Skip to main content

Full text of "Aus dem Concert-Saal : Kritiken und Schilderungen aus 20 Jahren des Wiener Musiklebens 1848-1868"

See other formats




EDA KUHN LOEB 


MUSIC LIBRARY 
gift of 
Mrs. F. Stanton Crowley 





HARVARD UNIVERSITY 


DATE DUE 


a 








GAYLORD 


Aus dem 


Uouncert- Baal. 


Aus dem 


Concert-Saal. 


Kritiken und Schilderungen 


aus 


20 Dahren des Wiener Muſiklebens 


1848— 1868. 


VNebſt einem Anhana: 
Piufikalifche Reifebriefe aus England, Frankreich u. d. Schweiz 


von 


Eduard Banslirk. 


Zweite durchgefehene und verbefferte Auflage. 





Wien und Leipzig. 
Wilbelm Braumüller 


k. u. £. Hofs und Univerſitätsbuchhändler. 
—— 1897. 


HARVARD UNIVERSITY 
NCT %- 106? 


EDA KUHN LOEB MUSIC LIBRARY 


Alle Rechte vorbehalten. 





Trud vor Friedrih Jasper in Wien, 


rn. ran r.- Gi Er ca 
EDA KJ 4. —* — —E — — — — — —* — 


HARYARD UNIVERS SITY 
CAMBRIDGE, MASS. 02138 


Inhaltsverzeihniß. 


x Seite 
Vorwort zur erſten Auflage -» » 2: 2 2 2 2 nn XIII 
3 Vorrwort zur zweiten Auflageee xV 
1848. Haydn’3 »Schöpfung« und dad Dratorium in Wien. . 1 
Janſa's Duartettjoirden und die Pflege der Kammermufit 5 

Akademie zum Andenken des Componijten C. Ferd. Füchs 8 

; 9 





— Zanzmufit und die Söhne von Strauß und Lanner . . 28 
Die Wiener Eoncert:Saifon 1852—1853 . . 2 2 2. . 31 








Gade's »Difian QOuverture.. 85 


Pſalm von Mendelsſohn. — an Zeus« von 


Menerbeer : -: 2 2 2 2 2 un 








G.Bailati. Hedwig Brzowska. Evers. Doppler 89 
Sadfe — Frl. Staudach. — Liederfänger . . . 92 


VI Inbalteverzeichnih. 


Seite 
1856. Orcefterconcerte: Litolff’ö Dupverture »Chant des 





1857. »Les preludes», iymphonifhe Dichtung von Fr. Lift . 124 
Orcdeiterconcerte: R. Schumann und feine D-moll- 





Virtuojenconcerte: (Nanette Falk. Henritte Fritz. Die 


Geiger Bazzini und Fraiinetti, 








1858. »Das Paradies und die Veri« von R. Shumann . . 155 





Rammermufit: Chopin. Beethoven’s Fuge op. 133, 
Schumann’ Violinfonate in D-moll, X. Winter: 


Inhaltsverzeihniß. vn 





Digitized by Google 


VIII Inhaltsverzeichniß. 


Philharmoniſche Concerte: Genovefa-Ouverture von 





Einleitung zu »Triſtan und Iſolde« v. R. Wagner 251 


Sopran-Arie von Mozart 
Eoncert für StreichInitrumente von Seb. Bad. . 252 





C-dur-Symphonie von Shumann. . . » 2»... 252 
Duverture »Medeae von Cherubini. . »..... 253 
Ordeiter:Suite in D von Sb. Bad. ...... 253 
B-dur-Symphonie von Shumann. . » 2 22... 254 


Symphonie von . Emanuel Bad RER 258 
»2oreley« von 





1862, Die Mathäus-Paſſion von Seb. Bad . . ». 2... 269 


Händel’3 »Meſſias« und das Jubiläum der »Gefelichaft 


der Muſikfreunde... 








Orcheſter- und — Brahms’ Serenade 
Te a a a a a 
Chor von 








Arien von Händel und Bergoleie. . ..... 294 
Schubert's C-Sym DEE SDTESTET 295 
Birtuojen: Karl Taufig, NMlerander Dreyihod, 

Wilhelm Treiber, Ed. Remendyi . .. 2.20. 296 


1863. Schumann’s Mufit zu Goethe’ »Fauft« (vollftändige 


Aufführum 


Die Preis-Symphonien (von 3. Naft u. Alb. Beder) , 310 
Singafademie (Cantate von Seb. Bad. Chöre von 


Beethoven und S 








Anbaltsverzeichnik. IX 





Orcdeftercompofitionen von Liſzt und Wagner. Das 


Tauſig-Wagner-Concert . . . - 


Kammermufif: Quartett von . Sonate von 
Em. Ba 








Mendelsjohn’s Mufil zu »Antigomee . .  ... . 342 
Männergefangberein: (Herbed’s Repertoire. »Das 
Glück von Edenhall« von Shumann. Studentenchor 
bon Berlioz. »Das Liebesmal der Apoftele bon 








Rihard Wagner. Chor von Fr. Schubert) . . . 346 
DOrcefterconcerte: Fr. Lachner's Suite in E-moll . 351 

Berlioz’ Duverture zu »Benvenuto Gellini« . . . 353 

- Zrauerfpiel-Ouverture von W. Bargiel .. . . . 34 

Chor von Shumann 

) ’ 

Schumann’ Duverture zu »Julius Cäfar« . . . 358 

Beethovben's Tripelconcert in C-dur. . . .. 360 
— Karl Tauſig, Franz Bendel, Grat Bauer, 

Julius Epftein, Sojef Derffel, J. Dubeß . 360 


Alois Ander (Nekrologh... 370 





1865. Philharmoniſche Concerte: Schubert’3 Muſik zu 
Rojamunde, DOuverture zu »Alfons und Eitrella« 






und C-dur-Symphonie 


Beethoven's Feſt-Ouverture op. 124 . ..... 378 
6» « 4, 378 





J Inhaltsverzeichniß. 





———— und »Trom eten-Onnerture« — 469 





Digitized by Google 


Inhalts verzeichniß. XI 


— für Streichinſtrumente von Händel. 





Bei ven er‘ 8 | | 


Sean Beder und das 


1860 i 





Digitized by Google 


XII Inhaltsverzeichniß. 


Seite 


III. Muſikaliſches aus London (1862): 





Vorwort zur erfien Auflage. 


Niemand fann über den ephemeren Werth und Erfolg 
von Zageskritifen beicheidener denken, als der Verfaſſer der 
bier vorliegenden. Weder vielfeitige freundliche Aufforderung, 
noch daS Beifpiel zahlreicher franzöſiſcher, engliicher, neueftens 
auch deutſcher Publiciſten hätten mich vermocht, meine refpect- 
volle Scheu vor der Buchform zu überwinden und eine Aus— 
wahl von Journalauffägen in fo bauerhaftes und ftattliches 
Gewand zu Heiden. Was mich jet dennoch dazu veranlaßt, iſt 
vorzüglich die Rückſicht auf ein früheres im felben Verlag er: 
jchienenes Werk: »Geſchichte des Concertweſens in Wien«. 
Anlage und Umfang diefer »Conzertgefchichte« geftatteten zwar 
eine ausführliche Darftellung der älteren und mittleren Muſik— 
periode, zwangen jedoch den Verfafler, fi in der Schilderung 
der nenueften Zeit auf die nothiwendigen, allgemeinen Grundzüge 
zu bejchränfen. Es wurde mir ein Vorwurf gemacht aus der 
allzu knappen Daritellung der legten zwanzig Jahre, gerade 
jener Muſik-Epoche (1848 — 1868), die ih felbit in Wien 
miterlebt und liebevoll! Schritt für Schritt kritiſch begleitet 
hatte. Aber um jede bedeutende Kunſterſcheinung diefer reichen 
Periode eingehend zu würdigen, hätte ich ftatt eine Kapitels 
meiner »Goncertgefchichte« einen ganzen Band jchreiben müſſen. 
Da wurde ich aufmerffam, daß diefer »ganze Band« eigentlich 
ihon gejchrieben und gedruct bei mir verftedt liege, — nämlich 
in einem Berg von alten Zeitungsartifeln, aus dem er blos 
herauszugraben und von Schladen zu reinigen war. Sp ging 


XIV Vorwort. 


ich denn muthig an die Durchſicht der 26 Jahrgänge meiner 
journaliſtiſchen Thätigkeit. 

Die rechte Auswahl zu treffen iſt in ſolchem Fall nicht 
(eiht für den Autor: er fieht fich ſelbſt gleichjam in zwei 
Hälften geipalten, eine ftrenge und eine nachfichtige, welche fich 
wie Ankläger und Vertheidiger fortwährend befehden. Gern 
wäre ih noch häufiger, als es geichehen, dem verneinenden 
Geift in mir gefolgt, — aber der pofitive leitende Gebante, 
diefe Sammlung zu einer fortlaufenden Sluftration meiner 
»&oncertgefhichte« zu machen, entwaffnete das Bedenken über 
die Drucdwürdigfeit manches Einzelnen. 

Von meinen vormärzlichen Jugendſünden habe ich nichts 
aufgenommen; bon 1848 biß 1854 nur wenige Auffäße. Sie 
ſtanden urfprüngli” in der »Miener Zeitung« und ihrer 
»Beilage für Kunft und Literature. Die Kritiken von 1855 
bis 1864 waren für die (alte) »Preſſe« gejchrieben, alles 
Folgende für die »Neue Freie Preffee. 

Mie Schon der Titel der Sammlung andeutet, find die 
Kritiken über Opern und Theatervorftellungen hier ausgeschieden. 
Hingegen mwurden einige feinerzeit beifällig aufgenommene 
Feuilletons, obwohl fte nicht direct den Koncertfaal angehen (mie 
die Mufikaliichen Briefe aus Paris und London u. W.), auf den 
Wunſch von Freunden dem Bude einverleibt. Das Rettungd- 
Ihiff lag einmal vor Anker, warum follte es nicht auch einige, 
nicht Strenge zur Zunft gehörende Baffagiere mit an Bord 
nehmen? Möchte die anipruchslofe Reiſegeſellſchaft auch in 
diefem neuen Fahrzeug mohlwollende Aufnahme bei ihren 
alten Freunden finden. 


Wien, zur Weihnachtszeit 1869. 


Ed. B. 


Vorwort zur zweiten Auflage. 


Huf eine zweite Auflage diefes Buches habe ih nicht 
gehofft; ich hielt es für vergriffen und vergefien. Nur Erfteres 
war richtig, wie die vorliegende Neuauflage beweift. Das fo 
ſpäte Erſcheinen derjelben — ein volles Vierteljahrhundert nach 
der erften — verfchiebt matürlih den Gefihtspunft, aus 
welchem der Inhalt jet aufgenommen und beurtheilt fein 
will. Bor 25 Jahren wirkten die hier befprochenen Kinftler 
noh inmitten lebendiger Strömung; meine Lefer ftanden 
ihnen noch nahe genug, um den Reiz eine gemwiffen per- 
fönlihen Antheil® bei der Lectüre nicht zu vermiſſen. Das 
it heute andere. Die Sänger und Pirtuofen jener Periode 
find faſt alle in das Reich unbelannter Harmonten hinüber: 
gegangen; zulegt noch zwei der Beiten und Ruhmreichſten: 
NRubinftein und Clara Schumann. Was die Compontiten 
betrifft, jo find bier neben den Glaffifern hauptſächlich jene 
jüngeren Meifter beiprocdhen, welche (wie Schumann, Wagner, 
Brahms) in den letzten 30 bis 40 Jahren fich bleibende 
Macht errungen haben; endlich aber auch gar Manche, deren 
schnell auffladernder Erfolg feither zu Staub und Aſche ward. 
Für den Lejer von heute liegen jomit die Geftalten dieſes 
Buches bereitö in der fühlen Nachmittagsbeleuchtung des 
Hiſtoriſchen. 

Wie find die Werke Schumann's, Brahms’, Liſzt's 
u. A. bei ihrem erſten Erſcheinen in Wien aufgenommen 
worden? Wie haben die Concertinſtitute, wie das Publicum, 


XVI Vorwort. 


wie die Kritik ſich zu denſelben verhalten? Welche von den 
Tondichtungen jener Periode blühen ſeither unverkümmert fort 
und welche ſind verwelkt und beſeitigt? Dies ſind die Fragen, 
auf welche die wiederauferſtandenen Annalen »Aus dem 
Goncertfaal«e Antwort geben können. Sie ſchließen mit dem 
Jahre 1868.* Was diefe alten Kritiken an actuellem Inter: 
effe verloren haben, das muß das Hiftorifche erſetzen. Bon 
dieſem Gefihtspunft des Hiftorifhen Intereſſes, als ihrem 
Rechtfertigungsgrund, durfte die neue Auflage nicht abweichen. 
Jh mußte es mir deshalb verjagen, an Form oder Inhalt 
der urfprünglichen Kritiken zu beffern; nur Kürzungen jchienen 
mir erlaubt und geboten. Es iſt nicht bedingungslos wahr, 
daß gerade das Alter geſchwätzig macht. In der Jugend find 
wir oft noch graufamer redfelig; nur klingt es da hübfcher. — 


Wien, den 11. September 1896. 


Ev. B. 


*) Was nad) diefen 20 Jahren an bedeutenden Künftlern und 
Tonwerfen im Wiener Concertleben hervorgetreten ift, habe ich, Die 
vorliegende Sammlung fortfegend, in gleicher Form und Anordnung 
in folgenden drei Büchern behandelt: 

1. »&oncerte, Componiſten und Virtuoſen der legten 
15 Jahre. 1870 bis 1885.« 

(Verein für deutfche Literatur. Berlin 1886.) 

2. »Aus dem Tagebude eines Muſikers« (enthält Con- 
certberichte von 1885 bis 1891). 

(Verein für deutfche Literatur. Berlin 1892,) 

3. »Fünf Jahre Muſik« (enthält Concertberihhte von 1891 
bis 1895). | 
(Verein für deutjche Literatur. Berlin 1896.) 


1848. 


sanon’s „Schöpfung“ und das Ora: 
forium in Wien. 


Kein Bericht, wie diesmal die »Schöpfung«e aufgeführt 
wurde; nur einige Worte darüber, daß man fie aufgeführt hat. 

So weit das Erinnern der gegenwärtigen Generation reicht, 
verging jelten ein Jahr, in welchem nicht eines der zwei 
Haydn'ſchen Oratorien oder beide in Wien zur Aufführung 
gelangt wären, und jo umerichütterlih Gottes Schöpfung und 
Sahrezzeiten in der Natur, jo gewiß waren Haydn's Schöpfung 
und Jahreszeiten alljährlih im Burgtheater. Die rühmliche 
Anhänglichkeit des Wiener Publicums für dieje beiden Werfe 
it nur zu ſehr im der Herrlichkeit derjelben begründet; fie 
gehören zu dem Edelſten und zugleich Friicheiten, zu dem Ge: 
lehrtejten und Lieblichiten, wad wir im Face des weltlichen 
Dratoriums befißen. Kein Wunder, wenn fich die beiden Meiſter— 
werfe alsbald jo jehr in der Gunft des Wiener Publicums 
feftjegten, daß fie die — in unferem Muſikleben gar jpärlichen 
— Dratorienpläge faft ausichlieglih und auf Jahre hinaus 
in Beichlag nahmen. Diele wiederholten Aufführungen jegten 
auch den minder eingeweihten Theil de3 Auditoriums in Stand, 
die genannten Werke nach und nach immer Elarer verftehen und 
vollfommener in fich aufnehmen zu können, fo daß gegenwärtig 
faum ein Mufifliebhaber in Wien zu finden fein wird, der fie 
nicht durch mehrere Productionen fennen und lieben gelernt. 

Die häufigen Wiederholungen hatten alſo ihren künſt— 
leriſchen Nugen; denken wir nım auch an ihre fünftlerifche Grenze. 

Hanslicd. Aus dem Concertiaal. 2. Aufl. 1 


2 1848. 


Das Wiener Mufil-Publicum Hat, ftatt wachſamen Blickes 
in dem lebendigen Strom der Zeit fortzufegeln, fih in Einen 
feften Punkt der Kunſtgeſchichte feitgerannt; ob Diejer eine 
blühende Inſel oder eine Sandbank iſt, gilt für den fünft- 
leriſchen Fortichritt ziemlich gleih. Ohne fein Verfhulden it 
unfer Bublicum zuridgeblieben in der Kenntniß, und wo Diele 
geboten wurde, in der Würdigung der Erjcheinungen, welde 
die Vor: und Nach-Haydn'ſche Zeit im Face des Oratorium 
hervorgebracht. Jede einjeitige Vorliebe, die in falſch verſtandener 
Pietät bei Einem Autor beharrt, und von diefem aus jede 
weitere Entwidlung abgejchnitten will, rächt ſich an der eigenen 
Einfiht und Urtheilöfraft. Ein Publicum, dem die Mannig— 
faltigfeit einer Runftgattung verfchlofjen, hiermit die Möglichkeit 
der Vergleihung entzogen ift, wird alsbald einjeitig im Ge— 
ihmade, und geneigt werden, den Einen Autor als Maßſtab 
an alle andern anzulegen. Das ausſchließliche Verweilen auf 
einem und demſelben MWerfe, und wäre ed noch So trefflich, 
macht bornirt, im etymologijhen und eigentlichen Sinne 
des Wortes. Es gibt in feinem Gebiet der Kunſt Ein Wert, 
das die übrigen ſämmtlich unnöthig machte. Und dennoch 
ſcheint dieſe Anficht bei uns rückſichtlich der Haydn'ſchen 
Oratorien Raum gewonnen zu haben; wir ignoriren ge— 
troſt die geſammte Oratorien-Literatur, aus ähnlichen Grün— 
den, wie der Khalife Omar die Bibliothek zu Alexandria ver— 
brannte. 

Man wird einwenden, dieſe — in ganz Deutſchland einzige 
— Monotonie des Wiener Oratorien-Repertoirs habe einen 
nothwendigen Grund darin, daß gerade dieſes Feld der muſi— 
kaliſchen Gompofition in unferer Zeit ſehr vernahläffigt erfcheint. 
In Wahrheit ift die religidfe Begeifterung aus dem Bewußt— 
fein unſerer Zeit, daher auch unferer Künſtler gewichen, die 
einſt hochgepriejenen bibliichen Terte dünken uns fchaal und 
ungenießbar, das Intereffe an größeren Geſangwerken ift faft 
ausfchlieglih von der Oper abforbirt. 

Troß alledem aber find wir ſchwächeres Geſchlecht der 
Seßtzeit nicht jo arm, als jene Herren der »Schöpfung« und 
möchten glauben machen. 


* 
Haydn und das Oratorium in Wien. 3 


Da Haben wir vor Allem Bach's Sohn im Geifte, deu 
edlen, geiftvollen Mendelsjohn. Seine beiden Oratorien find 
allerdings in Wien zur Aufführung gefommen: »aulus«, 
nahdem er im Triumph die- ganze mufifaltiche Welt durch— 
gegangen war und bereits in Amerika und in — Preßburg 
wiederholte Aufführungen erlebt hatte, »Eliad« aus fpeciellen 
Gründen minder verjpätet. Troß des Erfolges, den Mend eld- 
ſohn's Oratorien beim Bublicum hatten, blieben fie vernach— 
fäffigt; »Paulus« wurde zweimal, »Elias« jeit feinem Er: 
jcheinen (1847) nicht wiederholt. Um aber diefe Meisterwerke 
bei einem, der neueren deutſchen Mufif weniger geneigten Bubli- 
cum zu jenem Verſtändniß und jener Anerkennung zu heben, 
welche fie zu fordern beredtigt find, — um fie vollends jener 
Liebe des Publicums zu gewinnen, welche vorhergegangenes 
Berftändniß und Anerkennung vorausſetzt: ift ein häufiges, 
veriodifche® Wiederholen derjelben unumgänglich nothwendig. 
Wie viele Wiederholungen brauchten die »Jahreszeiten« und 
»Schöpfunge, bis fie ihre heutige Popularität erlangten! Und 
doc ift der ernſt veligiöje Mendelsjfohn fchwerer zu erfaflen 
als der lebensfrohe Haydn, und überdies dadurch fehr im 
Nachtheil, daß er noch nicht fo lange todt ift. Was der edle 
Spohr im Oratorium geleiftet, jchläft bei uns. »Die legten 
Dinges und »Des Heilands letzte Stunden«, Werke voll Liebe, 
Sottesfurht und Adel, warum läßt man fie und gänzlich ver: 
miffen? Was außer Mendelsjohn und Spohr im neueren 
deutihen Oratorium von Namen und Bedeutung ericheint, ift in 
Wien nie zur Aufführung gefommen. Schumann's »Paradies 
und Peri«, Hiller's »Zerftörung Jeruſalems«, Löwe's 
Oratorium gleichen Namens, Bernhard Klein's »Dapid« 
und »Jefta«, Marx' »Moſes« find auf der Wiener Muſik— 
farte lauter Streden, die wie dad innere Afrifa als »unbe- 
fanntes Land« verzeichnet ftehen. Von fürzeren oratorienmäßigen 
Stüden nenne ich beiſpielsweiſe Mendelsſohn's vortreffliche 
»Pſalmen«, dann feine Sinfonie-Cantate »Lobgefang« und 
die »Walpurgisnacht«, Spohr’3 »Bater unfer«, Löwe's Vocal: 
Dratorien »Die eherne Schlanges, »Die Apoftel von Philippi«, 
Wagner's »LXiebesmal der Apoftel« u. a. 

1* 


4 1848. 


Die genannten Werke find durchaus bedeutendere, höchſt 
intereffante Leiftungen auf nicht eben reihem Feld, fie find 
Hauptwerfe der hervorragenditen neuern Componiſten, und 
haben beinahe die Runde durch alle Städte Deutichlands 
gemacht, welche bei Eleineren Mitteln größeres Intereſſe für 
die Kunſt Haben. Sch verwahre mich hier ausdrücklich vor jeder 
vergleihenden Schägung diefer Werfe mit Hahdn's Oratorien: 
felbit wenn fie alle zufammen der »Schöpfunge nicht an die 
Bruft reichten, ändert dies nicht? an der Sache, — nicht daß 
man beſſere, jondern daß man auch andere Dratorien geben 
joll, Haben wir gewünſcht. Jeder bedeutende Autor ift für ſich 
eine kennenswerthe Perfönlichkeit, jedes bedeutende Merf ein 
vollberedhtigtes Individuum, es hat jedes feine eigenthümlichen 
Vorzüge und Irrthümer, jedes ift in irgend einem Stüde dem 
andern überlegen, und jedes weist dem Kunſtkenner an irgend einem 
Punkt einen erweiterten Gefichtöfreis, einen neuen Inhalt, eine 
feinere Forum. Ob nun diefe berühmten MWerfe der Neuzeit dem 
Publicum genügen werden oder nicht, gilt gleich, aber fennen 
muß es fie. Genügen fie ihm nicht, jo hat es noch immer Zeit 
genug, wieder umd immer wieder zu dem bewährten Haydn 
zurüdzufehren, — es wird dahin zurücdkehren, aber bereichert 
in der Kenntniß, geläutert in der Auffaffung und vor allem 
freier im Urtheil. 

Ich habe oben die namhafteren Dratorien der neuern 
Zeit aufgezählt, um das Publicum über deren Griftenz zu 
beruhigen, feineswegs möge aber eine Einfchränfung Haydn’ 
blos zu Gunsten feiner Nachfolger verfügt werden. Durd 
eine würdige, möglichft unverfürzte Aufführung der Bach'ſchen 
Paſſionsmuſiken und der Händel’jhen Dratorien (namentlich 
des »Meſſias«) würden berechtigte, jehnliche Wünfche der Muſiker 
endlich erfüllt und dem fünftlerifchen point d’honneur einer 
Refidenzitadt Genüge gethan. . 

Der Leſer fieht, daß ich diesfalls nicht für das Neue, 
jondern mit gleiher Wärme für das Alte in die Schranken 
trete, und nur den ſchädlichſten Feind jeder Entwidlung be— 
fümpfen will: das Stabilitätöprincip. Selbſt ob es hier Brincip 
jei, und nicht vielmehr Bequemlichkeit, ift eine große Frage. 


Janſa's Quartettſoiréen. 5 


Wir find nun einmal gewohnt, zu Oſtern und Weihnachten die 
»Schöpfung«e und die »Jahreszeiten« zu Hören, gerade wie 
wir gewohnt find, zu dieſen Zeiten Fiſche zu eſſen. 

Aber war dad Publicum nicht stets zufrieden damit? 
Ganz richtig; für das Publicum ift auch voller Grund zur 
Zufriedenheit, wenn es ein treffliches Merk in guter Auf: 
führung hören kann. Aber die mufifalifhen Vormünder ımd 
Guratoren de3 Publicums haben nicht blos eine äfthetiiche, 
fondern auch eine culturhiitoriiche Verpflichtung: daß, was 
fie boten, gut war, kann ihr Gewiſſen nicht über das be— 
Shwichtigen, was fie verjäumten. Es gibt Unterlaffung®: 
fünden in der Kunſt. Wer bier die Schuld derjelben trägt, 
weiß ich nicht und will es nicht willen; es ift mir nicht um 
die Anklage von PVerjönlichkeiten, fondern um die gute Sache 
zu thun. Nur den innigften und dringendften Wunſch kann ich 
aussprechen, daß jene Männer, welche eine enticheidende Stimme 
in den großen Fragen unjeres Muſiklebens haben, baldigit 
Sorge tragen möchten, das Publicum der reichitsausgeftatteten 
Mufitftadt Deutichlands in den lebendigen Strom der Zeit zu 
verfegen, damit nicht dafelbit der Fortichritt dem Zufall, Die 
Kunſt der Gewohnheit verfalle. — 


Sarnfa’s Quartettloirsen und die Pflege 
der Stammermufik in Wien. 


Wenn man fich lediglih an den abjoluten Werth jedes 
einzelnen Stüdes hält, jo kann man Herrn Janſa's diesjährigen 
Programm eben fo wenig einen Vorwurf machen, als feinen 
früheren. Es ift eine durchwegs achtbare Gejellichaft, die fein 
unwürdiges Mitglied zählt, — leider nur jehen wir, um mit 
jenem Scullehrer zu fprechen, wieder jehr Viele, die nicht da 
iind. Hören wir zuerit, wie Beethoven vertreten iſt. Bon 
jeinen Quartetten find nur drei gewählt, und alle drei aus 
opus 18. Jedermann ſchätzt und liebt die ſechs Quartette des 
18. Werks, diefe Gefänge voll Klarheit und Ebenmaß, Geift 
und Friſche. Können fie aber Stand Halten gegenüber der 


6 1848. 


unendlichen Tiefe und Erhabenheit, der Leidenjchaft und Seelen- 
größe in Beethoven’3 jpäteren Quartetien? Kann und will 
der reizend jugendliche Körper jener ſechs Grazien ſich gleich- 
itellen dem Heiligen Geift der großen Beethoven’shen Periode? 
Und doch wird dieſe immer und immer wieder zurüdgeleßt 
hinter jenen. Wo find in Janſa's Programm die Rajumomwäfy- 
ihen Trilogie u. ſ. w. bis zu opus 131, den Gipfel der 
Quartettmuſik? 

Jene erſten Quartette haben ſich durch ihre Faßlichkeit 
und Anmuth bereits zu muſikaliſchem Gemeingut ausgebreitet, 
und ſind ganz eigentlich in Fleiſch und Blut des Publicums 
übergegangen. Häufige Gäſte aller öffentlichen, tägliches Brot 
aller Privat-Quartette, ſind ſie längſt populär geworden, Jeder— 
mann verſteht ſie, ſpielt ſie, kennt ſie auswendig; ſie ſind ein 
in ſich ſelbſt erfülltes Bedürfniß. Anders iſt's mit Beethoven's 
ſpätern Werken. Sie ſind wenig bekannt und noch weniger 
verſtanden, die Bequemen unter den Künſtlern ſcheuen die 
Schwierigkeit des Einſtudirens, und die »Gutgeſinnten« im 
Publicum ſchlagen ein Kreuz, wenn irgendwo davon die Rede. 
Es iſt hohe Zeit, daß dieſen Werfen Beethoven's, welche bei 
manchen wunderlichen Auswüchſen den höchſten Aufſchwung 
ſeines titanenhaften Genius enthalten, öffentliche Gerechtigkeit 
werde, und wenn ein gebildetes Publicum, wie das der Janſa— 
ſchen Productionen, ſie oft und öfter, endlich ſo häufig gehört 
haben wird, wie jene erſten ſechs, ſo iſt mir um das Ver— 
ſtändniß gar nicht bange. Dies Verſtändniß anzubahnen, 
wäre für bewährte Künſtler, wie die obgenannten vier Herren, 
nicht die ſchwierigſte und doch die ehrenvollſte Aufgabe. 

Ebenſo wie die Vernachläſſigung der ſpätern Beethoven— 
ſchen Periode, kann auch in Janſa's Programmen das con— 
ſequente Ignoriren Franz Schubert's und Robert Schumann's 
nicht genug bedauert werden. 

Die Vorliebe für die älteren Meiſter darf nie ſo weit 
gehen, daß ſie das Publicum von der Kenntniß deſſen ganz 
ausſchließt, was ein neueres Kunſtbewußtſein in Kraft und 
Liebe geſchaffen. Ehret immerhin in Haydn den Vater der 
Kammermuſik, — aber die Söhne ſind auch nicht mißrathen. 


Janſa's Quartettſoiréen. 7 


Ber aller Verehrung für die »claſſiſche« Schule muß ftand- 
haft darauf gedrungen werden, daß fie in periodiichen Pro- 
grammen fo weit eingeichränft werde, als eine wirdige Re- 
präjentation der »romantiichen« Schule es nothwendig madıt. 
Wo Schubert nidt Pla fand, hat Ries fein Recht zu 
eriftiren, eine vierhändige Sonate von Hummel tft uns jchlecht 
willfommen, wenn ein Schumann’iches Trio dafür hätte 
gejpielt werden fönnen, und verfennen heißt e3 den großen 
Beethoven, wenn man ſtets nur den fleineren Beethoven zur 
Aufführung zuläßt. 

Janſa's Quartettabende waren von jeher in dem größten 
theils frivolen Muſikleben Wiens ein ſicherer Hort wahrer, 
würdiger Mufil. Die Namen der Internehmer boten dem 
Bublicum eine Garantie, daß es da nur Gutes, und im guter 
Weiſe hören werde. So wurden die Quartettabende bald ein 
Sammelplag, und durch ihre jährliche Wiederkehr ein Bedürfniß 
aller gebildeten Mufilfreunde Wiens. Nun übt jeder periodifch 
wiederkehrende Cyclus gediegener Mufifen einen bedeutenden 
Einfluß auf die mufikalifche Bildung der ganzen Stadt, er 
bildet eine Affecuranz für die wahren Intereffen der Kunſt und 
einen Damm gegen Berjeichtung und Verderbniß. Denn in der 
Kunſt wie im Leben hat das Lebendige gute Beiſpiel eine 
fäuternde Kraft, welche der Corruption durh das Tchlechte 
entgegenwirft. Zu diefem wichtigen Einfluß waren nun Die 
Janſa'ſchen Soiréen vorzugsweiſe berufen, demm indem. fie Die 
gute Meinung des Publicums für fich Hatten, und von Jahr 
zu Jahr in der allgemeinen Theilnahme und Achtung wuchlen, 
waren fie bald nebit den »Philharmoniſchen Goncerten« das 
accreditirtefte und beliebtejte muſikaliſche Inſtitut in Wien, An 
ihnen iſt's, nicht nur die befannten Werfe älterer Meifter (in 
jorgjamer Auswahl) zu wiederholen und vor Vernadhläffigung 
zu retten, jondern auch das Publicum mit den beijeren Er: 
zeugniffen der neueften Zeit befannt zu machen, vor Allem aber 
durch unermüdliche ausgezeichnete Aufführungen jene Werfe zu 
Verftändniß und Anerkennung zu bringen, welche, wahrhafte 
Dffenbarungen des Genied, auf den Gipfeln der Kunſt 
thronen. Sch nenne hier ausdrüdlih wieder Beethoven's 


3 1848. 


jpätere Kammermuſik, und mahne nebſtbei dringend an 
Schubert, Shumann und Mendelsjohn. Janſa's Quar— 
tette jollen nicht blos Gejfellichafter, fie follen Leiter und 
Läuterer unſeres Publicums fein. Unſere Wege find ja fo 
leicht zu vereinen. Nichts von dem guten Alten foll ausgerottet 
werden, nır möge man das gute Neue daneben pflanzen. Das 
Sprichwort: »Beſſer ift der Feind des Guten«, gilt nicht in 
Kunft und Wiffenichaft, im Gegentheile wird hier, wenn wir 
hartnädig bei dem verharren, wa wir als anerkannt über: 
fommen, das Gute ein Feind des Befjeren. 


Akademie zum Andenken des Kom: 
poniften ©. 3. Züchs*) (F 6. Jänner 1848). 


Es war ein liebenswürdiger Fehler der Kritik, aus Füchs' 
GCompofitionen etwas Großes machen zu wollen. Füchs war 
einer jener glücdlichen, jeltenen Menſchen, die von aller Welt 
geliebt und geichägt werden. Auf Jedermann hatte des Ber: 
jtorbenen edles, beicheidenes Weſen den gemwinnendften Eindruck 
gemacht. Füchs’ VPerfönlichkeit war eine durchaus liebenswürdige, 
darum nannten wir auch jene Nachficht der Kritik eine liebens— 
wiürdige. Man erinnert ſich, welch’ begeifterte, fortgefegte Apo- 
logien die Tagespreffe über die Oper » Gutenberg« anftimmte, 
und wie der Beifall des Publicums damit in vollem Einklange 
ſtand. Es iſt uns eine rührende Grinnerung, wie Jedermann 
den Menſchen Füchs zu lieb Hatte, um nicht in das Lob des 
Künftlers einzuſtimmen. 

Füchs war ein angenehmes, höchit achtbares, aber ein 
fleines Talent; eine jener weichen, anjchmiegenden Naturen, die 
jih zu feiner fräftigen Selbitjtändigfeit aufraffen fönnen, fon: 
dern zwiichen dem Beſſern der verjchiedenften Vorbilder Hin 
und her ſchwanken. Diefer Gclecticismus zeigt fich gerade im 


*) Carl Ferdinand Füchs, geb. 1811 in Wien, 7 1848, hat fich 
durch zahlreiche Lieder, insbeſondere aber durch jeine romantische 
Dper »&utenberge (Tert v. Otto Brechtler) befannt gemadt. 


Joſef Neger. u 


» Gutenberg«e am bhäufigiten, und wir hören jeden Augenblid 
die Stimmen Reiſſiger's, Lindpaintner's, Meyerbeer's, 
Marichners, Spohr's, Weber’. Nicht etwa, dab Füchs 
fertige Bilder dieſer Meiſter entlehnte, aber er malt mit ihren 
Farben. Mir kennen kaum eine Melodie, von der man fagen 
fann, fie ſei Füchſiſch. Diefer Mangel an Berfönlichkeit iſt 
da erite mejentlihe Bedenken gegen die Oper. Das zweite 
trifft die Form, die nur in wenigen Nummern Kar und über: 
fichtlih, in den meiſten hingegen Haltlos und zerbrödelt ift. 
Das hübjcheite Motiv verdrängt der Componift oft durch ein 
zweites und drittes, anſtatt es aus dem Bollen auszuführen; 
die finnigiten Gedanken läßt er unfruchtbar vergehen und 
dehnt hingegen die meiſten Stüde mit zu redfeliger Gefühls— 
weichheit über Gebühr aus. Dieſe Gefühlsweichheit iſt auch 
der Grund des vielen Vorhaltens und Modulirens und des 
jeltenen Aufkommens eines ftraffen, kecken Rythmus. Erfahrungs: 
ſache ilt e&, daß die Oper ermüdet, und den Hörer mit feinen 
flaren Bild entläßt. Mit Freuden haben wir ftet3 den Fleiß 
anerkannt, mit welchem Füchs fein Pfund benügt und gepflegt, 
nur daß dies Pfund ein großes geweſen, wagen wir in Frage 
zu Stellen. Seine Lieder find und dafür noch weit Tprechendere 
Belege. Bei aller Innigfeit bewegen fie fih ohne alle Kraft 
und Originalität auf breitgefahrener Straße, oder find etwas 
ftarfe Nahahmungen Schubert’ichen Muſter. 


Symphonie von dJoſef Neber.”) 


Die »Concerts spirituelse, durch jenes ſpirituellſte Concert, 
da3 Wien je aufgeführt (die Märzrevolution), eine Zeit lang 
unterbrochen, wurden am 30. März 1848 fortgefegt. Zwei 
Süße eine einer neuen Symphonie von Neger machten den 
Anfang; gefällige, mwohlklingende, fleißig gearbeitete Mufit, 








*) Joſef Netzer, geb. 1808 in Tirol, 7 1864 in Graß, war eine 
Zeit lang neben Lorging Kapellmeiiter am Leipziger Stadttheater, 
1845 am Theater an der Wien, wo feine Oper »Maras bedeutenden 
Erfolg hatte. 


10 1848, 


leider nur zu jehr einer früheren Gefühle: und Schreibweije 
anhängend. Es thut in der That weh, wenn man fieht, wie 
begabte und ernititrebende Talente, junge Talente obendrein, 
ih in eine Anſchauungsweiſe einjpinnen, Die bereit3 in ſich 
befriedigt, aljo fi) ausgelebt hat. Dieje ruhige Behaglichkeit, 
diefer bequeme Comfort in Freud und Leid, dieje Rojalien und 
Sequenzen, diefe Mozartiihen. Schlüffe und Gadenzen gehören 
einem Standpunkte an, welchem unsere Zeit fern ift und immer 
ferner rüdt. Mit wahrer Freude hören wir Mozart’ihen Styl 
nur mehr von Mozart jelbit, deifen Genie golden durch die 
veraltetiten Formen jtrahlt, wie die Sonne durd Ruinen. Wer 
fih aber Heute in dieje Ruinen längſtverlaſſener geichichtlicher 
Anſchauungen rettet, der verzichtet im Vorhinein auf nachhaltige 
Wirkung; er hat ein halbes Jahrhundert verjchlafen. Es wäre 
ein arger Irrthum, von jedem Componijten eine abjolut neue 
Richtung zu verlangen; dazu find nur wenige Männer des 
Genies berufen, fie brechen einen neuen Weg durchs Didicht; 
den nahfommenden Talenten iſt e8 vorbehalten, dieſen Weg 
zu erweitern, ihn glatt und fahrbar zu machen. Wer jelbit nicht 
die Kraft bejigt, bon eigenen Gnaden einen neuen Meilenstein 
in das Gebiet der Kunftgefhichte zu pflanzen, der gehe immerhin 
vom letzten großen Meilenjteine aus, aber niht vom vor: 
legten. Nah Mozart durfte man noch Mozartiſch Tchreiben, 
nach Beethoven darf man es nicht mehr; der Strom der 
Zeit wirft jeden Leichnam aus. — 


1849. 
Sobann Strauß (F 25. September 1849). 


Strauß’ Dahinſcheiden Hat im unſerer Tagespreſſe viele 
Stimmen der Trauer wachgerufen, welche feine Volksthümlich— 
feit priejen, Die weiten Grenzen feines Ruhmes maßen und ob 
der Lücke Elagten, die er in dem gejelligen Leben Wiens zurück— 
läßt. Möge nun, jo dem Gefühl des Schmerzes jein Recht 
geihehen, ein Wort der Würdigung Plag finden, das, von 
jeder andern al3 der künſtleriſchen Seite des Verſtorbenen 
abſehend, den muſikaliſchen Standpunkt vertritt. 

Strauß wirkte für das Wiener Muſikleben in doppelter 
Eigenſchaft: als Componiſt und als Dirigent fremder Ton— 
dichtungen. Als Componiſt hat er bekanntlich die Tanzmuſik 
gepflegt, eine Gattung, auf welche Tonſetzer und Kritiker 
gewöhnlich mit ſouveräner Verachtung herabſehen. Mit Unrecht. 
Auch in der kleinen Form bewährt ſich das große Talent, 
und dieſes, der göttliche Funke, iſt's, vor dem wir uns zuerſt 
beugen. Der fimpelite Dorfichulfehrer, der einen contra= 
punktiichen Curſus durchgemacht Hat, bringt es dahin, eine 
Meſſe zu componiren, in welcher mehr ſogenannte Gelehriamteit 
itedt, al3 in Strauß’ fümmtlichen Werfen zufammen, — aber 
in alle Ewigkeit wird der jchöne Walzer mehr Werth haben, 
als die ſchlechte Meſſe. ES kömmt eben hierbei, wie in aller 
Thätigfeit, auf das Wie an, und wenn die Catalani von der 
Sonntag äußerte: »Elle est grande dans son genre, mais son 
genre est petit«, jo tit dies noch immer ein erfreuliches Lob 
gegen die Umkehrung des Satzes. 


12 1849. 


Bom rein fünftleriihen Standpunkt ericheint die Tanzmuſik 
jedenfall$ untergeordneten Ranges, indem fie, blos unterjtügende 
und beigejellte Stunt, zunächſt einem fremden Zwecke dient, 
nämlih den Tanzſchritt mit Takt und Rythmus zu begleiten. 
Wenn die Tanzmufif nicht höher hinaus will, fo leiſten Caſtag— 
netten denſelben Dienſt. Der Werth jeder Kunftgattung fteigt 
oder fällt jedoch mit den Anforderungen, die man ihr ftellt. 
Unfere Anforderung an die Tanzmufif geht dahin, daß nicht 
blos das Stampfen der Tänzer im Takt erhalte, fondern deren 
Seelenleben verjtehe, ihre Stimmung und Leidenjchaft inter: 
pretire, fteigere, veredle. Der unterfte Grad der Tanzmufif hat 
nur mit den Füßen zu thun, auf höherer Stufe fpricht fie zur 
Phantaſie, zum Gefühl, zum Geift. Um diefe höhere Stufe zu be: 
baupten, wird freilich nöthig fein, daß fich der Componiſt von einer 
blos gymnaſtiſchen Anfchauung des Tanzes zu deſſen geielliger 
und idealer Bedeutung erhebe. In unferer gebildeten Gejellichaft 
iit der Tanz von feiner urfprünglichen Bedeutung längſt zu 
einer höheren gediehen. Wollte man in demjelben nur körper— 
lihe Hebung jehen, jo würde man ihn in Turnfchulen pflegen. 
Unfere heutigen Tanzunterhaltungen, jo oft fie auch zur Gar: 
ricatur herabfinfen, jind und bleiben die Aſyle zärtliher Be— 
dürfniſſe und Beftrebungen. Wenn die Herzen unferer Jugend 
ihon Schwielen tragen von den Feſſeln eilfmonatlicher Civiliſation, 
jo fommt im 12. Monat der Garneval und nimmt den Ge— 
fangenen die Eiſen ab und erlaubt ihnen, fich einige Stunden 
lang im duftigen Garten zu ergehen. Fremd und zagend jtehen 
fie erit da, nicht wagend, an das Stündchen Freiheit zu glauben; 
da erklingt der erite Walzer und löſt den Bann, — ed iſt die 
Marjeillaife der Herzen! Die Mufif nun, wie fie die äußere 
Bewegung der Tanzenden aneifert, begleitet auch ununterbrochen 
all das innere Leben, das fich ftill und heimlich in ihnen zu— 
trägt. Gelingt es einer Tanzmelodie, einen Moment: diejes 
innern Lebens mit jener Göttermadht zu erfalfen, deren die 
Tonkunſt fähig ift, und fingt fie es laut und raujchend aus, 
was inmitten des Feſtes Still geblieben, — dann hat fie 
eine Schöne Miffton erfüllt und kann tief, unvergeßlich in 
das Herz eines Menſchen hineinwachſen. Sp wie ein Mari, 


Schann Strauß. 13 


ein Gelegenheitslied oder andere aus äußeren Beziehungen 
herporgetretene Kunſtformen Gewalt erlangen fünnen über ein 
ganzes Volk, wenn fie das Geiftige diejer außeren Beziehung 
ftarf und wahr wiedergeben, jo kann in fleinern Streifen ein 
Tanzſtück mit einer piychiichen Gewalt wirfen, die weit über 
jeinem blos mufifaliichen Inhalt Tiegt. Es bedeutet eine Muſik 
nicht lediglicd; das, was fie ift, jondern oft auch das Höhere, 
wozu fie iſt. 

Diefe Abſchweifung war nothwendig, um Strauß’ Leiftungen 
zu würdigen. Er hatte — bewußt oder unbewußt — jede Saite 
der Gefühlsmwelt in jeiner Macht, welche im Tanz Ausdrud 
oder Unterftügung findet. Welch’ triumphirende Siegesgemißheit 
im eriten der »SHelenenwalzer«, welche jchwärmerifche Innigfeit 
in Nr. 2 der »Metherträume«, welch jovialer Frohmuth in 
den »Sorgenbredern«, in den »Feldblümeln«, und in den 
»Schwalben«e weldhe Grazie! Dies find nur einige Beifpiele 
aus Strauß’ legten Productionen; feine früheren Tänze, Die 
theilweife noch Friſcheres enthalten, liegen mir zu fern im der 
Erinnerung. 

Wir betrachteten bisher noch immer die Strauß'ſche Tanz- 
mufit nur injofern fie dem Tanze und deſſen Interefjen dient; 
wäre nichts weiter daran zu loben, jo träfe Straußens Verluft 
lediglich die Tanzwelt, zu deren Anwalt ich mic faum berufen 
gefühlt hätte. Für den Muſiker fonnte Strauß nur dann Be: 
deutung haben, wenn feine Tänze, abgelöft von ihrem Zwecke, 
alfo außerhalb des Ballfaales, noch Gehalt genug bejaßen, um 
mufifalifch zu intereffiren. Daß dies in nicht geringem Grade 
der Fall, wird fein Unbefangener läugnen. Strauß erwies jid) 
in der Ausarbeitung jeiner Mufikftüde als ein feiner, künſt— 
feriiher Geilt, dem alles Rohe und Dilettantenhafte fern lag. 
Obwohl reiner Naturalijt und feinem eigenen Geſtändniß nad 
außer Stande, jih über frappante Einzelheiten feiner Werke 
Rechenschaft zu geben, verfehlte er doch nie, im Rythmus, 
Periodenbau, vorzüglihd in der Harmonifirung und In— 
itrumentation eine Fülle von Zügen niederzulegen, welche das 
bedähtige Ohr des Muſikers genoß, während der Tänzer 
in ſüßem Melodienrauſch ſchwelgte. Es Tießen fich zahlloſe 


14 1849. 


Notenbeijpiele anführen, für welche hier freilich nicht der 
Platz ift. 

Nur an eine Eigenschaft der Strauß’schen Themen jet hier 
erinnert, an deren oft frappante Selbititändigfeit und Ver: 
wendbarfeit zu mweiterer Durchführung. Schwache, aber meiit 
glüdlihe Anfänge zu wirklicher Durchführung finden wir hie 
und da, fo weit fie der drüdend enge Rahmen des Walzer 
zuläßt. Eine Ahnung jener höheren Ausbildung der Walzerform, 
wie fie uns vorſchwebt, liegt in dem erften Walzer der » Herz: 
töne«, welcher die gewöhnliche Taftzahl weit überfchreitend vom 
Anfange bis zum Ende nur aus der Verarbeitung Eines Motivs 
befteht. Die gegenwärtige Form der-Walzermufif birgt ein 
großes Hemmniß für deren fünftleriihe Entwicklung und für 
jeden Gomponiften, der ihr eine beſſere Mitgift von Talent 
oder Kenntniß zubringt. Die enge, feitgeichloffene Form des 
Walzers läßt auch die kleinſte Entwidlung einer Melodie nicht 
zu; diefe ift, fo wie fie zu Ende gekommen, auch jpurlo ab: 
gethan, um einer zweiten, dritten u. ſ. f. Plag zu machen, bis 
alle fünf Walzer wie eine unzujammenhängende Bilderreihe in 
einem Guckkaſten abgerollt find. Zu Einem Tanz find (außer 
Introduction und Finale) fünf Walzer, aljo wenigſtens fünf 
neue Themen, nothwendig, meift jedoh noch einmal fo viel, 
da gewöhnlich zum zweiten Theil jedes Walzers wieder ein 
neues Motiv verwendet wird. ES ift dies eine unkünſtleriſche 
Verichwendung, welche die begabtefte Productionsfraft bald 
erihöpfen muß. 

Dieſer Miplichkeit fucht die Praxis durch eine andere zu 
entgehen, indem fie in einem Walzerheft höchftens 2 bis 3 
wirklich originelle Melodien bringt, das Uebrige hingegen wie 
zur Ausfüllung »mit wenig Geift und viel Behagen« dazu 
fertigt. Das Ueberwiegen folder 2 oder 3 Themen, die Wieder: 
holung der mwichtigiten Motive in der Coda und die Intro— 
duction, das find Elemente zu einer Vervollkommnung der gegen 
wärtigen Walzerform, die in dieſer ſelbſt Yiegen, Wir meinen 
nämlich fo: der Walzertanz (zum Iinterfchiede vom einzelnen 
Walzer) follte nicht aus fünf jelbititändigen, zufammenhanglos 
aneinander gereibten Stücken beſtehen, derem jedes ein oder zwei 


Johann Strauß. 15 


neue Motive verichlingt, ſondern er hätte Ein abgeichlofjenes zuſam— 
menhängendes Ganzezu bilden. Dazu würden ein oder zwei Haupt: 
themen hinreichen, denen (innerhalb der Grenzen der Tanzbarfeit) 
die freiefte mufifaliihe Entwicklung gegönnt und geboten wäre. 
Die geeignetfte Form würde fich bald herauöftellen, allenfalls 
die erweiterte Rondoform, oder die zweitheilige mit Mieder- 
holung beider Theile und Coda, — doch dürfte fie nicht aus— 
Ichließlich gelten, da eine reihe Mannigfaltigkeit von Formen 
für den Walzer anwendbar ift. 

Die üblihe nummernweife Behandlung hat überdies mit 
der Natur des Walzerd, der in der beliebig langen Fortfegung 
ein und derielben Bewegung bejteht, gar nichts zu ſchaffen; 
nur die franzöfiide Duadrille und ihre Abarten erfordern eine 
beitimmte Zahl genau abgemefjener Tonftüde. 

Nur durch dieje einheitliche Form könnte der Componiit 
dem doppelten Uebel entgehen, ein halb Dutzend neue Motive 
erfinden, um fie dann nutzlos vergeuden zu müſſen; nur Durch 
fie könnte der Walzer als Muſikſtück fi zu künſtleriſchem 
Werth und Inhalt entwickeln und ausgeprägten Charafter er: 
halten, während die gegenwärtigen Walzerpartien ald Ganzes 
es faum zu einer Phyfiognomie bringen. Daß nun Strauß eine 
folhe Erweiterung und Vervollkommnung der Malzerform nicht 
unternahm, tft zu bedauern, da er gewiß dazu das meilte Talent 
und Geſchick beſaß. 

War der Walzer Strauß' eigenſtes Gebiet, ſo hat er doch 
auch in anderen leichten Gattungen Hübſches geſchaffen, namentlich 
in die ſteife Form der Duadrille mehr Farbe und Leben zu 
bringen gewußt, als fie in ihrem Heimatland Frankreich je 
erreichte. Seinen Märſchen fehlt der männliche, kriegeriſche 
Charakter, fie find, bei glänzender Weußerlichkeit, meiſtens 
hüpfend und leichtfertig; — de3 ungemein intereflanten Motivs 
des »Freiheitsmarſches möge hier ausdrücklich gedacht fein. 

Seine legten Walzer, die Strauß ohne eine Ahnung feines 
Todes bei volllommener Gefundheit fchrieb, hat er ſeltſamer 
Meile »des Wanderers Lebewohl« betitelt. 

Zum Schluß noch einige Worte über Strauß als Muſik— 
director. Er hat als folder das Verdienſt, gute Muſik unter 


16 1849. 


das große Publicum gebracht zu haben. Es gab feine Strauß’iche 
Production, wo nicht Werfe von Beethoven, Mozart, Mendels— 
john, Spohr, Weber u. A. auf dem Programm verzeichnet und 
mit großer Präcifion ausgeführt wurden. Inter den öffentlichen 
Snitituten, die biß zum Jahre 1849 regelmäßig Inftrumental- 
muſik zur Aufführung bradten, muß man nad den »Phil— 
harmoniſchen Eoncerten« gerechterweije das Strauß’sche Orcheſter 
nennen; in feinen bejcheidenen Gartenproductionen fonnte man 
viel beifere Aufführungen guter Inftrumentalwerfe hören, als 
in manchen Fajtenconcerten mit hochtönenden Namen. 

Das mufitaliiche Wien hat in legterer Zeit harte Schläge 
erlitten: binnen Kurzem verlor e8 in Nicolai jeinen talent- 
volliten Dirigenten, in Dr. Becher jeinen geiftreichiten Kritiker, 
und num — ift ihm auch Sein beiter Componiſt Johann 
Strauß geſtorben. 


Beethoven's „Ebriffus am ©elberg“. 


In diefen »Chriftus« hat uns Beethoven fein »Vorbild« 
gelaifen, er it vielmehr das einzige lange Werk des Meiſters, 
das nicht zugleich ein großes ift. 

Das Kirchliche ftand Beethovens innerjtem Wejen fer, 
ihm war die Kirche fein Bedürfniß. Er bejaß ein religiöjes 
Gemüth, aber jeine Anjchauung und Darftellung des Religiöfen 
war eine durchaus andere, als alle großen Kirch encomponijten 
hatten und haben mußten. Das Göttliche erwuchs bei Beethoven 
nur aus dem Boden des Menfchlichen; er erkannte es in der 
ftolzen Erhebung des Geiftes über die Materie. Er läßt über 
die menſchliche Perfönlichkeit daS Ungewitter aller äußeren und 
inneren MWiderwärtigfeiten des Lebens hereinbrechen; heiß iſt 
der Kampf, doch das Göttliche im Menfchen kämpft fich fiegreich 
durch und fteigt endlich als ein Phönix empor aus der Aiche 
der Leidenschaften. Die beiden Symphonien in C-moll und 
D-moll zeigen uns dieſen Proceß am deutlihften und ſchönſten; 
da3 triumphirende Finale der eriteren, das verflärte Adagio 
der letteren find die erhabenjten Denkmale von Beethoven’3 


Beethoven’? »Chriftus am Delberge. 17 


echter Religiofität, d. h. ſeines Glauben? an einen übermwelt- 
ihen Urgeift und des Gefühld feines Zufammenhangs mit 
demjelben. Im Leben glaubte er an Gott und liebte ihn mit 
der ganzen Kraft feines großen, einjamen Herzens, doch fannte 
er nur eine unmittelbare Erhebung zn ihm, und feine von all’ 
den Perſonen der Krijtlichen Miythologie ftand dazwiſchen. Sn 
der Kunſt kam Beethoven’3 religiöſes Gefühl zur Anſchauung, 
indem er dad Göttlihe im Menſchen fih entwideln ließ; da 
wo es außer dem Menichen ftehend gezeigt wird, blieb es 
ihm fremd und fern. So fommt ed, daß fein zweiter Componift 
einen ſolchen Schatz fubjectiver Religion in jeinen Werfen 
niedergelegt, und zugleih jo wenig für deren objective Ber: 
berrlihung geleiltet hat. Er gleicht auch hierin Shakeſpeare. 
Ferner iſt Hinlänglich bekannt, daB Beethoven's ſchrankenlos 
ausgreifende Phantaſie nur im freien Inſtrumentalſpiel einen 
genügenden Spielraum fand, jeder zu componirende Text ihm 
aber in Form und Inhalt zur Feſſel ward. Daß ſeine Flügel 
ſtark genug waren, mit dieſen Feſſeln ſich aufzuſchwingen, be— 
weiſen ſeine D-Meſſe, ſein Fidelio und der Chor in der Neunten. 
Wo Beethoven von ſeinem Stoff begeiſtert war, da ließ er ſich 
von den Textworten und den Forderungen des guten Geſangs 
nicht mehr zwingen, er zwang ſie, und die Kühnheit ſeines 
Aufbaues machte dann vergeſſen, was dieſer an Schönheit ein— 
büßte. Es gab dann bedenkliche Stellen, aber gewiß ein groß— 
artiges Ganze. Ein Miniatur-Oratorium nun, das in dürftigſter 
Auffaſſung die Epiſode Chriſti auf dem Oelberg behandelte, 
konnte Beethoven nicht mit Liebe und Begeiſterung erfaſſen. 
Es verließ ihn der freudige Muth, den Stoff blos als ebnen 
Plan für ein gewaltiges Bauwerk zu benützen, und anftatt die 
ihm kleinlich dünkende Aufgabe über fie ſelbſt hinaus in höhere 
Regionen zu tragen, ergab er fi ihr in gelafjener Selbit- 
beichränfung. 

Was im Allgemeinen über Beethoven's Abneigung gegen 
das Kirchliche und feine Stärfe in der Darftellung des Menich- 
Iihen gejagt wurde, beftätigt ſich auch innerhalb des vor— 
liegenden Oratorium? jelbit. Da nämlid, wo Beethoven, ab» 
geihnitten von menſchlichem Thun und Fühlen, nur DE 

Hanslick. Aus dem Eoncertfaal. 2. Aufl. 


18 1849. 


Geſtalten der Bibel fingen laflen foll, bleibt er ſchwach und 
madtlos, erit als fein Fuß wieder die Erde berührt, durch— 
ftrömt ihn, wie jenen Riefen des Alterthums, die Kraft des 
Lebens. Es fcheiden fich zwei Gruppen in dem Oratorium: die 
göttliche (Chriftuß und die Engel), und die menfchliche (die 
Krieger und Jünger). Für eritere fand Beethoven in feinem 
Innern feine entiprechenden Töne; ihr Gejang ift unoratorijc), 
weihelos, opernmäßig; nmamentlih hören wir in dem Part 
Chriſti durchaus feinen Heiland, fondern einen Bühnentenor 
aus der eriten Mozart’fchen Periode. Man betrachte den Ban 
der Arien, die Verzierungen, die Sat» und Periodenſchlüſſe und 
endlih die Schluß-Gadenzen! Nur jchöne Einzelheiten rein 
muſikaliſchen Intereſſes, namentlih in der Inftrumentirung 
und Figuration, beſchwichtigen ein wenig die Verehrer 
Beethovens. Außer Chriftus und dem Engel kommt von 
Solofängern nur noh Petrus vor, mehr um als Noth— 
helfer die Gompofition eines Terzetts möglih zu machen, 
welches in jeinem zweiten Motiv (mit dem Terzengang) das 
Maß der Unbeiligfeit vol macht. Aber wie wohl wird uns 
allen, wenn nad) dem blutlofen Gejang der Seraphims ein 
iharfmarfirter Rythmus der Bälle uns das Nahen einer ent: 
fernten Menge anfündigt! fie dringt immer näher und näher, 
ja, e8 find Menſchen! — und mit ihnen ift auch wieder der 
alte Beethoven da. Mit den Hereinftürzen der Krieger, Die 
mit troßgigem Ungeſtüm Chriftum zum Gefangenen machen, 
während die Singer nur leije für ihn zu flehen wagen, ftehen 
wir auf rein dramatiſchen Boden und vor einer der fräftigiten, 
charakteriftiich wirffamften Compofitionen Beethoven's. Die 
Chöre der Srieger und die würdevolle Inftrumental-Einleitung 
find die Theile, an denen der Ehriftus am Delberg nicht fterblich 
it. Sie follten in Goncertaufführungen jo oft als möglich zu 
Gehör gebracht werden; das Ganze wird man als Oratorium 
faum zum Ruhm feines unfterblihen Schöpfer auf dem Re— 
pertoire erhalten. 

Deethoven hat in fpäteren Jahren feine Compofition 
des »Chriſtus« jelbit für einen Mißgriff erflärt, es ift daher 
feine Impietät, dad Publicum aufzufordern, e8 möge über ein 


Wilhelmine Neruda. 19 


Werk nicht weniger im Klaren fein, als defien eigener Schöpfer. 
Im Gegentheil fann man Verehrung für einen großen Meifter 
nicht mwahrhafter darthun, ala wenn man im Urtheil feine 
ſchwächern Werke forgiam von den vollendeten trennt. Es 
reiht zur Bewunderung nicht hin, daß ein Werk von Beet: 
hoven ſei, — es muß auch Beethoveniſch fein. 


Wilhelmine Meruda. 


Niemand kann Teugnen, daß die kleine Wilhelmine Neruda 
im Vortrag, in der Bravour, im mufifalifchen Verftändniß, 
endlih in der wunderbaren Sicherheit ihres Auftretens eine 
außerordentliche Erjcheinung ift. »Wenn wir uns als Erwachjene 
in demfelben Maße fortbilden würden, wie in der Sindheite, 
ſagt Goethe, »Jo müßten wir lauter Genies werden.« Die tiefe 
Mahrheit dieſes Satzes verbietet jede allzu fühne Prophezeiung 
für die künſtleriſche Zukunft der Kleinen; doch wenn wir felbft 
für unfere geiftige Entwidlung in den veiferen Jahren nur 
einen arithmetiiden Fortfchritt annehmen, während in der 
Kindheit diefelbe in geometriicher Progreſſion wächſt, jo würde 
dies außreihen, um Wilhelmine Neruda einjt unter die be— 
deutenditen Wirtuofen ihres Inftrumentes zu reihen. Sie ſpielte 
eine fchaale Virtuoſen-Phantaſie von Mlard, die Primftimme 
in einem ebenfo jchaalen Trio von Zäch, endli den »Carneval 
von Venedige. Da mir der Componiſt des legteren Stüdes, 
Ernſt, vor einigen Jahren verficherte, der »Garneval« ſei ihn 
felbft Schon unleidlih, fo wird man mir es wohl erlauben, 
dasſelbe zur befennen. Man follte derlei, ich möchte Jagen höchſt 
perjönlihe Kunftftüde nicht nachmadhen, die der Geilt des 
Schöpfers beleben muß. Die fleine Neruda jpielte das Stüd 
gewiß ſehr löblich, allein nicht die Bravour der einzelnen 
Variationen ift es, die an dem »Garneval« wahrhaft ergößt, 
fondern der entfeffelte Strom von Laune, mit dem Ernſt ihn 
faft jedesmal neun impropifirte. Wenn man die Heine Neruda 
eine für ihr Alter ungewöhnliche Erſcheinung nennt, jo heißt 
dies wohl fein feines Lob; fie als eine vollendete Birtuofin 

9% 


20 1849. 


hinzuftellen, iſt eine ihr ſelbſt nachtheilige Webertreibung. Kraft: 
loſigkeit des Bogens, zeitweilige Unreinheit der Intonation, 
Lüdenhaftigfeit der Bravour find Mängel, die aus ihrem zarten 
Alter rejultiren. Wirklich bedeutungsvoll und wichtiger als ihre 
Bravour ift jedoch die Innigfeit, mit welcher Wilhelmine lang: 
jame Gantilenen vorträgt. Aus ihrem Vortrag ſpricht Seele 
und nicht Dreffur, und hierin liegt die echtefte Garantie für 
ihren wirklich muſikaliſchen Beruf. 





1850. 
Volkslieder aus ©efterreich. 


In zwei Heften, welche wir der Muſik- und Vaterlands— 
liebe des Baron Edmund Herbert verdanken, begrüßt uns 
die erſte und einzige Sammlung der deutſchen Volkslieder in 
Kärnthen. 

Längſt iſt erklärt und anerkannt, wie der Charakter jedes 
Volkes fi in feinen Melodien fpiegelt, und Diefe zu einer 
tieferen Kenntniß desfelben unentbehrlich find; für uns haben 
Volkslieder außerdem noch den Hohen äfthetiihen Werth, die 
legten Refte naiver Kunſt zu fein, die »Kunſt vor der Kunſt«, 
wie ein neuerer Autor finnreich umjchreibt. Wie bedenklich für 
den Politiker die große Mannigfalt der Nationen ift, welche 
Deiterreich vereinigt, fo unſchätzbar erfcheint fie dem Xefthetifer. 
Welcher Reihthum an Lebensformen, in denen die Phantafie 
diefer Völker ſich ausgeprägt hat, welche Fülle an Charakteriſtik 
in ihren Trachten, Gebräuchen, Bauten, Gedichten und vor 
Allem in ihren Nationalmelodien! Die mufifaliihe Grundmadt, 
die Oeſterreich allein in feinen Volksliedern befitt, jtempelt es 
zum eriten Mufikftaat der Welt. 

Dbenan ftehen die Italiener. Sie fingen zu jeder Zeit, 
an jedem Ort, fie leben im Gejang, zu welchem fie von der 
Natur ſelbſt auserleſen ſcheinen, indem dieje ihnen die beiten 
Fehlen verlieh. Die welichen Lieder jtrömen lauter Ebenmaß 
und MWohlklang, fie find im vorzugäweifen Sinn des Wortes 
muſikaliſch. Weit entfernt, fih auf Cine beſtimmte Takt: 
gattung, Einen gleihen Rythmus, auf Dur oder Moll zu be— 
ihränfen, wie die ungarifchen, kärnthiſchen u. A., verwenden fie 


22 1850. 


mit merfwürdiger Freiheit die muſikaliſchen Ausdrufsmittel. 
Der complicirte Sechsachtel- und Neunachtel-Takt, den viele 
Nationen gar nicht kennen, erjcheint neben den übrigen Taktarten 
äußerſt häufig, die Taftzahl der Perioden jo wie die Modula- 
tion iſt mannigfad, ein Wechſel im Rythmus tritt meift am 
Schluß des Liedes rechtzeitig ein, wo die Bewegung anfinge, 
monoton zu werden, dad Ganze fließt ohne Eden ar und 
durhfichtig wie Del, daß der größte Meifter nichts zu ver: 
ändern hätte. Selbit für fein Trällern wählt\der Staliener die 
melodiihen Silben »olilali lalö« und ähnlich, während der 
Deutihe »dideldum drum dum« fingt. Gegen die jlavifchen 
oder magyariſchen Gefänge ftehen die welichen an charafteri- 
ftiiher Eigenthümlichfeit zurüd, übertreffen fie aber an rein 
formaler Schönheit. Es ift als rollte ein Mozart'ſcher Bluts— 
tropfen in jedem Volkslied Staliend. Der Grundzug der ita= 
lieniſchen Nationallieder ift Fröhliche Aufregung, ſchwermüthiger 
Leichtjinn, warme beredte Zärtlichkeit; ihr Temperament ijt das 
janguinijche. 

Wie die Italiener von Natur zum Gejang, jo jcheinen die 
Böhmen für Inftrumentalmufif berufen zu jein. Es gibt fein 
Land, wo die liebevolle Ausübung der Muſik jo ſehr in die 
Maſſe gedrungen wäre, al3 in Böhmen; das ganze Volk ift 
Ein Mufifer. Auch den Gejang hegt der Böhme, trog dem 
Staliener; er fingt viel, nur in der ftilleren, gefammelten Weije 
diefer Nation, ſchon mehr dem Gefang als dem Singen zu 
fieb. Bei den jchweriten Arbeiten kann man in Böhmen die 
Mägde, Knechte, Gejellen fingen hören und das richtige Gehör 
bewundern, mit welchem die tieferen Stimmen ſecundiren. Die 
Erben’ihe Sammlung gibt einen beiläufigen Begriff von dem 
Reichthum an böhmifchen Volfsliedern; ſchade, daß man ed ver: 
ihmähte, fie durch Unterlegen deutfcher Ueberfegung einem 
größeren Bublicum zugänglich zu machen. 

Die Czechen ftehen in mufifalifcher Hinficht den übrigen 
Slaven Oeſterreichs weit voran, namentlich fingen die Jüdlichen 
Stämme weniger. Die Mährer theilen die Volkslieder Böhmen, 
wenigitend deren Charakter, die Polen befigen ein eigenthünt- 
fiches Element in dem Mazur. Die Südjlapen find ein mehr 


Volkslieder aus Oeſterreich. 3 


dichtendes als muficirendes Bolk In Krain hört man wenig 
Geſang, außer einigen monotonen ſlaviſchen Liedern viele be= 
fannte »Steyrer«, denen jloveniiche Worte unterlegt find. Es 
mag etwad Richtiges zu Grunde liegen, wenn Jemand be— 
hauptete, »die Südſlaven haben jchöne Volksdichtungen, aber 
jie fingen fie nihte. Die Melodien, welche die Serben zur 
Gusla fingen, dürften mufitaliih von geringer Bedeutung fein, 
indem fie, vorherrichend recitativifch, beitimmt find, die epiichen 
Erzählungen, nah Art der altgriehifchen Rhapſoden, zu be: 
gleiten und rythmiſch zu heben. Eine Aufichreibung der ſüd— 
ſlaviſchen Melodien wäre jedoch von größtem Intereſſe, namentlich 
feit durh Vuk Stephanopih und die llebertragungen von 
Anaftafiı3 Grün, Kapper, Franfl u. U. den poetiſchen 
Schäten diefer Nation die allgemeine Theilnahme und Be— 
mwunderung gefolgt ilt. 

Der mufifaliihe Charakter der flavifchen Wolflieder ift, 
troß der bedeutenden Mannigfaltigkeit in den böhmischen, ein 
typiich ausgeprägter. Die Molltonart, der zweitheilige Takt, 
das langjamere Tempo walten vor, die höchſt eigenthümlichen 
rythmiſchen Geftaltungen find befannt. Im Ausdruck find fie 
ernſt, ſchwermüthig, weich, ſelbſt in der Luftigfeit (wo fich der 
Slave, den Dreivierteltaft verſchmähend, meist fchnell in den 
Dreiachteltakt ftürzt) nicht frei von jener Gedrüdtheit, welche 
auf hiſtoriſchen Schmerz deutet. Die dunkle, nach Innen gefehrte 
Leidenjchaftlichkeit der ſlaviſchen Melodien vindicirt fie dem 
melandholifhen Temperament. 

Zu den merfwürdigiten Volföliedern gehören die ungaris 
ihen. So eigen und von allen übrigen Nationen gejondert 
dies Volk räthjelhaften Urſprungs ift, jo gefennzeichnet find 
auch jeine Melodien. In ihrer Zweitheiligfeit, ihrem Perioden: 
bau von immer 4 zu 4 Takten, ihrem ftraff marfirten, meift 
Viertel mit Sechzehnteln abmwechjelnden Rythmus find fie 
augenblidlih fennbar. Ihre Seele ift glühend mit Aus— 
dauer, leidenſchaftlich mit Bewußtheit, ſinnlich, kraftvoll, 
todesverachtend, in Allem aber feſt und männlich, mögen nun 
die Sporen klirren oder die Kette. Die Magyharenlieder find 
choleriſch. 


24 1850. 


Wenn wir die Volksgeſänge der öfterreihiihen Monarchie 
in großen Gruppen einander gegenüberftellen, jo müſſen wir 
die Alpenländer Oberdfterreih mit Salzburg, Steier: 
mark, Tirol und Kärnthen unter eine zufammenfaflen. Die 
Natur kennt nun einmal feine Eintheilung in Sronländer oder 
Herzogthümer, und was in verwandten Naturgrund wurzelt, 
das bleibt fich ewiglich verwandt in allen Lebensäußerungen. 
Sp wie die förperlihe Organijation, die Umgebung, die Sitte, 
die Gejchichte der dfterreichiichen Alpenbewohner im Großen 
und Ganzen diejelbe ift, jo muß auch ihr geijtiges Abbild, das 
Volkslied, gleichen Grundtypus tragen. Gar viele Melodien 
geriethen von dem einen Alpenland ins andere und wurden 
da heimisch, weil fie Heimifchen Grund fanden; nicht wenige 
vielleicht erblühten von ſelbſt, fowohl in dem einen als dem 
andern Nachbarland, wie die Alpenrofe auf gleichem Boden 
hier und drüben wächſt, ohne daß Jemand fie eigens ver- 
pflanzt hätte. 

Sp behebt ſich füglich der oft erhobene Streit, ob dieſes 
oder jenes Volkslied fteiriich ſei oder kärnthiſch. Selbſt der 
meilt unmögliche hiltoriiche Nachweis, die ftreitige Melodie jei 
färnthiich, hätte jehr precären Werth, denn fie ift es nicht mit 
Nothwendigkeit, fie könnte eben fo gut fteiriich fein. Gewiß 
aber wird fie Niemand für ſlaviſch oder ungarijch halten, und 
dies iſt die ficherfte, praftiihe Probe unferer Eintheilung. 
Innerhalb der gemeinfamen Familienähnlichkeit fehlt es freilich 
nicht an feinen bezeichneten Unterfchieden, welche ein durch 
längeren Aufenthalt geübtes Ohr den Liedern der verjchiedenen 
Gaue abgemwinnt. Tirol fondert fih von den öſtlichen Alpen- 
gruppen nod am Tchärfiten ab. Wie feine Bewohner die fühniten, 
jeine Berge die höchſten und jchroffiten find, jo charakteriſiren 
fih jeine Lieder durch das kühne Aufſchwingen nach der Sert 
und Octave, das plögliche Abbrechen der Periode, daS kurze 
Sodeln mitten in der Strophe. 

Ein Hoher Standpunkt mufifaliiher Begabung läßt ſich 
den öſterreichiſchen Alpenbewohnern nicht einräumen, ihre Lieder 
hängen viel zu feit mit dem Naturgrunde zufammen, auf dem 
fie entitanden, Die weiten Sprünge ihrer Intonation, das Aus— 


Volkslieder aus Deiterreich. 25 


halten der Töne, der Sodler find Erjcheinungen, welche die 
Natur der Berge erichaffen Hat. Wie die Sennerinnen oder 
Gemsjäger von den benachbarten Höhen einander zurufen oder 
vereinzelt das Echo loden, wir finden es auf der Stufe künſt— 
leriſcher Geftaltung in ihren Liedern wieder. Dem Alpenländler 
it im Singen nit die Muſik Hauptfache, wie dem Staliener 
oder Böhmen, fondern der Hall, der Klang, das Elemen— 
tarifche des Tones. Deutlich zeigt dies der Jodler, deutlich 
der übliche Vortrag, welcher mitten im Sat lange Storonen 
aushält, um den Hal zu loden. Es begreift fih, daß das 
mufifalifche Feld, auf welchem die Erfindung der Alpenlieder 
ſich bewegt, ein bejchränftes ift, und fie alle einander ähneln. 
Am auffallendften ift die ausschließliche Anwendung des Drei- 
bierteltaftes. In der Herbert’shen Sammlung, welche 50 Lieder 
enthält — eben fo, wenn wir nicht irren, in der Baumann 
ihen und Spaun’ihen — fommt fein anderer ald der Drei: 
vierteltaft vor; auch ift uns außer dem Furzen Dreiachteltakt, 
der einigen fteierifchen Liedern als oda angehängt wird, 
feine Ausnahme bekannt. Ihre rythmiſche Gliederung bindet 
immer zwei zu zwei Taften, die Tonart fteht in Dur, modulirt 
wird gar nicht, der Rythmus bleibt durch das ganze Lied 
unverändert, dad Tempo meift langſam, behäbig, etwa ſich 
zum Allegretto befchleunigend. In dieſem engen Gebiet aber 
haben die Alpenbewohner Lieder, die zu dem Frifcheiten und 
Herzlichiten gehören, was die Volfamufif aller Länder aufzu= 
weiſen Hat, namentlich find einzelne Naturlaute von einer 
Urfprünglichkeit darin, daß fie wie Gebirgsfriiche und Waldes- 
duft auf den Hörer eindringen, und man aufjaudzen möchte 
vor Bergesluft. So das häufige freie Anfchlagen der None 
und Undezime. | 

Die Dichtungsart der öfterreichifchen Aelpler ift durchaus 
da3 »Gitanzle, das, vielfach umgestaltet und impropifirt, einen 
abgefchloffenen, oft wahrhaft poetiichen Gedanken in vier 
Zeilen ausſpricht. Dieſe gelungenen Vierzeilen find unfern 
Alpenbewohnern eigenthümlich und der Kern ihrer Volkspoeſie, 
deßhalb ſchon von ungleich höherer Bedeutung, als die analogen 
»Dana« der Ungarn und »Vize« der Slovenen. Der Tert tft 


26 1850. 


hierbei das MWefentlichere vor der Mufit, welche oft nur die 
nothwendige Grundlage abgibt, auf welcher Dugende von neuen 
„Gſtanzeln« impropifirt werden. Mit den Melodien wird 
ziemlich ungenirt verfahren, bald wird die Muſik von einem 
Lied zu dem Tert eines andern gefungen, bald der umgekehrte 
Tauſch vorgenommen. Da den öſterreichiſchen Alpenbewohnern 
die Poeſie nur zu unmittelbaren Ausfprade ihrer Gemüths- 
ftimmung dient, fo verändern und erneuern fih ihre Volks— 
geſänge immerfort, während die Lieder der Slaven fih Jahr: 
hunderte lang fortpflanzen. Der Slave verfenft fih in die Ver- 
gangenheit, den Alpenbewohner kümmert nur die Gegenwart, 
darum hat diefer auch feine Spur von Ballade oder Epos, 
welche den Reichthum der ſlaviſchen Volkspoeſie ausmachen. 
Einige »Gftanzin« von Napoleon und Kaiſer Franz, deren ſich 
hie und da noch ein Alter erinnert, find die einzige und am 
weiteiten zurücreihende Geſchichtspoeſie in den Alpen. 

Die öfterreihiichen Alpenmelodien athmen durchaus den 
Ausdrud gemüthliher, maßvoller Fröhlichkeit, ruhigen Be— 
hagens, mehr des Lebens als der Lebendigkeit, mehr der 
Kräftigkeit al$ der Kraft. Alles Tieffinnige oder Leidenschaft: 
lihe liegt ihnen weit ab, fie verkünden die zufriedene, nur 
jelten leicht getrübte Stimmung eines Naturvolfes, welches in 
reiner Lyrik dem Heute lebt. Wenn wir die Analogie mit 
den Temperamenten fortjegten, welche fich in den vier Haupt: 
gruppen der öfterreichiichen Wolfslieder mit überraichender 
Wahrheit wiederfinden, jo füllt den Alpengefängen das phleg— 
matiſche zu. 

Wenden wir uns nach dieſen allgemeinen Betrachtungen 
ganz zu unſeren kärnthiſchen Liedern. Das eigentliche 
Volk ſingt wenig in Kärnthen. Mag nun der geiſtigere Muſik— 
ſinn oder die phyſiologiſchen Bedingungen des Gehörs und der 
Stimme hier weniger allgemein ſein, der Kärnthner pflegt den 
Geſang gewöhnlich nur, wenn er ſich in der aufgeregten Stim— 
mung einer beſondern Luſtigkeit befindet, wo dann das be— 
freiende Wohlbehagen, die Luft zu erſchüttern, oft das eigent— 
lich muſikaliſche Intereſſe zurückdrängt. Die Volkslieder der 
Herbert'ſchen Sammlung hörten wir mehr in dem Munde 


Volkslieder aus Oeſterreich. 27 


der gebildeten Claſſen, und es kann nicht genug gelobt werden, 
daß man ſich in den hübſcheſten Cirkeln von Klagenfurt 
gerne daran erfreut. Schreiber dieſer Zeilen hat während ſeines 
anderthalbjährigen Aufenthaltes in Kärnthen bei weitem nicht 
ſo viel ſingen hören, als in den wenigen Wochen, wo hier 
italieniſche Soldaten in Garniſon lagen. Kaum konnte des 
Abends ein welſcher Soldat allein oder in Geſellſchaft über 
die Straße gehen, ohne ſeine Barcarole mit ſonorer Stimme 
durch die Luft zu ſchmettern. Es iſt nun einmal Muſik und 
Sangesluſt eine Naturgabe, die nirgends ganz fehlt, aber höchſt 
ungleich vertheilt iſt; ſo wie der eine Landſtrich Früchte trägt, 
der andere nicht. Selbſt in den Alpenländern, welche für vor— 
züglich muſikaliſch gelten, ſind es meiſt nur bevorzugte Gaue 
oder Thäler, in welchen ſich der Volksgeſang concentrirt, wie 
das Zillerthal in Tirol, das Ennsthal mit der Gegend um 
Auſſee in Steiermark u. N. 

Der Charakter der kärnthiſchen Volksmelodien fällt mit 
den Eigenthümlichkeiten zufammen, welche wir an den öfter: 
reichiichen Alpenliedern überhaupt fennen gelernt haben, nur 
fehlt ihnen in der Regel der Jodler. Das behaglih Wiegende, 
Ruhige, Scheint noch ausgeprägter in ihnen, als in den jteieri- 
ihen oder öſterreichiſchen. In allen kärnthiſchen Melodien ſpricht 
jih unverkennbar Gemüthlichfeit aus, welche jich oft zu inniger 
Herzlichkeit, oft zu nediicher Luft fteigert, und ihren Cindrud 
nirgends verfehlen wird, wo ihr der Vortrag zu Hilfe kommt, 
mit welchem einige der jüngern Herren von Klagenfurt 
dieſe Lieder fingen. 

Unter den Texten, welche den kärnthiſchen Volksmelodien 
unterliegen, wird der Leſer manch’ überraschend Gelungenes, 
namentlich jene Elare Bündigfeit des Ausdrucks finden, welche 
wir jo oft in Volfsgedichten mit dem Geſtändniß bewun— 
dern, das fönne der größte Dichter nicht beſſer machen. 
Es iſt eben ein Stück vom »größten Dichter«, was aus dem 
Volke jingt. 


28 1850. 


Tanzmufik und die Höhne von Strauß 
und Lanner. 


Wenn von der Mufif in Defterreich die Nede tft, kann ohne 
arge Lüde die Tanzmufif nicht übergangen werden. Abge— 
ſehen davon, daß wir nicht zu den Verächtern derjelben gehören 
— denn auch die Walzerform ift ein weißes Blatt, worauf 
Geiſt- und Schmwungvolle® geichrieben werden kann — be: 
hauptet die ausgezeichnete Pflege der Tanzmufif in Oeſterreich 
eine höchſt harakteriftifche und hervorragende Stellung in unferem 
Muſikleben. Der leichtbeſchwingte Sinn der Wiener hat in den 
Gompofitionen Strauß’ und Lanner's feinen echtejten mufifalifchen 
Ausdruck gefunden und ift zum Theil in ihnen Hiftoriich ge- 
worden. Ohne dem Lande, deſſen Himmel »voller Geigen 
hängt«, ohre Böhmen nahe treten zu wollen und feinen lied- 
reihen Labitzky, es ift doch allezeit Wien, wo die Tanzmufif 
mit glänzendfter Begabung cultivirt wurde. Keine europäiſche 
Hauptitadt kann Hierin mit der öfterreichiichen in die Schranken 
treten, Iſt diefe Kunftgattung auch zweifellos eine untergeordnete, 
jo kann fih Wien doch rühmen, gerade fie am vollfommensten 
repräjentirt zu haben*). 

Natürlid Haben wir damit nicht die bloße Technik im 
Auge, die für Tanzmufit leicht genug erworben wird, fondern 
gerade deren poetiſche Beſeelung und jelbititändig muſikaliſche 
Schönheit. Diefer Standpunft wünfcht alfo nicht, den Walzer 
im Tanzesflug zu erproben, fondern in beſchaulichem Genuß 
ihn ala Muſik anhören zu können, eine Befriedigung, die und 


*) Wie alt und lange verdient der Nuf der Defterreicher im 
Fach der Tanzmufik fei, lehrt ein Blick auf die Geihichte des Minne— 
gelanges im 13. Jahrhundert. Die öfterreichiichen Minnefänger (be: 
fonders Nithart, Burkart von Hohenfels, Tannhäuſer) waren 
am andgezeichnetiten in dem »Tanzliedern«, welde nad) Benecke's 
Vermuthung ihren Hauptreiz in den glüdlicd erfundenen Melodien 
hatten. Der Dichter fang diefelben beim Tanze vor, ein Amt, das 
jelbit Zeopold VII. und Friedrich II. nicht verichmähtent. 


Tanzmufif und die Söhne von Strauß und Sanner. 29 


in jeder Production von Alte oder Jung. Strauß geworden ift, 
welcher wir beimwohnten. Ein fchöner Tanz gehört zu den vielen 
leihten Dingen, die nicht Jedermann trifft. Der engite Rahmen 
und die unerbittlicften Bedingungen, die es in der Mufif gibt, 
heißen im Walzer den Componiften mit dem eriten Taftichlag 
die volle Erfindung einjegen, fie alsdann ohne fruchtbare Be: 
nügung friſch gepflüdt wegwerfen, und jo immer wieder neu 
gewinnen und vergeuden. Wem nichts einfällt, der kann feinen 
Walzer machen, — hingegen find Meffen und Motetten be- 
fanntlih in diefem Zuftand jchon gejchrieben worden. 

Eigenthümlich ift die Erjcheinung, daß, nachdem Lanner 
und Strauß, die Bannerträger des »alten Wiens«, abgerufen 
wurden, ihre Söhne an die verwaiiten Plätze traten. 

