EDA KUHN LOEB
MUSIC LIBRARY
gift of
Mrs. F. Stanton Crowley
HARVARD UNIVERSITY
DATE DUE
a
GAYLORD
Aus dem
Uouncert- Baal.
Aus dem
Concert-Saal.
Kritiken und Schilderungen
aus
20 Dahren des Wiener Muſiklebens
1848— 1868.
VNebſt einem Anhana:
Piufikalifche Reifebriefe aus England, Frankreich u. d. Schweiz
von
Eduard Banslirk.
Zweite durchgefehene und verbefferte Auflage.
Wien und Leipzig.
Wilbelm Braumüller
k. u. £. Hofs und Univerſitätsbuchhändler.
—— 1897.
HARVARD UNIVERSITY
NCT %- 106?
EDA KUHN LOEB MUSIC LIBRARY
Alle Rechte vorbehalten.
Trud vor Friedrih Jasper in Wien,
rn. ran r.- Gi Er ca
EDA KJ 4. —* — —E — — — — — —* —
HARYARD UNIVERS SITY
CAMBRIDGE, MASS. 02138
Inhaltsverzeihniß.
x Seite
Vorwort zur erſten Auflage -» » 2: 2 2 2 2 nn XIII
3 Vorrwort zur zweiten Auflageee xV
1848. Haydn’3 »Schöpfung« und dad Dratorium in Wien. . 1
Janſa's Duartettjoirden und die Pflege der Kammermufit 5
Akademie zum Andenken des Componijten C. Ferd. Füchs 8
; 9
— Zanzmufit und die Söhne von Strauß und Lanner . . 28
Die Wiener Eoncert:Saifon 1852—1853 . . 2 2 2. . 31
Gade's »Difian QOuverture.. 85
Pſalm von Mendelsſohn. — an Zeus« von
Menerbeer : -: 2 2 2 2 2 un
G.Bailati. Hedwig Brzowska. Evers. Doppler 89
Sadfe — Frl. Staudach. — Liederfänger . . . 92
VI Inbalteverzeichnih.
Seite
1856. Orcefterconcerte: Litolff’ö Dupverture »Chant des
1857. »Les preludes», iymphonifhe Dichtung von Fr. Lift . 124
Orcdeiterconcerte: R. Schumann und feine D-moll-
Virtuojenconcerte: (Nanette Falk. Henritte Fritz. Die
Geiger Bazzini und Fraiinetti,
1858. »Das Paradies und die Veri« von R. Shumann . . 155
Rammermufit: Chopin. Beethoven’s Fuge op. 133,
Schumann’ Violinfonate in D-moll, X. Winter:
Inhaltsverzeihniß. vn
Digitized by Google
VIII Inhaltsverzeichniß.
Philharmoniſche Concerte: Genovefa-Ouverture von
Einleitung zu »Triſtan und Iſolde« v. R. Wagner 251
Sopran-Arie von Mozart
Eoncert für StreichInitrumente von Seb. Bad. . 252
C-dur-Symphonie von Shumann. . . » 2»... 252
Duverture »Medeae von Cherubini. . »..... 253
Ordeiter:Suite in D von Sb. Bad. ...... 253
B-dur-Symphonie von Shumann. . » 2 22... 254
Symphonie von . Emanuel Bad RER 258
»2oreley« von
1862, Die Mathäus-Paſſion von Seb. Bad . . ». 2... 269
Händel’3 »Meſſias« und das Jubiläum der »Gefelichaft
der Muſikfreunde...
Orcheſter- und — Brahms’ Serenade
Te a a a a a
Chor von
Arien von Händel und Bergoleie. . ..... 294
Schubert's C-Sym DEE SDTESTET 295
Birtuojen: Karl Taufig, NMlerander Dreyihod,
Wilhelm Treiber, Ed. Remendyi . .. 2.20. 296
1863. Schumann’s Mufit zu Goethe’ »Fauft« (vollftändige
Aufführum
Die Preis-Symphonien (von 3. Naft u. Alb. Beder) , 310
Singafademie (Cantate von Seb. Bad. Chöre von
Beethoven und S
Anbaltsverzeichnik. IX
Orcdeftercompofitionen von Liſzt und Wagner. Das
Tauſig-Wagner-Concert . . . -
Kammermufif: Quartett von . Sonate von
Em. Ba
Mendelsjohn’s Mufil zu »Antigomee . . ... . 342
Männergefangberein: (Herbed’s Repertoire. »Das
Glück von Edenhall« von Shumann. Studentenchor
bon Berlioz. »Das Liebesmal der Apoftele bon
Rihard Wagner. Chor von Fr. Schubert) . . . 346
DOrcefterconcerte: Fr. Lachner's Suite in E-moll . 351
Berlioz’ Duverture zu »Benvenuto Gellini« . . . 353
- Zrauerfpiel-Ouverture von W. Bargiel .. . . . 34
Chor von Shumann
) ’
Schumann’ Duverture zu »Julius Cäfar« . . . 358
Beethovben's Tripelconcert in C-dur. . . .. 360
— Karl Tauſig, Franz Bendel, Grat Bauer,
Julius Epftein, Sojef Derffel, J. Dubeß . 360
Alois Ander (Nekrologh... 370
1865. Philharmoniſche Concerte: Schubert’3 Muſik zu
Rojamunde, DOuverture zu »Alfons und Eitrella«
und C-dur-Symphonie
Beethoven's Feſt-Ouverture op. 124 . ..... 378
6» « 4, 378
J Inhaltsverzeichniß.
———— und »Trom eten-Onnerture« — 469
Digitized by Google
Inhalts verzeichniß. XI
— für Streichinſtrumente von Händel.
Bei ven er‘ 8 | |
Sean Beder und das
1860 i
Digitized by Google
XII Inhaltsverzeichniß.
Seite
III. Muſikaliſches aus London (1862):
Vorwort zur erfien Auflage.
Niemand fann über den ephemeren Werth und Erfolg
von Zageskritifen beicheidener denken, als der Verfaſſer der
bier vorliegenden. Weder vielfeitige freundliche Aufforderung,
noch daS Beifpiel zahlreicher franzöſiſcher, engliicher, neueftens
auch deutſcher Publiciſten hätten mich vermocht, meine refpect-
volle Scheu vor der Buchform zu überwinden und eine Aus—
wahl von Journalauffägen in fo bauerhaftes und ftattliches
Gewand zu Heiden. Was mich jet dennoch dazu veranlaßt, iſt
vorzüglich die Rückſicht auf ein früheres im felben Verlag er:
jchienenes Werk: »Geſchichte des Concertweſens in Wien«.
Anlage und Umfang diefer »Conzertgefchichte« geftatteten zwar
eine ausführliche Darftellung der älteren und mittleren Muſik—
periode, zwangen jedoch den Verfafler, fi in der Schilderung
der nenueften Zeit auf die nothiwendigen, allgemeinen Grundzüge
zu bejchränfen. Es wurde mir ein Vorwurf gemacht aus der
allzu knappen Daritellung der legten zwanzig Jahre, gerade
jener Muſik-Epoche (1848 — 1868), die ih felbit in Wien
miterlebt und liebevoll! Schritt für Schritt kritiſch begleitet
hatte. Aber um jede bedeutende Kunſterſcheinung diefer reichen
Periode eingehend zu würdigen, hätte ich ftatt eine Kapitels
meiner »Goncertgefchichte« einen ganzen Band jchreiben müſſen.
Da wurde ich aufmerffam, daß diefer »ganze Band« eigentlich
ihon gejchrieben und gedruct bei mir verftedt liege, — nämlich
in einem Berg von alten Zeitungsartifeln, aus dem er blos
herauszugraben und von Schladen zu reinigen war. Sp ging
XIV Vorwort.
ich denn muthig an die Durchſicht der 26 Jahrgänge meiner
journaliſtiſchen Thätigkeit.
Die rechte Auswahl zu treffen iſt in ſolchem Fall nicht
(eiht für den Autor: er fieht fich ſelbſt gleichjam in zwei
Hälften geipalten, eine ftrenge und eine nachfichtige, welche fich
wie Ankläger und Vertheidiger fortwährend befehden. Gern
wäre ih noch häufiger, als es geichehen, dem verneinenden
Geift in mir gefolgt, — aber der pofitive leitende Gebante,
diefe Sammlung zu einer fortlaufenden Sluftration meiner
»&oncertgefhichte« zu machen, entwaffnete das Bedenken über
die Drucdwürdigfeit manches Einzelnen.
Von meinen vormärzlichen Jugendſünden habe ich nichts
aufgenommen; bon 1848 biß 1854 nur wenige Auffäße. Sie
ſtanden urfprüngli” in der »Miener Zeitung« und ihrer
»Beilage für Kunft und Literature. Die Kritiken von 1855
bis 1864 waren für die (alte) »Preſſe« gejchrieben, alles
Folgende für die »Neue Freie Preffee.
Mie Schon der Titel der Sammlung andeutet, find die
Kritiken über Opern und Theatervorftellungen hier ausgeschieden.
Hingegen mwurden einige feinerzeit beifällig aufgenommene
Feuilletons, obwohl fte nicht direct den Koncertfaal angehen (mie
die Mufikaliichen Briefe aus Paris und London u. W.), auf den
Wunſch von Freunden dem Bude einverleibt. Das Rettungd-
Ihiff lag einmal vor Anker, warum follte es nicht auch einige,
nicht Strenge zur Zunft gehörende Baffagiere mit an Bord
nehmen? Möchte die anipruchslofe Reiſegeſellſchaft auch in
diefem neuen Fahrzeug mohlwollende Aufnahme bei ihren
alten Freunden finden.
Wien, zur Weihnachtszeit 1869.
Ed. B.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Huf eine zweite Auflage diefes Buches habe ih nicht
gehofft; ich hielt es für vergriffen und vergefien. Nur Erfteres
war richtig, wie die vorliegende Neuauflage beweift. Das fo
ſpäte Erſcheinen derjelben — ein volles Vierteljahrhundert nach
der erften — verfchiebt matürlih den Gefihtspunft, aus
welchem der Inhalt jet aufgenommen und beurtheilt fein
will. Bor 25 Jahren wirkten die hier befprochenen Kinftler
noh inmitten lebendiger Strömung; meine Lefer ftanden
ihnen noch nahe genug, um den Reiz eine gemwiffen per-
fönlihen Antheil® bei der Lectüre nicht zu vermiſſen. Das
it heute andere. Die Sänger und Pirtuofen jener Periode
find faſt alle in das Reich unbelannter Harmonten hinüber:
gegangen; zulegt noch zwei der Beiten und Ruhmreichſten:
NRubinftein und Clara Schumann. Was die Compontiten
betrifft, jo find bier neben den Glaffifern hauptſächlich jene
jüngeren Meifter beiprocdhen, welche (wie Schumann, Wagner,
Brahms) in den letzten 30 bis 40 Jahren fich bleibende
Macht errungen haben; endlich aber auch gar Manche, deren
schnell auffladernder Erfolg feither zu Staub und Aſche ward.
Für den Lejer von heute liegen jomit die Geftalten dieſes
Buches bereitö in der fühlen Nachmittagsbeleuchtung des
Hiſtoriſchen.
Wie find die Werke Schumann's, Brahms’, Liſzt's
u. A. bei ihrem erſten Erſcheinen in Wien aufgenommen
worden? Wie haben die Concertinſtitute, wie das Publicum,
XVI Vorwort.
wie die Kritik ſich zu denſelben verhalten? Welche von den
Tondichtungen jener Periode blühen ſeither unverkümmert fort
und welche ſind verwelkt und beſeitigt? Dies ſind die Fragen,
auf welche die wiederauferſtandenen Annalen »Aus dem
Goncertfaal«e Antwort geben können. Sie ſchließen mit dem
Jahre 1868.* Was diefe alten Kritiken an actuellem Inter:
effe verloren haben, das muß das Hiftorifche erſetzen. Bon
dieſem Gefihtspunft des Hiftorifhen Intereſſes, als ihrem
Rechtfertigungsgrund, durfte die neue Auflage nicht abweichen.
Jh mußte es mir deshalb verjagen, an Form oder Inhalt
der urfprünglichen Kritiken zu beffern; nur Kürzungen jchienen
mir erlaubt und geboten. Es iſt nicht bedingungslos wahr,
daß gerade das Alter geſchwätzig macht. In der Jugend find
wir oft noch graufamer redfelig; nur klingt es da hübfcher. —
Wien, den 11. September 1896.
Ev. B.
*) Was nad) diefen 20 Jahren an bedeutenden Künftlern und
Tonwerfen im Wiener Concertleben hervorgetreten ift, habe ich, Die
vorliegende Sammlung fortfegend, in gleicher Form und Anordnung
in folgenden drei Büchern behandelt:
1. »&oncerte, Componiſten und Virtuoſen der legten
15 Jahre. 1870 bis 1885.«
(Verein für deutfche Literatur. Berlin 1886.)
2. »Aus dem Tagebude eines Muſikers« (enthält Con-
certberichte von 1885 bis 1891).
(Verein für deutfche Literatur. Berlin 1892,)
3. »Fünf Jahre Muſik« (enthält Concertberihhte von 1891
bis 1895). |
(Verein für deutjche Literatur. Berlin 1896.)
1848.
sanon’s „Schöpfung“ und das Ora:
forium in Wien.
Kein Bericht, wie diesmal die »Schöpfung«e aufgeführt
wurde; nur einige Worte darüber, daß man fie aufgeführt hat.
So weit das Erinnern der gegenwärtigen Generation reicht,
verging jelten ein Jahr, in welchem nicht eines der zwei
Haydn'ſchen Oratorien oder beide in Wien zur Aufführung
gelangt wären, und jo umerichütterlih Gottes Schöpfung und
Sahrezzeiten in der Natur, jo gewiß waren Haydn's Schöpfung
und Jahreszeiten alljährlih im Burgtheater. Die rühmliche
Anhänglichkeit des Wiener Publicums für dieje beiden Werfe
it nur zu ſehr im der Herrlichkeit derjelben begründet; fie
gehören zu dem Edelſten und zugleich Friicheiten, zu dem Ge:
lehrtejten und Lieblichiten, wad wir im Face des weltlichen
Dratoriums befißen. Kein Wunder, wenn fich die beiden Meiſter—
werfe alsbald jo jehr in der Gunft des Wiener Publicums
feftjegten, daß fie die — in unferem Muſikleben gar jpärlichen
— Dratorienpläge faft ausichlieglih und auf Jahre hinaus
in Beichlag nahmen. Diele wiederholten Aufführungen jegten
auch den minder eingeweihten Theil de3 Auditoriums in Stand,
die genannten Werke nach und nach immer Elarer verftehen und
vollfommener in fich aufnehmen zu können, fo daß gegenwärtig
faum ein Mufifliebhaber in Wien zu finden fein wird, der fie
nicht durch mehrere Productionen fennen und lieben gelernt.
Die häufigen Wiederholungen hatten alſo ihren künſt—
leriſchen Nugen; denken wir nım auch an ihre fünftlerifche Grenze.
Hanslicd. Aus dem Concertiaal. 2. Aufl. 1
2 1848.
Das Wiener Mufil-Publicum Hat, ftatt wachſamen Blickes
in dem lebendigen Strom der Zeit fortzufegeln, fih in Einen
feften Punkt der Kunſtgeſchichte feitgerannt; ob Diejer eine
blühende Inſel oder eine Sandbank iſt, gilt für den fünft-
leriſchen Fortichritt ziemlich gleih. Ohne fein Verfhulden it
unfer Bublicum zuridgeblieben in der Kenntniß, und wo Diele
geboten wurde, in der Würdigung der Erjcheinungen, welde
die Vor: und Nach-Haydn'ſche Zeit im Face des Oratorium
hervorgebracht. Jede einjeitige Vorliebe, die in falſch verſtandener
Pietät bei Einem Autor beharrt, und von diefem aus jede
weitere Entwidlung abgejchnitten will, rächt ſich an der eigenen
Einfiht und Urtheilöfraft. Ein Publicum, dem die Mannig—
faltigfeit einer Runftgattung verfchlofjen, hiermit die Möglichkeit
der Vergleihung entzogen ift, wird alsbald einjeitig im Ge—
ihmade, und geneigt werden, den Einen Autor als Maßſtab
an alle andern anzulegen. Das ausſchließliche Verweilen auf
einem und demſelben MWerfe, und wäre ed noch So trefflich,
macht bornirt, im etymologijhen und eigentlichen Sinne
des Wortes. Es gibt in feinem Gebiet der Kunſt Ein Wert,
das die übrigen ſämmtlich unnöthig machte. Und dennoch
ſcheint dieſe Anficht bei uns rückſichtlich der Haydn'ſchen
Oratorien Raum gewonnen zu haben; wir ignoriren ge—
troſt die geſammte Oratorien-Literatur, aus ähnlichen Grün—
den, wie der Khalife Omar die Bibliothek zu Alexandria ver—
brannte.
Man wird einwenden, dieſe — in ganz Deutſchland einzige
— Monotonie des Wiener Oratorien-Repertoirs habe einen
nothwendigen Grund darin, daß gerade dieſes Feld der muſi—
kaliſchen Gompofition in unferer Zeit ſehr vernahläffigt erfcheint.
In Wahrheit ift die religidfe Begeifterung aus dem Bewußt—
fein unſerer Zeit, daher auch unferer Künſtler gewichen, die
einſt hochgepriejenen bibliichen Terte dünken uns fchaal und
ungenießbar, das Intereffe an größeren Geſangwerken ift faft
ausfchlieglih von der Oper abforbirt.
Troß alledem aber find wir ſchwächeres Geſchlecht der
Seßtzeit nicht jo arm, als jene Herren der »Schöpfung« und
möchten glauben machen.
*
Haydn und das Oratorium in Wien. 3
Da Haben wir vor Allem Bach's Sohn im Geifte, deu
edlen, geiftvollen Mendelsjohn. Seine beiden Oratorien find
allerdings in Wien zur Aufführung gefommen: »aulus«,
nahdem er im Triumph die- ganze mufifaltiche Welt durch—
gegangen war und bereits in Amerika und in — Preßburg
wiederholte Aufführungen erlebt hatte, »Eliad« aus fpeciellen
Gründen minder verjpätet. Troß des Erfolges, den Mend eld-
ſohn's Oratorien beim Bublicum hatten, blieben fie vernach—
fäffigt; »Paulus« wurde zweimal, »Elias« jeit feinem Er:
jcheinen (1847) nicht wiederholt. Um aber diefe Meisterwerke
bei einem, der neueren deutſchen Mufif weniger geneigten Bubli-
cum zu jenem Verſtändniß und jener Anerkennung zu heben,
welche fie zu fordern beredtigt find, — um fie vollends jener
Liebe des Publicums zu gewinnen, welche vorhergegangenes
Berftändniß und Anerkennung vorausſetzt: ift ein häufiges,
veriodifche® Wiederholen derjelben unumgänglich nothwendig.
Wie viele Wiederholungen brauchten die »Jahreszeiten« und
»Schöpfunge, bis fie ihre heutige Popularität erlangten! Und
doc ift der ernſt veligiöje Mendelsjfohn fchwerer zu erfaflen
als der lebensfrohe Haydn, und überdies dadurch fehr im
Nachtheil, daß er noch nicht fo lange todt ift. Was der edle
Spohr im Oratorium geleiftet, jchläft bei uns. »Die legten
Dinges und »Des Heilands letzte Stunden«, Werke voll Liebe,
Sottesfurht und Adel, warum läßt man fie und gänzlich ver:
miffen? Was außer Mendelsjohn und Spohr im neueren
deutihen Oratorium von Namen und Bedeutung ericheint, ift in
Wien nie zur Aufführung gefommen. Schumann's »Paradies
und Peri«, Hiller's »Zerftörung Jeruſalems«, Löwe's
Oratorium gleichen Namens, Bernhard Klein's »Dapid«
und »Jefta«, Marx' »Moſes« find auf der Wiener Muſik—
farte lauter Streden, die wie dad innere Afrifa als »unbe-
fanntes Land« verzeichnet ftehen. Von fürzeren oratorienmäßigen
Stüden nenne ich beiſpielsweiſe Mendelsſohn's vortreffliche
»Pſalmen«, dann feine Sinfonie-Cantate »Lobgefang« und
die »Walpurgisnacht«, Spohr’3 »Bater unfer«, Löwe's Vocal:
Dratorien »Die eherne Schlanges, »Die Apoftel von Philippi«,
Wagner's »LXiebesmal der Apoftel« u. a.
1*
4 1848.
Die genannten Werke find durchaus bedeutendere, höchſt
intereffante Leiftungen auf nicht eben reihem Feld, fie find
Hauptwerfe der hervorragenditen neuern Componiſten, und
haben beinahe die Runde durch alle Städte Deutichlands
gemacht, welche bei Eleineren Mitteln größeres Intereſſe für
die Kunſt Haben. Sch verwahre mich hier ausdrücklich vor jeder
vergleihenden Schägung diefer Werfe mit Hahdn's Oratorien:
felbit wenn fie alle zufammen der »Schöpfunge nicht an die
Bruft reichten, ändert dies nicht? an der Sache, — nicht daß
man beſſere, jondern daß man auch andere Dratorien geben
joll, Haben wir gewünſcht. Jeder bedeutende Autor ift für ſich
eine kennenswerthe Perfönlichkeit, jedes bedeutende Merf ein
vollberedhtigtes Individuum, es hat jedes feine eigenthümlichen
Vorzüge und Irrthümer, jedes ift in irgend einem Stüde dem
andern überlegen, und jedes weist dem Kunſtkenner an irgend einem
Punkt einen erweiterten Gefichtöfreis, einen neuen Inhalt, eine
feinere Forum. Ob nun diefe berühmten MWerfe der Neuzeit dem
Publicum genügen werden oder nicht, gilt gleich, aber fennen
muß es fie. Genügen fie ihm nicht, jo hat es noch immer Zeit
genug, wieder umd immer wieder zu dem bewährten Haydn
zurüdzufehren, — es wird dahin zurücdkehren, aber bereichert
in der Kenntniß, geläutert in der Auffaffung und vor allem
freier im Urtheil.
Ich habe oben die namhafteren Dratorien der neuern
Zeit aufgezählt, um das Publicum über deren Griftenz zu
beruhigen, feineswegs möge aber eine Einfchränfung Haydn’
blos zu Gunsten feiner Nachfolger verfügt werden. Durd
eine würdige, möglichft unverfürzte Aufführung der Bach'ſchen
Paſſionsmuſiken und der Händel’jhen Dratorien (namentlich
des »Meſſias«) würden berechtigte, jehnliche Wünfche der Muſiker
endlich erfüllt und dem fünftlerifchen point d’honneur einer
Refidenzitadt Genüge gethan. .
Der Leſer fieht, daß ich diesfalls nicht für das Neue,
jondern mit gleiher Wärme für das Alte in die Schranken
trete, und nur den ſchädlichſten Feind jeder Entwidlung be—
fümpfen will: das Stabilitätöprincip. Selbſt ob es hier Brincip
jei, und nicht vielmehr Bequemlichkeit, ift eine große Frage.
Janſa's Quartettſoiréen. 5
Wir find nun einmal gewohnt, zu Oſtern und Weihnachten die
»Schöpfung«e und die »Jahreszeiten« zu Hören, gerade wie
wir gewohnt find, zu dieſen Zeiten Fiſche zu eſſen.
Aber war dad Publicum nicht stets zufrieden damit?
Ganz richtig; für das Publicum ift auch voller Grund zur
Zufriedenheit, wenn es ein treffliches Merk in guter Auf:
führung hören kann. Aber die mufifalifhen Vormünder ımd
Guratoren de3 Publicums haben nicht blos eine äfthetiiche,
fondern auch eine culturhiitoriiche Verpflichtung: daß, was
fie boten, gut war, kann ihr Gewiſſen nicht über das be—
Shwichtigen, was fie verjäumten. Es gibt Unterlaffung®:
fünden in der Kunſt. Wer bier die Schuld derjelben trägt,
weiß ich nicht und will es nicht willen; es ift mir nicht um
die Anklage von PVerjönlichkeiten, fondern um die gute Sache
zu thun. Nur den innigften und dringendften Wunſch kann ich
aussprechen, daß jene Männer, welche eine enticheidende Stimme
in den großen Fragen unjeres Muſiklebens haben, baldigit
Sorge tragen möchten, das Publicum der reichitsausgeftatteten
Mufitftadt Deutichlands in den lebendigen Strom der Zeit zu
verfegen, damit nicht dafelbit der Fortichritt dem Zufall, Die
Kunſt der Gewohnheit verfalle. —
Sarnfa’s Quartettloirsen und die Pflege
der Stammermufik in Wien.
Wenn man fich lediglih an den abjoluten Werth jedes
einzelnen Stüdes hält, jo kann man Herrn Janſa's diesjährigen
Programm eben fo wenig einen Vorwurf machen, als feinen
früheren. Es ift eine durchwegs achtbare Gejellichaft, die fein
unwürdiges Mitglied zählt, — leider nur jehen wir, um mit
jenem Scullehrer zu fprechen, wieder jehr Viele, die nicht da
iind. Hören wir zuerit, wie Beethoven vertreten iſt. Bon
jeinen Quartetten find nur drei gewählt, und alle drei aus
opus 18. Jedermann ſchätzt und liebt die ſechs Quartette des
18. Werks, diefe Gefänge voll Klarheit und Ebenmaß, Geift
und Friſche. Können fie aber Stand Halten gegenüber der
6 1848.
unendlichen Tiefe und Erhabenheit, der Leidenjchaft und Seelen-
größe in Beethoven’3 jpäteren Quartetien? Kann und will
der reizend jugendliche Körper jener ſechs Grazien ſich gleich-
itellen dem Heiligen Geift der großen Beethoven’shen Periode?
Und doch wird dieſe immer und immer wieder zurüdgeleßt
hinter jenen. Wo find in Janſa's Programm die Rajumomwäfy-
ihen Trilogie u. ſ. w. bis zu opus 131, den Gipfel der
Quartettmuſik?
Jene erſten Quartette haben ſich durch ihre Faßlichkeit
und Anmuth bereits zu muſikaliſchem Gemeingut ausgebreitet,
und ſind ganz eigentlich in Fleiſch und Blut des Publicums
übergegangen. Häufige Gäſte aller öffentlichen, tägliches Brot
aller Privat-Quartette, ſind ſie längſt populär geworden, Jeder—
mann verſteht ſie, ſpielt ſie, kennt ſie auswendig; ſie ſind ein
in ſich ſelbſt erfülltes Bedürfniß. Anders iſt's mit Beethoven's
ſpätern Werken. Sie ſind wenig bekannt und noch weniger
verſtanden, die Bequemen unter den Künſtlern ſcheuen die
Schwierigkeit des Einſtudirens, und die »Gutgeſinnten« im
Publicum ſchlagen ein Kreuz, wenn irgendwo davon die Rede.
Es iſt hohe Zeit, daß dieſen Werfen Beethoven's, welche bei
manchen wunderlichen Auswüchſen den höchſten Aufſchwung
ſeines titanenhaften Genius enthalten, öffentliche Gerechtigkeit
werde, und wenn ein gebildetes Publicum, wie das der Janſa—
ſchen Productionen, ſie oft und öfter, endlich ſo häufig gehört
haben wird, wie jene erſten ſechs, ſo iſt mir um das Ver—
ſtändniß gar nicht bange. Dies Verſtändniß anzubahnen,
wäre für bewährte Künſtler, wie die obgenannten vier Herren,
nicht die ſchwierigſte und doch die ehrenvollſte Aufgabe.
Ebenſo wie die Vernachläſſigung der ſpätern Beethoven—
ſchen Periode, kann auch in Janſa's Programmen das con—
ſequente Ignoriren Franz Schubert's und Robert Schumann's
nicht genug bedauert werden.
Die Vorliebe für die älteren Meiſter darf nie ſo weit
gehen, daß ſie das Publicum von der Kenntniß deſſen ganz
ausſchließt, was ein neueres Kunſtbewußtſein in Kraft und
Liebe geſchaffen. Ehret immerhin in Haydn den Vater der
Kammermuſik, — aber die Söhne ſind auch nicht mißrathen.
Janſa's Quartettſoiréen. 7
Ber aller Verehrung für die »claſſiſche« Schule muß ftand-
haft darauf gedrungen werden, daß fie in periodiichen Pro-
grammen fo weit eingeichränft werde, als eine wirdige Re-
präjentation der »romantiichen« Schule es nothwendig madıt.
Wo Schubert nidt Pla fand, hat Ries fein Recht zu
eriftiren, eine vierhändige Sonate von Hummel tft uns jchlecht
willfommen, wenn ein Schumann’iches Trio dafür hätte
gejpielt werden fönnen, und verfennen heißt e3 den großen
Beethoven, wenn man ſtets nur den fleineren Beethoven zur
Aufführung zuläßt.
Janſa's Quartettabende waren von jeher in dem größten
theils frivolen Muſikleben Wiens ein ſicherer Hort wahrer,
würdiger Mufil. Die Namen der Internehmer boten dem
Bublicum eine Garantie, daß es da nur Gutes, und im guter
Weiſe hören werde. So wurden die Quartettabende bald ein
Sammelplag, und durch ihre jährliche Wiederkehr ein Bedürfniß
aller gebildeten Mufilfreunde Wiens. Nun übt jeder periodifch
wiederkehrende Cyclus gediegener Mufifen einen bedeutenden
Einfluß auf die mufikalifche Bildung der ganzen Stadt, er
bildet eine Affecuranz für die wahren Intereffen der Kunſt und
einen Damm gegen Berjeichtung und Verderbniß. Denn in der
Kunſt wie im Leben hat das Lebendige gute Beiſpiel eine
fäuternde Kraft, welche der Corruption durh das Tchlechte
entgegenwirft. Zu diefem wichtigen Einfluß waren nun Die
Janſa'ſchen Soiréen vorzugsweiſe berufen, demm indem. fie Die
gute Meinung des Publicums für fich Hatten, und von Jahr
zu Jahr in der allgemeinen Theilnahme und Achtung wuchlen,
waren fie bald nebit den »Philharmoniſchen Goncerten« das
accreditirtefte und beliebtejte muſikaliſche Inſtitut in Wien, An
ihnen iſt's, nicht nur die befannten Werfe älterer Meifter (in
jorgjamer Auswahl) zu wiederholen und vor Vernadhläffigung
zu retten, jondern auch das Publicum mit den beijeren Er:
zeugniffen der neueften Zeit befannt zu machen, vor Allem aber
durch unermüdliche ausgezeichnete Aufführungen jene Werfe zu
Verftändniß und Anerkennung zu bringen, welche, wahrhafte
Dffenbarungen des Genied, auf den Gipfeln der Kunſt
thronen. Sch nenne hier ausdrüdlih wieder Beethoven's
3 1848.
jpätere Kammermuſik, und mahne nebſtbei dringend an
Schubert, Shumann und Mendelsjohn. Janſa's Quar—
tette jollen nicht blos Gejfellichafter, fie follen Leiter und
Läuterer unſeres Publicums fein. Unſere Wege find ja fo
leicht zu vereinen. Nichts von dem guten Alten foll ausgerottet
werden, nır möge man das gute Neue daneben pflanzen. Das
Sprichwort: »Beſſer ift der Feind des Guten«, gilt nicht in
Kunft und Wiffenichaft, im Gegentheile wird hier, wenn wir
hartnädig bei dem verharren, wa wir als anerkannt über:
fommen, das Gute ein Feind des Befjeren.
Akademie zum Andenken des Kom:
poniften ©. 3. Züchs*) (F 6. Jänner 1848).
Es war ein liebenswürdiger Fehler der Kritik, aus Füchs'
GCompofitionen etwas Großes machen zu wollen. Füchs war
einer jener glücdlichen, jeltenen Menſchen, die von aller Welt
geliebt und geichägt werden. Auf Jedermann hatte des Ber:
jtorbenen edles, beicheidenes Weſen den gemwinnendften Eindruck
gemacht. Füchs’ VPerfönlichkeit war eine durchaus liebenswürdige,
darum nannten wir auch jene Nachficht der Kritik eine liebens—
wiürdige. Man erinnert ſich, welch’ begeifterte, fortgefegte Apo-
logien die Tagespreffe über die Oper » Gutenberg« anftimmte,
und wie der Beifall des Publicums damit in vollem Einklange
ſtand. Es iſt uns eine rührende Grinnerung, wie Jedermann
den Menſchen Füchs zu lieb Hatte, um nicht in das Lob des
Künftlers einzuſtimmen.
Füchs war ein angenehmes, höchit achtbares, aber ein
fleines Talent; eine jener weichen, anjchmiegenden Naturen, die
jih zu feiner fräftigen Selbitjtändigfeit aufraffen fönnen, fon:
dern zwiichen dem Beſſern der verjchiedenften Vorbilder Hin
und her ſchwanken. Diefer Gclecticismus zeigt fich gerade im
*) Carl Ferdinand Füchs, geb. 1811 in Wien, 7 1848, hat fich
durch zahlreiche Lieder, insbeſondere aber durch jeine romantische
Dper »&utenberge (Tert v. Otto Brechtler) befannt gemadt.
Joſef Neger. u
» Gutenberg«e am bhäufigiten, und wir hören jeden Augenblid
die Stimmen Reiſſiger's, Lindpaintner's, Meyerbeer's,
Marichners, Spohr's, Weber’. Nicht etwa, dab Füchs
fertige Bilder dieſer Meiſter entlehnte, aber er malt mit ihren
Farben. Mir kennen kaum eine Melodie, von der man fagen
fann, fie ſei Füchſiſch. Diefer Mangel an Berfönlichkeit iſt
da erite mejentlihe Bedenken gegen die Oper. Das zweite
trifft die Form, die nur in wenigen Nummern Kar und über:
fichtlih, in den meiſten hingegen Haltlos und zerbrödelt ift.
Das hübjcheite Motiv verdrängt der Componift oft durch ein
zweites und drittes, anſtatt es aus dem Bollen auszuführen;
die finnigiten Gedanken läßt er unfruchtbar vergehen und
dehnt hingegen die meiſten Stüde mit zu redfeliger Gefühls—
weichheit über Gebühr aus. Dieſe Gefühlsweichheit iſt auch
der Grund des vielen Vorhaltens und Modulirens und des
jeltenen Aufkommens eines ftraffen, kecken Rythmus. Erfahrungs:
ſache ilt e&, daß die Oper ermüdet, und den Hörer mit feinen
flaren Bild entläßt. Mit Freuden haben wir ftet3 den Fleiß
anerkannt, mit welchem Füchs fein Pfund benügt und gepflegt,
nur daß dies Pfund ein großes geweſen, wagen wir in Frage
zu Stellen. Seine Lieder find und dafür noch weit Tprechendere
Belege. Bei aller Innigfeit bewegen fie fih ohne alle Kraft
und Originalität auf breitgefahrener Straße, oder find etwas
ftarfe Nahahmungen Schubert’ichen Muſter.
Symphonie von dJoſef Neber.”)
Die »Concerts spirituelse, durch jenes ſpirituellſte Concert,
da3 Wien je aufgeführt (die Märzrevolution), eine Zeit lang
unterbrochen, wurden am 30. März 1848 fortgefegt. Zwei
Süße eine einer neuen Symphonie von Neger machten den
Anfang; gefällige, mwohlklingende, fleißig gearbeitete Mufit,
*) Joſef Netzer, geb. 1808 in Tirol, 7 1864 in Graß, war eine
Zeit lang neben Lorging Kapellmeiiter am Leipziger Stadttheater,
1845 am Theater an der Wien, wo feine Oper »Maras bedeutenden
Erfolg hatte.
10 1848,
leider nur zu jehr einer früheren Gefühle: und Schreibweije
anhängend. Es thut in der That weh, wenn man fieht, wie
begabte und ernititrebende Talente, junge Talente obendrein,
ih in eine Anſchauungsweiſe einjpinnen, Die bereit3 in ſich
befriedigt, aljo fi) ausgelebt hat. Dieje ruhige Behaglichkeit,
diefer bequeme Comfort in Freud und Leid, dieje Rojalien und
Sequenzen, diefe Mozartiihen. Schlüffe und Gadenzen gehören
einem Standpunkte an, welchem unsere Zeit fern ift und immer
ferner rüdt. Mit wahrer Freude hören wir Mozart’ihen Styl
nur mehr von Mozart jelbit, deifen Genie golden durch die
veraltetiten Formen jtrahlt, wie die Sonne durd Ruinen. Wer
fih aber Heute in dieje Ruinen längſtverlaſſener geichichtlicher
Anſchauungen rettet, der verzichtet im Vorhinein auf nachhaltige
Wirkung; er hat ein halbes Jahrhundert verjchlafen. Es wäre
ein arger Irrthum, von jedem Componijten eine abjolut neue
Richtung zu verlangen; dazu find nur wenige Männer des
Genies berufen, fie brechen einen neuen Weg durchs Didicht;
den nahfommenden Talenten iſt e8 vorbehalten, dieſen Weg
zu erweitern, ihn glatt und fahrbar zu machen. Wer jelbit nicht
die Kraft bejigt, bon eigenen Gnaden einen neuen Meilenstein
in das Gebiet der Kunftgefhichte zu pflanzen, der gehe immerhin
vom letzten großen Meilenjteine aus, aber niht vom vor:
legten. Nah Mozart durfte man noch Mozartiſch Tchreiben,
nach Beethoven darf man es nicht mehr; der Strom der
Zeit wirft jeden Leichnam aus. —
1849.
Sobann Strauß (F 25. September 1849).
Strauß’ Dahinſcheiden Hat im unſerer Tagespreſſe viele
Stimmen der Trauer wachgerufen, welche feine Volksthümlich—
feit priejen, Die weiten Grenzen feines Ruhmes maßen und ob
der Lücke Elagten, die er in dem gejelligen Leben Wiens zurück—
läßt. Möge nun, jo dem Gefühl des Schmerzes jein Recht
geihehen, ein Wort der Würdigung Plag finden, das, von
jeder andern al3 der künſtleriſchen Seite des Verſtorbenen
abſehend, den muſikaliſchen Standpunkt vertritt.
Strauß wirkte für das Wiener Muſikleben in doppelter
Eigenſchaft: als Componiſt und als Dirigent fremder Ton—
dichtungen. Als Componiſt hat er bekanntlich die Tanzmuſik
gepflegt, eine Gattung, auf welche Tonſetzer und Kritiker
gewöhnlich mit ſouveräner Verachtung herabſehen. Mit Unrecht.
Auch in der kleinen Form bewährt ſich das große Talent,
und dieſes, der göttliche Funke, iſt's, vor dem wir uns zuerſt
beugen. Der fimpelite Dorfichulfehrer, der einen contra=
punktiichen Curſus durchgemacht Hat, bringt es dahin, eine
Meſſe zu componiren, in welcher mehr ſogenannte Gelehriamteit
itedt, al3 in Strauß’ fümmtlichen Werfen zufammen, — aber
in alle Ewigkeit wird der jchöne Walzer mehr Werth haben,
als die ſchlechte Meſſe. ES kömmt eben hierbei, wie in aller
Thätigfeit, auf das Wie an, und wenn die Catalani von der
Sonntag äußerte: »Elle est grande dans son genre, mais son
genre est petit«, jo tit dies noch immer ein erfreuliches Lob
gegen die Umkehrung des Satzes.
12 1849.
Bom rein fünftleriihen Standpunkt ericheint die Tanzmuſik
jedenfall$ untergeordneten Ranges, indem fie, blos unterjtügende
und beigejellte Stunt, zunächſt einem fremden Zwecke dient,
nämlih den Tanzſchritt mit Takt und Rythmus zu begleiten.
Wenn die Tanzmufif nicht höher hinaus will, fo leiſten Caſtag—
netten denſelben Dienſt. Der Werth jeder Kunftgattung fteigt
oder fällt jedoch mit den Anforderungen, die man ihr ftellt.
Unfere Anforderung an die Tanzmufif geht dahin, daß nicht
blos das Stampfen der Tänzer im Takt erhalte, fondern deren
Seelenleben verjtehe, ihre Stimmung und Leidenjchaft inter:
pretire, fteigere, veredle. Der unterfte Grad der Tanzmufif hat
nur mit den Füßen zu thun, auf höherer Stufe fpricht fie zur
Phantaſie, zum Gefühl, zum Geift. Um diefe höhere Stufe zu be:
baupten, wird freilich nöthig fein, daß fich der Componiſt von einer
blos gymnaſtiſchen Anfchauung des Tanzes zu deſſen geielliger
und idealer Bedeutung erhebe. In unferer gebildeten Gejellichaft
iit der Tanz von feiner urfprünglichen Bedeutung längſt zu
einer höheren gediehen. Wollte man in demjelben nur körper—
lihe Hebung jehen, jo würde man ihn in Turnfchulen pflegen.
Unfere heutigen Tanzunterhaltungen, jo oft fie auch zur Gar:
ricatur herabfinfen, jind und bleiben die Aſyle zärtliher Be—
dürfniſſe und Beftrebungen. Wenn die Herzen unferer Jugend
ihon Schwielen tragen von den Feſſeln eilfmonatlicher Civiliſation,
jo fommt im 12. Monat der Garneval und nimmt den Ge—
fangenen die Eiſen ab und erlaubt ihnen, fich einige Stunden
lang im duftigen Garten zu ergehen. Fremd und zagend jtehen
fie erit da, nicht wagend, an das Stündchen Freiheit zu glauben;
da erklingt der erite Walzer und löſt den Bann, — ed iſt die
Marjeillaife der Herzen! Die Mufif nun, wie fie die äußere
Bewegung der Tanzenden aneifert, begleitet auch ununterbrochen
all das innere Leben, das fich ftill und heimlich in ihnen zu—
trägt. Gelingt es einer Tanzmelodie, einen Moment: diejes
innern Lebens mit jener Göttermadht zu erfalfen, deren die
Tonkunſt fähig ift, und fingt fie es laut und raujchend aus,
was inmitten des Feſtes Still geblieben, — dann hat fie
eine Schöne Miffton erfüllt und kann tief, unvergeßlich in
das Herz eines Menſchen hineinwachſen. Sp wie ein Mari,
Schann Strauß. 13
ein Gelegenheitslied oder andere aus äußeren Beziehungen
herporgetretene Kunſtformen Gewalt erlangen fünnen über ein
ganzes Volk, wenn fie das Geiftige diejer außeren Beziehung
ftarf und wahr wiedergeben, jo kann in fleinern Streifen ein
Tanzſtück mit einer piychiichen Gewalt wirfen, die weit über
jeinem blos mufifaliichen Inhalt Tiegt. Es bedeutet eine Muſik
nicht lediglicd; das, was fie ift, jondern oft auch das Höhere,
wozu fie iſt.
Diefe Abſchweifung war nothwendig, um Strauß’ Leiftungen
zu würdigen. Er hatte — bewußt oder unbewußt — jede Saite
der Gefühlsmwelt in jeiner Macht, welche im Tanz Ausdrud
oder Unterftügung findet. Welch’ triumphirende Siegesgemißheit
im eriten der »SHelenenwalzer«, welche jchwärmerifche Innigfeit
in Nr. 2 der »Metherträume«, welch jovialer Frohmuth in
den »Sorgenbredern«, in den »Feldblümeln«, und in den
»Schwalben«e weldhe Grazie! Dies find nur einige Beifpiele
aus Strauß’ legten Productionen; feine früheren Tänze, Die
theilweife noch Friſcheres enthalten, liegen mir zu fern im der
Erinnerung.
Wir betrachteten bisher noch immer die Strauß'ſche Tanz-
mufit nur injofern fie dem Tanze und deſſen Interefjen dient;
wäre nichts weiter daran zu loben, jo träfe Straußens Verluft
lediglich die Tanzwelt, zu deren Anwalt ich mic faum berufen
gefühlt hätte. Für den Muſiker fonnte Strauß nur dann Be:
deutung haben, wenn feine Tänze, abgelöft von ihrem Zwecke,
alfo außerhalb des Ballfaales, noch Gehalt genug bejaßen, um
mufifalifch zu intereffiren. Daß dies in nicht geringem Grade
der Fall, wird fein Unbefangener läugnen. Strauß erwies jid)
in der Ausarbeitung jeiner Mufikftüde als ein feiner, künſt—
feriiher Geilt, dem alles Rohe und Dilettantenhafte fern lag.
Obwohl reiner Naturalijt und feinem eigenen Geſtändniß nad
außer Stande, jih über frappante Einzelheiten feiner Werke
Rechenschaft zu geben, verfehlte er doch nie, im Rythmus,
Periodenbau, vorzüglihd in der Harmonifirung und In—
itrumentation eine Fülle von Zügen niederzulegen, welche das
bedähtige Ohr des Muſikers genoß, während der Tänzer
in ſüßem Melodienrauſch ſchwelgte. Es Tießen fich zahlloſe
14 1849.
Notenbeijpiele anführen, für welche hier freilich nicht der
Platz ift.
Nur an eine Eigenschaft der Strauß’schen Themen jet hier
erinnert, an deren oft frappante Selbititändigfeit und Ver:
wendbarfeit zu mweiterer Durchführung. Schwache, aber meiit
glüdlihe Anfänge zu wirklicher Durchführung finden wir hie
und da, fo weit fie der drüdend enge Rahmen des Walzer
zuläßt. Eine Ahnung jener höheren Ausbildung der Walzerform,
wie fie uns vorſchwebt, liegt in dem erften Walzer der » Herz:
töne«, welcher die gewöhnliche Taftzahl weit überfchreitend vom
Anfange bis zum Ende nur aus der Verarbeitung Eines Motivs
befteht. Die gegenwärtige Form der-Walzermufif birgt ein
großes Hemmniß für deren fünftleriihe Entwicklung und für
jeden Gomponiften, der ihr eine beſſere Mitgift von Talent
oder Kenntniß zubringt. Die enge, feitgeichloffene Form des
Walzers läßt auch die kleinſte Entwidlung einer Melodie nicht
zu; diefe ift, fo wie fie zu Ende gekommen, auch jpurlo ab:
gethan, um einer zweiten, dritten u. ſ. f. Plag zu machen, bis
alle fünf Walzer wie eine unzujammenhängende Bilderreihe in
einem Guckkaſten abgerollt find. Zu Einem Tanz find (außer
Introduction und Finale) fünf Walzer, aljo wenigſtens fünf
neue Themen, nothwendig, meift jedoh noch einmal fo viel,
da gewöhnlich zum zweiten Theil jedes Walzers wieder ein
neues Motiv verwendet wird. ES ift dies eine unkünſtleriſche
Verichwendung, welche die begabtefte Productionsfraft bald
erihöpfen muß.
Dieſer Miplichkeit fucht die Praxis durch eine andere zu
entgehen, indem fie in einem Walzerheft höchftens 2 bis 3
wirklich originelle Melodien bringt, das Uebrige hingegen wie
zur Ausfüllung »mit wenig Geift und viel Behagen« dazu
fertigt. Das Ueberwiegen folder 2 oder 3 Themen, die Wieder:
holung der mwichtigiten Motive in der Coda und die Intro—
duction, das find Elemente zu einer Vervollkommnung der gegen
wärtigen Walzerform, die in dieſer ſelbſt Yiegen, Wir meinen
nämlich fo: der Walzertanz (zum Iinterfchiede vom einzelnen
Walzer) follte nicht aus fünf jelbititändigen, zufammenhanglos
aneinander gereibten Stücken beſtehen, derem jedes ein oder zwei
Johann Strauß. 15
neue Motive verichlingt, ſondern er hätte Ein abgeichlofjenes zuſam—
menhängendes Ganzezu bilden. Dazu würden ein oder zwei Haupt:
themen hinreichen, denen (innerhalb der Grenzen der Tanzbarfeit)
die freiefte mufifaliihe Entwicklung gegönnt und geboten wäre.
Die geeignetfte Form würde fich bald herauöftellen, allenfalls
die erweiterte Rondoform, oder die zweitheilige mit Mieder-
holung beider Theile und Coda, — doch dürfte fie nicht aus—
Ichließlich gelten, da eine reihe Mannigfaltigkeit von Formen
für den Walzer anwendbar ift.
Die üblihe nummernweife Behandlung hat überdies mit
der Natur des Walzerd, der in der beliebig langen Fortfegung
ein und derielben Bewegung bejteht, gar nichts zu ſchaffen;
nur die franzöfiide Duadrille und ihre Abarten erfordern eine
beitimmte Zahl genau abgemefjener Tonftüde.
Nur durch dieje einheitliche Form könnte der Componiit
dem doppelten Uebel entgehen, ein halb Dutzend neue Motive
erfinden, um fie dann nutzlos vergeuden zu müſſen; nur Durch
fie könnte der Walzer als Muſikſtück fi zu künſtleriſchem
Werth und Inhalt entwickeln und ausgeprägten Charafter er:
halten, während die gegenwärtigen Walzerpartien ald Ganzes
es faum zu einer Phyfiognomie bringen. Daß nun Strauß eine
folhe Erweiterung und Vervollkommnung der Malzerform nicht
unternahm, tft zu bedauern, da er gewiß dazu das meilte Talent
und Geſchick beſaß.
War der Walzer Strauß' eigenſtes Gebiet, ſo hat er doch
auch in anderen leichten Gattungen Hübſches geſchaffen, namentlich
in die ſteife Form der Duadrille mehr Farbe und Leben zu
bringen gewußt, als fie in ihrem Heimatland Frankreich je
erreichte. Seinen Märſchen fehlt der männliche, kriegeriſche
Charakter, fie find, bei glänzender Weußerlichkeit, meiſtens
hüpfend und leichtfertig; — de3 ungemein intereflanten Motivs
des »Freiheitsmarſches möge hier ausdrücklich gedacht fein.
Seine legten Walzer, die Strauß ohne eine Ahnung feines
Todes bei volllommener Gefundheit fchrieb, hat er ſeltſamer
Meile »des Wanderers Lebewohl« betitelt.
Zum Schluß noch einige Worte über Strauß als Muſik—
director. Er hat als folder das Verdienſt, gute Muſik unter
16 1849.
das große Publicum gebracht zu haben. Es gab feine Strauß’iche
Production, wo nicht Werfe von Beethoven, Mozart, Mendels—
john, Spohr, Weber u. A. auf dem Programm verzeichnet und
mit großer Präcifion ausgeführt wurden. Inter den öffentlichen
Snitituten, die biß zum Jahre 1849 regelmäßig Inftrumental-
muſik zur Aufführung bradten, muß man nad den »Phil—
harmoniſchen Eoncerten« gerechterweije das Strauß’sche Orcheſter
nennen; in feinen bejcheidenen Gartenproductionen fonnte man
viel beifere Aufführungen guter Inftrumentalwerfe hören, als
in manchen Fajtenconcerten mit hochtönenden Namen.
Das mufitaliiche Wien hat in legterer Zeit harte Schläge
erlitten: binnen Kurzem verlor e8 in Nicolai jeinen talent-
volliten Dirigenten, in Dr. Becher jeinen geiftreichiten Kritiker,
und num — ift ihm auch Sein beiter Componiſt Johann
Strauß geſtorben.
Beethoven's „Ebriffus am ©elberg“.
In diefen »Chriftus« hat uns Beethoven fein »Vorbild«
gelaifen, er it vielmehr das einzige lange Werk des Meiſters,
das nicht zugleich ein großes ift.
Das Kirchliche ftand Beethovens innerjtem Wejen fer,
ihm war die Kirche fein Bedürfniß. Er bejaß ein religiöjes
Gemüth, aber jeine Anjchauung und Darftellung des Religiöfen
war eine durchaus andere, als alle großen Kirch encomponijten
hatten und haben mußten. Das Göttliche erwuchs bei Beethoven
nur aus dem Boden des Menfchlichen; er erkannte es in der
ftolzen Erhebung des Geiftes über die Materie. Er läßt über
die menſchliche Perfönlichkeit daS Ungewitter aller äußeren und
inneren MWiderwärtigfeiten des Lebens hereinbrechen; heiß iſt
der Kampf, doch das Göttliche im Menfchen kämpft fich fiegreich
durch und fteigt endlich als ein Phönix empor aus der Aiche
der Leidenschaften. Die beiden Symphonien in C-moll und
D-moll zeigen uns dieſen Proceß am deutlihften und ſchönſten;
da3 triumphirende Finale der eriteren, das verflärte Adagio
der letteren find die erhabenjten Denkmale von Beethoven’3
Beethoven’? »Chriftus am Delberge. 17
echter Religiofität, d. h. ſeines Glauben? an einen übermwelt-
ihen Urgeift und des Gefühld feines Zufammenhangs mit
demjelben. Im Leben glaubte er an Gott und liebte ihn mit
der ganzen Kraft feines großen, einjamen Herzens, doch fannte
er nur eine unmittelbare Erhebung zn ihm, und feine von all’
den Perſonen der Krijtlichen Miythologie ftand dazwiſchen. Sn
der Kunſt kam Beethoven’3 religiöſes Gefühl zur Anſchauung,
indem er dad Göttlihe im Menſchen fih entwideln ließ; da
wo es außer dem Menichen ftehend gezeigt wird, blieb es
ihm fremd und fern. So fommt ed, daß fein zweiter Componift
einen ſolchen Schatz fubjectiver Religion in jeinen Werfen
niedergelegt, und zugleih jo wenig für deren objective Ber:
berrlihung geleiltet hat. Er gleicht auch hierin Shakeſpeare.
Ferner iſt Hinlänglich bekannt, daB Beethoven's ſchrankenlos
ausgreifende Phantaſie nur im freien Inſtrumentalſpiel einen
genügenden Spielraum fand, jeder zu componirende Text ihm
aber in Form und Inhalt zur Feſſel ward. Daß ſeine Flügel
ſtark genug waren, mit dieſen Feſſeln ſich aufzuſchwingen, be—
weiſen ſeine D-Meſſe, ſein Fidelio und der Chor in der Neunten.
Wo Beethoven von ſeinem Stoff begeiſtert war, da ließ er ſich
von den Textworten und den Forderungen des guten Geſangs
nicht mehr zwingen, er zwang ſie, und die Kühnheit ſeines
Aufbaues machte dann vergeſſen, was dieſer an Schönheit ein—
büßte. Es gab dann bedenkliche Stellen, aber gewiß ein groß—
artiges Ganze. Ein Miniatur-Oratorium nun, das in dürftigſter
Auffaſſung die Epiſode Chriſti auf dem Oelberg behandelte,
konnte Beethoven nicht mit Liebe und Begeiſterung erfaſſen.
Es verließ ihn der freudige Muth, den Stoff blos als ebnen
Plan für ein gewaltiges Bauwerk zu benützen, und anftatt die
ihm kleinlich dünkende Aufgabe über fie ſelbſt hinaus in höhere
Regionen zu tragen, ergab er fi ihr in gelafjener Selbit-
beichränfung.
Was im Allgemeinen über Beethoven's Abneigung gegen
das Kirchliche und feine Stärfe in der Darftellung des Menich-
Iihen gejagt wurde, beftätigt ſich auch innerhalb des vor—
liegenden Oratorium? jelbit. Da nämlid, wo Beethoven, ab»
geihnitten von menſchlichem Thun und Fühlen, nur DE
Hanslick. Aus dem Eoncertfaal. 2. Aufl.
18 1849.
Geſtalten der Bibel fingen laflen foll, bleibt er ſchwach und
madtlos, erit als fein Fuß wieder die Erde berührt, durch—
ftrömt ihn, wie jenen Riefen des Alterthums, die Kraft des
Lebens. Es fcheiden fich zwei Gruppen in dem Oratorium: die
göttliche (Chriftuß und die Engel), und die menfchliche (die
Krieger und Jünger). Für eritere fand Beethoven in feinem
Innern feine entiprechenden Töne; ihr Gejang ift unoratorijc),
weihelos, opernmäßig; nmamentlih hören wir in dem Part
Chriſti durchaus feinen Heiland, fondern einen Bühnentenor
aus der eriten Mozart’fchen Periode. Man betrachte den Ban
der Arien, die Verzierungen, die Sat» und Periodenſchlüſſe und
endlih die Schluß-Gadenzen! Nur jchöne Einzelheiten rein
muſikaliſchen Intereſſes, namentlih in der Inftrumentirung
und Figuration, beſchwichtigen ein wenig die Verehrer
Beethovens. Außer Chriftus und dem Engel kommt von
Solofängern nur noh Petrus vor, mehr um als Noth—
helfer die Gompofition eines Terzetts möglih zu machen,
welches in jeinem zweiten Motiv (mit dem Terzengang) das
Maß der Unbeiligfeit vol macht. Aber wie wohl wird uns
allen, wenn nad) dem blutlofen Gejang der Seraphims ein
iharfmarfirter Rythmus der Bälle uns das Nahen einer ent:
fernten Menge anfündigt! fie dringt immer näher und näher,
ja, e8 find Menſchen! — und mit ihnen ift auch wieder der
alte Beethoven da. Mit den Hereinftürzen der Krieger, Die
mit troßgigem Ungeſtüm Chriftum zum Gefangenen machen,
während die Singer nur leije für ihn zu flehen wagen, ftehen
wir auf rein dramatiſchen Boden und vor einer der fräftigiten,
charakteriftiich wirffamften Compofitionen Beethoven's. Die
Chöre der Srieger und die würdevolle Inftrumental-Einleitung
find die Theile, an denen der Ehriftus am Delberg nicht fterblich
it. Sie follten in Goncertaufführungen jo oft als möglich zu
Gehör gebracht werden; das Ganze wird man als Oratorium
faum zum Ruhm feines unfterblihen Schöpfer auf dem Re—
pertoire erhalten.
Deethoven hat in fpäteren Jahren feine Compofition
des »Chriſtus« jelbit für einen Mißgriff erflärt, es ift daher
feine Impietät, dad Publicum aufzufordern, e8 möge über ein
Wilhelmine Neruda. 19
Werk nicht weniger im Klaren fein, als defien eigener Schöpfer.
Im Gegentheil fann man Verehrung für einen großen Meifter
nicht mwahrhafter darthun, ala wenn man im Urtheil feine
ſchwächern Werke forgiam von den vollendeten trennt. Es
reiht zur Bewunderung nicht hin, daß ein Werk von Beet:
hoven ſei, — es muß auch Beethoveniſch fein.
Wilhelmine Meruda.
Niemand kann Teugnen, daß die kleine Wilhelmine Neruda
im Vortrag, in der Bravour, im mufifalifchen Verftändniß,
endlih in der wunderbaren Sicherheit ihres Auftretens eine
außerordentliche Erjcheinung ift. »Wenn wir uns als Erwachjene
in demfelben Maße fortbilden würden, wie in der Sindheite,
ſagt Goethe, »Jo müßten wir lauter Genies werden.« Die tiefe
Mahrheit dieſes Satzes verbietet jede allzu fühne Prophezeiung
für die künſtleriſche Zukunft der Kleinen; doch wenn wir felbft
für unfere geiftige Entwidlung in den veiferen Jahren nur
einen arithmetiiden Fortfchritt annehmen, während in der
Kindheit diefelbe in geometriicher Progreſſion wächſt, jo würde
dies außreihen, um Wilhelmine Neruda einjt unter die be—
deutenditen Wirtuofen ihres Inftrumentes zu reihen. Sie ſpielte
eine fchaale Virtuoſen-Phantaſie von Mlard, die Primftimme
in einem ebenfo jchaalen Trio von Zäch, endli den »Carneval
von Venedige. Da mir der Componiſt des legteren Stüdes,
Ernſt, vor einigen Jahren verficherte, der »Garneval« ſei ihn
felbft Schon unleidlih, fo wird man mir es wohl erlauben,
dasſelbe zur befennen. Man follte derlei, ich möchte Jagen höchſt
perjönlihe Kunftftüde nicht nachmadhen, die der Geilt des
Schöpfers beleben muß. Die fleine Neruda jpielte das Stüd
gewiß ſehr löblich, allein nicht die Bravour der einzelnen
Variationen ift es, die an dem »Garneval« wahrhaft ergößt,
fondern der entfeffelte Strom von Laune, mit dem Ernſt ihn
faft jedesmal neun impropifirte. Wenn man die Heine Neruda
eine für ihr Alter ungewöhnliche Erſcheinung nennt, jo heißt
dies wohl fein feines Lob; fie als eine vollendete Birtuofin
9%
20 1849.
hinzuftellen, iſt eine ihr ſelbſt nachtheilige Webertreibung. Kraft:
loſigkeit des Bogens, zeitweilige Unreinheit der Intonation,
Lüdenhaftigfeit der Bravour find Mängel, die aus ihrem zarten
Alter rejultiren. Wirklich bedeutungsvoll und wichtiger als ihre
Bravour ift jedoch die Innigfeit, mit welcher Wilhelmine lang:
jame Gantilenen vorträgt. Aus ihrem Vortrag ſpricht Seele
und nicht Dreffur, und hierin liegt die echtefte Garantie für
ihren wirklich muſikaliſchen Beruf.
1850.
Volkslieder aus ©efterreich.
In zwei Heften, welche wir der Muſik- und Vaterlands—
liebe des Baron Edmund Herbert verdanken, begrüßt uns
die erſte und einzige Sammlung der deutſchen Volkslieder in
Kärnthen.
Längſt iſt erklärt und anerkannt, wie der Charakter jedes
Volkes fi in feinen Melodien fpiegelt, und Diefe zu einer
tieferen Kenntniß desfelben unentbehrlich find; für uns haben
Volkslieder außerdem noch den Hohen äfthetiihen Werth, die
legten Refte naiver Kunſt zu fein, die »Kunſt vor der Kunſt«,
wie ein neuerer Autor finnreich umjchreibt. Wie bedenklich für
den Politiker die große Mannigfalt der Nationen ift, welche
Deiterreich vereinigt, fo unſchätzbar erfcheint fie dem Xefthetifer.
Welcher Reihthum an Lebensformen, in denen die Phantafie
diefer Völker ſich ausgeprägt hat, welche Fülle an Charakteriſtik
in ihren Trachten, Gebräuchen, Bauten, Gedichten und vor
Allem in ihren Nationalmelodien! Die mufifaliihe Grundmadt,
die Oeſterreich allein in feinen Volksliedern befitt, jtempelt es
zum eriten Mufikftaat der Welt.
Dbenan ftehen die Italiener. Sie fingen zu jeder Zeit,
an jedem Ort, fie leben im Gejang, zu welchem fie von der
Natur ſelbſt auserleſen ſcheinen, indem dieje ihnen die beiten
Fehlen verlieh. Die welichen Lieder jtrömen lauter Ebenmaß
und MWohlklang, fie find im vorzugäweifen Sinn des Wortes
muſikaliſch. Weit entfernt, fih auf Cine beſtimmte Takt:
gattung, Einen gleihen Rythmus, auf Dur oder Moll zu be—
ihränfen, wie die ungarifchen, kärnthiſchen u. A., verwenden fie
22 1850.
mit merfwürdiger Freiheit die muſikaliſchen Ausdrufsmittel.
Der complicirte Sechsachtel- und Neunachtel-Takt, den viele
Nationen gar nicht kennen, erjcheint neben den übrigen Taktarten
äußerſt häufig, die Taftzahl der Perioden jo wie die Modula-
tion iſt mannigfad, ein Wechſel im Rythmus tritt meift am
Schluß des Liedes rechtzeitig ein, wo die Bewegung anfinge,
monoton zu werden, dad Ganze fließt ohne Eden ar und
durhfichtig wie Del, daß der größte Meifter nichts zu ver:
ändern hätte. Selbit für fein Trällern wählt\der Staliener die
melodiihen Silben »olilali lalö« und ähnlich, während der
Deutihe »dideldum drum dum« fingt. Gegen die jlavifchen
oder magyariſchen Gefänge ftehen die welichen an charafteri-
ftiiher Eigenthümlichfeit zurüd, übertreffen fie aber an rein
formaler Schönheit. Es ift als rollte ein Mozart'ſcher Bluts—
tropfen in jedem Volkslied Staliend. Der Grundzug der ita=
lieniſchen Nationallieder ift Fröhliche Aufregung, ſchwermüthiger
Leichtjinn, warme beredte Zärtlichkeit; ihr Temperament ijt das
janguinijche.
Wie die Italiener von Natur zum Gejang, jo jcheinen die
Böhmen für Inftrumentalmufif berufen zu jein. Es gibt fein
Land, wo die liebevolle Ausübung der Muſik jo ſehr in die
Maſſe gedrungen wäre, al3 in Böhmen; das ganze Volk ift
Ein Mufifer. Auch den Gejang hegt der Böhme, trog dem
Staliener; er fingt viel, nur in der ftilleren, gefammelten Weije
diefer Nation, ſchon mehr dem Gefang als dem Singen zu
fieb. Bei den jchweriten Arbeiten kann man in Böhmen die
Mägde, Knechte, Gejellen fingen hören und das richtige Gehör
bewundern, mit welchem die tieferen Stimmen ſecundiren. Die
Erben’ihe Sammlung gibt einen beiläufigen Begriff von dem
Reichthum an böhmifchen Volfsliedern; ſchade, daß man ed ver:
ihmähte, fie durch Unterlegen deutfcher Ueberfegung einem
größeren Bublicum zugänglich zu machen.
Die Czechen ftehen in mufifalifcher Hinficht den übrigen
Slaven Oeſterreichs weit voran, namentlich fingen die Jüdlichen
Stämme weniger. Die Mährer theilen die Volkslieder Böhmen,
wenigitend deren Charakter, die Polen befigen ein eigenthünt-
fiches Element in dem Mazur. Die Südjlapen find ein mehr
Volkslieder aus Oeſterreich. 3
dichtendes als muficirendes Bolk In Krain hört man wenig
Geſang, außer einigen monotonen ſlaviſchen Liedern viele be=
fannte »Steyrer«, denen jloveniiche Worte unterlegt find. Es
mag etwad Richtiges zu Grunde liegen, wenn Jemand be—
hauptete, »die Südſlaven haben jchöne Volksdichtungen, aber
jie fingen fie nihte. Die Melodien, welche die Serben zur
Gusla fingen, dürften mufitaliih von geringer Bedeutung fein,
indem fie, vorherrichend recitativifch, beitimmt find, die epiichen
Erzählungen, nah Art der altgriehifchen Rhapſoden, zu be:
gleiten und rythmiſch zu heben. Eine Aufichreibung der ſüd—
ſlaviſchen Melodien wäre jedoch von größtem Intereſſe, namentlich
feit durh Vuk Stephanopih und die llebertragungen von
Anaftafiı3 Grün, Kapper, Franfl u. U. den poetiſchen
Schäten diefer Nation die allgemeine Theilnahme und Be—
mwunderung gefolgt ilt.
Der mufifaliihe Charakter der flavifchen Wolflieder ift,
troß der bedeutenden Mannigfaltigkeit in den böhmischen, ein
typiich ausgeprägter. Die Molltonart, der zweitheilige Takt,
das langjamere Tempo walten vor, die höchſt eigenthümlichen
rythmiſchen Geftaltungen find befannt. Im Ausdruck find fie
ernſt, ſchwermüthig, weich, ſelbſt in der Luftigfeit (wo fich der
Slave, den Dreivierteltaft verſchmähend, meist fchnell in den
Dreiachteltakt ftürzt) nicht frei von jener Gedrüdtheit, welche
auf hiſtoriſchen Schmerz deutet. Die dunkle, nach Innen gefehrte
Leidenjchaftlichkeit der ſlaviſchen Melodien vindicirt fie dem
melandholifhen Temperament.
Zu den merfwürdigiten Volföliedern gehören die ungaris
ihen. So eigen und von allen übrigen Nationen gejondert
dies Volk räthjelhaften Urſprungs ift, jo gefennzeichnet find
auch jeine Melodien. In ihrer Zweitheiligfeit, ihrem Perioden:
bau von immer 4 zu 4 Takten, ihrem ftraff marfirten, meift
Viertel mit Sechzehnteln abmwechjelnden Rythmus find fie
augenblidlih fennbar. Ihre Seele ift glühend mit Aus—
dauer, leidenſchaftlich mit Bewußtheit, ſinnlich, kraftvoll,
todesverachtend, in Allem aber feſt und männlich, mögen nun
die Sporen klirren oder die Kette. Die Magyharenlieder find
choleriſch.
24 1850.
Wenn wir die Volksgeſänge der öfterreihiihen Monarchie
in großen Gruppen einander gegenüberftellen, jo müſſen wir
die Alpenländer Oberdfterreih mit Salzburg, Steier:
mark, Tirol und Kärnthen unter eine zufammenfaflen. Die
Natur kennt nun einmal feine Eintheilung in Sronländer oder
Herzogthümer, und was in verwandten Naturgrund wurzelt,
das bleibt fich ewiglich verwandt in allen Lebensäußerungen.
Sp wie die förperlihe Organijation, die Umgebung, die Sitte,
die Gejchichte der dfterreichiichen Alpenbewohner im Großen
und Ganzen diejelbe ift, jo muß auch ihr geijtiges Abbild, das
Volkslied, gleichen Grundtypus tragen. Gar viele Melodien
geriethen von dem einen Alpenland ins andere und wurden
da heimisch, weil fie Heimifchen Grund fanden; nicht wenige
vielleicht erblühten von ſelbſt, fowohl in dem einen als dem
andern Nachbarland, wie die Alpenrofe auf gleichem Boden
hier und drüben wächſt, ohne daß Jemand fie eigens ver-
pflanzt hätte.
Sp behebt ſich füglich der oft erhobene Streit, ob dieſes
oder jenes Volkslied fteiriich ſei oder kärnthiſch. Selbſt der
meilt unmögliche hiltoriiche Nachweis, die ftreitige Melodie jei
färnthiich, hätte jehr precären Werth, denn fie ift es nicht mit
Nothwendigkeit, fie könnte eben fo gut fteiriich fein. Gewiß
aber wird fie Niemand für ſlaviſch oder ungarijch halten, und
dies iſt die ficherfte, praftiihe Probe unferer Eintheilung.
Innerhalb der gemeinfamen Familienähnlichkeit fehlt es freilich
nicht an feinen bezeichneten Unterfchieden, welche ein durch
längeren Aufenthalt geübtes Ohr den Liedern der verjchiedenen
Gaue abgemwinnt. Tirol fondert fih von den öſtlichen Alpen-
gruppen nod am Tchärfiten ab. Wie feine Bewohner die fühniten,
jeine Berge die höchſten und jchroffiten find, jo charakteriſiren
fih jeine Lieder durch das kühne Aufſchwingen nach der Sert
und Octave, das plögliche Abbrechen der Periode, daS kurze
Sodeln mitten in der Strophe.
Ein Hoher Standpunkt mufifaliiher Begabung läßt ſich
den öſterreichiſchen Alpenbewohnern nicht einräumen, ihre Lieder
hängen viel zu feit mit dem Naturgrunde zufammen, auf dem
fie entitanden, Die weiten Sprünge ihrer Intonation, das Aus—
Volkslieder aus Deiterreich. 25
halten der Töne, der Sodler find Erjcheinungen, welche die
Natur der Berge erichaffen Hat. Wie die Sennerinnen oder
Gemsjäger von den benachbarten Höhen einander zurufen oder
vereinzelt das Echo loden, wir finden es auf der Stufe künſt—
leriſcher Geftaltung in ihren Liedern wieder. Dem Alpenländler
it im Singen nit die Muſik Hauptfache, wie dem Staliener
oder Böhmen, fondern der Hall, der Klang, das Elemen—
tarifche des Tones. Deutlich zeigt dies der Jodler, deutlich
der übliche Vortrag, welcher mitten im Sat lange Storonen
aushält, um den Hal zu loden. Es begreift fih, daß das
mufifalifche Feld, auf welchem die Erfindung der Alpenlieder
ſich bewegt, ein bejchränftes ift, und fie alle einander ähneln.
Am auffallendften ift die ausschließliche Anwendung des Drei-
bierteltaftes. In der Herbert’shen Sammlung, welche 50 Lieder
enthält — eben fo, wenn wir nicht irren, in der Baumann
ihen und Spaun’ihen — fommt fein anderer ald der Drei:
vierteltaft vor; auch ift uns außer dem Furzen Dreiachteltakt,
der einigen fteierifchen Liedern als oda angehängt wird,
feine Ausnahme bekannt. Ihre rythmiſche Gliederung bindet
immer zwei zu zwei Taften, die Tonart fteht in Dur, modulirt
wird gar nicht, der Rythmus bleibt durch das ganze Lied
unverändert, dad Tempo meift langſam, behäbig, etwa ſich
zum Allegretto befchleunigend. In dieſem engen Gebiet aber
haben die Alpenbewohner Lieder, die zu dem Frifcheiten und
Herzlichiten gehören, was die Volfamufif aller Länder aufzu=
weiſen Hat, namentlich find einzelne Naturlaute von einer
Urfprünglichkeit darin, daß fie wie Gebirgsfriiche und Waldes-
duft auf den Hörer eindringen, und man aufjaudzen möchte
vor Bergesluft. So das häufige freie Anfchlagen der None
und Undezime. |
Die Dichtungsart der öfterreichifchen Aelpler ift durchaus
da3 »Gitanzle, das, vielfach umgestaltet und impropifirt, einen
abgefchloffenen, oft wahrhaft poetiichen Gedanken in vier
Zeilen ausſpricht. Dieſe gelungenen Vierzeilen find unfern
Alpenbewohnern eigenthümlich und der Kern ihrer Volkspoeſie,
deßhalb ſchon von ungleich höherer Bedeutung, als die analogen
»Dana« der Ungarn und »Vize« der Slovenen. Der Tert tft
26 1850.
hierbei das MWefentlichere vor der Mufit, welche oft nur die
nothwendige Grundlage abgibt, auf welcher Dugende von neuen
„Gſtanzeln« impropifirt werden. Mit den Melodien wird
ziemlich ungenirt verfahren, bald wird die Muſik von einem
Lied zu dem Tert eines andern gefungen, bald der umgekehrte
Tauſch vorgenommen. Da den öſterreichiſchen Alpenbewohnern
die Poeſie nur zu unmittelbaren Ausfprade ihrer Gemüths-
ftimmung dient, fo verändern und erneuern fih ihre Volks—
geſänge immerfort, während die Lieder der Slaven fih Jahr:
hunderte lang fortpflanzen. Der Slave verfenft fih in die Ver-
gangenheit, den Alpenbewohner kümmert nur die Gegenwart,
darum hat diefer auch feine Spur von Ballade oder Epos,
welche den Reichthum der ſlaviſchen Volkspoeſie ausmachen.
Einige »Gftanzin« von Napoleon und Kaiſer Franz, deren ſich
hie und da noch ein Alter erinnert, find die einzige und am
weiteiten zurücreihende Geſchichtspoeſie in den Alpen.
Die öfterreihiichen Alpenmelodien athmen durchaus den
Ausdrud gemüthliher, maßvoller Fröhlichkeit, ruhigen Be—
hagens, mehr des Lebens als der Lebendigkeit, mehr der
Kräftigkeit al$ der Kraft. Alles Tieffinnige oder Leidenschaft:
lihe liegt ihnen weit ab, fie verkünden die zufriedene, nur
jelten leicht getrübte Stimmung eines Naturvolfes, welches in
reiner Lyrik dem Heute lebt. Wenn wir die Analogie mit
den Temperamenten fortjegten, welche fich in den vier Haupt:
gruppen der öfterreichiichen Wolfslieder mit überraichender
Wahrheit wiederfinden, jo füllt den Alpengefängen das phleg—
matiſche zu.
Wenden wir uns nach dieſen allgemeinen Betrachtungen
ganz zu unſeren kärnthiſchen Liedern. Das eigentliche
Volk ſingt wenig in Kärnthen. Mag nun der geiſtigere Muſik—
ſinn oder die phyſiologiſchen Bedingungen des Gehörs und der
Stimme hier weniger allgemein ſein, der Kärnthner pflegt den
Geſang gewöhnlich nur, wenn er ſich in der aufgeregten Stim—
mung einer beſondern Luſtigkeit befindet, wo dann das be—
freiende Wohlbehagen, die Luft zu erſchüttern, oft das eigent—
lich muſikaliſche Intereſſe zurückdrängt. Die Volkslieder der
Herbert'ſchen Sammlung hörten wir mehr in dem Munde
Volkslieder aus Oeſterreich. 27
der gebildeten Claſſen, und es kann nicht genug gelobt werden,
daß man ſich in den hübſcheſten Cirkeln von Klagenfurt
gerne daran erfreut. Schreiber dieſer Zeilen hat während ſeines
anderthalbjährigen Aufenthaltes in Kärnthen bei weitem nicht
ſo viel ſingen hören, als in den wenigen Wochen, wo hier
italieniſche Soldaten in Garniſon lagen. Kaum konnte des
Abends ein welſcher Soldat allein oder in Geſellſchaft über
die Straße gehen, ohne ſeine Barcarole mit ſonorer Stimme
durch die Luft zu ſchmettern. Es iſt nun einmal Muſik und
Sangesluſt eine Naturgabe, die nirgends ganz fehlt, aber höchſt
ungleich vertheilt iſt; ſo wie der eine Landſtrich Früchte trägt,
der andere nicht. Selbſt in den Alpenländern, welche für vor—
züglich muſikaliſch gelten, ſind es meiſt nur bevorzugte Gaue
oder Thäler, in welchen ſich der Volksgeſang concentrirt, wie
das Zillerthal in Tirol, das Ennsthal mit der Gegend um
Auſſee in Steiermark u. N.
Der Charakter der kärnthiſchen Volksmelodien fällt mit
den Eigenthümlichkeiten zufammen, welche wir an den öfter:
reichiichen Alpenliedern überhaupt fennen gelernt haben, nur
fehlt ihnen in der Regel der Jodler. Das behaglih Wiegende,
Ruhige, Scheint noch ausgeprägter in ihnen, als in den jteieri-
ihen oder öſterreichiſchen. In allen kärnthiſchen Melodien ſpricht
jih unverkennbar Gemüthlichfeit aus, welche jich oft zu inniger
Herzlichkeit, oft zu nediicher Luft fteigert, und ihren Cindrud
nirgends verfehlen wird, wo ihr der Vortrag zu Hilfe kommt,
mit welchem einige der jüngern Herren von Klagenfurt
dieſe Lieder fingen.
Unter den Texten, welche den kärnthiſchen Volksmelodien
unterliegen, wird der Leſer manch’ überraschend Gelungenes,
namentlich jene Elare Bündigfeit des Ausdrucks finden, welche
wir jo oft in Volfsgedichten mit dem Geſtändniß bewun—
dern, das fönne der größte Dichter nicht beſſer machen.
Es iſt eben ein Stück vom »größten Dichter«, was aus dem
Volke jingt.
28 1850.
Tanzmufik und die Höhne von Strauß
und Lanner.
Wenn von der Mufif in Defterreich die Nede tft, kann ohne
arge Lüde die Tanzmufif nicht übergangen werden. Abge—
ſehen davon, daß wir nicht zu den Verächtern derjelben gehören
— denn auch die Walzerform ift ein weißes Blatt, worauf
Geiſt- und Schmwungvolle® geichrieben werden kann — be:
hauptet die ausgezeichnete Pflege der Tanzmufif in Oeſterreich
eine höchſt harakteriftifche und hervorragende Stellung in unferem
Muſikleben. Der leichtbeſchwingte Sinn der Wiener hat in den
Gompofitionen Strauß’ und Lanner's feinen echtejten mufifalifchen
Ausdruck gefunden und ift zum Theil in ihnen Hiftoriich ge-
worden. Ohne dem Lande, deſſen Himmel »voller Geigen
hängt«, ohre Böhmen nahe treten zu wollen und feinen lied-
reihen Labitzky, es ift doch allezeit Wien, wo die Tanzmufif
mit glänzendfter Begabung cultivirt wurde. Keine europäiſche
Hauptitadt kann Hierin mit der öfterreichiichen in die Schranken
treten, Iſt diefe Kunftgattung auch zweifellos eine untergeordnete,
jo kann fih Wien doch rühmen, gerade fie am vollfommensten
repräjentirt zu haben*).
Natürlid Haben wir damit nicht die bloße Technik im
Auge, die für Tanzmufit leicht genug erworben wird, fondern
gerade deren poetiſche Beſeelung und jelbititändig muſikaliſche
Schönheit. Diefer Standpunft wünfcht alfo nicht, den Walzer
im Tanzesflug zu erproben, fondern in beſchaulichem Genuß
ihn ala Muſik anhören zu können, eine Befriedigung, die und
*) Wie alt und lange verdient der Nuf der Defterreicher im
Fach der Tanzmufik fei, lehrt ein Blick auf die Geihichte des Minne—
gelanges im 13. Jahrhundert. Die öfterreichiichen Minnefänger (be:
fonders Nithart, Burkart von Hohenfels, Tannhäuſer) waren
am andgezeichnetiten in dem »Tanzliedern«, welde nad) Benecke's
Vermuthung ihren Hauptreiz in den glüdlicd erfundenen Melodien
hatten. Der Dichter fang diefelben beim Tanze vor, ein Amt, das
jelbit Zeopold VII. und Friedrich II. nicht verichmähtent.
Tanzmufif und die Söhne von Strauß und Sanner. 29
in jeder Production von Alte oder Jung. Strauß geworden ift,
welcher wir beimwohnten. Ein fchöner Tanz gehört zu den vielen
leihten Dingen, die nicht Jedermann trifft. Der engite Rahmen
und die unerbittlicften Bedingungen, die es in der Mufif gibt,
heißen im Walzer den Componiften mit dem eriten Taftichlag
die volle Erfindung einjegen, fie alsdann ohne fruchtbare Be:
nügung friſch gepflüdt wegwerfen, und jo immer wieder neu
gewinnen und vergeuden. Wem nichts einfällt, der kann feinen
Walzer machen, — hingegen find Meffen und Motetten be-
fanntlih in diefem Zuftand jchon gejchrieben worden.
Eigenthümlich ift die Erjcheinung, daß, nachdem Lanner
und Strauß, die Bannerträger des »alten Wiens«, abgerufen
wurden, ihre Söhne an die verwaiiten Plätze traten.
Lanner’3 Sohn, Auguft, ift feit Kurzem dent Beruf feines
Vaters gefolgt. Im Snftrumentiren und Dirigiren nicht unge:
ihidt, hat er als Componiſt bisher wenig Originalität ge—
offenbart. Mit dem Ausſpruch, ein Kiünftler Habe das Talent
jeined® Water »geerbt«, meint man wunderlich gemug ein
Talent, das der Sohn ganz unabhängig von jenem des Vaters
für feine Perſon mitgebracht habe. Unſer jugendlicher Capell:
meifter tritt in einigen feiner Compofftionen diejem unjuriftifchen
Mikverftand entgegen. Er betrachtet fich ald Erben im geſetz—
fihen Sinn und gebahrt mit den Ideen feines verjtorbenen
Vater? als nunmehr rechtmäßiger und unbejchränfter Eigen:
thümer. Daß die Crinnerung von vielen Taufenden als Hy—
pothefarfchuld darauf laſte, fcheint ihn, wie viele andere Erben,
nicht weiter zu geniren.
Strauß’ Sohn, Johann, trägt jet rühmlich den micht
leiten Schmud jeined® Namens. Die Melodienfülle und Ur—
iprünglichkeit des Vaters nicht erreihend, hat er doch ein un—
läugbares Talent ſehr geihidt angebaut und an die Tanz:
compofition ein Capital von Kenntniß und Geſchmack gewendet,
wie es dieſem geringgefhästen Kunftfah vordem meilenfern
blieb. Jenen mißlaunigen Alterthümlern, deren Einfeitigfeit jo
weit geht, mit Krüger jelbft die Tanzmuſik unferer Zeit tief-
gejunfen zu fehen, jollte man mit befhämender Großmuth de3
jüngern Strauß »Liebedlieder« zum Ständchen bringen.
30 1850.
Und dennoch, — mir fehen diefen talentvollen, gefchidten
Componiſten auf bedenflihem Weg. In feinen neuen Walzern
findet fih häufig ein faliches Pathos eingefhmuggelt, das in
der Tanzmuſik befremdend auf den Hörer wirft. Dem reißend
angewachlenen Raffinement des mufifaliihen Gejchmades
Rechnung tragend, weiſen wir keineswegs auf die »Ländler«
und »Deutſchen« von ehedem hin, deren fhüchterne Melodien
die Flöte führte und welche mit einem einzigen verminderten
Septimaccord Alles zum Stillftehen gebradt hätten. Allein
jede Würze muß ihr Maß finden, vor allem im guten Gefhmad,
dann überdies in den Bedingungen der beſtimmten Runftgattung.
Die von Poſaunen herausgeftoßene klägliche Accordenfolge,
welde den zweiten Theil von Nr. 1 der »Schallmellen« bildet,
fände allenfall® Anwendung bei Opernfinalen, worin es be-
fonderd blutig zugeht; in einem Walzer ift fie abicheulich.
Selbft Themen, wie die eriten der »Mellen und Wogen«,
»Schneeglödchen«, »Novellen«, mit ihren langgejtredten, acht:
taktigen Motiven, ihren ächzenden verminderten Septimen= und
Nonenaccorden, ihrem Poſauuen- und Paufendonner find nicht
mehr tanzgemäß. Nicht alles, was im Dreivierteltaft fpielt, iſt
darım ein Walzer. Wie verblaßt der Beifall, den ſolche No-
pitäten durch den Reiz der Neuheit und ihrer Inftrumentirung
ernten, neben dem gefunden Jubel, wenn darauf ein Walzer
bom alten Strauß oder Lanner erklingt! Diefe herzensfrohe
und dabei maßvolle, vornehme Haltung, wie fie und jüngit
zufällig in dem erften »Romantifer« von Lanner überrafchte,
Ihlägt Dugende diefer neuen heroiichen Walzer. Bon Tadelfucht
am weiteſten entfernt gegenüber einem Kunſtgenre, das der
Kritif etwas feitab Tiegt, konnten wir hier den Wunſch nicht
unterdrüden, der beſte Walzercomponift der Gegenwart möchte
eine faljche, wohl nur momentan eingejchlagene Bahn verlaſſen.
Diefer Wunsch entiteht weſentlich im Intereife des mufifaliichen
Geihmads des großen Publicums, welches hier, im täglichen
Verkehr mit Strauß, die überwürztejten Tanzmufifen bald noch
zu einfach finden wird. Wenn Strauß den Walzer in der Art
der »Schallwellen« fortbildet, was foll Meyerbeer für feine
nächſten Opern übrig bleiben? Gine Kunftgattung wird weder
Die Wiener Goncert:Saijon. 31
im Inhalt noch in der Form bereichert, wenn man ihr ein
Pathos aufzwingt, dem ihr Weſen widerftrebt. Iſt aber erfünftelte
Großartigfeit überall vom Uebel, fo wird fie geradezu Ruin
für jene leicht beſchwingten Tonweſen, deren Beftimmung es
ift, Schöne Tänzerinnen mit Frohfinn, Scherz und Anmuth zu
umflingen. Halte darım Jeder die Grenzen rein und verhüte
Verſchleppungen aus fremdem Gebiet: vor dem gebildeten
Schönheitsſinn fteht die Verpolfung des Opernityls und Die
Heroification der Tanzmufit auf Einer Stufe.
Die Soncert:Sailon 1852—1853.
Wir betrachten die Leiftungen, mit welchen eine Stadt von
reihen und geordneten Muſikkräften im Verlauf eines Jahres
vor die Deffentlichkeit tritt, als nichts Vereinzeltes, mag ihr
Zufammenhang no fo wenig beabfichtigt oder erreicht worden
fein. Die jeweilige Anzahl der Orcheiterproductionen und der
Virtuofenconcerte, der Inftrumentalitüde und der Gefänge, der
älteren Glaffifer und der Zeitgenofien, der einzelnen Schulen
und der Kunjtgattungen, gruppirt ſich mit der Zeit zu ftatiftiichen
Berhältniffen, welche für die Richtung und Werthichägung eines
Mufiklebend maßgebend werden. Unfer letztes Concertjahr wird
fih ſolch einer äfthetiichen Sylvefterabendpflicht nicht entziehen
fönnen, welche mit freimüthiger Gerechtigkeit das Gejchehene
eined Lebensabſchnittes prüfend zurüdruft und Gute gegen
Schlechtes abwägend die Bilanz zieht, jo als Ueberſchuß dem
nächſten Jahr zu Gute fommt oder als Deftcit zu verdoppelter
Anftrengung einladet.
Der Maßitab für die mufifaliihe Macht und Höhe einer
Stadt (die Oper bleibt von unferer Betrachtung ausgeſchloſſen)
find ihre Aufführungen jener großen Werke reiner Inftrumental:
mufit, in melcher die deutjchen Meiſter ihre höchiten Ideen
niedergelegt haben. Die großen Orceiterproductionen
find der wahre Stamm, welchen alle Eleineren fingenden und
Hingenden Erſcheinungen nur mit dem zufälligen Reiz des Laub-
gewindes umranken und die für den Concertſaal dasſelbe
32 1852— 1853,
gelten, was die Tragödien der Claffifer für das recitirende
Schaufpiel.
Die einzige Körperichait, die una ſolche Inſtrumentalwerke
vorführt, ift die Gejellichaft der Mufikfreunde Schon
aus diefer Wirkſamkeit allein erhellt die muſikaliſche Suprematie,
die fie in Wien ausübt und feineswegs einem langjährigen
Beitande, jondern ihrem neuen Aufſchwung verdankt. In Saden
der Kunſt ift jede Oberherrfchaft ftet3 eine factiſche. Eine Per—
jönlichfeit oder Corporation bemädtigt fih im Gefühl ihrer
Ueberlegenheit eines verwaiſten Platzes und leiftet energijch das
Nothivendige, bringt das einzig Gute oder relativ Beſte. Die
>» Gejellihafts-Concerte«, welche einjt neben Nikolai's »phil:
harmonijchen Koncerten verſchwanden, haben deren Stelle nun:
mehr mit entjcheidendem Erfolg eingenommen, und jegen für den
Abgang jener glänzenden Perfünlichkeit, ihrerjeit3 die Stabilität
einer hochgeachteten Firma. Die Gefellihaft der Muſik—
freunde, wie fie aus der tödtlichen Lethargie von 1848 und
1849 ji zu ihrem gegenwärtigen Beitand reorganifirt hat, ift
für die Runftzuftände Wiens ein fo außerordentlihes Nefultat,
daß Jemand, der die Hinderniffe dieſes Aufſchwungs nicht in
ihrem ganzen Kettengehänge kennt, ihm faum vollkommen gerecht
zu werden vermag. Alles, was wir in Wien an größerer In—
ftrumentalmufif hören, verdanken wir, wie gejagt, der Geſell—
Ihaft der Mufiffreunde. In diefem Nuhme liegt aber auch ein
berpflichtendes Moment, nämlich wirklich fo viel und joldhes
borzuführen, als dem Bebürfniß des Publicums und dem
gegenwärtigen Stand der Tonkunſt entipriht. Betrachten wir
unter diefem Gefichtspunfte jo raſch ols möglich, was die »Ge—
jelihaft« in letzter Saiſon geleijtet.
Sie gab acht Concerte (nämlich vier »Geſellſchafts-« und
eben jo viel » Spirituel-Eoncerte«, eine Unterfcheidung, die nur
auf Aeußerlichkeiten beruht, daher jchiclicher vermieden märe).
Bei der ungewöhnlichen Theilnahme, welche das Publicum
dieſen Aufführungen zollte, möchten wir glauben, daß ihre Zahl
fih bis auf zwölf vermehren ließe, wodurd nicht nur die
Birtuojen-Concerte eine einjchränfendere Concurrenz erführen,
jondern auch manche Gompofition im Gefammtprogramm ein
Die Wiener Concert-Saiſon. 33
Bläschen oder Gegengewicht erhielte, welche in fleinerem Cyclus
unberechtigt oder vereinzelt daſteht.
Bon den acht Symphonien, weldhe die Gejellichaft
diesmal bradte, waren drei von Beethoven (Es-dur, A-dur,
B-dur); drei von Mendelsjohn (A-dur, A-moll, Lobgeſang);
eine von Mozart (Es-dur) und eine von 9. Eifer. Weniger
einverftanden jind wir wir mit der Auswahl der acht Duper:
turen, von welchen wir nur zwei unbedingt willfommen heißen
fonnten: Mendelsſohn's »Fingalshöhlee, die ſchon durch
ihr echt ſymphoniſtiſches Hauptmotiv zu den bedeutenditen nad):
beethovenfhen Erfindungen gehört, und die jehr jelten gehörte
Duverture in C. op. 124 von Beethoven. Sollte Gluck dur
ein Inftrumentalwerf repräfentirt fein, jo war die Ouverture
zur Iphigenia jedenfall die beite Wahl. Hingegen Broteft
legen wir gegen die Titus-Ouverture, die doch, gelinde geſagt,
allzu befannt ijt, um bei den Bejuchern der Spirituel-Eoncerte
auf Theilnahme rechnen zu dürfen. Selbit Weber’: glanzvolle
»Eurhyanthe« dünkt una nicht fo langentbehrt, daß fie unter
acht Duverturen nothwendig wäre. Wenn vollends die franzöfifche
Schule Glud’3 unter acht Ouverturen mit drei repräfentirt ift
(Catel's »Semiramis«, Cherubini's »Mbencerragen« und
»Elifa«), jo iſt dies ein unverhältnigmäßiges Vordrängen dieſer
haraktervollen, aber zum Weberdruß abgefpielten Gruppe. In
diefem Beijpiel tritt der Unterfchied zwiſchen dem abjoluten
und dem relativen Standpunkt der Beurtheilung recht auffällig
hervor. Inter zwölf Ouverturen find zwei Cherubiniiche recht
wohl am Plage, unter achten nicht mehr. So ließe fih aus
den von una recufirten Stüden des diesjährigen Geiellichafts-
chelus ein ganz hübſches Koncert zujammenftellen, welches
dennoch aus dem Gelichtöpunfte einer zu erfilllenden höheren
Aufgabe nicht zu rechtfertigen wäre. Ein Kumftinftitut, das nicht
blos »Eoncerte gibt«, jondern in zufammenhängendem Wirken
eine Miſſion Hat, fehlt jchon, wenn es Gutes bringt, wo
Befferes oder Dringenderes warten mußte.
Die Wahl der concertanten Compofitionen war glücklich.
Mährend und S. Bach's Tripelconcert den ganzen Neichthum
einer früheren Virtuoſitätsepoche in deren tiefinnigitem Re:
Hanzlid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl, 3
34 . 1852— 1853.
präfentanten erichloß, begrüßte uns in Mozart’ »Goncert für
Violine und Biola« eine der genialiten Arbeiten dieſes feinsten
aller modernen Contrapunftifer, defien weniger befannte In—
ftrumentalfachen zu Gunften jeiner Geſänge nur zu oft zurück—
gejeßt werden. Was Vieurtempd’ Violinconcert inE (1. Sab)
betrifft, jo freut es und, daß die Gefellichaft dieſem geiftreichen,
romantifchen Pariſer gaftfreien Empfang gewährte, ohne Furcht,
dadurch ihr »weißes Hermelin der alten Schule« zu befleden.
Nur gegen das Aufführen einzelner Säge müfjen wir un?
erflären. Solch dilettantenhafte® Zerreißen eines Ganzen iſt
einer Künſtlergeſellſchaft unziemlich, welche zuſammenhängende
Werke vollſtändig oder gar nicht bringen ſollte. Eine principielle
Ausſchließung des Virtuoſenthums aus den Geſellſchafts—
concerten, wofür ſich manche Stimme erhebt, ſchiene uns eng—
herzig, ja nachtheilig. Man ſollte es, nach dem erfolgreichen
Vorgang der Leipziger Gewandhausconcerte, nicht unterlaſſen,
wirklich bedeutende Virtuoſen zur Mitwirkung einzuladen, ſie
jedoch an den Vortrag chaſſiſcher Werke mit vollem Orcheſter
zu binden.
Bon den Gejangfoli möchten wir nur die Wahl der
Sopranarie von ©. Bach und der Baßarie mit obligaten
Contrabaß don Mozart vertheidigen. Die Brapourarien der
Königin der Nacht, des Sefto u. dgl. follten in den Spirituel-
Concerten nicht porfommen. Der äfthetifche Proteſt, daß dieſe
Arien einmal ſchön waren, oder auch daß fie nie Schön waren,
gleichviel, ift hier weniger maßgebend, als die Betrachtung,
daß Opernftüde nur mit größter Einſchränkung im Goncertjaal
zuzulafien find, indem der Wegfall des dramatiihen Zufammen-
hangs, des Coſtüms, der Scene, der Decorationen dad Ver—
ftändniß verwirrt, den Eindrud verfümmert. Am allerwenigften
dürfen aber Stüde aus allbefannten Opern, die man im
Theater hören fan, den Eoftbaren Raum eine aus bier
Nummern beftehenden Concert? einnehmen. Nur aus claffiichen
Opern, die hier nicht oder nicht mehr befannt find, wird man
Soli oder Enfembles in der richtigen Erwägung bringen können,
daß man das Publicum auch durch eine Photographie zu Dant
verpflichte, deren Original zu jehen ihm niemal® vergönnt ift.
Die Wiener Eoncert:Saifon. 35
Slud, Händel, Spontini, Cherubini, Spohr, Mendels—
john u. A. bieten hier reiche Fundgruben. Der Eindrud von
Mozart’3 »Misericordiase in D-moll erwies die treffliche
Wirkung, welde ein geiftliher Chor zwifchen weltlihen Com:
pofitionen übt, und dürfte als Fingerzeig gelten, wie man auch
auf ältere Kirchenmuſiken deuticher und italienijcher
Schule zurüdgehen könnte, ohne in die Tendenz ftreng hiftorijcher
oder geiftliher Concerte zu gerathen.
Bon größeren Geſangswerken brachte die »Gefellihaft«
Mendelſohn's trefflihen »Lobgejang«, deſſen Erfolg Hoffentlich
die »MWalpurgisnadt« und die einzelnen Palmen desſelben
Meifters nachziehen wird. Die Wahl von Beethoven's voll-
ftändiger »PBrometheusmufif« war ein Mißariff. Durch die
liebenswürdige Ouverture ift daß ganze Werk für Genuß und
Erinnerung jo hinreichend wie vortheilhaft repräfentirt. Wenn
es Schon mit der Aufführung von declamationsverbundenen
Zwiſchenactenmuſiken fein Schwieriges hat, fo fteigert fich dieſes
bei einer Ballet-Compofition, welde Schritt vor Schritt die
Borgänge auf der Bühne commentirt, zum Bedenklichen. Sft
aber die Balletmufif unbedeutend, zopfig und einer für unfere
Anihauung fait lächerlichen mythologiſch-allegoriſchen Action
dienftbar, dann gibts nicht einmal mehr etwas zu bedenken.
Daß es auch belehrend fei, das ſchwache Gelegenheitöwerf eines
Meifter® zu hören, wer läugnet es? Allein die Aufführung
folder Gompofitionen ift ein Verrath an dem Genius des Mannes
zu Gunften feines Namens. Alle irdifhen Dinge gedeihen nur
in Selbitbejchränfung. Die Concertdirection muß ihr Programm
als einen jchmalen, jehr koſtbaren Baugrund anjehen, auf defjen
Bertheilung Viele ein gutes Anrecht befigen, und welcher dennoch
nur wenig zeritüdelt werden darf. Auf jolhem Grunde muß
fein chinefiicher Papillon ftehen, wenn ein Palaſſ Plat ge—
habt hätte.
Das Berhältnig der abjolut äfthetiichen Aufgabe einer
Goncertdirection zu ihrer Hiftorifchen Verpflichtung ift ein ſehr
delicate®. Wie alle geiltigen Beziehungen, welche einer lebendigen
Strömung unterliegen, fo läßt auch dieje fich nicht mit gefeglicher
Schranke feititellen, fondern muß dem feinen Gefühl einer
3*
36 1852—1853.
leitenden Perjönlichkeit überlaffen bleiben. Regelnde Geſichts—
punkte laffen fich jedoch geben. Wir möchten in Kunſtſachen
den hiſtoriſchen Standpunkt (im Gegenjag zum abjolut
ülthetifchen) in weiterem Sinne aufgefaßt und auf Alles aus:
gedehnt wiſſen, was durch Bedeutiamfeit feines Inhalts An:
jpruh auf Kenntnignahme des Publicums hat, wenngleich es
deiien Geſchmack niht mehr oder noch nicht jompathiich fein
jollte. Wie Janus muß der Goncertdirector vor und hinter fich
ihauen. Hinter fih, damit er die großen Thaten unſrer
Altvordern nicht durch Vernadhläffigung in unſerm Bewußtſein
vertilge. Vor fih, in dem Sinne, daß er nichts ignorire,
was über furz und lang doch gekannt und gebradt
werden muß, weil es clafiiich ift, ehe noch der Verlauf
eine® halben Sahrhunderts ihm den ZTalar der Glajficität
umgehängt. Es iſt alfo geradezu die berechtigte Gegenwart,
für welche wir Berüdfichtigung verlangen, die aber durch in—
dolente® oder durch animoſes Ignoriren zur ungewilfen Zus
£unft geftempelt wird. Handelt e& fih um ein Abwägen, io
iſt dem Publicum die Bekanntſchaft mit den herporragenden
Geiftern, von denen die mufikaliiche Bewegung der Gegen:
wart ausgeht, viel wichtiger als die Erinnerung an die hifto-
rich gewordenen Größen zweiten und dritten Ranges, die für
unjere Großväter jchufen. Nur der Mufikhiftorifer kann auf
einjamer Stube allem Bedeutenden verfloffener Zeiten nad):
ftöbern, dejien Kenntniß feinen Beruf bildet. Cine Goncert-
direction kann unmöglich die ganze muſikaliſche Staatsichuld
der Vergangenheit zahlen, fie trachte nur, jelbit feine neuen
Schulden zu machen.
Eine Schuld iſt's aber und ein WVerfchulden, daß die
»Geſellſchaft der Meufilfreunde« die Werke Tebender Come
ponilten gänzlich ignorirt, welche in der kleinſten deutſchen
Muſikſtadt Tängit gekannt und gewürdigt find. Beginnen wir
mit Robert Schumann. Die »Gefellihaft der Mufikfreunde«
hat auch nicht ein einziges ſeiner Orchefter: oder Geſang—
ſtücke noch gebracht, von deren Anzahl und Mannigfaltigfeit
ein Blick in jeden Mufil-Catalog überzeugen kann. Weit ent—
fernt, bier etwa die Vorzüge Schumann’ entwideln zu
Die Wiener Concert:Saifon. 37
wollen, und jediwede Vorliebe bei Seite lafjend, citiren wir
einfach die Thatiache, dag Schumann als einer der geiſt—
vollften und eigenthümlichiten Tondichter der Gegenwart aner:
faunt, und von dem mufifgebildeten Bublicum ganz Deutich-
lands als folcher gehegt und verehrt wird. Eine Goncertdirection,
welde Schumann verwerfen zu dürfen glaubt, hat Feine
Ahnung von der Kunft, oder fie fennt Schumann nicht einmal, -
und dann hat fie feine Ahnımg von ihrem Beruf. Dan liebt
es bier vieljeitig, die Hochſtellung Schumann’3 als Partei—
ſache anzufehen und ihm neue, unerhörte Principe in der In:
ftrumentalcompofition zuzufchreiben, ähnlich denen, welche Richard
Wagner in der Oper verfolgt. Nur gänzliche Unkenntniß
faun jo jprehen. Schumann verfolgt in feiner Orcheiter: und
Kammermuſik fein anderes Princip als Mozart: daS der
reinen, gegenftandlofen Mufif. Er hat mit Richard Wagner
nicht gemein, als eine hervorragende Befähigung und das
Unglüd, Herrn Franz Brendel zum enthufiaftiichen Freund
zu Haben.
Anderd iſt's mit Richard Wagner Diefen in feiner
eigenthümlichen Wirkſamkeit vorzuführen, tft Sache der Opern=
directionen, und der »Tannhäufer« ift ein Werk, das es, auch
abgejehen von der umleidlich gewordenen Berühmtheit Teines
Autor, durch eigenen Werth verdient. Al Inſtrumental—
componiiten jtellen wir Richard Wagner feineswegd Hoch.
In allen feinen Ouverturen offenbart fi) die Unfähigkeit, ſym—
phoniſche Form zu beherrichen, eine Unfähigkeit, die er, wie
vieles andere, mit Meyerbeer theilt, jo wenig er e& Wort
haben will. Die »Tannhäufere-Duverture glänzt durch
interejfante Motive und eine zauberifche Initrumentirung ; ala
iymphonifches Werk ift fie Schwach, weil fie nicht entwickelt,
jondern zufammenseßt, ihre Themen die Kenntniß der Oper
vorausjegen und ihre brillante Schlußfiguration des Pilger:
marſches ein ftyliftiiches Unding ift, Virtuofenumfpielung für's
Orcheiter übertragen, injtrumentirter Thalberg. Nun ijt aber
diefe Duverture, feit den zehn Jahren, daß der Tannhäuſer
geichrieben ijt, das Entzüden von bald Deutihland, — in
Prag hat fie Anlaß zur Einftudirung der ganzen Oper gegeben
38 1852— 1858,
— fie ift das intereflante Werk eines hochbegabten, originellen
Mannes, der gegenwärtig zu den berühmteften Operncomponiften
zählt und jeit fünf Jahren die mufifalifhe Welt jo jehr in
Bewegung gebracht hat, daß fein Name Parteizeichen und feine
Merfe Tagesgeipräd find. Wagner ift deshalb, in ganzen Opern
oder doch in Bruchſtücken bereits überall vorgeführt worden,
wo von Mufif die Rede fein kann, — nur in Wien nidt.
Und doch iſt der Drang, fich mit dem merkfwürdigen Manne
befannt zu machen, jo natürlih, daß der Walzercomponift
Strauß fich veranlaßt jah, die berühmte Tannhäufer-Duverture
und einen Chor aus »Lohengrin« im Volksgarten jpielen
zu lajlen. Wir können aber doch nicht annehmen, daß die
»Gejellfhaft der Mufikfreunde« e8 den Promenade: Ordeftern
überlafjen wolle, für die fünftlerifchen Bedürfniffe des Publicums
zu jorgen. Meint die Direction, Schumann, Wagner u. 4.
werden dem großen Publicum nicht zufagen, jo fann fie mög—
licherweije Recht haben, daran liegt nichts. Gehört muß man
fie haben. Die Literatur der Gegenwart befißt ſehr ähnliche
Ericheinungen. So gehört Fr. Hebbel zu jenen anerkannten
Größen, welhe von Vielen auf das Heftigfte angefochten,
von MWenigen ohne Einſchränkung gepriefen werden. Welche
Bühne, die ihre Aufgabe begreift, dürfte e8 aber wagen,
oder hätte es gewagt, ihr Publicum mit Hebbel nicht be—
fannt zu maden ?
Nur dadurch kommt Schwung und Bulsihlag in das
Mufitleben einer Stadt, wenn ihr neben dem überfommenen
Claſſiſchen alles Bedeutende der neueren Zeit, und huldige es
jelbit einer befremdenden Richtung, vorgeführt wird. Ob der
Mufiter Beethoven's Symphonien (die er ohnedies auswendig
fennt) einmal mehr oder weniger hört, ift für feine Bildung
von viel geringerem Einfluß, ald daß ihm in bedeutfan neuen
Gebilden zum eriten Mal die finnigen Züge jener Tondichter
entgegentreten, die ja ohne Beethoven gar nicht möglich ge-
wejen wären. Für den Fall aber, daß die Gejellihaftz-Direction
und vielleicht der Eile bejchuldigen jollte, bemerken wir einfach,
da3 Schumann bereit3 zwanzig Jahre, Berlioz über zwanzig
Fahre, Richard Wagner etwa fünfzehn Jahre thätig ift. Eine
Die Wiener Concert-Zaifon. 39
Erfriſchung unſeres Concertweſens nad) diefer Richtung halten
wir für nothwendig und die nambafteiten Künstler in der »Ge—
jellihaft der Mufikfreunde« theilen unſere Anfiht. Möge es
ihnen gelingen, das unberufene Uebergewicht dilettantifcher Ele:
nıente, welche fich dem Vernehmen nad oft geichäftseifrig in
ragen eindrängen, die nur vom Standpunkt der Kunſt ent-
ichieden werden können, in ſchicklicher Weile zu mäßigen.
Als Eintheilungsgrund für die übrige bunte Reihe von
Eoncert-Leiftungen wählen mir nicht Deren relativen Werth,
fondern das viel bedeutungövollere Moment der Stetigkeit.
Es iſt nämlich für die mufifaliihe Bildung einer Stadt von
größten Gewicht, daß ihre bejleren Aufführungen fi) durch
periodische Wiederkehr zu etwad Bleibendem geitalten. Da:
durch werden fie nicht nur genöthigt, für ihre Gefammtthätigfeit
im höheren als dem gewohnten Sim ein Programm zu
befolgen, jondern auch geeignet, im Geifte des Hörer einen
Zulammenhang zu vermitteln, welcher das Gehörte äjthetiich
oder kunſtgeſchichtlich an ein Früheres anschließt, in ein Nach—
folgendes überleitet. Der Eindrud fann nicht mehr jpurlos
verraufchen und mögen diefe Aufführungen nun in dem großen
Rahmen alljährliher Mufikfefte oder in der engeren Bewegung
yon wöchentlihen Orcheiter- und Duartettproductionen kreiſen,
immer ift’5 ihre Stetigfeit, der fie die gute Hälfte ihrer bildenden
Kraft verdanfen. Aus jolcher Wiederfehr erwächſt zuvörderſt
eine Gewohnheit des Guten und aus diefer das Bedürfniß
deöielben. Ueber eine angemefjene Gruppe folcher Eoncertreihen
verichiedener Richtung muß eine Stadt verfügen fünnen, welche
auf ein jelbiteigenes mufifalifches Leben Anſpruch madt. Sie
muß ein Capital gediegener Muſik befigen, auf das fie all:
jährlich mit Sicherheit vehnen kann, und welches vom Zufall
unabhängig dafteht, möge diejer nım als unterftügend erjehnt,
oder als hemmend gefürchtet werden. Die Zufälligfeit ihrer
muſikaliſchen Eriftenz ift der traurige Theil der Provinzial:
itädte, deren fünftlerifcher Zuftand meiſtens von den jeweiligen
Elementen ihrer Societät abhängig ericheint. In Reſidenzen
hingegen bildet die Stetigfeit claifiicher Aufführungen ein zwar
verflingendes, aber nicht vergängliches, wahrhaftee Meonn-
40 1852— 1858.
ment. Während es ald Kunſtwerk nad) Oben ftrebt, dient es
nah Unten als Schutzdamm gegen die angrenzende Virtuoſen—
fluth, deren Ueberſchwemmung man fih im Herbit und Früh:
jahr gefallen laſſen muß, wie irgend ein anderes nad) Natur:
gejegen wirfendes Unheil.
Bon den ftabilen Deufifen in Wien ftehen den » Gefellichafts-
Goncerten«e zunächſt die von den Herren Hellmesberger,
Durit, Heißler und Schlefinger veranftalteten Quartett:
productionen.
Die Pflege des Streid-Duartettes it in einem mufikali-
ſchen Organismus von hoher Wichtigkeit. Urſprünglich italieniſche
Grfindung, hat diefe Form, gleich der Symphonie, alöbald
durch deutsche Kunft eine folche Erweiterung und Bereicherung
erfahren, daß fie in Wahrheit geiftige® Eigenthum unferer
Nation wurde. Diefe Hat durh hochragende Tonwerfe hierin
jedwede Concurrenz anderer Völker vereitelt und iſt fo nicht
blos in der Suprematie, jondern geradezu im Alleinbefiß der
ausdrufvolliten Formen reiner Inftrumentalmufif geblieben.
Das Streich-Quartett ift aber nicht blos durch feinen Reich:
thbum an meilterhaften Compofitionen fo bedeutungsvoll. In
die Grenzen von bier gleichartigen Inftrumenten gebannt, aus:
geichlojien von dem felbftitändigen Reiz der Klangwirkung und
de3 Gontraftes, ift das Quartett mehr als irgend eine poly:
phone Kunftform berufen, durch Die reine Bedeutung ihres
Inhaltes zu wirken. Keuſch, finnvoll, prunflos, läßt fie nur
gelingen, was durch die innere Kraft des mufifalifhen Ge—
dankens beitehen kann. Sie offenbart diefen in feiner wahr:
hafteften, wenn gleich nicht glänzenditen Erſcheinung. Durch
ihre unbeitehlihe BDurdhfichtigfeit ift die Duartettmufif eine
Klippe für Componiften und ein Prüfftein für das Publicum.
Wenn die Theilnahme an den »Geſellſchafts-Concerten« noch
fein hinreichender Beweis für die erwachende gediegene Rich—
tung in Wien ift, den verweilen wir auf den Bejuch einer
Hellmesberger'ſchen Quartettſoirée.
Die Gefahr der Quartettproductionen heißt Monotonie.
Sehr zweckmäßig trennt man deshalb hier Zwei Quartette durch
ein Glaviertrio, eine naheliegende Auskunft, die dennoch den
Die Wiener Concert:Saifon. 41
berühmten Pixis'ſchen, Mildner'ſchen u. a. Quartettſoiréen ent:
ging. Aus demfelben Grumd rechtfertigt ſich die Beſchränkung
des Duartett:CHyclus auf ſechs Abende Ein rajher Blid auf
da3 diesjährige Brogramm belehrt uns, daß von achtzehn
Nummern vier auf Beethoven fielen, eben jo viel auf
Mendelsfohn, drei auf Haydn, zwei auf Mozart und
je eine auf Händel, Spohr, Schubert, Schumann,
Hummel. Zum erften Mal in Duartettprogrammen Wiens
erihien R. Schumann mit feinem wunderbar jchönen F-dur-
Quartett. Der außerordentliche Anklang, den es bei dem mit
dem Autor noch ganz unbekannten PBublicum fand, wird Die
Unternehmer gewiß zur Vorführung der übrigen Quartette,
Duintette und Trios von Schumann aufmuntern, deſſen
Name in jeder Sailon wenigften® mit einem Stüd vertreten
jein möge. Auch Spohr's wohlthuend edle Milde wird
hoffentlich niemal ganz vergeflen werden. Mit der Wahl eines
unbedeutenden Trios von Haydn, eined dito von Mozart
und eined recht unreifen Duartett3 von Schubert waren die
Unternehmer nit glücklich.
Von den Duartettabenden übergehen wir zu den Con:
certen des Männergefangvereind. Welch merkfwürdiger
Gegenſatz zwiichen dem erniten, gedanfenjpinnenden, ariſtokra—
tiichen Weſen des Ouartettes und dem frischen, volfsthümlichen
Jubel, der aus zweihundert Männerfehlen gegen Himmel fchwingt!
Der von G. Barth und F. Stegmaper vortrefflich geleitete
Berein erfüllt mit feinen jährlichen zwei Akademien eine Kleine,
aber wichtige Stelle im Mufikleben Wiens. Das fräftigende,
finnlih frifche Element des Männergefangs iſt unſchätzbar als
heilfames Gegengift gegen die überhandnehmende Mtanirirtheit
im Geſang, die franfhafte Subjectivität des Vortrags, Die
ufurpirte Herrfchaft der Kehlengeläufigfeit. Durch die geringe
Literatur werthooller Männerchöre ift der Verein vortheilhaft
an die öftere Wiederholung des bewährt Schönen (Schubert,
Spohr, Mendelsjohn), andererfeit® an die regite Verbindung
mit den Novitäten des Auslandes gebunden.
Das ergänzende Seitenftüd zum weltlichen Chor durch
eine Gejellichaft für geiftlihen Gejang fehlt derzeit noch.
42 1852— 1858.
Indeſſen können wir nicht umhin, hier eines Privatvereins zu
erwähnen, welcher zwar der öffentlichen Beiprechung weder unter-
tworfen, noch ihr ganz gewachlen ift, dennoch aber durch jeine
bloße Eriftenz wichtig genannt werden muß. Wir meinen den
von Herrn Brof. Joſeph Fiichhof gegründeten Ba ch-Verein,
eine geſchloſſene Gejellihaft von Herren und Damen, welche
jih allwöchentlich zur Ausführung claffiischer Kirchencompo:
ftitionen verfammeln. Die funftgeichichtliche Tendenz, ſich mit
ältern berühmten Tonwerfen befannt zu machen, und die dilet-
tirende, jih im Chorgejang zu üben, gehen da Hand in Hand
einem höchſt Ihäßbaren Ziel entgegen. Für das Mufikleben der
Nefidenz iſt die »Bachgejellihaft« freilih nicht mehr als ein
bedeutungvoller Fingerzeig nad) etwas, das herzuftellen wäre.
Sollte es denn bei den reichen mufifalifchen Mitteln, welche
Wien unjtreitig zur erſten Muſikſtadt Deutſchlands machen,
nicht möglich fein, einen großen Gejangverein zu bilden, nad
dem Mufter der im vorigen Jahrhundert von Faſch gegrün:
deten, von Zelter und Rungenhagen jo blühend fortge-
führten »Singafademie in Berlin?« Dieje befteht befannt-
ih aus Schülern und Dilettanten, und wenn es gilt, ein
claffisches Oratorium würdig vorzuführen, da verſchmähen es
die angeleheniten Fräulein Berlins nicht, im Chor mitzufingen
und ſich ad majorem artis gloriam dem energifchen Commando
ded Directors zu fügen. Wer fi der großen Mufikfeite in
Wien erinnert (ed bedarf bald eines guten Gedächtnifjes dazu),
der weiß, wie hier eine jolche Bereitwilligfeit der Mitwirkung
jich zeigte, daß man alsbald die öffentliche Aufforderung hiezu
jiltiven und ſich auf ipecielle Einladungen beſchränken mußte.
Es handelt ſich alſo lediglih darum, dieſe Kräfte zu einem
behandelbaren Ganzen zu concentriren und ihrer Thätigfeit im
Großen und Deffentlichen eine Aufgabe zu eröffnen, wie fie der
»Bac-Berein« im Kleinen und Privaten verfolgt. Das würde
zu Anfang nicht ohne Mühe und Schwierigkeiten abgehen, dod)
wäre der Erfolg ein unendlich lohnender*). Die »Sing:
*) Unſerer im erſten Artikel ausgeiprochenen Ueberzeugung con=
jequent, müffen wir wünschen, daß die Gejellihaft der Muſik—
Die Wiener Concert-Saiſon. 43
afademie« würde theils in Concerten einzelne geiftlihe Muſiken
vorgetragen, und, mit dem mufifaliichen das hiſtoriſche Intereſſe
ichieflih vereinigend, die jeit Kiejfewetter ruhende Idee der
s»hiftorifhen Concerte- wieder anregen, theild fiele ihr die
würdige Aufführung großer Oratorien zu. Hiedurch fümen wir
auch aus der jchmählichen Abhängigkeit von dem Programm der
Witwen: und Waifen-Societät heraus, welches in jeinen
jährlihen zwei Oratorien lieber jede andere als die künſt—
leriihe NRüdfiht vorwalten läßt. Bekanntlich hört Wien jeit
einem halben Zahrhundert fortwährend Ha ydn's »Schöpfung«
und »Sahreözeiten«, hie und da mwohlweislich von einem ein—
heimiihen Fabrifsartifel abgelöft, jo jeden Undanfbaren, der
etwa gegen die ftete Wiederholung Haydn’3 murrte, in jchred-
licher Weife zur Neue und Befinnung bringt. Ueber diefen
Bunft haben wir vor Jahren bereit? unjer Herz gründlich und
erfolglos ausgeſchüttet.
Der Stabilität dieſer einheimiſchen Muſikaufführungen ſteht
die unruhige Gruppe der »Virtuoſenconcerte« gegenüber.
Es iſt über das unberechtigte Vordrängen der Virtuoſität
in einer erſtickenden Menge von Concerten ſo ausgiebig ge—
jammert worden, daß wir uns hier aller Klage, ſo wie jeder
theoretiſchen Deduction enthalten können. Wir faſſen die Vir—
tuoſenconcerte lieber als einen Beſtandtheil öffentlichen Muſik—
lebens auf, der nun einmal exiſtirt, und unter künſtleriſcher
Begrenzung feiner Quantität und Qualität ein Recht dazu hat.
In ihrer Quantität würben fi die Virtuofenconcerte zu den
einheimijchen, periodifchen Aufführungen am beiten verhalten,
wie die Gaftipiele einer guten Schaubühne zu deren eigenem,
jelbititändigen Repertoire. Rüdfichtlih der Qualität hätte die
Begrenzung dahin zu lauten, daß 1. nur wirkliche Virtuofen
jih bewogen finden, »Wirtuofenconcertes zu geben und daß fie
freunde, in der wir gerne eine Art muſikaliſcher Statthalterei ſähen,
dieje wichtige Unternehmung, wenngleich Anfangs nur als Nebenzweig,
in die Hand nähme Die Schüler des Gonfervatoriums, die neu
errichtete »Männergeſangsſchule- und der durh Stegmayer ver:
bündete Männergejangverein böten die eriten Anknüpfungspunkte.
44 1852—1853.
2. überwiegend gediegene Compofitionen vortragen. Die Bir:
tuofität it ein relativer Begriff, indem er einen wechielnden
Standpunkt zu der Maſſe von Leiltungen einnimmt, welche dem
Publicum in einer beitimmten Zeit als außergewöhnlich er:
jcheinen. Bei dem gegenwärtigen Stand der muſikaliſchen
Technik hat jede Großitadt das Recht, nur die Sommitäten
des Virtuoſenthums für »Virtuoſen« hinzunehmen. Cine wirk—
lich vollendete frei beherrſchte Technik, durchdrungen von indivi—
duellem Geiſt und Gemüth und geläutert durch umfaſſendes
künſtleriſches Verſtändniß, iſt nur Der: Erwerb vieljährigen
Studiums und eines an der Hand des Talentes langſam ge—
reiften Kunſtſinnes. Was ſoll man dann zu den vielen Knaben
und Mädcheu ſagen, welche halb frühreif, halb unreif ſich einem
kunſtgebildeten, an das Beſte gewöhnten Publicum als »Vir—
tuofen«e aufdrängen, und ein Concert nad) dem andern ver:
urfahen? Leider fann man das weder hier, noch irgendivo
verhindern; ja, wenn mir den Enthuſiasmus betrachten, mit
welchem in Paris und London wahre Mittelmäßigfeiten begrüßt
werden, jo finden wir unjern Zuftand noch Teidlich gut.
Dafür verjegte uns die verflofiene Sailon oft in das
peinliche Nachdenken, was ſchlimmer jei, die eigenen Fabrifate
ſchul- und talentlojer Concertiſten zu hören, oder Beethoven, Mozart,
Mendelsjohn, die Heiligthümer und Lieblinge der Nation, von
derlei Jünglingen öffentlich mißhandelt zu jehen? Genug, da
aus der großen Summe der diesjährigen Birtuojenconcerte
nur Gine Erſcheinung wirklich fünftleriich bedeutend dafteht:
U. Dreyfhod. Sein Vortrag des G-moll- Eoncerte® von
Mendelsiohn und des Concertitüdes von C. M. Weber find
uns unvergeßliche Leiftungen technifch vollendeten Clavierſpiels.
Nebit Dreyihod können wir nur die intereffante Erſcheinung
der Thereje Millanollo hervorheben, welche durch meiiter:
haft techniiche Ausbildung einzelner Vortragsweiſen Bewunde—
rung einflößt, ohne jedoch von ihrem Eleinlichen Standpuntt
einen bleibenden, fünftleriih mächtigen Eindrud herborbringen
zu können. Sie madte die Wichtigkeit unſrer zweiten Forderung
anfhaulid: daß man nit blos gut, jondern auh Gutes
ipielen müſſe. Die Ichredlichiten Concerte find Diejenigen, wo
Die Wiener Concert:Saition. 45
Orcheſter-Inſtrumente beſchränkten Wirkungskreiſes zur Solo—
Virtuoſität gezwungen werden. Wenn ein Contrabaß mit Trillern
und Paſſagen ſpielt, wie ein Bär mit Veilchen, — wenn ein
Waldhorn nad Adagio und Recitativ an das unumgängliche
Allegro gelangt und daſelbſt ſehr ſtolpert, ſtößt und mekkert,
blos um ſich mit Dingen zu plagen, die eine Flöte viel beſſer
macht, — wenn endlich ein ſo geiſt- und ſeelenloſes Inſtrument,
wie die Harfe (welche wie jedes gezwickte Saitenſpiel eines
gebundenen Geſangs unfähig tjt), nicht müde wird, unabläjlig
dDiejelben Arpeggien und Tonleitern zu prideln: dann find jelig
diejenigen, die das freut, oder die es nicht zu Hören
brauchen.
Die von einzelnen Goncertgebern veranitalteten Akademien
find noch in zwei Nebenpunkten wichtig. Erſtens find fie die
einzigen öffentlihen Broductionen, wo das deutſche Lied
(als Zwiſchennummer) eine Stelle findet. Es kann nicht dringend
genug gewünſcht werden, daß dieje Gelegenheit zur Vorführung
guter Lieder verftändig benützt werde, Nur oberflädhliche Un—
fenntniß kann über Mangel an gediegenen Lieder-Compoſitionen
flagen, mwährend man doch fünf Jahre lang Treffliches zu
zu fingen hätte, ehe man genöthigt ift, zu Liedern zu greifen,
wie fie in legter Saiſon zum größten Theil die Zwiſchen—
nummern füllten.
Die zweite Bemerkung betrifft die Ouverturen, womit
die vom großen Orcheiter unterftügten Concerte eröffnet werden,
und die jeit vielen Jahren aus einem Halbdutzend der
befannteften Compoſitionen beftehen. Wenn die Kunſt—
und Chrliebe des Orchefterdirectord fich nicht daran ſtößt,
ſolchen Schlendrian jahrelang fortiegen zu laſſen und jede
Duverture bei Seite zu legen, die man nicht im Schlafe jpielen
kann, dann ift freilich nicht zu helfen. An Sournalen wird's
nicht fehlen, die auch zum Hundertiten Mal melden: »Die
Duverture zu Titus oder Faniska jei fenrig und präcis
erequirt morden.«
46 1852— 1853.
Müller und Ssellmesberger.
Seitdem die Braunfchweiger Gebrüder Müller mit ihren
Dnartett-Productionen jo gerechte Bewunderung erregen, iſt das
Vergleichen diefer Künftler mit unferem beliebten Hellmes—
berger’ichen Quartett außerordentlih im Schwang. Klein Hoch—
genuß bei den Gebrüdern Müller, der nicht unerbittlich den
verdriehlichen Streit nachichleppte: welches Quartett jteht höher,
Müller oder Hellmesberger? Wird die Frage fo geftellt,
dann ift fie bei der Beweislofigfeit äfthetiicher Dinge fait genau
jo peinlich, wie etwa die andere, ob eine Cypreſſe jchöner fei
oder eine Eiche, ob die Erdbeere jchmadhafter oder die Kirſche?
Daß nicht alle Phänomene, bejonder3 die geiftigen, in Rang—
jtufen über und unter einander ftehen, fondern mehrere neben-
geordnet fein können, pflegt man in ſolchem Streit gern zu
vergefien. Ein Vergleichen der einzelmen Vorzüge und Eigen:
thümlichfeiten jedoch wird in Kunſtſachen immer ftatthaft und
anziehend erfcheinen, ja bei ausgezeichneten Ericheinungen oft
zum Vortheil beider Theile ausfallen.
Der Charakter des Müller’ihen Oxartett3 iſt Männ—
lichkeit, Kraft, Gefundheit. Starker Ton, zum Sanften, aber nie
zum Süßlichen herabgemildert, einheitliches Auffaffen im Großen
und von Innen heraus, ganzes, treue Hingeben an die Come
pofition, nit etwa Schönmaden einer Broducttion, Würde ohne
Pedanterie, Bravour ohne Eitelkeit, größte Selbititändigfeit
jedes Einzelnen bei größter Beicheidenheit jedes Einzelnen. Der
Ton des Primſpielers iſt edel, wenngleich nicht mehr jo weid)
und blühend wie in früheren Sahren. Sein Bogen hat mehr
Kraft, aber nicht die Feinheit und Mannigfaltigfeit des Hell:
meöberger’schen.*) AS Solofvieler kann Herr Müller (er
gab vor einigen Jahren allein Concerte) mit Hellmeöberger
nit auf Eine Stufe geitellt werden. Hingegen iſt Müller
durch fein breites, markvolles Spiel, ſowie durch feinen unbe—
*) Wie faſt alle norddentichen Geiger fennt Müller feinen
»ipringenden Bogen«.
Müller und Hellmesberger. 47
ſtechlich keuſchen Kunitfinn zum QDuartettipieler wie geichaffen,
während der virtuofere Hellmesberger Seine Persönlichkeit
mandhmal borandrängt und von den andern drei Herren ſich
mufitaliih den Hof machen läßt. Wir verlegen den größten
technischen Vorzug des Müller'ſchen Quartetts in das gleid)
männliche und bewußte Mitiprechen aller vier Stimmen, welche
trogdem die Anläffe auf das Feinste beachten, wo ein momentanes
BZurüdtreten des Einzelnen fchicklich erfcheint. Durch den fräftigen
Ton und Ausdrud find die Müller im Vortheil vor dem
Hellmesberger’ihen Kreis, deilen Ton oft an Gefäufel
grenzt, deſſen Ausdrud in weicher Gefühlsfeligkeit nicht felten mit
Einzelaccenten, Rubatos und ähnlichen Verfeinerungen die reinen
Gontouren des mufifaliihen Gedantens verwilht. Wenn man
dem Hellmesberger’ihen Quartett ſchlechtweg Kofetterie vor—
wirft, geht man vielleicht zu weit. Aber der Anſchein der Koket—
terie läßt fich nicht ganz hinwegläugnen. Unjerer Erachtens liegt
die Schuld der geringeren Kraft vorzugöweife an dem (im
Solo ſchätzenswerthen) Gelliften Hellmeöberger’s, der in jeiner
tremulirenden Sentimalität nicht zu begreifen fcheint, was der
Grundbaß eined vierftimmigen Sabes für eine Aufgabe hat.
Aus den oben harakterifirten VBorzügen der GebrüderMüller
ergibt fih, daß es vorzugsweiſe Haydn, Mozart umd der
frühere Beethoven find, welche fie am trefflidhiten vortragen.
Den maßvollen, milden Geift der Mozart’schen eriten Säge und
Adagios, die big zur Drolligkeit wirkfame Laune der Haydn'ſchen
Menuets, endlih Beethoven’3 wie Fener aus dem Felſen brechende
Finale, — wir haben fie niemals fo echt fünftleriich aufgefaßt fo,
vollendet ausgeführt gehört, als durch die Müller. Namentlich
erregt die fchlichte und doch wirkſame Natürlichkeit ihres Adagio
und Die beilpiellofe Kraft ihrer pfeilichnell dahin fliegenden
Preftos jedesmal unfere ganze Bewunderung. Weniger fcheint
der Müller’ichen Individualität (und wahrlich in Ein Jindividuum
gehen alle Bier mit wunderbarer Afftmilirungdfraft auf!),
weniger fcheint ihr der Vortrag neuerer Kammermuſik zuzu:
jagen. Mendelsjohn, Schubert, Schumann, kurz alle
Muſik, die nicht in dem vollen Tageslicht der Clafficität, Sondern
in dem Dämmer der Nomantif webt, verlangt über der correcten
48 1852—1858.
Durhführung ein Element, welches die Gebrüder Müller nicht
in ihrer Gewalt haben: das individuell Empfundene, Sehne
jüchtige, Ahnungsvolle.
Hier öffnet fih das Gebiet, wo Hellmesberger ent-
ichieden glüdlicher tft. Sein dem Zarten, Elegifchen mit Vorliebe
zugewandter Vortrag weiß ſolche Gompofitionen mit einen
poettiihen Schmelz wiederzugeben, weldhen die Müller nicht
erreihen. Wir erinnern beiſpielsweiſe an das variirte Andante
in Schubert’3 D-moll-Quartett und an die drei eriten Süße
des Es-dur-Quartett3 von Mendesjohn In jolden Ton
dihtungen ift ein ſinniges Nachlafjen der ftrengen, ftraffen
Gleichheit oft erlaubt, ja geboten. Müller’ eherne Solidität
finft zwar nie biß zu der Philifterhaftigfeit eine® Janſa,
ftreift aber dennoch oft den feinen Duft von einer ſeltſamen
Wunderblume. Hier ift die Jugend an ihrem Pla und darf,
das erfahrene aber fältere Alter überflügelud, wohl mit Her:
wegh ausrufen:
»Schmäht mir nicht die goldnen Locken,
Nicht die ſtürmiſche Geberde,
Schön find Eure Silberfloden,
Doc) dem Gold gehört die Erdel«
Man ftieht, wie die erfreulichiten Vorzüge auf beiden Seiten
vertheilt find. Künftlerifches GlaubenSbefenntnig und perjünliche
Borliebe entjcheiden fi denn für hier oder dort.
Einer Aeußerlichkeit wollen wir noch gedenken, welche uns
den Genuß der Hellmeöberger’ichen Productionen oft beein-
trächtigt hat: das lange Ausfegen zwiichen den einzelnen Süßen
eines Quartett? und übermäßige Nachitimmen der Inftrumente
in diejen Pauſen. Erfteres ift unmuſikaliſch, Teßteres grauſam.
Beides unnöthig, wie die Gebrüder Müller praftiih darthun.
Mendelsjohn und Schumann haben, vielleiht durch Er-
fahrungen gewißigt, in einigen ihrer jpäteren Werke blos Ge—
neralpaufen zwijchen den einzelnen Süßen geitattet, um die jo
viel beredete Einheit der vier Säße doch auch zur Wahrheit zu
machen. Dieje Einheit ift geopfert, jobald fih im Publicum
neue Gonverjationen anipinnen und am Quartetttiſch die Bar:
barei eines ımgenirten Quintenprobirens losgeht, al3 hätte man
Oeſterreichiſche Militärmufit. 49
noch bequem eine halbe Stunde bis zum Anfang des Concerts
todtzufchlagen.
©efterreichifhe Militärmufiß.
Die öſterreichiſche Militärmufik ift durch einige bewundernde
Worte Roſſini's in Baden-Baden, ſowie durch den im gleichen
Sinn lobenden Reifebericht eines befannten Schweizer Militärs
fürzlich wieder der allgemeinen Aufmerkſamkeit zugewendet
worden. Von jeher gehörte diefelbe zu jenen Dingen in Oeſter—
reich, deren Trefflichfeit weit größer, ald der Lärm, den man
davon madht. Aus der Zeit der Befreiunungsfriege ftammt die
noch vielverbreitete Anficht, daß die Preußen die befte Feld:
muſik befigen, eine Rangordnung, gegen welche Defterreich jeden:
falls Einfpruch erheben darf. Die Superiorität der Öfterreichiichen
Militärmuſik dürfte bald allgemein anerfannt fein. In Städten,
wo die Regiments-Orcheſter verjchiedener Armeen neben ein:
ander concurriren, wie in Mainz u. a., hat die Vorliebe des
Publicums fich ſehr bald für die Defterreiher ausgeſprochen.
Des beifpiellojen Auffehens, das die öſterreichiſche Militärmufit
vor einigen Jahren in Homburg berborrief, wird man ſich
and den Zeitungen erinnern. Die »Bande« des Regiments
Benedek hat wohl nur Einen Gegner, den Spielpächter Benazet
in Baden-Baden, welcher fie jeden Sonntag von Raftatt muß
hinüberfommen Laffen, will er nicht einen allgemeinen Aufitand
feiner Badegäfte gegen fich heraufbefchwören. Dieje friedlichen
Groberungen, welche unfere Armee mit dem Clarinett macht,
ftatt mit dem Bajonnet, find fürwahr nicht die legten. Auf
Flügeln der Harmoniemufit ift gar oft ſchon öſterreichiſches
Militär in die Herzen ganzer Bevölferungen eingezogen.
Zuerft und vorzugsweiſe militärifchen Zwecken dienftbar,
übt die Feldmufif doch nebenbei beachtenswerthe Fünitlerifche
Wirkungen. Wo aber foldhe vorhanden, da muß es auch erlaubt
fein, fie aus fünftleriichen Gefichtöpunften zu betrachten, jomit
als Muſiker aufzunehmen, was der Soldat bietet. Indem
die Regimentsmuſik vorzugsweiſe angewieſen tft, im Freien zu
Hanzlid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 4
50 18521858.
jpielen, bat fie ſtets die zahlreichite, dankbarite und empfäng—
lihfte Hörerfchaft. E3 gibt feinen Kumftgenuß, der in fo hohem
Grade demofratiich heißen kann, als das Spiel der Regiments—
banden. Da darf jeder theilnehmen, ohne Eintrittögeld und
Salontoilette, — haben doch Taufende von Mufifbedürftigen,
die weder da3 eine noch das andere befigen, fich oft alüdlich
gefühlt, ihr Concert unter freiem Himmel zu finden. Selbit
in den mufikreichiten Hauptitädten äußert fich die Liebe der
Bevölkerung für die Negimentsmufif jo auffallend, daß ihre
Klänge alle Fenfter aufgehen machen und Hunderte mufifalifcher
Beripathetifer nach fich ziehen. Wie viel gewaltiger iſt Diejer
Zauber erjt in der Provinz! Der Stab eines Negiments fommt
häufig in Orte, wo nie ein Orcheiter ertönt hat, wo man nun
die eriten Eindrüde einer großartigeren, vollen, reinen Mufif
empfängt. Kein Wunder, wenn dieje Eindrüde jo mächtig find,
daß in jolden Städtchen fich jahrelang die Erinnerung daran
erhält. Die Regimentsbanden find wahre mufifaliiche Miffionäre,
welche in ſtumme Gegenden mit Sang und Klang einziehen, das
fröhliche Evangelium der Kunſt predigen.
| Für die allgemeine muſikaliſche Eultur kann es darum
nicht gleichgiltig fein, was die Menſchen aus jo mächtiger
Hand empfangen. Nicht die großen Meifterwerfe deutſcher
Kunst, aber Eräftige, charaktervolle, in Trauer wie in Luſt ſtets
männlich bleibende Stüde joll ein Orchefter von Kriegern er:
tönen laſſen. Beethoven’: Wort, die Tonkunſt jolle nicht
rühren, fondern »dem Manne Feuer aus dem Geijt jchlagen«,
muß feine Erfüllung vor allem wohl bei Regimentsmuſiken
finden. Leider ilt in die gefammte moderne Militärmuſik viel
Weichlichkeit eingedrungen, theils duch die Einflüffe der
italienifchen, theil® der Oper überhaupt. Man hört bei den
Productionen der Militärbanden jo viel ſchmachtende Gantilenen
und anderes lauwarme Zeug bon Donizetti und Verdi, daß
man oft feinen Augen nicht traut, welche deutlich Säbel und
MWaffenröde unterfcheiden. Wir find aber der Meinung, Daß,
wenn man aus einer welſchen Oper fommt, man fih an den
Klängen der Regimentsmuſik jollte ftärfen und erfrifchen fünnen,
und nicht umgefehrt. Ueberdies hHerricht bei Regimentsmuſiken
. Oeſterreichiſche Militärmufif. 51
der fatale Brauch, dieſe Melodien von den markdurchdringenden
Tönen des Flügelhorns, Euphonions oder der Piſtontrompete
blaſen zu laſſen. Dieſe Blechinſtrumente ſind durch mannigfache
Form, großen Tonumfang und unzählige Klappen leider dahin
vervollkommnet worden, Alles blaſen zu können: die ſanfteſte
Melodie, die flüchtigſte Roulade iſt nicht ſicher vor ihnen. Be—
kannt iſt der geheime myſtiſche Zuſammenhang Verdi's mit
dem Flügelhorn, eine Wahlverwandtichaft, welche uns faſt nur
die Wahl läßt zwifchen dem Glauben an eine Menichwerdung
jenes Inftrumentes oder aber an eine Juftrumentverwandlung
Verdi's. Bei der bejonderen Pflege de Flügelhorns ijt daher
auch das Vorherrſchen Verdi'ſcher Opernſachen in den Pro—
gramm der Militärmufifen eine naturgeleglihe Conſequenz.
Am unſchicklichſten ericheint und die Verwendung von
Dpernthemen fir Militärmärſche. Theatraliiches Raffine—
ment und weibiiche Sentimentalität dringen damit in die Marſch—
muſik, welche immer die Kraft gefunden männlichen Muthes
athmen ſoll; — von der mufifalifhen Verrenkung, welche die
Driginalmotive dadurch erfahren, gar nicht zu reden. Zehnmal
beiler als dieſe opernhafte Empfindelei iſt die etwas leicht:
fertige Luftigkeit, die wir häufig in den Märchen öfterreichiicher
Regimenter antreffen. Der Uebergang von der ehemaligen
graditätiihen Würde zu tanzartiger kecker Beweglichkeit ericheint
in unfern Märjchen fait ausnahmslos vollzogen. An und für
fih tft gegen den leichteren Charakter, den die deutſche Militär:
mufif mit der Zeit angenommen, nicht einzuwenden. Vielmehr
iſt diefer fee, fröhlide Schwung, jo lang er nicht aufhört,
männlich zu fein, erfriichend und bekanntlich dem National»
charafter der Defterreicher entfprechend. Unſere Einſchränkung
weiſt aber auf eine Grenzlinie Hin, die nur zu leicht über-
ichritten ift. In der That liegt in dem hüpfenden Tanzcharatter,
welchen die beiden Strauß und ihre zahlreichen Nachahmer
in die Märſche gebracht Haben, die Gefahr, daß dieſe mili:
täriihe Mufit ganz aus der Sphäre fräftigen Grnites her—
ausgedrängt werde. Bei dem friicheften Mari jollte man
nie vergeffen, daß es Krieger find, die fich ihn aufipielen.
Wenn der Soldat zum Tanz geht, jchnallt er den Säbel
4*
HARVARD UNIVERSITY
EDA KUHN LOEB MUSIC LIBRARY
CAMBRIDGE 38, MASS.
52 1852 —1853.
ab: der Mari foll unter allen Umftänden bewaffnete
Muſik bleiben.
In diefer einen Beziehung ift mir der mehr feierliche und
würdevolle Charakter der preußifchen Märfche, namentlich
in der Gapallerie, aufgefallen. Da herrſcht noch (im Gegenſatz
zu unferen Märjchen) der Biervierteltaft vor Dem Zweiviertel—
taft, die längere, gebundene Melodie vor dem hüpfenden Polka—
Rythmus, die Baßbegleitung in Viertelnoten vor der in Achteln.
Gin faft ftereotyper, an die Polonaifen-Cadenz mahnender
Schlußfall hält mit etwas gravitätifcher Würde auf der vor:
legten Note inne. Diefer feierliche Ausdrud der preußifchen
Parademärfche wird durch einen Beltandtheil ihrer Reitermuſik
weſentlich unterftüßt, welchen wir nicht beißen: es find Die
Heerpaufen. Diefe Baufen, vor dem Reiter auf beiden
Seiten des Pferdes befeftigt, machen fehr ftattliche Figur und
reihen an die älteiten Zeiten des deutſchen Heerweſens. Mie
die Heine Trommel (Tambour) für den kurzen, friichen Rythmus
unentbehrlich ift, fo die Pauke für den Ausdruck des Feierlichen,
Gravitätiichen. Eine andere werthvolle hiſtoriſche Reminiscenz
in der preußiichen Armee find die jedem Garde-Regiment bei-
gegebenen Tronmler und Pfeifer, deren Märſche bei aller
Dürftigfeit doch durch ihre eigenthümlich lebhafte Färbung
frappiren. Hingegegen iſt das geftimmte Triangel- oder Gloden-
ipiel der preußiichen Artillerie eine recht unmilitärifche Kinderei
und der öfterreichifchen Armee glüdlicherweife fremd. Cinmal
beim DBergleichen angelangt, muß ich nun wohl zu dem ein:
gang gemachten Bekenntniß zurücgreifen, daß der Totaleindrud,
den die Leiftungen der preußiſchen Milttärmufif mir machten,
entichieden zum Wortheil der öfterreichifchen ausfiel. Sene habe
ih wiederholt bei großen PBaraden gehört, welche der König
jeldit in Berlin und Potsdam »abnahm«, aljo bei Gelegen-
heiten, die jedenfall den Ehrgeiz auf's höchſte antreiben
mußten. Exact eingefchult waren die Mufifer, und unter offenbar
guter Leitung. Die Horniften und Trompeter der Cavallerie—
Regimenter entwicelten jogar eine bedeutende Virtuofität. Leider
waren diejer Birtuofität fo halsbrecheriſche Gänge und Pafjagen
zugemuthet, daß die Neinheit des Tones fortwährend leiden
DOefterreihiiche Militärmufif. 53
mußte. Enticheidend fam mir vor, daß das Spiel der öfter:
reihtichen Banden ausdrucksvoller, friiher, lebendiger Klingt.
Die Leute fpielen bei und mit größerer Freude an der Mufit,
mit feinerem Gehör und Takt, furz mit mehr mufikalifcher
Empfindung. Wenn die preußiihen Muſiker durch ihre eracte
Schulung fi hervorthun, jo imponiren die üfterreichiichen
durch eine mindeften® ebenjo eracte Schulung und dabei durch
»- ihr auffallend mufifaliiches Naturell *).
Zwei Momente find e8, welche unjerer Militärmuſik von
vornherein die größten Vortheile fichern: das erite liegt in den
Nationalitäten, das andere in der Heerverfaflung Deiterreich®.
Die Slaven, inäbefondere die Böhmen, find geborene
Mufifer und für jedes Orchefter unſchätzbar. Der Slave, der,
ſelbſt wenn er ohne alle mufifalifche Vorbildung zum Regimente
fommt, lernt Mufit Schnell und gern; in Böhmen wird über:
dies faum ein Banernjohn ohne irgend eine mufifalifche Fertig:
feit oder Vorkenntniß gefunden werden. Eine Armee, welche in
der Lage iſt, den Grundſtock ihrer Mufifbanden aus Böhmen,
Polen und Südflaven zu bilden, fteht gegen ein ausfchließlich
deutſches Heer in demjelben WVortheil, wie der Bebauer eines
vorzügli fetten Ackers gegen den Urbarmacher fteinigeren
Bodens. Schon die gleiche Eultivirung wird dort ungleich
üppigeren Ertrag hervorbringen. Neben den Slaven find Die
Italiener eine Nation von außerordentlihen Mufifanlagen, und
die Öfterreihiichen Alpenbewohner dürften mindeftend für ebenfo
mufifempfänglih gelten, als irgend eine andere deutiche Be—
völferung. So hat die mufifalifche »Grundmacht« Oeſterreichs
ihresgleihen nicht in der Welt. Diefe Grundmacht aber allent-
halben und unmittelbar verwerthen zu dürfen, ift das Vorrecht
und Verdienft der Armee. Troß diefer ungemeinen natürlichen
Befähigung könnte dennoch die öfterreichiiche Militärmufif kaum
jene Fertigkeit erlangen, die wir an ihr bewundern, wäre ihre
allmälige Ausbildung nicht durch eine ausreichende Dienftzeit
*) (Nachträgliche Bemerkung.) Diejes Urtheil fand eine auf:
fallende und rühmliche Bejtätigung bei dem Concurs der Militärmufifen
zu Bari während der internationalen Induftrieausftellung von 1867.
54 1852— 1858.
garantirt. Die längere Capitulation der Dejterreicher ift
jener zweite fünftlerifche Vortheil, den wir oben, als auf der
Heerverfafjung beruhend, andeuteten. In der preußijchen Armee
macht die furze Capitulationzzeit es unmöglich, jo tüchtige
Muſiker heranzubilden. Ihre Negimentsbanden find daher meift
gendthigt, fi durch Mitglieder zu verftärfen, die nicht im
ftrengen Militärverband ftehen, jondern mehr in einem freien
Lohnverhältniß. Der mächtige Sporn der Disciplin fällt bei dieſen
hinweg. In der öfterreihiichen Armee reicht die Dienftzeit im
Vereine mit der Disciplin aus, tüchtige Mufifer zu bilden;
fte auch nach) Ablauf der apitulation zu erhalten, gelingt
ſehr Häufig durch die Vereitwilligfeit, mit welcher man aus—
gezeichneten Hoboiften den MWiedereintritt ind Regiment wün—
ſchenswerth zu machen weiß.
Haben wir die Militärorchefter bisher in ihrer gewöhnt:
fihen Webung als Harmoniemufif (bei Märichen, Zapfen:
ftreichen 2c.) betrachtet, fo erbliden wir fie in einer ungleich
höheren fimftleriihen Bedeutung dort, two fie durh Bogen:
inftrumente erweitert, vollftändige Orcheiter bilden. Es
wird nicht über zwei Decennien her jein, daß die Betheilung
der djterreihiihen Regimentsmuſiken mit Streichinftrumenten
(in größeren Garnijonsftädten) fi) Bahn brad. In dieſer
Geſtalt tritt die Regimentsmuſik eigentlih aus ihrer rein mili-
täriſchen Specialität heraus und erreicht höhere Fünftlerifche
Wirkungen. Es find namentlich die » Gartenproductionen« der
Militärcapellen, welche den Reſidenzbewohnern eine beliebte
Erholung, Eleinen Städten oft den einzigen mufifalifchen Kunft:
genuß verihaffen. Welche Ausbildung die öfterreifchen Feld-
mufifen auch in dieſer viel fchiwierigeren und weniger geübten
Zufammenfegung erreicht haben, ift befannt. Es find uns in
verichiedenen Provinzialſtädten mufterhafte Leiftungen diefer Art
befannt geworden. Regiments-Capellmeiſter Schubert gab
z. B. ein Concert in Prag, mworin feine »Bande« u. a. ſym—
phonifhe Kompofitionen von Berlioz, alſo das jchwierigite,
was es bis jeßt in diefer Gattung gibt, mit großer Präcifion
vortrug. Die zahlreichen anftrengenden Proben zu dieſer Pro—
duction ließen erkennen, was militäriihe Subordination jelbit
Defterreihiihe Militärmufit, 55
für reinkünſtleriſche Zwecke werth fein könne; fein Chef irgend
eines Givilorchefter würde diefe Aufführung damals zuſammen—
gebracht haben. Es mag jehr gegen idealiſtiſche Theorien ver:
ftoßen, daß die Kunſt durch etwas von der perfünlichen Freiheit
fo ungemein Verſchiedenes, wie die Suborbination tft, gefördert
zu werden vermöge, dennoch ift dem fo. Jede Kunſt beſitzt
in ihrer Technik eine Seite, welche nur durch anhaltenden
Fleiß ausgebildet werden kann, und dieſe technifche Seite
ift bei dem Zuſammenwirken Bieler noch ungleich wichtiger,
al® beim einzelnen Pirtuofen. Der Taftirftab und der
Gorporalftod haben beide den Zweck, viele Köpfe unter
Ginen Hut zu bringen; wo fih aljo die Finftleriihe Sub:
ordination mit der militärifchen vereinigt, »da gibt es einen
guten Klang«.
In den Gartenconcerten oder fonftigen außerdienftlichen
Productionen find die Militärorcheiter am meijten im der Lage,
rein fünftleriihe Zwede zu verfolgen. Die Stellung de3 Eapell:
meifters erjcheint da viel jelbjtändiger, die Wahl der Stüde
freier, die Mittel vollzähliger. Aus diejen günftigen Bedingungen
entſpringt jedenfall3 eine ftrengere künſtleriſche Verpflichtung.
Bor allem jollte darauf gejehen werden, daß folche vollftändige
(mit Streidinitrumenten verfehene) Militärcapellen nur Orcheſter—
jtüde jpielen. Seltene Ausnahmen abgerechnet, paffen die Solo—
productionen, in&bejondere der Variationenkram, Tchlecht zu dent
Charakter einer Militärmufil. Gibt man Orchefterwerfe, dann
möge man fi) mit umerbittlicher Strenge an die Inſtrumen—
tirung des Autors halten. Die Freude, einen Beethoven oder
Mendelsfohn im Nepertoir von Regimentscapellen zu erbliden,
wird dem Hörer nicht felten dadurch verbittert, daß er feine
Lieblinge in einer willfürlihen SInftrumentirung miederfindet.
Dpernarien u. dgl. machen freilich ein Arrangement nöthig,
wenn auch feinestwegs Schon ein folches, das die Singftimme
einfah in das Blech verlegt und die Violinen begleiten läßt.
Es iſt die Macht der Gewohnheit, daß Regiments-Capell—
meister gleihlam nur in Harmoniemufif zu denken vermögen;
und in dieſe ihre mufifalifhe Meutierfprahe alles ‘Fremde
ohnemweiterd überfeßen. In den PBroductionen mit vollftändigem
56 1852— 1853,
Orcheſter findet dad, was früher von dem wohlthätigen Einfluß
der Militärmufifer auf das Kunftleben kleiner Städte gerühmt
wurde, feine reinfte Anwendung. Ein wohlgeübtes Orcheſter ift
für Heine Städte ein ungeahnter, nie gehoffter Schatz, aus
dem ein reicher Kunftiegen erblühen kann. Durd Regiments:
capellen hat manche mufifliebende Bevölkerung zum erjtenmal
Weber, Beethoven, Mendelsfohn u. ſ. w. vollftimmig fpielen
hören; ja die Aufführung ganzer Opern in mander Kleinen
Stadt ift dur die Mitwirkung der Militärmufit möglich ge:
worden,
Das Beitreben, die mufifaliiche Kraft und Bildung in der
Armee immer mehr zu erhöhen, findet feinen Gipfel in der Ein-
beziehung der Vocalmufif. Die Rückſicht auf den Geſang iſt
im Militär jo felten, daß unfer Wink leicht befremden fann.
Dennoh fcheint er ung mwohlbegründet, lehnt fogar ein wenig
an praftiihe Erfahrung. ES find einige Jahre ber, daß in
Klagenfurt ein italienifches Regiment ftationirt war, das unter
feinen Gemeinen einen jungen Burjchen mit prachtvoller Tenor:
ftinnme hatte. Der Regiments-Capellmeiſter hatte fi) die Mühe
nicht verdrießen lajjen, den talentvollen »Lateiner« ein wenig
zu bilden und ihn bei öffentlichen Productionen vorzuführen.
Ich hörte ihn in einem MWohlthätigkeitöconcert und erinnere
mich lebhaft des eigenthümlichen Anblids, als der junge Soldat
in jeiner Montur bejcheiden vortrat und mit Eangvoller Stimme
jeine italienifhe Arie vortrug, Man wußte nicht, ob er mit
größerer Luft ſang, oder jeine Gameraden im Orcefter ihm
accompagnirten. Eine Arie (aus »Sappho«) hatte ſogar einen
furzen begleitenden Männerchor, der zum Theil aus Soldaten
desfelben Regiments gebildet war. Diefe Anfhauung und
manche Mittheilung des ftrebfamen Capellmeijter überzeugten
mid, wie lohnend einige Unterweifung im Gejang bei Sol-
daten, insbeſondere folder Nationalitäten fein müßte, welche
von Natur aus mit muſikaliſchem Talent auögeitattet find.
In der franzöfiihen Armee iſt Gefangsunterriht und
Gejangsübung geieglich eingeführt; dieſe »Orpheons militaires«
leiften mitunter ſehr Erfreuliche®. Der Geſangsunterricht kann
im Soldatenleben nur einen Kleinen Wirkungskreis einnehmen,
Oeſterreichiſche Militärmuſik. 57
aber einen ſehr wohlthätigen. Wenn wir nicht blos die dienſt—
liche Beſtimmung der Regiments-Orcheſter im Auge halten,
ſondern deren Bedeutung als muſikaliſches Bildungsmittel der
Mannſchaft, jo muß der Gedanke an den Geſang nahe liegen.
Eine Auswahl kräftiger, beherzter Soldatenlieder, von dieſen
friſchen, ſcharf zuſammenklingenden Männerſtimmen geſungen, —
wäre nicht das letzte Mittel, und eines der ſchönſten gewiß,
Soldatenmuth und Soldatenfreude lebendig zu erhalten.
1854.
Die Wiener Eoncert:Sailon 1853—1854.
Die Geſellſchaft der Mufikfreunde, die wir uns
gern ala eine Art muſikaliſcher Statthalterei vorftellen, hat den
oberften Posten in der Wiener Tonmwelt fräftig behauptet. Won
großer Wichtigkeit ift der von der Geſellſchaft nunmehr voll:
bradte Durhbruh aus den Schranken einer mißverjtandenen
(weil einfeitig begrenzten) Glafficität zu höherem und freierem
Standpunkt. Diefe Emancipation gefhah mit Maß und Klug:
heit, jedoch mit jo bewußter Einficht in ihre Nothmwendigfeit,
daß ein Rüdfall in das frühere ruffiiche Syſtem nicht mehr zu
fürdten ift. Die Aufführung der »Tannhäufer-Ouverture« von
Richard Wagner riß das Publicum endlih aus dem Miß—
vergnügen, fortwährend von einer epochemachenden Ericheinung
lefen umd hören zu müjfen, mit welcher man es doch in gänz—
liher Unbefanntfchaft ließ. In Wien ift MWagner’3 Oper noch
unbekannt, und füme wahrlid fehr zu Schaden, wollte man fte
nah der Tannhäujer-Ouverture beurtheilen. Sie verträgt im
Grunde feine Trennung von der ganzen Oper. Aus lauter
Motiven der Oper nach der Ordnung der Tertenttwicdlung zu:
fammengejeßt, wird fie in ihrer dramatifchen Bedeutung ſchwer
veritändlich. Wenn aber ein Orcheſterwerk Hebel des Verſtänd—
niſſes bedarf, welche außer ihm ſelbſt liegen, wenn es, um zu
gefallen, die Kenntniß deſſen vorausſetzt, nicht blos was es tit,
jondern eines Andern, was es bedeutet, dann fteht es um
jeinen mufifalifhen Werth Thon bedenklih. In der That
ift die Tannhäufer-Ouverture als Compoſition unerquicklich,
Die Wiener Goncert-Saifon. 59
wenn gleich ihre theils geiftreiche, teils grelle Inftrumentirung
Sntereffe erregt. Der einleitende Bilgerhor it unbedeutend,
feine (erfte) Figurirung mit herabhüpfenden Biolinfiguren ge=
ſchmacklos. Biel charakteriftifcher klingt das fich anichließende
Allegro mit dem dämoniſch aufiteigenden Viola-Motiv. Es be—
gleitet in der Oper das zauberhafte Bachanale im Hörjelberg
und ift auf der Bühne von großer Wirkung. Was aus diejer
Venusberg-Muſik in die Ouverture aufgenommen erjcheint, tit
auch an fih das Befriedigendite in Erfindung und neuen In—
ftrumentaleffecten. Das zweite Allegro-Motiv (Tannhäuſer's Lob:
lied auf Frau Venus) ift trivial, gejungen oder geipielt. Der
Theil, wo die Ouverture ſterblich oder befjer: künſtleriſch Schon
todt ift, wenngleich fie da den höchſten äußeren Glanz prätendirt,
ift ihr langer, dur) Monotonie und Lärm ermüdender Schluß:
ſatz, eine ſtyliſtiſche Trivialität, welche den Claviereffect der
»Umfpielungen« auf das Orchefter überträgt. Die Ouperture
wird muſiviſch zufammengefeßt, anftatt organifch entwidelt. Das
Ungeihil in Bewältigung ſymphoniſcher Form theilt Wagner
mit feinen Grafeind Meyerbeer. Diefe und manche andere
Achnlichkeit maht und Wagner’3 Abſcheu vor Meherbeer
pſychologiſch erſt recht begreiflih. Wagner hat zu feiner Tann:
"häufer-Duverture ein erflärendes Programm felbit verfaßt, das,
etwas ftarf finnlichen Inhalts, mit jener läftigen Schwülitigfeit
geichrieben ift, welche die Lectüre der Wagner'ſchen Schriften
zu einem wahren Mühfal macht. Die Beigabe eines Programm
war an und für fi ein Fehlgriff, weil fie die abgetrennte
Aufführung der Duverture geradezu autorifirt und fie in das
zwetdeutige Genre der Programm-Muſik reiht. Der Hörer wird
erjuccht, da3 im Programm geichilderte »Bild fi zuvor genau
einprägen zu wollen, weil nur dann die Anhörung felbit das
richtige Verſtändniß bewirken kann«. Man fieht, wie dieje Ein-
ladung abjihtlih von dem mufifalifchen Gehalt zu Gunsten des
dramatiichen ablenkt, aljo einen für ein Orcheiterwerf ganz un—
gehörigen Maßſtab und octroyirt. Die Ouverture hat bei der
Mehrzahl der Hörer durch ihren maffenhaften, fremdartigen
Glanz Beifall gefunden, von Seiten der Kritik einhellige Miß—
billigung erfahren. Indem fie aber zu Prüfung und Grörterung
60 1854.
veizte, zu Antheil und Parteiung aufrief, brachte fie neues Leben
in die Erſtarrung unferes mufifaliihen Tagewerkes. Und das
iſt's, was ung vor Allem Noth thut. Ja wäre durch die Vor:
führung Richard Wagner's auch nicht? anderes erreicht, als die
Megräumung einer Schranke mehr, die und von dem geiftigen
Großhandel Deutſchlands trennt, jo hätte die Wirkung des
Gebrachten deſſen Werth zehnfach aufgewogen.
Dieſes ſtete Benetztwerden von der künſtleriſchen Strömung
der Gegenwart iſt für die muſikaliſche Bildung einer Großſtadt
zu nothiwendig, um nicht jelbit mit Opfern erftrebt zu werden.
Gin ſolches Opfer ift die theilweiſe Beſchränkung der Glaifiker,
deren Meifterwerfe dem Mufikfreund nicht nur durd zahllofe
Aufführungen, fondern überdies durch fortwährenden häuslichen
Verkehr (in allen möglichen Arrangements) jo in Fleiſch und
Blut übergegangen find, daß durch die Häufigkeit ihrer Wieder:
holung wenigſtens fein dringendes Bedürfniß mehr zu erfüllen
iteht. Ob man an entzüdenden Klängen durch alle Ewigfeit jih
nicht jatt hören könne, darüber wollen wir hier nicht ftreiten.
Doch wollen wir eingeitehen, daß dieſes an drei große Namen
feftgenagelte Entziiden und etwas verfümmert wird, wenn wir
auf die Frage nad) den beiten Werfen der Gegenwart immer
die ftereotype Antwort hören: das fennen wir hier nicht. Nicht
die blinde Gier nad) Abwechslung iſt e8, jondern das Geiek
einer zujammenhängenden Bildung und die Eigenthümlichkeit
unferer Kunſt jelbit, ihre Formen zahlreich und jchnell zu ver:
brauchen, was in der Mufif mehr ala anderswo das Verlangen
nah friicher Nahrung wachrufen muß. Darım wird es uns
nur zum Wortheil gereihen, wenn wir die längitgefannten
größten Sterne einmal weniger betrachten, um den Blid auf
neue, jei e3 auch minderen Nanges, zum eriten Dal zu Ienfen.
Außer R. Wagner wurde von mufifalifchen Zeitgenoſſen
nur nod Ferdinand Hiller und zwar mit feiner Ouverture
zu »Phädra« berüdjichtigt. Sie war ein treue Abbild von
Hiller’3 Muſe jelbft, die uns auf das Liebenswürdigite anzieht,
jo lange ihre feinen, finnigen Gefichtözüge fi) nicht gewaltiam
zu tragiicher Leidenschaft anfpannen. Robert Shumann wurde
troß der ausdrüdlihen Zufage der Ankündigung nicht vorge:
Die Wiener Concert:Saifon, 61
führt. Man ſollte füglich nichts veripredhen, was man nicht
auch zu Halten geſonnen ift. Noh immer hat die Gefellichaft
der Mufiffreunde nicht Eine Note diejes bedeutenditen der
lebenden Inftrumentalcomponiften gebracht. Diefer mächtige und
liebenswürdige Geift ift durch die grauenvolle Nacht, die fich
über ihn gejenft, den Leidenfchaften des Tages entrüdt worden.
Den Werfen des Sranken, vielleicht geiſtig WVerblichenen, wird
eine ruhigere Würdigung zu Theil, und wenn fie nunmehr dem
Herzen der Nation näher treten, jo kann man jich über ein-
zelne Höchſtſcharfſinnige tröften, welche mit Befriedigung in
Schumann's ſchönſten Mufifen die Keime feines jegigen Unglücks
nachzuweiſen lieben. Beethoven war durd die 2, 6. umd
9. Symphonie, dann durch daS Klavierconcert in Es. Seitens
der »Gejellichaft« vertreten. Zählt man hierzu acht Vorftellungen
de3 »Fidelio« im Opernhaus, die Vorführung des Violin—
concerte® in D durch Vienxtemps, die zahlreichen Kammer—
mufifen in den Quartett-Soiréen, Liedervorträge von Herrn
Ander, endlich die unausbleiblichen Sonaten in Cis-moll und
F-moll durch Fräulein Staudach und Herrn Goldſchmidt,
fo wird man diefe Repräfentation Beethoven's in Einer Saifon
rühmend anerkennen müffen. Sie allein wäre ſchon ausreichend,
das alte Geſchwätz von der »ausſchließlichen Trivialität« des
Wiener Mufiflebens zu entfräften, daS foeben wieder von Herrn
Fr. Brendel in feiner »Mufif der Gegenwart« — beiläufig
gejagt einer Verwäſſerung der Richard Wagner'ſchen Grund—
fäße durch die echt Brendel’iche Ignoranz und Geiftlofigfeit —
neu aufgewärmt wird. Die Trauercantate »Gotted Zeit« von
3. ©. Bad, das Ave verum von Mozart und dejien Sym—
phonie in D waren fehr gute Nummern, die Vorführung der
» Struenfee-Mufit«e von Medyerbeer rechtfertigt fich durch den
blendenden Glanz dieſes Namens. »Struenſee« beiteht fait nur
aus Zügen raffinirtefter Effecthafcherei, ohne das Gegengewicht
echter Größe und Poeſie. Der krankhafte Zug, der in allen
Mehyerbeer'ſchen Werken herricht, ift in der Struenſee-Muſik zum
vollkommenen hippofratifchen Geſicht ausgebildet. Hier iſt Alles
mit einer Abfichtlichfeit erflügelt und gemacht, daß man feinen
Augenblid der Muſik und ihren Gegenftand mit vollem Antheil
62 1854.
jih hingeben kann, fondern gequält durch den totalen Mangel
an Aufrichtigkeit fi) wie von einer glänzenden Lüge abmwendet.
Struenjee dünft und das gemachteite, unerquidlichite Werk des
geiftreihen Mannes. Die Ouverture ift aus früheren Jahren
jattfam befannt. Auch die unjterblichen Kritiken find uns nod)
erinnerlih, welche damals dieſe ungefüge, weder bedeutend
erdachte, noch ſchön disponirte, mehr grell als pikant inſtru—
mentirte Muſik Mendelsſohn's »Fingalshöhle«, Beethoven's
»Leonore-Ouverture« und ähnlichen Kleinigkeiten gleichzuſtellen
nicht errötheten. Zeigt doch Meyerbeer in dieſer muſiviſch zu—
ſammengeſetzten Ouverture nur abermals, daß er mit allem
Geiſt und aller Mühſeligkeit nicht im Stande iſt, eine größere
Inſtrumentalform zu erfüllen und zu beherrſchen. Er bedarf
unentbehrlich des Wortes, aus dem er einen muſikaliſchen Inhalt
herauszieht, ein für fich jelbit redendes Inſtrumentalwerk wird
er niemals jchaffen.
Aus der Muſik zu Struenjee, welche fich theils zu jelbit-
ftändigen Zwijchenactfägen außbreitet, theil3 die Handlung bes
gleitet (Mari, Chor, Aufruhr), theils endlich in die Worte
ſelbſt melodramatifch eingreift, ift der Chor, »Held Chriſtian
ſtand am hohen Maſt« (nad) einem dänifchen Volkslied), bei
weitem das friicheite wirkſamſte Stüd. Meyerbeer benükt es
im Verlauf des Trauerfpiel® als mufifalifches und dramatifches
Motiv jehr häufig, nach Art des Iutherifchen Chorals in den
Hugenotten und ähnlicher Stereotypen. Schade, daß auch diejer
fräftige Chor durch echt Meyerbeer'ſches Raffinement, 3. B. eine
nätelnde Obovebegleitung, entjtellt wird. Won größeren Mufik-
jtüclen enthält Struenſee ferner zwei Entre-Actes, den »Hofballe«,
muſterhaft geſchmacklos, geſucht, ganz unſchön, dann eine »Dorf-
ichenfe«. Lettere hätten wir, wäre und nicht ein Programm zur
Hand gewefen, unbedenklich für einen Herenjabbath gehalten.
So foll fi Ländliche Fröhlichkeit ausiprehen? Die darauf:
folgenden Verſe Seidl's machen zwar eine fürdhterliche
Schilderung von der Verfunfenheit des dänischen Volkes, allein
nach Meyerbeer muß es aus lauter Teufeln beitanden haben.
Auch der Trauermarſch zu Struenfee’s Hinrihtung, mit feinem
wigig gebrochenen Dreiflang, hat (für den heroiichen Stoff
Die Wiener Concert:Eaifon. 63
ganz unpaſſend) einen wahren Galgenhumor. An entiprechenditen
und einfachiten erichienen und die fleineren melodramatiichen
Stücde, namentlih in den legten Acten, wie denn Meperbeer
befanntlih folche Kleine Formen trefflih auszufüllen veriteht.
Selbit in das große Aufheben, das mit der Inftrumentirung
des Struenjee gemacht wird, fünnen wir nicht unbedingt ein—
ftimmen. Denn abgejehen davon, daß wir uns mit dem Begriff
einer an fih jchönen Inftrumentirung, losgetrennt von dem
Werth des injtrumentirten Gedanfens, nicht befreunden können,
finden wir das Orcelter im Struenjfee wohl glänzend, über-
rafchend, im Einzelnen neu und geiftreich, oft aber, ſehr oft bis
zur Verzerrung grell und geſucht. |
Bon einheimiihen Tonfegern hat die Gejellichaft nicht?
aufgeführt, diefe zeigten fi blos hie und da mit einigen
Stleinigfeiten. Nur von Herrn 3. Aßmayer erſchienen zwei
größere Werke, ein Oratorium und ein Streichquartett, zur
allgemeinen Bejtürzung.
Heberreich war in diefer Saijon eine Compoſitionsgattung
vertreten, welche gewöhnlich nur einen engeren Kreis von Muſik—
freunden zu fejjeln pflegt: die Kammermufif. Es gab nicht weniger
al ein und zwanzig Quartett-Soiréen, zuſammen mit
drei und jehzig Nummern. Das »Hellmesberger’iche Duartett«,
das fich einer verdienten, aber bisher durch feine Vergleichung
controlirten Beliebtheit erfreut hatte, erhielt plöglid in Müller
und Vieurtemps zwei Nebenbuhler von eminenter Bedeutung.
Wenn und die Gebrüder Müller daS Quartett von Geite
des eracten Zufammenjpiel® in einer Vollendung vorführten,
wie fie ein zweites Mal nicht wieder vorfommt, jo war es
Bieurtemp3 gegeben, dur) den hinreißenden Vortrag der
PBrimftimme altbefannten Quartetten den Geift einer neuen
imponirenden Individualität einzuhauchen.
Dem Luxus an Quartettmufit fteht die troitloje Arm—
jeligfeit gegenüber, mit der heuer abermald das Oratorium
vertreten wurde. Wir hatten im vorigen Jahre gut prophezeien,
daß wieder Haydn's »Schöpfung«e und eine eimheimilche
Mittelmäßigkeit fich ablöfen würden. Die »Schöpfung» erſchien
überdies in jo abfchrecdend fchleuderifcher Aufführung, daß jelbit
64 1854.
in janfteren Gemüthern die Frage lebhafter aufitieg, ob dieſes
Gebahren Tänger fortdauern könne. Das religiöfe und das
äfthetiiche Bedürfniß vereinigen fi) würdig in dem Verlangen
nad) der Vorführung jener monumentalen Tonmwerfe, in denen
die heiligen Geftalten der Bibel aus der weihevollſten Ver—
tiefung deutſcher Muſik jo mächtig emporfteigen. Gebt ums
endlih Bach und Händel!
Vorzüglih begünftigt war die Saiſon in Betreff der
Virtuoſen. Bekanntlich wünſcht man deren fehr gute und fehr
wenige. Denn nur jehr wenige find wirklich jehr gut. Das von
der Tageöfritif beinahe jedem Virtuoſen geipendete Lob, es fei
ihm die Bewältigung techniiher Schwierigfeiten nur Mittel
zu höherem Zweck, ift unter ſechs Fällen dreimal erlogen. Es
bezeichnet aber ſelbſt im verdienten Fall noch lange nicht jenen
legten Höhenpunft der Birtuofität, wo dieſe, ſchöpferiſchen
Potenzen ebenbürtig, den vollen Schein der Soupveränetät
erreicht. Diefen Gipfel, der einige taufend Fuß über der Vir—
tuoſenfläche ragt, erbliden mir erſt da, wo vollendete Technif
von einer jo eminenten Individualität getragen wird, daß dieſe
jedes Kunſtwerk wie ein jelbitgedichtetes, alfo mit dem ganzen
Kraftzuichuß der eigenen Verjönlichkeit, auszuftrahlen vermag.
Mie ſchön die möglich fei, war und vergönnt von Jenny
Lind zu erfahren.
Um Alles zu vereinigen, fehlte ihr auch nicht die lebte
Beglaubigung bedeutender Phänomene: daß fie zu Principien-
fragen anregen. Jenny Lind hat wiederholt den Streit ver-
anlaßt, ob und immiefern die Virtuofität productiv genannt
werden könne. Wenn man das Spreu mäßigen Geſchwätzes
entfernt, jo läßt fi) daraus eine für die Kunſtwiſſenſchaft nicht
unfruchtbare Anſchauung gewinnen. In der Aeſthetik, vornehmlich
der mufifaliichen, find die Morte »Production und Repro—
duction« zu feftftehenden techniſchen Ausdrüden geworden,
welche den Gegenfat zwifchen der Thätigfeit de8 Componirens
und des bloßen Vortrages der Compofition einfach bezeichnen.
In diefem Sinne tft an der unfehlbaren Anwendung beider
Ausdrücde nichtd zu deuten noch zu mäfeln. Fallen wir jedoch
— ımd nichts hindert und daran — den Begriff des Pro—
Die Wiener Concert:Saijon. 65
ductiven höher, nämlich als etwas mit jchöpferiicher Kraft
Thätiged, das große Wirkungen zurüdläßt und zwar nit aus
Nichts Etwas, wohl aber ein Nicht? zu Etwas machen kann,
dann ift die Virtuofität in ihrer höchſten Bildungsform ungleich
productiver zu nennen, als eine mittelmäßige Thätigfeit wirf:
fihen Hervorbringen?. Wenn Jenny Lind Bravourarien oder
Taubert’fhe Lieder fingt, jo ift es mit die Höhe des
mujikaliichen Gedanken: an ſich, was die außerordentliche Kraft
folder Schönheitsoffenbarung erzeugt, jondern die Hingebung,
mit welcher die Künſtlerin diefe Compofitionen in fi, alfo in
einer höher begabten Fünftlerifchen Perſönlichkeit dergeftalt hegte
und nährte, daß fie fie volljtändig individualifirt, ſomit
bereichert wiedergibt. Für Jenny Lind find die vorzutragenden
Stüde nicht blos ein Ziel, daS zu erflimmen, jondern geradezu
Stoff, der im Sinn eines ebenbürtigen oder überlegenen Geijtes
zu formen ift. Sie verfährt damit, wie der fchaffende Künſtler
mit dem Rohſtoff, alſo productiv.
Hatte die Geſangskunſt uns in Jenny Lind ihre erite
Größe gejandt, jo that die Virtuofität des Violinjpiel® dasſelbe
in der Perſon Vieuxtemps. Wie jene die mufifaliiche Ver-
flärung echter Weiblichkeit, jo ift diejer durchaus Mann in
jeder jeiner fünftleriichen Menßerungen. Indem er den Ton
immer tief an der Wurzel faßt und mit majeftätiiher Bogen-
führung weit in die Runde fchiet, hat er die technifche Zauber:
formel gefunden, eine Mufif groß, machtvoll, männlich Hinzu-
itellen. Auch er holte Beethoven’ und Mendelſohn's Eon-
certe, Haydn’3 und Mozart's Quartette, Bach's Giaconna
ihöpferifih aus fich heraus wie eigene Gedanken und bot uns
damit Kunftgenüffe, deren Eindrud nie verduftende Früchte
trägt. Vieurtemps' Programme ließen Claffifhes mit Elegantem
wechſeln und blieben wenigitend von Schlechtem frei. Seine
eigenen Gompofitionen vereinigen Züge von Geiſt und Poeſie
mit großer Kenntniß der muſikaliſchen Mittel, ohne eigentlich
itarfes jchöpferifches Vermögen.
Den Abend, al PVieurtemps (im Theater an der Wien)
Mendelsſohn's Goncert fpielte, eröffnete Herrn Suppe’
Orcheſter mit Mozart’3 Ouverture »La vilanella rapita«, welche
Hanslick. Mus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 5
66 1854.
hier noch gar nicht, oder wenigitens nicht innerhalb des Ge—
dädhtnißfreifes unferer Generation aufgeführt worden war. Das
Programm hatte die Ouverture nicht genannt und fo ging denn
das fleine, aber anmuthige, jedenfalls Hiftorifch jehr interejfante
Jugendwerk des Meiſters ganz unbeachtet vorüber. Wie klug
handelt der Mufil-Enthufiaft bei Beranger, welcher vorjorglich
Drdre gibt:
»Et vous, gens de l’art,
Pour que j’en jouisse,
Quand c'est du Mozart,
Que l’on m’avertisse!«
Nach Lind und Vieurtemps ift es vorzugsweiſe Julius Stod-
haufen, dem wir Erfreuliches zu danken haben. Ausgeftattet
mit einer für unfere fchreiluftige Zeit außerordentlihen Schulung
der Stimme, feinem muſikaliſchen Verſtändniß und herzens—
warmen Ausdrud hat er und in einer Neihe glänzend auf:
genommener Goncerte wieder Gejang gegeben. Voll auöge-
bildeter Grazie war fein Vortrag, der (nah Marr »in fi
jelbft vertrodnenden«, nad unjerem Geſchmack liebenswürdig
ftattlihen) Mufif von Bodgeldieu; und die rein Inrifchen Ge—
fünge Schubert's, Schumann’s ımd Meendeldfohn’3 haben mir
ihon heller Elingen, aber faum befjer fingen hören. Bathos
und Humor heißen die beiden Endpunkte, die Stodhaufen
verjagt blieben; was zwiſchen ihnen liegt, hat er meilterhaft
cultivirt.
Bon Geſangskünſtlern wäre noh Herr Géraldy zu
nennen, der und weniger durch den abjoluten Werth feiner
Leiftungen anzog, ald durch die fpecififche Parifer Art, mit der
er die nationalſten Mufilformen feiner Heimat vortrug. Er
vereinigte in bewinderungswürdigem Grad die drei dazu noth-
wendigen Eigenichaften: halbruinirte Stimme, virtuofe Decla:
mation und franzöfifhes Blut.
Eine Beiprehung der Sängerin Maria Cruvelli ſcheint
uns mehr in das Fach des bildenden Künſtlers zu gehören.
Die ſchönen, ſtatuariſchen Züge dieſer verjüngten »Bavaria«
wußten Erwartungen zu erregen, welchen ihr ſchwacher Geſang
nicht gerecht werden fonnte. Herr ©. Hölzl, der abermals mit
Jenny Lind. 67
der Miſſion betraut war, in fremder Leute Concerten ſeine
eigenen Lieder zu ſingen, hat ſeinen großen Verdienſten um
die Erheiterung des Publicums diesmal noch ein Meiſterſtück
literariſch-kritiſcher Exegeſe beigefügt. Schiller's »Mädchen aus
der Fremde« war bekanntlich bisher ein Zankapfel der poetiſchen
Auslegefunft, welche bald den Frühling, bald die Liebe, bald
die Poefie darunter verftanden mwiffen wollte, bis Herr Hölzl
nunmehr durch feine im ftrengen Jodlerſtyl gehaltene Compofition
des Gedichte unwiderleglich entichieden hat, daß mit dem
Mädchen aus der Fremde« eine fteirtfche Sennerin gemeint
ift. Die Virtuofen Königslöw, W. Neruda (Violine), Braga,
Schmidt (Cello) und Terfhad (Flöte) find in einer Meberficht
nur dem Namen nad, wenn gleich nicht unverdienſtlich zu
nennen. Das Clavierſpiel war im der verfloffenen Saiſon
quantitativ ſtark vertreten, ohne jedoch eine einzige bedeutende
Verjönlichkeit aufzumeifen. Auf Satter's Tajtenftürme folgten
Willmer's trillernde Seufzer und die niedlichen Handarbeiten
der Fräulein Staudad, Kern und Fri. Herr Leopold
v. Meyer liegt außerhalb unferer Beiprehung, da feine auf:
fallend Heitere Art zu jpielen und zu componiren offenbar nur
ausdrüden will, daß er die Mufif nicht ala Kunft, fondern als
eine gejellige Fertigkeit zur Erheiterung guter Freunde betrachte.
Zulegt erichien, von dem Lichtglanz feiner Gattin Jenny Lind
zugleich erhellt und verdunfelt, Herr Otto Goldfhmidt. Er
wandelt matten Schritte® auf edler Bahn.
Dennn Find.
Senn Lind hat nad) fiebenjähriger Abweſenheit wieder
in Wien gejungen. Beſtünde die Aufgabe der Kritif wirklich
nur darin, jede Sunftäußerung mit anatomischen Meffer zu
analyfiren, am liebiten, um dem gewöhnlichen Auge verborgene
Störungen und Lücken fcharffichtig hervorzufehren, dann hätten
wir Jenny Lind gegenüber kaum etwas anderes zu thun, ala
einfach zu fchmweigen. Unferem Gefühle nad, fteht e8 aber dem
Kritifer wohl zu, über Erſcheinungen, deren vollendete Schönheit
5*
68 1854.
den Lichtfranz höchfter Begabung heller als alle8 dem Aehnliche
audjtrahlt, über Erſcheinungen aljo, wie jie günstigen Falles in
hundert Jahren einmal fommen, nicht? anderes außzufprechen,
als die Freude, fie miterlebt zu haben. Dem ordentlichen Ge-
ſchäfte der Kunftkritif kann nur das Artiftiiche, ſei es in weiteſter
Bedeutung, unterliegen. Phänomene aber, in welchen eine bisher
unerhörte Höhe der Kunſtvollendung, ihre jelbititändige Be—
deutung verlierend, nur zur nothwendigen, organifchen Aeußerung
einer ganzen, wunderhaften Perſönlichkeit zurückweicht, nähern
ih den großen Schönheitsoffenbarungen der Natur, vor denen
man blos ftille ftehen und dankfreudig jagen kann, daß fie da
find. Daß es eine ftarfe Ausnahmzftellung ift, die wir damit
der fritiihen Verpflihtung zugeitehen, befennen wir. Sie ent:
ihuldigt fih nur durch die nicht minder ftrenge Auslegung der
veranlafjenden Ausnahmen: für unfere Grfahrung iſt im Fach
der reproducirenden Tonkunſt Jenny Lind die Einzige, auf
welche das Gejagte Anwendung leidet. Wir ſprechen damit im
Grunde ganz dasſelbe Gefühl aus, welches in der ſchwärmeriſchen
Faffung zahllofer Kritifen und Feuilletons dem ruhigen Leſer
hie und da bedenklich erjcheint.
Da unjere Anfihten glüdlicherwveife niemals in dem Geruch
der lleberfhwenglichkeit, jondern eher in dem der Nichternheit
itanden, jo haben wir hoffentlich) mit unjerem heutigen Urtheil
nichts gewagt. Daß jeit den fieben Jahren der leichte Schleier
über dem Organ der Sängerin fi noch etwas verdichtet, Die
Höhe an Leichtigkeit und Kraft ein Geringes eingebüßt Hat,
fommt bei ſolchen Wirkungen gar nicht in Betracht. Diefe
jieben Jahre, welche und mande bedeutende Künftlerin vorge:
führt, haben uns darin nur bejtärkt, daß die Lind nicht nur
mehr ift, als jede andere Sängerin, fondern geradezu ander.
Wir meinen, daß die Vergleihung nicht einen bloßen Unter:
ihied der Größe, fondern beinahe der Gattung herausfühlt.
Dieſe Durchgeiſtigung und Durchfühlung jedes einzelnen Toneg,
wie der Grundftimmung der ganzen Gompofition find weder
nachzuahmen, noch zu bejchreiben.
Jenny Lind (fie verzeihe, wenn wir »Frau Goldihmidt«
oder twie das Programm einmal zur Abwechslung jagt Madame
Senny Lind, | 69
Goldſchmidt« nicht über die Lippen bringen) Jenny Lind alfo
offenbart uns auf eine faft räthielhafte Art die abſolute Schön:
heit de8 Singen: an fih. Wir halten uns nicht mehr an das
Gefungene, fondern laufchen nur dem Singen felbit. Wie jener
alte König verwandelt Kenny Lind alle8 was fie berührt in
Gold. Sie fang eine Arie aus Bellini's »Beatrice di Tenda«.
Sit das dieſelbe Mufif, die wir fonft mit Grund matt und
jüglih finden? Wie warmer duftiger Athen legt fie ſich uns
um Bruft und Wangen. Wenn man dies leife, fichere Einjegen
ded Tones Hört, der dann langſam und lange anfchwillt, um
eben jo lang und langjam zu verhauchen, hierauf jene Baffage
mit den fein ineinander verfchlungenen Serten: und Quarten-
fprüngen, jo möchte man fragen, ob das menſchenmöglich ift?
Und alles dies fo ſchlicht und befcheiden gebradt, daß man
vor lauter Herzensfreude nicht zum Staunen fommt. Wenn
andere Sängerinnen, deren SKehlengeläufigfeit zur höchſten
inftrumentalen Freiheit gefchult ift, 3.8. die Viardot-Garcia
oder 2a Grange derlei fingen, jo bleibt e3 immer ein mehr
oder weniger glänzend überwundenes Kunſtſtück. Jenny Lind's
Zaubereien erwecken in uns das Gefühl des Staunens nicht
anders, als bereits getränkt von der Süßigkeit ruhigen Ge—
nießens, ſo daß wir beinahe einen neuen pſychologiſchen Vorgang
in uns erleben. Ueber allem war der Vortrag des Taubert'ſchen
Liedes: »Ich muß nun einmal ſingen«. Wenn unſer Wort von
der abſoluten Schönheit des »Singens an ſich« etwa be—
fremdete, der höre die Solfeggien in dieſen drei Strophen.
Als beiläufige Nachahmung des Vogelgeſangs hart an der
Grenze der Muſik ſtehend, wird dieſes Flöten und Schmettern
in Jenny's Mund zur entzückenden Schönheit. Der ganze wald—
friſche Naturreiz jubelnden Vogelgeſangs kömmt uns hier auf
dem unbegreiflichen Wege der äußerſten techniſchen Bravour
entgegen.
In ihren folgenden Concerten hat Jenny Lind wieder
ein Füllhorn bunter und duftiger Tonblumen über die ver—
gnügten Laufcher im Redoutenſaal ausgeſchüttet. Mehr als
Basen zu diefen Blumen, denn ald jolche felbft, erſchienen uns
die Arien aus den »Puritanern«, dem »Türfen in Stalien« und
70 1854.
der »Bielfa«, welde die Künftlerin mit dem Zauber ihrer
Bravour ſchmückte und belebte. Die fchlichteren, aber deito
innigeren Klänge deutſchen Gemüthes ertönten am herzlichiten
aus R. Schumann’ Lied »An den Sonnenſchein«, Schu:
bert's »Frühlingsglauben«, C. M. Weber’3 Cavatine in As
(Agathe), endlih dem »Hirtenlied« und den »Sternen« von
Mendel3john. Das waren fo entzüdende Feſte, daß der
Genuß des Hörerd die nachträgliche Verlegenheit des Krilikers
vollfommen verihlingt. Da die Sprade, unfähig den Klang
einer Stimme und die feinfte Eigenthümlichfeit eine Vortrags
zu befchreiben, hier niemals das Was, jondern höchſtens das
Wie treffen und mit malenden Beiwörtern um die Sache her:
umgehen fann, da jelbit die detaillirtefte Nahjchilderung eines
Gejangd weder die Sicherheit, noch die Eriprießlichkeit der
Analyje eines Tonwerkes erreiht, wo man, den Finger auf
der Note, ein nimmer MWechjelndes und immer Gegenwärtiges
erklärt, — was könnte eine Kritit von der Lind viel mehr
geben, als den äußerjten rohen Contour? Eine durch mehrere
deutiche Blätter gemwanderte Beurtheilung der Lind hält fich
lange bei der Beichränttheit ihres Genres auf und vergleicht
darıım ihren Gefang mit der von Gutzkow fogenannten
»XovelysLiterature, nämlich der goldbejchnittenen, ſüßlichen
Lyrik von Putlig u. dgl. Daß der Kreis defien, wa Jenny
Lind vollendet wiederzugeben vermag, dad Hochtragiſche,
Heroiſche, Leidenichaftliche nicht umfaßt, ſondern hauptſächlich
durh die Schönheitsform des Anmuthigen, Naiven, Sanft:
elegiichen in weitelter und reichiter Bedentung erfüllt wird, das
weiß Niemand beifer als fie felbit, die mit größter künſtleriſcher
Selbitfenntniß ihr Programm aus dieſem reife wählt. Eine
Kritit aber, welche in dem frifchen Lerchenjang Jenny Lind's
nicht etwa die Verklärung deſſen wiederfindet, wovon der Wald
erihallt, jondern nur »was fich der Walde, erzählte, eine Kritik,
für welche die vollendete Künſtlerſchaft und herzenstiefe Innigfeit
unferer Sängerin mit jener Buchbinderliteratur in einer Reihe
fteht, die mit glatter Technik erlogene Gefühle ladirt, eine ſolche
Kritik zeigt nur, wie jehr fie an dem jchlimmen Uebel frantt,
da3 Echte vom Falſchen nicht unterfcheiden zu können.
Julius Stodhaufen. 71
Jenny Lind wurde in ihren Goncerten durch Klavier:
productionen ihres Gatten Otto Goldihmidt unterftügt. Wenn
die »Allg. Ztg.« es ein »unverzeihliches Unrecht« der hiefigen
Kritik nennt, »Herrn Goldjchmidt über feine Gemahlin beharrlich
zu vergejjen«, jo wollen wir diefen Handſchuh recht gern auf-
heben. Sollte es wirflih fo unverzeihlich fein, neben Jenny
Lind einen Bianiften zu überfehen, dem der Correipondent der
»Allg. Ztg.« auch nur das dürftige Lob ertheilen kann, er jet
sein ganz guter« (jo nennt man gern etwas nicht ganz
Gutes), »fingerfertiger, nicht geſchmackloſer Clavierſpieler, der
nur, wenn er einmal in's Gefühl Hineingeräth, nicht mehr
leicht herauskommt, zieht, dehnt und manirirt wird«? Der
Technik des Herrn Goldfchmidt fehlt es an Kraft und Bravour
(der Trilfer, die Octavengänge find mangelhaft, die Linke Hand
ungleich, der Anjchlag marklos), feinem Vortrag mangelt nicht
die Nettigkeit und Glätte, aber jede Spur von Auffhtwung und
Eigenthühmlichkeit. Nur Kleinigkeiten fpielt er ganz befriedigend,
wie er auch einige (»Reverie«, »Etude«) hübſch componirt hat.
Herr Goldſch midt ift ein merfwürdiges Gegenstück zu feiner
Gattin. Während diefe der unbedeutenditen Compoſition indi—
viduelles Leben einzuhauchen verfteht, verfommen die frifcheften
Muſiken unter Herrn Goldſchmidt's Händen, wie Vögel unter
der Zuftpumpe. Sie erwärmt immer, er läßt allzeit kalt; ſie
wird immer begeifterter, er ſtets nüchterner. Man erinnere fich
an den gänzlich wirkungslojen Vortrag der Finalläße von
Mendelsſohn's G-moll-Eoncert und Meber’3 »Goncertitüde,
Compoſitionen, die, gut gejpielt, hier immer einen wahren Jubel
hervorrufen. Am Ende fpielte Herr Goldichmidt wirklich) »nicht
geſchmacklos«, »fingerfertig«, »ganz gut«, — troß alledem glitten
diefe Lieblingaftüde an ung herab, wie Bergwaſſer über eine Fels—
wand. Ind das hat keineswegs die Loreley mit ihrem Singen gethan!
Julius Stockhauſen.
Die Vorzüge von Stockhauſen's Geſang ſind nach zwei
Richtungen hin höchſt bedeutend. Für's erſte hat ſich dieſer
12 1554.
Künftler eine Schulung der Stimme erworben, die ihn befähigt,
italieniihe und franzöftihe Coloratur-Arien mit einer jeltenen
Geichmeidigkeit vorzutragen; ſodann befigt er für daS deutiche
Lied ein jo inniges Verſtändniß, einen jo gemüthvoll finnigen
Ausdrud, wie man ihn gleihfalls nur bei Sängern von vor—
züglicher Bildung und poetiiher Begabung antrifft. Diefe Ver—
einigung zweier meifthin nur getrennt vorfindlihen Kunftrich-
tungen in gleich hoher Eultur: des glänzenden Coloraturgejangs
und des einfachen Liedes, reicht wohl bin, Herrn Stodhaufen
einen Ehrenrang unter den beiten deutichen Sängern anzumweiien.
Einiger Hemmniß unterliegt Herrn Stodhaufen’3 Kunft nur
duch die Beichränfung feines Organs, das zwar wohltönend
und umfangreich, aber nicht kraftvoll und ausdauernd ift, und
das er (der Baritonijt) obendrein durch Bevorzugung entjchie-
dener Tenorlieder gern in die Höhe treibt.
Der Eindruf von Stodhaujen’® drei Concerten war ein
überaus erfreulider. Man konnte fich des jeltenen Genufjes
nicht erjättigen, eine vollkommen gejchulte Stimme, von warmen,
poetiſchem Verſtändniß durchgeiſtet, die entzüdenden Lieder
Mendelsſohn's und Schubert’3 vortragen zu hören. Es ift
ſchwer zu entjcheiden, in welchem Liede der weiche, innige
Vortrag des Concertgebers am gewinnenditen war; den meijten
Eindruck ſchien Schubert’ »Müller und Bach«, dann defjen
zartes »Ich frage feine Blume« zu machen. Nicht minder vor—
züglih als im Lied ift Stodhaufen in jenem anmuthig cheva=
leresfen, von leiter Empfindung überhaudten Romanzen-Ton,
welchen die Franzofen (insbejondere in ihrer Tegtvergangenen
Opernperiode) jo anziehend repräfentiren. Die Arie des Ro—
dolphe aus Boyeldieu's »chaperon rouge«, jene des Seneſchalls
aus »Jean de Paris«, endlich eine Arie auß »Le philtre« von
Auber können faum feiner, geläufiger, correcter wiedergegeben
werden. Für den italienifhen Bravourgefang fehlt Herrn Stock—
haufen nur der Neiz eines fraft- und klangvolleren Organs. Im
Fach der Ballade gab Herr Stodhaufen die wunderlich-grauen—
hafte Tragif de8 Schubert’ihen »Zwergd« mit maßpoller Em:
pfindung, wie fie dies hinreißend ſchöne Muſikſtück wohl verträgt.
Eſſer's Ballade, »de3 Sängers Fluch«, hätten wir feuriger
Bieuxtemps. 73
gewünſcht. Es ſcheint, daß das rein Lyriſche in warmem, mäßig
bewegtem Ausdruck Stockhauſen's eigentliches Element ſei. Den
Preis des Abends trugen zwei Lieder von Robert Schumann
davon: »Mondnacht« und »Frühlingsnaht« aus dem Eichen—
dorffihen Liederfreis. Stodhaufen fang fie mit befonderer
Wärme und Zartheit. Der fo leicht zu verwiichende Schmelz
der Eihendorffihen Malerei blieb duftig auf jedem Worte
haften. —
Vieuxtemps.
Wie im Leben des Einzelnen ein leuchtendes Ereigniß
ganze Strecken dürrer Alltäglichkeit zu erhellen und zu erwärmen
pflegt, ſo preiſen wir auch im Kunſtleben eine Periode als
reich, wenn fie nach viel Mittelmäßigem auch nur Eine impo—
ſante Erſcheinung dargebracht. Das flattert dann wie eine
Siegesfahne, die man in einen Steinhaufen geſteckt. Wir könnten
auf die muſikalichen Productionen der letzten Wochen mit freu—
diger Genugthuung zurückblicken, wenn dieſe Zeit auch nichts
anderes geboten hätte als das Spiel VBieurtemps und
die vollendete Aufführung der C-moll-Symphonie von Beet—
hoven.
Was Vieurtemps betrifft, jo ift ihn zu Hören einer
der ungetrübtejten Genüfje, die eine mufifaliiche Produktion
bieten kann. Seine Technik ift jo unfehlbar und vollendet,
wie fein Wortag edel, geiftvoll, ſchwunghaft. Das iſt ein
Mann unter den PVirtuofen feines Inftrumentes: Wenn ich ihn
für den erſten lebenden Biolinfpieler halte, dürften mir wohl
nur wenige Stimmen, etwa zu Guniten $. Joachims, ent:
gegentreten, der, jet auf der Höhe feiner Entwidlung ftehend,
im Vortag claffifher Violincompofitionen das Unübertreffliche
leiften fol. Geichviel, fo lange man feinen größeren gehört
ald Vieuxtemps, kann man fih nur fchwer einen vorftellen.
