienangehörigen  eine  bedeutende  Rolle  spielt.  Hier  wurden 
deren  gezählt  bei  586014  Gewerbetreibenden  für  eigene  Rechnung 
263  114  und  bei  50038  Hausindustriellen  43215.  Fast  die  Hälfte 
der  erstcren  und  mehr  als  vier  Fünftel  der  letzteren  arbeiten  mit 
mitlliätigen  Familienangehörigen  und  es  liegt  die  Vermutung  nahe, 
dafs  das  Personal  der  Betriebt"  mit  nicht  mehr  als  2  Personen  zum 
gröisten  Teil  .aus  solchen  besteht.  Da  nun  die  Mitwirkung  von 
Familienangehörigen,  wie  aucli  das  Zählungswerk  zugesteht,  nicht 
als  gleichwertig  mit  eigentlicher  Gehilfenarbeit  angesehen  werden 
kann,  sind  jene  Betriebe  auch  nicht  Gehilfenbetriebe  im  eigentlichen 
Sinne.  Ihre  Leistungsfäiiigkeit  und  die  soziale  Stellung  des  Inhabers 
ist  offenbar  eine  wesentiicli  geringere  und  es  entspräche  der  Sach- 
lage, diese  letzteren  noch  der  unbemittelten  Klasse  zuzuzählen. 
Nehmen  wir  auch  hier  wieder  an,  dals  die  W-rhältniszahlen  der 
Betriebsstatistik  auch  für  die  Gliederung  der  Bctrichsinhaber  ver- 
wertet werden  dürfen,  so  scheidet  die  Hälfte  der  Inhaber  von  Be- 
trieben mit  2  —  5  Personen  aus  der  Mittelklasse  aus  und  verstärkt 
die  uiibeinittelte  Klasse.  Dann  gehriren  hierher  drei  X'iertel  (75,36  "  j,) 
der  industriellen  Selbständigen  für  eigene  Rechnung  und  neun 
Zehntel  (89,90*^/0)  der  selbständigen  Hausindustriellen.    Zur  be* 


Digitized  by  Googl 


Die  Berufs-  und  Gewerbezähluog  im  Deutseben  Reich  vom  14.  Jud  1895.  62/ 

mittelten  Klasse  rechnet  das  Zahlungswerk  die  Inhaber  von  Be- 
trieben mit  mehr  als  20  Personen.  Es  sind  dies  2,39  der  selb- 
ständigen Geweibetreibenden.  Für  den  Mittelstand  erübrigen  also, 
wenn  wir  die  Hauandustrie  vorläufi^^  beiseite  lassen,  nach  der 
Berechnung  des  Zahlungswerks  38,8770»  n^li  meiner  Berechnung 
22,25  "  0. 

Bevor  wir  auf  die  Verhältnisse  der  einzelnen  Berufsgruppen 
eingehen,  mochte  ich  nur  kurz  auf  die  besondere  soziale  Gliederuog 
der  selbständigen  weiblichen  Gewerbetreibenden  aufmerksam  machen. 
Ihr  Anteil  an  der  Klasse  der  Selbständigen  steht  mit  21,70%  (in 
der  Hausindustrie  sogar  44,58  %)  erheblich  hoher  als  auf  dem  Ge- 
biete der  Landwirtschaft,  aber  sie  gehören  in  der  Industrie  noch 
viel  ausgeprägter  als  in  der  Landwirtschaft  der  untersten  sozialen 
Stufe  an.  Von  je  100  selbständigen  gewerbetreibenden  Frauen  ar- 
beiten 85,91,  in  der  Hausindustrie  sogar  94,15  allein.  Von  den 
Alleinmeistem  ist  nahezu  ein  Drittel,  in  der  Hausindustrie  sogar  die 
grolsere  Hälfte  weiblichen  Geschlechts.  Die  industrielle  Frauenarbeit 
bat  also,  selbst  wenn  sie  formell  selbständig  betrieben  wird,  ausge- 
prägt proletarischen  Charakter. 

Die  Untersuchung  nach  Gewerbegruppen  zeigt,  dafe  die  grölsere 
Hälfte  aller  Alleinmeister  für  eigene  Rechnung,  565  386  oder  54,60  \, 
der  Bekleidung  und  Reinigung  sich  widmet,  wozu  noch  9282  t  haus- 
indufltrieile  AUeinmeister,  das  sind  40  %  dieser  Kategorie,  kommen. 
In  dem  Bekleidungsgewerbe  sind  76,^4$  unter  den  Hausindustriellen 
sogar  86,35  •/©  Alleinmeister;  die  Mehrzahl  davon  —  308013  — 
sind  Frauen.  Von  selbständiger  Stellung  kann  hier  nur  im  formalen 
Sinne  die  Rede  sein.  In  Wirklichkeit  haben  wir  es  mit  Stör-  oder 
Heimarbeit,  wenn  nicht  gerade  mit  eigentlicher  Hausindustrie  zu 
thun.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  den  43335  Alleinmeistcrn  der 
TextiUnciustric,  die  für  cij^enc  Rechnung  arbeiten.  In  der  Haus- 
industrie aber  beträgt  hier  die  Zahl  der  AUeinmeister  105  572;  sie 
machen  45"/,,  aller  hausindustriellen  Alleinmeister  und  65,57  "0  aller 
selbständic,'cn  Hausindustriellen  der  Textilindustrie  aus.  Mehr  als 
lo"  „  aller  AUeinmeister  entfallen  ferner  auf  das  Baugewerbe  sowie  auf 
die  Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe.  Hingegen  zeichnen  sich 
durch  eine  relativ  starke  Vertretung  der  Inhaber  von  ji^rofseren  Be- 
trieben, also  der  bemittelten  KJasse  unter  den  Selbständigen  aus 
der  Bergbau,  die  Industrie  der  Steine  und  Erden,  die  polygraphischen 
Gewerbe,  die  Industrie  der  Leuchtstoffe  u.s.w.,  die  chemische  In- 
dustrie und  die  Textilindustrie.  Dieser  letzteren  gehört  mehr  als 


i^iyui^ud  by  Google 


628 


H.  Raucbberg, 


der  vierte  Teil  aller  Selbständigen  an,  die  Betriebe  mit  über  loo 
Personen  leiten. 

Falst  man  schlielsUch  die  Zahlen  der  selbständigen  Gewerbe- 
treibenden (iir  eigene  Rechnung  und  der  hausindustriellen  Selb- 
ständigen zusammen,  so  gelangt  man  unter  Berücksichtigung  der 
früheren  kritischen  Bemerkungen  för  die  gesamte  Industrie  zu  fol- 
gender sozialer  Gruppierung  der  Selbständigen: 

L  nach  der  Bereelmiiag  II.  luidi  ndncr 

des  Zählungswerk*  Bcreclmillig 

SflbstärKÜRe     Prozent  Selbständige  Prozent 

a)  unbemittelte  KJawe      1  267013       61,87  1585639  77,39 

b)  Mittclklass«-  .    .    .         7390S6        36.07  421060  20.55 

c)  vermögende   Klasse         42241         2,06  4-241  2.06 

zasamroen    .    .     204S940      100,00  2048940  100,00 

Für  die  Benifsabteilung  Handel  und  Verkehr^)  ergiebt  sich 
folgende  Gliederung  der  Selbständigen  nach  den  Grölsenstufen  ihrer 
Betriebe: 


Inhaber  von 

Bfiniier 

Fkmnen 

munmcn 

IHnner 

Frauen 

Betrieben  mit 

absolut 

i  n 

Prozentes 

I  Pcrs. 

304574 

149  231 

4^3805 

4S.60 

76,21 

55t  «7 

2—5  „ 

271  671 

43  165 

314^36 

43-35 

22,05 

38,28 

6-10  „ 

32026 

2432 

34  45« 

5r'  > 

•,24 

4,19 

11—20  „ 

12232 

709 

12  941 

»,95 

0,36 

»,57 

31  und  mehr  „ 

6944 

380 

6524 

0,99 

0,14 

0,79 

zimwtteD 

636747 

195817 

822  564 

100,00 

100,00 

100,00 

Auch  hier  vereinigen  die  beiden  untersten  Gröfsenstufen  mehr 
als  neun  Zehntel  aller  Selbständigen;  aber  die  Alleinbetriebe,  die 
u'-^rh  immer  die  gröfsere  Hälfte  ausmachen,  treten  doch  nicht  so 
stark  in  den  Vordergrund,  wie  bei  der  Industrie.  Von  den  Selb- 
ständigen im  Handel  und  Verkehr  sind  23,81  also  etwas  mehr 
wie  in  der  Industrie  weiblich.  Drei  Viertel  davon  treffen  auf  die 
Alleinbetriebc ,  von  deren  Inhabern  hinwiederum  fast  ein  Drittel 
—  32,88'*,,  —  weiblichen  (leschlcchts  ist;  von  den  Inhabern  der  Be- 
triebe niil  2  -5  I'ersonen  sind  es  noch  immer  13,71  und  auch  weiter- 
hin fallt  der  Anteil  der  Frauen  bei  stcig^endcm  l'mfang  der  Betriebe. 
Malsgcbcnd  für  die  jj^anze  ßerufsabteilung  sind  die  Verhältnisse  im 
Handelsgewerbe,  wo  60,77  %  Selbstäiuligen  ihr  (jeschäft  allein 
betreiben.    Die  Mittelstufen  werden  hauptsächlich  verstärkt  durch 

*)  mit  AnMcblnfs  von  Fort-,  Tel^frapbe»'  and  Eiienbahnbetncb. 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  iS95.  629 

die  Beherbergung  und  Erquickung;  58,46^/0  der  hierher  gehörigen 
Selbständigen  stehen  Betrieben  mit  2 — 5  Personeni  5,33  ^/^  derselben 
Betrieben  mit  6— 10  Personen  vor. 

Bei  der  Zusammenfassung  der  hier  unterschiedenen  Betriebs- 
kategorien zu  socialen  Klassen  sind  auch  hier  die  gleichen  Korrek- 
turen gegenüber  dem  Zahlungswerke  am  Platze  wie  bei  der  In- 
dustrie. Denn  auch  in  der  Berufsabteilung  Handel  und  Verkehr  be- 
steht die  Mehrzahl  der  vom  Zahlungswerke  zu  der  Mittelklasse  ge- 
zahlten Inhaber  von  Betrieben  mit  2  —  5  Personen  aus  solchen,  die 
nur  von  einer  Hillsperson  unterstützt  werden;  und  diese  ist  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  kein  eigentlicher  Gewerbsgehilfe,  sondern  nur 
ein  mitthätiges  Familienglied.^)  Es  wird  demnach  auch  hier  rich- 
tiger sein,  zur  unbemittelten  Klasse  nicht  nur  die  Inhaber  von 
Alleinbetrieben,  sondern  zumindest  auch  die  Hälfte  der  Inhaber 
von  Betrieben  mit  2 — 5  Personen  zu  zählen.  Als  vermögend  gelten 
die  Inhaber  von  Betrieben  mit  mehr  als  20  Personen. 

Demnach  gelangen  wir  zu  folgender  Aufstellung: 

I.  nach  der  Berecfamiiig  IL  nadi  meiner 

des  Zlhlan^nrerks  Bcrediniuig 

Sdbitlndige    Pnwent  Selbttiadige  Prasent 

a)  nnberoUtelte  Klasse      453805       55,17  606223  73,69 

b)  Mittelklasse  .   .   .      362235        44/94  209817  25,52 

c)  vermögende  Klasse         6  524         0,79  6  525  0^79 


suanmcn    .  .      822564      100,00        832564  100,00 

Stellen  wir  die  Verhältniszahlen  über  die  soziale  Gliederung 
der  Selbständigen  in  den  drei  Berufsabteilungen:  A  Landwirtschaft, 
B  Industrie  und  C  Handel  und  Verkehr  neben  einander,  so  ent- 
eilen von  je  100  Selbständigen 

I.  nadi  der  Beredmimg  IL  nach  meiner 

anf  die  des  Ziblongswerla  in  Bttedmnog  in 

ABC  ABC 

a)  unbemittelte  Klasse   21,41     61,87     S5i»7  341^5     77tJ9  73,69 

b)  Mittelklasse  .    .    .    77,38     36,07     44,04  64,14     20,55  25,52 

c)  Teimögende  Klasse     1,3 x       3,06      <^79  1,31       2,o6  0,79 

*)  Die  Betriebsstatistik  bat  in  der  Gewerbeabteilaiig  Ibndel  vnd  Verkehr  196  361 
Betriebe  mit  2  Personen  mid  160638  Betriebe  mit  3 — 5  Personen  ergeben.  Nadk 
der  Bemfsstatistik  wiricen  in  den  Betrieben  mit  2—5  Personen  204608  Familien- 
angehörige mit.  Es  ist  anzanehmen,  dafs  die  Mebnahl  derselben  in  Betrieben  mit 
2  Personen  sich  bethätigt  und  dort  die  bei  weitem  gröfsere  HftUte  des  Betriebs- 
personab  ausmacht. 


Digitizcd  by  Google 


630 


II.  Rauchberg, 


Für  die  3  Berufsabteilungen  A — C  zus3fxiiticn  gelangen  wir 
aber  zu  folgender  Aufteilung: 

I.  nach  dir  Berechnung         II.  nach  meiner 

des  Zuliluiigswerks  Berechnung 
Selb^tändige    Prozent      Selbständige  Prozent 

a)  uiil)i-min<lte  Klasse        2270013        41,1?  3080020  5<>,68 

b)  Mittelklasse   .    .    .       3  084  563        56,76         2274556  41,85 

c)  vennögende  Kkne  79S77        147  79S87  1,47 

»mmmea   .  .      5434463     100,00       5434463  100,00 

Ebenso  wie  die  Berechnung  des  Zahlungswerks  will  auch  die 
meinige  nur  als  eine  ganz  beiläufige  angesehen  werden.  Weder 
nach  der  einen  noch  nach  der  anderen  bedeuten  die  Zahlen  die 
wirkliche  Besetzung  der  unbemittelten  Klasse,  Mittelklasse  und  ver- 
mögenden Klasse.  Sie  zeigen  blofe  die  Gruppierung  der  formell 
Selbständigen  nach  dem  Betriebsumfange,  wobei  aus  gewissen 
Merkmalen  dieses  letzteren  auf  die  somle  Stellung  der  Betriebs- 
inhaber geschlossen  wird.  Dieser  Schlufs  wird  in  einer  gewissen 
Anzahl  von  Fällen  nicht  zutreffen,  wie  auch  immer  man  die  Grenzen 
ziehen  mag.  Aber  sie  sollen  doch  so  gezogen  werden,  da&  er 
wenigstens  in  der  Regel  zutrifft  Und  das,  glaube  ich,  wird  eher 
der  Fall  sein,  wenn  man  die  Selbständigen  in  Industrie,  Handel  und 
Verkehr,  die  nur  mit  einem  Gehilfen,  und  zwar  in  der  Regel  nur 
mit  einem  mithelfenden  Familicngliede  arbeiten,  nicht  der  Mittel- 
klasse, sondern  der  unbemittelten  Klasse  zuzählt.  Sie  fallen  wohl 
auch  dem  Sprachgebrauchc  nach  darunter.  Zwischen  diesen  Per- 
sonen und  den  Inhabern  von  Betrieben  mit  f^^röfserem  Personal 
besteht  ein  weiterer  Abstand,  als  gegenüber  den  AUeinmeistem. 
lieber  die  thatsächliche  Lage  und  die  Lebensverhältnisse  soll  damit 
ja  kein  Urteil  abgegeben  werden,  ebensowenig  etwa  über  die  Ent* 
Wicklungstendenz.  Denn  die  Berufszählung  von  1895  ist  die  erste, 
w^elche  eine  derartige  Gruppierung  überhaupt  zuläfstj  Vergleichs- 
punkte aus  früheren  Jahren  gicbt  es  nicht.  Wenn  ich  es  mir  gleich- 
wohl angelegen  sein  liels,  der  in  dem  Zählungswerke  enthaltenen 
Gruppierung  eine  etwas  andere  gegenüberzustellen,  die  ich  für  zu- 
treffender halte,  so  ist  dies  hauptsächlich  deswegen  geschehen,  weil 
derartige  Iirgcbnisse  häufig  ohne  jedweden  Vorbehalt  in  die  öffent- 
liche PJrörterung  hinüber  genommen  werden.  Dals  nach  den  Kr- 
gebnisseii  der  Herufszählung  die  gröfsere  Hälfte  der  Selbständigen 
—  wie  das  Zähluagswerk  behauptet  —  der  Mittelklasse  angehöre,  kann 


Die  Berufs-  und  Gewerbezahlun^  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.    53 1 


keineswegs  als  ein  feststehender  Satz  gelten.  Ich  habe  gezeigt, 
daCs  eine  geringe  und,  wie  ich  glaube,  den  thatsachlichen  Verhalt- 
nissen  besser  entsprechende  Modifikation  der  Klassenbildung  genügt, 
um  die  unbemittelte  Klasse  als  die  stärkere  hervortreten  zu  lassen. 
Weder  das  eine  noch  das  andere  Ergebnis  soll  zu  einem  populären 
Schlagwort  ausgeprägt  werden.  Das  wird  am  besten  dadurch  ver- 
hindert, dals  man  beide  Berechnungen  einander  gegenüberstellt  und 
so  den  Leser  veranlalst,  die  relative  Berechtigung  beider  Stand- 
punkte nachzuprüfen.  —  Die  VerteUung  der  mitthätigen  Familien- 
ai^diörigen  auf  die  einzelnen  socialen  Klassen  der  Selbständigen 
soU  unter  Nr.  3  dieses  Abschnitts,  die  Gliederung  der  nicht  er- 
werbenden Familienangehörigen  später  in  dem  Abschnitt  X  erörtert 
werden. 

2.   Technisches,  Aufsichts-.  Rechnungspersonal. 

Wie  aus  der  I  'cbersicht  auf  S.  618  erhellt,  sind  die  Angestellten 
am  meisten  vertreten  im  \'ersirherun'^s<:;c\verbe  (65,93  der  Erwerb- 
thätigen),  dann  im  X'erkehrsgevverbe  1 16,47  in  der  Forstwirt- 
schaft und  Fischerei  (  12,90 in  der  Industrie  der  Leuchtstoffe, 
Fette  und  Oele  ( 12,21%),  dem  Haiidelsgewerbe  (ii,73%j  uud  der 
chemischen  Industrie  (10,19",,). 

In  der  Ikrufsart  Ai  I^ndwirtschaft,  sowie  in  der  Berufsabteilun^ 
B  Imlustrie  werden  die  Angestellten  noch  weiterhin  gegliedert,  je 
nachdem  sie  dem  technischen,  Aufsichts-  oder  Rechnuiigspersonal 
angehören.    Das  Ergebnis  ist  das  folgende: 

Land w  i  r  t  >  c  Ii u  1 1  Industrie 

unter  icxx>  unter  looo 


Personen 

Erwerbthätigen 

Personen 

Enrerbthätigen 

Tedmisdies  Penonal  (Wirt- 

idiaibrtNMNnte) .  .  .  .  46208 

5»7 

49493 

6,0 

AufsichtqtenoiMl  ....  38326 

3.S 

105  120 

W,7 

Hnrhnongi"  n.  Bnremperion.  2444 

0.3 

109133 

13,2 

mumiMn  76978 

9,5 

3i>9 

3.  Die  Arbeiter. 

Die  Arbeiter  der  Berufsabteilungen  A — C,  Landwirtschaft,  In- 
dustrie ,  Mandel  und  W^rkehr,  werden  weiterliiu  uiiterschiedcn  in 
mithelfende  h'amilienangehörigc,  gelernte  und  ungelernte  Arbeiter. 
Die  methodologisch-kritischen  Bemerkungen  hierüber  habe  ich  be- 
reits im  V.  Abschnitt  S.  606  ff.  vorgebracht  Die  Besetzung  der  ge- 
nannten Arbeiterkategorien  in  den  3  Berufsabteilungen  A— C  ist: 

ArcMv  fiir  Mi.  Gcietigcbuaf  u.  SuuMk.   XIV.  4^ 


Digitized  by  Google 


633  H.  Rftuchberg, 

Auf  100 

Absolut  orwcrbthätij^r  Pcrsonrn 

Miinner      Frauen     zusammen  Männer  Frauen  Überhaupt 

mithelfende  Familien- 
angehörige .    .    .      910  641    1158944    2069585  6,48     23,88  10,94 
gdcnMc  AiMter  .   .   474S747    1272894  6031641  33,78    26,23  31,84 
ungelernte  Arbeiter  .  34« »709   i3»3ö<7  A7»SS»6  84,99 
»iMimncii    9071097  374r455  ia«i655a  64,53    77.«7  67.77 

Etwas  mehr  als  der  sehnte  Teil  der  Erwerbthätig^en  oder  i6®/q 
der  Arbeiter  in  A — C  wären  danach  mithelfende  Familien- 
angehörige. Diese  Angabe  muls  jedoch  erst  richtig  gestellt 
werden. 

Denn  p^erndc  die  im  Betriebe  des  Haushaltungsvorslandcs  mit- 
thätigcn  Familienangehörigen  sind  es,  bei  welchen  die  Feststellung 
der  Thatsachc,  ob  crwerl)cnd  oder  nicht,  gewissen  Schwierigkeiten 
begegnet.  Damit  hängt  auch  zusammen,  dals  jene  Mitwirkung  in 
zahlreichen  I-ällen  nicht  als  Haui)t-  sondern  als  Nebenberuf  einge- 
tragen worden  ist.  Insbesondere  bei  Ehefrauen  hängt  es  wohl 
mehr  vom  Zufall  ab,  ob  das  eine  oder  das  andere  geschehen  ist. 
Durch  eine  entsprechendere  Anleitung  zur  Ausfüllung  der  Haus- 
haltungsUste  wird  das  ja  für  die  Zukunft  zu  vermeiden  sein.  Für 
die  vorliegenden  I^rgehnisse  der  Erhebung  von  1895  ergiel>t  ^ich 
aber  daraus,  dafs  der  volle  Umfang  der  Familienarbeit  erst  dann 
erfafst  ist ,  wenn  auch  der  Nebenerwerb  dabei  mit  berücksichtigt 
wird.  So  verfährt  in  richtiger  Beurteilung  der  Sachlage  da^  Zah- 
lungswerk, und  (hni  wollen  auch  wir  uns,  dem  Gang  der  Dar- 
stellung in  diesem  Punkte  vorgreifend,  anschlielsen. 

Danach  beträgt  die  Anzahl  der  mithelfenden  Familien- 
angehörigen 

im  '  im 

in  den  Bemfsabteilongen  Hauptberuf  Nebenberuf  nnmuicn 

A 1  Landwirtschaft   189S867      I061419  2960346 

Aa,  3,  5,  6  sonstige  landw.  Bemfscweige   .  47^3  4^17  8999 

B  Industrie   56003  72560  128563 

C  Handel  und  Verkehr   109933        173594  283527 

im  ganzen  2069585      1311790  338137$ 

Die  Landwirtschaft  ist  das  eigentliche  (iebiet  der  Familien- 
arbeit. 87,82 „  aller  mitthätigen  Familienangehörigen  gehören 
ihr  an,  nur  3,80  der  Industrie,  8,38  dem  Handel  und  Verkehr. 
Unter  4£.locx>  Arbeitern  sind  helfende  Familienangehörige 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  GewerbezShlimg  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  633 


im  H(nq)tbenif  im  Hanpt>  and  Nebenberuf : 
in  A I  I^nd Wirtschaft .  .          348,7  43li3 

in  6  Industrie     ....  9,4  20,S 

in  C  Handel  und  Verkehr  116,6  H5i3 

Die  Zahlen  werden  also  durch  die  Einbeziehung  des  Neben- 
erwerbs wesentlich  erhöht  In  der  Industrie,  dem  Handel  und 
Verkehr  ist  die  Familienarbeit  sogar  häufiger  ab  Nebenberuf  wie 
als  Hauptberuf  eingetragen  worden.  Ganz  besonders  gilt  das  vom 
weiblichen  Geschlechte.  Es  sind  nämlich  von  je  100  helfenden 
Familienangehörigen 

in  den  Bcrulsabteilungcn      im  Hauptberuf  im  Nebenberuf 

mlmiL    weibl.  minnl.  wcibl. 

A I  Laadwirtichaft  .  .      46,43     53,58  15,49  84,5t 

B  bdnstrie                      21,48     78,52  20,81  79,18 

C  Handel  and  Veikehr      t4fil      85,99  10,5t  89,49 

Man  sieht,  wie  stark  die  Frauen  überwiegen,  und  zwar  im 
Nebenberuf  noch  mehr  als  im  Hauptberuf.  Aus  dieser  kleinen  Zu- 
sammenstellung fällt  auch  ein  Streitlicht  auf  das  Kapitel  „Frauen- 
arbeit". Es  ist  nunmehr  klar,  wie  grofsen  Einflufs  die  Art  und 
Weise  der  Erhebung  auf  die  Erjijebnisse  über  die  Retcilii,ning  der 
Frauen  am  Erwerbsleben  hat.  Je  nachdem  ihre  Bethätigung  überhaupt 
als  Erwerb  und  dann  wieder  als  Hau[>t-  oder  Nebenberuf  aufgefafst 
wird,  schwanken  auch  die  Zahlen,  ohne  dafs  der  Verschiedenheit 
der  formalen  Behandlung  durchaus  materielle  Unterschiede  ent- 
sprächen. 

Dies  wird  auch  durch  die  Untersuchung  iiacli  einzelnen  Berufs- 
gruppen und  Berufsarten  bestätii^t.  Am  meisten  sind  die  mithelfenden 
Familienaiii^a-hörit^en  in  folL^endeii  Berufsgrupjien  vertreten,  wobei 
Haupt-  und  Ncbenbcrul  zusammen  genommen  werden  : 

Prozentsatz  der 
Mitheltcndc  Fainilicnaiij;.        nutli<-lfr-ii(len  Fraiu  n  im 
absolut  auf  je  1000  Arbeiter     Hauptberuf  Nebcnberul 


Bdierbe rguQg  u.  Erquickimg 

143961 

345,3 

89,8 

89,69 

HandeUgewerbe  .... 

134928 

231,6 

84,34 

91,25 

Nahrungs»  n.  Genufsmittel  . 

63966 

94,8 

85,a9 

86,41 

Textaindostrie  

22382 

30,7 

85,89 

87,23 

Bddeidnng  n.  Rdnignng .  . 

18408 

«7,5 

85,34 

9i,a5 

Wir  sehen,  es  sind  zumeist  Berufe,  die  von  der  hauswirtschaft- 
lichen Bethätigung  abzweigen,  wie  Beherbergung  und  Erquickung, 

41* 


Digitized  by  Google 


634 


H.  Rancbberg, 


Weberei,  Schneiderei,  Wäscherei,  oder  in  welchen  den  Frauen  der 
Verkauf  der  Waren  obliegt,  wie  z.  B.  bei  der  Backerei,  Fleischerei 
oder  im  Waren»  und  Produktenhandel  Die  hier  angeführten 
5  Berufsgruppen  umfassen  nicht  weniger  als  93  7o 
Industrie,  dem  Handel  und  Verkehr  mithelfenden  Familienangehor^en, 
und  in  jeder  derselben  sind  die  Frauen  mit  mehr  als  85^,» 
an  der  Familienarbeit  beteiligt  Die  Familienarbeit  steht  gleichsam 
an  der  Schwelle  beim  Uebergang  von  der  geschlossenen  Hauswirt- 
^aft  zur  Volkswirtschaft  In  solchen  Berufen,  weldie  ausschlielslicb 
mit  hochentwickelter  Technik  betrieben  werden  oder  eigentliche 
Fachbildung  voraussetzen,  kommt  sie  fast  gar  nicht  vor. 

Wie  verteilen  sich  die  Familienangehörigen  auf  die  einzelnen 
sozialen  Klassen  der  Selbständigen,  in  deren  Betrieben  sie  mithelfen? 
Auch  darüber  enthält  das  ?^hlungswcrk  eine  Uebersicht,  welche  — 
wie  die  soziale  Klassifikation  der  Sclhständif^cn  überhaupt  —  durch 
die  Kombination  der  Berufs-  mit  den  Betriebsdaten  gewonnen  worden 
ist.  Ich  habe  schon  früher  dar^cthan, '  )  n  nriim  diese  kombinierten 
Daten  mit  jenen  der  .Berufsstatistik  zififermäisig  nicht  vollkommen 
übereinstimmen  können.  Noch  weitergehende  Abweichungen  er- 
geben sich  speziell  für  die  mitthätigen  Familienangehörigen.  Bei 
den  bisherigen  Untersuchungen  sind  nämUch  zu  dieser  Kategorie 
nur  diejenigen  gezählt  worden,  welche  in  den  Zählpapieren  mit  dem 
Beisatze  ,, hilft"  gekennzeichnet  worden  waren,  und  demnach  nicht 
als  eigentliche  Gewerbsgehilfen  oder  Dienende  anzusehen  sind.  Bei 
der  sozialen  Klassifikation  nach  den  Gröfsenkategorien  der  Betriebe 
sind  aber  auch  eigentliche  Gehilfen,  sogar  Dienstboten,  welche  mit 
dem  Betrichsinhabcr  verwandt  sind,  mit  zu  den  thätigen  Familien- 
angehörigen gczähh.  Andererseits  konnte  bei  dieser  Zurechnung 
nur  die  BctliätiuiunL;  im  llaupil)cruf  berücksichtigt  werden,  während- 
dem bisher  auch  (Hc  Nebcnberufsfälle  einbezogen  worden  situl. 
Daraus  ers^a-l)en  sich  so  er]iehli(  he  Abweichungen,  dafs  die  absoluten 
Zahlen  untereinander  nicht  \eiL;lichen  werden  können.  Auch  läfst 
sich  der  Anteil  der  Faniilienaiu'ehori<7cn  an  dem  gesamten  Betriebs- 
])ersonal  der  einzelnen  Grörsenklass«'n  nicht  bestimmen,  weil  das 
tamilientreinde  rcrsonai  nicht  in  dieser  (iliederung  nachgewiesen 
ist.  \\  ir  müssen  uns  demnach  darauf  beschränken,  die  (iliederung 
der  mitthätigen  h'amilienangeh('>riL;en  nach  Betriebsgr(>rseiiklasscn 
und  lin-  Verhältnis  zu  den  Selbständigen  in  jeder  derselben  dar- 


*j  Vgl.  S.  620. 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs*  tmd  Gewerbeilhlnof  im  Dealiehea  Reich  vom  14.  Joni  1895.  635 


lustellen.  Das  Verhältnis  zu  den  nicht  beruüsthätigen  Familien' 
angehörigen,  sowie  die  Gesamtstärke  der  einzelnen  sozialen  Klassen, 
wie  sie  sicli  aus  der  Summierun^  der  Daten  über  die  erwerbs- 
thäti^en  Selbständigen  und  ihre  Familienangehörigen  ergiebt,  sollen 
späterhin  erörtert  werden.  *) 

Die  hier  in  Betracht  zu  ziehenden  Zahlen  lasse  ich  in  der  folgen- 
den Uebersicht  zusammen: 


Betriebe 
mit 


Mitthltige  Familieo- 
«ngebdr^*) 

ia       auf  je  100 
Abioliit    Pros.  Selbatandige 


Auf  100  männl.    Aaf  100  Selbständige 


Selbständige 
treffen  mit- 

thStige 
Ehefrauen 

I.  Landwirtschaft*) 


beiderlei  Geschlechts 
kommen  mittbäügr 
andcie 


Sohne  Töchter 


Verwandte 


I.  imter  a  ha 

«34  «33 

io^3a 

44,59 

ai,7a 

",47 

»3,93 

4,79 

II.  a—  5» 

553864 

81,85 

a5,8o 

«5.3« 

«4,19 

9,37 

III.  5—  10  „ 

562914 

24.81 

103,95 

2^42 

37.95 

30,60 

13,7a 

IV.  10—  50  „ 

832005 

36,67 

122,82 

19,00 

5  «,42 

35r82 

»7.75 

V.  50 — ioo„ 

60  100 

3,0s 

102,98 

9,79 

50,15 

27,57 

16,07 

0,6s 

47,4a 

5,08 

34.32 

tn  aH 
10,40 

7,00 

a 368763 

100,00 

89,98 

at,8& 

3a,8i 

«6,48 

»»,75 

2.  Industrie  fOr  eigene 

Rechnung 

I.  .  2—    5  Pers. 

263  114 

84,87 

44,90 

8,60 

29,21 

3,02 

4,74 

n.  6—  10  „ 

39954 

9.66 

44,06 

8,43 

«7,18 

4,99 

4,«o 

HL  11—  ao  „ 

9087 

a,93 

«9.13 

a,96 

af,io 

«,«7 

«,95 

TV.  21  —  100  „ 

6759 

2,18 

20,26 

i,04 

16,  II 

1,06 

2,09 

V.  Uber  :oo  .. 

1  117 

0,36 

I2.';8 

0.29 

10,91 

0.37 

1,02 

rasanunen 

310031 

100,00 

42,62 

7,86 

«7,85 

3,05 

4,44 

3.  Hausindustrie 

• 

I.    2—  5  Peri. 

43215 

94,3« 

86,36 

.■?o.37 

.■^0.07 

20.93 

8,26 

II.    6—10  „ 

ao79 

4,54 

74,30 

16,62 

28,66 

24,48 

7,26 

Ui. .  über  IG  „ 

529 

i.«5 

49.90 

_«o,94 

19.81 

15.57 

4,91 

zusammen 

45 1>23 

100,00 

85.02 

29,29 

30,63 

21,01 

8.14 

4- 

Handel  und  Verkehr') 

I.    2 —  5  Pers, 

204608 

90.28 

64,99 

36,95 

14,01 

13,68 

5.42 

n.  6—10  „ 

16639 

7.34 

48,26 

16,67 

15,79 

»1.55 

5.43 

in.  ii~ao 

4oat 

1.77 

3«,o7 

9,61 

ia,4« 

5.>6 

4,4« 

IV.  fiberao  „ 

»375 

0,61 

21,08 

4,5a 

11,17 

a,38 

3.ax 

nsammen 

aa66^ 

lOOyOO 

61,46 

33.a6 

»4,07 

ia,98 

5,34 

>)  Vgl.  den  X.  Abschnitt. 

^  Dir  ahNolutrn  Zahlrn  xm<\  (iif  Glifdcrung  der  Selbständigen  aoi'S.  620, 625  u.  628. 

•)  Ohne  Giirtncrci,   1  i<  rzucht  und  Fischerei. 

*)  Ohne  Post-,  Telegraphen«  und  EiseidMhiÜMtrieb. 


Digitizcd  by  Google 


636  H.  Raoehberg, 

Hinsichtlich  der  Ycrhältniszahlen  ist  zu  bemerken,  dafs  bei  der 
Berechnung  der  mitthätigen  Familienangehörigen  auf  die  Zahl  der 
Selbständigen  die  allein  arbeitenden  Selbständigen  aulser  Anschlag 
geblieben  sind.  Danach  findet  Familicnarbcit  noch  immer  in  sehr 
weitem  Umfange  statt.  Auf  je  lOO  Selbständige  treffen  in  der 
Landwirtschaft  89,98,  in  der  Industrie  auf  eigene  Rechnung  42,62, 
in  der  Hausindustrie  8$,02,  im  Handel  und  Verkehr  61,46  mitthätige 
Familienangehörige.  Werden  die  Alleinmeister  mit  berücksichtigt, 
so  sinken  die  Verhältniszahlen  auf  17,58  in  der  Industrie  für  eigene 
Rechnung,  16,03  in  der  Hausindustrie  und  27,55  im  Handel  und 
Verkehr.  Was  die  Gestaltung  nach  sozialen  Klassen  anbelangt,  so 
ist  die  Rolle  der  Familicnarbeit  in  der  Landwirtschaft  eine  ganz 
andere  als  in  der  hidustrie,  dem  Handel  und  X'erkehr.  Hier  >ind 
die  kleinsten  Hetriebe  die  eigentliche  Doniäne  der  Familien.ubeit. 
F!t\va  neun  Zehntel  der  mitwirkenden  I-'amilicnaiigehörigen  entfallen 
auf  die  unterste  Stufe  der  ( ieliilfenbetriebe.  Auch  im  Verhältnisse 
zu  den  .Selbständigen  sind  sie  auf  dieser  .Stufe  am  zahlreichsten,  um 
mit  wachsendem  Iktricbsumfange  abzunehmen.  In  der  Landwirt- 
schaft tiagegen  ist  es  die  mittlere  (Tr()^^e^klasse  der  eigentlich  bäuer- 
lichen Hetriebe  von  lO — 5^  ^velche  sowohl  almilut  als  auch  im 
Verhältnisse  zu  den  Selbständigen  (lie  meisten  mitthätigen  Familien- 
angehörigen umfafst,  nämlich  mehr  als  ein  Drittel  aller  in  der  Land- 
wirtschaft thätigen  P'amilienangehörigen  und  123  auf  je  lOO  selbständige 
Landwirte.  Nach  oben  wie  nach  unten  hin  ninutu  ihre  Beteiligung 
ab.  Nach  oben  hin,  weil  der  Betrieb  immer  aussclilieislicher  durch 
fremdes  Tersonal  besorgt  wird,  nach  unten  hin,  weil  der  geringere 
Betriebsumfang  ihre  1  lilfe  entbehrlich  macht. 

Die  letzten  \ier  Spalten  unserer  Uebersicht  stellai  die  Ver- 
wandtschaftsverhältnisse der  mitthätigen  Familienangehörigen  dar. 
Ehefrauen  wirken  verhältnismäfsig  am  zahlreichsten  mit  im  Handel 
und  Verkehr  und  in  der  Hausindustrie.  Die  ZiflTera  fiir  die  Land« 
Wirtschaft  bleiben  hinter  der  Wirklichkeit  wohl  erheblich  ztirüdc 
Die  Bethätigung  der  Frauen  steht  durchaus  im  umgekehrten  Ver- 
hältnisse 2um  Betriebsumfang,  die  unterste  Stufe  der  landwirtschaft* 
-  liehen  Parzellenbetriebe  ausgenommen.  Söhne  und  Tochter  sind  am 
häufigsten  in  der  Landwirtschaft  mitthätig,  hier  wiederum  zumeist 
in  den  eigentlich  bauerlichen  Betrieben  von  lo—ioo  ha.  Während 
die  Beteiligung  der  Söhne  in  der  eigentlichen  Industrie  noch  immer 
sehr  beträchtlich  ist,  ergiebt  sich  hier  ein  starker  Ausfall  hinsichtlich 
der  Töchter.  Anders  in  der  Hausindustrie.  Am  geringsten  sind  die 


Digitized  by  Google 


Die  Bervfii»  und  Gewcrbedhlnng  im  Devtsdien  Reich  vom  14.  Jud  1895.  637 

Unterschiede  zwischen  Söhnen  und  Töchtern  hinsichtlich  der  Mit- 
wirkung im  Handel  und  Verkehr,  Im  «ganzen  aber  darf  konstatiert 
werden,  dai's  der  Familienbetrieb  noch  immer  eine  hcr\-orragende 
Stellung  iti  der  Organisation  der  deutschen  Volkswirtschaft  ein- 
nimmt Insbesondere  die  mittleren  landwirtschaftlichen  und  die 
kleinen  Gewerbe-  und  Handelsbetriebe,  sowie  die  Hausindustrie  finden 
darin  einen  starken  Rückhalt  im  harten  Kampfe  ums  Dasein. 

Die  Berufsart  der  Landwirtschaft  ist  die  einzige,  für  welche 
die  Mitwirkung  von  Familienangehörigen  schon  bei  der  Beruüs- 
Zahlung  von  1882  ausgewiesen  worden  ist.  hi  diesem  Punkte,  so- 
wie hinsichtlich  der  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Knechte  und  Mägde, 
können  also  die  Ergebnisse  der  beiden  Erhebungen  von  1882  und  1895 
mit  einander  verglichen  werden.  Hingegen  ergiebt  sich,  wie  bereits 
früher  erwähnt,'»  eine  unüberwindliche  .Schwierigkeit  hinsichtlich 
der  landwirtschaftlichen  Taglöhncr  mit  Land,  indem  dieselben  1882 
durchaus  abgesondert  waren  aus^rcwiesen  worclen,  1895  aber  nur 
sofern  sie  nicht  ihrem  Hauptberuf  nach  als  selbständige  Landwirte  ein- 
getragen waren.  Diese  letzteren  werden  1895  unter  den  Selbständigen 
ausgewiesen,  so  dals  die  Position  „landwirtschaftliche  Taglöhner  mit 
Land"  nunmehr  crhehlich  schwächer  besetzt  erscheint.  Trotz  dieser 
Abweichung  vergleiche  ich  in  der  nachstehenden  Uebersicht  die 
Details  der  sozialen  Schichtung  in  der  Landwirlschaft  nach  den 
Aufnahmen  von  1882  und  1895  tniteitiandcr,  nicht  nur  um  die  Rolle 
der  Familienarbcit  zu  beurteilen,  sundern  auch  um  hinsichtlich  der 
anderen  Gehilfen  (lie  Unterscheidung  zwischen  Lielernler  und  un- 
gelernter Arbeit  durchführen  zu  können,  wovon  alsbald  die  Rede 
sein  soll.  Diese  Unterscheidung  trifft  ja  eigentlich  nur  für  hidustrie, 
Handel  und  X'erkehr  zu.  Um  sie  auch  auf  die  Landwirtschaft  aus- 
dehnen zu  können,  soll  die  Arbeit  der  landwirtschaftlichen  Knechte 
ünd  Mägde  als  gelernt,  die  Arbeit  der  Taglöhner  mit  und  ohne 
Land  als  ungelernt  gelten. 

Die  grundlegenden  Zahlen  sind  in  der  nachstehenden  Ueber- 
sicht enthalten. 

(Siehe  die  nmsteheade  TftbeDe.) 

Bei  der  Vergleichung  der  Ergebnisse  von  1882  und  1895  fällt 
zunächst  die  starke  Zunahme  der  Selbständigen  und  Angestellten 
auf.  Die  erstere  beträgt  270008  Personen  oder  12  Prozent  und  ist 
zum  Teil  wenigstens  sicherUch  auf  die  geänderte  Behandlung  der 


»)  Vgl.  S.  610. 


Digitizcd  by  Google 


I 


H.  Ravehb«rg, 

Auf 

die  nebenb«zeiclmetea 
Absolute  Zahlen')  Bewftsidlimg»  «nt- 

Berufsstcllung  Erwerbsthätige  im  Haaptberuf    üUea  von  je  looo  (in 

miiinlich    weiblich  iDammcii     ^  >)  crw«ri»tbltieen 


I.  nach  der  Zihlnng  von  1895 


a    Selbsttndige  .   .  . 

3177778 

344761 

>5«S539 

409,7 

196,3 

3x3.5 

b   Angestellte    .   .  . 

58931 

18057 

76978 

11,1 

6,6 

9.5 

ci  HittliStise  Familien. 

anfjehiirige  .    .  , 

881488 

1017379 

1898867 

165,8 

37>i6 

336,0 

C  a  Landw.  Knechte  a. 

Mägdr  .... 

1 06S096 

650789 

1718885 

201,0 

238,4 

«»3.7 

c  3  Landw.  Taglöhncr 

mit  Land    .    .  . 

3«5399 

07473 

3S2S72 

59.3 

24.7 

47.6 

«4  Landw.  Taglöhncr 

ohne  Land  .  .  . 

S13543 

631  757 

»445300 

153.1 

331*4 

»79.7 

Mtawipen 

a73oai6 

8045441 

1000,0 

1000,0 

1000,0 

2.  nach  der  Ziblnng  von 

i88a 

a    Selbstindige  .    .  . 

1976674 

275857 

2252531 

357.0 

109,2 

279,3 

b    Angestellte    .   .  . 

41590 

5*75 

47465 

7.5 

3.3 

5.9 

c  1  Mitthfttige  Familien- 

angehörige .   .  . 

101 1777 

933838 

1 93461s 

183.7 

365,3 

ca  Landw.  Knechte  n. 

Mügde  .... 

973*58 

615830 

1589088 

I7S.7 

«43.7 

»97^ 

c  3  Landw.  Taglöhncr 

mit  Land        .  . 

748240 

118253 

866493 

46,8 

»07,4 

c  4  Landw.  Taglöhner 

ohne  Land  .    .  . 

785  794 

387980 

1  373  774 

142,0 

332,8 

»70,4 

luiauuncn 

5  537333 

2526633 

8063966 

1000,0 

1000,0 

1000,0 

landwirtschaftlichen  Taglöhner  mit  Land  zurückzuführen,  deren  nun- 
mehr um  483621  weniger  ausgewiesen  werden,  als  früher.  .\ber 
9uch  die  Mitwirkung  von  Familienangehörigen  im  Landwirtschafts- 
betrieb hat  abgenommen  und  zwar  aujschliefslich  bei  den  Männern. 
Hier  ergiebt  sich  ein  Ausfall  von  130289  Köpfen,  also  von  nahezu 
13  Prozent,  welclier  nur  zum  Teil  dadurch  auf^ewof^en  wird,  dafs 
94541  weibliche  Familienan^'chörigc  neu  eingestellt  wurden,  so  dals 
die  Abnaliine  im  ganzen  35  784  oder  2  Prozent  beträgt.  Die  dadurch 

Die  ZiiTern  stinunen  mh  den  anf  S.  611  angegebenen  ans  dem  Gmnde  nklit 
tiberein,  weil  aie  sich  dort  anf  die  Benifsabteilnng  Uer  anf  die  Beniftart 
A I  Landwiftscbaft  besieben. 


Digitized  by~GöogIe 


Die  Benifs»  und  Gewevbeiililitnf  kn  ]>eiitadieii  Reich  vom  14.  Jmi  tS95.  639 

entstehenden  Lücken  sind  ausgefüllt  durch  reichlicbere  landwirt- 
schaftliche Dienst botenhaltung.  Die  Knechte  haben  um  94S38  oder 
9^7  Prozent,  die  Mägde  um  34959  oder  5,7  Prozent  zugenommen, 
woraus  sich  im  ganzen  eine  Vermehrung  um  129797  oder  8,2  Pro- 
zent ergiebt  ^)  Früher  entfielen  19,70  Prozent  der  in  Landwirtschaft 
thätigen  Personen  auf  das  Gesinde;  jetzt  sind  es  21,37  Prozent. 
Endlich  steht  der  Abnahme  der  landwirtschafüichen  Ta^döhncr  mit 
Land  eine,  wenn  auch  geringfiig^  Zunahme  der  Taglöhner  ohne 
Land  —  ae  beträgt  71  526  —  gegenüber.  Im  ^rofsen  und  ganzen 
wäre  demnach  das  Ergebnis;  Zunahme  der  selbständigen  Arbeit 
gegenüber  der  unselbständigen  der  (iesindearbeit  gegenüber  dem 
Taglohn.  Da  jedoch  die  Zahlen  über  die  Taglöhner,  wie  bereits  mehr- 
fach hervorgehoben,  nicht  vergleichbar  sind,  so  ist  das  Ergebnis  in 
letzterer  Hinsicht  mit  grofserX^orsicht  aufzunehmen.  Aber  zwei  wichtige 
und  vielleicht  unerwartete  Details,  welche  durch  die  Erhebungsweise 
nicht  berührt  werden,  stehen  fest:  Die  Familicnnrbeit  hat  auf  dem  Ge- 
biete der  Landwirtschaft,  wo  sie  die  breiteste  Wiwcndung  findet, 
etwas  abgenommen  und  ist  mehr  Sache  der  hraucii  ;^feworden. 
Die  ländliche  ( lesindchaltuii;^^  aber  ist  trotz  aller  Klai^clieder  über 
den  I  )icnstb()tcnmangel  in  Zunahme  bcL,^riffcn,  und  zwar  sind  erheb- 
lich nielir  Knechte  als  Mägde  cinf^a'stcllt  worden.  Als  ein  Synij)tom 
ungünstiger  Entwicklung  wird  man  das  nicht  bezeichnen  können. 
Sieht  man  von  den  rein  formalen  \'crscliiebuji;^'en  infolge  der  ge- 
änderten Klassifizierung  der  Taglöhner  ab,  so  findet  die  Annahme, 
als  ob  die  ländliche  Arbeitsverfassung  bisher  ernstlichen  .Schaden 
genommen  hätte,  in  den  Ergebnissen  der  Berufsstatistik  keine  Be- 
gründung. 

')  Dagegen  haben  allerdings  die  häuslichen  Dienstboten  in  der  Benifsabteilung 
Landwirtschaft  um  50216  abj^t-nommcn. 

Es  liegt  die  Annalinic  nahe,  der  .Ausfall  an  landwirtbcliaftlichcn  IlihVkriiftcn 
habe  die  zahlreichere  Bcthiitigung  der  Selbständigen  vcranlafst.  Sie  sei  notwendig 
gewesen,  am  das  Arbeitsdefizit  der  Landwirtschaft  zu  decken.  So  dürfen  aber  die 
ZaUeik  nicht  gedeutet  werden.  Die  sctbitändigc  Stellung  ist  in  enter  Linie  be- 
stimmt dnich  den  Besitz.  Indem  dieser  1895  nnch  bei  den  landwirtschaftlichen  Tag- 
löhnem  als  matsgebcnd  angenommen  wurde,  wurden  deren  Reihen  gdichtct,  jene  der 
SeflMtlndigen  aber  im  gleichen  Vbiüit  verstSvIct,  und  vmr  dnrch  ioldie,  wdche 
ihrerseits  keine  Hilfskräfte  hatten ,  daher  der  relative  Rückgang  dieser  letzteren. 
Schalten  wir  aber  (Vu-  l.unhvirtschaftlichcn  Taglöhner  mit  Land  aus,  und  legen  wir 
das  Hauptq<'wiiht  aui  <Iif  alisoluteii  Zahlen,  so  ist  kein  Rückj^'ang.  son(l<  rn  'ine 
mäfsige  \'ermrlirunf;  der  landwirtschaftlichen  Hilfskräfte  eingetreten,  am  stärksten  in 
der  entscheidenden  Kategorie  der  Knechte  und  Mägde. 


Digitized  by  Google 


640 


H.  Rancbberg, 


Die  Besprechung  der  Familienarbeit  hat  dazu  gefuhrt,  die  Ver- 
änderungen in  der  sozialen  Struktur  der  landwirtschaftlichen  Be> 
vöUcerung  überhaupt  zu  besprechen.  Dabei  ist  auch  schon  der 
nunmehr  zu  erörternde  Gesichtspunkt  aufgestellt  worden:  die 
Unterscheidung  zwischen  gelernter  und  ungelernter  Arbeit. 

Die  Arbeiter,  welche  nicht  biofs  mithelfende  Familie ncjlieder 
sind,  werden  nämlich  im  Zählungswerke  weiterhin  geschieden  in 
gelernte  und  ungelernte  Arbeiter.  Ich  liabc  schon  Ein- 
gangs des  \'.  Alischnilts  gezeigt,  wie  diese  Unterscheidung  lediglich 
auf  dem  sul)jt'kti\en  Krmcsscn  der  mit  der  Aufbereitung  der 
Materialien  befar>teii  statistisciien  Steilen  beruht.  ')  Werden  auch 
die  laiitlwirt>ehattlichcn  Hilf>kräftc  einbezogen,  so  sind  in  den  drei 
Berufsabteilungen:  Landwirtschaft,  Industrie,  Handel  und  Verkehr 
zusammen 

absolut        unter  100  Ervperbthätigen 
gclcrnic  Arbeiter    ....     6021621  31,84 
nngelerate  Arbeiter    .   .   .     4725326  24|99 

Die  Gestaltung  in  der  Landwirtschaft  ist  soeben  besprochen 
worden.  Für  die  anderen  beiden  Berufsabteilungen  aber  ist  das 
Ergebnis  das  folgende: 

gelernte  Arbeiter  «agelenite  Arbeiter 

mlniiL     wetbL   HMunmcii    miuiL     weibL  mwnunea 

B.  IiMiutrie  .  .   .  ;  5S31473  5«»45«  38519^  »59990?  447*7»  «047779 

C.  Handel  a. Verkehr^     269414  119029     388443    298378   149 131  447509 

Dem  zufolge  kommen  auf  je  100  gelernte  Arbeiter 

OBgelernte  Arbeiter 
in  minnl.     weibl.  *  xusammen 

Ai  Landwirtschaft   .    .    .      105  70      107,44  106,36 

P.     Industri«-   47.74       89,49       53- »6 

C     Handel  und  Verkehr')      216,48      127,24  1^9,13 

Unter  je  100  Erwerbthätigen  überhaupt  sind  31,84,  also  fast  der 
dritte  Teil  gelernte,  24,99,  gerade  ein  Viertel  ungelernte  Arbeiter.  Die 
überwiegende  Mehrzahl  dieser  letzteren  gehört  der  Industrie  an. 
Verhältnismälsig  treten  sie  aber  im  Handel  und  Verkehr  am  meisten 
hervor.  Schon  die  Untersuchung  der  einzelnen  Berufegruppen  lä£st 


')  VgL  die  AasfBhmngen  anf  S.  608  f. 

^  Ohne  Post*,  Tel^raphcn*  vnd  Eisenbahnbetrieb. 


Digitized  by  Google 


Die  Benifs-  nad  Gcwfrt>etfHnng  im  Dentsdicii  Reich  yom  14.  Juni  1895. 

erkennen,  wie  ausserordentlich  schwankend  das  Verhältnis  ist  Es 
wurden  gerechnet  zu  den 

01106'       md  es  entfallen  auf 
gdemten  leinten    je  loo  gdenile  Arbeiter 


Arbeitern 

ungelernte 

männl. 

zus. 

III   Hcr{,'bau,  Hüttenwesen  «"tc.  . 

253042 

287  538 

107.6 

44  SoS,S 

1 13.6 

IV'.  Industrie  der  Steine  und  Erdca 

»5550» 

297  9S9 

»79.-: 

483,2 

1 9, 1 0 

V.  Metallverarbeitung  .... 

586684 

107 125 

»4,7 

249,9 

»8,3 

VL  ft&uehinen,Werkceiige,Appante 

176969 

91692 

47Ȁ 

4*a.6 

5«iO 

Vn.  Gtemtsche  bidnstrie     .   .  . 

14936 

66884 

373*3 

2183,1 

447,8 

Vm.  Leoditstoffe,  Fette,  Oele   .  . 

4936 

27  721 

5»9,a 

1  a«3,9 

5«i,6 

380040 

317  4S3 

70,9 

9»,6 

8St5 

41  5.^5 

70  680 

109,1 

571.3 

Wi 

XI.  Lr.l-T  

86216 

30785 

29,3 

2834 

35,7 

XII.  Hol/.-  und  SchnitzstotTe  . 

361  987 

643S8 

1 3.2 

126.2 

17.8 

Xlll.  Nahrungs-  und  Gcnul^inittcl  . 

408  385 

182228 

•1  •> 

«37.3 

44,6 

XIV.  Bekleidung  und  Reinigung 

576423 

63709 

5.4 

18,7 

11,1 

706763 

392  896 

54,1 

2502,3 

5S.6 

XVI.  Polygrapbiiebe  Gewerbe    .  . 

81797 

18961 

10,0 

398.8 

23,2 

XVIL  Künitler  o.  kibutler.  Betriebe 

16340 

957 

4t5 

38,9 

5,9 

XVni.  Gewerbl.  Pen.  ohne  nSh.  Bei. 

1055 

«6743 

2199,6 

4985,0 

3534,9 

269650 

164  169 

76,9 

60,9 

XX.  Versiclicninfjsßcwerbe    .    .  . 

2S6 

1  177 

404,6 

1 066.7 

41 1,> 

20016 

1 1 3  502 

38CJ.6 

5  946,9 

391,2 

XXil.  Beherbergung  und  Erquickuug 

89491 

168  061 

81,6 

339,2 

188,5 

Die  (iestaltung  i.st  bei  den  beiden  Geschlechtern  eine  ^anz 
verscliieficne.  Für  das  männliche  Geschlecht  gilt  ini  allgcnicincn 
das  Prinzif).  dafs  jene  ikrufe,  die  übcr\vie>^'erKl  haiidwci k.sinäfsig 
organisiert  sind,  die  \'cr\vendung  \on  ungcleinlcr  Arbeit  so  ziemlich 
ausschlicfsen.  Glaser,  Klempner,  Stellmacher,  Grob-  (Huf-)  Schmiede, 
Stubenmaler,  Tischler,  Zimmerer  verwenden  auch  nicht  3  Pro- 
zent ungelernter  .Arbeiter.  Umgekehrt  Bauunternehmungen,  Torf- 
gräberei,  Rübenzuckerfebriken,  Gasanstalten,  Ziegeleien  u.  s.  w., 
welche  ganz  iibem  iegcnd  ungelernte  Arbeiter  beschäftigen.  Weib- 
liche Arbeit  gilt  in  Schneiderei  und  Näherei  fast  ausnahmslos  als 
gelernt  Außerdem  überwiegen  die  gelernten  Arbeiterinnen  in 
einigen  anderen  Berufszweigen  der  Bekleidungsindustrie  und  in  der 
Textilindustrie.  Im  übrigen  wurden  die  den  Frauen  zugewiesenen 
Verrichtungen  zumeist  als  solche  angesehen,  die  eine  besondere 
Vorbildung  nicht  erfordern. 


Digitized  by  Google 


643 


H.  Ravchberg, 


Ich  schliefse  diese  Erörterung  mit  einer  gewissen  Enttäuschung, 
Nach  meiner  Empfindung  ist  für  die  Kenntnis  der  Rolle  gelernter 
und  ungelernter  Arbeit  in  unserem  Erwerbsleben  nicht  viei  mehr 
dabei  herausgekommen,  als  wir  schon  von  vornherein  gewufst  haben 
oder  annehmen  konnten,  l  nd  wenn  man  sich  an  meine  früheren 
kritischen  Bemerkungen  auf  S.  608  f.  erinnert,  so  wird  man  sich  dar- 
über kaum  wundern  können.  Denn  auch  das  Verfahren,  wodurch 
man  zu  den  besprochenen  Daten  {:jelangt  ist,  war  vöW'i^  aprioristisch. 
Von  vornherein  wurde  festgestellt,  welche  Berufsbenennungen  als 
gelernt,  welche  als  ungelernt  gelten  sollen,  ohne  dafs  die  betreti'cnden 
Personen  darüber  befragt  worden  wären.  Sämtliche  Näherinnen 
haben  z.  K.  von  der  Statistik  den  Lehrbrief  criialtcii,  sämtlichen 
Arbeitern  in  (iasanstalten  ist  er  abgesprochen  worden.  Was  auf 
diese  Weise  znstande  gebracht  wurde,  ist  nicht  eine  Statistik  der 
gelernten  und  ungelernten  Arbeiter,  sondern  eine  Klassifizierung  der 
Berufsbenennungen  danach,  ob  Vorbildung  hierfür  \ orau<;gesetzt 
wird  odei  nicht.  Das  ist  nicht  dasselbe.  Das  eigentliche  Problem 
ist  noch  ungelöst. 

Inwieweit  die  bisher  vorgetragenen  Daten  zu  einer  T)ar>tellung 
tler  sozialen  Schichtung  der  (resamtbevölkerung  verwendet  werden 
können,  soll  späterhin  im  XI.  Abschnitte  untersucht  werden. 

Vn.  Die  geographische  Gestaltung  der  sozialen 

Schichtung. 

Die  soziale  Schichtung  in  den  einzelnen  (isbietsab.schnittcn  des 
Deutschen  Reichs  hängt  in  erster  Linie  von  der  besonderen  tie- 
.staltung  ihrer  Berufsgliederung  ab.  '  )  Wir  wissen  bereits,  wie  \  er- 
schiedcn  die  Berufsstellung  in  den  einzelnen  IkM  ufen  ist  "1  Je  nach- 
dem tler  eine  oder  andere  Beruf  besonilers  her\ ort  rill,  giebt  er 
auch  für  die  soziale  Schichtung  des  iKtretfeiulen  (iebiets  den  .-Xus- 
schlag.  Die  besonderen  X'crhältnisse  der  ein/einen  Berufe  gleichen 
sich  dabei  oft  zu  einem  nichtssagenden  Durchschnitt  aus,  z.  B.  wo 
industrieller  Grofsbetrieb  mit  landwirtschaftlichem  Parzellenbesitz 
zusammentrifft.  Es  ist  daher  nötig,  die  soziale  Gliederung  zumindest 
der  einzelnen  Berufsabteilungen  hinsichtlich  ihrer  geographischen 
Gestaltung  gesondert  zu  untersuchen.    Ohne  kartographische  Behelfe 


*)  Vgl.  darüber  <ion  IV.  Abschnitt  S.  294  ff. 
■)  Vgl.  die  Uebersicht  auf  S.  618. 


Digitizcd  by  Ci 


Die  Bernfs»  und  Gewerbezählung  im  Deutichen  Reich  yom  14.  Juni  1895.  643 


und  ufnfiuigrdche  Tabellen  ist  dies  nur  schwer  durchführbar.  Ich 
muls  mich  daher  darauf  beschränken,  hier  einige  allgemeine  Be- 
merkungen vorzubringen. 

Was  zunächst  die  soziale  Schichtung  in  der  Landwirtschaft 
anbelangt,  so  war  ja  schon  von  vornherein  anzunehmen,  dafs  sie  in 
engem  Zusammenhang  mit  der  Verteilung  des  Grundbesitzes  und  der 
Grölse  der  Betriebe  stehe.  Kleinbesitz  und  Kleinbetrieb  verstärken 
die  Zahl  der  Selbständigen,  Grolsgnindbesitz  und  Grolabetrieb  lassen 
sie  gegen  die  Abhängigen  staric  in  den  Hintergrund  treten.  Heben 
wir  zunächst  diejenigen  Staaten,  bzw.  Landesteile  hervor,  woselbst 
die  gröfsere  H^fte  der  landwirtschaftlich  benutzten  Fläche  auf 
Grofsbetriebe  mit  mehr  als  loo  ha  entfallt,  so  sind  von  je  lOO  in 
der  Landwirtschaft  erwerbthätigen  Personen 


in 

SdbitXadlge 

Angeitdlte 

Arbeiter 

aa,96 

a,68 

74,36 

3f33 

76^a 

Mecklenborg-Schwerin  . 

16,88 

3,63 

79,49 

Mecklenbarg-Strelitz .  . 

ii,a8 

3J» 

«5*00 

Uni|^rcki"hrl  iti  den  durch  Ikxlcnzcrstiickclun^  ausgezeichneten 
Gebieten:  Von  100  in  der  l^andwirtsclialt  flrwcrbthätigen  sind 


in 

Selbständige 

AngesteUte 

Arbeiter 

0.31 

5S,«o 

0.26 

57r33 

EIsass-Lothringen     .  . 