Lanner’3 Sohn, Auguft, ift feit Kurzem dent Beruf feines 
Vaters gefolgt. Im Snftrumentiren und Dirigiren nicht unge: 
ihidt, hat er als Componiſt bisher wenig Originalität ge— 
offenbart. Mit dem Ausſpruch, ein Kiünftler Habe das Talent 
jeined® Water »geerbt«, meint man wunderlich gemug ein 
Talent, das der Sohn ganz unabhängig von jenem des Vaters 
für feine Perſon mitgebracht habe. Unſer jugendlicher Capell: 
meifter tritt in einigen feiner Compofftionen diejem unjuriftifchen 
Mikverftand entgegen. Er betrachtet fich ald Erben im geſetz— 
fihen Sinn und gebahrt mit den Ideen feines verjtorbenen 
Vater? als nunmehr rechtmäßiger und unbejchränfter Eigen: 
thümer. Daß die Crinnerung von vielen Taufenden als Hy— 
pothefarfchuld darauf laſte, fcheint ihn, wie viele andere Erben, 
nicht weiter zu geniren. 

Strauß’ Sohn, Johann, trägt jet rühmlich den micht 
leiten Schmud jeined® Namens. Die Melodienfülle und Ur— 
iprünglichkeit des Vaters nicht erreihend, hat er doch ein un— 
läugbares Talent ſehr geihidt angebaut und an die Tanz: 
compofition ein Capital von Kenntniß und Geſchmack gewendet, 
wie es dieſem geringgefhästen Kunftfah vordem meilenfern 
blieb. Jenen mißlaunigen Alterthümlern, deren Einfeitigfeit jo 
weit geht, mit Krüger jelbft die Tanzmuſik unferer Zeit tief- 
gejunfen zu fehen, jollte man mit befhämender Großmuth de3 
jüngern Strauß »Liebedlieder« zum Ständchen bringen. 


30 1850. 


Und dennoch, — mir fehen diefen talentvollen, gefchidten 
Componiſten auf bedenflihem Weg. In feinen neuen Walzern 
findet fih häufig ein faliches Pathos eingefhmuggelt, das in 
der Tanzmuſik befremdend auf den Hörer wirft. Dem reißend 
angewachlenen Raffinement des mufifaliihen Gejchmades 
Rechnung tragend, weiſen wir keineswegs auf die »Ländler« 
und »Deutſchen« von ehedem hin, deren fhüchterne Melodien 
die Flöte führte und welche mit einem einzigen verminderten 
Septimaccord Alles zum Stillftehen gebradt hätten. Allein 
jede Würze muß ihr Maß finden, vor allem im guten Gefhmad, 
dann überdies in den Bedingungen der beſtimmten Runftgattung. 
Die von Poſaunen herausgeftoßene klägliche Accordenfolge, 
welde den zweiten Theil von Nr. 1 der »Schallmellen« bildet, 
fände allenfall® Anwendung bei Opernfinalen, worin es be- 
fonderd blutig zugeht; in einem Walzer ift fie abicheulich. 
Selbft Themen, wie die eriten der »Mellen und Wogen«, 
»Schneeglödchen«, »Novellen«, mit ihren langgejtredten, acht: 
taktigen Motiven, ihren ächzenden verminderten Septimen= und 
Nonenaccorden, ihrem Poſauuen- und Paufendonner find nicht 
mehr tanzgemäß. Nicht alles, was im Dreivierteltaft fpielt, iſt 
darım ein Walzer. Wie verblaßt der Beifall, den ſolche No- 
pitäten durch den Reiz der Neuheit und ihrer Inftrumentirung 
ernten, neben dem gefunden Jubel, wenn darauf ein Walzer 
bom alten Strauß oder Lanner erklingt! Diefe herzensfrohe 
und dabei maßvolle, vornehme Haltung, wie fie und jüngit 
zufällig in dem erften »Romantifer« von Lanner überrafchte, 
Ihlägt Dugende diefer neuen heroiichen Walzer. Bon Tadelfucht 
am weiteſten entfernt gegenüber einem Kunſtgenre, das der 
Kritif etwas feitab Tiegt, konnten wir hier den Wunſch nicht 
unterdrüden, der beſte Walzercomponift der Gegenwart möchte 
eine faljche, wohl nur momentan eingejchlagene Bahn verlaſſen. 
Diefer Wunsch entiteht weſentlich im Intereife des mufifaliichen 
Geihmads des großen Publicums, welches hier, im täglichen 
Verkehr mit Strauß, die überwürztejten Tanzmufifen bald noch 
zu einfach finden wird. Wenn Strauß den Walzer in der Art 
der »Schallwellen« fortbildet, was foll Meyerbeer für feine 
nächſten Opern übrig bleiben? Gine Kunftgattung wird weder 


Die Wiener Goncert:Saijon. 31 


im Inhalt noch in der Form bereichert, wenn man ihr ein 
Pathos aufzwingt, dem ihr Weſen widerftrebt. Iſt aber erfünftelte 
Großartigfeit überall vom Uebel, fo wird fie geradezu Ruin 
für jene leicht beſchwingten Tonweſen, deren Beftimmung es 
ift, Schöne Tänzerinnen mit Frohfinn, Scherz und Anmuth zu 
umflingen. Halte darım Jeder die Grenzen rein und verhüte 
Verſchleppungen aus fremdem Gebiet: vor dem gebildeten 
Schönheitsſinn fteht die Verpolfung des Opernityls und Die 
Heroification der Tanzmufit auf Einer Stufe. 


Die Soncert:Sailon 1852—1853. 


Wir betrachten die Leiftungen, mit welchen eine Stadt von 
reihen und geordneten Muſikkräften im Verlauf eines Jahres 
vor die Deffentlichkeit tritt, als nichts Vereinzeltes, mag ihr 
Zufammenhang no fo wenig beabfichtigt oder erreicht worden 
fein. Die jeweilige Anzahl der Orcheiterproductionen und der 
Virtuofenconcerte, der Inftrumentalitüde und der Gefänge, der 
älteren Glaffifer und der Zeitgenofien, der einzelnen Schulen 
und der Kunjtgattungen, gruppirt ſich mit der Zeit zu ftatiftiichen 
Berhältniffen, welche für die Richtung und Werthichägung eines 
Mufiklebend maßgebend werden. Unfer letztes Concertjahr wird 
fih ſolch einer äfthetiichen Sylvefterabendpflicht nicht entziehen 
fönnen, welche mit freimüthiger Gerechtigkeit das Gejchehene 
eined Lebensabſchnittes prüfend zurüdruft und Gute gegen 
Schlechtes abwägend die Bilanz zieht, jo als Ueberſchuß dem 
nächſten Jahr zu Gute fommt oder als Deftcit zu verdoppelter 
Anftrengung einladet. 

Der Maßitab für die mufifaliihe Macht und Höhe einer 
Stadt (die Oper bleibt von unferer Betrachtung ausgeſchloſſen) 
find ihre Aufführungen jener großen Werke reiner Inftrumental: 
mufit, in melcher die deutjchen Meiſter ihre höchiten Ideen 
niedergelegt haben. Die großen Orceiterproductionen 
find der wahre Stamm, welchen alle Eleineren fingenden und 
Hingenden Erſcheinungen nur mit dem zufälligen Reiz des Laub- 
gewindes umranken und die für den Concertſaal dasſelbe 


32 1852— 1853, 


gelten, was die Tragödien der Claffifer für das recitirende 
Schaufpiel. 

Die einzige Körperichait, die una ſolche Inſtrumentalwerke 
vorführt, ift die Gejellichaft der Mufikfreunde Schon 
aus diefer Wirkſamkeit allein erhellt die muſikaliſche Suprematie, 
die fie in Wien ausübt und feineswegs einem langjährigen 
Beitande, jondern ihrem neuen Aufſchwung verdankt. In Saden 
der Kunſt ift jede Oberherrfchaft ftet3 eine factiſche. Eine Per— 
jönlichfeit oder Corporation bemädtigt fih im Gefühl ihrer 
Ueberlegenheit eines verwaiſten Platzes und leiftet energijch das 
Nothivendige, bringt das einzig Gute oder relativ Beſte. Die 
>» Gejellihafts-Concerte«, welche einjt neben Nikolai's »phil: 
harmonijchen Koncerten verſchwanden, haben deren Stelle nun: 
mehr mit entjcheidendem Erfolg eingenommen, und jegen für den 
Abgang jener glänzenden Perfünlichkeit, ihrerjeit3 die Stabilität 
einer hochgeachteten Firma. Die Gefellihaft der Muſik— 
freunde, wie fie aus der tödtlichen Lethargie von 1848 und 
1849 ji zu ihrem gegenwärtigen Beitand reorganifirt hat, ift 
für die Runftzuftände Wiens ein fo außerordentlihes Nefultat, 
daß Jemand, der die Hinderniffe dieſes Aufſchwungs nicht in 
ihrem ganzen Kettengehänge kennt, ihm faum vollkommen gerecht 
zu werden vermag. Alles, was wir in Wien an größerer In— 
ftrumentalmufif hören, verdanken wir, wie gejagt, der Geſell— 
Ihaft der Mufiffreunde. In diefem Nuhme liegt aber auch ein 
berpflichtendes Moment, nämlich wirklich fo viel und joldhes 
borzuführen, als dem Bebürfniß des Publicums und dem 
gegenwärtigen Stand der Tonkunſt entipriht. Betrachten wir 
unter diefem Gefichtspunfte jo raſch ols möglich, was die »Ge— 
jelihaft« in letzter Saiſon geleijtet. 

Sie gab acht Concerte (nämlich vier »Geſellſchafts-« und 
eben jo viel » Spirituel-Eoncerte«, eine Unterfcheidung, die nur 
auf Aeußerlichkeiten beruht, daher jchiclicher vermieden märe). 
Bei der ungewöhnlichen Theilnahme, welche das Publicum 
dieſen Aufführungen zollte, möchten wir glauben, daß ihre Zahl 
fih bis auf zwölf vermehren ließe, wodurd nicht nur die 
Birtuojen-Concerte eine einjchränfendere Concurrenz erführen, 
jondern auch manche Gompofition im Gefammtprogramm ein 


Die Wiener Concert-Saiſon. 33 


Bläschen oder Gegengewicht erhielte, welche in fleinerem Cyclus 
unberechtigt oder vereinzelt daſteht. 

Bon den acht Symphonien, weldhe die Gejellichaft 
diesmal bradte, waren drei von Beethoven (Es-dur, A-dur, 
B-dur); drei von Mendelsjohn (A-dur, A-moll, Lobgeſang); 
eine von Mozart (Es-dur) und eine von 9. Eifer. Weniger 
einverftanden jind wir wir mit der Auswahl der acht Duper: 
turen, von welchen wir nur zwei unbedingt willfommen heißen 
fonnten: Mendelsſohn's »Fingalshöhlee, die ſchon durch 
ihr echt ſymphoniſtiſches Hauptmotiv zu den bedeutenditen nad): 
beethovenfhen Erfindungen gehört, und die jehr jelten gehörte 
Duverture in C. op. 124 von Beethoven. Sollte Gluck dur 
ein Inftrumentalwerf repräfentirt fein, jo war die Ouverture 
zur Iphigenia jedenfall die beite Wahl. Hingegen Broteft 
legen wir gegen die Titus-Ouverture, die doch, gelinde geſagt, 
allzu befannt ijt, um bei den Bejuchern der Spirituel-Eoncerte 
auf Theilnahme rechnen zu dürfen. Selbit Weber’: glanzvolle 
»Eurhyanthe« dünkt una nicht fo langentbehrt, daß fie unter 
acht Duverturen nothwendig wäre. Wenn vollends die franzöfifche 
Schule Glud’3 unter acht Ouverturen mit drei repräfentirt ift 
(Catel's »Semiramis«, Cherubini's »Mbencerragen« und 
»Elifa«), jo iſt dies ein unverhältnigmäßiges Vordrängen dieſer 
haraktervollen, aber zum Weberdruß abgefpielten Gruppe. In 
diefem Beijpiel tritt der Unterfchied zwiſchen dem abjoluten 
und dem relativen Standpunkt der Beurtheilung recht auffällig 
hervor. Inter zwölf Ouverturen find zwei Cherubiniiche recht 
wohl am Plage, unter achten nicht mehr. So ließe fih aus 
den von una recufirten Stüden des diesjährigen Geiellichafts- 
chelus ein ganz hübſches Koncert zujammenftellen, welches 
dennoch aus dem Gelichtöpunfte einer zu erfilllenden höheren 
Aufgabe nicht zu rechtfertigen wäre. Ein Kumftinftitut, das nicht 
blos »Eoncerte gibt«, jondern in zufammenhängendem Wirken 
eine Miſſion Hat, fehlt jchon, wenn es Gutes bringt, wo 
Befferes oder Dringenderes warten mußte. 

Die Wahl der concertanten Compofitionen war glücklich. 
Mährend und S. Bach's Tripelconcert den ganzen Neichthum 
einer früheren Virtuoſitätsepoche in deren tiefinnigitem Re: 

Hanzlid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl, 3 


34 . 1852— 1853. 


präfentanten erichloß, begrüßte uns in Mozart’ »Goncert für 
Violine und Biola« eine der genialiten Arbeiten dieſes feinsten 
aller modernen Contrapunftifer, defien weniger befannte In— 
ftrumentalfachen zu Gunften jeiner Geſänge nur zu oft zurück— 
gejeßt werden. Was Vieurtempd’ Violinconcert inE (1. Sab) 
betrifft, jo freut es und, daß die Gefellichaft dieſem geiftreichen, 
romantifchen Pariſer gaftfreien Empfang gewährte, ohne Furcht, 
dadurch ihr »weißes Hermelin der alten Schule« zu befleden. 
Nur gegen das Aufführen einzelner Säge müfjen wir un? 
erflären. Solch dilettantenhafte® Zerreißen eines Ganzen iſt 
einer Künſtlergeſellſchaft unziemlich, welche zuſammenhängende 
Werke vollſtändig oder gar nicht bringen ſollte. Eine principielle 
Ausſchließung des Virtuoſenthums aus den Geſellſchafts— 
concerten, wofür ſich manche Stimme erhebt, ſchiene uns eng— 
herzig, ja nachtheilig. Man ſollte es, nach dem erfolgreichen 
Vorgang der Leipziger Gewandhausconcerte, nicht unterlaſſen, 
wirklich bedeutende Virtuoſen zur Mitwirkung einzuladen, ſie 
jedoch an den Vortrag chaſſiſcher Werke mit vollem Orcheſter 
zu binden. 

Bon den Gejangfoli möchten wir nur die Wahl der 
Sopranarie von ©. Bach und der Baßarie mit obligaten 
Contrabaß don Mozart vertheidigen. Die Brapourarien der 
Königin der Nacht, des Sefto u. dgl. follten in den Spirituel- 
Concerten nicht porfommen. Der äfthetifche Proteſt, daß dieſe 
Arien einmal ſchön waren, oder auch daß fie nie Schön waren, 
gleichviel, ift hier weniger maßgebend, als die Betrachtung, 
daß Opernftüde nur mit größter Einſchränkung im Goncertjaal 
zuzulafien find, indem der Wegfall des dramatiihen Zufammen- 
hangs, des Coſtüms, der Scene, der Decorationen dad Ver— 
ftändniß verwirrt, den Eindrud verfümmert. Am allerwenigften 
dürfen aber Stüde aus allbefannten Opern, die man im 
Theater hören fan, den Eoftbaren Raum eine aus bier 
Nummern beftehenden Concert? einnehmen. Nur aus claffiichen 
Opern, die hier nicht oder nicht mehr befannt find, wird man 
Soli oder Enfembles in der richtigen Erwägung bringen können, 
daß man das Publicum auch durch eine Photographie zu Dant 
verpflichte, deren Original zu jehen ihm niemal® vergönnt ift. 


Die Wiener Eoncert:Saifon. 35 


Slud, Händel, Spontini, Cherubini, Spohr, Mendels— 
john u. A. bieten hier reiche Fundgruben. Der Eindrud von 
Mozart’3 »Misericordiase in D-moll erwies die treffliche 
Wirkung, welde ein geiftliher Chor zwifchen weltlihen Com: 
pofitionen übt, und dürfte als Fingerzeig gelten, wie man auch 
auf ältere Kirchenmuſiken deuticher und  italienijcher 
Schule zurüdgehen könnte, ohne in die Tendenz ftreng hiftorijcher 
oder geiftliher Concerte zu gerathen. 

Bon größeren Geſangswerken brachte die »Gefellihaft« 
Mendelſohn's trefflihen »Lobgejang«, deſſen Erfolg Hoffentlich 
die »MWalpurgisnadt« und die einzelnen Palmen desſelben 
Meifters nachziehen wird. Die Wahl von Beethoven's voll- 
ftändiger »PBrometheusmufif« war ein Mißariff. Durch die 
liebenswürdige Ouverture ift daß ganze Werk für Genuß und 
Erinnerung jo hinreichend wie vortheilhaft repräfentirt. Wenn 
es Schon mit der Aufführung von declamationsverbundenen 
Zwiſchenactenmuſiken fein Schwieriges hat, fo fteigert fich dieſes 
bei einer Ballet-Compofition, welde Schritt vor Schritt die 
Borgänge auf der Bühne commentirt, zum Bedenklichen. Sft 
aber die Balletmufif unbedeutend, zopfig und einer für unfere 
Anihauung fait lächerlichen mythologiſch-allegoriſchen Action 
dienftbar, dann gibts nicht einmal mehr etwas zu bedenken. 
Daß es auch belehrend fei, das ſchwache Gelegenheitöwerf eines 
Meifter® zu hören, wer läugnet es? Allein die Aufführung 
folder Gompofitionen ift ein Verrath an dem Genius des Mannes 
zu Gunften feines Namens. Alle irdifhen Dinge gedeihen nur 
in Selbitbejchränfung. Die Concertdirection muß ihr Programm 
als einen jchmalen, jehr koſtbaren Baugrund anjehen, auf defjen 
Bertheilung Viele ein gutes Anrecht befigen, und welcher dennoch 
nur wenig zeritüdelt werden darf. Auf jolhem Grunde muß 
fein chinefiicher Papillon ftehen, wenn ein Palaſſ Plat ge— 
habt hätte. 

Das Berhältnig der abjolut äfthetiichen Aufgabe einer 
Goncertdirection zu ihrer Hiftorifchen Verpflichtung ift ein ſehr 
delicate®. Wie alle geiltigen Beziehungen, welche einer lebendigen 
Strömung unterliegen, fo läßt auch dieje fich nicht mit gefeglicher 
Schranke feititellen, fondern muß dem feinen Gefühl einer 

3* 


36 1852—1853. 


leitenden Perjönlichkeit überlaffen bleiben. Regelnde Geſichts— 
punkte laffen fich jedoch geben. Wir möchten in Kunſtſachen 
den hiſtoriſchen Standpunkt (im Gegenjag zum abjolut 
ülthetifchen) in weiterem Sinne aufgefaßt und auf Alles aus: 
gedehnt wiſſen, was durch Bedeutiamfeit feines Inhalts An: 
jpruh auf Kenntnignahme des Publicums hat, wenngleich es 
deiien Geſchmack niht mehr oder noch nicht jompathiich fein 
jollte. Wie Janus muß der Goncertdirector vor und hinter fich 
ihauen. Hinter fih, damit er die großen Thaten unſrer 
Altvordern nicht durch Vernadhläffigung in unſerm Bewußtſein 
vertilge. Vor fih, in dem Sinne, daß er nichts ignorire, 
was über furz und lang doch gekannt und gebradt 
werden muß, weil es clafiiich ift, ehe noch der Verlauf 
eine® halben Sahrhunderts ihm den ZTalar der Glajficität 
umgehängt. Es iſt alfo geradezu die berechtigte Gegenwart, 
für welche wir Berüdfichtigung verlangen, die aber durch in— 
dolente® oder durch animoſes Ignoriren zur ungewilfen Zus 
£unft geftempelt wird. Handelt e& fih um ein Abwägen, io 
iſt dem Publicum die Bekanntſchaft mit den herporragenden 
Geiftern, von denen die mufikaliiche Bewegung der Gegen: 
wart ausgeht, viel wichtiger als die Erinnerung an die hifto- 
rich gewordenen Größen zweiten und dritten Ranges, die für 
unjere Großväter jchufen. Nur der Mufikhiftorifer kann auf 
einjamer Stube allem Bedeutenden verfloffener Zeiten nad): 
ftöbern, dejien Kenntniß feinen Beruf bildet. Cine Goncert- 
direction kann unmöglich die ganze muſikaliſche Staatsichuld 
der Vergangenheit zahlen, fie trachte nur, jelbit feine neuen 
Schulden zu machen. 

Eine Schuld iſt's aber und ein WVerfchulden, daß die 
»Geſellſchaft der Meufilfreunde« die Werke Tebender Come 
ponilten gänzlich ignorirt, welche in der kleinſten deutſchen 
Muſikſtadt Tängit gekannt und gewürdigt find. Beginnen wir 
mit Robert Schumann. Die »Gefellihaft der Mufikfreunde« 
hat auch nicht ein einziges ſeiner Orchefter: oder Geſang— 
ſtücke noch gebracht, von deren Anzahl und Mannigfaltigfeit 
ein Blick in jeden Mufil-Catalog überzeugen kann. Weit ent— 
fernt, bier etwa die Vorzüge Schumann’ entwideln zu 


Die Wiener Concert:Saifon. 37 


wollen, und jediwede Vorliebe bei Seite lafjend, citiren wir 
einfach die Thatiache, dag Schumann als einer der geiſt— 
vollften und eigenthümlichiten Tondichter der Gegenwart aner: 
faunt, und von dem mufifgebildeten Bublicum ganz Deutich- 
lands als folcher gehegt und verehrt wird. Eine Goncertdirection, 
welde Schumann verwerfen zu dürfen glaubt, hat Feine 
Ahnung von der Kunft, oder fie fennt Schumann nicht einmal, - 
und dann hat fie feine Ahnımg von ihrem Beruf. Dan liebt 
es bier vieljeitig, die Hochſtellung Schumann’3 als Partei— 
ſache anzufehen und ihm neue, unerhörte Principe in der In: 
ftrumentalcompofition zuzufchreiben, ähnlich denen, welche Richard 
Wagner in der Oper verfolgt. Nur gänzliche Unkenntniß 
faun jo jprehen. Schumann verfolgt in feiner Orcheiter: und 
Kammermuſik fein anderes Princip als Mozart: daS der 
reinen, gegenftandlofen Mufif. Er hat mit Richard Wagner 
nicht gemein, als eine hervorragende Befähigung und das 
Unglüd, Herrn Franz Brendel zum enthufiaftiichen Freund 
zu Haben. 

Anderd iſt's mit Richard Wagner Diefen in feiner 
eigenthümlichen Wirkſamkeit vorzuführen, tft Sache der Opern= 
directionen, und der »Tannhäufer« ift ein Werk, das es, auch 
abgejehen von der umleidlich gewordenen Berühmtheit Teines 
Autor, durch eigenen Werth verdient. Al Inſtrumental— 
componiiten jtellen wir Richard Wagner feineswegd Hoch. 
In allen feinen Ouverturen offenbart fi) die Unfähigkeit, ſym— 
phoniſche Form zu beherrichen, eine Unfähigkeit, die er, wie 
vieles andere, mit Meyerbeer theilt, jo wenig er e& Wort 
haben will. Die »Tannhäufere-Duverture glänzt durch 
interejfante Motive und eine zauberifche Initrumentirung ; ala 
iymphonifches Werk ift fie Schwach, weil fie nicht entwickelt, 
jondern zufammenseßt, ihre Themen die Kenntniß der Oper 
vorausjegen und ihre brillante Schlußfiguration des Pilger: 
marſches ein ftyliftiiches Unding ift, Virtuofenumfpielung für's 
Orcheiter übertragen, injtrumentirter Thalberg. Nun ijt aber 
diefe Duverture, feit den zehn Jahren, daß der Tannhäuſer 
geichrieben ijt, das Entzüden von bald Deutihland, — in 
Prag hat fie Anlaß zur Einftudirung der ganzen Oper gegeben 


38 1852— 1858, 


— fie ift das intereflante Werk eines hochbegabten, originellen 
Mannes, der gegenwärtig zu den berühmteften Operncomponiften 
zählt und jeit fünf Jahren die mufifalifhe Welt jo jehr in 
Bewegung gebracht hat, daß fein Name Parteizeichen und feine 
Merfe Tagesgeipräd find. Wagner ift deshalb, in ganzen Opern 
oder doch in Bruchſtücken bereits überall vorgeführt worden, 
wo von Mufif die Rede fein kann, — nur in Wien nidt. 
Und doch iſt der Drang, fich mit dem merkfwürdigen Manne 
befannt zu machen, jo natürlih, daß der Walzercomponift 
Strauß fich veranlaßt jah, die berühmte Tannhäufer-Duverture 
und einen Chor aus »Lohengrin« im Volksgarten jpielen 
zu lajlen. Wir können aber doch nicht annehmen, daß die 
»Gejellfhaft der Mufikfreunde« e8 den Promenade: Ordeftern 
überlafjen wolle, für die fünftlerifchen Bedürfniffe des Publicums 
zu jorgen. Meint die Direction, Schumann, Wagner u. 4. 
werden dem großen Publicum nicht zufagen, jo fann fie mög— 
licherweije Recht haben, daran liegt nichts. Gehört muß man 
fie haben. Die Literatur der Gegenwart befißt ſehr ähnliche 
Ericheinungen. So gehört Fr. Hebbel zu jenen anerkannten 
Größen, welhe von Vielen auf das Heftigfte angefochten, 
von MWenigen ohne Einſchränkung gepriefen werden. Welche 
Bühne, die ihre Aufgabe begreift, dürfte e8 aber wagen, 
oder hätte es gewagt, ihr Publicum mit Hebbel nicht be— 
fannt zu maden ? 
Nur dadurch kommt Schwung und Bulsihlag in das 
Mufitleben einer Stadt, wenn ihr neben dem überfommenen 
Claſſiſchen alles Bedeutende der neueren Zeit, und huldige es 
jelbit einer befremdenden Richtung, vorgeführt wird. Ob der 
Mufiter Beethoven's Symphonien (die er ohnedies auswendig 
fennt) einmal mehr oder weniger hört, ift für feine Bildung 
von viel geringerem Einfluß, ald daß ihm in bedeutfan neuen 
Gebilden zum eriten Mal die finnigen Züge jener Tondichter 
entgegentreten, die ja ohne Beethoven gar nicht möglich ge- 
wejen wären. Für den Fall aber, daß die Gejellihaftz-Direction 
und vielleicht der Eile bejchuldigen jollte, bemerken wir einfach, 
da3 Schumann bereit3 zwanzig Jahre, Berlioz über zwanzig 
Fahre, Richard Wagner etwa fünfzehn Jahre thätig ift. Eine 


Die Wiener Concert-Zaifon. 39 


Erfriſchung unſeres Concertweſens nad) diefer Richtung halten 
wir für nothwendig und die nambafteiten Künstler in der »Ge— 
jellihaft der Mufikfreunde« theilen unſere Anfiht. Möge es 
ihnen gelingen, das unberufene Uebergewicht dilettantifcher Ele: 
nıente, welche fich dem Vernehmen nad oft geichäftseifrig in 
ragen eindrängen, die nur vom Standpunkt der Kunſt ent- 
ichieden werden können, in ſchicklicher Weile zu mäßigen. 

Als Eintheilungsgrund für die übrige bunte Reihe von 
Eoncert-Leiftungen wählen mir nicht Deren relativen Werth, 
fondern das viel bedeutungövollere Moment der Stetigkeit. 
Es iſt nämlich für die mufifaliihe Bildung einer Stadt von 
größten Gewicht, daß ihre bejleren Aufführungen fi) durch 
periodische Wiederkehr zu etwad Bleibendem geitalten. Da: 
durch werden fie nicht nur genöthigt, für ihre Gefammtthätigfeit 
im höheren als dem gewohnten Sim ein Programm zu 
befolgen, jondern auch geeignet, im Geifte des Hörer einen 
Zulammenhang zu vermitteln, welcher das Gehörte äjthetiich 
oder kunſtgeſchichtlich an ein Früheres anschließt, in ein Nach— 
folgendes überleitet. Der Eindrud fann nicht mehr jpurlos 
verraufchen und mögen diefe Aufführungen nun in dem großen 
Rahmen alljährliher Mufikfefte oder in der engeren Bewegung 
yon wöchentlihen Orcheiter- und Duartettproductionen kreiſen, 
immer ift’5 ihre Stetigfeit, der fie die gute Hälfte ihrer bildenden 
Kraft verdanfen. Aus jolcher Wiederfehr erwächſt zuvörderſt 
eine Gewohnheit des Guten und aus diefer das Bedürfniß 
deöielben. Ueber eine angemefjene Gruppe folcher Eoncertreihen 
verichiedener Richtung muß eine Stadt verfügen fünnen, welche 
auf ein jelbiteigenes mufifalifches Leben Anſpruch madt. Sie 
muß ein Capital gediegener Muſik befigen, auf das fie all: 
jährlich mit Sicherheit vehnen kann, und welches vom Zufall 
unabhängig dafteht, möge diejer nım als unterftügend erjehnt, 
oder als hemmend gefürchtet werden. Die Zufälligfeit ihrer 
muſikaliſchen Eriftenz ift der traurige Theil der Provinzial: 
itädte, deren fünftlerifcher Zuftand meiſtens von den jeweiligen 
Elementen ihrer Societät abhängig ericheint. In Reſidenzen 
hingegen bildet die Stetigfeit claifiicher Aufführungen ein zwar 
verflingendes, aber nicht vergängliches, wahrhaftee Meonn- 


40 1852— 1858. 


ment. Während es ald Kunſtwerk nad) Oben ftrebt, dient es 
nah Unten als Schutzdamm gegen die angrenzende Virtuoſen— 
fluth, deren Ueberſchwemmung man fih im Herbit und Früh: 
jahr gefallen laſſen muß, wie irgend ein anderes nad) Natur: 
gejegen wirfendes Unheil. 

Bon den ftabilen Deufifen in Wien ftehen den » Gefellichafts- 
Goncerten«e zunächſt die von den Herren Hellmesberger, 
Durit, Heißler und Schlefinger veranftalteten Quartett: 
productionen. 

Die Pflege des Streid-Duartettes it in einem mufikali- 
ſchen Organismus von hoher Wichtigkeit. Urſprünglich italieniſche 
Grfindung, hat diefe Form, gleich der Symphonie, alöbald 
durch deutsche Kunft eine folche Erweiterung und Bereicherung 
erfahren, daß fie in Wahrheit geiftige® Eigenthum unferer 
Nation wurde. Diefe Hat durh hochragende Tonwerfe hierin 
jedwede Concurrenz anderer Völker vereitelt und iſt fo nicht 
blos in der Suprematie, jondern geradezu im Alleinbefiß der 
ausdrufvolliten Formen reiner Inftrumentalmufif geblieben. 
Das Streich-Quartett ift aber nicht blos durch feinen Reich: 
thbum an meilterhaften Compofitionen fo bedeutungsvoll. In 
die Grenzen von bier gleichartigen Inftrumenten gebannt, aus: 
geichlojien von dem felbftitändigen Reiz der Klangwirkung und 
de3 Gontraftes, ift das Quartett mehr als irgend eine poly: 
phone Kunftform berufen, durch Die reine Bedeutung ihres 
Inhaltes zu wirken. Keuſch, finnvoll, prunflos, läßt fie nur 
gelingen, was durch die innere Kraft des mufifalifhen Ge— 
dankens beitehen kann. Sie offenbart diefen in feiner wahr: 
hafteften, wenn gleich nicht glänzenditen Erſcheinung. Durch 
ihre unbeitehlihe BDurdhfichtigfeit ift die Duartettmufif eine 
Klippe für Componiften und ein Prüfftein für das Publicum. 
Wenn die Theilnahme an den »Geſellſchafts-Concerten« noch 
fein hinreichender Beweis für die erwachende gediegene Rich— 
tung in Wien ift, den verweilen wir auf den Bejuch einer 
Hellmesberger'ſchen Quartettſoirée. 

Die Gefahr der Quartettproductionen heißt Monotonie. 
Sehr zweckmäßig trennt man deshalb hier Zwei Quartette durch 
ein Glaviertrio, eine naheliegende Auskunft, die dennoch den 


Die Wiener Concert:Saifon. 41 


berühmten Pixis'ſchen, Mildner'ſchen u. a. Quartettſoiréen ent: 
ging. Aus demfelben Grumd rechtfertigt ſich die Beſchränkung 
des Duartett:CHyclus auf ſechs Abende Ein rajher Blid auf 
da3 diesjährige Brogramm belehrt uns, daß von achtzehn 
Nummern vier auf Beethoven fielen, eben jo viel auf 
Mendelsfohn, drei auf Haydn, zwei auf Mozart und 
je eine auf Händel, Spohr, Schubert, Schumann, 
Hummel. Zum erften Mal in Duartettprogrammen Wiens 
erihien R. Schumann mit feinem wunderbar jchönen F-dur- 
Quartett. Der außerordentliche Anklang, den es bei dem mit 
dem Autor noch ganz unbekannten PBublicum fand, wird Die 
Unternehmer gewiß zur Vorführung der übrigen Quartette, 
Duintette und Trios von Schumann aufmuntern, deſſen 
Name in jeder Sailon wenigften® mit einem Stüd vertreten 
jein möge. Auch Spohr's wohlthuend edle Milde wird 
hoffentlich niemal ganz vergeflen werden. Mit der Wahl eines 
unbedeutenden Trios von Haydn, eined dito von Mozart 
und eined recht unreifen Duartett3 von Schubert waren die 
Unternehmer nit glücklich. 

Von den Duartettabenden übergehen wir zu den Con: 
certen des Männergefangvereind. Welch merkfwürdiger 
Gegenſatz zwiichen dem erniten, gedanfenjpinnenden, ariſtokra— 
tiichen Weſen des Ouartettes und dem frischen, volfsthümlichen 
Jubel, der aus zweihundert Männerfehlen gegen Himmel fchwingt! 
Der von G. Barth und F. Stegmaper vortrefflich geleitete 
Berein erfüllt mit feinen jährlichen zwei Akademien eine Kleine, 
aber wichtige Stelle im Mufikleben Wiens. Das fräftigende, 
finnlih frifche Element des Männergefangs iſt unſchätzbar als 
heilfames Gegengift gegen die überhandnehmende Mtanirirtheit 
im Geſang, die franfhafte Subjectivität des Vortrags, Die 
ufurpirte Herrfchaft der Kehlengeläufigfeit. Durch die geringe 
Literatur werthooller Männerchöre ift der Verein vortheilhaft 
an die öftere Wiederholung des bewährt Schönen (Schubert, 
Spohr, Mendelsjohn), andererfeit® an die regite Verbindung 
mit den Novitäten des Auslandes gebunden. 

Das ergänzende Seitenftüd zum weltlichen Chor durch 
eine Gejellichaft für geiftlihen Gejang fehlt derzeit noch. 


42 1852— 1858. 


Indeſſen können wir nicht umhin, hier eines Privatvereins zu 
erwähnen, welcher zwar der öffentlichen Beiprechung weder unter- 
tworfen, noch ihr ganz gewachlen ift, dennoch aber durch jeine 
bloße Eriftenz wichtig genannt werden muß. Wir meinen den 
von Herrn Brof. Joſeph Fiichhof gegründeten Ba ch-Verein, 
eine geſchloſſene Gejellihaft von Herren und Damen, welche 
jih allwöchentlich zur Ausführung claffiischer Kirchencompo: 
ftitionen verfammeln. Die funftgeichichtliche Tendenz, ſich mit 
ältern berühmten Tonwerfen befannt zu machen, und die dilet- 
tirende, jih im Chorgejang zu üben, gehen da Hand in Hand 
einem höchſt Ihäßbaren Ziel entgegen. Für das Mufikleben der 
Nefidenz iſt die »Bachgejellihaft« freilih nicht mehr als ein 
bedeutungvoller Fingerzeig nad) etwas, das herzuftellen wäre. 
Sollte es denn bei den reichen mufifalifchen Mitteln, welche 
Wien unjtreitig zur erſten Muſikſtadt Deutſchlands machen, 
nicht möglich fein, einen großen Gejangverein zu bilden, nad 
dem Mufter der im vorigen Jahrhundert von Faſch gegrün: 
deten, von Zelter und Rungenhagen jo blühend fortge- 
führten »Singafademie in Berlin?« Dieje befteht befannt- 
ih aus Schülern und Dilettanten, und wenn es gilt, ein 
claffisches Oratorium würdig vorzuführen, da verſchmähen es 
die angeleheniten Fräulein Berlins nicht, im Chor mitzufingen 
und ſich ad majorem artis gloriam dem energifchen Commando 
ded Directors zu fügen. Wer fi der großen Mufikfeite in 
Wien erinnert (ed bedarf bald eines guten Gedächtnifjes dazu), 
der weiß, wie hier eine jolche Bereitwilligfeit der Mitwirkung 
jich zeigte, daß man alsbald die öffentliche Aufforderung hiezu 
jiltiven und ſich auf ipecielle Einladungen beſchränken mußte. 
Es handelt ſich alſo lediglih darum, dieſe Kräfte zu einem 
behandelbaren Ganzen zu concentriren und ihrer Thätigfeit im 
Großen und Deffentlichen eine Aufgabe zu eröffnen, wie fie der 
»Bac-Berein« im Kleinen und Privaten verfolgt. Das würde 
zu Anfang nicht ohne Mühe und Schwierigkeiten abgehen, dod) 
wäre der Erfolg ein unendlich lohnender*). Die »Sing: 


*) Unſerer im erſten Artikel ausgeiprochenen Ueberzeugung con= 
jequent, müffen wir wünschen, daß die Gejellihaft der Muſik— 


Die Wiener Concert-Saiſon. 43 


afademie« würde theils in Concerten einzelne geiftlihe Muſiken 
vorgetragen, und, mit dem mufifaliichen das hiſtoriſche Intereſſe 
ichieflih vereinigend, die jeit Kiejfewetter ruhende Idee der 
s»hiftorifhen Concerte- wieder anregen, theild fiele ihr die 
würdige Aufführung großer Oratorien zu. Hiedurch fümen wir 
auch aus der jchmählichen Abhängigkeit von dem Programm der 
Witwen: und Waifen-Societät heraus, welches in jeinen 
jährlihen zwei Oratorien lieber jede andere als die künſt— 
leriihe NRüdfiht vorwalten läßt. Bekanntlich hört Wien jeit 
einem halben Zahrhundert fortwährend Ha ydn's »Schöpfung« 
und »Sahreözeiten«, hie und da mwohlweislich von einem ein— 
heimiihen Fabrifsartifel abgelöft, jo jeden Undanfbaren, der 
etwa gegen die ftete Wiederholung Haydn’3 murrte, in jchred- 
licher Weife zur Neue und Befinnung bringt. Ueber diefen 
Bunft haben wir vor Jahren bereit? unjer Herz gründlich und 
erfolglos ausgeſchüttet. 

Der Stabilität dieſer einheimiſchen Muſikaufführungen ſteht 
die unruhige Gruppe der »Virtuoſenconcerte« gegenüber. 

Es iſt über das unberechtigte Vordrängen der Virtuoſität 
in einer erſtickenden Menge von Concerten ſo ausgiebig ge— 
jammert worden, daß wir uns hier aller Klage, ſo wie jeder 
theoretiſchen Deduction enthalten können. Wir faſſen die Vir— 
tuoſenconcerte lieber als einen Beſtandtheil öffentlichen Muſik— 
lebens auf, der nun einmal exiſtirt, und unter künſtleriſcher 
Begrenzung feiner Quantität und Qualität ein Recht dazu hat. 
In ihrer Quantität würben fi die Virtuofenconcerte zu den 
einheimijchen, periodifchen Aufführungen am beiten verhalten, 
wie die Gaftipiele einer guten Schaubühne zu deren eigenem, 
jelbititändigen Repertoire. Rüdfichtlih der Qualität hätte die 
Begrenzung dahin zu lauten, daß 1. nur wirkliche Virtuofen 
jih bewogen finden, »Wirtuofenconcertes zu geben und daß fie 


freunde, in der wir gerne eine Art muſikaliſcher Statthalterei ſähen, 
dieje wichtige Unternehmung, wenngleich Anfangs nur als Nebenzweig, 
in die Hand nähme Die Schüler des Gonfervatoriums, die neu 
errichtete »Männergeſangsſchule- und der durh Stegmayer ver: 
bündete Männergejangverein böten die eriten Anknüpfungspunkte. 


44 1852—1853. 


2. überwiegend gediegene Compofitionen vortragen. Die Bir: 
tuofität it ein relativer Begriff, indem er einen wechielnden 
Standpunkt zu der Maſſe von Leiltungen einnimmt, welche dem 
Publicum in einer beitimmten Zeit als außergewöhnlich er: 
jcheinen. Bei dem gegenwärtigen Stand der muſikaliſchen 
Technik hat jede Großitadt das Recht, nur die Sommitäten 
des Virtuoſenthums für »Virtuoſen« hinzunehmen. Cine wirk— 
lich vollendete frei beherrſchte Technik, durchdrungen von indivi— 
duellem Geiſt und Gemüth und geläutert durch umfaſſendes 
künſtleriſches Verſtändniß, iſt nur Der: Erwerb vieljährigen 
Studiums und eines an der Hand des Talentes langſam ge— 
reiften Kunſtſinnes. Was ſoll man dann zu den vielen Knaben 
und Mädcheu ſagen, welche halb frühreif, halb unreif ſich einem 
kunſtgebildeten, an das Beſte gewöhnten Publicum als »Vir— 
tuofen«e aufdrängen, und ein Concert nad) dem andern ver: 
urfahen? Leider fann man das weder hier, noch irgendivo 
verhindern; ja, wenn mir den Enthuſiasmus betrachten, mit 
welchem in Paris und London wahre Mittelmäßigfeiten begrüßt 
werden, jo finden wir unjern Zuftand noch Teidlich gut. 
Dafür verjegte uns die verflofiene Sailon oft in das 
peinliche Nachdenken, was ſchlimmer jei, die eigenen Fabrifate 
ſchul- und talentlojer Concertiſten zu hören, oder Beethoven, Mozart, 
Mendelsjohn, die Heiligthümer und Lieblinge der Nation, von 
derlei Jünglingen öffentlich mißhandelt zu jehen? Genug, da 
aus der großen Summe der diesjährigen Birtuojenconcerte 
nur Gine Erſcheinung wirklich fünftleriich bedeutend dafteht: 
U. Dreyfhod. Sein Vortrag des G-moll- Eoncerte® von 
Mendelsiohn und des Concertitüdes von C. M. Weber find 
uns unvergeßliche Leiftungen technifch vollendeten Clavierſpiels. 
Nebit Dreyihod können wir nur die intereffante Erſcheinung 
der Thereje Millanollo hervorheben, welche durch meiiter: 
haft techniiche Ausbildung einzelner Vortragsweiſen Bewunde— 
rung einflößt, ohne jedoch von ihrem Eleinlichen Standpuntt 
einen bleibenden, fünftleriih mächtigen Eindrud herborbringen 
zu können. Sie madte die Wichtigkeit unſrer zweiten Forderung 
anfhaulid: daß man nit blos gut, jondern auh Gutes 
ipielen müſſe. Die Ichredlichiten Concerte find Diejenigen, wo 


Die Wiener Concert:Saition. 45 


Orcheſter-Inſtrumente beſchränkten Wirkungskreiſes zur Solo— 
Virtuoſität gezwungen werden. Wenn ein Contrabaß mit Trillern 
und Paſſagen ſpielt, wie ein Bär mit Veilchen, — wenn ein 
Waldhorn nad Adagio und Recitativ an das unumgängliche 
Allegro gelangt und daſelbſt ſehr ſtolpert, ſtößt und mekkert, 
blos um ſich mit Dingen zu plagen, die eine Flöte viel beſſer 
macht, — wenn endlich ein ſo geiſt- und ſeelenloſes Inſtrument, 
wie die Harfe (welche wie jedes gezwickte Saitenſpiel eines 
gebundenen Geſangs unfähig tjt), nicht müde wird, unabläjlig 
dDiejelben Arpeggien und Tonleitern zu prideln: dann find jelig 
diejenigen, die das freut, oder die es nicht zu Hören 
brauchen. 

Die von einzelnen Goncertgebern veranitalteten Akademien 
find noch in zwei Nebenpunkten wichtig. Erſtens find fie die 
einzigen öffentlihen Broductionen, wo das deutſche Lied 
(als Zwiſchennummer) eine Stelle findet. Es kann nicht dringend 
genug gewünſcht werden, daß dieje Gelegenheit zur Vorführung 
guter Lieder verftändig benützt werde, Nur oberflädhliche Un— 
fenntniß kann über Mangel an gediegenen Lieder-Compoſitionen 
flagen, mwährend man doch fünf Jahre lang Treffliches zu 
zu fingen hätte, ehe man genöthigt ift, zu Liedern zu greifen, 
wie fie in legter Saiſon zum größten Theil die Zwiſchen— 
nummern füllten. 

Die zweite Bemerkung betrifft die Ouverturen, womit 
die vom großen Orcheiter unterftügten Concerte eröffnet werden, 
und die jeit vielen Jahren aus einem Halbdutzend der 
befannteften Compoſitionen beftehen. Wenn die Kunſt— 
und Chrliebe des Orchefterdirectord fich nicht daran ſtößt, 
ſolchen Schlendrian jahrelang fortiegen zu laſſen und jede 
Duverture bei Seite zu legen, die man nicht im Schlafe jpielen 
kann, dann ift freilich nicht zu helfen. An Sournalen wird's 
nicht fehlen, die auch zum Hundertiten Mal melden: »Die 
Duverture zu Titus oder Faniska jei fenrig und präcis 
erequirt morden.« 


46 1852— 1853. 


Müller und Ssellmesberger. 


Seitdem die Braunfchweiger Gebrüder Müller mit ihren 
Dnartett-Productionen jo gerechte Bewunderung erregen, iſt das 
Vergleichen diefer Künftler mit unferem beliebten Hellmes— 
berger’ichen Quartett außerordentlih im Schwang. Klein Hoch— 
genuß bei den Gebrüdern Müller, der nicht unerbittlich den 
verdriehlichen Streit nachichleppte: welches Quartett jteht höher, 
Müller oder Hellmesberger? Wird die Frage fo geftellt, 
dann ift fie bei der Beweislofigfeit äfthetiicher Dinge fait genau 
jo peinlich, wie etwa die andere, ob eine Cypreſſe jchöner fei 
oder eine Eiche, ob die Erdbeere jchmadhafter oder die Kirſche? 
Daß nicht alle Phänomene, bejonder3 die geiftigen, in Rang— 
jtufen über und unter einander ftehen, fondern mehrere neben- 
geordnet fein können, pflegt man in ſolchem Streit gern zu 
vergefien. Ein Vergleichen der einzelmen Vorzüge und Eigen: 
thümlichfeiten jedoch wird in Kunſtſachen immer ftatthaft und 
anziehend erfcheinen, ja bei ausgezeichneten Ericheinungen oft 
zum Vortheil beider Theile ausfallen. 

Der Charakter des Müller’ihen Oxartett3 iſt Männ— 
lichkeit, Kraft, Gefundheit. Starker Ton, zum Sanften, aber nie 
zum Süßlichen herabgemildert, einheitliches Auffaffen im Großen 
und von Innen heraus, ganzes, treue Hingeben an die Come 
pofition, nit etwa Schönmaden einer Broducttion, Würde ohne 
Pedanterie, Bravour ohne Eitelkeit, größte Selbititändigfeit 
jedes Einzelnen bei größter Beicheidenheit jedes Einzelnen. Der 
Ton des Primſpielers iſt edel, wenngleich nicht mehr jo weid) 
und blühend wie in früheren Sahren. Sein Bogen hat mehr 
Kraft, aber nicht die Feinheit und Mannigfaltigfeit des Hell: 
meöberger’schen.*) AS Solofvieler kann Herr Müller (er 
gab vor einigen Jahren allein Concerte) mit Hellmeöberger 
nit auf Eine Stufe geitellt werden. Hingegen iſt Müller 
durch fein breites, markvolles Spiel, ſowie durch feinen unbe— 


*) Wie faſt alle norddentichen Geiger fennt Müller feinen 
»ipringenden Bogen«. 


Müller und Hellmesberger. 47 


ſtechlich keuſchen Kunitfinn zum QDuartettipieler wie geichaffen, 
während der virtuofere Hellmesberger Seine Persönlichkeit 
mandhmal borandrängt und von den andern drei Herren ſich 
mufitaliih den Hof machen läßt. Wir verlegen den größten 
technischen Vorzug des Müller'ſchen Quartetts in das gleid) 
männliche und bewußte Mitiprechen aller vier Stimmen, welche 
trogdem die Anläffe auf das Feinste beachten, wo ein momentanes 
BZurüdtreten des Einzelnen fchicklich erfcheint. Durch den fräftigen 
Ton und Ausdrud find die Müller im Vortheil vor dem 
Hellmesberger’ihen Kreis, deilen Ton oft an Gefäufel 
grenzt, deſſen Ausdrud in weicher Gefühlsfeligkeit nicht felten mit 
Einzelaccenten, Rubatos und ähnlichen Verfeinerungen die reinen 
Gontouren des mufifaliihen Gedantens verwilht. Wenn man 
dem Hellmesberger’ihen Quartett ſchlechtweg Kofetterie vor— 
wirft, geht man vielleicht zu weit. Aber der Anſchein der Koket— 
terie läßt fich nicht ganz hinwegläugnen. Unjerer Erachtens liegt 
die Schuld der geringeren Kraft vorzugöweife an dem (im 
Solo ſchätzenswerthen) Gelliften Hellmeöberger’s, der in jeiner 
tremulirenden Sentimalität nicht zu begreifen fcheint, was der 
Grundbaß eined vierftimmigen Sabes für eine Aufgabe hat. 

Aus den oben harakterifirten VBorzügen der GebrüderMüller 
ergibt fih, daß es vorzugsweiſe Haydn, Mozart umd der 
frühere Beethoven find, welche fie am trefflidhiten vortragen. 
Den maßvollen, milden Geift der Mozart’schen eriten Säge und 
Adagios, die big zur Drolligkeit wirkfame Laune der Haydn'ſchen 
Menuets, endlih Beethoven’3 wie Fener aus dem Felſen brechende 
Finale, — wir haben fie niemals fo echt fünftleriich aufgefaßt fo, 
vollendet ausgeführt gehört, als durch die Müller. Namentlich 
erregt die fchlichte und doch wirkſame Natürlichkeit ihres Adagio 
und Die beilpiellofe Kraft ihrer pfeilichnell dahin fliegenden 
Preftos jedesmal unfere ganze Bewunderung. Weniger fcheint 
der Müller’ichen Individualität (und wahrlich in Ein Jindividuum 
gehen alle Bier mit wunderbarer Afftmilirungdfraft auf!), 
weniger fcheint ihr der Vortrag neuerer Kammermuſik zuzu: 
jagen. Mendelsjohn, Schubert, Schumann, kurz alle 
Muſik, die nicht in dem vollen Tageslicht der Clafficität, Sondern 
in dem Dämmer der Nomantif webt, verlangt über der correcten 


48 1852—1858. 


Durhführung ein Element, welches die Gebrüder Müller nicht 
in ihrer Gewalt haben: das individuell Empfundene, Sehne 
jüchtige, Ahnungsvolle. 

Hier öffnet fih das Gebiet, wo Hellmesberger ent- 
ichieden glüdlicher tft. Sein dem Zarten, Elegifchen mit Vorliebe 
zugewandter Vortrag weiß ſolche Gompofitionen mit einen 
poettiihen Schmelz wiederzugeben, weldhen die Müller nicht 
erreihen. Wir erinnern beiſpielsweiſe an das variirte Andante 
in Schubert’3 D-moll-Quartett und an die drei eriten Süße 
des Es-dur-Quartett3 von Mendesjohn In jolden Ton 
dihtungen ift ein ſinniges Nachlafjen der ftrengen, ftraffen 
Gleichheit oft erlaubt, ja geboten. Müller’ eherne Solidität 
finft zwar nie biß zu der Philifterhaftigfeit eine® Janſa, 
ftreift aber dennoch oft den feinen Duft von einer ſeltſamen 
Wunderblume. Hier ift die Jugend an ihrem Pla und darf, 
das erfahrene aber fältere Alter überflügelud, wohl mit Her: 
wegh ausrufen: 

»Schmäht mir nicht die goldnen Locken, 
Nicht die ſtürmiſche Geberde, 

Schön find Eure Silberfloden, 

Doc) dem Gold gehört die Erdel« 

Man ftieht, wie die erfreulichiten Vorzüge auf beiden Seiten 
vertheilt find. Künftlerifches GlaubenSbefenntnig und perjünliche 
Borliebe entjcheiden fi denn für hier oder dort. 

Einer Aeußerlichkeit wollen wir noch gedenken, welche uns 
den Genuß der Hellmeöberger’ichen Productionen oft beein- 
trächtigt hat: das lange Ausfegen zwiichen den einzelnen Süßen 
eines Quartett? und übermäßige Nachitimmen der Inftrumente 
in diejen Pauſen. Erfteres ift unmuſikaliſch, Teßteres grauſam. 
Beides unnöthig, wie die Gebrüder Müller praftiih darthun. 
Mendelsjohn und Schumann haben, vielleiht durch Er- 
fahrungen gewißigt, in einigen ihrer jpäteren Werke blos Ge— 
neralpaufen zwijchen den einzelnen Süßen geitattet, um die jo 
viel beredete Einheit der vier Säße doch auch zur Wahrheit zu 
machen. Dieje Einheit ift geopfert, jobald fih im Publicum 
neue Gonverjationen anipinnen und am Quartetttiſch die Bar: 
barei eines ımgenirten Quintenprobirens losgeht, al3 hätte man 


Oeſterreichiſche Militärmufit. 49 


noch bequem eine halbe Stunde bis zum Anfang des Concerts 
todtzufchlagen. 


©efterreichifhe Militärmufiß. 


Die öſterreichiſche Militärmufik ift durch einige bewundernde 
Worte Roſſini's in Baden-Baden, ſowie durch den im gleichen 
Sinn lobenden Reifebericht eines befannten Schweizer Militärs 
fürzlich wieder der allgemeinen Aufmerkſamkeit zugewendet 
worden. Von jeher gehörte diefelbe zu jenen Dingen in Oeſter— 
reich, deren Trefflichfeit weit größer, ald der Lärm, den man 
davon madht. Aus der Zeit der Befreiunungsfriege ftammt die 
noch vielverbreitete Anficht, daß die Preußen die befte Feld: 
muſik befigen, eine Rangordnung, gegen welche Defterreich jeden: 
falls Einfpruch erheben darf. Die Superiorität der Öfterreichiichen 
Militärmuſik dürfte bald allgemein anerfannt fein. In Städten, 
wo die Regiments-Orcheſter verjchiedener Armeen neben ein: 
ander concurriren, wie in Mainz u. a., hat die Vorliebe des 
Publicums fich ſehr bald für die Defterreiher ausgeſprochen. 
Des beifpiellojen Auffehens, das die öſterreichiſche Militärmufit 
vor einigen Jahren in Homburg berborrief, wird man ſich 
and den Zeitungen erinnern. Die »Bande« des Regiments 
Benedek hat wohl nur Einen Gegner, den Spielpächter Benazet 
in Baden-Baden, welcher fie jeden Sonntag von Raftatt muß 
hinüberfommen Laffen, will er nicht einen allgemeinen Aufitand 
feiner Badegäfte gegen fich heraufbefchwören. Dieje friedlichen 
Groberungen, welche unfere Armee mit dem Clarinett macht, 
ftatt mit dem Bajonnet, find fürwahr nicht die legten. Auf 
Flügeln der Harmoniemufit ift gar oft ſchon öſterreichiſches 
Militär in die Herzen ganzer Bevölferungen eingezogen. 

Zuerft und vorzugsweiſe militärifchen Zwecken dienftbar, 
übt die Feldmufif doch nebenbei beachtenswerthe Fünitlerifche 
Wirkungen. Wo aber foldhe vorhanden, da muß es auch erlaubt 
fein, fie aus fünftleriichen Gefichtöpunften zu betrachten, jomit 
als Muſiker aufzunehmen, was der Soldat bietet. Indem 
die Regimentsmuſik vorzugsweiſe angewieſen tft, im Freien zu 

Hanzlid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 4 


50 18521858. 


jpielen, bat fie ſtets die zahlreichite, dankbarite und empfäng— 
lihfte Hörerfchaft. E3 gibt feinen Kumftgenuß, der in fo hohem 
Grade demofratiich heißen kann, als das Spiel der Regiments— 
banden. Da darf jeder theilnehmen, ohne Eintrittögeld und 
Salontoilette, — haben doch Taufende von Mufifbedürftigen, 
die weder da3 eine noch das andere befigen, fich oft alüdlich 
gefühlt, ihr Concert unter freiem Himmel zu finden. Selbit 
in den mufikreichiten Hauptitädten äußert fich die Liebe der 
Bevölkerung für die Negimentsmufif jo auffallend, daß ihre 
Klänge alle Fenfter aufgehen machen und Hunderte mufifalifcher 
Beripathetifer nach fich ziehen. Wie viel gewaltiger iſt Diejer 
Zauber erjt in der Provinz! Der Stab eines Negiments fommt 
häufig in Orte, wo nie ein Orcheiter ertönt hat, wo man nun 
die eriten Eindrüde einer großartigeren, vollen, reinen Mufif 
empfängt. Kein Wunder, wenn dieje Eindrüde jo mächtig find, 
daß in jolden Städtchen fich jahrelang die Erinnerung daran 
erhält. Die Regimentsbanden find wahre mufifaliiche Miffionäre, 
welche in ſtumme Gegenden mit Sang und Klang einziehen, das 
fröhliche Evangelium der Kunſt predigen. 

| Für die allgemeine muſikaliſche Eultur kann es darum 
nicht gleichgiltig fein, was die Menſchen aus jo mächtiger 
Hand empfangen. Nicht die großen Meifterwerfe deutſcher 
Kunst, aber Eräftige, charaktervolle, in Trauer wie in Luſt ſtets 
männlich bleibende Stüde joll ein Orchefter von Kriegern er: 
tönen laſſen. Beethoven’: Wort, die Tonkunſt jolle nicht 
rühren, fondern »dem Manne Feuer aus dem Geijt jchlagen«, 
muß feine Erfüllung vor allem wohl bei Regimentsmuſiken 
finden. Leider ilt in die gefammte moderne Militärmuſik viel 
Weichlichkeit eingedrungen, theils duch die Einflüffe der 
italienifchen, theil® der Oper überhaupt. Man hört bei den 
Productionen der Militärbanden jo viel ſchmachtende Gantilenen 
und anderes lauwarme Zeug bon Donizetti und Verdi, daß 
man oft feinen Augen nicht traut, welche deutlich Säbel und 
MWaffenröde unterfcheiden. Wir find aber der Meinung, Daß, 
wenn man aus einer welſchen Oper fommt, man fih an den 
Klängen der Regimentsmuſik jollte ftärfen und erfrifchen fünnen, 
und nicht umgefehrt. Ueberdies hHerricht bei Regimentsmuſiken 


. Oeſterreichiſche Militärmufif. 51 
der fatale Brauch, dieſe Melodien von den markdurchdringenden 
Tönen des Flügelhorns, Euphonions oder der Piſtontrompete 
blaſen zu laſſen. Dieſe Blechinſtrumente ſind durch mannigfache 
Form, großen Tonumfang und unzählige Klappen leider dahin 
vervollkommnet worden, Alles blaſen zu können: die ſanfteſte 
Melodie, die flüchtigſte Roulade iſt nicht ſicher vor ihnen. Be— 
kannt iſt der geheime myſtiſche Zuſammenhang Verdi's mit 
dem Flügelhorn, eine Wahlverwandtichaft, welche uns faſt nur 
die Wahl läßt zwifchen dem Glauben an eine Menichwerdung 
jenes Inftrumentes oder aber an eine Juftrumentverwandlung 
Verdi's. Bei der bejonderen Pflege de Flügelhorns ijt daher 
auch das Vorherrſchen Verdi'ſcher Opernſachen in den Pro— 
gramm der Militärmufifen eine naturgeleglihe Conſequenz. 
Am unſchicklichſten ericheint und die Verwendung von 
Dpernthemen fir Militärmärſche. Theatraliiches Raffine— 
ment und weibiiche Sentimentalität dringen damit in die Marſch— 
muſik, welche immer die Kraft gefunden männlichen Muthes 
athmen ſoll; — von der mufifalifhen Verrenkung, welche die 
Driginalmotive dadurch erfahren, gar nicht zu reden. Zehnmal 
beiler als dieſe opernhafte Empfindelei iſt die etwas leicht: 
fertige Luftigkeit, die wir häufig in den Märchen öfterreichiicher 
Regimenter antreffen. Der Uebergang von der ehemaligen 
graditätiihen Würde zu tanzartiger kecker Beweglichkeit ericheint 
in unfern Märjchen fait ausnahmslos vollzogen. An und für 
fih tft gegen den leichteren Charakter, den die deutſche Militär: 
mufif mit der Zeit angenommen, nicht einzuwenden. Vielmehr 
iſt diefer fee, fröhlide Schwung, jo lang er nicht aufhört, 
männlich zu fein, erfriichend und bekanntlich dem National» 
charafter der Defterreicher entfprechend. Unſere Einſchränkung 
weiſt aber auf eine Grenzlinie Hin, die nur zu leicht über- 
ichritten ift. In der That liegt in dem hüpfenden Tanzcharatter, 
welchen die beiden Strauß und ihre zahlreichen Nachahmer 
in die Märſche gebracht Haben, die Gefahr, daß dieſe mili: 
täriihe Mufit ganz aus der Sphäre fräftigen Grnites her— 
ausgedrängt werde. Bei dem friicheften Mari jollte man 
nie vergeffen, daß es Krieger find, die fich ihn aufipielen. 
Wenn der Soldat zum Tanz geht, jchnallt er den Säbel 
4* 


HARVARD UNIVERSITY 
EDA KUHN LOEB MUSIC LIBRARY 
CAMBRIDGE 38, MASS. 


52 1852 —1853. 


ab: der Mari foll unter allen Umftänden bewaffnete 
Muſik bleiben. 

In diefer einen Beziehung ift mir der mehr feierliche und 
würdevolle Charakter der preußifchen Märfche, namentlich 
in der Gapallerie, aufgefallen. Da herrſcht noch (im Gegenſatz 
zu unferen Märjchen) der Biervierteltaft vor Dem Zweiviertel— 
taft, die längere, gebundene Melodie vor dem hüpfenden Polka— 
Rythmus, die Baßbegleitung in Viertelnoten vor der in Achteln. 
Gin faft ftereotyper, an die Polonaifen-Cadenz mahnender 
Schlußfall hält mit etwas gravitätifcher Würde auf der vor: 
legten Note inne. Diefer feierliche Ausdrud der preußifchen 
Parademärfche wird durch einen Beltandtheil ihrer Reitermuſik 
weſentlich unterftüßt, welchen wir nicht beißen: es find Die 
Heerpaufen. Diefe Baufen, vor dem Reiter auf beiden 
Seiten des Pferdes befeftigt, machen fehr ftattliche Figur und 
reihen an die älteiten Zeiten des deutſchen Heerweſens. Mie 
die Heine Trommel (Tambour) für den kurzen, friichen Rythmus 
unentbehrlich ift, fo die Pauke für den Ausdruck des Feierlichen, 
Gravitätiichen. Eine andere werthvolle hiſtoriſche Reminiscenz 
in der preußiichen Armee find die jedem Garde-Regiment bei- 
gegebenen Tronmler und Pfeifer, deren Märſche bei aller 
Dürftigfeit doch durch ihre eigenthümlich lebhafte Färbung 
frappiren. Hingegegen iſt das geftimmte Triangel- oder Gloden- 
ipiel der preußiichen Artillerie eine recht unmilitärifche Kinderei 
und der öfterreichifchen Armee glüdlicherweife fremd. Cinmal 
beim DBergleichen angelangt, muß ich nun wohl zu dem ein: 
gang gemachten Bekenntniß zurücgreifen, daß der Totaleindrud, 
den die Leiftungen der preußiſchen Milttärmufif mir machten, 
entichieden zum Wortheil der öfterreichifchen ausfiel. Sene habe 
ih wiederholt bei großen PBaraden gehört, welche der König 
jeldit in Berlin und Potsdam »abnahm«, aljo bei Gelegen- 
heiten, die jedenfall den Ehrgeiz auf's höchſte antreiben 
mußten. Exact eingefchult waren die Mufifer, und unter offenbar 
guter Leitung. Die Horniften und Trompeter der Cavallerie— 
Regimenter entwicelten jogar eine bedeutende Virtuofität. Leider 
waren diejer Birtuofität fo halsbrecheriſche Gänge und Pafjagen 
zugemuthet, daß die Neinheit des Tones fortwährend leiden 


DOefterreihiiche Militärmufif. 53 


mußte. Enticheidend fam mir vor, daß das Spiel der öfter: 
reihtichen Banden ausdrucksvoller, friiher, lebendiger Klingt. 
Die Leute fpielen bei und mit größerer Freude an der Mufit, 
mit feinerem Gehör und Takt, furz mit mehr mufikalifcher 
Empfindung. Wenn die preußiihen Muſiker durch ihre eracte 
Schulung fi hervorthun, jo imponiren die üfterreichiichen 
durch eine mindeften® ebenjo eracte Schulung und dabei durch 
»- ihr auffallend mufifaliiches Naturell *). 

Zwei Momente find e8, welche unjerer Militärmuſik von 
vornherein die größten Vortheile fichern: das erite liegt in den 
Nationalitäten, das andere in der Heerverfaflung Deiterreich®. 
Die Slaven, inäbefondere die Böhmen, find geborene 
Mufifer und für jedes Orchefter unſchätzbar. Der Slave, der, 
ſelbſt wenn er ohne alle mufifalifche Vorbildung zum Regimente 
fommt, lernt Mufit Schnell und gern; in Böhmen wird über: 
dies faum ein Banernjohn ohne irgend eine mufifalifche Fertig: 
feit oder Vorkenntniß gefunden werden. Eine Armee, welche in 
der Lage iſt, den Grundſtock ihrer Mufifbanden aus Böhmen, 
Polen und Südflaven zu bilden, fteht gegen ein ausfchließlich 
deutſches Heer in demjelben WVortheil, wie der Bebauer eines 
vorzügli fetten Ackers gegen den Urbarmacher fteinigeren 
Bodens. Schon die gleiche Eultivirung wird dort ungleich 
üppigeren Ertrag hervorbringen. Neben den Slaven find Die 
Italiener eine Nation von außerordentlihen Mufifanlagen, und 
die Öfterreihiichen Alpenbewohner dürften mindeftend für ebenfo 
mufifempfänglih gelten, als irgend eine andere deutiche Be— 
völferung. So hat die mufifalifche »Grundmacht« Oeſterreichs 
ihresgleihen nicht in der Welt. Diefe Grundmacht aber allent- 
halben und unmittelbar verwerthen zu dürfen, ift das Vorrecht 
und Verdienft der Armee. Troß diefer ungemeinen natürlichen 
Befähigung könnte dennoch die öfterreichiiche Militärmufif kaum 
jene Fertigkeit erlangen, die wir an ihr bewundern, wäre ihre 
allmälige Ausbildung nicht durch eine ausreichende Dienftzeit 





*) (Nachträgliche Bemerkung.) Diejes Urtheil fand eine auf: 
fallende und rühmliche Bejtätigung bei dem Concurs der Militärmufifen 
zu Bari während der internationalen Induftrieausftellung von 1867. 


54 1852— 1858. 


garantirt. Die längere Capitulation der Dejterreicher ift 
jener zweite fünftlerifche Vortheil, den wir oben, als auf der 
Heerverfafjung beruhend, andeuteten. In der preußijchen Armee 
macht die furze Capitulationzzeit es unmöglich, jo tüchtige 
Muſiker heranzubilden. Ihre Negimentsbanden find daher meift 
gendthigt, fi durch Mitglieder zu verftärfen, die nicht im 
ftrengen Militärverband ftehen, jondern mehr in einem freien 
Lohnverhältniß. Der mächtige Sporn der Disciplin fällt bei dieſen 
hinweg. In der öfterreihiichen Armee reicht die Dienftzeit im 
Vereine mit der Disciplin aus, tüchtige Mufifer zu bilden; 
fte auch nach) Ablauf der apitulation zu erhalten, gelingt 
ſehr Häufig durch die Vereitwilligfeit, mit welcher man aus— 
gezeichneten Hoboiften den MWiedereintritt ind Regiment wün— 
ſchenswerth zu machen weiß. 

Haben wir die Militärorchefter bisher in ihrer gewöhnt: 
fihen Webung als Harmoniemufif (bei Märichen, Zapfen: 
ftreichen 2c.) betrachtet, fo erbliden wir fie in einer ungleich 
höheren fimftleriihen Bedeutung dort, two fie durh Bogen: 
inftrumente erweitert, vollftändige Orcheiter bilden. Es 
wird nicht über zwei Decennien her jein, daß die Betheilung 
der djterreihiihen Regimentsmuſiken mit Streichinftrumenten 
(in größeren Garnijonsftädten) fi) Bahn brad. In dieſer 
Geſtalt tritt die Regimentsmuſik eigentlih aus ihrer rein mili- 
täriſchen Specialität heraus und erreicht höhere Fünftlerifche 
Wirkungen. Es find namentlich die » Gartenproductionen« der 
Militärcapellen, welche den Reſidenzbewohnern eine beliebte 
Erholung, Eleinen Städten oft den einzigen mufifalifchen Kunft: 
genuß verihaffen. Welche Ausbildung die öfterreifchen Feld- 
mufifen auch in dieſer viel fchiwierigeren und weniger geübten 
Zufammenfegung erreicht haben, ift befannt. Es find uns in 
verichiedenen Provinzialſtädten mufterhafte Leiftungen diefer Art 
befannt geworden. Regiments-Capellmeiſter Schubert gab 
z. B. ein Concert in Prag, mworin feine »Bande« u. a. ſym— 
phonifhe Kompofitionen von Berlioz, alſo das jchwierigite, 
was es bis jeßt in diefer Gattung gibt, mit großer Präcifion 
vortrug. Die zahlreichen anftrengenden Proben zu dieſer Pro— 
duction ließen erkennen, was militäriihe Subordination jelbit 


Defterreihiihe Militärmufit, 55 


für reinkünſtleriſche Zwecke werth fein könne; fein Chef irgend 
eines Givilorchefter würde diefe Aufführung damals zuſammen— 
gebracht haben. Es mag jehr gegen idealiſtiſche Theorien ver: 
ftoßen, daß die Kunſt durch etwas von der perfünlichen Freiheit 
fo ungemein Verſchiedenes, wie die Suborbination tft, gefördert 
zu werden vermöge, dennoch ift dem fo. Jede Kunſt beſitzt 
in ihrer Technik eine Seite, welche nur durch anhaltenden 
Fleiß ausgebildet werden kann, und dieſe technifche Seite 
ift bei dem Zuſammenwirken Bieler noch ungleich wichtiger, 
al® beim einzelnen Pirtuofen. Der Taftirftab und der 
Gorporalftod haben beide den Zweck, viele Köpfe unter 
Ginen Hut zu bringen; wo fih aljo die Finftleriihe Sub: 
ordination mit der militärifchen vereinigt, »da gibt es einen 
guten Klang«. 

In den Gartenconcerten oder fonftigen außerdienftlichen 
Productionen find die Militärorcheiter am meijten im der Lage, 
rein fünftleriihe Zwede zu verfolgen. Die Stellung de3 Eapell: 
meifters erjcheint da viel jelbjtändiger, die Wahl der Stüde 
freier, die Mittel vollzähliger. Aus diejen günftigen Bedingungen 
entſpringt jedenfall3 eine ftrengere künſtleriſche Verpflichtung. 
Bor allem jollte darauf gejehen werden, daß folche vollftändige 
(mit Streidinitrumenten verfehene) Militärcapellen nur Orcheſter— 
jtüde jpielen. Seltene Ausnahmen abgerechnet, paffen die Solo— 
productionen, in&bejondere der Variationenkram, Tchlecht zu dent 
Charakter einer Militärmufil. Gibt man Orchefterwerfe, dann 
möge man fi) mit umerbittlicher Strenge an die Inſtrumen— 
tirung des Autors halten. Die Freude, einen Beethoven oder 
Mendelsfohn im Nepertoir von Regimentscapellen zu erbliden, 
wird dem Hörer nicht felten dadurch verbittert, daß er feine 
Lieblinge in einer willfürlihen SInftrumentirung miederfindet. 
Dpernarien u. dgl. machen freilich ein Arrangement nöthig, 
wenn auch feinestwegs Schon ein folches, das die Singftimme 
einfah in das Blech verlegt und die Violinen begleiten läßt. 
Es iſt die Macht der Gewohnheit, daß Regiments-Capell— 
meister gleihlam nur in Harmoniemufif zu denken vermögen; 
und in dieſe ihre mufifalifhe Meutierfprahe alles ‘Fremde 
ohnemweiterd überfeßen. In den PBroductionen mit vollftändigem 


56 1852— 1853, 


Orcheſter findet dad, was früher von dem wohlthätigen Einfluß 
der Militärmufifer auf das Kunftleben kleiner Städte gerühmt 
wurde, feine reinfte Anwendung. Ein wohlgeübtes Orcheſter ift 
für Heine Städte ein ungeahnter, nie gehoffter Schatz, aus 
dem ein reicher Kunftiegen erblühen kann. Durd Regiments: 
capellen hat manche mufifliebende Bevölkerung zum erjtenmal 
Weber, Beethoven, Mendelsfohn u. ſ. w. vollftimmig fpielen 
hören; ja die Aufführung ganzer Opern in mander Kleinen 
Stadt ift dur die Mitwirkung der Militärmufit möglich ge: 
worden, 

Das Beitreben, die mufifaliiche Kraft und Bildung in der 
Armee immer mehr zu erhöhen, findet feinen Gipfel in der Ein- 
beziehung der Vocalmufif. Die Rückſicht auf den Geſang iſt 
im Militär jo felten, daß unfer Wink leicht befremden fann. 
Dennoh fcheint er ung mwohlbegründet, lehnt fogar ein wenig 
an praftiihe Erfahrung. ES find einige Jahre ber, daß in 
Klagenfurt ein italienifches Regiment ftationirt war, das unter 
feinen Gemeinen einen jungen Burjchen mit prachtvoller Tenor: 
ftinnme hatte. Der Regiments-Capellmeiſter hatte fi) die Mühe 
nicht verdrießen lajjen, den talentvollen »Lateiner« ein wenig 
zu bilden und ihn bei öffentlichen Productionen vorzuführen. 
Ich hörte ihn in einem MWohlthätigkeitöconcert und erinnere 
mich lebhaft des eigenthümlichen Anblids, als der junge Soldat 
in jeiner Montur bejcheiden vortrat und mit Eangvoller Stimme 
jeine italienifhe Arie vortrug, Man wußte nicht, ob er mit 
größerer Luft ſang, oder jeine Gameraden im Orcefter ihm 
accompagnirten. Eine Arie (aus »Sappho«) hatte ſogar einen 
furzen begleitenden Männerchor, der zum Theil aus Soldaten 
desfelben Regiments gebildet war. Diefe Anfhauung und 
manche Mittheilung des ftrebfamen Capellmeijter überzeugten 
mid, wie lohnend einige Unterweifung im Gejang bei Sol- 
daten, insbeſondere folder Nationalitäten fein müßte, welche 
von Natur aus mit muſikaliſchem Talent auögeitattet find. 
In der franzöfiihen Armee iſt Gefangsunterriht und 
Gejangsübung geieglich eingeführt; dieſe »Orpheons militaires« 
leiften mitunter ſehr Erfreuliche®. Der Geſangsunterricht kann 
im Soldatenleben nur einen Kleinen Wirkungskreis einnehmen, 


Oeſterreichiſche Militärmuſik. 57 


aber einen ſehr wohlthätigen. Wenn wir nicht blos die dienſt— 
liche Beſtimmung der Regiments-Orcheſter im Auge halten, 
ſondern deren Bedeutung als muſikaliſches Bildungsmittel der 
Mannſchaft, jo muß der Gedanke an den Geſang nahe liegen. 
Eine Auswahl kräftiger, beherzter Soldatenlieder, von dieſen 
friſchen, ſcharf zuſammenklingenden Männerſtimmen geſungen, — 
wäre nicht das letzte Mittel, und eines der ſchönſten gewiß, 
Soldatenmuth und Soldatenfreude lebendig zu erhalten. 


1854. 
Die Wiener Eoncert:Sailon 1853—1854. 


Die Geſellſchaft der Mufikfreunde, die wir uns 
gern ala eine Art muſikaliſcher Statthalterei vorftellen, hat den 
oberften Posten in der Wiener Tonmwelt fräftig behauptet. Won 
großer Wichtigkeit ift der von der Geſellſchaft nunmehr voll: 
bradte Durhbruh aus den Schranken einer mißverjtandenen 
(weil einfeitig begrenzten) Glafficität zu höherem und freierem 
Standpunkt. Diefe Emancipation gefhah mit Maß und Klug: 
heit, jedoch mit jo bewußter Einficht in ihre Nothmwendigfeit, 
daß ein Rüdfall in das frühere ruffiiche Syſtem nicht mehr zu 
fürdten ift. Die Aufführung der »Tannhäufer-Ouverture« von 
Richard Wagner riß das Publicum endlih aus dem Miß— 
vergnügen, fortwährend von einer epochemachenden Ericheinung 
lefen umd hören zu müjfen, mit welcher man es doch in gänz— 
liher Unbefanntfchaft ließ. In Wien ift MWagner’3 Oper noch 
unbekannt, und füme wahrlid fehr zu Schaden, wollte man fte 
nah der Tannhäujer-Ouverture beurtheilen. Sie verträgt im 
Grunde feine Trennung von der ganzen Oper. Aus lauter 
Motiven der Oper nach der Ordnung der Tertenttwicdlung zu: 
fammengejeßt, wird fie in ihrer dramatifchen Bedeutung ſchwer 
veritändlich. Wenn aber ein Orcheſterwerk Hebel des Verſtänd— 
niſſes bedarf, welche außer ihm ſelbſt liegen, wenn es, um zu 
gefallen, die Kenntniß deſſen vorausſetzt, nicht blos was es tit, 
jondern eines Andern, was es bedeutet, dann fteht es um 
jeinen mufifalifhen Werth Thon bedenklih. In der That 
ift die Tannhäufer-Ouverture als Compoſition unerquicklich, 


Die Wiener Goncert-Saifon. 59 


wenn gleich ihre theils geiftreiche, teils grelle Inftrumentirung 
Sntereffe erregt. Der einleitende Bilgerhor it unbedeutend, 
feine (erfte) Figurirung mit herabhüpfenden Biolinfiguren ge= 
ſchmacklos. Biel charakteriftifcher klingt das fich anichließende 
Allegro mit dem dämoniſch aufiteigenden Viola-Motiv. Es be— 
gleitet in der Oper das zauberhafte Bachanale im Hörjelberg 
und ift auf der Bühne von großer Wirkung. Was aus diejer 
Venusberg-Muſik in die Ouverture aufgenommen erjcheint, tit 
auch an fih das Befriedigendite in Erfindung und neuen In— 
ftrumentaleffecten. Das zweite Allegro-Motiv (Tannhäuſer's Lob: 
lied auf Frau Venus) ift trivial, gejungen oder geipielt. Der 
Theil, wo die Ouverture ſterblich oder befjer: künſtleriſch Schon 
todt ift, wenngleich fie da den höchſten äußeren Glanz prätendirt, 
ift ihr langer, dur) Monotonie und Lärm ermüdender Schluß: 
ſatz, eine ſtyliſtiſche Trivialität, welche den Claviereffect der 
»Umfpielungen« auf das Orchefter überträgt. Die Ouperture 
wird muſiviſch zufammengefeßt, anftatt organifch entwidelt. Das 
Ungeihil in Bewältigung ſymphoniſcher Form theilt Wagner 
mit feinen Grafeind Meyerbeer. Diefe und manche andere 
Achnlichkeit maht und Wagner’3 Abſcheu vor Meherbeer 
pſychologiſch erſt recht begreiflih. Wagner hat zu feiner Tann: 
"häufer-Duverture ein erflärendes Programm felbit verfaßt, das, 
etwas ftarf finnlichen Inhalts, mit jener läftigen Schwülitigfeit 
geichrieben ift, welche die Lectüre der Wagner'ſchen Schriften 
zu einem wahren Mühfal macht. Die Beigabe eines Programm 
war an und für fi ein Fehlgriff, weil fie die abgetrennte 
Aufführung der Duverture geradezu autorifirt und fie in das 
zwetdeutige Genre der Programm-Muſik reiht. Der Hörer wird 
erjuccht, da3 im Programm geichilderte »Bild fi zuvor genau 
einprägen zu wollen, weil nur dann die Anhörung felbit das 
richtige Verſtändniß bewirken kann«. Man fieht, wie dieje Ein- 
ladung abjihtlih von dem mufifalifchen Gehalt zu Gunsten des 
dramatiichen ablenkt, aljo einen für ein Orcheiterwerf ganz un— 
gehörigen Maßſtab und octroyirt. Die Ouverture hat bei der 
Mehrzahl der Hörer durch ihren maffenhaften, fremdartigen 
Glanz Beifall gefunden, von Seiten der Kritik einhellige Miß— 
billigung erfahren. Indem fie aber zu Prüfung und Grörterung 


60 1854. 


veizte, zu Antheil und Parteiung aufrief, brachte fie neues Leben 
in die Erſtarrung unferes mufifaliihen Tagewerkes. Und das 
iſt's, was ung vor Allem Noth thut. Ja wäre durch die Vor: 
führung Richard Wagner's auch nicht? anderes erreicht, als die 
Megräumung einer Schranke mehr, die und von dem geiftigen 
Großhandel Deutſchlands trennt, jo hätte die Wirkung des 
Gebrachten deſſen Werth zehnfach aufgewogen. 

Dieſes ſtete Benetztwerden von der künſtleriſchen Strömung 
der Gegenwart iſt für die muſikaliſche Bildung einer Großſtadt 
zu nothiwendig, um nicht jelbit mit Opfern erftrebt zu werden. 
Gin ſolches Opfer ift die theilweiſe Beſchränkung der Glaifiker, 
deren Meifterwerfe dem Mufikfreund nicht nur durd zahllofe 
Aufführungen, fondern überdies durch fortwährenden häuslichen 
Verkehr (in allen möglichen Arrangements) jo in Fleiſch und 
Blut übergegangen find, daß durch die Häufigkeit ihrer Wieder: 
holung wenigſtens fein dringendes Bedürfniß mehr zu erfüllen 
iteht. Ob man an entzüdenden Klängen durch alle Ewigfeit jih 
nicht jatt hören könne, darüber wollen wir hier nicht ftreiten. 
Doch wollen wir eingeitehen, daß dieſes an drei große Namen 
feftgenagelte Entziiden und etwas verfümmert wird, wenn wir 
auf die Frage nad) den beiten Werfen der Gegenwart immer 
die ftereotype Antwort hören: das fennen wir hier nicht. Nicht 
die blinde Gier nad) Abwechslung iſt e8, jondern das Geiek 
einer zujammenhängenden Bildung und die Eigenthümlichkeit 
unferer Kunſt jelbit, ihre Formen zahlreich und jchnell zu ver: 
brauchen, was in der Mufif mehr ala anderswo das Verlangen 
nah friicher Nahrung wachrufen muß. Darım wird es uns 
nur zum Wortheil gereihen, wenn wir die längitgefannten 
größten Sterne einmal weniger betrachten, um den Blid auf 
neue, jei e3 auch minderen Nanges, zum eriten Dal zu Ienfen. 