Bekanntlih zählt Vieuxtemps auch zu den beften modernen
Gomponiften feines Inftrumentes. Seine Concerte find geiftreich,
anmuthig, formfhön, mit größter Kenntniß der mufifalifchen
74 1854,
Technik, namentlih mit feinem Sinn für Inftrumentirung com:
ponirt. Zu den wahrhaft großen inftrumentalen Schöpfungen
gehören fie trogdem nicht, und wenn ein hieſiger Sritifer
Bieurtemp3’ D-moll-Goncert in eine Reihe mit Mendelsſohn's
nnd Beethoven’: Biolin-Goncerten ftellt, jo hat er fih wohl
zu ſtark ausgedrüdt. Vieurtemps' Gompofitionen find ganz
eigentlih intereijant. Das Intereſſante fchließt immer eine
ffeine Abweihung vom reinen Schönen in fi, und Diefer
begegnen wir bei Vieurtemps faſt durchweg, ja oft gefteigert
bis zur Bizarrerie. Seine muſikaliſche Schöpfungskraft iſt echt,
aber nicht beſonders reich, dad Combinationsvermögen ungleich
bedeutender. So jtoßen wir in der großartigen Anlage und
feinen Ausführung des D-moll-Goncerte® auf viele geiftreiche
Züge, die Hauptthemen Hingegen zeugen von feiner bejonders
eigenthümlichen jtarfen Erfindung. Vieuxtemps' großed Talent
hat zu innig mit Beethoven verfehrt, um nicht ein mächtiges
Stück deutſcher Gediegenheit in fich ausgebildet zu haben, es
wurzelt aber mit feinen feinften Lebensfaſern zu tief in der
franzöfifhen Romantik, um deren bedenklichen Charakter lange
verleugnen zu können. Dieje unbezwinglide Neigung zum
Pikanten, ja Bizarren wird in dem (übrigens trefflid gemachten
effectvollen) Rondo, das Vieurtemps hier zum erjtenmal jpielte,
wohl niemand verborgen geblieben fein. Was Vieurtemps jo
hoch über feine componirenden Gollegen hebt, ift feine aus—
gebildete Fähigkeit, orcheitermäßig zu denken, und die künſt—
leriſche Conſequenz, mit welcher er dieſe Totalität jelbit auf
Koften des Virtuoſen in jeinen größeren Werfen überall
borwalten läßt. Und jo dürfte er denn (Spohr ausgenommen)
unter den jeßigen Biolin-Virtuofen jo gewiß der erite Come
ponilt heißen, als er unter den Gomponijten der erfte Violin-
Virtuoſe iſt.
Neftbetifche Rolizei.
Die abgelaufene Muſikſaiſon hat einige äußerliche Neue—
rungen im Muſikleben gebracht, deren nicht genug gewürdigte
Aefthetiiche Polizei. 75
Wichtigkeit unſere Aufmerkſamkeit verdient. Es find dies mehrere,
vorerit nur das Hofoperntheater angehende Maßregeln auf
einem Gebiete, dad wir am liebiten »Aeſthetiſche Polizei«
nennen. Das fremde Feenkind Muſik hat jo viel irdiiche Ver—
fleidungen anzuthun und jo viel ftoffliche Appretur zu erfahren,
wenn e3 mit einer Mehrheit von Menjchen verkehren will, daß
jeden Augenblid eine Störung »von diefer Welt« es auß feiner
Unbefangenheit und uns aus der Illufion herausreißt. Nur zu
jelten jorgen wir dafür, daß die Reinheit des Kunftgenuffes
dur) Präventivmaßregeln gegen äußere Störungen gejchügt,
d. 1. daß äfthetifche Polizei gehandhabt werde. Die Intendanz
des Hofoperntheaterd hat in neuefter Zeit die Wiederholung
von Mujifitüden in der Oper verboten und damit das
»da capo«, diejen ärgiten Feind ded dramatiichen Zuſammen—
hangs, vernichtet. Wenn Arnold (im Wilhelm Tell) den Hen-
fern jeines Vaters Rache geihworen hatte und mit den Freunden
bereits zum Rütli geeilt war, wurde jo lange applaudirt, bis
er mit dem ruhigſten Geftcht fich wieder hinftellen, die Erzäh—
fung nochmals hören, darüber jehr erjchreden und neuerdings
Rache ſchwören mußte. Don Juan ift mit Zerline Arm in
Arm jeinem Schloß glücklich zugeeilt, — er wird zurüd zitirt
und muß von Neuem anfangen, die melodifhen Sclingen
feiner Schmeichelei audzumerfen. Mit gezüdten Schwertern find
Raoul und jeine Gegner eben auf einander eingedrungen, —
halt! fie müffen auseinander, die Schwerter wieder einjteden,
und das Duell von Neuem beginnen, weil der Tenorift darin
eine ſchöne Kraftftelle hat. Die Abftellung diejer Unfitte kömmt
überdies allen Sängern jehr zu Gute, welche da3 verderbliche
Glück Hatten, ihre anftrengenditen Stellen wiederholen zu
müſſen. Sie hätten, fich mit der Zeit genöthigt geſehen, die hübſche
Geihichte nachzuahmen, die und Livius (Hister. VII. 2) er:
zählt. Als er nämlih in Rom nad) damaliger Sitte fein eigenes
Stüd fpielte, wurde er dur den Applaus des Volkes ge:
nöthigt, eine Lieblingaftelle jo lange zu wiederholen bis er
heifer war. Da erhielt er die Erlaubniß, einen Sklaven zu
nehmen, der dad Gedicht zu der Muſik abjang, indeß Livius
jelbft nur die Geberden dazu machte.
76 1854
Aus demielben äfthetiihen Grundjag: der Aufrechthaltung
der dramatiichen Illuſion fließt daS zweite, ebenjo dankens—
werthe Verbot der Theaterintendanz, einen Sänger bei offener
Scene heraudzurufen. Wie oft erlebten wir, daß der Held,
der eben vor unſeren Augen jich eritochen Hatte, zurückkehren
und unter großem Halloh artige Komplimente machen mußte.
Da fol man in der Stimmung bleiben! Bei aller Werth:
ſchätzung der Pietät, welche fi) zum Dank für den darftellenden
Künstler gedrängt fühlt, fönnen wir ſolch ein Einhauen der:
jelben in den Zufammenhang des Runftwerfes nur beleidigend
finden. Fühlt fi) das Publikum nicht mehr durch die eigene
Naivetät, welche den Darfteller über den dargeftellten Charafter
vergißt, an ſolchen Demonftrationen verhindert, jo muß man
fie ihm einfach verbieten. Das ift ganz eigentlich Polizei im
Intereſſe der Kunſt, »äfthetiiche Polizeic. Die Direction des
Hofburgtheaters ift noch un Einen Schritt weitergegangen umd
hat den Zutritt zu den Sperrfißen während des Aktes ver:
boten. Der günftige, wahrhaft funftpädagogiiche Einfluß folcher
Mafregeln, welche aus der Einfiht in das Weſen äfthetifcher
Erſcheinung hervorgegangen find, wird nicht außbleiben. In
wenig Monden hat fi Alles an die anfangs beengende Vor:
Ihrift jo trefflich gewöhnt, daß man die frühere tumultuarifche
Exiſtenz faum mehr begreift. Wer feinen Lärm machen darf,
hört aufmerffam zu; wem der Beifall bejchränft wird, der
part ihn für die Würdigſten, und wer biöher blos in
der Kunſt veracdhtete, was ihm vielleiht ſonſt als jein
Höchſtes gilt, den Anftand, der lernt Achtung hegen vor der
Eriheinung eines Kunſtwerkes und vor der Andacht eines
Publicums.
Das Capitel von der äſthetiſchen Polizei iſt ſo groß,
daß man einen Band damit füllen könnte. Ihre Paragraphe
treffen nicht minder das Concert, wie dad Theater, fie er:
innern die Künstler wie die Zuhörer. Won Seite der Künſtler
dünft und das entjeglihe Probiren der Inftrumente zwischen
den Sätzen einer größeren Kompofition ein SHauptvergehen
gegen den äfthetifhen Anftand. Das Stimmen tödtet die
Stimmung.
Aeſthetiſche Polizei. 17
Gegen die Angriffe geihmwägiger Nachbarn wird wohl
immerdar nur das Recht der eigenen Nothwehr beftehen. Hin:
gegen ſcheint und das ftörende Fortgehen der Zuhörer während
der Mufif eines 8. im äfthetiihen Polizeicoder nicht unwürdig.
Erleben wir doc) bei den ausgezeichnetiten Productionen, daß
fie zum großen Theil von Leuten bejucht find, welchen das
Herz niemal3 warm, die Suppe aber gleich falt wird. In einem
Concert von jehs Nummern gibt es fünf anftändige Gelegen:
heiten, früher fortzugehen; daß aber fanatiihe Hausfrauen |
gerade noch die eriten 16 Tacte der Schluß-Symphonie anhören
müjjen, um dann mit möglichitem Geräufch und barbarifcher
Störung aller Signahbarn ein Wettrennen nad) dem häuslichen
Herd zu beginnen, das entichuldige, wer es begreifen fann.
Schließlich habe ih nod Einiges auf dem Herzen über
die hier jo beliebten Demonjtrationen im Theater. Was
joll man dazu jagen, wenn in jeder Borftellung des »Fidelio«
bei den Morten des Kerkermeiſters: »Er (Floreitan) hat eine
jo rührende Stimme, die zum Herzen dringt«, ein Theil des
Publicums in artigen Beifall für Herrn Ander auöbricht!
Kann man brutaler aus der Stimmung herausgeworfen werden,
als durch jo kindiſche Kourtoifie? Was find Dagegen die joge:
nannten »politiijhen Demonftrationen«, wie fie früher jo gern
im Burgtheater gemacht wurden, ſobald eine Stelle des Dramas
jih auf unjere eigenen öffentlichen Zuftände deuten ließ! Als
Lebenszeichen einer politifchen Ueberzeugung haben fie doch eine
ganz andere, wenigſtens bedingte Berechtigung. Sole Demon:
ftrationen dur raſches Auffangen und Beflatihen von An
jpielungen finden wir zu allen Zeiten und an allen Orten, wo
der Bevölkerung fein anderer legaler Ausweg gelafien ift, ihre
politiihen Wünfche fundzugeben. Börne bewunderte die Fran—
zojen, daß fie im Theater jede leiſe Anjpielung auf eigene
Zuftände augenblidlih auffaffen und beflatihen. Das ilt mehr
patriotiih als äfthetifch gefühlt. An fich bleibt jede Unter:
bredung eines fünftleriihen Zuſammenhangs ungehörig, jede
Tendenz Auffaffung unäfthetiich, welche nothiwendige Theile eines
Gedichts aus ihrem Organismus reißt, um ihnen eine fremde,
intereffirte Deutung zu geben. Es hat für und jederzeit etwas
18 1354.
Berlegendes, wenn in Dramen von Shakeſpeare oder Goethe
politiiche Anspielungen aufgefpürt und beflaticht werden, welche
dem hiſtoriſchen Geilt des Stückes miderftreiten. Allein jenes
willkürliche »Unterbreden« und »Verwechſeln« geſchieht bier
doch durch die lebhafte Anregung großer, allgemeiner Intereſſen;
man bdemonftrirt zur Unzeit, aber nicht um einer Qappalie willen.
Namenlos kindiſch ift aber die fieberhafte Sucht, einem Sänger,
den man ja nad jedem Actſchluß feiern kann, ſchon während
und auf Koften des Stüdes zu fchmeicheln. Zuhörer, die im
Stande find, während des ergreifendften Vorgangs (wie es jene
Kerkerfcene im »Fidelio« ift) in dem Helden des Dramas nur
den Sänger N. N. zu fehen, die Bedeutung des Ganzen und
die Weihe der eigenen Stimmung einer Heinlihen Schmeichelei
zu opfern — das find mit Einem Wort äfthetiihe Barbaren.
Nachdem für das Gelüfte diefer Barbaren handgreifliche
Anfpielungen viel zu felten vorfommen, haben fie längft ein
anderes unterhaltendes Auskunftsmittel gefunden, den Zuſammen—
hang eines Stüdes zu zerreißen. Sie werfen während Des
Spiels, meift in den herporragendften Scenen, etwas auf die
Bühne, mitten unter die Darfteller, Es bleibt für die allgemeine
Störung auf der Bühne und im Publicum ziemlich gleidhgiltig,
daß da3 Geworfene meiſtens ein Kranz oder Blumenstrauß
it. Süngft im »PBrofeten« konnten die Unholde ſchon um
8 Uhr die Blumen nicht halten; Fides niet im zweiten Act
vor ihrem Sohn, für ihre Rettung dankt fie ihm, im tiefiten
erfchüttert, — bums! fehlägt ein centnerſchwerer Kranz zu ihren
Füßen nieder. Man klatſcht, die troftlofe Mutter lächelt und
fnirt verbindlich, zaudert, ob fie den Franz aufheben fol, der
verzweifelnd hHingelagerte Sohn ſchwankt gleihfall® zwiſchen
Galanterie und dramatifcher Wahrheit; furz, niemand hat mehr
Fides und Johann vor fih, fondern nur Frau Efillag und
Herrn Ander, und die dramatische Illuſion ift in muthwilligſter
Weile vernichtet.
Durch dieſe Beifpiele aus jünfter Zeit wollten mir die
Aufmerkſamkeit des Publicums auf einen Unfug lenken, der
immer weitergehend, am Ende jeden äfthetiichen Genuß bedroht.
Was die niedere Jagd auf Anfpielungen betrifft, fo kann
Aefthetiiche Polizei. 9
natürlih nur der gute Geſchmack des Publicums fie abitellen.
Gegen die äußeren Störungen des jcenifchen Fortgangs hätte
aber die Hauspolizei einzufchreiten. Mir zweifeln nicht, daß
jemand, dem e3 einfallen würde, dem Floreftan einen Faſan
in den Kerker hinabzumwerfen, ohne Aufihub Hinausgeführt
würde. Warum darf er denn ungeftraft Kränze fchleudern? Für
den dramatiihen Zufammenhang und die Stimmung des Zu:
hörers ift die Etdrung ganz diefelbe. Die oberfte Hoftheater-
Direction hat mand) wohlthätige Maßregel äfthetifcher Polizei
in’? Werk gejegt: fie hat das Wiederholen von Mufikitüden,
das Herausrufen der Sänger bei offener Scene verboten u. dgl.
Möchten dieſe Hausgeſetze bald durch einen Baragraph vermehrt
werden, welcher nad Art des römiſchen »De effusis et
ejeetise die Scene vor den Geſchoſſen der Kranzbarbaren
Thüßt, und jedermann, der etwas zu werfen hat, einladet, ſich
damit gefälligit bi3 zum Zwiſchenacte zu gedulden.
1855.
Orchefter:-Eoncerte.
*
Durch die röhmiſche Campagna ritten einſt zwei junge
Männer in begeiſtertem Geſpräch über Muſik und Poeſie. In
der Verehrung für Shakeſpeare hatten ihre liebſten Gedanken
fih eben begegnet, als der eine nachdenflih zum andern
bemerkte: »Weißt Du, daß in »Romeo und Julie« Sich
ein wunderboller Stoff für ein mufifaliiches Scherzo findet?«
Der andere quälte jein Gedächtniß vergeblid. »Nun, was fonft,
als Mercutios Erzählung von der Fee Mab!«
Sie kommt, nicht größer als der Edelſtein
Am Zeigefinger eines Aldermans u. j. w.
Die beiden Jünglinge waren Hector Berlioz und Felir
Mendelsjohn-Bartholdy. Ob der Eindrud dieſes Geſprächs
eine Anregung mehr zu der reizenden Elfenmufif geweſen, mit
welcher Mendelsfohn bald darauf Shakeſpeares »Sommer:
nachtstraum« illuftrirte, können wir nicht behaupten. Berlioz
hingegen, aus deſſen Munde wir diefe Mittheilung haben, ift
jener erſten Inſpiration treu geblieben, und hat feiner »dra—
matiihen Symphonie«s Romeo und Julie die Epifode von
der Fee Mab ald Scerzo einverleibt.
Wir hörten dieſes Scherzo im erften ⸗ÿPhilharmoniſchen
Concert«, das Herr Kapellmeifterr Edert am verflofjenen
Sonntag dirigirte, Troß der fichtlichen Befremdung, welche bei
Orcheſter⸗· Concerte. sl
den mwunderlihiten Stellen über die Mienen der Zuhörer alitt,
war der endliche Eindrud des Stüdes doch ein jo fiegreicher,
dag man es ftürmiich zur Wiederholung begehrte. In der That
wäre es ichwer, fich der bezaubernden Wirkung diejes Tonſtückes
zu entziehen. Obgleih in einem falſchen Gebiet, mehr neben
al3 in ber Muſik ſtehend, bewegt ſich Berlioz' Scherzo
mit einer teltenen Fülle von Geiſt und Leben. Nur wenige
Partien in der umfangreihen Compofition treten und mit
überfichtliher Klarheit entgegen, kryſtalliſiren fich gleichſam zu
feiten Gebilden. Das Meiite ſchweift phantaftiich, wie jelig
unzuſammenhängendes Geträume, im Wirbel vor uniern ers
ftaunten Sinnen. Wenn es eine jichöne Initrumentirung an
ji gäbe — während doch immer etwas da jein muß, was
inftrumentirt wird? — fo wäre die »Fee Mab« die hödite
Leiltung der Ordeiter-Compofition. Es ilt fajt lauter Klang:
wirkung, was uns darin feſſelt, die geheimnißpolliten und
ſchaurigſten, die luſtigſten und leichtejten, die prachtvollſten und
mächtigſten Klänge find darin aufgeboten; nicht wie von einem
fundigen Gapellmeijter, nein, wie von einem Magier, der ver:
borgene Kräfte beſchwört. Die feinen Fäden der Sommernadhts:
traum=Duverture erjcheinen grob im Vergleich zu dem muſi—
faliihen Spinnengewebe der »Fee-Mab«. Wie dies faum ver:
nehmbare Flüjtern und Lispeln allmälig ftärfer und lebendiger
anjchwillt, bis es fich endlich auf höchiter Höhe zu einem phan—
taftifch-tollen Carneval entfefjelt, wie dann zu den gedämpften,
gleihjam meit entfernten Schlägen der großen Trommel und
Beden die feine, Scharfe Metallftimme zweier Cymbeln erklingt,
das iſt von einer Klangwirkung, wie feiner der jpäteren Nach—
ahmer Berlioz’ fie wieder erreicht hat.
Das vierte Geſellſchaftsconcert der dfterreichifchen
Mufikfreunde brachte Spohrs »Weihe der Töne« zur Auf:
führung. Es bat und herzlich gefreut, daß Spohr, welder
feider feit einer Reihe von Jahren von unjerer Opernbühne
gänzlich verbannt ift, dem Publicum einmal wieder in Erinne—
rung gebracht wurde. Die »Weihe der Töne« erichien, wenn
es ſchon einer Symphonie galt, ald die beite Wahl; weder
die früheren Symphonien des Meifterd Stehen ihr gleih, noch
Hanslid, Aus dem Concertſaale. 2. Aufl, 6
82 1855.
biel weniger fönnen feine fpäteren damit verglichen werden.
Da hören wir nod dem edlen, liebenswürdigen Sänger, der
zwar über feine elegiihe Subjectivität in feiner Note hinaus
kann, fie und aber gar warn nnd finnig and Herz legt. Das
iſt noch derfelbe Spohr, der in Tönen dichtete. Wie traurig
hat er fich in feinen fpätern Werfen verändert! Seine Doppel-
iymphonie, welche deu Titel »Irdiſches und Göttlihes
im Menjchenleben« führt und in 3 Süßen »Die Finder:
welte, »Die Zeit der Leidenjchaften«e und den »Gieg ded
Göttlihen«e fchildert, dimfte und daß non plus ultra einer
troftlo8 verfiegten Vhantafie. Und doch fam hinterher noch ein
plus ultra in Form der neueften Symphonie, einer mufifaliichen
Paraphraſe der vier Jahreszeiten. Sie bringt die traurigite
Kunde, wie ein ſonſt aus fo vollem Herzen jchaffender Ton:
dichter verfümmern und in findifch greifenhafter Geſchwätzigkeit
feine eigenen Redensarten unaufhörlih wiederholen kann, nicht
merfend, daß ihnen der duftige Sinn von ehedem längſt ent-
flogen. Unſerem Brincip zum Trotz, daß das Publicum in
Kenntnig der Novitäten aller bedeutenden Tonfeger zu er-
halten fei, danken wir der Direction für die Bevorzugung des
früheren Spohr auf Koften des fpäteren. Die Reize der Spohr—
ihen Symphonie haben auch diesmal freundlih anf uns
gewirkt, wie man denn diefem eigenthümlichen ſüßen Duft
Spohriiher Muſik ſich kaum jemald ganz entwinden kann.
Wird und Doch bei der weichen, halb freud: halb leid»
vollen Melodie des erſten Sates falt jo zu Muth, als
wern wir nach Sahren zufällig ein Bändchen Matthiſſon—
iher Gedichte aufichlagen und die Seligfeit zurückempfin—
den, mit der wir einst jehnjuchtichtvelgend damit im Grafe
lagen. Leider miſcht fih gar bald das Fritiihe Gewiſſen
ftörend in die ufurpirte Jugendlichkeit. Mit Verdruß merken
wir, wie dieſer Blumenflor frifcher, duftiger Mufit in der
»Meihe der Töne« dur die ftete Beziehung auf ein »poetiiches
Programm gehindert wird, innerlich frei emporzuwachſen und
nah Außen fih harmonifc zu runden. Durch Töne ein Gedicht
zu interpretiren, welches daS Lob der Töne zum Gegenitand
bat, iſt ein ſehr unglüdlicher Gedanke, felbft abgeſehen von
Ordefter-Concerte. 33
dem Widerfinne, daß mit einer muſikaliſchen Schilderung
des »ſtarren Schweigend« in der Natur begonnen wird.
Der Segen der Mufik lobt fih gewiß am beften jelbft, nämlich.
durch eine Schöne Mufik, und fcheint uns viel reiner gefeiert in
dem wunderbar ſüß quillenden Thema des erften Satzes, ala
durch dad lange Bogelgezwiticher darauf, daß und etwas ge:
waltjam in's Freie führt. Doch ift der erfte Sat noch der
abgerundetſte. Im zweiten unternimmt es der Gomponift, die
Muſik abwechſelnd in ihren verichiedenen Beitimmungen als
»Miegenlied«, »Tanze und »Ständchen« zu feiern. Durch die
muſikaliſch ganz unmotivirte Aufeinanderfolge und fortwährende
Abwechslung dreier Themas in verfchiedenen Tact- und Ton-
arten wird der im Charakter ohnehin zwiihen Scherzo und
Andante ſchwankende Sat obendrein in der Form ganz zer:
jprengt und wir erhalten um der Bedeutung willen ein Gemenge
von drei Beitandtheilen, deren jeder einzeln für fih (namentlich
das MWiegenlied in B, oder dad vom Violoncell über pizzifirtem
Streichquartett jo zart gefungene G-moll-Ständchen) den Stoff
zu einem treffli auszuführenden Stüd gegeben hätte. Der
dritte Sat beginnt mit einem feftlichen, glänzend inftrumen-
tirten Marid — warum jchließt er nicht als folder? Warum
verläuft die Kriegamufif, anstatt Frisch abzufchließen, in ein
endloſes »Wehklagen der Zurücdgebliebenen« (hier fommt Spohr
aus dem »Arbeiten« gar nicht heraus) und miündet in eine
Bearbeitung dad Ambrofianiichen Lobgeſangs? In dem lebten
und ſchwächſten Sag wird der Componiſt vollends zum ret=
tungölojen Opfer feines poetifchen Programms: er hat den
Tod und die Vergänglichkeit alles Irdifhen durd eine Be—
gräbnißmuſik auszudrüden. Anftatt der höchften Steigerung, zu
welcher fih im Finale einer Symphonie alles Frühere fteigern
foll, haben wir hier die vollftändigite Entkräftung. So erhält
der Hörer fortwährend für die verlorene mufifalifche Einheit
und arg zerrifjene Stimmung als Eriag nur die trocdene Ber:
gleihung mit einer Vorftellungsreihe, die für ihn gar feinen
Merth hat. Dadurd, daß Spohr in einen Abgrund ftürzte,
an deſſen Rand eine ungleih mufifalifchere Natur in der
» Baftoral-Symphonie« ſich aufrecht erhielt, wird uns die »Meihe
6*
84 1855.
der Töne« zum unfhäßbaren Gommentar für eine der wich—
tigften Streitfragen der muſikaliſchen Aeſthetik. Die mufifalifche
Literatur befigt fein zweites Werk, an welchem ſich fo haar:
iharf nachweiſen läßt, wie dad, was daran ſchön ift, es troß
des gegenftändlichen Inhaltes, ja durch deſſen Webergehung
wurde, während andererfeitö der Glanz des Werkes fich ſtets
in dem Augenblick verdunfelt, wo der Componiſt die Forde—
rungen des mufifaliih Schönen hintanfegte, um mit feinen
Tönen eine außerhalb derjelben liegende Bedeutung zu ver—
ſinnlichen.
Das Geſellſchaftsconcert der Muſikfreunde führte uns in
Berlioz »Carneval romain« einen wohlbefannten und den
noch beinahe entfremdeten Gaſt vor. Es find beinahe neun
Fahre, feit diefe Duperture unter der Leitung des Componiſten
hier wiederholt aufgeführt und für eine Zeitlang zum allge-
meinen Lieblingsitüd wurde. Die Duverture (in welcher Motive
aus »Benvenuto Cellini« verwendet find) tft in ihrer effectreichen
Illuſtration füdlihen Maskenjubels äußerlich vielleiht das
glänzendfte, im innerften Kern aber das fühlfte Werk Berlioz.
Wenn er in jeinem »Romeo«, »Harald«, »Lear«, in der
»Fantastique« u. a. die tiefften und jchmerzlichiten Regungen
des Herzend in Tönen ausblutet, jo erholt er fi gleichjam
von dieſen Sturmnäcdten der Seele in dem blendenden Ben
galfeuer feines »römijchen Garnevald«. Die Compofition bietet
neben mancher bizarren und betäubenden Stelle viel Schönes,
namentlich für den Muſiker. Das einleitende Andante ift zwar
nicht recht ſymphoniſtiſch, doch von unleugbarem Neiz, wie e3
erit ganz Ichliht von der Oboe vorgetragen, dann ſtets jaftiger
colorirt wird, bis es endlich vom ganzen Orcheiter aufgenommen,
durch Tamburin und Beden rhythmiſch gehoben, in vollem Prunf
dafteht. Das energiiche Allegromotiv, eine jubelnde Windsbraut,
wird gleichfall® auf das geiftreichite gefteigert. Mit dem Auf—
nehmen der Jnjtrumentaleffecte hat das Ohr vollauf zu thun;
ganz einfahe Dinge überraſchen es mitunter mit ungeahnten
Wirkungen, fo 3. B. daS terzenweile Hinauf- und Hinabpfeifen
der beiden Flöten in chromatiſcher Scala zu Ende des Andante,
Orcheſter⸗Coucerte. 85
hierauf jene wunderſame Terz, in der die Clarinette unter
dem Waldhorn ſteht, und vieles andere.
Auch die zweite Ouverture, welche das Geſellſchaftsconcert
brachte, iſt bereits in Wien aufgeführt worden, Gade's »Nach—
klänge von Oſſian«. Eine intereſſante, anziehende Erſcheinung,
obendrein etwas fremdartiger Richtung, durfte dies Werk
nach mehrjähriger Ruhe mit Recht zur Wiederholung gebracht
werden. Der talentvolle Däne hat ſeit der Oſſian-Ouverture
und der 1. Symphonie in C, die damit den gleichen Vorzug
naiver Friihe und charakteriftiih nordiicher Färbung theilt,
nicht8 Größeres geichrieben, das einen inneren Fortichritt über
jene Jugendwerke beurfundete. Seine Symphonien (die fleine
in B-dur etwa ausgenommen) wurden immer erfindungälojer
und braten auffallend Mendelsſohn'ſchen Inhalt in einer
verihwimmenden Breite der Form. Das ftarfe Anichlagen Des
Zocaltond, der im »DOffian« volfsthümli ergreifend wirkt,
wurde bei Gade alöbald Manier, — man wird es mit der
Zeit endlih fatt, immer die Walkyren im Nebel herumtraben
zu jehen. Die Offian-Ouverture ift zum größten Theil echt
poetiſch gedacht, der Gontraft zwiſchen dem trogig friegeriichen
Thema und dem zweiten fanften Dur-Motiv fehr glüdlich, viele
Einzelheiten der Harmonie, Modulation und Inſtrumentirung
äußerjt geiftreih; trogdem wirft das Ganze ermübdend,
hauptfählid durch die meitichweifige Ausführung des
Seitenſatzes und das fühlbare Vordrängen mufifaliiher Schil—
derung.
Zwei Chöre größeren Umfangs bradten Abwechslung in
die Inftrumentalnummern: ein Gebet von Mendelsjohn
»Verleih’ und Frieden«e und ein »Opferhymnus an
den Zeud« von G. Meyerbeer. Die beiden Meifter ftanden
fih mit diefen religiöfen Compofitionen auf dem Goncertzettel
eben jo nah, als fie in der Wirklichkeit fern von einander
ftehen. Mendelsſohn's »Gebet« bringt einen edlen Gelang
erft in den Männeritimmen über einer mäßigen Yiguratton
von 4 Bioloncellen, dann in den Frauenftimmen mit gleich:
zeitigem Hinzutritt der Bläſer, endlich in etwas breiterer Aus—
dehnung im vollen Chor. Nicht eben durch Eigenthümlichkeit
86 1855.
oder Erfindungsfraft unter Mendelsſohn's ähnlichen Saden
hervorragend, erfreut doch das »Gebet« durch jenen feufchen
Adel, jenes reine, religiöfe Gefühl, welche und die geiftlicdhen
Muſiken dieſes Meiſters jo theuer machen. Hingegen Meyer:
beer's Hymnus! Wie der Stier von Uri fam er »angeblafen
mit Macht«, dröhnte ein gequältes Thema erſt unisono mit
3 Pojaunen und Ophpyecleide, umjpielte es dann mit endlojen
Arpeggien der Eaiteninjtrumente, ließ vollen Chorlärm mit
Gelispel des SoloquartettS wechjeln, furz bot jedes äußerliche
Mittel auf, um eine nicht aus dem Innern des Werkes fließende
Wirkung zu erreichen, Mehgerbeer’3 Hynmus fam und manchmal
por wie eine Monftre-Tranzfeription jeine® berühmten und
berüdjtigten »Mönchs«. Die auffallende Nehnlichkeit mit ge—
wilfen Inftrumentalfägen im »Tannhäufer«e und »Lohengrin«
wird Freunden Rihard Wagner’: ſchlimm genug aufgefallen
fein. Um des Aufjehens willen, den dieſes, wie überhaupt
jedes neue Werk von Meyerbeer im Ausland erregt, müjjen
wir dad Recht feiner Vorführung einräumen; troßdem be=
dauern wir herzlich den Aufwand an Zeit und Mühe, welcher
an die Aufführung unerquicklich wüſter Muſik verfchwendet
werden mußte.
Virtuoſen.
Sp haben wir denn auch Wilhelmine Clauß gehört
und ung feineswegs enttäufcht gefühlt, wie einige Wunder:
fühtige im Publicum, die da neugierig aufjahen nad) einem
feuergewaltigen Meteor, und fi nun nicht zurechtfanden, als
jtatt deſſen ein ftiller Stern heraufzog, fein blafjes Licht rings—
umher mild ausjtrahlend.
Wilhelmine Clauß ift eine Ericheinung bon entjchieden
mufifaliihem Beruf und Werth. Sie hat jede vorgetragene
Stud nicht blos im gebräudlihen Sinn »ſtudirt«, fondern
vollfommen in fich aufgeiogen; als ein warm und eigenthümlich
Empfundenes, Selbiterlebtes gibt jie es wieder. Der Unterfchied
dieſes Vortrags von dem fühlen, reinlichen Herabipielen der
-
Virtuoien. 87
meilten »Birtuojene wird auch dem Laien aldbald Har. Nicht
zu vermeiden ilt, daß in diefem Proceß jo innigen Aufnehmens
das Aufgenommene manchmal allzudeutlih die Färbung der
Subjectivität erhält, und diefe Subjectivität jcheint mir
eine vorwiegend clegiiche, träumeriihe. Das deutihe Wort
jinnig paßt in jeiner ganzen Schönheit auf die Spielweije
MWilhelminens; das Träumeriihe und Wunderlihe find Die
gefährlihen Grenzen, welche ihr nahe liegen. Sie ftreift die—
jelben manchmal, wenn fie Chopin ſpielt, deſſen Feine, aber
franfhafte Empfindung ohnehin zu der Willfür des Tempo
rubato verleitet. — Am jchönften gab Wilhelmine Clauß die
edle, ruhige Wehmuth Mendelsſohn's wieder, in zweien jeiner
»Lieder ohne Worte. Die befannte »Jagd« von Stephan
Heller habe ich nie ſchöner vortragen gehört. Es lag ein
leichter Glanz, ein poetiiher Hauch auf all’ dieſen Zurzen
Stüden. Die Schattenfeite ihres Spiels läßt fih furz und
vollitändig damit bezeichnen, daß es ihm an Kraft fehlt. Die
Beethoven'ſche F-moll-Sonate (op. 57) hat theilweiie dieſen
Mangel geoffenbart, dem erfteren Saß fehlte die jtreng marfirte
Rhythmik, dem Finale die Gewalt deö Dahinftürmend. Die
Dimenfionen diejes leidenſchaftlichen Tonwerkes wurden Eleiner,
als der Componiſt fie dachte. Allein innerhalb diejer ver:
fleinerten Dimenfionen jtanden alle Theile und Theilden in
genaueiter Harmonie. Darin erprobt fich der feine, echte muſi—
faliide Sinn. Der Anſchlag der jungen Künitlerin ijt weich
und elaftiich, aber in jene Grenzen des Kraftaufwandes gebannt,
welhe ſchon die phyſiſche Conftitution gebieterifch vorzeichnet.
Man braucht das zarte, blonde Mädchen nur zu jehen, um zu
willen, daß es das Glavier unmöglid anpaden könne, wie
Liſzt oder Dreyichod.
Wenige Tage später ipielte W. Clauß dad Clavier—
quintett in Es-dur von Shumann. Wer empfindet nicht das
ſtolze Glück in diefem eriten Sag, deſſen Hauptmotiv einher:
tönt wie »ein Hammer, der Feljen zerichlägt«, mit jeinen
Schlägen aber die duftige Roſenknoſpe in Geſtalt des zweiten
Themas hervorlodt. Wen entzüdt nicht das fantaftiich auf:
ftürmende Scerzo, deſſen ruhelojes Drängen in den beiden
88 1855.
Triod noch zauberifh nachzittert; Hierauf die finnige Melodie
de3 Andante abmwechjelnd von der Violine und den tieferen
Geigen gefungen, nach defjen leiſem Aushallen das Finale
enbli reich figurirend und fugirend abſchließt. Sch braude
die der Sprade ohnehin unzugänglide Schönheit des
Werkes nicht weiter zu rühmen, fondern blos die Trefflichkeit
der Ausführung. Wunderbar Schön fpielte Wilhelmine die Cis-
moll Sonate von Beethoven und gab diefem uns durch
zahlreihe Somnambülen etwas verleideten Mondſchein den
alten Silberglanz wieder. Im Adagio nahm fie die Melodie
über den getheilten Dreiflängen etwas ftärfer, wodurd der
Ichmerzlihe Ausdrud des Stüdes eine jchöne großartige Ruhe
gewann. Das Scherzo war ſehr gemäßigt; indem fie es jedem
Anflug von Frivolität fernhielt, erzielte fie die richtige ver-
bindende Mitte zwijchen der Stille des eriten und dem Sturm
des legten Sabed. Von ungemeinem Reiz find zwei »Präludien«
(Cis-moll' und A-moll) von Stephan Heller, mit welchen und
die Goncertgeberin zuerſt befannt machte. Den »Erlkönig« follte
Frl. Clauß nicht Spielen und andere PBianiftinnen follten es gleich-
falls nicht. Das iſt Liſz t'ſches Regal. Zum Theil gilt die auch
von den »Ungariihen Rhapfodien« desſelben Componiften.
W. Clauß milderte in der geiftreichen rhythmiſch höchſt leben—
digen Fis-moll-Rhapjodie die Poeſie des Sporenklirrend, brachte
aber fonft das ganze Pußtabild fein und leicht, nad) Art einer
Federzeihnung zum Borfchein. Daß die Concertgeberin auch
diesmal wieder mit Beifall überfchüttet wurde, will nicht jo viel
bedeuten, als daß das Publicum je länger defto mehr fich
ihrer poetifchen und eigenthümlichen Individualität zu afjimi-
liren fcheint. Wilhelminend Spiel kann von dem Eindrud ihrer
ganzen Perfönlichkeit gar nicht getrennt werden, man muß fie
eben jo wie Liſzt fpielen jehen. Bei Naturen wie Dreyfhod,
Willmerd u. a. ift dies nicht nothiwendig. Ohne die mindefte
Heftigkeit oder Weberfchwenglichkeit zu zeigen, geht W. Clauß
doch ganz in ihrem Spiel auf, ihre Züge beleben fich dabei,
ohne eigentlih ſchön zu fein, zu einem ungemein finnigen,
leuchtenden Ausdrud. Noch viel mehr joll died der Fall fein,
wenn. fie ſpricht. Jch kann darüber aus eigener Erfahrung nicht
Virtuoien. 89
Auskunft geben. Ein Freund aber und College im fritifchen
Beruf, der jahrelang mit Stolz das Bemwußtjein einer dra=
koniſchen Unparteilichkeit wie einen flatternden Helmbuſch trug,
erzählte mir eben, wie er die perfönlide Bekanntſchaft der
jungen Dame für unumgänglich nöthig zum vollftommenen Ver:
ſtändniß ihres fünftlerifhen Weſens erachtet habe, wie er mit
Gritaunen einer das mufifalifche Bereich weit übergreifenden
Bildung, einer feltenen Geiftes-Urfprünglichkeit u. ſ. w. begegnet
und endlich unvermerkt als Enthufiaft geichieden jei. Zum Glüd
bedürfe jo unbeftrittene Kunft feiner freundfchaftlichen Brille.
Spielte aber W. Clauß hie und da ihm doch etwas nicht ganz
zu Danf, jo verfchweige er’3 gern, da er den Muth verloren,
ihr weh zu thun. Alſo ſprach die gefallene Fritiihe Größe. Da
lag der Helmbufh. Ich aber gelobte im Innnern niemals
die perjönliche Belanntihaft eines Künſtlers zu machen, es fei
denn erwiejen, daß er ein vollendeter Grobian.
Herr Giovanni Bailati hat fih zweimal auf der
Mandoline hören Iafjen. Diefes zirpende, wiſpernde Inſtru—
ment, dejjen bibrirender Stahlton der Maultrommel näher fteht,
al der ihm formperwandten Guitarre, ift zur Begleitung des
Gefanges, nicht aber zu felbftftändigem Goncertiren berufen.
Durch ihren ſchwachen, abjpringenden Ton zum Vortrag ge:
bundener Gantilenen beinahe untauglich, bietet die Mandoline
auch der Figuration allzuenge Grenzen und wird im beiten
Tall, ſtatt mufifalifhen Genuffes, einige Bewunderung un—
fruchtbarer technifcher Gemwandtheit vermitteln. Der einzige
hübſche Effect des InftrumentS dürfte das bis zum leiſeſten
Hauch abfterbende Tremolo fein, das Herr Vailati auch ganz
vorzüglich behandelt.
»Brzowska« ift der fchwer ausfprechbare Name einer
polniſchen Glavierpirtuofin, welche fih vor wenig Tagen hören
ließ. Sie ſpielt ziemlich rein, zart, geläufig. Das wäre, was zu
ihrem Lob zu berichten. Uebrigens ift ihre Technik vielfach un:
vollendet, namentlih der Anjchlag nicht Fräftig genug. Ihr
Vortrag repräfentirt den Typus des SFrauenzimmerlichen. Wir
meinen damit daß Zerpflüden des muſikaliſchen Zufammenhangs
in kleine Theilchen, in deren jedes ein bejonderes Gefühl ge:
90 1855.
fegt wird; die Sucht zu retardiren und zu diminuiren; die
vielen unndthigen empfindungspollen Accente auf einzelne Noten,
die deren nicht bedürfen; endlich das Vorherrichen einer gewiſſen
Geziertheit und Verſchwommenheit.
Am Abend desjelben Tages gab Herr Karl Evers ein
Concert. Unſeres Erinnern genoß Herr Evers jeinerzeit als
Kunftreifender einen nicht unvortheilhaften Auf. Entweder hat
Herr Evers jeitdem Nüdjchritte, oder das öffentliche Urtheil hat
die entgegengejeßte Bewegung gemacht: furz, die anweſenden
Mufikfreunde waren am Sonntag Abend ziemlich einig darüber,
fich ftarf gelangweilt zu haben. Das Programm athmete Ab—
wechslung und Befcheidenheit, es beitand nämlih aus fünfzehn
Nummern, ſämmtlich von der Compofition des Concertgebers.
Als Componift gehört Herr Evers zu der unerquidlichen Claſſe
der »Vermittelnden«, derjenigen Tonjeßer nämlich, deren »Ge—
dDiegened« (Sonaten u. dgl.) zugleich elegant, deren »Elegantes«
unter Einem auch gediegen fein möchte. Solche Vermittlung:
berjuche, mögen fie auch aus einem reblichen Streben hervor—
gehen, mwurzeln doc meiſtens in der doppelten Unfähigkeit,
unbedingt leihtfinnig und unbedingt. fünftlerifch zu fein. So
verhielt e8 fih auh mit Herrn Evers. Sein wiederholtes
Beitreben, fih in größeren Formen, Sonaten, Triod, Quar—
tetten, zu verjuchen, gibt zwar Zeugniß von einer erniteren
mufifaliihen Beihäftigung, die Früchte dieſer Beichäftigung
fönnen wir aber faum anders, ald jaftlos und unfchmadhaft
nennen. Die »Sonate für Clavier und Pioline« entbehrt eben-
ſoſehr des bedeutenden Inhaltes und der gejchlofjenen Form,
als die Salonſtücke (»Le Trille«, »La Coquette« u. f. mw.) des
leihten, anmuthigen Schwunges. Eine geübte Hand ift nicht zu
verfennen. Von der anjcheinenden Neuheit der Yluftration
Lenau'ſcher Gedihte durch charakteriftiiche Clavierftüde wird
ih wohl niemand blenden laſſen; ob man eine Aufihrift, ein
Motto, oder ob man ein ganzes Gedicht incommodirt, um für
dürftige Mufif den Abglanz fremder Poeſie zu borgen, das ift
ganz einerlei. Als Clavierjpieler fteht Herr Evers in nicht
geringem Rückſtand gegen die Forderungen, welche man heuts
zutage an die Virtuoſität ftellt und mit vollem Rechte jtellen
Virtuoſen. 91
darf. Bietet man uns Octaven-Etuden, Tillerübungen, Figura—
tionen der linken Hand, ſo verlangen wir dazu die hämmernde
Kraft eines Dreyſchock, den gleichen Triller eines Thalberg
oder Willmers, die rhythmiſche Elaſticität eines Schulhoff.
Herrn Evers' Technik mag für den Clavierlehrer, für den
Componiſten ausreichen, nimmermehr für den Virtuoſen. Der
Mangel an rhythmiſchem Gefühl iſt uns beſonders aufgefallen,
wir erinnern an den verſchwommenen Vortrag der »Waſſer—
fahrt«, der »Triller-Etude« u. dgl. Wenn man einmal Polka
jpielt (was iſt »La Coquette« ander3?) jo fpiele man fie
wenigſtens herzhaft und mit fyreude am Rhythmus. Durd einen
hypochondriſch verwilchten Vortrag werden derlei Dinge nur
noch langweiliger.
Sn einer MWohlthätigfeitsafademie fand den Tebhafteiten
und verdienteiten Beifall ein concertantese Duo (über Motive
aus »Nigoletto«) für zwei Flöten, vorgetragen von den Herren
Franz und Karl Doppler. Das Flötenſpiel der Brüder
Doppler gehört zu dem Bedeutenditen, deſſen wir und im Ge—
biet inftrumentaler Birtuofität erinnern. Was ſich diefem als
Solo-Jnftrumente jehr dürftigen Rohr an befannten oder ver:
borgenen Effecten nur immer entloden läßt, alle Kinfte der
Doppelzunge, Trillerfetten und Interballenfprünge, bringt diejes
flötende Brüderpaar mit einer Reinheit, Ruhe und Sicherheit
hervor, welcher der erpichteite Flötenfeind ein Iebhaftes Sn:
tereffe nit verjagen fan. Der mwundeite Fled des Inſtru—
ments, fein leerer, Fühler Ton im Bortrag gebundener Gans
tilenen, fann freilich durch feine Kunſt verdedt werden. Unſere
Birtuofen halfen fih einigemal recht gut, indem fie einfache
Melodien beide unisono jpielten. UHeberhaupt muß man ihren
Compofitionen, jo wenig ſelbſtſtändige Bedeutung fie auch haben,
die feine Weberlegung nahrühmen, mit welcher auf das
Zufammenfpiel der beiden einander nicht blos ablöjenden,
fondern mejentlich unterjtügenden Flöten, ſowie auf die Berück—
fihtigung des jpecifiichen Charakters des Inſtruments geachtet
wird. So iſt in der einen Variation das Girren und Schmettern
der begleitenden Flöte ein überraihender und doc dem In—
jtrumente ganz homogener Effect.
92 1855.
Nicht fo glüklih war mit feiner faum geringeren Bir-
tuofität der föniglich hannoverihe Oberftabötrompeter Sachſe.
Die Trompete wird ihrer Beitimmung als Orceiterinitrument
bei ihrem fpärlichen Umfang und ihrem ftarren, entjchiedenen
Klangcharakter jelten mit Erfolg entzogen und zu Goncert-
aweden benüßt werden fünnen. Will man das friegeriihe Metall
zu eleganten PBaflagen oder ſchmachtenden Melodien herab-
würdigen, jo wird fi) das Material verrätherifch genug rächen.
Man nehme dann Schon in Gottesnamen lieber den modernen
Baftard des Hornd und der Trompete: das Flügelhorn. Durch
die Hunftfertigkeit, mit welcher Herr Sachſe fein Inftrument
behandelt, läßt fich diejes bald zur MWeichheit des Horns, bald
zur Geläufigfeit der Oboe zwingen, ſtets aber nur für jehr
furze Zeit, dann blitzt der fchrille Trompetenton doppelt em=
pfindlich herein. Keine Mißhandlung eined Inſtruments gegen
deffen Charakter und Beruf wird jemald einen echten künſt—
leriihen Eindrud hervorbringen. Die von Herrn Sadje vor—
getragene Gompofition war, der bezeichneten Richtung ent—
prechend, eine geichmadlofe Häufung von Schwierigkeiten:
während er fie athemlos befämpfte, bewunderten wir ihn im
Schweiße unſeres Angefihts.
Damit auch ein Stückchen »Claſſiſches« nicht fehle, ſpielte
Frl. Staudach den erſten Satz des C-moll-Goncerted® von
Beethoven, und machte wirklich ein ganz nettes, charmantes
Männchen aus dieſem knorrigen Geſellen. Ueberdies war er
mit Thalberg geimpft. Bekanntlich iſt's die alte muſi—
kaliſche Unſitte der »Cadenz«, welche dem Spieler eines
Concertes geſtattet in der Fermate einen eigenen Bravour—
betrieb anzulegen, ſich aus den Kronjuwelen Beethoven'ſcher
Erfindung Weſtenknöpfe und Manchettenſpangen zu machen
und damit ein Viertelſtündchen ungenirt zu hauſiren. Solch
äſthetiſche carte blanche wird, wie ſich von ſelbſt verſteht,
ſo gründlich benützt, daß man ſich nicht allzuſehr verwun—
dern darf, wenn man eines Tages eine Cadenz von Liſzt
oder Thalberg mit eingelegtem Concert von Beethoven ange-
kündigt lieſt.
Orcheſter⸗Concerte. 93
Herr Drarler fang wieder einmal Proch's »Stillen
Zecher«, der fih mit Vorliebe in Decimenfprüngen bewegt,
wahrjheinlih um außzudrüden, wie er immer zugleich tief im
Glaſe und hoch an der Zeche ftehe. Nach fol’ jentimentalem
Rührgefang, woran nicht? wahr ift ala defjen mufifaliihe Ge-
meinheit, Hang ein Lied des viel- und Leichtichreibenden Küden
(»die drei MWorte«) wie ein Ideal von Tonſchönheit und
Gemüthstiefe.
1856.
Örchefter:Eoncerte.
Das erfte diesjährige Concert der »Geſellſchaft der Mufit-
freunde« wurde wunderlih genug eingeleitet duch Litolff's
Dupverture »Chant des Belges«. Dieje dem König Leopold I.
gewidmete und bei Gelegenheit der legten Jubiläums-Feierlich—
feiten in Brüſſel aufgeführte mufifalifche Ungeheuer geht aus
C-moll. Andante grandioso beginnt e8 mit einer fchmwerfällig
rumpelnden Figur der Bälle fih zu regen. Hierauf fommt
(molto presto) eine jener trivial-dämoniſchen Violinthemas
herangepfiffen, welche jeit Lindpaintner und Marfchner den offi=
ciellen Sty[ der Vampyre bilden. Sollten die Belgier wirklich
ſolche Teufel und ihr gepriefenes Land eine Wolfsſchlucht fein?
Litolff kümmert das wenig; im offenen MWiderjpruch mit
Kuranda md Höffen läßt er chromatiſches Heulen und
Zähneklappern durch jein Vaterland auf und nieder fegen, bis
plöglih, mie ein ungeheures Nießen, ein einzelner Schlag der
Metallbeden erflatiht. Momentane Stille. Cine Clarinette
ftimmt, von der fleinen Trommel freundlich unterftüßt, das
belgiſche Volkslied an, eine jehr einfache marfchartige Melodie.
Die Violinen, durh Sordinen gedämpft und vierfach getheilt,
tremoliren in hochliegenden Nccorden geheimnißvoll über diefer
etwas hausbadenen Erſcheinung. Dieſes Tremolo der gedämpften
Violini divisi, von Berlioz längſt charakteriftiih angewendet,
beginnt nachgerade bei den Zukunftsmuſikern als allgemeines
Hausmittel der Verblüffung angewendet zu werden. Richard
Wagner malt damit den Herenipuf des Venusbergs, Lilzt
DOrchelter-Goncerte. 95
in feiner Graner Meſſe das »Gloria in exeelsis«, Litolff endlich
den Patriotismus der Belgier. Indem nım diefe fragmentariichen
Andeutungen der Volksmelodie immer deutlicher und ftärfer
anſchwellen, wird auf den eigentlichen Kern- und Zielpunkt des
Ganzen Iosgegangen: der »Chant des Belges« fommt von
Pojaunen, Trompeten, Hörnern und Tuba mit Urgemwalt
unisono herangeblajen, während die PViolinen und Holz:
inftrumente in Triolengruppen dazu kreiſchen, und alle Lärm—
inftrumente einen Speftafel beiftenern, wie wir ihn im Con—
certjaal noch nicht erlebt haben. Auf die materielle Wirkung
dieſes — jehr billigen — Schlußeffecte® Hin ift die ganze
Ouverture zugejchnitten, fo daß die eriten 54 Seiten der Par—
titur nur als ein präludirender Vorwand zu dem auf Seite 55
hereinbrechenden todtichlägeriichen Glanz ericheinen. Litolff ar:
beitet da genau wie ein Dramenfabrifant der Borte St. Martin,
der zu einer effectvollen Schlußfcene ein ganzes Stüd nad):
träglih Hinzudichtet. Das unleugbare Talent der Mache und
einige vereinzelt hervorbligende geiftreiche Züge können Litolff’3
Lärm-Ouverture nit vor dem gerechten Verwerfungsſpruch
retten, der wohl alle muſikaliſch Gebilderen am 30. November
vereinigt hat. Leicht wird es und am allerwenigiten, über
Litolff fo abfällig zu urtheilen. Henri Litolff (außer Ver—
hulſt vielleicht der einzige heimifche Componift, durch den Die
Niederlande an ihre ehemalige mufifalifche Oberherrichaft
gegenwärtig erinnern) hat durch feine früheren Werke nicht
geringe Hoffnungen erwedt. Seine »Shymphonie-Eoncerte« für
Elavier und Orchefter, insbeiondere »Groica« und »Hollan-
daife«e — worin National-Melodien ganz anderd vertendet
waren, al3 in der neuen Ouverture — find von fühnem, oft
großartigem Wurf der Anlage, reih an geiftvollen Einzeln:
heiten, getragen von lebhafter Phantafie und gründlichen,
namentlih an Beethoven lehnenden Studien. Deögleichen fand
fih in den kleineren Clavier-Compoſitionen Litolff’3 („Etuden«,
»Souvenirs de Harzbourg« u. a.) viel Sinniges und Anmuthiges.
Wenn Litolff vor zehn Jahren die gefunden Keime feiner Muſik,
gereinigt von den vielen bizarren Auswüchlen, pflegte und
großzog, dann war Bedeutendered von ihm zu hoffen. Anſtatt
96 1856.
deſſen fcheint der Kern abgeftorben, und blos die Methode der
bizarren Effecte geblieben zu fein. Schon mit der Oper »Die
Braut von Kynaſt« begann die Verarmung Litolff’3; feine
neueften Sachen ftellen den geiftigen Bankerott vollends außer
Zweifel, mögen fie mit äußerer Verfchwendung noch jo fehr
zu täuschen ſuchen. Auch Litolff’3 äußere Schidjale haben ſich
beinahe gleichzeitig jeltfjam geändert. Der früher unftäte, von
Leidenſchaftlichkeit faſt verzehrte Feuerfopf ift nunmehr bes
häbiger Philifter geworden, hat in Braunſchweig eine Mufik-
verlagshandlung und die dazu gehörige Witwe geheirathet.
Unmittelbar nad diefer bombaftiihen Prahlerei mußte
ein Werk wie »Erlkönigs Tochter« von Niels Gade doppelt
anmuthig wirken. Obwohl keineswegs Großes oder Hochbebeu-
tende3 bringend, athmet es doch die Weihe natürlicher Anmuth
und eines feinen, gebildeten Geiftes. In engem Rahmen begrenzt,
jucht e8 denfelben nirgends anſpruchsvoll zu fprengen, bewahrt
vielmehr eine mohlthuende Bejcheidenheit. Solche Werte (die
Niemand mit furchtiamer Philifterarbeit verwechjeln wird) er—
füllen heutzutage eine wohlthätige Milfion, indem fie jener
epidemifch werdenden Großmannsſucht, weldhe in eine Sym—
phonie den ganzen »Kosmos« hHineinzwängt, die Liebend-
würdigfeit künſtleriſcher Mäßigung und Bildung entgegenhalten.
Gadi nennt »Erlkönigs Tochter« eine »Ballade für Soli,
Chor und Ordeiter«. Sie gehört jenem beliebten Genre Eleinerer
weltliher Gantaten, welde zwar auffallend an einen geſchicht—
lihen Zufammenhang mit den »Kammercantaten« de alten
Garifjimi (um 1630) mahnen, thatfählih aber durch das
praftiihe Bedürfniß nad) längeren Concertnummern in unfern
Tagen gleihjam neu erfunden wurden. Der Tert iſt aus
däniſchen Balladen zufammengejtellt und behandelt die von
Herder bei und eingeführte Sage vom Herrn Dlaf, der am
Abend vor feiner Hochzeit durch den geſpenſtiſchen Erlengrund
reitet. Von Erlkönigs Tochter, die ihn zum Tanze zwingen
will, geichlagen, fehrt er, den Tod im Herzen, heim. Die au
fih kurze Begebenheit mußte -in drei Abtheilungen ausgedehnt
werden, von denen die erite die Warnung der Mutter und
Olaf's Abjchied, die zweite der Elfenjcene, Die dritte endlich
»Erlkönigs Tochter von N. Bade. — »Eroica«. 97
Diaf’3 Heimkehr und Tod enthält. Durch dies Auseinander-
zerren kommt viel monotone Wiederholung und mander Lücken—
büßer in dad Ganze. Auch an unmittelbarem dramatifchen
Eindrud büßte die Cantate manches ein, und wer Löwe's
Compofition der Herber’ihen Ballade fennt, wird einräumen,
daß dajelbft die kurze MWechjelrede
»Sag an, mein Sohn, und fag mir glei,
Wovon biſt Du fo blaß und bleich«?
»Und ſollt ich nicht fein blaß und bleich,
Sch kam in Erlenlönigd Reich««!
ergreifender wirft, al® die daraus geſponnene lange Scene bei
Gade. Für den fnappen Fortichritt der Begebenheiten taufchte
der Componiſt den Vortheil einer bequemen Auseinanderfaltung
der Iyrifhen Momente ein. Im diefen Iyriihen Momenten
und der ſpecifiſch nordiihen Färbung, mworein fie der Come
ponift zu tauchen weiß, liegt defjen Stärke. Die zweite Ab-
theilung bildet natürlih den Gipfelpunft auch in mufifalifcher
Hinfiht, und es ift Gade hoch anzurechnen, daß er es verjtand,
dem conventionellen muſikaliſchen Elfen-Apparat warmes, eigen:
thümliches Leben einzuhauchen. Reizend iſt der Strophengejang
von Erlfönigs Tochter in As-dur, der in der That wie filbernes
Mondliht aus dem vorhergehenden E-moll-Chor hervorbricht.
In den erjten Abtheilungen ftechen die Warnung der Mutter
und Dlaf3 Romanze: »So oft mein Auge die Fluren
jhaute, ausdrudsvoll hervor. Die Chöre der erjten und
dritten Abtheilung find von einer etwa trodenen Beſchau—
lichkeit. Sinnig iſt der Gedanke des volksthümlich gehaltenen
Strophenlieded, womit der Chor das Ganze, nad Art eines
Prologd und Epilogs, eröffnet und jchließt. Der Eindrud des
Gräßlihen (Olafs Tod) durfte hier nicht der letzte bleiben.
Der Epilog löſt ihn in milde epiſche Ruhe auf und bringt, die
Melodie des Prolog wiederholend, das Ganze zu wohlthuender
Abrundung.
Zum Schluß Beethoven’ Groicaa — »bon der wir
nicht wiederholen wollen, was Alle wiſſen« Mit diefem Satz
pflegte Schumann, der — wenn irgend Einer — im Stande
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 7
98 1856.
geweſen mwäre, feiner Bewunderung für Beethoven Worte zu
leihen, an diefen für ein Goncertreferat allzu gigantiihen Er—
fcheinungen vorüberzugehen. In der That wirken Kunſtwerke,
wie Beethoven's Symphonien, bei denen jeder Taft von der
Kritit längſt abgemweidet ift, etwas athembeflemmend auf uns
nachgeborne Berichterftatter, denen das Herz voll ift, der Mund
aber nicht überlaufen darf. Namentlich die »Heroiſche« unter
den 9 Schweftern hat des verdienten Preiſes jo reichlich und
ausführlich erhalten, daß man auf feine ihrer Schönheiten hin—
teilen kann, ohne damit zu jpät zu fommen. Kaum, daß man
daran erinnern darf, wie dies Werk, das 55. Beethoven's,
ganz eigentlich die Brüde zwifchen den früheren Symphonien=
ftyl und dem modernen bildet. In feinen beiden erften Sym—
phonien bewegte fich Beethoven, wenn gleich mit genialer
Sreiheit, in dem Ideenkreiſe Mozart’: in der heroiſchen Sym=
phonie entfaltete fi zum erftenmal der ganze, eigentliche
Beethoven. Die merkwürdigen 36 Takte im zweiten Theil
des eriten Satzes der Eroica (Seite 33, Takt 2 der Simrod-
fhen Partitur) bis zum Durchbruch des Streichquartett vor
dem Eintritt der neuen Epilode (Seite 36, Takt 18) bilden
einen bedeutfamen Wendepunkt in der fünftleriichen Entwidlung
des Meifterd, einen Wendepunkt, der ihn fortan ungeahnte
prachtvolle Zaubergärten entdeden ließ, auch nädtige Ab-
gründe mitunter, die feines Menfchen Freund. Beethopen
ſelbſt it der eigentliche Held, den die »Heldeniymphonie«
feiert. Auf den andern, den Kriegshelden, den unſer Meifter
eigentlich meinte, wollte fie mir nie recht paſſen. Bekanntlich)
ichrieb Beethoven feine Sinfonia eroiea urfprünglid 1803
zum Breife Napoleon Bonaparte’. So wird erzählt. Es
jheint mir auffallend, daß man diefe allbefannte Thatjache,
welche factifch ausführt, was der Titel »Eroica« furz andeutet,
nie ernftliher an den Charakter der Symphonie gehalten
und den umnleugbaren Zwieſpalt zwiichen beiden bemerkt hat.
Nach meinem Gefühle iſt die »heroiihe Symphonie« durchaus
nicht heroifh in ihrer Totalftimmung, ſondern nur nebenbei
in einzelnen fih aufraffenden Momenten. Sie iſt durchweg
pathetiſch, und hätte mit dieſem Beiwort ebenſo füglich
Beethoven’s »Groicas, 99
harafterifirt werden fönnen, al3 jene gefeierte C-moll-Sonate,
Heldenhaft, ſchlachtenfroh, fiegreich, — dies alles iſt die Eroica
niht in dem Sinne, welchen man mit der Vorftellung eines
triumpbhirenden Feldherrn verbindet. Von militäriiher Kraft
und Herrlichkeit bligen faum Hin und wieder einzelne Strahlen.
Am Fräftigften tritt noch der erfte Sat auf: das im reinen
Dreiflang feſt einherjchreitende Hauptmotiv durfte in der That
einen Helden ankündigen. Allein ſchon nah 4 Taften trübt
fih der Ton der Zuverficht, und wehklagende Accorde ſprechen
von geheimer Trauer. Dieje gebrochenen Töne, anfangs bald
verhallend, ehren im Verlauf länger und bebeutfamer zurüd
und verleihen dem Ganzen einen heimlich nagenden, wunden
Ausdrud. Durch diefen erften — wie gejagt am meiſten
»heroifhene — Saß zieht unverkennbar ein tief gedrüdter Ton,
ein Ton edler, aber darım nicht minder jchmerzlicher Reſigna—
tion. Der Held tritt jchon verblutend auf. Noch viel umflorter
ift daS eigentlich »heroifche« Element in den folgenden Süßen.
Bekanntlich find die fanften, elegiſchen Gejangftellen die ſchönſten
darin. Wenn irgend ein Sat berufen war, die ganze Kraft
de3 >»heroifhen« Ausdrucks freizulafien, jo war es gewiß das
Finale Wie viel aber gerade diefe in ihrem Anfang un—
muthigsdüftere, in ihrem Verlauf fanfte und wiegende Muſik
den Anforderungen des Heroiſchen fchuldig bleibt, fcheint mir
unverfennbar; das ftolze Aufraffen der letzten 40 Takte kommt
zu jpät, um den Totaleindrucd zu beftimmen. E83 ift freilich
nur ein Beweis mehr von Beethoven’ mwunderbarem Kunit-
veritand, daß er, auf grelle Gontrafte verzichtend, lieber den
Ausdrufd aller Säte mit Rüdficht auf den Mittelpunkt des
Ganzen (den Trauermarfh) abſchwächte und niederhielt, —
allein ob diefe gebrüdte Skepſis dem Begriff des Heroiſchen
entfpricht, bleibt eine andere Frage. Die C-moll-Symphonie iſt
in ungleich höherem Grade eine heroifche, ja, die »Egmont—
Duverture« findet in ihrer kurzen Schlußftretta einen viel
heldenhafteren Abſchluß, als die »Eroica« in ihrem ganzen
Finale. Das variirte graziös-fhaufelnde Gejangöthema im
4. Sag entnahm Beethoven Note für Note feiner Ballet:
muſik zu »Prometheus«, fie fommt jogar früher (und ſtets
Tr
100 1856.
in derfelben Tonart Es-dur) auch noch in einer Sammlung
(»Eontratänze« bon Beethoven) vor! Wem der innere Cha—
rafter diefer Melodie nur einen »halben Beweis« für unjere
Anficht bildet, der findet ihn mehr als ergänzt durch die That-
ſache jener faſt unbegreiflihen Ballet:Herfunft des vermeintlich
»heroifchen« Themas. Welche Heldengedanfen haben die Aus—
feger hinein interpretirt! Nachdem mir die Schönheit eines
Tonwerf3 von deilen Titel oder poetiihem Vorwurf unab-
hängig und nur in der Harmonie der mufifalijchen Ver—
hältniffe begründet fcheint, ift auch für den unantaftbaren Werth
der »heroiſchen Symphonie« die Beziehung zu ihrer Ent-
ftehung und Meberfchrift gleichgiltig. Nur zuläffig muß
man in ſolchem Falle die Vergleihung nennen. Mehr oder
minder fubjectiv, wie jedes jolche Meilen des mufifaliichen Aus—
druds an feiner Ueberſchrift, ift auch daS hier angeregte Be—
denken gegen den »heroifchen« Geiſt der »Eroicae. ch habe
ed ‘auf die Gefahr hin, zu irren, ausgefprochen, damit Andere
fih angeregt fühlen, ihre eigenen Wahrnehmungen damit zu
vergleichen, oder an dem Gegenitand jelbit zu erneuern. Das
Nachbeten bleibt immer das Leite.
Die Gejelichaft der Mufiffreunde gab nad) längerer Unter—
bredung ihr drittes Concert. Cine Goncert-Ouverture von
Julius Rietz mahte den Anfang. Wie alles, was wir von
diefem Componiften bisher fennen lernten, gehört auch die
»Concert-⸗Ouverture« unter die Kategorie: geiftreihe Impotenz.
Mohlgefhulter und geihmadvoller Mufiker, zugleich vortreff-
liher Dirigent, ift Riet im freieiten Befig aller Mittel, mit
welchen man componirt; nur was man eben componiren joll,
ift ihm von der Natur fehr ſparſam verliehen. An die Stelle
der Erfindung tritt bei Nie die Combination, ftatt eigener
Ideen bringt er geiftreiche Umfchreibungen fremder. So freund:
lih einzelne Züge anſprechen, da® Ganze bleibt unerquidlich,
wie jede Grübelei in der Kunſt.
Den Schluß madte R. Schumann’ Symphonie in
B-dur (Nr. 1), diejelbe, die im Jahr 1846 unter perjönlicher
Leitung des Componiiten hier aufgeführt worden war. Dies
reizend erdachte und meilterwürdig außgearbeitete Werk fteht
Schumaun's B-dur- Sompbonie. 10 l
zwar der C-moll-Symphonie (die wir im verflofienen Winter
gehört)” an Großartigfeit nah, gewinnt aber durd ihren
freundlicheren Ausdruf und entzüdende Anmutd. Wer unfere
diesjährige Mufikiaifon aus einem höheren Standpunkt über:
ihaut, wird ihre Bedeutung hauptiählich darin finden, daß zum
eritenmal Schumann’: Werke eine anftändige, ja vorzugs—
weile Vertretung fanden. Diefer reiche und tiefe Geiſt gewinnt
endlich auch bei uns allmälig Verftändniß und Verehrung. In
den mufikliebenden Privatfreifen der NRefidenz beginnt für
Schumann bereit eine Vorliebe, ja ein Eultus fich zu bilden,
wie ihn bisher nur Mendelsjohn erfahren. Angeſichts folder
Zeihen einer erfreulichen Vertiefung des Mufitgeihmads in
Wien fann man gelaffen über die bodenloſe Unverjhämtheit
hinmweggehen, mit welder hie und da Schumann "entweder
jpöttich verworfen oder vornehm mit den landesüblichen Rath:
ihlägen und Aufmunterungen erwähnt wird. Solde Literatur:
Commis pflegen ihre Unfähigkeit, Shumann zu veriteben,
hinter einem wohlfeilen, allgemein gehaltenen Wit auf die
» Zufunftömufifer«e zu verihanzen. Sobald aber Jemand Schu—
mann’ Gompofitionen mit der jogenannten » Zufunftämufif«
zufammenmwirft, jo hat er auch jchon feine Ignoranz in muſi—
- falifhen Dingen an den Tag gelegt. Jene mißveritändliche
und abgeihmadte Benennung datirt von dem Ericheinen eines
Buches von Rihard Wagner, welches den Titel »Das
Kunftwerf der Zufunfte führte. In diefem Buche juchte Wagner
die Fünfte der Gegenwart, wie fie als Mufif, Malerei, Poefie,
Tanz gejondert bejtehen, als grobe Verirrungen darzuitellen,
welchen er das deal eines »Kunftwerfes der Zufunfte, worin
alle Künfte fih zu Einem Ganzen vereinigen, entgegenfegt.
» Zufunftömufifer« können aljo im beiten Falle diejenigen ge—
nannt werden, welche Wagner’3 Theorien verfechten oder zu
realifiren juhen. Weber das Eine, noch das Andere ift unſerem
Schumann jemal? beigefallen. Schumann’s reifite Werfe waren
längſt gefchrieben, feine künſtleriſche Richtung längſt unablenkbar
feſtgeſtellt, ehe (vor einem halben Decennium) Richard Wagner
ſeine politiſche Mißvergnügtheit auf äſthetiſchen Boden ableitete
und mit ſeinen Theorien ein Häuflein Muſikfreunde begeiſterte,
102 1856.
die das Unglück Haben, geiftreih zu fein, ohne muſikaliſch
Ihaffen zu können. Schumann, der jede reblihe Perfönlichkeit
gern ſchonte, hat fich niemals öffentlich für oder gegen Wagner
geäußert; man braucht aber nur feine Schriften und ſeine
Gompofitionen ftudirt zu haben, um zu erkennen, wie jehr die
Grundfäge beider Männer fich entgegenitehen.
Nah der Art feines Talentes verhält ih Shumann
zu Mendelsjohn ungefähr wie Beethoven zu Mozart.
Bon einer MWerthvergleihung, wie fie doch ſtets unfruchtbar
und mißdeutfam ausfällt, joll hier feine Rede fein, ebenjomwenig
ein Verſuch geichehen, die Eriftenz von Schattenfeiten in
Schumann’ Werfen zu läugnen. Jeder große Meifter, nament-
li in der jubjectivften Kunft, der Mufif, darf und zumuthen,
daß wir, feine Herrlichkeit genießend, auch mit feinen Launen
und Eigenheiten und allmälig befreunden. Dieje Eigenheiten
fehlen jelbit im ſchlimmen Sinn faft nirgend, nur andere find
e3 überall, und wenn wir bei Mozart und Mendelsfohn manch—
mal einen fühlen Formalismus, ein tonjeliges® Ausbreiten,
ein Abſchwächen und Mildern des Ausdrucks gerne hin—
nahmen, jo haben wir bei Beethoven nd Schumann das
grelle Nebeneinander der Gegenſätze, das eigenfinnige Feithalten
und Hervordrängen bon Ginzelheiten, daß tieffinnige Horchen
und Berjenfen in geheimnißvolle Zaute zu lernen und zu ge-
wöhnen. Daß Beethoven’3 genialem Eigenfinn gegenüber die
Aufgabe des Hörers auch nicht klein war, jollte man doch
nicht Schon vergeffen haben. Hat man Doc die dunklen Augen
blide Beethoven's nicht blos zu begreifen, jondern im Namen
des »Humord« eigens zu verherrlichen gefucht, bis man endlich)
an die Parallelifirung Beethovens mit Jean Paul (im
Gegenjag zu Mozart, dem der fchmeichelhaftere Vergleich mit
Goethe zufiel) gelangte; eine dee, die noch Heutzutage
das Entzücken mander ſchönen Seele bildet. Wenn ein Ver:
gleich zwiichen Charakteren verjchiedener Kunftfphären über:
haupt zuläffig, jo fann Beethoven nur mit Shakeſpeare
verglichen werden, der den Geift der modernen Poeſie über:
haupt im Gegenſatz zur griechiichen am vollfommeniten und
anſchaulichſten verkörpert hat.
R. Wagner's Fauſt-Ouverture. 103
Den tiefen inneren Unterſchied zwiſchen der muſikaliſchen
Begabung Schumann's und jener Wagner's konnte man
jüngſt an einer Novität des Letzteren klar genug wahrnehmen.
Es iſt dies Richard Wagner's Ouverture zu Goethe's »Fauſt«,
oder damit wir genau citiren, »Eine Fauſt-Ouverture«
von R. Wagner. Wagner’3 jchreibende Ritterſchaft hat die
feine und tieffinnige Unterfcheidung, die in diefer Benennung
der Dupverture liegt, fo eingehend gewürdigt, daß eigentlich
auf die Mufif jelbft kaum mehr viel ankommen kann. Die
poetifche Bedeutung ift befanntlic die Hauptjahe. Damit der
Hörer fih in dem dichten Nebel diefer Mufit einigermaßen
zuredhtfinde, hat der Componiſt folgendes Motto als Leucht⸗
thurm der »Bedeutung« vorangeſtellt:
»Der Gott, der mir im Buſen wohnt,
Kann tief mein Innerſtes erregen;
Der über allen meinen Kräften thront,
Er kann nach außen nichts bewegen;
Und ſo iſt mir das Daſein eine Laſt,
Der Tod erwünſcht, dad Leben mir verhaßt«.
Wenn man nun von einem Muſikſtück nichts weiter ver—
fangt, als daß es in feiner Gefammtitimmung, mit was immer
für Mitteln, den in den Schlußzeilen geihilderten Seelen:
zuftand ausdrüde und das Publicum lebhaft in eine Situation
verjeße, wo ihm »das Dafein eine Laft« u. f. f, jo läßt
MWagner’3 »Eine Fauft-Duverture« nichts zu wünſchen übrig.
Sollte aber jemand noch fo antedilupianifch denken, von
einem großen Snftrumentalwerf auch mufifaliihe Vorzüge
zu verlangen: Kraft und Originalität der Erfindung, Reich—
thum und Slarheit in Anordnung und Durchführung, dann
widerfährt ihm Recht, wenn er in Wagner’3 Ouverture wie in
einer endlojen Sandwüſte fih vorkommt. Er tröfte fih dann
mit der im Motto verſteckt Tauernden Ironie auf dieſe Ton
feger, welche nur mit der poetilchen Intention componiren:
die Intention kann tief ihr Innerſtes erregen, allein nad
außen fann fie nichts bewegen.
104 1856.
Quartefffoireen von 3. Sellmesberger.
Den Anfang mahte man wie gewöhnlid mit Haydn,
dem Vater des Quartetts, — ein löblicher Brauch, jolange
man über dem Vater nidt die Söhne vernadläjjigt. Die
Vertretung dieſes Altmeifterd mit zwei Nummern in einem
Cyclus von ſechs Abenden ift vollfommen ausreihend. Fürs
erste find Haydn's Quartette durch eine Hundertjährige beifpiel-
loſe Pflege jo tief in das Blut nicht blos der aufnehmenden,
fondern auch der nachfolgend producirenden Mufifer gedrungen,
daß wir in jedem diefer flaren und vergnügten Tonftüde einem
alten Bekannten begegnen. Sodann lag es im funftgejchichtlichen
Charakter der Haydn'ſchen Periode, daß feine Quartette viel—
mehr das Gleihmäßige der Gattung repräfentiren, als ver—
ichiedene, fcharfgefonderte Individualitäten derjelben. »Ein
Haydn'ſches Duartett«, jagt man jehr bezeichnend, während
man gewiß immer von Ddiefem oder jenem beftimmten
Quartett Beethoven’ jpridt. ES fommt dem Hörer gar
ehr darauf an, welches aus der Reihe der Beethoven'ſchen
Duartette er hören werde, weil es eben lauter Individualitäten
find; anders bei Haydn. Abgejehen von der grundverjchiedenen
Berjönlichkeit der beiden Meiſter, war auch die Art zu com—
poniren zu ihren Zeiten eine ganz andere. Wer wie Haydn
mit feinen Symphonien die Zahl 100 überholt, mit feinen
Quartetten fie wenigſtens geftreift hat, der fonnte unmöglich
in jedes dieſer Werke eine eigene reiche Individualität nieder:
legen. Indem Beethoven zehnmal weniger jchrieb, fonnte er
zehnmal mehr hineinlegen. Aus Beethoven’ Kammermufifen
wünſchen wir nur jene leichteften von öffentlichen Aufführungen
ausgeichloffen, welche (wie die am 9. d. M. vorgeführte
Biolin-Sonate in Es) überall jo gut wie auswendig gelernt
find. Die Salieri und Haydn gewidmeten Sonaten (op. 2, 12)
und ähnliches können ſchon füglih den mufikliebenden häus—
lihen Kreifen überlaffen bleiben, für öffentlihe Productionen
bieten fie im eigentlihen Sinne feine »Aufgabe« mehr.
Schumann Trio, 105
Für Schumann’ zweites Trio (F-dur, op. 80) find
wir den Herren Dachs, Hellmedberger und Borzaga um
jo dankbarer verpflichtet, ala wir die Öffentliche Vorführung
dieſes unvergleichlichen Werkes längſt gewünſcht haben. Die
Kammermuſiken Schumann’s find vorzugsweiſe geeignet, das
Publicum in die tiefere Kenntniß dieſes Gomponiften einzus
führen. Zwiſchen den jugendlich gährenden Glavier-Compofitionen
und den Symphonien, deren großartigere Dimenfionen die Auf-
merfjamfeit des Hörers mehr anftrengen, bieten Kammermufifen
die günftigfte Vermittlung. In der fünftlerifhen Entwidlung
Schumann’3 bezeichnen fie überdies einen jehr wichtigen Wende-
punft: den Uebergang zu den größeren, mehrjäßigen Formen.
Wir finden Schumann vom eriten bis vierundzmwanzigiten Werf
ausihlieglih in Claviermuſik Eleineren Umfangs (Togenannten
»GCharafterftüden«) beſchäftigt; hierauf folgte eine üppige Periode
fait ausjchließlicher Liedercompofition — es war die jchöne
Zeit jeiner Liebe und Werbung! — bis zum vierzigiten Werk.
Nun erſt wendet ih Schumann zu größeren Formen und legt,
namentlid) in den drei Streichquartetten (op. 41), dann in dem
Clavierquartett und Quintett (beide in Es, op. 44 und 47),
die eriten koſtbaren Früchte einer vollkommen gereiften und
geflärten Kunſt nieder, einer Kunſt, welche fih an dem genialen
Sturm und Drang, an den Skizzen und Iluftrationen nicht
mehr genügt, jondern in voller Manneskraft, mit der Wärme
der Jugend, doch ohne ihre Thorheiten, zu der Arbeit großer
Bildungen übergeht. In diejelbe Periode höchiter Reife und
Kraft gehört das Glavier-Eoncert in A-moll (op. 54), die beiden
eriten Symphonien und vieles andere, bis etwa zum fiebenzigiten
oder achtzigſten Werk. In dem Sonntags vorgeführten F-dur-
Trio herricht eine jo reiche Erfindung, ein jo lebendiges Knospen
und Blühen, daß es und jchwer wird, ihm die Opuszahl 80
zu glauben und es jomit hart an die Grenze zu ſetzen, über
welche hinaus Schumann’3 Phantafie zu grüblerifcher Abjtraction
zu verdorren begann, und (mehrere glänzende Momente des
Erwachens ausgenommen) genöthigt war, durch beinahe mechaniſche
Production der äußeren Noth mehr als dem inneren Rufe zu
genügen. Sollte nicht vielleicht das F-dur-Trio dem Haupt:
106 1856.
inhalt nad) früher entjtanden und erſt nadträglih im Ein
zelnen reicher auögearbeitet worden fein? Selbit ganz beftimmte
Anklänge, wie das ſehnſuchtsvolle Lied »Dein Bildnik wunder—
felige im erften Sat und ein Motiv aus den »Sreißleriana«
im Finale, ſcheinen auf eine glüdlichere Zeit Hinzudenten und
unjere Vermuthung zu beftärfen. Bei aller feiner Wärme und
Lebendigkeit iſt das Trio in F von einer größeren Verſammlung
niht auf das erſtemal vollitändig zu fallen. Dieſes —
Schumann eigenthümlihe — SImeinanderfingen und Sicher:
folgen der Stimmen, dies Einfpinnen in geheimnißvolle Har-
monien und Anklingen leifer Beziehungen bewirkt, daß ber volle
Genuß feiner Schöpfungen ſich dem Hörer erft allmälig erfchließt,
freilih um dann immer ficherer und reicher zu erblühen. Sit
es demnad einer Direction bon Orcheiter: oder Kammermufif
Ernjt, mit Robert Schumann nicht blos ein Intereſſe der
Neugier zu befriedigen, fondern das tiefere künſtleriſche Be—
dürfnig wahrhaften Kennens und Genießend, dann wird eine
bäufigere Wiederholung feiner Werfe unumgänglich fein.
Die ſchöne Müllerin.
(Liederchelu3 von Franz Schubert, gefungen von Julius Stock—
haufen.)
Stodhaufen nahm Abichied vom Publicum, und zwar mit
dem einfachiten Programm der Welt. Anftatt des gewöhnlichen
Sammelfurium® von Stüden, deren eines nicht zum anderen
gehört, laſen wir auf dem Anfchlagzettel blos: Die ſchöne
Miüllerin, ein Liederchclus von Franz Schubert. Die Idee
ift unſeres Wiſſens eine neue; daß fie zugleich eine glückliche
war, zeigte der wahrhaft überrafchende Beſuch des Goncertes.
Wie durch ftillfchweigende Verabredung hatten ſich alle echten
Anhänger deutfher Mufit zu diefer Production eingefunden,
welcher zu einem eigentlihen Schubertfeite nichts als Die
ausdrüdlihe Bezeichnung fehlte. Wenig Tondichter genießen in
Wien eines jo allgemeinen und warmen Cultus, wie Schubert.
Die Erwartung, einen feiner duftigiten Liederfträuße in ganzer
Schubert: Die ihöne Mülerin. 107
Fülle und nicht bloß wie biöher, in einzelnen herausgerifienen
Blumen zu empfangen, wirkte wie ein allgemeines Aufgebot
auf Schubert!’ gefammte »Freundichafte. Indem GStod:
haufen e3 unternahm, den ganzen, aus zwanzig Nummern
beitehenden Cyclus der »Miüllerlieder« vorzutragen, gewährte
es fürs erite dem Publicum eine unſchätzbare Anſchauung des
Zuſammenhangs eines Werkes, das in einigen feiner Theile
allbefannt, in anderen hingegen auffallend zurücgejegt ift. So—
dann gewann der Sänger durd diefen Zufammenhang den
wichtigen Bortheil, daS bisher nur lyriſch Vereinzelte dra=
matifch auffaffen zu können. Er mußte ſich nicht mehr ftreng
als Eoncertgeber, er durfte ſich als den lebendigen individuellen
Mittelpunkt des Ganzen fühlen, der, all die verſchiedenen Em:
pfindungen ausftrömend, fie wieder auf fich zurückbezieht.
Die »ſchöne Müllerin« ift ein Eleiner, einfaher Roman
in Liedern. Der Müllerburſche folgt auf feiner Wanderſchaft
dem Lauf eines Bächleins, das, geheimnißvoll lockend, ihn zu
einer Mühle führt. Er erblide die jchöne Müllerstochter und
jucht nicht weiter; als Knappe tritt er in ihren Dienft (Nr. 1
bis 4). Bald gibt die Liebe dem guten Jungen arg zu Schaffen;
der Morgengruß, den er der Theuren bietet, die Blumen, die
er ihr reicht, alles lodt ein ahnungspolles Hoffen in jeinem
Herzen; laut in die Melt möcht’ er feine Liebe hinausrufen,
fie jedem Baume, jedem Stein vertrauen. Das iſt ein gutes
Zeichen, — und das dringend befragte Drafel ded Bades wird
wohl »Ja«e lauten. (Nr. 5 bis 9). Es erblüht eine wonnevolle
Zeit des Beſitzes, jo furz als glüdlih (Nr. 10 bis 12). Die
ihöne Müllerin ſcheint etwas flatterfinnig zu fein; einem ſtatt—
lihen Jäger wird es nicht jchwer, unſern Müllerburſchen aus
ihrem Herzen zu verdrängen. Alle Qualen der Eiferſucht und
verijhmähten Neigung bemächtigen fich des treuen hoffnungslos
liebenden Jungen. (Nr: 13 bis 17). Tödtliches Leid im Herzen
flieht er. die Ungetreue, und ſucht in dem Geflüfter eines
Bächleins Troft und Vergeffenheit (Nr. 18 bis 20). Die Ge:
jhichte ift, wie man fieht, höchſt einfach. Im ihrer jchlichten,
innigen Weife erregt fie aber dennoch unfere ganze Theil-
nahme, an Rückert's finnige® Wort erinnernd:
108 1856.
Liebe ift die älteft neu'ſte,
Einz’ge Weltbegebenheit.«
Wir Haben den geichichtlichen Faden, welcher des Müllers
bald fröhliche, bald traurige Lieder durchzieht, flüchtig aufges
zeigt, um die gümftigere und größere Aufgabe zu erflären,
welche der Sänger dadurch gewinnt. Herr Stodhaufen hat
dieje Aufgabe jo volllommen begriffen umd durchgeführt, wie
man e3 von dem feingebildeten Künftler nur erwarten fonnte.
Der Vortrag hob frohmüthig und unbefangen an, ſteigerte ſich
alsbald zu jener leichten, glüdlichen Aufregung, welche das An—
brechen einer neuen Liebe verfündigt, vertiefte fih allmälig in
die Leidenschaft, um nach kurzem frohen Aufjauchzen im Weh—
muth janft auszuflingen. Lieder, wie »Stolz und Eiferfudt«,
‚Mein Schat hat’3 Grün jo gern« u. a. gewannen nunmehr
ein ungewohntes dramatijches Leben, wußte ja der Hörer, wen
Stolz und Eiferfudt galt und warum den Müller dad Grün
fo traurig macht. Ueberbliden wir den Liedervortrag Stod-
haufen’ im Ganzen, jo müffen wir ihm vor allem das Lob,
auch feinerjeit3 ein Ganzes gebracht zu haben, rückhaltslos zollen.
Die ftärkiten wie die weichiten Töne Löften fi) nit aus dem
organifhen Bau des Liederkreiſes los, weil die Einheit der
Empfindung fie erfüllte und band. Bon den einzelnen Liedern
jelbft waren die elegiichen, überhaupt die bon einer milden,
ruhigen Empfindung getragenen, vortrefflih. Der volle Ausbruch
der Leidenfchaft hingegen, wie wir ihn 3. B. in dem Refrain
des Liedes: »Ungeduld«, »Dein ift mein Herz!« und Aehnlichem
wünichem, blieb von Stodhaujen unerreicht. Die Wahrnehmung,
dat Stodhaufen’3 Organ jeit feinem erften Befuh in Wien
gelitten habe, ift und nad) dem Anhören der Müllerlieder zur
Gemwißheit geworden. Der gejchägte Künftler jang in den höhern
Lagen mit Anftrengung und nit ohne Schwanten, obgleih er
oft genug zum Faljett feine Zufluht nahm. Auch ſchien die
Ermüdung gegen dad Ende des Concertes unleugbar. Welcher
unfhäsbare fünftleriihe Erwerb für diefe natürlichen Mängel
entichädigt, haben wir wiederholt auf das freudigfte anerkannt,
und erinnern diesmal nur noch beſonders an feine treffliche
Declamation. Im reichiten Ausftrömen der Melodie articulirte
Schubert: Die ſchöne Mülerin. 109
Stodhaufen bis in die einzelne Silbe verftändlih und dabei
flüffig, ohne die mindeite Härte, — ein Vorzug, der bei einem
zufammenhängenden Lieberchcluß doppelt ſchwer ind Gewicht fällt.
Die »Müllerlieder« fannten vielleiht die Hälfte der Be—
jucher bis auf die Note; und dennoh wird kaum Einer geweſen
fein, der nicht abermals gejtaunt hätte über die geniale Kraft
des Tondichters, der im Stande mar, einen Cyclus von
20 Liedern au Einem Guß zu componiren, alle ſchön, die
meilten unübertrefflih, nur wenige geringfügiger. Ein Seiten:
ſtück dazu ift befanntlih Schubert's »MWinterreife« (ebenfalls
von W. Müller gedichte), aus 24 Nummern bejtehend, wor:
unter »Die Poſt«, »Gute Nacht«, »Der Lindenbaum« u. a.
wohl unter den Liedern aller Zeiten die erften in erfter
Reihe ftehen. Auffallend ift, daß zwiſchen der Muſik zur Winter:
reije (Schubert 89. Werf) und der » Schönen Müllerin (feinem 25.)
durchaus nicht jener Abftand, fei es an Verfeinerung der Technik
oder an Berarmung der Phantaſie, vorliegt, welcher fonft fo
weit entlegene Opuszahlen fennzeichnet. In beiden Liederfreifen
blüht diefelbe Urfprünglichkeit und Tiefe der Empfindung, der-
ſelbe verfchwenderifche mufifaliihe Reichtum, womit Schubert
jo beneidenswerth audgeftattet war. Dieje Fülle mufifalifchen
Stoffs, verbunden mit einer Leichtigkeit der Production, wie fie
vielleiht nur noch Mozart eigen war, bedingten freilich bei
Schubert ein jo befreiungsluftiges rückſichtsloſes Ausftrömen,
daß von einem ftrengen Feilen und Prüfen des Einzelnen nicht
immer die Nede fein konnte. War einmal der Hauptgedanfe
erfaßt, fo Schritt Schubert fühn und warm auf die Hauptſache
108, nicht rechts nicht links Shauend. So fommt es, daß jelbit
in feinen beiten Werken fi Verleugnungen eines feineren
mufifaliihen Gefchmades finden, wie man fie bei den minder
reichbegabten aber gebildeteren Liedercomponiften Mendels—
fohbn und Schumann vergeblih juhen würde Es iſt nicht
hier der Ort, wohl aber wäre er es in jeder höheren Mufif-
ſchule, auf die zahlreichen Unfchiclichkeiten des genialen Mannes
aufmerfjam zu machen. Auch die Anficht, daß Schubert die
eigenthHümlihe Stimmung jedes Gebichtes ſtets auf das ge
naueſte traf, fcheint ung nicht in dieſer Allgemeinheit richtig zu
110 1856.
jein. Oft beherrfchte ihn eine mufifalifhe Idee fo kräftig, daß
fie fih ihm mit einer nicht ganz Homogenen poetiſchen ajfimilirte;
an ein nachträgliches Aendern war dann nicht zu denken. Man
höre, um ein Beifpiel aus den »Müllerliedern« zu wählen, den
Anfang des Liedes »Die böſe Farbe.«e Schubert fingt Die
Morte: »Ich möchte ziehen in die Welt hinaus« friih und
fühn audgreifend, wie ein thatenluftiger Reiterömann, während
die Worte nur den gepreßten Drang eine® von Liebesleid
Gequälten ausfprehen. Man vergleihe damit die Compofition
deöfelben Gedicht3 von Ludwig Berger, deffen ungleich ge—
ringered, aber ſorgſamer prüfendes Talent hier in ganz ent-
gegengejeßter Weiſe das Richtige und Schöne traf. Will man
fih vollends auf einzelne Strophen einlaffen, jo wird man
Beijpiele in Menge finden, wie Schubert’ märchenhafter
mufifalifcher Reichtum die bejonnene Arbeit feines Kunſtver—
ſtandes oft überwucherte.
In einer einzigen Kunjtgattung hat die Muſik jeit Beet-
hoven einen unbeftreitbaren Fortfchritt gethan: im Liede.
Mir danken die vor allem Franz Schubert. Seit er den
ersten Takt jchrieb, ift jene alte geiftlofe Liederfabrication,
welche Tert und Mufif über dürftigen Dreiflängen nebenein-
ander herlaufen ließ, unmöglich geworden. Weber Niehl’3 ge:
harniſchte WVorreden, noch feine zahme »Hausmufif« werden
diejelbe zurüdrufen.
Klara Schumann.
Der Eindrud, den Frau Clara Schumann hervorbringt,
äußert fi) vorwiegend als jene reine Befriedigung, deren mir
una bei der harmonischen und maßvollen Darftellung eines
idealen Vorwurf bewußt werden. Clara Schumann gibt mit
ihrem Spiel eine vollfommene Neproduction jede Tonwerkes,
das fie im Großen und Ganzen aufgenommen, im feinjten
Detail duchforiht hat und nun treu im Sinne ded Tondichters
wiederbelebt. Das echt künſtleriſche Unterordnen der eigenen
Subjectivität unter die Abfiht des Tondichter8 achtet Clara
Clara Schumann. 111
Schumann als unverbrüdhliches Geſetz. In diefe höhere Abficht
mit verwandtem Sinne einzudringen, ift ihr dafür gegeben auch
wie wenigen. Mit den eriten Tonſpielen ©. Bach's umd
Beethoven's aufgewachſen, hat fich unjere Künftlerin in den
Gedankenkreis der höchſten Mufikdichter längſt jo eingelebt, daß,
fie nur mehr tiefere Schönheiten dort findet, wo wir Andere
vor Räthſeln ftehen. Als junge® Mädchen ſchon ftellte ſich
Clara Wiek dem flachen Getändel der Virtuoſität abjeit und
verfündigte eine der Erjten das Evangelium der jtrengen deutfchen
Meiſter. Dennoch eritarrte fie nicht in der Einfeitigfeit einer
Schule: die poetiihen Epigonen Schubert, Chopin, Schu—
mann und bor allem Henjelt, wurden von der jungen
Pianijtin zu einer Zeit dem Publicum zugänglich gemacht, wo das
anbrechende Licht diefer Namen noch matt und unficher gänzte.
Diefes ihr eindringendes PVerftändniß in jede Art von
Muſik, Fall fie eben noch echte Muſik, verwerthet natürlich den
ganzen Umfang der Technik nur als völlig überwundenes, ohne
weiter fich fügendes Material. In dieſer oder jener einzelnen
Richtung der PBirtuofität mag Clara Schumann von andern
Spielern übertroffen werden; allein jo im Mittelpunkt diejer
verfchiedenen Richtungen ftehend und deren Vorzüge zum reinen
Ebenmaß der Schönheit verbindend, zeigt fi) fein zweiter
Pianift. Hoch über die bloße Correctheit erhaben, bildet dieſe
doch allezeit das weſentliche Fundament, auf welchem Clara
Schumann baut. Jedes Werk in feinem eigenthümlichen
mufifalifhen Styl und innerhalb deſſen wieder in feinen
muſikaliſchen Proportionen und Unterjchieden deutlich) zur Er—
iheinung zu bringen, iſt allzeit die Hauptaufgabe, welche die
Künſtlerin fih ftellt. Sie fcheint mehr für Einen Meifter zu
ipielen, der befriedigt werden, als für viele Hörer, die ergriffen
fein wollen. Falls manchem der letteren eine kleine fühne Ab—
weihung von der reinen Geradlinigfeit der griechiihen Profile
erwünjcht geweſen wäre, jo ließe fich die darum nicht tadeln.
Hinreißend, gewaltig ergreifend wirft Clara Schumann nicht. Ihr
Spiel ift getreueftes Abbild der Compofitionen, aber nicht Ent—
feffelung einer eigenen gewaltigen Perjönlichkeit. Der wahren
Aufgabe der Virtuofität ſteht Freilich jenes nicht blos näher, es
112 1856.
erfüllt fie geradezu, und Clara Schumann’3 Spiel würde ideal
heißen müffen, wenn nicht alles Menſchliche unvolllommen und
jeder Vorzug feinen Mangel in fid) trüge.
Clara Schumann würde nit nur die größte Pianiftin,
fie müßte der erite Pianist heißen, wäre nicht das Maß ihrer
phyſiſchen Kraft durch das Geſchlecht beichränft. Die Hinreißende
Macht eines Klavierfpielers liegt vor Allem im Anjchlag.
Nur wer den ganzen, vollen Ton aus dem Inſtrumente zieht,
der wird den ganzen vollen Eindrud machen; fei e& im Sturm
des Allegros oder im langgezogenen Gejang ded Adagio. Jede
perſönliche Kunftleiltung wird, als ein Doppelrejultat von Geiſt
und Sörper, den Bedingungen des leßteren ebenſo wie des
eriteren folgen, und man braudt noch fein Karl Vogt der
Mufit, fondern nur ein aufmerkfjamer Beobachter zu fein, um
die unmittelbar padende Gewalt eines Pianiſten ebenfo jehr in
jeinen Handmusfeln wie in feiner Seelengröße zu ſuchen. Wir
erinnern beifpielöweife an Rubinſtein und Dreyſchock, deren
gewaltigerer Anjchlag ihnen im Vergleich zu unferer Virtuoſin
auch gewaltigere Wirkungen fihert. Streiheln und Drücden
kann und das weichſte Händchen, paden nur eine Fauft. Aus
diefem Grunde nur vermochte mir die zweite Varation und der
Finalfa in Schumann’® »Etudes symphoniques« bei Clara
Schumann den gramdiofen Gindruf nit zu machen, der
in meiner Vorftellung davon Iebte. Unfere Künftlerin ift übrigens
weit entfernt, fi) übermäßige Forceftüde auszumählen; fie be:
ſchämt lieber die Kraftvirtuoſen der Neuzeit durch Männlichkeit
des Vortrages. Nichts Weibiihes, Zerfloſſenes, Gefühlsüber-
ſchwengliches herrfchte in dem Spiel Clara Schumann’s: es ilt
alles bejtimmt, klar, jcharf, wie eine Bleiftiftzeihnung. Die
häufigen kleinen Accente, die fie liebt, unterfcheiden ſich merf-
würdig von dem Nachdrud, mit welchem die meiften Pianiftinnen
in jede einzelne Note ein eigenes Gefühl zu legen ſuchen; was
hier Affection der fubjectiven Empfindung, iſt dort ftet3 nur
jorgfältiged Beleuchten rhythmiſcher oder harmoniſcher Gegen-
füge. Wenn mir einer Seite ihrer fo vorzüglich auögebildeten
Technik den Vorzug geben jollen, fo iſt e8 die blendende Leichtig-
feit, mit welcher fie zierliche Süße Ichneller Bewegung fpielt.
Glara Schumann. 1 13
Alles Zarte, Luftige, Leichtbewegte glüdt ihr ungemein,
wie dad am glänzenditen Mendeldjohns Lied ohne Worte,
Chopin's Impromptu, Schumann’ Traumedwirren und Aehn—
lihes bewährten. Auch in diefem vorzugsweiſe weiblichen Be—
reih de3 Ausdruds wollte uns der Vortrag der Künſtlerin
mehr tief verftändig, als tief empfunden klingen. Dem nod)
immer herrichenden Mißbrauch des tempo rubato ftellt fie eine
faſt ausnahmsloſe Strenge des Takte entgegen. Der metro-
nomgleiche, jogar im Baſſe jcharf markirte Vortrag des ge:
bundenen Mittelfages in den Des-dur-Impromtu von Chopin
wird manchen überraicht haben. Niemand kann ihn tadeln. Ob
aber auch Chopin's Mufit dadurd gewinne, daß man ihr
füßträumendes Helldunfel durch taghelle Beleuchtung zeritreut,
möchten wir nicht enticheiden. Wenigſtens dünft uns der weich
anjhmiegende, finnende Ausdrud, mit welchem die ſchwächere
Wilhelmine Clauß derlei Chopin’sche Stüd fpielte, in dieſem
Fall das richtigere getroffen zu haben.
Die edle Auswahl, welhe Frau Schumann für ihre Con—
certe trifft, Hat die rühmendfte Anerkennung alljeits gefunden.
63 ift eben ein nothwendiger Ausflug echter Künftlernatur,
ih nicht zum Dienfte des Gemeinen herabzumürdigen. So un—
erhört die Vorführung von Beethovens A-moll-Sonate (op. 101),
von Mendelsſohn's Variations serieuses, von Schumann’
»Spmphonifchen Etuden« u. dgl. in einem modernen Concert
it, fo glänzt da8 Programm Clara Schumann’? ebenjojehr
durch feine durchwegs unbefledte Reinheit, wie durch jene ein-
zelnen Juwelen. Bereit3 drohen die Goncerte, welche mit
Beethoven beginnen, um mit Kullak zu enden, Tagesord—
nung zu werden. Sn der Sucht, Allen gereht zu werden,
tragen fie aber den Keim der Zerftörung in ſich felbit;
denn auc die Muſik ift eine moralifhe Macht, mit der fich
nicht ſpaßen läßt.
Clara Schumann ſpielt nicht blos gut, ſie ſpielt nur
Gutes. Zum größten Danke verpflichtet fie uns durch die juc-
ceifive Vorführung der Clavierwerke ihres trefflichen Gatten,
Robert Schumann. Diefer tiefe, geiftvolle Componiſt bat
eine große Zahl von Slapiercompofitionen von außerordentlicher
Hanslick. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 8
114 1856.
Schönheit, zum Theil aber aud von fo ungemeiner Schwierig:
feit geihaffen, daß ein Virtuoſe erften Ranges dazu gehört,
fie zu bewältigen. Leider hat Franz Liſzt diefe fünftleriiche
Schuld nie eingelöft. Defto muthiger und erfolgreicher erfüllt
jegt eine Frau die Schöne doppelte Miffion als Künftlerin und
Gattin. Außer den großartigen »Etudes symphoniques« (op. 13)
hörten wir von Schumann’ Compofitionen in den beiden
eriten Goncerten Clara's noch das herrliche Quintett in Es,
einen »Canon« aus op. 56, »Des Abends« und »Traumed-
wirren« (aus den Phantafieftüden op. 12), »Iagdlied« und
»Schlummerlied« (aus op. 124). Zwei ebenfo eigenthümliche
als werthvolle Zwifchennummern waren ferner zwei Balladen
bon Sr. Hebbel für Declamation mit hiezu componirter
Glavierbegleitung von R. Schumann. Obmohl grundjäglich
gegen dies melodramariihe Genre eingenommen, in welchem
fih die Muſik vom geſprochenen Worte jpröde jondert, wie
Del vom Wafjer, und eine Kunft die andere beeinträchtigt,
anftatt fie zu mehren, — konnten wir und doch diesmal eines
verhältnigmäßig reinen Eindruds erfreuen. Hebbel's meiſter—
hafte Balladen, deren erftere Schön Hedwig«) ein liebliches
Bild von Mädchentreue und Nitterlieb’ entfaltet, während die
andere (»Der Haidefnabe«) ein graufiges Nochtſtück mit über:
wältigender Kraft Jchildert, werden von Schumann's Muſik
in bejcheidener, fein anempfindender Weiſe interpretirt. Die
Muſik verzichtet durchaus auf die eigene Körperlichfeit und
folgt nur wie ein Schatten bald leichter, bald dunkler den
Geſtalten des Dichters. Da mit der Meijterin am Glavier
eine ebenbürtige Meifterin in der Declamation fich verbunden
hatte (Marie Seebad), und in diefer mit der höchſten Kunft
der Rede ein feined mufifaliiches Hören, fo ftrömt das ganze
Melodram wie von Einer Kraft erfchaffen und gehalten, er:
greifend an den verdoppelten Organen unfrer Phantafie vor—
über. —
Slavier : &oncerfe.
Der Kritiker jollte wohl feinem Lefepublicum »für gute
und ſchlechte Zeiten« angetraut jein, wie das engliihe Ehe—
Clavier⸗Concerte. 115
gelöbniß lautet. Allein wenn die muſikaliſchen »hard times«
nicht einmal den Reiz gewaltiger äſthetiſcher Unthaten oder
Mißgeſchicke bieten, ſondern blos die Abgeſpanntheit lang—
weiligen Alltagslebens, dann wird das Publicum hoffentlich
ſeinem Berichterſtatter Perioden eigenſinniger Schweigſamkeit
vergeben. Auch der Aeſthetiker hat Zeiten, wo er, von jeder
erhebenden Erſcheinung abgetrennt, wenigſtens Schlechtes von
einer anderen Art herbeiwünſcht,
»Verbrechen groß und coloſſal,
Nur dieſe ſatte Tugend nicht,
Und zahlungsfähige Moral«!
Unter ſolchen Umſtänden habe ich nun eine ziemliche An—
zahl mittelmäßiger Clavier-Concerte dem Leſer verheimlicht,
weniger vielleicht aus Bequemlichkeit, als geleitet von der
Ueberzeugung, daß auf einem großen und gemiſchten Muſik—
markt, wie der unſere, das gänzlich Bedeutungsloſe den An—
ſpruch und die Beſtimmung habe, ignorirt zu werden. Heine,
der im Laufe einer Pariſer Saiſon in eine wahrhafte Clavier—
Vernichtungswuth gerathen war, fchleuderte damals jeine nied-
lihften Bliße gegen dieſe »grellen Klimpertöne ohne natürliches
Berhallen, diefe herzlofen Schwirrflänge, dieſes erzprofaiiche
Schollern und Pidern, dieſes al’ unjer Denken und Fühlen
tödtende Fortepiano, das und dumm macht, abgeftumpft umd
blödfinnige. Ganz jo weit find wir nun glüdlicherweile hier
noch nicht, wenn auch mancher böswillige Verfuch gelang, ung
die Schattenfeiten der Glavierconcerte tief eindringlich zu
machen. Aufrichtigen Dank verdienen zwei muthige Pianiften,
welche offenbar in der Schönen Abſicht jpielten, andere jugend:
lihe Concertlüftlinge vor ähnlihen Wagniffen abzuichreden.
Um das Teuer des Mufikvereinsfaals zu fürdten, braucht man
fih nicht mehr felbit gebrannt, ſondern blos gejehen zu haben,
wie die die Herren Geiger und Hirit thaten. Bejonders der
fegere, ein bildhübjcher junger Engländer, war ergöglich, wie er
mit namenlofer Gelaffenheit die befammteften Chopin'ſchen
Mazurfad aus dem Motenheft Herabipielte, ohne meiteren
Uebergang eine Badh’ihe Fuge daran heftete und dergleichen
8*
116 1856.
mehr. Es iſt ein Außerit angenehmer Gedanke, daß auf dem
Felde der Tonkunſt die Goncurrenz der Engländer nicht zu
fürdten fei. Das innerjte Weſen des Engländer ift unmuſi—
faliid und das der Muſik antiengliih, — wir wollen nicht
entjcheiden, welcher Theil mehr verliert.
Herr Dionys Pruckner, ein jolider und gefälliger Pianift, gab
ein zweites Concert mit rühmlichem Erfolge. Ein ſchöner Anfchlag,
tabelloje Gorrectheit, eine eminente Unabhängigkeit beider Hände,
ftehen beit Brudner im Dienfte echt mufifalifcher Auffaffung.
Was ihm abgeht, iſt der ftarfe Fittig des Genius, der auf:
ftürmend uns mit fi) fortreißt. Etwas nüchtern Abgemeſſenes
flebt jeinen technifch jehr durchgearbeiteten Leiftungen an, das
vielleicht in der weiteren Lebensentwidlung des jugendlichen
Künftlers fih noch abſtreifen kann. Herr Brudner Hatte feine
beneidenswerthe Technik u. A. auf ein Virtuofenftüd ſehr alltäglicher
Art, eine Polonaiſe von Liſzt, verichwendet. Es liegt eine
eigenthümliche Ironie darin, daß gerade Herr PBrudner, dies
Urbild eines foliden, beinahe bürgerlih bedächtigen Clavier—
Virruofen, dieſes Mufter von Klarheit und Genauigkeit, diejes
Widerjpiel jeder Ercentricität, ja jeder Kühnheit, daß gerade
Pruckner zum Herold der Liſzt'ſchen Clavier-Razzias werden
mußte. Wo Liſzt aus eigenen Mitteln componirt, bringt er es
nicht über einzelne intereffante Einfälle; nur in der Bearbei—
tung fremder Themen wirft feine geijtreihe Combination und
feine feine Kenntniß des Glaviereffectes anziehend.
Ueber die ſich häufenden jchlechten Clavierconcerte doch
nicht ganz zu ſchweigen, it eine Pflicht der Kritik. Wir erfüllen
legtere durch den Wunſch, e8 möchten vorgerüdte Schülerinnen,
wie Fräulein Bondy, die fiegreihen Schlachten, die fie im
Familienfreije oder Prüfungsſaal auf dem Glavier geichlagen,
nicht fogleih auf das gefährlichere Terrain der Deffentlichkeit
übertragen. Nicht eine Seite der Technik iſt bei Fräulein
Bondy in höherem Maße auögebildet. Vor Allem fehlt es an
Ausdauer und Kraft des Anſchlags, namentlich in Octaven—
gängen, wo die Hände der Goncertgeberin matt wie ange-
ſchoſſene Vögel über die Claviatur flattern. Noch Fühlbarer
drückt natürlich der Mangel jeder geiltigen Kraft des Aug:
Dom Mozartfeft in Wien. 1 17
drucks, jei es, daß fie uns elaftiich mit fich emporichnellen oder
fih mild und tief in unjere Seele einfenfen joll. Solch emfiges,
faft ängftliches Zufammenfädeln der Töne ift geiftiger Tod für
Beethoven’: Muſik, und war es jelbit für deſſen G-dur-
Sonate (op: 29), jo unverlegt deren äußerer Leib erichien.
An Schumann’ »Traumedwirren« reichte die Technif der
Eoncertgeberin nicht hinan; das phantaftifche Leben vollends,
das darin wie unaudgefegter Funkenregen iprüht, war bis auf
die legte Ahnung getüdtet.
Dom Mozartfelt in Wien.
Das Feitconcert zur Hundertjährigen Wiederkehr von
Mozart’3 Geburtötag iſt am 27. und 28. Jänner im großen
Nedoutenfaale unter ungewöhnlihem äußern Glanze vor fid)
gegangen. Bekanntlich war es der Gemeinderath der Stadt
Wien, welher das FFeltconcert zum Gedächtniß Mozart’s ver:
anftaltete. Er hat fih damit um den Dank jedes vaterländiichen
Kumftfreundes verdient gemadt, denn nicht ein Privatmanı
oder ein Verein, jondern die Stadt Wien jelbit mußte
durch dieſe Huldigung die untilgbare Schuld wenigſtens aner:
fennen, in welde fie gegen ihren Bürger Mozart zu defien
Lebzeiten verfiel. Die Stellung, die Mozart als Mann und
pollendeter Meijter in Wien einnahm, war eine traurige Fort:
jegung der Mißachtung, welche der Knabe und Jüngling von
jeinem geiftlihen Souverän in Salzburg zu tragen hatte.
In der Anordnung des Feitconcertes ging dad Comité
von dem Princip aus, durch Vertretung aller mufifalifchen
Hauptgattungen die künſtleriſche Univerſalität Mozart’3 zu
illuftriren. Diefer Gedanke, die wunderbare Vielfeitigfeit Mozart’3
in dem fleinen Rahmen eines Goncertes abzufpielen, hat jeden:
fall viel Beftehendes, muß aber in der Ausführung unläug-
baren Uebelſtänden begegnen. Stücde, wie das erfte Finale aus
Don Juan und das Dies irae aus dem Nequiem gehören nım
einmal nicht in's Concert. Einer Eleineren Stadt, welche nicht
in der Berfafjung it, nebit Mozart’s iymphoniftiichen Com:
118 1856.
poſitionen noch feine firhlihen und dramatiichen Meiſterwerke
in der Kirche und im Theater würdig aufzuführen, mag allen:
fall3 ein folches Zufammenrüden aller Style angemefjen ſcheinen.
Wien hätte ein Mozartfeft nah allen vier MWeltgegenden
des mufifalifhen Reiches feiern fönnen und ſollen: in Der
Kirche, im Concertfaal, in der »Kammer« und im Theater.
Die vollftändige Aufführung des Requiem in einer der größeren
Kirhen hätte dem Feſte vorauögehen, und eine mujfterhafte
Borftellung des Don Juan e3 bejchließen jollen. Statt deſſen
gab man am 27. im Kärntnerthortheater: »Gute Nadt,
Herr Bantalon«e!! Außerdem, daß dad Programm Concert:
widriges enthielt, brachte es auch zu Vieles*). Man wurde
erdrüdt von Mufit und mußte bei der ungeheuren Hige, die
im Saale herrſchte, fih Tange vor dem Ende geiltig und
förperlich ermatiet fühlen. Mufitproductionen jollten aber eher
die größte Selbitverläugnung üben, ehe fie durch Ueberfülle
den Totaleindrud trüben. Die Ausführung der Mufifftüde war,
mit Ausnahme des Finales aus Don Juan, eine vorzügliche.
Diefes Finale, defjen Webertragung in den Concertjaal, wie
erwähnt, Ihon an fih ein Mißgriff, wurde überdied von den
erften Sängern und Sängerinnen des Kärntnerthortheaterd
mit einer an Impietät grenzenden Läffigfeit abgefungen, ganz
wie ein langmweilige® Penſum, dejjen man fih mit Unluft
entledigt.
Belanntlih ging das ganze Feltconcert unter der perfön-
lihen Leitung von Franz Liſzt vor fid. Seine zu dieſem
Zwef vom Wiener Gemeinderath veranlaßte Berufung bat
unter den Mufifern und im PBublicum jo lebhafte Discuffion
veranlaßt, daß wir diefer Frage, fo delicat fie ift, nicht aus
dem Wege gehen wollen. Alles wohl erwogen, was fich gegen
die Einladung Liſzt's ernftlich einwenden läßt, fann man doch
eigentlih von ihr nur jagen, daß fie niht nothwendig war.
Sie war für's erjte nicht nothiwendig, weil wir in Wien an
*) Das Programm enthielt: 1. Ouverture zur Zauberflöte.
2, Prieſterchor »Iſis und Oſiris«. 3. Clavier-Concert. 4. Dies irae,
5. G-moll-Symphonie. 6. Concert:Arie und PViolinfolo. 7, Finale ans
Don Juan.
Vom Mozarifeft in Wien, 119
Eifer und Edert jehr tücdhtige und gebildete Gapellmeifter
befigen, denen die Leitung eines großen Goncertes, und vollends
eines nur aus Mozart beitehenden, mit der höchſten Beruhi—
gung amvertraut werden fonnte. Für's zweite ſteht Liſzt's
fünjtleriihe Individualität zu Mozart in gar feiner organifchen
Beziehung, noch weniger in der factiichen, daß Liſzt zum Ver—
ſtändniß umd zur Verbreitung Mozart’3 etwas beigetragen hätte,
wie ihm dies in hohem Grade rüdfichtlid Beethoven’3 zu—
geitanden werden muß. Ein Beethoven und Schubertfeft von
allgemeiner nationaler Bedeutung wäre in der That nicht recht
vollftändig ohne die Gegenwart Liſzt's. Zu Mozart verhält
fih Liſzt ganz anders; ilt er doch Yahnenträger einer muſi—
faliichen Bartei, welche Mozart's Compofitionen zu den ab:
gethanen Ammenmärchen wirft, über die der echte Jünger
Richard Wagner’: nur noch lächeln kann. »Mozart, c'est le
premier des eompositeurs medioeres«, ſagte und einft eine
Autorität diefer neuen Propaganda. Lilzt hat übrigens vor
wenig Tagen in einem eigenen Aufſatz für feinen gut Mozart:
ihen Glauben das Wort erhoben und die Oppofition darauf
reducirt, daß man auf dem Standpunkt Mozart’ nicht für
alle Zeit ftehen bleiben müſſe, wogegen fich allerdings nichts
einwenden läßt. Beethoven war eö, der zuerit und wiljentlich
mit dem Mozart’ichen Ideale brach, dennoch aber hat er Itets
mit liebevoller Verehrung an Mozart gehangen, aus dem er
hervorging.
ALS das Feitcomite Liſzt zur Direction einlud, hatte es
vor allem wohl den Wunſch, durch eine hervorragende und be—
rühmte Perſönlichkeit dem Concerte nicht blos Tüchtigkeit, ſondern
auch Glanz zu verleihen. Daß fih mit dem Ruhme Liſzt's fein
anderer lebender Dirigent vergleichen fann, wird man faum be:
ftreiten. Es war demnach aud mit Sicherheit vorauszuſehen, daß
die Erſcheinung Liſzt's hinreihen würde, ein außerordentliches
Zuftrömen des Publicums an beiden Concerttagen zu bewirken.
Wir glauben kaum, daß ohne Lilzt der Andrang ein jo außer:
ordentlicher gewejen wäre, eine Erwägung, welche bei der
wohlthätigen Widmung der Ginnahme dem Gomite wichtig
genug jein mußte. Mochte nun im Schooß des Comité's für
120 1856.
oder gegen Lilzt’3 Berufung noch fo heftig gejtritten werden —
mit dem Augenblid, als dieje Berufung bejchloffen war und
Liſzt feine Bereitwilligfeit erklärt hatte, ihr Folge zu leiſten,
mit dieſem Augenblid hätte jede fcheelfüchtige Regung ſchweigen
follen. Liſzt, der die Einladung nit angeſucht, ſondern ihr
mit einer feltenen Umeigennüßigfeit, ohne jede Vergütung ges
folgt war; Liſzt, der die mühevollen Proben mit einem Eifer
leitete, deifen Verdienſt nur durch die Beſcheidenheit noch über:
boten wurde, mit welcher er beim Feitconcert fich jelbit jo ganz
in den Hintergrund ftellte; Liſzt hätte vom Moment feines
Eintreffend mit jener ausgezeichneten Rüdficht behandelt werden
jollen, die man einem fo bedeutenden und Liebenswürdigen
Gaſte jchuldet. Daß dies weder von Seiten der Mufifer, noch
ſelbſt des Publicums in dem Maße geichah, welches wahre
Urbanität ſo gerne einhält, iſt uns ſehr bedauernswerth er—
ſchienen. Gerne hätten wir es unerwähnt gelaſſen, doch durften
wir den Anlaß nicht verſäumen, gegen einen Pfahlpatriotismus
zu proteftiren, deffen Glaubensbefenntniß offenbar mit dem Artifel
beginnt, daß man gegen Fremde unartig fein darf. Wenn
diefe Partei unferer Meichbildfanatiker fich entiprechend feitiekt,
fo wird fie e8 aus lauter Patriotismus dahin bringen, daß
ausgezeichnete Künſtler fih vor einem Beſuch in Wien kinftig
ein Weilchen befinnen werden.
Dom Mozartfeft in Salzburg.
Unſer Concertfaal heißt für heute Salzburg. Die Elite
der Miener Mufikfreunde hat fich hier eingefunden, das hundert:
jährige Jubiläum von Mozart’ Geburt (1756) zu feiern.
Der Vorabend des eigentlichen Feſtes jollte durch eine mufi-
faliihe Huldigung vor der Mozartitatue bezeichnet werden.
Ein langer Zug von Fadelträgern, Sängern und Mufikern
bewegte fih von Mirabell über die Brüde zum Mozartpla,
ordnete ſich daſelbſt vor dem Standbild und ftimmte die
Gantate an. Sowohl dem Gedichte von Friedrih Bed, als
Vom Mozartfeft in Salzburg. 121
der Mufif von Franz Lachner (fünfftinmiger Männerchor mit
Blechharmonie) kann man eine ruhig edle Haltung und einen,
wenn auch nicht hochfliegenden, doch warmen Ausdrud nad:
rühmen. Es hat fih für derlei Feitcantaten kleineren Um—
fanges eine Art ftereotypen Styls gebildet, welchen Poet und
Componiſt im beiten Fall mit Klarheit und Anftand hand:
haben, jelten zu kraftvoller Originalität durchbrechen. Der
Dichter vergißt fih doc nicht gern fo weit, einen Genius, wie
Mozart, zu loben, und für den Gomponiften hat die Zu—
muthung, den größten Tonmeilter mit Tönen zu feiern, gewiß
ebenfalls etwas Beengended. Daß die ganze Abendfeier vor
dem Denkmal nicht? innerlih Zündendes, nichts wirklich Be—
geiiternde3 Hatte, darf wohl eingeräumt werden. Es fchien in
der dichtgedrängten Volksmenge jedes theilnehmende Verftändniß
des Feſtes zu fehlen. Wir haben vergebend umhergeipäht, um
irgend eine Regung, einen Ausruf zu belaufchen, der nicht blos
dem rothen Bengalfener gegolten hätte. Die drei von den
Sängern ausgebrachten »Hoch!« verpufften ſchwächlich tie
feuchte Raketen, daS Volk wartete unbeweglih eine Weile, ob
vielleicht nod) etwa® »los« wäre, dann verlief es fih. Wir
wollen nicht abitreiten, daß von Seite der Feitgeber vielleicht
etwas mehr hätte gejchehen können, nm die Bedeutung der
Feier der Maffe einleuchtender zu machen; ſei e8, indem man
durch bildlihe Darstellungen oder Maskenzüge die Hauptfiguren
Mozart'ſcher Opern vorführte, oder durch eine furze Rede vor
den Stufen des Denkmals das Verſtändniß wie einen Licht:
blig in die Menge warf, oder am beiten, indem man auf
beiden Wegen zugleich Phantafie und Verftand anſprach. Trotz—
dem dies aber unterlaffen worden, hätte die Theilnahme
febhafter jein können und müfjen, würde das Volk eine Ahnung
gehabt haben von der Bedeutung ſeines Mitbürger® Mozart.
Es war mir eine neue, gewichtige Beftärfung der Ueberzeu—
gung von der ariftofratiichen Natur der Kunſt und des Künſt—
lerd. Der populärfte aller großen Componijten, Mozart, ftand
unter der großen Menge, die jein Standbild neugierig ums
ringte, wie der fteinerne Gaſt hoch zu Roſſe unter den niederen
Leichenfteinen.
122 1856.
Die mächtigen Harmonien im Dom find verflungen, die—
jelben Harmonien im jelben Dom, wo Mozart und jein treff-
liher Vater zur Ehre Gotted fo oft muficirten. Wir gehen
aus der Kirche zu Mozart's Geburtsſtätte. Es iſt ein hohes
ſchmales Haus in der Getreidegafle; drei Zimmer im dritten
Stodwert bildeten durch viele Jahre die Wohnung Leopold
Mozart’3, der auch darin die Augen ſchloß. Im mittleren
großen Zimmer ward Wolfgang geboren, in dem Kleinen
Stübchen nebenan hat er gearbeitet. Ein fleine® Spinett fteht
darin, von dünnem, zitherartigem Tone Mozart bediente fich
dejjen in Wien des Nachts, um Frau und Kinder nicht
zu weder An diefem armjeligen Kaſten entjtanden feine
Zauberwerfe! Mozart's Goncertflügel, feine Kleine Geige,
einige Briefe und Gompofitionen feiner Handſchriften find
als koſtbare Reliquien aufgeitelt. Das große Familien:
bild von La Groce und daß berühmte Kleine Buchsbaum—
medaillon, beide durch taufend Wervielfältigungen befannt,
bliden hier nebeneinander auf die andächtigen Verehrer Mozart's.
Sie blicken in manches feuchte Auge. Die Wohnung Mozart's,
auzgeftattet mit all’ dem theuren Andenken, verbleibt leider
nicht in dieſem heilig ftillen Zuftand: ein Kaufmann bewohnt
die Zimmer und überließ fie nur für die Feittage der Ver—
ehrung jo vieler Fremder. Die Zeichen merfantiler Thätigfeit
nehmen jet noch Flur und Hofraum ein, und wer mit fcheuer
Ehrfurcht ind Hausthor tritt, der part jchnell fein Herzklopfen
und fommt fih unter Kiften und Fäſſern vor, wie im erjten
Band von Freytag's »Soll und Haben«.
Das erfte, nur au Mozartihen GCompofitionen zus
ſammengeſetzte Feitconcert ging am 8. September in wür—
digiter Weile vor fih. Das war eine wahre, ja die einzig
wahre Feier des Meifters, denn fie geihah durch feine eigenen
Werke und vor funftliebenden Menjchen, die gefommen waren,
um Mozart zu hören. E83 ift ung eine alte, unerichütterliche
Erfahrung, daß ſich jedes Unternehmen, einen großen Geift
anders als geiltig zu feiern, durch Mißerfolg rächt. Schon
mit den Monumenten fängt meift das Unheil an. Wie hat
Mozart's Standbild in Salzburg, unähnlid in den Gefichtö-
Dom Mozartfeit in Salzburg. 123
zügen, unmalerifh in der Stellung, Heinlih im Totaleindrud,
wideritimmend dem Charakter der freundlichen, bergumtfreiften
Stadt, wie hat e8 jo gar wenig innern Bezug zu dem, mas
und »Mozart« bedeutet! Vor der mißlungenen Statue hatten
wir borgeitern die mißlungene Straßen:Ovation: ſtockende
Feier und ftodende Theilnahme. Geſtern erſt gelangte das
Felt, wohin es gehörte: in den Concertjaal, und das Herz
jedes Anmwejenden feierte es freudig mit.
1857.
„Les preludes‘.
Symphoniihe Dichtung für großed Orcheſter von Franz Lifzt.
(Aufgeführt von ber Gejellichaft ber Muſikfreunde am 8. März 1857.)
Als der genialſte Virtuoſe unſerer Zeit, Franz Liſzt,
der Triumphe müde ward, die Europa ſeiner echten Kunſt ſo
gerne noch länger bereitet hätte, ſchickte er ſich bekanntlich an,
durch eigene große Schöpfungen die Welt zu überraſchen. Wer
nicht blos an geiſtige Thätigkeit, ſondern ebenſo ſehr daran
gewöhnt iſt, daß ihr der Lorbeer auf dem Fuße folge, der
vermag den Schauplatz der Oeffentlichkeit nicht zu verlaſſen;
er wechſelt ihn nur. Der Ruhm des Tondichters Liſzt ſollte
den Ruhm des Virtuoſen ſofort verdunkeln. Es fanden ſich
enthuſiaſtiſche Freunde, und ließen ſich auch gefällige Schrift—
ſteller finden, welche dieſe Transfiguration Liſzt's als ein Er—
eigniß von unabſehbarem Gewinn für die Entwicklung der
Tonkunſt darſtellten. Wir ſind im Gegentheil der Anſicht, daß
die muſikaliſche Welt durch die Abdication des Virtuoſen Liſzt
einen Verluſt erlitten habe, welcher ihr durch den Componiſten
nur entfernt erſetzt wird. Wer die künſtleriſche Individualität
Liſzt's während der langen Dauer ſeines Virtuoſenthums auf—
merkſam beobachtet hatte, durfte ſich wohl von vornherein einige
Schlüffe auf den Charakter feiner neuen Compofitionzthaten
erlauben. Die Clavier-Gompofitionen Liſzt's, die befanntlich einen
artigen Stoß bilden, waren durdaus von fo mittelmäßiger
Erfindung, daß man faum von Einer daraus hätte behaupten
wollen, fie werde fich in der mufifaliichen Literatur erhalten.
»Les preludes«e von Liſzt. 125
Eine große Kenntniß des Clavier-Effects und manch interefiantes
Aperçu find alles, was ſich von Liſzt's Glavierfahen rühmen
läßt, — bei einem Pirtuofen von Geift jelbjtverftändliche
Dinge. Seiner dürftigen Erfindungsfraft bewußt, pflegte Liizt
meiftens fremde Melodien in Transfcriptionen, Phantafien u. dgl.
zu verarbeiten. In diefe Claſſe gehört ohne Ausnahme alles,
was jemals von Lilzt Beliebtheit errang. Ueberall, wo er hin-
gegen aus eigenen Mitteln arbeitete, brachte Liſzt ein wunder:
liches Gemiſch von Gemeinplägen und Bizarrerien zumege, —
man ertrug diefe Compofitionen, wenn er fie fpielte. Noch in
jeinen legten Glavier-Gompofitionen, dem » Album de pelerinage«
u. dgl., kann man fait ausschließliche Herrichaft diefer beiden
Factoren wahrnehmen, zugleich das zunehmende Beſtreben, durch
beigefügte Gedichte und ſogar Bilder die Armuth des mufifalifchen
Inhalts zu bemänteln. Schrieb Lilzt irgend einen Chor, jo
fonnte man nah den erjten Tacten den Componijten an der
gequälten Melodie, den unjangbaren Mittelitimmen, der zer:
fallenden Form erkennen.
So verhielt es fih an 30 Jahre lang mit Liſzt's Com—
pofitionen, die jo gut wie einftinmig abgelehnt wurden. Nun
nahm ſich Liſzt plöglich vor, mit großen, bedeutenden Schöpfungen
bervorzutreten. Mit der ihm eigenen geiftigen Regſamkeit und
beneidenöwerthen Energie ging er an die Aufgabe. Zu einfichtövoll,
um nicht Die auffallenditen Lücken feiner Begabung zu kennen,
mußte er fih der Mufif von jener Seite nähern, wo fie, an
äußere Objecte gelehnt, vorzugsweife den vergleichenden Ver:
ftand beichäftigt und die poetiiche oder malerische Phantafie
anregt. Er bradte mit Einem Wurf neun Symphonien zur
Welt, die er »ſymphoniſche Dichtungen« nannte und mit
ipeciellen den Inhalt diefer Muſik erflärenden Programmen verfah.
Die Titel diefer Stüde find: »Ce qu’on entend sur la
montagne, Tafjo, Les preludes, Orpheus, Mazeppa,
Brometheus, Feitflänge, Heroide funebre und Hun—
garia. Nimmt man dazu, daß Lilzt gegenwärtig an einer
mufifaliichen Webertragung der »Sdeale« von Schiller, der
»göttlichen Comödie- von Dante, des Goethe'ſchen Fauſt
und ähnlicher Kleinigkeiten arbeitet, ſo wird man zugeben, daß
126 1857.
der Componift die höchſten Anſprüche macht, die überhaupt in
der Mufif erhoben werden können. Er achtet jeine Mufik für
fähig, die gewaltigiten Erfcheinungen des Mythus und der Ge-
ichichte, die tiefiten Gedanken des Menſchengeiſtes nachzugeigen
und nachzublajen. Den Mufifer muß diefe Methode von vorn—
herein jehr bedenklich ftimmen, indem fie far genug ansſpricht,
daß es fich Hier nur nebenbei um Mufif handle. Hauptiache ift
der poetiiche Stoff, diefer ſoll durch mufifaliihe Randzeichnungen
geijtreich illuftrirt werben. Die Berechtigung der dejcriptiven
Mufit überhaupt angenommen, iſt Doch wieder ein großer
Unterfhied zwijchen den Stoffen, welche man ihr zumuthet. In
der »Meeresitille und glüdlihen Fahrt«, im »Sommernadt2-
traume, im Programm der Paſtoralſymphonie u. dgl. wird
Niemand die Ungezwungenheit der mufikalifchen Anjpielung ver:
fennen, ein Mazeppa aber ift geradezu widermuſikaliſch, ein
Prometheus jeder muſikaliſchen Beziehung jo fern, daß ſolche
Ueberfghriften von Symphonien nur den Eindrud einer Brahlerei
machen fünnen.
Es iſt faum nöthig, hier die Frage über Berechtigung der
Programm: Mufit von Anfang aufzunehmen. Niemand denkt
mehr fo engherzig, dem Tonſetzer jede poetifche Anregung ber:
fagen zu wollen, welche die Beziehung zu einem äußern Stoff
ihm bietet. Die Mufif wird zwar nimmermehr im Stande fein,
das bejtimmte Object audzudrüden oder deſſen wejentliche
Merkmale jo darzuftellen, daß man fie ohne die Ueberſchrift
erfenne, — allein fie mag immerhin die Grunditimmung davon
nehmen und mit der deutlichen Benennung an der Stirne
wenigſtens anſpielend, wenn auc nicht darftellend wirken,
Die Hauptbedingung wird immer bleiben, daß die Mufif, allem
Titel und Programm zu Troß, denen fie ihre Färbung leiht,
doh immer auf ihren eigenen Gejeßen ruhe, ſpecifiſch mu—
fifaliich bleibe, fo daß fie auh ohne Programm einen
in fih flaren felbitftändigeun Eindrud mache. Dies nun ift die
erite wichtigſte Einwendung, die man gegen Liſzt erheben muß,
daß er dem Sujet feiner Symphonien eine weit größere miß-
bräuchliche Miſſion auferlegt: nämlich den fehlenden mufifaliichen
Inhalt entweder geradezu zu erjegen oder deffen Atrocitäten zu
»Les pröludese von Liſzt. 127
rechtfertigen. Zeder Menſch mit gefunden Sinnen wird fih von
dem diffonirenden Geheul, das einen jo wejentlihen Theil der
»Mazeppa-Symphonie« bildet, abwenden. Durch dieje Leber:
fhrift nun foll eben dad, was und an fich mufikaliich ab:
ſcheulich dünkt, al8 treffend und nothwendig aufdisputirt werden.
»Der Componiſt wollte ja die jchmerzlihen Zudungen des
geichleiften Mazeppa jchildern« u. ſ. f. — man wird zugeben,
daß bei folcher Ausdehnung des Programmprincips es mit der
Muſik einfah zu Ende ift. Den »ſymphoniſchen Dichtungen«
find, wie gejagt, erflärende Vorreden von Liſzt vorgedrudt,
die ganz in dem entießlichen, jchmwülftigfentimentalen Ton
Richard Wagner’3 abgefaßt find. Ein ebenjo merfwürdiges Licht,
wie dieſe jpeciellen Vorreden, die gleich einem Balletprogramım
den taubftummen Tanz erklären, wirft die den Partituren vor:
gedrudte gemeinfame Erklärung auf die falihe Methode Liizt’s.
»Obſchon ich bemüht war«, heißt es darin, »Durch genaue Auf:
zeichnungen meine Intentionen zu verdeutlichen, jo verhehle ich
doh nicht, daß mandes, ja ſogar dad Weſentlichſte, fi
nicht zu Papier bringen läßt.« Ich überlaffe es dem mufif-
fundigen Leſer, zu enticheiden, inwiefern man es noch mit Ton:
werfen zu thun habe, wo daS »Mefentlichite« desfelben ſich
nicht in Noten wiedergeben läßt. Dirigenten und Spieler müſſen
demnah für Liſzt'ſche Compofitionen mit einem beiondern
Ahnungsvermögen audgeitattet jein, — von den Zuhörern ver:
fteht ſich dieſe Schuldigfeit von ſelbſt.
Es war zu erwarten, daß Lijzt in allen Neußerlichkeiten
neu fein werde, So ift die Form feiner ſymphoniſchen Dichtungen
ein Mittelding zwiſchen der erweiterten Duverturenform Mendels—
john’3 und der mehrfägigen Symphonie. Liſzt läßt die drei bis
vier im Charakter ſcharf unterfchiedenen Abtheilungen, aus denen
feine Symphonien bejtehen, wie in freier Phantafie, zwanglos
ineinander übergehen, jo daß das Ganze äußerlich als ununter-
brochene Einheit aufgeführt wird. Das hindert freilich nicht,
daß dieje Beitandtheile oft mojaifartig aneinander gereiht, oft
chaotiſch durcheinander gemengt erjcheinen. Die Form einfätiger
Symphonie kann eine Zufunft haben, wenn fie von echt
mufifaliichen Kräften gepflegt wird; man bedarf für Concert:
128 1857.
Aufführungen Orchefterftüde, deren Ausdehnung etwa die Mitte
zwifchen der Duverture und der Symphonie hält. Sämmtliche
Liſzt'ſche »Dichtungen« find mweislich furz gehalten.
Die »Präludien« erfcheinen charakteriftiich durch die Me—
thode, wie die Muſik zu dem fertigen Programm rein auf dem
Wege der Reflerion hinzugebracht wird. E3 ift faum mehr als
ein mwißiger Gedanke, was den ganzen Stoff der Symphonie
bildet: die Vergleichung des Menfchenlebens mit einem »Präludium«
zu einemunbelannten jenfeitigen Gejang. Die mufifaliiche Bedeutung
vom »Präludium« Liefert nun dem Componiften die nöthigen Guir—
landen von Harfenarpegien u. dgl. In der Lamartine'ſchen Deutung
werden »Liebesglüd«, »Sturm«, »ländlide Einſamkeit« und
sfiegreiher Kampf« als rajch ineinanderfließende Nebelbilder
porgeführt. Welche materielle Leberftopfung damit in den engen
Rahmen eines Mufikitüdes gebracht wird, ergibt ſich von jelbit,
ſowie die Unvermeidlichkeit einer Zerftreuung, welche daS gerade
MWiderjpiel jener geiftigen Sammlung ift, die dag echte Kunſt—
werf beabfichtigt. Won rein muſikaliſchem Standpunkt find die
»Präludien«e die klarſte und gefälligite aus der Reihe der
Liſzt'ſchen metaphufiihen Abhandlungen. Wir finden zwar fein
Thema darin, das an fich originell oder bedeutend heißen
fönnte, vielmehr unterlaufen ſowohl in den pathetiichen als den
fentimentalen Theilen Anflänge von bedenklicher Trivialität;
nod) weniger entdeden wir in dieſem poetiichen Vagabundiren
der Vhantafie jene muſikaliſche Gedanfenentwidlung, die mir
als »thematifche Arbeit« in jeder größeren Gompofition finden
und finden wollen. Der ehrgeizige Drang, jeden Augenblid mit
etwad Neuem, Genialem zu überrafchen, bringt vielmehr eine
Unruhe in das Ganze, welcher geradezu etwas Dilettantiiches
anflebt. Demungeadhtet vermögen die »Préludes« den Hörer
intereffant anzuregen. Es zeigt ſich darin ein jehr lebhafter
Sinn für Zufammenftellung der Stlangfarben; wir erinnern
nur an die Inftrumentirung des an fich ziemlich gewöhnlichen
Themas in E-Dur, das (Seite 21 der Bartitur) von vier
Hörnern und getheilten Bratjchen breit vorgetragen, von Violinen,
und Harfenaccorden leicht umſpielt, von reizender Wirfung iſt
Ebenſo bringen (Seite 32) die aufjteigenden chromatiichen Serten-
»Les preludes« von Liſzt. 129
gänge des Streichquartett, anfangd nur von Fagotts und
Glarinetten in der Tiefe, dann durch Oboen und Flöten ver:
ftärft, eine wahrhafte Windsbraut hervor. Der lebte Sak iſt
nicht viel mehr, ald ein Parademarſch, mit allem Glanze
lärmender Saniticharenmufif ausgeitattet. Darauf vergißt Lilzt
niemals; er weiß zu gut, wie folch rein finnliher Eindrud
beim großen Publicum immer feine Schuldigfeit thut, — die
»guten Freunde« forgen ſchon dafür, daß auch diefer Janiticharen-
lärm als reine Erhabenheit ausgelegt werde. Lilzt bringt ihn
aber nicht blos in ben »Preludes« an, etwa um den »Kampf«
zu illuftriren; auch im »Taffoe, im »PBrometheud«, in den
»Feſtklängen« begegnen wir dieſen Soldatenfreuden; fogar
der arme »Mazeppa« wird unter Begleitung von Triangel,
großer Trommel und Becken geichleift. Nächit diefem Talent
für Inftrumentirung fällt in den Préludes mitunter ein feiner
Sinn für Figurirung auf (Seite 24 u. m. a.), ſowie endlich
unter häßliche Nccordenfolgen ſich manchmal auch eine glüd-
lide Entdedung miſcht.
Die Hauptſache, an der die Kritik feithalten muß, bleibt
aber doch immer, daß alles, was an den Liſzt'ſchen Symphonien
das Publicum feffelt und den Muſiker intereffirt, nicht aus dem
reinen Quell der Muſik fließt, ſondern künſtlich gebramntes
Maffer ift. Die mufifalifhe Schöpfung drängt fi) bei Liſzt
nicht frei und urfprünglich ana Licht, er jeßt fie auf dem Wege
der Reflerion zufammen. Wer je über unjere Kunſt nachgedacht
bat, weiß, daß ein geiftreicher und phantafiebegabter Menſch,
der fih das Aeußerliche der mufikaliihen Technif vollitändig
angeeignet hat, noch fein fchöpferifcher Tondichter ift. Denken
wir und einen Dichter wie B. Hugo, oder einen Maler tie
Kaulbach im Beſitz aller mufifalifchen Kenntniffe, und gepeinigt
bon dem Drang zu componiren, — ihre Tonwerke würden ohne
Zweifel den »ſymphoniſchen Dichtungen« jehr ähnlich jein. Es
wäre Geift, Boefie, Bilderpracht, alles vielleicht beifammen, nur
fein mufifalifcher Kern. Liſzt gehört zu jenen genialen, aber
unfruchtbaren Naturen, welche, von fünftlerifchem Ehrgeiz ge—
trieben, Bedürfniß mit Beruf verwecdieln. Wenn es ihm
heute einfiele, als Tragddiendichter aufzutreten, jo würde er
Hanzlid. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 9
130 1857.
wahrjcheinfih auch in dieſer Eigenschaft Geilt und Bildung
verrathen, ohne daß es deßhalb Jemand einfiele, ihn neben
Shafeipeare zu ftellen. Oder vielmehr auch dazu würde fich ein
oder der andere jener literariihen Zohndiener bereit finden,
welhe Macaulay sein Mittelding zwiſchen Menſch und Pavian«
nennt, und die leider überall vertreten find. Für einen muſikaliſchen
GEntdeder oder Neformator kann Liſzt nur von Leuten gehalten
werden, welche mit Berlioz’ und R. Wagner's Werfen nicht
befannt find. Diefe beiden Componiſten find für Liſzt geradezu
Vorbilder gewefen, und faum dürfte fich bei dieſem irgend ein
Effect finden, dem nicht Aehnliches in den Werfen jener bereitö
boraudgegangen wäre. Wo die guten wie die fchlechten Seiten
fo auffällig vorliegen, wie bei Lilzt’3 Symphonie, dünkt uns
auch die fünftleriihe Bilanz nicht ſchwierig. Das Intereſſe,
welches geiftreihe Einzelnheiten, brillante Technik und das
energiiche Verfolgen eines beftimmten Princip allzeit einflößen
werben, fichert den Compofitionen Liſzt's eine höhere Stelle,
als zahllojen Schularbeiten, die eine gleiche Ohnmacht regel:
recht, aber ohne Geiſt ausarbeiten, namentlich alfo einen Vor:
rang vor den Werfen feiner zahlreihen Claviercollegen. Diefe
relative Höhe jedoch zur abjoluten zu erheben und Liſzt's
Symphonien als mwahre mufifaliihe Kunftihöpfungen, als
Meiiterwerfe oder gar als Ausgangspunkt einer neuen Der:
jüngung der Tonfunft Hinzuftellen, fann nur gelingen, wenn
wir zuvor jeden Begriff von reiner Inftrumentalmufit, und jede
Grinnerung an das, was Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann
und Mendelsjohn darin geleiftet haben, vollftändig und fir
immer abthun. Ueber die Aufnahme der »Preludes« können wir
nicht endgiltig berichten, Da dielelbe in einem langen und unent—
jchiedenen Kampf zwiihen Ziſchen und Klatſchen fich äußerte.
Orcheftler:Soncerte.
Schumann und feine D-moll-Symphonie.
Neu fir Wien war die D-moll-Symphonie von Robert
Schumann. Unter Schumann's Symphonien ift fie an Umfang
Schumann's D-moll-Spmpbhonie. 131
die Keinfte, an Reinheit und Unmittelbarkeit der Wirkung vielleicht
die vollfommenste. Geiftvoll und ſprühend in den raschen
Sägen, voll zierlicher Armuth in den gemäßigten, hält fich dies
blühende Tongemwebe in jener beglüdenden irdiichen Region, wo
leicht bewegte Lebensfreude weder zu hoch an den Himmel
pocht, noch zu tief in finitere Abgründe drängt. In dieſem
liebenswürdigen QTemperament bildet dieſe vierte Symphonie
ein Seitenftücd zu Schumann’ erfter in B und nimmt unter
feinen Orchefterwerfen etwa die Stellung ein, wie unter Beet-
hoven's Symphonien die zweite.
Wer Schumann’3 Entwidlung genauer gefolgt iſt, der
hört ohneweiter8 heraus, daß die freundliche Klarheit dieſer
Symphonie mit der Opuszahl 120 und ber Symphonie:
Nummer IV durdaus nicht jtimmt. In der That tft die D-moll-
Symphonie in diefer Reihung nur herausgegeben worden;
componirt war fie bereit3 im Jahre 1841, alſo kurz nach der
eriten in B. Damals wurde fie fogar, wie Clara Schumann
mir mittheilte, in Leipzig einmal aufgeführt; der Componiſt,
mit der Inſtrumentirung unzufrieden, 309 jedoh das Wert
zurüd, Dem unermüdlichen Zuſpruch Clara's verdanken wir es
wohl, daß Schumann dad MWerf im Jahre 1851 wieder vor:
nahm, neu inftrumentirte und herausgab.
In der Zeit, wo Schumann's Werke wirklich die ver:
hängnißvolle Zahl 100 überfchritten hatten, Tag ein fo durchaus
frifches urfprüngliches Tonleben, wie das der D-moll-Symphonie,
bereit weit Hinter dem jeltiam und grübleriich gewordenen
Meiiter. Dies Werk ftammt aljo aus der glüdlichiten Epoche
feines Schaffens und Lebens. Ein Iuftig hinraufchender Strom,
von defjen Ufer bunte Blumen grüßen. Das Bild trifft hier
ganz beſonders zu: durch die merkwürdige Einheit, mit welcher
die Tonfluth ununterbrochen, gleihfam nur die Ufer wechſelnd,
an und vorüberfließt. Wir legen weniger Nahdrud auf das
äußerliche Mittel, wodurch Schumann diefen Vorzug erzielt, indem
er nämlich die einzelnen Säße nur durch Generalpaufen trennt.
Die innere Einheit der mufifaliihen Empfindung hingegen
erfcheint in diefem Werk auf eine in der neueren Muſik höchſt
felten vorfommende Weile getroffen. Iſt doch dieſe geheimniß-
9*
132 1857.
volle Hebereinftimmung zwiichen vier, wejentlih auf dem Kunſt—
geſetz des Contraſtes beruhenden Sägen eines der ſchwierigſten
Stylgejege, zumal da es faſt gar nicht durch Regeln präcifirt,
vielmehr nur dem richtigen und feinen Gefühl anheimgeftellt
werden fanı.
Bon der abftract-poetifhen und doch zugleich materiellen
Weile Liſzt's und Berlioz’ jehr verichieden, läßt Shumann
Motive des einen Sabed in den andern mehr auflingen al?
wiederholen. So erjcheint in dem Andante jchon mit dem
12. Takt das Thema der Introduction innig verwoben wieder,
die dem eriten Allegro zu Grunde liegende Sechzehntelfigur
bildet zugleich das Hauptmotiv des Finale; Eleinerer Züge gar
nicht zu gedenken. Alle drei erften Säbe ftehen in D-moll, das
Finale in D-dur. Den fprühenden Allegrothemen gegenüber
wiegen fich überall zweite Melodien von reizender Anmuth.
Das Andante ift ein romanzenartiger Geſang des PVioloncelld
mit der Oboe, von dem fih als Mittelfag ein grazidies
figurirtes Violinfolo abhebt. Mehr kraftvoll renommirend als
wirklich troßig hHämmert das Scherzo los, um fi) bald in ein
eht Schumann’shed Trio von unvergleihliher Grazie aufzu:
löfen. Das Ganze macht nirgends den Eindrud des Großartigen,
Gewaltigen, athmet aber in jeder Note dad MWohlgefühl einer
geiftvollen und anmuthigen Einbildungsfraft, welche in ſchönem
Maße bleibt und mit Sicherer Meiiterfhaft überall das
Rechte trifft.
Sch bin bereit3 vor Jahren dem groben Mißverſtändniß
entgegentreten, R. Schumann mit den jogenannten >» Zufunft3-
mufifern«e, Wagner, Liſzt und deren Schülern, in eine Claſſe
zu werfen. Unjer muſikaliſches Publicum, welches nun fat un:
mittelbar nacheinander eine Lijzt’she und eine Schumann'ſche
Symphonie gehört hat, ift gegenwärtig felbft in der Lage zu
beurtheilen, inwiefern Schumann wirklich ein Anhänger jener
Kunftinjurrection ſei, welche den Kampf gegen die Muftt bis
aufs Meſſer fortjegt, oder ob jein zur Zeit noch etwas unklar
gefeierter Name blos als »gute Prife« dazugenommen ward.
Schumann hat in feinen Symphonien, Trios, Quartetten u. ſ. w.
gezeigt, wie man die biöherigen Formen mit einem NReichthum
Schumann's D-moll-Spmphonie. 133
neuen Inhalts ausfüllen, wie man Ordnung und Gefeglichkeit
des Schaffens mit dem freieiten Flug vereinigen könne, wenn
man eben wirklich mufikalifches Genie befigt und es im ftrenger
Schule ausgebildet hat. Jede Seite feiner Tondichtungen, wie
feiner Schriften, fagt es deutlich, wie ihr Autor neue Geftalten,
allein immer auf dem einen unverrüdbaren Boden echter, auf
fich jelbit ruhender Mufik, zu ſchaffen unternahm, *)
Es ift kürzlich hervorgehoben worden, mie zwiichen der
Parteiung des »Uralten und Nagelneuen, zwiſchen dem ver:
jteinerten Zopf des Clafficismus und den ungefämmten Haaren
einer mufifalifchen Neuromantif«e Schumann die Bedeutung
eine Schildes erlangt hat, unter welhem man für das gute
Neue kämpft. In der That ſchaart fih um Schumann’ Fahne
gern Alles, was neben der Verehrung des Alten auch die Be:
rehtigung des Neuen erfennt.
Auh im Leben der Kunſt webt ein fortwährender Ber:
brennungs- und Erneuerungsproceß, ein geiftiger » Stoffwechiel«.
Kaum hat der Menfchengeift ih eine Kumjterfcheinung voll:
* Cine Heine Tagebuch-Notiz ausgenommen (Gejammelte
Schriften IV. 290), hat Schumann fih nirgends öffentlich über
Nihard Wagner und feinen Anhang ausgeſprochen. Nun, wo der
Verblichene feine Indiscretion mehr zu fürdten hat, wäre es gegen
das Intereſſe der Kunst, feine Anſicht länger zu verfchweigen. In einem
mir vorliegenden Briefe ddo. Düffeldorf, 8. Mai 1853, jchreibt Schu—
mann an den Gompofiteur Debrois van Bruyd in Wien: »Wagner
ift, wenn ih mich kurz ausdrüden fol, fein guter Muſiker; e3
fehlt ihm an Sinn für Form und Wohlklang. Aber Sie dürfen
ihn nicht nach Clavier-Auszügen beurtheilen. Sie würden ſich an vielen
Stellen feiner Opern, hörten Sie fie von der Bühne, gewiß einer
tieferen Erregung nicht erwehren können, und eö ijt auch nicht daS Klare
Sonnenlicht, das der Genius ausftrahlt, jo iſt es doch oft ein geheim
nißvoller Zauber, der jich unjerer Sinne bemächtigt. Aber wie gejagt,
die Mufik, abgezogen von der Darftellung, iſt gering, oft
geradezu dilettantiich, gehaltlo8 und widerwärtig, und es
ift leider ein Beweis von verdorbener Kunftbildung, wenn man im
Angefiht jo vieler dramatifcher Meiſterwerke, wie die Deutichen auf:
zuweifen haben, dieje neben jenen herabzuiegen wagt.« — In ähnlicher
Weife hat Schumann fih auch gegen den Schreiber dieſer Zeilen
ausgeiprocen.
134 1857.
fommen affimilirt, fo verlangt es ihn nach einer neuen. Ins—
beſondere ift’3 die Muſik unter den Künften, welche am fchnelliten
ihre eigenen Bildungen conjumirt, um fie durch neue und immer
wieder neue zu erjeßen. Gewiß kann die Mufif gegenwärtig
auch bei Beethoven nicht mehr ftehen bleiben. Keineswegs aber,
weil fie Schon ganz anderer Stoffe und Formen bedürfte, un:
geahnter Neubauten, die alles Frühere annuliren; jondern weil
neben dem umpverlierbaren Genuß der Beethoven’ihen Werke
die Vhantafie bereits neue Anregungen, der Geift friihe Auf:
gaben verlangt. Man braucht nicht fowohl neue Gattungen
in der Mufif, als neue Individuen.
Schumann hat, ohne die bisherigen Formen umzuftoßen,
eine Fülle neuer und geiftvoller Ideen produzirt, in einer Form,
welhe um jo nachhaltiger wirft, als fie nicht ſogleich und
mühelos durchdrungen wird. Weil er nun Haydn, Mozart und
Beethoven niht mie unbrauchbare® Gerümpel über den
Haufen geworfen hat, muß er fih freilich von den Jacobinern
der mujfifaliihen Bewegung einen Reactionär fchelten laſſen;
wie denn jüngit Herr %. Brendel (der in Leipzig ftationirte
Zufunftsagent) zur größeren Verherrlihung Liſzt's ausſprach,
diejer habe glorreich vollbracht, was Schumann in feiner eriten
Gährungsepohe — ehe er den »NRüdichritt« that — blos
»geahnt« hat!
Schubert’s C-Symphonie, Beethoven’s Tripelconcert, Gluck's
Iphigenia-Ouverture.
Auf dem Programm des philharmonifchen Eoncert3 glänzte
Schubert's Symphonie in ©, ein Stern eriter Größe unter
den nachbeethoven’shen Orcheſterwerken. Die Entdefung und
Würdigung desjelben it eines der zahlreichen Werbienfte
R. Schumann’ um die neuere Muſik. Es war bei feinem
eriten Bejuh in Wien, da Schumann, nach dem Mähringer
Friedhof pilgernd, jenen Todten fait beneidete, deſſen Gruft
zwiihen den Gräbern Beethoven’s und Schubert’3 mitten
inne Tiegt. Auf dem Heimweg fiel ihm bei, daß nod ein
Bruder Schubert’3, Ferdinand, lebe, und bewegten Herzen?
F. Echubert’3 O-dur-Spmphonie. 135
eilte er, diejen aufzufuchen. Ueberraiht von dem Reichthum
noch unbefannter Gompofitionen des Verftorbenen, die er hier
vorfand, bat fih Schumann vor Allem dad Manufcript der
C-Symphonie aus, um e8 an Mendelsjohn zur Aufführung
zu jenden. Ferdinand willigte gern ein, und bald darauf ver-
breitete fih aus dem Leipziger Gewandhausfaal der Ruhm
diefer aus langem Schlummer geretteten Schönheit.
In gewaltig breiter Fluth ergießt fich diefe Mufif, ein
wahrer Strom von Kraft und Gejundheit. Wenig größere In—
ftruntentalwerfe dürfte es geben, die, unter Beethoven'ſchem
Einfluß entitanden, doch jo ganz frei von weltichmerzlicher Zer:
riffenheit, von innerem Zwieſpalt und Zerfall fi Bielten.
Zwiichen einem eriten Sag, der fed und fampfluftig die jungen
Glieder regt, und einem Scerzo, das wirklich jcherzt, wenn
auch mie ein Krieger, breitet fich ein veizendes Andante aus.
Selbit diejes it fein Denkmal des Schmerzes, vielmehr ein
Bild freundlichiter Anmuth, und einer Anmuth, die wohl zu
willen jcheint, daß der melandoliihe Schimmer der Molltonart
den Reiz ihrer fcharfen, magyartihen Rhythmik nur erhöht.
Fanden wir in dem eriten Sat Kampfluft, fo verjegt un der
legte mitten in den Kampf ſelbſt; Sporngeflirre dort, bier
Sübelgeflirr. Iſt's nicht eine Schlacht dieſes Finale mit jeinen
luſtig trabenden Triolen, feinen langaustönenden Feldrufen,
feinem Gedränge und Streitlärm; eine Schladt, wo der Soldat
fröhlich und der Lorbeer wohlfeil ift? Wer unbefangen genug
ift, die ganze Symphonie wie ein frifches Wellenbad im Großen
und Ganzen auf fich einftürmen zu laffen, der wird, erfreut,
gefräftigt und erhoben, die Werk vielleicht über alle andern
jegen, die jeit Beethoven erflungen find. Nicht ganz jo unge—
trübt genießt der Kunftfreund, der über dem fräftig auf:
Ihäumenden Inhalt die Form nicht zu vergeſſen vermag. Die
üppig eingefegten Themen büßen in der Durchführung ihre
Kraft ein, friſten fich durch Wiederholungen und Anftüdeln.
Ein rafchere® Schließen verſchmäht dennoch der Componift, ja
er täuscht (fich jelbit mehr als den Hörer) durch ein unge:
wöhnliches Ausdehnen der Form über den für ſolche Dimen-
fionen nicht mehr ausreichenden Inhalt. Diefe Art, jich mit
136 1857.
Verſchmähung fait aller polyphoner Kunft, durch Wiederholung
einzelner Phraſen, durch Nahahmung ſehr bedenklicher Beet:
hoven’scher Capricen, endlich durch bloße Verſtärkung des Colorits
lange überm Waſſer zu Halten, macht an mehr als einer Stelle
den Eindrud des Ungeichliffenen, um nicht zu jagen Unedlen.
Ueber die auffälligen Formmängel it feine Täufhung möglich.
Nur möge man dieſe Mängel mehr Schubert’3 ganzer Fünit-
leriſcher Individualität zufchreiben, als einer vermeinten An:
fängerichaft. |
Bon Beethonen’s Tripelconcert in.C für Elavier, Violine
und Gello jpielten die Herren Brudner, Hellmesberger
und Härtinger den erften Sab. So jehr wir gegen jede Los—
trennung und Zerſtücklung zufammenhängender Tonwerke find,
diesmal war und das MWegbleiben der längeren Hälfte des
Concerts willkommen. Es thut zu weh, die Größten ihres—
gleihen in ſchwachen Stunden zu ertappen. Bekanntlich iſt das
legte und längſte Stück dieſes Concertö eine Polonaiſe zopfigiter
Art, die fich durch veraltetes Paſſagenwerk und einen wahren
Mißbrauch der Rondoform fortipinnt. Muß man ſchon im
eriten Sat für den Mangel eines reichen inneren Lebens die
gefällige Würde äußerer Nepräfentation hinnehmen, jo verliert
man über das Finale, vor welchem das furze Andante nicht
viel mehr als eine überleitende Beſtimmung hat, beinahe die
Faflıng. Jedenfalls ift die Stellung dieſes faſt Endlich un—
bedeutenden Werkes als op. 65 mitten zwiichen der Eroica
(op. 55) und der Razumowskhy'ſchen Trilogie (op. 56) ein
eigenthümliches Curioſum.
Von der Geſellſchaft der Muſikfreunde hörten wir Gluck's
Ouverture zu »Iphigenia in Aulis«. Nachdem dieſe Ouverture
unmittelbar in die erſte Scene einleitet (wo Agamemnon auf
die Worte »Diane impitoyable« das Anfangsmotiv der Ouverture
wieder aufnimmt), ſo bedarf ſie für Concert-Aufführungen eines
ergänzenden Schluſſes. Der bisher überall benützte, angeblich
von Mozart's Compoſition, führte das Tonſtück nach längerer
glänzender Steigerung in voller Pracht zu Ende. Dieſen Schluß
hat in neueſter Zeit Richard Wagner durch einen andern
erſetzt, welcher die Ouverture allmälig abnehmen und endlich
»Athaliae von Mendelsfohn. 137
pianissimo verhallen läßt. Der Wagner'ſche Schluß ift nad)
meinem Gefühl poetiicher, feiner, eigenthümlicher als der
Mozart'ſche. Er entipricht weit mehr unferer heutigen Em—
pfindungömweife, melde allenfall® das geheimnißbolle Ent:
ſchweben Iphigenia's ſchon durch den Ausgang der Ouver—
ture angedeutet willen will. Daß Hingegen Wagner’3 Cr:
gänzung dem Charakter Gluck's entiprechender, und wegen
der »anti-Gluck'ſchene Faſſung des Mozart'ſchen Schluſſes
nothwendig ſei, wolle man nicht behaupten. Alle Ouverturen
Gluck's, welche nicht unmittelbar in die Scene übergehen,
ſchließen heroiſch und pomphaft mit der ungeſchmälerten Kraft
damaliger Inſtrumentirung (»Armida«, »Orfeo« u. ſ. w.). Zu
Gluck's Zeiten behandelte man, nad) dem Vorbilde der Sta:
liener, die Ouverture weniger als poetiiches Spiegelbild der
Handlung jelbit, denn vielmehr als ein abgeſchloſſenes, glän—
zendes Einleitungsftiik quand m&me. Das ahnungsvolle Dämmer:
licht verhallender Schlüffe war den Orchefter-Compofitionen des
porigen Jahrhunderts ein ganz fremdes Clement, und wo es,
wie im vorliegenden Falle, una jympathijcher berührt, als das
jtereotype jchmetternde Pathos der älteren Dupverturen, muß
man ſich wenigften hüten, diefe Wirkung aus einer vermeintlich
größeren hiſtoriſchen Nichtigkeit herzuleiten. Das Tempo der
Duperture ſchien und zu langjam. Mag man fie immerhin
einft jo genommen haben, — wir hören heutzutage jchneller.
»Athalia«e von Mendelsſohn.
Das Programm des »Geſellſchafts-Concertes« bejtand
einzig und allein aus der Mendelsjohn’ihen Athalia—
Muſik. Diefe Compofition (Ouverture, Mari, Zwilchenfpiele
und Chöre) war befanntlih in hohem Auftrag (1844) ge—
ſchrieben und bejtimmt, einen integrirenden Theil der wirklichen
Aufführung der Nacine’fchen Tragödie zu bilden. Nachdem
legtere aber von den deutjchen Bühnen längſt verſchwunden ift,
beeilte man fi, die Mufit des hochverehrien Meiſters abgelöſt
vom Drama zu retten, und für den Concertgebrauch einzu—
rihten. Das bereit3 mehrfach erprobte Aushilfgmittel der
138 1857.
»verbindenden Declamation«e mußte auch bei der »Athalia«
für das Verftändniß des Hörers und für den Zufammenhang
der Mufikjtüde forgen. Dieſer Nothbehelf vermag aber hier
durchaus nicht zu genügen. Wenn wir die Mufif zu »Egmont«,
zur »Precioja«, zum »Sommernadtötraum« auf folhe Weife
hören, jo ergänzt die lebendige Erinnerung an diefe Bühnen:
werke jchnell die Lücken des blos erzählenden Vortrags, welcher
jomit mehr die formelle Aufgabe einer äußeren Verbindung
erfüllt, ald daß man ihn weſentlich zum Verſtändniß brauchte.
Racine's Trauerjpiel hingegen iſt dem deutſchen Publicum
viel zu fremd, der altteſtamentariſche Stoff ihm viel zu fern—
jtehend, als daß hier ein declamatoriſches Nothgerüft das wirk—
fihe dramatiiche Leben auch nur annähernd zu fuppliren vers
möchte. Auch die trodene Geſchichtskenntniß reicht nicht Hin,
um den Hörer in den Vorgang theilnehmend zu verſenken. Es
fehlt durchaus die finnlihe Anfchaulichkeit. Das Eoncert-Arran=
gement der »Athalia« bringt es nirgend dazu; man fühlt in
feinem Momente, um was es fich handelt, jelbit wenn man e3
weiß. Zu dieſer Frembartigkeit des Inhalts gefellt fich der
Hebelitand, daß viele Muſikſtücke der »Athalia« der ſceniſchen
Ausführung geradezu bedürfen. Die Klage der Frauen, wäh:
rend vor den Thoren die Schlaht tobt; die einander contra=
ftirend gegenüber geftellten Doppelhöre; der Marjch der zum
Kampf abziehenden Sfraeliten ; ihr Dankgebet, nach dem letzten
fernen Herüberkflingen von Athalia's Trompeten, — dies alles,
feinerer Züge nicht zu gedenken, verliert mit der dramatiſchen
Anfchaulichkeit auch die Hälfte feiner mufifaliichen Kraft. Iſt
e3 doch nicht zu verfennen, daß letztere gerade in den drama—
tiihen Höhenpunkten auf eine Unterftügung und Verſtärkung
von Seiten des ſceniſchen Eindrud3 rechnet. Mendelsſohn war
e3 überhaupt nicht gegeben, fich ſtark und unmittelbar auszu—
iprechen, weshalb wir aud) jeinen Leiftungen in der Oper mit
geringer Zuverficht entgegenfahen. In der »Athalia« bewegen
fih nun obendrein faſt alle Situationen, welde dem Compo—
niften ſich darboten, in jehr ähnlicher, gebrüdter Empfindung?
lage. Trauer über den Gößendienit nnd Iſraels Knechtſchaft
bildet von der janften Klage bis zur dumpfen Verzweiflung fait
»Athalia« von Mendelsiohn. 139
allein die Unterlage der ganzen Mufif; nur die friegeriichen
Anklänge zum Schluß werfen einen gligernden Schein darüber.
Er wirft am belebenditen in dem ſchön rhythmifirten Chor: »So
geht, ihr Kinder Aarons«! Der Mari jelbit ift minder ge—
lungen; er leidet unter der Erinnerung an den Hochzeitsmarſch,
wie er bei jeinem Entſtehen wahrjcheinlich unter den verſchieden—
artigiten Hiftorifhen und dramatiſchen Rüdfichten gelitten hat.
In Goncertform hat Mendelsſohn's »Athalia« nirgends einen
fo tiefen, ergreifenden Eindrud auf das Publicum hervorgebradt,
wie die anderen größeren Werke dieſes Meifters: fein »Lob—
geſang«, ⸗»Walpurgisnacht«, die »Pjalmen«, von den Dratorien
»Paulus« und »Eliad» gar nicht zu reden.
Durh die erwähnten Webelftände gehindert, das Ganze
warm und unmittelbar in fih aufzunehmen, hält man fih an
GEinzelnheiten. Deren enthält dad Werk viele von großer
Schönheit. Darunter in erfter Reihe der Chor in F-moll: »Iſt
es Glüd, ift es Leid?« Dieje unfäglich fanfte, rührende Klage
und ihr tröftender Ausgang: »Ein Herz vol Frieden« fallen
fo ganz in jenen Kreis des muſikaliſchen Ausdruds, welchen
Mendelsjohn wie fein Zweiter auszufüllen verjtand, In der
eriten Abtheilung arbeitet fi) insbefondere der Chorjag: »O
Sinai, gedenk' der heil’gen großen Stunde« mit gewaltig ans
ſchwellender Kraft heraus. Er iſt in dieſer Art jedenfalls das
Hervorragendite in der Athalia, welche einen weit größeren
Raum zarten, Hagenden Empfindungen überläßt. Diefe werden
in der langen zweiten Nummer mit ihren pfalmodiichen An—
fängen und gleihförmigen Rhythmen monoton, umfjomehr, als
dem Gomponiften die Verwendung von Tenor und Baß zu
den Soli verwehrt war. Für die Concertwirfung jo gut wie
verloren ift das große, nur in fcenifcher Aufführung veritänd-
lihe Melodram. Die dritte Abtheilung (als ſolche könnte man
ohne weiterd die drei lekten Nummern zufammenfallen) it Die
muſikaliſch wirkſamſte.
140 1857.
Wiener Männergeflangverein.
Die Beichränktheit, welcher der lyriſche Männerchor in
Mitteln und Ausdehnung unftreitig unterliegt, ruft häufig zwei
Grtreme hervor: Gomponiften, denen die fleine Form fehr
gelegen fommt, um darin einen allerfleiniten Inhalt anzu—
bringen, und folche wieder, welche der Form zu viel zumuthen
und mit großen Intentionen den einheitlichen Verband jprengen.
Beiipiele der eriteren Art find nur zu häufig; zur leßteren
gehört unter anderm Herbeck's »Morgengebete. Nachdem der
Componiſt in der erften Strophe »D wunderbares, tiefes
Schweigen«, die Grunditimmung des Ganzen ſchön und be=
deutend wiedergegeben, läßt er fih durd den Schlußgedanken
des Dichters (»Umd buhlt mein Lied, auf Weltgunft lauernd« 2c.)
verleiten, fo ungemefien ind Grandiofe und Dramatiſchbewegte
vorzufchreiten, daß wir uns plöglih in ein fremdes Gebiet
geworfen jehen, von dem aus mir jenen Ausgangspunkt
faum mehr erbliden fönnen. Nun jollte aber im Iyrijchen
Gedicht die Muſik weit mehr die Stimmung des Ganzen
wiederzugeben fuchen, als die einzelnen Worte; ein Princip,
welches doppelt gewichtig erjcheint, fobald nicht die ſchmiegſame
Einzelftimme, fondern die unbeugſame Maſſe eined ganzen
Chor3 dad Organ des mufifaliichen Ausdruds wird.
Intereffante Novitäten waren zwei Vocal-Compoſitionen
von Franz Lifzt. Die erſte (doppelt bejegtes Duartett mit
zwei Hörnern) hat Goethe's Gedicht: »Ueber allen Gipfeln ift
Ruhe zum Terte. Diefer wunderbaren furzen acht Seilen, die
jelbft nur wie ein Hauch durch die Sabbathitille der Natur
twehen, werden von Liſzt auf den dritten Grad feiner Compo—
jitiondfolter gelegt. Ein merkwürdiges Gegenſtück zu dieſem
quallvollen Raffinement ift das Wocalquintett »Hütteleine vom
jelben Componiften. In einem friedlichen Augenblid jcheint er
vergeffen zu Haben, daß er Liſzt fei, und jchrieb ein Lied,
dad zwar keineswegs originell oder bedeutend, aber von un—
geziwungener Anmuth iſt, überfichtlih geformt, im Ton etwa
Chöre von F. Schubert. 141
an Verwandte von Marfchner erinnernd. Das Publicum unter:
Ihied jehr richtig und zeichnete das Quintett aus, während
nah dem Quartett alles ftill blieb, al3 würde eine vornehme
Leiche vorübergetragen. Von älteren Gompofitionen gab man
Mendelsſohn's »Wajjerfahrt«e und Schubert’3 »Geilt der
Liebe«, — ein Geift, der ſich anfangs verftändnißinnig in der
Natur ergeht, endlich aber in eine Kneipe einfehrt, wo er
auch bleibt.
Eine Schöpfung von übermwältigender Genialität ift Franz
Schubert’3 »Geſang der Geifter über dem Waſſer«, jo gut
wie zum erften Mal aufgeführt vom Wiener Männer:
gejangverein am 27. December 1857. Jetzt, wo wir dieſe
großartige Compofition ſelbſt gehört, vermögen wir die Miß—
handlung faum nachzuerzählen, welche ihr 1821 bei der erften
Aufführung in Wien zugefügt worden. Jene arge Verfennung,
von Seiten der Ausführenden wie der Zuhörer, Hat erjt jekt
ihre vollftändige Sühnung erhalten, und die mufifaliiche Welt
erit jeßt den vergeudeten Schat zurüderlangt, um ihn nie
wieder zu verlieren. Das Werdienft gebührt dem Chormeifter
des Männergefangvereind, Herrn Johann Herbed, welcher die
Schubert’ihe Original-PBartitur in dem Archib eines hiefigen
Muſikverlegers auffand, fogleich die Drudlegung der Stimmen
veranlaßte, und endlih das Merk in würdigſter Weiſe zur
Aufführung brachte.
Das Goethe’sche Gedicht, jo oft es auch componirt wurde,
ift für mufifaliihe Behandlung von großer Schwierigkeit. Es
führt eine Reihe mwechjelnder Bilder vor, welche den Com—
poniften zu lebenspoller Ausführung reizen, während fie doch
hinter der geheimnißpollen Grundftimmung des Ganzen wie in
einem Schleier eingehülft bleiben müffen. Schubert’3 genialer
Inſtinct hat auch Hier wieder dad Rechte mit unfehlbarer
Sicherheit getroffen. Gleih im den einleitenden ſechs Takten,
alfo ehe noch der Geſang beginnt, ift die myfteriöfe Stimmung,
die geifterhafte Scenerie unverrüdbar fetgeftellt. Den Aus-
druck dieſes Myſteriöſen gewinnt Schubert vornehmlih durch
die Begleitung von Violen, Violoncells und Contrabaß, welche
feife und träumerifch unter dem Gefang fortziehen. Der Geſang
142 1857.
ſelbſt wirft echt Schubertiſch, nit durch polyphone Kunft,
oder durch die Mofaikarbeit feiner Züge, fondern durch jene
großen Gontouren und ftarfen, entichiedenen Lichter, welche
allfogleih mit Sicherheit auf den Gomponiften der »Nachthelle«
rathen laffen. — Der Chor gliedert fih, dem Inhalt ent-
ſprechend, in ſechs Kleinere, unmittelbar ineinander übergehende
Süße Das wunderbare Adagio, aus dem die übrigen Sätze
hervorgehen, und zu dem fie jchließlich zurüdfehren, ift Die
Meihe des Ganzen; eine
»milde, ernfte, träumerijche,
unergründlich tiefe Nacht«.
Die folgenden Theile charakterifiren ihr Bild nur fo weit,
als es, ohne den Rahmen des Ganzen zu fprengen, möglich
ift, — höchſtens daß das an fich reizende Allegretto: »Wind
ift der Welle Tiebliher Buhle«, etwa weltlich liedmäßig ab-
ftiht. Die Wirkung des Ganzen war eine impofante, unfehlbar
ergreifende, und Hat jelbit bei der Wiederholung, wozu dieſe
Nummer do wenig eignet, fi) ungeſchwächt bewährt.
Dirtuofenconcerte.
(Die Bianiftinnen Frl. Falk und Frl. Fritz. Die Geiger Bazzini
und Frajfinetti.)
Fräulein Nanette Falk, ala Schlülerin Clara Schumann’3
in Deutfchland nicht umvortheilhaft befannt, gab Samſtag
Abends ihr erites Concert im Muſikvereinsſaal. Klarheit, Cor:
rectheit und eine gewiſſe verftändige Ruhe charakterifirten das
Spiel dieſer Kimftlerin. Ihr Anfchlag iſt weich, ermangelt
aber der nachhaltigen Kraft, ſowohl im einfach getragenen
Gefang, ald im Sturme der Birtuofität. Der Ton bleibt Elein
und einfärbig, bringt es daher nie zu einem bedeutenden
Eindrud.
Das Chopin’sche Nocturne in Fis-dur haben wir unzählige:
mal, aber noch nie gut fpielen hören; hat fich doch in wenigen
Claviervirtuoien. 143
Tonftüden eine falfhe Tradition fo unerträglich feitgejeßt, wie
in dieſem zarten Gefang. Da ijt fein Takt, der, innig ver:
wachſen mit dem vorhergehenden und dem nachfolgenden, im
ruhig Schwebenden Gleihmaß bliebe; alles hinkt jchlendernd
und ftolpernd in einem tempo rubato, das felbit dem Liberaliten
mufifaliihen Sinn hohnſpricht. Es ift gleichviel, ob dieſe tra=
ditionelle Verzerrung direct von Chopin felbft herrühren möge,
man muß auch hier auf den Urtert zurüdgehen. Das Stüd
fließt jo einfach und klar hin. Chopin's krankhafte Art, weniger
Glavier zu jpielen, als Clavier zu träumen, konnte wohl an
dem Original felbft bedeutend und anziehend wirken. Aber all
die braven Hydropathen, welche nun die füße Betäubung des
Opiumrauſches nadfünfteln! Fräulein Falk fpielte ferner
Beethoven’ F-moll-Sonate (appassionata), »Traumeöwirren«
von Schumann und die A-moll-Fuge (mit Pedal) von S. Bad).
Wann endlich werden die Pianiften daran denken, ihren ab»
geitorbenen Goncertprogrammen neue Säfte zuzuführen? Daß
die gewählten Stüde werthvoll oder gar »claſſiſch« find, veicht
nimmermehr Hin: um die Cis-moll- oder F-moll-Sonate bon
Beethoven zu hören, eine der herfömmlichen 3 oder 4 Nummern
aus Chopin oder aus dem »mwohltemperirten Glavier« bon
S. Bad) wird doch gewiß fein Menſch mehr ins Concert gehen.
Der legtgenannte alte Herr iſt befanntlih Mode-Artikel ge:
worden und wird auf dem muſikaliſchen Curszettel ungefähr
zwilhen Chopin und Liſzt notirt. Niemand fällt aber bei,
endlih einmal anftatt des »mohltemperirten Clavierd« etwas
aus den reizenden und für Goncerte ungleich paflenderen eng—
liſchen oder franzöfiihen »Suiten« zu wählen. Seltfam, wie
die Glaviervirtuojen, die doch jelbit am beiten das arge Sinfen
ihres Sterned kennen, den einzigen Weg unbetreten lafjen, der
ihnen das erlahmte Interefje des Publicums wieder zuführen
fann. Dieſer Weg ift ein neues und interefjantes Programm.
Aus älteren und modernen Glementen iſt es leicht von jedem
Bianiften herzustellen, der die Literatur ſeines Inſtrumentes
fennt. Welh ein Schat für jeden geiſt- und phantafiebegabten
Birtuofen liegt 3. B. in den »Novelletten« und zahlreichen
anderen Glavierftüden von Schumann, der num einmal ftereotyp
144 1857.
blos durch »Traumeswirren«e und »Des Abends« repräfentirt
wird, Nur eine jchlechthin außerordentliche Virtuoſen-Perſönlich—
feit, wie fie jeit Liſzt nicht wieder gefommen iſt, vermöchte
mit den feit Decennien abgefpielten Programmen noch Interefle
zu erweden. Die zähe Bequemlichkeit der Virtuofen in dieſem
Punkte ift verwunderlich, nicht im mindeften Hingegen, daß
ihre Goncerte leer bleiben. Was Fräulein Falk in ihrem
zweiten Concert bvortrug, konnte uns in unferer jüngft abge-
gebenen Meinung nur beftärfen. Ja wir geftehen, daß die Art,
wie Fräulein Falk die (Waldſtein'ſche) C-dur-Sonate von
Beethoven nicht nur in allen Zügen mikroſkopiſch verkleinerte,
jondern geradezu jeder Lebenswärme beraubte, ung nicht mehr
in der phyſiſchen Kraftlofigfeit der Eoncertgeberin ihre größte
Schwäche erbliden ließ. Die verftändige Klarheit Clara Schu:
mann's erfchien hier in ihrer Schülerin zu gemüthlofer Gleich—
giltigfeit potenzivt; wir hörten einen Beleg zu dem berühmten
»Sonate, que me veux-tu«?
Die fleißige Pianiftin Fräulein Fritz brachte in ihrem
Concert manches Anziehende. So intereifirte LitoLlff’3 Clavier—
trio (op. 47) durch das Beſtreben zu claffiihen Muftern zu—
rüdzufehren, freilich ohne daß fie erreicht würden. Litolff
Iheint mit feiner eigenen Crfindung ziemlich fertig zu fein;
auch die geiftreichen Ginfälle und Sonderbarkeiten fehlen in
dem Trio, welches dafür feinen Anftand nimmt, aus Beethoven’3
Violoncell-Sonate op. 69 und Mendelsfohn’3 A-moll-Sym-
phonie das Nöthige auszuleihen. Alles in Allem ift Litolff’3
Arbeit wie die Seele der Gräfin Hahn:Hahn: »immens,
aber leer«. —
Beethovens G-moll-Bhantafie (op. 77), welhe Fräulein
Frig hierauf vortrug, ift in Concertfälen eine feltene Erfchei:
nung. Sie befitt, im Gegenſatz zu den vielen »Phantafien«
neueren Datums, nicht blos den Namen, fondern dad ganze
Weſen einer wahrhaft »freien Phantafie«, wie fie ein mäd)-
tiger Tonbeherricher über die Taften hinftürmt. Geniale Bliße
leuchten über dieſe zerriffene Bildung; jchade, daß die fragmen-
tarifchen, aber fühnen Anfänge in ein allzu behagliches air varie
übergehen. Für die »Mhantafie« war dad Spiel der EConcert=
Anton Rubinftein. 145
geberin nicht geeignet; dem rhapfodiihen Schwung des Come
ponijten muß die geiftvolle Kühnheit des Spielers wahlverwandt
zur Seite ftehen. Etwas, da einem freien Dahinitrömen ber
Phantafie gleicht, darf man aber am Ende nur von wenigen
Bianiften erwarten.
Unter den Violinfpielern, die und heuer Freud und Leid
zu jehr ungleichen Theilen credenzten, war Bazzini die einzige
Berühmtheit. Die Zeit, wo man das Gleihe von feinem
Landsmanne Frafinetti jagt, wird hoffentlich nie kommen.
Ein Abſchieds-Concert (das mwiepielte?) von Herrn Bazzini
beitärfte un in unſerer urfprünglichen Anficht, daß das Außer:
ordentlihe feines Spieles fih in dem reis der Kunſtſtücke
begrenze. Seine Technik glänzte abermals durch die MWeichheit
des Tons und die Gewandtheit in allem, was man im beifern
Sinn die »Lazzi« des Biolinfpiels nennen könnte (Flautato u. dgl.).
In Beethoven’3 zweiten Quintett (C-dur) ermangelte hingegen
fein Vortrag der Kraft, Größe und ftylloollen Schönheit. Eine
gewiſſe Fremdheit und Kühle, dann die fpecifiich italienischen
Gewohnheiten de3 ftarfen Betonens aller guten Tatttheile u. dgl.
ließen trog mancher feinen Einzelheit feinen Totaleindrud auf:
fommen. Es fehlte der Geift der deutjchen Mufik.
Anton Wubinftein.
Der Glaviervirtuofe Rubinftein, dem Wiener Publicum
bon jeinem eriten Beſuche her in bejter Grinnerung, gab
Sonntag fein erſtes Concert im Mufikvereinsfaal. Es war
jehr bejucht und hatte den glänzenditen Erfolg Wir ftimmen
in den Beifall des Publicums nicht blos vollftändig ein, ſon—
dern geitehen gerne, daß Rubinſteins Spiel für und etwas
ganz ausnehmend Sympathiiches und Erquickendes hat. »Er—
quickung« ift das rechte Wort für das innige Behagen, womit
dieſes Durch und durch geſunde, kraftvolle und farbenfrijche
Spiel den Hörer erfüllt. Sit das Pianoforte in feiner jeßigen
Technik an und für fi ſchon einer bedeutenden Kraftver—
Hanzlid. Aus dem Concertjaal. 2. Aufl. 10 |
146 1857.
wendung fähig, jo fehnt man fi nach einer ſolchen gegenwärtig
umſomehr, wo markloſes Geſäuſel und Getriller fi) vorzugs—
weile auf diefem Inſtrumente breitmadhen. Die relativ größere
Verbreitung der Thalberg’jchen und Charles Mayer'ſchen Schule,
aljo des zierlichen, eleganten Spiels, ſowie der ungemeine Zus
wachs an concertirenden Damen, läßt uns in einer vorzüglich
auf Kraft bafirten Virtuofität eine Höchit wohlthätige Abwechslung
und Ergänzung erbliden. Es verjteht fih, daß eine gewaltige
Behandlung des Inſtruments, wie die Aubinftein’sche, rein
äſthetiſche Wirkungen nur hervorbringt, wenn fie die rohe
Körperlichkeit völlig abgeftreift hat und als die frei heraus:
fchlagende Lohe eines inneren Feuer ericheint. Dies ift der
Fall bei unferem jungen Titanen, der, wenn er mit über:
ihäumendem Lebensdrang fi) in die Taften wirft, uns nicht
etwa das non plus ultra möglichen Clavierlärmend, ſondern
das Abbild innerer, fiegeöfroher Kraft gibt. Dieſes Element,
das unumgänglich zum Begriff wahrer Birtuofität gehört,
ericheint uns in Rubinſtein's Spiel daS überwiegende. Seine
wahre Vollendung erhält es freilich mur dann, wenn der Spieler
das Zarte und Feine gleicherweile in jeiner Macht hat. So ilt
bei Rubinitein die Gewalt, mit welcher er in Octavengängen,
Sprüngen, vollgriffigen Accorden das Clavier förmlich padt,
feine Einfeitigfeit. Die Zartheit feiner leife hingehauchten Ver:
zierungen, die edle Breite feines getragenen Gejangs, find nicht
minder als jeine eigentlihe Bravour, Blüthen einer auf's
Höchſte entfalteten Technik.
Indem wir hiemit den ftarfen Eindruck mittheilen, den
Rubinſtein's Spiel auch diesmal wieder hervorgebradt, haben
wir faum etwas Neues zu bereit3 früher Gefagten hinzugefügt.
Neue intereflante Seiten hätte Rubinſtein's PVirtuofität etwa
dann geboten, wenn fie in Vorführung bedeutender fremder
Werke (Beethoven, Mendelsſohn, Chopin, Schumann) fi) be—
thätigt, aljo Gelegenheit gegeben hätte, ihr Berhalten zu den
Sntentionen diefer Meifter zu beobachten. Herr Rubinftein
hat es jedoch auch diesmal vorgezogen, lauter eigene Compofitonen
zu ſpielen. Waren fie num immerhin jämmtli für den Muſiker
mehr oder minder intereffant, im Publicum und bei der Kritik
Anton Rubinftein. 147
haben fie geringen Anklang gefunden und eine Abwechslung
mwünfchenswerth gemacht.
Weitaus das Bedeutendfte unter den Rubinftein’ihen No-
pitäten war das Glapiertrio in B-dur. &8 it fräftig, ernſt,
charaftervoll; in der melodiichen Erfindung nicht reich, aber
eigenthümlich, harmoniſch und rhythmiſch intereffant, in der
Glavierbehandlung ſehr effectvoll. Am gelungenften iſt das
Scherzo mit feiner ſcharfmarkirlen Rhythmik und unaufbaltiam
fortdrängenden Lebendigkeit; am ſchwächſten das Finale, eine
unabläffig ringende Sraftanitrengung, deren Ziel und Frucht
man nirgends erblicdt. Aus den wüſten Streden dieſes Finales
wehte und wieder die Luft der B-dur-Symphonie an, mit der
ih Nubinftein vor drei Jahren hier unglücklich genug einführte,
Hingegen boten die drei eriten Süße des Trios die erfreuliche
Sicherheit, daß die Stellung de Componiſten NRubinftein
zum Publicum heuer eine entichieden vortheilhaftere und für
den Berichterftatter angenehmere fein dürfte Rubinſtein, jett
noch ein jehr junger Mann, hatte damals die unglücliche Idee,
dem Wiener Publicum Die ımreifen Früchte feines noch in
voller Gährung begriffenen Talentes und obendrein gleich in
dem jchiwierigiten Fach großer Ordelter-Compofitionen vor—
zuführen. Wir haben ung gegen jene chaotiichen Verſuche, welche
Rubinftein wahricheinlih in nicht allzulanger Zeit jelbft ver:
werfen dürfte, ebenfo rückhaltlos ausgeſprochen, als mir das
ihöpferifhe Talent Aubinftein’® in feinem G-moll-Trio und
der Bioloncell-Sonate (D-dur) ſchon damals anerkannten.
Wie ed zu erwarten war, hat jich das Talent des jungen
Gomponiften feither von vielen Schladen gereinigt: mehr als
eine feiner neueren Arbeiten gibt Zeugniß davon. Möchte nur
Aubinftein zweierlei Verfuhung von fih fernhalten: fürs erfte
jene unleidlihe Großmannsfucht, die in jedem Takt genial und
ungewöhnlich fein will, und dadurch nothiwendig barod und
unmufifalii wird. Sodann die allzurafhe und unerfättliche
Production. NRubinftein begann erft vor wenigen Jahren für
die Deffentlichkeit zu ſchreiben, und doch hat er bereitö über
ein halbes Hundert Werke, worunter ziemlich umfangreiche,
publicirt. Da kann es wohl nicht fehlen, daß vieles ganz Un—
10*
148 1857.
bedeutende zur Veröffentlichung kommt. Dazu gehören auch mehr
oder minder die kleineren Stüde, welche Aubinftein in feinem
jonntägigen Concert fpielte; jo die Nocturne und die beiden
»Melodien«.*) Intereſſant ift die Zuge, worin insbeſondere die
Eintritte des Contraſubjects und der Orgelpunfte von guter
Wirkung. Die ganze Stelle vor dem Eintritt des Orgelpunftes
geht jedoh in undurchdringlichem Tongewühl verloren. Die
»Polonaiſe«, mit welcher Rubinſtein ſchloß, iſt als glänzendes
Bravourſtück, aber auch nur unter dieſem Geſichtspunkt, zu
loben. Dem enormſten Kraftaufwand iſt darin carte blanche
gegeben, und Rubinjtein hat fie jedenfall3 bis an die Grenze
de3 Grlaubten benußt.
Sein zweite® Concert trennte Nubinftein in zwei Ab:
theilungen, deren eine nur Eigenes enthielt, während die andere
fremden Compofitionen gewidmet war; ein Compromiß, der
gewiß alle Theile befriedigte. Der Vortrag des C-moll-
Trivos don Mendelsjohn mar meilterhaft. Nicht blos
durh richtige Auffaffung und vollitändige Bewältigung des
Tehnifhen, — Dinge, die fich bei Rubinftein, wenn auch
jonft nicht immer, von jelbit veritehen, — fondern durch das
*) Der Merkwürdigfeit wegen erwähnen wir einer neuen Glavier:
compofition von Nubinjtein, welche unter dem Titel »Acroſthyche«
erſchienen ift.
Unter allen tollen Ginfällen hat nämlich noch feiner unjerer
modernen Glavierdichter den tolljten gehabt, die poetiihe Form (oder
Spielerei) des Acroſtichon's in die Mufik zu überrragen, — ſchwerlich
hatte auch jemals ein Mensch die Ahnung, wie das möglicd) fei. Ganz
einfach. Herr Rubinſtein jtellt fünf elegante Clavierſtücke, welche nicht
weiter mit einander zu jchaffen haben, in ein Heft zufammen, das er
einer Gräfin Laura N. NR. widmet. Das erſte Stück nun führt die
Ueberſchrift 2., das zweite heißt A., das dritte trägt den häßlichen
Namen U. Da nun da3 vierte ebeniowenig ermangelt fih R. als das
fünfte fih U. zu nennen, jo machen die fünf Säge nacheinander ge:
ipielt, ganz deutlich den Namen Zaura.
Der Weg zu einem folhen Unfinn mag felbit für einen aufge-
wecten Kopf wie Aubinftein lang und beichwerlich geweien fein, allein
das glückliche Bewußtiein im Entdedungsmoment muß alles je ähnlich
Gefühlte, von Berthold Schwarz bis auf Derftedt billigerweile ver—
ihwinden gemacht haben.
Bom Wiener Mufifverlag. 149
Geheimniß einer eigenthümlichen Bejeelung, die ſich im ſchönſten
Sinn nachdichtend verhielt. »Hinzudichtend« würden wir bei—
nahe in Erinnerung an den eriten Sat jagen, welder durch
die Impetuofität des Vortrags eine fat Beethoven'ſche Kraft
und Leidenfchaftlichkeit erhielt. Von kleineren Stüden folgten
ein Ehopin’iches Nocturno und die Gigue in G-dur von
Mozart. Kaum gibt es in kleinerem Rahmen einen fchärferen
Gegenſatz, als zwijchen diejer traumhaften Dämmerung des
Chopin'ſchen Nachtgeſanges und der fcharfen, morgenfriichen
Klarheit Mozart’. Nubinftein wußte die Eigenthümlichkeit
beider geijtreich und feinfühlend auseinander zu halten. Auch
Schumann’ tiefpoetifches Kleines Impromptu »Warum« (aus
den »Phantaſieſtücken«) fand den zarteften Ausdruck. Wir können
bei diefem Anlaß nicht umhin, unfern bereit® vor drei Jahren
geäußerten Wunſch zu wiederholen, Rubinſtein möchte in
jeinen Concertprogramms Schumann nicht fo ſelten, gleichjam
en passant und nur in Kleinigfeiten bringen, jondern die größeren
Werke dieſes Meifters vorführen. Die fchönften, tieffinnigften
Claviercompofitionen Shumann’s find dem Publicum noch
immer halbverhüllte oder auch ganz verborgene Schäße, Die
eben nur der jo feltene Verein höchiter Virtuofität und poetifcher
Snnerlichkeit zu heben vermag. Schumann’ Claviertrios, fein
Quintett und Quartett, die beiden Sonaten, die Noveletten, Die
Barationen, das A-moll-Soncert — das wären echte Aufgaben
für einen Virtuofen von Rubinſtein's Talent, Aufgaben, in
deren Löfung er feinen Stolz und feine beſte Kraft jegen jollte.
Dom Wiener Wulikverlag.
Die Thätigfeit der Wiener Componiſten findet im Vergleich
mit den ausübenden Muſikern Sehr geringe Aufmerkſamkeit.
Bon einem bejonderen Auffhwung des Wiener Muſikverlags
iſt freilih noch nicht® zu melden. Unfere älteren Tonfeger ver:
ftummen allmälig, für die jüngeren, die gern Ernſteres und
Größeres brädten, iſt e8 äußerſt ſchwer — nit etwa durch—
zudringen, jondern überhaupt nur anzukommen. Der überwiegend
150 1857.
größte Theil ded hier Verlegten beiteht in Tänzen, Uebungs—
ſtücken und jener unterften Schichte brillanter Claviermufif, die
aus ihrer Geiltlofigfeit und Unwiſſenheit fein Hehl macht.
Diefer furchtbare Bund raftlofer Nocturnes: und Etuden—
Fabrifanten fteht offenbar in innigfter Beziehung zu Heine's
»philharmoniichem Katerverein«:
Er huldigt dem Genie, das fi
Nicht von der Natur entfernt hat,
Sich nicht mit Gelehrſamkeit brüfien will,
Und wirklich auch nichtö gelernt hat. —
Sih durch die Notenberge durchzuarbeiten, die dieſer
iltuftre und weitverzweigte Verein binnen einem Jahr aufmwirft,
ift weder leicht noch unterhaltend.
Das Bedeutendfte, was von einheimifchen Kräften im
Fach der Claviermufif neueſtens gebracht wurde, dürften Robert
Volkmann's »Varationen über ein Thema von Händel« fein.
63 ift das Thema derjelben VBarationen von Händel in E-dur,
die ſeit Liſzt auch im den Goncerten Mode geworden find, —
eine Mahl, die man Vollmann nicht verübeln wird. Auch in
der Mufif muß es freiftehen, einen alten Stoff neuerdings zu
behandeln, fobald jemand etwas Neues und Erhebliches darüber
zu jagen weiß. MUeberdies iſt gerade Die Behandlung der
Bariation in neuerer Zeit eine viel reichere und freiere ge-
worden. Beethoven's Variationen über den Diabelliihen Walzer
haben das hochwuchernde Unkraut des Gelinef’fchen Variationen
ſtyls mit der Wurzel auögeriffen und einen munderthätigen,
immer voller aufblühenden Keim in die offene Scholle. gejenft.
Werke wie Schumann's Cis-moll-Bariationen (op. 13.)
und jeine Variationen für zwei Glaviere, die Beränderungen
von Brahms, Volkmann u. a. zeigen, wie jehr diefe Form
an Freiheit der Bewegung und charakteriftifcher Vertiefung
gewonnen bat. Das Extrem diejer Freiheit jehen wir zwar
auch bei Volkmann manchmal geitreift; es befteht in der allzu
großen Entfernung der Variationen von ihrem Thema. Während
früher jede Variation jo ängftlih an der Taktzahl und dem
harmonischen Grundriß des Themas fefthielt, daß der Hörer
die Monotonie dieſer Treue bleiſchwer empfand, emancipirt fi
Bom Wiener Mufikverlag. 151
die neue Schule allzufühn vom Thema und läßt e8 oft feiten-
lang faum durchklingen. Anftatt wirflih Grund und Thefi der
ganzen Ausführung zu fein, wird das Thema zum bloßen Bor:
wand für den Nedner, fich über die entlegenften Dinge unge—
bunden zu ergehen. Wenn wir dieje Neigung und einige Härten
ausnehmen, jo fönnen wir Volkmann's Variationen als ein
charaftervolles, ernjtes und geiltreiches Werk unbedingt rühmen,
Die Ausführung verlangt übrigens ein tiefere Eindringen und
eine bedeutende Virtuofität.
Ungleich geringfügiger find deöjelben Verfaſſers »Lieder
einer Großmutter« für Glavier. Offenbar durch Schumann's
» inderfcenen« hervorgerufen, find dieſe harakteriftiichen Stüdchen
jedod für die Jugend beftimmt, während Schumann’ Heft
Bilder der Kindheit in der Erinnerung des Erwacdjenen wider:
jpiegelt. Für Kinder find Doch mande diefer » Großmutterlieder«
zu großmütterlihd grämlich. Volkmann hat nicht genug naive
Heiterfeit, um Sich mit der Jugend zu veritändigen; two er
[uftig wird, merkt man oft Zwang oder llebertreibung. Sinnig,
im beiten Schumann'ſchen Geilt, find Nr. 9 und 10; Stüde
wie Nr. 3 Hingegen mit feinen Elaffenden Diſſonanzen follte
man dem jugendlichen Mufifer ebenjo jorgfältig fernhalten,
als man die weltjchmerzlichen oder ironiichen Ausbrüche Heine's
dem jugendlihen Leſer fernhält. Die Jugend bedarf überall
der Reinheit und Harmonie, frei angefchlagene Diffonanzen und
mißklingende Vorhälte weiß im Leben wie in der unit nur
ein geprüftes Gemiüth ohne Verwirrung aufzunehmen.
Gute Lieder find unter den Lawinen von mittelmäßizen
niht blos ſchwerer herauszufinden, fie find in Wirklichkeit
jeltener, ald3 man glaubt. So wenig dem Anjchein nach dazu
gehört, ein tadellojes Lied zu machen, fo fehlt doch meiſt eine
Hauptſache: die Urjprünglichfeit des Empfindens, die Naivetät.