39.69 

0,36 

59,95 

0,3» 

S5,io 

o,ti 

bingegea  im 

Reich  sdurcbscbnitt 

30,98 

1,16 

67,86 

In  kleineren  ( iebietsabscluiitten  der  letzterwähnten  (iruppe  er- 
reicht die  Zahl  der  Selbständi^^en  häufif^  jene  der  Abhän^i<:jen ;  unter 
diesen  letzteren  sind  daselbst  hinwiederum  die  Faniilicnangehörip^en 
besonders  hüufi<:j.  Ihr  Anteil  bcträjj^  in  Hohenzollern  39,91,  in 
Württemberg  3^*.72,  in  l^adcn  und  h.lsal's-Lothrinfi^cn  sos^ar  über  40"',,. 
Frühere  l'ntersuchun^^en  halu  n  bereits  erijclien,  welchen  Kinflufs  die 
Grundbcsitzxerteilun«:^  und  die  landwirtschaftlichen  Hetriebsverhält- 
nisse  auf  die  Dichtigkeit  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  und 
damit  der  Bevölkerung  überhaupt  haben.  Wir  haben  gesehen,  wie 
der  ostelbische  Grofsbetrieb  die  Entwicklung  der  Bevölkerung 
hemmt,  die  Bodenverteilung  des  Südwestens  ilire  Dichtigkeit  steigert 


Digitized  by  Google 


644 


H.  Rauchberg, 


NuD  wird  es  klar,  wie  dies  mit  der  sozialen  Schichtung  zusammen- 
hängt: hier  das  günstigste  dort  das  ungünstigste  Verhältnis  zwischen 
SeltKständigen  und  Abhängigen.  Da(s  die  spezifische  Dichtigkeit 
der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  durch  die  hohe  Zahl  der 
Selbständigen  würde  gesteigert  werden,  war  ja  von  vornherein  nicht 
anders  zu  erwarten.  Nun  zeigt  sich  aber  auch,  dafs  die  gleich» 
mäfsigcrc  Ik  sitzverteilung  des  Südwestens  nicht  nur  die  V'ertrctung 
der  Selbständi^'cn  erhöht,  sondern  auch  zu  einer  gröfscrcn  Dichtig- 
keit der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  führt.  Auf  100  ha  laodwiit» 
schaftlich  benutzter  Flache  kommen  nämlich 


Sclbstindige 

Abhingige 

im  Refehidnrchidmitte . 

7,76 

16,98 

«4,74 

3.>7 

11.14 

14.31 

4,12 

14,9*' 

19.08 

„  Mcckk-nburp-Schwcrin 

2,30 

11.43 

'3.73 

„  Mecklcnbarg-Strelitz 

1,38 

11,00 

12.38 

Igen 

in  Ifobeittolleni  .  .  . 

14,48 

17,80 

3»,»8 

„  Wflrttemberg  .  .  . 

»5,79 

»1,04 

36,83 

„  Ehafs>Lot]iriiieeii 

16,00 

23,57 

39,57 

15,16 

»»,57 

37,73 

18,96 

»9,94 

48,90 

Der  Kleinbetrieb  der  einen  L^ndergruppc  fuhrt  also  einer  Ein- 
heit der  Bodenfläche  nahezu  zweimal  soviel  Arbeiter  zu,  wie  der 
Grofsbetricb  der  anderen.  In  Verbindung  mit  dem  starken  Hervor- 
treten der  Selbständip^en  bei^ründct  dies  die  populationistische  Uebcr- 
legenlicit  des  landwirtschaftlichen  Kleinbetriebs.  Kr  hat  von  dctn 
(jrofsbetricl^  sowohl  die  j^lcichmälslLjcrc  Bcsctzun;^  der  einzelnen 
sozialen  Klassen  als  auch  die  kräftigere  Bevölkerungsentfaltung 
voraus. 

I'nii7ckehrt  ist  das  \'erhältnis  /.wischen  Hetriebsumfaiiij,  sozialer 
Schiclitun;^  und  BevölkerunLrsentfaltunL,^  in  der  Berufsabteilung  Her 
Industrie.  Hier  ist  es  der  <  nolsbetrieb,  welcher  zwar  einerseits 
die  Ziffern  der  Selbständi.-en  hcrabdnickt.  andrerseits  aber  durch 
gesteigerte  I'!rwerbs<^^elegenheit  die  gesamte  industrielle  Re\  olkerung 
erhöht.  Ich  stelle  auch  hier  wieder  die  .Staaten,  bezw.  Landesteile 
init  gegensatzlicher  Entwicklung  einander  gegenüber: 


Digitized  by  Googl 


Die  Berufs-  und  ücwcrbczählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  645 


Gebiete 
mit  schwacher 

Vertretung  der  Sdb» 
ständigen: 

Renls  iltere  Linie  . 

Westfalen  .... 
Reufs  jüngere  Linie . 
Rheinland  .... 
Stadt  Berlin    .   .  . 

Anhalt  

Schlesien  .... 

Gebiete  mit  starker 
Vertretung  der  Selb* 

«ständigen: 
I  lohciizollem  . 
Waldeck  .... 
Mecklenburg-Strelitz . 

„  Sdiwerin 
Oitprenfsen  .  .  . 
Lippe  


Von  100  in  der  Industrie 
Erwcrbthätigcn  sind 


Von  100  Gewerb- 
drittigen  treffen 

auf  Betriebe  mit 


Von  1000  Be- 
wohnen ge> 

hören  der 


Selb. 

^.  —  y  

Aa. 

SMieUlc 

Arbeiter 

Hübet  CO  Personen 

Industrie  an 

»5,91 

4,53 

79,56 

56,8 

677,0 

16,89 

3,16 

79,95 

53,3 

533,6 

17,75 

3,55 

78,70 

Sa,o 

590,7 

21,26 

3.35 

75,39 

46.4 

5  »4,7 

2  «,44 

4,15 

74,41 

30,9 

535,4 

33,12 

4,12 

73,76 

41.6 

472,2 

22,74 

3,13 

74,13 

44,6 

400,0 

44,11 

1,67 

54,22 

20.3 

201,5 

42,03 

1,76 

56,21 

5,3 

290,4 

38,53 

2,02 

59,45 

16,0 

274,3 

36,13 

a,6o 

61,27 

*57,4 

3Si99 

«,44 

61,57 

"5,9 

186,0 

34,98 

a,36 

62,66 

18,5 

467,5 

3«,5<» 

8,68 

65,8a 

ai,7 

«54,2 

«4,90 

3.18 

71,9« 

36,3 

391  ,a 

Reichsdnrchschn. 


Aehnlichen  Einflufs  äufscrt  der  Bctriebsumfang  in  der  Berufs- 
abteilung Handel  und  Verkehr.  Die  starke  Besetzunj^  der  Grofe- 
betriebe  in  den  Hansestaaten,  sowie  in  Berlin  drückt  hier  den 
Prozentsatz  der  Selbständigen  erheblich  unter  den  Reichsdurch- 
schnitt. Dieser  beträgt  36,07,  in  Lübeck  sind  aber  unter  lOO  Er- 
werbthätigen  nur  26,58,  in  Bremen  26,68,  in  Hamburg  30,53,  in 
in  Berlin  32,93  Selbständige.  Hingegen  sind  es  überwiegend  agra- 
rische  Gebirgsteüe,  in  denen  auch  Handel  und  Verkehr  in  kleineren 
Unternehmungen  betrieben  wird  und  der  Prozentsatz  der  Selbstän- 
digen jener  Berufsabteilung  verhältnismäGsig  hoch  steht 

Was  endlich  die  Veränderungen  in  der  geographischen 
Verteilung  der  einzelnen  sozialen  Klassen  seit  1882  anbelangt, 
so  wiederholen  sich  die  für  das  Reich  im  ganzen  festgestellten  Ver- 
schiebungen mit  merkwürdiger  Rcgelmäfsigkeit  in  den  einzchicii 
Staaten  und  Laiidesteilen.  1/eheralI  mit  Ausnahme  von  Baden,  Aniialt 
und  Hamburg  haben  in  der  Landwirtschaft  die  Selbständigen  zu- 
genommen, die  Abhängigen  abgenommeti.  In  tler  Industrie  hin- 
gegen nehmen  ausnahmslos  die  Selbständigen  einen  geringeren, 


646 


H.  Rauehberc, 


die  Angestellten  und  Arbeiter  einen  umso  gröfseren  Raum  in  der 
sozialen  Schichtung  ein.    Im  Handel  und  X'^erkehr  ist  die  Bewegung 

allenthalben  ^anz  die  gleiche  fjewesen  wie  in  der  Industrie,  nur 
dafs  in  Hessen,  BraviiT^chweig,  Sachsen-Koburg-Gotha,  Reufs  älterer 
Linie  und  Lippe  die  Vertretung  der  Anfjcstelltcn  um  ein  Geringes 
zurückf^t  i^angen  ist.  Dafs  diese  Entwicklung  in  allen  Teilen  des 
Deutschen  Reiches,  trotz  ihrer  gewaltigen  natürlichen,  kulturellen 
und  wirtschaftlichen  Verschiedenheiten,  die  gleiche  war,  beweist, 
wie  tief  sie  wurzelt  und  wie  umfassend  ihre  Wirkung  ist.  Nicht 
nur  das  Ausmafs,  sondern  auch  die  Allgemeinheit  der  £ew^;ung 
ists,  \v<^rauf  ihre  Bedeutung  beruht. 

Die  besondere  Gestaltung  der  sozialen  Schichtung  im  Jahre 
1895  nach  <  i  I  ü  fs  e  n  ka  t  c go r  i  c  n  de  r  VVohnplätze  ist  aus  der 
nachstehenden  Uebersicht  zu  entnehmen. 


Von  je   100  Erworbthatigrn 
Absolute  Zahlen  jeder  Ortsgrofsenklassc  sind 


Ortsgröfsenklassen 

Selbstind. 

Angcst. 

Arbeiter 

Selbständ. 

Angest. 

Arbeit« 

Grofsstädtc  .    .  . 

589  43S 

205093 

1633863 

24,»7 

8,45 

67,28 

Mittelstldte .   .  . 

388907 

IIIO44 

»185  »35 

»3.08 

6,59 

70,33 

Kleinstidte  .   .  . 

566391 

99874 

1631396 

34.65 

4i3S 

71,00 

LtndstSdte  .   .  . 

678195 

55973 

1490726 

3048 

8,5« 

67^ 

plattes  Land   .  . 

3*5«  "S 

14984s 

687533a 

31.^ 

1,46 

66,90 

Die  Verliältniszahlen  enthüllen  eine  gewisse  Rcgelmäfsigkeit. 
Je  gröfeer  die  Wohnsitze  sind,  desto  schwächer  sind  die  Selbstän- 
digen, desto  starker  die  Angestellten  vertreten,  wovon  allerdings 
die  Mittelstädte  hinsichtlich  der  Selbständigen  eine  Ausnahme 
bilden.  Die  Vertretung  der  Arbeiter  ist  in  den  Kleinstädten  die 
stärkste  und  nimmt  sowohl  mit  steigender  als  auch  mit  lallender 
£inwohnerzahl  ab,  nach  untenhin  rascher  als  nach  obenhin.  Man 
kann  demnach  sagen,  dafs  mit  den  Grölsenklassen  der  Wobnplätze 
auch  der  Betriebsumfang  zunimmt  und  die  höher  qualifizierte  Thätig- 
kdt  der  Angestellten  jener  der  eigentlichen  Arbeiter  gegenüba* 
in  den  Vordergrund  tritt  Das  fögt  sich  völlig  in  die  VoisteUung, 
dafe  mit  der  Agglomeration  der  Bevölkerung  die  Betrieboorgani- 
sationen  sich  sowohl  erweitem  als  auch  verfdnem.  Die  höhere 
Volkszahl  ist  sowohl  die  Ursache  ab  auch  die  Wirkung  gesteigerter 
wirtschaftlicher  Kultur. 

Diese  Gestaltung  ist  hauptsächlich  auf  Industrie,  Handel  und 
Verkehr  zurückzufuhren.  Denn  die  Landwirtschaft  sitzt  zu  neun 
Zehnteln  auf  dem  flachen  Lande  und  die  soziale  Schichtung  der 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  GewerbesDümig  im  Deotidica  Rddi  vom  14.  Jud  1895.  1^47 

Städte  wird  dadurch  kaum  beeinflufet.  la  den  beiden  anderen  hier 
in  Betracht  kommenden  Beruüsabteilungen  sind  aber  die  Verhält- 
nisse die  folgenden: 

Von  je  100  Erwerbtbidgen  jeder  OrtaprSfifwIrlaw»  sind 


in  der  Indastrie 

im  Handel  oad  Veilcehr 

OitBsrOlaenkluien 

Selbsttbud. 

AngesL 

Arbeiter 

Sdbitlnd. 

Angest 

Arbeiter 

OrofoOldte  .   .  . 

4,7« 

74,07 

30,65 

16,48 

5a,«7 

BBttrlitfiiltff  .   .  . 

»9,83 

4.48 

75,Ä9 

32.43 

13,79 

53,78 

Kleinstädte  .    .  . 

3.50 

75.53 

36,75 

10,00 

53,S5 

Landstädte   .    .  . 

26,54 

»,49 

70,97 

41,47 

6,85 

51,68 

plattes  Land    .  . 

31,27 

1,76 

66,97 

44,01 

4,18 

5».8» 

Der  Verlauf  der  Reihen  ist  im  Handel  und  Verkehr  rcgel- 
mälsigcr  als  in  der  Industrie.  Denn  hier  steht  der  Betriebsuitifimg 
nicht  ausnahmslos  im  direkten  Verhältnisse  zur  Einwohnerzahl,  son> 
•dern  er  bleibt  in  den  Grolsstädten  hinter  den  Mittel-  und  Klein- 
städten einigermaßen  zurück.  Das  wird  bewirkt  durch  die  besondere 
■Gestaltung  in  der  Indtistrie  der  Steine  und  Erden,  der  chemischen, 
Textil-  und  Lederindustrie,  sowie  der  künstlerischen  Gewerbe,  während 
alle  anderen  industriellen  Beruisgruppen  den  Betriebsumfang,  mit 
der  Einwohnerzahl  aufsteigend,  ununterbrochen  bis  zu  den  Grols- 
städten erweitem. 


Vm.   Die  Hausindustriellen  und  Hausierer. 

Heimarbeit  und  Hausierhandel  sind  Betriebsformen,  welche  in 
-zahlreichen  Hcru£szweigen  der  Industrie  und  des  Handels  vorkonmien. 
Als  solche  fallen  sie  eigentlich  unter  die  Gesichtspunkte  der  Be- 
triebsstatistik. Thatsächlich  werden  sie  \'on  ihr  auch  nicht  übersehen. 
Sie  gehören  aber  auch  der  Berufsstatistik  an,  nicht  nur  aus  tech- 
nischen Gründen,  weil  nämlich  jene  Betriebsformen  im  Anschlufs 
an  die  Beruüsfragen  festgestellt  worden  sind,  sondern  auch  materiell. 
Denn  sie  sind  von  entscheidendem  Einflüsse  auf  die  soziale  Stellung 
und  sollen  daher  hier  in  diesem  Zusammenhange  erörtert  werden. 

I.  Die  Hantindvstriellen. 

Die  soziale  Stellung  der  Hausindustriellen  ist  insofern  eine 
mindere  wie  die  der  anderen  Selbständigen,  zu  welchen  sie  von  der 
JBerulsstatistik  im  übrigen  gerechnet  werden,  als  sie  nicht  als 
Unternehmer  angesehen  werden  können.    Weder  steht  ihnen  die 

ArdÜT  für  les.  GeMttgcbing  a.  Statiitik  XIV.  43 


Digitized  by  Google 


648 


H.  Ranchberg, 


Leitung  der  Produktion  zu,  noch  erfolgt  sie  auf  ihre  eigene  Rech- 
nung in  Gefahr.  Der  cijT^cntlichc  Unternehmer  im  volkswirtschaft- 
lichen Sinne  ist  vielmehr  der  Verleger.  Heimarbeit  ist  nur  formell 
selbständige,  in  Wirklichkeit  aber  abhängige  Arbeit.  Diese  Zwitter- 
Stellung  hat  zu  einer  Reihe  von  schweren  Mifsständen  geführt,  welche 
die  Heimarbeit  und  ihre  gesetzliche  Regelung  gerade  jetzt  in  den 
Vordergrund  des  öffentlichen  Interesses  rücken,  Die  Aufschlüsse 
der  Berulsstatistik  über  Hausindustrie  und  Heimarbeit  kommen  daher 
sehr  gelegen.  Sie  werden  im  IV.  Teile  unserer  L'ntersuchungen  er- 
gänzt werden  durch  eine  Erörterung  der  Hausindustrie  vom  Stand- 
punkte der  Betriebsstatistik  aus. 

Die  Heimarbeit  ist  durch  die  Frage  ermittelt  worden,  ob  das 
Geschäft  vorwiegend  in  der  eigenen  Wohnung  für  ein  fremdes  Ge- 
schäft (zu  Haus  für  fremde  Rechnung)  betrieben  wird.  Ich  habe 
.schon  im  V.  Abschnitte  hervorgeholjen,  dafs  diese  Fra<^^e  nur  an 
die  Selbständigen  gcriciitct  war,  und  daher  zur  Erfassung  der  Hilfs- 
personen keinesueti^s  ausreichte.  Die  Bearbeitung  hat  gleichwohl 
die  mitwirkenden  l'anulicnangehörigen  und  tiic  sonstigen  (iehilfen  der 
Hausindustricllen  in  die  Darstellung  einbezogen,  soweit  sie  nämlich 
durch  tlie  Eintragungen  in  die  Haushaltungsliste  des  Arbeitgebers 
als  solclie  erkeruil)ar  waren.  Man  konnte  erwarten,  auf  diesem 
Wige  die  hausindustricllc  Familienarbeit  leidlich  vollständig  zu  er- 
lassen. Mögen  auch  manche  mithelfende  I'amilienangehörige  nicht 
bei  dem  ihnen  \'er\vantlten  Arbeitgeber  wohnen,  und  deninacli  niclit 
als  Hausinduslrielle  zu  erkennen  gewesen  sein,  das  \crschlägt  nichts, 
weil  die  ( ienieinsanikeit  des  Haushalts  doch  als  ein  wesentliches 
Merkmal  des  Faniilienbelriebs  anzusehen  ist.  Anders  bei  den  übrigen 
Gcliilfen  der  Hausindustriellen.  Ich  habe  schon  früher  gezeigt, 
warum  hier  auf  eine  auch  nur  annähernde  Vollständigkeit  nicht  zu 
rechnen  war.  Das  wird  durch  den  \'ergleich  mit  den  einschlägigen 
P>gebnissen  der  (lewerbezählung  bestätigt.  Zu  diesen^  Zwecke 
müssen  auch  die  Ergebnisse  ül)er  die  nebenhcrufliiiie  Ausübung  ilcr 
Hciniarlieit  mit  herangezogen  werden,  die  daiier  in  diesem  Ab- 
schnitte zu  besprechen  sind,  wogegen  in  dem  Abschnitte  über  den 
Nebenberuf  hierauf  nicht  mehr  zurückgegriffen  werden  soll.  Es 
wurden  in  der  Hausindustrie  Thätige  verzeichnet: 

'1  üntersuchuiigcn  des  Vcn-ins  für  Sozialimlitik  über  Hausindustrie  und  H<  iin- 
arbeit  in  Deutschland  und  Oesterreich,  Band  LXXXIV  bis  LXXXVll  der  Schriftcu 
des  Vereiiis  für  Soxtalpolitik. 


Die  beruf»»  und  Gewerbczäblung  im  DcuUchea  Reidi  vom  14.  Juni  1895.  549 


nach  der  Berufsstatistik 
im  im 

Hjwptberaf  Nebenbenif 


Sdbitindigc    .   .  . 

287448 

46782 

334230 

mithelfende  Famflien- 

«ngehSrige  .  .  . 

11570 

1000 1 

21571 

«OBitige  GdtOfca 

43493 

2669 

46  162 

im  gaaseii 

34«S" 

5945a 

401963 

noch  da  Geirerbe- 
Statistik,  und  swar 

auf  Grund  der  Angaben 

der  Haus- 

der  Untcfw 
nehm  er 


industriellen 
selbst 


39s  768       430  482 


139063  ^ 


60229 


4579S4  4907" 


Wir  haben  also  dreierlei  Angabeo  über  den  Umfang  der  Haus- 
industrie und  sie  stimmen  mit  einander  nicht  überein.  Die  Unter* 
schiede  zwischen  den  Zahlen  der  Gewerbestatistik  nach  den  Angaben 
der  Hausndustriellen  selbst  und  nach  den  Angaben  der  Unternehmer 
sollen  in  dem  vierten  Teile  dieser  Abhandlungen,  der  sich  mit  der  ge- 
werblidien  Betriebsaufnahme  befafst,  erörtert  werden.  Was  aber  die  Ab- 
weichungen den  Ergebnissen  der  Berufsstatistik  gegenüber  anbelangt, 
so  sehen  wir  sofort,  dafs  dio  nicht  familienan^jehörigen  Gehilfen  von 
dieser  letzteren  so  unvf)llstänclig  erfafst  worden  sind,  dafs  ich  von  der 
Benutzung  der  einschlägigen  Ergebnisse  Heber  absehe.  Aber  auch 
hinsichtlich  der  Selbständigen  hat  die  Berufsstatistilc  die  kleineren 
Zahlen  ergeben;  im  Vergleich  mit  den  Angaben  der  Unternehmer 
unbedingt,  im  Vergleich  mit  den  Angaben  der  Hausindustricllcn 
selbst  doch  für  die  selbständige  Heimarbeit  als  Hauptberuf.  Diese 
Unterschiede  sind  zunächst  aus  formalen  Momenten  zu  erklären : 
die  Angaben  der  Gewerbestatistik  beziehen  sich  auf  den  jahres- 
durrhsrhnitt,  die  Angaben  der  Berufsstatistik  auf  den  14.  Juni  1895 
als  den  Stichtag  der  l-ihclning.  Hausindustrielle  Bethätigung,  die 
nur  währeiul  (lo>  W'iiiteis  andauert,  mag  in  einer  Anzahl  von  h'ällen 
nicht  eingetragen  worden  >ein.  Die  .Angaben  der  l 'nternciimer 
entli.ilten  überdies  manche  1  )t)i){n'l/ählung,  indem  Hausindustrielle, 
tlic  tur  mehrere  X'crleger  arbeiten,  ganz  wohl  von  jedem  derselben 
zum  auswärtigen  Personal  gezählt  werden  konnten.  Aber  auch  hier- 
von abgesehen,  dürften  die  Angabrn  der  Berufsstatistik,  insbesondere 
hinsichtlich  des  Nebenerwerbs,  hinter  der  W  irklichkeit  zurückbleiben. 
Manche  hausindustrielle  Brthätigung,  die  sich  ganz  allnialilich  aus  der 
Hauswirtsrhafi  heraus  erU wickelt  und  von  ihr  nicht  völlig  losgelöst 
hat,  wtjhl  auch  der  hausindustrielle  Nebenerwerb  von  Frauen  des  Mittel- 
standes mag  verschwiegen  worden  sein.  Immerhin  darf  die  Erhebung 

4»* 


Digitized  by  Google 


Ii.  Rauchberg, 


hinsichtlich  der  Selbständigen  im  grolsen  und  ganzen  als  gelungen 
gelten.  Insbesondere  bestehen  keine  Bedenken  dagegen,  aus  dem 
Vergleich  mit  den  Ergebnissen  von  1882  auf  die  Entwicklungs- 
tendenz  zurückzuschlielsen,  da  ja  beide  Aufnahmen  den  gleichen 
Fahrlichkeiten  ausgesetzt  waren.  Auch  die  Daten  über  die  mit* 
helfenden  Familienangehörigen  dnd,  wie  bereits  erwähnt,  verwend- 
bar, wenn  man  den  Begriff  der  Familienarbeit  auf  die  Haus* 
haltungsangehörigen  einzuschränken  gewillt  ist.  Hingegen  können 
die  Zahlen  über  die  sonstigen  Grehilfen  auch  nicht  als  Näherungs- 
werte gelten.  Im  ganzen  kommt  man  so  zu  342511  Personen,  die 
ihren  Hauptberuf  hausindustriell  ausüben.  Das  sind  1,65  ^/^  aller 
Erwerbthätigen,  1,21%  der  männlichen  und  2,94%  der  weiblichen. 
Die  Frauenarbeit  spielt  nämlich  in  der  Hausindustrie  dne  viel 
grölsere  RoUe  als  sonst  In  der  gesamten  Industrie  sind  nur  18,37  \ 
der  Erwerbthätigen  weiblich,  in  der  Hausindustrie  aber  45,14*/,. 

Rechnet  man  zu  den  Erwerbthätigen  der  Hausindustrie  noch 
die  dahin  gehörigen  387047  Angehörigen  ohne  Hauptberuf  und 
3216  Dienstboten  hinzu,  so  kommt  man  zu  einem  Kreis  von  732774 
Personen,  aus  welchem  noch  die  bei  der  Erhebung  und  Beaibeitung 
übergangenen  Gehilfen  fehlen.  JedenfalU  ist  es  eine  im  Hinblidc  auf 
die  Familienentfaltun«:^  der  Heimarbeiter  sehr  zahlreiche  Bevölkerungs* 
gruppe,  welche  der  Hausindustrie  zugehört,  und  von  ihrer  Lage  auf 
das  engste  berührt  wird. 

Indessen  ist  die  Hausindustrie  in  den  einzelnen  Beru£szweigen 
höchst  ungleicbmäfsig  verbreitet.  Nach  Beru&gruppen  wird  sie 
in  der  umstehenden  Uebersicht  dargestellt: 

(Siehe  die  aebenstebeade  Tabelle.) 

Bei  weitem  nm  stärksten  besetzt  sind  demnach  die  TextU- 
industrie  und  das  Bekleidungsgewerbe.  Die  erstere  umfafst  47.07  "  „, 
das  letztere  35,69",,  aller  Hausindustriellen.  Daneben  sind  noch 
hervorzuheben  die  Industrie  der  Holz-  und  Scbnitzstoffe ,  die 
MetalKerarbeitung  und  die  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genufs- 
mittel. 

Eine  sehr  beträchtliche  Rolle  spielt  der  Nebenberuf  in  der 
Hausindustrie.  In  59452  Fällen  wurde  hausindustrielle  Bethäti«^ung 
als  Nebenerwerb  ano^prrebcn.  Fs  sind  dies  17,4  der  Haupt- 
berulsfälle,  während  Ix-i  der  Industrie  im  <:,Mnzcii  der  auf  loo  Per- 
sonen mit  I  l.-iuptbcrut  nur  7,5  Ncbenerwerbsfällc  kommen.  Haupt- 
und  Nebenberuf  zusammenj^^cnommcn,  beträ«,^t  somit  die  Anzahl  der 
Hausindustneilen  401963.   Sind  schon  an  der  hauptberuflich  aus- 


i^iyui^ud  by  Google 


IMe  Beruft-  und  GcwvbedUÜQog  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  6^1 

Hansindnttrielle     Selbttindige     Zunabne  (-f-) 
ttberhunpt  1895    Hausindttstrielle  oder 

unter  100  Abnahme  ( — ) 

•bw>lnt  Erwerbthätigen  1895       18S2        absolut      in  % 


IV.  Industrie  der 


Steine  u.  Erden 

»475 

0.49 

»857 

1983 

—  126 

-  6,35 

V.  MetuUmubcit 

10653 

1.H 

8043 

6027 

•l*  >oi6 

+  33i45 

VL  Masch.,  Werk- 

«enge,  Instnun.^ 

573» 

Appatate   .  . 

M9 

44»! 

3228 

+  »183 

+  36,65 

VII.  Chem.  Industrie 

200 

0^19 

162 

109 

+  53 

+  48,6a 

VIILForstw.  Ncbdi- 

profl.,Lcuchtst., 

I  CllV|    ^-/CIC  • 

34 

—  2.35 

JX,  Textilmdustne 

161235 

17,06 

132614 

205592 

—  72978 

—  35.50 

X.  Fupicf  ... 

1927 

2,15 

2077 

is88 

+  789 

+  61,26 

XI.  Leder  ... 

3846 

2381 

934 

+  «347 

-f  I44,M 

Xn.  HoU*n.Schnit2- 

Stoffe  .... 

22399 

3f46 

16393 

13677 

+  2716 

+  19,86 

XIII.  Isabruugs-  und 

Geim&mtttel 

1007s 

i,»S 

«744 

5758 

+  3986 

+  51.86 

XIV.  Bekleidung  und 

Reinigung  .  . 

1232S7 

8,08 

i<»93>4 

100260 

+  9054 

+  9.<^3 

XV.  Baugewerbe 

0,0a 

208 

2 

+  306 

XVI.  Polygraphische 

Gewerbe    .  . 

546 

506 

321 

+  185 

+  57,63 

XVn.  Kttnstler  und 

känstl.  Brtrirlv 

f.  gew.  Zweckf 

825 

2,91 

7. vi 

431 

-f  322 

+  74.71 

zusammen 

3425"  *) 

• 

287 3Ö9 

339  Ö44 

—  52255 

—  15.39 

geübten  Hausindustrie  die  Frauen  ungewöhnlich  stark  beteiligt,  so 
überwiegen  sie  vollends  int  hausindustriellen  Nebenerwerb:  er  wird 
von  20540  M&nnem  und  von  38912  Frauen  ausgeübt  und  zwar 
zumeist  von  Familienangehörigen  ohne  eigenen  Hauptberuf.  £s 
übten  nämlich  den  bausindustriellen  Nebenberuf  aus 

m  selbst.  Stellung  in  unselbst  Stdlnng 
ErwerfaChitige  nut  Hauptberuf  22873  >^4 

Angehörige,  Dienstboten  u.  BemMose  »3909  10046 

Von  diesen  Krwerbtliatif^en  Ljehört  hiinviecleruin  die  über- 
wiegende iMehrzahl  —  e.s  sind  ihrer  19  loi  —  dem  Hauptberufe 
nach  der  Landwirt.-^chaft  an.  Achnlich  \crhält  es  sich  wohl  auch 
mit  den  Angehörigen,  so  dafs  man  sagen  kann,  daüs  der  industrielle 


')  Einschliefslich  von  65  Hausindustriellen  in  der  Gärtnerei  (Kranzbinderei  etc.). 


653 


H.  R«nchb«rg, 


Nebenerwerb  in  der  Regel  von  der  I Landwirtschaft  aus  ausgeübt 
wird.  92",,  aller  hausindusiriclien  Nebencrwcrbsfälle  treffen  auf 
die  drei  Gruppen  Textilindustrie  13H598),  Bekleidung  und  Rei- 
nij^un^f  (  I04'>6i  und  Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe  (5732  . 
].>  Ixsteht  aber  auch  \on  der  Seite  der  Mausinduslricllcn  aus  eine 
en^e  nebenljerufliche  X'erbiiidunj^  mit  der  I^mdwirtschaft.  $S04g 
Hausindustrielle,  das  sind  16.95",,,  haben  nämlich  einen  ander- 
weitigen Nebenerwerb  und  darunter  52993  in  der  Landwirtsrhaft. 
Der  Nebenberuf  ist  aKo  liauptsächlich  für  ilie  I  lausindustriellen  des 
flachen  Landes  xon  In  lang.  ')  Die  städtischen  Hausindustrielleu 
entbehren  in  der  Rei^el  eines  derartigen  Rückhalts. 

Fol;;eiulc  Herufearten  weisen  die  stärkste  Besetzung  mit  Haus- 
industriellen  auf: 

Hausinduitr  ielle 
im  Haoptbernf 

«Wter     «if  100  »»^'-ben- 
«berilMlpt    Sclbstän-      Erwerb-  ocrni 


dige 

thätigc 

B  39  Zfuj;-  u.  Messerschmiede  .  . 

2928 

2  188 

11,07 

59 

B   54  Sonstige  Musikiusiruiucute 

2  989 

2397 

23,26 

258 

B  70  Spinnerei  n.  Spnlerei  .   ,  . 

3452 

3231 

3,01 

956 

109  6S3 

84802 

«5.«9 

33121 

B  74  Stridccrd  vu  Wirkerei  .   .  . 

31  105 

19347 

36,45 

5363 

B  75  Hikelei,  Stickerei  .... 

13704 

11934 

34^43 

318t 

IOI7I 

9804 

4081 

5082 

3674 

571 

7356 

4641 

1024 

9995 

8690 

6,81 

1549 

29758 

10,79 

269S 

B  tat  Schneider  a.  Schneiderinneo . 

4^474 

36  264 

9,36 

3 131 

B 133  Kleider- «.  Wtechekonfcklian 

11  8I4 

10383 

30,08 

1443 

3163 

21,90 

840 

33991 

19583 

5,73 

1635 

B  136  Wlccherei  n.  Flitterel .   .  . 

35»7 

3479 

3,88 

Wie  seilen  die  l'ebersicht  auf  S.  651  erkennen  lälst,  wird  die 
Hausindustrie  \^'My/  überwiegend  in  selbständiger  Stellung  ausgeübt, 
wobei  allerdings  zu  berücksichtigen  ist,  dafs  die  Hilfspersonen  der 
Heimarbeiter  nur  unvollständig  erfafst  worden  sind.    Auf  287448 


1)  AUerdings  bleibt  bei  vier  Fanfiel  dieser  Hauiiidiutriellai  die  kndwirtaehidl- 
lich  beiratxte  Fliehe  antw  l  ha.  Die  üninUnglichkrit  des  Ludwirtichiftibetriehs 
aäügt  mr  hawindustrieHen  Bethlticiiiig.  VetgL  Landwirtachalbbaiid  S.  48*. 


Digitized  by  Google 


Di«  Beni&>  und  Geweibwihlmig  im  Dentadifiii  Reicb  vom  14.  Juni  1895.  6^3 

selbständige  Hausindustriette  im  Hauptberuf  trefien  11570  mit* 
tbatige  Familienangehörige  und  43493  sonstige  Gehilfen.  Aber 
auch  diese  letzteren  stehen  zumeist  in  Familienbeziehungen  zu  ihrem 
Arbeitgeber.  Betrachtet  man  das  Verwandtschaftsverhältnis  als 
malsgebend,  so  erhöht  sich  die  Zahl  der  mitthätigen  Familien- 
angehörigen auf  45  833.  Die  hausindustrielien  Betriebe  sind  also 
ganz  überwiegend  Familienbetriebe.  Die  Mehrzahl  der  hausindu- 
striellen Selbständigen  —  233  552  —  arbeiten  allein,  53  896  aber 
mit  Gehilfen.  Auf  je  lOO  dieser  letzteren  treffen  85,02  mitthätige 
Familienangehörige,  ^)  wogegen  in  der  auf  eigene  Rechnung  be- 
triebenen Industrie  auf  lOO  Selbständige  nur  42,62  mitthätige  Fa- 
milienangehörige kommen.  In  der  für  die  Verhältnisse  der  Heim* 
arbeit  entscheidenden  Textilindustrie  erhöht  sich  deren  Prozentsatz 
sogar  auf  1 10,95,  Stärke  nach  nächststehenden  Gruppen 

der  Bekleidung  und  Reinigung,  bezw.  der  Holz-  und  Schnitzstoffe 
beträgt  er  44,31  und  89,45.  Genaueren  Finblick  in  die  familienhafte 
Struktur  der  hausindustrielien  Gehilfenbetrielse  ermöglicht  die  nach- 
stehende Uebersicht: 

Mitthitise  Familienangehörige 


auf  je  100  Selbständige 

Famüienstellmig : 

absolut 

ohne  die  Alleinmeister 

13601 

Sölme  

16511 

30.63 

II  324 

21,01 

andere  Verwandte  | 

1  männl. 
I  wcibl. 

I  801 
2586 

3,34 
4,80 

Vbeiliaapt  j 

^  wähl. 
summoM 

18312 
27  511 
sn  45823 

33,98 
85,0a 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Vergleichung  der  Ergebnisse 
Über  die  Hausindustriellen  von  1895  jenen  von  1882,  weil  sich 
daraus  die  Beantwortung  der  Frage  ergiebt,  ob  die  Heimarbeit  im 
Vordringen  oder  in  Rückbildung  begriffen  ist.  Die  Vergleichung 
ist  allerdings  nur  hinsichtlich  der  selbständ^n  Heimarbeiter  möglich, 
denn  nur  diese  wurden  bei  der  Zählung  von  1882  berücksichtigt 
Aber  bei  dem  Ueberwiegen  des  Alleinbetriebs  in  der  Hausindustrie 


')  Die  Verteilung  der  in  der  HaiLsindustrie  mitthätigen  Farailienan^'>-hnri{jen 
nach  dem  Hetriebsumfange  und  den  sozialen  Klassen  der  Betriebsinhaber  wurde 
schon  im  vorhergehenden  Abschnitte  dargestellt. 


Digitized  by  Google 


654 


H.  Ranchbcrf , 


reichen  die  ZifTem  über  die  SelbstämUgen  voHkoinmen  ans,  um  uns 
über  die  Entwicklungstendenz  aufzuklären.    Dieselben  sind  in  der 

Uebersicht  auf  S.  651  enthalten.  Danach  hat  es  den  Anschein  als 
ob  die  Heimarbeit  im  ganzen  zurüclq;if^[e.    Die  selbständigen 

Hausindustriellen  haben  um  52255  oder  15.39"'..  abgenommen. 
Allein  das  erklärt  sich  fast  ausschlieüslich  aus  der  Rückbildung  ia 
der  Textilindustrie,  wo  der  Rückgang  7207X  oder  35,50 "0  be- 
trägt. Er  wird  hauptsächlich  hervorgerufen  durch  die  hausindu- 
strielle  Weberei,  welche  im  Hauptberuf  um  43  346  Köpfe  oder  33,65  '/^ 
im  Nebenerwerb  überdies  um  1397  I^'älle  sich  vermindert  hat,  dne 
Folge  der  Konzentration  der  Textilindustrie  in  fabriksmäfsigen  Grofs- 
betrieben  Hand  in  Hand  mit  der  Verbreitung  der  mechanischen 
Webstühle.  Aber  auch  die  Spinnerei  und  Weberei  hat  um  8300, 
die  Stickerei  und  Häckelei  um  H123,  die  lileiclierei,  Färberei,  Wir- 
kerei und  Appretur  um  6365  hau{)tberuriieh  beschäflii^te  Heim- 
arbeiter ab>^feiu »nimen,  zumeist  aus  ähnlirhen  l  rsacheii.  In  den  anderen 
Berufsgruppen  hat  die  Heimarbeit  /ui^eiiominen,  am  raschesten  in 
solchen,  in  welchen  sie  bisher  nur  wenig  verwendet  worden  ist,  so 
z.  B.  in  der  rapieniuhi.strie  um  61,26  "i,,  in  der  Industrie  der  Nah- 
rungs-  und  (.tenulsmittel  um  51.86",,.  Ihr  Gebiet  ist  also  entschieden 
in  Erweiterung  begriffen.  Insbesondere  ist  hervorzuheben  die  \'er- 
mehrung  der  Heimarbeit  in  der  Schuhmacherei:  um  6720  also  fast 
50"',,,  und  im  Nebenerwerb  um  li62l''älle.  ferner  in  der  Tischlerei, 
Korbm.ichcrei,  Schuhmacherei.  Wäscherei  und  Plättcrei  u.  s.  w.  Was 
speziell  die  Schneiderei  und  die  verwandten  Berufe  anbelangt,  so 
fallt  die  aufserordentliche  Abnahme  der  hausindustriellen  Näherinnen 
auf.  Sie  sind  von  48922  auf  29758  zurückgegangen,  also  um 
191O4.  *)  Dieser  Rückgang  wird  nicht  kompensiert  durch  die  Zu- 
nahme in  der  Schneiderei,  wdcher  aHerdings  13429  beträgt,  denn 
daran  sind  die  Frauen  nur  mit  1713  beteiligt.  Die  Heimarbeit  in 
der  Kleider-  und  Wäschenkonfektion  ist  allerdings  in  rascher  Zu- 
nahme begriffen;  sie  hat  sich  seit  1882  mehr  als  verdoppelt.  5216 
Heimarbeiter  wurden  hierfiir  neu  eingestellt,  darunter  4226  weiblichei 
wozu  noch  921  neue  NebenerwerbsßUle  kommen,  wovon  91 1  weibliche» 
Aber  das  Alles  wiegt  der  Aus&ll  bei  den  hausindustriellen  Nähe- 
rinnen nicht  auf,  und  so  ist  denn  anzunehmen,  dals  nur  der  kleinere 
Teil  der  hiervon  Betroffenen  in  die  strengere  Organisation  der  Ver- 


*)  Haanndostrieile  NSherei  als  Nebenenreib  Int  dag  egco  am  556  Ftlle  M* 
goionimen:  sie  ist  von  1980  auf  2536  ga/ÜagoL 


Digitized  by  Google 


Die  Benifs«  and  Gewerfacilhlimg  im  Dtntadktn  Rdch  vom  14.  Jani  1895.  ^55 

lagsgeschäfte  einbezogen,  der  grölsere  Teil  aber  aufser  Arbeit  gesetzt 
worden  ist. 

Im  Gegensatz  zu  der  Hausindustrie  als  Hauptberuf  hat  die 
nebenberuflicli  ausgeübte  Heimarbeit  seit  1882  erheblich  zuj^enommen. 
Die  Zahl  der  Selbständigen  hierin  ist  von  32  184  auf  46775  ge- 
stiegen, hauptsacblich  wohl  deshalb,  weil  1895  der  Nebenberuf  der 
Familienangehörigen  ohne  eigenen  Hauptberuf  genauer  verzeichnet 
worden  ist. 

Die  geographische  Verbreitung  der  Hausindustrie  ist 
bedinj^'t  durch  die  Sitze  derjenigen  Berufszweige,  worin  sie 
am  iiäuligsten  ausgeübt  wird,  in  erster  Linie  also  der  Textil- 
industrie. Die  Maximn  werden  daher  erreicht  in  den  sächsischen 
Kreishauptni.innsrhafton  Zwickau  und  Bautzen,  sowie  im  Regie- 
rungsbezirk ( )l)crfrankcn  mit  87,15.  71,71  und  59,07  hausindu- 
stricllen  rcrsoncn  cinschHefsHch  der  .Angehörigen  und  Dienenden) 
auf  je  ICOO  Einwohner.  L  nd  auch  weiterhin  ist  der  Einthifs  der 
sachsischen  und  rheinischen  Textilindustrie  in  den  Prozentsätzen 
der  Heimarbeit  jener  Gebiete  zu  erkennen,  auch  in  dem  aufser- 
ordentlichen  Rückgang,  der  hierin  infolge  des  Uebergangs  zur 
mechanischen  Weberei  seit  1SS2  eingetreten  ist.  Aufserdem  sind  als 
hausindustrielle  Zentren  noch  zu  erwähnen  im  Nordwesten  der 
Bezirk  Minden  (Weberei.  Tabakfabrikation  und  Kontckunn  und 
Schaumburg-Lippe  (Weberei)  im  .Südwesten  der  Schwar/.waldkrei.s, 
der  Bezirk  Konstanz  und  Sigmaringen,  dann  Unterelsals  (Weberei) 
und  die  Pfalz  (Schuhmacherei).  W^ofern  nicht  die  Textilindustrie 
ausschlaggebend  ist,  nimmt  die  Heimarbeit  fast  allenthalben  zu. 
Nur  die  sächsische  Konfektionsuidustrie  macht  hiervon  eine  be- 
merkenswerte Ausnahme. 

Nach  Ortsgrölsenidassen  ist  die  Vertretung  der  Heimarbeit 
die  folgende:  Es  treffen  auf  je  1000  Einwohner  hausindustrielle 
Personen  in  den  Grofsstadten  21,97,  Mittelstädten  14^3,  in 

den  Kleinstädten  18,87,  in  den  Landstädten  20^3,  auf  dem  flachen 
Lande  Q^id  Das  Ergebnis  wird  wesentlich  beeinflu&t  durch  die 
Gestaltung  in  Sachsen,  wo  Klein-  und  Landstädte,  sowie  das  flache 
Land  —  mit  S4*3Pt  103,28  und  43,58  Hausindustriellen  auf  je 
ICOO  Einwohner  —  die  Hauptsitze  der  Heimarbeit  sind.  Im  übrigen, 
insbesondere  in  Norddeutschland  sind  es  vorzüglich  die  Grofsstädte. 
Obenan  stehen  die  beiden  Grofsstädte  der  Textilindustrie  Krefeld 
iind  Elberfeld  mit  97,04  und  62,24  pro  Mille,  dann  Barmen  mit 
40,12  und  Berlin  mit  35P5  pro  Mille.    Hinsichtlich  der  absoluten 


Digitized  by  Google 


6s6 


H.  Raaehberg, 


21ahien  überragt  Berlin  mit  27474  —  einschliefslich  des  Neben- 
berufs sogar  2S97.S  —  Hausindustriellen  alle  anderen  Städte.  Die 
groOsstädtische  Hausindustrie  ist  in  der  Mehrzahl  ihrer  Hauptsitze 
in  rascher  Ausbreitung  begriffen.  So  sind  in  Berlin  die  Allein- 
meister  1882 — 1895  von  19212  auf  25449  gestiegen;  die  Zunahme 
beträgt  6237,  ^^^^  ^^^^       Drittel  des  Standes  von  1882. 

Die  eindringenderc  Untersuchung  zeigt  also,  wie  mannigfaltig 
die  Hausindustrie  gestaltet  ist  in  ihrer  Wrbreitung  nach  Berufis- 
zwetgen  und  Standorten,  in  ihren  Entwicklungstendenzen  und  — 
wie  wir  nunmehr  dank  der  Untersuchungen  des  Vereins  für  Sozial- 
politik wissen  —  auch  in  ihren  Organisationsformen  und  Daseins- 
bedingungen. Das  wird  jeder  X'^ersuch,  sie  durch  einen  Akt  der 
Geset^ebung  zu  regeln,  sorgfaltig  zu  berücksichtigen  haben. 

2.   Die  Hausierer. 

Aehnlichc  Erwägungen  wie  hinsichtlich  der  1  lausindustrie  führten 
auch  zur  Verzeichium'^  der  I  lausiergewerljctrcibciulcn.  Zu  diesem 
Zwecke  ist  an  die  .sell)stän(lij::jen  ( Te\vcrl)etreibenden  in  der  Haus- 
haltungsliste die  Frage  gerichtet  worden,  ob  die  sie  das  Geschäft 
im  rniherzichcn  als  Hausiirer)  betreiben.  Ebenso  wie  bei  der 
llausin«histrie  sind  nachtrHghch  noch  jene  Hilfspersonen  in  die 
Darstellung  einbezogen  worden,  die  nach  ihrer  Stellung  in  der 
Haushaltung  als  solche  erkennbar  waren.  Hier  wie  dort  konnte  eine 
solche  Statistik  ex  post  unmöglich  zu  befriedigenden  Ergebnissen 
führen.  .\bcr  auch  die  Zahlen  über  die  selbständigen  Hausier- 
gewerbetreibciulen  bleiben  jedenfalls  hinter  der  Wirklichkeit  zurück. 
Als  Wandernde  entziehen  sie  sich  leichter  der  statistischen  Erfassung. 
Solche  die  nur  im  Winter  hausieren,  mögen  nur  den  im  Sommer 
ausgeübten  Ik^ruf  angegeben  haben.  Endlich  ist  es  wahrscheinlich, 
dafs  die  im  Umherziehen  bewirkte  X'eräufserung  selbst  hergestellter 
Waren  oder  selbstgczogcner  landwirtschaftlicher  Produkte  nicht  als 
Hausierbetrieb  angeschen  und  angegeben  worden  ist,  weil  ja  nicht 
die  X^eräufserung.  sondern  die  Herstellung  der  Waren  als  das  eigent- 
liche, den  Kriterien  der  Fragestellung  unterworfene  Geschäft  er- 
scheinen mufstc. 

So  sind  denn  im  ganzen  nur  126,885  Hausierer  ermittelt  worden, 
darunter  113,329  Selbständige.  Von  diesen  letzteren  waren  74,844 
männlich,  38485,  rund  ein  Drittel,  weiblich.  In  13093  Fällen  ist 
der  Hausierbetrieb  als  Nebenberuf  angegeben.  « 

Man  kann  mit  dem  21ahlungswerk  drei  Gruppen  von  Hatisierem 


Digitized  by  Google 


Die  Berufs-  und  GeweibcriUilaiig  im  Deoticlicii  Reich  Tom  14.  Jon!  1895.  557 

unterscheiden:  Hausierhandwerker,  Hausicrhändler  und  fahrendes 
Volk.  Hausierhandwerker  wurden  $222  ermittelt  Die  eij^'cmliclien 
Störarbeiter,  die  im  Hause  der  Kunden  fjegen  Lohn  arbeiten,  sollen 
nach  den  Tntentionen  der  Erhebung  darunter  nicht  begriffen  sein. 
Am  zahlreichsten,  mit  S78,  sind  in  dieser  (liuppe  begriffen  die 
Messer-  und  Scherenschleifer,  dann  folgen  Korbniaclier ,  Weber, 
Strohfleclitcr,  Hürstentiiacher  u.  s.  w.,  zum  Teil  wohl  auch  solche, 
welche  gleichzeitig  eigene  oder  Ircnule  Erzeugnisse  ihres  Gewerbes 
feilbieten.  Bc\  weitem  am  stärksten  —  mit  113505  —  besetzt  ist 
der  Hausierhantlcl.  War  die  Warenart  angegeben,  so  wurden  die 
Betreffenden  zu  dieser  gerechnet .  sonst  zum  Hausierhamlel  im 
engeren  Sinne.  So  ergaiien  >ich  für  diesen  letzteren  43,510,  für 
den  im  Hausieren  betriebenen  Waren-  und  Produktenhandel  68  178 
Gewerbthätige.  Zum  fahrenden  Volk  endlich  werden  8118  Personen, 
zumeist  sogenannte  Artisten,  gerechnet. 

Auf  die  geographische  X'erbreilung  der  Hausierer  einzugehen 
mufs  ich  mir  im  Hinblick  auf  ihre  vcrhältnismäfsig  geringe  Zahl 
und  den  engeren  Rahmen  dieser  Untersuchungen  versagen.  Es  sei 
nur  bemerkt,  dals  einzelne  Hausierbetriebe  sich  örtlich  konzentrieren 
und  den  hauptsächlichen  Nahrungszweig  gewisser  Gegenden  oder 
Dörfer  bilden.  Bekannt  mad  die  Hausierer  des  Erzgebirges,  aus  dem 
Harz,  dem  Sauerland  und  Westerwald,  dem  Fichtelgebifge  u.  s.  w. 
Hierüber  liegen  ja  nunmehr  ausgiebigere  Au&chlüsse  in  den  Unter- 
suchungen des  Vereins  für  Sozialpolitik  vor.  *) 

>)  Sdififtcn  des  Vereiiis  Ar  Sosialpolitik  Band  LXXVH  bis  LXXXm. 

(FortMUng  fMft.) 


Diqitized  by  Google 


Die  Marxsche  Theorie  der  sozialen  Entwicklung. 

Ein  kritischer  Versuch. 
Von 

PETER  VON  STRUVE, 
in  St.  Petersburg. 

Die  bürL,ftMlirhe  W't'll  scheint  in  eine  Art  angenehmer  Auf- 
regunj^  gekotnincn  zu  sein  ob  der  kritischen  Auflösun«^  des  Marxis- 
nnis.  T)a5  ,,Knde  des  Marxismus"  wird  lebhaft  diskutiert  und  nach 
seiner  wuhltiiäti^en  Wirkung  abi^ewogen.  Doch  sclieint  mir  hier 
ein  greises  Milsverstänchiis  obzuwalten  und,  wenn  ich  einen  klang- 
vollen Titel  meinen  Ausführungen  geben  wollte ,  so  würde  ich  sie 
eher  „der  Anfang  des  Marxismus"  oder  —  noch  lieber  —  „Marxis* 
mus  und  kein  linde"  überschreiben. 

Richtig  ist  es  alhrdmgs,  dals  die  Marxschen  Lehren  einer 
kritischen  Sichtung  und  Umarbeitung  entgegengehen.  Aber  hierin 
sehe  ich  nur  den  Beweis  dafür,  wie  tief  sie  in  das  sozialpolitische 
Denken  eingegriffen  haben,  wie  es  sich  immer  mehr  und  mehr  diese 
Lehren  wirklich  zu  assimiheren  trachtet.  Nun  —  keine  Assimilierung 
ohne  Ausscheidung. 

Und  noch  etwas:  man  wirft  dem  Marxschen  Systeme  mannig- 
üaiche  und  tiefgehende  Widersprüche  vor.  Nun  glaube  ich,  dals 
noch  nie  ein  groises  und  inhaltreiches  System  geschaffen  worden 
ist,  dem  nicht  wissenschaftliche  Widerspräche  und  —  noch  kräftiger 
gesprochen  —  Ungereimtheiten  anhafteten.  Grofse  Ss^teme  —  die 
wissenschaftlichen  nicht  ausgenommen  —  sind  gleichsam  prachtige 
architektonische  Schöpfungen  grolser  individueller  Geister.  Nach 
ästhetischen  Gesichtspunkten  sind  sie  immer  zusanunenfiigt,  als 
künstlerische  Einheiten  treten  sie  vor  die  kollektive  Wissenschaft, 


Digitized  by  Google 


IMe  &bnsdie  Theorie  der  sodalcn  Entwiddong. 


659 


um  von  ihr  —  in  mühsamer  empirischer  und  erkenntniskritischer 
Kleinarbeit  —  nach  logischen  Gesichtspunkten  in  Stücke  zerlegt  zu 
werden.  Aesthetische  Kombinationen,  und  vielleicht  die  schönsten, 
werden  dabei  grausam  zerstört,  der  Reiz  des  Ganzen  geht  unrett- 
bar verloren.  Aber  die  Fülle  und  die  Dignität  der  einzelnen 
Bildungselemente,  die  Genialitat  der  Kombinationen  kommen  — 
trotz  dieser  Zeij^törungsarbeit  —  der  Wissenschaft  zu  gute.  Aus 
solchen  Triinimern  lässt  sich  eben  vieles  holen.  So  steht  es  auch 
mit  dem  Marxschen  Systeme,  dem  prächtigsten  Ilm  der  neuzeit- 
lichen Sozialwissenschaft.  Um  von  der  Wissenschaft  wirklich  ver- 
nutzt zu  werden,  mufs  es  gewissermalsen  um  seine  ästhetische 
Integrität  gebracht,  es  mufs  zerstört  werden.  Die  I.ehre  vom 
„Grenznutzen"  wird  nie  zerstört  werden,  aber  sie  ist  auch  —  die 
österreichische  Scluile  in  allen  Ehren  1  —  ein  ^anz  kleines  Ding 
gegenüber  dem  Marvschen  Systeme  —  ein  solider  Baustein  gegen- 
über einem  herrlichen  hochragenden  Bau.  Als  Marxist  war  es  mir 
Herzen^^ri' I10 ,  diese  Zeilen  niederzuschreiben:  wie  weit  man  auch 
in  der  Kritik  des  Meisters  geht,  der  bewufsten  Pietät  thut  dies 
keinen  Abbruch. 

Und  nun  zur  Sachet 

« 

Die  nachfolt^endcn  Aiisführun<^cn  gelten  der  Marxschen  Theorie 
der  sozialen  Entwicklung.  Darunter  verstehe  ich  nicht  die  materia- 
listische  (Tcsciiichtsauffassung   in   ilirem   ganzen   l  iiifang .  sondern 

—  inhaltlich  —  nur  ihre  spezielle  Anwendung  auf  die  iMitwickluiig 
vom  Ka|)italisnuis  /um  Sozialismus  und  —  formeil  —  die  bcgiilflich 
abstrahierte  horm  dieser  Entwicklung,  nämlich  die  Entfaltung  der 
sozialen  Widersprüche.  Die  materialistische  ( icschirhtsauffassung 
wird  von  mir  nur  insofern  herangezogen  werden,  als  die  Richtig- 
keit der  speziellen  Anwendung  tlerselben  —  nach  Inhalt  und  h^)rm 

—  an  dem  Grundschema  gcme'^se^  werden  wird.  Die  Koiitron- 
tierung  des  allgemeinen  Prin/.ij)s  mit  der  .Spezialanweiidunj;  wird 
einige,  wie  mir  scheint,  bis  jetzt  unbeachtete  logische  Widert} »rüche 
in   der   landläufigen  marxistischen  Entwicklungstheorie  aufdecken. 

Die  von  Marx  begründete  Theorie  der  sozialen  Entwicklung 
kann  aus  zwei  (iesichtspunkten  einer  IVüfung  unterworfen  werden. 
Erstens,  kann  gefragt  werden,  ob  ihre  X'oraussetzungen  der  sj)ezicllen 
sozialen  Erfahrung  eiUs])rechen,  d.  h.  in  ihrer  konkreten  Bestimmt- 
heit auf  cmpirisclie  Geltung  Anspruch  machen  können.  Zweitens 


Digitized  bv  Google 


660 


Peter  von  Strnve, 


erhebt  sich  die  Frage,  ob  diese  Theorie  nach  ihrem  logisch-begriff- 
lichen Gerüst  sich  in  das  Ganze  unserer  Erfahrung  zwangslos  eiiifiii^t. 
Diese  zweifache  Fragestellung  ist  zum  Teil  dadurch  bedingt ,  dais, 
wie  bei  Aufstellung  besonderer  riicorien  meistens  ohne  jede  er- 
kenntniskritische Ueberlegung  verfahren  wird ,  so  —  auch  im  Falle 
von  Mary  und  Engels:  diesen  beiden  Denkern  in  ihrer  doppelten 
Eigenschaft  als  Hegelianer  und  Materialisten  lagen  erkenntnistheo- 
retische h'rwäi^aingen  ganz  ferne.  Zum  Teil  ist  aber  die  gesonderte 
BehaiulluuL;  jener  zwei  h'ragen  auch  dadurch  begründet,  dafs  es  in 
der  Marxsciien  Theorie  nicht  nur  um  Feststellung  \'on  1  hatbestäriden, 
die  an  sich  eindeutig  wären,  sondern  wesentlich  um  eine  Deutung 
solcher  sich  handelt,  l'nd  zwar  ist  es  die  sozialpolitische  Zukunft, 
welche  aus  den  Thatsachen  der  W-rgangenheit  und  (legenwart 
erschlossen  werden  soll.  Eine  solche  Theorie  kann  nur  unter 
Zuhilfenahme  erkeimtnistheoretischer  Erwägun^^^en  kritisiert  werden. 

Worin  besteht  nun  die  von  Marx  begründete  Lehre  von  der 
Entwicklung  der  modernen  Ge.sellschaft?  Drei  grolse  Thatbestände, 
oder  genauer,  Thatsachengruppen  wurden  ihr  zu  gründe  gelegt: 

1.  Die  Entwicklung  der  Produktivkräfte  der  Gesellschaft  in  der 
kapitalistischen  Aera  unter  dem  Kommando  der  Boui^^eoisie  und 
in  Gestalt  der  anarchischen  Konkurrenzwirtschaft  —  Theorie 
der  Vergesellschaftung  und  Konzentration  der  Produktion  und 
Theorie  der  Ptoduktionsanarchie  in  der  kapitalistischen  Gesellschaft. 

2.  Die  fortschreitende  soziale  Herabdrückung  der  niederen  Volks- 
Massen  und  der  Ruin  der  Mittelklassen  im  For^ange  der  kapita- 
listischen Entwicklung  —  Verelendungstheorie  und  die  Theorie  von 
der  Expropriation   der   kleinen  Kapitalisten  durch  die  grofsen. 

3.  Das  Auftreten  des  revolutionären  Proletariates.  Die  proletarisch- 
revolutionäre  Bewegung  findet  ihren  ideellen  Ausdruck  in  dem 
Kommunismus  —  die  Theorie  von  der  sozialistischen  Mission  des 
durch  die  kapitalistische  Entwicklung  ge.schaftcncn  und  in  ihrem 
Fortgang  anwachsenden  Proletariates.  Das  Troletariat  verelendet, 
aber  erreicht  gleichzeitig  eine  solche  soziale  und  politische  Reife, 
welche  es  befälligt,  durch  aktiven  Klassenkampf  das  kapitalistische 
System  zu  stürzen  und  an  dessen  .*^telle  das  sozialistische  zu  setzen. 

Diese  drei  grundlegenden  Thatbcstände  wurden  von  .Marx 
in  Zusaninienhani^  miteinander  gebracht  und  zu  einer  Theorie  der 
sozialen  Hntwirkluiii^  \  i  rarl)cilet.  .Mle  drei  von  Marx  lichaupteten 
Thatsachenkomj)lexe  rr<-]\  lüitwicklunq^stendrnzeii  waren  —  abge- 
sehen von  ihrer  entschieden  sozialistisclien  Auslegung  —  dem  realen 


Digiti/Oü  by  Cjt.)0^lc 


IXe  Maniclie  Theorie  der  tocbleii  Eotwicklitag. 


66l 


Leben  entnommen.  Insofern  war  die  Theorie  völlig  realistisch 
und  unabhängig  von  jedem  rein  gedanklichen  Konstruktionsschema. 
Sehen  wir  nun  zu,  wie  die  sozialistische  Auslegung,  also  die  e^ent- 
liehe  Theorie  der  sozialen  Entwicklung  oder  der  Entwicklung  zum 
Sozialismus,  zu  stände  gebracht  wurde.  Sozialismus  bedeutet  Ver- 
gesellschaftung der  Produktion  auf  grund  der  gesellschaftlichen 
Eigentums  an  Produktionsmitteln  und  Abschaffung  jeder  Form  der 
Klassenherrschaft.  Die  objektive  Vergesellschaftung  werde  —  so 
lehrt  die  Tiieorie  —  durch  die  I-iitwicklung  der  Produktionskräfte 
und  der  Produktionsverhältnisse  besorgt.  Der  anarchische  Charakter 
der  Konkurrenzwirtschaft  werde  unverträglich  mit  der  \crgescll- 
schaftetcn  Produktion.  Durch  die  X'erelendung  der  N'olksmas.scn 
und  das  Hinabstürzen  der  Mittelklassen  in  das  Proletariat,  einerseits, 
durch  die  Schulung,  welche  das  Proletariat  in  seinem  Existenzkampf 
erhält,  andererseits,  werde  in  dieser  sozialen  Kla.s.se  der  subjektive 
haktor  geschaffen,  der  sowohl  durch  die  .Xoi ,  als  durch  eigenen 
bewussteii  Willen  zum  Sozialismus  bestimmt  wird,  den  sozialistischen 
Kampf  zu  kämi»fen.  Die  objektiven  Entwicklungstendenzen  ver- 
bürgern  den  Erfolg  dieses  Kampfes. 