Außer R. Wagner wurde von mufifalifchen Zeitgenoſſen 
nur nod Ferdinand Hiller und zwar mit feiner Ouverture 
zu »Phädra« berüdjichtigt. Sie war ein treue Abbild von 
Hiller’3 Muſe jelbft, die uns auf das Liebenswürdigite anzieht, 
jo lange ihre feinen, finnigen Gefichtözüge fi) nicht gewaltiam 
zu tragiicher Leidenschaft anfpannen. Robert Shumann wurde 
troß der ausdrüdlihen Zufage der Ankündigung nicht vorge: 


Die Wiener Concert:Saifon, 61 


führt. Man ſollte füglich nichts veripredhen, was man nicht 
auch zu Halten geſonnen ift. Noh immer hat die Gefellichaft 
der Mufiffreunde nicht Eine Note diejes bedeutenditen der 
lebenden Inftrumentalcomponiften gebracht. Diefer mächtige und 
liebenswürdige Geift ift durch die grauenvolle Nacht, die fich 
über ihn gejenft, den Leidenfchaften des Tages entrüdt worden. 
Den Werfen des Sranken, vielleicht geiſtig WVerblichenen, wird 
eine ruhigere Würdigung zu Theil, und wenn fie nunmehr dem 
Herzen der Nation näher treten, jo kann man jich über ein- 
zelne Höchſtſcharfſinnige tröften, welche mit Befriedigung in 
Schumann's ſchönſten Mufifen die Keime feines jegigen Unglücks 
nachzuweiſen lieben. Beethoven war durd die 2, 6. umd 
9. Symphonie, dann durch daS Klavierconcert in Es. Seitens 
der »Gejellichaft« vertreten. Zählt man hierzu acht Vorftellungen 
de3 »Fidelio« im Opernhaus, die Vorführung des Violin— 
concerte® in D durch Vienxtemps, die zahlreichen Kammer— 
mufifen in den Quartett-Soiréen, Liedervorträge von Herrn 
Ander, endlich die unausbleiblichen Sonaten in Cis-moll und 
F-moll durch Fräulein Staudach und Herrn Goldſchmidt, 
fo wird man diefe Repräfentation Beethoven's in Einer Saifon 
rühmend anerkennen müffen. Sie allein wäre ſchon ausreichend, 
das alte Geſchwätz von der »ausſchließlichen Trivialität« des 
Wiener Mufiflebens zu entfräften, daS foeben wieder von Herrn 
Fr. Brendel in feiner »Mufif der Gegenwart« — beiläufig 
gejagt einer Verwäſſerung der Richard Wagner'ſchen Grund— 
fäße durch die echt Brendel’iche Ignoranz und Geiftlofigfeit — 
neu aufgewärmt wird. Die Trauercantate »Gotted Zeit« von 
3. ©. Bad, das Ave verum von Mozart und dejien Sym— 
phonie in D waren fehr gute Nummern, die Vorführung der 
» Struenfee-Mufit«e von Medyerbeer rechtfertigt fich durch den 
blendenden Glanz dieſes Namens. »Struenſee« beiteht fait nur 
aus Zügen raffinirtefter Effecthafcherei, ohne das Gegengewicht 
echter Größe und Poeſie. Der krankhafte Zug, der in allen 
Mehyerbeer'ſchen Werken herricht, ift in der Struenſee-Muſik zum 
vollkommenen hippofratifchen Geſicht ausgebildet. Hier iſt Alles 
mit einer Abfichtlichfeit erflügelt und gemacht, daß man feinen 
Augenblid der Muſik und ihren Gegenftand mit vollem Antheil 


62 1854. 


jih hingeben kann, fondern gequält durch den totalen Mangel 
an Aufrichtigkeit fi) wie von einer glänzenden Lüge abmwendet. 
Struenjee dünft und das gemachteite, unerquidlichite Werk des 
geiftreihen Mannes. Die Ouverture ift aus früheren Jahren 
jattfam befannt. Auch die unjterblichen Kritiken find uns nod) 
erinnerlih, welche damals dieſe ungefüge, weder bedeutend 
erdachte, noch ſchön disponirte, mehr grell als pikant inſtru— 
mentirte Muſik Mendelsſohn's »Fingalshöhle«, Beethoven's 
»Leonore-Ouverture« und ähnlichen Kleinigkeiten gleichzuſtellen 
nicht errötheten. Zeigt doch Meyerbeer in dieſer muſiviſch zu— 
ſammengeſetzten Ouverture nur abermals, daß er mit allem 
Geiſt und aller Mühſeligkeit nicht im Stande iſt, eine größere 
Inſtrumentalform zu erfüllen und zu beherrſchen. Er bedarf 
unentbehrlich des Wortes, aus dem er einen muſikaliſchen Inhalt 
herauszieht, ein für fich jelbit redendes Inſtrumentalwerk wird 
er niemals jchaffen. 

Aus der Muſik zu Struenjee, welche fich theils zu jelbit- 
ftändigen Zwijchenactfägen außbreitet, theil3 die Handlung bes 
gleitet (Mari, Chor, Aufruhr), theils endlich in die Worte 
ſelbſt melodramatifch eingreift, ift der Chor, »Held Chriſtian 
ſtand am hohen Maſt« (nad) einem dänifchen Volkslied), bei 
weitem das friicheite wirkſamſte Stüd. Meyerbeer benükt es 
im Verlauf des Trauerfpiel® als mufifalifches und dramatifches 
Motiv jehr häufig, nach Art des Iutherifchen Chorals in den 
Hugenotten und ähnlicher Stereotypen. Schade, daß auch diejer 
fräftige Chor durch echt Meyerbeer'ſches Raffinement, 3. B. eine 
nätelnde Obovebegleitung, entjtellt wird. Won größeren Mufik- 
jtüclen enthält Struenſee ferner zwei Entre-Actes, den »Hofballe«, 
muſterhaft geſchmacklos, geſucht, ganz unſchön, dann eine »Dorf- 
ichenfe«. Lettere hätten wir, wäre und nicht ein Programm zur 
Hand gewefen, unbedenklich für einen Herenjabbath gehalten. 
So foll fi Ländliche Fröhlichkeit ausiprehen? Die darauf: 
folgenden Verſe Seidl's machen zwar eine fürdhterliche 
Schilderung von der Verfunfenheit des dänischen Volkes, allein 
nach Meyerbeer muß es aus lauter Teufeln beitanden haben. 
Auch der Trauermarſch zu Struenfee’s Hinrihtung, mit feinem 
wigig gebrochenen Dreiflang, hat (für den heroiichen Stoff 


Die Wiener Concert:Eaifon. 63 


ganz unpaſſend) einen wahren Galgenhumor. An entiprechenditen 
und einfachiten erichienen und die fleineren melodramatiichen 
Stücde, namentlih in den legten Acten, wie denn Meperbeer 
befanntlih folche Kleine Formen trefflih auszufüllen veriteht. 
Selbit in das große Aufheben, das mit der Inftrumentirung 
des Struenjee gemacht wird, fünnen wir nicht unbedingt ein— 
ftimmen. Denn abgejehen davon, daß wir uns mit dem Begriff 
einer an fih jchönen Inftrumentirung, losgetrennt von dem 
Werth des injtrumentirten Gedanfens, nicht befreunden können, 
finden wir das Orcelter im Struenjfee wohl glänzend, über- 
rafchend, im Einzelnen neu und geiftreich, oft aber, ſehr oft bis 
zur Verzerrung grell und geſucht. | 

Bon einheimiihen Tonfegern hat die Gejellichaft nicht? 
aufgeführt, diefe zeigten fi blos hie und da mit einigen 
Stleinigfeiten. Nur von Herrn 3. Aßmayer erſchienen zwei 
größere Werke, ein Oratorium und ein Streichquartett, zur 
allgemeinen Bejtürzung. 

Heberreich war in diefer Saijon eine Compoſitionsgattung 
vertreten, welche gewöhnlich nur einen engeren Kreis von Muſik— 
freunden zu fejjeln pflegt: die Kammermufif. Es gab nicht weniger 
al ein und zwanzig Quartett-Soiréen, zuſammen mit 
drei und jehzig Nummern. Das »Hellmesberger’iche Duartett«, 
das fich einer verdienten, aber bisher durch feine Vergleichung 
controlirten Beliebtheit erfreut hatte, erhielt plöglid in Müller 
und Vieurtemps zwei Nebenbuhler von eminenter Bedeutung. 
Wenn und die Gebrüder Müller daS Quartett von Geite 
des eracten Zufammenjpiel® in einer Vollendung vorführten, 
wie fie ein zweites Mal nicht wieder vorfommt, jo war es 
Bieurtemp3 gegeben, dur) den hinreißenden Vortrag der 
PBrimftimme altbefannten Quartetten den Geift einer neuen 
imponirenden Individualität einzuhauchen. 

Dem Luxus an Quartettmufit fteht die troitloje Arm— 
jeligfeit gegenüber, mit der heuer abermald das Oratorium 
vertreten wurde. Wir hatten im vorigen Jahre gut prophezeien, 
daß wieder Haydn's »Schöpfung«e und eine eimheimilche 
Mittelmäßigkeit fich ablöfen würden. Die »Schöpfung» erſchien 
überdies in jo abfchrecdend fchleuderifcher Aufführung, daß jelbit 


64 1854. 


in janfteren Gemüthern die Frage lebhafter aufitieg, ob dieſes 
Gebahren Tänger fortdauern könne. Das religiöfe und das 
äfthetiiche Bedürfniß vereinigen fi) würdig in dem Verlangen 
nad) der Vorführung jener monumentalen Tonmwerfe, in denen 
die heiligen Geftalten der Bibel aus der weihevollſten Ver— 
tiefung deutſcher Muſik jo mächtig emporfteigen. Gebt ums 
endlih Bach und Händel! 

Vorzüglih begünftigt war die Saiſon in Betreff der 
Virtuoſen. Bekanntlich wünſcht man deren fehr gute und fehr 
wenige. Denn nur jehr wenige find wirklich jehr gut. Das von 
der Tageöfritif beinahe jedem Virtuoſen geipendete Lob, es fei 
ihm die Bewältigung techniiher Schwierigfeiten nur Mittel 
zu höherem Zweck, ift unter ſechs Fällen dreimal erlogen. Es 
bezeichnet aber ſelbſt im verdienten Fall noch lange nicht jenen 
legten Höhenpunft der Birtuofität, wo dieſe, ſchöpferiſchen 
Potenzen ebenbürtig, den vollen Schein der Soupveränetät 
erreicht. Diefen Gipfel, der einige taufend Fuß über der Vir— 
tuoſenfläche ragt, erbliden mir erſt da, wo vollendete Technif 
von einer jo eminenten Individualität getragen wird, daß dieſe 
jedes Kunſtwerk wie ein jelbitgedichtetes, alfo mit dem ganzen 
Kraftzuichuß der eigenen Verjönlichkeit, auszuftrahlen vermag. 
Mie ſchön die möglich fei, war und vergönnt von Jenny 
Lind zu erfahren. 

Um Alles zu vereinigen, fehlte ihr auch nicht die lebte 
Beglaubigung bedeutender Phänomene: daß fie zu Principien- 
fragen anregen. Jenny Lind hat wiederholt den Streit ver- 
anlaßt, ob und immiefern die Virtuofität productiv genannt 
werden könne. Wenn man das Spreu mäßigen Geſchwätzes 
entfernt, jo läßt fi) daraus eine für die Kunſtwiſſenſchaft nicht 
unfruchtbare Anſchauung gewinnen. In der Aeſthetik, vornehmlich 
der mufifaliichen, find die Morte »Production und Repro— 
duction« zu feftftehenden techniſchen Ausdrüden geworden, 
welche den Gegenfat zwifchen der Thätigfeit de8 Componirens 
und des bloßen Vortrages der Compofition einfach bezeichnen. 
In diefem Sinne tft an der unfehlbaren Anwendung beider 
Ausdrücde nichtd zu deuten noch zu mäfeln. Fallen wir jedoch 
— ımd nichts hindert und daran — den Begriff des Pro— 


Die Wiener Concert:Saijon. 65 


ductiven höher, nämlich als etwas mit jchöpferiicher Kraft 
Thätiged, das große Wirkungen zurüdläßt und zwar nit aus 
Nichts Etwas, wohl aber ein Nicht? zu Etwas machen kann, 
dann ift die Virtuofität in ihrer höchſten Bildungsform ungleich 
productiver zu nennen, als eine mittelmäßige Thätigfeit wirf: 
fihen Hervorbringen?. Wenn Jenny Lind Bravourarien oder 
Taubert’fhe Lieder fingt, jo ift es mit die Höhe des 
mujikaliichen Gedanken: an ſich, was die außerordentliche Kraft 
folder Schönheitsoffenbarung erzeugt, jondern die Hingebung, 
mit welcher die Künſtlerin diefe Compofitionen in fi, alfo in 
einer höher begabten Fünftlerifchen Perſönlichkeit dergeftalt hegte 
und nährte, daß fie fie volljtändig individualifirt, ſomit 
bereichert wiedergibt. Für Jenny Lind find die vorzutragenden 
Stüde nicht blos ein Ziel, daS zu erflimmen, jondern geradezu 
Stoff, der im Sinn eines ebenbürtigen oder überlegenen Geijtes 
zu formen ift. Sie verfährt damit, wie der fchaffende Künſtler 
mit dem Rohſtoff, alſo productiv. 

Hatte die Geſangskunſt uns in Jenny Lind ihre erite 
Größe gejandt, jo that die Virtuofität des Violinjpiel® dasſelbe 
in der Perſon Vieuxtemps. Wie jene die mufifaliiche Ver- 
flärung echter Weiblichkeit, jo ift diejer durchaus Mann in 
jeder jeiner fünftleriichen Menßerungen. Indem er den Ton 
immer tief an der Wurzel faßt und mit majeftätiiher Bogen- 
führung weit in die Runde fchiet, hat er die technifche Zauber: 
formel gefunden, eine Mufif groß, machtvoll, männlich Hinzu- 
itellen. Auch er holte Beethoven’ und Mendelſohn's Eon- 
certe, Haydn’3 und Mozart's Quartette, Bach's Giaconna 
ihöpferifih aus fich heraus wie eigene Gedanken und bot uns 
damit Kunftgenüffe, deren Eindrud nie verduftende Früchte 
trägt. Vieurtemps' Programme ließen Claffifhes mit Elegantem 
wechſeln und blieben wenigitend von Schlechtem frei. Seine 
eigenen Gompofitionen vereinigen Züge von Geiſt und Poeſie 
mit großer Kenntniß der muſikaliſchen Mittel, ohne eigentlich 
itarfes jchöpferifches Vermögen. 

Den Abend, al PVieurtemps (im Theater an der Wien) 
Mendelsſohn's Goncert fpielte, eröffnete Herrn Suppe’ 
Orcheſter mit Mozart’3 Ouverture »La vilanella rapita«, welche 

Hanslick. Mus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 5 


66 1854. 


hier noch gar nicht, oder wenigitens nicht innerhalb des Ge— 
dädhtnißfreifes unferer Generation aufgeführt worden war. Das 
Programm hatte die Ouverture nicht genannt und fo ging denn 
das fleine, aber anmuthige, jedenfalls Hiftorifch jehr interejfante 
Jugendwerk des Meiſters ganz unbeachtet vorüber. Wie klug 
handelt der Mufil-Enthufiaft bei Beranger, welcher vorjorglich 
Drdre gibt: 


»Et vous, gens de l’art, 
Pour que j’en jouisse, 
Quand c'est du Mozart, 
Que l’on m’avertisse!« 


Nach Lind und Vieurtemps ift es vorzugsweiſe Julius Stod- 
haufen, dem wir Erfreuliches zu danken haben. Ausgeftattet 
mit einer für unfere fchreiluftige Zeit außerordentlihen Schulung 
der Stimme, feinem muſikaliſchen Verſtändniß und herzens— 
warmen Ausdrud hat er und in einer Neihe glänzend auf: 
genommener Goncerte wieder Gejang gegeben. Voll auöge- 
bildeter Grazie war fein Vortrag, der (nah Marr »in fi 
jelbft vertrodnenden«, nad unjerem Geſchmack liebenswürdig 
ftattlihen) Mufif von Bodgeldieu; und die rein Inrifchen Ge— 
fünge Schubert's, Schumann’s ımd Meendeldfohn’3 haben mir 
ihon heller Elingen, aber faum befjer fingen hören. Bathos 
und Humor heißen die beiden Endpunkte, die Stodhaufen 
verjagt blieben; was zwiſchen ihnen liegt, hat er meilterhaft 
cultivirt. 

Bon Geſangskünſtlern wäre noh Herr Géraldy zu 
nennen, der und weniger durch den abjoluten Werth feiner 
Leiftungen anzog, ald durch die fpecififche Parifer Art, mit der 
er die nationalſten Mufilformen feiner Heimat vortrug. Er 
vereinigte in bewinderungswürdigem Grad die drei dazu noth- 
wendigen Eigenichaften: halbruinirte Stimme, virtuofe Decla: 
mation und franzöfifhes Blut. 

Eine Beiprehung der Sängerin Maria Cruvelli ſcheint 
uns mehr in das Fach des bildenden Künſtlers zu gehören. 
Die ſchönen, ſtatuariſchen Züge dieſer verjüngten »Bavaria« 
wußten Erwartungen zu erregen, welchen ihr ſchwacher Geſang 
nicht gerecht werden fonnte. Herr ©. Hölzl, der abermals mit 


Jenny Lind. 67 


der Miſſion betraut war, in fremder Leute Concerten ſeine 
eigenen Lieder zu ſingen, hat ſeinen großen Verdienſten um 
die Erheiterung des Publicums diesmal noch ein Meiſterſtück 
literariſch-kritiſcher Exegeſe beigefügt. Schiller's »Mädchen aus 
der Fremde« war bekanntlich bisher ein Zankapfel der poetiſchen 
Auslegefunft, welche bald den Frühling, bald die Liebe, bald 
die Poefie darunter verftanden mwiffen wollte, bis Herr Hölzl 
nunmehr durch feine im ftrengen Jodlerſtyl gehaltene Compofition 
des Gedichte unwiderleglich entichieden hat, daß mit dem 
Mädchen aus der Fremde« eine fteirtfche Sennerin gemeint 
ift. Die Virtuofen Königslöw, W. Neruda (Violine), Braga, 
Schmidt (Cello) und Terfhad (Flöte) find in einer Meberficht 
nur dem Namen nad, wenn gleich nicht unverdienſtlich zu 
nennen. Das Clavierſpiel war im der verfloffenen Saiſon 
quantitativ ſtark vertreten, ohne jedoch eine einzige bedeutende 
Verjönlichkeit aufzumeifen. Auf Satter's Tajtenftürme folgten 
Willmer's trillernde Seufzer und die niedlichen Handarbeiten 
der Fräulein Staudad, Kern und Fri. Herr Leopold 
v. Meyer liegt außerhalb unferer Beiprehung, da feine auf: 
fallend Heitere Art zu jpielen und zu componiren offenbar nur 
ausdrüden will, daß er die Mufif nicht ala Kunft, fondern als 
eine gejellige Fertigkeit zur Erheiterung guter Freunde betrachte. 
Zulegt erichien, von dem Lichtglanz feiner Gattin Jenny Lind 
zugleich erhellt und verdunfelt, Herr Otto Goldfhmidt. Er 
wandelt matten Schritte® auf edler Bahn. 


Dennn Find. 


Senn Lind hat nad) fiebenjähriger Abweſenheit wieder 
in Wien gejungen. Beſtünde die Aufgabe der Kritif wirklich 
nur darin, jede Sunftäußerung mit anatomischen Meffer zu 
analyfiren, am liebiten, um dem gewöhnlichen Auge verborgene 
Störungen und Lücken fcharffichtig hervorzufehren, dann hätten 
wir Jenny Lind gegenüber kaum etwas anderes zu thun, ala 
einfach zu fchmweigen. Unferem Gefühle nad, fteht e8 aber dem 
Kritifer wohl zu, über Erſcheinungen, deren vollendete Schönheit 

5* 


68 1854. 


den Lichtfranz höchfter Begabung heller als alle8 dem Aehnliche 
audjtrahlt, über Erſcheinungen aljo, wie jie günstigen Falles in 
hundert Jahren einmal fommen, nicht? anderes außzufprechen, 
als die Freude, fie miterlebt zu haben. Dem ordentlichen Ge- 
ſchäfte der Kunftkritif kann nur das Artiftiiche, ſei es in weiteſter 
Bedeutung, unterliegen. Phänomene aber, in welchen eine bisher 
unerhörte Höhe der Kunſtvollendung, ihre jelbititändige Be— 
deutung verlierend, nur zur nothwendigen, organifchen Aeußerung 
einer ganzen, wunderhaften Perſönlichkeit zurückweicht, nähern 
ih den großen Schönheitsoffenbarungen der Natur, vor denen 
man blos ftille ftehen und dankfreudig jagen kann, daß fie da 
find. Daß es eine ftarfe Ausnahmzftellung ift, die wir damit 
der fritiihen Verpflihtung zugeitehen, befennen wir. Sie ent: 
ihuldigt fih nur durch die nicht minder ftrenge Auslegung der 
veranlafjenden Ausnahmen: für unfere Grfahrung iſt im Fach 
der reproducirenden Tonkunſt Jenny Lind die Einzige, auf 
welche das Gejagte Anwendung leidet. Wir ſprechen damit im 
Grunde ganz dasſelbe Gefühl aus, welches in der ſchwärmeriſchen 
Faffung zahllofer Kritifen und Feuilletons dem ruhigen Leſer 
hie und da bedenklich erjcheint. 

Da unjere Anfihten glüdlicherwveife niemals in dem Geruch 
der lleberfhwenglichkeit, jondern eher in dem der Nichternheit 
itanden, jo haben wir hoffentlich) mit unjerem heutigen Urtheil 
nichts gewagt. Daß jeit den fieben Jahren der leichte Schleier 
über dem Organ der Sängerin fi noch etwas verdichtet, Die 
Höhe an Leichtigkeit und Kraft ein Geringes eingebüßt Hat, 
fommt bei ſolchen Wirkungen gar nicht in Betracht. Diefe 
jieben Jahre, welche und mande bedeutende Künftlerin vorge: 
führt, haben uns darin nur bejtärkt, daß die Lind nicht nur 
mehr ift, als jede andere Sängerin, fondern geradezu ander. 
Wir meinen, daß die Vergleihung nicht einen bloßen Unter: 
ihied der Größe, fondern beinahe der Gattung herausfühlt. 
Dieſe Durchgeiſtigung und Durchfühlung jedes einzelnen Toneg, 
wie der Grundftimmung der ganzen Gompofition find weder 
nachzuahmen, noch zu bejchreiben. 

Jenny Lind (fie verzeihe, wenn wir »Frau Goldihmidt« 
oder twie das Programm einmal zur Abwechslung jagt Madame 


Senny Lind, | 69 


Goldſchmidt« nicht über die Lippen bringen) Jenny Lind alfo 
offenbart uns auf eine faft räthielhafte Art die abſolute Schön: 
heit de8 Singen: an fih. Wir halten uns nicht mehr an das 
Gefungene, fondern laufchen nur dem Singen felbit. Wie jener 
alte König verwandelt Kenny Lind alle8 was fie berührt in 
Gold. Sie fang eine Arie aus Bellini's »Beatrice di Tenda«. 
Sit das dieſelbe Mufif, die wir fonft mit Grund matt und 
jüglih finden? Wie warmer duftiger Athen legt fie ſich uns 
um Bruft und Wangen. Wenn man dies leife, fichere Einjegen 
ded Tones Hört, der dann langſam und lange anfchwillt, um 
eben jo lang und langjam zu verhauchen, hierauf jene Baffage 
mit den fein ineinander verfchlungenen Serten: und Quarten- 
fprüngen, jo möchte man fragen, ob das menſchenmöglich ift? 
Und alles dies fo ſchlicht und befcheiden gebradt, daß man 
vor lauter Herzensfreude nicht zum Staunen fommt. Wenn 
andere Sängerinnen, deren SKehlengeläufigfeit zur höchſten 
inftrumentalen Freiheit gefchult ift, 3.8. die Viardot-Garcia 
oder 2a Grange derlei fingen, jo bleibt e3 immer ein mehr 
oder weniger glänzend überwundenes Kunſtſtück. Jenny Lind's 
Zaubereien erwecken in uns das Gefühl des Staunens nicht 
anders, als bereits getränkt von der Süßigkeit ruhigen Ge— 
nießens, ſo daß wir beinahe einen neuen pſychologiſchen Vorgang 
in uns erleben. Ueber allem war der Vortrag des Taubert'ſchen 
Liedes: »Ich muß nun einmal ſingen«. Wenn unſer Wort von 
der abſoluten Schönheit des »Singens an ſich« etwa be— 
fremdete, der höre die Solfeggien in dieſen drei Strophen. 
Als beiläufige Nachahmung des Vogelgeſangs hart an der 
Grenze der Muſik ſtehend, wird dieſes Flöten und Schmettern 
in Jenny's Mund zur entzückenden Schönheit. Der ganze wald— 
friſche Naturreiz jubelnden Vogelgeſangs kömmt uns hier auf 
dem unbegreiflichen Wege der äußerſten techniſchen Bravour 
entgegen. 

In ihren folgenden Concerten hat Jenny Lind wieder 
ein Füllhorn bunter und duftiger Tonblumen über die ver— 
gnügten Laufcher im Redoutenſaal ausgeſchüttet. Mehr als 
Basen zu diefen Blumen, denn ald jolche felbft, erſchienen uns 
die Arien aus den »Puritanern«, dem »Türfen in Stalien« und 


70 1854. 


der »Bielfa«, welde die Künftlerin mit dem Zauber ihrer 
Bravour ſchmückte und belebte. Die fchlichteren, aber deito 
innigeren Klänge deutſchen Gemüthes ertönten am herzlichiten 
aus R. Schumann’ Lied »An den Sonnenſchein«, Schu: 
bert's »Frühlingsglauben«, C. M. Weber’3 Cavatine in As 
(Agathe), endlih dem »Hirtenlied« und den »Sternen« von 
Mendel3john. Das waren fo entzüdende Feſte, daß der 
Genuß des Hörerd die nachträgliche Verlegenheit des Krilikers 
vollfommen verihlingt. Da die Sprade, unfähig den Klang 
einer Stimme und die feinfte Eigenthümlichfeit eine Vortrags 
zu befchreiben, hier niemals das Was, jondern höchſtens das 
Wie treffen und mit malenden Beiwörtern um die Sache her: 
umgehen fann, da jelbit die detaillirtefte Nahjchilderung eines 
Gejangd weder die Sicherheit, noch die Eriprießlichkeit der 
Analyje eines Tonwerkes erreiht, wo man, den Finger auf 
der Note, ein nimmer MWechjelndes und immer Gegenwärtiges 
erklärt, — was könnte eine Kritit von der Lind viel mehr 
geben, als den äußerjten rohen Contour? Eine durch mehrere 
deutiche Blätter gemwanderte Beurtheilung der Lind hält fich 
lange bei der Beichränttheit ihres Genres auf und vergleicht 
darıım ihren Gefang mit der von Gutzkow fogenannten 
»XovelysLiterature, nämlich der goldbejchnittenen, ſüßlichen 
Lyrik von Putlig u. dgl. Daß der Kreis defien, wa Jenny 
Lind vollendet wiederzugeben vermag, dad Hochtragiſche, 
Heroiſche, Leidenichaftliche nicht umfaßt, ſondern hauptſächlich 
durh die Schönheitsform des Anmuthigen, Naiven, Sanft: 
elegiichen in weitelter und reichiter Bedentung erfüllt wird, das 
weiß Niemand beifer als fie felbit, die mit größter künſtleriſcher 
Selbitfenntniß ihr Programm aus dieſem reife wählt. Eine 
Kritit aber, welche in dem frifchen Lerchenjang Jenny Lind's 
nicht etwa die Verklärung deſſen wiederfindet, wovon der Wald 
erihallt, jondern nur »was fich der Walde, erzählte, eine Kritik, 
für welche die vollendete Künſtlerſchaft und herzenstiefe Innigfeit 
unferer Sängerin mit jener Buchbinderliteratur in einer Reihe 
fteht, die mit glatter Technik erlogene Gefühle ladirt, eine ſolche 
Kritik zeigt nur, wie jehr fie an dem jchlimmen Uebel frantt, 
da3 Echte vom Falſchen nicht unterfcheiden zu können. 


Julius Stodhaufen. 71 


Jenny Lind wurde in ihren Goncerten durch Klavier: 
productionen ihres Gatten Otto Goldihmidt unterftügt. Wenn 
die »Allg. Ztg.« es ein »unverzeihliches Unrecht« der hiefigen 
Kritik nennt, »Herrn Goldjchmidt über feine Gemahlin beharrlich 
zu vergejjen«, jo wollen wir diefen Handſchuh recht gern auf- 
heben. Sollte es wirflih fo unverzeihlich fein, neben Jenny 
Lind einen Bianiften zu überfehen, dem der Correipondent der 
»Allg. Ztg.« auch nur das dürftige Lob ertheilen kann, er jet 
sein ganz guter« (jo nennt man gern etwas nicht ganz 
Gutes), »fingerfertiger, nicht geſchmackloſer Clavierſpieler, der 
nur, wenn er einmal in's Gefühl Hineingeräth, nicht mehr 
leicht herauskommt, zieht, dehnt und manirirt wird«? Der 
Technik des Herrn Goldfchmidt fehlt es an Kraft und Bravour 
(der Trilfer, die Octavengänge find mangelhaft, die Linke Hand 
ungleich, der Anjchlag marklos), feinem Vortrag mangelt nicht 
die Nettigkeit und Glätte, aber jede Spur von Auffhtwung und 
Eigenthühmlichkeit. Nur Kleinigkeiten fpielt er ganz befriedigend, 
wie er auch einige (»Reverie«, »Etude«) hübſch componirt hat. 
Herr Goldſch midt ift ein merfwürdiges Gegenstück zu feiner 
Gattin. Während diefe der unbedeutenditen Compoſition indi— 
viduelles Leben einzuhauchen verfteht, verfommen die frifcheften 
Muſiken unter Herrn Goldſchmidt's Händen, wie Vögel unter 
der Zuftpumpe. Sie erwärmt immer, er läßt allzeit kalt; ſie 
wird immer begeifterter, er ſtets nüchterner. Man erinnere fich 
an den gänzlich wirkungslojen Vortrag der Finalläße von 
Mendelsſohn's G-moll-Eoncert und Meber’3 »Goncertitüde, 
Compoſitionen, die, gut gejpielt, hier immer einen wahren Jubel 
hervorrufen. Am Ende fpielte Herr Goldichmidt wirklich) »nicht 
geſchmacklos«, »fingerfertig«, »ganz gut«, — troß alledem glitten 
diefe Lieblingaftüde an ung herab, wie Bergwaſſer über eine Fels— 
wand. Ind das hat keineswegs die Loreley mit ihrem Singen gethan! 


Julius Stockhauſen. 


Die Vorzüge von Stockhauſen's Geſang ſind nach zwei 
Richtungen hin höchſt bedeutend. Für's erſte hat ſich dieſer 


12 1554. 


Künftler eine Schulung der Stimme erworben, die ihn befähigt, 
italieniihe und franzöftihe Coloratur-Arien mit einer jeltenen 
Geichmeidigkeit vorzutragen; ſodann befigt er für daS deutiche 
Lied ein jo inniges Verſtändniß, einen jo gemüthvoll finnigen 
Ausdrud, wie man ihn gleihfalls nur bei Sängern von vor— 
züglicher Bildung und poetiiher Begabung antrifft. Diefe Ver— 
einigung zweier meifthin nur getrennt vorfindlihen Kunftrich- 
tungen in gleich hoher Eultur: des glänzenden Coloraturgejangs 
und des einfachen Liedes, reicht wohl bin, Herrn Stodhaufen 
einen Ehrenrang unter den beiten deutichen Sängern anzumweiien. 
Einiger Hemmniß unterliegt Herrn Stodhaufen’3 Kunft nur 
duch die Beichränfung feines Organs, das zwar wohltönend 
und umfangreich, aber nicht kraftvoll und ausdauernd ift, und 
das er (der Baritonijt) obendrein durch Bevorzugung entjchie- 
dener Tenorlieder gern in die Höhe treibt. 

Der Eindruf von Stodhaujen’® drei Concerten war ein 
überaus erfreulider. Man konnte fich des jeltenen Genufjes 
nicht erjättigen, eine vollkommen gejchulte Stimme, von warmen, 
poetiſchem Verſtändniß durchgeiſtet, die entzüdenden Lieder 
Mendelsſohn's und Schubert’3 vortragen zu hören. Es ift 
ſchwer zu entjcheiden, in welchem Liede der weiche, innige 
Vortrag des Concertgebers am gewinnenditen war; den meijten 
Eindruck ſchien Schubert’ »Müller und Bach«, dann defjen 
zartes »Ich frage feine Blume« zu machen. Nicht minder vor— 
züglih als im Lied ift Stodhaufen in jenem anmuthig cheva= 
leresfen, von leiter Empfindung überhaudten Romanzen-Ton, 
welchen die Franzofen (insbejondere in ihrer Tegtvergangenen 
Opernperiode) jo anziehend repräfentiren. Die Arie des Ro— 
dolphe aus Boyeldieu's »chaperon rouge«, jene des Seneſchalls 
aus »Jean de Paris«, endlich eine Arie auß »Le philtre« von 
Auber können faum feiner, geläufiger, correcter wiedergegeben 
werden. Für den italienifhen Bravourgefang fehlt Herrn Stock— 
haufen nur der Neiz eines fraft- und klangvolleren Organs. Im 
Fach der Ballade gab Herr Stodhaufen die wunderlich-grauen— 
hafte Tragif de8 Schubert’ihen »Zwergd« mit maßpoller Em: 
pfindung, wie fie dies hinreißend ſchöne Muſikſtück wohl verträgt. 
Eſſer's Ballade, »de3 Sängers Fluch«, hätten wir feuriger 


Bieuxtemps. 73 


gewünſcht. Es ſcheint, daß das rein Lyriſche in warmem, mäßig 
bewegtem Ausdruck Stockhauſen's eigentliches Element ſei. Den 
Preis des Abends trugen zwei Lieder von Robert Schumann 
davon: »Mondnacht« und »Frühlingsnaht« aus dem Eichen— 
dorffihen Liederfreis. Stodhaufen fang fie mit befonderer 
Wärme und Zartheit. Der fo leicht zu verwiichende Schmelz 
der Eihendorffihen Malerei blieb duftig auf jedem Worte 
haften. — 


Vieuxtemps. 


Wie im Leben des Einzelnen ein leuchtendes Ereigniß 
ganze Strecken dürrer Alltäglichkeit zu erhellen und zu erwärmen 
pflegt, ſo preiſen wir auch im Kunſtleben eine Periode als 
reich, wenn fie nach viel Mittelmäßigem auch nur Eine impo— 
ſante Erſcheinung dargebracht. Das flattert dann wie eine 
Siegesfahne, die man in einen Steinhaufen geſteckt. Wir könnten 
auf die muſikalichen Productionen der letzten Wochen mit freu— 
diger Genugthuung zurückblicken, wenn dieſe Zeit auch nichts 
anderes geboten hätte als das Spiel VBieurtemps und 
die vollendete Aufführung der C-moll-Symphonie von Beet— 
hoven. 

Was Vieurtemps betrifft, jo ift ihn zu Hören einer 
der ungetrübtejten Genüfje, die eine mufifaliiche Produktion 
bieten kann. Seine Technik ift jo unfehlbar und vollendet, 
wie fein Wortag edel, geiftvoll, ſchwunghaft. Das iſt ein 
Mann unter den PVirtuofen feines Inftrumentes: Wenn ich ihn 
für den erſten lebenden Biolinfpieler halte, dürften mir wohl 
nur wenige Stimmen, etwa zu Guniten $. Joachims, ent: 
gegentreten, der, jet auf der Höhe feiner Entwidlung ftehend, 
im Vortag claffifher Violincompofitionen das Unübertreffliche 
leiften fol. Geichviel, fo lange man feinen größeren gehört 
ald Vieuxtemps, kann man fih nur fchwer einen vorftellen. 
Bekanntlih zählt Vieuxtemps auch zu den beften modernen 
Gomponiften feines Inftrumentes. Seine Concerte find geiftreich, 
anmuthig, formfhön, mit größter Kenntniß der mufifalifchen 


74 1854, 


Technik, namentlih mit feinem Sinn für Inftrumentirung com: 
ponirt. Zu den wahrhaft großen inftrumentalen Schöpfungen 
gehören fie trogdem nicht, und wenn ein hieſiger Sritifer 
Bieurtemp3’ D-moll-Goncert in eine Reihe mit Mendelsſohn's 
nnd Beethoven’: Biolin-Goncerten ftellt, jo hat er fih wohl 
zu ſtark ausgedrüdt. Vieurtemps' Gompofitionen find ganz 
eigentlih intereijant. Das Intereſſante fchließt immer eine 
ffeine Abweihung vom reinen Schönen in fi, und Diefer 
begegnen wir bei Vieurtemps faſt durchweg, ja oft gefteigert 
bis zur Bizarrerie. Seine muſikaliſche Schöpfungskraft iſt echt, 
aber nicht beſonders reich, dad Combinationsvermögen ungleich 
bedeutender. So jtoßen wir in der großartigen Anlage und 
feinen Ausführung des D-moll-Goncerte® auf viele geiftreiche 
Züge, die Hauptthemen Hingegen zeugen von feiner bejonders 
eigenthümlichen jtarfen Erfindung. Vieuxtemps' großed Talent 
hat zu innig mit Beethoven verfehrt, um nicht ein mächtiges 
Stück deutſcher Gediegenheit in fich ausgebildet zu haben, es 
wurzelt aber mit feinen feinften Lebensfaſern zu tief in der 
franzöfifhen Romantik, um deren bedenklichen Charakter lange 
verleugnen zu können. Dieje unbezwinglide Neigung zum 
Pikanten, ja Bizarren wird in dem (übrigens trefflid gemachten 
effectvollen) Rondo, das Vieurtemps hier zum erjtenmal jpielte, 
wohl niemand verborgen geblieben fein. Was Vieurtemps jo 
hoch über feine componirenden Gollegen hebt, ift feine aus— 
gebildete Fähigkeit, orcheitermäßig zu denken, und die künſt— 
leriſche Conſequenz, mit welcher er dieſe Totalität jelbit auf 
Koften des Virtuoſen in jeinen größeren Werfen überall 
borwalten läßt. Und jo dürfte er denn (Spohr ausgenommen) 
unter den jeßigen Biolin-Virtuofen jo gewiß der erite Come 
ponilt heißen, als er unter den Gomponijten der erfte Violin- 
Virtuoſe iſt. 


Neftbetifche Rolizei. 


Die abgelaufene Muſikſaiſon hat einige äußerliche Neue— 
rungen im Muſikleben gebracht, deren nicht genug gewürdigte 


Aefthetiiche Polizei. 75 


Wichtigkeit unſere Aufmerkſamkeit verdient. Es find dies mehrere, 
vorerit nur das Hofoperntheater angehende Maßregeln auf 
einem Gebiete, dad wir am liebiten »Aeſthetiſche Polizei« 
nennen. Das fremde Feenkind Muſik hat jo viel irdiiche Ver— 
fleidungen anzuthun und jo viel ftoffliche Appretur zu erfahren, 
wenn e3 mit einer Mehrheit von Menjchen verkehren will, daß 
jeden Augenblid eine Störung »von diefer Welt« es auß feiner 
Unbefangenheit und uns aus der Illufion herausreißt. Nur zu 
jelten jorgen wir dafür, daß die Reinheit des Kunftgenuffes 
dur) Präventivmaßregeln gegen äußere Störungen gejchügt, 
d. 1. daß äfthetifche Polizei gehandhabt werde. Die Intendanz 
des Hofoperntheaterd hat in neuefter Zeit die Wiederholung 
von Mujifitüden in der Oper verboten und damit das 
»da capo«, diejen ärgiten Feind ded dramatiichen Zuſammen— 
hangs, vernichtet. Wenn Arnold (im Wilhelm Tell) den Hen- 
fern jeines Vaters Rache geihworen hatte und mit den Freunden 
bereits zum Rütli geeilt war, wurde jo lange applaudirt, bis 
er mit dem ruhigſten Geftcht fich wieder hinftellen, die Erzäh— 
fung nochmals hören, darüber jehr erjchreden und neuerdings 
Rache ſchwören mußte. Don Juan ift mit Zerline Arm in 
Arm jeinem Schloß glücklich zugeeilt, — er wird zurüd zitirt 
und muß von Neuem anfangen, die melodifhen Sclingen 
feiner Schmeichelei audzumerfen. Mit gezüdten Schwertern find 
Raoul und jeine Gegner eben auf einander eingedrungen, — 
halt! fie müffen auseinander, die Schwerter wieder einjteden, 
und das Duell von Neuem beginnen, weil der Tenorift darin 
eine ſchöne Kraftftelle hat. Die Abftellung diejer Unfitte kömmt 
überdies allen Sängern jehr zu Gute, welche da3 verderbliche 
Glück Hatten, ihre anftrengenditen Stellen wiederholen zu 
müſſen. Sie hätten, fich mit der Zeit genöthigt geſehen, die hübſche 
Geihichte nachzuahmen, die und Livius (Hister. VII. 2) er: 
zählt. Als er nämlih in Rom nad) damaliger Sitte fein eigenes 
Stüd fpielte, wurde er dur den Applaus des Volkes ge: 
nöthigt, eine Lieblingaftelle jo lange zu wiederholen bis er 
heifer war. Da erhielt er die Erlaubniß, einen Sklaven zu 
nehmen, der dad Gedicht zu der Muſik abjang, indeß Livius 
jelbft nur die Geberden dazu machte. 


76 1854 


Aus demielben äfthetiihen Grundjag: der Aufrechthaltung 
der dramatiichen Illuſion fließt daS zweite, ebenjo dankens— 
werthe Verbot der Theaterintendanz, einen Sänger bei offener 
Scene heraudzurufen. Wie oft erlebten wir, daß der Held, 
der eben vor unſeren Augen jich eritochen Hatte, zurückkehren 
und unter großem Halloh artige Komplimente machen mußte. 
Da fol man in der Stimmung bleiben! Bei aller Werth: 
ſchätzung der Pietät, welche fi) zum Dank für den darftellenden 
Künstler gedrängt fühlt, fönnen wir ſolch ein Einhauen der: 
jelben in den Zufammenhang des Runftwerfes nur beleidigend 
finden. Fühlt fi) das Publikum nicht mehr durch die eigene 
Naivetät, welche den Darfteller über den dargeftellten Charafter 
vergißt, an ſolchen Demonftrationen verhindert, jo muß man 
fie ihm einfach verbieten. Das ift ganz eigentlich Polizei im 
Intereſſe der Kunſt, »äfthetiiche Polizeic. Die Direction des 
Hofburgtheaters ift noch un Einen Schritt weitergegangen umd 
hat den Zutritt zu den Sperrfißen während des Aktes ver: 
boten. Der günftige, wahrhaft funftpädagogiiche Einfluß folcher 
Mafregeln, welche aus der Einfiht in das Weſen äfthetifcher 
Erſcheinung hervorgegangen find, wird nicht außbleiben. In 
wenig Monden hat fi Alles an die anfangs beengende Vor: 
Ihrift jo trefflich gewöhnt, daß man die frühere tumultuarifche 
Exiſtenz faum mehr begreift. Wer feinen Lärm machen darf, 
hört aufmerffam zu; wem der Beifall bejchränft wird, der 
part ihn für die Würdigſten, und wer biöher blos in 
der Kunſt veracdhtete, was ihm vielleiht ſonſt als jein 
Höchſtes gilt, den Anftand, der lernt Achtung hegen vor der 
Eriheinung eines Kunſtwerkes und vor der Andacht eines 
Publicums. 

Das Capitel von der äſthetiſchen Polizei iſt ſo groß, 
daß man einen Band damit füllen könnte. Ihre Paragraphe 
treffen nicht minder das Concert, wie dad Theater, fie er: 
innern die Künstler wie die Zuhörer. Won Seite der Künſtler 
dünft und das entjeglihe Probiren der Inftrumente zwischen 
den Sätzen einer größeren Kompofition ein SHauptvergehen 
gegen den äfthetifhen Anftand. Das Stimmen tödtet die 
Stimmung. 


Aeſthetiſche Polizei. 17 


Gegen die Angriffe geihmwägiger Nachbarn wird wohl 
immerdar nur das Recht der eigenen Nothwehr beftehen. Hin: 
gegen ſcheint und das ftörende Fortgehen der Zuhörer während 
der Mufif eines 8. im äfthetiihen Polizeicoder nicht unwürdig. 
Erleben wir doc) bei den ausgezeichnetiten Productionen, daß 
fie zum großen Theil von Leuten bejucht find, welchen das 
Herz niemal3 warm, die Suppe aber gleich falt wird. In einem 
Concert von jehs Nummern gibt es fünf anftändige Gelegen: 
heiten, früher fortzugehen; daß aber fanatiihe Hausfrauen | 
gerade noch die eriten 16 Tacte der Schluß-Symphonie anhören 
müjjen, um dann mit möglichitem Geräufch und barbarifcher 
Störung aller Signahbarn ein Wettrennen nad) dem häuslichen 
Herd zu beginnen, das entichuldige, wer es begreifen fann. 

Schließlich habe ih nod Einiges auf dem Herzen über 
die hier jo beliebten Demonjtrationen im Theater. Was 
joll man dazu jagen, wenn in jeder Borftellung des »Fidelio« 
bei den Morten des Kerkermeiſters: »Er (Floreitan) hat eine 
jo rührende Stimme, die zum Herzen dringt«, ein Theil des 
Publicums in artigen Beifall für Herrn Ander auöbricht! 
Kann man brutaler aus der Stimmung herausgeworfen werden, 
als durch jo kindiſche Kourtoifie? Was find Dagegen die joge: 
nannten »politiijhen Demonftrationen«, wie fie früher jo gern 
im Burgtheater gemacht wurden, ſobald eine Stelle des Dramas 
jih auf unjere eigenen öffentlichen Zuftände deuten ließ! Als 
Lebenszeichen einer politifchen Ueberzeugung haben fie doch eine 
ganz andere, wenigſtens bedingte Berechtigung. Sole Demon: 
ftrationen dur raſches Auffangen und Beflatihen von An 
jpielungen finden wir zu allen Zeiten und an allen Orten, wo 
der Bevölkerung fein anderer legaler Ausweg gelafien ift, ihre 
politiihen Wünfche fundzugeben. Börne bewunderte die Fran— 
zojen, daß fie im Theater jede leiſe Anjpielung auf eigene 
Zuftände augenblidlih auffaffen und beflatihen. Das ilt mehr 
patriotiih als äfthetifch gefühlt. An fich bleibt jede Unter: 
bredung eines fünftleriihen Zuſammenhangs ungehörig, jede 
Tendenz Auffaffung unäfthetiich, welche nothiwendige Theile eines 
Gedichts aus ihrem Organismus reißt, um ihnen eine fremde, 
intereffirte Deutung zu geben. Es hat für und jederzeit etwas 


18 1354. 


Berlegendes, wenn in Dramen von Shakeſpeare oder Goethe 
politiiche Anspielungen aufgefpürt und beflaticht werden, welche 
dem hiſtoriſchen Geilt des Stückes miderftreiten. Allein jenes 
willkürliche »Unterbreden« und »Verwechſeln« geſchieht bier 
doch durch die lebhafte Anregung großer, allgemeiner Intereſſen; 
man bdemonftrirt zur Unzeit, aber nicht um einer Qappalie willen. 
Namenlos kindiſch ift aber die fieberhafte Sucht, einem Sänger, 
den man ja nad jedem Actſchluß feiern kann, ſchon während 
und auf Koften des Stüdes zu fchmeicheln. Zuhörer, die im 
Stande find, während des ergreifendften Vorgangs (wie es jene 
Kerkerfcene im »Fidelio« ift) in dem Helden des Dramas nur 
den Sänger N. N. zu fehen, die Bedeutung des Ganzen und 
die Weihe der eigenen Stimmung einer Heinlihen Schmeichelei 
zu opfern — das find mit Einem Wort äfthetiihe Barbaren. 

Nachdem für das Gelüfte diefer Barbaren handgreifliche 
Anfpielungen viel zu felten vorfommen, haben fie längft ein 
anderes unterhaltendes Auskunftsmittel gefunden, den Zuſammen— 
hang eines Stüdes zu zerreißen. Sie werfen während Des 
Spiels, meift in den herporragendften Scenen, etwas auf die 
Bühne, mitten unter die Darfteller, Es bleibt für die allgemeine 
Störung auf der Bühne und im Publicum ziemlich gleidhgiltig, 
daß da3 Geworfene meiſtens ein Kranz oder Blumenstrauß 
it. Süngft im »PBrofeten« konnten die Unholde ſchon um 
8 Uhr die Blumen nicht halten; Fides niet im zweiten Act 
vor ihrem Sohn, für ihre Rettung dankt fie ihm, im tiefiten 
erfchüttert, — bums! fehlägt ein centnerſchwerer Kranz zu ihren 
Füßen nieder. Man klatſcht, die troftlofe Mutter lächelt und 
fnirt verbindlich, zaudert, ob fie den Franz aufheben fol, der 
verzweifelnd hHingelagerte Sohn ſchwankt gleihfall® zwiſchen 
Galanterie und dramatifcher Wahrheit; furz, niemand hat mehr 
Fides und Johann vor fih, fondern nur Frau Efillag und 
Herrn Ander, und die dramatische Illuſion ift in muthwilligſter 
Weile vernichtet. 

Durch dieſe Beifpiele aus jünfter Zeit wollten mir die 
Aufmerkſamkeit des Publicums auf einen Unfug lenken, der 
immer weitergehend, am Ende jeden äfthetiichen Genuß bedroht. 
Was die niedere Jagd auf Anfpielungen betrifft, fo kann 


Aefthetiiche Polizei. 9 


natürlih nur der gute Geſchmack des Publicums fie abitellen. 
Gegen die äußeren Störungen des jcenifchen Fortgangs hätte 
aber die Hauspolizei einzufchreiten. Mir zweifeln nicht, daß 
jemand, dem e3 einfallen würde, dem Floreftan einen Faſan 
in den Kerker hinabzumwerfen, ohne Aufihub Hinausgeführt 
würde. Warum darf er denn ungeftraft Kränze fchleudern? Für 
den dramatiihen Zufammenhang und die Stimmung des Zu: 
hörers ift die Etdrung ganz diefelbe. Die oberfte Hoftheater- 
Direction hat mand) wohlthätige Maßregel äfthetifcher Polizei 
in’? Werk gejegt: fie hat das Wiederholen von Mufikitüden, 
das Herausrufen der Sänger bei offener Scene verboten u. dgl. 
Möchten dieſe Hausgeſetze bald durch einen Baragraph vermehrt 
werden, welcher nad Art des römiſchen »De effusis et 
ejeetise die Scene vor den Geſchoſſen der Kranzbarbaren 
Thüßt, und jedermann, der etwas zu werfen hat, einladet, ſich 
damit gefälligit bi3 zum Zwiſchenacte zu gedulden. 


1855. 
Orchefter:-Eoncerte. 


* 


Durch die röhmiſche Campagna ritten einſt zwei junge 
Männer in begeiſtertem Geſpräch über Muſik und Poeſie. In 
der Verehrung für Shakeſpeare hatten ihre liebſten Gedanken 
fih eben begegnet, als der eine nachdenflih zum andern 
bemerkte: »Weißt Du, daß in »Romeo und Julie« Sich 
ein wunderboller Stoff für ein mufifaliiches Scherzo findet?« 
Der andere quälte jein Gedächtniß vergeblid. »Nun, was fonft, 
als Mercutios Erzählung von der Fee Mab!« 


Sie kommt, nicht größer als der Edelſtein 
Am Zeigefinger eines Aldermans u. j. w. 


Die beiden Jünglinge waren Hector Berlioz und Felir 
Mendelsjohn-Bartholdy. Ob der Eindrud dieſes Geſprächs 
eine Anregung mehr zu der reizenden Elfenmufif geweſen, mit 
welcher Mendelsfohn bald darauf Shakeſpeares »Sommer: 
nachtstraum« illuftrirte, können wir nicht behaupten. Berlioz 
hingegen, aus deſſen Munde wir diefe Mittheilung haben, ift 
jener erſten Inſpiration treu geblieben, und hat feiner »dra— 
matiihen Symphonie«s Romeo und Julie die Epifode von 
der Fee Mab ald Scerzo einverleibt. 

Wir hörten dieſes Scherzo im erften ⸗ÿPhilharmoniſchen 
Concert«, das Herr Kapellmeifterr Edert am verflofjenen 
Sonntag dirigirte, Troß der fichtlichen Befremdung, welche bei 


Orcheſter⸗· Concerte. sl 


den mwunderlihiten Stellen über die Mienen der Zuhörer alitt, 
war der endliche Eindrud des Stüdes doch ein jo fiegreicher, 
dag man es ftürmiich zur Wiederholung begehrte. In der That 
wäre es ichwer, fich der bezaubernden Wirkung diejes Tonſtückes 
zu entziehen. Obgleih in einem falſchen Gebiet, mehr neben 
al3 in ber Muſik ſtehend, bewegt ſich Berlioz' Scherzo 
mit einer teltenen Fülle von Geiſt und Leben. Nur wenige 
Partien in der umfangreihen Compofition treten und mit 
überfichtliher Klarheit entgegen, kryſtalliſiren fich gleichſam zu 
feiten Gebilden. Das Meiite ſchweift phantaftiich, wie jelig 
unzuſammenhängendes Geträume, im Wirbel vor uniern ers 
ftaunten Sinnen. Wenn es eine jichöne Initrumentirung an 
ji gäbe — während doch immer etwas da jein muß, was 
inftrumentirt wird? — fo wäre die »Fee Mab« die hödite 
Leiltung der Ordeiter-Compofition. Es ilt fajt lauter Klang: 
wirkung, was uns darin feſſelt, die geheimnißpolliten und 
ſchaurigſten, die luſtigſten und leichtejten, die prachtvollſten und 
mächtigſten Klänge find darin aufgeboten; nicht wie von einem 
fundigen Gapellmeijter, nein, wie von einem Magier, der ver: 
borgene Kräfte beſchwört. Die feinen Fäden der Sommernadhts: 
traum=Duverture erjcheinen grob im Vergleich zu dem muſi— 
faliihen Spinnengewebe der »Fee-Mab«. Wie dies faum ver: 
nehmbare Flüjtern und Lispeln allmälig ftärfer und lebendiger 
anjchwillt, bis es fich endlich auf höchiter Höhe zu einem phan— 
taftifch-tollen Carneval entfefjelt, wie dann zu den gedämpften, 
gleihjam meit entfernten Schlägen der großen Trommel und 
Beden die feine, Scharfe Metallftimme zweier Cymbeln erklingt, 
das iſt von einer Klangwirkung, wie feiner der jpäteren Nach— 
ahmer Berlioz’ fie wieder erreicht hat. 

Das vierte Geſellſchaftsconcert der dfterreichifchen 
Mufikfreunde brachte Spohrs »Weihe der Töne« zur Auf: 
führung. Es bat und herzlich gefreut, daß Spohr, welder 
feider feit einer Reihe von Jahren von unjerer Opernbühne 
gänzlich verbannt ift, dem Publicum einmal wieder in Erinne— 
rung gebracht wurde. Die »Weihe der Töne« erichien, wenn 
es ſchon einer Symphonie galt, ald die beite Wahl; weder 
die früheren Symphonien des Meifterd Stehen ihr gleih, noch 

Hanslid, Aus dem Concertſaale. 2. Aufl, 6 


82 1855. 


biel weniger fönnen feine fpäteren damit verglichen werden. 
Da hören wir nod dem edlen, liebenswürdigen Sänger, der 
zwar über feine elegiihe Subjectivität in feiner Note hinaus 
kann, fie und aber gar warn nnd finnig and Herz legt. Das 
iſt noch derfelbe Spohr, der in Tönen dichtete. Wie traurig 
hat er fich in feinen fpätern Werfen verändert! Seine Doppel- 
iymphonie, welche deu Titel »Irdiſches und Göttlihes 
im Menjchenleben« führt und in 3 Süßen »Die Finder: 
welte, »Die Zeit der Leidenjchaften«e und den »Gieg ded 
Göttlihen«e fchildert, dimfte und daß non plus ultra einer 
troftlo8 verfiegten Vhantafie. Und doch fam hinterher noch ein 
plus ultra in Form der neueften Symphonie, einer mufifaliichen 
Paraphraſe der vier Jahreszeiten. Sie bringt die traurigite 
Kunde, wie ein ſonſt aus fo vollem Herzen jchaffender Ton: 
dichter verfümmern und in findifch greifenhafter Geſchwätzigkeit 
feine eigenen Redensarten unaufhörlih wiederholen kann, nicht 
merfend, daß ihnen der duftige Sinn von ehedem längſt ent- 
flogen. Unſerem Brincip zum Trotz, daß das Publicum in 
Kenntnig der Novitäten aller bedeutenden Tonfeger zu er- 
halten fei, danken wir der Direction für die Bevorzugung des 
früheren Spohr auf Koften des fpäteren. Die Reize der Spohr— 
ihen Symphonie haben auch diesmal freundlih anf uns 
gewirkt, wie man denn diefem eigenthümlichen ſüßen Duft 
Spohriiher Muſik ſich kaum jemald ganz entwinden kann. 
Wird und Doch bei der weichen, halb freud: halb leid» 
vollen Melodie des erſten Sates falt jo zu Muth, als 
wern wir nach Sahren zufällig ein Bändchen Matthiſſon— 
iher Gedichte aufichlagen und die Seligfeit zurückempfin— 
den, mit der wir einst jehnjuchtichtvelgend damit im Grafe 
lagen. Leider miſcht fih gar bald das Fritiihe Gewiſſen 
ftörend in die ufurpirte Jugendlichkeit. Mit Verdruß merken 
wir, wie dieſer Blumenflor frifcher, duftiger Mufit in der 
»Meihe der Töne« dur die ftete Beziehung auf ein »poetiiches 
Programm gehindert wird, innerlich frei emporzuwachſen und 
nah Außen fih harmonifc zu runden. Durch Töne ein Gedicht 
zu interpretiren, welches daS Lob der Töne zum Gegenitand 
bat, iſt ein ſehr unglüdlicher Gedanke, felbft abgeſehen von 


Ordefter-Concerte. 33 


dem Widerfinne, daß mit einer muſikaliſchen Schilderung 
des »ſtarren Schweigend« in der Natur begonnen wird. 
Der Segen der Mufik lobt fih gewiß am beften jelbft, nämlich. 
durch eine Schöne Mufik, und fcheint uns viel reiner gefeiert in 
dem wunderbar ſüß quillenden Thema des erften Satzes, ala 
durch dad lange Bogelgezwiticher darauf, daß und etwas ge: 
waltjam in's Freie führt. Doch ift der erfte Sat noch der 
abgerundetſte. Im zweiten unternimmt es der Gomponift, die 
Muſik abwechſelnd in ihren verichiedenen Beitimmungen als 
»Miegenlied«, »Tanze und »Ständchen« zu feiern. Durch die 
muſikaliſch ganz unmotivirte Aufeinanderfolge und fortwährende 
Abwechslung dreier Themas in verfchiedenen Tact- und Ton- 
arten wird der im Charakter ohnehin zwiihen Scherzo und 
Andante ſchwankende Sat obendrein in der Form ganz zer: 
jprengt und wir erhalten um der Bedeutung willen ein Gemenge 
von drei Beitandtheilen, deren jeder einzeln für fih (namentlich 
das MWiegenlied in B, oder dad vom Violoncell über pizzifirtem 
Streichquartett jo zart gefungene G-moll-Ständchen) den Stoff 
zu einem treffli auszuführenden Stüd gegeben hätte. Der 
dritte Sat beginnt mit einem feftlichen, glänzend inftrumen- 
tirten Marid — warum jchließt er nicht als folder? Warum 
verläuft die Kriegamufif, anstatt Frisch abzufchließen, in ein 
endloſes »Wehklagen der Zurücdgebliebenen« (hier fommt Spohr 
aus dem »Arbeiten« gar nicht heraus) und miündet in eine 
Bearbeitung dad Ambrofianiichen Lobgeſangs? In dem lebten 
und ſchwächſten Sag wird der Componiſt vollends zum ret= 
tungölojen Opfer feines poetifchen Programms: er hat den 
Tod und die Vergänglichkeit alles Irdifhen durd eine Be— 
gräbnißmuſik auszudrüden. Anftatt der höchften Steigerung, zu 
welcher fih im Finale einer Symphonie alles Frühere fteigern 
foll, haben wir hier die vollftändigite Entkräftung. So erhält 
der Hörer fortwährend für die verlorene mufifalifche Einheit 
und arg zerrifjene Stimmung als Eriag nur die trocdene Ber: 
gleihung mit einer Vorftellungsreihe, die für ihn gar feinen 
Merth hat. Dadurd, daß Spohr in einen Abgrund ftürzte, 
an deſſen Rand eine ungleih mufifalifchere Natur in der 
» Baftoral-Symphonie« ſich aufrecht erhielt, wird uns die »Meihe 
6* 


84 1855. 


der Töne« zum unfhäßbaren Gommentar für eine der wich— 
tigften Streitfragen der muſikaliſchen Aeſthetik. Die mufifalifche 
Literatur befigt fein zweites Werk, an welchem ſich fo haar: 
iharf nachweiſen läßt, wie dad, was daran ſchön ift, es troß 
des gegenftändlichen Inhaltes, ja durch deſſen Webergehung 
wurde, während andererfeitö der Glanz des Werkes fich ſtets 
in dem Augenblick verdunfelt, wo der Componiſt die Forde— 
rungen des mufifaliih Schönen hintanfegte, um mit feinen 
Tönen eine außerhalb derjelben liegende Bedeutung zu ver— 
ſinnlichen. 

Das Geſellſchaftsconcert der Muſikfreunde führte uns in 
Berlioz »Carneval romain« einen wohlbefannten und den 
noch beinahe entfremdeten Gaſt vor. Es find beinahe neun 
Fahre, feit diefe Duperture unter der Leitung des Componiſten 
hier wiederholt aufgeführt und für eine Zeitlang zum allge- 
meinen Lieblingsitüd wurde. Die Duverture (in welcher Motive 
aus »Benvenuto Cellini« verwendet find) tft in ihrer effectreichen 
Illuſtration füdlihen Maskenjubels äußerlich vielleiht das 
glänzendfte, im innerften Kern aber das fühlfte Werk Berlioz. 
Wenn er in jeinem »Romeo«, »Harald«, »Lear«, in der 
»Fantastique« u. a. die tiefften und jchmerzlichiten Regungen 
des Herzend in Tönen ausblutet, jo erholt er fi gleichjam 
von dieſen Sturmnäcdten der Seele in dem blendenden Ben 
galfeuer feines »römijchen Garnevald«. Die Compofition bietet 
neben mancher bizarren und betäubenden Stelle viel Schönes, 
namentlich für den Muſiker. Das einleitende Andante ift zwar 
nicht recht ſymphoniſtiſch, doch von unleugbarem Neiz, wie e3 
erit ganz Ichliht von der Oboe vorgetragen, dann ſtets jaftiger 
colorirt wird, bis es endlich vom ganzen Orcheiter aufgenommen, 
durch Tamburin und Beden rhythmiſch gehoben, in vollem Prunf 
dafteht. Das energiiche Allegromotiv, eine jubelnde Windsbraut, 
wird gleichfall® auf das geiftreichite gefteigert. Mit dem Auf— 
nehmen der Jnjtrumentaleffecte hat das Ohr vollauf zu thun; 
ganz einfahe Dinge überraſchen es mitunter mit ungeahnten 
Wirkungen, fo 3. B. daS terzenweile Hinauf- und Hinabpfeifen 
der beiden Flöten in chromatiſcher Scala zu Ende des Andante, 


Orcheſter⸗Coucerte. 85 


hierauf jene wunderſame Terz, in der die Clarinette unter 
dem Waldhorn ſteht, und vieles andere. 

Auch die zweite Ouverture, welche das Geſellſchaftsconcert 
brachte, iſt bereits in Wien aufgeführt worden, Gade's »Nach— 
klänge von Oſſian«. Eine intereſſante, anziehende Erſcheinung, 
obendrein etwas fremdartiger Richtung, durfte dies Werk 
nach mehrjähriger Ruhe mit Recht zur Wiederholung gebracht 
werden. Der talentvolle Däne hat ſeit der Oſſian-Ouverture 
und der 1. Symphonie in C, die damit den gleichen Vorzug 
naiver Friihe und charakteriftiih nordiicher Färbung theilt, 
nicht8 Größeres geichrieben, das einen inneren Fortichritt über 
jene Jugendwerke beurfundete. Seine Symphonien (die fleine 
in B-dur etwa ausgenommen) wurden immer erfindungälojer 
und braten auffallend Mendelsſohn'ſchen Inhalt in einer 
verihwimmenden Breite der Form. Das ftarfe Anichlagen Des 
Zocaltond, der im »DOffian« volfsthümli ergreifend wirkt, 
wurde bei Gade alöbald Manier, — man wird es mit der 
Zeit endlih fatt, immer die Walkyren im Nebel herumtraben 
zu jehen. Die Offian-Ouverture ift zum größten Theil echt 
poetiſch gedacht, der Gontraft zwiſchen dem trogig friegeriichen 
Thema und dem zweiten fanften Dur-Motiv fehr glüdlich, viele 
Einzelheiten der Harmonie, Modulation und Inſtrumentirung 
äußerjt geiftreih; trogdem wirft das Ganze ermübdend, 
hauptfählid durch die meitichweifige Ausführung des 
Seitenſatzes und das fühlbare Vordrängen mufifaliiher Schil— 
derung. 

Zwei Chöre größeren Umfangs bradten Abwechslung in 
die Inftrumentalnummern: ein Gebet von Mendelsjohn 
»Verleih’ und Frieden«e und ein »Opferhymnus an 
den Zeud« von G. Meyerbeer. Die beiden Meifter ftanden 
fih mit diefen religiöfen Compofitionen auf dem Goncertzettel 
eben jo nah, als fie in der Wirklichkeit fern von einander 
ftehen. Mendelsſohn's »Gebet« bringt einen edlen Gelang 
erft in den Männeritimmen über einer mäßigen Yiguratton 
von 4 Bioloncellen, dann in den Frauenftimmen mit gleich: 
zeitigem Hinzutritt der Bläſer, endlich in etwas breiterer Aus— 
dehnung im vollen Chor. Nicht eben durch Eigenthümlichkeit 


86 1855. 


oder Erfindungsfraft unter Mendelsſohn's ähnlichen Saden 
hervorragend, erfreut doch das »Gebet« durch jenen feufchen 
Adel, jenes reine, religiöfe Gefühl, welche und die geiftlicdhen 
Muſiken dieſes Meiſters jo theuer machen. Hingegen Meyer: 
beer's Hymnus! Wie der Stier von Uri fam er »angeblafen 
mit Macht«, dröhnte ein gequältes Thema erſt unisono mit 
3 Pojaunen und Ophpyecleide, umjpielte es dann mit endlojen 
Arpeggien der Eaiteninjtrumente, ließ vollen Chorlärm mit 
Gelispel des SoloquartettS wechjeln, furz bot jedes äußerliche 
Mittel auf, um eine nicht aus dem Innern des Werkes fließende 
Wirkung zu erreichen, Mehgerbeer’3 Hynmus fam und manchmal 
por wie eine Monftre-Tranzfeription jeine® berühmten und 
berüdjtigten »Mönchs«. Die auffallende Nehnlichkeit mit ge— 
wilfen Inftrumentalfägen im »Tannhäufer«e und »Lohengrin« 
wird Freunden Rihard Wagner’: ſchlimm genug aufgefallen 
fein. Um des Aufjehens willen, den dieſes, wie überhaupt 
jedes neue Werk von Meyerbeer im Ausland erregt, müjjen 
wir dad Recht feiner Vorführung einräumen; troßdem be= 
dauern wir herzlich den Aufwand an Zeit und Mühe, welcher 
an die Aufführung unerquicklich wüſter Muſik verfchwendet 
werden mußte. 


Virtuoſen. 


Sp haben wir denn auch Wilhelmine Clauß gehört 
und ung feineswegs enttäufcht gefühlt, wie einige Wunder: 
fühtige im Publicum, die da neugierig aufjahen nad) einem 
feuergewaltigen Meteor, und fi nun nicht zurechtfanden, als 
jtatt deſſen ein ftiller Stern heraufzog, fein blafjes Licht rings— 
umher mild ausjtrahlend. 

Wilhelmine Clauß ift eine Ericheinung bon entjchieden 
mufifaliihem Beruf und Werth. Sie hat jede vorgetragene 
Stud nicht blos im gebräudlihen Sinn »ſtudirt«, fondern 
vollfommen in fich aufgeiogen; als ein warm und eigenthümlich 
Empfundenes, Selbiterlebtes gibt jie es wieder. Der Unterfchied 
dieſes Vortrags von dem fühlen, reinlichen Herabipielen der 


- 


Virtuoien. 87 


meilten »Birtuojene wird auch dem Laien aldbald Har. Nicht 
zu vermeiden ilt, daß in diefem Proceß jo innigen Aufnehmens 
das Aufgenommene manchmal allzudeutlih die Färbung der 
Subjectivität erhält, und diefe Subjectivität jcheint mir 
eine vorwiegend clegiiche, träumeriihe. Das deutihe Wort 
jinnig paßt in jeiner ganzen Schönheit auf die Spielweije 
MWilhelminens; das Träumeriihe und Wunderlihe find Die 
gefährlihen Grenzen, welche ihr nahe liegen. Sie ftreift die— 
jelben manchmal, wenn fie Chopin ſpielt, deſſen Feine, aber 
franfhafte Empfindung ohnehin zu der Willfür des Tempo 
rubato verleitet. — Am jchönften gab Wilhelmine Clauß die 
edle, ruhige Wehmuth Mendelsſohn's wieder, in zweien jeiner 
»Lieder ohne Worte. Die befannte »Jagd« von Stephan 
Heller habe ich nie ſchöner vortragen gehört. Es lag ein 
leichter Glanz, ein poetiiher Hauch auf all’ dieſen Zurzen 
Stüden. Die Schattenfeite ihres Spiels läßt fih furz und 
vollitändig damit bezeichnen, daß es ihm an Kraft fehlt. Die 
Beethoven'ſche F-moll-Sonate (op. 57) hat theilweiie dieſen 
Mangel geoffenbart, dem erfteren Saß fehlte die jtreng marfirte 
Rhythmik, dem Finale die Gewalt deö Dahinftürmend. Die 
Dimenfionen diejes leidenſchaftlichen Tonwerkes wurden Eleiner, 
als der Componiſt fie dachte. Allein innerhalb diejer ver: 
fleinerten Dimenfionen jtanden alle Theile und Theilden in 
genaueiter Harmonie. Darin erprobt fich der feine, echte muſi— 
faliide Sinn. Der Anſchlag der jungen Künitlerin ijt weich 
und elaftiich, aber in jene Grenzen des Kraftaufwandes gebannt, 
welhe ſchon die phyſiſche Conftitution gebieterifch vorzeichnet. 
Man braucht das zarte, blonde Mädchen nur zu jehen, um zu 
willen, daß es das Glavier unmöglid anpaden könne, wie 
Liſzt oder Dreyichod. 

Wenige Tage später ipielte W. Clauß dad Clavier— 
quintett in Es-dur von Shumann. Wer empfindet nicht das 
ſtolze Glück in diefem eriten Sag, deſſen Hauptmotiv einher: 
tönt wie »ein Hammer, der Feljen zerichlägt«, mit jeinen 
Schlägen aber die duftige Roſenknoſpe in Geſtalt des zweiten 
Themas hervorlodt. Wen entzüdt nicht das fantaftiich auf: 
ftürmende Scerzo, deſſen ruhelojes Drängen in den beiden 


88 1855. 


Triod noch zauberifh nachzittert; Hierauf die finnige Melodie 
de3 Andante abmwechjelnd von der Violine und den tieferen 
Geigen gefungen, nach defjen leiſem Aushallen das Finale 
enbli reich figurirend und fugirend abſchließt. Sch braude 
die der Sprade ohnehin unzugänglide Schönheit des 
Werkes nicht weiter zu rühmen, fondern blos die Trefflichkeit 
der Ausführung. Wunderbar Schön fpielte Wilhelmine die Cis- 
moll Sonate von Beethoven und gab diefem uns durch 
zahlreihe Somnambülen etwas verleideten Mondſchein den 
alten Silberglanz wieder. Im Adagio nahm fie die Melodie 
über den getheilten Dreiflängen etwas ftärfer, wodurd der 
Ichmerzlihe Ausdrud des Stüdes eine jchöne großartige Ruhe 
gewann. Das Scherzo war ſehr gemäßigt; indem fie es jedem 
Anflug von Frivolität fernhielt, erzielte fie die richtige ver- 
bindende Mitte zwijchen der Stille des eriten und dem Sturm 
des legten Sabed. Von ungemeinem Reiz find zwei »Präludien« 
(Cis-moll' und A-moll) von Stephan Heller, mit welchen und 
die Goncertgeberin zuerſt befannt machte. Den »Erlkönig« follte 
Frl. Clauß nicht Spielen und andere PBianiftinnen follten es gleich- 
falls nicht. Das iſt Liſz t'ſches Regal. Zum Theil gilt die auch 
von den »Ungariihen Rhapfodien« desſelben Componiften. 
W. Clauß milderte in der geiftreichen rhythmiſch höchſt leben— 
digen Fis-moll-Rhapjodie die Poeſie des Sporenklirrend, brachte 
aber fonft das ganze Pußtabild fein und leicht, nad) Art einer 
Federzeihnung zum Borfchein. Daß die Concertgeberin auch 
diesmal wieder mit Beifall überfchüttet wurde, will nicht jo viel 
bedeuten, als daß das Publicum je länger defto mehr fich 
ihrer poetifchen und eigenthümlichen Individualität zu afjimi- 
liren fcheint. Wilhelminend Spiel kann von dem Eindrud ihrer 
ganzen Perfönlichkeit gar nicht getrennt werden, man muß fie 
eben jo wie Liſzt fpielen jehen. Bei Naturen wie Dreyfhod, 
Willmerd u. a. ift dies nicht nothiwendig. Ohne die mindefte 
Heftigkeit oder Weberfchwenglichkeit zu zeigen, geht W. Clauß 
doch ganz in ihrem Spiel auf, ihre Züge beleben fich dabei, 
ohne eigentlih ſchön zu fein, zu einem ungemein finnigen, 
leuchtenden Ausdrud. Noch viel mehr joll died der Fall fein, 
wenn. fie ſpricht. Jch kann darüber aus eigener Erfahrung nicht 


Virtuoien. 89 


Auskunft geben. Ein Freund aber und College im fritifchen 
Beruf, der jahrelang mit Stolz das Bemwußtjein einer dra= 
koniſchen Unparteilichkeit wie einen flatternden Helmbuſch trug, 
erzählte mir eben, wie er die perfönlide Bekanntſchaft der 
jungen Dame für unumgänglich nöthig zum vollftommenen Ver: 
ſtändniß ihres fünftlerifhen Weſens erachtet habe, wie er mit 
Gritaunen einer das mufifalifche Bereich weit übergreifenden 
Bildung, einer feltenen Geiftes-Urfprünglichkeit u. ſ. w. begegnet 
und endlich unvermerkt als Enthufiaft geichieden jei. Zum Glüd 
bedürfe jo unbeftrittene Kunft feiner freundfchaftlichen Brille. 
Spielte aber W. Clauß hie und da ihm doch etwas nicht ganz 
zu Danf, jo verfchweige er’3 gern, da er den Muth verloren, 
ihr weh zu thun. Alſo ſprach die gefallene Fritiihe Größe. Da 
lag der Helmbufh. Ich aber gelobte im Innnern niemals 
die perjönliche Belanntihaft eines Künſtlers zu machen, es fei 
denn erwiejen, daß er ein vollendeter Grobian. 

Herr Giovanni Bailati hat fih zweimal auf der 
Mandoline hören Iafjen. Diefes zirpende, wiſpernde Inſtru— 
ment, dejjen bibrirender Stahlton der Maultrommel näher fteht, 
al der ihm formperwandten Guitarre, ift zur Begleitung des 
Gefanges, nicht aber zu felbftftändigem Goncertiren berufen. 
Durch ihren ſchwachen, abjpringenden Ton zum Vortrag ge: 
bundener Gantilenen beinahe untauglich, bietet die Mandoline 
auch der Figuration allzuenge Grenzen und wird im beiten 
Tall, ſtatt mufifalifhen Genuffes, einige Bewunderung un— 
fruchtbarer technifcher Gemwandtheit vermitteln. Der einzige 
hübſche Effect des InftrumentS dürfte das bis zum leiſeſten 
Hauch abfterbende Tremolo fein, das Herr Vailati auch ganz 
vorzüglich behandelt. 

»Brzowska« ift der fchwer ausfprechbare Name einer 
polniſchen Glavierpirtuofin, welche fih vor wenig Tagen hören 
ließ. Sie ſpielt ziemlich rein, zart, geläufig. Das wäre, was zu 
ihrem Lob zu berichten. Uebrigens ift ihre Technik vielfach un: 
vollendet, namentlih der Anjchlag nicht Fräftig genug. Ihr 
Vortrag repräfentirt den Typus des SFrauenzimmerlichen. Wir 
meinen damit daß Zerpflüden des muſikaliſchen Zufammenhangs 
in kleine Theilchen, in deren jedes ein bejonderes Gefühl ge: 


90 1855. 


fegt wird; die Sucht zu retardiren und zu diminuiren; die 
vielen unndthigen empfindungspollen Accente auf einzelne Noten, 
die deren nicht bedürfen; endlich das Vorherrichen einer gewiſſen 
Geziertheit und Verſchwommenheit. 

Am Abend desjelben Tages gab Herr Karl Evers ein 
Concert. Unſeres Erinnern genoß Herr Evers jeinerzeit als 
Kunftreifender einen nicht unvortheilhaften Auf. Entweder hat 
Herr Evers jeitdem Nüdjchritte, oder das öffentliche Urtheil hat 
die entgegengejeßte Bewegung gemacht: furz, die anweſenden 
Mufikfreunde waren am Sonntag Abend ziemlich einig darüber, 
fich ftarf gelangweilt zu haben. Das Programm athmete Ab— 
wechslung und Befcheidenheit, es beitand nämlih aus fünfzehn 
Nummern, ſämmtlich von der Compofition des Concertgebers. 
Als Componift gehört Herr Evers zu der unerquidlichen Claſſe 
der »Vermittelnden«, derjenigen Tonjeßer nämlich, deren »Ge— 
dDiegened« (Sonaten u. dgl.) zugleich elegant, deren »Elegantes« 
unter Einem auch gediegen fein möchte. Solche Vermittlung: 
berjuche, mögen fie auch aus einem reblichen Streben hervor— 
gehen, mwurzeln doc meiſtens in der doppelten Unfähigkeit, 
unbedingt leihtfinnig und unbedingt. fünftlerifch zu fein. So 
verhielt e8 fih auh mit Herrn Evers. Sein wiederholtes 
Beitreben, fih in größeren Formen, Sonaten, Triod, Quar— 
tetten, zu verjuchen, gibt zwar Zeugniß von einer erniteren 
mufifaliihen Beihäftigung, die Früchte dieſer Beichäftigung 
fönnen wir aber faum anders, ald jaftlos und unfchmadhaft 
nennen. Die »Sonate für Clavier und Pioline« entbehrt eben- 
ſoſehr des bedeutenden Inhaltes und der gejchlofjenen Form, 
als die Salonſtücke (»Le Trille«, »La Coquette« u. f. mw.) des 
leihten, anmuthigen Schwunges. Eine geübte Hand ift nicht zu 
verfennen. Von der anjcheinenden Neuheit der Yluftration 
Lenau'ſcher Gedihte durch charakteriftiiche Clavierftüde wird 
ih wohl niemand blenden laſſen; ob man eine Aufihrift, ein 
Motto, oder ob man ein ganzes Gedicht incommodirt, um für 
dürftige Mufif den Abglanz fremder Poeſie zu borgen, das ift 
ganz einerlei. Als Clavierjpieler fteht Herr Evers in nicht 
geringem Rückſtand gegen die Forderungen, welche man heuts 
zutage an die Virtuoſität ftellt und mit vollem Rechte jtellen 


Virtuoſen. 91 


darf. Bietet man uns Octaven-Etuden, Tillerübungen, Figura— 
tionen der linken Hand, ſo verlangen wir dazu die hämmernde 
Kraft eines Dreyſchock, den gleichen Triller eines Thalberg 
oder Willmers, die rhythmiſche Elaſticität eines Schulhoff. 
Herrn Evers' Technik mag für den Clavierlehrer, für den 
Componiſten ausreichen, nimmermehr für den Virtuoſen. Der 
Mangel an rhythmiſchem Gefühl iſt uns beſonders aufgefallen, 
wir erinnern an den verſchwommenen Vortrag der »Waſſer— 
fahrt«, der »Triller-Etude« u. dgl. Wenn man einmal Polka 
jpielt (was iſt »La Coquette« ander3?) jo fpiele man fie 
wenigſtens herzhaft und mit fyreude am Rhythmus. Durd einen 
hypochondriſch verwilchten Vortrag werden derlei Dinge nur 
noch langweiliger. 

Sn einer MWohlthätigfeitsafademie fand den Tebhafteiten 
und verdienteiten Beifall ein concertantese Duo (über Motive 
aus »Nigoletto«) für zwei Flöten, vorgetragen von den Herren 
Franz und Karl Doppler. Das Flötenſpiel der Brüder 
Doppler gehört zu dem Bedeutenditen, deſſen wir und im Ge— 
biet inftrumentaler Birtuofität erinnern. Was ſich diefem als 
Solo-Jnftrumente jehr dürftigen Rohr an befannten oder ver: 
borgenen Effecten nur immer entloden läßt, alle Kinfte der 
Doppelzunge, Trillerfetten und Interballenfprünge, bringt diejes 
flötende Brüderpaar mit einer Reinheit, Ruhe und Sicherheit 
hervor, welcher der erpichteite Flötenfeind ein Iebhaftes Sn: 
tereffe nit verjagen fan. Der mwundeite Fled des Inſtru— 
ments, fein leerer, Fühler Ton im Bortrag gebundener Gans 
tilenen, fann freilich durch feine Kunſt verdedt werden. Unſere 
Birtuofen halfen fih einigemal recht gut, indem fie einfache 
Melodien beide unisono jpielten. UHeberhaupt muß man ihren 
Compofitionen, jo wenig ſelbſtſtändige Bedeutung fie auch haben, 
die feine Weberlegung nahrühmen, mit welcher auf das 
Zufammenfpiel der beiden einander nicht blos ablöjenden, 
fondern mejentlich unterjtügenden Flöten, ſowie auf die Berück— 
fihtigung des jpecifiichen Charakters des Inſtruments geachtet 
wird. So iſt in der einen Variation das Girren und Schmettern 
der begleitenden Flöte ein überraihender und doc dem In— 
jtrumente ganz homogener Effect. 


92 1855. 


Nicht fo glüklih war mit feiner faum geringeren Bir- 
tuofität der föniglich hannoverihe Oberftabötrompeter Sachſe. 
Die Trompete wird ihrer Beitimmung als Orceiterinitrument 
bei ihrem fpärlichen Umfang und ihrem ftarren, entjchiedenen 
Klangcharakter jelten mit Erfolg entzogen und zu Goncert- 
aweden benüßt werden fünnen. Will man das friegeriihe Metall 
zu eleganten PBaflagen oder ſchmachtenden Melodien herab- 
würdigen, jo wird fi) das Material verrätherifch genug rächen. 
Man nehme dann Schon in Gottesnamen lieber den modernen 
Baftard des Hornd und der Trompete: das Flügelhorn. Durch 
die Hunftfertigkeit, mit welcher Herr Sachſe fein Inftrument 
behandelt, läßt fich diejes bald zur MWeichheit des Horns, bald 
zur Geläufigfeit der Oboe zwingen, ſtets aber nur für jehr 
furze Zeit, dann blitzt der fchrille Trompetenton doppelt em= 
pfindlich herein. Keine Mißhandlung eined Inſtruments gegen 
deffen Charakter und Beruf wird jemald einen echten künſt— 
leriihen Eindrud hervorbringen. Die von Herrn Sadje vor— 
getragene Gompofition war, der bezeichneten Richtung ent— 
prechend, eine geichmadlofe Häufung von Schwierigkeiten: 
während er fie athemlos befämpfte, bewunderten wir ihn im 
Schweiße unſeres Angefihts. 

Damit auch ein Stückchen »Claſſiſches« nicht fehle, ſpielte 
Frl. Staudach den erſten Satz des C-moll-Goncerted® von 
Beethoven, und machte wirklich ein ganz nettes, charmantes 
Männchen aus dieſem knorrigen Geſellen. Ueberdies war er 
mit Thalberg geimpft. Bekanntlich iſt's die alte muſi— 
kaliſche Unſitte der »Cadenz«, welche dem Spieler eines 
Concertes geſtattet in der Fermate einen eigenen Bravour— 
betrieb anzulegen, ſich aus den Kronjuwelen Beethoven'ſcher 
Erfindung Weſtenknöpfe und Manchettenſpangen zu machen 
und damit ein Viertelſtündchen ungenirt zu hauſiren. Solch 
äſthetiſche carte blanche wird, wie ſich von ſelbſt verſteht, 
ſo gründlich benützt, daß man ſich nicht allzuſehr verwun— 
dern darf, wenn man eines Tages eine Cadenz von Liſzt 
oder Thalberg mit eingelegtem Concert von Beethoven ange- 
kündigt lieſt. 


Orcheſter⸗Concerte. 93 


Herr Drarler fang wieder einmal Proch's »Stillen 
Zecher«, der fih mit Vorliebe in Decimenfprüngen bewegt, 
wahrjheinlih um außzudrüden, wie er immer zugleich tief im 
Glaſe und hoch an der Zeche ftehe. Nach fol’ jentimentalem 
Rührgefang, woran nicht? wahr ift ala defjen mufifaliihe Ge- 
meinheit, Hang ein Lied des viel- und Leichtichreibenden Küden 
(»die drei MWorte«) wie ein Ideal von Tonſchönheit und 
Gemüthstiefe. 


1856. 
Örchefter:Eoncerte. 