Man kann dem Einzelnen nicht zum Vorwurf machen, mas
dem ganzen Zeitalter eignet und unbewußt von uns allen ein:
gelogen iſt: das Vorſchlagen der Reflexion. Freilich pflegen
unfere jungen Zonfeger, gerade wie die Lyriker, es jehr übel
aufzunehmen, wenn man ihr Talent ein reflectirte8 nennt; —
haben fie doch das gute Bewußtſein, fich keineswegs nüchtern
152 1857.
und gemächlich hinzuſetzen und nun ihre Lieder mit Falten
Verſtande auszuflügeln. Das iſt aber auch die allerunterite
Stufe reflectirender Production. Das Clement, welches wir
meinen, und bon welchem unfere Boeten fi nicht willkürlich
losmachen können, weil e8 eben als integrirender Stoff unfere
ganze Bildungsatmojphäre durchdringt, äußert ſich vielmehr
darin, daß jenes vermeintlih »wumittelbar«e Producirte in der
That doc ſchon als ein Neflectirtes herausfommt. Wie viele
Lprifer vermeinen die Empfindung felbit zu geben, während
fie dieſelbe blos beiprechen und umschreiben!
Mit einigen Gejangseditionen, ſelbſt berühmter Namen,
war Spina's Verlag nicht glüdlih; jo kann man nur mit
Bedauern die Schwachen Neminiscenzen betradjten, mit denen
der hochverehrte Marſchner fich gegenwärtig die Zeit ver:
treibt (op. 178, 179).
Wil man aber noch die Altersſchwäche eines Meifters
ehren lernen, dann werfe man einen Blid auf das rohe Hand:
werk, welches den mufifaliichen Sentimentalität3:Bedarf für
unſere Vorſtadt-Fräuleins dutzendweiſe liefert. Wir wollen dem
Berleger Herrn Glöggl in feinen jonftigen Verdienſten nicht
nahe treten, wenn wir bier jein periodiiche® Unternehmen
»Miener Liederfranze nennen. Die Herren Suppe, Titl,
Hölzl, Stord u. A. muficiren da umerfchütterlih in den Fuß—
tapfen des Alpenhorn-Vaters, des großen Heinrid. Da im
»Liederkranz« die Gedichte meilt den Compoſitionen jehr geiſtes—
verwandt find, jo gibt es des Ergöglichen genug, oder wie Die
Herren Ullmeyer und Titl tieffinnig ausſprechen:
»Muſik und Gelang mit vereinter Sraft,
Dad iſt's, was dem Liede den Zauber verjchafft.«
Als ein umübertroffenes Meiſterſtück diefer Gattung ſchätzen
wir dad Lied »Bete für mich! welches Anliegen Herrn
Suppe’ Mufif mit jener Entjchiedenheit ausfpricht, welche
etwa bei dem Ausruf: »la bourse ou la vie!« üblid it.
Declamirt ift Dies Lied durchweg: »Mein Genius trauert, es
finft mein Glüd, der Wangen Röthe vor Gram erblich« u. f. w.
In dem gleihfalls von Herrn Suppe componirten » Morgen:
Vom Wiener Mufilverlag. 153
feniterln« Heißt es im Text wiederholt »Schmatz! Schmatz!«
eine zierlihe Anjpielung, die man in der Mufik für Peitſchen—
jchnalzer halten würde, ſagte nicht die Anmerkung: »Bei die
(sie) bezeichneten Noten muß der Sänger mit den Lippen einen
Kuß nahahmen.«e Ob die YZuhörerinnen dabei etwa »in den
Brunnen fallen müfjen«, wird nicht ausdrüdlid geſagt. Nächſt
Suppe iſt A. Storch natürlid einer der eifrigften Winzer
im Weinberg des Herrn Glöggl. Wenn er im Dreivierteltaft
und jeufzend unter dem Weh von fünf Be en den gefühlvollen
Wunſch äußert, »ein Tropfen Thau« zu fein, dann zerfließt
unfehlbar alles, was Ohren hat. Ginige ſehr podagriltiiche
Lieder des jeither veritorbenen Beterans Lindpaintner ver:
mögen dem »Liederfranz« auch feinen friichen Duft zu ver-
leihen, es find gemachte Blumen gewöhnlicher Sorte. Ein
einfaches Lied von Guſtav Barth (»Die Fiicherine) fticht durch
Anmuth und feinere Bildung aus der Sammlung hervor; es
it doch ſchade um dieſes Talent. Ein Seitenftüc zu dieſer
Sammlung, gleihjam der Geift des »Liederfranz« auf dad
Glavier übertragen, ift das »Wiener Salon-Albume«, worin
die mufifaliihen Zwillinge A. Goria und Lefebur-Wehly
als Sternbild eriter Größe prangen.
Eine Novität von Meyerbeer »Der Wanderer und die
Geiſter an Beethoven's Grabe« iſt jehr unerquidlid; man weiß
nicht ob der Wanderer oder die Geilter affectirter fingen. Durd)
ein jchauderhaftes Kirchhofsbild auf dem Titelblatt wird die
Wirkung der Muſik entiprechend unterftüßt.
Um nun aud den äußern Erfolg nicht zu vergeſſen, be—
richten wir die Elägliche Thatſache, daß ſeit Jahren fein Clavier—
ſtück in Wien folchen Abjak fand, wie Leopold von Meyer's
Grillenpolfa! Als »Grillenpolfa« im Neih des Gejanges
florirte da® »Grüberl im Koi«, das obendrein von Local:
jängerinnen im Coſtüme fleißig credenzt wurde, Als Componiſt
diejer erhabenen »Gſtanzeln« ift auf dem Titel genannt » Gustav
Hölzel, E. £. Hofopernfänger und Lieder-&ompojiteur.«
Das überholt doch nocd weit die Freiheitsmäriche aus dem
Jahre 1848, deren Autoren ſich auf dem Titel als »National-
garde und Urwählere aufführten. Wie hätte der Grüberl-Com—
154 1857,
ponilt eine Verwechslung zu befürchten! Es jcheint überhaupt,
daß die Titelblätter allmälig interejlanter werden, als der
Inhalt der Mufifalien. Ein Herr Franz Bermwald begleitet
jein op. 6, ein Quintett, mit einem Vorwort, worin er »jene
Schaar von Pirtuofen, die nur mit den Fingern, aber ohne
Kopf und Herz fpielen«, feierlihit erfucht, fein Werk »zu
ignoriren«! Völlig allerliebft it aber Folgendes: Auf dem
Titelblatt einiger höchft unbedeutender Goncertwalzer von Guſtav
Satter (»Les Belles de New-York«) prangt die ftolze Frage:
»Wer ift Satter?« und ald Antwort darımter fteht: »Satter
ift unzweifelhaft einer der größten lebenden Pianiſten. Satter
mwüthet auf dem Piano wie ein braufendes Meer! Da wird
man fragen: Iſt das alles? Antwort: Nein. Satter fingt aud)
auf dem Biano wie ein Arion.« Er fpielte die ſechſte feiner
Piano-Sonaten. Ich fragte: Wo find die anderen? Da befam
ich aber ald Antwort tüchtig aufgepadt, indem er ſagte: »Wiſſen
fie denn nicht, daß ich auf jedem Gebiet mid verſucht habe?
Ih componirte drei Opern, fünf Symphonien, ſechs Sonaten,
zwei Quintett, fünf Trios, mehrere Streichquartette und über
hundert Soli3 für Piano.« Nun ſuchte ih ihn ald Virtuoſen
zu ergründen, und fragte, was er eigentlich alles jpielen könne?
Satter antwortete ganz fühl: »Ich fpiele etwa hundert Fugen
von Bah und Händel auswendig, ebenfo jede andere gute
Gompofition von Bach bis auf die heutige Zeit« Dies
iſt Satter — liebes Bublicum.
Sp weit wäre aljo die Broftitution im Virtuoſenthum
glüdlih angelangt!
1858.
„Das Paradies und die Peri“ von
Schumann.
(In Wien zum erften Male aufgeführt am 1. Mai 1858.)
Es ift eine alte Schuld, welche die »Gefellichaft der
Mufikfreunde« dur ihre jüngſte Production getilgt hat. Schu:
mann’ »Peri«, deren erſte Aufführung in Leipzig 1843 ftatt-
fand, ift im Laufe der legten 15 Jahre nicht blos in allen
Mufititädten Deutſchlands mit großem Erfolg gegeben worden
(wie der Anfchlagzettel etwas überflüffig motivirt), fie hat
fogar im Jahre 1848 das Publicum von New-Morf wieder:
holt entzüdt. Kein Wunder, wenn man hier dem Erfcheinen
des fabelhaften Weſens mit ungemeiner Erwartung entgegenlah.
Der Tert diefer Compofition ift ein Epiiode aus Thomas
Moore’3 »Lallah Rookh« nachgebildet. Die Abweichungen von
bon dem Original, insbefondere manche Zuthaten, rühren von
Schumann jelbit her. *)
Die Dichtung ift das Werk eines poetiichen und zarten
Gemüthes, einer weiblihen Natur übrigen®, welche die Em:
pfindung gern bi3 zur Empfindjamfeit zufpitt. Bei der großen
Beliebtheit dieſes Gedichtes ift es nicht ungefährlih, an dem
Grundgedanken zu mäfeln; mir hat er leider ſtets den Ein:
druck einer verfünftelt empfindfamen, dabei froftigen Jean
Pauliade gemacht. Abgeſehen von dem Nebus, woran Die
*) Chor der Nil-Genien, Chor der Hourid, das Quartett »Peri,
iſt's wahr« das Solo »Berftoßen«, endlid der Schlußchor.
156 1858,
Seligfeit der Peri geknüpft wird, bildet daß zweimalige Ab—
weiſen der »Heldenblute®«, dann des »Liebesjeufzerd« als »zu
gering« gegen das dritte Anbot der »Reuethränen« eine förm—
lihe Licitation mit Dingen, deren vergleichende Abichägung
etwas Verleßendes hat. Für die Mufif indeffen waren die
lyriſchen und fchildernden Ginzelnheiten des Gedichte das
MWichtigite, und zweifelsohne beſitzt es deren von unläugbarer
poetiiher Schönheit. Die mufifaliihe Foım, welche Schumann
diejem Gedicht gegeben, läßt fi genau unter feine der üblichen
Compofitiond-Gattungen einreihen. Am richtigften wird man
die »Peri« noch immer zu den Santaten zählen, obwohl die
Einführung einer erzählenden Stimme (nad) Art ded Evans
geliften in den biblifhen Dratorien) ein fremdes Element hin—
zubringt. Man vergißt gern den Streit um eine Bezeichnung,
wo das bezeichnete jelbit jo unbeftreitbar jchön ijt wie Die
Muſik zur »Berie.
Mas diefer Compofition ihren unvergängliden Werth
fihert, ilt nicht die Kraft des Totaleindruds, fondern eine
Fülle reizender Ginzelheiten. Betrachtet man einzelne Nummern
für fi, jo möchte man das Werk, deſſen Theile fie bilden,
zu dem Schönften zählen, was die neuere Mufif überhaupt
hervorgebradt. Als einheitliches Ganzes hingegen, und nad)
dem Totaleffect gefhäßt, den fie dem Hörer zurüdläßt, zählt
die »Peri« nicht einmal unter Schumann’ Merken zu
den vollfommenften. Sie reiht Perle an Perle, allein je
länger, deito gleichförmiger ericheint und die Schnur, bis
wir am GSchluße all des Genojjenen etwas ermüdet ge=
denfen.
Die wirkſamſte Vertheilung von Licht und Schatten hat
der erite Theil. Gleich die Inftrumental:Einleitung und die
erften Soli athmen jene träumerifhe Sinnigfeit und Anmuth, an
welcher wir Shumann erkennen. Diefe Stimmung finden wir
zu einem eigenthümlichen märchenhaften Zauber gefteigert in
dem Larghetto »ich fenne die Urnen mit Schäßen gefüllte.
Wie Shwungvoll und poetifch ift das poetifche Kleine Quartett,
welches Indiens Schönheit preift! Und wie prächtig deifen
Gegenſtück, der gewaltige Chor: »Doch jeine Ströme find nun
»Das Paradies und die Peri« von Schumann. 157
roth«!l Der Ordeiterbaß, welcher den Chor canoniſch imitirt,
wirft mit unbejchreiblicher Gewalt, am erfchütterndften aber die
unisono, recitativartige Frage der Chöre: »O Land der Sonne,
weilen Schritt geht über deinen Boden«e? Diefe Erjcheinung
des wilden Eroberer3 Gazna im erjten Theil bietet gegen die
träumerifch zarte Haltung des Ganzen ein treffliches Gegen—
gewicht, deſſen die folgenden Theile entbehren. Im zweiten
Theil hebt ſich vor allem der Chor der Nil-Genien durch den
Reiz feiner Melodie und der Gellobegleitung heraus, dann der
Schlußhor über den Leichen der Liebenden — ein unders
gleichliher Gejang voll Wehmuth und Erhabenheit. Was da—
zwwiihen liegt, verfällt ſchon häufig der Monotonie. Das
Peinliche, das in der Ausmalung der Peſtſcene Schon an und
für fih liegt! Schumann hat für dad Schwüle, Drücdende
der ganzen Athmoſphäre merkwürdige Klänge voll unheimlichen
Grauens gefunden; allein derlei verträgt fein au&breitendes
Verweilen. Auch der Gejang der Jungfrau Hat nicht den
vollen Ton der Schumann’ihen Innigkeit, Tondern nähert
fih einer gewiſſen flachen Sentimentalität, wie fie 3. B. in
Ihmwächeren Werfen Spohr’3 vorfonmt.
Auh die 3. Abtheilung glänzt durch Einzelnummern,
welche den früher genannten an Schönheit nicht nachitehen;
wir erinnern an den höchſt anmuthigen Chor der Houriß (in
deffen ungezwungenem Mtelodienfluß man den fortlaufenden
zweijtimmigen Canon faum gewahrt), an das Quartett »Peri,
iſt's mwahr«? — Dennod) vermögen Die einzelnen hohen
Schönheiten gegen die zunehmende Monotonie des Ganzen
nicht mehr recht Stand zu halten. Diefe Hat ihren Grund
zunädhft in dem Mangel an Recitativen. Schumann läßt
Alles in ftrengem Zeitmaß fingen und bedarf jo für er-
zählende Mittelglieder, die fich recitativiich hätten raſch abthun
laffen, langwierige ermüdende Süße. Die Recitative haben in
großen Werfen die wichtige Aufgabe, die einzelnen Nummern
abzugrenzen und deren jchärfere® Hervortreten zu bewirken.
Fehlen fie, wie in der »Beri«, jo geht dem Hörer, der uns
mittelbar von einer großen Nummer in die andere gezogen
wird, bald der Athem aus. Ferner wird in der 3, Abtheilung
158 1858.
(wie ſchon in der Vefticene der zweiten) die Rhythmik unendlich
monoton. Weder auf die wünſchenswerthe Abwechslung zwei—
theiliger mit bdreitheiligen Taktarten ift gehörig Rückſicht ge—
nommen, noch auf die rhythmiſche und melodifche Belebung
längerer, fehr jchleppender Soloſätze. Einiges läßt ſich durch
zwedmäßige Kürzungen mildern: immerhin bleibt der in er—
mattender MWeichheit fich hindehnende Verlauf des 3. Theil
eine unentrinnbare Gefahr für den ZTotaleindrud. Schumann
war in allen Meußerlichen jo unpraktiſch, daß er den tiefen
Abgrund nicht ſah, den er in feiner »Peri- fo unermüdlich
mit den duftigiten Blumen umpflanzte.
Styvanz Schuberf’s Oper „Iierraßras“.
Eines der intereffanteften Concerte diejes Winter hat der
Männergefangverein im großen Redoutenjaal veranitaltet.
Die ganze erite Abtheilung war Schubert gewidmet und
brachte, jo jeltiam das Elingt, lauter Nopvitäten. Herr Chor:
meilter Herbed, der jüngit Scubert’8 wunderbar jchönen
»Gejang der Geilter über den Waſſern« gleichſam neu entdedt
und zu vollendeter Aufführung gebracht hat, that diesmal das—
jelbe mit mehreren Nummern aus Schubert’3 ungedrudter Oper
»Fierrabrase. Wenn man die fürmlichen »Rettungen« bes
denft, welhe früher Shumann, jet Herbed an hochbedeu—
tenden und doc bereitö vergeflenen Werfen Schubert’3 vor—
nahm, fo möchte man oft zweifeln, ob diefer wirklich erit feit
drei Decennien todt if. Scheint e8 doch obendrein, ala ob
Schubert's allbeliebte Lieder feinen größeren Werfen mehr
Berdränger als Herolde geweſen feien. Auch von Schubert’3
Thätigfeit als Operncomponift hat mancher Mufiffreund erft
dur) das letzte Concert des Männergejangvereins erfahren.
Schubert hinterließ außer verichiedenen Singfpielen, Melo—
drama und einaftigen Operetten, zwei vollitändige große Opern:
„Fierrabras« und »Alfons und Eitrella«e. Lebtere (ur:
iprünglih für Berlin beftimmt, aber niemald® dort gegeben)
wurde vor einigen Jahren durch Lijzt in Weinar aufgeführt.
Franz Schubert’? Oper »Fierrabraße. 159
Der Erfolg wurde gerühmt, allein melden Einfluß auf die
muſikaliſche Welt hat ein Erfolg in Weimar? Somit gerieth
die Oper wieder in Vergeſſenheit. Auh »Fierrabras« ent:
ging nicht dem für alles Geniale offenen und thätigen Enthu—
ſiasmus Liſzt's. Er faßte den Plan, die Bartitur zur Um—
arbeitung des Textbuchs nad Paris zu nehmen und aufzulegen,
— ein Unternehmen, von dem er leider wieder abfam. So
ift denn, außer der vierhändig arrangirten Ouverture, nicht?
pon dieſer Oper veröffentlicht worden, die nebit vielen anderen
Manuferipten Schubert’3 nad der Erlöfung harrt.
Wir wollen den »FFierrabrade keineswegs zu den Opern
erften Ranges zählen, auch nicht behaupten, daß er ald Ganzes
den Müllerliedern, der C-Symphonie oder dem D-moll-Quartett
gleihfomme. Schrumpft die Oper fomit etwa3 zufammen, wenn
man als Maßſtab Schubert’3 Beſtes daran legt, To wächſt fie
hingegen hoch empor im Bergleih mit unzähligen Nopitäten,
welche ſeit Schubert's Tod bei und beifällig über die Bretter
gingen. Wir wollen die letten Erinnerungen unberührt laſſen,
— fo oft aber bei der Oper von »einheimiichen Talenten«
die Rede war, hätte man auf den Namen Franz Schubert
wohl auch verfallen können. Es iſt jo ziemlich der einzige
große Komponift, der in Wien dad Licht der Welt erblidt
hat; feine Geburtöftadt war und ift ihm fchon deshalb die
Feier einer Opernaufführung längit ſchuldig.
Ein ſchwacher Troft, daß die Bejchaffenheit des Libretto
bisher das Haupthindernig gegen die Aufführung der Oper
bildete. Das Tertbuh zum »Fierrabras« iſt ein traurige
Prototyp für die ganze Gattung jener »heroiſch-roman—
tiſchen Opern«, welche einft zu Dußenden die deutſche Bühne
beglüdten. Es wird dabei ein vollftändiger Kindheitszuftand
des Publicums vorauögejegt, und eine ebenfo vollitändige
Refignation des Componiften auf alles, was Poeſie, Geihmad
und Zufammenhang heißt. Die Oper jpielt am Hofe Karla
des Großen, es fehlt alio nicht an Prunk und prahlerifchen
Kriegöpirtuofen. Mer nur auftritt, ift ein Held ohnegleichen ;
nur der Held der Oper jelbit, Fierrabras, beobachtet die
zartefte Paſſivität. Obwohl ein Maure und verliebt, zögert
160 1858.
er doch feinen Augenblid, fich für einen Fremden einferfern zu
laffen, der ihm gerade »zuvorfommend« mit der angebeteten
Emma durchgehen will. Kann ein Maurenprinz mit dem zähne—
fnirfchenden Namen Fierrabra® blauäugiger handeln? Der erite
Akt, der mit diefem rührendem Ereigniß jchließt, jpielt am
fräntifhen Hof und führt und außer Emma und Fierrabras
noch Karl den Großen vor (jalbungstriefende Baßpartie) und
jeinen Geheimfchreiber Eginhard, Emma’3 heimlichen Geliebten,
der die Nrretirung des unfchuldigen Nebenbuhlers mit großer
Seelenruhe anfieht. Der zweite Alt ſchon bringt eine voll:
ftändig neue Handlung. Karl's Genoffen machten ein wenig
Jagd auf Mauren. Das Wild ift diesmal klüger und fängt
jämmtliche Blüthe der fränkischen Ritterfchaft. Guter Anlaß zu
Kampfgetümmel, maurifhen Märfchen u. dgl., jedoch aber:
maliges Feftfigen der Handlung. Der Tertdichter hat zum
Glück noch eine heimliche Liebe disponibel: Ritter Roland
hat irgendwo und irgendwann Florinden, die Tochter des
grimmigen Maurenfürften, fennen gelernt. Aus Liebe unter-
nimmt Florinde die Rettung jämmtlicher Ritter, Sie ver:
barrifadirt fih mit den Franfen in einem Thurm, während
Eginhard »auf nah Norden« rennt, Succurs zu holen. Zu
Anfang des dritten Aktes geht Karl dem Großen plößlich ein
Licht auf: er inquirirt Emma fo ſcharf, daß fie ihr Vergehen
und Fierrabras’ Unschuld bekennt. Seine maurifche Hoheit
werden nunmehr aus dem Seller heraufgeholt und erklären
verbindlichit, das e8 ihr ein Vergnügen war.
Karl: »Das Recht ſei geſprochen,
Das Urtheil gefällt,
Der Frevel gebrochen,
Das Ziel iſt geſtellt.
Emma: Das Herz iſt gebrochen,
Das Loos iſt gewählt,
Die Schuld wird gerochen,
Die Hoffnung zerfällt«.
Nach dieſen koſtbaren Verſen wird an die Befreiung der ge—
fangenen Freunde gegedacht. Es iſt höchſte Zeit, denn bereits ſoll
Franz Schubert’3 Oper »Fierrabras«. 161
Roland unter den fchredlichiten Verſen gebraten werden. Die Retter
ftürzen herbei, der Chor trifft von Blut, Kaifer Karl von Salbung,
und den beiden Liebespaaren wird die gemwünfchte Vereinigung.
Der Gejang wechjelt mit gejprochenem Dialog, welcher durch
Lieblingsworte, wie »elender Wütherich«, »Freche Brut« ır. dgl.
den Charakter des Kräftigen fefthält. Ein ſolches Libretto muß
man lefen, um die jpätere Reaction gegen das ganze Opern:
Unmefen zu begreifen, wie fie Rihard Wagner (im Negiren
meisten richtig) unternahm. Für Schubert’3 künſtleriſches
Naturell ift es bezeichnend, daß er ſolchen Kummer nicht em=
pfand. Ihn ftört weder der platte finnlofe Tert, noch weniger
drängt er ihn zu Scrupeln über die tiefen Mängel der Kunſt—
gattung überhaupt. Frei und ungehemmt durch den Gegendrud
der Neflerion, ergießt er die goldenen Fluthen feiner Melodie,
Diefes naive Schaffen, und feit Beethoven völlig verloren ge—
gangen, gehört zur Charakteriitit Schubert’. Gr macht ſich
nicht einmal Bedenken, ob der Stoff des Gedichtes feiner
ipeciellen Begabung auch zuſage. Ein ftrengeres Aushorchen
ſeines Talents hätte ihn wahricheinlich beitimmt, das Heroiſche
und Tragiſche lieber zu Gunften eines lyriſchen oder tdylliichen
Stoffes abzulehnen. Allen die ftroßgende Kraft feiner mufi-
falifchen Erfindung warf fich fiegreich und ohne viel zu fragen
auf jeden Stoff. Kaum eine größere Rolle, als die Reflerion
por dem Schaffen, fpielt bei Schubert die Feile nach dem-
jelben. Seiner genialen Naturfraft vertrauend, die meiften? das
Richtige inftinctiv traf, änderte er ungern nahträglid. Das
Manufcript des »Fierrabras« iſt auch in diefer Hinficht und
als Beifpiel für Schubert’3 jchnelle Production merkwürdig.
Die erite Nummer der Oper iſt datirt vom 25. Mai 1823,
die leßte wurde beendigt am 26. September desjelben Jahres;
da3 ganze jehr umfangreihe Werk war alſo in 4 Monaten
pollftändig componirt.
Die mufifaliiche Behandlung des »Fierrabras« ift duch
und durch echt jchubertiih. Das Liedmäßige herricht vor,
manchmal ganz unverjftellt, wie in dem Tenor-Duett mit Chor
im 2. At, theils in Form oder Charakter den Arien einge-
impft. Manche Ddiefer einfach melodiöfen Nummern find von
Hanzlid. Aus dem Concertiaal. 2. Auff. 11
162 1858,
großer Zartheit und Anmuth, wie 3. B. das Frauen-Duett im
2. Aft, As-dur mit obligatem Cello. Manchmal (wie in den
Frauenhören am Anfang des 1. und 3. Altes) verleitet den
Eomponiften die Liedform zu allaugroßer Bequemlichkeit. Bon
fräftigfter Wirkung find die Männerchöre; die mauriſchen Chöre
und Märfche tragen einen glücklichen Anflug von LXocalfarbe.
Sn allem Formellen hält fih Schubert ftreng an das bishin
Gebräuchliche; er rüttelt nicht an der Heinften Gewohnheit der
Theaterprariß.
Die „Hraner Mefle“ von Lilzt.
Wien befam am 22. und 23. März die große Feſtmeſſe
zu hören, welche Lifzt vor zwei Jahren zur Einweihung der
neuen Kirche in Gran componirt hat. Sowohl die Enthufiaften
als die wenigen Befonnenen, welche e8 damals verfuchten, fich
in dieſem Feuerlärm Gehör zu verichaffen, hatten — für oder
wider — es hauptfählih auf dad Moment der Religiofität
abgeſehen.
Ueber die innere Frömmigkeit eines Künſtlers zu urtheilen,
iſt ein ſehr ſchweres, bedenkliches Unternehmen. Die äſthetiſche
Kritik iſt keine Inquiſition. Sie hält ſich ſtreng an das Werk
und bleibt des Grundſatzes eingedenk, daß die Kirchlichkeit eines
Kunſtwerks und der ſubjective Glaube des Künſtlers zwei ſehr
verſchiedene Dinge find.
Wenn von den modernen Mufifern einem der Ruhm
wahrer und ftrengglänbiger Frömmigkeit gebührt, jo iſt es
gewiß Sofeph Haydn. Die fromme Kindlichkeit, mit der er
fich täglich auf die Knie warf, Gott um erleuchtenden Beiltand
anzuflehen, mahnt als letzter ſchöner Abglanz an jene gott-
begeijterten Maler und Sänger des Mittelalters, deren Kımft-
übung eigentlich nur ein werkthätiges Beten war. Und dennoch
it die Unkirchlichkeit feiner Meilen ebenſo zweifellos, wie die
Ehtheit feines Glaubens. Haydn's Meffen ftehen in ihrer weichen
Anmuth Schon ferne von der Großheit und Würde, die der
altsitalienifchen Kirchenmufif innewohnte und von dem höchſten
Die »Graner Meſſe« von Liſzt. 163
Begriff des Gottesdienſtes unzertrennlich bleibt. Eine ſubjectiv
unanfechtbare Frömmigkeit konnte alſo dennoch muſikaliſche
Formen wählen, welche für die objective Hoheit der Kirche nicht
die zuträglichften find.
Wir können jomit Lifzt immerhin für einen zweiten Haydn
an Strenggläubigkeit halten, und dabei die Kirchlichkeit feiner
Graner Meſſe ſtark im Zweifel ziehen. Dem Bannſpruch der
Liſzt'ſchen Adepten find wir damit nmatürlih anheimgefallen,
insbefondere dem Verfaſſer der »Mufifaliichen Pflichten«, der
jeden Zweifler mit folgenden Beweiſen vernichtet: »Iſt etwa
der Geiſt, der in Liſzt's »Fauft«, »Dante«, »Bergſymphonie«,
feiner »Hunnenihladt« weht (lauter reine Inſtrumental-Com—
pofitionen!) nicht ein rein und ſpecifiſch fatholifcher? Sit
er nicht jegt befchäftigt mit einer Legende »die heilige Eli-
jabeth«? Haben die Zeitungen nicht davon gefproden, daß
er ein Oratorium »Salomo« und eines Chriftus« zu Schaffen
gedenft?!«
Menden wir und von dieſen Oratorien in partibus zu
der wirklichen Graner Meile. Die Religiofttät, ja felbft die
Kirhlichkeit einer Muſik in gewiſſen traditionellen Formen zu
juhen, davon find wir jehr weit entfernt, jo beachtenäwerth
und auch die Tradition gerade bei Kunſtwerken erfcheint,
welche der katholiſchen Kirche dienen. Indeß bleib es richtig,
daß der vorzugsweiſe für die Kirche verwendeten contrapunktiſchen
und fugirten Schreibart nichts jpecifiich Religiöſes nachweisbar
ift, noch weniger den ſüßlich melodiöfen Wendungen, melde
durch die ununterbrodhene Nahahmung Mozart's und Haydn’s
gegenwärtig in den Kirchen herrichen. Auch wir find mit den
Berfehtern der »Graner Meſſe« in dem Punkt vollkommen
einverftanden, daß es auf den Geist der Religiofität ankomme,
der ein ſolches Werk durchdringen foll, und nicht auf be=
ftimmte Ausdrudsformeln.
Angenommen, Beethoven Hätte dad Adagio aus jeiner
neunten Symphonie in eine größere Kirchenmuſik aufgenommen,
fo würde man fi wohl anfangs überrafht, aber gewiß alsbald
von dem jeligen, verflärten Frieden erhoben fühlen, deſſen
Geiſt diefe Muſik zum wahren Gebete macht.
11*
164 | 1858.
Bon religiöjen Geifte werden wir hingegen in einer
Mufit kaum etwas erkennen, die das ganze Wirrſal menſch—
liher Leidenfhaften aufitört. Sei Lilzt noch jo andädtig
geweſen beim Componiren, welcher Menſch könnte es jein beim
Anhören diefer Meffe? Welches Gemüth vermöchte durch Diele
Töne fih zu Gott gehoben fühlen, gejtärft und verföhnt?
Man hat die »dramatiſche« Behandlung des Mebtertes
dur Liſzt ald neu und bedeutend herborgehoben. Sie ift in
der That dramatiih, im Sinne Meyerbeer's und Wagner’3.
Wenn in der Maffenmweihe der »Hugenotten«, in den Venus—
bergfcenen des »Tannhäufer« u. dgl. die grelliten Farben, die
ichreiendften Gontrafte gegen einander geſpannt werden, jo
rechtfertigt: man fie eben mit dem »dramatiihen« Zweck.
Situationen, die dor unſern Augen die Greuel der Gejchichte
und die Qualen der Leidenschaft ausbreiten, erheiichen auch die
Thärfften Waffen, mit denen die Muſik zu zerfleiichen vermag.
Sn der Kirche wollen wir und nicht zerfleiicht, jondern in Gott
verjöhnt fühlen.
Liſzt's Meffe wirkt mit den grellen, faljchen Gontraften
Meyerbeer's und Wagner’. Das von Wagner (nach Berlioz’
Vorgang) eingeführte Tremoliren getheilter Violinen in den
höchſten Chorden repräfentirt meift das Wunderbare; die rohe
Gewalt des Blechs das Erhabene; daß Myſtiſche endlich feiert
jeine Räthſel in den peinlidhiten Diffonanzen und Accorden—
folgen, welche blafirtes Raffinement erfinnen kann. Liſzt's
Meſſe hat Stellen, gegen welche die entjeglichen Necordenreihen
in der Domjcene des »Propheten« beihämt zurüdtreten. In—
deß, jelbit iiber grelle Einzelheiten, über die zeitweilige Tortur
der Gehörsnerven, ja über die vollitändige Meyerbeerifirung
der Paſſionsgeſchichte, vermöchte man vielleicht hinwegzu—
fommen, fühlte man durch das Ganze den warmen Athemzug
religiöjer Empfindung wehen. Allein die grübelnde Reflerion
ihaut mit ftechend grauen Augen aus jedem Takt heraus.
Sie iſt der heilige Geiſt, der diefe Meſſe ſchuf.
Ueber das vreligiöfe Gefühl de Componiſten, mir
wiederholen es ausdrüdlih, hegen wir nicht den mindejten
Zweifel; allein fein Werk fpiegelt uns wie eine Fata morgana
Die »Graner Meffes von Liizt. 165
das Bild eines lebhaften und geiftreichen Mannes vor, der fi
in den Meßtert vertieft, ungefähr wie Daviion in das Ma—
nufcript irgend einer bedeutenden, aber-vor ihm längit abge-
ipielten Rolle. Das feine unternehmende Lächeln jcheint zu
jagen, »es wäre doch ſeltſam, wenn es für diefe Rolle nicht
auch eine Auffaffung gäbe, die von allen bisherigen völlig
abweicht, — ſehr ſeltſam, wenn ſich nicht eine Unzahl geift-
reiher Pointen herausfinden ließe, an die bisher fein Menſch
gedadit«,
Wir haben wirklih von derlei Künftlern Rollen gejehen,
die, voll geiftreicher Blige, doch das Bild faum mehr erfennen
ließen, das der Dichter damit verband. Liſzt's Meſſe iſt eine
folhe Leiftung Warum jollte ihn feine Bildung nicht be:
fähigen, Neuerungen zu bringen, auf welche da3 bloße muſi—
falifche Talent und ſei e8 das reichite, nicht verfällt? Warum
jollte ein Mann, der mit literarijchen, philofophifchen, ja theo—
logiihen Kenntniſſen an die Compofition einer Meile gebt,
darin nicht Ideen niederlegen fönnen, an welche der Verſtand
und die Bildung feiner Vorgänger niemals reichte?
In der That, leichtfertig iſt Lijzt nicht an das Werk ge:
gangen. Er hat fih in die Bedeutung des Mektertes fo ernftlich
vertieft, daß ihm faſt jebes Wort eine eigenthümliche Bedeu:
tung, einen verborgenen Zufammenhang enthüllte Das Wort
wurde ihm im höchſten Grade wichtig, und in dem Eifer, es
genau zu interpretiren, zeigt fi) Liſzt gewiffermaßen begeiftert,
am Glauben aljo, wenn auch nicht von demfelben. Mit dem
grübelnden Eifer eines Theologen überjegt Lilzt die verborgene
Bedeutung jedes einzelnen Wortes in eine entiprechende muſi—
falifche »Intentione. Wir entfinnen und faum eines Werkes,
in dem dieſe moderne Mufe, die »Intention«, jo unumſchränkt
regiert hätte. Auf jede Sylbe legt fie ihre dürre Hand, und
wo ſich ſonſt duftige Veilchen wiegten, da entfteigt nun ge—
ipenjterbleich der tödtlihe Baum der Erfenntniß *).
* Daß wir nicht eine dem Gomponijten fremde Auffaffung
unterlegen, beweijen wohl jchon die äußeren Vorbereitungen, dent
Hörer das »Verſtändniß« zugleich mit dem Programm in die Hand
166 1858.
Liſzt Hatte für die Grundzüge diefer Auffaffung ein hoch—
bedeutendes und gefährliches Vorbild in Beethoven's zweiter
Melle. In der That haben die beiden Werke mehr miteinander
gemein alö die Tonart D-dur. Auch Beethoven’3 D-Mefje riß
den Kirchenſtyl aus feinen bisherigen Formen in eine gewaltige
aber phantaftiihe Region, für welche die irdifchen Bedingungen
des Gottesdienftes feinen Raum boten. Beethoven’: mufi-
falijcher Genius konnte indeffen von ben verjengenden Strahlen
der »Intention« wohl zeitweije geitreift, niemal3 aber zu Boden
gezwungen werden. Welche mufifaliihde Entihädigung aber
bietet Liſzt's Meſſe für die getäufchten Hoffnungen der An—
dacht? Soll der rein mufifaliiche Genuß der überwiegende
und der Hörer mehr Künftler fein, als Chriſt? Faft jcheint
dies der Anficht des Componiſten jelbit zu begegnen, da er es
vorzog, die Mefje nicht in der Kirche, wohin fie gehört, ſon—
dern ganz concertmäßig im großen Reboutenfaal aufzuführen.
Vieles von dem ungünftigen Eindrud würden wir anf dieſe
concertmäßige Einkleidung jchieben, wären wir nicht fo be—
günftigt gemwejen, die Graner Meffe auch in der Domkirche zu
Prag zu hören. Während wir aber dort dachten, fie müßte
im Concertfaal jedenfall® gewinnen, jo jehnte fih im großen
Redoutenjaal unfer wanfelmüthig Ohr wieder nach der Kirche.
Die gothiihen Hallen, die gladgemalten Fenfter, der Weihrauch:
duft, furz die Heiligdeit des Drtes lieh doch auch der Graner
Meſſe etwas von der Stimmung, die wir in der Mufif allein
hier nimmermehr entdeden fonnten.
Nicht ala ob fie durch Trivialitäten der Melodie oder des
Rhythmus gegen die kirchliche Würde verftieße. Der Ton Höchften
Ernites ift durchaus feitgehalten. Allein nirgends kommt eine
Stimmung zur wahrhaften Ausprägung. Wir werden durch
lauter Anfänge, Fragmente, Anregungen und Contrafte raſtlos
weiter getrieben, ohne zur Sammlung irgend Zeit zu gewinnen.
Die geiftreihften Pointen fünnen und für die Ruheloſigkeit
zu bdrücden. Die Bertheilung des Meßtertes (mit etwas Gregeie)
unter ein rein katholiſches Publieum wird manchem wunderlich vor—
gekommen fein.
Die »Graner Meſſe« von Liizt. 167
des Ganzen nicht entichädigen. Hin und wieder tauchen freund-
lihere Klare Stellen auf, wie im Agnus Dei und Benedictus,
welche uns überhaupt als die einheitlichiten und gejammelteiten
Muſikſtücke des Ganzen erſchienen, doc lange bleibt die Freude
nicht ungetrübt. Der Hörer wird jeden Augenblid durch einen
gefuchten Contraft aus der Stimmung gerifjen. Geht er näher
darauf ein, fo findet er wahrſcheinlich eine finnreihe Motivis
rung, eine jemer thematiichen Anſpielungen, die Wagner in
Schwang gebradt, oder ähnliche Beziehungen; aber der Total-
Eindrud, den er mitnimmt, wird deöhalb fein anderer. Won
den zwei Begriffen, die das Wort »Kirchenmuſik« bilden,
gelangen bei Zifzt weder der eine noch der andere, am wenigſten
beide zu ſchöner Wirflichkeit. Faſt möchten wir auf diefe Meſſe
ein ſtrenges Wort Schumann’ über eine Oper Meherbeer's
anwenden: »fie ſei der Angftichrei eines von den Forderungen
der Zeit aufs äußerſte gequälten Talentö«. So fteht uns die
»&raner Mefje« fremdartig entgegen: halb Oper, halb theo-
logiihe Abhandlung. Wir würden indeß um den Namen nicht
ftreiten, unter welchem uns ein Kunſtwerk von reicher muſi—
falijher Erfindung geboten würde. Damit ift es jedoch in
der Graner Mefje beitellt, wie — in Liſzt's größeren Com—
pofitionen überhaupt. Das Rühmenswerthe und Anziehende des
Werkes ruht in den einzelnen durch Reflexion vermittelten
Pointen, ſei es der Tertauffaffung, fei es des mufifalifchen
Effectes. Hier ließ fi von Liſzt's Geift und Bildung eine
Reihe feiner Apercuß erwarten, und er hat diefe Erwartung
auch in jedem Sat reichlich erfüllt.
Zum Schluß nod eine Bemerkung. Faft alle längeren,
insbeſondere apologetiichen Beſprechungen der »Graner Meſſe«,
die uns zu Geſicht kamen, beginnen mit einer ausführlichen
Geſchichte der Kirchenmuſik. Die großartigſten und höchſten
Entwicklungen der Musica sacra werden dabei natürlich zu
Vorftufen für die Lijzt’sche Meile herabgefegt, welche an die
Stelle des »ohnehin abgelebten« Alten einen neuen Kirchenſtyl
und zwar den für die Gegenwart allein zufagenden aufgerichtet
babe. Daß man auch der Kirchenmuſik gegenüber, deren
Blüthenzeit tief in der Vergangenheit Tiegt, dieſe fonft wohl:
168 1858.
befannte Sprade führt, jcheint uns etwas ſtark. Wenn unjerer
Zeit, wie eingeräumt wird, die findliche Frömmigkeit und
Gottesfurdt abhanden gefommen find, in welder die alten
Meifter fchufen, fo find doch gottlob ihre Werke nicht mit ab—
handen gefommen. In ihnen allein iſt — noch für lange Zeit
— da3 Heil der Kirchenmuſik zu fuchen.
Nur zwei gejchichtliche Bildungen der heiligen Muſik ent:
ſprechen volltommen der hohen und ernften Bedeutung des
Gottesdienites: die Kirchenmufif der alten Italiener (römiſche
und venezianiihe Schule) und der älteren Deutfchen (Edart,
9. Schütz, ©. Bad). So lange nicht ein erneutes religiöjes
Leben auch die Kunſt wahrhaft befruchtet, und mit urſprüng—
liher Kraft (nit mit reflectirendem Wit) ſelbſt fi neue
Formen Schafft, wird der moderne Kirchencomponift am beiten
thun, jih in jene Ausdrudsweifen zu verjenfen, ans welchen
mit nie erreichter Innigkeit Gottesliebe und Gottesfurcht ſpricht.
Nicht jedes Zeitalter darf jede Miſſion übernehmen wollen.
Sapvigny Hat befanntlid unferer Zeit den Beruf zur
Gejeßgebung abgeſprochen. Der Beruf, eine neue Kirchenmufif
zu jchaffen, fehlt ihr noch weit mehr.
Soncert der Singakadenmtie. Mendels⸗
ſohn.
Wir erblicken eine der fruchtbarſten Seiten der Chor—
vereine in der Verbreitung muſik-hiſtoriſcher Kenntniſſe. Indem
der reine Chorgeſang, der ſeine zahlreichſten und unvergäng—
lichſten Muſter in der älteren Kirchenmuſik Deutſchlands und
Italiens ſindet, von dieſer gar nicht Umgang nehmen kann,
eröffnet er zahlreichen empfänglichen Muſikfreunden eine neue
Welt, von der fie wahrjcheinlich ſonſt feine Ahnung erhalten
hätten, Das fremdartige der erjten Begegnung wird durch Die
Beharrlichkeit liebevollen Einjtudiren® gebroden, und an die
Stelle der allgemein herrichenden ſyſtemloſen Eklektik tritt all
mälig dad Bemwußtjein eines Zujammenhanges in der Entwids
lung unſerer Kunſt.
Goncer: der Singafabemie, Mendelsjohn. 169
Die neuere Zeit war in dem Programmı der Singafademie
vertreten dur den »43. Pjalm« von Mendelsjohn (op. 78)
und deffen »Hymne- in G-dur für Sopranfolo und Chor,
beided® Werke von religiöfem Ausdruck und edler geiftvoller
Geitaltung.
Mit Bedauern jahen wir hingegen ein Baßjolo und Terzett
aus einem handjchriftlihen deutichen »Stabat mater« von
Schubert in das Programm aufgenommen. Das Werk ge:
hört zu den vielen Jugendarbeiten des genialen, aber oft
wahllos producirenden Tondichters, die nur eine falſche Pietät
aus dem Dunfel hervorzieht, welchem der Autor felbit fie an:
vertraut wiffen wollte. Dies »Stabat mater«, in dem weichlich
jalbungsvollen, Homophonen Styl der Mozart’ichen Nachtreter
geichrieben (eine Neminiscenz an Saraftro ift nahezu fomifch),
machte fih unmittelbar nah dem Mendelsſohn'ſchen Palm
recht intereffant. Es war eine jchlagende Antwort auf die in
neuejter Zeit beliebte Werjpottung Mendelsſohn's und jeiner
»beim Thee aufzuführenden« Kirchenmuſik, auf deifen Unkoften
Schubert jhlehtweg nit nur als der »größte Mufifer,
jondern als der einzige echte Meifter nach Beethoven« er—
hoben wird.
Die Begeifterung, mit welcher am jelben Tage drei ver:
jchiedene Tondihtungen Mendelsſohn's aufgenommen wurden,
führte und den mohlthätigen Einfluß dieſes Meifterö in der
mufitaliihen Kunftgefchichte wieder recht Iebhaft vor Augen.
Daß Mendelsſohn die Kraft und den Aufſchwung Beethoven's
nicht befigt, daß feine janfte, feine Natur manchmal dem Weich—
lihen verfällt, daS wird ebenjowenig Jemand läugnen, al?
damit etwas Neues fagen. Wir glauben ſogar, daß die meijten
jeiner Clavier-Compoſitionen noch immer überihäßt find:
in ihnen muchert wirklich) jener oft gerügte Formalismus,
welcher mit der ftereotypen Ausdrucksweiſe äußerlicher Leiden:
ihaft den Mangel an innerer Kraft verdedt. Allein in diefen
Glavierftüden Liegt nicht der Schwerpunkt von Mendelsſohn's
Bedeutung. Er ruht in feinen Concert-Ouverturen, durch welche
der Inftrumentalmufif ein neues Clement zugeführt wurde, und
vor allem in feinen geiftlihen Tondidtungen. Mendel2:
170 1858,
fohn’3 Oratorien und Pialmen find mufifaliihe Erfcheinungen,
die nach Art und Größe feit Beethoven ziemlich tjolirt daſtehen.
Mögen immerhin Schubert nd Schumann nad Art
ihres Talents Beethoven näher verwandt fein, ald der
reflectirtere Mendelsfohn: damit ift die Bedeutung eine Ton-
dichters in der Kunftgefhichte noch nicht gemefjen. Keiner von
diefen Nachfolgern Beethoven’ hat in geiftlicher Kunft Erheb:
liches geleiftet. Die »Pfalmen« und »Oratorien« find eine That,
die Mendeldjohn jogar vor Mozart und Beethoven voraus hat,
denn jeit Bach und Händel hat er die erfte wahrhaft deutjche
DOratorienmufif gebradt. Inden Diendelsfohn, mit Uebergehung
der ſpäteren neapolitaniichen Schule, deren Einfluß noch Haydn
und Mozart beherricht hat, an das Vorbild Sebaftian Bach's
anfnüpfte, hat er jedenfall etwas ganz Anderes und Höheres
gefchaffen, al® eine bloße »Abihwähung und Verweichlichung«
diefes Originals. In einer Zeit zerfahrenen Epigonenthums war
Mendelsfohn die blanke, unangetaftete Säule der deutfchen
Tonkunſt.
Nicht in einer Verwandtſchaft mit dem »Dilettantismus«,
ſondern geradezu in ſeinem directen Gegenſatz zu dem genial—
thuenden Dilettantismus unſerer Tage, erſcheint uns gegenwärtig
das Charakteriſtiſche von Mendelsſohn's Kunſtthätigkeit. Die
Degradirung Mendelſohn's zu einer »falſchen Zwiſchenbildung«
in der Geſchichte der Muſik muß wohl die Anſicht in ſich ſchließen,
daß wir ohne dieſen Auswuchs viel weiter wären. Darauf iſt
zu erwidern, daß im Gegentheil in Mendelsſohn's Erſcheinen
gerade zu dieſer Zeit und in dieſem Zuſammenhange eine ber
weijeften Fügungen der Kunitgeichichte Liegt. Ohne feine Form:
Ihönheit, jein reines, klares Geftalten wäre, nad der ver:
führerifchen Emancipation der fpäteren Beethoven’ihen Muſe,
die Verwilderung, die wir gegenwärtig in der »Zukunftsmuſik«
erleben, viel früher und ungleich verderblicher eingebrochen.
Was an den jchlimmiten Verſuchen diejer Richtung noch ver:
nünftig und maßboll ericheint, iſt größtentheild dem Einfluß
Mendelfohn’s zu verdanken.
Ole Bull. 171
Ole Bull.
Es war vor 18 Jahren, daß Ole Bull zum erften Dal
in Wien und Prag concertirte. Nicht undeutlich erinnern wir
und des blaſſen, nordiihen Jünglings, der faum die Geige zur
Hand zu nehmen braudte, um die lebhafteiten Sympathien des
PBublicums zu erregen. Im Sturm famen fie ihm zugeflogen.
Man feierte in Dle Bull einen ind Norwegiiche überjegten
PBaganini, und was feine Töne nicht deutlich ſagten, das las
man theilnahmsvoll aus feinen ſchwärmeriſch leuchtenden Augen.
Die Lebensgeihichte des jungen Künſtlers war, mehr oder
minder ausgefhmiücdt, in aller Munde. Man mußte, wie er
frühzeitig von feinem ftrengen Vater zum Theologen beitimmt,
und zugleich, zu größerer Sicherheit, der Geige beraubt worden
war; wie er fpäter in Göttingen Jurisprudenz ftubirte, aber
immer wieder zur Muſik fich zurüdgetrieben fühlte. Spohr,
dem fi der Jüngling anvertraut, fand ſich von der ercentriichen
Weiſe desjelben fo fremdartig berührt, daß er ihn ohne Auf:
munterung entließ. Unſer junger Freund eilte nah Paris, der
hohen Schule des Ruhmes. Auch da war fein Anfang der un:
glüdlichite von der Welt; es wurde ihm Alles, jelbit feine
Violine, geftohlen. Obdachlos und dem Selbftmord nahe irrte
er mehrere Tage und Nächte in den Straßen von Paris. Eine
vornehme ältere Dame, die Witwe des Grafen Fade, deren
Entelin er fpäter geheiratet hat, entzog ihn dem Elend. Ein
Goncert, das der von jchwerer Krankheit faum geneſene Künftler
mit Hilfe einer geborgten Violine gab, hatte jo großen Erfolg,
daß der Anfang feiner Virtuoſen-Laufbahn gefichert und Ole
Bull in den Stand gejeßt war, für feine weitere Ausbildung
und Berühmtheit auf Reifen zu gehen. Seither hat fich die
Geſchichte nicht viel weniger romantisch fortgeſetzt: Dle Bull
hat Jahre Yang als Farmer in Amerika gelebt und taucht nun
plöglih, halb vergefien, wieder in Europa auf. Sei es aber,
daß wir im Leben praftifcher, oder in der Kunſt idealiftiicher
geworden find, — dad Ericheinen Dle Bulls übt wenig mehr
von dem alten Zauber.
172 1858.
Bon jeher hatte fich diefer Künftler einer ſehr einfeitigen
Virtuofität ergeben, und jene Vereinigung ſouveräner Bravour
mit bizarrem Ausdrud in ſich ausgebildet, die man vorzugs—
weiſe »paganiniiche nennen fünnte. Die Begeifterung für eine
folhe Richtung, welche Herz und Geiſt ſchmachten lafjend, nur
die Verwunderung des Zuhörerd in Anſpruch nimmt, ift im
Laufe der legten zwei Decennien eritaunlich gefunfen. Gefättigt
von all den Sprung: und Sletterfünften, die einmal vielleicht
ergögen, aber ſchon ein zweitesmal und gar nicht? mehr zu
jagen haben, ſucht man gegenwärtig mit Recht eine tiefere Be-
friedigung auch beim DBirtuofen. Die Häufung technifcher
Schwierigkeiten und deren noch jo glänzendes Befiegen vermag
nur ald Mittel zu geiltigerem Zwed, nur als Durchgangs—
punft zu einer weit höheren Wirkung nachhaltig zu erfreuen.
Bon einem Wirtuofen, der als Componiſt jelbit jehr unbe:
deutend daſteht, verlangen wir daher, daß er feine techniiche
Kraft im Dienst gediegener Mufit bewähre. Ole Bull jpielt
heute wie vor zwanzig Jahren nur eigene Compofitionen. Wir
müßten jehr irren, wenn es nicht fogar genau diejelben Stüde
iind. Sih an diejen form: und gedankenlojen Phantaſien zu
erbauen, wird man ader faum im Ernite jemand zumuthen
fönnen. Ehemals zwar ſuchte man eine gewiſſe künstliche Dunkelheit
in dieſen Sompofitionen für Erhabenheit und Tiefe auözugeben,
und bemunderte als »echt nordiihe, wad man als gut
mufikaliich zu bewundern doh Anftand nahm. Die Schwärmerei
für Ole Bull's Mufit geberdete fih manchmal wie ein Nach:
lang jener allgemeinen Verzückung für die hohle Erhabenheit
der »Oſſian'ſchen« Nebelpvefte. Wir vermochten für unfern Theil
in Dle Bull’ Compofitionen nie etwas anderes zu erkennen,
ala mit Schmerzen geborene, unreife Producte einer gährenden,
aber ganz hoffnungsloſen PBhantafie. Kaum, daß einzelne Takte
Spuren von Originalität zeigen, der Grundcharafter jeiner Com—
pofitionen bleibt immer: reminißcenzenreiche Unſelbſtſtändigkeit.
Gonfequent ift Ole Bull's Muſe nur in zwei Dingen: in
in der Inconjequenz des muſikaliſchen Baues und in dem lleber:
gewicht der Bravour. Wa& die erjtere betrifft, jo nennen wir
aus vielen Beiipielen nur die »Polacca guerriere«, Schon die
Ole Bull. 173
Form und der Name laffen auf ein einheitliches Stück von
durchaus kraftvoller Lebendigkeit Ichließen. In der That beginnt
dad Orchelter mit einer Polonaife, die in Ermanglung jeden
innern Feuers wenigſtens die Rhythmik mit Trommeln, Tri:
angeln und Beden markirt. Dieſe kriegeriſche Einleitung führt
geradenwegd zu einem kläglichen Pecitativ der Violine, an
welches fi ein langes Adagio und hierauf wieder ein jenti=
mentale® Andantino im */,:Taft reiht. Damit jchließt das
Stück, ohne den Einleitungsfag, der ja die ganze Gompofition
beherrichen, oder vielmehr in immer glänzenderer Steigerung
ausmachen follte, wieder breit aufzunehmen. Der Componift hat
im Verlaufe feiner bizarren Recitative und reichverzierten An—
dantes völlig vergefien, daß er eine »£riegeriihe PBolacca«
Schreiben wollte. Einen joldhen Mangel der nothwendigſten fünft-
leriihen Disciplin findet man vielleicht in der muſikaliſchen
Literatur nicht wieder. Ebenſo find Ole Bull’3 »Goncerte«
formlofe, halb in breitläufigen Adagios, halb im antiquirten
Bravourpaffagen fich ergebende Phantafien. In den Ueber—
reihthum der leßteren fegten wir die zweite Gonjequenz der
Bul’ihen Compoſitionsmethode. Man ift ficher, in jedem Werk
diefes Birtuofen denjelben Kunitjtüden zu begegnen. Es find
deren insbeſondere zwei, welche er mit auffallender Vorliebe
pflegt: die Flageolettöne und das mehrjtimmige Spiel. Beides
behandelt Ole Bull mit virtuofer Sicherheit und Reinheit; allein
indem er endlos lange und an fich bedeutungslofe Süße aus:
ſchließlich für Flageolet oder für mehrftinmiges Spiel fest,
ftumpft er den Hörer auch dafür ab. Noch glänzender find jeine
Staccatoläufe, die er gleich unübertrefflich im Aufftriche wie
im Abftriche hervorbringt. Andere Seiten der Ole Bull'ſchen
Bravour find, ehemals angeftaunt, gegenwärtig ſchon mehr Ge—
meingut geworden. Sein Ton tft von jchöner Weichheit, nur
im Adagio mitunter winfelnd. Den Gefammteindrud von Dle
Bull's Spiel kurz zu fummiren, jo wirken die Vorzüge des—
felben als rein technifche. Die ganze Richtung feines Spiels
ift eine abgeblühte, und es bedarf vollauf der Tiebenswürdigen
Perſönlichkeit Ole Bull's, fie wenigſtens ftellenweije wieder zu
Iheinbarem Leben zu erweden.
174 1858.
Die Hchweltern Ferni.
Die beiden geigenden »Wunderjchweitern« aus dem Süden
find endlich auch bei uns eingezogen. Man weiß aus den
Zeitungen, wie halb Italien für Birginia und Carolina Ferni
Ihwärmt; zu dem Ruhme ihrer Kunft gefellt fich der ihrer
Schönheit und erhielt durch hochromantiſche Abentener in jüngfter
Zeit ein rothes Siegel der Beglaubigung. Durch muſikaliſchen
und anekdotifchen Zeitungslärm angeloct, hatte fich ein großes
PBublicum im Theater an der Wien eingefunden, wo die
Schweſtern Ferni ihr erftes Concert gaben. Erft jeit den Mila
nollo’3 hat man fich neuerdings in Deutfchland daran gewöhnt,
die Bioline in Frauenhänden zu jehen, und doch fönnte man
dies Inftrument, übereinftimmend mit der deutfchen Benennung
desjelben, ein echt mweibliches heißen. Der Maler wird una gern
beiltimmen, in dankbarer Erinnerung an die vielen allerliebiten
Geigenſpielerinnen auf alten Bildern, und ebenſo gern wird der
Mufiter dem geiftreichen Berlioz Necht geben, wenn bdiefer in
der Geige »die eigentliche Frauenftimme des Orchefterd« feiert.
Das MWunderfindliche der beiden Milanollo’3 jehen wir num
beit den Schweitern Ferni zur Reife fchöner Sungfräulichkeit
entwidelt. MWenn fie beide Hand in Hand mit ihrem faft
ftatunarifch ruhigen Anftand vortreten — fchlanfe, blühende Ge-
ftalten mit jchön geformten Köpfen, tiefdunflem Blick und
haraktervollen Zügen, — fo geiteht man, das Bild.habe etwas
Beftechendes. Sobald die Geigen erklingen, hört man, daß es
der Beitehung nicht bedurfte. Beide Schweitern haben eine
Sicherheit und Pielfeitigkeit der Technik, die nur der glüdliche
Erwerb einer von Kindheit auf jpielend fortgefeßten Uebung
und einer durchaus muſikaliſchen Erziehung ſein kann. Was uns
an ihrem Spiel vor allem erfreute, ift der entjchiedene, Fräftige
Ausdrud; da hat man feinen unficheren Einfag, feine ſchwankende
Gantilene, feine verwiſchte Paſſage zu fürchten. Von einem
mächtigen, tiefen Eindrud fönnen wir nicht berichten, es war
auch das aus den flachſten Salon-Compofitionen gebildete
Programm nicht darnach! allein der Vortrag zeugte von einem
Die Schweftern Ferni. 175
männlicheren Geiſt, der jede affectirte Zimperei und Weber:
ichmwenglichkeit verfchmäht. Von jenen ſchwer zu definirenden
Heinen muſikaliſchen Schwachheiten, auf welche wir bei den
Schweftern Ferni auß dem doppelten Grunde ihres Geſchlechts
und ihrer Nationalität gefaßt waren, haben wir nur ehr
wenige (z. B. in dem nachdrüdlihen Zerpflüden der Mes
lodienſchüſſe) gefunden. Der Ton war immer fräftig und
rein, der Paſſagenſchmuck zierlih, die Reinheit des Octaven—
ſpiels und der Flageoletftellen überrafhend. Auf die Frage,
welche von den zwei Schweitern die borzüglichfte jei, müßte
man eigentlich antworten: Beide zufammen, denn ihr Zufanmen:
ipiel ift die Krome ihrer Productionen. Diefe Gleichheit des
Spiels bis in die verborgenften Falten desjelben — natürlich
nur durch ein jahrelanges Zufammenspiel, oder richtiger muſi—
kaliſches Zufammenleben erreihbar — verleiht jelbit un:
bedentenden Gompofitionen, wie dem Duo von Alard, unter
den Händen der Ferni umnleugbaren Reiz. Nach einmaligem
Hören fchien es und, al3 wenn innerhalb der großen Yamilien-
Aehnlichkeit ihres Spieled Virginia mehr die jchmeichelnde
Zärtlichkeit, Carolina hingegen die einfchneidende Kraft reprä-
jentirte. So glänzte in dem »Garneval von Venedig« (dieſes
enfant terrible der Violin-Virtuoſität wurde uns nicht ge
Ihenft) Virginia durh die ſüße MWeichheit im Vortrag der
Einleitung, während Carolina fich vorzüglidh in halsbrecheri—
Then Regionen wohlzubefinden jchien. So virtuos e3 bewältigt
wurde, jo fehlte diefem Stüde doch die Keckheit eines gleichſam
impropifirenden Humor; die mandhmal gar zu unfläthigen
Scherze dieſes »Garnevald« gefallen und am wenigiten aus
Ihönem Franenmund. —
Die lange Reihe von fechzehn (!) Concerten, welche die
Ferni im Theater an der Wien gaben, vermochte nichts
Mefentliches zu dem Eindruck hinzuzufügen, den man aus dem
erften mit nach Haufe nahm. Ein fortgefeßtes Intereffe an den
Ferni’fhen Productionen hatte bei der Mermlichkeit ihres Pro—
gramm’3 nur der Violinfpieler und das große Bublicum; jener
aus rein technifhem Gefichtspunft, dieſes aus begreiflichem
Behagen an leichter und ſüßer Koft. Der eigentliche Mufiker,
176 | 1858,
der Freund gediegener Tondichtung, ging dazwiſchen ziemlich
leer au. Das Ferni'ſche Repertoire bewegt fi) (wenn hier
noch von Bewegung die Rede fein kann) auf einem gar zu
einen und Eleinlichen Terrain der PVirtuofität. Mit Diefen
abgeitandenen »Airs« von Beriot und Variationen von Alard,
mit diefen >Nachtwandlerinnen« und »Regimentstöchtern«,
endlih mit dem »Carneval«, diefer mufifalifhen Pandora—
büchje, aus melcher, fobald man nur acht Takte herausläßt,
alles erdenkliche Unheil auffteigt, hätten die gefeierten Schweitern
vor dem ftrengen Bublicum des Muſikvereins-Saales kaum
jo oft ihre fiegreihen Bogen geſchwungen. Das darf und aber
nicht ungerecht machen. Der ganz ungewöhnliche und verhält:
nigmäßig leicht errungene Erfolg der Ferni, zufammengehalten
mit dem bon der Kritik allzu oft hervorgehobenen Reiz ihrer
Perfönlichkeit, mag vielleiht manchen muſikaliſchen Cato von
Eifen auf die Idee gebracht haben, es handle ſich Hier nur um
zwei hübſche Mädchen, die nicht allzuviel können. Weit gefehlt.
Die Schweitern Ferni können manden berühmten Violinfpieler
verdunfeln, ganz abgejehen von dem Sinn, in welchem dies
ohnemweiter8 einleuchtet. Sie theilen mit ihren Land3leuten
Sivori, Bazzini u. A. die einfeitige Anfhauung von der Miffion
der Birtuofität, allein an der Thatſache diefer Virtuofität läßt
fih nicht mäfeln. Der Umfang ihrer Bravour iſt keineswegs
ein außerordentliher (mehritimmiges Spiel zum Beifpiel und
mande Gombinationen der modernen Technik hörten wir fait
gar nicht), es find mehr die Violinfünfte der Tettverfloffenen
Beriode, die fie vollfommen beherrichen. Wir hörten aber nichts
bon den Ferni's, was fie nicht vollendet geipielt hätten. Wo
e3 fich blos um Bravour handelt, ftrömt fie uns mwenigftens
in dem reinen Duft mühelojer Anmuth entgegen. So fehen
wir in der Spielweiſe der ſchönen Schweftern den Adel ihrer
Erjeheinung und Haltung ſich tönend abipiegeln.
Biatti.
Alfred Piatti iſt ein noch junger Mann; um ſo ſtaunens—
werther erſcheint die faſt abſolute Gewalt, die er über ſein
Piatti. 177
Snftrument, das Bioloncell, erlangt hat. Sein Ton iſt von
feltener Schönheit, wei, rund und blühend Wielleicht zum
eritenmal vermißten wir an einem Gelliiten jenen jchnurrenden,
brummenden Beillang der tieferen Chorden, von dem jelbit
dad Spiel der größten Virtuofen jelten ganz frei war. Freilich
vermeidet Biatti, fein Inftrument allzuftark anzugreifen; fein
Spiel ließe hin und wieder fräftigere Farben, tiefere Schatten
zu. Dafür ftreift er nirgends die Grenzen des Uebelklingen—
den, ſondern entzüdt immer dur den Zauber des reiniten
MWohllauted. Sein Spiel, dad in diefer unvergleichlichen
Schönheit des Tones ein jo beneidenswerthed Material befigt,
iſt ebenſo entwidelt nad) der Richtung der PVirtuofität, als
gediegen in PBortrag und Auffaffung Wir wollen nicht
einzeln al die Kunſtſtücke aufzählen, die bei allen Cello:
Virtuoſen, alfo auch bei Piatti, die äußerlichen Spigen ihrer
Virtuofität bilden; nicht einmal, daß er fie mit Bollendung
durchführt, braucht eigend verfichert zu werden. Die leichte
Sicherheit Hingegen, mit welcher Piatti die höchſte Bravour
beherrſcht, ohne ihr eine läſtige Wichtigkeit zu verleihen, muß
als ein eigenthümliher Vorzug hervorgehoben werden. Die
pirtuofe Kunſt fteht Piatti nirgends im Wege, wo e3 gilt,
eine Bantilene einfach vorzutragen. Innig und tief empfunden,
hatte 3. 8. fein Vortrag der Schubert’jhen »Litanei« doch
niht8 von jener anmwidernden Süßlichkeit, welche gerade
auf dem Bioloncell jo allgemein vertreten wird. Führt auch
Piatti feinen Bogen fo fein und leicht, wie ein Violinſpieler,
fo verihmäht er es doch, und um den eigentlichen Charakter
ſeines Inftrumentes zu betrügen, welches bei aller Innigkeit
ernjt und männlich bleiben fol. Ebenfofehr Hat uns erquidt,
im Adagio nicht jenem fortwährenden Vibriren zu begegnen,
das bei zahllofen Celliften mit »Gefühl« identisch tft.
Bei diefer echt künftlerifchen Richtung Piatti's der mit
der finnlihen Friſche feiner Landsleute den tieferen Ernft der
Deutfchen verbindet, fühlt man mit Bedauern, wie gerade jein
Snftrument mit claffiihen Solo-Compofitionen fpärlic bedacht
jei. Die Eoncertftüde von Romberg, Bohrer, Kummer u. a.
find veraltet, die Bioloncell-Sonaten von Beethoven und Mendels—
Hanslid. Aus dem Goncertiaale. 2. Aufl. 12
178 1859.
fohn müßten fi) verzehnfahen, um ein Nepertoire zu bilden.
Piatti componirt auch felbft, er muß es geradezu, will er
ergänzen, was jene Meifter ihm fchuldig geblieben find: feiner
hochgefteigerten Virtuofität nicht blos entiprechende Entfaltung,
fondern die höchſten Aufgaben zu ftelen. Nad dem Wenigen,
was wir von Piatti gehört, fünnen wir ihm fein intenfives
Compofitiond-Talent zufprechen, wohl aber Gejchidlichkeit in
der Behandlung der gebräuchlichen kleineren Formen und eine
durchweg anftändige, ja geſchmackvolle Haltung.
$Jeopold v. Meyer.
Einen merfwürdigeren Gegenjag zu dem düſter brütenden
Aubinftein, der, dad Publicum feines Blickes würdigend,
mit leidenfchaftlihder Wuth in den Taften wühlt, kann es kaum
geben, als Herrn Leopold dv. Meyer. »Heiter ift die Kunſt«
lautet fein Wahlſpruch, und der Wahlſpruch ift gut und jehr
einträglih. Herr v. Meyer, liebenswürdiges enfant gäte der
Gejellihaft, befindet fih im Concertſaal natürlih auch nicht
anders wie unter guten Bekannten, welche ihn bitten, fie um
jeden Preis zu unterhalten. Das thut denn Herr vd. Meyer
redlih. Bei feinen Walzern und Polka's zucken die zierlichiten
Füßchen im Gercle, bärtige Lippen fpigen ſich unwillfürlich
zum Mitſummen der Melodie, die Stühle rücden immer hör—
barer aus ihrer Ruhe, — und wenn die famofen Walzer nicht
endlic) zu Ende gingen, e8 wäre für nichts einzuftehen. Herr
v. Meyer fennt auch feine Ioreleyernde Zauberfraft, er lächelt
und lacht und nicdt während des Spield freundlich nad Links
und rechts, und wenn er gar mit den geballten Fäuſten
beider Hände einige befonders mißliebige Noten zerjchmettert
hat, dann leuchtet die unverhohlenſte Befriedigung über den
gelungenen Spaß auf feinem rofigen Antlitz. Manchmal fam
der Gefeierte ung vor, wie ein mufifalifher Baron Sternberg,
der am Glavier »braune Märchen« erzählt. Weber Meyer’s
Spiel zu fprechen, nachdem es ihm ſoviel Ruhm und Geld
eingetragen, ilt unnütz; man weiß, das andere Geichleht und
Leopold dv. Meyer. — Clara Schumann. 179
die andere Hemifphäre haben ihn zu ihrem Liebling erkoren.
Bei Meyer’3 eminenter Technik, insbejondere feinem ſammt—
weichen Anſchlag und der perlengleihen Coloratur, hat man
hie und da bedauert, daß er nicht ernftere Muſik fpielt. Wie
furzfichtig! Jedermann muß feine Specialität pflegen, und
Meyer's Spectalität find die Tanzrhythmen. Kein Menſch über:
trifft ihn darin, während der Beethovenfpieler gar viele find.
Und wie mit feinem Innerſten verwachlen iſt diefe elaltiich
wiegende Rhythmik! ch glaube, wenn Herr v. Meyer über
Themen aud Don Juan phantafirte, die Kirchhof-Scene würde
unter feinen Fingern zur niedlichften Polka. Leider iſt die
muſikaliſche Richtung unferer Zeit fo grämlich idealiftifch ge—
worden, daß fie Erfcheinungen unterfhäßt, denen »des Ge—
danken? Bläffe« nicht angekränkelt iſt. Gejunde, unverdborbene
Nationen erfreuen fich hierin ſchon eines richtigeren Gefühls,
und deshalb ift Herr v. Meyer in der Moldau, der Waladei
und überall, »wo die Bildung im Beginn«, am beiten ver:
ſtanden und gewürdigt worden.
Klara Schumann.
Wir Haben in früheren Jahren wiederholt über Clara
Schumann berichtet, und als den eigentlich goldenen Boden
ihres Spield die Pietät erfannt, welche nicht3 mehr umd
nicht8 anderes geben will, als was der Gomponijt vor—
ſchrieb. In diefer Eigenfhaft ift Fran Schumann unüber-
trefflich; die wahrhafte »Tonfünftlerin« gegenüber den »Bir-
tuofinnene, die überall das Herporfehren ihrer Subjectivität
und die Geltung ihrer Bravour im Auge behalten. Dieje helle,
gegen jedwede faljhe Sentimentalität gepanzerte Verftändigfeit
war von jeher ein hervorjtechender Charakterzug der Schumann.
Nun wir die treffliche Künftlerin nach einer neuerlichen Pauſe
von mehreren Jahren wieder hören, finden wir in ihr diejelben
Tugenden. Allein auch Tugenden fönnen in ihrer Strenge
übertrieben und zur Einfeitigfeit gefteigert werden. Mag Frau
Schumann in ihrem erften Concert vielleicht nicht ganz dis—
12*
180 1858.
ponirt gewejen fein, genug, es erſchien und jener morgenfrifche
Hauch der Verftändigfeit mandmal gar zu froftig, die Schärfe
der melodifhen und rhythmiſchen Contouren gar zu ſchneidig.
So haben wir Schumann's As-Dur-Canon einſt viel inniger
von Clara gehört, während diesmal von dem Dufte dieſes be—
zaubernden kleinen Gedichts viel verloren ging. Für derlei innige
Cantilenen geht ſelbſt der Anſchlag Frau Schumann's nicht
tief genug. Ferner fanden wir ihre Neigung zur Beſchleunigung
der Tempi ſehr vorgeſchritten. Ihr ſtets deutlicher und markirter
Vortrag vermag es wohl noch, bei ſehr ſchnellem Tempo
deutlich zu bleiben, allein die Grenze, welche in der Auf⸗
nahmsfähigkeit muſikaliſch gebildeter Hörer doch jedenfalls vor—
liegt, ſchien uns manchmal überſchritten. Mit jeder Note von
Schumann's »Novelletten« vertraut, vermochten wir dennoch
kaum, dieſem ſturmwindähnlichen Vortrag der zweiten Novellette
(D-dur aus dem erſten Heft) zu folgen. Sollen aber ſolche
ſchwerer faßlihe Compofitionen obendrein als Fremdlinge erit
eingeführt werden, jo erweilt man ihnen durch allzugroße Haft
einen Schlechten Gefallen. Der Hörer fühlt ſich durch die An—
ftrengung, nachzufolgen, ermüdet, und behält vielleicht ein Vor-
urtheil gegen die Compofition.
Für die Wahl der Es-dur-Sonate (op. 27), von Beet:
hoven, find wir der Künftlerin herzlich dankbar. Diefe ſeltſame
Blume von echt Beethoven’ihem Duft verblüht faſt ungekannt
im Schatten ihrer berühmten Schwefter, der Cis-moll-Sonate,
Iſt diefe einheitlicher und verftändliher im Bau, tiefer und
eingreifender in der Stimmung, fo birgt jene in ihrer genialeren
Unordnung die reizendften Detaild. Zwiſchen anderen bereits
gehörten Stüden war wohl da3 intereffantefte Shumann’s
»Sreißleriana.« So nannte der Componiſt befanntlid eine
Reihe von Phantafieftücen für das Clavier, bei welchem ihm
die novelliftifche Figur des Kapellmeiſters »Johannes Kreisler«,
aus E. Th. Hoffmann, vorfhmwebte Wie hätte er auch ben
Süngling Schumann nicht bezaubern jollen, diefer in Jean—
Paul'ſcher Ueberichwenglichkeit einherträumende, ganz in Liebe
und Muſik aufgehende Kohannes, der, ftet3 in andere Welten
hinüberfinnend, vergaß, daß er nebenbei noch mit: diefer irdiichen
Clara Schumann. 181
zu ſchaffen habe? Wie gutmüthig empfindfam blidt er ung vom
Titelblatt des Schumann’shen Heftes an, wo er am Clapier
phantafirend zu Schauen ift, rechts von einem Holden Fräulein
mit Engelöflügeln gehätichelt, links von einem unartigen und
ſehr häßlihen Dämon gefrallt! Dies »freudvoll und leidvoll«
durchzieht auch die Schumann’ihen Phantafieftüde, in welchen
tiefe Innerlichkeit mit erregtefter PWhantafie wunderbar ver:
ſchmilzt. Außer der Hauptüberfchrift »Kreisleriana« führen die
einzelnen Stüde feine Titel und find von jeder degcriptiven
Sinderei entfernt. Frau Schumann fpielte, mit Ausnahme
von Nr. 3 und 6, das ganze Heft, und zwar mit einem
Erfolg, der wohl alle ferneren Beforgnifje über die »Un—
möglichfeit« folcher Vorträge im Concert zerftreuen muß. Die
athemlofe Aufmerkjamfeit, mit welcher das Publicum den fremd:
artigen und doch fo unwiderſtehlich feffelnden Klängen laufchte,
löfte fih nad der ſüßen Innigfeit des zweiten umd Dem
phantaftiihen Schwung des legten Stückes in lauteſten Beifall.
Noch vertranter fühlte fich die VBerfammlung von dem » Andante
mit Variationen für zwei Pianoforte«, einem der freundlichiten
und faltenlojeften Stüde Schumann’, angeſprochen. Der zweite
Part wurde jehr hübſch von Fräulein Julie v. Aften gefpielt.
Die mohlthätige Wirkung, welche eine fo durdhaus edle und
unbejtehlih fünftleriihe Perfönlichfeit wie Clara Schumann
durh einen längeren Verkehr anf Zuhörer und Kunſtjünger
hervorbringt, hat fih auch in dem heurigen Cyklus bewährt.
Wenn uns die treffliche Kinftlerin in früheren Jahren vielleicht
noch mehr entzücdte, ald diesmal, fo wird ohne Zmeifel ein
Theil der Schuld an ums felbft Tiegen. Den anderen Theil
dürfen wir aber wohl mit der nervöfen Haft in Verbindung
bringen, nit welcher gegenwärtig Frau Schumann die Tempi
weit mehr al früher zu befchleunigen pflegt. Da der Einfluß
eines folchen Beifpiel3 auf junge Talente ſehr groß ift, wollen
wir auch aus dem letzten Goncerte ein Beiſpiel anführen, Wer
von den Zuhörern wäre im Stande geweſen, dem erften Stüde
der »Sreiöleriana« in diefem Tempo zu folgen? Schumann
ſchreibt »forte« vor und bezeichnet überdies den Anfang jeder
ZTriole mit einem Accent; ein Preito, wie das der Frau
182 1858.
Schumann, läßt aber nicht daß geringite Verweilen auf der
Tafte zu, und würde ſelbſt einem Dreyihod oder Rubinſtein
das Forte und die Accente unmöglih machen. Auch eine zweite
Bemerkung nehmen wir nicht Anftand zu wiederholen: daß um:
beichadet der fünftleriichen Glätte und Durchſichtigkeit eine
größere Wärme und Bejeelung mancher Tondichtungen uns
möglich jcheint, als Clara Schumann ihnen gegenwärtig verleiht.
In dem eriten »Gefellichaftsconcert« entzüdte und Frau
Schumann durh den Vortrag des A-moll-Eoncert® von Rob.
Schumann. Dieſes Concert, auf dem Programm als »neu«
verzeichnet, iſt gleichwohl dasſelbe, das mir bereit vor eilf
Jahren in Wien gehört; Schumann dirigirte e8 damals, Clara
ipielte daS Clavier. Die Thatſache, daß es jeither niemand
gejpielt hat, kann höchſtens in der großen Schwierigkeit des—
jelben Erklärung finden, oder in der noch größeren Indolenz
unferer Pianiften. Das A-moll-Goncert gehört zu den reifiten,
audgearbeitetiten Gompofitionen Schumann’3, und man braucht
es nicht auß der Opuszahl (54) zu entnehmen, daß es des
Meiſters fruchtbarfter und glüdlichiter Periode entftammt. Das
Thema des eriten Saßes, das nad einigen fcharf diffonirenden
Uccorden des Claviers vom Orchefter gebracht wird, erinnert
in feiner edlen, aber etwas weidhlichen Haltung an Men:
delsjohn; allein gleich die folgende Sechzehntelfigur mit den
abjteigenden Bäſſen iſt eht Schumannifch, wie alle Weitere.
Nach einem längeren Tutti in C fällt (noch vor der fogenannten
Durhführung) dad Clavier mit einem wunderzarten Andantino
in As von nur 30 Taften ein, dad wie ein fleiner, jpiegelheller
See zwiichen dunklen Felſen und Bäumen fich außbreitet. Die
Solo-Cadenz ift bei Schumann (unmittelbar vor dem Schluß
des erſten Sages) vollftändig ausgejchrieben. Die veraltete,
nicht mehr zu vechtfertigende Gewohnheit, daß der Gomponift
dem Spieler carta bianca fir eine beliebige Gadenz gab, melde
oft dem Styl und der Deconomie des ganzen Stüdes grell
widerſprach, konnte bei Schumann unmöglich) Gnade finden. Er
componirte ſelbſt die Gadenz, die von bejcheidenfter Dimenfion,
weit weniger eine Anhäufung von Bravour-Paſſagen, als viel-
mehr ein geiftreihes Stück freier Phantaſie ift. Ein kurzes
Kammermufit. Chopin. 183
»Allegro molto« jchließt den eriten Sat, der jomit in feiner
Folge von mäßig raſcher, langſamer und fchnellfter Bewegung
felbft das verkleinerte Abbild eines ganzen Concertes ilt.
Der zweite Saß, ein Andantino grazioso in F-dur läßt
auf eine kurze, zwifchen Glavier und Orcheiter fich nediich ab—
löjende Figur einen breiten Geſang der PVioloncelle folgen,
deſſen bezaubernde Innigkeit auf feinen anderen Componiften
der Welt, ald gerade auf Schumann, würde rathen lafjen. Das
Andantino leitet unmittelbar in das Finale, das — Allegro
vivace °/, — mit einem freudig herausfordernden Hornthema
ftolz anhebt. Vol regen Lebens, glänzend, Eraftvoll, über und
über geſchmückt mit neuen reizenden Paffagen, in einem Guß
fortfließend bis zum Ende, ift diefer Finaljag ein Mufter echt
concertmäßiger Compojition.
Kammermuſik.
Chopin: Violoncellſonate. Beethoven: Fuge Schumann: Violin—
ſonate in D-moll. Alex. Winterberger und die ſpäteren Clavier—
werke von Beethoven.
Chopin's Sonate für Violoncell und Clavier (zum
erſtenmal) vermochte den Erwartungen der Freunde dieſes Ton—
dichters nicht zu entſprechen. Nicht blos zeigt ſich darin ein
auffallendes Ungeſchick, in größeren Formen zu denken, und
wahrhaft polyphon zu ſchreiben, auch an der rein melodiöſen
Erfindung erfcheint hier Chopin wie gelähmt durch den bloßen
Gedanken, eine Sonate fchreiben zu follen. Diefer jo Hoch
und eigenthümlich begabte Componift hat es nie vermocht, die
duftigen Blüthen, die er mit vollen Händen ausftreute, zu einem
ſchönen Kranz zu vereinigen. Sein großed Talent bewährte fich
nur in einen lyriſchen Stüden; Henſelt und Stephen Heller
find hierin ähnlich organifirtt. Schumann fteht dadurch jo viel
höher in der Kunftgefchichte, daß er aus gleichen lyriſchen An—
fängen fi zur freien fünftleriichen Geftaltung, zur Beherrſchung
der Form emporrang.
184 1858.
In gewiſſem Sinne epohemahend war die legte Duartett-
Soirée durch die Vorführung der hier noch nie gehörten »Fugue
tantöt libre tantöt recherchee« (op. 133), von Beethoven.
Urfprünglich follte diejer fugirte Sat da3 Finale des B-Quartetts
(op. 130) bilden; auf die Vorftellungen Artaria’3 entſchloß fich
Beethoven, ihn abgefondert herauszugeben. Es ijt kaum möglich,
dies Werk, das felbft für Lenz, den verzückteſten aller Beethoven-
Adepten, ein »Labyrinth« ift, anders als im engiten Zufammen-
hang mit der ganzen legten Periode des Meiſters zu würdigen.
Gewiß, daß die Fuge an eigenfinniger Kraft und Genialität
einen Höhenpunft der letzten Entwidlungsphajfe Beethonen’3
bezeichnet, jomit al® ein merfwürdige® Document feiner ge—
twaltigen, aber bereit3 ſeltſam krankenden PBhantafie erfcheint.
Den Mufifer feifelnd durch die Kunft, mit der daß energiiche
Fugenthema alle nur erdenfliche Geitaltung und Verwendung
erfährt, iſt es zugleich erleuchtet durch einzelne plötzlich auf:
zudende und wieder verlöjchende Blige von jener gar nicht zu
verwechjelnden Intenfität und Färbung, welde man in der
Muſik einfach »beethovenifch« nennt. Für den unvorbereiteten
und unbefangenen Hörer wird fi) das Anziehende dieſes Werkes
auf den langjamen Zwiſchenſatz im Ces-dur reduciren, deſſen
edler Gefang einen twohlthuenden Ruhepunkt nah dem auf:
reibenden Eindrud der Fuge bietet. Jeder, der ein gutes Gehör
oder einige Kenntniß der Harmonielehre hat, muß geftehen
daß in der erften Hälfte der »Fuge« die Stimmen mit einer
Unabhängigkeit gegen einander geführt find, welche den Grund-
gelegen der Harmonie oder, wenn man will, des » Erträglidj-
klingens« oft ſehr empfindlih Hohn ſpricht. Wir Halten jene
Zuhörer, welche Sonntag behaupten, die Spieler geigten falſch,
während fie doc richtig und ganz ausgezeichnet geigten, jeden-
fall für ehrlicher, als die weit zahlreicheren, die auf ben
Namen Beethoven Hin in ungemeſſenes Gntzüden geriethen.
Wir wiffen freilich, wie flug und rathſam letzteres ift, namentlich
feit auh Marr in feinem phrafenreihen Buch über Beethoven
jeder Kritik Adieu fagt, und alle jene als »geiſtſcheue Genüß—
linge« brandmarft, die glauben fünnen, Beethoven habe irgend
etwad »blindlings oder jpielig«e gethan. Nah der neuen
Biolinfonate von Schumann. 185
Marriden Anſchauung müßten gerade die jchlechtklingenden
Stellen der B-Fuge das Höchſte der Tonkunft fein, denn
Beethoven’3 Größe liegt ihm in der »völligen (!) Ungebunden=
heit, in der er jeine Stimmen mit und gegeneinander führt,
ganz unbefümmert um augenblidlihen Anftoß und Rei—
bung einer gegen die andere, denn ed muß Mergerniß
geben«. Wir wollen dem Profeſſor Mare unfer Schärflein
an dem von ihm gemwünfchten Aergerniß durchaus nicht vor:
enthalten. |
Die intereffantefte Nummer des eben Hellmesberger:
jhen Quartett-Abends war Schumann's Sonate für Piano
und Bioline in D-moll op. 121. So warm wir uns des
Schumann'ſchen Claviertrios in F gegenüber dem lauen Er—
folg in einer der diesjährigen Quartett-Soiréen annahmen, fo
wenig vermögen wir in den unbedingten Beifall einzuftimmen,
welchen die D-moll-Sonate dieſes Componiften erntete. Gie
befigt wohl Vorzüge, welche bejtechen können: ein gewiſſes
leidenſchaftliches Fortdrängen der beiden äußern Sätze, leicht
faßlihe und dabei pifante Themen der mittleren; eine dank—
bare und brillante Technik, welche namentlich der für F. David
geihriebenen Violinſtimme das glänzendfte Auftreten fichert.
Der Mufifer wird außerdem den einheitlichen Charakter des
Ganzen, jowie zahlreiche geiftvolle Einzelzüge zu rühmen haben.
Was wir jedoh an der Sonate jchiwer vermiffen, ift Die
Innigfeit, mit der Schumann fih ſonſt in feine Töne hin—
einlebt, — die felige Tiefe, aus der feine Muſik hervorquillt.
Es fehlt dem Werk das warme, innere Leben; eine äußere,
fieberifche Leidenfchaftlichkeit ſoll es erjegen. So herrſcht gleich
in dem eriten, in breitejten Verhältniffen angelegten Saß eine
Saharaluft drüdender Monotonie. Das erfte Motiv, von dem
das zweite fi) gar wenig abhebt, wird durch den ganzen
Sat unabläffig feitgehalten und bearbeitet; aus dem düftern
D-moll fommt man gar nicht and Tageslicht heraus. Ebenſo—
wenig vermag das Echerzo mit feinem Kleinen, geziwängten
Thema und einförmigen Rhythmus fi” auß dem H-moll zu
befreien. Mehr Anmuth und Licht bringt das ftändchenartige
Andantino (G-dur, ?/, Takt), deifen Biolin-Effecte (piziccirte
186 1858.
Accorde, Gantilenen auf der G-Saite u. dgl.) überdies gute
Wirkung maden; die alte Herzlichkeit Schumann’3 fehlt dennoch.
Das Finale treibt die leidenſchaftliche Bewegtheit beinahe zum
Duslow’ihen oder Lindpaintner’ihen Theaterfturm und bält
deffen ab- und niederwogende Sechzehntelfigur krampfhaft feit.
Solde Durchführung ift nicht mehr urwüchfig auß dem Haupt-
gedanken quellendes Leben, jondern das äußerlihe Fortjegen
eines freudlos begonnenen Anfangs. Wer mit Schumann’z
früheren Werfen genau und liebevoll vertraut ift, der fühlt in
der D-moll-Sonate Schon die allmälige Vertrodnung der Phan—
tafie; er erkennt den fahlen Todeszug in dem gemwalt-
fam aufgeregten Antlit. Das innere wunderbare Blühen,
früher bei Schumann jo ganz einzig, bat bier aufgehört;
anftatt frei audtönenden Gejanges herrſcht das eigenfinnige
Beripinnen in Eine Figur, melde, einmal Hingeftellt,
nah Etudenart unerbittlich fortgeführt wird. Wehnliches im
»blos äußerlihen Fortiegen« finden wir in manchen Sammer:
mujifen von Mendelsfohn und es mag bei diefem Anlaß bie
Bemerkung stehen, daß Schumann, wo ihn die innere Kraft
verläßt, faft immer in Mendelsſohn'ſche Phraſen verfällt.
Der Uebergang, welden Schumann’3 zweite Veriode zur dritten
nahm, ift jehr verſchieden von der analogen Wandlung bei
Beethoven. Es ift bei Schumann nicht die alte Kraft, die,
blos ihr eigenes Maß und die Grenzen der Kunſt über-
Thießend, fi in düſteres Didicht verirrt, — fondern eine auf:
fallende Abſpannung aller Geiftesfräfte, ein Nachlaffen der
früheren Energie und Gedankenfülle. Als faft alleinige große
Ausnahme hebt fi die geniale »Manfred-Mufif« auß diejer
legten Serie Schumann’iher Compofitionen heraus. Auch die
D-moll-Sonate, jo reich fie an einzelnen geiltvollen, namentlich
barmonifhen Zügen ift, fteht Schon tief unter den früheren
Trios, Quartetten und Sonaten Schumann’3 und nur ein jehr
leihtgläubiges Ohr kann durch das künſtliche euer ihres
Finale u. dgl. über den Mangel wahrhafter muſikaliſcher Kraft
getäufcht werden.
Die Soiréen des Herrn Winterberger verfolgen den
trefflihen Zweck, wenig befannte Glavier-Compofitionen mit
Kammermusik. Beethoven. 187
und ohne Begleitung vorzuführen. Die Auswahl befchränkt fich
auf das Beite auß der nachbeethoven’schen Zeit (mit felbit-
verftändlicher Hervorhebung Shumann’s) und auf die jpäteren
GCompofitionen Beethoven's jelbit. In beiden Richtungen ver:
dient dad MWinterberger’ihe Unternehmen die dankbarſte Aner-
fennung. Was namentlid) Beethoven’3 dritte Periode betrifft,
jo enthält fie Schäße, die bißher aus der Studirftube des
Kenner noch faum vor's Publicum, geſchweige den in Leben
der Nation gedrungen find. Die Werke aus Beethoven’ lekten
Lebensjahren find von Enthuſiaſten ebenfo hoch über alle andere
Mufif erhoben worden, als gegneriihe Stimmen fie tief unter
die früheren Arbeiten des Meiſters herabdrüdten. Für die
allgemeinere mufifaliiche Bildung ift die eine wie die andere
Meinung vorläufig noch unerheblih; worauf es ankommt, ift,
daß das Publicum fi mit diefen Werfen erjt befannt und
vertraut made. Es wäre gut, wenn durch einige Jahre lieber
gar nicht? über Beethoven's fpätere Werke gejchrieben würde,
dafür aber dieje ſelbſt unabläffig zur Aufführung kämen, So
ſchwankend das Urtheil über diefe Tondichtungen, fo feit ſteht
die Thatfahe ihrer auffallend geringen Verbreitung. Es ift
ſeltſam, daß das colofjalfte Werk diefer Periode, die neunte
Symphonie, weit befannter it, als die gleichzeitigen Clavier—
jonaten; ja gewijlermaßen Mode geworden, wird fie bon
Manchem für fein Leib: und Lieblingsſtückchen erklärt, der
um die übrigen Werke des jpäteren Beethoven niemals? gefragt hat.
Die beiden hemmenden Schwierigkeiten: der Ausführung und
des Berftändniffes, müfjen fih von Jahr zu Jahr verringern,
und wie weit fie fih jchon zurücgezogen haben, hat die Auf:
führung des F-dur-Quartett$ (op. 135) bei Hellmesberger und
Vortrag der As-dur-Sonate (op. 110) bei Winterberger auf
das Erfreulichite bewieſen. E3 gilt nunmehr, in diefer Rich»
tung ohne Beirrung fortzufahren, und vor allem für die Kennt—
niß zu forgen, ehe man über die Erfenntniß ftreitet.
Selbft diejenigen, welche fich nie dazu verftehen werden, den
rhapfodiihen Tiefſinn der dritten Beethoven’schen Periode über
die reine Kunſtvollendung der mittleren zu jegen, fünnen dem
beitridenden Einfluß ſich nicht entziehen, womit jene den ver—
188 1858.
trauteren Hörer immer enger an fich drüdt. Sie werden zweierlei
ohne meiter® einräumen müffen: fürs erite, daß Beethoven
auch in feiner legten Schaffenzzeit (mit jehr geringer Aus—
nahme) nur Bedeutendes ſchuf; fodann, daß dieſe letzte
Entwidlungsphafe des Meilter® zu dem Gejammtcharafter
feiner früheren Werke wefentlih Neues hinzubringt. Was immer
gegen die jpäteren Werke des grollend und launenhaft ge=
wordenen Unglücdlichen eingewwendet werden mag — und
jolher Einwendungen gibt es fehr erheblide — man mird
von jedem derſelben zugeftehen müffen, daß fein anderer
als eben Beethoven fie habe machen können. Dieje Ueber:
zeugungen werden der erjte fichere Gewinn fein, den das
Publicum aus dem näheren Verkehr mit jenen merkwürdigen
Tonfhöpfungen alsbald nah Haufe nehmen wird. Und erft
anf Grundlage diefer Totalanfhanuung kann ein Kampf für
oder wider die Einzelnheiten zuläffig und gewinnbringend er:
ſcheinen.
Verfolgt das Unternehmen des Herrn Winterberger
ſomit ein ſehr hohes Ziel, ſo muß wohl auch an die Kraft
der Ausführung ein ungewöhnliches Maß gelegt werden. Aller—
dings offenbarte ſich in jedem Vortrag Winterberger's der
geiſtreiche, fein empfindende und gebildete Muſiker. Die Brücke
jedoch, welche aus dem geiſtigen Reich des Fühlens und Ver—
ſtehens in das ſinnliche des Tönens führt, die Technik, ſchien
mir nicht überall zureichend. Manche ſchwierige, namentlich ſehr
raſche Stellen, kamen unklar, ſelbſt verwiſcht zum Vorſchein;
auch das Ausbleiben einzelner Töne in Paſſagen wiederholte
ſich häufig. Ein Beweis, daß die Finger dem Willen des
Spielers noch nicht vollkommen unterthan ſind. Der Anſchlag
Winterberger's iſt (vielleicht von der Orgel her) etwas hart;
beim Herausheben, nicht blos voller Accorde, ſondern auch
einzelner Noten, ſticht Herr Winterberger gern aus ziem—
liher Höhe in die Taſten und thut dem Tone wehe, ohne
dejjen ganze Kraftfülle zu erreichen. In vielen Aeußerlichkeiten
erinnert Herr MWinterberger an Lifzt, dem er nebenbei
ähnlich Sieht. Die finnige Behandlung von Epifoden und
feinen Zügen hat Winterberger von Liſzt, (mir erinnern
Kammermufit. A. Winterberger. 189
an den jchönen Vortrag des Recitativs in der As-dur-
Sonate u. dgl.), leider auh den häufigen Wechſel von
Blafirtheit und Weberreizung. So jpielte er manche Gejang-
jtellen, die ein breites Austönen verlangen, ganz tonlos,
beinahe gleichgiltig (Adagio in B-dur-Triv), und übertrieb
in anderen Süßen (wie im Scerzo desjelben Trio) das
Feuer bis zum Unheimlichen. Blafirtheit de Vortrags und
Unterfhägung des rein Technifchen jcheinen mir die beiden
Klippen, welche Winterberger zu fürchten hat.
1859.
„Manfred“ von Robert Schumann.
Der »Singverein der Gejellihaft der Muſik—
freunde« gab fein erftes Goncert, deffen größte und bedeutendite
Nummer Schumann's Mufif zu »Manfred« war. »Noch nie
habe ich mich mit der Liebe und dem Aufwand von Sraft einer
Compofition hingegeben«, äußerte Schumann felbft von feinem
»Manfred«; und in der That lodert aus bereitö trüb erlöfchender
Sluth jein Genius hier noch einmal zu klarer Flamme auf.
Während Schumann's letzte Periode fih zwar dur große
quantitative Fruchtbarkeit, zugleih aber durch zunehmenden
Formalismus, Mühjal der Erfindung und peinliche Grübelei
charakterifirt, gehört gerade »Manfred«, fein 115. Werk, zu
dem Reinſten und Blühenditen, was er gefungen. Gegenüber
einem verbreiteten Worurtheil kann es nicht genug betont
werden, daß die »Manfred«-Mufif alle Reize der Schumann’fchen
Mufe befigt, ohne in deren zeitweilige Abjonderlichkeit und
eigenfinnige Zerflüftung zu verfallen. Schumann’3 beite Jugend—
fraft erjcheint hier, an der Neige feines Wirkens, noch einmal
in merfwürdiger Läuterung. In feinen legten Jahren, ala ſchon
der Dämon der Zerrüttung mit leifem Finger anpochte, und
in Schumann trübe Furcht vor ſich ſelbſt mit einer an die
Erde fih anklammernden Zärtlichkeit tritt, trat Byron’? » Man
fred« immer verwandter zu ihm heran. Der Tondichter ver:
mochte es, eine Geftalt unferem Herzen näher zu bringen, deren
unheimliche Großheit und vordem mehr Bewunderung als
Sympathie abzwang.
»Manfred« von Robert Schumann. 191
Byron's »Manfred«, ein frei metamorphofirter Fauſt,
irrt, von Lebensüberdruß und geheimnißvoler Schuld gequält,
verzweifelnd Durch die Welt, ſaugt aus allen ihren Gaben, auß dem
Reiz der Landichaft, aus derTheilnahme der Menfchen aus den Ber:
fehr mit Geiftern nur immer neue Dual; troßt den dämoniſchen
Mächten, verihmäht die himmlischen und ftirbt fih endlich zu
Tode. Ein wahrer Vernichtungd-Fanatismus, eine Virtwofität
des Gelbitaufreibend erfüllt dieſen Zweifler, gegen den unfer
Lenau ein lächelndes Kind ift. Höchſte Inrifhe Schönheiten,
Fülle und Tiefe der Gedanken ergreifen und im »Manfred«
mit niederzwingendber Kraft, allein fie hindern nicht die troftlofe
Totalempfindung, die aus lauter Negationen fich erzeugen muß. Be:
fanntlid) hat Goethe ſelbſt die Verwandtſchaft der Byron'ſchen
Tragödie mit feinem »Fauft« betont: » Diefer geiftreiche Dichter«,
jagt er, »hat meinen Fauft in fich aufgenommen und hypo—
chondriſch die feltfamfte Nahrung daraus gejogen. Er hat die
jeinen Zwecken zujagenden Motive auf eigene Weiſe benükt,
jo daß feine mehr dasjelbe ift, und gerade deshalb kann ich
jeinen Geiſt nicht genug beiwundern«. Und troß dieſer Be:
wunderung des jelbit Bewunderungswürdigſten — tie hoch
fteht »Fauft« über dem »Manfred«! »Fauſt« miderftrahlt
und da8 ganze Menfchenleben, in feinen Gipfeln und Ab—
gründen, in feinen ſchwärzeſten, aber aud in feinen helliten
Bliden, während Manfred’3 einziges Pathos die Verzweiflung
ift, fein ganzes Thun eine fortwährende Anftrengung, aus fich
jelbft herauszulaufen. Er nennt fein Daſein »nur Krampf,
nicht Leben«, und fich felbit
»verfluchter Wurzel hingeborrten Stamm,
der nur noch Saft gibt zum Gefühl der Sterbens«.
Unjerer vollen Sympathie für die Dichtung und ihren
Helden wehrt no Eins: der breite Raum, welchen Byron
einer Geifterwelt anmeift, die in wilder Vermengung aller
Miythologien Manfreds Gejellihaft bildet. Manfred leidet wie
ein Menſch, zaubert wie ein Dämon, ſchwebt heimatlos zwiſchen
finnlihen und überfinnlihen Weſen, beiden verwandt und doch
fremd, eine Art ſchwarzer Lohengrin. Durch dieſe Eigenfchaft
192 1859.
reiht ſich »Manfred« an Schumann’3 bevorzugte Wahl
von Märcenftoffen, welche uns fabelhafte »Peris«, »ver—
zauberte Roſen«, kurz alles andere lieber vorführen, als wirk—
liche Menjchen. In diefer Vorliebe für Zauberipuf (Schumann
theilt fie mit Weber und Marfchner) liegt einer feiner ent»
icheidendite Verwandtfchaftszüge mit der »romantiſchen Schule«.
Im Dienft des Zauberſpuks vergeudete Schumann ein gut
Theil feiner Kraft, die, wie feine Lieder und die fchönften
Stellen der eben genannten Werke zeigen, in den Tiefen des
menschlichen Herzens ruht. Auch im »Manfred« können Die
Geiſterchöre feinen Vergleih mit den kleinen Muſikſtücken aus:
halten, die in fchlichter Herzlichkeit gleichſam die Sonnen:
Strahlen aus Manfred Leben und Empfindung auffangen.
Die deutſche Nation kann fih Glück wünſchen, daB Schu—
mann, mächtig hingeriſſen zu Byron's Dichtung, das Unpraf-
tiihe feines Unternehmens völlig überfah. Eine vollitändige
Theatermufit zu dem Drama »Manfred«, — mie echt deutich
unpraktiſch! Nah Schumann’3 Idee müßte Byron's Stüd voll:
ftändig auf der Bühne aufgeführt werden, die Chöre handelnd
auf der Scene eingreifen, und dad Orcheſter die fcenifchen
Vorgänge begleiten. Nun dürften jchon die decorativen und
mechaniſchen Schwierigkeiten (von den inneren ganz abgefehen)
jede fcenifche Aufführung des »Manfred« erjchweren. Es bleibt
jomit nur der Nothbehelf eines Concert-Arrangements übrig.
Man Hat auch damit verfchiedene Auswege verfuht: an
einigen Orten läßt man zur Mufit das Drama mit vertheilten
Rollen leſen, an anderen fubftituirt man eine »verbindende
Declamation«, welche das factifche Verftändniß zu vermitteln
hat. In jedem Falle find die Schwierigkeiten unfäglih: das
Geheimnißvolle der Motivirung in Byron's Drama wird zum
dichten Nebel, und die vielen Scenen, in welchen die finnliche
Anſchauung eine große Nolle fpielt (die Erfcheinungen, die
Scene mit dem Alpenjäger, der Sonnenuntergang u. f. mw.)
bleiben im Goncertjaal matt und undeutlih. Die Inconvenienzen
gehen noch tiefer. Wollte der Componift fi nicht mit den
wenigen Chören begnügen, jo mußte er die hervorragenbditen
lyriſchen Stellen mit felbftftändigen Inftrumentalfäßen melo—
»Manired« von Robert Schumann. 193
dramatifch illuftriren. Diefe Sätze (wie die Ericheinung des
Zauberbildes, die Beſchwörung Aftarte’3) find die Perlen des
ganzen Werkes, können aber nicht mit ihrer ganzen, eigenften
Kraft wirken, weil fortwährend dazu gefprodhen wird. Das
gleichzeitige Spreden ftört die Aufnahme der Mufik, und dieſe
wieder das Verftändniß des Geiprochenen. Nur wer ſich vorher
mit dem Gedicht und der Muſik volllommen vertraut gemacht,
vermag bei der Aufführung die Kreuzung beider ungehemmt
und mit vollem Genuß zu überbliden. Nachdem dies bei den
Allerwenigiten der Fall fein kann, wird das Publicum zunächſt
dem Worte (da dem Begriff nah im Melodram immer das
Weſentlichere ift), lauſchen, und die Begleitung blos als Colorit,
in Baufch und Bogen mitnehmen. Mufifftüde von gefchloffener
Form und vollendeter felbititändiger Schönheit werden, fobald
ihnen das Ohr nit unverwandt folgen kann oder mag,
natürlih nur mehr jtimmungserzeugend, elementarifch wirken.
Schumann hielt ſich diefe und ähnliche Bedenken, ala helden-
miüthiger Sdealift, vom Leibe. Es war ihm um die Verherr:
lihung eines geliebten Gedichtes zu thun, und dieſem breitete
er Seine bduftigiten Blumen uneigennüßgig vor die Füße. Die
Mufit zum »Manfred« beiteht (außer der Ouverture) aus
fünfzehn Nummern; darunter find fünf größere Chöre, ein
Entreaft und fünf jelbititändige Orchelterfäge, zu denen ge:
ſprochen wird. Alles übrige find fleinere melodramatiiche Aus:
füllungen. Die Chöre find, mit Ausnahme. des furzen »Re—
quiem«, welches das Ganze würdevoll ernft abſchließt, durch:
weg Gefänge der Geiiter. Sie ftehen, troß genialer Einzeln:
heiten, den Orcdeiterfägen an Kraft und Uriprünglichkeit nad;
jo inöbefondere der einleitende Geſang der EClementargeifter,
der ftocend und mit geringer Individualifirung fich fortbewegt,
ähnlihen Stüden von Weber, Marjchner und Mendelsfohn
nicht vergleichbar. Weit mächtiger erhebt fi der von vier Baß—
jftimmen unisono borgetragene »Geifterbannfluh« und feiner
unheimlich ruhigen Begleitung. An Compactheit der Form und
äußeren Wirkung übertrifft ihn der »Hymnus an Ahrimane«,
deſſen grelles Colorit (dur; Lärminftrumente gehoben) an den
Chor »Gazna lebe« in der »Peri« erinnert. Dramatiſch
Hanslid. Aus dem Goncertfaal. 2. Aufl. 13
194 1859.
jtreifen diefe Scenen ans Abgeihmadte; Schumann’: Mufif
zu derlei wild-dämoniſchen Aufgaben verfehlt zwar nie den
rechten Charakter, leidet aber ſtets an einer gewilfen Anftren-
gung. — Gehen wir auf die Inftrumentalpartie über, fo
willen wir faum, wo der Bewunderung Anfang und Ende zu
finden. Sollen wir dem furzen, leidenſchaftlich fingenden
Sag Nr. 2 den Vorzug geben, oder der reizenden, freien Ilm
ftaltung des Kuhreigens für das engliiche Horn? Verſenken
wir uns in das felig träumende Genügen der Zwiſchenaktmuſik
(F-dur) oder laufchen wir dem Allegro der »Alpenfee«, das
wie ein ſonnbeſchienener Maflerfall in taufend diamantene
Tropfen zerftäubt? Welch ſüße kurze Ruhe nach langer Dual
in diefer Einleitung zum dritten Alt! (Ein Friede fam auf
mich« 2c.) Und endlich, die Krone von allem, Manfreds Anz
ſprache an Aftarte! Die Stelle, wo das (in E-dur beginnende)
Stück bei den Worten »Gerufen Hab’ ih dich in ftiller Nacht«
nach G herabjinkt, gehört in ihrer Einfachheit zu dem Gr:
greifenditen, das uns in Tönen je begegnete. Die Ouverture,
ein in breiteiten Dimenfionen einheitlih ausgeführtes Nacht:
gemälde, ift bereit3 durch eine frühere Concertaufführung
befannt.
Die Scillerfeier.
(Akademie der »Concordia«. — Alademie im Nedoutenfaale.)
In dem Wettftreit, der zum Preiſe Schiller's alle Künfte
vereinigt, hat die Mufik, die feſtlichſte von ihnen, vielleicht das
ichwierigite Amt überfommen. Nicht ala ob die Tonkunſt es
vernadhläjfigt hätte, auf ihren Wegen fih dem Dichter zu
nähern; im Gegentheil, fie hat jeit jeinen Sünglingsjahren
mit dem Eifer einer umerwiderten Liebe um ihn geworben.
Der Karlsſchüler Zumiteg, die Componiften Naumann
und NReihhardt ftürzten fi mit Begeijterung über jedes
Gedicht ihres großen Freundes, das ihnen nicht zu ſchwer
ihien, um auf dem Fittich des Liedes fi) emporzufchtwingen.
Die Liederdichter der folgenden Periode, faſt bis zu den
Die Schillerfeier. 195
Dreigigerjahren unjere® Jahrhunderts, jtanden in mufifaliicher
Bewerbung um Schiller’ 3 Mufe den Vorgängern nicht zurüd.
Die nationale Begeifterung für Schiller — Mufiker find fait
immer Spdealiiten und Scillerianer — pochte jo lebhaft in
ihnen, daß fie den Kampf mit den mujfiffeindlichen Fornten
immer wieder aufnahmen, um nur die Lieblingögedichte der
Nation auch fingen zu können. Balladen, deren prunfvoll
erzählende Breite jede Muſik ausftößt, wie »Der Taucher«,
»Der Handſchuh«, »Die Kindesmörderin«, »Der Gang nad
dem Eijfenhammer«, »Die Bürgſchaft« u. a. befißen wir drei:
und vierfältig componirt von Zelter, Zumfteg, U. Rom:
berg u. A. Noh Franz Schubert componirte den »Taucher«,
»Ritter Toggenburg« und die »Bürgichaft«, Karl Löwe nod
den »Gifenhammer« und »Graf Habsburge. In anderer Weiſe
unmuſikaliſch als die Balladen find die vielen didaktiichen und
allegoriihen Gedichte Sciller’3, von denen nicht blos die
»Glocke« vielfach componirt worden ift. Selbſt wenn wir Die
rein lyriſchen Gedichte Schiller’3 mit mufifalifhem Ohr prüfen,
fo ftoßen wir faft überall auf ein Etwas, das den vollen Strom
der Töne hier ftaut, dort untergräbt und verfandet; fei es
eine angehängte moralifirende Tendenz, oder die überwiegende
Rhetorik des Ausdrucks, oder die fremdartig antikifirende Form
und Einfleidung; ſei es endlich und im letzten Grunde der
Mangel jener Vereinigung vom rhythmiſchem MWohllaut und
einfaher Empfindung, die ein »Lied« auch wirklich lieb:
mäßig macht.
Die wenigen Gedichte Schiller’3, aus welchen der reine
Silberflang die mufifalifche Melodie wie ein Echo hervorlockt,
find unzähligemal componirt. Kaum iſt das zartefte Lied
Goethe's häufiger in Muſik gefegt worden, als Sciller’s
- Sehnjuhte. Nah diefer am zahlreichiten des ⸗»Mädchens
Sllages, »Emma«, der »Jüngling am Bache«, endlich der
»Alpenjäger«, »Dde an die Freude« und »Dithyrambe«. (ALS
Gurioja erwähnen wir der »Theilung der Erde« von Joſeph
Haydn, und des Duette® »L’addio di Ettore« von %. Baer.)
Zwei Gefänge unferes Dichters wurden Volkslieder von feltener
Macht und Verbreitung: Das Räuberlied (»Ein freies Leben
13*
196 1859.
führen wir«) und das Heiterlied (»Mohlauf, Kameraden, aufs
Pferd«), eritered nach der Melodie des Studentenliedes »Gau-
deamus igitur«e, lettere® nah einer urfprünglid von Jakob
Zahn herrührenden Volksmelodie. Dieje fraftitrogenden, jugend-
friihen Chöre werden an allen Enden des Baterlandes er:
fhallen, fo lange es deutihe Studenten, aljo fo lange
es ein Deutichland gibt. Außer einigen Schubert’schen Com:
pofitionen haben ſich faft alle verloren; die große quantitative
Betheiligung der Muſik an Schillerfher Poeſie hat für die
Nachwelt einen nur jehr fümmerlien Gewinn gehabt. Die
befferen der Compofitionen blieben faft niemals ganz unbe-
rührt von dem eigenthümlich Schiller'ſchen mufiffremden Pathos,
das im Moment feines Uebergangs in Mufif erfältet. Diejer
Beileren waren aber fehr wenige: die nüchternfte Alltäglichkeit,
die haußbadenjte Einfalt nehmen in dem mufifaliiden Tempel
Schiller’3 weitaus den größten Raum ein.
Schiller felbit war freilich weit weniger mwählerifh in
mufitalifhen Dingen als wir, die durch eine tiefere, geijtigere
Liederfunft verwöhnt find, wie fie erſt durh Schubert und
Löwe fih an den Poeſien Goethe’3, Uhland's und Heine’s
herangebildet hat. Der große philojophiihe Dichter der Deut:
ſchen führte einen jehr geringen Verkehr mit der Muſik. Ueberall
den Blid auf die höchſten fittlichen Aufgaben gerichtet, nur in
und für Ideen lebend, ftand Schiller dem heitern Clemente
des Simlih-Schönen fern, in welchem die Muſik ihre Zauber
ipinnt, Ihm, dem in jeder Kunftbeitrebung das Ethijche zu
oberft galt, das durch Ideen Veredelnde, bradte die Mufik
nicht genug fubitantiellen Gehalt entgegen. Zwar empfand er
die mufifaliihe Schönheit weit Iebhafter als jein Meijter
Kant, doch konnte dejjen Unterſcheidung, nad) welcher von
Künften die Mufit »die geringfte Summe geiftiger Eultur«
vermittelt, der Richtung Sciller’3 nur homogen jein. Der
finnlicher organifirte, meiblichere Goethe ftand der Mufik
näher, obgleich er fich vorzugsweife an das verftändige Element
in ihr hielt und befanntlid das Streichquartett ald ein »har—
moniſch anregendes Geipräh zwiichen vier vernünftigen Leuten«
bevorzugte. Jede große Energie ift durch angrenzende Ein:
Die Schillerfeier. 197
feitigfeiten bedingt, — mit dem mufifaliihen Enthuſiasmus
der »romantiihen Schule« könnten wir und Schiller's Weſen
gar nicht denken. Ausgeftattet mit diefem Tenlitiven Lauſchen
eines Tied, Brentano, Jean Paul, Eichendorff, würde er wohl
neue, fremde Zaubertöne angefchlagen, aber er würde auch auf:
gehört haben, Schiller zu fein. Wie feine Gebichte wenig
Ausbeute für Mufif bieten, jo finden fih auch in feinen Auf:
fügen und Briefen nur fehr fpärliche Bemerkungen über dieje
Kunſt. Mit liebenswürdiger Genügſamkeit erfreut er ſich an den,
unter jeinen Gedichten tief zurückbleibenden Compoſitionen Zelter's,
Naumann’ und Zumſteg's. An legteren jendet er jogar
Goethe's »Zauberlehrling«, der fih feines Erachtens »vor—
trefflih für eine heitere Melodie aualificirt, da er in unauf:
hörlicher Bewegung ift«. (Brief an Goethe vom 23. Juli 1797.)
In Sena will unfer Dichter einige Scenen aus MWieland’s
»Dberon« als Oper bearbeiten, was er jedoch ebenjowenig
ausführt, als einen in früherer Zeit (auf Körner's Bitten) für
Naumann projectirten Operntert. Das ihm unbefannte Tert:
buch zu Mozart's »Don Juan« erbittet er fih 1797 von
Goethe, um eine Ballade daraus zu machen. Im Gebiet der
Oper war Edillern bei den damaligen Verhältniffen nur eine
ſehr jpärlihe Umſchau möglich, doch zeigte ſich auch darin der
Dramatifer par excellenee, daß von allen mufifalifchen
Dingen ihn die Oper am meiften intereffirte. Einmal leitet er
ftatt Goethe die Proben zu Gluck's »taurifcher Iphigenie«
und ift faſt zu Thränen gerührt »bei diefer himmlischen Muſik«.
Dieſer Eindrud, der unter den muſikaliſchen Erlebniffen des
Dichters jehr vereinzelt ſteht, verftärkt feine idealiftiihe An-
ſchauung von dem Beruf der Oper*). Das wahrhaft eigen
*) Schiller an Goethe: »Ich hatte immer ein gewiljes Ver:
trauen zur Oper, daß aus ihr, wie aus den Chören des alten Bacchus—
feftes, das Trauerjpiel in einer edleren Geftalt ſich loswickeln follte.
In der Oper erläßt man wirklich jene iervile Naturnahahmung, und
obgleich nur unter dem Namen von Indulgenz könnte fi auf dieſem
Wege dad Ideal auf das Theater jtehlen. Die Oper ſtimmt durch die
Macht der Muſik und durch die freiere harmoniiche Reizung der
Sinnlichkeit dad Gemüth zu einer Ächönern Empfängniß; bier ift wirk—
198 1859.
thümliche und große Befisthum der Oper, den Chor, als das
ideale Mittel, ganze Volksmaſſen zugleich ſprechen zu laſſen,
erobert er in feiner »Braut von Meſſina« dem Schaufpiel,
und wenn man den Chor als daS wejentlichite Element des
antifen Dramas gelten läßt, fo hat Schiller feinen bewun—
derten Gluck (der gerade den Chor jehr vernachläjjigt) jeden
falls in dieſer Erſcheinungsform antifer Kraft und Erhaben-
heit übertroffen.
Nach diefer Abichmweifung kehren wir zu unfern Schiller:
Concerten zurüd. Die Schillerfeier des Journaliſten-Vereins
»Concordia« im Theater an der Wien, und die große, auf
Allerhöchſten Befehl veranstaltete Akademie im großen Re:
doutenjaale mwetteiferten um den Beifall des Publicums.
Hier wie dort waren von Geſangſtücken natürlih nur Bes
tonungen Schiller’fher Terte zugelaffen; bei der Schwierig:
feit, aus dieſen zwar jehr zahlreichen, aber meiſt ganz unbe:
achteten Gompofitionen Geeignete herborzufinden, hielt man
ich (mit Ausnahme des Mendelsjohn'ihen Chor? »An
die Künſtler«) ausfchlieglih an Franz Schubert.
Schubert's Gompofitionen Schiller’iher Gedichte find
jehr ungleid. Bon den im Nachlaß erfchienenen Jugend:
Arbeiten (»Taucher«, »Bürgfchafte u. dgl.) gar nicht zu fprechen,
gehört nur ihr Eleinfter Theil zu den Koſtbarkeiten diefes über-
reihen Genius. ALS wahre Perlen find wohl nur das fanfte
pathetiiche Lied Theklas (»Der Eihwald braufet«), und das
gewwaltige Fragment »Gruppe aus dem Tartarus« zu nennen.
Geringfügiger, allein durch ſchlichte Gemüthlichkeit anfprechend,
it das Lied »Die Hoffnunge Die »Gruppe auß dem
Tartarus« wurde auch in einen effectvollen Arrangement für
Chor und Ordeiter vom Männergefangd-Verein ausgeführt.
»Der Kampf« und die »Ermwartung« Hingegen find formlos
ausgedehnte Mitteldinge zwiichen Lied und Arie, in einzelnen
lich auch im Pathos ſelbſt ein freieres Spiel, weil die Muſik es be—
gleitet und das Wunderbare, welches bier einmal geduldet wird, müßte
nothwendig gegen den Stoff gleichgiltiger machen«.
Die Schillerfeier. 199
Lichtbligen Schubert verrathend, meift aber an die philiftröfe
Ausdrudsweile der Zelter-Zumſteg'ſchen Epoche erinnernd, von
welcher Schubert ausging. Obwohl die beiden Stüde als
116. Werk publicirt find, mögen fie doch (in ihrer urſprüng—
fihen Gonception mindeſtens) der Jugendzeit des Gomponiften
angehören. Nicht viel erheblicher war die Wirkung nach den
von Frau Duſtmann und Herrn Grimminger im Ne
doutenfaal gejungenen Liedern »Der Jüngling am Bache« und
»Sehnfuchte, welche zivar zwei große Namen vereinigen, aber
ebenjowenig der echte Schubert find, als der echte Schiller.
Es iſt bemerkenswerth, daß Schubert der Iehte bedeutende
Gomponift war, der eine Reihe Schiller’jcher Gedichte (ein:
undziwanzig) componirt hat. Unter den Heften der neuern
Lieder-Componiſten finden fih Sciller’iche Gedichte jo jelten
und verjplittert, daß man beinahe jagen darf, die muſikaliſche
Lyrik und Epif habe feit 30 Jahren aufgehört, fich mit dieſem
Dichter zu beichäftigen.
Die »Concordiafeiere glänzte durch den Reiz einiger
jehr intereffanter Specialitäten. Cine Weberrafhung war
die neue Feltcantate- von Medyerbeer, deren Verdienſt
und Intereſſe mit diefer Neuheit auch ziemlich erichöpft iſt.
Meyerbeer ift in Gelegenheitsfachen fait immer unglüdlich;
es fehlt ihm der muthige, leichtgeſchürzte Sinn, der mit
wenig Schritten gerade auf fein Ziel losgeht. Die Ein:
ſicht räth ihm, den raffinirten Apparat feiner Opern daheim
zu laſſen, und doch ift einfach geſunde, anſpruchsloſe Koſt
aus diefem Laboratorium nicht zu befommen. So bringt
er denn auch in jeiner Feitcantate ein wunderlich Chamäleon
zufammen. In den eriten Strophen (Nundgefang mit Chor)
verjuccht er e8 mit dem Ton deutſcher Biederfeit. Nachdem ihm
dDiefer, wie gewöhnlich, fchlecht gelingt, wirft er plötzlich auf
die Worte: »Nie hat der Dichtung Flamme ein edler Haupt
geihmüdt«e alle Schwefelflammen feine® »Nobert« mit folcher
Vehemenz hernieder, daß man faum dabei ernfthaft bleiben
kann. Daß es an einzelnen effectvollen Zügen, an gut ausge:
iparten Lichtern und wirkſamen Sclagichatten, namentlich im
Orcdeiter, nicht fehlt, will für Meyerbeer nicht viel jagen.
200 1859.
Läßt ihn doch jogar feine große Kunſt, mafjenhafte Steige:
rungen herbeizuführen, diesmal jo jehr im Stich, daß er die
Culminations-Worte des Ganzen: »Die liebfte deiner Mujen,
dad war die Freiheit doch«! mit einer zaghaften Schüchtern-
heit, ordentlih dudend, vorbringt, als ftände die Polizei
hinter ihm.
Orcheſter-Concerte.
Das erſte »Geſellſchafts-Concert« eröffnete mit Schu—
mann's »Bier Balladen vom Pagen und der Königs—
tochter« (Dichtung von Geibel). Dies Werk, aus Shumann’s
legter Zeit (op. 140), gehört einer Reihe von dramatifchepifchen
Verſuchen an, in denen fi) der Meiſter für feinen Drang zur
Dper gleihjam einen Ausweg ſchuf. So eingeboren iſt Diejer
Drang den deutichen Gomponiften, daß wiederholte Unglücks—
fälle auf der Bühne oft nicht Hinreichen, ihn zu heilen. Schu:
mann, deifen tiefe, grübelnde Innerlichfeit allem fo fern ftand,
was der Bühneneffect fordert, hatte mit feiner »Genovefa« in
Leipzig einen mehr als zweifelhaften Erfolg. Allein er hatte
einmal von dem beraufchenden Trank gefoftet, und daß Ver—
langen nad) dramatiicher Geltaltung ließ ihn nicht ruhen.
Daher die zahlreihen Dramatifirungen bon Balladen und
poetifhen Grzählungen, ein etwas zwitterhaftes Genre, das
jedoch großen Farbenreichthum in der Ausführung zuließ, und
überdie8 den Concert-Repertoires erwünjchte Bereicherung zu—
führte. Nach dem Vorgang der früheren »Peri« folgten nach—
einander »Page und Königstochter«, »Der Roſe Pilgerfahrt«,
» Sänger? Fluhe, »Der Königsſohn« und andere, aus welchen
eigentlih nur »Manfred« wahrhaft groß emporragt. Was
die »vier Balladen« betrifft, jo ift ihr Eindrud gemifchter
Natur. Alles wunderbar, was darin Stimmung, Decoration
it, vor allem alſo die Zwiſchenſpiele des Orchefterd und Die
einleitenden Chöre. Die Soloparthien hingegen, die zu dieſer
elementariſchen Stimmung die concreten Geftalten fügen follten,
Schumann »Balladene. — C. M. Weber »Abu Haffan.« 201
ſiud ohne inneres Leben, frank, jchattenhaft. Welch ſtimmungs—
volle, tief erregte Landſchaft in den zwei erften Balladen, und
welch ſchwache, verwiſchte Staffage darin! So wenig herricht
der Geſang als beitimmende Melodie über dem ganzen Ton
gewebe, daß man zumeilen glauben fönnte, Schumann habe
die Textworte unter irgend eine begleitende Inftrumentalitimme
geichrieben. Wir erinnern an den Zwiegefang der Liebenden, an
das Geipräh des Königs mit dem Vagen, der Meerkönigin
mit der Nire und dem Meermann, an die Worte der Brin-
zeſſin im legten Stüd u. |. w. Haben jemals zwei Liebende
fih fo peinlich melodielos gefreut? Ward der Jubelruf: »Ich
wäre der jeligfte Menſch von der Welt«! jemals unmöglicher
gejungen? Dieje eigenfinnige Weiſe, Soloftimmen ſangwidrig
und unmelodiſch zu führen, Hatte fih in Schumann’ fpäteren
Merken zu deren Nachtheil feitgeiegt. Haben wir dies unver:
holen befannt, jo fünnen wir den übrigen Schönheitsreihthum
des Werkes dankbar preijen. Wie reizend ift der friiche Jäger:
chor, der wie grünes Laub fih um die Strophen der eriten
Ballade windet, und der leilemogende Gejang der Meerfrauen!
Lebterer mit dem fpäter hinzutretenden Gefang des Meer:
manned, den Poſaunen und Harfen fo geifterhaft tragen, tft
von unbejchreibliher, unvergeßliher Wirkung: er erhebt
die dritte Ballade unter dad Schönfte, was Schumann je
geichrieben.
Ein Euriofum darf man e8 nennen, daß €. M. v. Weber's
Duverture zu »Abu Haſſan«, ein allwärts befanntes und viel:
jeit3 auch wieder vergeſſenes Tonftüd, hier als Nopität vor:
geführt wurde. »Abu Haffan« (1810) ift eine der Eleineren
komiſchen Opern Weber’, die dem »Freiſchütz« vorangingen,
und deren Wiederaufführung der Componift jpäter aus allen
Kräften zu hindern ſuchte. Raſch und Iuftig, mit einem ge—
wiſſen drolligen Vomp, zieht die Ouverture an und vorüber;
ihr Sanitfharenlärm und die übrigen ftereotyp gewordenen
Sharakterzeihen orientalifcher Mufit führen und ohne Umweg
in dad Land der Turbans und frummen Säbel, zwijchen
welchen hie und da ein. fanfter Blid aus verfchleiertem Ge—
fihthen aufleuchtet. So unerheblich dad Stüd im Grunde ift,
202 1859.
man fühlt jih doch von feiner naiven Friihe und Anipruche-
Iofigfeit heiter angeregt. Wem möchte deifen größere muſi—
faliihe Kraft und Chtfärbigfeit entgangen fein, mit dem
darauffolgenden Duett aus Wagner’ »Fliegendem Holländer« ?
verglihen Eine unglüllihe Wahl; denn von den eigenthüm—
lichen Reizen der ganzen Oper befitt gerade dies Duett Senta’3
mit dem Holländer fehr wenig. Wo dieje Oper des jchildernden
Elements fich begibt, wo ſie aufhört »Marine« und anfängt
Mufit zu fein, da Stehen Wagner’ Blößen in hellem Licht:
die Armuth feiner Erfindung und das Dilettantifche feiner
Methode. Das Duett bietet nicht Einen bedeutenden Gedanken;
ein hölzernes Pathos kämpft mit den von allen Seiten herein-
ichlagenden Wogen der Trivialität. Wäre das Mufitftüd nur
etwas melodiöfer, es könnte im jeder Oper von Reiſſiger und
Lindpaintner Stehen; ja die bequem fortklopfende Begleitung
dürfte der vielgereiftte Holländer ohne weiter® von feinen
ittalieniichen Fahrten mitgebracht habeır.
Dreyſchock.
Sechs Jahre find verſtrichen, ſeit Alexander Dreyſchock
in einer Reihe von glänzenden Concerten das Wiener Publicum
zuletzt um ſich verſammelt hat. Ueber den berühmten Pianiſten
etwas Neues zu ſagen, iſt nicht leicht. Dreyſchock bändigte ſein
Inſtrument ſchon vor einem Decennium mit einer Bravour,
die keinen Rivalen kannte. Ein Fortſchreiten in dieſer Richtung
war kaum mehr möglich, Dreyſchock hätte denn anfangen müſſen,
mit der Fauſt zu ſpielen, wie wir das ja von einheimiſchen
Bajazzos erlebt haben. In techniſcher Ausrüſtung vollendet,
war Dreyſchock überdies in ſeiner künſtleriſchen Perſönlichkeit
ſchon damals jo abgeſchloſſen, daß man prophezeihen durfte,
er werde, darin beharrend, kaum mehr neue Seiten entfalten.
So haben wir denn in dem gewaltigen Taſtenbeherrſcher voll—
ftändig den Alten wiedergefunden. Die zuverfichtliche Freude
an dem Kampf mit Schwierigkeiten, ein wejentliches Element
im Virtuoſen, ift in Dreyjchod recht eigentlich verförpert. Sein
Dreyſchock. 203
hervorſtechender Charakterzug iſt ſtrotzend geſunde Kraft. Das
Kräftige, Stürmiſche, Glänzende beherrſcht er unumſchränkt;
das Weiche, Zarte erreicht er. In ſeinem eigentlichſten Element
wirkt Dreyſchock überall, wo eine ungewöhnliche Kraft unter
ungewöhnlichen Schwierigkeiten aufzuräumen findet: ſo in
ſeinem »Wintermärchen«, einem kräftigen Charakterſtück, ſo in
dem »großen Marſch mit Orcheſter«. Letztere Compoſition iſt
etwas muſiviſch und nicht bedeutend an Erfindung; in dem,
was ſie dem Virtuoſen zu leiſten gibt, iſt ſie einzig. Die
merwürdigſten Specialitäten Dreyſchock's, ſein Octavenſpiel,
ſeine Terzen- und Sextenſcalen wirken darin verblendend.
Man würde ſehr unrecht thun, wollte man Dreyihod als
bloßen Bravourſpieler ſchätzen; er iſt ein gründlich durchge—
bildeter Künſtler, und ſo Bach- oder Beethovenfeſt wie
Einer. Die Verbindung des Virtuoſen mit dem guten
Muſiker hat er längſt vollzogen, der weitere Schritt von
diejem zum Poeten blieb ihm verſagt. Wir fühlen nicht den
warm aud dem Innern quellenden Strom der Empfindung,
nicht das Rauſchen des Adlerfittigd, der in eine andere Welt
trägt. So jpielt Dreyihod Chopin’ihe Nocturnen zwar mit
feinster technifcher Vollendung, allein da® Ganze jpricht nicht
mit Chopin’s Stimme zu und, es klingt faſt wie eine lleber-
fegung aus fremder Sprade Wir hören die jorglamfte An—
wendung aller Ausdrudsmittel und doc nicht den rechten Aus—
drud. Trotz aller objectiven Treue affimilirt fih eben das
Innere des Spieler nicht mit dem Geifte des Componiſten.
Diefer Mangel eines unwägbaren letzten Etwas fühlt ſich mit
instinctiver Sicherheit, jo ſchwer er in Worten darzulegen ilt.
Meit Homogener als Chopin’s, ift unferem Künftler die Muſik
Beethoven’d. Das Es-dur-Eoncert fpielte er mit ficherer Meifter:
ihaft, die fräftigen oder glänzenden Stellen auch mit Schwung.
Nur im Adagio vermißte man die echte Wärme, vielleicht um:
jomehr, als Dreyihod bei gefühlvollen Stellen durch mimifche
Aeußerlichkeiten eine Gemüthsbewegung anzudeuten liebt, Die
und immer etwad mißtrauifch findet. Die Note behandelt
Dreyſchock auch hier mit einer bei feinen Gollegen jeltenen,
muſterhaften Treue; nirgends eine Spur virtuoſer Willkür, überall
204 1859.
Studium und Verftändniß; aber auch hier manchmal jene dünne,
innere Scheidewand zwiſchen dem Spieler und dem Tondichter,
eine Scheidewand, die jedoch augenblidlih fällt, jobald das
Stüd an die Virtuofität appellirt. Größere Pirtuofität iſt
faum an dies Werk gewendet worden; ja jo jehr war alles
Einzelne zur Vollendung auögearbeitet, daß dadurch der große,
gleihmäßig das Ganze durchſtrömende Zug an Gewalt ein-
zubüßen ſchien. In feinem legten Concert bradte Dreyſchock
Beethoven’3 Cis-moll-Sonate. Das Adagio jpielte er etwas
fühl, doh ſchön im Klang; das Allegretto manirirt durch
Nuancen, melde in die anmuthige Stüd eine fremdartige
Dialektik hineinfünfteln; mit größter Energie bei weifer Mäßigung
endlih den Finalfat. — Der Anficht, die ih nad Dreyſchock's
erstem Concert ausſprach, habe ich nach feinem ſechſten nichts
GErhebliches beizufügen oder hinwegzunehmen. Dreyihod it in
feinem fünftlerifchen Weſen fo rund abgejchlofjen, daß der Be-
fucher feiner Concertchklen feine neuen Phaſen, aber gewiß
auch nicht die fleinfte Enttäufhung zu gewärtigen hat. —
Vieuxtemps.
Veber Viſeuxtemps' erfted Concert ift zu berichten, daß
feine großartige Virtwofität für die Wahl von lauter unerheb-
lihen Salonftüden nicht gänzlich entihädigt habe. Dasjelbe
gilt von dem zweiten Concert, das lediglid in der »Teufelö-
Sonate« von Tartini ein etwas werthvollere® Stüd, und
damit zugleih den Höhenpunft von MWieurtemps’ Brapour
bradte. Den fait unerſchwinglichen Triller im Finaljag hatte
Tartini befanntlih im Traum vom Teufel erlernt, und beim
Erwachen wieder zu fpielen fich vergebend gemüht. Vieurtemps
jpielte die Stelle jo authentiih, daß gläubige Gemüther, der
Herkunft diefer Sonate gedenfend, irre wurden, ob fie Beifall
Elatichen oder nicht Lieber ein Kreuz jchlagen jollten. Außerdem
bradte er nur fleinere Stüdchen und alles mit Elavierbegleitung.
Mer jemald Vieurtemps’ großen, marfigen Ton gehört, der
denkt ſich ihn am liebjten an der Spitze eines großen Orcheiters.
Vieuxtemps. 205
Dieſe orcheſterzwingende Kraft, wie noch andere Charakter—
zeichen, hat Vieuxtemps mit Dreyſchock gemein. Erwägt man,
wie viel mehr noch die Geige der vollen Begleitung bedarf,
als das ſelbſt orcheiterartige Piano, jo wird man das Be-
dauern des Publicums begreifen, daß Bieurtempd nicht dem
Vorbild Dreyihod’3 gefolgt und mit Orchefter gefpielt habe.
Wie rührend Schön das Bild auch fei: Vieuxrtemps bon feiner
Gattin am Clavier begleitet; wie fittlih erhebend die Be—
trahtung einer Frau, die ihrem Manne jo zärtlih gehorſam
folgt, nur in echt weiblicher Unterordnung unter feinen fouveränen
Willen ihre Miffion erfennend, — zur Abwechslung möchten
wir doch einmal diefe Sluftration eheliher Harmonie unter:
breden und den Mann im Kampfe mit Männern jehen.
Seither Hat Vieurtemp3 auch eine »Duartettfoiree«
veranftaltet. WVieurtemps’ ausgebildete Bravour und energijche
Auffaffung konnten wir auch bier ſattſam bewundern, doch nicht
ohne zugleich überzeugt zu werden, daß die Schönheit feines
Tones ſeit feiner letzten Anmwejenheit viel eingebüßt habe. Unſer
Künftler hat gegenwärtig eine wunderliche Vorliebe für Die
allzuhäufige Anwendung des (natürlichen) Flautato, womit er
das eigentlihe Mark, die gejunde Schönheit des Gejanges
untergräbt. Auf mehrere pracdtvolle Töne pflegt einer jener
flötenartigen zu folgen, die durch das fchräge Streihen des
Bogen? auf dem Griffbrett erzeugt werden. Auch eine viel
Iodere Haltung des Bogens jchien uns bei Vieuxtemps an die
Stelle früherer Feltigfeit getreten. Bei diefer Spielweife muß
hin umd wieder ein Ton bon feiner haaricharfen Stufe ab—
gleiten; wir vernahmen, was früher bei PVieurtemps nie
zu hören war: unreine Töne. Wie ungern und zaghaft wir
diefer Stimme Gehör gaben, die in uns flüfterte: Vieurtemps
fei nicht mehr der Alte, bedarf feiner Betheuerung. Die Stimme
ließ fih nicht mehr übertäuben, als der Kiünftler au dem
Kreis leichterer Soloftücde heraustrat, und oft gehört Duartette
unjerer großen Meifter uns wieder vorführte, Er erfchien uns
da wie ein großer Sänger, defjen wunderbare Organ durd)
die Zeit zu leiden beginnt. Sogar kleine Virtuoſen-Koketterien,
die Vieuxtemps fich im Quartettſpiel früher nie erlaubte, fanden
206 1859,
wir Hin und wieder eingeichlihen. So in dem Schubert’jchen
D-moll-Quartett, das überhaupt an Wärme und Innigkeit
manchen Wunſch unerfüllt ließ. Nachdem PVieurtemps in voller
Manneskraft Steht, vermögen mir die Modificationen feines
Spiel3 nur als Spuren einer langen, blendenden Virtuoſen—
Laufbahn zu begreifen. In der neuen Welt jcheint einiges vom
alten Vieuxtemps fich verflüchtigt zu haben. — Es bradte
Vieuxtemps' Soirée noch zwei andere Werke, deren Wahl nicht
glücklich heißen kann: ein Glaviertrio von Haydn und eine
Sonate für Viola und Piano von Rubinftein. Der Bianift
Saell ſoll fih äußerſt widerftrebend der Vorführung des
Haydn'ſchen Trios gefügt haben, und nur gegen das, wiederum
von Vieuxtemps höchſt ungern geleiftete Verſprechen, die Rus
binjtein’she Sonate darauf folgen zu laſſen. So reichten
Vergangenheit und Zukunft fih Die Hände zu langweiliger
Gegenwart. Haydn's Leichtfliegende® Trio gehört zu den
Stüden, die man heutzutage nicht Virtuoſen, fondern feinen
Kindern zu fpielen gibt. Einen peinlihen Gegenfaß dazır bildete
die geichmadlofe Ueberladung der Rubinſtein'ſchen Sonate,
die ebenjo arm an Erfindung tit, als trivial in den Ausflüchten,
fie zu erſetzen.
Alfred Daell.
Herr Alfred Zaell gehört bekanntlich zu den Virtuoſen,
die Europa und Amerika erfolgreich mit Goncerten überzogen
haben und ſich eines gejicherten Rufes erfreuen. Diefer Auf
hat hier, namentlich was die technifche Seite des Spiels be-
trifft, ehrenvolle Beitätigung gefunden.
Eine unglüflide Wahl war die »Tranzfeription aus
Zannhäufer und Lohengrin«, die nicht nur des mufifalifchen
Intereſſes, ſondern fogar der nöthigen Gegenſätze entbehrt, und
zum Schluß das heulende Finale der Tannhäufer-Duverture
unbarmherzig herunterpeiticht. Ein Kunſtſtück ohne Zweifel, aber
welch’ zweifelhafter Gewinn, daß wirklich Feine der gejchleiften
Zweiunddreißigitel ausbleibt, wo man am liebiten hätte, te
Alfred Jaell. — Glavierconcerte und fein Ende. 207
blieben alle aus? Und bat das erite Auftreten Jaell's mehr
als feine jpäteren Concerte befriedigt. Nichts überfättigt jo
ſchnell, ala die kleinen Salonjtüde, Etüden, Transferiptionen u. dgl.,
welche für ihre Tıiller und Läufe eine längſt nicht mehr vor—
handene Theilnahme in Anfpruch nehmen. Und diefe Bravour—
ftücklein find ohne Widerrede der eigentlihe Mittelpunkt der
Sael’ichen Leiftungen. Sie allein find e3, die er vollfommten
und dem Anjchein nach mit ganzer Luſt fpielt. Bon feiner un—
gewöhnlichen und vieljeitigen Virtuofität, Reinheit und Cor:
rectheit, furz von all den ſchönen techniihen Vorzügen, die wir
jüngit an ihm gerühmt, gab Herr Jaell womöglid noch
glänzendere Proben; allein er gab auch noch triftigere Beweife,
daß fein Spiel nicht eben weit über dieje techniiche Region
hinausreihe. Wir erinnern an den Vortrag der B-dur-Sonate
(op. 22) von Beethoven. Was blieb unter den weichen
Fingern Jaell's zurück von dem ftolzen Aufſchwung des eriten
Sated, von dem ergreifend jehnfüchtigen Gejang des Adagio?
Ein zierlih hinperlendes Klingen, das von der Eleganz des
Pirtuofen, aber nicht von dem männlichen Geift Beethoven's
erzählte. Mit fichtlicher Vorliebe und dabei mit übertreibender
Bravo im Tempo behandelte Herr Jaell alle Stellen dieſer
Sonate, die irgend etwad für den PVirtuofen abwerfen. Das
Feurige wurde concertmäßig, das Einfache flach und gleich:
giltig. Man wandelt nicht ungeftraft unter Bravour-Polkas.
Elavierconcerte und Rein Ende.
Die Zeit, wo ein fertiger Pianiſt fih wie einen jeltenen
Vogel fonnte jehen lafjen, ja eines Raubes an der Vienjchheit
fih anflagen durfte, went er es unterließ, Stadt um Stadt
mit Glavierjpiel zu überziehen, dieje Zeit hat fich bereits vor
einiger Zeit empfohlen. Die Nachfrage nah Clavier-Virtuoſen
ift längit im Abnehmen, während das Angebot, trog Rau und
Roſcher, im jelben Maße zu wachlen jcheint. Was wollen fie
doch, die vielen pianifirenden Jünglinge und Jungfrauen, daß
fie von den Straßeneden jo beftiges Annoncenfener auf den
208 1859.
arglofen Spaziergänger geben? Leiſe Angſt überfommt mid)
bei all dieſen unjchuldig weißen Namen: zuerft um mid, dann
aber weit mächtiger und trüber um fie felbjt! Hoffen fie wirklich,
zahlende Sterblihe Herbeizuloden, und mit Clavierfpiel ein
Publicum zu begeiltern, das jelbit faſt aus lauter Clavier—
jpielern beſteht? Erbliden fie wahrhaftig noch in dem Birtuofen-
thum eine glänzende Ausnahmsſtellung, Heutzutage, wo ja die
halbe Bevölkerung Europa die galoppirende Virtuoſität hat?
Sn bitterem Ernſt gefproden: der Anblid vieler Virtuoſenzettel
ſtimmt traurig. Es ftimmt traurig, daß noch immer jo viel
junge Leute ihre Zeit, ihre Kraft, ihr Eleined Vermögen, ihre
höhere Bildung aufopfern, um die Fertigkeit auf einem Saiten
fajten fi) zum Lebenszweck zu machen. Sie wenden ihr Dafein
an einen gefunfenen Gejchäftszweig, erzeugen Mittelgut eines
Artikels, der nur in Höchiter Vollkommenheit Abnehmer findet.
Mit dem Erwerb einer Eleinen, hübſchen Fertigkeit treten fie
an die Deffentlichkeit, die nur noch por der äußerften technijchen
Vollendung Refpect hat. Und jelbft vor dieſer nicht mehr. Wer
nicht neben und vor aller Tehnif den wahren künſtleriſchen
Adel mit zur Welt gebradt, eine hochgefteigerte Fähigkeit,
muſikaliſch zu denken und zu fühlen, wird er denn, und jei er
der gelenfigite der Afrobaten, noch gefucht und gefeiert? Vielleicht
acht Zehntheile der jungen Freiwilligen, fo alljährlih auf Cla—
vieren gegen das Publicum einjprengen, werden nicht Generale
in ihrer Runft, ſondern Kanonenfutter der Sailon. Bald wird
der Traum von Gold und Lorbeeren audgeträumt fein, und Die
auf den Höhen des Lebens zu fchaufeln Hofften, wir jehen fie
als dunkle Ehrenmänner von Haus zu Haus gehen, den Pir-
tuojenftoff jüngeren Generationen einzuimpfen. Vor etwa
30 Jahren Elagte Gutzkow, daß die Bildung von Taufenden
(namentlich) des jchöneren Geſchlechts) in ihrem bischen Glavier:
fpiele beftehe. Seither ift die Zeit noch um ein gutes Stüd
erniter geworden. Spielt weniger Clavier, lernt etwas!
Trio von Beethoven. — Quintett von Rubinfein. 209
SHammermufik.
Dreyihrd und Beethoven’ C-moll-Triv. — NRubinitein:
Quartett. — Spohr: Doppelquartett. — Beethoven: Quartett. —
Schumann: Spanifches Liederipiel.
Dreyſchock jpielte in Hellmesberger’3 zweiter Soirée das
C-moll-Trio op. 1 von Beethoven. Nur jo lange man die
Ausführung nicht gehört, mochte man fid) über die Wahl eines
Stüdes verwundern, das bekanntlich jelbit von befcheidenen
Dilettanten ganz anftändig bewältigt wird. Dreyichoc wollte
ung zeigen, wie ein Meiſter »leihte Sachen« fpielt. Mit dem
ſchwierigſten Stüd, vielleicht mit der größten Sonate Beethoven's,
hätte er und faum eine reinere Herzensfreude machen können.
Durh ihre Leichte Ausführbarkeit find Die früheren Werke
Beethoven's ausfchließliches Eigenthum der Dilettanten geworden:
dieje anfcheinend jo Fleine Auslage einmal mit einem Capital
von Technik beitreiten zu jehen, gehört zu den außderlejenften
Genüffen. Diefe File von Ton bei jo jcharfer Trennung aller
Tonglieder, dieje reizenden Abftufungen der Stlangfarbe, bei fo
echt fünftlerifher Auffaffung des Ganzen, — fie hätten faum
glänzender fich entfalten fünnen, als gerade in jenem befcheidenen
Trio. Das eigenthümlih Plaſtiſche von Dreyichod’3 Spiel
trat, wie faum früher, hervor: jeder Ton jchien wie in Stein
gehauen. — Der ausgebildete Anjchlag wird dem echten Klavier:
pirtuofen, was dem Sänger die vollendete Stimmbildung. Wenn
Jenny Lind eine einfahe Scala fang, war ihr dies im Grunde
ebeniowenig nachzumachen, als die jchwerite Bravourarie. Ge:
rade jo dürfte Dreyihod im Vortrag des Heinen C-moll-Trios
nicht mehr Rivalen finden, als etwa in der Liſzt'ſchen Ahapfodie.
— Al: Novität wurde am jelben Abend ein handichriftliches
Streid- Quintett von Rubinftein vorgeführt. Was wir nad
einmaligem Hören darüber jagen können, ilt nicht eben vor—
theilhaft. Die Compofition iſt fpröde, troden, von einer gewiſſen
impotenten Verftändigfeit, nicht arm an intereflanten Schach—
zügen, aber arm am mufifaliihen Ideen. Rubinſtein ſelbſt
Hanslick. Aus dem Concertiaal. 2. Aufl. 14
210 1859.
hat und aber durch mehr al3 Eine Compofition zu größeren
Anfprüchen berechtigt. Faſt jcheint e8, al3 machte feine unbändige
PBroductivität ihn ſchnell altern: in dem neuejten Quintett hat
er nichts Eigenes mehr eigenthümlich zu jagen.
Wie jugendfriſch erjcholl neben diefem Jünglingswerk der
Anichiedsgefang des ergrauten Beethoven! Sein Quartett in F
(op. 135), das kürzeſte, klarſte und frifchefte aus feinen ge—
heimnißvollen Spätherbite, wirtte mit wahrhaft unwider—
ftehliher Naturfraft. In Spohr’3 drittem Doppelquartett
in E-moll fpielte Hellmeöberger mit ungemeiner Grazie und
Leichtigkeit die erite Violine, welche, in den Helliten Vor:
dergrund geftellt, die anderen fieben Inſtrumente mehr wie
einen gefälligen Hofitaat, denn als ebenbürtige Genofjen um
fich verfammelt. Die Compofition blidte uns mit freundlichen,
aber gealterten Zügen an; noch mehr find Schmud und Zierrath
Rococco geworden. Bon allen Violinpielern mit Vorliebe gejpielt
und gehört, bietet die8 Doppelquartett einem Publicum, das
jeit zehn Jahren fich vorwiegend mit Beethoven, Mendelsjohn
und Schumann bejchäftigt hat, nur mäßige Erhebung. Spohr
ericheint und darin wie einer jener alten Diplomaten, denen
das feinjte Benehmen zur Gewohnheit geblieben ift, während
die geiftige Kraft bereits abnimmt. Die Gedanken, die er aus—
ipricht, wiederholt er vier- bis achtmal und kann an liebens—
würdigen Artigfeiten, die ihm gelungen, fich jelbit nicht jatt-
hören. Warum wir ihm trogdem gerne folgen? Weil, was er
äußert, jein umbejtreitbar Eigenthum ift, und den Ausdrud einer
feinen, gejicherten Bildung trägt. Der Vortrag des Mendels—
john’schen F-moll-Quartetts war zart, aber etwas kleinlich;
die pathetiiche Klage des Adagio wurde in's Schmadtende
gezogen und jo manches in dem fchönen Werke verwinzigt. In
jolhen Aufgaben tritt Hellmesberger’3 Zug zum Sentimentalen,
und die damit zufammenhängende Gewohnheit, möglichſt viel
auf den tieferen Saiten zu fpielen, ftarf in den Vordergrund.
Zum erjtenmal hörten wir (leider nur bruchſtückweiſe)
Schumann's »jpanifhes Liederspiel.e Diefer wenig
befannte reizende Cyklus bejteht aus zehn Gefängen, theils
einjtimmigen, theils Duetten, Terzetten und Quartetten. Die
Schumann’ »Spaniiches Liederfpiel.« »11
Gedihte find der Geibel’ichen lebertragung »ſpaniſcher
Volkslieder« entnommen, und mit Rüdficht auf den mufikalifchen
Charakter finnig zufammengeftellt. Das innere Band, das dieſe
Lieder untereinander feithält, ift der echt fpanijche Romanzenton;
denn mit merkwürdig feiner Anempfindung hat Schumann feine
Muſik in die eigenthümlichen Localfarben getaucht, welche Poeſie
und Mufit der Spanier fennzeichnen. Ein füßer, beraufchender
Duft, wie aus Flieder- und Jasminlauben, athmet aus dieſen
Gefängen. Kühne, glänzende Geftalten jchreiten an uns vor—
über, einander ummerbend in leidenfchaftlicher Galanterie und
jeltjam ftolzem Tändeln. Sie fingen Liebeslieder, aber ein
eigenthümlich aufrechtes klangvolles Pathos mildert die Gluth
der Leidenſchaft. Dabei find die muſikaliſchen Formen fein ge:
rundet, anmuthvoll, und drängen bei aller Beweglichkeit nirgends
ind Dramatifhe. Zu dem Slarften und Freundlichiten gehörend,
was Schumann zu guter Stunde jchuf, bietet das »Liebderipiel«
dem Hörer mir Freude ohne Dual. Schumann jelbit hat
jeinem »ſpaniſchen Liederfpiel« (op. 74) . eine zweite Reihe
»ſpaniſcher Liebeslieder« mit vierhändiger Clavierbegleitung
folgen laſſen (op. 138), die weit weniger urjprünglid, Doc
gleihfalls reich) an Geift und Empfindung find. Die Aufführung
eineö dieſer Liederjpiele wäre eine dankbare Aufgabe für unjere
Singpvereine, denen Abwechslung des vollen Chors mit kleineren
mehritimmigen Sägen nur erwünfcht fein kann. Was Clara
Schumann im vorigen Winter zu erreichen fi) vergebens be—
mühte, die Aufführung des fpanifchen Liederfpiels, wäre heuer
wenigftens theilweije und vor fleinerem Kreiſe gelungen. Die
Beredlung der Eoncertprogramme in ihrem inftrumentalen Theil
zieht, langſamer zwar aber unwiderſtehlich, auch eine bejjere
Richtung der Gefangsvorträge nah fih. Schon finden ſich
Sänger, denen die Kunſt höher fteht als ihre Eitelkeit — in
ihrer Hand wird es liegen, die oft mißachteten »Ausfüll:
nummern« eines Virtuoſen-Concertes zu defien »Hauptnummtern«
zu machen.
14*
1860.
Scenen aus Goethe's „Jauſt“, von
Ziobert Schumann.
Schum ann's »Fauſt«-Muſik hat uns beim Studium der
Partitur, im Verlauf der Proben und endlih in der Auf:
führung jelbit Stunden erhebenden Genuffes bereitet, wie wir
fie in jüngfter Zeit nur dem »Manfred« desſelben Tondichters
verdanften. Beide Werke zählen zu jenen verflärten, ver:
flärenden, weldhe dem ritifer die Freude an feinem Beruf
wiedergeben fünnen, — fall3 fie ihm nicht die Feder aus der
Hand mwinden. Wir haben hier allerdings nur den dritten
Theil ded ganzen Schumann’schen Werkes im Sinne, alſo den
Abſchluß einer Scenenreihe, welche man nur mit äußerft ge—
miſchten Empfindungen fennen lernt. Die Entſtehungsgeſchichte
der Compofition gibt über deren innere MWiderfprüche die beite
Aufklärung. Im Sahre 1844 war es, als Schumann fih von
dem zweiten Theile des Goethe’jchen »Fauſt« mächtig angeregt
fühlte. Er componirte daraus zuerit den Schlußchor (» Alles
Bergänglihe ift nur ein Gleichniß«), alfo gleichſam das
zufammengefaßte Refultat, die geiftige Summe des ganzen und
vom Dichter vorgeführten Myſteriums. Sodann Schritt Schumann,
ohne jeine erregte Stimmung abfühlen zu laſſen, an die Be-
arbeitung des ganzen Myſteriums ſelbſt. So entitand in
Schumann's fräftigfter Epoche, in der Zeit der »Peri« und
der eriten Symphonie, diefe »Verklärung Fauſt's«, die jekt
den dritten Theil eines ⸗»Fauſt«-Cyklus bildet. Ziemlich lange
darnach, wahrſcheinlich erſt nachdem die »Verflärung« im Jahre
Scenen aud Goethe's »Faufte, von Robert Schumann. 213
1849 bereit3 in einigen Städten gegeben war, fühlte fich
Schumann veranlaßt, auch andere Scenen aus Goethe’ Ge:
dicht in den Bereich feiner Slluftration zu ziehen. Er componirte
zunähft aus dem zweiten Theil: den »Sonnenaufgang«
(Ariel), »Die vier grauen Weiber«, »Fauſt's Erblindung« und
»Fauft’3 Tod«. Dieje vier Nummern bilden die 3weite Ab:
theilung bei Schumann, welche noch reich an bedeutenden, ja
genialen Stellen, doch ſchon an Urfprünglichfeit und Kraft
hinter der »Verklärung« entichieden zurüdjteht. Ohne Vergleich
ſchwächer, ja in jolder Nachbarſchaft geradezu betrübend, iſt
Die (zulegt componirte) »erite Abtheilung«, nämlich die Duverture
und drei Stüde aus dem eriten Theil des Goethe’ichen
Drama’d: »Scene im Garten«, »Grethen vor dem Madonna:
bilde und » Scene im Doms. Wir befigen fomit in Schumann’3
»Fauſt« einen Compofitionen-CHflus aus weit getrennten Ent—
jtehungözeiten und von jehr ungleichem Werth. Er reproducirt
ganz merkwürdig das Verhältniß der beiden Theile von
Goethe's Dihtung, nur in umgefehrter Ordnung. Goethe
itellte neben die hHerrlichite Blüthe feiner Jugendkraft »als
Fortiegunge Die fühle Neflerion des behäbigen Alters, neben
den Quell urfprünglichiter Poeſie den anſpruchsvollen, künstlichen
Abzug von Allegorien; er ftellte, mit Einem Wort, neben den
»ersten« und einzigen Theil des Fauſt — den »zweiten«. Bei
Schumann verhält es fi) umgefehrt, jo daß die allegorifchen
und myſtiſchen Scenen des zweiten Theils das jpontane Product
muſikaliſcher Schöpferfraft find, während jene des eriten Theild
die jpäte Nachleje eined zu Tode ermiüdeten Geiſtes bilden.
Das vollfommenere Gedicht lockt nicht immer die föltlichere
Muſik. Wo der Mufifer noch eine Milton vorfinden joll, da
mußte der Dichter immer etwas zu jagen übrig laſſen, ein
Unausgeiprodenes, Unausgefühltes. Gebilde, wie die Garten:
jcene im »Fauft«, find in fich zu vollkommen, um Muſik zu
vertragen. Welcher Componift der Welt könnte die Gejtalt
Gretchens noch lieblicher, die Rede Fauſt's noch bedeutjamer
machen? Auh Schumann jcheiterte hier. Nur mit Trauer
betradten wir in feiner »eriten Abtheilung« dies ruheloje
Moduliren, dieſes ausdrucksloſe Auf: umd Niederjteigen der
214 1860.
Stimmen, welde und Grethen und Fauft vorftellen follen.
Deitomehr muſikaliſches Element trägt hingegen der — poetiſch
fo viel tiefer ftehende — zweite Theil des Goethe'ſchen Ge-
dihts! Man muß entweder unbedingter Goethe-Anbeter fein,
oder Philoſoph oder Mufifer, um fih für diefen zweiten Theil
zu begeiftern. Viele Scenen des Gedicht find ohne Muſik kaum
denkbar*); der Schluß (Fauft’3 Verklärung) bleibt ohne fie
wenigstens unvollftändig, eine Seele ohne fihtbaren Schönen Leib.
Vergegenivärtigen wir und raſch den Zujammenhang**).
Fauſt fol im zweiten Theil fi durch größere, bedeutendere
Berhältniffe durcharbeiten. Eine Reihe großer Welterfcheinungen,
Hof und Staat, Diplomatie und Krieg ziehen an unferem Blid
vorüber. Fauft findet auch bier hohle, leere WVerhältniffe, die
ihn unausgefüllt laffen. Volle Befriedigung, wenn auch raſch
vorübergehende, genießt Fauft erft auf dem claſſiſchen Boden
der idealen Schönheit, in dem Anblick der griehiichen Helena.
Mit dem Entichwinden dieſes idealen Scheines ift Fauſt Der
wirffihen Welt wieder zurücgegeben. Die Zeit des Genießen?
und Träumen iſt für ihn vorüber; er ſucht Nügliches, Frucht:
bringendes zu Schaffen. Mit Hilfe der ihm dienenden Geifter
ringt er ein unbewohntes Land den verheerenden Glementen
ab und macht es urbar. Er verfluht den Bund mit dem Böſen,
und wünſcht fih in ein einfach menſchliches Dajein zurüd;
dazu ift es jedoch zu fpät, Fauft’3 Laufbahn ift abgejchlofien.
Die »Sorge« beraubt ihn des Augenlichts, der »Tod« tritt
an ihn heran. Mephifto lauert auf Fauſt's Seele, welche ihm,
dem Vertrag gemäß, gebührt, In dem Kampf um die Seele
des Helden werden die Teufel verjagt durch die »Flammenkraft
der himmlischen Rofen«, welche (mittelalterlicher Allegorie gemäß)
die Engel von Oben herabbringen, um damit Fauſt's Seele
zu reinigen. Fauſt ift gerettet. Sein »Unſterbliches« fann nicht
verloren gehen, denn es gibt eine ewige Schönheit und eine
*) Der Elfengelang, der Mastenzug, die Strophen der Gärtnerin,
de3 Dlivenzweigs u. ſ. w, die Aufforderung der Vulcinelle, des Knaben
Lenker, des Pluto 2c.
*) Vergl. »Goethes Fauite, von Dr. Karl Köſtlin; Tür:
bingen 1860.
Scenen aus Goethe’8 »Fauft«, von Nobert Schumann. 215
ewig verzeihende Liebe (beides perfonificirt in der »Mater
gloriosa«), welche ald »Ewigweibliches« den Sünder »hinan:
zieht«. Um die Madonna gruppiren fi) der »Pater extaticus«
und »Doctor Marianus«, in welchen fich der ascetiſche Buß—
und Liebesichmerz des Mittelalter verkörpert, die Engel, die
Geligen und andere Himmelögeftalten der katholiſchen Theologie.
Der Tondichter, der an den Schluß dieſes Gedichte her:
antritt, wird fih wenig um die ſchweren Bedenken fimmern,
die fi gegen den ganzen Vorgang erheben laffen.*) Er findet
in diefer Schlußfcene geradezu den fertigen Tert zu einem
Ipriihen Oratorium. Die Muſik, die überfinnlichite der Künfte,
vermag allein dieje lichtumfloffenen Geftalten feiter zu bannen,
und den ſeeniſch unmöglihen Vorgang gewiſſermaßen zu ver:
förpern. Nur der zitternde Dämmerjchein der Mufif macht uns ein
Myſterium lieb und verftändlid, das in der Icharfen Stlarheit
des geſprochenen Wortes fih und fremdartig gegenüberftellt.
Selbſt ſprachlich Störendes, wie die lateinifirenden, den Kirchen
hymnen nachgebildeten Wortverfchränfungen, verfchwindet unter
der reinigenden Fluth der Tonwellen. Rihard Wagner ftellt
in feinem neueften » Sendichreiben an einen franzöfiichen Freund«
die unglaublihe Behauptung auf, es gebe für die Moefie nur
zwei möglihe Wege: fie müſſe entweder vollflommen abitracte
Philofophie werden, oder aber ſich gänzlich mit der Muſik ver:
einigen. Wüßten wir nicht, daß Wagner dabei an feine eigenen
Dpernterte gedacht Hat, e8 hätten ihm bei diefem Baradoron
Reminiscenzen aus dem zweiten Theil des »Fauſt« vorichweben
fönnen. Die abitract reflectirenden und die halb muſikaliſchen
Bartien des Gedicht3 wären nah Wagner die eigentlichen Mufter-
beijpiele wahrer Poefie. Was die »halbmufifaliichen« betrifft,
wie die Verklärungsſcene, jo gehört übrigen® mehr als man
denkt dazu, fie ganz mufifaliich zu machen. Es bedurfte eines
außerordentlichen und eigenthümlichen Talents, um dem Gedicht
jene volle und reine Ergänzung zu Schaffen, welche es von der
*) Am fchlagenditen find Diele Bedenken von Viſcher ausge—
führt, der überhaupt an dem ganzen zweiten Theil des Goethe’fchen
»Fauſt« die jchärfite Kritik geübt hat.
216 1860.
Tonkunſt erwartete. Wir glauben, e& bedurfte geradezu Robert
Schumann’. Nur ein Tondichter, in dem die künftleriichen
Elentente gerade jo und nicht anders gemifcht waren, konnte ſich
an das Hohe Näthiel diejer »Fauft-Verklärung« wagen. Schu:
mann hat e8 in bewunderungswürdiger Weiſe gelöft. Gleich der
eritte Chor — »MWaldung, du fchwanfit heran« ftellt Die
Srundfärbung des Ganzen, dieſe ftille, fremdartige Seligfeit,
mit einigen Meifterftrihen feit. Mit ruhigen tiefen Athem—
zügen trinken wir die ungewohnte, erquicend reine Luft.
Das harakteriftiiche, aber etwas monotone Tenorjolo des
»Pater extaticus« blieb bei der Aufführung weg. Etwas be-
lebter in Melodie und Rhythmus ift das folgende Baßſolo
mit dem auödrudspollen Schluß: »O Gott, befhmwicht’ge die
Gedanken!« Von hier an wird die Mufik immer reicher, Elarer,
inniger. Ein überaus anmuthiger Geſang der »feligen Knaben«
mündet im den jubelnden Chor »Gerettet«, von welchem ſich
wieder ein zarte® Sopranjolo (»Diefe Roſen«) reizend abhebt.
Die Hymme des »Doctor Marianus« (mit Harfenbegleitung) —
mehr weich und innig als enthuſiaſtiſch — bereitet Die gehobene
Stimmung für den Chor »Dir, der Unberührbaren« trefflich
vor. Es folgt der Gejang der Büßerinnen. Dieje in jchlichten
Biertelnoten abjteigende, tief herzliche Weile, in welche fich
Grethens wundervoll verklärte Bitte mijcht, dünkt uns die
Berle des Ganzen. In myſtiſchen Schauern verflingen die be—
gnadigenden Worte der » Mater gloriosa«. Da jet mit impofanter
Wucht unter dröhnendem Poſaunenklang der Schlußchor ein:
Alles Bergängliche ift nur ein Gleichniß«, und beflügelt ſich
erit bei den Morten »Das Ewigweibliche zieht uns hinan«
zu triumphirendem Aufſchwung.
Ein tieferes Eingehen in die muſikaliſchen Einzelheiten iſt
hier nicht möglich. Nur auf einen beſonderen, das ganze Werk
adelnden Vorzug möchten wir noch hinweiſen. Es iſt dies die
merkwürdige Mäßigung und Schlichtheit im Ausdruck. Wenn
irgend ein Gedicht geſchaffen iſt, den Componiſten zu unnatür—
licher Exaltation zu verleiten, ſo iſt es wohl dieſe Verklärungs—
ſcene. Welchen modernen Tondichter hätte hier nicht das Gefühl
der Unzulänglichkeit zu den gewagteſten Experimenten in Har—
Liſzt's »Prometheus.« 217
monie und Inſtrumentirung, zu fremdartigſter Verkünſtelung des
Geſanges verführt? Stellen wir uns vor, wie etwa Wagner
oder die Weimariſchen das »Unbegreifliche« ausmalen würden!
Schumann hingegen vermeidet mit ſolchem Zartgefühl alles
Unſchöne und Maßloſe, daß er ſelbſt die zerhackten Ausrufe
des Pater Extaticus in das Gleichmaß einer ſtillen, gefaßten
Gluth auflöſt. In den Engelschören keine Spur äußerlichen
Geflimmers oder Gepränges. Alles herzlich, warm und einfach.
Die Verſuchung, dem Gedicht von ſeiner glänzenden Außenſeite
beizukommen, lag Schumann fern. In ſeinem Herzen ließ er es
warm werden, und gab uns ſodann ſtatt einer transcendentalen
Triumphſcene ein Stück ſeines tiefſten, eigenſten Fihlens. Wenn
es die beſte Aufgabe des Oratoriums iſt, das Göttliche als
ein Menſchlichſchönes und Gemüthvolles darzuſtellen, ſo hat
Schumaun hier verrathen, in welch ſchönem, hohem Sinn er
Oratorien-Componiſt geworden wäre.
Liſgzt's „Rrometheus.“
Die Geſellſchaft der Muſikfreunde brachte in ihrem dritten
Concert Liſzt's Ouverture und Chöre zu Herder's »ent—
feſſeltem Prometheus« zur Aufführung. Dies Werk ver—
ſetzt uns, die wir gern zu den perſönlichen Verehrern dieſes
bedeutenden und liebenswürdigen Mannes zählen, leider aber—
mals in die Nothwendigkeit, gegen ſeine Compoſitionsluſt zu
proteſtiren. Wie alle größeren Werke Liſzt's, iſt auch »Pro—
metheus« eine traurige Allianz der Erfindungsloſigkeit mit dem
Raffinement. Ein beſtändiges Suchen und Nichtfinden, lauter
Effecte und doch kein Effect. Schon die Ouverture iſt nur eine
intereſſant orcheſtrirte Folter, auf welcher der Hörer geiſtreich
gemartert wird. Die Chöre bieten hin und wieder Lichtpunkte,
kommen jedoch, vom Orcheſter fortwährend unterbrochen und
überwältigt, nirgends zu einheitlicher Entwicklung. Das An—
ziehendſte ſind auch hier einige neue Orcheſter-Effecte, die meiſt
ins Gebiet der muſikaliſchen Malerei fallen, die Sicheln und
Senſen im Schnitterchor, das Heulen des Orkans u. dal.
218 1860.
Dem »Brometheus« Liſzt's fehlt einfach der prometheijche
Funfe: mag er noch fo verichiedenes und jeltenes Material
aufthürmen, es will nirgends brennen.
Wir machen fein Hehl daraus, daß kleine geniale Details
und tieffinnige Intentionen, welde den Mythus zu interpretiren
trachten, uns die fehlende muſikaliſche Schöpfungsfraft nicht entfernt
erſetzen können. Zum größten Theil ift Liſzt's Compofition voll
ftändige Unmufif, Ja, wir befennen, daß die außerordentliche
Prätenfion, mit welcher diefe unfangbaren, inhalt3los aufges
blähten Chöre auftreten, allmälig eine erheiternde Wirkung auf
und übte. E3 erging und wie Gutzkow beim Anhören der
Liſzt'ſchen »Dante-Symphonie«; ihm erichien die mufifaliiche
»Hölle« Liſzt's ftatt grauenhaft immer nur komiſch, jo daß er
fie mit jenen Teufeln in genähten Säden verglich, die am
Schluß des »Don Juan« regelmäßig Laden erregen. Da und
die Partitur des »Prometheus« nicht zugänglic” war, müſſen
wir e& bei diefer Schilderung des Total-Eindruds bewenden
lafjen. Fragt man und nad der Wirkung der Liſzt'ſchen Mufit
auf das Publicum, fo fühlte diefes von den (laut Programmı)
darin illuftrirten Zuftänden jedenfall die drei legten jehr
lebhaft mit: »Leid«, »Ausharren« und endlich »Erlöſung«. Es
glich dabei jelbit einem anftändig duldenden Prometheus, dem
ein muſikaliſcher Geier zwar nicht in die Yeber, aber deſto tiefer
in’ Ohr hadt. Nach jedem Abſchnitt gab ein Dutzend fpecifiich
organifirter Sterblicher eine fühne Applausfalve, und damit das
Zeihen — zu allgemeinem Ziſchen. Ohne dieſe Eifrigen (die
auf Talleyrand’3 Mahnung »Surtout point de zele!« allzufehr
vergefjen hatten) wäre die vornehme Leiche ohne Zweifel in
feierlihfter Stille zu Grabe getragen worden. Was die Gejell-
ichaft der Mufikfreunde bewegen mochte, auf dad umfangreiche
Werk, deilen Mißerfolg nad der erjten Probe vorauszuſagen
war, Mühe und SKoften zu verwenden, ift ung nicht befamnt.
War e3 die allerdings löbliche Abficht, das Bublicum mit einem
nenen Werke Lijzt’3 bekannt zu machen, jo würde man fie mit
der Mehrzahl der »ſymphoniſchen Dichtungen« weit angenehmer
erreicht haben. Dieje find wenigſtens furz und von glänzender
Meuperlichkeit. Liſzt's Pegaſusritt auf der Menichenitimme hätte
Händel's »Timotheuse und »Jirael in Egypten.« 219
dem Publicum und noch mehr den fleißigen Mitgliedern des
»Singvereined« eripart bleiben können, da doch lekterer, jo
viel und befannt, zum Vergnügen zufammen zu treten pflegt.
Auf Liſzt's »Prometheus« ließ die Gejellihaft der Muſik—
freunde unmittelbar und ganz allein Mozarts G-moll-Sym:
phonie folgen, — ein jo impojanter Einfall, daß er und des
Dichters Wort »Wär die Idee nicht fo verflucht gefcheit« u. f. m.
auf Die Lippen drängte. — Wollte die Direction ihre eigene
Wahl ironifiren? Oder follte das von der neudeutſchen Partei
aufgeftellte oberfte Ariom, daß »Liſzt der Mozart unferer Zeit«
fei, praftifch erwielen werden? Gleichviel; es ereignete fich Der
ımerhörte Fall, daß nad den erften vier Taften der allbe:
fannten Symphonie das ganze Publicum in jubelnden Beifall
ausbrach. Wenn die eine Demonftration war, jo ift fie
wenigſtens nicht beabfichtigt gemweien. SIeder Anweſende muß
bezeugen, daß die Freude über Mozart’3 Töne vollfommen
fpontan, friſch und unmillfürlich hervorbrad. Es war Allen,
als würden in einem qualmerfüllten Saal plößlid die Feniter
weit geöffnet und herein jtröme Duft und Kühle des erquiden-
den Frühlings.
Ssändels „Timotheus“ und „STrael in
Egypten.“
In kürzeſtem Zeitraum bekamen wir nacheinander zwei
Händel'ſche Oratorien zu hören: »Iſrael in Egypten— und
»Timotheus«. »Iſrael in Egypten« verfällt einer großen
Monotonie ſchon durch den Inhalt, den die complete Schil—
derung aller egyptiſchen Plagen bildet. Neben der ſtrotzenden
Kraft der Chöre erſcheint die Mehrzahl der Arien ſteif und
undarakteriitiih; Hingegen schlägt daS herrliche Soloquartett:
»Der Nacht düftere Schleier finfen auf das Land« wieder
manden Chor. »Timotheus« oder »Mleranders Feſt« hat
einen frifcheren mufifaliihen Zug als »Iſrael«, und findet im
Gedichte mwenigitens einzelme Situationen dor, deren Inhalt
und Färbung das rein menschliche Intereſſe wärmer berührt
220 1860.
al3 die »egyptiichen Plagen«. Als Ganzes ift freilich Drydens
»Aleranders Feit« (1697 gedichtet) To unglüdlih wie möglich,
geichraubt in der Diction, in der Form ein Miſchling von
Dratorium und Gantate. MWeberdieß der Zufammenhang je
weiter deſto unverltändlicher, bis endlich das Hereinſchneien
der heiligen Gäcilia in die Griechenwelt ihn völlig außein-
anderiprengt. Händel ift am größten und natürlichften in der
Belebung bibliiher Geftalten, deren patriarhalifhe Weihe und
religiöje Kraft in jeinem Styl die treueſte Färbung gefunden
hat. Händel vor Allem in feinem »Verhältniß zum clafji-
ihen Alterthum« zu bewimdern, ihn Hierin Shafejpeare
und Goethe zu vergleichen, ımd feine Griechenmwelt der Glud-
ſchen entgegenzuhalten, al das Richtige dem Falichen — das
kann wohl nur der befangene Enthufiagmus eines Chryſander.
Eine bejondere Charafteriftif des claſſiſchen Alterthums ver—
mögen wir im »Timotheus« allerdings nicht wahrzunehmen,
wohl aber eine impojante muſikaliſche Fülle und Macht, welche
das Werk theilweile an die vollendetiten des Meifters reiht.
Wie erichütternd hallt der Trauergefang: »Seht au, den Perſer,«
oder der Donnerhor »Brich die Bande feines Schlummers !« Auch
die Arien können wir zum Theil rückhaltslos oder doch unge—
trübter genießen, al3 in anderen Werfen dieſes Meifterd. Der
contrapunktiihe Styl von Händeld Arien erfcheint und (wie
ihon Nägeli ausſprach) Heutzutage nicht mehr der richtige.
Die Stimme herrſcht darin nicht als die fingende Seele des
Tongewebes, fie befigt an demfelben nur den ihr contrapunktiich
zugemeffenen Antheil. Der Baß trägt fie nicht, jondern führt,
gemejlen aufs und abjfteigend, ein felbititändiges Leben; die
Streih:Inftrumente herrichen mit, und fo wirft die Compo—
fition zum Nachtheil der Stimmwirkung inftrumentaliihy. Händel
liebt es, das ſchönſte Gejangmotiv nach zwei oder vier Taften
abzubrehen und dem Orchefter die Fortfegung zu überlaffen.
Mie reizend beginnt die erjte Arie ein »Timotheus: Selig
Baar!« und wie bald wird durch die Zwifchenfpiele der Geigen
und die rein inftrumental gedachten langen Solfeggien des
Sänger? dieſer Reiz abgeftreift. Noch auffallender ift dieſes
Berhältniß in der Arie »Der König horcht mit ftolzem Ohre,
Händel’3 »Timotheus« und »Ifrael in Eghpten.« 221
deren contrapunktiiche iteife Beweglichkeit das gerade Gegen:
theil des echten Gelangftyl3 bildet. In der Sopran-Arie Nr. 9
berührt uns die anf gleihem Brincip beruhende endlofe Wieder:
holung der Worte »er jeufzt und blickt, und blidt und jeufzte
geradezu fomifh. Sie weiſt und zugleih am augenfcheinlichiten
da3 zweite Element auf, das uns Händels Arien entfrendet:
es ift der Mangel einer jchärferen Charakteriſtik. Wir können in
den Teßtgenannten Arien wohl einen meijterhaften harmoniſch—
contrapunktiſchen Saß erkennen, aber nimmermehr die Begeiſte—
rung eines Königs, der »fich ein Gott dünft«, oder die auflodernde
Gluth feiner Sinnlichkeit. Der Tenor:Arie »Krieg, o Held, iſt
Sorg’ und Arbeit« fönnte man fajt einen Buffotert unterlegen.
Unjere Zeit ift an ein ungleich feineres Anfchiniegen des Ge—
ſangs an den Tert gewohnt, wie denn auch die Mufif in der
Iharfen Audgeftaltung des Charakteriftifchen feit Händel die
erheblichiten Fortichritte gemacht hat. Neben diefer überwiegenden
Zahl contrapunftiih gedachter Arien finden wir freilich bei
Händel eine zweite davon verjchtedene Gattung Arien, in denen
Wort und Ton Eins find, und der Gejang aus dem ftarren
Seleife der um das Wort unbefiimmerten Contrapunftif her:
austritt. In diefen wahrhaft geſangvollen Arien fehlt auch
meift der ftörende NRococco-Zierratd von Goloraturen. Wer
denkt nicht an die einfach fchöne erjte Arie Samfon’s, »Nacht
ift’8 um mich«, an die Arien aus dem »Meffiad«: »Ich weiß,
das mein Grlöjer lebte, »Er ward verachtet«, oder in welt:
lihem Fah an das »lydiſche Brautlied« und die Baß-Arie
»Ha, welche bleihe Schaar!« aus »Timotheud?« Bon allen
großen Tondichtern ift vielleicht Händel am meilten das Kind
feiner Zeit; ihrem Geſchmack ordnet er ſich unter in feinen
Dpern, ihn verläugnet er auch nicht in feinen Dratorien; Die
Arien in legteren find denen feiner Opern ganz ähnlich.
Bei Händels Mufik, in der wir, neben Größtem und
Ergreifendſtem, Veraltetes und Manierirtes begegnen, fällt uns
hin und wieder das fo verbreitete Ariom ein, es fünne das
»wahrhaft Schöne« niemals nach noch fo langem Zeitverlauf
feine Wirkung einbüßen. Für die Mufit ift dies wenig mehr
als eine jchöne Nedensart. Es können fleinere Kunſtwerke, oder
222 1860.
Theile eines größeren, erhabene Ideen in möglichiter Reinheit
jo darftellen, daß die menschliche Fafjung daran verjchwindet.
Bon jolden Stüden fann man jagen, fie währen jehr lange:
von feinem fann man behaupten, es werde ſich ewig erhalten.
Der Mufifer Schafft frei aus fich heraus. Das Subjective
und alle Factoren der Zeit, die eine bejtimmte Subjectivität
zufammenfegen helfen, werden demnach ungefefjelt in der Muſik
hervortreten, und mit dem durch gleiche hiftorifche und conven-
tionelle Momente beitimmten Gefhmad der Zeitgenoffen corre=
Ipondiren. Die nächite Generation bringt dem Tonftüd eine
andere Bildung, eine andere Stimmung entgegen; was vordem
als neu reizte, ift nun ein gelöftes Räthſel; die Mufif aber
befigt in der Neuheit der Erfindung die Hälfte ihrer Macht.
Sreilih ift die Verfchiedenheit der Lebensdauer auch in der
Muſik eine außerordentliche. Nach der Subjectivität der Com—
poniften betrachtet, haben die Tiefen, Ernften, Gewaltigen eine
ungleich längere Jugend, als die genialften unter den An—
muthigen und Zierlichen (Händel, Bach, Beethoven gegen Halle,
Piccini, Roffini), Won den Kunftgattungen bewahren die Ge-
fäße des Erhabenen und Religiöjen ihre allgemeine Giltigfeit
am längiten, weil diefe Ideen am reinjten fich darjtellen Laffen,
am wenigſten menschliches Gewand anhaben. Die Kirchenmuſiken
der älteren Jtaliener find noch heute von ergreifender Wirkung,
während die gleichzeitige weltlihe Muſik, ja ganze Perioden
jpäterer Opernmuſik unwiederbringlich abgeblüht find.
ÖOrchefter:Eoncerte.
Die größte und anziehendite Nummer des eriten »Phil—
harmonifhen Goncerte« war Schumann’ Es-dur-
Symphonie, die einzige diejes Meiſters, welche Wien noch
fremd war. Troß ihrer Bezeihnung als »Nr. 3« iſt fie
in Wahrheit doch Schumann’s legte ſymphoniſche Arbeit; Die
D-moll-Symphonie Nr. 4 war, wie ihre jugendliche Friſche
auf den erften Blick zeigt, weit früher erfunden, und hat nur
durch nachträgliche Neu-Inftrumentirung und Herausgabe ihre
Schumann’s Es-dur-Symphonie, 233
jpätere Reihung erhalten. Die Es-dur-Symphonie, oder die
»Rheiniſche«, wie fie nach ihrem Geburtslande oft genannt
wird, fteht Hart am Eingang zu Schumann’3 dritter Periode.
Wenn auch ihre Lichtjeiten glänzend vorherrichen, fo vericheuchen
fie doch nicht gänzli” manchen vorüberhufhenden Schatten,
der auf de Meiſters letzte Zeit hindeutet. ES find dies Augen
blide müder Abſpannung, oder eigenfinnigen Imfichbrüteng,
oder endlich eine mwunderlihen Spielend mit harmoniichen
Meſſern und Dolchen. Die Stimmung und Wirkung des Ganzen
ift davon wenig beirrt. Kräftig, entichieden tritt der erfte Sat
mit feinem majfiven Thema auf, das jedoch bald in dem janft
flagenden G-moll-Motiv einen reizenden Gegenſatz erhält. Der
Sat geht, ohne Wiederholung des eriten Theils, in Einem
frifhen Fluß zum Ende. Das reizende Scherzo jtellt ſich
durch die etwas grapitätiiche Anmuth feines Themas beinahe
an die Stelle des alten Menuetts. Als Trio dieſes ſonnen—
hellen Scherzos fungirt ein feltfam verjchleierter Mittelfag ;
an 30 Takte lang hält er in der Tiefe den Grundton C feft,
der orgelpunftartig ein künſtlich verjchlungenes Gewebe von
A-moll- und F-dur-Harmonien trägt. Der am wenigſten eigen:
thiimliche Theil des Werkes tft das Andante. In fanfter ein:
heitliher Stimmung fließt e8 ohne innere Gegenfäge ſacht
vorüber. Es erinnert direct an Mendelsfohn, ein Symptom,
da3 bei Schumann faft unfehlbar ein Ermatten der jchöpfert-
Ihen Kraft andeutet. Zwiſchen diefem dritten Sag und dem
Finale fteht ſeltſamerweiſe als vierter Sab ein jelbititändiges
Adagio in Es-moll. Gebundenen Styls, in feierlich düſterer
Pracht einherwogend, erinnert e8 an den mächtigen Tonſchwall
einer aus allen Regiſtern erbraufenden Orgel. Im Verlauf
wirft eine abgeriſſene Achtelfigur der Bäffe fich wiederholt dem
majeftätiichen Fluß des langſamen Themas entgegen, das je:
doch in unbeirrter Ruhe darüber hinwegſtrömt. Die Bedeutung
des ganzen Satzes an dieſer Stelle iſt ſchwer zu verftehen.
Mir wiſſen zwar aus Schumann’: Biographie, daß er Anz
regungen zu diefer Symphonie aus dem Anblid des Kölner
Doms und eines fatholiihen SKirchenfeftes gewonnen haben
jolf. Er Hatte fogar den vierten Sat ursprünglich überjchrieben:
224 1860.
»Im Charakter der Begleitung einer feierlichen Geremonie«,
diefe Aufichrift jedoch ſpäter mit der treffenden Bemerkung
wieder geftrihen: »Man müfje den Leuten nicht das Herz
zeigen; ein allgemeiner Eindrud des Kunſtwerkes thue ihnen
beffer; fie ftellen dann wenigſtens feine verfehrten Vergleiche
an« Allein auch mit jener factifhen Mittheilung iſt wenig
gewonnen, denn wir verlangen, vollfommen übereinftimmend
mit Schumann’3 eigenen Grundfägen, daß Sinn und Bedeu—
tung jedes Satzes mufifalifch einleuchten müffe. Daß Es-moll-
Adagio ſcheint uns aber für eine Symphonie, die, wie Die
vorliegende, eine kräftige Weltlichkeit athmet, zu fremdartig,
ftarr und ſchwerflüſſig. An ſich charaktervoll und geiftreich,
muß dag Stüd in diefem Zufammenhang mehr befremden
al3 befriedigen. Der fünfte und Iekte Satz der Symphonie ift
ein jchneller Viervierteltakt, deſſen rüftige Heiterkeit ung beinahe
vergefien macht, dab ein jo groß angelegte® Werk einen be-
deutenderen Abſchluß verdient und verlangt hätte, — Im Cha:
rafter correipondirt das Finale auffallend mit dem eriten Sat,
während jedoch diefer durch die häufigen Synkopen eine ſcharfe
und herbe Rhythmik erhält, läßt jenes in feinem eigenfinnigen
Selthalten der Zweier-Rhythmen den Mangel an reicher Be:
wegung fühlen. Hier wie dort liebt es Schumann, mehr ein
Motiv als ein Thema durchzuführen, und zwar mit einer Con—
jequenz, die biß zum Herben geht. Nirgends aber Hört er auf,
markig und originell zu fein.
Die »Maurerifhe Trauermufif« von Mozart, in Styl
und Ausdrud an die langjamen Sätze im »Requiem« er:
innernd, iſt eine wenig gefannte, aber nicht weniger foftbare
Neliquie des großen Meiſters. Neben dem tiefen Eindrud, den
dieſe Muſik durch ihre reife, edle Schönheit unmittelbar her:
vorbringen muß, bietet fie ung noch ein ſpecielles biographiiches
Intereſſe. Sie führt und in dem großen Componiſten zugleich
den Freimaurer vor. Mozart mußte fich mit ganzem Herzen
einer Verbrüderung anfchließen, welche die Förderung allge
meiner Menfchenliebe, Duldung und Aufklärung fih als Ziel
vorgefegt hatte. Die Freimaurerloge, der Mozart angehörte,
bieß »zur gefrönten Hoffnunge. Für fie hat Mozart mehrere
Schubert — Bearbeitungen von Lifzt. 295
Gelegenheits-Muſiken gejchrieben, von denen die bedeutendfte
eben die aus dem Sahre 1785 ftammende »Trauermufit
bei dem Todesfalle der Brüder Medlenburg und
Eszterhazy« ilt. Gerne ſahen wir und durch die Aufführung
diejer feierlich erniten Todesweiſe daran erinnert, daß Mozart,
jo ausſchließlich er feiner Kunſt Iebte, und nur für fie leben
wollte, doch den Gulturbeftrebungen eng verbündet war, welche
jeine Zeit, freilich in wunderlichiter Form, als die echteſten und
höchſten pflegte.
Liſzt's Inftrumentirung des »Reitermarſches« von Schu:
bert (Nr. 1 aus op. 121) ift ein fleines Meiſterſtück. Ge—
hört diefer March durch feine lebendige Rhythmik und durch
die Melodie des Trio ſchon in feiner bejcheidenen Urgeftalt
zu Schubert’3 liebenswürdigften Kleinigkeiten, jo ift er jeßt zu
neuer Pracht erblüht. Liſzt hat hier jeine glänzende Orcheiter:
technik, feinen feinen ausgebildeten Sinn fir Klangfarben und
Klang-Effecte jo glücklich verwendet, daß er daS befannte
Lieblingsſtückchen uns fait als ein neues Geſchenk dargebracht hat.
So wenig Lifzt die Schubert’iche Melodie zu erfinden vermöchte,
jo wenig hätte Schubert’3 injtrumentale Technif es mit diejer
Leiftung Liſzt's aufnehmen fünnen. In glänzender Behandlung
des Orcheſters, wie in geiftvoller Gombination von Clavier—
Effecten wirkt Liſzt's Talent beinahe ſchöpferiſch. Hier liegt,
nach unferer Meinung, das eigenfte, fruchtbarite Feld feines
Wirkens. Wie jehr Liſzt durch diefen Zweig feiner Thätigfeit
namentlich zur Verbreitung Schubert’3 beigetragen, iſt be—
fannt. Das »Gefellichaftsconcert« brachte dafür noch einen
zweiten werthvollen Beleg: die ſymphoniſche Bearbeitung von
Schubert’ Clavier-Phantaſie, op. 15 in C-dur. Hier
fand Liſzt eine ungleich jchwierigere und Doc weniger danfbare
Aufgabe vor. Reich an melodiichen Reizen und genialen Einzel:
zügen, leidet diefe Phantaſie ald Ganzes doch empfindlich durch
die außeinanderfallende mufiviiche Form, die mehr oder min
der allen größeren Inſtrumentalwerken Schubert’3 eigen iſt.
Sn feiner Urgeftalt gibt fih dies Stüd mehr als das freie
Ausitrömen einer während des Spieles jelbit immer erneut
producirenden Phantaſie, verwahrt fich demnach gegen die For:
Hanslick. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 15
226 1860.
derungen einer geſchloſſenen Form. Durch die ſymphoniſche Be—
handlung in diefen Ansprüchen gefteigert, legt man Hingegen
unmilltürlih den Maßſtab eines Concertes an, dem wohl der
prächtige Anfang und das fugirte Schlußallegro, nicht aber
die breite Mitte mit ihren Liederchen fi fügen mag. Dennoch
liegt in der Anlage der Schubert’ihen Nhantafte Vieles, mas
gerade zur Orcdeitrirung herauöfordert. Sehen die Paſſagen
des Cis-moll-Saßes nicht aus wie ein Schmud, der erft von
dem feiten Körper einer Orchelter-Melodie getragen werden joll?
Deutet nit das Prefto in As-dur den Wechjel zwiſchen Piano
und Orcefter förmlih von zwei zu zwei Taften an? Die Be-
arbeitung bat fih (bis auf die Hinzufügung einer Kleinen
bejheidenen Gadenz) ftrenge an den Inhalt des Driginald
gehalten, natürlich bei reicherer, vollgriffiger Behandlung des
Glavierd, das ſonſt dem Gegengewicht ded ganzen Orcheſters
unterliegen müßte. Nichts anziehender als die Vergleichung
des ſchlichten Original® mit der (bei Spina geitochenen)
Orcefter-Bartitur; Lifzt hat fi) darin abermals als geiftvoller
Bearbeiter und großer Colorift erwiesen.
Wir hörten bald nachher noch einen zweiten von Liſzt
orheitrirten Marſch Schubert's. Kühn und dabei leichtbe-
flügelt, im Trio zärtlih fingend, glanzvoll und ſtürmiſch im
Abſchluß! Das Original (Nr. 5 aus den vierhändigen »Sechs
Märichen«, op. 40) kann allerdings dem »Reitermarſch« nicht
gleihgeftellt werden. Aber mie Elingt das in Liſzt's In—
jtrumentirung! Wir müßten volljtändig wiederholen, was wir
vorher bewundernd über die Lilzt’sche Orcheitrirung berichteten.
Genug, Schubert jelbit hätte geftaunt. Scheint e& doch kaum
möglich, in Eleinftem Rahmen jolchen Glanz des Colorits zu
entfalten, fo viel Zartheit neben jo ftürmijcher Kraft, fo geiſt—
reihe Details bei folcher Einheit der Totalwirkfung. Dabei
will der glänzende Schmud, welchen Liſzt dem einfachen
Clavierſtück umgethan, nirgends für fich, nirgends mehr gelten,
al das Geſchmückte jelbit; es it ein Werk aus Einem Guß.
Eigentlich ein Kleines Ideal von Compagnie-Arbeit, eine ſolche
nämlich, die feiner der beiden Künſtler allein hätte hervor:
bringen können.
Symphonie von Schubert. — Eoncertftüd von Volkmann. 297
Ungleich geringer war der Erfolg von vier »Fragmenten«,
welhe man aus Schubert's nachgelafienen, noch ungedrudten
Symphonien gewählt und gleihlam zu Giner Symphonie zu—
jammengeftellt hatte. Die beiden erften Säge find einer Sym—
phonie entnommen, weldhe Schubert als 19Yjähriger Jüngling
componirt und die »Tragiiche« genannt hatte. Sie hiege wohl
bejier die »Pathetiſche«; pathetiich in dem felbitbewußten, Leiden:
Ihaftlihen Tone der Cherubini'ſchen Ouverturen ift nament—
lich der erite Satz. Nicht eben selbititändig oder glänzend in
der Erfindung, weiſt er doch ein reifes mufifalifches Gefühl,
Dabei ein präcifere® Zuſammenfaſſen der Form auf, als die
jpäteren Inftrumentaljachen des Meiſters. Das Andante bringt
in Mozart'ſcher Ausdrudsweile manchen eigenthümlich Schus
bert'ſchen Gedanken; fchade, daß die janfte einheitliche Em—
pfindung des Stückes (überdies durch Rofalienfetten und Aehn-
liches) über Gebühr breitgezogen wird. Das Scherzo, neun
Jahre fpäter componirt, äußert bereit3 den vollen, gegen
Schubert faft übermädtig einftürmenden Einfluß Beethoven’.
Die anregende Wirkung dieſes lebensfriſch pulfirenden Sakes,
wird nur durch feine allzu jtarfe Neminiscenz an das Scerzo
in Beethoven’3 A-dur-Symphonie, dann durd ein Trio geftört,
deſſen langjam rucdmweifer, an Automaten mahnender Rhythmus
und in einige WVerwunderung fette. Das Finale iſt wieder ein
Werk der Jugend (1815) und ihres vergnügt lärmenden Thaten-
dranges, der fich regt und bewegt, ohne fih noch um Biel und
Erfolg Großes zu kümmern. — Niemand wird ohne Rührung,
ohne Staunen dieſe Blüthen eines jo früh und üppig produ—
cirenden Talentes betrachtet haben. Ob fie ohne dies perſön—
liche und Hiftorifche Intereffe blos durch ihren abjoluten Werth
nachhaltig zu wirken vermöcdten, wollen wir nicht enticheiden.
Auf das Angenehmite überrafht uns Volkmann's neues
‚Goncertftüd für Piano und Orcheſter«. Endlich doch
wieder ein neues Werk, mit dejjen Verdienjt wir und nicht
durch die Worte »geiftreich« und »interejlant« abfinden müfjen!
Geiitreih it Volksmann's GCompofition allerdingd, und ins
terefiant in hohem Grade; aber fie iſt weit mehr als dies.
Sie iſt durch und durch mufifalifch, der freie Ausfluß eines
15*
228 1860.
feingebildeten, echten Talents. Sie bietet und feinen falten
Raritätenfaal von Combinations-Wundern, jondern in plajtiich
gegliedertent Leib eine fingende Seele. Die melodiihe Er:
findung ift, wenn auch nicht üppig, doch ſpontan und eigen:
thümlih; der Bau, das Detail, die Inftrumentirung verrathen
die erfahrene mählerifhe Hand des Meiſters. Eine köſtlich
inftrumentirte, langfame Ginleitung, deren jchmerzliche Klage
an ungariihe Weiſen anklingt, führt zu einem äußerft finnigen
Thema mit Variationen; Schumann könnte es gejchrieben
haben. Gleihfalld3 in unmittelbarem Anſchluß, und ohne den
alterthiimlihen Formalismus der »Cadenz«, folgt ein raid)
dahinperlendes Allegro. Gegen das Frühere fällt diefer Schluß:
fat dadurch ab, daß der Poet hier allzu höflich fich hinter
den Pirtuofen geftellt hat. Das Paſſagenwerk übermwuchert
den ſelbſtſtändigen Gedanken und erinnert damit an eine
ältere Epoche der Eoncert:Gompofition. Doch bewahrt der Sag
auch unter dem Dichteften Brapourflitter feine vornehme, cha—
raftervolle Haltung. An die Virtuofität des Pianiſten ftellt das
»Concertſtück- jo hohe Anforderungen, daß Herr Dachs ihnen
nicht durchweg genügte.
Das zweite »philharmoniſche Concert« eröffnete die
Duverture zu Cherubini's Oper: »Die Abencerragene,
ein Tonſtück, das troß einiger veralteter, echt Cherubini’jcher
Eigenheiten, durch feinen leichten ritterlihen Schwung erfreut.
Daß tragiihe Schickſal des edlen mauriichen Fürftengeichlechts,
wie ed die Sage und Chateaubriand’3 Novelle »Le dernier
des Abencerrages« jchildert, findet zwar in der Duverture feine
entiprechende Größe. Allein ſeit Cherubini's Opern leider zu
einer bloßen Berforgungsanftalt für Goncerte herabgedrüdt
find, ift uns auch die Beziehung ihrer Duverturen zu den
dramatiihen Stoffen fo gut wie entichtwunden, und fo fünnen
wir im vorliegenden Fall uns ihrer rein muſikaliſchen Friiche
und Abrundung ungetheilt erfreuen.