Die  „Verelendungstheorie"  war  in  der  ersten  Hälfte  des 
XIX.  Jahrhunderts  eine  einfache  Konstatierung  des  wirklichen  Verlaufs 
der  Dinge.  Die  Entwicklung  der  Produktivkräfte  schlug  schon 
damals  auch  das  blödeste  Auge.  RevolutionSre  Regungen  im  Prole- 
tariate  —  von  elementaren  Putschen  bis  auf  kommunistische  Be- 
wegungen —  waren  bereits  an  der  1  agesordnung.  Ich  gehe  gar 
nicht  darauf  ein,  ob  die  einzelnen  Tendenzen  in  ihrer  resp.  Wirk- 
samkeit von  Marx  richtig  abgeschätzt  worden  sind,  d.  h.  ob  ihr 
spezifisches  soziales  Gewicht  fehlerlos  festgestellt  worden  ist 

Was  aber  sofort  ins  Auge  springt  und  den  realistischen  Charakter 
der  ganzen  Entwicklungstheorie  in  sein  utopistisches  Gegenteil  ver- 
kehrt —  ist  eben  die  sozialistische  Auslegung  der  konstatirten  Ent- 
wicklungstendenzen. Aus  den  thatsächlich  g^ebenen  Voraussetzungen 
der  sozialen  Entwicklung  liefs  sich  eben  in  den  40er  Jahren  die  Ent- 
wicklung zum  Sozialismus,  wie  Marx  ihn  sich  dachte,  realtstischer- 
weise  gar  nicht  ableiten.  Es  darf  nicht  vergessen  werden,  da(s  der 
Sozialismus  für  Marx  uneingeschränkt  die  Blüte  der  Kultur  bedeutete. 
Er  nahm  dir  seinen  Sozialismus  alle  kulturellen  Errungenschaften 
der  Bourgeoisie  in  Anspruch.  Solange  die  fortschreitende  Verelendung 
der  X'olksmassen  eine  über  jeden  Streit  erhaltene  Thatsache  war 
und  als  unabänderliche  immanente  Tendenz  der  herrschenden  Wirt- 


Dlgltlzed  by  Google 


662 


Peter  von  Strvve, 


8diaftsordnung  aufgefafst  wurde,  war  das  Eintreten  der  alle  Kultur- 
fortschritte der  bürgerlichen  Gesellschaft  übernehmenden  und  sie 
weiterführenden  Sozialismus  platterdings  unmöglich.  Eine  Verelen- 
dung und  sozialpolitische  Rcifwerdung  der  Arbeiterklasse,  welche 
dieselbe  befähigen  sollte,  die  denlcbar  grofsartigste  soziale  Umwälzung 
ins  Werk  zu  setzen,  schlössen  einander  fiir  eine  realistische  Be- 
trachtung einfach  aus.  Die  thatsächliche  soziale  Entwicklung  der 
vierziger  Jahre  liefs,  wenn  die  das  Proletariat  niederdrückenden 
Tendenzen  in  ihrer  Unabänderlichkeit  feststanden,  überhaupt  keinen 
auf  realistischer  (irvuidiagc  aufgebauten  sozialen  Optimismus  zu. 
Realistisch  war  weder  die  liberale  Apologetik  noch  der  auf  den  „Zu- 
sammenbruch" der  herrschenden  Wirtschaftsürdnun;^"^  seine  Aussichten 
stützende  Sozialismus.  Realistisch  war  allein  der  soziale  Pessimis- 
mus und  höchstens  —  der  Zerst(')rungssozialismus.  Denn  mag  der 
Zusaniinensturz  des  Kapitalisiiuis  unvermeidlich  gewesen  sein ,  für 
den  sozialistischen  Neubau  —  sollte  dieser  wirklich  einen  Forlschritt 
der  gesamten  Kultur  bedeuten  -  fehlte  der  soziale  Haumeister, 
eine  wirklicii  aufstrebende,  erstarkende  und  für  ihre  geschichtliche 
riiat  auch  bereits  er>tarkte  Klasse.  Je  niedergedrückter  man  sich 
das  Proletariat  \orstcllt,  desto  mehr  wird  ihm  —  bei  der  Auf- 
richtung der  neuen  (lescllschaftsorthiun;^^  —  zugemutet  und  desto 
weniger  kann  nüchternerweise  \'on  ihm  erwartet  werden. 

Der  psychologische  Zwang  —  die  historische  Notwendigkeit 
der  kollektivistischen  Wirtschaftsordnung  zu  erweisen,  nötigte  den 
Sozialisten  Marx  in  den  vierziger  Jahren,  den  Sozialismus  aus  mehr 
als  unzureichenden  Piamissen  zu  deduzieren. 

Marx  hat  späterhin  —  unter  dem  Eindrucke  der  Thatsachen  — 
seine  pessünistischen  Prämissen  der  Sache  nach  wesentlich  modifidert, 
sie  aber  nie  bewulst  und  ausdrücklich  fallen  gelassen.')   Er  is^  ^ch 

')  Es  genftgt  der  Hinweis  auf  die  „Inaogunladresse**  von  1864  und  u  jene 
Abadtnitte  des  „Kapitnls".  wo  Man  die  engliidie  Ftabrikgesetigttbimg  «b  die  Uiv 

Sache  „der  physischen  und  moraUschen  Wiedergeburt  der  Fabrikarbeiter"  preist 
Andrerseits  ist  das.  was  Man  in  seiner  klassischen  Abldhnung  des  ehernen  Lohn« 
gesetres  (in  den  Ik-nuTkungen  zu  dem  Gothacr  rrogrnmmentwurf.  Neue  Zeit  IX,  1, 
.S.  561  ff.  I  sa^t.  nicht  minder  he/eichnend :  „das  System  der  Lohnarl)cit  isl  ein 
System  der  Sklaverei  und  zwar  einer  Sklaverei,  die  im  selben  Mafse  härter 
wird,  wie  sich  die  gesellschaftlichen  Produktivkräfte  der  Arbeit 
entwickeln,  ob  nun  der  Arbeiter  bessere  oder  schlechter«  Zahlung 
empfange**  (gesperrt  too  mir,  L  c.  571).  Es  entspricht  gar  nicht  dem  wirklichen 
SadiTerlialte,  wenn  man  behaiq>tet,  Man  habe  in  seinen  qiltteren  Schriften  die  Vcr> 


Digitized  by  Google 


Die  Mancsdie  Theorie  der  sockkn  Entwiddimg. 


663 


nie  des  schreienden  Widerspruches  der  Verelendung  mit  der  Ent- 
wicklung zum  Sozialismus  bewufst  geworden.  Dieser  reale  Wider- 


elenduiisitlieorie  aufgaben  (cüeie  Aatlclit  Tcrtrltt  z.  B.  SimkhowitMh  b  seinem  mir 

erst  nach  Fertigsitellung  dieses  Aufsatzes  zugdlcnden  Artikel  ,Die  Krisis  der  Sozial- 
demokratie", Conrads  Jahrbücher  f.  N'ationalökonomie  III.  Folge  17,  Band  6.  Heft, 
S.  147.  Der  Aufsatz  enthält  neben  manchem  schiefen  anch  richtige  Gedanken  und 
ist  an  interessanten  Citaten  sehr  reich).  Es  ist  vielmehr  <l.is  direkte  Gejjenteil  richtig: 
Marx  hat  im  Kapital  die  Verelendungstheurie  wissenschaftlich 
mutgeffiliTt  and  begründet  Eine  Mdefae  AnifiUmiDg  und  Begründung  ist  un« 
beitrekbar  iciae  Lehre  Ton  der  reladven  UebervölkeniQg  oder  von  der  indutricllen 
Reserveannce.  Den  Sinn  dieser  Lehre  hat  Marx  selbst  in  der  oben  dtlerten  Stelle 
ans  der  Kritik  des  Gothaer  Piogranmentwurfes  xusanmengerasst.  Die  entsprediende, 
ebenfalls  gar  nicht  mifszuverstehende  Stelle  im  „Kapital"  lautet: 

,,Man  begreift  die  Narrheit  der  ökonomischen  Wti'sliiMt.  die  den  Arbeitern 
predigt,  ihre  Zahl  den  Verwertungsbedürfnissen  des  Kai>i?als  anzupassen.  Der 
Mechanismus  der  kapitalistischen  Produktion  und  Akkumulation  pafst  diese  Zahl  be- 
ständig diesen  Verwertungsbediirfnissen  an.  Erstes  Wort  dieser  Anpassung  ist  die 
Schöpfung  einer  rdativen  UebenrAUtemng  oder  indttstriellen  Reservearmee,  letztes 
Wort  das  Elend  stets  wachsender  Schichten  der  aktiTea  ^beiteraimee  nnd  das  tote 
Gevridit  des  Fsnperismas. 

Das  Gesetz,  wonach  eine  immer  wachsende  Masse  von  Produktionsmitteint 
dank  dem  Fortschritt  in  der  Produktivität  der  gescllschaftlichea  Arbeit,  mit  einer 
progressiv  abnehmenden  Ausgabe  von  Menschenkraft  in  Bewegung  gesetzt  werden 
kann  —  dies  Gesetz  drückt  sich  auf  kapitalistischer  Cirundlage.  wo  niclu  der  Arbeiter 
die  Arbeitsmittel,  sondern  die  Arbeitsmittel  den  Arbeiter  anwenden,  darin  aus,  dafs, 
je  höher  die  Prodaktivkraft  der  Ariieit,  desto  gröfser  der  Druck  der  Arbeiter  auf 
Ihre  BesehSftigusgsmittel,  desto  prekirer  also  ihre  Bxistenzbedbgnng:  Verkauf  der 
eigenen  Kraft  zur  Vennehmng  des  fremden  Reiehtvms  oder  snr  Selbstrerwertnag  des 
Kapitals.  Rasdieres  Wachstum  der  Prodoktioasmittel  nnd  der  Prodokdvltit  der 
Arbeit  als  der  produktiven  Bevölkenuig  diftl&t  sich  kapitalistisch  also  omgckdirt 
darin  aus.  dafs  die  ArbeiterbeTölkerung  stets  rascher  wächst  als  das  Verwertungs- 

bedurfnis  des  Kapitals   Innerhalb  des  kapitalistischen  Systems  vollziehen 

sich  alle  Methoden  zur  Steigerung  der  gesellschaftlichen  l'roduktivkraft  der  Arbeit 
auf  Kosten  des  iudtviducllcu  Arbeiters;  alle  Mittel  zur  Entwicklung  der  i'roduktion 
schlagen  nm  In  Beherischnn^  und  Esploltationsmittd  des  Pradnzenteo,  ventllmmeln 
■den  Arbeiter  in  einea  Teilmensdien,  entwflrdigen  ihn  zum  Aahlogfd  der  Mswhine, 
Temichten  mit  der  Qoal  seiner  Arbeit  Ihren  Inhalt»  «ntfreadea  Ihm  die  geistigen 
Potansen  des  ArbeltsprtMteaaes,  Im  selben  Mafse,  worin  letzterem  die  Wlsseoschalfc 
als  sdbstfindige  Potenz  einverleibt  wird,  sie  verunstalten  die  Bedingungen,  innerhalb 
deren  er  arbeitet,  unterwerfen  ihn  w.ihrend  des  Arbeitsprozesses  der  kleinlichst  ge- 
hässigen Despotie,  verwandeln  seine  Lcbcns/cit  in  Arbeitszeit,  schleudern  sein  Weib 
■und  Kind  unter  das  Juggernautrad  des  Kapitals.  Aber  alle  Methoden  zur  Produktion 
Archiv  für  tot,  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XIV.  43 


Digitlzed  by  Google 


664 


Peter  tob  Struve, 


Spruch  legitimierte  sich  für  ihn  zugleich  als  ein  der  Aufhebung  zu- 
strebender dialektischer  Widerspruch.  In  solchen  Widersprüchen 
sah  er  eben  —  nach  Hegelscbem  Vorgange  —  das  ,^orUeiteade'* 

der  Be\vef,'un^. 

Wir  müssen  uns  also  der  Lehre  von  der  Entwicklun;:;^  durch 
Stci<4ci  un^'  der  Widersprüche  zuwenden  und  sie  auf  ihre  Stichhaltig- 
keit prüfen. 

Nohnicii  wir  zwei  widerstreitende  lüschcinun^en  A  und  B  — 
in  ihrer  Hntwicklung.  Jede  Kntwickluiif^  im  Sinne  einer  Slei^arunjj 
kann  als  Häufung  des  Gleichartigen,  und  zwar  des  das 
E  nil  r  e  s  u  1 1  a  t  bestimmenden  Momentes  e  d  a  c  h  t  w  erden. 
Wenn  die  Stcij^erun<:(  des  \\'i(lcrsj)ruches  wirklich  vor  sicli  i;eht, 
so  mufs  die  Entwicklung  der  widerstreitenden  Momente  so  vorge- 
stellt werden  iFonnel  I  oder  Widerspruchsformelj : 


A 

B 

2A 

2h 

3A 

3B 

4A 

4B 

5A 

SB 

6A 

6B 

•  •  • 

nA 

•  «  • 

nB 

Jede  von  den  beiden  Erscheinungen  A  und  B  nimmt  durch 
Häufung  des  Gleichartigen  för  sich  zu.  Gleichzeitig  und  eben  durch 
diese  Zunahme  steigert  sich  der  Widerspruch  resp.  der  Gegensatz 
der  beiden  Erscheinungen.  Ist  nun  dieser  Gegensatz  wertlich  real» 
so  wird  er  durch  seine  Steigerung  inuner  unertiiglicher  —  und  er 


des  Mehrwert!  thid  logleicb  Methoden  der  Akkomidatioii  und  jede  Andehnnng  der 
Akkomttlatloo  wird  umgekehrt  Mittel  nur  Eotwiddong  jener  Methoden.  Es  folgt 
daher,  dafs  im  Masse  wie  Kapital  akkumaliert,  die  Lage  des  Ar» 
beiters,   welches  immer  seine   Zahlung,   hoch   oder  niedrig,  sich 

V  e  r  s  c  h  1  e  c  Ii  t  c  r  ti  mufs.  Ihiviicsetz  eiunich,  welches  die  relative  Uchcrvolkerun^ 
oder  iiidustriclle  Keservearince  stets  mit  L'iiifaii,;  und  Encr^ne  der  Akkumulation  in 
Gleichgewicht  hält,  schmiedet  den  Arbeiter  fester  an  das  Kapital  als  den  Prometheus 
die  Keile  des  Hephüslos  an  den  Felsen.  Es  bedingt  eine  der  Akkumulation  von 
Kapital  entsprechende  AUtnmulation  von  Elend.  Die  Akkumulation  Ton  Rdditum 
auf  dem  einen  ¥ol  ist  also  sogleich  Akkumulation  von  Elend,  Arbeitsqual,  Sklaverei, 
Unwissenheit,  Brutalisiemng  und  moralischer  D^rsdation  auf  dem  Gegenpol«  d.  h. 
auf  Seite  der  Klasse,  die  ihr  eigenes  Produkt  als  Kapital  produsleit"  (gespent  von 
mir.  D.  Kapital  I*,  662-664). 


Digitized  by  Google 


Die  Mansche  Theorie  der  sozia]««  Entwieklnag. 


665 


wird  endlich  zu  Gunsten  der  stärkeren  Erscheinung  gelöst:  n  A  ver- 
nichten n  B.  Der  Widerspruch  wird  „aufgehoben".  Wir  unterstellen 
in  diesem  Falle  nicht  nur  Parallelität  im  Anwachsen  der  wider- 
streitenden Erscheinungen,  sondern  auch  eine  Wechselwirkung  der- 
selben. A  wirkt  durch  seine  Zunahme  steigernd  auf  B,  und 
dadurch  wird  auch  der  Gegensat/,  ^esteiji^ert. 

Nun  können  wir  uns  aber  in  der  sozialen  Wirklichkeit  ganz 
andere  Vorgänge  vorstellen  (l'ormel  II): 

A  B 

2A  2B 

3A  3B 

4A  2B 

5  A  B 

6A  KeinB. 
Hier  verläuft  die  Entwicklung  auf  eine  andere  Art  Im  Falle 
der  Wechselwirkung  zwischen  A  und  B  wirkt  A  durch  seine  Zu- 
nahme nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  steigernd  auf  B;  in  einem 
gewissen  Zeitpunkt  wird  das  B  durch  die  Zunahme  von  A  nicht 
nur  nicht  gesteigert»  sondern  im  Gegenteil  reduziert  Damit  wird 
nach  unserer  Unterstellung  der  Gegensatz  abgeschwächt  Schliefs- 
lieh  wird  der  Gegensatz  durch  «^Abstumpfung"  aufjg^ehoben. 

In  beiden  Beispielen,  die  ja  höchst  schematisch  sind,  wird  — 
•bis  zur  Aufhebung  des  Widerspruches  durch  den  Sieg  des  stärkeren 
Momentes  —  immer  eine  quantitative  Wechselwirkung  unterstellt 
Der  G^ensatz  zwischen  A  und  B  kann  aber  nicht  nur  durch  fort- 
schreitende SteifjeruDg  resp.  Abnahme  des  einen  oder  des  anderen 
Momentes  auf^jchohon  werden:  er  kann  durch  (]uaUtative  Wechsel- 
wirkung aus  der  Welt  geschafft  werden«  Beide  gegensätzliche  Er- 
scheinungen können  sich  ja  g^[enseitig  eine  an  der  andern  ab- 
stumpfen, sich  aneinander  nn passen  und  dabei  und  dadurch  sich 
wesentlich  und  zwar  (jualitativ  verändern. 

Pls  ist  nun  ein  L^cradezu  —  um  einen  Marxsrhen  Ausdruck  zu 
gebrauchen  —  labclhaites  Dorrma,  welches  die  soziale  P^ntwicklunf^ 
in  ihren  entscheidenden  Wendungen  ausschlierslich  nach  der  Formel  I 
verlaufen  lässt. 

Die  Helrachtun<j  der  \\'i(lcrsj)riichsfortiicl  bietet  besonderes 
Interesse,  wenn  man  sie  mit  der  Grundidee  der  materialistischen 
Gesciiichtsaulfas>uii<^f  zusammenhält.  Diese  Grundidee  besteht 
wesentlich  darin,  tlals  „die  Produktionsweise  des  materiellen  Lebens 
den  sozialen,  politischen  und  geistigen  Lebeiisprozess  überhaupt  be- 

43» 


L  iyiii^üd  by  Google 


666 


Peter  von  Struve, 


ding^ ....  Auf  einer  gewissen  Stufe  ihrer  Entwicklung  geraten  die 
materiellen  Produktivkräfte  der  Gesellschaft  in  Widerspruch  niit 
den  vorhandenen  Produktionsverhältnissen,  oder,  was  nur  ein  juris- 
tischer Ausdruck  dafür  ist,  mit  den  Eigentumsverhältnissen,  inner- 
halb deren  sie  sich  bisher  bewej^t  hatten.  Aus  Entwicklungsformen 
der  Produktivkräfte  schlagen  diese  Verhältnisse  in  Fesseln  derselben 
um.  Es  tritt  dann  eine  I'']>oche  sozialer  Revolution  ein.  Mit  der  X'erän- 
derung  der  ökonoinisciien  (inindlaf^e  wälzt  sich  der  i;aii/.e  ungeheure 
l'elxMhau  (sc.  der  rechtlichen  uml  politischen  Kinrichtungeii,  denen 
l)e>tiininte  ;^H'sellschaftliche  Bewusstseinsfornien  entsprechen   P.  S.) 

langsanier  oder  rascher  um  Eine  ( icsellschaftsforniation  geht 

nie  unter,  bevor  alle  Produkt ixkräfte  entwickelt  sind,  für  die  sie 
weit  genug  ist  uiul  neue  höhere  I'roduktionsverhältni.sse  treten  nie 
an  die  Stelle,  bevor  die  materiellen  Existenzbedingungen  derselben 
im  Schoise  der  alten  (lesellschaft  selbst  ausgebrütet  sind"  iZur 
Kritik  der  politischen  Oekonomie,  Vorwort).  Hier  ist  die  Idee  des 
ständigen  Angcpasstseins  des  Rechtes  und  der  politischen  Ein- 
richtungen an  die  Wirtschaft  als  der  normalen  Form  ihres 
Zusammenseins  Idar  ausgesprochen.  Das  Auseinandergehen 
der  rechtlichen  und  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  ist  ein  — ' 
Widerspruch.  Er  zwingt  zur  Anpassung  des  Rechtes  an  die  Wirt- 
schaft. Marx  stellt  als  den  kardinalen  Widerspruch  den  Widerspruch 
zwischen  den  Produktivkräften  und  den  ProduktionsverhsUtnissen 
(=  Eigentumsverhältnissen)  hin.  Die  Anpassung  der  Produktions- 
verhältnisse an  die  Produktivkräfte  macht  den  Inhalt  der  sozialen 
Revolution  aus*  Es  ist  in  der  ganzen  citierten  Ausführung  von  _ 
Marx  die  Unklarheit  enthalten,  dafs  die  materiellen  Produktivkräfte!  _ 
einerseits,  die  Produktionsverhältnisse»  andererseits,  welche  nichts 
"^Is  al)strakte  Zusammenfassungen  konkreter  wirtsctiaftlicher  resp. 
"Tecfiitl icher  Verhältnisse  sind,  zu  efgenärtigen  fWesen  oder  JDingen". 
"verselbständigt  werden.  Nur  dadurch  wird  es  möglich  dieselben 
en  bloc  einander  angcj^afst  resp.  widerstreitend  vorzustellen  und  die 
soziale  Revolution  als  die  (ob  einmalige  oder  mehr  weniger  dauernde, 
.ist  unwesentlich;  Kollision  zwischen  diesen  Wesen  aufzufassen.  Es 
ist  klar,  dafs  man  die  gesellschaftliche  lüitwicklung  auch  als  einen 
kontinuierlichen  Prozefs  mannigfacher  Kolli-ionen  und  Anpassungen 
auflassen  kann.  Marx  scheint  Ijeiden  .\uffassungen  iler  sozialen 
Revolution  gleichzeitig  gehuldigt  zu  haben,  ohne  sich  ihrer  Un- 
vereinbarkeit bewufst  zu  werden.  Speziell  die  sozialistische  Re\  olution 
hat  sich  Marx  als  einen  grolsartigen  Konflikt  der  W  irtschaft  mit 


^  .d  by  Google 


Die  Mansche  Theorie  der  sosuJen  EntwiddnnK. 


66z 


dem  Rechte,  weldier  notwendig  in  €inern  entschei* knien  Er- 
eignis, der  eigentlichen  »^zialen  Revolution",  kulminieren  inuis»  'vor- 
gestellt. 

In  der  Marxschcn  Theorie  der  sozialen  f'lntwicklun^f  dreht  sich 
also  alles  um  das  X'erhällnis  bezw.  den  Widerstreit  /wischen  Wirt- 
schaft und  Recht.  Marx  hat  ienc  als  die  Trsache,  lücscs  als  Wirkung 
aufgefalst.  Es  ist  aber  von  Stammler  treffend  ausi^fclührt  worden, 
dafs  die  Wirtschaft  und  das  Recht  lo'^ischerweisc  trar  nicht  als 
im  \''erhciltnis  des  Bewirkenden  zum  Bewirkten  zu  einander  stehend 
gedacht  werden  können.  Für  ihr  Verhältnis  passe  vielmehr  die 
Beziehung  von  Inhalt  zur  Form  („geregeltem  Stoffe"  und  „be- 
dingender Form",  Wirtschaft  und  Recht,  S.  232 ). ') 

^)  yEs  ist  nicht  futreffend,  das  Verhältnis  drr  rechtlichen  Kegdang  zu  der 
Sozial  Wirtschaft  als  dasjenige  eines  kausalen  Eiriwirkens  zu  erachten  und  unter 
den  (fcsichtspunkt  von  Ursach»-  und  Wirkunfj  zu  bringen.  I)i-ni)  dieses  wurde 
voraussetzen,  dafs  die  beiden,  Recht  und  Wirtschaft,  als  zwei  selbständige,  einander 
gegeonberstehende  Objekte  beständen,  während  dieses  gnr  nicht  der  Fall  ist,  sondern 
tie  fir  die  toii*le  Betnchtaag  aor  zwei  notwendig  Terbttndene  Elemente  ebe» 
und  dewelben  Gegenitande*  sind. 

Dos  Recht  ist  nicht  ein  für  sich  tiestehendes  Ding,  das  dem  socialen  Zusanmien- 
leben  in  Selbständigkeit  gegenüberstände  and  auf  dieses  in  bestimmter  Weise  ein- 
wirkte,  sondern  in  jeder  rechtlichen  Normierung  liegt  immer  und  notwendig  eine 
Regelung  von  unterliegender  so^iialcr  Wirtschaft.  Es  cjicbt  gar  keinen  Rechtssatz, 
der  nicht  als  Inhalt  eine  bestiniiute  Regelung  des  sozialen  Zusammenwirkens  von 
Menschen  enthielte.  Es  ist  das  Recht  nicht  wie  ein  Kleid,  das  man  anzieht,  oder 
wie  ein  Hans,  in  das  man  eintritt,  um  darin  z«  wohnen  oder  es  wieder  sn  Ter- 
lasten.  Recht  bedeutet  aii  sich  nur  eine  (spSter  noch  im  einseinen  su  bestimmende) 
^^nschaft  bestimmter  measchlidier  Befehle,  die  auf  Regelung  von  socialer  Wirt* 

sdiaft  gehen;  und  dun  hdlftfn  so  anch  diese  befehlenden  Norroeo 

in  ihrem  Gesamtbegriff.  Aber  das  bleibt  alles  ganz  leer  und  sinnlos,  sofern  man  es 
als  ein  eigenes  Ding  nehmen  wollte,  das  äufserlich  zu  einer  wieder  für  sich  be- 
stehenden Sozialwirlschafi  hinzuträte  und  auf  diese  nun  iirs;ichlicli  finwirlctc ;  die 
Rechtsbefehle  haben  nur  Sinn  und  Gehalt  in  ihrem  regelnden  I!e/,uge  auf  ein  durch 
sie  als  gesellschaftliches  ermöglichtes  menschliches  Zusammenwirken. 

Jede  Rechtsnorm  eothitlt  also  inhaltlich  ganz  von  selbst  eine  bestimmte  Regelung 
des  Zmammenlebens  von  Menschen.  Sie  alle  znsammen,  zunichst  in  der  jeweiligen 
Einheit  eines  bestimmten  Rechtskreises,  ergeben  die  Gesamtregeinng  einer  sozialen 
Wirtschaft.  Aber  sie  fuhren  nidit  eine  Existenz  für  sieb,  und  wirken  dann  auf  die 
betreffende  Sozialwirtschaft  ein. 

Es  pafst  die  Kategorie  d  c  r  K  a  u  s  a  I  i  t  ii  t  hier  gar  nicht.  1  >ie  recht- 
lichen Regeln  stellen  viehnelir  die  formale  Seite  des  einheitlichen  Objektes  sozial- 
wisseoschaftlicber  Untersuchung,  des  sozialen  Lebens,  dar  und  sind  für  diese 


568  Peter  von  Strnve, 

Diese  Ausführungen  sind  zweifellos  richtig.  Das,  was  man 
überhaupt  Wirtschaft  und  Recht  nennt,  ist  realiter  gar  nicht  eines 
ohne  das  andere  denkbar  —  für  die  Wirtscliaft,  wie  sie  der  all- 
gemeine Sprachgebrauch  und  auch  Stammler  versteht,  sind  recht- 
liche Momente  nicht  nur  wesentlich,  sondern  rlas  absolut  W'csent- 
lichste.  \  crlclilt  ist  alier  das  Restreben  von  Stammler,  das  höchst 
verscliicdenarti^f  <^festaltctc  \'crhältnis  von  einzelnen  wirtschaftlichen 
und  einzelnen  rechtlichen  Momenten  iii  die  h'ormel  „bedingende 
Form"  und  ,,;.;eicgelter  Stoff"  hineinzwängen  zu  wollen.  Der  Be- 
griff der  W'irt.schaft  (Wirtschaftsordnung,  Produktionsverhältnisse) 
deckt  sich  leider  gar  nicht  mit  dcniienigeii,  was  wir  an  ein- 
zelnen sozialen  Phänonienen  für  „wirtschaftlich"  halten.  ,, Wirt- 
schaft" ist  z.  B.  die  kapitalistische  Wirtschaftsordnung;  der  Grad 
der  Produktivkräfte,  welches  dieser  Ordnung  eigen  ist,  kaiin  aber 
auch  in  der  sozialistischen  Wirtschaftsordnung  gedacht  werden. 
Und  dieser  Grad,  welcher  besagt,  wie  viel  produziert  wird,  ist 
eine  wirtschaftliche  und,  vielleicht,  die  wesentlichste  wirt> 
Schaft  liehe  Thatsache.  Wirtschaftliche  Thatsachen  können  recht- 
lieh  oder  anderswie  geregelt  sein,  dals  und  ob  sie  überhaupt  ge* 
regelt  sind,  kann  aber  dabei  fUr  sie,  als  wirtschaftliche  Phänomene, 
nicht  nur  begrifflich  sondern  auch  reell  unwesentlich  sein.  Dies 
bedeutet  aber:  das  Wirtschaftliche  an  den  sozialen  Phänomenen  ist 
zwar  meistens  rechtlich  geregelt,  fuhrt  aber  dabei  auch  ein  Dasein 
iUr  sich.  Das  moderne  Lohnverhältnis  z.  R  setzt  bestimmte  recht- 
liche Regelung  voraus  resp.  schliefst  dieselbe  in  sich  ein,  für  das 
Wirtschaftliche  aber  dieses  X^erhältnisses  ist  z.  K  die  Höhe  des 
Lohnes,  welche  für  das  Rechtliche  irrelevant  ist,  von  gfrofeter  Be- 
deutung. Das  Wirtschaftliche  und  das  Rechtliche  können  in  den 
mannigüaltigsten,  ihr  gegenseitiges  Verliältnis  bestimmenden,  Kom- 
binationen an  den  sozialen  Phänomenen  auftreten.  Die  Kategorien- 
beziehung „Inhalt  —  Form"  i.st  nur  ein  dürftiger  Behelf  —  dieses 
mannigfaltige  Verhältnis  auf  eine  Formel  zu  bringen.  Diese  Formel 
erweist  sich  aber  entsrliiedc  ii  irreführend  insofern  sie  Stammler  dazu 
verleitet,  das  t;enetische  KausaK  erhältnis  zwischen  dem  einzelnen 
Wirtschaftlichen  und  dem  einzelnen  Rechtlichen  zu  leuL^men  und  ge- 
.sellschaftliclie  Wirtschaftsakte  unai)häni4iL[  von  der  Heiiingun:^  recht- 
licher Regelung  für  unmöglich  zu  erklären.    Dals  die  Wirtüciiaft 


Betrachtung'  mit  der  von  iliiicn  gengeltcn  Materie,  dem  l)e?ü{^lichen  menschlichen 
Zusammen wirkeD  stets  iu  sielt  vereint  nur  gegeben."    (Stammler,  ibidem,  229 — 2Jo.) 


Digiti/Oü  by  Cjt.)0^lc 


Die  Mansche  Theorie  der  ■oriakn  fiatwicklm^. 


669 


als  (ianzes  auf  das  Recht  als  (raiizes  nicht  einwirken  kann,  konnnt 
daher,  dafs  beide  ( iesamtbcj^riffe  ein  und  dasselbe  reale  Substrat 
unterstellen;  in  der  Wirtschaft  ist  das  Recht  und  vice  versa  bereits 
enthalten.  Es  hiesse  aber  den  Bepfriff  des  Rechtlichen  nuiblos  aus- 
dehnen, wollte  man  alle  sozialwirtsciiaftiiciie  Handlungen  und  \'or- 
gänge  als  rechtlich  geregelt  hinstellen,  Sozialwirtschaitliche  \'or- 
gängc  und  Akte  können  —  vom  Standpunkte  des  Rechtes  — 
völlig  indifferent  sein^  sie  können  aber  direkt  widerrechtlich  sein 
(c  B.  Strikes  in  Rulsland,  Trusts  in  Nordamerika)  und  trotzdem 
grolses  soziales  Gewicht  haben.  Es  handelt  sich  bei  den  sozialen 
Ersdieinungcn,  die  man  als  wirtschaftliche  Phänomene  nehmen  ma^, 
nicht  immer  um  sozialgercgelte  Verhältnisse.  Die  Stammlersche 
Definition:  ,,dn  ökonomisches  Phänomen  batst  eine  gleichheitliche 
Massenerscheinung  von  Rechtsverhältnissen"  (L  c,  S.  264)  ist  falsch. 
Ein  ökonomisches  Phänomen  kann  auch  eine  Masseneischeinung 
von  Rechtsverletzungen  sein,  es  kann  aber  überhaupt  das  wirtschaftlich 
wichtigste  an  ihm,  d  h.  das,  was  es  eigentlich  zu  einem  ökono- 
mischen Phänomen  macht,  einen  solchen  Inhalt  haben,  iiir  welchen 
Rechtsverhältnisse  an  sich  belanglos  sind.  Dals  ich  brotlos  bin, 
statuiert  —  abgesehen  von  dem  Rechte  auf  die  Armenunterstiitzung 
—  kein  Rechtsverhältnis  zwischen  mir  und  meinen  Mitbürgern. 
Wo  aber  die  Brotlosigkeit  Massenerscheinung  ist,  sprechen  wir  von 
dem  ökonomischen  Phänomen  der  Arbeitslosigkeit  resp.  der  Ueber> 
völkerung.  Man  darf  nicht  einwenden,  da(s  in  einer  anderen  Ge- 
sellschaftsordnung  eine  zweckentsprechende  rechtliche  Regelung  das 
ökonomische  Phänomen  der  Arbeitslosigkeit  ausschliefsen  würde. ') 


*)  Es  ist  dM  gtolse  Verdienst  von  Malthns,  ins  helle  Licht  gerOckt  in  heben, 

dafs  es  Uebervölkernngszostände  geben  kann  und  giebt,  die  eben  von  der  jeweiligen 
rechtlichen  Regelung  oder  Nonniening  des  sozialen  Lebens  im  Sinne  der  Verteilung 
des  gesellschaftlichen  Gesamtproduktes  d.  h.  aurli  im  Sinne  der  Marxschcn  ,.F'ro- 
duktionsvcrhiütni><se"  real  unabhän)^i^  sind.  Solche  L  clx-rvulkcruiip  bringt  an  der 
mangelhaften  Ausbildung  der  gesellschaftlichen  I'rotluktivkraftc  und  kann  mit  Fug 
als  absolute  bezeichnet  werden.  Dafs  eine  »olcbe  Uebervölkerung  nicht  nur  kein 
nReebtsrerhiltnb**,  sradern  eben  von  jeder  rediUicben  Regelung  unabhängig  ist,  ist 
in  ihiem  Begriffe  eingesddossen.  Der  Umstand,  d«ls  nnf  dem  Boden  einer  solchen 
nnbsolnten"  Uebervölkerung  nch  bestimmte  „aodale"  im  engeren  Sinn,  d.  h.  dnreh 
rechtliche  Regelw^  bedingte  Verfailtnisse  entwickeln  können  und  müssen,  nimmt 
der  Uebervölkerung  keineswegs  ihren  in  jenem  Sinne  absoluten  Charakter,  Marx  hat 
awmr  die  Malthusschc  Lehre  als  die  Theorie  der  Armut  in  der  kapitalistischen  Gesell- 
•cbaft  glänzend  widerlegt,  den  eben  fonuolierten  soziologisch  wichtigen  Gedanken 


Digitized  by  Google 


6/6 


Peter  von  StniTe, 


Dies  besagt  nur,  dafs  dieses  ökonomische  riiänomen  von  der  ge- 
samten  <Tc<^cbciicn  Wirlschafts-  resp.  Rechtsordnung  abhän^,  macht 
es  aber  nicht  zu  dem,  was  es  nicht  ist,  zu  einem  Rechtsverhältnis, 
wenn  anders  dieser  Wortverbindung  überhaupt  irgendwelcher  ge- 
nauer Sinn  zukommt. 

Die  AufEaissung ,  da&  ökonomische  Phänomene  —  ihrem  Be- 
griffe  nach  —  Rechtsverhältnisse  sind,  fiihite  Stammler  auch  dazu, 
die  innerhalb  bestimmter  Gesellschaftsordnung  sich  abspielenden 
Phänomene  von  den  auf  Umänderung  der  bestehenden  Rechtsord- 
nung gerichteten  Bestrebungen  scharf  zu  scheiden.')  Als  ob  Be- 
strebungen letzter  Art  nicht  in  Phänomenen  erster  Art  zum  Aus- 
druck gelangen  können  und  als  ob  ökonomische  Phänomene  nicht 
auch  gegen  die  bestehende  soziale  Regelung  sich  abspielen  können? 

Wenn  wir  nun  die  Marxsche  Theorie  der  sozialen  Entwicklung 
mit  der  Stammlerschen  vergleidien,  so  sehen  wir,  da(s  Stammler 
den  Widerstreit  der  ökonomischen  Phänomene  und  der  rechtlichen 
Bedingunf^en  innerhalb  einer  bcstiinniten  Gesellschaftsordnung  be- 
grifflich negiert  und  nur  den  Widerstreit  der  ganzen  Gesellschaft»- 
Ordnung  mit  den  gegen  sie  gerichteten  Bestrebungen  annimmt» 

dieser  Lehre  liat  i-r  fiiifiich  umgangen.  Wie  l)cdcatsani  über  dieser  Gedanke  für 
die  auf  Wirlschaftsgeschichte  basierte  neuere  Soziologie  ist,  beweist  der  Umstand, 
dafs  immer  und  immer  an  ihn  aod  nicht  ohne  Erfolg  angeknüpft  wird  (ich  nenne 
nur  Richard  Hildebnnd,  Muiim  Kowalewsky  und  AdiUle  Lori*). 

„Von  den  Bestrebungen,  die  auf  Hebung  und  Steigerung  sotial 
geordneter  Produktion  gehen,  sind  .  .  .  diejenigen  Bestiebongea  scharf  m 
scheiden,  welche  auf  Umftnderung  der  bestehenden  Rechtsordnung  ge- 
richtet sind.  Jene  treten  innerhalb  bestimmter  sozialer  Regelung  auf,  haben  diese 
XU  ihrer  unerliifslichen  Bcdingunc;  und  itellca  die  konkrete  Ausführung  derselben 
dar,  —  die  diir<h  die  ordnende  Form  geregelte  Materie.  Sic  erschaffen  und  ent- 
wickeln die  verschiedenen  sozialökonomischen  i'hanotuene,  in  deren  gewisser  Ver- 
folgung und  Klarl^ung  allein  dasjenige  gefunden  werden  loun,  was  tbomm  ala 
^manente  Gctttse"  einer  bestimmten  Froduktimisweise  beseidmca  mag.  Bk  ist 
dabei  abo  naaMndidi  auf  die  konkreten  dringlichen  Anlisse  und  wirklich  be> 
w^enden  Triebfedern  der  idnsda«n  handdnden  Individuen  unter  Berttcksiditignag 
Ton  deren  empiliacher  sozialer  Lage  zu  sehen;  und  es  können  dann  danach,  wie 
früher  bemerkt,  vergleichsweise  sichere  Tendcnrcn  der  kommenden  EnlwickUuig  der 
sozialw  irtschaftlichen  Phänomene  erschaut  werden.  Aber  inirner  bewegt  '^ich  alles 
dieses  im  kahnien  der  geltenden  Rechtsordnung.  Es  ist  alles  Beobachtete  nur  unter 
ihrer  Bedingung  sozial  existent,  und  es  fuhrt  die  Verfolgung  dieser  Art  sozialer  Be- 
wegung niemals  (sie!)  zu  der  Uminderung  einer  reclillichett  Ordnung,  als  der  b^ 
dingenden  Form  dieses  betreffenden  sodalca  Ldiens"  (L  c.  415). 


Digitized  by  Google 


Die  Maruche  Theori«  der  soiUlen  Entwicklung. 


671 


Marx  dafje':[cn  den  vmi  Stammler  ab^fcwicscncn  ersten  Wiik-rstreit 
bestehen  laist  iiiui  ilm  zum  realen  Boden  für  den  W  idei^treit  der 
gegebenen  Wirtschaftsordnung  und  der  grundsätzlich  gegen  sie  ge- 
richteten sozialen  Bestrebungen  macht.  Der  Unterschied  dieser  zwei 
Aul&ssuc^ii  ist  übrigens  —  der  Sadie  nach  —  nicht  so  grofs,  wie 
er  in  sdner  begrifTlich^abstrakten  Form  erscheinen  mag:  denn  auch 
nach  Stammler  erwachsen  die  gegen  die  bestehende  Gesellschafts* 
Ordnung  gerichteten  Bestrebungen  „aus  gegebenen  sozialen  Verhält- 
nissen".  Jeden&Ils  aber  ist  itir  die  Marxsche  Theorie  die  Annahme 
einer  Steigerung  der  Widerspruche  zwischen  den  ökonomischen 
Phänomenen  und  den  Rechtsnormen  charakteristisch.  Für  beide  — 
sowohl  Marx  als  Stammler  —  ist  die  Aufstellung  eines  Begriffes 
der  sozialen  Revolution  gleich  bezeichnend  Bei  Stammler  erhält 
dieser  Begriff  eine  schärfere  Fassung  als  bei  Marx,  weil  Stammler 
als  Träger  der  Revolution  nicht  „ökonomische  Phänomene"  oder 
.^Produktivkräfte"  sondern  direkt  auf  Abänderung  der  sozialen  Ord- 
nung gerichtete  Bestrebungen  utul  Bewegungen  hinstellt.  Gegen 
Marx  und  seine  Widerspruchsformel  können  wir  anfuhren,  daüs  der 
Widerstreit  der  einzelnen  konkreten  ökonomischen  Phänomene  ^cf^en 
die  einzelnen  rechtlichen  Bedingungen  notwendig  —  nach  der 
Grundansiclit  des  „historischen  Materialismus"  —  auf  die  l'eber- 
windun;^  dieses  Widerstreites  hindrängt.  Die  Ansicht  aber,  dnfs  die 
ganze  Rcclitsortinunt;;  der  "ganzen  Sozialwinschaft  nicht  entsj>richt, 
ist  unrealistisch:  Rechtsordnun;^^  Si •/.ialwirlschaft  sind  abstrakte 
Begriffe,  alier  keine  realen  Wesen  noch  Relationen.  Es  bleibt  nur 
noch  die  \*orstellun^  übrig,  dafs  die  Entwicklunt;  der  ( iesellschaft 
in  allen  Punkten  des  sozialen  Lebens  gleichzeitig  unerträi^lichc 
Widersprüche  zciti<^t,  die  irgendwie  —  in  Bausch  und  Bogen  — 
beseitigt  werden.  Diese  Vorstellung  einer  völlig  einförmigen  und  ein- 
deutigen Entwicklung  aller  sozialen  Phänomene  ist  ebensowenig  empi* 
risch  begründet,  wie  jene  Verselbständigung  der  Wirtschaft  und  des 
Rechtes  zu  eigenartigen  Substanzen.  Das  Ganze  der  sozialen  Entwick- 
lung wird  somit  in  der  Maneschen  Theorie  so  schroff  wie  nur  möglich  in 
,4critische"  und  „organische"  Epochen  zerlegt:  fiir  kritische  wird  Wider- 
spruch, iiir  organische  Harmonie  zwischen  der  Wirtschaft  und  dem 
Recht  statuiert.  Demgegenüber  muGi  immer  betont  werden,  da&  i.  real 
und  somit  wirklich  wirkend  nur  die  einzelnen  wirtschaftlichen  und 
rechtlichen  Phänomene,  als  Massenerscheinungen,  sind,  dafe  also  das 
Recht  und  die  Wirtschaft  nur  in  und  an  diesen  einzelnen  Thatsachen 
wiridiche  Existenz  ftihren,  und  3.  dals  der  Schein,  diese  einzelnen 


Digitized  by  Google 


673 


Peter  von  Strove, 


Phänomene  könnleti  alle  gleichzeitig  nacli  einer  eindeutigen  Forme! 
\('rlaufen,  nur  durch  die  eine  solche  Vorstellung  vorwegnehmende 
Zusammenfas>ung  tlerselben  als  „Wirtschaft"  einerseits,  „R<-*cht' 
andererseits  erweckt  wird.  In  der  wirklichen  Gesellschaft  giebt 
es  keinen  absoluten  Widerstreit  des  Rechtes  und  der  Wirtschaft 
und  keine  absolute  Harmonie  zwischen  ihnen,  sondern  fortwährende 
partielle  Kollisionen  •  und  Anpassungen  des  Wirtschaftlichen  und 
des  Rechtlichen.  In  ihnen  und  durch  sie  setzt  sich  die  Umbildung 
der  Gresellschaft  durch.  Was  das  Verhältnis  der  wirtschaftlichen 
Phänomene  und  der  sie  regelnden  Rechtsnormen  betrifft,  so  ist  die 
Thatsache,  dafs  den  ersten  genetisch  der  Primat  zukommt,  gar 
nicht  zu  bezweifeln.  Das  liegt  an  dem  grundl^nden  Unterschied 
zwischen  dem  Recht  und  dem  von  ihm  geregelten  „StofT':  während 
der  letztere  auch  ohne  rechtliche  Regelung  sehr  gut  existieren  und 
ein  gewisses  soziales  Gewicht  haben  kann,  fuhrt  das  erstere  ohne 
„Stot!  '  oh  derselbe  wirtschaftlich  oder  anders  geartet  ist,  ist  un- 
wesentlich) nur  eine  papierene  Fxistenz.  Es  giebt  nicht  selten  ein 
papierenes  oder,  was  in  der  Sach^  identisch  ist,  obliteriertes  Recht, 
aber  von  einer  papierenen  oder  obliterierten  Wirtschaft  hat  noch 
niemand  etwas  gehört.  Die  die  Wirtschaft  regelnden  Rechtsnormen 
kommen  und  sind  da  wegen  des  von  ihnen  geförderten  wirtscliaft- 
lichen  Zweckes,  der  das  Motiv  und  somit  die  Ursache  für  die 
Aufstellung  jener  NOrnicn  abgiebt.  Insofern  die  materialistische 
(ieschiohtsaulfassung  dieses  i)ehaui)tet  und  daraus  die  Anpassung 
und  die  An|)assungstt:ndenz  des  Rechtes  an  die  Wirtschaft  folgert, 
spricht  sie  eine  einlache,  aber  grolse  Wahrheit  aus. 

Die  von  mir  \  <  iri/etragene  Ansicht  schlielst  sowohl  den  Marxschen 
als  auch  den  .^tammlerschen  Hegriff  der  „sozialen  Revolution"  aus. 
Die  Anpassung  des  Rechtes  an  tlie  Sozialwirtschaft  hört  keinen 
Augenblick  auf  und  die  Entwicklung  der  ökonomischen  Phänomene 
geht  nicht  nur  im  Rahmen  der  jeweiligen  Gesellschaftsordnung  vor 
sich,  sondern  sie  ist  es  eben,  welche  diesen  Rahmen  umformt  und 
ausweitet  Es  giebt  nicht  —  wie  Stammler  meint  —  zwei  qualitativ 
verschiedene  Formen  der  sozialen  Bewegung  —  eine  Beweg^ung 
innerhalb  bestimmter  Gesellschafbordnungen  und  eine  auf  die  Um- 
wandlung und  Sprengung  der  jeweil^en  Gresellschaftsordnung  ge- 
richtete  6ew^[ung  — ,  sondern  es  giebt  nur  eine  Form  der  sozialen 
Bew^^g,  nämlich  die  Anpassung  der  Rechtsnormen  an  die  sozial* 
wirtschaftlichen  Phänomene,  an  welchen  sich  auch  die  mannigfachen 
sozialen  Bestrebungen  entwickeln  und  bethätigen. 


iJiyilizea  by  v^üOgle 


Die  MktzidK  TheCHie  der  aooileii  &itwiddiiiig. 


673 


Es  ist  immer  und  immer  in  der  marxistischen  Litteratur  das 
Bestreben  hervoi^treten,  einen  scharfen  Begriff  der  sozialen  tte- 
volution  im  Gegensatze  zur  sozialen  Reform  auszuprägen.  Stammler 
hat  ebenfalls  —  wie  wir  schon  festgestellt  haben  —  dieses  Be- 
streben übernommen  und  in  eigenartiger  Weise  verwirklicht.  Das- 
selbe ist  aber  —  soweit  es  sich  um  theoretische  Erkenntnis»  d.  h. 
um  kausal-^enctischc  Erklärung  handelt  —  völlig  verfehlL 

Der  BegrilT  der  sozialen  Revolution  ist  als  theoretischer  Begriff 
nicht  nur  wert-  und  zwecklos,  sondern  geradezu  irreführend.  Wenn 
die  ^^ziale  Re\olution"  eine  totale  Umwälzung  der  sozialen  Ord- 
nunpf  bedeuten  soll,  so  ist  sie  für  das  moderne  Denken  nicht  anders 
als  ein  langwieriger  kontinuierlicher  Prozess  \on  sozialen  Umge- 
staltungen vorstellhar.  Mag  eine  j)olitisclK'  Revolution  der  Schluls- 
stein  dieser  Entwicklung  sein,  das  Umwälzende  des  Prozesses  hängt 
nicht  im  mindesten  an  einem  solchen  Ereignis  und  kann  sehr 
gut  ohne  dasselbe  gedacht  werden,  hür  die  Marxsche  Theorie  von 
dem  sich  steigernden  \\'ider^])ruche  zwischen  dem  Rechte  und 
der  Wirtschaft  w.ir  allerdings  die  den  Widers|)ruch  aufhebende 
Revolution  logisch  notwendig.  Für  ilen,  der  die  Wiilersjiruchsformel 
in  dieser  allgemeinen  Geltung  abweist,  ist  die  soziale  Revolution 
nur  ein  anderer  Name  für  die  soziale  Evolution  und  deren  Resultate, 
kein  neuer  Begriff. 

Die  „dialektische"  Aufiiissung  fuhrt  notwendig  dazu,  die  soziale 
Umgestaltung  sich  unter  dem  viel  einfacheren  Bilde  der  politischen 
Revolution  zu  denken.  Diese  Vorstellungsweise  ist  nun  entschieden 
roh  und  unhaltbar:  soziale  Umwälzung  ist  begrifflich  ein  höchst 
komplizierter  Entwicklungsprozess,  und  je  mehr  Inhalt  wir  diesem 
Prozess  zusprechen,  desto  schwieriger  la&t  er  sich  als  „Revolution" 
vorstellen.  Oder  je  grofser  die  Umwälzung,  umso  weniger  kann 
sie  sich  in  einzelnen  Revolutionsakten  erschöpfen.  £ine  wirkliche 
soziale  Umwälzung  setzt  voraus  und  enthält  viel  mehr  als  einzelne 
revolutionäre  oder  reformatorische  Gesetzgebungsakte  der  die  „poli- 
tische  Macht"  jeweils  innehabenden  I\aktoren.  Wenn  wir  unter 
sozialer  Re\  riIution  uns  eine  totale  Umgestaltung  der  Gesellschafts- 
ordnung denken,  so  können  wir  das  Wrhältnis  einer  solchen  Re- 
volution zu  einer  politischen,  zu  der  „Revolution",  folgenderweise 
formulieren:  je  revolutionärer  die  soziale  Umgestaltung  ist,  desto 
weniger  kann  sie  „revolutionär"  sein.  Die  Kompliziertheit  und  der 
Reichtum  des  Inhaltes  schliefst  die  Euifachheit  der  Methode  aus. 

Es  ist  kein  Zufall,  dais  .Marx  —  wie  Bernstein  mit  feinem 


Digitizoü  by  C3t.)0^lc 


674 


Peter  tob  Strave, 


historischen  Verständnis  ausführt  (Die  Voraussetzungen  des  Soziahs- 
nius  und  die  Aufj^abcii  der  Sozialdemokratie,  S.  27 — 371.  hlcmentc 
des  Rabouvismus  untl  Blan(|uisiuus  übcrnumnicn  hat.  Es  ist  ja  — 
wie  bereits  betont  —  nur  ^anz  fol^ericiiti^.  dals.  wenn  die  soziale 
Entwicklung  nach  der  Formel  tler  Stcij^crunj^'  der  Gegensat/o  ver- 
läuft, die  „soziale  Revolution"  unter  dem  Bilde  ilcr  j)olitischen 
Revolution  vorgestellt  wird.  Diese  .Xuffassung  —  die  der  berüliiiuen 
Lehre  von  der  Diktatur  des  l'rolvtariates  zu  («runde  liegt  —  bricht 
aber  mit  dem  dialektischen  Entwicklungsgesetz  zusammen.  Sobald 
die  soziale  Entwicklung  einen  Prozefs  darstellt,  der  in  den  mannig- 
ialtigsten  Formen  —  als  Steigerung,  Abschwächung  und  neutrali- 
sierende Anpassung  der  Gegensatze  —  vor  sich  geht,  kann  er  gar 
nicht  unter  dem  eindeutigen  Bilde  der  „Revolution"  vorgestellt 
werden.  Der  übliche  Sprachgebrauch  ist  hierin,  indem  er  dem 
Wesen  nach  verschiedene  Dinge  durch  dasselbe  Wort  belegt,  irre- 
führend. Nun  ist  dieser  verwirrende  Sprachgebrauch  allerdings  eine 
einfache  Folge  der  irrtümlichen  Auf&ssung  der  Sache. 

Wir  sagten  bereits,  dafs  jene  Formel  I  in  welcher  wir  einen 
sinngemäfsen  Ausdruck  der  ,3teigerung  der  Widersprüche"  glauben 
gefunden  zu  haben,  auf  empirische  Allgemeingültigkeit  keinen 
Anspruch  erheben  kann.  Eine  Menge  sozialer  Entwicklungen 
verläuft  erfahrungsmäfsig  auf  andere  Weise.')  Wir  sind  somit  be- 
rechtigt den  Verlauf  durch  Steigerung  der  Gegensätze  als  einen 
relativ  seltenen  Fall  anzunehmen.  Dies  ergiebt  sich  aus  seiner 
näheren  Hctrachtung.  Eine  Wechselwirkung  der  widerstreitenden 
Monicnte  kann  im  Falle  der  Formel  1  --  der  Voraussetzung  nacl)  — 
nur  im  Sinne  der  Potenzierung  dos  Gci^cnsatzes  aufi^^efafst  werden. 
Nehmen  wir  an,  dafs  die  uns  beschältigcuticn  l'-rsi  hcinuiigoii  .-\  und 
H  zwei  widerstreitende  Hcstrebungeri  gegensätzlicher  sozialer  Gruppen 
sind.  Wird  ihre  .Aufeinanderwirkung  nicht  häufiger  in  einer  fort- 
schreitenden .Abschwächung  der  Bestrebung  der  schwächeren 
sozi.ilen  Gruppe  als  in  einer  Potenzierung  der  gegenseitigen  Wider- 
stände kulminieren?  Ein  jeder  konkrete  soziale  Kampf  l)elehrt  uns 
darüber.  Soziale  Siege  werden  viel  liäufiger  durch 
schrittweise  Abschwächung  der  Widerstände  als 
durch  revolutionäre  Aufhebung  potenzierter  Gegen- 
sätze errungen.   Sowohl  im  kleinen  als  auch  im  grofsen.  Wir 


Ich  sehe  gans  daTon  ab,  dafs  es  vid«  geieUschafUiche  Prosesse  giebt.  bei 
welchen  von  einem  Spiel  der  Gegensltse  überhaupt  keine  Rede  s«n  kann. 


Digitized  by  Google 


Die  MMXsdie  Theorie  der  tonialen  Entwiddmg. 


können  nicht  iur  die  soziale  Entwicklung  im  ganzen  ein  Gesetz 
postulieren,  welches  der  empirischen  Gestaltung  deijenigen  Vor* 
ginge,  welche  wir  wirklich  übeisehen  und  in  ihren  Kausalzusammen« 
hängen  wirklich  zu  erfassen  imstande  sind,  in  der  Regel  nicht  ent- 
spricht. Denn  das  Ganze  der  Kntwicklung  ist  hier  eine  begrififliclie 
Zusammenfassung  der  einzelnen  Vorgänge  in  ihrer  Aufeinanderfolge 
und  Wechselwirkung. 

Icli  will  den  Gedanken  an  zwei  Beispielen  erläutern.  Gesetzt 
es  entsteht  infolge  der  Entwicklung  der  Industrie  eine  praktisch- 
wirtschaftliche  Arbeiterbewe;^ning.  Es  wird  ein  Streik-  und  Koalitions- 
verbot erlassen  resp.  verschärft.  Die  Repression  und  somit  der 
Gcjzcnj^atz  nimmt  zu.  Im  weiteren  \'erlauf  der  I)iii<rc  wächst  die 
Arbcitcrl)o\\ ci^^uiil;  der  Repression  über  den  Kopf,  die  W'affen  der 
Repression  stumplen  >irh  ab,  und  schlielslich  werden  die  t;e;4eii  die 
Arljeiterbcwc'j[ung  gerichteten  Gesetze  aufgehoben,  i  Her  können 
wir  nacheinander  Steigerung  der  reziproken  W  iderspriiche  resp. 
Widerstände,  dann  ihre  Abschwächung  und  schließlich  den  Sieg 
einer  der  Parteien  wahrnelimcn. 

Hin  anderes  Beispiel  derselben  .\rt  ist  (\\c  Geschichte  des 
Sozialistengesetzes.  Eine  Reaktion  der  herrschenden  Klas.sen  und 
ihrer  R^ierung  gegen  die  aufstrebende  Arbeiterbewegung  hat  sich 
das  Gresetz  sowohl  in  seiner  Ausführung  als  auch  in  seiner  Wirkung 
an  der  wachsenden  Macht  der  Bewegung  in  steigendem  Mafse  ab* 
geschwächt  und  mufste  schlielslich  als  nutzlose  al^;estumpfte  WafTe 
weggeworfen  werden.  War  das  eine  Steigerung  oder  nicht  viel- 
mehr eine  Abschwächung  der  Widerstande? 

Wir  müssen  nochmals  mit  Nachdruck  hervorheben,  dafs,  die 
Allgemeingültigkeit  des  dialektischen  Entwicklungsgesetzes  einmal 
zugestanden,  die  „materialistische  Geschichtsauffassung"  als  die  Lehre 
von  der  sich  immer  durchsetzenden  Anpassung  des  Rechtes  an  die 
Wirtschaft  den  grölsten  Teil  ihrer  Geltung  verliert:  sie  erweist  sich 
dann  nur  als  ein  Erklärungsmittel  der  „sozialen  Revolutionen",  und 
ist  auf  die  Kleinarbeit  der  sozialen  Evolution  gar  nicht  mehr  an* 
zuwenden. 

Man  ist  bis  jetzt  an  dieser  wichtigen  Konsequenz  der  sog. 
dialektischen  Zusammenbruchstheorie  fast  immer  achtlos  vorbei- 
gegangen und  doch  mufs  diese  Konsequenz  ins  helle  Licht  gerückt 
werden,  damit  die  vollkommene  UnwissenschaftUchkeit  jener  Theorie 
^blofsgelegt  werde. 

Man  vergleiche  mit  der  haltlosen  auf  die  Dialektik  aufgebauten 


Digitizoü  by  C3t.)0^lc 


676 


Peter  TOn  Strnve, 


Zusammenbruchstheorie  ')  jene  oben  citierte  berühmte  Stelle  aus  ..Zur 
Kritik".  Marx  hält  —  bei  aller  theoretischen  Unklarheit,  die  durch 
bildliche  Ausdrücke  nur  verdeckt  wird  —  an  der  einzi<^^  realistischen 
\V.r<tellun((.  dafs  der  ^^an/.e  Ueberbau  der  rccliliichen  uiul  |)oruischen 
Einrichtungen  sich  „mit  der  Vcränderunj^'  der  ökoiioniischeii  (  rrund- 
la^e"  umwälzt,  fest.  Nach  der  neuesten  Lesart  der  marxistischen 
Theorie  fler  suzialen  Revolution  heilst  es  aber:  der  j^janz  rechtlicli- 
politischc  l  cberhau  der  kapitalistisc  lien  ( leselKschaft  verändert  sich 
in  dem  der  l'mwälzun^  der  (')koiK)nnsciHMi  (Trundlaj^c  direkt  ent- 
gegen^^esetztcii  Sinne.  Das  soziale  Leben  wird  \on  dieser  Zu- 
samnienl)ruchstheorie  mit  der  '^rörsteu  Willkür  in  mehr  oder  weniger 
grofse  begrififliche  Segmente  zerlegt,  deren  Wechselwirkung  sich  in 
der  Steigerung  ihrer  Gegensätze  erschöpft.  Hier  Wirtschaft  dort 
Recht.  Dieses  wird  immer  kapitalistischer,  jene  immer  sozialis- 
tischer. Wie  es  immer  bei  sachlich  und  begrifflich  unklaren  Kon- 
struktionen geschieht,  werden  Unklarheiten  durch  bildliche  Aus- 
drücke verdeckt  und  scheinbar  aus  der  Welt  geschafft.  Doch  nur 
ganz  scheinbar.  Das  was  nach  Marxschem  Vorgange  ProdukticMis- 
Verhältnisse  genannt  wird,  schliefst  in  äch  begrifflich  und  historisch 
schon  die  rechtliche  Regelung  der  Eigentumsverhaltnisse  ein.*) 
Allein  schon  dadurch  kann  vom  Marxschen  Standpunkte  logiscber- 
weise  von  einer  gegensatzlichen  Entwicklung  der  Produktions- 
verhältnisse und  der  Rechtsordnung  gar  nicht  gesprochen  werden. 
Noch  viel  wichtiger  ist  es  aber,  dafs  die  Annahme  einer  solchen 
Entwicklung  thatsächlich  und  absolut  jede  realistisch  gedachte  Ein- 
wirkung des  wirtschaftlichen  Phänomene  auf  die  Rechtsordnung 
ausschliefst.  Denn  man  bedenke :  die  Produktionsverhältnisse,  welche 
immer  sozialistischer  werden,  erzeugen  den  Klassenkampf,  der 
Klassenkampf  —  die  Sozialreformen,  letztere  aber  verschärfen  den 
kapitalistischen  Charakter  der  Gesellschaft.  Also  —  die  immer 
sozialistischer  werdenden  Produktionsverhältnisse  erzeugen  eine 
immer  mehr  und  mehr  kapitalistische  Rechtsordnung.  Die  Lin- 
wirkung  der  Oekonomie  auf  das  Recht  erzeugt  nicht  nur  keine 


'  Als  Specimen  kann  die  Schrift  von  Dr.  Rosa  Lttxemburg:  „SoMalreform 
öder  Revolution",  Leipzig  1899,  dienen. 

'1  Vgl.  die  oben  zitirte  Stelle  des  Vorwortes  aus  ..Zur  Kritik  ',  w  d  die  Eigen- 
tumsverhältnisse für  den  juristischen  Ausdrucli  der  Pro(!uktionsverhiihnis->c  erklärt 
werden,  und  aus  anderen  Schriften  von  M.nrx  insbesondere  das  vorletite  (51.)  Kapitel 
des  III.  Üandes  des  „Kapitals"  (III.  2,  413—421). 


Die  Mansche  Theorie  der  socialen  Entwicklung. 