Das erfte diesjährige Concert der »Geſellſchaft der Mufit- 
freunde« wurde wunderlih genug eingeleitet duch Litolff's 
Dupverture »Chant des Belges«. Dieje dem König Leopold I. 
gewidmete und bei Gelegenheit der legten Jubiläums-Feierlich— 
feiten in Brüſſel aufgeführte mufifalifche Ungeheuer geht aus 
C-moll. Andante grandioso beginnt e8 mit einer fchmwerfällig 
rumpelnden Figur der Bälle fih zu regen. Hierauf fommt 
(molto presto) eine jener trivial-dämoniſchen Violinthemas 
herangepfiffen, welche jeit Lindpaintner und Marfchner den offi= 
ciellen Sty[ der Vampyre bilden. Sollten die Belgier wirklich 
ſolche Teufel und ihr gepriefenes Land eine Wolfsſchlucht fein? 
Litolff kümmert das wenig; im offenen MWiderjpruch mit 
Kuranda md Höffen läßt er chromatiſches Heulen und 
Zähneklappern durch jein Vaterland auf und nieder fegen, bis 
plöglih, mie ein ungeheures Nießen, ein einzelner Schlag der 
Metallbeden erflatiht. Momentane Stille. Cine Clarinette 
ftimmt, von der fleinen Trommel freundlich unterftüßt, das 
belgiſche Volkslied an, eine jehr einfache marfchartige Melodie. 
Die Violinen, durh Sordinen gedämpft und vierfach getheilt, 
tremoliren in hochliegenden Nccorden geheimnißvoll über diefer 
etwas hausbadenen Erſcheinung. Dieſes Tremolo der gedämpften 
Violini divisi, von Berlioz längſt charakteriftiih angewendet, 
beginnt nachgerade bei den Zukunftsmuſikern als allgemeines 
Hausmittel der Verblüffung angewendet zu werden. Richard 
Wagner malt damit den Herenipuf des Venusbergs, Lilzt 


DOrchelter-Goncerte. 95 


in feiner Graner Meſſe das »Gloria in exeelsis«, Litolff endlich 
den Patriotismus der Belgier. Indem nım diefe fragmentariichen 
Andeutungen der Volksmelodie immer deutlicher und ftärfer 
anſchwellen, wird auf den eigentlichen Kern- und Zielpunkt des 
Ganzen Iosgegangen: der »Chant des Belges« fommt von 
Pojaunen, Trompeten, Hörnern und Tuba mit Urgemwalt 
unisono herangeblajen, während die PViolinen und Holz: 
inftrumente in Triolengruppen dazu kreiſchen, und alle Lärm— 
inftrumente einen Speftafel beiftenern, wie wir ihn im Con— 
certjaal noch nicht erlebt haben. Auf die materielle Wirkung 
dieſes — jehr billigen — Schlußeffecte® Hin ift die ganze 
Ouverture zugejchnitten, fo daß die eriten 54 Seiten der Par— 
titur nur als ein präludirender Vorwand zu dem auf Seite 55 
hereinbrechenden todtichlägeriichen Glanz ericheinen. Litolff ar: 
beitet da genau wie ein Dramenfabrifant der Borte St. Martin, 
der zu einer effectvollen Schlußfcene ein ganzes Stüd nad): 
träglih Hinzudichtet. Das unleugbare Talent der Mache und 
einige vereinzelt hervorbligende geiftreiche Züge können Litolff’3 
Lärm-Ouverture nit vor dem gerechten Verwerfungsſpruch 
retten, der wohl alle muſikaliſch Gebilderen am 30. November 
vereinigt hat. Leicht wird es und am allerwenigiten, über 
Litolff fo abfällig zu urtheilen. Henri Litolff (außer Ver— 
hulſt vielleicht der einzige heimifche Componift, durch den Die 
Niederlande an ihre ehemalige mufifalifche Oberherrichaft 
gegenwärtig erinnern) hat durch feine früheren Werke nicht 
geringe Hoffnungen erwedt. Seine »Shymphonie-Eoncerte« für 
Elavier und Orchefter, insbeiondere »Groica« und »Hollan- 
daife«e — worin National-Melodien ganz anderd vertendet 
waren, al3 in der neuen Ouverture — find von fühnem, oft 
großartigem Wurf der Anlage, reih an geiftvollen Einzeln: 
heiten, getragen von lebhafter Phantafie und gründlichen, 
namentlih an Beethoven lehnenden Studien. Deögleichen fand 
fih in den kleineren Clavier-Compoſitionen Litolff’3 („Etuden«, 
»Souvenirs de Harzbourg« u. a.) viel Sinniges und Anmuthiges. 
Wenn Litolff vor zehn Jahren die gefunden Keime feiner Muſik, 
gereinigt von den vielen bizarren Auswüchlen, pflegte und 
großzog, dann war Bedeutendered von ihm zu hoffen. Anſtatt 


96 1856. 


deſſen fcheint der Kern abgeftorben, und blos die Methode der 
bizarren Effecte geblieben zu fein. Schon mit der Oper »Die 
Braut von Kynaſt« begann die Verarmung Litolff’3; feine 
neueften Sachen ftellen den geiftigen Bankerott vollends außer 
Zweifel, mögen fie mit äußerer Verfchwendung noch jo fehr 
zu täuschen ſuchen. Auch Litolff’3 äußere Schidjale haben ſich 
beinahe gleichzeitig jeltfjam geändert. Der früher unftäte, von 
Leidenſchaftlichkeit faſt verzehrte Feuerfopf ift nunmehr bes 
häbiger Philifter geworden, hat in Braunſchweig eine Mufik- 
verlagshandlung und die dazu gehörige Witwe geheirathet. 
Unmittelbar nad diefer bombaftiihen Prahlerei mußte 
ein Werk wie »Erlkönigs Tochter« von Niels Gade doppelt 
anmuthig wirken. Obwohl keineswegs Großes oder Hochbebeu- 
tende3 bringend, athmet es doch die Weihe natürlicher Anmuth 
und eines feinen, gebildeten Geiftes. In engem Rahmen begrenzt, 
jucht e8 denfelben nirgends anſpruchsvoll zu fprengen, bewahrt 
vielmehr eine mohlthuende Bejcheidenheit. Solche Werte (die 
Niemand mit furchtiamer Philifterarbeit verwechjeln wird) er— 
füllen heutzutage eine wohlthätige Milfion, indem fie jener 
epidemifch werdenden Großmannsſucht, weldhe in eine Sym— 
phonie den ganzen »Kosmos« hHineinzwängt, die Liebend- 
würdigfeit künſtleriſcher Mäßigung und Bildung entgegenhalten. 
Gadi nennt »Erlkönigs Tochter« eine »Ballade für Soli, 
Chor und Ordeiter«. Sie gehört jenem beliebten Genre Eleinerer 
weltliher Gantaten, welde zwar auffallend an einen geſchicht— 
lihen Zufammenhang mit den »Kammercantaten« de alten 
Garifjimi (um 1630) mahnen, thatfählih aber durch das 
praftiihe Bedürfniß nad) längeren Concertnummern in unfern 
Tagen gleihjam neu erfunden wurden. Der Tert iſt aus 
däniſchen Balladen zufammengejtellt und behandelt die von 
Herder bei und eingeführte Sage vom Herrn Dlaf, der am 
Abend vor feiner Hochzeit durch den geſpenſtiſchen Erlengrund 
reitet. Von Erlkönigs Tochter, die ihn zum Tanze zwingen 
will, geichlagen, fehrt er, den Tod im Herzen, heim. Die au 
fih kurze Begebenheit mußte -in drei Abtheilungen ausgedehnt 
werden, von denen die erite die Warnung der Mutter und 
Olaf's Abjchied, die zweite der Elfenjcene, Die dritte endlich 


»Erlkönigs Tochter von N. Bade. — »Eroica«. 97 


Diaf’3 Heimkehr und Tod enthält. Durch dies Auseinander- 
zerren kommt viel monotone Wiederholung und mander Lücken— 
büßer in dad Ganze. Auch an unmittelbarem dramatifchen 
Eindrud büßte die Cantate manches ein, und wer Löwe's 
Compofition der Herber’ihen Ballade fennt, wird einräumen, 
daß dajelbft die kurze MWechjelrede 


»Sag an, mein Sohn, und fag mir glei, 
Wovon biſt Du fo blaß und bleich«? 
»Und ſollt ich nicht fein blaß und bleich, 
Sch kam in Erlenlönigd Reich««! 


ergreifender wirft, al® die daraus geſponnene lange Scene bei 
Gade. Für den fnappen Fortichritt der Begebenheiten taufchte 
der Componiſt den Vortheil einer bequemen Auseinanderfaltung 
der Iyrifhen Momente ein. Im diefen Iyriihen Momenten 
und der ſpecifiſch nordiihen Färbung, mworein fie der Come 
ponift zu tauchen weiß, liegt defjen Stärke. Die zweite Ab- 
theilung bildet natürlih den Gipfelpunft auch in mufifalifcher 
Hinfiht, und es ift Gade hoch anzurechnen, daß er es verjtand, 
dem conventionellen muſikaliſchen Elfen-Apparat warmes, eigen: 
thümliches Leben einzuhauchen. Reizend iſt der Strophengejang 
von Erlfönigs Tochter in As-dur, der in der That wie filbernes 
Mondliht aus dem vorhergehenden E-moll-Chor hervorbricht. 
In den erjten Abtheilungen ftechen die Warnung der Mutter 
und Dlaf3 Romanze: »So oft mein Auge die Fluren 
jhaute, ausdrudsvoll hervor. Die Chöre der erjten und 
dritten Abtheilung find von einer etwa trodenen Beſchau— 
lichkeit. Sinnig iſt der Gedanke des volksthümlich gehaltenen 
Strophenlieded, womit der Chor das Ganze, nad Art eines 
Prologd und Epilogs, eröffnet und jchließt. Der Eindrud des 
Gräßlihen (Olafs Tod) durfte hier nicht der letzte bleiben. 
Der Epilog löſt ihn in milde epiſche Ruhe auf und bringt, die 
Melodie des Prolog wiederholend, das Ganze zu wohlthuender 
Abrundung. 

Zum Schluß Beethoven’ Groicaa — »bon der wir 
nicht wiederholen wollen, was Alle wiſſen« Mit diefem Satz 


pflegte Schumann, der — wenn irgend Einer — im Stande 
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 7 


98 1856. 


geweſen mwäre, feiner Bewunderung für Beethoven Worte zu 
leihen, an diefen für ein Goncertreferat allzu gigantiihen Er— 
fcheinungen vorüberzugehen. In der That wirken Kunſtwerke, 
wie Beethoven's Symphonien, bei denen jeder Taft von der 
Kritit längſt abgemweidet ift, etwas athembeflemmend auf uns 
nachgeborne Berichterftatter, denen das Herz voll ift, der Mund 
aber nicht überlaufen darf. Namentlich die »Heroiſche« unter 
den 9 Schweftern hat des verdienten Preiſes jo reichlich und 
ausführlich erhalten, daß man auf feine ihrer Schönheiten hin— 
teilen kann, ohne damit zu jpät zu fommen. Kaum, daß man 
daran erinnern darf, wie dies Werk, das 55. Beethoven's, 
ganz eigentlich die Brüde zwifchen den früheren Symphonien= 
ftyl und dem modernen bildet. In feinen beiden erften Sym— 
phonien bewegte fich Beethoven, wenn gleich mit genialer 
Sreiheit, in dem Ideenkreiſe Mozart’: in der heroiſchen Sym= 
phonie entfaltete fi zum erftenmal der ganze, eigentliche 
Beethoven. Die merkwürdigen 36 Takte im zweiten Theil 
des eriten Satzes der Eroica (Seite 33, Takt 2 der Simrod- 
fhen Partitur) bis zum Durchbruch des Streichquartett vor 
dem Eintritt der neuen Epilode (Seite 36, Takt 18) bilden 
einen bedeutfamen Wendepunkt in der fünftleriichen Entwidlung 
des Meifterd, einen Wendepunkt, der ihn fortan ungeahnte 
prachtvolle Zaubergärten entdeden ließ, auch nädtige Ab- 
gründe mitunter, die feines Menfchen Freund. Beethopen 
ſelbſt it der eigentliche Held, den die »Heldeniymphonie« 
feiert. Auf den andern, den Kriegshelden, den unſer Meifter 
eigentlich meinte, wollte fie mir nie recht paſſen. Bekanntlich) 
ichrieb Beethoven feine Sinfonia eroiea urfprünglid 1803 
zum Breife Napoleon Bonaparte’. So wird erzählt. Es 
jheint mir auffallend, daß man diefe allbefannte Thatjache, 
welche factifch ausführt, was der Titel »Eroica« furz andeutet, 
nie ernftliher an den Charakter der Symphonie gehalten 
und den umnleugbaren Zwieſpalt zwiichen beiden bemerkt hat. 
Nach meinem Gefühle iſt die »heroiihe Symphonie« durchaus 
nicht heroifh in ihrer Totalftimmung, ſondern nur nebenbei 
in einzelnen fih aufraffenden Momenten. Sie iſt durchweg 
pathetiſch, und hätte mit dieſem Beiwort ebenſo füglich 


Beethoven’s »Groicas, 99 


harafterifirt werden fönnen, al3 jene gefeierte C-moll-Sonate, 
Heldenhaft, ſchlachtenfroh, fiegreich, — dies alles iſt die Eroica 
niht in dem Sinne, welchen man mit der Vorftellung eines 
triumpbhirenden Feldherrn verbindet. Von militäriiher Kraft 
und Herrlichkeit bligen faum Hin und wieder einzelne Strahlen. 
Am Fräftigften tritt noch der erfte Sat auf: das im reinen 
Dreiflang feſt einherjchreitende Hauptmotiv durfte in der That 
einen Helden ankündigen. Allein ſchon nah 4 Taften trübt 
fih der Ton der Zuverficht, und wehklagende Accorde ſprechen 
von geheimer Trauer. Dieje gebrochenen Töne, anfangs bald 
verhallend, ehren im Verlauf länger und bebeutfamer zurüd 
und verleihen dem Ganzen einen heimlich nagenden, wunden 
Ausdrud. Durch diefen erften — wie gejagt am meiſten 
»heroifhene — Saß zieht unverkennbar ein tief gedrüdter Ton, 
ein Ton edler, aber darım nicht minder jchmerzlicher Reſigna— 
tion. Der Held tritt jchon verblutend auf. Noch viel umflorter 
ift daS eigentlich »heroifche« Element in den folgenden Süßen. 
Bekanntlich find die fanften, elegiſchen Gejangftellen die ſchönſten 
darin. Wenn irgend ein Sat berufen war, die ganze Kraft 
de3 >»heroifhen« Ausdrucks freizulafien, jo war es gewiß das 
Finale Wie viel aber gerade diefe in ihrem Anfang un— 
muthigsdüftere, in ihrem Verlauf fanfte und wiegende Muſik 
den Anforderungen des Heroiſchen fchuldig bleibt, fcheint mir 
unverfennbar; das ftolze Aufraffen der letzten 40 Takte kommt 
zu jpät, um den Totaleindrucd zu beftimmen. E83 ift freilich 
nur ein Beweis mehr von Beethoven’ mwunderbarem Kunit- 
veritand, daß er, auf grelle Gontrafte verzichtend, lieber den 
Ausdrufd aller Säte mit Rüdficht auf den Mittelpunkt des 
Ganzen (den Trauermarfh) abſchwächte und niederhielt, — 
allein ob diefe gebrüdte Skepſis dem Begriff des Heroiſchen 
entfpricht, bleibt eine andere Frage. Die C-moll-Symphonie iſt 
in ungleich höherem Grade eine heroifche, ja, die »Egmont— 
Duverture« findet in ihrer kurzen Schlußftretta einen viel 
heldenhafteren Abſchluß, als die »Eroica« in ihrem ganzen 
Finale. Das variirte graziös-fhaufelnde Gejangöthema im 
4. Sag entnahm Beethoven Note für Note feiner Ballet: 
muſik zu »Prometheus«, fie fommt jogar früher (und ſtets 
Tr 


100 1856. 


in derfelben Tonart Es-dur) auch noch in einer Sammlung 
(»Eontratänze« bon Beethoven) vor! Wem der innere Cha— 
rafter diefer Melodie nur einen »halben Beweis« für unjere 
Anficht bildet, der findet ihn mehr als ergänzt durch die That- 
ſache jener faſt unbegreiflihen Ballet:Herfunft des vermeintlich 
»heroifchen« Themas. Welche Heldengedanfen haben die Aus— 
feger hinein interpretirt! Nachdem mir die Schönheit eines 
Tonwerf3 von deilen Titel oder poetiihem Vorwurf unab- 
hängig und nur in der Harmonie der mufifalijchen Ver— 
hältniffe begründet fcheint, ift auch für den unantaftbaren Werth 
der »heroiſchen Symphonie« die Beziehung zu ihrer Ent- 
ftehung und Meberfchrift gleichgiltig. Nur zuläffig muß 
man in ſolchem Falle die Vergleihung nennen. Mehr oder 
minder fubjectiv, wie jedes jolche Meilen des mufifaliichen Aus— 
druds an feiner Ueberſchrift, ift auch daS hier angeregte Be— 
denken gegen den »heroifchen« Geiſt der »Eroicae. ch habe 
ed ‘auf die Gefahr hin, zu irren, ausgefprochen, damit Andere 
fih angeregt fühlen, ihre eigenen Wahrnehmungen damit zu 
vergleichen, oder an dem Gegenitand jelbit zu erneuern. Das 
Nachbeten bleibt immer das Leite. 

Die Gejelichaft der Mufiffreunde gab nad) längerer Unter— 
bredung ihr drittes Concert. Cine Goncert-Ouverture von 
Julius Rietz mahte den Anfang. Wie alles, was wir von 
diefem Componiften bisher fennen lernten, gehört auch die 
»Concert-⸗Ouverture« unter die Kategorie: geiftreihe Impotenz. 
Mohlgefhulter und geihmadvoller Mufiker, zugleich vortreff- 
liher Dirigent, ift Riet im freieiten Befig aller Mittel, mit 
welchen man componirt; nur was man eben componiren joll, 
ift ihm von der Natur fehr ſparſam verliehen. An die Stelle 
der Erfindung tritt bei Nie die Combination, ftatt eigener 
Ideen bringt er geiftreiche Umfchreibungen fremder. So freund: 
lih einzelne Züge anſprechen, da® Ganze bleibt unerquidlich, 
wie jede Grübelei in der Kunſt. 

Den Schluß madte R. Schumann’ Symphonie in 
B-dur (Nr. 1), diejelbe, die im Jahr 1846 unter perjönlicher 
Leitung des Componiiten hier aufgeführt worden war. Dies 
reizend erdachte und meilterwürdig außgearbeitete Werk fteht 


Schumaun's B-dur- Sompbonie. 10 l 


zwar der C-moll-Symphonie (die wir im verflofienen Winter 
gehört)” an Großartigfeit nah, gewinnt aber durd ihren 
freundlicheren Ausdruf und entzüdende Anmutd. Wer unfere 
diesjährige Mufikiaifon aus einem höheren Standpunkt über: 
ihaut, wird ihre Bedeutung hauptiählich darin finden, daß zum 
eritenmal Schumann’: Werke eine anftändige, ja vorzugs— 
weile Vertretung fanden. Diefer reiche und tiefe Geiſt gewinnt 
endlich auch bei uns allmälig Verftändniß und Verehrung. In 
den mufikliebenden Privatfreifen der NRefidenz beginnt für 
Schumann bereit eine Vorliebe, ja ein Eultus fich zu bilden, 
wie ihn bisher nur Mendelsjohn erfahren. Angeſichts folder 
Zeihen einer erfreulichen Vertiefung des Mufitgeihmads in 
Wien fann man gelaffen über die bodenloſe Unverjhämtheit 
hinmweggehen, mit welder hie und da Schumann "entweder 
jpöttich verworfen oder vornehm mit den landesüblichen Rath: 
ihlägen und Aufmunterungen erwähnt wird. Solde Literatur: 
Commis pflegen ihre Unfähigkeit, Shumann zu veriteben, 
hinter einem wohlfeilen, allgemein gehaltenen Wit auf die 
» Zufunftömufifer«e zu verihanzen. Sobald aber Jemand Schu— 
mann’ Gompofitionen mit der jogenannten » Zufunftämufif« 
zufammenmwirft, jo hat er auch jchon feine Ignoranz in muſi— 
- falifhen Dingen an den Tag gelegt. Jene mißveritändliche 
und abgeihmadte Benennung datirt von dem Ericheinen eines 
Buches von Rihard Wagner, welches den Titel »Das 
Kunftwerf der Zufunfte führte. In diefem Buche juchte Wagner 
die Fünfte der Gegenwart, wie fie als Mufif, Malerei, Poefie, 
Tanz gejondert bejtehen, als grobe Verirrungen darzuitellen, 
welchen er das deal eines »Kunftwerfes der Zufunfte, worin 
alle Künfte fih zu Einem Ganzen vereinigen, entgegenfegt. 
» Zufunftömufifer« können aljo im beiten Falle diejenigen ge— 
nannt werden, welche Wagner’3 Theorien verfechten oder zu 
realifiren juhen. Weber das Eine, noch das Andere ift unſerem 
Schumann jemal? beigefallen. Schumann’s reifite Werfe waren 
längſt gefchrieben, feine künſtleriſche Richtung längſt unablenkbar 
feſtgeſtellt, ehe (vor einem halben Decennium) Richard Wagner 
ſeine politiſche Mißvergnügtheit auf äſthetiſchen Boden ableitete 
und mit ſeinen Theorien ein Häuflein Muſikfreunde begeiſterte, 


102 1856. 


die das Unglück Haben, geiftreih zu fein, ohne muſikaliſch 
Ihaffen zu können. Schumann, der jede reblihe Perfönlichkeit 
gern ſchonte, hat fich niemals öffentlich für oder gegen Wagner 
geäußert; man braucht aber nur feine Schriften und ſeine 
Gompofitionen ftudirt zu haben, um zu erkennen, wie jehr die 
Grundfäge beider Männer fich entgegenitehen. 

Nah der Art feines Talentes verhält ih Shumann 
zu Mendelsjohn ungefähr wie Beethoven zu Mozart. 
Bon einer MWerthvergleihung, wie fie doch ſtets unfruchtbar 
und mißdeutfam ausfällt, joll hier feine Rede fein, ebenjomwenig 
ein Verſuch geichehen, die Eriftenz von Schattenfeiten in 
Schumann’ Werfen zu läugnen. Jeder große Meifter, nament- 
li in der jubjectivften Kunft, der Mufif, darf und zumuthen, 
daß wir, feine Herrlichkeit genießend, auch mit feinen Launen 
und Eigenheiten und allmälig befreunden. Dieje Eigenheiten 
fehlen jelbit im ſchlimmen Sinn faft nirgend, nur andere find 
e3 überall, und wenn wir bei Mozart und Mendelsfohn manch— 
mal einen fühlen Formalismus, ein tonjeliges® Ausbreiten, 
ein Abſchwächen und Mildern des Ausdrucks gerne hin— 
nahmen, jo haben wir bei Beethoven nd Schumann das 
grelle Nebeneinander der Gegenſätze, das eigenfinnige Feithalten 
und Hervordrängen bon Ginzelheiten, daß tieffinnige Horchen 
und Berjenfen in geheimnißvolle Zaute zu lernen und zu ge- 
wöhnen. Daß Beethoven’3 genialem Eigenfinn gegenüber die 
Aufgabe des Hörers auch nicht klein war, jollte man doch 
nicht Schon vergeffen haben. Hat man Doc die dunklen Augen 
blide Beethoven's nicht blos zu begreifen, jondern im Namen 
des »Humord« eigens zu verherrlichen gefucht, bis man endlich) 
an die Parallelifirung Beethovens mit Jean Paul (im 
Gegenjag zu Mozart, dem der fchmeichelhaftere Vergleich mit 
Goethe zufiel) gelangte; eine dee, die noch Heutzutage 
das Entzücken mander ſchönen Seele bildet. Wenn ein Ver: 
gleich zwiichen Charakteren verjchiedener Kunftfphären über: 
haupt zuläffig, jo fann Beethoven nur mit Shakeſpeare 
verglichen werden, der den Geift der modernen Poeſie über: 
haupt im Gegenſatz zur griechiichen am vollfommeniten und 
anſchaulichſten verkörpert hat. 


R. Wagner's Fauſt-Ouverture. 103 


Den tiefen inneren Unterſchied zwiſchen der muſikaliſchen 
Begabung Schumann's und jener Wagner's konnte man 
jüngſt an einer Novität des Letzteren klar genug wahrnehmen. 
Es iſt dies Richard Wagner's Ouverture zu Goethe's »Fauſt«, 
oder damit wir genau citiren, »Eine Fauſt-Ouverture« 
von R. Wagner. Wagner’3 jchreibende Ritterſchaft hat die 
feine und tieffinnige Unterfcheidung, die in diefer Benennung 
der Dupverture liegt, fo eingehend gewürdigt, daß eigentlich 
auf die Mufif jelbft kaum mehr viel ankommen kann. Die 
poetifche Bedeutung ift befanntlic die Hauptjahe. Damit der 
Hörer fih in dem dichten Nebel diefer Mufit einigermaßen 
zuredhtfinde, hat der Componiſt folgendes Motto als Leucht⸗ 
thurm der »Bedeutung« vorangeſtellt: 


»Der Gott, der mir im Buſen wohnt, 

Kann tief mein Innerſtes erregen; 

Der über allen meinen Kräften thront, 

Er kann nach außen nichts bewegen; 

Und ſo iſt mir das Daſein eine Laſt, 

Der Tod erwünſcht, dad Leben mir verhaßt«. 


Wenn man nun von einem Muſikſtück nichts weiter ver— 
fangt, als daß es in feiner Gefammtitimmung, mit was immer 
für Mitteln, den in den Schlußzeilen geihilderten Seelen: 
zuftand ausdrüde und das Publicum lebhaft in eine Situation 
verjeße, wo ihm »das Dafein eine Laft« u. f. f, jo läßt 
MWagner’3 »Eine Fauft-Duverture« nichts zu wünſchen übrig. 

Sollte aber jemand noch fo antedilupianifch denken, von 
einem großen Snftrumentalwerf auch mufifaliihe Vorzüge 
zu verlangen: Kraft und Originalität der Erfindung, Reich— 
thum und Slarheit in Anordnung und Durchführung, dann 
widerfährt ihm Recht, wenn er in Wagner’3 Ouverture wie in 
einer endlojen Sandwüſte fih vorkommt. Er tröfte fih dann 
mit der im Motto verſteckt Tauernden Ironie auf dieſe Ton 
feger, welche nur mit der poetilchen Intention componiren: 
die Intention kann tief ihr Innerſtes erregen, allein nad 
außen fann fie nichts bewegen. 


104 1856. 


Quartefffoireen von 3. Sellmesberger. 


Den Anfang mahte man wie gewöhnlid mit Haydn, 
dem Vater des Quartetts, — ein löblicher Brauch, jolange 
man über dem Vater nidt die Söhne vernadläjjigt. Die 
Vertretung dieſes Altmeifterd mit zwei Nummern in einem 
Cyclus von ſechs Abenden ift vollfommen ausreihend. Fürs 
erste find Haydn's Quartette durch eine Hundertjährige beifpiel- 
loſe Pflege jo tief in das Blut nicht blos der aufnehmenden, 
fondern auch der nachfolgend producirenden Mufifer gedrungen, 
daß wir in jedem diefer flaren und vergnügten Tonftüde einem 
alten Bekannten begegnen. Sodann lag es im funftgejchichtlichen 
Charakter der Haydn'ſchen Periode, daß feine Quartette viel— 
mehr das Gleihmäßige der Gattung repräfentiren, als ver— 
ichiedene, fcharfgefonderte Individualitäten derjelben. »Ein 
Haydn'ſches Duartett«, jagt man jehr bezeichnend, während 
man gewiß immer von Ddiefem oder jenem beftimmten 
Quartett Beethoven’ jpridt. ES fommt dem Hörer gar 
ehr darauf an, welches aus der Reihe der Beethoven'ſchen 
Duartette er hören werde, weil es eben lauter Individualitäten 
find; anders bei Haydn. Abgejehen von der grundverjchiedenen 
Berjönlichkeit der beiden Meiſter, war auch die Art zu com— 
poniren zu ihren Zeiten eine ganz andere. Wer wie Haydn 
mit feinen Symphonien die Zahl 100 überholt, mit feinen 
Quartetten fie wenigſtens geftreift hat, der fonnte unmöglich 
in jedes dieſer Werke eine eigene reiche Individualität nieder: 
legen. Indem Beethoven zehnmal weniger jchrieb, fonnte er 
zehnmal mehr hineinlegen. Aus Beethoven’ Kammermufifen 
wünſchen wir nur jene leichteften von öffentlichen Aufführungen 
ausgeichloffen, welche (wie die am 9. d. M. vorgeführte 
Biolin-Sonate in Es) überall jo gut wie auswendig gelernt 
find. Die Salieri und Haydn gewidmeten Sonaten (op. 2, 12) 
und ähnliches können ſchon füglih den mufikliebenden häus— 
lihen Kreifen überlaffen bleiben, für öffentlihe Productionen 
bieten fie im eigentlihen Sinne feine »Aufgabe« mehr. 


Schumann Trio, 105 


Für Schumann’ zweites Trio (F-dur, op. 80) find 
wir den Herren Dachs, Hellmedberger und Borzaga um 
jo dankbarer verpflichtet, ala wir die Öffentliche Vorführung 
dieſes unvergleichlichen Werkes längſt gewünſcht haben. Die 
Kammermuſiken Schumann’s find vorzugsweiſe geeignet, das 
Publicum in die tiefere Kenntniß dieſes Gomponiften einzus 
führen. Zwiſchen den jugendlich gährenden Glavier-Compofitionen 
und den Symphonien, deren großartigere Dimenfionen die Auf- 
merfjamfeit des Hörers mehr anftrengen, bieten Kammermufifen 
die günftigfte Vermittlung. In der fünftlerifhen Entwidlung 
Schumann’3 bezeichnen fie überdies einen jehr wichtigen Wende- 
punft: den Uebergang zu den größeren, mehrjäßigen Formen. 
Wir finden Schumann vom eriten bis vierundzmwanzigiten Werf 
ausihlieglih in Claviermuſik Eleineren Umfangs (Togenannten 
»GCharafterftüden«) beſchäftigt; hierauf folgte eine üppige Periode 
fait ausjchließlicher Liedercompofition — es war die jchöne 
Zeit jeiner Liebe und Werbung! — bis zum vierzigiten Werk. 
Nun erſt wendet ih Schumann zu größeren Formen und legt, 
namentlid) in den drei Streichquartetten (op. 41), dann in dem 
Clavierquartett und Quintett (beide in Es, op. 44 und 47), 
die eriten koſtbaren Früchte einer vollkommen gereiften und 
geflärten Kunſt nieder, einer Kunſt, welche fih an dem genialen 
Sturm und Drang, an den Skizzen und Iluftrationen nicht 
mehr genügt, jondern in voller Manneskraft, mit der Wärme 
der Jugend, doch ohne ihre Thorheiten, zu der Arbeit großer 
Bildungen übergeht. In diejelbe Periode höchiter Reife und 
Kraft gehört das Glavier-Eoncert in A-moll (op. 54), die beiden 
eriten Symphonien und vieles andere, bis etwa zum fiebenzigiten 
oder achtzigſten Werk. In dem Sonntags vorgeführten F-dur- 
Trio herricht eine jo reiche Erfindung, ein jo lebendiges Knospen 
und Blühen, daß es und jchwer wird, ihm die Opuszahl 80 
zu glauben und es jomit hart an die Grenze zu ſetzen, über 
welche hinaus Schumann’3 Phantafie zu grüblerifcher Abjtraction 
zu verdorren begann, und (mehrere glänzende Momente des 
Erwachens ausgenommen) genöthigt war, durch beinahe mechaniſche 
Production der äußeren Noth mehr als dem inneren Rufe zu 
genügen. Sollte nicht vielleicht das F-dur-Trio dem Haupt: 


106 1856. 


inhalt nad) früher entjtanden und erſt nadträglih im Ein 
zelnen reicher auögearbeitet worden fein? Selbit ganz beftimmte 
Anklänge, wie das ſehnſuchtsvolle Lied »Dein Bildnik wunder— 
felige im erften Sat und ein Motiv aus den »Sreißleriana« 
im Finale, ſcheinen auf eine glüdlichere Zeit Hinzudenten und 
unjere Vermuthung zu beftärfen. Bei aller feiner Wärme und 
Lebendigkeit iſt das Trio in F von einer größeren Verſammlung 
niht auf das erſtemal vollitändig zu fallen. Dieſes — 
Schumann eigenthümlihe — SImeinanderfingen und Sicher: 
folgen der Stimmen, dies Einfpinnen in geheimnißvolle Har- 
monien und Anklingen leifer Beziehungen bewirkt, daß ber volle 
Genuß feiner Schöpfungen ſich dem Hörer erft allmälig erfchließt, 
freilih um dann immer ficherer und reicher zu erblühen. Sit 
es demnad einer Direction bon Orcheiter: oder Kammermufif 
Ernjt, mit Robert Schumann nicht blos ein Intereſſe der 
Neugier zu befriedigen, fondern das tiefere künſtleriſche Be— 
dürfnig wahrhaften Kennens und Genießend, dann wird eine 
bäufigere Wiederholung feiner Werfe unumgänglich fein. 


Die ſchöne Müllerin. 


(Liederchelu3 von Franz Schubert, gefungen von Julius Stock— 
haufen.) 


Stodhaufen nahm Abichied vom Publicum, und zwar mit 
dem einfachiten Programm der Welt. Anftatt des gewöhnlichen 
Sammelfurium® von Stüden, deren eines nicht zum anderen 
gehört, laſen wir auf dem Anfchlagzettel blos: Die ſchöne 
Miüllerin, ein Liederchclus von Franz Schubert. Die Idee 
ift unſeres Wiſſens eine neue; daß fie zugleich eine glückliche 
war, zeigte der wahrhaft überrafchende Beſuch des Goncertes. 
Wie durch ftillfchweigende Verabredung hatten ſich alle echten 
Anhänger deutfher Mufit zu diefer Production eingefunden, 
welcher zu einem eigentlihen Schubertfeite nichts als Die 
ausdrüdlihe Bezeichnung fehlte. Wenig Tondichter genießen in 
Wien eines jo allgemeinen und warmen Cultus, wie Schubert. 
Die Erwartung, einen feiner duftigiten Liederfträuße in ganzer 


Schubert: Die ihöne Mülerin. 107 


Fülle und nicht bloß wie biöher, in einzelnen herausgerifienen 
Blumen zu empfangen, wirkte wie ein allgemeines Aufgebot 
auf Schubert!’ gefammte »Freundichafte. Indem GStod: 
haufen e3 unternahm, den ganzen, aus zwanzig Nummern 
beitehenden Cyclus der »Miüllerlieder« vorzutragen, gewährte 
es fürs erite dem Publicum eine unſchätzbare Anſchauung des 
Zuſammenhangs eines Werkes, das in einigen feiner Theile 
allbefannt, in anderen hingegen auffallend zurücgejegt ift. So— 
dann gewann der Sänger durd diefen Zufammenhang den 
wichtigen Bortheil, daS bisher nur lyriſch Vereinzelte dra= 
matifch auffaffen zu können. Er mußte ſich nicht mehr ftreng 
als Eoncertgeber, er durfte ſich als den lebendigen individuellen 
Mittelpunkt des Ganzen fühlen, der, all die verſchiedenen Em: 
pfindungen ausftrömend, fie wieder auf fich zurückbezieht. 

Die »ſchöne Müllerin« ift ein Eleiner, einfaher Roman 
in Liedern. Der Müllerburſche folgt auf feiner Wanderſchaft 
dem Lauf eines Bächleins, das, geheimnißvoll lockend, ihn zu 
einer Mühle führt. Er erblide die jchöne Müllerstochter und 
jucht nicht weiter; als Knappe tritt er in ihren Dienft (Nr. 1 
bis 4). Bald gibt die Liebe dem guten Jungen arg zu Schaffen; 
der Morgengruß, den er der Theuren bietet, die Blumen, die 
er ihr reicht, alles lodt ein ahnungspolles Hoffen in jeinem 
Herzen; laut in die Melt möcht’ er feine Liebe hinausrufen, 
fie jedem Baume, jedem Stein vertrauen. Das iſt ein gutes 
Zeichen, — und das dringend befragte Drafel ded Bades wird 
wohl »Ja«e lauten. (Nr. 5 bis 9). Es erblüht eine wonnevolle 
Zeit des Beſitzes, jo furz als glüdlih (Nr. 10 bis 12). Die 
ihöne Müllerin ſcheint etwas flatterfinnig zu fein; einem ſtatt— 
lihen Jäger wird es nicht jchwer, unſern Müllerburſchen aus 
ihrem Herzen zu verdrängen. Alle Qualen der Eiferſucht und 
verijhmähten Neigung bemächtigen fich des treuen hoffnungslos 
liebenden Jungen. (Nr: 13 bis 17). Tödtliches Leid im Herzen 
flieht er. die Ungetreue, und ſucht in dem Geflüfter eines 
Bächleins Troft und Vergeffenheit (Nr. 18 bis 20). Die Ge: 
jhichte ift, wie man fieht, höchſt einfach. Im ihrer jchlichten, 
innigen Weife erregt fie aber dennoch unfere ganze Theil- 
nahme, an Rückert's finnige® Wort erinnernd: 


108 1856. 


Liebe ift die älteft neu'ſte, 
Einz’ge Weltbegebenheit.« 

Wir Haben den geichichtlichen Faden, welcher des Müllers 
bald fröhliche, bald traurige Lieder durchzieht, flüchtig aufges 
zeigt, um die gümftigere und größere Aufgabe zu erflären, 
welche der Sänger dadurch gewinnt. Herr Stodhaufen hat 
dieje Aufgabe jo volllommen begriffen umd durchgeführt, wie 
man e3 von dem feingebildeten Künftler nur erwarten fonnte. 
Der Vortrag hob frohmüthig und unbefangen an, ſteigerte ſich 
alsbald zu jener leichten, glüdlichen Aufregung, welche das An— 
brechen einer neuen Liebe verfündigt, vertiefte fih allmälig in 
die Leidenschaft, um nach kurzem frohen Aufjauchzen im Weh— 
muth janft auszuflingen. Lieder, wie »Stolz und Eiferfudt«, 
‚Mein Schat hat’3 Grün jo gern« u. a. gewannen nunmehr 
ein ungewohntes dramatijches Leben, wußte ja der Hörer, wen 
Stolz und Eiferfudt galt und warum den Müller dad Grün 
fo traurig macht. Ueberbliden wir den Liedervortrag Stod- 
haufen’ im Ganzen, jo müffen wir ihm vor allem das Lob, 
auch feinerjeit3 ein Ganzes gebracht zu haben, rückhaltslos zollen. 
Die ftärkiten wie die weichiten Töne Löften fi) nit aus dem 
organifhen Bau des Liederkreiſes los, weil die Einheit der 
Empfindung fie erfüllte und band. Bon den einzelnen Liedern 
jelbft waren die elegiichen, überhaupt die bon einer milden, 
ruhigen Empfindung getragenen, vortrefflih. Der volle Ausbruch 
der Leidenfchaft hingegen, wie wir ihn 3. B. in dem Refrain 
des Liedes: »Ungeduld«, »Dein ift mein Herz!« und Aehnlichem 
wünichem, blieb von Stodhaujen unerreicht. Die Wahrnehmung, 
dat Stodhaufen’3 Organ jeit feinem erften Befuh in Wien 
gelitten habe, ift und nad) dem Anhören der Müllerlieder zur 
Gemwißheit geworden. Der gejchägte Künftler jang in den höhern 
Lagen mit Anftrengung und nit ohne Schwanten, obgleih er 
oft genug zum Faljett feine Zufluht nahm. Auch ſchien die 
Ermüdung gegen dad Ende des Concertes unleugbar. Welcher 
unfhäsbare fünftleriihe Erwerb für diefe natürlichen Mängel 
entichädigt, haben wir wiederholt auf das freudigfte anerkannt, 
und erinnern diesmal nur noch beſonders an feine treffliche 
Declamation. Im reichiten Ausftrömen der Melodie articulirte 


Schubert: Die ſchöne Mülerin. 109 


Stodhaufen bis in die einzelne Silbe verftändlih und dabei 
flüffig, ohne die mindeite Härte, — ein Vorzug, der bei einem 
zufammenhängenden Lieberchcluß doppelt ſchwer ind Gewicht fällt. 

Die »Müllerlieder« fannten vielleiht die Hälfte der Be— 
jucher bis auf die Note; und dennoh wird kaum Einer geweſen 
fein, der nicht abermals gejtaunt hätte über die geniale Kraft 
des Tondichters, der im Stande mar, einen Cyclus von 
20 Liedern au Einem Guß zu componiren, alle ſchön, die 
meilten unübertrefflih, nur wenige geringfügiger. Ein Seiten: 
ſtück dazu ift befanntlih Schubert's »MWinterreife« (ebenfalls 
von W. Müller gedichte), aus 24 Nummern bejtehend, wor: 
unter »Die Poſt«, »Gute Nacht«, »Der Lindenbaum« u. a. 
wohl unter den Liedern aller Zeiten die erften in erfter 
Reihe ftehen. Auffallend ift, daß zwiſchen der Muſik zur Winter: 
reije (Schubert 89. Werf) und der » Schönen Müllerin (feinem 25.) 
durchaus nicht jener Abftand, fei es an Verfeinerung der Technik 
oder an Berarmung der Phantaſie, vorliegt, welcher fonft fo 
weit entlegene Opuszahlen fennzeichnet. In beiden Liederfreifen 
blüht diefelbe Urfprünglichkeit und Tiefe der Empfindung, der- 
ſelbe verfchwenderifche mufifaliihe Reichtum, womit Schubert 
jo beneidenswerth audgeftattet war. Dieje Fülle mufifalifchen 
Stoffs, verbunden mit einer Leichtigkeit der Production, wie fie 
vielleiht nur noch Mozart eigen war, bedingten freilich bei 
Schubert ein jo befreiungsluftiges rückſichtsloſes Ausftrömen, 
daß von einem ftrengen Feilen und Prüfen des Einzelnen nicht 
immer die Nede fein konnte. War einmal der Hauptgedanfe 
erfaßt, fo Schritt Schubert fühn und warm auf die Hauptſache 
108, nicht rechts nicht links Shauend. So fommt es, daß jelbit 
in feinen beiten Werken fi Verleugnungen eines feineren 
mufifaliihen Gefchmades finden, wie man fie bei den minder 
reichbegabten aber gebildeteren Liedercomponiften Mendels— 
fohbn und Schumann vergeblih juhen würde Es iſt nicht 
hier der Ort, wohl aber wäre er es in jeder höheren Mufif- 
ſchule, auf die zahlreichen Unfchiclichkeiten des genialen Mannes 
aufmerfjam zu machen. Auch die Anficht, daß Schubert die 
eigenthHümlihe Stimmung jedes Gebichtes ſtets auf das ge 
naueſte traf, fcheint ung nicht in dieſer Allgemeinheit richtig zu 


110 1856. 


jein. Oft beherrfchte ihn eine mufifalifhe Idee fo kräftig, daß 
fie fih ihm mit einer nicht ganz Homogenen poetiſchen ajfimilirte; 
an ein nachträgliches Aendern war dann nicht zu denken. Man 
höre, um ein Beifpiel aus den »Müllerliedern« zu wählen, den 
Anfang des Liedes »Die böſe Farbe.«e Schubert fingt Die 
Morte: »Ich möchte ziehen in die Welt hinaus« friih und 
fühn audgreifend, wie ein thatenluftiger Reiterömann, während 
die Worte nur den gepreßten Drang eine® von Liebesleid 
Gequälten ausfprehen. Man vergleihe damit die Compofition 
deöfelben Gedicht3 von Ludwig Berger, deffen ungleich ge— 
ringered, aber ſorgſamer prüfendes Talent hier in ganz ent- 
gegengejeßter Weiſe das Richtige und Schöne traf. Will man 
fih vollends auf einzelne Strophen einlaffen, jo wird man 
Beijpiele in Menge finden, wie Schubert’ märchenhafter 
mufifalifcher Reichtum die bejonnene Arbeit feines Kunſtver— 
ſtandes oft überwucherte. 

In einer einzigen Kunjtgattung hat die Muſik jeit Beet- 
hoven einen unbeftreitbaren Fortfchritt gethan: im Liede. 
Mir danken die vor allem Franz Schubert. Seit er den 
ersten Takt jchrieb, ift jene alte geiftlofe Liederfabrication, 
welche Tert und Mufif über dürftigen Dreiflängen nebenein- 
ander herlaufen ließ, unmöglich geworden. Weber Niehl’3 ge: 
harniſchte WVorreden, noch feine zahme »Hausmufif« werden 
diejelbe zurüdrufen. 


Klara Schumann. 


Der Eindrud, den Frau Clara Schumann hervorbringt, 
äußert fi) vorwiegend als jene reine Befriedigung, deren mir 
una bei der harmonischen und maßvollen Darftellung eines 
idealen Vorwurf bewußt werden. Clara Schumann gibt mit 
ihrem Spiel eine vollfommene Neproduction jede Tonwerkes, 
das fie im Großen und Ganzen aufgenommen, im feinjten 
Detail duchforiht hat und nun treu im Sinne ded Tondichters 
wiederbelebt. Das echt künſtleriſche Unterordnen der eigenen 
Subjectivität unter die Abfiht des Tondichter8 achtet Clara 


Clara Schumann. 111 


Schumann als unverbrüdhliches Geſetz. In diefe höhere Abficht 
mit verwandtem Sinne einzudringen, ift ihr dafür gegeben auch 
wie wenigen. Mit den eriten Tonſpielen ©. Bach's umd 
Beethoven's aufgewachſen, hat fich unjere Künftlerin in den 
Gedankenkreis der höchſten Mufikdichter längſt jo eingelebt, daß, 
fie nur mehr tiefere Schönheiten dort findet, wo wir Andere 
vor Räthſeln ftehen. Als junge® Mädchen ſchon ftellte ſich 
Clara Wiek dem flachen Getändel der Virtuoſität abjeit und 
verfündigte eine der Erjten das Evangelium der jtrengen deutfchen 
Meiſter. Dennoch eritarrte fie nicht in der Einfeitigfeit einer 
Schule: die poetiihen Epigonen Schubert, Chopin, Schu— 
mann und bor allem Henjelt, wurden von der jungen 
Pianijtin zu einer Zeit dem Publicum zugänglich gemacht, wo das 
anbrechende Licht diefer Namen noch matt und unficher gänzte. 

Diefes ihr eindringendes PVerftändniß in jede Art von 
Muſik, Fall fie eben noch echte Muſik, verwerthet natürlich den 
ganzen Umfang der Technik nur als völlig überwundenes, ohne 
weiter fich fügendes Material. In dieſer oder jener einzelnen 
Richtung der PBirtuofität mag Clara Schumann von andern 
Spielern übertroffen werden; allein jo im Mittelpunkt diejer 
verfchiedenen Richtungen ftehend und deren Vorzüge zum reinen 
Ebenmaß der Schönheit verbindend, zeigt fi) fein zweiter 
Pianift. Hoch über die bloße Correctheit erhaben, bildet dieſe 
doch allezeit das weſentliche Fundament, auf welchem Clara 
Schumann baut. Jedes Werk in feinem eigenthümlichen 
mufifalifhen Styl und innerhalb deſſen wieder in feinen 
muſikaliſchen Proportionen und Unterjchieden deutlich) zur Er— 
iheinung zu bringen, iſt allzeit die Hauptaufgabe, welche die 
Künſtlerin fih ftellt. Sie fcheint mehr für Einen Meifter zu 
ipielen, der befriedigt werden, als für viele Hörer, die ergriffen 
fein wollen. Falls manchem der letteren eine kleine fühne Ab— 
weihung von der reinen Geradlinigfeit der griechiihen Profile 
erwünjcht geweſen wäre, jo ließe fich die darum nicht tadeln. 
Hinreißend, gewaltig ergreifend wirft Clara Schumann nicht. Ihr 
Spiel ift getreueftes Abbild der Compofitionen, aber nicht Ent— 
feffelung einer eigenen gewaltigen Perjönlichkeit. Der wahren 
Aufgabe der Virtuofität ſteht Freilich jenes nicht blos näher, es 


112 1856. 


erfüllt fie geradezu, und Clara Schumann’3 Spiel würde ideal 
heißen müffen, wenn nicht alles Menſchliche unvolllommen und 
jeder Vorzug feinen Mangel in fid) trüge. 

Clara Schumann würde nit nur die größte Pianiftin, 
fie müßte der erite Pianist heißen, wäre nicht das Maß ihrer 
phyſiſchen Kraft durch das Geſchlecht beichränft. Die Hinreißende 
Macht eines Klavierfpielers liegt vor Allem im Anjchlag. 
Nur wer den ganzen, vollen Ton aus dem Inſtrumente zieht, 
der wird den ganzen vollen Eindrud machen; fei e& im Sturm 
des Allegros oder im langgezogenen Gejang ded Adagio. Jede 
perſönliche Kunftleiltung wird, als ein Doppelrejultat von Geiſt 
und Sörper, den Bedingungen des leßteren ebenſo wie des 
eriteren folgen, und man braudt noch fein Karl Vogt der 
Mufit, fondern nur ein aufmerkfjamer Beobachter zu fein, um 
die unmittelbar padende Gewalt eines Pianiſten ebenfo jehr in 
jeinen Handmusfeln wie in feiner Seelengröße zu ſuchen. Wir 
erinnern beifpielöweife an Rubinſtein und Dreyſchock, deren 
gewaltigerer Anjchlag ihnen im Vergleich zu unferer Virtuoſin 
auch gewaltigere Wirkungen fihert. Streiheln und Drücden 
kann und das weichſte Händchen, paden nur eine Fauft. Aus 
diefem Grunde nur vermochte mir die zweite Varation und der 
Finalfa in Schumann’® »Etudes symphoniques« bei Clara 
Schumann den gramdiofen Gindruf nit zu machen, der 
in meiner Vorftellung davon Iebte. Unfere Künftlerin ift übrigens 
weit entfernt, fi) übermäßige Forceftüde auszumählen; fie be: 
ſchämt lieber die Kraftvirtuoſen der Neuzeit durch Männlichkeit 
des Vortrages. Nichts Weibiihes, Zerfloſſenes, Gefühlsüber- 
ſchwengliches herrfchte in dem Spiel Clara Schumann’s: es ilt 
alles bejtimmt, klar, jcharf, wie eine Bleiftiftzeihnung. Die 
häufigen kleinen Accente, die fie liebt, unterfcheiden ſich merf- 
würdig von dem Nachdrud, mit welchem die meiften Pianiftinnen 
in jede einzelne Note ein eigenes Gefühl zu legen ſuchen; was 
hier Affection der fubjectiven Empfindung, iſt dort ftet3 nur 
jorgfältiged Beleuchten rhythmiſcher oder harmoniſcher Gegen- 
füge. Wenn mir einer Seite ihrer fo vorzüglich auögebildeten 
Technik den Vorzug geben jollen, fo iſt e8 die blendende Leichtig- 
feit, mit welcher fie zierliche Süße Ichneller Bewegung fpielt. 


Glara Schumann. 1 13 


Alles Zarte, Luftige, Leichtbewegte glüdt ihr ungemein, 
wie dad am glänzenditen Mendeldjohns Lied ohne Worte, 
Chopin's Impromptu, Schumann’ Traumedwirren und Aehn— 
lihes bewährten. Auch in diefem vorzugsweiſe weiblichen Be— 
reih de3 Ausdruds wollte uns der Vortrag der Künſtlerin 
mehr tief verftändig, als tief empfunden klingen. Dem nod) 
immer herrichenden Mißbrauch des tempo rubato ftellt fie eine 
faſt ausnahmsloſe Strenge des Takte entgegen. Der metro- 
nomgleiche, jogar im Baſſe jcharf markirte Vortrag des ge: 
bundenen Mittelfages in den Des-dur-Impromtu von Chopin 
wird manchen überraicht haben. Niemand kann ihn tadeln. Ob 
aber auch Chopin's Mufit dadurd gewinne, daß man ihr 
füßträumendes Helldunfel durch taghelle Beleuchtung zeritreut, 
möchten wir nicht enticheiden. Wenigſtens dünft uns der weich 
anjhmiegende, finnende Ausdrud, mit welchem die ſchwächere 
Wilhelmine Clauß derlei Chopin’sche Stüd fpielte, in dieſem 
Fall das richtigere getroffen zu haben. 

Die edle Auswahl, welhe Frau Schumann für ihre Con— 
certe trifft, Hat die rühmendfte Anerkennung alljeits gefunden. 
63 ift eben ein nothwendiger Ausflug echter Künftlernatur, 
ih nicht zum Dienfte des Gemeinen herabzumürdigen. So un— 
erhört die Vorführung von Beethovens A-moll-Sonate (op. 101), 
von Mendelsſohn's Variations serieuses, von Schumann’ 
»Spmphonifchen Etuden« u. dgl. in einem modernen Concert 
it, fo glänzt da8 Programm Clara Schumann’? ebenjojehr 
durch feine durchwegs unbefledte Reinheit, wie durch jene ein- 
zelnen Juwelen. Bereit3 drohen die Goncerte, welche mit 
Beethoven beginnen, um mit Kullak zu enden, Tagesord— 
nung zu werden. Sn der Sucht, Allen gereht zu werden, 
tragen fie aber den Keim der Zerftörung in ſich felbit; 
denn auc die Muſik ift eine moralifhe Macht, mit der fich 
nicht ſpaßen läßt. 

Clara Schumann ſpielt nicht blos gut, ſie ſpielt nur 
Gutes. Zum größten Danke verpflichtet fie uns durch die juc- 
ceifive Vorführung der Clavierwerke ihres trefflichen Gatten, 
Robert Schumann. Diefer tiefe, geiftvolle Componiſt bat 
eine große Zahl von Slapiercompofitionen von außerordentlicher 

Hanslick. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 8 


114 1856. 


Schönheit, zum Theil aber aud von fo ungemeiner Schwierig: 
feit geihaffen, daß ein Virtuoſe erften Ranges dazu gehört, 
fie zu bewältigen. Leider hat Franz Liſzt diefe fünftleriiche 
Schuld nie eingelöft. Defto muthiger und erfolgreicher erfüllt 
jegt eine Frau die Schöne doppelte Miffion als Künftlerin und 
Gattin. Außer den großartigen »Etudes symphoniques« (op. 13) 
hörten wir von Schumann’ Compofitionen in den beiden 
eriten Goncerten Clara's noch das herrliche Quintett in Es, 
einen »Canon« aus op. 56, »Des Abends« und »Traumed- 
wirren« (aus den Phantafieftüden op. 12), »Iagdlied« und 
»Schlummerlied« (aus op. 124). Zwei ebenfo eigenthümliche 
als werthvolle Zwifchennummern waren ferner zwei Balladen 
bon Sr. Hebbel für Declamation mit hiezu componirter 
Glavierbegleitung von R. Schumann. Obmohl grundjäglich 
gegen dies melodramariihe Genre eingenommen, in welchem 
fih die Muſik vom geſprochenen Worte jpröde jondert, wie 
Del vom Wafjer, und eine Kunft die andere beeinträchtigt, 
anftatt fie zu mehren, — konnten wir und doch diesmal eines 
verhältnigmäßig reinen Eindruds erfreuen. Hebbel's meiſter— 
hafte Balladen, deren erftere Schön Hedwig«) ein liebliches 
Bild von Mädchentreue und Nitterlieb’ entfaltet, während die 
andere (»Der Haidefnabe«) ein graufiges Nochtſtück mit über: 
wältigender Kraft Jchildert, werden von Schumann's Muſik 
in bejcheidener, fein anempfindender Weiſe interpretirt. Die 
Muſik verzichtet durchaus auf die eigene Körperlichfeit und 
folgt nur wie ein Schatten bald leichter, bald dunkler den 
Geſtalten des Dichters. Da mit der Meijterin am Glavier 
eine ebenbürtige Meifterin in der Declamation fich verbunden 
hatte (Marie Seebad), und in diefer mit der höchſten Kunft 
der Rede ein feined mufifaliiches Hören, fo ftrömt das ganze 
Melodram wie von Einer Kraft erfchaffen und gehalten, er: 
greifend an den verdoppelten Organen unfrer Phantafie vor— 
über. — 


Slavier : &oncerfe. 


Der Kritiker jollte wohl feinem Lefepublicum »für gute 
und ſchlechte Zeiten« angetraut jein, wie das engliihe Ehe— 


Clavier⸗Concerte. 115 


gelöbniß lautet. Allein wenn die muſikaliſchen »hard times« 
nicht einmal den Reiz gewaltiger äſthetiſcher Unthaten oder 
Mißgeſchicke bieten, ſondern blos die Abgeſpanntheit lang— 
weiligen Alltagslebens, dann wird das Publicum hoffentlich 
ſeinem Berichterſtatter Perioden eigenſinniger Schweigſamkeit 
vergeben. Auch der Aeſthetiker hat Zeiten, wo er, von jeder 
erhebenden Erſcheinung abgetrennt, wenigſtens Schlechtes von 
einer anderen Art herbeiwünſcht, 


»Verbrechen groß und coloſſal, 
Nur dieſe ſatte Tugend nicht, 
Und zahlungsfähige Moral«! 


Unter ſolchen Umſtänden habe ich nun eine ziemliche An— 
zahl mittelmäßiger Clavier-Concerte dem Leſer verheimlicht, 
weniger vielleicht aus Bequemlichkeit, als geleitet von der 
Ueberzeugung, daß auf einem großen und gemiſchten Muſik— 
markt, wie der unſere, das gänzlich Bedeutungsloſe den An— 
ſpruch und die Beſtimmung habe, ignorirt zu werden. Heine, 
der im Laufe einer Pariſer Saiſon in eine wahrhafte Clavier— 
Vernichtungswuth gerathen war, fchleuderte damals jeine nied- 
lihften Bliße gegen dieſe »grellen Klimpertöne ohne natürliches 
Berhallen, diefe herzlofen Schwirrflänge, dieſes erzprofaiiche 
Schollern und Pidern, dieſes al’ unjer Denken und Fühlen 
tödtende Fortepiano, das und dumm macht, abgeftumpft umd 
blödfinnige. Ganz jo weit find wir nun glüdlicherweile hier 
noch nicht, wenn auch mancher böswillige Verfuch gelang, ung 
die Schattenfeiten der Glavierconcerte tief eindringlich zu 
machen. Aufrichtigen Dank verdienen zwei muthige Pianiften, 
welche offenbar in der Schönen Abſicht jpielten, andere jugend: 
lihe Concertlüftlinge vor ähnlihen Wagniffen abzuichreden. 
Um das Teuer des Mufikvereinsfaals zu fürdten, braucht man 
fih nicht mehr felbit gebrannt, ſondern blos gejehen zu haben, 
wie die die Herren Geiger und Hirit thaten. Bejonders der 
fegere, ein bildhübjcher junger Engländer, war ergöglich, wie er 
mit namenlofer Gelaffenheit die befammteften Chopin'ſchen 
Mazurfad aus dem Motenheft Herabipielte, ohne meiteren 
Uebergang eine Badh’ihe Fuge daran heftete und dergleichen 

8* 


116 1856. 


mehr. Es iſt ein Außerit angenehmer Gedanke, daß auf dem 
Felde der Tonkunſt die Goncurrenz der Engländer nicht zu 
fürdten fei. Das innerjte Weſen des Engländer ift unmuſi— 
faliid und das der Muſik antiengliih, — wir wollen nicht 
entjcheiden, welcher Theil mehr verliert. 

Herr Dionys Pruckner, ein jolider und gefälliger Pianift, gab 
ein zweites Concert mit rühmlichem Erfolge. Ein ſchöner Anfchlag, 
tabelloje Gorrectheit, eine eminente Unabhängigkeit beider Hände, 
ftehen beit Brudner im Dienfte echt mufifalifcher Auffaffung. 
Was ihm abgeht, iſt der ftarfe Fittig des Genius, der auf: 
ftürmend uns mit fi) fortreißt. Etwas nüchtern Abgemeſſenes 
flebt jeinen technifch jehr durchgearbeiteten Leiftungen an, das 
vielleicht in der weiteren Lebensentwidlung des jugendlichen 
Künftlers fih noch abſtreifen kann. Herr Brudner Hatte feine 
beneidenswerthe Technik u. A. auf ein Virtuofenftüd ſehr alltäglicher 
Art, eine Polonaiſe von Liſzt, verichwendet. Es liegt eine 
eigenthümliche Ironie darin, daß gerade Herr PBrudner, dies 
Urbild eines foliden, beinahe bürgerlih bedächtigen Clavier— 
Virruofen, dieſes Mufter von Klarheit und Genauigkeit, diejes 
Widerjpiel jeder Ercentricität, ja jeder Kühnheit, daß gerade 
Pruckner zum Herold der Liſzt'ſchen Clavier-Razzias werden 
mußte. Wo Liſzt aus eigenen Mitteln componirt, bringt er es 
nicht über einzelne intereffante Einfälle; nur in der Bearbei— 
tung fremder Themen wirft feine geijtreihe Combination und 
feine feine Kenntniß des Glaviereffectes anziehend. 

Ueber die ſich häufenden jchlechten Clavierconcerte doch 
nicht ganz zu ſchweigen, it eine Pflicht der Kritik. Wir erfüllen 
legtere durch den Wunſch, e8 möchten vorgerüdte Schülerinnen, 
wie Fräulein Bondy, die fiegreihen Schlachten, die fie im 
Familienfreije oder Prüfungsſaal auf dem Glavier geichlagen, 
nicht fogleih auf das gefährlichere Terrain der Deffentlichkeit 
übertragen. Nicht eine Seite der Technik iſt bei Fräulein 
Bondy in höherem Maße auögebildet. Vor Allem fehlt es an 
Ausdauer und Kraft des Anſchlags, namentlich in Octaven— 
gängen, wo die Hände der Goncertgeberin matt wie ange- 
ſchoſſene Vögel über die Claviatur flattern. Noch Fühlbarer 
drückt natürlich der Mangel jeder geiltigen Kraft des Aug: 


Dom Mozartfeft in Wien. 1 17 


drucks, jei es, daß fie uns elaftiich mit fich emporichnellen oder 
fih mild und tief in unjere Seele einfenfen joll. Solch emfiges, 
faft ängftliches Zufammenfädeln der Töne ift geiftiger Tod für 
Beethoven’: Muſik, und war es jelbit für deſſen G-dur- 
Sonate (op: 29), jo unverlegt deren äußerer Leib erichien. 
An Schumann’ »Traumedwirren« reichte die Technif der 
Eoncertgeberin nicht hinan; das phantaftifche Leben vollends, 
das darin wie unaudgefegter Funkenregen iprüht, war bis auf 
die legte Ahnung getüdtet. 


Dom Mozartfelt in Wien. 


Das Feitconcert zur Hundertjährigen Wiederkehr von 
Mozart’3 Geburtötag iſt am 27. und 28. Jänner im großen 
Nedoutenfaale unter ungewöhnlihem äußern Glanze vor fid) 
gegangen. Bekanntlich war es der Gemeinderath der Stadt 
Wien, welher das FFeltconcert zum Gedächtniß Mozart’s ver: 
anftaltete. Er hat fih damit um den Dank jedes vaterländiichen 
Kumftfreundes verdient gemadt, denn nicht ein Privatmanı 
oder ein Verein, jondern die Stadt Wien jelbit mußte 
durch dieſe Huldigung die untilgbare Schuld wenigſtens aner: 
fennen, in welde fie gegen ihren Bürger Mozart zu defien 
Lebzeiten verfiel. Die Stellung, die Mozart als Mann und 
pollendeter Meijter in Wien einnahm, war eine traurige Fort: 
jegung der Mißachtung, welche der Knabe und Jüngling von 
jeinem geiftlihen Souverän in Salzburg zu tragen hatte. 

In der Anordnung des Feitconcertes ging dad Comité 
von dem Princip aus, durch Vertretung aller mufifalifchen 
Hauptgattungen die künſtleriſche Univerſalität Mozart’3 zu 
illuftriren. Diefer Gedanke, die wunderbare Vielfeitigfeit Mozart’3 
in dem fleinen Rahmen eines Goncertes abzufpielen, hat jeden: 
fall viel Beftehendes, muß aber in der Ausführung unläug- 
baren Uebelſtänden begegnen. Stücde, wie das erfte Finale aus 
Don Juan und das Dies irae aus dem Nequiem gehören nım 
einmal nicht in's Concert. Einer Eleineren Stadt, welche nicht 
in der Berfafjung it, nebit Mozart’s iymphoniftiichen Com: 


118 1856. 


poſitionen noch feine firhlihen und dramatiichen Meiſterwerke 
in der Kirche und im Theater würdig aufzuführen, mag allen: 
fall3 ein folches Zufammenrüden aller Style angemefjen ſcheinen. 
Wien hätte ein Mozartfeft nah allen vier MWeltgegenden 
des mufifalifhen Reiches feiern fönnen und ſollen: in Der 
Kirche, im Concertfaal, in der »Kammer« und im Theater. 
Die vollftändige Aufführung des Requiem in einer der größeren 
Kirhen hätte dem Feſte vorauögehen, und eine mujfterhafte 
Borftellung des Don Juan e3 bejchließen jollen. Statt deſſen 
gab man am 27. im Kärntnerthortheater: »Gute Nadt, 
Herr Bantalon«e!! Außerdem, daß dad Programm Concert: 
widriges enthielt, brachte es auch zu Vieles*). Man wurde 
erdrüdt von Mufit und mußte bei der ungeheuren Hige, die 
im Saale herrſchte, fih Tange vor dem Ende geiltig und 
förperlich ermatiet fühlen. Mufitproductionen jollten aber eher 
die größte Selbitverläugnung üben, ehe fie durch Ueberfülle 
den Totaleindrud trüben. Die Ausführung der Mufifftüde war, 
mit Ausnahme des Finales aus Don Juan, eine vorzügliche. 
Diefes Finale, defjen Webertragung in den Concertjaal, wie 
erwähnt, Ihon an fih ein Mißgriff, wurde überdied von den 
erften Sängern und Sängerinnen des Kärntnerthortheaterd 
mit einer an Impietät grenzenden Läffigfeit abgefungen, ganz 
wie ein langmweilige® Penſum, dejjen man fih mit Unluft 
entledigt. 

Belanntlih ging das ganze Feltconcert unter der perfön- 
lihen Leitung von Franz Liſzt vor fid. Seine zu dieſem 
Zwef vom Wiener Gemeinderath veranlaßte Berufung bat 
unter den Mufifern und im PBublicum jo lebhafte Discuffion 
veranlaßt, daß wir diefer Frage, fo delicat fie ift, nicht aus 
dem Wege gehen wollen. Alles wohl erwogen, was fich gegen 
die Einladung Liſzt's ernftlich einwenden läßt, fann man doch 
eigentlih von ihr nur jagen, daß fie niht nothwendig war. 
Sie war für's erjte nicht nothiwendig, weil wir in Wien an 





*) Das Programm enthielt: 1. Ouverture zur Zauberflöte. 
2, Prieſterchor »Iſis und Oſiris«. 3. Clavier-Concert. 4. Dies irae, 
5. G-moll-Symphonie. 6. Concert:Arie und PViolinfolo. 7, Finale ans 
Don Juan. 


Vom Mozarifeft in Wien, 119 


Eifer und Edert jehr tücdhtige und gebildete Gapellmeifter 
befigen, denen die Leitung eines großen Goncertes, und vollends 
eines nur aus Mozart beitehenden, mit der höchſten Beruhi— 
gung amvertraut werden fonnte. Für's zweite ſteht Liſzt's 
fünjtleriihe Individualität zu Mozart in gar feiner organifchen 
Beziehung, noch weniger in der factiichen, daß Liſzt zum Ver— 
ſtändniß umd zur Verbreitung Mozart’3 etwas beigetragen hätte, 
wie ihm dies in hohem Grade rüdfichtlid Beethoven’3 zu— 
geitanden werden muß. Ein Beethoven und Schubertfeft von 
allgemeiner nationaler Bedeutung wäre in der That nicht recht 
vollftändig ohne die Gegenwart Liſzt's. Zu Mozart verhält 
fih Liſzt ganz anders; ilt er doch Yahnenträger einer muſi— 
faliichen Bartei, welche Mozart's Compofitionen zu den ab: 
gethanen Ammenmärchen wirft, über die der echte Jünger 
Richard Wagner’: nur noch lächeln kann. »Mozart, c'est le 
premier des eompositeurs medioeres«, ſagte und einft eine 
Autorität diefer neuen Propaganda. Lilzt hat übrigens vor 
wenig Tagen in einem eigenen Aufſatz für feinen gut Mozart: 
ihen Glauben das Wort erhoben und die Oppofition darauf 
reducirt, daß man auf dem Standpunkt Mozart’ nicht für 
alle Zeit ftehen bleiben müſſe, wogegen fich allerdings nichts 
einwenden läßt. Beethoven war eö, der zuerit und wiljentlich 
mit dem Mozart’ichen Ideale brach, dennoch aber hat er Itets 
mit liebevoller Verehrung an Mozart gehangen, aus dem er 
hervorging. 

ALS das Feitcomite Liſzt zur Direction einlud, hatte es 
vor allem wohl den Wunſch, durch eine hervorragende und be— 
rühmte Perſönlichkeit dem Concerte nicht blos Tüchtigkeit, ſondern 
auch Glanz zu verleihen. Daß fih mit dem Ruhme Liſzt's fein 
anderer lebender Dirigent vergleichen fann, wird man faum be: 
ftreiten. Es war demnach aud mit Sicherheit vorauszuſehen, daß 
die Erſcheinung Liſzt's hinreihen würde, ein außerordentliches 
Zuftrömen des Publicums an beiden Concerttagen zu bewirken. 
Wir glauben kaum, daß ohne Lilzt der Andrang ein jo außer: 
ordentlicher gewejen wäre, eine Erwägung, welche bei der 
wohlthätigen Widmung der Ginnahme dem Gomite wichtig 
genug jein mußte. Mochte nun im Schooß des Comité's für 


120 1856. 


oder gegen Lilzt’3 Berufung noch fo heftig gejtritten werden — 
mit dem Augenblid, als dieje Berufung bejchloffen war und 
Liſzt feine Bereitwilligfeit erklärt hatte, ihr Folge zu leiſten, 
mit dieſem Augenblid hätte jede fcheelfüchtige Regung ſchweigen 
follen. Liſzt, der die Einladung nit angeſucht, ſondern ihr 
mit einer feltenen Umeigennüßigfeit, ohne jede Vergütung ges 
folgt war; Liſzt, der die mühevollen Proben mit einem Eifer 
leitete, deifen Verdienſt nur durch die Beſcheidenheit noch über: 
boten wurde, mit welcher er beim Feitconcert fich jelbit jo ganz 
in den Hintergrund ftellte; Liſzt hätte vom Moment feines 
Eintreffend mit jener ausgezeichneten Rüdficht behandelt werden 
jollen, die man einem fo bedeutenden und Liebenswürdigen 
Gaſte jchuldet. Daß dies weder von Seiten der Mufifer, noch 
ſelbſt des Publicums in dem Maße geichah, welches wahre 
Urbanität ſo gerne einhält, iſt uns ſehr bedauernswerth er— 
ſchienen. Gerne hätten wir es unerwähnt gelaſſen, doch durften 
wir den Anlaß nicht verſäumen, gegen einen Pfahlpatriotismus 
zu proteftiren, deffen Glaubensbefenntniß offenbar mit dem Artifel 
beginnt, daß man gegen Fremde unartig fein darf. Wenn 
diefe Partei unferer Meichbildfanatiker fich entiprechend feitiekt, 
fo wird fie e8 aus lauter Patriotismus dahin bringen, daß 
ausgezeichnete Künſtler fih vor einem Beſuch in Wien kinftig 
ein Weilchen befinnen werden. 


Dom Mozartfeft in Salzburg. 


Unſer Concertfaal heißt für heute Salzburg. Die Elite 
der Miener Mufikfreunde hat fich hier eingefunden, das hundert: 
jährige Jubiläum von Mozart’ Geburt (1756) zu feiern. 
Der Vorabend des eigentlichen Feſtes jollte durch eine mufi- 
faliihe Huldigung vor der Mozartitatue bezeichnet werden. 
Ein langer Zug von Fadelträgern, Sängern und Mufikern 
bewegte fih von Mirabell über die Brüde zum Mozartpla, 
ordnete ſich daſelbſt vor dem Standbild und ftimmte die 
Gantate an. Sowohl dem Gedichte von Friedrih Bed, als 


Vom Mozartfeft in Salzburg. 121 


der Mufif von Franz Lachner (fünfftinmiger Männerchor mit 
Blechharmonie) kann man eine ruhig edle Haltung und einen, 
wenn auch nicht hochfliegenden, doch warmen Ausdrud nad: 
rühmen. Es hat fih für derlei Feitcantaten kleineren Um— 
fanges eine Art ftereotypen Styls gebildet, welchen Poet und 
Componiſt im beiten Fall mit Klarheit und Anftand hand: 
haben, jelten zu kraftvoller Originalität durchbrechen. Der 
Dichter vergißt fih doc nicht gern fo weit, einen Genius, wie 
Mozart, zu loben, und für den Gomponiften hat die Zu— 
muthung, den größten Tonmeilter mit Tönen zu feiern, gewiß 
ebenfalls etwas Beengended. Daß die ganze Abendfeier vor 
dem Denkmal nicht? innerlih Zündendes, nichts wirklich Be— 
geiiternde3 Hatte, darf wohl eingeräumt werden. Es fchien in 
der dichtgedrängten Volksmenge jedes theilnehmende Verftändniß 
des Feſtes zu fehlen. Wir haben vergebend umhergeipäht, um 
irgend eine Regung, einen Ausruf zu belaufchen, der nicht blos 
dem rothen Bengalfener gegolten hätte. Die drei von den 
Sängern ausgebrachten »Hoch!« verpufften ſchwächlich tie 
feuchte Raketen, daS Volk wartete unbeweglih eine Weile, ob 
vielleicht nod) etwa® »los« wäre, dann verlief es fih. Wir 
wollen nicht abitreiten, daß von Seite der Feitgeber vielleicht 
etwas mehr hätte gejchehen können, nm die Bedeutung der 
Feier der Maffe einleuchtender zu machen; ſei e8, indem man 
durch bildlihe Darstellungen oder Maskenzüge die Hauptfiguren 
Mozart'ſcher Opern vorführte, oder durch eine furze Rede vor 
den Stufen des Denkmals das Verſtändniß wie einen Licht: 
blig in die Menge warf, oder am beiten, indem man auf 
beiden Wegen zugleich Phantafie und Verftand anſprach. Trotz— 
dem dies aber unterlaffen worden, hätte die Theilnahme 
febhafter jein können und müfjen, würde das Volk eine Ahnung 
gehabt haben von der Bedeutung ſeines Mitbürger® Mozart. 
Es war mir eine neue, gewichtige Beftärfung der Ueberzeu— 
gung von der ariftofratiichen Natur der Kunſt und des Künſt— 
lerd. Der populärfte aller großen Componijten, Mozart, ftand 
unter der großen Menge, die jein Standbild neugierig ums 
ringte, wie der fteinerne Gaſt hoch zu Roſſe unter den niederen 
Leichenfteinen. 


122 1856. 


Die mächtigen Harmonien im Dom find verflungen, die— 
jelben Harmonien im jelben Dom, wo Mozart und jein treff- 
liher Vater zur Ehre Gotted fo oft muficirten. Wir gehen 
aus der Kirche zu Mozart's Geburtsſtätte. Es iſt ein hohes 
ſchmales Haus in der Getreidegafle; drei Zimmer im dritten 
Stodwert bildeten durch viele Jahre die Wohnung Leopold 
Mozart’3, der auch darin die Augen ſchloß. Im mittleren 
großen Zimmer ward Wolfgang geboren, in dem Kleinen 
Stübchen nebenan hat er gearbeitet. Ein fleine® Spinett fteht 
darin, von dünnem, zitherartigem Tone Mozart bediente fich 
dejjen in Wien des Nachts, um Frau und Kinder nicht 
zu weder An diefem armjeligen Kaſten entjtanden feine 
Zauberwerfe! Mozart's Goncertflügel, feine Kleine Geige, 
einige Briefe und Gompofitionen feiner Handſchriften find 
als koſtbare Reliquien aufgeitelt. Das große Familien: 
bild von La Groce und daß berühmte Kleine Buchsbaum— 
medaillon, beide durch taufend Wervielfältigungen befannt, 
bliden hier nebeneinander auf die andächtigen Verehrer Mozart's. 
Sie blicken in manches feuchte Auge. Die Wohnung Mozart's, 
auzgeftattet mit all’ dem theuren Andenken, verbleibt leider 
nicht in dieſem heilig ftillen Zuftand: ein Kaufmann bewohnt 
die Zimmer und überließ fie nur für die Feittage der Ver— 
ehrung jo vieler Fremder. Die Zeichen merfantiler Thätigfeit 
nehmen jet noch Flur und Hofraum ein, und wer mit fcheuer 
Ehrfurcht ind Hausthor tritt, der part jchnell fein Herzklopfen 
und fommt fih unter Kiften und Fäſſern vor, wie im erjten 
Band von Freytag's »Soll und Haben«. 

Das erfte, nur au Mozartihen GCompofitionen zus 
ſammengeſetzte Feitconcert ging am 8. September in wür— 
digiter Weile vor fih. Das war eine wahre, ja die einzig 
wahre Feier des Meifters, denn fie geihah durch feine eigenen 
Werke und vor funftliebenden Menjchen, die gefommen waren, 
um Mozart zu hören. E83 ift ung eine alte, unerichütterliche 
Erfahrung, daß ſich jedes Unternehmen, einen großen Geift 
anders als geiltig zu feiern, durch Mißerfolg rächt. Schon 
mit den Monumenten fängt meift das Unheil an. Wie hat 
Mozart's Standbild in Salzburg, unähnlid in den Gefichtö- 


Dom Mozartfeit in Salzburg. 123 


zügen, unmalerifh in der Stellung, Heinlih im Totaleindrud, 
wideritimmend dem Charakter der freundlichen, bergumtfreiften 
Stadt, wie hat e8 jo gar wenig innern Bezug zu dem, mas 
und »Mozart« bedeutet! Vor der mißlungenen Statue hatten 
wir borgeitern die mißlungene Straßen:Ovation: ſtockende 
Feier und ftodende Theilnahme. Geſtern erſt gelangte das 
Felt, wohin es gehörte: in den Concertjaal, und das Herz 
jedes Anmwejenden feierte es freudig mit. 


1857. 


„Les preludes‘. 


Symphoniihe Dichtung für großed Orcheſter von Franz Lifzt. 
(Aufgeführt von ber Gejellichaft ber Muſikfreunde am 8. März 1857.) 


Als der genialſte Virtuoſe unſerer Zeit, Franz Liſzt, 
der Triumphe müde ward, die Europa ſeiner echten Kunſt ſo 
gerne noch länger bereitet hätte, ſchickte er ſich bekanntlich an, 
durch eigene große Schöpfungen die Welt zu überraſchen. Wer 
nicht blos an geiſtige Thätigkeit, ſondern ebenſo ſehr daran 
gewöhnt iſt, daß ihr der Lorbeer auf dem Fuße folge, der 
vermag den Schauplatz der Oeffentlichkeit nicht zu verlaſſen; 
er wechſelt ihn nur. Der Ruhm des Tondichters Liſzt ſollte 
den Ruhm des Virtuoſen ſofort verdunkeln. Es fanden ſich 
enthuſiaſtiſche Freunde, und ließen ſich auch gefällige Schrift— 
ſteller finden, welche dieſe Transfiguration Liſzt's als ein Er— 
eigniß von unabſehbarem Gewinn für die Entwicklung der 
Tonkunſt darſtellten. Wir ſind im Gegentheil der Anſicht, daß 
die muſikaliſche Welt durch die Abdication des Virtuoſen Liſzt 
einen Verluſt erlitten habe, welcher ihr durch den Componiſten 
nur entfernt erſetzt wird. Wer die künſtleriſche Individualität 
Liſzt's während der langen Dauer ſeines Virtuoſenthums auf— 
merkſam beobachtet hatte, durfte ſich wohl von vornherein einige 
Schlüffe auf den Charakter feiner neuen Compofitionzthaten 
erlauben. Die Clavier-Gompofitionen Liſzt's, die befanntlich einen 
artigen Stoß bilden, waren durdaus von fo mittelmäßiger 
Erfindung, daß man faum von Einer daraus hätte behaupten 
wollen, fie werde fich in der mufifaliichen Literatur erhalten. 


»Les preludes«e von Liſzt. 125 


Eine große Kenntniß des Clavier-Effects und manch interefiantes 
Aperçu find alles, was ſich von Liſzt's Glavierfahen rühmen 
läßt, — bei einem Pirtuofen von Geift jelbjtverftändliche 
Dinge. Seiner dürftigen Erfindungsfraft bewußt, pflegte Liizt 
meiftens fremde Melodien in Transfcriptionen, Phantafien u. dgl. 
zu verarbeiten. In diefe Claſſe gehört ohne Ausnahme alles, 
was jemals von Lilzt Beliebtheit errang. Ueberall, wo er hin- 
gegen aus eigenen Mitteln arbeitete, brachte Liſzt ein wunder: 
liches Gemiſch von Gemeinplägen und Bizarrerien zumege, — 
man ertrug diefe Compofitionen, wenn er fie fpielte. Noch in 
jeinen legten Glavier-Gompofitionen, dem » Album de pelerinage« 
u. dgl., kann man fait ausschließliche Herrichaft diefer beiden 
Factoren wahrnehmen, zugleich das zunehmende Beſtreben, durch 
beigefügte Gedichte und ſogar Bilder die Armuth des mufifalifchen 
Inhalts zu bemänteln. Schrieb Lilzt irgend einen Chor, jo 
fonnte man nah den erjten Tacten den Componijten an der 
gequälten Melodie, den unjangbaren Mittelitimmen, der zer: 
fallenden Form erkennen. 

So verhielt es fih an 30 Jahre lang mit Liſzt's Com— 
pofitionen, die jo gut wie einftinmig abgelehnt wurden. Nun 
nahm ſich Liſzt plöglich vor, mit großen, bedeutenden Schöpfungen 
bervorzutreten. Mit der ihm eigenen geiftigen Regſamkeit und 
beneidenöwerthen Energie ging er an die Aufgabe. Zu einfichtövoll, 
um nicht Die auffallenditen Lücken feiner Begabung zu kennen, 
mußte er fih der Mufif von jener Seite nähern, wo fie, an 
äußere Objecte gelehnt, vorzugsweife den vergleichenden Ver: 
ftand beichäftigt und die poetiiche oder malerische Phantafie 
anregt. Er bradte mit Einem Wurf neun Symphonien zur 
Welt, die er »ſymphoniſche Dichtungen« nannte und mit 
ipeciellen den Inhalt diefer Muſik erflärenden Programmen verfah. 
Die Titel diefer Stüde find: »Ce qu’on entend sur la 
montagne, Tafjo, Les preludes, Orpheus, Mazeppa, 
Brometheus, Feitflänge, Heroide funebre und Hun— 
garia. Nimmt man dazu, daß Lilzt gegenwärtig an einer 
mufifaliichen Webertragung der »Sdeale« von Schiller, der 
»göttlichen Comödie- von Dante, des Goethe'ſchen Fauſt 
und ähnlicher Kleinigkeiten arbeitet, ſo wird man zugeben, daß 


126 1857. 


der Componift die höchſten Anſprüche macht, die überhaupt in 
der Mufif erhoben werden können. Er achtet jeine Mufik für 
fähig, die gewaltigiten Erfcheinungen des Mythus und der Ge- 
ichichte, die tiefiten Gedanken des Menſchengeiſtes nachzugeigen 
und nachzublajen. Den Mufifer muß diefe Methode von vorn— 
herein jehr bedenklich ftimmen, indem fie far genug ansſpricht, 
daß es fich Hier nur nebenbei um Mufif handle. Hauptiache ift 
der poetiiche Stoff, diefer ſoll durch mufifaliihe Randzeichnungen 
geijtreich illuftrirt werben. Die Berechtigung der dejcriptiven 
Mufit überhaupt angenommen, iſt Doch wieder ein großer 
Unterfhied zwijchen den Stoffen, welche man ihr zumuthet. In 
der »Meeresitille und glüdlihen Fahrt«, im »Sommernadt2- 
traume, im Programm der Paſtoralſymphonie u. dgl. wird 
Niemand die Ungezwungenheit der mufikalifchen Anjpielung ver: 
fennen, ein Mazeppa aber ift geradezu widermuſikaliſch, ein 
Prometheus jeder muſikaliſchen Beziehung jo fern, daß ſolche 
Ueberfghriften von Symphonien nur den Eindrud einer Brahlerei 
machen fünnen. 