W. Gade’3 vierte Symphonie in B-dur machte den an-
genehmiten Eindrud. Wir ziehen fie ihrer berühmteren Schweiter
in C (Nr. 1) vor, im welcher der Ueberſchuß des poetiichen
Elements über die techniiche Gewalt den Kunſtwerth beein:
Symphonie von Bade. — Elegiiher Geiang von Beethoven. 229
trächtigte. In der B-Symphonie bringt ung Gade alle Vor—
züge feiner poetiihen Natur, während frühere künſtleriſche
Mängel (die formloſe Ueberſchwänglichkeit, die mufiviichen
Durhführungen, die Neminiscenzen an Mendelsjohn) ungemein
gemildert erſcheinen. Weder groß, noch hinreißend, aber recht
eigentlich »Tiebenswürdige muß man ein Werk nennen, aus
welchem ein feiner Geift, ein warmes Gemüth in maßvollem,
gewähltem Ausdruck zu uns fpriht. Die Beſchränkung, welche
der Componift in den Themen und dem Umfang der Süße
fich auferlegte, ift dem Werke zugute gekommen. Es erreicht in
feiner harmonischen Abrundung alle® was es erreichen wollte.
Gade ift eine echt mufifaliihe Natur, wie ihon Schumann
iherzend aus deſſen Namen deducirte, der gleichſam quinten-
weije geftimmt, die vier Saiten der Bioline (g, a, d, e)
repräjentirt. Was ihm in der Folge geichadet hat, waren die
übermäßigen Hoffnungen, die man an jein erites Werk, Die
Oſſian-Ouverture, fnüpfte. Die Welt Tieß e8 dem jchuldlos
leberfhäßten entgelten, daß fie ein liebenswürdiges, aber be:
grenztes Talent für ein epochemachendes Genie angejehen hatte.
Werke von dem echten, beicheidenen Duft der B-Symphonie
[oben wir lieber zu viel als zu wenig, in einer Zeit, wo faum
mehr Jemand ein Orcheiterftück fchreibt, ohne den feiten Vorſatz,
Beethoven unbedingt zu überbieten.
Die einzige Gejangönummer im zweiten philharmonijchen
Concert war Beethoven’ »Elegiiher Gejang« (vier:
ftimmig, mit Streihinitrumenten). Wir zählen nicht zu den Ver:
ehrern diefer zwar £laren, würdigen, aber keineswegs ideenreichen,
nicht Beethoven’schen Compofition Beethoven’d. Trotz der
hohen Opuszahl 118 möchten wir diefelbe für ein früheres
Gelegenheitsſtück des Meiſters halten, wie denn gerade unter
den Bublicationen jeiner legten Jahre ſich viele finden, die auf
Sugendarbeiten hinweiſen und mit den wirklichen Schöpfungen
der »dritten Periode« feine Aehnlichkeit haben *).
*) Dahin gehören 3. B. die Geſänge op. 108, 112 (oder 119),
118, 121, 122, 128; die Variationen op. 105 und 107, das Rondo
op. 129 u. a.
230 1860.
Eborvereine.
Die Aufführungen der Sing: Afademie haben den be—
ionderen Reiz, in ihrer eriten Abtheilung recht eigentlich
»hiltoriiche Concerte« zu fein. Zu den jchönften Aufgaben
folder Chorvereine gehört es ja, aus früheren Jahrhunderten
die ehrwürdigen Meifter heraufzubeichwören, die im Glauben.
und in der Kunſt gleich aroß daftanden. Die alten fatholiichen
Meilter: Paleſtrina, Orlando di Laſſo, Gabrieli; die jpäteren
Italiener Leo, Durante, Lotti; die tönenden Säulen des Pro:
teitantismus, Eccard, Schüß, Sebaftian Bad, — fie alle find
und jeit dem Wirken des »Singvereind« und der »Sing—
Akademie« feine bloßen Namen mehr. Sie haben lebendig
individuelle Phyſiognomien bekommen, die bereit anfangen, auch
dem größeren Publicum fich einzuprägen, in beitimmter Weile
zu wirken und immer zahlreichere Verehrer zu gewinnen. Vor
schn Sahren noch wäre ein Programm, wie das lebte der
Sing-Atademie, eine Unmöglichkeit geweſen. Set, wo durch eine
conjequente ernite Richtung jo viel gefichert ift, müflen die Ge—
jangvereine allerding® noch auf der Huth fein, die freudige
Empfänglichfeitt des Publicums nicht durch allzuviel Fremd-
artige3 abzuſchwächen. Man darf es weder ignoriren noch
tadeln, wenn eine größere Verfammlung, nad) aufmerkffamen
Anhören alter Kirhenchöre, mit einiger Begier nad) den welt-
lihen und modernen Nummern am Ende des Goncertzettel?
hinüberblicdt. Wir find nun einmal, jo entjeglicd) dies Elingt,
moderne und weltliche Menſchen. In der Kunſt ſympathiſiren
wir wärmer mit dem poetiichen als mit dem kirchlichen Intereſſe,
und erbauen wir uns auch gerne durch künſtleriſche Wallfahrten
nah den verlaflenen Stätten früherer Jahrhunderte — und
dort umgetheilten Herzens anzufiedeln, vermögen wir nicht mehr.
Auch weit größeren Zeiten gegenüber erfcheint unsere Zeit und
doch immer als die beite, und ganz vermag und nur Die
Kunſt auszufüllen, welche durch den gemeinfamen Strom unferer
Ideen und Empfindungen hindurchging. Warum wir unverſehens
für das Moderne plaidiren, nachdem wir eben die Errungen:
5. Bad. 49. Bialm. 231
schaft des Alten geprieien? Weil ein Verſchieben des bisherigen
Gleichgewichts in den Chorconcerten und gegenwärtig noch ge:
fährlich dünkt.
Das Concert begann mit Seb. Bach's 49. Pſalm für
zwei Chöre. Die Wirkung dieſer Motette ſtand in keinem Ver—
hältniß zu der außerordentlichen Mühe, welche die Sing—
Akademie darauf verwenden mußte. Der Chor ſetzte feſt ein,
gerieth aber bald in merkliches Schwanken. Todesmuthig kämpfte
er ſich durch die erſten Abſätze bis zu dem Choral, dem von
Sängern und Hörern gleich erſehnten Ruhepunkt, um von da
wieder erſchöpft die Laſt der athemverſetzenden langen Solfeggien
des Schlußſatzes aufzunehmen. Man mache nicht die Sänger verant—
wortlich für den faſt beängſtigenden Eindruck, den die Motette
in ihrem erſten und letzten Dritttheil hervorbrachte; die beſten
Sänger der Welt werden hinter dieſer Aufgabe zurückbleiben.
Muſikaliſche Maſchinen von ſo und ſo viel Sängerkraft müßte
man haben, um ſolchen ſtimm- und noch mehr chorwidrigen
Satz präcis durchzuführen. Beim Studium der Partitur werden
wir bewundernd in diejen großartig gedachten, kunſtreich ge:
thürmten Bau uns verjenfen, wir fönnen uns allenfall® au
einer Ausführung desfelben durch Orgel und Streid-Inftrumtente
erbauen; allein es flieht uns jeder Genuß, wenn wir eine
große Zahl Menfchenftimmen in athemlojer Halt an Dielen
contrapunftiichen Rieſenleitern auf» und niederflettern jeher.
Das Biel diefer Anftrengungen wird dem Hörer weder
muſikaliſch noch poetifch ar, weil das inftrumentale Figuriren
der Choritimmen es unmöglich macht, dem mufifaliichen Grunde
gedanfen zu folgen oder auch mur eine Eilbe vom Tert zu
veritehen. Wir fennen die Gefahr, jahrhundert alter Größe
gegenüber etwas anderes als jtaunendes Entzüden zu äußern,
— ım den Preis unſerer Aufrichtigfeit wollen wir jedoch
diefer Gefahr niemals entgangen fein. Aus der tiefjinnigen,
aber verwirrend ımruhigen Gothif der Bach’ichen »Motette«
traten wir in Baleftrina's »Stabat« und Lotti's »Crueifixus«
wie in einen weiten romanijchen Tempel ein, auf deſſen flaren,
ruhig gegliederten Mailen das volle Sonnenlicht jpielt. Zwei
anmuthige und äußerſt chavakteriftiiche Frauenhöre von Schu—
232 1860.
mann, »Die Tamburinihlägerin«e und »Der Waſſer—
mann«, mußten unter lebhaften Beifall wiederholt werden.
Ein groß angelegter, etwas jchwerfällig motettenhaft gehaltener
achtitimmiger Chor von Schumann, »Talismane«, vermochte
und nicht zu erwärmen. Der Componiſt hat den Schönen Sprud)
Goethe’, den hier die breite Behandlung faſt erdrüdt, in
früheren Jahren (op. 25) weit ergreifender als ein einfaches
Lied componirt.
Singverein.
Die größte Nummer war Schumann’ Ballade: »Der
Königsjohne, eine nicht blos jchwächere, jondern unſeres
Erachtens geradezu troftlofe Compofition. Sie entftand im
Sahre 1851, faſt gleichzeitig mit der jo viel friiheren und
bedeutenderen »Bilgerfahrt der Nojee. Von den zahlreichen
Verſuchen Schumann’s, der Balladen-Compofition eine neue,
großartige Form zu Schaffen, ſcheint uns dieſer »Königsſohn«
der unglüdlichfte. Es iſt die Uhland'ſche Ballade, welche hier
unverändert, nur mit Hinzufügung einiger breit abjchließender
Strophen (Lied des blinden Sängerd und Schlußchor) in Mufif
geſetzt iſt. Schon die Aufbietung aller Chor: und Orcheiter:
mittel erjcheint für den Stoff etwas unverhältnigmäßig; noch
befremdender wirft die mufifaliihe Ausdrucksweiſe, für welche
dieje Mittel hier Verwendung finden. In tpröder declamatorifcher
Abhängigkeit folgt die Mufif den Morten ded Gedicht durch)
lange Streden, ohne zu einer ausgeführten Melodie, einer ge=
ihloffenen mufitaliihen Form fih zufammenzufaffen. Derlei
rhethoriſche Halbmufit ift natinlih im ganzen Chor weit be—
fremdender und unzuläffiger, denn als Recitation Einer Stimme,
wie bei R. Wagner. Der erite und fait einzige Lichtpunft
der umfangreichen Gompofition ift der Chor: »Heil uns!«, wo
der muſikaliſche Gedanfe fich endlich in einer feiten, einheitlichen
Form ausführt, nachdem er bisher wie heimatlos über dem
Dcean flatterte. Das Grundübel der ganzen Conception liegt
in der fortwährenden Vermengung des Epiichen und des Dra—
Chöre von Schumann, Schubert unb Mendelsſohn. 233
matiſchen. Wenn ſchon die »Peri« ftellenweife unter dem
Uebelſtand leidet, diefe Elemente nicht Scharf auseinanderzuhalten,
wie viel empfindlicher berührt er uns bier, wo den Meilter be—
reitö Die reihe Schöpfungsfraft jener Zeit verlaffen hat und Die
mufifaliihe Ausführung nicht mehr Reiz genug befigt, über das
Bedenkliche der ganzen Anlage zu täufchen oder zu tröften. In
der Aufführung durch den Singverein (bei Clavierbegleitung)
ging überdies die reihe Mannigfaltigfeit der Orceiterfarben
verloren, welche im Original manche dürre Stelle friſcher und
duftiger ericheinen laſſen.
Bon Franz Schubert hörten wir einen ganz unbedeutenden,
furzen »Soldatenhor« aus dem Singipiel »Der vierjährige
Poſten« (1815) und ein angeblihes »Lied« mit Clarinett-
Begleitung »Der Hirt am Felien«e. Der erite Theil dieſer
lyriſch-dramatiſchen Monodie iſt noch ganz liedmäßig und erfreut
durch einige ſehr hübſche Motive. Allein je weiter, deito raft-
loſer vernichtet der Componiſt diejen Eindrud, indem er die
freundlide Hütte allmälig zum Palaſt auszubauen verſucht.
Auf einen pathetiichen, dabei etwas ärmlichen Mitteljug folgt
ein ganz opernmäßiger Schluß mit ermüdenden Wiederholungen,
Paſſagen und Cadenzen, alles jo wenig vornehm als möglich.
Beinahe möchte man am Ende fragen, ob dies wirklich
Schubert jei? Wir müjjen uns gewöhnen, unter den Werfen
dieſes überreichlich fruchtbaren Tondichters »Pietätsſtücke« und
»ſchöne Gompofitionen« zu unterjcheiden. Für einige Zeit hinaus
hätten wir in der »Pietät« Ausreichendes geleiftet. Mit den
gedachten zwei Stüden hat der »Singverein« weder für Die
Erbauung des Hörer noch für die Verehrung Schubert’s
geforgt. Gottlob, daß wenigſtens mit der Gompojition des
Grillparzer’ihen »Ständchen's« auh der echte Schubert
vertreten war.
Als Novitäten erfchienen zwei Chöre von Mendelsjohn:
»Die Nachtigall«, ein furzer, aber ftimmungsvoller Sa, dann
ein ſtrophiſch behandeltes, friſches und äußerit zierlich ausge—
arbeitetes Tonſtück, betitelt: »Die Waldvöglein.«
234 1860.
KHammermufiß.
Hellmesberger’3 fünfte Quintett-Soirée eröffnete mit
Schumann’3 zweiten Streichquartett (F-dur). Dieje wunderbar
ihöne Tondihtung, in welcher üppige Erfindung und tiefiter
Kunitverftand ſich das Gleichgewicht halten, fand eine bes
geilterte Aufnahme. Je häufiger dem Publicum der duftende
Kranz Schumann’iher Kammermuſik gereicht wird, deſto lieber
muß ihm jede einzelne Blüthe desjelben werden.
Schubert’ bekanntes Streihquintett madte den
Schluß. Es vereinigt alle Vorzüge und Mängel Schub ert’jcher
Initrumental-Compofition in einem vollftändigen Mikrokosmus:
die üppigfte Fluth melodiſcher Erfindung, und fein Verfiegen
gegen dad Ende; himmlische Anfänge, Mittelfäße, in welchen
die genialften Aufflüge mit Momenten peinlichiten Sitenbleibens
wechſeln, und ſich in der Unmöglichkeit, zu rechter Zeit zu
Ichließen, vereinigen; ein eriter Sat voll Geiſt und Leben, ein
entziikendes Andante, hierauf ein ſchwaches Scherzo, ımd ein
Finale, das halb jo trivial, noch immer »volksthümlich« genug
wäre. Zwiſchen diefen befannten, jtets neu willfommenen Werfen
ftand ein Elavier:Trio in B-moll von Robert Volkmann.
Mir vermögen diefem Werke leider nicht das gleiche Lob zu
zollen, wie dem neuen Slavierconcert des geehrten Componiſten.
Er drängt uns diesmal in der That zu den Ausdrüden »geiſt—
reich und intereſſant« Das Trio iſt geiltreih mit einem
Beigeſchmack mifanthropifhen igenfinns, intereffant mit
ſtellenweiſer Weberbietung ins Gegentheil. Wir unterfchäßen
niht die große pathetiihe Anlage und fräftige Steigerung
im eriten Sab, nicht das zart erfundene und finnig ver:
Ihlungene As-dur-Thema des »Mllegretto«r, auch nicht Die
bedeutenden Lichtblidde, welche die wirre Flucht des »Finales«
unterbrechen. Allein die Freude daran wird uns durch jenes
Gebahren verfümmert, welches die modernite Schule als das
»Sprengen der muſikaliſchen Feileln und VBordringen an die
Grenzen ſprachlicher Beſtimmtheit« feiert. Bald wird der
muſikaliſche Fluß plöglich recitativartig unterbrochen, bald durch
Trios von Volkmann und Bargiel. 235
ganz unerwartete Gadenzen, Uebergänge, Pauſen die Eurpthmie
der Theile geitört, bald einem fleinen, geringfügigen Motiv
durch zahlreihe Wiederholungen und Steigerungen eine dem
Hörer umbegreiflihe Bedeutung zugelproden u. f. w. Gegen
Eigenthümlichkeiten der Form (tie der Ausgang des raschen
Finales in ein Largo) würden wir nicht? einwenden, wenn fie
ung mufifaliich Elar und wirkſam erjchienen. Solche Muſik macht
und manchmal den Gindrud, als wollte der Componift uns
eigentlich eine interefiante Novelle erzählen; wir horchen mit
Spannung, können aber nicht enträthieln, was er meint. Dazu
dieſe maß- und gnadenloje Verzweiflung, welche das ganze
Werk beherricht! Man würde fih faum wundern, wenn nad
diejem Trio anſtatt der üblichen Erfriichungen geladene Revolver
und Cyankali-Gläschen ſervirt würden.
Das Trio ift fein neues Werk Volkmann's. Es trägt die
Bezeihnung op. 5 und iſt obendrein — Franz Lijzt gewidmet.
Wir haben es alſo mit einer Arbeit zu thun, deren Vor—
führung durch künſtleriſchen Ernſt und durch große Einzel:
ihönheiten gerechtfertigt wird, die aber demmmgeachtet nicht
mehr geeignet ift, den gegenwärtigen Standpunkt des Come
poniſten zu bezeichnen. Wer Volkmann's neueſte Tondichtungen
fennt, wird uns mit Freuden beiftimmen.
Neu war ein Glaviertrio von MWoldemar Bargiel.
Der Componiſt (ein Stiefbruder Clara Wieck's) hat jich bereits
durh einige, Arbeiten ernfterer Richtung vortheilhaft bekannt
gemadht. Das Trio felbit konnte uns feinen günstigen Eindrud
hinterlaffen. Die große Anlage des eriten Satzes, die ftellenweije
glüdlihe Behandlung der Technik, manche veriprengte Züge
von Geift und Empfindung vermochten uns für die Unerquid:
lichkeit des Ganzen nicht ſchadlos zu halten. Bei fehr fpärlicher
Erfindung erfchien und die Sucht, überall bedeutend und originell
zu fein, doppelt läſtig. Natürlichen Verbindungen und Ab—
Ichlüffen wird faft abfichtlich ausgewichen, ſei es durch rhapſodiſche
Unterbredungen oder (wie im Finale) durch einen unmotivirten
Wechſel fchneller und langſamer Bewegung. Auffallenden Nach—
ahmungen Beethoven's und Schumann's begegnen wir häufig,
fonnten aber nicht finden, daß ſchwächliche oder geradezu triviale
236 1860.
Gedanken (wie das Hauptmotiv des Finale) dadurch wejentlich
gehoben wurden.
Mir möchten über ein Werk, das offenbar mit nicht ge-
wöhnlihem Ernft und Fleiß gearbeitet ift, keineswegs nad ein—
maligem Hören aburtheilen; wir geben nur den fubjectiven
Sindrud, den wir davon empfingen. In dieſem Totaleindrud
waren aber die Factoren des Gejpreizten, gefünftelt Genialen
zu vorherrſchend, als daß eine genauere Befanntihaft uns
wejentlich befehren dürfte.
Stockbaufen.
Stockhauſen vollbradte vor feiner Abreife noch das
Wunder, an einem warmen Maiabend das Innere des Mufik-
vereinsfaales einem wohlbefradhteten Sklavenſchiff ähnlich zu
machen. Seine Kunſt in Ehren, — aber allein hätte er dies
Unerhörte doch nicht bewerfitellig. Dazu bedurfte er
eines Alliirten, der die Herzen der Wiener wehrlos findet, wie
fein Zweiter: Franz Schubert’s. Die Verehrung des Wiener
Publicums für dieſen Tondichter hat eine eigenthümliche, faft
verwandtichaftlihe Zärtlichkeit. Mag fie Hin und wieder
(namentlid in Sreijen, deren Erinnerungen mit Schubert jelbit
verflochten find) etwas zu weit gehen, und ohne ftrenge Unter—
icheidung auch die ſchwächeren MWerfe des Lieblings vergdttern,
als künſtleriſche Gricheinung im Großen und Banzen kann
Schubert faum überfchägt werden. Das Programm von Stod:
hauſen's Abjchiedsconcert hatte Schubert allein beftellt: der
Eoncertgeber jang nämlich den ganzen, aus zwanzig Liedern
beitehenden Cyklus »Die ſchöne Müllerin.« Es ift dies
ein Experiment, das unferes Wiſſens zum eritenmal von Stod:-
haufen vor drei Jahren gewagt wurde, und zwar mit voll:
ftändigem Erfolg. Wir haben damals das Beitechende, Glänzende
diejes Einfalls lebhaft anerkannt. Fürs erfte wurde dadurch dem
Bublicum eine unfchäßbare Anfhauung von dem Zufammenhang
eines Werkes gegeben, das in vielen Theilen allbefannt, in
anderen auffallend zurüdgefegt iſt. Sodann erzielte Der
Stodhauien. 237
Sänger durh dieſen Zujammenhang den wichtigen Bortheil,
das bisher nur lyriſch Vereinzelte auch einmal dramatiſch
auffaſſen zu fönnen. Demungeachtet erſcheint eine öftere Wieder:
holung de3 Erperiment® kaum rathjam: die Nachtheile eines
ſolchen lyriſchen Monftreconcertes treten empfindlich herbor,
fobald der Reiz der Neuheit fie nicht mehr dedt. Der enge
Kreis, in dem Dichter und Mufiker ihre idylliſchen Bildchen
ausführen, muß eine vollitändige Abrollung derjelben allmälig
monoton werden laſſen. Die »Müllerlieder« gehören zu dem
Schönften, was Schubert gefungen, alfo was die deutſche Muſik
überhaupt befigt. Müßte man einen Theil diejer Lieder bevor:
zugend herausfuchen, die Wahl wäre überſchwierig; jollte man
Ihmwächere ausſcheiden, würde fie es im entgegenjegten Sinne
gleichfalls. Allein die Liebe des guten Müllerburichen in all
ihren zwanzig Stadien ununterbrochen mitzumachen, das hat
fein Ermüdendes. Wer müßte dies Schwelgen in lauter zarten,
rührenden Empfindungen nicht am Ende mit Ermattung bezahlen?
Dazır kommt, daß die frifch und mohlgemuth anhebende Ge—
ſchichte alsbald einem unglüdlihen Ausgang zufteuert, und die
Miühlräder nachgerade von einer Thränenfluth getrieben werden.
Die Dichtung geräth aus warmer, ungejchminfter Empfindung
häufig in faliche Sentimentalität. Wenn es gegen das Ende jo
weit fommt, daß »der Mond fich hinter die Wolfen verftedt,
damit die Welt feine Thränen nicht ſehe«, und daß die
»Englein fih alle Morgen die Flügel abichneiden, um zur Erde
zu gehen«, dann darf wohl jelbft der »gemüthliche« Biedermanı
ungeduldig werden. Kurz: je mehr der Hörer im Verlauf des
Cyklus nad) kräftigen Gegenfägen ſich jehnt, defto tiefer tauchen
Dichter und Componift an derjelben Stelle in den grundlojen
See janft Shmerzliher Empfindung.
Stodhaufen’3 edler, feingebildeter Vortrag der Schu:
bert’jchen Lieder ift bekannt. Mochte man auch hier mehr Kraft
und Feuer, dort eine etwas realiftifhere Färbung wünschen,
das Ganze blieb echt fünftlerifch; einzelnes, das eine nuancirtere
Auffaffung zuläßt, wie »Eiferfucht und Stolz« u. a., geradezu
vollendet. Herr Dachs machte fich durch die correcte Durch:
führung des Nccompagnements verdient; jchade nur, daß er
238 1860.
dieien bei Schubert jo bedeutungsvollen Theil nicht Eräftiger
vortreten ließ. Den verichiedenften, zum Theil jehr tüchtigen
Pianiften, die wir in jüngfter Zeit accompagniren gehört, war
diefe weiblihe Zaghaftigkeit ded Anſchlags gemeinfam. Aus
Furcht, den Sänger zu deden, dedten fie die Idee des Come
ponijten. Ein muſikaliſches Ohr empfindet es geradezu peinlich,
wenn die Grumdbäffe nicht mit Entſchiedenheit einherfchreiten
und die Singftimme gleichſam haltlos in Lüften fchwebt. Hätte
Schubert folche übertriebene Delicatefje gewünfcht, jo würde er
feine SLiederbegleitungen für die Guitarre gefchrieben haben.
Frau Rettich bewies ihre Pietät für Schubert, indem fie
einen, ihrer künſtleriſchen Richtung durchaus fernliegenden
»Prolog«e und »Epiloge ſprach: angeblih »naivde« Gedichte,
in Wahrheit unausftehlich gezierte Anfprahen an ein vom
Dichter ſehr unmündig gedachtes Publicum. Man kann dem
freundliden Bildchen unferer »Mühle« nicht beſſer jchaden,
als indem man vor und hinter fie dieje poetiſchen Vogelſcheuchen
aufpflanzt.
Sans v. Bülow.
Was an Bülow zumeift fejlelt, ift, außer der vollendeten
Technik jeines Spiels, die ftet3 geiftreihe und eigenthümliche
Auffaffung jeder Compofition. Bülow fpielt Componiften weit
auseinanderliegender Epochen und verjchiedenften Gepräges mit
einer Durchdringung ihres Charakters, die man zugleich getreu
und frei nennen muß. Jedes Motiv, jede Melodie gewinnt
unter Bülow's Händen eine charaftervolle, bewußte Haltung,
ohne deßhalb aus der Harmonie de Ganzen herauszutreten.
Selbit da, wo wir mit Bülow's Auffaffung nicht übereinftimmen,
folgen wir ihm mit dem Intereſſe, das ein feines Zieles ſich
vollfommen bewußter, fein und vielfeitig gebildeter Geiſt jofort
erregt. Die Schatten, die einer fo modernen, reflectirten Indi—
vidualität nachziehen, fieht man ohne unsere ausdrüdliche Hin—
weilung. Im legten Concert fchienen fie uns ftark vorzudrängen.
Zwar fehlte wiederum nirgends Bülow's Geift; allein diejer
Geiſt verrieth eine gebrochene, blafirte Sinnlichkeit. Die friiche,
9. d. Bülow. 239
Itraffe Lebenskraft hatte durchweg einem grämlichen »esprit«
Pla gemacht. Die Vorliebe für den haut-goüt (die franzöfiichen
Ausdrüde drängen fih mit der Sade jelbit auf) erichien auf:
fallend jtarf in Bülow's Spiel, wie fie auch in feinen Pro—
grammen ſich zu fteigern jcheint. Liſzt's grazidie Paraphrafe
des Schubert’fchen A-dur-Walzer® haben wir von Bülow vor
zehn Jahren weit jchöner gehört, nämlich anfpruchölojer und
gefünder. Diesmal durdzog ein jo giftige tempo rubato das
ganze Stüd, daß dieſes förmlich in unterfchiedlofe Trümmer
zerbrödelte. Wie reizend müßten diefe unvergleichlichen Triller
und Ballagenblüthen wirken, jähen wir den Stamm, der fie
fefthalten fol, nicht fortwährend jchaufeln und ſchwanken!
Liſzt's Ballade in Des-dur rechtfertigt ihre Vorführung fehr
nothdürftig durd) die dem Spieler ſich darbietende Bravour—
entfaltung. Bülow bewältigte fie glänzend, war jedoch hier wie
überall weit glüdlicher im arten und Zierlichen, als in den
eigentlichen Kraft: und Turnfünften der Virtuofität. Mit Maß
und Feinheit, aber durchaus fühl, fait gleichgiltig, entledigte
ſich Bülow der Beethoven’shen Sonate op. 96 in G-dur.
1861.
Beethovens große Feſtmeſſe.
(Ausgeführt von der »Seiellihaft der Mufiffreunde« unter Herbed’3 Leitung.)
>Mehreren meiner Arbeiten gelang augenblidliche Wir:
fung ; andere nicht ebenso faßlich und eindringend, beduriten,
um anerkannt zu werden, mehrere Jahre. Indeſſen gingen
auch dieſe vorüber, und ein ziveites, drittes, nachwachſendes
Geſchlecht entichädigt mich doppelt und dreifach für die Un—
bilden, die id) von meinen früheren Zeitgenoffen zu erdulden
hatte«.
Diefe Worte Goethe’3 aus der Einleitung zum »Weſt—
dftlihen Divan« fand man in Beethoven’: Cremplar an der
Seite angezeichnet, und überdies in jeinem Tagebuch eigenhändig
abgejchrieben. Beethoven war überzeugt und refignirt, feine
jpäteren, jchtwierigeren Werfe von den Zeitgenoſſen unverftanden
zu ſehen. Jene Hoffnung aber, an der er mit Goethe's Worten
ſich aufrichtete, Hat ihn nicht getäuscht.
Der Eindrud der »Meſſe« war ein mächtiger. Darüber
it fein Zweifel möglih; wie unflar, jchwer und erbrüdend
auch Manches daraus der VBerfammlung erjcheinen mochte. Gibt
es doch fein zweites Merk Beethoven's, daß den unvorbereiteten
Hörer mit folcher Rieſenkraft niederzwänge; erhebend, ihn zu—
gleich betäubt, entzückend, ihn verwirrt. Die »D-Mefle« und ihr
Seitenjtüd, die neunte Symphonie, find Schöpfungen, bei denen
man den Ausſpruch Zelter’3 begreift: »Ich bewundere Beethoven
mit Schreden.« Dieſer Schreden weicht nur einem ausdauernd
hingebenden Studium, Ein Werf, das Beethoven mit der ganzen
Machtfülle, aber auch mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit feiner
Deethoven’3 große Feſtmeſſe. 241
Phantaſie geihaffen, genießt fih nicht jo leicht, jo ungeftraft
wie eine Haydn'ſche Symphonie. In diefer »Meſſe« hat
Beethoven Allee, wad an höchſten Ideen und religiöfen Ge:
fühlen in ihm ruhte, niedergelegt; er hat drei Jahre eines
Leben? daran gewendet, das eben im Abendroth feiner doppelten
Majeftät, des Genius und des Unglücks, am leuchtendften er:
glühte. |
Se näher und vertrauender man an die »Meſſe« tritt,
defto reiner werden ihre Umriſſe, deito feiter ihr Zuſammen—
hang, deito tiefer ihr Sinn. Im Verlaufe weniger Proben —
denn das trodene Partitur-Studium reicht nicht au8 — mar
uns die »DMeſſe« klarer und jympathiicher geworben, als
jemald das Finale der neunten Symphonie Gewiß, daß fie
überfichtlicder, harmonijcher, und bei aller Gewaltjamfeit doc
ichonender in den Singftimmen ift, als jene »Freudenhymne«.
Zu Bergleihen mit der neunten Symphonie wird man nicht
blos durh den eng verwandten Geift diejer Werke, jondern
überdies durch zahlreihe Anklänge fortwährend gedrängt. An
fünftleriihem Reichthum, an troßiger Größe, an freiefter Ent:
feffelung einer unermeßlichen Phantafie ftehen dieſe beiden Ton
fhöpfungen einzig da. Als coloffale Herkulesjäulen wachen
fie am Ausgange der modernen Mufik, ein deutliches »Nicht
weiter!« hier der Kirhenmufif, dort der Symphonie zurufend.
Man wird ebenfo wenig auf ihnen »mweiterbauen« fönnen, als
der Genius Beethoven’3 vereint mit all feinen perjönlichen
Heberzeugungen, Kämpfen und Schiejalen, mit all feinen pſycho—
logiſchen und pathologiihen Vorausſetzungen jemal3 in einem
Menfchen fi wiederholen wird. Es it feine Frage, daß die
»Feſtmeſſe« durch ihre ganze Anlage und zahlreihe Einzeln—
heiten an der äußerften Grenze der »Kirchenmuſik« fteht. Dennoch
muß man mit dem oft wiederholten Vorwurf ihrer »Unkirch—
lichkeit· ſehr vorfichtig fein. Ob eine Kirchen-Compoſition den
Anforderungen eine bejtimmten Gottesdienftes entipreche? und
ob fie von religiöfem Geift erfüllt ſei? find zwei verjchiedene
Tragen. Beide, obwohl vollftändig berechtigt, können dennoch
aus einem höheren Standpunft nicht auf gleicher Stufe ftehend
erjcheinen. Beethoven's Verhältniß zur katholiſchen Kirche war
Hanslid. Aus dem Goncerifaal. 2. Aufl. 16
242 1861.
ein jehr lockeres und mochte fih auf den freundlichen Nachhall
einiger Jugendeindrüde befchränfen. Seit feinem, von ihm jelbit
ipäter verworfenen Dratorium »Chriftus am Delberg« und der
ersten Meffe, die bereits vielfah das »Kirchliche« überjchritt,
hatte Beethoven viele Jahre vergehen lafjen, ohne wieder an
die Kirche zu denken. Da gab ihm die Injtallation feines er:
lauten Schüler und Freundes Erzherzog Rudolph zum Erz:
biſchoff von Olmütz die äußere Anregung zu einem großen
mufilaliihen Hochamt. Begonnen hat Beethoven dad Werk
offenbar nod mit dem Vorhaben, es, bei aller Großartigfeit
der Auffaffung, doch den Bedürfniſſen der Kirhe anzupajjen.
Das Kyrie mit jeinen ruhig gelagerten, harmoniſch ausklingen
den Maſſen, mit feiner jo ganz in Frömmigkeit gefättigten
Stimmung, muthet weder dur den mufifaliihen Gedanken
noch durch die ausführenden Mittel der Tirchlichen Gepflogen-
heit Widerftrebendes zu. Allein jchon im Gloria riß die ge—
waltige Größe feiner Anſchauung den Meifter über dies Gebiet
hinaus. Es mwiderftrebte feiner ganzen Natur, ein fo groß und
begeijtert begonnenes Werk in dem befangenen Sinn einer gottes-
dienftlichen Illuſtration durchzuführen. Mit einer unerhörten
Selbititändigfeit baut er jeden Theilfat des Tertes aus, ber-
folgt mit tieffinniger Myſtik das einzelne Wort bis in den Kern
jeiner Bedeutung und vollendet jo daS »Gloria« zu einem
Ganzen, dad an Größe der Eonception, an Reihthum innerer
Gegenjäße für fich felbit ein kleines Hochamt heißen könnte.
Die eindringende Schärfe, die malende Kraft feiner Muſik
fteigert fih noch im Credo, das die einzelnen Thefen des Be—
fenntniffe® mit genialer, dabei noch vor der Erhabenheit de3
Glaubens fi) beugender Subjectivität ausſpricht.
Se weiter, defto mehr jcheinen für den Tondichter die
Wände des Domes zurüdzumweichen, — alles wird höher und
breiter, Nicht mehr an die Kirche und an ihre Gemeinde wenden
ſich dieſe Tonmwogen: fie fcheinen gegen die Urquelle alles
Sein: zurüd zu ftrömen. Nach dem Credo beruhigt fi all:
mälig die Stimmung. Zur »Wandlung«e erklingt ein wunderbar
ſeliges »Präludium« in orgelähnliden Gängen von Flöten und
Violen. E3 führt zum »Benedictus«, worin eine einzelne Violine
Beethoven's große Feitmeife. 243
in theil3 innigen, theil3 geheimnißvoll phantaftiichen Zügen das
Gebet der Sänger umtfreift. Ernſt, tiefgefammelt hebt das
»Agnus Dei« an, belebt fich bei der »Bitte um Frieden« zu
einem paftoralartig hingleitenden Sechsachteltakt und fcheint
in hellem A-dur außflingen zu wollen, als plöglich die Scene
fi) verändert. Mehrere leiſe, heftig pulfirende Paukenſchläge
— dumpfe Sertengänge eilen wie Gewitterwwolfen darüber Hin:
weg; wie fahle, langanhaltende Blige Leuchten die Klänge ferner
Trompeten. »Agnus Dei!« betet recitativartig, mie in namen:
loſer Angst, zuerit die Altſtimme, dann noch dringender der
Tenor, bi3 der Chor mit einem erichütternden Aufjchrei: »Miserere
nobis« einfällt. Es ift dies die am meiſten verfegerte Stelle
der »Feſtmeſſe- — nad) unſerer Empfindung ihr ergreifenditer,
genialjter Moment. Wer die Macht desfelben an fich erfahren,
wird nimmer begreifen, wie ſelbſt Beethoven-Verehrer von der
Unterwürfigfeit Schindler’3 das MWegftreichen dieſer »anftößigen
dramatiihen Epifode« beantragen konnten! Kirchlich iſt fie
allerdingd ebenfowenig wie das jpäter Teidenfchaftlich herein
jtürzende Preſto des Orcheiterd, das dem Finaljag einer Sym—
phonie — freilich einer Beethoven’ihen — entnommen fein
fönnte. Died Alles hindert und nicht, den Geilt, der die
D-Meije von Anfang bis zu Ende durchweht, als einen zwar
über firhlide Formen fi frei hinausſchwingenden, dabei aber
großartig religiöjen zu bezeichnen, Wir erinnerten daran, daß
Beethoven zu den Sabungen des Katholicismus niemals ein
inneres Verhältniß gewonnen hatte, daß jein Glaube vielmehr
den Charakter eines freien, nur dem Gebot der Sittlichfeit ge:
horchenden Theismus trug. Allein jein im Unglück erprobter
Glaube an eine unmwandelbare moraliſche Weltordnung, an ein
gerechtes höchſtes Weſen, Hat ihn nie verlaffen. Bettina läßt
in dem begeijterten Brief, den fie über Beethoven an Goethe
jchreibt, den großen Tondichter jagen: »Seinen Freund Hab’
ih; ich weiß aber, daß Gott mir näher ift, wie den andern
in meiner unit, ich gehe ohne Furt mit Ihm um, ich hab’
Ihn jedesmal erfannt und verjtanden — mir it auch gar nicht
bange um meine Muſik, die kann fein böſes Scidjal haben;
went fie jich gleich veritändlich macht, der muß frei werden von
16*
244 1861.
al dem Clende, womit fi andere fchleppen!« Hat fih nun
auch Beethoven ſchwerlich jo ausgedrückt, fo liegt doch Bettina’s
Mittheilung unzweifelhaft echt Beethoven’scher Geift zu Grunde,
wie er aus einzelnen Aeußerungen des Meifterd fich ihr klar
offenbarte. Die Weihe einer hohen, freien Religiöfität, der Ernit
unbeugſamer Sittenfirenge gehen als Grundzug durch Beethoven's
ganzes Leben und Schaffen. Und er ſollte, gerade wo er ſeine
beſte Kraft an eine kirchliche Muſik ſetzte, dieſen Grundzug ver—
leugnet haben? Im Gegentheil; er gibt uns in der »Feldmeſſe«
die höchſte Steigerung jener Frömmigkeit, die wir in allen
ſeinen größeren Werfen finden. Seine ganze Muſik war ihm
Religion, in der Kunft fühlte er fich jederzeit wie im einer
Kirche — deshalb fam es ihm nicht bei, für diefen bejonderen
Fall ein eigenes firchliche® Gewand anlegen zu ſollen. »Mit
Andacht-, ſchrieb Beethoven ausdrücklich vor das »Kyrie« und
»Sanctus« und wahrlih, welde Mufit wäre andächtig, wenn
diefe nit? Die Größe und herbe Geiftigfeit dieſes »Hoch—
amted« dünkt und entjchieden religiöjfer, als die heitere Anmuth
der Haydn'ſchen Mefjen, mögen dieje auch der Kirche jelbit
ungleich werther und müßlicher fein. Die VBergleihung der
Beethoven’schen und Haydn'ſchen Auffaffung des Meßtertes er:
innert und an ein analoges Gegenbild wie Klopſtock und mie
Goethe die Bibel lad. Während der fromme Sänger der
»Mejfiade« nur die Bibel ſelbſt gläubig vor ſich aufgefchlagen
hatte, jehen wir den jungen Goethe, von einem Wuſt gelehrter
Gommentare umgeben, mit ehrfurchtvoller Skepfis in das »Buch
der Bücher« eindringen. Die unreflectirte, kindliche Gläubigkeit
Klopſtock's war ihm, war feiner Zeit abhanden gefommen. Wir
fehen denjelben Gegenfag auf dem Felde kirchlicher Tonkunft
fih in Beethoven und feinen Vorgängern wiederholen.
Heinje rühmte einmal mit Recht an einer trefflichen
Kirhencompofition, »daß fie das Gemith des Hörer erfülle,
ohne daß man jie jelbit merft«. In diefem Sinne haben wir
in Balejtrina’3 Meſſen das deal wahrer Kirhenmufif, fie find
die in Mufit erhobene Gemeinde In ruhigem Gleihmaß be—
wegt fih der Erpitallhelle Harmonienftrom, feine Melodie reizt,
fein Rhythmus beftiht und, den Chor unterbricht fein Solo,
Beethoven's große Feſtmeſſe. 245
färbt kein Ton der Inſtrumentalwelt. Paleſtrina bezeichnet
jenen Punkt in der Kunſtgeſchichte, wo die Muſik ſo weit aus—
gebildet war, daß man ſie als ſchöne Kunſt achten muß, und
doch wieder nicht ſo weit ausgebildet, daß ihr Reichthum den
kirchlichen Zweck überwuchert hätte. Paleſtrina's Muſik iſt,
wie die Kirche ſie will: nämlich nur Mittel, ein Mittel aus
mehreren, zur Erhöhung der kirchlichen Andacht. Sie gehört
vollſtändig der Kirche, ſowie die heiligen Bilder, die gemalten
Fenſter, die koſtbaren Gewänder und anderen verſtärkenden
Kunſtproducte, deren die Kirche ſich bedient, nicht um den Kunſt—
ſinn, ſondern um die Andacht zu wecken. Die höchſte Aus—
bildung der Kunſt iſt der Kirche nicht gewinnbringend. Wir
behaupten zwar auch, andächtig zu ſein, wenn wir in der Kirche
einer Mozart'ſchen oder Beethoven'ſchen Meſſe lauſchen, allein
wir verwechſeln dabei äſthetiſche Andacht mit religiöſer. Beethoven
ſelbſt ſchrieb nach Vollendung ſeiner DMeſſe an Zelter in
Berlin, er halte den »Styl a capella« (Singſtimmen, blos von
der Orgel unterftügt) »vorzugsweiſe für den einzigen wahren
Kirchenſtyl.« Er hatte jomit, troß der gewaltigen, ſymphoniſchen
Behandlung feiner Meſſe, im Grund feines Herzens die richtige
Empfindung, daß das kirchliche Intereffe eine einfachere Muſik
erheifche. Er ftellte fich aber in dem Conflict, ob in feiner Kirchen:
muſik die »Slirche« oder aber die »Muſik« herrfchen jolle (im
Begriff jeder Kirchenmuſik Liegt ein innerer Bruch), muthig und
bewußt auf Seite der Kunft. Und auf diefem Boden müſſen
wir der Macht feines Genies ganz und ungetheilt folgen, un—
befümmert darım, ob dieſe Stelle zu dramatiich, jene zu ſym—
phonijch Elinge. Beethoven hat auch als Meſſencomponiſt eine
große Fünftleriiche Persönlichkeit nicht verleugnen können noch
wollen; er begeifterte ji) an der Idee de3 Glaubens, und gab
und in jeinen Tönen die Religion, wie er fie anſchaute. —
Nah dem Eindrud, den wir an und erfuhren und an Anderen
beobadteten, zweifeln wir nicht, daß für die D-Meffe, wie ſchon
früher für die neunte Symphonie, die Zeit heranrüde, wo nad)
Schreden und Staunen allmälig Berftändniß, Bewunderung
Liebe ihr entgegenkfommt.
246 1861.
Orcheftlerconcert von Karl Taufig.
Geit Jängerer Zeit lud ein colofjales rothes Plakat zu
einem »Orcheiterconcert des Karl Taufige ein. Das nur aus
Liſzt'ſchen Compofitionen bejtehende Programm verkündete die
mwohlmollende Abfiht eines weimariſchen Reiſeapoſtels, uns
gleih en gros mweife und glücklich zu machen. Herr Taufig ift
einer der jüngften von den blaffen, haarumflatterten Jünglingen,
welche für die Zufunftsmufif wirken und in Mußeftunden auch
derlei jelbft verfertigen. Als Componift hat ſich Herr Taufig
dur eine haarjträubende Tondichtung, »Das Geifterfchiffe,
befannt gemacht, mehr noch durch den niedlichen Einfall, ge—
nannten »Geifterfchiffe eine Iobhudelnde Anpreifung aus der
Feder jeined Freundes Dräfede vordruden zu laſſen. In
feinem Concerte brachte er jedoch feine eigene Gompofition;
nah dem Programm zu jchließen, reift er lediglich für das
Haus Lilzt. Dies Programm hatte in der That etwas Gewalt:
fames. Schien e3 doch, ala follte dad Wiener Publicum, das
vereinzelten Aufführungen Liſzt'ſcher Werke bisher fühl be—
gegniete, durch einen Maffenangriff beitegt werden. Wir glauben
nicht, daß dem Intereſſe des Componiften damit gedient war.
Neben Werken anderer Tondichter wird eine Liſzt'ſche Symphonie
jtet3 ein willigeres Auditorium finden. ALS Nachbarin tief:
gedachter, formſchöner Tonihöpfungen wird fie durd ihren
blendenden Glanz unfer finnliches Intereſſe weden, durch ihre
feſſelloſe Subjectivität reizen, und ihren Gegnern wenigſtens
nicht allzuviel zumuthen. Einem Lamwinenfturz Liſzt'ſcher Com:
pofitionen, wie ihn Herr Taufig in Bewegung feßte, vermögen
aber jelbit Freunde des Autor kaum Stand zu halten. Wir
fahen ziemlich viel Leute, die ſich zuvor durch entzücktes
Applaudiren ausgezeichnet, vor der Aufführung der Schluß:
ſymphonie (»Die Ideale«) ftill nach der Thür jchleihen. Möge
man daher auch und verzeihen, daß wir nad) der vorlekten
Nummer nicht mehr die Kraft befaßen, nod eine Symphonie
mit Aufmerfjamfeit zu verfolgen. Große Eoncerte, lediglih aus
Suftrumentalwerfen Eines Gomponijten zufammengejegt, haben
ihr Bedenkliches, ſelbſt wenn diejer Eine ein Meifter tft und
Orcefterconcert von Karl Taufig. 247
durch reichſte Erfindung und Vielgeftalt in Formen und Stim-
mungen jede Monotonie abwehrt. Nun vollends eine lange
Reihe von Lilzt’schen Werken! Da haben wir überall dasielbe
peinliche Ringen und Zwingen, dasſelbe Anknüpfen und wieder
Abreißen, dieſelben Mißklänge und Unmelodien, denjelben
Janitſcharenlärm. Geiſtreich combinirende und colorirende Im—
potenz bleibt doch überall der Kern Liſzt'ſcher Compoſitionen.
Hört man deren viele nacheinander, ſo merkt man obendrein,
daß auch die Methode dieſer Impotenz eine ziemlich ſtereotype
iſt. In den Beſprechungen der »Graner Meſſe«, des »Pro—
metheus«, der »Préludes« ꝛc. haben wir uns bemüht, dieſe
Methode eingehend zu analyſiren. Die Lichtpunkte, welche wir
bei jenen Anläſſen gern hervorhoben, haben wir auch in den
von Tauſig vorgeführten »Feſtklängene und in dem »3Wweiten
Glavierconcert« nicht vermißt: Liſzt's feinen Sinn für lang:
effecte, da3 Geiftreihe mander harmonischen und rhythmiſchen
Combination, den ungeftümen Drang einer bedeutenden, feinem
Vorbild dienftbaren Subjectivität. Weberall fehlt jedoch die
muſikaliſch-ſchöpferiſche Kraft und die fünftleriiche Gefeglichkeit
der Ausführung. ine einzelne Melodie ſteckt hin und wieder
furdtiam ihr ſchönes Köpfchen heraus, um jofort in wüſtem
Sedränge unterzugehen; jeder edlen Negung tritt eine dreifte
Fanfare, jeder reinen Harmonie ein fchneidender Mißklang auf
den Naden. Wer wollte es Lijzt verdenfen, daß er gegen feine
claſſiſchen Vorgänger eine buntere DMannigfaltigfeit, einen
ſchärferen Widerftreit von Gegenſätzen verfucht? Allein Diejer
Garneval von Mannigfaltigkeiten kennt feine Einheit, dieſe
Hunnenſchlacht von Gegenfägen feine Verföhnung. Anſtatt erfreut,
erichüttert, erhoben zu fein, fühlt fi) der Hörer nad der
Liſzt'ſchen Mufit betäubt und veritimmt. Die »Feſtklänge«
haben vor ihren übrigen ſymphoniſchen Schweitern den einen
Vorzug, daß fie feine Geſchichte erzählen. Der Hörer muß
nicht immerfort jehen, wie dad »Programme« den geängitigten
Tondichter von Takt zu Takt verfolgt.
Ein Herr 8. konnte fich die Geichichte nicht entgehen laſſen,
und weihte das Publicum durch ein im Concertiaal vertheiltes
Programm in die poetifchen Geheimnifie der »Feſtklänge« ein.
248 1861.
‚Ein großes, allgemeines, volfsthümliches Feſt«, verfichert er,
ruft eine bewegte Menge, die Freude auf der Stirne, den
Himmel in der Bruft, in feine YZauberfreife.« Könnten wir
an diefem Ort Notenbeifpiele bringen, der Leſer würde ftaunen,
wie »die Freude auf der Stirne« und »der Himmel in der
Bruſt« fih in Liſzt'ſchen Accorden ausnimmt. Auch hätten wir
ohne Herrn 8.3 Wegweiſer nicht ſowohl an die »olympijchen
Spiele der Griehen« als an die blutrünftigen Luftbarfeiten
der ungarischen Landtagswahlen denfen müſſen. Wagner umd
Liſzt erheben ganz ernftli den Anspruch, daß man Kunftmittel
und Ausdrucksweiſen, welche anderwärts als trivial verpönt
ſind, in ihren Compoſitionen für höchſt ideal anzuſehen habe.
Sp ergehen ſich auch die »Feſtklänge« (wie faſt alle Liſzt'ſchen
Orcheſterſtücke) ſehr reichlich in »türfifcher Muſik«. Die große
Menge hört das immer gerne und ſo läßt ſie ſich vielleicht
auch einreden, dieſelbe Stelle ſei bei Donizetti Roheit des
Effects, bei Liſzt's Ausdruck ſublimſter Geiſtigkeit. Der »Feſt—
marſch zum Goethe-Jubiläum« erinnert ſtark an Wagner, den
er jedoch durch die neue Errungenſchaft des Schrittwechſels
(das Trio geht im Dreivierteltakt) überholt. Reizend ſind einige
Orcheſter-Effecte, z. B. die Gegenbewegung der abwärts in
Terzen gehenden Flöten gegen die aufwärts geführte Melodie.
Als muſikaliſche Verherrlichung Goethe's durch einen fo feinen
und enthufiaftiihen Goethefenner ift der »Feſtmarſch« ein
neuer Beleg, wie alles Aufgebot von Bildung und Begeifterung
fein gutes Tonſtück hervorzubringen vermag, wenn die jpecifiich
muſikaliſche Erfindung fehlt.
Gegenüber den Orcheſter- und Chor:-Compofitionen von
Liſzt fühlen wir uns als Berichterftatter über deſſen
Glavierwerfe ſtets in einer angenehmeren Lage; Liſzt's
umübertroffene Kenntniß und geiltreihe Verwendung des
Clavier-Effects pußt hier die ſickernde Erfindung nicht blos
glänzend auf, fie führt dem Gomponiften, der mit dem
Piano jo eng verwadhlen it, thatlächlich neue Ideen zu.
Leider konnten die von Herrn Taufig vorgetragenen Clavier:
jtüde unfere Erwartungen nicht erfüllen. Auf ein »Concert«
(A-dur) daS jede auftauchende Schönheit in einem Wirbel
Orchefterconcert von Karl Taufig. 249
empdrter Muſik-Elemente verichlingt, folgte eine »ungarijche
Nhapiodie«, welche die nationale Charakteriftif bis zur voll:
ftändigen Cymbaliſirung des Claviers treibt. Liſzt's -Valse-
Impromptu « ijt reiner Zeopold v. Meyer, mit etwas harmonischen
Strychnin verjegt. Aber vollends das »Scherzo« mit ange:
fügtem »Marſch«! Vereinigt e3 nicht die ſchönſten Symptome
eines verrückt gewordenen Clavierſtyls? Dieſe Taſtenſchlächterei
mit ihren gräulichen Diſſonanzen ein »Scherzo«? Ebenſo
ſcherzhaft würde es uns vorkommen, wenn uns Jemand un—
verſehens eine handvoll Erbſen an den Kopf würfe oder mit
naſſen Bürſten ins Geſicht führe. Scherzhaft fanden wir dies
»Scherzo« nicht, auch nicht muſikaliſch, aber komiſch in hohem
Grade. Aufrichtig wehrten wir und gegen dieſe Stimmung einem
Manne wie Lilzt gegenüber; aber bei jeinem »Scherzo« wurde
und der Ausjpruh von Chlert klar: Die Zukunfts—
mufit jei eigentlich »nur unbeichreiblih fomiih«. Das Klang
wirklih, »als ſpiele der Sonnenftih Glavier«. Als Pianiſt
überrafchte Herr Taufig durch ungewöhnliche Kraft und Bra:
bour, Nur ging er in der Energie des Anſchlags häufig zu
weit, und ftach oder hieb in die Taften, daß das Inſtrument
ächzte. In jeinem Vortrag ftritten ji) Geilt und Manier. Ein
Urtheil über die abjolute künſtleriſche Höhe des Concertgebers
fönnen wir uns Diesmal nod nicht bilden; als Lilzt-Spieler
iſt er jedenfalls eine glänzende Erſcheinung. Das Publicum —
allerdingd ein anderes als das der »philharmonifchen« und
» Sejelihaftsconcertee — benahm fi recht enthufiaitiich; faſt
als hätte es zuvor Herrn Brendel’3 berühmte Bertheidigung
der Thefis gelefen: »Liſzt's Werke find das Ideal unjerer
Zeit.e Fern jei es von mir, mit den VBerfechtern der Zukunfts—
mufit über Lijzt ftreiten zu wollen; das iſt für alle Zeit un—
möglich, feit deren Eritifcher Adoocat, Herr Brendel, den denk—
würdigen Ausſpruch gethan: »Es hat ſich die Meinung im
Publicum gebildet, als ftänden überhaupt zwei berechtigte Par—
teien einander gegenüber, dem iſt jedoch nicht jo, im Gegen:
theil: wir haben allein Recht und die Gegner abiolut Un—
recht.« Seit wir jo bejtimmt wiſſen, daß wir nun einmal
zeitlih und ewig verdammt find, hüten wir uns jehr, noch
250 1861.
weiteres Mergerniß zu geben. Vom Herzen wünfchen wir Herrn
Taufig, der noch drei bis vier ähnliche Lilzt-Batterien aufzuführen
gedenft, den beiten Erfolg jeines Unternehmens. Es gehört viel
Heroismus und mehr ald blos Fünftlerifches Vermögen dazır, To
foftipielige Miffiong-Concerte »für eine Idee« zu veranitalten.
Wenn das Sprihmwort » Zeit ift Geld« Recht hat, fo kann man
nicht ohne Bewunderung von »Taufig und feiner Zeit« Sprechen.
RBhilharmoniſche Eoncerte.
Schumann’ »Genovefa«-Duperture in ihrer büfteren
Leidenjchaftlichkeit Fönnte geradezu »Golo« überfchrieben fein.
Ohne an Tiefe und Urfprünglichkeit die »Manfred«-Duverture
zu erreichen, wirft dies Stüd doc fortreißend durch feinen echt
dramatifhen Zug. Den Bilgermarf aus der »Harold—
Symphonie« von Berlioz hörten wir nad langen Jahren
mit großer Befriedigung wieder. Echt poetiih in Stimmung
und Ausführung, iſt der Pilgermarſch zugleich formell eines
der abgerundetiten Tonftüde von Berlioz. Wie Anfangs .Teife
aus weiter Ferne dad Marjchthema ertönt, näher und näher
heranrüdt, anfchwillt, fih immer reicher entfaltet; Hierauf die
Bläſer einen Hymmenartigen Mittelfag anftimmen, den Die
Arpeggien einer einzelnen Bratſche umgleiten; wie dann der
Mari) wieder allmählig verhallt, diesmal geiftvoll verflodhten
mit leifen Nachklängen des Mitteljages, — dies alles gibt ein
ungemein glüdlih gedachtes, ſtimmungsvolles Bild. Einige
melodiihe Härten, einige Sonderbarfeiten in der Harmonie
vermögen uns den Eindruck nicht zu ftören. Die Combination
der Klangfarben iſt von zauberhafter Wirkung; bei aller Fremd—
artigfeit erjcheint fie doch niemals kalt außgeklügelt, fie wächſt
mit innerer Nothwendigfeit aus der mufifaliihen und poetijchen
Grundidee der Compofition.
Die erregte Stimmung, in welcher die Verſammlung durch
Schumann und Berlioz verjegt war, wurde fchließlich mit Hilfe
einer Nieg’ihen Symphonie abgekühlt. Julius Rietz tft einer der
gebildetiten Muſiker und trefflichften Dirigenten Deutichlands,
aber nimmermehr ein origineller Gomponift. In der wohl»
Gompofitionen von Rietz, Wagner, Mozart. 951
bekannten, gebildeten Ausdrudsweile Mendels ſohn's werden
uns hier ziemlich unerhebliche Mittheilungen gemadt. Dabei
vermag der Componijt niemal® zum Schluß zu kommen, wo—
durch er ſelbſt feinen beiten und friſcheſten Satz, den Menuett,
um den Effect bringt. Diefe Nedjeligkeit ift von Ideen-Ueberfluß
ebenſoweit entfernt, al3 das oft qualmend auflodernde Feuer diejer
Muſik von wirklicher Leidenfchaft. Den Mufiter wird die Rietz'ſche
Symphonie von ihrer technifchen Seite intereffirt haben; ihr
Eindrud auf dad Bublicum war: achtungsvolle Langweile.
Ueber die in einer Wohlthätigkeits-Akademie aufgeführte In—
Itrumental-Einleitung zu R. Wagner’ »Triltan und Iſolde«
wollen wir nad einmaligem Anhören und ohne Kenntniß des
Ganzen nicht urtheilen. Günftig war der Eindrud durchaus
nicht, welchen Ddiejfe ruhelos wogende, unterfchiedloje Tonmafje
mit ihrer unaufhörlichen Wiederholung desſelben Motivchens
machte. Dad Ohr findet nirgends einen Ruhepunkt oder Ab-
Ihluß, was ungefähr diejelbe peinlihe Empfindung erregt, ala
müßten wir eine lange Reihe von Vorderſätzen vorlefen hören,
deren Nachſätze mwegbleiben. Unwillfürlich fielen uns jene frans
zöfifchen Gerichtöurtheile ein, die einem kurzen Schlußſatz feiten:
fange »considerE que« vorausſchicken. Das Bublicum blieb
mehrere Secunden nah dem Schlußaccord vollkommen ſtill,
dann wurde (vielleiht in Folge einer rafchen Abftimmung)
applaudirt. — Mozart’ Sopran-Arie »non temer« gehört zu
jenen Stüden des Meilterd, die und weniger Mozart’3 Geift,
als die Neußerlichfeiten feines Ausdrucdes, feiner Redensarten
entgegenbringen. Die Arie iſt 1786 zu der Oper »Idomeneo«
hinzucomponirt, als dieje von einer Geiellichaft vornehmer Dilet:
tanten in Wien aufgeführt und zu diefem Behuf mancher Ber:
änderungen bedürftig wurde. Die obligate Solovioline war für
den Grafen Auguſt v. Haßfeld geichrieben, — es hat alſo
die beitimmte Gelegenheit ein erhebliches Wort mitgeiprochen.
Die concertirende Begleitung eines Solo-Inftrumentes neben der
Singitimme, hat, wenn fie eine gewiſſe Grenze überjchreitet,
jederzeit ettwad Bedenkliches. In der genannten Arie wird man
diejen, an die Singitimme fich läftig vordrängenden, jelbitgefällig
tänzelnden Schatten gar nicht los; es ift zu wenig für ein
252 1861.
Duett und zu viel für eine Arie, Wir finden ſeltſamerweiſe
nicht einmal bei Jahn, den jonit jede Kleinigkeit von Mozart
außerit beredt macht, ein warmes Wort darüber.
Höchſt anziehend war ein Concert für Streich-Inſtrumente
von Seb. Bad. Es iit das dritte aus den im Sahre 1850
von Dehn herausgegebenen jech® Concerten, oder eigentlich die
beiden äußeren Süße desielben; denn offenbar ging der mittlere
Sat (wahriheinlih ein langſames Minore) verloren. Ein un—
gemein kräftiges, gejundes, wenn auch etwas eigenfinniges Leben
regt fich in dieſen ftraffen Themen, die ohne einen inneren
Gegenjag, ja ohne die mindeite Unterbrechung und dennoch reich
durchgeführt, jich vor und abrollen. Der Hauptreiz liegt natür-
ih in der lebenövollen, vielgeltaltigen Stimmführung. Durch
den fehlenden Gontraft der Blasinftrumente fallen eigentliche
DOrceiter-Gffecte jo gut wie hinweg, doch wirft das Zumerfen
des Themas von den Geigen an die Bratichen und Bäſſe im
eriten Sat ganz reizend.
Schumann’ C-dur-Symphonie (Nr. 2), nach) deren Wieder:
bolung wir uns lange jehnten, machte den Bejchluß. Eines der
jinnigiten und bedeutendſten Werte Schumann's, iſt Diefe
Symphonie doch im ihren einzelnen Theilen ungleih in
der Arbeit, ungleih an Werth. Schon in eriten Sat gibt es
Stodungen, welde jedoch der pathetifche, ruckweiſe vordringende
Gang des Themas jedesmal bald befiegt. Das geiftvolle, wie
ein munterer MWafferfall herabplätichernde Scherzo finft jchon
in dem erften, noch mehr in dem zweiten feltiam fteifen Trio,
erhebt fich aber nach dieſem wieder zu dem glänzenditen Schluß.
Das wahre Herz de3 Ganzen iſt das Adagio, vielleiht das
jeelenvollite, das feit Beethoven gejchrieben wurde Wie er
tief aufathmet, diefer Geſang, immer breiter und höher anwächſt,
bis er endlich in einer colofjalen Steigerung auf den höchſten
Gipfeln der Violintöne anlangt und in einem wahren
Goldregen von feinen Trillerfetten wieder herniederriefelt! Auch
in diefen jo bewunderungswürdigen Stüd finden wir eine Stelle
(den staceato contrapunftirenden Mittelfag), die, ganz abgejehen
von ihrem harmoniſchen Härten, ein plößliches Grichlaffen der
Phantaſie bekundet. Der letzte Sa erreicht feinen von den
» Mebea« von Gherubini. Suite von Bad. 253
drei früheren, jo ſehr er fie zu überflügeln jucht. Hier wechielt
ein gewaltſames Aufraffen und Anfpannen mit unverhohlenem
Sinken der Erfindungskraft. Das Hauptübel ftedt in der
rhythmiſchen Einförmigfeit de Themas, worauf nad Dürftiger
Erpofition eine tändelnde Violinfigur folgt, die bei Schumann
geradezu befremdet. Erft mit dem energiich jchmerzlichen Ge—
jang der Bläfer im Mittelfat (S. 183 der Part.) haben mir
den ganzen Schumann wieder, doch nicht für lange. Der Schluß
it ein ftürmifches Webertäuben innerer Ermüdung.
Cherubini’3 »Medea«-Duverture wirkte wie immer durd)
ihre vornehm ftraffe Haltung, ihr kräftiges, dabei echt franzöfiiches
Pathos, ihre are, feine Orcdeitration. Den vollen Ausdrud
jener furchtbaren Tragif, welche die Eriheinung Medea’s
erfüllt, können wir in dem Tonſtück allerdings nicht mehr finden.
Dad Maß ſolcher Anſprüche wechſelt mit dem fortbraufenden
Strom der Kunftentwiclung. Neben muſikaliſchen Tragödien,
wie fie Shumann’3 »Manfred«-Duverture oder Berlioz'
»König Lear« jeither aufgerollt haben, würden wir heute
Cherubini's Einleitung zur »Medea« vielleiht »Concert:
Duverture« nennen,
Die beiden bedeutendften Nummern waren eine Orcheiter:
Suite in D-dur von Seb. Bad und Schumann’ B-dur-
Symphonie Gewiß die interefjantefte Zufammenftellung zweier
jo grundverfchiedener Kunſt-Epochen! Die Orceiter-Gompofition
des achtzehnten und jene des neunzehnten Jahrhunderts, die
Symphonie im Keim — denn was ijt die »Ordeiter-Suite«
ander8? — und die Symphonie in ihrer reichjten Blüthenfülle.
Bach's charakteriftiihe und liebenswürdige »Suiten« gehören
zu jenen Werfen des Altmeilter, denen ein modernes Publicum
fih mit unbefangenem Behagen affimiliren kann. In den ver:
Tchollenen, fnappen Formen treibt ein jugendfriicher Geiſt; die
contrapunftifche Kunft reizt das fundige Ohr, ohne es zu ver:
wirren oder zu ermüden; farbenreiche Gegenfäße endlich, wie
die weiche Zärtlichkeit der »Airs« und die drollige Beweglich—
feit der Tanzftüde, heben wechielfeitig ihre Wirkung. Kein
Wunder, daß auch im »philharmonifchen Concert« der Erfolg
der D-Suite ein vollftändiger war. Die urfprüngliche Inſtrumen—
254 1861.
tirung blieb unverändert, bis auf zwei Clarinetien, welche Herr
Deſſoff Hinzufügte, weil der hodjliegende Sog der Trompeten
im Original heutzutage ſchwer ausführbar ift.
Schumann’s B-dur-Symphonie (Nr. 2) kennen wir aus
wiederholten Aufführungen. Die jüngfte, unter Deſſoff, war
davon weitaus die befte, jene erjte nicht ausgenommen, mit
welder Schumann im Sänner 1847 ſelbſt Hier Ddebutirte.
Warum war ed dem früh und troftlos dahingegangenen Meifter
nicht bejchieden, die rafche und umverlierbare Popularität zu
erleben, die ſeine Muſik feit jener Aufführung hier gewonnen
hat! Entzüdt lauſchte man Sonntagd diefem duftenden Strom
von Geiſt und Empfindung, der, immer flar und immer neı,
ein leibhaftig Stück Mai in unfern Winter hineinzauberte. Nach
einer mündlichen Mittheilung des Componiften hat er das
Werk urfprünglid »Frühlingd- Symphonie«e nennen wollen.
Die Mufif Hätte den Titel nicht Lügen geſtraft. Schumann
aber war zu Stolz, um von einer Aufjchrift zu erbetteln, was
nicht ohnehin in der Mufik Tag.
Gerne hörten wir das Larghetto aus Spohr’s dritter
Symphonie. Die Regel, daß man den Zufammenhang einer
Symphonie nicht zeritören darf, kann man ded angeborenen
Rechtes auf Ausnahmsfälle wohl nicht berauben. Spohr wird
eine ſolche Ausnahme Hin und wieder rechtfertigen, denn feine
Symphonien enthalten jehr jchöne erſte Säge und Adagio’,
während die Scherzo'3 meiſtens recht unglüdlich, die Finales
größtentheild unbedeutend find. Nicht jeder Componift läßt
die vier Zweige feiner Symphonien aus fo fraftvoll einheit-
lihem Stamm emporwachſen, wie Beethoven.
Rihard Wagner's »Fauft«-Oupverture wurde vor
mehreren Jahren in einem Wohlthätigkeitö-Concert gefpielt.*)
ALS uns das Werk damald mißfiel, fannten wir freilich noch
nicht die ganze Größe unſeres Verbrechens. Herr v. Bülow
hatte noch nicht jeine Broſchüre über die »Fauſt«-Ouverture
geichrieben, worin er Wagner als »legitimen Erben Beethoven's«
proclamirt und, unter reichlichen Grobheiten gegen Anders:
*) Nergleihe S. 97.
R. Wagner » Fauft-Dupderture.« 255
denfende, Beethoven’3 neunte Symphonie zum -Ausgangs—
punkt« der Wagner’ihen »Fauſt«-Ouverture herabgejegt. Nad)
Bülow hält Schumann’ Duperture zu »Manfred« mit dem
MWagnerihen Opus nicht den entfernteften Vergleich aus, ein
Satz, deſſen vollftändige Umkehrung wir gern unterfchreiben.
Ja, wüßten wir nicht, daß Wagner die »Fauft«-Duverture be—
reit3 während feines erften Pariſer Aufenthalts (1840) jfizzirt
hat, wir fönnten fie für eine farrifirte Nahahmung der »Man—
fred«-Duverture halten. Die »Fauſt«Ouverture imponirt durch
ihren ſehr confequenten Charakter nnd einen für Wagner merf-
würdig einheitlihen Bau. Was aber diefen Bau ausfüllt,
ift eine Impotenz, die troß ihres prahleriihen Gebahrens
Mitleid erwed. Wenn gleih zu Anfang die Baßtuba
mit einem fomijcheerhabenen Thema »mit Macht angeblajen«
fommt, wie der Stier von Uri, jo müſſen wir eher an eine
gelungene Traveltie des »Fauft« denfen, al® an Goethe's
Gedicht. Im Allegro geftaltet fich dies Motiv viel beſſer, und
wird, wie gejagt, mit einer eifernen Conſequenz behandelt.
Wenn nur dieſe Einheit der Stimmung nit in jo roh
materiellem Sinne dadurch erhalten würde, daß eine begleitende
Biolafigur, (ähnlich dem erjten Coriolan-Motiv) unabläffig in
allen Lagen und Inftrumenten, in allen Halbtönen Wagner’icher
Chromatik und verfolgt. Gegen Ende der Ouverture erjchien
und bereit jeder Zuftand glüdlih und ehrenvol, in welchem
man diefe Violafigur. nicht zu hören braudt. Wir begreifen
es nöthigenfalld, wenn felbit die ſchwächſte Oper MWagner’3
ein enthuſiaſtiſches Publicum und einige vergötternde Fritifer
findet; allein wie man es fertig bringt, Wagner als ſympho—
niihen Gomponiften zu bewundern, und über die »Fauſt«—
Dupverture eine ganze interpretirende Abhandlung zu jchreiben,
das verftehen wir nimmermehr. Der reichlihe Anlaß zu derlei
Interpretationen iſt allerdings das Klügfte an der Ouverture,
denn jo lange es muſikaliſche Naturen gibt, die an jolchen
Hineinz und Herauögeheimniffen ihr vornehmites Vergnügen
finden, wird es der »Faufte-Duverture fowenig an PBublicum
fehlen, wie den Liſzt'ſchen Symphonien. Die Yauftfage Hat
in der Mufif, vom alten Eberwein bis auf Liizt und
256 1861.
Wagner herab, anfehnliches Unheil angeftiftet. Sie hat zur
Verbreitung der Thorheit beigetragen, daß die höchſten und
ichwierigften Probleme des menschlichen Geiſtes auch für die
natürlichhte Aufgabe der Mufit angejehen werden. Der Erfolg
der »FFaufte-Duverture ſchwankte in einem 1unentichiedenen
Kampf zwiichen Applaus und Ziichen.
Sefellfchaftsconcerte.
Haydn’s »Schöpfung« und »Tahreszeiten«.
In einem Alter, welchem fonft im beften Fall nur eine
Nachleje vergönnt ist, ſchuf Haydn feine zwei größten Werfe,
diejenigen, welche ihn in Deutichland am populärften gemacht
haben. Die Aehnlichfeit mit dem Lebensgange Händel’s drängt
fih auf: auch diefer gab fein Beltes, feine Oratorien, ala
ein Siebenzigjähriger. Der Einfluß Englands, jo maßgebend
für Händel’3 Oratorien, blieb auch hier nicht ganz unthätig.
Bon England bradte Haydn den (urfprünglid für Händel
beftimmten) Tert zur »Schöpfung« mit; nad) Thomfon’s be=
rühmtem Gedicht: »The seasons«e entftanden feine »Jahres—
zeiten«. Rührend ift die naive Vejcheidenheit, mit welcher der
hochberühmte Meifter von feinen Oratorien fprah. An Breit:
fopf ſchrieb er bei MUeberiendung der »Schöpfunge am
12. Juni 1799: »O Gott, wie viel tft noch zu thun in dieſer
herrlichen Kunft! Die Welt madt mir zwar täglich viele Com—
plimente auch über das Feuer meiner legten Arbeiten; aber
niemand will mir glauben, mit welcher Mühe und Anftrengung
ih dasſelbe hervorſuchen muß. Nur wäünſche ich und hoffe
auch, id alter Mann, daß die Herren Necenfenten meine
»Schöpfung« nicht allzuftreng anfaffen und ihr dabei zu wehe
thun mögen.«e Die »Herren Necenfenten« werben fich mohl
hüten. Man müßte fih mit Leib und Seele der MWeimar’ichen
Mufil-Inquifition verfchrieben haben, um den unverwüſtlich
friihen Kern dieſer Oratorien leugnen zu wollen. Trogdem
darf man fich geitehen, daß manches daraus im Lauf der Jahre
abgeblaßt hat. In den »Jahreszeiten« ift es auffallend, wie
Haydn's »Jahreszeiten«. 257
die in der Natur wärmeren (Frühling und Sommer) in
Haydn's Muſik die kühleren und unbelebteren ſind. Es iſt,
als ſei die Empfindung von Lenz und Sommer dem Gemüth
des greiſen Tondichters fremder geworden, gleichſam in die
Ferne gerückt, als habe er ſie mehr aus der Erinnnerung,
als lebendig anſchauend geſchildert. Der Text trägt daran
große Schuld. Haydn ſelbſt hat die Hemmung, die in dieſer
moraliſirenden Tendenz, in dieſer Häufung erbaulicher Reflexionen
liegt, mit Verdruß empfunden. So äußerte er über den Chor:
»O Fleiß, o edler Fleiß!« »er ſei nun ſein Lebelang fleißig
geweſen, aber noch ſei es ihm nicht eingefallen, den Fleiß in
Noten zu ſetzen« In der That wird bei Haydn über den
Frühling und Sommer mehr geiprocdhen, moralifirt, Gott dafür
gedankt u. dgl., als daß das volle, jugendichöne Leben der Natur
fih Selbit ergieße. Der Charakter der Mufit wird dadurd
nothiwendig oft nüchtern und philiftrös. Die langfamen Tempi
herrfchen ungebührlich vor und machen im Verein mit der lange
feftgehaltenen etwas weichlichen Empfindung und Moderne hin
und wieder etwas ungeduldig. In den zwei Iegten Abtheilungen
hingegen bricht ein fräftiger Realismus herein. Wie werden
im »Herbſt« die Auen und Wälder, von welchen früher fo viel
erzählt wurde, nun wirklich voller Leben! Aus den fingenden
Abftractionen »Hannhen« und »Lucad« werden nun wirkliche
Menſchen mit Fleifh und Blut, mit Laune und Liebe. Von
ihrem reizenden Duette an wird der Ton des Ganzen wärmer
und individueller, ja die Erfindung reicher und bedeutender.
Dann die prächtige Jagd, das jubelnde Winzerfeft! Welche
Lebendigkeit, Steigerung, Gipfelung! Wie köſtlich ift (im Winzer:
feft) der Muth des alten Herrn, friſch zu Triangeln und großer
Trommel zu greifen, ohne zu fragen, ob dieſe Lärm-Inſtru—
mente im Oratorium hoffähig jeien oder nicht. Diejes Winzer:
feſt lingt ung immer wie ein impojantes, großes Opernfinale.
Es ift vieleicht das Wirkſamſte, dabei ohne Frage das Modernfte,
was Haydn geſchrieben. Mozart's Einwirkung ift hier nicht
zu berfennen.
Im dritten Gejellihaftsconcerte machte den friſcheſten Ein-
drud Haydn’ Symphonie in C. Die ftürmijch begehrte
Hanslick. Aus dem Goncertiaal, 2. Aufl. 17
258 1861.
Wiederholung von zwei Sägen zählt wohl unter den nachge—
borenen Triumphen des alten Herrn obenan. a, der rührige,
nette, zum Küſſen liebenswürdige Großpapa wird bei uns völlig
Mode. Ein großes Verdienft an dem mwiedergewonnenen Sinn
für Haydn hat die Zufunftsmufif, Wir fagen das ohne bos—
haften Hinterhalt. Hat man dur längere Zeit das blos
»Intereſſante« einfeitig auf die höchſte Spite treiben ſehen, fo
beginnt man wieder an der einfahen Anmuth, die man früher
faft »unintereffante gefunden, fich herzlich zu erfreuen. Nach
langen aufreibenden Scheingefehten glänzender Sophiſtik thut
jelbft die einfach gefunde Logik wohl. Jene faule Genügjam-
feit, die über Haydn und Mozart noch) zu einer Zeit nicht hinaus
wollte, wo aus neuen Richtungen längſt das dringendfte »Hört
hört«! eriholl —, fie ift weit verſchieden von dem geflärten
und bereicherten Bewußtjein, mit dem wir heute zum Genuffe-
Haydn's rüdkehren. Daß unjere Verehrung für Haydn noch
völlig in der abergläubiihen Pietät aufgehe, welche in jedem
Pralltriller und jeden Uebergang von C nad G unerreihbare
Bollendung fand, daS wollte man und freilich nicht zumuthen.
Die wärmfte Verehrung verträgt fih vollflommen mit jenem
höheren ironifhen Blid, der die Schwächen des Genius erkennt,
ohne ihn darım weniger zu lieben. Nach den neueften Er-
fahrungen hat es Haydn offenbar nicht geichadet, daß unfere
Zeit mit etwas freierem Sinn ihm gegenüber fteht.
Philipp Emanuel Bad, der zweitgeborne Sohn Sebaftian’s,
war bisher dem heutigen Concertpublicum fo gut wie unbe:
fannt geblieben. Die erfolgreihe Bemühung der letzten De:
cennien, uns dem großen Vater näher zu befreunden, ja den
beinahe Berlorengegangenen als ein unverlierbare® Clement
in unſer modernes Mufikleben einzufügen — fie mußte endlich
auch feinen Söhnen zugute fommen. Die Leipziger Gewand:
haus-Concerte haben Emanuel Bach zuerſt aus dem hiftorischen
Staube hervorgezogen, indem fie vor einem Jahr deffen D-dur-
Symphonie zu Gehör braten, diefelbe, die wir am verfloffenen
Sonntag im großen Redoutenfaal hörten. In der That, Emanuel
Bad verdient ed im hohen Grade, daß man ſich mit ihm felbit
befannt made, denn fein Geift wie fein Verdienft ftehen auf
Ph. Em. Bad. 259
eigenen Füßen, find weit mehr als ein Abglanz des väter:
lihen Namend. Gmanuel war von den mufifaliichen Söhnen
Sebaltian’3 der gebildetfte und folideite. Zwar jein Talent
beiaß nicht die intenfive, geniale Cigenthümlichfeit feines un—
glüdlihen Bruder? Friedemann, noch konnten ſich Emanuel's
äußere Erfolge mit den ephemeren Operntriumphen feines jüngeren,
galanten Bruders Chriſtian meſſen. Allein für die Entwicklung
der Kunſt ift von allen Brüdern Emanuel weitaus der wichtigfte
geworden. Denn er war's, der, im Gegenjag zu dem wejent:
ih polyphonen und contrapunktifhen Styl feiner Vorgänger,
den »freien Styl« in der Inftrumentalmufit begründete, inden
er, Statt mehrere jelbitftändige, jomit wechjeljeitig abhängige
Tonreihen übereinander zu bauen, es vorzog, eine Tonreihe
ſo jpielvoll, jo gefangvoll als möglich zu machen und die übrigen
ihr unterzuordnen. Haydn’ befanntes Wort, »daß er fein
Beites den Werken Emanuel Bach's verdanfe«, trat und aus
den Klängen diefer D-Symphonie als Iebendige Wahrheit vor
Augen. Das find weit weniger Nachblüthen von Sebaſtian's
Styl, als Keime, und jehr ausgeprägte Keime der jpäteren
Haydn’ihen Symphonie. Wer nur einiges hiftorifche Intereffe
hinzubringt, wird dieſer (im Jahre 1776 componirten) Muſik
mit großer Befriedigung laufchen. Unſerer Zeit, die bei dem
Namen Symphonie gleich an Beethoven denkt, mag dies kurze,
dreifägige Ding allerdings dürftig und etwas troden vorkommen,
fie verlangt Bedeutenderes, Wichtigered, und überall Mehr!
Allein wer es vermag, einige 80 Jahre rajch zn vergeflen, der
wird fih an diefem Product eines gefunden und geiftreichen
mufifalifhen Denker herzlich erbauen. Cine fräftige, herbe
Frifche durchweht namentlich den eriten Sat, den auögeführ-
tejten von Allen. Das kurze Largo (es jchien uns gar zu
langſam genommen) ergeht fi in empfindfamer, ceremoniöfer
Gelaffenheit jo recht, wie wir heutzutage »zopfig« nennen. Mit
einer mufifaliihen lUngenirtheit ohnegleichen übergeht der Com—
ponilt aus dieſem Es-dur-Largo in dag D-dur des Iuftigen
Finalfages, ungefähr wie jemand mit einem tüchtigen Sat
über einen Bad) Hinüberipringt, um ſich den Brücdenjteig zu
eriparen.
17*
260 1861.
Es folgte Ferdinand Hiller’3 »Loreley«, eine jener
dramatifirten Concertballaden für Soloſtimmen, Chor und Or:
heiter, welde Shumann in Schwang gebradt. Das Gedicht
(von W. Müller von Königswinter) gehört in die Claſſe der
eleganten Goldichnitt-Lyrif, melde die Romantik für den Salon
zurehtmadt. Dinge wie die piychologiihe Motivirung der
Loreley, die reflectirten Empfindungen der Niren, die Perſonifi—
cation von »Rebengeiftern« u. dgl., erreichen nimmermehr die
tiefe Wirkung der einfahen Sage oder des Heine'ſchen Gedichte.
Der mufifaliihen Phantafie bietet das Gedicht allerdings
günftige Situationen, welche denn auch Hiller wohl zu ver:
werthen verftand. In einem weſentlichen Punkt trifft feine
Compofition leider mit Müller’3 Gedicht zufammen: aus beiden
fpricht nicht die Stimme echter Poefie, nicht der Ton ureigener,
tiefquellender Empfindung. Die Bildung hat mehr dazu gethan,
als die Schöpferfraft. Als geiftvoller hochgebildeter Componift,
als Meifter der Technik hat fih Hiller immerhin auch in der
»Loreley« bewährt; das Werk, weder großartig ald Ganzes,
noch unmittelbar hinreißend im Einzelnen, wirft doch über:
twiegend intereffant und anziehend. Den unmiderftehlichen Ge—
fang der »Loreley« leibhaftig zu componiren, iſt ein bedenk—
liches Unternehmen, faft jo bedenklich wie die Gompofition eines
Orpheus oder Arion. Die einfachiten Mittel find hier meift
die beiten. Aber damit ſchafft man feine Concertballade mit
Chören, Soli und Ordefter. Hiller durfte für feinen Zweck
die mannigfachften Mittel der Klangfärbung, des Rhythmus und
der Tonmalerei nicht verſchmähen, welche die poetifche Stimmung
fefthalten und fteigern fonnten. Das Refultat diefer Bemühung
wurde ein geiftreiches modernes Gebilde, das in der Muſik
ungefähr eine Stelle einnimmt, wie in der Poefie die Gedichte
von Dingelftedt.
Rubinſtein's Vocalhor »Gondelfahrt«e jcheint und ein
arger Mißgriff. Dad Gedicht (von Anaftafius Grün) iſt To
reflectirt, daß es Mufif beinahe abftößt. Für das malende
Beimwerf, dad allenfalls zu einer charafteriftiihen Inftrumental-
Begleitung loden könnte, hat der reine Vocalja jo gut wie
feine Mitte. Rubinſtein's Mufit bleibt Hinter dem hier
»Preciofa« von C. M. Weber. 261
Grreihbaren zurüd, ja entfernt fich eher nad entgegengejegter
Richtung. Wenn eine »Mondnaht in Venedige jo außfieht,
wie fie Aubinftein uns vormuficirt, dann wollen wir ruhig zu
Haufe bleiben. Man könnte feine Compofition ebenio gut
»Novembertag in Smolensk« überfchreiben. Mendelsſohn's
Chor »O, Thäler weit« (von Eichendorff) wirkt nad dem Ru—
binftein’schen noch einmal jo wohlthätig.
Den Schluß des Goncertes bildet die vollitändige Mufif
zur »Precioſa« von C. M. v. Weber Eine Concert:Auf-
führung dieſer reizenden Muſik erfhien ſchon deshalb jehr
wünſchenswerth, weil das Schaufpiel ſelbſt von den Bühnen
verſchwunden ift. Dies Schidjal war fein unverdientes. Wolff's
»Precioja« beweiſt, wie mißlich es ſei, ausgezeichnete Er:
zählungen dramatiſch zu behandeln. Die »Gitana« von Cer—
pantes, welche der »Preciofa« zu Grunde liegt, ift eine der
herrlichiten Novellen, und Precioſa ift ein lahmes Drama, in
dem nicht? anzuerkennen it, als der gut getroffene Localton
und die an das ſpaniſche Auftipiel erinnernde Führung des
Dialogs. Allein für Weber Muſik ift dad Stück eine ums
ihätbare Staffage und durch fein Auskunftsmittel zu erjeßgen.
Wir wüßten faum eine ziweite ſceniſche Muſik, welche, losge—
rifien von dem theatralifchen Boden, jo viel einbüßen wiirde,
als Meber’3 »Precioja«. An und für fich ift fchon jedes »ver—
bindende Gedichte ein Unglück für dramatiihe Muſik. ES erzählt
und, der leidigen VBollitändigfeit halber, jtet3 eine Menge Dinge,
die und im Goncertfaal nicht im mindejten kümmern. lleber:
flüffiges enthält jo ein »Gediht« immer, dad Nothiwendige
niemal3. Denn dies Nothwendige ift eben jene Geſammt—
ftimmung, die nur das lebendig angefhaute Drama jelbit
erzeugt. Wir wollen die Perfonen, das ſceniſche Bild jehen;
ftatt deffen geht jedes »verbindende Gedichte von der Täufchung
aus, es fei und um die Kenntniß des Factiichen zu thun.
Sp erhalten wir für das PVerftändniß der Muſik immer zu
viel und zu wenig, von der Beeinträchtigung des Genuſſes gar
nicht zu reden.
262 1861.
Hammermufiß.
Das neue Streihquartett von Robert Volkmann
(Nr. 4, E-moll) ift Fein blendendes Werk, aber ein gehalt:
volles, jinniges, daS namentlich in den beiden äußeren Süßen
die Hand eined Meiſters verräth. Scherzo und Adagio jchienen
und ärmer an eigenthümlicher Erfindung, fie wirken zum Theil
durch Aeußerlichkeiten, wozu wir dort das rapide Tempo, hier
die umunterbrochene Anwendung der Sordinen zählen. Im
Finale hätten wir nur die Fuge Hinzugewünfcht, die das Bor:
hergegangene nicht mehr zu fteigern vermag, und deshalb ein
troden pflidtmäßiges Gefiht madt. Die ſchlichte Einfachheit
in Stimmung und Ausführung dieſes Quartetts hat uns bei
Volkmann faſt überrafcht und in der Ueberzeugung beftärkt,
daß die mufifalifchen Anſchauungen des geſchätzten Componiſten
fih zu einer enticheidenden Wandlung durdhgefämpft haben.
Offenbar it in Volkmann’: Styl eine Klärung eingetreten,
ein Abjchütteln der capriciöfen Wunderlichfeiten und Genies
fchladen, die und manches jeiner früheren Werke trübten. Wer
3. 8. da3 B-moll-Trio mit Volkmann's neueren Compofitionen,
3. B. mit dem vortrefflihden Glapierconcert vergleicht, wird
unferer Anficht beipflichten, daB Volkmann aus Sturm und
Drang eine Phaſe der Klärung angetreten habe, etwa mie fie
mit reiheren Mitteln Shumann nach feiner zweiten Sonate
vollzog. Die zweite Nummer war NRubinftein’® befanntes
Clavier-Trio in B-dur. Wie die fchönen, charafteriftiichen
Anfänge fi immer jobald in wüſtes Toben verlieren oder
ermüdend verfiegen! Oft (3. B. im Adagio) ift ARubinftein der
pollendeten Schönheit nahe, ganz nahe, aber wie er fie faſſen
und feithalten will, entflieht fie feiner unfanften Fauft.
Joachim.
Das wichtigſte Greigniß der abgelaufenen Woche war das
Auftreten Joſeph Joachim's. Vor fo und fo viel Jahren hatten
ihn zwar die Wiener ald Wunderkind gehört, der Wundermann
Joachim. 263
war uns jedoch fremd geblieben. Wien, die Vaterſtadt, wenn
auch nicht Joachim's ſelbſt, doch ſeiner Bildung und ſeines
Ruhms, Hatte bereits einigen Grund, ſich ob der anhaltenden
Burüdjegung von Seiten des vielgereijten Künſtlers zu beflagen.
Soahim, fo jung er ift, gilt feit beinahe zehn Jahren für
den erſten lebenden Violinfpieler, und wenn ihm bie und da
VBieurtemp3 an die Seite geitellt wurde, fo beweiſt jchon
diefer Maßſtab, welch ungewöhnlicher Größe man fich gegen-
über fühlte. Es war dem Künſtler nicht leicht gemacht, jo hoch»
geipannten und langgenährten Erwartungen bei einem erfahrenen
Bublicum, wie das unfere, zu entiprehen. Soahim hat es
jedoch in glänzenditer Weile vollbradt. Er begann mit Beet:
hoven's Concert. Nah dem eriten Sate ſchon mußte es
jedermann flar fein, daß man e3 hier nicht blos mit einem
großen PVirtuofen, jondern mit einer bedeutenden und eigen
thümlichen Perfünlichkeit zu thun habe. Joachim ift mit all
jeiner Bravour jo ganz in dem mufifaliichen Ideal aufgelöft,
daß man ihn eigentlich bezeichnen möchte als einen durch die
glänzendite Virtuofität hHindurchgegangenen vollendeten Muſiker.
Sein Spiel iſt groß, edel, frei. Nicht der Eleinfte Mordent
klingt nah Virtuoſenthum; was irgend im Soloipiel an Eitelkeit
oder Gefalljucht mahnen kann, ift hier ſpurlos getilgt. Dieſer
Adel künftleriiher Heberzeugung tritt bei Joachim mit jolcher
Macht auf, daß man erjt hinterher au die Würdigung jeiner
großartigen Technik denkt. Welche Kraftfülle in dem Ton, dei
Joachim's großer, ficherer Bogen dem Inſtrumente abzwingt!
Es ſchien uns das erſtemal, daß ſelbſt bei nahdrüdlichiter
Behandlung der tieferer Violinlagen feine Spur jenes eigen—
thümlich materiellen Scharren3 und Schlürfens der Saite mit:
flang, welches wir auch bei den berühmteften Geigern ftellen-
weiſe vernahmen. Unvergleihlih an Reinheit und Egalität iſt
Joachim's Triller; fein mehrjtimmiges Spiel jo verbunden
zugleih und ſcharf gefondert, daß man oft zwei Spieler zu
vernehmen glaubt. Im Verlauf feiner Goncerte wird und Joachim
mit den Eigenthümlichfeiten feiner Technik noch näher vertraut
machen. Nach dem erften Eoncerte Joahim’s möchten wir aller:
dings annehmen, daß der Ausdruf des Großen, Edlen,
264 1861.
Pathetiihen der feiner Natur homogenfte jei. Ob das leichte
Spiel der Anmuth, der flüchtige Wiß, der friihe Humor ihm
ebenfo überzeugend zu Gebote ftehen, wird er in anderen Com—
pofitionen zeigen müſſen. Das Beethoven'ſche Concert,
namentlid der faſt improvijatoriich freie, tiefbeiwegte Vortrag
des Adagio, bewies die entſchiedenſte Selbitftändigfeit der Auf-
faffung. Unter Vieuxtemps' Bogen Hang dies Concert
glänzender, lebendiger, Joachim holte es mehr aus der Tiefe,
und übertraf durch eine wahrhaft ethiiche Kraft die Wirkung,
die Vieuxtemps' Spiel dur) hinreißendes Temperament
erzielt hat.
Die zweite Nummer war ein Spohr'ſches Adagio, deſſen
Einförmigfeit in der markigen, dabei mannigfaltigen Spielweife
Joachim's ale Schwere verlor. Am überrafhenditen erichien
un? Joachim in dem Vortrag der »Teufeldfonate« von Tar—
tini. Wir glauben der Zuftimmung der Violinfpieler gewiß zu
jein, wenn wir diefe Aufgebot einer coloffalen und zugleich
clafftiih geläuterten Technik bisher unerreiht nennen. Die
ſchwierigſten Bravouren dieſes Stücdes, mit deren anſtandsloſer
Bewältigung man fich ſonſt zufrieden zu geben pflegt, producirte
Joachim nicht blos mit ficherer Leichtigkeit, e& gelang ihm
überdies, in dies braufende Tongewirr zahlreiche bedeutfame
Accente zu vertheilen, »Lichter aufzufegen«, welche dem Ganzen
einen neuen, ausdrucksvollen Charakter geben. Im Ganzen ift
uns faum ein zweiter Virtuoſe vorgefommen, deifen Leiftungen
jo vollftändig aus Einem Guffe, dadurd fo rein und harmoniſch
in ihrer Wirkung geweſen wären.
Aus Joachim's »Goncert in ungarifher Weije«
dürfen wir wohl nur mit Vorfiht einen Schluß auf den Um—
fang und die Art feiner ſchöpferiſchen Begabung ziehen. Nicht
nur ift e8 die erite Compofition Joachim's, die uns bekannt
wurde, ſie ift überdies zu umfangreich, dabei durd ihr ftarf
hervortretendes virtuofes Clement zu blendend, um im ein—
maligem Hören vollflommen erfaßt zu werden. Sebenfalls
intereifirt und beichäftigt fie den Hörer auf das Iebhaftefte.
Ihre Bedeutung liegt mehr in der Energie, womit der Com:
ponijt die Stimmung unerbittlich feithält, und nur deren Um—
Joachim. 265
gebung geiſtreich wechſelt und combinirt, als in eigentlich reicher
melodiſcher Erfindung. Auf den erſten Blick erſcheint zwar die
freiſtehende Benützung von Volksweiſen eine ungemeine Er—
leichterung für den Componiſten zu ſein. Durch die ungariſchen
Nationallieder mag ſich aber ein Tondichter ebenſoſehr ein—
geengt fühlen, denn ſie ſind unter einander ebenſo monoton,
als fie ausdrucksvoll und leidenſchaftlich ſind. In ihrem zwei:
theiligen Bau (langſame und ſchnelle Bewegung), ihrem ?/ «Takt
mit vorwiegend dreitaftiger Beriodenftellung, ihren eigenthümlich
hinfenden Rhythmus bleiben die magyarifchen Volksweiſen bei-
nahe ftereotyp. Schubert Hat troß feinem lebhaften Zug zur
ungariihen Nationalmufif in größeren Gompofitionen, wie die
C-Symphonie u. a., nur einzelne Anklänge daran gewagt. Ein
ganzes Concert »in ungariicher Weiſe« zu fchreiben, iſt jelbit
für einen erfindungsreichen Tondichter feine Kleinigkeit. Joachim
hat die nationale Treue, das muſikaliſche Intereſſe und das
Vorrecht des Virtuoſen hier in geiftreicher Weije zu vereinigen
getradhtet. Der erſte Sag de3 Concertes, der am breiteften und
reichiten ausgeführte, imponirt durch den feitgehaltenen Ton
einer ftolzen und faſt verbiffenen Leidenjchaftlichkeit; in zügel-
Iojer Freiheit der Bewegung nimmt er bisweilen den Charafter
der Nhapfodie oder des Präludiums an. Weniger reich in der
Combination, hat uns der zweite Sag mit feiner tiefmelandholiichen
Klage noh harmoniſcher angeſprochen und befriedigt. Auf die
Elegie diefes Adagios — gleihjam der -Laſſaͤ« dieſes Stüdes
— ftürzt im dritten Saß die tolle Luftigfeit der »Friska«
herbei. Hier jehen wir ung in den wilden, alle® mit fich fort:
reißenden Tumult einer Zigeunermuftf gezogen. Bei aller Be:
weglichkeit diefer bizarren Tonfiguren, die auf fortwährender
Flucht begriffen jcheinen, Liegt doch ein drüdender Bann auf
dem Ganzen. Wer Hat nicht an heißen Sommerabenden dem
Müdentanz zugeifhaut? Gerade wie diefe Myriaden von
Thierchen, jo wirbeln hier die Töne in grenzenlojer Schnelligkeit
auf und nieder, ohne daß die ganze tanzende Säule vom Fled
füme. In technischer Hinficht ift das ungariihe »Concert« eine
eritaunliche Leiftung! Alle erdenklihen Schwierigkeiten des
Violinipiels find in blendender und charafteriftiiher Weije ver:
266 1861.
wendet, ja im eriten Sag ſchienen ſogar halbe Unmöglichkeiten
aufzutauchen, deren reine Durchführung felbft Joachim ſchwer fiel.
Die weiteren Vorträge Joachim’, wahre Niefenleiftungen
einer virtuoſen und doc ſtets ſich unterordnenden Technik,
waren einige Süße aus Seb. Bach's »Piolinfonaten« und
eine »Phantafie mit Orcefter«e von Schumann (op. 131).
Da Joahim feine PBirtuofen:Eitelfeit befitt, fo mochte es
zumeift Pietät fein, was ihn dies ebenjo jchwierige als un—
erfreuliche Stüd fpielen ließ. Shumann hat e8 an der Neige
jeiner lichten Tage geichrieben und Joachim gewidmet. Es ift
ein dunkler Abgrund, über dem zwei große Künftler fich die
Hände reihen. Martervoll, düfter und eigenfinnig ringt fich die
»Phantafie« mit fehr geringem melodifhen Gehalt in fort:
währendem Figuriren weiter. Nur höchſt jelten wird das Er—
müdende dieſer Erfindung durch eine geiftreihe Harmonie oder
Ordeftration unterbrohen. Beethoven's Romanze in F-Dur
(op. 50), erinnern wir md nicht, früher öffentlih gehört zu
haben. Beethoven hat befanntlich zwei Romanzen für Violine
(mit Octettbegleitung) gejchrieben; die erite in G-dur fpielte
Bazzini in feinen Wiener Goncerten. Beide Stüde tragen zwar
den unverfennbaren Stempel Beethoven'ſcher Erfindung, ftammen
aber offenbar nicht allein au8 dem inneren Schaffensdrang des
Meiiterd. Sie haben einen Gelegenheitöbeigefhmad. Beethoven's
eigenthümlichiter fraftvolliter Zeit angehörend, mahnen fie doch
durh manchen conventionellen, veralteten Zug an die »erite
Periode.«e Joachim fpielte die Romanze wunderbar groß und
ruhig. Die Melodie geigte er einfach auf der hellen E-Saite,
während wohl fein anderer Violin-Virtuoſe ſich verjagt hätte,
fie fünftli in ein tieferes Helldunfel zu ziehen. Dieſe ſchlichte,
ihmudloje Größe fcheint und der hervorragendfte Zug in
Soahim’3 Spiel. Daß er fih damit mancher feineren, uns
mittelbar rührenderen Wirfung begibt, verhehlen wir und nicht.
Der große, pathetiihe Styl wird das Publicum immer früher
zur Bewunderung als zur Liebe bewegen, er beugt ung den
Nacken und kann darum nicht ſo ſchnell in unſer Herz ſich
ſtehlen. Wie in dem perſönlichen Charakter der Menſchen, ſehen
wir in den künſtleriſchen Individualitäten gewiſſe Anlagen faſt
Die Harfenipielerin Mösner. 267
regelmäßig ſich ausfchließen und fo gejondert große Claſſen
von Vorzügen und Mängeln begründen. Mehr als eine Stelle
von Beethoven hätte Hellmeöberger’3 feines, reizbares Naturelf
und unmittelbarer ing Herz geipielt, als Joachim's unbeug—
famer, römiſcher Ernft. Die Vortragsweiſe der Beiden verhält ſich
beinahe wie Weibliches und Männliches, oder um ein muſikaliſches
Bild zu gebrauchen, wie chromatijches und diatonijches Klang:
geſchlecht.
Virtuoſenconcerte.
Die Harfenſpielerin Fräulein Mösner gab ein Concert
mit beitem Erfolg. Die Thatſache, daß der Beifall des Pu—
blicum3 falt ausichließlih ihrer Wirtuofität gilt, ericheint
ihmeichelhafter für die Künftlerin, ala Iodend für den Mufiker.
Dem es iſt in der That ein recht undankfbares Inftrument,
worauf Fräulein Mösner jo viel Kunſt verwendet. Der gloden-
reine, aber furze, gerifjene Ton der Harfe hat etwas Saltes,
ſeelenlos Elementariſches. Man kann dieſe rafch abflingenden
Töne nicht ſchwellen, nicht ſchwächen, nicht zu breiter, ſchöner
Cantilene verbinden. In ihrer charakteriſtiſchen Wirkſamkeit auf
Arpeggien und ſchnelle Läufe geſtellt, hat die Harfe als ſelbſt—
ſtändiges Inſtrument ein ſehr kleines Gebiet. Dazu kommt, daß
der romantiſche Nimbus, womit die Geſchichte und Poeſie dies
ehrwürdige Organ verklären, von unſerer modernen Tracht und
der proſaiſchen Concert-Umgebung die Flucht ergreift. Bon
ihöner Klangwirkung als Begleiterin des Gejanges oder im
Verein mit anderen Snftrumenten behält die Harfe in Solo:
jtüden allzeit etwas Steifes, Dürftiges. Ueberdies iſt ihre
Literatur ſehr arm; die Gompofitionen ihres beiten neueren
Bertreterd, Pariſh-Alvars, können wir faum mehr goutiren,
feiner Vorgänger Bochſa u. ſ. mw. nicht zu gedenken. Es beweift
Fräulein Mösnerd Einfiht und Gefchidlichfeit, daß ſie Durd)
eigene Transferiptionen das Repertoire der Harfe zu bereichern
ſucht, nur würden wir ihr zu andern als Lilzt:Thalberg’ichen
Dpern-Phantafien und jedenfall3 zu der Beiziehung eines be—
gleitenden Inſtrumentes rathen.
268 1861.
Ein volljtändiger Bericht darf des Herrn Nagy Jakab und
feines Concert? im Theater an der Wien nicht vergeffen. Ein .
herfuliicher Mann in ungariſcher Tracht mit gefchligten bligenden
Augen, Starken Backenknochen und gemwaltigem Schwarzen Boll:
bart. In der Hand hält er fein Goncert-Inftrument (»Tilinkö«),
die ungariiche Hirtenflöte, die man bei den Pusztaähirten noch
häufig im Gebrauch findet. Dies Kleine Pfeifchen wird, wie die
Flöten im 16. Jahrhundert oder die uralte »Schwegel«, beim
Andblajen gerade in den Mund gehalten. Es ift ein armielig
rohe Naturproduct; der Ton, wechjelnd zwifchen jchrillem Gepfeife
und unreinem Gezwiticher, entbehrt auch des geringften finnlichen
Reizes und bleibt jeder Spur von Ausdrud unzugänglid. Die Be:
hendigfeit, mit der unſer Goncerthirte auf diefem Qamentirholz
ji herumtummelt, erregt mehr Heiterkeit ald Bewunderung. Man
glaubt einen toll gewordenen Zeifig zu hören. Wie aber die
Neigungen des Publicums unberehenbar find, — es erſcholl
anſtatt des erwarteten Gelächter großer Beifall und lebhafter,
mit einigen »Eljen« gemifchter Herborruf. Der muſikaliſche
Geſchmack Steht wirklich oft ganz jenſeits des Gemwohnten und
der Leitha. Für einen Hirten, der volle ſechs Tage in der
Woche allein mit jeinen Schafen auf der Puszta Hinträumt,
mag jo ein Tilinkö die Eöftlichite mufifalifche Unterhaltung ab:
geben; aber weiter ind Land würden wir und damit nicht
wagen, höchſtens noch bis ins Wirthöhaus zum »Komlo—
Kertben« in Veit, wo dergleihen Beiträge zu der Czardasmuſik
der Zigeuner auf ungetheilte Berherrlihung zählen dürfen. Wir
aber, die wir fogar den Meiftern der modernen, veredelten
Flöte nicht ohne WVerlegenheit begegnen, fönnen dem würdigen
Miſſionär des »Tilinkö« nur zurufen: »Meide deine Lämmer,
weide deine Schafe!«
1862.
Die Matthäus: YPalfion von Heb. Bad).
Die »Sing-Akademie« gab Bach's Paſſionsmuſik
nah dem Evangelium Matthäi. ES war für Wien die
erste Aufführung diefes Werkes, das an religidjer Er:
habenheit, wie am fünftlerifcher Vollendung in der gejammten
Mufit kaum jeinesgleihen hat. Marx durfte es wagen, die
Bach'ſche Matthäus-Paſſion dag »fünfte Evangelium« zu nennen.
Der Eindrud, welchen wir durd die unmittelbare Kraft diejer
Mufit erfahren, läutert und befeftigt fich vollends, wenn wir
die uralt ehrwiürdigen Wurzeln derjelben in's Auge faſſen.
Bach's Muſik ift die letzte reichite Blüthe eines durch Jahr:
hunderte fich dDurchziehenden religiöfen Kunſtzweiges. Die Paſſions—
mufifen, gegenwärtig als unbeftrittener Beſitz des proteftantijchen
Cultus angejehen, verdanken ihren Urfprung und erite Aus—
bildung der fatholifhen Kirche. Bis in's 12. Kahrhundert
läßt fich der Gebrauch der katholiſchen Kirche verfolgen, Die
Leiden Chriſti in epiich-dramatifcher Form während der Charwoche
in der Kirche mufikalifch aufzuführen. Längſt vor Baleftrina’3 Zeiten
wurde in der Sitxtiniſchen Capelle die Paſſionsgeſchichte ſo
aufgeführt, daß ein Sänger die Worte des Cvangeliften, ein
zweiter die Reden Ehrifti fang, ein dritter endlich alle übrigen
redend eingeführten Perſonen repräjentirte. Dazwiſchen trat
jtellenweife da® Wolf (turba) in mehritimmigem Chor auf. Die
lateiniichen Bibelworte wurden nad) von der Kirche normirten,
pſalmodiſchen Weiſen abgefungen, welche »Mecente« hießen. Die
evangeliihe Kirche übertrug die Sitte diefer Paſſions-Auffüh—
270 1862,
rungen in ihre Liturgie. Auf Luther’3 Anordnung wurde an
jedem Charfreitag Vormittags die Leidensgeihichte des Herrn,
jährlih abwechjelnd aus einem der Evangeliften von dem
Geiftlihen am Altare, und zwar deutfch abgejungen, in ein—
töniger, von feinem Chor unterbrocddener Pſalmodie. Allmälig
gegen das Ende des 16. Jahrhundert® begann fi) der muſi—
faliihe Theil diefer kirchlichen Feier zu erweitern und auszu—
bilden. Es kann hier nicht ausgeführt werden, wie durch immer
reicheren Chorjag, durh Einfügung von Arien und Duetten,
durch genauere Charakteriftit der bibliichen PBerfönlichkeiten fich
diefe Gattung in Deutichland zu ihrem erften Höhepunkt, den
»Vier Paſſionsmuſiken- von Heinrich Schüt (1665) erhob,
dur den Königsberger Sebaftiani eine noch fünftlichere Aus:
bildung (3. B. durchgängige Inftrumental:Begleitung) erfuhr.
Eine neue Wendung nahm Form und Charakter der Paſſions—
mufifen zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Hamburg. Den
(meift nicht mehr bibelgetreuen) Worten des Epangeliften wurden
nebit den Sirchenliedern der Gemeinde freigedichtete, Fromme
Betrahtungen und Nutanmendungen gegenüber gejtellt. Der
berühmtefte Verſuch in der Reihe diejer poetifch fläglichen, von
pietiftiicher Anfchauung bejtimmten Paffionsgedihte war »Der
für die Sinde der Welt gemarterte und fterbende Jeſus« von
dem Hamburger Rathöherru Brodes. R. Kaijer, Matthes
jon, TZelemann, Händel u. U. haben ihn componirt. Die
poetifchen und religiöfen Anſchauungen dieſer Kreife find der
Boden, aus welchem die wunderbare Paſſionsblume Sebaftian
Bach's erblühte.
Bach's Paſſionsmuſiken find natürlich für die Kirche be—
rechnet, indem die ganze Gattung einen liturgifchen Beitandtheil
des proteftantiichen Gottesdienjtes bildet. Doch murzeln Die
Paſſionsmuſiken durhaus nicht jo feit in dem kirchlichen Boden,
wie die fatholiihe Mefje; mehr von dem allgemeinen Charafter
eined Oratorium, find fie viel leichter aus dem liturgischen
Vorgang loszulöſen. In Bach's »Paſſion« erzählt der Evan
gelift (Tenor) mit den Worten der Bibel die Leidensgeſchichte;
Chriſtus (Baß), Petrus, Judas, Pilatus, das jüdijche Volk zc.,
treten im Verlauf der Erzählung redend auf und verleihen ihr
Die Matthäus⸗Paſſion von Seb. Bad. 271
dramatijches Leben. An alle die Empfindung oder Betrahtung
beſonders erregenden Momente fnüpfen fi Arien, Chöre und
Kirchenlieder, theils der wirklichen, theilß einer idealen Gemeinde.
Große Chöre, in welchen fi) die Gemeinde frommen Betrad)-
tungen hingibt, eröffnen und bejchließen das Werk. Man fieht,
daß zu dem lyriſchen Elemente, das in diefem Oratorium den
Grundton bildet, und auch äußerlich vorherricht, noch das epifche
und dramatiiche ſehr wefentlich Hinzutreten. Won jeder diejer drei
Ausdrudsformen gibt die »Matthäus-PBaffion« unvergleichliche
Muſter. Wenn hier die Erzählung fich zur tiefempfundenen Arie
ausbreitet, dort gewaltig dramatiihe Chöre wie Blige ein:
ichlagen, um ſich bald wieder in lang aushallendem Choral zu
beruhigen und zu vertiefen, jo fällt es ſchwer, dem einen oder
dem anderen den Vorzug zu geben. Dennoch gehört wohl das
Bedeutendfte den Iyrifchen Bartien an, welche dem innerlich arbeiten:
den Empfindungsleben Bach's gewiß aud) am nächiten ftanden.
Gleich die erfte Nummer, vielleicht die vollendetite des Ganzen,
ift ein polyphones® Wunderwerk, deffen durchgeiftigte Kunit wir
bewundern, ohne davon erdrücdt zu werden. Es ift ein Doppel-
chor der »Töchter Ziond« und der Gläubigen, auf welchen weit:
hin die Silberflänge eines dritten, höher poftirten Chors
(Knabenftimmen) ſich niederjenken. Kein majeftätiicheres Portal
läßt fi zu dem gothiichen Dom denfen, mit dem man jo oft
mit Recht die »Matthäus-Paffion« verglihen Hat. Unter den
Arien find die bedeutenditen jene, welche der Soloſtimme die
gewaltigen feitgefügten Schichten des Chores unterbreiten, wie
die Tenor: Arie in C-moll (Nr. 26), die Alt:Arie »Ach nun ift
mein Jeſus hin«, u. a. Diejen ftehen die Kleinen Arien, zwar
minder impojant und funfireih, doch nicht weniger tief und
finnig zur Seite. Es würde bei der großen Anzahl derjelben
fat ebenjo ſchwer fallen, wie bei den Chören, die bejten nam—
haft zu machen. Allerdings ift gerade der Genuß der Arien
für ein größeres Publicum durch ihre veraltete Form und Die
ungewohnt dürftige Inftrumentirung erfchwert. Häufig begleiten
nur Oboe und PVioloncell, oder Flöten und Bäße die Sing:
ftimme, zu welcher dieſe zwei oder brei Inſtrumente, jedes fich
unabhängig fortbewegend, meift in ftreng gemeſſene contra=
272 1862.
punktiſche Beziehung treten. Die dünne Begleitung (namentlich
wo, wie bei der Wiener Aufführung, die füllende Orgel weg—
bleibt), das Fehlen aller Blechinftrumente, verleiht diefen Arien
einen ungemein feufchen, ernten, aber auch fremdartigen Aus:
drud. Nah dem langen, und ungewohnten Vorherrſchen figu—
rirender Oboen und Flöten Eingt es ſchon wahrhaft erfriichend,
wenn eine Violine die ſchöne Alt:Arie im zweiten Theil be—
gleitet. Kleinere Arienfäge von köſtlicher Einfalt und Reinheit,
wie: »Du lieber Heiland, Du«, »Golgatha« mit den zwei tiefen
Oboen (hier Clarinetten) 2c. befitt die »Matthäus-Paflion« in
ftattliher Zahl. Untergeordneter, doch von hohem Intereſſe
find die epiſchen Partien des Werkes. Die Recitative des
Evangeliften haben eine Lebendigkeit und Schärfe der Decla—
mation, die mitunter auch das Gewaltfame, Edige nicht ſcheut.
Der erzählende Fluß der claffiichen italienifhen Recitative fteht
unferm Meifter fern, deſſen Eigenart es mit fich bringt, Die
harakteriftiihe Bedentiamkeit überall, auch auf often der
Schönheit, voranzuftellen. Bedenklich für unjere Zeit ericheint
die hohe Tenorlage, in welcher Bad den Evangeliſten reci-
tiren läßt; die tiefere Orchefterftimmung feiner Zeit reicht hier
zur Erklärung nit aus. Bach muß für den Evangeliften einen
Sänger zur Verfügung gehabt haben, der mit ganz ungewöhn—
licher Leichtigkeit in der höchſten Tenorlage deutlich recitirte;
eine Art Haut-contre, wie die Franzoſen jene, jeßt ausgeſtorbene
Gattung hoher, fih dem Alt nähernder Tenore nannten. Wen
wäre der fhöne Zug nicht aufgefallen, daß alle Reden Chrifti
von langaußhaltenden Geigentönen, wie von verflärendem Licht
umfloffen find, während die Recitative des Evangeliften, Der
Apoftel u. ſ. w. nur von kurzen Baßnoten geftügt werden. Das
dramatiſche Element macht fi ſchon in den Reden und Gegen:
reden der handelnden Perfonen geltend; mit entjcheidender, be—
wußter Kraft tritt e8 jedoch in den kurzen Chorfägen der Juden
im zweiten Theil auf. Welch’ mächtige, dabei ungefuchte Wir:
fung! Sie ift um fo bemerfenswerther, ald die Kraft und Ver:
feinerung des dramatiihen Ausdruds unbeftritten dasjenige
Element in der Muſik ift, welches eine fpätere Kunftepoche am
glüdlichiten weitergeführt hat. Wie tief Mendelsſohn's
Die Matthäus-Pafſion von Seb. Bach. 273
wirkſamſte Chöre dieſen Vorbildern Bach's verpflichtet ſind,
wird niemand entgangen ſein.
Als Ganzes macht die »Matthäus-Paſſion« einen tiefen,
ganz und gar eigenthümlichen Eindruck, einen mächtigeren Ein—
druck, als wir nach dem Studium der Partitur ſelbſt prophezeit
hätten. In der Gewalt und Eigenart dieſes Total-Eindruckes
verſchwindet alles Einzelne, was den Hörer im Verlauf etwa
fremdartig, ungenügend, ſelbſt widerwillig berühren mochte. In
ihrer höchſten Offenbarung ſehen wir eine Kunſtrichtung vor
uns auferſtehen, die wir als erhaben verehren, obgleich ſie
nicht mehr die unſrige iſt. Hier verſteht man Zelter's Wort:
»Bach ſei eine Welt für ſich«; man fühlt, dies Werk iſt einzig,
wie fein Schöpfer einzig war. Eben deshalb bleibt dem Hörer
auch die Verjuchung ferne, Vergleiche anzuftellen. Ohne viel Nuten
würde er Damit nur fich und das Werk beeinträchtigen. In Parallelen
zwifchen der »Matthäus-Paſſion« und der im Ohr des Bublicums
noch nachklingenden D-Mefje von Beethoven mag die jubjective
Vorliebe, das individuelle Verhalten des Hörers fein Recht
wahren; ein objectiver Maßitab der Werthihägung wird ſich
nicht finden laffen. Die religiöjen Anſchauungen Bach’s find
von jenen Beethoven's jo weit verjchieden, wie die Richtungen
ihrer mufifaliihen PBhantafie außeinandergehen. Daß Beet:
hoven’3 MWerf eine größere Zahl von Hörern unmittelbar
erfaßt und mit fich fortreißt, können wir weder bezweifeln noch
bedauern, iſt es doch muſikaliſch und kirchlich aus modernem
Geiſt geboren. Man kann auf Beethoven übertragen, was
von Shakeſpeare geſagt wurde, daß er nämlich überall und
doch nirgends religiös iſt. Von Bach darf die erſte Hälfte des
Sabes gelten. Niemand wird ihn mit Shakeſpeare ver—
gleichen, aber an den ihm an Genie allerdingd untergeordneten
Milton erinnert uns der fromme Thomad-Cantor häufig.
Wie Milton’3 Poeſie direct aus dem engliichen Buritanerthum,
jo mündet Bach's Kirchenmuſik aus der großen pietiftiichen
Bewegung des 17. Jahrhunderts. Das Wort nicht im tadelnden
Sinn genommen, fondern im hiſtoriſch charakterifirenden. Den
Zufammenhang Bach's mit dem deutichen Pietismus zu über:
jehen, bedarf es wirffich eines verichleierten Auge. Man be—
Hanslid. Aus dem Goncertiaale. 2. Aufl. 18
274 1862.
tradhte die Terte feiner Cantaten Motetten Paſſionen und Die
liebevolle Verjenfung, den allerdingS verflärenden, aber doc
innerlihft damit zufammenftimmenden Ausdrud feiner Mufik.
Das den Pietismus dharakterifirende Hereinziehen alle Gegebenen
in die Sinnerlichkeit, und zugleih das fortwährende emfige
Herausholen und Anschauen des Empfundenen finden wir analog
in Bach's Mufit wieder. Das ift jedenfalls etwas bon der
bloßen Frömmigkeit ſich Unterfcheidendes. Tiefe Religiofität
ſpricht doch auch aus Beethoven's D-Meffe; allein fie ift
modificirt, bereichert durch tauſend Bildungs-Elemente, die
Beethoven in ſich aufgenommen, und die er auch im kirch—
lichen Schaffen weit entfernt iſt, von ſich abzuwehren. Wir
brauchen übrigens, um dieſes Unterſchiedes inne zu werden, gar
nicht den entfernten Beethoven, wir dürfen nur Bach's
großen Zeitgenoſſen Händel herbeiziehen, deſſen »Meſſias«
denſelben Inhalt wie die Paſſionsmuſik behandelt. Im »Meſſias
athmet auch jeder Ton echte Frömmigkeit, dabei iſt aber alles
freier, heller, muthiger. Die tröſtenden, ſich aufſchwingenden,
das Gemüth befreienden Momente finden ſich bei Händel
ungleich zahlreicher, und er verweilt viel länger und nach—
drücklicher bei ihnen, während über der ganzen »Matthäus-—
Paſſion« eine ergreifend tiefe, aber faſt ununterbrochen düſtere,
unfreie, von der Betrachtung der eigenen Sündhaftigkeit nicht
losfommende Frömmigkeit wie ſchwerer Trauerflor laſtet. Daß
es Bach ohne ängſtliche Bemühung gelang, alle ſinnlich-welt—
lichen Elemente fernzuhalten, und dennoch auf einem ſo rigoros
begrenzten Gebiet menſchlichen Empfindens den Hörer unaus—
gelegt zu beihäftigen und zu erheben, ift das höchſte Zeugniß
für die Kraft feines Genies und feiner Empfindung.
Es freute uns zu beobachten, daß das überaus zahlreiche
Publicum Bach's ernitem und anftrengendem Meifterwerf mit
ungefhmwächter Theilnahme folgte. Der Bollgenuß eines ſolchen
Werkes kann freili nur demjenigen werben, der wohl vor:
bereitet herantritt, und auch in die faft umergründliche Tiefe
der künſtleriſchen Technik zu tauchen verfteht. Diefe Freiheit
und Kunſt der Behandlung des polyphonen Satzes ift für das
arbeitende Studium eine Goldgrube muſikaliſcher Erkenntniß.
Händel’3 »Meffiad« u. das Aubifäunt der »Bejellich. d. Mufitfreunde«. 275
Außer einiger techniiher Einfiht verlangt die Würdigung dieſes
Werkes auch Hiftorifhen Sinn. Nur dur feine Vermittlung
vermag man die Bedeutung ded Ganzen völlig zu erfaflen und
unbeirrt von fremdartigen. Einzelheiten es zu genießen. Diejen
biftorifhen Sinn, den fchönften Erwerb unferer Zeit, fcheint
dad Bublicum in der That auch in mufifaliichen Dingen fich
mit jedem Jahr ficherer anzueignen; es veriteht moderne An:
fhauungen, individuelle Neigung und Gewohnheit von den
Denkmälern einer großen Vergangenheit fernzuhalten, und ſtößt
es ſich auch hie und da mit den Fühlhörnern, jo zieht es fie
doch nie zurück.
Händel's „Melfias“ und das Jubiläum
der „&efellfchaft der Mufikfreunde“.
Fünfzig Jahre find es, daß die »Gejellihaft der öſter—
reihifhen Muſikfreunde« fih in Wien conftituirt und ihre
Gründung mit der Aufführung eines Händel’jchen Oratorium
gefeiert hat. Ein Halb Jahrhundert treuen Zufammenhaltens,
Streben und Wirkens, — fann es einen erfreulicheren, jolideren
Anlaß zu feitlihem Grinnern geben? Die mufifaliihe Feier
diejer goldenen Hochzeit mit Apollo bejtand in der Aufführung
von Händel’ »Meſſias«. Es fah dabei recht feitlih aus.
Der große gedrängt volle Redoutenſaal, von zahlreichen Luftern
beleuchtet, die fingenden Damen im weißen Kleid, und die Herren
wenigſtens jo feftlich al3 überhaupt ein Herr heutzutage aus—
ſehen fann, und vor ihnen, gleihjam als Schußheilige, die
Büften von Glud, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert
und dem unvergeßlichen Erzherzog Rudolph, der » Gejellichaft«
erſtem und werkthätigitem Schirmherrn. Ein jchmetternder Tuſch
von Trompeten und Pauken — der Kaiſer und die Kaiſerin,
umgeben von zahlreichen Gliedern des Herrſcherhauſes, erſcheinen
unter jubelndem Zuruf in der großen Loge. Da tritt Anſchütz
vor und ſpricht einen Prolog von Joſeph Weilen. Noch immer
derſelbe Wohllaut, dieſelbe Wärme und Ueberzeugungskraft, die
dieſem ehrwürdigen Künſtler ſo wunderbar treu bleibt. Herbeck
klopft and Pult, die weißen und die ſchwarzen Heerſchaaren
18*
276 1862.
raufhen auf, und die feierlihen Harmonien der »Meifiade«
ertönen. Die Wahl des Oratoriums fonnte feine befjere fein.
Gerade der »Meſſias«, Händel’3 berühmteftes und wohl auch
pollendetites Werk, tft in Wien jeit einer langen Reihe von
Jahren nicht aufgeführt morden.
Händel hat fih in feinem »Meſſias« ein Denkmal, nicht
blos als Tondichter, jondern zugleich als frommer, bibelfeiter
Chrift gejeßt. Denn der Tert ift von ihm felbft aus den
Stellen der Heiligen Schrift zufammengeftellt. »Glauben denn
Eure Lordihafte, fagte Händel in feiner derben Biederfeit
einem hochgeftellten Mann, der ihm antrug, er wolle zum
»Meſſias« den Tert Schreiben, »ich Fenne nicht Gottes Wort,
oder daß Eure Lordichaft Beſſeres fchreiben werden, als die
Apostel und Propheten?« Händel wollte feine eigentliche
»Paſſionsmuſik« geben; er faßte jeine Aufgabe in freier, großer
Weiſe, dergeftalt, daß er einen Blid über die ganze Geidhichte
wirft von den VBerheißungen durch die Propheten an bis zum
Erſcheinen und Leiden des Heiland und die noch fortwirfen-
den Folgen jeines Opfertodeg. Er befingt im erften Theile die
Verheißung des Meſſias, die Sehnſucht nad ihm, fein Erjcheinen
al Lehrer und Helfer; im zweiten Theil das Erlöfungswert,
Leiden und Tod, Veibreitung der neuen Lehre, trotziges Auf—
Sehnen gegen fie, endliher Triumph »des Herrn und feines
Chrift, der da herriht von nun an auf ewige; im dritten
Theil gläubige Zuverfiht und Erwartungen der Segnungen,
welhe das Chriftenthum für die Zukunft verheißt. Die mufi-
faliihe Darſtellungsweiſe ift vorwiegend lyriſch; das epifche,
erzählende Element tritt dagegen zurüd; das dramatijche bleibt,
mit der einzigen Ausnahme des Chors: »Er trauete Gott«,
vollftändig aus dem Spiele. Dadurch gewinnt das Werk eine
Größe und Einheit, eine gleichjan feitgewurzelte Ruhe und
SInnigfeit, wie fein zweites, denfelben Stoff behandelndes Werf.
Alle Keinen, genrehaften Züge find vermieden, jelbit die Perſon
Chrifti ift nicht fingend eingeführt, eine Klippe, an der fogar
Beethoven ſcheiterte. Die überwiegend Iprifche, reflectirte
Stimmung des »Meffiad« konnte übrigen? in folder Einheit
nicht ohne jeden Nachtheil feitgehalten werden. Es fehlen dieſem
Händel's »Meifias« u. das Jubiläum ber »Geielich. d. Mufitfreunde. 277
Dratorium die gewaltigen dramatiihen Schlagichatten, nnd da—
mit die Kraft harakteriftiicher Gegeniäße, weldhe und im » Judas
Maccabäus«, »Simfon«, »Beljazar«e hinreißen. Die Phantafie
des Hörer3 findet geringere Anregung im »Meffiad«, der eben
die fubjective Andacht, die Stetigfeit der Empfindung nicht
durd Schilderungen äußeren Gejchehen® unterbrechen will. Die
Mehrzahl der Händel’ihen Oratorien find eigentlich biblifche
Dramen, nur ohne fcenifhe Daritellung; fie wirfen mit der
vollen Anfhaulichkeit dramatiſchen Lebens. Indem der »Meſſias«
auf diefe Wirkung verzichtet, muß er, gegen den Ausgang Hin,
in eine Monotonie des Ausdruds verfallen, der ungeſchwächt
Stand zu halten feine geringe Aufgabe ift. Abgefehen von
diejer Einförmigfeit, welche in einem jo engbegrenzten Kreis
von Empfindungen nicht ganz ausbleiben fan, ift der Eindrud
des »Meſſias« auf jeden Hörer ein gewaltiger, tiefgreifender.
Die Frömmigkeit erfcheint Hier in folcher Kraft und geiftiger
Geſundheit, e8 ift alles fo echt, groß und ganz, daß man be:
wundernd fühlt, einem unvergänglihen Werfe der Kunit und
der Andacht gegenüber zu ftehen. Das Hauptgewicht der Wir:
fung liegt natürlic in jener Form, deren großartige Behandlung
Händel als unerreicht in der Geichichte der Tonkunſt hinſtellt,
in den Chören. »Da jchlägt er ein, wie der Donner«, jagt
Mozart. Mer kennt nicht die gewaltigite aller Hymnen, das
Alleluja, mit feiner padenden Rhythmik, feiner bei aller Kunſt
jo durchſichtigen Volhphonie, feiner impofant anwachſenden
Steigerung! Dies Alleluja fteht an Volfsthümlichkeit und blen-
dender Pracht einzig da; an großartigen Seitenjtüden fehlt es
übrigen? im »Meſſias« nit. Wie erfchütternd fällt nach der
lagenden Arie des Altes der erhabene Trauergefang ein: » Wahr:
lid, er trug unjere Sünden!« Welche Charafteriftif in dem
Chor »Wie Schafe gehen«, welche Feierlichkeit in dem » Wunder:
bare! des eriten Theild. Nach diejer Richtung würden wir
mit Beifpielen de3 Großen und Kraftvollen kaum fertig werden.
In den Arien diefes Oratoriums erhebt fih Händel vielfach
über fich ſelbſt. Die Mehrzahl derjelben fteht nämlih an
Wärme und Innigkeit der Empfindung, an Freiheit der con
ventionellen Feſſeln, über dem Durcfchnitt defien, was Händel
278 1862,
in der Arienform zu bieten pflegt. Wer nicht auf einen großen
Namen Hin in Bausch und Bogen bewundern will (wodurd)
doch eigentlih immer dad wahrhaft Bewunderungsmwiürdige des:
ſelben zu kurz fommt), der muß allerdings auch zwiſchen den
Arien im ⸗Meſſias« unterfcheiden. Ein, Theil derjelben gehört
zu jenen reinen formaliſtiſch erdacdhten, bei welchen der Tert
dem Meifter nur als die Gelegenheit gilt, Muſik anzubringen.
Meiſt mit einem fräftigen Motto beginnend (wie 3. B. die Arie:
»Alle Thale«), jegen fie fich in jener typifchen, coloraturbehängten
Steifheit fort, welche um die einzelnen Worte jih nicht viel
fümmert. Wir möchten in diejfe Claſſe fo ziemlich alle Arien
des eriten Theile reihen, mit Ausnahme der legten: »Er
weidet jeine Heerde«. Wir find durch die großen Nachfolger
Händel’3 an eine viel individualifirtere, anjchmiegendere Bes
handlung des Sologejanged, an eine freiere und wärmere
Melodie gewöhnt, um uns für dieſe Ausdrucksweiſe aufrichtig
zu begeiftern. Selbſt Autoritäten wie Chryjander und Ger:
pinus*) werden ung nicht dahin bringen. Im Gegenjage zu
diefer Claſſe von Arien weiſt aber gerade der »Meſſias« eine
Reihe von Sologeſängen auf, in denen Wort und Ton völlig
Ein getworden, jede Note von Bedeutung, jede Wendung tief
empfunden iſt. Goloratur fehlt darin entweder ganz, oder jie
iſt doch höchſt charaktervoll, wie die rauhen Gorgeggi des Baſſes
in der gewaltigen Arie: »Warum toben die Heiden«. Die
Arie: »Ich weiß, daß mein Erlöfer lebet«; »Er weidet jeine
Heerde«; » Das Volk, das im Dunkeln wandelt«; die Alt-Arie:
—
*) Profeſſor Gervinus, der neuerer Zeit als Vehmrichter gegen
jede vermeintliche Händel-Verletzung umhergeht, findet als unbedingter
Bewunderer der Händel'ſchen Arien auch, »daß Händel die feinſten,
zarteſten, leiſeſten, dem gemeinen Gehör unvernehmbaren Aeußerungen
der geheimſten, verborgenſten Seelenregungen abzuhören verſtand«. Wir
möchten ihn beſcheidentlich erinnern, daß Händel ſelbſt den individuellen
Ausdruck ſeiner Geſänge mitunter ſehr gering anſchlug, indem er z. B.
für manche der ſchönſten Nummern aus dem »Meſſias« Melodien
aus seinen italieniſchen Liebesliedern (Madrigale von Mauro
DO rtenito) unverändert, mitunter in derjelben Tonart, verwendete. Das
Nähere fiche in Winterfeld'3 »Gpangeliihem Kirchengejange«,
III. Band.)
Richard Wagner's Concert. 279
»Er ward verachtet« (beſonders von dem Zwiſchenſatz in C-moll
an) gehören hieher, — bemunderungswerthe Gejänge, wie fie
fein zweites Oratorium. des Meifterd aufzuweiſen hat. Director
Herbed hatte im mwohlveritandenen Intereffe des Werkes (das
jelbft in England nicht vollftändig gegeben wird), mehrere
Nummern weggelafien. Leider war unter diejen Nummern. aud)
der Chor: »Er trauete Gott«, deſſen unvergleihlihe drama:
tiihe Energie wir um feinen Preis vermiffen wollten. Für das
Recht eines Dirigenten (der das Publicum zu Händel heran-
ziehen, und nicht etwa von ihm abjchreden will), Kürzungen
vorzunehmen, brauchen wir wohl nicht erit aufzutreten.
Gegen Profeſſor Gervinus, der in der Weglaffung jeder
Arie mufikalifhe Tempelihändung fieht, führen wir ein Wort
des alten Thibaut in Heidelberg an. Einer der größten Händel-
Verehrer und ftrengiten Buriften (Haydn und Mozart waren
ihm ſchon unbequem), plaidirt Thibaut in feiner »Reinheit
der Tonkunſt« für die Kürzungen, indem er Händel’: Oratorien
mit »einer Schadtel, worin Edelfteine in Baumwolle einge-
widelt liegen«, vergleicht, und »diejenigen bedauert, welche ſich
zur unbedingten Pfliht machen, ein Händel'ſches Oratorium
ganz zu geben, als ob fie damit recht etwas Wunderſames
zu Stande gebradt hätten«.
Wichard Wagner’s Concert.
Im Theater an der Wien gab Richard Wagner eine
große »Muſikaufführung«, welche aus Bruchſtücken feiner un—
vollendeten Werke: »Die Meifterfinger«e und »der Ring
der Nibelungen« beitand. Es dünkt und auffallend, wie
gerade Wagner ein ſolches Potpourri außer Zufammenhang
und ohne fcenifche Zurüftung aus Werfen veranftalten konnte,
deren Inhalt dem PBublicum faum oberflächlich bekannt ift.
Hat doch Wagner unzähligemal ausgeſprochen, daß in der
Oper die Muſik für fich nichts ift, nichts fein darf, fondern ihre
Bedeutung lediglich aus dem Zufammenhang der ganzen Hands
lung, der Worte, der Mimik, der Scenerie erhält. Auch die
280 1862.
einzelne Scene darf nad feiner Theorie aus dem mufifalifch-
dramatiichen Organismus, deſſen Iebendigen Theil fie bildet,
nicht losgetrennt werden fünnen. Der Verfaffer von »Oper
und Drama« hat mit feiner Concertaufführung unftreitig eine
Inconſequenz gegen fi jelbit begangen. Sie ihm verdenten
zu wollen, fällt ung nit ein. Gin Künftlergemüth hat noch
andere Bebürfniffe, als das, confequent zu fein.
MWagner, der in Wien eine große Zahl enthuftaftiicher
Anhänger zählt, mochte das Bedürfniß empfinden, fih ihnen
noch vor dem bedenklich zögernden Erjcheinen feines »Triftan«
ins Gedähtnig zu rufen, feinen Wiener WVerehrern gleichiam
ein glänzendes muſikaliſches Lever zu geben. Auch wir ver:
danten Wagner »Mufifaufführung« die reichhaltigfte Anz
regung und Anſpannung, zwar feinen reinen, aber doch einen
größeren Genuß, ald die GCompofition irgend einer foliden
ſchulgerechten Mittelmäßigfeit uns zu gewähren vermöchte. Die
eigenthümlihe Zufammenfegung des Programms legt der Kritik
eine große Neferve auf. Sie muß fich jehr bedenken, über
complicirte, zum Theil ſchwer faßlihe Fragmente zu urtheilen,
die aus dem Zufammenhang noch unverdffentlichter Werke
herausgerifjen find. Der Goncertgeber Wagner hat, wie wir
Eingangs conftatiren mußten, gegen jeine eigenen Geſetze ver—
ftoßen; für und beſtehen diefe Geſetze noch, und wir möchten
nieht gegen fie veritoßen. Wagner’: Muſik wurzelt wirklich
vollſtändig in feinen dramatiichen Intentionen, fie ift wirklich
untrennbar verwachfen mit der Action, mit dem fcenijchen Bilde
mit allem WVorhergehenden und Nachfolgenden. Die jchildernde,
malende Tendenz, die dramatiiche Abhängigkeit der Mufif er:
Scheint überdies in Wagner’3 neueften Opern noch ungleich
größer, ald im »Tannhäufere oder »LXohengrin«e. Aus diefen
Opern haben unfere, unter dem Namen Leierfaften bekannten
muſikaliſchen Straßenräuber wenigitens den Pilgerchor, den
Einzugsmarſch, das Brautlied herausgefriegt; »Siegfried« und
die »Walküren« können vor ihren Angriffen ruhig fein. Die
von Wagner aufgeführten Fragmente fünnen als ſolche nad
ihrem Werth und Bedeuten unmöglich abgeſchätzt werden. Selbſt
nad ihrer rein muſikaliſchen Wirkung müflen fie im Zufammen:
Niharb Wagner's Goncert. 281
bang des Ganzen ſich anders darftellen; fie find gewiß beſſer
oder ſchlechter, als fie im Concert einzeln uns vorkommen.
Beiler: wenn alles Vorhergehende in der Oper weile darauf
borbereitet, wenn es Höhenpunkte find, vor welden und nad)
welhen die Nerven des Hörers Ruhe finden. Scledter:
wenn ihr Styl der der ganzen Oper iſt, und zum täglichen
Brode machen will, was nur als jeltenes Neizmittel dient.
Was und im Concert dur fünf biß zehn Minuten als geilt-
reiches blendendes Experiment« intereſſirte, müßte, auf einen
Theaterabend ausgedehnt, zur unaushaltbaren Nerveufolter
werden. Wer fönnte den glänzenden theatraliichen Effect des
»Malfürenrittes«, des »Feuerzaubers« 2c. leugnen? Wer aber,
fragen wir weiter, vermöchte diefen Sturm des Außerſichſeins
auch nur eine Viertelftunde länger zu ertragen? Wagner’
Verehrern kann es nicht entgangen jein, wie müde und abge-
ipannt ſelbſt das enthufiaftiiche Bublicum »an der Wien« nad
der ledten Nummer war. Als weſentliche Theile eines großen,
dramatifhen Organismus entziehen ſich die vorgeführten Frag:
mente jeder nicht ganz oberflächlichen Beurtheilung. Sie auf
ihren mufifalifhen Werth allein anzufehen, würde der Com:
poniſt gewiß noch umftatthafter finden. Als fpecifiihen Muſiker
vermochten wir Wagner niemals hoch zu ftellen. Die neueften
Proben haben hierin unſere Meinung nicht geändert. Der
eigentliche Kern ihrer mufifalifchen Erfindung erſchien ung dürftig,
ja dürftiger als in MWagner’3 früheren Opern. In den
»Nibelungen« ift das rein muſikaliſche Erfinden und Entwideln
fo gut wie aufgegeben, was fie ung bieten, iſt potenzirte
Declamation oder muſikaliſche Decorationd-Dtalerei. Im der
Technik diefer ſtets meifterhaft gehandhabten Decorations-Malerei
hat Wagner noch entfchiedene Fortichritte gemacht. Die effect:
vollen Orchefterbilder im »Tannhäufer«e und »Lohengrin« er—
blafien gegen die Farbengluth der vorgeführten Nibelungen:
Scenen. Der »MWalfürenritt« mit feinen Peitichenhieben, Pferde:
gepolter und Sturmesfaufen überjchreitet die Grenzen des
Charatteriftiih-Schönen, aber er ift mit einer genialen Sed-
heit gemacht, die den Zuhörer förmlich niederwirft. In dem
»Feuerzauber Wodan's« überfluthet uns ein. Meer von fremd:
282 1862.
artigen Klängen. In das fieberhafte Tremoliren der Geigen
tönt das Rauschen und PBizzifiren dreier Harfen, brüllen Po—
faunen und Ophhykleiden, klirren die hellen Rufe geftimmter
Glöckchen. |
Sn jedem der Wagner’ichen Fragmente jchlagen eigen-
thümliche, mitunter blendende Ordeiter-Effecte an daS betroffen
laujchende Ohr des Hörers. Freilich führt Wagner zu dieſem
Zweck fortwährend einen unermeßlichen Haushalt: dag ganze
(namhaft verftärkte) Orcheſter in fortwährender, fluthender Be:
wegung, Streicher und Bläſer in den fremdartigiten Combina—
tionen, Poſaunen und Bombardond, Baufenwirbel, große
Trommel, Beden, Triangel, Glöckchen. In dem Raffinement
ungewöhnlicher Klangmiſchungen, wie in der Wucht des mate-
riellen Lärm jcheint und Wagner an dem Punkt angelangt,
wo .er nicht mehr weiter kann. Wenn wir aus Ddiejen Frag:
menten und Wagner’3 gegenwärtigen Standpunft abftrahiren
dürfen, fo fteht die betrübende Wahrheit feit, daß diejer Com—
ponift nicht mehr auders als mit den coloffaljten Mitteln zu
wirfen vermag. Am auffallenditen zeigt dies das »Vorſpiel«
zu den »Meifterfingern«. & ſchließt mit einem Inſtrumenten—
lärm, der jedenfall! mehr VBerwandtihaft mit dem Untergang
von Pompeji hat, als mit der ehrſamen Nürnberger Sänger:
zunft. Die Vereinigung der drei Themen. der Ouverture mag
auf dem Papier recht ſtattlich ausfehen, in Wirklichkeit ilt fie
ein betäubende® Durcheinander: Das gleihe Kunftitüd in
Meyerbeer's »Norditern« fteht wie ein Meiſterwerk dagegen.
Den reinften Eindrud hat und Pogner’3 Anrede aus den
»Meifterfingern« gemadt. Das Declamatorifhe fügt fih darin
jehr hübfch dem Melodiſchen, der Gefang athmet Innigkeit, die
Begleitung hält fi, bei großer Wirkjamkeit doch mäßig. So
weit wie in den Geſang Bogner’ wagt fi in den übrigen
Stüden die Melodie felten hervor. Wagner legt fie bekannt:
ih als eine »unendliche⸗ ins Orchefter, wo fie als jehr end-
liche, vorübergehende, allerdings von reizendem Effect fein kann.
Mit dem Vorwurf der Melodien-Armuth darf man Wagner
wohl nicht mehr kommen, feit er in den »Meifterfingern« fo
beißenden Spott darüber ausgegoſſen. Es fommt eben nur
NRihard Wagner's Concert. 283
auf den Begriff von Melodie an. Nach unferer einfältigen
Meinung ift die Melodie verihieden von Eifenfeilipänen und
unjer Ohr fein Magnet.
Ueber den Inhalt von Wagner’3 für vier Theaterabende
berechneten »Nibelungen-Ring« gibt und eine eben erichienene
»Studie« von Franz Müller in Weimar erwinjchte Auf:
ihlüffe. Das raſche Erſcheinen dieſer apologetiihen Schrift
hat und nicht erftaunt. Die Compofitionen Liſzt's und
Wagner's wirken wie Armeebefehle. Es braucht ein Werk
eines dieſer beiden Herren nur zu erfcheinen, und eine Kleine
Literatur von erflärenden Artikeln, Brojchüren, Ueberſetzungen ꝛc.
folgt auf dem Fuß. Herrn Franz Müller’ Frühgeburt hat
nicht einmal fo lange warten können: die Mufif zu Wagner’
»Nibelungens ift noch nicht fertig, das Tertbuch noch nicht
veröffentliht, und jchon Halten wir diefe 118 Seiten jtarfe
»Einführung in die Dichtung Rihard Wagner’3« in Händen.
Sie beijchäftigt fih Iediglih mit dem Texte; die Muſik wird,
der Vorrede zu Folge, ein zweiter Band von »fundigerer Hand«
beleuchten. Das Buch ſelbſt ift geiftlos und bombaftiih. Das
iſt ſchlimm; aber noch jchlimmer, daß dad Bud nothwendig
iſt. Wer nit die ganze nordiihe Mythologie mit allen
Helden= und Götterfagen wohlgeordnet im Kopfe hat, verjtcht
von Wagner’3 viertägiger Rieſen-Oper jo gut wie nicht. Und
doch ſoll dies »Bühnenjpiel« ein Felt für das deutihe Volk
fein. Welch' fchwerer Irrthum, es jeien jene Götterfagen fort:
lebend im deutihen Wolf, weil defjen Urahnen fie erdadt!
Wagner kann in den gebildeten reifen Wiend leicht die
Probe machen, wie viel von den Erzählungen der »Edda«
jeinen Verehrern und Verehrerinnen bekannt jei. Und vollends das
»Volk«! Angenommen nun, dieſes hole jich die vollſtändige Kennt:
niß diefer Sagen (aus Büchern, woher denn jonft?), jo fehlt
doch der innere lebendige Zufammenhang der Nation mit jenen
alten Göttergeftalten. Wir halten diefe Gebilde einer mächtigen
naiven Volkspoeſie Hoch: im Epos. Auf der Bühne aber wollen
wir Menfchen vor uns jehen, lebendiges Fühlen, Denken und
Handeln, dad wir verftehen, und das uns im Innerften bewegt.
In Wagner’3 »Lohengrine ift das Mythiſche des Helden jchon
284 1862.
bebenflih; feine Zwitternatur vermiſcht und verfälicht in den
entjeheidenden Augenbliden jedesmal die Motive feines Handelns.
Sm »Nibelungenring« find die wenigen handelnden Menſchen
lauter Zohengrine, nicht Gott, niht Menih. Im »Rheingold«
treten nur Götter und Halbgötter auf. Die Handlung fpielt
abwechjelnd in den Fluthen des Nheins und in ber Götterburg
Walhalla; alfo unter dem Waſſer und über den Wolfen. Auch
in den folgenden Theilen iſt das unmittelbare Eingreifen der
Götter in die Handlung und ihre directe Verbindung mit den
Hauptperfonen jo vorherrfhend, daß Siegfried, Brunnhild,
Hagen fi) weit mehr als überirdifche, denn als menfchliche
Weſen geben.
Die modernen Dramatiker, welche den Muth hatten, die
Siegfried-Sage auf die Bühne zu bringen, waren vor allem
bedacht, fie und durch rein menſchliche Motivirung näher zu
rüden; fie hielten jich deshalb an das Nibelungenlied, welches
im Vergleich zu den älteren Sagen und SHeldenliedern die
Charaktere und Begebenheiten Schon überwiegend in dramatiſche
Bewegung jeßt. Wenn Wagner im Gegenfaß dazu aus der
»Edda« ſchöpft, jo heißt dies, das Rad zurüddrehen. Mit
Vorliebe auf rein epiihen Motiven vermweilend, geht Wagner
den Nibelungenhelden bis in das tiefite Dunkel ihres Urſprungs
nad. Siegfried’3 Thaten füllen das dritte und vierte Stüd;
im zweiten handeln Siegfried’3 Eltern, im erjten die Götter,
von denen fie abitammen. Dan muß froh fein, daß Wagner
den göttlihen Stammbaum nicht noch weiter biß zu der Kuh
Andhumbla verfolgt hat, welche durch Beleden falziger Eis:
blöde den Ahnherrn des Götterffeeblattes Odin, Wilt und We
hervorrief.
Wir würden hier mit dem Bedauern fchließen müſſen,
daß eine jo glänzende dramatifche Kraft fi durch das Streben
nah dem Ingeheuerften und Außerordentlichiten in jo unfrucht—
baren Streifen feithalten läßt. Zum Glüd eröffnet und Wagner
jelbjt gleichzeitig eine neue Ausficht, die und nad) der qualmenden
Gluth der »Nibelungen« wie eine freundliche Landichaft ent-
gegenlächelt. Wir meinen die »Meifterjinger«, eine dreiaftige
Oper, deren Tert wir in dem Haufe eined der liebensmwürdigiten
oh. Brahms. 285
Kunitfreunde Wien! von Wagner ſelbſt vorlejen hörten. Was
man auch im Cinzelnen dagegen einwenden muß (— die
Diction iſt ſchauderhaft —), das Ganze bleibt doch ein an
iprechendes, bald heiteres, bald rührendes Sittenbild aus dem
deutihen Städteleben, auf einfahen Werhältniffen ruhend,
bewegt von Leid und Freud jchlichter Menjchen. Mit den leicht
faßlihen und leicht zu fcenirenden »Meifterfingern« wird
Wagner dem deutichen Theater zuverfichtlih einen größeren
Dienit leiften, ald mit den »Nibelungen«; während diefe einer
geträumten Zukunft Harren, wartet auf jene die danfbare,
opernlofe Gegenwart. Wagner hat fich gleichzeitig Zwei ent:
gegengelegte Wege geöffnet. Der deutichen Kunſt kann es nicht
glei gelten, welchen von beiden Wagner in Zukunft erwählen,
und ob er es vorziehen wird, feiner Nation ein Meeifterfänger
zu jein, oder ein Nibelung.
Job. Braknıs.
Sohannes Brahms Hat fih nunmehr in einem eigenen
Goncerte dem Publicum als Tondichter und PVirtuofe vorge:
führt. Die Compofitionen Brahms’ gehören nicht zu jenen
unmittelbar einleuchtenden und ergreifenden, die im Fluge mit
fih fortreißen. Ihre eroterifche, jeder populären Wirkung por:
nehm ausweichende Haltung Hat, vereint mit ihren großen,
tehnifchen Schwierigkeiten, diefe Tondihtungen weit langjamer
durchdringen laſſen, als nach der entzüdten Prophezeiung, die
Schumann feinem Liebling als Wanderſegen mitgab, zu ver:
muthen war. Bon Brahms' größeren Compofitionen war in
Wien bisher feine einzige, von feinen fleineren Sachen nur
eine Reihe (ungedrudter) »ungarifher Tänze durd Clara
Schumann aufgeführt. So trat denn in der blonden, feinen
SFohanneögeftalt des Gomponiften dem Wiener Bublicum in der
That eine fremde Ericheinung entgegen.
Es gehört derzeit noch zu den bedenklihen Unternehmen,
Brahms’ Talent und Wirkſamkeit abzuihägen. Auch Solden,
die feine Werke vollftändiger fich eigen gemacht, als und möglich
286 1863
war, fällt es keineswegs leicht, fih in Brahms zweifellos zu
orientiren. Nicht als ob dieſer Componift noch in Brauſen der
erften Gährung triebe. Auf feine beiten Jugendwerke, deren
wilde Genialität jo unwiderſtehlich abſchreckend anzog, find
Yängft reifere Schöpfungen gefolgt. Won den überfhäumenden
zwei Clavierfonaten zu den Fis-moll-Bariationen, und feither
wieder zu den beiden Glavier-Quartetten, den Händel-Variationen
u. a, welcher Fortichritt in der freieren ficheren Be—
herrſchung der Technik, welcher Gewinn an Mäßigung und
formeller Marheit! Bon einer Anfängerfchaft kann da Feine
Rede fein. Allein gerade in Brahms' jüngiten Werfen tauchen
ung Fragezeichen und NRäthielbilder auf, die eine Löſung erit
in der nächſten Periode feines Schaffens finden werden. Dieje
Löſung wird entjcheidend fein. Werden Urjprünglichfeit der
Erfindung und melodijche Kraft in Brahms gleihen Schritt
halten mit der hohen Ausbildung feiner harmoniſchen und
contrapumktiichen Kunſt? Wird die natürliche Friſche und Jugend—
fraft feiner erften Werke in dem foftbaren Gefäß, dad Brahms
ihr jeßt geichaffen, unbefümmert fortblühen, ja nod) ſchöner und
freier fich entfalten? Sit jener Nebelflor grübelnder Reflexion,
der feine neueſten Schöpfungen jo häufig trübt, der Vorbote
durhichlagenden Sonnenlichts oder noch dichterer, unmirthlicher
Dämmerung? Die Zukunft, die nächte Zukunft muß es lehren.
Eine bedeutende Erſcheinung, ja der intereffanteiten eine, ift
Brahms gegenwärtig ſchon. In Form und Charakter feiner
Mufit mahnt er zunädft an Schumann. Allerdings mehr im
Sinne einer inneren Verwandtichaft, als formeller Nachbildung.
Eine Individualität wie Brahms fonnte fih dem Einfluß des
Schumann'ſchen Geiftes, wie er umleugbar gegenwärtig Die
mufifaliihe Atmofphäre beftimmend durchdringt, am jchweriten
entziehen*. Mit Schumann theilt Brahms’ Mufif vor allem
*) Ein prophetifhes Wort Shumann’d möge hier feine Stelle
finden. Er fchrieb im Jahre 1840 an einen Freund, er finde es kleinlich
von Fink, daß defien Mufilzeitung alle feine Compofitionen ſeit Jahren
conjequent ignorire. »Nicht meines Namend Willen ärgert es mich,«
fügte er bei, »ſondern der Richtung halber, von der ich weiß, daß fie
die der fpätern Mufif überhaupt fein wird.«
oh. Brahms. 287
die Keufchheit, den inneren Adel. Nichts von Gefallfucht oder
‚ beipiegeluder Affection, alles redlih und wahr. Mit Schumann
theilt fie aber auch die bis zum Gigenfinn jouveräne Sub:
jectivität, das Grübeln, die Abkehr von der Außenwelt, das
Snfihhineinhordhen. An Fülle und Schönheit der melodijchen
Erfindung von Shumann Hoc überragt, erreicht ihn Brahms
häufig im Reichtum rein figuraler Geftaltung. Hier Liegt
Brahms’ größte Stärke; die geiltvolle Modernifirung des
Canons, der Fuge, hat er von Schumann. Die gemeinjchaft:
liche Quelle, an der beide fchöpften, ift Sebaftian Bad. Schon
in den erften Variationen von Brahms (über ein Shumann’iches
Thenta) arbeitet eine ungewöhnliche formenbildende Kraft; Die
folgenden über ein Original-Thema und die über eine ungariiche
Melodie blieben ungefähr auf gleiher Höhe. Sie hat
Brahms gegenwärtig mit den »25 Variationen über ein Thema
von Händel« übertroffen. In der Variationen-Form hat fi
Brahms’ Talent bisher am glüdlichiten geltend gemacht: fie
erheifcht vor allem Reichthum figuraler Geftaltung und Einheit
der Stimmung, alio gerade Brahms’ entichiedenfte Vorzüge.
Die Händel-VBarationen (ih kann mir nicht verfagen, an die
zweite und zwanzigſte, zwei Mufterftücde geiftvoller Harmonik,
zu erinnern) erregten in Brahms’ Concert den Iebhafteiten
Beifall. Nicht jo günstig wirkte das Clavierguartett in A-dur.
Fürs erfte find die Themen nicht fehr bedeutend. Brahms
liebt es bei der Wahl feiner Themen, deren contrapunktiſche
Berwendbarfeit höher als ihren jelbititändigen, inneren Gehalt
zu jchägen. Die Themen des Quartetts Elingen troden und
nüchtern. Es werden ihnen im Verlaufe allerdings eine Fülle
geijtvoller Beziehungen abgewonnen; allein eine Wirkung im
Großen ift ohne bedeutende Themen unmöglich. Sodann ver:
miffen wir den großen fortftrömenden Zug der Entwidlung.
Mir betrachten ein fortwährendes Anknüpfen und Abreißen, ein
Vorbereiten ohne Endziel, ein Verheißen ohne Erfüllung. In
jedem Sat finden wir feine Epifoden-Motive, aber feines, das
im Stande wäre, ein ganzes Stüd zu tragen. Mit dem Quartett,
nur von einmaligem Hören befannt, vermögen mir natürlich
nur den eriten Eindrud, nicht das Werk felbft zu jchildden.
288 1862.
Ohne Zweifel würde ein genauere® Studium Hier wie bei
Brahms überhaupt viele Vorzüge des Werkes and Licht
bringen. Für die lebendige Wirkung wäre damit faum viel
gewonnen. Dieje verlangt plaftifches Hervortreten der Melodien,
große, nad) einem Ziel treibende Steigerung und Entwidlung.
Das Glavierguartett und andere neuere Saden von Brahms
mahnen uns ein wenig an Schumann’3 legte Periode, gerade
wie und Brahms' Anfänge an Schumann's erſte Periode
erinnern. Nur zu der goldflaren, reifen Mittelzeit des echten Schu-
mann bietet uns jein Lieblingsſchüler bisher noch fein Seitenftüd.
Brahms’ Glavierjpiel jteht in engem Zufammenhang und
ſchönſtem Verhältniß zu feiner künſtleriſchen Individualität
überhaupt. Er will nur dem Geilt der Gompofition dienen
und vermeidet beinahe jhüchtern jeden Schein jelbititändigen
Prunkes. Brahms verfügt über eine hoch ausgebildete Technik,
welcher nur der letzte glänzende Schliff, das letzte energifche
Selbitgefühl mangelt, um Virtuofität zu heißen. Mit einer Art
Nadläffigkeit behandelt Brahms den eigentlih glänzenden
Theil des Spieles, wenn er 3. B. Octavengänge gern aus
freiem Handgelent fo abjchüttelt, daß die Taften ſeitwärts ge—
ftreift, anftatt von oben getroffen werden. Es mag Brahms
immerhin als ein Lob erjcheinen, daß er mehr wie ein Com—
ponijt als wie ein Virtuoſe fpielt, aber ganz unbedenklich ift
die Lob denn doch nicht. Geleitet von dem Beſtreben, nur die
Compoſition für fich ſelbſt Sprechen zu Iaffen, verabjäumt Brahms
— namentlich beim Vortrag feiner eigenen Stüde — mandes,
was der Spieler für den Componiften zu thun verpflichtet tft.
Sein Spiel ’gleicht der herben Cordelia, die ihr beites Gefühl
lieber verfchweigt, ald den Leuten preisgibt. Gewaltſames, Ver-
zerrtes ift deshalb auch rein unmöglich in Brahms’ Spiel,
deſſen finnige Weichheit fich vielmehr nicht einmal gern ent-
Ichließt, den ganzen vollen Ton aus dem Clavier zu ziehen.
Ebenjowenig wie diefe Heine Schwächen an Eoncertjpieler wollen
wir verſchweigen, wie machtlos fie und gegen die unwider—
ftehlihen feelifchen Neize feines Spiels erſchienen. Am tiefiten
befriedigte uns diejelbe in Shumann’s C-dur-Bhantafie op. 17.
Der phantaftiihe Zauber diefes Tonbildes, eine der merk—
“
Joh. Brahms. 289
würdigften aus Schumann's Sturm: und Drangperiode, wurde
in Wien noch von Niemand beichworen. Lifzt, dem es ge
widmet, hat e3 nie öffentlich vorgetragen; ein Theil jener
großen Schuld an Schumann, von der man Lilzt nicht los—
fprechen kann und die er mit würdiger Offenheit fpäter aner-
fannt und bereut hat. Schumann hatte mit der »Phantafie« -
uriprünglich einen Beitrag zu dem Beethoven-Denkmal in Bonn
im Sinne, und beabfichtigte die drei Säße derjelben »Ruinen«,
»Triumphbogen« und »Sternenkranz« zu überichreiben. Indem
er dieſen Gedanken wieder aufgab, hat er feinen Adepten ein
wahres Kirchweihfeit der Auslegefunft verdorben. Wie unfehlbar
hätten die Gedanfenmufifer Beethoven’3 ganze Biographie aus
demfelben Stück herausgehört, das gegenwärtig ohne Titel
vor derlei Experimenten fo ziemlih Ruhe hat. Höchſt charak—
teriftiich ift hingegen dad Motto (von Fr. Schlegel), welches
Schumann feiner »MPhantafie« beigefügt hat, denn es weilt
unabſichtlich auf einen mufifaliihen Grundzug des
Stüdes hin: /
»Durh alle Töne tönet im bunten Erdentraum
Ein leifer Ton gezogen, für den, der heimlich Laufchet.«
Dieſer »Tone ift eim leidenfhaftlihes Motiv, das über
ſeltſamem Schwirren und Saufen des Bafjes den eriten Eat
durdftürmt, im zweiten bis auf wenige Anklänge verjtummt,
um im dritten, langfam von Harfenflängen getragen, in fanfter
Verklärung wieder aufzutauchen.
Wir können und feine echtere, tiefere Wirkung dieſes merk—
würdigen Stüdes denken, als die e8 unter Brahms’ Händen
hervorbrachte. Wie gerne laufhen wir Brahms’ Spiel! Sobald
er die Taften berührt, durditrömt ung die Empfindung: da
fpielt ein wahrer, aufrichtiger Künftler, ein Mann von Geiſt
und Gemüth und anſpruchsloſem Selbftgefühl. Brahms ſchien
ganz befonder3 gut disponirt. Damit will keineswegs auch gelagt
fein, daß jede Paſſage jpiegelhell blinkte, und jeder Sprung
haariharf traf. Seine Technik iſt wie ein fräftiger, hoch—
gewachſener Mann, der aber etwas fehlendernd und nachläflig
gekleidet einhergeht. Er hat eben wichtigere Dinge im Kopf
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 19
290 1862.
und Herzen, als daß er unabläſſig auf fein Aeußeres achten
fönnte. Brahms’ Spiel ift immer herzgewinnend und über:
zeugend. Wie fräftig und fein zugleih gab er Bach's »chro—
matiihe Phantafie« und Beethoven's Variationen Op. 35,
über jenes Es-dur-Thema aus » PBrometheus«, das der Componift
ipäter in die »Groica«e aufnahm! Etwas ftiefmütterlich be:
handelte Brahms auch diesmal fich felbit. Seine F-moll-
Sonate, als Gompofition Schon jo wunderlih »in fich hinein-
geiungen«, wurde von ihm auch mehr »in fich hinein« gejpielt,
als flar und jcharf herausgearbeitet. Die beiden äußeren Säge
find mit all ihren jchönen Einzelnheiten doch zu formlos, um
entichieden zu wirken; im Scherzo beirrt dem Hörer die auf:
fallende Reminiscenz aus Mendelsſohn's C-moll-Trio; das
Andante Hingegen gehört zu dem Innigſten, was mir Der
neueren Glaviermufif verdanten. Bon höchitem Intereffe war
Brahms’ Vortrag der F-moll-Sonate (Op. 14) von Schumann.
Es dürfte die erite öffentliche Aufführung dieſes Werkes fein,
das zu den leidenichaftlichiten, eigenthümlichiten, mitunter wohl
auch eigenfinnigiten Phantaſien aus Schumann’ erjter Periode
gehört. E3 ift uriprünglich, einer Laune des Verlegers zufolge,
unter dem Titel »Concert sans orchestre« erjchienen, welcher
weder das Weſen, noch die Form des Stückes richtig bezeichnet.
Uriprünglih als Sonate gedacht, hat dasſelbe in zweiter Auf:
lage auch wieder den Titel »Sonate« und damit zugleih das
frühere verdrängte »Scherzo« aufgenommen.
Orchefter: und Ehborconcerfe.
In Brahms’ »Serenade für großes Orcheſter«
(D-dur) lernten wir eined der anmuthigiten Orcheſterwerke der
neueften Zeit kennen, Das Zurüdgreifen nach alten, halbver—
Ihollenen Formen der Mufif wiederholt fih in jüngfter Zeit.
Lachner und Raff ichreiben » Suitene, Brahms »Serenaden«.
Die Serenaden (aud) »Gaffationen«, »Notturnod«, »Diverti-
mentic) gehören zur mufifaliichen Charafteriftif des vorigen
D-dur-Serenabe von Brahms. 291
Sahrhunderts. Da Hatte jeder Fürft und jeder reichere Edel:
mann jeine kleine Diufifcapelle, die danı an Sommerabenden
Muſik im Park machen mußte. Auch in den Städten ward noch
gemüthlicher; zu Haydn’ und Mozart’s Zeit erflangen Nachts
die Straßen und Plätze in Wien von janften Huldigungs—
Mufifen, welche dad morgige Namensfeit der Hochverehrten
oder, wenn der Liebhaber Raifon veritand, ihrer gejtrengen
Frau Mama feierten. Mozart hat viele ſolcher Serenaden
geichrieben, theild für Harmoniemuſik, theils für ganzes Orcheſter.
Es waren dies wirkliche Gelegenheit3:Mufifen, und die beiondere
Beranlaffung wirkte beitimmend auf Form und Charakter des
Stüdes, Zufammenfegung des Orcheiters u. |. w. Die » Serenade«
zählte ſechs bis acht Sätze, worunter zwei bis drei Menuetts.
Spohr's Notturnos für Harmoniemuſik dürften der letzte Aus—
klang einer Kunſtgattung geweſen ſein, welche ſo menſchlich
ſchön den Herzens-Angelegenheiten unſerer Großväter zur Seite
ſtand. Was Brahms zur »Serenade« zurückgeführt, war gewiß
nicht ſowohl der archäologiſche Kitzel, eine alte Form zu
reſtauriren, als die wahlverwandte Hinneigung zu deren poetiſchem
Inhalt. Weht doch aus dieſen vergilbten Serenaden ein Duft
wie von getrockneten Blumen, und zaubert uns in längſtver—
floſſene ſchöne Zeit. Brahms' Serenaden — ich laſſe mir
nicht nehmen, daß er ſie in poetiſcher Umgebung, in weicher,
glücklicher Stimmung gedichtet hat — retten die ſüße Be—
deutung der alten Nachtmuſiken in die tiefere Geſtaltung der
modernen Muſik. Die »Serenade« enthält ſechs Sätze, ihre
äußeren Dimenſionen gehen ſomit über die der Symphonie
hinaus. Dieſe Erweiterung beruht aber nicht etwa auf einem
zu großartigen Inhalt, der die übliche Symphonienform ſprengen
und den Componiſten nöthigen würde, noch über die fünfſfätzige
Symphonie eines Berlioz hinauszugreifen. Die Serenade reiht
mehr Sätze aneinander, als die Symphonie; allein fie find
nicht blos fürzer, jondern von Haus aus anipruchslofer, ein=
färbiger, bürgerliher möchten wir jagen. In diefer Eigenſchaft
liegt vorzug&weife die Berechtigung der »Serenade« für Gegen:
wart und Zukunft. Wir find durch Beethoven gewöhnt worden,
an den Inhalt der Symphonie den höchſten Mapitab zu legen.
19*
292 1882.
Das Leidenihaftlihite Kämpfen, das erhabenite Pathos joll
fie erfüllen. Als ein Rahmen für beicheidenere Bilder, ald ein
Aſyl freundlicher, von den Kämpfen der Leidenfchaft nur ge:
ftreifter, nicht aufgewühlter Zuftände, ift uns die Symphonie
jeit Beethoven verloren gegangen. Wer fich heutzutage nicht als
Fauft und Hamlet in Einer Berfon fühlt, und muſikaliſch ange—
faßt von »der Menfchheit ganzem Jammer«, der läßt ſich auf
eine Symphonie lieber gar nit ein. Saum dag Schumann
mit feiner vierten Symphonie und der beabfichtigten »Sinfonetta«
auf die Nothwendigfeit hinwies, neben der großen, pathetifchen
doc auch wieder ihres freundlichen Seitenftüds, der »kleinen
Symphonie«, zu gedenken: Die »Serenade« num, deren Bau
die mannigfachſten Veränderungen erfahren mag, dünft uns To
recht der Spielplatz idylliicher Träume, verliebter Plane, leicht:
bewegten Frohfinns. Sie ift die Symphonie des Friedens. So
hat Brahms fie aufgefaßt und auf das liebenswürdigite Durch:
geführt. Eine befriedigte, abendliche Ruhe liegt janft über dem
Ganzen, nur leicht bewegt zu freudigen Hoffen oder ſüßer
Sehnſucht. Die Empfindung ift nicht einfam grübelnd, fondern
gleihlam ſchon in Verſe gebracht, und mit einer gewiſſen
Seltlichfeit dargereiht der Dame des Herzend.
Die ſechs Süße in Brahms’ Serenade find nit von
gleihen Werth. Von den Themen des eriten Satzes ilt das
erste mehr verwendbar, als originell oder bedeutend; eigen:
thümlicher wirft das zweite. Das Ganze hat Frifche, leider
auch (im Durchführungsſatz) viel Gekünfteltes, Abfichtlihes, das
exit der poetifch ausklingende Schluß wieder gutmadt. Durchweg
portrefflich ift das folgende Scherzo jammt Trio; in janftem
ununterbrochenem Fluß ftrömt die Muſik, zauberifch beleuchtet
von den farbigen Lichtern der Inftrumentirung. Weiche träu:
merifhe Empfindung bewegt das Adagio, das allerdings lang
ausgeſponnen, doch das jchöne Maß nicht einbüßt. Der erite
Menuett (der zweite vertritt eigentlih das Trio, nach welchem
Nr. 1 wiederholt wird) gilt uns als die Perle des Ganzen
und vielleicht al8 das Hübfchefte, was Brahms gejchrieben
bat. Das warme Colorit (blos Flöte, Clarinett, Yagotte und
pizzifivende Violoncelle) und die naive Anmuth der Melodie
Lachner's »Sturmesmpiher, — F. David's »Wüſte«. 293
verleihen dieſem Sag vor allen übrigen das charakteriſtiſche
Gepräge der Nachtmuſik. Eine wahre Garten-Serenade, voll
Mondlicht und Fliederduft. Das zweite Scherzo iſt minder
bedeutend und hat mehr als die nöthige Aehnlichkeit mit dem
Scherzo aus Beethoven's zweiter Symphonie Wir gehören
nicht zu jenen entjeglichen NeminiscenzensJägern, die bei jedem
D-moll-Hccord ausrufen: Ha, »Don Juan!« Nicht einmal die
Anklänge an Beethoven’3 »Scene am Bache« im Adagio der
Serenade haben wir Brahms verübelt; allein die Unſelbſt—
ftändigfeit diejes zweiten Scherzo würde uns bedenklich genug
dünken, um den Sat lieber ganz zu ftreihen. In lebhaft
markirtem Rhythmus, nur ohne die rechte Steigerung führt ein
fröhliches Rondo die Serenade zu Ende.
Lachner's jeinerzeit ſtark auspojaunte » Sturmesmpthe«
erichien uns auch diesmal nur bemerfenäwerth durd ihre ge-
ſchickte Mache; troß ihres heroifhen Aufpußes ift dieſe Muſik
ärmlich, eine große Kleinigkeit. Am begierigiten waren wir auf
die Wiederaufnahme von FFelicien David’3 »Wüſte«, melde
jeit den Tagen ihres eriten Glanzes nicht wieder gegeben war.
Dies Werk befigt des Anziehenden und Liebenswürdigen genug,
um einer freundlichen Aufnahme auch jest gewiß zu fein, nach—
dem der überjchägende Enthufiagmus von ehedem längſt ver:
flogen. Die »Wüſte« ift das Werk eines feinen, aber im Grunde
dürftigen Talents. Durch den enormen Erfolg der »Wüſte- iſt
dies Talent noch mehr verarmt. Denn jahrelang nad) jenem
Erſtlingswerk hat Felicien David geichwiegen, aus Furdt,
fich jelbft nicht mehr einholen zu fünnen. Die Furcht war
allerdings nicht unbegründet; denn als der Componift fich der
Production wieder zumwendete, fand er nur fühle Hörer, bis
endlich, zwanzig Jahre ipäter, eine anſpruchsloſe komische Oper:
»Lalla Roufh«, feine Popularität, in Frankreich wenigſtens,
erneuert hat. Die »Wüſte« — der Componilt bezeichnet fie als
»Symphonie-Ode« — gehört nicht jener Gombination von
Symphonie und Bocaldor an, die von Berlioz in dramatifcher,
von Mendelsjohı in Cantaten-Form eingeführt wurde: fie
iit vielmehr eine Cantate ſchlechtweg; eine Cantate jchildernder
Gattung, erweitert durch geiprochene Strophen. Die eigentliche
294 1862.
Tonmalerei iſt nicht vorwaltend, entichieden geltend macht fie
ih blos in der einleitenden Schilderung der Wüfte, jpäter des
Samums und des Sonnenaufgangs. Jin übrigen herrſcht das
Element menſchlicher Empfindung vor, das auch die vor:
fommenden Naturjchilderungen theils belebt, theils unterbricht.
In der innigen Verfchmelzung diefer beiden Momente liegt Die
Driginalität der David’shen »Wüſte« mehr, als in den formellen
Eigenheiten derjelben. Die »Wüſte« erreicht felbit im ihren
erniten Partien feine fonderlihe Tiefe des Ausdruds; aber
Friſche und Anmuth find ihr nicht abzufprechen. Eine romantifche
Dämmerung, ein erotifcher Reiz ruht über dem ganzen Bilde,
das mit leichter, ficherer Hand entworfen, mit feiner Empfindung
ausgeführt tft. Die Weglaffung der »erläuternden Declamation«
dürfte die Wirkung des Ganzen mwefentlic heben; wir vermögen
die Miſchung des geiprochenen und gelungenen Wortes immer
nur als eine Störung zu empfinden, die den Faden des Fünit-
leriihen Zufammenhanges vielmehr abreißt als anfnüpft. Der
Nothbehelf eines »verbindenden Gedichtes«, wie ihn Concert:
Aufführungen dramatiſcher Mufifen erheiichen, ift überflüffig
bei einer muſikaliſchen Bilderreihe, deren einzelne Aufichriften
»Sonnenaufgange, »Marſch der Karawanen« u. j. mw. deutlich
genug bezeichnen, was der Dichter durch redfelige Paraphraſen
nur räumlich auseinanderzieht.
Sm Philharmoniſchen oncerte erntete den wärmſten
Beifall Fräulein Bettelheim für den ſchönen Vortrag zweier
Arien von Händel und Bergolefe. Die Nebeneinanderftellung
beider Arien war una Schon darum intereflant, weil fie uns in
der Anficht bekräftigte, daß Händel in feinen Opernarien den
melodiichen Reiz und Mohllaut der beiten feiner italienischen
Zeitgenofjen nicht erreicht habe. Die Händel'ſche Arie (aus
»Rodelinde«) ftand fteif und trocden neben der im ihrer Ur—
Iprünglichkeit und Anmuth bezaubernden Siciliana von Pergoleſe.
Welch’ blühende Inbefangenheit charafterifirt die Geſänge des
»göttlihen« früh verftorbenen Sängers von Jeſi! Ueberall die
gleiche edle Plaſtik der Melodie, diejelbe Süßigkeit und forglofe
Schwermuth! Unfere mufifaliihen Geichihtsichreiber behaupten,
wenn fie gerecht fein wollen, Händel und Gluck feten in
Arie von Händel. — Symphonie von Echubert. 295
ihren italienischen Opern von den gefeiertiten Stalienern jener
Zeit nicht übertroffen. Darin liegt, wie wir glouben, eine Un—
gerechtigfeit gegen jene Italiener. Wer die Gelänge von Aleffandro
Ccarlatti, Leo da Vinci, Pergoleſe ſelbſt angejehen und unbe-
fangen angejehen hat, dem fann troß der unfreien, ſtereotypen
Form derjelben nicht entgangen fein, daß das Beite daraus
eine Urfprünglichkeit, Wärme und Fülle melodiöjer Erfindung
athmet, welche von den italienifchen Arien Händel’ und
Gluck's felten erreicht werden. Es handelt fich Hier nicht um
die Höhe der Meilterfchaft, ſondern um die urfprüngliche Be—
gabung. Jeder Componift, der fich erſt fünftlih einer fremden
Nationalität affimilirt, muß nothwendig im Nachtheil bleiben,
denn gerade das kann er nicht erarbeiten, was einem Wolfe
als freies Geſchenk der Gottheit in die Wiege gelegt ward.
Die Größe und Bedeutung der beiden deutichen Herven liegt
ganz wo anders, für Händel ruht fie unangefochten im Ora—
torium, für Glud im dramatiihen Styl der großen Oper.
Beide wurden das, was fie uns jegt find und immerdar bleiben,
erit von dem Augenblide an, wo fie aufhörten für Italiener
und italienifch zu fchreiben. Es jollte darum deutichen Geſchichts—
Tchreibern doch nicht gar jo ſchwer fallen,d en Fünftlich gezogenen
Sugendwerfen Händel’ und Gluück's das irrthümliche Ueber—
gewicht in Vorzügen abzufprechen, welche die Natur jo enge mit
dem italienifchen Kunftgenius verknüpft hat.
Den Schluß des Goncertes bildete Schubert's C-dur-
Symphonie. Dieje geniale Tondihtung, deren etwas mufivijche,
ungleihe Zufammenjegung und breit auseinanderfallende Form
hundertfah aufgewogen wird durch die blühendite Fülle von
Erfindung, bat ſeltſamerweiſe in Wien niemald recht einge-
ſchlagen. Es ift dies die vierte Aufführung diefer Symphonie,
die und, jedesmal mit dem gleichen mäßigen Erfolge, in Er:
innerung ift. Mag dies an der großen Länge der Süße, oder
ihrer vorwiegenden Homophonie, oder endlih an der Inſtru—
mentirung liegen, die wir ſeit Beethoven jorgfältiger, feiner
gewohnt find, Thatſache bleibt es, daß unfer für Schubert
fonft jo warmes Publicum fih davon niemal® unmittelbar
ergriffen fühlte.
296 1862.
Virtuoſen.
Herrn Tauſig's Concert im Muſikvereinsſaale hat unſere
Meinung von ſeinem erſten Auftreten her nicht umzuſtimmen
vermocht. Wir bedauern dies um ſo aufrichtiger, als die
Leiſtungen des Concertgebers von einer nicht gewöhnlichen Be—
gabung und einem außerordentlichen Fleiße zeigen. Seine
Bravour, Kraft und Ausdauer find erſtaunlich, man würde fie
dem zartgebauten Süngling nimmermehr zutrauen. Gleichfalls
erftaunlich ift fein Gedächtniß, das ihm geftattet, eine lange
Reihe der verſchiedenartigſten Gompofitionen mit größter Sicher:
heit unmittelbar hintereinander vorzutragen. Auch Geift ift dem
Spiele Taufig’3 nicht abzufprehen, wenngleich er fih une
motivirt und fofett in der einjeitigen Form des Witzes geltend
macht, den Heine ein »bloßes Niejen des Verjtandes« nennt.
Keine einzige Vortragdnummer des Herrn Taufig hat uns
mit einem reinen, befriedigenden oder gar tiefen Gindrud ent—
faffen. Peinlich berührt die Abfichtlichkeit, mit welcher Herr
Taufig die häßlichite aller möglichen Anſchlagsarten cultivirt:
das Stehen in die Taften. Nicht nur in eigentlihen Bravour—
ftellen, auch in Gantilenen, die weich und gebunden erklingen
jollen, liebt es Tauſig, geftredten Finger® auf einzelne
Töne mit einer Gewalt niederzuftechen, die das Clavier förm—
fi) wimmern madt. Gin andermal arbeitet er wieder, als
gälte es, eingefrore Töne aus dem Eis loszuhacken. Was
follen wir von dem Gehör eines Künſtlers halten, der das
heulende Dietallgeraffel der aljo mighandelten Saiten nicht vernimmt
oder den es nicht ſtört? Wenn Herr Taufig vollends die ganze
Meute feiner Bravour ausläßt, welch’ ein Würgen und Quet-
ihen, welch’ ein Erdroijeln der Töne! Könnten wir in diejer
Kampfluft das Ueberſchäumen einer unbändigen Jugendkraft
erblicfen, wir würden auch mit ihren Maßlofigfeiten uns ver:
tragen lernen. Allein nicht Ueberkraft, jondern im Gegentheil
Blafirtheit ift der Grunddharatter von Taujig’s Spiel. Mit
jenen aufgeregten Megeleien wechſeln lange Perioden nach—
läffigiter Gleichgiltigfeit; find die Tajten eine Weile gejtochen
Karl Tauiig. 297
und geichlagen, jo werden fie dann wieder in faum vernehm:
lichen Pianiſſimo blos gejtreift, getippt, gefegt. Die eigentliche
geſunde Mitte, der ruhig fingende Anichlag, fehlt. Es taucht
zwar mande Stelle auf, die nah Tonſchönheit, ja nad Em:
pfindung Elingt, allein es währt niemal3 lange: eine einzige
dröhnend herausgeftochene Note — und der Schöne Zuſammen—
bang ift wieder vernichtet. Sehr ſchön begann Herr Tauſig
das »Andante spinato« von Chopin; wir erkannten Die ſüße
Stimme de3 Gomponiften, diejes Ariel des modernen Claviers;
jdoh die Furcht, die fürdhtende Gewißheit, in einem der
nächſten Takte plößlih aus der Stimmung geworfen zu werden,
ließ uns auch hier mit einer Anfpannung folgen, die jedes
wahre, fichere Genießen ausſchließt. Es iſt der Fluch des
Raffinements, daß man ed auch dort noch heraushört, wo es
vielleicht thatjächlich Ichweigt, daß man mit Einem Worte auch den
tugendhaften Regungen nicht mehr glaubt.
Herr Tauſig Hatte ein interefjantes Programm zujamnten:
geießt. Beethoven's Sonate Op. 109 in E-dur gehört zu den
jeltenft gejpielten. Schon deshalb muß fie uns mwillfommen
fein. Jedes Werk dieſes Meiiterd, gehöre es auch nicht zu
feinen bedeutenderen, übt eine magiiche Anziehungskraft. Im
Ihlimmiten Fall gilt e8 ung als ein denfwürdiged Blatt aus
Beethoven’: Biographie. Das vorliegende — e3 ſtammt ans
dem Sahre 1821 — erzählte nicht von glüdlihen Tagen.
Melodien voll fühnen Aufihwungs und edler Anmuth, rhap—
fodiich unterbrochen von böjen Launen und ermattenden Flügel:
jenfen. Lenz, der Beethoven-Anbeter par excellence, nennt den
erften Sat der E-dur-Sonate »faible, diffus, et maigre dans
sa diffusione. Gewiß ift, daß diejed zweimal von einem Adagio
unterbrocdhene Allegro feinen eigentlihen Mittelpunft hat und
mehr einer freien Jmprovilation al3 einem Sonatenfaß gleicht.
Auf den eriten Sat folgt ein furzes, glänzend aufitürmendes
Preftiffimo und ein Andante mit Variationen; jchliht und innig
das Thema, prachtvoll die erite Variation, die folgenden etwas
berichneit in einem Flodenmeer von Noten. — Ein Nocturno
von Field wirkte auf die Gemitterlandfhaft Beethoven's wie
ein anmuthig zierlihes Schäferbild von Watteau, wahre
298 1382.
muſikaliſche Paftellmalerei. Auf eine »Suitee von Händel
(G-moll) und eine Bolonaife von Chopin folgte die bunte,
reizende Scenerie, welche unter dem Titel »Garneval« eine
der liebenswürdigſten Stellen in Schumann’: Claviermuſik
einnimmt. Sagen wir es offen, daß wir nicht ohne Schmerz
dies zarte Stück unter den Händen Taufig’3 bluten gejehen.
Mer die Compofition fennt und im Concert zugegen war, den
brauchen wir nur an das athemloje Herabhegen des eriten und
legten Satzes, an dad rohe Anpaden der Grazien »Chiarina«
und »Eſtrella«, an daS anmuthloje Gepolter des »deutſchen«
und des »vornehmen Walzerd« zu erinnern, um unſer Bekennt—
niß zu rechtfertigen. Ungleich beſſer jpielte Herr Taufig Liſzt's
Tranzjeription des »Spinnerliedes« aus dem »Fliegenden
Holländer«, ein Bravourftücd voll der reizenditen Clavier-Effecte,
dem er noch zwei Liſzt'ſche Transfcriptionen (Venezia e Napoli)
folgen ließ. Das Concert war gut bejucht und an Beifall fein
Mangel.
Alexander Dreyſchock gab fein viertes und letztes Concert.
Ein Künftler, der in Wien jo oft gehört und befprochen wurde,
wie Dreyſchock, bietet der Kritif nur mehr geringen Stoff.
Wir wiſſen längft, daß Dreyfhod die geſammte Technik feines
Inſtrumentes, und zwar nad) allen Richtungen hin zur Bravour
geiteigert, nahezu unfehlbar beherrfht. Wir haben zu viel
Reipect vor der Höhe des gegenwärtigen Clavierſpiels, um aud)
nur die rein technifche Virtuofität, wenn fie in einer Ausbildung
wie bei Dreyichod vorfommt, ala etwas Geringfügiges zu be-
handeln. In dem Vortrag dieſes Künſtlers haben wir über:
dies mehr als die blos äußere Fraft, nämlih auch eine
innere geihägt, die fih als gejunde Friiche, ala jugendlich
feurige Kampfluft kundgibt und der Folie einer gründlicheren
mufitalifchen Bildung nicht entbehrt. Weber die Grenzen von
Dreyihod’3 Darſtellungsvermögen konnten wir ung nicht täufchen.
Hinreißend haben wir ihn nirgends gefunden, als wo ed Kraft
und Bravour zu entwideln gab, two eine glänzende Technik
wejentlih war. Dahin zählen nicht blos »Virtuoſenſtücke«,
fondern auch die Concert:Allegros von Beethoven, Weber,
Mendelsjohn Allein ſchon die Adagios dieſer Concerte
Alerauder Dreyichod. 299
fügen ſich nur widerjtrebend dem realiftiichen, ſtrotzenden Spiel
Dreyſchock's; noch größer wird der innere Zwieſpalt zwiſchen
diefem und dem träumeriichen, innigen Klängen Chopin’ und
Schumann’. Derlei jpielt Dreyſchock nicht nur fühl, fondern,
was noch ſchlimmer it, mit dem allzu fichtlichen Streben, ja
nicht fühl zu Scheinen. Es Elingt geradezu komiſch, wenn
Mohldiener Dreyſchock's aus dem Umſtand, daß diefer gegen-
wärtig auch Schumann’ihe Sachen vorträgt, eine ganz neue
»Phaſe« seiner Eünftleriichen Entwidlung folgern, eine innere
»MWandlunge nad überwundenem Virtuoſenthum. Als wenn
Dreyihod, mit feinem fejtgenieteten, fertigen, praftiichen Weſen,
die Natur wäre, alle fieben Jahre eine pſychiſche Häutung vor—
zunehmen! Dreyihod, der feine Kunftreifen 1838 begann, hat
Schumann’ Clavier-Compofitionen etwa zwanzig Jahre lang
vollftändig ignorirt, obwohl ſchon die techniſche Aufgabe ihn
hätte reizen und ihm zu dem Ruhm hätte- verhelfen können, fie
zuerft in die Melt einzuführen. Mir find weit entfernt, Drey-
ihod dieje vieljährige Interlaffung vorzuwerfen; aber ein groß
Weien muß man nicht daraus machen, wenn er je&t, wo
Schumann theil® Bedürfniß, theild Mode, alio jedenfalld un
ausweichlich geworden ift, defien Namen auch aufs Programm
jegt. Das mag eine große That für Leute fein, die jogar
über einige falſche Accorde Drevihod’3 aufjubeln, indem fie
darin einen Beweis jeiner überquellenden Empfindung und
Begeilterung finden! — Dreoyihof war ſchon vor fünfzehn
Fahren und länger eine vollkommen abgeſchloſſene Kunfterichei-
nung. Die Fortichritte, die der unermüdliche Künftler bei jedem
neuen Bejuche an den Tag legte, lagen nad) der Seite feiner
innmer ftaunenswerther ausgearbeiteten Bravour. Wo dieſe das
MWort führt, hat er uns im Verlauf ſeines Wirkens mit Be-
wunderung erfüllt, — gerührt hingegen, in tieffter Seele be:
wegt, hat er im Jahre 1862 wohl ebenfo wenige Hörer, als
zehn und zwanzig Jahre zuvor. Wir denfen, eine jo eminente
Specialität wie Dreyihod bedarf nicht irreführender Schmei—
chelei. Wer innerhalb feiner Grenzen fo unumfchränkt herricht, der
wird durch die dankbare Anerkennung dieſer Herrſchaft befier
geehrt, al3 durch die Verficherung, er ſei auch König beider Indien.
300 1862.
An den Eoncerten des Bianiften Wilhelm Treiber war
durchweg das banfenöwerthe Streben bemerkbar, neben allbe-
fanntem Glaffiihen und Modernen auch halbvergeflene Come
pofitionen guter Meifter vorzuführen. Allein der Concertgeber
traf weder eine glückliche Wahl mit Hummel’ ermüdend ipiel-
jeliger Fis-moll-Sonate, no mit Mendelsſohn's jugendlichen
Sonatenverfuhe op. 6, noch endlich mit einem Glaviertrio von
Marichner, der fich befanntlich mit der Kammermufif nur jehr
nebenbei und oberflählih einließ. Weit dankbarer find wir
Herrn Treiber, daß er Moſcheles' G-moll-Eoncert aus langem
Schlafe erwedte. Wir begreifen vollfommen die Strömung der
Zeit, die, geichwellt von den neuen Klängen Chopin’, Mendels—
Sohn’: und Schumann’, den älteren Meiſter ſchnell beileite
drängte, allein wir fönnen feinen Namen nicht ohne danfbare
Pietät nennen. In einer entjeglich fterilen Epoche der Clavier—
Sompofition hat Mofchele8 deren Glanz und Würde verhält:
nißmäßig hoch aufrechtgehalten. Wäre feiner gediegenen Schulung,
dem rnit feines Willens und Wollens eine gleiche Kraft der
Phantafie zur Seite geftanden, wir müßten ihn zu den eriten
Meiftern der modernen Glaviermufit zählen. Seine beiten
MWerfe, dad G-moll-Eoncert, die Etüden umd andere, verdienten
noch immer gefpielt zu werden. Es jind dies die Kompofitionen
ſeiner zweiten Periode, in welcher Moſcheles nach überwundener
Oberflächlichkeit des Virtuoſenthums feine volle Kraft zu größeren
Zielen zufammenfaßte. Später hat er, offenbar gefangen durd)
den jugendlihen, fremdartigen Zauber der Mendelsſohn'ſchen
und Schumann’ichen Klänge, feinen früher klar abgeſchloſſenen
Erfindungen eine romantiiche Tiefe und Bedeutiamfeit zu geben
veriucht, welche er aus eigenen Mitteln doch nur jehr unvoll:
fommen zu beitreiten vermochte. Das G-moll-Goncert imponirt
beute noch durch breite Anlage, gediegene und eigenthünliche
Grfindung, durd Glanz und Zartheit des Details. Was hin
und wieder an Paſſagewerk oder fleinen Mtelodienzügen ver:
altet ericheint, verichwindet gegen die Tüchtigfeit des ganzen
Werkes, dad ih im Adagio (von dem breit anjchwellenden
Tremolo der Streih:Inftrumente) zur Höhe echter Poefie erhebt.
Ein Zug, der und in manden Vorträgen dieſes tüchtigen
Wilhelm Treiber. 301
Pianiſten ftört, und der ihm leicht gefährlich werden könnte, ift
die Neigung zu weicher, Shwärmender Sentimentalität. Sie
verführt ihn nicht blos, das Weiche und Zärtliche noch weicher
und zärtlicher zu machen, d. h. die feiten Formen zu lodern
und zu verwiſchen, fondern auch an ungehörigem Ort einzelne
Töne oder Tonreihen durch empfindelndes Hervorheben aus dem
Zujammenhang oder doch aus dem Charakter zu reißen. Herr
Treiber liebt es, — vielleiht ohne es zu willen — den ganzen
Entwidlungsgang feiner überfchwenglihen Empfindung während
de3 Spiel zugleich mimiſch darzuitellen. Nun fennen wir nichts
Störendered, ald wenn ein Pianiſt bei jeder Tyermate die Augen
gen Himmel erhebt, zu jedem Moll-Accord das Haupt jchmerz-
li) verneinend jchüttelt, und bei einer Figur von ſechs accen-
tuirten Noten ſechsmal mit dem Haupte nidt, Iſt dies alles,
wie wir gerne glauben, bei Herrn Treiber unmillfürlicher
Ausbruch des Gefühl, dann muß er dieſer Ausbrüche um jeden
Preis Herr werden. Es ift durchaus nicht gleichgiltig, wie ein
Spieler während des Spielend fich geberdet. Wahre Empfin-
dung ftrömt dur die Töne allein ficher und unmittelbar in
dad Gemüth der Hörer; für das, was der Spieler mit Augen,
Kopf und Achfeln ausdrüdt, gibt ihm Niemand einen Grofchen.
Ein großer und berühmter Bianift (Dreyihod), der gegenwärtig
auf die Ausbildung Treiber’ freundlichen Einfluß nimmt,
hatte bei feiner erſten Kunſtreiſe, als er nocd mit der unge—
brochenen Luſt und Kühnheit eines jungen Herkules die Taften
fnebelte, erfahren müfjen, wie man an jeinem erftaunlichen
Spiel den Mangel an Seele bedauert. So au feiner Em:
pfindung angezweifelt, glaubte er fortan diefe am Clavier äußerlich
legitimiren zu müſſen, und jo fam es, daß er häufig mit dem
Ausdruck eines fterbenden Laokoon gegen den Plafond blickte
während feine Finger an einer harmlojen Romanze tändelten.
Der berühmte VBirtuofe iſt diefer Untugend fjpäterhin bis auf
einen kleinen Reſt wieder losgeworden, allein es wird ihn
Mühe genug gefojtet haben. Herr Treiber jhloß feine Bor:
träge mit Mendelsſohn's G-moll-Concert unter allgemeinem
Beifall. Eine mit hübſchen Mitteln ausgeitattete Sängerin
fang mehrere Lieder, d. 5. fie nahm einen Mundvoll Stimme
302 . 1868.
und gab ihm vermifcht mit beliebigen Noten und Worten, den
Hörern von Takt zu Takt heraus.
Der Name des PViolin-Pirtuofen Remenhi iſt erft jeit
einigen Sahren in weiteren Streifen genannt. Man lad zwar
von jeinen glänzenden Erfolgen in England, Nordamerifa und
Ungarn, ohne daß Nemenyi deshalb unter die großen europätichen
Künstler gerechnet wurde, Nun haben wir diefe intereflante Er:
jheinung auf deutſchem Boden fennen gelernt, nicht ohne ihr
manch’ eigenthümliche und glänzende Seite abzugemwinnen. Wir
halten Remenyi im Grunde für eine echte Kinftlernatur; Die
tiefe Empfindung, mit der er einfache Volkslieder vorträgt, das
elementariihe Feuer, dad ihn im Allegro fortreißt, jagen uns,
unterftüßt von der ganzen Art feines Auftretens, fofort, daß
hier feine künſtlich aufgeſtutzte Specialität vor uns fteht.
Allein zu dem mwahrhaften Beſitz der Kunft, in dem Sinne
der großen Culturvölker, Eönnen wir Nemenyi dennoch nicht
zählen, dazu fteckt feine muſikaliſche Anihauung zu feſt in dem
Erdreich jeiner nationalen Traditionen. Um ein großer Künſtler
ichlehtweg zu heißen, iſt Remenyi in jeinem Horizont zu be—
grenzt und unfrei; aber als den pirtuofelten und wahrjcheinlich
gebildetften Interpreten ungariſcher Muſik müſſen wir ihn
vielleicht gelten laffen. Liſzt hat in feinem Buche »Des Bo-
hemiens et de leur Musique en Hongrie«e Remenpyi ein
eigenes Capitelchen (p. 329) gewidmet. Bei aller Auszeichnung,
die Lilzt, in Ausdrüden und liebengwürdiger Herzlichkeit, dem
jungen Geiger erweiſt, betrachtet er ihn doch nur als den
begabteften, ja einzigen Erben des muſikaliſchen Zigeunergeiſtes.
Er beitimmt ihm nur »une place toute sp&ciale dans la
galerie des hommes, qui ont releve quelque branche deperis-
sante de l’arte. Dieſer abiterbende Kunftzweig ift eben die
Zigeunermuſik. NRemenhgi allein hat in Liſzt die Erinnerung
an den großen Bihary wieder Icbendig, denn er hat das
»ideal bohemien« zu dem jeinigen gemacht. Lijzt lobt den
Eifer, mit welchen Remenyi auch claſſiſche Biolin-Sompofitionen,
Bad, Spohr und Mendelssohn, ftudire; allein nad) joldhen
Productionen fehre er »mit verdoppeltem Aufſchwung zu feinen
Lassan und Friska’s zurüd, als wollte er ftillfchweigend dem
E. NRemenpi. 303
PBublicum jagen: Seht wie viel Ichöner als dies Alles doch
die Mufik it, die wir Zigeuner mahen!«e Liſzt's Urteil ift
hierin jo gut wie maßgebend. Mir fanden es infofern ganz
beitätigt, ald ung Remenpi nur im Vortrag von ungariichen
Volksweiſen originell und muſikaliſch erfüllt erſchien. Dennod
dürfte er gegen die Zufammenftelung mit den Zigeunern in=
fofern proteftiren, al3 er in ihnen weit mehr die Verderber alö
die Pfleger der ungariihen Muſik erblickt. Remenyi's erites
Concert joll jehr bejucht gemweien fein; das zweite war jchütter
bejegt, kaum dichter als Herrn Treiber’ letzte Production.
Allein da konnte man den Unterſchied zwijchen einem rein
deutichen und einem maghariſch-gemiſchten Publicum wahrnehmen
und was ſolch ein weftsöftliher Divan werth ift. Nach den
ungarischen Liedern« vollführte der halbgefüllte Saal einen Bei:
fallsorkan, daß man meinte, es wimmle von jauchzenden Zu—
hörern die ganzen Treppen und bis in den Hof hinab,
1863.
Schumann’s Muſik zu Goethe's „Jauſt“.
Die Geſellſchaft der Muſikfreunde hat in einem
»außerordentlihen Concert Schumann's Scenenreihe aus
Goethe's »Fauſt« zum erſtenmal in ihrer Vollſtändigkeit
gegeben. Dieſe Vorführung eines merkwürdigen Ganzen ver—
dient ebenſo ungetheilte Billigung, als die weiſe Vorſicht, mit
welcher die »Geſellſchaft« im vorigen Jahre das Publicum zuerſt
mit dem dritten Theil allein — dem ſchönſten und faßlichiten
des Werkes — befannt gemacht, und dadurd für den nicht To
ungetrübten Gindrud der beiden übrigen Theile gewonnen Hat.
Ueber jene dritte Abtheilung, die »Verflärung Fauſt's«, Habe
ih jeinerzeit ausführlich berichtet*) und zwar unter dem be-
jeligenden Gindrud eines Entzückens, wie ich es im ganzen
Bereich der Kunft nur wenigen Gricheinungen verdanfte. Nach
der geitrigen Aufführung könnte ich nur meiner Bewunderung
noch gelteigerten Ausdrud geben, denn mit jedem Wieder:
erſcheinen ergreift die8 Wunderbild reiner und gewaltiger das
Gemüth. Schumann hat diejfe dritte Abtheilung zuerft, und
zwar in den beiten Stunden feiner beiten Periode gefchrieben.