6/7 


gegenseitige  Anpassung,  sondern  ste^^ert  immer  mehr  den  Wider- 
spruch beider.  Dies  ist  nicht  nur  barer  Widersinn  vom  Standpunkte 
der  Logik  und  der  Empirie,  sondern  auch  eine  runde  Lossage  von 
der  materialistischen  Geschichtsauffassung.  Ich  will  keinesw^s  den 
neueren  „Revolutions"-Theoretikern  des  Marxismus  vorwerfen,  dafs 
sie  ihren  Lehrer  einfach  nicht  verstanden  haben.  Im  Gegenteil: 
ihre  verkehrte  I  heorie  verdanken  sie  der  Konsequenz,  mit  welcher 
sie  die  Formel  der  Steigerung  Her  Gegensätze  im  .Sinne  von  Marx 
als  allgemeingültige  Formel  für  den  Verlauf  der  sozialen  I'mwcäl- 
zungrn  ausdenken.  Der  Konse(|uenz  alle  ( icrcchtigkeit !  Wenn  liier 
ein  W  iderspruch  ist,  so  ist  dies  der  \\'iders|)rucli  des  Marxsciifn  He- 
griffcs  der  sozialen  Rexolution  mit  der  nialerialisiisciicn  ( iescliichts- 
auttassung.  Die  tieuesic  ni.irxislische  Ortiiodoxie  giebt  die  letztere 
einfach  zu  Gunsten  des  ersteren  preis. 

Mai'x  hat  dies  nie  in  einer  so  oflenkuiidigen  Weise  gethan. 
Zu  seinen  Lebzeiten  hat  die  Lntwicklung  der  kapitalistischen  Ge- 
sellschaft jene  Probleme  noch  nicht  gezeitigt,  an  welchen  der  in 
Rede  stehende  Widerspruch  notwendig  zum  Vorschein  kommen 
muiste.  In  einer  iiir  unsere  Zeit  unmöglichen  Weise  konnte  Marx 
die  G^ensätze:  Evolutionismus  und  Revolutionismus  in  sich  ver- 
einigen. Oft  liels  er  ach  durch  die  Thatsachen  belehren,  ohne  aber 
nach  ihrem  Sinne  fiir  das  Ganze  seiner  Theorie  zu  fragen.  So 
hat  Marx  als  Verfasser  des  „Kapitak"  die  Bedeutung  der  Fabrik- 
gesetzgebung in  einer  Weise  gewürdigt,  welche  mit  der  in  der 
nächsten  Nachbarschaft  in  aller  Schroffheit  vorgetragenen  Ver- 
elendungstheorie gar  nicht  zu  vereinigen  war.  Dafs  er  dabei  aus 
den  Thatsachen  gelernt  hat,  beweist  der  Vergleich  der  Aus- 
führungen von  Marx  über  die  Zehnstundenhill  u.  dgl.  im  „Kapital" 
mit  der  BeurteilutiL:  derselben  in  dem  Aufsätze  von  Engels  in 
der  Revue  „Neue  Rheinische  Zeitung*',  welche  Beurteilung  zweifel- 
los auch  dem  Standpunkt  von  Marx  in  jener  Zeit  entsprochen  hat. 
Da  der  letztere  Aufsatz  wenig  bekannt  ist  will  ich  daraus  einige 
charakteristische  Aeurscrun<.^cn  riticren. 

„W'ar  die  Zehnstundenliill  haupt'-ai  lilich  von  Reaktionären  \er- 
treten ,  und  ausschließlich  \  on  reaktionären  Klassen  durchgesetzt 
worden,  so  sehen  wir  ....  dals  >ie  in  der  Weise,  wie  sie  durch- 
gesetzt wurde,  eine  durchaus  reaktionäre  Malsregel  war.  Die  ganze 
gesellschattliche  l'~ntwicklung  Lni^lands  ist  gel)unden  an  tlie  Lnt- 
wicklung, an  den  h'ortschritt  der  Industrie.  Alle  Institutionen,  die 
diesen  Fortschritt  hemmen,  die  ihn  beschränken,  oder  nach  aulser 


Digitized  by  Google 


678 


Peter  tob  Strnve, 


ihm  liegenden  Mafsstäbcn  regeln  und  beherrschen  wollen ,  sind 
reaktionär,  sind  unhaltbar  und  müssen  ihm  erliegen.  Die  revolu- 
tionäre Kraft,  die  so  spielend  mit  der  ganzen  ])atriarrhalischcn  Ge- 
sellschaft des  alten  Kurlands,  mit  der  Aristokratie  und  der  Finanz- 
bourgeoisie fertig  geworden  ist,   wird  sich  wahrlich   nicht  in  das 

gemäfsiglc  Netz  der  Zehnstundeiibill  eiiulämmen  lassen  Die 

Arbeiter  haben  durch  die  kurze  Lebensdauer  der  Hill,  durch  ihre 
leichte  \'ernichiung  —  ein  einfacher  Gerichtsbcschluls,  nicht  einmal 
eine  Parlamentsakte  reichte  hin,  sie  zu  aniuillieren  —  durch  das 
spätere  Auftreten  ihrer  reaktionären  ehemaligen  Bundesgenossen 
erfahren,  welchen  Wert  eine  Allianz  mit  der  Reaktion  hat.  Sie 
habe^n  erfahren,  was  es  hilft  einzelne  Detailmafs* 
regeln  gegen  die  industriellen  Bourgeois  durchzu» 
setzen.')  Sie  haben  erfahren,  dals  die  industridlen  Bourgeois 
zunächst  noch  die  Kbsse  sind,  die  allein  imstande  ist  im  gegen- 
wärtigen Augenblick  an  die  Spitze  der  Bewegung  zu  treten,  dafs  es 
vergeblich  wäre  ihnen  in  dieser  ])rogrcssiven  Mission  entgegen  zu 
aibeiten.  Trotz  ihrer  direkten  und  nicht  im  mindesten  eingeschlafenen 
Feindschaft  gegen  die  Industriellen  sind  die  Arbeiter  daher  jetzt 
viel  geneigter,  sie  in  ihrer  Agitation  fiir  vollständige  Durcbluhrung 
des  Freihandels,  Finanzreform  und  Ausdehnung  des  Wahlrechts  zu 
unterstützen  als  sich  abermals  durch  philanthropische  Vorstellungen 
unter  die  Fahne  der  vereinigten  Reaktionäre  locken  zu  lassen.  Sie 
fiihlen,  dafs  ihre  Zeit  erst  kommen  kann,  wenn  die  Industriellen  sich 
abgenutzt  haben,  und  deshalb  haben  sie  den  richtigen  Instinkt,  den 
Entwicklungsprozefs,  der  diesen  die  Herrschaft  geben  und  damit 
ihren  Sturz  vorbereiten  mufs,  zu  beschleunigen.  Aber  darum  ver- 
gessen sie  nicht,  dals  sie  in  den  Industriellen  ihre  eigensten,  direk- 
testen Keinde  zur  Herrschaft  bringen  und  daÜB  sie  nur  durch  den 
Sturz  der  Industriellen,  durch  die  Eroberung  der  politischen  Macht 

für  sich  selbst  zu  ihrer  eigenen  Befreiung  gelangen  können  

Die  erste  Folge  der  |irolctarischcn  Revolution  in  England  wird  die 
Zentralisation  der  grolscn  Industrie  in  den  Händen  des  Staates,  d.  h. 
des  herrschenden  Proletariats  sein,  und  mit  der  Zentralisation  der 
Industrie  fallen  alle  jene  Konkurrenzverhältnisse  weg,  die  heutzutage 
die  Regulierung  tier  Arbeitszeit  mit  dem  Fortschritt  der  Industrie 
in  Konflikt  bringen.  L  ud  so  liegt  die  einzige  Losung  der  Zehn- 
stundenfrage wie  alle  Fragen,  die  auf  dein  Gegensatz  von  Kapital 


')  Gesperrt  TOn  mir.  P.  S. 


Die  Manucbe  Theorie  der  sozialen  Entwicklung. 


679 


und  Lohnarbeit  beruhen,  in  der  proletarischen  Revolution"  (Revue 
„Neue  Rheinische  T^chung"  4.  Heft  1850  S.  13 — 16). 

In  der  „Inauguraladresse"  v.  J.  1864  ')  und  im  Kapital"  ist 
Marx  ül)er  diesen  naiv  revolutionären  Standpunkt  hinaus^ekonunen, 
war  aber  noch  nicht  in  der  Lage  sich  die  li)  perre\  olutionäre  Frage: 
ob  durch  lebensfähige  Sozialreforinen  die  Wand  zwischen  der 
kapitalistisclien  und  sozialistischen  Gesellschaft  nicht  höhergemacht 
werde  —  vorzulegen.  Er  brauchte  sich  gar  nicht  um  diese  lieikle 
Frage  zu  kümmern.  Erst  die  Wucht  der  neuesten  Entwicklung  des 
sozialen  Lebens  und  namentlich  die  wirkliche  Erstarkung  des 
Proletariates  haben  die  Frage  in  Begleitung  einer  Reihe  mehr 
oder  minder  mit  ihr  zusammenhängender  rein  praktischer  Probleme 
auf  die  Tagesordnung  gestellt  Somit  blieb  es  unserer  Zeit  Vorbe- 
halten, hinter  den  sozialen  Reformen  Fallstricke  des  Opportunismus 
zu  wittern.  Auch  ein  kleiner  historischer  Widerspruch :  ideol<^sche 
Unreife  als  Ausdruck  wirtschaftlicher  Reife.  Solche  ideologische 
Unreife  heilst  aber:  Dogmatismus  der  Epigonen. 

Es  ist  oben  bereits  angedeutet  worden,  daCs  die  neueste  mand- 
stische  Litteratur  sich  sehr  viel  mit  dem  Begriff  der  „sodalen  Re- 
volution"  abquält.  Der  ursprünglichen  Naivetat,  welche  die  Marx> 
sehe  Auffassung  auszeichnet,  beraubt,  fühlt  sie  sich  gezwungen,  die 
Berechtigung  dieses  thecwreti sehen  Pseudobegriffes  philosophisch  und 
soziologisch  zu  erweisen.  Diese  Versuche  müssen  aber  kläglich 
daran  scheitern,  daCi  eine  realistische  Auffassung  die  selbständige 
Geltung  jenes  B^iffes  neben  dem  Begriffe  der  sozialen  Evolution 
nicht  verträgt. 

Die  meisten  Marxisten  scheinen  im  Krnste  daran  zu  glauben, 
dafs  die  Phrase  von  dem  Umschlag  der  blofsen  (]uantitativen  V^er- 
änderung  in  eine  neue  Quantität  eine  reale  Erklärung  des  \''organges 
der  sozialen  Re\olution  gicbt.  Leider  ist  sie  nichts  anderes  als 
eine  Umschreibung  des  \'organges  durch  logische  Kategorien.  Eine 
erkenntnis-theoretische  Ueberlegung  wird  den  wahren  Sinn  dieser 
Umschreibung,  welcher  unkritische  Geister  eine  mystisch-dialektische 
Erklärungskraft  \indi/.iercn,  feststellen. 

Zwei  (jualitativ  verschiedene  Wahrnehmungen  werden  nicht 
ohne  weiteres  von  uns  als  verschiedene  Gestaltungen  „desselben 


')  Daraus  ist  das  Molto  des  BcmsteinschcD  Buches  genommen:  ,,Und  deshalb 
war  die  ZehottvndenbiU  nicht  blofs  ein  grofser  praktischer  Erfolg,  sie  war  der  Sieg 
•eines  Priosips.** 

Archiv  fiir  im«.  Gemttfebimg  a.  Statistik.  XIV  44 


Digitized  by  Google 


68o 


Peter  von  Strove, 


Dinges"  erkannt  Es  sind  immer  gewisse  Bedingungen  notwendig, 
um  uns  in  diesem  Falle  die  Dieselbigkcit  des  Dinges  annehmbar 
zu  machen.  £rkenntnis*theoretisches  Problem  ist  also 
nicht  die  Qualitätsveränderung,  welche  unmittelbar 
gegeben  ist,  sondern  die  Deutung  derselben  als  Ver- 
änderung desselben  „Dinges".  „Wir  .  .  .  fragen  natürlich 
nicht,  wie  ist  es  sachlich  möglich,  dals  ein  Ding  seine  Qualitäten 
verändert,  sondern  wie  und  in  welchem  Sinne  ist  es  mißlich  zu 
behaupten,  dals  es  eben  dasselbe  sei,  was  vorher  diese  und  jetzt 
eine  andere  Qualität  hat."  ')  Hieraus  ergeben  sich  weitere  für  den 
uns  interessierenden  Fall  nicht  unwichtige  Folgerungen.  Quaii-> 
tätsveränderunL^cn  desselben  „Dinges"  (und  unter  den 
Begriff  des  „Dinges"  iallt  auch  die  Gesellschaft*))  sind  nur  unter 
bestimmten  Bedingungen  denkbar.  Es  sind  dies,  nämlich  dieselben 
Bedingungen,  wclciic  uns  veranlassen  die  Idoiilität  des  „Diiii^cs"  trotz 
der  (]ualitalivcn  Aciiderungcn  der  unmittelbaren  Wahrnehmung  an- 
zunchmcfi.  Die  kardinalste  dieser  Bedingungen  ist  —  neben  der 
kausalen  Hei^rüiulung  —  ilic  erwiesene  oder  v  c»  r  a  u  >  g  e  s  e  t  z  t  e 
Stetigkeit  der  \^  e  r  ä  n  d  e  r  u  n  g.  Dieses  .,rn<(tz  der  Kon- 
tinuität aller  X'eräiulerung"  welches  die  hegelisch  ani^ehauchten 
Marxisten  -  nach  dein  Vorgänge  Hegels  —  als  sinnlose  Tau- 
tologie hinstellen  und  für  so  etwas  wie  reaktionären  Blödsinn"') 
ausgeben,  hat  kein  Geringerer  als  der  Begründer  der  deutschen 
idealistischen    Philosophie  Kant   aufgestellt.     „Alle  Veränderung 

ist  nur  durch  eine  kcmtintiiiliche  Handlung  der  Kau- 

salität  möglich    Es  ist  kein  Unterschied  des 

Realen  in  der  Erscheinung,  so  wie  kein  Unterschied  in  der  Crrölse 
der  Zeiten,  der  kleinste,  und  so  erwächst  der  neue  Zustand  der 


')  Vgl.  Wilhelm  Schuppe,    Erkeautnlüthcuretiscbc   Logik,   Boun  1S78, 


')  Vgl.  Th.  K  i  s  t  i  a  k  u  \v  s  k  i .  (  iesdlscbaft  und  Einzelwesen,  S.  I2r'--I33. 


(Sl.  l'etersburjj  1895.  Z.  74 — 77,  meines  Erachtcus  die  weitaus  beste  Darsicüuug 
der  geschicbtsphilosophischen  GrundlagcQ  des  ortbodosea  Manitmtu)  nod  gaas  in 
demselben  Sinne  Plechnnow,  „Beiträge  sur  Geschichte  des  Mnterisl^ns'«  (Stntt> 
gart  1896,  S.  159—160)  und  „Zu  Hegels  sechsaigstem  Gdiortstage"  in  der  „Neuen 
Zeit"  X,  I,  bes.  S.  379—881.  Aus  diesen  Schriften  hat  Dr.  Rosa  Luxemburg  ihre 
pbiloeophische  Begrftnduag  der  socialen  Rerolntion  als  „politischen  Schöpfongs- 
aktes'*  geschöpft. 


S.  445)- 


1.  das  russische  Uuch  von  licltow,  ,,M<inistisrhe  Gesohii  htsauffassunL:  ' 


Digitized  by  Google 


Die  Mansche  Theorie  der  socialcii  Entwicklong. 


6Sl 


Realität  von  dem  ersten  an,  darin  diese  nicht  war,  durch  alle  un- 
endlichen Grade  derselben,  deren  Unterschiede  von  einander  ins- 
gesamt Ideiner  sind,  als  der  zwischen  o  und  a."  ^) 


')  Kritik  der  reinen  Verounft.  2.  Autl.  der  K  e  h  r  b  a  c  h  sehen  Ausgabe,  S.  194  bis  195. 
Zar  ErlSaterung  mögeo  die  Torzäglicben  AuflÜmmgen  ton  Ziehen  Bod  Sigwart 
dieneo.  Vgl  des  Brsterai  FkychofAjiiologiache  Brkett&toisüworie,  Jena  1898, S.  1 1 — la : 
^Die  UKiiMfilidM  Bedingoag  füg  das  namittelbaie  Auftreten  der  BetiehnngiTonteUang 

„desselben  Dings"  ist  nicht  die  qoalitntivc  Gleichheit  der  •oocessiven  Empfindungen 
noch  auch  die  rchcrcinstimmung  ihrer  raumlichen  Lage,  sondern  die  Stetigkeit 
der  (lualitiitivcn  und  räumlichen  Veränderung.  Seihst  wenn  wir  später  durch  Ver- 
gleichung  un/.jhüfjer  komplizierter  koexi-itenter  und  succos>ivcr  limprinilun^jcn,  d,  h. 
s.  ü.  durch  die  Naturwissenschaften  die  Dicselbigkcit  auch  in  scheinbaren  unstetigen 
Veilnderungen  anffindeo,  10  bcfttht  der  Nach««»  einer  lokhen  Dieselbigkeit  doch 
itets  auf  demjenigen  einer  versteckten,  aber  jedenblls  thatsicblich  vorhandenen 
Stetigkdt.  Wenn  ein  Taschenspieler  dieselbe  Karte,  wdche  er  soeben  in  seiner 
Hnnd  seigt,  unmittelbar  nachher  ans  metner  Rocktasche  hervortleht,  so  aoceptieie 
ich  die  Vorstellung  der  Dieselbigkeit  für  die  Karte  nur  dann,  wenn  mir  die  Stetige 
keit  der  räumlichen  VerätKlerunj;  für  die  Karte  gezeigt  wird.  Es  ist  nun  psycho- 
logisch, d  h.  nach  den  'lesetzrn  dor  physiologischen  PsvcholOj^ic  sehr  wühl  ver- 
ständlich, dafs  succcssive,  stetig  sich  verändernde  Empfindungen  die  Vorstellung 
eines  Dings  hervorrufen.  Zwei  gleiche  Empfindungen  im  Nebeneinander  haben  ver- 
tchiedene  rlumlidke  KoefBnenten  und  sind  insolem  qualimtiT  dniehnus  verschieden. 
Daher  trots  der  Vorstellung  der  Gleichheit  die  Vontellung  mehrerer  Gcgenstinde. 
Unter  sncoessiven,  stetig  sich  verindemden  Empfindungen  werden  je  swei  seitlich 
benachbarte  qualitativ  (eiDSchliefsüch  der  räumlichen  Qualität)  völlig  übereinstimmen 
und  daher  nur  die  Vorstellung  eines  Dings  hervorrufen.  Da  die  Veränderung  stetig 
ist.  wird  diese  Vurstcllung  eines  Dings  sich  fortwährend,  trotz  der  zunehmenden 
DilTcrcnz  zwischen  der  au;^pnhlicklichen  und  der  anTänglichen  Empfindung,  erhalten. 
Anschaulicher  kann  man  sich  diesen  Thatbestand  machen,  wenn  man  erwagt,  dafs 
die  Trägheit  unserer  Rindenelemente  jeder  Erregung  eine  gevrisM  Nachdauer  sidiert 
und  dnher  eine  Verschmeltnng  der  suocessiven  Vorstellungen  begftnst^.  Wollte 
SM»  ein  voUkommencs  Analogon  sn  dieser  Snocession  stetig  verschiedener  Em- 
pfindungen  auf  dem  Gebiet  des  Nebeneinanders  aufsuchen,  so  müfste  man  z.  B.  eine 
Fläche  nehmen,  deren  Farbe  sich  stetig  von  der  einen  Grenzlinie  bis  zur  anderen 
verSndcrtc  o<hT  ;iui  h  völlig  gleich  hliebe.  In  einem  solchen  Fall  wird  auch  für 
das  Nchenciiiatulrr  /inuichst  die  Vorstellung  der  Dieselbigkeit  oder  der  Eitiheit  sich 
ciastellen,  und  nur  uuf  Grund  sekundärer  Ueberlcgungcn  werden  wir  die  Flaclic  in 
eine  Vidheit  von  kleineren  Flichendnhdten  «erlegen.  Die  sog.  analytisdie  Geo- 
metrie beruht  im  wcsentlidien  auf  der  eben  nnfgestellten  Analogie/*  Wesentlich 
iberebstiflsmend  damit  sind  die  lichtvollen  Ausführungen  von  Sigwart  in  dessen 
„Loctk"  (IL  Band,  2.  Aafl.  Freiburg  und  ]>ipsig  1893,  S.  12$— 127):  „Wenn 
vor  unseren  Augen  ein  blaues  Papier  sich  rötet,  ein  auf  den  Ofen  gelegtes  StOdt 

44* 


682 


Peter  von  Struve, 


Diese  Ausfuhrui^^en  enthalten  eine  erkenntnistheoretische 
Deutunj^  des  E  vol  u  t  i  o  n  ism  u  s.  Die  Stetigkeit  jeder 
auch  der  durchgreifendsten  Veränderung  ist  ein  not« 
wendiges  erkenntnistheoretisches  und  psychologi- 
sches Postulat  ihrer  Begreiflichkeit.  Das  Evolutions* 
prinzip  nimmt  eine  Stellung  analog  dem  Kausalgesetz  ein :  es  ist 
eine  allgeineingiltige  Form,  unter  welcher  wir  die  durchgreifende 
Veränderung  der  Dinge  uns  v»)rstellcn  müssen,  um  sie  zu  be- 
greifen. Ueber  den  Inhalt  und  flie  Kausalität  der  Veränderung 
sagt  das  pAolutionsprinzip  nichts  aus:  es  giebt  nur  ihre  Form 
an,  und  dirsr  I'\)rm  ist  -  -  Stetigkeit.  Der  alte  Satz:  natura  non 
facit  Salt  US  ist  dem  entsprechend  dahin  ahzuäiulern,  dals  man 
sagt:  intcllectus  non  patitur  saltus.  Eines  möchte  ich 
allerdings  hervorheben :  wie  die  Kausalität  des  men.schlichen  Thuns 
sich  nur  gleichsam  bildlich  in  den  sinnfälligen  Terminis  der  mecha- 
nischen Kausalität  ausdrüdten  lädst,  so  kann  auch  dk  Stetigkeit  der 
psychischen  und  sozialpsychischen  Vorgänge  durch  die  Berufung 
auf  die  stetige  Veränderung  der  physischen,  chemischen  und  son- 
stigen ,J>inge^  eben  nur  versinnbildlicht  werden.  Wenn  aber 
die  Subsumption  der  menschlichen  Handlungen  unter  das  allge- 
meine Kausa^esetz  immer  auf  die  psycholc^i^ische  Opposition  des 
jedem  gesunden  Menschen  eignen  Gefühles  seiner  Freiheit" 
stölst,  so  bat  andererseits  der  Gedanke,  dals  Veränderungen  in 
menschlichen  Dingen  nur  als  stetige  möglich  sind,  im  gewöhnlichen 
Bewußtsein  \-iel  tiefere  psychologische  Wurzeln  und  ist  ihm  viel 
geläufiger  als  die  entgegengesetzte  „revolutionäre"  Anschauung.  So 
kommt  es,  dafs  der  Evolutionismus  SO  oft  mit  konsen'ativcn  Ge- 
danken ver(]uickt  wird  (man  denke  nur  an  die  historische  Rechts- 
schulcl)  und  im  Gegensatz  hierzu  der  Determinismus  „revolutionärer'' 

\V.arhs  zcr^Lliiiiilzt,  wenn  in  unscrt-r  Hand  ein  kalter  Körper  sich  erwärmt,  ein 
harter  erweicht :  so  haben  wir  überall  einen  ganz  kontinuierlicbcD  Uebergang.  der 
•n  deiselbcii  Stelle  des  Rann«*  ticb  voUsidit,  md  dw  Motiv  tritt  nirgends  ein, 
«twa  aosuiiehmea,  dafs,  was  frOber  da  war,  dardi  eine  gaos  andere  Sobstaas 
ersetit  wordeD  sei;  die  Einheit  des  Dinget  haftet  in  dieser  Hinsicht,  wie  vorher 
an  der  räumlichen  Abgegrenztheit,  SO  jetst  an  der  seitliehen  Kontinnitit  der 
Empfindungsäbergänge  innerhalb  dieser  Grenzen,  hctv.  an  der  stetigen  Veränderung 
dieser  (Frenzen  selbst.  Um  dieser  Stetifjkeit  willen  glauben  wir  die  Einheit  auch 
dann  festhalten  /.u  müssen,  wenn,  wie  im  Falle  des  si  hinel/cndcs  Kiscn.  alle  und 
jede  uumiUelbar  emptiudbaren  Qualitutco  sich  änderu  —  Karbe,  Gestalt,  Temperatur, 
Härte  n.  s.  f.**  (1-  c.  ii6). 


Digitized  by  Google 


Die  Manucbe  Theorie  der  socialeii  EntwieUnnc. 


683 


Konsequenzen  beschuldigt  wird.  Trotzdem  hat  logisch  der  Evo 
lutionismus  ebensowenig  mit  konservativen  wie  der  Determinismus 
mit  „revcdutionären"  Ideen  zu  thun. 

Für  unsere  Sireitfrage  bedeuten  che  obigen  Ausführungen  die 
erkenntnistheoretische  Abschaffung  des  Begriffes  der  Revohition  als 
eines  selbständigen  t  h  e  o  r  e  t  i  s  c  h  e  n  Begriffes,  der  angcbhch  eine 
besondere  Art  der  sozialen  L  mgestaltung  aus/udrii(^ken  vermag. 
Der  Begriti  der  Revohition  wird  dadurch  in  (l.iNsrllir  (iebict,  wo 
sich  die  W  illensfreiheit  im  Sinne  ursachelo.sen  I  luinsi,  die  Substan- 
zialität  der  Seele  etc.  seit  Kant  befinden,  verwiesen:  es  sind  dies 
praktisch  höchst  wichtige,  theoretisch  aber  uiigiltige  Begriffe. 

Was  den  ,, Umschlag  der  Quantität  in  Oualilät"  betrifft,  so  ist 
diese  Formel  nur  ein  anderer  logischer  .XuMlruck,  um  eine  durch- 
gfreifende  Veränderung  „desselben  Dinges"  als  eine  stetige  und 
mefsbare  zu  charakterisieren.  Es  wird  durch  diese  Vorstellung 
eine  gegebene  Qualttätsrveränderung  fiir  uns  b^^iflich  gemacht. 
Wenn  es  nun  den  Uebergang  vom  Kapitalismus  zum  Sozialismus 
als  notwendig  zu  erweisen  gilt,  so  ist  dieser  Uebergang  als  ein  all- 
gemein begreiflicher  Prozess  darzustellen,  das  heiTst  als  stetige 
und  kausal  begründete  Veränderung  der  Gesellschaft 
nachzuweisen.  Es  ist  daher  erkenntnistheoretisch  von  vorn- 
herein klar,  dafs  es  völlig  verfehlt  ist,  wenn  man  bei  genetischer 
Erklärung  des  Sozialismus  ihn  in  einen  unüberbrückbaren  G^en- 
satz  zum  Kapitalismus  versetzt  —  dadurch  wird  der  theoretische 
Nachweis  seiner  Notwendigkeit  —  auf  realistischem  Wege  — 
einfach  unmöglich  gemacht.  Hier  arbeitet  die  neuere  orthodoxe 
marxistische  Dialektik  mit  für  den  gegebenen  F'.rkcnntniszweck 
absolut  un verwendbaren  Begriffen.  Dafs  der  Sozialismus  nicht 
identisch  ist  mit  dem  Kapitalismus,  ist  aus  diesen  Begriffen  ohne 
weiteres  zu  ersehen.  Bei  der  Begründung  des  Sozialismus  als 
einer  historisch  notwendigen  (iestaltung  der  Gesellschaft  gilt  es 
aber  —  da  der  Kapitalismus  dns  in  der  Wirklichkeit  (iegebene,  der 
Sozialismus  das  /u  Krschlielsende  ist  —  nicht,  tlas  beide  liestaltungen 
Treniicntle,  sondern  umgekehrt,  das  sie  notwendig  —  d.  h.  in  durch- 
gängiger Kau-salilät  und  in  .stetigen  l'ebergängen  —  Wrbindende 
auszufindcn.  l'ür  die  theoretische,  d.  h.  entwicklungsgeschichtliche 
Betrachtung  ist  der  in  der  marxistischen  I.itteratur  äulserst  beliebte 
Hinweis  auf  die  völlige  W'esensvcrschiedenheit  des  Sozialismus  untl  des 
Kapitaiismus  und  auf  die  Unmöglichkeit  den  Soziali.smus  im  Rahmen 
der  kapitalistischen  Gesellsciiaft  und  mit  den  Mitteln  derselben  zu 


Digitized  by  Google 


684 


Peter  tob  StroTe, 


verwirklichen  —  eine  Instanz  ^'(i,'eii  die  historische  N'otwendij^keit 
und  selbst  gc^en  die  Möglichkeit  des  Sozialismus.  Um  das  heiis 
ersehnte  Unmögliche  schlidslich  doch  als  notwendig  zu  erweisen, 
wird  das  soziale  Wunder  zu  Hife  gerufen  —  die  soziale  Revolution, 
die  den  l  mschlag  der  Quantität  in  die  Qualität  durch  die  ihr  inne- 
wohnende schöpferische  Kraft  zu  stände  bringL  Ks  liegt  in  dieser 
ganzen  Auh<'issung  ein  sonderbarer  Widerspruch :  die  \\  csens\  er- 
schiedi  nheit  des  Kapitalismus  und  des  Sozialismus  erfordert  not- 
wendig soziale  Revolution,  letztere  (Umschlag  der  Quantität  in 
Qualität)  unterstellt  aber  begrifilich  den  stetigen  Uebergang  vom 
Kapitalismus  zum  So^alismus,  der  durch  ihre  Wesensverschiedeaheft 
ausgeschlossen  war« 

Wenn  man  dem  konkreten  Gedanken,  welcher  dieser  logisch 
höchst  mangelhaften  Auflassung  zu  gründe  liegt,  nachspürt,  so  findet 
man  immer  den  simplen  Satz:  die  soziale  Umwälzung  ist  nur  durch 
das  Mittel  der  politischen  Revolution  vollziehbar.  Dieser  Gedanke 
bringt  uns  aber  theoretisch  keinen  Schritt  weiter,  denn  die  politische 
Revolution,  welche  als  Werkzeug  der  sozialen  Umwälzung  dienen 
soll,  setzt  schon  —  nach  der  Grundansicht  der  materialistisdien 
Gesduchtsaui&ssung  —  die  ganze  soziale  Umwälzung  voraus. 

Wie  hoch  man  auch  die  Bedeutung  der  Eroberung  der  poli- 
tischen Macht  durch  das  Proletariat  bewerten  möge,  so  ist  sie  doch, 
halbwegs  realistisch  aufgefalst,  nur  ein  Resultat  und  ein  Index 
der  sozialen  Umwälzung,  keineswegs  aber  ihr  ausschlieCslicher  Inhalt. 
Die  trul)erung  der  politischen  Macht  der  Gesetzgebung  und  der 
gesetzlichen  Reformarbeit  als  wesentlich  verschiedene  Momente 
gegenüberzustellen,  ist  einfach  sinnlos.  Die  Eroberung  der  poli- 
tischen Macht  lälst  logischer-  und  em|)!rischerweise  verschiedene 
Methoden  zu.  Andererseits,  ist  einmal  die  l--r<  )l)erung  der  politischen 
Macht  vollzogen,  so  ist  aus  dieser  Macht  kein  anderer  (ul)rauch  zu 
machen,  als  —  kraft  ihrer  —  „gesetzliche  Ketürniarbeif  zu  ver- 
richten. „Politische  Macht"  wird  erobert,  um  sie  —  im  Wege  der 
Gesetzgebung  und  X  erwaltung  —  auszuüben. 

Trotz  aller  evolutionistisrhcn  Zuthaten  kehrt  —  im  Gefolge 
der  diakklischcri  \'orstellun,_;sweise  —  die  alte  utopische  .Auf- 
la.s.sung  der  sozialen  Umwälzung  als  einer  politischen  Revolution 
immer  wieder  zurück. ') 


')  Hier  noch  ein  pa.-ir  Worte  über  die  „Dikt.atur  des  Proletariates".  Dieser 
jakobinitch-bluiqttUititclie  Begriff  ist  m.  E.  dam  aDgethan,  die  somle  Umwälxaag 


Die  Marxscbe  Theorie  der  sozialen  Entwicklung. 


685 


Wir  haben  gesehen,  daCs  diese  ganze  Vorstellungsweise  darin 
gipfelt,  da&  die  „materialistische  Geschichtsauffassung''  aus  einem 
Mittel  der  wirklichen  Erklärung  der  gesellschaftlichen  Entwicklung 
ein  Mittel  wird,  realistisch  nicht  vorstellbare  soziale  Wunder  schein- 
bar  zu  erklaren.  Materialistische  oder  ich  sage  lieber  realistische 
Geschichtsauffassung  schlägt  hier  thatsachlich  in  eine  sublimiert 
idealistische  und  utopistische  Ansicht  um.  Wenn  die  politischen 
und  rechtlichen  Verhältnisse  der  ka|>ilalistisclicn  Gesellschaft  —  die 
Entwicklung  der  Sozialreformen  und  der  Demokratie  darin  einge- 
schlössen  —  „eine  immer  höhere  Wand  zwischen  der  kapitalistischen 
und  der  sozialistischen  Gesellschaft  errichten",  so  führen  hier  in 
Wahrheit  Leib  und  Seele  ganz  getrenntes  und  anta<,'onistisches  Da- 
sein. Der  Leib  des  Kapitalismus  wird  immer  sozialistischer,  seine 
Seele  immer  kapitalistischer,  umgekehrt  der  Leib  des  sozialistischen 
Agenten  —  der  Arbeiterklasse  —  wird  immer  kaj)itaHstischcr,  seine 
Set.'le  aber  —  im  Vereine  mit  dem  Leibe  des  Kaj)itaHsmus  --  immer 
boziahstischer.  Und  so  ist  es  ganz  konsequent,  wenn  man  uns 
sagt,  dafs  die  stufenweise  sozialisierende  Wirkung  des  gewerkschaft- 
lichen und  parlamentarischen  Kampfes  auf  die  kapitalislisclie  Wirt- 
schaft blofs  imaginär  sei  (Luxemburg  1.  c.  28 — 29).  ,,Die  grofse 
sozialistische  liedeutung  des  gewerkschafthcheii  Kampfes  jjcstehe 
darin,  dafs  sie  (err)  die  Erkenntnis,  das  Bewufstsein  der 
Arbeiterklase  soziaUsieren".  Hier  wird  —  übrigens  ganz  logisch 
von  dem  einmal  angenommenen  Standpunkte  aus  die  Einwirkung 
des  Klassenkampfes  auf  die  Wirtschaft  geleugnet  und  der  Klassen- 
kampf zu  einer  ideellen  oder  spirituellen  Potenz,  welche  sich  in 
fortwährendem  und  steigendem  Gegensatz  zur  sozialen  Wirklichkeit 
bewegt,  verflüchtigt  Oder  vielmehr:  hier  tritt  an  Stelle  des  viel 
gerühmten  und  höchst  biegsamen  Monismus  ein  starrer  Dualismus, 
mit  welchem  man  jede  Empirie  unbarmherzig  über  den  Haufen 
wirft,  um  schliefslich  durch  das  Wunder  des  „politischen  Schopfui^;s- 
aktes"  in  den  ruhigen  Hafen  des  Monismus  der  au%ehobenen 

7U  einer  Regierungsmafsregel  ili  r  demokratische»  <  *hrl;;keit  zu  degradieren.  Die  „1  )ikta- 
tur  des  Proletariates"  —  weuu  solche  überhaupt  denkbar  ist  —  ist  mit  der  sozialen 
Umwdnmg  ganz  inkomacasiiiibel:  rie  ist  entweder  fOr  sie  völlig  übertlüs.sig  uder 
mehr  als  numreidieod.  Je  mdir  die  Geiellsdwft  —  knift  dem  ErsUirkea  der  Ar- 
bdterklasse  —  rieh  dem  SodaUsmas  nähern  wird,  desto  weniger  kann  nnd  braudit 
an  die  Diktatur  dieser  Klasse  gedacht  sa  weiden;  je  grflläer  der  Abstand,  der  die 
Gesellschaft  vom  Sozialismos  trennt,  desto  weniger  kann  das  Kraftndttel  der  n^ik> 
tatst"  über  diese  Unreife  ntn  Soaalisnuis  hinw^helfen. 


686 


Peter  von  Strnve, 


Widersprüche  zu  gelangen.  Dieser  Dualismus  inufs  folgerichtig 
das  „Bewußtsein"  der  Arbeiterklasse  von  ihrerr»  „Sein"  loslösen. 

Konsequent  durchdacht  erweist  sich  somit  die  ,,parteiübliche 
Auffassung"  oder  der  othodoxe  ^alektische"  .Marxismus  als  eine 
höchst  originelle  Art  des  Utopismus,  welche  ich  —  im  Gegensatz 
zu  anderen  utopistischen  Systemen  —  als  entwicklungsgcschicht- 
lichen  oder  historischen  lUopistnus  bezeichnen  würde.  In  der  Ent- 
wicklnn«[slchrc .  welche  unstreiliL;  das  Charakteristikum  und  die 
ülanzleistuii^  des  Marxschen  l^ozialismus  bildet ,  liegt  auch  seine 
verwundbare  Stelle,  und  sie  liegt  eben  in  der  angeblich  unüberwind- 
lichen „Dialektik". 

Man  wird  die  vielen  Widerspruche  nicht  los,  wenn  man  nicht 
ganz  entschieden  den  ( ledaiiken  der  „sozialen  Revolution"  als  theo- 
retischen Begrifif  fallen  lälst.  Mit  ihm  fällt  aber  jene  Betrachtung 
der  kapitalistischen  Entwicklung,  welche  die  begrifflichen  Gegen- 
satze Kapitalismus  und  Sozialismus  in  die  Entwicklung  selbst  hinein- 
legt. Dsidurch  erst  wird  der  Satz,  dals  der  Kapitalismus  sich  zum 
Sozialismus  entwickelt,  zur  vollen  Wahrheit.  Die  Notwendigkeit  des 
Sozialismus  wird  dann  nicht  durch  das  Wunder  der  „sozialen  Re- 
volution", welche  an  die  Stelle  der  kapitalistischen  Gesellschafts- 
Ordnung  die  sozialistische  setzt,  sondern  allein  durch  die  stetige 
Entwicklung  der  ökonomischen  Phänomene  und  ihrer  rechtlichen 
Normierung  in  der  kapitalistischen  Gesellschaft  begründet  Der 
Sozialismus  als  reale  Potenz  mufs  entweder  in  der  wirklichen,  d.  tu 
der  kapitalistischen  Gesellschaft  anzutreffen  sein  oder  er  hat  über- 
haupt keine  Exbtenz.  Soweit  also  der  Sozialismus  historisch  be- 
trachtet und  von  einer  Entwicklung  zum  Sozialismus  gesprochen 
werden  soll,  muls  eben  der  begriffliche  Gegensatz  zwischen  Ka- 
pitalismus und  Sozialismus  geschichtlich  aufgelöst  werden.  .Mle 
Unklarheiten  und  P^hlgriffc  der  marxistischen  Entwicklungslehre 
hängen  mit  der  Betonung  der  begrifflichen  Gegensätzlichkeit  des 
Kapitalismus  und  Sozialismus  zusammen.  Dieser  Gegensatz  wird 
in  Wahrheit  nicht  sowohl  aus  den  realen  Kämpfen  der  sozialen 
Kl.isseii  innerhalb  der  bestehenden  Gesellschaftsordnung  als  ihr  er- 
schlossenes und  abstrakt  hingestelltes  Imdresultat  abgeleitet,  als  zu 
dem  KaTn])fe  zweier  im  (irunde  xersrhicdener  Wesen,  iles  Kapitalis- 
mus und  des  .Sozialismu.s,  liyposlasieri.  I^als  diesen  Wesen  subjek- 
tive Träger  —  Bourgeoisie  und  Proletariat  —  sul)stituiert  werden, 
verdeckt  zwar  diese  I  I\  ()o.stasicrung,  .schafft  sie  aber  nicht  aus  der 
Welt.  Denn  es  sind  die  begrifflichen  Gegensätze,  Kapitalismus  und 


Digitized  by  Google 


Di«  Marxsche  'i'heorie  der  sotialcu  Lntwicklung. 


687 


Sozialismus,  an  welchen  der  gesamte  Entwicklungsprozeß  thatsach- 
lieh  gemessen  und  gewürdigt  wird;  und  sie  bestimmen  somit  von 
vornherein  die  Vorstellung  von  seinem  Gang.  Nur  dadurch  wird 
es  möglich,  von  der  „Aufhebung"  des  Kapitalisnius  durch  das 
Proletariat  zu  sprechen.  Dafs  die  „Aufhebung"  einer  Gesellschafts- 
Ordnung  ein  gar  nicht  vollziehbarer  Gedanke  ist  —  scheinen  die- 
jenigen, die  darüber  sprechen,  nicht  zu  ahnen. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort  die  „Dialektik"  eingehend  darzulegen 
und  zu  kritisieren.  Gegenüber  aber  der  fortgesetzten  Verherrlichung 
derselben  (in  eine  solche  ist  selbst  Bernstein  verfallen)  ist  es  mehr 
als  an^M  brarht  auf  das  Schärfste  zu  Ijctoncn,  dafs  es  keineswegs 
richtig  ist  die  „Dialektik"  mit  dem  Evolutionsprinzip  zu  identifizieren. 
Die  „Dialektik"  ist  eine  auf  einem  bestimmten  metaphysischen 
Prinzip  —  nämlich  auf  der  Identität  von  Denken  und  Sein  —  auf- 
gebaute logische  Methode.  Die  „Dialektik"  macht  somit  die  Logik 
zur  Ontologie.  Wenn  aber  in  dem  was  wir  Wirklichkeit  nennen 
Alles  flüssig  ist,  so  kommt  anrlrcrseits  das  logische  Denken  nur  mit 
Hilfe  tler  Konstan/.  und  Bestimmtheit  der  l'rteilc  und  Hci:,friflc  zu 
Stande.  „Die  Bedingung  der  MÖL^Hchkeit  vollkommener  L  rteilc  ist 
durchgängige  Konstanz,  \ollkommene  Bestimmtheit,  allgemeine 
IJebereinstimmung  luid  unzweideutige  spraciilichc  Bezeichnung  der 
X'orstellungcn,  welche  als  Prädikate  beziehungsweise  als  .Subjekte  in 
das  Urteil  eingehen.  Eine  Vorstellung,  welche  diese  h'ordcrungen 
erfüllt,  nennen  wir  Begritt"  im  logisciien  Sinn  des  Wortes."  ')  Ist  die 
Wirklichkeit  „dialektisch",  .so  ist  das  logische  und  somit  das  wissen- 
schaftliche Denken  —  seinem  Wesen  nach  —  undialektisch. 
Der  beliebten  Art  aber  die  Starrheit  des  Denkens  gegenüber  der 
'  „Dialektik",  d.  h.  der  Flüssigkeit  des  Realen  als  eine  unvermeidliche 
Schwäche  des  menschlichen  Geistes  anzufahren,  kann  mit  ebenso 
viel  Recht  die  Auflassung  entgegengestellt  werden,  dafs  es  lediglich 
dem  starren  Denken  mit  seinen  konstanten  Vorstellungen  und  Be- 
griffen gelingt,  die  „natürliche  Anarchie"  der  „dialektischen"  Wirklich- 
keit, d.  h.  der  Welt  der  unmittelbaren  Wahrnehmungen  praktisch 
und  theoretisch  zu  überwinden.  In  der  Starrheit  des  ,J>enkens" 
liegt  aber  nicht  sowohl  seine  Starke  als  die  Bedingung  seiner  Möglich- 
keit eingeschlossen:  ohne  dieselbe  kann  es  eben  selbst  nicht  gedacht 
werden.   Es  ist  ein  ontologisches  Vorurteil,  die  absolute  Veränder- 


1)  Vgl.  Christoph  Sigwsrt,  Logik,  I.  Bd.  (a.  Aufl.),  Freiburg  1.  B.  iS89^ 

s.  315. 


Digiti/oü  by  Cjt.)0^lc 


688 


Feter  toq  Striive, 


lichkeit  der  Welt,  welche  übrigens  ihrerseits  nur  mit  Hilfe  des  Be- 

{Triflfes  einer  absolut  beharrlichen  Substanz  und  einer  ebenso  absolut 
beharrlichen  Kraft  gedacht  werden  kann,  in  der  angeblichen  „Flüssig- 
keit" der  Begrifife  wiederfinden  zu  wollen.  Das  Veränderliche  so- 
wohl wie  das  Unveränderliche  der  Welt  wird  durch  konstante  Be- 
griffe der  menschlichen  I^rkenntnis  einverleibt. 

Ks  ist  höchst  reizvoll  zu  betrachten,  wie  der  dialektisciic  Marxis- 
mus, durch  praktisch-politische  Motive  <:jcleitet,  oder  besser  i^esas^t. 
verleilet,  an  der  unkritisriicn  Vcrweiidun;^'  der  starren  Ik-i^ritVe 
scheitert.  Der  Marxist,  ausgerüstet  mit  der  „Widerspruchslormcl", 
legt  mit  einem  wahrlich  „undialektisrhen"  Nachdruck  die  starren 
begrifflichen  (TCgcnsätze  in  die  Wirklichkeit  hinein.  Und  so  kommt 
es,  dafs  der  dialektische  Marxismus  st-in  cntwirklungsgcschichtliches 
Bild  zum  guten  Teil  mit  Hille  lic  r  aufs  I'cinlichste.  geradezu  religiös 
in  ihrer  Starrheit  und  ihrem  AIjsolutiMnus  gewahrten  Begriffe:  „So- 
zialismus". „Klasse"  etc.  konstruiert.  Was  gegen  den  sogenannten 
Opportunismus  in  der  Partei  auch  theoretisch  immer  ins  Feld  ge- 
führt wird,  sind  ja  nichts  anderes  als  die  absoluten  B^^ffe  des  So- 
zialismus und  des  Klassenkampfes. 

Der  dem  orthodoxen  Blandsmus  eigene  Begriffsabsolutismus  ist 
im  gewissen  Sinne  das  direkte  Gegenstück  der  „Dialektik"  oder  — 
wenn  man  will  —  treibt  hier  das  dialektische  „Denken"  ein  tücki- 
sches Spiel  mit  dem  „Sein":  das  Denken  gieist,  kraft  seiner 
Identität  mit  dem  „Sein"  das  letztere  in  die  ihm  genehmen  und 
•r-  o  wehe!  —  starren  Formen.  Die  materialistische  Identitats- 
philosophie  wird  durch  ihre  praktische  Vernunft  auf  im  schlimmsten 
Sinne  idealistische  und  „undialektische"  Bahnen  geführt  und  so  in 
ihr  Gegenteil  verkehrt  Es  ist  allerdings  das  gute  Recht  dieser 
{»-aktischen  Vernunft  —  des  Sozialismus  —  gegenüber  der  sozialen 
Wirklichkeit  ihre  sozialpolitischen  Postulate  mit  dem  gröfsten  Nach- 
druck geltend  zu  machen,  vor  dem  Forum  der  theoretischen  Er- 
kenntnis ist  aber  der  Streit  mit  anderen  Waffen  zu  fuhren. 

Denn  dies  mufs  doch  gesagt  werden:  wenn  man  sich  nach  der 
Herkunft  der  ßegrift'e  „Soziale  Revolution",  ., Zusammenbruch  der 
kapitalistischen  GeselLschaft"  etc.  fragt,  so  ist  keine  andere  Antwort 
auf  diese  Frage  möglich  als  folgende:  diese  theoretischen  Pseudo- 
begrih'e  sind  dem  unvermeidlich  irreführenden  Bestreben  erwachsen 
praktisch-i)olitischc  Postulate  des  Soziahsnuis,  d.  h.  eines  sozialen 
Ideals,  in  theoretische  Begriffe  im  Dienste  einer  geschicinliciien 
d.  h.  kausal-genetischen  Betrachtung  umzuprägen.    Was  als  leitende 


L  iyiii^üd  by  Google 


Die  iSaxiMtätt  Theorie  der  «nialen  Eniwiddiiiig. 


689 


Ideen  im  sozialen  Ideal  einer  streitbaren  sozialen  Gruppe  Itir  einen 
bestimmten  historischen  Moment  berechtigt  sein  mag,  ist  keinesw^s 
ohne  weiteres  für  die  theoretische  Erkenntnis  des  wirklichen  gesell- 
schaftlichen Geschehens  verwertbar.  Die  Stärke  des  wissenschaft- 
lichen Sozialismus  —  die  von  ihm  angestrebte  und  z.  T.  verwirk- 
lichte Verbindung  zwischen  der  Theorie  der  sozialen  Entwicklung 
und  dem  sozialpolitischen  Programm  eines  Klassenkampfes  —  ist 
gleichzeitig  auch  zur  Quelle  nicht  geringer  w^issenschaftlichcr  Irr- 
tümer f^ewortlcn.  Wenn  der  Umstand,  dafs  Marx  selbst  Sozialist 
war,  seinen  Sinn  für  die  geschichtliche  Rclatixität  der  kapitalisti- 
schen \\  irtschaftsordnung  ungemein  gcschäi  ft  hat  und  sonnt  seiner 
theoretischen  Leistung  in  nicht  zu  überschätzendem  Malse  zu  ^ute 
gekommen  ist,  so  hat  ainlrerseits  flersclbc  l'mstand  seinen  Blick 
auf  die  entwicklungsgcschiciitlicii  i^^ar  nicht  falsbare  Grenze  zwischen 
dem  Kapitalismus  und  dem  Sozialismus  geheftet.  Datlurch  wurde 
er  verleitet,  den  begritf liehen  ( Ic^ensalz  zu  einem  objekti\en  zu  er- 
heben, ihn  in  die  Wirklichkeit  willkürlich  zu  projizieren.  Daraus, 
dafs  der  Sozialismus  ein  revolutionärer  Begriff  ist,  d.  h.  dafs  seinen 
Inhalt  eine  vollständige  Umwälzung  der  scudalen  Zustände  ausmacht, 
folgt  aber  keineswegs,  dafs  dieser  Inhalt  sich  in  einer  oder  mehreren 
als  eine  reale  Einheit  gedachten  menschlichen  Handlungen  d.  1l  als 
Revolution  realisieren  kann.  Marx  hat  aber  aus  dem  revolutionären 
Inhalt  des  praktischen  Begriffes  Sozialismus  eine  gewisse  Art  seiner 
Verwirklichung  gefolgert  und  so  den  theoretischen  Begriff  der 
sozialen  Revolution  geschaffen.  Eine  regulative  sozialpolitische  Idee, 
ein  soziales  Ideal,  welches  starr  ist  und  starr  sein  soll,  ist  aber  für 
das  Er&ssen  des  gesellschaftlichen  Entwicklungsprozesses  gar  nicht 
verwendbar.  Für  die  entwicklungsgeschichtliche  Betrachtung  ist  der 
SozialbmuSy  wenn  sie  diesen  Begriff  und  dieses  Wort  benützen  will, 
in  so  und  so  beschaffenen  realen  A'^orgängcn  und  Tendenzen  der 
kapitalistischen  Gesellschaft  erschöjift.  der  praktische  Sozialist  aber 
kann  und  meinetwegen  darf  in  denselben  nur  —  „V'erewigung"  der 
kapitalistischen  ( lesellschaft  erblicken.  Es  ist  offenbar  aussichtslos 
diese  zwei  Standpunkte  \ersöhncn  zu  wollen:  denn  sie  arbeiten  mit 
ganz  verschiedenen  Bei^ritien  und  wenden  ganz  verschiedene  Mafs- 
släbe  an.  Sie  können  sich  gegense  itig  psychologisch  aushelfen  — 
aber  logisch  müssen  sie  innner  grundsätzlich  autonom  bleiben. 
Es  hiefse  sich  überhaujjt  einem  Wahne  hingeben ,  wollte  man 
[)raktische  Ideale  mit  theoretischen  Plirisichten  zur  vollständigen 
Deckung  bringen.    In  diesem  Sinne  liegt  in  der  Wortverbindung: 


Digitized  by  Google 


690 


Peter  von  Strave, 


wissenschaftlicher  Sozialismus  eine  grofse  Utopie  einge- 
schlossen. Der  Sozialismus  kann  —  seiner  N'atur  nach,  als  soziales 
Ideal  —  in  der  Wissenschaft  nie  aufgehen  und  sich  der  Wissen» 
Schaft  nie  unterordnen. 

Der  Marxismus  auch  in  seiner  realistischen  Fassung  enthält 
nicht  so  viel  Wissenschaft,  tlafs  Einem  da\or,  dafs  die  soziale  Zu- 
kunft \of  seinem  Hewulstsein  völlig  prädeterminiert  läge,  die  lel>en- 
dige  Schadenslust  \  ergingc.  Kr  ist  aber  wissenschaftlich  genug  um 
für  seine  Adepten  das  kühne  Ficlitcsche  Wort: 

„Man    mufs  nicht  nur  kämpfen,  sondern  auch 
siegen  wollen" 
zur  Wahrheit  zu  machen. 

Die  in  diesem  Aufsatze  vorgetragene  rtalistisrhe  Aulfassung  ist 
ebenso  auf  die  Marxschen  Ideen  und  namentlich  auf  die  Grund- 
ansicht des  historischen  Materialismus  von  der  sich  immer  durch- 
setzenden Anpassung  des  Rechtes  an  die  Wirtschaft  begründet  wie 
die  unrealistische  Betrachtungsweise,  welche  mit  dem  theoretischen 
Pseudobegriff  der  „sozialen  Revolution'*  arbeitet.  Marx  versus  Mancl 

Der  utopistische  Zug  tnufste  dem  Marxismus  als  theoretischer 
B^;ründung  des  Sozialismus  notwendig  anliaften,  solange  er  von 
den  thatsächlichen  Voraussetzungen  der  40  er  Jahre,  d.  h.  von  der 
Verelendungstheorie  au^ng und  ausgehen  mulste.  Seither  wurde 
aber  der  reale  Boden  der  Entwicklung  zum  Sozialis- 
mus  sichtbar  bezw.  ist  dieser  erst  geschaffen  wor- 
den: ich  meine  die  wirkliche  wirtschaftliche  und  poli- 
tische Machtentfaltung  der  Arbeiterklasse  innerhalb 
der  kapitalistischen  Gesellschaftsordnung.  Diese  alles 
andere  überragende  Thatsache  weist  dem  Klassenkampfe  des  Pro- 
letariats eine  ebenso  natürliche  als  wichtige  Funktion  zu.  Die  An- 
sicht, welche  die  allmähliche  Sozialisierung  der  kapitalistischen  Ge- 
sellschaft negiert,  ist  —  wie  wir  dies  festzustellen  schon  Gelegenheit 
hatten  —  gezwungen,  den  wirkUchen  wirtschaftlichen  und  ])olitischen 
Klassenkampf,  welcher  sich  niigendwo  anders  als  in  der  kapitali- 
stischen Gesellschaft,  unter  den  Voraussetzungen  und  mit  den  Mitteln 
derselben  abspielt,  als  eine  Art  geistiger  und  politischer  Trainierung 
(\c'<  Proletariates  für  den  entscheidenden  Schlag  der  sozialen  Revolu- 
tion aufzufassen.  Der  tägliclie  Klassenkampf  wird  dadurch  zu  einem 
an  sich  inhaltsleeren  Vorbereitungsmitlei  ge.slcmjjelt  und  des  leben- 
digen Zu.sammenhangs  mit  dem  realen  Leben  —  gluckliciierweise 
nur  in  der  Theorie  —  beraubt.    Nach  der  realistischen  oder  evolu- 


uyiu^cd  by  Google 


Die  Abncsche  Theorie  der  sodalen  Entwiddimg. 


tionistischcn  Ansicht,  welche  wir  vertreten,  ist  der  Klassenkampf 
eine  ebenso  reale  wie  ideale  Potenz.  Er  ist  das  Werkzeug  und  der 
Ausdruck  der  Machtenfaltung  des  Proletariates.  Allerdings  der 
Glaube,  dafe  die  Entwicklung  des  Kapitalismus  zum  Sozialismus  von 
einer  ins  Unbestimmte,  bis  zum  Eintritt  der  scMoalen  Revolution  fort- 
schreitenden Zuspit7.un<^'  des  Klassenkampfes  und  der  Klassengegen- 
sätze abhänj^t,  ist  mit  der  Lehre  von  der  allmählichen  Sozialisicrung 
der  ticsellschafl  nicht  vereinbar.  Soll  <lie  Sozialisirun^  wirklich  werden, 
so  TTuifs  sie  fortsc^hreilende  Abscinvächung  und  schlicblichcs  \'cr- 
schwinden  der  Klassengegensätze  mit  sicii  führen.  Dieses  Resultat 
wird  selbstverständlich  auch  von  dem  orthodoxen  Marxismus  an;^c- 
nommcn,  nur  dafs  dieser  das  X'^ersclnvinden  der  Klassenj^e^aiisätze 
von  ihrer  Zuspitziitii;  und  schlielslichen  „Aufhebung"  durch  die 
Diktatur  des  TroU  tariates  erwartet,  wir  aber  dasselbe  aus  seiner 
fortschreitenden  Machtentfaltung  und  seiner  sozial-reformatorischen 
Thätigkeit  ableiten. 

Ich  befiirdite,  dafs  mir  —  wegen  der  theoretischen  Negation  des 
Begriffes  der  sozialen  Revolution  —  der  Vorwurf  reaktionärer  nicht- 
sofldalistischer  Gesinnung  nicht  erspart  bleibt.  Dieser  Vorwurf  würde 
aber  ebenso  geistreich  sein,  wie  etwa  jener,  gegen  den  theoretischen 
Idealisten  gerichtete :  er  n^ere  die  „Existenz"  des  Hauses,  welches 
er  bewohne.  Man  würde  vergessen,  dafe  jede  wirkliche  „Revolution" 
innerhalb  der  Evolution  ihren  Platz  findet,  und  da(s  es  weder  wirk- 
liche Thatsachen  noch  reale  Bestrebungen  einzelner  Leute  und  ganzer 
Gruppen  sind,  welche  meine  Ansicht  negiert,  sondern  einzig  und 
allein  eine  ganz  bestimmte  Art  ihrer  begriffsmäisigen  Aul&ssung. 
Auch  meiner  Ansicht  nach  ist  der  Sozialismus  revolutionär  und  das 
Proletariat  soll  es  sein. 

Aber  die  soziale  Revolution  ist  nichtsdestowenig^cr  ein  Landing: 
Sie  ist  es  deshalb,  weil  in  dem  Sinne,  in  welchem  von  ihr  als  Re- 
volution gesprochen  wird,  sie  allen  irgendwie  als  Einheit  gedachten 
menschlichen  Handlungen  völlig  inkommensurabel  isL  Man  kann 
die  soziale  Revolution  anstreben,  aber  —  wenn  man  realistisch 
denkt  —  immer  mit  dem  Rewulstsein.  dafs  weder  der  Einzelne, 
noch  seine  ;^anzc  Klasse,  noch  überhau])t  eine  menschliche  Genera- 
tion sie  iiiai  lu  ii  kann.  Alles  was  wir  als  einheitliche  menschliche 
That  oder  lliätigkeil  uns  denken  können,  erweist  sich  —  nach 
realistischer  Ueberlegung  —  als  völlig  diesem  grofsen  Zwecke 
inadä()uat.  Inir  das  praktische  Bewufstsein  ein  einheitlicher  Zweck- 
gedanke, zerrinnt  die  soziale  Revolution  für  das  theoretische  Bcwulst- 


Digiti/oü  by  Cjt.)0^lc 


692 


Peter  ron  Strnve, 


sein  in  eine  Reihe  von  \'orc^änj]fen,  wird  zu  einem  Prozcfs,  über 
welchen  keinem  realen  ps\'chisclicn  Subjekt  die  Macht  zugesprochen 
werden  kann.  Der  gifilse  Unterschied  /.wischen  dem,  was  wir 
politische  Revolution,  und  dem,  wa.s  wir  soziale  Revolution  nennen, 
liegt  eben  tiarin,  dafs  wir  jener  ein  wirkliches  Subjekt,  welches  sie 
zu  seiner  That  maclit,  substituieren  können,  diese  aber  nur  subjekt- 
los, weil  alle  möglichen  historischen  Subjekte  überragend,  gedacht 
werden  kann.  Auch  iür  das  Proletariat,  als  ein  reales,  mit  einheit- 
lichem Willen  ausgestattetes  Subjekt,  mache  ich  —  aus  begreif- 
lichen Gründen  —  in  dieser  Hinsicht  keine  Ausnahme.  In  der 
Grölse  der  sozialen  Revolution  als  Zweckgedankens  manifestiert  sich 
ihr  Charakter  eines  mit  diueliien  moischlichen  Handlungen  unver- 
gleichbaren Entwicklungsprozesses:  soziale  Revolution  ist  entweder 
das  begrifflich  antizipierte  Resultat  der  sozialen  Evolution  oder  sie 
ist  diese  selbst 

Die  sogenannte  »^usammenbruchstheorie"  oder  die  Theorie 
von  der  sozialen, Revolution"  hat  sich  somit  für  uns  als  eine  logisch- 
begrifflich  unhaltbare  Lehre  erwiesen.  Sie  bedeutet  konsequent 
durchdacht  eine  Absage  von  der  realistischen  Grundansicht  des 
Marxismus. 

Ihre  empirische  B^ründung  fand  die  „ZusammefdMrudistheorie* 
bei  Marx  in  der  Lehre  von  der  naturnotwendigen  Verelendung  der 
\'olksmassen  im  Fortgange  der  kapitalistischen  Entwicklung.  Diese 
Lehre  hat  Marx  zwar  nie  fallen  gelassen,  sie  ist  aber  durch  That> 
Sachen  widerlegt  und  von  Marxisten  fast  durchgängig  aufgegeben 
worden.  Und  wäre  diese  Lehre  richtig,  so  wäre  ihre  Richtigkeit 
nur  ein  Beweis  gegen  die  Möglichkeit  eines  Sozialismus,  der  Sei  bst- 
befreiung  des  Proletariates  und  Fortschritt  der  Kultur  ist,  also  gegen 
die  Möglichkeit  des  Marxschen  Sozialismus. 

Die  Zusammefibruchstheorie  in  ihren  neuesten  Lesarten  knüpft 
£eist  ausschliefshch  an  die  Lehre  von  der  wachsenden  Anarchie  der 
kapitalistischen  Produktion  im  (legcnsatz  zur  gleichzeitigen  foii- 
.schreitenden  Vergesellschaftung  der  Produktion  und  Wachstum  der 
Produkti\kräfte  an.  Der  Fluch  der  Anarchie  thue  sich  danach  in 
Krisen  kund.  Nun  hat  .Marx,  dem  dieser  Gedankengang  entnommen 
ist,  „den  letzten  (irund  aller  wirklichen  Krisen"  in  der  ...Ainiut 
und  Konsumtion.sbeschränkung  der  Massen  gegenüber  dem  Trieb 
der  kapitalistischen  Produktion  die  Produktivkräfte  so  zu  entwickeln, 
ab  ob  nur  die  absolute  Konsumtionslahigkett  der  Gesellschaft  ihre 
Grenze  bilde"  erblickt  (Das  Kapital  m,  2,  21).   „Je  mehr  sich  


L  iyiii^üd  by  Google 


Die  l&nudie  Theorie  der  somlcn  Entwiddime. 