Es iſt faum nöthig, hier die Frage über Berechtigung der 
Programm: Mufit von Anfang aufzunehmen. Niemand denkt 
mehr fo engherzig, dem Tonſetzer jede poetifche Anregung ber: 
fagen zu wollen, welche die Beziehung zu einem äußern Stoff 
ihm bietet. Die Mufif wird zwar nimmermehr im Stande fein, 
das bejtimmte Object audzudrüden oder deſſen wejentliche 
Merkmale jo darzuftellen, daß man fie ohne die Ueberſchrift 
erfenne, — allein fie mag immerhin die Grunditimmung davon 
nehmen und mit der deutlichen Benennung an der Stirne 
wenigſtens anſpielend, wenn auc nicht darftellend wirken, 
Die Hauptbedingung wird immer bleiben, daß die Mufif, allem 
Titel und Programm zu Troß, denen fie ihre Färbung leiht, 
doh immer auf ihren eigenen Gejeßen ruhe, ſpecifiſch mu— 
fifaliich bleibe, fo daß fie auh ohne Programm einen 
in fih flaren felbitftändigeun Eindrud mache. Dies nun ift die 
erite wichtigſte Einwendung, die man gegen Liſzt erheben muß, 
daß er dem Sujet feiner Symphonien eine weit größere miß- 
bräuchliche Miſſion auferlegt: nämlich den fehlenden mufifaliichen 
Inhalt entweder geradezu zu erjegen oder deffen Atrocitäten zu 


»Les pröludese von Liſzt. 127 


rechtfertigen. Zeder Menſch mit gefunden Sinnen wird fih von 
dem diffonirenden Geheul, das einen jo wejentlihen Theil der 
»Mazeppa-Symphonie« bildet, abwenden. Durch dieje Leber: 
fhrift nun foll eben dad, was und an fich mufikaliich ab: 
ſcheulich dünkt, al8 treffend und nothwendig aufdisputirt werden. 
»Der Componiſt wollte ja die jchmerzlihen Zudungen des 
geichleiften Mazeppa jchildern« u. ſ. f. — man wird zugeben, 
daß bei folcher Ausdehnung des Programmprincips es mit der 
Muſik einfah zu Ende ift. Den »ſymphoniſchen Dichtungen« 
find, wie gejagt, erflärende Vorreden von Liſzt vorgedrudt, 
die ganz in dem entießlichen, jchmwülftigfentimentalen Ton 
Richard Wagner’3 abgefaßt find. Ein ebenjo merfwürdiges Licht, 
wie dieſe jpeciellen Vorreden, die gleich einem Balletprogramım 
den taubftummen Tanz erklären, wirft die den Partituren vor: 
gedrudte gemeinfame Erklärung auf die falihe Methode Liizt’s. 
»Obſchon ich bemüht war«, heißt es darin, »Durch genaue Auf: 
zeichnungen meine Intentionen zu verdeutlichen, jo verhehle ich 
doh nicht, daß mandes, ja ſogar dad Weſentlichſte, fi 
nicht zu Papier bringen läßt.« Ich überlaffe es dem mufif- 
fundigen Leſer, zu enticheiden, inwiefern man es noch mit Ton: 
werfen zu thun habe, wo daS »Mefentlichite« desfelben ſich 
nicht in Noten wiedergeben läßt. Dirigenten und Spieler müſſen 
demnah für Liſzt'ſche Compofitionen mit einem beiondern 
Ahnungsvermögen audgeitattet jein, — von den Zuhörern ver: 
fteht ſich dieſe Schuldigfeit von ſelbſt. 

Es war zu erwarten, daß Lijzt in allen Neußerlichkeiten 
neu fein werde, So ift die Form feiner ſymphoniſchen Dichtungen 
ein Mittelding zwiſchen der erweiterten Duverturenform Mendels— 
john’3 und der mehrfägigen Symphonie. Liſzt läßt die drei bis 
vier im Charakter ſcharf unterfchiedenen Abtheilungen, aus denen 
feine Symphonien bejtehen, wie in freier Phantafie, zwanglos 
ineinander übergehen, jo daß das Ganze äußerlich als ununter- 
brochene Einheit aufgeführt wird. Das hindert freilich nicht, 
daß dieje Beitandtheile oft mojaifartig aneinander gereiht, oft 
chaotiſch durcheinander gemengt erjcheinen. Die Form einfätiger 
Symphonie kann eine Zufunft haben, wenn fie von echt 
mufifaliichen Kräften gepflegt wird; man bedarf für Concert: 


128 1857. 


Aufführungen Orchefterftüde, deren Ausdehnung etwa die Mitte 
zwifchen der Duverture und der Symphonie hält. Sämmtliche 
Liſzt'ſche »Dichtungen« find mweislich furz gehalten. 

Die »Präludien« erfcheinen charakteriftiich durch die Me— 
thode, wie die Muſik zu dem fertigen Programm rein auf dem 
Wege der Reflerion hinzugebracht wird. E3 ift faum mehr als 
ein mwißiger Gedanke, was den ganzen Stoff der Symphonie 
bildet: die Vergleichung des Menfchenlebens mit einem »Präludium« 
zu einemunbelannten jenfeitigen Gejang. Die mufifaliiche Bedeutung 
vom »Präludium« Liefert nun dem Componiften die nöthigen Guir— 
landen von Harfenarpegien u. dgl. In der Lamartine'ſchen Deutung 
werden »Liebesglüd«, »Sturm«, »ländlide Einſamkeit« und 
sfiegreiher Kampf« als rajch ineinanderfließende Nebelbilder 
porgeführt. Welche materielle Leberftopfung damit in den engen 
Rahmen eines Mufikitüdes gebracht wird, ergibt ſich von jelbit, 
ſowie die Unvermeidlichkeit einer Zerftreuung, welche daS gerade 
MWiderjpiel jener geiftigen Sammlung ift, die dag echte Kunſt— 
werf beabfichtigt. Won rein muſikaliſchem Standpunkt find die 
»Präludien«e die klarſte und gefälligite aus der Reihe der 
Liſzt'ſchen metaphufiihen Abhandlungen. Wir finden zwar fein 
Thema darin, das an fich originell oder bedeutend heißen 
fönnte, vielmehr unterlaufen ſowohl in den pathetiichen als den 
fentimentalen Theilen Anflänge von bedenklicher Trivialität; 
nod) weniger entdeden wir in dieſem poetiichen Vagabundiren 
der Vhantafie jene muſikaliſche Gedanfenentwidlung, die mir 
als »thematifche Arbeit« in jeder größeren Gompofition finden 
und finden wollen. Der ehrgeizige Drang, jeden Augenblid mit 
etwad Neuem, Genialem zu überrafchen, bringt vielmehr eine 
Unruhe in das Ganze, welcher geradezu etwas Dilettantiiches 
anflebt. Demungeadhtet vermögen die »Préludes« den Hörer 
intereffant anzuregen. Es zeigt ſich darin ein jehr lebhafter 
Sinn für Zufammenftellung der Stlangfarben; wir erinnern 
nur an die Inftrumentirung des an fich ziemlich gewöhnlichen 
Themas in E-Dur, das (Seite 21 der Bartitur) von vier 
Hörnern und getheilten Bratjchen breit vorgetragen, von Violinen, 
und Harfenaccorden leicht umſpielt, von reizender Wirfung iſt 
Ebenſo bringen (Seite 32) die aufjteigenden chromatiichen Serten- 


»Les preludes« von Liſzt. 129 


gänge des Streichquartett, anfangd nur von Fagotts und 
Glarinetten in der Tiefe, dann durch Oboen und Flöten ver: 
ftärft, eine wahrhafte Windsbraut hervor. Der lebte Sak iſt 
nicht viel mehr, ald ein Parademarſch, mit allem Glanze 
lärmender Saniticharenmufif ausgeitattet. Darauf vergißt Lilzt 
niemals; er weiß zu gut, wie folch rein finnliher Eindrud 
beim großen Publicum immer feine Schuldigfeit thut, — die 
»guten Freunde« forgen ſchon dafür, daß auch diefer Janiticharen- 
lärm als reine Erhabenheit ausgelegt werde. Lilzt bringt ihn 
aber nicht blos in ben »Preludes« an, etwa um den »Kampf« 
zu illuftriren; auch im »Taffoe, im »PBrometheud«, in den 
»Feſtklängen« begegnen wir dieſen Soldatenfreuden; fogar 
der arme »Mazeppa« wird unter Begleitung von Triangel, 
großer Trommel und Becken geichleift. Nächit diefem Talent 
für Inftrumentirung fällt in den Préludes mitunter ein feiner 
Sinn für Figurirung auf (Seite 24 u. m. a.), ſowie endlich 
unter häßliche Nccordenfolgen ſich manchmal auch eine glüd- 
lide Entdedung miſcht. 

Die Hauptſache, an der die Kritik feithalten muß, bleibt 
aber doch immer, daß alles, was an den Liſzt'ſchen Symphonien 
das Publicum feffelt und den Muſiker intereffirt, nicht aus dem 
reinen Quell der Muſik fließt, ſondern künſtlich gebramntes 
Maffer ift. Die mufifalifhe Schöpfung drängt fi) bei Liſzt 
nicht frei und urfprünglich ana Licht, er jeßt fie auf dem Wege 
der Reflerion zufammen. Wer je über unjere Kunſt nachgedacht 
bat, weiß, daß ein geiftreicher und phantafiebegabter Menſch, 
der fih das Aeußerliche der mufikaliihen Technif vollitändig 
angeeignet hat, noch fein fchöpferifcher Tondichter ift. Denken 
wir und einen Dichter wie B. Hugo, oder einen Maler tie 
Kaulbach im Beſitz aller mufifalifchen Kenntniffe, und gepeinigt 
bon dem Drang zu componiren, — ihre Tonwerke würden ohne 
Zweifel den »ſymphoniſchen Dichtungen« jehr ähnlich jein. Es 
wäre Geift, Boefie, Bilderpracht, alles vielleicht beifammen, nur 
fein mufifalifcher Kern. Liſzt gehört zu jenen genialen, aber 
unfruchtbaren Naturen, welche, von fünftlerifchem Ehrgeiz ge— 
trieben, Bedürfniß mit Beruf verwecdieln. Wenn es ihm 
heute einfiele, als Tragddiendichter aufzutreten, jo würde er 

Hanzlid. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 9 


130 1857. 


wahrjcheinfih auch in dieſer Eigenschaft Geilt und Bildung 
verrathen, ohne daß es deßhalb Jemand einfiele, ihn neben 
Shafeipeare zu ftellen. Oder vielmehr auch dazu würde fich ein 
oder der andere jener literariihen Zohndiener bereit finden, 
welhe Macaulay sein Mittelding zwiſchen Menſch und Pavian« 
nennt, und die leider überall vertreten find. Für einen muſikaliſchen 
GEntdeder oder Neformator kann Liſzt nur von Leuten gehalten 
werden, welche mit Berlioz’ und R. Wagner's Werfen nicht 
befannt find. Diefe beiden Componiſten find für Liſzt geradezu 
Vorbilder gewefen, und faum dürfte fich bei dieſem irgend ein 
Effect finden, dem nicht Aehnliches in den Werfen jener bereitö 
boraudgegangen wäre. Wo die guten wie die fchlechten Seiten 
fo auffällig vorliegen, wie bei Lilzt’3 Symphonie, dünkt uns 
auch die fünftleriihe Bilanz nicht ſchwierig. Das Intereſſe, 
welches geiftreihe Einzelnheiten, brillante Technik und das 
energiiche Verfolgen eines beftimmten Princip allzeit einflößen 
werben, fichert den Compofitionen Liſzt's eine höhere Stelle, 
als zahllojen Schularbeiten, die eine gleiche Ohnmacht regel: 
recht, aber ohne Geiſt ausarbeiten, namentlich alfo einen Vor: 
rang vor den Werfen feiner zahlreihen Claviercollegen. Diefe 
relative Höhe jedoch zur abjoluten zu erheben und Liſzt's 
Symphonien als mwahre mufifaliihe Kunftihöpfungen, als 
Meiiterwerfe oder gar als Ausgangspunkt einer neuen Der: 
jüngung der Tonfunft Hinzuftellen, fann nur gelingen, wenn 
wir zuvor jeden Begriff von reiner Inftrumentalmufit, und jede 
Grinnerung an das, was Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann 
und Mendelsjohn darin geleiftet haben, vollftändig und fir 
immer abthun. Ueber die Aufnahme der »Preludes« können wir 
nicht endgiltig berichten, Da dielelbe in einem langen und unent— 
jchiedenen Kampf zwiihen Ziſchen und Klatſchen fich äußerte. 


Orcheftler:Soncerte. 


Schumann und feine D-moll-Symphonie. 


Neu fir Wien war die D-moll-Symphonie von Robert 
Schumann. Unter Schumann's Symphonien ift fie an Umfang 


Schumann's D-moll-Spmpbhonie. 131 


die Keinfte, an Reinheit und Unmittelbarkeit der Wirkung vielleicht 
die vollfommenste. Geiftvoll und ſprühend in den raschen 
Sägen, voll zierlicher Armuth in den gemäßigten, hält fich dies 
blühende Tongemwebe in jener beglüdenden irdiichen Region, wo 
leicht bewegte Lebensfreude weder zu hoch an den Himmel 
pocht, noch zu tief in finitere Abgründe drängt. In dieſem 
liebenswürdigen QTemperament bildet dieſe vierte Symphonie 
ein Seitenftücd zu Schumann’ erfter in B und nimmt unter 
feinen Orchefterwerfen etwa die Stellung ein, wie unter Beet- 
hoven's Symphonien die zweite. 

Wer Schumann’3 Entwidlung genauer gefolgt iſt, der 
hört ohneweiter8 heraus, daß die freundliche Klarheit dieſer 
Symphonie mit der Opuszahl 120 und ber Symphonie: 
Nummer IV durdaus nicht jtimmt. In der That tft die D-moll- 
Symphonie in diefer Reihung nur herausgegeben worden; 
componirt war fie bereit3 im Jahre 1841, alſo kurz nach der 
eriten in B. Damals wurde fie fogar, wie Clara Schumann 
mir mittheilte, in Leipzig einmal aufgeführt; der Componiſt, 
mit der Inſtrumentirung unzufrieden, 309 jedoh das Wert 
zurüd, Dem unermüdlichen Zuſpruch Clara's verdanken wir es 
wohl, daß Schumann dad MWerf im Jahre 1851 wieder vor: 
nahm, neu inftrumentirte und herausgab. 

In der Zeit, wo Schumann's Werke wirklich die ver: 
hängnißvolle Zahl 100 überfchritten hatten, Tag ein fo durchaus 
frifches urfprüngliches Tonleben, wie das der D-moll-Symphonie, 
bereit weit Hinter dem jeltiam und grübleriich gewordenen 
Meiiter. Dies Werk ftammt aljo aus der glüdlichiten Epoche 
feines Schaffens und Lebens. Ein Iuftig hinraufchender Strom, 
von defjen Ufer bunte Blumen grüßen. Das Bild trifft hier 
ganz beſonders zu: durch die merkwürdige Einheit, mit welcher 
die Tonfluth ununterbrochen, gleihfam nur die Ufer wechſelnd, 
an und vorüberfließt. Wir legen weniger Nahdrud auf das 
äußerliche Mittel, wodurch Schumann diefen Vorzug erzielt, indem 
er nämlich die einzelnen Säße nur durch Generalpaufen trennt. 
Die innere Einheit der mufifaliihen Empfindung hingegen 
erfcheint in diefem Werk auf eine in der neueren Muſik höchſt 
felten vorfommende Weile getroffen. Iſt doch dieſe geheimniß- 

9* 


132 1857. 


volle Hebereinftimmung zwiichen vier, wejentlih auf dem Kunſt— 
geſetz des Contraſtes beruhenden Sägen eines der ſchwierigſten 
Stylgejege, zumal da es faſt gar nicht durch Regeln präcifirt, 
vielmehr nur dem richtigen und feinen Gefühl anheimgeftellt 
werden fanı. 

Bon der abftract-poetifhen und doch zugleich materiellen 
Weile Liſzt's und Berlioz’ jehr verichieden, läßt Shumann 
Motive des einen Sabed in den andern mehr auflingen al? 
wiederholen. So erjcheint in dem Andante jchon mit dem 
12. Takt das Thema der Introduction innig verwoben wieder, 
die dem eriten Allegro zu Grunde liegende Sechzehntelfigur 
bildet zugleich das Hauptmotiv des Finale; Eleinerer Züge gar 
nicht zu gedenken. Alle drei erften Säbe ftehen in D-moll, das 
Finale in D-dur. Den fprühenden Allegrothemen gegenüber 
wiegen fich überall zweite Melodien von reizender Anmuth. 
Das Andante ift ein romanzenartiger Geſang des PVioloncelld 
mit der Oboe, von dem fih als Mittelfag ein grazidies 
figurirtes Violinfolo abhebt. Mehr kraftvoll renommirend als 
wirklich troßig hHämmert das Scherzo los, um fi) bald in ein 
eht Schumann’shed Trio von unvergleihliher Grazie aufzu: 
löfen. Das Ganze macht nirgends den Eindrud des Großartigen, 
Gewaltigen, athmet aber in jeder Note dad MWohlgefühl einer 
geiftvollen und anmuthigen Einbildungsfraft, welche in ſchönem 
Maße bleibt und mit Sicherer Meiiterfhaft überall das 
Rechte trifft. 

Sch bin bereit3 vor Jahren dem groben Mißverſtändniß 
entgegentreten, R. Schumann mit den jogenannten >» Zufunft3- 
mufifern«e, Wagner, Liſzt und deren Schülern, in eine Claſſe 
zu werfen. Unjer muſikaliſches Publicum, welches nun fat un: 
mittelbar nacheinander eine Lijzt’she und eine Schumann'ſche 
Symphonie gehört hat, ift gegenwärtig felbft in der Lage zu 
beurtheilen, inwiefern Schumann wirklich ein Anhänger jener 
Kunftinjurrection ſei, welche den Kampf gegen die Muftt bis 
aufs Meſſer fortjegt, oder ob jein zur Zeit noch etwas unklar 
gefeierter Name blos als »gute Prife« dazugenommen ward. 
Schumann hat in feinen Symphonien, Trios, Quartetten u. ſ. w. 
gezeigt, wie man die biöherigen Formen mit einem NReichthum 


Schumann's D-moll-Spmphonie. 133 


neuen Inhalts ausfüllen, wie man Ordnung und Gefeglichkeit 
des Schaffens mit dem freieiten Flug vereinigen könne, wenn 
man eben wirklich mufikalifches Genie befigt und es im ftrenger 
Schule ausgebildet hat. Jede Seite feiner Tondichtungen, wie 
feiner Schriften, fagt es deutlich, wie ihr Autor neue Geftalten, 
allein immer auf dem einen unverrüdbaren Boden echter, auf 
fich jelbit ruhender Mufik, zu ſchaffen unternahm, *) 

Es ift kürzlich hervorgehoben worden, mie zwiichen der 
Parteiung des »Uralten und Nagelneuen, zwiſchen dem ver: 
jteinerten Zopf des Clafficismus und den ungefämmten Haaren 
einer mufifalifchen Neuromantif«e Schumann die Bedeutung 
eine Schildes erlangt hat, unter welhem man für das gute 
Neue kämpft. In der That ſchaart fih um Schumann’ Fahne 
gern Alles, was neben der Verehrung des Alten auch die Be: 
rehtigung des Neuen erfennt. 

Auh im Leben der Kunſt webt ein fortwährender Ber: 
brennungs- und Erneuerungsproceß, ein geiftiger » Stoffwechiel«. 
Kaum hat der Menfchengeift ih eine Kumjterfcheinung voll: 





* Cine Heine Tagebuch-Notiz ausgenommen (Gejammelte 
Schriften IV. 290), hat Schumann fih nirgends öffentlich über 
Nihard Wagner und feinen Anhang ausgeſprochen. Nun, wo der 
Verblichene feine Indiscretion mehr zu fürdten hat, wäre es gegen 
das Intereſſe der Kunst, feine Anſicht länger zu verfchweigen. In einem 
mir vorliegenden Briefe ddo. Düffeldorf, 8. Mai 1853, jchreibt Schu— 
mann an den Gompofiteur Debrois van Bruyd in Wien: »Wagner 
ift, wenn ih mich kurz ausdrüden fol, fein guter Muſiker; e3 
fehlt ihm an Sinn für Form und Wohlklang. Aber Sie dürfen 
ihn nicht nach Clavier-Auszügen beurtheilen. Sie würden ſich an vielen 
Stellen feiner Opern, hörten Sie fie von der Bühne, gewiß einer 
tieferen Erregung nicht erwehren können, und eö ijt auch nicht daS Klare 
Sonnenlicht, das der Genius ausftrahlt, jo iſt es doch oft ein geheim 
nißvoller Zauber, der jich unjerer Sinne bemächtigt. Aber wie gejagt, 
die Mufik, abgezogen von der Darftellung, iſt gering, oft 
geradezu dilettantiich, gehaltlo8 und widerwärtig, und es 
ift leider ein Beweis von verdorbener Kunftbildung, wenn man im 
Angefiht jo vieler dramatifcher Meiſterwerke, wie die Deutichen auf: 
zuweifen haben, dieje neben jenen herabzuiegen wagt.« — In ähnlicher 
Weife hat Schumann fih auch gegen den Schreiber dieſer Zeilen 
ausgeiprocen. 


134 1857. 


fommen affimilirt, fo verlangt es ihn nach einer neuen. Ins— 
beſondere ift’3 die Muſik unter den Künften, welche am fchnelliten 
ihre eigenen Bildungen conjumirt, um fie durch neue und immer 
wieder neue zu erjeßen. Gewiß kann die Mufif gegenwärtig 
auch bei Beethoven nicht mehr ftehen bleiben. Keineswegs aber, 
weil fie Schon ganz anderer Stoffe und Formen bedürfte, un: 
geahnter Neubauten, die alles Frühere annuliren; jondern weil 
neben dem umpverlierbaren Genuß der Beethoven’ihen Werke 
die Vhantafie bereits neue Anregungen, der Geift friihe Auf: 
gaben verlangt. Man braucht nicht fowohl neue Gattungen 
in der Mufif, als neue Individuen. 

Schumann hat, ohne die bisherigen Formen umzuftoßen, 
eine Fülle neuer und geiftvoller Ideen produzirt, in einer Form, 
welhe um jo nachhaltiger wirft, als fie nicht ſogleich und 
mühelos durchdrungen wird. Weil er nun Haydn, Mozart und 
Beethoven niht mie unbrauchbare® Gerümpel über den 
Haufen geworfen hat, muß er fih freilich von den Jacobinern 
der mujfifaliihen Bewegung einen Reactionär fchelten laſſen; 
wie denn jüngit Herr %. Brendel (der in Leipzig ftationirte 
Zufunftsagent) zur größeren Verherrlihung Liſzt's ausſprach, 
diejer habe glorreich vollbracht, was Schumann in feiner eriten 
Gährungsepohe — ehe er den »NRüdichritt« that — blos 
»geahnt« hat! 


Schubert’s C-Symphonie, Beethoven’s Tripelconcert, Gluck's 
Iphigenia-Ouverture. 


Auf dem Programm des philharmonifchen Eoncert3 glänzte 
Schubert's Symphonie in ©, ein Stern eriter Größe unter 
den nachbeethoven’shen Orcheſterwerken. Die Entdefung und 
Würdigung desjelben it eines der zahlreichen Werbienfte 
R. Schumann’ um die neuere Muſik. Es war bei feinem 
eriten Bejuh in Wien, da Schumann, nach dem Mähringer 
Friedhof pilgernd, jenen Todten fait beneidete, deſſen Gruft 
zwiihen den Gräbern Beethoven’s und Schubert’3 mitten 
inne Tiegt. Auf dem Heimweg fiel ihm bei, daß nod ein 
Bruder Schubert’3, Ferdinand, lebe, und bewegten Herzen? 


F. Echubert’3 O-dur-Spmphonie. 135 


eilte er, diejen aufzufuchen. Ueberraiht von dem Reichthum 
noch unbefannter Gompofitionen des Verftorbenen, die er hier 
vorfand, bat fih Schumann vor Allem dad Manufcript der 
C-Symphonie aus, um e8 an Mendelsjohn zur Aufführung 
zu jenden. Ferdinand willigte gern ein, und bald darauf ver- 
breitete fih aus dem Leipziger Gewandhausfaal der Ruhm 
diefer aus langem Schlummer geretteten Schönheit. 

In gewaltig breiter Fluth ergießt fich diefe Mufif, ein 
wahrer Strom von Kraft und Gejundheit. Wenig größere In— 
ftruntentalwerfe dürfte es geben, die, unter Beethoven'ſchem 
Einfluß entitanden, doch jo ganz frei von weltichmerzlicher Zer: 
riffenheit, von innerem Zwieſpalt und Zerfall fi Bielten. 
Zwiichen einem eriten Sag, der fed und fampfluftig die jungen 
Glieder regt, und einem Scerzo, das wirklich jcherzt, wenn 
auch mie ein Krieger, breitet fich ein veizendes Andante aus. 
Selbit diejes it fein Denkmal des Schmerzes, vielmehr ein 
Bild freundlichiter Anmuth, und einer Anmuth, die wohl zu 
willen jcheint, daß der melandoliihe Schimmer der Molltonart 
den Reiz ihrer fcharfen, magyartihen Rhythmik nur erhöht. 
Fanden wir in dem eriten Sat Kampfluft, fo verjegt un der 
legte mitten in den Kampf ſelbſt; Sporngeflirre dort, bier 
Sübelgeflirr. Iſt's nicht eine Schlacht dieſes Finale mit jeinen 
luſtig trabenden Triolen, feinen langaustönenden Feldrufen, 
feinem Gedränge und Streitlärm; eine Schladt, wo der Soldat 
fröhlich und der Lorbeer wohlfeil ift? Wer unbefangen genug 
ift, die ganze Symphonie wie ein frifches Wellenbad im Großen 
und Ganzen auf fich einftürmen zu laffen, der wird, erfreut, 
gefräftigt und erhoben, die Werk vielleicht über alle andern 
jegen, die jeit Beethoven erflungen find. Nicht ganz jo unge— 
trübt genießt der Kunftfreund, der über dem fräftig auf: 
Ihäumenden Inhalt die Form nicht zu vergeſſen vermag. Die 
üppig eingefegten Themen büßen in der Durchführung ihre 
Kraft ein, friſten fich durch Wiederholungen und Anftüdeln. 
Ein rafchere® Schließen verſchmäht dennoch der Componift, ja 
er täuscht (fich jelbit mehr als den Hörer) durch ein unge: 
wöhnliches Ausdehnen der Form über den für ſolche Dimen- 
fionen nicht mehr ausreichenden Inhalt. Diefe Art, jich mit 


136 1857. 


Verſchmähung fait aller polyphoner Kunft, durch Wiederholung 
einzelner Phraſen, durch Nahahmung ſehr bedenklicher Beet: 
hoven’scher Capricen, endlich durch bloße Verſtärkung des Colorits 
lange überm Waſſer zu Halten, macht an mehr als einer Stelle 
den Eindrud des Ungeichliffenen, um nicht zu jagen Unedlen. 
Ueber die auffälligen Formmängel it feine Täufhung möglich. 
Nur möge man dieſe Mängel mehr Schubert’3 ganzer Fünit- 
leriſcher Individualität zufchreiben, als einer vermeinten An: 
fängerichaft. | 

Bon Beethonen’s Tripelconcert in.C für Elavier, Violine 
und Gello jpielten die Herren Brudner, Hellmesberger 
und Härtinger den erften Sab. So jehr wir gegen jede Los— 
trennung und Zerſtücklung zufammenhängender Tonwerke find, 
diesmal war und das MWegbleiben der längeren Hälfte des 
Concerts willkommen. Es thut zu weh, die Größten ihres— 
gleihen in ſchwachen Stunden zu ertappen. Bekanntlich iſt das 
legte und längſte Stück dieſes Concertö eine Polonaiſe zopfigiter 
Art, die fich durch veraltetes Paſſagenwerk und einen wahren 
Mißbrauch der Rondoform fortipinnt. Muß man ſchon im 
eriten Sat für den Mangel eines reichen inneren Lebens die 
gefällige Würde äußerer Nepräfentation hinnehmen, jo verliert 
man über das Finale, vor welchem das furze Andante nicht 
viel mehr als eine überleitende Beſtimmung hat, beinahe die 
Faflıng. Jedenfalls ift die Stellung dieſes faſt Endlich un— 
bedeutenden Werkes als op. 65 mitten zwiichen der Eroica 
(op. 55) und der Razumowskhy'ſchen Trilogie (op. 56) ein 
eigenthümliches Curioſum. 

Von der Geſellſchaft der Muſikfreunde hörten wir Gluck's 
Ouverture zu »Iphigenia in Aulis«. Nachdem dieſe Ouverture 
unmittelbar in die erſte Scene einleitet (wo Agamemnon auf 
die Worte »Diane impitoyable« das Anfangsmotiv der Ouverture 
wieder aufnimmt), ſo bedarf ſie für Concert-Aufführungen eines 
ergänzenden Schluſſes. Der bisher überall benützte, angeblich 
von Mozart's Compoſition, führte das Tonſtück nach längerer 
glänzender Steigerung in voller Pracht zu Ende. Dieſen Schluß 
hat in neueſter Zeit Richard Wagner durch einen andern 
erſetzt, welcher die Ouverture allmälig abnehmen und endlich 


»Athaliae von Mendelsfohn. 137 


pianissimo verhallen läßt. Der Wagner'ſche Schluß ift nad) 
meinem Gefühl poetiicher, feiner, eigenthümlicher als der 
Mozart'ſche. Er entipricht weit mehr unferer heutigen Em— 
pfindungömweife, melde allenfall® das geheimnißbolle Ent: 
ſchweben Iphigenia's ſchon durch den Ausgang der Ouver— 
ture angedeutet willen will. Daß Hingegen Wagner’3 Cr: 
gänzung dem Charakter Gluck's entiprechender, und wegen 
der »anti-Gluck'ſchene Faſſung des Mozart'ſchen Schluſſes 
nothwendig ſei, wolle man nicht behaupten. Alle Ouverturen 
Gluck's, welche nicht unmittelbar in die Scene übergehen, 
ſchließen heroiſch und pomphaft mit der ungeſchmälerten Kraft 
damaliger Inſtrumentirung (»Armida«, »Orfeo« u. ſ. w.). Zu 
Gluck's Zeiten behandelte man, nad) dem Vorbilde der Sta: 
liener, die Ouverture weniger als poetiiches Spiegelbild der 
Handlung jelbit, denn vielmehr als ein abgeſchloſſenes, glän— 
zendes Einleitungsftiik quand m&me. Das ahnungsvolle Dämmer: 
licht verhallender Schlüffe war den Orchefter-Compofitionen des 
porigen Jahrhunderts ein ganz fremdes Clement, und wo es, 
wie im vorliegenden Falle, una jympathijcher berührt, als das 
jtereotype jchmetternde Pathos der älteren Dupverturen, muß 
man ſich wenigften hüten, diefe Wirkung aus einer vermeintlich 
größeren hiſtoriſchen Nichtigkeit herzuleiten. Das Tempo der 
Duperture ſchien und zu langjam. Mag man fie immerhin 
einft jo genommen haben, — wir hören heutzutage jchneller. 


»Athalia«e von Mendelsſohn. 


Das Programm des »Geſellſchafts-Concertes« bejtand 
einzig und allein aus der Mendelsjohn’ihen Athalia— 
Muſik. Diefe Compofition (Ouverture, Mari, Zwilchenfpiele 
und Chöre) war befanntlih in hohem Auftrag (1844) ge— 
ſchrieben und bejtimmt, einen integrirenden Theil der wirklichen 
Aufführung der Nacine’fchen Tragödie zu bilden. Nachdem 
legtere aber von den deutjchen Bühnen längſt verſchwunden ift, 
beeilte man fi, die Mufit des hochverehrien Meiſters abgelöſt 
vom Drama zu retten, und für den Concertgebrauch einzu— 
rihten. Das bereit3 mehrfach erprobte Aushilfgmittel der 


138 1857. 


»verbindenden Declamation«e mußte auch bei der »Athalia« 
für das Verftändniß des Hörers und für den Zufammenhang 
der Mufikjtüde forgen. Dieſer Nothbehelf vermag aber hier 
durchaus nicht zu genügen. Wenn wir die Mufif zu »Egmont«, 
zur »Precioja«, zum »Sommernadtötraum« auf folhe Weife 
hören, jo ergänzt die lebendige Erinnerung an diefe Bühnen: 
werke jchnell die Lücken des blos erzählenden Vortrags, welcher 
jomit mehr die formelle Aufgabe einer äußeren Verbindung 
erfüllt, ald daß man ihn weſentlich zum Verſtändniß brauchte. 
Racine's Trauerjpiel hingegen iſt dem deutſchen Publicum 
viel zu fremd, der altteſtamentariſche Stoff ihm viel zu fern— 
jtehend, als daß hier ein declamatoriſches Nothgerüft das wirk— 
fihe dramatiiche Leben auch nur annähernd zu fuppliren vers 
möchte. Auch die trodene Geſchichtskenntniß reicht nicht Hin, 
um den Hörer in den Vorgang theilnehmend zu verſenken. Es 
fehlt durchaus die finnlihe Anfchaulichkeit. Das Eoncert-Arran= 
gement der »Athalia« bringt es nirgend dazu; man fühlt in 
feinem Momente, um was es fich handelt, jelbit wenn man e3 
weiß. Zu dieſer Frembartigkeit des Inhalts gefellt fich der 
Hebelitand, daß viele Muſikſtücke der »Athalia« der ſceniſchen 
Ausführung geradezu bedürfen. Die Klage der Frauen, wäh: 
rend vor den Thoren die Schlaht tobt; die einander contra= 
ftirend gegenüber geftellten Doppelhöre; der Marjch der zum 
Kampf abziehenden Sfraeliten ; ihr Dankgebet, nach dem letzten 
fernen Herüberkflingen von Athalia's Trompeten, — dies alles, 
feinerer Züge nicht zu gedenken, verliert mit der dramatiſchen 
Anfchaulichkeit auch die Hälfte feiner mufifaliichen Kraft. Iſt 
e3 doch nicht zu verfennen, daß letztere gerade in den drama— 
tiihen Höhenpunkten auf eine Unterftügung und Verſtärkung 
von Seiten des ſceniſchen Eindrud3 rechnet. Mendelsſohn war 
e3 überhaupt nicht gegeben, fich ſtark und unmittelbar auszu— 
iprechen, weshalb wir aud) jeinen Leiftungen in der Oper mit 
geringer Zuverficht entgegenfahen. In der »Athalia« bewegen 
fih nun obendrein faſt alle Situationen, welde dem Compo— 
niften ſich darboten, in jehr ähnlicher, gebrüdter Empfindung? 
lage. Trauer über den Gößendienit nnd Iſraels Knechtſchaft 
bildet von der janften Klage bis zur dumpfen Verzweiflung fait 


»Athalia« von Mendelsiohn. 139 


allein die Unterlage der ganzen Mufif; nur die friegeriichen 
Anklänge zum Schluß werfen einen gligernden Schein darüber. 
Er wirft am belebenditen in dem ſchön rhythmifirten Chor: »So 
geht, ihr Kinder Aarons«! Der Mari jelbit ift minder ge— 
lungen; er leidet unter der Erinnerung an den Hochzeitsmarſch, 
wie er bei jeinem Entſtehen wahrjcheinlich unter den verſchieden— 
artigiten Hiftorifhen und dramatiſchen Rüdfichten gelitten hat. 
In Goncertform hat Mendelsſohn's »Athalia« nirgends einen 
fo tiefen, ergreifenden Eindrud auf das Publicum hervorgebradt, 
wie die anderen größeren Werke dieſes Meifters: fein »Lob— 
geſang«, ⸗»Walpurgisnacht«, die »Pjalmen«, von den Dratorien 
»Paulus« und »Eliad» gar nicht zu reden. 

Durh die erwähnten Webelftände gehindert, das Ganze 
warm und unmittelbar in fih aufzunehmen, hält man fih an 
GEinzelnheiten. Deren enthält dad Werk viele von großer 
Schönheit. Darunter in erfter Reihe der Chor in F-moll: »Iſt 
es Glüd, ift es Leid?« Dieje unfäglich fanfte, rührende Klage 
und ihr tröftender Ausgang: »Ein Herz vol Frieden« fallen 
fo ganz in jenen Kreis des muſikaliſchen Ausdruds, welchen 
Mendelsjohn wie fein Zweiter auszufüllen verjtand, In der 
eriten Abtheilung arbeitet fi) insbefondere der Chorjag: »O 
Sinai, gedenk' der heil’gen großen Stunde« mit gewaltig ans 
ſchwellender Kraft heraus. Er iſt in dieſer Art jedenfalls das 
Hervorragendite in der Athalia, welche einen weit größeren 
Raum zarten, Hagenden Empfindungen überläßt. Diefe werden 
in der langen zweiten Nummer mit ihren pfalmodiichen An— 
fängen und gleihförmigen Rhythmen monoton, umfjomehr, als 
dem Gomponiften die Verwendung von Tenor und Baß zu 
den Soli verwehrt war. Für die Concertwirfung jo gut wie 
verloren ift das große, nur in fcenifcher Aufführung veritänd- 
lihe Melodram. Die dritte Abtheilung (als ſolche könnte man 
ohne weiterd die drei lekten Nummern zufammenfallen) it Die 
muſikaliſch wirkſamſte. 


140 1857. 


Wiener Männergeflangverein. 


Die Beichränktheit, welcher der lyriſche Männerchor in 
Mitteln und Ausdehnung unftreitig unterliegt, ruft häufig zwei 
Grtreme hervor: Gomponiften, denen die fleine Form fehr 
gelegen fommt, um darin einen allerfleiniten Inhalt anzu— 
bringen, und folche wieder, welche der Form zu viel zumuthen 
und mit großen Intentionen den einheitlichen Verband jprengen. 
Beiipiele der eriteren Art find nur zu häufig; zur leßteren 
gehört unter anderm Herbeck's »Morgengebete. Nachdem der 
Componiſt in der erften Strophe »D wunderbares, tiefes 
Schweigen«, die Grunditimmung des Ganzen ſchön und be= 
deutend wiedergegeben, läßt er fih durd den Schlußgedanken 
des Dichters (»Umd buhlt mein Lied, auf Weltgunft lauernd« 2c.) 
verleiten, fo ungemefien ind Grandiofe und Dramatiſchbewegte 
vorzufchreiten, daß wir uns plöglih in ein fremdes Gebiet 
geworfen jehen, von dem aus mir jenen Ausgangspunkt 
faum mehr erbliden fönnen. Nun jollte aber im Iyrijchen 
Gedicht die Muſik weit mehr die Stimmung des Ganzen 
wiederzugeben fuchen, als die einzelnen Worte; ein Princip, 
welches doppelt gewichtig erjcheint, fobald nicht die ſchmiegſame 
Einzelftimme, fondern die unbeugſame Maſſe eined ganzen 
Chor3 dad Organ des mufifaliichen Ausdruds wird. 

Intereffante Novitäten waren zwei Vocal-Compoſitionen 
von Franz Lifzt. Die erſte (doppelt bejegtes Duartett mit 
zwei Hörnern) hat Goethe's Gedicht: »Ueber allen Gipfeln ift 
Ruhe zum Terte. Diefer wunderbaren furzen acht Seilen, die 
jelbft nur wie ein Hauch durch die Sabbathitille der Natur 
twehen, werden von Liſzt auf den dritten Grad feiner Compo— 
jitiondfolter gelegt. Ein merkwürdiges Gegenſtück zu dieſem 
quallvollen Raffinement ift das Wocalquintett »Hütteleine vom 
jelben Componiften. In einem friedlichen Augenblid jcheint er 
vergeffen zu Haben, daß er Liſzt fei, und jchrieb ein Lied, 
dad zwar keineswegs originell oder bedeutend, aber von un— 
geziwungener Anmuth iſt, überfichtlih geformt, im Ton etwa 


Chöre von F. Schubert. 141 


an Verwandte von Marfchner erinnernd. Das Publicum unter: 
Ihied jehr richtig und zeichnete das Quintett aus, während 
nah dem Quartett alles ftill blieb, al3 würde eine vornehme 
Leiche vorübergetragen. Von älteren Gompofitionen gab man 
Mendelsſohn's »Wajjerfahrt«e und Schubert’3 »Geilt der 
Liebe«, — ein Geift, der ſich anfangs verftändnißinnig in der 
Natur ergeht, endlich aber in eine Kneipe einfehrt, wo er 
auch bleibt. 

Eine Schöpfung von übermwältigender Genialität ift Franz 
Schubert’3 »Geſang der Geifter über dem Waſſer«, jo gut 
wie zum erften Mal aufgeführt vom Wiener Männer: 
gejangverein am 27. December 1857. Jetzt, wo wir dieſe 
großartige Compofition ſelbſt gehört, vermögen wir die Miß— 
handlung faum nachzuerzählen, welche ihr 1821 bei der erften 
Aufführung in Wien zugefügt worden. Jene arge Verfennung, 
von Seiten der Ausführenden wie der Zuhörer, Hat erjt jekt 
ihre vollftändige Sühnung erhalten, und die mufifaliiche Welt 
erit jeßt den vergeudeten Schat zurüderlangt, um ihn nie 
wieder zu verlieren. Das Werdienft gebührt dem Chormeifter 
des Männergefangvereind, Herrn Johann Herbed, welcher die 
Schubert’ihe Original-PBartitur in dem Archib eines hiefigen 
Muſikverlegers auffand, fogleich die Drudlegung der Stimmen 
veranlaßte, und endlih das Merk in würdigſter Weiſe zur 
Aufführung brachte. 

Das Goethe’sche Gedicht, jo oft es auch componirt wurde, 
ift für mufifaliihe Behandlung von großer Schwierigkeit. Es 
führt eine Reihe mwechjelnder Bilder vor, welche den Com— 
poniften zu lebenspoller Ausführung reizen, während fie doch 
hinter der geheimnißpollen Grundftimmung des Ganzen wie in 
einem Schleier eingehülft bleiben müffen. Schubert’3 genialer 
Inſtinct hat auch Hier wieder dad Rechte mit unfehlbarer 
Sicherheit getroffen. Gleih im den einleitenden ſechs Takten, 
alfo ehe noch der Geſang beginnt, ift die myfteriöfe Stimmung, 
die geifterhafte Scenerie unverrüdbar fetgeftellt. Den Aus- 
druck dieſes Myſteriöſen gewinnt Schubert vornehmlih durch 
die Begleitung von Violen, Violoncells und Contrabaß, welche 
feife und träumerifch unter dem Gefang fortziehen. Der Geſang 


142 1857. 


ſelbſt wirft echt Schubertiſch, nit durch polyphone Kunft, 
oder durch die Mofaikarbeit feiner Züge, fondern durch jene 
großen Gontouren und ftarfen, entichiedenen Lichter, welche 
allfogleih mit Sicherheit auf den Gomponiften der »Nachthelle« 
rathen laffen. — Der Chor gliedert fih, dem Inhalt ent- 
ſprechend, in ſechs Kleinere, unmittelbar ineinander übergehende 
Süße Das wunderbare Adagio, aus dem die übrigen Sätze 
hervorgehen, und zu dem fie jchließlich zurüdfehren, ift Die 
Meihe des Ganzen; eine 


»milde, ernfte, träumerijche, 
unergründlich tiefe Nacht«. 


Die folgenden Theile charakterifiren ihr Bild nur fo weit, 
als es, ohne den Rahmen des Ganzen zu fprengen, möglich 
ift, — höchſtens daß das an fich reizende Allegretto: »Wind 
ift der Welle Tiebliher Buhle«, etwa weltlich liedmäßig ab- 
ftiht. Die Wirkung des Ganzen war eine impofante, unfehlbar 
ergreifende, und Hat jelbit bei der Wiederholung, wozu dieſe 
Nummer do wenig eignet, fi) ungeſchwächt bewährt. 


Dirtuofenconcerte. 


(Die Bianiftinnen Frl. Falk und Frl. Fritz. Die Geiger Bazzini 
und Frajfinetti.) 


Fräulein Nanette Falk, ala Schlülerin Clara Schumann’3 
in Deutfchland nicht umvortheilhaft befannt, gab Samſtag 
Abends ihr erites Concert im Muſikvereinsſaal. Klarheit, Cor: 
rectheit und eine gewiſſe verftändige Ruhe charakterifirten das 
Spiel dieſer Kimftlerin. Ihr Anfchlag iſt weich, ermangelt 
aber der nachhaltigen Kraft, ſowohl im einfach getragenen 
Gefang, ald im Sturme der Birtuofität. Der Ton bleibt Elein 
und einfärbig, bringt es daher nie zu einem bedeutenden 
Eindrud. 

Das Chopin’sche Nocturne in Fis-dur haben wir unzählige: 
mal, aber noch nie gut fpielen hören; hat fich doch in wenigen 


Claviervirtuoien. 143 


Tonftüden eine falfhe Tradition fo unerträglich feitgejeßt, wie 
in dieſem zarten Gefang. Da ijt fein Takt, der, innig ver: 
wachſen mit dem vorhergehenden und dem nachfolgenden, im 
ruhig Schwebenden Gleihmaß bliebe; alles hinkt jchlendernd 
und ftolpernd in einem tempo rubato, das felbit dem Liberaliten 
mufifaliihen Sinn hohnſpricht. Es ift gleichviel, ob dieſe tra= 
ditionelle Verzerrung direct von Chopin felbft herrühren möge, 
man muß auch hier auf den Urtert zurüdgehen. Das Stüd 
fließt jo einfach und klar hin. Chopin's krankhafte Art, weniger 
Glavier zu jpielen, als Clavier zu träumen, konnte wohl an 
dem Original felbft bedeutend und anziehend wirken. Aber all 
die braven Hydropathen, welche nun die füße Betäubung des 
Opiumrauſches nadfünfteln! Fräulein Falk fpielte ferner 
Beethoven’ F-moll-Sonate (appassionata), »Traumeöwirren« 
von Schumann und die A-moll-Fuge (mit Pedal) von S. Bad). 
Wann endlich werden die Pianiften daran denken, ihren ab» 
geitorbenen Goncertprogrammen neue Säfte zuzuführen? Daß 
die gewählten Stüde werthvoll oder gar »claſſiſch« find, veicht 
nimmermehr Hin: um die Cis-moll- oder F-moll-Sonate bon 
Beethoven zu hören, eine der herfömmlichen 3 oder 4 Nummern 
aus Chopin oder aus dem »mwohltemperirten Glavier« bon 
S. Bad) wird doch gewiß fein Menſch mehr ins Concert gehen. 
Der legtgenannte alte Herr iſt befanntlih Mode-Artikel ge: 
worden und wird auf dem muſikaliſchen Curszettel ungefähr 
zwilhen Chopin und Liſzt notirt. Niemand fällt aber bei, 
endlih einmal anftatt des »mohltemperirten Clavierd« etwas 
aus den reizenden und für Goncerte ungleich paflenderen eng— 
liſchen oder franzöfiihen »Suiten« zu wählen. Seltfam, wie 
die Glaviervirtuojen, die doch jelbit am beiten das arge Sinfen 
ihres Sterned kennen, den einzigen Weg unbetreten lafjen, der 
ihnen das erlahmte Interefje des Publicums wieder zuführen 
fann. Dieſer Weg ift ein neues und interefjantes Programm. 
Aus älteren und modernen Glementen iſt es leicht von jedem 
Bianiften herzustellen, der die Literatur ſeines Inſtrumentes 
fennt. Welh ein Schat für jeden geiſt- und phantafiebegabten 
Birtuofen liegt 3. B. in den »Novelletten« und zahlreichen 
anderen Glavierftüden von Schumann, der num einmal ftereotyp 


144 1857. 


blos durch »Traumeswirren«e und »Des Abends« repräfentirt 
wird, Nur eine jchlechthin außerordentliche Virtuoſen-Perſönlich— 
feit, wie fie jeit Liſzt nicht wieder gefommen iſt, vermöchte 
mit den feit Decennien abgefpielten Programmen noch Interefle 
zu erweden. Die zähe Bequemlichkeit der Virtuofen in dieſem 
Punkte ift verwunderlich, nicht im mindeften Hingegen, daß 
ihre Goncerte leer bleiben. Was Fräulein Falk in ihrem 
zweiten Concert bvortrug, konnte uns in unferer jüngft abge- 
gebenen Meinung nur beftärfen. Ja wir geftehen, daß die Art, 
wie Fräulein Falk die (Waldſtein'ſche) C-dur-Sonate von 
Beethoven nicht nur in allen Zügen mikroſkopiſch verkleinerte, 
jondern geradezu jeder Lebenswärme beraubte, ung nicht mehr 
in der phyſiſchen Kraftlofigfeit der Eoncertgeberin ihre größte 
Schwäche erbliden ließ. Die verftändige Klarheit Clara Schu: 
mann's erfchien hier in ihrer Schülerin zu gemüthlofer Gleich— 
giltigfeit potenzivt; wir hörten einen Beleg zu dem berühmten 
»Sonate, que me veux-tu«? 

Die fleißige Pianiftin Fräulein Fritz brachte in ihrem 
Concert manches Anziehende. So intereifirte LitoLlff’3 Clavier— 
trio (op. 47) durch das Beſtreben zu claffiihen Muftern zu— 
rüdzufehren, freilich ohne daß fie erreicht würden. Litolff 
Iheint mit feiner eigenen Crfindung ziemlich fertig zu fein; 
auch die geiftreichen Ginfälle und Sonderbarkeiten fehlen in 
dem Trio, welches dafür feinen Anftand nimmt, aus Beethoven’3 
Violoncell-Sonate op. 69 und Mendelsfohn’3 A-moll-Sym- 
phonie das Nöthige auszuleihen. Alles in Allem ift Litolff’3 
Arbeit wie die Seele der Gräfin Hahn:Hahn: »immens, 
aber leer«. — 

Beethovens G-moll-Bhantafie (op. 77), welhe Fräulein 
Frig hierauf vortrug, ift in Concertfälen eine feltene Erfchei: 
nung. Sie befitt, im Gegenſatz zu den vielen »Phantafien« 
neueren Datums, nicht blos den Namen, fondern dad ganze 
Weſen einer wahrhaft »freien Phantafie«, wie fie ein mäd)- 
tiger Tonbeherricher über die Taften hinftürmt. Geniale Bliße 
leuchten über dieſe zerriffene Bildung; jchade, daß die fragmen- 
tarifchen, aber fühnen Anfänge in ein allzu behagliches air varie 
übergehen. Für die »Mhantafie« war dad Spiel der EConcert= 


Anton Rubinftein. 145 


geberin nicht geeignet; dem rhapfodiihen Schwung des Come 
ponijten muß die geiftvolle Kühnheit des Spielers wahlverwandt 
zur Seite ftehen. Etwas, da einem freien Dahinitrömen ber 
Phantafie gleicht, darf man aber am Ende nur von wenigen 
Bianiften erwarten. 


Unter den Violinfpielern, die und heuer Freud und Leid 
zu jehr ungleichen Theilen credenzten, war Bazzini die einzige 
Berühmtheit. Die Zeit, wo man das Gleihe von feinem 
Landsmanne Frafinetti jagt, wird hoffentlich nie kommen. 
Ein Abſchieds-Concert (das mwiepielte?) von Herrn Bazzini 
beitärfte un in unſerer urfprünglichen Anficht, daß das Außer: 
ordentlihe feines Spieles fih in dem reis der Kunſtſtücke 
begrenze. Seine Technik glänzte abermals durch die MWeichheit 
des Tons und die Gewandtheit in allem, was man im beifern 
Sinn die »Lazzi« des Biolinfpiels nennen könnte (Flautato u. dgl.). 
In Beethoven’3 zweiten Quintett (C-dur) ermangelte hingegen 
fein Vortrag der Kraft, Größe und ftylloollen Schönheit. Eine 
gewiſſe Fremdheit und Kühle, dann die fpecifiich italienischen 
Gewohnheiten de3 ftarfen Betonens aller guten Tatttheile u. dgl. 
ließen trog mancher feinen Einzelheit feinen Totaleindrud auf: 
fommen. Es fehlte der Geift der deutjchen Mufik. 


Anton Wubinftein. 


Der Glaviervirtuofe Rubinftein, dem Wiener Publicum 
bon jeinem eriten Beſuche her in bejter Grinnerung, gab 
Sonntag fein erſtes Concert im Mufikvereinsfaal. Es war 
jehr bejucht und hatte den glänzenditen Erfolg Wir ftimmen 
in den Beifall des Publicums nicht blos vollftändig ein, ſon— 
dern geitehen gerne, daß Rubinſteins Spiel für und etwas 
ganz ausnehmend Sympathiiches und Erquickendes hat. »Er— 
quickung« ift das rechte Wort für das innige Behagen, womit 
dieſes Durch und durch geſunde, kraftvolle und farbenfrijche 
Spiel den Hörer erfüllt. Sit das Pianoforte in feiner jeßigen 
Technik an und für fi ſchon einer bedeutenden Kraftver— 

Hanzlid. Aus dem Concertjaal. 2. Aufl. 10 | 


146 1857. 


wendung fähig, jo fehnt man fi nach einer ſolchen gegenwärtig 
umſomehr, wo markloſes Geſäuſel und Getriller fi) vorzugs— 
weile auf diefem Inſtrumente breitmadhen. Die relativ größere 
Verbreitung der Thalberg’jchen und Charles Mayer'ſchen Schule, 
aljo des zierlichen, eleganten Spiels, ſowie der ungemeine Zus 
wachs an concertirenden Damen, läßt uns in einer vorzüglich 
auf Kraft bafirten Virtuofität eine Höchit wohlthätige Abwechslung 
und Ergänzung erbliden. Es verjteht fih, daß eine gewaltige 
Behandlung des Inſtruments, wie die Aubinftein’sche, rein 
äſthetiſche Wirkungen nur hervorbringt, wenn fie die rohe 
Körperlichkeit völlig abgeftreift hat und als die frei heraus: 
fchlagende Lohe eines inneren Feuer ericheint. Dies ift der 
Fall bei unferem jungen Titanen, der, wenn er mit über: 
ihäumendem Lebensdrang fi) in die Taften wirft, uns nicht 
etwa das non plus ultra möglichen Clavierlärmend, ſondern 
das Abbild innerer, fiegeöfroher Kraft gibt. Dieſes Element, 
das unumgänglich zum Begriff wahrer Birtuofität gehört, 
ericheint uns in Rubinſtein's Spiel daS überwiegende. Seine 
wahre Vollendung erhält es freilich mur dann, wenn der Spieler 
das Zarte und Feine gleicherweile in jeiner Macht hat. So ilt 
bei Rubinitein die Gewalt, mit welcher er in Octavengängen, 
Sprüngen, vollgriffigen Accorden das Clavier förmlich padt, 
feine Einfeitigfeit. Die Zartheit feiner leife hingehauchten Ver: 
zierungen, die edle Breite feines getragenen Gejangs, find nicht 
minder als jeine eigentlihe Bravour, Blüthen einer auf's 
Höchſte entfalteten Technik. 

Indem wir hiemit den ftarfen Eindruck mittheilen, den 
Rubinſtein's Spiel auch diesmal wieder hervorgebradt, haben 
wir faum etwas Neues zu bereit3 früher Gefagten hinzugefügt. 
Neue intereflante Seiten hätte Rubinſtein's PVirtuofität etwa 
dann geboten, wenn fie in Vorführung bedeutender fremder 
Werke (Beethoven, Mendelsſohn, Chopin, Schumann) fi) be— 
thätigt, aljo Gelegenheit gegeben hätte, ihr Berhalten zu den 
Sntentionen diefer Meifter zu beobachten. Herr Rubinftein 
hat es jedoch auch diesmal vorgezogen, lauter eigene Compofitonen 
zu ſpielen. Waren fie num immerhin jämmtli für den Muſiker 
mehr oder minder intereffant, im Publicum und bei der Kritik 


Anton Rubinftein. 147 


haben fie geringen Anklang gefunden und eine Abwechslung 
mwünfchenswerth gemacht. 

Weitaus das Bedeutendfte unter den Rubinftein’ihen No- 
pitäten war das Glapiertrio in B-dur. &8 it fräftig, ernſt, 
charaftervoll; in der melodiichen Erfindung nicht reich, aber 
eigenthümlich, harmoniſch und rhythmiſch intereffant, in der 
Glavierbehandlung ſehr effectvoll. Am gelungenften iſt das 
Scherzo mit feiner ſcharfmarkirlen Rhythmik und unaufbaltiam 
fortdrängenden Lebendigkeit; am ſchwächſten das Finale, eine 
unabläffig ringende Sraftanitrengung, deren Ziel und Frucht 
man nirgends erblicdt. Aus den wüſten Streden dieſes Finales 
wehte und wieder die Luft der B-dur-Symphonie an, mit der 
ih Nubinftein vor drei Jahren hier unglücklich genug einführte, 
Hingegen boten die drei eriten Süße des Trios die erfreuliche 
Sicherheit, daß die Stellung de Componiſten NRubinftein 
zum Publicum heuer eine entichieden vortheilhaftere und für 
den Berichterftatter angenehmere fein dürfte Rubinſtein, jett 
noch ein jehr junger Mann, hatte damals die unglücliche Idee, 
dem Wiener Publicum Die ımreifen Früchte feines noch in 
voller Gährung begriffenen Talentes und obendrein gleich in 
dem jchiwierigiten Fach großer Ordelter-Compofitionen vor— 
zuführen. Wir haben ung gegen jene chaotiichen Verſuche, welche 
Rubinftein wahricheinlih in nicht allzulanger Zeit jelbft ver: 
werfen dürfte, ebenfo rückhaltlos ausgeſprochen, als mir das 
ihöpferifhe Talent Aubinftein’® in feinem G-moll-Trio und 
der Bioloncell-Sonate (D-dur) ſchon damals anerkannten. 

Wie ed zu erwarten war, hat jich das Talent des jungen 
Gomponiften feither von vielen Schladen gereinigt: mehr als 
eine feiner neueren Arbeiten gibt Zeugniß davon. Möchte nur 
Aubinftein zweierlei Verfuhung von fih fernhalten: fürs erfte 
jene unleidlihe Großmannsfucht, die in jedem Takt genial und 
ungewöhnlich fein will, und dadurch nothiwendig barod und 
unmufifalii wird. Sodann die allzurafhe und unerfättliche 
Production. NRubinftein begann erft vor wenigen Jahren für 
die Deffentlichkeit zu ſchreiben, und doch hat er bereitö über 
ein halbes Hundert Werke, worunter ziemlich umfangreiche, 
publicirt. Da kann es wohl nicht fehlen, daß vieles ganz Un— 

10* 


148 1857. 


bedeutende zur Veröffentlichung kommt. Dazu gehören auch mehr 
oder minder die kleineren Stüde, welche Aubinftein in feinem 
jonntägigen Concert fpielte; jo die Nocturne und die beiden 
»Melodien«.*) Intereſſant ift die Zuge, worin insbeſondere die 
Eintritte des Contraſubjects und der Orgelpunfte von guter 
Wirkung. Die ganze Stelle vor dem Eintritt des Orgelpunftes 
geht jedoh in undurchdringlichem Tongewühl verloren. Die 
»Polonaiſe«, mit welcher Rubinſtein ſchloß, iſt als glänzendes 
Bravourſtück, aber auch nur unter dieſem Geſichtspunkt, zu 
loben. Dem enormſten Kraftaufwand iſt darin carte blanche 
gegeben, und Rubinjtein hat fie jedenfall3 bis an die Grenze 
de3 Grlaubten benußt. 

Sein zweite® Concert trennte Nubinftein in zwei Ab: 
theilungen, deren eine nur Eigenes enthielt, während die andere 
fremden Compofitionen gewidmet war; ein Compromiß, der 
gewiß alle Theile befriedigte. Der Vortrag des C-moll- 
Trivos don Mendelsjohn mar meilterhaft. Nicht blos 
durh richtige Auffaffung und vollitändige Bewältigung des 
Tehnifhen, — Dinge, die fich bei Rubinftein, wenn auch 
jonft nicht immer, von jelbit veritehen, — fondern durch das 





*) Der Merkwürdigfeit wegen erwähnen wir einer neuen Glavier: 
compofition von Nubinjtein, welche unter dem Titel »Acroſthyche« 
erſchienen ift. 

Unter allen tollen Ginfällen hat nämlich noch feiner unjerer 
modernen Glavierdichter den tolljten gehabt, die poetiihe Form (oder 
Spielerei) des Acroſtichon's in die Mufik zu überrragen, — ſchwerlich 
hatte auch jemals ein Mensch die Ahnung, wie das möglicd) fei. Ganz 
einfach. Herr Rubinſtein jtellt fünf elegante Clavierſtücke, welche nicht 
weiter mit einander zu jchaffen haben, in ein Heft zufammen, das er 
einer Gräfin Laura N. NR. widmet. Das erſte Stück nun führt die 
Ueberſchrift 2., das zweite heißt A., das dritte trägt den häßlichen 
Namen U. Da nun da3 vierte ebeniowenig ermangelt fih R. als das 
fünfte fih U. zu nennen, jo machen die fünf Säge nacheinander ge: 
ipielt, ganz deutlich den Namen Zaura. 

Der Weg zu einem folhen Unfinn mag felbit für einen aufge- 
wecten Kopf wie Aubinftein lang und beichwerlich geweien fein, allein 
das glückliche Bewußtiein im Entdedungsmoment muß alles je ähnlich 
Gefühlte, von Berthold Schwarz bis auf Derftedt billigerweile ver— 
ihwinden gemacht haben. 


Bom Wiener Mufifverlag. 149 


Geheimniß einer eigenthümlichen Bejeelung, die ſich im ſchönſten 
Sinn nachdichtend verhielt. »Hinzudichtend« würden wir bei— 
nahe in Erinnerung an den eriten Sat jagen, welder durch 
die Impetuofität des Vortrags eine fat Beethoven'ſche Kraft 
und Leidenfchaftlichkeit erhielt. Von kleineren Stüden folgten 
ein Ehopin’iches Nocturno und die Gigue in G-dur von 
Mozart. Kaum gibt es in kleinerem Rahmen einen fchärferen 
Gegenſatz, als zwijchen diejer traumhaften Dämmerung des 
Chopin'ſchen Nachtgeſanges und der fcharfen, morgenfriichen 
Klarheit Mozart’. Nubinftein wußte die Eigenthümlichkeit 
beider geijtreich und feinfühlend auseinander zu halten. Auch 
Schumann’ tiefpoetifches Kleines Impromptu »Warum« (aus 
den »Phantaſieſtücken«) fand den zarteften Ausdruck. Wir können 
bei diefem Anlaß nicht umhin, unfern bereit® vor drei Jahren 
geäußerten Wunſch zu wiederholen, Rubinſtein möchte in 
jeinen Concertprogramms Schumann nicht fo ſelten, gleichjam 
en passant und nur in Kleinigfeiten bringen, jondern die größeren 
Werke dieſes Meifters vorführen. Die fchönften, tieffinnigften 
Claviercompofitionen Shumann’s find dem Publicum noch 
immer halbverhüllte oder auch ganz verborgene Schäße, Die 
eben nur der jo feltene Verein höchiter Virtuofität und poetifcher 
Snnerlichkeit zu heben vermag. Schumann’ Claviertrios, fein 
Quintett und Quartett, die beiden Sonaten, die Noveletten, Die 
Barationen, das A-moll-Soncert — das wären echte Aufgaben 
für einen Virtuofen von Rubinſtein's Talent, Aufgaben, in 
deren Löfung er feinen Stolz und feine beſte Kraft jegen jollte. 


Dom Wiener Wulikverlag. 


Die Thätigfeit der Wiener Componiſten findet im Vergleich 
mit den ausübenden Muſikern Sehr geringe Aufmerkſamkeit. 
Bon einem bejonderen Auffhwung des Wiener Muſikverlags 
iſt freilih noch nicht® zu melden. Unfere älteren Tonfeger ver: 
ftummen allmälig, für die jüngeren, die gern Ernſteres und 
Größeres brädten, iſt e8 äußerſt ſchwer — nit etwa durch— 
zudringen, jondern überhaupt nur anzukommen. Der überwiegend 


150 1857. 


größte Theil ded hier Verlegten beiteht in Tänzen, Uebungs— 
ſtücken und jener unterften Schichte brillanter Claviermufif, die 
aus ihrer Geiltlofigfeit und Unwiſſenheit fein Hehl macht. 
Diefer furchtbare Bund raftlofer Nocturnes: und Etuden— 
Fabrifanten fteht offenbar in innigfter Beziehung zu Heine's 
»philharmoniichem Katerverein«: 

Er huldigt dem Genie, das fi 

Nicht von der Natur entfernt hat, 

Sich nicht mit Gelehrſamkeit brüfien will, 

Und wirklich auch nichtö gelernt hat. — 

Sih durch die Notenberge durchzuarbeiten, die dieſer 
iltuftre und weitverzweigte Verein binnen einem Jahr aufmwirft, 
ift weder leicht noch unterhaltend. 

Das Bedeutendfte, was von einheimifchen Kräften im 
Fach der Claviermufif neueſtens gebracht wurde, dürften Robert 
Volkmann's »Varationen über ein Thema von Händel« fein. 
63 ift das Thema derjelben VBarationen von Händel in E-dur, 
die ſeit Liſzt auch im den Goncerten Mode geworden find, — 
eine Mahl, die man Vollmann nicht verübeln wird. Auch in 
der Mufif muß es freiftehen, einen alten Stoff neuerdings zu 
behandeln, fobald jemand etwas Neues und Erhebliches darüber 
zu jagen weiß. MUeberdies iſt gerade Die Behandlung der 
Bariation in neuerer Zeit eine viel reichere und freiere ge- 
worden. Beethoven's Variationen über den Diabelliihen Walzer 
haben das hochwuchernde Unkraut des Gelinef’fchen Variationen 
ſtyls mit der Wurzel auögeriffen und einen munderthätigen, 
immer voller aufblühenden Keim in die offene Scholle. gejenft. 

Werke wie Schumann's Cis-moll-Bariationen (op. 13.) 
und jeine Variationen für zwei Glaviere, die Beränderungen 
von Brahms, Volkmann u. a. zeigen, wie jehr diefe Form 
an Freiheit der Bewegung und charakteriftifcher Vertiefung 
gewonnen bat. Das Extrem diejer Freiheit jehen wir zwar 
auch bei Volkmann manchmal geitreift; es befteht in der allzu 
großen Entfernung der Variationen von ihrem Thema. Während 
früher jede Variation jo ängftlih an der Taktzahl und dem 
harmonischen Grundriß des Themas fefthielt, daß der Hörer 
die Monotonie dieſer Treue bleiſchwer empfand, emancipirt fi 


Bom Wiener Mufikverlag. 151 


die neue Schule allzufühn vom Thema und läßt e8 oft feiten- 
lang faum durchklingen. Anftatt wirflih Grund und Thefi der 
ganzen Ausführung zu fein, wird das Thema zum bloßen Bor: 
wand für den Nedner, fich über die entlegenften Dinge unge— 
bunden zu ergehen. Wenn wir dieje Neigung und einige Härten 
ausnehmen, jo fönnen wir Volkmann's Variationen als ein 
charaftervolles, ernjtes und geiltreiches Werk unbedingt rühmen, 
Die Ausführung verlangt übrigens ein tiefere Eindringen und 
eine bedeutende Virtuofität. 

Ungleich geringfügiger find deöjelben Verfaſſers »Lieder 
einer Großmutter« für Glavier. Offenbar durch Schumann's 
» inderfcenen« hervorgerufen, find dieſe harakteriftiichen Stüdchen 
jedod für die Jugend beftimmt, während Schumann’ Heft 
Bilder der Kindheit in der Erinnerung des Erwacdjenen wider: 
jpiegelt. Für Kinder find Doch mande diefer » Großmutterlieder« 
zu großmütterlihd grämlich. Volkmann hat nicht genug naive 
Heiterfeit, um Sich mit der Jugend zu veritändigen; two er 
[uftig wird, merkt man oft Zwang oder llebertreibung. Sinnig, 
im beiten Schumann'ſchen Geilt, find Nr. 9 und 10; Stüde 
wie Nr. 3 Hingegen mit feinen Elaffenden Diſſonanzen follte 
man dem jugendlichen Mufifer ebenjo jorgfältig fernhalten, 
als man die weltjchmerzlichen oder ironiichen Ausbrüche Heine's 
dem jugendlihen Leſer fernhält. Die Jugend bedarf überall 
der Reinheit und Harmonie, frei angefchlagene Diffonanzen und 
mißklingende Vorhälte weiß im Leben wie in der unit nur 
ein geprüftes Gemiüth ohne Verwirrung aufzunehmen. 

Gute Lieder find unter den Lawinen von mittelmäßizen 
niht blos ſchwerer herauszufinden, fie find in Wirklichkeit 
jeltener, ald3 man glaubt. So wenig dem Anjchein nach dazu 
gehört, ein tadellojes Lied zu machen, fo fehlt doch meiſt eine 
Hauptſache: die Urjprünglichfeit des Empfindens, die Naivetät. 
Man kann dem Einzelnen nicht zum Vorwurf machen, mas 
dem ganzen Zeitalter eignet und unbewußt von uns allen ein: 
gelogen iſt: das Vorſchlagen der Reflexion. Freilich pflegen 
unfere jungen Zonfeger, gerade wie die Lyriker, es jehr übel 
aufzunehmen, wenn man ihr Talent ein reflectirte8 nennt; — 
haben fie doch das gute Bewußtſein, fich keineswegs nüchtern 


152 1857. 


und gemächlich hinzuſetzen und nun ihre Lieder mit Falten 
Verſtande auszuflügeln. Das iſt aber auch die allerunterite 
Stufe reflectirender Production. Das Clement, welches wir 
meinen, und bon welchem unfere Boeten fi nicht willkürlich 
losmachen können, weil e8 eben als integrirender Stoff unfere 
ganze Bildungsatmojphäre durchdringt, äußert ſich vielmehr 
darin, daß jenes vermeintlih »wumittelbar«e Producirte in der 
That doc ſchon als ein Neflectirtes herausfommt. Wie viele 
Lprifer vermeinen die Empfindung felbit zu geben, während 
fie dieſelbe blos beiprechen und umschreiben! 

Mit einigen Gejangseditionen, ſelbſt berühmter Namen, 
war Spina's Verlag nicht glüdlih; jo kann man nur mit 
Bedauern die Schwachen Neminiscenzen betradjten, mit denen 
der hochverehrte Marſchner fich gegenwärtig die Zeit ver: 
treibt (op. 178, 179). 

Wil man aber noch die Altersſchwäche eines Meifters 
ehren lernen, dann werfe man einen Blid auf das rohe Hand: 
werk, welches den mufifaliichen Sentimentalität3:Bedarf für 
unſere Vorſtadt-Fräuleins dutzendweiſe liefert. Wir wollen dem 
Berleger Herrn Glöggl in feinen jonftigen Verdienſten nicht 
nahe treten, wenn wir bier jein periodiiche® Unternehmen 
»Miener Liederfranze nennen. Die Herren Suppe, Titl, 
Hölzl, Stord u. A. muficiren da umerfchütterlih in den Fuß— 
tapfen des Alpenhorn-Vaters, des großen Heinrid. Da im 
»Liederkranz« die Gedichte meilt den Compoſitionen jehr geiſtes— 
verwandt find, jo gibt es des Ergöglichen genug, oder wie Die 
Herren Ullmeyer und Titl tieffinnig ausſprechen: 


»Muſik und Gelang mit vereinter Sraft, 
Dad iſt's, was dem Liede den Zauber verjchafft.« 


Als ein umübertroffenes Meiſterſtück diefer Gattung ſchätzen 
wir dad Lied »Bete für mich! welches Anliegen Herrn 
Suppe’ Mufif mit jener Entjchiedenheit ausfpricht, welche 
etwa bei dem Ausruf: »la bourse ou la vie!« üblid it. 
Declamirt ift Dies Lied durchweg: »Mein Genius trauert, es 
finft mein Glüd, der Wangen Röthe vor Gram erblich« u. f. w. 
In dem gleihfalls von Herrn Suppe componirten » Morgen: 


Vom Wiener Mufilverlag. 153 


feniterln« Heißt es im Text wiederholt »Schmatz! Schmatz!« 
eine zierlihe Anjpielung, die man in der Mufik für Peitſchen— 
jchnalzer halten würde, ſagte nicht die Anmerkung: »Bei die 
(sie) bezeichneten Noten muß der Sänger mit den Lippen einen 
Kuß nahahmen.«e Ob die YZuhörerinnen dabei etwa »in den 
Brunnen fallen müfjen«, wird nicht ausdrüdlid geſagt. Nächſt 
Suppe iſt A. Storch natürlid einer der eifrigften Winzer 
im Weinberg des Herrn Glöggl. Wenn er im Dreivierteltaft 
und jeufzend unter dem Weh von fünf Be en den gefühlvollen 
Wunſch äußert, »ein Tropfen Thau« zu fein, dann zerfließt 
unfehlbar alles, was Ohren hat. Ginige ſehr podagriltiiche 
Lieder des jeither veritorbenen Beterans Lindpaintner ver: 
mögen dem »Liederfranz« auch feinen friichen Duft zu ver- 
leihen, es find gemachte Blumen gewöhnlicher Sorte. Ein 
einfaches Lied von Guſtav Barth (»Die Fiicherine) fticht durch 
Anmuth und feinere Bildung aus der Sammlung hervor; es 
it doch ſchade um dieſes Talent. Ein Seitenftüc zu dieſer 
Sammlung, gleihjam der Geift des »Liederfranz« auf dad 
Glavier übertragen, ift das »Wiener Salon-Albume«, worin 
die mufifaliihen Zwillinge A. Goria und Lefebur-Wehly 
als Sternbild eriter Größe prangen. 

Eine Novität von Meyerbeer »Der Wanderer und die 
Geiſter an Beethoven's Grabe« iſt jehr unerquidlid; man weiß 
nicht ob der Wanderer oder die Geilter affectirter fingen. Durd) 
ein jchauderhaftes Kirchhofsbild auf dem Titelblatt wird die 
Wirkung der Muſik entiprechend unterftüßt. 

Um nun aud den äußern Erfolg nicht zu vergeſſen, be— 
richten wir die Elägliche Thatſache, daß ſeit Jahren fein Clavier— 
ſtück in Wien folchen Abjak fand, wie Leopold von Meyer's 
Grillenpolfa! Als »Grillenpolfa« im Neih des Gejanges 
florirte da® »Grüberl im Koi«, das obendrein von Local: 
jängerinnen im Coſtüme fleißig credenzt wurde, Als Componiſt 
diejer erhabenen »Gſtanzeln« ift auf dem Titel genannt » Gustav 
Hölzel, E. £. Hofopernfänger und Lieder-&ompojiteur.« 
Das überholt doch nocd weit die Freiheitsmäriche aus dem 
Jahre 1848, deren Autoren ſich auf dem Titel als »National- 
garde und Urwählere aufführten. Wie hätte der Grüberl-Com— 


154 1857, 


ponilt eine Verwechslung zu befürchten! Es jcheint überhaupt, 
daß die Titelblätter allmälig interejlanter werden, als der 
Inhalt der Mufifalien. Ein Herr Franz Bermwald begleitet 
jein op. 6, ein Quintett, mit einem Vorwort, worin er »jene 
Schaar von Pirtuofen, die nur mit den Fingern, aber ohne 
Kopf und Herz fpielen«, feierlihit erfucht, fein Werk »zu 
ignoriren«! Völlig allerliebft it aber Folgendes: Auf dem 
Titelblatt einiger höchft unbedeutender Goncertwalzer von Guſtav 
Satter (»Les Belles de New-York«) prangt die ftolze Frage: 
»Wer ift Satter?« und ald Antwort darımter fteht: »Satter 
ift unzweifelhaft einer der größten lebenden Pianiſten. Satter 
mwüthet auf dem Piano wie ein braufendes Meer! Da wird 
man fragen: Iſt das alles? Antwort: Nein. Satter fingt aud) 
auf dem Biano wie ein Arion.« Er fpielte die ſechſte feiner 
Piano-Sonaten. Ich fragte: Wo find die anderen? Da befam 
ich aber ald Antwort tüchtig aufgepadt, indem er ſagte: »Wiſſen 
fie denn nicht, daß ich auf jedem Gebiet mid verſucht habe? 
Ih componirte drei Opern, fünf Symphonien, ſechs Sonaten, 
zwei Quintett, fünf Trios, mehrere Streichquartette und über 
hundert Soli3 für Piano.« Nun ſuchte ih ihn ald Virtuoſen 
zu ergründen, und fragte, was er eigentlich alles jpielen könne? 
Satter antwortete ganz fühl: »Ich fpiele etwa hundert Fugen 
von Bah und Händel auswendig, ebenfo jede andere gute 
Gompofition von Bach bis auf die heutige Zeit« Dies 
iſt Satter — liebes Bublicum. 

Sp weit wäre aljo die Broftitution im Virtuoſenthum 
glüdlih angelangt! 





1858. 


„Das Paradies und die Peri“ von 
Schumann. 


(In Wien zum erften Male aufgeführt am 1. Mai 1858.) 


Es ift eine alte Schuld, welche die »Gefellichaft der 
Mufikfreunde« dur ihre jüngſte Production getilgt hat. Schu: 
mann’ »Peri«, deren erſte Aufführung in Leipzig 1843 ftatt- 
fand, ift im Laufe der legten 15 Jahre nicht blos in allen 
Mufititädten Deutſchlands mit großem Erfolg gegeben worden 
(wie der Anfchlagzettel etwas überflüffig motivirt), fie hat 
fogar im Jahre 1848 das Publicum von New-Morf wieder: 
holt entzüdt. Kein Wunder, wenn man hier dem Erfcheinen 
des fabelhaften Weſens mit ungemeiner Erwartung entgegenlah. 

Der Tert diefer Compofition ift ein Epiiode aus Thomas 
Moore’3 »Lallah Rookh« nachgebildet. Die Abweichungen von 
bon dem Original, insbefondere manche Zuthaten, rühren von 
Schumann jelbit her. *) 

Die Dichtung ift das Werk eines poetiichen und zarten 
Gemüthes, einer weiblihen Natur übrigen®, welche die Em: 
pfindung gern bi3 zur Empfindjamfeit zufpitt. Bei der großen 
Beliebtheit dieſes Gedichtes ift es nicht ungefährlih, an dem 
Grundgedanken zu mäfeln; mir hat er leider ſtets den Ein: 
druck einer verfünftelt empfindfamen, dabei froftigen Jean 
Pauliade gemacht. Abgeſehen von dem Nebus, woran Die 

*) Chor der Nil-Genien, Chor der Hourid, das Quartett »Peri, 
iſt's wahr« das Solo »Berftoßen«, endlid der Schlußchor. 





156 1858, 


Seligfeit der Peri geknüpft wird, bildet daß zweimalige Ab— 
weiſen der »Heldenblute®«, dann des »Liebesjeufzerd« als »zu 
gering« gegen das dritte Anbot der »Reuethränen« eine förm— 
lihe Licitation mit Dingen, deren vergleichende Abichägung 
etwas Verleßendes hat. Für die Mufif indeffen waren die 
lyriſchen und  fchildernden Ginzelnheiten des Gedichte das 
MWichtigite, und zweifelsohne beſitzt es deren von unläugbarer 
poetiiher Schönheit. Die mufifaliihe Foım, welche Schumann 
diejem Gedicht gegeben, läßt fi genau unter feine der üblichen 
Compofitiond-Gattungen einreihen. Am richtigften wird man 
die »Peri« noch immer zu den Santaten zählen, obwohl die 
Einführung einer erzählenden Stimme (nad) Art ded Evans 
geliften in den biblifhen Dratorien) ein fremdes Element hin— 
zubringt. Man vergißt gern den Streit um eine Bezeichnung, 
wo das bezeichnete jelbit jo unbeftreitbar jchön ijt wie Die 
Muſik zur »Berie. 

Mas diefer Compofition ihren unvergängliden Werth 
fihert, ilt nicht die Kraft des Totaleindruds, fondern eine 
Fülle reizender Ginzelheiten. Betrachtet man einzelne Nummern 
für fi, jo möchte man das Werk, deſſen Theile fie bilden, 
zu dem Schönften zählen, was die neuere Mufif überhaupt 
hervorgebradt. Als einheitliches Ganzes hingegen, und nad) 
dem Totaleffect gefhäßt, den fie dem Hörer zurüdläßt, zählt 
die »Peri« nicht einmal unter Schumann’ Merken zu 
den vollfommenften. Sie reiht Perle an Perle, allein je 
länger, deito gleichförmiger ericheint und die Schnur, bis 
wir am GSchluße all des Genojjenen etwas ermüdet ge= 
denfen. 

Die wirkſamſte Vertheilung von Licht und Schatten hat 
der erite Theil. Gleich die Inftrumental:Einleitung und die 
erften Soli athmen jene träumerifhe Sinnigfeit und Anmuth, an 
welcher wir Shumann erkennen. Diefe Stimmung finden wir 
zu einem eigenthümlichen märchenhaften Zauber gefteigert in 
dem Larghetto »ich fenne die Urnen mit Schäßen gefüllte. 
Wie Shwungvoll und poetifch ift das poetifche Kleine Quartett, 
welches Indiens Schönheit preift! Und wie prächtig deifen 
Gegenſtück, der gewaltige Chor: »Doch jeine Ströme find nun 


»Das Paradies und die Peri« von Schumann. 157 


roth«!l Der Ordeiterbaß, welcher den Chor canoniſch imitirt, 
wirft mit unbejchreiblicher Gewalt, am erfchütterndften aber die 
unisono, recitativartige Frage der Chöre: »O Land der Sonne, 
weilen Schritt geht über deinen Boden«e? Diefe Erjcheinung 
des wilden Eroberer3 Gazna im erjten Theil bietet gegen die 
träumerifch zarte Haltung des Ganzen ein treffliches Gegen— 
gewicht, deſſen die folgenden Theile entbehren. Im zweiten 
Theil hebt ſich vor allem der Chor der Nil-Genien durch den 
Reiz feiner Melodie und der Gellobegleitung heraus, dann der 
Schlußhor über den Leichen der Liebenden — ein unders 
gleichliher Gejang voll Wehmuth und Erhabenheit. Was da— 
zwwiihen liegt, verfällt ſchon häufig der Monotonie. Das 
Peinliche, das in der Ausmalung der Peſtſcene Schon an und 
für fih liegt! Schumann hat für dad Schwüle, Drücdende 
der ganzen Athmoſphäre merkwürdige Klänge voll unheimlichen 
Grauens gefunden; allein derlei verträgt fein au&breitendes 
Verweilen. Auch der Gejang der Jungfrau Hat nicht den 
vollen Ton der Schumann’ihen Innigkeit, Tondern nähert 
fih einer gewiſſen flachen Sentimentalität, wie fie 3. B. in 
Ihmwächeren Werfen Spohr’3 vorfonmt. 

Auh die 3. Abtheilung glänzt durch Einzelnummern, 
welche den früher genannten an Schönheit nicht nachitehen; 
wir erinnern an den höchſt anmuthigen Chor der Houriß (in 
deffen ungezwungenem Mtelodienfluß man den fortlaufenden 
zweijtimmigen Canon faum gewahrt), an das Quartett »Peri, 
iſt's mwahr«? — Dennod) vermögen Die einzelnen hohen 
Schönheiten gegen die zunehmende Monotonie des Ganzen 
nicht mehr recht Stand zu halten. Diefe Hat ihren Grund 
zunädhft in dem Mangel an Recitativen. Schumann läßt 
Alles in ftrengem Zeitmaß fingen und bedarf jo für er- 
zählende Mittelglieder, die fich recitativiich hätten raſch abthun 
laffen, langwierige ermüdende Süße. Die Recitative haben in 
großen Werfen die wichtige Aufgabe, die einzelnen Nummern 
abzugrenzen und deren jchärfere® Hervortreten zu bewirken. 
Fehlen fie, wie in der »Beri«, jo geht dem Hörer, der uns 
mittelbar von einer großen Nummer in die andere gezogen 
wird, bald der Athem aus. Ferner wird in der 3, Abtheilung 


158 1858. 


(wie ſchon in der Vefticene der zweiten) die Rhythmik unendlich 
monoton. Weder auf die wünſchenswerthe Abwechslung zwei— 
theiliger mit bdreitheiligen Taktarten ift gehörig Rückſicht ge— 
nommen, noch auf die rhythmiſche und melodifche Belebung 
längerer, fehr jchleppender Soloſätze. Einiges läßt ſich durch 
zwedmäßige Kürzungen mildern: immerhin bleibt der in er— 
mattender MWeichheit fich hindehnende Verlauf des 3. Theil 
eine unentrinnbare Gefahr für den ZTotaleindrud. Schumann 
war in allen Meußerlichen jo unpraktiſch, daß er den tiefen 
Abgrund nicht ſah, den er in feiner »Peri- fo unermüdlich 
mit den duftigiten Blumen umpflanzte. 


Styvanz Schuberf’s Oper „Iierraßras“. 