Grit ſechs und fieben Jahre fpäter fügte er die zweite, dann
die erjte Abtheilung Hinzu: Schöpfungen, die genau nach Diejer
Ordnung auch in ihrem Werthe aufeinander folgen. Ouverture
und die Scenen des eriten Theils ſtammen aus Schumann’s
legter Thätigkeit, aus jener trüben Düfjeldorfer Epoche, die
des Meiſters phyfiihe und geiltige Gejundheit ſchon wankend
*) Vergleihe ©. 195.
Schumann’ Mufit zu Goethe's »Fauſt«. 305
ſah. Goethe dichtete den eriten Theil feines »Fauſt« auf der
Sonnenhöhe feiner poetiichen Kraft; den zweiten jchrieb er als
Greis, und vollendete ihn furz vor feinem letzten Geburtstag,
im Auguft 1831. Trennt jomit die beiden »Fauſt«-Theile bei
Schumann feine jo lange Zeititrede, wie die Goethe’ichen, fo
liegen dafür in Shumann’s rajcher und ftürmifcher ſich ver:
zehrendem Leben die Wandlungen, die fünftleriihen Stufen:
jahre viel näher an einander. Ich habe im vorigen Jahre auf
dieſe merkwürdige Analogie hingewielen: Schumann's »Faujt«
reproducirt das Verhältniß der beiden Theile von
Goethe's Dihtung, nur in umpgefehrter Ordnung.
Einige treffende Ausfprühe Viſcher's über Goethe’ »Fauft«
fönnten in der genannten Umkehrung beinahe von Schunann’s
Compoſition gelten: »Ein allegorifches Machwerk«, jagt Viſcher
vom zweiten Theil, »drängt ſich hier als Fortſetzung an die
Seite ſeines herrlichen poetiſchen Products. Wenn im erſten
Theil die Sprache wie ein Strom daähinrauſcht, fo hören wir
bier jene Biſam- und Moſchusſprache, jenes jelbitgefällig ordent-
liche, glatte, limitirende Reden, daß der Menichheit Schnigel
fräujelt. Die Mängel, welche im eriten Theil mit den Schön:
heiten des Gedichts unmittelbar zufammenhängen, find im zweiten
zu Schreienden Fehlern angeſchwollen, oder vielmehr fie ſchwollen
jo hoch an, weil feine Kraft mehr da war, Schönes zu pro-
durciren.e Man wird nicht fehl gehen mit der Annahme, daß
auh bei Schumann, als er die Scenen des eriten Theils
ichrieb, »feine Kraft mehr da war, Schönes zu produciren.«
Die Ouverture — D-moll — hat unleugbar einen gemiljen
Fauſt'ſchen Zug, ein fataliftiiche® Grollen und Refigniren, —
muſikaliſch iſt fie ziemlich Ihwach erfunden, die Themen nicht
bedeutend, der Rhythmus jchwerfällig, der triumphirend beab—
fihtigte Schluß in D-dur ohne innerliche Kraft. Die erite Nummer,
da3 Geſpräch Fauſt's mit Gretchen im Garten, erreicht muſikaliſch
in feinem Ton die blühende, friiche Innigfeit des Gedichts. Im
Gegentheil ift dieſe zu einer eigenthümlich matten, ſchwammigen
Sentimentalität herabgeftimmt, wie man fie in ſchwächern
Spohr’ihen Gejängen findet. Won dieſem weichlichen Grund
fteigt der Gefang mitunter zu einem falichen, ungehörigen
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 20
306 1863.
Pathos auf, 3. B. in Gretchens Worten: »Geht, ihr lacht mich
aus!« noch mehr in dem Blumenfpiel »Er liebt mich, liebt
mich nicht.“ Der Gefang iſt mehr declamatoriſch als muſikaliſch
gedacht. Trotzdem charakteriſirt ihn nicht ſowohl die diſtincte,
das Wort ſcharf zeichnende Klarheit des echten Recitativs, als
vielmehr die Unbeſtimmtheit einer ruhelos modulirenden, wogen—
den und deßhalb in ihren Umriſſen undeutlichen Melodie. Es
folgt Gretchens Monolog vor dem Bild der Mater dolorosa,
ein der Dichtung getreu folgendes düſteres Stimmungsbild.
Die Singſtimme ganz dramatiſch (der grelle Aufſchrei: »Hilf
mir!«), gleichſam zerpflückt, wird von dem Wogen der charakte—
riſtiſchen Begleitung mitgeriſſen. Die ganze Nummer verſchwindet
gegen die kurze, innige Geſangſtelle mit der dieſelben Worte
»Neige, neige, du Schmerzenreiche« in der dritten Abtheilung
auftauchen. Auch die folgende Domſcene wirkt mehr äußerlich,
durch den Choreintritt, durch die brauſende Begleitung, endlich
durch die unvertilgbare Gewalt des Vorgangs ſelbſt, als durch
die ſubſtantielle Kraft der muſikaliſchen Erſindung, die ſtockend
und angeſtrengt, nicht frei dahinſtrömt. Dieſe drei Scenen ſind
die einzigen, die Schumann aus Goethe's erſtem Theil com—
ponirt hat. Ganz dramatiſch componirt, bedürfen ſie geradezu
der ſceniſchen Darſtellung; die Oratorienform drückt durch den
Mangel an Anſchaulichkeit peinlich auf den Hörer. Erreicht
Schumann's Muſik (ſelbſt eine theatraliſche Aufführung ange—
nommen) nicht entfernt die Dichtung, ſo erſcheint ſie in Concert—
einkleidung völlig als ein matter Abzug derſelben.
Die zweite Abtheilung nimmt ihren Stoff bereits aus
dem zweiten Theil des Goethe'ſchen »Fauſt«. Sie ſteht muſi—
kaliſch höher als die erſte, aſſimilirt ſich auch inniger dem Ge—
dichte; unter der dritten bleibt ſie tief zurück Will man Schu—
mann's »Fauft«, analog dem Goethe'ſchen, in zwei Hälften
theilen — und der fritifer muß es wohl — io bilden die
erste und zweite Abtheilung, nah Styl und Entftehung zu:
ſammengehörend, die eine, und die Verklärung (dritte Ab:
theilung) die andere Hälfte. Dieſe fteht eigentlich als mufi-
faliihes Kunſtwerk für fi allein, wie bei Goethe der erite
Theil des »Fauſt«. Die Scenen, die Schumann für feine zweite
Schumann's Muff zu Goethe's »Faufte. 307
Abtheilung zufammenftellte, erregen von vornherein zwei weſent—
liche Bedenken. Für’ erite entziehen fie fich, bis auf wenige
Momente, der eigentlihen Miſſion der Muſik. Dieje theils
projaiihen Vorgänge, theils ergrübelten Allegorien find noch
weniger muſikaliſch als fie poetiich find. Wenn »Fauſt« feine
legte Reinigung« in politiihen und national-öfonomiichen
Unternehmungen findet, wenn er mit den herrlichen Worten aus
dem erſten Theil: »Zum Augenblicke dürft’ ich jagen: Verweile
doch, du biſt jo Schöne nunmehr eine gelungene Sumpfaus—
trodnung begrüßt — was joll da die Muſik Rechtes thun?
Sodann it der Sinn und Zuſammenhang dieſer herausge-
rifienen Scenen für ein größeres Publicum abjolut unverftänd-
lich. Bekanntlich ift der zweite Theil des Goethe'ſchen Gedichts
nur in einer dünnen Schicht unferer Gebildeten wirklich heimiſch;
eine Aufführung von Fragmenten daraus macht VBorausfegungen
bezüglich des Zuhörer’3, denen die Wirklichkeit nirgends ent-
ſpricht. Um einem Publicum von Mufikfreunden Ear zu machen,
was der Dichter und der Componiſt damit wollen, müßte man
jenen nicht nur das ganze Gedicht, fondern überdies noch einen
vollftändigen Gommentar deöfelben in die Hand geben. Etwas
der Allgemeinheit Unverftändlihes und Unerquickliches wird
dieje Scenenreihe, troß ihrer Schönen Einzelheiten, immer bleiben.
Was ihren mufifaliihen Ausdruck betrifft, fo iſt er der eigen:
thümlich unfinnliche, raſtlos grübelnde der ‚legten Schumann:
Ihen Periode. Der Mufifer wird fi an zahlreichen geiſt—
vollen Zügen der Rhythmik und Harmonifirung, ſowie der In—
ftrumentation erfreuen, den nicht technifch Intereſſirten dürften
nur einzelne Momente mit unmittelbarer Wärme ergreifen; das
Ganze wird ihm den Eindrud einer erniten, edel und groß are
gelegten, aber erzwungenen rhapjodiihen Tondidhtung machen.
Die Abtheilung beginnt mit einer überaus zarten Inſtrumental—
Einleitung zu Ariel's Geſang. Diefe breiten, weihen Harfen-
Arpeggien, die feinen, lichten Geigenftrahlen, die darauf fallen,
der ſüße Frieden der Melodie Elingen Schön aus Schumann's
befferen Tagen herüber. Die Tenor-Arie jelbit (Ariel) iſt ge:
zwungen und geſangwidrig, melodiſches Brödelwerkf; überdies
(wie feltfamerweife Manches in diefer vorwiegend declamirenden
20*
308 1863.
Musik) durch auffallende Declamationd: Fehler entitellt. Feſter
gefügt tritt der Chor ein mit einem Motiv von abfteigenden
Piertelnoten, das wie ein matter Abglanz von dem Chor »bei
der Liebe« aus dem dritten Theil ericheint. Mit dem rafchen,
an Weber erinnernden 8-Takt »Thäler grünen« belebt ſich
der Chor in anmuthigem Aufihwung. Seßt beginnen mitunter
ſchon die unpoetiichen und unmufifaliihen Terte: »Auge blinzt
und Ohr eritaunt, Umerhörtes hört fi niht« u. dgl. Die Ge:
fänge Fault’3 in diefen und in den folgenden Scenen der
2. Abtheilung find überwiegend declamatoriichen Charakters,
ernit und würdig, aber auch monoton und in ihrer breiten
Ausführung ermüdend. Der Tert zwingt hier den Fauſt mit:
unter geradezu zu dociren (»Ihm finne nad) und Du begreifit
genauer« 2C.). Die Neigung zu gelangmwidrigem Sa, ſowie
zu gehäufter Anwendung von Synkopen macht ſich in dieſer
Partie ftark bemerkbar. Von lebendiger, phantaftiicher Färbung
ilt der Eintritt der vier »grauen Meibere: ein hüpfender
6/ «Takt. So wirkſam der Sat muſikaliſch iſt, jo zweifellos
fcheint uns andererſeits, daB die »Noth«, die »Sorge«, die
» Schuld« und der »Mangel« bleiche, Tchleichende Geftalten find,
die nicht hüpfen und jpringen wie Elfen. Fauſt's Antwort an
die »Sorge« (Des-dur */,:Takt) mit ihrem declamatorifchen
Pathos hat eine frappante Aehnlichkeit mit den Sängerfcenen
in Wagner’3 »Tannhäufere. Fauſt's Erblindung und faft
alles Folgende bleibt ohne ſceniſche Darftelung unverftänd:
lid. In der langen Schlußicene der 2. Abtbeilung, Fauſt's
Tod, bringt der Chor der Lemuren (namentlich von den Worten
an: »Mie jung id) war«) erwünſchtes rhythmiiches und melo-
diſches Leben in die biöherige mufitaliihe Dürre. Der Lemuren—
gelang iſt ein abgerundetes Muſikſtück mit einheitliher Haupt:
tonart (D-moll), gegen welche Mephiſto's Solo in A-moll
gleihlam den Mittelfaß bildet; durch dieſe formelle Rundung
und Geſchloſſenheit nicht weniger als durch fein frifches, charafte-
riftiiches Golorit wird der Lemurenchor zur mufifaliichen Date
in der zweiten Abtheilung. In dem Part Mephifto’3 vermochten
wir ein diabolifches Element auch nicht entfernt wahrzunehmen;
der treuefte alte Diener könnte faum anders fingen. Ein kurzer
Schumann's Muſik zu Goethe's »Fauſte. 309
Chorſatz: »Es iſt vollbracht!« ſchließt die Sterbeſcene, und
damit die zweite Abtheilung in frommer, abgeklärter Stimmung.
Es folgt als dritte und letzte Abtheilung »Fauſt's
Verklärung«. Wie mit einem Ruck ſind wir aus nebeligem
Thal emporgehoben und zu der entzückendſten, ſonnigen Aus—
ſicht. Wir begreifen vollkommen, daß manche geachtete Stim—
men die beiden erſten Theile weit höher ſtellen, als dieſe uns
erſcheinen, und möglicherweiſe ſind ſie im Recht, wir im Un—
recht. Aber das begreifen wir nicht, wie das Entzücken der—
jenigen über den dritten Theil wahrhaft gefühlt ſein kann, welche
ſchon von der erſten und zweiten Abtheilung entzäückt find.
Hören fie nicht den fundamentalen Unterſchied zwijchen dieſen
zwei ungleichen Hälften? Fühlen fie nicht, daß Schumann gleid)
mit den eriten Taften der dritten Abtheilung (»Waldung, fie
Ihwanft heran«) ein ganz anderer Menih it? Die Schu—
mann'ſche Fauſt-Verklärung gleicht einer Rafael’ihen Madonna,
die, von lächelnden Engelöföpfen umringt, zum Himmel auf:
ſchwebt.
Die Aufführung der Fauſt-Muſik entſprach allen Wünſchen.
Stockhauſen als lang entbehrten, vielverehrten Gaſt müſſen
wir zuerſt nennen. Er ſang die Partie des Fauſt in den beiden
erſten, den Doctor Marianus in der dritten Abtheilung mit
höchſter Vollendung. Die edle Tonbildung, die Reinheit der
Intonation, die Kunſt des Athmens, die unübertroffene Deut—
lichkeit der Ausſprache würden ausreichen, Stockhauſen zum
wahrhaften Meiſter des Geſanges zu ſtempeln. Zu dieſen tech—
niſchen Vorzügen treten aber noch hinzu eine hohe Intelligenz
und warme poetiſche Empfindung, und als Product dieſer Fac—
toren ein künſtleriſcher Vortrag, der edler und verſtändnißtiefer
kaum gedacht werden kann. Wenigſtens in der vorliegenden Auf—
gabe, die zu den ſchwierigſten und nicht zugleich zu den dank—
barſten gehört. Der Glanzpunkt von Stockhauſen's Leiſtung
(wenn man bei einem ſo einheitlichen Kunſtwerk von Glanz—
punkten ſprechen darf) lag in der dritten Abtheilung. Sein
Doctor Marianus klang in der That wie eine Stimme aus
anderer Welt, fein »Erdenreit« laſtete mehr auf ihr. Herrn
Stocdhaujen ftand Frau Duftmann in der fleineren aber nicht
310 1863.
minder jchwierigen Partie des Gretchen würdig zur Seite. Mit
der warmen, leidenichaftlihen Empfindung und der dramatiichen
Anihanlichkeit, welche die Leiftungen dieſer Künftlerin aus:
zeichnet, fang fie die Scenen Gretchens, die, faft unmwillfürlich
zur Mimik und Action fortreißend, gerade einer fo trefflichen
Darſtellerin dieſes Charakters feine fleine Ueberwindung auf:
erlegt haben mögen.
Die Preisipmpbonien.
Sp wäre denn der ſeit Jahresfriſt erwartete ſymphoniſtiſche
MWettfampf endlich vor fich gegangen! Sonntag Mittags wurden
vor den ziemlich ichütter bejeßten Bänfen des Muſikvereinsſaales
die beiden Symphonien aufgeführt, welche in Folge der von
der »Gejellichaft der Mufikfreunde« verfündeten Preisausſchrei—
bung für die beiten unter zweiunddreißig Concurrenten erklärt
find. Das Interefle am eigentlihen Kampf war ſomit bereits
vorüber, diejer hatte in den Arbeitszimmern von fünf unglüd-
lichen Preisrichtern fih mit qualvoller Zähigkeit abgeipielt. Das
Publicum jollte fi blos an den glänzenden Einzug der beiden
Sieger erfreuen. Dieſe gefrönten Kämpen, welche volle dreißig
Gegner niedergeitredt, erichienen uns feineswegs von ungewöhn—
liher Kraft oder Schönheit. Der Eine ift, ein wohlanftändiges
Männchen unter Mittelgröße, von fanft gutmüthigem aber
bürgerlichen: Ausdrud; der andere eine hagere, redenhafte Figur,
mit bedeutenden, aber etwas verzerrten Zügen und renommifti:
ihem Gebaren. Weit jeltiamer al3 jeder für fih, ift das Zu—
fammenfinden gerade diejer jo grundverjchiedenen Gejellen; als
fie Sonntags jo feierlich nebeneinander durch die Triumph:
bogen der Unfterblichkeit ritten, fiel uns einmal, zu unjerer
eigenen Beltürzung Don Quirotte und Sancho Panfa ein.
Mag nun der eine Mufiker die beiden Symphonien etwas
höher, der andere fie etwas tiefer ftellen, darin werben alle
Spruchfähigen einig fein, daß das Nejultat der Preisausichrei-
bung fein glänzendes iſt. Wir hatten uns die ahnungsvolle
Freiheit genommen, dies vorherzufagen. Preisausſchreibungen
Die Preitigmphonien. 3 il
haben weit mehr die Wirkung, bedeutende Kräfte von der Eon:
currenz abzuschreden als fie zu gewinnen, Wenn ein Einft-
leriſcher Landſturm aufgeboten wird, hält fih die Ariftofratie
de3 Schönen gerne mit einer gewiſſen ftolzen Scheu zurüd.
Bewährte Ritter, deren Wappen bereit3 ein Lorbeerreis ziert,
mögen dasſelbe nicht ohne Noth gegen unbekannte Gegner aufs
Spiel jegen, welchen der Zufall oft jeltiam günftig fein fann.
Im vorliegenden Fal mußten Componiften wie Hiller,
NReinede, Volkmann, Liſzt, fih ſchon als Preisrichter der
Bewerbung enthalten. Raff dürfte nach dem Endurtheil der
Richter ohne Zweifel nicht blos der bedeutenſte, ſondern auch
der namhafteſte Concurrent geweſen fein. Ein Componiſt von
dem geachteten Namen Raff's bedurfte aber ſicherlich keiner
Concurrenz, um eine neue Symphonie zur Aufführung anzu—
zubringen, und um die Ehre einer Aufführung handelte es ſich
bier ganz allein, denn der ſymphoniſtiſche Landſturm der »Mufik-
freunde« ijt merkwürdigerweiſe eine Preisauzjchreibung ohne
Preid. Damit war dem Unternehmen noch die lette Spike
abgebroden: die Aufmunterung und Belohnung dur materiellen
Gewinn. Die »Gejellihaft der öfterreihiihen Mufikfreunde«
bat zu viele und erheblihe Beweile von dem Ernft und dem
Eifer ihres Kunftitrebend geliefert, al® daß man nicht auch
in diefem Fall ihre redliche Abficht rühmend anerkennen follte.
Sie hat fih mit der Ausftellung ſymphoniſcher Producte frei:
willig viel Mühe und Koften aufgelafte. Allein wir glauben,
die Schöne Abfiht war nicht richtig ausgeführt. Indem die
»Geſellſchaft« eine Preisausichreibung ohne Preiſe veranftaltete
und erklärte, fie wolle von einer unbeftimmten Anzahl einlan-
gender Symphonien die zwei beften aufführen, hat fie doch
offenbar nur dey Wunsch geäußert, zivei neue brauchbare Sym—
phonien für ihr Concert:Repertoire zu gewinnen. Wollte fie
diefe durchaus im Wege der Concurrenz erlangen, jo mußte ſie
die Auswahl Tediglih als eine res interna betrachten und
ruhig im Schoß der Direction, allenfall3 mit Beziehung einiger
Wiener Fahmänner, vornehmen. Bei dem Nichtvorhandenfein
von Preifen mußte auch von den »Preißrichtern«e Umgang ge:
nommen werden. Vielbeihäftigte, von eigenem Schaffen jo jehr
312 1868.
erfüllte Männer mie Hiller, Liſzt, Volkmann, Ambros, Reinede,
von dem Täftigen und undankdaren Geſchäft diefer Prüfung
verfhont zu laſſen, scheint und eine Pflicht Fünftleriicher
Humanität. Allein die »Gefellihaft« konnte ohne alle Concurs—
ausichreibung ihr Ziel weit leichter und ficherer erreichen. Wer
die Männer find, von denen in unferer an großen inftrumentalen
Schöpfungen fo umergiebigen Epigonenzeit relativ noch das
Werthvollite zu erwarten ilt, kann niemand ein Geheimniß jein.
Menn die »Gejelihaft«e diefe Männer um eine neue Sym—
phonie direct angeht, die (dem Gomponiften als Eigenthum
verbleibend) mit der größten Sorgfalt hier in die Welt einge:
führt werden fol, dann wird wohl jeder diefer Gomponiiten
jo ehrenvoller Einladung gern folgen. Die ganze Mühe und
Aufregung eines mufifaliihen Stiergefeht3 wäre erjpart.
Wenden wir uns zu den beiden Preisſymphonien jelbit.
Da wir weder den Proben beimohnen, no Einblid in Die
Partituren erhalten fonnten, können wir nur den erften, uns
mittelbaren Eindrud ſprechen laflen. Die erfte Symphonie
bietet jo wenig Ungewöhnliches, daß diejer einmalige, erfte
Eindruf gar nicht irreführen kann. Das Werk, von Albert
Beder in Berlin, führt al3 Motto die Lenau’ichen Verſe:
»Trotz allem Freundeswort und Mitgefühls:Geberden,
Bleibt wahrer Schmerz ein Eremit auf Erden«.
Aus den Tönen felbit fpriht manch waderes » Freundes
wort«, manch zarte »Mitgefühla:Geberde«, allein von »wahrem
Schmerz« haben wir darin fo wenig herausgefühlt, als von
wahrer Freude. Es fehlt der Compofition an Urfprünglichkeit,
an ichöpferiicher Kraft und auögejprochener Perſönlichkeit. Eine
edlere, dem Gemeinen fich abwendende Nichtung, ziemlich ge—
wandte Verwendung der Kunjtmitiel und eine bis zur Aengſt—
lichkeit jaubere Ausarbeitung des Details bilden die löblichen
Seiten dieſes MWerfes. Gerne loben wir fie, aber begnügen
fönnen wir und damit nicht. Nach der wichtigen Behandlung
bon Kleinigkeiten und gewiſſen Spielereien in der Inftrumentirung
zu ichließen, dann nad dem Starken Anlehnen an Beethoven,
mitunter auch Mendelsfohn (Scerzo und Anfang des Finale
Die Preie ſymphonien. 313
putzen ſich ſogar mit Meyerbeer'ſchen Schwefelblitzen), iſt der
Compouiſt ein junger Mann. Es iſt daher gewiß weit Beſſeres
von ihm noch zu erwarten. Seiner Lenau-Symphonie dürfte
die erlangte Auszeichnung, ſo fürchten wir, eher zum Nachtheil
als zur Stütze gereichen. Das Aushängſchild »Preisſymphonie«
wird hohe Erwartungen erregen und unerfüllt laſſen, während
die »Symphonie« ſchlechtweg ſchon durch ihre Anſpruchsloſigkeit
einer freundlichen Aufnahme überall gewiß ſein konnte.
Ein Werk von ganz anderem Kaliber iſt die mit dem
Motto: »An das Vaterland« verſehene Preisſymphonie von
Joachim Raff. Höchſte Intentionen, unabſehbarer Umfang,
modernſte Schule. Dabei die (ohne Wortſpiel) raffinirte
Hand eines erfahrenen Praktikers. Der Componiſt hat ſeinem
Werfe folgendes Programm ausdrüdlich beigegeben:
Erſter Sag: D-dur. Allegro. Bild des deutichen Charakters:
»Aufſchwungsfähigkeit; Hang zur Neflerion; Milde und Tapfer:
feit als Contraſte, die ſich mannigfach berühren, durchdringen;
überwiegender Hang zum Gedankenhaften«.
Zweiter Sag: D-moll. Allegro molto vivace, Im Freien; zum
deutichen Wald mit Hörnerihall, zur Flur mit den Klängen
des Volksliedes.
Dritter Satz: D-dur Larghetto. Einkehr zu dem durch die Muſen
und die Liebe verklärten häuslichen Herd.
Vierter Sag: G-moll. Allegro drammatico. Vereiteltes Streben,
die Einigkeit des Baterlandes zu begründen.
Fünfter Sat: D-moll. Larghetto. — D-Dur. Allegro trionfale,
Klage, neuer Aufſchwung.
Es koſtet gewiß einige Selbitüberwindung, ſich durch dieje
poetiich:politiihe Gebrauhsanmeilung nit von vornherein
gegen die Mufif einnehmen zu laſſen. Man iſt heutzutage nicht
mehr io phililtrös, dem Componiften jede poetiſche Anregung
oder Anjpielung zu verübeln; allein man ift doc, gottlob,
bereit3 hinaus über eine Mufifdeutelei von jolcher Genauigfeit.
Wem da3 Motto (an da PVaterland«) oder die einfache
Aufichrift: »Deutichland« nicht genügt, dem müßt es auch nichts,
wenn Herr Raff die complete Allgemeine Zeitung von Jahre
1848 »zum beſſern Verftändniß« austheilen läßt. Einen directen
Bezug zu dem politiihen Programm Hat im der ganzen
314 1863.
Symphonie auch nur die Melodie vom »Deutſchen Vaterland «,
deren Auftauchen, Anichwellen, Unterdrüdtiverden und Verlöſchen
eine allerdings handgreiflide Symbolik enthält. Jeder von den
fünf Sägen enthält geiftreiche, feſſelnde Züge, poetiihe Momente,
originelle tehniiche Experimente.
Mit reiner Befriedigung vermochten wir aber feinen dieſer
Süße zu hören, da das Gefünftelte, Bizarre und lleberladene
fih immer wieder geltend macht. Eine feurige, geiltreiche, ſehr
felbitbewußte aber wenig productive Natur arbeitet bier mit
größter Anstrengung, über Beethoven Hinauszulommen. Wenn
nicht enden fünnende Redſeligkeit wirklih ein Charakterzug der
Deutichen ift, dann hat Raff feine Landsleute allerdingd von
dieſer Seite treffend porträtirt. Allein ſchwerlich wird das
deutiche Volk, das fih gern in dem idealen Spiegel der
Beethoven’ihen Symphonien wiedererfennt, fih in Raff's
eritem Saß gejfchmeichelt finden. Zu einer eingehenderen und
hoffentlich günftigeren Beurtheilung werden wir ohne Zweifel
bald Anlaß finden, da die Raffihe Symphonie, aud abge:
jehen von ihrer Preisfrönung, allen Anſpruch bat, auch einem
größeren Publicum vorgeführt zu werden. Das erfte Anhören
dieſes unermeßlich langen Werkes — es verlangt die ange:
ſtrengteſte Mitthätigkeit des Hörers — hat uns zu ſehr ermüdet,
als daß wir auf intereſſante Einzelnheiten, die uns im guten
und ſchlimmen Sinn aufgefallen ſind, diesmal einzugehen wagen.
Raff's Symphonie iſt die längſte, die wir kennen. Schumann
hat mit feinem Lobe der »himmliſchen Länge« von Schübert's
C-Symphonie manches Unglück angerichtet, denn nicht jeder
jeiner Anhänger war fo einſichtsvoll wie Shumann felbft,
diefe »himmliſche Länge« unnahgeahmt zu laffen, wenn nicht
zugleich der hinmlifch Iange Faden Schubert'ſcher Melodie dazu
vorhanden war. Jedenfalls bleibt man nah Raff's an: und
aufregender Symphonie begierig, diejelbe wieder einmal (am
liebiten freilich ftüdhweis) zu hören, ein Wunſch, der und rüd-
fihtlih der erſten Becker'ſchen Breisigmphonie gänzlich
fremd blieb.
Gantate vd. S. Bach. Opferlied v. Beethopen. 315
Soncert der Singakademie.
Sebaltian Bach's (hier noch nicht aufgeführte) Kantate:
»Ich hatte viel Bekümmerniß« ift unftreitig eine der jchönften,
vielleicht die ſchwungvollſte aus der langen Reihe der Bach'ſchen
Gantaten. Der ehriwürdige Gantor hat fie ſämmtlich zu praktiſchem
Zweck, für den mufifaliichsfirhlichen Localbedarf von Leipzig,
geichrieben: nicht weniger als fünf volljtändige Jahrgänge,
deren jeder wenigſtens 60 Gantaten — für jeden Sonn:
und Feiertag eine — enthielt. Hievon iſt freilich blos die Hälfte
überhaupt erhalten, und von diefer wieder nur ein fleiner Theil
durch die rühmliche Thätigkeit der »Bach-Geſellſchaft« publicirt.
Sn der Geftaltung diefer von Bach mit jo großer Vorliebe
enltivirten Gattung hielt er, wie in feinen Paſſions-Muſiken,
feft an den proteftantiihen Eultusformen. Jede feiner Gantaten
ichließt fih genau an das Evangelium des betreffenden Feiertags
an, und ſucht mit poetifchen und muſikaliſchen Mitteln den
Hauptgedanfen desjelben zur Daritellung zu bringen. Der Inhalt
der vorliegenden Gantate iſt mit der prägnanten Kürze einer
Theſis in den Worten des eriten Chors ausgeſprochen: »Ich
hatte viel Bekiimmerniß, aber deine Tröftungen erquicen meine
Geele.«e Aus diefem mit der Einfachheit einer ſchlichten Er:
zählung vorgebradten Thema entwidelt Bach ein ergreifendes
Seelengemälde, eine Art geiltlicher Tragödie. Das Ringen des
geängitigten Gemüthes, hier zum Verzweiflungsiturm aufbraufend,
dort zum Sceintod der Refignation bejänftigt, klärt fich immter
mehr in der Zuperfiht auf Gottes Hilfe, und erhebt fi
ſchließlich zu triumphirendem Aufihmwung. Die Gantate befteht
aus einer furzen Orceiter-Einleitung (»Sinfonia«) und act
Bocaljägen. Von den Sologelängen gebührt die Palme unftreitig
der eriten von einer Solo-Oboe umranften Sopran:Arie in
C-moll, deren pietiftifches Waſſer Bah in dem echteiten Mein
der Poeſie zu verwandeln wußte. Die Arie hat eine Süßigfeit,
wir möchten jagen Sugendlichkeit der Melodie, wie wir fie bei
Bad) felten antreffen; wir möchten, jo unerheblich jonft bei
Bach die Jahresringe find, der frühen Entitehung diefer Com:
316 1868.
pofition (1714) etwas von diejem Reiz zufchreiben. Von den
beiden Tenor-Arien wurde die zweite in F-dur nicht ohne Grund
fortgelaffen; die erite, in F-moll, mit ihrem wunderbar har-
monilirten, pathetiih auf Schumann hinmweifenden Ritornell
ift ein echt Bach'ſches Meifterftüd. Ungleich geringeren Eindruck
macht das breit außgeiponnene, in mancher Beziehung veraltete
Duett zwifchen Sopran und Bag. Die allegorifche Figur der
»gläubigen Seele«, befanntlih eine jtereotype Erſcheinung in
der älteren proteftantiihen Kirchenmuſik, tritt hier in unmittel—
bare Beziehung zum Heiland. Won den Chören glaubt man
bald diejen bald jenen mehr bewundern zu müfjen, je länger
man ji) abwechſelnd darin vertieft. Bereitet der Eingangschor
mit würdiger Einfachheit der Stimmung den rechten Boden, jo
erhebt jih auf demjelben der Chor: »Was betrübft du dich,
meine Seelee zu riefiger Höhe, ftarrend im Reichthum polyphoner
Kunft, und unerfhöpflih in immer neuen Wendungen. Men—
delsſohn's Compofition derjelben Worte fteht in ihrer janften
Modernität wie ein Kind daneben. Auch der folgende Chor:
»Sei nun zufrieden, meine Seele«, mit feinem Cantus firmus
(⸗Was helfen uns die jchweren Sorgen«) umifpielenden Solo=
terzett zeigt una die Polyphonie in ihrem eigentlichen Element,
dabei in einer nur Bach erreichbaren Freiheit der Bewegung.
Die weithin jtrahlende Krone des Ganzen iſt der Schlußchor:
» Das Lamnt, das erwürgt ilt«. Mit einer bei Bach auffallenden,
deitomehr an Händel mahnenden Sonnenflarheit intonirt der
Chor unter dem Gejchmetter von Trompeten und Poſaunen ein
auf den Intervallen des C-dur-Dreiflangs machtvoll aufjteigendes
Thema, das im Verlauf den Schmud reichiter YFiguration
fiegreich durchdringt. Wie löjt fi hier alle Miſere des Lebens
zur freudigiten Siegeögewißheit auf!
Das Programm der Singafademie war zwedmäßig ges
ordnet: auf die Cantate folgte, gleihiam als Ruheplätzchen
und Grenzitation zwiſchen geiftlicher und weltlicher Mufik,
Beethoven’ »Opferlied« (Op. 121) für eine Sopranjtimme
mit Orcheiterbegleitung. Bon Beethoven iſt dieſe Mufif allerdings,
aber jehr wenig beethoveniich; fie ſcheint auch dem Meiiter,
wie die Mehrzahl feiner Gejänge, mehr ein Ruheplätzchen nad)
Concert de3 Componiften Dr. Otto Bach. 317
gewaltigen fymphoniftiihen Anftrengungen gewejen zu fein, als
eine jchöpferiiche Anftrengung jelbft. Es folgten drei wunder-
ſchöne deutiche Volkslieder, vierftimmig gefeßt, die Harmonifirung .
aus dem jechzehnten und fiebenzehnten Jahrhundert; ein viertes,
nicht minder ſchönes, etwas modernerer Factur, twurde nad
ſtürmiſchem Applaus hinzugefügt. Liebensmwürdigeres, Innigeres
in diefer Enappen, jchlichten Form haben wir jelten gehört. Auf
der Höhe dieier Stimmung konnte die Schlußnummer, Schu:
mann's »Nequiem für Mignon«, die Verfammlung nicht
erhalten. Edel und janft im Ausdrud, aber auch weich und
ſchwungvoll, ericheint uns dieſe Compofition ſchon als ein
Borbote jener Müdigkeit und grübelnden Verſenkung, welche
ipäter Schumann’: Schaffen fo eigen zu feſſeln begann.
&oncert des Componiſten Pr. Otto Bach
im großen Fiedoutenfaal.
Mer die bisher erjchienenen Compofitionen Herrn Bach's
und feinen muſikaliſchen Entwidlungsgang fennt, mochte den
Saal nit ohne einiges Bangen betreten haben. Herr Bad
hat vor einigen Jahren‘ mit Kammermufit und Clapierfachen
debutirt, welche, in fait reactionärer Einfachheit an Haydn
lehnend, eine äußerft dürftige Begabung mit Auftand vorführten.
Hierauf ift Herr Bach echt hegeliſch »in jein Gegentheil umge:
Ihlagen« und avancirtejter Zukunftsmuſiker geworden. Er hat
einen Beweis mehr geliefert, daß eine ideenarme, von heftigem
Schaffensdrang gequälte Phantaſie fih noch am leichteiten mit
dem prätenfiöjen Nebel der Zufunftämufif amalgamire, daß dad
allzu Einfache zu dem allzu Ungeheuerlichen den kürzeſten Weg
habe: die Schlange, die fich felbit in den Schwanz beißt. Die
DOrcefter-Eompofitionen Herrn Bach's haben uns einen geradezu
troftlofen Eindruck gemadt. Gnticheidend für denjelben ift der
Mangel jegliher Schöpfungstraft und aller Individualität.
Schon in Herrn Bach's Eleineren Compoſitionen hat diefes Ab-
handenfein einer Perſönlichkeit und am ımangenehmiten
318 1863.
berührt. Bald wird diefem, bald jenem Vorbild nachgejagt, in
demfelben Stück oft drei bi vieren, nur aus dem eigenen
Innern iſt nichts geichöpft. Man jehe fich die jüngst erfchienenen
drei Liederhefte von O. Bad (op. 9) an: die kleinſten lyriſchen
Gedichte werden da zu einem Univerfum von dramatiihen und
jonftigen «Intentionen« aufgebläht. Welcher Ausverkauf von
fühnen Modulationen, opernhaften Effecten u. dgl.! Jede Seite
zeigt, daß der Gomponiit fein eigenes Empfinden ausfpricht, daß
er nicht mit fih im Reinen iſt. Das große Concert Herrn
Bach's mußten wir, die wir alles bisherige gern al3 unreife
Hebergang3-Producte angefehen hätten, wohl als Manifeit be-
traten, Herr Bad jei nunmehr mit fih im Reinen. Es
waren lauter umfangreihe Tonmwerfe eigener Compofition, die
Herr Bad vorführte. Zuerft eine Symphonie von riefiger
Dauer, offenbar mit verfchwiegenem » Programme. Diejed Thau—
wetter von Schwulft, Lärm und Reminiscenzen analyfiren zu
wollen, wäre vergeblihe Arbeit. Die trodenfte Nüchternheit
feiert hier mit wüſter Phantaftik ein anmuthlojes Hochzeitäfeit.
Ein große® Orcheſter mit zwei Harfen, Ophifleide, großer
Trommel und Beden ift in fortwährendem Tumult; aber alle
Lärminftrumente de3 türkiſchen Reich vermögen dieſe Gedanken—
armuth nicht zu maßfiren. Von den Plagiaten aller Xrt,
namentlich den jehr ungenirten aus »Tannhäufer« und »Lohen—
grin«, wollen wir gar nicht reden, wäre nur einige Ruhe und
Klarheit, nur ein Hauch wirklichen Empfinden? in den Saden.
Es war und zu Muth wie Einem, der vor dem Schlafengehen
alle Wagner’ichen Opern und einige Liſzt'ſche Symphonien dazu
gehört hätte, und nun in wirrem Durcheinander davon träumt.
Bon einer fünftleriihen Form ift da faum zu reden; drei bis
viermal in jedem Stüd glaubt man den Schluß gefommen, und
— täuſcht ih. Nach ungebürlicher Länge ſäuſelt ein Sa unter
Harfenflängen und leiſen Geigentremolo8 jeinem Ende zu, —
da ertönt der grelle Pfiff eines Piccolo, der Zuſammenſchlag
der Beden, und mit einem Ruck fahren wir aus dem Ber:
Härungshimmel direct in die Wolfsihludt. Diefe übergeht
wieder in etwas Anderes, 3. B. in ein fteifes Fugato, das
mehrmals anfegt, und nie vom Fled fommt, und fo geht es
Goncert bed Gomponiften Dr. Otio Pad. 319
in rein äußerlihem Nebeneinander fort, daß man jchließlich
wirklich erftaunt ift, wenn das Stüd dennod ein Ende erreicht
hat. Die Inftrumentirung ift von erichredender Rohheit, die
Poſaunen, Trompeten, Ophifleiden fommen nicht zu Athem —
eine Panzerfregatte auf dem Stadtparfteih. — Die Ouverture
zu Hebbel's »Nibelungen« beginnt mit phantaſtiſch auffteigen:
den Gängen der Bälle (ungefähr wie die »Lear-Ouperture« von
Berlioz), breitet fih dann in einem langjamen Sa mit vielem
Lärm aus, und geräth jchließlich in ein barbarijches alla-breve-
Motiv, dad an die Menfchenfreifer-Ballette auf kleinen Bühnen
erinnert. Mit dem Geift von Hebbel's tieffinnigem Drama hat
dieje Ouverture nicht3 gemein; eher paßt fie zu Glasbrenner’s
boshafter Parodie desjelben, in welcher die Reden jede ihrer
unfinnig prahleriihen Reden mit dem Ausruf: »Hei! Hei!«
beginnen. Wie und das einfachſte Lied von Abt oder Küden
höher fteht, ald Otto Bach's früher erwähnte Geſänge, fo ziehen
wir jeiner banaufiihen Nibelungen:Mufif auch ohne weiters die
beicheidenen Entreaft vor, welche Emil Titl zu dieſer Tragödie
ſchrieb — fie find mit einem Worte mufitaliicher.
Zwei große Scenen mit Chor und Soli zu dem Drama
»Spartafus« machten und feinen günjtigeren Eindrud. Unter
betäubendem PBaufenwirbel und müthendem Blajen von allem
was Blech heißt, feuchen die Singftimmen fi an einer »Melo—
die« ab, die noch mehr als »unendlih« if. Daß mit den
Pauken- und Blecheffecten Harfenarpeggien, lange Tremolos der
gedämpften »Violini divisie u. dgl. wechſeln, veriteht ih. Es
ift merfwirdig, wie Orcheiter-Effecte, welche Berlioz, Wagner
und Liſzt mit Geift erdaht nnd verwendet haben, nunmehr be:
reit3 zum platteften Handwerfsapparat geworden find und
mechaniſch zufammengefügt werden. Al die wunderbaren und
wunderlichen Orcheſter-Combinationen jener raffinirten, aber
geiftreihen Gomponiften, liegen für Herrn Bad fertig neben
einander auf dem Nrbeitstiih; er langt beliebig jet nad)
diejem, dann nad) jenem und fügt fie ein, ohne zu fragen, ob
die mindeite muſikaliſche Motivirung dafür vorhanden jet. Für
Heine, unfichere Talente hat diefe Richtung die größte An—
ziehungäfraft, aber auch die tüdifcheften Folgen: nichts Wider:
320 1863.
wärtigeres gibt es, al3 die Redeweiſe Liſzt's, Berlioz’, Wagner's,
ohne den Geiſt dieſer Männer.
Sämmtliche Nummern des Herrn Bach wurden von dem
freundlich geſinnten Publicum beifällig hingenommen. Von
Herzen gönnen wir dem Componiſten dieſen angenehmen Ein—
druck; für das wahre Intereſſe ſeiner Zukunft wäre vielleicht
ein redliches Fiasko heilſamer geweſen. Wir würden, offen ge—
ſtanden, denjenigen für Herrn Bach's beſten Freund halten,
der ihn von einer roſen- und lorbeerarmen Laufbahn zu der
juriſtiſchen Carrière zurückführte, der er, durch Geburt und
Bildung angehörig, noch vor kurzem gehuldigt hat.
RBhilharmoniſche Concerte.
Wenn irgend einer von den jüngeren Tondichtern der Neu—
zeit ein Recht darauf hat, nicht ignorirt zu werden, ſo iſt
es Johannes Brahms. Er hat ſich durch ſeine bisher er—
ſchienenen Compoſitionen als eine ſelbſtſtändige, eigenthümliche
Individualität, als eine fein organifirte, echt muſikaliſche Natur,
als einen mit unermüdlichen:, bewußtem Streben der Meilter-
ichaft entgegenreifenden Künftler documentirt. Seine » Serenade
in A-dur« (Op. 18) iſt die jüngere, zartere Schweiter der von
der »Gejellichaft der Mufikfreunde« kürzlich vorgeführten Sere—
nade in D. Es herrſcht in ihr im weſentlichen diejelbe ruhig
genießende, träumerifche Gartenftimmung; nur flingt alles noch
gedämpfter, innerliher. Die D-Serenade, von Anfang bis zu
Ende reicher, blühender, ſteht an Kraft und Originalität der
der Erfindung unſeres Erachtens unbedingt über der Hleineren in
A-dur. Daß fi) mitunter auch Stimmen mit Vorliebe für die
letztere ausſprechen, kann dem Autor nur lieb fein. Wir haben
von der Serenade in D einen tiefern Eindrud empfangen, und
er lag nicht blo3 in der üppigeren Klangwirkung. In der für
kleines Orchejter gejchriebenen A-dur-Serenade hat der Com:
ponift nicht allein auf Trompeten und Poſaunen, er hat jelt-
ſamerweiſe auch auf die Violinen verzichtet, und begnügt fich
mit den drei tieferen Arten des Geigengejchlechtes. Unſeres
Brahms’ A-dursSerenabe. — Berlioz »Romeo und Julie«. 321
Wiſſens hat dies Grperiment zuerſt Mehul in feiner Oper
»Uthal« vorgenommen, und die Bratjchen an die Stelle der
Biolinen treten lajjen, um eine dem Localton des Dramas
entiprechende, Dumflere, dämmerige Beleuchtung zu erzielen.
Solche Klangharakteriitif, welche auf eine ganze Oper einen
empfindlichen Druck ausübt, findet in einem kürzeren Orchefter:
ſtücke allerdingd eine paflendere Stelle, beionder8 wenn die
Inſtrumental-Farben mit jo feiner, fundiger Hand wie hier ge—
mifcht werden. Dennoch wird bei einer Concertaufführung in
großem Raum der zarte, Shüchterne Klang der A-dur-Serenade
ihre Wirkung etwas beeinträchtigen. Das Stüd beiteht aus
fünf ſelbſtſtändigen Süßen: 1. Allegro moderato, A-dur (So:
natenform, ohne Wiederholung de3 eriten Theil) mit einem
etwas jchattenhaften eriten, und einem ganz reizenden zweiten
Thema, beide überaus geiftreich durchgeführt. 2. Scherzo in
C-dur mit einem Trio in F-dur; in feiner fräftig fröhlichen
Rhythmik etwas an das Finale von Beethoven’s 8. Symphonie
erinnernd. 3. Adagio in A-moll, 1?/, Takt; diejer von inniger,
dabei eigenthümlich vornehmer Empfindung bejeelte Saß leidet
nur duch allzulanges Ausjpinnen bei jehr geringem rhythmijchen
Wechſel. 4. Menuett in D-dur mit Trio in Fis-moll; die Berle
der ganzen Suite, von entzücender Liebensmwürdigfeit. 5. Rondo,
Allegro in A-dur, ein Iujtiges SKirmeßtreiben, dem zu voller
Wirkung nur ein rascherer Abſchluß fehlt. — Die Serenade
erfuhr eine äußerft günftige Aufnahme. Der jedem Sat folgende
lebhafte Beifall wurde am Schluß in dem Maße größer, als
der bejcheidene Componiſt auf feinem Galleriejige immer Eleiner
wurde. Brahms ımd Soahim, die beiden Herzensfreunde,
jtanden diesmal wie im Leben, jo auf dem Goncertprogranm
Hand in Hand. Joachim's »ungariiches Goncert« wieder zu
hören, war und ein wahres Labſal. Diefe Tondichtung voll Geiſt
und Gemüth, voll Energie und Zartheit fihert Joahim einen
hervorragenden Pla unter den modernen Componijten. Man
möchte jeinen Virtuojen-Siegen gram werden, weldhe wohl allein
Schuld daran find, daß dieje Kraft jo felten zu einem größeren
Werke fich zufammenfaßt. Wie Joachim da3 »ungarifche Eoncert«
ipielt, wer erinnert fich deijen nicht? Nun, wenn Einer es ih
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 21
322 1863.
nachſpielen darf und kann, jo iſt es Laub. Diefer kleine, blaſſe
Geiger mit dem kühnen Bogenſchwung und der eiſernen Ruhe
iſt uns niemals heldenmäßiger erſchienen, als in dem Finale
des Joachim'ſchen Concerts. Er ſpielte dieſe idealiſirte Zigeuner—
muſik wie ein idealer Zigeuner.
Zwei Sätze aus Berlioz' dramatiſcher Symphonie
»Romeo und Julie«: das Adagio (Scène d'amour), und das
Scherzo (la fee Mab), die effectvollſten und abgeſchloſſenſten
der Symphonie, werden ihrer Wirkung überall viel ficherer jein,
als das zujammenhängende, jehr ungleiche Ganze, dem jie ent-
nommen find. Troßdem möchten wir bedauern, daß die Romeo—
Symphonie, welde in ihrer Vollitändigfeit hier noch unbekannt
ift, nicht ganz gegeben wurde. Iſt einmal diefe Pflicht der
Pietät gegen einen namhaften Gomponiften geübt, und das
Bublicum in deſſen Intentionen eingeweiht, jo mag man jpäter
immerhin fi an den wirfungspolleren Bruchſtücken genügen laſſen.
Daß dad Programm der Philharmoniker unter anderen auch
das »Andante« aus Liſzt's Hier noch unbekannter Fauſt—
Symphonie anfündigt, bedauern wir aus gleichen Gründen.
Anhänger der Liſzt'ſchen Muſe find wir befanntlicy nicht; allein
wir werden zum Anwalt jedes Gomponiften, defjen zuſammen—
bängendes Werk man ohne Noth zerftüdt.
Die »dramatiihe Symphoniee — wie mand ähnlicher
Berfuh durh Beethoven's »Neunte« veranlaft — iſt eine
unglüdlihe Miſchgattung, die feine Zukunft Hat. Die Orcheſter—
nummern ragen aus dem Ganzen hoch hervor, wie denn Berlioz’
Phantafie eine rein inftrumentale, und feine Technik ebenjo
glänzend im Orcheſter ift, als tyranniich ungeſchickt im Vocal—
jat. Schon der erite größere Inftrumentaliag, aus Andante und
Allegro beitehend (Romeo allein, Schwermuthjcene, großes Felt
bei Gapulet, Concert und Ball), hebt jich zu blendender Wir—
fung; er hätte fich leicht den beiden anderen anfügen laſſen.
Das Adagio »Liebeöjcene« iſt wohl die füßefte, innigfte Mufi,
die Berlioz je geichrieben. Wie rein und gleihmäßig, Scheinbar
uferlos, fließt dies Adagio dahin, mit Schwermuth getränft,
wie in Töne zerflofiene Thränen. Es läßt fih, obwohl es im
Grunde auch nur ein gefteigerte® Thema ift, rein mufifalifch
Rubinftein »Ocean⸗Symphonie«. 323
genießen; einige Kleine, ſceniſche Zwiſchenwürfe ftören nicht
nahhaltig.e Das Scerzo »Fee Maab« tit unferem Bublicum
bereit3 befannt und befreundet. ine Fülle glänzender, mit:
unter höchſt gewagter Einfälle, erjcheint hier von einem phan—
taltiihen Gedanken zufammengehalten. Dan könnte als Motto
Calderon's Verſe darüberjchreiben:
»Was iſt Leben? Hohler Schaum,
Ein Gedicht, ein Schatten kaum!
Wenig kann das Glück uns geben,
Denn ein Traum iſt unſer Leben
Und die Träume ſelbſt ſind Traum.«
Das dritte Philharmoniſche Concert ſchloß mit einer
Novität: der »Ocean-Symphonie« von Rubinſtein*). Die
Erfahrung, die wir an allen Werken dieſes ſehr begabten, aber
etwas ſchleuderiſchen Tonſetzers gemacht, wiederholte ſich auch
hier. Rubinſtein beginnt friſch, vielverſprechend, oft mit
genialer Erfindungskraft, um dann ſtufenweiſe abwärts zu fallen.
Von ſeinen beiden Opern angefangen bis zu den Trios und
Sonaten herab kennen wir keine Compoſition Rubinſtein's, die
ſich in ihrem Verlauf auf gleicher Höhe erhielte oder gar
ſteigerte. Es iſt, als ob die erſte Begeiſterung ſchnell verraucht,
das Beſte raſch ausgegeben wäre, und dann dem Componiſten
die Luſt und die Selbſtkritik ſchwänden. Der erſte Satz der
Symphonie iſt wahrhaft grandios, die Motive ſchön und eigen—
thümlich, die Form bei aller Breite feſtgefügt, das Ganze bei
allem Jugenddrang doch klar und durchaus muſikaliſch. Mit
dieſem erſten Satz ſcheint ſich aber der Componiſt ausgegeben,
ſeinen Stoff poetiſch wie muſikaliſch verzehrt zu haben. Das
Adagio hat nicht mehr die gleiche Urſprünglichkeit, es redet mit
Mendelsſohn'ſchen Zungen, immerhin Edles und Verſtändiges.
In dem geiſtvoll behandelten Orcheſter gewinnt die malende
Tendenz ſchon Oberhand, auch manches Claviermäßige macht
ſich bemerkbar. Eine Stufe tiefer ſteht wieder das Scherzo,
ein raſcher Zweivierteltakt, deſſen derbe Fröhlichkeit eine eigen—
*) Rubinſtein hat in ſpäteren Jahren noch zwei Süße hinzu:
componirt, jo daß feine Ocean-Symphonie jehslägig geworden it.
21*
324 1883,
thümlih erzwungene Phyſiognomie und jtarfen Zug zum Tri:
vialen hat. Das Finale endlich, der am breiteften und luxu—
riöfeften ausgeführte Satz, tft geradezu Hohl, erfindungslos,
dabei von ermüdender Schallwirfung und NRedfeligfeit. Der von
jämmtlichen Bläfern (darunter 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Po—
jaunen und Baßtuba) fortilfimo geblafene, von den Geigern
umſchwirrte Choral dünft ung ein pompöſer Nothbehelf, ein
dramatiiches Anlehen für das erichöpfte mufifaliihe Capital.
Außer der Ueberſchrift »Dcean« ift der Symphonie fein poetiicher
Megmweijer mitgegeben. Der Componift denkt liberal genug,
unferer Phantafie volle Freiheit zu laffen. Der Stoff hat ihm,
namentlich im erften Sat, großartige Anregungen geboten, auf
dem Ganzen drüdt er mitunter läſtig; das monotone Rauschen
de3 ewigen Meeres, niemals ermüdend in der Natur, wird es
doch in der furzen Dauer einer Symphonie.
ÖOrcheflercompolitionen von Lilzt und
Wagner. Goncert von Taufig.
Nah der Weihnahtspaufe jchien ein günftiger Stern für
die Zukunftsmuſik aufzugehen; in zwei aufeinanderfolgenden
Soncerten hörten wir drei größere Gompofitionen von Liizt
und vier dramatische Fragmente von Rihard Wagner. Das
vierte »Philharmonifhe Concert« bradte das Adagio aus
Liſzt's »Fauft«-Symphonie Died Adagio, »Grethen« über—
ichrieben, ilt der zweite von den drei Süßen einer (Hector
Berlioz) gewidmeten Symphonie, deren erſter Sat »Fauſt«
und deren dritter (Scherzo und Finale) »Mephiftopheles« heißt.
Ein Vocalhor über die legten acht Verje aus Goethe’3 zweiten
Theil (»Alles Vergängliche ift nur ein Gleichniß) jchließt fich
unmittelbar an.
Bon Liſzt's Symphonien ift dieſe jedenfall® die höchſt
intentionirte und umfangreichite; den Adepten gilt fie überhaupt
al3 der Gipfelpunft von Liſzt's Schaffen. Der General-Agent
der Zufunftsmufit in Leipzig, Herr Brendel, verfichert, Liſzt's
frühere inmphonifche Dichtungen, neun an der Zahl, »bezeichnen
Liſzt »Fauſt-Symphonie«. 325
den Moment des Heranbewegens« zur »Fault«-Symphonie,
womit »Lijzt, ganz wie Mozart«, einen »univerfalen Höhe—
punkt erreiht hat«.. Es wäre unter ſolchen Umſtänden von
hohem Snterejje geweſen, die Symphonie, deren einzelne Süße
überdie8 durch die Wiederfehr derjelben Motive zur Einheit
verichmolzen werden, vollitändig zu hören. Als Gutachten einer
Eleinen Minorität, welche die Muſik nicht ausjchlieglih vom
Standpunkte ded unmittelbaren Vergnügen auffucht, war Dieler
Wunſch begründet; praftiicher dachte jedenfalls der Dirigent der
Philharmonie-Concerte, indem er blos das Adagio vorführte.
Konnte diefer Sag, weitaus der ſchönſte der Symphonie, nur
eine getheilte Gunft beim PBublicum finden, jo hätte das Ganze
auch nicht einmal fo viel erreicht. Wielmehr war mit hoher
Wahrfcheinlichkeit darauf zu zählen, der dritte Sat »Mephiſto«,
welcher nichts Geringeres. als die »Negation« darſtellt und Die
Themen »Fauft3« und »Gretchend« verhöhnt, verzerrt, ver:
ftümmelt, werde das philharmoniiche Publicum auf dag Em:
pfindlichite verftimmen, und zur »Negation« jelbit des mäßigen
Beifall3 Hinreißen, dem es dem »Gretchen«-Adagio fpendete.
Letzteres ift nicht nur unter den Süßen der »Fauſt«-Symphonie,
Jondern jo ziemlich unter allen uns befannten Orchefterftüden
von Liſzt das mufifalifch befriedigendfte, einfachite und be—
jeeltejte. Nach einigen einleitenden Taften der Flöten und Cla—
rinette, ertönt — blos von einer Oboe und einer Viola gejpielt
— da3 Hauptthema, dejien einfache Innigkeit manchen Hörer
überraiht haben wird. Unmillfürlich fiel und Berlioz' Bezeich—
nung des Hauptthema feiner »Symphonie phantastique« ein:
»Simple et timide, mais d’un caractere noble et passionnee,
eine Charafteriftif, an welche Liſzt's Gretchen-Motiv ebenjojehr
erinnert, wie der ganze Sak an Berlioz'ſche Adagios. Auch
als zweites Thema erjcheint, vom Streichquartett in diefer Lage ‘
gefpielt, eine ſüße, von zartefter Empfindung geſchwellte Melodie.
Im weiteren Verlauf beginnt allerdings immer mehr die Phrase
zu herrſchen, ein abftractes Pathos, deſſen geringen muſikaliſchen
Suhalt neue, zum Theil blendende Orcheiter-Effecte beichönigen
müſſen. So 3.2. die gleihjam als Mittelfag ericheinende Die:
Iodie der Violoncelle, über welche leiſe die gedämpften VBiolinen
326 1863.
tremoliren und drei Flöten triolenweis in Dreiflängen auf:
und niederfchweben. Daß es an reihlihen Harfen-Arpeggien
nicht fehlt, a leiſen Beckenſchlägen, an häufigem Taftwechiel
u. dgl., muß ſich bei Lilzt wohl von ſelbſt verjtehen. Die Be-
mühnng des Gomponiften, gerade diefen Sat jo zart und ein-
heitlich als möglich zu geftalten, iſt unleugbar; man wird
nirgends geradezu verlegt und aus der Stimmung gerifjen.
Eine einzige Stelle möchten wir ausnehmen, es ilt daß Die
Melodie plößlich unterbrechende, unmotivirte Reifen und Rupfen
der Geigen (S. 142 der Partitur), das wir für eine höhniſche
Necderei des über den Gartenzaun hereingrinjfenden Mephiſto
hielten, bi3 wir durch bevollmächtigte Adepten erfuhren, es ſei
damit Gretchen® Blumen-Orakel: »Er liebt mich, liebt mich
nicht«, gemeint. So ſüß und jangbar die Themen, jo edel bei-
nahe die ganze Haltung des Stüdes, jo glänzend endlid Die
Snftrumentirung desſelben — volle fünftlerifche Befriedigung
gewährt es nicht. Nirgends begegnet und wahrhaft jchöpferiiche
Kraft, große, urfprüngliche Erfindung: man halte da3 einfachite
Stück von Beethoven dagegen. Daß Berlioz durchweg als
Unterlage durchichimmert, haben wir erwähnt. Die jeltfam ge—
mifhte Empfindung, mit welcher wir jederzeit Liſzt'ſche Sym—
phonien hörten, fam uns diesmal fräftiger als je zum Be—
wußtlein: die erhöhten Vorzüge des Gretchen-Adagio vor allen
andern Lilzt’ihen Symphonien erhöhen auch das Bedauern,
»troß alledem und alledem« einer im Kern unproductiven
Natur gegemüberzuftehen. E& hat etwas Tragijches, einen Mann
von blendendem Geift, von zarter und lebhafter Empfindung,
von ungewöhnlihem Kunftgeihid, gleichlam an der Schwelle
des Tempeld umherirren zu jehen, dem Eingang nahe und
näher fommend, und doch unfähig, und jemals in daS Innere
jelbit einzuführen.
Wenn übrigens irgend etwas geeignet war, und die Schön-
heiten »Gretchens« heller und ihre Fehler verzeihlicher ericheinen
aut laffen, jo war dies die Aufführung einiger Wagner'ſchen
Orcheſterſtücke am folgenden Tag. Mit all feiner mufiviichen
und verſchwimmenden Form, feinem ariofen, nicht fymphoniftifchen
Verlauf, mit all feinen gefünftelten Weußerlichfeiten klingt
Eompofitionen von R. Wagner. 327
Liſzt's »Gretchen- noch wie ein Mozart’iches Werk neben den
Entreactes aus »Triltan und Siolde« und der Duverture zu
den »Meifterfängern«. Dieſe Compofitionen R. Wagner's, nebft
jeinem »Schuiterlied des Hand Sachs«, wurden unter Leitung
des Componiſten in einem großen Concert aufgeführt, das der
Pianiſt Herr Karl Taufig im Nedoutenjaale gab. Weber’
‚Freifhüß«=Duverture eröffnete das Concert, und mit ihr
bite der Dirigent Wagner den Gomponiften Wagner einzu—
füßren. Und ein treffliher Dirigent ift der Mann, ein
Dirigent voll Geift und ‘Feuer, der bei den Proben mit
Stimme, Händen und Füßen wie ein fühner DOfficier feine
Compagnie mit fich fortreißt, und richtig auch die Schanze
eritürmt. Wir möchten nicht behaupten, daß all die Schönheits-
mittel, welche Wagner zur Berjüngung eines innerlich jo jugend-
lichen und ferngefunden Tonſtückes anwendete, nothwendig ſeien;
allein mwohlthuend war e8 doch, die meift in gleihmäßigem
Schlendrian herabgeipielte »Freiſchütze-Ouverture einmal mit
neuem Schwung und überaus feiner Nuancirung vortragen zu
hören. Das allmälige Anjchwellen und Abnehmen des Horn:
jaged in der Einleitung, das etwas zurüdgehaltene Zeitmaß
der Gejangitelle im Allegro, das breite Ausklingen der beiden
Fermaten vor dem Schlußſatz (nicht Dürftigered als zu furze
Fermaten!) waren von ſchönſter Wirkung. Nun folgten von
Wagner's Compofitionen das »Vorſpiel« und der »Schlußſatz«
zu »Triftan und Iſolde« — eine troftlofe Muſik, wenn über:
haupt eine. Im Vorjpiel wird ein mwinfelnde® Motiv von fünf
Noten in »unendlichem« Verlauf fortgeiegt, d. h. bald Höher,
bald tiefer, bald von Diefem, bald von jenem Snftrument
wiederholt, ohne irgend einen Gegenſatz oder Ruhepunft. Dies
chromatiſche Gewimmer mit feinen unaufhörlihen verminderten
Septimen:Mccorden und dem überreizten Sinnenkitzel feiner
Inftrumentirung bereitete und eine ungemeine Nervenpein.
Vermag man ed, von dieſem Eindrud zu abjtrahiren und ruhig
zu prüfen, jo findet man dad Stüd einfach langweilig. Das—
jelbe gilt von dem raufchenderen, aber muſikaliſch ebenjo ver:
armten Schlußſatz (»Berklärungs). Wir fanden darin die treue
Mufifelleberfegung des poetiichen Bombaites, welhen Wagner
328 1863.
den beiden Liebeöleuten in den Mund legt, und der in folgenden
Schlußworten gipfelt:
»Liebe, heiligite® Beben,
Wonneshehrites Weben
Nie-Wieder-Erwahens wahnlos
Hold bewußter Wunſch«!
Es folgte (auß den »Meilterfängern«) das »Lied des
Hans Sachs bei der Arbeit«. Wir hatten nach den Orcheiter:
Fragmenten mit einiger Sehnjucht auf dies Lied gewartet, —
ilt doc) in der Mufit Wagner’ das Wort ein unentbehrlicher
Führer, und war doch von einem Liedchen, dad der Hand:
werfsmann bei jeiner Arbeit fingt, etwas anſpruchslos Gemüth—
liches zu hoffen. Arge Täufhung! Unfer guter Scufter be:
ginnt mit einem Aufjchrei über dröhnenden Poſaunen-Accorden
— ein Kannibale, der fih an einem zu heißgefottenen Std
Menſchenfleiſch das Maul verbrannt hat, könnte nicht anders
componirt werden. Wir bedauerten Herrn Madyerhofer, der
diefe melodiihen Brocken durch einen Wuſt läftiger Inftru:
mentirung unverfehrt durdhzutragen hatte. Daß Wagner feinen
Humor hat, jhien ung von einem Componijten von vornherein
wahricheinlich, als deſſen Lebenselement wir bisher das Pathos
und meilt das trodenite Pathos fannten. Das »Schufterlied«
und die Dupderture zu den »Meifterfängern« läßt über dieſen
Mangel kaum mehr einen Zweifel übrig.
Der Eoncertgeber, Herr Taufig, Stand neben R. Wagner
natürlih etwad® im Hintergrund; uns war jein Erjcheinen
jedesmal ein Labſal. Die Virtuofität dieſes jungen Pianiſten
dürfte gegenwärtig faum irgendwo ihreögleichen haben, fie ift
nach jeder Richtung hin ftaunenswürdig. Das Ueberreizte und
unſchön Heftige des Vortraged, das uns früher Taufig’s
Virtuofität verleidet hat, Scheint fich jekt wohlthuend gemildert
zu haben. Wir wirden uns herzlich freuen, wenn dies unge:
wöhnlihe Talent wirklih in das Stadium der Abklärung und
Ihönen Neife getreten wäre Die Compofitionen, Die Herr
Taufig vortrug, waren Liſzt's Es-dur-Eoncert Nr. 1 und
deifen Gapriccio über »die Auinen von Athen«, Stücde, in denen
bei unläugbarer Bizarrerie und Aeußerlichkeit doch viel Geift
Hammermufit von Schubert und Em. Bad. 329
jtect. Wenn nichts auders, fo bleiben fie merkwürdige Monu—
mente für die Höhe der Claviervirtuofität in unferer Zeit.
Nah den Wagner'ſchen Stüden genofien wir mit
doppelter Freude eine neue GCompofition von Brahms, melde
am jelben Tage in Hellmeöberger'3 Quartett:Soiree vorgeführt
wurde. Es iſt dies ein Sertett für zwei Violinen, zwei Bratjchen
und zwei Violoncelld (B-dur. op. 18). Wir zählen diefe Com—
pofition nicht nur zu den beiten von Brahms, fondern über:
haupt zu dem Schöniten, was die neuere Kammermuſik hervor:
gebracht hat. Namentlich der erite Sag iſt von urſprünglichſter
Srifhe der Erfindung, von Anfang bis zu Ende melodiös,
durhfichtig, meifterhaft in Form und Ausführung. Das ganze
Sertett iſt einfah und anmuthig gehalten, in jener E£laren,
leihtbewegten, innerlih glüdlihen Stimmung, welche jo ge-
winnend aus Brahms’ D-dur-Serenade klingt. Soldhe Com:
pofitionen find in ihrer liebenswürdigen Schönheit eigentlich
die befte Kritit und Replik auf die Großthaten der Zukunfts—
mufif, Brahms iſt eben durch und durch Mufiter, während
man von Wagner oder Liſzt jagen könnte, was Plutard)
von Damon, dem Mufiflehrer des Perikles, berichtet: »Er
war ein Sophiit eriten Rangs, und jcheint ſich hinter den
Namen der Muſik veritedt zu haben«.
Kammermufiß.
Die mufifaliihe Woche glih einem blühenden Mai der
Kammermufif. Da gab es vorerit eine neue Blume aus den
überquellend üppigen Beeten Franz Schubert’3; ein Quartett
in G-moll. Es ſtammt aus früher Jünglingszeit, ein Wert
weder tief noch allzu reich, aber liebenswürdig durch feine
Friſche und unbedingte Luft an der Muſik. Aus Ginem Guß
jtrömt e& dahin, und muß dad wohl, denn vor dem eriten
Takt der Driginal-:Bartitur leſen wir von Schubert’3 Hand das
Datum: 25. März 1815, und nad) dem legten, als Tag der
Beendigung: 1. April 1815.
Das Duartett liegt noch beträchtlih weit ab von der
»kryſtallenen Wundergrotte- der Romantik, die Schubert uns
330 1863.
ipäter aufichloß. Nichts von märcdenhaften Dämmerichein, oder
tiefverfchwiegener Nacht; Fein wildraufchender Tannenwald, fein
majeltätiicher Fels, über den filbern das Mondlicht fließt. Das
G-moll-Quartett gleicht einem Kleinen Hausgärtchen, in welchem
eintge gute Freunde behaglich Iuftwandeln und — von Haydn
ſprechen. Denn Vater Haydn ftect jedenfalld darin: fein ift
die ungetrübte Stlarheit der Stimmung, fein bie reinliche
Führung und die fnappe, tadelloje Symmetrie. Keine der bier
Hauptthemen, dad nicht von Haydn jein fünnte Im Verlauf
freilich zudt manches Licht auf, dad und den jpätern Schubert
gleihjam von ferne zeigt; jo das anhaltende Tremolo der drei
tieferen Geigen, womit der zweite Theil des erften Sabes an:
hebt, ein hübfcher, fait dramatifcher Effect, den freilich die
Wächter des ftrengen Duartettityld nicht für Hoffähig aner—
fernen dürften. Zu tieferem rnit faßt ſich die Mufif nirgends
zufammen, fein Zweifel, fein Schmerz, feine Sehnſucht wird
laut, es geht alles in Einer unbarmherzigen Heiterkeit fort.
Noch eine andere Neuigfeit aus vergangener Zeit: eine
Sonate für Geige und Klavier von Phil. Emanuel Bad.
Hellmeöberger jpielte fie überaus reizend mit Brahms, der
das Stüd nebjt anderen Manuferipten Emanuel® in deſſen
legter Rejidenz, Hamburg, aufgefunden hat. Jedes neue Werk
Emanuels Bach’3 jpricht mit neuer Beredfamfeit deſſen cultur-
hiftoriihe Stellung aus: fein Styl war der Eiöftoß in der
Geihihte der neueren Mufit. Von den majeftätifchen, aber
Itarren Gebilden Sebaftian Bach's führt er leicht und rajch zu
dem Frühling Haydn's. Merkwürdig ift troßdem der eigen
thümlihe Zug in Gmanuel Bach’ Mufit, der manchmal in
weiten Bogen über Haydn und Mozart hinaus auf Beet:
hoven deutet. Diejer Zug, der allerdings bei feinem genialeren
Bruder Friedemann noch bedeutender hervortritt, wird dem
aufmerfjamen Hörer vornehmlih in dem zarten, geiftreichen
Adagio der »Sonate« aufgefallen fein.
Virtuoſenconcerte.
Der Violinſpieler Laub und der Pianiſt Jaell gaben
gemeinſchaftlich ihr erſtes Concert im Muſikvereinsſaale. Ge—
Ferdinand Laub, Alfred Jaell. 331
meinfame Goncertreifen zweier ebenbürtiger Künftler find
eine Idee aus neueſter Zeit, und tie uns däucht, eine
recht zwedmäßige Der zwiichen beide Künftler »getheilte«
Erfolg iſt zwar fein »Doppelter«, aber die getheilten Auslagen
find jedenfall® halbe. Praktiich empfiehlt fi die Erwägung,
daß ein concertmüdes Publicum zahlreiher und häufiger zu
jolhen gemeinfanen PBroductionen fich einfindet, ald zu Solo—
Eoncerten eine Virtuofen. Auch der künſtleriſche Gehalt jolcher
Goncerte wird in der Negel ſchwerer wiegen. An die Stelle
der gewöhnlich wahllos zufanımengerafften » Zwifchennummern«
treten vollwichtigere Productionen, und das mohlvorbereitete
Zufammenjpiel beider Kinftler gibt ihren Leiftungen neuen
Reiz, ihrem Repertoire erwünſchte Bereicherung. Diesmal hatte
jeder der beiden Künſtler noch vollauf mit fich jelbit zu thun.
Ferdinand Laub nimmt unter den Biolin-Virtuofen der Gegenwart
eine der allererjten Stellen ein. Sein Ton dürfte an marfiger
Kraft und Energie jenen Joachim's noch übertreffen. Sein
Vortrag kann kaum ficherer, correcter, feuriger gedacht werden,
wenn auch oft feiner, poetifcher. So erreichte er in dem Adagio
des Beethoven'ſchen Concertes nicht den aus unserer Grin:
nerung unauslöjchlihen Vortrag Joachim's. Trefflich war das
Finale, auch der erite Sag ließ nichts zu wünſchen übrig,
außer etwa eine etwas anspruch3lofere und das mehritimmige
Spiel weniger auf die Spige treibende Cadenz. MWahrhaft
blendende Birtuojität entwidelte Laub in feinem »Rondo
giocoso«, Diefer ganz unvergleihliche Triller, dieſe Sicherheit
und Reinheit im Staccato und den Arpeggien, im Flageolet
und mehrftimmigen Spiel, waren, einzeln betrachtet, ebenfo be-
wunderungswürdig, als die ungeihwäht ausdauernde Straft,
niit der Raub dad ganze Stück zu Ende führte. Das zweite
geiangvolle Thema des Rondo ſpielte Laub einmal in Octaven
jo rein und ficher, wie auf dem Elavier. Die Compoſition jelbit
tt ein wirkſames Bravourftüd, nicht ohne intereffante Einzeln-
heiten und gut inftrumentirt. Laub's Erfolg war ein vollitändiger.
Herr Alfred Jaell wurde von dem PBublicum nicht minder
ausgezeichnet. Wir fennen bereit3 die einschmeichelnden Vorzüge
dieſes Pirtuofen. Vor allem iſt er Salonipieler im beiten,
332 1863.
nämlich) jenem Sinne des Wortes, der die mufifaliihe Bildung
und das Verſtändniß höherer künſtleriſcher Sphären nicht aus—
ihließt. Soweit man mit dem Geſchmack ausreicht, weiß Jaell
auch claſſiſchen Compofitionen gerecht zu werden. Allein feine
Natur gehört zu jenen weiblich anjichmiegenden, die fich gerne
in fleinen Formen, im Kreiſe des Zierlihen und Anmuthigen
bewegen, dem Großen, Leidenjchaftlichen lieber aus dem Wege
bleibend.
Jaell fpielte Schumann's Fis-moll-Sonate (op. 11), ein
Stück Jugendleben des Componiften, voll füßer Träumerei,
ftürmifcher Leidenichaft und keckem, lebensfrohem Humor. Auch
die Verehrer Jaell's willen, daß feine Vorzüge nicht nad) der
Richtung graditiren, in welcher Schumann’ Muſik fi) bewegt.
Insbeſondere find e3 die Jugendwerke Schumann’s, die in
ihrer genialen, launenvollen Subjectivität, ihrem iprunghaften
Wechſel von fchmerzlicher Empfindung und fedem Humor, nur
von einer geiftesverwandten Natur unabgefhwäht reproducirt
werden fönnen. Etwas vom Schumann'ſchen Dämon, ſei's aud)
nur don feinem guten, muß im Spieler jteden. Herrn Jaell's
gefälliges, heiteres, elaftiiches Naturell it dem Schumann’ichen
beinahe entgegengejeßt; unser Birtuofe hat zu lange in den
Salons geglänzt, um allzugern dem fchweigfamen Schumann
über Klippen und Abgründe nachzuftürzen. So hat und denn
die Fis-moll-Sonate — fie ift und aus Augendtagen jehr an?
Herz gewachſen — diesmal ziemlich unbewegt gelaſſen; es
flang alles jo begütigt und abgewaſchen. Herr Jaell war nicht
leichtfertig an die Aufgabe gegangen, man hörte jedem Taft
die jorgjamfte Vorbereitung an. Allein in ſolchen Regionen
wird eben allzu fühlbar, was in niedrigeren nicht ftört, daß
dem Spiele des Vortragenden die Tiefe fehlt. Selbſt Aeußer—
lichkeiten wirken da ganz eigenthümlich; fieht man Herrn Jaell
über einzelnen Tönen der Melodie — er trennt fie gern, wie
die italieniihen Sänger — feine rundlihe Hand jo zierlich
jih bäumen und wiegen, jo glaubt man ihm noch weniger,
was er von leidenichaftlihen Dingen fpielt.
Herr Laub brachte noch eineReihe glänzender Leiftungen, deren
bedentendfte der Vortrag der Bach'ſchen »Chaconne« war. Die
Zunge Bianiftinnen. 333
fichere Entjchiedenheit im mehritimmigen Spiel, dad Mark des
Tone, die Behendigkeit der linken Hand und die Kraft der
rechten wirkten hier zu mächtigſtem Effect zufammen. Laub's
Bogen griff aus wie ein Gemitterfturm und ließ Paffagen und
Triller niederregnen. Unfere erfte Wahrnehmung, daß das Kräftige,
Energijche, das kühne Auflodern der Bravour Laub's glänzendite
Seite bilden, neben welcher das Einfahrührende, Shwärmeriich-
Innige etwas abfällt, beftätigie da& lebte Goncert. Der Vortrag
der Glegie von Ernst ließ Kalt; der Aufwand an >»großem
Tone konnte nicht eriegen, was der Empfindung an Feinheit,
Beweglichkeit und Wärme abging.
Wer fih an den Goncertgebereien der legten Woche ganz be—
ſonders betheiligt hat, war das ſchöne Geichlecht. An Fleiß und
anfpruch3lofem Streben ftehen unfere Bianiftinnen (namentlich die
dem Publicum bereits vortheilhaft befannten) hinter ihren
bärtigen Collegen gewiß nicht zurüd, dennoch verjegen uns
»Mädchenconcerte« meist in einige Verlegenheit. Nicht etwa Die
Galanterie, fondern geradezu die Gerechtigkeit erheifcht hier ein
anderes, milderes Maß der Beurtheilung. Die moderne Clavier—
mufif verlangt einen Grad von phHfiicher Kraft und Ausdauer,
der einem jungen, zartgebauten Mädchen nur äußerſt felten
eigen. Die Kritik wird fich daher mteiften® zufrieden geben
müffen, wenn jolche knoſpende Pirtuofinnen die Wucht der
Goncertftüde »ihren Kräften entiprehend« bewältigen. Ein
Mibgriff Hingegen, den man imputiren kann, iſt es, wenn
Mädchen in der Wahl ihrer Vorträge auf ihre zartere Natur
und geringere Kraft gar feine Rüdficht nehmen. Seit es Mode
geworden — das ift das rechte Wort — in allen Goncerten
Bad und Schumann zu fpielen, glaubt jedes halbwichfige
Mädchen, das allenfalls den kleinern Sahen Mendelsſohn's
und Chopin’3 oder einer leichteren Thalberg’ihen Phantafie
gewachien ift, e8 müffe fi) mit dem Schwierigften aus Bad
und Schumann produciren. Reicht ſchon die phyfiihe Kraft
unferer concertirenden Roſenknoſpen für diefe Gompofitionen
jelten aus, die geiftige erweist fich meiſt noch unzulänglicher.
Wer im Leben und in der Runft nicht jchon Einiges erfahren,
mit Schmerz und Mühe erfahren hat, weifen Denken und Fühlen
334 1868.
noch harmlos wie ein Haydn'ſches Rondo fih in kleinſten
Kreifen dreht, der wird Schumann am beiten noch einige
Sahre ruhen laſſen. Die künſtleriſche, feinverzweigte Complication
des Schumann'ſchen Clavierſtyls und die tiefaufgeregte nur
im jchmerzlich lächelnden Humor gemilderte Leidenfchaft feiner
Muſik jollten allzu kleine Händchen von ſelbſt abichreden. Und
doch pflegen unfere jungen Mädchen ihren Austritt aus der
Schule und Eintritt in die Deffentlichfeit mit diefen Wagſtücken
zu feiern. Nachdem kürzlich eine junge, ſchwache Pianiſtin
Beethoven's Es-dur-Eoncert, Liſzt's Nhapjodien u. dgl. für
ihr erſtes Concert gewählt hatte, folgte ihr jüngft ein ebenſo
zartes Schweſterchen mit Schumann’3 »Sreißleriana«, Beet—
hoven's Es-dur- und Chopin’ F-moll-Goncert (op. 21), einer
der allerichwierigiten Compofitionen der modernen Klavier:
literatur. Ein blutjunges Mädchen mit den Anfängen einer ganz
unausgebildeten Stimme debutirte dabei mit — Schumann’s
»Stiller Liebe« (au op. 35), einem Lied, daS bekanntlich Die
niancirtefte Declamation und die tiefjte Innigkeit erfordert.
Wir müßten mitunter nicht, wen wir mehr bedauern follten,
die Componiſten oder ihre zarten Mörderinnen? Möchten leßtere
doch bedenken, daß wir fie nicht zur Selbitverleugnung, ſondern
im Gegentheil zum lohnendften Egoismus auffordern, indem
wir wünjchen, fie möchten nur vortragen, was ihnen wirklich
veritändlih und jympathiich ift, und was fie vollfommen gut
jpielen fönnen. Ihre wahrhaften Vorzüge: Zierlichkeit, Ge—
läufigfeit, leichte Anmuth, können junge Pianiftinnen in Ton
werfen wie die genannten entweder gar nicht oder nur in falſcher
Anwendung geltend machen, d. 5. indem fie Größe und Leiden
Ihaft ind Niedliche kräuſeln. »Sie verzupft Alles,« ſchrieb
Mozart über die Wiener PBianiftin Fräulein Auern—
hammer. Der Ausdrud ift treffend und charafterifirt eine
lange pianiftiiche Nachkommenſchaft der jeligen Auernhammer.
Eine neue Erjcheinung auf dem Podium des Mufifvereins-
faales war der Bianift Guſtav Satter.
Herr Satter hat fich befanntlich durch feine Erfolge in
Amerika einen Namen gemadt. Daß er ein bedeutender Birtuoje
jei, bewies er num auch jattfam vor feinen Zandsleuten. Aus:
Guſtav Satter. 335
giebige Kraft und zartes Geflülter ftehen feinem jaftigen Anz:
Ichlag gleihmäßig zu Gebot; in feinem Vortrag fanden wir
zwar nur ſchwache Spuren von Empfindung, aber ein gewifjes
Feuer, dag muthig ind Zeug geht. In dem lebhaft rhyth—
mifirten, gefälligen und gefallfüchtigen Vortrag feiner eigenen
Bravourfahen, namentlich des Walzerd, erinnerte und Herr
Satter an Leopold v. Meyer. Nur war fich diejer vielgereifte
Liebling der Salons in feinem Ziel und Gebahren weit Elarer;
er jpielte feine Beethoven'ſchen Eoncerte und componirte feine
Duverturen zu deutfchen Sagen. Herr Satter macht uns Die
Sade ſchon ſchwieriger, er trägt, vorne claffiih, rüdwärts
modern, das muſikaliſche Janusgeficht, mit dem unfere Birtuojen
jo gerne fi oder Andere täuſchen. Wir halten, nah Satter’s
eritem Concert zu fchließen, nicht den ftruppigen Beethovenkopf,
fondern die damenbezwingende Leopoldsmiene fir die echte
Geite. Ob fie von Anfang an jeine wahre, urwüchſige oder
dur die Tangjährige amerifanifhe Campagne ihm angebildet
jei, das müſſen wir unentſchieden laſſen. Satter wäre nicht
das erite hübjche Talent, das dur den Humbug der neuen
Welt feiner befferen Natur entfremdet ward. Das Clapier ilt
für den amerifanifchen Reijevirtuofen eben nur ein Ding, aus
dem man Gold jchlägt. Die Schnelligkeit, womit dies in
Amerifa möglich, und die Marftichreierei, welche dazu noth-
wendig ilt, pflegen tiefe Spuren in dem künſtleriſchen Charakter
jolcher Goldipieler zurückzulaſſen. Vermochten wir Herrn Satter,
den PBianiften, nur auf dem Felde des Bravourſtücks zu rühmen,
jo fällt unſere Anerkennung des Componiſten Satter noch
weit bedingter aus. Ein intenfives, eigenthümliches oder auch
nur tüchtig gejchulte® Talent ſprach aus feiner einzigen von
Satter’3 Compofitionen. Seine Ouverture zur »Lorley« ift
mufivifh, formlos, ſchwer belaftet mit Reminiscenzen, dabei
mit anſpruchsvoller Roheit inftrumentirt. Nicht eine fingende
Tee, ſondern eine preußtiche Jägermufit muß, nad Satter’s
Shilderung, den armen Schiffer gegen die Felöwand gelodt
haben.
Herr Satter ift bis zu einem vierten Concert vorgerüdt.
Sedesmal, während Herr Satter noch im Muſikvereinsſaal
336 1863.
pianifirt, werden draußen im Gorridor bereit Zettel mit der
Nachricht angeichlagen, daß für fein nächites Concert ſämmtliche
Cercleſitze (jegt auch ſchon »die Galeriefige«) vergriffen
jind! Wer die hiefigen Concertverhältniffe aus jahrelanger
Beobachtung fennt, den muß diefer plögliche Heißhunger unferes
Publicums nad Glavierconcerten in bemunderndes Gritaunen
verjegen. Ein durch den Titel: »Adieu, absence et retour« gerade—
wegs zur Vergleihung mit Beethoven herausforderndes Trio
von Satter, dann ein ſtark an Charlatanerie ftreifendes » Quintett
in einem Sat über ein Thema von ſechs Noten« wurden jelbit
von dem freundlichen Publicum, welches fih an jämmtlichen
Serclefigen de3 Herrn Satter »vergreift«, bedenklich fühl auf:
genommen. An Galopaden aber und Walzern, mögen fie auch
mit der ftürmijfchen Bravour Herrn Satter’3 gejpielt werden,
hat man fi) bald jatt gehört.
1864.
Die „Johannäiſche Palfionsmufik“ und
das „Weibnachtsoratorium“ von Heb.
Bad.
Macs Johannäiſche Paſſionsmuſik ift der (unſerem
Publicum durch wiederholte Aufführungen bekannten) Matthäus—
Paſſion nah Inhalt, Dispofition und Behandlungsweiſe voll—
ftändig analog. Im gleihen Wechſel epifcher, Inrifcher und
dramatiiher Montente wird die Leidensgeichichte Jeſu vom
Evangeliften erzählt, von den biblifchen Perſonen handelnd dar:
geitellt, von der idealen Gemeinde theilnahmsvoll betrachtet.
Die vielfach verbreitete Anficht, welche Bach's Johannes-Paſſion
im Vergleich mit der Mathätfchen ein ſchwächeres Werk nennt,
vermögen wir nicht zu theilen. Die Johannes-Paſſion bewegt
fih nicht in fo grandiofen Dimenfionen, arbeitet nicht mit fo
gewaltigen Mitteln wie die Matthäifche, allein an innerer Kraft
und Uriprünglichkeit, an Reichthum der mufifaliihen Phantafie,
an Tiefe der religiöfen Empfindung, felbit an dramatifcher
Lebendigkeit fteht fie ihr um feines Haare Breite nah. Man
kann zugeitehen, daß polyphone Pracht- und Riefenbauten wie
die dreichörige Einleitung der Matthäus-Paſſion und ihr Chor
»Sind Donner und Blitze« feine gleich gewaltigen Seitenftüde
in der Johannes: Baffion finden; dafür fcheint und durch Die
Johannes-Paſſion ein eigenthümlicher Zug von Milde, Weichheit
und echt menichliher Schönheit zu gehen, der an die Geftalt
des Lieblingsjüngere Chrifti mahnt. Die nad größter Be—
ftimmtheit ringenden, biß zur Unruhe ausdrudsvollen Recita-
Hanslid. Aus dem Concertfaal. 2. Aufl. 22
338 1864.
tive find jenen der Matthäus-Paſſion ganz homogen; einige
Mendungen, welche dies Streben bis zum Wagſtück jteigern,
verſöhnen durch die rührende Naivetät der Eingebung, wie Die
Stelle des Evangelijten »Er ging hinaus und weinte«, und die
andere (ſchon leife an den Barockſtyl jtreifende) »und geißelte
ihn«e. Die Chorale mit ihrem tiefen, gejättigten Ausdruck
ſchlichter Frömmigkeit bilden einen wunderbar wirffamen Gegen:
ja zu den furzen, dramatiihen Chören, welde hier wie in
der Matthäus-Paſſion die zündenditen Momente der ganzen
Compofition find. Wie ungejucht und fchlagend ift dieſe Dra—
matit in den Rufen des Volkes: »Jeſum von Nazareth!«
»Biſt Du nicht der Jünger Einer?« »Weg, mit dem!« u. a.
Die größeren ausgeführten Chöre athmen theils erhabene Pracht,
wie der Einleitungschor in G-moll, theild rührendfte Trauer,
wie der Klaggejang »Ruhet wohl!«
Die Arien, im großen und ganzen genommen, jtehen in-
fofern hinter den Recitativen und Chören zurüd, als fih in
ihnen fürs erſte manches Topifch-Conventionelle eines Muſik—
ſtyls fühlbar macht, der nicht mehr der unſrige iſt, fürs zweite
das Fremdartige der Bach'ſchen Inſtrumentirung ſich eben nur
in den Arien uns aufdrängt. Die (wenn wir nicht irren,
Moſevius gehörige) Feine Bemerkung, daß Bach's Inſtru—
mentation eigentlich nur eine aufs Orcheſter übertragene Orgel:
Regiſtrirung jei, tritt dem Hörer in ihrer ganzen Wahrheit ent—
gegen. Die Begleitung der Arien, in der Farbe bi zur Dürftig-
feit einfach, in der Zeichnung bis zur Weberladung verziert,
ericheint mitunter für unfere mufilalifchen Gewöhnungen jonder:
bar genug. Die meiſten diejer Arien find eigentlich Terzette,
in welchen der Singitimme und den Injtrumenten ein gleiches
Theil an dem contrapımftiichen Gewebe zugemeijen ift; unter
der Singitimme bewegt fich unabhängig der Gontrabaß, über
der Singftimme ebenſo unabhängig eine Flöte, Oboe oder
Violine. So mögen dem mit Bach noch unvertrauten Hörer die
Sopran:Arie in B: »Ich folge dir!« oder die Tenor-Arie in
Es den Eindrud eines Flötene oder PViolin-Präludiumd mit
unterlegter Menjchenftimme machen. Nah etwas vertrauterem
Umgang findet man den eigenthümlichen Reiz, theil® den fein-
Bach's »Weihnachtsoratoriume. 339
finnlihen des langes, theild den geiftigen einer zwar typiich
gefeilelten, aber doch wahrhaft naiven Empfindung heraus.
Auhiger und voller in der Begleitung, dabei von entzückender
Innigkeit des Ausdruds, ift die Baß-Arie: »Betrachte, meine
Seele« (mit obfigater Zaute), das recitativifch ſchildernde Tenor:
Arioſo: »Mein Herze, endlid die mit einem Choral zu im—
pojantem Bau zufammengefügte Baß-Arie in D: »Mein theurer
Heiland«.
Die Aufführung des Bach'ſchen Weihnachts-Oratoriums
geihah durch die Wiener Sing: Akademie, unter der Leitung
von Joh. Brahms. Gegen die Gejellichaft der Mufikfreunde
ftand fie Schon durch die Wahl der Compojition etwas im
Nachtheil. So reih auch das »Meihnaht3-Dratorium« an
mufifaliichen Schönheiten vom erften Nang ift, den einheitlichen,
unmittelbar zündenden Eindrud der Johannes: oder Matthäus:
Paifion vermag es nicht hervorzubringen. Das fjogenannte
»Meihnahts-Oratorium« (1734 componirt und jeit Bach's Tod
zum erftenmal wieder aufgeführt in Breslau 1844) ift eine
Folge von ſechs Gantaten, deren jede einem bejtimmten Yeier-
- tag, von Weihnachten bis zum heiligen Dreifönig-Tag gewidmet
iſt. Wenn W. Nuft in feiner Vorrede zur Ausgabe der »Badj-
Gefellfhaft« dies Herameron ein »geiftlich-Inriiheg Drama
im wirklichen Sinne des Wortes« nennt, jo hat er nur injofern
recht, als die in Necitativen vorgetragene, verbindende Handlung
(nad) den Evangeliften Lucas, eap. 2. V. 1—21 und Matthäus,
eap. 2. V. 1—12) erft im 6. Theil zum völligen Abſchluß
kommt. Der ftoffliche Zufammenhang der ſechs Cantaten it
aber ein fo Ioderer, daß bei der hiefigen Aufführung, wie auch
anderwärts, zwei davon ohne Nachtheil für das Verſtändniß
ganz wmweggelaffen wurden, ein Beweis, daß der Begriff des
Dramas, wie er noch auf die Paſſions-Muſiken paßt, bier
nicht mehr Anwendung findet. Wichtiger noch it der Umſtand,
daß im »Weihnachts-Oratorium« das dramatiſche Element gegen
das epiſche und lyriſche geradezu verſchwindet. Es fehlen hier
die leidenſchaftbewegten, dramatiſchen Chöre, welche dort wie
tiefe Schlagſchatten wirken; das Weihnachts-Oratorium bietet
uns zu viel Licht ohne Schatten. Die Einheit der Stimmung
22%
340 1864.
ift allerdingd durch alle ſechs Cantaten durch den Stoff ge-
geben und in der Muſik feitgebalten; diefe Stimmung ift mit
Einem Wort: MWeihnahtsfreude — die geiftliche, natürlich, er:
löjungsfroher Seelen, nicht die weltliche rothwangiger Kinder.
In einzelnen von den Arien und Duetten, noch mehr in den
Chören iſt diefe Stimmung ſchwungvoll und freudig ausgedrückt,
wie ſchon die drei Trompeten, welche die wichtigften Chöre
jchmetternd einleiten und figurirend begleiten, dem Ganzen eine
feftliche Färbung geben. Im Verlaufe wird dies Feltfigen auf
einem jo engbegrenzten Iyriihen Felde etiwad® monoton. Dazı
fommt nod, daß durch den füßlich pietiftiichen Text etwas
Meiches und Spieljeliges in die ganze Betradhtung fommt, das
unſerm Gefühle mwiderftrebt. Dies ewige Seufzen und Schmachten
nah dem »himmliſchen Bräutigame«, dies Tiebäugelnde Häticheln
des »ſüßen Schaßed« von Anfang bis zu Ende macht es etwas
fauer, und der Mufif mit ganzer lebhafter Empfindung hinzu:
geben.*) Der Heiland hatte damals in Deutichland einen er-
*) Wir greifen beifpieläweije folgende Terte heraus:
Soprans-Arie: »Nun wird mein liebiter Bräutigam, zum Troſt,
zum Heil der Erden, Einmal geboren werden. Be—
reite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönften
den Liebiten bald bei dir zu ſeh'n!«
Chor: »Ach, mein herzliches Jeſulein! Mac dir ein janftes
Beitelein, Zu ruhen in meines Herzend Screin!«
Arie: »Immanuel, o jüßes Wort; Mein Sejus heißt mein
Biel, Mein Jeſus Heißt mein Leben, Mein Jeſus
hat ſich mir ergeben, Mein Jeſus fol mir immer:
fort, Vor meinen Augen fchweben; Mein Jeſus
heißet meine Luft, Mein Jeſus Iabet Herz und Brurft.
Jeſu du mein liebites Leben, Meiner Seele Bräuti-
ganı, Der du dic für mich gegeben, an den bittern
Kreuzesſtamm!«
Recitativ: »Genug, mein Schatz geht nicht von mir, Er bleibet
da bei mir. Ich will ihn auch nicht von mir laſſen;
Sein Arm wird mich aus Lieb’, mit ſanftmuthvollem
Trieb, Mit größter Zärtlichkeit umfaffen; Er joll
mein Bräutigam verbleiben, Ich will ihm Herz und
Bruft verfchreiben! u. ſ. w. u. ſ. w.«
Bach's »Weihnachtsoratorium«. 341
bärmlichen poetiſchen Hofſtaat. So unermeßlich hoch ſich Bach's
Muſik über ſeinen Text auch ſtellt, ſo übte dieſer doch inſofern einen
Einfluß auf jene, daß Bach rein geiſtliche Dinge und religiöſe
Empfindungen mitunter in zierlichen und fröhlichen Weiſen be—
ſingt, die unſere angeblich ſo frivole Zeit als dem Gegenſtand
nicht ganz angemeſſen empfindet. Daß aus den Arien und
Duetten, ſogar aus einem und dem andern Chore des Weih—
nachts-Oratoriums nicht jene geſammelte tiefe Empfindung
ſpricht, wie aus den zwei Paſſions-Muſiken, daß mitunter etwas
Aeußerliches, »àa-Modiſches«, wie man damals ſagte, ſich
fühlbar macht, dürfte der unbefangene Hörer ohneweiters ge—
wahr werden; eine merkwürdige hiſtoriſche Entdeckung gibt uns
überdies einigen Aufſchluß dazu. Es iſt nämlich nachgewieſen,
daß der größte Theil des Weihnachts-Oratoriums (außer den
Choralen und Recitativen faſt Alles) aus weltlichen Gelegen—
heits-Muſiken von Bach ſtammt, und von ihm ſpäter dem geiſt—
lichen Text entweder ganz unverändert, oder mit unweſentlichen
Aenderungen, 3. B. der Tonart, angepaßt worden iſt. (Ber:
gleiche Bach's Werke. Leipziger Bach-Geſellſchaft, 5. Jahrgang,
2. Lieferung.) Nicht weniger als 16 Nummern des Weihnachts—
Oratorium find theil® dem »Dramma per musica«, Das
Bah 1733 »der Königin zu Ehren« componirte, theil® dem
Drama »Die Wahl des Herfules« (zu Ehren des Erbprinzen
von Sadien, 1733), theild einer »Gratulations-Cantate zur
Ankunft des Königs« entnommen. Die beiden erjtgenannten
weltlichen Gelegenheit3-Gantaten find beinahe vollftändig in dem
»Meihnadht3-Dratoriums aufgegangen. Diefer Vorgang fcheint
ehr geeignet, zwei Wahrheiten, welche von der apologetijchen
Kritif gern ignorirt werden, in helleres Licht zu ſetzen. Einmal,
daß der muſikaliſche Ausdrud, die »pſychologiſche« Fähigkeit
und Ausbildung der Mufif, zu Bach’ Zeit auf einer verhält:
nißmäßig tiefen Stufe der Entwicklung ſtand, weil jo ohne:
weiters Liebeslieder der Omphale, und Huldigungschöre der
Wie wohlthnend wirkt nach folchen Verien jedesmal das Ächlichte,
finnvolle Bibelwort, die Erzählung des Evangeliften! Es iſt, als liche
man friihe Morgenluft in eine dumpfe überheizte Stube dringen.
342 1884.
artigen ſächſiſchen Unterthanen fih in geiftlihen Werfen unter:
bringen ließen; ſodann, daß in Bach der praftifche Mufifer Doch
nicht völlig von dem ftrenggläubigen Ehriften verfchlungen war,
vielmehr jener fih aus Unterjhiebungen weltlicher Muſiken
unter geiftlihe Texte fein Gewiſſen machte, wenn ihm deren
allgemeiner Charakter dazu pafjend erichien, und ihm um eine
muſikaliſch werthvolle Gelegenheit3-Compofition leid war. Bach
hat derlei Entlehnungen und Uebertragungen allerdingd nicht
jo häufig und fo rücjichtö[loS vorgenommen, wie Händel; allein
vorgenommen hat er fie doch, und in unferm »Weihnachts—
Oratorium« ſogar in großem Styl.
Mendelsſohn's Mufik zu „Antigone“.
Der afademifhe Gejangverein führte Sonntag im
Redoutenſaal die Mendelsſohn'ſchen Chöre zur »Antigone«
des Sophofles auf — eine Aufgabe, die nicht blos durch
ihren fünftleriichen Gehalt, jondern ganz vorzüglich auch durch ihren
philologiichen alten Adel fih für einen Univerfitätshor ſpecifiſch
eignet. In der Gompofition der Sophoffeifchen Choritrophen
hat Mendelsiohn ein Unicum geliefert, das mit dem Gehalt des
vollwichtigen Kunftwerfs den Charakter eines Kunſtſtücks
vereinigt. Als der verftorbene König von Preußen in feiner
Balfion für äjthetifche Leckerbiſſen Sophokles' »Antigone« und
»Oedipus« aufs Theater gebracht, und die Chöre im Geifte
der griechiſchen Kunſtanſchauung und der griechiſchen Bühne
componirt haben wollte, da war offenbar in der ganzen mufi-
faliichen Welt fein Componift ald Mendelsfohn, an den man
denfen fonnte. Kein zweiter verband mit einer glänzenden mufi-
falifchen Begabung die claſſiſche Bildung, ja die philologifche
Kenntniß, die hiezu erforderlich ſchien. In dem feinen, geift-
reihen Anfchmiegen an einen gegebenen Stoff Stand Mendels—
john ftetS obenan, und wenn er die römischen und griechiichen
Dichter in der Urſprache las, werden ihm wenige Componiſten
Geſellſchaft geleiftet haben. Bei Mendelsfohn ftand die har:
moniſche, alljeitig reihe Bildung im Gleichgewicht mit feinem
Mendelsſohn's Mufik zu »Antigonee. 343
mufifaliihen Schaffen: feine ſpecielle Kunft, die Muſik, war
gleihlam nur die Spige, die feinjte Blüthe einer umfafjenden
und durchgebildeten Natur. So offenbart fie fih am entjchie-
densten in den griehiichen Chören. Die Berliner Bühne machte
eben (zu Anfang der Bierzigerjahre) den Berfuch, den Haide-
boden, auf dem Hirſemenzel-Raupach unbeſchränkt herrichte, zu
einem poetiihen Park umzufchaffen. Sie flüchtete in die weſen—
loſe Phantaftit Tieck'ſcher Märchen, und griff endlid Jahr:
hunderte weit zu Racine’3 »Mthalie«, ja fogar zu Aeſchylus
und Sophofles zurüd. Während man die hiftorifche Tragödie
— die einzige Richtung, nach der fich das höhere Drama weiter
entwiceln kann und wirklich fich zu entwideln ftrebte — durd)
die kleinlichſten Rüdfichten verrammelte, wollte man ein Tängft
Hiftorifchgewordenes wieder zum Leben erweden. Anregend und
genußreich für einen Eleinen, auserwählten Kreis von Gebildeten
fonnte für die Gejammtheit jene Erwedung doch nur ein kurzes
Sceinleben führen. Als merkwürdigites und bleibendes Re—
fultat jener Berliner Aufführungen des »Oedipus« und der
» Antigone« müffenwir Mendelsſohn's Kompofition der Chöre
anjehen. Uriprünglich für die wirkfihe Bühnenaufführung com:
ponirt, hatte Mendelsſohn's Muſik nur eine nebenfächlihe Be—
deutung; jo follte in ımgefährer Anlehnung an altgriechiiche
Traditionen die theatraliicher Wiederbelebung des Sophokles
möglih machen. Dies Verhältniß der Chöre zur Tragödie hat
fih gegenwärtig umgekehrt. Von der Mißlichkeit der Auf:
führung antiker Tragddien auf unſeren Bühnen überzeugt, ſucht
man nunmehr den mufikaliihen Genuß der Mendelsſohn'ſchen
Chöre daraus zu retten. Dieſe werden jeßt Telbititändig und
als Hauptſache aufgeführt, während ein »verbindendes Gedicht«
an die Stelle der Tragödie tritt, dad Verſtändniß nothdürftig
zufammenzubhalten.
Mendeliohn’3 Chöre zu den Tragödien des Sophofles
find vielleicht das leuchtendſte Beilpiel, was für Aufgaben ein
durch Tiefe und allieitige Bildung befruchteter muſikaliſcher
Geiſt vollbringen fünne. Allein der Charafter der Aufgabe
des Problems (im Gegenfag zu vollftändig freier, aus dem
Innerften ftrömender Schöpfung) war daraus nicht zu tilgen.
344 1864,
Wo immer der Componift feine Aufgabe erfaßte, ftieß er auf
einen MWiederftreit zwiichen den Bedingungen des antiken Dramas
und der modernen Muſik. Dieje wirft nur in felbititändiger,
freier Entfaltung; jenes erheiſcht ein ſklaviſches Unterordnen
der Muſik unter die Declamation. Sollen die Worte des Chor
in ihrer vollen Gedanfenwucht wirken, ja überhaupt von der
Bühne herab deutlich vernommen werden, jo muß die Mufik,
auf die Schönheit ihrer eigenen Architeftonif und Farbe ver-
zichtend, langjam, eintönig und äußerſt ſchwach begleitet (Flöten
und Harfen nach antifem Vorbild) einherjchreiten. Damit würde
die muſikaliſche Bedeutung der Chöre auf Null herabjinfen.
Solde Verleugnung kann man der modernen Muſik, kann
man einem ihrer größten Meifter faum auferlegen; ein fort-
währendes fünftliches, ja fünftelndes Vermitteln und Nachgeben
wird demnach zur Norm. Mendelsjohn hat durch bewunderungs—
würdige Mäßigung des mufifaliihen Clement? und geiftvolle
Anempfindung griehiicher Kumftweije dies ungewöhnliche Problem
gelöſt. Die Schwierigkeit, der antifen Chorftrophe mit ihrem
wecjelvollen, complicirten Versmaß und ihrem beiwörterthür=
menden Satbau ein mufifaliiches Kleid anzupafien, ſtreift im
der »Antigone« wie im »Dedipus« mitunter and Unüberwind-
lie. Der Accent des muſikaliſchen Abſchnitts zerreißt oft den
grammatiich und logiſch zufammengehörigen Saß in zwei gegen=
jägliche Hälften, und umgekehrt. Beinahe jeder der Chöre bietet
Beilpiele diejes Kampfes zwifchen declamatorifher und muſi—
faliicher Rhythmik. Mit diefer äußern, ſprachlichen Schwierig:
feit verbindet fich die innere, die in dem überwiegend reflec-
tirenden, Mäßigung und Weisheit lehrenden Inhalt der Chöre
liegt. Wo der Chor fih ausnahmsweiſe zu großartigerer leiden-
Ichaftliher Bewegung erhebt, da fteigert ſich auch Mendelsſohn's
Muſik zu jelbitftändiger Wirkſamkeit, zu voller Pradt. So vor
Allem in dem Bachuschor, deſſen muſikaliſcher Haupteffect
allerdingd in dem von Mendelsſohn eigenmächtig wiederholten
Aufruf: »Hör' und!« liegt, nebenbei eine merkwürdige Voraus:
nahme des »Hör’ uns!« der Baalöprieiter im »Eliad«.
Dat man eine Compofition wie diefe »Antigone« contre-
eoeur blos auf Allerhöchſten Befehl schaften könne, wäre
Mendelsſohn's Mufif zu »Antigone«. 345
eine lächerlihe Anfiht. Wer die tiefe, innere Betheiligung, ja
Begeilterung Mendelsjohn’3 an diefer Arbeit nit aus ihr
jelbit erkennt, den werden deſſen nachgelafjene Briefe belehren.
Die Idee ging allerdings vom König aus; Mendelsſohn wollte
fih »anfänglich auf die Sache gar nicht einlaffen; aber (fo
Ichreibt er an F. David) das Stüd mit feiner außerordentlichen
Schönheit und Herrlichkeit trieb mir alle8 Andere aus dem
Kopfe. An den jpäteren »Dedipos auf Kolonos« fcheint er
Ihon mit geringerer Wärme gegangen zu fein; und als der
König gar ein drittes Werk diefer Art, die Compofition der
Eumeniden des Aeſchylos, von Mendelsfohn verlangte, lehnte
diejer entichieden ab. Daß dieje Ablehnung ihren Grund wirklich
nur in der »jehr ſchweren, vielleicht unausführbaren« mufifalifchen
Behandlung diejer Chöre hatte, Fällt uns zu glauben ſchwer; wir
fönnen in den hochdramatiſchen Strophen des Aeſchylos für den
Mann feine übermäßige Schwierigkeit erbliden, der die »Antigone«
und den »Dedipod« bewältigte. Wahrjcheinlicher bedünkt uns,
daß Diendeldjohn, nachdem er zwei griehiiche Probleme jo
glänzend gelöft Hatte, eben den Zug des Problematifchen in
jolhen Wiederbelebungen deutlicher empfand und das Unfrucht—
bare einer Liebhaberei einſah, welche fi darauf fteifte, ein
geiftvolled anregendes Experiment zu einer confequenten Richtung
auszudehnen. Er mochte fühlen, daß dieſe griehiichen »Er—
wedungen«e doch nur den Genuß einer fleinen poetifchen und
philologischen Ariftofratie, aber niemals das echte, verftändniß-
innige Entzüden ded ganzen Volkes bilden fönnen.*) Und für
*) Wir möchten wiſſen, ob die Verfechter der gegentheiligen
Meinung aufrichtig glauben, daß ein großes Publicum, oder auch nur
eine Hälfte desjelben, bei Verſen wie folgende (wir wählen fie auf’
Gerathewohl und auß der berühmten Donner’ichen Ueberſetzung) etwas
fih zu denken oder etwas zu empfinden vermag:
An der fyanischen Fluth des verichwiiterten Meeres hin
Dehnt ſich Bosporos Strand und der ihrafiiche
Salmydeſſos, wo Ares, im Land waltend als Gott an Phineus’
zwei Söhnen
Schaute die graufe Wunde,
Nachdem die ruchloje Göttin blendend
Der Augen Sterne beiden — nicht mit dem Speere, nein
346 1864.
legtere8 hatte Mendeldfohn noch vollauf zu jchaffen. Er war
es fatt, den mufifaliichen Hofgriehen des geiltreihen Königs
abzugeben, und ſchrieb — den »Elias«.
Concert des Wiener Männergelang:
»Dereins.
ALS eines der gewichtigften Verdienite Herrn Herbed’s be—
trachten wir feinen Einfluß auf das Repertoire des mehritimmigen
Männergelangd. Dieje Gattung, fiegreid) durch die üppige,
wenngleich monotone Schönheit des finnlichen Klanges, ift ihrer
Natur nah auf ein kleines Gebiet beichränft, ein Gebiet über:
dies, das nicht auf der Hochebene der Kunft, fondern am Ab—
hang derjelben fich ausdehnt, wo die Iuftigen Brüder wohnen.
Sp lange der Männergefang irgendwo im Glanz der Neuheit
auftritt, übt er — ganz abgejehen von feiner gejelligen An—
ziehungskraft — auch auf das eigentliche Eoncert:Bublicum
einen eigenthümlichen Zauber. Man glaubt, fih an dem reinen,
Iharfen Zufammenflang friiher Männerftimmen nicht fatthören
zu fönnen, und gibt fih mit der Dußenwaare von Liebes-,
Trink-, Vaterlands- und Scherzliedern gern zufrieden. So war
es in Wien in den PVierzigerjahren und darüber hinaus.
Später madte fih allmälig das Enge und Dürftige diejes
Genres noch fühlbarer, als man anfangd glauben mochte,
und jelbit die virtuoſeſte Ausführung will nicht mehr recht
über die Spärlichfeit des geiftigen Gehalts hinmeghelfen. Nach
einer Periode allgemeiner Schwärmerei tritt diefe Ernüchterung
Ergrimmt ausſtach mit blut’gen Händen,
Mit ihres Webſchiffes icharfen Spigen.
Und es vergingen im Leiden die Elenden über ihr Elend,
Meinend, entiproffen dem Unglücksbund
Der Mutter, die doch an dem uralten Geblüt
Des Erechteus Theil hatte;
Und bei den väterlichen Sturmwinden aufwuchs in fernen Grotten
Die Roß' ereilende Boread' auf ſteilen Höh'n,
Ein Gottkind. Doch auch fie beitürmte die Macht.
Der uralten Moira, Tochter! u. ſ. w.
Concert des Wiener Männergelang-Bereins. 347
allenthalben zu Tage, und der NRüdichlag trifft mitunter fo
weit, daß ftrengere Kunftrichter es an der Zeit halten, den
vierftimmigen Männergefang aus den Concertiälen allmältg
wieder in den Burgfrieden der Gejelligfeit und des Vereins—
weſens zurückzuweiſen. In folcher Zeit vermag nur eines Die
günstige Poſition des Männergefangd im öffentlichen Concert:
leben zu retten: die Bereicherung und Veredlung ſeines Pro—
gramms. Mer die beicheidene Literatur dieſes Kunſtzweiges
fennt, wird einräumen, daß ein ſolches Begehren leichter geitellt
als erfüllt ift. Im diefer Beziehung num hat Herbed, als
Chormeifter des Miener Männergeſang-Vereins, mehr geleiitet,
als irgendwo zu irgend einer Zeit geleiftet worden tit. or
feinem Eintritt waren Productionen des Wereind mit vollem
Orcelter eine feltene Ausnahme und Mendelsſohn's Dedip-
und Antigone-Mufif jo ziemlich das Einzige, womit der Verein
eine höhere Kunftregion betrat. Herbed hat die großen Orcheſter—
Eoncerte zur Regel gemadt, und im Auffinden intereffanter Novi—
täten und Antiquitäten ift ihm der Faden noch nicht ausgegangen.
Mit Ausnahme von Schubert's »Nachtigall« waren alle vor:
geführten Stüde Novitäten, und drei davon umfangreiche
Eompofitionen mit ganzem Orceiter, von Shumann, Ber:
lioz und Wagner. Daß feine davon ein Meiſterwerk und im
Stande war, die Hörer wahrhaft zu begeiftern, müffen mir
hinterher einräumen; immerhin bleiben es Werke, welche, durch
ihre Eigenart wie durch den Ruhm ihrer Verfaſſer, der Vor—
führung würdig erfchienen und jeden Muſikfreund lebhaft inter:
eifiren mußten. Man begann mit R. Shumann’® »Glüd von
Edenhall«e (op. 143, componirt in Düfleldorf 1853). Die
Uhland’ihe Ballade iſt für die Zwecke des Componiſten von
Dr. Hafenclever mit großer Diöcretion dramatifirt, fo daß
das DOriginalgediht beinahe nur »mit vertheilten Rollen« ge:
lefen wird. Mit dem Chor der Gälte wechſeln Soli des über:
müthigen Laros und feines greifen Schenken; nad der Kata—
ftrophe betritt der Anführer der ftürmenden Feinde und
der GChoren die Scene. Die Gompofition vermochte uns
nicht zu erwärmen; in ihrem eigenthümlich unfebendigen, theils
gequälten, theil® nüchtern declamatoriichen Charakter trägt fie
348 1864.
volftändig die Kennzeihen des Schumann’schen Nachſommers.
Hätte der Meifter die von ihm eingeführte Specialität der
»Chorballaden« mit der vollen poetiihen Wärme und Erfin=
dungsfraft feiner früheren Jahre erfüllen können, daS neue
Genre hätte fih — weniger aus äfthetiichen als aus praftifchen
Gründen — mwahrjcheinlich bewährt und erhalten. Wirkſamer
und fließender behandelt als der gleichzeitig erjchienene » Königs
johne, steht das »Glück von Edenhall« doch jchon bedeutend
unter der Mufif zu »Page und Königstochter«, welche wenigitens
in den märchenhaften Bartien noch wunderbare Töne anjhlägt.
Was dem »Glüd von Edenhall«e nicht abzujprechen ift, find
die Vorzüge der Form, der Declamation, des ſtets würdigen
und gebildeten Ausdrucks — ſie find mehr ald ausreichend,
um die Aufführung des Werkes zu rechtfertigen ; weniger als aus—
reihend, um demjelben zu durchagreifender Wirkung zu verhelfen.
Sffectvoller und lebendiger, bei allerdingd weit größerem
Raffinement, ift der Studenten: und Soldatendhor aus Berlioz'
dramatiicher Legende: »La damnation de Faust« Der
Componiſt hat hier Goethe’3 »Fauſt« in ähnlicher Meile mie
Shafejpeare’3 »Romeo und Julie« für fein eigenthünliches, halb—
dramatiiches, muſikaliſch-malendes Talent ausgebeutet. Die
Scene, die una der MännergefangsVerein vorführte, bildet das
Finale der zweiten Abtheilung. Fauft und Mephifto umjchleichen
nächtlicherweile Gretchen's Haus. Sie hören luſtigen Chorgejang
von weitem. »Des etudiants voici la joyeuse cohorte, Qui va
passer devant sa porte«, alfo der Gounod’she »Siebel« en
masse. Zuvor ericheinen Soldaten und fingen in populärer,
hübſch rhythmiſirter Melodie den »Goethe'ſchen Chor: » Burgen
mit hohen Mauern und Zinnen«; der Geſang geht aus B-dur,
/ Takt, ein Iuftiger Terzenlauf der Glarinetten fteigt jauchzend
ziwiichen je ziwei Verſen auf. Nun rüden von der andern Seite
die Studenten heran, ein lateiniiches Burfchenlied (D-moll,
2/ Takt) in ungeihladhtem Uniſono fingend, wozu die Violinen
mit pizzilirten Terzen accompagniren. Die beiden Chöre er—
tönen jchließlih zufanımen, ein Witz, der mehr Schweiß ge—
foftet hat, als ſich lohnte. Obwohl beide Parteien durch das
Orcheſter möglichſt auseinandergehalten jind (die Holzbläjer
Wagner »Liebesmahl der Apoftele. 349
gehen mit den Soldaten, das Blech mit den Studenten, die
Violinen pizzifiren neutral zwiichen beiden), fo ilt der Total:
eindrucd doch wirr und überladen. Der Studentenhor verliert
mit dem D-moll-Charafter vollitändig feine Phyſiognomie, kurz,
jedes der beiden Chorlieder war für fich allein weit hübſcher.
Das Eleine, äußerit ftimmungspolle Orcheiter-Ritornell, das die
Scene eingeleitet, Tchließt fie wieder und läßt das Ganze Teile
wie im Abendduft verſchwimmen.
Die dritte große Nummer war Richard Wagner's
»Liebesmahl der Apoſtel«. Diefe »bibliihe Scene für
Männerhor und Orcdelter«e — lang vor dem »Tannhäuſer«
componirt und vor mehr als zwanzig Jahren im Drud er-
Ichienen — ift wenig befannt und vom Gomponiften jelbit nicht
als vollwichtig anerfannt. Die ganze umfangreihe Compofition
ward offenbar einem einzigen Orchelter-Effecte zuliebe entworfen
und ausgeführt, der allerdings erquifitelter Art ift. Gute zwei
Dritttheile des Werkes füllt nämlich bloßer Männerchor, ohne
alle Begleitung: die Jünger und Apoftel find nah Chriſti
Tod in andäcdhtiger Heimlichkeit verfammelt; Zucht und Zagen
erfüllt ihr Herz. Plötzlich horchen fie auf: »Welch' Braufen
erfüllt die Luft? Du Heiliger Geift, dich fühlen wir das Haupt
ummehen!« Hier erit fällt das Orcheſter ein, ein überrajchender
Effect, der mit größter technifcher Meiſterſchaft in Scene gejeßt
it. Geigen, Bratfchen und Gelli, vierfach getheilt, beginnen
leile ein zauberhaftes Schwirren, über welchem gehalteıte
Accorde der Flöten und Glarinetten und Fagotte wie jchwacer
Lichtſchimmer glänzen; das Schwirren wächſt immer braufender
an, das Licht wird immer intenfiver, zwei Pauken wirbeln leiſe,
beide auf C, zwei andere Schlagen in Biertelnoten, dann heftiger
in Achteln dazu; nun fallen im Fortiffimo auch vier Trompeten,
vier Hörner, drei Poſaunen, ein Tuba und ein Serpent
Ichmetternd ein, Chor und Orcheiter entladen fich in mächtigen
Donnerichlägen. Es veriteht fih, daß ein folcher Effect, nachdem
das Ohr eine Stunde in trodenem Vocalſatz geihmadtet, fo
fiher ift wie bares Geld. Er iſt an diejer Stelle auch äfthetiich
“berechtigt. Und dennoch gewannen wir von dem Ganzen feinen
tieferen Eindrud, feine Erregung, die über die rein finnliche
350 1864.
diejes effectvollen Contraſtes hinaugreihte. Der lange rein
pocale Theil bereitet dem Componiſten allerdingd den Boden
für jene Wirkung, aber er verräth auch dejjen ganze Blöße
im polyphonen Satz, feine Unfähigkeit, den Ausdruck religiöjer
Würde und Einfachheit feitzuhalten. Der Gejang der Apoitel
(zwölf Baſſiſten) iſt declamatoriſch trodener, meiſt unifoner
Sprechgeſang, muſikaliſche St. Nicolo-Mummerei; was die
Jünger (erſt allein, dann mit den Apoſteln) vortragen, klingt
jo unbibliſch modern, jo jentimental weltlih, daß wir nicht
da3 erite Pfingſtfeſt, ſondern einen Apoſtelgeſangs-Verein
»Biederjinn«e vor una zu haben glauben. Dieſe Ihmachtenden
Septimen: und Nonen:Accorde, dieſe VBorhälte und Modulationen
führen und weit weg von den ehrwürdigen Ambositätten des
Chriſtenthums, fie führen uns direct nad Wagner's romantischer
Wartburg, vor welcher der Baritonift Wolfram von Eichenbach
jeine liebegwunde Seele ausfingt. Die Ausführung des überaus
ſchwierigen Werkes war eine Feuerprobe für den Chor, und er
beitand fie redlich. Nur wären die Sänger, welche die » Stimmen
bon Oben« repräfentiren, beſſer auf die Eitrade poftirt geweſen,
unten fonnten fie eine »himmliihe« Wirkung unmöglich er—
zielen.
Schubert's »Nadhtigalle (Chor mit Clavierbegleitung)
wurde ſtürmiſch zur Wiederholung begehrt, eine Ehrenbezeugung,
die wir für unfern Theil mehr der Ausführung als der Com:
pofition zollen. Sp lange dieſe in Vierpierteltaft geht, ſchmeichelt
fie, ohne tieferen Eindrud, mwenigitend® durch melodidje Anmuth ;
mit dem trivialen Dreivierteltaft der Schlußftrophe und deren
unbegreiflichen Walzer-Accompagnement find wir aber geradezu
ind Wirthshaus verjegt. Bei feinem Tonmeiſter der Neuzeit
muß man jo vorfichtig in der Unterfcheidung des Einzelnen
jein, wie bei Schubert, denn fein Zweiter hat jo wie er,
im Bollgefühl seiner Kraft und feines Reichthums, jo flüchtig
ungleich producirt. Diefe ftrogende Gejundheit und fröhliche
Naivetät loden ihn oft bedenklih an die Grenze des Trivialen,
wie wir das mantentlih in feinen Finalſätzen wahrnehmen ,
können. Jene Gößendiener, welche auf den glorreihen Namen
hin alles Schubertihe gleihmäßig preifen umd bewundern,
Lachner's »Drchefter-Suiten«. 351
verfallen nur zu leicht in die Schon von Shafejpeare getadelte
Thorheit »tho make the service greater than the God«.
Orcheſter-Concerte.
Franz Lachner war von München eigens hiehergekommen,
um ſeine »zweite Orcheſter-Suite in E-moll« zu dirigiren. Mit
lang anhaltenden Beifall begrüßte das Publicum fein Erſcheinen.
Diefer Willlomm — Lachner hätte ihn überall verdient und
gefunden — Hatte in Wien doch noch eine intimere Färbung
und Bedeutung. Nicht allzu viele von den Zuhörern mochten
aus eigener Erinnerung der Zeit gedenken, wo Lachner in Wien
thätig war, aber der Beifall Klang, als wüßten ſie's Alle und
fühlten es lebhaft durch.
Bor AO Jahren war Lachner als junger Mufifer, unbe:
mittelt und unbefonnt, aus Baiern nad) Wien gewandert. Ein
günjtiger Stern hat ihn geleitet, und in Lachner's fchneller
Garriere und Doc endlich wieder einmal jehen laſſen, »wie fich
Verdienit und Glück verfetten«. Nicht lange nach feiner Ein-
wanderung ward Lachner Gapellmeifter am Kärntnerthor:
Theater (1826), daS er erit 1834 verließ, um einem Auf nad)
Mannheim und bald darauf nah München zu folgen. Was
Lachner seither in München für die Pflege claifiicher Muſik
gewirft hat, durch jeine eminente Dirigenten-Thätigfeit mie
durh das Anjehen feines Namens, iſt befannt. Seine eigene
Schöpferfraft jedoch jchien verfiegt, wenigſtens lag fie in jahre:
langem feiten Schlummer. Da jehen wir fie plöglich im neuer,
ungeahnter Frifche fich erheben und die Welt mit einer Nach—
blüthe überrafchen, welche die Ernte feiner jüngeren Jahre in
Schatten jtellt. Dieſe Nachblüthe find Lachner’3 zwei Ordeiter-
Suiten, die ganz Deutſchland mit aufrichtiger Freude begrüßt
hat. Wenn man erwägt, wie viel jchwieriger, begehrlicher und
verwöhnter das mufifalifche Bublicum jeit 30 Jahren geworden
ift, jo darf man die Aufnahme der zwei Lachner’fhen Suiten
wohl als den bedeutenditen Erfolg bezeichnen, welchen der
Componiſt überhaupt errungen.
352 1864,
Die neue »Suite« in E-moll ift der eriten in D-moll
(die im vorigen Jahre Deffoff zur Aufführung brachte) fehr
nahe verwandt. An Kraft und Originalität der Erfindung, an
Schwung der Durchführung erreicht fie, unjeres Grachtens, ihre
Borgängerin nicht, an Wohlgeitalt der Form und glänzender
Technik ift fie ihr ebenbürtig. Der erite von den finf Süßen
bringt nach einer bebeutfam vorbereitenden, Yanglamen »In—
troduction« eine Fuge, und zwar eine Doppelfuge, deren erites
Thema erit für fih durchgeführt wird, worauf das zweite
Thema auftritt und das erfte als Gegenthema mit durchführt.
Der mwuchtige Charakter der Themen und die conjequente contras
punktiſche Ausführung des ganzen Satzes erinnert (abgejehen
von der modernen Verwendung der Chromatif) an die typiichen
Vorbilder aus älterer Zeit. Diefem erſten Saß, der uns der
werthoollite von allen dünft, folgt als zweiter ein romanzen-
artiges Andante in E-dur, edel und gejangvoll, wenn auch nicht
gerade bedeutend. »Menuet« Tautet die nicht ganz zutreffende
Veberfchrift des dritten Saßed in H-moll, deſſen Rhythmus
und Tempo ihn eigentlih unjerer »Polka-Mazur« vindiciren.
Menn der Componift fih ded Namens fchämte, der Sache hat
er fih nicht zu ſchämen. Die Erfüllung der alten Suitenform
mit modernem Inhalt ift ‚ja das enticheidende WVerdienft der
beiden Lachner'ſchen Orchefterftüde. Wenn Bach's und Händel's
Suiten die Tanzformen ihrer Zeit (MAllemande, Sarabande,
Gavotte 2c.) in reineren, idealifirten Linien vorführten, warum
foll ein Componift von heute nit das Gleiche thun, wenn er
es eben mit feinem Schönheitäfinn vermag? Schon Beethoven
fonnte die alte Menuetform, wie fie Haydn benüßte, nicht
mehr brauchen; Lachner geht in der Modernifirung derfelben
noch einen ftarfen Schritt weiter. Der Satz ilt ſchlank gebaut,
bon anmuthiger, etwas tändelnder Melodie. Dad »Intermezzo«
it ein Alla Mareia mit gefälligem, intereffant harmonifirtem
Hauptmotiv und einem Trio in C-dur, deſſen theatralifches
Marſchthema unter den fortlaufenden Trilferfetten der Geigen
von unfehlbarem, populärem Effect ift. Der lette Sat lenkt
wieder in ftrengere Bahnen ein; an dem gedrungenen, poly:
phonen Styl des eriten Satzes anfnüpfend, wirft er ſehr günſtig
Berlioz' »Benvenuto Cellini.« 353
durch jeine rhythmiſche Lebendigkeit. Das ganze Werk offen:
bart, zumal in der contrapunftiichen Arbeit, die feite und
leichte Hand des Meiſters; die Inſtrumentirung glänzt durch
Wohlklang, Schattirung und unübertrefflihe Durchſichtigkeit,
man hört jedes Inftrument heraus. So empfangen wir in
Lachner's Suite einen anmuthigen Inhalt in meifterhaft gefügter
Form, geziert mit allen Reizen moderner und doch jolider
Orcheſtertechnik. Das Werk rührt nicht an die Tiefen der Mufif,
nicht am ihre legten dämonischen Kräfte, es entzündet weder
unfere Leidenjchaften, noch verklärt und jänftigt es deren heiß—
glimmende Aſche. Was Lachner’3 Suiten und bieten, ift ein
freundliches, wechjelvolles Bild reiner Muſik, einer Muſik, die,
gegen jede poetijche und philoſophiſche »Bedeutung« proteitirend,
in anſpruchsloſem Behagen fich jelbit zuzuhören fcheint.
Dann hörten wir Berlioz' Ouverture zu »Benvenuto
Gellini«, jener Jugendoper, die fait zwanzig Jahre nad
einem ſchlimmen Durchfall in Paris, vom Componiften neu
überarbeitet und in Weimar, dem mufifaliichen Zukunfts—
Mekka, aufgeführt wurde. Wir hätten lieber die Oper jelbft
ohne Duverture gehört, als umgekehrt. Aeußerſt empfänglich
für den blendenden, wenngleich gemijchten Reiz aller Berlioz'ſchen
Orcheſterwerke, haben wir der eriten Aufführung auch diejer
Sompofition erwartung3voll entgegengejehen. Wir fanden un?
bitter getäufcht: nicht nur die ſchwächſte, jtyllojeite Arbeit von
Berlioz trat und entgegen, fondern eine dieſes geiltvollen Com:
poniften fait unwürdige. Man halte nur die »Lear«-Ouverture
oder den »Römiſchen Gardinal« dagegen. Ja fogar die »Vehm—
richter« und »Waverley«, zwei Duverturen aus Berlioz’ früheiter
Zeit, ftehen in unferer Erinnerung muſikaliſch gehaltvoller und
einheitlicher da. Ein ſeltſames Intervallen-Stolpern und Schwanken
vertritt hier die Melodie. Die Reize der Inftrumentirung wirken
diesmal nicht, wie bei Berlioz' beiten Sachen, nad Einem Ziel
hin, in Einem ftarfen jtrömenden Zug; fie find vielmehr
machtlos verfplittert, wie verlorene Poſten auf unentſcheidende
Punkte geworfen. Manche Streden diefer Ouverture langen
und mehr wie ein bloße8 Probiren von Inſtrumenten und
Inſtrumental-Effecten, als mie eine organiihe Entwicklung
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 23
354 1864.
muftfalifcher Gedanken. Die »Gellinie-Duverture machte, troß
der äußerſt lobenswerthen Aufführung, auf das Publicum fehr
geringen Eindrud.
Neu war und Bargiel’8 »Duverture zu einem Trauer—
ſpiel«. Der Componift, ein geiftiger Stiefbruder Robert Schu—
mann’s und ein leibliher Clara’, verleugnet fein Vorbild
in feinem Takte. Die »Ouverture« ift von würdigem Ausdrud
und einheitlicher Haltung, formell unanfehtbar (bi auf den
unndthig angehängten Iang Hinfiehenden Schluß), im Detail
fein und anziehend, verlegend nirgends, wenn man allenfalls
von den unmotivirten Molfeihluchtsharmonien im Durd:
führungsiag abfieht. Im Ganzen ein fehr achtbares Werk, aber
mit größeren SIntentionen angelegt, als der Componift zu ver:
wirklichen vermochte. Bargiel hat feither zwei neue Ouverturen
geichrieben, die bedeutender ſein jollen; fein echtes und redlich
firebende® Talent verdient, in jeiner Weiterentwidlung nicht
ignorirt zu werden. — Haydn’s B-dur-Symphonie mit ihrer
liebenswürdigen FYriihe und Anmuth machte und das auf:
richtigfte Vergnügen; fie erfcheint im eriten Sag und Andante
ohne Zopf und Puder, mit Rojen in dem wallend blonden
Haar. Die philharmonifhe Hörerſchaft wurde troßdem erit
warm — und das bis zum Enthufiaamus — bei Mendelö-
john’? A-moll-Symphonie. Deſſoff und fein Ordeiter feierten
bier einen Triumph, den wir durch die beicheidene Bemerkung
feineswegs ftören wollen, daß fünftig die unmittelbare Aufein-
auderfolge von zwei Symphonien befjer unterbleiben würde.
Schumann’ »Lied beim Abſchied zu fingen« (Es
ilt beftimmt in Gottes Nath«, op. 74) hat in Mendelsſohn's
einfacherer, innigerer Compofition desjelben Gedichtes einen
Rivalen, den es aus dem Herzen des deutichen. Volkes auch
nicht für einen Augenblik verdrängen wird. Warmes Empfinden
durchdringt zwar auch den Schumann’shen Chor, allein für
die Einfachheit der ganzen muſikaliſchen Erfindung ſcheinen uns
der verwendeten Mittel immer noch zu viele und zuſammen—
geießte. Das Herauötreten eines Soloſoprans auf die Worte
»Scheiden, ſcheiden«, das aufdiinglide Genäfel der Oboen in
der begleitenden Harmoniemuſik und Mehnliches erfälten Die
Beethoven's Achte Symphonie. 355
ohnehin ziemlich temperirte Stimmung der Compoſition. Durch
reizende Klangwirkung beſticht das ſchwediſche Volkslied: »Der
Hirt«, das übrigens von der fünften Zeile an ganz den
Charakter des modernen, Jogar vom Opernityl angehauchten
Kunftliedes trägt. Beethovens achte Symphonie zündete
ungleich) weniger als bei früheren Aufführungen. Im Jahre
1818 hatte ein Rritifer der Allgemeinen Muſikaliſchen Zeitung
prophezeit, das Allegretto der ahten Symphonie werde immer
da capo verlangt werden. Im letzten Geſellſchaftsconcert geſchah
es unſeres Wiſſens zum eritenmal, daß dieje Prophezeiung nicht
eintraf. Das Tempo wurde allgemein zu raſch gefunden; auch
una erichien es fo. Director Herbed Hatte fhon im Jahre
1859, in dem eriten von ihm dirigirten »Gejellichafts-
concerte, dad Mllegretto etwas rajcher genommen als ge:
wöhnlih, ein WVerjuh, mit dem man fih noch befreunden
fonnte, da das traditionelle langiamere Tempo, an dem die
nambhafteften Dirigenten, Mendelsſohn an der Spige, ſtreng
feitgehalten hatten, anfing, allenthalben übertrieben zu werden.
Diesmal verfuhte Herr Herbed noch um einen Schritt weiter
zu gehen, ein jehr Kleiner Schritt vielleicht, aber er war ent-
fcheidend. Dies reizende Tonſtück — bei welchem jelbit der
Großmeiſter aller Bellimiften, Schopenhauer, auszurufen
pflegte, es mache vergellen, daß die ganze Welt nur Elend
trage — hatte diesmal jeine eigenthümlich vornehme, aus—
drudspolle Grazie eingebüßt.
Es ift übrigens Sehr erfreulih, daß die achte Sym:
phonie, die lange Zeit eine beharrlihe Zurüdiegung erfahren
mußte, endlich häufiger auf den Concert-Programm erfcheint.
Thatfählih Hat Dulibiheff vollitändig Recht, wenn er die
achte Symphonie »la moins goütee« unter den neun Schweftern
nennt. Sie wurde fo jehr ignorirt, daß mir in den Wiener
Eoncert-Programmen der Dreigiger- und auch noch der Vier—
zigerjahre die Baltoral- Symphonie faſt durchweg nur als
» Symphonie in F-dur von Beethoven« angeführt finden, gerade
als wenn Beethoven feine andere Symphonie in F-dur gefchrieben
hätte. Die achte Symphonie ſchien durch ihre eigenthümliche
Stellung PBublicum und Kritik mitunter zu verwirren. Ihrem
23*
356 1864.
bejcheidenen Umfang nah an die zwei eriten Symphonien
lehnend, ragt fie mit zahlreihen Charafterzügen (namentiich
des legten Satzes) in den Styl der dritten Periode. Es beein=
trähtigt fie die Nahbarihaft zur Linken, die fiebente Sym—
phonie mit ihrer überquellenden Blüthenfülle, und die Nachbar—
schaft zur Rechten, die gigantiihe »Neunte«. Obendrein bot fie
in ihrer rein mufifalifchen Objectivität, den bereits bilderſüchtig
verwöhnten Auslegern jo wenig Anhaltöpuntte zu poetiicher
Deutung — eine von ihren Wehnlichfeiten mit der vierten
Symphonie. Was für heterogene Erklärungen mußte fich dieſe
ipröde »Achte« gefallen laſſen! Lenz fieht darin lauter »Mili—
täriiched«, dad Finale ift ihm ein »mit höchſter Poeſie ge-
ichaffener Zapfenftreihe. Sein Landsmann Oulibicheff
leistet wieder in Auslegung des reizenden »Allegretto« das Un—
glaubliche, indem er es vollen Ernftes für eine beabfichtigte
Satyre auf Roſſini's Mufit hält, über welche Beethoven ſich
mufifaliich Iuftig machen wollte! Minder fühne Ausleger fuchten
frampfhaft in Beethoven’: Ausiprühen und Lebensumjtänden
nach einem poetiihem Sclüffel zu dem verſchloſſenen Sinn
der achten Symphonie, und ernenerten ihr Wehklagen darüber,
daß Beethoven fein angeblich gegen Schindler geäußertes Pro—
ject, durch Ueberichriften und furze Andeutungen die »poetiiche
Idee« jeiner Compofitionen zu bezeichnen, nicht ausgeführt habe.
Ich erlaubte mir einmal, das Nichtzuftandelommen diejes Planes
als ein wahres Glüd für die Muſik zu bezeichnen, — eine Steßerei,
für welche ich damals Mancherlei zu erdulden befam. Mit
wahrer Freude hat es mich erfüllt, in einer trefflihden Kritik
von Otto Jahn über die neue Beethoven-Ausgabe dieſelbe
Ueberzeugung ausführlich dargelegt zu finden. Jahn beleuchtet
dad Mißliche jenes (in Beethoven gewiß nur flüchtig aufge:
tauchten) Vorhabens, und erinnert an mehrere Beiſpiele. Sp
habe Beethoven einmal, von Schindler über die Bedeutung
der Sonaten in D-moll und F-moll befragt, geantwortet: »Leſen
Sie nur Shafeipeares Sturme. Jahn bemerkt hierüber,
» DaB gerade diejes Drama Beethoven zu ſolchen Schöpfungen
anregen fonnte, ijt freilich nicht ohne Intereſſe zu erfahren,
aber aus dem Shafeipeare das Verſtändniß derielben herholen
Beethoven’3 Achte Symphonie. 357
wollen, hieße nur die Unfähigkeit der mufifaliihen Auffaſſung
bezeugen.«e Auch wenn Beethoven einmal genauer citirt, wird
das Verſtändniß Dadurch nicht gefördert. Sein veriranter Freund
Amenda erzählte, daß Beethoven ihm gejagt habe, bei den
Adagio im F-dur-Quartett (op. 18, 1) habe ihm die Grabes—
jcene aus »Romeo und Julie« vorgeſchwebt; wer nun etwa
diele in jeinem Shakeſpeare aufmerkſam nadliejt, und dann beim
Anhören des Adagios fich zu vergegenwärtigen fucht, wird der
fih den wahren Genuß des Mufikitüces erhöhen oder ftören?
Man will willen, daß Beethoven ein borübergaloppirender
Reiter das Thema zum legten Sag der D-moll-Sonate, — das
ungeduldige Stlopfen eines in fpäter Nacht vergeblih Einlaß
Begehrenden dag Motiv im eriten Sag ded Biolin-Eoncertes
eingegeben habe. Möglich, daß ein prägnanter, finnlicher Ein—
druck im günftigen Moment bligartig ein charakteriftiiches Motiv
hervorrief; aber mit der künſtleriſchen Entwidlung dieſes Keims,
mit der jchöpferiihen Organifation des Kunftwerfs hat dieſe
äußere Anregung nicht? mehr zu thun; Die Thätigfeit des
Künstler bewegt fi) in ganz anderen Regionen, und wer da
glaubt, von dem zufälligen äußeren Anlafje aus laſſe fi) das
Kunſtwerk conjtruiren, der hat feine Ahnung vom künſtleriſchen
Schaffen. Sollte 3. B. Semand auf den Einfall kommen, den
eritten Sat des PBiolinconcerte® nah jeiner piychologiichen
Entwidlung und äußerlichen Gliederung aus jener Situation des
nächtlichen Klopfens abzuleiten und zu erklären, jo möge man
ihn in Gottes Namen klopfen laffen: die Thür des rechten
Verſtändniſſes wird ihm nicht aufgethan werden. »lleberichriften
und Notizen, auch authentiiche, von Beethoven ſelbſt herrührende,
würden das Eindringen in Sinn und Bedeutung des Kunſt—
werks nicht weſentlich gefördert haben; es ift vielmehr zu
fürdten, daß fie ebeniowohl Mißperftändniife und
Berfehrtheiten hervorrufen würden, wie die, melde
Beethoven veröffentlicht hate. »Darum fünnen wir zufrieden
jein, daß auch Beethoven feine Worte nicht ausgeſprochen hat,
die nur zu viele zu dem Irrthum verleitet haben würden, wer
die Ueberſchrift verftehe, der verſtehe auch das Kunſtwerk. Seine
Muſik jagt alles, was er jagen wollte, fie ift und bleibt der
358 1864.
lautere Quell, aus dem Jeder Ichöpfen kann, der empfänglich
iſt«. Solche Worte können nicht oft genug wiederholt, nicht
weit genug verbreitet werden.
Die in Wien noch nicht gehörte »Duperture zu
Shafipeares Julius Cäſar« (op. 128) ift eine von den
vier jelbitftändigen Duverturen, die wir von Schumann
befigen, und die er jämmtlih in den lebten Jahren jeiner
Thätigfeit zu BDüffeldorf ſchrieb (1851 — 1853). Die
»Julius-Cäſar«-Ouverture lehnt fih nicht jo eng, wie Beet-
hoven’3 »Coriolan«, an ihren dramatiihen Stoff; faum mehr
al3 der eherne Schritt des Hauptthemas und eine allgemeine
friegeriiche Färbung weiſt auf die große römische Tragödie hin.
Allerdings hat ein Freund Schumann's in den dreizehn jcharf
innfopirten Schlägen, die (Takt 109 bis 112) raſch zu dem
breit verhallenden Paukenwirbel auf © hinabfteigen, die dreizehn
Dolchſtiche in Cäſar's Bruft wiedererfaunt, und vielleicht zeigt
una auch nocd Jemand den Ausruf: »Et tu Brute«! in einem
fleinen veritedten Motiv. Die Ouverture jelbit fordert zu
feinerlei Icharfjinniger Deutung heraus; fie ift muſikaliſch Elar
und einheitlich, faßlicher al3 die Mehrzahl der größeren Or—
cheiterfjahen von Schumann. An Eigenart und NReihthum der
Erfindung fteht fie nicht in der eriten, faum in der zweiten Reihe
Schumann'ſcher Tondihtungen. Die Kraft, mit welcher Die
»Cäſar«-Ouverture einherjchreitet, ift mehr die beabfichtigte,
mitunter angeftrengte der dramatiichen Charafteriftif, al3 die
urfprünglihe des muſikaliſchen Gedanfenjtroms; eigenthümlich
weich wehen aus den fanften Nebenmotiven Ankflänge aus
»Manfred« und ⸗»Genovefa« herüber. Merfwürdig iſt die Auf:
faffung, Die aus der Schlußwendung ſpricht. Der Componiit
inmboltfirt den Untergang Cäſar's nicht durch eine Klage, jeine
Muſik jtirbt nicht mit ihrem Helden dahin, wie die jchmerzlich
verathmende Coriolan-Duverture: fie erhebt fih im Gegentheil
aus dem düſteren F-moll in daS helle F-dur und fchließt voll
Muth und Siegesfreude. ES iſt alfo ganz eigentlich eine re
publifaniihe Duverture, die den Sturz des gewaltigen Unter:
drückers al3 glücklich errungenen Sieg der Volföfreiheit feiert.
Die Duverture machte feinen lebhaften Eindruck auf das Publi-
Ouverture von R. Schumann. 359
cum; der Maßſtab, den wir aus den beiten Werfen Schumann’3
uns gebildet haben, it für Compofitionen, wie die »Cäſar«—
Ouverture, zu groß geworden. Was der Ouverture mwejentlich
fchadet, ift ihre derbe, undurchſichtige Initrumentirung, die mit
Blechmaſſen das Ohr betäubt und manch feinen Zug eritict.
Bon einem Meifter wie Schumann ift jedes größere Merk der
öffentlihen Kenntnignahme würdig; jelbit Compofitionen von
geringerem fpecifiichen Gewicht find uns hochwichtig als Mark—
jteine in Schumann’3 Entwidlungsgang. Weberdies find wir an
neuen Orcdefteritüden nicht jo reich, ald daß wir Compoſitionen,
wie dieſe »Cäſar«-Ouverture, ohne Nachtheil könnten beijeite
liegen lajjen. Aus diefem doppelten Gefihtspunft, nämlich der
vollftändigen Kenntnig Schumann’3 und der Bereicherung unseres
Orceiter-Repertoires, möchten wir auch die Vorführung der
drei anderen Duverturen angelegentlich befürworten. Es find
die zuerit die Dupderture zu Schiller’3 »Braut von Meifina«
(op. 100), die bedeutendite und ſchwungvollſte von allen, das
tragiihe Seitenftüf zum »Julius Cäfare. Danı die beiden
mit bellerer, heiterer Farbe gemalten Bilder »Hermann und
Dorotheae und »FFeit-Duverture«e. Die Duperture zu »Her—
mann und Dorothea« (op. 136, »ſeiner lieben Clara zuges
eignet«) ſchrieb Schumann »mit großer Liebe in wenig Stunden«.
Man fieht dem flüchtigen Werke allerdings die » wenigen Stunden«
an, aber auch die »Liebe« des Tondichters zu dem Goethe-
ſchen Idyll, welches er als vollitändiges Singipiel für die
Bühne componiren wollte Die »Feit-Duperture«, op. 123,
iit über da3 bekannte Rheinmweinlied: »Bekränzt mit Laub«
componirt; das Thema wird von den Trompeten wie eine
Thefis aufgeftellt, vom Orcheiter durchgeführt, am Schluß fingt
e3 der volle Chor, wie ein »quod erat demonstrandume«e. Die
»Feſt-Ouverture« iſt ein Gelegenheitsitüd, eine muſikaliſche
Huldigung, die Schumann beim Antritt jeiner neuen Stellung
dem Rheinlande brachte. Erfindung und Arbeit find unbedeutend,
doh hört fih das Ganze immerhin recht feitlih an. Möge
Herr Deſſoff dieſe drei Ouverturen gelegentlich hervorſuchen,
und nicht müde werden, uns neben dem Bewährten, für alle
Zeit Claſſiſchen, das der Grundſtock der Philharmonie-Concerte
360 1864.
bleiben muß, auch das Intereflantefte der neueren Orcheftermufif
vorzuführen. Unter Nicolai und Edert beharrten die »Phil—
harmoniſchen Goncerte« in einer allzu erclufiven Stellung; in—
dem fie das coniervative Clement, die Stabilität geradezu
betonten, bildeten ſie eine Art muſikaliſcher Pairskammer in
Wien, weldher die »Gejellihaftö-Eoncerte« mit ihrem flüffigeren
reformatoriihen Zug als mufifaliiches Abgeordnetenhaus gegen=
überftanden. Herr Deſſoff erfannte ganz richtig die nadtheilige
Stellung, in welde ein jo ftarres Feithalten die Philharmonie—
Goncerte allmälig bringen mußte; wir glauben mit ihm, daß
die Pairs einen ſehr geicheiten Einfall haben, wenn fie mit-
unter an Liberalität mit den Abgeordneten concurriren.
Die zweite Nummer des Philharmoniſchen Concerts war
Beethoven's Tripelconcert in C-dur, für Clavier, Violine und
Gello. Der erfte Sat beginnt mit einem wahrhaft monumentalen
Thema, und führt es breit und behaglich, mitunter großartig
duch. Im Berlauf wird der mufifaliihe Auffhwung immer
empfindlicher durch die unbequeme, an zahllofe Aeußerlichkeiten
gefnüpfte Form eines ſolchen Dreiconcert3 herabgedrüdt. Das
Finale hat nur noch einzelne ſchwungvolle Stellen, wie das
Bolero-Motiv (»⸗Ich verſprach Dir einmal fpanifch zu fommen«);
das Meifte darin ift »A la mode-Mufif«, jehr umständlich,
redſelig und reichlich behängt mit veraltetem Flitter. Die gleiche
Entſtehungszeit und unmittelbare Nachbarſchaft dieſes jehr um:
erheblichen Concerts (op. 56) mit Beethoven's großartigiten
Schöpfungen, der Eroica, der Sonata appassionata und der
Razumomwösfy’fhen Duartetten- Trilogie erjcheint mwunderlich
genug.
Virtuoſen.
Wir hatten bereits oft Gelegenheit, die Virtuoſität Karl
Tauſig's anzuerkennen. Daß wir noch im verfloffenen Jahre
diefe Wunder der Technik mit äfthetiichen Barbareien aller Art
gemengt hinnehmen mußten, zwiſchen Bewunderung und Abjcheu
gleihlam hin- und hergeworfen, wurde nicht verſchwiegen. Herrn
Taufig’3 jüngftes Concert im Redoutenſaal machte und jchon
Karl Tauiig. 361
eine DBerfeinerung und Abklärung feines Vortrags un:
zweifelhaft. Diele von uns mit aufrichtiger Freude begrüßte
Wahrnehmung fand eine noch weitere Betätigung in Herrn
Tauſig's jüngiter Production. Es haben nicht nur die grellen
Heußerlichkeiten feines Spield fi ſehr gemildert, aud) jene
jouveräne Genialität, die mit dem Kunſtwerke blafirt und vor:
nehm jpielt, es der eigenen Laune beliebig anpafjend, ift einer
erniteren Auffaffung gewichen. Daß fih Herr Taufig von dieſen
zum Theil an der Schule haftenden Ercentricitäten vollftändig
freigemacht, ift weder zu behaupten, noch war es zu hoffen.
Geltener als im verfloffenen Jahre, aber doch noch zu häufig
drängten zwei Gewohnheiten Tanfig’3 fih vor: der zu häufige
Pedalgebrauh und das gewaltjame Herausftechen einzelner
Töne. Er eröffnete jein Concert mit Chopin's jelten gehörter
B-moll-Sonate op. 4. Kann man diejfe Koppelung von vier
verichiedenen Clavierpiecen faum al& Sonate anerfennen, io
gehört fie doch zu Chopin's eigenthümlichiten und intereflanteften
Stüden. Nicht zu feinen beiten, denn dieſe bewegen fich aus—
ichlieglih in den knappen Formen der Mazurka, des Notturno,
der Etude. In den weiten Hallen der Concert: und Sonaten—
form (Chopin jchrieb zwei Concerte, vier Sonaten, ein Trio)
fühlt ih Chopin nicht heimiſch, es geht ihm darin ähnlich wie
jeinem Ascendenten Field und den Descendenten Stephan
Heller und Henjelt. Aus der B-moll-Sonate hat nur der
Trauermarfch Verbreitung gefunden, deſſen Klänge auch Chopin’s
Leiche nah) Pere Lachaiſe geleiteten.
Tauſig jpielte die Sonate fehr virtuos, aber ungleid im
Ausdrud, am beiten das Scerzo; im Trauermarſch ftörte das
conjequente Nachichlagen der Melodie nah den Baßnoten, mit
denen jie zufammenfallen fol. Das unglaublich Schwierige Finale
jpielte Herr Taufig in denkbar rafcheftem Tempo, mit einer
Gleichheit und Genauigkeit, als wenn Eine Hand es durch—
führte. Dies dämoniſche Stüd, mit feiner and Irre ftreifenden
Lebhaftigfeit, konnte faum einen anderen Gindrud als den der
Befremdung machen; ein leichtes Markiren der eriten Note,
von zwei zu drei, wenigſtens von vier zu vier Taften, hätte
immerhin einiges Licht in dies fluthende Dunkel gebracht. Fr
362 1864.
die Wahl der Chopin’ihen Sonate und der »Symphonifcden
Etudene von Schumann find wir Herrn Taufig aufrichtig
dankbar; es ift doch die eigentliche, wahre Aufgabe einer aus—
nahmsweiſen Virtuoſität, und bedeutende Compofitionen zum
Verſtändniß zu bringen, deren große Schwierigkeiten dem ge—
wöhnlichen »guten Spieler« unbezwinglich entgegenstehen. Die
»Etudes symphoniques«e (op. 13) heißen gegenwärtig in der
zweiten Auflage »Etudes en forme de Variations«; wir lieben
fie mehr unter dem alten als unter dem neuen Titel. Die
Etuden gehören zu den originelliten, geiltvollften Schöpfungen
Schumann’, und zu dem Bedeutenditen, was unter Beethoven's
Einfluß für die Erweiterung und Befeelung der Variationenform
geichehen ift. Das eigentlich Etudenmäßige, die Durchführung
einer ſchwierigen Figur, tritt nur bei wenigen in den Vorder—
grund, jo in der reizenden dritten Nummer, in dem Canon
(Nr. 4). Im Ganzen hat und Taufig’3 Vortrag der Schumann
ihen Etuden weniger befriedigt, als feine übrigen Productionen;
etwas Ungemüthliches, verftändig Kalte Tiegt überhaupt in
Taufig’3 Spiel; in Schumann’fhen Compofitionen tritt e8 am
empfindlichiten hervor. Wir Haben die »Symphoniſchen Etuden«
von Clara Schumann und Brahms weniger virtuos, aber
viel poetiicher und eindringlicher vortragen hören. Ganz ums
vergleichlich jpielt Taufig dafür die eigentlichen Bravourſtücke:
zwei »Balljcenen« von Rubinftein, eine zweite Nummer feiner
eigenen »Nouvelles Soirees de Vienne« (nad Strauß’ichen
MWalzern), endlih Liſzt's vierte »Ungariihe Nhapfodie«. Für
Liſzt's ungariihe Rhapſodien hatte ich ftet3 eine heimliche
Schwäche. Sie find zwar, dreizehn an der Zahl, jehr ungleich
im Werth, manche Höchtt bizarr und Außerlih. Allein in jeder
einzelnen ſteckt ein Stück reizend wilder Naturpvefie, und im
Zujammenhang betrachtet, bilden fie ein merfwürdiges Ganzes,
in welchem die Gigenthümlichfeit der nationellen Zigeuner:
Melodien mit Liſzt's glänzenditen laviereinfällen mitunter
wunderbar verwächſt. Liſzt Iegte in dieſe Reihe feiner Rhap—
jodien die dee eines »Zigeuner-Epos«, wie e3 die Volf,
da3 in all feinem Thun einer ungewohnten, ungebräudhlichen
Weiſe folgt, in einer ungewohnten, ungebräuhliden Sprade
Taufig. Liſzt. 363
und Form gejungen hat«. Liſzt's Buch »Des Boh@miens et de
leur musique en Hongrie« iſt befanntlih nur eine in Worten
breit ausgeführte Erklärung und Trandfeription de3 Inhalts
feiner »Rhapjodien«.
Liſzt's »Concert-Solo« entfeflelte alle Mächte der
Taufig’ihen PBirtuofität, gute und böje Dämonen. Diefe Com:
pofition ijt ein wahres Muſeum der jeltenften Schwierigfeiten
aller Art; Herr Taufig befiegte fie ſämmtlich mit erjtaunlicher
Sicherheit und Kraft. Das Stück intereffirt durch einzelne geiſt—
reihe Züge und Gombinationen, die aber gegen die Unergquid-
lichkeit des Ganzen nicht auffommen fönnen. Unichönes und
Dizarres drängt ſich jo dicht in dieſem Concertjolo, daß man
mitunter auf den Verdacht fommen könnte, der Spieler wolle
ſich vielleiht doch nur einen Spaß machen. Wir ziehen die
fleinite Transfeription von Liſzt diefer jelbititändigen Unmufit
vor. Herr Taufig zeigt ung übrigens feinen Meifter auch von
dejien liebenswürdigiter Seite, durh den Vortrag von Nr. 6
der »Soiréé de Vienne«e,. Die Gapricciod, welche Lilzt unter
diejem Gejammttitel über Schubert’ihe Walzerthemen jchrieb,
gehören zu dem Anmuthigiten und Glänzenditen unjerer con=
certanten Glaviermufif. Die reizenden Melodien Schubert’s mit
ihrem weichen, herzlihen Ton und Liſzt's reiche, gligernde
Ornamentif vereinigen fich hier zu eigenthümlichen, anmuthigen
Bildern aus dem Balljaal, deren aufgeregte Sinnlichkeit allen=
fall3 auch einiges muſikaliſche Cancaniren verträgt, Liſzt's Be:
arbeitungen der Schubert’ihen Tänze haben Herrn Tauſig
angeregt, in ähnlicher Weile einige Walzer von Johann Strauß
zu illuftriven. Wir finden die Idee dieſer » Nouvelles Soirde de
Vienne« (e3 find deren drei Hefte bei Karl Hadlinger er:
ſchienen) jehr glüdlih. Die Walzerthemen jelbit find uns liebe
alte Bekannte, und Tauſig's Bearbeitung läßt an glänzendem
Effect nichts zu wünſchen übrig. Das Vorbild Liſzt's, dem ſie
auch gewidmet find, blidt aus den Trandicriptionen unver:
fennbar; Tauſig jcheint von feinem Meifter den feinen Sinn
für den Clavier:Effect geerbt zu haben, zugleich) allerdings auch
deſſen Vorliebe für Gewaltſames und Bizarre. Es ijt mit:
unter wunderlid, was für Baradora er aus Strauß’ lieblich
364 1864.
einfachen Themen deducirt; ordentlich zuſchauen kann man, wie er
dem theuern Meiiter Johann hier und dort die »Milch der
frommen Denkungsart in gährend Dradengift verwandelt«.
Immerhin nehmen Taufig’3 » Strauß-Soireen« unter den neuejten
Bravourftüden einen vorzüglihen Plaß ein, und mer fie zu
bewältigen vermag wie Herr Taufig, kann der gleihen Wirkung
fiher jein. — Befonderd dankbar waren wir dem Concertgeber
für die Öffentlich fo felten gehörte Sonate von Beethoven
»Les adieux, l’absence et le retvur« (op. 81), deren ungemeine
Schönheiten (inöbejondere der beiden erjten Süße) wir ohne
die zwingende Heberfchrift vielleicht noch reiner genießen würden.
Der dritte Sag ift eine der glänzendften Aufgaben für den
Virtuofen, und ob diefer mehr als blos Birtuofe jet, fann er
in den beiden erften Stüden vollftändig darthun. Herr Taufig
fpielte die Sonate mit männlicher Energie und großem rhyth—
miihen Zug; daß fein Spiel mehr glänzt als erwärmt und
rührt, erfuhren wir demungeachtet auch hier. Die berühmte Stelle
im erſten Sab, wo Beethoven (um den Abſchied zweier Ber:
onen anzudeuten) viermal nad) einander Dominante und Tonica
zugleich anjchlägt, hat Herr Taufig im Vortrag gemildert, nicht
geihärft, was und eine angenehme Ueberraſchung war. Für
den Schlußeffect hatte der Concertgeber ſich eine Clavier—
Trandfcription des »Walfüren-Rittes« von Rihard Wagner
aufgeipart, auf welchen auserwählten Leckerbiſſen die Anſchlag—
zettel auch ganz beſonders aufmerkſam gemacht hatten. Die
wahrhaft demagogiihe Gewalt, mit welcher die glänzend in-
ftrumentirte Orcefterftüd die Maffen padt, geht in der Clavier—
bearbeitung gänzlich verloren. Man hört nichts als die dröhnend
aus der Tiefe herausgeftochenen Noten des Themas und ein
wildes Charivari darüber her. Das Publicum, das die vorher:
gehenden Nummern mit außerordentlichem Beifall aufgenommen
hatte, fhien an dem »Walküren-Ritt« fein Gefallen zu finden.
65 war falt betroffen. Daß das Unternehmen diefer Trans-
jeription felbft einem Virtuoſen wie Taufig mißlingen mußte,
war vorauszufehen. Was er geleitet hat, grenzte allerdings ans
Unmögliche; wir hätten gewünfcht, e$ wäre ganz unmöglich ge=
tvefen. Fräulein Deftinn fang zwei Lieder von Lijzt, (Lieder
Ernft Bauer. 365
von Liſzt Elingt Schon wie ein Widerſpruch), dramatiſche Aus:
renfungen einfacher Heine'ſcher Gedichte, arm an Erfindung,
reih an Declamationsfehlern ärgfter Art.
Als eine der liebenswürdigften Erfcheinungen der dies:
jährigen Concertſaiſon dürfen wir den Pianiſten Herrn Ernit
Bauer bezeihnen. Wie Pauer als Juror bei der Londoner
Weltausstellung die Tonkunſt in ihren materiellen Werkzeugen
ihügte, jo hat er lange zuvor für deren ideale Ziele geitrebt
und gearbeitet. Durch Anleitung und Beiſpiel, ald Lehrer und
Virtuoſe, hat Pauer ſeit zwölf Jahren in England die jegend-
reihiten Keime deutihen Mufiffinnes gepflanzt. Man weiſt ung
Deutihen mit Recht die geiltige Miſſion zu, »Cultur nad
Diten zu tragene, — der deutihe Mufifer muß auch noch für
ein gutes Stüd Weſten forgen. In England liegen wichtige
Streden muſikaliſcher Bildung noch hinreichend unbebaut, um
deutſchen Miffionären vollauf zu thun zu geben. Pauer tft
ein ſolcher Miſſionär befter Sorte: erfter Baftor der deuticher Ton:
funft in London, hat er unzählige Ladies und Gentlemen muſi—
faliih getauft und confirmirt. Für die deutſche Muſik in London
war es von heilfamiter Wirkung, daß Pauer durch feine Kennt-
niſſe, feine Thätigfeit und feinen Charakter fih raſch allgemeine
Autorität erwarb, denn der Engländer iſt autoritätsgläubig.
Auf die Autorität von Pauer's »Hiftorifchen Concerten« bin
haben fih nicht wenige Dilettanten in London mit Bach, Beet:
hoven, Schumann befreundet. An dies Alles dürfen und müffen
wir hier füglich erinnern, denn an die8 Alles dachte wohl
der Schöne Kreis von Zuhörern, als Sonntag Mittag?
die Schlanke Grenadiergeftalt mit dem treuherzigen Bli und
dem freundlichen Lächeln vortrat, die vor fo und fo viel Jahren
als »Ernftl Pauer« von hier in die weite Welt gezogen war.
Mir haben feinerzeit Pauer’3 Leiftungen gewürdigt und fünnen
nur hinzufügen, daß fih fein Spiel noch mehr confolidirt, ges
glättet und verfeinert hat. »Geflärt« kann man nicht jagen,
denn Pauer gehört zu jenen glüclichen Naturen, deren Anlagen
und Triebe von Haus aus in harmoniihem Ebenmaß ftehen,
deren Entwidlung ohne vulfaniiche Proceſſe, ohme verwirrende
Trübung vor fih geht. Klar, reinlich, überzeugend, nicht mit
366 1864.
hinreißender Gewalt, aber mit gemwinnenditer Anmuth ſpricht
fein Spiel zum Hörer. Es ift ftet® in maßvolle Empfindung
getaucht, die zwar den höchſten Aufflug nicht wagt, aber für
das Kräftige wie für das Liebliche den rechten Ausdrud hat.
Ueber allem, was Bauer unternimmt, ſchwebt der Geift ficheren
Gelingens, die Feſtigkeit erprobter Kunftanfchauung, der Froh—
finn eines mwohlbeitellten Gemüths.
Bon Herrn Julius Epftein hörten wir drei große ſym—
phonifche Eoncert:Gompofitionen von Seb. Bad, Mozart und
Schumann Seb. Bad’ von Streich-nftrunenten be—
gleitete® Concert in D-dur gehört zu den anmuthigiten und
ſinnreichſten Glavier-Gompofitionen des großen Meifters. Die
ideenreihen Tonipiele des erften Saßes, die ganze eigenthüm—
lich weiche, gegen den Schluß geradezu romantiihe Färbung
des Andante, die lebensvolle fnappe Rhythmik des Finale
wirken, jedes für ſich und als beziehungspolle Theile eines
organiihen Ganzen, entzüdend. Es iſt nicht zu leugnen, daß
nah diefem Badh’ihen Concert das Mozart'ſche in F-dur
eine erſchwerte Stellung hatte, fo jehr diefem der Klangreichthum
des ganzen Orcheſters und der melodiöſe, überwiegend homo—
phone Fluß des neueren Inſtrumentalſtyls zu ftatten fam. In
vielen Momenten reizend durch feinen Blüthenſchmuck, erichien
es doch in andern neben dem viel älteren Bach — veraltet.
Dad Concert ift 1784 in Mien componirt und wurde bon
Mozart bei den Krönungsfeftlichkeiten Leopolds II. in Frankfurt
gejpielt. Der erite Satz, deſſen marfirtes Hauptthema mit einer
Art Humoriftiiher Würde fih aus dem einfahen Aufiprung von
der Tonica in die Dominante aufbaut, benüßt dies Motiv jehr
glüklih und ift troß einiger Längen von feitlihem, Tebhaften
Eindrud. Die beiden folgenden Süße halten fich nit auf gleicher
Höhe. Das »Mllegretto« (ed wurde viel langjamer genommen
als dieje Bezeichnung vermuthen ließ) ift echt Mozart'ſcher
blauer Himmel, aber fo gänzlich unbewölft und unbewegt, daß
er und fat langweilig wird. Wir Kinder einer unruhigeren und
nachdenklicheren Zeit, für welde Beethoven den Baum der
Erkenntniß geplündert hat, fühlen uns von der langen Dauer
einer jo füßen, einförmigen Zufriedenheit beängitigt; unſer Ohr
Epftein. Derffel. Bendel. 367
wird undankbar wie Heine's Tannhäuſer und »jchmachtet nach
Bitternifien«.
Schumann’ Eoncertitiid (op. 52) » Introduction et Allegro
appassionato« obwohl nicht in der vorderſten Reihe von Schumann's
Merken ftehend, wirft überaus anziehend, häufig feſſelnd durch das
eigenthümlich ſchöne Halbdunfel der Stimmung, überall an
regend durch geiſtvolle Wendungen und Einfälle Die langſame
»Introduction« (G-dur) hindurd bewegt fih das Klavier fort-
während in breiten Arpeggien, über welchen in langgezogenen
Tönen abwechſelnd das Horn, die Klarinette, die Trompete
(pianissimo) die Melodie anftimmen. Das »Allegro«, E-moll,
ichließt jich mit einem fräftigen Thema an, defjen zweiten Theil
eine jener leidenfchaftlih aufraufchenden Clavierpafiagen bildet,
die Shumann fo eigenthümlich find. Das Ganze ift wirkungs—
voll, aus Einem Guß, mitunter allerdings etwas an Mendels-
ſohn's H-moll-Gapriccio und G-moll-Eoncert erinnernd.
Herr Derffel jpielte unter anderm E.M.Weber’3 Clavier—
Quartett, dad allerdings auch für jeden andern Concertgeber
feine glüdlihe Wahl geweſen wäre. Nicht bald iſt uns eine
größere Inftrumental-Compolition auß neuerer Zeit und von
fo vornehmer Herkunft in ſolchem Grad veraltet und über:
wunden vorgelommen.. Wenn jemand das Quartett zum erſten—
mal gehört hätte, er würde fi nur ſchwer überredet haben,
eine Compofition, und zwar eine ſehr gefeierte, desjelben
Meiſters vor fich zu haben, deifen wahrhaft geniale Opern in
ungebrochener Jugendfrifche noch heute auf allen Bühnen leben.
Ungleih geringere Befriedigung als Die Concerte
Epftein’3 und Derffel’d gab uns die Production eines
dritten Pianiften, der gleihwohl die beiden erjtgenannten an
virtuofer Technik entichieden überragte. Herr Bendel gab
ein viertes Concert mit der Tendenz, fih als Tondidter,
und zwar vorzüglih in größeren Formen, vorzuführen; wir
hörten den ganzen Abend Hindurh nur Bendel’ihe Com:
pofitionen. Schon in Herrn Bendel's eritem Concert gab
und die »Sonate mit Biolinbegleitunge Anlaß, an feiner
ichöpferiihen Begabung zu zweifeln Wir anerkannten
zwar den lobenswerthen Ernſt der Richtung und die Ver:
368 1884.
meidung alles blos Virtuoſenhaften, vermißten aber die eigen—
thümliche, individuelle Phyſiognomie, welche durh die jtarf
hervortretende Anftrengung, bedeutend zu jein, keineswegs erreicht
oder erſetzt erichien. Die von Herrn Bendel vorgeführten
größeren Gompofitionen haben uns in dieſer lleberzeugung voll—
ſtändig befräftigt; was fie neues hinzufügten, fällt nur belajtend
in die Wagichale der Negation. Wir hörten von Herrn Bendel’s
Compoſitionen (außer drei Xiedern) ein »Coneert symphonique«
für Glavier und Ordefter, das Kyrie aus einer »Missa
solennis«, endlich einen Felt: und Huldigungsmarſch »Kümitler-
weihe«e. Den in fih unklaren, wideripruchevollen Styl aller
diefer Werke erflären wir uns dadurch, daß hier eine mittel-
mäßige Begabung fih frampfhaft an dem Wagen Lijzt’3 und
Magner’3 feitzuhalten und hinaufzuſchwingen ſucht. Manches
Motiv, namentlich aus dem Concert, Elingt recht hübſch und
war nicht übel zu einem Eleinern, anſpruchsloſen Clavierſtück
zu verwenden; allein der Componiſt will durchaus größer
icheinen, als er gewachſen ilt. Das macht nun den peinlichen
Eindrud eines fortwährenden Redens und Dehnens; alle Inner—
fihfeit und Sammlung geht darüber verloren. Das »Sym—
phoniiche Goncert«e bewegt fih anfangs ganz im dem une
muſikaliſch rhetoriichen, bedeutungsvoll zerhadten Styl Wagner’s
und Liſzt's; an das Adagio Ichließt ſich nichtsdeſtoweniger ein
reiner Bravourwalzer. Das Finale beginnt als Mari, hetzt
dann dämoniſche und idylliiche Elemente wunderlich gegen ein-
ander und ſchließt in rein äußerlichem Polkaglanz. Die
effectvolle Behandlung des Glavierpartes verleiht übrigens
diefem Goncert ein unleugbared, wenngleih nebenjächliches
Interefie, da8 den beiden anderen großen Gompofitionen
mangelt. In dem »Kyrie« der Meile wechieln fortwährend
Stellen, die nah einfah kirchlichem Ausdrud ftreben, mit
Modulations:Erperimenten und Inftrumental-Effecten, welche
unverändert im »Tannhäufer« oder »Lohengrin- jtehen könnten,
vielleicht auch wirklich dort ftehen. Verhielt fih dad Publicum
zu diefen Tondichtungen ziemlich kalt, jo schien es von der
Schlußnummer, dem »Feſt- und Huldigungsmarich«, fait abge:
ftoßen. In der That war dies die bedenflihhite Gabe aus dem
Harfenconcerte. 369
mufiftaliihen Fülhorn Herrn Bendel's, und ein jchlimmes
Dmen wäre es, wenn der Gomponilt in dieſem rohen Effectitüd,
daß die Faßlichkeit einer Wachtparade mit der Prätenjion eines
erhabenen Myſteriums verbindet, wirklich erbliden jollte, was
er in der Ueberſchrift außipriht: eine »Künſtlerweihe«!
MWir zählen gewiß nicht zu den Verehrern des Tondichters
Liſzt; wenn aber ein hieſiges Blatt behauptet, Herr Bendel
habe alle Vorzüge Liſzt's, ohne defjen Fehler, jo mußten wir
feierlichit gegen eine folche Abihägung Liſzt's proteitiren.
Dasjelbe Blatt erzählt uns, daß Liſzt beim Anhören des
Bendel’ihen »Huldigungsmariches« (zu Liſzt's 50. Geburtöfeft
componirt) ſich darin wie in einem »muſikaliſchen Porträt« erfannt
und laut ausgerufen habe: »Ja wohl, das bin ih!« Diele
eritaunliche Begebenheit ift von folder Bedeutung, daß wir fie
nur noch durch die genaue Angabe vervollitändigt wünjchten,
nad dem wievielten Toaſt Liſzt diefen Ausfpruch gethan,
und ob er ih auch am folgenden Morgen noch in demjelben
Spiegel erkannt habe.
Zwei Harfenconcerte fanden jüngit in einer Mode ftatt.
Unwilltürlich fiel uns die Bibelitelle ein: »Ich haffe eure Feite,
das Spiel eurer Harfen mag ich nicht hören«. (Amos 5, 21.)
Die beiden Rivalen, Herr Jamara und Herr Dubeg, find
zwar anerfannte Virtuoſen auf ihrem Inftrumente, aber das
Inſtrument jelbit iſt fein rechter VBirtuofe. Die wahre Miſſion
diefes altehrwiürdigen Organes bleibt denn doch immer bie
Begleitung des Gelanged, außerdem gebührt ihm im Orcheiter
eine charakteriitiihe Stelle, deren Wirkſamkeit in neuerer Zeit
Berlioz gleihjam neu entdedt hat. Getrennt vom Gejang und
von der ftügenden Grundlage des Orcheſters oder eines anderen
begleitenden Inſtruments, allein auf ihre eigenen Tpärlichen
Mittel gewiefen, wird die Harfe immer auf ein engites Feld
muſikaliſchen Ausdruds gebannt jein. Will fie dieſes Feld über:
fchreiten, in dem Gebiet anderer Inſtrumente colonijiren —
wie das zu Goncertzweden gar nicht zu vermeiden iſt, — jo
tritt ihre Unzulänglichkeit nur um jo greller hervor. Töne, die
nur duch Nupfen und Reißen von Saiten erzeugt werden,
geitatten feinen gebundenen Gejang. Immer wieder auf ihre
Hanslid, Aus den Goncertiaale. 2. Aufl. 24
370 1864.
urjprünglihde Domäne, die Arpeggien, zurücdgedrängt, wirft Die
Harfe ald Solo-Inſtrument jehr bald monoton; ihr glänzen
der, rauichender Ton kann die feelenlofe, kalte Phyſiognomie
nicht verleugnen. Auch Herr Dubetz, der ohne alle Begleitung
jpielte, machte dieje Erfahrung. Das von ihm vorgetragene
Mendelsſohn'ſche »Lied ohne Worte« heftet an die Spike
arpeggirender Accorde eine gebundene fingende Melodie; Die
Harfe gab die Arpeggien prächtig wieder, verjagte aber den
Gejang. Den türfiihen Marſch aus den »Ruinen von Athen«
beeinträchtigte ein anderer Punkt, an dem die Harfe fterblich
it: die Schwäche und Unflarheit der tiefen Baßjaiten; die ftaf-
firte Melodie fiel wie in luſtig gligernden Tropfen herab, allein
der Baß wankte und ſchwankte darunter, wie es marjchirenden
Soldaten, und ſeien es jelbit Türken, nicht geziemt. Den beiten
Effect machte jedenfall der befannte »Sylphentanz« von God e=
froi, ein für die Harfe gedachtes und geichriebene® Bra=
vourſtück.
Alois Ander (F 12. December 1864).
Der Trauerglodenton, der in dieſem Augenblid die Be—
erdigung Ander's verfündigt, widerhallt tief und jchmerzlich in
jeder Bruft. Man darf kühn behaupten, daß daS Leidweſen um
den vortrefflichen Künftler und liebenswerthen Menſchen in Wien
ein allgemeines ſei. Nicht einmal Staudigl’3, des Vielver—
ehrten, Heimgang traf in ſolchem Grad Ichmerzlich und beftürzend;
der Tod hatte ihn mit Stumpfer Senje langſam zu Ende ge=
bradt, nachdem er der Kunjt und dem Leben längft verloren
war. Ander Hingegen, den viel jüngeren Mann, hörten wir
noh dor wenig Wochen in feiner Lieblingsrolle und jahen ihn
guten Vertrauens die Neife nach dem heilkräftigen Warten:
berg antreten. Die Nachricht von jeinem Tod fonnte nicht
unerwarteter fein. Die perfönliche, faſt familienhaft herzliche Zus
neigung, die das Wiener Bublicum von jeher für feine Theater:
Lieblinge hegt — ein traditioneller Charafterzug — war Ander
in einem ganz befonderem Grade zugewendet, in einer Allgemein:
Alois Ander +. 371
heit und Wärme, wie fi deren nur die größten, mit Wien
am längiten verwachjenen Kimftler des Burgtheater rühmen
fönnen. Ander hatte in Wien jeine Garriere begonnen, feinen
Ruhm begründet, die Wiener hatten ihn gleichſam -entdedt und
erfunden, fie haben ihn ununterbrochen und ausſchließlich be—
jeilen, ald einen der Ihrigen großgezogen, geliebt und ver—
hätichelt.
Den Freunden des Kärntnerthor-Theater ift der Abend
de3 22. October 1845 noch wohl erinnerlih, an welchem Ander
zum eritenmal die Bühne betrat. Ander’3 jchöner Tenor war
in Eleineren Gejellichaftöfreifen und im »Männergefangverein«
befannt geworden; Stimme, Intelligenz und eine ſehr ein—
nehmende Erjcheinung wiejen ihm den Weg zur Bühne Dem
energiichen und gewichtigen Einfluß des Ober-Regiſſeurs Franz
Wild gelang es, Auder zum Debut zu verhelfen. Die leifen
Befürchtungen einiger Freunde, wie das Wagſtück des noch un-
geſchulten, incorrect außiprechenden, gänzlich theaterfremden Ander
ausfallen werde, ihlug Wild mit dem Ausruf nieder: »Ich
jage euch, daß, jeit Wild aufgehört hat zu fingen (fich felber
jegte er bekanntlich immer an die Spige), Wien zum eritenmal
in Ander wieder einen großen dramatifhen Tenor befommt«.
Ander’3 Debut ald »Stradella« war ein Greigniß, mie es
jelten in den Annalen eines Hoftheaterd vorfommt. Ein jchüd)-
terner, junger Dann, der fih noch auf feiner Bühne verfucht
hatte, der weder von weit her kam, noch daheim auf der Leiter
fleiner Nebenrollen emporgeflettert war — er eridien auf dem
f. £. Hofoperntheater gleih in einer Hauptrolle ald Träger
einer neuen Oper. Der günftige Erfolg des Abends war ein
enticheidender und Ander jeither — dur 20 Jahre — der
Liebling des Wiener Publicums. Seine nächſten Aufgaben
bildeten gleichfalls Iyrifche Partien der deutſchen Oper, ein
Gebiet, auf welchem unjer Sänger ſtets feine liebenswürdigiten
Vorzüge entfaltet hat: Konrad in »Hans Heiling«e, Hugo in
Spohr's »Fauft«, Nadori in Seffonda«, Jvanhoe in » Templer
und Jüdin« u. f. w. Schon dieſe eriten Bühnenichöpfungen
Ander’3 machten den wohlthuendſten Eindriud, Seine Stimme
blendete nicht durch) Energie oder Größe, gewann aber um jo
24%
372 1864.
fiherer durh Schmelz und jugendliche Weichheit. Diejes blühend
Ihöne Organ, dem allerdings noch die methodiihe Schulung
mangelte und das einen leifen Nafalbeillang nie ganz verlor,
behandelte .der junge Sänger damald ſchon mit eritanmlicher
Leichtigkeit und Freiheit. Dabei Leuchtete jein dramatiſches Talent,
das fih in den folgenden Jahren nod zu ungleicd) größerer
Bedeutung entwidelte, bereitS in jenen eriten Rollen unverkenn—
bar durch. Mit der Höhe feiner Erfolge ftieg auch Ander’s Fleiß
und Kunſtſtreben. Als jeine eigentlichen, jedenfall bedeutenditen
Lehrer dürfen wir wohl die Haſſelt und Wild anfehen,
welche ihm beim Ginftudiren der Partien ummittelbar an die
Hand gingen. Mit gleichem Eifer arbeitete Ander an feiner
ziemlich dirftigen allgemeinen Bildung. Er erzählte ſelbſt in
ipäteren Jahren lächelnd, wie er damals anitatt aller anderen
Hülfsbücher ein Converſations-Lexikon faufte und es von An—
fang an durchzuleien begann. Sn feine vollite, reichite Blüthe
trat Ander mit Meyerbeer's »Prophetene. Er Hatte die ans
ftrengende, aus den widerftrebenditen Glementen zufammen:
gejeßte Rolle mit poetiihem Geiſt geitaltet, in Spiel und Ges
fang meifterhaft durchgeführt. Sie war es, die ihm auch auf
auswärtigen Bühnen große Erfolge und das unbeftrittene An—
jehen eines der eriten deutichen Sänger erwarb. Die Jahre 1850
bis 1853 bilden Höhepunft in Ander’3 Laufbahn. Jugend und
Talent, Ruhm, Gold, Frauengunſt — Alles fein Eigen! Sein
Leben glich einer Blume, die ſich auseinanderfaltet.
Ander’3 Stimme hatte noch nichts von ihrem jugendlichen
Schmelz und Wohllaut eingebüßt und war an Kraft und Aus:
dauer gewachſen. Der Zug edler, ritterlicher Männlichkeit bildete
fich immer jchöner und beitimmter aus; jelbit in den zarteften
Iyriichen Bartien, wie Nadori, Tamino, Gennaro, Arthur ver:
fiel er nicht in fpielende Weichlichkeit. Seine poetiihen Schöpfungen
breiteten fih num in reichem Kranz um den »Propheten« aus:
Raoul in den »Hugenotten«, Arnold im »Tell«, Edgar in
der »Lucia von Lammermoor«, Adolar in »Euryanthe«. Sie
zählen zu unseren fchöniten Erinnerungen. Der ganze Zauber
von Ander’s PVerfönlichkeit war darüber gebreitet und nahm
jeden Hörer willenlo8 gefangen. Zum eritenmal erlebten wir
Alois Ander F. 373
in den gedachten Rollen mehr als eine blos mufifaliihe Aus:
füllung der Partie; Gejtalten von hinreißender Lebenswahrheit
itanden vor und, mir liebten und haften, verzweifelten und
jubelten mit ihnen. Dan denfe an Raoul's Eintreten bei Valen—
tine und das erichütternde Liebesdueit, an die geheimnißtrunfene
jüße Beklommenheit Nadori’s, an Edgar’ Fluh und vor
Allem an das große Terzett in »Wilhelm Tell«. Noch nie
haben wir fo unmittelbar das tieffte Gefühl der Seele aus:
jingen hören. Der Ton war bier unendlich mehr, als das
funstreiche, wohlgeichulte Inftrument des Mufifers, er war der
durhlichtige Xeib der edeliten Empfindung. Wir haben in dieſen
Rollen fiegreichere Organe und gejchultere Geſangskünſtler ge—
hört, aber einer jo freien, harmonischen, aus ſich jelbit hervor:
blühenden Leiftung begegnen wir faum wieder.
Es lag etwas Näthielhaftes in Ander’3 Gewalt über das
Rublicum. Weder feine Stimme, noch weniger deren technijche
Ausbildung waren von ungewöhnlihem Glanz; e3 fangen neben
ihm deutiche und italieniihe Sänger, die ihn in beiden Stüden
entichieden überragten. Und dennoch wußte Ander in einer Weile
zu rühren und zu fefleln, wie es feinem jeiner Rivalen in Wien
gelang. Das Seelenhafte im Klang feiner Stimme, ſtets
ausitrömend in edlem, jchönem Ausdruck und überall getragen
von echt dramatiichen, lebenswahrem Spiel, erklärt dieie Ge—
walt. Ander's jchaufpieleriiche Begabung verlieh ihm ein außer:
ordentliche Webergewicht über die meilten feiner Rivalen und
Gollegen. Er war als Dariteller jo wenig wie al® Sänger
der Dann der überrafchenden Effecte, der auögeflügelten
Pointen, der raffinirten Contrafte; jein Spiel lebte, ohne zu
falicher Selbitjtändigfeit fi vorzudrängen, in charafterpoller,
harmonijcher Einheit mit und in dem Gejang. Stets war es
ein wirklicher Charakter, den er mit fiherem Blick erfaßte und
in fein gezeichnetem Fortichritt entwidelte. Ander nahm es jehr
ernit mit dem dramatiihen Theil jeiner Aufgaben; über die
Seihichte Johann's von Leyden und anderer Bühnenhelden war
er informirt wie der beite Hiftorifer. Das Enticheidende in
Ander’3 Leiitungen blieb aber ſtets das Harmoniiche, Edle des
Gejammteindruds, die quellende Gmpfindung und Liebens-
374 1864.
würdigfeit, die ihn nie und nirgends verließ, die jede Vor—
ftellung, in der er mitgewirkt, fofort adelte und ihn ganz
eigentlih al® den Poeten unter unferen Sängern hingeftellt
hat. ALS Goncertfänger wählte Ander am liebiten Beethoven's
»Adelaide«, die er mit ſchwärmeriſcher Empfindung fang.
Im Jahre 1853 traf Ander’s Gefundheit der erfte Stoß:
ein durch allzugroße Anitrengung herborgerufener Blutſturz.
Eine berühmte mediciniihe Autorität in Wien, deren Todes-
urtheile zum Glüd nicht immer tödtlid find, machte für alle
Zukunft das Kreuz über Ander’s Stimme. Demungeachtet trat
Ander nah mehrmonatlicher Krankheit unter unendlichem Kubel
als Lyonel in der »Martha« wieder auf. Der »Markt zu Rich—
monde war vom Publicum in einen förmlihen Blumenmarft
verwandelt, und das Tiichhen, an dem Ander mit Staudigl
aß, bog fih unter der Laft von Kränzen und Blumenfträußen.
Anders Stimme hatte in der mittleren und tiefen Lage faum
gelitten, nur die Höhe zeigte nicht mehr ganz die frühere Kraft
und Leichtigkeit, eine Einbuße, die im Laufe der folgenden Jahre
noch merfliher hervortrat. Die zweite Hälfte der Fünfziger
Fahre zierte noch eine Reihe der ſchönſten Gaben Ander’s.
Ja eine feiner berühmteiten und bedeutenditen Gejtalten fällt
in diefe Zeit: Wagner's »Lohengrin«, eine Leiltung, die für Die
glänzende Aufnahme der Oper enticheidend war und in gewiſſem
Sinn Under’3 »Propheten«-Ruhm in einer Schönen Nachblüthe
wiederholte. Bon da an wurden leider die Unterbrechungen
von Ander’3 Thätigkeit häufiger und länger. In den le&ten
Fahren bradte Ander noch an neuen Rollen: »Tannhäuiere,
den Herzog in »Nigoletto« (1860), Janko, in den »Sindern
der Haide« (1861), »Fauſt« von Gounod (1862), endlich den
Franz Baldung in Offenbach's »NRhein-Niren« (1864), die
legte und wohl undankbarſte feiner Rollen. Zu Anfang
diefes Jahres ſchien Ander leidlih gefräftigt; nad Ablauf
der Sommerferien fühlte er fich aber unfähig, zu fingen, und
mußte feinen Urlaub immer von neuem verlängern lafjen. Seine
Stimme war ihm nicht mehr zu Willen und fein Nervenleben
fo aufgeregt, daß ihn vor jedem Auftreten ein heftiges Fieber
fhüttelte. Mehrmals geichah es, daß Ander, völlig angekleidet,
Alois Under F. 375
im enticheidenden Moment nicht vor die Lampen treten wollte
und der Regiſſeur ihn fürmlih auf die Scene hinausführen
mußte. Sein Zuftand beichäftigte ihn auf das peinlichite, jede
Viertelftunde trat er and Clavier und probirte feine Stimme.
Oft ſuchte er fich jelbittäufchend Muth zu machen, und wir
hörten ihn in der legten Zeit gar häufig verfichern, er fühle
fich beiler bei Stimme alö je zuvor. Die böfe, nicht ruhende
Heberzeugung vom Gegentheil fam dann nur um fo heftiger
in ihm zu Worte Daß er aber nicht leben könne, ohne zu
fingen, fühlte Ander Mar und äußerte e8 mehr als einmal. Es
war vorauszuſehen, Dies Gefäß werde zerfpringen, wenn es nicht
mehr Elingt. Die tiefe Verftimmung, die Ander’3 nähere Freunde
jeit zweit Jahren an ihm bemerften, war nicht blos durch phy—
fiihe Störungen veranlaßt, fondern ebenfofehr durch anhaltende
Gemüthsaufregungen, welde mit der Kunst nichts zu ſchaffen
hatten. In dieſen legten zwei Jahren feines Lebens hat Ander
fein Buch mehr gelejen und fein Bild mehr gemalt — Be:
ihäftigungen, welche früher einen großen Theil feiner Zeit in
Anipruch genommen. Die Wände jeiner Zimmer hingen voll
von jeinen Delgemälden, meiſt Zandichaften, welche bei ziemlich
incorrecter Zeichnung doch ein ſehr glüdliches Auge für Farben—
Effect verriethen.
Ander’3 trauriger Ausgang ift ung in nur zu lebhafter Er—
innerung. Nach feinem unglüdlichen legten Auftreten als Arnold,
auf welchem er mit Gewalt bejtand, wurde Ander nad) der Waijer:
beilanitalt Wartenberg in Böhmen gebradt. Sein Zuftand
erwies fich bald als hoffnungslos; grauenhafte Nacht ſenkte ſich
auf fein Bewußtfein und der raſche Tod hat ihn wenigjtens vor
dem traurigeren Los bewahrt, das Scidjal feines Freundes
Staudigl zu theilen. Ander's beicheidenen, wohlwollenden Cha=
after ımd feine, gebildete Sitte brauchen wir faum ausdrüdlic
zu rühmen — feine Liebenswürdigfeit war jprihwörtlid. Die
Menſchen alle, die heute die jchneebededten Straßen entlang zu
Ander's Leichenbegängniß eilen, ihm im Herzen zahlloje Stunden
der Freude, Rührung und Erhebung dankend, werden aus Einem
Munde ihm jene Nachrede mweihen, die am Ende der lebte,
ehrendite Erfolg unserer größten Rolle tft.
1865.
Philbarmonifche Concerte.
Das Orcheſter des Hofoperntheaters gab unter Deſſoff's
Leitung ein eigenes »Philharmoniſches Concert« für die Er—
richtung des Schubert-Monuments. Drei von den Orcheſter—
ſtücken waren den Hörern ſo gut wie neu: zwei Zwiſchenakt—
Muſiken zu »Roſamunde« und die Ouverture zur
Oper »Alfons und Eſtrella«. Roſamunde war ein vier—
aktiges Drama der Frau Hermine v. Chezh, in welchem vieh—
hütende Prinzeffinnen, fühne Prinzen, gräßlide Tyhrannen,
Räuber, vergiftete Briefe 2c. vom Zufall weiblich durcheinander:
gehegt, einen romantischen Unfinn vollführen, den heutzutage
wohl kaum Jemand verdauen würde Und was veranlaßte
Franz Schubert zur Gompofition der Chöre, Tänze und
Zwiſchenakt-Muſiken in diefem Schauerdrama? Ein äußerer zu—
fälliger Anlaß, Diejelbe » Göttin Gelegenheit«, die ihm zeit-
lebens die koſtbarſten Schäße entlodte, um damit nur zu oft
hölzerne Puppen zu ſchmücken. »NRojamunde« war für das
Theater an der Wien, und zwar zum Benefice der Demoijelle
M. Neumann (fpäter verehelichten Lukas) beftimmt. Für die
hübſche Beneftciantin intereffirte fich gar zärtlih Herr Kuppel:
wiejer, Schubert’S Freund. Er vermittelte, daß Schubert
die mufifaliihe Ausftattung der »NRojamunde« übernahm und
in feiner wunderbar raſchen Vroductivität binnen fünf Tagen
vollendete. Bei der Aufführung im Wiedner Theater (am
20. December 1823) gefiel die Mufif jehr, ohne jedoch dem
langweiligen Schauspiel aufhelfen zu fönnen. »Roſamunde«
Schubert's »Roſamunde«. 377
wurde nach zwei Vorſtellungen für immer zurückgelegt. Auch
um die Muſik kümmerte man ſich nicht weiter, bis ſie jetzt,
alſo nach 42 Jahren, durch Capellmeiſter Deſſoff wieder
ans Licht gezogen wurde. Die Entreakts zu »Roſamunde«
gehören zu den intereſſanteſten und liebenswürdigſten Bekannt—
ichaften, die wir jeit langer Zeit im Concertſaal gemacht haben.
Nicht der (mitunter mißbrauchten) Pietät für Schubert’3 großen
Namen bedarf e8 zum Preiſe dieſer ZTonftüde, ſie über
jtrömen von der reizenden Melodienfülle, dem feurigen und doch
jo lieblihen Erguß feines Gemüthölebens. Namentlich der erfie
Entreakt iſt ein echter Schubert und, wie ums dünkt, der
werthvollſten einer. Ein marſchähnlicher Sag übergeht in einen
freien, dramatiſch Tchildernden Mitteliaß, der von dem tre—
molirenden Fis-moll-Accord an alle Reize der Schub ert’fchen
Romantik enthüllt. Die Anlehnung an einen bejtimmten Moment
de3 Dramas ift augenscheinlich, ohne daß fie jedoch den mit
dem Schaufpiel unbekannten Hörer in jeinem muſikaliſchen
Genuß verkürzt.
Das eigenthümliche, tief leidenſchaftliche Stüd jagt ung,
welh bedeutende dramatiihe Wirkungen Schubert Mufif
erreicht hätte, wäre ihr jemals eine halbwegd ebenbürtige
Dichtung entgegengefommen. Poetiſche Klöße, wie »Rojamunde«,
»die Zauberharfe«, »Alfonjo« und »Fierrabrad« mußten mit
ihrem Centnergewicht ſelbſt Schubert 3 Muſik rettungslos
zu Boden ziehen. Der Strom der Zeit ging darüber hinweg.
In unferen Tagen wagen fich rüjtige Taucher hinab, löſen den
funfelnden muſikaliſchen Schmuck von den verfunfenen Klögen
und retten ihn zur allgemeinen Freude wieder ans Tageslicht.
Minder energiih und bedeutend, dafür von einjchmeichelnder
Zärtlichkeit ift der zweite Entreaft, ein liedmäßiger Sag mit
zwei Trios, deren eines dem reizendften Wechjelgejang zwiichen
GSlarinette und Oboe bildet. Das Thema jcheint Schubert
beionders lieb gewejen zu fein, er hat es in das Andante jeines
A-moll-QuartettsS herübergenommen. Während Schubert in
dem erſten Entreaft ſich vollkommen frei gehen läßt, in der
Fülle jeiner reichbewegten Gedanfenwelt ſich nit an die
Grenzen einer Zwiſchenakt-Muſik bindend, behält er in der
378 1865.
Duverture zu »Alfonio und »Eſtrella« ftreng die fnappen
Formen der damaligen Duverturen. Nicht von hervorragender
Eigenthümlichkeit oder Größe, mit andern Schubert’ichen
Instrumental Werfen verglihen, macht doch ihr klarer lebhafter
Melodienfluß, mit dem effectvoll und glänzend aufftürmenden
Schluß, einen gemwinnenden Gindruf und eignet dad Stüd
ganz beſonders zur Einleitungsmufif.
Beethoven's Felt-Dupderture op. 124 (»MWeihe des
Hauſes«), eine der ſchwierigſten Orcheiter-Aufgaben und dadurch
zu des Meiſters Lebzeiten eine jeiner härteften Prüfungen,
wurde mit vollendeter Virtuoſität ausgeführt. Die Barifer,
welche mit fo viel Stolz auf den »premier coup d’archet«
ihrer Conſervatoires-Concerte laufchen, hätten vor diejen blit-
artig einichlagenden Eröffnungs-Accorden gehörigen Reſpect
befommen. Was die Ouverture jelbit betrifft, jo konnte das
Joſefſtädter Theater (zu deſſen Gröffnung im Jahre 1822 fie
befanntlich gejchrieben tft) in erlauchterer Weile gewiß nicht
eingeweiht werden. Ihre Sroßartigfeit in Styl und Dimenfionen
läßt faum vermuthen, daß es fi dabei um eine £leine Vor:
ſtadtbühne handelte, und das komiſche Mißverſtändniß Fétis',
der »die Weihe des Haujed« mit »dédicace du temple« über:
jegte, ericheint in dieſer Hinfiht jo ganz unvernünftig nicht.
Bei all ihrer grandiofen Haltung hat übrigens die »Feſt—
Duperture« meitaus nicht die frei und üppig dahinſtrömende
Sdeenfülle der Ouverturen zu »&gmont«, »Coriolan«, »Fidelio«
und ⸗Leonore«; vielmehr beitätigt fie jammt ihrer Fleineren
Vorläuferin (»Namenöfeier« op. 115), daß Beethoven in
allen Gelegenheits-Compoſitionen einen gedrüdteren, müh—
jameren Flug nimmt, wie gemwöhnlid. — Mit herzlihem Be—
bagen ließen mir hierauf Schubert’3 jugendlich romantiiche
»Duperture zu Fierabrad«e an und vorüberziehen. Sie war es
nicht, die ihn unfterblich gemacht, aber es tft doch ein Unſterb—
licher, der aus ihr ſpricht.
In dem vierten »Philharmoniſchen Concert« wurde eine
Duverture, »Safuntalae, von Karl Goldmarf zum eriten-
male aufgeführt und beifällig aufgenommen. Wir halten dieie
Gompofition für das -Beite, was der begabte und energiich
Goldmartk's »Sakuntalae. Rubinſtein's »Nixre«. 379
vorwärtsſtrebende Componiſt bisher geliefert hat. Friſch und
charakteriſtiſch in der Erfindung, von überſichtlicher Anlage und
feinem Detail, zeigt die Ouverture eine entſchiedene Klärung des
früher etwas mirren und wühlenden Talentes Goldmarf’s.