693 


die  Produktivkraft  entwickelt,  umsomehr  gerät  sie  in  Widerstreit 
mit  der  engen  Basis,  worauf  die  Konsumtionsverhältnissc  beruhen" 
(1.  c.  III,  I,  226).  Diese  allgemeine  Begründung  der  Krisen  durch 
den  Widerspruch  der  Aneignungs-  und  Produktionsweise  wird  ja  — 
wie  l)ckannt  —  auch  in  dein  ersten  Bande  des  ,,KniMt.i!s"  mit 
Naciidruck  ausgesprochen.  Die  Bemerkungen  im  zweiten  Hände, 
welciie  Bernstein  in  seinem  Buche  (S.  68—691  anführt,  enthalten 
keinen  Widerspruch  mit  dieser  Theorie.  .-Xllerdings  hat  Mar.\  anders 
als  Rodbcrtus  das  X'erhältnis  zwischen  Pro^luktionsbcwegung  und 
Krisen  einerseits,  LoimbeweguuL;  andrerseits,  aufgefalst.  Allgemeine 
Lohnsteigerung  war  für  Marx  —  eo  ipso  —  kapitalistische 
Lohnsteigerung  und  als  solche  mit  der  Verschlechterung  der  I^e 
der  arbeitenden  Klassen  nicht  nar  vereinbar,  sondern  notwendig 
verbunden.  Die  Planlosigkeit  der  Produktion  begründete  aber  bei 
Marx  nur  die  Möglichkeit,  nicht  die  Notwendigkeit  der  Krisen. 
Den  Boden  für  wirkliche  Krisen  giebt  die  planlose  Mehr  wert - 
erzeugung  ab.')  Und  diese  heidst  Kapit^ismus.  Kapitalismus 
aber  erfordert  notwendig  die  Unterkonsumtion  und  die  Verelendung 
der  Massen. 

Man  kommt  also  nicht  um  die  Verelendung  herum.  Wie  eben 
angedeutet,  ist  die  Verelendungstheorie  auch  von  den  meisten  ortho- 
doxen Marxisten  in  ihrer  ursprünglichen  und  iÜr  die  Vergangenheit 
lebenswaliren  konkreten  Fassung  aufgegeben  worden.  Sie  wird 
aber  nichtsdestoweniger  hartnäckig  „uminterpretiert".  -)  Ein  Beispiel 
solcher  Uminterpretierung  führt  Bernstein  (1.  c.  S.  148)  an.  Unter 
„wachsender  Masse  des  Llends"  meinten  —  nach  ("unow  —  Marx 
und  Lngels  „nur  einen  Rückgang  seiner  'des  Arbeiters)  gesellschaft- 
lichen (iesamtlage  im  X'erhältnis  zur  Zunahme  der  Produktivität 
und  der  Steigerung  der  allgemeinen  Kulturbedürfnisse".  hs  ist 
richtig,  dafs  Marx  (und  noch  schärfer  Rodbertusi  neben  der  ab- 
soluten auch  die  relative  Verschlechterung  der  Lage  der  Arbeiter 
energisch  betonten.  Marx  drückte  diesen  von  ihm  angenonmienen 
Sachverhalt  in  der  Sprache  seiner  Begriffe  so  aus,  dals  er  das 
Wachstum  tier  Rate  des  Mehrwertes 
M  (Mehrwert) 

V  (Variables  Kapital  =«=  Gesamtsumme  der  Arbeitslöhne) 

')  Vgl.  die  Auslassungen  ira  „Kapital"  Band  I,  3.  Aufl.  S.  84—85. 

-I  Nach  dem  Ausdrucke  von  K  r  i  e  d  r  i  c  h  Otto  Hertz.  Wrfasscr  eines  Icsrn?- 
wr-rtcii  Autsat/c?:  „Rcrnstcia  und  die  Sozialdemokratie"  in  Ferncrslorfers  „Deuuclien 
Worten'  Junibeft  1099. 


Digitlzed  by  Google 


694 


Peter  von  Struve, 


im  Fortgänge  der  kapilalistischeii  Entwicklung  behauptete.  Aber 
eben  diese  Behauptung  läfst  sich  mit  den  Thatsachen  sehr  schlecht 
in  Einklang  bringen.  Für  die  Anfange  der  grolskapitalistischen 
Entwicklung  (erste  Triumphe  des  Maschinenwesens!)  dürfte  sie  wohl 
allgemein  das  Richtige  treffen,  in  den  weiteren  Stadien  und  vollends 
ins  Unbestimmte  hinaus  ist  ein  Steigen  des  Exploitationsgrades 
der  Arbeit  gar  nicht  anzunehmen.  Die  Mehrwertsrate  kann  näm- 
lich nur  dann  wachsen,  wenn  entweder  der  Arbeitslohn,  aus  wel- 
chen Gründen  es  sei,  sinkt  oder  der  Mehrwert  steigt  Das  Sinken 
das  Arbeitslohnes  ist  aber  wahrlich  nicht  die  Signatur  der  neuesten 
wirtschafUichen  Entwicklung  aller  kapitalistischen  Lander.  Ohne 
Sinken  des  Arbeitslohnes  kann  der  Mehrwert  entweder  der  Ver- 
längerung der  Arbeitszeit  oder  der  Intensifikation  der  Arbeit  ent- 
springen. Verläi^erung  der  Arbeitszeit  ist  für  alle  kapitalistischen 
Länder  im  Fortgange  ihrer  kapitalistischen  Entwicklung  ebenfalls 
nicht  zu  konstatieren,  vielmehr  ist  das  Gegenteil  im  allgemeinen  zu 
beobachten.  Intensifikation  der  Arbeit  findet  wirklich  überall  statt, 
ist  aber  aus  physiologischen  Gründen  erstens  häufig  mit  ent- 
sprechender Steigerung  des  Arbeitslohnes  verbunden,  zweitens  an 
eine  unüberschreitbarc  Grenze  gebunden.  Dciiina(  h  scheint  mir  an- 
gcsicius  der  neuesten  wirtschaftlichen  luilwicklun^  die  Lehre,  dals 
die  Mehrwertsrate  ndcr  der  IvxploitationsL^rad  der  .Arbeit  im  Fortgänge 
der  kapitalistischen  Entwicklung  immer  anwächst,  unhaltbar  zu  sein. 
Mit  Erfolg  ist  die  entgegengesetzte  These  zu  vertreten,  welche  sich 
auch  widerspruchslos  in  das  (iesamtbild  der  neuesten  ökonomischen 
Entwicklung  einfügt.  Die  zu  den  besten  Hoffnungen  berechtigende 
Signatur  dieser  iMitwicklung  ist  ja  die  stetige  wirtschaftliche  Er- 
starkung der  Arbeiterklasse,  die  reale  Basi.s  auch  ihrer  politischen 
Machtcntfaltung.  Diejenigen  aber,  die  sich  auf  die  Autorität  von 
Rodbertus,  welcher  angeblich  unwiderlegbar  nachgewiesen  hat,  dafs 
der  Anteil  der  Arbiter  an  dem  Nationalprodukte  mit  zunehmender 
Induktivität  der  Arbeit  immer  kleiner  werde,  berufen,  sollten 
sich  doch  erinnern,  dafs  Rodbertus  mit  diesem  Satze  eigentlich 
nichts  anderes  als  das  Lassallesche  „eherne  Lohngesetz"  seligen 
Angedenkens  vertrat,  und  genau  mit  denselben  Argumenten.  Für 
ihn  und  für  Lasalle,  welcher  ihm  hierin  treu  folgte,  waren  eben  die 
rein  wirtschaftlichen  Widerstände  der  Arbeiter  gegen  die  Ansprüche 


■)  Dieser  Gesichtspuiikt  wird  sehr  gut  von  Pattl  Kampffmeyer  iD  teiocr 
BrosehOie  „Mehr  Macht**  (Berlin  1898)  aiugeffthrt 


Die  Mansche  Theorie  der  aotialen  Entwicklung. 


des  Kapitals,  ilire  ^  c \v c  r ks c  h  a  f 1 1  i  c  Ii  c  Selbsthilfe  u.  a.  mehr, 
gleich  Null.  Dies  ist  aber  sowohl  theoretisch  als  praktisch  — 
ein  überwundener  Standpunkt,  auf  den  sich  auch  die  sozialistische 
Arbeiterschaft  nie  mehr  stellen  wird. 

Aber  ich  will  davon  absehen,  dals  die  Zusammenbruchstheorie 
als  eine  Theorie  der  allgemeinen  Krise  notwendig  auf  die  Lehre 
von  der  fortschreitenden  Verelendung  resp.  der  sozialen  Herab> 
drückung  der  arbeitenden  Bevölkerung  zurückfuhrt  Eine  ganz 
andere  Fra^e  drängt  sich  mir  au£  Ich  bin  ketzerisch  genug  zu 
fragen:  würde  der  „Zusammenbruch"  der  kapitalistischen  Gesellschaft 
wirklich  einen  Sieg  des  Sozialismus  bedeuten?  Hier  erweist  sich 
m.  wie  jener  oben  gekennzeichnete  BegrüTsabaolutismus  und  Be- 
griffsrealismus  des  Marxismus  der  utopistischen  Betrachtungsweise 
Thor  und  Thür  öffnet  Die  einander  ausschliefsenden  Begriffe: 
Kapitalismus  —  Sozialismus  werden  zu  realen  Wesen  umgebildet 
und  umg^edichtet.  Der  Widerstreit  dieser  angeblich  realen  Wesen 
wird  so  vorgestellt,  als  ob  das  eine  das  andere  zu  verschlingen  be- 
rufen wäre.  Und  doch  sind  es  nur  verschiedene  Gestaltungen  des 
einen  lebendigen  Ganzen,  der  Gesellschaft.  Dafs  in  ihr  Klassen- 
kämpfe vor  sich  gehen,  soll  uns  nicht  vergessen  lassen,  dafs  das 
gemeinsame  Substrat,  an  und  in  welchem  jene  Klassenkämpfe  sich 
abspielen,  gewisse  allgeiueine  Kxistenzbc(liu<^ainL^eii  hat,  die  durch 
keinen  Widerstreit  der  Interessen  aui^ijchobeii  werden  können. 

Ist  der  Zusammenbruch  der  kapitalistisrlien  Gesellschaft  infolge 
Ausbildung  des  Weltmarktes  als  etwas  Greifbares,  Reales  zu  denken, 
so  muG»  er  eine  objektive  „materielle"  Unterlage  voraussetzen.  In 


')  ..In  einem  sich  selbst  übcrlassenen  Verkehr  mit  den  lieiitij;rn  Eigctitums- 
Terhältnissen  ist  es  ein  Gesetz  su  gewifs,  wie  das  von  Ursache  und  Wirkung  über- 
•haupt,  dafs  Ihr  (d«r  Arbeiter)  wirklicher  Arbeitslohn  fortwifhieiid  sv  dem  Betrage 
bciabgcsogea  wird,  der  xur  Erhsltai^  Ihrer  Krifte  and  sor  Versorgung  der  Gesell- 
schaft mit  aenen  Arbdtera  erforderlich  ist  —  dem  sogenannten  notwendigen  Arbeits» 
lohn.  Dies  Gesetz  ist  eben  so  gewifs  wie  das,  dafs  sich  in  einem  solchen  Verkehr 
die  Preise  nach  den  Kosten  regulieren  und  beruht  znletxt  auch  auf  denselben 
Gründen.  Lassalc  hat  Ihnen  dies  Gesetz,  sowie  die  pcrin^en  Modalitäten,  unter 
denen  es  gilt,  so  genügend  auseinandergesetzt,  dafs  darüber  kein  Wort  mehr  zu 
verlieren  ist.  Es  ist,  wie  man  gesagt  hat,  ein  „natürliches  Gesetz",  das  alle  grulscn 
Ifatiooalökonomen  aller  zivilisierten  Völker  unumwunden  anerkannt  haben."  (Rod* 
iierttts,  Offener  Brief  an  das  Komitee  des  dentsdica  Arbeiterverebs  sn  Leipzig, 
1863,  in  „Gesammelte  Kleine  Sdiriften"  heraoag.  von  M.  Wirth,  Ausg.  1899^  Berlin 
J899.  S.  320.)  . 

Archiv  fiir  tot.  Get«U(«binc  u.  Statistik.  XIV.  45 


L  iyui^ed  by  Google 


696 


Peter  von  Struvc, 


der  TKat  haben  Marx  und  Engels  immer  an  eine  Wddcrise,  d.  b. 
an  eine  Verschiebung  resp.  einen  Bankerott  der  bereits  entwickelten 
resp.  sich  noch  zu  entwickelnden  internationalen  Arbeitsteilung  ge- 
dacht Es  ist  dies  auch  ganz  richtig:  denn  der  „Zusammenbruch* 
der  kapitalistischen  Gesellschaft  ist  nur  auf  diesem  Boden  real  vor- 
stellbar.  Ich  frage  nun:  wird  durch  einen  solchen  i^Zusammcn- 
bruch"  der  Sozialismus  etwas  gewinnen?  Diese  Frage  muls  m.  £. 
entschieden  im  verneinenden  Sinne  beantwortet  werden.  Ich  will 
diese  These  etwas  näher  ausfuhren. 

Realistischerweise  kann  an  eine  gleichmäfsige  Ausbildung  der 
kapitalistischen  Industrie  in  der  gesamten  Welt  gar  nicht  gedacht 
werden.  Die  natürlichen  Unterschiede  einzelner  wirtschaftlichen 
Gebiete  werden  immer  die  materielle  Basis  für  die  unterschiedlichen 
wirtschaftlichen  Gestaltungen  abgeben.  Aber  es  wäre  auch  redit 
traurig,  mit  dem  Sozialismus  auf  die  kapitalistische  Umbildung  des 
ganzen  Erdballes  warten  zu  müssen.  Wir  haben  uns  also  den  „Zu* 
sammenbruch"  nicht  in  der  gesamten  VVeltwirtschaft,  welche  immer 
nicht  kapitalistische  und  —  was  ebenso  wichtig  —  nicht  industrielle 
Wirtscliaftsgebietp  umfassen  wird,  sondern  in  einem  mehr  oder 
minder  begrenzten  Industri^eWet  denken. \)  Für  ein  solches  Gebiet 
würde  aber  der  reale  Zusammenbruch,  d.  h.  die  akute  oder  chronische 
Zusammenschrumpfung  des  Absatzes  unheilvoll  werden  und  würde 
speziell  die  Trägerin  des  Sozialismus,  die  industrielle  Arbeiterklasse, 
auf  (las  schwerste  schädigen  und  sciiwächen.  Aus  dem  „Z  u - 
s  a  ni  m  e  n  b  r  u  c  h  e"  des  K  a  p  i  t  a  1  i  s  m  u  s  z.  B.  in  Deutschland 
würde  d  i  e  S  0  z  i  a  1  d  e  ni  o  k  r  a  t  i  c  auf  tl  c  n  K  o  p  f  g  e  s  c  h  1  a  g  e  n 
und  das  A  g  r  a  r  i  e  r  t  u  ni  siegreich  und  gestärkt  heraus- 
komnicii.  Kin  solcher  Zusammenbruch  würde  in  Wirklichkeit 
agrarische  Rückbildung  bedeuten.  I\)siti\-  ausgedrückt:  der  wirk- 
lich  in  der  heutigen  \\'irtschafti)urdnung  begründete  Sozialismus 


•)  .\uch  die  glcichmSfsigc  Ausbildaag  der  kapitaUstitdien  Wirtstliaft  auf  drr 
guiscn  Erde  vorausgesetzt,  bildet  ihr  Zusammenbruch  erst  recht  ein  Problem,  das 
notwcii'lij^  —  wie  ich  sehe  —  auf  die  Prufuiii;  der  fundamentalsten  Partieen  der 
Marxschcn  Theorie  des  Kapitals  fuhren  mufs.  Denn  eine  Marktverschiebung  inner- 
halb der  Weltwirtschaft  ist  etwas  ganz  anderes  als  die  in  jenem  Falle  angenommene 
Unmöglidikeit  der  Wcitcrentwicklnog  des  völlig  ausgebUdeteo  wdtwirtsdMAUcliett 
Kqiitalismiu  all  eloes  Ganien.  Diese  UBtnAgUelikcit  ist  keinesircgs  eioe  ofane 
ireitcres  «ugemachte  Sache,  sondern  ein  ProUen,  von  welchem  diejenigen,  Um 
immer  vom  Zasammenbmdie  reden,  eigeadich  kdne  Ahnung  haben. 


Digitizoü  by  Cjt.)0^lc 


Die  Manuebe  Theorie  der  scNdalai  Entwiddong. 


697 


kann  sich  nur  im  Anschluis  an  die  gegebene  internationale  Arbeits- 
teilung entwickeln. 

Selbst  zugegeben,  dafs  —  wie  es  Kautskys  Meinung  zu  sein 
scheint^  —  der  Sozialismus  in  der  That  eine  Periode  agrarischer 
Rückbildung  der  modernen  sog.  „Industriestaaten"  auf  neuer 
gesellschaftlicher  Grundlage  inaugurieren  wird  (woran  ich  übrigens 
gar  nicht  glaube),  so  werden  doch  —  unter  der  Voraussetzung  des 
„Zusammenbruches"  —  so  £jut  wie  gar  keine  positiven  Ansätze  zu 
dieser  af^rariscii-sozialistisciien  Riickliildung  in  (k^r  so/,iak'n  Wirklich- 
keit anzutreffen  sein.  Kinc  agrarist  lie  Rückbihkmg  im  soziaHstischen 
Sinn  —  mir  scheint  sie  für  eine  ahsehlxue  Zukunft  eine  Utopie  zu 
bleiben*)  —  ist  eben  denkbar  nur.  wenn  inan  Stetif^keit  der  Ent- 
wicklung, langsame  Ueberführung  der  Wirtschaft  auf  neue  Bahnen 
voraussetzt. 

Sollte  man  uns  einwenden,  dafs  bei  dem  , .Zusammenbruch" 
der  kapitalistischen  Gesellschaft  an  keine  gewaltsame  Verschiebung 
der  Absatzverhältnisse  gedacht  wird,  so  sind  wir  berechtigt  zu 
fragen :  was  at  denn  dieser  un&I^i  e  „Zusammenbruch",  wenn  er 
keine  materielle  Basis,  weder  Verelendung  noch  Marktverengerung, 
hat  ?  Ist  er  dann  nicht  einfoch  eine  hochtönende  Umschreibung  der 

*)  „Bauern  und  Landarbeiter  müssen  bei  dem  Uebergang  von  der  kapitalisti- 
schen zur  sozialistischen  Gesollschaft  besomlers  j^eschätzte  Arbcitskr.-iftc  werden. 
])\c  enorme  Ausdchnuni^  der  Itidiistric  für  den  Weltmarkt  und  die  ^^Icichzcitije 
L  ebcrschwemmuug  des  Marktes  mit  auswärtigem  Getreide  —  iwei  Erscheinungen, 
die  in  Ini^er  Weehsclwirkang  mit  eiuaader  tteben,  treiben  die  LnndbcTÖlkenug 
In  die  Stildle  nnd  vnr  voizngiweise  ihre  arbeittfthigiten  Elemente.  Sobald  der 
innere  Markt  wieder  in  den  Vorde^mnd  der  natioanlen  Oelionomie  tritt,  ninfs  sich 
dint  vor  allen  in  der  «mdmieoden  Wichtiglceit  der  Landwirticluft  zeigen.  Die 
höhere  Koosurnfthigkeit  der  Massen  verlangt  nach  mehr  Nahrungsmitteln,  die  Ver> 
minderiin^  Hes  Kxports  verringert  die  Zofnlir  von  auisea."  (Kautsky,  Die  Agrar- 
frage, Stulti^art  iHq9,  S.  442.) 

-)  Ein  kühner  Verfechter  dieser  Utopie  iNt  Erich  Rother  („Der  Indnitrie» 
Staat  und  die  arbeitenden  Klassen"   Berlin  ,   welcher  aas  derselben  kon- 

sequenterweise  nicht  anwichtige  and  sehr  greifbare  programmatische  Folge- 
rongen sieht.  Die  neueste  Kontroverse  Oldenberg>Sombart  (Oldenberg,  Deutsch- 
land als  Indnstriestaat,  G5ttingen  1897,  lodnstricataat  nnd  Eiportindnstrie,  Sosiale 
Praxis  1899  Nr.  28,  Sombart,  Entwickeln  wir  uns  zum  „Exportindustriestaat'''  und 
Export  und  Kultur,  ebd.  Nr.  24  u.  31)  über  die  wirtschaftliche  Entwicklung  Deutsch- 
lands ist  interessant  .luch  vom  Stand])unkte  des  sozialistischen  Problems  Aus  dem 
Obigen  ist  klar,  dafs  ich  die  Ansicht  Soiubarts  über  den  Wert  der  indusliicUen 
Entwicklung  teile. 

45* 


Digitizoü  by  Cookie 


698 


Peter  ron  Strsve, 


erwarteten  Verwandlung  der  kapitalistischen  Wirtschaft  in  die 
sozialistische,  eine  Umschreibung,  welche  als  irreführend  aus  dem 
wissenschaftlichen  Bc^niftsschatzc  und  Sprachgebrauche  un- 
verzüglich und  ohne  N'achsirht  zu  verweisen  ist ' 

Hier  mufs  ich  es  mir  versagen,  weitere  positive  Andeutungen 
darüber  zu  geben,  wie  nach  meiner  Ansicht  die  Kntwicklung  zum 
Sozialismus  real  ist  iscli  im  einzelnen  vorgestellt  werden  kaim 
und  soll.  Ich  glaube  übrigens,  dafs  einer  detaillierten  wissenschaft- 
lichen Entwicklungslehre  des  Sozialismus  überhaupt  sehr  enge 
( Uenzen  gesteckt  sind.  Das  unsterbliche  \'crdien.st  von  Marx  und 
KnL;cls  ist  es  jedenfalls,  den  Sozialismus  als  den  Ausdruck  und  das 
Ziel  der  Arbeiterbewegung  erkannt  zu  haben.  Ist  diese  Erkenntnis 
richtig,  so  ist  durch  mt  das  Verhältnis  von  Endziel  und 
Bewegung  entwicklungsgeschicbtlich  endgültig  festgelegt 
worden.  Die  Bewegung  ist  das  historische  Prius.  Der  Sozialismus 
besitzt  immer  soviel  Realität,  als  er  in  der  aus  der  heutigen  ^^'irt- 
schaftsordnung  entspringenden  Bewegung  enthalten  ist,  nicht  mehr 
und  nicht  weniger.  Die  begriflTliche  Verselbständigung  der  Gegen- 
satze Kapitalismus — ^Sozialismus  iuhrt  aber  zu  einer  iormlichen  6e- 
griflsmythologie  und  zu  der  aller  menschlichen  Erfahrung  wider- 
sprechenden  Verallgemeinerung  der  „Widerspruchsformel"  —  diese 
Verselbstandigung  ist  ja  das  eigentliche  psychologisch-ethische  Motiv 
des  entwicklungsgeschichtlichen  Utopismus.  Und  so  unternimmt 
der  entwicklui^sgeschichtliche  Utopismus  —  um  ein  Heinesches 
Bild  zu  gebrauchen  —  ,,auf  dem  Rücken  der  Idee  in  die  Zukunft 
hinauszugaloppieren". 

Ist  er  im  Unrecht  damit?  Entwicklutigsgeschichtlich  entschieden 
ja,  indem  und  insoweit  er  eine  pliant;isti>che  BegriffsmN-thologie  an 
Stelle  eines  empirisch-realistischen  Hildes  setzt  unfl  jene  für  dieses 
ausgiebt.  Dies  ist  ja  gerade  das  Bedenkliche  an  ihm,  dals  er  als 
Entwicklungslehre  von  vornherein  Wissenschaft  sein  will  und  als 
solche  auch  hingenommen  winl.  Fassen  wir  aber  die  Frage  von 
einem  anderen  finde  an :  nehmen  wir  das  Problem  des  Sozialismus 
nicht  oder  besser  gesagt  nicht  nur  als  enlwicklungsgeschichtliches, 
sondern  als  p  r  a  k  t  i  sc  h  -  p  o  1  i  t  i  sc  h  e  s.  Dann  kehrt  sich  das 
Verhcältnis  zwi.schcn  Fndziel  und  Bewegung  um.  Dann  mufs  das 
Fndzicl  die  Bewegung  notwendig  beherrschen.  Hier  liegt  der 
Schlüssel  zur  erkenntnistheoretischen  Erklärung  und  der  sozial- 
psychologischen Würdigung  des  entwicklungsgeschichdichen  Utopis- 
mus. Jeder  Sozialist  geht  von  dem  Sozialismus  als  dem  moralisch- 


Digitizoü  by  C3t.)0^lc 


Die  Jfonsche  Theorie  der  socialen  Eatwiddnng. 


699 


politischen  Ideale  aus;  er  ist  ihm  die  regulative  Idee,  an  welcher 
die  einzelnen  Thatsachen  imrl  I  landlungen  ethiscb>poHtisch  gemessen 
und  bewertet  werden.  Und  nicht  anders  ist  es  auch  mit  einer 
Klasse,  die,  in  einer  Partei  organisiert,  als  et  b  i  sch  -  jx)!  i  t  isches 
Subjekt  nach  aulsea  und  innen  hin  einheitlicli  auftritt.  Die  sozial- 
demokratische Bewegung  mufs  von  einem  Endziel  ideal  beherrscht 
werden  oder  —  sie  wird  sich  auflösen.  Der  Glaube  an  das  End- 
ziel ist  die  Reli'^ioii  der  Sozialdemokratie  und  diese  Religion  ist 
keine  „Privatsache",  sondern  die  wichtigste  öffentliche  Angelegenheit 
der  Partei. 

Vielleicht  ist  aber  der  ..Marxismus"  —  Privatsache?') 

Der  Inhalt  der  sozipldcmokratischcii  Reli«^i(jii  ist  durch  die  He- 
weguiij^f  und  ihren  Träger  —  das  Proletariat  und  durch  das  Kiid- 
ziel  gegeben.  Einzelne  Sozialisten  können  an  dem  Klas-senkampfe 
verzweifeln  und  bürgerlich  -  sozialistisch  ,  rcgicrungs  -  sozialistisch, 
kirchensozialistisch  und  was  noch  mehr  werden,  die  als  Partei 
organisierte  Klasse  oder  die  als  Klasse  sich  fühlende 
Partei  kann  dies  nie  thun,  ohne  der  Auflösung  zu  verfallen.  Der 
Klassenkampf  ist  ihr  Dasein,  über  welches  man  nicht  diskutiert 
Soweit  also  „Marxismus^  den  auf  das  sozialistische  Endziel  gerich- 
teten Klassenkampf  bedeutet,  ist  er,  ob  richtig  oder  unrichtig,  gar 
nicht  aufzugeben.  Man  kann  sich  nicht  behaupten,  indem  man 
seine  lebendige  Persönlichkeit  aufgiebt  und  man  kann  seine  lebendige 
Persönlichkeit  nur  dann  behaupten,  wenn  man  ihren  idealen  Gehalt 
und  ihren  physischen  Trager  eben  —  behauptet.  Soweit  ist  der 
„Marxismus"  das  eigenste  Wesen  der  Sozialdemokratie. 

Der  sonstige  Inhalt  der  herrschenden  sozialdemokratischen  Re» 
l^on  ist  —  mit  Einschluis  des  entwicklungsgeschichtliclu n  l  topis- 
mus  —  keineswegs  notwendig  mit  der  sozialdemokratischen  Be- 
wegung verbunden.  Er  kann  hinweggedacht  werden.  Das 
Hinwegdenken  geschieht  allerdings  viel  leichter  als  geschichtliche 
Loslösung  und  l'eberwindung. 

Und  hier  komme  ich  auf  das  Hernsteinsche  Buch,  welches  den 
äulseren  Anlaüs  zu  diesen  Ausführungen  gab  -j,  zu  sprechen.  Der 


'  Diese  Frage  i^t  schon  eintnal  in  dieser  F'assung,  aber  in  einem  aiidrreii  Zu- 
sammenhange voD  Dr.  Schitlowsky  in  deo  .»Denlscliea  Woitea"  aufgewoifco 
worden. 

Die  in  diesem  Aufsätze  vcrj^etrai^cne  Auff.iüsuii^;  <leckt  sich  im  wesentlichen 
mit  den  all^emciueo  Gedanken,  welche  ich  iu  meiner  rus&ischeo  Schrift  „Krili&cbe  Be- 


Digitized  by  Google 


700 


Pet«r  TOB  Struve, 


cntwicklungsgcschichtliclic  Utoplsmus,  dessen  Bekämpfuni^  Bernstein 
unterniinnit  und  den  er  auch  zum  Teil  mit  Erfolg  bekämpft,  ist 
geschichtlich  auf  das  engste  mit  dem  begrifflich  notwendigen  Inhalt 
der  sozialdemokratischen  Religion  verwachsen.  Man  kann  den  ent- 
wicklungsgeschichtlichen Uto])ismus  niclit  einfach  amputieren,  auch 
wenn  man  über  schärfere  geistige  Instrumente  als  Bernstein  ver- 
fugt. Kr  ist  dafür  zu  tief  in  das  sozialdemokratische  Bewußtsein 
eingedrungen. 

Dies  entspricht  auch  vollkommen  seiner  grolsartigen  gesell iclu- 
lichen  I'unktion.  Es  ist  ein  rationalistischer  Aberglaube,  dals  nur 
inhaltlich  richtige  oder  wahre  Ideen  fordernd  auf  das  persönliche 
oder  gesellschaftliche  Leben  einwirken  können.  Wissenschaftlich 
fidsche  Gredanken  können  durch  ihre  psychologisch  bedingte 
Wirkung  auf  das  gesellschaftliche  Leben  einen  mächtigen  und  wohl- 
thätigen  Einfluls  ausüben.  Sie  können  sich  in  politisch  richtigen 
Handlungen  auslosen.  Nicht  nur  die  realistischen  Elemente  des 
Marxismus,  auch  der  entwicklungsgeschichtliche  Utoplsmus  hat  der 
sozialistischen  Propaganda  und  Agitation  unsch&tzbare  Dienste  ge* 
leistet:  durch  seine  quasi'Wissenschaftliche  Begrifismythologie  und 
durch  die  „Widersprudisformel"  hat  er  die  vollendete  lUuaon  einer 
klaren  und  lückenlosen  Vorstellungareihe  geschafTen.  Und  das  war 
in  der  verflossenen  Periode  der  sozialdemokratischen  Bewegung  das 
praktisch  Wichtigste  und  Wertvollste:  es  bedeutete  die  sozialdemo- 
kratische Erziehung  des  Proletariates. 

Ob  das  Erziehungsmittel  sich  bereits  überlebt  hat  ist  schwer 
zu  urteUen.  Jedenfalls  ist  es  inzwischen  zu  einer  festen  Ueber« 
lieferung  geworden.  Die  Ueberlieferung  ist  weit  davon  entfernt 
für  die  Mehrheit  das  zu  sein,  was  sie  für  Bernstein  geworden  ist, 
ein  unerträglicher  C  a  n  t.  Sie  ist  noch  wahr  fiir  die  Gläubigen : 
einen  objektiven  Cant  giebt  es  aber  nicht. 

Die  sozialdemokratische  Religion  kami  aber  ihren  Inhalt  wech- 
seln, in.sofern  sie  sozialdemokratisch  bleibt.  Und  sie  wird  es.  Sie 
wird  mit  der  Zeit  den  cntwicklungsgcächichtUchen  Utopismus  ab- 


nerkungen  zur  Krage  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  Rufslands".  St.  Petersburg  1894 

ausg<*«iprocli<-ii  habe.  In  der  Vorrede  dieser  Schrift  hatte  ich  mich  bereits  gejren 
den  Vorwurf  marxistischer  Orthodoxie  verwahrt.  Trotzdem  stehe  ich  nicht  an.  auch 
für  meine  Auffa-ssung  die  Hezeichnung  „marxistisch"  in  Anspruch  zu  nehmen.  Sie 
knüpft  nämlich  au  die  realistische  Grandaasicht  der  Marxschea  Geschichtspbilo« 
4ophie  an. 


Die  Marxiiche  Theorie  der  sozialen  Entwicklung. 


8tm£en:  eine  Reihe  von  Vorstellungen,  die  jetzt  religiös  ünd,  werden 
vernichtet  oder  durch  andere,  welche  keinen  rd^iösen  Charakter 
tragen,  ersetzt  werden.  Es  wird  scheinbar  ein  Rückschritt  statt- 
finden: an  Stelle  vernichteter  klarer  Vorstellungen  werden  unklare 
weil  allgemeine  Postulate  oder  praktische  und,  ich  möchte  fast 
sagen,  kldnliche  Progrannmpunkte  treten.  Aber  so  geht  die  Um- 
wandluno^  religiöser  oder  religionsähnlicher  Ideologieen  immer  vor 
sich.  Es  sei  mir  eine  Analogie  (gestattet:  dem  Sozialismus  wird  es 
einigermarsen  wie  dem  Gottgedanken  ergehen:  der  letztere  hat 
während  seiner  Entwicklungsgeschichte  in  menschliclien  Köpfen 
entschieden  an  Klarheit  eingebiifst  und  manches  an  die  Wissenschaft 
und  ihre  Begriffe  abtreten  müssen  —  die  klassischen  Götter  und 
der  alte  Jehovah  waren  viel  ;^rrein)arere  Gestalten  als  der  Gott  des 
De  ismus,  und  vollends  in  den  ncuotci'.  reli^^nösen  Ideologieen  ist  der 
persönliche  Gott  fast  ganz  zerfiossciL  Ik'i  der  Religion  als  solcher 
kommt  es  aber  überhaupt  nicht  auf  den  Inhalt,  sondern  immer  — 
wie  Fr.  Alb.  Lange  klar  auseinandergesetzt  hat  —  auf  „die  Form 
des  seelischen  Prozesses"  an,  auf  die  besondere  Art  (iefühle,  die 
sich  an  diesen  oder  jenen  Inliait  knüpfen  und  sich  an  ihm  ent- 
wickeln. 

Bernstein  hält  an  dem  Sozialismus  und  dem  Klassenkampfe 
fest  Er  ist  somit  —  und  das  sollten  eigentlich  ihm  seine  Gegner 
billigerweise  nicht  absprechen  —  Sozialdemokrat  geblieben.  Den 
entwiddungsgeschichdidien  Utopismus  hat  er  aber  ganz  aufgegeben. 
Alle  seine  Bedenken,  den  ganzen  Abbruch  und  Neubau  seiner 
sozialpolitischen  Auf&ssung  hat  er  in  seinem  Buche  niedergelegt. 
Sein  Buch  ist  ein  bedeutsames  Symptom  der  Umbildung  der  sozial- 
demokratischen Ideologie,  und  zugleich  —  denn  Bernstein  ist  neben 
Engels  und  Kautsky  der  Mitbegründer  der  marxistischen  Orthodoxie 
—  eine  moralisch  imponierende  Handlung.  Aber  es  braucht  Zeit 
zu  wirken. 

Andererseits  ist  es  theoretisch  sehr  mangelhaiL  Eine  wissen- 
schaftlich fruchtbare  Kritik  des  Marxismus  mufs  überhaupt  erkenntnis- 
theoretisch anheben.  Marxismus  ist  nicht  eine  empirische  Kon- 
struktion, wie  es  solcher  Dutzende  giebt  Es  ist  ein  grofsartiges 
philosophisches  System,  aufgebaut  unter  dem  Einflüsse  von  Denkern 
wie  Hegel,  Feuerbach,  Saint-Simon,  Fourier,  Proudhon.  .-^lle  solche 
Systeme,  so  sehr  sie  auch  mit  empirischem  Stoffe  durchsetzt  sein 
mögen,  müssen  auf  ihre  |>hiIosophischen  Fundamente  hin  <:^eprüft, 
d.  h.  erkenntniskritiscli  und  logisch  zergliedert  werden.  Was  Bem- 


Digitized  by  Google 


702 


Peter  von  Struve, 


Stein  aber  als  Kritik  der  philosophischen  Fundamente  des  Mandsmus 
bietet«  ist  sehr  schwach.  Er  glaubt  die  materialistische  Geachichts» 
auf&ssung  durch  „weniger  deterministische"  Deutung  mildem  zu 
müssen.  Als  ob  es  überhaupt  ein  mehr  oder  weniger  von  Determi- 
nismus resp.  Freiheit  geben  könne!  Kant  hat  solche  konfuse  Ge- 
danken ein  für  alle  mal  als  „elende  Behelfe"  abgefertigt. 

Bernstein  aeht  überhaupt  nicht,  dafs  Marx  —  wie  ich  in  dieser 
Abhandlung  zu  zeigen  trachtete  —  in  meiner  sozialen  Entwicklungs- 
lehre sich  nicht  streng  genug  an  seine  eigenen  realistischen  fvulgo  — 
materialistischen)  Voraussety.unt^en  hält.  Er  glaubt  den  Marxschen 
sozialen  „Materialismus"  durch  mifsvcrstandcneii  Idealismus  kurieren 
zu  müssen.  Hier  liegt  entschieden  eitic  falsche  Diagnose  vor:  als 
soziologische  Lehre  muls  der  Mar.vismus  eine  tüchtige  realistische 
Kur  durchmachen.  Der  theoretische  ,,klea]ismu.>"  Hernsteins  ist  un- 
kritisch, sein  jiraktischer  Realismus  nicht  nur  nicht  „zynisch" ,  wie 
ein  ratlikaler  Gegner  meinte,  sondern  im  Gegenteil  nicht  genug 
selbstbewufst.  sogar  schüchtern,  rnd  rlas  Ganze,  diese  \'er<]uickung 
von  milsvcrstandenem  theoretischen  Idealismus  und  zaghaftem  prak- 
ti.schen  Realismus  hinterläfst  einen  —  sit  venia  verbo!  —  philister- 
haften Eindruck.  Bernstein  hat  sich  selbst  —  mit  Hilfe  des  ge- 
sunden Menschenverstandes  —  aus  den  Fallstricken  der  Hegeischen 
Dialektik  befreit.  Aber  der  Wissenschaft  bietet  diese  ,3elbstrettung" 
—  aulser  einigen  glücklichen  Gedanken  —  fast  gar  nichts.  Die 
„Zusammenbruchstheorie"  mufs  in  ihrem  logisch-b^prifllichen  Gerüste 
angegriffen  werden.  Hier  mufs  die  Wissenschaft  wirklich  einsetzen. 
Ohne  Anerkennung  der  „Starrheit"  der  Begriffe,  welche  keine  „Ab- 
bilder"  transzendenter  Dinge  sind,  kann  sie  nicht  einen  Tag  existieren 
und  weder  das  Veränderliche  noch  das  Unveränderliche  der  Wek 
der  menschlichen  Erkenntnis  unterwerfen.  Sie  muls  sich  mit  der 
„Widerspruchsformel"  auseinandersetzen  und  ihre  AUgemen^ltigkett 
als  der  allgemeinen  Erfahrung  widersprechend  abweisen.  Die 
spezielle  Erfahrung  mit  der  sog.  „materialistischen  Ge- 
schichtsauffassung" an  der  S p i t z e  protestiert  auch  gegen 
die  auf  der  Widerspruchsformel  aufgebaute  „Zusammenbruchs- 
theorie". Und  so  ist  es:  diese  Theorie  war  von  vornherein  eine 
Theorie  des  „sozialen  Wunders".  Solche  Theorieen  können  keinen 
Kurs  in  der  Wissenschaft  haben  bezw.  müssen  ihn  unvermeidlich 
verlieren. 

Der  wissenschaftliche  Sozialismus  ist  keine  Reinkultur  der 
Wissenschaft:  als  soziales  Ideal  ist  er  notwendig  eine  X'erbindung 


by  Google 


Die  Marxscbe  Theorie  der  <>0£ia.len  Entwicklung.  703 

von  >^^ssenschaft  und  Utopie.  Das  Utopische  an  ihm  stammt 
daher,  dais  die  soziale  Zukunft  nicht  einüich  erschlossen,  sondern 
erstrebt  und  erkämpft  werden  mufs.  Sie  nimmt  Teil  an  der 
Unsicherheit,  welche  für  unser  psychologisches  Bewulstsein  alle  zu* 
künftigen  menschlichen  Handlungen  auszeichnet  Sie  kann  nie 
ganz  prädeterminiert  vor  unserem  geistigen  Blick  liegen,  dies 
würde  jeden  Antrieb  zum  zweckmäfsigen  Handeln  im  Keime  er- 
töten.  Je  mehr  sie  aber  prädeterminiert  ist,  je  mehr  sie  in  ihrer 
geschichtlichen  Notwendi^^kcit  auch  inhaltlich  \on  uns  erkannt  ist, 
je  kleiner  also  im  sozialen  Ideale  das  Feld  des  Unsicheren,  der 
Utopie  ist,  desto  besser  begründet  ist  unser  Ideal,  desto  sicherer 
sind  wir  auch  des  ewig  Unsicheren  —  unserer  Utopie.  Hierin 
liegt  die  Bercchti^ning  und  die  Bedeutung  der  wissenschaftlichen 
und  speziell  der  entwickluiv^^si^a-schichtlichen  Ik-j^friiiukini^  des  So- 
zialismus. Dieselbe  muls  darnach  streben,  soweit  es  an  ihr  liegt, 
das  soziale  Zukunftsbild  ausMi-iinefslicli  mit  der  Farbe  iler  geschicht- 
lichen Notwendigkeit  auszunialen.  Aber  als  Wissenschaft  hat  sie 
lediglich  nach  wisseuseliaftlichen  Prinzipien  und  Kriterien  zu  ver- 
fahren. Sie  hat  darauf  zu  sehen,  dals  iiire  Kreise  durch  das  Minein- 
spielen der  L'topie  nicht  gestört  werden. 

Andererseits  iiat  auch  die  Utopie  ihr  Recht.  Sie  ist  der  in 
die  Wi.ssenschaft  nicht  aufgegangene  auiononie  Rest  des  sozi.ileii 
Ideals.  Man  verhilft  auch  der  Utopie  zu  ihrem  Recht,  wenn  man 
eine  reinliche  Scheidung  zwischen  ihr  und  der  Wissenschaft  verlangt. 
Die  Utopie  soll  der  Wissenschaft  nicht  widersprechen,  sonst  aber 
kann  und  soll  sie  autonom  sein.  Die  marxistiache  Krise  als  ideo- 
logische Erscheinung  läTst  sich  zum  guten  Teil  auf  die  Verkennung 
dieser  Wahrheit  als  auf  ihren  Grund  zurückführen.  Man  wollte 
allzu  wissenschaftlich  sein  und  hat  vielfach  sowohl  die  Wissenschaft 
dem  Sozialismus  tendenziös  untergeordnet,  als  auch  die  Würde  und 
den  Wert  des  Sozialismus  von  der  nach  vielen  Richtungen  noch 
zweifelhaften  oder  ausstehenden  wissenschaftlichen  Begründung  ab- 
hängig gemacht.  Man  vergafs,  dals  Sozialismus  ein  soziales  Ideal 
ist  und  als  solches  immer  ein  göttliches  Recht  auf  ein  gut  Stück 
Utopie  besitzt.  £ine  Reaktion  gegen  die  orthodoxe  PseudoWissen- 
Schaft,  welche  in  sich  den  ganzen  Sozialismus  absorbieren  will, 
konnte  nicht  ausbleiben. 

Jedem,  der  sich  als  Sozialist  fühlt,  ist  das  Utopistische  und 
Revolutionäre  an  ihm  ebenso  teuer  oder  noch  teuerer  als  das 
Realistische.   Unwahr  ist  nur  der  Utopismus,  der  sich  als  Wissen- 


704    Peter  voa  Struve,  Die  llkrxielie  Theorie  der  fodaleii  EntwicUmf. 

Schaft  giebt.  Dafs  Marx  und  Engels  Utopisten  und  Revolutionäre 
waren,  macht  ihre  menschliche  und  zum  guten  Teil  auch  ihre  ge- 
schichtliche (iröTsc  aus.  Aber  insofern  sie  sich  die  titanische 
^Aufgabt-  stellten,  das  zu  vollständiger  Deckung  und  Einheit  zu 
bringen,  was  immer  und  immer  eine  Einheit  7,u  werden  strebt  und 
dazu  nie  gelangen  kann :  das  Sein  und  das  Scinsollen,  scheiterten 
sie  und  mulsten  scheitern  als  Männer  der  Wissenschaft.  Dieses 
wissenschaftlich  aussichtslose  Streben  hat  sie  aber  als  Männer  der 
That  emporgehoben.  „Pour  faire  de  grandes  choses,  il  faut  ctre 
passionn^"  —  dieses  denkwürdige  Wort  des  grofsen  l^ehrers  Saint- 
Simon  hat  sich  auch  an  den  grofsen  Schülern  Marx  und  Engels 
bewahrheitet... 

Zum  Schlüsse  sei  ein  Gedanlce  mit  dem  grölsten  Nachdruck 
ausgesprochen:  soll  der  kritische  Marxismus  in  seiner  Weiterbildung 
der  Marxschen  Lehre  wirklich  auf  festen  Füfsen  stehen,  so  hat  er 
sich  an  die  realistische  Grundansicht  von  Marx  selbst,  an  seine 
„materialistische",  richtiger  ökonomische  Geschichtsauflbssung  zu 
halten. 

In  hoc  signo  vincesl 


GESETZGEBUNG. 


DSUT8CHBS  RBICH. 

Die  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte  aus  ^  91 
Absatz  6  der  deutschen  Handwerkernovelle.  ^) 

Von 

M.  VON  SCHULZ, 

GcwerberiditcT  loid  Voiiitieiidem  des  Geverb«gerichtt  Bcritn. 

Das  Gewerbegerichtsgesetz  bestimmt  im  §  79  Abs.  2 ,  dafs 
durch  die  Zuständigkeit  einer  Innung  oder  eines  Innungsschiedsgerichts 
die  Zuständigkeit  eines  für  den  Bezirk  der  Innung  bestehenden  oder 
später  errichteten  Gewerbegerichts  ausgeschlossen  sei.  Diese 
ausschliefs liehe  Zuständigkeit  kann  nun  auf  Grund  des  §  91 
Abs.  6  der  Handwerkernoveile  eingeschränkt  resp.  beseitigt  werden« 
Es  heifst  dort: 

Die  Anberaumung  des  ersten  Termins  soll  innerhalb 
acht  Tagen  nach  ICingang  der  Klage  erfolgen  und  die  Ent- 
scheidung nach  Möglichkeit  beschleunigt  werden.   Wird  die 
achttägige  Frist  nicht  innegehalten,  so  kann  der  Kläger 
verlangen,  dafs  statt  des  Innungsschiedsgerichts  an  den 
Orten,  wo  Gewerbegerichte  bestehen,  diese,  und  wo  solche 
nicht  bestehen^  die  ordefitHdieD  Gerichte  entscheiden.  Dies 
Verlangen  ist  dem  darnach  zuständigen  Gewerl>ege- 
rieht  oder  ordentlichen  Gericht  und  dem  Innungsschieds- 
gericht schriftlich  mitzuthetlen. 
Bei  der  Auslegung  des  Gesetzes  hat  man  zunächst  den  Sinn 
des  Ausdruckes  „Anberaumung"  zu  erforschen.  Unter  „anberaumen*^ 
hat  man  zu  verstehen :  einen  Tag  oder  Termin  festsetzen,  an  welchem 

Gesetz  vom  26.  Juli  1897  Abäadeniog  der  Gewerbeordnung. 


Digitizoü  by  C3t.)0^lc 


7o6 


Gcsetsgcbang:  Dentadicc  Rdcb. 


die  Erledigung  einer  Angelegenheit  in  Aussiebt  genommen  wird.') 
Somit  würde  das  Gebot,  dafs  „die  Anberaumung  des  ersten 
Termins  innerhalb  acht  Tagen  nach  Eingang  der  Klage  ertolgen" 
solle,  den  Richter  ermächtigen,  wahrend  der  gedachten  Frist  zu 
verfügen,  wann  die  Klagesache  zum  ersten  Male  zu  verhandeln  ist. 
Der  Richter  hat  dabei  freie  Hand,  den  V'erhaudlungstag  über  die 
„acht  Tage"  hinauszurücken. 

Derartiges  kann  Jedoch  hier  der  Gesetzgeber  nicht  bezweckt 
haben,  da  er  ja  wünscht,  dais  Eotschekiung  nach  Möglichkeit 
beschleanigt  werde",  auch  sonst  das  Verfahren  vor  dem  ordentlichen 
Gerichte  und  dem  Gewerbegerichte  ein  schnelleres  wäre,  wie  vor 
dem  Innungsschiedsgerichte.  Denn  nach  der  Ziviiprozelsordnung 
(§  216  früher  §  19Q  hat  der  Vorsitzende  den  Termm  binnen 
24  Stunden  zu  bestimmen. 

Wir  stehen  also  einer  Gesetzesstell^  gegenüber,  aus  welcher  der 
Wille  des  Gesetzgebers  sich  nicht  sofort  deutlich  ersehen  läist.*) 
Bei  dieser  Sachlage  sind  wir  genötigt,  auf  die  Entstehungsgeschichte 
des  Abs.  6  §  91  a.  a.  O.  zurückzugehen: 

Während  der  dritten  Beratung  des  Entwurfes  der  Handwerker- 
novelle  ^)  beantragten  die  Abgeordneten  Auer  und  Genossen  dem 
§91  des  Entwurfes  am  Schlufs  einen  Zusatz  zu  geben.*)  Der  Zu- 
satz fordert  zunächst,  dafs  „die  Entscheidung  über  eingereichte 
Klagen  innerhalb  14  Tagen  nach  Eingang  der  Klagen  erfolgen 
solle  und  dem  Kläger  bekannt  gemacht  werde".  Im  übrigen  decken 
sich  alsdann  der  Inhalt  des  Auer'.scht-ii  Gt-setzvorschlages  mit  den 
beiden  letzten  Sätzen  des  am  Eingang  dieses  Artikels  angegebenen 
Gesetzeste.xtes.  Es  ist  dabei  nur  zu  bemerken .  dafs  anstatt  der 
Worte  des  Gesetzes  zum  Beginn  des  zweiten  Satzes:  „Wird  die  acht- 
tägige Frist  nicht  innegehalten"  sich  die  Worte  befinden:  „Ist  die 

M  Deutsches  WortcrUuch  von  Moritz  Heyne,  I.  Bd.,  Leipzig  bei  S.  Ilirzel  1890 
Sp.  75 ;  deutsches  Wurterbuch  von  Jacob  Grimm  und  Wilhelm  Grimm,  I.  Bd.,  Leipzig 
bei  S.  Hirzel  1854  Sp.  293:  Die  Stunde,  welche  sie  dem  Sophisten  anberaumt 
hAtte,  war  nnn  gekommeo  Wieland  1,198;  der  WahlLuuveut  war  eudlich  auf  dem 
3.  Min  mnberanmt  Goethe  24,         eine  Ztuammeokuift  «nberatmieD. 

•}  Siehe  hier  Rohmer,  Die  HaadwerkernovcUe,  MflndieD  1898,  S.  58  Anm.  i 
vaä  Berger-Wilhelmj,  Reicbsgewerbcordnuiig  S.  188  anler  „sn  Abs.  6**. 

*)  Reichstag  —  335.  Sitsong  —  Mittwoch  den  23.  Juni  1897«  S.  6184  C 
n.  6204. 

*)  Nr.  915  der  Dmcksachen. 


Digitized  by  Google 


M.  Ton  Scbnls,  Die  Zutliidigkeit  6at  Gewcrbegericbte  aus  §  91  Ab«.  6  ete.  yoy 


I4tägige  Frist  ohne  eine  solche  Entscheidung  und  Bekanntnoachung 
verstrichen.^' 

Der  Antrag  wurde  damit  begründet,  dafs  in  den  Gewerbe- 
gerichten  der  erste  Termin  nach  fast  allen  Statuten  schon  inner- 
halb der  ersten  Woche  anberaumt  werden  müsse.  %  der  gesamten 
Klagen  wären  schon  innerhalb  zweier  Wochen  erledigt.')  Dem 
gegenüber  fühlten  sich  die  Recht  suchenden  Parteien  beschwert, 
dafs  es  manchmal  drei,  vier  Wochen  und  noch  lani^ere  Zeit  ge- 
dauert habe,  ohne  dafs  vom  Innunf^sschicdsi^erichtc  Ladungen  /.u 
einem  Termine  für  die  angestrengten  Riagen  t-rgangen  waren.  Ks 
sei  zu  bewirken,  dafs  innerhalb  14  Tagen  die  Parteien  die  Vorent- 
scheidung und  das  Recht  des  ordentlichen  Rlageweges  haben.  Der 
beantragte  Schlufssatz  zum  §  91  a.  a.  ü.  solle  die  Hilfe  bringen. 

Der  Abgeordnete  Gamp  hielt  den  Antragstellern  wohl  nicht 
mit  Unrecht  entgegen,  dafs  bei  der  grofsen  Wichtigkeit  ihres  An- 
trages derselbe  eigentlich  bereits  früher  einzubringen  gewesen  wäre. 
Zur  Sache  üelb.st  erklarte  der  Redner  seine  Zustimmung,  dafs 
auf  eine  möglichste  Beschleunigung  in  der  Recht- 
sprechung der  Innungsschiedsgerichte  hingewirkt  werde. 
Es  sei  aber  nicht  gut  möglich,  schwierige  Prozesse  innerhalb 
14  Tagen  zu  entscheiden.  Deshalb  werde  die  Folge  der  Annahme 
des  Auerschen  Antrages  sein,  dafs  die  schwierigen  Prozesse  ohne 
weiteres  auf  die  Gewerbegerichte  übergehen.   Dies  wäre  nicht  an- 


')  Die  Statistik  Ober  das  Jahr  1896  bietet  bezüglich  der  S<:hleunigkeit  des 
Verfahrens  der  ricwr-rbr-gerichte  folgende  ErfiabraDgeii.  VoD  den  Prozessen  des 
Jahres  wurden  crk-difft; 

in  weniger  als  I  Woche     34098  =  56,9  Pros, 
in  weniger  als  2  Wochen    15297  —  25,5  „ 
in  2  Wochen  und  nu-hr      10546  —  17,6  ,, 

die  meisten  Prozesse  wurden  also  in  weniger  als  I  Woche  beendet;  und  dafs  ein 
Piozers  sieb  bis  in  die  3.  Woche  btnxog,  kam  nv  in  etwa  >/•  ^  V93iit  vor. 

Zufolge  der  örtlichen  Sdiwierigkeiten  einer  besonden  umfangreichen  Verwal* 
tong  ist  in  Berlin  die  Zahl  der  binnen  i  Woche  erledigten  Fülle  verhiltnisnifsig 
gering  (18,5  Pros.).  Bnmerhin  ist  es  doch  «ach  dort  die  Ausnahme  (etwas  mehr  als 
''4  der  Fälle  a8,7  Proz.),  dafs  eine  Sache  bis  in  die  3.  Woche  hinein  dauert  (Jastrow 
Die  Erfahrungen  in  den  deutschen  Gewerbegerichten  in  den  Jahrbuchern  für 
Nationalökonomie  und  Statistik,  III.  Folge,  Bd.  XIV  (LXIX}  .S.  347  ff.).  Spätere 
statistische  Erhebungen  sind  nicht  vorhanden.  Wir  wollen  abwarten,  mit  welcher 
Schleunigkeit  das  Berliner  Innungsschicdsgcricht  zukünftig  arbeiten  wird. 


yo8  GtMtifelNiiig:  DevtidMS  Rddi. 

gangig,  da  man  die  Innungsschiedsgcrichie  Qicht  wesentlich  schiechter 
stellen  könne  als  die  Gewerbegerichte.') 

Um  Zeit  zu  einer  Verständigung  zu  finden,  wurde  vom  Reichs- 
tage die  Diskussion  über  den  §  91  bis  auf  weiteres  ausgesetzt. 
Noch  in  derselben  Sit/,ung  gab  man  dem  Entwürfe  des  letzten  Ab- 
satzes des  §  91  die  Fassung  des  jetzigen  §  91  Abs.  6  der  Hand- 
werkernoveile. Bei  Wiederaufnahme  der  Verhandlung  über  den 
Paragraphen  eben&Us  an  demselben  Tage  nahm  das  Haus  auf 
Empfehlung  des  Abgeordneten  Gamp  den  umgestalteten  Antrag 
der  sozialdeoiokratischen  Fraktion  debattebs  an.  Nachdem  atidi 
der  Bundesrat  mit  demselben  sich  einverstanden  erklärt  hatte,  ist 
er  Gesetz  geworden. 

Aus  dem  Werdegang  unserer  Gesetzesstelle  muls  man  ohne 
wdteres  folgern,  dafs  die  Entscheklung  der  Pk-ozesse  durch  das 
Innungsschiedsgericht  möglichst  beeilt  werden  sollte.  Nach  dem 
Beispiele  der  Gewerbegerichte,  wekhe  der  Regel  nach  die  Prozesse 
innerhalb  der  ersten  Woche  zu  Ende  bringen,  sollen  die  Innung»- 
schiedsgerichte  gleichfalls  ihre  Arbeiten  verrichten.  Die  Abskfat  des 
Gesetzgebers  ging  demnach  zweifellos  dahin,  den  Innungsschieds> 
gerichten  durch  §  91  letzter  Absatz  a.  a.  O.  aufzueri^eo,  wenigstens 
innerhalb  der  ersten  8  Tage  nach  Einbringung  der  Klage  zu  ver- 
handeln, zumal  da  durch  Beschreiten  des  ordentlichen  Rechtsweges 
der  Austrag  des  Prozesses  hingezögert  werden  kann.  Keineswq;s 
hatte  man  im  Sinne,  dem  Richter  des  Innungsschiedsgerichts  einen 
längeren  Zeitraum  zur  Terminsansetzung  wie  dem  ordentlichen 
Richter  und  dem  Gewerberichter  zu  gewähren. 

Wenn  niso  der  Gesetzgeber  von  der  „Anberaumung  des 
crstrri  Termins"  spricht,  so  hat  er  im  Drange  der  Geschatte  einen 
falschen  Ausdruck  für  seinen  Gedanken  gewählt.  Deswegen  ent- 
steht hier  die  Frage,  wie  der  Richter  sich  zu  einem  solchen  „Re- 
daktionsfehlcr"  zu  verhalten  hat.  Sontag -'i  behauptet,  dals  der 
Richter  unbedingt  befugt  ist,  den  auf  Redaktionsfehler  beruhenden 
Gesetzestext  dem  gesetzgeberischen  Gedanken  gemäfs  zu  berich- 
tigen.   Die  selbstverständliche,  aber  auch  einzige  Voraussetzung  für 


')  Der  Abgeonlnctf  hat  <itTeiihar  hii-r  ^  j.^  G.G.G.  im  Aui:;e  Nach  dem  die 
Klage  eingereicht  oder  zum  l'rotokoll  des  ( n-nchisschrcibers  an^jcbracht  ist,  hat  der 
VorsiUeode  einen  möglichst  nahe  11  Termin  zur  Verhandluug  anzuseUcn. 

*)  Die  Redaktioosveiselieii  Gesetzgebers,  Freibuig  i.  Br.,  Fr.  Wagnendie 
BuchhADdlaog  1874,  S.  33. 


Digitized  by  Google 


IL  TOA  Schulz,  Dfe  ZiuHbidis^uit  der  Gcwerbcgericiite  MS  §  91  AI».  6  etc. 

diese  Aenderung  sei  der  zweifellose  Nachweis  des  Redaktionsfehlers. 
Die  Reichsregierung  steht  auf  dem  gleichen  Standpunkt.  Es  ist 
dies  aus  den  Aeufserunpen  des  Regierungsvertreters  bei  den  Er- 
örterungen des  Reichstages  über  das  Rcdaktionsvcrschcn  im  §  13^3 
der  Gewerbeordnung  zu  entnehmen.  Der  Regierungsverireter  be- 
zeichnete die  vom  Reichstage  beanstandete  formlose  „Berichtigung** 
des  ij  138  a.  a.  O.  im  Reichsgesetzblatt  für  eine  ausreichende.') 
Noch  heute  wird  seitens  der  Reichsregierung  anscheinend  die  Mei- 
nung vertreten,  dafs  bei  Rcdaktionsverschen  der  Text  von  den 
Interessenten  dem  gesetzgeberischen  Willen  entsprechend  geändert 
werden  darf.-)  Dem  gegenüber  erklären  es  andere  wiederum  für 
unzulässig,  dafs  Behörden,  Richter  und  Privatpersonen  ein  vor- 
sdiriftsoDäfsig  pubUdertes  Gesetz,  wdches  nidit  den  Gedanken  des 
Gesetzgebeis  zum  Ausdruck  bringt,  einer  diesbezüglichen  Aeoderung 
unterriehen.")  Sie  verlangen,  dais  die  Textberichtigung  durch  ein 
neues  Gesetz  geschehe.  Demzufolge  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dafs  die 
Meinungen  der  Gewerberichter,  wdche  §  91  Abs.  6  anzuwenden  haben, 
sich  teilen  werden.  Die  einen  werden  sich  der  Sontagschen  Ansicht 
anschlieisen  und  bei  Benutzung  des  §  91  das  Wort  ^Anberaumung** 
durch  das  Wort  „Abhaltung"  oder  ein  ahnfiches  Wort  ersetzen. 
Die  anderen  werden  «di  lediglich  mit  der  Auslegung  des  Gesetzes 
begnügen  und  den  Vorsitzenden  des  Innungsschiedsgerichts  iiir  ge- 
setzlidi  befugt  erachten,  vom  Eingang  der  Klage  an  gerechnet 
dner  achttägigen  Frist  sich  zur  Ansetzung  des  Verhandlungstermins 
zu  bedienen.  Nach  Auffasung  der  letzten  Kategorie  von  Gewerbe- 
richter wird  „auf  Verlangen  des  Klägers"  das  Gewerbegericht 
nur  für  den  Fall  zuständig,  dafs  die  adittägige  Frist  zur  Termins- 
bestimmung versäumt  ist.  Die  Kläger  werden  freilich  kaum  Kenntnis 
davon  erlangen,  ob  der  Vorsitzende  des  Innungsschiedsgerichts  die 
Zeit  des  ^91  a.  a.  O.  innegehalten  hat.  Wir  behaupten,  dafs  bei 
der  Lage  der  heutigen  Gesetzgebung  das  Innungsschiedsgericht  zur 
Auskunft  über  den  fraglichen  Punkt  von  der  Partri  nicht  genötigt 
werden  kann.  Selbst  wenn  die  Vorladungen  den  Klägern  zugestellt 
sind,  werden  sie  aus  denselben  nicht  ermitteln  können,  ob  ihnen 
das  Recht  der  Ablehnung  des  Innungsschiedsgerichts  freisteht. 

Die  Form,  in  welcher  die  Geltendmachung  dieses  Rechts  statt- 


')  .Siehe  .M.  v.  Schulz  in  diL'sem  .Archiv  Hd.  S.  429  ff. 