Eines der intereffanteften Concerte diejes Winter hat der 
Männergefangverein im großen Redoutenjaal veranitaltet. 
Die ganze erite Abtheilung war Schubert gewidmet und 
brachte, jo jeltiam das Elingt, lauter Nopvitäten. Herr Chor: 
meilter Herbed, der jüngit Scubert’8 wunderbar jchönen 
»Gejang der Geilter über den Waſſern« gleichſam neu entdedt 
und zu vollendeter Aufführung gebracht hat, that diesmal das— 
jelbe mit mehreren Nummern aus Schubert’3 ungedrudter Oper 
»Fierrabrase. Wenn man die fürmlichen »Rettungen« bes 
denft, welhe früher Shumann, jet Herbed an hochbedeu— 
tenden und doc bereitö vergeflenen Werfen Schubert’3 vor— 
nahm, fo möchte man oft zweifeln, ob diefer wirklich erit feit 
drei Decennien todt if. Scheint e8 doch obendrein, ala ob 
Schubert's allbeliebte Lieder feinen größeren Werfen mehr 
Berdränger als Herolde geweſen feien. Auch von Schubert’3 
Thätigfeit als Operncomponift hat mancher Mufiffreund erft 
dur) das letzte Concert des Männergejangvereins erfahren. 
Schubert hinterließ außer verichiedenen Singfpielen, Melo— 
drama und einaftigen Operetten, zwei vollitändige große Opern: 
„Fierrabras« und »Alfons und Eitrella«e. Lebtere (ur: 
iprünglih für Berlin beftimmt, aber niemald® dort gegeben) 
wurde vor einigen Jahren durch Lijzt in Weinar aufgeführt. 


Franz Schubert’? Oper »Fierrabraße. 159 


Der Erfolg wurde gerühmt, allein melden Einfluß auf die 
muſikaliſche Welt hat ein Erfolg in Weimar? Somit gerieth 
die Oper wieder in Vergeſſenheit. Auh »Fierrabras« ent: 
ging nicht dem für alles Geniale offenen und thätigen Enthu— 
ſiasmus Liſzt's. Er faßte den Plan, die Bartitur zur Um— 
arbeitung des Textbuchs nad Paris zu nehmen und aufzulegen, 
— ein Unternehmen, von dem er leider wieder abfam. So 
ift denn, außer der vierhändig arrangirten Ouverture, nicht? 
pon dieſer Oper veröffentlicht worden, die nebit vielen anderen 
Manuferipten Schubert’3 nad der Erlöfung harrt. 

Wir wollen den »FFierrabrade keineswegs zu den Opern 
erften Ranges zählen, auch nicht behaupten, daß er ald Ganzes 
den Müllerliedern, der C-Symphonie oder dem D-moll-Quartett 
gleihfomme. Schrumpft die Oper fomit etwa3 zufammen, wenn 
man als Maßſtab Schubert’3 Beſtes daran legt, To wächſt fie 
hingegen hoch empor im Bergleih mit unzähligen Nopitäten, 
welche ſeit Schubert's Tod bei und beifällig über die Bretter 
gingen. Wir wollen die letten Erinnerungen unberührt laſſen, 
— fo oft aber bei der Oper von »einheimiichen Talenten« 
die Rede war, hätte man auf den Namen Franz Schubert 
wohl auch verfallen können. Es iſt jo ziemlich der einzige 
große Komponift, der in Wien dad Licht der Welt erblidt 
hat; feine Geburtöftadt war und ift ihm fchon deshalb die 
Feier einer Opernaufführung längit ſchuldig. 

Ein ſchwacher Troft, daß die Bejchaffenheit des Libretto 
bisher das Haupthindernig gegen die Aufführung der Oper 
bildete. Das Tertbuh zum »Fierrabras« iſt ein traurige 
Prototyp für die ganze Gattung jener »heroiſch-roman— 
tiſchen Opern«, welche einft zu Dußenden die deutſche Bühne 
beglüdten. Es wird dabei ein vollftändiger Kindheitszuftand 
des Publicums vorauögejegt, und eine ebenfo vollitändige 
Refignation des Componiften auf alles, was Poeſie, Geihmad 
und Zufammenhang heißt. Die Oper jpielt am Hofe Karla 
des Großen, es fehlt alio nicht an Prunk und prahlerifchen 
Kriegöpirtuofen. Mer nur auftritt, ift ein Held ohnegleichen ; 
nur der Held der Oper jelbit, Fierrabras, beobachtet die 
zartefte Paſſivität. Obwohl ein Maure und verliebt, zögert 


160 1858. 


er doch feinen Augenblid, fich für einen Fremden einferfern zu 
laffen, der ihm gerade »zuvorfommend« mit der angebeteten 
Emma durchgehen will. Kann ein Maurenprinz mit dem zähne— 
fnirfchenden Namen Fierrabra® blauäugiger handeln? Der erite 
Akt, der mit diefem rührendem Ereigniß jchließt, jpielt am 
fräntifhen Hof und führt und außer Emma und Fierrabras 
noch Karl den Großen vor (jalbungstriefende Baßpartie) und 
jeinen Geheimfchreiber Eginhard, Emma’3 heimlichen Geliebten, 
der die Nrretirung des unfchuldigen Nebenbuhlers mit großer 
Seelenruhe anfieht. Der zweite Alt ſchon bringt eine voll: 
ftändig neue Handlung. Karl's Genoffen machten ein wenig 
Jagd auf Mauren. Das Wild ift diesmal klüger und fängt 
jämmtliche Blüthe der fränkischen Ritterfchaft. Guter Anlaß zu 
Kampfgetümmel, maurifhen Märfchen u. dgl., jedoch aber: 
maliges Feftfigen der Handlung. Der Tertdichter hat zum 
Glück noch eine heimliche Liebe disponibel: Ritter Roland 
hat irgendwo und irgendwann Florinden, die Tochter des 
grimmigen Maurenfürften, fennen gelernt. Aus Liebe unter- 
nimmt Florinde die Rettung jämmtlicher Ritter, Sie ver: 
barrifadirt fih mit den Franfen in einem Thurm, während 
Eginhard »auf nah Norden« rennt, Succurs zu holen. Zu 
Anfang des dritten Aktes geht Karl dem Großen plößlich ein 
Licht auf: er inquirirt Emma fo ſcharf, daß fie ihr Vergehen 
und Fierrabras’ Unschuld bekennt. Seine maurifche Hoheit 
werden nunmehr aus dem Seller heraufgeholt und erklären 
verbindlichit, das e8 ihr ein Vergnügen war. 


Karl: »Das Recht ſei geſprochen, 
Das Urtheil gefällt, 
Der Frevel gebrochen, 
Das Ziel iſt geſtellt. 


Emma: Das Herz iſt gebrochen, 
Das Loos iſt gewählt, 
Die Schuld wird gerochen, 
Die Hoffnung zerfällt«. 


Nach dieſen koſtbaren Verſen wird an die Befreiung der ge— 
fangenen Freunde gegedacht. Es iſt höchſte Zeit, denn bereits ſoll 


Franz Schubert’3 Oper »Fierrabras«. 161 


Roland unter den fchredlichiten Verſen gebraten werden. Die Retter 
ftürzen herbei, der Chor trifft von Blut, Kaifer Karl von Salbung, 
und den beiden Liebespaaren wird die gemwünfchte Vereinigung. 

Der Gejang wechjelt mit gejprochenem Dialog, welcher durch 
Lieblingsworte, wie »elender Wütherich«, »Freche Brut« ır. dgl. 
den Charakter des Kräftigen fefthält. Ein ſolches Libretto muß 
man lefen, um die jpätere Reaction gegen das ganze Opern: 
Unmefen zu begreifen, wie fie Rihard Wagner (im Negiren 
meisten richtig) unternahm. Für Schubert’3 künſtleriſches 
Naturell ift es bezeichnend, daß er ſolchen Kummer nicht em= 
pfand. Ihn ftört weder der platte finnlofe Tert, noch weniger 
drängt er ihn zu Scrupeln über die tiefen Mängel der Kunſt— 
gattung überhaupt. Frei und ungehemmt durch den Gegendrud 
der Neflerion, ergießt er die goldenen Fluthen feiner Melodie, 
Diefes naive Schaffen, und feit Beethoven völlig verloren ge— 
gangen, gehört zur Charakteriitit Schubert’. Gr macht ſich 
nicht einmal Bedenken, ob der Stoff des Gedichtes feiner 
ipeciellen Begabung auch zuſage. Ein ftrengeres Aushorchen 
ſeines Talents hätte ihn wahricheinlich beitimmt, das Heroiſche 
und Tragiſche lieber zu Gunften eines lyriſchen oder tdylliichen 
Stoffes abzulehnen. Allen die ftroßgende Kraft feiner mufi- 
falifchen Erfindung warf fich fiegreich und ohne viel zu fragen 
auf jeden Stoff. Kaum eine größere Rolle, als die Reflerion 
por dem Schaffen, fpielt bei Schubert die Feile nach dem- 
jelben. Seiner genialen Naturfraft vertrauend, die meiften? das 
Richtige inftinctiv traf, änderte er ungern nahträglid. Das 
Manufcript des »Fierrabras« iſt auch in diefer Hinficht und 
als Beifpiel für Schubert’3 jchnelle Production merkwürdig. 
Die erite Nummer der Oper iſt datirt vom 25. Mai 1823, 
die leßte wurde beendigt am 26. September desjelben Jahres; 
da3 ganze jehr umfangreihe Werk war alſo in 4 Monaten 
pollftändig componirt. 

Die mufifaliiche Behandlung des »Fierrabras« ift duch 
und durch echt jchubertiih. Das Liedmäßige herricht vor, 
manchmal ganz unverjftellt, wie in dem Tenor-Duett mit Chor 
im 2. At, theils in Form oder Charakter den Arien einge- 
impft. Manche Ddiefer einfach melodiöfen Nummern find von 

Hanzlid. Aus dem Concertiaal. 2. Auff. 11 


162 1858, 


großer Zartheit und Anmuth, wie 3. B. das Frauen-Duett im 
2. Aft, As-dur mit obligatem Cello. Manchmal (wie in den 
Frauenhören am Anfang des 1. und 3. Altes) verleitet den 
Eomponiften die Liedform zu allaugroßer Bequemlichkeit. Bon 
fräftigfter Wirkung find die Männerchöre; die mauriſchen Chöre 
und Märfche tragen einen glücklichen Anflug von LXocalfarbe. 
Sn allem Formellen hält fih Schubert ftreng an das bishin 
Gebräuchliche; er rüttelt nicht an der Heinften Gewohnheit der 
Theaterprariß. 


Die „Hraner Mefle“ von Lilzt. 


Wien befam am 22. und 23. März die große Feſtmeſſe 
zu hören, welche Lifzt vor zwei Jahren zur Einweihung der 
neuen Kirche in Gran componirt hat. Sowohl die Enthufiaften 
als die wenigen Befonnenen, welche e8 damals verfuchten, fich 
in dieſem Feuerlärm Gehör zu verichaffen, hatten — für oder 
wider — es hauptfählih auf dad Moment der Religiofität 
abgeſehen. 

Ueber die innere Frömmigkeit eines Künſtlers zu urtheilen, 
iſt ein ſehr ſchweres, bedenkliches Unternehmen. Die äſthetiſche 
Kritik iſt keine Inquiſition. Sie hält ſich ſtreng an das Werk 
und bleibt des Grundſatzes eingedenk, daß die Kirchlichkeit eines 
Kunſtwerks und der ſubjective Glaube des Künſtlers zwei ſehr 
verſchiedene Dinge find. 

Wenn von den modernen Mufifern einem der Ruhm 
wahrer und ftrengglänbiger Frömmigkeit gebührt, jo iſt es 
gewiß Sofeph Haydn. Die fromme Kindlichkeit, mit der er 
fich täglich auf die Knie warf, Gott um erleuchtenden Beiltand 
anzuflehen, mahnt als letzter ſchöner Abglanz an jene gott- 
begeijterten Maler und Sänger des Mittelalters, deren Kımft- 
übung eigentlich nur ein werkthätiges Beten war. Und dennoch 
it die Unkirchlichkeit feiner Meilen ebenſo zweifellos, wie die 
Ehtheit feines Glaubens. Haydn's Meffen ftehen in ihrer weichen 
Anmuth Schon ferne von der Großheit und Würde, die der 
altsitalienifchen Kirchenmufif innewohnte und von dem höchſten 


Die »Graner Meſſe« von Liſzt. 163 


Begriff des Gottesdienſtes unzertrennlich bleibt. Eine ſubjectiv 
unanfechtbare Frömmigkeit konnte alſo dennoch muſikaliſche 
Formen wählen, welche für die objective Hoheit der Kirche nicht 
die zuträglichften find. 

Wir können jomit Lifzt immerhin für einen zweiten Haydn 
an Strenggläubigkeit halten, und dabei die Kirchlichkeit feiner 
Graner Meſſe ſtark im Zweifel ziehen. Dem Bannſpruch der 
Liſzt'ſchen Adepten find wir damit nmatürlih anheimgefallen, 
insbefondere dem Verfaſſer der »Mufifaliichen Pflichten«, der 
jeden Zweifler mit folgenden Beweiſen vernichtet: »Iſt etwa 
der Geiſt, der in Liſzt's »Fauft«, »Dante«, »Bergſymphonie«, 
feiner »Hunnenihladt« weht (lauter reine Inſtrumental-Com— 
pofitionen!) nicht ein rein und ſpecifiſch fatholifcher? Sit 
er nicht jegt befchäftigt mit einer Legende »die heilige Eli- 
jabeth«? Haben die Zeitungen nicht davon gefproden, daß 
er ein Oratorium »Salomo« und eines Chriftus« zu Schaffen 
gedenft?!« 

Menden wir und von dieſen Oratorien in partibus zu 
der wirklichen Graner Meile. Die Religiofttät, ja felbft die 
Kirhlichkeit einer Muſik in gewiſſen traditionellen Formen zu 
juhen, davon find wir jehr weit entfernt, jo beachtenäwerth 
und auch die Tradition gerade bei Kunſtwerken erfcheint, 
welche der katholiſchen Kirche dienen. Indeß bleib es richtig, 
daß der vorzugsweiſe für die Kirche verwendeten contrapunktiſchen 
und fugirten Schreibart nichts jpecifiich Religiöſes nachweisbar 
ift, noch weniger den ſüßlich melodiöfen Wendungen, melde 
durch die ununterbrodhene Nahahmung Mozart's und Haydn’s 
gegenwärtig in den Kirchen herrichen. Auch wir find mit den 
Berfehtern der »Graner Meſſe« in dem Punkt vollkommen 
einverftanden, daß es auf den Geist der Religiofität ankomme, 
der ein ſolches Werk durchdringen foll, und nicht auf be= 
ftimmte Ausdrudsformeln. 

Angenommen, Beethoven Hätte dad Adagio aus jeiner 
neunten Symphonie in eine größere Kirchenmuſik aufgenommen, 
fo würde man fi wohl anfangs überrafht, aber gewiß alsbald 
von dem jeligen, verflärten Frieden erhoben fühlen, deſſen 
Geiſt diefe Muſik zum wahren Gebete macht. 

11* 


164 | 1858. 


Bon religiöjen Geifte werden wir hingegen in einer 
Mufit kaum etwas erkennen, die das ganze Wirrſal menſch— 
liher Leidenfhaften aufitört. Sei Lilzt noch jo andädtig 
geweſen beim Componiren, welcher Menſch könnte es jein beim 
Anhören diefer Meffe? Welches Gemüth vermöchte durch Diele 
Töne fih zu Gott gehoben fühlen, gejtärft und verföhnt? 

Man hat die »dramatiſche« Behandlung des Mebtertes 
dur Liſzt ald neu und bedeutend herborgehoben. Sie ift in 
der That dramatiih, im Sinne Meyerbeer's und Wagner’3. 
Wenn in der Maffenmweihe der »Hugenotten«, in den Venus— 
bergfcenen des »Tannhäufer« u. dgl. die grelliten Farben, die 
ichreiendften Gontrafte gegen einander geſpannt werden, jo 
rechtfertigt: man fie eben mit dem »dramatiihen« Zweck. 
Situationen, die dor unſern Augen die Greuel der Gejchichte 
und die Qualen der Leidenschaft ausbreiten, erheiichen auch die 
Thärfften Waffen, mit denen die Muſik zu zerfleiichen vermag. 
Sn der Kirche wollen wir und nicht zerfleiicht, jondern in Gott 
verjöhnt fühlen. 

Liſzt's Meffe wirkt mit den grellen, faljchen Gontraften 
Meyerbeer's und Wagner’. Das von Wagner (nach Berlioz’ 
Vorgang) eingeführte Tremoliren getheilter Violinen in den 
höchſten Chorden repräfentirt meift das Wunderbare; die rohe 
Gewalt des Blechs das Erhabene; daß Myſtiſche endlich feiert 
jeine Räthſel in den peinlidhiten Diffonanzen und Accorden— 
folgen, welche blafirtes Raffinement erfinnen kann. Liſzt's 
Meſſe hat Stellen, gegen welche die entjeglichen Necordenreihen 
in der Domjcene des »Propheten« beihämt zurüdtreten. In— 
deß, jelbit iiber grelle Einzelheiten, über die zeitweilige Tortur 
der Gehörsnerven, ja über die vollitändige Meyerbeerifirung 
der Paſſionsgeſchichte, vermöchte man vielleicht hinwegzu— 
fommen, fühlte man durch das Ganze den warmen Athemzug 
religiöjer Empfindung wehen. Allein die grübelnde Reflerion 
ihaut mit ftechend grauen Augen aus jedem Takt heraus. 
Sie iſt der heilige Geiſt, der diefe Meſſe ſchuf. 

Ueber das vreligiöfe Gefühl de Componiſten, mir 
wiederholen es ausdrüdlih, hegen wir nicht den mindejten 
Zweifel; allein fein Werk fpiegelt uns wie eine Fata morgana 


Die »Graner Meffes von Liizt. 165 


das Bild eines lebhaften und geiftreichen Mannes vor, der fi 
in den Meßtert vertieft, ungefähr wie Daviion in das Ma— 
nufcript irgend einer bedeutenden, aber-vor ihm längit abge- 
ipielten Rolle. Das feine unternehmende Lächeln jcheint zu 
jagen, »es wäre doch ſeltſam, wenn es für diefe Rolle nicht 
auch eine Auffaffung gäbe, die von allen bisherigen völlig 
abweicht, — ſehr ſeltſam, wenn ſich nicht eine Unzahl geift- 
reiher Pointen herausfinden ließe, an die bisher fein Menſch 
gedadit«, 

Wir haben wirklih von derlei Künftlern Rollen gejehen, 
die, voll geiftreicher Blige, doch das Bild faum mehr erfennen 
ließen, das der Dichter damit verband. Liſzt's Meſſe iſt eine 
folhe Leiftung Warum jollte ihn feine Bildung nicht be: 
fähigen, Neuerungen zu bringen, auf welche da3 bloße muſi— 
falifche Talent und ſei e8 das reichite, nicht verfällt? Warum 
jollte ein Mann, der mit literarijchen, philofophifchen, ja theo— 
logiihen Kenntniſſen an die Compofition einer Meile gebt, 
darin nicht Ideen niederlegen fönnen, an welche der Verſtand 
und die Bildung feiner Vorgänger niemals reichte? 

In der That, leichtfertig iſt Lijzt nicht an das Werk ge: 
gangen. Er hat fih in die Bedeutung des Mektertes fo ernftlich 
vertieft, daß ihm faſt jebes Wort eine eigenthümliche Bedeu: 
tung, einen verborgenen Zufammenhang enthüllte Das Wort 
wurde ihm im höchſten Grade wichtig, und in dem Eifer, es 
genau zu interpretiren, zeigt fi) Liſzt gewiffermaßen begeiftert, 
am Glauben aljo, wenn auch nicht von demfelben. Mit dem 
grübelnden Eifer eines Theologen überjegt Lilzt die verborgene 
Bedeutung jedes einzelnen Wortes in eine entiprechende muſi— 
falifche »Intentione. Wir entfinnen und faum eines Werkes, 
in dem dieſe moderne Mufe, die »Intention«, jo unumſchränkt 
regiert hätte. Auf jede Sylbe legt fie ihre dürre Hand, und 
wo ſich ſonſt duftige Veilchen wiegten, da entfteigt nun ge— 
ipenjterbleich der tödtlihe Baum der Erfenntniß *). 








* Daß wir nicht eine dem Gomponijten fremde Auffaffung 
unterlegen, beweijen wohl jchon die äußeren Vorbereitungen, dent 
Hörer das »Verſtändniß« zugleich mit dem Programm in die Hand 


166 1858. 


Liſzt Hatte für die Grundzüge diefer Auffaffung ein hoch— 
bedeutendes und gefährliches Vorbild in Beethoven's zweiter 
Melle. In der That haben die beiden Werke mehr miteinander 
gemein alö die Tonart D-dur. Auch Beethoven’3 D-Mefje riß 
den Kirchenſtyl aus feinen bisherigen Formen in eine gewaltige 
aber phantaftiihe Region, für welche die irdifchen Bedingungen 
des Gottesdienftes feinen Raum boten. Beethoven’: mufi- 
falijcher Genius konnte indeffen von ben verjengenden Strahlen 
der »Intention« wohl zeitweije geitreift, niemal3 aber zu Boden 
gezwungen werden. Welche mufifaliihde Entihädigung aber 
bietet Liſzt's Meſſe für die getäufchten Hoffnungen der An— 
dacht? Soll der rein mufifaliiche Genuß der überwiegende 
und der Hörer mehr Künftler fein, als Chriſt? Faft jcheint 
dies der Anficht des Componiſten jelbit zu begegnen, da er es 
vorzog, die Mefje nicht in der Kirche, wohin fie gehört, ſon— 
dern ganz concertmäßig im großen Reboutenfaal aufzuführen. 
Vieles von dem ungünftigen Eindrud würden wir anf dieſe 
concertmäßige Einkleidung jchieben, wären wir nicht fo be— 
günftigt gemwejen, die Graner Meffe auch in der Domkirche zu 
Prag zu hören. Während wir aber dort dachten, fie müßte 
im Concertfaal jedenfall® gewinnen, jo jehnte fih im großen 
Redoutenjaal unfer wanfelmüthig Ohr wieder nach der Kirche. 
Die gothiihen Hallen, die gladgemalten Fenfter, der Weihrauch: 
duft, furz die Heiligdeit des Drtes lieh doch auch der Graner 
Meſſe etwas von der Stimmung, die wir in der Mufif allein 
hier nimmermehr entdeden fonnten. 

Nicht ala ob fie durch Trivialitäten der Melodie oder des 
Rhythmus gegen die kirchliche Würde verftieße. Der Ton Höchften 
Ernites ift durchaus feitgehalten. Allein nirgends kommt eine 
Stimmung zur wahrhaften Ausprägung. Wir werden durch 
lauter Anfänge, Fragmente, Anregungen und Contrafte raſtlos 
weiter getrieben, ohne zur Sammlung irgend Zeit zu gewinnen. 
Die geiftreihften Pointen fünnen und für die Ruheloſigkeit 








zu bdrücden. Die Bertheilung des Meßtertes (mit etwas Gregeie) 
unter ein rein katholiſches Publieum wird manchem wunderlich vor— 
gekommen fein. 


Die »Graner Meſſe« von Liizt. 167 


des Ganzen nicht entichädigen. Hin und wieder tauchen freund- 
lihere Klare Stellen auf, wie im Agnus Dei und Benedictus, 
welche uns überhaupt als die einheitlichiten und gejammelteiten 
Muſikſtücke des Ganzen erſchienen, doc lange bleibt die Freude 
nicht ungetrübt. Der Hörer wird jeden Augenblid durch einen 
gefuchten Contraft aus der Stimmung gerifjen. Geht er näher 
darauf ein, fo findet er wahrſcheinlich eine finnreihe Motivis 
rung, eine jemer thematiichen Anſpielungen, die Wagner in 
Schwang gebradt, oder ähnliche Beziehungen; aber der Total- 
Eindrud, den er mitnimmt, wird deöhalb fein anderer. Won 
den zwei Begriffen, die das Wort »Kirchenmuſik« bilden, 
gelangen bei Zifzt weder der eine noch der andere, am wenigſten 
beide zu ſchöner Wirflichkeit. Faſt möchten wir auf diefe Meſſe 
ein ſtrenges Wort Schumann’ über eine Oper Meherbeer's 
anwenden: »fie ſei der Angftichrei eines von den Forderungen 
der Zeit aufs äußerſte gequälten Talentö«. So fteht uns die 
»&raner Mefje« fremdartig entgegen: halb Oper, halb theo- 
logiihe Abhandlung. Wir würden indeß um den Namen nicht 
ftreiten, unter welchem uns ein Kunſtwerk von reicher muſi— 
falijher Erfindung geboten würde. Damit ift es jedoch in 
der Graner Mefje beitellt, wie — in Liſzt's größeren Com— 
pofitionen überhaupt. Das Rühmenswerthe und Anziehende des 
Werkes ruht in den einzelnen durch Reflexion vermittelten 
Pointen, ſei es der Tertauffaffung, fei es des mufifalifchen 
Effectes. Hier ließ fi von Liſzt's Geift und Bildung eine 
Reihe feiner Apercuß erwarten, und er hat diefe Erwartung 
auch in jedem Sat reichlich erfüllt. 

Zum Schluß nod eine Bemerkung. Faft alle längeren, 
insbeſondere apologetiichen Beſprechungen der »Graner Meſſe«, 
die uns zu Geſicht kamen, beginnen mit einer ausführlichen 
Geſchichte der Kirchenmuſik. Die großartigſten und höchſten 
Entwicklungen der Musica sacra werden dabei natürlich zu 
Vorftufen für die Lijzt’sche Meile herabgefegt, welche an die 
Stelle des »ohnehin abgelebten« Alten einen neuen Kirchenſtyl 
und zwar den für die Gegenwart allein zufagenden aufgerichtet 
babe. Daß man auch der Kirchenmuſik gegenüber, deren 
Blüthenzeit tief in der Vergangenheit Tiegt, dieſe fonft wohl: 


168 1858. 


befannte Sprade führt, jcheint uns etwas ſtark. Wenn unjerer 
Zeit, wie eingeräumt wird, die findliche Frömmigkeit und 
Gottesfurdt abhanden gefommen find, in welder die alten 
Meifter fchufen, fo find doch gottlob ihre Werke nicht mit ab— 
handen gefommen. In ihnen allein iſt — noch für lange Zeit 
— da3 Heil der Kirchenmuſik zu fuchen. 

Nur zwei gejchichtliche Bildungen der heiligen Muſik ent: 
ſprechen volltommen der hohen und ernften Bedeutung des 
Gottesdienites: die Kirchenmufif der alten Italiener (römiſche 
und venezianiihe Schule) und der älteren Deutfchen (Edart, 
9. Schütz, ©. Bad). So lange nicht ein erneutes religiöjes 
Leben auch die Kunſt wahrhaft befruchtet, und mit urſprüng— 
liher Kraft (nit mit reflectirendem Wit) ſelbſt fi neue 
Formen Schafft, wird der moderne Kirchencomponift am beiten 
thun, jih in jene Ausdrudsweifen zu verjenfen, ans welchen 
mit nie erreichter Innigkeit Gottesliebe und Gottesfurcht ſpricht. 
Nicht jedes Zeitalter darf jede Miſſion übernehmen wollen. 

Sapvigny Hat befanntlid unferer Zeit den Beruf zur 
Gejeßgebung abgeſprochen. Der Beruf, eine neue Kirchenmufif 
zu jchaffen, fehlt ihr noch weit mehr. 


Soncert der Singakadenmtie. Mendels⸗ 


ſohn. 


Wir erblicken eine der fruchtbarſten Seiten der Chor— 
vereine in der Verbreitung muſik-hiſtoriſcher Kenntniſſe. Indem 
der reine Chorgeſang, der ſeine zahlreichſten und unvergäng— 
lichſten Muſter in der älteren Kirchenmuſik Deutſchlands und 
Italiens ſindet, von dieſer gar nicht Umgang nehmen kann, 
eröffnet er zahlreichen empfänglichen Muſikfreunden eine neue 
Welt, von der fie wahrjcheinlich ſonſt feine Ahnung erhalten 
hätten, Das fremdartige der erjten Begegnung wird durch Die 
Beharrlichkeit liebevollen Einjtudiren® gebroden, und an die 
Stelle der allgemein herrichenden ſyſtemloſen Eklektik tritt all 
mälig dad Bemwußtjein eines Zujammenhanges in der Entwids 
lung unſerer Kunſt. 


Goncer: der Singafabemie, Mendelsjohn. 169 


Die neuere Zeit war in dem Programmı der Singafademie 
vertreten dur den »43. Pjalm« von Mendelsjohn (op. 78) 
und deffen »Hymne- in G-dur für Sopranfolo und Chor, 
beided® Werke von religiöfem Ausdruck und edler geiftvoller 
Geitaltung. 

Mit Bedauern jahen wir hingegen ein Baßjolo und Terzett 
aus einem handjchriftlihen deutichen »Stabat mater« von 
Schubert in das Programm aufgenommen. Das Werk ge: 
hört zu den vielen Jugendarbeiten des genialen, aber oft 
wahllos producirenden Tondichters, die nur eine falſche Pietät 
aus dem Dunfel hervorzieht, welchem der Autor felbit fie an: 
vertraut wiffen wollte. Dies »Stabat mater«, in dem weichlich 
jalbungsvollen, Homophonen Styl der Mozart’ichen Nachtreter 
geichrieben (eine Neminiscenz an Saraftro ift nahezu fomifch), 
machte fih unmittelbar nah dem Mendelsſohn'ſchen Palm 
recht intereffant. Es war eine jchlagende Antwort auf die in 
neuejter Zeit beliebte Werjpottung Mendelsſohn's und jeiner 
»beim Thee aufzuführenden« Kirchenmuſik, auf deifen Unkoften 
Schubert jhlehtweg nit nur als der »größte Mufifer, 
jondern als der einzige echte Meifter nach Beethoven« er— 
hoben wird. 

Die Begeifterung, mit welcher am jelben Tage drei ver: 
jchiedene Tondihtungen Mendelsſohn's aufgenommen wurden, 
führte und den mohlthätigen Einfluß dieſes Meifterö in der 
mufitaliihen Kunftgefchichte wieder recht Iebhaft vor Augen. 
Daß Mendelsſohn die Kraft und den Aufſchwung Beethoven's 
nicht befigt, daß feine janfte, feine Natur manchmal dem Weich— 
lihen verfällt, daS wird ebenjowenig Jemand läugnen, al? 
damit etwas Neues fagen. Wir glauben ſogar, daß die meijten 
jeiner Clavier-Compoſitionen noch immer überihäßt find: 
in ihnen muchert wirklich) jener oft gerügte Formalismus, 
welcher mit der ftereotypen Ausdrucksweiſe äußerlicher Leiden: 
ihaft den Mangel an innerer Kraft verdedt. Allein in diefen 
Glavierftüden Liegt nicht der Schwerpunkt von Mendelsſohn's 
Bedeutung. Er ruht in feinen Concert-Ouverturen, durch welche 
der Inftrumentalmufif ein neues Clement zugeführt wurde, und 
vor allem in feinen geiftlihen Tondidtungen. Mendel2: 


170 1858, 


fohn’3 Oratorien und Pialmen find mufifaliihe Erfcheinungen, 
die nach Art und Größe feit Beethoven ziemlich tjolirt daſtehen. 

Mögen immerhin Schubert nd Schumann nad Art 
ihres Talents Beethoven näher verwandt fein, ald der 
reflectirtere Mendelsfohn: damit ift die Bedeutung eine Ton- 
dichters in der Kunftgefhichte noch nicht gemefjen. Keiner von 
diefen Nachfolgern Beethoven’ hat in geiftlicher Kunft Erheb: 
liches geleiftet. Die »Pfalmen« und »Oratorien« find eine That, 
die Mendeldjohn jogar vor Mozart und Beethoven voraus hat, 
denn jeit Bach und Händel hat er die erfte wahrhaft deutjche 
DOratorienmufif gebradt. Inden Diendelsfohn, mit Uebergehung 
der ſpäteren neapolitaniichen Schule, deren Einfluß noch Haydn 
und Mozart beherricht hat, an das Vorbild Sebaftian Bach's 
anfnüpfte, hat er jedenfall etwas ganz Anderes und Höheres 
gefchaffen, al® eine bloße »Abihwähung und Verweichlichung« 
diefes Originals. In einer Zeit zerfahrenen Epigonenthums war 
Mendelsfohn die blanke, unangetaftete Säule der deutfchen 
Tonkunſt. 

Nicht in einer Verwandtſchaft mit dem »Dilettantismus«, 
ſondern geradezu in ſeinem directen Gegenſatz zu dem genial— 
thuenden Dilettantismus unſerer Tage, erſcheint uns gegenwärtig 
das Charakteriſtiſche von Mendelsſohn's Kunſtthätigkeit. Die 
Degradirung Mendelſohn's zu einer »falſchen Zwiſchenbildung« 
in der Geſchichte der Muſik muß wohl die Anſicht in ſich ſchließen, 
daß wir ohne dieſen Auswuchs viel weiter wären. Darauf iſt 
zu erwidern, daß im Gegentheil in Mendelsſohn's Erſcheinen 
gerade zu dieſer Zeit und in dieſem Zuſammenhange eine ber 
weijeften Fügungen der Kunitgeichichte Liegt. Ohne feine Form: 
Ihönheit, jein reines, klares Geftalten wäre, nad der ver: 
führerifchen Emancipation der fpäteren Beethoven’ihen Muſe, 
die Verwilderung, die wir gegenwärtig in der »Zukunftsmuſik« 
erleben, viel früher und ungleich verderblicher eingebrochen. 
Was an den jchlimmiten Verſuchen diejer Richtung noch ver: 
nünftig und maßboll ericheint, iſt größtentheild dem Einfluß 
Mendelfohn’s zu verdanken. 


Ole Bull. 171 


Ole Bull. 


Es war vor 18 Jahren, daß Ole Bull zum erften Dal 
in Wien und Prag concertirte. Nicht undeutlich erinnern wir 
und des blaſſen, nordiihen Jünglings, der faum die Geige zur 
Hand zu nehmen braudte, um die lebhafteiten Sympathien des 
PBublicums zu erregen. Im Sturm famen fie ihm zugeflogen. 
Man feierte in Dle Bull einen ind Norwegiiche überjegten 
PBaganini, und was feine Töne nicht deutlich ſagten, das las 
man theilnahmsvoll aus feinen ſchwärmeriſch leuchtenden Augen. 
Die Lebensgeihichte des jungen Künſtlers war, mehr oder 
minder ausgefhmiücdt, in aller Munde. Man mußte, wie er 
frühzeitig von feinem ftrengen Vater zum Theologen beitimmt, 
und zugleich, zu größerer Sicherheit, der Geige beraubt worden 
war; wie er fpäter in Göttingen Jurisprudenz ftubirte, aber 
immer wieder zur Muſik fich zurüdgetrieben fühlte. Spohr, 
dem fi der Jüngling anvertraut, fand ſich von der ercentriichen 
Weiſe desjelben fo fremdartig berührt, daß er ihn ohne Auf: 
munterung entließ. Unſer junger Freund eilte nah Paris, der 
hohen Schule des Ruhmes. Auch da war fein Anfang der un: 
glüdlichite von der Welt; es wurde ihm Alles, jelbit feine 
Violine, geftohlen. Obdachlos und dem Selbftmord nahe irrte 
er mehrere Tage und Nächte in den Straßen von Paris. Eine 
vornehme ältere Dame, die Witwe des Grafen Fade, deren 
Entelin er fpäter geheiratet hat, entzog ihn dem Elend. Ein 
Goncert, das der von jchwerer Krankheit faum geneſene Künftler 
mit Hilfe einer geborgten Violine gab, hatte jo großen Erfolg, 
daß der Anfang feiner Virtuoſen-Laufbahn gefichert und Ole 
Bull in den Stand gejeßt war, für feine weitere Ausbildung 
und Berühmtheit auf Reifen zu gehen. Seither hat fich die 
Geſchichte nicht viel weniger romantisch fortgeſetzt: Dle Bull 
hat Jahre Yang als Farmer in Amerika gelebt und taucht nun 
plöglih, halb vergefien, wieder in Europa auf. Sei es aber, 
daß wir im Leben praftifcher, oder in der Kunſt idealiftiicher 
geworden find, — dad Ericheinen Dle Bulls übt wenig mehr 
von dem alten Zauber. 


172 1858. 


Bon jeher hatte fich diefer Künftler einer ſehr einfeitigen 
Virtuofität ergeben, und jene Vereinigung ſouveräner Bravour 
mit bizarrem Ausdrud in ſich ausgebildet, die man vorzugs— 
weiſe »paganiniiche nennen fünnte. Die Begeifterung für eine 
folhe Richtung, welche Herz und Geiſt ſchmachten lafjend, nur 
die Verwunderung des Zuhörerd in Anſpruch nimmt, ift im 
Laufe der legten zwei Decennien eritaunlich gefunfen. Gefättigt 
von all den Sprung: und Sletterfünften, die einmal vielleicht 
ergögen, aber ſchon ein zweitesmal und gar nicht? mehr zu 
jagen haben, ſucht man gegenwärtig mit Recht eine tiefere Be- 
friedigung auch beim DBirtuofen. Die Häufung technifcher 
Schwierigkeiten und deren noch jo glänzendes Befiegen vermag 
nur ald Mittel zu geiltigerem Zwed, nur als Durchgangs— 
punft zu einer weit höheren Wirkung nachhaltig zu erfreuen. 
Bon einem Wirtuofen, der als Componiſt jelbit jehr unbe: 
deutend daſteht, verlangen wir daher, daß er feine techniiche 
Kraft im Dienst gediegener Mufit bewähre. Ole Bull jpielt 
heute wie vor zwanzig Jahren nur eigene Compofitionen. Wir 
müßten jehr irren, wenn es nicht fogar genau diejelben Stüde 
iind. Sih an diejen form: und gedankenlojen Phantaſien zu 
erbauen, wird man ader faum im Ernite jemand zumuthen 
fönnen. Ehemals zwar ſuchte man eine gewiſſe künstliche Dunkelheit 
in dieſen Sompofitionen für Erhabenheit und Tiefe auözugeben, 
und bemunderte als »echt nordiihe, wad man als gut 
mufikaliich zu bewundern doh Anftand nahm. Die Schwärmerei 
für Ole Bull's Mufit geberdete fih manchmal wie ein Nach: 
lang jener allgemeinen Verzückung für die hohle Erhabenheit 
der »Oſſian'ſchen« Nebelpvefte. Wir vermochten für unfern Theil 
in Dle Bull’ Compofitionen nie etwas anderes zu erkennen, 
ala mit Schmerzen geborene, unreife Producte einer gährenden, 
aber ganz hoffnungsloſen PBhantafie. Kaum, daß einzelne Takte 
Spuren von Originalität zeigen, der Grundcharafter jeiner Com— 
pofitionen bleibt immer: reminißcenzenreiche Unſelbſtſtändigkeit. 

Gonfequent ift Ole Bull's Muſe nur in zwei Dingen: in 
in der Inconjequenz des muſikaliſchen Baues und in dem lleber: 
gewicht der Bravour. Wa& die erjtere betrifft, jo nennen wir 
aus vielen Beiipielen nur die »Polacca guerriere«, Schon die 


Ole Bull. 173 


Form und der Name laffen auf ein einheitliches Stück von 
durchaus kraftvoller Lebendigkeit Ichließen. In der That beginnt 
dad Orchelter mit einer Polonaife, die in Ermanglung jeden 
innern Feuers wenigſtens die Rhythmik mit Trommeln, Tri: 
angeln und Beden markirt. Dieſe kriegeriſche Einleitung führt 
geradenwegd zu einem kläglichen Pecitativ der Violine, an 
welches fi ein langes Adagio und hierauf wieder ein jenti= 
mentale® Andantino im */,:Taft reiht. Damit jchließt das 
Stück, ohne den Einleitungsfag, der ja die ganze Gompofition 
beherrichen, oder vielmehr in immer glänzenderer Steigerung 
ausmachen follte, wieder breit aufzunehmen. Der Componift hat 
im Verlaufe feiner bizarren Recitative und reichverzierten An— 
dantes völlig vergefien, daß er eine »£riegeriihe PBolacca« 
Schreiben wollte. Einen joldhen Mangel der nothwendigſten fünft- 
leriihen Disciplin findet man vielleicht in der muſikaliſchen 
Literatur nicht wieder. Ebenſo find Ole Bull’3 »Goncerte« 
formlofe, halb in breitläufigen Adagios, halb im antiquirten 
Bravourpaffagen fich ergebende Phantafien. In den Ueber— 
reihthum der leßteren fegten wir die zweite Gonjequenz der 
Bul’ihen Compoſitionsmethode. Man ift ficher, in jedem Werk 
diefes Birtuofen denjelben Kunitjtüden zu begegnen. Es find 
deren insbeſondere zwei, welche er mit auffallender Vorliebe 
pflegt: die Flageolettöne und das mehrjtimmige Spiel. Beides 
behandelt Ole Bull mit virtuofer Sicherheit und Reinheit; allein 
indem er endlos lange und an fich bedeutungslofe Süße aus: 
ſchließlich für Flageolet oder für mehrftinmiges Spiel fest, 
ftumpft er den Hörer auch dafür ab. Noch glänzender find jeine 
Staccatoläufe, die er gleich unübertrefflich im Aufftriche wie 
im Abftriche hervorbringt. Andere Seiten der Ole Bull'ſchen 
Bravour find, ehemals angeftaunt, gegenwärtig ſchon mehr Ge— 
meingut geworden. Sein Ton tft von jchöner Weichheit, nur 
im Adagio mitunter winfelnd. Den Gefammteindrud von Dle 
Bull's Spiel kurz zu fummiren, jo wirken die Vorzüge des— 
felben als rein technifche. Die ganze Richtung feines Spiels 
ift eine abgeblühte, und es bedarf vollauf der Tiebenswürdigen 
Perſönlichkeit Ole Bull's, fie wenigſtens ftellenweije wieder zu 
Iheinbarem Leben zu erweden. 


174 1858. 


Die Hchweltern Ferni. 


Die beiden geigenden »Wunderjchweitern« aus dem Süden 
find endlich auch bei uns eingezogen. Man weiß aus den 
Zeitungen, wie halb Italien für Birginia und Carolina Ferni 
Ihwärmt; zu dem Ruhme ihrer Kunft gefellt fich der ihrer 
Schönheit und erhielt durch hochromantiſche Abentener in jüngfter 
Zeit ein rothes Siegel der Beglaubigung. Durch muſikaliſchen 
und anekdotifchen Zeitungslärm angeloct, hatte fich ein großes 
PBublicum im Theater an der Wien eingefunden, wo die 
Schweſtern Ferni ihr erftes Concert gaben. Erft jeit den Mila 
nollo’3 hat man fich neuerdings in Deutfchland daran gewöhnt, 
die Bioline in Frauenhänden zu jehen, und doch fönnte man 
dies Inftrument, übereinftimmend mit der deutfchen Benennung 
desjelben, ein echt mweibliches heißen. Der Maler wird una gern 
beiltimmen, in dankbarer Erinnerung an die vielen allerliebiten 
Geigenſpielerinnen auf alten Bildern, und ebenſo gern wird der 
Mufiter dem geiftreichen Berlioz Necht geben, wenn bdiefer in 
der Geige »die eigentliche Frauenftimme des Orchefterd« feiert. 
Das MWunderfindliche der beiden Milanollo’3 jehen wir num 
beit den Schweitern Ferni zur Reife fchöner Sungfräulichkeit 
entwidelt. MWenn fie beide Hand in Hand mit ihrem faft 
ftatunarifch ruhigen Anftand vortreten — fchlanfe, blühende Ge- 
ftalten mit jchön geformten Köpfen, tiefdunflem Blick und 
haraktervollen Zügen, — fo geiteht man, das Bild.habe etwas 
Beftechendes. Sobald die Geigen erklingen, hört man, daß es 
der Beitehung nicht bedurfte. Beide Schweitern haben eine 
Sicherheit und Pielfeitigkeit der Technik, die nur der glüdliche 
Erwerb einer von Kindheit auf jpielend fortgefeßten Uebung 
und einer durchaus muſikaliſchen Erziehung ſein kann. Was uns 
an ihrem Spiel vor allem erfreute, ift der entjchiedene, Fräftige 
Ausdrud; da hat man feinen unficheren Einfag, feine ſchwankende 
Gantilene, feine verwiſchte Paſſage zu fürchten. Von einem 
mächtigen, tiefen Eindrud fönnen wir nicht berichten, es war 
auch das aus den flachſten Salon-Compofitionen gebildete 
Programm nicht darnach! allein der Vortrag zeugte von einem 


Die Schweftern Ferni. 175 


männlicheren Geiſt, der jede affectirte Zimperei und Weber: 
ichmwenglichkeit verfchmäht. Von jenen ſchwer zu definirenden 
Heinen muſikaliſchen Schwachheiten, auf welche wir bei den 
Schweftern Ferni auß dem doppelten Grunde ihres Geſchlechts 
und ihrer Nationalität gefaßt waren, haben wir nur ehr 
wenige (z. B. in dem nachdrüdlihen Zerpflüden der Mes 
lodienſchüſſe) gefunden. Der Ton war immer fräftig und 
rein, der Paſſagenſchmuck zierlih, die Reinheit des Octaven— 
ſpiels und der Flageoletftellen überrafhend. Auf die Frage, 
welche von den zwei Schweitern die borzüglichfte jei, müßte 
man eigentlich antworten: Beide zufammen, denn ihr Zufanmen: 
ipiel ift die Krome ihrer Productionen. Diefe Gleichheit des 
Spiels bis in die verborgenften Falten desjelben — natürlich 
nur durch ein jahrelanges Zufammenspiel, oder richtiger muſi— 
kaliſches Zufammenleben erreihbar — verleiht jelbit un: 
bedentenden Gompofitionen, wie dem Duo von Alard, unter 
den Händen der Ferni umnleugbaren Reiz. Nach einmaligem 
Hören fchien es und, al3 wenn innerhalb der großen Yamilien- 
Aehnlichkeit ihres Spieled Virginia mehr die jchmeichelnde 
Zärtlichkeit, Carolina hingegen die einfchneidende Kraft reprä- 
jentirte. So glänzte in dem »Garneval von Venedig« (dieſes 
enfant terrible der Violin-Virtuoſität wurde uns nicht ge 
Ihenft) Virginia durh die ſüße MWeichheit im Vortrag der 
Einleitung, während Carolina fich vorzüglidh in halsbrecheri— 
Then Regionen wohlzubefinden jchien. So virtuos e3 bewältigt 
wurde, jo fehlte diefem Stüde doch die Keckheit eines gleichſam 
impropifirenden Humor; die mandhmal gar zu unfläthigen 
Scherze dieſes »Garnevald« gefallen und am wenigiten aus 
Ihönem Franenmund. — 

Die lange Reihe von fechzehn (!) Concerten, welche die 
Ferni im Theater an der Wien gaben, vermochte nichts 
Mefentliches zu dem Eindruck hinzuzufügen, den man aus dem 
erften mit nach Haufe nahm. Ein fortgefeßtes Intereffe an den 
Ferni’fhen Productionen hatte bei der Mermlichkeit ihres Pro— 
gramm’3 nur der Violinfpieler und das große Bublicum; jener 
aus rein technifhem Gefichtspunft, dieſes aus begreiflichem 
Behagen an leichter und ſüßer Koft. Der eigentliche Mufiker, 


176 | 1858, 


der Freund gediegener Tondichtung, ging dazwiſchen ziemlich 
leer au. Das Ferni'ſche Repertoire bewegt fi) (wenn hier 
noch von Bewegung die Rede fein kann) auf einem gar zu 
einen und Eleinlichen Terrain der PVirtuofität. Mit Diefen 
abgeitandenen »Airs« von Beriot und Variationen von Alard, 
mit diefen >Nachtwandlerinnen« und »Regimentstöchtern«, 
endlih mit dem »Carneval«, diefer mufifalifhen Pandora— 
büchje, aus melcher, fobald man nur acht Takte herausläßt, 
alles erdenkliche Unheil auffteigt, hätten die gefeierten Schweitern 
vor dem ftrengen Bublicum des Muſikvereins-Saales kaum 
jo oft ihre fiegreihen Bogen geſchwungen. Das darf und aber 
nicht ungerecht machen. Der ganz ungewöhnliche und verhält: 
nigmäßig leicht errungene Erfolg der Ferni, zufammengehalten 
mit dem bon der Kritik allzu oft hervorgehobenen Reiz ihrer 
Perfönlichkeit, mag vielleiht manchen muſikaliſchen Cato von 
Eifen auf die Idee gebracht haben, es handle ſich Hier nur um 
zwei hübſche Mädchen, die nicht allzuviel können. Weit gefehlt. 
Die Schweitern Ferni können manden berühmten Violinfpieler 
verdunfeln, ganz abgejehen von dem Sinn, in welchem dies 
ohnemweiter8 einleuchtet. Sie theilen mit ihren Land3leuten 
Sivori, Bazzini u. A. die einfeitige Anfhauung von der Miffion 
der Birtuofität, allein an der Thatſache diefer Virtuofität läßt 
fih nicht mäfeln. Der Umfang ihrer Bravour iſt keineswegs 
ein außerordentliher (mehritimmiges Spiel zum Beifpiel und 
mande Gombinationen der modernen Technik hörten wir fait 
gar nicht), es find mehr die Violinfünfte der Tettverfloffenen 
Beriode, die fie vollfommen beherrichen. Wir hörten aber nichts 
bon den Ferni's, was fie nicht vollendet geipielt hätten. Wo 
e3 fich blos um Bravour handelt, ftrömt fie uns mwenigftens 
in dem reinen Duft mühelojer Anmuth entgegen. So fehen 
wir in der Spielweiſe der ſchönen Schweftern den Adel ihrer 
Erjeheinung und Haltung ſich tönend abipiegeln. 


Biatti. 
Alfred Piatti iſt ein noch junger Mann; um ſo ſtaunens— 
werther erſcheint die faſt abſolute Gewalt, die er über ſein 


Piatti. 177 


Snftrument, das Bioloncell, erlangt hat. Sein Ton iſt von 
feltener Schönheit, wei, rund und blühend Wielleicht zum 
eritenmal vermißten wir an einem Gelliiten jenen jchnurrenden, 
brummenden Beillang der tieferen Chorden, von dem jelbit 
dad Spiel der größten Virtuofen jelten ganz frei war. Freilich 
vermeidet Biatti, fein Inftrument allzuftark anzugreifen; fein 
Spiel ließe hin und wieder fräftigere Farben, tiefere Schatten 
zu. Dafür ftreift er nirgends die Grenzen des Uebelklingen— 
den, ſondern entzüdt immer dur den Zauber des reiniten 
MWohllauted. Sein Spiel, dad in diefer unvergleichlichen 
Schönheit des Tones ein jo beneidenswerthed Material befigt, 
iſt ebenſo entwidelt nad) der Richtung der PVirtuofität, als 
gediegen in PBortrag und Auffaffung Wir wollen nicht 
einzeln al die Kunſtſtücke aufzählen, die bei allen Cello: 
Virtuoſen, alfo auch bei Piatti, die äußerlichen Spigen ihrer 
Virtuofität bilden; nicht einmal, daß er fie mit Bollendung 
durchführt, braucht eigend verfichert zu werden. Die leichte 
Sicherheit Hingegen, mit welcher Piatti die höchſte Bravour 
beherrſcht, ohne ihr eine läſtige Wichtigkeit zu verleihen, muß 
als ein eigenthümliher Vorzug hervorgehoben werden. Die 
pirtuofe Kunſt fteht Piatti nirgends im Wege, wo e3 gilt, 
eine Bantilene einfach vorzutragen. Innig und tief empfunden, 
hatte 3. 8. fein Vortrag der Schubert’jhen »Litanei« doch 
niht8 von jener anmwidernden Süßlichkeit, welche gerade 
auf dem Bioloncell jo allgemein vertreten wird. Führt auch 
Piatti feinen Bogen fo fein und leicht, wie ein Violinſpieler, 
fo verihmäht er es doch, und um den eigentlichen Charakter 
ſeines Inftrumentes zu betrügen, welches bei aller Innigkeit 
ernjt und männlich bleiben fol. Ebenfofehr Hat uns erquidt, 
im Adagio nicht jenem fortwährenden Vibriren zu begegnen, 
das bei zahllofen Celliften mit »Gefühl« identisch tft. 

Bei diefer echt künftlerifchen Richtung Piatti's der mit 
der finnlihen Friſche feiner Landsleute den tieferen Ernft der 
Deutfchen verbindet, fühlt man mit Bedauern, wie gerade jein 
Snftrument mit claffiihen Solo-Compofitionen fpärlic bedacht 
jei. Die Eoncertftüde von Romberg, Bohrer, Kummer u. a. 
find veraltet, die Bioloncell-Sonaten von Beethoven und Mendels— 

Hanslid. Aus dem Goncertiaale. 2. Aufl. 12 


178 1859. 


fohn müßten fi) verzehnfahen, um ein Nepertoire zu bilden. 
Piatti componirt auch felbft, er muß es geradezu, will er 
ergänzen, was jene Meifter ihm fchuldig geblieben find: feiner 
hochgefteigerten Virtuofität nicht blos entiprechende Entfaltung, 
fondern die höchſten Aufgaben zu ftelen. Nad dem Wenigen, 
was wir von Piatti gehört, fünnen wir ihm fein intenfives 
Compofitiond-Talent zufprechen, wohl aber Gejchidlichkeit in 
der Behandlung der gebräuchlichen kleineren Formen und eine 
durchweg anftändige, ja geſchmackvolle Haltung. 


$Jeopold v. Meyer. 


Einen merfwürdigeren Gegenjag zu dem düſter brütenden 
Aubinftein, der, dad Publicum feines Blickes würdigend, 
mit leidenfchaftlihder Wuth in den Taften wühlt, kann es kaum 
geben, als Herrn Leopold dv. Meyer. »Heiter ift die Kunſt« 
lautet fein Wahlſpruch, und der Wahlſpruch ift gut und jehr 
einträglih. Herr v. Meyer, liebenswürdiges enfant gäte der 
Gejellihaft, befindet fih im Concertſaal natürlih auch nicht 
anders wie unter guten Bekannten, welche ihn bitten, fie um 
jeden Preis zu unterhalten. Das thut denn Herr vd. Meyer 
redlih. Bei feinen Walzern und Polka's zucken die zierlichiten 
Füßchen im Gercle, bärtige Lippen fpigen ſich unwillfürlich 
zum Mitſummen der Melodie, die Stühle rücden immer hör— 
barer aus ihrer Ruhe, — und wenn die famofen Walzer nicht 
endlic) zu Ende gingen, e8 wäre für nichts einzuftehen. Herr 
v. Meyer fennt auch feine Ioreleyernde Zauberfraft, er lächelt 
und lacht und nicdt während des Spield freundlich nad Links 
und rechts, und wenn er gar mit den geballten Fäuſten 
beider Hände einige befonders mißliebige Noten zerjchmettert 
hat, dann leuchtet die unverhohlenſte Befriedigung über den 
gelungenen Spaß auf feinem rofigen Antlitz. Manchmal fam 
der Gefeierte ung vor, wie ein mufifalifher Baron Sternberg, 
der am Glavier »braune Märchen« erzählt. Weber Meyer’s 
Spiel zu fprechen, nachdem es ihm ſoviel Ruhm und Geld 
eingetragen, ilt unnütz; man weiß, das andere Geichleht und 


Leopold dv. Meyer. — Clara Schumann. 179 


die andere Hemifphäre haben ihn zu ihrem Liebling erkoren. 
Bei Meyer’3 eminenter Technik, insbejondere feinem ſammt— 
weichen Anſchlag und der perlengleihen Coloratur, hat man 
hie und da bedauert, daß er nicht ernftere Muſik fpielt. Wie 
furzfichtig! Jedermann muß feine Specialität pflegen, und 
Meyer's Spectalität find die Tanzrhythmen. Kein Menſch über: 
trifft ihn darin, während der Beethovenfpieler gar viele find. 
Und wie mit feinem Innerſten verwachlen iſt diefe elaltiich 
wiegende Rhythmik! ch glaube, wenn Herr v. Meyer über 
Themen aud Don Juan phantafirte, die Kirchhof-Scene würde 
unter feinen Fingern zur niedlichften Polka. Leider iſt die 
muſikaliſche Richtung unferer Zeit fo grämlich idealiftifch ge— 
worden, daß fie Erfcheinungen unterfhäßt, denen »des Ge— 
danken? Bläffe« nicht angekränkelt iſt. Gejunde, unverdborbene 
Nationen erfreuen fich hierin ſchon eines richtigeren Gefühls, 
und deshalb ift Herr v. Meyer in der Moldau, der Waladei 
und überall, »wo die Bildung im Beginn«, am beiten ver: 
ſtanden und gewürdigt worden. 


Klara Schumann. 


Wir Haben in früheren Jahren wiederholt über Clara 
Schumann berichtet, und als den eigentlich goldenen Boden 
ihres Spield die Pietät erfannt, welche nicht3 mehr umd 
nicht8 anderes geben will, als was der Gomponijt vor— 
ſchrieb. In diefer Eigenfhaft ift Fran Schumann unüber- 
trefflich; die wahrhafte »Tonfünftlerin« gegenüber den »Bir- 
tuofinnene, die überall das Herporfehren ihrer Subjectivität 
und die Geltung ihrer Bravour im Auge behalten. Dieje helle, 
gegen jedwede faljhe Sentimentalität gepanzerte Verftändigfeit 
war von jeher ein hervorjtechender Charakterzug der Schumann. 
Nun wir die treffliche Künftlerin nach einer neuerlichen Pauſe 
von mehreren Jahren wieder hören, finden wir in ihr diejelben 
Tugenden. Allein auch Tugenden fönnen in ihrer Strenge 
übertrieben und zur Einfeitigfeit gefteigert werden. Mag Frau 


Schumann in ihrem erften Concert vielleicht nicht ganz dis— 
12* 


180 1858. 


ponirt gewejen fein, genug, es erſchien und jener morgenfrifche 
Hauch der Verftändigfeit mandmal gar zu froftig, die Schärfe 
der melodifhen und rhythmiſchen Contouren gar zu ſchneidig. 
So haben wir Schumann's As-Dur-Canon einſt viel inniger 
von Clara gehört, während diesmal von dem Dufte dieſes be— 
zaubernden kleinen Gedichts viel verloren ging. Für derlei innige 
Cantilenen geht ſelbſt der Anſchlag Frau Schumann's nicht 
tief genug. Ferner fanden wir ihre Neigung zur Beſchleunigung 
der Tempi ſehr vorgeſchritten. Ihr ſtets deutlicher und markirter 
Vortrag vermag es wohl noch, bei ſehr ſchnellem Tempo 
deutlich zu bleiben, allein die Grenze, welche in der Auf⸗ 
nahmsfähigkeit muſikaliſch gebildeter Hörer doch jedenfalls vor— 
liegt, ſchien uns manchmal überſchritten. Mit jeder Note von 
Schumann's »Novelletten« vertraut, vermochten wir dennoch 
kaum, dieſem ſturmwindähnlichen Vortrag der zweiten Novellette 
(D-dur aus dem erſten Heft) zu folgen. Sollen aber ſolche 
ſchwerer faßlihe Compofitionen obendrein als Fremdlinge erit 
eingeführt werden, jo erweilt man ihnen durch allzugroße Haft 
einen Schlechten Gefallen. Der Hörer fühlt ſich durch die An— 
ftrengung, nachzufolgen, ermüdet, und behält vielleicht ein Vor- 
urtheil gegen die Compofition. 

Für die Wahl der Es-dur-Sonate (op. 27), von Beet: 
hoven, find wir der Künftlerin herzlich dankbar. Diefe ſeltſame 
Blume von echt Beethoven’ihem Duft verblüht faſt ungekannt 
im Schatten ihrer berühmten Schwefter, der Cis-moll-Sonate, 
Iſt diefe einheitlicher und verftändliher im Bau, tiefer und 
eingreifender in der Stimmung, fo birgt jene in ihrer genialeren 
Unordnung die reizendften Detaild. Zwiſchen anderen bereits 
gehörten Stüden war wohl da3 intereffantefte Shumann’s 
»Sreißleriana.« So nannte der Componiſt befanntlid eine 
Reihe von Phantafieftücen für das Clavier, bei welchem ihm 
die novelliftifche Figur des Kapellmeiſters »Johannes Kreisler«, 
aus E. Th. Hoffmann, vorfhmwebte Wie hätte er auch ben 
Süngling Schumann nicht bezaubern jollen, diefer in Jean— 
Paul'ſcher Ueberichwenglichkeit einherträumende, ganz in Liebe 
und Muſik aufgehende Kohannes, der, ftet3 in andere Welten 
hinüberfinnend, vergaß, daß er nebenbei noch mit: diefer irdiichen 


Clara Schumann. 181 


zu ſchaffen habe? Wie gutmüthig empfindfam blidt er ung vom 
Titelblatt des Schumann’shen Heftes an, wo er am Clapier 
phantafirend zu Schauen ift, rechts von einem Holden Fräulein 
mit Engelöflügeln gehätichelt, links von einem unartigen und 
ſehr häßlihen Dämon gefrallt! Dies »freudvoll und leidvoll« 
durchzieht auch die Schumann’ihen Phantafieftüde, in welchen 
tiefe Innerlichkeit mit erregtefter PWhantafie wunderbar ver: 
ſchmilzt. Außer der Hauptüberfchrift »Kreisleriana« führen die 
einzelnen Stüde feine Titel und find von jeder degcriptiven 
Sinderei entfernt. Frau Schumann fpielte, mit Ausnahme 
von Nr. 3 und 6, das ganze Heft, und zwar mit einem 
Erfolg, der wohl alle ferneren Beforgnifje über die »Un— 
möglichfeit« folcher Vorträge im Concert zerftreuen muß. Die 
athemlofe Aufmerkjamfeit, mit welcher das Publicum den fremd: 
artigen und doch fo unwiderſtehlich feffelnden Klängen laufchte, 
löfte fih nad der ſüßen Innigfeit des zweiten umd Dem 
phantaftiihen Schwung des legten Stückes in lauteſten Beifall. 
Noch vertranter fühlte fich die VBerfammlung von dem » Andante 
mit Variationen für zwei Pianoforte«, einem der freundlichiten 
und faltenlojeften Stüde Schumann’, angeſprochen. Der zweite 
Part wurde jehr hübſch von Fräulein Julie v. Aften gefpielt. 
Die mohlthätige Wirkung, welche eine fo durdhaus edle und 
unbejtehlih fünftleriihe Perfönlichfeit wie Clara Schumann 
durh einen längeren Verkehr anf Zuhörer und Kunſtjünger 
hervorbringt, hat fih auch in dem heurigen Cyklus bewährt. 
Wenn uns die treffliche Kinftlerin in früheren Jahren vielleicht 
noch mehr entzücdte, ald diesmal, fo wird ohne Zmeifel ein 
Theil der Schuld an ums felbft Tiegen. Den anderen Theil 
dürfen wir aber wohl mit der nervöfen Haft in Verbindung 
bringen, nit welcher gegenwärtig Frau Schumann die Tempi 
weit mehr al früher zu befchleunigen pflegt. Da der Einfluß 
eines folchen Beifpiel3 auf junge Talente ſehr groß ift, wollen 
wir auch aus dem letzten Goncerte ein Beiſpiel anführen, Wer 
von den Zuhörern wäre im Stande geweſen, dem erften Stüde 
der »Sreiöleriana« in diefem Tempo zu folgen? Schumann 
ſchreibt »forte« vor und bezeichnet überdies den Anfang jeder 
ZTriole mit einem Accent; ein Preito, wie das der Frau 


182 1858. 


Schumann, läßt aber nicht daß geringite Verweilen auf der 
Tafte zu, und würde ſelbſt einem Dreyihod oder Rubinſtein 
das Forte und die Accente unmöglih machen. Auch eine zweite 
Bemerkung nehmen wir nicht Anftand zu wiederholen: daß um: 
beichadet der fünftleriichen Glätte und Durchſichtigkeit eine 
größere Wärme und Bejeelung mancher Tondichtungen uns 
möglich jcheint, als Clara Schumann ihnen gegenwärtig verleiht. 

In dem eriten »Gefellichaftsconcert« entzüdte und Frau 
Schumann durh den Vortrag des A-moll-Eoncert® von Rob. 
Schumann. Dieſes Concert, auf dem Programm als »neu« 
verzeichnet, iſt gleichwohl dasſelbe, das mir bereit vor eilf 
Jahren in Wien gehört; Schumann dirigirte e8 damals, Clara 
ipielte daS Clavier. Die Thatſache, daß es jeither niemand 
gejpielt hat, kann höchſtens in der großen Schwierigkeit des— 
jelben Erklärung finden, oder in der noch größeren Indolenz 
unferer Pianiften. Das A-moll-Goncert gehört zu den reifiten, 
audgearbeitetiten Gompofitionen Schumann’3, und man braucht 
es nicht auß der Opuszahl (54) zu entnehmen, daß es des 
Meiſters fruchtbarfter und glüdlichiter Periode entftammt. Das 
Thema des eriten Saßes, das nad einigen fcharf diffonirenden 
Uccorden des Claviers vom Orchefter gebracht wird, erinnert 
in feiner edlen, aber etwas weidhlichen Haltung an Men: 
delsjohn; allein gleich die folgende Sechzehntelfigur mit den 
abjteigenden Bäſſen iſt eht Schumannifch, wie alle Weitere. 
Nach einem längeren Tutti in C fällt (noch vor der fogenannten 
Durhführung) dad Clavier mit einem wunderzarten Andantino 
in As von nur 30 Taften ein, dad wie ein fleiner, jpiegelheller 
See zwiichen dunklen Felſen und Bäumen fich außbreitet. Die 
Solo-Cadenz ift bei Schumann (unmittelbar vor dem Schluß 
des erſten Sages) vollftändig ausgejchrieben. Die veraltete, 
nicht mehr zu vechtfertigende Gewohnheit, daß der Gomponift 
dem Spieler carta bianca fir eine beliebige Gadenz gab, melde 
oft dem Styl und der Deconomie des ganzen Stüdes grell 
widerſprach, konnte bei Schumann unmöglich) Gnade finden. Er 
componirte ſelbſt die Gadenz, die von bejcheidenfter Dimenfion, 
weit weniger eine Anhäufung von Bravour-Paſſagen, als viel- 
mehr ein geiftreihes Stück freier Phantaſie ift. Ein kurzes 


Kammermufit. Chopin. 183 


»Allegro molto« jchließt den eriten Sat, der jomit in feiner 
Folge von mäßig raſcher, langſamer und fchnellfter Bewegung 
felbft das verkleinerte Abbild eines ganzen Concertes ilt. 

Der zweite Saß, ein Andantino grazioso in F-dur läßt 
auf eine kurze, zwifchen Glavier und Orcheiter fich nediich ab— 
löjende Figur einen breiten Geſang der PVioloncelle folgen, 
deſſen bezaubernde Innigkeit auf feinen anderen Componiften 
der Welt, ald gerade auf Schumann, würde rathen lafjen. Das 
Andantino leitet unmittelbar in das Finale, das — Allegro 
vivace °/, — mit einem freudig herausfordernden Hornthema 
ftolz anhebt. Vol regen Lebens, glänzend, Eraftvoll, über und 
über geſchmückt mit neuen reizenden Paffagen, in einem Guß 
fortfließend bis zum Ende, ift diefer Finaljag ein Mufter echt 
concertmäßiger Compojition. 


Kammermuſik. 


Chopin: Violoncellſonate. Beethoven: Fuge Schumann: Violin— 
ſonate in D-moll. Alex. Winterberger und die ſpäteren Clavier— 
werke von Beethoven. 


Chopin's Sonate für Violoncell und Clavier (zum 
erſtenmal) vermochte den Erwartungen der Freunde dieſes Ton— 
dichters nicht zu entſprechen. Nicht blos zeigt ſich darin ein 
auffallendes Ungeſchick, in größeren Formen zu denken, und 
wahrhaft polyphon zu ſchreiben, auch an der rein melodiöſen 
Erfindung erfcheint hier Chopin wie gelähmt durch den bloßen 
Gedanken, eine Sonate fchreiben zu follen. Diefer jo Hoch 
und eigenthümlich begabte Componift hat es nie vermocht, die 
duftigen Blüthen, die er mit vollen Händen ausftreute, zu einem 
ſchönen Kranz zu vereinigen. Sein großed Talent bewährte fich 
nur in einen lyriſchen Stüden; Henſelt und Stephen Heller 
find hierin ähnlich organifirtt. Schumann fteht dadurch jo viel 
höher in der Kunftgefchichte, daß er aus gleichen lyriſchen An— 
fängen fi zur freien fünftleriichen Geftaltung, zur Beherrſchung 
der Form emporrang. 


184 1858. 


In gewiſſem Sinne epohemahend war die legte Duartett- 
Soirée durch die Vorführung der hier noch nie gehörten »Fugue 
tantöt libre tantöt recherchee« (op. 133), von Beethoven. 
Urfprünglich follte diejer fugirte Sat da3 Finale des B-Quartetts 
(op. 130) bilden; auf die Vorftellungen Artaria’3 entſchloß fich 
Beethoven, ihn abgefondert herauszugeben. Es ijt kaum möglich, 
dies Werk, das felbft für Lenz, den verzückteſten aller Beethoven- 
Adepten, ein »Labyrinth« ift, anders als im engiten Zufammen- 
hang mit der ganzen legten Periode des Meiſters zu würdigen. 
Gewiß, daß die Fuge an eigenfinniger Kraft und Genialität 
einen Höhenpunft der letzten Entwidlungsphajfe Beethonen’3 
bezeichnet, jomit al® ein merfwürdige® Document feiner ge— 
twaltigen, aber bereit3 ſeltſam krankenden PBhantafie erfcheint. 
Den Mufifer feifelnd durch die Kunft, mit der daß energiiche 
Fugenthema alle nur erdenfliche Geitaltung und Verwendung 
erfährt, iſt es zugleich erleuchtet durch einzelne plötzlich auf: 
zudende und wieder verlöjchende Blige von jener gar nicht zu 
verwechjelnden Intenfität und Färbung, welde man in der 
Muſik einfach »beethovenifch« nennt. Für den unvorbereiteten 
und unbefangenen Hörer wird fi) das Anziehende dieſes Werkes 
auf den langjamen Zwiſchenſatz im Ces-dur reduciren, deſſen 
edler Gefang einen twohlthuenden Ruhepunkt nah dem auf: 
reibenden Eindrud der Fuge bietet. Jeder, der ein gutes Gehör 
oder einige Kenntniß der Harmonielehre hat, muß geftehen 
daß in der erften Hälfte der »Fuge« die Stimmen mit einer 
Unabhängigkeit gegen einander geführt find, welche den Grund- 
gelegen der Harmonie oder, wenn man will, des » Erträglidj- 
klingens« oft ſehr empfindlih Hohn ſpricht. Wir Halten jene 
Zuhörer, welche Sonntag behaupten, die Spieler geigten falſch, 
während fie doc richtig und ganz ausgezeichnet geigten, jeden- 
fall für ehrlicher, als die weit zahlreicheren, die auf ben 
Namen Beethoven Hin in ungemeſſenes Gntzüden geriethen. 
Wir wiffen freilich, wie flug und rathſam letzteres ift, namentlich 
feit auh Marr in feinem phrafenreihen Buch über Beethoven 
jeder Kritik Adieu fagt, und alle jene als »geiſtſcheue Genüß— 
linge« brandmarft, die glauben fünnen, Beethoven habe irgend 
etwad »blindlings oder jpielig«e gethan. Nah der neuen 


Biolinfonate von Schumann. 185 


Marriden Anſchauung müßten gerade die jchlechtklingenden 
Stellen der B-Fuge das Höchſte der Tonkunft fein, denn 
Beethoven’3 Größe liegt ihm in der »völligen (!) Ungebunden= 
heit, in der er jeine Stimmen mit und gegeneinander führt, 
ganz unbefümmert um augenblidlihen Anftoß und Rei— 
bung einer gegen die andere, denn ed muß Mergerniß 
geben«. Wir wollen dem Profeſſor Mare unfer Schärflein 
an dem von ihm gemwünfchten Aergerniß durchaus nicht vor: 
enthalten. | 

Die intereffantefte Nummer des eben Hellmesberger: 
jhen Quartett-Abends war Schumann's Sonate für Piano 
und Bioline in D-moll op. 121. So warm wir uns des 
Schumann'ſchen Claviertrios in F gegenüber dem lauen Er— 
folg in einer der diesjährigen Quartett-Soiréen annahmen, fo 
wenig vermögen wir in den unbedingten Beifall einzuftimmen, 
welchen die D-moll-Sonate dieſes Componiften erntete. Gie 
befigt wohl Vorzüge, welche bejtechen können: ein gewiſſes 
leidenſchaftliches Fortdrängen der beiden äußern Sätze, leicht 
faßlihe und dabei pifante Themen der mittleren; eine dank— 
bare und brillante Technik, welche namentlich der für F. David 
geihriebenen Violinſtimme das glänzendfte Auftreten fichert. 
Der Mufifer wird außerdem den einheitlichen Charakter des 
Ganzen, jowie zahlreiche geiftvolle Einzelzüge zu rühmen haben. 
Was wir jedoh an der Sonate jchiwer vermiffen, ift Die 
Innigfeit, mit der Schumann fih ſonſt in feine Töne hin— 
einlebt, — die felige Tiefe, aus der feine Muſik hervorquillt. 
Es fehlt dem Werk das warme, innere Leben; eine äußere, 
fieberifche Leidenfchaftlichkeit ſoll es erjegen. So herrſcht gleich 
in dem eriten, in breitejten Verhältniffen angelegten Saß eine 
Saharaluft drüdender Monotonie. Das erfte Motiv, von dem 
das zweite fi) gar wenig abhebt, wird durch den ganzen 
Sat unabläffig feitgehalten und bearbeitet; aus dem düftern 
D-moll fommt man gar nicht and Tageslicht heraus. Ebenſo— 
wenig vermag das Echerzo mit feinem Kleinen, geziwängten 
Thema und einförmigen Rhythmus fi” auß dem H-moll zu 
befreien. Mehr Anmuth und Licht bringt das ftändchenartige 
Andantino (G-dur, ?/, Takt), deifen Biolin-Effecte (piziccirte 


186 1858. 


Accorde, Gantilenen auf der G-Saite u. dgl.) überdies gute 
Wirkung maden; die alte Herzlichkeit Schumann’3 fehlt dennoch. 
Das Finale treibt die leidenſchaftliche Bewegtheit beinahe zum 
Duslow’ihen oder Lindpaintner’ihen Theaterfturm und bält 
deffen ab- und niederwogende Sechzehntelfigur krampfhaft feit. 
Solde Durchführung ift nicht mehr urwüchfig auß dem Haupt- 
gedanken quellendes Leben, jondern das äußerlihe Fortjegen 
eines freudlos begonnenen Anfangs. Wer mit Schumann’z 
früheren Werfen genau und liebevoll vertraut ift, der fühlt in 
der D-moll-Sonate Schon die allmälige Vertrodnung der Phan— 
tafie; er erkennt den fahlen Todeszug in dem gemwalt- 
fam aufgeregten Antlit. Das innere wunderbare Blühen, 
früher bei Schumann jo ganz einzig, bat bier aufgehört; 
anftatt frei audtönenden Gejanges herrſcht das eigenfinnige 
Beripinnen in Eine Figur, melde, einmal Hingeftellt, 
nah Etudenart unerbittlich fortgeführt wird. Wehnliches im 
»blos äußerlihen Fortiegen« finden wir in manchen Sammer: 
mujifen von Mendelsfohn und es mag bei diefem Anlaß bie 
Bemerkung stehen, daß Schumann, wo ihn die innere Kraft 
verläßt, faft immer in Mendelsſohn'ſche Phraſen verfällt. 
Der Uebergang, welden Schumann’3 zweite Veriode zur dritten 
nahm, ift jehr verſchieden von der analogen Wandlung bei 
Beethoven. Es ift bei Schumann nicht die alte Kraft, die, 
blos ihr eigenes Maß und die Grenzen der Kunſt über- 
Thießend, fi in düſteres Didicht verirrt, — fondern eine auf: 
fallende Abſpannung aller Geiftesfräfte, ein Nachlaffen der 
früheren Energie und Gedankenfülle. Als faft alleinige große 
Ausnahme hebt fi die geniale »Manfred-Mufif« auß diejer 
legten Serie Schumann’iher Compofitionen heraus. Auch die 
D-moll-Sonate, jo reich fie an einzelnen geiltvollen, namentlich 
barmonifhen Zügen ift, fteht Schon tief unter den früheren 
Trios, Quartetten und Sonaten Schumann’3 und nur ein jehr 
leihtgläubiges Ohr kann durch das künſtliche euer ihres 
Finale u. dgl. über den Mangel wahrhafter muſikaliſcher Kraft 
getäufcht werden. 

Die Soiréen des Herrn Winterberger verfolgen den 
trefflihen Zweck, wenig befannte Glavier-Compofitionen mit 


Kammermusik. Beethoven. 187 


und ohne Begleitung vorzuführen. Die Auswahl befchränkt fich 
auf das Beite auß der nachbeethoven’schen Zeit (mit felbit- 
verftändlicher Hervorhebung Shumann’s) und auf die jpäteren 
GCompofitionen Beethoven's jelbit. In beiden Richtungen ver: 
dient dad MWinterberger’ihe Unternehmen die dankbarſte Aner- 
fennung. Was namentlid) Beethoven’3 dritte Periode betrifft, 
jo enthält fie Schäße, die bißher aus der Studirftube des 
Kenner noch faum vor's Publicum, geſchweige den in Leben 
der Nation gedrungen find. Die Werke aus Beethoven’ lekten 
Lebensjahren find von Enthuſiaſten ebenfo hoch über alle andere 
Mufif erhoben worden, als gegneriihe Stimmen fie tief unter 
die früheren Arbeiten des Meiſters herabdrüdten. Für die 
allgemeinere mufifaliiche Bildung ift die eine wie die andere 
Meinung vorläufig noch unerheblih; worauf es ankommt, ift, 
daß das Publicum fi mit diefen Werfen erjt befannt und 
vertraut made. Es wäre gut, wenn durch einige Jahre lieber 
gar nicht? über Beethoven's fpätere Werke gejchrieben würde, 
dafür aber dieje ſelbſt unabläffig zur Aufführung kämen, So 
ſchwankend das Urtheil über diefe Tondichtungen, fo feit ſteht 
die Thatfahe ihrer auffallend geringen Verbreitung. Es ift 
ſeltſam, daß das colofjalfte Werk diefer Periode, die neunte 
Symphonie, weit befannter it, als die gleichzeitigen Clavier— 
jonaten; ja gewijlermaßen Mode geworden, wird fie bon 
Manchem für fein Leib: und Lieblingsſtückchen erklärt, der 
um die übrigen Werke des jpäteren Beethoven niemals? gefragt hat. 
Die beiden hemmenden Schwierigkeiten: der Ausführung und 
des Berftändniffes, müfjen fih von Jahr zu Jahr verringern, 
und wie weit fie fih jchon zurücgezogen haben, hat die Auf: 
führung des F-dur-Quartett$ (op. 135) bei Hellmesberger und 
Vortrag der As-dur-Sonate (op. 110) bei Winterberger auf 
das Erfreulichite bewieſen. E3 gilt nunmehr, in diefer Rich» 
tung ohne Beirrung fortzufahren, und vor allem für die Kennt— 
niß zu forgen, ehe man über die Erfenntniß ftreitet. 
Selbft diejenigen, welche fich nie dazu verftehen werden, den 
rhapfodiihen Tiefſinn der dritten Beethoven’schen Periode über 
die reine Kunſtvollendung der mittleren zu jegen, fünnen dem 
beitridenden Einfluß ſich nicht entziehen, womit jene den ver— 


188 1858. 


trauteren Hörer immer enger an fich drüdt. Sie werden zweierlei 
ohne meiter® einräumen müffen: fürs erite, daß Beethoven 
auch in feiner legten Schaffenzzeit (mit jehr geringer Aus— 
nahme) nur Bedeutendes ſchuf; fodann, daß dieſe letzte 
Entwidlungsphafe des Meilter® zu dem Gejammtcharafter 
feiner früheren Werke wefentlih Neues hinzubringt. Was immer 
gegen die jpäteren Werke des grollend und launenhaft ge= 
wordenen Unglücdlichen eingewwendet werden mag — und 
jolher Einwendungen gibt es fehr erheblide — man mird 
von jedem derſelben zugeftehen müffen, daß fein anderer 
als eben Beethoven fie habe machen können. Dieje Ueber: 
zeugungen werden der erjte fichere Gewinn fein, den das 
Publicum aus dem näheren Verkehr mit jenen merkwürdigen 
Tonfhöpfungen alsbald nah Haufe nehmen wird. Und erft 
anf Grundlage diefer Totalanfhanuung kann ein Kampf für 
oder wider die Einzelnheiten zuläffig und gewinnbringend er: 
ſcheinen. 

Verfolgt das Unternehmen des Herrn Winterberger 
ſomit ein ſehr hohes Ziel, ſo muß wohl auch an die Kraft 
der Ausführung ein ungewöhnliches Maß gelegt werden. Aller— 
dings offenbarte ſich in jedem Vortrag Winterberger's der 
geiſtreiche, fein empfindende und gebildete Muſiker. Die Brücke 
jedoch, welche aus dem geiſtigen Reich des Fühlens und Ver— 
ſtehens in das ſinnliche des Tönens führt, die Technik, ſchien 
mir nicht überall zureichend. Manche ſchwierige, namentlich ſehr 
raſche Stellen, kamen unklar, ſelbſt verwiſcht zum Vorſchein; 
auch das Ausbleiben einzelner Töne in Paſſagen wiederholte 
ſich häufig. Ein Beweis, daß die Finger dem Willen des 
Spielers noch nicht vollkommen unterthan ſind. Der Anſchlag 
Winterberger's iſt (vielleicht von der Orgel her) etwas hart; 
beim Herausheben, nicht blos voller Accorde, ſondern auch 
einzelner Noten, ſticht Herr Winterberger gern aus ziem— 
liher Höhe in die Taſten und thut dem Tone wehe, ohne 
dejjen ganze Kraftfülle zu erreichen. In vielen Aeußerlichkeiten 
erinnert Herr MWinterberger an Lifzt, dem er nebenbei 
ähnlich Sieht. Die finnige Behandlung von Epifoden und 
feinen Zügen hat Winterberger von Liſzt, (mir erinnern 


Kammermufit. A. Winterberger. 189 


an den jchönen Vortrag des Recitativs in der As-dur- 
Sonate u. dgl.), leider auh den häufigen Wechſel von 
Blafirtheit und Weberreizung. So jpielte er manche Gejang- 
jtellen, die ein breites Austönen verlangen, ganz tonlos, 
beinahe gleichgiltig (Adagio in B-dur-Triv), und übertrieb 
in anderen Süßen (wie im Scerzo desjelben Trio) das 
Feuer bis zum Unheimlichen. Blafirtheit de Vortrags und 
Unterfhägung des rein Technifchen jcheinen mir die beiden 
Klippen, welche Winterberger zu fürchten hat. 


1859. 


„Manfred“ von Robert Schumann. 


Der »Singverein der Gejellihaft der Muſik— 
freunde« gab fein erftes Goncert, deffen größte und bedeutendite 
Nummer Schumann's Mufif zu »Manfred« war. »Noch nie 
habe ich mich mit der Liebe und dem Aufwand von Sraft einer 
Compofition hingegeben«, äußerte Schumann felbft von feinem 
»Manfred«; und in der That lodert aus bereitö trüb erlöfchender 
Sluth jein Genius hier noch einmal zu klarer Flamme auf. 
Während Schumann's letzte Periode fih zwar dur große 
quantitative Fruchtbarkeit, zugleih aber durch zunehmenden 
Formalismus, Mühjal der Erfindung und peinliche Grübelei 
charakterifirt, gehört gerade »Manfred«, fein 115. Werk, zu 
dem Reinſten und Blühenditen, was er gefungen. Gegenüber 
einem verbreiteten Worurtheil kann es nicht genug betont 
werden, daß die »Manfred«-Mufif alle Reize der Schumann’fchen 
Mufe befigt, ohne in deren zeitweilige Abjonderlichkeit und 
eigenfinnige Zerflüftung zu verfallen. Schumann’3 beite Jugend— 
fraft erjcheint hier, an der Neige feines Wirkens, noch einmal 
in merfwürdiger Läuterung. In feinen legten Jahren, ala ſchon 
der Dämon der Zerrüttung mit leifem Finger anpochte, und 
in Schumann trübe Furcht vor ſich ſelbſt mit einer an die 
Erde fih anklammernden Zärtlichkeit tritt, trat Byron’? » Man 
fred« immer verwandter zu ihm heran. Der Tondichter ver: 
mochte es, eine Geftalt unferem Herzen näher zu bringen, deren 
unheimliche Großheit und vordem mehr Bewunderung als 
Sympathie abzwang. 