Nur wenige Stellen erinnern an feine ehemalige Dijjonanzen:
Liebe und pathetiiche Unklarheit. Die wirkſame, charakteriftiiche
Inftrumentation verdient umſomehr Anerkennung, al® Herr
Goldmark bisher wohl kaum in der Lage war, feine Orcheiter:
ſachen felbit zu hören. Was das Verhältniß der Compofition
zu dem berühmten indiihen Drama »Gafuntala« betrifft, jo
iſt es fein abhängige® in dem mißverftändlihen Sinne der
deicriptiven Muſik. Als Mufititüf an und für fi vollfommen
verftändlich und felbftitändig, nimmt fie von dem Gegenstand nur
die poetifche Anregung, die allgemeine Stimmung und Zocalfarbe
allenfalls die einfachiten Grundzüge der dramatiichen Peripetie.
Das letzte »philharmonifhe Concert« neigte ftarf zum
Cultus der Naturgeifter; es begann mit Niren und endigte mit
Elfen. Legtere jpendete Mendel3john mitfammt dem ganzen
»Sommernadhtötraume, die erfteren famen aus Rußland von
Anton Rubinftein. Ein Gediht von Lermontoff, »bdie
Nire«, hatte diefem Gomponiften Anregung und Stoff zu
einer Art dramatifirter Ballade für Altfolo, Frauenhor und
DOrchefter gegeben, welche dem Wiener Concertpublicum bisher
unbekannt war. Eine fchöne liebestolle Nire, welche, von Fluthen
umraufht, vom Mondlicht übergofien, die Leiche eines Helden—
jünglings zum Leben zurückzuküſſen fi) bemüht — dies gäbe
ein Bild (die Düffeldorfer Haben derlei gerne gemalt), das uns
den Inhalt der Nubinftein’fhen Tondichtung deutlicher und
vollftändiger erklärt, ald e8 Lermontoff's Gedicht thut. In der
deutfchen Ueberſetzung flingt das Gedicht, welches einen, viel-
verbrauchten Heine’fchen Stoff mit froftiger, fünftelnder Pracht
augeinander legt, hart und unbeholfen. Wenn die Nire folgende
Verſe immer und immer verwundert wiederholt:
»Dies brünftige Koſen, ich weiß nicht warum,
E3 läßt ihn fo falt und fo ſtumm;
Er ichläft, jein Haupt auf die Brut mir gelehnt,
Und im Schlaf er nicht athuret, nicht ftöhnt!e
380 1865.
jo mödhte man etwas ungeduldig ihr endlich zurufen, daß der
Mann aus dem einfachen Grunde »nicht athmet, nicht ftöhnt,«
weil er eben, wie die meijten Grtrunfenen, maustodt ift. Rus
binjtein hat aus dem Gedicht eine wohlflingende, abgerundete,
aber in feiner Weiſe hervorragende Compofition gemacht. Die
Muſik, die fih ungefähr in Tenıpo und Stimmung der Mendels—
john’ichen Melufina bewegt, anfangs jogar mit ftarfem Anklang
an das Hauptmotiv, entbehrt der Originalität. Sie ericheint
al? verjpäteter Nachzügler der mufifalifchen Loreley: und Niren-
Literatur, die Mendelsjohn, Schumann, Gade und Hiller ſchufen.
Mit Schumann’: zanberhaftem Nirenhor in »Page und
‚Königstochter«e erlaubt das Rubinſtein'ſche Stüf nit den
entfernteiten Wergleih. Rubinſtein's Niren drücken fih in
diejer conventionell gewordenen Loreleyiprache fein und gebildet
aus, ohne darin irgend etwas Eigenthümliches oder Bedeutendes
zu jagen; ebenjo iſt die umgebende Waſſer- und Mondſchein—
Decoration mit SHarfenarpeggien, Hornklängen, sordinirten
Violinen äußerjt jauber, aber nad) befannten Vorbildern ge:
malt. In formeller Hinfiht könnte man die Nopität für einen
Fortichritt des Componiſten anjehen, jo ruhig und mwohlflingend
fließt fie in mäßig geiteigertem, durch feine Crudität unter:
drochenen Verlauf dahin. Schade, daß diefer formelle Vorzug
bier ganz deö bedeutenden, eigenthümlichen Inhaltes entbehrt,
nicht3 von dem originellen erfinderifchen Geift verräth, welcher
die früheren Werke Rubinſtein's, wenn nicht gleihmäßig
erfüllt, doc ſporadiſch dDurhbligt. Wir hätten beim Anhören
der »Niren« nimmermehr auf Rubinftein gerathen, eher auf
Hiller, Gade, Neinede. Ob Rubinftein doch noch die Hoffnungen
erfüllen werde, die man jeit zehn Jahren auf jein Talent jegt ?
Er müßte fich beeilen, oder befjer, er müßte die Eile aufgeben,
mit der er jorglos, kritiklos in den Tag hineinproducirt, fich
fopfüber aus einer Gompofition in die andere ftürzt, feinem
Gedanken Zeit gönnt, außzureifen, feinem Werk die Mühe,
gefeilt und vollendet zu werden. Aubinftein hat noch immer
feine Tochdichtung geliefert, die in allen Theilen fih nur
einigermaßen auf gleiher Höhe erhielte, in ihrer Totalität be=
friedigte, den Stempel des Fertigen, Meifterhaften, Claſſiſchen
Duverture von Mehul. 381
(in des Mortes Jiberaliter Bedeutung) trüge. Noh immer
wechſeln Säge voll Schwung und Leidenfchaft mit matten all:
täglichen, — lebenftrogende Melodien mit verwajchenen, flachen
Phrafen, noch immer führen von einem glänzenden Einfalle
zum andern die miferabeljten Brüden, noch immer fchließt
unluftig, Schwach und banal, was friich und jchöpferiich be-
gonnen. Weder Rubinftein’® Opern (in ihnen ruhen die ſchim—
mernditen Juwelen feines Talentes), noch fein Oratorium ver:
mochten irgendwo feiten Fuß zu fallen, feine Orcheſter-,
Clavier- und Kammermufifen, überall mit lebhaftem Beifalle
begrüßt, behaupten (vielleicht mit ganz geringen Ausnahmen)
feine bleibende Stelle in den Repertoire; kurz, auf die viel-
verheißende üppige Blüthe diejes Talente will noch immer
die Frucht nicht folgen. Die »Niren« jchienen dad Publicum
ziemlich falt zu laffer.
Auf die Rubinſtein'ſche Novität folgte ein ehrwürdiges
Rococcoſtück, das durch fünfzigjähriges Liegen wieder zur No—
vität geworden iſt: Méhul's Ouvertüre »La chasse du
jeune Henri.« Sie ilt die noch heutzutage in ganz Frankreich)
populäre Einleitung zu einer Oper, die nicht ausgeſpielt wurde.
Es war im Jahre 1797, als Mehul’3 Oper unter dem ge—
dachten Titel in der Opera comique gegeben und die Duverture
mit jolhem Enthufiasnus aufgenommen wurde, daß jie zweimal
hinter einander geipielt merden mußte. Die Oper jelbit hatte
eine Epifode aus der Jugend Heinrich's IV. von Frankreich
zum Gegenftand. Was immer in jenen Revolutions-Jahren auf
einen König Bezug hatte, gerieth in die bedenklichſte Stellung
und wurde fofort Barteifache. Auch diesmal hofften die Royaliiten
einen Erfolg der Oper, während die Ptepublifaner, entrüftet,
daß man einen »Tyrannen« auf die Bühne bringe (feine
Tyrannei war befanntlich, Frankreich glüdlih zu machen), die
Dver von der eriten Scene an ununterbrochen auspfiffen, jo
daß der Vorhang lange vor dem Scluffe fiel. Um jedoch den
Eomponiften durch einen Beweis der allgemeinen Achtung zu
entichädigen, verlangte das Publicum fchließlich die Ouverture
zum drittenmal. Dies dürfte der erfte umd einzige Fall in der
Theater-Gefchichte fein, wo Ludwig Tieck's abitrule Idee, es
382 1865.
follten die Duverturen, da fie ja por dem Stück gar nicht
veritändlih jeien, ſtetts nach Ddemielben gegeben werden,
thatſächlich zur Ausführung kam. Seit jener erften Aufführung,
alio fait 70 Jahre Yang, hat fih Méhul's Jagd-Ouverture
ala Zwiſchenakt-Muſik in der Opera comique und als Lieblings—
nummer in den Concertprogrammen erhalten. Auch in Deutich-
(and wurde fie häufig geipielt und tet gern gehört. Wien
hörte fie zum erftenmal im jenem denfwürdigen Concert des
Hornilten Punto, das im Jahre 1800 im Burgtheater umter
Beethovens Mitwirkung ftattfand. Punto hatte Mehul’s
»Fagd-Symphonie« aus Paris mitgebraht und Ddirigirte fie,
jeine Zuhörer damit mehr verblüffend als erfreuend. »Kein
einziger Mufikverftändiger oder auch nur überhaupt gebildeter
Zuhörer fonnte fi) damit ausſöhnen«, berichtet ein Kritiker
jenes Goncertes und fährt fort: »Mehul ift nicht nur ein
Mann von Genie, ſondern auch von vieler Wiſſenſchaft, —
wie vermochte er es aber über fich jelbit, in dieſe jehr lange
Jagd-Symphonie außer dem jchredlichen, verworrenen Getöje
alle Arten gemeiner Jägermelodien, ja auch ganz Eleinlihe und
widerliche Malereien anzubringen?« Man war eben damals
gegen den Realismus in der Muſik und vor Allem gegen grelle
Snftrumentirung empfindlicher, als in fpäteren Zeiten. Heut—
zutage fönnen wir in der »Jagd-Ouverture« zwar feine geniale
Schöpfung erbliden — die Erfindung hat ganz die trodene,
verftandesmäßige Phyfiognomie der älteren franzöfifhen Muſik
— aber das einfache, idylliſche Andante ſpricht und recht artig
an, und dem Gffect des Lebendigen Jagdallegros mit dem Ge—
ſchmetter von fieben Waldhörnern kann wohl nur ein äfthetifcher
Griesgram fi) ganz verichließen. An zweiter Stelle ftand die unter
Mozart’3 Namen cireulivende Baß-Arie: »To ti laseio,
eara, addio«, die nad den vorhandenen Zeugniffen ohne
Zweifel von Mozart’ Freund Gottfried von Jacquin com:
ponirt und in Köchel's Katalog ald Nr. 245 umter den
»unterfchobenen Gompofitionen« verzeichnet ift. Der Streit über
die Autorfchaft hat übrigen hier nur hiſtoriſche Bedeutung.
Mozart könnte in ſchwächerer Stunde die Arie ebeniogut com=
ponirt haben, als Jacquin in einer guten. Wenn Otto Jahn darin
»Ruy Blade von Mendelsiohn. 383
wohl Mozart'ihe Wendungen, aber feinen charafteriftiichen
Zug ſeines Geiftes« findet, fo ftimmen wir vollfommen bei,
doch nicht ohne zu erinnern, wie viele echte Mozart’ihe Arien
(theatraliihe aus früherer Zeit, Concert: und Gelegenheits—
gejänge) wir befiten, in denen gleichfalE Mozart’ Geift nur
die allgemein reipectirte Bilitfarte »Mozart’iher Wendungen «
abgegeben hat. Die Hauptſache in bejagter Arie bleibt, daß
jie in ihrer breiten, Schönen Sangbarkeit dem Organ und Bor:
trag des Sängers ein günftiges Feld eröffnet. An Beethoven's
erite Symphonie wurden wir in diefem philharmonijchen
Eoncert gern erinnert. Wir find zwar durch Beethoven's fpätere
Symphonien jehr nachhaltig verwöhnt, trogdem jehen wir »von
Zeit zu Zeit« die alten gern. Melch’ bedeutende geichichtliche
Grinnerungen, welch’ fruchtbare Betradtungen über den Um—
ſchwung der mufifalifchen Anfichten knüpfen fich für jeden Hörer
daran! Oder gibt ed etwas Anziehenderes, als fi im Geilte
in die Zeit zurückzuverſetzen, da e8 noch feine »Eroica« gab?
Mendelsſohn's Duverture zu »Ruy Blade iſt ein
Gröffnungsftüd par excellenee. Als muſikaliſches Kunſtwerk
feine der »&oncert-Ouverturene Mendelsſohn's erreihend, hat
»Ruy Blad« in feinem jugendlichen Fortftürmen, jeiner glänzen:
den Nitterlichfeit doch einen Zug für fich, welchen weder der
märcenhaft vergeiftigte und vergeifterte » Sommernadtätraume,
noch die mondicheingebadete »Melufina«, noch endlich die düftere
Landihaft der »Hebriden« aufweiſt. Daß die Ruy Blas-Ouver—
ture äußerlicher, daß fie im eminenten Sinne theatraliſch iit,
nimmt ihr die Ebenbürtigfeit mit dieſen Concert-Duverturen,
wahrt ihr aber eine gewiſſe realijtifche Selbititändigfeit neben
diefen. Wir befennen uns zu einer Eleinen Schwäche für die
jugendliche chevaleresfe Energie im »Ruy Blas« gegenüber der
allzu weichen Sentimentalität mancher jpäteren, viel funitvolleren
Compoſition Mendelsfohn's; von »Jugendwerken« im gewöhn—
fihen Sinne ift ohnehin feine Nede bei einem Tondichter, der
mit zwanzig Jahren den »Sommernadtötraum« und die »Wal-
purgisnadht« geichrieben. Etwas abgeblaßt nahm ſich daneben
Cherubini's »Lodoiska--Ouverture aus, die wir troß ihres
großen dramatijchen Ernftes und des überaus feinen zweiten
3814 1865.
Themas den beiten Duverturen des Meiſters (Faniska« nament-
lich) nicht gleidhitellen können. Ueber die Mitte ihrer Entwick—
lung, an dem Punkte angelangt, wo man eine energiihe Steige-
rung und Erhebung erwartet, nidt die Ouverture geradezu ein
und fchläft einen längeren, paftoralen Schlummer, aus dem fie
endlich, wie von derber Hand gerüttelt, auffährt und in zwei
Sätzen zur Thür hinaus ift.
Eine jehr anziehende Novität war Julius Grimm's vier:
fäßige »Suite in Canonform« für Streidinftrumente. In—
dem dieſe Compoſition (die wohl richtiger mit »Symphonie« be=
zeichnet wäre) fich durchaus den Zwang der canonifchen Schreibart
auflegt und überdies auf jede Mitwirkung von Bladinftrumenten
verzichtet, Ichafft fie fich pofitive und negative Schwierigkeiten,
die zu bemältigen nur ein entjchiedene® Talent und große Ge—
wandtheit vermag. Beide Vorzüge muß man dem Componiften
ohneweiters zugeitehen. Seit langer Zeit hat und fein Erſt—
lingöwerf jo viel Achtung und Antheil abgezwungen. Die
canoniſche Imitation iſt durch alle vier Süße und ununter-
brochen durchgeführt (meift taftweile), aber mit jo viel Geihid
und Grazie, daß der Hörer davon nur den Neiz diejer tönenden
jeux d’esprit empfängt, das behagliche Vergnügen mufifaliichen
Vor- und Nachdenfens, ohne von der Schwere und Starrheit
der Regel irgendwie beläftigt zu werden. Grimm trägt feine
canonifhen Bande mit ungewöhnlicher Freiheit und Eleganz.
Er verwendet allerdings nur den Canon in der Octave, inner:
halb diefer Form bietet er aber jo viel Abwechslung ala
möglid. So führen im eriten Sag, einem in energifcher
Triolenbewegung aufitürmenden Allegro, anfangs die Violinen
den Canon mit den Bäſſen; fchon in dem gejangvollen zweiten
Thema ift er aber zwiichen die erite Violine und das Cello
verlegt, und zwar mit ſyncopirten Accenten, die an den pifanten
Neiz eines leichten Hinkens erinnern. Der zweite Sag, ein
reizended® Andante, ift für Soloquartett gejichrieben. Den
Geſang der Violine verfolgt canonifch die Viola, beide getragen
von Arpeggien des Bioloncell® und den einfachen Grundtönen
des Gontrabaffee. Das Andante erinnert an die föftlichen
»Ganons für den Bedalflügel«e von R. Schumann; ihm ge:
Nequiem von Schumann, 385
bührt eigentlich; das Verdienſt diefer ganz modernen Neugeftal-
tung alten Materiald, welche man kurz den gejangvollen
Canon nennen könnte und deren jchönjte Kunft es ift, die Kunft
zu verbergen. Der dritte Sat der Grimm'ſchen Suite (ein
Menuett), in welchem die erite Violine mit der zweiten den
Canon führt, bewegt fich jehr gefällig, insbeſondere hebt fich
das Trio in E-dur in fchöner Klangwirkung hervor. Stünde
der vierte Sat auf der Höhe der früheren, die er von rechts—
wegen jogar zu überflügeln hätte, jo ließe die Totalwirkung
nicht zu wünſchen übrig. Leider ermattet die Erfindungäfraft
de3 Componiften gerade hier, wo der ſchon etwas angeftrengte
Hörer einen tüdhtigen Schwung nad oben braudte. Das
Publicum blieb troßdem dem ganzen Werke günftig geftimmt;
ein doppelt ehrenvoller Erfolg für eine Compofition, die durch
ihre freiwillig angelegte muſikaliſche Rüftung fi förmlich gegen
jeden populären Erfolg verjchangt.
Singvereine.
Unfer Intereffe concentrirte ſich hauptſächlich auf Schu:
mann’ »Requiem«. Es ift in Tertauffaffung, Styl und tech—
niſcher Behandlung ein ergänzendes Seitenftüd zu der Meile
dieſes Tondichters, nur, wie und dünkt, in günftigerer Stunde
geihaffen.. Schumann’: Muje hatte zu jener traurigen Zeit,
da fie felbit der »ewigen Ruh'« bereit entgegenmwallte, der
glüdlihen Schöpferftunden nur wenige. Die geniale Uriprüng-
lichkeit, die gleichmäßige Lebenskraft, die feine früheren Ton:
Dichtungen durchdringt, muß man in Schumann’s Requiem nicht
erwarten. Dennoch fcheint e8 uns ein jehr merkfwürbiges Werk
und mehr al3 dies, ein tiefempfundenes, edles und eigenthüm—
lies. Die muthige, dabei von eitler Originalitätsfucht unbe:
rührte Ueberzeugungdtreue, mit welder Shumann aud in
der Rirchenmufif feinen eigenen Weg beibehält, fein eigenes
Fühlen und Denken ausſpricht, umbefümmert um traditionelle
Normen und Vorbilder, erfüllt und mit Verehrung und Freude.
Mag man auch Vieles in dem Requiem modern nennen, wir
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 25
386 1865.
haben nichts Unmwürdiges, nichts Unwahres darin vernommen;
Schumann zeigt, daß auch ein »moderner Menſch« würdevoll
und herzlich mit feinem Gott jprechen fann. Man vergleiche ihn
nicht mit Bach und Beethoven in ihren Kirchen-Gompofitionen,
Schumann ftrebt diefe jchwindelnde Höhe nicht entfernt an,
und eben weil er fih für die Kirche nicht größer ftredt, als er
gewachſen ift, weil er auch im Gebete fein Anderer ala Er
jelbft zu jein fih anjtrengt, fpricht fein »Nequiem« uns fo
innig überzeugend und menſchlich Shön zu Gemüth. Shumann
jucht die Wirkung feiner Kirchenmuſik weder in erftaunlichem
polyphonen Aufbau, noch in dramatiiher Malerei und neuen
Klangeffecten. Der Gejang, dem das Orcheiter fih durchwegs
beicheiden unterordnet, fließt einfach und finnig dahin, mitunter
freilih auch ſtockend oder jpärlih, dafür in anderen Momenten
zu boller, eigenthümliher Schönheit fih aufichwingend. Der
Ausdrud des Ganzen neigt mehr zu elegiiher Einkehr, zu
janfter Wehmuth, als zur Strenge und Erhabenheit. Schumann’3
Requiem iſt fein mufifaliiches Mauſoleum, deſſen fteinerne Züge
- und die furdhtbare Majeftät des Todes vor Augen ftellen, es
it ein NRosmarinftengel, aus deffen Duft Grabgedanfen mit
der geheimnißvollen Macht jchmerzlicher Erinnerung zu uns auf:
fteigen, vielleicht Niemanden an den falten- Triumph der Un—
iterblichfeit erinnernd, aber Jeden an dad, was er felbft verlor.
Der »Akademiſche Gejangverein« hatte die glückliche
Idee, und nicht blos eine umfangreihe neue Compofition, fondern
zugleich einen neuen Gomponiften leibhaftig vorzuführen. » Scenen
aus der Frithjofsfage« heißt die Tondihtung und Mar Bruch
der Componiſt. Als Jüngling mit dem Preis der Frankfurter
»Mozart-Stiftung« gekrönt, wurde Bruch zur weiteren Aus—
bildung Ferdinand Hiller in Köln anvertraut. Nachdem er
fih mit einigen kleineren Compofitionen hervorgethan, glücdte
e3 ihm, die Crlaubniß Em. Geibel’s zur Compofition der
»Loreley« zu erhalten. Geibel, der diefen Operntert befannt:
ih für Mendelsfohn-Bartholdy gedichtet und in großer Furdt
vor ſchlechten Componiſten jorgjam gehütet hatte, gab dieſem
jingiten Bewerber um feine Loreley Gehör. In den »Frith-
jofsjcenen« für Soli, Männerhor und Orcheſter befamen wir
Max Bruch »Frithiofsfage«. 387
nun das neueſte und nach allgemeinem Urtheil beſte MWerf des
jungen Componiſten ſelbſt zu hören. Es find ſechs Stüde aus
Eſaias Tegner’3 befanntem Gedicht, die dramatifchen Haupt:
momente der Erzählung. Die Compofition gehört jener Form
und Ausdrucksweiſe an, die unter Mendelsfohn’shem Einfluß
Schumann in feinen Chorballaden, Hiller in der »Loreley«,
Gade in »Erlkönigs Tochter«e ausgebildet haben. Namentlich
den beiden Leßteren iſt Bruch muſikaliſch nahe verwandt.
Er hat ein feines Verftändniß für alle Wendungen feine Ge-
Dicht und weiß für jede Situation harakteriftifche und wirkſame,
wenn auch nicht immer eigenthümliche Klänge zu finden. Sein
Ohr prüft wähleriih und ftößt fchlechterdings alles Rohe und
Triviale von fi; feine Hand formt und feilt auf das Sorg-
famfte. Der Charakter der Muſik ift durchwegs deutſch, nicht
jowohl in dem urfräftigen Sinn Beethoven’3 als in dem zarteren,
weichliheren der Mendelsſohn'ſchen Schule. Der durchaus
twohlgefügte Bau neigt mehr zu bequemer Breite, als zu ftraffer
Eoncentration. Ueberall zeigt fi große Formgewandtheit,
Sicherheit und genaue Kenntniß des mufifalifchen Effects. Im
Ganzen empfangen wir aus Bruch's Mufif mehr den Eindrud
einer feinen und gründlichen Bildung, als den einer fräftigen,
eigenthümlichen Individualität. Bruch behandelt den »Frithjof«
in Form und Färbung durhaus dramatifch, jelbit in den rein
lyriſchen Scenen wird der ruhige Fluß der Empfindung häufig
unterbrochen. Dies Untertauchen der Lyrik im die Unruhe des
Dramatifhen findet in den »Frithjofsicenen« ihren formalen
Ausdruck, insbefondere in jener zwiſchen Recitativ und Arioſo
ſchwankenden Melodienbildung, die wir au Schumann's Balladeıı
und noch marfirter aus R. Wagner’3 Opern kennen. Wir geitehen,
nur an einen jehr fparfamen Gebrauch diefer Miichform Gefallen
zu finden; lange fortgejegt, verfällt fie unleidliher Monotonie
und macht den Hörer, der nad abgeichloffenen Melodien, nad)
wirklihen Themen verlangt, unruhig. Hierin liegt das einzige
weientliche Bedenken, dad wir gegen Bruch's Gompofitionen
auszusprechen haben. Wo diefer ſchwankende Gejangityl, dag
uferlofe Melodiſiren ohne eigentliche Melodie, feiteren mufis
kaliſchen Gebilden Pla macht, da bieten ung die »Frithjofs—
25%
388 1865.
fcenen«e die meifte Befriedigung. Dahin gehört vor Allem
Ingeborg's erſter Geſang auf dem harakterijtifchen Hintergrund
des düftern Hochzeitömarjches, dann die ausdrucksvollen erjten
Strophen von »Ingeborg's Hlagene. Der »Tempelbrand« iſt
von einichlagendem Effect, werthooller jcheint und trogdem
der kurze einleitende Priefterdor in Es-moll. Den Chorjag für
Männerftimmen behandelt Bruch vortrefflich, mit großer Vorliebe
verwendet er nach Mendelsjohn’s Vorbild in der »Antigone« das
Unifono der Stimmen in vorwiegend recitativifhen Gängen.
Lachner's »Sturmesmythe«, die wir bereits aus Den
Concerten des Männergeſang-Vereines (1262) kennen, hat uns
diesmal ebenſowenig als damals erbaut. Schon die Wahl des
Lenau'ſchen Gedichts dünkt uns unglücklich; eine bildertriefende,
unnatürlich reflectirende Perſonification der Wolken als weinende
Töchter der eingeſchlummerten Mutter, des Meeres nämlich.
Dazu nun eine höchſt anſpruchsvolle und dennoch ſehr dürftige
Muſik. Nicht hervorragend, aber recht ſtimmungsvoll iſt C. M.
Weber's »Schlummerlied« über Verſe von Caſtelli. Wir
hoffen, daß nicht auf jedes fchlechte Gedicht verftorbener Poeten
eine entjprechende Verlängerung des Fegefeuers gejegt ift.
Die Feit-Liedertafel des Wiener Männergefang-
Vereins bradte eine größere Compofition von Engelberg:
»Moeten auf der Alm«. Wir fehen uns inmitten einer Geſellſchaft
junger Freunde, die auf einer Alpenpartie ihrer poetilchen
Begeifterung, je nad) Scene und Stimmung verjchieden gefärbt,
in Gitaten deutjcher LieblingSdichter Luft machen. Einleitung und
Schluß zu diefem kleinen Cyklus von Chören hat die ebenfo
verögewandte als notenfundige Hand Engelöberg’3 abrundend
hinzugefügt. Die Compofition ift die hübjchefte uns befannte
Anwendung der Ländlerform auf Chorgefang; hier zu tieferer
Empfindung fih ſammelnd, dort in heiterer Lebensluſt auf:
ihäumend, klingt jie überall friih, gemüthvoll und wahr, nirgends
in die Grtreme des Geſuchten oder des Trivialen verfallend.
Engelöberg, der feinen eriten rafchen Erfolg auf dem Gebiet
des mufifalifhen Scherzes errungen, hat bisher durch mehrere
ernſte Chöre, insbeſondere den jüngst erfchienenen »Heini von
Steyer« bewiejen, daß das Gebiet jeines Talents viel weiter
Berlioz »Hönig Lear«. 389
ausgeſteckt ſei. Die beneidenswerthe melodiöſe Ader, die Engels—
berg's humoriſtiſchen Chören ſo ſchnelle Beliebtheit verſchaffte,
ſtrömt auch in ſeinen ſentimentalen und zärtlichen Melodien.
Die wanderfrohe, ſtudentiſch glückliche Stimmung in den
»Poeten auf der Alm« erinnert uns unwillkürlich an Eichen—
dorff's Jugendnovelle »Dichter und ihre Geſellen. In jedem
diefer anſpruchsloſen Chöre ftedt ein Stück Jugend.
Geſellſchafts-Concerte.
Berlioz' Ouverture zu »König Lear« op. 4 (ſeit des
Componiſten Anweſenheit in Wien nicht wieder gehört) feſſelt
durch einen Zug von Großartigkeit und Pathos, welcher mit—
unter an Beethoven erinnert. Leife rührende Klagen und grelle
Verzweiflungsrufe fprechen hier mit ergreifender Wahrbeit zum
Hörer. Das Ganze wirft troßdem mehr befremdend und beun-
rubigend, als äfthetiich erfreulich und erhebend. Wie in den
meijten, insbefondere den früheiten Werfen Berlioz’, liegt auch
im »Lear« Erzwungenes, Leere und jelbit Triviales Dicht
neben den gewaltigiten Impulſen; ein leidenichaftlich bewegte
inneres Leben bringt e3 hier zu erjchütternden Ausrufen, aber
zu feiner zufammenhängenden Sprache.
Bon den drei Mufikitüden, welche dad Programm des
erften Geſellſchafts-Concertes bilden, war fein einziges
neu, jedes aber hatte eine Reihe von Jahren unberührt gelegen,
nach deren Ablauf ein Merk gleichſam als Halbnopität wieder
erwadt. So ift Gade's Goncert:Ballade »Erlkönigs Tochter«
feit ihrer eriten Aufführung im Sahre 1856 nicht wieder ge
geben worden, obwohl jie damals entjchieden gefiel. Andere
Novitäten konnten jih in Wien gleihen oder noch größeren
Erfolges rühmen und find trogdem ebenjomwenig tmiederholt
worden. Concert-Novitäten haben ein ungleich härtere 203,
ald die dramatiichen, Grringt eine Oper ihren anftändigen Er:
folg, fo darf fie auf mehrere raſch aufeinanderfolgende Re—
prifen zählen, deren jede den Hörern einige neue, früher über:
ſehene Vorzüge entdeden hilft und im ungünftigiten Falle
390 1865.
wenigftend als gerechte Appellation von einem unvorbereiteten
an ein »beijer informirte« Publicum auftritt. Fallen aber die
Würfel gleih auf den eriten Wurf günftig, fo fiedelt fih eine
Novität, wie Gounod’3 »Faufte u. dgl., vollitändig im Re—
pertoire feſt und ift binnen Jahresfrift den Hörern Note für
Note geläufig. Was gejchieht hingegen mit einer neuen Sym—
phonie, Duverture oder Kammermuſik? Sie wird applaudirt
und — ift nun für 10 biß 15 Jahre, vielleicht für immer todt.
63 fallen uns zur Noth ein bis zwei lebende Gomponiiten ein,
von denen größere Concertitüde mehr als einmal aufgeführt
find. Manche Novität wird bei Hellmeöberger drei» und vier—
mal probirt, ehe fie von den Spielern ganz gefaßt, anerkannt,
ja lieb gewonnen wird. Und das Publicum, welches nit das
feine Ohr, nicht die mufifaliihe Erfahrung diefer Herren befitt,
jollte das Stück auf's erſte Hören gleich fo vollftändig auf:
genommen und ausgefoftet haben, daß eine zweite Aufführung
Thorheit wäre? Könnte man doch nur mit der zweiten Auf—
führung anfangen! hörten .wir einen jungen Gomponiften
ausrufen, und er hatte Recht. Das jus gladii des Publicums
fechten wir nicht an, wohl aber die Uebung, eine wohlauf:
genommene Novität blos deßhalb, weil fie num feine »Novität«
mehr ift, zu den Todten zu legen. Unſere Concertprogramme
bejtehen faſt ausschließlich aus zwei Claſſen von Compofitionen:
claffifche, welche fortwährend, und neue, die niemals wieder:
holt werden. Wir möchten eine dritte Kategorie hinzufügen:
Wiederholung moderner Mufikftüce, die nicht an die claffiichen
Ahnherren reihen und vielleicht auch nicht auf die Nachwelt;
deren einfeitige, epigone Vorzüge aber für die Gegenwart
immerhin ihren Reiz und ihre Bedeutung haben. Von neueren
Somponiften iftt nur Schumann (nad) feinem Tode) durd
häufigere Wiederholungen geehrt, welche jegt den Charakter
der Negelmäßigfeit gewinnen. Und doch find aud von Schu:
mann’ Gompofitionen viele nah der erften Aufführung mit
Unrecht bejeitigt worden. Sollten »Page und Königstochter«,
die »Meſſe«, das »Nequiem« u. a. feine Wiederholung ver:
dienen? Was nicht an der erften Aufführung ftirbt, joll aud
nicht nach derielben fterben. Auf diefe Betrachtungen führt ung
Gantate von Bad. Symphonie von Echubert. 391
»Erlkönigs Tochter«,“) mit deren Wiederaufnahme Herr
Herbed recht that, obiwohl dad Stüd weder neu, noch von
Beethoven ift.
Sebaftian Bach's Bantate: »Gottes Zeit ift Die
allerbeite Zeit« gehört zu den in Deutichland befannteften
und populärften des großen Meiſters. Gedrängter und faß:
liher al die Mehrzahl der Bach'ſchen Cantaten, ftrebt dieſe
mehr nad rührendem Ausdrud, als nah Entfaltung reichſter
muſikaliſcher Kunſt. Von dem etwas trodenen eriten Chor
urtheilte Mendelsſohn, der begeijterte und trogdem nicht blinde
Bach-Verehrer, man könne denjelben allenfall3 auch einem an:
dern tüchtigen Gomponiften jener Zeit zutrauen. Die Bemerkung
ilt ganz treffend und ließe fi) wohl auf eine und die andere
Arie der Cantate ausdehnen. Dafür jchlägt das Unisono der
Bälle: »Beitelle dein Haus« mit einer Donnergewalt ein, die
nur in dem contraftirenden zarten Soprangejang: »Komm',
Herr Jeſus« ein ebenbürtiges® Gegenftüd findet. Die Cantate:
»Gottes Zeit« (von Bad jelbit »Actus tragieus« zubenannt)
bildet in ihrer düſtern, verwejungsichiwelgenden Frömmigkeit
ein volljtändiges Seitenftük zu den fürzlih hier aufgeführten,
noch bedeutenderen Gantaten: »Ich Hatte viel Bekümmerniß«
und »Liebiter Gott, wann werd' ich fterben?« Bach's Mufe
gleiht einer prachtvollen Paſſionsblume, welche in zierlich ge:
formtem Kelch die Kreuzigungswerkzeuge trägt. —
(Schubert’3 unvollendete H-moll-Symphonie). Unter den
fogenannten »Schubertfreunden« par excellence ftehen zwei
harafteriftiihe Gruppen hervor: die Sorglojen und die Hart:
nädigen, oder auch, phyſikaliſch geſprochen, die Gentrifugalen
und die Gentripetalen. Die erfteren lafjen ruhig Schubert's
Manuferipte nad allen Weltgegenden zerflattern; fie willen
oder mußten genau von irgend einer noch vorhandenen Oper
oder Symphonie (fie haben fie ja entjtehen fehen!), aber es
ftört ihre Seelenruhe nicht im mindeiten, wenn dieſe Schäße
um ein paar Gulden einem amerifanifchen Sammler, oder nod)
billiger, einem Käſehändler zufallen. Die Hartnädigen hingegen
*) Vergleide S. 9.
392 1865.
oder Gentripetalen haben zwei oder drei Perlen aus Schubert’3
Nachlaß in's Trodene gebracht, Halten fie aber vor lauter
Freundſchaft für den Weremwigten und lauter Verachtung der
Lebenden in irgend einem Koffer verfchloffen, mit deffen Schlüffel
fie fih zu Bette legen. Wir wollen Herrn Anfelm Hütten-
brenner, den Freund Schubert’3, feit geftern nicht mehr zu
der zweiten Claffe zählen, da er ja fchließlihh der Pelham'ſchen
Beredtſamkeit und Artigkeit des Hofcapellmeifter8 Herbed nicht
widerftand, der eigens nah Graz abgereift war, um eine
Hüttenbrenner’ihe Partitur für die Geſellſchafts-Concerte zu
acquiriren, und bei dieſer Gelegenheit — mie feltfam! —
auch ein lang gejuchtes Schubert’ihes Manufeript mitbrachte.
Wir können nicht enticheiden, welche von den beiden Compo—
fitionen die Angel und welche der Fiſch war, genug, daß
Schubert und Hüttenbrenner wie im Leben fo auf dem
Programm des legten »Geſellſchafts-Concertes« einträchtig neben
einander hergingen. Hüttenbrenner, der befanntlich zur Be—
rühmtheit de8 Schubert’fchen Erlkönigs viel beigetragen hat,
nämlich eine Bartie »Erlkönig-Walzer«, eröffnete dad Concert
mit einer Ouverture in C-moll, weldder man ein gewifle Tüch—
tigkeit der Arbeit nicht abjprehen kann. Nun folgte die Schu—
bert’ihe Novität, die einen außerordentlihen Enthuſiasmus
erregte. Es find Die beiden erſten Süße (Allegro moderato,
H-moll und Andante, E-dur) einer Symphonie, welche, feit
vierzig Jahren in Herrn Hüttenbrenner’3 Befig, für gänzlich
verfchollen galt. Die und vorliegende Originalpartitur, ganz
von Schubert’3 Hand, trägt die Jahreszahl 1822 und enthält
nebit den zwei erſten Sätzen noch den Anfang (neun Takte)
des dritten, eine® Scherzo in H-moll. Ob Schubert überhaupt
weiter daran gearbeitet, ift nicht zu eruiren. Möglich, daß
irgend Einer der »Sorgloſen« den Schlüffel zu diefem Räthſel
fennt, oder ein »Hartnädiger« ihn gar unter dem Kopffiffen
birgt. Wir müffen und mit den zwei Süßen zufrieden geben, die,
von Herbed zu neuem Leben ermwedt, auch neues Leben in
unfere Concertfäle bringen. Wenn nach den paar einleitenden
Takten Glarinette und Oboe einftimmig ihren füßen Geſang
über dem ruhigen Gemurmel der Geigen anjtimmen, da kennt
Symphonien v. Echnbert und Gherubint. 393
auch jedes Kind den Gomponiften, und der halbunterdrückte
Ausruf »Schubert!« ſummt flüfternd durch den Saal. Er ift
noch faum eingetreten, aber es ift, als fennte man ihn am
Tritt, an feiner Art, die Thürkflinfe zu Öffnen. Grflingt nun
gar auf jenen jehnfühtigen Mollgefang das contraftirende
G-dur-Thema der Pioloncelle, ein reizender Liedfag von faft
ländlerartiger Behaglichkeit, da jauchzt jede Bruft, als ftände
Er nah langer Entfernung leibhaftig mitten unter uns. Diefer
ganze Sag ilt ein ſüßer Melodienftrom, bei aller Kraft und
Genialität kryſtallhell. Und überall diefelbe Märme, derſelbe
goldene, blättertreibende Sonnenichein! Breiter und größer ent-
faltet fih da8 Andante. Töne der lage oder des Zornes
fallen nur vereinzelt in dieſen Geſang voll Innigkeit und
ruhigen Glückes; mehr effectvolle, muſikaliſche Gewitterwolken,
al gefährliche der Leidenſchaft. Als fönnte er fich nicht trennen
von dem eigenen ſüßen Gejang, ichiebt der Componiſt den Ab-
ſchluß des Adagios weit, ja allzumeit hinaus. Man kennt dieſe
Eigenthümlichkeit Schubert’, die den ZTotaleindrud mander
jeiner Tondichtungen abſchwächt. Auh am Schluſſe diefes An—
dantes Scheint fein Flug fih in's Unabſehbare zu verlieren,
aber man Hört doh noh immer das Naufchen feiner
Flügel.
Bezaubernd iſt die Klangſchönheit der beiden Sätze. Mit
einigen Horngängen, hie und da einem kurzen Clarinett- oder
Oboeſolo auf der einfachſten, natürlichſten Orcheſter-Grundlage
gewinnt Schubert Klangwirkungen, die kein Raffinement der
Wagner'ſchen Inſtrumentirung erreicht. Wir zählen das neu
aufgefundene Symphonie-Fragment von Schubert zu ſeinen
ſchönſten Inſtrumentalwerken und ſprechen dies hier um ſo
freudiger aus, als wir gegen eine übereifrige Schubert-Pietät
und Reliquien-Verehrung mehr als einmal ung ein warnendes
Wort erlaubt haben. —
Es gibt interefiante Goncertprogramme, die fi auf dem
Anfchlagzettel ungleich effectvoller ausnehmen, als fie und nad)
der Aufführung ericheinen. Dahin gehörte dad »zweite Ge-
jellihaft3-G&oncert« mit feiner Cherubini’ihen Symphonie
und Beethoven’: »Stephansmufife.
394 | 1863.
Eine große Symphonie italienischer Herkunft ift an fich
ſchon etwas Seltenes, die Cherubini'ſche war obendrein bis
heute in ein faft undurchdringliches Incognito gehüllt. Die
»Muſeums-Geſellſchaft« in Frankfurt Hat das Manufcript von der
Philharmonie Society in London erhalten und Herrn Herbed zum
Behuf der Aufführung mitgetheilt. Die authentifhe Gejchichte
jener philharmonifchen Gejelihaft (von ©. Hogarth) weiß
gar nichts von einer Cherubinishen Symphonie, fondern
nur don einigen Ouverturen und einer Cantate, welche Cheru-
bini für die Gejellfihaft componirt hat. Aus anderen zweifel-
lojen Daten läßt ſich übrigens faft mit Gewißheit folgern, daß
die hier aufgeführte Symphonie in D-dur (wohl die einzige
von GCherubini componirte) von ihm für die Philharmonie
Society gefchrieben und im Frühling 1815 in London dirigirt
worden ſei. Gedrudt ift fie niemald worden, doch Hat der
Componiſt ihren mwejentlihen Inhalt noch einmal — wir willen
nicht, ob früher oder jpäter — in einem Streichquartett ver:
wendet. Wer mit großen Erwartungen an diefe Symphonie
ging, wird eine anjehnlihe Enttäufchung erlebt haben. Es
bedarf der ganzen Pietät für den Namen des großen Opern:
Componiſten, um der Abwicklung dieſes zopfigen Gebildes
theilnahmsvoll bis zu Ende zu folgen. Kunftooll geflochten,
forgfältig gebunden, vornehm getragen — aber doch ein Zopf.
Hoffe Niemand der Ideenfülle und ſchwungvollen Energie aus
Cherubini’3 beften Opern hier zu begegnen. Er findet eine
Haydn'ſche Symphonie mit künſtlich vergrößerten Gliedmaßen
und vertrodneter Seele. Unſer Haydn, den Cherubini ſelbſt
als feinen muſikaliſchen Water verehrte, hat aud zu biefer
Symphonie einen fehr bedeutenden Alimentationd-Beitrag ge—
zahlt. Aber fo ſehr der ganze Bau und unzählige melodijche
Wendungen an Haydn erinnern, von feiner Friſche und feinem
ichalfhaften Humor ift nichts geblieben. Der Ernit des allzeit
pathetifchen Florentinerd wird hier, wo die Größe und Inge:
wohntheit der Aufgabe ihm einen gemwiffen Zwang anlegten,
zur Trodenheit und künftelnden Pedanterie. Unverkennbar iſt
jeine Anftrengung, fih aus dem wirklichen und dem Adoptiv:
Vaterland feiner Mufe, Italien und Fraufreih, zu deutſchem
Beethoven's »KHönig Stephan«, 395
Sthl herauszuarbeiten; die Spontaneität, die naive Urfprüng-
lichkeit des Schaffens ging darüber verloren. Einzelne inter:
ejlante Stellen laben den Hörer von Zeit zu Zeit, am Schluffe
bat er troßdem ‚das Gefühl, beinahe verihmacdtet zu fein.
Welche Erfrifhung breitete fih mit den erften Takten von
Weber's »Concertftüd« über den Saal! Herr Taufig fpielte
die reizvolle Compofition, und zwar — wie nicht anders zu
erwarten — mit vollendeter Birtuofität. Er jpielte mit den
Schwierigkeiten, aber auch ein wenig mit der Sade jelbit:
der Vortrag, geiftreich und eigenthümlich, hatte mitunter etwas
Zerriffenes, überlegen Blafirtes.
Bon bejonderem Interefle war die Schlußnummer: Beet:
hoven's Muſik zu dem Kogebue’ihen Feſtſpiel »König
Stephan«, oder wie der urfprünglide Titel lautete: »Ungarns
eriter MWohlthätere. Wir verdanfen Herrn Herbed die erite
volftändige Goncertaufführung tiefes Werkes, von dem bisher
nur einzelne Bruchſtücke aufgeführt und nur zwei Nummern
(Duverture und Feſtmarſch) gedrudt waren. Erſt in der neuen
Gefammt- Ausgabe Beethoven’3 (von Breitlopf & Härtel) hat
nun auc dies Feitipiel feinen ihm gebührenden Platz gefunden.
Die Veranlaffung dazu war befanntlid die Eröffnung des
deutihen Theaters in Belt im Sahre 1812. Man Hatte
Kotzebue mit der Abfafjung einer Trilogie aus der ungarifchen
Geſchichte beauftragt und Beethoven mit der Compofition der
Mufikitüde im Vor: und Nadipiel. Das einaftige Vorſpiel
mit Chören, das die Feltvoritellung am 9. Februar 1812
eröffnete, war »Ungarns erfter Wohlthäter« und ftellte
König Stephan I. in den wichtigſten Momenten feiner Regie:
rung dar. Das eigentlihe Drama, welches Kotebue unter dem
Titel »Bela’3 Flucht« verfaßt hatte, konnte aus verichiedenen
Nücfichten nicht gegeben werden; es wurde dafür »Die Er:
hbebung von Beit zur königlichen Freiltadt« (auß der
Geſchichte des Jahres 1244) jubftituirt. Hierauf folgte das -
Nachſpiel mit Gefängen und Chören, »Die Auinen von
Athene. Die Mufif zu Teßterem, durch häufige Goncertauf:
führungen befannt, Steht nicht nur an äußerem Umfange, jon:
dern auch an muſikaliſchem Werthe hoch über dem »König
396 1865,
Stephan«. Stüde von der hinreißenden Wirkung des Derwiſch—
Chores oder des Türfenmariches aus den »Ruinen von Athen «
wird man in »König Stephan« vergeblich ſuchen. Beethoven
hat das Worfpiel ungleich flüchtiger behandelt, die Muſik mehr
decorativ als jelbititändig verwendet; feine volle Kraft jparte
er für die lohnenderen Aufgaben des Nachſpiels. Im »König
Stephan« jehen wir nur die Tage ded mufifaliichen Löwen,
im Nachipiel diefen felbft. Um Beethoven’: Mufif zu »König
Stephan« gerecht zu beurtheilen, darf man feinen Augenblick
auf deren beitimmten theatralifchen Zwed vergeffen. Die
Mufit mußte fih Hier. in kleinen und möglihft populären
Formen bewegen und hatte mehr die Beltimmung, eine Reihe
raſch aufeinanderfolgender tableauartiger Scenen zu illuftriren,
als eine eigentlich dramatiihe Entwidlung mit vollem Lebens—
hauch zu erfüllen. Die abicheulichen Verſe Kotzebue's konnten
den Gomponiften unmöglich begeiltern, und der Snhalt des
König Stephan« war jo ausfchlieglih ungariih, daß Beet—
hoven gar nicht hoffen durfte, es werde feine Arbeit über
jenen Feitabend hinaus und vor dem nichtsungarifhen Bublicum
Europas ihr Leben felbititändig fortfegen. Wir müfjen ung
aljo beicheiden, eine raſch hingeworfene Gelegenheitämufif
Beethoven’s zu hören, und das bleibt unter allen Umftänden
ein micht zu verichmähender Schatz. Obendrein ftammt dieſe
Gelegenheitsmufif aus der frifcheften, üppigiten Periode des
Meifters (fechite und fiebente Symphonie). In der Ouperture
pulfirt ein rajches, fühnes Blut; die wunderlich zerhadte Form
läßt aber feine einheitlihe Wirkung auffommen. Einfach, wohl
zu einfach treten die beiden erften Männerchöre auf, Eleinite
Abichnigel von Beethoven’3 Purpur. Der Frauendhor hingegen
mit feinen zierlihen Flöten-Guirlanden ift von bezaubernder
Lieblichkeit. Der Feſtmarſch imponirt nicht durch Neuheit der
Motive, aber durch eine gewiſſe großartige Popularität, wie
fie neben Beethoven fein Zweiter in feiner Gewalt hatte. Der
jehr furze »religiöfe Marſch« fällt daneben beträdtlid ab.
Was in der Concertaufführung am unwirkſamſten bleibt, find
die rein melodramatifchen Partien; an Ort und Stelle mußte
die mufifaliihe Begleitung der »Bifion Stephan’s« fehr bes
Quartett von Rubinſtein. 397
deutend wirken. Der in charakteriitiihen Cſardas-Rhythmen
aufjubelnde, beinahe ungariſch-deutſch declamirende Schlußchor
mit feinen gellend hohen Soprantönen und raufchendem Or:
cheſter Schlägt tüchtig ein; wir fönnen und den Enthufiasmus
des magyarifchen Publicums von 1812 lebhaft vorftellen. Bei
aller bewundernden Anerkennung der theatraliihen Zweck—
mäßigfeit diejer Feſtmuſik wird man doc nicht leugnen können,
daß fie im Goncertjaal nur geringen Eindrud madt.
KHammermulik.
Hellmesberger’3 dritte Quartett-Soiré bradte
ein neues Clavier-Quartett von Rubinftein (C-dur, op. 66).
Das Thema des erften Satzes iſt von hinreißender Schönheit.
Sn der Ausführung macht der Componift beimweitem nicht
daraus, was man erwarten durfte, troßdem bleibt der
Total-Eindrud des Satzes, der nah mancherlei Stodungen
und ımbebdeutenden Phrafen fih zum Schluſſe wieder auf:
zuſchwingen mweiß, ein günftiger. Minder bedeutend, doch
von rafhem Zug und pridelndem Eſprit ift das Scherzo. Von
da geht es, wie gewöhnlich bei Aubinjtein, ftufen= und ter:
raffenweije abwärts. Das Auditorium, daS die beiden erften
Sätze lebhaft beflatichte, nahm die beiden leßten mit eifiger
Kälte auf. Das langgeitredte Adagio gleicht einer Wüſte, in
welder uns nur jelten und von fern der warme Ton einer
menſchlichen Stimme grüßt. Doch iſt es immerhin noch von
einer gewiſſen düfter-melandoliihen Stimmung angehaudt. In
dem Finale aber finden wir gar nichts mehr, an was wir una
flammern könnten, weder mufifalifche Erfindung, nach poetifche
Stimmung, weder glüdlihe melodiſche Einfälle, noch kunſtvolle
Arbeit. Das Ganze ift roh und reizlos, wie in verdrießlicher
Eile hingeworfen, damit doch das Quartett in Gottes Namen
einen Schluß habe. Mit diefem kurzen Bericht über Aubin-
ftein’3 neueſtes Werk haben wir leider die Biographie faſt
aller feiner mehrjägigen Gompofitionen gejchrieben. Wir kennen
feine einzige die, durchaus auf gleihe Höhe ſchwebend,
398 1865.
al3 Ganzes ſchön und bedeutend heißen dürfte Rubinſtein's
Erfindung gleicht einem raſch und glänzend auflodernden Feuer,
da3 jchnell erliiht. Seine Kunſt und Ausdauer reihen niemals
aus, dies Erlöfchen zu hindern, und feine Selbitkritif jagt ihm
niemals, daß es längft nur glimmendes Gebälf oder todte
Aſche ift, was er, unbefümmert fortichreibend, dem Anfangs
entzücten Hörer bietet. Wie jchade, daß Rubinftein Alles immer
nur dem »Genie« anheimitellt, dad er wild und unmwillfürlich
umberjagen läßt. Das Genie muß das Kunſtwerk beginnen,
aber nur die Arbeit vollendet e3.
Die Allman'ſchen Soncerte und Gar-
Lotta PRatti.
So wären denn auch bei uns die berühmten Ullman’ichen
Wanderconcerte ind Leben getreten. Außer ihrem Zeititern,
Garlotta Patti, und den ihm folgenden heiligen drei Königen
der Suftrumental-Virtwofität, Vieurtemps, Piatti und Jaell,
interejjirt uns noch die ganze Form dieſer Unternehmung an
ih. Sie iſt etwas durchaus Neues und Fremdartiges. Durch
ihren eminent gejchäftlichen, alfo ungemüthlichen Charakter und
das große Geräufh, mit dem fie allerorten einzieht, hat
Ullman’3 Concertgeſellſchaft fih in Deutjchland zahlreiche
Gegner gemadt. Auch bier hörten wir fie täglid mit ben
Schlagworten »Schwindel«e und »Humbug« von vornherein
und ungehört verdammen. Die Sade ift wohl werth, rubiger
betrachtet zu werden. Wir glauben, daß man über Schwindel
und Humbug nur dort flagen kann, wo eine Täufchung, eine
Hebervortheilung des Publicums jtattfindet. Dann find Ullman’s
Goncerte alles Andere eher, ald ein Schwindel. Sit und doch
nirgends ein Concertunternehmen vorgefommen, dad dem Bus
blicum für fo geringes Geld eine jolche Serie glänzender Namen
und Leiftungen geboten hätte, An Einem Abend genießen wir
die vereinten Kunftleiftungen von vier bis fünf Virtuofen euro—
päiſchen Rufes, welche einzeln zu hören das Publicum fich ſonſt
Die Ullman'ſchen Eoncerte und Carlotta Patti. 399
glüklih genug ſchätzte; an ihrer Spike eine neue glänzende
Berühmtheit, welche von Director Gye in London für eine ein:
ige Concertfaifon die Kleinigkeit von 3000 Guineen erhält.
Wenn Herr Ullman uns diefen Reiz und jene Trefflichkeit
durch verdoppelte und verdreifahte Eintrittäpreife entgelten
ließe, dann könnte man — noch immer nit von Schwindel
ſprechen, höchſtens von einer Ausnügung des Publicums. Nun
hört aber das Publicum bei Herrn Ullman die ganze illuſtre
Künſtlergeſellſchaft um den gewöhnlichen, einfachen Preis, den auch
der mittelmäßigſte Concertgeber für ſeine Perſon hier prätendirt.
In dieſem Zuſammenwirken auserleſener Künſtler liegt aber noch
ein eigener, höherer Reiz, als der blos finanzielle. So oft noch
zwei berühmte Virtuoſen gleichzeitig in Wien concertirten, ver—
nahm man auf Schritt und Tritt den Wunſch: Würden doch
einmal Beide zuſammenſpielen! In den ſeltenen Fällen, daß
dies ausnahmsweiſe geſchah, und Liſzt mit Ernſt, Clara Schu—
mann mit Jenny Lind, Vieurtemps mit Dreyſchock aus Col—
legialität oder zu wohlthätigen Zwecken einmal ein Duo aus—
führten, wurde der Saal förmlich geſtürmt. Der Grund,
weßhalb fich trotzdem niemals zwei Virtuofen zu gemeinfamen
Eoncertreifen verbanden, war: ihr Stolz. Wer mochte Gold
und Beifall mit einem Nebenbuhler theilen? Eine Frage diejer
Solirung war, daß man bei jedem Concert eines berühmten
Birtuofen ftet3 eine Anzahl jogenannter Zwiſchen- oder Ausfüll—
nummern in den Kauf befam, welche durd; ihre Mittelmäßig-
feit gehörig abftechen mußten. Diejes von den Goncertgebern
fo ſchwer zu befchaffende und von den Hörern jo wenig geacdhtete
Füllwerk ift in Ullman's Goncerten gänzlich bejeitigt, ba
jede Nummer von einem audgezeihneten Künftler ausgeführt
wird, fo daß wenigſtens die gleich vortreffliche Erequirung
aller Mufikftücde eine gewiffe Harmonie über das etwas bumte
Programm breitet. Die Affociation berühmter Birtuofen hat
ihre Zukunft; die »Gejammtgaftipiele« namhafter Schaufpieler
find eine anologe moderne Erſcheinung.
Ein Umftand, der viele Mufikfreunde gegen die Ullman'ſche
Unternehmung einnimmt, ift die eigenthümliche Haft des Erwerbes,
das fchnelle Neijetempo, in dem die Geſellſchaft Deutichland
400 1863.
nah allen Richtungen überzieht, in einem Monat mehr Con—
certe gebend, alö früher ein Virtuoſe in der ganzen Saiſon.
Das hat allerdingd® wenig Gemüthliche® und möglicherweiſe
viel Unangenehmes — für die Künftler. Bleiben wir aber
beim PBublicum. Was verliert dieſes durch den Umstand, daß
die Künftler, welche es heute entzüden, vor wenigen Tagen
noch in Berlin oder München concertirt haben und bereits
für die nächſte Woche in Graz ‚oder Belt angekündigt find?
Das find heutzutage Spazierfahrten, vor wenig Decennien
waren e3 Reifen. Wenn wir in der Jugendgejchichte, der pa=
triarchaliichen eilenbahnlojen, des Virtuoſenthums blättern und
die unaufhörliden weiten Reifen eine Lolli, Jarnopic,
Steibelt, jpäter noch eines Hummel und Paganini be—
denken, jo werben wir faum zweifelhaft fein, wer um des
Concertirens willen mehr Retjeplagen erduldet habe, die Alten
oder die Jungen.
Aber die entjeglichen Reclamen dieſes Herrn Ullman!-
Auch damit iſt's nicht jo arg. Wir haben bis jegt in den
Miener Blättern zwar eine Unmaſſe Anzeigen und Inſerate des
Herrn Ullman, aber feine einzige ımbejcheidene Anpreiſung
jeiner Künftler getroffen. Herr Ullman braudt, um auch nur
jeine Koſten zu deden, ein außerordentlid großes Publicum,
und ein jolches läßt fih ohne zahlreihe und auffallende
Annoncen nicht herbeiloden. Eine für Concertzwede bisher
unerhörte Benügung der Wublicität iſt noch immer feine
»Reclame« im tadelnden Sinn. Wir wollen dies gar nicht
der Tugend des jchlauen Imprejario zugute jchreiben, offenbar
fennt er Deutichland Hinlänglid, um zu wiffen, daß man mit
engliihen und amerifaniihen Buff? die Meinung des Bublicums
und der Kritik in Wien, Berlin, München nit gewinnt, vielmehr
fih fie entfremdet. Bon Ullman’3 jogenannten Reclamen kennen
wir blos eine in Berlin gedrudte Brojchüre von wenigen Seiten:
eine fleine Sammlung von Recenfionen über Garlotta Patti,
größtentheild aus der Feder bekannter und allgemein geachteter
Kritiker. In einigen einleitenden Worten ſpricht Herr Ullman den
Wunſch aus, der Hörer möge, um feine Erwartungen nicht
getäufcht zu ſehen, von diefer Sängerin ja nicht Vorzüge
Die Ulman’ihen Concerte und Carlotta Patti. 401
erwarten, welche ihr verjagt find. »Leidenjchaftlicher Ausdrud«
jei ihr fremd, fie fei »feine dramatiihe Sängerin« und
habe ihren großen Auf »niht durch das, was die ftrenge
Kritit veredelte Kunſt nennt, wie eine Sonntag oder
Jenny Linde, jondern als eine Specialität erlangt. Das ift
gewiß nichts weniger als Schönfärberei. In England und
Amerifa, wo die öffentlihe Aufmerkſamkeit, gewohnt, mit
Schüreiien und Thorbalfen gefigelt zu werden, die gröbſten
Mittel der Reclame erwartet, wo jelbit der Gebildete den
Champagner nit ohne Branntweinzufag mag, geſchweige den
den Goncertzettel — dort verjteht Herr Ullman allerdings ſtär—
fere Regifter aufzuziehen. In Amerika fand fein Erfindungsgeiit
das richtige Terrain; was er dort alles aushedte, um Geld
und Ruhm zu machen, ericheint und Kindern der alten Welt
mitunter geradezu unglaubli. Al die berühmte Sonntag,
welde von Ullman nad Amerika engagirt war, in New-York
eintreffen jollte, beichlojjen die Mufifer diefer Stadt, ihr eine
Serenade zu bringen. Ullman erbot ji) dem Comité Ddiejer
Mufiker, die Serenade felbit zu leiten und die Koften tragen
zu wollen. Er verfündigte fofort durch Inſerate und Placate
an den Straßeneden, daß die von den Newyorker Mufikern
zur Begrüßung der großen Sängerin vorbereitete Serenade
um Mitternacht bei Fackelſchein mit einem Orcheiter von 400
Mufifern und 1000 Sängern ftattfinden werde. Die Herren
vom Comité eröffneten ganz erfchredt Herrn Ullman, daß man
in ganz New: York kaum ein Ordefter von 150 Mann zu:
jammenbringen fönne und daß feine Annonce fie Alle der
LZächerlichfeit preisgebe. Ullman bejhwichtigte das Comité mit
der Mittheilung, er habe die fämmtlichen Orcheſter von Bojfton,
Baltimore und Philadelphia telegraphifh verfchrieben und
jcheue für den gedachten Zweck gar feine Unkoſten. Das Rejultat
diefe8 Manövers war, daß 200.000 Menſchen, begierig, dies
Sratisconcert zu hören, zufammenliefen und alle Zugänge zum
Unionplag, auf welhem die Sonntag wohnte, dermaßen ver—
ftopften, daß nit einmal die SO wirklich engagirten Mufifer
fih Hindurhdrängen fonnten. Es eniltand ein fFürchterliches
Gefchrei und Gepfeife, aber Herr Ullman Hatte jeinen Zweck
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 26
402 - 1865.
erreicht: er Hatte 200.000 Menichen auf die Beine gebradt,
die von der Sonntag redeten. Solde Späffe, in Amerika be-
wundert, find bei uns gottlob unmöglich.
Wie fommt es nur, wird man fragen, daß die als
Dame und Künftlerin fo vornehme Sonntag, daß die auöge-
zeichnetiten Virtuoſen nah ihr, fi gern diejem Unternehmer
engagirten? Dieſe zweite Frage, das Berhältniß der concer-
tirenden Künftler zu einem mit ihrem Talent jpeculirenden
Unternehmer, iſt etwas bedenflicher, als die früher beleuchtete
nach dem Intereſſe des Publicums. Wir geftehen unverholen,
daß diefe Art künſtleriſcher Leibeigenſchaft uns ſtets einen un—
angenehmen Gindrud gemacht hat, und daß wir dieje Jubjective
Empfindung niemal® ganz verloren haben, noch verlieren wer—
den. Gerade deshalb hielten wir es eben für Pflicht, die durch
ihre Neuheit und frappirende und dadurd vielleicht ungerecht
ftimmende Erſcheinung der modernen Aſſociations-Concerte mög—
lichit unbefangen von beiden Seiten zu betrachten. Fragt man
die engagirten Künstler jelbft, fo vernimmt man faſt durchaus,
daß fie fi) dabei wohl und zufrieden befinden. Sie beziehen,
unabhängig von den Tageseinnahmen, einen jehr namhaften
firen Gehalt und den vollftändigen Erſatz der Reiſekoſten. In
unferer Zeit, wo die Virtuoſen-Concerte längft eine undankbare
und mißlihe Speculation geworden find, muß dem Künſtler
ein fichere® Budget jehr willfommen jein. Es iſt für den ein-
zelnen Birtuojen gar Eoftipielig, gegenwärtig Goncerte zu geben,
e3 ift aber auch nebenbei jehr mühevoll, zeitraubend und ver—
drießlih, al die nothmwendigen Vorbereitungen dazu ſelbſt zu
treffen. »3ch würde mit Vergnügen jedes Concert dreimal hinter
einander jpielen«, fo jagte uns mehr ala Gin Virtuoſe, »wäre
ih dadurch der Mühen und Sorgen enthoben, die mir das
Arrangement eines einzigen verurjachte. Diejen Wunf erfüllt
die Ullman'ſche Unternehmung vollftändig; die Künftler ſpielen
öfter als jonft, find aber aller Sorgen enthoben. Der Unter:
nehmer ift ihr Reiſemarſchall, Secretär und Bantier.
Die in engliſchem Geift und lakoniſcher Kürze abgefaßten
Contracte fonımen uns Deutichen etwas jeltfam vor. »Herr
Vieurtemps oder Herr Jaell verpflichtet fih für ſechs
Die Ullman'ſchen Concerte und Garlotta Patti. 403
Monate oder ein Jahr in Herrn Ullman's Concerten zu fpielen,
wo und warn es dieſem zwedmäßig ericheint, gegen ein
monatliches Honorar von fo umd fo viel taujend Francs und
Vergütung der Reiſekoſten«. Fiele e8 Herrn Ullman ein, drei
Goncerte an einem Tag zu geben, jo hätte Herr Vieurtemps
oder Herr Jaell nicht das leiſeſte Recht, dagegen zu proteftiren.
Hier muß das perjönlihe Vertrauen eintreten nnd ſich vor
die gefährlihen Mündungen des Contractes Stellen. Der Kinftler
weiß eben, daß dieſer nicht jo ſcharf geladen ift, und daß
Herr Ullman unbillige Forderungen nicht ftellen wird. Er
weiß überdies, daß, wenn er durd Krankheit verhindert würde,
an einem oder an zehn und zwölf Eoncerten mitzuwirfen, feine
Gage ungeichmälert fortläuft. Bor zwei Jahren hatte Herr
Ulman einen berühmten deutjchen Gelliften (Kellermann) für
drei Monate engagirt; nach den erjten 14 Tagen wurde Diejer
dur einen Schlaganfall gelähmt, erhielt aber trogdem jeinen
Gehalt für die ganze Zeit ausbezahlt. In Berlin jollen Herrn
Ulman durch ein längeres Unmwohljein Carlotta Patti's Taufende
von Gulden entgangen fein, der Sängerin entging fein Heller.
Das find, meinen wir, für den reilenden Künftler Dinge von
Werth und Wichtigkeit.
Die Gewohnheit macht, daß wir im Bühnenweſen, ins—
bejondere bei den italienischen Opern-Geſellſchaften, dasjenige
faum mehr bemerfen, was uns an den Concert-Ajfociationen
noch jo ſehr befremdet. Auch dort dasjelbe Princip des ge:
meinjchaftlihen Reiſens und Producirend, der Herrſchaft des
zahlenden Unternehmers über feine Künftler. In London ver:
wendet der Director der italieniichen Oper von Her Majesty’s
theatre jeine Opernfänger nah Belieben in den verichiedenften
Städten Großbritanniens, auf der Bühne und im Concertiaal,
und hat das Recht, ihnen jede Mitwirkung in öffentlichen oder
Privat: Akademien zu unterfagen. Bon allen Kunftzweigen hat
aber von jeher das mufitaliiche Virtuoſenthum die geichäftliche
Seite, die Tendenz nah Geldgewinn, am wenigiten ver:
leugnet. Schon der alte Forfel, der im Allgemeinen den
Eoncerten eine große fünftleriihe Milton zugeiteht, definirt
(1783) die Birtuofen-Concerte als folche, »die blos zum
26*
404 1008.
Gelderwerb gegeben werden«e. Der Pirtuofe reift in der Negel,
um Geld zu verdienen.
Die muſikaliſchen Inftitute, bei welchen der tiefere künſt—
lerifche Gehalt als Hauptfache, die echte Kunftpflege als Selbft-
zwed erjcheint, find die ftehenden Orcefter:, Chor: und Sammer:
Eoncerte. Die Virtuofen-Eoncerte als folhe waren es niemal3.
Nur vereinzelte Virtuoſen gab es und wird es hoffentlich
immer geben, welche die höchſten Ziele der Kunſt verfolgen,
und dieſe werden auch künftig allein reifen. Die Ullman’ichen
Concerte haben das leichte glänzende Genre, die Virtuofität
par excellence, fomit die Unterhaltung eines größeren Bublicums
im Auge Wenn fih jet mehr als früher die gefchäftliche
Tendenz des Virtuoſenthums bemerkbar macht, jo Tiegt Dies
theils in dem allgemeinen praktiſchen Zug der Gegenwart, theils
in den ſtark gefunfenen Gurfen des ehemals florirenden Vir—
tuoſenthums. Diefe Blüthenzeit (die Lilzt:Thalberg’ihe Epoche)
währte nicht lange, noch weniger war fie bon Anbeginn da.
Wenn wir in einer Wiener Correfpondenz der Leipziger Mufif-
zeitung vom Sahre 1803 leſen: »Die Künftler haben Hier
einen bitteren Kampf zu beftehen; oft hilft ein Theil des
funftliebenden Publicums und das MWohlwollen einiger Fürften
dem Bedrängten dur; Subfcription aus der Klemme«, jo iſt
damit ein alter, langmwährender Zuftand bezeichnet, der das
ältere Virtuoſenthum nicht in beneidenswerthem Lichte zeigt.
Zu Anfang diefes und im Verlauf des vorigen Jahrhunderts
mußten felbft große und berühmte Künftler fih dazu bequemen,
wochenlang vor ihrem Auftreten in allen möglichen Soirden
zu fpielen, um fi) dadurch Zuhörer für ihr eigene® Concert
zu fihern. Dann gingen fie mit den Eintrittöfarten oder dem
Subſcriptionsbogen in den Häufern der Adeligen und Reichen
förmlich haufiren. Dies war die Gepflogenheit der »guten,
alten Zeit« — mir finden fie mühjeliger und demüthigender,
als die Stellung von Ullman's engagirten Künftlern, die nur
an die Trefflichkeit ihrer Leiftungen zu denfen und fonft um
nicht und um Niemanden fi zu kümmern haben. An Die
Stelle der großmüthigen Mriftofraten und Bankiers iſt jetzt
das große Publicum getreten, und alle geichäftlihe Thätigkeit
Carlotta Patti. 405
und Berehnung concentrirt fih in der Perſon des Inter:
nehmer. Indem diejer, als Geihäftgmann von Fach, feine
Aufgabe überdies mit mehr Geſchick und Erfolg löft, als der
Kiünftler jelbit e& vermöchte, jo befördert er gleichzeitig das In—
terejje feines Gejchäfts, der Virtuojen und des Publicums.
Died wären etwa die Gefichtöpunfte, welche für die viel
angefeindete Yorm der Aſſociations-Concerte ſprechen. Wir
geben fie lediglich als Thatſachen und ohne einen ungebühr-
lichen Nahdrud darauf zu legen; der Lejer möge fie nad
Gefallen abwägen, allein erwägen muß fie, wer über das
Ganze urtheilen will. Wir erbliden in dieſen Affociations-
Goncerten eine neue, interefjante Culturerjcheinung, die aller:
dings nur aus dem leidigen Gejchäftsgeift der Gegenwart ſich
herausgebildet hat, aber auch erjt bei der jekigen Vervoll—
fommnung des Weltverfehr8 und der impofanten Maſſe des
modernen Publicums möglich ward.
Das erfte „Yatti:&oncerf“.
Was die gefeierte Carlotta Patti betrifft, fo will fie
mit einem eigenen Maßitab gemefjen fein. Die abnorme Höhe
ihrer Stimme und mehr nod die erftaunliche Leichtigkeit und
Sicherheit, mit der fie ſich in jener dreigeftrichenen Schnee-
region des Geſanges bewegt, in welcher ſelbſt einer Mali:
bran und Catalani jeder Athemzug vergangen wäre, ftem-
peln Carlotta Patti zu einer biöher nicht vorgefommenen
Specialität. Sie erreiht Töne, wie daß dreigeftrichene d, e, f,
nicht etwa in gemwagtem, bligartigem Sprung oder vorberei:
tendem Anlauf, jondern ſetzt fie nah einer Paufe pianissimo
oder mezzovoce frei, mit vollendeter Reinheit und Ruhe ein,
ſchwellt ſie bis zum fortissimo und läßt fie allmälig wieder
zum Hauch verflingen. In der Linda-Arie hörten wir Triller
auf dem hohen des und es, im »Garneval von Venedig« ein
lang und kraftroll ausgehaltene® e, in dem (nad) Es-dur
transponirten) »Schattenwalzer« der Dinorah Echo-Effecte in
den höchſten Lagen, einmal fogar in ſchönſtem Klang das
406 1865.
dreigeitrichene ges! Durch dieje wahrhaft außerordentliche Kehle
und durch die Virtuofität in Allem, was auf jenem ihr allein
gehörigen Höhengebiete jich bewegt, iſt Carlotta Patti uns
ftreitig eine Erfcheinung ohnegleichen. Ihre Intonation ift ſtets
haaricharf, ihre Virtuofität nach einigen Richtungen ſehr aus—
gebildet, vor Allem im Staccato, das man nicht glänzender
hervorbringen fann, al® fie es in den Sertenfprüngen Der
Linda:Arie und am Schluß der »Ladjcouplet3« thut. Der
Triller ift Leicht und flüffig, aber nicht immer von tadellofer
Gleichheit; am wenigſten befriedigte die Verbindung der Töne
im Legato, namentlich bei herabfteigender Scala. Als voll—
endete Geſangskünſtlerin ericheint und demnad Carlotta Patti
troß all ihrer blendenden Kunſtſtücke nicht, und wir können fie,
auch von blos technischen Standpunkt, unmöglid in eine Reihe
mit Adelina Patti oder Déſirée Artöt Stellen. Der
Klang diefer phönomenalen Stimme ift nit ohne eigenthüme
lihen Reiz — die Höhe filberglödchenartig — hat aber weder
Größe noh Wärme. Sie it von einem falten Glanz, der im
Paſſagenwerk an Sterngeflimmer, in ruhiger Ausbreitung auf
den höchiten Noten an das weiße Licht des Magneſiums er—
innert. Eine gewiſſe Samilienähnlichfeit herrſcht zwiſchen den
Stimmen Carlotta's und ihrer jüngeren Schweiter, ungefähr
wie zwiſchen ihren Gefichtszügen, doch ift Adelina's Organ
voller, wärmer und vor Allem empfänglicher für alle Schat-
tirungen des Ausdruds. Die mittleren und tieferen Töne
Garlotta’3 haben wenig Körper und Rundung; wenn fie eine
Gantilene im gewöhnlicher Gejangslage anhebt (wie gleich an—
fang in der Linda-Arie), jo glaubt man faft eine Sinder-
ftimme zu vernehmen und laufcht ihr mehr befremdet alö be-
friedigt. Wir mußten den Timbre diefer Stimme erft förmlich
gewöhnen, er jagte uns in der dritten Nummer beffer zu, als
in der zweiten und erjten, und am beften in der legten. Und
ihr Vortrag? Er gleiht frappant der Stimme. Strahlend,
elegant, jogar grazids, läßt der Geſang Garlotta’3 die meite,
reihe Welt des Gedanken: und der Empfindung völlig ab—
jeitö; daS ewige Meer der Leidenschaft fräufelt er nicht mit
Einer Welle, Er blendet den Sinn, entzüct ihn vielleicht, aber
Tas erfte »Patti⸗Concert«. 407
zum Herzen findet er feinen Weg. Aus diejen Tönen dringt
nicht Blumenduft noch Frühlingswärme zu uns; fein Drud
einer geliebten Hand, fein Blick eines jeelenvollen Auges —
wir find allein unter gejchliffenen Kryſtallen und hellpolirtem
Marmor. Der Hörer fommt aus dem Betwundern nicht heranz,
der Fritifer nicht über die Bewunderung. Garlotta Patti
it eine eminente Merfwürdigfeit, man muß fie gehört haben.
Wie mähtig man fich hierauf gedrängt fühle, fie oft und
wieder zu hören, dad mag die Empfindung jedes Einzelnen
enticheiden. Am meiften erftaunt hat uns unter Garlotta’3
Vorträgen der »Garneval von Venedig«, am aufıichtigiten er-
freut die Couplet3 (l’celat de rire) von Auber. Diefer an—
ſpruchsloſe Scherz ſchien und, jo wie er äußerlich die ſchönen
ftatuarifhen Züge der Sängerin plößlich belebte, auch ihren
Gefang ein eigenthümliches Leben einzuhauchen. Diejes Lied
fingt Carlotta Patti nicht blos mit Bravour, fondern in der
That mit Efprit und Tiebendwürdigem Humor. Das Publicum
ſchien derjelben Anficht, es fteigerte den Beifall, den es ber
Künftlerin nach jeder Nummer fo reichlich geipendet, nach den
Lach-Couplets zum vollftändigen Sturm. Ueberdies wirft das
gejungene Lachen anftedend; es war zu ergößlich, nicht als
lähelnde und lachende Gefichter im ganzen Saale zu jehen.
Herr Ullman hatte eigend aus Paris Roger fommen
laſſen. Der berühmte Tenorijt, einſt die Zierde der Opera
eomique und fpäter der großen Oper in Paris, ſang Schu:
bert3 »Erlfönige und die befannten »Wögelein« von Gum—
bert. Eine wunderliche Wahl, wenn fie auch vielleicht ein
»Compliment an die deutſche Nation« vorjtellen ſollte Roger's
Erlfönig ift die conjequenteite dramatiiche Ausführung und
Zufpigung der an ſich Schon bedenklichen Intentionen Schubert’2.
Sie ftreift an geiftreihe Carricatur und hat nur einen Kleinen
Schritt zu dem vollitändigen Erperiment, den »Erlfönig« von
3 verichiedenen Perfonen fingen zu laſſen. Roger's Vortrag
accentuirt mehr die Echattenjeiten als die Vorzüge der Come
pofition und producirt mehr den Schaufpieler ald den Sänger.
Letterer trat in den Gumbert'ſchen Bänkelſang etwas deutlicher
hervor; wir erfannten wieder, wie durch einen Schleier, Roger's
408 1865.
ehemals twundervolled Portamento, — aber was wurde ge—
tragen? Gin troftlojes Lied und eine trojtlofe Stimme, E3
jchmerzt, über daS gegenwärtige Singen des großen Künftlers
iprechen zu müſſen, der uns einjt mehr als irgend ein Anderer
das deal eined dramatiichen Sängers ahnen, mitunter auch
vollfommen jchauen Tieß. Roger's Erjcheinung hat fih merk:
würdig unverändert erhalten; dieſelbe glatte edle Stirne, der
jugendlihe Mund, der ernite Blick voll Geift und Güte, Aber
von der Stimme wollen wir jchweigen, und von dem Kampf
de3 Sängers mit dieſem zertrümmerten Inſtrument. Roger
macht allerding® auch jegt noch einen weit ebleren Eindrud,
al fein zum Poſſenreißer herabgefonımener berühmter College
Ronconi. Beide Künftler erfüllen aber hier diejelbe weh—
müthige Miffion: ihren eigenen Nefrolog zu fingen.
Jede neue Erfcheinung von großem Auf ift bei ihren:
erften Auftreten verurtheilt, ungemefjenen und oft ſehr unbe-
ftimmten Erwartungen gegenüberzuftehen. Vermißt der Hörer .
einige geträumte Vorzüge, jo wird das Gefühl theilweijer Ent-
taufhung ihn auch die wirklich vorhandenen leicht unterfhägen
faffen. Erjt wenn der Eindrud des Neuen, Befremdenden über-
wunden und man über das äjthetiihe Soll und Haben im:
Klaren iſt, Hört man unbefangener und urtheilt geredter.
Wir haben und mit der Stimme Carlotta Patti's viel mehr
befreundet, fie in den fpäteren Concerten jchöner und voll:
tönender gefunden, ald am erjten Abend. Hin und wieder, 3.8.
in Gounod’3 »Ave Maria«, verrietd ein Ton bon über:
rafchender Kraft, daß dieſe filbertönige Stimme auch nad)
Seite des Volumens weniger ftiefmütterlich bedacht fei, als fie in
der Regel jcheint. Diefe und ähnliche Wahrnehmungen flößten
und Reſpect ein vor ihrem ftreng eingehaltenen Princip: Maß
zu halten, die reine Schönheit des Tons niemald zu alteriren.
Garlotta Patti vermeidet, auch nur der Grenze des Schreiens
fi zu nähern, und wird, beiläufig gejagt, troß ihrer angejtrengten
Thätigfeit ihre Stimme ohne Zweifel lange bewahren. Hierin
ericheint fie als ein Zögling der beiten italienischen Schule.
Stein Zweifel, daß ihre leidenſchaftsloſe Ruhe dieſes Maß—
halten ſehr erleihtert, aber blos als »Kälte« können wir
Daß erfte »Patti-Goncerte. 409
nicht mehr betrachten, was fi und als ein confequentes —
ſei es auch einfeitig auögebildetes — Schönheitprincip er:
wiefen hat. Es iſt dasjelbe PBrincip des reinen MWohllauts,
dad die Linien einer italienifchen Melodie in jchöner janfter
Rundung zieht. Ebenſowenig als wir die Patti jchreien oder
medern hörten, haben wir fie im Vortrag jemals übertrieben
oder affectirt, in Haltıng und Miene grimaffirend gejehen. Bei
Wagſtücken wie daS »Lachlied« oder der »Carneval von
Venedig« will dies nicht wenig jagen. Der Birtuofität Carlotta
PBatti’3 find wir bereitö gerecht geivorden, aber auch in ihrer
Gantilene beobachteten wir im Laufe ter verſchiedenen Pro-
ductionen das MWalten einer Technik, die hochzuſchätzen nament:
lih wir Deutihe allen Grund haben. »Die Deutjchen fingen
mit dem Kopf und mit dem Herzen, aber nicht mit dem Ohr«,
fo jagte ung wörtlich vor einigen Jahren Jenny Lind. Diejer
Ausspruch einer großen und dur ihre germanische Abkunft
wohl unparteiifhen Sängerin jchien una damals zu hart —
taufendmal iſt er und jeither eingefallen. Den Gejang der
Garlotta Patti hat wohl Jedermann einen fräftigeren Herz-
ihlag gewünſcht, aber gewiß nicht ein feinered, Maß und
MWohllaut fchärfer überwacendes Gehör. Carlotta Patti fang
in der Concordia. Akademie das Duett aus Roſſini's »Stabat
mater« mit einer unjerer intelligenteften uud ftimmbegabteften
Sängerinnen. Während Erftere die Melodie fehr ruhig, gleich-
fam in Einem leichten, weiten Bogen aufbaute, verjah Letztere
fast jede Note mit einem gefühlvollen Accent, jo daß derjelbe
Gejang hier gleihfam aus einer Anzahl Kleiner Crescendos
und Decrescendos fi) zufammenfegte. in höheres Drittes
geben wir zu, können aber nicht leugnen, daß die klare, mono
tone Himmelsbläue des italienischen Vortrags ung nicht blos
mufifalifch Schöner, fondern immer noch ſeelenvoller däuchte, als
jene heftige Licht: und Scattenjpiel.
Stimme und Gefangsmanier weifen Carlotta Patti vor:
zugsweiſe an den Sologefang; in den Spinnquartett aus
»Martha« jang fie zu ſchwach, was allerdings nicht ganz ent:
Ihuldigt, daß die anderen drei Stimmen zu ftark begleiteten.
Fräulein Patti die Wahnfinn-Arie aus »Lucia« im Coſtüm
410 1865.
vorgetragen zu jehen, wirkte ohne Zweifel als ein Lod- und
Reizmittel auf die Beſucher der Goncordia:-Afademie. Die
Leiltung war intereflant genug, indem fie im Spiel der Künſt—
lerin dasjelbe Princip verrieth, mit wenigen, plaſtiſch-ſchönen
Bewegungen auszureihen, Der dramatiſche Ausdruck erhob fi
nicht merflih über den Concertvortrag. Bedenft man indeh,
daß Carlotta Patti ſeit ihren erften Anfängen, vor vier Jahren,
die Bühne nicht betreten und in ihrem Gang ein phyſiſches
Hindernig mühlam zu befämpfen hat, jo erfcheint der Verſuch
immerhin rejpectabel. Da die Accente tiefer Leidenschaft ihrem
Geſang verſagt find, glauben wir nicht, daß die tragiihe Bühne
an Garlotta Patti viel verloren habe. Hingegen jcheint ein jehr
artiged® Talent für die komische Oper in ihr zu jchlummern.
Das fröhlich Schmetternde, fo gut wie das freundlich Behäbige
ihres Geſangs müßte, vereint mit dem bezaubernden Lachen
Garlotta’3, in der Opera buffa trefflich wirfen. Sie ift »Die
Lerche, nicht die Nachtigalle. Man fche die dürren Noten des
Auber’ihen Lachliedes und urtheile jelbit, ob hier der Vortrag
der Patti nicht gerade zu productiv fei. Nicht bloß neue
Noten bat fie Hinzugefügt, fondern neue Effecte, die in Noten
gar nicht zu faſſen find. Es ift und bleibt ihr Meifterftüdchen.
Großen Beifall erregte Roger’3 Vortrag der Arie »Ah, quel
plaisir d’ötre soldat« von Boieldien. Wir haben den weh:
müthigen Eindrud nicht verhehlt, den Roger's »Erlfönig« und
»Liebe Vögelein« jüngſt hervorgebracht; um jo größer war
unfere Freude, mit einer jchöneren Erinnerung bon dem ver—
ehrten Künstler jcheiden zu fönnen. Stimmen, die im Nieder:
gang oder Untergang begriffen find, haben befanntlih von
Zeit zu Zeit ihren »beau jour« (man denfe an Wild); ein
ſolcher Glüddtag war der 26. December für Roger. Er bot
jeine ganze Kraft und Energie auf, und da e3 einer Arie galt,
in welcher er auch ohne Stimme faum einen Rivalen hätte,
jo war der Eindrud ein ungewöhnlider. In Frack und Glace-
hbandihuhen fang und ſpielte Roger die ganze reichbewegte
Schilderung des Soldatenlebend. Die hinreiende Beredtſamkeit
des Ausdruds und eine Fülle charakteriitiiher Züge ließen die
Schäden der Stimme vergeffen. Hier jah man, wie Geijt und
Das Dante-Goncert der Italiener in Wien. 411
Temperament eines reproducirenden Künſtlers jchöpferiich wirken
fönnen. Im Fach der eleganten fomifchen Oper stehen die
franzöfiiden Sänger einzig da; Roger hat neben den beiten
Traditionen diejer Kunft eine geniale Perfönlichkeit, die jede
Tradition überholt, und neben dem Geilt der Schule noch
jeinen eigenen.
Das Dante: Eorncert der Italiener in
Wien.
Die koloſſale Büfte, welche am 14. Mai vom Occheſter
im Nedoutenjaal auf das Publicum niederblicte, hat wohl
zum eritenmale einem &oncerte präfiditt. Es iſt Dante's
hagerer, ausdrudsvoller Kopf mit einem friihen Lorbeerfranze
über der traditionellen wunderlichen Haube. Der große Dichter
und Batriot, deifen fechshundertites Geburtsfeſt Italien, ja
Europa feierlich begeht, war Schukpatron und FFeitobject
de Concertes, daß die in Wien wohnhaften Italiener zur
Feier dieſes Jubiläums veranftaltet hatten. Das Unternehmen,
Zeichen eines jchönen PBatriotismus auf fremdem Boden, ver:
dient die wärmfte Anerkennung, zumal die lodende Maienzeit
wenig Hoffnung auf zahlreichen Beſuch eines Sonntagsconcertes
geitattete. Der große Redoutenſaal zeigte ſich indeffen, wenn
auch nicht gefüllt, doch anftändig bejudht. Die Akademie war
ausſchließlich muſikaliſchen Inhalts — nit mit Recht, wie
wir glauben, da. zur Verherrlihung eine® Dichters jedenfalld
auch dem geiprochenen Wort eine Stelle gebührte. Daß man
nur an die Mufif dachte, erklärt ſich zunächſt wohl auß der
allgemeinen natürlichen Miffion diejer Kunſt, Pathenftelle bei
jeder eine große Gejfammtheit bewegenden Feier zu vertreten,
ſodann aus dem günftigen Zufanımentreffen des Feſtes mit der
ttalieniichen Operngejelihaft in Wien. Lebtere hat den größten
und beiten Theil ihrer Kräfte geftellt.
Mit Ausnahme zweier Compofitionen von Händel und
Gounod waren ſämmtliche Nummern von italieniihen Ton—
dichtern, zwei davon nahmen unmittelbar Bezug auf Dante
412 1865.
und feine »Göttlihe Komödier. Nah Cherubini’s geiftvoller
»Medea«-Duverture eröffnete Herr Everardi die Reihe der
Solovorträge mit Gounod’3 jogenannter »Meditation«e. Der
Componiſt jegt darin befanntlih auf Bad’: C-dur-PBräludium
eine eigene Melodie für die Violine, — mir waren nicht
wenig erjtaunt, nun auch noch als drittes Stodwerf über
diejen beiden ein Ave Maria für Bariton : aufgebaut zu fehen.
Eine glüdlihe Wahl war dies keineswegs, der trefflihe Sänger
hätte in irgend einer guten italienifhen Arie feine Vorzüge weit
glänzender und eigenthümlicher entfaltet. Es fchien eben, als
wollten die Italiener diesmal beſonders feierlihe Mienen
zeigen; fie hatten nur Stüde langfamen Tempo’3, pathetijchen
düfteren Charakters und theilweiſe Eirchlichen Inhalts gewählt.
Dadurh Fam über die ganze Production ein unleugbar mono:
toner Anſtrich, etwas Gezwungenes, Schwüled. So dankenswerth
auch manche dieſer Gaben erſchien, man fühlte, daß eine
weſentliche, glänzende Seite der italieniſchen Muſik und Geſangs—
kunſt, wenn nicht gar ihr eigentliches Temperament, gewaltſam
zurückgedrängt war. Herr Mongini ſang (etwas zu tief, wie
die ganze Saiſon hindurch) die As-dur-Arie aus Roſſini's
»Stabat« (cujus animam gementem); eine ſüße, wenngleich
wenig kirchliche Melodie, worin leider der Geſang von der
vollen Blechharmonie häufig verſchlungen wird. Graziani's
edle, liebenswürdige Weichheit ſtimmte wohl zu den ſchmelzen—
den Weiſen von Stradella's Kirchenarie. Es folgte »Il sogno«
von Mercadante, eine lyriſche Seufzerallee, umwinſelt von
kläglichen Cellopaſſagen. Die Herren Röver und Boccolini
verſchwendeten vergebliche Mühe daran. Deéſirée Artöt hatte
Händel's ſchöne Arie »Lascia ch'io pianga« gewählt. Wer
dieſe große Geſangsvirtuoſin noch nicht von Seite ihrer ſeltenen
muſikaliſchen Bildung im klaſſiſchen Gebiet kennen gelernt, der
fand Gelegenheit dazu in ihrem wahrhaft ſtylvollen, ſchlichten
Vortrag dieſes ſchmuckloſen Satzes. Die beiden auf Dante
bezüglihen Nummern des Programmes waren »lIgolino« von
Donizetti und Pacini's neue »Dante-Symphonie«. Die
dichtende und bildende Kunft hat bis auf die neueſte Zeit
nicht aufgehört, fi Stoffe und Anregungen aus Dante zu
Das Dante:Concert ber Ztaliener in Wien. 413
holen; für die Muſik jtrömt eine fichtbare Quelle weder in der
Perfönlichkeit noch in dem Gedicht des großen Florentiners. Einige
Ihmwungvolle, die Macht der Töne preifende Terzinen bezeugen
wohl, daß Dante diefem Zauber nicht verfchloffen war, ein
näheres fünftlerifche® Verhältniß zur Muſik ſcheint er nicht
gehabt zu haben. Verſuchte doch die Tonkunft eben ihre unbe—
holfenen erften Schritte, ald die moderne Poeſie bereit3 einen
MWunderbau wie die Divina comedia aufgeführt Hatte. Die
Tontunft war damals faum in den Beſitz der Notirung, der
Menſur, der mothwendigften harmoniſchen Geſetze gelangt; noch
waren die Niederländer, die 200 Jahre ſpäter den Contrapunkt
und damit wirkliche muſikaliſche Kunſtübung nach Italien ver—
pflanzten, nicht hervorgetreten, noch beſtand das ganze Muſik—
leben in theoretiſcher Speculation und den ungeregelten Rhap—
ſodien der Troubadours. Dritthalb Jahrhunderte liegen zwiſchen
der Geburt Dante's und jener Paleſtrina's. Die » Göttliche
Comödie« ſelbſt, mit ihrem theils concret=hiftoriichen, theils
myſtiſch-ſpeculatien Inhalt, mit den rieſigen Dimenſionen
ihres kaum überſehbaren und doch ſo feſt zuſammenhängenden
Baues mußte jede Mitwirkung der Muſik eher abwehren als
anlocken. Es darf als ein muſikaliſches Curioſum gelten, daß
Donizetti die Erzählung Ugolino's aus dem 33. Geſang des
»Inferno« für eine Baßſtimme mit Clavierbegleitung componirt
hat. Die Compoſition (im Jahre 1835 entſtanden und
Lablache gewidmet) wurde hier von Herrn Angelini mit
würdevollem Ausdruck vorgetragen. Bedeutend in der Erfindung
oder frappant durch glückliche Auffaſſung iſt nicht ein Takt
dieſer langwierigen Monodie; aber ſie erhält ſich einfach, an—
ſpruchslos, muſikaliſch in feinem Punkt verletzend. Donizetti
iſt ſichtlich bemüht, ernſt und gemeſſen zu bleiben, ohne in
Geſchraubtheit zu verfallen. Dies iſt ihm — in ſeiner Aus—
drucksſphäre — gelungen, und kein Italiener dürfte es unge—
rechtfertigt finden, daß beſagter »Ugolino« in Mailand an der
Spike einer »Antologia elassiea musicale« erſchienen iſt. Als
Arie des zärtlichen Water oder Gatten in einer Donizetti'ſchen
Oper würden wir und dad Stück ganz gut gefallen laſſen.
Hält man aber dieje janft abfliegende Mufif an das fchauder-
414 1863.
volle marferichütternde Nachtſtück, das fie vorftellen Toll, jo
muß man über die Naivetät diefes Componiften eritaunen.
Ugolino, vom Dichter in dem gräßlichiten Bilde vorgeführt, er—
zählt diefem befanntlich die Qualen des erlittenen Hungertodes,
wie er im Thurm feine drei Söhne nacheinander Hungers
iterben fieht, und endlich erblindet über ihren Leichen herum
tappt. Er ſchließt mit einem Fluch gegen feinen einiger
Auggiero und die Stadt Piſa. ine jo haarfträubende Tra=
gödie — ſelbſt die Ericheinung Satans im 34. Gefang iſt
minder ſchrecklich — muß man anderd componiren, oder viel-
mehr man muß fie gar nicht componiren. Die Mufif, die ver:
jöhnende Kunſt des Wohllauts, weicht vor der Daritellung der
nadten Gräßlichkeit jcheu zurüd. Sie wird zwar im Drama
auh das Gräßlihe als vorübergehenden Moment beſchwichti—
genden Schritte begleiten, niemals aber es zu jelbititändiger
lyriſcher Darftellung heraudgreifen.
Wenn irgend einem italienischen Componijten eine innere
Berwandtichaft mit Dante und die Befähigung zugeiproden
werden darf, fich diefem Dichter mufifalifch zu nähern, fo ift es
deſſen großer Landsmann Cherubini. Cherubini, der muſikaliſche
Stolz der Florentiner, wie Dante ihr poetiſcher, hat in feinem ernten,
gedanfenjchweren, vornehmen Weſen ein Etwas, das (wie ſchon
Schumann einmal bemerkte) an Dante erinnert. Wie Dante der
ichmelzenden Süßigfeit der italienifhen Sprache durch lateiniſche
Anklänge und Formen eine jo wunderbar herbe Kraft verleiht, jo
durchſtrömt Cherubini's Muſik, unbeſchadet ihres echt italienischen
Charakters, eine kräftige, eiſenhältige Ader, die nach deutſchen
Schachten weiſt. Hätte er es unternommen, Dante mit Har—
monien zu feiern, er wäre dem Dichter wenigſtens auf rich:
tigem Pfade und als verwandter Geift entgegengetreten. Donizetti
und Pacini fommen uns mit ihren Dante-Compofitionen vor,
wie fleine halbflügge Schmetterlinge, die über die Peterskuppel
feßen wollen. Indeſſen, man braudte eine Feſt-Symphonie
oder Gantate fir die Dante-Feier in Stalien und Gerubini
ruht längſt auf dem Pere Lachaiſe. Mit Recht wandte ſich das
Comité zuerft an Roſſini und mit Recht entichlug fich diefer
der Einladung in Erwägung ſeines hohen Alterd. Dann Tehnte
Das Dante-Goncert der Italiener in Wien. 415
Mercadante aus gleichem Grunde ab und that wohl daran.
Hierauf fragte die Deputation, gleichfall® vergeblich, bei Verdi
an; ih weiß nicht, welches Motiv er vorjhüßte, aber
jedenfall war es jehr weile. Verdi, der einzige, alio größte
aller activen Componiſten Staliens, fühlte jehr wohl, dag man
an jeinen Namen Erwartungen fnüpfen würde, denen er in
ſolchen Formen und für ſolchen Anlaß nicht gewachien jet.
Was er in der That für ein trauriger Gelegenheitsmacher ift,
haben wir in London an jeiner Weltausitellungs:Gantate er:
fahren. Es blieb fomit nur noch als lette nationale Reputa-
tion der greiie Bacini.
Der Satan begab fih in Geſtalt eines Dante-Comités
zu dem halbverftorbenen Componijten der »Saflo«, zeigte ihm
ringsum ganze Lorbeerwälder von Ruhm und Anerkennung, und der
alte Herr, anftatt »Apage Satanas«! zu rufen, wie die Andern,
fiel richtig nieder und betete an. Mit unfägliher Mühe muß er
die »Große Dante-Symphonie« componirt haben, die in ge=
Itochener Partitur niedlichiten Formates vor mir liegt, mich
an eine der heiterften Stationen meiner muſikaliſchen Lebens:
reife erinnernd. Die Symphonie bejteht aus vier Säßen: die
Hölle, daS Fegefeuer, dad Paradies und die triumphirende
Rückkehr Dante’3 auf die Erde. »Die Hölle« iſt ein unabſeh—
bared Agadio im Sechsachtel-Takt, das die Tempobezeihnung
»Largo infernale« und mit föltlicher unbewußter Ironie die
Extra-Aufſchrift »Tormenti senza speranza« führt. An einen
wirklichen Symphoniejaß, an gegliederte Form und thematiſche
Arbeit darf man dabei nicht denken, das Ganze jpinnt fi
wie eine wüſte Melodram= oder Zwiſchenakts-Muſik in freiefter
Phantafie ab. Ein Thema ift nirgend® zu endeden, nur ein
kleines, lumpiges Motiv, an dem der Componiſt herumnagt wie
Ugolino an dem Schädel des Erzbiichofs Nuggiero. In das düftere
Gerumpel der Bäſſe fahren unabläſſig grelle Biccolopfiffe, Schreie
verdammter Seelen, die zu ftarf gezwickt oder gebrannt werden.
Dazu gefellt ſich ein wüthendes Kettengerafjel, jehr jinnreich
hervorgebradht durch fortwährendes Bearbeiten eines Metall:
bedend mit einem großen Holzichlägel. Der Schlägel jpielt
Zweiunddreißigftel, ja förmliche Triller auf dem Becken und
416 1865.
beihämt die blecherne Donnermafhine im erften Akt der
»ihönen Helena«. Poſaunen und Ophicleyden, große und feine
Trommel, und was jonjt noch die »Hölle« mufifalifch heiß
machen fann, treten emfig heizend Hinzu; das Alles ohne eine
Spur von mufifaliihen Gedanken, ohne Melodie und Rhyth—
mus und ſtets im langiamften »Largo infernale«. Der zweite
Sag: »Il Purgatorio«, beginnt mit einer Art Polfa-Mazur.
Einen Unterfhied zwiſchen Hölle und Fegefeuer wird es
gewiß geben, aber gar jo human Hatten wir und Letzteres
doch nicht vorgeftellt. Das ift ja recht tröftlich. Leider ift der
Aufenthalt doch nicht ungetrübt, ein barbarifcher Lärm erhebt
fi) wieder, die Piccoli fchreien, die Ketten rafjeln und der
alte Maeftro fünitelt an Inftrumental-Effecten und Kleinen
»purgatoriſchen« Gontrapunften herum, daß es eine Art Hat.
Da fällt plöglih das Clavier (bisher unbeichäftigt) mit einem
brillanten Solo von Baflagen und Trillerfetten in da erftaunte
Orcheſter: wir find im »Paradies«. Selig find die Clavier—
Birtuofen, denn ihrer ift das Himmelreih! Ob hier Bacint,
prophetiih wie Dante, ſchon die heiligende Tonfur auf dem
Haupte Liſzt's, des Clavierfönigd, geahnt Hat? Frage nicht,
begeijterter Hörer, gieb den letzten Sparpfenning deines Er—
ftaunens nicht aus, es find dir noch größere Dinge befchieden!
Zu den Glaviertrillern und Harfen-Arpeggien gefellt fi) ein
luſtiges Klingen vieler geftimmter Glöckchen: Dinorah's Ziege
leibhaftig im Paradies! Nun geht es an ein alberned Fidel,
Blaſen, Trillern, Klingen, Blöden — Thon beginnen wir, uns
aus diefer namenlos findifchen und langweiligen »Seligfeit«
nach dem Fegefeuer zurüdzufehnen, als, erjt leije, Daun immer
ftärfer, endlih mit Hufarenmäßiger Gewalt ein Regiments—
Triumphmarfch angeblafen fommt. Das iſt »Dante’3 Rückkehr
auf die Erde«, der vierte und gottlob letzte Saß einer Sym—
phonie, die gewiß Niemand der fie je gehört, vergefjen, noch
weniger ein zweitesmal anhören wird.
Es geht mir wirklich nahe, in diefem Tone von einem
Werke Sprechen zu müſſen, dad, an die Pietät einer großen
Nation zweifach appellivend, den Namen de3 größten italieni-
ichen Dichter mit dem eines geachteten mufifalifchen Veteranen
Muſikaliſche Leiden. 417
vereinigt. Aber wenn der Gontrajt zwijchen diejer geift- und
gemüthlojen, unmufifaliichen, dabei höchit prätentidjen Kinder:
ſymphonie und der großartigen Gedankenwelt Dante's nicht
komiſch ift, dann weiß ich nicht, wo noch ſonſt Komifches zu
finden wäre. Entjchuldigend für den alten Maeſtro iſt allenfalls
die faum überwindlihe Schwierigkeit, eine Riejenichöpfung wie
die »Gödttliche Comödie« muſikaliſch nachzubilden. Bei einem
Gedenkfeſte obendrein, daß den Dichter jelbit feiern und unferer
Verehrung für ihn den höchſten Ausdrud leihen fol, fteigern
ih unmwillfürlih die Anforderungen an jeden Künftler, der
ſolches aus eigenen Mitteln zu leiſten fich erfühnt. Man ruft
zu ſolchen Feiten die Anftrengung aller Künfte und vornehmlich
der Mufif auf, ohne zu bedenken, daß nicht jede Nation zu
jeder Zeit congeniale jchöpferiihe Naturen befigt, die fich, fei
es auch nur in Huldigender Abficht, neben den gefeierten Heros
ftellen fönnen. Wir Deutihen können mit den muſikaliſchen
Refultaten unjerer Goethe und Sciller-Feier wahrlich
aud nicht prahlen: Liſzt's Goethe-Compofition »Mehr Licht«,
Meyerbeer’3 Sciller-Gantate und Aehnliches waren todt—
geborene Kinder. Aber mit einer jo ungöttlihen Comödie wie
Pacini's Dante- Symphonie hätte fi doch in Deutfchland der
legte Cantor nicht dürfen ſehen laſſen. In Stalien wird die
berrichende Feltitimmung ohne Zweifel auch Donizetti's
»ligolino« und Pacini's »Symphonie« zur Höhe von claſ—
jiihen Meifterwerfen hinaufjubeln. Falls aber (wie PBacini ans
nimmt) Dante perfönlich zu dem Feite kommt, jo dürfte er
jeine mufifaliihen Iluftratoren faum ander vereiwigen, als
durch einige nachträglihe Verje zum »Inferno«.
Muſikaliſche Leiden.
(Leierfäften. Muſikaliſche Jungfrauen). Wir hätten
feine Muſik im Sommer? Welche Täufhung! Allerdings feine
Mufit, über die man jchreiben muß, feine »Afrifanerin« oder
»Iſolde«, aber Muſik, die man hören muß, man mag mollen
oder nicht. Sie wuchert im Sommer, wie giftige Unfraut in
Hanslick. Aus dem Concertfaal. 2. Aufl. 27
418 1863.
Siüdamerifa. O Leierkaſten! Ihr priviligirten Peiniger des
menſchlichen Gehörs, ihr geieglich befugten Quäler aller Ruhe:
bedürftigen und Kranken, Aller, die da ftudiren und geiftig
arbeiten — wie lange noch werdet ihr und vom Morgen bis
zur Nacht mißhandeln dürfen? Zehn Jahre find es, feit wir,
und Andere vor uns, das letzte Mal mit Spott und bitterem
Ernſt gegen dieje, einer Reſidenzſtadt ſo unwürdige Stadtplage
loszogen. Wir thaten es ziemlich hoffnungslos, denn, wie vor:
herzuſehen, wehrten ſich die Ritter jedes duch Alter »ehr-
würdige gewordenen Scandals für ihre lieben Drehorgeln, und
ereiferten jich unjere Humanitätöbolde gegen die Abftellung einer
Ohrenqual, welche mwenigitens zehn bis zwölf Familien zugleich
peinigt, aber vier bis fünf Köchinnen amüſirt. Daß unjere
lange zurückgedrängten Seufzer jeßt wieder Luft befommen,
daran ift niemand Anderer Schuld, als der Statthalter von
Böhmen. Diejer einficht3volle Menjchenfreund (»ein zweiter
Daniel« !) ſoll nämlich bejchloffen haben, die Zahl der orgeln-
den Gehörsmdrder in Prag zu vermindern und mit Schonung
der beftehenden »Rechte« feine weiteren zu ertheilen. So fol
diejes mittelalterliche Inititut allmälig einfrieren. . Böhmen, du
Gonfervatorium von Europa, möge dein Beilpiel fruchtbar jein!
Das Land, welches unjere Muſik und unjere Muſikantenſchaar
jeit jeher jo reichlid vermehrte, würde fi um uns kaum
weniger verdient machen, gübe es diesmal das Signal zur
Verminderung unjerer muſikaliſchen Zwangsgenüſſe. Ich
weiß nicht, ob die Quantität unjerer Wiener Drehorgeln ſich
von Jahr zu Jahr vermehrt, ihre Qualität aber wird immer
gefährlicher. Was waren jene ehemaligen Eleinen Flötenwerke,
jene tragbaren Borrathöfältchen alter Lanner'ſcher Walzer gegen
die jegigen mauererichütternden Drehkoloſſe, die auf vier Rädern
in Begleitung eines Directord und mehrerer Regifjeure ihren
nufitaliihen Großhandel treiben! Die vormärzlichen Leierkäften
verhielten fih zu den »vervollkommten« von heute wie Stuben
fliegen zu giftigen Scorpionen. Ein erjchütterndes Klagegeichrei
dringt plöglih wie ein Schwert in mein Ohr. Es iſt der
Sturm aus der Wilhelm:-Tell-Ouverture, den ein fehr »ver—
volltommter« Leierfaften mit riefigem vollem Werk und ſechs
Muſikaliſche Leiden. 419
Trompeten im Leib vor meinem Fenſter andreht. Ich eile, das
Fenfter zu fchließen — zweimal täglich ericheint dieje muſi—
kaliſche Guillotine mit ihrem Tell-Sturm, ihrer Don-Juan—
Duperture, ihrem Tannhäuſer-Marſch! Ich kenne das wüſte,
alte Weib, dad mit gleichgiltiger Bulldoggmiene fortorgelt,
während der »Director«, rechts und links die Kappe ziehend,
nah allen Fenitern hinauf begehrende Büdlinge fchneidet !
Wenn, wie zu erwarten Steht, die Vervollkommnung dieſer
Torturmwerkzeuge jo weit gediehen fein wird, daß fie und das
Mozart'ſche Requiem und Beethoven’3 C-moll-Symphonie in’
Haus bringen, dann wird jeder Menſch von einigem Gehör
und Ehrgefühl auswandern müfjen.
Wil und kann man die Leierfäften nicht geradezu
aufheben, jo möge man fie menigitend® in ber inneren
Stadt verbieten. Hier bringt e8 die Enge der Straßen mit
fih, daß man immer mehrere Drehorgeln, ein halb Dutzend
Glaviere und verjchiedene Gejangsübungen zugleich hört.
Es iſt thatfählich To weit gefommen, daß man in der in
neren Stadt den Frühling und Sommer bei fejtverichlofjenen
Fenftern zubringen muß. Leierfäften jollten im engeren Sinne
des Wortes eine Landplage fein. Wie auf flahenm Lande
dad Haufiren überhaupt einen Sim Hat, fo auch das
Haufiren mit Muſik. Dorfbewohnern, die nur des Sonntags
Mufit hören, mag 83 willkommen fein, wenn eine ver:
ftimmte Pfeifenlade ihnen den feltenen Genuß einiger Opern-
oder Walzermelodien in’3 Haus bringt. Da jubeln die Kinder,
da tanzen die Mägde, und ich weiß nichts Wichtiges, was da-
duch geftört würde. Ander® im Innern einer Refidenzitadt.
Hier quillt ohnehin von Früh bis in die ſpäte Naht Mufit
aus allen Thüren, allen Fenitern. Aus jeder Sneipe, jedem
öffentlichen Garten ertönt Abends Geſang und Mufik, treffliche
Militärbanden durchziehen die Stadt, die häuslihe Muſik—
Conſumtion ift ins Ungeheuerlihe angewadhien. Und nun pris
vilegirt man noch eine Unzahl ohrenmörderiicher Drehorgeln,
die nach Belieben zu zweien und dreien ſich in einer engen
Straße aufpflanzen und Hunderte von ruhig arbeitenden Menſchen—
findern peinigen dürfen! Das Ginzige, was gegen den allge:
27*
420 1865.
meinen Wunſch nad Abſtellung diefer Salamität immer wieder
eingewendet wird, ift, daß diefe Mufifhaufirer ja Ermwerb-
fteuer zahlen. Defto ſchlimmer. Bettler fertigt man mit einem
Almofen ab, oder nimmt feine Notiz von ihnen, fall® man
nicht will. Wer kann aber von dem aufdringenden Thun der
»pervollfommten« Leiermänner feine Notiz nehmen? Das find
bewaffnete Bettler. Würde man Leute gegen Erlag einer Er:
merbfteuer etwa berechtigen, Jeden, der ihnen begegnet, zu
figeln oder zu zwiden? Ich finde feinen erheblichen Unterjchied
zwijchen diefem und dem wirklichen PBrivilegium der Leierzunft,
einer ganzen NRefidenzbevölferung das (ohnehin fo lärm—
gequälte) Gehör vollends zermartern zu Dürfen.
Schreiber diejer Zeilen wohnt in einer Straße der inneren
Stadt, welche als eine »ruhige und angenehme« gerühmt wird.
Wohl wäre fie ruhig und angenehm, hätte nicht der Muſik—
dämon fie zu einem jeiner beliebteiten Stationspläße erforen.
Bon den Leierfälten will ich nicht mehr reden, die fich Hier
regelmäßig ablöfen, oder auch gleichzeitig auf geringe Diltanz
»werfeln«, der eine die Wilhelm-Tell-Dupverture mit Trompeten:
Negifter, der andere den »Trovatore« mit fortwährendem
»Tremolo«e, auch einer neuen, jauberen »Berbolllommung«.
Bor ihnen ift feine Rettung, fie haben fein Gefühl! Aber mit
den nicht jteuerpflichtigen, vornehmeren MWerfelmännern im
eriten und zweiten Stod meiner unglüdlihen Gaffe möchte
ih noch ein bejcheidened, freundnachbarliches Wort ſprechen.
Eigentlich find es Werfelfräulein, mufttaliihe Satanella®, ohne
Zweifel jung und hübſch, überaus gebildet, aber von fehr
weiten mufifaliichen Gewiſſen, liberalftem Gehör und ftet ver-
ftimmten Clavier. Während die Fräulein mir gegenüber den
ganzen lieben Tag ale Offenbach'ſchen Operetten, Beethoven's
»Sonate pathötique«, Strauß’ihe Walzer, den Bacio und Die
Zampa-Duverture nacheinander abthun, biutet über ihnen
ein junges Opfer mufifaliicher Dreifur unter langjamen Ton:
leitern und Uebungen. Rechts von mir begrüßt ein Fräulein
mit (leider audgiebiger) Sopranftimme den anbrechenden Morgen
mit italieniichen Arien auß »Lucia« und »Lucrezia«. Es ſcheint
ihr Appetit zum Frühſtück zu madhen, und Donizetti iſt ja
Muſikaliſche Leiden. 4921
ohnehin ſchon todt. Einige Häufer weiter wird dad Familien:
fouper regelmäßig durch vierhändiges Abſchlachten von Ouver—
turen eingeleitet. Iſt gerade Mondichein, jo ftöhnt auch eine
Physharmonifa ihren Weltſchmerz in dies liebliche Enjemble.
Da3 märe nun Alles recht und gut — bei gejchlofjenen
Fenitern. Aber warum kommt folchen gebildeten und kunſt—
finnigen Gemüthern niemal®, gar niemal® der Gedanke, es
fönnten dieſe außerordentlichen Mufifproductionen andern Leuten
in der Straße doch vielleicht nicht erwünſcht fein? Liegt
nicht in dieſem unaufhörlihen Muficiren bei offenen Fen—
ftern auch eine Art Barbarei, ähnlich jener der Drehorgel-
männer? Muſikaliſches Fauftreht — im erften Stod oder vor
dem Hausthor. Iſt die Nächftenliebe nicht ftarf genug, die
Fenſter zu Schließen, fo follte e8 doch die Eitelkeit fein. Denn
was fol man von der muſikaliſchen Empfindung und Bildung
eines Pianiften halten, der bei offenem Fenfter im eriten Stod
ein Adagio in C-moll fpielt, während unten eine Drehorgel
von 20 Pferdefraft ihn mit einem H-moll Cſardas übertönt
und vis-A-vis aus gleihfall3 weit geöffnetem Fenſter eine fräftige
Sängerin ihr Verlangen nad) einem »Bacio« in Des-dur pro=
clamirt! Meine mwerthen Fräulein, bedenken fie doch!
Am verfloffenen Samftag Abend — es war obendrein
ein prachtooller, warmer Abend — hörte ih ausnahmsweiſe
feinen Ton in meiner Gaſſe. Das kam daher, weil ich mich
im »Volfögarten« befand, vergnüglich pojtirt vor dem Strauß:
fhen Orchefter. Allein auch die neuen Walzer von Johann
Strauß vermodten mid für die außgeitandenen Plagen nicht
wie fonft zu entihädigen; es fehlte ihnen der alte Melodien:
duft von ehemald. Gereizt wie ich war, verfiel ich auf ein
neues mufithiftorifches Apereu: Strauß Sohn hat fi offen-
bar einen Act großartiger Hiftorifcher Vergeltung zum Ziele
geſetzt. Als gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die Orcheiter-
muſik durch ſyſtematiſche Verflahung des Haydn'ſchen Styles
populär gemacht wurde, gingen die Herren Pleyel, Wra—
nigfy, Hoffmeifter, Gyrowetz und Rojetti, alſo die von
Niehl »vergötterten« Philifter jo weit, die fidelften Ländler zu
Motiven ihrer Symphonien uud Duartette zu machen. Sohann
422 1865.
Strauß fcheint diefe Schmad feiner Wiener Vorfahrer durch
Compenſation tilgen zu wollen und jchmüdt feine Walzer mit
Motiven, deren Ehrenplag von rechtöwegen bie Symphonien
neuejter Schule wären. Deßhalb contrapunktirt, fich ſelbſtver—
leugnend, unfer Walzerkönig; deßhalb (um im Style der per-
ſiſchen »Bapageienmärdhen« zu jprechen) ftreiht er mit Dem
Bogen der Gelehrfamfeit die Saiten der Schwermuth. Ein
Feuilletonift äußerte jüngft: Strauß fcheine feine neueſten
Walzer mehr für den Mufenhof zu Weimar, als für Wien
berechnet zu haben. In der That bemerkte auh ih in Strauß’
Nopvitäten jenen jcharf pridelnden Duft, den das Wildpret
auzftrömt, wenn es nach Vergangenheit, und die Muſik, wenn
fie nah Zukunft riecht. Diejenigen feiner Walzer, welche ohne
hervoritehende Originalität wenigſtens friſch und natürlich
fingen, find noch immer weit befjfere Tanzmufif, al3 jene ge—
jpreizten Themen, deren eudloje Perioden fi mit der geſuch—
teſten Harmonifirung verbinden, um Ohren und Füße in 2er-
wirrung zu bringen. So ift der Anfang der neueſten Walzer:
partie: »Die Ertravaganten« zwar eine altitraußifche Re—
miniscenz, aber dur ihren glänzenden Schwung das Beſte
aus dem ganzen Heft. Sogleich folgt aber ein Langgeftredter,
diatoniſch auffteigender Cantus firmus und andere gelehrte
Seltenheiten, welche mit Romeo lächelnd zu fagen fcheinen:
»Wir meinen’ gut, da wir zum Balle gehen, doc ift es
Unveritand«,
1866.
ÖOrchefter-Eorcerte. .
Das Sröffnungsftüf der Philharmoniker, Spohr's
Duverture zum »Berggeiit«, wurde ſehr fühl aufgenommen.
Eine große fünftleriihe Bedeutung des Werkes fünnen mir
allerdings nicht diefer Aufnahme anflagend entgegenhalten, doch
hat dasjelbe ftet3 anziehend und harmoniſch auf und gemirft.
Gewiß wäre dad gänzlihe Verſchwinden Spohr’iher Muſik
aus den Goncerten als ein Verluft und Unrecht zu beklagen.
Für unfer Theil wenigſtens befennen wir, daß wir gerade
jeit dem Seltenwerden Spohr'ſcher Mufif uns jedesmal an
genehm berührt fühlen, wenn diefe Entfremdung von Zeit
zu Beit durch eine Gompofition feiner beileren Periode
(vor 1846) unterbroden wird. Spohr ift nicht nur ein
tüchtiger Meifter, ſondern eine wahrhaft liebenswürdige und
eigentHümliche Individualität, freilich auch eine einfeitige, fich
gern mwiederholende, weßhalb denn auch amı beiten genießt,
wer fie mäßig genießt. Kaum zwei Decennien ift’3 her, daß
man vor einem allzu eifrigen Spohr-Cultus warnen mußte,
und jet bedarf es jchon einiger Anftrengung, um die Werke
des Meifter vor dem Schidjale gänzlihen Vergeſſens zu
retten! — Frau Marie Wilt jang mit entjchiedenem Erfolg
die Arie mit Chor aus Mendelsſohn's unvollendeter Oper
»Loreley«. Letzteres Stüd, zulekt im Jahre 1855 von Fräulein
Tietjens hier gelungen, erjchien einem großen Theil des Pu—
blicums als Novität. Bei aller Bewunderung techniicher Vor—
züge konnten wir und doch für dieſe »Loreley« niemals erwär—
424 1866.
men. Dad Stüd ijt glänzend im Sinne des Beltechenden ;
jeinem unleugbaren äußeren Effect Tiegt fein entiprechender
jubitanzieller Gehalt zu Grunde. Speciell vom muſikaliſchen
Standpunkt erfcheint die technifhe Meiſterſchaft in der über:
fihtlihen Anordnung des Ganzen, wie in der glänzenden
Darftellung alles Cinzelnen bewundernswerth, während Die
eigentliche mufifaliihe Kerngeftalt, die melodifhe Erfindung,
bon geringer Bedentung ift. Dramatifch angejehen, dünft uns
das Phantaſtiſche allzufehr den Ausdrud des Gefühle zu
überragen; die Leidenschaft mehr angeflogen, al® aus der
Tiefe hervorbredend. Das märdenhafte Clement jteht hier
gegen das menſchliche im entichiedenften Wortheil; neben den
fühlen, aber blendenden Niren:Chören tönt die Klage des
Mädchens nicht warm und tief genug. Man vergefje nicht, daß
diefer Aufruf der MWaffergeilter den Höhepnnft in Leonorens
Herzend-Tragödie bildet; das Aeußerſte ift an ihr gefrevelt
worden, »der Menjchheit ganzer Sammer faßt fie an«. Dafür
fehlen der Mendelsjohn’ihen Compofition die entſprechenden
Töne. Die beiden wichtigften und für den Componijten ver-
pflichtendften Stellen in Leonorens Klage waren vielleicht Die
Verſe: »Für meine Liebe hat er mich zertreten; weil ich ihm
Alles gab, däucht' ih ihm nichts« — dann der Auöruf:
Nimm Hin zum Pfande, nimm Hin den Brautring!« Im
Mendelsſohn's Compofition Hingen fie conventionell und ge=
macht; Worte wie diefe mußten wie heiße Thränen in Die
fühle Fluth fallen. Auch die beiden größeren Geſangsſätze
Leonorend, dad Andante in Fis-moll und dad Schluß-Allegro
in E-dur: »Es jeil« athmen mehr rhetoriiches Pathos als
wahre Leidenihaft. Das Beſte bleibt jedenfalls der einleitende
Chor der Wafjergeifter: von anmuthigem Scaufeln fortjchrei-
tend bis zu wogendem Gebrauje, dad ganze Bild übergofien
mit den effectvolliten Farben des Orcheſters.
Bekanntlih hat Mendelsfohn von dem ganzen Gei-
bel’ichen Libretto »Loreley« nur dieſe eine Scene vollendet.
Es macht einen tragischen Eindrud, den Tondichter fein ganzes
ruhmvolles Leben hindurh raſtlos und fruchtlos nad) einer
Dper ringen zu jehen. Bon feinen dramatiichen Jugendarbeiten:
Mendelsiohn's »Lorelehe. 425
»Cammacho« und »Heimkehr aus der Fremde« hat die erftere
im Theater gar fein Aſyl, die letztere nur ein fehr flüchtiges
gefunden. Seitdem hatte Mendelsfohn nie aufgehört, nad
einem würdigen Operngediht zu ftreben und darüber mit
PBoeten wie Immermann, E. Devrient, Geibel u. A. auf's
eifrigfte zu unterhandeln. Durch Zufall ftießen wir kürzlich auf
einen neuen, noch nicht befannt gewordenen Beitrag zu dieſem
Tantalus:Capitel in Mendelsſohn's Leben. ES ift ein eigen-
händiger Brief Mendelsſohn's an den Dichter Bauernfeld,
den er gleihfalld um einen DOperntert angegangen hatte. Das
Schreiben (datirt Berlin, am 10 Juli 1838) bezieht fih auf
ein nicht näher bezeichnetes Libretto, das ihm Bauernfeld zu:
geihict, ohne den Componiften damit befriedigen zu können.
»Ich wünſchte mir«, fchreibt Mendelsjohn, »zum Anfang feine
Zauber-Oper, oder vielmehr, ich traue mir in dieſem Fade
nicht genug Talent zu, während ich im rein ernften oder rein
heiteren Styl mit mehr Zuverficht arbeiten würde. Schwebt
Ihnen nun ein erniter, hiſtoriſcher oder ein intriguanter oder
ganz heiterer menſchlicher Stoff vor, jo bitte ich, theilen Sie
ihn mir mite. Das Bauernfeld’ihe Libretto hieß, wie und
der Dichter freundlichit mittheilt: »Der Geijt der Liebe«, und
war eine richtige Zauber-Dper in phantaftiicheorientalifchem
Goftüme, mit Niren, Feen und Dämonen. 3 ijt bemerfend-
werth, daß Mendelsjohn in jeinem Briefe an Bauernfeld
(fowie einmal fpäter gegen Otto Prectler) gerade Die
phantaftifch-märcdhenhaften Stoffe ablehnt, für welche ihn die
allgemeine Stimme auf Grund feine herrliden » Sommer:
nachtstraum« vorzüglich befähigt und eingenommen glaubte.
Sm Grunde mag ihn weniger ein Mißtrauen in fein Talent,
als die richtige Weberzeugung geleitet haben, daß die Zeit der
Niren- und Elfendramen vorüber jei. War doch eben unter
Anderem der früher erwähnte Spohr’iche »Berggeiit« mit
feinen großen mufifaliihen Schönheiten an einem findijchen
Geiftertert gefcheitert*). Und fiehe da, am Ende fpielt die jelt-
*) Spohr’3 »Berggeiſt« ift eine Art verdoppelter »Hans
Heilige, indem nicht blos der regierende Berggeift, ſondern zugleid)
426 1866.
ſame Sronie des Schidjal® Mendelsſohn doch wieder eine
Niren:Oper, die »Loreley«, in die Hände. Müde des Suchens
und Harrens, verjöhnt er fih damit, entjchließt fih zur Come
pofition, beginnt dieſe gerade bei der Nirenjcene und ftirbt
darüber.
Raff's C-dur-Suite, op. 102, beiteht aus fünf Süßen.
Der erſte bringt eine breite, pompöfe »Introduction« und darauf
eine jehr trodene Fuge mit äußerft phyfiognomielofem Thema
und unruhiger Durchführung. Es folgt ein »Menuett«, unbe-
deutend. in den Themen, aber von graziöjer Haltung und fehr
pifanten Detaild. Achnliches läßt fi von den beiden folgenden
Süßen, den beiten der Suite, jagen, einem gejangvollen »Ada—
. gietto«e und einem recht niedlichen, elfenartig plauternden
»Scherzo«e. Der gegen das Frühere wieder abfallende Schluß:
jag ijt ein ⸗Marſch« von nicht origineller Erfindung, aber jebr
effectvoller Mache. Unter den Orcheſterwerken der neudentichen
Schule uud unter den Raff'ſchen jpeciell nimmt die Suite
eine beachtenöwerthe Stelle ein. Gegen die »Preis:Symphonie«
desjelben Componiften gehalten, erſcheint und die »Suite«
als erfreulicher Fortichritt, fie verzichtet auf die ermübdende
Länge und Ueberfüllung, wie auf allzu ftarfe Harmonische und
rhythmiſche Torturen. Naff hat in dieſer Suite fich größerer
Klarheit und Einfachheit befliffen, alſo einen Weg eingeichlagen,
zu welchem wir dem begabten Componiſten nur gratuliren
fönnen. Das Werk hat und auf das anregendfte beichäftigt, Durch
viele Schöne Einzelheiten erfreut nnd überrafcht; einen be—
ftimmten, ſtarken und nachhaltigen Eindrud haben wir aber
nicht mit fortgenommen. Es ift das ein Charafterzug dieſer
ganzen modernen Schule, deren Princip wir »Emancipation
des Detaild« nennen möchten. Sie bringt es über die geiftige
Anregung und dad momentane Gefallen nicht hinaus biß zur
vollen, nachhaltigen Befriedigung. Es fehlt ihrer Muſik bei
allen Glanz und Ejprit an jener Nothiwendigkeit und überzeu:
auch fein Kammerdiener »Droll« ſich nad) irdifcher Liebe fehnt. Wir
jehen ſie jelbander zur Erde auffteigen, dafelbit ſchreckliches Unheil
anrichten und fchließlih, mit irdischen Körben beglückt, jich wieder in
ihre geologische Reihsanftalt zurückziehen.
Suite von Eifer. Liederkreis bon Beethoven. 427
genden logiſchen Gewalt, weldhe die Tondichtungen der Glaf-
fifer, bejonder8 Beethoven’3, auszeichnet. Wir haben nicht ein
natürliches Werden und Wachſen der Ideen vor und, jondern
ein mufifaliiches Machen. Immerhin haben wir, wie gejagt,
an Raff's »Suite« eine anziehende neue Bekanntſchaft getvonnen.
Eine noch anziehendere an Eſſer's zweiter Orcheſter—
Suite in A-moll, welche fih bei der Aufführung einer glän—
zenden Aufnahme erfreute. Die Hand des Meifterd verläugnet
jih darin in feinem Tal. E3 dürfte Heutzutage jehr wenig
Componiften geben, welde die Kunft, polyphon zu fchreiben,
mit jolcher Leichtigkeit, Correctheit und Eleganz handhaben,
wie Ejjer. Tritt diefe Kunſt ehernen Scrittes, voll Kraft
und Nahdrud im erften Satze auf (wohl dem bebeutenditen
des Werkes), jo leidet ſie fich in den beiden folgenden in das
anmuthigite, fließendite Gewand. Diefe mittleren Süße, ein in
den mannigfachſten, reizendften Klangfarben jchillerndes Alle
gretto und ein äußerft interejfant (mitunter etwas concertmäßig)
bariirted® Andante wirfen mit unmittelbarem Reiz auf das
große Publicum, während fie gleichzeitig dem Mufifer von
Fach zu hören und zu denken geben. Das Finale, ein brillantes
Allegro, ſchien ung gegen die früheren Säte abzufallen, fein
Teuer ilt jedenfall® etwas Außerlicher Natur und die Inſtru—
mentirung mitunter jtärfer als die Gedanken. Es ift eine
überrafchend neue Seite, die Eſſer mit feinen zwei Orcheſter—
Suiten jo plößlich hervorgefehrt hat, er, der biß jet faft nur
durh eine große Zahl von Liedern befannt war, die "zum
großen Theil anmuthig und dankbar, zum Theil aber aud
ziemlich unbedeutend und phyfiognomielos find. Wir gratuliren
dem trefflihen, als Künſtler wie als Menich gleich ver:
ehrungsmwirdigen Mann bon ganzem Herzen zu dieſem neuen
Aufſchwung.
Für die Vorführung von Beethoven's Liederkreis »an
die entfernte Geliebte« fonnte man Herrn Dr. Gunz und
Herrn Gapellmeifter Deſſoſf nur dankbar jein. Das Werk
gilt für den Höhenpunft von Beethoven's Lieder-Compofition
und wurde jei zwanzig Jahren (wo Erl, von Liſzt accome
pagnirt, e8 vortrug) bier nicht gehört; Beethoven, in allen
428 1866.
andern Runftformen feiner Zeit repolutionär vorauseilend, ver:
hielt fi gerade im Liede ſehr confervativ, mitunter reactionär.
Wir glauben oft Haydn und Mozart, ja Gyrowetz, Weigl
und Winter zu vernehmen. Etwas lnfreies, Bürgerliches,
mitunter ſogar Triviales ftedt in der Mehrzahl der Beethoven:
chen Lieder. Bald an das ältejte, einfachſte Strophenlied an-
lehnend, bald in italienifirende Opern-Gadenzen verfallend, ift
Beethoven im Lied fat niemald ganz Er felbft. Nur einzelne
Hccordfolgen, Rhythmen, Melodientheilchen verrathen ihn. Das
Lied ift die einzige Kunftform, die erſt nach Beethoven einen
ungeahnten Aufſchwung nahm. Schubert war es vorbehalten,
unvergänglide Zaubergärten auf einem Gebiete zu pflanzen,
über welches Beethoven faum feinen Schatten geworfen. Bon
allen Liedern Beethoven's ift feinem Wolfe nur Eines ans
Herz gewachlen: die »Adelaide«, die der Meilter verbreunen
wollte. Beethoven's Zeitgenofien haben mit richtigem Inftinct
diefe ſüßeſte, zärtlichite Melodie, zu der ihn jemals ein Ges
dicht begeiftert hatte, unter ihren Schu genommen und mit
einer beifpiellojen Popularität befränzt. »Adelaide« ift wohl
dad einzige Lied von Beethoven, deſſen Verluft eine Lücke in
dem Gemüthsleben unjerer Nation zurüdlaffen würde.
Der zweite Weihnachts-Feiertag brachte diesmal wie all-
jährlih ein »Philharmonifches Concert«. Muſikaliſche Pſycho—
logen oder Vhyfiologen mögen nad den Gründen forfchen,
warum unfer font jo elaftiiches Concert-Publicum jedesmal an
diefem Tage ganz eigenthümlih müde und zerftreut erjcheint.
Die Thatſache felbit fteht uns feſt. Insbeſondere für Novitäten
it der Stephandtag ein dies nefastus; Hiller’3 E-moll-Sym:
phonie mußte die geftern erfahren. Wir glauben keineswegs,
daß die Gompofition zu anderer Zeit ein enthufiaftiihes Publi—
cum gefunden hätte; ein etwas theilnehmendere® aber hatten
wir doc gehofft. Ferdinand Hiller fol nun einmal in Wien
fein Glüd haben. Werke feiner Compofition, welche im übrigen
Deutichland ſchöne und bleibende Erfolge errangen, gingen hier
ſpurlos vorüber. Einen wirklichen Succeß hatte in Wien nur
jein allerfleinfte® Stüd, da8 von Clara Schumann eingeführte
Clavier-Impromptu: »Zur Guitarree. Für Hiller ift in Wien
Symphonien von Hiller und Neinede. 429
der rechte Zeitpunkt verpaßt worden; wir meinen die Periode
de3 leidenjchaftlichen Mtendelsfohn-Eultus. Das verwandte, wenn
auch ſchwächere Aroma der Hiller’ichen Mufit wäre damals auf
geeignetere Sinne geitoßen. Daß Hiller’3 Mufif fein Trunk
bon der Duelle iſt, da ſpürt Freund wie Feind ſchon am
eriten Schlud. Der höher liegende Quell, der Hiller’3 Talent
durch verborgene Ganäle jpeift, it Mendelsjohn Nun will
und ſeit einiger Zeit dieje Quelle ſelbſt nicht mehr ſo friſch
und jtärfend Dünfen, wie vordem — eine Wandlung, welche
mit verdoppelter Schwere die abgeleiteten Talente, wie Hiller,
Gade, Benett, Reinede, trifft. Mit kühler Anerkennung ſalu—
tirt man jet Productionen und Eigenichaften dieſer Künitler.
welche man vor 15 bis 20 Jahren ſympathiſch empfunden hätte.
Das Wiener Bublicum hat von Natur, und ununterbrochen
beeinflußt von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, einen
entjchiedenen Zug zum Urfprünglichen, Erfinderifchen, namentlich
zum Melodiih-Driginellen in der Mufif, ein Zug, den man nur
beglückwünſchen kann, und der fih in hohen wie niedrigeren
Kunftregionen (3. B. in der Vorliebe für die italienifche Oper)
übereinjtimmend ausſpricht. Diefe Richtung trifft offenbar das
Wahre, denn die jchöpferifche, originelle Kraft ift umd bleibt
dad Erite in der Mufit; das Talent wiegt ſchwerer als die ge—
bildete Technik. Demungeachtet darf man es bedauern, daß mit-
unter Compofitionen bon geiftreicher, vornehmer Individualität
und feinfter Durhbildung in Wien nit die Anerkennung
fanden, welche ihnen anderwärt3 in Deutichland gezollt wurde,
und die fie vom fünftlerifchen Standpunkte vollauf verdienen.
Die Zahl der muſikaliſchen Original-Genies ift eine fehr Kleine,
und wenn man conjequent die Arbeiten der feinen Bildung als
ungenügend ablehnt, wird dem Goncert:Repertoire bald der
nothiwendigfte Zufluß fehlen. Am ftrengiten verhält fich unfer
Publicum gegen Nopvitäten ſymphoniſcher Gattung. Daß dabet
unmwilltirlih immer an Beethoven gedacht wird, das ift unfer
und der Componiſten Unglüd. Beethoven verdirbt jeder mo:
dernen Symphonie dad Spiel, er hat factifh »alle Neun«
gemadt. Ob wir wohl daran thun, diefen höchſten Maßſtab
an alle Broductionen unferer Epigonenzeit zu legen, Icheint ung
430 1866.
jehr zweifelhaft. Es gibt wie in der jchönen Literatur jo auch
in der Mufif neben den großen genialen Dichtern eine andere
zahlreihere Gruppe, welche wir als die der angenehmen, liebens—
würdigen Erzähler bezeihnen möchten. Es find Talente von
geringer Naturfraft, aber feiner Bildung, die von oben herab
zu behandeln das hörende Publicum noch weniger Urſache
bat, als das viel reicher bedachte Iejende. Und doch ift letz—
tereö ungleich toleranter und dankbarer. In der Mufik finden wir
heutzutage Publicum und Kritif erſtaunlich ftreng geworben.
Gritered bat das volle Recht, nur feinem unmittelbaren Impuls
zu folgen. Die Kritik hingegen, jo meinen wir, follte zweierlei
nicht vergefjen. Einmal, daß man überhaupt fih hüten muß,
die künſtleriſche Production Igitematifch zu entmuthigen. Sodann,
daß gerade im Fach der reinen Inſtrumental-Muſik wir aus—
ihließlih auf Deutichland verwiejen find. Während uniere
Dpernbühnen einen wejentlihen Succurd aus Franfreih und
Stalien beiigen und an einem zeitweiligen Schmollen der
deutichen Opern-&omponilten nicht zu Grunde geben werden,
ruht die gefammte Production iymphoniiher Muſik in den
Händen einiger weniger deutiher Tondichter. Gemwöhnt man
fih, Lestere einfach an dem Feljen Beethoven zu zerfchellen und
für Nopvitäten wie mande der jüngit gehörten nur Worte
der äußerſten Geringihäßung zu haben, jo raubt man gleich:
zeitig — bis nicht ein zweiter Beethoven ericheint — dem
Publicum die Möglichkeit, Neues zu hören, und den Künft-
lern die Luft, Neues zu Schaffen.
Hiller’3 Symphonie (op. 67) trägt den Geibel’ichen
Refrain: »Es muß doch Frühling werden!« ald Motto. Der
poetifhe Kriegöplan des Ganzen, das allmälige Durdringen
aus Froſt und Winterftürmen zu fröhlihem Sonnenſchein, zu
Veilchen und Lerchen liegt in diefen Worten vorgezeichnet. Mit
feinem und conjequentem Sinn hat ihn der Componiſt durch—
geführt; jchade nur, daß er nah langem Wintermarih uns
ſchließlich doch einen echt deutfchen Frühling bejcheert, dem man
ohne Regenschirm und Ueberrock feinen Augenblid traut. Der
erſte Sat, ein jtürmifches Allegro in E-moll, das ſchon durch
den Stoff an die Einleitung zu Mendelsſohn's »Malpurgis:
Symphonien von Hiller und Neinede. 431
nachts erinnern muß, hat Spannung und energiihen Fluß,
geiltreiche thematifche Verwendung aller Motive und Motivchen,
ift aber etwa3 lang ausgeſponnen. Die beiden mittleren Sätze
find Die gelungenften: ein zartes, fingendes Adagio (C-dur, ?/,)
mit reizend außflingendem Schluß und ein lebhaft pridelndes
Scherzo in fchnellem Zweivierteltaft, dad in Motiven und In—
ftrumentirung allerdingd ftarf an Mendelsſohn's »Sommer:-
nachtstraum« mahnt. »Befreit vom Eis find Strom und Bäche«
— nun möchten wir im legten Sa den Frühling ungeltört
mit voller Freudigfeit genießen. Aber das Finale (E-dur, ?/,)
bringt es nicht zur vollen Blüthe, es will eben noch immer
»Frühling werden«. Falt Alles hing bier von einem glück—
lichem Thema ab, und daß gerade für den Finaljag Hiller
fein frifcheres und bedeutenderes fand, wird verhängnißvoll für
den Totaleindrud der ganzen Symphonie. Mußte Hiller’3 Sym:
phonie fich mit einem Succès d’estime bejcheiden (nur Adagio
und Scherzo janden lebhafteren Anklang), jo fünnen wir troß-
dem die Mahl des Stüdes von Seiten der Philharmoniſchen
Gejellihaft nicht anfechten. Ein Mann von dem Namen umd
Verdienſte Hiller’3 hat den gegründetiten Anfpruch auf Be—
achtung. Hiller ift als Mufifer wie als Schriftiteller und
Dirigent eine Zierde feines Vaterlandes, und wer jemals feinen
anregenden Umgang genoß, der wird auch die lebhafteiten
Sympathien für den trefflichen, liebenswürdigen Menſchen
gern befennen.
Eine Symphonie von Karl Reinede (A-dur, op. 79)
fand bier freundliche, aber keineswegs begeilterte Aufnahme.
Die Aufführung konnte feiner und eleganter kaum gedacht werden;
daß der Beifall feinen höheren Temperaturgrad erreichte, war
fomit mur in dem Charakter des Werkes jelbit begründet.
Reinecke's Phantafie reißt und nicht im Flug nach unbefannten
Regionen empor, fie führt uns an fanfter Hand durch heimifche
Fluren und Thäler. Nicht von genialer Gigenart oder Ueppig—
feit, iſt Reinecke's Talent doch beachtenswerth. In unjerer
Zeit der falfchen Genies (die im Gegenjaß zu den Pierres de
Strass von den echten jehr Leicht zu unterfcheiden find), haben
wir allen Grund, ſchon die negativen Vorzüge des Componiſten
432 1866.
hochzuſchätzen: ſeine Scheu vor allem Häßlichen und IUnwahren,
vor jeder Rohheit und Affection. Auf diefem Boden erblühen
bei Reinecke als pofitive Tugenden: anmuthigsmelodiöfer Ge—
ang, feinfte Empfindung für Ebenmaß in Form und Stim-
mung, und geichmadvolle Beherrihung aller Inſtrumental—
mittel. Wir finden diefe Eigenichaften Reinecke's auch in
jeiner neuen Symphonie wieder. Alle vier Sätze haben
den Vorzug einer bejcheidenen Kürze; der Componift ver-
ſchmäht es, fih größer zu ftreden, al3 er gewachſen. Einzelne
Gedanfen erinnern an Schumann und Mendelsſohn; den Blick
auf das Ganze gerichtet, kann man troßdem Reinede weder
als Nahahmer des Einen, noch des Anderen, nod eines
Dritten bezeichnen. An Beethoven muß man freilic” nicht
denken, und daß wir dies bei jeder neuen Symphonie thun, iſt
unjer und unferer Componiſten Unglüd. Wem aber zufällig die
jüngit gehörte Cherubini’ihe Symphonie einfiel, der wird viel-
leicht dem freimüthigen Geftändniß beiftimmen, daß wir Rei—
necke's freundlich gepflegten Garten noch immer jenem hof—
färtigen Porticus vorziehen, in deſſen Riten alle Eulen der
Langeweile ihre Nefter bauen.
»Waſſermuſik«, »Feuermufife — jeltfame Titel zweier
ehemals gefeierter GCompofitionen von Händel! Ermwarte ja
Niemand irgend eine ſymboliſche oder poetijche Beziehung diejer
Elemente zu dem Inhalt der GCompofitionen, die überhaupt
wenig Glementarifhes an ſich haben. Zwei Hoffeitlichkeiten:
eine Wafferfahrt auf der Themſe (1716) und ein jolennes
Feuerwerk aus Anlaß des Aachener Friedens, waren die Ge-
legenheitsmacher und Taufpathen diefer Mufikftüde. Nach dem
Vorgang auswärtiger Concert-Inftitute führten una die »Phil—
harmonifer« am vorigen Sonntag einen großen Theil der
Händel’ihen »Waſſermuſik.« vor. Das Original beiteht aus
etwa zwanzig kurzen, nach Suiten-Art aneinandergereihten Stüden.
Herr Gapellmeifter Deſſoff hat mit richtigem Takte die beiten
und wirffanften Stüde (Duverture, Adagio, Bourree, Andante,
Menuett, Allegro) aus dieſer obſoleten Maſſe herausgeſucht.
Bei Anhören derſelben beſchränkte ſich unſer beſcheidenes Ver—
gnügen auf das hiſtoriſches Intereſſe und einige angenehme
Händel »Waffermufif«e. Lachner »Suitee. 433
Nebengedanken moderniter Art, nämlich über den unermeßlichen
Forticgritt an Leib und Seele, welchen die Inftrumentalmufif
jeit jener gloriofen Wafjerfahrt gemadt Hat. Den Genius
Händel’3, des Meiiters im Oratorium, lernt man aus feinen
Snftrumental-Sompofitionen überhaupt nicht fennen; fie verrathen
die unläugbare Starrheit und Schwerfälligfeit einer fich eben erſt
entwidelnden Kunſt, ohne die gewaltige Eigenthümlichkeit Seb.
Bach's auf diefem Gebiet zu erreichen. Weit eher nocd können
wir und an den Händel’ichen Elavier-Suiten erfreuen, als an
diefer »Celebrated Water-Musie«, deren größere Hälfte gerade-
zu ungenießbar iſt. Ohne fich durch den großen Namen Händel
im mindeften beirren zu laffen, nahm das Publicum die » Waffer-
mufif« bis zur vorlegten Nummer (Menuett in G-moll) mit
lautlofem Schweigen hin; hier erit, wo der dürre Stafetenzann
einige Blüthen anfeßt, wurde die Verfammlung warm und ver:
langte den Menuett jogar da capo. Dieje Ehre möchten wir
dennoch zum größeren Theil der Aufführung zufchreiben, Die
durch äußerſte Zartheit und glüdlihe Schattirungen der Ton-
jtärfe dad Stüd zu individualifiren und zu beleben verjtand.
Dem ganzen Werke fieht man feine Zeit an, nicht aber den
Genius eines der Größten diefer Zeit. Die gefunde Kraft, welche
die beiferen Inftrumentalftüde jener Epoche zu charakterifiren
pflegt, erjcheint ums in der »Waffermufif« und Aehnlichem über:
wiegend ald monotone Starrheit, Gebundenheit und Schwere.
Die 33 Jahre fpäter componirte Feuermuſik (»Musie for the
royal fireworks«) bewegt fich etwas lebendiger und freier —
wir wollen fie darum den »Philharmoniſchen Concerten« noch
feineswegs zur Aufführung empfohlen haben. Aus der grauen
Allgemeinheit dieſes Wafferfpiegel3 erhob fi, wie die märchen—
hafte Wunderftadt Vineta, mit zanberifhem Reiz Schubert’s
Mufit zu »Rojfamunde«.
Zum drittenmal und mit einer dritten »Suite« erſchien
Franz Lachner, der jugendlich friiche Veteran in Wien, um
jein der »Gejellihaft der Mufikfreunde« gewidmetes neueſtes
Wert jelbit vorzuführen. Das Publicum begrüßte ihn bei feinem
Eriheinen und nad jedem Sate der Compofition mit anhal-
tendem Applaus. Die neue Suite in Es-dur, die vierte in der
Hanslid. Aus dem Concertjaal. 2. Aufl. 28
434 1866,
Neihe (eine dritte in F-dur ift hier noch unaufgeführt) heilt
die glänzenden technifchen und formellen Vorzüge ihrer in Wien
fo beifällig aufgenommenen Worgängerinnen in D-moll und
E-dur. In der Kunſt ftrenger und doch mwohlflingender Poly:
phonie, reicher Figuration und Gontrapunftif, endlih in der
Meifterfchaft der Inftrumentirung fteht die neue Lachner’iche
Suite jenen beiden nicht nad. An Frifhe und Eigenart der
Ideen bleibt fie hingegen zurüd. Die »Arbeit« herricht in
manden Partien (befonder® dem erften und vierten Sag) allzu
merflih vor und ftreift dann an Trodenheit; ruft der Com—
ponijt hierauf als wirkſame Gegenfraft die Bopularität auf den
Kampfplag, fo verfällt er mitunter dem Alltäglihen und Ba—
nalen. Schöne Einzelheiten — gleihen Werthes vielleicht, wenn
auch nicht gleicher Zahl — Hat das neue Werk auch gegen
jeine beiden älteren Schweftern aufzumweilen; der Fluß des—
jelben erjcheint aber diesmal doch etwas ftodend und un—
gleih. So beginnt der erſte Sat jehr hübſch mit einem
marſchartig einherjchreitenden Motiv voll anmuthiger Würde;
nah 48 Taften macht dieſes auf Nimmerwiederjehen einem
blechgerüfteten Fanfarentfum Pla, da8 an da Gloria einer
Landmeſſe erinnert. Nur kurz vor einem gefälligen Gegen-
motiv in B unterbrohen und jchließlih kunſtvoll damit ver—
einigt, verläßt uns diefe pomphafte Alltäglichkeit nicht wieder;
allerdings legt fie nacheinander die reichiten Gewänder an,
welche die Fuge und der doppelte Contrapunkt, Augmentation und
Engführung nur herbeifchaffen fünnen. Das tranermarjchartige
Thema ded Andante tft nicht von bedeutender Erfindung, wird
aber in freier Variationenform mit großem Geſchick verändert
und verwendet; ein idylliſches Andantino in 9/,-Taft läßt den
Sat anmuthig, wenngleih etwas weichlich außflingen. Der
dritte Sat, »Sarabande«, nicht don hervorragender Eigen—
thümlichfeit, wirft durh anmuthig melodiöſen Fluß und über:
aus zierlihe Inftrumentirung. Das Thema der »Sarabande«,
fowie dad vorangehende Andantino am Schluß de zweiten
Sates erinnern ftart an Spohr. Der letzte Satz iſt »Gigue«
überfchrieben, obwohl er mit dem Charakter diejer alten Tanz:
form wenig gemein hat. Das Thema hat etwas redenhaft
Suiten von Lacher und Eifer. 435
Gewaltiges ; von den Contrabäffen angeitimmt und als vier:
ftimmige Fuge pompös eingeführt, macht es bald freieren
melodifchen Geftaltungen Platz (ein Wechfel, der zu den ſchönſten
Kunſtfortſchritten unferer Zeit gehört), ſtürzt ſich abermals in
den braufenden Wirbel der Contrapunktik, um endlich in fräf-
tigem und beichleunigtem Aufſchwung zu Schließen. Eine contra=
punktiſche Meifterarbeit voll anziehender Details, wirft dieſe
»Gigue« fchließlih doch etwas ermüdend. Der lärmende Bei:
fal am Schluß der Suite dürfte, jo weit wir dad Publicum
beobadten fonnten, noch mehr der verehrten Perſönlichkeit des
GComponiften, als dem Werfe jelbit gegolten haben — daß
die zwei erjten Suiten ungleich aufrichtiger gefielen, ift zweifellos
und mwohlbegründet.
Wie Eſſer's jüngft gehörte Suite (wir ziehen fie der
neuen Zachner’fchen vor), ift auch dieſe auf die Zahl von vier
Süßen herabgegangen, nachdem früher beide Componiſten ihre
Suiten fünf- und ſechsſätzig ſchrieben. Wie die Zahl der Sätze,
ſo iſt auch deren urſprünglicher Tanzcharakter bei Lachner und
Eſſer auf ein Minimum reducirt. Endlich erſcheint auch das dritte
Geſetz der alten Suitenform, die Einheit der Tonart in ſämmt—
lichen Sätzen, definitiv beſeitigt. Wir ſehen hierin ein ſehr
beachtenswerthes Zeichen, daß die modernen Verſuche zur
Wiedererweckung der alten »Suite« ihren ardaiftiihen Aus—
gangspunft bereit vollitändig verlaffen und unter Beibehaltung
des alten Namens fih der Symphonie wieder auf Eleinfte
Diftanz genähert haben. Die großen, claffiihen Schöpfungen
in der Symphonie und die daraus quellenden hohen An-
ſprüche haben in neuelter Zeit zwei Umgeſtaltungsverſuche dieſer
Form hervorgerufen: Liſzt's »Symphoniſche Dichtung«, welche
den Inhalt der Symphonie in einen Sat zufammendrängt,
und die ſymphoniſche »Suite«, die ihn in eine größere Zahl
von Süßen außeinanderbreitet. Beide Verſuche fcheinen eine
eingreifende, allgemeine Wirkung nicht zu üben, fie bleiben fait
ohne Nachkommenſchaft. Die indirecte gute Folge dürften fie
aber haben, daß die Symphonie fih nunmehr eine größere
Freiheit in der Reihung und Geſtaltung der Süße erlauben
wird, die ſchwer zu definirende, aber dennoch unentbehrliche
28*
436 1866.
Einheit des Gefammtbildes ſtets vorausgeſetzt. Es iſt nicht
einzufehen, warum Künftler wie Lachner und Eſſer fi unter
folhen Bedingungen nicht zur Symphonie befennen follten —
ihre letzten Orcefter-Suiten gehören der alten »Suite« gar
nicht und der »Symphonie« jedenfall® mehr an, ald irgend
einer anderen Runftform.
Mendelsſohn's „Antigone“ und Meyer⸗
beer’s „Struenfee“.
Als wir fürzlih in den Blättern die Notiz laſen, es
werde eine vollftändige theatraliihe Aufführung der »Antigone«
von Sophofles mit Mendelsſohn's Mufit vorbereitet, da ſagten
mir von ganzem Herzen: Amen. Denn leider hat Wien noch
niemal® Gelegenheit gehabt, den lebendigen dramatiihen Ein-
drucd der griehiihen Tragödie an fich zu erfahren, während
da3 Publicum in Berlin, München und Dresden die Aufführungen
der »Antigone« zu feinen Kunftgenüffen zählt. Ein einzigesmal
machte dad Theater an der Wien vor etwa 18 Jahren einen
Verfuh: er war nur halb gewagt und ift ganz mißlungen.
Diefe verihämte »Antigone«-Aufführung war nämlich nichts
weiter als eine Lectüre mit vertheilten Rollen; die Schaufpieler
faßen in Frack und Glacehandichuhen vor den Fußlampen
und laſen ihren Bart aus dem Buche, die Sänger hinter ihnen
aud den Noten. Das Publicum ſchien gleich nad den erften
Scenen in der beiten Stimmung, fih das Eintrittögeld an
der Kaſſa zurüdgeben zu laffen. Es hätte fih jeither längſt
verlohnt, die ſceniſche Aufführung der »Antigone«e ind Merk
zu ſetzen, da gerade Wien über theatraliihe und mufifaliiche
Kräfte verfügt, wie feine zweite Stadt in Deutſchland. Sei es
nun, daß der Plan einer vollftändigen Darftellung auch diesmal
nicht ernitlich gefaßt oder daß er von Hinderniffen überwältigt
wurde — die »Antigone«, weldhe und vorgeftern im großen
Redoutenſaal erfhien, war eben nur der oftgehörte Mufik-
Srtract mit »verbindender Declamation«.
Mendels ſohn's »Antigone« und Meyerbeer's »Struenſec«. 437
Das Abtrennen, Abzapfen der zu einen dramatiſchen
Ganzen gehörigen Mufit bleibt an fich ſtets eim äfthetiicher
Nothbehelf, mit dem wir je nach dem Charakter der Mufif und
fchwerer oder leichter abfinden. Die Männergefang-Bereine
handeln in vollem Necht, wenn fie ihr an größeren erniten
Gompofitionen armes Repertoire dur die Mendelsiohn’ichen
Chöre zu »Dedipus« und »Antigone« bereichern und diejelben,
unbefümmert um deren theatraliihe Beltimmung, als Concert:
muſik feithalten. Durch ihren abjoluten Muſikgehalt wie durd)
ihre relativ größere Unabhängigkeit von der Scene find dieſe
Chöre mehr als andere geeignet, ein jelbitjtändiges Concert-
leben zu führen; ungleich mehr 3. 8. als die Meyerbeer'ſche
»Struenjee«-Mufit, welche kurz vorher in einer Wohlthätig—
feit3-Afademie mit jehr zweifelhaftem Erfolg vorgeführt wurde.
Wir Hatten in Wien Gelegenheit, die Meyerbe er'ſche Mufif
mit dem Drama »Struenjee« und ohne dasjelbe zu hören,
im Theater und im Goncertfaal. Für eine begleitende
Schaufpielmufif gibt fie viel zu viel, ihr melodramatijcher
Epheu frieht in alle Riten des Gedichtes und verwiſcht die
unentbehrlihen Grenzlinien zwiichen Drama und Oper. Al
jelbitftändige Concertmufif hingegen gibt fie zu wenig und das
Wenige zu formlos und unruhig. Uebrigens dürfte noch eher
Mendelsjohn künftige Concert: Aufführungen der »Antigone« vor—
bedacht haben, als Meyerbeer die Iſolirung feiner » Struenjee«=
Muſik. Legtere jollte ja nur das Drama des geliebten Bruders
Michel Beer auf den Bühnen flott machen und erhalten; der
ftärfere Bruder wollte mit diefer Partitur den jchwächeren in
die Uniterblichfeit einkaufen. Meyerbeer hat es damit nicht
feiht genommen; wir zählen feine »Struenjee«-Mufit zu den
größten Anftrengungen, die er gemacht hat. Mitunter glaubt
man fürmlih den Schweiß diefes fünftleriichen Ringens zu
jehen, und fürmwahr, viel unmilliger würde man fih davon
abmenden, ſpräche nicht jeder Tropfen: Sch bin der Hüter
meines Bruders.
Gegen Meyerbeer's >» Struenjee«-Compofition, welche
mit dem Drama ftirbt und ohne das Drama nicht leben fann,
ſteht Mendelsſohn's »Antigone«-Muſik ungleich günftiger. Sie
438 1866.
verhält fich zur Tragödie des Sophofles ungefähr wie der
antife Chor zu dem dramatiihen Ganzen überhaupt: eine Art
Staat im Staate, nicht mithandelnd, jondern die Handlung
nur mitdenfend und mitfühlend. Was bier zu näherem Ver—
ſtändniß noch wünſchenswerth bleibt, fann durch ein jogenanntes
»verbindendes Gedicht« Leicht beichafft werden. Wir geftehen
unfere lebhafte Abneigung gegen diefe Art poetifcher Fremden:
führer, die und aus der idealen Region der Muſik alle fünf
Minuten wieder auf die platte Erde herabziehen. Mas wir
lebendig vor una fehen follen, davon wird uns in fäuberlichen
Verſen erzählt, daß es eben geichehen ſei oder fofort geichehen
werde. Wir würden, wo es nur halbwegs möglich, alle ver:
bindenden Declamationen entfernen und durch Ueberſchriften
und furze Bemerkungen im Programm erjegen. Ueberdies find
die meiften diejer erflärenden Gedichte durch ihre Breite und
Redfeligfeit weit mehr geeignet, die Zuhörer zu zerftreuen und
zu langweilen, als fie zu feſſeln. Mit Ausnahme des immer
zündenden Bacchus-Chors jchien »Antigone« die Zuhörer wenig
zu erwärmen.
Kammermufik.
Seltſamerweiſe als »neu« bezeichnet und wirklich in Wien
noch nicht gehört war ein »Divertimento« von Mozart
für Streichquartett und zwei Waldhörner in B-dur. Aus der
großen Zahl Mozart’icher Divertimento’3, Serenaden, Caſſa—
tionen und dergleichen, welche, flüchtig und meiſt auf Beitellung
gearbeitet, den Stempel von Geſellſchaftsmuſik an der Stirn
tragen, heben ſich zwei ala wahre Meifterwerte heraus: das
eben genannte Divertimento in B (Nr. 287 bei Köchel) und
ein zweites in D-dur (Nr. 334 bei Ködel) Das neue
»Divertimento« hat und von Anfang bis zu Ende die größte
Freude bereitet. Daß man die Mozart’ihen Sardinaltugenden:
Klarheit, Wohllaut und Formichönheit, auch Hier nit ver—
mißt, iſt ſelbſtverſtändlich. Allein es gibt unter den Jugend:
und Gelegenheit3:Compofitionen Mozart’ gar mande, die
Kammermufit. Divertimento von Mozart. 439
troß jener nirgends fehlenden Vorzüge doch zu wenig Ideen—
gehalt und Begeiſterung verrathen, um uns heute noch ent—
zücken zu fönnen — genau jo wie es unter Haydn’
Werfen recht viele gibt, die -man unbedeutend und veraltet
nennen jollte, während man hergebradterweife von »unver—
welflicher Jugend« und dergleichen jpriht. Mit ſolchem, auf
die bloße Firma hin gleihmäßig ertheiltem Lob jchadet man
leider jenen Werfen der Meifter, welche wirklich aus einem
Beet geringer oder halbwelfer Blümchen friid und reizend
hervorragen. Dazu gehört das Mozart’ihe Sertett in B-dur.
Man hört, der Meifter hat es mit Luft und Freude gefchrieben
und diefe Luft und Freude überftrömt auch in die Herzen ber
mühelos laufchenden Hörer. Großartiges Pathos, Leidenichaft
und dramatiiche Blige möge freilich Niemand erwarten; das
Divertimento verleugnet nirgends jeinen Charakter als Geiell:
ihaftsmufif, als mufifalifche »Unterhaltung«e. Das contertante
Herportreten der eriten Violine, welche nicht ohne Koketterie
die pifantefte Gonverfation führt, der fnappe Zufchnitt der ſechs
Sätze, endlich der gefällige Aufpug des — ganz quartettmäßig
gejegten — Stüdes dur zwei tiefe MWaldhörner halten jene
Phyſiognomie unverkennbar feit. Die beiden tiefen B-Hörner,
auf die Naturtöne beichränft, greifen in daS Getriebe des
muſikaliſchen Gedankens nicht felbft ein, aber fie verleihen dem
Ganzen eine reizende Tonfüle und Färbung. Diejer friiche,
gefättigte Klang der in den einfahiten Gängen ſich jo friedlich
bewegenden Waldhörner gibt dem Bilde etwas eigenthümlich
Idylliſches, Serenadenartiges. Wir denfen unwillfürlih an
Gartenmuſik und ſchmucke Rococco-Pavillons mit erleuchteten
Fenſtern, ımten im Barf jchöne, Teidenraufchende Damen mit
gepudertem Haar und Herren mit feinen Gefichtern und bunter
Tracht. Dies Alles in dem idealifirenden Reiz einer fremd:
artigen und doch uns nahen Vergangenheit, ohne den Bei:
geſchmack von Lächerlichkeit, den jeßt jene Lebensformen für uns
ſo leicht annehmen. Auch auf jene bemalten Fächer und
Spitzenmanſchetten find Thränen der Freude und des Kum—
merö gefallen wie heute, und unter den hohen, goldgefticten
Schnürleibhen des vorigen Jahrhunderts pochten die Herzen
440 1866.
in Haß umd Lieb, wie heute. Mozart’3 »Divertimento« zauberte
ein Stüd vergangened Leben vor uns hin.
Slara Schumann.
63 war gegen Ende des Jahres 1846, als Robert
und Clara Schumann nah ihrem eriten Concert im Muſik—
vereindfaal von einigen wenigen Getreuen nad) Haufe geleitet
wurden. Die Stimmung war allerjeit3 nicht die beſte. Weber
den mäßigen Beſuch des Saales hatten wir erwartet, noch Die
mäßige Zuftimmung, womit das Publicum Shumann’s B-dur-
Symphonie (von ihm jelbit dirigirt) und fein A-moll-Goncert
(von Clara geipielt) entgegennahm. Es waren dies die eriten
in Wien aufgeführten Compofitionen von Schumann, befanntlich
zwei jeiner größten und jchöniten Schumann war nad
einer faſt zehnjährigen hHochbedeutenden Thätigfeit als Componiit
und Schriftiteller und trog eines früheren Aufenthaltes in Wien,
wo er mehrere Tondichtungen herausgegeben hatte, den Wienern
ein unbefaunter Menſch geblieben. Es wollte faft jcheinen, als ſei
Schumann auh noch im Jahre 1846 vergeblih in Wien ge-
mejen. Allein das Samenforn war dennoch nicht im Winde
verweht, es ruhte und wuchs im Herzen der Kleinen Davids-
bündler-Gemeinde, die bier (der Sade, wenn auch nicht dem
Namen nach) entitanden war, um nad den befruchtenden
Stürmen von 1848 allmälig zu Aller Nuten und Freude
fihtbar aufzugehen. Langjam genug geichah dies allerdings. *)
Wenn Karl v. Lützow fürzlih in einem Aufſatz über
die Wiener Baugeihichte den »veripäteten Charafter« derfelben
betonte, jo können wir dieſen treffenden Ausdruck ganz analog
auf das frühere Mufifleben Wiens anwenden. Wie Shumann,
ſo a vor ihm Mendelsjohn, nah ihm Rihard Wagner
*) Aus der Wiener Birtuofe Leopold von Meyer einmal
interpellirt wurde, weßhalb er Schumann's Compofitionen ganz ignorire,
ermwiderte der große Slavierpaufer: »Warum foll ih in meinen Con:
certen Sachen von Schumann jpielen? Seine Frau fpielt auch nichts
bon meinen Gompoittionen«.
Clara Schumann. 441
einen jehr veripäteten Einzug bei und gehalten; Wien nahm
von diefen Männern erit Notiz, nachdem fie ein Jahrzehnt in
ganz Deutjchland befannt und gefeiert waren. Dafür hat
Wien feine muſikaliſche Veripätung jederzeit durch eine deito
wärmere und anhaltendere Pflege des einmal Grfannten wieder
gutgemacht, jo daß Clara Schumann das Wiener Publicum
heute mit Recht alö das theilnehmendite und verjtändigite
rühmen und ihm ſelbſt die jchwerfaßlichiten Compofitionen
ihre Gatten mit voller Zuverficht vorführen darf. Bei ber
qualitativ und quantitativ jo bedeutenden Ausbildung des
mufifaliihen Dilettantismus und fpeciell des Clavierfpiels in
Wien fonnte die Concertgeberin mit größerer Sicherheit als
irgendivo ander® annehmen, daß ein anjehnlicher Theil ihrer
Zuhörer auch mit den noch nicht öffentlich geipielten Com—
pojitionen Schumann’ befannt jei. So hat Frau Schumann
in ihrem legten Concert zum eritenmal die »Humoresfe«
op. 20 vollftändig und mit glänzendem Erfolg vorgetragen.
Dad Stück gehört der erften Periode Schumann’? an, in
welcher die mwunderbarite Infpiration mit jugendlich wilder
Gährung im Streite lag oder richtiger: zu unmiderftehlichem
Zuſammenwirken fi) verband. Trotz ihres Singular-Titeld
und der Abweſenheit beſtimmter Unter-Abtheilungen (mie fie
die »Sreißleriana«e und »Davidsbündlertänze« haben) bildet
die »Humoredfe« nicht eine untrennbare Einheit, jondern eine
Reihe von ſechs (wenn man will fieben) Charafterjtüden, ver:
Ihieden nad Tonart, Tempo und Ausdrud. Wahrſcheinlich bezog
jie der Componiſt durch einen beitimmteren poetilchen oder
piyhologiihen Zufammenhang näher aufeinander, als Deren
rein mufifalifhe Verbindung uns jest errathen läßt. Die Fac—
toren des Humors find darin mehr jelbititändig auseinander:
gelegt, als verjchmolzen, und zwar waltet der jentimentale
vor dem Jaunigen, das Idealmoment vor dem Realmoment
vor. Gegenüber ſolchen höchſt jubjectiven Ergüſſen einer in
ihrem Reichthum ſchwelgenden Phantafie verftummt das nad):
Schildernde Wort — genug, daß wir innigere Herztöne, bligendere
Geiftesfunten, beraujchendere Klänge faum in einer anderen Com—
pofition Schumann’3 erlebten. Hat man dies merfwürdige Stüd
442 18866.
auch nur einmal gehört, ſo wird man, ſeltſam befremdet und
bezaubert, den Eindruck ſchwerlich wieder loswerden. Beſchäftige
man ſich aber jahrelang damit, und man wird immer neue
Schönheiten und die alten jedesmal ſchöner finden. Wie ſchon
der Titel »Humoreske« andeutet und der Inhalt vollauf beſtätigt,
ftand der Gomponift damals unter der heftigiten Einwirkung eines
Dichters, der auf Schumann’3 mufifaliihe Phantafie, jomie
auf feinen literariihen Styl einen enticheidenden Einfluß ge-
übt hat: wir meinen Jean Paul. Bon diefem Einfluß Hat
ih Schumann’ Mufit allerdings befreit, als fie jpäter in
jene Phaſe der Abklärung und Formſchönheit trat, die wir als
feine zweite Periode bezeichnen. Aber an jeiner perjönlichen
Begeilterung für Jean Paul ließ Schumann jelbft in jpäteren
Jahren nicht mäkeln; der wortfarge, freundlich vor ſich hin
fiimende Mann konnte in joldem Falle jehr heftig werden.
Sp gaben einmal die Mufifer und SKunftfreunde Hamburgs
dem ald Gaſt anweſenden Schumann ein Feitiouper. Nachdem
der erite Toaſt auf daS gefeierte Künftlerpaar ausgebracht und
in allgemeinen Jubel allmälig verhallt war, erhob ih Schu:
mann, um etwas Nußerordentliches zu begehen, nämlich zu
jprechen. Athemloje Stille. Der Redner pried das glückliche
Zujammentreffen diefes Feltes mit einem Tage, welcher Deutjch-
land zwei der größten Genies gejchenft habe: es ſei heute der
21. März, der Geburtstag Sebaftian Bach's und Jean
Paul's, diefer unfterblichen Beherrſcher der Mufif und der
Poeſie! Er erhob jein Glas und die Gejellichaft that mit
freudigem Zuruf Beicheid. Allein der Dämon der Fritif, der
oft am nächſten, wenn die Begeifterung am höchften, war auch
bei dieſem SKünftlermal gegenwärtig und erhob fi langen
Haljes und funkelnden Blides in Geftalt des geiftreichen
Grädener, damals Director der Hamburger Sing.
Afademie. Den Ruhm Jean Paul’, jo jprad er, wolle
er nicht antaften, noch irgendwelde Sympathien für diejen
Dichter; allein dagegen müſſe in einem Kreiſe deutjcher Muſiker
proteitirt fein, daß Jean Paul mit dem gewaltigen Sebaltian
Bad in einem Athem genannt und als ein Ebenbürtiger vers
ehrt werde. Grädener war eben im beften Zuge, diejen Ge-
Glara Schumann. 443
danfen weiter auszuführen, als Meiſter Robert jchon aufges
fprungen und ohne ein Wort zu jagen zum Saal hinausgeftürzt
war. Vergebens ſuchte man ihn, und der Reit des Abends
verfloß in ſehr herabgemunterter Stimmung. Am folgenden
Morgen eilte Grädener (au dejjen Munde wir die Ges
Ihichte haben) mit einigen mufifalifhen Würdenträgern zu Schu:
mann, den man mittelft aller erdenklichen Erklärungen endlich
verföhnte.
Die »Humoreske« kann, ganz abgejehen von ihrer enormen
techniſchen Schwierigfeit, überhaupt nur von Jemandem geipielt
werden, der fich, verwandten Geiſtes, vollitändig in Diele
eigenthümliche Gedankenwelt hineingelebt hat. Wie jehr Frau
Schumann’ Kunſt hier am rechten Plage und von ganz ein—
iger Wirkung war, braucht faum erit gefagt zu werden. —
Rudorff's »Wariationen für zwei Pianoforte« (von Frau
Schumann mit Fräulein v. Aſten gejpielt) haben una troß
mancher geiftreichen Figuration und manden finnigen melodiichen
Zuges einen unerquidlichen Eindruck Hinterlaffen. Sie find eine
directe Nachbildung Schumann’3, und die Nahahmer Schu:
mann’? beginnen und im Lied wie in der Claviermuſik peinlich
zu werden. Iſt es an fich fchon bedenklich, eine fo ganz ins
dividnelle, bis zum Krankhaften jubjective Erjcheinung tie
Schumann zu copiren, jo wirkt e8 vollends verftimmend, wenn
jeine Nahahmer fi) mit conjequenter Beharrlichkeit gerade an
jene Eigenheiten und Manieren ihres Worbildes feitflammern,
welche an dieſem felbft mitunter fchon bedenflih find. Dahin
gehört die Vorliebe für Synkopen und Vorhälte, Diffonanzen,
rhythmifche und harmoniſche Härten. Rudorff ſcheint es bes
ſonders auf die Synkopen und rhythmiſchen Verschiebungen
aller Art abgejehen zu haben, und zwar mit ſolchem Grfolg,
daB man mitunter nicht errathen fann, wohin der gute und
ſchlechte Takttheil falle, ob man Perioden von vier zu vier
oder bon drei zu drei Takten höre u. ſ. w. Wir erinnern beis
jpielöweije gleih an das Thema mit feinen langſamen Triolen,
an das ſynkopirte Hinfen der zweiten Variation und Aehn—
lied. Den günftigen Gindrud der °/,-Takt:Allegrettog, das
einen freundlichen, Tebhaften Abſchluß des Ganzen bilden
444 1866.
fönnte, erwürgt der Componift mit eigener Hand, indem er noch
ein unerwartetes langathmiges Adagio Hinzufügt, was natürlich
viel »Ddiftinguirter« ausfieht.
Frau Clara Schumann Hat uns diesmal noch voll-
ftändiger befriedigt, ald in früheren Jahren. Möglich, daß etwas
pon dem fröhlihen Sonnenglanz, den die Jugend über Alles
breitet, ihrem Spiel abgeftreift jet, aber daß e8 an Wärme und
Tiefe des Ausdrucks noch gewonnen hat, ſcheint und zweifellos. Dan
fann das furze Andante aus Beethoven's Es-dur-Sonate op. 27
(es ift unter Anderm auch als »Kyrie« arrangirt), nicht inniger
und ftylooller vortragen. Der phantaftiiche Flug der »Kreis—
leriana«, das leichte Geflatter des Henfelt’ischen »Vögleins«,
Hiller’3 verliebte Gonverfation »zur Guitarre«, Die £lare
Grazie des Mendelsſohu'ſchen Capriccio — Alles gab Frau
Schumann mit gleiher Wahrheit und Schönheit wieder. Daß
es der verehrten Künftlerin, ſchon ihrem Geſchlechte gemäß,
mitunter an der legen Gnergie, ſowie an fühnem, freiem
Humor fehlt, kann Niemanden befremden, immerhin weiß fie
auch dem Großen, Starfen, der bewegten Leidenschaft zu ge=
nügen und die größten Formen mit ficherer Ueberfhau und
zufammenhaltender Straft zu bewältigen. Bejonderen Danf zollen
wir Fran Schumann für die Vorführung dreier »Album—
plättere von der Gompofition des hier jehr wenig befannten
Theodor Kirchner, eines der finnigiten und gemüthpolliten
Tondider der Schumann’ihen Schule. Haupt: und Prachtſtücke
der beiden legten Goncerte waren daS Quartett und Quintett
(beide für Glavier und Streich-Inſtrumente) von Shumann,
zwei Werke, welche mit deſſen Streichquartetten und Dem
GSlavierconcert zu dem claſſiſchen Schag unjerer Inftrumental-
Mufit zählen. Die »PBhantafieftüde«, op. 80, welche Frau
Schumann mit den Herren Hellmeöberger und Röver vortrug,
ftahhen dagegen betrübend ab. Dürftig in den Themen, gequält
und widermwillig in der Ausführung, gleichen diefe Stüde wegge—
worfenen Skizzen, die der Meiiter in jpäteren Jahren faut de mieux
wieder aus dem Papierforb genommen, um frank und mißmuthig
ihnen die früher verjagte Form zu geben. Der Gattin des
theuren Mannes darf man e8 freilich nicht verübeln, wenn jie
Clara Schumann. 445
jedes jeiner Werke gern zur Anerkennung brädte, ja wenn ihr
vielleiht alle »gleich liebe Kinder« find. Troßdem halten wir
im Intereſſe Schumann’3 eine forgjame Wahl gegenwärtig noch
für jehr wichtig. Das große Nublicum ift mit diefem Ton:
dihter noch lange nicht jo vertraut und im Heinen, daß,
ohne Nachtheil für diefen, feine Sahen mwahllos von Pir-
tuofen und Sängern öffentlich producirt werden dürften. Dem
entipricht die Pflicht des Kritiker, die mitunter ſehr ungleichen
Werthe der Schumann’schen Thätigkeit jederzeit rückhaltlos
zu conftatiren, eine Pflicht, die deſto größer wird, je zweifel:
Iojer die Verehrung oder Vorliebe des Kritiferd gerade für
Schumann feftiteht. Daß die zahlreichen Eleineren Gompofitionen
(Slavierftücde, Lieder) aus Schumann's dritter Periode mit
geringen Ausnahmen tief unter feinen früheren ftehen, ift
nur zu gewiß, und deßhalb reihe man dem Publicum nicht
brödelnde Reliquien, ehe es den lebendigen jchönen Leib voll:
ſtändig fennt.
Noch ſeltſamer wird mitunter in der Auswahl Schu:
mann’jcher Lieder für den Goncertgebrauch vorgegangen. »So
oft fie fam« iſt ein poetifcher Hauch, aber fein Lied, »Lehn’
deine Wang’ an meine Wang’« ein leidenfhaftliher Aufichrei,
aber fein Lied. Für den Concertvortrag paßt fein Lied, welches
aufgehört hat, nahdem es kaum anfing. Auch jene fubjectiv
grübelnden Stimmungs- oder Verftimmungslieder, die mit einer
Diffonanz anheben und fließen, taugen ſchlecht vor Die
Deffentlichkeit. Eine gewiffe Plaſtik und klare Weberfichtlichkeit,
eine gewiſſe unumgänglihe Ausdehnung muß ein Gelangftüd
haben, das auf eine größere Verſammlung wirken jol. »Mein
Herz ift ſchwer« (von Fräulein Bettelheim gefungen) jpannt
bet aller fjubjectiven Wahrheit gleichſam jede Faler der Em—
pfindung einzeln auf die Folter; die (von Frau Duftmann
gewählten) »MWaldlieder«, op. 119, und »Jugendlieder«, op. 79,
zeigen ein viel freundlicheres, aber defto unbedeutenderes Ge-
fiht. Und dennoch liegen rechts und links davon im Schu:
mann’schen Liederfatalog die föftlihen Perlen, die noch feine
Hand berührte! Frau Schumann darf fih und und nach—
rühmen, das ihre ernite, wahre Kunſt hier nicht blos anerkannt,
446 1866.
fondern geradezu Mode geworben. Durch frivole Gegenbilder von
unverdienten Erfolgen, wie fie ja nie und nirgends fehlen, muB
man fi nicht beirren laſſen. Paßt es doch vor Allem auf
die Kunftzuftände einer großen Stadt, wenn Fr. NRüdert uns
zuruft:
»Das iſt zu viel von der Welt begehrt,
Daß ihr das Gute allein ſei werth;
Sie hat dem Guten ihr Recht gethan,
Wenn fie'3 nimmt zugleih mit dem Schlehten an«!
Dirtuofen.
Dem neuen Harmonie-Theater gebührt das Werdienit,
den MWienern einen der berühmteften Virtuofen der Gegenwart,
Giovanni Bottefini, zuerſt vorgeführt zu haben. So jung
Bottefini noch ift, er fieht feine Herrichaft iiber den Contrabaß
unbeftritten und feine Virtuoſität von feinem Rivalen erreicht,
weder in den modernen Concertfälen, noch in den alten Muſik—
Lexikons. Allerdings und mit Recht ift die Baßgeige ein felten
gewähltes Concert-Inſtrument. Seit dem alten Hindle, der in
den Zwanziger: und Dreißiger:Sahren alljährlich fein regelmäßiges
Gontrabaß-Eoncert in Wien gegeben, ift unſeres Wiſſens hier
Niemand auf dem Orcefter-Clephanten geritten. Die Baßgeige
verdankt ihre Wichtigkeit im Orcheiter Dem entfcheidenden Ernft und
Nachdruck, womit fie die Converfation der übrigen Inftrumente
ftüßt und approbirt; fie ſelbſt ift nicht zum Redner geboren. Wer
die Baßgeige zum Solo-Inſtrument erheben will, ift genöthigt,
gerade ihre charakteriitiichen Eigenfchaften möglichit abzuſchwächen:
der Birtuofe nimmt ihr die derbe, rumpelnde Kraft, die
erhabene Vierſchrötigkeit, und dreifirt fie zum Wioloncell. In
der That kann man gefchlofienen Auges Botteſini längere
Zeit mit der Illuſion anhören, einen trefflihen Gelliften zu
vernehmen. Er trägt Gejangitellen in der Bariton und Tenor:
lage mit weichem edlen Ton und fchmelzendem Ausdrud vor;
die ſchnellſten, ſchwierigſten Paſſagen, Triller, chromatiſche und
diatoniſche Terzenläufe, endlich alle Gaukeleien des Flageolets
Virtuoſen. Botteſini. 447
vollführt er mit größter Sicherheit und Eleganz. Eines nur
hätten wir noch gewünſcht: daß Botteſini die hohe Lage
nicht ſo unverhältnißmäßig bevorzugt, ſondern auch die ge—
waltige Tiefe des Inſtrumentes häufiger producirt hätte. So
kann man mitten in der Bewunderung über dieſes Violoncell—
ipiel auf der Baßgeige den Gedanken nicht ganz abmwehren,
warum der Mann nicht lieber glei zum Cello greife, wo das
Alles viel Leichter von ftatten geht? »Eben weil es leichter
wäree, würde der Birtuofe mwahrjcheinlih antworten, »und
weil mein Erfolg darauf beruht, das Schwierigere zu voll—
bringen«e. Wo ungewöhnlihde Kraft und Gewandtheit ihre
volle Herrihaft über ein widerſpenſtiges Material produciren,
da fann und wird der Zoll der Bewunderung nicht verjagt
werden. Ein wideripenftigere® Material für die Bravour fann
es aber kaum geben, ald den Gontrabaß, und einen voll
fommeneren Bändiger desjelben aud nicht, als Bottefini.
Glaubt Jemand dad Staunen über technijche Virtuofität verlernt zu
haben, bei Bottejini’3 Productionen wird er es wieder lernen.
Daß ein äjfthetiiher Eindrud, welcher hauptſächlich aus dem
Erſtaunen rejultirt, fein nachhaltiger fei, bedarf freilich nicht
erit des Beweiſes. Hingegen verdient Bottefini dad ausdrück—
lihe Xob, daß er auch in der Bravour mit Gejhmad verfährt
und jene bajazzoartigen Charlatanerien verſchmäht, mit denen
auf derlei Ausnahms-nftrumenten fo gern geflunfert wird.
Dahin gehören 3. 3. daß über Gebühr berühmte Kunſtſtückchen
des Piemontefen Langlois, der die hohe Saite des Contra—
baſſes, anftatt fie aufs Griffbrett zu brüden, zwiſchen dem
Daumen und Zeigefinger feſtklemmte und fo mit umgekehrter
Hand raſch bi an den Steg rutichte, eine heulende Here, die
zum Schornitein hinausfährt. Much die Compofitionen Bottefini’3
find in der gewöhnlichen Form virtuofer Opern-Potpourris,
anftändig und nicht ohne muſikaliſches Geſchick gearbeitet.
Botteſini's Contrabaß ift ein breifaitiger, wie ihn die meiften
Solojpieler benügen und alle benützen follten. Der dreifaitige
Contrabaß (Ouartenftimmung a, d, g) ilt nit mur leichter
zu handhaben, jondern gewinnt auch durch den Wegfall der
verworrenen polternden tiefiten Saite an Beltimmtheit und
448 1866.
Vollklang des Tones. Im Orceiter dürfte die Zukunft überall
den vierfaitigen Baßgeigen gehören, wie fie in ganz Deutjchland
und Frankreich üblich find, während man die dreijaitigen nur
mehr in den DOpernhäufern Englands und Italiens antrifft.
Obwohl Botteſini's Inftrument nit vom größtem Format
ift, nimmt e8 doch eine gewaltige Körperfraft in Anſpruch.
Eine Production auf der Baßgeige iſt fein »Spielen« mehr,
fondern ein Ringen und Raufen, ein Anfallen und Nieder-
zwingen des colofjalen Gegnerd. Wenn Bottefini, ein
fräftiger, hochgewachiener Mann, ji tief über den Coloß
beugend, mit der linfen den langen Weg vom Hald bis zum
Steg unaufhörlich zurüdlegt, während die Rechte mit mächtigem
Bogen die Saiten jäbelt, jo bewundert man den Athleten in
ihm faum weniger, ols den Tonkünſtler. Im Preſto fam er
und vor wie ein mufifaliiher von Aken, der eine mild-
gewordene Beitie bändigt. —
Drei jugendlihe, uns bisher unbefannte Birtuofen
betraten fnapp nacheinander den Kampfplaß unter den Tuch
lauben: der Geiger Lotto, der Glarinettift Orfi, der Clavier—
ipieler Smietanjfy. Weitaus der Bedeutendite von ihnen ift
Lotto, Pole von Geburt, alfo in Paris gebildet. Ein Virtuofe
von allereritem Rang, aber im allerengiten Sinn. Selbit das
blafirtefte Publicum der Sebtzeit wird Lotto's Herereien mit
Gritaunen folgen, dad Mittelalter hätte ihm einen Ehren: und
Srtra-Sceiterhaufen votirt. Cine ſolche Leichtigkeit und
Ausdauer in der Bravour, jo eifernen Arm bei jo gefchmei-
digem, loderitem Handgelent befommt man jelten zu jehen.
Sobald aber die Bravour auch. nur acht Takte ruht, findet
una 2otto’3 Spiel falt und ernüchtert, der Zauberkefjel wird
zur ganz gewöhnlichen Geige ohne Größe und Adel des Tons,
"ohne Gefühl und Leidenschaft. Bezeichnend ift, daß Herr Lotto
mit Vorliebe Paganini'ſche Gompofitionen fpielt, deren Bedeu:
tung faſt ausſchließlich in ihrer technifchen Schwierigkeit Liegt.
Wenn die wahrhaft großen Künftler des modernen Biolinfpiels
die Werke Baganini’s in der Negel vermeiden, fo thun fie
dies Doch gewiß nicht blos aus Furcht vor deren technifcher
Anforderung. Hätte nicht Paganini’3 Spiel fie in die Welt
Birtuofen. Orfi. Emietansty. Mary Krebs. 449
geführt, man wüßte wenig mehr von ihnen; die dämoniſche
Laune, die gejpenitig feſſelnde Ericheinung des genialen Son:
derlings hat jeinerzeit über dieſe Gompofitionen ein bengaliiches
Liht don Geiſt und Genie audgeftrömt, das in den Noten:
föpfen jelbit nicht ftedt. Es find treffliche Uebungsſtücke, die
den jungen Virtuofen zur Verzweiflung und zur Meifterfchaft
führen. Bon mander Paganini'ſchen Brapourftele müflen wir
geradezu glauben, ihre vollfommene Ausführung hänge vom
Zufall ab. So 3.8. die ausfchließlih im Flageolet ſich bewe—
gende zweite Variation über »di tanti palpitie, welche ſelbſt
Herr Lotto nur mit empfindlicher Unreinheit herausbrachte.
Sein Meiſterſtückchen blieb jedenfalld der Vortrag des »Perpe- '
tuum mobile«; länger und fchneller wird faum ein Zweiter
dieje Kraftprobe durchführen.
Herrn Romeo DOrfi haben mir nicht felbft blajen,
wohl aber ihn loben gehört. Seine Landaleute Hatten ein
hiſtoriſches Privilegium der Pirtuofität auf den Holz-Blas—
inftrumenten. Trotzdem oder auch deßhalb fließen wir ung
dem Votum an: Geh’ in ein Orcheiter! Das ift der Pla,
auf dem wir den Glarinett-, Flöte, Oboe- und Fagottpieler
zu Ichägen milfen; über die Zeit, wo diefe Künftler fchaaren-
weile gereift famen und Concerte auf ihrem langweiligen Einzel-
rohr abbliefen, find wir hinüber.
Herr Smietanskh, Pianift aus Herrn Pirkhert's Schule
verfügt über eine jehr beachtenswerthe Technik. Sein Anfchlag
iſt kraftvoll und elaftifh, nur noch zu einfärbig und wenig
nuancirt, der Vortrag rein, ficher und virtuos. Blos die Be-
feelung dieſes jchönen Material läßt noch viel zu wün—
Then; mir vermißten Geift und Empfindung, ja felbit in der
Behandlung des Techniichen mitunter den feineren Geihmad.
Dad Publicum nahm Herrn Smietandfy fehr beifällig auf,
deögleihen die mitwirfende Sängerin Fräulein Benza. In
ihrer frifhen Stimme und jugendlih blühenden Perſönlichkeit
befigt Fräulein Benza einen guten Empfehlungsbrief für Die
Oper, nur müßte fie zubor eine ganze Bibliothef von Unarten
und ſchlechten Gefangsmanieren über Bord werfen. Ein Duett
aus dem »Liebeötranf« fang fie mit ihrem Water, »erftem
Hanslid. Aus dem Toncertiaal. 2. Aufl. 29
450 1866.
Buffo am National-Theater in Peſt«. Eine jo wirkſame un:
freiwillige Komik wie den Geſang dieſes Herrn haben mir
felten genofjen. Eigentlih war es ein gejungenes, geiprochenes
und gepfiffened Gefichterfchneiden. Da indeß Herr Benza über
alle Bejchreibung zufrieden jhien, fo wollen wir es aud
fein. —
Die königlih ſächſiſche Kammervirtuoſin Fräulein Mary
Kreb3 hat nun auch ein eigene® Concert gegeben. Daß ihrer
erftaunlih ausgebildeten Technik feine ebenbürtige Entwicklung
des geiltigen Ausdruds zur Seite fteht, blieb auch diesmal
der Eindrud, den wir nah Haufe nahmen und den mir
höchſtens neu paraphrafiren könnten. Chopin’s G-dur-Nocturno
Hang weich und gejangvoll, wenngleich hier ſchon der eigen:
thümlih Chopin’ihe Zug einer träumerifchen und reizbaren
Subjectivität fehlte. Beethoven's C-moll-Sonate (mit Violine),
tehnifh tadellos andgeführt, ließ fühl und gleichgiltig. Bei
einem jo ansgefprochenen Talent wie Fräulein Krebs darf
man auch in biefer Hinficht Viele8 von der Zukunft Hoffen.
Noch ift fie Undine im eriten Gapitell. Wenn in dem
poetiihen Reproductions-Vermögen junger Mädchen fi gleich:
ſam Teere Stellen zeigen, fo ift uns das ungleich lieber, als
die künſtliche Ausfüllung folder Lüden mit unmwahrem,
affectirtem Gefühl. Für die legte Ausbildung der talentvollen
Künftlerin würde fih vielleicht ein abichließender Curſus bei
einem geiftvollen Virtuofen moderner Schule (Clara Schuman,
Bülow, Brahmd, Taufig) als mwohlthätig empfehlen. Fräulein
Krebs Hatte und Hat an ihrem verbienftoollen Vater einen
porzüglichen Lehrer, aber gewiſſe Fefleln des Vortrags löſen
ſich nicht Leicht, fo lange ein junger Künftler nur einen Meifter
nahgeahmt, nur eine Stimme gehört hat.
G&oncert von Joh. Herbeck.
Herr Hof-Gapllmeifter Herbed gab im großen Rebouten-
faal ein Concert, dad ausſchließlich Werke feiner eigenen Com:
pofition zu Gehör bradte. Die Ausführenden waren: der
Goncert von Job. Herbed. 451
Wiener Männergefang=Berein, der Singverein und das
Orcheſter ver Geſellſchafts-Concerte, aljo drei Corporationen,
welche dem oncertgeber zwar nicht das Leben jcdhlechtweg,
aber doch ein neues Leben verdanken und im ihrer jeßigen
Tüchtigkeit als feine Schöpfung angejehen werben. Ueber
Herbeck's jchöpferiiche Begabung fünnen wir nicht in jenem
Tone unbedingter Anerkennung fprechen, in welchem wir feit
Sahren jo oft daS eminente Dirigenten: und Organijations-
Talent diejes Künſtlers hervorgehoben haben. Ein abſprechendes
Verhalten fteht und derzeit ebenjo fern, denn Herbed, der ala
Componift verhältnigmäßig ſpät und fparfam hervorgetreten
ift, hat feine vollftändige Entfaltung faum ſchon vollzogen und
gedentt wohl noch mehr als eine Schlangenhaut abzuftreifen.
Aus dem Charakter feiner Compofitionen jelbft möchten mir
ichließen, daß Herbed ſchwer und langjam producirt. Die
Symphonie in C-dur (1862 gejchrieben) jcheint und das Werk
eine durch Bildung und Routine anſehnlich gefteigerten
Talente, nit aber einer genialen Begabung. Wahrhaft
Ihöpferifhe Kraft und Originalität erkennen wir nicht darin,
wohl aber Combinationd-Talent und eine geiftreiche Beherrichung
des techniſchen Apparates. Die harmoniſche und contrapunktiſche
Kunft überwuchert die melodifche, und die berechnende Klugheit
überragt die natürlide Kraft der Phantafie und der Empfindung.
Es tauchen einzelne ſchöne Melodien auf, wozu wir vor Allen
das edle Thema des Adagio und das zweite gejangvolle
Motiv des Finale zählen, aber meiltend verfiegen fie ſchnell
oder werben als »unendliche« formlos fortgeiponnen. Sprühende
Blige fliegen ab und zu über jede der vier Abtheilungen, aber
feine Hinterläßt in uns ein bejtimmtes, klares Bild in ein-
heitliher Beleuchtung. Wir empfangen von dem Ganzen. nicht
den Eindrud eines organifchen Werdens und Blühens, fondern
den einer zwar fehr geichicdten, aber dennoch mofaifartigen
Zufammenfügung Das Werk hat übrigens nichts Kleinliches,
bedeutungslos Spielendes, wie jo manche neuere Symphonie
oder Suite, e8 geht vielmehr ein entjchiedener Zug von Energie
und Größe durch das Ganze, das gleihlam Ströme von
Kraft nah allen Dimenfionen entfefleln möchte. Es ift dies
29*
452 1866.
eine Energie und Größe des MWollend, aber nicht des mufi-
faliihen Vollbringend. Daher auch die frampfhafte Anſpannung
aller Fibern, um fih fortwährend im WVollbefig de Pathos
und auf der Höhe des Ungewöhnlichen zu erhalten. Herbed
behandelt das Orchefter mit Meifterihaft, er fennt die ftärfiten
Effecte des langes, wie deffen heimlichite Launen. Aber dieſe
glänzende Hülle verbedt häufig den mufifaliichen Kern; das
Ohr wird durch effectvolle Contrafte bis zur Ermüdung ge=
blendet. Bezeichnend ift 3. B. die Verwendung der Harfe die
ganze Symphonie hindurch, die wir und nicht erflären können,
außer durch die Abficht, zu den vielen Klangeffecten und In—
ftrumental-&ontraften noch einen neuen, ungewöhnlichen Hin-
zuzufügen.
Wir entfinnen und fehr weniger Orcheſterwerke, in welchen
ein jo anhaltende® Arbeiten auf allen SInftrumenten, ein jo
gemwaltige® Stürmen der Pauken und Blechinftrumente herrichte,
wie in diefer Herbed’ishen Symphonie. Die Inftrumentation
und die mandhmal mehr dramatiihe als ſymphoniſche Phra—
firung erinnert nicht felten an Meyerbeer. Den reinften, be-
friedigenditen Eindruck macht unter allen vier Sätzen das
Adagio, und diefem zunächſt dad Scherzo, dem wir nur etwas
mehr Temperament wünſchten. Im erften und letzten Sat
müffen wir und an einzelne effectvolle, geiltreihe Momente
halten. Werke, die und taftweife zur Bewunderung zwingen
wollen, büßen dieß gewöhnlich an ihrer Totalität; über lauter
Wirkungen veripielen fie jchließlich die wahre, die enticheidende
Wirkung auf unfer Gemüth. Außer der Symphonie wurden in
dem Goncerte ſechs Herbed’ihe Chöre aufgeführt. Der Com:
poniſt behandelt die Klangwirkung der Singftimmen mit der-
jelben Meiſterſchaft wie die Inftrumental-Effecte im Orcheiter.
Wir hatten oft Gelegenheit, diefe frappante Klangſchönheit
Herbed’icher Chorfäge zu rühmen; am reinften genofjen wir
fie in den von SHerbed jo trefflih arrangirten altdeutfchen
Liedern und den Volfömelodien au Kärnten. Auch in dieſem
Fache fcheint ung — um in alter Terminologie zu ſprechen —
die Kunft de Setzers in Herbed die ded Sängers zu über:
treffen. Herbed'3 eigene Chor-Compofitionen haben, jo durch—
Ealomon Sulger. 453
dacht und effectvoll fie auch find, für unfere Empfindung etwas
Gefünfteltes, Webertreibendes. Jedenfalls ift es für die Art
von Herbed’3 Talent bezeichnend, daß er nicht blos in dem
größten Inftrumentalformen, fondern auch im einfachen Chor:
oder Strophenliede ein reflectirtes Zufpiken des Ausdrucks
und die effectvolle Entwidlung der Klangmittel liebt. Wir er:
innern an das »Morgenlied« von Eichendorff, das, für
Wechſelchor und Orcheſter gejeßt, einen fo unpaffenden opern=
mäßigen Prunk entfaltet, daß man darunter die ſüße Träumeret
des Gedichtes faum wiedererfennt. Muh das Eihendorff’iche
»Ständchen« jchien und (namentlich in den Schlußzeilen) nicht
warm und natürlich genug für die Stimmung des kleinen Ge—
dichtes. Ungleich Schöner und wahrer flingt der Chor: »Wohin
mit der Freud?« — eine Gompofition, die von Herbeck's
fruchtbarer Beihäftigung mit älteren Volksliedern Zeugniß gibt,
und das in feiner anmuthigen Einfachheit wohlthuende »Wald-
vöglein«. Das volltommenfte und wirfjamfte Stüd des Pro-
gramm war jedoh der Männerhor: »Landöfnedht«. Das
grelle Eolorit paßt trefflih zum Gegenftand; Trommelwirbel
und Piccolo erjcheinen hier nicht als bloße Klangeffecte, ſon—
dern als nothwendige und geiftvoll verwendete Mittel der
Charakteriſtik Herbed’3 »Landsknecht« ift ein kleines Genre-
bild voll Farbe und Leben, deffen Erfolg überall gewiß: ift.
Salomon Sulzer.
Während bereit? der legte Schnee des Concertwinters
vor den Strahlen der Ofterfonne jchmilzt, geht dur die mufi-
kaliſchen Kreiſe Wien? noch eine fröhliche Geichäftigfeit und
Bewegung ganz eigener Art. Sie gilt dem in wenig Tagen
Itattfindenden fünfzigjährigen Jubiläum des Ober-Cantord am
ifraelitifihen Bethaufe, Salomon Sulzer. Die Kunſt des
Jubilars wirkt, abjeit3 von weltlichen Erfolgen, nur für den
jpeciellen Zwed des Gotteödienftes — einer Minoritätz-Religion
obendrein — und dennoch darf man behaupten, daß ganz
Wien fih in dem Augenblick für den Chrentag des »alten
454 1866.