')  Lindemaun  un  Archiv  für  uflfeutliches  Recht,  Bd.  XIV,  S.  145  ff. 
M.  V.  SebnU  ft.  a.  O.  S.  447. 


GeseUgebung :  Deatachci  Reich. 


findet,  ergiebt  der  letzte  Satz  des  §  91  a.  a,  O.:  Dies  Verlangen 
ist.  dem  darnach  zuständigen  Gewerbegericht  oder  ordentlichen 
Gericht  und  dem  Innuogsschiedsgericht  schriftlich  mitzu- 
teilen. Rohmer')  sagt,  durch  diese  Vorschrift  werde  wohl  ver- 
langt, dafs  die  Klage  auch  dort  schriftlich  eingereicht  werden 
müsse,  wo,  wie  beim  Gewerbegericht  und  Amtsgericht  eine  münd- 
liche Anbringung  der  Klage  sonst  möglich  wäre.  Wir  können 
dieser  Ansicht  nicht  zustimmen.  Es  wird  genügen,  wenn  die  Kläger 
dem  Gewerbegerichte  resp.  dem  ordentlichen  Gerichte  schriftlich 
melden,  dals  sie,  da  seitens  des  Innungschiedsgerichts  „die  Anberaumung 
des  ersten  Tenmns  innerhalb  8  Tagen  nach  Eingang  der  Klage*' 
nicht  erfolgt  ist,  die  Entsdieidung  jener  Gerichte  anrufen.  Hierauf 
wird  es  Sorge  der  zuständig  gewordenen  Gerichte  sein,  sich  die 
Prozessakten  einzufordern.  Auf  Grnnd  derselben  werden  demnächst 
diese  Gerichte  sich  damit  beschäftigen,  ob  die  ausschliefsiiche  Zu- 
ständigkeit des  Innungsschiedsgerichts  gemäfs  91  Abs.  6  aufge- 
hoben ist.')  Das  revidierte  Nebenstatut  des  Innungsausschusses  der 
vereinigten  Innungen  zu  Berlin  betr.  das  Schiedsgericht  u.  s.  w. 
vindiziert  mit  Unrecht  für  das  Innun^sschicdsgericht  die  Rofufi^nis, 
über  die  Voraussetzungen  seiner  Unzuständigkeit  und  über  die  Ab- 
gabe der  Akten  an  das  Gewerbegericht  zu  beschliefsen.'^)  Sicher 
ist  esjaicht  absichtslos,  wenn  in  der  soeben  angeführten  Gesetzes- 
stelle Gewcrbegcricht  und  ordentliches  Gericht  vor  dem  Innungs- 
schiedsgericht genannt  sind.  In  erster  Linie  soll  das  Gewerbe- 
gericht die  schriftliche  Ik  iiachrichtigutig  empfangen.  Dies  entspricht 
auch  der  Thatsache,  dafs  durch  das  schriftliche  „Verlangen"  des 
Klägers  das  Innungsschiedsgericht  seine  Zuständigkeit  überhaupt 
eingebüfst  und  daher  dem  „darnach  zuständigen*'  Gewerbegericht 
oder  ordentlichen  Gericht  Platz  zu  machen  hat  Wenn  das  Innungs- 
schiedsgericht wegen  der  Langsamkeit  seines  Ver&hrens  die  Zu- 
ständigkeit einmal  verioren  hat,  darf  es  sich  fernerhin  mit  der  Be- 
schlufsfessung  Über  Anträge  der  Parteien  nicht  befassen.  Dies 

'1  Rohmcr  n.  a.  O.  S.  58. 
*J  R  nhmcr  a.  a.  O.  S.  58. 

*)  §  24  Abs.  2  des  SUtates:  „Der  Aotrag  des  KUgers,  die  Entscheidung  des  Ge- 
werbcgericbti  herbcizaflihren ,  ist  vor  der  Vcriwadlnog  vn  Haaptaaehe  anxabrinteB* 
Wird  dem  Antrage  stattg^eben,  so  ist  sogleich  die  Abigabe  der  Prosefskoatxai  aa 
das  Gewerbegericht  sa  verftgea.**  Dieser  Regdong  des  Verfidiiens  sind  Georerbe- 

gericht  und  ordrntlicbcs  Gericht  sich  zu  beugen  nicht  verpflichteL  ^ 
Das  Statut  braucht  übrigens  den  Ausdmck  des  GesetMs:  ABberaumungt 


Digitized  by  Google 


M.  Ton  Schnix,  Die  ZuÜhidigkeit  der  Geweibegerichte  «os  §  91  Abs.  6  etc.     ji  % 

würde  umso-vveniger  erlaubt  sein,  falls  die  Klager  zugleich  mit  ihrem 
„Verlangen"  die  Klage  zurückziehen.  Unter  den  vorliegenden  Um- 
ständen erscheint  es  nicht  ausgeschlossen,  dafs  Gewerbegericht  und 
Innungsschiedsgericht  in  unliebsame  Differenzen  gerathen.  Noch 
verwickelter  dürfte  der  Hergang  werden,  wenn  das  Innungsschieds- 
gericht das  „Verlangen"  des  Klägers  als  ein  ungi-rechttertigtes  be- 
trachtet, und  hiernach  in  der  Sache  erkennt.  Klager  hätte  zwar 
den  Einwand  der  Unzuständigkeit  für  den  ordentlichen  Rechtsweg, 
so  dal's  er  vielleidit  die  Aufhebung  der  Entscheidung  des  Innungs- 
schiedsgeridits  und  Verweisung  des  Prozesses  an  das  Gewerbe- 
gericht erzielt  Ganz  abgesehen  jedoch  davon,  dafs  ihm  bei  der 
Verfolgung  seines  Rechtes  viel  Zeit  verloren  geht,  ist  es  denkbar, 
dafe  der  ordentliche  Richter  sich  auf  Seiten  des  Innungsschieds- 
gerichts stellt  Wenn  dann  mittlerweile  der  Gewerberichter  unbe- 
kümmert um  den  Veriauf  des  Prozesses  vor  dem  Innungsschieds- 
gericht auf  Antr^  des  Klägers  die  Klage  vor  sdn  Forum  gezogen 
hat  und  gegensätzlich  der  Entscheidung  des  Innungsschiedsgerichts 
und  seiner  Oberinstanzen  erkennt,  würden  2  verschiedene  Entschei- 
dungen über  eine  und  dieselbe  Rechtsstreitigkeit  vorliegen.') 

Klarheit  wird  man  hier  nur  schaffen  durch  die  ausdrückliche 
Vorschrift,  dafs  Gewerbegericht  und  ordentliches  Gericht  über  ihre 
Zuständigkeit  aus  §  91  Abs.  6  a.  a.  O.  zu  entscheiden  haben.  Bei 
allen  diesen  Erwägungen  mufs  man  aufserdem  berücksichtigen,  dafs 
bei  den  Innungsschiedsgerichten  und  den  Gewerbegerichten  juristisch 
vorgebildete  Personen  nicht  durchweg  den  Vorsitz  führen  und  es 
dem  Laienrichter  ungemein  schwer  fallen  wird ,  insbesondere  sich 
über  die  diverL^icrcnden  Ansichten  bezüglich  dt-r  Heilung  der  Re- 
daktionsversehen zu  intbrmieren.  Ks  ist  ü-rnt-r  offensichtlich,  dafs 
es  dem  einfachen  Arbeiter  und  kleinen  Meister  noch  schwieriger 
werden  wird,  aus  §  01  a.  a.  ( X  zu  entnehmen,  ob  und  wann  er  die 
Abgabe  des  Prozesses  an  das  Gewerbegericht  oder  an  das  ordent- 
liche Gericht  zu  fordern  berechtigt  ist. 

Nach  alledem  glauben  wir  dargethan  zu  haben,  dafs  der  letzte 
Absatz  des  ^  (ji  a.  a.  O.  nach  den  von  uns  gekennzeichneten  Rich- 
tungen hin  der  Ergänzung  und  Berichtigung  dringend  bedarf.  Zur 
Vermddung  eintretender  Reditsunsicherheit  ist  ein  baldiger  Erla(s 

')  Das  Urteil  etiics  Gerichts  in  einer  Sache,  zu  deren  Entscheidung  es  nicht 

xustftndig  war,  ist  als  das  Urteil  eines  Gerichts  nicht  aoznschen.  Eccins  bei 
•    Gruchot  Bd.  36  S.  145. 

Archiv  für  tot,  Gctcugebung  a.  Sutistik.  XIV.  4^ 


Digitized  by  Google 


^12  GcMUgebung :  Deutsches  Reich. 

eines  Gesetz  notwendig  geworden.  Gdegeaheit,  die  gesetzficfaen 
Aenderungen  des  §  91  vonunehmen,  bietet  sich  bei  den  Ver- 
handlungen des  Reichstages  über  die  Abänderung  der  Gewerbe- 
ordnung. Nützlich  würde  es  auch  sein,  wenn  bei  der  in  Aussidit 
stehenden  Novelle  zum  Gewerbegerichtsgesetz  §  79  dieses  Gesetzes 
einen  dem  verbesserten  §  91  der  Gewerbeordnung  entsprechenden 
Zusatz  erhielte. 


L  iyiii^üd  by  Google 


Bntwuif  eines  Gfresetzes  zum  Schutze  des  gewerb- 
lichen Arbeitsverhältnisses.  ^) 

Wir  Wllhalm,  tod  Gottes  Gnaden  DeoUclwr  Kaiier,  König  tob  PrealMn  de. 
TMOtdMtt  im  Nnmea  des  RddH.  anelt  «rfb%tar  Znstiiiiiniu{  den  Bnndciiats  und 

des  Reichstags,  was  Iblgt: 

§  I,  Wer  es  anternimmt,  durch  körperlichen  Zwang,  Drohung,  Ehrvcrlctzung 
oder  Vrrrufserklärung  Arbeitgeber  oder  Arbeitnehmer  zur  Teilnahme  an  Ver- 
einigungen oder  Verabredungeo,  die  eine  Eiowirkung  auf  Arbeits-  oder  Lohaver- 
bältaissc  bezwecken,  zu  bestimmen  oder  von  der  Teilnahme  an  aolchen  Ver- 
«niguogen  oder  Veiafatedungen  alnabaltenf  wird  mit  Geftnpiis  bis  tn  Eiaem 
Jahre  bestraft 

Sind  müdende  ümitfade  Toriwadcsi  so  ist  naf  Gddstmfe  bis  sn  datansctid 
Bbrk  xa  erkennen. 

§  2.  Die  Strafvorschriften  des  §  I  finden  auch  auf  denjenigen  Anwcndnng, 
welcher  es  unteminunt,  durch  körperlichen  Zwang,  Drohung,  fihrrerlelxuag  oder 
Verrufserklärung. 

I.  zur  Herbeiführung  oder  Förderung  einer  Arbeiteraussperrung  Arbeitgeber 
zur  Entlassung  Foa  Arbcitndunera  sn  bestimmen  oder  an  der  Annahme 
oder  Heransiehnag  solcher  sn  Irinden, 
3.  znr  Heibetfidimog  oder  FArdetug  eines  Afbelteraasstaades  Arbeitfiduner 
zur  Niederlcgnng  der  Arbeit  zu  bestimawo  oder  aii  der  Annalmie  oder 
Aufsuchun{T  von  Arbeit  zu  hindern, 
3.  bei  einer  Arbeiteraussperrung  oder  einem  Arbeiterausstande  die  Arbeit- 
geber oder  Arbeitnehmer  znr  Nachgiebigkeit  gegen  die  dabei  vertretenen 
Forderungen  zu  bestimmen. 
§  3.   Wer  es  sich  zum  Geschäfte  macht.  Handlangen  der  in  den  §§  i,  8  be- 
seidmelen  Art  sn  bsfeben,  wird  mit  Gcfllngnis  nlAt  «itar  drei  Momrtea  bestraft 
§  4.  Dem  kB^erlidten  Zwange  im  Sinne  der  §9  ■  ^  3  *M  ^  ^ 


*)  Vgl.  za  diesem  dem  Rddislaf  mitsr  dem  96.  Mni  1899  voifdegton  «id  am 

an.  November  1899  in  2.  Lesung  abgelehnten  Gesetzentwurf  die  Abhandlung  vom 

?nt  Dr.  Theodor  Loeweafeld  im  vorlisgeBdcn  Bande  des  Archivs,  S.  471  ff> 

46* 


Digitized  by  Google 


714 


GcMtzgebong:  Deotiehet  Reidi. 


.schadij^uiig  oder  VorcnthuUunj^'  von  Arbeitsgerät,  Arbeitsmaterial,  Arbeitscneugnisccn 
oder  Kleidungsstücken  j;lcichgcuchtct. 

Der  DruhuDg  im  Sinuc  der  §§  I  bis  3  wird  die  planmäfsige  Ueberwachung  von 
Arbeitgebern,  Arbeitnehmern,  ArbdtntBtten,  Wegen,  Stnfien,  PUtien,  BahahMen, 
Wasserstrafien,  Hafen*  oder  sonstigen  Verkehisaalagen  gleieligencbtet 

Eine  VermfserkUntng  oder  Drohang  im  Sinne  der  §§  i  bis  3  li«gt  nidit  tot, 
wenn  der  Thiiter  eine  Handlung  vornimmt,  zu  der  er  berechtigt  ist,  insbesondere 
wenn  er  bcfugterweise  ein  Arbeits-  oder  Dienstverhältnis  aUehat,  beendigt  oder 
küiidijjt,  die  Arln-it  finstcllt,  eine  Arheitseiiistellung  oder  Aussperrung  fortsetzt«  oder 
wenn  er  die  \'urnuhine  einer  sulchen  Handlung  in  Aussiebt  stellt. 

§  5.  Wird  gegen  I'crsonen,  die  an  einem  Arbeiteraussland  oder  einer  Arbeiter- 
aussperrung nicht  oder  nicht  dauernd  Teil  nehmen  oder  Teil  genommen  haben,  aus 
Anlafs  dieser  Ntchibeteilignag  etoe  Beleidigung  mittelst  Tbl^bkeit,  eine  vonits- 
liche  Kttrperverletsttng  odeV  Xue'  vorsStzliche  Sachbeschädigung  begangen,  so  bedarf 
es  tax  Verfolgung  keines  Antrags. 

$  6.  Wer  Personen,  die  an  einem  Arbeiteransstand  oder  einer  Arbeiteniis« 

Sperrung  nicht  oder  nicht  dauernd  Teil  nehmen  oder  Teil  genommen  haben,  ans 

Anlafs  dieser  Nicbtbetciligung  bedroht  oder  in  Verruf  erklirt,  wird  mitGeftngais 

bis  zu  Einem  ];\hrv  bestraft. 
19  * 

Sind  niiMerndc  Umstände  vorhanden,  so  ist  auf  Geldstrafe  bis  zu  eintausend 
Mark  zu  erkennen. 

§  7.  Wer  an  einer  otienllichcn  Ziisaiamenrüttung,  hei  der  eine  Handlung  der 
in  den  1  bis  6  bezeichneten  Art  mit  vereinten  Kräften  begangen  wird,  Teil 
aimm^  wird  mit  Gcfllngnis  bestraft. 

Die  Rädelsführer  sind  mit  Gefibignis  nicht  unter  drei  Monaten  tu  bestrafen. 

§  8.  Soll  in  den  Fällen  der  §§  1,  2, 4  ein  Arbeiteransstand  oder  eine  Arbeiter- 
ausspemag  berbeigefthrt  oder  gefördert  werden  und  ist  der  Ausstand  odn  dio 
Attsspemtag  mit  Raeksicht  auf  die  Natur  oder  Bestimmung  des  Betriebs  geeignet, 
die  Sicherheit  des  Reichs  oder  eines  Bundesstaats  tu  gefährden  oder  eine  gemeine 
Ckfahr  für  Mensdicnlcben  oder  für  das  Eigentum  herbeizuführen,  so  tritt  (lefangnis- 
strafe  niebt  unter  Einem  Monate,  gegen  die  Rädelsfabrer  Gefängoisstrafc  nicht  unter 
secb.<i  .Monaten  ein. 

Ist  in  Folge  des  Arbeiterausstandes  oder  der  Arbeiteraussperrung  eine  Cie- 
fährduug  der  Sicherheit  des  Reichs  oder  eines  Bundesstaats  eingetreten  oder  eine 
gemeine  Gefahr  tHr  Menschenleben  oder  das  Eigentum  herbeigeführt  worden,  so  ist 
auf  Zuchthaus  bis  nt  drei  Jahren,  gegen  die  Ridelsfährer  auf  Zuchthaas  bis  sn  fttnf 
Jahren  zu  erkennen. 

Sind  in  den  Fällen  des  Abs.  2  mildernde  Umstände  vorhanden ,  so  tritt  Ge- 
fängnisstrafe nicht  unter  sechs  Monaten,  für  die  Rädelsführer  Geiangnisstrafe  nicht 
unter  Einem  Jahr  ein. 

9.  Soweit  nach  diesem  Ge.?etz  eine  gegen  einen  .\rbcitgeber  gerichtete 
H.Mi-ilmig  mit  Strafe  bedrolit  ist,  findet  die  Strr.fvorsclirift  aueh  dann  .\nwendung, 
wenn  dio  Handlung  gegen  einen  Vertreter  des  Arbeitgebers  gerichtet  ist. 


Entwarf  eines  Gesetxes  xiun  Sdratze  des  gewerblichen  ArbeitsrerbSltnisses.  yi^ 

§  lo.    Die  Vorschriften  flicscs  (lesetzes  finden  Anwendung 
I.  auf  Arbeits-  .»der  DicastverhaltQtsse,  die  unter  den  §  152  der  Gewerbe- 
ordnung fallen, 

3.  «Bf  alle  Aibcits»  oder  DicnstTertüfltDiaw  in  soldien  Reichs-,  Staats-  oder 
Konunonalbetrieben,  die  der  Landesverteidignagi  der  öffentlichen  Sicher» 
heit,  dem  öflentlicben  Verltehr  oder  der  öffentlichen  Gesnndheit^flege 
dienen, 

3.  Mf  alle  Arbeits»  oder  DienstverhSltnisse  in  Eisenbalinanternehmangen. 

§  II.   Der  §  153  der  Gewerbeordnong  wird  aafgehoben. 

Urkondlich  etc. 
Gegeben  etc. 


L  iyui^ed  by  Google 


MISZELLEN 


Arbeiterbauvereine  in  der  Umgegend  Kopenhagens. 

Von 

NIELS  VVKSTKRGAARD, 
Anneninspektor  ia  Frederikaberg  bei  Kopeahagen. 

Durch  das  Gesetz  vom  29.  März  1887  wurde  das  Finanzministerium 
bevollmächtigt,  bis  zum  Ablauf  des  Jahres  1897  aus  den  Mitteln  der 
Staatskasse  eineii  Betrag  bis  zur  Hfibe  von  i  Bültuni  Kr.  Kommunen 
oder  Vereinen  vonnistrecken,  welche  in  Kopenhagen  oder  dessen  NiKhe^ 
in  Fkovinzia]atädten  beziehungsweise  deren  Umgegend  gute  und  gesunde 
Arbdterwohnungen  erbauen  wttrden.  Das  Darlehen  sollte  mit  4  ^  „  ver- 
zinst  und  amortisiert  werden.  Für  von  Vereinen  aufgeführte  Gebäude 
wurde  die  liedin^ning  gestellt,  dafs  die  Mitglieder  des  Vereins  von  ihrem 
zu  dem  Zwecke  beigesteuerten  Kapital  huchstcns  eine  \'erzinsung  von 
4  %  geiiiefsen,  und  ein  eventueller  Ueberschufs  für  die  Zwecke  des 
betreffenden  Vereins  verwendet  werden  sollte. 

Von  diesem  Gesetz  wurde  wenig  Gebrauch  gemacht  Die  Arbeiter- 
bevölkerung schien  zunächst  kein  lebhaftes  Bedflrfhis  nach  anderen 
Wohnungen  als  den  bisher  benutzten  zu  haben.  Die  Bewegung  zur 
Schaffung  besserer  Wohnungen  hatte  ihre  thatkräf^ige  Stütze  \'ielmehr  in 
den  höheren  Klassen  der  Bevölkenmg.  Aber  die  Anwendung  des 
Gesetzes  durch  deren  Vereine  wurde  durch  die  Forderung  des  Finanz- 
ministeriums beeinträchtigt,  wonach  die  Kommunen,  in  denen  Arbeiter- 
wohnungen auf  diesem  W  eg  entstanden,  durch  Bürgschaft  oder  Zuschufs 
ihr  Interesse  dafür  bezeugen  sollten,  eine  Fordenmg,  die  die  Kommunen 
nicht  gern  erfüllen  aus  Furcht  vos  dem  Zuzüge  einer  unbemittelten  Be- 
völkerung, die  das  Armen-  und  Schulbudget  schwer  belasten  könnte. 

Erst  gegen  Ablauf  der  Zeitperiode^  innerhalb  welcher  das  Gesetz 
gelten  sollte,  erhob  sich  in  der  Axbeiterbevölkerung  von  Kopenhagen 
imd  Umgegend  eine  kräftige  Bewegung  zur  Verbesserung  der  Wohnungs- 
verhältnisse.  In  den  letzten  Jahren  waren  die  Mietpreise  bedeutend 


Digitized  by  Google 


Niels  Westergaard,  Arbeiterbauvereine  in  der  Umgegend  Kopenlwgeiis.  j\j 

und  schndl  gesti^n.   Diese  Stdgaung  machte  sich  am  mebten  bei 

Wohnangen  von  zwei  Zimmern  fühlbar,  deren  Zahl  verhäknismäfsig 
zurückging.  Die  gröfsere  Nachfrage  nach  solchen  Wohnungen  veranlafste 
die  Hausbesitzer,  in  der  Auswahl  von  Mietern  rücksichtslos  vorzugchen, 
um  sich  von  solchen  mit  einer  grofscn  Anzahl  von  Kindern  zu  befreien. 
Diese  mufsten  infolgedessen  entweder  eine  höhere  Miete  als  andere  be- 
zahlen, oder  sie  waren  gezwungen,  gröfsere  Wohnungen  zu  beziehen. 
Auch  bewiricte  der  Man^^l  an  Wohnungen  mit  a  Zimmern,  dafs  eme 
grOfieie  Anzahl  von  Arbeitern  Wohnungen  von  3  Zimmern  mieten 
mulsten,  ftir  welche  der  Mietsrins  gewöhnlich  höher  war  ala  er  dem 
Einkommen  einer  Arbeiterfamilie  ents])rarh,  wenn  sie  nicht  ein  Zimmer 
an  einen  Aftennieter  abgeben  und  sich  den  daraus  entspringenden  Un- 
bequemlichkeiten und  dem  damit  verbundenen  Risiko  aussetzen  wollten. 

Die  Kopenhagener  Arbeiterbevölkerung  hat  durth  ihre  sehr  ent- 
wickelten Fachverbände  ein  aufserordentiiches  Selbstvertrauen  gewonnen. 
Wo  sie  einen  Druck  empfindet,  ist  bei  ihr  der  Weg  zum  Versuche,  die 
Last  absuschüttehi,  nicht  weit.  Ihr  Mick  ist  für  die  Macht,  die  ein 
Zusammenschlnfs  mit  sich  brhmt,  gteöflhet  worden  und  sie  filrchtet 
nicht,  sich  auf  grofse  Aufgaben  einzulassen.  Sie  hatte  schon  immer 
an  solche  Gebäude  gedacht,  die  allein  für  die  auf  den  Bauten 
stehenden  Prioritäten  aufgeführt  werden,  (lebäude,  welche  Personen  ge- 
hörten, die  Bauherren  ohne  Mittel  waren.  Waren  die  Gebäude  nur 
vermietet,  so  konnten  sie  sich  verzinsen  und  noch  Gewinn  abwerfen. 
Der  (iedanke  lag  also  nicht  so  fern,  dafs  ein  Kreis  von  Mietern  selbst 
Bauherren  wurden  und  das  Haus  bauten,  das  sie  bewohnen  wollten. 

Während  ein  unbemittelter  Bauherr  keine  wirtschaftliche  Garantie 
bietet  und  nur  Kapital  fttr  sein  Unternehmen  findet  auf  die  Gewinn- 
Aussicht  hm,  die  es  an  und  f&r  sieh  eröffnet,  liefert  ein  Kreis  von  Per- 
s(men,  der  groft  genug  ist,  alle  Wohnungen  in  einem  Häuserkomplex  zu 
besetzen,  eine  ausreichende  wirtschaftliche  Basis.  Wenn  sich  100  Per- 
sonen als  ständige  Mieter  zusammenfinden,  welchen  es  zum  Vorteil  ge- 
reicht, für  einen  Mictszins,  der  ihren  Verhältnissen  entspricht,  in  den 
Häusern  wohnen  zu  bleiben,  so  ist  eine  zuverlässige  Grundlage  für  ein 
Bauuntemehmen  geschaffen.  Eine  einzelne  Person  kann  im  Stich  lassen, 
aber  die  meisten  werden  darnach  streben,  ihre  Verpflichtungen  au  er- 
füllen. Bringt  die  Versäumnis  des  Elnzefaien  grö&eäre  Verpflichtungen 
für  die  Anderen  mit  sich,  so  wird  jeder  im  voraus  vorsichtig  in  der  Wahl 
derer  gewesen  sein,  mit  denen  er  sich  verbind«!  wiU,  so  dafs  au  er- 
warten steht,  dafs  die  100  Personen  einander  als  snverUte^e  Menschen 
kennen. 

So  entstand  also  der  Gedanke,  sich  in  ( icsellsrhnften  von  loo 
Mitgliedern  zu  verbinden,  um  durch  gemeinsamen  Beistand  und  gemein- 
same Verpflichtungen  Wohnhäuser  für  die  Mitglieder  aufiniflihren.  Die  Zahl 
100  ist  nicht  wiUkfirlich  gewählt.   Es  ist  eine  m  Dänemark  gewöhnliche 


Digitized  by  Google 


7i8 


Missellen. 


Form  für  gegenseiti^^e  Hilfsvereine,  dafs  sich  loo  Personen  zusammen 
srhlicfseii  zur  Sicherheit  ^^-gen  die  l'ol^^en  von  Todesfällen,  Krankheit 
etc.,  so,  cLifs  -ie  n  lies  mal,  wenn  das  betretende  Ereignis  ein  Mitglied 
trililt,  einen  gewissen  lieitrag  geben. 

Dieser  ftus  Unzufriedenheit  mit  den  herrschenden  Wohnungsverhält« 
Dissen  hervorgenifene  Wunsch,  sein  eigner  Hauswirt  zu  werden,  fid  mit 
einem  anderen  von  frtther  gewohnten  Bedürfnis  zusammen.  In  der  Peri- 
pherie der  Stadt  sind  während  ein«"  Reihe  von  Jahren  Kolonieen  von 
kleinen  Gärten  gebildet  worden,  Arbeiterfamilien,  sogar  weit  entfernt 
wohnende,  pachteten  hier  ein  kleines  Stück  Land,  welches  sie  zum 
Nutzen  untl  Vergnügen  bebauten.  In  jedem  dieser  kleinen  (iarten  be- 
findet sich  eine  Laube,  und  an  Sommerabcnden  und  Sonntagen  ist  hier 
ein  Leben,  welches  deutlich  die  Freude  zeigt,  die  es  dem  Pächter  ge- 
währt, aus  seiner  beschränkten  Wohnung  in  den  engen  Gassen  zu  flfiditen, 
um  sich  nach  seinem  eigenen  kleinen  Garten  zu  begeben  und  dort  die 
frische  Luft  unter  Ireiem  Himmel  zu  genielsen. 

Den  vielen,  die  an  diesem  Leben  Freude  empfanden,  mufste  der 
Gedanke  nahe  liegen,  wenn  sie  selbst  fiir  Aufführung  von  Wohnungen 
sorgten,  diese-  in  einen  solchen  (larten  zu  legen,  und  ohne  dafs  man 
auch  nur  an  andere  Baulonnen  gedacht  hätte,  sind  kleine  H»iuser  in  einem 
entlegenen  leil  der  Stadt,  in  kleinen  Gärten  gelegen,  die  Losung  ge- 
worden. 

Der  etste  Vordn,  welcher  gebildet  wurdet  war  „der  Bauverein  der 
loo  Arbeiter,  Einigkeit".  Er  fing  im  Jahre  1897  mit  dem  Einsammdn 
von  wöchendichen  Beiträgen  von  2  Kr.  *)  bei  den  Mitgliedern  an. 

Im  Anfang  des  Jahres  1898  erwarb  er  eine  ca.  100000  Quadrat* 
Ellen  -)  grofse  Haustelle  in  der  nördlich  von  Kopenhagen  gelegenen 
Kommune  Bründsh<)j.  Im  Anfange  des  Jahres  1890  wurde  mit  Auf- 
führung der  (iebäude  begonnen  und  sie  wären  gewifs  im  Herlist  iSgc; 
fertig  geworden,  wenn  nicht  die  Arbeitersperre  der  Arbeitgeber  dem 
Bauen  während  des  ganzen  Sommers  Einhalt  geboten  hätte. 

Der  BröndshöJ-Verein  agitierte  eifrig  für  die  Durchführung  seiner 
Gedanken,  und  es  gelang  ihm  durch  die  Repräsentanten  der  sozial- 
demokratischen Partei  im  Reichsteige  durchzusetzen,  dafs  das  im  Anfimg 
erwähnte  Gesetz  vom  26.  Februar  1898  bis  zum  Schlufs  des  Jahres  1907 
erneuert  wurde,  so  dafs  in  diesem  2^itraum  bis  zu  2  Millionen  Kr.  aus- 
geliehen werden  dürfen. 

Nach  dem  Muster  des  genannten  Vereins  sind  eine  Reilie  von 
Vereinen  gegründet  worden.  Soweit  uns  bekannt,  war  der  lirondsboj« 
Verein  der  erste,  der  mit  den  Bauarbeiten  anfing* 

Die  wirtschaftliche  Basis  für  die  Unternehmungen  besteht  in  der 


1)  89  Kr.  s  100  M. 

*)  SS»  ca.  39400  □  Meter. 


L  iyui^ed  by  Google 


Niels  Wcstcrgaard,  Arbciierbauvcrcinc  in  der  Umgegend  Kopcnliagcns.  jiq 


VerpOichtting  der  Mitglieder,  den  jährlichen  Betrag  zu  bezahlen,  welcher 

zur  Verzinsung  und  Amortisation  des  Anlagekapitals,  sovrie  zum  Instand- 
halten des  Gebäudes  und  Deckung  etwaigen  Ausfalls  von  Miete  etC. 
erforderlich  ist.  Wenn  dieser  lietra?  nicht  sonderlich  höher  angesetzt 
zu  werden  braucht  als  die  ühhc  he  jahrh(  he  Miete  für  eine  Arbeiter- 
wohnung, jedes  Mitglied  ein  wirtsi  hafiliches  Interesse  daran  hat,  in  dem 
Hause  zu  bleiben,  das  allmählich  in  seinen  Besitz  ubergeht,  und,  solidarisch 
verantwortlich  fUr  die  Verpflichtungen  der  übrigen  Mitglieder,  nator- 
geniä&  dafür  sorgt,  dafs  nur  zuverlässige  Personen  diesem  Verein  bei- 
treten, wird  seine  wirtschaftliche  Basis  hinreichend  sein,  und  es  hat 
sich  gezeigt,  dafs  das  ])rivate  Kapital  ■  nicht  fürchtet,  sich  gegen  ver- 
BttnAige  Zinsen  an  diesen  Unternehmungen  zu  beteiligen. 

Infolge  der  .Statuten  des  I'.röndshoj- Vereins,  mit  weh  hen  die  der 
anderen  \'ereine  im  wcscntUi hen  übereinstimmen,  ist  es  die  .\ufi,Mbe 
des  Vereins,  loo  Häuser  mit  Arbeiterwohnungen  aufzufuhren  und  diese 
zu  administrieren,  bis  jedes  einzelne  derselben  in  den  Besitz  der  Mit» 
glieder  übergehen  kann.  Die  Mittel  zur  Erreichung  dieses  Zweckes  be> 
stehoi  in  den  Emzahlungen  der  Mitglieder,  ihrem  persönlichen  Kredit 
und  dem  Ertrag  der  Administration  des  Vereins.  Zur  Erfüllung  des 
Zweckes  kauft  der  Verein  den  nötigen  (irund,  der  in  loo  Parzellen  ge- 
teilt und  d:irn3(  h  durch  das  Los  an  die  einzelnen  Mitglieder  verteilt 
wird.  .\ul  jeder  Par/.elle  wird  ein  Haus  erbaut,  welches  nicht  mehr  als 
2  Etagen  hoch  sein  und  nicht  mehr  als  eine  \\  ohnung  in  jeder  Etage 
entlialten  darf.  Alle  Häuser  werden  von  gleicher  Grufse  und  mit  gleichem 
Kostenaufwand  erbaut  Jedes  Mitglied  hat  das  Recht,  Seltzer  des  ihm 
zuerteiHen  Hauses  zu  werden.  Dies  kann  erst  geschehen,  wenn  die 
Verpflichtungen  des  \'ereins,  für  welche  sämtliche  Mitglieder  solidarisch 
haften,  erfüllt  sind,  so  dafs  die  noch  restierenden  X  erptlichtungen  auf 
die  einzelnen  Gnmdstücke  verteilt  werden.  Iiis  dahin  ist  der  X'erein 
Besitzer  sanulicher  Grundstücke  und  bestimmt  die  jährliche  Abgabe,  die 
jedes  Mitglieil  zu  cntrii  hten  hat,  so  wie  er  auch  fiir  das  X'ermieten  der 
Wohnungen,  die  nicht  von  Mitgliedern  bewohnt  werden,  zu  sorgen  hat. 
Für  die  jährliche  Abgabe  ist  das  Mitglied  beredttigt  eine  Wohnung  in 
dem  ihm  zuerteilten  Haus  zu  bewohnen,  und  es  ist  verpflichtet,  diese 
Wohnung  zu  bewohnen,  wenn  es  nicht  seiner  Arbeit  wegen  genötigt  ist, 
eine  andere  Wohnung  inne  zu  haben. 

Jedes  Mitglied,  welches  eine  Wohnung  in  den  Grundstucken  des 
Vereins  bewohnt,  bezahlt  am  ersten  jedes  Monats  '  ,  .  der  jälirlichen 
Abgabe.  Das  MitglietI,  welches  nicht  das  ihm  zuei teilte  Haus  l)ewohnt. 
iK'zahll  am  5.  jedes  Monates  ^  der  jahrhchen  Abgabe,  iusoletu  sie 
nicht  durch  Vermieten  der  Wohnung  eingekommen  ist  Was  am  5.  in 
jedem  Monat  von  der  Abgabe  oder  der  Miete  der  Wohnungen  des 
Vereins  restiert  oder  bis  zum  selben  Zeitpunkt  durch  leerstehende 
*    Wohnungen  verloren  gegangen  ist,  wird  so  weit  als  nötig  zur  Deckung 


Digitizoü  by  C3t.)0^lc 


720 


Ml«f Um. 


der  Verpflichtiin^ren  des  Vereins  auf  die  Mitglieder  verteilt,  von  welchen 
jeder  Anteil  spätestens  am  15.  des  Monats  zu  bezahlen  ist.  Der  Verein 
kann  einem  Mitgliedc  eine  Zahlungsfrist  bis  zu  3  Monaten  gewähren. 

Wenn  ein  Mitglied  in  einem  der  Häuser  des  Verefns  wohnt,  ist  es 
verpfliditet,  sich  nach  den  Regeln,  welche  mit  Besag  auf  Ordnung  und 
Sauberkeit  vom  Verein  aufgestellt  sind,  zu  richten. 

Ein  Mitglied  kann  aus  dem  Verein  aufgeschlossen  werden,  wenn  es 
nicht  innerhalb  einer  vom  Verein  gegebenen  Frist  von  2  Tagen  seine 
verfallene  Schuld  berichtigt,  wenn  es  zum  6.  male  im  Laufe  der  beiden 
letzten  Jahre  eines  Vcrstofses  gegen  Ordmini.'^  und  Sauberkeit  schuldig 
gefunden  wird,  wenn  es  sich  einer  ik  r  ofteiulichen  Meinung  nach  ent- 
ehrenden Handlung  schuldig  gemacht  hat,  oder  ohne  Berechtigung  fort« 
zidbt  Das  ausgestolsene  Mitglied  veriiert  jeden  Anspruch  an  den  Verein. 

Wenn  ein  Mitglied  stirbt,  ist  seine  Gattin,  der  Witwo-  jedodi  nur, 
wenn  der  Verein  sich  dem  nicht  widersetzt,  berecht^  an  die  Stelle  des 
Verstorbenen  zu  treten  Findet  ein  snK  hes  F.intreten  nidlt  Statt,  so  er- 
halt der  Ucberlebende  das  Geld,  welches  dadurch  gewonnen  wird,  dafs 
ein  anderer  an  seine  Stelle  tritt.  Ein  gleiches  Recht  haben,  wenn  keine 
Frau  vorhanden  ist  die  Kinder  oder  die  durch  das  Testament  bestimmten 
Erben  des  \  erstorbenen. 

Ein  Mitglied  kann  aus  dem  Verein  ausscheiden,  wenn  gleichzeitig 
daflir  ein  vom  Verdn  für  gut  befundenes  Mitglied  eintritt  Wird  ein 
Los  durdi  die  Aussehlielsung  oder  den  Tod  eines  Mitgliedes  frei,  so 
muft  der  Verein  so  bald  als  möglich  em  neues  Mitglied  aufnehmen, 
welches  eine  entsprechende  Vergütung  im  Verhältnis  zu  dem  Wert, 
welchen  die  Berechtigung  des  abgegangenen  Mitgliedes  hatte,  zahlen  mufs. 

Das  Aufhören  der  Mitgliedschaft  bedingt  ni(  ht  das  Aufhören  der 
Verantwortlichkeit  der  Mitglieder  mit  I^r/iig  auf  die  vom  N'erein  einge- 
gangenen Verpflichtungen,  für  welche  die  Mitglieder  solidarisch  haften. 

Die  bei  der  fi«^tlndung  des  Unternehmens  erwachsenden  Kosten 
werden  unter  die  Mitglieder  gleichmäisig  anf  alle  Grundstücke  ver- 
teilt  Alle  Zinsen,  Steuern,  Kanalisations-  und  Straftenabgsben  etc  sowie 
<lic  Kosten  für  Instandhaltung  werden  als  Betriebskosten  \om  Verein 
bezahlt,  doch  so,  dafs  der  Verein  bestimmen  kann,  das  jedes  Mit- 
glied für  die  Instandhaltung  seines  Besitztums  selbst  sorgt.  Daüir 
ist  es  elicnso  verantwortlich  wie  für  die  Bezahlung  der  jahrlic  iien 
Leistungen.  Was  nach  Verlauf  des  Jahres,  nachdem  die  betrertenden 
Ausgaben  berichtigt  sind,  übrig  bleibt,  wird  den  gesamten  Grundstücken 
zu  gleichen  Teilen  gutgeschrieben  und  zur  Sicherheit  für  zukfinftige 
Verpflichtungen  und  eventuell  zur  Abwicklung  von  Prioritfttsschidden 
zurückgelegt. 

Der  Grund,  welchen  der  Bröndshöj -Verein  gekauft  hat,  beträgt 
ca.  3Q  400  (]m.  Nach  .\bzug  des  Areals  für  Wege  bleiben  für  jedes 
Haus  ca.  280  qm.    Hiervon  nimmt  das  Gebäude  52  qm  ein,  das  übrige 


Digitized  by  Google 


Niels  Westergaard,  Arbeit erbauTeieiiie  in  der  Umgegend  Kopenhagens.  y2l 

bleibt  Air  Hof  und  (harten.  I^e  Häuser  sind  je  2  und  2  so  ziuammen- 
^rebaut,  dafs  sich  der  genieinsame  Giebel  auf  der  Grenzlinie  z%\'ischen 
den  beiden  (irundsiücken  befindet.  Von  jedem  Hause  ist  ein  Ausgang 
auf  einen  der  zu  dem  Komplex  pehör*nden  Wege  über  den  /.um  Hause 
gehörenden  Grund.  Jedes  Gebäude  besteht  aus  i  Etage  und  einer 
Dacbetage.  Jedes  Haus  hat  eioe  aparte  Treppe;  im  Erdgesdiolt  be- 
finden sich  2  Zimmer  beziehungsweise  14  V«  und  13  qm  groft  und  die 
Küche.  In  der  Dachetage  ist  ein  Giebdsiniiner,  i  Dachkanuner  und 
ein  Bodenrauna.  Unter  der  Küche  befindet  sich  ein  Keller.  Die  Hohe 
der  Zimmer  beträgt  im  Erdgeschois  2,59  ^  ^  jedem  Haus  gehört 
eine  besondere  Retirade. 

Die  Kosten  für  den  Bau  der  100  Hauser,  den  Ankauf  des  Grund- 
stückes mit  mbegritTen,  werden  sich  vermutlich  auf  ca  470000  Kr.  be- 
laufen. Es  ist  walirscheialich,  dafs  die  Staatskasse  hiervon  ca.  350000  Kr. 
ttbemehmen  wird,  der  Rest  wird  auf  die  Kommune,  die  die  NeU'Anlage 
übernommen  hat,  das  Gaswerk,  einige  private  Kreditoren  und  Arbeit* 
geber  verteilt;  letztere  lassen,  was  vcm  den  Mitteln  zur  Begründung 
des  Unternehmens  nicht  von  den  Darlehen  gedeckt  werden  kann,  zu 
einem  Zinsfufs  von  5  „  p.  a.  darauf  stehen,  so  dafs  10  Jahre  hindurch  '  ,0 
in  jedem  Jahr,  doch  wenigstens  5000  Kr.  im  Jahre  abgezalilt  werden. 
Der  Betrag,  welchen  die  Unternehmer  darauf  stehen  haben,  beträgt  wohl 
50  000  Kr. 

Um  die  bedeutenden  Absüge  zu  bezahlen,  müssen  die  Mi^eder 
anfangs  eine  Abgabe  leisten,  die  tun  einiges  gröfier  ist  als  der  Mietszins» 
den  Arbeiter&milien  zu  bezahlen  pflegen.  Die  monatliche  Miete  eines 
Arbeiters  soll  gegenwärtig  nicht  mehr  als  20  Kr.  betragen.  Allerdings 
mieten  viele  .Arbeiter  W  ohnungen  von  3  Zimmern,  für  welche  25 — 28  Kr. 
monatlich  bezahlt  werden  müssen,  doch  vermieten  sie  gewohnlich  ein 
Zimmer  da\on.  Hier  müssen  die  Mitgheder  in  recht  bedeutender  Ent- 
fernung von  Kopenhagen,  ohne  sonderliche  Aussicht  Aftermieter  zu  be- 
kommen, anfangs  25  —  27  Kr.  monatlich  bezahlen.  Die  Abgabe  wird 
jedoch  mit  der  Zeit  geringer,  wenn  die  Batisumme  alhnählich  abgezahlt 
ist  Schon  nach  Verlauf  von  10  Jahren  wird  sie  um  7  Kr.  monatlich 
gefallen  sein;  nach  15  Jahren  wird  die  Abgabe  nur  noch  16—18  Kr. 
monatlich  betragen,  und  wenn  das  Darlehn  der  Staatskasse  amortisiert 
sein  wird,  werden  die  Mitglieder  eine  ganz  unbedeutende  jährliche  Aus- 
gabe für  die  Miete  haben. 

Die  Abgabe,  womit  hier  angefangen  wird,  ist  so  grofs,  dafs  wohl 
nur  die  bestentlohnte  Klasse  der  Arbeiter  sie  bestreiten  kann.  Andere 
Banvereine  haben,  tun  die  Ausgaben  zu  vermindern,  daran  gedacht,  die 
Häuser  in  2  Etagen  oder  mit  einer  Parterre-  imd  einer  Dachwohnimg 
zu  bauen,  was  verhältnismäfsig  billiger  ist  als  Häuser  mit  einer 
Etage.  So  entstehen  soo  Wohnungen,  und  jedes  Mitglied  erhält  eine 
W(dinnng  zum  Vermieten,  aufser  der,  welche  es  selbst  bewohnt.  Wegen 


Digitized  by  Google 


« 


Mistellea. 

der  Entfernung'  von  Kojicnliagcn,  in  welcher  die  Baustellen  des  Brönds- 
höj-Vereins  lie{;en,  würde  hier  weniger  gute  Aussicht  sein,  die  loo  übrigen 
Wohnungen  zu  vermieten,  wenn  der  Verein,  wie  er  eine  Zeit  lang  be- 
absichtigte, Häuser  mit  je  2  Wo)ftiung<.  n  gebaut  hätte.  Die  Kommune 
von  Bröndshöj  war  aufserdem  dagegen,  dafs  andere  Familien  als  die  der 
Mitglieder  des  Vereins  in  die  Häuser  aufgenommen  würden,  da  sie  dicht 
neben  einer  grofsen  Kommune  liegend,  eine  Vergröfsenmg  des  Aimen- 
und  Schulbudgcts  durch  das  Zuziehen  von  Unbemittelten  fürchtete. 
Weil  die  Kommune  zu  kk-in  ist,  konnte  sie  es  nämlich  nicht  zur  Be- 
dingung machen,  dafs  die  Wohnungen  nur  an  Arbeiter  vermietet  werden 
durften,  die  bereits  zur  Kommune  gehörten. 

Die  Kommune  Frederiksberg,  welche  Kopenhagens  Nachbarkommune 
ist  und  ca.  70000  Einwohner  hat,  hat  fUr  einen  Verein  von  Arbeitern 
am  Frederiksberger  Gaswerk  eine  beschränkte  Bürgschaft  geleistet,  um 
die  Ausführung  eines  ähnlichen  Bauuntemehmens  zu  ennöglichen. 

Die  Bausti  lle  ist  bedeutend  teuerer  als  die  des  Bröndshöj-V'ereins 
(i  So  000  Kr.  gegen  30000  Kr.),  aber  die  (iarantie  der  Kommune  er- 
möglicht ein  liilligeres  Bauen,  und  da  Häuser  mit  je  2  Wohnungen 
(Parterre  und  Dachwohnung)  gebaut  werden,  bleiben  100  Wohnungen 
zum  Vermieten  aufser  den  von  den  Mitgliedern  des  Vereins  bewohnten. 
Die  Mitglieder  wtirden  sich  daher  viel  leichter  als  die  des  Bröndshöj- 
Vereins  eine  Bebteuer  zur  jährlichen  Bezahlung  der  Abgabe  verschaffen 
können,  indem  sie  eines  der  3  Zimmer  der  Wohnungen  —  dank  der 
günstigeren  Lage  —  vermieten,  so  dafs  das  Unternehmen  möglicherweise 
fiir  die  Mitglieder  leichter  zu  bestreiten  sein  wird,  als  das  Unter- 
nehmen in  Brönd.sh<)i.  Die  Kommune  iiat  jedenfalls  das  Unternehmen 
für  wohl  fundiert  angeschen.  Da  aufserdem  die  Mitglieder  innerhalb  der 
Kommune  ihre  Thätigkeit  haben  mid  es  ausbedungen  ist,  dafs  in 
Fiedoiksberg  besdiäftigte  Arbeiter  bei  dem  Vermieten  der  v<hi  den 
Iifitgliedem  nicht  benutzten  Räume  den  Vorzug  haben  sollen,  so  gewährt 
die  Kommune  ihre  Hilfe  ohne  sonderliche  Ge&hr,  eine  unbemittelte  Be- 
völkerung heranzuziehen. 


Digitized  by  Google 


LITTI' RATL  R. 


H  ernste  in,  Eduard,   Die  Voriritssetziin^en  des  Sczialisnins  und  die 
Auf  gilben  der  Si>ziiildcj>iokrtitie.    Stutti;art  1899.   X  u.  ibiS  S. 
Kautsky y  Karl,  Bernstein  und  das  sozialdemokratische  Frogramni. 
\         Stuttgart  18^9.  VllI  u.  195  S. 

,,In  der  Litteratur  der  deutschen  Soztaldemolaratie  bfldet  das  Bern- 

stcinschc  P.tich  die  erste  Sensationsschrift"  —  sagt  Kautsky  in  seiner 
Ocgenschrifi  (S.  1).  Das  Sensationelle  liege  darin,  dafs  „einer  der  ortho- 
doxesten" Marxisten  ein  Buch  schreibt,  in  dem  er  feierlich  verbrennt, 
was  er  l)isher  angebetet,  und  anbetet,  was  er  bisher  verbrannt  hat" 
(ibidemj.  Dieses  l'rteil  wird  von  Rautsky  auf  nahezu  200  Seiten  aus- 
geführt und  begründet  Es  wäre  swecklos,  in  diesem  Archiv  ein  Ke« 
ferat  der  beiden  Streitschriften  zu  gei3en  —  wer  sich  über  den  Stand 
der  Kontroverse  gehörig  unterrichten  will,  muis  sie  ein&ch  lesen.  Da 
ich  in  meiner  im  vorliegenden  Bande  abgedruckten  Abhandlung  mich 
bereits  über  den  Wert  und  die  Bedeutung  der  vielbesprochenen  Bern- 
steinschen  Schrift  ausgesprochen  habe,  so  wird  diese  P>e^iire(  hung  sich 
mehr  mit  dem  Buche  Kautskys  befassen.  Die  Beziehung  auf  die  Bern- 
steinsche  Kritik  der  So/ialdemokratie  wird  dabei  nicht  im  iniiidcstcn 
verloren  gehen,  detm  diese  Kritik  wird  ja  von  der  .Vntikritik  Kautskys 
vorausgesetzt  Die  Absicht  der  höchst  offenaven  Defensivschrift  des 
Redaktears  der  Neuen  Zeit  ist,  —  die  Diskussion  über  „die  Probleme 
des  Bemsteinschen  (sie!)  Soziallsmus"  zum  Abschluß  zu  bringen.  Diese 
Absicht  ist  v(äUg  verfehlt.  MaL:  mm  das  Bemsteinsche  Buch  noch  so 
niedrig  bewerten,  es  hat  doch  das  Verdienst,  dafs  es  angeblich  endgültig 
entschiedene  Fraisen  des  Sozialismus  als  Probleme  aufgcfafst  und  aufge- 
stellt hat.  Ks  dankt  mich,  dafs  der  Kautsky  des  Stuttgarter  Parteitages 
vom  Jahre  189S  und  \"i(  tor  Adler  gegenüber  15emstein  einen  viel 
richtigeren  Ton  angeschlagen  haben  als  der  Kautsky  der  ad  usun» 
defr  Hannoverschen  Parteitages  bestimmten  Streitschrift.  Adler  dankte 
bekanntlich  Bernstein  dafttr,  dafs  dieser  „mit  kräftiger  (?)  Hand  einen 
Stein  in  die  mitunter  (?)  stagnierenden  Wässer  der  theoretischen  Diskussion 


724 


Littentnr. 


in  der  Partei  geworfen  hat."  Fürwahr,  nicht  nur  der  ortliodoxe  Bern- 
stein verdiont  Dank  und  Anerkennung,  sondern  nocli  mehr  der  Zweitier. 
Uebrigens  mufs  der  Referent  mit  Genugthuung  hervorheben,  dafs  Kautsky 
selbst  in  seinem  Vorworte  scharf  der  hämischen  Verkleinerung  Bernsteins 
entgegentritt 

AUerdiogs  ein  giofier  Mangd  haftet  den  Zweifeln  und  Bedenken 

Bernsteins  an.  Dafs  er  wenig  Positives  auszusagen  vennodit  hat, 
darin  finde  ich  weder  etwas  Auffallendes  noch  ihn  Belastendes  — 
in  vielen  Fragen  ist  wirklicli  nichts  anderes  als  das  bescheidene  und 
ehrliche:  non  licjuet,  vorzubrincren.  Aber  dieses  non  liquet.  diese  Un- 
klarheit des  Thatbestandes  lafst  sich  immer  mit  völliger  Klarheit  und 
Bestimmtheit  nachweisen.  Bernstein  hat  seine  Bedenken  selbst  sehr  un- 
klar empfunden  und  üb  dedialb  in  unklare  und  versdiwommene  Form 
gekleidet  Er  aeli»t  hat  das  Gewicht  der  einseinen  Argumente,  weldie 
er  der  Orthodoxie  entgegenstellt,  eigentlich  gar  nicht  festgesteUt  und 
sdieint  sogar  kein  Bedürfnis  darnach  gehabt  zu  haben.  Ganz  im  Gegen- 
satze zu  Bernstein  ist  Kautsky  völlig  seiner  Wissenschaft  sicher  und  tritt 
dementsprechend  auf  Wenn  die  Kritiker  der  Orthodoxie  keine  Ix;- 
stimmte  Antwort  auf  diese  oder  jene  Frai;e  haben,  so  folgert  er  daraus, 
dafs  die  orthodoxe  Lösung  des  Problems  unantechtbar  dastehe.  Durch 
das  subjektive  GefUhl  der  theoretischen  Klarheit  befangen,  schreitet  er 
mutig  von  Positifm  zu  Position,  frei  ron  Bedenken,  völlig  auf  die  un- 
flberwindliche  Macht  der  »aMnistiachen  Methode"  vertrauend.  Es  ist 
aber  unventändüch,  wie  man  überhaupt  von  ^^marxistischer  Methode'* 
sprechen  kann.  Mandnaus  ist  eine  inhaltlich  bestimmte  Lehre,  ein 
Standpunkt,  meinetwegen  ein  heuristisches  Prinzip,  aber  eine  Methode 
kann  es  ebensowenig  sein  wie  etwa  der  Daruinisiiius.  Auch  das  was 
man  gewöhnHch  in  der  marxistischen  Litteratur  „Dialektik"  nennt,  ist 
eigentlich  eine  Methode  nur  unter  der  metaphysischen  Voraussetzung  der 
Identität  des  Denkens  imd  des  Seins:  sie  ist  eine  Methode  der  cmtolo- 
gischen  Logik.  Ohne  diese  metaphysische  Grundlage  ist  sie  nichts  weiter 
als  das  Evolutionsprinzip.  Wenn  Kautsky  sagt,  dals  „das  Entscheidende 
am  marxistischen  Sozialismus  die  Methode  nicht  die  Residtate  sind" 
(S.  I  7)  und  dabei  die  materialistische  Geschiclitsauffassung  meint,  so  ist 
er  offenbar  völlig  im  unklaren  darüber,  dafs  die  „materialistische  Ge- 
schichtsauffa-ssunf^"  das  wichti^^ste  „Resultat"  des  Marxismus  als  wissen- 
schaftlichen Systems  ist.  Diese  Auffassung  sollte  aber  für  ihn  um  so  mehr 
verbindlich  sein,  als  er  fest  daran  zu  glauben  scheint,  dafs  die  materialistische 
GeschichtsaufTassung  von  Marx  in  regelrechtem  induktiven  Verfidiien  ge> 
Wonnen  worden  ist.  kh  gbnbe  dieq,  gar  nicht,  bin  viefanehr  geneigt  in 
der  materialistischen  GeschichtsaufTassung  eine  Ahnung,  ein  unter  dem  Ein* 
drucke  der  Thatsachen  konzipiertes  Schema  zu  sehen,  welches  Marx  und 
Engels  als  a  priori  feststehendes  heuristisches  Prinzip  ihrer  bahnbrechenden 
Forschung  diente.   Dafs  das  wichtigste  „Resultat"  des  Systems  ihm  als 


Digitized  by  Gopgle 


Bernstein,  Eduard,  Die  VQnmnetsangen  des  Sodalismus  etc. 


ein  Apriori  dient  —  ist  eine  häufige  Erscheinung  und  läfst  sich  auch  in 
den  sogen.  „Erfahrungswissenschaften"  an  l>erühmten  Beispielen  nach- 
weisen. Marx  hatte  zwei  Apriori:  ein  theoretisches  —  die  materialistische 
Geschichtsauffassung,  und  ein  praktisches  —  den  Sozialismus.  Dieses 
letztere  Apriori  macht  das  Kapital  —  wie  Bernstein  richtig  ausführt 
(S.  177 — 178)  —  zu  einem  Teodenzwerk,  welches  „die  Lösung  der 
Utopisten"  ttbenununen  hat  Was  Kautsky  dagegen  vorbringt,  läuft 
darauf  hinaus,  da&  Man  seine  sozialistische  Aufftssnng  duidi  zweimalige 
„Untersuchung"  gewonnen  habe.  „Die  erste  Untersuchung  endigte  mit 
dem  kommunistischen  Manifest.  Damit  hielt  Marx  seine  These  so  wenig 
für  fertig,  dafs  er  nach  der  Revolution  nochmals  ipit  neuem  Material 
„von  vorne  anfing".  Er  kam  dabei  im  wesentlichen  zu  demselben  Re- 
sultat wie  das  erste  Mal"  (S.  30).  Dafs  Marx  gründlicher  Forscher  war, 
dürfte  weder  Bernstein  noch  Anderen  unbekannt  sein.  Für  mich  steht  aber 
dennoch  psychologisdi  fest,  dafs  Marx  Tom  Sozialismus  ab  von  einer 
fertigen  Tböe  immer  ausgegangen  Ist  Als  Forscher  verdankt  er  dieser 
Voreingenommenheit  nicht  nur  seine  Fehler  sondern  auch  seine  glän- 
zendsfen  Leistungen.  Denn  zu  Marx'  Zeit  konnte  nur  ein  sozialistischer 
Kritiker  die  grofsartige  geschichtliche  Bedeutung  des  Kaj)italisraus  wür- 
digen und  gleichzeitig  dessen  geschichtliche  Relativität  klar  erfassen. 
Dafs,  und  wie  die  sozialistische  Disposition  auch  die  Schwäche  von  Marx 
ausmachte  —  iiabe  ich  in  meiner  obigen  Abhandlung  gezeigt.')  Kautsky 
stiänbt  sidi  natürlich  gegen  eoie  striche  Aul&ssung  von  Marx,  weil  er 
den  ganzen  Inhalt  der  mandstischen  Uebertieferung  als  objektive  Wahr- 
heit erhalten  will  Aber  jene  Auf&ssung  ist  niditsdestoweniger  psycho- 
logisch wahr. 

Dafs  Bernstein  in  der  Aufspürung  des  Blanquismus  im  Marxschen 
Ifleenkreise  ebenfalls  auf  die  richtige  Fährte  gekommen  ist,  ist  durch 
die  gegenteiligen  Behauptungen  von  Kautsky  und  Diehl  nicht  wider- 
legt worden.  Diehl  fuhrt  gegen  die  Ansicht  Bernsteins  die  unzweifel- 
hafte Thatsache  an,  dafs  der  Marxsche  ökonomische  Evolutionismus 
sidi  im  schroffen  G^^satz  zum  politischen  Revoluticmismus  von  Blanqni 
befindet.  Man  kann  allerdings  aus  Marx  einen  rein  Olu»M»nlschen  und 
widerspruchslosen  Evolutionismus  herausdestSlteien,  der  ganze  histo- 
rische Marx  und  der  an  ihn  aoknl^fende  Mandsmns,  wie  ihn  Kautsky. 
Plechanow  u.  a.  vertreten,  hat  genug  Blanquismus  in  sich.  „Das  Wort 
„revolutionär"  hat  bei  Marx  ...  nur  die  Bedeutung,  dafs  nicht  durch 
irgendwelche  Reformen  auf  dem  Boden  der  bestehenden 

')  Kautsky  bestreitet,  dafs  die  Utopisten  eine  „Losung"  gehabt  haben^ 
Will  er  auch  bestretten,  dafs  die  Utopisten  Sozialisten  waren?    Die  Lösung  der 

*)  Vgl.  denen  Uequedwag  tob  BerMtda  in  Connds  |ahr1>flcheni,  HL  Folge 
tS.  Band,  1.  Heft.  S.  97—116. 


L  iyui^ed  by  Google 


726 


Littenttur. 


Rechtsordnung  die  soziale  l'nigestaltiinj,^  erfolgen  könne,  s<jndern 
nur  durch  railikale  Umwälzung  der  Grundlagen  dieser  Ordnung"'  ^Dichl 
1.  cS.  106.  gesperrt  von  mir).  In  dieser  „Bedeutung",  wddier  ein 
unschuldiges  „n  u  r"  vorsteht^  liegt  aber  auch  der  ganze  Blanquismus  von 
Marx,  nämlich  der  Wunde^laube  an  eine  politische  Hauptaktion  des 
Proletariates  eingeschlossen.  Vom  konse<iuent  evolutionistischen  Stand- 
punkte ist  eben  die  grundsätzliche  Gegenüberstellung  von  „Reformen  auf 
dem  Hoden  der  bestehend<'n  Rerhtsordinnig"  und  der  „radikalen  Um- 
wal/.uiig  der  GrinidlnL^en  dieser  Ordnunu"  einfach  sinnlos  Nicht  um 
Verherrlichung  von  „Revolution"  im  Polizj:ismn  (Aufruhr)  handelt  es  sich 
beim  Blani|uismus  als  einer  sozialpolitischen  Auffassung,  sondern  um  den 
Glauben  an  die  grundlegende  Bedeutung  der  politischen  Machtergreifung 
fiir  die  radikale  Umwälzung  der  Gesellschaft.  Dieser  Glaube  ist  innig 
mit  dem  Glauben  an  die  Möglichkeit  einer  „Aufhebung*'  der  kapitalisti- 
schen GeseUscha(\sordnung  verbunden.  Der  Widerspruch  zwischen  dem 
„blanquistischen"  Revolutionismus  und  marxistischen  Kvolutionismiis 
ist  ein  immanenter  Widerspruch  der  sozialen  Knt\vicklunj;slehre  von  Marx 
in  ihrer  h  i  s  t  »j  r  i  s  c  h  e  n  Bestimmtheit.  1  !ern>tcin  hat  den  scharfen 
begrililichen  Gegensatz  dieser  zwei  Auffassimgeu  nicht  mit  der  nutigen  Klar- 
heit formul^r^  vielmehr  ihn  durch  die  unwesentlidie  und  störende  Unter- 
scheidung der  friedlichen  Reform  und  der  gewaltsamen  Umwälzung  so 
verdunkelt,  dais  Victor  Adla*  ihm  mit  Recht  spöttisch  entgegenhalten 
konnte,  er  „definiere  das  Wort  Revolution  wie  nur  noch  ganz  alte  Staats- 
anwälte" (  Wiener  .Arbeiterzeitung  vom  2.  April  1899. 