»Manfred« von Robert Schumann. 191 


Byron's »Manfred«, ein frei metamorphofirter Fauſt, 
irrt, von Lebensüberdruß und geheimnißvoler Schuld gequält, 
verzweifelnd Durch die Welt, ſaugt aus allen ihren Gaben, auß dem 
Reiz der Landichaft, aus derTheilnahme der Menfchen aus den Ber: 
fehr mit Geiftern nur immer neue Dual; troßt den dämoniſchen 
Mächten, verihmäht die himmlischen und ftirbt fih endlich zu 
Tode. Ein wahrer Vernichtungd-Fanatismus, eine Virtwofität 
des Gelbitaufreibend erfüllt dieſen Zweifler, gegen den unfer 
Lenau ein lächelndes Kind ift. Höchſte Inrifhe Schönheiten, 
Fülle und Tiefe der Gedanken ergreifen und im »Manfred« 
mit niederzwingendber Kraft, allein fie hindern nicht die troftlofe 
Totalempfindung, die aus lauter Negationen fich erzeugen muß. Be: 
fanntlid) hat Goethe ſelbſt die Verwandtſchaft der Byron'ſchen 
Tragödie mit feinem »Fauft« betont: » Diefer geiftreiche Dichter«, 
jagt er, »hat meinen Fauft in fich aufgenommen und hypo— 
chondriſch die feltfamfte Nahrung daraus gejogen. Er hat die 
jeinen Zwecken zujagenden Motive auf eigene Weiſe benükt, 
jo daß feine mehr dasjelbe ift, und gerade deshalb kann ich 
jeinen Geiſt nicht genug beiwundern«. Und troß dieſer Be: 
wunderung des jelbit Bewunderungswürdigſten — tie hoch 
fteht »Fauft« über dem »Manfred«! »Fauſt« miderftrahlt 
und da8 ganze Menfchenleben, in feinen Gipfeln und Ab— 
gründen, in feinen ſchwärzeſten, aber aud in feinen helliten 
Bliden, während Manfred’3 einziges Pathos die Verzweiflung 
ift, fein ganzes Thun eine fortwährende Anftrengung, aus fich 
jelbft herauszulaufen. Er nennt fein Daſein »nur Krampf, 
nicht Leben«, und fich felbit 


»verfluchter Wurzel hingeborrten Stamm, 
der nur noch Saft gibt zum Gefühl der Sterbens«. 


Unjerer vollen Sympathie für die Dichtung und ihren 
Helden wehrt no Eins: der breite Raum, welchen Byron 
einer Geifterwelt anmeift, die in wilder Vermengung aller 
Miythologien Manfreds Gejellihaft bildet. Manfred leidet wie 
ein Menſch, zaubert wie ein Dämon, ſchwebt heimatlos zwiſchen 
finnlihen und überfinnlihen Weſen, beiden verwandt und doch 
fremd, eine Art ſchwarzer Lohengrin. Durch dieſe Eigenfchaft 


192 1859. 


reiht ſich »Manfred« an Schumann’3 bevorzugte Wahl 
von Märcenftoffen, welche uns fabelhafte »Peris«, »ver— 
zauberte Roſen«, kurz alles andere lieber vorführen, als wirk— 
liche Menjchen. In diefer Vorliebe für Zauberipuf (Schumann 
theilt fie mit Weber und Marfchner) liegt einer feiner ent» 
icheidendite Verwandtfchaftszüge mit der »romantiſchen Schule«. 
Im Dienft des Zauberſpuks vergeudete Schumann ein gut 
Theil feiner Kraft, die, wie feine Lieder und die fchönften 
Stellen der eben genannten Werke zeigen, in den Tiefen des 
menschlichen Herzens ruht. Auch im »Manfred« können Die 
Geiſterchöre feinen Vergleih mit den kleinen Muſikſtücken aus: 
halten, die in fchlichter Herzlichkeit gleichſam die Sonnen: 
Strahlen aus Manfred Leben und Empfindung auffangen. 
Die deutſche Nation kann fih Glück wünſchen, daB Schu— 
mann, mächtig hingeriſſen zu Byron's Dichtung, das Unpraf- 
tiihe feines Unternehmens völlig überfah. Eine vollitändige 
Theatermufit zu dem Drama »Manfred«, — mie echt deutich 
unpraktiſch! Nah Schumann’3 Idee müßte Byron's Stüd voll: 
ftändig auf der Bühne aufgeführt werden, die Chöre handelnd 
auf der Scene eingreifen, und dad Orcheſter die fcenifchen 
Vorgänge begleiten. Nun dürften jchon die decorativen und 
mechaniſchen Schwierigkeiten (von den inneren ganz abgefehen) 
jede fcenifche Aufführung des »Manfred« erjchweren. Es bleibt 
jomit nur der Nothbehelf eines Concert-Arrangements übrig. 
Man Hat auch damit verfchiedene Auswege verfuht: an 
einigen Orten läßt man zur Mufit das Drama mit vertheilten 
Rollen leſen, an anderen fubftituirt man eine »verbindende 
Declamation«, welche das factifche Verftändniß zu vermitteln 
hat. In jedem Falle find die Schwierigkeiten unfäglih: das 
Geheimnißvolle der Motivirung in Byron's Drama wird zum 
dichten Nebel, und die vielen Scenen, in welchen die finnliche 
Anſchauung eine große Nolle fpielt (die Erfcheinungen, die 
Scene mit dem Alpenjäger, der Sonnenuntergang u. f. mw.) 
bleiben im Goncertjaal matt und undeutlih. Die Inconvenienzen 
gehen noch tiefer. Wollte der Componift fi nicht mit den 
wenigen Chören begnügen, jo mußte er die hervorragenbditen 
lyriſchen Stellen mit felbftftändigen Inftrumentalfäßen melo— 


»Manired« von Robert Schumann. 193 


dramatifch illuftriren. Diefe Sätze (wie die Ericheinung des 
Zauberbildes, die Beſchwörung Aftarte’3) find die Perlen des 
ganzen Werkes, können aber nicht mit ihrer ganzen, eigenften 
Kraft wirken, weil fortwährend dazu gefprodhen wird. Das 
gleichzeitige Spreden ftört die Aufnahme der Mufik, und dieſe 
wieder das Verftändniß des Geiprochenen. Nur wer ſich vorher 
mit dem Gedicht und der Muſik volllommen vertraut gemacht, 
vermag bei der Aufführung die Kreuzung beider ungehemmt 
und mit vollem Genuß zu überbliden. Nachdem dies bei den 
Allerwenigiten der Fall fein kann, wird das Publicum zunächſt 
dem Worte (da dem Begriff nah im Melodram immer das 
Weſentlichere ift), lauſchen, und die Begleitung blos als Colorit, 
in Baufch und Bogen mitnehmen. Mufifftüde von gefchloffener 
Form und vollendeter felbititändiger Schönheit werden, fobald 
ihnen das Ohr nit unverwandt folgen kann oder mag, 
natürlih nur mehr jtimmungserzeugend, elementarifch wirken. 
Schumann hielt ſich diefe und ähnliche Bedenken, ala helden- 
miüthiger Sdealift, vom Leibe. Es war ihm um die Verherr: 
lihung eines geliebten Gedichtes zu thun, und dieſem breitete 
er Seine bduftigiten Blumen uneigennüßgig vor die Füße. Die 
Mufit zum »Manfred« beiteht (außer der Ouverture) aus 
fünfzehn Nummern; darunter find fünf größere Chöre, ein 
Entreaft und fünf jelbititändige Orchelterfäge, zu denen ge: 
ſprochen wird. Alles übrige find fleinere melodramatiiche Aus: 
füllungen. Die Chöre find, mit Ausnahme. des furzen »Re— 
quiem«, welches das Ganze würdevoll ernft abſchließt, durch: 
weg Gefänge der Geiiter. Sie ftehen, troß genialer Einzeln: 
heiten, den Orcdeiterfägen an Kraft und Uriprünglichkeit nad; 
jo inöbefondere der einleitende Geſang der EClementargeifter, 
der ftocend und mit geringer Individualifirung fich fortbewegt, 
ähnlihen Stüden von Weber, Marjchner und Mendelsfohn 
nicht vergleichbar. Weit mächtiger erhebt fi der von vier Baß— 
jftimmen unisono borgetragene »Geifterbannfluh« und feiner 
unheimlich ruhigen Begleitung. An Compactheit der Form und 
äußeren Wirkung übertrifft ihn der »Hymnus an Ahrimane«, 
deſſen grelles Colorit (dur; Lärminftrumente gehoben) an den 
Chor »Gazna lebe« in der »Peri« erinnert. Dramatiſch 
Hanslid. Aus dem Goncertfaal. 2. Aufl. 13 


194 1859. 


jtreifen diefe Scenen ans Abgeihmadte; Schumann’: Mufif 
zu derlei wild-dämoniſchen Aufgaben verfehlt zwar nie den 
rechten Charakter, leidet aber ſtets an einer gewilfen Anftren- 
gung. — Gehen wir auf die Inftrumentalpartie über, fo 
willen wir faum, wo der Bewunderung Anfang und Ende zu 
finden. Sollen wir dem furzen, leidenſchaftlich fingenden 
Sag Nr. 2 den Vorzug geben, oder der reizenden, freien Ilm 
ftaltung des Kuhreigens für das engliiche Horn? Verſenken 
wir uns in das felig träumende Genügen der Zwiſchenaktmuſik 
(F-dur) oder laufchen wir dem Allegro der »Alpenfee«, das 
wie ein ſonnbeſchienener Maflerfall in taufend diamantene 
Tropfen zerftäubt? Welch ſüße kurze Ruhe nach langer Dual 
in diefer Einleitung zum dritten Alt! (Ein Friede fam auf 
mich« 2c.) Und endlich, die Krone von allem, Manfreds Anz 
ſprache an Aftarte! Die Stelle, wo das (in E-dur beginnende) 
Stück bei den Worten »Gerufen Hab’ ih dich in ftiller Nacht« 
nach G herabjinkt, gehört in ihrer Einfachheit zu dem Gr: 
greifenditen, das uns in Tönen je begegnete. Die Ouverture, 
ein in breiteiten Dimenfionen einheitlih ausgeführtes Nacht: 
gemälde, ift bereit3 durch eine frühere Concertaufführung 
befannt. 


Die Scillerfeier. 


(Akademie der »Concordia«. — Alademie im Nedoutenfaale.) 


In dem Wettftreit, der zum Preiſe Schiller's alle Künfte 
vereinigt, hat die Mufik, die feſtlichſte von ihnen, vielleicht das 
ichwierigite Amt überfommen. Nicht ala ob die Tonkunſt es 
vernadhläjfigt hätte, auf ihren Wegen fih dem Dichter zu 
nähern; im Gegentheil, fie hat jeit jeinen Sünglingsjahren 
mit dem Eifer einer umerwiderten Liebe um ihn geworben. 
Der Karlsſchüler Zumiteg, die Componiften Naumann 
und NReihhardt ftürzten fi mit Begeijterung über jedes 
Gedicht ihres großen Freundes, das ihnen nicht zu ſchwer 
ihien, um auf dem Fittich des Liedes fi) emporzufchtwingen. 
Die Liederdichter der folgenden Periode, faſt bis zu den 


Die Schillerfeier. 195 


Dreigigerjahren unjere® Jahrhunderts, jtanden in mufifaliicher 
Bewerbung um Schiller’ 3 Mufe den Vorgängern nicht zurüd. 
Die nationale Begeifterung für Schiller — Mufiker find fait 
immer Spdealiiten und Scillerianer — pochte jo lebhaft in 
ihnen, daß fie den Kampf mit den mujfiffeindlichen Fornten 
immer wieder aufnahmen, um nur die Lieblingögedichte der 
Nation auch fingen zu können. Balladen, deren prunfvoll 
erzählende Breite jede Muſik ausftößt, wie »Der Taucher«, 
»Der Handſchuh«, »Die Kindesmörderin«, »Der Gang nad 
dem Eijfenhammer«, »Die Bürgſchaft« u. a. befißen wir drei: 
und vierfältig componirt von Zelter, Zumfteg, U. Rom: 
berg u. A. Noh Franz Schubert componirte den »Taucher«, 
»Ritter Toggenburg« und die »Bürgichaft«, Karl Löwe nod 
den »Gifenhammer« und »Graf Habsburge. In anderer Weiſe 
unmuſikaliſch als die Balladen find die vielen didaktiichen und 
allegoriihen Gedichte Sciller’3, von denen nicht blos die 
»Glocke« vielfach componirt worden ift. Selbſt wenn wir Die 
rein lyriſchen Gedichte Schiller’3 mit mufifalifhem Ohr prüfen, 
fo ftoßen wir faft überall auf ein Etwas, das den vollen Strom 
der Töne hier ftaut, dort untergräbt und verfandet; fei es 
eine angehängte moralifirende Tendenz, oder die überwiegende 
Rhetorik des Ausdrucks, oder die fremdartig antikifirende Form 
und Einfleidung; ſei es endlich und im letzten Grunde der 
Mangel jener Vereinigung vom rhythmiſchem MWohllaut und 
einfaher Empfindung, die ein »Lied« auch wirklich lieb: 
mäßig macht. 

Die wenigen Gedichte Schiller’3, aus welchen der reine 
Silberflang die mufifalifche Melodie wie ein Echo hervorlockt, 
find unzähligemal componirt. Kaum iſt das zartefte Lied 
Goethe's häufiger in Muſik gefegt worden, als Sciller’s 
- Sehnjuhte. Nah diefer am zahlreichiten des ⸗»Mädchens 
Sllages, »Emma«, der »Jüngling am Bache«, endlich der 
»Alpenjäger«, »Dde an die Freude« und »Dithyrambe«. (ALS 
Gurioja erwähnen wir der »Theilung der Erde« von Joſeph 
Haydn, und des Duette® »L’addio di Ettore« von %. Baer.) 
Zwei Gefänge unferes Dichters wurden Volkslieder von feltener 
Macht und Verbreitung: Das Räuberlied (»Ein freies Leben 

13* 


196 1859. 


führen wir«) und das Heiterlied (»Mohlauf, Kameraden, aufs 
Pferd«), eritered nach der Melodie des Studentenliedes »Gau- 
deamus igitur«e, lettere® nah einer urfprünglid von Jakob 
Zahn herrührenden Volksmelodie. Dieje fraftitrogenden, jugend- 
friihen Chöre werden an allen Enden des Baterlandes er: 
fhallen, fo lange es deutihe Studenten, aljo fo lange 
es ein Deutichland gibt. Außer einigen Schubert’schen Com: 
pofitionen haben ſich faft alle verloren; die große quantitative 
Betheiligung der Muſik an Schillerfher Poeſie hat für die 
Nachwelt einen nur jehr fümmerlien Gewinn gehabt. Die 
befferen der Compofitionen blieben faft niemals ganz unbe- 
rührt von dem eigenthümlich Schiller'ſchen mufiffremden Pathos, 
das im Moment feines Uebergangs in Mufif erfältet. Diejer 
Beileren waren aber fehr wenige: die nüchternfte Alltäglichkeit, 
die haußbadenjte Einfalt nehmen in dem mufifaliiden Tempel 
Schiller’3 weitaus den größten Raum ein. 

Schiller felbit war freilich weit weniger mwählerifh in 
mufitalifhen Dingen als wir, die durch eine tiefere, geijtigere 
Liederfunft verwöhnt find, wie fie erſt durh Schubert und 
Löwe fih an den Poeſien Goethe’3, Uhland's und Heine’s 
herangebildet hat. Der große philojophiihe Dichter der Deut: 
ſchen führte einen jehr geringen Verkehr mit der Muſik. Ueberall 
den Blid auf die höchſten fittlichen Aufgaben gerichtet, nur in 
und für Ideen lebend, ftand Schiller dem heitern Clemente 
des Simlih-Schönen fern, in welchem die Muſik ihre Zauber 
ipinnt, Ihm, dem in jeder Kunftbeitrebung das Ethijche zu 
oberft galt, das durch Ideen Veredelnde, bradte die Mufik 
nicht genug fubitantiellen Gehalt entgegen. Zwar empfand er 
die mufifaliihe Schönheit weit Iebhafter als jein Meijter 
Kant, doch konnte dejjen Unterſcheidung, nad) welcher von 
Künften die Mufit »die geringfte Summe geiftiger Eultur« 
vermittelt, der Richtung Sciller’3 nur homogen jein. Der 
finnlicher organifirte, meiblichere Goethe ftand der Mufik 
näher, obgleich er fich vorzugsweife an das verftändige Element 
in ihr hielt und befanntlid das Streichquartett ald ein »har— 
moniſch anregendes Geipräh zwiichen vier vernünftigen Leuten« 
bevorzugte. Jede große Energie ift durch angrenzende Ein: 


Die Schillerfeier. 197 


feitigfeiten bedingt, — mit dem mufifaliihen Enthuſiasmus 
der »romantiihen Schule« könnten wir und Schiller's Weſen 
gar nicht denken. Ausgeftattet mit diefem Tenlitiven Lauſchen 
eines Tied, Brentano, Jean Paul, Eichendorff, würde er wohl 
neue, fremde Zaubertöne angefchlagen, aber er würde auch auf: 
gehört haben, Schiller zu fein. Wie feine Gebichte wenig 
Ausbeute für Mufif bieten, jo finden fih auch in feinen Auf: 
fügen und Briefen nur fehr fpärliche Bemerkungen über dieje 
Kunſt. Mit liebenswürdiger Genügſamkeit erfreut er ſich an den, 
unter jeinen Gedichten tief zurückbleibenden Compoſitionen Zelter's, 
Naumann’ und Zumſteg's. An legteren jendet er jogar 
Goethe's »Zauberlehrling«, der fih feines Erachtens »vor— 
trefflih für eine heitere Melodie aualificirt, da er in unauf: 
hörlicher Bewegung ift«. (Brief an Goethe vom 23. Juli 1797.) 
In Sena will unfer Dichter einige Scenen aus MWieland’s 
»Dberon« als Oper bearbeiten, was er jedoch ebenjowenig 
ausführt, als einen in früherer Zeit (auf Körner's Bitten) für 
Naumann projectirten Operntert. Das ihm unbefannte Tert: 
buch zu Mozart's »Don Juan« erbittet er fih 1797 von 
Goethe, um eine Ballade daraus zu machen. Im Gebiet der 
Oper war Edillern bei den damaligen Verhältniffen nur eine 
ſehr jpärlihe Umſchau möglich, doch zeigte ſich auch darin der 
Dramatifer par excellenee, daß von allen mufifalifchen 
Dingen ihn die Oper am meiften intereffirte. Einmal leitet er 
ftatt Goethe die Proben zu Gluck's »taurifcher Iphigenie« 
und ift faſt zu Thränen gerührt »bei diefer himmlischen Muſik«. 
Dieſer Eindrud, der unter den muſikaliſchen Erlebniffen des 
Dichters jehr vereinzelt ſteht, verftärkt feine idealiftiihe An- 
ſchauung von dem Beruf der Oper*). Das wahrhaft eigen 


*) Schiller an Goethe: »Ich hatte immer ein gewiljes Ver: 
trauen zur Oper, daß aus ihr, wie aus den Chören des alten Bacchus— 
feftes, das Trauerjpiel in einer edleren Geftalt ſich loswickeln follte. 
In der Oper erläßt man wirklich jene iervile Naturnahahmung, und 
obgleich nur unter dem Namen von Indulgenz könnte fi auf dieſem 
Wege dad Ideal auf das Theater jtehlen. Die Oper ſtimmt durch die 
Macht der Muſik und durch die freiere harmoniiche Reizung der 
Sinnlichkeit dad Gemüth zu einer Ächönern Empfängniß; bier ift wirk— 


198 1859. 


thümliche und große Befisthum der Oper, den Chor, als das 
ideale Mittel, ganze Volksmaſſen zugleich ſprechen zu laſſen, 
erobert er in feiner »Braut von Meſſina« dem Schaufpiel, 
und wenn man den Chor als daS wejentlichite Element des 
antifen Dramas gelten läßt, fo hat Schiller feinen bewun— 
derten Gluck (der gerade den Chor jehr vernachläjjigt) jeden 
falls in dieſer Erſcheinungsform antifer Kraft und Erhaben- 
heit übertroffen. 


Nach diefer Abichmweifung kehren wir zu unfern Schiller: 
Concerten zurüd. Die Schillerfeier des Journaliſten-Vereins 
»Concordia« im Theater an der Wien, und die große, auf 
Allerhöchſten Befehl veranstaltete Akademie im großen Re: 
doutenjaale mwetteiferten um den Beifall des Publicums. 
Hier wie dort waren von Geſangſtücken natürlih nur Bes 
tonungen Schiller’fher Terte zugelaffen; bei der Schwierig: 
feit, aus dieſen zwar jehr zahlreichen, aber meiſt ganz unbe: 
achteten Gompofitionen Geeignete herborzufinden, hielt man 
ich (mit Ausnahme des Mendelsjohn'ihen Chor? »An 
die Künſtler«) ausfchlieglih an Franz Schubert. 


Schubert's Gompofitionen Schiller’iher Gedichte find 
jehr ungleid. Bon den im Nachlaß erfchienenen Jugend: 
Arbeiten (»Taucher«, »Bürgfchafte u. dgl.) gar nicht zu fprechen, 
gehört nur ihr Eleinfter Theil zu den Koſtbarkeiten diefes über- 
reihen Genius. ALS wahre Perlen find wohl nur das fanfte 
pathetiiche Lied Theklas (»Der Eihwald braufet«), und das 
gewwaltige Fragment »Gruppe aus dem Tartarus« zu nennen. 
Geringfügiger, allein durch ſchlichte Gemüthlichkeit anfprechend, 
it das Lied »Die Hoffnunge Die »Gruppe auß dem 
Tartarus« wurde auch in einen effectvollen Arrangement für 
Chor und Ordeiter vom Männergefangd-Verein ausgeführt. 
»Der Kampf« und die »Ermwartung« Hingegen find formlos 
ausgedehnte Mitteldinge zwiichen Lied und Arie, in einzelnen 


lich auch im Pathos ſelbſt ein freieres Spiel, weil die Muſik es be— 
gleitet und das Wunderbare, welches bier einmal geduldet wird, müßte 
nothwendig gegen den Stoff gleichgiltiger machen«. 


Die Schillerfeier. 199 


Lichtbligen Schubert verrathend, meift aber an die philiftröfe 
Ausdrudsweile der Zelter-Zumſteg'ſchen Epoche erinnernd, von 
welcher Schubert ausging. Obwohl die beiden Stüde als 
116. Werk publicirt find, mögen fie doch (in ihrer urſprüng— 
fihen Gonception mindeſtens) der Jugendzeit des Gomponiften 
angehören. Nicht viel erheblicher war die Wirkung nach den 
von Frau Duſtmann und Herrn Grimminger im Ne 
doutenfaal gejungenen Liedern »Der Jüngling am Bache« und 
»Sehnfuchte, welche zivar zwei große Namen vereinigen, aber 
ebenjowenig der echte Schubert find, als der echte Schiller. 
Es iſt bemerkenswerth, daß Schubert der Iehte bedeutende 
Gomponift war, der eine Reihe Schiller’jcher Gedichte (ein: 
undziwanzig) componirt hat. Unter den Heften der neuern 
Lieder-Componiſten finden fih Sciller’iche Gedichte jo jelten 
und verjplittert, daß man beinahe jagen darf, die muſikaliſche 
Lyrik und Epif habe feit 30 Jahren aufgehört, fich mit dieſem 
Dichter zu beichäftigen. 

Die »Concordiafeiere glänzte durch den Reiz einiger 
jehr intereffanter Specialitäten. Cine Weberrafhung war 
die neue Feltcantate- von Medyerbeer, deren Verdienſt 
und Intereſſe mit diefer Neuheit auch ziemlich erichöpft iſt. 
Meyerbeer ift in Gelegenheitsfachen fait immer unglüdlich; 
es fehlt ihm der muthige, leichtgeſchürzte Sinn, der mit 
wenig Schritten gerade auf fein Ziel losgeht. Die Ein: 
ſicht räth ihm, den raffinirten Apparat feiner Opern daheim 
zu laſſen, und doch ift einfach geſunde, anſpruchsloſe Koſt 
aus diefem Laboratorium nicht zu befommen. So bringt 
er denn auch in jeiner Feitcantate ein wunderlich Chamäleon 
zufammen. In den eriten Strophen (Nundgefang mit Chor) 
verjuccht er e8 mit dem Ton deutſcher Biederfeit. Nachdem ihm 
dDiefer, wie gewöhnlich, fchlecht gelingt, wirft er plötzlich auf 
die Worte: »Nie hat der Dichtung Flamme ein edler Haupt 
geihmüdt«e alle Schwefelflammen feine® »Nobert« mit folcher 
Vehemenz hernieder, daß man faum dabei ernfthaft bleiben 
kann. Daß es an einzelnen effectvollen Zügen, an gut ausge: 
iparten Lichtern und wirkſamen Sclagichatten, namentlich im 
Orcdeiter, nicht fehlt, will für Meyerbeer nicht viel jagen. 


200 1859. 


Läßt ihn doch jogar feine große Kunſt, mafjenhafte Steige: 
rungen herbeizuführen, diesmal jo jehr im Stich, daß er die 
Culminations-Worte des Ganzen: »Die liebfte deiner Mujen, 
dad war die Freiheit doch«! mit einer zaghaften Schüchtern- 
heit, ordentlih dudend, vorbringt, als ftände die Polizei 
hinter ihm. 


Orcheſter-Concerte. 


Das erſte »Geſellſchafts-Concert« eröffnete mit Schu— 
mann's »Bier Balladen vom Pagen und der Königs— 
tochter« (Dichtung von Geibel). Dies Werk, aus Shumann’s 
legter Zeit (op. 140), gehört einer Reihe von dramatifchepifchen 
Verſuchen an, in denen fi) der Meiſter für feinen Drang zur 
Dper gleihjam einen Ausweg ſchuf. So eingeboren iſt Diejer 
Drang den deutichen Gomponiften, daß wiederholte Unglücks— 
fälle auf der Bühne oft nicht Hinreichen, ihn zu heilen. Schu: 
mann, deifen tiefe, grübelnde Innerlichfeit allem fo fern ftand, 
was der Bühneneffect fordert, hatte mit feiner »Genovefa« in 
Leipzig einen mehr als zweifelhaften Erfolg. Allein er hatte 
einmal von dem beraufchenden Trank gefoftet, und daß Ver— 
langen nad) dramatiicher Geltaltung ließ ihn nicht ruhen. 
Daher die zahlreihen Dramatifirungen bon Balladen und 
poetifhen Grzählungen, ein etwas zwitterhaftes Genre, das 
jedoch großen Farbenreichthum in der Ausführung zuließ, und 
überdie8 den Concert-Repertoires erwünjchte Bereicherung zu— 
führte. Nach dem Vorgang der früheren »Peri« folgten nach— 
einander »Page und Königstochter«, »Der Roſe Pilgerfahrt«, 
» Sänger? Fluhe, »Der Königsſohn« und andere, aus welchen 
eigentlih nur »Manfred« wahrhaft groß emporragt. Was 
die »vier Balladen« betrifft, jo ift ihr Eindrud gemifchter 
Natur. Alles wunderbar, was darin Stimmung, Decoration 
it, vor allem alſo die Zwiſchenſpiele des Orchefterd und Die 
einleitenden Chöre. Die Soloparthien hingegen, die zu dieſer 
elementariſchen Stimmung die concreten Geftalten fügen follten, 


Schumann »Balladene. — C. M. Weber »Abu Haffan.« 201 


ſiud ohne inneres Leben, frank, jchattenhaft. Welch ſtimmungs— 
volle, tief erregte Landſchaft in den zwei erften Balladen, und 
welch ſchwache, verwiſchte Staffage darin! So wenig herricht 
der Geſang als beitimmende Melodie über dem ganzen Ton 
gewebe, daß man zumeilen glauben fönnte, Schumann habe 
die Textworte unter irgend eine begleitende Inftrumentalitimme 
geichrieben. Wir erinnern an den Zwiegefang der Liebenden, an 
das Geipräh des Königs mit dem Vagen, der Meerkönigin 
mit der Nire und dem Meermann, an die Worte der Brin- 
zeſſin im legten Stüd u. |. w. Haben jemals zwei Liebende 
fih fo peinlich melodielos gefreut? Ward der Jubelruf: »Ich 
wäre der jeligfte Menſch von der Welt«! jemals unmöglicher 
gejungen? Dieje eigenfinnige Weiſe, Soloftimmen ſangwidrig 
und unmelodiſch zu führen, Hatte fih in Schumann’ fpäteren 
Merken zu deren Nachtheil feitgeiegt. Haben wir dies unver: 
holen befannt, jo fünnen wir den übrigen Schönheitsreihthum 
des Werkes dankbar preijen. Wie reizend ift der friiche Jäger: 
chor, der wie grünes Laub fih um die Strophen der eriten 
Ballade windet, und der leilemogende Gejang der Meerfrauen! 
Lebterer mit dem fpäter hinzutretenden Gefang des Meer: 
manned, den Poſaunen und Harfen fo geifterhaft tragen, tft 
von unbejchreibliher, unvergeßliher Wirkung: er erhebt 
die dritte Ballade unter dad Schönfte, was Schumann je 
geichrieben. 

Ein Euriofum darf man e8 nennen, daß €. M. v. Weber's 
Duverture zu »Abu Haſſan«, ein allwärts befanntes und viel: 
jeit3 auch wieder vergeſſenes Tonftüd, hier als Nopität vor: 
geführt wurde. »Abu Haffan« (1810) ift eine der Eleineren 
komiſchen Opern Weber’, die dem »Freiſchütz« vorangingen, 
und deren Wiederaufführung der Componift jpäter aus allen 
Kräften zu hindern ſuchte. Raſch und Iuftig, mit einem ge— 
wiſſen drolligen Vomp, zieht die Ouverture an und vorüber; 
ihr Sanitfharenlärm und die übrigen ftereotyp gewordenen 
Sharakterzeihen orientalifcher Mufit führen und ohne Umweg 
in dad Land der Turbans und frummen Säbel, zwijchen 
welchen hie und da ein. fanfter Blid aus verfchleiertem Ge— 
fihthen aufleuchtet. So unerheblich dad Stüd im Grunde ift, 


202 1859. 


man fühlt jih doch von feiner naiven Friihe und Anipruche- 
Iofigfeit heiter angeregt. Wem möchte deifen größere muſi— 
faliihe Kraft und Chtfärbigfeit entgangen fein, mit dem 
darauffolgenden Duett aus Wagner’ »Fliegendem Holländer« ? 
verglihen Eine unglüllihe Wahl; denn von den eigenthüm— 
lichen Reizen der ganzen Oper befitt gerade dies Duett Senta’3 
mit dem Holländer fehr wenig. Wo dieje Oper des jchildernden 
Elements fich begibt, wo ſie aufhört »Marine« und anfängt 
Mufit zu fein, da Stehen Wagner’ Blößen in hellem Licht: 
die Armuth feiner Erfindung und das Dilettantifche feiner 
Methode. Das Duett bietet nicht Einen bedeutenden Gedanken; 
ein hölzernes Pathos kämpft mit den von allen Seiten herein- 
ichlagenden Wogen der Trivialität. Wäre das Mufitftüd nur 
etwas melodiöfer, es könnte im jeder Oper von Reiſſiger und 
Lindpaintner Stehen; ja die bequem fortklopfende Begleitung 
dürfte der vielgereiftte Holländer ohne weiter® von feinen 
ittalieniichen Fahrten mitgebracht habeır. 


Dreyſchock. 


Sechs Jahre find verſtrichen, ſeit Alexander Dreyſchock 
in einer Reihe von glänzenden Concerten das Wiener Publicum 
zuletzt um ſich verſammelt hat. Ueber den berühmten Pianiſten 
etwas Neues zu ſagen, iſt nicht leicht. Dreyſchock bändigte ſein 
Inſtrument ſchon vor einem Decennium mit einer Bravour, 
die keinen Rivalen kannte. Ein Fortſchreiten in dieſer Richtung 
war kaum mehr möglich, Dreyſchock hätte denn anfangen müſſen, 
mit der Fauſt zu ſpielen, wie wir das ja von einheimiſchen 
Bajazzos erlebt haben. In techniſcher Ausrüſtung vollendet, 
war Dreyſchock überdies in ſeiner künſtleriſchen Perſönlichkeit 
ſchon damals jo abgeſchloſſen, daß man prophezeihen durfte, 
er werde, darin beharrend, kaum mehr neue Seiten entfalten. 
So haben wir denn in dem gewaltigen Taſtenbeherrſcher voll— 
ftändig den Alten wiedergefunden. Die zuverfichtliche Freude 
an dem Kampf mit Schwierigkeiten, ein wejentliches Element 
im Virtuoſen, ift in Dreyjchod recht eigentlich verförpert. Sein 


Dreyſchock. 203 


hervorſtechender Charakterzug iſt ſtrotzend geſunde Kraft. Das 
Kräftige, Stürmiſche, Glänzende beherrſcht er unumſchränkt; 
das Weiche, Zarte erreicht er. In ſeinem eigentlichſten Element 
wirkt Dreyſchock überall, wo eine ungewöhnliche Kraft unter 
ungewöhnlichen Schwierigkeiten aufzuräumen findet: ſo in 
ſeinem »Wintermärchen«, einem kräftigen Charakterſtück, ſo in 
dem »großen Marſch mit Orcheſter«. Letztere Compoſition iſt 
etwas muſiviſch und nicht bedeutend an Erfindung; in dem, 
was ſie dem Virtuoſen zu leiſten gibt, iſt ſie einzig. Die 
merwürdigſten Specialitäten Dreyſchock's, ſein Octavenſpiel, 
ſeine Terzen- und Sextenſcalen wirken darin verblendend. 
Man würde ſehr unrecht thun, wollte man Dreyihod als 
bloßen Bravourſpieler ſchätzen; er iſt ein gründlich durchge— 
bildeter Künſtler, und ſo Bach- oder Beethovenfeſt wie 
Einer. Die Verbindung des Virtuoſen mit dem guten 
Muſiker hat er längſt vollzogen, der weitere Schritt von 
diejem zum Poeten blieb ihm verſagt. Wir fühlen nicht den 
warm aud dem Innern quellenden Strom der Empfindung, 
nicht das Rauſchen des Adlerfittigd, der in eine andere Welt 
trägt. So jpielt Dreyihod Chopin’ihe Nocturnen zwar mit 
feinster technifcher Vollendung, allein da® Ganze jpricht nicht 
mit Chopin’s Stimme zu und, es klingt faſt wie eine lleber- 
fegung aus fremder Sprade Wir hören die jorglamfte An— 
wendung aller Ausdrudsmittel und doc nicht den rechten Aus— 
drud. Trotz aller objectiven Treue affimilirt fih eben das 
Innere des Spieler nicht mit dem Geifte des Componiſten. 
Diefer Mangel eines unwägbaren letzten Etwas fühlt ſich mit 
instinctiver Sicherheit, jo ſchwer er in Worten darzulegen ilt. 
Meit Homogener als Chopin’s, ift unferem Künftler die Muſik 
Beethoven’d. Das Es-dur-Eoncert fpielte er mit ficherer Meifter: 
ihaft, die fräftigen oder glänzenden Stellen auch mit Schwung. 
Nur im Adagio vermißte man die echte Wärme, vielleicht um: 
jomehr, als Dreyihod bei gefühlvollen Stellen durch mimifche 
Aeußerlichkeiten eine Gemüthsbewegung anzudeuten liebt, Die 
und immer etwad mißtrauifch findet. Die Note behandelt 
Dreyſchock auch hier mit einer bei feinen Gollegen jeltenen, 
muſterhaften Treue; nirgends eine Spur virtuoſer Willkür, überall 


204 1859. 


Studium und Verftändniß; aber auch hier manchmal jene dünne, 
innere Scheidewand zwiſchen dem Spieler und dem Tondichter, 
eine Scheidewand, die jedoch augenblidlih fällt, jobald das 
Stüd an die Virtuofität appellirt. Größere Pirtuofität iſt 
faum an dies Werk gewendet worden; ja jo jehr war alles 
Einzelne zur Vollendung auögearbeitet, daß dadurch der große, 
gleihmäßig das Ganze durchſtrömende Zug an Gewalt ein- 
zubüßen ſchien. In feinem legten Concert bradte Dreyſchock 
Beethoven’3 Cis-moll-Sonate. Das Adagio jpielte er etwas 
fühl, doh ſchön im Klang; das Allegretto manirirt durch 
Nuancen, melde in die anmuthige Stüd eine fremdartige 
Dialektik hineinfünfteln; mit größter Energie bei weifer Mäßigung 
endlih den Finalfat. — Der Anficht, die ih nad Dreyſchock's 
erstem Concert ausſprach, habe ich nach feinem ſechſten nichts 
GErhebliches beizufügen oder hinwegzunehmen. Dreyihod it in 
feinem fünftlerifchen Weſen fo rund abgejchlofjen, daß der Be- 
fucher feiner Concertchklen feine neuen Phaſen, aber gewiß 
auch nicht die fleinfte Enttäufhung zu gewärtigen hat. — 


Vieuxtemps. 


Veber Viſeuxtemps' erfted Concert ift zu berichten, daß 
feine großartige Virtwofität für die Wahl von lauter unerheb- 
lihen Salonftüden nicht gänzlich entihädigt habe. Dasjelbe 
gilt von dem zweiten Concert, das lediglid in der »Teufelö- 
Sonate« von Tartini ein etwas werthvollere® Stüd, und 
damit zugleih den Höhenpunft von MWieurtemps’ Brapour 
bradte. Den fait unerſchwinglichen Triller im Finaljag hatte 
Tartini befanntlih im Traum vom Teufel erlernt, und beim 
Erwachen wieder zu fpielen fich vergebend gemüht. Vieurtemps 
jpielte die Stelle jo authentiih, daß gläubige Gemüther, der 
Herkunft diefer Sonate gedenfend, irre wurden, ob fie Beifall 
Elatichen oder nicht Lieber ein Kreuz jchlagen jollten. Außerdem 
bradte er nur fleinere Stüdchen und alles mit Elavierbegleitung. 
Mer jemald Vieurtemps’ großen, marfigen Ton gehört, der 
denkt ſich ihn am liebjten an der Spitze eines großen Orcheiters. 


Vieuxtemps. 205 


Dieſe orcheſterzwingende Kraft, wie noch andere Charakter— 
zeichen, hat Vieuxtemps mit Dreyſchock gemein. Erwägt man, 
wie viel mehr noch die Geige der vollen Begleitung bedarf, 
als das ſelbſt orcheiterartige Piano, jo wird man das Be- 
dauern des Publicums begreifen, daß Bieurtempd nicht dem 
Vorbild Dreyihod’3 gefolgt und mit Orchefter gefpielt habe. 
Wie rührend Schön das Bild auch fei: Vieuxrtemps bon feiner 
Gattin am Clavier begleitet; wie fittlih erhebend die Be— 
trahtung einer Frau, die ihrem Manne jo zärtlih gehorſam 
folgt, nur in echt weiblicher Unterordnung unter feinen fouveränen 
Willen ihre Miffion erfennend, — zur Abwechslung möchten 
wir doch einmal diefe Sluftration eheliher Harmonie unter: 
breden und den Mann im Kampfe mit Männern jehen. 
Seither Hat Vieurtemp3 auch eine »Duartettfoiree« 
veranftaltet. WVieurtemps’ ausgebildete Bravour und energijche 
Auffaffung konnten wir auch bier ſattſam bewundern, doch nicht 
ohne zugleich überzeugt zu werden, daß die Schönheit feines 
Tones ſeit feiner letzten Anmwejenheit viel eingebüßt habe. Unſer 
Künftler hat gegenwärtig eine wunderliche Vorliebe für Die 
allzuhäufige Anwendung des (natürlichen) Flautato, womit er 
das eigentlihe Mark, die gejunde Schönheit des Gejanges 
untergräbt. Auf mehrere pracdtvolle Töne pflegt einer jener 
flötenartigen zu folgen, die durch das fchräge Streihen des 
Bogen? auf dem Griffbrett erzeugt werden. Auch eine viel 
Iodere Haltung des Bogens jchien uns bei Vieuxtemps an die 
Stelle früherer Feltigfeit getreten. Bei diefer Spielweife muß 
hin umd wieder ein Ton bon feiner haaricharfen Stufe ab— 
gleiten; wir vernahmen, was früher bei PVieurtemps nie 
zu hören war: unreine Töne. Wie ungern und zaghaft wir 
diefer Stimme Gehör gaben, die in uns flüfterte: Vieurtemps 
fei nicht mehr der Alte, bedarf feiner Betheuerung. Die Stimme 
ließ fih nicht mehr übertäuben, als der Kiünftler au dem 
Kreis leichterer Soloftücde heraustrat, und oft gehört Duartette 
unjerer großen Meifter uns wieder vorführte, Er erfchien uns 
da wie ein großer Sänger, defjen wunderbare Organ durd) 
die Zeit zu leiden beginnt. Sogar kleine Virtuoſen-Koketterien, 
die Vieuxtemps fich im Quartettſpiel früher nie erlaubte, fanden 


206 1859, 


wir Hin und wieder eingeichlihen. So in dem Schubert’jchen 
D-moll-Quartett, das überhaupt an Wärme und Innigkeit 
manchen Wunſch unerfüllt ließ. Nachdem PVieurtemps in voller 
Manneskraft Steht, vermögen mir die Modificationen feines 
Spiel3 nur als Spuren einer langen, blendenden Virtuoſen— 
Laufbahn zu begreifen. In der neuen Welt jcheint einiges vom 
alten Vieuxtemps fich verflüchtigt zu haben. — Es bradte 
Vieuxtemps' Soirée noch zwei andere Werke, deren Wahl nicht 
glücklich heißen kann: ein Glaviertrio von Haydn und eine 
Sonate für Viola und Piano von Rubinftein. Der Bianift 
Saell ſoll fih äußerſt widerftrebend der Vorführung des 
Haydn'ſchen Trios gefügt haben, und nur gegen das, wiederum 
von Vieuxtemps höchſt ungern geleiftete Verſprechen, die Rus 
binjtein’she Sonate darauf folgen zu laſſen. So reichten 
Vergangenheit und Zukunft fih Die Hände zu langweiliger 
Gegenwart. Haydn's Leichtfliegende® Trio gehört zu den 
Stüden, die man heutzutage nicht Virtuoſen, fondern feinen 
Kindern zu fpielen gibt. Einen peinlihen Gegenfaß dazır bildete 
die geichmadlofe Ueberladung der Rubinſtein'ſchen Sonate, 
die ebenjo arm an Erfindung tit, als trivial in den Ausflüchten, 
fie zu erſetzen. 


Alfred Daell. 


Herr Alfred Zaell gehört bekanntlich zu den Virtuoſen, 
die Europa und Amerika erfolgreich mit Goncerten überzogen 
haben und ſich eines gejicherten Rufes erfreuen. Diefer Auf 
hat hier, namentlich was die technifche Seite des Spiels be- 
trifft, ehrenvolle Beitätigung gefunden. 

Eine unglüflide Wahl war die »Tranzfeription aus 
Zannhäufer und Lohengrin«, die nicht nur des mufifalifchen 
Intereſſes, ſondern fogar der nöthigen Gegenſätze entbehrt, und 
zum Schluß das heulende Finale der Tannhäufer-Duverture 
unbarmherzig herunterpeiticht. Ein Kunſtſtück ohne Zweifel, aber 
welch’ zweifelhafter Gewinn, daß wirklich Feine der gejchleiften 
Zweiunddreißigitel ausbleibt, wo man am liebiten hätte, te 


Alfred Jaell. — Glavierconcerte und fein Ende. 207 


blieben alle aus? Und bat das erite Auftreten Jaell's mehr 
als feine jpäteren Concerte befriedigt. Nichts überfättigt jo 
ſchnell, ala die kleinen Salonjtüde, Etüden, Transferiptionen u. dgl., 
welche für ihre Tıiller und Läufe eine längſt nicht mehr vor— 
handene Theilnahme in Anfpruch nehmen. Und diefe Bravour— 
ftücklein find ohne Widerrede der eigentlihe Mittelpunkt der 
Sael’ichen Leiftungen. Sie allein find e3, die er vollfommten 
und dem Anjchein nach mit ganzer Luſt fpielt. Bon feiner un— 
gewöhnlichen und vieljeitigen Virtuofität, Reinheit und Cor: 
rectheit, furz von all den ſchönen techniihen Vorzügen, die wir 
jüngit an ihm gerühmt, gab Herr Jaell womöglid noch 
glänzendere Proben; allein er gab auch noch triftigere Beweife, 
daß fein Spiel nicht eben weit über dieje techniiche Region 
hinausreihe. Wir erinnern an den Vortrag der B-dur-Sonate 
(op. 22) von Beethoven. Was blieb unter den weichen 
Fingern Jaell's zurück von dem ftolzen Aufſchwung des eriten 
Sated, von dem ergreifend jehnfüchtigen Gejang des Adagio? 
Ein zierlih hinperlendes Klingen, das von der Eleganz des 
Pirtuofen, aber nicht von dem männlichen Geift Beethoven's 
erzählte. Mit fichtlicher Vorliebe und dabei mit übertreibender 
Bravo im Tempo behandelte Herr Jaell alle Stellen dieſer 
Sonate, die irgend etwad für den PVirtuofen abwerfen. Das 
Feurige wurde concertmäßig, das Einfache flach und gleich: 
giltig. Man wandelt nicht ungeftraft unter Bravour-Polkas. 


Elavierconcerte und Rein Ende. 


Die Zeit, wo ein fertiger Pianiſt fih wie einen jeltenen 
Vogel fonnte jehen lafjen, ja eines Raubes an der Vienjchheit 
fih anflagen durfte, went er es unterließ, Stadt um Stadt 
mit Glavierjpiel zu überziehen, dieje Zeit hat fich bereits vor 
einiger Zeit empfohlen. Die Nachfrage nah Clavier-Virtuoſen 
ift längit im Abnehmen, während das Angebot, trog Rau und 
Roſcher, im jelben Maße zu wachlen jcheint. Was wollen fie 
doch, die vielen pianifirenden Jünglinge und Jungfrauen, daß 
fie von den Straßeneden jo beftiges Annoncenfener auf den 


208 1859. 


arglofen Spaziergänger geben? Leiſe Angſt überfommt mid) 
bei all dieſen unjchuldig weißen Namen: zuerft um mid, dann 
aber weit mächtiger und trüber um fie felbjt! Hoffen fie wirklich, 
zahlende Sterblihe Herbeizuloden, und mit Clavierfpiel ein 
Publicum zu begeiltern, das jelbit faſt aus lauter Clavier— 
jpielern beſteht? Erbliden fie wahrhaftig noch in dem Birtuofen- 
thum eine glänzende Ausnahmsſtellung, Heutzutage, wo ja die 
halbe Bevölkerung Europa die galoppirende Virtuoſität hat? 
Sn bitterem Ernſt gefproden: der Anblid vieler Virtuoſenzettel 
ſtimmt traurig. Es ftimmt traurig, daß noch immer jo viel 
junge Leute ihre Zeit, ihre Kraft, ihr Eleined Vermögen, ihre 
höhere Bildung aufopfern, um die Fertigkeit auf einem Saiten 
fajten fi) zum Lebenszweck zu machen. Sie wenden ihr Dafein 
an einen gefunfenen Gejchäftszweig, erzeugen Mittelgut eines 
Artikels, der nur in Höchiter Vollkommenheit Abnehmer findet. 
Mit dem Erwerb einer Eleinen, hübſchen Fertigkeit treten fie 
an die Deffentlichkeit, die nur noch por der äußerften technijchen 
Vollendung Refpect hat. Und jelbft vor dieſer nicht mehr. Wer 
nicht neben und vor aller Tehnif den wahren künſtleriſchen 
Adel mit zur Welt gebradt, eine hochgefteigerte Fähigkeit, 
muſikaliſch zu denken und zu fühlen, wird er denn, und jei er 
der gelenfigite der Afrobaten, noch gefucht und gefeiert? Vielleicht 
acht Zehntheile der jungen Freiwilligen, fo alljährlih auf Cla— 
vieren gegen das Publicum einjprengen, werden nicht Generale 
in ihrer Runft, ſondern Kanonenfutter der Sailon. Bald wird 
der Traum von Gold und Lorbeeren audgeträumt fein, und Die 
auf den Höhen des Lebens zu fchaufeln Hofften, wir jehen fie 
als dunkle Ehrenmänner von Haus zu Haus gehen, den Pir- 
tuojenftoff jüngeren Generationen einzuimpfen. Vor etwa 
30 Jahren Elagte Gutzkow, daß die Bildung von Taufenden 
(namentlich) des jchöneren Geſchlechts) in ihrem bischen Glavier: 
fpiele beftehe. Seither ift die Zeit noch um ein gutes Stüd 
erniter geworden. Spielt weniger Clavier, lernt etwas! 


Trio von Beethoven. — Quintett von Rubinfein. 209 


SHammermufik. 


Dreyihrd und Beethoven’ C-moll-Triv. — NRubinitein: 
Quartett. — Spohr: Doppelquartett. — Beethoven: Quartett. — 
Schumann: Spanifches Liederipiel. 


Dreyſchock jpielte in Hellmesberger’3 zweiter Soirée das 
C-moll-Trio op. 1 von Beethoven. Nur jo lange man die 
Ausführung nicht gehört, mochte man fid) über die Wahl eines 
Stüdes verwundern, das bekanntlich jelbit von befcheidenen 
Dilettanten ganz anftändig bewältigt wird. Dreyichoc wollte 
ung zeigen, wie ein Meiſter »leihte Sachen« fpielt. Mit dem 
ſchwierigſten Stüd, vielleicht mit der größten Sonate Beethoven's, 
hätte er und faum eine reinere Herzensfreude machen können. 
Durh ihre Leichte Ausführbarkeit find Die früheren Werke 
Beethoven's ausfchließliches Eigenthum der Dilettanten geworden: 
dieje anfcheinend jo Fleine Auslage einmal mit einem Capital 
von Technik beitreiten zu jehen, gehört zu den außderlejenften 
Genüffen. Diefe File von Ton bei jo jcharfer Trennung aller 
Tonglieder, dieje reizenden Abftufungen der Stlangfarbe, bei fo 
echt fünftlerifher Auffaffung des Ganzen, — fie hätten faum 
glänzender fich entfalten fünnen, als gerade in jenem befcheidenen 
Trio. Das eigenthümlih Plaſtiſche von Dreyichod’3 Spiel 
trat, wie faum früher, hervor: jeder Ton jchien wie in Stein 
gehauen. — Der ausgebildete Anjchlag wird dem echten Klavier: 
pirtuofen, was dem Sänger die vollendete Stimmbildung. Wenn 
Jenny Lind eine einfahe Scala fang, war ihr dies im Grunde 
ebeniowenig nachzumachen, als die jchwerite Bravourarie. Ge: 
rade jo dürfte Dreyihod im Vortrag des Heinen C-moll-Trios 
nicht mehr Rivalen finden, als etwa in der Liſzt'ſchen Ahapfodie. 
— Al: Novität wurde am jelben Abend ein handichriftliches 
Streid- Quintett von Rubinftein vorgeführt. Was wir nad 
einmaligem Hören darüber jagen können, ilt nicht eben vor— 
theilhaft. Die Compofition iſt fpröde, troden, von einer gewiſſen 
impotenten Verftändigfeit, nicht arm an intereflanten Schach— 
zügen, aber arm am mufifaliihen Ideen. Rubinſtein ſelbſt 

Hanslick. Aus dem Concertiaal. 2. Aufl. 14 


210 1859. 


hat und aber durch mehr al3 Eine Compofition zu größeren 
Anfprüchen berechtigt. Faſt jcheint e8, al3 machte feine unbändige 
PBroductivität ihn ſchnell altern: in dem neuejten Quintett hat 
er nichts Eigenes mehr eigenthümlich zu jagen. 

Wie jugendfriſch erjcholl neben diefem Jünglingswerk der 
Anichiedsgefang des ergrauten Beethoven! Sein Quartett in F 
(op. 135), das kürzeſte, klarſte und frifchefte aus feinen ge— 
heimnißvollen Spätherbite, wirtte mit wahrhaft unwider— 
ftehliher Naturfraft. In Spohr’3 drittem Doppelquartett 
in E-moll fpielte Hellmeöberger mit ungemeiner Grazie und 
Leichtigkeit die erite Violine, welche, in den Helliten Vor: 
dergrund geftellt, die anderen fieben Inſtrumente mehr wie 
einen gefälligen Hofitaat, denn als ebenbürtige Genofjen um 
fich verfammelt. Die Compofition blidte uns mit freundlichen, 
aber gealterten Zügen an; noch mehr find Schmud und Zierrath 
Rococco geworden. Bon allen Violinpielern mit Vorliebe gejpielt 
und gehört, bietet die8 Doppelquartett einem Publicum, das 
jeit zehn Jahren fich vorwiegend mit Beethoven, Mendelsjohn 
und Schumann bejchäftigt hat, nur mäßige Erhebung. Spohr 
ericheint und darin wie einer jener alten Diplomaten, denen 
das feinjte Benehmen zur Gewohnheit geblieben ift, während 
die geiftige Kraft bereits abnimmt. Die Gedanken, die er aus— 
ipricht, wiederholt er vier- bis achtmal und kann an liebens— 
würdigen Artigfeiten, die ihm gelungen, fich jelbit nicht jatt- 
hören. Warum wir ihm trogdem gerne folgen? Weil, was er 
äußert, jein umbejtreitbar Eigenthum ift, und den Ausdrud einer 
feinen, gejicherten Bildung trägt. Der Vortrag des Mendels— 
john’schen F-moll-Quartetts war zart, aber etwas kleinlich; 
die pathetiiche Klage des Adagio wurde in's Schmadtende 
gezogen und jo manches in dem fchönen Werke verwinzigt. In 
jolhen Aufgaben tritt Hellmesberger’3 Zug zum Sentimentalen, 
und die damit zufammenhängende Gewohnheit, möglichſt viel 
auf den tieferen Saiten zu fpielen, ftarf in den Vordergrund. 

Zum erjtenmal hörten wir (leider nur bruchſtückweiſe) 
Schumann's »jpanifhes Liederspiel.e Diefer wenig 
befannte reizende Cyklus bejteht aus zehn Gefängen, theils 
einjtimmigen, theils Duetten, Terzetten und Quartetten. Die 


Schumann’ »Spaniiches Liederfpiel.« »11 


Gedihte find der Geibel’ichen lebertragung »ſpaniſcher 
Volkslieder« entnommen, und mit Rüdficht auf den mufikalifchen 
Charakter finnig zufammengeftellt. Das innere Band, das dieſe 
Lieder untereinander feithält, ift der echt fpanijche Romanzenton; 
denn mit merkwürdig feiner Anempfindung hat Schumann feine 
Muſik in die eigenthümlichen Localfarben getaucht, welche Poeſie 
und Mufit der Spanier fennzeichnen. Ein füßer, beraufchender 
Duft, wie aus Flieder- und Jasminlauben, athmet aus dieſen 
Gefängen. Kühne, glänzende Geftalten jchreiten an uns vor— 
über, einander ummerbend in leidenfchaftlicher Galanterie und 
jeltjam ftolzem Tändeln. Sie fingen Liebeslieder, aber ein 
eigenthümlich aufrechtes klangvolles Pathos mildert die Gluth 
der Leidenſchaft. Dabei find die muſikaliſchen Formen fein ge: 
rundet, anmuthvoll, und drängen bei aller Beweglichkeit nirgends 
ind Dramatifhe. Zu dem Slarften und Freundlichiten gehörend, 
was Schumann zu guter Stunde jchuf, bietet das »Liebderipiel« 
dem Hörer mir Freude ohne Dual. Schumann jelbit hat 
jeinem »ſpaniſchen Liederfpiel« (op. 74) . eine zweite Reihe 
»ſpaniſcher Liebeslieder« mit vierhändiger Clavierbegleitung 
folgen laſſen (op. 138), die weit weniger urjprünglid, Doc 
gleihfalls reich) an Geift und Empfindung find. Die Aufführung 
eineö dieſer Liederjpiele wäre eine dankbare Aufgabe für unjere 
Singpvereine, denen Abwechslung des vollen Chors mit kleineren 
mehritimmigen Sägen nur erwünfcht fein kann. Was Clara 
Schumann im vorigen Winter zu erreichen fi) vergebens be— 
mühte, die Aufführung des fpanifchen Liederfpiels, wäre heuer 
wenigftens theilweije und vor fleinerem Kreiſe gelungen. Die 
Beredlung der Eoncertprogramme in ihrem inftrumentalen Theil 
zieht, langſamer zwar aber unwiderſtehlich, auch eine bejjere 
Richtung der Gefangsvorträge nah fih. Schon finden ſich 
Sänger, denen die Kunſt höher fteht als ihre Eitelkeit — in 
ihrer Hand wird es liegen, die oft mißachteten »Ausfüll: 
nummern« eines Virtuoſen-Concertes zu defien »Hauptnummtern« 
zu machen. 


14* 


1860. 


Scenen aus Goethe's „Jauſt“, von 
Ziobert Schumann. 


Schum ann's »Fauſt«-Muſik hat uns beim Studium der 
Partitur, im Verlauf der Proben und endlih in der Auf: 
führung jelbit Stunden erhebenden Genuffes bereitet, wie wir 
fie in jüngfter Zeit nur dem »Manfred« desſelben Tondichters 
verdanften. Beide Werke zählen zu jenen verflärten, ver: 
flärenden, weldhe dem ritifer die Freude an feinem Beruf 
wiedergeben fünnen, — fall3 fie ihm nicht die Feder aus der 
Hand mwinden. Wir haben hier allerdings nur den dritten 
Theil ded ganzen Schumann’schen Werkes im Sinne, alſo den 
Abſchluß einer Scenenreihe, welche man nur mit äußerft ge— 
miſchten Empfindungen fennen lernt. Die Entſtehungsgeſchichte 
der Compofition gibt über deren innere MWiderfprüche die beite 
Aufklärung. Im Sahre 1844 war es, als Schumann fih von 
dem zweiten Theile des Goethe’jchen »Fauſt« mächtig angeregt 
fühlte. Er componirte daraus zuerit den Schlußchor (» Alles 
Bergänglihe ift nur ein Gleichniß«), alfo gleichſam das 
zufammengefaßte Refultat, die geiftige Summe des ganzen und 
vom Dichter vorgeführten Myſteriums. Sodann Schritt Schumann, 
ohne jeine erregte Stimmung abfühlen zu laſſen, an die Be- 
arbeitung des ganzen Myſteriums ſelbſt. So entitand in 
Schumann's fräftigfter Epoche, in der Zeit der »Peri« und 
der eriten Symphonie, diefe »Verklärung Fauſt's«, die jekt 
den dritten Theil eines ⸗»Fauſt«-Cyklus bildet. Ziemlich lange 
darnach, wahrſcheinlich erſt nachdem die »Verflärung« im Jahre 


Scenen aud Goethe's »Faufte, von Robert Schumann. 213 


1849 bereit3 in einigen Städten gegeben war, fühlte fich 
Schumann veranlaßt, auch andere Scenen aus Goethe’ Ge: 
dicht in den Bereich feiner Slluftration zu ziehen. Er componirte 
zunähft aus dem zweiten Theil: den »Sonnenaufgang« 
(Ariel), »Die vier grauen Weiber«, »Fauſt's Erblindung« und 
»Fauft’3 Tod«. Dieje vier Nummern bilden die 3weite Ab: 
theilung bei Schumann, welche noch reich an bedeutenden, ja 
genialen Stellen, doch ſchon an Urfprünglichfeit und Kraft 
hinter der »Verklärung« entichieden zurüdjteht. Ohne Vergleich 
ſchwächer, ja in jolder Nachbarſchaft geradezu betrübend, iſt 
Die (zulegt componirte) »erite Abtheilung«, nämlich die Duverture 
und drei Stüde aus dem eriten Theil des Goethe’ichen 
Drama’d: »Scene im Garten«, »Grethen vor dem Madonna: 
bilde und » Scene im Doms. Wir befigen fomit in Schumann’3 
»Fauſt« einen Compofitionen-CHflus aus weit getrennten Ent— 
jtehungözeiten und von jehr ungleichem Werth. Er reproducirt 
ganz merkwürdig das Verhältniß der beiden Theile von 
Goethe's Dihtung, nur in umgefehrter Ordnung. Goethe 
itellte neben die hHerrlichite Blüthe feiner Jugendkraft »als 
Fortiegunge Die fühle Neflerion des behäbigen Alters, neben 
den Quell urfprünglichiter Poeſie den anſpruchsvollen, künstlichen 
Abzug von Allegorien; er ftellte, mit Einem Wort, neben den 
»ersten« und einzigen Theil des Fauſt — den »zweiten«. Bei 
Schumann verhält es fi) umgefehrt, jo daß die allegorifchen 
und myſtiſchen Scenen des zweiten Theils das jpontane Product 
muſikaliſcher Schöpferfraft find, während jene des eriten Theild 
die jpäte Nachleje eined zu Tode ermiüdeten Geiſtes bilden. 
Das vollfommenere Gedicht lockt nicht immer die föltlichere 
Muſik. Wo der Mufifer noch eine Milton vorfinden joll, da 
mußte der Dichter immer etwas zu jagen übrig laſſen, ein 
Unausgeiprodenes, Unausgefühltes. Gebilde, wie die Garten: 
jcene im »Fauft«, find in fich zu vollkommen, um Muſik zu 
vertragen. Welcher Componift der Welt könnte die Gejtalt 
Gretchens noch lieblicher, die Rede Fauſt's noch bedeutjamer 
machen? Auh Schumann jcheiterte hier. Nur mit Trauer 
betradten wir in feiner »eriten Abtheilung« dies ruheloje 
Moduliren, dieſes ausdrucksloſe Auf: umd Niederjteigen der 


214 1860. 


Stimmen, welde und Grethen und Fauft vorftellen follen. 
Deitomehr muſikaliſches Element trägt hingegen der — poetiſch 
fo viel tiefer ftehende — zweite Theil des Goethe'ſchen Ge- 
dihts! Man muß entweder unbedingter Goethe-Anbeter fein, 
oder Philoſoph oder Mufifer, um fih für diefen zweiten Theil 
zu begeiftern. Viele Scenen des Gedicht find ohne Muſik kaum 
denkbar*); der Schluß (Fauft’3 Verklärung) bleibt ohne fie 
wenigstens unvollftändig, eine Seele ohne fihtbaren Schönen Leib. 

Vergegenivärtigen wir und raſch den Zujammenhang**). 
Fauſt fol im zweiten Theil fi durch größere, bedeutendere 
Berhältniffe durcharbeiten. Eine Reihe großer Welterfcheinungen, 
Hof und Staat, Diplomatie und Krieg ziehen an unferem Blid 
vorüber. Fauft findet auch bier hohle, leere WVerhältniffe, die 
ihn unausgefüllt laffen. Volle Befriedigung, wenn auch raſch 
vorübergehende, genießt Fauft erft auf dem claſſiſchen Boden 
der idealen Schönheit, in dem Anblick der griehiichen Helena. 
Mit dem Entichwinden dieſes idealen Scheines ift Fauſt Der 
wirffihen Welt wieder zurücgegeben. Die Zeit des Genießen? 
und Träumen iſt für ihn vorüber; er ſucht Nügliches, Frucht: 
bringendes zu Schaffen. Mit Hilfe der ihm dienenden Geifter 
ringt er ein unbewohntes Land den verheerenden Glementen 
ab und macht es urbar. Er verfluht den Bund mit dem Böſen, 
und wünſcht fih in ein einfach menſchliches Dajein zurüd; 
dazu ift es jedoch zu fpät, Fauft’3 Laufbahn ift abgejchlofien. 
Die »Sorge« beraubt ihn des Augenlichts, der »Tod« tritt 
an ihn heran. Mephifto lauert auf Fauſt's Seele, welche ihm, 
dem Vertrag gemäß, gebührt, In dem Kampf um die Seele 
des Helden werden die Teufel verjagt durch die »Flammenkraft 
der himmlischen Rofen«, welche (mittelalterlicher Allegorie gemäß) 
die Engel von Oben herabbringen, um damit Fauſt's Seele 
zu reinigen. Fauſt ift gerettet. Sein »Unſterbliches« fann nicht 
verloren gehen, denn es gibt eine ewige Schönheit und eine 

*) Der Elfengelang, der Mastenzug, die Strophen der Gärtnerin, 
de3 Dlivenzweigs u. ſ. w, die Aufforderung der Vulcinelle, des Knaben 
Lenker, des Pluto 2c. 

*) Vergl. »Goethes Fauite, von Dr. Karl Köſtlin; Tür: 
bingen 1860. 


Scenen aus Goethe’8 »Fauft«, von Nobert Schumann. 215 


ewig verzeihende Liebe (beides perfonificirt in der »Mater 
gloriosa«), welche ald »Ewigweibliches« den Sünder »hinan: 
zieht«. Um die Madonna gruppiren fi) der »Pater extaticus« 
und »Doctor Marianus«, in welchen fich der ascetiſche Buß— 
und Liebesichmerz des Mittelalter verkörpert, die Engel, die 
Geligen und andere Himmelögeftalten der katholiſchen Theologie. 

Der Tondichter, der an den Schluß dieſes Gedichte her: 
antritt, wird fih wenig um die ſchweren Bedenken fimmern, 
die fi gegen den ganzen Vorgang erheben laffen.*) Er findet 
in diefer Schlußfcene geradezu den fertigen Tert zu einem 
Ipriihen Oratorium. Die Muſik, die überfinnlichite der Künfte, 
vermag allein dieje lichtumfloffenen Geftalten feiter zu bannen, 
und den ſeeniſch unmöglihen Vorgang gewiſſermaßen zu ver: 
förpern. Nur der zitternde Dämmerjchein der Mufif macht uns ein 
Myſterium lieb und verftändlid, das in der Icharfen Stlarheit 
des geſprochenen Wortes fih und fremdartig gegenüberftellt. 
Selbſt ſprachlich Störendes, wie die lateinifirenden, den Kirchen 
hymnen nachgebildeten Wortverfchränfungen, verfchwindet unter 
der reinigenden Fluth der Tonwellen. Rihard Wagner ftellt 
in feinem neueften » Sendichreiben an einen franzöfiichen Freund« 
die unglaublihe Behauptung auf, es gebe für die Moefie nur 
zwei möglihe Wege: fie müſſe entweder vollflommen abitracte 
Philofophie werden, oder aber ſich gänzlich mit der Muſik ver: 
einigen. Wüßten wir nicht, daß Wagner dabei an feine eigenen 
Dpernterte gedacht Hat, e8 hätten ihm bei diefem Baradoron 
Reminiscenzen aus dem zweiten Theil des »Fauſt« vorichweben 
fönnen. Die abitract reflectirenden und die halb muſikaliſchen 
Bartien des Gedicht3 wären nah Wagner die eigentlichen Mufter- 
beijpiele wahrer Poefie. Was die »halbmufifaliichen« betrifft, 
wie die Verklärungsſcene, jo gehört übrigen® mehr als man 
denkt dazu, fie ganz mufifaliich zu machen. Es bedurfte eines 
außerordentlichen und eigenthümlichen Talents, um dem Gedicht 
jene volle und reine Ergänzung zu Schaffen, welche es von der 


*) Am fchlagenditen find Diele Bedenken von Viſcher ausge— 
führt, der überhaupt an dem ganzen zweiten Theil des Goethe’fchen 
»Fauſt« die jchärfite Kritik geübt hat. 


216 1860. 


Tonkunſt erwartete. Wir glauben, e& bedurfte geradezu Robert 
Schumann’. Nur ein Tondichter, in dem die künftleriichen 
Elentente gerade jo und nicht anders gemifcht waren, konnte ſich 
an das Hohe Näthiel diejer »Fauft-Verklärung« wagen. Schu: 
mann hat e8 in bewunderungswürdiger Weiſe gelöft. Gleich der 
eritte Chor — »MWaldung, du fchwanfit heran« ftellt Die 
Srundfärbung des Ganzen, dieſe ftille, fremdartige Seligfeit, 
mit einigen Meifterftrihen feit. Mit ruhigen tiefen Athem— 
zügen trinken wir die ungewohnte, erquicend reine Luft. 
Das harakteriftiiche, aber etwas monotone Tenorjolo des 
»Pater extaticus« blieb bei der Aufführung weg. Etwas be- 
lebter in Melodie und Rhythmus ift das folgende Baßſolo 
mit dem auödrudspollen Schluß: »O Gott, befhmwicht’ge die 
Gedanken!« Von hier an wird die Mufik immer reicher, Elarer, 
inniger. Ein überaus anmuthiger Geſang der »feligen Knaben« 
mündet im den jubelnden Chor »Gerettet«, von welchem ſich 
wieder ein zarte® Sopranjolo (»Diefe Roſen«) reizend abhebt. 
Die Hymme des »Doctor Marianus« (mit Harfenbegleitung) — 
mehr weich und innig als enthuſiaſtiſch — bereitet Die gehobene 
Stimmung für den Chor »Dir, der Unberührbaren« trefflich 
vor. Es folgt der Gejang der Büßerinnen. Dieje in jchlichten 
Biertelnoten abjteigende, tief herzliche Weile, in welche fich 
Grethens wundervoll verklärte Bitte mijcht, dünkt uns die 
Berle des Ganzen. In myſtiſchen Schauern verflingen die be— 
gnadigenden Worte der » Mater gloriosa«. Da jet mit impofanter 
Wucht unter dröhnendem Poſaunenklang der Schlußchor ein: 
Alles Bergängliche ift nur ein Gleichniß«, und beflügelt ſich 
erit bei den Morten »Das Ewigweibliche zieht uns hinan« 
zu triumphirendem Aufſchwung. 

Ein tieferes Eingehen in die muſikaliſchen Einzelheiten iſt 
hier nicht möglich. Nur auf einen beſonderen, das ganze Werk 
adelnden Vorzug möchten wir noch hinweiſen. Es iſt dies die 
merkwürdige Mäßigung und Schlichtheit im Ausdruck. Wenn 
irgend ein Gedicht geſchaffen iſt, den Componiſten zu unnatür— 
licher Exaltation zu verleiten, ſo iſt es wohl dieſe Verklärungs— 
ſcene. Welchen modernen Tondichter hätte hier nicht das Gefühl 
der Unzulänglichkeit zu den gewagteſten Experimenten in Har— 


Liſzt's »Prometheus.« 217 


monie und Inſtrumentirung, zu fremdartigſter Verkünſtelung des 
Geſanges verführt? Stellen wir uns vor, wie etwa Wagner 
oder die Weimariſchen das »Unbegreifliche« ausmalen würden! 
Schumann hingegen vermeidet mit ſolchem Zartgefühl alles 
Unſchöne und Maßloſe, daß er ſelbſt die zerhackten Ausrufe 
des Pater Extaticus in das Gleichmaß einer ſtillen, gefaßten 
Gluth auflöſt. In den Engelschören keine Spur äußerlichen 
Geflimmers oder Gepränges. Alles herzlich, warm und einfach. 
Die Verſuchung, dem Gedicht von ſeiner glänzenden Außenſeite 
beizukommen, lag Schumann fern. In ſeinem Herzen ließ er es 
warm werden, und gab uns ſodann ſtatt einer transcendentalen 
Triumphſcene ein Stück ſeines tiefſten, eigenſten Fihlens. Wenn 
es die beſte Aufgabe des Oratoriums iſt, das Göttliche als 
ein Menſchlichſchönes und Gemüthvolles darzuſtellen, ſo hat 
Schumaun hier verrathen, in welch ſchönem, hohem Sinn er 
Oratorien-Componiſt geworden wäre. 


Liſgzt's „Rrometheus.“ 


Die Geſellſchaft der Muſikfreunde brachte in ihrem dritten 
Concert Liſzt's Ouverture und Chöre zu Herder's »ent— 
feſſeltem Prometheus« zur Aufführung. Dies Werk ver— 
ſetzt uns, die wir gern zu den perſönlichen Verehrern dieſes 
bedeutenden und liebenswürdigen Mannes zählen, leider aber— 
mals in die Nothwendigkeit, gegen ſeine Compoſitionsluſt zu 
proteſtiren. Wie alle größeren Werke Liſzt's, iſt auch »Pro— 
metheus« eine traurige Allianz der Erfindungsloſigkeit mit dem 
Raffinement. Ein beſtändiges Suchen und Nichtfinden, lauter 
Effecte und doch kein Effect. Schon die Ouverture iſt nur eine 
intereſſant orcheſtrirte Folter, auf welcher der Hörer geiſtreich 
gemartert wird. Die Chöre bieten hin und wieder Lichtpunkte, 
kommen jedoch, vom Orcheſter fortwährend unterbrochen und 
überwältigt, nirgends zu einheitlicher Entwicklung. Das An— 
ziehendſte ſind auch hier einige neue Orcheſter-Effecte, die meiſt 
ins Gebiet der muſikaliſchen Malerei fallen, die Sicheln und 
Senſen im Schnitterchor, das Heulen des Orkans u. dal. 


218 1860. 


Dem »Brometheus« Liſzt's fehlt einfach der prometheijche 
Funfe: mag er noch fo verichiedenes und jeltenes Material 
aufthürmen, es will nirgends brennen. 

Wir machen fein Hehl daraus, daß kleine geniale Details 
und tieffinnige Intentionen, welde den Mythus zu interpretiren 
trachten, uns die fehlende muſikaliſche Schöpfungsfraft nicht entfernt 
erſetzen können. Zum größten Theil ift Liſzt's Compofition voll 
ftändige Unmufif, Ja, wir befennen, daß die außerordentliche 
Prätenfion, mit welcher diefe unfangbaren, inhalt3los aufges 
blähten Chöre auftreten, allmälig eine erheiternde Wirkung auf 
und übte. E3 erging und wie Gutzkow beim Anhören der 
Liſzt'ſchen »Dante-Symphonie«; ihm erichien die mufifaliiche 
»Hölle« Liſzt's ftatt grauenhaft immer nur komiſch, jo daß er 
fie mit jenen Teufeln in genähten Säden verglich, die am 
Schluß des »Don Juan« regelmäßig Laden erregen. Da und 
die Partitur des »Prometheus« nicht zugänglic” war, müſſen 
wir e& bei diefer Schilderung des Total-Eindruds bewenden 
lafjen. Fragt man und nad der Wirkung der Liſzt'ſchen Mufit 
auf das Publicum, fo fühlte diefes von den (laut Programmı) 
darin illuftrirten Zuftänden jedenfall die drei legten jehr 
lebhaft mit: »Leid«, »Ausharren« und endlich »Erlöſung«. Es 
glich dabei jelbit einem anftändig duldenden Prometheus, dem 
ein muſikaliſcher Geier zwar nicht in die Yeber, aber deſto tiefer 
in’ Ohr hadt. Nach jedem Abſchnitt gab ein Dutzend fpecifiich 
organifirter Sterblicher eine fühne Applausfalve, und damit das 
Zeihen — zu allgemeinem Ziſchen. Ohne dieſe Eifrigen (die 
auf Talleyrand’3 Mahnung »Surtout point de zele!« allzufehr 
vergefjen hatten) wäre die vornehme Leiche ohne Zweifel in 
feierlihfter Stille zu Grabe getragen worden. Was die Gejell- 
ichaft der Mufikfreunde bewegen mochte, auf dad umfangreiche 
Werk, deilen Mißerfolg nad der erjten Probe vorauszuſagen 
war, Mühe und SKoften zu verwenden, ift ung nicht befamnt. 
War e3 die allerdings löbliche Abficht, das Bublicum mit einem 
nenen Werke Lijzt’3 bekannt zu machen, jo würde man fie mit 
der Mehrzahl der »ſymphoniſchen Dichtungen« weit angenehmer 
erreicht haben. Dieje find wenigſtens furz und von glänzender 
Meuperlichkeit. Liſzt's Pegaſusritt auf der Menichenitimme hätte 


Händel's »Timotheuse und »Jirael in Egypten.« 219 


dem Publicum und noch mehr den fleißigen Mitgliedern des 
»Singvereined« eripart bleiben können, da doch lekterer, jo 
viel und befannt, zum Vergnügen zufammen zu treten pflegt. 

Auf Liſzt's »Prometheus« ließ die Gejellihaft der Muſik— 
freunde unmittelbar und ganz allein Mozarts G-moll-Sym: 
phonie folgen, — ein jo impojanter Einfall, daß er und des 
Dichters Wort »Wär die Idee nicht fo verflucht gefcheit« u. f. m. 
auf Die Lippen drängte. — Wollte die Direction ihre eigene 
Wahl ironifiren? Oder follte das von der neudeutſchen Partei 
aufgeftellte oberfte Ariom, daß »Liſzt der Mozart unferer Zeit« 
fei, praftifch erwielen werden? Gleichviel; es ereignete fich Der 
ımerhörte Fall, daß nad den erften vier Taften der allbe: 
fannten Symphonie das ganze Publicum in jubelnden Beifall 
ausbrach. Wenn die eine Demonftration war, jo ift fie 
wenigſtens nicht beabfichtigt gemweien. SIeder Anweſende muß 
bezeugen, daß die Freude über Mozart’3 Töne vollfommen 
fpontan, friſch und unmillfürlich hervorbrad. Es war Allen, 
als würden in einem qualmerfüllten Saal plößlid die Feniter 
weit geöffnet und herein jtröme Duft und Kühle des erquiden- 
den Frühlings. 


Ssändels „Timotheus“ und „STrael in 
Egypten.“ 


In kürzeſtem Zeitraum bekamen wir nacheinander zwei 
Händel'ſche Oratorien zu hören: »Iſrael in Egypten— und 
»Timotheus«. »Iſrael in Egypten« verfällt einer großen 
Monotonie ſchon durch den Inhalt, den die complete Schil— 
derung aller egyptiſchen Plagen bildet. Neben der ſtrotzenden 
Kraft der Chöre erſcheint die Mehrzahl der Arien ſteif und 
undarakteriitiih; Hingegen schlägt daS herrliche Soloquartett: 
»Der Nacht düftere Schleier finfen auf das Land« wieder 
manden Chor. »Timotheus« oder »Mleranders Feſt« hat 
einen frifcheren mufifaliihen Zug als »Iſrael«, und findet im 
Gedichte mwenigitens einzelme Situationen dor, deren Inhalt 
und Färbung das rein menschliche Intereſſe wärmer berührt 


220 1860. 


al3 die »egyptiichen Plagen«. Als Ganzes ift freilich Drydens 
»Aleranders Feit« (1697 gedichtet) To unglüdlih wie möglich, 
geichraubt in der Diction, in der Form ein Miſchling von 
Dratorium und Gantate. MWeberdieß der Zufammenhang je 
weiter deſto unverltändlicher, bis endlich das Hereinſchneien 
der heiligen Gäcilia in die Griechenwelt ihn völlig außein- 
anderiprengt. Händel ift am größten und natürlichften in der 
Belebung bibliiher Geftalten, deren patriarhalifhe Weihe und 
religiöje Kraft in jeinem Styl die treueſte Färbung gefunden 
hat. Händel vor Allem in feinem »Verhältniß zum clafji- 
ihen Alterthum« zu bewimdern, ihn Hierin Shafejpeare 
und Goethe zu vergleichen, ımd feine Griechenmwelt der Glud- 
ſchen entgegenzuhalten, al das Richtige dem Falichen — das 
kann wohl nur der befangene Enthufiagmus eines Chryſander. 
Eine bejondere Charafteriftif des claſſiſchen Alterthums ver— 
mögen wir im »Timotheus« allerdings nicht wahrzunehmen, 
wohl aber eine impojante muſikaliſche Fülle und Macht, welche 
das Werk theilweile an die vollendetiten des Meifters reiht. 
Wie erichütternd hallt der Trauergefang: »Seht au, den Perſer,« 
oder der Donnerhor »Brich die Bande feines Schlummers !« Auch 
die Arien können wir zum Theil rückhaltslos oder doch unge— 
trübter genießen, al3 in anderen Werfen dieſes Meifterd. Der 
contrapunktiihe Styl von Händeld Arien erfcheint und (wie 
ihon Nägeli ausſprach) Heutzutage nicht mehr der richtige. 
Die Stimme herrſcht darin nicht als die fingende Seele des 
Tongewebes, fie befigt an demfelben nur den ihr contrapunktiich 
zugemeffenen Antheil. Der Baß trägt fie nicht, jondern führt, 
gemejlen aufs und abjfteigend, ein felbititändiges Leben; die 
Streih:Inftrumente herrichen mit, und fo wirft die Compo— 
fition zum Nachtheil der Stimmwirkung inftrumentaliihy. Händel 
liebt es, das ſchönſte Gejangmotiv nach zwei oder vier Taften 
abzubrehen und dem Orchefter die Fortfegung zu überlaffen. 
Mie reizend beginnt die erjte Arie ein »Timotheus: Selig 
Baar!« und wie bald wird durch die Zwifchenfpiele der Geigen 
und die rein inftrumental gedachten langen Solfeggien des 
Sänger? dieſer Reiz abgeftreift. Noch auffallender ift dieſes 
Berhältniß in der Arie »Der König horcht mit ftolzem Ohre, 


Händel’3 »Timotheus« und »Ifrael in Eghpten.« 221 


deren contrapunktiiche iteife Beweglichkeit das gerade Gegen: 
theil des echten Gelangftyl3 bildet. In der Sopran-Arie Nr. 9 
berührt uns die anf gleihem Brincip beruhende endlofe Wieder: 
holung der Worte »er jeufzt und blickt, und blidt und jeufzte 
geradezu fomifh. Sie weiſt und zugleih am augenfcheinlichiten 
da3 zweite Element auf, das uns Händels Arien entfrendet: 
es ift der Mangel einer jchärferen Charakteriſtik. Wir können in 
den Teßtgenannten Arien wohl einen meijterhaften harmoniſch— 
contrapunktiſchen Saß erkennen, aber nimmermehr die Begeiſte— 
rung eines Königs, der »fich ein Gott dünft«, oder die auflodernde 
Gluth feiner Sinnlichkeit. Der Tenor:Arie »Krieg, o Held, iſt 
Sorg’ und Arbeit« fönnte man fajt einen Buffotert unterlegen. 
Unjere Zeit ift an ein ungleich feineres Anfchiniegen des Ge— 
ſangs an den Tert gewohnt, wie denn auch die Mufif in der 
Iharfen Audgeftaltung des Charakteriftifchen feit Händel die 
erheblichiten Fortichritte gemacht hat. Neben diefer überwiegenden 
Zahl contrapunftiih gedachter Arien finden wir freilich bei 
Händel eine zweite davon verjchtedene Gattung Arien, in denen 
Wort und Ton Eins find, und der Gejang aus dem ftarren 
Seleife der um das Wort unbefiimmerten Contrapunftif her: 
austritt. In diefen wahrhaft geſangvollen Arien fehlt auch 
meift der ftörende NRococco-Zierratd von Goloraturen. Wer 
denkt nicht an die einfach fchöne erjte Arie Samfon’s, »Nacht 
ift’8 um mich«, an die Arien aus dem »Meffiad«: »Ich weiß, 
das mein Grlöjer lebte, »Er ward verachtet«, oder in welt: 
lihem Fah an das »lydiſche Brautlied« und die Baß-Arie 
»Ha, welche bleihe Schaar!« aus »Timotheud?« Bon allen 
großen Tondichtern ift vielleicht Händel am meilten das Kind 
feiner Zeit; ihrem Geſchmack ordnet er ſich unter in feinen 
Dpern, ihn verläugnet er auch nicht in feinen Dratorien; Die 
Arien in legteren find denen feiner Opern ganz ähnlich. 

Bei Händels Mufik, in der wir, neben Größtem und 
Ergreifendſtem, Veraltetes und Manierirtes begegnen, fällt uns 
hin und wieder das fo verbreitete Ariom ein, es fünne das 
»wahrhaft Schöne« niemals nach noch fo langem Zeitverlauf 
feine Wirkung einbüßen. Für die Mufit ift dies wenig mehr 
als eine jchöne Nedensart. Es können fleinere Kunſtwerke, oder 


222 1860. 


Theile eines größeren, erhabene Ideen in möglichiter Reinheit 
jo darftellen, daß die menschliche Fafjung daran verjchwindet. 
Bon jolden Stüden fann man jagen, fie währen jehr lange: 
von feinem fann man behaupten, es werde ſich ewig erhalten. 

Der Mufifer Schafft frei aus fich heraus. Das Subjective 
und alle Factoren der Zeit, die eine bejtimmte Subjectivität 
zufammenfegen helfen, werden demnach ungefefjelt in der Muſik 
hervortreten, und mit dem durch gleiche hiftorifche und conven- 
tionelle Momente beitimmten Gefhmad der Zeitgenoffen corre= 
Ipondiren. Die nächite Generation bringt dem Tonftüd eine 
andere Bildung, eine andere Stimmung entgegen; was vordem 
als neu reizte, ift nun ein gelöftes Räthſel; die Mufif aber 
befigt in der Neuheit der Erfindung die Hälfte ihrer Macht. 
Sreilih ift die Verfchiedenheit der Lebensdauer auch in der 
Muſik eine außerordentliche. Nach der Subjectivität der Com— 
poniften betrachtet, haben die Tiefen, Ernften, Gewaltigen eine 
ungleich längere Jugend, als die genialften unter den An— 
muthigen und Zierlichen (Händel, Bach, Beethoven gegen Halle, 
Piccini, Roffini), Won den Kunftgattungen bewahren die Ge- 
fäße des Erhabenen und Religiöjen ihre allgemeine Giltigfeit 
am längiten, weil diefe Ideen am reinjten fich darjtellen Laffen, 
am wenigſten menschliches Gewand anhaben. Die Kirchenmuſiken 
der älteren Jtaliener find noch heute von ergreifender Wirkung, 
während die gleichzeitige weltlihe Muſik, ja ganze Perioden 
jpäterer Opernmuſik unwiederbringlich abgeblüht find. 