Sulzer« intereffire. So hört man ihn am liebften und häu—
figiten nennen, denn »der alte Sulzer« ift eine der populärften
Perfönlichkeiten von Wien. Wer fennt ihn nicht, den merk:
würdigen Charakterkopf mit dem graugelodten Haar, den runden,
feurigen Augen und dem energifchen breiten Mund, über welchem
die haltig gefrümmte Nafe das Inventar der orientalifchen
Phyſiognomik vollendet und hier zu ſprechendſtem Ausdrud
zufammenfaßt? Der Mann, welcher vor einem halben Jahr:
hundert, kaum ftiebzehnjährig, die Gemeinde feiner Waterftabt
(Hohenem? in Vorarlberg) als Gantor zum Gebet geführt,
hierauf an 40 Jahre lang das mufifalifhe Wien durch Die
Pradt feiner Stimme und die Gluth feines Vortrages entzückt
hat, er wirft noch in ungebrochener Rüſtigkeit, weder feiner
Stimme noch feines Jugendfeuers verluftig. Noch heute wie vor
30 und 40 Jahren fcheidet faum ein fremder Tonfünftler von
Wien, ohne dem berühmten Gantor einmal gelaufcht zu haben.
Ih ſelbſt habe Sulzer nicht mehr in der Blüthezeit
feiner Stimme gehört; trogdem machte mir fein noch immer
flangreicher Bariton und feine ſchwungvolle Vortragsweiſe einen
tiefen Eindrud. Diefer Vortrag, in weldem vom Teifeften
Athemzuge bis zum mäcdhtigften Tonfturm jede Note — jede
Pauſe möchte man falt jagen — tief aus dem Innerſten
fam, den Reiz des Fremdartigen mit der Meberzeugungdfraft
wahrer, glühender Andacht verbindend, er mußte Jedermann,
weß Glaubens und WVaterlandes immer, unmiderftehlich feifeln
und erregen. Dad war tönendes Feuer, etwas überlodernd und
qualmend vielleiht — jedenfall der Iebendigfte Gegenſatz zu
jenem mechaniſch gleihmäßigen Abfingen ritueller Formeln, das
in anderen Gulten Styl und Vorfchrift geworden. Ein zer:
fnirichtes Auffeufzen, ein begeiitertes Gmporjubeln zu Gott,
jtet8 mit dem vollen Aufgebot der Empfindung und gleichſam
gelpornt durch den Gedanken, mit der Wahrheit jede einzelnen
Tones für die ganze Gemeinde, ja für ganz Sfrael einzuftehen.
Sulzer hatte damald ein wunderbar ergänzende und erläu—
terndes Seitenftüd an dem feither verftorbenen Prediger Mann:
heimer. Der alte Mannheiner — noch ſehe ich feinen hageren,
geiftvollen Kopf mit den flatternden Haaren — predigte, mie
Salomon Eulzer. 455
Sulzer jang. Diejelbe Gewalt über dad Material, dieſelbe
fremdartige und doch Alles fortreigende Leidenjchaftlichkeit,
dasielbe begeilternde Aufleuchten de Auges und der Stimme.
Es war die glühendite Kanzelberedfamkeit, die ich erlebt, hier
in Worten, dort in Tönen.
Liſzt erzählt in feinem Buche »Des Bohemiens et de
leur musique«, er habe bei Sulzer’3 Tempelgelang zum
eriten und einzigen Mal den Eindrud von einer wirklichen
nationalsfüdiihen Kunft empfangen, während alle anderen, felbit
trefflichften Leitungen jüdiſcher Tondichter, Poeten und Maler
doh nur ein Nachbilden und Wiederholen chriftlich-abend-
ländifher Kunft jeien. Ich Habe den treffenden Ausspruch
Liſzt's in feiner vollen Wahrheit empfunden, als ich Sulzer
zum eriten Mal hörte. Die Wirkungen des Sängerd, wie alle
höchftperfönlichen, erlöfchen mit dem Individuum; nur in der
Erinnerung der Zeitgenoffen und den Beftrebungen der Schüler
Ihlummern fie wie unter einem Schleier fort. Sulzer hat
dafür geforgt, daß fein Name nicht zugleich mit feiner Stimme
verflingen wird. Als Schöpfer und Verbreiter eines geregelten
Spnagogen:Gefanges hat er fich ein bleibendes Verdienſt ge:
Ihaffen, deſſen fichtbare8® Document, der »Schir-Zion«, vor
mir aufgeichlagen liegt. Ueber den früheren jüdiſchen Synagogal—
Gejang und die einfchlägigen Reformen Sulzer’3 zu urtheilen,
fehlt mir die Berechtigung. Die literarifche Belehrung über den
eriteren ift mehr als dürftig; dad Gewicht der Tegteren muß
ih auf Treu’ und Glauben annehmen. Anerfannt fand id
Sulzer’3 Verdienft von Freund und Feind. Sadhfundige bes
zeugen, daß Sulzer der mufifalifhen Liturgie der Juden
Ordnung, Würde und äfthetifche Form gegeben, daß er fie aus
einem wüſten Zuftande der Willkür und Verwahrlofung geriffen.
Es jei Sulzer’s Einfluß, wenn Gemeinden, in welchen man
eheınal® Pſalmen auf profane Opern: und Liebermelodien
bortragen und den Gantor das häßlichſte Schnörfelwerf im—
propifiren hörte, fich gegenwärtig in mufifalifch würdigen, wohl-
geregelten Formen bewegen. Für die rein muſikaliſche Seite
diefer Reform Haben wir einen enticheidenden Anhaltspuntt
an dem »Schir-Zione, der von Sulzer herausgegebenen
456 1866.
großen Sammlung von Gefängen für den gejammten jüdifchen
Eultus. Bon diefem Werke ift vor furzem der zweite Theil
erichienen, welcher wohl den erjten nicht fo jehr zu ergänzen
als zu erfegen beabfihtigt. Er ift dem »erften Theil«, welcher
fich überwiegend in deutſchem Muſikſtyl, theils Haydn-Mozartiſch,
theils noch viel moderner bewegt, unvergleichlich überlegen.
(Der erſte Theil enthielt unter Anderm viele Compoſitionen von
Seyfried, Schubert, Fiſchhof, Würfel, Drechsler und
Bolkert) Die Geſänge der neuen Sammlung klingen nicht
nur fräftiger, origineller und firchlicher, fie tragen au —
worauf ein großes Gewicht zu legen — ungleih mehr das
Gepräge jüdiſch-orientaliſcher Muſik. »Schir-Zion« ift nicht
etwa eine Compilation oder Bearbeitung älterer Gejänge,
fondern durhaus eigene, freie Compofition Sulzer's. Nur in
einigen wenigen Chören, ſowie in vielen der recitativartigen
Ginzelgefänge des Cantors hat der Componiſt ältere, im jüdi-
ichen Gottesdienft zu bejonderer Bedeutung gelangte Melodien
zu Grunde gelegt.*) in hohes Alter nehmen übrigens jelbit
diefe Reliquien nicht in Anſpruch; die älteften jüdiſchen Me—
lodien reichen nicht über 400 Jahre. Bei dem hohen Alter
und der ftrengen Zucht der jüdiſchen Traditionen, zumal im
Gottesdienfte, wäre es gerade fein Wunder, wollten die Juden
ihre älteften Melodien bis zu David, dem Gründer der
hebräiſchen Tempelmuſik zurücgeführt wiſſen. Um jo rühmlicher
und redlier handelt Sulzer, indem er jede derartige Träu—
merei oder Fiction verihmäht, fogar gegen einige Gejang-
weiſen ausdrüdlich polemifirend, »welche in ganz unberecdhtigter
Weiſe den Schuß des Alterthums für fih in Anſpruch nehmen«.
*) Bei einem der älteften Themen gibt und Sulzer eine An:
ihauung der altjüdiſchen Notirungsweiſe (»Neginah«), die in Form
von Keinen Häkchen, Punkten und Strichen über den Wörtern ange:
bracht, die größte Verwandtichaft mit den altchriftlihen Neumen hat,
Indem das Hebräifche zeilenweife von rechts nad links gelefen wird,
fo ift es einer Notirung nad) unſerem Muſikſyſtem eigentlich unzu—
gänglich. Im »Schir-Zion« find deßhalb nur die Heberichriften in
hebräifchen, der ganze gelungene Tert hingegen in lateinifchen Bud;
ftaben ausgeſetzt.
Salomon Sulzer. 457
Der zweite Theil der Sulzer’ihen »Schir-Zion«, obwohl
natürlich) dem modernen Ton- und Modulationd-Syftem an—
gehörig, läßt ein eigenthümliches orientalifch-füdifches Gepräge
nirgends vermifjen. Mit voller Anſchaulichkeit tritt dasſelbe
allerdings erft heraus, wenn die Note durch den charafteriitiichen
nationalen Vortrag belebt und individualifirt wird. Aber auch
die Note an fi trägt diefen Typus; wir finden ihn in dem
Vorwiegen des Recitativiihen, dad im Munde eine Cantors
wie Sulzer den Charakter begeifterten Improviſirens annimmt ;
in gewiſſen rhythmiſchen, Harmonifchen, vorzüglichen aber melo—
diihen Grundzügen, wiederkehrenden Gadenzen und Schluß:
formeln. Ein namhafter neuerer Mufif-Hiftorifer geht offenbar
zu weit, wenn er dem jüdiihen Synagogal-Geſang einen
originalsjüdiihen Charakter aus dem Grunde abjpriht, weil
die Juden feit ihrer Zerftreuung über den Occident überall
dem modernen Adoptivlande fich ajlimiliren, jo daß die Muſik
der ſpaniſchen Juden fpanifch, der deutichen deutich, der pol-
nischen polniſch ſei Man braucht aber nur einmal dem Gottes:
dienfte der deutichen, portugiefiihen und polnifhen Juden
beizumohnen (in Wien hat man dad Alle ganz nahe), um
durch alle Verjchiedenheiten hindurch da überwiegend Gemein
jame in ihrem Gejange wahrzunehmen. Und Died gemeinjame
iſt eben der ſpecifiſch orientaliide Typus, der weit mehr an
arabiiche, türkiſche, perſiſche Weiſen erinnert, als an die Na:
tionalmufit der Deutichen, Bortugiefen und Polen. *) Lebt doc
im jüdifchen Volfe neben dem Charafterzug der Ajfimilirung
der noch ftärfere eined zähen Feſthaltens an den nationalen
Sitten und Traditionen. Am ftärkjten wirkt er in den unteren
Volksclaſſen, und dieſe find überall die treue, alte Garde der
Religiofität. So dürfen wir denn aud im »Schir-Zion«, dem
Repräfentanten des modernen Synagogal-Geſanges, einen na:
*) Wie jehr erinnert 3. B. das Klagelied Nr. 345 und Aehn—
liches bei Sulzer an den Ruf des Muezzim bei den Türken! Die
nahe Verwandtſchaft der jüdifchen mit der arabiichen Geſangsweiſe
beftätigt uns (von älteren Sammlungen abgeiehen) ganz neuerdings
das Werk von Alerander Chrijtianomwitjch »Esquisse historique de
la Musique Arabe« (1853).
458 1866.
tionalen Grundton anerkennen. Die Gefänge find durchaus
pocal, ohne Inftrumental-Begleitung, und werden vom Gantor
theild allein, theil® gemeinfam mit dem Chor vorgetragen.
Legterer ift ein gefchulter Sängerdhor von Männern und Knaben;
die Nichtbetheiligung der Gemeinde, ſowie die Ausſchließung
der Frauen vom Tempelgeſang fteht in ftrenger Weberein=
ftimmung mit dem alten jalomonifchen Gottesdienft zu Jeru—
falem. Bon jchöner, ergreifender Wirkung find die (an unjere
fatholifhen Nefponforien mahnenden) MWechlelgefänge zwiichen
dem Cantor und dem Chor; jener beginnt allein mit einem
kräftigen Motiv — die häufigen Intonationen vom Grundton
in die Quinte geben ihm den Charakter des Aufenden, Empor:
ihmwingenden — der Chor erwidert in fürzeren oder längeren
vierftimmigen Sätzen. Einige Chöre hat Sulzer mit Orgel-
begleitung verjehen und damit thatſächlich gegen allzu orthodore
Stimmen für dad Recht der Orgel in der Synagoge plaidirt.
Sn großen Räumen ift dies Inftrument zur Unterftüßung und
Ausfülung einer Vocalmuſik nahezu unentbehrlich; fein uni-
verfal religiöfer Charakter eignet es für jeden monotheiftiichen
Cultus. Hiltoriih dürfen die Juden überdies auf ihre »Ma-
grepha« und »Mafchrofita« pochen, die, primitiv und bald
überwunden, doch immerhin Orgeln waren. Dem dhriftlichen
Abendlande verdankt die Orgel ihre Ausbildung, aber nicht
ihre Herkunft. Das mufifalifche Verdienſt Sulzer's erjcheint in
den Augen de Kenners geiteigert durch viele eigenthümliche,
in der Sprade wie im Ritus begründete Schwierigkeiten. Die
Melodie muß allezeit dominiren, die Stimme des Cantors dem
Chor ſtets voraus und überlegen fein, fein Wort darf wieder:
holt werden. Die Terte entbehren jeglicher Strophen-Architef-
tonit und fügen fi jchwer dem mufifalifhen Takt und
Periodenbau; dazu treten die ftrengften Anſprüche auf die Be-
achtung der überaus ſchwierigen Proſodie des Hebräifchen.
Der fi) immer weiter auöbreitende reformirende Einfluß
dieſes Werkes (man benüßt es bereit3 in amerifanifchen Syna-
gogen) verleiht ihm überdies eine culturhiftoriihe Bedeutung.
Waffenruhe am Glavier. Walzer von Brahms. 459
Baffenrube am Glavier.
(Wien, im Auguft 1866.)
Wir Freunde hatten den ganzen Spaziergang hindurch
Politik getrieben, Vergangenes und Künftiges erwägend, er:
duldend. An der Hausthüre angelangt, war e3 und, als fönnten
wir nicht fo ſcheiden. Faſt ſchüchtern regte fi die Frage, ob
wir nicht ein wenig Mufit machen jollten? Es lag ein Paket
Novitäten auf meinen Klavier, uneröffnet, wie feit geraumer
Zeit dieſes ſelbſt. Nicht ohne freudige Bewegung gingen wir
an die fleinen MWorbereitungen; der Cine öffnete das Paket,
der Andere dad Piano. Es verftand fih von jelbit, daß mit
vierhändigem Spiel der Anfang gemacht werde. Sit e8 doch
die intimfte, die bequemfte und in ihrer Begrenzung vollitändigfte
Form häuslichen Muficirend. Sie ift jünger, als unfere Gene:
ration mwähnt, und verdanft der rapiden Werbreitung des
Glavierjpieles8, der Erweiterung und Vervollkommnung der
Pianofortes ihren Aufſchwung. Dad Streichquartett, Trio oder
Quintett, das fonft in feinem gut mufifalifhen Haus fehlte, iſt
dadurch verdrängt; ein Verluft ohne Zweifel, doch fein Nach—
theil für die beftmögliche Kenntniß der Orceiter-Literatur auf der
eigenen Stube. Wenn man die Muſikalien-Kataloge aus Haydn's
und Mozart’3 Zeit biß über die Mitte von Beethoven's Wirk—
ſamkeit durchblättert, fo begegnet man faum einem vierhändigen
Arrangement auf Dußende von Bearbeitungen für drei, vier
und fünf verſchiedene Inſtrumente. Auch Beethoven’ erſte
Symphonien waren längft für Streidhquartett arrangirt, ehe
man fie vierhändig zu feßen begann. Heutzutage bringen
unfere Concerte feine Ouverture, feine Symphonie, die man
nicht jofort im vierhändigen Arrangement verfoften oder nad)
genießen kann. Eine Quelle von Vergnügen und Belehrung
fließt den Mufitfreunden aus diefem bejcheidenen Gebiete zır.
— »Wer ift Ihr Vierhändiger?« fragte mic) einft ein paffionirter
Dilettant. Seine fühne Wortbildung, fo ganz die Perſönlichkeit
negirend und blos die muſikaliſche Nüslichkeit betonend, jchien
460 1866.
mir jo übel nicht. Ein rechter »Vierhändiger« ift ein Inbegriff
von foliden Eigenfchaften. Er fteigt im Werthe, je weniger er
zweihändige Prätenfionen macht. Nicht Jedermann kann eine
Frau, eine Geliebte, einen Herzens: und Geifteöfreund fein
nennen, aber »einen Vierhändigen« follte jeder Sterbliche be—
figen, gleichſam als engagirten Tänzer für die mufifalifche
Lebenszeit.
Mein Vierhändiger alſo ergreift das Notenpaket, hebt
ab wie im Kartenſpiel und lieſt überraſcht auf einem Hefte die
Aufſchrift: »Walzer zu vier Händen von Johannes
Brahms«, op. 39. Brahms und Walzer; die beiden Worte
ſehen einander auf dem zierlichen Titelblatte förmlich erſtaunt
an. Der ernfte, ſchweigſame Brahms, der echte Jünger
Schumann’, norddeutſch, proteftantifh und unmeltlih mie
diejer, fchreibt Walzer? Ein Wort löſt und das Räthſel, es
heißt: Wien. Die Kaiferftadt hat Beethoven zwar nicht zum
Tanzen, aber doch zum Tänzefchreiben gebracht, Shumann zu
einem »Faſchingſchwank« verleitet, fie hätte vieleiht Bad
jelber in eine ländleriihe Todfünde verftridt. Auch die Walzer
von Brahms find eine Frucht jeines Wiener Aufenthaltes,
und wahrlid von jüßefter Art. Nicht umfonft hat diejer feine
Organismus fih Jahr und Tag der leichten, wohligen Luft
Deiterreihd ausgelegt — feine »Walzer« wiſſen nachträglich
davon zu erzählen. Fern von Wien müflen ihm doch die
Strauß’ihen Walzer und Schubert? Ländler, unfere Gftanzel
und Sobdler, jelbit Farkas' Zigeunermufit nachgeklungen haben,
dazu die hübſchen Mädchen, der feurige Wein, die waldgrünen
Höhen und was ſonſt nod. Wer Antheil nimmt an der Ent:
widlung dieſes echten und tiefen, bisher vielleicht einfeitigen
Talente, der wird die »Malzer« als glüdliches Zeichen
einer verjüngten und erfriichten Empfänglichkeit begrüßen, ala
eine Art Belehrung zu dem poetifchen Hafisglauben Haydn’s,
Mozart’3 und Schubert’3. Welch reizende, liebenswürdige Klänge!
Wirkliche Tanzmufif wird natürlich niemand erwarten: Walzer:
Melodie und Rhythmus find in künſtleriſch freier Form be-
handelt und dur vornehmen Ausdruck gleihjfam mobilifirt.
Trogdem ſtört darin feinerlei fünftelnde Affectation, fein raf-
Waffenruhe am Clavier. Walzer von Brahms 461
finirte®, den ZTotaleindrud überqualmendes Detail — überall
herricht eine schlichte Unbefangenheit, wie wir fie in dieſem
Grade faum erwartet hätten. Die Walzer, fechzehn an der
Zahl, wollen in feiner Weiſe großthun, fie find durchwegs
furz und haben weder Einleitung noch Finale. Der Charafter
der einzelnen Tänze nähert fich bald dem ſchwunghaften Wiener
Walzer, häufiger dem behäbig wiegenden Ländler, mitunter tönt wie
aus der Ferne ein Anklang an Schubert oder Schumann. Gegen
Ende des Heftes Elingt e8 wie Sporengeflirr, erft leife und
wie probirend, dann immer entjchiedener und feuriger — Mir
find, ohne Frage, auf ungariihem Boden. Im vorlegten
Walzer tritt die8 maghariſche Temperament mit braufender
Energie auf; der Dreivierteltaft erjcheint faſt als eine Sfurzze
des raſchen Allabreveichrittes im Cſardas; als Begleitung
erdröhnt nicht der ruhige Grundbaß des Strauß’fhen Or:
cheiter8, jondern das leidenjchaftliche Geflatter des Cymbals.
Dhne Zweifel Hätte dies Stüd den effectvolliten Abſchluß ge:
bildet, allein e3 liegt ganz in dem Weſen Brahms', den feineren
und tieferen Eindruck dem raufchenden vorzuziehen. Er jchließt,
zum öſterreichiſchen Zändlertone zurückkehrend, mit einem furzen
Stüde von bezauberndem Liebreiz: ein anmuthig tiegender
Geſang über einer außdrudsvollen Mitteljtimme, welche im
zweiten Theile unverändert ala Oberftimme erfcheint, während
dazu die frühere Hauptmelodie nun die Mittelftimme bildet.
Das Ganze in feiner durchſichtigen Klarheit zählt zu jenen echten
Runftitüden, die Keinem auffallen und Jedermann entzüden.
Das Brahms'ſche Heft erläßt dem Spieler jedwede Bravour
oder Anftregung, appellirt aber an ein feines mufifalifches Ge—
fühl. Die einzelnen Walzer find ſehr verjchiedenen Tem:
perament3, der Spieler erräth dasfelbe mehr aus ihrem muſi—
faliihen Inhalte, al3® aus den fparfamen Tempo: und Vor—
trag&bezeichnungen,
Auch Schubert’3 »Ouverture im italieniichen Style« in
C-dur (Partitur und vierhändiges Arrangement bei Spina)
jpielten wir zum erjtenmale. Sie war nebft einer gleichbe-
titelten zweiten (in D-dur) noch zu Lebzeiten des Componiften
ein beliebtes Concertftüd in Wien, was befanntlich wenig
462 1866.
Schubert'ſche Compofitionen von fich rühmen konnten. Während
wir jeßt die früher verfannten oder ganz ungelannten Werke
Schubert’3 hervorſuchen und hochſchätzen, find feine »Italie—
niſchen Ouverturen« falt ſpurlos verihollen. Schubert
Ichrieb fie zur Zeit des epidemifchen Roſſini-Fiebers in Wien,
theil3 mit ironiſcher Abficht, theil® wirklich getroffen von der
glänzenden Neuheit diefer Erjcheinung. Der Roſſini'ſche Einfluß
wirkte zu Anfang der Zwanziger-Jahre mit der Inwiderftehlich-
feit einer Naturgewalt. Vielleicht der merfwürdigfte Beleg dafür
ift, daß in den Werfen Spohr’3, Weber’ und Schubert's,
diefer drei leidenſchaftlichen Roſſini-Gegner, ſich deutliche Spuren
dieſes Einfluffes erkennen, und durch eigene Ausſprüche Diefer
Meifter biographiſch conftatiren laſſen. Die »Italieniſche Ouver—
ture in Ce, gefällig erfunden und effectvoll inſtrumentirt, gibt
freilih weder den echten Schubert noch den echten Rojfint.
Schubert mußte feine beſte Cigenthümlichfeit verleugnen, um
jene Roſſini's — doch nicht zu erreichen.
Unfere vier Fäufte Hatten die beiten Stollen des Noten:
gebirges allmälig ausgefchürft, nur ein unheimlich glimmerndes
Geftein lag noch unberührt: NRihard Wagner. Mit etwas
ängftliher Neugierde jchlugen wir den neuen »Huldigungs—
marſch« auf, den Richard Wagner dem jungen Könige von
Baiern widmete. Der Marſch beginnt mit einer jentimental:
pathetiihen Einleitung, in welcher da unvermeibliche chroma—
tiiche Gemwinfel wenigiten® auf langjame Noten vertheilt ift.
Ein Trompetenftoß unterbricht diefe Meditationen, und die
Huldigung marihirt nun etwas ftrafferen Schrittes, aber mit
äußerſt alltäglihen Ideen weiter. Wir zweifeln feinen Augen:
blid, daß Wagner, als er fich behufs dieſer Inſpiration
»das Berzeihniß feiner Sclafröde« reichen ließ, den roth-
jammtenen mit Goldquaften und Türkiſenbeſatz gewählt Habe.
Uber leider kommt diefer Farben und Juwelenglanz jelbft in
dem begeiftertiten Clavierauszug nicht zu Tage und bleibt
nur der einfache muſikaliſche Schnitt. Wir können nicht dafür,
daß diefer Schnitt uns überaus gewöhnlich und bürgerlich vor—
fommt. Der »Huldigungdmarich« erinnert in vielen Wendungen
an die Feſtzüge im »Tannhäufer« und »Lohengrin«, ohne dieje
Waffenruhe am Glavier. Schubert. R. Wagner. 463
auch nur entfernt zu erreihen. Wir wiflen nicht, was Alles
die Eingeweihten in diefe Mufif etwa Hineingeheimniffen, be—
zweifeln aber, daß fie jemand Anderem als dem damit be-
grüßten freigebigen Souverän bejonders theuer jein werde. Sit
da Arrangement des »Huldigungsmarjched« eine neue Probe
von Bülomw’3 Gewandtheit, jo grenzt das Unternehmen feines
Freunde® Taufig, die Dupertüre zu den »Meifterfingern von
Nürnberg« für vier Hände zu fegen, hart and Unmögliche. Der
Huldigungsmarih ift doch noch jedenfall königlich baterifche
Mufit, aber in dem Spectafel der »Nürnberger« Wolfsſchlucht
hört jeder Gedanke an Mufif auf. Das Wiener Bublicum hat
dies blutrünftige Vorſpiel zu einer »fomifchen Oper« vor zwei
Fahren im Original genofjen und erinnert fi, was es damals
hörend erlebte. Was aber vollends Menichenhände spielend
dabei erdulden, weiß nur, wer es ſelbſt verfucht. Uns war zu
Muthe, als bahnten wir und mit bloßen Armen einen endlojen
Weg durch Neflelgebüfh und Dornenheden, um zu einem Ziele
zu gelangen, das faſt noch jchlimmer als der Weg dahin. Zu
erfhöpft waren wir von dem mörbderifchen Handgemenge, um
weiterzufpielen, zu ärgerlid aufgeregt, um jo den Abend zu
befchließen, den wir dem Frieden und der Harmonie zugedadt.
»Dieſe Muſik ift ja ärger als Krieg und Bolitif!« rief ent-
rüfteft mein mir an die linfe Hand getrauter Kamerad. Was
num anfangen? Wie eine Leuchtfugel ftieg uns der Gedanke
auf, daß heute Strauß im Volksgarten fpiele, und ſporn—
ſtreichs eilten wir Hin, als folgte und die Zunft der
Meifterfinger auf den Ferſen. Im Volksgarten jchimmerte
es fröhlih von Lichtern und Klängen, Strauß begann eben
mit ſchwungvollem Geigenftrih jeine Walzer: »Auf den
Bergen«. Die Opfer des Nürnberger Meiſtergeſangs aber ſanken
aufathmend auf eine Gartenbanf und waren glüdjelig wie —
auf den Bergen. —
Wir hatten am nächſten Abend nichts Neues zu vier Händen,
fondern wechjelten einander einzeln am Glavier ab; ein Spieler,
ein Hörer. Mehrere Clavier-Compofitionen aus Liſzt's neuefter
geitlicher Periode erregten vorzugsweiſe unſer Intereſſe; kann
doch Niemand, der je mit dem merfwürdigen Mann verkehrte,
464 1866.
jelbit dem nachwirkenden Zauber feiner Perſönlichkeit fich ent:
winden. Und eben Ddiefe Perjönlichkeit beſchäftigte uns aud
heute lebhafter als deren mufifaliide Spenden. Die Hefte
durchblätternd, erinnerten wir und eines Briefes von Mlerander
v. Humboldt an Barnhagen, worin Erfterer ungefähr aus—
fpricht, er fei alt genug geworden, um jelbit über das Un—
gereimtefte nicht mehr zu eritaunen. »Nur«, fo fchließt Der
Brief, »nur der ungariihe Ehrenmönch bleibt mir räthjelhaft«.
Gene von Humboldt angejpi:lte Chrenaufnahme Liſzt's in
den Status eined ungariihen Klofterd, das fih ihm äußerft
gaftfrei erwiejen hatte, war nicht viel mehr als ein Act der
Höflichkeit von beiden Seiten, ohne bindende Confequenzen.
Warum follte der phantafievolle Metamorphofenmann, der in
Jena im deutfchen Studentenwamms, in Peſt im verichnürten
Magyarenrod mit Säbel und Sporen, anderwo wieder anders
auftrat, nicht auch einmal den poetifchen Contraft des Klofter-
habit3 empfinden und fih für einen Tag zum Gapuziner
träumen? Al jedoch Liſzt vor etwa einem Jahre in Nom
wirklich die MWeihen empfing, machte es mit Recht einige Sen:
jation, denn nad jeinem Lebenslauf und Temperament jchien
der berühmte Pianift nicht eben vorzugsweiſe zum Geiftlichen
prädeſtinirt. Indeß — mer vermödte in dad Innerſte eines
Menichenherzend zu bliden! Mer wäre vermeffen genug, über
einen Schritt zu urtheilen, der nur über einen Abgrund von
Gemüthskämpfen hinweg denkbar ift und verläugnungdftarf ein
Leben in zwei Hälften briht? Wir hatten ernftlich verjucht,
uns diefen Schritt aus Liſzt's Weſen pſychologiſch zu erklären,
und gelangten dahin, ihn auffallend zwar, aber nicht unbe:
greiflich zu finden. Wäre e8 denn wirklich jo unnatürlih, daß
ein leicht erregbarer, phantaftifher Menfch, der, feit feiner
Kindheit von einem Triumph zum andern geworfen, in einem
wildbewegten Leben alle Genüffe, Ehren und Aufregungen bis
zum Uebermaß durchgefoftet hat, fih in jeinem 55. Jahre
ſchmerzlich überfättigt und unbefriedigt fühle? Daß er von
dem raufchendften MWeltgenuß in den Gegenſatz einer ascetiſchen
Frömmigkeit verfale und den Blick von diefer ihm nur zu
befannten Welt nach einer andern, ungefannten wende? Mir
Waffenruhe am Klavier. Lilzt. 465
glaubten in der That, Lilzt jehne fich, mit der weltlichen Tracht
auch alles weltliche Trachten abzulegen, und werde, unbe-
fiimmert um den Schmerzensjchrei der feinen Gejellihaft fortan
in frommer Beichaulichkeit ausruhen. Was gejchah, war gerade
das Umgefehrte. Liſzt, der fich vor feiner Priefterweihe eine
zeitlang Hinter den Sixtiniſchen Weihrauchswolken verborgen
gehalten, tritt raich und munter in die fündhafte Welt heraus.
Er eilt von Rom nah Peſt ald König eines ihm vorbereiteten
Mufikfeites, dirigirt dort im geiftlichen Kleid feine »Heilige
Eliſabeth« und entzündet durch fein Clavierfpiel dag magyarijche
Publicum. Hierauf ftürzt er fih in den fünftlerifchen Strudel
von Paris, bringt jeine Feltmeffe niit großem Pomp zur Auf.
führung und ſoll dort jogar — wie mißig ijt das Leben!
— durch fein heilige® Clavierjpiel ein Frauenzimmer zur
Tugend befehrt haben. Das Weltkind Liſzt Tpielte wunderbar,
der Abbe jpielt Wunder.
Liſzt hat ſeit jeiner Prieſterweihe ziemlich viel Clavier⸗
ſtücke publicirt; Transſeriptionen aus Mozart's Requiem und
aus Pergoleſe's geiſtlichen Melodien, eine Humne an den
Papſt, endlich zwei »Legenden« für Clavier, die uns beſonders
charakteriſtiſch erſcheinen. Sie behandeln ein Wunder des heiligen
Franz von Aſſiſi (»La predieation aux oiseaux«) und eines
vom heiligen Franz de Paula (»St. Francois de Paule
marchant sur les flots«). Wie uns das franzöfiihe Vorwort
ausführlih erzählt, traf Franz von Aſſiſi einſt auf der Heer:
ftraße eine Menge Vögel und hielt ihnen eine Predigt. Die
Vögel hörten aufmerfjam zu und rührten ſich nicht vom Flecke,
obgleich der Heilige, unter ihnen wandelnd, fie mit dem Talar
ftreifte; erit nachdem er ihnen den Segen ertheilt, flogen die
Vögel genau in Kreuzesform nach den vier MWeltgegenden da:
von. Dem heiligen Franz de Paula verjagten einjt in Meſſina
einige Schiffer die Aufnahme in ihr Boot; der Heilige achtete
nicht darauf und ging trodenen Fußes über das Meer. Zur
eriten Legende bemerkt Lilzt gar befcheiden, daß feine geringe
Geſchicklichkeit und vielleicht die engen Grenzen des muſi—
falifichen Ausdrudes im Clavier ihn gemöthigt hätten, Hinter
der munbderbaren MHeberfülle der Wogelpredigt ſehr zurückzu—
Hanslick. Aus dem Concertiaal. 2. Aufl. 30
466 | 1866.
bleiben, weßhalb er »le glorieux pauvret du Christe um Ber:
gebung anfleht.
Sieht man nah alledem die beiden Muſikſtücke ſelbſt
an, fo findet man zwei gewöhnliche brillante Goncert-&tuden,
deren eine als mufifaliiches Motiv dad WVogelgezwiticher, die
andere dad Meeresbrauſen nachahmend fortipinnt. Die Stücke
find dankbar für den Virtuofen und nicht ohne pifantes Dif-
fonanzengewürz; natürlih forgt die Wogelpredigt für Die
Bravour der rechten Hand, der MWogenfpaziergang für die Der
Iinfen. Dieſe Compofitionen fönnen offenbar ebenjogut » Les
amours des oiseaux« und »Souvenir des bains d’Östende«
heißen und hätten vor zehn Jahren wahricheinlih auch jo ge-
heißen. Wielleicht führt uns Lilzt nah und nah aud Die
übrigen Heiligen in derjelben gefälligen Manier vor. Vorläufig
müfjen wir befennen, daß dieſe Appretirung des Heiligenfcheins
für den Concertſaal, diefe getrillerten und gehämmerten Mirafel
und einen unfäglich Eindiichen Eindrud machen.
Wir waren, wie gejagt, wirfli der Meinung, der Abbe
Liſzt werde feine Weltentjagung ernithaft nehmen und den
mufttaliihen Salonbeftrebungen von ganzem Herzen Adieu
jagen. Haben wir darin geirrt, jo war noch ein zweiter Weg
denkbar: die vollftändige Trennung des Künftler® vom Geiſt—
lihen. Manche feiner Freunde äußerten wiederholt die Meinung,
Liſzt habe durch die neue Standeswahl hauptſächlich eine voll:
ftändige materielle Unabhängigkeit erreihen wollen. So wenig
wir diefer Motivirung beifallen möchten, welche zu Liſzt's all
zeit nobler, uneigennüßiger Denfart nicht wohl ftimmt, fo
wenig hätten wir, falls fie wahr ift, ein Recht, ohnemweiters
darüber abzuurtheilen. Mannigfahe uns unbekannte, vielleicht
jehr erhebliche Umftände mögen hier zujammengemwirft haben,
und Umftände find, nad) Rahel, die Minifter der Götter. In
diefem zweiten Fall (daß nämlih nicht Glaubensbedürfnif,
fondern triftige äußere Motive Liſzt dem geiftlichen Stande zu:
führten), wäre es uns nur natürlich erfchienen, wenn er als
Componiſt der Kunftwelt gegenüber feine Geiftlichfeit gar
nicht betont, Sondern als eine rein innere, häusliche An:
gelegenheit ignorirt hätte. Er wäre für den Batican der neue
Waffenrube am Clavier. Liſzt. 467
Abbe, für die Muſikwelt der alte Liſzt geblieben, derfelbe Liizt,
welcher mit feinen Symphonien Shalfpeare, Goethe und Byron,
mit feinen Clavierftücen lediglich die moderne Virtuofität gefeiert
hat. Wir hätten ihm den Muth zugetraut, feine Mufif un—
tonfurirt zu laſſen. Gerade diefe Verquidung geiftlicher Titel
mit weltlihem Inhalt, dieſes Abbe-Spielen und Lilzt-Sein,
oder Lilzt-Spielen und Abbe-Sein, iſt es, was und an der
neueſten Phaſe des ausgezeichneten Mannes nicht recht behagen
will. Die Salon:Bigotterie der »Legenden«, zufammengehalten
mit der Halt des Gomponiften, fih dem ungariihen, fran—
zöfiihen, deutihen Publicum im Abbemäntelhen vorzuführen,
und fo mit einem neuen Reiz auögeftattet die Tanggemiedene
Deffentlichfeit wieder aufzufuchen, mußte die Vertheidiger feines
wahren geiftlihen Berufes befremden, MWenn nicht daS Weſen,
jo ift doch der Anjchein vorhanden, als pfropfe Liſzt weltliche
Reiſer auf geiftlihen Stamm.
Sn dieſer jeltjamen Stellung und Thätigfeit hat Abbe
Liſzt in der Mufitgefchichte einen Vorgänger bon frappanter
Aehnlichkeit; den berühmten Abbe Vogler. Es nimmt uns
Wunder, diefe Doppelgängerihaft noch nirgends hervorgehoben
zu finden. Abbe Vogler (geboren 1749, F 1814) war ein
Manı von umbeftreitbarer Genialität und glänzender Viel—
jeitigfeit; eine Erjcheinung, mit der verglichen zu werden Liſzt
ficher nicht zur Unehre gereicht. Berühmt als Schriftiteller und
Componiſt, als Clavier- und Orgelvirtuofe, fpielte Vogler durch
fein geiftreiches, originelles Weſen eine glänzende Rolle in der
Geſellſchaft und übte auf feine Schüler und Verehrer eine Art
Zauber. In der fchildernden, poetifirenden Tendenz feiner Muſik
deutet er gewifjermaßen auf die Zufunftsmufif; er fpielte auf
der Orgel den »Tod Herzogs Leopold’3 in den Fluthen«, die
»Belagerung von Seriho« u. dgl. Seinen Verehrern war
Vogler geradezu ein Wundermann, feinen Gegnern ein geift-
reicher Charlatan. Vogler's Erfolge in Wien in den Jahren
1803 und 1804 repräfentirten für jene Zeit ungefähr den
Liſzt-Enthuſiasmus unferer Tage Ein gewiſſes Maß von
Charlatanerie fonnte Abbe Vogler in feinem feiner Fächer
entbehren, namentlich, wußte er feinen künſtleriſchen Nimbus
30*
468 1866.
trefflich durch den geiltlichen zu erhöhen. Forkel's Almanach
erzählt, wie Vogler, wenn er bei Jemandem fpielt, »zuvor fein
Betbuch hinſchickt, und nachdem er eine Weile dageweſen ift,
‚plöglih aufiteht, in ein anderes Zimmer geht, wo er feine
Geele neben fich leidet, und dba aus jeinem Buche betet«. Zu
ſolch eitlem Comödienſpiel wird Liſzt — unſeres Erachtens
der aufrichtigere und bedeutendere Künſtler — ganz gewiß nie
herabſinken. Aber die äußere Aehnlichkeit und die innere Ver—
wandtſchaft zwiſchen dieſen zwei merveilleuſen Naturen iſt un—
verkennbar, und jo leiſten und beide Abbés gleicherweiſe den
Dienft, einer den andern zu erflären.
1867.
ÖOrchefter:Soncerte.
Der Heißler’ihe Orcheſterverein, dieſer verſchämte
Veilchenſtrauß, erfreut uns diesmal mit einer in Wien noch
unbekannten Ouverture von Mendelsſohn-Bartholdy. Es
iſt dies die C-dur-Duverture op. 24 für Harmoniemuſik, deren
Vorführung wir unjeren größeren Concert-Inftituten bereitö
vor Jahren vergebens vorgeichlagen haben. Hervorragende Be:
deutung, etwa neben den bier Concert:Duperturen, fann man
diefer Compofition freilich nicht beilegen, aber jollte ein hier
noch unbekanntes Orchefterwerf von Meudeldfohn nicht jchon
aus diefem Titel allein den Verſuch einer Aufführung ver:
dienen? Hat auch Mendelsjohn die C-dur-Duverture nicht mit
dem vollen Aufgebot jeiner Phantafie, dem ganzen Reichthum
feines Kunſtvermögens geichaffen, jo waltet doch unverkennbar
feine Meifterhand in dem klaren, ftattlihen Bau und dem feinen
Schliff des Ganzen. Mendelsſohn gab nichts aus der Hand,
was nicht in feiner Art fertig und volllommen daftand. Die
Ouverture mit ihrem füßen, ruhigen Wohllaut im Andante
und der fröhlichen Lebendigkeit im Allegro muß jeden Hörer
frifh und liebenswürdig anmuthen. Dieje beicheidene und doch
wirfjame Modulation, diefe Klarheit und gefunde Fröhlichkeit
erinnert manchmal an Mozart, der befanntlich auch nicht immer
»bedeutend« ſchrieb. Nur für Blas-Inſtrumente geſetzt, iſt Die
Duperture ſchon dadurd eine Specialität unter Mendelsſohn's
Werfen und erichiene als folche in der Urgeftalt am intereſſan—
teften. Im Orchefterverein war daran natürlich nicht zu denfen,
470 1867.
er mußte fih mit einem von Heißler gearbeiteten Arrange-
ment für ganzes Orcheſter behelfen. Dieje Bearbeitung ver-
dient unbedingtes Lob, ja fie dürfte dem mufifaliihen Geſchmack
des Concert-Publicums mehr zujagen, als das Original. Denn
an fich verhält fih doch immer die Harmoniemufit zum vollen
DOrcheiter wie das Fragment zum Ganzen, wie ein Behelf oder
Arrangement zum reichen Original. Gewiß Klingen die rafchen
Sechzehntel-Baflagen, die im Allegroſatz charafteriftiih vor:
herrichen, edler und feiner in den Violinen, als von fchreienden
F-Glarinetten vorgetragen, wie es das Original will.
Gehen wir von dem maderen Dilettanten-Concert und
jeinen mehr vom beiten Geilt als vom reinften Ton bejeelten
Spielern zu den aufs Feinfte geglätteten Productionen unserer
Philharmoniker über, die gleichfalls eine noch nicht gehörte
Mendelsſohn'ſche Duverture zur Aufführung braten.
Componiften, welche fih glüdlih auf eine anjehnliche
Nuhmeshöhe Hinaufgearbeitet haben, pflegen dann außer dem
Slanze ihrer Erfindung auch den mühelojeren ihres Namens
zu nügen und ſchwächere Jugendwerke zu veröffentlichen, welche
früher, ohne den Schuß einer berühmten Flagge, unbeachtet
auf hoher See verjhollen wären. Das find Geiftesfinder, die
nicht jowohl dem Namen ihres Erzeuger Ehre maden, als
jelber durch diefen Namen zu Ehren fommen jollen. Selbit
Beethoven, der doch zuerit der wahllojen PVieljchreiberei ein
Ende gemacht, verichmähte es nicht, von feinem geficherten
Throne herab zumeilen jugendliche Bagatellen (mit oder ohne
diefen Titel) an bittende Verleger auszufolgen. In dieſem
Punkte gab e8 faum ein fledenloferes Mufter von Selbitkritif
und Selbitverleugnung, ala Felir Mendelsſohn. Früh ent-
widelt und productiv wie er war, hatte Mendelsfohn viele
größere Jugendarbeiten aufgeitapelt, um welche ihn jpäter bie
Verleger beitürmten und deren günftige Aufnahme zu jener
Zeit außer Zweifel ftand. Der Meifter widerftand aber heroiich;
was jein künſtleriſches Gewiſſen nicht als reif uud vollgiltig
erfannte, gab er nimmermehr an die Deffentlichkeitt. Die im
zweiten Philharmonie-Concert zum eritenmale aufgeführte C-dur-
Duverture ilt ein neuer Beleg für diefe Strenge Mendelsjohn’s
Duverture bon Mendelsiohn. Concert von Händel. 471
gegen ſich ſelbſt. Das Werk ſtammt aus Mendelsſohn's fieb-
zehnten Lebensjahre und iſt erſt kürzlich von jeinen Erben
unter der Opuszahl 101 veröffentliht worden. Die »Troms
peten-Ouperture«e (aljo genannt nad dem dreimal aufrufenden
C der Trompeten zu Anfang und im Verlaufe des Stiüdes)
ijt ein intereffanter Beitrag zur Entwidlungsgeichichte Mendels—
fohn’3 und eine freumdlich überrafchende Gabe für Jeden, der
mit bejcheidenen Erwartungen berantritt. Neben der Klarheit
und Logik des muſikaliſchen Gedankens, welche Mendelsſohn
überall auszeichnen, weift die Duverture eine Beherrichung der
Form und der Orcheltermittel auf, wie fie jo früh nur wenige
Meiſter errungen haben. Sie raufht in einem ununterbrochenen
Allegrozug ſchmuck und feitlih dahin. Was fie zu jagen hat,
ift freilich nicht von bejonderer Neuheit oder Bedeutung, fie
jagt es auch mit ziemlich vielen Morten. Mendelsſohn's
harakteriftiihe Phyſiognomie findet fi hier noch nicht aus—
geprägt, höchiten® daß der Anfang des Durhführungsiages
it B-dur mit dem leifen Wogen der getheilten Violinen die
Romantit der »Hebriden«e und der »Melufine« voraus:
jpiegelt. Im Ganzen jcheint die ftarf von Mozart'ſchem Ein:
fluffe zeugende Duverture mehr einer emfigen, ihr Wiflen und
Können erprobenden Arbeit, ala dem Drange der Begeifterung
zu entftammen; ja die contrapunftiichen Partien des Durd)-
führungsfaßes mit ihrer matten Rhythmik und ihrem Roſalien—
Veberfluffe haben etwas geradezu Trodened, Doctrinäres. An
Friſche und Originalität der Erfindung ftehen die jugendliche
»NRuy-Blad«-Duverture und jelbjt jene »für Harmonie-Mufif«
entichieden höher. Immerhin gebührt Herrn Capellmeiiter Dej-
joff aufrichtiger Dank für dieſe intereffante Neliquie, des—
gleihen für eine noch viel ältere Novität, welche er unmittelbar
darauf vorführte. Wir meinen Händel’3 G-moll-Concert für
Streihordheiter mit zwei obligaten Violinen und einem Violon-
cell. Inſoweit Händel's Inftrumentalwerfe und den in der
Chor-Eompofition ungleih mächtigeren Meifter überhaupt zu
repräjentiren vermögen, iſt das G-moll-Goncert ein echter und
ganzer Händel. Ohne die Tiefe und den Combinations-Reichthum
ähnlicher Suiten von Bach, beſitzt das Werk doch anmuthige
472 1867.
und fräftige Ideen in effectvoller Faſſung. Es iſt das ſechſte
bon zwölf großen Goncerten, die Händel ſämmtlich im Laufe
eines Monats (October 1737), alſo ſehr raſch, geichrieben Hat
und die in England bald größte Beliebtheit erlangten. Dünkt
es unserem ernithaften philharmoniichen Bublicum nicht jeltiam,
daß diefe Concerte zu Händels Zeit als Lieblingsnummern in
den öffentlichen Concerten von Baurhall und Marylebone
figurirten? Der erfte Sag de8 G-moll-Goncertes iſt ein ſehr
ernfte8 Largo von Schöner Breite und Fülle. Es führt zu
einem vierjtimmigen fugirten Allegro, deſſen chromatiſch an-
hebendes, dann in wunderliche Intervalle gerathendes Thema
wohl vorzüglih durch feine Eigenart und Schwierigfeit den
Componiiten reizte. Der dritte Sag (der einzige, der die Haupt:
tonart verläßt) ift eine Chaconne in Es-dur, mit leierartig
fortichnurrendem Baß (»musette«), ein überaus wirkſames,
populäres Stück von altfränkiſch graziöfer Haltung. Nah Bur—
ney's Erzählung war dieſer Saß bei dem Gomponiften mie
beim Bublicum bejtändig und vorzüglih in Gunft und wurde
von Händel oft zwiichen die zwei Theile feiner Oratorien
eingeihoben. Dem Wiener Bublicum gefiel wieder Erwarten das
furze darauffolgende Allegro im Drei-Achtel-Takt noch befler,
das zur Miederholung fam. Es wirft mehr dur die feinen
Vortrags-Effecte, als durch befonderen Ideengehalt. Das Con—
cert ſchließt mit einem energiſch einſetzenden Allegro, das mi
ſeiner geringen Modulation und ſtereotypen Phraſen nicht über
eine gewiſſe conventionelle Stimmung hinauskommt. Das
Finale iſt von Ferdinand David mit einer Cadenz verſehen,
die mehr wie ein Ueberbein als wie ein natürlicher Schmuck
herauswächſt und ſehr ſchwächlich »händelt«, wo fie von dem
Recht des Lebenden guten Gebrauch hätte machen fünnen,
Sollte ed noch Jemand wagen, die bluttriefende »Medea«
als Oper zır bearbeiten, jo müßte er wohl auch eine Duverture
dazu erfinnen. Sich jedoch gerade diejen gräßlichen Stoff für
eine Concert:Ouverture auszuwählen, wie Bargiel thut, dünft
und minder nothwendig. Unfere neuen Componiften jcheinen
unerfättlihd am Tragiihen — wo fchreibt noch Jemand eine
Duperture, iiber welche Frohfinn und Lebensfreude fih ſonnenhell
Bargield »Mebea«. 473
ergöffen? Unſere Vorfahren vermieden die düſterſten Schatten
des Tragiſchen in der Mufik, jelbit wo der Gegenftand fie
forderte: Gluck's Duperture zu »Orfeo«, die von Gimarofa
zu den »SHoraziern und Guriaziern«e und Mehnliches könnte
man füglid bor einer Opera buffa fpielen. Im Gegenfake
dazu benügen wir die vollftändige ftoffliche Freiheit, welche
die moderne Erfindung der Concert-Ouverture und dar:
bietet, faft nımr für Nachtgemälde und Tragddien. Sollte wirklich
das Heitere fich gar nicht mehr für den »biltinguirten« Ton:
dichter ſchicken und nur den Tanzcomponilten überlaflen bleiben?
Dann wird man allmälig Tanzmuſik in den Goncertiaal
zichen und das Publicum wird jubeln, wie im le&ten Phil:
harmonischen Goncerte, als nah Bargiel's foldifcher Kinder:
mörderin Webers »Aufforderung zum Tanze« wiegenden
Schrittes hereinfchwebte. Die Philharmoniker können dieſe
Eompofition getroft in jedem Faſching wieder bringen — fie
ift auch gar zu beftricend in dem feligen Rauſch ihrer jungen,
unter dem Tanzen aufblühenden Liebe. Die Inftrumentation von
Berlioz wirft am jchönften in ihren einfachiten Intentionen :
dem Alterniren der Geiger mit den Bläfern, dem Gejang der
Oboe und des Cello, in der Tieblihen Monotonie der taft:
weile nachfchlagenden Hörner; was und jedesmal mikfällt, ift
nur das pfeifend herabgleitende Uniſono der Flöten und
Harfen — ein gemeiner Klang, wie von einer jener Miniatur:
Drehorgelu, mit welchen man den Geſangsunterricht talentvoller
Gimpel und Ganarienvögel zu unterftügen pflegt. Die Schluß-
nummer großer Goncerte gilt als Ghrenplaß; die Philhar-
monifer hatten ihm deßhalb Schumann’ »Sinfonetta« (Duper-
ture, Scherzo und Finale) angewiejen. Trotzdem litt das
poetiiche Helldunfel dieſes liebenswürdigen Bildchen unter der
Nachwirkung der unjäglichen Helle, die Meber’3 »Aufforderung
zum Tanze« verbreitet hatte.
63 folgte Mozart’ herrliche Clavierconcert in C-dur
(Nr. 467 bei Köchel); Herr Epftein ilt der Einzige, welcher
ſyſtematiſch durch eine Reihe von Jahren Mozart’iche Clavier—
concerte zum öffentlichen Vortrag wählt und fie einer leider
drohenden Vergeſſenheit entreißt. Won Mozart’3 Clavier-Com—
474 1867.
pofitionen find unzählige rettungslos und nicht unverdient vom
Zeitftrom fortgeſchwemmt; höchſtens der Elavierlehrer ımd der
Geihichtsforicher fünmern fi noch darum, dad Publicum
nimmermehr. Anders verhält es ſich aber mit den (Miener)
Eoncerten Mozart's; fie bezeichnen den Höhenpunft jeines
Clavierſtyles und übertreffen weit jeine übrigen Soloſtücke,
mit einziger Ausnahme der wunderbaren C-moll-Bhantafie,
welche direct auf Beethoven nit nur hinweiſt, ſondern
geradezu wie ein Wunder in deffen zweite Periode hineinragt.
Mit gutem Recht fann Mozart der Schöpfer der modernen
Slavierconcerte heißen, wie ja dad Fortepiano jelbft erſt unter
ihm zum concertfähigen Inftrument wurde.
Bollmann’3 neue B-dur-Symphonie, dad Eröffnungd-
ftüd des dritten Philharmonie-Concertes, klingt wie eine Art
mufifalifcher Ausgleich zwiichen Deutfchland und Ungarn. Der
in Sachſen geborene Componift verleugnet ebenjomwenig fein
deutjches Vaterland (oder gar die engere Landsmannſchaft Schu—
mann’), als die maghariſche Luft, die er jeit einigen Jahren
auf feiner teilen Refidenz in Ofen einathmet. Mit der größeren
Verbreitung und Würdigung von Franz Schubert’3 Inſtru—
mental-Gompofitionen bat fi auch deſſen Worliebe für uns
gariihe National» Melodien verbreitet und jüngeren Compo—
niften eingeprägt. Wir befiten ein ganzes »Ungariſches Con—
cert« von Joachim, inmphonifhe und Kammermufifen von
Liizt, Volkmann, Brahms, Herbed und Anderen, mworin
magyariihe Rythmen und Melodien mit Entjchiedenheit auf:
treten. Auch Robert Volkmann's B-dur-Symphonie (Nr. II,
op. 35) iſt von ungarifchen Motiven durchzogen. Glüdlicher:
weile hat der Componift von dieſen erotifchen Reizen feinen
den Symphonie-Styl compromittirenden Gebrauch gemadt, er
bleibt überall gemäßigt, ernft und deutfcher Form getreu. Am
meilten verräth das energiihe Thema des erſten Sates (fünf:
taftige Periode) ungarifches Blut; mit fanften, deutichen blauen
Augen Stellt fi das zweite Thema bejänftigend dagegen. Es
mahnt an Schumann, wie mander Zug im Verlauf der
Symphonie. Was man dem eriteren Sag, ja mehr oder minder
der ganzen Symphonie wünſchen möchte, ift eine größere
Volkmann's B-Symphonie. Schubert's »Rojamunbe«. 475
rhythmiſche Abwechsſslung. Diefe ungariſchen Synkopen haben die
Eigenthümlichkeit, einen mit ihnen anbindenden Componiſten
nicht ſobald wieder loszulaſſen. Volkmann hat mit vornehmer
Zurückhaltung in der ganzen Symphonie keine Poſaunen ver—
wendet; im erſten Satz vermißt man ihre dröhnende Kraft.
Machte der erſte Satz auf die Verſammlung keinen tieferen
Eindruck, ſo gefiel deſto mehr der zweite: ein Allegretto von
gleichmäßiger graziöſer Bewegung, mit einem Stich ins Pikante.
Das folgende Andantino im Sechsachteltakt beginnt wieder
volksthümlich mit einem ärmlichen, klagenden Geſang der Oboe
über monoton pizzikirten G-moll-Dreiklängen. Das Bild eines
auf jeinem Schilfrohr blafenden, einſamen Bußtahirten ftellt
fih bier von jelbft ein. Das Motiv wiederholt fich gegen den
Schluß immer öfter und jchneller, im Unifono aller Streich»
inftrumente anjchwellend, bis es £opfüber in das Finale ftürzt.
Dieſes in punktirten Aditelnoten wie ein luſtiges Bergwaſſer
herabfließende Allegro könnte »Tarantella« überfchrieben fein, -
ließe nicht das Seitenmotiv mit feinem an den ſchlechten Taft:
theil ſich klammernden Xccenten das Magyarenthbum jo ent:
Ihieden durchleuchten. Der Sag iſt effeftvoll; für eine Sym—
phonie in abstraeto mag jeine Sprache etwas befremdend
fingen, zu dem Styl der Volkmannm'ſchen paßt fie vortrefflich.
Die Symphonie fand lebhaften Beifall und verdient ihn durch
ihre anziehende Eigenart, ihren rejoluten Ton und ihre von
erfahrener Meiiterfchaft zeugende Arbeit. Epigonenwerk ift auch
fie, wie jo vieles Andere, was unfere Zeit nicht entbehren kann
und auch nicht entbehren möchte.
Das zweite Geſellſchafts-Concert beitand aus
zwei muſikaliſchen Cyklen fehr verfchiedenen Charafterd: dem
»Deutihen NRequiem« von Johanne® Brahms und der voll:
ftändigen »Rofamunde«-Mufift von Schubert. »NRofamunde«
war befanntlih ein im Theater an der Wien durchgefallenes
Ritterftüd von Frau Helmine v. Chezy, demfelben raftloien
Blauitrumpf, der auch die »Euryanthe« verfertigt hat, und jo
auf Flügeln des Gefanges von Schubert und C. M. Weber
als Ueberfracht in die Unsterblichkeit jpedirt wurde. Schubert
hatte dad Stück verfchiwenderiih mit einer Muſik geſchmückt,
476 1867.
welche jegt zum eritenmale vollftändig aufgeführt zu haben ein
neues, Schönes Verdienſt des Hofcapellmeifterd Herbeck ift.
Mehrere Nummern, die größeren und jelbititändigeren, waren
bereit aus früheren Gejellichaft3:Eoncerten befannt. Bon den
neuen gefiel am meilten eine marfchartige Balletmufif in G-dur,
die man zu den liebenswürdigſten Genrebildern Schubert’3
zählen darf. Das gligert und duftet wie ein glüdlicher Früh:
Iingamorgen. Auffallend genug erinnert das mwudtig auf-
ftampfende G-moll-Unifono der Contrabäffe an den Zigeuner:
tanz in den »Hugenottene. Dad ungemein graziöß gejpielte
Stück mußte wiederholt werden — wohl das erfte und einzige
Beiſpiel einer Balletmuſik, welche ohne Mitwirkung der
Scene und de8 Tanzes im Concertfaal ſolchen Erfolg errang!
Auch die übrigen Nummern atmen in jedem Takte die Schu:
bert eigenthHümliche anmuthige Romantik, doch bedürfen fie zu
ihrer vollen Wirkung mehr oder minder des Theaters.
Das Gejellihafts:-Concert bradte ferner (gleihfalls
unter Herbed’3 Direction) ein noch ungedrudtes »Deutſches
Requieme« von Joh. Brahms für Chor und Ordeiter. Es
war nit die ganze, aus ſechs Sätzen beitehende Compofition,
jondern nur deren erfte Hälfte, die aufgeführt wurde. Den Tert
bilden Bibelftellen, welche die Vergänglichkeit des Irdiſchen
und die Hoffnung auf ein Jenſeits ausſprechen; die Gompofition
ift als eine großartige muſikaliſche Todtenfeier mehr noch für
die Kirche als den Goncertfaal gedadt. Das »Deutſche Re—
quiem« ift ein Werk von ungewöhnlicher Bedeutung und großer
Meiſterſchaft. Es dünkt uns als eine der reifiten Früchte,
welche aus dem Styl der legten Beethoven'ſchen Werke auf-
dem Felde geistlicher Muſik hervorgewachſen. Seit den Todten:
meſſen und Trauercantaten unferer Glaffifer hat faum eine
Mufit die Schauer des Todes, den Ernit der Vergänglichkeit
mit folcher Gewalt dargeftellt. Die harmonifhe und contra=
punktiſche Kunſt, die Brahms in der Schule Sebaftian Bach's
erwarb und mit dem lebendigen Athem unferer Zeit Durhhaudht,
tritt für den Hörer ganz zurüd hinter dem von rührender
Klage bis zum vernichtenden Todesgrauen fich fteigernden
Ausdruck. Wie ergreifend erhebt fich der erfte Sat (» Selig,
Brahm's »Deutfches Requiem«. 477
die da Leid tragen«) auf ſeinen ruhigen und doch ſo über—
raſchenden Harmonien, bald getragen von tiefem Violoncell- und
Poſaunenklang, bald von leiſen Harfentönen wie von Geiſter—
Erſcheinungen durchweht. Und doch iſt dies nur ein Vorſpiel
zu der gewaltigen Tragödie des zweiten Satzes in B-moll
(»denn alles Fleiſch ift wie Gras«), in welchem das Grauen
der Verweſung nur von dem verflärten Lächeln eines brechenden
Auges erhellt wird. Es iſt der bedeutenite bon den drei
Süßen und würde und nod größer dünfen, wenn er mit der
legten dröhnenden Wiederholung ded Hauptthema’z in B-moll
ihlöfle; das angefügte B-dur-Allegro: »Die Grlöften des
Herrn« ericheint mehr wie ein Außerlicher Anhang, als wie
ein organifcher Abjchluß. An Größe der Conception fteht der
dritte Sat den beiden eriten nicht nad, an contrapunftifcher
Kunft übertrifft er fie. Dennoch wirft er nicht fo flar und
harmonisch wie jene, er beitürmt den Hörer mit Eindrüden von
mitunter ſehr gemwaltjamer Art, demen nad) der vorhergegan-
genen Aufregung und Anjpannung Schwer Stand zu halten ift.
Der Sat hebt mit einem Bariton-Solo an (»Herr, lehre mid)
doch, daß es ein Ende mit mir haben muß«), welches vom
Chore bald beantwortet, bald unterftüßt wird; Alles im Tone
tieffter Trauer. Das D-moll-Andante geht ſchließlich in die Dur-
Tonart über und bringt über dem Orgelpunkt der Tonica einen vier:
ftimmigen fugirten Sag: »Der Gerechten Seelen find in Gottes
Hand«. Diejer Orgelpunft hat die unbarmherzige Länge von
72 Vierviertel-Takten (tempo moderato) und mwird von den
(nad) D herabftinmmenden) Gontrabäffen, Hörnern, Poſaunen
und einer ununterbrochen in Sertolen ſchlagenden (mit mir:
belnden) Pauke ausgehalten. Der Componiſt hat diefe in der
Partitur imponirende Stelle in ihrer äußeren Wirkung kaum
richtig berechnet. Einmal verjchlingt der dröhnende Orgelpunkt
das Geflechte der Singitimmen, welches man nicht mehr zu er-
fennen vermag, ſodann verſetzt das unaufhörlihe Paukenge—
hämmer auf Einem Ton den Zuhörer in eine nervöſe Aufregung,
die jede äſthetiſche Aufnahme vereitelt. Jemand verglich die
Wirkung dieſes Orgelpunktes mit der beängſtigenden Empfindung,
die man beim Eiſenbahn-Fahren durch einen ſehr langen Tunnel
478 1867,
hat. Vom DOrgelpedal gehalten, würde die Stelle wahr:
ſcheinlich dieſe alarmirende Wirkung verlieren, weldhe hier dem
Erfolg des dritten Sabes fo ſehr jchadete, Während die beiden
eriten Sätze des »Nequiem« troß ihre büfteren Ernites mit
einhelligem Beifall aufgenommen wurden, war dad Schidjal des
dritten Satzes ein fehr zweifelhaft. Brahms braucht fi
darob nicht zu grämen, — er kann warten. Daß eine jo
fchwerfaßlihe, nur in Todesgedanken webende Gompofition
feinen populären Grfolg erwartet und viele Elemente eines
großen Publicums unbefriebigt laſſen wird, ift begreiflich. Aber
jelbit dem MWiderftreben, jo glaubten wir, müßte ſich eine
Ahnung von der Größe und dem Ernite des Werkes bei-
miichen und Reſpect auferlegen. Died jcheint nicht der Fall
bei einem Halbdugend grauer Fanatifer alter Schule, welche
die Unart begingen, die applaudirende Majorität und den vor—
tretenden Gomponiften mit anhaltendem Ziichen zu begrüßen, —
ein »Nequiem«e auf den Anftand und die gute Sitte in
einem Wiener Concertfaale, da® und auf das bedauerlichite
überraicht hat. —
Kammermufik.
Endlih in ihrer fiebenten Soirée brachte auch die Hell:
mesberger'ſche QDuartettgejellihaft eine Nopität: ein
GSertett für zwei Violinen, zwei Bratfhen und zwei Cellos
(G-dur) von Sohanne® Brahms. Das Werk fand eine fehr
ehrenvolle Aufnahme, wenn e3 gleich beimweitem nicht jo une
mittelbar anſprach und erwärmte, wie Brahms’ älteres
B-dur-Sertett, deſſen Klarheit und blühende Frifhe daß neue
Werk verdunkelt. Lebteres beginnt mit einem überaus fchönen
und für alle Metamorphofen der Durchführung Außerft verwend—
baren Thema. Der ganze erite Satz (der bedeutendfte des Werkes,
ganz wie im B-dur-Sertett) verdient den Namen einer genialen
Arbeit in echt Beethoven'ſchem Geiſte. Edel, wahr und über:
zeugend fließt dies Stüd, durchhaucht von ruhiger, aber tiefer
Empfindung, in einem überfihtlihen Zuge dahin. Einige har:
Sertett von Brahms. Sonate von Raff. 479
moniſche Härten gegen den Schluß Hin können unjere Freude
nicht ftören. Das Scherzo bewegt fi) anfangs ohne hervor:
ragend originelle Melodie in jenem leicht monoton werdenden
furzen Zweier-Rhythmus gleich langer Noten, welhen Schu:
mann To häufig cultivirte, Ein raufchendes Trio in Walzer:
tempo bringt aber zu rechter Zeit rhythmiſches Leben, Glanz
und Heiterkeit in den Sag. Die beiden folgenden Säße Stehen
als Producte geiftreicher, ja tieffinniger Combination hinter den
früheren nicht zurüd; nur eine über alle Geheimniffe der Har-
monie und alle Sunftgriffe des Contrapunftes verfügender
Mufifer vermag Aehnliches mit ſolcher Sicherheit zu geftalten.
Aber in ihrer unmittelbaren Wirkung auf den Hörer, der ſich
faft nur auf den anfirengenden Genuß mufifaliihen Mit- und
Nachdenkens gewieſen fieht, find beide Stüde etwas ermüdend und
erfältend. In diefem Mangel an finnliher Schönheit, zunädhit -
an rhythmiſchem Leben und melodiihem Schmelz, erinnert
die Finale an manches recht unerquidlihe Stück aus Schu:
mann's legter Epoche. Wir geben den erften Eindrud, mie wir
ihn empfingen. Zu groß und aufrichtig iſt jedoch unſer Re—
ipect vor Brahms, den wir für daS bebeutendite Talent
der mufifalifchen Gegenwart halten, als daß wir dem erften
Eindrud auch das letzte Wort zugeitehen jollten. Es iſt
ſehr möglich, daß ein wiederholtes Hören und ein Einblick in
die Partitur (wir konnten keine auftreiben) uns die beiden
legten Sätze des G-dur-Sextetts in einem richtigeren und gün—
ſtigeren Lichte zeigen würde.
In der achten Quartett-Soirée der Herren Hell—
mesberger, Dobyhal, Röver und Krancewits hörten
wir eine neue Violin-Sonate in A-dur von J. Raff. Es
wird uns eigenthümlich ſchwer, zu Raff's Muſik ein intimes
VBerhältniß zu gewinnen. Alles, was wir von diefem gewanbten,
fruchtbaren Gomponiften fennen gelernt, hat und mehr oder
minder intereffirt, nichts davon vermochte und aber das
Gefühl reiner Befriedigung und äfthetiichen Behagens zu ge
währen. Genau jo erging ed uns wieder mit der neuen
Sonate, die eine Art mufifalifcher Wüfte mit fleinen Dafen
repräfentirt. alt alle vier Süße beginnen hübſch, der erfte
480 1867.
und vierte jogar mit einem Feuer, dad man für echt hinnähme,
verlöjchte es nicht gar jo ſchnell. An interefjanten Einzelnheiten
herricht fein Mangel: glüdlihe Anfänge, die nirgends hin—
führen, effectvolle Schlüffe, die von nirgends herkommen, da—
zwiichen eine Meute von Paſſagen, die raitlos wie Jagdhunde
ihrem eigenen Schatten nachlaufen. Es fehlt dem ganzen die
eigentliche Triebfraft. Das jchöpferiiche Unvermögen des Wiges
kann über diefen Mangel nicht täufchen, geichweige denn hin
weghelfen.
Virtuoſen.
Camillo Sivori hat nach länger als zwei Decennien
Wien wieder beſucht und ſein Concert im Muſikvereinsſaal ge—
geben. Als vollwichtiger Virtuoſe in beiden Welttheilen aner—
kannt, genießt Sivori bekanntlich noch das beſondere Preſtige,
von Paganini perſönlich unterrichtet zu ſein. Nur noch ein
Violinſpieler, Apollinar von Kontski theilt es mit ihm.
Obwohl eine von Paganini ganz verſchiedene Individualität,
hat Sivori ſich doch vieles von der Technik ſeines Meiſters
mit Erfolg angeeignet. Was Paganini eine ſo dämoniſche
Gewalt über ſeine Zuhörer verlieh, das freilich läßt ſich nicht
aneignen. »Der düſtere Mann in Märchen eingehüllt« (wie
ihn Holtei einſt beſang), verſetzte überall, wo er hinkam, das
Publicum in eine fieberhafte Aufregung. Es wird uns ſchwer,
beim Anblick Sivori's an Paganini zu denken. Letzterer war
eine geniale Perſönlichkeit mit einer ſtarken Beigabe von Char:
latanerie. Herr Sivori treibt feine Charlatanerie, wir haben
aber auch nichts Geniales an ihm entdedt. Er iſt durchaus
Virtuoſe, zunächft italienischer Wirtuofe.. Die Schönheit des
Tones, fodann die Schönheit der einzelnen Paſſage oder Phraie
ift fein Hauptaugenmerf, Sivori's Ton ift in der That von
einfhmeichelnder Süßigfeit und Rundung, ohne die impofante
Größe Soahim’s oder Laub's zu erreihen. Sein Spiel ilt
rein, nett und audgefeilt, die linfe Hand ungemein virtuos
der rechte Arm von mäßiger Behendigfeit. Er fpielt an Bravour—
Camillo Sivori. 481
ſtücken die gar nicht melandholiiche, aber unfäglih fade »Dte-
lancole« von Prume und Paganinifhe Pariationen für die
G-Saite allein. Bei aller darauf verwendeten Runitfertigfeit
machen derlei Compofitionen feine Wirkung mehr. Wie Paga—
nini's Kunſtſtück, ſo bat die Paganiniſche Schule überhaupt
fich bereit3 ausgelebt; zwei ihrer talentvollften Anhänger, Baz-
zini und Dle Bull, mußten das fchlieklich an fich erfahren.
Diefe Einfiht hat Herr Sivori wahrſcheinlich veranlagt, aud)
zwei deutiche, claſſiſche Eompofitionen (ein Haydn’sches Duartett
und Beethoven's Kreußer-Sonate) in jein Programm auf:
zunehmen, die er mit Eleganz, aber ohne Wärme und Schwung
borfrug.
Savori’s zweites Concert hatte einen borherrichend
italieniihen Charakter. Nicht nur ließ das Programm diesmal
die Glaififer beifeite md erging fih in Sivori und Paga:
nini, in »Qucia« und »Moie«, auch die Phyfiognomie des
Bublicums, das dröhnende Klatihen und Rufen, vereint mit der
unerträglichiten Hige im Saale, rüdten und um einige Breiten:
grade ſüdlicher. Der Erfolg übertraf beiweitem jenen des
eriten Concertes. Sivori bewegte fi ausſchließlich auf feinem
eigenften Territorium, fpielte, was er jeit 25 Jahren mit
Erfolg zu fpielen gewohnt it, was er am beiten und am
fiebiten fpielt. Was und auch diesmal wieder volle mufi-
faliiche Befriedigung gewährt hat, war Sivori’3 unjäglich ſüßer
und weicher Ton im getragenen Gelang. Wunderbar ein
jchmeichelnd floffen die einfahen Melodien Lucia's von jeiner
Geige. Das war die reine Schönheit des Klanges, ohne jede
ftörende Erinnerung an Roßhaar oder Darmjeiten. Won nod
durchſchlagenderem Effect erwieſen fich freilich Sivori’3 Brabour—
ftüicfe, unter welchem wir dem »Movimento perpetuo« den Bor:
zug einräumen, einer in rafcheiten Sechzehnteln jcheinbar endlos
hinftrömenden Etude, die troß des vorſchlagenden Bravour—
zwedes doch muſikaliſch gedacht ift. Sivori bezwang die Auf:
gabe mit unermüdlicher Ausdauer. Hingegen haben wir weder
den Paganini-Stücden, welche die ernite G-Saite zum Turnplag
halöbrecheriichen Unfugs machen, nod den Späfjen des »Car—
neval von Venedig« einiges Vergnügen abzwingen fünnen. Das
Hanslid, Aus dem Eoncertiaale. 2. Aufl. 31
482 1867.
ift nicht Virtuoſität im ftrengen oder gar im beiten Sinne,
fondern £indiih und läppiſch gewordene Virtuoſität. Winſeln,
Scharren, Brummen und Pfeifen, allerlei Thierlaute und
Marionettengequief bildeten den Hauptinhalt dieſes ⸗Carnevals«,
deſſen längſt fadenſcheiniger Stoff leider von Jahr zu Jahr grelleren
Aufputz braucht. Derlei Geigentwige find älter als man glaubt
und wurden in Deutichland ſchon 1780 von einem verjoffenen
Genie, Scheller, colportirt, welcher die Deviſe: »ein Gott,
ein Sceller« führte und dem die Zeitungen nahrühmten, »er
ipiele über alles natürlich das alte Weib, wie es zanft und
bor Zorn fingt; auch weine er ſehr natürlih« u. f. mw. Den
»Garneval von Venedig« betrachten wir als unſeren perſön—
fihen Todfeind. Bor 20 Jahren ſchon genügte der bloße An:
fang des mit eingefnidten Knien herabftolpernden Themas,
uns troſtlos zu machen, und wir hätten in den demofratiicheiten
Tagen des Jahres 1848 jede Zwangsmaßregel mit Jubel
begrüßt, die irgend eine abjolute Regierung gegen obgenannten
Garneval uud feine Geichäftsreiienden verfügen mochte. Und
jeither wie viele taufendmal hat die angebliche Iuftige Une
geheuer ung in allen Geftalten gefoltert! Im Vergleich damit
it e8 eine Erholung anzuhören, wie Paganini die Juden
auf der G-Saite jäuberlich durchs Rothe Meer führt, und
gleihjlam aus Freude über die erhörte »Preghiera« einige
Inftige Variationen daran fügt, deren Kunftftücde dem Spieler
und Hörer über den Kopf zufammenfchlagen. Um den natür:
tihen Tonumfang der G-Saite zu erweitern, muß der Virtuoſe
fortwährend zum Flageolet und den jogenannten harmonischen
Tönen feine Zuflucht nehmen, welche, ganze Wariationen hin
durch und in rafhem Tempo, jelbit dem beften Geiger nie
mit vollfommener Sicherheit zu Gebote ftehen. Wir haben
dieje Flautato-fünfte auf der G-Saite nie jo virtuos aus:
führen gehört, und Sivori mag hierin vielleicht feinen Rivalen
haben. Troßdem wird jeder muſikaliſche Zuhörer bezeugen, daß
jelbft unter Sivori's Bogen mitunter Töne zum Vorſchein
famen, die das Ohr maltraitirten, wie ed auch nicht anders
möglih it, wenn man fi abmüht, auf der Geige Piccolo
zu blafen und auf einer Saite mangelhaft herborzubringen,
Virtuoiert. Sipori. Epftein. 483
was vier Saiten leicht und vollfommen geben. Der Unnatur
folgt die Strafe auf dem Fuße; mag der Birtuofe noch fo
ehr auf feiner einen Saite glänzen, die drei andern glänzen
daneben noch ftärfer — durch ihre Abweſenheit.
Herr Epitein fpielte in feinem Concert ausschließlich
Compoſitionen, die jehr felten gehört und dennoch jehr hörens-
werth find. Welche Wohlthat für den Mufiker, den Eritifiren-
den zumal, aus dem inerlei des gewöhnlichen Clavier—
Nepertoireg herauszukommen! Da präientirte ſich gleih als
Einleitung ein Clavier-Trio von Haydn. Nicht allzu Viele der
Anmefenden dürften von der Exiſtenz Haydn'ſcher Clavier-Trios
gewußt und jehr Wenige eines derjelben gehört haben, Und
doch find allein bei Breitfopf 31 folder Trios erfchienen. Der
Eindrud, den wir von dem E-dur-Trio (Nr. 4 der Breitfopf:
Ihen Sammlung) empfingen, reicht über das blos hiſtoriſche
Intereſſe entichieden hinaus. Auffallend ift zunächſt der ge:
haltene, ernfte, ja pathetiiche Ausdrud, der da® Ganze durch—
zteht und es troß aller Kürze der Form und aller Einfachheit
der Motive bon den meiſten Quartetten und Sonaten Haydn's
untericheidet. Der erite Sak erhält durch die bei Haydn feltene
Verwendung der Chromatif einen Anflug edler Sentimentalität.
Das Allegretto in E-moll fteht an der Stelle eines Andante;
feine zierlih gekräuſelte Melodie ſtützt fi auf einen erniten
Basso continuo, der jpäter in die redhte Hand über das
Thema verlegt iſt. Menuett oder Scherzo fehlt gänzlich. Der
legte Sag beginnt zwar heiter, in mäßigem Dreiviertel-Tatt,
hält fi aber fern von der firchweihartigen Popularität der
meilten Haydn'ſchen Finalfäge; der Mittelfag in Moll, ein kla—
gender Gefang der Violine, nimmt jfogar einen ungewöhnlichen
Raum ein. Die Vorführung des Haydn'ſchen Trio war ein
danfenöwerther Einfall, fie zeigte uns den Meifter in einer uns
neuen Form und mit neuen Nuancen feine Charakters.
Das »Andante für Piano und Streichquartett« von
Field ift eines feiner zarteiten, ftimmungsvolliten Notturnos.
Sohn Field kannte nur ein fehr Eleines Feld mufifaliichen
Ausdrucks, aber diejes beherichte er als wahrer Poet. Das von
Epftein gewählte As-dur-Andante beitätigt dies. Die Stimmung
31*
484 | 1867.
des Ganzen und mancher vereinzelte Klang mahnt ſchon un:
verfennbar an Chopin, wie denn überhaupt Field im Der
merkwürdigen llebergangöbrüde vom claffiichen zum romanti-
ihen Clavierſtyl einen weientlihen Bogen daritellt. Ein drittes
Stüf war Schubert’3 »Phantafie-Sonate« in G-dur (op. 78).
MWarım verfällt jo felten ein Concertipieler auf dieſe Idylle in
Tönen, über welcher ein blauer Himmel fait wolkenlos träumt,
während unten fein Zug weder des Mißmuths noch der derben
Luſtigkeit den Teligen Frieden trübt! Schumann preift fie
unter allen Schubert'ſchen Sonaten als die »vollendetite in Form
und Geiſt« — mit einiger Vorliebe vielleicht, denn die größere
Meiiterihaft und Genialität der A-moll-Sonate düukt uns
evident. Aber an innerer Harmonie der Stimmung und feinem
Geſchmack mag die G-dur-Phantafie obenan stehen. Diejer
Einheit zuliebe vermeidet es Schubert ſogar, die vier Säße in
dem gewöhnlichen Kontraft gegen einander abzuheben, er mil:
dert durch einen gemeinfamen Zug von fanfter Beichaulichkeit
ihre Gegenfäße, jo daß dad Ganze in der That nur ein großes
Stimmungsbild abgibt. Wenige Mufitftüde Schubert’3 drängen
deſſen Verwandtichaft mit Beethoven jo ftarf an Licht und
zugleich auch wieder die VBerjchiedenheit ihrer Naturen. Darüber
iſt längit Treffendes gejagt worden, und Beſſeres als mir
zu bringen vermöchten. Warum jollte man aber nicht auch ein-
mal kurz jagen dürfen: Schubert ift Beethoven’? Frau?
Noch ein viertes großes Stück bradte Herr Epftein als
Schlußnummer: Beethoven's Quintett für Clavier und Blas—
inftrumente (op. 16). Dad Quintett ift in feiner Klangichönheit
und Abrundung eine freundlich anſprechende Compofition, aber
in dem Lorbeerfranze Beethoven’d doch nur ein ſchwaches Reis.
Wir find gewohnt, bei dem Namen Beethoven an ganz andere
Muſik zu denken. Der junge Beethoven ftand damals noch im
Schadte Haydn's und Mozart’3, ja er hatte für fein Quintett
jogar eine beitimmte Compofition Mozart’3, deſſen föftliches
Es-dur-Quintett, jichtlich zum WBorbilde genommen. Das Mo-
zart'ſche Quintett ift zweifellos genialer und bedeutender, es
jtect eben der vollfommene, der ganze Mozart darin, in der
Nachbildung nur der beginnende Beethoven. Und doch jtanden
Helene Magnus. 485
beide Meilter genau im jelben Alter: Mozart fchrieb fein
Duintett (1784) mit 28 Jahren, Beethoven das feinige (1798)
ebenfald. Welchen enormen Unterfchied begründete aber die
ungewöhnlich frühzeitige Entwidlung Mozart’! Der Componift
des »Don Juan« Stand mit 28 Jahren auf der Höhe feiner
Kunft und feines Genies, leider auch fchon tief am Abhange
feines Lebens. Beethoven war als angehender Dreißiger
noch nit einmal Er felbft. Später erit führte er auf eigenftem
Grund und Boden jene MWunderbauten auf, die uns den
wahren Maßitab für feinen Genius an die Hand gegeben. —
Eine neue Eriheinung in Herrn Epſtein's Concert war
die von Stockhausen gebildete Sängerin Fräulein Helene
Magnus aus Hamburg. Der große Erfolg dieſer Künftlerin
gereicht nicht bloß ihr, fondern au dem Publicum zur Ehre,
welches hier weder durch den Reiz der Stimme, noch durd)
irgend welche Bravour beitochen wurde. Als Fräulein Magnus
zu dem eriten Lied: »Mignon« von Schubert, den Mund
öffnete, erjchten ihre Stimme ald ein ſchwacher Silberfaden.
Aber dieſer Silberfaden ſpann allmälig ein ergreifendes Seelen:
gemälde und hielt bald die ganze Hörerſchaft umftridt. Fräu—
fein Magnus befißt einen Me330-Sopran von geringem Körper
und Umfang, die Tiefe und Mittellage find verjchleiert, etwa
von D oder E an wird das Organ heller und fräftiger, findet
aber bald feine Grenzen, wenigiten® verriethen das hohe G
und As Schon einige Anftrengung. Materiell jomit wenig De:
günftigt, übt diefe Stimme dennoch einen ummwiderftehlichen,
faft umerffärbaren Zauber. Sie ſcheint eben alle grob Irdiſche
abgeftreift zu haben und nur der legten, feiniten Verkörperung
des Fühlen: und Denkens fi zu affimiliren. Klänge es nicht
affectirt, wir möchten den Gefang der Magnus ein muſi—
faliiches Athemholen der Seele nennen. Der Gindrud, den
Fräulein Magnus mit dem erften Liede herborgebradit, be=
feitigte und erhöhte fih noch durch die folgenden; Fräulein
Magnus hatte Schon mehr Muth und Stimme gewonnen und
fang die drei eriten Nummern aus Schumann’3 »Frauenliebe«
mit jo tiefem Verſtändniß und fo zarter, inniger Empfindung,
wie wir fie faum zuvor gehört. Mit den ficherften Anfchlagen
486 1867.
der Grunditimmung eines jeden Liedes ging die feinſte, durch
trefflihe Ausiprahe unterjtüste Zeihnung des Detaild Hand
in Hand.
Nnton Rubinſtein.
Wir Haben ihn im Laufe der letzten Tage dreimal ge
hört: Wir finden denfelben Rubinftein wieder, der uns 1857
verfaifen, und das will gewiß nicht wenig jagen. Rubinitein
ward als Künſtler ſehr früh felbititändig ; fein kräftiges eigen:
thümliche® Talent hatte fich bald formirt und eine gewiſſe an
ſehnliche Höhe erreiht, von der es nicht weiter aufitieg und
über die es im Großen und Ganzen fi auch jchwerlich mehr
erheben wird. Seine Individualität ift noch lange nicht erichöpft,
aber, wie uns dünkt, fertig und abgeſchloſſen. Am gewinnenditen
erichten der Componift Rubinftein in dem Clavier-&oncerte
(D-moll, op. 70), mit welchem er fi Sonntags hier einführte.
Es it die gelungenite größere Compofition, die wir von
Rubinitein fennen. Obwohl nicht ganz frei von Anklängen
an Beethoven, Mendelsiohn und namentlich Schumann, iſt
dad Concert , doh von überwiegend origineller, fräftiger
Erfindung, meifterhaft gebaut und inftrumentirt, reih an geiit-
vollen Cinzelnheiten. Durch den eriten Sat (er iſt uns Der
liebite) geht ein ſtarker Zug von Pathos und männlicher
Energie; Sehr wirkſam hebt fih davon das F-dur-Adagio mit
jeinem nicht ſowohl tiefen als anmuthig-fentimentalen breiten
Sejang ab. Der legte Sat, ein troßig wildes Allegro molto,
iſt als Ganzes weniger abgerundet, hingegen am reidhiten an
überraichenden, wirkſamen Cinfällen. Den Clavierpart hat Ru—
binstein mit Bravour reich bedacht, jedoch nicht in ungebühr-
lihem Mißverhältniß gegen das Orcelter. Das D-moll-Eoneert
hat mehr innerer Zufammenhang und Einheit des Styls, als
ähnliche mehrſätzige Compofitionen Rubinftein’s, und hält Ans
fang, Mitte und Ende ziemlich auf gleicher Höhe der jchöpferi-
fhen Kraft. Was den meilten größeren Werfen Rubinjtein’g
fo, empfindlich zu Schaden pflegte, it ihre Ungleichheit in ſich
A. Nubinftein. 487
jelbit. In der Regel war der günstige Eindrud des eriten
Sates im Verlaufe des legten jo gut wie vertilgt. Wir er:
innern beiſpielsweiſe an die »DOcean-Symphonie« oder das
Glavier-Quartett in C-dur (op. 66), das vor zwei Jahren Herr
Dachs und jeßt der Componiſt jelbit vortrug. Das Quartett
eine der neueften Arbeiten Rubinſtein's bricht mit einem präch—
tigen Thema wie ein heller Morgen an. Der erite Sag, welcher
auf diefem Hauptthema allerdings einen ungleich jtolzeren
Bau führen konnte, bildet gleichwohl einen jehr jtattlichen,
vielverheißenden Anfang. Es folgt ein leichtgeichürztes, ballet-
mäßiges Scherzo, das nicht mehr recht zu den Früheren ftimmt,
aber doch pifant und effectvoll heißen muß. Der folgende Saß,
ein wüftenartig langgeſtrecktes ſonnen- und blüthenlofes Adagio,
befremdet und veritimmt den Hörer, welcher jchließlich von dem
rohen, bizarren Finale mit einem peinlichen Eindrud Tcheidet.
Es freut und, von dem Clavier-Concert ein Gleiches nicht
jagen zu müſſen. In leßterem, wie überhaupt in Rubinſtein's
befieren Inſpirationen herrſcht eine gewiſſe finnliche Naturfraft
und Frifche, eine energiihe Wirkfamfeit nach Außen, die in
der nachbeethoven'ſchen Muſik jelten zu werden beginnt. Ohne
Zweifel ift Aubinitein in diefem Punkte feinem ruffiichen Vater:
lande verpflichtet. Wir fennen und anerfennen in der Kunſt—
geihichte allerdings nur zwei große Völkerraçen: die germanijche
und die romaniihe. Was von anderen Nationen fih in der.
Tonfunft bemerkbar machte, Schloß ſich dieſen beiden an (tie
Rubinftein der deutſchen Muſik), oder blieb als eine Art Natur:
product an der Scholle des Wolfäliedes haften. Der Zukunft
wollen wir nicht vorgreifen. Ganz abgejehen von den jpeciell
nıufifaliichen Naturanlagen der Slaven, ſteckt in ihnen ein
Sapital von unverbrauchter Lebenskraft und derber, noch nicht
zu Tod cultivirter Sinnlichkeit. Etwas von dieſer Vollkraft
und diefem WVolltroß der ſlaviſchen Natur wogt in Aubinftein’3
Blut und fommt im feiner Compofition wie in feinen Spiel
zu Tage. Man weiß, daß der deutiche Geiſt allen überlegen
iſt, wo er fich den Tiefen des Lebens zumendet; daöfelbe an
der Oberfläche ſchön und wirkſam zu geitalten, bleibt ihm defto
häufiger verjagt. Rubinstein, dem beiten unferer muſikaliſchen
488 1867.
Zeitgenoffen (Brahms, Joahim, Rob. Franz, Kirchner)
an Tiefe des Gedankens und Gefühles nicht ebenbürtig, fteht Doch
bon Haus aus durch jene finnliche Kraft und Wirkfamkeit na Außen
wieder im Vortheil. Dieje Eigenihaft hat uns längft zu Der
Heberzeugung geleitet, daß die dramatiiche Compofition, Die
Mufit auf dem Theater, das günftigfte Feld für NAubinftein
abgeben müßte. Gr ift zwar and auf diefem Felde bei glän-
zenden Anläufen ftehen geblieben, ohne einen bleibenden Cr:
folg, aber diefe Anläufe reichen Hin, unſere Heberzeugung
zu befeftigen. Die erſten Acte der »Kinder der Haide« (der
legte führt wieder ſelbſt den Todesitreih) enthalten Scenen
bon ungemeiner Energie und Farbenpracht, und wir müßten ge:
genwärtig feinen deutichen Componiiten, der im Stande wäre,
etwas Nehnliches für die Oper zu fchreiben, wie der erite Act
von Rubinſtein's »Feramors«.
Außer ſeinem Concert und Clavier-Quartett ſpielte Ru—
binſtein noch eine Anzahl kleinerer Stücke eigener Compoſition.
Unſere vor zehn Jahren gemachte Wahrnehmung, daß Rubin—
ſtein in kleinen Formen leicht dem Flachen, Unbedeutenden, ja
Trivialen verfällt, haben dieſe neuen Concert:Nummern nur
beitätigt. »Nocturnee, »Scherzo«, »Barearole« find äußerlich
und gemüthlos; die »Contredanse«, anfangs brillant angelegt,
nähert fi gegen da8 Ende dem Niveau der Gartenınufif und
geräth in ein von allen Grazien verlaffene® Toben. Die
C-dur-Gtude, ein aus fühniten Sprüngen und Arpeggien
geflochtene® Bravourftüd, erfüllt ihren Zweck als blendende
Kraftprobe, die Schönheit hat nichts damit zu thun. Als
Glavierspieler war Nubinftein bereit3 vor zehn und zwanzig
Jahren mit Necht berühmt und bewundert. Ueber jeitte erſtaun—
lihe PVirtuofität bleibt faum etwas Neues zu jagen übrig. Er
hat die ganze jaftige Fülle feines unvergleihlichen Anſchlags
beibehalten, die Titanenfraft im Forte neben der Zartheit
- eined bis an die Grenze des Hörbaren ftreifenden Pianiſſimo.
Ja in der Ausführung von Terzen- und Sertenfcalen (D-moll-
Concert) und in den gewagteiten Sprüngen (C-dur-Etude) ent:
widelte er jüngſt eine Meifterichaft, die unfere Erinnerung und
Erwartung noch übertraf. In der »Etude« und »Condredanse«
A. Rubinftein. 489
producirt er ein ſolches Wogen von Tönen, ſolchen Umfang
durhbraufend, daß den Zuhörer ein wahrer Schwindel des
Gehörs erfaßt und das Auge nachhelfen muß, das Unerklärliche
zu faſſen. Bei alledem bleibt die Haltung Rubinſtein's —
worauf wir einigen Werth legen — immer ruhig, unaffectirt
und männlid. Fremde Compofitionen gibt Nubinftein fehr
verichieden, wie er denn auch als reprobucirender Kiünftler
ungleihd und dem Einfluß der Laune unterworfen ift: in
jeinem erften Concert fpielte er weit fchöner als im zweiten,
in der eriten Abtheilung des »Gejellichafts-Concertes« viel
bejier ald in den folgenden. Am fjchönften fpielt Rubinftein
unſeres Erachtens die flare, zu feinen llebertreibungen ver:
leitende Muſik Mendelsſohn's und Mozart’. Sein Bor:
trag de8 Mozart’ihen D-moll-Eoncert® (das er mit zwei
effectvollen, wenngleich etwas jelbitftändig hervortretenden Ca—
denzen verfah) war meifterhaft. Daß Rubinftein die fchwierigiten
Aufgaben von Beethoven, Schumann und Chopin tehnifch
vollendet löft, bedarf feiner WVerficherung, doch läßt er in Auf:
fajjung und Ausführung das virtuoſe Clement mitunter zu
ftarf vorwalten. Wir hatten gehofft, die Jahre würden diefen
Hauch auf dem reinen Spiegel der Kunft tilgen. Leider fanden
wir au jegt no) den Hauptaccent auf die Bravour gelegt;
bei aller äußerer Lebendigkeit war Rubinftein’® Vortrag der
Beeth oven'ſchen C-moll-Sonate (op. 111) und der ⸗»Sym—
phonifhen Etuden« von Schumann innerlih fühl, ja, was
noch Schlimmer für einen Poeten, nüchtern. In den »Etuden«
bon Schumann entfaltete Aubinftein eine außerordentliche
Bravour, aber uns ftörte das Selbitiüchtige diefer Bravour,
daS Webertreiben des Tempos und des SKraftaufwandes, der
Mangel an fein nachfühlender Empfindung, an Liebe zum
Gegenftand. Clara Schumann und Brahms (Gritere au
Kraft, Letzterer an Schliff der Technik hinter Rubinftein zurück—
ftehend) haben mit den »Symphonifchen Etuden« eine unver:
gleichlich tiefere Wirkung erzielt, weil fie verwandten Geiftes
fih in die GCompofition hineingelebt hatten und nur den Ton:
dichter ſelbſt ſprechen ließen. Das pracdtvolle Finale fam durch
die Meberftürzung des Tempos nicht nur völlig um den ihm
490 1867.
jo eigenthümlichen Feitglanz, e3 wurde beinahe zum unentwirr—
baren Getöſe. Gleichfall® zu Schnell ſpielte Rubinftein Die
Chopin’she Asdur-Polonaiſe; die Ichlanfe, ritterlihe Hal:
tung, diefer Haupt-Charakterzug der Polonaiſe, war mit den
vier eriten Taften unrettbar dahin. Wir hatten die Bravour
Rubinſtein's auf Koften der Moejie Chopin’. Liſzt's
»Don-Juan«-Phantaſie, ein Virtuojenftüd, aber ein geijtreiches,
hofften wir von Rubinftein vollendet zu hören. Er begann e3
ehr schön, gerieth aber bereit bei den Variationen (La ei
darem la mano) in eine fliegende Haft und endigte mit einem
jolchen Auf: und Niederraien über die Taiten, daß das Rein:
jpielen aufhören mußte, geichtveige denn das Schönfpielen. In
diejer Production war die Bravour jo empfindlic” mit Rohheit
veriegt, daß jelbit das große Publicum ftugte und am Schluſſe
deutliche Ziſchlaute fich in den Applaus einjchlichen. Bei reinen
Virtuojenftüden mag ein Zuviel an Brapour immerhin noch
am leichtejten Hinzunehmen ſein. Wenn fich aber dieje virtuoſe
Ueberkraft auch in den edeliten Tondichtungen Beethoven’,
Schumann’, Chopin’s nicht zu verleugnen weiß; wenn wir
jo beneidenswerthe Kräfte für jo bedenkliche Wirkungen auf:
geboten jehen; wenn wir fühlen, wie gerade Rubinſtein das
Alles jo viel beiler und jchöner geben könnte, als er es gibt,
dann mischt jich ein Gefühl der Trauer in unfere Bewunderung
und wir möchten mit Corneille ausrufen: »0 ciel, que de
vertus vous me faites hair !«
Joachim und Börabnıs.
Die Concertjaifon fliegt mit vollen Segeln und koſtbarer
Ladung. Unmittelbar nah Rubinſtein Hat fie und Joachim
und Brahms gebradt. Joſeph Joachim, dem jelbit der Neid
den allereriten Platz unter den PViolinipielern nicht bejtreitet,
iſt für ung die Verförperung der außerordentlichften und zu—
gleich künſtleriſch verflärteften VBirtuofität. Techniſch kommt er
der abfoluten Vollfommenheit jo nahe, daß unſer Auge dieſe
legte, unmerflihe Diltanz nicht mehr wahrnimmt. Dabei tritt
Joachim und Brahms. 491
der Adel fünftlerifcher Weihe und Weberzeugung bei Joachim
mit folder Macht auf, daß man erit hinterher an die Würdi—
gung jeiner großartigen Technik dent. Wie jüß und mühelos
genießt fi das Vollkommene; wie jchwer bejichreibt es ſich!
Der entzüdendite Ton, der ſüßeſte und ftolzeite zugleich, der je
einer Geige entjtrömte; eine wunderbare und doch niemals
wunderfühtige Technik; ein Vortrag voll Adel, Geift und
Empfindung — dad wären ungefähr die Grundzüge diefer muſi—
faliihen Erfcheinung. Charakteriftiih für Joachim jcheint mir
vor Allem der ausgeprägte Zug von ruhiger Größe, der jede
jeiner Productionen durchzieht, die Strenge und Reinheit des
Styls, welche die üppigen Reize der PVirtuofität eher zu ver—
ſchleiern als vorzudrängen trachtet. Es iſt nicht möglich, Größeres
einfacher hervorzubringen. In ſeinem erſten Concert ſpielte
Joachim zwei Soli, die zu den höchſten Aufgaben der Violin—
Virtuoſität gehören, die »Teufelsſonate« von Tartini und
Sebaſtian Bach's E-moll-Suite. Das erſtere Stück glänzte zu—
nächſt durch die Meiſterſchaft des Trillers, der Sprünge und
des Staccato; das letztere durch eine bisher unerreichte Rein—
heit und Gebundenheit des mehrſtimmigen Spieles. Ich bekenne
gern meine geringe Neigung für längere Violin-Soli, ohne alle
Begleitung, welche das Ohr nach einem ſtützenden und füllen—
den Grundbaß ſchmachten laſſen. Die Geige iſt einmal ihrer
Natur nach fein polyphones Inſtrument, und jo reizend fich
in einem größeren Violin-Concert einzelne Terzen- und Serten:
gänge herausheben (mie in dem zweiten Thema von Joahim’s
»Ungarifhem Concert«, in Spohr’3 Geſangsſcene u. ſ. w.), To
unbefriedigend wirkt ein anhaltend mehrfiimmiges Violinfpiel,
das in dreis oder vierftimmigen Accorden fi) mit Arpeg—
given behelfen muß. Wenn unter Joahimd Bogen derlei Soli
ihre gewöhnliche ängftliche und gezwungene Phyſiognomie ver-
lieren, jo danken wir dies eben der ganz unvergleichlichen
Ausbildung feines polyphonen Spiele. Joachim gab dies
erite Concert gemeinichaftlih mit Brahms, der mit ihm die
Beethoven'ſche As-dur-Sonate und Schubert's lieblich blü-
hende »Phantaſie in C-dur« ausführte. Kein dritter jtand
neben oder zwifchen den beiden, durch Fünftleriiche Verwandt:
492 1867.
ſchaſt wie durch Langiährige, innigfte Freundſchaft verbundenen
KRünftlern, welche Deutichland mit Freude zu feinen beiten
Söhnen zählt. Leider präfentirte fi Brahms an diefen Abend
nicht als Componift und ſchien als Spieler weniger gut dis—
ponirt. Das eigenthümlih Beihaulide und Zurüdhaltende,
das Nichtzanzdie-Oberflähemwollen feines Spieles machte fich
ftärfer bemerkbar. Die Furdt vor dem »DBirtuojenhaften«
icheint fich oft wie ein Schleier dämpfend zwiſchen jeine Finger
und die Taften zu legen. Wir kennen Brahms Technik als
eine enorme, aber es fehlte ihr an diefem Abend mehr als ſonſt
der legte Schliff und Glanz, ſowie der volle, fingende Anichlag,
der den ganzen Ton gleichſam mit der Wurzel auß dem In—
ftrumente zieht. In diefem Punkte ift Rubinftein mujftergiltig
und Brahms entichieden überlegen. Seine eigenthümlichen hohen
Vorzüge entfaltete Brahms dafür in dem Vortrag der Schu:
mann'ſchen Fis-moll-Sonate (op. 11), die unſeres Wiſſens
noch nirgends öffentlich geipielt wurde. Kaum dürfte ein zweiter
Künstler jie mit jo tiefem und feinem Verſtändniß interpretiren
wie Brahms. Diefe Dichtung voll jugendliher Gluth und
Gentalität, dabei auch von fchwärmerifcher Ercentricität und
Ungebundenheit gehört zu den merfwürdigiten Dentmälern aus
Schumann’ »Sturm und Drange. Bon dämonifher Ans
ztehungöfraft für jeden damit näher PVertrauten wirft die
Fis-moll-Sonate auf den unvorbereiteten Hörer allerdings
etwas umnficher und befremdend.
Bon Joachim hörten wir ein Violin-Concert von Viotti
(A-moll Nr. 22), das in etwa veralteter Hülle einen tüchtigen
mufifaliichen Kern und namentlih im Schlußſatz viel Geiit
und Leben geltend macht. Johann Baptift Viotti (geboren
1753 im Piemonteftichen) hat durch fein grandiofes Spiel wie
dur feine epochemachenden Gompofitionen einen außerordent-
lihen Einfluß auf die Entwidlung des Violinſpieles geübt.
Es bot ein befonderes Intereffe, eines feiner Concerte gerade
von Joachim vorgetragen zu hören, deflen Styl in gerader
Descendenz von Viotti abitammt. Sit doch Joachim's
Meiiter, der treffliche Joſef Böhm, ein Schüler Rode's, der
jeinerzeit, von Viotti gebildet, der vornehmfte Apoſtel dieſer
Joachim. 493
Schule wurde. Viele der charakteriſtiſchen Vorzüge Viotti's,
die Größe und Nobleſſe des Vortrags, die kühne Technik bei
Vermeidung aller Eleinlihen Effecte, finden wir in Joachim
auf modernerer Stufe wieder. Joachim's feelenvoller Vortrag
eine Spohr'ſchen Adagio (aus deſſen neuntem Goncert)
machte auf die Zuhörer den tiefiten Gindrud. Schöner und
überzeugender als Joahim kann man nicht zeigen, daß wahre
und tiefe Empfindung nicht des Affectirend und Kofettirens
bedarf. Es verftieß leider gegen die muſikaliſche Deconomie,
unmittelbar auf Spohr’3 Adagio einen zweiten langjamen
Sat folgen zu laflen: das »Abendlied aus Schumann’
vierhändigen Clavierſtücken, op. 85. Dieſes gemüthvolle Lied
ohne Worte, von Joachim fehr ftimmungsvoll inftrumentirt
und feelenvoll vorgetragen, hätte in einer anderen Zus
jammenftellung weit mehr Wirkung erzielt. Den Beihluß
mahte Joachim's »Goncert in ungarischer Weile« das
wir im Sabre 1861 vom Gomponiften und jpäter von
Laub gehört Haben. Das Bublicum jcheint fich bei jeder
Miederholung mehr mit diejer bedeutenden und glänzenden
Eompofition zu befreunden. Der erite Sag iſt von wahrhaft
Beethoven'ſchem Wuchs. Was Joachim's zweites (noch un—
gedrucktes) Violin-Concert in G-dur betrifft, jo wäre es vor—
Schnell, über die ernfte und reich ausgeftattete Werk nach dem
eriten Hören zu urtheilen; fiher find wir aber des Total-Ein-
drudes, daß es an Erfindungdfraft und Schwung das »Un—
gariiche Concert« des Componiſten nicht erreicht. In Joachim's
Schaffen iſt die Reflexion von Haus aus ſtark vorwaltend,
jeine jchöpferifche Ader fließt weder rafch noch reich, feine Er—
findung iſt ernft, vornehm, aber von geringer Sinnlichkeit und
elementarer Kraft. In feinem »Ungarifchen Concert«, deſſen
eriten Satz wir jehr hoch ftellen, jcheint er den Gipfel feiner
Begabung erreicht zu haben. In dem G-dur-Goncert fteuert er
mit noch ftrengerem Bemwußtjein zu noch höheren fünftlerifchen
Sutentionen, aber das Schiff läuft nur mit haldgeipannten
Segeln aus, Joachim's reformatoriiche Abficht: die frühere, mehr
oder minder ftrenge Scheidung der Solo-Violine vom Orcheſter
aufzuheben und beide zu einer jymphonifchen Einheit zu ver:
494 1867,
ihmelzen, liegt Elar vor Augen. Das Eraffeite der älteren
Goncert:Schablone, deren Orceiter entweder nur unterthänigft
begleitete oder in lärmendem »Tutti« das Signal zum Applaus
gab, haben ſchon Beethoven, Mendelsfohn und Joachim ſelbſt
(in feinem erften Goncerte) bejeitigt. Diesmal geht Joahim fo
weit, daß im erſten Sat die Solo-Bioline nicht einmal jelbft=
ftändig einſetzt und ſchließt, ſondern fich gleichſam unterwegs
dem Geſang des Orcheſters anſchließt, ihn mit reihen Gängen
umjpielt und unmerflich wieder verfiegt. Selbit die Cadenz
(wenn der Name hier noch zutrifft) wird discret vom Orcheiter
begleitet. Das ganze Werk ift echt muſikaliſch gedacht und voll
geiftreicher Detaild; in der Verwendung der hohen und höchſten
Lagen fowie der Doppelgriffe (jogar die Melodie erjcheint
gerne in Octaven) dünft uns jedoch zu viel des Guten gethan.
Am intereffanteften wirkt durch die Neuheit der Form (nicht
der Gedanken) der erite Sag, am wohlthuendften das ſtimmungs—
volle, edle Andante in Ö-moll. Der äußerlich brillantefte Satz,
das Finale, dünft uns in feinem bdecimenfpringenden Thema
etwas banal: auch die Durhführung hat mehr Geſchwindigkeit
als wirkliches pulfirendes Leben. Die Aufnahme des Werkes
fonnte nicht glänzender fein, und wenn wir fie zur guten Hälfte
dem Spieler vindiciren, fo fommt Joachim dabei menigitens
nicht zu kurz.
Joachim fpielte mit Brahms das »Rondo brillant« in
H-moll von Schubert, da& nad) einer fehr ftattlichen Ein-
leitung ſich ziemlich ungleich Fortjeßt und uns weniger be:
friedigt, ald das jüngft gehörte C-dur-Duo. Ferner Beethoven's
G-dur-Sonate op. 96. Diele Tondihtung, von allen Biolin-
Sonaten des Meifterö gewiß die tiefite und eigenthümlichite,
hat den Beethoven-Auslegern viel zu jchaffen gemadt. Lenz,
der daraus einen fabelhaften Staub aufwirbelt, legt den
größten Nahdrud auf den »magyariſchen Charafter« des Finale.
»Der große Hierophant des Humord« habe diefe Melodie
wahricheinlih auf dem Schloffe der Gräfin Erdödy in Ungarn
gehört u. f. w. ES wundert uns, noch in feinem. Winfel der
labyrinthiihen Beethoven-Literatur die Bemerkung gefunden zu
haben, daß dieſes Thema identifh ift mit dem Liede des
Soahim und Brahms, 495
Sobien: »Der Knieriem bleibt meiner Treu’« aus dem
»Luftigen Schuiter«e von Adam Hiller. Wiffentlid hat es
Beethoven hier faum verwendet, denn er ändert den ziveiten
Theil vollitändig; aber unbewußt Hang in ihm die Erinnerung
an jene Operette nach, die in feiner Jugendzeit ein Lieblings—
ſtück aller deutichen Bühnen war. Es find den Ungarn bereits
fo viele Eonceffionen gemacht, daß wir den »Luftigen Schufter«
unmöglich noch dazu geben können.
Wie herrlich jpielte Joachim hierauf »Barcarole und
Scherzo« von Spohr und dad Abendlied von Schumann!
Dad war ein Singen, tu deſſen reiner, vollendeter Schönheit
man ſchwelgen konnte. Die von Teiler Wehmuth angehauchte,
liebliche »Barcarole« von Spohr Klang unter JZoahim’s Bogen
zauberhaft. Das »Scherzo« desſelben Meiſters bemegte ſich
edler und natürlicher als bei andern Virtuoſeun, die mit ge—
waltiamem Mohlwollen mehr Humor in das mwunderliche Ding
bringen möchten, als darin ftedt und als der Gomponift über:
haupt beſaß. Kaum hatte ein zweiter deuticher Componiſt fo
wenig Anlage zu Scherz und Heiterkeit, wie Spohr. Seine
Scherzos gleihen dem Hofnarren Nigoletto, der ſich zu
Poſſen zwingt, während ihm jämmerlih zu Muthe ift. Das
von Joachim geipielte Scherzo hat etwas noch realiltiicher
Schneidendes, Leibſchneidendes. So quirlt die forcirte Luſtig—
feit auf dem Antlitze eines Unglüdlichen, in deſſen Eingeweide
der Teufel gerade eine Tartini'ſche Sonate unterm Steg jpielt.
Nächſt der »WBarcarole» war e8 das Schumann'ſche Abend-
lied (Joachim mußte es wiederholen), was den tiefiten Eindrud
hervorbradte. Es waren die ſchönſten Vorträge Joachim's, ob-
wohl die darauf folgenden »Gapricene von PBaganini
hundertmal jchwerer find. Paganini hat und auf dem Pro—
gramm Joachim's ein wenig überraicht, da Letzterer dieſen
Schöpfer und Schußheiligen des ercentriichen Virtuoſenthums
ſonſt nicht Öffentlich vorzuführen pflegt. Wem nicht die per:
fönlide Grinnerung an Paganini's Spiel einen verflärenden
Schimmer für deffen Compofitionen mitgibt, der fann darin
nur das Extrem der abiolut gewordenen Brabour erbliden.
Das Bedenklihe diefer und anderer PBaganini = Stücke Tiegt
496 1867.
darin, daß fie jelbft von größten Meiftern nur beiläufig be:
wältigt, aber nimmermehr ganz vein, gejchweige denn wahrhaft
ihön vorgetragen werden fünnen. Zu viel ift darin gegen den
Charakter des Inftrumentes gelündigt, ald daß es nicht unter
dem Bogen jeine® Bändigers winjeln und kreiſchen müßte.
Die Bewunderung für den BVirtuofen und dad phyſiſche Un—
behagen über die jchrillen Töne ftreiten im Hörer, jo daß
diefer mandhmal mit den zum Slatichen erhobenen Händen
unwillkürlich nach den Ohren fährt. Seine immenfe Technif
bewährte Joachim am glänzenditen in der Pizzicato-Variation
und in jener der Terzen- und Septenjcalen, die Niemand ihm
nachſpielt. Die Hebjagd mit den dreis und vierjtimmigen Accor-
den gegen den Schluß gehört zwar ohne Frage in den Bereich
des MWunderbaren, aber vom Wunder verlangen wir, daß es
unfehlbar jet.
Das FPatti:Soncert im Garfltbeater.
Nicht ohne Eritaunen gewahrten geftern (am 11. Sep-
tember) die Bewohner Wiens eine verfrühte Kette mufifalijcher
Zugvögel, welche jich an einem der wärmſten Septembertage
plöglih in Aſcher's Mujentempel niederließ, um am folgenden
Morgen mit Windedeile wieder fortzuziehen. Diefe Wander:
und Wundervögel ericheinen dicht geihaart um einen Anführer
von unfcheinbarem Gefieder und großer Weisheit, den fie
Ullman rufen; fie jelbjt nennen fih Carlotta Patti, Ze:
fort, Auer, Bopper und Willmers.
Carlotta Patti, die jchmetternde Lerche der Gejellichaft,
iſt hier aus einer langen Reihe von Concerten wohlbekannt.
Sie hat ſich unverändert beibehalten, was dem Bublicum ficht-
ih lieb war — weniger uns Recenjenten, die wir Neues
über die vielbeiprochene Sängerin faum vorzutragen müßten.
Wie vor zwei Jahren, jo erregte auch diesmal das Eleine
Silberglödchen ihrer in jchwindelnder Höhe jo reinen und
jiheren Stimme Bewunderung; wie damals glißerten ihre
Triller, Staccatos und Paſſagen; wie damals, jo ſpricht auch
Das Patti-Concert im Carltheater. 497
jeßt ihr Gefang zum Ohr, nicht zum Herzen — recht eigentlich
ein glänzend heiteres Spielwerf der Kunft.
Bon den mitwirfenden Künftlern gebührt dem Pianiften
Herrn Willmerd aus dem Titel der Anciennetät die Nennung an
eriter Stelle. Als er vor eiwa 25 Jahren zuerft in Deiterreich er:
jchienen war, umgab ein gewijjer xotiſcher Echimmer das blond
umwallte Haupt des jungen Dänen, der mit feiner Transſcription:
„Flieg', Vogel, flieg’!« und anderen Süßigkeiten viel Glück
machte. Bei aller Anerfenung jeiner eleganten Technik, insbeſon—
dere jeines berühmten Trillers, haben wir Willmer’3 Spiel
damals ſchon nur in den mäßigiten Gaben vertragen fünnen.
Es lag eine ungemeine Leere und Mattſeligkeit in diefem Spiel,
wie in feinen einander auf's Haar ähnlichen Compoſitionen. Wie
dürftig der muſikaliſche Gehalt diefer Productionen war, er:
fannte man deutlich, ald Willmers nad) einigen Jahren wieder
und wieder fam, in ſtets gleicher Weiſe trillerte und den
»Vogel« zum Fliegen einlud. Als der Componift ſich eines
Morgen? vergeblih nah einem Hahn umfchaute, der noch nad
dieſem »Vogel« frähe, warf er ſich auf größere, ernitere Come
pofitionen, ohne damit mehr zu reuffiren, als fein gleichmäßig
vorangegangener College Evers. Es war jedenfall mohl-
gethan, wieder zu den eleganten fleineren Salonformen zurück—
zufehren, in welchen ſich Willmers freier und gewandter bewegt.
Dffen geftanden, hätten wir aber feine alten Trillerſtückchen
noch immer lieber gehört, ala die neue »Steieriihe Phantaſie«
und »Ungariſche Epifode« (eine Art »Flieg’, Cſardas, flieg’!«),
womit Herr Willmerd fih in dem Batti-Concerte produeirte.
Men intereffiren noch derlei mit Paſſagen plump überladene,
durh und durch veraltete Transfcriptionen ohne Geift und ohne
Ende? Herrn Willmers’ Technik hat übrigend nicht von ihrer
ehemaligen Geläufigfeit eingebüßt, und fo nahm denn das
PBublicum den alten Bekannten mit großer Freundlichkeit auf.
Ein zweiter von Herrn Ullman bier vorgeführter Künftler,
der Sänger Jules Lefort aus Paris, bietet und wenig Stoff
zum Erzählen. Er gehört zu jenen jtimmlofen Baritoniften,
deren verftändig und geihmadvoll accentuirter Gefang — cine
Art verichämtes Declamiren — in franzöfiichen Salons beliebt
Hanalid. Aus dem Goncertfaal. 2. Aufl. 32
498 1887.
it. Seine Stimme entbehrt zu jehr der Fülle und des Wohl—
flangd, um in größeren Räumen zu wirken; jein Vortrag, dem
eine gejchictte Verwendung des Faljet3 und eine deutliche Aus—
ſprache zu ftatten kommt, ift durchwegs anftändig. Die An:
ftändigfeit ift aber befanntlich nicht? Zündended, am wenigſten
in der Mufif. Ueberdies war Gounod's gedehnte und fraft:
loſe Melodie »Le Vallon« feine glüdliche Wahl.
Bon den gegenwärtig bei Ullman engagirten Künftlern
find die zwei jüngften ohne Frage die bedeutendſten: Bopper
und Auer. Grfterer, uns bereit3 als einer der tüchtigiten
Gelliften befannt, hat jeinem Rufe dur) den virtuoſen Vor:
trag eines (leider ſehr gehaltlofen) Goltermann’shen Con:
certes neuerdings Ehre gemadt. Sein jchöner, gefangvoller
Ton konnte fih am beiten in dem »Adagio« von Molique
geltend machen, jeine Geläufigfeit und Ausdauer in einer Etude
eigener GCompofition, welche »Le papillon« betitelt und in ihrer
ununterbrochenen Sechzehntel-Bewegung dem » Perpetuum mobile«
von Baganini nachgebildet ift. Leopold Auer, Concertmeifter
in Düffeldorf, erfreut fi) bereit3 jeit mehreren Jahren der
glänzenditen Erfolge in Deutfchland und England. Deutich-
Ungar von Geburt, iſt er ein Landsmann Joachim's und
war zulegt dejien Schüler. In dem Vortrage der befannten
»Ballade und Bolonatjee von VBieurtemps, eine Spohr:
ihen Andante und eine Gapricio von Paganini entfaltete
Auer ebenſo jolide als glänzende Eigenfchaften: gefangreichen
Ton und reine Intonation, bedeutende Bravour in allen Strich:
arten und Lagen, ruhigen, edlen Ausdrud im Adagio, Kraft und
Ausdauer im Allegro.
Der wahrhaft überraihende Erfolg von Ullman’s
Goncert, dad der jchönen Jahreszeit zum Troß dad Haus
über und über füllte, hat die Geſchicklichkeit dieſes raftloien
Goncertslinternehmer® neuerdingd bewährt. Die Concerte, die
er unmittelbar zuvor in Linz, Salzburg, Laibach, Graz und
Preßburg gegeben, jollen 40.000 Gulden eingetragen haben ;
Brünn, Olmüß, Troppau, Krakau, Lemberg und Czernowitz,
die nunmehr an die Reihe fommen, verjprehen ähnliche Er:
folge. Nur eine jo geſchickte Combination und Adminiftration
Das Patti-Concert im Garltheater. 499
machen es möglich, mittleren und fleinen Städten, die fonft
jahrelang feinen berühmten Birtuofen zu Gefiht befommen,
dieſes Vergnügen reichlich und wohlfeil zu verjchaffen und den
Künftlern jelbit im Laufe weniger Wochen beträchtliche, fichere
Einnahmen zuzumenden. Dies geht freilih nur die induftrielle
Seite der Kunſt an, nicht die Kunſt ſelbſt; aber einmal zuge:
ftanden, daß das geichäftliche Intereife bei Virtuoſen-Reiſen
mehr als je im WVordergrunde fteht, muß man die dee der
Ullman'ſchen Aſſociations-Concerte modern und praftiich finden.
32*
1368.
Orchefter-Eoncerte.
Dom Eiſe befreit find Strom und Bäche durd des
Frühlings Holden, belebenden Blid« — wem klingen fie nicht
jegt im Ohr, die Worte Fauſt's, aus welchen die ganze Freu
digkeit der Ofterftimmung quillt, wie Sonnenwärme und junges
Grün? An fie darf nicht denken, wer Schubert'3 »Oſter—
Cantate« (»Lazarıd«) hören geht. »Charfreitags-Cantate«
wäre die treffende Bezeichnung für ein geiftlihes Drama, das
zur Hälfte am Sterbebett Spielt, zur Hälfte am Begräbnißplage.
Der erjte Theil ift eine fortgefegte Auflöfung des Lazarus, der
jih freut, zu fterben. Der zweite bringt den Sadducäer Simon,
der fih fürchtet, zu Iterben. Die Beltattung Lazarus' ſchließt fich
an. Den dritten Theil des Niemaher'ſchen Gedichte, welcher
mit der Erwedung des Lazarus triumphirend abſchließt, hat
Schubert, bisherigen Nachforichungen zufolge, nit come
ponirt. Gin ſchwerer Berluft; denn Schubert 5 Muſik, dem
Leben befreundeter als dem Tode, hätte, ähnlich dem driftlichen
Mythus, welcher in der Auferftehung des todten Lazarus die
Auferstehung Aller am jüngiten Tage vorbildete, in der Wieder:
belebung diejes Einzelnen das Leben jelbit und feine Herrlich:
feit gefeiert. Dad »Lazarıae- Fragment, im Jahre 1863 durch
das Verdienſt Herbeck's zum erjtenmale zu Gehör gebradt,
erlebte nun feine zweite Aufführung am Chardienftag in dem
»Außerordentlichen Goncert der Gefellichaft der Mufiffreunde«.
Dieje reicher ausgeftattete und feiner ausgearbeitete Wiederholung
ließ uns die hohen Schönheiten der Tondihtung noch viel
Schubert’® Gantate »Lazarus«. 501
tiefer fühlen. »Lazarus« bejigt die ganze Innigkeit der Empfin—
dung, den melodifchen Reichthum und die dramatiiche Lebendig—
feit, deren Vereinigung den Genius Schubert's charakterifirt.
Mie rührend und fchönheitsverflärt ſchwebt die erite Arie der
Maria empor, wie überirdifch Klingt die Erzählung Jemina’s
von ihrer Auferwedung, wie leidenjchaftlich-dramatiih die Arie
des verzweifelnden Simon! Gefänge, wie dieſe, gehören zu
dem Schönften, was Schubert geichaffen hat. Es gehört die
ganze innere Freudigfeit und Klarheit Schubert’iher Muſik
dazu, um den Verweſungsgeruch, der diefe Dichtung durchzieht,
fait alle® Beflemmende zu nehmen. »Faſt«, denn gänzlich ver:
modte Schubert's Genius die unheilvolle Einförmigteit des
Tertes nicht zu befiegen. Der Tondichter hätte zu feiner melo—
didien Blüthenfülle auch noch Beethoven's einfchneidende Kraft
und Bach’ contrapunftiiche Meiſterſchaft befigen müſſen, um
der thränenfeligen Monotonie diefes Gegenitandes völlig Herr
zu werben. Das ununterbrochene Feithalten derjelben Stim-
mung, mufifaliih potenzirt durch dad ſtete Vorherrichen der
langjamen Tempi im ?/,Taft, die langen ariofen Recitative,
das Fehlen der Baß- und Altitimme im erjten Theil u. dal.
wirt am Ende erfchlaffend. Am empfindlichiten vermißt
man das Gegengewicht polyphon gearbeiteter, ja auch nur
figurirter Säße und fräftiger Chöre. Der Chor iſt nur am
Schluffe jeder Abtheilung, beidemal als langſamer Klagegefang,
verwendet. Dieſe Eigenheiten geben dem Ganzen einen faft
liederjpielartigen Charakter, der von dem ftrengeren Begriff
des Oratorien-Styls (auch abgejehen von dem gänzlichen Ab—
gang des epifchen Elements) feitab fteht. Zwiſchen ergreifend
Ihönen Nummern dehnen fich im »Lazarus« bedeutende Streden,
die nicht freizufprechen find von rhythmiſcher und harmonifcher
Monotonie, von meichlicher, hie und da an ältere Opern-
Componiſten erinnernder Empfindfamfeit. An jenen Wunder:
blüthen des muſikaliſchen Todtenkfranzes wird fich der Hörer
jeder Zeit erquiden; er wird ftaunen, bis zu welchem Grade
Schubert es vermocht habe, Leben in died Sterben zu bringen.
Aber der Total-Eindrud des ganzen Werkes wird niemals
ein ungemiſchter, wahrhaft befreiender fein, jo lange nicht
502 1888.
eine kundige und vorurtheilsfreie Hand daran zu Fürzen ich
entichließt.
Was wir zu der ſchmerzerfüllten Schönheit des » Lazarıız«
noch hinzuwünſchen mochten, das bradte am jelben Abende im
reihen Maße das »Kyrie« aus Bach’ H-moll-Mefje: mann
hafte Energie in der Klage und jene Gewalt der Polyphonie,
welhe das mufifalifche Denken hinreichend beichäftigt, um die
zeriegende Macht wehmüthigen Empfindend zu paralyfiren. Am
jelben Tage des vorigen Jahres hatte Hofcapellmeifter Her:
bed die »Hohe Meſſe« von Bah mit Ausnahme des »Fyrie«
und »Gloria« aufgeführt. Aeußere Hinderniffe vereitelten dies—
mal die Aufführung des »Gloriae, des einzigen Satzes, der
uns jomit zur vollftändigen Bekanntſchaft diefer großen Ton:
ihöpfung noch fehlt.) Aus diefem Grunde und wegen des
impofanten Gegenfaßes, welchen gerade der trompetenjchmet-
ternde Triumph des »Gloria«e gegen das düſtere »Syrie«
bildet, bedauern wir den Ausfall diefes (allerdings jehr aus:
gedehnten) Meßtheiles im legten Concert. »Kyrie« und
»Sloria«e der Bah’ihen Meſſe gehören überdies auch nod
hiftoriich zufammen, indem diefe beiden (im Jahre 1733 von
Bah an Friedrih Auguft I. von Sachen jelbititändig über:
ſchickten) Süße den urfprüngliden Kern des ganzen Werkes
bilden, dem der Autor erſt jpäter und allmälig die anderen
Theile, mit Benügung älterer Cantaten, hinzufügte. Was
Sebaltian Bad, den eifrigen, ftrengen Proteſtanten, zur Com:
pofition der ganzen katholiſchen Meſſe veranlaßt haben mag,
hat man fih oft gefragt. Die einfadhite Erklärung dünkt uns,
daß Bach von der Größe und dem Neichthume des Tateinifchen
Mebtertes, welcher in kurzen Süßen die ganze firdliche Ge:
danfen- und Empfindungswelt umfaßt und dem Componiften
eine der bedeutenditen und dankbarſten Aufgaben bietet, ſich
mächtig angezogen und aufgefordert fühlte ES fehlt feiner
Gompofition die fatholiihe Färbung, der confeffionelle Accent,
ja die praftiiche Eignung für den Gotteödienft, allein an Tiefe
*) Eine vollitändige Aufführung von Bach's H-moll-Mefje fand
in Wien erit im März 1885 ftatt.
Bach's hohe Meife. »Wallenfteine v. Nheinberger. 503
und Fülle der religiöjen Empfindung, an Größe des Gedanken?
und der Kunftvollendung fteht fie mit der — unſerer modernen
Anſchauung Iympathiicheren, aber faum großartigeren — Felt:
mefje von Beethoven zu oberit aller muſikaliſchen Meſſen.
Das »Kyrie«, welches wir im leßten Goncerte hörten, befteht
aus drei Nummern: einem im größten Style fugirten Chor,
dejien Thema zu den merfwürdigiten Erfindungen und deſſen
Durhführung zu den großartigften Gontrapunfktirungen ſelbſt bei
Bah gehört. Es folgt daS »Christe eleyson« al® Duett
für zwei Sopranftimmen, blo8 von zwei Inftrumentalftimmen
(erite und zweite Violine unisono und Grundbaß) begleitet,
ein Tonftüd, in welchem der Bach'ſche Genius, wie jo manch—
mal in Arien und Diuetten, fih zur Bah’ihen Manier, zum
Formalismus verengt und deshalb eine tiefere Wirkung auf
den Hörer nicht hervorbringt. Um fo gewaltiger erbrauft der
folgende fürzere, ſtreng fugirte Alla-breve-Chor »Kyrie eleyson«,
welcher dieſen Meßtheil in erhabener Weile abichliept.
Mir hörten im Philharmoniſchen Concert als Novität ein
ſymphoniſches Tongemälde »Wallenſteins« betitelt, von Joſef
NRheinberger. Der Beifall, den diefe Compoſition in München
und Xeipzig errang, bot hinreichenden Anlaß, fie auch dem
Miener Publicum vorzuführen. Auf dem Gebiete der ſympho—
niihen Muſik wird überdies jo wenig producirt, daß felbit das
Halbgelungene Anfpruh auf Beachtung und freundliche Gr:
munterung erheben darf. ES ilt kaum mwohlgethan, wenn die
Kritit in ſolchem Falle durch allzu fchneidige Strenge zugleich
den Producenten abichredt und die Goncert-Inftitute, welche ohne—
hin meist die Tendenz zu claffiicher Verfteinerung haben. Rhein:
berger ilt ein ernſt ftrebender, gebildeter Künftler und eine
namentlih im Contrapunkt tüchtig gefchulte Kraft. Gar Vieles
in feiner »Mallenfteine- Symphonie berechtigt zu jchönen Hoff:
nungen für feine weitere Laufbahn. In diefer Symphonie leidet
fein Talent zunächſt durch den unausbleiblichen Conflict zwijchen
den ſelbſtſtändigen Formgeſetzen reiner Inftrumentalmufit und
den Anforderungen der beitimmten poetiichen Aufgabe Der
Muſiker, der fi mit einem poetiihen Programme einläßt,
erfährt nur zu bald, daß es ihm mit der linfen Hand eben:
504 1868,
foviel entzieht, ald es ihm mit der rechten gegeben. Der Iodende
Vortheil ift augenfällig: ein Stück von dem bunten, theatra-
liichen Realismus des Nheinberger’ihen »Scherzo« würde man
in einer Symphonie jchwerlich gelten laffen, in einem » Wallen-
ftein-Gemälde« läßt man e3 nicht blos gelten, jondern zeichnet
ed vorzugsweiſe aus, weil der Titel »Wallenſtein's Lager und
Kapuzinerpredigt«e darüber fteht und uns zu ber lebhaften
Muſik fertige, beitimmte Bilder entgegenbringt. Dieſer Satz iſt
der gelungenfte der Symphonie, er hat friſche, prägnante
Themen, lebhaften Zug und fügt durd die Einführung des
alten Soldatenliedes »Wilhelm von Nuffau« zu der glüdlichen
Localfärbung auch noch eine hiftoriiche. Minder günftig waren
dem Gomponiften die drei anderen Sätze; hier ftellt fih ihm
der Nachtheil des poetifchen Programmes entgegen. Säge mit
der Ueberſchrift »Mallenftein«, »Thekla«, »Wallenftein’® Tod«
bedingen eine gewiſſe mufitaliihe Allgemeinheit, welde den
Hörer bald zu verdrießen beginnt, wenn er darin nicht Directe
Anknüpfungspunfte an jene Schiller’ihen Charaktere vor:
findet. Der Componijt müht ſich abwechſelnd, mufifaliih unab—
bängig und danı wieder dramatisch illuftrirend zu fchreiben,
und geräth dadurh in eine Unen.jchiedenheit und rhapſodiſche
Unruhe, welche weder der » Symphonie«, nocd dem »Wallenſtein«
gedeihlih werden kann. So treten und im Finale jtarfe, muſi—
kaliſch unerflärbare Gegenjäge entgegen, eingeſchobene Sätze
von contraftirender Ton- und Taktart, Rhythmik und Inſtru—
mentirung. Was habe ich mir da zu denken? fragt der Hörer
unwillkürlich. Was bedeutet das? Da ihm Niemand antwortet,
verliert er die Stimmung. Abgejehen von dem Verhältniß zum
Programme, trifft die Symphonie zumächit der Vorwurf einer
zu großen Länge aller Sätze. Ferner find die Motive mehr
moſaikartig zuſammengeſetzt, als organisch aus fich heraus ent-
widelt. Eine Reihe von Motiven löſt fih ab, um zu verlöfchen,
ehe fich eines davon im Hörer feſtgeſetzt hat; man vermißt
den Eindruck des Nothwendigen, Logiſchen. Dies und die muſi—
faliihe Schwähe mancher Themen find die Mängel der
»Mallenftein«- Symphonie. Es Fehlt ihr an Bollendung des
fiinftlerifchen Baues, wenn auch keineswegs au glüdlichen Ein:
Chopin's F-moll-Goncert. 505
füllen, und fein gearbeiteten trefflih contrapunftirten Partien.
Wie die Symphonie vorliegt, halten wir für eigentlich lebens—
fühig daran nur das Scerzo, daß fih auch iſolirt als wirk—
jame Goncertnunmer empfiehlt. Für vielveriprechend Halten
wir jedoh das Talent des Componiften, der auf richtigerem
Wege auch zu ſchönerem Ziele gelangen wird.
Die »Phildarmonifhe Gejellichaft« führte uns in
ihrem legten Concerte zwei Gäſte guten Namens vor: Die
Bianiftin Fräulein Mehlig aus Stuttgart und die Hanno
ver’ihe Kammerjängerin Fräulein Ubrich. Fräulein Anna
Mehlig fpielte Chopin’® F-moll-Eoncert (op. 21) mit jehr
günftigem Erfolg. In der That befigt die junge Dame eine
üußerft elegante, fein und ficher ausgebildete Technik, die
namentlich in behenden Paſſagen, Trillern und Verzierungen
an Sauberkeit nichts zu wünſchen läßt. Ihr Anfchlag ift zart
und fingend, wenn er auch felten den ganzen, vollen Ton aus
dent Inftrumente zieht oder durch ftirmiiche Kraft imponirt.
Mer das Chopin'ſche Concert genauer kennt, wird Fräulein
Mehlig’s Leiftung nur um jo höher ſchätzen, denn die Com:
pofition bürdet dem Spieler eine Maffe von Schwierigkeiten
auf, welche der Hörer mitunter kaum bemerkt, geichtweige denn
auszeichnet. Nicht fo rühmenswerth wie die brillante technifche
Durchführung ſchien uns die geiftige Auffaffung und Interpre—
tation des Stüdes. Ein Concert, ſei's auch ein Chopin'ſches,
will anders gejpielt fein, als ein Notturno. Schon die Größe
der Form und der Kımftmittel verlangt einen größeren ob:
jectiveren Styl des Vortrages. Anftatt den lojen Zufanımen:
hang dieſes lyriſchen Monologes ftraffer zufammenzuziehen,
foderte ihn Fräulein Mehlig durch alles erdenkliche jentimen:
tale und gepugte Detail. Es ging dur) den ganzen Vortrag
ein Dehnen und Schmadten, welches die jpärliden und der
Nachhilfe bedürftigen Fräftigen Stellen der Compofition nod)
abſchwächte. Das erfte Allegro (vom Orcheſter in richtigem
Tempo indroducirt) nahm Fräulein Mehlig ſofort zögernd
und zerfloffen auf; deögleichen Tieß fie die energiichen Anhalts—
punkte, welche das Finale durch mazurfasartige Rhythmen bietet,
völlig unbenügt. Fräulein Mehlig darf fich rühmen, daß jehr
506 1868.
wenig Frauen ihr das Chopin’she Concert nachſpielen werden,
aber ein Mann würde es anders fpielen. Die Compofition
jelbft, anregend durch zahlreihe feine Details, zündete an
feiner Stelle. Intereffant ift fie und ſchon durch die Perſön—
lichkeit des Autors, die freilih im ungleihen Kampfe mit
großen, ſymphoniſchen Formen ihre beite Eigenthümlichkeit
einbüßt. Chopin ift eine Aeolsharfe, welche, von einem Lüft-
chen berührt, die wunderbarften Klänge aushaucht, aber niemals
hat ein beftändiger Wind fie angeweht. Dieſe zauberijch ver-
Elingenden Mccorde, fie fügen fich zu feinem ftolzen Bau; aus
al dem duftigen Nocturnen und Mazurfad erwädit feine Sym-
phonie, feine Sonate. Das E-dur-Eoncert und die B-moll-
Sonate, an Gehalt und formeller Geſchloſſenheit entichieden
über dem F-moll-Goncert ftehend, verrathen dennoch fchon
deutlih die Schwäche des im Kleinen jo mächtigen, im Großen
aber hilflofen Troubadours. Sntereflant iſt uns daß F-moll-
Concert ferner, indem es ganz vorzugsweiſe den ftarfen Ein:
fluß Chopin’ auf Schumann verräth. Wie Chopin jelbit,
fein Ahnherr Field und feine Nahfommen Henjelt, Stephen
Heller und Kirchner, jo ſchien auh Schumann Anfangs
jein originelles® Talent in fleinen Formen ausgeben zu wollen.
Aber er blieb nicht wie Jene in dem engen Sauberfreije ge:
bannt; ein kräftiger Durchbruch, und Schumann war mit feinen
Symphonien, feinen QDuartetten aus der Reihe der großen
Talente in jene der großen Meifter aufgeftiegen. — Minder
glücklich als ihre Eollegin am Glavier war dad zweite Mäd—
chen ans der Fremde, Fräulein Ubrich, mit dem nicht un:
romantiihen Vornamen Aſsminde. Fräulein Ubrih hat eine
weiche, namentlich in der Mittellage klangvolle Stimme, die
fih aber monoton, phlegmatiih, auch um einige Distoniren
unbefümmert, fortbewegt. Bon Goloratur — nad ihrem Rollen:
fahe zu schließen, Fräulein UÜbrich's Hauptitärfe — befamen
wir blos einen hübſchen, gleichen Triller zu hören. Als Lieder:
jängerin verrietb Fräulein Ubrih einen auffallenden Mangel
an Wärme und poetiicher Individualifirung. Welch bequeme
MWohlbeleibtheit des Vortrages, die ſich mitten im Liede auf
irgend eine Note niederjegt, um da beliebig auszuruhen! In
Asminde Ubrich. — Beethoven's C-dur-Goncert. 507
allen Vorträgen Fräulein UÜbrich's herrichte Kälte, ja ſchlimmer
als dies: Schläfrigkeit. Und Schubert, Mendelsſohn, Schu—
mann — das find dod, follte man glauben, muſikaliſche Weder
von ziemlicher Kraft. Eine Arie des gefrönten Schäfer?
Aminta aus Mozart's Feſtoper: »Il re pastore« eignete
fih jedenfalls viel beſſer für die friedliche Bolitif der hanno—
ver’ishen Sängerin. Der neunzehnjährige Mozart componirte
diejes Feſtſpiel befanntlih für ein Hoffeft in Salzburz (1775),
alio zu einer Zeit und unter Verhältnifien, welche das Ge-
leiftete relativ bedeutend erfcheinen laſſen. An und für fi
fann una aber diefe Mifchung von phyfiognomielofer Idealität
und veraltetem Schmucwerf unmöglich erwärmen, weder in
der Partitur no in dem Vortrage Fräulein Ubrich's. Bon
AU. W. Schlegel haben wir längit den Begriff der »gefrorenen
Muſik«; nun fernen wir aus eigener Wahrnehmung auch den
gejungenen Schnee.
Die legte Production der »Geſellſchaft der Mufikfrennde«
begann mit Beethoven's erftem Clapier-Eoncert in C-dur
(op. 15), das man nach vielen Jahren mit Necht wieder ein-
mal in Grinnerung brachte. Freilich erjcheint hier Beethoven
noch in jehr homdopatiiher Verdünnung, und das Concert
jelbjt jteht jo weit von den fpäteren ab, wie die erite Sym—
phonie von ihren acht Nachfolgerinnen. Aber das Eoncert und
diefe Symphonie, fie waren doch eben die »erften« einer un:
jterblihen Reihe und bilden ſchon aus diefem Grunde ein
Kunſtvermächtniß, das feine mufifaliiche Stadt der Vergeſſen—
heit überliefern darf, am wenigſten die Hauptitadt Dejterreichs,
in welcher und für welche der junge Beethoven diejes Concert
gleihfan als feine mufifaliihe Promotions Mufit geichrieben
bat. Er fpielte es am 29. März 1795 in der Akademie der
»Miener Tonkfünftler-Societät«; die erfte befannte Aufführung
eines Beethoven’schen Concertes. In dem füßen, feelenvollen
und Doch nicht meichlichen Adagio Elinat unverkennbar ſchon
Zon und Stimmung mander jpäteren Beethoven’shen Adagio
an. Der erite und legte Satz berühren uns heute, 73 Jahre
nad jener erſten Aufführung, freilich nur ſchwach und mehr
in einzelnen, von uns durch hiſtoriſche Neflerion (bewußt oder
508 1868.
unbewußt) verwertheten Zügen, als in ihrem Total-Eindrude.
Man kennt die Zartheit und Noblejfe, mit welcher Herr Ep—
jtein Mozart'ſche Compofitionen fpielt, und Dies Beethoven'ſche
Concert ift beinahe eine.
Das zweite Finale aus Cherubini's »Medeas« ift eine
jtol3 aufgebaute, charaktervolle Compofition. Dad Scenifche,
das diefes Finale auf der Bühne mit großem und bedeutjamen
Prunke umgibt, ſchien indeffen dem Auditorium doch mehr,
als man vermuthete, abzugeben, fo daß die Nummer nicht
die gehoffte Wirkung machte. Als zweite Nummer hörten
wir ein Violoncell-Concert, componirt und gejpielt von Herrn
Davidoff aus Petersburg. Sein Ton ift groß und edel,
fein Vortrag, im Andante von fchöner Weichheit und Breite,
glänzt im Allegro durch virtuofe Bewältigung fehwieriger Paſ—
jagen, namentlich in Octaven, Terzen- und Sertengängen. Das
Nublicum würdigte Herrn Davidoff's Kunft durch wieder
holten Hervorruf, nur bedauernd, daß fie nicht eine gehalt-
vollere, originellere Gompofition zum Gegenjtand hatte. Ueberdies
beichäftigt dieſes herzlich unintereffante Concert die Bravour des
Spielers zu oft und anhaltend in den höchſten Lagen, wo
das Violoncell bekanntlich für den Virtuoſen wie für den Hörer
leicht gefährlich wird.
Der Roſe Pilgerfabrt von Robert
Schumann.
Es iſt Herren Herbeck's Verdienft, diefes in Wien biöher
nur bei Glavierbegleitung aufgeführte Werk zum erftenmale
mit ganzem Orcheiter gebracht zu haben. Ein wahres Verdienst
um die Compofition ſelbſt, welche in dieſer reicheren Geftalt
weit lebhafter anſprach als je zuvor. Es verfchlägt nichts, daß
Schumann urfprünglic jelbit nur eine Clavierbegleitung be—
abjichtigte, Hat er doch bald das Ungenügende derjelben gefühlt
und die Inſtrumentirung veröffentlicht. Ganz abgejehen von
dem kräftigeren Total-Eindrud, gewannen mande auf beftimmte
ae u EEE nn
Ter Roſe Pilgerfahrt von Rob. Schumann. 509
Orcheſterfarben wie von ſelbſt hinweiſende Nummern jett erft
ihren eigentlihen Charakter und vollen, durch Inftrumentale
Gegenſätze bedingten Effect. Wie ganz anders winken jeßt die
Elfenhöre inmitten des feinen, gligernden Gejpinnftes der
Geigen, und die Friedhoföfcene, getragen von dem ſchwer—
müthigen Klang der tiefen Bläfer! Mer Hat fie nicht biöher
fchmerzlich vermißt, die vier Maldhörner in dem Chore: »Bilt
du im Mald gewandelt«e, und Trompeten und Baufen bei
dem ländlichen Hochzeitsfeite? Der beitechende Eindrud der
Inftrumentirung hat uns trogßdem nicht von unſerer urjprüng:
lichen Meinung über ein Werk abzubringen vermodt, das als
Ganze® uns von ſchwächlicher Erfindung und bedenklicher
Richtung eriheint. Wir geftehen unjere Antipathie gegen das
Gedicht, dieſes »Märchen« im Geſchmacke der jentimentalen
Putlitz-Redwitz'ſchen Goldſchnitt-Poeſie, welche, unfähig, die
echte, eigene Sprade der Natur zu entfeffeln, Hinter jeden
Baum und jede Blume einen redenden Automaten ftedt. Die
Heldin des Gedihtes ift eine Roſe, welche »Jungfrau werden
wille, dabei aber ſchon als Roſe, vor der Verwandlung, alle
menſchlichen Begriffe und Empfindungen hat. Diele verjungferte
Roſe, niht Menſch, nicht Pflanze, eine ind Botanifche überfeßte
»Peri«, bildet nun den Mittelpunkt des Ganzen und foll unfere
tieffte menfhlihe Theilnahme erweden. Wer für diefe Art
Poeſie ſchwärmt, dem empfehlen wir dazu noch den Anblick der
Titelvignette, wo eine wohlgenährte Bauerndirne im Unterrod
jhwerfälig aus einer Rieſen-Centifolie (Röschen«) fteigt,
während von links ein fleiner Cupido Haufen von Blättern
oder Bienen ihr entgegenbläft. Die eigentliche Abficht des
Dichters iſt freilich eine zugleich praftifche: er ſchickt die Roſe
auf eine »PBilgerihaft« aus, um fie in alle erdenklichen mu—
fifaliich-dankbaren Verhältniſſe zu bringen. Das Kaleidojkop,
das num ziemlich raſch vor unferem Blick gedreht wird, reicht
bon der Wiege bis zum Grabe, oder auch vom Begräbniß bis
zur Wiege. Das Schlimmfte tft, daß dieſe unnatürliche, gezierte
Poefie mit ihrer bis zur Blumenſprache jublimirten Senti-
mentalitätt Schumann's bereit3 etwas fraufhaftes Gemüth
vollftändig gefangen nahm und nothwendig auch den Charakter
510 1868.
feiner Muſik beftimmte. Wenn wir einige anmuthigsfrifche
Nummern herausnehmen, jo befinden wir uns in einer trüben
Dämmerung, in einer Atmofphäre von entnervender MWeichlich-
feit und Schwüle. Lange Streden hindurch ſammeln fich die
Töne zu feiner feften Zeichnung, zu feiner plaftiichen Geftalt;
die Umriffe fließen unbeftimmt ineinander. Wie in der »Peri«,
jo ift auch in der »Roſe« (ihrem blaffen Abbild) leider das
Recitativ verbannt, Died trefflihe Mittel, blos erzählende
Stellen von den geichlofjenen Iyrifchen und dramatiichen Formen
zu jondern und dadurd Beides zu heben. Wo (wie in der
»Roſe«) das Necitativ als Arioſo behandelt wird und Die
Arie recitativifh, da verſchwimmt Teicht beides in eine graue
Monotonie. Die Nummern von geichlofiener, ftrophiicher Form,
die liedmäßigen Stüde (Jägerchor, Hochzeitächor, Duett »von
der Mühle« u. f. mw.) bilden deßhalb auch die Lichtjeite des
Werkes, während alles Erzählende und Dramatifhe der plafti-
ſchen Feltigfeit ermangelt, heimatlo3 zwifchen Epos und Drama
ſchwankend. In der erjten Abtheilung ragt die ſtimmungsvolle,
tteffinnig concipirte Friedhofsjcene gewaltig aus allem Webrigen
hervor; die Perlen des ganzen Werkes finden ſich aber im
zweiten Theile, wo der Glfene und Blumen-Myſticismus
einem blühenderen, realen Leben Pla macht. Der einzelnen
Schönheiten gibt e8 in diefem zweiten Theile fo viele, daß fie
das ganze Werf vor der Vergänglichfeit wohl zu retten im
Stande find oder wenigſtens fich felbft als felbftändige Muſik—
ftüde daraud erretten werden.
Bon der Hochzeit ab geht ſowohl die Geihichte ala die
Mufit einem traurigen Ende zu. »Wie ein Jahr verronnen ift,
jein Snöjplein zart, Schön Nöslein küßte. Diejes Kind (das
alſo von väterlicher Seite Förfter, von mütterlicher Seite
Blume ijt) beſchließt Röschen jammt dem Gatten wohlgemuth
zu verlaffen, und zu den »Schweitern zurüdzufehren«, weil fie
ja genoffen »der Erde Seligfeit«. Die Elfenkönigin beſchließt
aber, die Roſe zum Lohn für jo edle Gefinnung nicht unter
die Elfen, fondern unter die Engel zu reihen, welche denn
auch, dieſer wunderlichen Hierarchie fich fügend, Roſa zu
»höherem Licht« aufnehmen! — Muſikaliſch ift dieſer legte
Feftconcert und Jubiläum des Wiener Männergeſang-Vereines. 511
Abſchnitt des zweiten Theiles durchaus unbedeutend. Der poe—
tiſche und muſikaliſche Fall des Werkes zum Schluß mag
Schuld ſein, daß der Beifall des Publicums, der während der
Aufführung ſehr lebhaft war, nach derſelben beinahe ver—
ſtummte.
Einen großen und nachhaltigen Total-Eindruck dürfte der
»Roſe Pilgerfahrt« nirgends hervorbringen; zu raſch wird
uns die Reihe bunter Bilder vorgeführt, welche ſehr loſe und
überdies nur durch eine höchſt abgeſchmackte Märchenerfindung zu—
ſammenhängen. Hätte doch Schumann, ſo vertraut mit den
reinſten Klängen des menſchlichen Herzens, ein rein menſch—
liches Idyll daraus gemacht! Das Leben eines Landmädchens,
ohne die Maſchinerie des Wunders, hätte uns tiefer gerührt, als
dieſe Fata Morgana der Mädchenroſe, welche in ihrer Doppel—
natur und ihrem Ausgang eine beinahe humoriſtiſche Ver—
wandtſchaft mit »Lohengrin« hat. Wenn man nicht den hohen
Mapitab an die »Roſe« legt, welhen Schumann jelbit in
feinen beiten Werfen ung an die Hand gibt, jo wird man fich
des vielen arten und Anmuthigen darin allzeit erfreuen, ja,
mehr als eine Nummer mit Entzüden genießen. Darüber wird
man zeitweije vergefjen fönnen, wie jelten dies Werk in feinem
Berlauf und zu einer freien, fräftigenden Stimmung erhebt. Die
Aufführung verdiente alles Lob. Fräulein Helene Magnus für
zarte, poetifche Aufgaben, wie Schumann’3 »Roſe« wie geichaffen,
wußte durch fein nitancirten Vortrag und vortrefflihe Decla-
mation zu erjegen, was ihrer Stimme an Kraft und Metall
abgeht. Ihre pilgernde ⸗»Roſe« wirkte wie der janfte vor:
nehme Duft einer Rosa thea. —
Steftconcert und Jubiläum des Wiener
Männergelang: Vereines.
Der Wiener Männergejang:Berein beging (October 1868)
die eier ſeines 25jährigen Beſtehens. Dieſe Feier, drei Tage
umfafjend, manifejtirte fich in dreifacher Eigenſchaft: als geiſt—
512 1868.
liche (Stiftungsmefje in der Auguftinerfirche), als künſtleriſche
(Adendeoncert im Redoutenfaal) und als gejellige (in der Feſt—
fiedertafel). Sie ſchloß überdied mit einem ſchönen Act künſt—
leriicher Pietät, mit der Grundfteinlegung zu Schubert’
Denfmal. Fünfundzwanzig Jahre! Ein langer Zeitraum für
die Thätigfeit des Einzelnen, ein faum merflicher für die der
Kunſtgeſchichte Manchem dünkt Diefe Spanne Zeit zu kurz, um
ein pomphaftes Jubiläum zu rechtfertigen. Sonft feierte man
Jubiläen nah 100 Jahren, wie ed bald der Tonkünſtler—
Societät »Haydn« gegönnt fein wird, oder doch nad) 50 Jahren,
wie 1862 die »Gejellihaft der Mufikfreunde« that. Wir find,
offen geitanden, auch nicht eingenommen für die Furzen Ju—
biläumd-Termine; fie haben zur Folge, Daß bei der großen
Zahl von Hunftvereinen alle Augenblide ein Jubiläum jtatt-
findet und die Gewohnheit den weihevollen Ernſt der Feit-
ftimmung abſchwächt und entwerthet. Werth und Würde eines
Jubiläums wachen mit der Zahl feiner Sahresringe, und Feite,
die man der eigenen Genugthung gibt, müffen vor Allem felten
fein. Nichtsdeſtoweniger fpricht manch’ gewichtiger Umftand zu
Gunſten der ſchon jetzt, nah 25 Jahren, anberaumten Jubel:
feier des Männergeſang-Vereins. Lebt unfere Zeit doch raicher,
verzehrt fie doch ihre Kräfte fchonungslofer, ala die gemäch—
(icher arbeitende Vergangenheit. Bon den Mitgliedern, welche
den Verein vor einem Vierteljahrhundert aus der Taufe hoben
und feine erften Schritte leiteten, find gar mandhe ſchon hin—
übergegangen, und den Weberlebenden bleiht fih das Haar.
Wir wollen nicht weitere 25 Jahre warten, die Zeit hat Eile
und — wie Lenau mahnt — »unfere Gräber find ſchon un—
geduldig«. Eine kunftgefhichtlihe Erwägung tritt obendrein zu
diefer rein menjchlichen. Die Kunftgattung, welche der Wiener
Verein jo rühmlich repräfentirt, der mehrjtimmige Männergejang,
ift jelbft noch jungen Datums, ift ein Kind unſeres Jahrhun—
derts, und die Stiftung der Liedertafeln und Männergeiang-
Vereine reicht nicht weit über ein Menjchenalter.
An Kränzen und Medaillen reich it der Verein aus
diejer anftrengenten Feſtwoche mit neuen Ehren hervorgegangen.
Bor Allem gab das Concert im Redoutenſaal vollauf zu
Feftconcert und Jubiläum des Wiener Männergejangs Vereines, 513
ſehen und zu hören. In der Zufammenftellung des Brogramma
hatte man ed vorzugsweiſe auf Novitäten abgelehen, auf große
und ftarfe Stüde von modernen Componiſten. Jede dieſer
Novitäten fand ehrenvollen Beifall, wie es nicht anders zu er:
warten war bei Werfen von namhaften Tondichtern, welche
überdied durch perſönliches Mitwirken den Abend verichönten.
Daß troßdem die Stimmung des Publicums dabei mehr
rejpectvoll als begeiftert fich Eundgab, fonnte Niemandem ent—
gehen. Der Gedanfe wurde hie und da laut, ob es nicht doch
zwecdmäßiger, die allgemeine Begeilterung fürdernder geweſen
wäre, das Feitconcert blos aus den jchönften Perlen des Ne:
pertoires zufammenzufeßen.
Die Literatur des Männergelanges ift befanntlih eine
jehr junge und keineswegs reichhaltige. Die nmerbittlichen
natürlihen Grenzen dieſer Muſikgattung (Beichränttheit der
Stimmenbewegung, Monotonie des langes u. ſ. w.) ftellen
fih einer weiteren bedeutenden Entfaltung ihrer Literatur
entgegen. Haydn, Mozart, Beethoven — defjen Gefangenen:
Chor in »Fidelio«, eine der früheften und mächtigiten Com—
pofitionen diefer Gattung, von der Bühne untrennbar iſt —
eriftiren nicht für die Männergefangd:Eoncerte Mir müſſen
von Weber, Marſchner und Spohr datiren, die zuerit
den bieritimmigen Männerhor im modernen Sinne wirkſam
behandelten, leider nur in allzu wenigen jelbitändigen Com—
pojitionen. Selbit als die Liedertafeln zur mufifalifchen Macht
wurden, haben die großen Meifter nur jelten ſich ihnen zuge—
wendet, wie man aus den Katalogen von Mendelsſohn's und
Schumann’: Werken entnehmen fann, in welchen die reinen
Männerhöre als etwas Ausnahmsweiſes gegen ihre zahlreichen
gemischten Chöre zurücditehen. Hingegen ergoſſen fich bald die
Mittelmäßigkeit und der Dilettantigmus in breiten Fluthen
über dieſes leichte ımd dankbare Gebiet, die Verlegenheit eines
ftreng fünftleriich vorgehenden Goncertleiterd eher mehrend ala
bejeitigend. Herbeck hat durch Herborfuchen älterer Com—
pofitionen, Aufnahme von Opernfragmenten, treffliches Arran—
gement von Volksliedern, endlih durch feine Entdeckungen
vergrabener Schubert’icher Sumelen mit ungemeinem Eifer
Hanzlid. Aus dem Goncertiaal. 2, Aufl. 33
514 1868.
dafür gewirkt, die Concerte des Männergeſang-Vereines über
das Niveau des blos Gejelligen und Gefälligen zu erheben.
Er hat das reichfte und werthvollſte Nepertoire zu Stande
gebracht, deſſen fih irgend ein Männergefang:VBerein rühmen
fann. Troßdem wird neben und nad all diefen Anftrengungen,
den Männergefang zu höchſten Zielen und jelbitändiger Kunſt—
bedeutung emporzuziehen, derſelbe dod immer wieder mit
eigener Schwerkraft in jene harmlofere Region zurüdfallen, die
ihm von Haus aus behaglicher und natürlicher ift. Ja, natür—
liher — denn Wefen und Wirkung des mehritimmigen Männer
gefanges wurzeln tiefer in den begrenzten Formen einer edleren
Geſelligkeit, als in der Deffentlichfeit des großen Eoncertjaales.
"Ein unvergleihliches Element, ja ein jelbjtändiger Organismus
als fünftleriichegejellige Thätigfeit, bleibt der Männergefang
al3 reine Runftgattung immer nur ein Nebenzweig und Theil
eines größeren Ganzen. Mit und neben dem gemiſchten Chore
und als Beitandtheil großer chkliſcher Tondichtungen findet er
feine vollgiltige, rein fünftlerifche Verwendung. Die Stimmen der
Publiciftif haben, wie dies anläßlich einer Feſtfeier begreiflich,
faft ausnahmslos den Ton enthufiaftiiher Gratulation feit-
gehalten. Eine nachträgliche, beruhigtere Kritif wird deßhalb
nicht griegrämig heißen dürfen, wenn fie die Thatſache er:
wähnt, daß die unerfättlihde Schwärmerei für Männergejang2-
Productionen, wie fie in den Vierziger-Jahren allenthalben
herrichte, fih auf ein vernünftigere® Maß befänftigt hat. Iener
entzüdte Cultus erfchien begreiflih zu einer Zeit und in einer
Stadt, welchen der jcharfe, ſüße Zufammenklang von Männer
jtimmen neu war und welche überdied der ungleich höheritehenden
Gattung de8 gemischten Chores noch feine Aufmerkjamfeit
ſchenkten. Im Charakter der gegenwärtigen Runftperiode liegt es
nicht, dem Männergefang eine noch höhere jelbftitändige Geltung
im Goncertjaale zu vindiciren, fondern im Gegentheile ihn allmälig
wieder mehr feiner Heimat, dem engeren Sreije einer poetifchen
Sejelligkeit zu überlaffen und als ein Ganzes nicht zu über:
Ihägen, was in echter Kunſt immer nur ein Theil fein fann.
Herbed hat den feitlichen Anlaß nahdrüdlich für die
Bereicherung ſeines Repertoirs benüßt, indem er nit blos
Feftconcert und Jubiläum des Wiener Männergeſang-Vereines. 515
nah neuen Gompofitionen fjuchte, ſondern folche pofitiv her:
borrief. E3 wurden — weislich mit Ausſchließung jeder Breis-
coneurrenz — Nopitäten bei verichiedenen namhaften Ton:
dichtern eigens beitelt. Man Hat zunächſt von deutichen
Meiftern F. Lachner, Eier, Wagner und Liſzt anges,
gangen. Letzteren kann man gewiß ebenfo gut als Deutschen
nehmen wie als Ungarn, Franzofen u. ſ. w. Liſzt ift von
überall ber, ungefähr wie feine Muſik. Nicht To gefällig wie
Liſzt Hat ſich Richard Wagner erwiejen, twelder in einem
ſtark inftrumentirten Schreibebrief ablehnte und dieſe Ab-
lehnung mit der feindieligen Stimmung der Wiener Kritif
motivirte. Wie mag es ſich doch reimen, daß gerade Kiünfiler,
die nur für die »Idee« und die »IUnfterblichkeit« arbeiten, fo
empfindlich gegen den möglihen Widerſpruch einiger Kritiker
find? Wagner Hat fih damit wahrfcheinlich jelbit um einen
Erfolg gebracht, denn er ift ein Meijter des Effects und das
Wiener Publicum befanntlich jehr eingenommen für feine Mufik.
Daß die Wiener ihn »verftehen«e, hat der Meifter auch wieder—
holt bier außgeiprochen, jedesmal wenn ihm eine Ovation
gebracht wurde. Der Männergejang-Berein hat fih ferner aud)
an Berlioz uud Gounod in Paris gewendet, welche jedoch
danfend ſich entichuldigten. Wielleicht fühlten fie richtiger mit
diefer Ablehnung, als der Verein, indem er fie zur Concurrenz
aufforderte. Berlioz und Gounod find berühmte Namen und
geiftvolle Componiſten, aber als franzöfiihe Componiften
haben fie mil der eminent deutichen Gattung des mehritimmigen
Männergefanges nichts zu Schaffen. Tondichter nichtdeuticher
Zunge find bei einem deutichen Liedertafelfeft mufifalifch fremde
Säfte. Ueberdies zählen Berlioz und Gounod, auch abgejehen
von dem nationalen Moment, in der Literatur des Männer:
gefangs überhaupt nicht mit, fie haben ihren Auf nicht durch
Männerchöre erlangt, wenn fie auch Kleine Stücdchen davon in
großen Werken ſporadiſch anbrachten, ungefähr wie man ein
Geigenfolo in einer Oper anbringt, ohne deshalb zu den eigent-
lihen Biolin-Componiften gezählt zu fein. Weit eher hätte von
franzöfifhen Tondichtern Felicien David, der Gomponift der
»Wüſte« Anjpruch auf die cehrenvolle Ginladung eines Männer:
33%
516 1868.
chor-Vereines gehabt. Näher jedoch als irgend ein Franzoſe
wären Hiller, ARubinftein, Brahms, Volkmann dem
Vereine geftanden, von öſterreichiſchen Componiften älteren und
jüngeren Namens nicht zu fprechen, welche ihr Talent in dieſem
‚Sache bereit3 erprobt haben.
Unter den Gomponilten, welche dem Vereine ein Feſt—
angebinde fendeten, ift Liſzt mit feinem »18. Pfalm« am
wenigften glüdlich gewejen. Die Anlage ded Stüdes ift jehr
einfach, der Chor fingt die größere Hälfte der Compofition
hindurch blos unisono. Der Charakter des Ganzen wird dadurch
ein vorwiegend rhetorifcher, erit gegen dad Ende Hin nimmt
er mufifaliihe Fülle und Hommenartigen Schwung an, aller:
ding3 unter betäubenditer Mitwirkung von dröhnenden Bofaunen-
und Baufenwirbel. Außer diefen materiellen ſoll der ſpiri—
tualiftiihe Effect unvermittelter Dreiflangfolgen dem etwas
mageren $deengehalte aufhelfen — als »Paleſtrina des 19. Jahr:
hundert3« (wie Papſt Pius ihn gerne nannte) gefällt fih Lilzt
natürlich in Dreiflang-Fortichreitungen, wie A-dur, G-dur, C-dur,
B-dur; fogar Es-dur, F-dur, G-moll, A-dur, Des-dur in einer
Reihe! Der »Pſalm« ift übrigen nicht lang und fchließt mit
blendendem Pomp. Ungleih mehr Anklang fand der neue Chor
von Franz Lachner: »Abendfriede«. Der verehrte Veteran,
bei jeinem Erjcheinen mit ftürmifchen Beifall begrüßt, dirigirte
die klar und maßvoll aufgebaute, ſchönklingende, mit techniſcher
Meifterichaft ausgeführte Compofition, die in einem Satze un:
unterbrochen dahinfließt. Die Wahl des Lenau'ſchen Gedichtes
it, ganz abgejehen von dem jchwierigen Metrum, der Com:
pofition nicht günftig. Zu kurz für einen außgedehnteren Chor,
veranlaßt jie jehr viele Wortwiederholungen, welche (wie das
oft repetirte: »lächelt die Holde«) ermüdend wirken. Die ge—
fünftelte Empfindung des Gedichtes — es feiert den Abend
al3 »ein jchlummernd Kind in Vater Armen, der voll Liebe
zu ihm fich neigt«e — mag überdies etwas erfältend auf Die
Stimmung des Componiften gewirkt haben. Auch Goethe’3
tieffinniger »Gefang Mahomed’3«, den fih Eſſer zur Com:
pofition gewählt, jcheint und — vielleiht verlodend für den
eriten Augenblidt — im Grunde bedenklich für mufifalifche
Fefteoncert und Jubiläum des Wiener Männergeſang-Vereines. 517
Behandlung. Das Symboliſche, das dem Gedichte zu Grunde
liegt, findet in der Mufik feinen Ausdrud; diefe muß fih an
da Neußerlihe halten, an die Schilderung des Baches, der
fh zum Fluß außbreitet, in welchen raufhend alle Quellen
von den Höhen hinabjtürzen u. ſ. f. Eſſer hat diefe unaus—
weihlihe Tonmaleri nicht nur mit glänzendem Effect, fondern
in grandiofem, alles Stleinlihe verichmähenden Styl ausge—
führt. Gin männliher Ernft und meifterhafte Bewältigung
der Technik zeichnen die umfangreihe Compofition aus, der
wir nur eine Jparfamere Verwendung der den Gefang Schonung?
los überfluthenden Orcheftermittel gewünſcht hätten. Eſſers
Chor iſt eine der fchwierigften und anftrengendften Aufgaben;
unfer Männergeſang-Verein hat fie ruhmvoll beitanden. Der
neue Chor, melden Herbed geipendet (»MWaldicene«), bewegt
fih gleihfalla. in den breiteften Dimenfionen und nimmt alle
Kräfte des Orcheſters in ausgedehntefter Weile zu Hilfe Man
fönnte dieſe »Waldſcene« eine Miniatur-Oper nennen; ihr
Vorſpiel wählt beinahe zur Ouvertüre, ihre Ritornell3 zu
kleinen Zwifchenacten. Es waltet viel Romantik und ein un
gewöhnlicher Klangzauber in diefer Compofition, namentlich in
dem ftimmungsvollen Vorfpiel. Die Inftrumentirung, mit Ber:
lioz'ſcher Runft, mitunter auh mit Berlioz'ſchem Kaffine-
ment ausgeführt, entrollt einen Reichthum von Farben und
Beleuchtungsarten, für die Wirkung des Ganzen wohl einen zu
großen Reihthum. Wie alle jpeciell geiltreihen Componiften
verweilt Herbed mit Vorliebe bei dem Detail, häuft einen cha=
rafterifirenden feinen Zug auf den andern und malt die ⸗Stim—
mung« jorgjam mit jo vielen und verichiedenartigen Mitteln aus,
daß das Ganze unruhig wird und blendet, anftatt zu leuchten.
Alle bisher genannten GCompofitionen (am wenigſten noch
die Lachner'ſche) ſuchten die Wirkung . des Männerchor in
breiter, grandiofer Entfaltung bei anftrengender Mitwirkung
des Orcheſters. Derlei große, complicirte Aufgaben erproben
die Kunſt des Tondichters; die Wirkung des Männergejanges
neigt fih aber gern mit bejonderer Gunſt zum Einfachen und
Kleinen. Zum erſtenmal fam an diefem Abend ein » Winzer:
hor« aus Mendelsſohn's unvollendeter Oper »Loreley«
518 1868.
zur Aufführung, der auf der Bühne jelbit jedenfalld noch beſſer
wirfen mag. Ein einfaches Chorlied (zwei Strophen) mit ſchal—
meiartig brummender Begleitung, friih und munter, in den
Schlußacten furz und fräftig fih aufſchwingend. Noch eine
andere unvollendete Oper fpendete ihren Beitrag zu dem Felt:
concerte: »Der Graf von Gleidhen«e Schubert componirte
fie im Sahre 1827 auf einen Text, welchem der geijtreiche
Berfafler, Bauernfeld, feinen Ruhm gewiß nicht verdantt.
Bon Schubert’3 Compofitionen ift ein Anzahl flüchtiger Skizzen,
weldhe blos die Singitimmen, den Grundbaß und einige Be:
gleitungöfiguren, aber feine Andeutung der Inſtrumentation
enthalten, in Herbeck's Beſitz, alſo an den rechten Dann ge—
fommen. Herbed hat zwei Nummern daraus inftrumtentirt
und in dem Feitconcerte zur Aufführung gebradt. Es waren
von allen vorgetragenen Gejangsftüden die einfachiten, ans
ipruchlofeften, und doch die genialften, am unmittelbarften
ergreifenden. Kann man mit den befcheideniten Mitteln in der
fnappiten Form etwas Zarteres, Wärmeres hervorbringen, als
diefe Ariette Suleifa’s, und vollends das Quintett Sulei-
fa’3, ded Sultans und der drei Freier? Wir zählen Ießteres
zu den jchönften Gejängen Schubert. Nur die jcenifche, alſo
im Goncertiaale jchwerer faßliche Bedeutung dieſes auf einen
größeren Zufammenhang hinweiſenden Stücdes, das obendrein
mehr verklingt als eigentlich abichließt, mag e3 einigermaßen
erklären, daß der Beifall des Publicums durchaus nicht im
Berhältniß zu dem MWerthe diefer Muſik ftand.
Auch die beiden Schubert’ihen Chöre: »Rüdiger's
Heimkehr« und »Sehnfuht«e fand Hofcapellmeifter Herbed
unter einem Wuſt unbeachteter Skizzen und Papierſchnitzel aus
Schubert 3 Nachlaß. Mit dem Finden allein war die Arbeit
aber keineswegs abgethan. Das und vorliegende Original:
Manufeript von Schubert's »Rüdiger« (vom Jahre 1823)
enthält 3. B. den Geſang vollitändig, die Inftrumentirung
aber nur auf der eriten Seite, mit Ausnahme einiger ſpäter
angedeuteten Eintritte der Bläfer; Herbed mußte demnach aus
der Phyfiognomie diefer eriten Seite die ganze Orcheſterpartie
gleichjam errathen und hHerausconftruiren. Nah Schubert’s
Quärtettproditctionen. 519
Ueberſchrift des Stüdes: »Introduction Nr. 1. Rüdiger,
Ritter und Reiſige«, ſollte dasjelbe offenbar die Einleitungs-
fcene einer Oper bilden. Welches Libretto ihm vorlag und ob
er mehr davon componirt habe, können toir nicht einmal mit
Bermuthungen beantworten. Der einleitende Männerchor: »Auf
der Weichjel Silberwogen«, klingt friſch und tüchtig, wenn:
gleich nicht bedeutend; meiterhin befommt der Weichſelchor
einen Zopf, nämlich das in ziemlich verblichenem Theaterſtyl
jich ergebende Tenorjolo, nad) welchem die Chorftrophe wieder
fräftig abichließt. Der zweite Schubert:Chor (fünfſtimmig):
Nur wer die Sehnſucht fennt«, beginnt mit einem warmen,
ftimmung3vollen Thema, das nad einem weniger dharakterifti-
ſchen Mittelfag wiederkehrt, jchließlih eiwas zu oft die Ans
fangsworte wiederholend.
Zwei Chöre von R. Schumann (au op. 33) waren
bon geringer Bedeutung; um dieſe »Lotosblume« und den
»Träumenden See« zu jchreiben, bedurfte es keines Schumann.
Nah Dihtung und Mufit gehören beide Chöre überdies zu
jener Gattung zitternder Senfitiven-Lyrif, die aus dem Mund
von 160 bärtigen Männern ftet3 unnatürlich Klingt. Die drei
umfangreicheren Chöre mit großem Orcheſter: »Der Morgen«,
von Rubinftein, »Salamis«, von Mar Bruch, und »Wächter—
lied«, von F. Gernsheim, kann man beinahe mit derjelben
Charakteriſtik erledigen: breite Anlage, fleißiges Detail, größtes
Aufgebot von Orcelter- und Stimm:Effecten und in alldem
doch ein geringer mufifaliicher Kerı. Alle drei Componiſten —
von denen Gernöheim an dritter Stelle jteht — breiten eine
viel zır lange und reiche Dede über ihre furze Erfindung. Das
Publicum, von diefen anſpruchsvollen Arbeiten innerlich unbe:
rührt, verfagte ihnen übrigens nicht die äußeren Zeichen der
»Achtung«.
Quartettproöuctionen.
Held des Tages iſt gegenwärtig der »Florentiner
Duartettverein« beftehend aus den Herren Jean Beder,
Maſi, Ehioftri ımd Hilpert. Florenz übt dad Recht der
520 1868.
Taufe eigentlih) nur al die Stätte der erften Vereinigung
Diejer vier Muſiker. Das Weſentlichſte: höchſte und tiefite
Stimme, alfjo Kopf und Fuß des Quartetts, iſt deutſch:
Beder au Mannheim, Hilpert aus Nürnberg. Den beiden
Stalienern in der Mitte gebührt daS nicht geringe Ver—
dient vollftändiger Aſſimilirung. Am Morgen nah der
eriten, ſchwach bejuchten Production des Beder’ihen Ouar—
tett3 zeigte fih in allen Wiener Blättern eine jo erfreu=
lihe Uebereinſtimmung bezüglih der MWortrefflichkeit dieſer
Leiftungen, daß die zweite und dritte Soirée bei gedrängt
vollem Saale ftattfanden. Und wahrlid, ein jo volllommener
Mufifgenuß zählt zu den feltenen Feiten. Was da Floren=
tiner Quartett auch immer vortrage, es iſt in den reinen.
goldenen Strom der Schönheit getaudt. Zunächſt frappirt den
Hörer der Zauber des MWohllautes, die »materielle«e Schönheit
ded Tones möchten wir jagen, beitände fie nicht gerade in Dem
gänzlichen Abftreifen alles Materiellen. Wir hören den reinen,
abjolut ſchönen Ton, ohne an feinen Entjtehungsjammer durch
Roßhaar, Holz und Darmfaiten gemahnt zu werden. »Klang—
Schönheit! Iſt denn das gar fo viel? Verſteht ſich die nicht
von jelbit ?« hören wir mitunter fragen. Dan follte es glauben,
und Doch iſt diefer Vorzug bei einem Saitenquartett nicht viel
häufiger, ald die VBollfommenheit der Stimme und Intonation
beim Sänger. Vorerſt befigen die vier Künſtler wunderſchöne
Stimmen, und zwar aus den geheimnißvollen Werkftätten von
Joſeph Guarneri, Amati und Maggini; jodann veritehen
fie aber auch zu fingen. Der Zuſammenklang diejer vier In—
jtrumente, der im leijeften Geflüfter wie im Sturme des For—
tiffimo wie aus einem Bogen quillt, hat etwas Zauberhaites.
Man denke dabei nicht an irgend ein kokettes Raffinement;
wir hören durchweg einen reifen, gefunden, männlichen Ton,
einen reifen, gefunden, männlichen Vortrag. Die »Florentiner«
liefern den beiten Beweis — und man hält ihn leider nod
hie und da für nothwendig — daß man mit Geift und Em:
pfindung vortragen fönne, ohne jemals zu jcharren oder zu
winjeln. Wie für ihre Tonbildung das erite Princip Schön:
heit ift, jo für ihren Vortrag Klarheit. Beethoven's legte
Das Florentiner-Duartett. 521
Duartette find und niemal® jo durdfichtig und verftändlich
entgegengetreten wie in der Beder’ihen Ausführung. Das ver:
wirrende Geflecht diefer Bolyphonie, das unbequeme Duntel
diefer oft Jabyrinthifchen Weriodifirung und Rhythmik, bier
ericheinen fie wie von mildem Sonnenlicht durchleuchtet. Durch
ein Studium und Zufammenüben von wahrhaft aufopfernden
Fleiße haben die vier Künstler fich dieſe jchwierigen Compofi-
tionen jo vollfommen zu eigen gemacht, daß ftet3 an rechter
Stelle diefe oder jene Stimme, ˖dieſes oder jened Motiv her:
bortritt und das Zufammenfpiel Aller mit der Empfindlichkeit
einer Goldwage arbeitet. Es verſteht fich, daß wir die demo:
fratiiche Gleichberechtigung der vier Spieler, von denen feiner
fih ungebührlih vordrängt oder fich demüthig verfriecht, ala
Gardinaltugend ſchätzen. Am fchwerften mag fie dem Primgeiger,
Herrn Beder, gefallen jein, welcher (ein Schüler von Alard und
Ernſt und bedeutender Birtuofe) feine arriere als Eoncert-
jpieler mit ſtarker Hinneigung zum Bravourfpiel begonnen
hatte. Er hat es rühmlich erreicht, fi im ntereffe des Ganzen
zu verleugnen, unterzuordnen. Trotz diefer Gleichheit liegt es
in der Natur des Quartett, daß die erite Violine und das
Gello fih am meilten geltend maden: Sean Beder und Hil-
pert find auch die bedeutendften unter den vier Collegen.
Am dritten Abend trugen drei Eleinere Nummern bei:
nahe den Preis davon. Zuerft eine Serenade von Haydn, aus
einem feiner früheiten Quartette (G-dur ?/,) gezogen, ein zärt-
fiher Gejang der Violine, durchgehend von den drei tieferen
Snftrumenten pizzicato begleitet. Died Pizzicato, dad mand):
mal wie der leilefte Guitarrenton klang, war bewunderungs—
würdig im Tone wie in der feinen Anjchmiegung an den
Gejang. Das liebenswürdige, hier ganz unbefannte Stüd mußte
wiederholt werden und darf in einer der nächſten Broductionen
nicht fehlen. Es folgt ein Scherzo von Cherubini (au dem
Es-dur-Quartett Nr. 2), worin der in feinen Quartetten an
Haydn anknüpfende Altmeifter wahrhaft prophetiih auf Men:
delsjfohn hHinübergreift. Endlih erregte eine Biolinjonate
von Ruft, von Herrn Beder virtuos vorgetragen, großes
Interreſſe. Friedrih Wilhelm Ruft (geboren 1739 in Wörlig,
522 1868.
+ 1796 in Deſſau) war als Biolinfpieler ein Schüler Franz
Benda’s, ald Componift von mehr als vierzig Clavier- und
ebenfoviel Biolin-Sonaten eine Art modernifirter, mitunter auch
verzopfter Sebaltian Bad. Die von Beder vorgetragene
(zweiägige) Sonate, ein ernites, tüchtiges Stüd, iſt merk—
würdig durch ihre vorgejchrittene Violintechnik. Es kommen
Tlageoletftellen und Bizzicato-Begleitungen mit der linken Hand
vor, die wir bei S. Bad und manchem jeiner Nadhfolger noch
nicht antreffen — faſt Ichöpften wir Zweifel, wüßten wir nicht,
daß Beder die Sonate ohne Zuthat, genau nad) dem Origi—
tale ipielt. Die Aufnahme des Florentiner Quartett? von Seite
de3 Publicums war geradezu enthuftaftiih. Und nichts als
2ob? wird mander Leſer fragen. Wo bleibt der Tadel, ohne
welchen eine ordentliche Kritik fich nicht wohl ſehen laffen kann?
Auf die Gefahr Hin, den Tadel auf uns jelbit zu lenken —
wir haben feinen für das Beder’ihe Duartett. Daß wir ein
Tempo um einen Gedanken fchneller oder langſamer gewünjcht,
irgend einen Ginfag oder lebergang ein bischen anders uns
gedacht haben — was will da3 jagen gegen den reinen, hohen
Genuß, den die Kunitvollendung dieſes Quartett8 und Durch
drei Abende gewährt hat? Wir wollen auch gerne einräumen,
daß unter Joachim's Bogen mande Beethoven'ſche Stelle
ergreifender, pathetiicher flang, bei Hellmesberger irgend
welche elegante Phraſe noch zierlicher und verbindlicher lautete.
Da3 Beder’ihe Quartett bleibt troßdem das vollfommenfte,
da3 wir gehört, und das legte, dem wir entjagen möchten.
Wenn dem Florentiner Quartett vielleicht eine äſthetiſche Ge:
fahr droht, jo liegt fie in dem möglichen Webertreiben feines
größten Vorzuges: der formalen Schönheit. In der Natur
dieſes Princips liegt e8, daß es ſich leicht ijolirt, verengt und
der Schönheit zuliebe die harakteriftiichen Gegenfäge abſchwächt,
die Leidenſchaft zähmt, ja die koſtbarſten Diamantjpigen der
Genialität abichleift. Bis jet bemerften wir höchitens leiſe
Andeutungen dazu, die zu feinem Tadel berechtigen, aber
vielleicht zu einem freundichaftlichen Yingerzeig.
Indem dieſe vier Künftler fih ausichlieglih den Quarz:
tettipiel widmen, feit einigen Jahren mit erftaunlichem Fleiß
Quartett von Volkmann. 523
tagtäglih zufammen jpielend, hat -ihr Vortrag eine technifche
Sicherheit nnd ruhige Continuität erlangt, wie fie gewöhnlich
nur älteren Künjtlern eigen ift. Anderſeits befigen fie aber
al3 junge Leute jene Wärme und frifhe Sinnlichkeit, welche
vor Pedanterie und Formalismus bewahrt. Wir haben Com—
pofitionen der verfchiedeniten Meilter und von verjchiedeniter
Stylgattung von ihnen gleich trefflich interpretiren hören. Wer
das Bederihe Quartett mit andern vergleichen will, wird
bilfigerweife die jchwierigeren Verhältniffe diefer andern Quar—
tettipielevr hervorheben, welche durch regelmäßigen Theater-,
Concert: und Kirchendienft angeftrengt, unmöglih mit jo
fleißigen und frifchen Kräften täglich üben fünnen; er wird
dergeftalt theilweije zu erklären juchen, warum fie die Meiſter—
ſchaft des Becker'ſchen Quartett nicht erreihen. Wenn aber
der Localpatriotismus jo weit geht, das leßtere Factum über:
haupt zu leugnen und zu behaupten, wir hätten, was Beder
und feine Genofjen Ieiften, längſt ebenjo gut und befjer zu
Haufe, dann jchlägt die »Gerechtigfeit« für das Gute in crafie
Ungerechtigkeit gegen da Beſſere und Belle über. Dad Wiener
Publicum Hat bei aller Pietät für das Einheimiſche fi von
joldem mufifaliihen Chauvinismus freigehalten, der wahrlich
feinem Theil zum Nußen gedeiht. —
In Herrn Hellmesberger’3 Quartett-Soirée fam ein
neues Streichquartett von Volkmann in Es-dur zur Auffüh-
rung. Wie alle Compofitionen dieſes Tondichterd, athmet das—
ielbe einen erniten, felbitändigen Geift, welcher den Hörer in—
terejfirt und zum Nachdenken zwingt. Was wir zumeift an ihm
vermiffen, iſt finnliche Friiche und frei pulfirendes Leben. Er
neigt zur Grübelei, zu einen gewiſſen grämlichen Myſticismus,
für welchen das mufifalifche junge Deutfchland in dem jpäteren
Beethoven nur zu viele Anfnüpfungspunkte fand. An Klarheit
und Logik läßt dad neue Quartett kaum etwas zu winjchen,
aber der Duell der Erfindung fließt etwas jpärlich und inter:
mittirend. Der erite Sat hat bei durchaus männlicher Haltung
nicht genug Schwerkraft der Themen; bei jo geringem Einſatze
it im Spiel kaum viel zu gewinnen. Dasjelbe gilt von dem
langen, Grau in Grau gemalten Adagio. Intereſſant iſt das
524 1868.
Scherzo, als die confequentefte und klarſte Durdhführung des
Fünfvierteltaftes, die wir biöher fennen. Ein geiltreihes Er:
periment, aber von zweifelhafter Wirkung; das Ohr des um:
vorbereiteten Hörer3 wird nur zu oft ärgerlich nad dem ihm
fehlenden ſechſten Achtel haſchen, anftatt befriedigt zu cone
ftatiren, daß der Takt ſchon mit dem fünften abſchließt. Das
Finale erreicht durch feine rafche Triolenfluht die meifte Le-
bendigfeit. Volkmann's Duartett ſprach an, ohne jedod einen
tieferen Eindruck zu Hinterlaffen. Wir hörten ferner Beet:
hoven's Es-dur-Trio op. 3. Ein größerer Gegenjaß zu Der
am jelben Tage vorgeführten Sonate op. 111 läßt ih faum
denken. Wir haben nicht? gegen die Wahl des Trios zu be:
merken, das lange nicht gehört und äußerſt geihmadvoll ge—
jpielt wurde. Allein eigenthümlich harmlos klingt dies tonjelig
mweitichweifige Stüd heutzutage doch ſchon. In feinem aus fechs
Sätzen aufgeführten Bau an die ältere Serenadenform Iehnend,
im Ausdruck faft völlig mit Haydn und Mozart identiich, Täßt
dies Streichtrio faum begreifen, daß es nur durch drei bis
bier Jahre von den Duartetten op. 18 geichieden it. Welch
ein Rieſenſchritt liegt zwiſchen dieſen beiden, noch in dieſelbe
Periode Beethoven’3 fallenden Werken; welch noch gewaltigerer
Abſtand zwiſchen diefer und der zweiten, zwilchen der zweiten
und dritten Periode! Man hat Sebaftian Bad häufig »eine
Melt für fih« genannt, und mit Recht. In einem vielleicht
noch größeren Sinn fann man dies Wort auf Beethoven ans
wenden. Wenn Bach eine unermeßlid) reiche, aber feit be—
grenzte, unmwandelbar fertige Welt des Beharrens daritellt, jo
haben wir in Beethoven’ incommenfurablen und doch jo or—
ganiſchen Entwidlungen und Neubildungen eine wahrhafte Welt
des Werdens.
Virtuoſenconcerte.
Der feine, verſtändnißvolle Liedervortrag der Sängerin
Helene Magnus errang großen Erfolg in einem Concerte,
deſſen Programm eigenthümliche Schwierigkeiten darbot. Die
Helene Magnus, Frl. Mehlig, Zarzycki. 525
ganze »Dichterliebe« von Schumann durchzuſingen, ift ein
verlodendes Erperiment; e8 war ein gelungenes, wie die Auf:
nahme zeigte, dennoch möchten mir es nicht gerade gutheißen.
Eigenartig, fein und geiftvoll, wie fie ift, webt die Muſik dieſes
Liederfreijes doch in einem zu dämmerigen, gebrochenen Lichte,
um nicht als Ganzes ſchließlich etwas abzuftumpfen. Seine
Kothwendigkeit, nicht einmal eine ftarfe innere Nöthiqung
zwingt uns aber, dieje 15 Lieder ala ein Ganzes aufzufaffen
und vorzutragen. Sie hängen nicht durch den Faden erzählen:
den oder piychologiichen Fortichreitens feſt aneinander, wie die
»Schöne Müllerine oder »Die Winterreife«e von Schubert,
»Frauenliebe und-Leben« von Shumann, EChflen, die Schon vom
Dichter ald ein Ganzes, eine Einheit concipirt waren. Heine
hat an einen angeblihen Cyklus »Dichterliebe« nicht gedadit;
wa3 Schumann jo nennt, ift eine von ihm beliebig getroffene
Auswahl aus dem »Buch der Lieder«e, welcher er den Ges
jammttitel »Dichterliebe« gab, wie einer ähnlichen Lieber:
jammlung (op. 25) den Namen »Myrthen«. Zwiſchen dei ein-
zelmen Liedern der »Dichterliebe« herrſcht ein nothwendiger
Zufammenhang weder poetifch noch muſikaliſch, wie denn der
GComponift zwar manchmal zwei aufeinanderfolgende Lieder
duch verwandte Tonarten einander nähert, aber noch öfter
dur ganz entfernte fie von einander trennt (3. B. gleich an-
fangs Nr. 2 und 3, 4 und 5, 5 und 6 u. ſ. w.). Selbit
Cyklen wie die »Müllerliedere, welche den doppelten Wortheil
eines ftrengeren Zuſammenhanges mit einer reicheren muſi—
kaliſchen Abwechslung befigen, bilden trogdem jchon für zus
jammenhängenden Vortrag eine jchwierige Aufgabe. Sie voll-
ftändig zu löſen, wird nicht jedem trefflichen Liederlänger
gelingen, jondern nur den wenigen daraus, die, wie Stod-
haufen über einen reichen Wechſel von Stimmungs- und
Ausdrudsfchattirung verfügen. Fräulein Dragnus hat einige jehr
ausdrudsvolle, überzeugende Farben auf ihrer Palette, aber fie
hat deren nur eine ſehr fleine Zahl. Da wird die Gefahr des
Cyklusſingens ſchon größer. Nun fam aber noch dazu, daß
Fräulein Magnus nah den 13 »Dichter-Liebesliedern« noch
drei andere Lieder, abermal? von Schumann, jang und da-
526 1868.
zwiihen Herr Brüll Slavierftüde, ebenfalld von Schumann,
vortrug. Das iſt etwas zu viel ded Guten und ſei es felbit
vom Beiten.
Screiten wir weiter in dem dichten, vor Bäumen faum
mehr fichtbaren Mufitwald der letzten Woche. Von concertiren:
den Birtuofen ift vornehmlich Fräulein Mehlig zu nennen.
Die Künftlerin konnte die Achtung nur befeftigen, welche Pu—
blicum und Kritik ihr ob der Gorrectheit, Sicherheit und Ele—
ganz ihrer Technik bereit reichlich gezollt Haben. Einen be-
deutenden Eindruck hat fie auch diesmal nicht hervorgebracht.
Selbit vom einfeitig virtuofen Standpunkt vermiffen wir an
der Bravour Fräulein Mehlig's jenen freien, fühnen Wurf,
jene Siegeöfrende an techniichen Abenteuern, welche die Poefie
des Virtuoſenthums bilden und und momentan für ein tieferes
Gefühlsleben entihädigen mögen. Wir erinnern (um bei den
Starken des ſchwachen Gejchlechtes zu bleiben) an Mary Krebs,
welche in diefer Richtung weit über Fräulein Mehlig hinaus:
flog. Der tiefere Zauber, welcher, feſſelnd und entfefjelnd, die
Schleuſen unſeres Herzen? in der Hand hält, der ift Fräulein
Mehlig vollends verfagt. Die Eleinen poetifchen Stüde bon
Chopin und Schumann (die Concertgeberin fpielte fie wie
alles Andere aus dem Notenheft, was den Eindrud des Un—
freien noch) verftärft) entließen den Hörer nüchtern und nur der
janberen Ausführung gedenfend. Am bejten gelang Fräulein
Mehlig das ihrem Naturell wahricheinlich verwandtere C-moll-
Trio von Mendelsfohn, welches fie ſehr hübſch fpielte,
ohne und troßdem für das ftark außgefühlte Stück neu in:
terefliren zu können.
Kaum hatte Anton Rubinftein und verlafjen, als ſchon
ein neuer Virtuoſe, der Pianift Zarzycki aus Warſchau, ans
gerücdt fam. In Barid und London gut angejchrieben, hätte
der junge Pole zu günftigerem Zeitpunfe vielleicht auch bier
mehr durchgegriffen, als es jeßt der Fall war. Kann man es
aber ımjerer Zeit und unserem Bublicum verdenfen, daß fie
auf dem Felde der Virtuofität wirklich nır mehr dad Auge:
zeichnetfte, das künſtleriſch Individuelle und zugleich techniſch
Vollendete mit Wärme begrüßen und hegen? Herr Barzydi be—
Helene Magnus, Frl, Mehlig, Zarzycki. 527
ſitzt als Componiſt wie als Virtuoſe Talent, aber dies Talent
ſteht nicht auf eigenen Füßen, überhaupt noch nicht auf feſten
Füßen; es iſt ſchwankend, unfertig. Als Componiſt betreibt er
ein fleißiges, reinliches Graſen auf aller Herren Wieſen; als
Spieler gibt er Seb. Bach matt und marklos, Schumann wie
Chopin haſtig und verſchwommen wieder. Und doch verfügt
Herr Zarzycki über eine reſpectable Bravour, zu deren rechter
Entfaltung nur die geklärte, künſtleriſche Perſönlichkeit noch
zu fehlen ſcheint.
Anhang.
Il Muſikaliſches aus der Schweiz. (1857.)
Fin freundliches Gegenitüd zu der »böjen Gorge«,
welche hartnädig hinter dem Reifenden zu Pferde fitt, ift das
Intereſſe an einer Lieblingskunft, das uns jelbft gegen Wiffen
und Willen allüberall hin begleitet. Der Mufifer, der den
Poftwagen befteigt, um in grüner Ferne Luft und Erholung
zu ſuchen, thut e8 wohl jelten mit der Abficht, Muſik aufzu—
juhen; — weit eher glaube ich, daß ihn die entgegengefeßte
Empfindung treibe, Allein unvdermuthet, wenn in fernem Land
irgendwo ein Lied erjchallt, oder ein Hornruf lodt, fühlt er
fih wie von wohlbefannter warmer Hand angefaßt, er hält
jeinen Schritt an und lauſcht jorgjam den fremden Klängen.
Sp erging’® aud mir auf einer furzen Erholungsreije,
welche nicht3 weniger als muſikaliſche Ziwede hatte Wer mit
ſolchen die Schweiz beſuchen wollte, wäre aufrichtig zu be-
dauern. Diefe Schatzkammer von Naturfchönheiten iſt im Ver:
gleih zu ihren übrigen europätfhen Nachbarn ein jehr ton-
arme Land. Schon der ganz auf's Praktiſche und Reelle
gerichtete Charakter des Schweizerd erweiſt fih von vornherein
als fein der Muſik beſonders günftiger. Dem ftrammen Alpen:
john steht die Büchſe weit näher al3 die Leier. Naturell
und Erziehung weijen ihn vor allem auf Arbeit und prak—
tische Tüchtigkeit Hin, und verbannen frühzeitig jenes ſüße,
träumerifhe Dämmerlicht, in welchem die Tonkunſt von jeher
ihre liebiten Kinder hegte. Hand in Hand mit der praftifchen
3. G. Nägeli. Gejangöfeite. j 529
Sinnesrihtung des Schweizer? geht die ftaatlihe Einrichtung
feines Landes. Die Republik ift befanntlich jelten ein Lieb—
lingsaufenthalt der Mufen. Sie find zu üppig, und vor allem
— zu theuer. Der Zuftand der Theater gibt jelbjt für den
Touriften den augenfälligiten Beleg für die beicheideneren Anz
forderungen eines republifaniichen Bublicung. Im Sommer find
alle Theater, jelbit in den Städten erften Ranges, wie Zürich,
Bern u. a., geichloffen. Höchftens daß hie und da ein winziges
Sommertheater fein Kinderjpielzeug aufſchlägt (Falkenburg bei
Züri), oder ein halb Dugend abgemwirthichafteter deutſcher
Sänger die Tugenden der »Martha« verfündigen, wie e8 eben
in Genf der Fall war. Auh im Winter jollen die Theater
der Schweizer Städte fehr mittelmäßig fein, und Tamentlich
die Opernporftellungen mehr den Charakter ſchüchterner Aus—
nahmsverſuche tragen, als künſtleriſcher Leiftungen. Alles was in
der Schweiz für die Pflege der Tonkunft gefchieht, fommt dem
Gejang, und zwar dem Chorgefang, zugute, auf den mir
gleich näher zu fprehen fommen. Die Inftrumentalmufit ift
das Stieffind der Schweizer Mufif und befindet fi, ſowohl
was die Virtuofität als was das Orcheiterfpiel betrifft, auf einer
unbedeutenden Stufe. Am meiften jcheint fie no in den
reihen Städten Baſel und Bern, namentlich der erjteren,
gepflegt zu fein, wo die Programme der Orcefter-Eoncerte
einen hervorftechend deutichen, claſſiſchen Geſchmack verrathen.
Das Concert im Berner Münfter hingegen bei dem letzten
großen Eidgenoffenfeit konnte in feinen inftrumentalen Theil
felbit vor wohlwollenden Berichteritattern (mie dem der A. A. Ztg.)
nicht beftehen. Nicht ein einziger namhafter Componift hat
jeinen MWohnfig in der Schweiz, — der proviſoriſche und jehr
unfreiwillige Aufenthalt Rihard Wagner’ in Zürih kann
natürlich hier nicht in Betracht fommen.
Die Schweiz, welche bekanntlich in der Entwidlung un—
jerer NationalsLiteratur zu verjchiedenenmalen eine große und
einflußreihe Rolle gejpielt hat, macht fih in der Geichichte der
Muſik fo gut wie gar nicht bemerkbar. Es iſt höchſt be-
zeichnend, daß der einzige Schweizer Tonfünftler, der in feinen
Verdieniten und in dem Andenken feiner Landsleute noch fort:
Hanslick. Aus dem Eoncertfaal. 2. Aufl. 34
530 Mufitalifches aus der Schweiz (1857).
lebt, nicht fowohl als Componiſt gefeiert ift, denn ala Pädagoge:
wir meinen Hans Georg Nägeli*). Diefer tüchtige und geilt-
reihe Mufifer knüpfte feine Thätigfeit unmittelbar an die große
pädagogifhe Bewegung, welche die Schweizer Humaniften zu
Ende des vorigen Jahrhunderts über Deutichland verbreiteten.
Die neuen Segnungen der Peftalozzi’ihen Methode follten
auch dem Mufikunterriht zu ftatten kommen: Nägeli gründete
im Sinne derjelben eine Gejangfchule in Züri und veröffent-
lichte 1812 feine »Gefangbildungslehre nah Peſtalozzi'ſchen
Grundſätzen«. Durh die Gründung diejer erften großen Geſang—
ſchule, die fich bald von zahlreihen Töchterfhulen im ganzen Lande
umringt fah, hat Nägeli den ſegensreichſten Einfluß auf die Kunſt—
bildung ſeines VBaterlandes genommen. Als thätiger Mufifalien-
händler und Verleger, als theoretifcher Schriftiteller, endlich ala
fruchtbarer Liedercomponift war er im Stande, feinem Ziel,
der mufifalifhen Bildung der Schweizer, mit verdreifachten
Kräften zuzuftreben. Von Nägeli's Gompofitionen, melde
fh durch Sangbarkeit und Anmut auszeichneten, haben
jih wenige erhalten; eine jedoch erflang und erklingt noch,
fo weit europäiſche Gultur reicht, das Lied: »Freut euch Des
Lebens!« Es mar zuerft 1794 in Zürich erfchienen, und
iſt feither nicht nur in ganz Deufchland, fondern mit über-
festem Tert auch in Frankreih, Italien, England, Schweden
und Dänemark populär geworden. Sogar die Griechen fingen
ihr Nationallied nad diefer Melodie. Indem Nägeli die mu—
fitaliiche Bildung mit aller Macht auf jenen Punkt hindrängte,
two die Kunſt mit dem Leben zufammengeht, die Gemeinjamteit
fräftigt, die Arbeit belebt, den häuslichen Herd verichönt, zeigte
er fih al® echter Schweizer. Als 1808 von Luzern aus ein
Aufruf an alle Mufiffreunde der gefammten Schweiz erging, zu
einem gemeinfamen Bunde zufammenzutreten, fand diejer in der
energiihen Theilnahme Nägeli's die wirkſamſte Stüße. »Die
*) Die muſikaliſche Thätigfeit des großen Genfers 3. 3. Rouſ—
jeau hängt jo wenig mit Schweizer Boden zuſammen, und erjcheint
den jchriftitelleriihen Schöpfungen desjelben jo dilettantiich nebenge-
ordnet, daß fein Name in dDiefem Zujammenhang nicht wohl genannt
werden konnte.