Das  W  ertproblem  ist  von  Bernstein  in  seinem  Biu  he  in  vorsichtiger 
und  wenig  selbständiger  W  eise  angefafst  worden.  Etwas  weiter  ist  er  in 
einem  .Artikel  der  „Neuen  Zeit"  („.Arbeitswert  oder  Nutzwerl",  XVII.  Jahr- 
gang. II.  Bd.  Nr.  44)  gegangen.  Kautsky  hat  Recht,  wenn  er  seinem 
Gegner  Eklektizismus  vorwirft.  Dieser  Eklektizismus  liegt  nicht  darin, 
daß  Bernstein  die  Grenznutzentheorie  und  die  Kostentheorie  ftir  gleich 
annehmbar  erklärt  —  dies  ist  in  gewissem  Sinne  ganz  richtig  —  wohl 
aber  rührt  er  daher,  dafs  Bernstein  den  Sinn  mid  die  Tragweite  der 
Marxschen  \N'erttheorie  nicht  klar  genug  erfafst  hat.  Seit  Marx  selbst 
im  III.  liande  des  ..Kapitals"  als  reale  Warenwerttheorie  die  Prcfduktions- 
kostentheorie  in  ihren  Rechten  wiederhergestellt  hat,  ist  eigentlich  das 

')  Aat  die  Bexeichnuug  „blauquittitch"  lege  ich  keinen  besonderen  Wert, 
obgleich  sie  sich  vom  getcbicbtlicheii  Staadpankt  enpfiebU.  Desto  mehr  aber  aaf 
den  Sinn  dieser  Bezeichnung,  wie  er  oben  angedeutet  ist  ond  noch  klarer  aus 
meiner  Abbandluag  hervorgeht 

*i  Kautskys  Kritik  von  Bernstein  deckt  sich  in  ihren  Hauptmotiven  mit  der 

Adlerschcn,  i]e?<cn  zwei  Aufsät/e  ülicr  Bernstein  in  der  „Arbciterzeitnng*'  (vom 
16.  Oktolier  und   vom  2.  April   1899)  wahre  Prachtstücke  publizistischer 

Kunst  sind. 


Digitized  by  Google 


Bernstein,  Eduard,  Die  VonnflMtsangen  des  Sozialismoi  etc. 


grofse  Olli  pro  quo  des  ganzen  ökonomischen  Systems  von  Karl  Marx 
klar  freworden.  ')  Marx  hat  mehrere  Werthegrirte  ohne  es  zu  inerken. 
Es  kommt  daher,  weil  er  zwei  ganz  verschiedene  l'rol »lerne,  das  sozio- 
logische Problem  der  Ausbeutung  überhaupt  und  speziell  der  kapita- 
listischen Ausbeutung  und  das  ökonomische  Problem  des  Wertes  und 
qpeziell  des  Verkehrswertes  als  ein  einheitliches  Problem  und 
swar  als  das  Wertproblem  behandelt  Somit  laufen  bei  Marx  m  seiner 
Werttheorie  zwei  verschiedene  Gesichtspunkte  neben-  und  ineinander: 
der  Gesichtspunkt  der  soziologischen  Betrachtung,  wonach  die  kapitalis- 
tische Vroduktion  eine  besondere  historisch  bestimmte  Form  der  Aus- 
beutung der  Produzenten  und  tier  Am'i[;nung  des  Mehr[)rodukles  ist, 
und  der  Gesichtspunkt  der  ökonomischen  Betrachtung,  in  deren  Feld 
die  Erscheinungen  des  Verkehres  und  somit  auch  das  eigentliche  Wert- 
probicm  gehört  Marx  hat  diese  awd  Gesichtspunkte,  wie  gesagt,  nie 
klar  auseinandergehalten.  Dazu  kam  bei  ihm  noch  ein  dritter  Gesichts- 
punkt, welcher  in  der  mechanisch-naturalistischen  Auf&ssung 
der  Wertsubstanz  gipfelte.  Diese  Auffassung  schafft  ein  angeblich 
obfektives  Fundament  des  Wertes.  Diese  Objektivität  spottet  aber  jedw 
Erfassung  und  zerrinnt  bei  näherem  Zusehen  in  subjektive  Momente. 
Dafs  der  IJcgritV  der  gesellschafdich-notwcndigen  Arbeitszeit  auf  dem 
gesellschaftlichen  Bedürfnis  ruht,  ist  von  Marx  selbst  sehr  stark  betont 
worden.  Noch  wichtiger  ist  es  aber,  dafs  die  wirkliche  Wertschätzung 
der  verschiedenen  Arbeitsarten  in  der  Gesellschaft  sich  nicht  auf  den 
objektiven  Unterschied  des  resp.  Arbeitsaufwandes,  sondern  auf  die  so- 
ziale Gebrauchswertschätzung  gründet  —  die  Reduktion  der  qualifizierten 
Arbeit  auf  die  einfache,  von  welcher  Mni\  ii det,  setzt  sich  in  Wirklich- 
keit in  gesellschaftlichen  Werturteilen  durch,  welche  qualitative  Unter- 
schiede berücksichtigen.  Mit  anderen  Worten:  es  giebt  keine  objektive 
W  e  r  t  s  u  bs  t  a n  z,  deren  (Juanta  völlig  vergleichbar  und  mefsbar  wären. 
Objektivität  kann  dem  Werte  nur  insofern  zugesprochen  werden,  als 
man  die  Objektivierung  der  Wertschätzung  in  geseUschaltlichen  Wert- 
urteilen, sc.  in  den  Preiserscheinungen  den  subjektiven  Werturteilen  ent- 
gegensetzt Aber  das  Objektive  flieist  hier  in  letzter  Instanz  aus  dm 
Subjektiven  und  kann  audi  nur  aus  ihm  deduziert  werden. 

Marx  erkannte  die  sozialpsychische  Natur  des  Wertes  an,  denn  er 
definierte  ihn  als  ein  „gesellschaftliches  Verliältnis"  von  Menschen. 
Gleichzeitig  hat  er,  auf  seinem  Begriffe  der  Wertsubstanz  •)  fufseud,  die 

*)  Die  nadistehenden  AufähraDgen  enthalten  ia  gedrüngter  FaHung  eine  kri- 
tiKbe  Attteinandenetang  mit  der  Maruchen  Werttheorie,  die  Ich  Ia  Form  einer 
besonderen  Abbandlnng  in  nicht  alba  femer  Zeit  der  Oeffentlidikeit  abergeben  werde. 

*)  Der  Widerspruch  der  sozialpsychologischcü  Auffassung  des  VVertbegriffes  als 
Re  1  a  t  i  o  n  sbegriffes,  und  der  inccbanisch-matcrialistischen  Auffassung  derselben  als 
Subst:inzbegrilTcs  zieht  sicli  durch  das  ganze  ökonomische  System  von  Marx. 
Archiv  für  so».  GeHcUgcbung  u.  Statistik.    XIV.  47 


LiUciatnr. 


Kostenwerttheorie  in  einer  extrem-objektivistischen,  mechanisch-naturalis- 
tttcben  Ausgestaltung,  als  Afbeitswerttheorie,  Torgetngen  lud  den  sono» 
logiidiefi  Gesichbq>aDkt  mit  dem  ökooomischen  venneDgt.  Was  diese 
Vermengung  bedeutet,  dürfte  aus  folgenden  Ueberlegungen  klar  werden. 
Das  Marxscbe  sogen.  „Arbeitswertgesetz"  gilt  auch  in  der  kapitalistischen 
Gesfllschaft  nur  für  das  ganze  gesellsi  haftliclie  Produkt  und  nur  flir  den 
ganzen  Mehrwert.  Dieser  Mehrwert  würde  aueh  ohne  die  einzelnen 
Warenwerte  existieren :  er  ist  völlig  von  den  Erscheinungen  des  Ver- 
kehres imabliangig,  er  setzt  nur  Mehrarbeit  und  Aneignung  des  Pro- 
duktes durch  Ni^tproduaenten  (Ausbeuter)  voiaus.  Dä&  er  Wert  ge> 
nannt  wird,  stiftet  gar  kein  reales  VetblUtnia  awischen  ihm  und  den 
wirklichen  Warenwerten.  Da&  das  gesamte  gesdlschaftliche  Produkt 
nur  Arbeitsprodukt  ist,  kann  aber  nur  etwa  so  verstanden  werden.  Da 
dieses  Produkt  —  als  eine  [physische  Masse  von  Gebrauchsgütem  —  offen- 
bar keine  Sch(>pfung  der  menschlichen  Arbeitskraft  ist,  so  ist  es  aus- 
schliefsliclies  Produkt  der  Arl)cii  nur  in  dem  Sinne,  dafs  seine  Schöpfung 
der  Arbeit  sozial  „zugerechnet"^)  wird.  Der  Grund  für  diese 
soziale  „Zurechnung"  liegt  darin,  dafs  der  Mensch  als  solcher,  als  phy- 
nsch  -  geistiges  Subjekt  niur  durch  die  Arbeit  dieser  oder  jener  Art  an 
der  Schdpftmg  der  Güter  mitwirkt.  Man  denke  nur  diese  Mitwirktug 
des  Menschen  hinweg,  man  denke  sich  den  unmöglichen,  aber  als 
exemi)lum  fictum  höchst  lehrreichen  Fall,  dafs  alle  Produkte  ohne 
menschliches  Zuthuii  genufsfertig  an  ihn  gelangen,  dann  scheidet  das 
ProUuktionsproblem  völlig  aus  der  Nationalökonomie  aus,  die  letztere 
verwandelt  sich  in  eine  reine  Lehre  von  d  e  r  An  e  i  g  n  u  n  g.  Wenn 
die  „freien"  Güter  in  begrenzter  Quantität  da  sein  werden,  so  werden 
«e,  auch  ohne  Arbeitsprodukte  au  sein,  einen  Wert  erhalten. 
Ich  habe  dieses  ausgeführt,  um  darsuthun,  dafs  <Ue  Frage  des  „Arbeits- 
wertes" sozusagen  in  dem  Kreuzungspunkt  des  Produktions-  und  des 
Aneignungsproblems  ihre  Stelle  findet  Der  „Arbeitswert**  steht  mit  dem 
ökonomischen  Wertprol)lem  in  einem  viel  komplizierteren  Zusammenhang, 
als  es  Marx  angenommen  hat,  und  dieser  Zusammenhang  fuhrt  nicht  an 
dem  Gebrauchswert  vorbei,  sondern  über  denselben.  Der  Wert  ist  an 
seinen  physischen  Träger,  das  Produkt  gebunden ;  der  Wert  ist  somit  in 
letzter  Instanz  immer  Geturauchswert.  Geschaffen  wird  das  Produkt  und 
nicht  der  Wert  Dafs  aber  die  Schöpfung  des  gesellscbaftli<^en  Pro- 
duktes der  Arbeit  sozial  zugerechnet  wird,  hat  seinen  guten  Grund 
vom  Standpunkte  des  Produktioo^wozesses  als  menschlicher  Tliiltig> 
keit   Es  ist  von  Kritikern  von  Marx  riditig  darauf  hii^;ewiesen  worden. 


'!  Der  Kuiiilijjo  wird  sofort  erkennen,  dafs  der  lirj^ritf  .. Zurechnung"'  Friedrich 
von  \\'ii-<(T  ein'!  lint  i>t  vs^l.  dessen  Werk  ,,Der  naturliche  Wert",  Wieti  18S9  S.  Ojff.i. 
Meine  „Soziale  Zurechnung"  deckt  sich  mit  dem,  was  er  „moralische  Zurechnung" 
neDDt. 


Digitized  by  Google 


Bernstein,  Eduard,  Die  VoiBattctzongen  dci  Soiiatiimwi  etc. 


dafs  die  Arbeit  der  Tiere  ganr.  in  dem  gleichen  Sinne  wie  die  Arbeit 
der  Menschen  Mehrprodukt  schafft.  Dafs  aber  die  Menschen  dieses  Mehr- 
produkt den  Tieren  nicht  „zurechnen",  hängt  daran,  dafs  die  Menschen 
die  Tiere  „ausbeuten".  Dementsprechend  kann  mit  gutem  Grunde  ge- 
sagt werden,  dafs  jede  ,,Ausbeutiiog''  der  Menschen  durch  die  Menschen 
(inklusive  des  Kapitalismus)  darin  besteht,  dals  die  Mensdien  von  ihres- 
gleichen als  Tiere  behandelt  werden.  Der  Begriff  der  Ausbeutung  hat 
seinen  Inhalt  zunächst  in  der  Aneignung  von  Gütern,  an  deren  Produktion 
(=  Schöpfung)  die  ausgebeuteten  Produktionsfaktoren  (Menschen,  Pferde, 
Maschinen,  Bodenkräfte  u.  s.  w.)  mitgewirkt  haben.  Der  Inhalt  dieses 
Begriffes  als  einer  sozialwirtschaftlichen  Kategorie  ist  durch  den  Begriff 
der  sozialen  Zurechnung  gegeben.  Ausbeutung  im  sozialen  Smne  liegt 
überall  vor,  wo  Nichtproduzenten  auf  Grui^  eines  Herrschaftstitels  Arbeits- 
produkte sich  aneignen.  Nochmals:  die  ausgebeuteten  Ikfenschen  unter» 
scheiden  sidi  als  Arbeitskräfte  in  nichts  von  den  ausgebeuteten  Tieren. 
Man  soll  mir  nicht  einwerfen,  dafs  diese  Auffassung  t^ethisch"  ist:  das 
ethische  Moment  wird  hier  nicht  vom  Sul)jekte  von  aufsen  her  in  die 
Sache  hineingetragen,  es  geht  in  den  objektiven  Thntbestand  als  sein 
integrierender  Teil  ein.  Wenn  anders,  wolle  man  mir  erklaren,  wodurch 
sich  die  Ausbeutung  eines  Pferdes  von  der  Ausbeutung  eines  Menschen 
objektiv  unterscheidet. 

Aus  dieser  Auseinandersetzung  ergiebt  sich,  dafs  für  die  Theorie 
der  sozialen  Ausbeutung  der  Begriff  des  Wertes  nutzlos  ist;  die  national- 
ökonomische  Theorie  des  Verkehres  weifs  aber  auch  nichts  mit  dem 
reinen  B^iffe  des  Arbeitswertes  anzufangen.  Diese  letztere  Theorie  hat 
von  dem  Begriffe  des  subjektiven  Wertes  auszugehen  und  seinen 
objektiven  (jestaltungcn  nachzuspüren:  sie  hat  also  eine  subjektivistische 
Produktionskostcntiicorie  zu  sein.  Dafs  sie  sich  dabei  auf  die  Lehre  vom 
Grenznutzen  stützen  mufs  und  beide  Lehren  ohne  jeden  W  iderspruch 
sich  zu  einem  einheitlichen  (nicht  eklektischen)  Ganzen  zusammenlügen,  be- 
weisen die  Schriften  sowohl  der  Grenznutzentheoretiker  als  auch 
ihres  hervorragendsten  G^ers  Dietzel;  nicht  minder  auch  das  öko- 
nomische System  des  Engländers  Marshall.  Sofeme  also  Marx  als 
Produktionskosientheoretiker  auftritt  —  und  das  thut  er  im  III.  Bande  — 
ist  seine  Theorie  des  Verkehrswertes  sehr  gut  mit  der  (irenzntitzentheorie 
zu  vereinigen.  Uas  die  reine  .Arbeitswerttheorie  von  Mar.\  anbetrifft, 
so  ist  sie  die  soziologisclie  Lehre  von  der  Ausbeutung,  wfiche  in  na- 
lionalükonomischer  Verkleidung  uufiriit  und  mit  nationaiokonomischen 
Begriffen  arbeitet.  Daft  die  Vereinigung  der  soziologischen  und  der 
nationalökonomischen  Betrachtung  bei  Marx  gleichzeitig  eine  störende 
Vennengung  der  Probleme  war,  lag  an  der  methodologischen  Unklarkeit, 
mit  welcher  fast  alle  weitausschauenden  bahnbrechenden  System- 
schöpfer ihre  grofsen  Leistungen  erkaufen  müssen.  In  der  vereinigten 
soziologisch-ökonomischen  Erforschung  der  heutigen  Wirtschaftsordnung 

47* 


730 


Littermtor. 


liegt  meines  Erachtens  sowohl  das  gröfste  \'erclienst  und  die  wissen- 
schaftliche Stärke  von  Marx,  welche  ihn  zum  grofsten  Nationalokonoraen 
der  Neuzeit  maclit,  als  auch  die  Quelle  seiner  einzelnen  Irrtümer  auf 
dem  Gebiete  der  politischen  Oekonomic.  Denn  die  nationalökonomische 
Betxachtuo^  zieht  bei  Maxx  Uberall  den  kttneren,  wo  sie  mit  der  sozio- 
logischen in  Konkurrenz  tritt  Als  Beispiel  kann  die  soziol(^isch  tief- 
sinnige, nationaUjkonomisch  aber  zuweilen  geradezu  irrcfilhrendc  Ein- 
teilung des  Kapitals  in  den  konstanten  und  den  variablen  Teil  dienen. 

Die  Verkniipfung  zwischen  der  soziologischen  l.ehrc  von  der  Aus- 
beutung und  der  nationalökononiischen  Theorie  des  Verkehres  und  des 
Wertes  hegt  darin,  d;tfs  die  cr>tere  der  letzteren  ihr  soziologisches  Apriori 
liefert:  denn  das  Privateigentum,  die  V'ertragsfreiheit  und  die  trcic  Kon- 
kurrenz, weldte  die  rechtlichen  Prinzipien  des  Systems  der  kapitalisttschen 
Ausbeutung  bilden,  sind  ja  die. sozialen  Prämissen  der  modernen 
Verkehrswirtschaft. 

Die  oben  in  groisen  Zügen  vorgetragene  kritische  Auffassung  des 
ökonomischen  Systems  von  Karl  Marx  wird  vielleicht  von  Kautsky  al?. 
„eklektisch",  von  Diehl  als  „Malbheit"  abgefertigt  werden.  Durch  xjlche 
Bezeichnungen  wird  aber  an  sich  liber  den  sai  hliciien  Wert  der  in  lie- 
tracht  konunenden  Auffassungen  wenig  ausgesagt.  „Kklekiik"  .sollte  eigent- 
•  lieh  nur  eine  schlechte  Auswahl  heifsen.  Lud  was  die  „Halbheit" 
betrifft,  warum  nicht  die  Hälfte  nehmen,  wenn  eben  nur  die  Hälfte  der 
Wissenschaft  frommt?  Von  der  Auffassung  Sombarts,  des  bahnbrechenden 
Mandcritikers,  scheidet  sich  die  meinige  scharf  dadurch,  dafs  sie  von 
vornherein  bewufst  darauf  verzichtet,  dem  Marxschen  (ledankenbau  eine 
widerspruchslose  Deutung  zu  geben,  Sic  geht  vielmehr  darauf  aus,  in 
ihm  das  reiche  S[)iel  verschiedener  Denkmotixe  und  Denkrichtun;;en  blofs- 
zulegen.  W  idersprüche  sollen  da  nicht  nur  niclu  aus  dem  System  we^- 
geschaflt,  sondern  im  (iegeuteil  in  ihrer  i)sychologischcn  Notwendigkeil 
und  logischen  Bedingtheit  aufgezeigt  werden.  Nachdem  dies  geschehen, 
kann  die  Kritik  den  einzelnen  Denkmotiven  ihre  Geltungsgebiete 
zuweisen.  Hierin  besteht  ja  die  eigenste  Aufgabe  der  erkenntnistheöre- 
tischen  Kritik  jeder  wissenschaftlichen  Leisttmg. 

Die  Bemsteinsche  Kritik  der  Zusammenbrut  hstheorie  beantwortet 
Kautsky  mit  der  Behauptung,  dafs  es  eine  soK  ho  l  lieorie  als  mafs- 
gebcnde  l.elnineinung  der  Sozialdemokratie  überhaupt  nicht  gebe.  Wii 
könnten  diese  etwas  sonderbar  aiunuteiule  '  i  Behauptung  mir  lebhaft  als 
eine  Absage  vom  cntwicklungsgebchichllichen  Utopismus  begrülsen,  wurde 


*)  In  idnem  Artikel  im  VMivSris  (Nr.  235  vom  7.  Oktober  1899,  Ein  Wort 
der  Abwelir")  bilt  Bernstein  dem  entgegen:  „Ich  habe  «e  (die  Zusammenbrucbs- 
tbeorie)  im  Züricher  Sozialdemokrat,  ich  weifs  nicht,  wie  oft,  vcrtnlea".  Vgl.  R. 
Luxemburg,  Sozialreform  oder  Revolution?  S.  56:  „Da  ...  der  Zusammenbruch  der 
borgerlichen  Gesellschaft  «n  Eckstein  des  wissenschaftlichen  Sozinlismus  isf  *  u.s.w. 


Digitized  by 


Bernstein,  Eduard,  Die  VonuMctningen  des  Soxialitmas  etc.  jrjl 

sie  nur  lialbwegs  rirlit;^^  sein.  Leider  aber  steht  Kautsky  selbst  unter 
dem  Hanne  der  Zus;iiunieubruchsthcorie,  die  er  für  nicht  existierend  er- 
klärt, die  aber  das  ureigenste  Wesen  des  orthodoxen  Marxismus  ausmacht. 
Denn  sonst  wäre  die  ganze  zuweilen  erbitterte  Polemik  gegen  Bernstein 

unverständlich.   „Die  Triebkraft  aller  Entwicklung  ist  der  Kampf 

der  Gegensätze"  —  sagt  Kautsky  (1.  c.  33).  Wozu  kann  aber  der  fort- 
schreitend sich  zuspitzende  (das  ist  ja  die  Pointe  der  Widerspruchs* 
formel!)  Kampf  «1er  (iegcnsat/c  fiiliren?  Zur  „Aufhebung"  dieser  Gegen- 
sätze. Ich  meine  nämlich :  wenn  man  die  l'oteii/.ierunji  der  Gegensätze 
und  die  ,..\ufhel)un<^"  der  auf  die  Spit/e  getriebenen  Gegensätze  als  all- 
gemeines Schema  der  gescUsciiafilichen  fclntwicklung  im  einzelnen  und 
im  Ganzen  annhnmt,  so  folgt  daraus  ganz  logisch  die  —  Zusammen» 
bruchstheorie. 

Die  Frage,  ob  die  Zahl  der  ,3esi(zenden"  im  Fortgange  der  kapi- 
talistischen  Entwicklung  anwachse  oder  .1  u  'ime,  wurde  von  Anfang  an 
von  Bernstein  ohne  nähere  Präzisierung  des  licgritTes  „Besitzende"  ge- 
stellt, woraus  Mifsvcrständnisse  und  eine  völlig  unfruc  htl)are  Polemik  er- 
wachsen i^t.  \'om  Standpunkte  des  Sozialismus  ist  e>  meines  Krachtens 
einzig  und  allein  wichtig,  ob  die  Besitzer  von  Produktionsmitteln 
im  Fortgange  der  Entwicklung  einen  immer  kleineren  Bruchteil  der  Ge» 
sellscbaft  ausmachen.  Dies  ist  aber  in  der  kapitalistisdien  Gesellschaft 
eine  ausgemachte  Sache.  Die  allgemeine  Hebung  der  Lebenshaltung  steht 
mit  dieser  Thatsache  nicht  nur  nicht  im  Widerspruche,  sondern  hängt 
von  ihr  wesentlicli  ab,  denn  dir  Konzentration  der  Produktionsmittel 
als  Eigentum  ist  gleichzeitig  au«  Ii  tlie  Konzentration  dieser  Produktions- 
mittel als  solcher  und  schliefst  m  >-h  \\  sowohl  das  W'achstinn  der  gesell- 
scliaftliclieu  Produktix kraft  als  au«  Ii  die  Bedingungen  eines  erfolgreic  hen 
Kla.ssenkampfes  cm.  Auf  diesen  beiden  Momenten  beruht  aber  letztlich 
auch  die  Erhöhung  der  Lebenshaltung  der  breiten  Massen.  Bernstein  hat 
den  Wohlstand  und  den  Besitz  von  Produktionanitteln  nicht  auseinander- 
gehalten.  Kautsky  hat  vollständig  Recht,  wenn  er  ihm  diese  {Hrinzipielle 
Unklarheit  zum  N'orwurfe  macht,  und  hier  ist  seme  Kritik  ~  oligleich 
sie  auch  m'cht  scharf  genug  das  punctum  saliens  der  ganzen  Frage  her- 
vorhebt —  treftend  und  unwiderlegbar  S.  46  —  55  bei  Hernstein,  S.  80 
bis  98  bei  Kantskv  .  Dafs  in  der  Landwirtschaft  im  altuemeirien  keine 
^'er^linderung  tler  Zahl  der  Besitzer  von  Produklionsmilleln  und  kein 
Siegeslauf  der  grufsen  Unternehmung  vor  sich  geht  —  ist  eine  Sache 
fltr  sich.  Auf  diesem  Gebiete  hat  Kautsky  meines  Erachtens  in  seiner 
„Agrarfrage"  vielfach  zu  gezwungenen  Interpretationen  Zuflucht  genonomen. 
Aber  soweit  es  sich  um  die  Industrie  handelt,  hat  die  soziale  Wirklich- 
keit der  Marxschen  Ansicht  Recht  gegeben. 

Die  ..Verelenilungstheoric'*,  welche  Bernstein  entsc  hietlen  verwirft,  wird 
von  Kautsky  in  ihrei  relativi>tisclien  Fassung  mit  grofsem  Nachdruck  auf- 
rechtgchaltcn.  Kr  schliefst  sich  darin  Marx  und  noch  mehr  Kodbertus,  den 


Digitized  by  Google 


732 


LHteratur. 


er  auch  anführt,  an.  Kr  sajrt  dabei  viel  Richtifres  (z.  B.,  dafs  die  Zähigkeit 
des  Kleinbetriebes  vielfach  eine  (Quelle  der  Verelendung  bilde),  aber  die 
Hauptthese:  „der  Anteil  des  Arbeiters  an  der  von  ihm  geschaffenen 
Produktenmenge  nimmt  ab"  (S.  128)  diese  Haupthese  hat  er  nicht  be- 
wiesen. Man  ktonte  den  Beweis  für  erbracht  halten,  wenn  jemand  be- 
weisen könnte»  daft  die  „industriette  Reservearmee"  oder  die  relative 
Uebervölkerang"  wirklich  im  Fortgänge  der  kapitalistischen  Entwicklnng 
relativ  gewachsen  ist  unri  notwendig  waclisen  mufste.  Ich  glaube  aber, 
daft  es  jedenfalls  viel  U  iiliter  ist,  das  Gegenteil  dieser  These  7U  be- 
weisen. Auch  mit  der  riiatsache  des  fallenden  Profites  müfste  sich 
jeder,  der  die  Frage  zu  einem  klaren  Entscheid  bringen  will,  kritisch 
auseinandersetzen.  Denn  die  von  Marx  gegebene  Erklärung  dieser  That- 
sache  (»Gesetc  des  tendentiellen  Falls  der  Fkofitrate'S  Das  Kapital  III,  i, 
S.  19 1 — 350)  ist  erstens  imaginär  und  zweitens  hat  sie  mit  der  Frage 
der  Aufteilung  des  jährlichen  Nationalproduktes  begrifflich  nichts  zu 
schaffen. 

Das  Hau])targument  für  die  Annahme  der  „sozialen  Verelendung" 
sieht  Kautsky  in  der  Zunahme  der  Kinder-  und  Frauenarl>eit.  Es  würde 
mich  zu  weit  führen  diese  .Ansicht  mit  nötia;er  .Ausführlirhkeit  zu  be- 
spreclien.  Was  Kautsky  über  die  Frauenarbeit  sagt ')  erinnert  lebhaft 
an  die  klerikalen  Angriffe  und  Deklamationen  gegen  sie.  Als  ich 
Kautsky  las,  glaubte  ich  den  wackeren  Decurtins  auf  dem  Züricher  Kon- 
grefs  von  1897  zu  hören.  Die  Frauenarbeit  führt  zu  grolsen  Uebel* 
ständen,  aber  es  ist  keineswegs  ausgeschlossen,  dals  diese  Uebelstände 
durch  soziale  Reformen  behoben  werden  können.  Bishin  ist  die 
Sozialdemokratie  immer  für  die  Frauenarbeit  an  sirli  eini^etreten.  Es 
wäre  dies  viillit:  •sinnlos,  wenn  die  Ausbreitung;  der  Frauenarbeit  an  sich 
und  für  immer  ein  nutwendiges  Moment  der  Verelendung  der  Arbeiter* 


*)  ,.Die  Zttnnmhme  der  Frmuenarbeit  ist  da  lidwicr  Ani^er  der  Zamlmie 
des  Elends.  Aas  ihm  ciitq>rocsen,  eneeugt  sie  neues  Elend.  Dean  die  kapitalistische 
Gesellschaft  bildet  keine  höheren  Fonnen  des  Haashalts,  dordi  die  der  Eiaselhans* 
halt  eisctst  wtrde.  IK«  Lohnatbeit  der  Fnn  führt  su  Ihrer  eigenen  Abtackemng, 

da  zur  .Xrbcit  (\es  Haushalts  Lohnarbeit  sich  gesellt,  zur  Verkümmerung  des  prala' 
tarischen  Haushalts,  tut  Vrrwahrl<isu'ip  der  proletarischen  Jugend,  zur  Begünstigung 
des  Wirtshausbcsuclis.  /.ur  W-rf^fudung  an  Material  aller  Art  durch  die  uberbürdete, 
zu  den  Geschäften  der  Hauswirtschaft  nicht  cr/ojjenc,  des  Kochens  und  Nähens  un- 
kundige Lohnarbeiterin.  Was  nfttzt  dem  Lohnarbeiter  das  Steigen  der  Lohne,  dos 
Siniten  der  Getreidepreise,  wenn  seine  Frau  nicht  mdir  versteht,  ans  dem  Mehle  in 
sparsamer  Weise  wohlschmeckende,  nahrhafte  Gerichte  ss  bereiten!  Was  ntttst  ihm 
das  Sinken  des  Preises  von  KleidnngsstOckeo,  wenn  seine  Fran  die  abgetragenen 
nicht  flicken  kann,  so  dafs  er  jetzt  doppelt  so  viel  anschaffen  roufs,  wie  ehedem! 
WMe  leicht  führt  die  Lohnarbeit  der  Fran  m  physischem,  nicht  blois  socialem  Elend!'* 
(t.  c.  124). 


Digitized  by  Google 


Bernstein,  Ednard,  Die  VbraaneUnngen  des  Sodalismus  etc. 


kla<?se  wäre.  Die  Thatsachen  berechtigen  Kautsky  nur  zu  sagen:  die 
Frauenarbeit,  soweit  sie  lohnsenkend  wirkt  resp.  wirkte,  trägt  resp.  trug 
dazu  bei,  den  Ausbeutungsgrad  zu  steigern.  Ob  entgegengesetzte  Ten- 
denzen diese  nachteilige  Wirkung  der  Frauenarbeit  nicht  überwiegen, 
ist  bei  Weitem  nicht  bewiesen.  Wenn  man  aber  sagt,  daft  die  Fmien- 
arbeif  in  der  kapitalistischen  Gesdlschaft  ein  Moment  der  fortschrdtenden 
Verdendmig  ist,  in  der  sozialistischen  ab»  eine  Forderung  der  Kultur 
und  der  Gleichberechtigung  sein  wird,  so  sehe  ich  keinen  Grund,  warum 
man  bis  zur  ..Einführung"  des  Sozialismus  diese  Quelle  der  Verelendung 
nicht  verstojiten  soll.  Würde  ich  die  Auffassung  Kautskys  von  der 
Frauenarbeit  teilen,  so  würde  ich  auch  die  praktischen  Vorschlage  der 
katholischen  Sozialpolitiker  inbezug  auf  sie  acceptieren  .  .  .  Uebrigens  ist 
es  tmbewiesen,  dafs  die  wachsende  Teilnahme  der  Frauen  an  der  Er- 
werbsarbeit dme  weiteres  die  Steigerung  des  Ausbeutungsgrades  bedeute: 
es  müssen  auch  speziell  bestimmte  Entwicklungstendenzen  der 
wichtigsten  Momente  dieser  Erscheinung,  der  Arl)eitszeit  und  des  Arbeits- 
lohnes, festgestellt  werden.  Es  ist  aber  überhaupt  schwer  einen  Vergleich 
zwischen  der  vorkapitalistischen  und  der  kapitalistischen  Zeit  in  dieser 
Beziehung  durchzuführen,  denn  als  Massenerscheinung  ist  die  Frauenarbeit 
eine  Signatur  des  Kapitalismus.  Infolge  der  Benützung  der  Frauenarbeit 
hat  sich  auch  die  Gesamtmasse  der  gesellschaftlichen  Arbeit  verändert, 
und  wenn  man  auf  die  niedrigeren  Arbeitslöhne  der  Frauen  hinweist,  so 
ist  auch  die  geringe  bitensität  und  Produktivität  der  Frauenarbeit  mit  zu 
berücksichtigen.  Wenn  auch  die  Zuziehung  der  Frauen  zur  gewerblichen 
Arbeit  bis  jetzt  die  Masse  des  sozialen  Elends  vermehrt  haben  sollte, 
so  geht  daraus  keineswegs  hervor,  dafs  man  diese  Wirkung  für  eine 
immanente  d.  h.  unwandelbare  Tendenz  der  kapitalistischen  Fintwicklung 
halten  darf.  Der  Sinn  der  „Verelendungstheorie"'  geht  al>cr  dahin,  eine 
solche  Tendenz  festzustellen.  Um  die  Tendenz  —  ob  Verelendung  oder 
allmähliches,  aber  sicheres  wirtschaftliches  Aufsteigen  —  wird  ja  der  Streit 
geführt  Ich  sage:  wirtschaftliches  Aufsteigen,  denn  an  dem  politischen 
Aufsteigen  der  Arbeiterkhisse  zweifelt  auch  Kautsky  nicht 

Wie  vorsichtig  übrigens  bei  der  statistischen  Begründung  so  allge- 
meiner Hehauptungen  zu  verfahren  ist.  /ciut  eine  eingehendere  Betrachtung 
der  Statistik  der  Frauenarbeit.  Natürlich  beruft  sich  Kautsky  auf  Deutsch- 
land, wo  die  Zunahme  der  Frauenarbeit  von  1882  bis  1895  eine  aufser- 
ordentli':h  grofse  war.  Er  führt  auch  eine  Tabelle  der  prozentualen 
Vertretung  der  weiblichen  Lohnarbeiter  in  den  einzelnen  Gewerbegruppen 
an.  Er  geht  aber  gar  niclit  auf  den  Sinn  dieser  Tabelle  ein,  sondern 
bietet  dem  Leser  einfoch  die  oben  von  mir  citierte  Charakteristik  der 
verderblichen  Wirkung  der  Frauenarbeit  Relativ  besonders  grofs  und  ab- 
solut sehr  ansehnlich  ist  die  Zunahme  der  weiblichen  Arbeiter  im  Handels- 
gevvcrbe  einschliefslich  Gast-  und  .Schankwirtschaft  (ca.  360000  =  178"  ,,). 
Aber  „gerade  im  Handelsgewerbe  spielen  unter  den  Arbeiterinnen  die 


Digitizoü  by  C3t.)0^lc 


734 


Lhtcntor. 


mitarbeitenden  Fainilicnaugeliörigen  eine  nicht  unerhebliche  Rolle,  liier 
arbeite;!!  die  weiblichen  Mitglieder  der  Familie  in  stärkerem  Maise  im 
Geschäfte  des  Haushaltungsvorstandes  mit  als  in  der  Industrie,  und  sind 
hinwiederum  in  Handel  und  Industrie  in  stärkerem  Malse  mitthätig  als 

die  männlichen  Familienangehörigen  . . .  Die  meisten  von  diesen  Familien« 
angehörigcn,  die  im  Geschäfte  des  Haushaltungsvorstandes  mitarbeiten, 
ohne  eifjentliclie  Gewcrbsgehilfen  zu  sein,  sind  also  weibliclien  Cicschlcclites, 
nämlich  89,6",,.  Sie  sind  in  dir  IVbiT/;)!)!  hei  Kleinbetrieben  nüt- 
thätig  .  . .  Es  handelt  sich...  vornchniiit  ii  um  weibliche  Faniilienange- 
hörige,  die  in  der  Ga^t-  und  Schankwirtbchaft,  im  Gescliäftsladen  (be> 
sonders  fOi  Kolonial«,  £fi^  und  Trinkwaren),  sowie  im  Bäcker«  und 
Fleischergeschäft  des  Familienhauptes  mithelfen" Die  von  Kautsky  so 
absolut  hingestellte  Ausl^ung  der  Zunahme  der  Frauenarbeit  im  Sinne 
der  Verelendungstheoric  mufs  also  mit  einer  gehürigwi  Portion  Salz  auf« 
genommen  werden,  üeberhaupt  ist  die  Hntwicklun^j  gar  nicht  so  ein- 
förmig und  eindeutig,  wie  sie  sich  im  Schema  der  \'erelendungstlienrie 
ausnimmt.  In  lien  X'ereinigten  Staaten  7..  K.  hat  die  Zahl  der  weiblichen 
Arbeitskralle  in  den  gewerblichen  Lntcrneliraungen  i^mauul'acturing  eslab- 
lislimcDts)  im  Zeitraum  1850—1890  relativ,  die  Zalü  der  Kinder  (im 
Zeitraum  1870*) — 1890  nicht  nur  relativ  sondern  auch  absolut  abge- 
nommen. Diese  Abnahme  ist  in  erster  Linie  auf  den  gesetzlichen 
Kinderschutz  zurückzuführen.  Die  Tendenz  der  Entwicklung  falst  der 
berühmte  Statistiker  ('  a  r  r  o  1  D.  \V  r  i  g  t  h  folgenderweise  zusammen : 

„As  women  have  ])rogressed  froni  entire  want  of  einployinent  to 
emi)loynient,  which  i>ays  a  tew  dollars  per  weck,  men,  too.  hnve  progres- 
sed  in  their  employments  and  occupied  entirely  new  fields  not  knowu 
before.  So  the  facts  certainly  indicate  tliat  women,  instead  of  crow« 
ding  upon  th^  men  to  as  great  an  extent  as  is  generally  supposed,  are 
rapidly  taking  the  pku»5  of  boys  and  girls  and  doing  the  work,  *  which 
they  formerly  did  in  our  factories.  The  constantly  encreasing  propoition 
of  men  indicates  thes,  but  supplemented  by  the  constantly  decreasing 
tuim!)er  of  children,  the  fact  ])er()mes  api)arcnl''  (Tlie  industrial  evolution 
oft  the  l'uited  States.    New-\ork  1.S95,  S.  2 11- -21 2). 

Ikveichncnd  tur  den  Standpunkt  Kautskys  sind  die  Auslühiungen  über 
„Politik  und  üekonumie".  Er  polemisiert  gegen  AN  ollmann,  welcher  erklürt 
hat :  ,,Die  Arbeiterklasse  kann  politische  Rechte  und  Einflüsse  nicht  erringen 
ohne  wirtschaftliche  Organisation".  „Ohne  ökonomische  Macht  gelangen  wir 
nicht  SU  poliUschen  Rechten  und  ohne  politische  Rechte  nicht  zu  ökono« 
mischer  Macht"  —  dieser  ,,Zwickmtthle  zu  entrinnen*'  giebt  es  nach 

')  Hauptergebnisse  der  gcwcrlilichcii  Iktricbszählung  vom  I4.  Juni  1895. 
Vicrtcljuhrslu-ftc  zur  Stutlstik  des  iJeutschcn  Reichs.  Ilerauftg.  vom  Kais.  Stat.  Amte. 
Jahrg.  1898.    Ergänzung  zum  ersten  Heft.    S.  15*— l6*. 

In  diesem  Jahre  crfoigle  die  erste  bezügliche  AufDahme. 


Digitized  by  Gopgle 


Bernstein,  Eduard,  Die  VoramBeUmigen  des  Somlismus  etc. 


Kautsky  „ein  höchst  einfaches  Mittel :  man  l)raucht  blofs  die  Vervverhs- 
luni^  von  (')k()nomischer  Macht  und  ökonomischer  ( >  i  g  a  n  i  s  a  t  i  o  n  zu 
beseitigen,  auf  der  das  gan/;e  Raisonnement  Wohuiann  beruht.  15es;ifse 
das  Proletariat  nicht  ökonomische  Macht,  so  könnte  es  sicherlich  nicht 
politische  Rechte  eningen.  Die  Grundlage  seiner  ökononnschen  Macht 
ist  aber  die  Rotte,  die  es  im  Produktionsprozefs  spielt,  und  diese 
hängt  nicht  vom  Gutdünken  der  Regierung  ab  . . .  Das  ist  der  Macht» 
titel  ,  auf  Grund  dessen  die  ArbeiterkLisse  vom  Staate  politische  Rechte 
fordert ,  auf  Grund  dessen  sie  aucli  si  hon  poUtische  Rechte  erlangt  hat 
und  weiterhin  erlangen  wird.  Dafs  sie  aber  diese  jjolitischen  Rechte 
anwendet,  um  sich  eine  Organisation  zu  geben  und  ihre  Macht  dadurch 
noch  weiterhin  /.u  vermehren,  das  ist  ganz  selbstverständlich...  Aber 
die  grundlegende  ökonomische  Macht  des  Proletariats 
ist  jene,  die  selbstthätig  durch  die  ökonomische  £nt- 
wickelung  geschaffen  wird.  Und  die  höchste  Form  des  Klassen» 
kampfes,  die  allen  anderen  ihren  Stempel  aufilrückt,  ist  nicht  der  Kampf 
einzelner  ökbnoraischer  Organisationen,  sondern  der  Kampf  der  Gesamt- 
heit des  Proletariats  um  die  mächtigste  der  gesellschaftlichen  Organisa- 
tionen den  Staat,  das  ist  also  der  politis*!ie  Kampf.  Er  ist  der  in 
letzter  Linie  entscheidende"  (162 — 163).  l)iescs  Raisonnement  Kautskys 
scheint  mir  theoretisch  unhaltbar  zu  sein.  Allen  unmittelbaren  Prudu- 
zenten,  Sklaven  oder  Freien,  kommt  eine  elementare  ökonomische  Macht 
zu.  Als  man  die  Negersklaven  in  Westindien  emanzipierte  und  sie  so 
in  den  Stand  setzte,  ihrem  eigenen  Willen  zu  gehorchen,  brach  die 
Plantagenwirtschaft  z.  Teil  zusammen.  Die  selbstthätig  aus  der  Oekono- 
mie  hervorgehende  Maclit  der  unmittelbaren  Produzenten  konnte  nicht 
besser  dokumentiert  werden.  Nicht  um  diese  Macht  handelt  es  sich  bei 
der  Sozi.ilisieruiig  der  Gescllsclialt ,  sondi-rn  um  die  organisatorische 
Maciit,  die  nur  allmählich  auf  dem  lioden  der  wirtsciialilichen  Organisa- 
tionen und  Institutionen  gewonnen  werden  kann.  Ohne  diese  Macht 
wird  jede  politische  Aktion  machtlos  der  kapitalistischen  Gesellschafts- 
ordnung gegenüberstehen.  Diese  mufs  von  verschiedenen  Punkten  aus 
mit  wirtschaftlichen  Waffen  angegriffen  werden.  Der  Staat  ist  in  ebem 
nur  formalen  Sinne  „die  »nächtigste  der  gesellschaftlichen  Organisa- 
tionen wie  ihti  Kautsky  nennt.  Fa  kann  und  wird  nur  das  l  azit  aus 
der  inneren  l  eheiwuidung  des  Kapitalismus  ziehen.  Die  hyperpolitische 
Auffassung  des  sozialistischen  Problems  —  wie  sie  Kautsky  vertritt  — 
tiberschätzt  mafslos  die  Macht  der  politischen  Aktion.  Die  politische 
Aktion  der  staatlichen  Zentralgewalt  kann  nur  soviel  wirkliche  Kraft  ent- 
falten, als  dies  in  den  realen  zentraltstischen  Tendenzen  der  Sozialwirt- 
schaft begründet  ist.  Man  kann  z.  B.  meinetw^en  sofort  sämtliche 
Apotheken  Deutschlanes  verstaatlichen,  al)er  die  WrstaatUchong  des  ge- 
samten Zwisc  henhandels  für  möglich  zu  halten  und  ZU  versuchen  wäre 
Utopisinus  der  allerschlechtestcn  Sorte. 


Digitized  by  Google 


736 


Litteimtar. 


In  dicsein  l'iinkte  ist  Hernstein  Kaiitsky  unendlich  überleiten.  Diehl 
hat  ihm  allerdings  vcrarj^t,  dafs  i  s  über  die  Unmü^jlirhkeit  einer  ein- 
fachen Uebernahnie  der  Produktion  durch  den  Staat  oder  die  Kommune 
nicht  viel  Worte  verloren  hat.  „Marx  würde  zweifellos  eine  ökono- 
mische Organisation,  wie  sie  Bernstein  Tonchwebt,  von  unten  auf,  also 
durch  allmählichen  Aufbau  von  genossenschaftlichen  Bildungen,  bis  suletzt 
die  ganze  Industrie  und  Landwirtschaft  sozialisiert  sd,  weit  von  sich 
gewiesen  haben"  (Diehl  1.  c.  114).  Sehr  möglich,  aber  was  beweist  dies 
Oregon  die  realistische  Auffassimp:  von  Bernstein?  Bernstein  überschätzt 
vielleicht  die  (ienossenschaft  und  ihre  sozialistische  Mission,  aber  er  hat 
jedenfalls  imbedingt  Recht,  wenn  er  den  (ledanken,  man  könnte  die 
sozialistische  Wirtschaftsordnung  durch  politische  Akte  in  die  Welt  setzen, 
als  unhaltbar  keiner  eingehenden  Diskusston  würdigt. 

•  Die  ,,antii>arlamentarischen  Kommunisten",  welche  der  politischen 
Aktion  Jede  Bedeutung  absprechen,  und  die  hyperpolitischen  Marxisten, 
welche  in  dieser  Aktion  das  „Entscheidende"  sehen,  geraten  beide  auf 
Irrwege.  Was  das  „Entscheidende"  ist,  darüber  kann  vom  Standpunkte 
der  materialistischen  ( '»esc  liit  htsanffnssunfj  nicht  gestritten  werden.  Es  ist 
dies  die  reale  ökonomische  Macht,  welche  organisiert  ist  und  organisieren 
kann.  Sobald  die  formalen  Probleme  der  Demokratie  leidlich  gelöst 
sind,  wird  sofort  klar,  dafs  in  der  Erlangung  dieser  Macht  das  Ent- 
scheidende li^. 

Kautsky  nimmt  den  höchst  zweifelhaften  Gedanken  von  Marx,  dals 
wirldiche  soziale  Fortschritte  („Revolution*')  nur  in  den  Perioden  der 

Krisen  möglich  seien,  auf  und  erklärt  das  AuAreten  Bernsteins  „materia* 
listisch"  aus  der  ökonomischen  Situation  des  Momentes,  deren  Signattur 
wirtschaftlicher  Aufschwunj:  und  allceraeine  Prosperität  ist.  ..In  dicker 
Situation  lies^t  /um  Teil  die  Stärke  des  Bernsteinschen  Hurhes.  Seine 
Betonung  der  praktischen  okonomi.schen  Kleinarbeit  entspricht  einem 
thatsachlich  vorhandenen  Bedürfnis;  seine  Zweifel  an  der  Wahrschein- 
lichkeit grofser  und  rasch  eintretender  politischer  Veitnderungen 
Katastrophen  —  entspricht  den  Erfahrungen  der  letzten  Jahre.  Den 
Praktikern  aber,  die  das  Bemstelnsche  Buch  lesen,  sind  seine  Theorieen 
sehr  gleichgültig,  sie  interessieren  nur  seine  Ausführungen  über  Aufgaben 
und  Bedingimgen  der  Gegenwart.  Jedoch  gerade  darin,  dafs  Bernsteins 
Buch  einer  besonderen  Situation  entspricht,  liegt  auch  seine  Schwäche, 
denn  es  will  nicht  von  den  \'oraussetzun^en  unserer  nächsten  Fort- 
schritte handeln ,  sondern  von  den  „Voraus.sctzungen  des  Sozialismus", 
nicht  von  den  Aufgaljcn  des  heutigen  Tages,  sondern  von  „den  Aufgaben 
der  Sozialdemokratie"  Im  allgemeinen".  (S.  165.) 

Dieses  Raisonnement  fu&t,  m.  £.,  ganz  auf  dem  theoretisch  un« 
haltbaren  Begriffe  der  sozialen  Revolution  (siehe  meine  Abhandlung  im 
vorliegenden  Band).  Wenn  es  wahr  ist,  dafs  wir  einer  alluemeinen  und 
vehementen  Wirtschaftskrise  entgegengehen,  so  darf  man  dieser  beian- 


Digiti/Oü  by  Cjt.)0^lc 


Bernstein,  Edoftrd,  Die  VomuseUungen  de«  Soaalitma«  etc. 


brechenden  Krise  doch  nicht  mit  alhsugrofser  Begeisterung  entgegensehen. 
Sie  wird  im  besten  Falle  soviel  sozialistische  Energie  auslösen ,  als  die 
vorangehende  Periode  der  Prosperität  akkumuliert  hat.  Man  soll  aber  . 
nicht  vergessen,  dafs  eine  ernste  Krise  die  Arbeiter  wirtschaftlich  schwächen 
wird,  und  dadurch  kann  sie  nicht  nur  ihre  Angriflfs-  sondern  auch  ihre 
VN  lUeibtandskraft  brechen. 

Diehl  hat  Bernstein  zu  der  süddeutschen  Volkspartei  abkommandiert 
Die  Schrift  Kautskys  gegen  Bernstein  spitzt  sich  zu  der  Anklage  zu, 
Bernstein  wolle  die  Sozialdemokratie  mit  HQfe  opportunistischer  Ideen 
2»  einer  Volkspartei,  in  der  „die  KUssenmteressen  der  Bauernschaft  und 
des  Kleinbürgertumes  mafsgebenden  Einflufs  haben"  (179)  verdünnen. 
Es  scheint  mir  dies  gar  nicht  erwiesen  zu  sein.  Erstens  dürfte  Bern- 
stein wohl  klar  sehen,  dafs  in  einem  Staate,  welcher  wie  Deutschland 
ein  so  ausgeprägter  „Industriestaat"  zu  werden  strel)t ,  eine  wirkliche 
Volkspartei  von  den  Interessen  der  industriellen  Arbeiterschaft  beiierrscht 
werden  mufs.  Und,  zweitem^  wenn  Bernstein  eine  neue  Taktik  wirklich 
vorschlägt,  1) 'so  behält  diese  Taktik  vollständig  ihren  Sinn,  auch  wenn 
eine  völlig  geschlossene  Proletarierpartei  vorausgesetzt 
wird.  „Organisiert  sich  das  Proletariat  als  selbständige  Partei,  die  be- 
wuist  den  Klassenkampf  kämpft,  dann  mufs  die  Aufhebung  des  Privat- 
eigentums an  den  kapitalistischen  Produktionsmitteln  und  die  Aufhebung 
der  ka])italistischen  Privatproduktion  ihr  Ziel  werden ,  sie  nmfs  den  So- 
zialismus nicht  als  Vollendung,  sondern  als  Ueberwindung  des  Liberalis- 
mus zu  ihrem  Panier  machen,  sie  kaim  uiciit  eine  Partei  sein,  die  sich  auf 
demokratisch-sozialistische  Reformen  beschränkt,  sie  mufs 
eme  Partei  der  sozialen  Revolution  werden"  —  sagt  mit  Emphase 
Kautsky(S.  181).  Dieser  SaU  enthält  das  oben  so  ausführlich  behandelte 
Mi&versländnis.  Wir  fassen  die  Sache  anders  auf  und  würden  dement- 
sprechend sagen :  Die  Sozialdemokratie  setzt  sich  als  Endziel  die  „so- 
ziale Revolution"  und  erkämpft  dieses  F.ndziel  durch  demokratisch-sozia- 
listische  Reformen  ^  (vgl.  meine  obige  Abhandlung). 


')  Diese  I-'ragc  la>se  ich  dahingestellt.  Es  ist  auf  sie  meines  Erachtens  keine 
eindeatige  Antwort  möglich.  AndreneiU  fahle  ich  mich  gnr  nicht  benifen,  ttber 
taktiiche  Fngea  der  devtichen  Sorisldenmkmtie  ahcmirteilea. 

")  „Zweierlei  mufs  ein  proletariiches  Regnne  überall  anstreben:  Einmal 

die  Aafhebnng  des  privaten  Charakters  der  grofsen  kapitalisti- 
schen Monopole  und  dann  die  Beseitigung  der  Arbeitslosigkeit,  die 
Aufhebung  der  industriellen  Reservearmee.  Dnmit  nher  trifft  es  die 
kapitalistische  Produktionsweise  ins  Herz.  Ohne  monopolistischf n  Untcrnclimcr- 
vcrbarul  und  ohne  Arbeitslose,  «lic  bereit  sind,  die  Stellen  Streikender  einzunehmen, 
wird  <iie  Stellung  des  organisierten  Proletariats  gegenüber  den  Kapitaliiten  über- 
machtig. Wenn  diese  heote  schon  Ober  den  Tenorismns  des  Froletarinti  klagen, 
so  ist  dM  eine  alberne  Redensart  Dagegen  mulii  ihm  die  Diktator  in  der  Fabrik 


Digitized  by  Google 


738 


LiUeratiir. 


In  seinen  Schlufszcilen  tritt  Kautsky  Re/^en  „gnnulioses  Verkleinern 
der  politischen  Fähigkeiten''  des  Proletariats  auf  und  warnt  davor,  dal's 
„nicht  die  nüchterne  Alltäglichkeit  den  Idealismus  überwuchert,  dafs  nicht 
das  Bewufstsein  der  grolsen  historischen  Aufgaben  verloren  gdi^  die  dem 
Proletariat  gestellt  smd''  (195). 

Ich  bin  der  letzte  die  Berechtigung  dieser  Stimmung  und  dieser 
Mahnung  zu  bestreiten.  Das  politische  Problctii  besteht  aber  nicht  nur 
darin ,  ideale  /.werke  aufzustellen .  sondern  aucli  ihnen  die  Macht  der 
.,nu(  htcrneii  Alltä<;lirhkeii"  dienstbar  zu  machen.  Hii-i/u  bedarf  es  aber 
klarer  Einsicht  in  ilie  realen  Zusammenhänge  des  sozialen  Lebens.  Und 
um  klar  ZU  sehen,  thut  vor  allem  Eines  not:  kritische  Rücksicht s- 
losigkeit,  die  auch  vor  dem  „Verkleinem"  und  selbst  vor  dem  Auf* 
räumen  mit  imaginären  Gröfsen  nicht  zurückschrickt.  Dieses  Recht  der 
freien  Forschung  soll  grundsätzlich  auch  an  den  Grundsätzen 
der  Partei,  soweit  sie  wissenschaftliche  Erkenntnisse  sind  oder  zu  sein 
beanspruchen,  keine  Scliraiike  finden. 

Die  einpanLjs  dieser  lioiircrhunp  an^^cführte  von  Kautsky  her- 
rührende Charakteristik  des  Auftretens  ['»ernsteins  ist  richtig  in  dem 
Sinne,  dafs  Bern.siein  einzelne  Lehrsalze  des  Marxismus  aufgegeben  hat. 
Dals  er  dies  inkonsequent  gethan  hat,  dafs  er  seme  realistische  Ansicbten 
in  dner  Anwandlung  von  mi&verständlichem  Idealismus  ihrer  besten 
Stütze  —  der  materialistischen  GeschichtsauJÜusung  —  beraubt  hat,  hat 
seine  Stellung  in  der  Polemik  ungemein  erschwert  Und  dennoch  hat 
er  sich  in  dieser  im  allgemeinen  seinen  Gegnern  überlegen  gezeigt. 
Die  scharfe  Logik  Kautsk)s  ist  durch  seinen  Hogmatismus  in  entschei- 
denden Punkten  zur  Unfruchtbarkeit  verdammt  worden,  der  —  trotz 
seiner  Nüchternheit  —  als  Theoretiker  höchst  unklare,  im  Vergleich 
zu  Kautsky  wenig  disziplinierte  liernsiein  hat  dank  seiner  kritischen 
Vorurteilslosigkeit  neue  Gesichtspunkte  zu  l  äge  gefördert  oder  wenigstens 
solche,  die  stark  vernachlässigt  wurden,  ins  helle  Licht  gerückt.  Dies 

notwendigerweise  zufBlIen,  wenn  es  einmal  die  Hemcbaft  im  Stante  «rlragt  bat. 
Die  Lage  der  Kapitalisten,  die  nach  der  Verstaatlichung  der  Kartelle  und  Trusts 
noch  bleiben,  mufs  dann  eine  unerträgliche  werden;  f\c  haben  nnr  noch  das  Risiko 

ihres  Betriehs  zu  tragen,  ohiu-  Innger  seine  Herren  7u  sein  Mit 

anderen  Worten:  kapilaltsti'sche  Troduklion  und  politische  Herrschaft  des  Proletariats 
sind  nnvereiobar  mit  eioander."  «Kautsky  S.  180.^  la  dieser  Form  leuchtet  mir  der 
von  Kantsky  angenommene  Thatbestand  gar  nwht  ein.  Kanlsky  unterstdlt,  dafs  — 
unter  der  Voranssetsung  der  politischen  Herrschaft  des  Proletariates  —  das  letstere 
in  allen  wirtschaftlichen  Kämpfen  Sieger  bleiben  wird.  Er  vergifst  nnr  eine  Klein^> 
kcit  —  die  wirtschaftliche  Konjunktur.  Diese  unpersönliche  Macht  wird  nach  wie 
vor  beide  Parteien  —  Kapitalisten  und  Arln  iter  —  beherrschen ,  solange  unorgani- 
s^icrte  l'rodiil.tinti  für  den  Markt  walten  wird.  Das  okouombcbe  Problem  wird  durch 
die  poluiiächc  Lmwälzung  nicht  uliQc  weiteres  gelost. 


Dlgitized  by  Google 


Hallgartea,  R.,  Vie  I^munale  Bestencrung  d.  onverd.  Wertsmradwes  eic 

gilt  weit  weniger  für  die  Wissenschaft,  als  ein  kollektives  Ganze,  als 
für  den  sozialdemokratischen  Gebrauch  derselben.  Dafs  die  Sozialdemo- 
kratie in  ilirer  Personifizierung  durch  Bernstein  eine  ordentliche  Anleihe 
bei  der  ,, bürgerlichen"  \\  issenschaft  gemacht  hat,  ist  weder  eine  Schande 
noch  ein  Unglück.  Hoffentlich  wird  es  dazu  beitragen,  dafs  die  Phrase 
von  der  „bürgerlichen  Wissenschaft"  ihre  Herrschaft  über  die  Geister 
Tcrliert  Das  meiste  hat  übrigens  Bernstein  von  den  Fabiern  und  spe- 
ziell von  den  Webbs  ttbernommen. 

St.  Petersburg. 

PETER  VON  STRU^'E. 


Hallg  a  I  t  (■  ti ,  Robert.  Dr.  jur.,  Die  kommunale  Besfetterung  des 
unieraiintin  WeitzWicachscs  m  England.  (Müiirhencr  X'olks- 
wirtschaftliche  Studie.  1  Icrausf;egcben  \on  Lujcj  Bientatio 
und  Walther  Lötz.  32.  Stück.)  Stuttgart  1899.  J*  ^• 
Cottasche  Buchhandlung  Nachfolger. 

Der  Verfasser  dieser  verdienstlichen  Krstlingsschrift  j^eht  davon  aus, 
dafs  John  Stuart  Mill,  der  Schöpfer  des  Wortes  „unearned  iiurcuient", 
in  den  Betrachtungen ,  die  er  dem  unverdienten  Wertzuwachse  des 
Grundeigentunaes  widmete,  zwei  Lücken  offen  gelassen  habe.  Er  habe 
die  Verschiedenheiten  des  städtischen  und  ländlichen  Grundeigentumes 
übersehen.  Femer  habe  er  versäumt ,  darauf  hinzuweisen ,  dafs  aufser 
dem  \Vachstume  der  Zahl  und  des  Wohlstandes  der  Bevölkerung  die 
Vornahme  aus  kommunalen  Mitteln  unternommener  städtischer  Ver- 
besserungsanlagen, wie  Strafscner^veiterungen ,  Durc  hbräche  etc.,  ein 
wesentliches  F.lenrent  der  Wertsteigerungen  des  stadtischen  (Jrund-  und 
Hauseigentunies  bildet.  Von  den  Mitteln,  die  in  England  als  passend 
befunden  werden,  den  durch  kommunale  Vcrbesscrungsanlageu  produ- 
zierten unverdienten  Wertzuwachs  des  städtischen  Grund*  und  Hauseigen- 
tumes fUr  den  kommunalen  Finanzbedarf  nutzbar  zu  machen ,  behandelt 
Hallgarien  auf  Grund  eines  umfassenden,  auf  Amerika  übergreifenden,  ver- 
ständnisvoll erläuterten  und  unparteiisch  kritisierten  Thatsachenmaterials 
am  ausführlichsten  die  sogenannte  Bettermentabgabc  d  h.  eine  auf  den- 
jcni;^!  n  Teil  des  städtischen  ( irund-  und  Hauseigentunies  gelegte  Abgabe, 
der  durch  eine  bestimmte  kommunale  \'erbcsserungs;mlage  jeweils  in  seinem 
Werte  gehoben  wird.  Aufser  der  iluciaig  gestreiften  liaustellcnsteuer 
wird  auch  das  sogenannte  Recouimient  berührt.  Es  besteht  darin,  dais 
die  kommunale  Behörde  vor  der  Ausführung  einer  Anlage  aufeer  dem 
Lande,  das  technisch  fUr  die  betreffende  Anlage  benötigt  wird,  andere 
Liegenschaften,  von  denen  zu  erwarten  steht,  dafs  ihr  Wert  durch  die 


Dlgitized  by  Google 


740 


Litteratv« 


betreffende  Anlage  gesteigert  werden  wird,  entweder  freihändig  oder 
auf  dein  Wege  des  Enteignungsverfahrens  zu  dein  Werte  erwirbt ,  den 
sie  vor  Inangriffnahme  der  betreffenden  Anlage  haben,  und  dann  nach 
Vollendtiag  dieser  Anlage  zu  den  höchstmöglichen  Ptetsen  verkauft. 

Die  VorzOge  der  Hallgartenschen  Schrift  würden  noch  vermelut 
worden  sein,  wenn  ihr  Verfasser  das  von  ihm  behandelte  Thema  im  Zu- 
sammenhange mit  einem  Clrundproblem  der  modernen  englischen  Stadt- 
verwaltung behandelt  hätte.  Bis  7,u  der  im  Jahre  1889  erfolgten  Be- 
gründung des  Londoner  Grafschaftsrates  war  man  gewohnt,  die  Frage 
nach  der  Stärke  des  englischen  So/ialisiin!s'  aufCirund  von  Beobaciitungen 
des  politischen  Parteiiebens,  der  Gewcrksciialicn  und  Genossenschaften 
zu  beantworten.  Zu  diesen  Beobaditungsfeldem  ist  seit  der  Begründung 
des  Londoner  Gra6chaftsntes  die  englische  Stadtverwaltung  hinzugetreten 
als  eines  der  Gebiete,  auf  denen  die  Stärite  sozialistischer  Bestrebungen 
in  England  erprobt  wird.  Hallgarten  hat  versäumt,  der  Frage  nach- 
zugehen, welche  Aufklärungen  die  Entwicklung  der  kommunalen  Be- 
steuerung des  unverdienten  Wertzuwachses  in  England  für  die  Bemessung 
der  Ausljreilung  des  Siv.ialismus'  in  England  liefert.  Uafs  er  die  versäumte, 
ist  bedauerlich  auch  deshalb,  weil  seine  Schrift  manciien  zur  Losung 
dieser  Aufgabe  brauchbaren  Rohstoff  enthält. 