3. ©. Nägeli. Gelangsfefte. 531
ſchweizeriſche Muſikgeſellſchaft«, welche fi »die For:
derung der Kunſt durch größeres, gemeinſames Wirken« zur
Aufgabe ftellt, zählte bald nad Nägeli’3 Tod über 1000 Mit:
glieder und begann jährlih mit ſtets vervollfommteren Mitteln
bald in diefer, bald in jener großen Stadt ein Mufikfeft zu
veranftalten. Faſt alles, was in der Schweiz fingen oder geigen
fann, ift dabei thätig. Nachdem dieſer Verein einen der mäch—
tigiten Einigungspunfte jchmweizeriiher Gefinnung und Ber:
brüderung bildet, erkennt auch die Regierung jeine jtaatlihe Wich-
tigkeit und forgt gern für fein VBeftehen und Aufblühen. In
jedem Canton, ja in jeder Gemeinde haben fih Gefangdvereine
gebildet, und diefen hat e8 die Schweiz zu danfen, wenn fie
aus dem Volke verhältnigmäßig weit mehr gefchulte Sänger
zu ftellen vermag, als irgend ein andere® Land. So trägt
Nägeli's reblihe und mühevolle Arbeit jegt ihre goldenen
Früchte Daß die Schweizer wohl wiſſen, wem vor allem fie
dDiefe verdanken, zeigt und Nägeli’3 Denkmal auf der Züricher
»Bromenade«. Diele herrliche, hochgelegene Anlage, von welcher
man einen weiten Ausblid auf den See und feine belebten
Ufer hat, ift mit einer jchön gearbeiteten Mtarmorbüfte geziert,
unter welcher die ſchlichte Widmung Steht: »Ihrem Vater
Nägeli die Schweizer Gejangvereine.«
Leider war ed mir nicht gegönnt, die Leiftungen eines der
Gejangvereine fennen zu lernen; nur das ſchöne gejellige Kleid
ihre Zufammenmwirfend jollte mein Auge erfreuen. In Mün—
fingen, einem fleinen Orte zwijchen Thun und Bern, war
eben eines jener zahlreihen Gefangfeite im Anzug, zu welchen
oft 15 big 20 kleinere Vereine aus der Umgebung zufammen:
treten. Es war ein heller, Schöner Sonntagdmorgen. Die Häufer
grüßten im Schmudf von Blumen, Bändern und Reiſig. Eine
(uftige, geräumige Halle, raſch gezimmert, mit Laub und Reifig
ausgekleidet, wies zwei lange Reihen von gededten Tiichen auf.
An den Wänden hingen buntgemalte und vergoldete Schilder
mit den Namen der einzelnen Wereine, denen damit zugleich
ihre Pläße beim Male angewiefen waren. Die ungemeine
Sauberkeit und Nettigkeit, welche den Neifenden in der Schweiz
überall jo freundlich anblict, ſchien hier verdoppelt zu fein,
34*
532 Diufifalifches aus ber Schweiz (1857).
und fand ihre ſchönſte Spiegelung in den vergnügten Gefihtern,
welche eifrig, doch ohne Halt den Tiſch ordnend beftellten. Die
Sänger, welche in buntgefjhmücdten offenen Wagen meiſt jchon
Tags vorher angelangt waren, ordneten fih nun zum Feſtzug
in die Kirche. Unter den gutgemeinten Klängen einer Kleinen
Blehmufit, umweht von bunten Fahnen, feßte der Zug »3 Mann
hoch.« — erit die Mädchen, dann die Männer — fi in Be—
wegung. Es waren durhaus Leute aus dem Volke, wenn man
in der Schweiz fi) diefer Unterfcheidung bedienen darf, Die
Mädchen faft alle gleih in dem kleidſamen Berner Coſtüme,
mit breiten, neubebänderten Strohhüten, die Sänger in den
verſchiedenſten Modificationen unjerer philitröjeiten Männer
tradt. Das Ganze hatte etwas ungemein Feſtliches, dabei aber
Ungejuchtes, Zwanglofes, Heitered. Der erite Theil eines ſolchen
Feſtes beiteht in der Negel aus geiftlichen, wenigſtens ernften
Geſängen, welche in der Kirche gejungen werden. Dann folgt
dad Mahl und die weltlichen Chöre im Freien.
Obwohl e8 auch einzelne Männergelangvereine gibt,
jo beiteht das Eigenthümliche der Schweizer Gejangfeite doch
in der Zuziehung des weiblichen Geſchlechts. Daß Frauen und
Mädchen fih an den Gejangübungen ernitlich betheiligen, daß
fie beim Zug ordentlich in Reih und Glied mit aufmarjdhiren,
das verleiht diefen Schweizer Selten nicht blos eine ganz eigen=
thümlihe Phyſiognomie, es madht fie zu etwad wahrhaft All-
gemeinem, Vollſtändigem, Nationalem! Der fünjtleriihe Gewinn,
der durch die Erweiterung ded engen Männerquartett3S zum
vollen »gemijchten« Chor erwächſt, dürfte nicht weniger ein
leuchtend fein, als der ethiiche, fittigende, welcher durch die
Theilmahme von Frauen den Männergefangvereinen zu Theil
wird. Ohne die vortrefflihen Seiten der deutſchen Liedertafeln
zu unterfchägen, muß man doc zugeftehen, daß fie zu der Ab-
ſonderungs- und Poculirluft des ſtarken Geſchlechts wenigſtens
redlich beittagen. Ob unter andern ſtaatlichen und ſocialen
Verhältniſſen, als gerade den ſchweizeriſchen, eine ſolche Theil—
nahme der Frauen an Geſangvereinen und Feſten überhaupt
möglich wäre, müfjen wir freilich; unentſchieden laſſen. Ueber:
die wären ſolche Schweizer Gejangfeite nicht ohne Gefahr,
Ein Beſuch bei Roffini. 533
wo man nicht zugleih auch der Schweizer Sittenftrenge
gewiß: ift.
Auf diefe Gefangfeite, welche im Sommer und Herbit ſehr
häufig find, reducirt fi) jedoh das Muſikleben der Schweiz,
jomeit es eigenthümlich und bemerfenöwerth heißen kann. Bon
den mufifaliihen Naturftimmen Helvetiend war noch menig
wach. Am Eingang des Lauterbrunner-Thales ftand ein Schäfer:
bengel und blies in ein mit der Krümmung auf den Boden
aufgeitemmtes etwa 6 Fuß hohes Alphorn. Die Töne, die er
jehr mühſam und unrein (natürlich gegen ein Trinkgeld) hervor-
bradte, mahnten in ihrer Sraft und Tiefe an die Poſaune.
Singen hörte ich gar nicht, Sodeln auffallend wenig und nicht
fo gut als in unferen Salzburger und Tiroler Alpen; da je
doch die eigentliche Almenwirthſchaft noch nicht begonnen Hatte,
fo ftanden wir noch außer der »Saiſon«. Die Glocden der
zahlreichen Heerden, die wir auf Wiefen und Triften begeg-
neten, waren zwar hell und jchön, aber nicht im Dreiflang ge—
ftimmt, wie es in Thüringen üblich, wo dieſe Harmonie, be—
fonder8 aus einiger Entfernung, den wunderbarſten Eindrud
madt. Ich wüßte Fein civilifirtes Land, wo dem Reiſenden jo
wenig Muſik entgegenklänge, als in der Schweiz, — aber
wahrlih auch feines, wo er die Kunſt Leichter und froher
entbehrt!
II. Wufikalifche Erinnerungen aus
„Paris. (1860.)
Ein Beſuch bei Rofftni.
Es war an einem warmen, fonnenhellen Septembermorgen,
als ich den Weg nah Paſſy einichlug. Der freundliche Ort,
deſſen grüne Pfade unmittelbar an das Boulogner Hölzchen
führen, ift von der Stadt aus bald erreicht. Von jeher die bes
borzugte »Sommerfrifhe« berühmter Gelehrten und Künftler,
ihließt Baffy in dem Kranz feiner jchinmernden Villen nun:
mehr auch Roſſini's Tusculum ein. Ein elegantes einftödiges
534 Mufitalifhe Erinnerungen aus Paris (1860).
Landhaus, mitten in wohlgepflegtem Garten, mit eifernen Stäben
umfriedet. Ueber dem Gitterthor eine goldene Lyra — fie jagt
mir, daß ich nicht weiter zu ſuchen brauche.
Eigentlich hatte ich jeden Gedanken an mufifaliihe Studien
und Belanntichaften zu Haufe gelajfen. Wer in einigen Wochen
Paris fennen lernen will, muß darauf verzichten. Wann erichöpft
man auch nur die eine und erite Merkfwürdigfeit in Paris —
Paris ſelbſt, die Phyfiognomie der Stadt! Indeß, den Zus
jammenhang mit einer Lieblingsfunft wird man nirgends los.
Die Namen Rofjini und Auber fielen mir immer öfter und
gewichtiger ein. Bewunderte ich die Beiden doch aufridtig als
glänzende und maßgebende Gricheinungen in der Geſchichte der
modernen Oper; jah ich fie doch alljährlih wachſen durch die
Kleinheit ihrer Nahahmer, und endlid — der Gedanke Tieß
fih nicht abwehren — ich wußte fie alt, jehr alt geworden.
Halb Furcht, Halb Gemwiffensscrupel war ed, was mir zuflüfterte,
daß vielleicht die nächſte Zukunft ſchon vergebens nach diejen
befräuzten Häuptern bliden würde, und ich durch eigene Schuld
fie niemal® jah. Offen geltanden waren Roſſini und Auber
für mich weit größere Merkwürdigkeiten als das Hotel de Ville
oder die Galerie im Lurembourg, ohne deren Befanntichaft fich
doch Jedermann jhämen würde, Paris zu verlaffen. So zögerte
ich denn nicht länger, die Briefe zu mir zu fteden, die mir bei
beiden Meiftern freundliche Aufnahme ficherten. Rojfini fand
ih in feinem fleinen Arbeitszimmer im eriten Stocdwerf jeiner
Billa zu Paſſy. Eben mit Notenjchreiben beichäftigt, erhob er
jih bei meinem Gintritt mit einiger Schwerfälligfeit, für welche
das freundlihe Wohlwollen der Züge und die herzlich entgegen-
geitredte Hand gleihjam um Entihuldigung baten. Roſſini's
Kopf, jo wenig er jegt den befannten Bildniffen aus feiner
Slanzperiode gleicht, macht noch immer den Eindrud des Be—
deutenden und Anmuthigen. Unter der philiftröjen braunen
Perrücke wölbt fi) noch immer eine heitere, klare Stirn; geiſt—
voll und freundlich glänzen die braunen Augen; die etwas lange,
aber jchön modellirte Naſe, der feine, finnlihe Mund, das runde
Kinn ſprechen noch von der einstigen Schönheit des alten
Stalienerd. Man ftellt ſich Roſſini nach deffen Porträts größer
Ein Beſuch bei Roffint. 535
vor, als er ift, und allerdings ließe fein mächtiger Kopf einen
höheren Körperbau vermuthen. Durch Corpulenz und zunehmende
MWideripänftigfeit der Füße etwas gehindert, ließ Roſſini es ſich
trogdem nicht nehmen, mich in feinen Salon Hinabzuführen. Auf
jeinen Stod geftügt, ging er langjam die Treppe hinab und
machte mit fichtlicher Freude an feinem Befigthum die Honneurs.
„In fünfzehn Monatene, jagte er, »iſt die ganze Villa gebaut
und eingerichtet worden; vor anderthalb Jahren noch war alles
ein leerer Fleck« Mände und Plafond des Salons find mit
hübſchen Fresken geſchmückt, deren durchweg mufifalifhe Sujets
Roſſini felbit angegeben und durch italienische Künitler hat
ausführen lafjen. Da zeigt uns ein Bild, wie Kaiſer Jojeph I.
nach der Vorftellung von »Figaro’3 Hoczeit« Mozart in die
Hofloge fommen läßt; ein anderes bringt ung PBaleftrina im
Kreiſe feiner Schüler u. dgl. Zwiſchen den größeren Bildern
ruht das Auge auf Vorträtmedaillons von Haydn, Gimarofa,
Bailiello, Weber und Boieldieu, »mon tres bon ami
Boieldieu!« wie der Hausherr wiederholt auörief. Die Wand:
gemälde gaben Roſſini den natürlichiten Anlaß, feine Bewunde—
rung der älteren großen Meijter, in3bejondere der deutſchen,
zu äußern. Seine begeifterte Verehrung für Mozart ift be—
fannt. Sie ift durchaus wahr und ungefünftelt. Den »Barbier«,
der doch an fprudelndem Muthwillen, an eigentlich luſtſpiel—
mäßigen Temperament »Figaro's Hochzeit« übertrifft, mill
Roffini neben Diefer nur als muſikaliſche Poſſe gelten laſſen.
Mozart’ komiſche Opern, erklärt er, jeien wahre »dramme
giocose«, während Alles, was er jelbit nach dem Vorgang der
Neapolitaner componirt habe, im engiten Sinne »opera bufla«
jei. Man kann nicht bejcheidener von feiner eigenen, nicht
rühmender von Anderer Thätigfeit iprechen, ala Roſſini es thut.
Der Maeftro war ungemein wohlgelaunt und geiprädig-
Ih Fam gar nicht in die häßliche Verfuhung jo mancher Reifen:
den, welche jeden berühmten Mann wie eine Citrone für ihren
PBrivatgebraud) auspreifen. Die Erinnerung an Wien, daß er
jeit 1822 nicht wiedergejehen, ſchien den greifen Maeitro freudig
zu beleben; ausnahmsweiſe erwähnte er einer eigenen Oper,
der »Zelmira«, die er damals für Wien gejchrieben. »In
536 Mufitaliiche Erinnerungen aus Paris (1860).
Wien,« rühmte Roffini, »hatte ich zum erjtenmal ein Bublicum
gefunden, dad zuzuhören verftand. Diefer aufmerffame Antheil
war mir etwa ganz Heberrajchendes, denn in Italien plaudert
das Bublicum mwährend der Mufif und wird erft ruhig, wenn
das Ballet anfängt.«
Eine authentiihe Erklärung über Roſſini's Verhältniß zu
jeinem begeifterten Biographen Stendhal (Henry Beyle) war
mir zu wichtig, als daß ich eine bejcheidene Frage hätte ver—
meiden follen. Roſſini ermwiderte, daß er diejen feinen ent-
züdteften WVerehrer ein einzigesmal, und zwar in Stalien, bei
der Sängerin Paſta gejehen, aber niemal® geiprocdhen habe.
Man Hatte Roſſini (wahrfcheinlih in gehäſſig übertreibender
Weife) gejagt, daß Stendhal ſich feiner genauen Bekanntſchaft
rühme, und »von einem folchen Lügner wolle er nichts wiſſen«.
Ich brauche faum zu fagen, daß diefer verfchmähte Liebhaber
mich im Grabe dauerte, und ich eine wohlgemeinte »Rettung«
desjelben nicht unverſucht ließ.
Wir hatten und auf einen Divan gejeßt, der eine freund:
liche Ausfiht auf die bunten, fonnbeglänzten Blumenbeete des
Gartens freiließ. Vor ung ftand ein Tiſchchen, das mit Mufikalien
bededt war. Es waren faſt durchaus neue Arrangement? aus
der »Semiramid«, Potpourrig, Impromptus, Duadrillen und
ähnliche Sudelfüche, welche die Verleger dem geplünderten Com:
poniften artig zugefendet hatten. » Semiramid« war feit einigen
Monaten in franzöfiider Bearbeitung an der Großen Oper
aufgeführt und wieder Mode geworden. Ich hatte Tags zuvor
die Oper gehört und rühmte deren pradtvolle Austattung.
Etwas anderes hätte ich mit beitem Willen daran nicht [oben
fönnen, denn die Sänger famen mir jo ungenügend, die Mufif
jelbjt fam mir jo leer, langweilig und abgejtorben vor, daß
ih mitten in der Vorftellung das Theater verließ. Roſſini
jelbft wußte nur vom Hörenfagen davon. Seit ſechzehn Jahren
hat er fein Theater bejucht, »und jo lange ift es zum mindeften
here, fügte er bei, »daß man nit mehr zu fingen veriteht.
Man jchreit, man heult, man bort!« —
Mehr als die »Bretter, die die Welt bedeuten« ſchien ihn
die Welt jelbit in ihrem neueſten politiihen Drama zu inter:
Ein Beſuch bei Roffini. 537
effiren. Bei allem bewundernden Vertrauen auf Garibaldi
wollte Roffini der italienischen Bewegung fein günftiges Horoſkop
ftellen. »Ich kenne meine Landsleute«, ſagte er kopfſchüttelnd,
»fie wollen immer mehr und find niemals zufrieden.« »Stalien
ift zu Klein für feine vielen großen .Städte, deren wechſelſeitige
Eiferfuht niemals aufhören und freiwilliger Unterordnung plaß-
machen mwird.«
Während Roſſini fo in heiterer Mittheilfamfeit fortſprach,
freute ich mich, das lebendige Mechielipiel von Intelligenz und
Herzlichkeit in feinen Zügen zu betrachten. Aus Wort und Blicd
drang jene Kindlichkeit und Naivetät, die wir — mehr oder
minder — an genialen Menſchen immer wahrnehmen. Dem
leiſen, gleihmäßigen Wellenfchlag einer geficherten Muße hin-
gegeben, nicht alternd in der Freude an der Natur, Kunft und
Gejelligkeit, feines Ehrgeizes fähig, lebt der alte Maeſtro feit
dreißig Jahren das Leben eines epifuräifchen Weilen. Da er
an feine eigene Kunſt nicht mehr denkt und die auch von
niemand anderem erwartet, begreift man die gemüthliche
Dbjectivität, auß welcher Roſſini die mufifalifche Bewegung der
Gegenwart als unbetheiligter Zuichauer, ohne Neid, ohne Ver:
bitterung, wenn auch nicht immer ohne Sronie betrachtet.
Selten hat ein berühmter Kiünftler jo bald Feierabend
gemacht, wie Roſſini. Mit 21 Jahren fchrieb er den »Tancred«
(1813) und ‚war plößlich der gefetertfte Operncomponift in
Europa; mit 37 Jahren (1829) jchloß der gefeierte Mann für
immer feine Thätigfeit ab. Er that es mit einem Merfe, das
ihn auf dem Höhepunkt feiner Schöpferfraft und jeiner Kunſt
darstellte, mit »Wilhelm Telle. Wielleiht hat man ihn allzu
jtreng getadelt ob diejes fchnellen Rückzugs vom Felde fünftle:
riſcher Thaten. Die echt italienifche Arbeitsſcheu Roſſini's hat
gewiß theilweiſe dieſen Entichluß herbeigeführt. Ganz und gar
aber jchwerlid. Der einfiht3volle Mann, der jein Talent nie:
mals überichäßte, mag gefühlt haben, daß er von der über:
mäßigen Broductivität früh erfchöpft und nicht mehr im Stande
jei, eine Reihe von Werfen wie »Tell«e zu jchaffen, oder dies
eine je zu übertreffen. Der Umſchwung, der um das Jahr 1830
auch in den äfthetiihen Anichauungen und Bedürfniſſen eintrat,
538 Mufifaliihe Erinnerungen aus Paris (1860).
fonnte Rojfini nicht verborgen bleiben, daß immer rajchere Ber:
welfen feiner älteren italieniichen Opern ihm nicht entgangen
jein. Hatte er jo großes Unrecht, ſich nad feinem beiten Werfe
zu einer Zeit zurüdzuziehen, wo dies Verſtummen nod laut
und allgemein beflagt wurde? Zehn Jahre fpäter hätte man
wahrfcheinlich feine Schwach gewordenen Selbitcopien läftig ges
funden und den Meiſter mit feinen früheren Lorbeeren gezüchtigt.
Vielleiht ift Roſſini's frühzeitige Abdication nicht jo ganz
ohne inneren Kampf vor ſich gegangen, al3 man annimmt, umd
pon der heitern Stirne des Greiſes abzulejen glaubt. Seit den
dreißig Jahren feiner behaglidhen Ruhe ift er freilich dahin ge—
fommen, fih wie einen längſt Abgeſchiedenen anzujehen, ber
aus Wolkenhöhen auf die vielen Mufifer herablädelt, die noch
große Mühe haben, zu ftreben und zu arbeiten,
Große mufifaliihe Streitfragen und Wendepunfte, wie
3.3. die »Zufunftsmufif«, haben für den Componijten des
»Barbier«e durchaus fein anderes Intereſſe ald das der Neugier.
65 war vor einem Jahre, daß Roſſini die Bäder in Kiffingen
gebrauchte. Sobald er in der Trinfhalle erichien, fpielte das
Orcheſter Stile aus jeinen Opern. »Sie fönnen fih kaum
vorftellen, wie langweilig mir dad war. Ich dankte dem Capell-
meilter und bat ihn, doc lieber eiwas zu jpielen, was ich
noch nicht kenne, 3. B. von Rihard Wagner.« Da hörte er
denn den Feſtmarſch aus »Tannhäufer«e, der ihm recht wohl-
gefiel, und noch ein anderes Stüd, das er nicht mehr zu nennen
wußte; — jeine ganze Kenntnig Wagner's. Roſſini wünſchte
etwas von dem Sujet des »Lohengrin« zu wiſſen. Nachdem
ih jo furz und deutlich als möglich erzählt hatte, rief er jehr
lebhaft mit drolligem Accent auß: »Ah, je eomprends! C'est
un Garibaldi qui s’en va aux nues!« Rihard Wagner hatte
den alten Herrn furz vorher bejucht, und war ihm »gar nicht
wie ein Revolutionär« vorgefommen, was jedermann gern be—
jtätigen wird, der dem kleinen, zierlichen, unermüdlich und geift-
reich converfirenden Dann kennt. Wagner — fo erzählte Rojjini
weiter — habe ſich ihm gleich mit der beruhigenden Verficherung
vorgeitellt, er jei mweit entfernt, die bisherige Muſik umftürzen
zu wollen, wie man ihm nachſage: »Beſter Herr«, unterbricht
Ein Beſuch bei Auber. 539
ihn Rojfini, »daran liegt ja gar niht3; wenn Sie mit dem
Umfturz reuffiren, dann waren Sie im vollen Rechte; fallen Sie
aber dur, dann haben Sie fih in jedem Fall verrechnet, mit
oder ohne Umfturz.« — Bon dem boshaften Vergleid Wagner:
iher Mufif mit »Fiſchſauce ohne Fiſch«, der eben in Paris
cireulirte, wollte Roſſini durchaus nichts wiſſen, und ich glaubte
ihm aufd Wort, hätte er nicht mit einer drolligen SFeierlichkeit
beigefeßt: »Je ne dis jamais de telles choses.« Nun fennt man
aber »de telles choses« von Roſſini in jolcher Zahl und von
jo origineller Art, daß jeine Neigung zur Ironie über jedem
Zweifel fteht. So ſoll er kürzlich nad der Durdficht einer
Berlioz’ihen Partitur ausgerufen haben: »Welches Glüd, daß
die feine Muſik iſt!«
Der liebenswürdige Dann war jo unermüdlich im Sprechen
und Hören, daß ich jelbjt daran denken mußte, ihn jeiner ruhigen
Beichäftigung zurüdzugeben. So führte ich ihn denn wieder die
Treppe hinauf in jein Arbeitszimmer, wo er im herzlichen Ton
Abichied von mir nahm. Nicht unbewegten Herzend jeßte ich
meinen Weg fort, war doch der berühmte Meifter mir als
Menſch lieb und werth geworden. Die ftattlichen Alleen entlang
an Shimmernden Landhäufern vorbei wanderte ich gegen St. Cloud.
Aus einem geöffneten Fenſter quollen wie Roſendüfte die ſüßeſten
Melodien aus »Wilhelm Tele. Unmwillfürlic griff ich an den
Hut und grüßte gegen die Billa zurüd, deren vergoldete Leier
nod wie ein kleiner Stern herüberglängzte.
Ein Befud; bei Anber.
Man kann ſich nicht leiht etwas Verſchiedenartigeres
denfen, als es die beiden berühmteften Gomponiften von Paris
in Griheinung, Stimmung und Lebensweiſe find. Während
Roſſini nur ſchwer fih von feinen Blumen und Wiejen zu
trennen bermag, bringt Auber auch den heißeiten Sommer
mitten in Paris zu. Er liebt Paris über Alles und verläßt es
niemald. Zu jeder Zeit finden wir ihn in feiner eleganten
Wohnung, Rue St. Georges. Haus und Straße haben etwas
540 Mufitalifhe Erinnerungen aus Paris (1860).
ruhig Vornehmes, fie präludiren entiprechend der ariftofratifchen
fühlen Eleganz, welche und im Innern erwartet. Wir finden
den berühmten Tonjeßer im bequemen Sclafrod, zuſammen—
gefauert auf einem niedrigen Fauteuil. Ein fchneeweißer Kopf
erhebt fih von der Partitur; es grüßt und eine Eleine, dürre
Geftalt. Das faltige Gefiht jcheint fait zu verfohlen unter der
Gluth zweier tiefihwarzer, leidenihaftlicher Augen. Wie unftät
und durhdringend hießen diefe Falfenaugen aus dem Verſteck
der dichtbufchigen Brauen hervor! Auber's Kopf iſt nit?
weniger als edel; mit feiner unfertigen Nafe, den vordrängenden
Backenknochen, dem breiten Mund erinnert er an Scelling.
Aber diefe merkwürdigen Augen geben ihm einen Ausdrud un—
gewöhnlicher Intelligenz. Sie lächeln dich nicht groß und
freundlih an, wie Roſſini's braune Sterne; bligichnell paden
fie Did, Shen, meuchleriſch. So mußte der Mann außjehen,
der die Verſchwörung der neapolitanifhen Fiſcher wieder
lebendig machte. Den Sänger der heiterften, moufjirenditen
Melodien von Paris hingegen wirde man in dem ernften
Greife nicht vermuthen. Ich jah ihn nicht lächeln, defjen Mufit
zu lächeln faum aufhört.
Auber’3 Geipräch bewegte fih in feinen, knappen, etwas
geihäftsmäßigen Formen, freigebig mit Höflichkeiten, ſparſam
in allem Uebrigen. Er glich mehr einem Diplomaten oder
Banguier, al3 einem Mufifer. Mir fiel ein, daß Auber ur:
fprünglid für die faufmännifhe Garriere gebildet war. Die
Umgebung ftimmt dazu. Das Arbeitszimmer athmet eleganten
und geihmadvollen Comfort, aber nicht die laufchige Heim:
lichkeit einer Poetenwerkitatt. An den Wänden zahlreiche Bilder:
ihöne Frauenföpfe zwiſchen Eoftbaren Kupferftichen nad Le
Brun’d »Alexanderſchlacht«. »Die Kunft ift Eind,« erklärte der
Herr des Haufes, »und unverftändlich bleibt mir ein Künftler,
der nicht zugleich die übrigen Künfte Tiebt.« Dabei jah er viel
ihmwächer, abgejtorbener aus, ald er in Wirklichkeit ift. Eine
beneidenswerthe Spannkraft ftedt noch dieſen jcheinbar ver:
fallenen Leib. An den Falten Tagen des vorjährigen Herbftes
fonnte man den alten Herrn in leichtem einfachen Rock über
die Boulevard3 eilen fehen. Frühmorgend, während Paris nod
Ein Befuch bei Auber. 541
in den Betten liegt, reitet er fpazieren. Auber, der be-
fanntlic feine friſcheſten Melodien zu Pferde erdacht, ift
diefem jugendlihen Vergnügen noch nicht untreu geworden.
Ja, als echter Franzoje jol er auch fein Herz merkwürdig
conjervirt und noch keineswegs vergeflen haben, »was«,
nah Spohr’3 Berfiherung, »den Waidmann in den Wald
treibt«.
Während der (faft ein Jahrzehnt jüngere) Roſſini ſeit
30 Jahren einer unerjchütterlichen Ruhe pflegt, hat Auber feinen
Augenblid aufgehört, mit Eifer und Ehrgeiz zu arbeiten. Die
Notenblätter, über welche ich beim Eintreten das weiße Haupt
gebeugt fand, gehörten zu Auber’3 neueiter Oper, deren Auf:
führung noch in dieſer Saifon bevorfteht. »C’est une imprudence
dans mon äge,« flüfierte der 77jährige Componift, indem er
auf die Partitur deutete, Ich wünſche nichts fehnlicher, als daß
der Erfolg diefer Winterfruht das Wort »imprudence« wo
möglih in »miracle« umändere. Denn Auber’3 Berdienite um
da3 franzöfifhe Theater find jo groß und glänzend, daß ein
Mißerfolg des greifen Meifters fait einem National-Undant
gleichfäme. Mit weit befferem Recht ſtände Auber’s Standbild
im Atrium der Opera comique, als Roſſini's Statue im
Treppenhaus der großen Oper fteht. Außer »Guillaume Tell«
hat Rofiini für die Pariſer Oper jo gut wie nichts geichaffen;
das Wenige, was fie fonit noch von ihm vorführt, find Be
arbeitungen aus dem Stalienifchen. Die Verdienſte Roſſini's
und jelbjt jene Meyerbeer's um die Pariſer Oper erjcheinen
— aus dem Gefichtspunft franzöfiiher Kunft — von jenen
Auber’3 überftrahlt. Wir legen hiebei nicht einmal bejonderen
Nachdruck auf Auber's Arbeiten für die große Oper, obwohl
darunter die epochemahende »Stumme von Bortici«, Die
glänzende »Ballnadt« und ähnliches fich befindet. Auber's
Bedeutung ruht in der fomifchen Oper, alſo in der echteiten,
duftigften Blüthe der franzöfiihen Muſik. Von allem Anfang
an, ſeit Philidor, Monfigny, Gretry die Gultur der
fomifhen Oper begründeten, blieb jie dasjenige mufikalifche
Genre, in welchem die franzöfiiche Nation fih am natürlichiten,
feinsten und geiftreichiten bewegt.
542 Muſikaliſche Erinnerungen aus Paris (1860).
Die komiſche Oper repräſentirt alle anmuthigen, liebens—
würdigen Seiten des franzöſiſchen National-Charakters, während
die ⸗Große« deſſen Maßloſigkeiten und Grimaſſen im Hohl:
ſpiegel zeigt. Allerdings find die Talente, welche für die Opera
eomique jchreiben, an Zahl und Bedeutung ſehr gefunfen, allein
noch immer behauptet dies Genre eine von andern Nationen
zu beneidende Höhe, bei einer Stetigfeit der geichichtlichen Ent:
widlung, wie fie faum eine zweite Theatergattung aufweilt.
Zur Tebendigften Weberzeugung wird Einem dieſe Thatſache,
wenn man die komischen Opern der Franzofen in Paris jelbit
ipielen fieht. Ich müßte von allen Kunftgenüffen, die mir dort
zu Theil wurden, feinen, der fo vollfommen, rein und lebhaft
auf mich gewirkt hätte, als die Vorftellung des »Fra Diapolo«
in der Opera eomique. Nachdem ich furz vorher an der Großen
Dper die »Hugenotten«e nur mit Unbehagen, die »Semiramis«
gar nicht zu Ende gehört, hätte ich hier nur Souverän zu fein
gebraucht, um mir — wie Kaiſer Leopold in Wien den
»Matrimonio segreto«e — in der Komifhen Oper den »FFra
Diavolo« von Anfang bis zu Ende noch einmal vorfpielen zu
laſſen. Großmüthig wünſchte ih mir alle die Landsleute zu
Nachbarn, die im Paterland das große Talent Auber’3 mit jo
nahlichtiger Protection abfertigen. Hier auf ihrer Geburtsftätte
muß man dieje geiftreichen, feinen, lebensvollen Spiele fehen
und hören, um ihren ganzen Neiz zu erkennen und zu be
wundern. Die beiten deutichen Sänger find für das Eigenthüm-
liche diejer Aufgaben größtentheild unbrauchbar. Die gegen:
twärtigen Sünftler der Opera eomique wirfen mit ſehr beſcheidenen
Mitteln; allein diefe Mittel find auf das feinjte ausgebildet,
auf das intelligentefte verwendet. Nicht eine glänzende Stimme,
nit eine beftechende Schönheit, aber in der anfchmiegenden
Feinheit des Ausdrucks fcheinen alle Stimmen, in der Grazie
der Bewegung alle Geitalten verichönt.
Die komiſche Oper der Franzofen verhält ſich zur großen
ungefähr wie ihre Zuitipiele zur Tragödie. Ich befenne, Na:
cine’3 »Britannieus« im Theätre francais nit außgehalten zu
haben, fo widernatürlich, prahleriih, hohl erfchien mir Spiel
und Sprade dieſer Mlerandriner:Stentoren. Als aber un
Gin Beſuch bei Auber. 543
mittelbar darauf ein Scribe’iches Auftipiel folgte, waren in
meinen Augen die Franzoſen die eriten Schauspieler der Welt.
Ich bin weit entfernt, den Ruhm der Parifer Großen Oper
geradezu unverdient zu nennen. Vortrefflih it an ihr alles
Heußerliche. Das Decorationsweſen ift umübertrefflih, und nicht
blos im Sinne leerer Pracht, ſondern wirklich künſtleriſcher,
dramatischer Verwendung. Unterftüßt von einer beneidenswerthen
Tiefe der Bühne, auf deren Vorder:, Mittel- und Hintergrund
fih mafjenhafte Gruppen formiren und frei bewegen fünnen,
erzielt diefe Decorationzkunft nahezu vollftändige Illuſion des
Zuſchauers. Auh das Orcefter und die Chöre ließen — in
den PVorftellungen, denen ich beimohnte — faum etwas zu
wünschen übrig. Was Hingegen den Fremden enttäufcht, find
die Solofänger, darunter großartig auspoſaunte und noch groß:
artiger bezahlte Namen. Mit ganz wenigen Ausnahmen erjcheinen
mir die Leiftungen diefer Sänger mit ihren enormen Gagen
und mit der Weltftellung der Parijer Großen Oper jchwer zu
reimen, und ich glaube, daß die eriten Kräfte unferer Opern
bühne, falls es ihnen gelänge, ſich des Franzöfiichen voll:
fommen zu bemädhtigen, in Paris glänzend durchdringen würden.
— Mit der fomifchen Oper verhält es fich gerade umgefehrt.
Die beiten deutichen Vorftellungen diefer Gattung werden im
Total-Eindrudf die ſchwächſten der Pariſer Opera comique nicht
erreichen. Wenn es hoch kommt, hat jede befjere deutiche Bühne
zwei biß drei gute Mitglieder für die komiſche Oper, feine
einzige aber eine Ahnung von einem vollendeten Enſemble.
Notabilitäten der deutichen Oper fünnen von untergeordneten
Künſtlern der Opera eomique lernen, wie man fpricht, jpielt,
fih fleidet, ja wie man gerade im mufifaliichen Luftjpiel zu
fingen hat. Da iſt niemand, der jchreit, jchleppt, ſich vordrängt;
alle bewegt fich raſch, zwanglos und natürlich, und will auch
mancher für fich nicht viel bedeuten, zufammen find fie Meiſter.
Wir find nur Scheinbar von Auber abgefommen. Wenn
man die Komiſche Oper rühmt, rühmt man Auber. Ohne ihn
würde die gegenwärtige Opera eomique nur begetiren; er ift
ihre Hauptjtüge, und ziert wöchentlih ein biß zweimal das
Repertoire. Mit den beiten feiner Werke hat ſich Auber längft
544 Muſikaliſche Erinnerungen aus Paris (1860),
neben Iſouard und Boieldieu geitellt; mit feinen ſchwächſten
überragt er wenigſtens noch immer die meilten feiner zahllojen
Nahahmer.
Auber gab mir in meinem Lobe der Opera comique nur
theilweije Recht; lebt doch in feiner Erinnerung eine viel voll
fonnmenere Blüthe diejes Inſtituts. Sowohl die Geſangskunſt
als die Darftellung findet er gejunfen ſeit der Zeit, wo er den
Schwarzen Domino« für die Ginti-Damoreau jchrieb.
»C'etait une artistee wiederholte er, um den Gegenjag zu
der gefeierten Ugalde und ihren Golleginnen zu bezeichnen,
welche ihm blos als »geſchickte Sängerinnen« gelten. Hingegen
jprah) er von Montaubry, dem würdigen Nachfolger Roger's
und trefflichiten aller Fra Diavolos, mit großer Achtung.
Ganz verſchieden von Roffini, blieb Auber im Sprechen
farg und gemejjen, dabei in Miene nnd Haltung unbemweglid).
Hingegen ſchien er mit Interejje zu hören, was ich ihm von
deutschen Theaterzuftänden, namentlich in Bezug auf jeine Opern,
mitzutheilen wußte. Er jelbft war, fonderbar genug, nie in
Deufhland, nie in Stalien geweſen. Bon der neuen mufifalifchen
Bewegung wußte er nur vom Hörenjagen. Sobald ih Wagner
erwähnte, begann Auber von den Gonjervatoir-Eoncerten zu
iprehen. Als ich mich empfahl, hatte ich die ganze Höflichkeit
de3 berühmten Mannes noch nicht fennen gelernt. Er überrajchte
mich am folgenden Tag mit der YZufendung eine liebens—
würdigen Briefchens. Die Hand, welche den »Fra Diavolo«
geichrieben, hatte es nicht verſchmäht, mir durch einige nie
erwartete Schriftzüge ein werthvolles Erinnerungzeichen zu
ſchaffen.
Berlioz.
Berlioz bringt alljährlich einen Theil des Sommers in
Baden-Baden zu. Erſt am Tage vor meiner Abreiſe gelang es
mir, den eben nad) Paris Zurücgefehrten begrüßen zu können.
Berlioz war mir fein Fremder, ich hatte in lebhaften Verkehr
mit ihm eine Spanne Zeit durchlebt, von der ic) wußte, er
werde gern daran erinnert fein. Es war die Zeit feiner Prager
Berlioz. 545
Eoncerte im Jahre 1846. Ort und Zeit fonnten damals für
Berlioz faum günftiger fein. Durch das Mufikfeben der Moldau:
ſtadt mwehte ein friicher, jugendlicher Hauch, brach ein begeiftertes
Streben, Empfangen und Erkennen. Der Bann eines engherzigen
Claſſicismus Hatte anhaltend genug auf den Pragern ge—
faftet, während ihr berühmteites und einflußreichites Muſik—
Inftitut, dad Conſervatorium, unter der Leitung eines Mannes
(Dionys Weber) geltanden, mwelder Beethoven nur bis
zur dritten Symphonie gelten ließ. Die Prager Hatten ſich
in Haydn, Mozart, Spohr und Onslomw feitgefaugt, und
waren im Bewußtſein des Mozart’ihen Ritterſchlags (»die
Prager verftehen mich«) beinahe adelöftolz und reactionär ge—
worden. Mit der Hebernahme des Conjervatoriums durch den
jungen, ftrebenden Kittl brad) dies Eis. Beethoven’ jpätefte
Werke, Mendelsſohn's Orcdefter-Dichtungen zündeten im
Publicum; von Gade und Hiller nahm man raſch Kenntniß,
wagte es mit Schumann’3 »Peri« und jogar mit der »Lear«—
Duverture von Berlioz. Einige junge Mufiffreunde hatten
bereit8? Schumann’: »Neue Zeitjchrift« zu ihrem Brevier ge—
macht und fich unter dem Vorſitz des geiftreihen Ambros zu
einer bejcheidenen »Davidsbündlerihaft« vereinigt. Mit Be—
geifterung fpielten wir Schumann und Berlioz zu einer Zeit,
wo man in größeren Städten den erjteren nur als »Mann der
Clara Wieck« fannte und leßteren mit Bériot verwechſelte.
Schumann hatte einige $ahre zuvor auf den genialen Sonder-
ling Berlioz enthufiaftiich hingemwiefen und ihn mit dem ſchönen
Worte eingeführt: »Iſt feine Mufit ein flammendes Schwert,
jo jei mein Wort die verwahrende Scheide!« Deutjchland be—
gann das Unreht gutzumachen, das Frankreich gegen Berlioz
verübte. Der große Unbekannte rüdte und endlich auch perjönlid)
näher. Die zündende Wirkung feiner Eoncerte auf dad Wiener
Publicum lief gleichfam auf den Schienen der Nordbahn elektriſch
bi zu uns; die heftigen Scharmügel der Wiener Journaliftif er—
höhten die Bedeutung des Streitobjectes, umfomehr als ja Die ge=
wichtige Stimme des geiftreihen Becher für und den Ausſchlag gab.
Alfo vorbereitet und aufgeregt traf Berlioz die Prager
Mufitwelt im Jänner 1846. Ein glüdlicher Zufall a mich
Hanslick. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl.
546 Mufitalifche Erinnerungen aus Paris (1860).
bald mit dem verehrten Manne in dauernden Verkehr. Die
Mufit ift bekanntlich allgemeine Weltiprache, aber die fie treiben,
beharren gerne um fo hartnädiger auf ihrem vaterländiſchen
Idiom. Berlioz veritand feine Silbe Deutſch und Hatte dod
viel Mufifaliiches mit Leuten zu bejprechen, von denen die
Kenntniß des Franzöfiichen nicht zu fordern war. Indem id
da häufig als Dolmetih fungirte, trat ich zu dem berühmten
Gomponiften bald in eine Nähe, die mir fonft micht zu:
geitanden hätte.
Mas unfere Bewunderung für Berlioz noch befeltigte
und vertiefte, war der Eindrud feiner liebenswürdigen, geiit:
vollen, durch und durch Fünftleriichen Perſönlichkeit. Sein
fünftlerifches Ideal erfüllte ihn ganz, die Verwirklihung deſſen,
was er in glühendem, nie befriedigtem Drang als ſchön und
groß empfunden, bildete jein einzig Ziel und Streben. In feiner
Kunft, mag man fie nun abjihägen wie man wolle, lag eine
großartige Nedlichkeit. Alles Eigennüßige, berechnend Praktiſche
lag dem Manne mit dem Jupiterfopf fern. Dafür hatte er in
der Perſon einer intereffanten Spanierin (feiner jegigen Frau)
eine treffliche Ergänzung gefunden. Sefiora Mariquita beforgte
die Eoncerte, prüfte die Rechnungen, ermäßigte unerbittlich den
Preis von Triangel und Beden. Sie war eine Art weltlicher
Vorjehung, die irdiſche Roſe im himmliſchen Leben, ein
Glavierauszug aus Madame Vieurtemps. »Ein Glüd für
Hector, daß ich feine Frau bin«, lilpelte fie nach mand heißem
Rechnungsabſchluß — und mwahrlid, nicht mit Unrecht. Ohne
diefen Shwarzaugigen Finanzminifter hätte >»Hector«, arglos und
großmüthig wie ein geborener König, bald feine Barjchaft zu:
gejegt und wäre vielleicht eine8 Morgen? ohne die nöthigen
Kleidungsftüde als Bergſchotte auf der Probe erjchienen.
Dieje kräftig aufrechte Geftalt, dies föniglihe Haupt, dies
Goethe'ſche Auge — ich jollte fie jehr verändert wiederfinden.
Berlioz ijt jo leidend, daß ihn das Niederfchreiben einiger
Seiten oft tagelange Anftrengung koſtet. Schlafloſe Nädte
theilen fich mit nervenquälenden Tagen in die Ruhe ded Meijters.
Hand in Hand mit feinem förperlichen Leiden geht eine tiefe
Berjtimmung ded Gemüths, eine immer zunehmende Verbitterung
Berlioz. 547
und Bereinfamung. Wie jehr diefe Verdüfterung jein phyſiſches
Leiden vermehrt und umgekehrt, deffen ift ſich Berlioz nur zu
deutlich bewußt.
Für Berlioz’ Richtung und Streben ift Paris ein hoff:
nungslofer Boden. Won jeinen Land3leuten war er ftetß un:
verftanden und wird es bleiben. Die Achtung, mit welcher man
in Paris jeinen Namen nennt, verdankt er ausſchließlich feinem
glänzenden Wirken als Sritifer. Den Componiften Berlioz
ignorirt man nod immer, ja man würde ihn wahrſcheinlich
auslachen, hielte nicht fein journaliftiiher Ruhm und Einfluß
die Leutchen im Zaume. Mit aller Mühe bringt er es nur jelten
dahin, eines feiner Werke in Paris aufgeführt zu hören. Die
Orcheſter fürchten feine Symphonien, die Theater feine Opern.
Die koloſſale Partitur, die ich vor Berlioz aufgeſchlagen fand,
ift fein lebte großes Wert — jein bedeutendftes, wie er meint
— die Oper: »Die Trojaner.«e Seit mehr ald zwei Jahren
vollendet, war dies Werk an der »Großer Oper« beinahe ſchon
angenommen, zu Gunften anderer Novitäten aber wieder remittirt.
Nun hofft Berlioz auf eine Annahme in dem neuen Iyrifchen
Theater, das in der Nähe des Boulevard Sebaſtopol — erit
gebaut mwird.*)
Wenn Berlioz jeine Compofitionen aufführen will, muß
er nach) Deutichland gehen. Da findet er Tiebevolles Entgegen:
kommen, Verftändniß, Anerkennung. Deutichland ift das Adoptiv-
Baterland feines Herzens, und welch’ anderes Land vermöchte
das geiftige Aſyl eines Snftrumental-Componiften zu werden,
der in rein ibealem Drang auf den Spuren Beethoven's
weiter zu dringen verſuchte. Berlioz' Sommeraudflug nad)
Baden-Baden hängt damit zufammen; er hat Benazet’s
Engagement angenommen, dort in jeder Saiſon ein großes
Concert zu dirigiren. Abgejehen von dem anjehnlichen firen
Honorar, welches der wenig bemittelte Componiſt dafür bezieht,
findet er hier die einzige Gelegenheit, jeine Werke einem großen
gebildeteren Bublicum vorzuführen. Das Vorbereiten und Aus—
*) »Le Trojens à Carthages in 5 Xcten fam in Paris 1863
zur Aufführung.
35*
548 Muſikaliſche Erinnerungen aus Paris (1860).
führen dieſes Monftreconcerts ift für Berlioz mit unfäglicher
Mühe verbunden, aber leuchtenden Auges erzählt er, wie ber
Ihöne Erfolg ihn jedesmal entſchädige und tröfte. Nach Paris
zurüdgefehrt, fühlt er fi durch den Fünftlerifchen Gegenjat
doppelt gedrüdt. Die Hoffnung aus früherer Zeit fcheint ihn
verlaffen zu haben, er nimmt feinen Zuſpruch an, der an eine
doch zu erwartende Veredlung und Vertiefung der franzöfifchen
Muſik appellirt. »J’ai pris mon parti.e Dieſer Seufzer ſchmerz—
lichfter Refignation haucht einen trüben Fleck auf den patriotifchen
und fünftleriihen Ruhm der Franzoſen. Iſt doch Berlioz der
einzige franzöftfche Inftrumental-Componift, von dem überhaupt
in der Gefhichte der muſikaliſchen Entwidlung die Rede fein
fan. Es bleibt höchſt charakteriftifch für die franzöſiſche Kunſt,
daß ihre Anftrumental-Somponiften an Zahl und Bedeutung
beinahe Null find. Der franzöfifhe Mufikgeift ift fo eng mit
dem Wort verbunden, daß er abgetrennt davon nur kümmerlich
nach Luft fchnappt, wie der Fiſch auf trodenem Lande.
Der erjte und für lange hinaus einzige Symphonien—
Dichter der Franzofen war Goffec (F 1829), dem feine Lands—
leute fogar die Erfindung der Symphonien und die Priorität
vor Haydn pindiciren wollen. Ganz abgefehen davon, daß fie mit
diefem Anſpruch factiſch im Unrecht find, ftehen Goſſec's Sym—
phonien neben denen Haydn's wie Armliche Dilettanten-Arbeiten
und find für alle Zeit vergeffen. Seitdem hat erft in neuefter
Zeit (1844) ein Franzofe im fymphoniihen Fach Aufiehen
erregt, Felicien David, mit feiner »Wüſte«. Die exotilche
Form, die frifhe Localfärbung verliehen dem Werke einen un:
[eugbaren Reiz, ähnlih dem Eindrud mander Freiligrath’ichen
Gedichte. Sobald der Schmelz der Neuheit von diefem einen
Merfe David's abgeftreift war, fiel der ganze Componiſt jo
ziemlich in Verichollenheit. Erwähnen wir noch einiger Eleinerer
Snftrumentalfahen von Charles Gounod, fo haben wir bei-
läufig die ganze armjelige Ausbeute der franzöſiſchen Orcheiter:
muſik. Diefen Symphonifern, welche uns eher wie injtrumenti-
rende Lieder: und Arienfänger vorfommen, fteht wie ein Rieſe
Berlioz mit feiner befremdenden Eigenart und Großheit, mit
feiner Bizarrerie und Romantik, mit feinen phantaftifh aus—
Bon ber Londoner Auaftellung. 549
gerecten Formen und vollendeter orcheitraler Meiſterſchaft gegen:
über. Daß die neuejte mufifalifche Bewegung ihre wichtigfte
Anregung durch Berlioz erhielt und ihre glänzenditen Effecte
ihm verdantt, ift zweifellos. Wenn aber die » Zufunftämufifer «
Berlioz ohneweiter® ald einen der Ihrigen dußen und ihr
zweifelhafte® Gut mit jeiner Flagge deden, jo erlauben fie fich
mehr, als ihnen zufteht. Ich kann verfichern, daß es Berlidz'
größter Schmerz ift, mit den Fahnenträgern der »Zukunfts—
mufif« zufammengemworfen und für deren Experimente verant-
wortlich gemacht zu werden. Sein Urtheil über die namhafteſten
diefer Componiſten erlaube ih mir nicht mitzutheilen, weil
Berlioz vielleicht in freundſchaftlichen perfönlichen Beziehungen
zu ihnen ftehen mag. Im Vergleich mit feinen diplomatifch ge-
glätteten Urtheilen im Journal des Debats langen dieje mind-
lihen Auslaffungen allerdingd fehr draftiih. Berlioz' Ber:
bitterung über feine künſtleriſche Ohnmacht in Paris madt es
begreiflich, daß er auch perjönlich mit den gefeierten Componiſten
der Weltitadt feinen Verkehr pflegt. Roſſini hat er nie ge
ſprochen. Der Einzige vielleicht, dem er mit herzlicher Achtung
zugethan iſt und den er häufig aufiucht, ift der geiltreiche und
liebenswürdige Componift Stephen Heller, der, jeit ziwanzig
Jahren in Paris eingebürgert, dennoch fein echt deutſches Ge—
müth und deutſches Talent fi) unverjehrt erhalten hat. Im
Vaterlande zurücdgelegt und mißperftanden, lauſcht Berlioz
doppelt begierig, wo ihm aus der Ferne ein Liebeszeichen
herübertöne. Mit Sehnfucht denkt er an Wien und Prag, und
die dort verlebten Tage dünken ihm ein goldener Traum.*)
Wufikalifches aus LCondon. (1862.)
Von der Ausftellung.
Hätte Dante lange genug gelebt, um als italienijcher
Ausſtellungs-Commiſſär im Induftriepalaft zu fungiren, feine
»Hölle« wäre ohne Zweifel um ein ergreifendes Bild reicher
*) Berlioz jtarb am 9. März 1869 zu Paris.
550 Mufitaliiches aus London. (1862.)
geworden. Er hätte und mit lebhafter Genugthuung gejchildert,
wie moraliihe Ungeheuer in einem langen jenfeitigen Leben
verurtheilt find, Inftrumente in einer Induſtrie-Ausſtellung zu
prüfen, Die Phantafie der Alten Hatte für die Qual nie
erreichten Strebend, ewig neu unterbrodenen Bemühen?
fein grelleres® Bild gefunden, als Tantalus, SIrion und Die
Danaiden. Falls diefe vornehmen Dulder Hinreihend muſi—
kaliſch find, follte man fie ohneweiters als Berichterftatter
hieherjenden; fie würden für die Dauer der Saiſon Leicht
freiwillige Eriagmänner nad) dem Tartarus finden. Oder
it es nicht eine Ixionsqual, fih zmwanzigmal an ein Piano
zu jegen, um nad den erſten Noten ftet3 von den Ton:
lawinen der großen Walker'ſchen Orgel überfchüttet zu mer:
den? Der Organift — er fpielt natürlich den »Propheten«—
Marih von Meyerbeer — iſt faum bei dem As-dur-Triv ans
gelangt, als ihm auch ſchon eine Hull’ihe Orgel die grellen
C-dur-Fanfaren von Mendelsſohn's Hochzeitsmarſch wie Heulen
hinüberwirft. Du fuchft zu entfliehen ; kann man dem Zorn einer
Drgel entfliehen? Da fiehft du dich eingefeilt in einen Menſchen—
blod, der zwifchen den engliihen und den Zollvereind-Clavieren
ftille fteht. Denn merfwürdigerweife braucht fih blos Jemand
an ein Piano zu fegen, und darauf frech herumzutrommeln,
fo hat er auch Thon ein kleines Publicum, das ihm andächtig
laufcht. Dilettanten und Dilettantinnen, die natürlich niemals
eitel find, produciren fih den ganzen Tag hindurch auf den
verfchiedenen Pianos, jedesmal beim Aufſtehen äußerft über:
rafcht, daß ihnen Leute zuhören. Eben jeßt hatten wir eine
unvergeßlide Stunde. Ein ruppiger Süngling aderte einen
Broadwood’ihen Flügel mit dem »Tannhäuſer«-Marſch; Dicht
neben ihm auf‘ einem Pianino von Collard zimperte eine
ſchmachtlockige Lady Schulhoff’3 »Chant du berger«, während
ſchräg gegenüber ihre Gouvernante ein Poutpourri oder fo
etwas Aehnliches außleerte. Ein zehnjähriges Mädchen befommt
durch diejen Anblick den Muth, an einem billigen Pianino den
»young countryman« zu jpielen, einen hier allerwärtö er—
£lingenden Gaſſenhauer, auf den eine mufilfreundliche Regierung
mindeftens fünf bis zehn Jahre ſchweren Kerkers ſetzen würde.
Bon der Ausftellung. 551
Da3 Charivari iſt allgemein und erftredt fich durch den ganzen
Tranjept. Du drängft dich durch und eilft in ein Seitenſchiff,
das dir als clavierfrei dunkel vorichwebt. Armer Flüchtling !
Du bilt in dem Bereich der franzöfiihen Blasinftrumente ge—
rathen. Die Ausfteller jcheinen eben Käufer zu wittern, und
langen ihre theuerften Stüde hervor.
Ein blonder, badenbärtiger Gentleman ſpuckt in eine
Flöte, ein zweiter ift bemüht, eine Clarinette auszujaugen,
während drei rothrödige Leibgardiſten in Riefen-Ophifleiden
ihre (hoffentlich unsterblichen) Seelen aushauchen. Es gelingt
dir, aus diefer Blechfammer herauszufommen ; deine Leiden
find aber darum nod nicht erſchöpft. Du biſt höchſtens den
reißenden Thieren des Orcheſters, den Vierfüßlern und Schlangen,
entfommen; aber die fleineren, bösartigen Inſecten harren noch
dein; hörst du das Gewinſel der heimtückiſchen Physharmonikas
und Melodicons? Fühlft du den Stih der Heinen Zithern,
die eifige böje Zugluft aus den Bälgen der Harmonifas ?
Genug, genug! Sit dir noch einige Kraft geblieben, jo ſchleppſt
du dich nach der öſterreichiſchen Abtheilung und vergräbit
dih in dem kleinen, traulichen Verſchlag unjeres »Office«.
Die Wiener Blätter find wieder einmal alle vergriffen — was
bleibt dir übrig, ald dich deinen Gedanken hinzugeben?
Börne verglich einmal jeine Gedanfen mit Nudeln. Ich
zehrte an folgenden vergifteten Nudeln, Wenn die oft beflagte
Eigenfhaft der Muſik, zudringlid zu fein, irgendwo in ihrer
raffinirteften Scheußlichfeit ſyſtematiſch gepflegt wird, jo ge:
ichieht dies gewiß im Londoner Induftriepalaite. Das ift ein
mufifaliiche® Babel, eine concertgewordene Arche Noe Eine
jolhe Muſik paßt für Völker, die zum Frühftüd ihre Tanten
auffreifen, und nicht für gebildete Beſucher der Globe-Reſtau—
ration oder des »Thomas-Hotels«. Daß e3 noch nirgends eine
Spur mufifalifcher Polizei gibt, und das menſchliche Ohr ruhig
jedweder Dual und Verhöhnung preisgegeben wird, verräth
eine barbariiche Züde in unferer Eultur. Wenn aber unmuſi—
kaliſche Barbaren, nicht zufrieden, jolche Hexenküche zu beichügen,
auch noch verlangen, man follte darin die Feinheiten der In—
jtrumente foften ımd vergleichen, dann geht der Menſch zu
552 Mufitaliiches aus London. (1862.)
Ende. Könnte die feinfte Nafe über Wohlgerühe Recht fprechen
mitten in einem chemijchen Laboratorium, wo Jod- und Chlor:
dänıpfe ihr Weſen treiben? Oder in trübem Keller über da3
Golorit von Bildern urtheilen?
Etwas ſpät fam die Jury, wenigſtens theilmweije, zu
ähnlichen Empfindungen. Die Blasinftrumente werden zu großem
Theil, die Violinen durchaus in einem eigenen abgeichloffenen
Local geprüft. E83 war died ein zum Auöftellungögebäude ge
höriger hoher, weiter, leerer Saal. Er gab jeden erflingenden
Ton mit lächerliher Großmuth viermal jo ftark zurüd. Traf
man im Ausftellungsgebäude faum Ein Clavier, das gut flang,
jo gab es im Gegentheil in diefen Saal feine Violine von
ſchlechtem Ton. Die Geige ilt zwar ein ungleich einfacdheres
Snftrument als dad Clavier; dennoch bietet die Prüfung der:
jelben eigenthümlihe Schwierigkeiten. So bildet die Violine in
einer jehr wichtigen Eigenschaft, der Dauerhaftigfeit nämlich),
einen directen Gegenjag zum Glavier, Eine gute Violine wird
mit der Zeit immer befjer, das beite Clavier raſch immer
Ihlechter. Kein größeres Entzücden für den Geiger, als eine
hundertjährige Cremonefer Violine; fein troftloferes Möbel, als
ein zehnjähriges Clavier. Diefe Kurzlebigfeit des Klavier fteht
in einem jo abnormen PVerhältniß zu der Größe der Arbeit
und der Höhe des Preiſes, fie jeßt das Piaro in einer erheb:
lihen Eigenſchaft fo tief unter die Streich» und Bladinftrumente,
daß der erfinderiiche Geilt der Pianofortemacher nach dieſer
Nihtung gewiß noch die glänzendfte und wichtigite Aufgabe
vor fih hat. Ein Ideal von muſikaliſchem Juror ſollte eigent-
lich in die Zufunft hören können. Manch brillante neues
Piano würde durch ein trauriges Horoffop vielleicht die Hälfte
jeined Werthes verlieren, während aus dem füßen, aber etwa?
jungen, unreifen Ton einer guten Geige deren fpätere Voll:
fommenheit fih herausfühlen ließe, wie aus dem Moſt der
Wein.
Der ausgeitellten Streih:Inftrumente waren nicht über:
mäßig viele; allein e& gab fehr gute darımter. Von neuen Er:
findungen in diefem Fach können wir höchften® die flachge-
bauten Violinen des Amerikaner? Hulsfamp erwähnen, melde
Bon ber Austellung. 553
eine commtercielle Zukunft haben, da fie in großer Zahl fehr
billig fabricirt werden fönnen. Im allgemeinen war die er:
freulihe Wahrnehmung zu machen, daß die Geigenbauer das
rihtige Princip: den alten Stalienern nachzufolgen, allmälig
in einer vernünftigen Auffaffung anwenden. Noch der officielle
Beriht Schebeck's von der Pariſer Weltausjtellung (1852)
durfte über die Charlatanerie lagen, mit welcher Geigenmader
durch Fünftlihe Austrodnung ded Holzes, Abſchabung des
Lackes 2c. alte Cremoneſer Geigen, oder richtiger: das Alter
der Gremonejer Geigen copirten. Das Streben eines tiihtigen
Geigenbauers foll und kann doch immer nur dahin gehen, feine
Snftrumente jo zu machen, wie Guarneri oder Straduarius
fie zu ihrer Zeit gemadt haben, nicht aber neuen Geigen
durch bedenkliche Kunſtgriffe dad Anjehen Hundertjährigen Alters
und Gebrauchs zu geben.
Die Ausstellung von Blasinftrumenten ift jehr reich,
fie dürfte über 1000 Stüf in Metall, über 600 in Holz
betragen. Die Franzojen haben ihre Inſtrumente in theils
flachen, theils rondelartigen Glaskäſten am netteften ausgeſtellt.
Der Eindrud, den wir vor den großen, hellpolirten Blech:
Inftrumenten Beſſon's, Gautrot3 und Sax' empfingen,
war bewunderndeg Grauen. Oder wie jonft fünnte man dieſe
riefigen, vielfah gemwundenen, flappenbededten Ungeheuer an:
fehen; diefe Armftrongfanonen der Tonkunft, die drohend ihre
weite Mündung gegen uns richten? Zum Glüd findet ſich
jelten ein Liebhaber, der fie auf der Ausjtellung probirte. Als
wenn alle diefe Sprößlinge des Ophikleidengeſchlechts noch
nicht für die zarten Bedürfniſſe einer Militärmuſik ausreichten
und wenigftens die Phantafie da weiter fortjegen müßte, mo
die praktiſche Möglichkeit endet, hat Sar eine Metalltuba ver:
fertigt, die gar feine mufilalifche Verwendung zuläßt. Nur ein:
zelne Töne vermöchte ein Nibelungen-Hornift aus dieſer De:
tallihluhht hervorzuholen, in deren Innerem der gewaltige
Bläfer zugleich fi) bequem verſtecken kann. Das Inſtrument
von Sar hat für den Mufifer feine andere Bedeutung, als für
den Raucher die unermeßliden Meerichaumföpfe haben, welche
man hie und da in Auslagfäften paradiren ſieht. Die Fran—
554 Mufifalifcher aus London. (1862. )
zoien würden beides »tours de force« nennen. Neun und höchſt
intereffant ift die zum erftenmal verjuhte Verwendung des
Aluminiums für Blasinftrument. Gin aus dieſem Metall
verfertigtes Flügelhorn von Beſſon iſt ſo leicht wie Pappen—
deckel. Vier ſolche Inſtrumente erreichen zuſammen erſt das
Gewicht eines gewöhnlichen Blechflügelhorns von gleicher
Größe und Dicke. Im Preiſe ſtellt ſich Aluminium dem Silber
gleich, und dieſe Koſtſpieligkeit bildet natürlich das größte
Hinderniß für die Verbreitung jenes Verſuches. Sollte man
aber künftig dahin gelangen, Aluminium billiger zu erzeugen,
jo wird deſſen Verwendung für Blasinſtrumente als größte
Wohlthat für die blaſende Menſchheit eine enorme Ausdeh—
nung gewinnen.
Die Flöten von Meiſter Ziegler in Wien haben durch
Schönheit und Solidität der Arbeit und ihre verhältnißmäßige
Billigkeit verdientes Aufſehen erregt. Trotzdem kann man ſich
nicht mehr darüber täuſchen, daß die ſogenannte »alte« Flöte,
die gegenwärtig in Wien nach ausschließlich herricht, von dem
neuen Syſtem des Münchner Theobald Böhm täglih mehr
verdrängt wird. In allen engliihen und franzöſiſchen Orcheſtern
berriht die Böhm'ſche Flöte, und wird fhon dur den einen
Vorzug allein, daß fie die Lunge des Spielers fchont, überall:
hin ihren Weg finden. Die Anhänger der einfacheren, billigeren,
gemüthlihen Wiener Flöte mögen noch fo gereizt auf die
neue Erfindung bliden, diefer allein gehört die Zukunft, ja
zum großen Theil ſchon die Gegenwart. Die Anhänger der
alten Flöte werden mit demjelben gerechten Herzeleid ihr Lieb:
lingsinftrument verichtwinden ſehen, wie unfere Großeltern die
gemüthlihe Poftkutihe vor den Dampfmalhinen einer nenen
Zeit verſchwinden ſahen. Wir ehren den Schmerz um muſi—
faliiche und fonftige Boftkutichen; allein nimmermehr möchten
wir den Leuten abrathen, auf der Eifenbahn zu fahren.
Wenn der Saal ruhig und die Zuft rein ift, hören wir
jeltfame Scharfe, Tanggezogene Töne. Sie Klingen füß, unſäglich rein,
dabei aber eigenthümlich durchichneidend, gläfern, wie mit geifter-
haft jtieren Augen geradezu auf unjere Nerven losſchreitend.
Die fremdartigen Klänge fommen aus einer Glasharmonifa,
Bon ber Ausftellung. 555
und der blonde, freundlide Mann, der fie dem Inſtrument
entlodt, it Herr Bohl aus Wien. Die Glasharmonika ift mehr
eine mufifalifche Guriofität, ald ein Inftrument. Auf ein meit
engered Feld mufifaliicher Entfaltung beichränft, als die Phys—
harmonika, überbietet fie dieſe noch an ätherifcher Reinheit und
nıervenaufregender Schärfe des Tones. Es wird wohl zunädjit
das Intereſſe des mufifaliihen Hiſtorikers, oder aber das
Bedürfniß einer übermäßig geiteigerten Empfindſamkeit fein,
was fich diefem Inftrumente inniger befreundet. Für unfere
Empfindung hat die Glasharmonika etwas krankhaft Gereiztes,
fie gehört zu den pathologiichen Ericheinungen, die hin und
wieder in jeder Kunſt auftauchen, um bald wieder zu ver:
Ihwinden. Das Beitridende diejes pathologiichen Neizes erklärt
pollfommen, daß gewilje Stimmungen und Gemüthsrichtungen fich
daran beraufchen, daß ein Jean Baul md F. D. Schubart
dafür ſchwärmen fonnten.
Ein anderer Theil des Publicums, der ftärfere Koſt liebt,
umſteht fleißig die großen Spieluhren und Orcheſtrions, Die
zu beitimmten Tageszeiten mit halber oder ganzer Orcheiter-
fraft ihre Stüde aborgeln. Das größte und vollfommenite
diejer Automaten ift eine Schwarzwälder Arbeit von Welte
im GroßherzogthHum Baden. Es iſt um die Kleinigkeit von
2000 Bid. St. käuſlich. Dies Orcheſtrion ift ein fürmlicher
mufifaliiher Hochofen. Alle Stunden wird die eiſerne Thüre
unten geöffnet, einige Mufitwalzen, wie große Blöde Holz,
hineingeichoben. Nun fängt e8 an zu £niftern, die mufifalifche
2ohe ſchlägt auf und prafjelt mächtig, bis die Feuerung auf:
gezehrt ift und der Ofen mit einer neuen Duverture geheizt wird.
Die Ausstellung im Induſtriepalaſt ift bekanntlich nicht
nad) Gegenftänden, fondern nah Nationen geordnet. Wer
daher die mufikaliichen Inftrumente nah ihren Hauptelaffen
durchgehen und vergleihen will, muß fih auf lange Kreuz—
und Querzüge, auf fortwährende Abitecher aus Franfreih nad
Deutihland, aus England nah Nordamerifa u. ſ. f. gefaßt
machen.
Die Jury begann ihre Prüfungsarbeiten mit den Cla—
vieren, den »MVornehmen«e und »Gebildeten« der tönenden
556 Mufifaliiches aus Lonbon. (1862.)
Gefelihaft. Die Franzoſen verdienen hier wie überall als
jorgfältige Ausfteller Nacheiferung. Ihre Inſtrumente find
zwedmäßig und gefällig geordnet und durchaus in guter
Stimmung. Alle franzöfiihen Inftrumentenmaher haben für
Virtuojen aller Gattung gejorgt, weldhe ihre Inftrumente in
der Erhibition vorführen. Auch fanden wir in der Qualität
ihrer auögeitellten Yabrifate ein gemilles Niveau der Ans
jtändigfeit, unter welches jelbit die geringfügigften nicht ſanken.
Bon den Glavieren Pleyel's und Herz’ biß zu dem legten
franzöfiihen Piano der Ausftellung iſt feine fo große Kluft,
wie zwiſchen dem Beiten und dem Schlechteſten der deutjchen
Abtheilung oder der engliihen. In letzterer fteht die Firma
Broadwood obenan. Ein fremder Herr öffnet ‚und zupor=
fommend die Broadwood’ihen Flügel, zieht mit kräftiger Hand
die Mechanik heraus und gibt und Aufichluß über jedes Detail
der Fabrication. Seine Perſönlichkeit hat etwas TFeflelndes
dur) die eigenthümliche Verſchmelzung von Intelligenz und
Mohlwollen. Das leuchtende braune Auge, die jugendlich ela=
tiihe Haltung contraftiren ſchön zu dem grauen Haar und
der ernitgefurdhten Stirn. So, meint mein Nachbar, fünnte ein
Premierminifter ausjehen. In Wirklichkeit ift e& der Clavier—
fabrifant Henry Broadmwood. Mer verbindet nicht mit
diefem Namen fogleih die Vorftellung einer impojanten Ge:
werbs- und Handelsthätigkeit? Das Land ilt ftolz auf die
Leitungen und den Ruhm der Firma; die Nation darf
ftolz fein auf Männer wie Henry Broadwood. Der Mann,
deſſen — Seither fehr vermehrte® — Vermögen ſchon zur Zeit
der erſten Londoner Ausstellung über zwei Millionen Pfund
betrug (alſo über 20 Millionen Silbergulden), fit um ſechs
Uhr Morgens arbeitend an feinen Clavieren. Ein große Herr,
wie nur irgend einer, iſt er doch ftolz darauf, Arbeiter zu fein.
An feiner Fabrit — fie gleicht einer kleinen Stadt — kennt
er jeden Gehilfen, jeden Winkel, jede Verrichtung. Mit einer
Liberalität ohnegleihen macht Broadwood fremden lavier:
madhern den Führer und Erklärer in feinem riefigen Inftitut,
fern von der Kleinlichkeit auch nur des geringſten Geheimniſſes,
der Hleinften Brahlerei. Ebenfo eifrig wie wir Broadiwood fanden,
Bon ber Ausftelung. 557
Andere zu belehren, ſahen wir ihn auch ſelbſt lernen und
beobachten. Mit der gewiſſenhaften Aufmerkſamkeit eines Auf:
ftrebenden prüfte er die Gigenthümlichkeiten der ausländifchen
Snftrumente, und jelten hörte man neiblofere Anerkennung
jedes fremden Verdienſtes. Sieht man vollends Broadwood
als Haupt feiner Familie von einer trefflihen Frau und vier
Ihönen Töchtern umgeben, in einem Haus, das, ohne allen
prahleriſchen Flitter, von Aufgeräumtheit und Behagen glänzt,
dann kann man fich die freudige Empfindung nicht verhehlen,
ein ideales Bild engliihen Bürgerthums, engliihen Familien:
leben geſchaut zu Haben.
Der Deutiche kann die Bemerkung nicht unterbrücden, wie
jehr derlei große engliiche Unternehmungen durch die riefigen
Dimenfionen ihres Capitals, Verkehrs, ihrer Arbeitöfraft und
Speculation vor ähnlihen Fabricationen des Continents be—
günftigt find. Die Broadwood'ſche Fabrik beiteht eigentlich
aus zwei großen Gtabliffements, deren eines fih in der Great
Pultney Street, dad andere, größere, bei Weſtminſter befindet.
Regtered bebedt einen Flächenraum von mehr als einer halben
Meile im Umfang und befteht aus vier parallel laufenden
Reihen von Gebäuden, welche drei große Höfe bilden. Die
Gebäude, durchgehend Doppeltracte, find 300 Fuß lang und
enthalten durch drei Stodwerfe eine Doppelte Reihe von Werk—
ftätten, in denen an 400 Berfonen ſich mit der Ausführung
aller jener Arbeiten beichäftigen, welche nothwendig find, um
vom erften Sägeichnitt bis zum feinjten mechanischen Detail
ein vollendetes Piano herzuftellen. Die jährlichen Auslagen
der Broadwood’shen Fabrik betragen in runder Summte
100.000 Pfd. St. oder eine Million Silbergulden. Jährlich
liefert die Fabrik circa 2300 Claviere, alfo nicht viel weniger
als alle Wiener Pianofortemacher zufammengenommen. Mit
ſolchen Dimenfionen kann nun freilich der genialite Clavier—
macher Deutfchlands nicht concurriren. Neben England iſt es
vorzüglich Nordamerifa, wo derlei Fabricationen fich koloſſal
entwickeln können, wo Talent und Arbeitöfraft den üppigiten
Boden und felbit bei mangelndem Capital die Hilfe ausgiebigen
Gredit3 finden.
558 Mufifaliihes aus London. (1862.)
Die Familie Steinway aus Braunſchweig jcheint für
Amerika werden zu wollen, wad® Broadwood für England,
Erard für Frankreich. Aljo in allen drei Fällen Deutihe von
Abſtammung. Steinway’s Jnftrumente auf der Austellung
— zwei Flügel und ein Zafelclavier — ftehen obenan unter
den Glavieren, welche das meifte Auffehen erregt haben. Dieie
Anftrumente beitechen durch ihren vollen, runden Ton, inter:
ejfiren überdies durch finnreiche mechanifche Neuerungen. Es
find darin (im gleichen Intereffe der Raumerjparnig wie der
Tonfülle) die Baßfaiten überquer gejpannt; der Metallrahmen
befteht aus einem einzigen Stüd gegofjenen Eiſens u. ſ. w. Bon
allen mechaniſchen Verbeſſerungen ſchien uns die Methode Stein
way’s, jo jung und wenig erprobt fie auch noch ſei, doch am
meilten Gntwiclungsfähigfeit und Zukunft zu haben.
Die Oper.
Wenn von der »Dper in London« gejprocdhen wird, hat
man immer an die italienijche zu denfen. Seit einigen Jahren
ift zwar der Verſuch einer »engliihen National:Oper« wieder:
holt gewagt worden, allein diefe ſchwächliche Schöpfung wird
von den eigenen Landöleuten als Aichenbrödel behandelt und
darf fih nur »hors de saison«, in den Wintermonaten bliden
lafjen. Während der »Sailon« — ein Begriff, der in London
mehr als irgendivo auch in künſtleriſchen Dingen enticheidet —
gibt es nur eine italienijche Oper, und dieſe obendrein doppelt
vertreten duch zwei rivalifirende Opern-Geſellſchaften im
Gonventgarden und in Her Majelty’3 Theatre. Eine fo un—
erhörte Ausdehnung italieniiher Opernmufit in fremdem Land
muß heutzutage nicht wenig auffallen. Dies Feitfigen auf einem
antiquirten Standpunkt charakteriſirt nicht nur die Hiftorijch ge:
wordene Zähigkeit der Engländer auch in fünftleriichen Dingen,
es beweilt eben jo ſehr ihre Verlegenheit, der Alleinherrichaft
der wälfchen Oper eine ebenbürtige nationale Production ent—
gegenzujegen. Seit den zweihundert Jahren, al3 die italienische
Dper allmälig von Europa Belig zu nehmen begann, um ihn
Die Oper. 559
lange Zeit unbeftritten zu behaupten, hat fi in Deutichland
und Frankreich längſt eine eigenthümliche nationale Kunſt ent:
faltet und jene importirte wieder heraußgedrängt. In Paris be:
fteht zwar noch die Gewohnheit einer furzen »italienischen
Saiſon«, allein neben dieſer jegen rührig und umbeirrt zwei
bis drei franzöfiihe Bühnen die Pflege der nationalen Oper
fort. Weit entfernt, in der Saijon auf das Gaſtſpiel »aux
Italiens« angewiejen zu jein, erbliden die Parijer faum mehr
etwas anderes darin, al3 einen ariftofratiichen Lederbiffen. In
Deutichland Haben nicht nur die ehemaligen Hauptfige der
italienifchen Oper, Dresden, Minden, Berlin, die deutſche
Dper längit vollſtändig an die Stelle der wälſchen treten laſſen,
auch Wien hat den letten Nachklang derjelben, die dreimonat:
liche Stagione im Kärntnerthor:Theater, als antiquirt aufgegeben.
In London hingegen vertreten noch immer das gefammte große
Kunitgebiet der dramatiihen Mufit — zwei italienifche Gefell-
ichaften. Sie herrichen während der ganzen Zeit allein, wo in
Rondon überhaupt von Theater und Mufit die Rede ift, denn
die ärmliche Comöddie, die unter dem prunfenden Namen »new
royal Operetta-Housa« ihr dunkles Weſen treibt, iſt in Wahr:
heit nicht3 anderes als ein ſchlechtes Waudeville-Theater.
Der künſtleriſche Einfluß der italienischen Oper in London
ift im Vergleich zu ihrer Breite und Koftipieligkeit jehr gering.
Wenn irgendwo die Oper den Kainsſtempel ihrer Entitehung,
den Charakter höfiſcher leerer Grgöglichkeit noch aufweilt, jo
ift dies der Fal in London. Dies Inſtitut, das fabelhafte
Summen verihlingt, fteht mit der Nation nicht in dem leifeiten
inneren Zujfammenhang. Es hat gar fein Verhältniß zu dem
Boll. Nur die Geld- und Geburt3:Ariftofratie, verftärkt durch
die neugierige Touriſtenſchaar, nimmt Antheil daran. Die ita-
lienijche Oper zu bejuchen ift Mode, fie gehört zu den Saßungen
des bon ton. Von dem innerlich erregten Antheil, mit welchen:
in Deutſchland und Franfreih das Erfcheinen einer neuen oder
die Wiederbelebung einer clafiiichen Dper aufgenommen wird,
ilt hier feine Nede. Damit ſoll nicht etwa die Theilnahmölofig-
feit des engliſchen Publicums denuncirt fein, ſondern zumächit
die unausfüllbare natürliche Kluft zwijchen demjelben und der
560 Muſikaliſches aus London. (1862.)
italieniihen Oper. Kein Volk hat einen jo geringen fünftlerifchen
Zufammenhang mit Stalien, dem Mutterland des Schönen, als
das britiihe. Wenn wir heute eine italienische Oper in Wien
organifiren wollten, wa® faum einem Wernünftigen mehr ein-
fällt, jo Eönnten wir noch immer auf die künſtleriſche Bluts—
verwandtihaft pochen. Unſer eriter Tondichter Mozart iſt ein
Adoptivfohn Italiens, vor und neben ihm war es ber aller:
größte Theil der »MWiener Schuler. Getränkt mit italienischen
Kunftelementen, fteht Defterreich durch feinen italieniichen Länder:
befig und das lebhafte finnliche Temperament des eigenen Volkes
in fortwährendem räumlichen und geiftigen Zufammenhang mit
dem Baterlande Cimaroja’s und Roſſini's. In den gebildeten
Kreiſen Wiens ijt die Kenntniß der italienischen Sprache fo ver—
breitet, daß das Publicum in der italienifhen Oper nichts
weniger als ein mwildfremdes Idiom hört. In Paris herrſcht
ein ähnliches Verhältniß. Die Franzojen, an fih ſchon den
Ktalienern blutöverwandt, haben ihre nationale Oper auß der
italienifchen herausgebildet, fie haben ihre beften Componiſten
und alle beiferen Sänger in die Schule Italiens geſchickt. Aber
England! Was hat England mit der italienifchen Oper zu
Ihaffen? Außer einigen Gelehrten und Kaufleuten verfteht dort
fein Menih Italieniſch. Es war in Her Majeity’3 Theatre, wo
ic eines Abends den »Barbier von Sevilla« hörte. Ich war
eritaunt, Zuchini, der in Wien als Doctor Bartolo von
Laune förmlich überfprudelte, hier fo wirkungslos und unauf-
gelegt zu finden. Ein Blid auf die fteinerne Miene des Publicums
flärte mich raſch auf. Die Leute verftanden ja nicht eine Silbe
vom Dialog und nahmen diejelben Späffe, die in Wien jhallendes
Gelächter hervorrufen, fo feierlich ernfthaft auf, als ſpräche der
fteinerne Gaft im »Don Juan«. Fremd, wie die Sprache, bleibt
dem Engländer auh das Phantafier und Gemüthsleben des
Italienerd. Jedermann weiß fich diefen Gegenjaß ſelbſt aus—
zumalen. In feiner ganzen Wucht fühlt man ihn aber dennoch
erft, wenn man London gefehen hat und feine ſchweigſam raſt—
[ofen Bewohner, wie fie unter verdrießlich grauem Himmel und
naßfalter Luft im »Geſchäft« des Lebens arbeiten. Man blide
auf den Molo von Neapel und dann in irgend eine Cityſtraße
Die Oper. 561
von London, um zu millen, was eim äfthetiiches Volk und
was ein praftiiches ift.
Sp, dem Wefen der italienischen Kunft fremd, muſikaliſch
nicht hinreichend empfänglich noch. geichult, um jelbft im zwei—
deutigen Sinn Feinfchmeder zu fein, ſucht der Engländer in
der Oper nichts als eine glänzende Zerftreuung. Er läßt für
feinen mufifalifchen Appetit, ohne viel Wahl, anrichten, »was
gut und theuer« iſt. Theuer, das muß man einräumen, find
die zwei italienischen Opern-Gefelliehaften, und »gut« genug jeden-
falls, um ein PBublicum, das von der Kunſt nur Abjpannung,
nie Anitrengung der Geiftesthätigfeit erwartet, leidlich zu
amüfiren.
Zwei italienifche Opern-Geſellſchaften ſcheinen uns ſelbſt
für London zu viel, Nicht für die Größe der Stadt, aber für
die Qualität ihres äfthetiihen Bedarfed. Troß des enormen
Fremdenzudrangs zur Weltausstellung jahen wir die italienischen
Dpernhäufer an mehr ald einem Abend recht jchütter bejegt.
Bon Händel bis auf Lumley Haben fih in London Die
Banferotte der Opernpäcdhter nur zu oft wiederholt, und auch
unter dem Nachfolger des letzteren joll der Mechanismus des
Gagenzahlens mitunter jchon bedenklich geitört fein. Wären
nicht manche Verſuche bereitö gefcheitert, man müßte glauben,
daß in London neben einer italienischen Opern-Geſellſchaft eine
deutiche und eine franzöfiiche befier am Plage wären. Nicht
blos mit Rüdficht auf die zahlreihen Fremden und die vielen
in London anfäjfigen Deutihen und Franzojen, fondern weil
auch dem Engländer fih damit der einzige Weg öffnete, das
Beite der gejammten Opern-Literatur fennen zu lernen. Die
italienifhe Oper iſt in ihrem Horizont befanntlich weitaus die
engite, ſowie die deutſche die am meilten kosmopolitiſche
iſt. Mit ihren zwei großen italienifchen Gejellichaften entbehren
die Engländer dennoch die Kenntniß der meiften deutichen und
franzöfiihen Opern. Ganze Stylrichtungen und Kunftgattungen
wie die franzöfiihe Opera Comique find ihnen verichlofjen;
von deutſchen Opern fennen fie in italienifcher Zurichtung
»Fidelio«, dann »Freifhüg« und — »Martha«. Nur Meyer:
beer haben ſich die Staliener begreiflichermweiie nn affi-
Handlid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl.
562 Mufifaliiches aus London. (1862.)
milirt, er ift neben Verdi der eigentliche theatraliiche Regent
in London.
Die Unternehmer der beiden italienifchen Opern im Co—
ventgarden und Her Majeſth's find natürlich vor allen befeelt
von dem Gefühle — der Rivalität. Schade nur, daß fie dieſe
Rivalität nicht dahin verftehen, fich jeder ein eigenes Repertoire,
ein beſonderes Genre zu bilden, fondern im Gegentheil dahin,
einander auf demjelben jchmalen Pfade fortwährend auf die
Ferſe zu treten. Wenn Goventgarden anzeigt, e8 werde dieſe
oder jene Novität in acht Tagen aufführen, jo fanı man Tags
darauf mit Sicherheit die Annonce erwarten, Her Majeſty's
Theatre werde die Ehre haben, diejelbe Oper jchon übermorgen
zu geben. Während meines Aufenthaltes in London Hat jich
dies buchftäblih mit den »Hugenotten«, »Don PBasquale« und
»Robert der Teufel« zugetragen. Letztere Oper war in London
jeit at Jahren nicht aufgeführt worden, aljo fo gut wie eine
Nopität. Herr She kündigt fie für die nächſte Woche an, natür—
(ih mit höchſt impojanter Bejeßung« und »beijpiellofer Voll—
endung und Ausftattung«.*) Was thut fein Nival, Herr
Mapplefon? Er jest die Oper auf übermorgen an und gibt
fie mit zwei Proben. Die zweite Probe (am Tage vor der
Aufführung) begann um 10 Uhr Vormittags und mwährte bis
halb 3 Uhr Morgens. Zur Mittagszeit wurde dem Chor=,
Ballet: und Orcheſter-Perſonale das Eſſen ind Theater gebracht
— damit fih Niemand aus dem Haufe entferne — und nad
einer furzen Raft die Probe bis zum Morgengrauen fortgefegt.
Was lag an dem mangelhaften Enjemble einer todimüden
*) Man weiß nicht, ob man die marktjchreieriihe Faflung oder
den Sprachwirrwarr der engliihen Theaterzettel mehr bewundern joll.
Her Majeſty's Theatre zeigt z. B. wörtlich an:
»Thursday will be repeated (with unexampled completeness
and effect) Meyerbeer’s chef-d’oeuvre Robert le Diable. With the
following powerful cast: (folgt die Bejegung). Wir lefen in den
Perjonen-Berzeichniffen u. A.: Signor Tamberlid, Madame PBenco,
Mr. Faure, Herr Formes. Jeder Theaterzettel der beiden Herren ift
ein Kauderwälſch aus drei Sprachen. Ja aus vieren jogar, denn iiber
dem Perſonen-Verzeichniß heißt es in den fleineren Anzeigen noch mie
zu Shafeipeare’3 Zeiten »Dramatis personaee«!
Die Oper. 563
Künftlerichaft; der Director hatte den »Robert« gegeben und
wiederholt, ehe jein Rivale denjelben brachte, und ſomit —
all right!
Das Fünftleriihe Princip, wenn man es fo nennen mag,
ift in beiden Theatern das jogenannte » Starfyitem«. Es werden
nämlich einige »Sterne« (stars) als Mittelpuntt des Ganzen
engagirt, um welche dann alles Mebrige in eiliger Mittelmäßig-
feit gruppirt wird. Goventgarden, das in befjeren Gefchäften
und in größerem Anfehen fteht, hat mehr Sterne und ein ge—
ordneteres Planetenſyſtem; Her Majefty’3 wenig Sterne bei
überdied dunflerem und unverläßlichem Himmel.
Ihrer Majeftät Theater auf dem Haymarfet, die—
ſelbe erinnerungsreihe Bühne, für welde Händel die meilten
feiner Opern gefchrieben, ilt eines der größten Opernhäufer.*)
Für die unäfthetifche, wenngleich praftiihe Hufeilenform des
Zuſchanerraums und defjen ardhiteftonische Dürftigkeit entfchädigt
die vortreffliche Akuftit des Bares. Die leiſeſte Geſangsver—
zierung hört man vollftändig flar auf den entfernteften Pläßen
dieſes Haufes. Aeußerſt ftörend ift Hingegen das unverhältniß—
mäßig große Profcenium. Drei Logen auf jeder Seite befinden
ſich vollftändig auf der Bühne, jo weit ragt dieje ins Publicum
hinein. Die Einrichtung Tchreibt fih aus den Zeiten eines
enthufiaftifchen Balletcultus Her, wo jie den humanen Zmed
hatte, gewiſſen Menſchen Menjchliches näher zu bringen. Für
die dramatiihe Illuſion ift eine ſolche Bühne das Allerverderb-
lichfte. Der Sänger, der gehört werden will, tritt fortwährend
aus dem Rahmen der Handlung heraus und jteht mitten im
Publicum. Was nüßt die ſchönſte Kirhhof-Decoration im Hinter:
grund, wenn die Sänger zur Rechten und Linken feine Leichen:
fteine, fondern Logen voll gepußter Herren und Damen haben?
Die Wirkung der trefflichſten Decorationen, der geſchickteſten
*) Es iſt größer al3 Eoventgarden und gibt dem inneren Raum
der Scala in Mailand nicht viel nach. Die Breite des Bühnenraumes
beträgt beinahe 80, die Tiefe 62 Fuß. Die 5 Logenränge (210 Logen
enthaltend), von denen die 3 eriten faft ausſchließlich im Befig der
nobility find und für die Saiſon à 150-400 Guineen koſten, fafjen
1000 Berjonen, Barterre (pit) und Galerie zuſammen an 1600.
36*
564 Mufitalifches aus London. (1862.)
Scenirung geht an der Barbarei eines ſolchen Profceniums zu
Grunde. Sie macht die große Tiefe der beiden Londoner Opern—
bühnen zu einem Dritttheil illuſoriſch. Dieſe Tiefe der Bühne
it unſchätzbar für die große Ausftattungsoper, Hingegen ein
arges Hemmmiß für die komiſche und Gonverfation?-Oper. Im
»Barbiere oder »Don Pasquale« wiſſen die drei bi vier
fingenden Berfonen kaum, was in dem unheinlich weiten Raum
anzufangen. Wenn Rofina vom Brofcenium an ihren Schreib:
tiih oder gar zum Fenfter geht, jo Iegt fie eine fleine Reiſe
zurüd. In Goventgarden, wo vor dem Brand (1856) der
Vorderraum der Bühne noch größer war, fpielte man damals
den »Barbier« vollftändig auf dem Profcenium, und ftellte un—
mittelbar hinter die erite Goulifie den Hintergrund. Obwohl
ein Nothbehelf, zeugte diefe Anordnung doch von der richtigen
Einficht, daß alle Feinheit des Converſations-Stücks in fo weiten
Räumen verloren geht. Das Beſte bleibt überall, die komiſche
Oper, wie in Paris, in ein eigenes Eleinereg Haus zu retten.
Geiſtliche Muſik.
Wie die Oper der äußerlichſte Beſtandtheil des Muſik—
lebens in England, ſo iſt deſſen echteſter und volksthümlichſter
das Oratorium. Dieſe ſeltſame Seitenbildung der Oper hat
ſich in England zum glänzenden Gegenpol derſelben aus—
gearbeitet und eine Stellung errungen, die ſie in gar keinem
anderen Lande einnimmt. Während in England die Oper als
künſtlich gezogenes Gewächs ein gleißendes Scheinleben führt,
der Nation fremd und gleichgiltig, ein Zeitvertreib den Reichen
und den Fremden, blüht dort das Oratorium ſeit Händel's Zeiten
in geſunder, zweigtreibender Kraft. Von allen größeren Kunſt—
formen in der Muſik iſt das Oratorium die einzig populäre in
England, die einzige, welche, mit den Anſchauungen und Ge—
fühlen des Volkes tief verwächlen, eine ethiſche Macht über
dasjelbe ausübt. In England ſelbſt wurde es uns erit recht
ar, wie Händel gerade in diefem Land umd für diejes Volt
ein Kunſtgenre ſchuf, das man die biblifche Concert-Oper nennen
Geiftlihe Muiif. 565
fönnte.*) Dem Geſchmack des Engländers entipricht darin
ebenfofehr die Verkörperung biblifcher Geftalten, als muſikaliſch
das ruhige, kräftige Pathos, der gleihmäßige, große Styl. Es
ift gewiß nicht Lediglich das mufifalifhe Moment, was den
Engländer in Händel’3 Oratorien die Vollendung aller Kunft,
in Spohr's und Mendelsjohn’s Oratorien die Spiten der
modernen Runft preifen läßt, der religiöſe Inhalt fpielt in dieſe
Vorliebe mit hinein; doch nur ſchroffe Ungerechtigkeit vermöchte
das größte und befte Theil der Händel:Verehrung in England
auf das geiftlihe Fundament allein zurüdführen wollen.
Händel ift in feinem Vaterland beiweitem nicht jo
populär, wie in England. Dabei ift fein Humbug. Das englifche
Volk, foweit es überhaupt der Muſik zugänglich ift, fennt den
»Meffiad« jo genau, wie etwa ein deutſches Publicum den
»Freifhüß« oder die »Zauberflöte«. Wie wäre es auch fonft
möglich, daß die Taufende von Sängern (Dilettanten), welche
aus ganz England zu dem Händelfeft zufammenftrömen, den
»Meſſias«, »Iſrael« u. dgl. mit Einer Gefammtprobe fingen!
Lichtenberg jchrieb einmal aus London an Boye, Shafe
jpeare werde in England nicht wie ein großer Schriftiteller
verehrt, jondern wie ein Heiliger. Dies gilt weit unbedingter
von Händel. Der Händelcultus ift die eigentliche muſikaliſche
Religion in England. Als oberites Conſiſtorium dieſes Cultus
fungirt die Sacred harmonie soeiety Geſellſchaft für geift-
fihe Mufit) in London. Dieſes berühmte Snjtitut — man darf
e3 wohl die erſte muſikaliſche Gejellfhaft der Welt nennen —
verdient etwas näher betrachtet zu werden.
Es war in den legten Tagen des Jahres 1832, daß
in London ein Kreis mufifliebender Dilettanten die Gründung
einer Gejellihaft beihloß, welche ausichließlih der Pflege
geiſtlicher Mufif gewidmet fein follte. Die ausübenden Mufik:
*) Für den Schöpfer der modernen Oratorienform müffen wir
Händel troß der vielen älteren »Oratorien« halten. Den erften
äußeren Anitoß zu feinen Oratorien gab bekanntlich das von der eng:
liſchen Geiitlichfeit erlaffene Verbot, eine biblifche Oper »Either« auf
dem Theater aufzuführen, worauf fie dann Händel in der noch heute
üblichen Concertform (in still life) vorführte.
566 Muſikaliſches aus London. (1862.)
freunde (»Amateurs practitioners of music«), welche diefe Ge—
jellihaft bildeten, hatten anfangs weniger die Veranftaltung
großer Goncerte, als die eigene Hebung und Erbauung im
Auge. Sie verfammelten ſich wöchentlih einmal des Abends,
und zwar anfangd in einer Gapelle in Lincoln’: Inns Field
(Gate Street). Da hatten fie die Benügung der Localität und
der Orgel unentgeltlih. Als ihr aber diefe Erlaubniß bald
wieder entzogen wurde, war die junge »Sacred harmonie
soeiety« in großer Lebensgefahr, denn es fehlte ihr an Geld.
Dennoch ftanden die 31 Mitglieder, aus welchen damals Die
Gejellihaft beftand, unerichroden zufammen, errangen ſich zus
nächſt die Benügung einer Capelle in der Henriettenftraße, und
mietheten endlich für ein halbes Jahr einen Saal in Ereter
Hal. Nachdem fie im Jahre 1833 zwei Concerte gegeben,
hatten fie Ende December — ein Deficit von 20 Pfund
Sterling. Dies betrübende Endrejultat wiederholte fih nod
bis ins Jahr 1836, ein Beweis, daß die Gejellihaft redlich
zu fämpfen hatte. Sie verlor aber nicht den Muth, vermehrte
1836 die Zahl ihrer Eoncerte auf acht und 1838 auf eilf.
Ihr endlihes Aufblühen datirt von dem Zeitpunkt, wo Die
berühmten geiftlihen Concerte in der MWeltminfterabtei jeltener
wurden und endlich (1840) ganz eingingen. — Ihre Erbſchaft
ward gleichjfam von der Sacred harmonie society angetreten,
und zwar mit ungleich außgebildeteren Kunftmitteln. Im teten
Wachsthum entwidelte ſich die Gefellichaft, bis fie durch Die
Veranftaltung des großen »Hänbelfeites« im Jahre 1859 den
Gipfel ihres Anfehens eritieg. Die eier des Hundertiten
Zahrestages von Händel’ Geburt, in Deutſchland beinahe
ignorirt, wurde damals befanntlih in London durch ein drei:
tägiges impoſantes Mufiffeft gefeiert. Der immenfe Erfolg
desſelben veranlaßte den Entſchluß der Gejellihaft, alle drei
Sahre ein folches »Händelfeit« im Keryftallpalaft zu Sydenham
unter Mitwirkung aller mufifaliichen Kräfte des ganzen Reiches
abzuhalten. Bon dem NReinertrag des Händelfeftes 1859 hat
die Sacred harmonie soeiety nicht weniger als taufend Pfund
Sterling in ihren Unterſtützungsfonds eingelegt. Diejer
Wohlthätigkeitsfonds ift eine trefflihe Einrichtung. Durch frei-
Geiſtliche Muſit. 567
willige Beiträge, dann durch die Ueberſchüſſe der Subſcriptions—
gelder gegründet, gewährt dieſer, gegenwärtig ſchon ſehr an—
ſehnliche Fonds jedem Künſtler oder Dilettanten, der
irgend einmal mit der Gejellihaft in Verbindung
ftand, den Anſpruch auf eine augenblidliche oder periodifche
Unterftügung für den Fall der Hilflofigkeit. Diefer Fonds,
welcher gegenwärtig bereits ein gefichertes jährliche Ein:
fommen von 100 Pfund Sterling ausweiſt, unterftüßt manchen
verarmten oder erfranften Mufifer, der vielleicht drei- oder
viermal in den Goncerten der Gejellfihaft mitgewirkt Hatte;
ja die Nechenichaftsberichte erzählen von regelmäßigen wöchent—
Iihen Aushilfen, welhe an arme Witwen verftorbener Mit:
glieder verabfolgt werden. Wie jchön bewährt fich hier die
mild und mohlthätig ftimmende Macht der Mufit, und wie
tüchtig hat der engliiche Affociationsgeift es verftanden, die edle
Negung gleich praftifch zu organifiren !
Gleich dem Unterftügungsfonds der Gejellihaft ift auch
deren werthvolle Bibliothek vorzüglich durch freiwillige Bei—
träge und größere Schenfungen entjtanden. Dieje in Ereter
Hall trefflih aufgeftellte Sammlung fann von den Mitgliedern
an Ort und Stelle oder dur Entlehnung von Werfen benützt
werden. Sie enthält 2324 Nummern, von höchſt werthoollen
Antiquitäten bis zu den neueſten mufifaliichen Büchern und
Gompofitionen herauf, an der Spige natürlich alle eriftirenden
Händel-Ausgaben, Sammlungen und Arrangements. Dieje
Bibliothek kann fich Freilich mit der zehnfach ftärferen unferer
»Geſellſchaft der Mufikfreunde« nicht meſſen, noch weniger mit
den mufilaliichen Schäßen der Wiener Hofbibliothef. Allein
ein Buch befißt die engliiche Gefellichaft, um das die Wiener
Bibliotheken fie bemeiden fünnen: einen gedrudten pollftändigen
Katalog ihrer Werke. Die Mitglieder der Sacred harmonie
society (gegenwärtig iiber 800) find meiſtens Dilettanten aus
den arbeitenden Mittelclaffen Londons, Kaufleute, Beamte,
- Handwerker mit ihren Frauen und Töchtern. Die zu den Gone
certen beigezogenen Fachmufifer bilden einen verichwindend
Heinen Theil. Aus der eigenthümlichen Zuſammenſetzung der
Sejellichaft und ihrer Direction läßt ſich ſchon herausleſen,
568 Muftfaliiches aus London. (1862.)
daß das Inftitut vollitändig im Wolfe wurzelt und von wahrer
Liebe zur Sache gehalten ift.*) Das find andere Namen als
in »Her Majeſty's Theatre«e. Die Oper in London ift ariſto—
frattich, ihr Befuh Modeſache; die Oratorien-Muſik ift demo—
fratiich, und der Antheil daran Herzensſache.
Ihre regelmäßigen Concerte gibt die Gejellihaft in Der
impojanten Ereter Hall in der City, Im Sahre 1860 fanden
vierzehn ſolche Concerte ftatt; neun Abende entfielen auf Hän—
del’iche Oratorien, worunter dreimal der »Meſſias« Haydn’s
»Schöpfung«“, Mendelsſohn's «Eliad« und »Lobgejang«
theilten fi in den Reit.
Ich hörte Haydn's »Schöpfung« in Ereter Hall. Es ge—
hört zu den überrafchenditen Anbliden, wie fih vor dem
Zufeher in fchroffer Steigung ein Gewirr von Notenpulten
und Injtrumenten aufbaut, dahinter breite, weite Flächen, hier
weiß, dort ſchwarz — die Sänger und Sängerinnen — und
hinter alldem die blinfenden Pfeifen der gemaltigen Orgel!
Der Saal — er faßt 3000 Menichen — erjcheint zwar wie
ein Kinderjpiel gegen den Kryſtallpalaſt, allein er iſt doch
gleihfall3 nur für Maffenwirkfungen geeignet, für die diden
Pinjelftrihe gewaltiger Chor: und Orcheſterfresken. Die Eolo-
ftimmen fämpfen fi) mühſam aus diefer Umgebung heraus.
Frau Jenny Lind-Goldihmidt fang die Sopranpartie, Mir
Alle haben einst für dieſe fingende Fee geihwärmt; warum
ſoll ichs nicht vor Allen eingeitehen, daß ich mit Bewegung
dem Moment entgegenfah, wo fie heraustreten follte! Sch
erfenne die Stimme, wie man ein halbverwittertes Bild nad
*) Die von der Geiellihaft gewählte, unentgeltlih fungirende
Direction beiteht gegenwärtig aus folgenden Herren: Carmichael
(Baumteijter), Ford (Commis), Hanhart (Buchdruder), Hill (Com:
mis), Kitcat (Kaufmann), Milliar (Kaufmann), Beacod (Wedel:
mäller), Puttik (Muctionär), Sherrarel (Schneider), Sims
(Mechjelmäkler), Stewart (Schneider), Whitehorn (Commis), Will
cocks (Commis), Withall (Mdvocat), Husk (ANdvocat), Taylor
(Zinugießer), Brewer (Schullehrer), Bowley (Scuiter). Leßterem
gebührt das große Verdienſt, die Händelfefte im Kryſtallpalaſt
organtlirt Zu haben! Präſident der Geiellichaft iſt der Tabakhändler
Harriſon.
Geiftlide Muſit. 569
Sahren wieder erkennt. Die Töne kommen ſchwach und ver—
chleiert, in hohen fräftigen Stellen mit Anftrengung. Ich will
e3 glauben, daß es im traulichen Familienzimmer noch immer
entzüdend fei, fie Lieder fingen zu hören. Allein die unbarme
berzigen Concertjäle Londons jollte unfere Nachtigall fliehen.
An dem Beifall des Publicums wird fie freilich lange nicht
gewahr werden, daß ihre Stimme am Anfang des Endes ift.
Das engliiche Publicum ift beilpiellos in Sachen der Pietät,
und in Jenny Lind Hat e3 die doppelte Virtuofität zu ehren:
der Kunſt und der Mohlthätigkeit.
Bei aller Großartigfeit der Concerte in Ereter Hall ver:
halten ſich dieje Doch zu einem »Händelfeſt« im Kryftallpalaft
wie ein Streichquartett zur großen Symphonie. Diefe Händel:
feite (das erite fand im Sahre 1857, daS zweite im Jahre
1859, das dritte im verfloffenen Juni ftatt) verdanken ihren
Uriprung der »Sacred harmonie soeiety«, melde, den rein
muſikaliſchen Theil bejorgend, fich wegen des übrigen Arran—
gement3 mit der ⸗Kryſtallpalaſt-Compagnie« afjociirt. Dies
oft geichilderte Mufikfeit bier abermals jchildern zu wollen —
es wäre ein eitel Unternehmen. Wer diefen unermeßlichen Glas:
palaft betritt, der glaubt, auch ohne jedes Mufikfeft, fich in
ein koloſſales Feenmärchen verfegt. Nun füllen fich die gloriofen
Räume ded Palaftes von Glas. »Man denke fiche, ruft ein
älterer Berichterftatter aus, »diefen 40 Millionen Kubikfuß
fonnigen, kunſt- und naturverflärten Raums einjfchließenden
kryſtallnen Palaſt mit 30.000 Köpfen neben und in fünf
(uftigen Galerien übereinander gefüllt. Dazwiſchen ragen Tau:
jende von Statuen und Büſten, leuchtend zwiſchen Palmen und
Platanen, Bannern und Orangen, riefigen Schlinggewächſen
und hängenden Gärten, mit Hiftorifhen und industriellen Court,
foloffalen Neiterftatuen, beichwingten Wictorien u. j. w. Bor
uns viertaufend fingende, geigende und blajende Mufifer unter
der großen Orgel verfammelt zu fehen, ringsumher das farben-
bunte, umabfehbare Publicum, und überall die erftaunliche
Arrangement, welches jedermann Leicht feinen Sit finden ließ
und Allen geitattete, fih in den Pauſen beliebig im ganzen
Palaft zu ergehen. — Das allein, ehe noch ein Ton Mufif
570 Mufitaliiches aus London. (1862).
erklang, war ein Gindrud von bezwingender Großartigfeit !
Kein Land der Welt vermöchte Aehnliches hervorzurufen.e Diele
Neigung für das Koloffal-Große, zugleih aber das kühne
Geſchick, es praftiich zu geitalten, charakteriſirt auf künſtleriſchem
Felde den Engländer. *)
Dem Sundigen braucht nicht erft verfichert zu werden,
daß der eigentlich mufifalifhe Genuß dabei ein fehr bedingter
und beſchränkter ift. Bon feiner Schattirung und Belebung
fan bei einem ſolchen Tonförper feine Rede fein.**) Wo Die
Mufit den Charakter impofanter Kraft und Feierlichkeit an:
nimmt, da iſt die Wirkung unbeichreiblid. Niemand, der den
»Meſſias« im Kryitallpalaft gehört, wird jemals den Ausruf:
»Wonderful!« vergefjen, der in dem großartigen F-dur-Chor
mit der höchiten Kraft des ganzen Chors und Orcheſters die
Räume durchichmettert. Das ift ein Donnerſchlag in Harmonie
gebracht. Derlei Mafjen-Effecte, unterftügt von den eigens für
den Kryſtallpalaſt verfertigten Niefenpaufen und einer vor—
weltlih großen Trommel, wirken ungeheuer. Alles Uebrige
fällt dagegen ab, oder hat Mühe, fich überhaupt vernehmbar
zu machen. Wenn einer der Solojänger fein Recitativ beginnt,
jo iſt's als käme das fleine Stimmen von 50 Meilen weit
ber. Das gleichzeitige, haarſcharfe Zufammentreffen der Chor:
einfäge mit dem Taftirftab des Dirigenten ift bei einem ſolchen
Körper nicht möglich; man fieht den Gapellmeiiter ſtets um
etwa eine Achtelnote vorausſchlagen. Coſta dirigirt diefe Muſik—
*) Einige Zahlen dürften die Dimenfionen dieſes Feſtes un—
gefähr anschaulich mahen. Im Sahre 1859 war während der Haupt:
probe und der drei Feſttage der Kryſtallpalaſt im ganzen beiudht von
81.309 Berfonen. Die Brutto-Einnahme betrug 35.000 Pfund Sterling.
Bon den NReinertrag (20.000 Pfund Sterling) erhielt ein Drittel die
»Sacred harmonie society« und zwei Drittel die Actionäre des Kryſtall—
palaſtes.
**) Das Orcheſter beſtand aus 98 erſten, 96 zweiten Violinen,
75 Violas, 75 Cellos, 75 Contrabäſſen, 86 Blas- und Schlag—
Inſtrumenten: zuſammen 499 Spieler. Den Chor bildeten 810 So—
prani, 810 Alti, 750 Tenöre, 750 Bäſſe: zuſammen 3120 Stimmen.
Die Soloſänger, Dirigenten, Organiſten ꝛc. dazugezählt, gibt eine
Summe von nahezu 4000 Perſonen.
Geiſtliche Mufit. Händel-Feſte. 571
ſchlacht mit der nöthigen Kraft und Kaltblütigkeit; manche
Willkürlichkeiten, wie das häufige Verſtärken der Bäſſe durch
Ophykleiden, wird ihm kaum ernſtlich verdenken, wer je »bei
Sydenham« dabei war.
Daß ein Feſt von ſolchen Dimenſionen nicht lediglich
ein Ausbruch von Händel-Enthuſiasmus, ſondern gleicherweiſe
Gegenſtand einer großen kaufmänniſchen Speculation iſt, ver—
ſteht ſich. Mehr vielleicht als irgendwo klammern ſich in England
mercantile Antereffen an f£inftlerifhe Unternehmungen, Wir
haben hierüber manch wunderliche Thatſache in petto, die fein
Künftler vom Kontinent vertheidigen wird. Allein gegenüber
dem Händelfeft fcheint uns das einfeitige Betonen der Spe-
culationen ungerecht. Es ift wahr, die Crystal Palace Company
denft dabei nur an ihre Bilanz; fie macht ein Geihäft in
»Hündel«. wie fie Tags darauf ein Geichäft in Kohlen mad.
Allein die künſtleriſche Feier Teidet nicht darunter, daß das
Gomite fih darauf verfteht, Taufende von Beſuchern anzu—
Ioden. Zu Ehren eine großen Tondichters 10.000 Pfund
riöfiren, damit das Dreifache gewinnen und am Ende Das
impofantefte Mufikfejt des Jahrhunderts hergeitellt haben, das
mag man bei uns »echt englifch« nennen, gewiß aber nur im
rühmenden Sinne. Zeugniß für das ehrfurchtsvolle mufifaliiche
Intereſſe der Hörerichaft geben dieſe drei, ausſchließlich Hän—
del’ihe Mufif bringenden Feſttage. Sch ſah manch deutichen
Händelfreund und Händelfenner dabei ungeduldig werden, den
engliihen nicht. Sit es nicht die großartigite Huldigung für
Händel, wenn fich bei den erften Tönen des gewaltigen »Halle-
Iuja!« Alles von den Sißen erhebt! Diefer Ehor ift nebit
der Volkshymne (God save the Queen) die einzige Mufik, die
in England jederzeit ftehenden Fußes und mit entblößtem
Haupt angehört wird. Ein merfwürdiges Zeichen von dem
ernten und intimen Verhalten des engliſchen Publicums zu
Händel find die billigen Ausgaben feiner Oratorien, Die um
ein Spottgeld ausgeboten, und maſſenhaft bei jeder Aufführung
gekauft werden. Im Kryftallpalaft wurde eine nee Ausgabe
des »Meſſias« (volljtändige Geſangspartitur mit Clavierbeglei:
tung) um den unglaublichen Preis von 16 Pence verkauft;
572 Muſikaliſches aus London. (1862.)
eine größere, ſchönere Ausgabe um zwei Scillinge! In dem:
jelben bequemen Großoctavformat im netteften Typendruck hat
der Verleger Novello nicht nur alle Händel’ichen, ſondern
auh die Dratorien von Haydn, Mendelsjohn, Spohr,
die Meflen von Beethoven und Mozart u. ſ. w. erfcheinen
laſſen. Wie ungemein wird dadurch die Kenntniß der beiten
Meiiterwwerfe verbreitet! Für eine Bagatelle, um wenige
Prennige theurer als die Tertbücher im Opern-Theater, Fauft
man in London am Gingang zum Concertfaal den »Clavier—
auszug mit Tert« eines großen Oratoriums. Der größte Theil
der Zuhörer hat auch denſelben während der Production zur
Hand und Lielt aufmerkffam mit. Bedenkt man nun, daß bei
jeder Aufführung in Ereter Hall Hunderte, und im Kryitallpalaft
Tausende von Exemplaren des betreffenden Oratoriums ver-
fauft find, welche nah dem Concert im Yamilienfreife durch
genojfen, und für lange Zeit Gegenftand der Ergögung und
des Stubiumd werden, jo muß man die Engländer um dieſe
Seite ihres Mufiflebensd beneiden. Der Einwurf, daß Novello
mit diefen billigen Ausgaben ohne Zweifel nur jeinen eigenen
Nugen bezwede, berührt und natürlich auch hier nicht im ent:
fernteften. Novello muß, wie wir auß guter Quelle erfuhren,
etwa 30.000 Eremplare feiner billigen DOratorien verkaufen,
um die Koften vollitändig gedeckt zu Sehen, dann erit beginnt
jein Profit. Wir können ihm denſelben nicht Hoc genug
wünſchen. Für den Vertrieb diefer Dratorien-Außgaben iſt aud)
echt engliich gelorgt. Nicht nur colportiren in London Hunderte
von Händen Diele Ausgaben und Hunderte von Kehlen rufen
fie aus, auch auf aller Eifenbahn-Stationen im ganzen Reich
werden fie wochenlang vor einer Aufführung feilgeboten. Uns
würde es allerdings in namenlojes Staunen verjegen, wenn
wir im Liefinger Bahnhof Beethoven’3 D-Mefje würden feil-
bieten oder in Baden die Paſſagiere mit dem »Sirael in
Egypten« in die Waggons fteigen ſähen. Es iſt dies einer
jener englifchen Einfälle, die zwar nad) Geld ausgehen, aber
auf dem langen Wege dahin fortwährend Gutes wirken. Mag
immerhin Merkur ſäen, wenn nur Minerva miterntet.
Vereine. Concerte. 573
Vereine. — Concerte.
Der Zug don Großartigfeit, welcher die gefammte Kunſt—
pflege in England charakterifirt, Fehlt auch dem eigentlichen
Goncertwejen nicht. Er äußert fi zunächſt in der Maſſen—
haftigfeit des Gebotenen ; tiefer ruht er in der vielverichlungenen
Affociation der Kräfte. Als merfwürdigftes Beiſpiel der letzteren
fchilderten wir bereit3 die »Saered harmonie Society« und ihre
Verbindung mit der Kryftallpalaft:-Compagnie zur Durchführung
der Händelfeſte. Außerdem iſt die Zahl der muſikaliſchen Geſell—
ihaften in England erftaunlih. Ein interefjfanter Wegweiſer
darin ift der jährlich in London erjcheinende mufifaliiche Adrep-
falender (»Musical Direetory«). Das Verzeichniß ſämmtlicher
Mufilvereine und die Adreſſen aller engliihen Tonkünſtler,
Muſiklehrer und Verleger bededt in diefem Kalender 112 eng—
gedrudte, doppelipaltige Seiten. Indem wir den Jahrgang 1862
durchblättern, zählen wir jehzig Mufifvereine in London und
deren 170 außerhalb London. Davon entfallen auf Birming:
ham 6, Ganterbury 4, Dublin 7, Mancheſter 8, u. ſ. w. Seit
mehr als AO Jahren haben diefe Städte, dann Gloueeſter,
Morceiter, Hereford, Norwich, Vork ꝛc. 2c., ihre periodiich
twiederfehrenden Mufikfefte, meilt zur Zeit der jährlichen Gerichts:
Sejjionen.*) Die mufifaliihe Centralijation in Zondon ijt dem:
nach feine jo egoiſtiſche und ftraffe, daß fie das Land gleichſam
mufifalifch veröden würde. Obendrein kommt der lleberfluß der
Hauptftadt hier den Provinzftädten in regelmäßigen Sreislauf
zugute. Gegen Ende ımd nad Ablauf der »Saiſon« in London
veranstalten die eriten Künftler, einzeln oder zu Kleinen Gruppen
vereinigt, Gaftreifen in die Provinz. Sie finden dort häufig
mehr Theilmahme, äſthetiſche und finanzielle, als in der mufi-
falifch erdrüdten Hauptitadt. Die Städte der vereinigten König:
reiche erfreuen fich bedeutenden Wohlſtandes und bringen der
Kunst gern ihren Zehent.
*) Intereffant ift die »Mufikaliiche Gefellihafte in Cambridge,
die (Chor und Orcheſter) ausichließlih aus Univerſitäts-Mit—
gliedern beiteht.
574 Muſitaliſches aus London. (1862.)
Die Mufitvereine in den Städten beitehen größtentheils
aus Dilettanten, die zu regelmäßigen Uebungen und Produc—
tionen im Chorgefang oder Orcheiterjpiel fich vereinigen. Zu
ihren größten Aufführungen, namentlih Oratorien, laſſen fie
für die Solopartien berühmte Künftler aus London kommen.
Dieſe künſtleriſche Hilfeleiltung iſt mechielfeitig, denn Die
PBrovinzftädte find es, die wieder ihrerſeits dad Hauptcontingent
zu den großen Händelfeften nach London jenden. Die Vor:
bereitung dafür bildet das Jahr hindurch eine Hauptaufgabe
der meilten Landvereinee In vorzügliher Achtung ftehen
namentlich die Musical Soeiety in Mancheſter (mo deutiches
Element ſtark einwirkt) und die Oratorien-Geſellſchaft von
Liverpool. In Liverpool zahlen 400 überzählige Mitglieder
eine halbe Guinee für das Vorrecht, Concertbillete in den
jeltenen Fällen faufen zu Dürfen, wo durch Abweſenheit
oder Erkrankung von Abonnenten ein Sit disponibel wird.
Bon der »Provinze fpriht daher der engliihe Muſiker mit
mehr Rejpect, als der deutsche oder franzöfiiche es thun dürfte.
In London behauptet unter den Orchefter-Vereinen die
»Philharmonie Soeciety« hiſtoriſch wie künſtleriſch den erſten
Rang. Sie ift die oberfte Behörde für die Inftrumentalmufi,
ungefähr wie die Sacred Soeiety für dad Oratorium. In der
Bortrefflichfeit der Leitungen fteht fie allerdings unter ber
legteren. Bon jeher Hatten die Engländer weniger Sinn für
die Inftrumentalmufif, al3 für den Geſang. Die Bildung tücdh-
tiger Orcefter und ftehender Vereine dafür hat fih darum in
England verhältnigmäßig ſpät entwidelt. Die Philharmonie
Soeiety tft genau fo alt wie unfere »Gejellihaft der Muſik—
freunde«, und feiert demnächſt mit diejer zugleih ihr fünfzig:
jährige® Jubiläum. Cine fleine Anzahl von Fahmufifern
gründete die Gejellihaft, Hauptfählih, »um die Meiftermwerfe
Haydn’3, Mozart’ und Beethoven's, bisher dad Eigenthum
eine beſchränkten Kreiſes von Kennern, endlih dem großen
Publicum bekannt und werth zu macen«.* Zwanzig Sahre
*) »The philharmonice Society of London«e. By George Ho-
garth. London 1862.
Vereine. Goncerte. 575
vorher hatten freilich Haydn’ Koncerte der Inſtrumental—
muſik in London einen großen Aufihwung gegeben, allein er
war nit nachhaltig. Die Unternehmung des trefflihen Salo—
mon fand Feine Nahahmung, und Haydn’ Symphonien
wurden nicht mehr gehört. Herr G. Hogarth conitatirt, daß-
zur Zeit der Gründung der Philharmoniſchen Geſellſchaft nicht
ein Orcheſter in London beſtand, das fähig oder geneigt
gewejen wäre, reine Anftrumentalwerfe aufzuführen. Die
Opern-Orcheſter beichränften ſich auf ihren Theaterdienft, und
die »Ancients eoncerts« ſchloſſen ftatutenmäßig die Werke
aller Componiften aus, die nicht feit wenigſtens dreißig
Jahren veritorben waren. Da beſchloſſen die Gründer der
Philharmoniſchen Gejellihaft, diefe Lücke durh Aufführung
von Orcefter- und Kammermuſik zu füllen. Soloftüde und
Duos follten ausgeſchloſſen, Geſang nur mit Orchefter-Beglei-
tung zugelaflen ſein. Die Gejellihaft, beitehend aus 30 Mit:
gliedern und einer unbeichräntten Zahl von Theilnehmern,
machte feine geringen Anſprüche an deren Kunfteifer. Jedes
Mitglied und jeder Theilnehmer hatte jährlih drei Guineen
einzuzahlen, und erhielt nicht das mindeite Entgeld für feine
Mitwirkung. Die Einnahmen wurden blos für die fünftlerifchen
Zwecke der Gejellichaft verwendet. Das Orcheſter, gebildet aus
den beiten Mufifern jener Zeit, wurde in den Concerten ganz
eigenthümlich, nämlich wie das alte Rom von zwei Conjuln
regiert. Der eine, der »Orcdefter-Director« (Salomon), mußte
als erjter Geiger feinen Part jpielen und gleichzeitig dem
Orcheſter die Tempi angeben. Der zweite (Clementi) jaß am
Clavier, die Bartitur vor fih, und »überwachte« die Richtigkeit
der Ausführung Es begreift fih, daß auf Diefe Weile
feiner der beiden Dirigenten feine Aufgabe vollftändig löſen
founte. Die eigenthümliche Zähigkeit der Engländer hielt indeß
diejen Gebrauch feſt, bis Spohr nad) England fam und den Muth
hatte, das Directiond:Clavier zu befeitigen, und jeine Sym—
phonien aus der Partitur mit dem Taktſtock zu dirigiren. Zu—
erft ſprachlos vor Entjegen, erfannten Hörer und Spieler
dennoh bald das Zweckmäßige dieſer Ketzerei, und ſeither
dirigiren die Engländer wie andere Menſchen.
576 Mufitafiiches aus London. (1862.)
Kammermuſik bildete anfangs einen weſentlichen Beſtand—
theil der philharmonifhen Concerte, denn wo hätte das Pu:
blicum Haydn’ und Mozart's Quartette fonft hören jollen?
Erjt ala mit der Zeit eigene Duartettvereine fich bildeten, concen-
trirte fih die Gejellichaft immer mehr auf ſymphoniſche Muſik.
Ihr Concertfaal (urfprünglih Argyll-Rooms, jpäter der Opern:
ſaal, endlich, feit 1833, die eleganten und geräumigen »Han—
nover-Square-Rooms«) wurde der Boden, auf dem Alles, mas
im Bereih der Inftrumentalmufit für England denfwürdig. ift,
fi) zutrug. Hier dirigirte Cherubini feine Duverturen ; bier
jpielten Gramer, Kalfbrenner, Hummel, Moſcheles ihre
Goncerte; bier feierte Spohr (1820) fein erſtes Auftreten
in England, um für alle Zukunft einer der gefeiertiten Lieb:
linge des Landes zu bleiben. Die Philharmonifche Gejellichaft
begründete die Popularität der Beethoven'ſchen Symphonien
in England, gab ſchon im Fahre 1825 die Neunte Sym:
phonie*), und fendete, ohne einen Moment des Befinnens, Dem
fernen Meifter ein Geſchenk von 100 Guineen, als diejer frant
und ſchwach genug war, es anzuſuchen.
Als Dirigent in den philharmoniichen Concerten (1826)
genoß Karl Maria Weber feinen eriten Triumph auf dem
Boden, der ihm bald fo verhängnißvoll werden folltee Men—
delsſohn's früher Ruhm als Birtuofe und Tondichter datirt
nicht zum Hleinften Theile von feinen Auftreten in der Phil:
harmonischen Gejellihaft. Hier geihah die erfte Aufführung
der Duverture zum » Sommernadhtätraum« und der »Hebriden«.
Die A-dur-Symphonie und vieles Andere von Mendels—
John ift in Folge ausdrüdlicher Beitellung für die » Gefell-
ſchaft« gefchrieben; ebenio Spohr’s fünfte und feine »hiſto—
riſche Symphonie. Dieſe Thätigkeit der Philharmoniſchen
Geſellſchaft, nämlich die unausgeſetzte Anregung ausgezeichneter
Zeitgenoffen zu neuen, großen Orcheiterwerfen, kann man nit
*) Im Concertprogramm war das Werk angeführt als: »Neue
große, charakteriltiiche Symphonie mit Vocalfinale; Manuſcript, eigens
für dieſe Gejellihaft componirte. Der Erfolg war freilih ein so
zweifelhafter, daß die Gejellihaft zwölf Jahre vergehen ließ, ehe fie
eine Wiederholung des Wertes wagte.
Bereine. Concerte. 577
riihmend genug anerkennen. Unter den Millionen eines mufi-
faliihen Vereins gibt es vielleicht Feine ſchönere. Die Libe—
ralität und noch mehr die würdige, den Genius ehrende Weife,
in welcher die Philharmonie Society derlei »Beltellungen«
machte, haben und oft mit Freude und zugleich mit Trauer
darüber erfüllt, daß wir Mehnliches in unferem Vaterlande
faum fennen.
Bei Mendelsſohn's Werfen hat die Philharmonifche
Sejellihaft Halt gemadt. Sie bilden neben Beethoven und
Spohr das Hauptcapital diefer Concerte, die befanntlic)
Mendelsſohn's Schüler und Stylverwandterr Sterndale
Benett leitet. Schumann’ erſte Symphonie und feine »auf
Jenny Lind's Befehl« gegebene »Peri« befremdeten und —
verihmwanden. Berlioz erregte Unbehagen, Richard Wagner
Abihen. ES dürfte eine Weile dauern, ehe das klaſſiſche
Directorium der »Philharmonifer« fi wieder an Schumann
wagt; Berlioz und Wagner dürften es überhaupt nicht
erleben. Der Engländer ift in der Muſik conjervativ, wie
überall. Er hegt mit Liebe und Pietät, was er alß trefflich
überfommen und fich ajftmilirt hat. Allein äußerſt jelten ge—
lingt es ihm, den Genius zu erkennen und zu begrüßen, fo
lange diejer noch Incognito reift. Hat einmal die Zeit dem
Genius: den Stempel der Clajfficität aufgebrüdt, dann wird
er fih über das engliihe Publicum nicht zu beklagen haben.
Was wir von Aufführungen der Philharmonie Society
gehört, hat uns mäßig befriedigt. Es fehlte nicht an Kraft und
Energie, wohl aber an Feinheit der Scattirung. Trefflic)
wirken die grellen Lichter, die breiten Grescendos, der Sturm
der Paſſagen; allein die zarten, halbverfchleierten Züge, aus
denen des Dichter Seele am rührenditen fpridt — nur eben
nicht zu jedermann — fie werden in diejer entjeglichen Deut-
lichkeit und Solidität erdrüdt. Die Violinen find trefflich, die
Bläſer etwas roh und nicht rein in der Stimmung. Mit den
Aufführungen der »Gefellichaftöconcerte« oder der »Philhar—
moniihen«e in Wien tft das Belte, was London in dieſem
Fach bietet, nicht entfernt zu vergleihen. Das liebevolle,
detaillirte, durch viele Proben fich verfeinernde Einjtudiren fennt
Sanslid. Aus dem Goncertiaale. 2. Aufl. 37
578 Mufitalifhes aus London. (1862.)
der Engländer nicht. Die Philharmonie Soeiety macht zu jedem
ihrer Concerte nur eine Probe. Ihr Dirigent, Benett, fommt
lectionenmüde und gelangweilt an das Dirigirpult; Gründe
genug für die Gefellihaft, um nicht ohne große Noth von dem
alten bewährten Repertoire abzugehen.
Ausſchließlich claſſiſche Concerte gerathen mit der Zeit
in die Gefahr bequemen Schlendriand. Zu Anfang der Fünf:
zigerjahre war die Philharmoniſche Geſellſchaft fo bedenklich
im Sinfen, daß eine Partei von Unzufriedenen audtrat und
eine »Neue Philharmoniſche Gefelihaft«e gleiher Tendenz
ftiftete. Vielverſprechend unter ihrem erften Dirigenten, Ber:
lioz, leiftet fie gegenwärtig, hinter ihrer älteren Rivalin
zurüdbleibend, höchftens Anftändiges. Ihr Dirigent, Dr. Wylde,
macht ebenfalls für jedes Concert nur eine Probe, und dieſe
ift überdies öffentlih. Das Publicum hat zu halbem Preis
uneingeſchränkten Zutritt. Wo aber die Probe wie ein Concert
behandelt wird, da ift es fein Wunder, daß das Concert
genau einer Probe ähnlich fieht. Sowohl die »alte« als die
»neue« Philharmoniſche Gejelihaft verleihen ihren Pro—
grammen durch die Mitwirkung der beiten in London an—
weienden Birtuofen und Geſangskünſtler eine immer erneute
Anziehungskraft.
Noch einen dritten Orchefterverein müflen mir nennen,
weniger feinen Leiftungen als feiner charakteriftiihen Tendenz
wegen. Es ift die (1858 gegründete) »Musical society of
Londone. @eleitet von dem apellmeifter der engliichen
National:Oper, Herrn Alfred Mellon, ift diefe Gejellihaft
vornehmlich im Intereſſe der englifhen Tondichter thätig. Die
Programme beginnen allerdings mit Mozart oder Beethoven,
allein nach dieſem »salvavi animam !« folgen die unfterblichen
Meifterwerfe der Herren Wallace, Lindjay, Balfe, Macfarren,
Davifon, Horsley, Frank: Mori u. ſ. w. — Gomponiften, deren
Namen man nur zum Kleinsten Theil außerhalb Englands kennt,
die aber daheim als »engliihe Componijten« nicht übel ge:
feiert werden. Diefe Geiellichaft, die jährlid vier Orcheſter—
Goncerte in S. James Hal gibt, und fich eines Beſtandes
von 1000 Köpfen rühmt, bildet mit der »British society of
Dereine. Concerte. 579
Musieians« den Tummelplag der nationalen Partei (»nationals«)
unter den engliihen Mufitern. Sie jchwören auf das von
Sterndale Benett einmal in öffentlicher Vorlefung abgelegte
Glaubensbekenntniß: daß die engliihe Mufit der deutichen,
franzöfifchen, italienifchen ebenbürtig, daß fie groß, felbitändig
und genial fei. Wie viele von den engliihen Mufikfreunden es
mit der Zeit dahin bringen, diefen Irrthum wirklich zu glauben,
ift unbefannt. Genug, daß man mittelft dieſes Stichwortes eine
Partei bildet und jeine eigene fleine Perſönlichkeit in den
Vordergrund ſchwingt. Es verhält fih mit dem Cultus eng-
liſcher Componiſten ähnlih wie mit andern uns naheliegenden
Nationalitäts-Beſtrebungen. Wer in Defterreich nicht die geiftigen
Mittel hat, fi) vor einem PBublicum von Gulturvölfern zur
Geltung zu bringen, der greift zu dem Coſtume irgend eines
zurüdgebliebenen oder beifeitegedrängten Volksſtammes und darf
num darauf zählen, als großer »nationaler« Künftler gefeiert zu
werden.
Die theueren Preiſe fait aller Concerte (eine Guinee der
Sig) führten vor furzem zur Gründung der »Bopulären
Montagd:Eoncerte« in London. Sie find gleihfam eine
Schillinggausgabe der Philharmoniſchen. Der Gedanke, aud
dem Minderbemittelten den Genuß guter Mufit zu verichaffen
und damit den mufilalifchen Meifterwerfen ein neues, großes,
empfängliches Publicum zuzuführen, ift ein erjprießlicher. Die
engliihen Monday Popular Concerts haben freilich nicht jene
große Ausdehnung und Bopularität, melde Padeloup’s
Orcheſter-Concerte in Paris erreichten (wir haben in Wien
nicht? Aehnliches); allein für einen Schilling den Abend hin-
durh gute Mufit und gute Virtuofen zu hören, dad will in
London Schon etwas jagen. Rühmliche Erwähnung verdienen
die von Herrn Manns geleiteten Orcheiter-PBroductionen im
Kryitallpalaft, da fie faſt das einzige Organ für die Werke
neuerer deuticher Componiften, namentlich Schumann’, find.
Zu den beiten, zugleich den faſhionabelſten Concerten
gehören die der »Musical Union« ded Herrn Ella. Vor:
zugsweiſe dem Streichquartett und Trio gewidmet, nehmen fie
in London ungefähr die Stelle der Hellmesberger'ſchen Pro—
37*
580 Muſikaliſches aus London. (1862.)
ductionen ein. Sie finden in Jameshall beinahe jeden Dienftag
um halb 4 Uhr ftatt, find alſo Morgenconcerte. Nicht blos
die Zuhörer, jondern ſehr vernünftigerweife auch die Spieler
ericheinen in Morgentoilette. Der ſchwarze Frad und die weiße
Halabinde wären bier ein ebenfo ſchweres Vergehen, ala
4 Stunden fpäter der Gehrod und die bunte Cravatte.*) Bei
diefen QUuartetten befinden fi) die Spieler nicht (mie bei
Ordelter-Concerten) am oberen Ende des Saales, fondern
inmitten desſelben, auf einem erhöhten Podium. Dadurch ift
dad rings um die Spieler verfamntelte Publicum dem Zon
allenthalben näher gerüdt. Joachim (etlihemale auch Laub)
bildeten mit Ries, Blagrove und Piatti das Streichquartett;
am Glaviere wechlelten Jaell, Halle, Stephen Heller u. U.;
lauter treffliche Mufifer, die hier zu einem längſt vertrauten
claffiichen Repertoire fich meiften® ohne vorhergegangene Probe
zufammenfinden. Zu Proben braucht man Zeit, und das ift
etwas ſehr Koitpieliges in London. Der glüdliche Director und
unbedingte Beherrfher der »Musical Union« ift Herr Ella,
ein eitler alter Herr, der in einer lächerlich bunten Xoilette
umher geichäftelt, den Künftlern die Hände drüdt, den Damen
zulächelt, im Nothfall am Klavier das Blatt wendet, und was
folder Kunftleiftungen mehr find. Dafür bezieht er den reich:
lihen Ertrag diefer Eoncerte. »Ella's Matinéen« find eben
eine accrebitirte Firma, die in ihrem 18jährigen Beltand ein
feites Publicum fich gebildet hat, und für Herrn Ella ein
»Gigenthum« ift, wie irgend ein andere. Die berühmteiten
Künstler Taffen fi gern dafür engagiren, und jüngere Talente
Deutichlands und Frankreichs ſchätzen fih, auch ohne jedes
Honorar, glücklich, fih vor diefem Kreiſe produeiren zu Dürfen,
Sie werden an accreditirter Stelle befannt und überdied im
Programm als neue Erjfcheinungen dem hohen Adel und ver-
ehrlichen Publicum biographiich erplicirt. Da iſt natürlich jeder
Fremde ein »in Deutichland ſehr gefeierter« Tonkünſtler,
*) Wenn die blonde, dicke Louiſa Pyne in ſolchen Morgen:
concerten ihre Lieder in Hut und Mantille abſingt, jo iſt der Anblick
doch gar zu komiſch.
Bereine. Goncerte. 581
meiſtens auch intimer Freund Chopin’s, Lieblingsſchüler Men-
delsſohn's u. dal.
Joſeph Joachim, der herrliche deutihe Künftler, ift
meine® Wiſſens der Einzige, der ſich bei Ella diefe biogra-
phiſche Reclame vorhinein verbeten hatte, wie er auch der ein:
zige Virtuoſe in London ift, welcher nicht bei hohen Herrichaften
für Geld fpielt, fondern diefe zwingt, zu ihm zu fommen. Das
einzige, was Joachim nicht abftellen kann, find die wandelnden
Annoncen. Das find Männer, welche, vor- und rückwärts mit
einer großen Tafel behängt, langſam, oft ſechs Mann hoch,
durh die Straßen jchreiten, und im Volfamund recht mwißig
»Sandwiches« heißen. Joachim ſchämte fi regelmäßig, wenn
fein eigener Name in folofjalen Lettern ihm auf der Straße
leibhaft entgegengewadelt fam, eine Empfindung, die ich jcherz-
haft noch reizte, indem ich) vor den jpazierenden Joachim:
Tafeln jedesmal ehrehrbietig den Hut zog. Es ift faum ein
zweiter Kinftler in London, der das Publicum ausnahmslos
zu jo warmem, herzlichem Beifall hinriffe, als Joachim. Un—
wandelbar in feiner fünftlerifchen Strenge, beherricht er die
Engländer, die ihn unter allen Umftänden lieben und ehren.
Dem Bublicum Gonceffionen zu maden, fällt ihm nicht bei,
wie denn überhaupt »Conceſſionen« meiſtens ſolche Gemein—
heiten ſind, die jemand der eigenen Eitelkeit zulieb begeht,
ohne es geſtehen zu wollen. Außer Joachim fand ich in London
nur noch Thalberg, der ebenfalls in feiner Weiſe feine
Conceſſionen madte: er heuchelte nämlich weder Bach noch
Beethoven. Thalberg ſpielt unbeirrt feine alten Opern:
Phantafien und Etuden, und ift weit entfernt, in dem, was
er am beiten Ieiftet, bloße »Conceifionen« zu ſehen. Thalberg
hat ſich nicht verändert; er ift, etwas verblüht, noch immer
die »Comteſſ' mit der Männernaje«, wie ihn Schumanı nannte,
und noch immer der erite Salonfpieler der Welt. Bei der
Lectüre feiner Concertzettel glaubte ih unter Mumien gerathen
zu fein; den Hörern wurden es blühende Roſen, und ihm
ſelbſt ſchweres, jchweres Gold. — Die Stelle unferer Männer:
geſang-Vereine und Liedertafeln vertreten in England, die jo-
genannten »Cateh- and Glee-Clubs«e, welche gefellige Freuden
582 Muſikaliſches aus London. (1862.)
mit dem Vortrag Humoriftiiher Rundgefänge und Canons
würzen. Wer an die bejjeren deutſchen Liedertafeln gewöhnt ift,
dürfte dieſen Clubiften feine Zorbeeren winden. Mande ihrer
Gejellichaftslieder reichen bi8 an Shafefpeare’3 Zeit, und
der mufifalifhe Geihmad mitunter an Shakeſpeare's jungen
Schäfer im »Wintermärchen«, der und verfidert: »Eine Ballade
lieb’ ich über Alles, wenn e3 eine traurige Geihichte ift zu
einer Iuftigen Melodie, oder ein recht fpaßhaftes Ding und
fläglih abgejungen«. |
Waturanlage. — Seltfamkeiten. — Speculation und Humbug.
»Man hat im Norden wunderliche Bräuche,
Denn wie die Berge wilder werden, wie
Die munt’ren Eichen düft'ren Tannen weichen,
So wird der Menſch auch finft’rer, biß er endlich
Sich ganz verliert und nur das Thier noch hauſt.
Erit fommt ein Volk, das nicht mehr fingen kann,
An diejes grenzt ein and’res, das nicht lacht,
Dann folgt ein ſtummes, und jo geht es fort«.
Dies tieffinnige Wort aus Hebbel's »Nibelungen«
fam mir in England oft in den Sinn. Noch häufiger, wenn
ih auf deutichem Boden die Frage wiederholen hörte: Sind
die Engländer muſikaliſch? Die Frage trifft einen zu großen
und complicirten Organismus, al® daß man fie ohnemweiters
mit Ja oder Nein löſen könnte, Der Engländer ift noch lange
nicht der »finft’re«, der »ftunme« Menih, — allein auf dem
langen Weg von dem blühenden Melodiengarten Stalien bis
zu dem »Volk, dad nicht mehr fingen kann«, liegt England
doc) bereitö jtarf vorgeneigt gegen das leßtere. Für die Muſik ift
England ſchon eine llebergangszone: der Arbeiter jchafft noch
eifrig, er jchäßt die Frucht, doch Erdreih und Sonne find
jpröder gegen ihn.
In England bethätigt ſich fo viel Eifer und Liebe zur
Mufit, daß nur albernes Vorurtheil dies ganze Verhalten für
falihden Schein und eitle DOftentation erklären fann. Es ge
ichieht hier jo Vernünftiges, Andauerndes, Großes für die Ton:
Naturanlage. 583
funft, daß der Deutiche zur höchften Anerkennung mitunter den
Neid fügen darf. Unſere früheren Deittheilungen haben dieſe
Lichtjeiten im engliſchen Mufikleben hervorzukehren geſucht. Ob
die Natur den Engländer zum Mufifer geichaffen, ob jeine
Liebe zur Tonkunſt vollftändig erwidert wird, ift eine andere
Frage. Wir werden vom Bofitiven hier unmerklich zur Negation
hingedrängt. Daß England feine nationale Muſik befigt, ift
Thatfahe. Es hat feine Componiſten hervorgebracht, die, mit
den Genie anderer Völker verglichen, bedeutend und eigen:
thümlich heißen dürften. Von feinen wenigen Componiften
lehnen fih die älteren an Händel, die modernen an Mendels—
john (Benett), an die franzöfiihe oder italienische Oper (Mal:
face, Balfe). Die Sänger und Birtuojen Englands find an
Zahl und Bedeutung faum nennenöwerth. Die engliiche Nation
befigt einen jehr mäßigen mufifaliihen Schag in ihren Volks—
liedern, und — was nicht minder entjcheidend ift — feinen
eigentlichen Nationaltanz. Was von mufifalifchen Kräften ein-
flußreich und bedeutend ift, gehört der Fremde an. Deutiche
Componiſten, Virtuoſen und Lehrer, italieniihe Sänger, fran—
zöſiſche Tänzer Herrichen in London. Die muſikaliſche Einfuhr
in diefem Lande ift enorm, feine Ausfuhr Nul. Allein, von
dem jchöpferifchen Vermögen ganz abgejehen, auh die Ems
pfänglichkeit des Engländer macht ihn zu einem Stieffind der
Muſik. Wir möchten die nächſte Erklärung diefer in ihrem
Grunde freilih noch unerforſchten Erſcheinung, in körperlichen
Bedingungen, in den feiniten Organismen der Phyſis juchen.
Nur ein zart und reizbar organifirtes Nervenſyſtem empfindet
muſikaliſch. Wenn e8 nicht vom leiſeſten Hauch erzittert, wie
die NeolSharfe, ift es fein mufikalifches Inftrument. Daß nun
der Engländer mufifaliichen Eindrücden gegenüber weit jchwer:
lebiger, Iangjamer, allgemeiner ſich verhält, al8 wir, wird jedem
länger Beobachtenden zur zweifellojen Thatſache.
Dem Engländer fehlt zunächſt rhythmiſche Empfindung.
Es fallt ihm jchwer, im Takt zu tanzen oder zu fingen: der
Unterschied zwiſchen */, und ?/, pflegt ihm zu verichwinden.
Das derbe Hervorheben der rhythmiichen Accente und erften
Takttheile, das ung im Opern-Orcheſter auffiel, gefällt den
584 Mufifalifhes aus London. (1862.)
Engländern, während es ein feineres, ohne ſolche Krücken
rhythmiſch Folgendes Ohr, als eine Aufdringlichkeit verleßt.
Der Engländer verjegt die beiten Meifterwerfe mit Poſaunen
und Bombardond, gerade wie er die beiten Weine mit Brannt-
wein verjegt. Zunge und Ohr jcheinen hier derfelben Nachhilfe
zu bedürfen. Im Falichlingen oder -Spielen muß fih ſchon
ganz SKräftiges ereignen, jol es einem engliichen Publicum
mißliebig auffallen. Bloße Zmweideutigfeiten verfangen nicht.
Allein nicht blos das unmittelbare Organ des Hörend, Der
ganze geiftige Proceß, Muſik aufzufaflen, arbeitet im Engländer
jhwerfälliger und umficherer. Nur gemiffe Kategorien des
Schönen ſprechen ihn jofort an. So hat der Engländer eine
fehr einfeitige Neigung für das Bathetiihe. Man ftaunt, wie
einfeitig das WBublicum daS Pathetiſche aus Shakſpeare's
Stüden fih affimilirt und gegen die ftarfen Daritellungen
irgend eines reinen Leidens die feinften, lieblichiten Partien
follen läßt. Das grelle Pathos der italieniichen Oper bewegt
den Engländer, während ihm für die feine Teichtgejchürzte
Grazie des franzöfiihen Singſpiels jedes Organ fehlt. An
claſſiſcher Muſik Tiebt er zumeiſt Entichiedenheit, Rundung
und den Ausdrud einer gewiſſen großartigen Tüchtigfeit, wie
bei Händel. Wir bemerfen jedoch bei den ehrfurdtspollen
Zuhörern des »Meifiad« oder »Samfon« feine Unterfheidungs:
fraft für das Schwächere und Schwache, wa3 in diefen Dra-
torien mit dem Großartigen wechjelt. Zu der Inſtrumental—
muſik bleiben wohl noch lange Haydn, der frühere Beet-
boven und die formglatten Orcheiterwerfe Spohr’3 und
Mendelsſohn's das Brevier der englifhen Concerte. Das
unerbittliche Verlangen nad Klarheit und Weberfichtlichkeit ver:
bindet fih in den Engländern mit ihrer confervativen Tendenz
überhaupt, um Compofitionen, die von unferen Programmen
fo gut wie verſchwunden find, als tägliche Koft zu genießen.
Wir wollen Hummel und Ondlom nicht geringichägen, auch
niht das Verdienſt Kalkbrenner's jchmälern (es bliebe da—
bon gar zu wenig), allein räthielhaft bleibt doch die Andacht,
womit die abgeftandenften Salonftüde diefer Componiften in
London Öffentlich eingenommen werden. Der fichere, durch feine
Naturanlage. Seltſamkeiten. 585
Gontroverjen geftörte Befiß irgend eines überlebten Techniker
it dem Engländer theuerer als das Erringen eined noch halb:
wegs ftreitigen neuen Genied. AS heuer Shumann’s Glapier:
Quintett bei Ella gegeben wurde, bemerkte das Programm,
gleichſam rechtfertigend, daß die auf ausdrüdliches Verlangen
des Herrn Jaell geſchehe.
Werfen wir einen Blick auf ein engliihes Concert—
Bublicum. Die Aufmerkjamkeit und Ruhe der Hörer ift mufter:
haft. Sie wird durch die Lectüre £leiner Broſchüren unterftügt,
in welchen Herren und Damen emfig nachleſen. Dies find die
fritiichen Erläuterungen, die den Eintretenden mit der Unfehlbar—
feit von Tanzordnungen höflich überreicht werden. Diefe muſi—
kaliſchen Wegmweifer find unferes Wiſſens zuerft von Ella
unter dem jchauderhaften Titel: »Synoptical Analysis«
eingeführt worden, und enthalten neben biographiichen und
hiſtoriſchen Notizen eine mit Notenbeifpielen audgeftattete Ber:
gliederung der größeren vorzuführenden Werke. Bon der
droligen Geſchwätzigkeit ſolcher »Führer« abgejehen (regelmäßig
haben fie die Frechheit, Beethoven zu loben !), möchten wir doch
die ganze Idee nicht verwerfen. Es ift ein treffender Aus—
ſpruch von Baillot, den Ella’3 Brogramme als Motto an
der Stirne tragen: »Il ne suffit pas que l’artiste soit bien
prepar& pour le publie, il faut aussi que le publie le soit ä
ce qu’on va lui faire entendre«e. Die Auffaffung ſchwerfaß—
licher, no nicht Gemeingut gewordener Gompofitionen, wie Die
jpäteren von Beethoven, Bad, Schumann, wird durch
eine mit Notenbeiſpielen verjehene Zergliederung entichieden
erleichtert und haftet tiefer im Gedächtniß. Gejchwellt von um:
nügem Lobe, find die englifchen Programme doch frei von
mufifalifcher Bilder: und Deutungsfucht. Weber eine poetifirende
Erklärung, wie R. Wagners Brogramm zur »Neunten
Symphonie«, würde der Engländer nicht mit Unrecht lächeln.
Derlei hat noch feinem Publicum auch nur entfernt die Hilfe
gebracht, die eine englifhe »Analysis« wirklich Teiftet. Der
Deutjche bedarf freilich der Führerihaft nicht in dem Grade, wie
der Engländer fie liebt, am wenigsten will er fich fein Urtheil
vorſchreiben laſſen. Das ift Jenem gerade recht; umficher, wie
586 Mufitalifches aus London, (1862.)
er fih im äjfthetiihen Dingen einmal fühlt, liebt der Eng—
länder directe Belehrung. Wie er die Rheingegenden nicht ohne
feinen Murray, jo genießt er auch Beethoven nicht vollitändig
ohne »Synoptical Analysis«.
Kehren wir zu unferem PBublicum zurück. Das Stüd ift
zu Ende Es wird applaudirt, wenngleich) fühler als bei uns.
Nicht der laute Beifall, etwad Anderes, ſchwer zu Definirendes
it es, war wir vermiffen: der ftille, inwendige Applaus der
Hörer während des Stüdes. Bei einem genialen Mebergang, einer
ergreifenden Melodie, welch bewegtes Murmeln des Verſtänd—
niffes, welch leiſes MWetterleuchten der Empfindung in einem
deutſchen Goncertfaal! In England nit davon. Wenn mir
in den beſten englifchen Goncerten oft etwas abging, jo erklärte
ich's mir damit, daß die Atmofphäre nicht die gewohnte Menge
fünftlerifchen Sauerftoff3 enthielt.
Für daS Verletzende, was in einer unichidlihen Zu:
fammenftellung von Muſikſtücken Tiegt, fehlt den Engländern die
fünftleriihe Empfindlichkeit. Sie finden e8 ganz in der Ord—
nung, wenn nach der Fidelio-Duverture »Mädle rud, rud,
rud« oder dad Papataci-Terzett von Roſſini gelungen wird,
darauf ein Concert von Sebaftian Bach und ein Divertiffement
von Henri Herz folgt.
Was ic) von deutſchen Muſiklehrern in London über die
mufitaliihe Jugend erfahren fonnte, ging übereinstimmend
dahin, daß diefe oft mit dem correcteften Eifer über eine
gewiffe natürlide Stumpfheit der mufifalifhen Empfindung
niht hinauskomme.*) Ob an diejer, für die Muſik jo ent:
jcheidenden Stumpfheit der Nerven der durch Generationen
fortgejeßte, vor fünfzig Jahren noh ganz unmäßige Genuß
geiftiger Getränke in allen Claffen der engliihen Gejellichaft
mitſchuldig fei, wagen wir nicht zu beurtheilen. In England
jelbit hörten wir von Künſtlern diefe Anficht vertheidigen. Der
*) In dem föftlihen Sittenbild »Hanns Ibeles« erzählte
Johanna Kinkel die tragisfomijchen Erfahrungen eines Clavierlehrers
in England. Gottfried Kinkel verficherte mir, daß diefe Mittheilungen
vollftändig aus den eigenen Erlebniffen jeiner verftorbenen Frau
geihöpft und in feinem Zuge erfunden oder übertrieben find.
Naturanlage, Speculation und Humbug. 587
Mangel an feinem Zonfinn iſt nicht ohne Analogie auf an-
deren Kunftgebieten. Neuere Unterfuhungen jollen dargethan
haben, daß ein auffallend großes Percent der engliichen Bes
pölferung »farbenblind« iſt, d. 5. gewiſſe Farben nicht von
einander unterfcheide. Unglüdsfälle auf engliihen Eifenbahnen,
dadurch) hervorgerufen, daß ſonſt achtſame Bahnwächter die
rothen von den grünen Signalen nicht zu unterfcheiden ver:
mochten, gaben Weranlaffung, dies Phänomen näher zu unter:
juhen. Das Eijenbahnperjonal wird nunmehr darauf Hin ge-
prüft, ob es nicht von Natur »farbenblind« je. Won dem
Londoner Concertpublicum find immer einige Bänfe zuverläſſig
tonblind. in gebildeter englifcher Gentleman verficherte einen
meiner Freunde, daß es ihm unmöglich jei, die Melodien der
beiden englischen Volkshymnen (»God save the Queen« und
»Rule Britannia«) von einander zu untericheiden. Ein ähn—
liches Bekenntniß legte vor einigen Sahren jehr unmillfürlich
die Bevölkerung einer bedeutenden engliihen Fabriksſtadt ab.
Man gab die dort noch wenig befannte C-moll-Symphonie
von Beethoven. Bei dem glänzend feierlichen Hereinbrechen
der drei C-dur-Xccorde im Finale erhoben fih einige Zuhörer
in der Meinung, es fei der Anfang der Volkshymne, und fiehe
da — das halbe Bublicum erhob fi ehrfurchtsvoll mit, und
hörte den Saß ftehend zu Ende.
Wie übel die englifhe Sprache mit ihren Zilchlauten
und gequetichten Gaumenvocalen den Geſang unterjtüßt, be—
darf faum der Auseinanderfegung. Der engliide Sänger Hat
fortwährend nur die Wahl, ob er richtig, echt engliich aus—
iprechen, oder ob er einen jchönen Ton bilden wolle. Eines
von beiden muß jeden Augenblid geopfert werden. Der lyriſche
Geſang findet obendrein in der englifchen Proſodie eine Schranfe,
die unſeres Erachtens noch zu wenig Beadhtung fand: mir
meinen den großen Mangel an weiblihen Endungen und
namentlich weiblichen Reimen im Englifchen.*) Die jchöniten
.,— —
*) Das vielcomponirte Heine'ſche Gedicht:
»Auf ihrem Grab da fteht eine Linde,
Da pfeifen die Vögel im Abendwinde«
lautet 3. B. in einer der getreueften Leberjegungen (von Julian Fane):
588 Mufikaliiches aus London. (1862.)
Lieder von. Shumann, Mendelsfohn, Robert Franz,
fönnen ohne empfindliche Alterirung der Mufik nicht ins Eng—
lifche übertragen werden, und fo dürfte auch dieſes poetiſche
Gebiet der deutichen Kunſt den Briten ein unbekanntes bleiben.
Außer der geringeren Naturbegabung für Muſik ift es
aber noch ein zweiter künſtleriſcher Factor, der dem englifchen
Mufikleben jo oft die echte Weihe nimmt. Das ift der faufmännifch
praftiihe Geilt, der jih in England auch an die flüchtigen
Sohlen der Kunſt Hefte. Von feiner großartigen Seite
haben wir dies Zuſammenwirken mufilalifher und kaufmän—
niſcher Anftrengung in den Händelfeften fennen gelernt. Das
eigentliche Goncertwejen bringt Schon Bedenkliches. Da find
zuerft die jogenannten Monftres&oncerte (eigentlich Benefice—
Eoncerte), gegen die Mancher mit Necht loszieht, ohne deren
wahren Grund zu fennen. Die Deonftre-Goncerte find mejentlich
eine auf die Provinzbewohner berechnete Speculation. Die
Abgeſchmacktheit, volle fünf Stunden lang das buntefte Durch—
einander von Mufif zu machen, 25 bis 35 verfchiedene Num—
mern und Namen, ift nicht etwa eine nothwendige Conceſſion
an den Geihmad des Londoner Publicums (da allerdings
eine derbe Tracht Muſik verträgt), jondern eine muſikaliſche
Abfütterung von Provinzialiften, welche für ihre Guinee Alles
beijammen haben wollen, was London. an mufifalifchen Nota—
bilitäten bietet. Wenn der Pächter Smith aus MWorcefter oder
der Fabrifant Black aus Mancheſter für zwei Tage mit Frau
und Töchtern nad) London kommt, jo will er in Ginem
Goncerte Joahim, Bauer, Piatti, Formes, Trebelli 2c., er
will Orcheſter und Glavier, Glaffifches und Modernes in
größten Portionen genießen. Der Mann hat unftreitig etwas
vom Karaiben, mit dem Unterſchiede, daß er baar zahlt. Die
Monjtre-Eoncerte oder Eoncerte für Ungeheuer, wie fie 3. 2.
die Jubilar-Pianiftin Frau Anderfon oder der Componiſt
J. Benedict alljährlih veranitaltet, werden mehrere Wochen
»Above their grave a Linden grows,
Birds sing, and through it the balm-breeze blo ws.«
Sp werden von den weiblihen Endreimen mindeitens die Hälfte
männlich durch die englijche Ueberfegung.
Naturanlage, Epeculation und Humbug. 589
zuvor in den Zeitungen annoncirt. Aber nicht etwa einmal in
jedem Blatt, jondern meilten® in fünf bis ſechs Inſeraten
hintereinander. Das erfte Inferat lautet 3. B.: »Mr. Bene:
diet's Morgenconcert findet am fo und fo vielten unter Mit-
wirkung von Joachim, Jaell, Trebelli, Tietjend 2c. ꝛc. ftatt«.
Gleich darunter als zweites Inferat: »Herr Joachim wird in
Benedict’3 Morgenconcert 2c. 2c.e Drittes Inferat: »Signora
Trebelli wird in Benedict's Morgenconcert 2c. ꝛc.« Kurz es
wird nichts verfäumt, daß man zu rechter Zeit den Kopf von Mt.
Benedict’3 Morgenconcert gehörig voll habe. Für die Sänger
find die Londoner Goncerte eine reihe Einnahmsquelle; Die
fremden werden vom Goncertgeber, die einheimifchen außerdem
von den Verlegern befoldet. Dies Berfahren ift ganz eigen:
thümlid. Hat der Verleger N. N. eine neue Romanze ver-
öffentlicht, jo ftellt er fie unter die Protection einer beliebten
Eoncertfängerin. Diejer zahlt er nicht nur für den jedesmaligen
öffentlihen Vortrag der Romanze ein beftimmtes Honorar,
er gibt ihr auch gewiſſe Percente von jedem Eremplar,
das er abjegt. Meift find es zwei Pence, die von jedem ver-
fauften Eremplar für den Sänger oder die Sängerin abfallen.
Miß Sainton-Dolby, welde jogar einen Sirpence erhält,
joll im Laufe einer Saifon gegen 800 Pd. St. von den ver:
Ihiedenen Berlegern eingenommen haben. Um noch mehr zum
Ankauf zu locken, läßt der Verleger jedes Eremplar eines
»Favourite song«e mit dem eigenhändigen Namendzug des
Sänger? oder der Sängerin jchmüden, die es mufifaliich in
die Koft genommen. Manche Sänger find von einem Verleger
förmlich gemiethet, fie dürfen nur feine Verlagdartifel fingen
und feine anderen. Der Künftler ift in diefem Fall der fingende
Dienitmann feines Verlegers.
Ich Habe Hallé's Beethoven-Matinéen erwähnt, denen
ein echt künſtleriſches Beſtreben zu Grunde liegt. Allein Herr
Halle hat nebenbei eine »revidirte Ausgabe« der Beethoven:
ihen Sonaten publicirt, welcher nicht das geringfte eigene
Berdienft zu ftatten fommt. In diefer Ausgabe werden num
ſämmtliche von Halle vorzutragenden Sonaten an der Caſſe
und im Concertjaal feilgeboten, und da Gelegenheit nicht blos
590 Muſikaliſches aus London. (1862.)
Diebe, fondern auch Kunftkenner macht, fo verfauft man eine
Maſſe von Exemplaren. Ob nun Herr Halle oder fein Ver—
leger der eigentlihe Weranftalter diefer Concerte jei: beide
haben ein Doppeltes Geſchäft gemacht. Solde und viel
ſchlimmere Mesalliancen zwiſchen Kunft und Schader find in
England an der Tagesordnung und gelten nicht für anftößig.
Wir wollen lieber nicht allzuviel davon erzählen. Da der Künftler
in England ſchnell und reichlich verdienen kann, fo geräth er
in eine Haft des Erwerbes, welche feine poetiſche Glorie traurig
abſchwächt. Wo das Publicum der Muſik überwiegend äußerlich
gegenüberjteht, da kann es auch nicht ausbleiben, daß der
Virtuofe, der. Verleger, der Lehrer, ur Kunſt als Geihäft
anſehen und betreiben.
Ein geſuchter Clavierlehrer in — erhält in der
Regel eine Guinee für die Lection, ein Einkommen, wovon
ſeine Collegen in Deutſchland keine Ahnung haben. Dafür
haben ſie auch kaum eine Vorſtellung von der Mühſal, die es
koſtet, ſich in London ſo hoch emporzuſchwingen, und dann
auf der Höhe zu erhalten. An einem Londoner Claviervirtuoſen
kann man erfahren, was arbeiten heißt. Hat er feine acht bis
zehn Lectionen im Tage gegeben, jo kann ihm wohl die Freude
an der Mufif vergehen. Dennoch darf er fih zu Haufe nod
feine Ruhe gönnen, denn will er nicht außer Mode kommen,
muß er häufig in Öffentlihen Concerten auftreten. Durch melde
Hererei dieſe Herren noch Zeit zum Ueben finden, wiſſen wir
nicht; daß aber wiffen wir, daß jeder falhionable Künftler,
der jahrelang in London weilt, in dem technifchen und wohl
auch in dem beſſeren Theil feiner Kunſt zurüdgeht. Wir kennen
einen ſehr gejuchten deutfchen Glavierlehrer in London, einen
liebenswürdigen, gebildeten Mann, der und jelbit geftand, daß
er nach einem zehnjährigen Aufenthalt in London noch nit
dazır gefonmmen jei, die MWeftminfter-Abtei zu befuchen. Daß io
etwas auch nur möglich ift, wirft ein jeltfam trübes Licht auf
das Künjtlerleben in London.
Ungern fchließe ich meine »engliſchen Suiten« mit einem
Blide in den kranken Kern dieſes äußerlich jo großartigen
Organismus. Allein England wäre eben nicht mehr England,
Muftfaliihe Briefe aus Baris. 591
hörte es in irgend einem Lebenzzweige auf, das Land der
Widerſprüche und Gegenſätze zu fein.
Wufikalifche Zöriefe aus Yaris (1867).
Die mufikalifdre Fury.
Paris, 4 Mai.
Es war in den eriten Nachmittagdftunden, den belebteften
und eleganteften der Ausstellung, als jüngit aus einem Seiten-
gang der franzöfiichen Bildergalerie ein rajender Trommel:
wirbel erfholl und die Beſucher des Ausitellungspalaftes
weithin in Aufregung verjegte. Mit dem Rufe: »Was tft ge-
ihehen? Was bedeutet das?« ftürzten die Maſſen dem Trommel:
Shall entgegen, nad) der etwas verſteckt Tiegenden Zeitengallerie.
Hier ſahen fih die erregten Gemüther plößlih durch zwei
ausgeipannte Stride und zwei aufrechte Sergents de Pille
von einer kleinen SHerrengejellihaft abgetrennt, welche, die
Trommler vor fih umd die Notizbücher zur Hand, ruhig um
ein Tiſchchen herumſaß. Es war unfere mufifalifhe Jury, vor
welcher Trommel-Erfinder und Trommel:Verbefjerer ihre raj-
jelnden Inftrumente producirten. Das Publicum aber ftand
eritaunt dahinter und mochte entnehmen, wie der Kampf um
eine Bronce-Medaille den Tambour genau fo heftig begeiftern
fann, wie der Sturmlauf gegen eine Feltung. Es war ohne
Zweifel der populärite Moment in dem öffentlichen Lebenslauf
unjerer Jury. Allerdingd Hatten wir einiges Aufjehen und viele
Theilnahme jchon an den vorhergehenden Tagen erregt, wo
und jedesmal von 10 bis 4 Uhr nur Blech-Inſtrumente vor—
geblafen wurden. Dean wollte bemerken, daß damals die Jury:
Mitglieder noch lange nah Schluß der Sikung auffallend
laut ſprachen; die Pofaunen hatten Jedem von md eine leichte
Taubheit als Andenken hinterlaffen. Die Tage der Violinen
und Guitarren trugen einen milderen, gebildeteren Charakter,
welcher in der folgenden Periode der Flöten und Glarinetten
592 Muſikaliſche Briefe aus Paris, (1867.)
jogar einen Zug ländlicher Zufriedenheit und Lebensweisheit
annahın. Namenloje Wehmuth bemädhtigte fich Hingegen unjeres
Kreiies nah Anhörung von 40 bis 50 Harmoniumd; Die
Gefühlvolleren von uns zerdrüdten beim Abjchied eine Thräne
im Auge, die Anderen ballten frampfhaft die Fauſt in der
Taſche. Es war vielleicht der fchlimmfte Tag.
Kehren wir für einen Augenblid an das grüne Tifchchen
zurüd, zu welchem uns die rebelliihen Trommeln gelodt, und
betrachten wir ung die Perjönlichfeiten der Jury. Als Präfident
fungirt der Senator und General der Nationalgarde, Mel—
linet. Ein wahrer Charafterfopf, diefer 64jährige Haudegen
mit dem Jugendfeuer in Blick und Bewegung, das der grauen
Haare wie der tiefen Narben zu fpotten jcheint, die fein Ge—
fiht entitellen. Der higige General, der bei Magenta fi) mit
3000 Mann jtundenlang gegen den dreis bis vierfad über:
legenen Feind behauptete und noch feinen Schritt wid, ala
ihm bereits ziwei Pferde unter dem Leibe erichoffen waren, er
ift im Umgang die Herzlichkeit, Güte und Beicheidenheit jelbft.
Nom Friegerftand Hat er im Frieden nur die Geradheit und
Energie beibehalten, nicht3 von jenem Uniformdünfel, der in
anderen Staaten eine jo empfindlihe Scheidewand zwiſchen
Militär und Civil aufrichtet. Was den General, der jeinen
mufitaliihen Dilettantismus offen eingefteht, in die Jury
brachte, find feine großen Berdienfte um die Organifirung der
franzöfiihen Militärmufif; jeine Wahl zum Vorfigenden war
vom Anfang her mit Rüdfiht auf feinen hohen Rang und
jein großes perfönliches Anſehen beichloffen — mir hatten fie
nie zu bereuen.
Einen eigenthümlichen Gegenjat zu dem hageren, un:
geftümen General bildet die unterjegte, behaglich gerumdete
Figur und das fröhlich lächelnde Antlig de8 Dr. Georg
KRaftner, Mitglied des Inſtitutes und zahllofer gelehrter Ge-
jellichaften. Straßburger von Geburt, ift Kaftner doch Deutſcher
von Ausfehen, Bildung und Temperament geblieben. Nur feine
Bücher jchrieb er alle franzöfiih. Obwohl vorzugsweiſe Poly:
biftor und muſikaliſcher Archöolog, iſt Kastner doch keineswegs
der praftifchen Seite der Tonkunſt fern geblieben. Als Componift
Die muſikaliſche Jury. 593
und außübender Künstler früher jehr thätig, hat Kaſtner oben-
drein für jedes eriftirende Orcheſter-Inſtrument eine Schule
(Methode) geichrieben, jogar für die Baufen! Dies allein
ftempelt den Mann zum gelehrten Original; wer ihn näher
kennt, weiß überdies, daß dies Original nebſt den eritaunlichiten
Kenntniffen auch das redlichite, wohlmwollendfte, uneigennüßigite
Herz befigt.*)
Die Künftlernatur par excellenee tft in unferer Jury
durh den Gomponiften Ambroife Thomas vertreten. Cine
poetifche, nervöſe Natur, meilt ernit und ſchweigſam, leicht ge:
reizt, jchnell ermüdet, fein Freund der Gejelligkeit und Feind
der Complimente, itt Thoma keineswegs, was man im
Salon einen torzügliden Gejellihafter Heißt. Mit Unrecht
nennen ihn Mande einen Mifanthropen, ihn, »der fich ohne
Groll vor der Welt verfchließt«, nur feiner Kunft und wenigen
Freunden lebend. Sein hageres, ausdrucksvolles Gefiht, von
grauem Haar und Bart fräftig umrahmt, erzählt von über:
ftandenem Leid und Kämpfen, es erzählt auch von einem
liebebedürftigen und liebenswerthen Herzen, das nicht geichaffen
war, einfam und hageſtolz zu vergrämen. Ambroife Thomas,
längit ein Lieblingscomponiſt feiner Nation, hat eben jeinen
größten Succeß mit feiner neuejten Oper »Mignon« errungen.
Dies höchſt anmuthige Werk ift bereit? gegen actzigmal
nacheinander gegeben, ohne daß der Andrang des Publicums
nahläßt. Won »Mignone Hörte ih Thomas während
der vier Wochen unſeres täglichen Verkehrs ebenfomwenig die
leifefte Erwähnung machen, als von irgend einem anderen
feiner Werke. Wie jehr unterfcheidet ſich diefe wahre Beſcheiden—
heit von ihrer Stiefichweiter, jener unter Rünftlern und Ge:
lehrten zumeift cultivirten eitlen Beſcheidenheit!
Den größten Einfluß in der Jury hat Fetis, der
gelehrte Mufikhiftorifer au Brüffel. Man kennt die zahlreichen
Arbeiten diefes nun 84 Jahre alten Profeſſors; er ift damit
noch niht am Ende. Cine »Geichichte der Mufit« in ſechs
Bänden ift unter der Preſſe, Anderes in Vorbereitung. Das
*) G. Kater ftarb leider noch im felben Jahre.
Hanslick. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 38
594 Muſikaliſche Briefe aus Paris. (1867.)
hohe Alter und gelehrte Anfehen des vielerfahrenen, mitunter
etwas eigenfinnigen und leider nicht unparteiifchen Mannes
erflären das llebergewicht, das die übrigen Jurors, die frane
zöfiichen namentlich, ihm in den Berathungen zugeftehen.
Roſſini.
Paris, 18. Juli 1867.
Als ich vor ſieben Jahren in Paris mich von Roſſini
und Auber verabſchiedete, that ich es mit der wehmüthigen
Empfindung, die beiden Altmeiſter unſerer modernen Oper
wahrſcheinlich zum letztenmal geſehen zu haben. Ragten ſie
doch Beide ſchon in jene winterlichen Lebenshöhen, wo wir
jedes weitere Jahr als ein Almoſen anzuſehen haben. Wie
groß war daher meine Freude, beide Männer rüſtig und munter,
ja gänzlich unverändert wiederzufinden! Die gewichtige Scala
von fieben Jahren Hat ihnen wenig angehabt; faum unter-
iheiden wir die Octave vom Grundton.
Ein befonderd angenehmer Anlaß führte mich vor wenigen
Tagen zu Roffini. Ich follte, ein muſikaliſcher Feuillet de
Conches, einen fremden Gefandten an dem kleinen Muſenhof
von Paſſh einführen. Hauptmann v. Arbter Hatte nämlich
im Auftrage Schwind's für Roffini eine Photsgraphie des
Freskobildes mitgebracht, welches eine der Liinetten im netten
Wiener Opernhaufe zu Ehren Roſſini's ausfüllt. Ein berühmter
Landamann und fpecieller Liebling Rofjini’s, Julius Schul:
hoff, Hatte fih als Dritter unſerer Erpedition nad Paſſh
angeichloffen. So ftand ich denn wieder vor der wohlbefannten
goldenen Lyra an dem Gartenthor der gaftlihen Villa! Wie
damals, jaß der freundliche alte Herr am Schreibtiih in
feinem feinen Arbeit3zimmer, erhob fi) etwas jchwerfälligen
Leibes, aber mit gewinnenditer Herzlichkeit, umd ftredte ung
die Hand entgegen. Wir drüdten ihn bald wieder in den Zehn:
ftuhl und breiteten dad Bild von Schwind vor ihm aus. Es
gehört zu den anmuthigiten Gompofitionen unfere® phantaſie—
vollen Meiſters. Das große Mittelfeld des Halbbogens enthält
Roſſini. 595
die drollige Rafiricene aus dem »Barbier von Sevilla«s:
Figaro, den alten Bartolo einjeifend, hinter ihnen Almaviva
mit Roſine am Clavier in verftohlener Umarmung, und feit-
wärts als boshafter Beobachter der dürre Don Baſilio. Auf
dem fleineren Felde zur Rechten diefes Hauptbildes, durch zierliche
Arabesfen und Figuren davon getrennt, ſehen wir Aſchen—
brödel, das mit rührender Demuth die zum Ball geichmücdkten
Schweſtern betradtet. Das correfpondirende Linke Seitenbild
gehört der Ftalienerin in Algier: die reizende Abenteurerin
präludirt träumerifh auf der Laute, während der Türke mit
andächtiger Lüfternheit an der halboffenen Thür laufcht. Die
ihönfte Harmonie verbindet dieſe drei durch maßvollen Gegen:
ja einander hebenden Bildchen. Der künſtleriſche Scharfblid
Schwind's vermied weislich heroiſche und tragiihe Opern—
icenen (»Dthello«, »Wilhelm Tell«), welche die Einheit der
Stimmung geftört hätten. Das eigentlich pofienhafte Element,
das der »DBarbier von Sevilla« im Mittelbilde voll über:
müthigen Humors verfinnlicht, befänftigt fi) zu beiden Seiten
in den halbidealen Figuren Cenerentola’3 ımd Iſabella's
zu dem mezzo-carattere des feinen mufifalifchen Luſtſpiels.
Ein Ton fchalkhafter Anmuth und Liebesluft Klingt aus dem
Ganzen, das fi) wie Roſſini'ſche Mufit — beinahe anhört,
möcht’ ich jagen.
Zange und mit fichtlihen Vergnügen betrachtete der
greife Maeftro das Bild; ſowohl dad Kunſtwerk felbit, als die
ichmeichelhafte Aufmerkſamkeit Schwind's freuten ihn offenbar
noch viel mehr, als er zeigte. Aber plöglich, als wollte er
abjichtlih an Höheres erinnern, fragte er, ob denn Mozart's
Dentmal in Wien fchon vollendet fei? Und Beethovens?
Wir drei Defterreicher ſahen etwas verlegen drein. »Ich erinnere
mich jehr genau an Beethoven«, fuhr Roffini nad einer
Pauſe fort, »obwohl es bald ein halbes Jahrhundert her iſt.
Bei meinem Aufenthalt in Wien babe ich mich beeilt, ihn
aufzufuchen.e — »Und er hat Sie nicht vorgelaffen, wie
Schindler und andere Biographen verfihern.«e — »Im
Gegentheil«, corrigirte mich NRoffini, »ich ließ mid durch Gars
pani, den italienischen Dichter, mit dem ich zuvor auch Salieri
38*
596 Muftaliiche Briefe aus Paris. (1867.)
befucht, bei Beethoven einführen, und diefer empfing uns fofort
und fehr artig. freilich währte der Beſuch nicht lange, denn
die Converfation mit Beethoven war gerade zu peinlich. Cr hörte
an dem Tage beionders fchleht und verftand mich nicht troß
des Jauteften Sprechens; obendrein mag feine geringe Hebung
im Stalienifhen ihm das Geſpräch noch erjchwert haben.«
Ich befenne, daß dieſe Mittheilung Roſſini's, deren Treue durch
mancherlei Detail noch zweifellofer hervortrat, mich wie ein
unerwartete Gefchent erfreute. Stet3 Hatte mich diefer Zug
in Beethoven’3 Biographie verdrofien und der mufifaliiche
Jacobiner-Club dazu, welcher die brutale germanifche Tugend,
einen Roffini von der Schwelle zu weiſen, verherrliht. Alſo
die ganze Gefchichte nicht wahr. Wieder ein Beifpiel, mit welcher
Sorglofigkeit falſche Thatfahen hingeſtellt und nachgeſchrieben
werden, welche dann mit unglaublicher Schnelligfeit zur hiſto—
riihen Wahrheit verhärten. Und dies Alles, während man
noh mit leichter Mühe von den lebenden Hauptperfonen
authentiihe Aufklärungen erlangen fonnte !
Gerne folgten wir Roffini’3 Einladung, una hinab in’s
Erdgeſchoß zu führen Wir treten in den lichten, geräumigen
Salon mit dem fresfengefhmüdten Plafond und den hohen
Fenitern, zu welchen Rofenbüjche hereinniden. In der Mitte
ded Salon? ein Pleyel’iher Flügel. Roffini hat bekanntlich
in den letten Jahren mit Worliebe das Klavier cultivirt,
und Dies veripätete Virtuoſenthum gibt ihm Stoff zu fort:
währenden Scherzen (worunter viele ftereotype). Er begann
glei zu lagen, daß Schulhoff ihn ald Pianiften nicht wolle
auffommen laffen. »Freilich übe ich nicht täglich Scalen, wie
ihre jungen Leute — denn wenn ich Tonleitern über das
ganze Clavier mache, fo falle ich entweder rechts vom Seſſel
herab oder links.« Auf Schulhoff's Bitten fpielte und Roſ—
fini einen feiner Clavierſpäſſe, das »Offenbach-Capriccio«. Ein
Staliener — fo lautet die Genefis diefes Stückes — äußerte
einmal bei Roffini, Offenbach habe den böfen Blick, und
man müſſe das Gettatore-Zeichen (Ausftreden des zweiten und
fünften Fingers) vor ihm machen. »Alfo follte man vor Offen:
bad) auch folgenderweiſe ſpielen,« ſcherzte Roffini und impro-
Noffini. 597
pifirte am Piano eine äußerſt nedifche Kleinigkeit, deren Melodie
er mit gabelförmig ausgeftredten zwei Fingern der rechten Hand
vortrefflih ausführt. Ich bemerkte einige feine, originelle
Modulationen, worauf Roffini jo gefällig war, mir jeine Har-
monifirung des alten Marlborough-Liedes vorzufpielen. Es ift
eritaunlich, wie gerade Roffini, dem modulatoriſche Spikfindig-
feiten ftet3 jo fern lagen, dies Volkslied mit einem Reichthum
geiftreiher Harmonien und enharmoniicher Ueberraſchungen
ausgeftattet hat. Auch in einigen anderen Geſangs- und Clavier—
jtüden, die ich in einer feiner Soireen hörte, iſt mir die neue
Borliebe Roffini’3 für diftinguirte Bäfje und Tebhaftere Modus
lationen aufgefallen. Weit entfernt, diefem niedlichen Nach—
funfeln einer im Grunde längſt erlofchenen Flamme ungebühr:
lihen Werth beizulegen, fcheint es mir doch interefjant, daß
der Styl des Tbjährigen Sänger? von Pejaro überhaupt noch
einer neuen charakteriftiihen Wendung fähig war.
Im Laufe des Winter gibt Roſſini ſechs bis adt
mufitaliiche Soireen in jeiner Stadbtwohnung, Chauſſée d’Antin
Nr. 2. Für einen Künftler von jo eminentem Scönheitsfinne
in der Muſik ift die Ausihmüdung feiner Wohnung auffallend:
jtyllos, mit einem Stid ins Barode. Neben einem Kupferftich
der Madonna della Sedia hängt irgend ein Decolletirtes Pariſer
deal, daneben deden die Wand entlang broncene Schüffeln mit
Heiligengefchichten in getriebener Arbeit. Auf der Commode
erhebt fich ein Crucifix auß einem Gewühl japanefiicher Figür-
hen und chinefiicher Bilder, für welche Roſſini fehr einge-
nommen scheint. Won Porträts bemerkte ih nur auf dem
Kaminfims die fleinen Photographien des Königs von Por:
tugal und der Adelina Batti. Von Lebterer ſpricht der
Maeſtro mit bewundernder Hohihägung und nimmt fie immer
aus, wenn er das gänzliche Ausfterben der großen Geſangs—
fünftler beklagt. »Sehen fie da«, fagte er, nach) dem neuen
Dpernhaufe zeigend, das fi gerüftumfleidet vor feinen
Senitern erhebt, »wir merden bald ein neue Theater
haben, aber Sänger haben wir jegt ſchon nicht mehr. Wird
es Ihnen beifer ergehen, wenn einmal das neue Opernhaus
in Wien fertig it ?«
598 Muſitaliſche Briefe aus Paris. (1867.)
Die Soireen des berühmten Maeftro find in Paris
Gegenstand allgemeinen Ehrgeizes. Die ausgezeichnetiten Perſonen
bemühen fih darım oft mehr, als um eine Einladung in die
Tuilerien, und die Journale verfäumen nit, am folgenden
Tage davon zu berichten. Ich habe dem letzten dieſer Muſik—
abende noch beiwohnen fönnen.
Das Programm des Eoncertes (faft ausſchließlich Roſ—
ſini'ſche Mufik, wie begreiflich) bildeten italienische und franzöfiiche
Geſangsſtücke, von den erjten Kräften der Oper: Mad. Sar,
Mad. Battu, Faure und anderen vorgetragen. Zwei neue
Roſſini'ſche Clavierſtücke (von einem jungen Virtuojen Diemer
gejpielt) fielen weniger durch originellen Gehalt als durch
ihre gehäuften Schwierigkeiten auf. Sie führten die ſeltſamen
Titel: »Tiefer Schlaf und plögliches Aufwachen«, »Tatariſcher
Bolero«. Die Gefangsftüde find ernithafter und ſchöner, nicht
jelten originell, immer mufterhaft in der Behandlung der
Stimme. Zwei feiner Geſangsſtücke begleitete der Hausherr
jelbft am Glavier mit entzüdender Delicateffe.. Sonſt figt er
an ſolchen Abenden meilt jchweigiam und ermüdet in dem
fleinen Gintrittäzimmer mit feinem alten Collegen Garaffa
oder irgend einem anderen Hausfreund und ift froh, wenn ihn
die Vergdtterungömente ein Meilen in Ruhe Täßt.
Ich bedauere, Roſſini's neue Meſſe nicht kennen gelernt
zu haben; e& foll dies Werk (dad wie die übrigen vom Come
ponijten gehütet und der Veröffentlihung entzogen ift) bebeu-
tende Schönheiten enthalten. »Das ift feine Kirchenmuſik für
euch Deutſche«, meinte Roffini ablehnend, »meine heiligite Muſik
ift doch mur immer semi-seria.« Seine Napoleons-Hymne (für
die Preisvertheilung am 1. Juli) nennt er »Sneipenmufife,
feine Opern »veraltetes Zeuge. Es ilt überhaupt mit dem
berühmten Maeftro nicht ernithaft zu reden; er fühlt fi nur
behaglih in gemächlichem Scherz und leichten Nedereien, und
wenn er über feine Compofitionen fpottet, jo bleibt e& immer
zweifelhaft, ob er mehr fich oder die Anderen zum Beften habe.
Man mag das Mebertriebene dieſer grotesfen Selbitverleug-
nung tabeln, es liegt ihr aber unftreitig ein Motiv oder
Gefühl zu Grunde, das man bei näherem Einblick in die Ver:
Roffini. 599
hältniffe anerkennen muß. Roſſini lebt nämlich inmitten einer
ununterbrochenen Bergötterung und Verhätſchelung. Es gibt
wenig Männer auf Erden, denen in folder Weile gehuldigt
und nur gehuldigt wird. Sein Zimmer ift nie leer von Be—
juhern; die höchſten Notabilitäten des Adels, des Reich—
thumes, der Kunſt fommen und gehen. Er wird überhäuft
mit koſtbaren Gejchenken und zarten Aufmerkjamfeiten; von
100 Menſchen glauben 99 ihm Schmeicheleien jagen zu müfjen.
Würde Roſſini alle diefe beivundernden Worte mit jenem
geitreichelten, eitel-bejcheidenen Lächeln hinnehmen, das jo vielen
Gelebritäten eigen ift, die gleichlam mit einer Hand abwehren,
und mit der andern einfafliren, fo wäre in feinem Haufe nicht
eine Biertelitunde lang zu eriltiren. Man müßte vor Weih-
rauch erftiden. Ernſthaftes Mißbilligen oder Creifern liegt
nicht in Roſſini's Charakter; er jchlägt alfo lieber mit einer
gutmüthigen Selbitbefpöttelung dem Anbeter das Weih—
rauchfaß aus der Hand und ergößt fih an deſſen Ber:
legenheit. »Wie foll ih Sie nur nennene, hauchte ihn jüngft
eine jchöne Dame an, »großer Meifter? oder Fürft der
Tonkunſt? oder göttlihes Genie?« — »Am Tiebiten wäre
mir«, erwiderte Roffint zutraulich ſchmunzelnd, »Sie nennten
mid: mon petit lapin!« (»Mein Deauferl« auf gut
MWienerifch.)
Roſſini macht feine Beſuche, bringt feinen Abend außer
Hauſe zu, war jeit zwanzig Jahren nicht im Theater und hat
natürlich auch die Ausstellung nicht gejehen. Spazierenfahren,
Bejuhe empfangen und ein wenig Mufif bilden feine ganze
Beihäftigung Zum »Chrenpräfidenten« der großen muſi—
faliihen Jury über die Preiscantaten md Friedenshymnen
ließ er fih willig wählen, unter der außdrüdlichen Bedingung,
daß er nie zu erjcheinen und nicht das Mindelte zu thun
brauche. Er erklärte ſich fcherzend bereit, unter denjelben Be—
dingungen auch noch in andere Comités gewählt zu werben.
Ganz ernithaft nimmt der heitere Maeftro vielleicht gar nichts,
als die Pflege feiner Geſundheit. Er ſchont ſich auf's Zärtlichite
und hegte großen Abſcheu vor dem Sterben. Wehe, wenn
ihm ein Beſucher feine Siefta oder ſonſt einen wichtigen
600 Muſikaliſche Briefe aus Paris. (1867.)
Leibesact verzögert! »Allez vous-en«, rief er jüngſt jo einem
Unglüdlichen zu, »ma eelebritE m’embete!«
Auber.
Paris, 7. Auguſt.
Die beiden mufifaliihen Großmeiiter von Paris machen
einander in ihrer Lebensweife die vollftändigite Oppofition.
Während Roſſini feine Tage durch olympiiches Ausruhen
genießt, bedarf Auber fortwährende Thätigfeit. Der Eine
vermeidet jede Anftrengung, als etwas da3 Uhrwerk jeines
Lebens Abnütendes, der Andere jcheint im Gegentheil zu
fürchten, e8 fönnte die Mafchine durch Unthätigfeit einroften
und ftehen bleiben. Roſſini, ein heiteres Symbol des ita=
lienifhen dolce far niente, hält fih die Welt vom Xeibe,
ihre Geſchäfte wie ihre Genüffe, und über die Ruhe in der
Stadt geht ihm mur die noch ruhigere auf feinem Landfik.
Auber, die Verförperung franzöfiicher Rührigkeit, würde hin—
gegen ohne den fteten Contact mit der Gefellihaft ver:
fommen; jelbit in der Sommerhige iſt ihm das bewegte Baris
inmpathifcher al& die monotone Idylle des Landlebens. Auber
zählt 85 Jahre; es it faum anzunehmen, daß feine Thätigfeit
derzeit der Kunſt noch großen Wortheil bringe, aber Dieje
Thütigfeit jelbit ift ein Phänomen. Der greife Meifter legt
fih um 1 Uhr Nachts zu Bett und fteht täglihd um 5 Uhr
Morgens auf. Eine Taffe Thee zum Frühftüd muß als einzige
Nahrung bis um 7 Uhr Abends vorhalten, wo er ein gediegenes
und ausführliches Diner tapfer bewältigt. Um 9 Uhr Morgens
leidet e8 ihn jelten mehr zu Haufe; da wird ins Conſer—
vatorium gegangen, in den Senat oder ind Inftitut, auf den
Boulevard3 flanirt, jpazieren gefahren. Im eigenen Haufe ift
Auber nicht geiellig wie Roffini, obwohl jein glänzender Wohl—
ftand ihm die Gaftfreundichaft leicht machte. Wielleiht weil
er unverheiratet it? Es fehlt doch nicht an einer feinen,
jtattlihen Dame, der man beinahe die Ehren einer Hausfrau
erweilt. Der im Frauencultus großgewachiene und noch immer
Auber. 601
empfindſame Componiſt des »Fra Diavolo« würde es ohne
weibliche Umgebung ja doch nicht aushalten. Auber empfängt
ungleich weniger Beſuche als Roſſini. Es hat nicht Jedermann
Luſt und Muth, einen berühmten Mann vor 8 Uhr Morgens
zu beſuchen, obendrein wenn dieſer von ſeinem Hausgeſinde mit
furchtbarem Eifer bewacht wird. Die Baſis dieſer Auber'ſchen
Feſtungswerke bildet eine wüſte, alte Hausmeiſterin, welche
ſeit 40 Jahren ſein Hausthor in der Aue St. Georges mit
Mort und That vertheidigt. Diefer berühmte weibliche Dämon
nimmt jeden ihrem Gebieter zugedachten Beſuch als eine per:
jöhnliche Beleidigung auf und ift im Stande, fi mir aus:
gebreiteten Armen dem erjchredten Fremdling in den Meg zu
werfen. Glüdlicherweife hatte ich im Laufe diejer vier Monate
reihlihe Gelegenheit, Auber ſowohl von feiner gejelligen Seite
al3 in feinem fünftlerifhen und geichäftlihen Wirfen näher
fernen zu lernen.
Daß der 85jährige Mann es mehrmals in jeder Woche
über jih bringt, um 10 Uhr Nachts dem bequemen Fauteuil
zu entjagen, Toilette zu machen und fich dem Drangial einer
großen Soirée zu überliefern — ich Habe ihn noch mehr darım
bewundert, ald ob der »Stummen von Portici«. Die Journale
mögen ihn deßhalb immerhin mit den ftereotypen Beinamen
»unverwüſtlicher Jüngling«, »jugendlicher Greis« u. dgl. be—
-ehren, nur muß der Leſer von dieſen Ausdrücken jeglichen.
Beigeſchmack von Gedenhaftigfeit oder Gefalljucht ablöfen. Er
würde ſonſt Schweres Unrecht thun. Man kann fih nicht ernit-
bafter und einfacher benehmen, als Auber. Die Luft an Späffen,
die ewig fcherzende Laune Roſſini's liegt ihm fern, nod
ferner die Geziertheit und jungthuende Koketterie eines A. W.
Schlegel. Auber’3 ernjthafte Miene enthält durch den fcharfen,
unter dichten Augenbraunen wie aus dem Buſch hervorſchießen—
den Blick jogar etwas Finfteres. Wie Roſſini offen und
redfelig, jo ift Auber zugefnöpft, wortfarg, förmlich. Man
wird ihn jelten lächeln jehen, vielleicht nur im Geſpräch mit
Damen. Sein Geihmad für glänzende Gejfelligkeit fand in diejer
Saijon ein ergiebiges Feld. Ich ſah Auber gleich unermüdlich
in den prachtvollen Soiréen, welche der Kaijer, der Marſchall
602 Mufitaliiche Briefe aus Paris. (1867.)
Vaillant, die Minifter Rouher und Forcade gaben, dann
bei der Preisvertheilung, endlich zu wiederholtenmalen in der
Oper. Bei den Italienern fehlte er felten, wenn Adelina Patti
jang, die er als die erſte lebende Opernfängerin ſchätzt. Man
ſah ihn da vorn in der zweiten Sperrfigreihe ganz begeiftert
applaudiren; für ihr Abſchieds-Benefice hatte er ein prachtvolles
Bouquet aus Nizza fommen laſſen. Wenn eine feiner Opern
gegeben wird, zeigt fih Auber niemals im Saale, fommt aber
gern auf die Bühne. Ich traf ihn da mitten unter den Fifchern
von Bortici, in einer unglücdjeligen Vorftellung der » Stummen«,
die traurige Bergleiche in feiner Erinnerung erwedt haben muß.
Aber auch er ſelbſt, der Componift diejer hinreißenden Oper,
gab und Anlaß, die Verheerungen der Zeit zu beflagen: eine
große Balletmufif, für die Markticene des dritten Actes von
ihm neu componirt, war fo überaus ſchwach und banal, daß
man fi fürmlic zwingen mußte, an die Autorfchaft Auber’s
zu glauben. Ungleich hübſcher, wenngleich nicht hervorragend,
ift ein Eleines einfaches Andante, dad Auber hier für die Patti
componirt hat und das fie ald Einlage im »Barbier von Se:
villa« vorzutragen pflegt.
In der großen Jury über die Preis-Cantaten und
Friedenshymnen war Auber unfer PBräfident — fein Bräfident
auf dem Anichlagzettel, wie Roffini, fondern ein jehr wirklicher.
Die erjte rohe Arbeit des Durchſpielens aller 200 Eantaten
und 800 Hymnen machte er allerdingd nicht mit — der ent-
menschtefte Barbar hätte ihm das nicht zugemuthet — aber
den zwei langen letten Sigungen, in welchen die beiten der
eingelaufenen Compofitionen gehört wurden, wohnte er aufmerf:
jam bei. Leider betheiligte er fih an den Urtheilen und Bor:
Ihlägen mit feiner Sylbe, fondern beichränkte fih darauf, Die
Abftimmung in präciier Weife zu leiten und das Rejultat fund:
zugeben. Unſere oben erwähnten Vorarbeiten fanden im Conſer—
batorium neben dem Arbeitszimmer Auber’3 ftatt, in welches
er nur durch unſeren Saal gelangte. So konnten wir ihn denn
täglich in feiner vollen Thätigfeit beobachten. Bald kam er von
den Prüfungen in der Geſangs- oder Declamationd-Clafje, um
fih fofort zu jenen der Geiger oder Pianiften zu begeben;
Auber. 603
bald conferirte er mit Lehrern oder Beamten der Anjtalt —
furz, er war unermüdlich. Nur wer dies große und complicirte
Snftitut kennt, macht fi einen Begriff von der Thätigfeit, Die
es dem Director, jei e8 auch nur in formeller Hinfiht, auf:
erlegt. Zu einer der Glafjenprüfungen nahm mich Auber freund:
ih mit; er ſaß da mit vier Profefforen am grünen Tifch,
hörte ein Dutzend Schülerinnen ihre Stüde vorfpielen und
zeichnete nach jeder Production feinen Calcül ind große Bud).
Eine der wenigen Aeußerungen über Muſik, die ich von
Auber vernahm, zeugte von feinem Studium und feiner Ver:
ehrung der Gluck'ſchen Muſik. Gevaert hatte ihm eben mit:
getheilt, daß er Gluck's »Armida« für die Große Oper vor:
bereite. Auber lobte die Mahl dieſes Werkes, dad er der
»Alceſte« vorzieht, und citirte gleich die herporragenditen Stüde
daraus. »Aber«, fügte er lebhaft hinzu, »wie viel hat auch der
Tertdichter dazu gethan! Welche Verſe, welche Situationen!
Man muß Gluf um fo ein Libretto beneiden«. Iſt es nicht
harakteriftiich für den franzöſiſchen Componiſten, dies Hochſtellen
des Tertdichter *) und neidvolle Rühmen eines faſt 200jährigen
Librettos?
Welche Zeiten ſind über dies weiße Haupt hinweggezogen!
Als Knabe hatte Auber noch oft Ludwig XVI. geſehen, deſſen
Caroſſen ſein Vater bemalte und vergoldete. Die erſten Ro—
manzen des zwölfjährigen Auber wurden von galanten Damen
des Directoriums in den Salons von Barras geſungen. Vor
62 Jahren ward feine erſte kleine Oper von einer Dilettanten—
Gejellihaft bei Doyen in Paris gefpielt. Dann ging er als
»Handlungäbefliffener« in ein Bankierhaus nach London, fehrte,
dieſes Berufes bald überdrüffig, nach Paris zurück und entſchloß
fih, feine muſikaliſchen Studien bei Cherubini von Grumd
aus neu zu beginnen. Seine zwei erjten Opern im Theätre
Feydeau fielen durch. Adolphe Adam, der Componift des
»Poſtillon«, bat ſich in ſpäteren Jahren die Partituren derjelben
aus. »Was, um Himmelöwillen, wollen fie damit anfangen?«
fragte Auber. »Es find milerable Verfuche.e — »Deſto befier«,
V Oninault. ar End
604 Muſikaliſche Briefe aus Paris. (1867.)
entgegnete Adam, »ich will fie meinen Schülern zeigen, jo oft
fie muthlo8 werden.«
Mit Entzüden habe ih die »Stumme« und »Fra Diavolo«
hier wieder gehört, die jeit vierzig Jahren nichts an Friſche
und Glanz eingebüßt. Es ftimmte mid glüdlih, den Mann
zu fehen, der dies einft gejchaffen und jegt in feinem hoben
Alter mit ungebrochener Lebensluſt fortarbeite. Er fühlt fi
eben innerlich jung, was kümmert ihn das Datum feines Tauf-
ſcheins? »Der arme Garaffa! wie er alt wird«, flüfterte
Auber, als jein jüngerer College in ber Juryfigung erſchien.
Mir fiel unwillkürlich unfer Heldengreis Radetzky ein Und jein
Bedenken gegen den »zu alten« Windiſchgrätz. Auber hängt
feſt, aber ohne Aengſtlichkeit am Leben, mitunter fogar nicht
ohne Humor. »Der Tod fcheint wirklich unter den alten Opern—
Gomponiften aufräumen zu wollen«, jagte er, von Meyerbeer’s
Zodtenfeier heimfehrend, zu einem Freunde — »jegt kommt
die Reihe an Roſſini.«*)
*) Die Prophezeiung traf unerwarteter Weife ein: Roffini
(zehn Jahre jünger ala Auber) ftarb im folgenden Sahr, den 14. No—
vember 1868,
J
1982 016
— ——
Mus 188.3
Aus dem Concert-Saal Kritiken und
44 041 053 182
4
—
ai
are
BETT
A o I
u
vr
er a ee eh
RT me
— i nad u.
—— Min
Be — 1 rnteny, ao P ——
ARE Tr ea
2 wWwirhä Por 27
alhe
4
eh
ur
—
—* —*8
BESTELLT de wor #7
ee A N
ee ei
PER WIE EEE ZZ
ia mr
4
BERN
KR Ui
ET
iUmHlrmb
I PITIE IE"
ee
ee Harn 4!
ſ
er
we ——
en
PERS e 777 28
Pe
idea
PATREIPTRTT TUE
uk
——
0 wi
⸗*
La —
nis
Kiignd
er
Wr
je TERET
u
)
—9
er
N
h EAN
ir
>.
en
i
—
—
x
— dr
——
—
x
*
VELIEH ST
IA —
Reel