Das  trifit  schon  für  einen  der  ersten  Abschnitte  zu,  in  dem  uns  die 
Fälle  der  Bettermentbesteuerung  vor  der  Begründung  des  Londoner  Graf- 
schaftsrates vorgeführt  werden.  Unbewufst  liefen  nämlich  hier  Hallgarten 
verschiedene  Belege  für  den  Satz,  daf^  der  Gedanke  der  Bettennent- 
besteuerung  in  England  nicht  aus  .sozial tleniokratischer  Saat  hervorging. 
Wir  können  jene  Revue  der  englischen  l'räc  eden/tälle  der  Better- 
mentbesteuerung dahin  resümieren,  dafs  eine  Reihe  von  Gesetzen,  die  mit 
den  Bettermentgcsetzen  der  Zeit  nach  der  Begründung  des  Londoner 
Grafschaftsrates  zwar  nicht  vollständig  sich  decken,  aber  sich  mehr 
mit  ihnen  berühren,  in  einer  Zdt  zustande  kamen,  in  der  individua- 
listische Grundanschauungen  unbestritten  herrschten  und  die  moderne 
sozialdemokratische  Bewegung  Englands  noch  nicht  in  Flufs  gekommen  war. 
Die  Aehnlii  hkeit  der  Zeit  vor  und  nach  der  Renaissance  der  englischen 
Sozialdemokratie,  soweit  die  Bettermentbesteuerung  in  Erage  kommt, 
wurde  uns  noch  klarer  entgegentreten,  wi-nn  niclit  Hailgarten  irrtüm- 
licherweise zwischen  früheren  und  spateren  i-ulleu  der  Betiernientbesteue- 
rung  neben  thatsädilich  esdstierenden  und  scharfsinnig  herausgearbeiteten 
Unterschieden  auch  manchmal  Gegensätze  sähe,  die  nicht  vcnhanden  sind. 
Beispielsweise  schaftt  Hallgarten  einen  künstlichen  Gegensatz  zwischen 
den  die  Bettermentsidee  enthaltenden  Bestininumgen  der  Wohnungs-  und 
Gesundheitsgesetzgebung  aus  den  sechziger,  siebziger  Jahren  und  aus  dem 
Anfange  der  achtziger  Jahre  dieses  Jahrhunderts  einerseits ,  den  Better- 
mentgeset/en  uml  den  Betterracniprojektcn  des  folgenden  Dezenniums 
andrerseits  dadurch,  dafs  er  von  jenen  Geset/eu  der  früheren  Jahrzehnte 


Digitized  by  Gopgle 


Hallgftrten,  R.,  Die  kommuMle  Bcatenemag  d.  unverd.  Wertzuwachses  etc.  j^j 


behaui)tet,  es  hahc  sich  bei  ihnen  nicht  darum  jjehandelt,  den  Wert  von 
(Irund-  und  Hausei<;entum  zu  steif^crn,  sondern  der  inafsgcbcndc  (jesichts« 
punkt  sei  die  Verbesserung  der  Wolmungsverhälmisse  der  unteren  Klassen 
oder  die  Verbesserung  der  hygienischen  Verhältnisse  überhaupt  gewesen. 
m  Hallgarten  vergilst,  hiniuzulügen ,  dafi  auch  bei  der  Vornahme  der 
Stralseoanlagen,  für  die  zur  Zeit  des  Londoner  Grafschaftsrates  eine 
Bettermentbesteuerung  erreicht  oder  verlangt  wurde,  keineswegs  die 
Hebung  des  Grund-  und  Hauswertcs  der  maJsgebende  Gesichtspunkt 
war,  dafs  es  sich  hier  vielmehr  in  erster  Linie  um  Anlajien  für  die  F,r- 
leichterunf,'^  des  Strafsenverkehres  iiandeUe.  Dafs  auch  das  Rccoupment 
keine  unter  sozialdeniukratischein  Drucke  zustande  pekonnnene  Neuerung; 
ist,  hätte  Hallgarten  darthun  können ,  wenn  er  statt  aügemenier  An- 
detttUQgen  über  den  Zeitpunkt  der  erstmaligen  Anwendung  des  Recoup- 
ment  die  Mitteilung  gegeben  hätte,  dafs  es  bereits  im  Jahre  1877 
mit  Bewilligung  des  Parlaments  in  London  durchgeführt  wurde,  also 
in  einer  Zeit,  in  der  im  englischen  Parlament  eine  fast  völlig;  reine  in- 
dividualistische Stimmung  überwog  imd  keine  englisclie  Sozialdemokratie 
vorlianden  war.  (Vgl.  Report  fromthe  Select  Committee  of  the  Uouse  of 
Lords  on  Town  bnpro\  cnients,  1894,  (ju.  356.) 

Selbst  dann  aber,  wenn  vor  der  Zeit  der  Begründung  des  Loiuloner 
üralschaltsrates  kein  Fall  von  Bettermentbesteuerung  vorgekommen  und 
selbst  wenn  das  Recoupment  erst  nach  der  Begründung  des  Londoner 
Graüwhaftsrates  angekommen  wäre,  wäre  es  klar,  dafs  weder  die  Better- 
mentbesteuerung noch  das  Recoupment  einer  koUektivistuchen  Grund- 
anschauung entsprangen.  I'ast  alles,  was  Hallgarten  in  seinem  Schlufskapitel 
über  das  Verhältnis  der  Bettermentbesteuerung  zum  unverdienten 
Wertzuwachse  sa;;t,  erhält  erliöhte  He<leutung  dadurch,  dafs  es  den  (Hauben 
daran  zerstört,  die  Bcwc^uhl;  zu  (Junsten  der  BetternR-ntbeslcuerung 
sei  eine  Bewegung,  die  von  prinzi[iieller  Gegnerschaft  gegen  das  Privat- 
eigentum überhaupt  ihren  Ausgang  nehme.  Da(s  sie  eine  solche  Be- 
wegung nicht  ist,  zeigt  schon  dies,  dafe  in  den  Bettermentgesetzen  der 
neunziger  Jahre  der  Steuerfufs  nur  die  Hälfte  des  veranlagten  Wertzu- 
wachses beträgt  und  nach  den  Wünschen  für  die  Zukunft  weiter  gehender 
Anhänger  der  Bettermentbesteuerung  nur  ^  4  des  W  ertzuwachses  betragen 
soll.  Zu  demselben  Resultat  fiihrt  eine  Thatsache,  die  zugleich  zeigt, 
dafs  auch  bei  einem  Steuerfufse  von  100",,  die  Bettermentbesteuerung 
weite  'rolle  des  nicht  auf  perstjnlirhc  .\ufu  eiidun^en  der  Ki^'entünier 
zurückzuführenden  Wertzuwachses  in  privatem  Ligeniuuie  belassen  wurde. 
Kein  einziger  Anhänger  der  Bettermentbesteuerung  in  England  denkt 
daran,  den  in  der  Vergangenheit  durch  kommunale  Anlagen  geschaffenen 
Wertzuwachs  der  Kommune  wieder  zuzuführen ;  nicht  um  eine  Revision 
bestehender,  sondern  um  eine  Regulation  zukünftiger  Kigcntumsvcrhältnisse 
handelt  es  sich.  Noch  eine  andere  Schranke  bringt  die  Begrenzimg 
des  sozialistischen  Charakters  der   Bettermentsteuer  ztun  Bewufstsein. 


.  d  by  Google 


742 


LitteTatur. 


Es  handelt  sich  bei  dieser  Steuer  keineswegs  um  die  Besteuerung  des 
ganzen  unverdienten  W'ert/.uwaclises  im  Sinne  John  Stuart  Milis,  sondern 
lediglici»  um  die  Besteuerung  einer  Art  des  unverdienten  Wertzuwachses, 
nicht  um  die  Besteuerung  der  durch  das  Waclistum  der  Zahl  und  des 
Wohlstandes  der  Bevölkerung  veruisacbten  Wertmehning,  sondern  lediglich 
tun  die  Besteuerung  des  durch  kommunale  Anlagen  erzeugten  Wert- 
Zuwachses.  Es  nimmt  daher  nicht  Wunder,  zu  erfahren ,  dafs  englische 
Laiidsozialisten  die  Betterinentbesteuerung  nur  als  eine  haU)e  Mafsregel 
betrachten,  und  es  ist  leicht  zu  begreifen,  dafs  das  Or^an  der  Social 
Deniocratic  Fcderation,  die  ..Justice"  l  vgl. Nummer  vom  23.  Feliruar  1S95), 
das  Projekt  der  Bcttermentbesteuerung  einen  wertlosen  Vorschlag  der 
Mittelklasse  nennt. 

Auch  der  sozialistische  Charalrter  des  Recoupment  ist  in  enge 
Schranken  gebannt.  Es  gehört  mit  der  Bettennentsteuer  zur  Kategorie 
der  Mafsregeln,  die  nur  einen  Teil  des  tmverdienten  WertEUwachses  an- 
packen.  Schon  deshalb  ist  dies  der  Fall,  weil  wie  die  Bettennentsteuer 
auch  das  Recoupment  infolge  kommunaler  Anlagen  in  früheren  Zeiten 
bezorjene  Werisleitjerunjjen  unangetastet  Llfst.  Auch  das,  was  dem 
Kccoupincnt  t  i!u-ii  stärkeren  sozialistischen  Stempel  aufdrückt,  als  ihn 
die  Ik'ttcrmentbcstcueruny  tra^;t,  die  'l'hatsache,  dals  bei  .Anwendung 
des  Recoupment  die  Kommune  Cirund-  und  Hauscigentümerin  wird, 
läßt  bei  gründlicher  Betrachtung  das  Recoupment  nur  in  emem  sehr 
beschrltnkten  Sinne  als  eine  die  Ausdehnung  des  Privateigentumes  min- 
dernde Mafsregel  erscheinen.  Ist  doch  das  Recoupment  keineswegs 
darauf  gerichtet,  (Grundstücke  dauernd  in  das  Eigentum  der  Gemeinde 
Uberzuleiten.  Vielmehr  gehört  zum  Wesen  des  Recoupment  dies,  dafs 
die  (lemeinde  Grundstücke  zum  Zwecke  des  gewinnbringenden  Wieder- 
verkaufes ankauft,  dafs  sie  (Irundstücke,  die  sie  von  Trivaten  ulx  rnonimen 
hat,  an  Private  wieder  zuruckgiebt.  Unter  diesen  Verhältnissen  ist  das 
Verständnis  dafür  nicht  schwer,  dafs  gerade  die  energischsten  Befürworter 
des  Recoupment  in  England  zugleich  die  wärmsten  Freunde  des  Privat- 
eigentumes sind  und  dafs  auch  bei  Hallgarten  einer  der  lautesten  Ver- 
teidiger des  Recoupment  deutlich  seine  Sympathien  für  den  privaten 
städtischen  Grundbesitz  erkennen  läfst. 

Wie  so  mancher  Zweig  der  modernen  englischen  Stadtverwaltung,  der 
als  Symptom  der  angeblich  wachsenden  M;u  ht  der  Sozialdemokratie  in 
England  l)e/eichnet  wird  oder  bc/.eichnct  werden  k<jnntc.  ist  deshalb  auch 
die  Art,  wie  man  in  England  den  unverdienten  Wertzuwachs  für  die  kom- 
munalen Finanzen  nutzbar  zu  machen  versucht,  ungeeignet,  das  Bild  zu 
ändern,  das  die  unbefangene  Beobachtung  des  Rampfes  der  politischen 
Parteien,  der  Gewerkschafts«  und  Genossenschaftsbew^tmg  in  England 
wahniinimt.  Auch 'die  Bettermentbesteuerung  und  das  Recoupment  in 
England  sind  Produkte  eines  Volkes,  in  den^  v  ialdemokratische  Strömungen 
nur  einen  geringen  Raum  sich  erobert  haben.    Diejenigen,  die  aus  dem 


Digitizoü  by  C 


liallgarlcn,  k.,  Die  kommunale  Besteuerung  d.  unvcrd.  Wertzuwachses  etc. 

Hallgartenschen  Buche  die  Anregung  schien  sollten,  Air  die  Einflibning 
oder  weitere  Verbreitung  von  Mafsregeln  zu  wirken,  die  den  engUschen 

Bettermentsteuem  und  dem  englischen  Recoupment  entsprechen,  werden 

demnach  ^cnüpendes  Material  haben,  um  den  sicher  zu  erwartenden  Ein- 
wand ab/.uwehren,  dais  es  sich  hier  um  die  Rezeption  sozialdemokratischer 
Muster  handele. 

Was  nun  die  Lehren  anlangt,  die  durch  das  Hallgartensche  Buch 
huisichtlich  da  zweckmafidgen  Ao^estaltung  der  Bettermentabgnbe  hin«' 
durchschimmern,  so  scheinen  sie  mir  in  emem  Punkte  der  Ergänzung  zu 
beddrfen.    Hallgarten   leitet  die  Thalsache,  dais  in  den  engUschen 

Betterraentgesetzen  der  neunziger  Jahre  der  Steuerfufs  nur  einen  Brach- 
teil des  ^schätzten  Wertzuwachses  beträgt,  aus  der  Neuheit  der  Betterment- 
besteuerung  und  aus  der  l'iisicherheit  der  Abscliätzungen  des  Wertzu- 
wachses al),  was  den  alltriiueiiien  Satz  einschliefst,  dafs  in  der  ersten 
Zeit  des  I5esiehens  der  lietiennentbesteueruuir  ein  nietlrigerer  Steuerfufs 
als  fiir  spätere  Zeiten  anzuempfehlen  ist,  dafs  aber  die  Beschränkung  des 
Steueriu&es  auf  nur  einen  Teil  des  Wertzuwachses  zu  rechtfertigen  ist 
damit,  dais  eine  solche  Beschränkung  den  Steuerzahler  gegen  die 
Eventualität  schirmt,  infolge  zu  hodi  gespannter  Einschätzungen  mehr 
als  den  Wertzuwachs,  der  seinem  Grundstücke  zu  teil  geworden  ist, 
herausgeben  zu  müssen.  Wir  erhalten  eine  Vervollständigung  dieses  all- 
jremeinen  Sat/es  wenn  wir  einen  dritten  Grund  l>crücksichti^'en ,  den 
Hallgarten  ubersehen  hat.  Ks  scheint  mir  keinem  Zweifel  zu  unter- 
liegen, dafs  bei  der  Beschrankung  des  Steuerfufses  auf  einen  Teil  des 
Wertzuwaclises  die  Erwägung  mitgespielt  hat,  dafs  die  Wegsteuerung  des 
vollen  durch  eine  bestimmte  kommunale  Anlage  hervorgerufenen  Wert> 
Zuwachses  Eigentümer  davon  abgehalten  werden  könnten,  Umbauten  vor- 
ztmehmen,  weil  die  Umbauten  ihnen  keinen  höheren  Gewinn  in  Aussicht 
stellen  als  sie  bei  Fortdauer  der  bestehenden  bauliclien  Verhältnisse  be-  ' 
ziehen  können.  (\'gl.  beispielsweise  Report  a.  a.  (  ). ,  ([u.  1858.)  Die 
]>erücksichtigiuig  dieses  dritten  (Irundes  scheint  mir  deshall)  nützlich, 
weil  er  eine  nur  für  einen  Teii  der  \on  der  liettermcntabuabe  erfafsten 
Grundstücke  -/utreliende  Keclitfertigung  der  Begrenzung  des  Steuerfufses 
auf  einen  Teil  des  Wertzuwachses  enthält  und  weil  er  demgemäis  die 
Forderung  stützt,  den  Steuerfufs  für  verschiedene  Eigentumskat^orien 
verschieden  zu  normieren.  Für  Eigentum,  das  ohne  bauliche  Umänderangen 
eine  ^^■ertsteigerung  erfährt,  erscheint  ein  höherer  Steuerfufs  ab  fÜr  Eigentum, 
bei  den  die  Vornahme  baulicher  Veränderungen  die  Voraussetzung  der 
Weitsteigerung  ist,  deshalb  gerechtfertigt,  weil  dort  der  Ueberschufs  des 
Wertzuwachses  über  die  .Steuer  nur  gegen  irripe  A1>schätzungen  eines 
technisch  sich  gleich  bleibenden  Objektes  Schutz,  zu  bieten  hat,  während 
hier  auch  die  Kosten  des  Umbaues  ein  tmsicheres  Schätzungselement 
tnlden  und  eine  irrige  Schätztmg  hier  eher  als  dort,  wo  private  Auf- 
wendungen nicht  in  Betradit  zu  ziehen  sind,  mit  der  Auftaugung  einer 

Afchiv  fär  MC.  GeieUf  etMnff  u.  Statistik.  XIV.  4^ 


Digitized  by  Google 


744 


Littemtnr. 


den  unverdienten  Wertzuwachs  übersteigenden  Summe  bedroht,  Überdies 
in  dem  einen  Falle  die  Freilassung  eines  Teiles  des  unverdienten  Wert- 
zuwachses die  .\uf>;abe  hat,  einen  Anreiz  zu  Handlung^en  zu  schaffen, 
die  da,  wo  es  um  ohne  bauliche  rnianderungen  im  Werte  f^ehobenes 
Eigentum  sich  dreht,  nicht  notwendig  sind.  V  ielleicht  wird  in  England 
die  nächste  Etappe  in  der  Entwicklung  der  Bettennentbesteuerung  die 
Erhöhung  des  Sceueribfres  für  diejenige  Eigentumsgruppe  sein,  flir  die 
nach  dem  Gesagten  ein  höherer  Steuerluls  verteidigt  werden  kann.  Jeden* 
falls  scheint  mir  in  der  Festsetzung  einer  Disparität  des  Steuerfufses,  die 
das  ohne  private  bauliche  Umänderungen  im  Werte  steigende  Eigentum 
mit  einer  höheren  Steuer  belastet  als  es  die  letzten  englischen  Betterment- 
iresetze  thun.  eine  unanfechtbare  M«iplichkeit  dafür  zu  liegen,  das  eng- 
lisclie  Muster  aufserhalb  Enj^lands  in  verbesserter  Form  zu  reproduzieren. 

Auch  das,  was  Hallgarten  über  die  praktische  Bedeutung  des  Re- 
coupm<mt  und  über  die  hinsichtlich  dieses  Punktes  in  England  herr- 
schende Stimmang  vortritgt,  fordert  zu  einigen  ergänzenden  Bemeikimgen 
heraus.  Der  Verfasser  beugt  der  Vermutung,  die  in  England  gemachten 
Erfahrungen  sprächen  gegen  das  Recoupment  tiberhau])t  imd  in  England 
bestehe  eine  starke  prinzipielle  Ojjposition  gegen  das  Recoupment,  nicht 
so  energisch  vor,  wie  es  auf  Grund  der  vorliegenden  Thatsachen  möglich 
gewesen  wiire.  Dafs  in  England  zahlre!(  lie  beachtenswerte  Stimmen  die 
meisten  früheren  Falle  der  Anwendung  des  Recoupment  als  verlust- 
bringend für  die  Kommune  bezeichnen,  ist  allerdings  richtig.  Dafs  sie 
hierin  recht  haben,  ist  um  so  weniger  zu  leugnen,  da  die  Belege,  die 
Hallgarten  beibringt,  durch  ein  kttrdich  erschienenes,  von  ihm  nicht  be- 
rUdcsichtigtes  Werk  des  Herrn* Percy  J.  Edwards:  „History  of  London 
Street  Improvements,  1855 — 1897"  (1898)  beträchtlich  vermehrt  wurden. 
Trotzdem  wäre  es  falsch,  zu  glauben,  dafs  man  aus  England  brauch- 
bare Warten  zur  Bekamptung  des  Recoupment  schlechthin  beziehen 
könne.  Wir  haben  es  eben  hier  mit  einem  Falle  zu  thun,  der  die  Be- 
rechtigung der  Wahrheit  erhärtet,  dafs  es  nicht  genügt,  Thatsachen  fest- 
zustellen, son^iem  daft  es  auch  notwendig  ist,  ihre  Ursachen  zu  erkennen, 
tmd  dais  wir,  um  Argumente  richtig  wüidigcai  zu  können,  versuchen 
müssen,  in  die  Motive  derer  einzudringen,  die  sie  beibringen. 

2Sor  Bdeuc]ittin<:  der  Motive,  durch  die  die  englischen  Kritiker  des 
Recoupment  gelenkt  wurden,  bringt  Hallgarten  gar  nichts,  zur  Auf- 
deckung der  Ursachen,  die  das  Scheitern  des  Recoupment  in  Elngland 
veranlafsten^  nur  Lückenhaftes  bei.  Hei  der  Scliildorung  der  gegen  das 
Recoupment  vorgebrachten  Einwände  vcrgifst  Hallgarten  ganz  den  von 
ihm  in  einem  anderen  Zusammenhange  aufgestellten  richtigen  Satz,  dab 
«ine  Hauptbedeutung  der  neueren  Bettermentbesteuenmg  in  der  teilweisen 
Entlastung  der  zu  Gmisten  der  Grundeigentumer  überbordeten  Grund- 
stQcksbenützer  liegt.  Weil  die  Anhänger  der  Bettermentbesteuenmg  mit 
in  erster  Linie  eine  gesonderte  Heranziehung  der  Eigentümer  zur  Deckung 


Dlgitized  by  Google 


Hallgarten,  R.,  Die  kommunale  Besteuerung  d.  nnrerd.  Wertzuwachses  etc. 

des  koiniuunaien  Fiuaiubedarts  erstreben,  weil  andererseits  das  Recoup- 
ment  keine  Gdegenheit  ca  einer  getrennten  Belastung  der  Grundeigen- 
tümer und  der  Pächter  bietet,  «dso  aus  ebem  mit  dem  englischen 
Leasesystem  eng  «wammenhangenden  Grunde,  deshalb  sind  die  An- 
hünger  der  Bettermentbesteuerung  in  England  vielfach  überscharfe  Kri- 
tiker des  Recoupment  an  sich.  Ein  ReHex  dieser  Tendenz  ist  der  aus 
diesem  Kreise  hervorpcganKene  Versuch,  die  Wirksamkeit  einer  Ursache 
abzuschwächen,  die  in  weit  stärkcrem  Mafse  für  das  Scheitern  des  Re- 
coupment  in  London  haftl)ar  zu  machen  ist,  als  Hallgarten  zuzugeben 
wagt.  Nach  den  Enthüllungen  der  im  Jahre  1888  eingesetzten  könig« 
liehen  Kommisnon,  deren  Anfgabe  war,  die  in  der  Londoner  Stadtver- 
waltung herrschende  Korruption  zu  untersuchen  (vgl.  Metropolitan  Board 
of  Works  Commission:  .Jnterim  Report",  1888),  nach  den  in  den  Jahres- 
berichten des  Metropolitan  Hoard  of  Works  zerstreut  naiven  Inforroationen 
Über  eine  iinj^laublic  h  elende  Organisation  der  kommunalen  ( Jrundstiicksum- 
sätze,  i^raucht  man  nicht  zu  zögern,  in  dcui  Fiasko  des  Rccoupnient 
zum  guten  Teil  «las  Werk  bis  ins  Mark  korrumpierter  kommunaler  Be- 
amter und  ücmemdevertreter  zu  sehen.  Dem  zutreffenden  Hinweise 
Hallgartens  darauf,  dafs  die  Konunune  gesetzlich  zur  Erlegung  enorm 
hoher  Expropriationssummen  verpflichtet  war,  muls  hinzugefügt  werden, 
dafii  auch  die  ttbergrofse  HOhe  der  an  die  Kommune  gezahlten  Ankauft- 
preise  zum  Teil  eine  Konsequenz  des  Leasesystems  bildet  Zum  Teil 
ist  die  Muhe  dieser  Preise  allerdings  auf  die  einzige  Ursache  zurückzuführen, 
die  bei  Hallgarten  in  bestimmter  Weise  für  das  Kiaski»  des  Recoup- 
nient  haftbar  gemacht  sind,  nämlich  darauf,  dafs  die  ankaufende  kom- 
munale HehDriie  gesetzlich  verpflichtet  war,  fur  Handelsinteressen  Ent- 
schädigungen zu  bieten,  die  nicht  wieder  einzubringen  waren.  Es  wäre 
gut  gewesen,  wenn  Hallgarten  darauf  aufmerksam  gemacht  hätte,  dals 
diese  gesetzliche  Entschädigungspflicht  in  Stadtteilen,  die  völlig  unbebaut 
sind  oder  ausschlielslich  otter  vorwiegend  für  Wohnzwecke  benfitzt 
werden,  entweder  bedeutungslos  wird  oder  nur  zu  unbedeutenden  Aus- 
gaben nötigt,  was  aus  dem  Grunde  beachtenswert  ist.  weil  fast  sämtliche 
Londoner  Strafsenanlagen ,  bei  denen  das  Recou])nient  in  Verlusten 
endigte,  in  alti-n.  seit  längerer  Zeit  und  dicht  l>ewolinten.  reichlich  nnt 
gewerblichen  iietrieben  durchsetzten  Quartieren  stattfanden.  In  Leber- 
eimtunnMing  mit  dieser  Sachlage  haben  auch  scharfe  Kritiker  des  Re- 
coupment  nicht  nur  in  allgemeiner,  wenig  Aberaeugender  Phraseologie 
sich  dagegen  verjvahr^  das  Recoupment  völUg  in  Bausch  und  Bogen  zu 
verdammen,  sondern  audi  ausgesprochen,  dafs  sie  in  gewissen  Fällen 
unbedingte  Anhänger  des  Recoupment  sind,  ich  verweise,  um  ein  Bei- 
spiel herauszugreifen,  auf  die  AussaL'c  eines  der  strengsten  Beurteiler 
lies  Recoupment,  des  Parlanientsnutglietles  Fletcher  Moultun,  vor  der 
Kommission  des  Oberhauses  aus  dem  Jahre  1894,  vor  der  er  unzwei- 
deutig bekennt,  dals  er  das  Recoupment  dann,  wenn  es  sich  um  Strafsen- 

4«* 


Digitized  by  Google 


746 


Littemtur. 


anlagen  auf  ti eiern  Terrain  oder  in  W  olun|uarlieren  handelt,  für  erfolg- 
reich hält.    (Vgl.  Report  a.  a.  O.  qu.  1055,  1132.) 

Nach  allem  ist  man  berechtigt,  mit  stärkerem  Nachdrucke,  als  es 
bei  Hallgarten  der  Fall  ist,  der  Vermutung  entgegenzutreten,  die  in  Eng- 
land gemachten  Erfahrungen  stellten  ein  absolute^  \\  r(l:itiimungsurteil 
des  Recoupment  dar  oder  es  sei  irgend  jemand  in  England  geneigt, 
ein  solches  VerdainmunLrsurteil  /u  fallen.  Man  würde  sich  —  natürlirh 
unter  der  \'orausset/ui!g  völliger  Intet^ritat  und  scharfer  Kontrolle  der 
ausführenden  Organe  —  durchaus  im  Einklan;^  mit  englisciien  Krfah- 
rimgen  und  im  Einklänge  mit  der  AufTassung  aller  englischen  Sachkenner 
befinden,  wenn  man  in  Deutschland  das  Recoupment  so  oll  anwendete, 
wie  es  sich  um  Strafsenanlagen  auf  brach  liegendem  Gelände  oder  in 
Wohnquartieren  handelt  Ja,  im  Hinblick  darauf,  dafs  in  Deutschland 
das  englische  Leasesystein  fehlt,  kann  sogar  der  Anwendung  des  Re- 
coupment in  Deutschland  auch  in  manchen  Fällen  ein  <riinstige->  Horo- 
skop gestellt  werden,  in  denen  es  sich  in  England  nicht  bewährt  hat 
und  als  verwerflich  betrachtet  wird. 

Das  Vorwort  der  HallgaMensthen  Schüft  weckt  die  Hoffnung,  aus 
der  Feder  des  gleichen  VeHassevs  flir  die  Aufstellung  eines  allgemeinen 
Programms  der  zweckmäßigsten  Erfassung  des  unverdienten  Wertzu- 
wadises  eine  breite  Basis  in  einem  Vergleiche  der  Kommunalbesteuerung 
und  der  Expropriationsrechte  verschiedener  Länder  zu  erhalten.  Die 
tlichtigen  Eigenschaften,  die  in  der  angezeigten  Schrift  zutage  treten, 
berechtigen  zu  der  Krwartuni:,  dafs  die  wichtigen  in  dieser  Perspektive  auf- 
tauchenden Themata  eine  lehrreiche  Bearl>euung  finden  werden. 

Frankfurt  a.  M. 

LUDWIG  SINZHEIMER. 


Maitbie,  M.  K.,  Munkipal  Ftmciions,  Study  of  tiu  DeotU^ment, 
Scopt  and  Tendency  of  Municipal  Socialism  in  „Municipal 
Affairs".    Vol.  II.  No.  4.    New  York. 

Das  Buch  Maltbies  hat  in  erster  Linie  praktische  Bedeutung:  es 
will  den  Anhängern  einer  umfassenderen  Thätigkeit  der  Städteverwaltungen 
in  den  Vereinigten  Staaten  für  ihren  Kampf  gegen  privates  Monopol 
und  private  Ausbeutung  der  Stadtgenossen  ein  nutzbringendes  Rüst» 

zeug  sein,  ihnen  die  F.rfiihrungen  anderer  Städte  und  anderer  Länder  in 
gedrängter  Idini  zur  Verfügung  stellen.  W  ie  die  im  Jahre  18117  heraus- 
gegebene „Bibliügraphy  of  Municipal  Admiinstration  and  City  Condition>" 
von  Robert  C.  Brooks  ist  es  eine  Veröfl'entlichung  des  Reform  Club 
Committee  on  Municipal  Administration,  zugleich  Fortfilhrtuig  und  Er- 


Digltized  by  Google 


Maltbie,  M.  R.,  Mnnicipal  Ftmctioiis,  a  Stndy  of  the  Development,  etc.  j^^^ 

gänzung  des  mit  joncr  be^'onnencn  rntornehmens.  l  ebor  die  Art  und 
Weise  der  Materialbeschatfung  gibt  uns  ein  Vorwort  des  Ausschusses 
selbst  kurze  Auskunft;  man  beSchritt  in  der  Hauptsache  den  Weg  der 
Enquete  und  Fragebogen  und  ergänzte  die  so  gewonnenen  Resultate 
durch  das  Studium  von  Konsulatsberichten,  städtischen  Verwaltungs- 
bericbten,  Artikeln  und  Schriften,  lüe  sich  mit  der  städtischen  Verwaltung 
beschäftigen.  Kin  ausführlicher  Fragebogen  wurde  von  150  amerikani- 
schen und  ,350  ausländischen  Städten  raeist  in  vortrefflicher  Weise  be- 
antwortet ,  (las  ülK'rreiche  Material  dann  von  einer  grösseren  Zahl  von 
Bearbeitern  kompiliert  und  geordnet :  die  eigentliche  \'erarbcitung  des- 
selben und  die  Abfassung  des  Berichtes  von  M.  Maltbie  ausgeführt. 

Es  liegt  in  der  Natur  des  aufserordentlich  weitschichtigen  und  sehr 
wenig  in  zusammenfassender  Weise  traktierten  Stoffes,  dals  ein  solcher 
Versuch,  einen  Ueberblick  Uber  die  Städteverwaltung  der.  wichtigeren 
Kulturstaaten  zu  gel)en,  wenn  auch  mit  noch  so  vielen  Mitteln  unter- 
nommen, eben  ein  Versuch  und  ni<  ht  nu  hr  sein  konnte.  Trotz  alles 
Strebens  nach  Vollständigkeit  ül)erall  Lückenhaftigkeit!  Das  soll  kein 
Vorwiirf  sein,  <ien  zu  erheben  völlig  unbeiechtigt  wäre;  wir  wollen  nur 
diese  Thatsache  feststellen,  um  dadurch  die  ( Grundlage  für  unsere  Kritik 
zu  gewinnen  und  uns  Uber  die  Möglichkeit  und  Ausdehnimg  einer  solchen 
klar  zu  werden.  Wir  nehmen  also  das  Material,  wie  es  tms  in  den 
Kap.  in — Vin  dargeboten  wird,  dankbar  an  und  werden  nur  gegen  die 
Gnippienuig  desselben  einige  Bedenken  vorzubringen  haben;  müssen 
uns  aber  ausführlicher  mit  dem  Kni>itel  II  ..The  City  of  To-Day"  und  dem 
letzten  Abschnitte  des  lUiches  beschäftigen,  der  von  der  „Tendency  Toward 
Mnnicipal  Socialism"  handelt. 

Maltbie  teilt  den  Hauptteil  seines  Huches,  der  eine  Darstellung  der 
städtischen  Verwaltung  in  den  verschiedensten  Ländern  der  Welt  sein 
will,  in  acht  Kapitel  ein:  Polizeiliche  Schutz-Funktionen  (Protective  Func- 
tions), Wohlthätigkeit,  Erziehung,  Erholung,  Stralsenverkehr  (Street  Faci- 
lities)  und  Industrielle  Funktionen.  Diese  Einteilung  kann  durchaus  nicht 
als  eine  glückliche  bezeichnet  werden.  ^Veshalb  z.  B.  Strafienbahnen 
unter  „Industrielle  Funktionen"  und  nicht  in  dem  Kapitel  Strafsenverkehr 
behandelt  werden,  weshalb  die  Verwaltung  von  Märkten,  Schlachthäusern, 
Wasserwerken  /uden  industriellen  Funktionen  i^'crcchnet  wird,  während  doi  h 
gerade  hei  solchen  Einrichtungen  die  Rucksic  ht  auf  industriellen  Profit 
die  geringste  Rolle  zu  spielen  pllegt ;  wesiialb  i.  B.  die  Einrichtung  von 
Arbeitsämtern,  die  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  zu  den  Institutionen 
der  Wohlthätigkeit  gezählt  werden  und  dgl.,  läfst  sich  in  keiner  Weise 
einsehen  noch  rechtfertigen.  Die  bunteste  Misdiung  von  Funktionen 
weist  natürlich  das  Kapitel  ,|Industrielte  Funktionen"  auf.  Da  finden 
wir  Märkte  und  Schlachthäuser  neben  Begräbnisplätzen,  Wasserw^erke, 
Gaswerke  und  elektrische  Heleuchtimgsanlagen  neben  Docks,  (Juais,  Fähren 
imd  dgl.;  Straisenbahnen  neben  Leihhäusern  und  Sparkassen,  Banken 


Digitized  by  Google 


748 


Littcratur. 


neben  Restaurants  und  dgl  Bei  der  ZttsammeiiJassiiiig  so  ungleicher 
l^unktionen  kann  den  Verfasser  ofienbar  nur  der  eine  Gesichtspunkt  ge- 
leitet hal>en :  die  Möglichkeit  ihres  Betriebes  nach  dem  Grundsatze  in- 
dustrieller Proütmacherei.    Diese  Mö^chkeit  liegt  aber  bei  dem  Betriebe 

von  Bädern,  Wasclihäusern,  Theatern  u.  s.  f.  in  gleicher  Weise  vor  und 
doch  hat  sie  der  V'crfasscr  in  anderen  Kapiteln  abgehandelt.  Dieser 
Mangel  an  systematischer  Kinteilung  muss  als  der  Hauptfehler  der 
MaterialordnuDg  bezeichnet  werden.  Zusammenhängendes  wird  dadurch 
von  einander  getrennt  und  ein  rascher  oriratimMier  Uebwblidc  über 
ganze  Gruppen  von  Funktionen  geradezu  unmöglich  gemacht.  Ein  wei- 
teres Emgehen  auf  das  dargebotene  Material  würde  uns  zu  ti^  in  Einzel* 
heiten  führen ;  wir  müssen  daher  darauf  verzichten,  auf  einselne  Fehler 
der  Darstellung  und  wichtige  Unterlassungen  aufmerksam  zu  machen  und 
wenden  uns  gleich  zu  einer  Besprechung  der  allgemeinen  Kapitel. 

Das  2.  Kapitel  ist  der  ,,('ity  of  To-Day'  gewidmet,  nachdem  das 
erste  Ka[)itcl  in  allerdings  sehr  lapidarer  Weise  The  Historie  City"  be- 
handelt hat.  Der  Verfasser  geht  von  dei  Unterscheidung  zwischen  „Ur- 
ban Center*',  was  wir  wohl  am  besten  als  städtisdie  Agglomeration  Über- 
setzen können,  und  ^munidpality**  aus.  Die  Agglomeration  ist  in  erster 
Linie  eine  Ökonomische  Ecsdieinung,  die  durch  die  ökonomische  Ent- 
wicklung eines  Volkes  urs^ächlich  bedingt  und  durch  eine  gewisse  Gros-se 
und  Dichtigkeit  ihrer  Bevölkerung  charakterisiert  ist.  Weder  der  Clrad 
der  Dichtigkeit,  noch  die  ('«rofse  der  agglomerierten  Bevölkerung,  diuch 
die  sich  das  städtische  Centrum  von  dem  Dorfe,  Mei  ken  el<  .  unter- 
scheidet, lassen  sich  quantitativ  genau  beslunmen.  variieren  vielmehr  von 
Land  zu  Land,  ja  von  Provinz  zu  Provinz.  Mit  den  städtischen  Agglo* 
merati<»ien  entwickeln  sich  die  zahlreidien,  ihnen  allein  eigentümlichen 
Bedürfiiisse ,  entstehen  Verwaltungsprobleme  .  ganz  dgenartiger  Natur. 
^Die  Municipalität  wird  nun  mit  der  ausdrückUdien  Aufgabe  geschalfen, 
diese  Bedürfnisse  zu  befriedigen.  Die  Centialregierung  mag  sie  gleidi- 
falls  zu  einem  Agenten  des  Staates  raachen,  aber  sie  wird  nicht  für  diesen 
Zweck  geschaflen;  ihre  Funktion  als  eine  Ai;entin  des  Staates  ist  imr  eine 
Begleiterscheinung,  nicht  die  Ursache  ihrer  Existenz,  nicht  einmal  ihre 
gegenwärtige  raison  d'etre.  Sic  ist  daher  vor  allem  eine  Behörde  für 
die  Befriedigung  spezieller  lokaler  Bedürfnisse,  die  durch  die  Existenz 
eines  städtkchen  Centrums»  oder  um  uns  schSrfer  und  bestimmter  ausni- 
drücken,  direkt  oder  hidirekt  durch  die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  ent- 
stehen. Genau  definiert  ist  die  Municipalität  eine  lokale  Behörde,  die 
nur  in  städtischen  Centren  besteht  tmd  hauptsächlich  die  Aufgabe  hat, 
specielle  lokale  Bedürfnisse  7\\  befriedigen,  die  ihre  Ursache  in  der  Kon- 
zentralion der  Bevölkerung  haben."  (p.  40.1  Kaum  in  einem  Staate  sind 
aber  die  Munizipalitäten  im  Hesit/e  so  weitgehender  und  umfassender  Voll- 
machten ;  sehr  häufig  ubernehmeu  nicht  nur  der  Staat,  sondern  auch  andere 
lokale  Verwaltnngskörpersdiaften  Funktionen,  die  als  spezifisdi  der  Muni- 


Maltbie,  M.  R.,  Municipal  Functions,  a  Mudy  of  thc  Dcvclopnu-nt,  etc.  749 


xipulität  zukominend  aimierkeimen  sind.  Neben  der  Munizipalität  be> 
g^en  wir  dem  Institut  der  Zweckausschiisse.  Wie  man  aus  dem  kun 
ikizcierten  Gedankengange  des  Verfassers  ersieht,  begreift  derselbe  also 
unter  munizipalen  Funktionen  nur  die  Thatigkeit  der  Munizipalität,  die 
sich  auf  die  Befriedigung  sitczicllor  lokaler  Ik'durfnissc  bezieht,  und  zieht 
nur  aus  /.weckinässigkeitsgnniden  au(  Ii  die  Funktionen,  die  derselben  als 
Agentin  d£s  Sta^ites  obliegen,  in  den  Bereich  seiner  Darstellung.  Auch 
mit  dieser  Unterscheidung,  die  im  Grunde  mit  der  zwischen  eigenem 
und  äbertragenem  Wirkungskreise  der  Gemeinde  identisch  ist,  kdnnen 
wir  uns  keineswegs  bc^mmden.  Sie  stützt  sich  auf  eine  rein  formale 
Betrachtung  der  Verhältnisse  und  wird  durch  den  ganzen  darstdlenden 
Teil  widerlegt.  Was  hier  zum  übertr^enen  Wirkungskreise  gerechnet 
wird,  pilt  dort  als  eine  sj>ezifisch  munizipale  Funktion.  Die  Relativität 
dieser  Tnteisc  hcidun},^  beweist  entscheidend,  dafs  dieselbe  in  einem 
Werke  über  die  Städtcverwaltung  der  Welt  ohne  jede  BerechtigunR  ist. 
Uebrigens  bindet  sich  der  \'erfasser  selbst  gar  nicht  durch  diese  Distink- 
tion  und  behandelt  daher  eine  ganze  Reihe  vcm  Funktionen,  die  aller- 
dings ihrem  Wesen  nach  rein  munizipale  sind»  bei  deren  Verwaltung 
aber  die  Städte  meist  als  Agenten  des  Staates  erscheinen. 

Von  grösserem  Interesse  als  diese  nur  kurz  skizzierten  Definitionen 
sind  die  Schlufsbemerkungen  des  Verfassers«  in  denen  derselbe  auf  (irund 
seines  Ma(erials  die  Richtung  zu  bestiintnen  sucht,  in  der  sich  voraus- 
sichtlich die  Städtcverwaltung  der  Zukunft  bewegen  wird.  Kr  fasst  das 
Resultatseiner  rntcrsuchung  in  den  folgenden  Worten  zusaintneu:  ,,I)ie 
Entwicklung  der  munizipalen  Funktionen  in  der  Vergangenheit  ist,  wie 
man  sieht,  nicht  ausschlidTsHch  ein  Prozess  der  Aimahme  neuer  Fuaktionen, 
sondern  auch  der  Aufgabe  alter.  . . .  Die  Tendenz  ist  klar  und  dauernd; 
sie  bewegt  sich  in  der  Richtung  des  Verzichtes  der  Stadt  auf  alle  die- 
jenigen Fimktionen,  durch  die  sie  das  Leben  des  Individuums  im  In- 
teresse der  Wohlfahrt  oder  der  angeblichen  Wohlfnhit  des  Staates  regelte, 
und  in  der  Richtung  der  .Vufnahnie  anderer,  durch  die  sie  dem  indivi- 
duellen Behagen  und  Interesse  dient,  und  der  freien  X'erleiUmL:  von 
Dicnstlcistimgen.  Mit  anderen  Worten,  die  alte  Stadt  war  die  Souveränin 
ihrer  Bewohner^  die  neue  ist  ihre  Dienerin.*'  (p.  207,  208.)  Die  Ursachen 
dieser  Tendenz  sind  zahlreich.  In  dem  Midse,  wie  die  Konzentration 
der  Bevölkerung  wächst,  wird  kollektive  Aktion  nicht  nur  in  grösserem 
Mafsstabc  möglich,  sondern  auch  vorteilhafter.  Alle  die  bedeutsamen 
Unternehmungen,  wie  Wasser-  und  Gaswerke,  Stiafsenbahnen,  öffentliche 
Parks,  Bibliotheken  sind  nur  da  möglich,  wo  eine  bedeutende  Konzen- 
tration der  Bevölkerung  besteht.  \'on  gnmdlegcnderer  Wirkung  ist  die 
monopolistische  Tendenz  der  uKKiernen  industriellen  Produktion  tiber- 
haupt,  die  mit  besonderer  Klarheit  auf  dem  Gebiete  der  stadtischen 
Untemdmiungoi  zu  Tage  tritt  Die  ursprüngliche  Konkurrenz  der 
Wasser-  und  Ga^esellschaften,  der  Verkehrsgesellschaften  etc.  verschwindet 


L  iyiii^üd  by  Google 


750 


Litteratnr. 


sehr  schnell  und  macht  der  Verschmelzung  der  antagonistischen  Unter- 
nehraiuigen,  der  Schöpfung  alleinherrschender  Monopole  Platz.  Alle  Ver- 
suche, diese  Konsolidierung  und  Monopolisierung  zu  verhindern,  sind  er- 
folglos uewesen.  Die  Folgen  iler  Monopolisiei ung  sind  bisweilen  ein 
Kntsiehen  des  bisher  fehleiulen  Profils,  in  den  meisten  Fällen  aber  ein 
rapides  Anwachsen  der  früher  geringen  Probte,  die  um  so  schneller 
wachsen,  je  grufser  infolge  der  Bevölkerungszunahme  der  Bedarf  und  je 
kleiner  zugleich  damit  die  Einheitskosten  des  Betriebes  werden.  Die 
räumliche  Verdichtung  des  gesellschaftlichen  Lebens  aller  sich  entwickdn- 
den  Städte  kommt  diesen  Gesellschaften  mühelos  zu  Gute  und  wirft 
ihnen,  den  beati  possidentes,  ein  stets  sich  vergröfscrndcs  Stück  des 
„unearned  inereraenl"  /u.  Aus  diesen  ungewoiwili(  h  hohen  Monopol- 
profiten in  erster  Linie  leitet  die  auf  Monopolisierung  der  gesamten  Be- 
triebe gericluctc  politische  liewegimg  die  Berechtigung  ihres  Vorgehens 
ab ;  die  Steuerzahler  sehen  in  ihr  ein  willk<mimenes  Mittel,  die  fortgesetzt 
drückender  werdenden  städtischen  Steuern  zu  erleichtem,  die  Ronsu« 
meotea,  wie  der  Verfasser  sehr  richtig  hervoihebt,  das  Werkzeug;  hohe 
Preise  durch  niedrige  zu  ersetzen,  die  Arbeiterschaft  den  Hebel,  die 
Arbeitsbedingungen  /.u  verbessern.  Der  Steuerzahler  strebt  in  erster 
Linie  nach  Herabsetzung  der  Steuern;  er  will  die  munizipalisierten  Be- 
triebe kapitalistisch,  d.  Ii.  allein  mit  Rücksicht  auf  den  Profit  Ix'trieben 
wissen.  Die  Konsumenten,  bei  denen  die  Kousumcnteneigenschafteu 
gegenüber  der  Eigenschalt  des  Steuerzahlers  in  den  Vordergrund  treten, 
deren  Aufwendungen  für  Wasser,  Gas  etc.  die  von  ihnen  gezahlten 
Steuerbeträge,  weil  die  ersteren  sehr  gross,  die  letzteren  sehr  klein,  be- 
deutend übertreffen,  streben  natürlich  nach  Herabsetzung  der  Preise  tmd 
bekäm|jfen  die  Ueberstundenwirtschaft  im  Interesse  ihres  Geldbeutels.  In 
derselben  Richtung  bewegen  sich  die  {Bestrebungen  der  ArbeiterorLrani- 
sationen,  deren  .-Vngehörige  in  lioppelter  Kigenschaft  als  Konsimientcn 
und  -Vrbeiter  an  der  Preisherabsetzung  interessiert  sind. 

Welches  sind  nun  die  Grenzen  dieser  sich  stetig  erweiternden  mtuii- 
zipalen  Thätigkeit?  Der  Verfasser  untersucht  diese  Frage  nicht  näher; 
er  beschränkt  sich  auf  den  nichtssagenden  Satz,  dals  dieselbe  durch  die 
Natur  der  verschiedenen  Industrien  besthnmt  werden,  und  weist  an  dem 
Beispiel  der  Wasserwerke,  der  Strafsenbahnen,  der  Gasanstalten  u.  a.  in 
Kürze  nach,  inwiefern  die  Sehwierigkeiten  der  Technik  und  des  Betriebes 
ihre  Wirkung  auf  die  Munizipalisierung  derartiger  .\nstatten  ausüben. 
Diese  ganze  l'ntersuchung  ist  leii^ler  in  lioheni  Malse  oliertlachlich  ge- 
führt worden,  i^eine  Beispiele  beweisen  durchaus  nichts  für  die  Grenzen 
der  munizipalen  Thätigkeit,  denn  in  der  eben  Stadt  sind  nur  die  Wasser- 
werke, in  einer  anderen  nur  die  Gasanstalten,  in  einer  dritten  au&erdem 
noch  die  Stn&enhehnen  im  städtischen  Betriebe  trotz  der  Verschieden- 
heiten in  der  Schwierigkeit  der  Technik  und  des  Betriebes.  Wäre  der 
Verfasser  von  den  entwickelten  Verhältnissen  munizipaler  Thätigkeit  aus- 


Digitized  by  Google 


Hertz,  Fr.  O.,  Di«  agrarischen  Fragen  im  Verhältnis  zum  Sozialismus  etc.  j^i 

gegangen,  so  wäre  er  lehr  bald  zu  dem  Resultate  gekommen,  dafs  es 
nicht  die  Schwierigkeiten  der  Technik  und  des  Betriebes  sind,  welche  die 
Cremen  der  Munizipalisierung  bedingen,  dafs  vielmehr  durch  diese  hü( :h> 
stens  der  Zeitpunkt  einer  Munizipalisierung  bestimmt  werden  kann.  Im 
Uebrigen  ist  dieses  ganze  Problem  aufserordentlich  kompliziert  und  würde 
allein  schon  ein  Buch  von  gleicher  Ausdehnung  wie  das  uns  vorliegende 
erfordern. 

Stuttgart-Degerloch. 

C.  HUGO. 


Htrt»t  Friedrich  Otto^  Die  agrarischen  Fragen  im  Verhältnis 
tum  Sotialismus.  Mit  einer  i'orrede  von  Ed,  Btrustein, 
Wien,  1899.   L.  Rosner.  8".  VU  u.  141  S. 

Die  interessante  Studie  polemisiert  hauptsächlich  gegen  die  Auffassung 
der  Agrarfrage,  die  Karl  Kautsky  in  seinem  Buche  fiber  dieses  vielum- 
strittene  Thema  vertreten  hat.   „Für  Kautsky,  sagt  der  Verfasser,  ist  die 

Agrarfrage  überall  und  jederzeit  diesdbe,  überall  ist  der  Grofsbetrieb 
überl^en,  Uberall  verelendet  der  Banor  ,  .  .  Am  liebsten  möchte  er  wohl 

die  pnnze  Erde  glatt  rasieren  und  einen  einzigen  Landwirtschaftsbetrieb 
einric  Ilten,  hoftentlich  mit  der  Zentrale  in  Friedenau  lx*i  Berlin."  (S.  02.^ 
Im  Gegensatz  hierzu  finden  wir  l)eini  Verfasser  der  vorliegentlen 
Schrift  folgenden  Gedankengang.  Die  Zahl  der  selbständigen  Besitzer 
Ton  Grund  und  Boden  nimmt  stark  zu,  noch  stäricer  die  Zahl  der  am 
Boden  Berechtigten,  der  Hypothekenbesitser.  Der  landwirtschaftliche 
Mittel-  und  Kleinbetrid>  halten  sich  im  allgemeinen  besser  als  der 
Grofsbetrieb.  Die  technische  Ueberlegenheit  des  letzteren  wird  gewöhn- 
lich tiberschätzt,  dagegen  übersehen,  dass  ökonomische  und  natürliche 
Vorteile  (bessere  Bodenklassen  und  ähnliolies)  den  Kleinbetrieb  befähigen, 
erfolgreich  mit  dem  ( irolsbeti  ieb  zu  konkutrii-ren.  Dieser  kann  weder 
langsam,  noch  plötzlich  infolge  einer  Ueberproduktion  die  Kleinbetriebe 
beseitigen.  In  einigen  Ländern  nimmt  der  Mittelbetrieb  auf  Kosten  des 
kleinsten  und  gröfsten  Betriebs  zu,  in  anderen  Gebieten,  wie  in  Belgien, 
Nordfiankreich  verdrängen  Parzellenpachten  die  grolsen  und  mittleren 
Betriebe.  So  verläuft  nadi  Hertz  die  agrarische  EIntwickluug,  würde 
aber,  wie  vielfach  angenommen,  die  Expropriation  der  Bauern  durch  den 
Kapitalismus  erfolgen,  so  wäre  dies  der  gröfste  Schlag  lür  die  ganze 
Volkswirtschaft  und  ein  .Aufsteigen  zu  liöheren  Gesellschaftsformen  wäre 
unmöglich.  Parum  sei  der  enorme  Aufschwung  des  landwirtschaftlichen 
Genossenschaftswesens  freudig  zu  begrüfsen  und  Aufgabe  des  Sozialismus 
sei  es,  die  Teilnahme  der  Bauern  an  der  genossenschaftlichen  Bewegung 


üiyiiized  by  Google 


752 


Lhtentor. 


in  jeder  Weise  zu  fördern.  Dem  gegenüber  trete  die  Bedeutung  des 
Arbdterschtttzes  für  die  Landmrtsriiaft  /.urück,  der  hier  überdies  leiditer 
timi^angen  werden  könne,  als  in  der  Industrie. 

Go<:cn  die  BeweisfiiliruMg  des  W'rTnsscrs  lassen  sich  mancherlei 
methodologische  F.iinvendiiii<ren  erhi-hcn.  Kr  schreibt  (S.  39.)  wenn, 
wie  geschehen  ist,  die  eine  Seite  den  hessischen  oder  Pfälzer  Kleinbesitz 
«dar  extensivsten  msäsdien  Groftwirtsdiaftf  die  andere  etwa  den  galizischen 
Bauer  der  englischen  Grofepachtung  g^nttberstellt,  um  damit  die  Über- 
legenheit der  Betriebsform  darzuthim,  so  ist  das  eine  so  wertlos»  wie  das 
andere."  Nichtsdestoweniger  werden  S.  66  ff.  ungarische  Grofsbetriebe 
mit  badischen  Kleinbetrieben  verglichen,  van  das  „Märchen  von  der 
absoUilcn  l\'bcrlegenlK-it  des  Grofsbetriebs  in  seiner  ganzen  l.ä(  herlii  hkeit 
zu  zeigen",  l'.bensuwenig  beweiskräftig  ist  die  Verglcichuiig  englischer 
und  französischer  Hodenerträge.  (S.  48  ff.),  wobei  übrigens  die  von 
Conrad  und  von  der  Goltz  betonte  Unzuverlässigkeit  der  Erntestatistik 
ganz  unbeachtet  bleibt.  Aus  Bernsteins  Artikel  „Agrarisches  aus  England" 
t(Neue  Zeit  XIV,  2  S.  338)  konnte  der  Ver&sser  ersehen ,  da(s,  wenn 
«die  Erträge  der  englischen  Farmen  nicht  die  technisch  mögliche  Höhe 
•erreichen,  dies  durch  Kigentlunlichkdten  des  englischen  P.u  ht rechts, 
:nicht  durch  den  Grofsbetrieb  an  sich  verursacht  wird.  Beachtenswerter 
sind  die  Bemerkungen  iiber  die  beschränkte  Anwendbarkeit  des  Dampf- 
jiüuges,  dessen  Bedeutung  au(  h  Kautsky  übersc  hätzt.  Die  .\usfuhrungen 
des  Verfassers  decken  sich  mit  den  Ans(  hauungen  hervorragender  land- 
wirtscliaftlicher  Praktiker  (vgl.  hierüber  den  V^ortrag  von  Rimpau- 
-Schianstedt  Jahrbuch  der  Deutschen  Landwf  rtacbaft^gesellschaft  XU  S.  I  ff.)» 
Irrtümer  laufen  aber  auch  hier  unter.  So  hält  der  Verfasser  die  An- 
wendung des  Damp^flugs  im  Weinbau  für  ausgeschlossen,  während  gerade 
hier  sowohl  in  Ungarn,  wie  in  Frankreich  mit  Fowlerschen  DampfrigoU 
Apparaten  bedeutende  Erfolge  erzielt  wurden  (Jahresbericht  über  die 
Erfahrungen  und  Fortschritte  auf  dem  ( iesamigebiet  der  Landwirtschaft, 
II.  Jahrgang  1896  herausgegeben  von  Dr.  Emil  Pommer  S.  27  u.  2S). 
Die  Frage,  ob  die  Wirkung  des  elektrischen  Pfluges  nicht  ungleich 
revoluti<Miierender  sein  wird,  borfihrt  der  Ver&sser  flberfaaupt  nicht  — 
Alles  zusammengenommen»  kann  ich  nicht  finden,,  dals  die  lange  und 
meistens  unfruchtbare  DelMtte  tlber  landwirtschaftiichen  Gio&-  und  Klein- 
betrieb durch  die  .Ausführungen  des  Verfassers  wesentlich  gefördert  wird. 

Auch  die  Abschnitte  der  vorliegenden  Arbeit  über  Gnmdbesitz- 
verteilung  unddie  Tendenz  ihrer  Entwicklung  sind  geeignet,  lebhaften  Wider- 
spruch hervorzurufen.  Der  Verfasser  weist  die  Annahme  Kautskys.  als 
ob  der  Mittelbetrieb  dem  (irofsbetrieb  einerseits,  dem  Parzellenbetrieb 
andrerseits  miterliege,  zurück,  seine  eigene  Darstellung  scheint  mir  aber 
die  Frage  der  Grundbesitzvertdlung  nich^  widersprudürios  su  behandeln. 
S.  53  heilst  es:  „Mit  Ausnahme  jener libider,  in  denen  der  Großbetrieb 
eine  sehr  geringe  Rolle  spielt  und  die  Parzellenkultur  die  höchste  Intensität 


Digitized  by 


Herls,  Fr.  O.,  Die  agiwiichcB  Fntgeo  im  Verhiltni«  xam  Soxiftlwau»  etc.  j^^ 

erreicht  (Belgien),  verlieren  die  kteiosten  Betriebe  fast  (iberall  an  Boden.*' 

Dagegen  erklärt  der  Verfasser  .«n  anderer  Stelle :  „Die  Tendenz  sur 
Parzellcnpacht  nimmt  stetig  zu ,  die  äufserstc  Form  des  agrarischen 
Kapitalismus  ist  die  l'arzellenpacht ,  das  letzte  Ziel  der  kapitalistischen 
Landwirtschaft  ist  nicht  der  Grofsbetrieb ,  sondern  die  Harzelleni)acht 
(S.  9,  21,  89.)  Die  deutsche  Entwicklung  scheint  mir  die  These  des 
VerfiuBers  nicht  zu  bestätigen.  Aus  der  Provinz  Sachsen  z.  B.  hören 
vir:  |,Die  Gelegenheit  zur  Pachtung  kleiner  Parzellen  ist  eme  sehr  ge- 
ringe .  .  .  Die  Möglichkeit  zum  Erwerb  von  Parzellen  ist  noch  weit 
geringer,  als  in  den  ösdich  der  Elbe  gel^;nen  Kreisen  der  Provinz  .  . 
In  den  Hauptrübenkreisen  ist  der  Arbeiter  vom  Landerwerb  gänzlich 
ausgeschlossen  und  hat  keinerlei  Möglichkeit  zum  Kleinbesitzer  aufzu- 
steigen." (Die  Landarbeiter  in  ilen  evangeüschen  (icbieten  Norddeutsch- 
lands herausgegeben  von  Max  Weber,  i  Heft  S.  21.  vgl.  auch  S.  79  u.  80). 
Wenn  der  Grofsgrundbesitz  in  den  6  östlichen  preufsischen  Provinzen 
von  i88a  b»  1895  an  Areal  abgenommen  ha^  so  ist  dies  nach  von  der 
Goltz  hauptsächlidi  eine  Folge  der  Ansiedlungsgesetze  und  Rentengut»> 
gesetze.  Gleidizeit^  vermehrte  sich  der  Grofsgrundbesitz  in  den  anderen 
preufsischen  Provinzen  und  in  Süddeutschland.  Die  grolse  Zahl  der 
Parzellenbetriebe  im  nordöstlichen  Deutschland  stellen ,  wie  von  der 
Goltz  weiter  bemerkt,  zum  weit  überwiegenden  Teil  die  den  Tagelöhnern 
von  der  Gutsherrschaft  überwiesenen  Deputatlandereien  dar. 

Als  Hauptmittel  zur  Besiegung  aller  agrarischen  Nöte  feiert  der  Ver- 
fasser das  landwirtschafüiche  Genossenschaftswesen.  Mit  Recht  weist  er 
darauf  hin,  dafs  die  Mehrzahl  aller  deutschen  Genossenschaften  (72'*/o) 
der  Landwirtschaft  angehören,  mit  Recht  weist  er  auf  die  imponierenden 
Zahlen  hin,  in  denen  der  Aufschwung  der  genossenschaftlichen  Bewegung 
sich  ausq>richt,  mit  Recht  betont  er  Kautsky  gegenüber  die  starke  Be- 
teiligung auch  der  Bauern  an  den  ( Genossenschaften.  \\  rnn  er  aber  die 
bestehenden  Cienossenschatten  als  wahre  Keime  einer  vollständigen  Wirt- 
schaftsgenicinde  bezeichnet,  so  scheint  er  mir,  um  mit  Heine  zu  reden, 
von  den  Eichenwäldern  zu  träumen,  die  in  der  Eichel  schlummern.  So  über- 
trieben der  Verfasser  die  Bedeutung  des  Gaiossenschaftswesen  veranschlagt, 
so  wenig  wird  er  der  Wichtigkeit  des  landwirtschaftlichen  Arbdterschutzes  ge- 
recht  Seine  Polemik  gegen  denselben  verkennt,  dafs  die  in  der  ersten  Zeit 
jedenfalls  sehr  milden  Arbeiterschutzgesetze  nicht  die  von  ihm  befürchteten 
Betriebsänderungen  hervorrufen  werden.  Der  Verfasser  scheint  übrigens 
nicht  zu  wissen,  dafs  schon  jetzt  vereinzelte  .Arbeiterschutzbestinimungen 
für  die  Landwirtschaft  vorhanden  .sind.  So  existieren  i'ulizciverordnungen 
über  Sonntagsarbeit,  so  verbieten  die  Unfallverhütungsvorschriften  mehrerer 
Berufsgenossenschaften  die  Arbeit   von  Kindern  unter   14  Jahren  be 


*)  Ton  der  Golts,  Voricnmgen  Aber  Agnxweun  und  Agrarpolitik.  Jena 
.1899.  S.  88. 


L  iyiii^üd  by  Google 


754 


Littcrator. 


Dreschmaschinen.  (\'gl.  c  R  UnfallverhUtungsvoischriften  der  ■chtemchen 
Eisen-  und  Stahl) )erufsi;enosSfnschaft  Nr.  3.") 

Als  Ausdruck  einer  weitverbreiteten  Strömuni,'  wird  die  vorliegende 
Arbeit  viele  Leser  und  <;rorse  Beachtung  finden,  (krade  deshall)  muliste 
an  dieser  Stelle  auf  ihre  schwachen  Seiten  hingewiesen  werden. 

Breslau. 

O.  PRINGSHEIM. 


UNIV.  C?      -  ...-.-».if 
t-Lb    3  1912 


Lippert  ji;  Co.  (G.  l'äu'xche  Bucbdr.;,  Naumburg  j.d. 


uyui^üd  by  Google 


edby  GooqI'