ÖOrchefter:Eoncerte. 


Die größte und anziehendite Nummer des eriten »Phil— 
harmonifhen Goncerte« war Schumann’ Es-dur- 
Symphonie, die einzige diejes Meiſters, welche Wien noch 
fremd war. Troß ihrer Bezeihnung als »Nr. 3« iſt fie 
in Wahrheit doch Schumann’s legte ſymphoniſche Arbeit; Die 
D-moll-Symphonie Nr. 4 war, wie ihre jugendliche Friſche 
auf den erften Blick zeigt, weit früher erfunden, und hat nur 
durch nachträgliche Neu-Inftrumentirung und Herausgabe ihre 


Schumann’s Es-dur-Symphonie, 233 


jpätere Reihung erhalten. Die Es-dur-Symphonie, oder die 
»Rheiniſche«, wie fie nach ihrem Geburtslande oft genannt 
wird, fteht Hart am Eingang zu Schumann’3 dritter Periode. 
Wenn auch ihre Lichtjeiten glänzend vorherrichen, fo vericheuchen 
fie doch nicht gänzli” manchen vorüberhufhenden Schatten, 
der auf de Meiſters letzte Zeit hindeutet. ES find dies Augen 
blide müder Abſpannung, oder eigenfinnigen Imfichbrüteng, 
oder endlich eine mwunderlihen Spielend mit harmoniichen 
Meſſern und Dolchen. Die Stimmung und Wirkung des Ganzen 
ift davon wenig beirrt. Kräftig, entichieden tritt der erfte Sat 
mit feinem majfiven Thema auf, das jedoch bald in dem janft 
flagenden G-moll-Motiv einen reizenden Gegenſatz erhält. Der 
Sat geht, ohne Wiederholung des eriten Theils, in Einem 
frifhen Fluß zum Ende. Das reizende Scherzo jtellt ſich 
durch die etwas grapitätiiche Anmuth feines Themas beinahe 
an die Stelle des alten Menuetts. Als Trio dieſes ſonnen— 
hellen Scherzos fungirt ein feltfam verjchleierter Mittelfag ; 
an 30 Takte lang hält er in der Tiefe den Grundton C feft, 
der orgelpunftartig ein künſtlich verjchlungenes Gewebe von 
A-moll- und F-dur-Harmonien trägt. Der am wenigſten eigen: 
thiimliche Theil des Werkes tft das Andante. In fanfter ein: 
heitliher Stimmung fließt e8 ohne innere Gegenfäge ſacht 
vorüber. Es erinnert direct an Mendelsfohn, ein Symptom, 
da3 bei Schumann faft unfehlbar ein Ermatten der jchöpfert- 
Ihen Kraft andeutet. Zwiſchen diefem dritten Sag und dem 
Finale fteht ſeltſamerweiſe als vierter Sab ein jelbititändiges 
Adagio in Es-moll. Gebundenen Styls, in feierlich düſterer 
Pracht einherwogend, erinnert e8 an den mächtigen Tonſchwall 
einer aus allen Regiſtern erbraufenden Orgel. Im Verlauf 
wirft eine abgeriſſene Achtelfigur der Bäffe fich wiederholt dem 
majeftätiichen Fluß des langſamen Themas entgegen, das je: 
doch in unbeirrter Ruhe darüber hinwegſtrömt. Die Bedeutung 
des ganzen Satzes an dieſer Stelle iſt ſchwer zu verftehen. 
Mir wiſſen zwar aus Schumann’: Biographie, daß er Anz 
regungen zu diefer Symphonie aus dem Anblid des Kölner 
Doms und eines fatholiihen SKirchenfeftes gewonnen haben 
jolf. Er Hatte fogar den vierten Sat ursprünglich überjchrieben: 


224 1860. 


»Im Charakter der Begleitung einer feierlichen Geremonie«, 
diefe Aufichrift jedoch ſpäter mit der treffenden Bemerkung 
wieder geftrihen: »Man müfje den Leuten nicht das Herz 
zeigen; ein allgemeiner Eindrud des Kunſtwerkes thue ihnen 
beffer; fie ftellen dann wenigſtens feine verfehrten Vergleiche 
an« Allein auch mit jener factifhen Mittheilung iſt wenig 
gewonnen, denn wir verlangen, vollfommen übereinftimmend 
mit Schumann’3 eigenen Grundfägen, daß Sinn und Bedeu— 
tung jedes Satzes mufifalifch einleuchten müffe. Daß Es-moll- 
Adagio ſcheint uns aber für eine Symphonie, die, wie Die 
vorliegende, eine kräftige Weltlichkeit athmet, zu fremdartig, 
ftarr und ſchwerflüſſig. An ſich charaktervoll und geiftreich, 
muß dag Stüd in diefem Zufammenhang mehr befremden 
al3 befriedigen. Der fünfte und Iekte Satz der Symphonie ift 
ein jchneller Viervierteltakt, deſſen rüftige Heiterkeit ung beinahe 
vergefien macht, dab ein jo groß angelegte® Werk einen be- 
deutenderen Abſchluß verdient und verlangt hätte, — Im Cha: 
rafter correipondirt das Finale auffallend mit dem eriten Sat, 
während jedoch diefer durch die häufigen Synkopen eine ſcharfe 
und herbe Rhythmik erhält, läßt jenes in feinem eigenfinnigen 
Selthalten der Zweier-Rhythmen den Mangel an reicher Be: 
wegung fühlen. Hier wie dort liebt es Schumann, mehr ein 
Motiv als ein Thema durchzuführen, und zwar mit einer Con— 
jequenz, die biß zum Herben geht. Nirgends aber Hört er auf, 
markig und originell zu fein. 

Die »Maurerifhe Trauermufif« von Mozart, in Styl 
und Ausdrud an die langjamen Sätze im »Requiem« er: 
innernd, iſt eine wenig gefannte, aber nicht weniger foftbare 
Neliquie des großen Meiſters. Neben dem tiefen Eindrud, den 
dieſe Muſik durch ihre reife, edle Schönheit unmittelbar her: 
vorbringen muß, bietet fie ung noch ein ſpecielles biographiiches 
Intereſſe. Sie führt und in dem großen Componiſten zugleich 
den Freimaurer vor. Mozart mußte fich mit ganzem Herzen 
einer Verbrüderung anfchließen, welche die Förderung allge 
meiner Menfchenliebe, Duldung und Aufklärung fih als Ziel 
vorgefegt hatte. Die Freimaurerloge, der Mozart angehörte, 
bieß »zur gefrönten Hoffnunge. Für fie hat Mozart mehrere 


Schubert — Bearbeitungen von Lifzt. 295 


Gelegenheits-Muſiken gejchrieben, von denen die bedeutendfte 
eben die aus dem Sahre 1785 ftammende »Trauermufit 
bei dem Todesfalle der Brüder Medlenburg und 
Eszterhazy« ilt. Gerne ſahen wir und durch die Aufführung 
diejer feierlich erniten Todesweiſe daran erinnert, daß Mozart, 
jo ausſchließlich er feiner Kunſt Iebte, und nur für fie leben 
wollte, doch den Gulturbeftrebungen eng verbündet war, welche 
jeine Zeit, freilich in wunderlichiter Form, als die echteſten und 
höchſten pflegte. 

Liſzt's Inftrumentirung des »Reitermarſches« von Schu: 
bert (Nr. 1 aus op. 121) ift ein fleines Meiſterſtück. Ge— 
hört diefer March durch feine lebendige Rhythmik und durch 
die Melodie des Trio ſchon in feiner bejcheidenen Urgeftalt 
zu Schubert’3 liebenswürdigften Kleinigkeiten, jo ift er jeßt zu 
neuer Pracht erblüht. Liſzt hat hier jeine glänzende Orcheiter: 
technik, feinen feinen ausgebildeten Sinn fir Klangfarben und 
Klang-Effecte jo glücklich verwendet, daß er daS befannte 
Lieblingsſtückchen uns fait als ein neues Geſchenk dargebracht hat. 
So wenig Lifzt die Schubert’iche Melodie zu erfinden vermöchte, 
jo wenig hätte Schubert’3 injtrumentale Technif es mit diejer 
Leiftung Liſzt's aufnehmen fünnen. In glänzender Behandlung 
des Orcheſters, wie in geiftvoller Gombination von Clavier— 
Effecten wirkt Liſzt's Talent beinahe ſchöpferiſch. Hier liegt, 
nach unferer Meinung, das eigenfte, fruchtbarite Feld feines 
Wirkens. Wie jehr Liſzt durch diefen Zweig feiner Thätigfeit 
namentlich zur Verbreitung Schubert’3 beigetragen, iſt be— 
fannt. Das »Gefellichaftsconcert« brachte dafür noch einen 
zweiten werthvollen Beleg: die ſymphoniſche Bearbeitung von 
Schubert’ Clavier-Phantaſie, op. 15 in C-dur. Hier 
fand Liſzt eine ungleich jchwierigere und Doc weniger danfbare 
Aufgabe vor. Reich an melodiichen Reizen und genialen Einzel: 
zügen, leidet diefe Phantaſie ald Ganzes doch empfindlich durch 
die außeinanderfallende mufiviiche Form, die mehr oder min 
der allen größeren Inſtrumentalwerken Schubert’3 eigen iſt. 
Sn feiner Urgeftalt gibt fih dies Stüd mehr als das freie 
Ausitrömen einer während des Spieles jelbit immer erneut 
producirenden Phantaſie, verwahrt fich demnach gegen die For: 

Hanslick. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 15 


226 1860. 


derungen einer geſchloſſenen Form. Durch die ſymphoniſche Be— 
handlung in diefen Ansprüchen gefteigert, legt man Hingegen 
unmilltürlih den Maßſtab eines Concertes an, dem wohl der 
prächtige Anfang und das fugirte Schlußallegro, nicht aber 
die breite Mitte mit ihren Liederchen fi fügen mag. Dennoch 
liegt in der Anlage der Schubert’ihen Nhantafte Vieles, mas 
gerade zur Orcdeitrirung herauöfordert. Sehen die Paſſagen 
des Cis-moll-Saßes nicht aus wie ein Schmud, der erft von 
dem feiten Körper einer Orchelter-Melodie getragen werden joll? 
Deutet nit das Prefto in As-dur den Wechjel zwiſchen Piano 
und Orcefter förmlih von zwei zu zwei Taften an? Die Be- 
arbeitung bat fih (bis auf die Hinzufügung einer Kleinen 
bejheidenen Gadenz) ftrenge an den Inhalt des Driginald 
gehalten, natürlich bei reicherer, vollgriffiger Behandlung des 
Glavierd, das ſonſt dem Gegengewicht ded ganzen Orcheſters 
unterliegen müßte. Nichts anziehender als die Vergleichung 
des ſchlichten Original® mit der (bei Spina geitochenen) 
Orcefter-Bartitur; Lifzt hat fi) darin abermals als geiftvoller 
Bearbeiter und großer Colorift erwiesen. 

Wir hörten bald nachher noch einen zweiten von Liſzt 
orheitrirten Marſch Schubert's. Kühn und dabei leichtbe- 
flügelt, im Trio zärtlih fingend, glanzvoll und ſtürmiſch im 
Abſchluß! Das Original (Nr. 5 aus den vierhändigen »Sechs 
Märichen«, op. 40) kann allerdings dem »Reitermarſch« nicht 
gleihgeftellt werden. Aber mie Elingt das in Liſzt's In— 
jtrumentirung! Wir müßten volljtändig wiederholen, was wir 
vorher bewundernd über die Lilzt’sche Orcheitrirung berichteten. 
Genug, Schubert jelbit hätte geftaunt. Scheint e& doch kaum 
möglich, in Eleinftem Rahmen jolchen Glanz des Colorits zu 
entfalten, fo viel Zartheit neben jo ftürmijcher Kraft, fo geiſt— 
reihe Details bei folcher Einheit der Totalwirkfung. Dabei 
will der glänzende Schmud, welchen Liſzt dem einfachen 
Clavierſtück umgethan, nirgends für fich, nirgends mehr gelten, 
al das Geſchmückte jelbit; es it ein Werk aus Einem Guß. 
Eigentlich ein Kleines Ideal von Compagnie-Arbeit, eine ſolche 
nämlich, die feiner der beiden Künſtler allein hätte hervor: 
bringen können. 


Symphonie von Schubert. — Eoncertftüd von Volkmann. 297 


Ungleich geringer war der Erfolg von vier »Fragmenten«, 
welhe man aus Schubert's nachgelafienen, noch ungedrudten 
Symphonien gewählt und gleihlam zu Giner Symphonie zu— 
jammengeftellt hatte. Die beiden erften Säge find einer Sym— 
phonie entnommen, weldhe Schubert als 19Yjähriger Jüngling 
componirt und die »Tragiiche« genannt hatte. Sie hiege wohl 
bejier die »Pathetiſche«; pathetiich in dem felbitbewußten, Leiden: 
Ihaftlihen Tone der Cherubini'ſchen Ouverturen ift nament— 
lich der erite Satz. Nicht eben selbititändig oder glänzend in 
der Erfindung, weiſt er doch ein reifes mufifalifches Gefühl, 
Dabei ein präcifere® Zuſammenfaſſen der Form auf, als die 
jpäteren Inftrumentaljachen des Meiſters. Das Andante bringt 
in Mozart'ſcher Ausdrudsweile manchen eigenthümlich Schus 
bert'ſchen Gedanken; fchade, daß die janfte einheitliche Em— 
pfindung des Stückes (überdies durch Rofalienfetten und Aehn- 
liches) über Gebühr breitgezogen wird. Das Scherzo, neun 
Jahre fpäter componirt, äußert bereit3 den vollen, gegen 
Schubert faft übermädtig einftürmenden Einfluß Beethoven’. 
Die anregende Wirkung dieſes lebensfriſch pulfirenden Sakes, 
wird nur durch feine allzu jtarfe Neminiscenz an das Scerzo 
in Beethoven’3 A-dur-Symphonie, dann durd ein Trio geftört, 
deſſen langjam rucdmweifer, an Automaten mahnender Rhythmus 
und in einige WVerwunderung fette. Das Finale iſt wieder ein 
Werk der Jugend (1815) und ihres vergnügt lärmenden Thaten- 
dranges, der fich regt und bewegt, ohne fih noch um Biel und 
Erfolg Großes zu kümmern. — Niemand wird ohne Rührung, 
ohne Staunen dieſe Blüthen eines jo früh und üppig produ— 
cirenden Talentes betrachtet haben. Ob fie ohne dies perſön— 
liche und Hiftorifche Intereffe blos durch ihren abjoluten Werth 
nachhaltig zu wirken vermöcdten, wollen wir nicht enticheiden. 

Auf das Angenehmite überrafht uns Volkmann's neues 
‚Goncertftüd für Piano und Orcheſter«. Endlich doch 
wieder ein neues Werk, mit dejjen Verdienjt wir und nicht 
durch die Worte »geiftreich« und »interejlant« abfinden müfjen! 
Geiitreih it Volksmann's GCompofition allerdingd, und ins 
terefiant in hohem Grade; aber fie iſt weit mehr als dies. 
Sie iſt durch und durch mufifalifch, der freie Ausfluß eines 


15* 


228 1860. 


feingebildeten, echten Talents. Sie bietet und feinen falten 
Raritätenfaal von Combinations-Wundern, jondern in plajtiich 
gegliedertent Leib eine fingende Seele. Die melodiihe Er: 
findung ift, wenn auch nicht üppig, doch ſpontan und eigen: 
thümlih; der Bau, das Detail, die Inftrumentirung verrathen 
die erfahrene mählerifhe Hand des Meiſters. Eine köſtlich 
inftrumentirte, langfame Ginleitung, deren jchmerzliche Klage 
an ungariihe Weiſen anklingt, führt zu einem äußerft finnigen 
Thema mit Variationen; Schumann könnte es gejchrieben 
haben. Gleihfalld3 in unmittelbarem Anſchluß, und ohne den 
alterthiimlihen Formalismus der »Cadenz«, folgt ein raid) 
dahinperlendes Allegro. Gegen das Frühere fällt diefer Schluß: 
fat dadurch ab, daß der Poet hier allzu höflich fich hinter 
den Pirtuofen geftellt hat. Das Paſſagenwerk übermwuchert 
den ſelbſtſtändigen Gedanken und erinnert damit an eine 
ältere Epoche der Eoncert:Gompofition. Doch bewahrt der Sag 
auch unter dem Dichteften Brapourflitter feine vornehme, cha— 
raftervolle Haltung. An die Virtuofität des Pianiſten ftellt das 
»Concertſtück- jo hohe Anforderungen, daß Herr Dachs ihnen 
nicht durchweg genügte. 

Das zweite »philharmoniſche Concert« eröffnete die 
Duverture zu Cherubini's Oper: »Die Abencerragene, 
ein Tonſtück, das troß einiger veralteter, echt Cherubini’jcher 
Eigenheiten, durch feinen leichten ritterlihen Schwung erfreut. 
Daß tragiihe Schickſal des edlen mauriichen Fürftengeichlechts, 
wie ed die Sage und Chateaubriand’3 Novelle »Le dernier 
des Abencerrages« jchildert, findet zwar in der Duverture feine 
entiprechende Größe. Allein ſeit Cherubini's Opern leider zu 
einer bloßen Berforgungsanftalt für Goncerte herabgedrüdt 
find, ift uns auch die Beziehung ihrer Duverturen zu den 
dramatiihen Stoffen fo gut wie entichtwunden, und fo fünnen 
wir im vorliegenden Fall uns ihrer rein muſikaliſchen Friiche 
und Abrundung ungetheilt erfreuen. 

W. Gade’3 vierte Symphonie in B-dur machte den an- 
genehmiten Eindrud. Wir ziehen fie ihrer berühmteren Schweiter 
in C (Nr. 1) vor, im welcher der Ueberſchuß des poetiichen 
Elements über die techniiche Gewalt den Kunſtwerth beein: 


Symphonie von Bade. — Elegiiher Geiang von Beethoven. 229 


trächtigte. In der B-Symphonie bringt ung Gade alle Vor— 
züge feiner poetiihen Natur, während frühere künſtleriſche 
Mängel (die formloſe Ueberſchwänglichkeit, die mufiviichen 
Durhführungen, die Neminiscenzen an Mendelsjohn) ungemein 
gemildert erſcheinen. Weder groß, noch hinreißend, aber recht 
eigentlich »Tiebenswürdige muß man ein Werk nennen, aus 
welchem ein feiner Geift, ein warmes Gemüth in maßvollem, 
gewähltem Ausdruck zu uns fpriht. Die Beſchränkung, welche 
der Componift in den Themen und dem Umfang der Süße 
fich auferlegte, ift dem Werke zugute gekommen. Es erreicht in 
feiner harmonischen Abrundung alle® was es erreichen wollte. 
Gade ift eine echt mufifaliihe Natur, wie ihon Schumann 
iherzend aus deſſen Namen deducirte, der gleichſam quinten- 
weije geftimmt, die vier Saiten der Bioline (g, a, d, e) 
repräjentirt. Was ihm in der Folge geichadet hat, waren die 
übermäßigen Hoffnungen, die man an jein erites Werk, Die 
Oſſian-Ouverture, fnüpfte. Die Welt Tieß e8 dem jchuldlos 
leberfhäßten entgelten, daß fie ein liebenswürdiges, aber be: 
grenztes Talent für ein epochemachendes Genie angejehen hatte. 
Werke von dem echten, beicheidenen Duft der B-Symphonie 
[oben wir lieber zu viel als zu wenig, in einer Zeit, wo faum 
mehr Jemand ein Orcheiterftück fchreibt, ohne den feiten Vorſatz, 
Beethoven unbedingt zu überbieten. 

Die einzige Gejangönummer im zweiten philharmonijchen 
Concert war Beethoven’ »Elegiiher Gejang« (vier: 
ftimmig, mit Streihinitrumenten). Wir zählen nicht zu den Ver: 
ehrern diefer zwar £laren, würdigen, aber keineswegs ideenreichen, 
nicht Beethoven’schen Compofition Beethoven’d. Trotz der 
hohen Opuszahl 118 möchten wir diefelbe für ein früheres 
Gelegenheitsſtück des Meiſters halten, wie denn gerade unter 
den Bublicationen jeiner legten Jahre ſich viele finden, die auf 
Sugendarbeiten hinweiſen und mit den wirklichen Schöpfungen 
der »dritten Periode« feine Aehnlichkeit haben *). 


*) Dahin gehören 3. B. die Geſänge op. 108, 112 (oder 119), 
118, 121, 122, 128; die Variationen op. 105 und 107, das Rondo 
op. 129 u. a. 


230 1860. 


Eborvereine. 


Die Aufführungen der Sing: Afademie haben den be— 
ionderen Reiz, in ihrer eriten Abtheilung recht eigentlich 
»hiltoriiche Concerte« zu fein. Zu den jchönften Aufgaben 
folder Chorvereine gehört es ja, aus früheren Jahrhunderten 
die ehrwürdigen Meifter heraufzubeichwören, die im Glauben. 
und in der Kunſt gleich aroß daftanden. Die alten fatholiichen 
Meilter: Paleſtrina, Orlando di Laſſo, Gabrieli; die jpäteren 
Italiener Leo, Durante, Lotti; die tönenden Säulen des Pro: 
teitantismus, Eccard, Schüß, Sebaftian Bad, — fie alle find 
und jeit dem Wirken des »Singvereind« und der »Sing— 
Akademie« feine bloßen Namen mehr. Sie haben lebendig 
individuelle Phyſiognomien bekommen, die bereit anfangen, auch 
dem größeren Publicum fich einzuprägen, in beitimmter Weile 
zu wirken und immer zahlreichere Verehrer zu gewinnen. Vor 
schn Sahren noch wäre ein Programm, wie das lebte der 
Sing-Atademie, eine Unmöglichkeit geweſen. Set, wo durch eine 
conjequente ernite Richtung jo viel gefichert ift, müflen die Ge— 
jangvereine allerding® noch auf der Huth fein, die freudige 
Empfänglichfeitt des Publicums nicht durch allzuviel Fremd- 
artige3 abzuſchwächen. Man darf es weder ignoriren noch 
tadeln, wenn eine größere Verfammlung, nad) aufmerkffamen 
Anhören alter Kirhenchöre, mit einiger Begier nad) den welt- 
lihen und modernen Nummern am Ende des Goncertzettel? 
hinüberblicdt. Wir find nun einmal, jo entjeglicd) dies Elingt, 
moderne und weltliche Menſchen. In der Kunſt ſympathiſiren 
wir wärmer mit dem poetiichen als mit dem kirchlichen Intereſſe, 
und erbauen wir uns auch gerne durch künſtleriſche Wallfahrten 
nah den verlaflenen Stätten früherer Jahrhunderte — und 
dort umgetheilten Herzens anzufiedeln, vermögen wir nicht mehr. 
Auch weit größeren Zeiten gegenüber erfcheint unsere Zeit und 
doch immer als die beite, und ganz vermag und nur Die 
Kunſt auszufüllen, welche durch den gemeinfamen Strom unferer 
Ideen und Empfindungen hindurchging. Warum wir unverſehens 
für das Moderne plaidiren, nachdem wir eben die Errungen: 


5. Bad. 49. Bialm. 231 


schaft des Alten geprieien? Weil ein Verſchieben des bisherigen 
Gleichgewichts in den Chorconcerten und gegenwärtig noch ge: 
fährlich dünkt. 

Das Concert begann mit Seb. Bach's 49. Pſalm für 
zwei Chöre. Die Wirkung dieſer Motette ſtand in keinem Ver— 
hältniß zu der außerordentlichen Mühe, welche die Sing— 
Akademie darauf verwenden mußte. Der Chor ſetzte feſt ein, 
gerieth aber bald in merkliches Schwanken. Todesmuthig kämpfte 
er ſich durch die erſten Abſätze bis zu dem Choral, dem von 
Sängern und Hörern gleich erſehnten Ruhepunkt, um von da 
wieder erſchöpft die Laſt der athemverſetzenden langen Solfeggien 
des Schlußſatzes aufzunehmen. Man mache nicht die Sänger verant— 
wortlich für den faſt beängſtigenden Eindruck, den die Motette 
in ihrem erſten und letzten Dritttheil hervorbrachte; die beſten 
Sänger der Welt werden hinter dieſer Aufgabe zurückbleiben. 
Muſikaliſche Maſchinen von ſo und ſo viel Sängerkraft müßte 
man haben, um ſolchen ſtimm- und noch mehr chorwidrigen 
Satz präcis durchzuführen. Beim Studium der Partitur werden 
wir bewundernd in diejen großartig gedachten, kunſtreich ge: 
thürmten Bau uns verjenfen, wir fönnen uns allenfall® au 
einer Ausführung desfelben durch Orgel und Streid-Inftrumtente 
erbauen; allein es flieht uns jeder Genuß, wenn wir eine 
große Zahl Menfchenftimmen in athemlojer Halt an Dielen 
contrapunftiichen Rieſenleitern auf» und niederflettern jeher. 
Das Biel diefer Anftrengungen wird dem Hörer weder 
muſikaliſch noch poetifch ar, weil das inftrumentale Figuriren 
der Choritimmen es unmöglich macht, dem mufifaliichen Grunde 
gedanfen zu folgen oder auch mur eine Eilbe vom Tert zu 
veritehen. Wir fennen die Gefahr, jahrhundert alter Größe 
gegenüber etwas anderes als jtaunendes Entzüden zu äußern, 
— ım den Preis unſerer Aufrichtigfeit wollen wir jedoch 
diefer Gefahr niemals entgangen fein. Aus der tiefjinnigen, 
aber verwirrend ımruhigen Gothif der Bach’ichen »Motette« 
traten wir in Baleftrina's »Stabat« und Lotti's »Crueifixus« 
wie in einen weiten romanijchen Tempel ein, auf deſſen flaren, 
ruhig gegliederten Mailen das volle Sonnenlicht jpielt. Zwei 
anmuthige und äußerſt chavakteriftiiche Frauenhöre von Schu— 


232 1860. 


mann, »Die Tamburinihlägerin«e und »Der Waſſer— 
mann«, mußten unter lebhaften Beifall wiederholt werden. 
Ein groß angelegter, etwas jchwerfällig motettenhaft gehaltener 
achtitimmiger Chor von Schumann, »Talismane«, vermochte 
und nicht zu erwärmen. Der Componiſt hat den Schönen Sprud) 
Goethe’, den hier die breite Behandlung faſt erdrüdt, in 
früheren Jahren (op. 25) weit ergreifender als ein einfaches 
Lied componirt. 


Singverein. 


Die größte Nummer war Schumann’ Ballade: »Der 
Königsjohne, eine nicht blos jchwächere, jondern unſeres 
Erachtens geradezu troftlofe Compofition. Sie entftand im 
Sahre 1851, faſt gleichzeitig mit der jo viel friiheren und 
bedeutenderen »Bilgerfahrt der Nojee. Von den zahlreichen 
Verſuchen Schumann’s, der Balladen-Compofition eine neue, 
großartige Form zu Schaffen, ſcheint uns dieſer »Königsſohn« 
der unglüdlichfte. Es iſt die Uhland'ſche Ballade, welche hier 
unverändert, nur mit Hinzufügung einiger breit abjchließender 
Strophen (Lied des blinden Sängerd und Schlußchor) in Mufif 
geſetzt iſt. Schon die Aufbietung aller Chor: und Orcheiter: 
mittel erjcheint für den Stoff etwas unverhältnigmäßig; noch 
befremdender wirft die mufifaliihe Ausdrucksweiſe, für welche 
dieje Mittel hier Verwendung finden. In tpröder declamatorifcher 
Abhängigkeit folgt die Mufif den Morten ded Gedicht durch) 
lange Streden, ohne zu einer ausgeführten Melodie, einer ge= 
ihloffenen mufitaliihen Form fih zufammenzufaffen. Derlei 
rhethoriſche Halbmufit ift natinlih im ganzen Chor weit be— 
fremdender und unzuläffiger, denn als Recitation Einer Stimme, 
wie bei R. Wagner. Der erite und fait einzige Lichtpunft 
der umfangreichen Gompofition ift der Chor: »Heil uns!«, wo 
der muſikaliſche Gedanfe fich endlich in einer feiten, einheitlichen 
Form ausführt, nachdem er bisher wie heimatlos über dem 
Dcean flatterte. Das Grundübel der ganzen Conception liegt 
in der fortwährenden Vermengung des Epiichen und des Dra— 


Chöre von Schumann, Schubert unb Mendelsſohn. 233 


matiſchen. Wenn ſchon die »Peri« ftellenweife unter dem 
Uebelſtand leidet, diefe Elemente nicht Scharf auseinanderzuhalten, 
wie viel empfindlicher berührt er uns bier, wo den Meilter be— 
reitö Die reihe Schöpfungsfraft jener Zeit verlaffen hat und Die 
mufifaliihe Ausführung nicht mehr Reiz genug befigt, über das 
Bedenkliche der ganzen Anlage zu täufchen oder zu tröften. In 
der Aufführung durch den Singverein (bei Clavierbegleitung) 
ging überdies die reihe Mannigfaltigfeit der Orceiterfarben 
verloren, welche im Original manche dürre Stelle friſcher und 
duftiger ericheinen laſſen. 

Bon Franz Schubert hörten wir einen ganz unbedeutenden, 
furzen »Soldatenhor« aus dem Singipiel »Der vierjährige 
Poſten« (1815) und ein angeblihes »Lied« mit Clarinett- 
Begleitung »Der Hirt am Felien«e. Der erite Theil dieſer 
lyriſch-dramatiſchen Monodie iſt noch ganz liedmäßig und erfreut 
durch einige ſehr hübſche Motive. Allein je weiter, deito raft- 
loſer vernichtet der Componiſt diejen Eindrud, indem er die 
freundlide Hütte allmälig zum Palaſt auszubauen verſucht. 
Auf einen pathetiichen, dabei etwas ärmlichen Mitteljug folgt 
ein ganz opernmäßiger Schluß mit ermüdenden Wiederholungen, 
Paſſagen und Cadenzen, alles jo wenig vornehm als möglich. 
Beinahe möchte man am Ende fragen, ob dies wirklich 
Schubert jei? Wir müjjen uns gewöhnen, unter den Werfen 
dieſes überreichlich fruchtbaren Tondichters »Pietätsſtücke« und 
»ſchöne Gompofitionen« zu unterjcheiden. Für einige Zeit hinaus 
hätten wir in der »Pietät« Ausreichendes geleiftet. Mit den 
gedachten zwei Stüden hat der »Singverein« weder für Die 
Erbauung des Hörer noch für die Verehrung Schubert’s 
geforgt. Gottlob, daß wenigſtens mit der Gompojition des 
Grillparzer’ihen »Ständchen's« auh der echte Schubert 
vertreten war. 

Als Novitäten erfchienen zwei Chöre von Mendelsjohn: 
»Die Nachtigall«, ein furzer, aber ftimmungsvoller Sa, dann 
ein ſtrophiſch behandeltes, friſches und äußerit zierlich ausge— 
arbeitetes Tonſtück, betitelt: »Die Waldvöglein.« 


234 1860. 


KHammermufiß. 


Hellmesberger’3 fünfte Quintett-Soirée eröffnete mit 
Schumann’3 zweiten Streichquartett (F-dur). Dieje wunderbar 
ihöne Tondihtung, in welcher üppige Erfindung und tiefiter 
Kunitverftand ſich das Gleichgewicht halten, fand eine bes 
geilterte Aufnahme. Je häufiger dem Publicum der duftende 
Kranz Schumann’iher Kammermuſik gereicht wird, deſto lieber 
muß ihm jede einzelne Blüthe desjelben werden. 

Schubert’ bekanntes Streihquintett madte den 
Schluß. Es vereinigt alle Vorzüge und Mängel Schub ert’jcher 
Initrumental-Compofition in einem vollftändigen Mikrokosmus: 
die üppigfte Fluth melodiſcher Erfindung, und fein Verfiegen 
gegen dad Ende; himmlische Anfänge, Mittelfäße, in welchen 
die genialften Aufflüge mit Momenten peinlichiten Sitenbleibens 
wechſeln, und ſich in der Unmöglichkeit, zu rechter Zeit zu 
Ichließen, vereinigen; ein eriter Sat voll Geiſt und Leben, ein 
entziikendes Andante, hierauf ein ſchwaches Scherzo, ımd ein 
Finale, das halb jo trivial, noch immer »volksthümlich« genug 
wäre. Zwiſchen diefen befannten, jtets neu willfommenen Werfen 
ftand ein Elavier:Trio in B-moll von Robert Volkmann. 
Mir vermögen diefem Werke leider nicht das gleiche Lob zu 
zollen, wie dem neuen Slavierconcert des geehrten Componiſten. 
Er drängt uns diesmal in der That zu den Ausdrüden »geiſt— 
reich und intereſſant« Das Trio iſt geiltreih mit einem 
Beigeſchmack mifanthropifhen igenfinns, intereffant mit 
ſtellenweiſer Weberbietung ins Gegentheil. Wir unterfchäßen 
niht die große pathetiihe Anlage und fräftige Steigerung 
im eriten Sab, nicht das zart erfundene und finnig ver: 
Ihlungene As-dur-Thema des »Mllegretto«r, auch nicht Die 
bedeutenden Lichtblidde, welche die wirre Flucht des »Finales« 
unterbrechen. Allein die Freude daran wird uns durch jenes 
Gebahren verfümmert, welches die modernite Schule als das 
»Sprengen der muſikaliſchen Feileln und VBordringen an die 
Grenzen ſprachlicher Beſtimmtheit« feiert. Bald wird der 
muſikaliſche Fluß plöglich recitativartig unterbrochen, bald durch 


Trios von Volkmann und Bargiel. 235 


ganz unerwartete Gadenzen, Uebergänge, Pauſen die Eurpthmie 
der Theile geitört, bald einem fleinen, geringfügigen Motiv 
durch zahlreihe Wiederholungen und Steigerungen eine dem 
Hörer umbegreiflihe Bedeutung zugelproden u. f. w. Gegen 
Eigenthümlichkeiten der Form (tie der Ausgang des raschen 
Finales in ein Largo) würden wir nicht? einwenden, wenn fie 
ung mufifaliich Elar und wirkſam erjchienen. Solche Muſik macht 
und manchmal den Gindrud, als wollte der Componift uns 
eigentlich eine interefiante Novelle erzählen; wir horchen mit 
Spannung, können aber nicht enträthieln, was er meint. Dazu 
dieſe maß- und gnadenloje Verzweiflung, welche das ganze 
Werk beherricht! Man würde fih faum wundern, wenn nad 
diejem Trio anſtatt der üblichen Erfriichungen geladene Revolver 
und Cyankali-Gläschen ſervirt würden. 

Das Trio ift fein neues Werk Volkmann's. Es trägt die 
Bezeihnung op. 5 und iſt obendrein — Franz Lijzt gewidmet. 
Wir haben es alſo mit einer Arbeit zu thun, deren Vor— 
führung durch künſtleriſchen Ernſt und durch große Einzel: 
ihönheiten gerechtfertigt wird, die aber demmmgeachtet nicht 
mehr geeignet ift, den gegenwärtigen Standpunkt des Come 
poniſten zu bezeichnen. Wer Volkmann's neueſte Tondichtungen 
fennt, wird uns mit Freuden beiftimmen. 

Neu war ein Glaviertrio von MWoldemar Bargiel. 
Der Componiſt (ein Stiefbruder Clara Wieck's) hat jich bereits 
durh einige, Arbeiten ernfterer Richtung vortheilhaft bekannt 
gemadht. Das Trio felbit konnte uns feinen günstigen Eindrud 
hinterlaffen. Die große Anlage des eriten Satzes, die ftellenweije 
glüdlihe Behandlung der Technik, manche veriprengte Züge 
von Geift und Empfindung vermochten uns für die Unerquid: 
lichkeit des Ganzen nicht ſchadlos zu halten. Bei fehr fpärlicher 
Erfindung erfchien und die Sucht, überall bedeutend und originell 
zu fein, doppelt läſtig. Natürlichen Verbindungen und Ab— 
Ichlüffen wird faft abfichtlich ausgewichen, ſei es durch rhapſodiſche 
Unterbredungen oder (wie im Finale) durch einen unmotivirten 
Wechſel fchneller und langſamer Bewegung. Auffallenden Nach— 
ahmungen Beethoven's und Schumann's begegnen wir häufig, 
fonnten aber nicht finden, daß ſchwächliche oder geradezu triviale 


236 1860. 


Gedanken (wie das Hauptmotiv des Finale) dadurch wejentlich 
gehoben wurden. 

Mir möchten über ein Werk, das offenbar mit nicht ge- 
wöhnlihem Ernft und Fleiß gearbeitet ift, keineswegs nad ein— 
maligem Hören aburtheilen; wir geben nur den fubjectiven 
Sindrud, den wir davon empfingen. In dieſem Totaleindrud 
waren aber die Factoren des Gejpreizten, gefünftelt Genialen 
zu vorherrſchend, als daß eine genauere Befanntihaft uns 
wejentlich befehren dürfte. 


Stockbaufen. 


Stockhauſen vollbradte vor feiner Abreife noch das 
Wunder, an einem warmen Maiabend das Innere des Mufik- 
vereinsfaales einem wohlbefradhteten Sklavenſchiff ähnlich zu 
machen. Seine Kunſt in Ehren, — aber allein hätte er dies 
Unerhörte doch nicht bewerfitellig. Dazu bedurfte er 
eines Alliirten, der die Herzen der Wiener wehrlos findet, wie 
fein Zweiter: Franz Schubert’s. Die Verehrung des Wiener 
Publicums für dieſen Tondichter hat eine eigenthümliche, faft 
verwandtichaftlihe Zärtlichkeit. Mag fie Hin und wieder 
(namentlid in Sreijen, deren Erinnerungen mit Schubert jelbit 
verflochten find) etwas zu weit gehen, und ohne ftrenge Unter— 
icheidung auch die ſchwächeren MWerfe des Lieblings vergdttern, 
als künſtleriſche Gricheinung im Großen und Banzen kann 
Schubert faum überfchägt werden. Das Programm von Stod: 
hauſen's Abjchiedsconcert hatte Schubert allein beftellt: der 
Eoncertgeber jang nämlich den ganzen, aus zwanzig Liedern 
beitehenden Cyklus »Die ſchöne Müllerin.« Es ift dies 
ein Experiment, das unferes Wiſſens zum eritenmal von Stod:- 
haufen vor drei Jahren gewagt wurde, und zwar mit voll: 
ftändigem Erfolg. Wir haben damals das Beitechende, Glänzende 
diejes Einfalls lebhaft anerkannt. Fürs erfte wurde dadurch dem 
Bublicum eine unfchäßbare Anfhauung von dem Zufammenhang 
eines Werkes gegeben, das in vielen Theilen allbefannt, in 
anderen auffallend zurüdgefegt iſt. Sodann erzielte Der 


Stodhauien. 237 


Sänger durh dieſen Zujammenhang den wichtigen Bortheil, 
das bisher nur lyriſch Vereinzelte auch einmal dramatiſch 
auffaſſen zu fönnen. Demungeachtet erſcheint eine öftere Wieder: 
holung de3 Erperiment® kaum rathjam: die Nachtheile eines 
ſolchen lyriſchen Monftreconcertes treten empfindlich herbor, 
fobald der Reiz der Neuheit fie nicht mehr dedt. Der enge 
Kreis, in dem Dichter und Mufiker ihre idylliſchen Bildchen 
ausführen, muß eine vollitändige Abrollung derjelben allmälig 
monoton werden laſſen. Die »Müllerlieder« gehören zu dem 
Schönften, was Schubert gefungen, alfo was die deutſche Muſik 
überhaupt befigt. Müßte man einen Theil diejer Lieder bevor: 
zugend herausfuchen, die Wahl wäre überſchwierig; jollte man 
Ihmwächere ausſcheiden, würde fie es im entgegenjegten Sinne 
gleichfalls. Allein die Liebe des guten Müllerburichen in all 
ihren zwanzig Stadien ununterbrochen mitzumachen, das hat 
fein Ermüdendes. Wer müßte dies Schwelgen in lauter zarten, 
rührenden Empfindungen nicht am Ende mit Ermattung bezahlen? 
Dazır kommt, daß die frifch und mohlgemuth anhebende Ge— 
ſchichte alsbald einem unglüdlihen Ausgang zufteuert, und die 
Miühlräder nachgerade von einer Thränenfluth getrieben werden. 
Die Dichtung geräth aus warmer, ungejchminfter Empfindung 
häufig in faliche Sentimentalität. Wenn es gegen das Ende jo 
weit fommt, daß »der Mond fich hinter die Wolfen verftedt, 
damit die Welt feine Thränen nicht ſehe«, und daß die 
»Englein fih alle Morgen die Flügel abichneiden, um zur Erde 
zu gehen«, dann darf wohl jelbft der »gemüthliche« Biedermanı 
ungeduldig werden. Kurz: je mehr der Hörer im Verlauf des 
Cyklus nad) kräftigen Gegenfägen ſich jehnt, defto tiefer tauchen 
Dichter und Componift an derjelben Stelle in den grundlojen 
See janft Shmerzliher Empfindung. 

Stodhaufen’3 edler, feingebildeter Vortrag der Schu: 
bert’jchen Lieder ift bekannt. Mochte man auch hier mehr Kraft 
und Feuer, dort eine etwas realiftifhere Färbung wünschen, 
das Ganze blieb echt fünftlerifch; einzelnes, das eine nuancirtere 
Auffaffung zuläßt, wie »Eiferfucht und Stolz« u. a., geradezu 
vollendet. Herr Dachs machte fich durch die correcte Durch: 
führung des Nccompagnements verdient; jchade nur, daß er 


238 1860. 


dieien bei Schubert jo bedeutungsvollen Theil nicht Eräftiger 
vortreten ließ. Den verichiedenften, zum Theil jehr tüchtigen 
Pianiften, die wir in jüngfter Zeit accompagniren gehört, war 
diefe weiblihe Zaghaftigkeit ded Anſchlags gemeinfam. Aus 
Furcht, den Sänger zu deden, dedten fie die Idee des Come 
ponijten. Ein muſikaliſches Ohr empfindet es geradezu peinlich, 
wenn die Grumdbäffe nicht mit Entſchiedenheit einherfchreiten 
und die Singftimme gleichſam haltlos in Lüften fchwebt. Hätte 
Schubert folche übertriebene Delicatefje gewünfcht, jo würde er 
feine SLiederbegleitungen für die Guitarre gefchrieben haben. 
Frau Rettich bewies ihre Pietät für Schubert, indem fie 
einen, ihrer künſtleriſchen Richtung durchaus fernliegenden 
»Prolog«e und »Epiloge ſprach: angeblih »naivde« Gedichte, 
in Wahrheit unausftehlich gezierte Anfprahen an ein vom 
Dichter ſehr unmündig gedachtes Publicum. Man kann dem 
freundliden Bildchen unferer »Mühle« nicht beſſer jchaden, 
als indem man vor und hinter fie dieje poetiſchen Vogelſcheuchen 
aufpflanzt. 


Sans v. Bülow. 


Was an Bülow zumeift fejlelt, ift, außer der vollendeten 
Technik jeines Spiels, die ftet3 geiftreihe und eigenthümliche 
Auffaffung jeder Compofition. Bülow fpielt Componiften weit 
auseinanderliegender Epochen und verjchiedenften Gepräges mit 
einer Durchdringung ihres Charakters, die man zugleich getreu 
und frei nennen muß. Jedes Motiv, jede Melodie gewinnt 
unter Bülow's Händen eine charaftervolle, bewußte Haltung, 
ohne deßhalb aus der Harmonie de Ganzen herauszutreten. 
Selbit da, wo wir mit Bülow's Auffaffung nicht übereinftimmen, 
folgen wir ihm mit dem Intereſſe, das ein feines Zieles ſich 
vollfommen bewußter, fein und vielfeitig gebildeter Geiſt jofort 
erregt. Die Schatten, die einer fo modernen, reflectirten Indi— 
vidualität nachziehen, fieht man ohne unsere ausdrüdliche Hin— 
weilung. Im legten Concert fchienen fie uns ftark vorzudrängen. 
Zwar fehlte wiederum nirgends Bülow's Geift; allein diejer 
Geiſt verrieth eine gebrochene, blafirte Sinnlichkeit. Die friiche, 


9. d. Bülow. 239 


Itraffe Lebenskraft hatte durchweg einem grämlichen »esprit« 
Pla gemacht. Die Vorliebe für den haut-goüt (die franzöfiichen 
Ausdrüde drängen fih mit der Sade jelbit auf) erichien auf: 
fallend jtarf in Bülow's Spiel, wie fie auch in feinen Pro— 
grammen ſich zu fteigern jcheint. Liſzt's grazidie Paraphrafe 
des Schubert’fchen A-dur-Walzer® haben wir von Bülow vor 
zehn Jahren weit jchöner gehört, nämlich anfpruchölojer und 
gefünder. Diesmal durdzog ein jo giftige tempo rubato das 
ganze Stüd, daß dieſes förmlich in unterfchiedlofe Trümmer 
zerbrödelte. Wie reizend müßten diefe unvergleichlichen Triller 
und Ballagenblüthen wirken, jähen wir den Stamm, der fie 
fefthalten fol, nicht fortwährend jchaufeln und ſchwanken! 
Liſzt's Ballade in Des-dur rechtfertigt ihre Vorführung fehr 
nothdürftig durd) die dem Spieler ſich darbietende Bravour— 
entfaltung. Bülow bewältigte fie glänzend, war jedoch hier wie 
überall weit glüdlicher im arten und Zierlichen, als in den 
eigentlichen Kraft: und Turnfünften der Virtuofität. Mit Maß 
und Feinheit, aber durchaus fühl, fait gleichgiltig, entledigte 
ſich Bülow der Beethoven’shen Sonate op. 96 in G-dur. 


1861. 


Beethovens große Feſtmeſſe. 


(Ausgeführt von der »Seiellihaft der Mufiffreunde« unter Herbed’3 Leitung.) 


>Mehreren meiner Arbeiten gelang augenblidliche Wir: 
fung ; andere nicht ebenso faßlich und eindringend, beduriten, 
um anerkannt zu werden, mehrere Jahre. Indeſſen gingen 
auch dieſe vorüber, und ein ziveites, drittes, nachwachſendes 
Geſchlecht entichädigt mich doppelt und dreifach für die Un— 
bilden, die id) von meinen früheren Zeitgenoffen zu erdulden 
hatte«. 


Diefe Worte Goethe’3 aus der Einleitung zum »Weſt— 
dftlihen Divan« fand man in Beethoven’: Cremplar an der 
Seite angezeichnet, und überdies in jeinem Tagebuch eigenhändig 
abgejchrieben. Beethoven war überzeugt und refignirt, feine 
jpäteren, jchtwierigeren Werfe von den Zeitgenoſſen unverftanden 
zu ſehen. Jene Hoffnung aber, an der er mit Goethe's Worten 
ſich aufrichtete, Hat ihn nicht getäuscht. 

Der Eindrud der »Meſſe« war ein mächtiger. Darüber 
it fein Zweifel möglih; wie unflar, jchwer und erbrüdend 
auch Manches daraus der VBerfammlung erjcheinen mochte. Gibt 
es doch fein zweites Merk Beethoven's, daß den unvorbereiteten 
Hörer mit folcher Rieſenkraft niederzwänge; erhebend, ihn zu— 
gleich betäubt, entzückend, ihn verwirrt. Die »D-Mefle« und ihr 
Seitenjtüd, die neunte Symphonie, find Schöpfungen, bei denen 
man den Ausſpruch Zelter’3 begreift: »Ich bewundere Beethoven 
mit Schreden.« Dieſer Schreden weicht nur einem ausdauernd 
hingebenden Studium, Ein Werf, das Beethoven mit der ganzen 
Machtfülle, aber auch mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit feiner 


Deethoven’3 große Feſtmeſſe. 241 


Phantaſie geihaffen, genießt fih nicht jo leicht, jo ungeftraft 
wie eine Haydn'ſche Symphonie. In diefer »Meſſe« hat 
Beethoven Allee, wad an höchſten Ideen und religiöfen Ge: 
fühlen in ihm ruhte, niedergelegt; er hat drei Jahre eines 
Leben? daran gewendet, das eben im Abendroth feiner doppelten 
Majeftät, des Genius und des Unglücks, am leuchtendften er: 
glühte. | 

Se näher und vertrauender man an die »Meſſe« tritt, 
defto reiner werden ihre Umriſſe, deito feiter ihr Zuſammen— 
hang, deito tiefer ihr Sinn. Im Verlaufe weniger Proben — 
denn das trodene Partitur-Studium reicht nicht au8 — mar 
uns die »DMeſſe« klarer und jympathiicher geworben, als 
jemald das Finale der neunten Symphonie Gewiß, daß fie 
überfichtlicder, harmonijcher, und bei aller Gewaltjamfeit doc 
ichonender in den Singftimmen ift, als jene »Freudenhymne«. 
Zu Bergleihen mit der neunten Symphonie wird man nicht 
blos durh den eng verwandten Geift diejer Werke, jondern 
überdies durch zahlreihe Anklänge fortwährend gedrängt. An 
fünftleriihem Reichthum, an troßiger Größe, an freiefter Ent: 
feffelung einer unermeßlichen Phantafie ftehen dieſe beiden Ton 
fhöpfungen einzig da. Als coloffale Herkulesjäulen wachen 
fie am Ausgange der modernen Mufik, ein deutliches »Nicht 
weiter!« hier der Kirhenmufif, dort der Symphonie zurufend. 
Man wird ebenfo wenig auf ihnen »mweiterbauen« fönnen, als 
der Genius Beethoven’3 vereint mit all feinen perjönlichen 
Heberzeugungen, Kämpfen und Schiejalen, mit all feinen pſycho— 
logiſchen und pathologiihen Vorausſetzungen jemal3 in einem 
Menfchen fi wiederholen wird. Es it feine Frage, daß die 
»Feſtmeſſe« durch ihre ganze Anlage und zahlreihe Einzeln— 
heiten an der äußerften Grenze der »Kirchenmuſik« fteht. Dennoch 
muß man mit dem oft wiederholten Vorwurf ihrer »Unkirch— 
lichkeit· ſehr vorfichtig fein. Ob eine Kirchen-Compoſition den 
Anforderungen eine bejtimmten Gottesdienftes entipreche? und 
ob fie von religiöfem Geift erfüllt ſei? find zwei verjchiedene 
Tragen. Beide, obwohl vollftändig berechtigt, können dennoch 
aus einem höheren Standpunft nicht auf gleicher Stufe ftehend 
erjcheinen. Beethoven's Verhältniß zur katholiſchen Kirche war 

Hanslid. Aus dem Goncerifaal. 2. Aufl. 16 


242 1861. 


ein jehr lockeres und mochte fih auf den freundlichen Nachhall 
einiger Jugendeindrüde befchränfen. Seit feinem, von ihm jelbit 
ipäter verworfenen Dratorium »Chriftus am Delberg« und der 
ersten Meffe, die bereits vielfah das »Kirchliche« überjchritt, 
hatte Beethoven viele Jahre vergehen lafjen, ohne wieder an 
die Kirche zu denken. Da gab ihm die Injtallation feines er: 
lauten Schüler und Freundes Erzherzog Rudolph zum Erz: 
biſchoff von Olmütz die äußere Anregung zu einem großen 
mufilaliihen Hochamt. Begonnen hat Beethoven dad Werk 
offenbar nod mit dem Vorhaben, es, bei aller Großartigfeit 
der Auffaffung, doch den Bedürfniſſen der Kirhe anzupajjen. 
Das Kyrie mit jeinen ruhig gelagerten, harmoniſch ausklingen 
den Maſſen, mit feiner jo ganz in Frömmigkeit gefättigten 
Stimmung, muthet weder dur den mufifaliihen Gedanken 
noch durch die ausführenden Mittel der Tirchlichen Gepflogen- 
heit Widerftrebendes zu. Allein jchon im Gloria riß die ge— 
waltige Größe feiner Anſchauung den Meifter über dies Gebiet 
hinaus. Es mwiderftrebte feiner ganzen Natur, ein fo groß und 
begeijtert begonnenes Werk in dem befangenen Sinn einer gottes- 
dienftlichen Illuſtration durchzuführen. Mit einer unerhörten 
Selbititändigfeit baut er jeden Theilfat des Tertes aus, ber- 
folgt mit tieffinniger Myſtik das einzelne Wort bis in den Kern 
jeiner Bedeutung und vollendet jo daS »Gloria« zu einem 
Ganzen, dad an Größe der Eonception, an Reihthum innerer 
Gegenjäße für fich felbit ein kleines Hochamt heißen könnte. 

Die eindringende Schärfe, die malende Kraft feiner Muſik 
fteigert fih noch im Credo, das die einzelnen Thefen des Be— 
fenntniffe® mit genialer, dabei noch vor der Erhabenheit de3 
Glaubens fi) beugender Subjectivität ausſpricht. 

Se weiter, defto mehr jcheinen für den Tondichter die 
Wände des Domes zurüdzumweichen, — alles wird höher und 
breiter, Nicht mehr an die Kirche und an ihre Gemeinde wenden 
ſich dieſe Tonmwogen: fie fcheinen gegen die Urquelle alles 
Sein: zurüd zu ftrömen. Nach dem Credo beruhigt fi all: 
mälig die Stimmung. Zur »Wandlung«e erklingt ein wunderbar 
ſeliges »Präludium« in orgelähnliden Gängen von Flöten und 
Violen. E3 führt zum »Benedictus«, worin eine einzelne Violine 


Beethoven's große Feitmeife. 243 


in theil3 innigen, theil3 geheimnißvoll phantaftiichen Zügen das 
Gebet der Sänger umtfreift. Ernſt, tiefgefammelt hebt das 
»Agnus Dei« an, belebt fich bei der »Bitte um Frieden« zu 
einem paftoralartig hingleitenden Sechsachteltakt und fcheint 
in hellem A-dur außflingen zu wollen, als plöglich die Scene 
fi) verändert. Mehrere leiſe, heftig pulfirende Paukenſchläge 
— dumpfe Sertengänge eilen wie Gewitterwwolfen darüber Hin: 
weg; wie fahle, langanhaltende Blige Leuchten die Klänge ferner 
Trompeten. »Agnus Dei!« betet recitativartig, mie in namen: 
loſer Angst, zuerit die Altſtimme, dann noch dringender der 
Tenor, bi3 der Chor mit einem erichütternden Aufjchrei: »Miserere 
nobis« einfällt. Es ift dies die am meiſten verfegerte Stelle 
der »Feſtmeſſe- — nad) unſerer Empfindung ihr ergreifenditer, 
genialjter Moment. Wer die Macht desfelben an fich erfahren, 
wird nimmer begreifen, wie ſelbſt Beethoven-Verehrer von der 
Unterwürfigfeit Schindler’3 das MWegftreichen dieſer »anftößigen 
dramatiihen Epifode« beantragen konnten! Kirchlich iſt fie 
allerdingd ebenfowenig wie das jpäter Teidenfchaftlich herein 
jtürzende Preſto des Orcheiterd, das dem Finaljag einer Sym— 
phonie — freilich einer Beethoven’ihen — entnommen fein 
fönnte. Died Alles hindert und nicht, den Geilt, der die 
D-Meije von Anfang bis zu Ende durchweht, als einen zwar 
über firhlide Formen fi frei hinausſchwingenden, dabei aber 
großartig religiöjen zu bezeichnen, Wir erinnerten daran, daß 
Beethoven zu den Sabungen des Katholicismus niemals ein 
inneres Verhältniß gewonnen hatte, daß jein Glaube vielmehr 
den Charakter eines freien, nur dem Gebot der Sittlichfeit ge: 
horchenden Theismus trug. Allein jein im Unglück erprobter 
Glaube an eine unmwandelbare moraliſche Weltordnung, an ein 
gerechtes höchſtes Weſen, Hat ihn nie verlaffen. Bettina läßt 
in dem begeijterten Brief, den fie über Beethoven an Goethe 
jchreibt, den großen Tondichter jagen: »Seinen Freund Hab’ 
ih; ich weiß aber, daß Gott mir näher ift, wie den andern 
in meiner unit, ich gehe ohne Furt mit Ihm um, ich hab’ 
Ihn jedesmal erfannt und verjtanden — mir it auch gar nicht 
bange um meine Muſik, die kann fein böſes Scidjal haben; 
went fie jich gleich veritändlich macht, der muß frei werden von 
16* 


244 1861. 


al dem Clende, womit fi andere fchleppen!« Hat fih nun 
auch Beethoven ſchwerlich jo ausgedrückt, fo liegt doch Bettina’s 
Mittheilung unzweifelhaft echt Beethoven’scher Geift zu Grunde, 
wie er aus einzelnen Aeußerungen des Meifterd fich ihr klar 
offenbarte. Die Weihe einer hohen, freien Religiöfität, der Ernit 
unbeugſamer Sittenfirenge gehen als Grundzug durch Beethoven's 
ganzes Leben und Schaffen. Und er ſollte, gerade wo er ſeine 
beſte Kraft an eine kirchliche Muſik ſetzte, dieſen Grundzug ver— 
leugnet haben? Im Gegentheil; er gibt uns in der »Feldmeſſe« 
die höchſte Steigerung jener Frömmigkeit, die wir in allen 
ſeinen größeren Werfen finden. Seine ganze Muſik war ihm 
Religion, in der Kunft fühlte er fich jederzeit wie im einer 
Kirche — deshalb fam es ihm nicht bei, für diefen bejonderen 
Fall ein eigenes firchliche® Gewand anlegen zu ſollen. »Mit 
Andacht-, ſchrieb Beethoven ausdrücklich vor das »Kyrie« und 
»Sanctus« und wahrlih, welde Mufit wäre andächtig, wenn 
diefe nit? Die Größe und herbe Geiftigfeit dieſes »Hoch— 
amted« dünkt und entjchieden religiöjfer, als die heitere Anmuth 
der Haydn'ſchen Mefjen, mögen dieje auch der Kirche jelbit 
ungleich werther und müßlicher fein. Die VBergleihung der 
Beethoven’schen und Haydn'ſchen Auffaffung des Meßtertes er: 
innert und an ein analoges Gegenbild wie Klopſtock und mie 
Goethe die Bibel lad. Während der fromme Sänger der 
»Mejfiade« nur die Bibel ſelbſt gläubig vor ſich aufgefchlagen 
hatte, jehen wir den jungen Goethe, von einem Wuſt gelehrter 
Gommentare umgeben, mit ehrfurchtvoller Skepfis in das »Buch 
der Bücher« eindringen. Die unreflectirte, kindliche Gläubigkeit 
Klopſtock's war ihm, war feiner Zeit abhanden gefommen. Wir 
fehen denjelben Gegenfag auf dem Felde kirchlicher Tonkunft 
fih in Beethoven und feinen Vorgängern wiederholen. 
Heinje rühmte einmal mit Recht an einer trefflichen 
Kirhencompofition, »daß fie das Gemith des Hörer erfülle, 
ohne daß man jie jelbit merft«. In diefem Sinne haben wir 
in Balejtrina’3 Meſſen das deal wahrer Kirhenmufif, fie find 
die in Mufit erhobene Gemeinde In ruhigem Gleihmaß be— 
wegt fih der Erpitallhelle Harmonienftrom, feine Melodie reizt, 
fein Rhythmus beftiht und, den Chor unterbricht fein Solo, 


Beethoven's große Feſtmeſſe. 245 


färbt kein Ton der Inſtrumentalwelt. Paleſtrina bezeichnet 
jenen Punkt in der Kunſtgeſchichte, wo die Muſik ſo weit aus— 
gebildet war, daß man ſie als ſchöne Kunſt achten muß, und 
doch wieder nicht ſo weit ausgebildet, daß ihr Reichthum den 
kirchlichen Zweck überwuchert hätte. Paleſtrina's Muſik iſt, 
wie die Kirche ſie will: nämlich nur Mittel, ein Mittel aus 
mehreren, zur Erhöhung der kirchlichen Andacht. Sie gehört 
vollſtändig der Kirche, ſowie die heiligen Bilder, die gemalten 
Fenſter, die koſtbaren Gewänder und anderen verſtärkenden 
Kunſtproducte, deren die Kirche ſich bedient, nicht um den Kunſt— 
ſinn, ſondern um die Andacht zu wecken. Die höchſte Aus— 
bildung der Kunſt iſt der Kirche nicht gewinnbringend. Wir 
behaupten zwar auch, andächtig zu ſein, wenn wir in der Kirche 
einer Mozart'ſchen oder Beethoven'ſchen Meſſe lauſchen, allein 
wir verwechſeln dabei äſthetiſche Andacht mit religiöſer. Beethoven 
ſelbſt ſchrieb nach Vollendung ſeiner DMeſſe an Zelter in 
Berlin, er halte den »Styl a capella« (Singſtimmen, blos von 
der Orgel unterftügt) »vorzugsweiſe für den einzigen wahren 
Kirchenſtyl.« Er hatte jomit, troß der gewaltigen, ſymphoniſchen 
Behandlung feiner Meſſe, im Grund feines Herzens die richtige 
Empfindung, daß das kirchliche Intereffe eine einfachere Muſik 
erheifche. Er ftellte fich aber in dem Conflict, ob in feiner Kirchen: 
muſik die »Slirche« oder aber die »Muſik« herrfchen jolle (im 
Begriff jeder Kirchenmuſik Liegt ein innerer Bruch), muthig und 
bewußt auf Seite der Kunft. Und auf diefem Boden müſſen 
wir der Macht feines Genies ganz und ungetheilt folgen, un— 
befümmert darım, ob dieſe Stelle zu dramatiich, jene zu ſym— 
phonijch Elinge. Beethoven hat auch als Meſſencomponiſt eine 
große Fünftleriiche Persönlichkeit nicht verleugnen können noch 
wollen; er begeifterte ji) an der Idee de3 Glaubens, und gab 
und in jeinen Tönen die Religion, wie er fie anſchaute. — 
Nah dem Eindrud, den wir an und erfuhren und an Anderen 
beobadteten, zweifeln wir nicht, daß für die D-Meffe, wie ſchon 
früher für die neunte Symphonie, die Zeit heranrüde, wo nad) 
Schreden und Staunen allmälig Berftändniß, Bewunderung 
Liebe ihr entgegenkfommt. 


246 1861. 


Orcheftlerconcert von Karl Taufig. 


Geit Jängerer Zeit lud ein colofjales rothes Plakat zu 
einem »Orcheiterconcert des Karl Taufige ein. Das nur aus 
Liſzt'ſchen Compofitionen bejtehende Programm verkündete die 
mwohlmollende Abfiht eines weimariſchen Reiſeapoſtels, uns 
gleih en gros mweife und glücklich zu machen. Herr Taufig ift 
einer der jüngften von den blaffen, haarumflatterten Jünglingen, 
welche für die Zufunftsmufif wirken und in Mußeftunden auch 
derlei jelbft verfertigen. Als Componift hat ſich Herr Taufig 
dur eine haarjträubende Tondichtung, »Das Geifterfchiffe, 
befannt gemacht, mehr noch durch den niedlichen Einfall, ge— 
nannten »Geifterfchiffe eine Iobhudelnde Anpreifung aus der 
Feder jeined Freundes Dräfede vordruden zu laſſen. In 
feinem Concerte brachte er jedoch feine eigene Gompofition; 
nah dem Programm zu jchließen, reift er lediglich für das 
Haus Lilzt. Dies Programm hatte in der That etwas Gewalt: 
fames. Schien e3 doch, ala follte dad Wiener Publicum, das 
vereinzelten Aufführungen Liſzt'ſcher Werke bisher fühl be— 
gegniete, durch einen Maffenangriff beitegt werden. Wir glauben 
nicht, daß dem Intereſſe des Componiften damit gedient war. 
Neben Werken anderer Tondichter wird eine Liſzt'ſche Symphonie 
jtet3 ein willigeres Auditorium finden. ALS Nachbarin tief: 
gedachter, formſchöner Tonihöpfungen wird fie durd ihren 
blendenden Glanz unfer finnliches Intereſſe weden, durch ihre 
feſſelloſe Subjectivität reizen, und ihren Gegnern wenigſtens 
nicht allzuviel zumuthen. Einem Lamwinenfturz Liſzt'ſcher Com: 
pofitionen, wie ihn Herr Taufig in Bewegung feßte, vermögen 
aber jelbit Freunde des Autor kaum Stand zu halten. Wir 
fahen ziemlich viel Leute, die ſich zuvor durch entzücktes 
Applaudiren ausgezeichnet, vor der Aufführung der Schluß: 
ſymphonie (»Die Ideale«) ftill nach der Thür jchleihen. Möge 
man daher auch und verzeihen, daß wir nad) der vorlekten 
Nummer nicht mehr die Kraft befaßen, nod eine Symphonie 
mit Aufmerfjamfeit zu verfolgen. Große Eoncerte, lediglih aus 
Suftrumentalwerfen Eines Gomponijten zufammengejegt, haben 
ihr Bedenkliches, ſelbſt wenn diejer Eine ein Meifter tft und 


Orcefterconcert von Karl Taufig. 247 


durch reichſte Erfindung und Vielgeftalt in Formen und Stim- 
mungen jede Monotonie abwehrt. Nun vollends eine lange 
Reihe von Lilzt’schen Werken! Da haben wir überall dasielbe 
peinliche Ringen und Zwingen, dasſelbe Anknüpfen und wieder 
Abreißen, dieſelben Mißklänge und Unmelodien, denjelben 
Janitſcharenlärm. Geiſtreich combinirende und colorirende Im— 
potenz bleibt doch überall der Kern Liſzt'ſcher Compoſitionen. 
Hört man deren viele nacheinander, ſo merkt man obendrein, 
daß auch die Methode dieſer Impotenz eine ziemlich ſtereotype 
iſt. In den Beſprechungen der »Graner Meſſe«, des »Pro— 
metheus«, der »Préludes« ꝛc. haben wir uns bemüht, dieſe 
Methode eingehend zu analyſiren. Die Lichtpunkte, welche wir 
bei jenen Anläſſen gern hervorhoben, haben wir auch in den 
von Tauſig vorgeführten »Feſtklängene und in dem »3Wweiten 
Glavierconcert« nicht vermißt: Liſzt's feinen Sinn für lang: 
effecte, da3 Geiftreihe mander harmonischen und rhythmiſchen 
Combination, den ungeftümen Drang einer bedeutenden, feinem 
Vorbild dienftbaren Subjectivität. Weberall fehlt jedoch die 
muſikaliſch-ſchöpferiſche Kraft und die fünftleriiche Gefeglichkeit 
der Ausführung. ine einzelne Melodie ſteckt hin und wieder 
furdtiam ihr ſchönes Köpfchen heraus, um jofort in wüſtem 
Sedränge unterzugehen; jeder edlen Negung tritt eine dreifte 
Fanfare, jeder reinen Harmonie ein fchneidender Mißklang auf 
den Naden. Wer wollte es Lijzt verdenfen, daß er gegen feine 
claſſiſchen Vorgänger eine buntere DMannigfaltigfeit, einen 
ſchärferen Widerftreit von Gegenſätzen verfucht? Allein Diejer 
Garneval von Mannigfaltigkeiten kennt feine Einheit, dieſe 
Hunnenſchlacht von Gegenfägen feine Verföhnung. Anſtatt erfreut, 
erichüttert, erhoben zu fein, fühlt fi) der Hörer nad der 
Liſzt'ſchen Mufit betäubt und veritimmt. Die »Feſtklänge« 
haben vor ihren übrigen ſymphoniſchen Schweitern den einen 
Vorzug, daß fie feine Geſchichte erzählen. Der Hörer muß 
nicht immerfort jehen, wie dad »Programme« den geängitigten 
Tondichter von Takt zu Takt verfolgt. 

Ein Herr 8. konnte fich die Geichichte nicht entgehen laſſen, 
und weihte das Publicum durch ein im Concertiaal vertheiltes 
Programm in die poetifchen Geheimnifie der »Feſtklänge« ein. 


248 1861. 


‚Ein großes, allgemeines, volfsthümliches Feſt«, verfichert er, 
ruft eine bewegte Menge, die Freude auf der Stirne, den 
Himmel in der Bruft, in feine YZauberfreife.« Könnten wir 
an diefem Ort Notenbeifpiele bringen, der Leſer würde ftaunen, 
wie »die Freude auf der Stirne« und »der Himmel in der 
Bruſt« fih in Liſzt'ſchen Accorden ausnimmt. Auch hätten wir 
ohne Herrn 8.3 Wegweiſer nicht ſowohl an die »olympijchen 
Spiele der Griehen« als an die blutrünftigen Luftbarfeiten 
der ungarischen Landtagswahlen denfen müſſen. Wagner umd 
Liſzt erheben ganz ernftli den Anspruch, daß man Kunftmittel 
und Ausdrucksweiſen, welche anderwärts als trivial verpönt 
ſind, in ihren Compoſitionen für höchſt ideal anzuſehen habe. 
Sp ergehen ſich auch die »Feſtklänge« (wie faſt alle Liſzt'ſchen 
Orcheſterſtücke) ſehr reichlich in »türfifcher Muſik«. Die große 
Menge hört das immer gerne und ſo läßt ſie ſich vielleicht 
auch einreden, dieſelbe Stelle ſei bei Donizetti Roheit des 
Effects, bei Liſzt's Ausdruck ſublimſter Geiſtigkeit. Der »Feſt— 
marſch zum Goethe-Jubiläum« erinnert ſtark an Wagner, den 
er jedoch durch die neue Errungenſchaft des Schrittwechſels 
(das Trio geht im Dreivierteltakt) überholt. Reizend ſind einige 
Orcheſter-Effecte, z. B. die Gegenbewegung der abwärts in 
Terzen gehenden Flöten gegen die aufwärts geführte Melodie. 
Als muſikaliſche Verherrlichung Goethe's durch einen fo feinen 
und enthufiaftiihen Goethefenner ift der »Feſtmarſch« ein 
neuer Beleg, wie alles Aufgebot von Bildung und Begeifterung 
fein gutes Tonſtück hervorzubringen vermag, wenn die jpecifiich 
muſikaliſche Erfindung fehlt. 

Gegenüber den Orcheſter- und Chor:-Compofitionen von 
Liſzt fühlen wir uns als Berichterftatter über deſſen 
Glavierwerfe ſtets in einer angenehmeren Lage; Liſzt's 
umübertroffene Kenntniß und geiltreihe Verwendung des 
Clavier-Effects pußt hier die ſickernde Erfindung nicht blos 
glänzend auf, fie führt dem Gomponiften, der mit dem 
Piano jo eng verwadhlen it, thatlächlich neue Ideen zu. 
Leider konnten die von Herrn Taufig vorgetragenen Clavier: 
jtüde unfere Erwartungen nicht erfüllen. Auf ein »Concert« 
(A-dur) daS jede auftauchende Schönheit in einem Wirbel 


Orchefterconcert von Karl Taufig. 249 


empdrter Muſik-Elemente verichlingt, folgte eine »ungarijche 
Nhapiodie«, welche die nationale Charakteriftif bis zur voll: 
ftändigen Cymbaliſirung des Claviers treibt. Liſzt's -Valse- 
Impromptu « ijt reiner Zeopold v. Meyer, mit etwas harmonischen 
Strychnin verjegt. Aber vollends das »Scherzo« mit ange: 
fügtem »Marſch«! Vereinigt e3 nicht die ſchönſten Symptome 
eines verrückt gewordenen Clavierſtyls? Dieſe Taſtenſchlächterei 
mit ihren gräulichen Diſſonanzen ein »Scherzo«? Ebenſo 
ſcherzhaft würde es uns vorkommen, wenn uns Jemand un— 
verſehens eine handvoll Erbſen an den Kopf würfe oder mit 
naſſen Bürſten ins Geſicht führe. Scherzhaft fanden wir dies 
»Scherzo« nicht, auch nicht muſikaliſch, aber komiſch in hohem 
Grade. Aufrichtig wehrten wir und gegen dieſe Stimmung einem 
Manne wie Lilzt gegenüber; aber bei jeinem »Scherzo« wurde 
und der Ausjpruh von Chlert klar: Die Zukunfts— 
mufit jei eigentlich »nur unbeichreiblih fomiih«. Das Klang 
wirklih, »als ſpiele der Sonnenftih Glavier«. Als Pianiſt 
überrafchte Herr Taufig durch ungewöhnliche Kraft und Bra: 
bour, Nur ging er in der Energie des Anſchlags häufig zu 
weit, und ftach oder hieb in die Taften, daß das Inſtrument 
ächzte. In jeinem Vortrag ftritten ji) Geilt und Manier. Ein 
Urtheil über die abjolute künſtleriſche Höhe des Concertgebers 
fönnen wir uns Diesmal nod nicht bilden; als Lilzt-Spieler 
iſt er jedenfalls eine glänzende Erſcheinung. Das Publicum — 
allerdingd ein anderes als das der »philharmonifchen« und 
» Sejelihaftsconcertee — benahm fi recht enthufiaitiich; faſt 
als hätte es zuvor Herrn Brendel’3 berühmte Bertheidigung 
der Thefis gelefen: »Liſzt's Werke find das Ideal unjerer 
Zeit.e Fern jei es von mir, mit den VBerfechtern der Zukunfts— 
mufit über Lijzt ftreiten zu wollen; das iſt für alle Zeit un— 
möglich, feit deren Eritifcher Adoocat, Herr Brendel, den denk— 
würdigen Ausſpruch gethan: »Es hat ſich die Meinung im 
Publicum gebildet, als ftänden überhaupt zwei berechtigte Par— 
teien einander gegenüber, dem iſt jedoch nicht jo, im Gegen: 
theil: wir haben allein Recht und die Gegner abiolut Un— 
recht.« Seit wir jo bejtimmt wiſſen, daß wir nun einmal 
zeitlih und ewig verdammt find, hüten wir uns jehr, noch 


250 1861. 


weiteres Mergerniß zu geben. Vom Herzen wünfchen wir Herrn 
Taufig, der noch drei bis vier ähnliche Lilzt-Batterien aufzuführen 
gedenft, den beiten Erfolg jeines Unternehmens. Es gehört viel 
Heroismus und mehr ald blos Fünftlerifches Vermögen dazır, To 
foftipielige Miffiong-Concerte »für eine Idee« zu veranitalten. 
Wenn das Sprihmwort » Zeit ift Geld« Recht hat, fo kann man 
nicht ohne Bewunderung von »Taufig und feiner Zeit« Sprechen. 


RBhilharmoniſche Eoncerte. 


Schumann’ »Genovefa«-Duperture in ihrer büfteren 
Leidenjchaftlichkeit Fönnte geradezu »Golo« überfchrieben fein. 
Ohne an Tiefe und Urfprünglichkeit die »Manfred«-Duverture 
zu erreichen, wirft dies Stüd doc fortreißend durch feinen echt 
dramatifhen Zug. Den Bilgermarf aus der »Harold— 
Symphonie« von Berlioz hörten wir nad langen Jahren 
mit großer Befriedigung wieder. Echt poetiih in Stimmung 
und Ausführung, iſt der Pilgermarſch zugleich formell eines 
der abgerundetiten Tonftüde von Berlioz. Wie Anfangs .Teife 
aus weiter Ferne dad Marjchthema ertönt, näher und näher 
heranrüdt, anfchwillt, fih immer reicher entfaltet; Hierauf die 
Bläſer einen Hymmenartigen Mittelfag anftimmen, den Die 
Arpeggien einer einzelnen Bratſche umgleiten; wie dann der 
Mari) wieder allmählig verhallt, diesmal geiftvoll verflodhten 
mit leifen Nachklängen des Mitteljages, — dies alles gibt ein 
ungemein glüdlih gedachtes, ſtimmungsvolles Bild. Einige 
melodiihe Härten, einige Sonderbarfeiten in der Harmonie 
vermögen uns den Eindruck nicht zu ftören. Die Combination 
der Klangfarben iſt von zauberhafter Wirkung; bei aller Fremd— 
artigfeit erjcheint fie doch niemals kalt außgeklügelt, fie wächſt 
mit innerer Nothwendigfeit aus der mufifaliihen und poetijchen 
Grundidee der Compofition. 

Die erregte Stimmung, in welcher die Verſammlung durch 
Schumann und Berlioz verjegt war, wurde fchließlich mit Hilfe 
einer Nieg’ihen Symphonie abgekühlt. Julius Rietz tft einer der 
gebildetiten Muſiker und trefflichften Dirigenten Deutichlands, 
aber nimmermehr ein origineller Gomponift. In der wohl» 


Gompofitionen von Rietz, Wagner, Mozart. 951 


bekannten, gebildeten Ausdrudsweile Mendels ſohn's werden 
uns hier ziemlich unerhebliche Mittheilungen gemadt. Dabei 
vermag der Componijt niemal® zum Schluß zu kommen, wo— 
durch er ſelbſt feinen beiten und friſcheſten Satz, den Menuett, 
um den Effect bringt. Diefe Nedjeligkeit ift von Ideen-Ueberfluß 
ebenſoweit entfernt, al3 das oft qualmend auflodernde Feuer diejer 
Muſik von wirklicher Leidenfchaft. Den Mufiter wird die Rietz'ſche 
Symphonie von ihrer technifchen Seite intereffirt haben; ihr 
Eindrud auf dad Bublicum war: achtungsvolle Langweile. 
Ueber die in einer Wohlthätigkeits-Akademie aufgeführte In— 
Itrumental-Einleitung zu R. Wagner’ »Triltan und Iſolde« 
wollen wir nad einmaligem Anhören und ohne Kenntniß des 
Ganzen nicht urtheilen. Günftig war der Eindrud durchaus 
nicht, welchen Ddiejfe ruhelos wogende, unterfchiedloje Tonmafje 
mit ihrer unaufhörlichen Wiederholung desſelben Motivchens 
machte. Dad Ohr findet nirgends einen Ruhepunkt oder Ab- 
Ihluß, was ungefähr diejelbe peinlihe Empfindung erregt, ala 
müßten wir eine lange Reihe von Vorderſätzen vorlefen hören, 
deren Nachſätze mwegbleiben. Unwillfürlich fielen uns jene frans 
zöfifchen Gerichtöurtheile ein, die einem kurzen Schlußſatz feiten: 
fange »considerE que« vorausſchicken. Das Bublicum blieb 
mehrere Secunden nah dem Schlußaccord vollkommen ſtill, 
dann wurde (vielleiht in Folge einer rafchen Abftimmung) 
applaudirt. — Mozart’ Sopran-Arie »non temer« gehört zu 
jenen Stüden des Meilterd, die und weniger Mozart’3 Geift, 
als die Neußerlichfeiten feines Ausdrucdes, feiner Redensarten 
entgegenbringen. Die Arie iſt 1786 zu der Oper »Idomeneo« 
hinzucomponirt, als dieje von einer Geiellichaft vornehmer Dilet: 
tanten in Wien aufgeführt und zu diefem Behuf mancher Ber: 
änderungen bedürftig wurde. Die obligate Solovioline war für 
den Grafen Auguſt v. Haßfeld geichrieben, — es hat alſo 
die beitimmte Gelegenheit ein erhebliches Wort mitgeiprochen. 
Die concertirende Begleitung eines Solo-Inftrumentes neben der 
Singitimme, hat, wenn fie eine gewiſſe Grenze überjchreitet, 
jederzeit ettwad Bedenkliches. In der genannten Arie wird man 
diejen, an die Singitimme fich läftig vordrängenden, jelbitgefällig 
tänzelnden Schatten gar nicht los; es ift zu wenig für ein 


252 1861. 


Duett und zu viel für eine Arie, Wir finden ſeltſamerweiſe 
nicht einmal bei Jahn, den jonit jede Kleinigkeit von Mozart 
außerit beredt macht, ein warmes Wort darüber. 

Höchſt anziehend war ein Concert für Streich-Inſtrumente 
von Seb. Bad. Es iit das dritte aus den im Sahre 1850 
von Dehn herausgegebenen jech® Concerten, oder eigentlich die 
beiden äußeren Süße desielben; denn offenbar ging der mittlere 
Sat (wahriheinlih ein langſames Minore) verloren. Ein un— 
gemein kräftiges, gejundes, wenn auch etwas eigenfinniges Leben 
regt fich in dieſen ftraffen Themen, die ohne einen inneren 
Gegenjag, ja ohne die mindeite Unterbrechung und dennoch reich 
durchgeführt, jich vor und abrollen. Der Hauptreiz liegt natür- 
ih in der lebenövollen, vielgeltaltigen Stimmführung. Durch 
den fehlenden Gontraft der Blasinftrumente fallen eigentliche 
DOrceiter-Gffecte jo gut wie hinweg, doch wirft das Zumerfen 
des Themas von den Geigen an die Bratichen und Bäſſe im 
eriten Sat ganz reizend. 

Schumann’ C-dur-Symphonie (Nr. 2), nach) deren Wieder: 
bolung wir uns lange jehnten, machte den Bejchluß. Eines der 
jinnigiten und bedeutendſten Werte Schumann's, iſt Diefe 
Symphonie doch im ihren einzelnen Theilen ungleih in 
der Arbeit, ungleih an Werth. Schon in eriten Sat gibt es 
Stodungen, welde jedoch der pathetifche, ruckweiſe vordringende 
Gang des Themas jedesmal bald befiegt. Das geiftvolle, wie 
ein munterer MWafferfall herabplätichernde Scherzo finft jchon 
in dem erften, noch mehr in dem zweiten feltiam fteifen Trio, 
erhebt fich aber nach dieſem wieder zu dem glänzenditen Schluß. 
Das wahre Herz de3 Ganzen iſt das Adagio, vielleiht das 
jeelenvollite, das feit Beethoven gejchrieben wurde Wie er 
tief aufathmet, diefer Geſang, immer breiter und höher anwächſt, 
bis er endlich in einer colofjalen Steigerung auf den höchſten 
Gipfeln der Violintöne anlangt und in einem wahren 
Goldregen von feinen Trillerfetten wieder herniederriefelt! Auch 
in diefen jo bewunderungswürdigen Stüd finden wir eine Stelle 
(den staceato contrapunftirenden Mittelfag), die, ganz abgejehen 
von ihrem harmoniſchen Härten, ein plößliches Grichlaffen der 
Phantaſie bekundet. Der letzte Sa erreicht feinen von den 


» Mebea« von Gherubini. Suite von Bad. 253 


drei früheren, jo ſehr er fie zu überflügeln jucht. Hier wechielt 
ein gewaltſames Aufraffen und Anfpannen mit unverhohlenem 
Sinken der Erfindungskraft. Das Hauptübel ftedt in der 
rhythmiſchen Einförmigfeit de Themas, worauf nad Dürftiger 
Erpofition eine tändelnde Violinfigur folgt, die bei Schumann 
geradezu befremdet. Erft mit dem energiich jchmerzlichen Ge— 
jang der Bläfer im Mittelfat (S. 183 der Part.) haben mir 
den ganzen Schumann wieder, doch nicht für lange. Der Schluß 
it ein ftürmifches Webertäuben innerer Ermüdung. 

Cherubini’3 »Medea«-Duverture wirkte wie immer durd) 
ihre vornehm ftraffe Haltung, ihr kräftiges, dabei echt franzöfiiches 
Pathos, ihre are, feine Orcdeitration. Den vollen Ausdrud 
jener furchtbaren Tragif, welche die Eriheinung Medea’s 
erfüllt, können wir in dem Tonſtück allerdings nicht mehr finden. 
Dad Maß ſolcher Anſprüche wechſelt mit dem fortbraufenden 
Strom der Kunftentwiclung. Neben muſikaliſchen Tragödien, 
wie fie Shumann’3 »Manfred«-Duverture oder Berlioz' 
»König Lear« jeither aufgerollt haben, würden wir heute 
Cherubini's Einleitung zur »Medea« vielleiht »Concert: 
Duverture« nennen, 

Die beiden bedeutendften Nummern waren eine Orcheiter: 
Suite in D-dur von Seb. Bad und Schumann’ B-dur- 
Symphonie Gewiß die interefjantefte Zufammenftellung zweier 
jo grundverfchiedener Kunſt-Epochen! Die Orceiter-Gompofition 
des achtzehnten und jene des neunzehnten Jahrhunderts, die 
Symphonie im Keim — denn was ijt die »Ordeiter-Suite« 
ander8? — und die Symphonie in ihrer reichjten Blüthenfülle. 
Bach's charakteriftiihe und liebenswürdige »Suiten« gehören 
zu jenen Werfen des Altmeilter, denen ein modernes Publicum 
fih mit unbefangenem Behagen affimiliren kann. In den ver: 
Tchollenen, fnappen Formen treibt ein jugendfriicher Geiſt; die 
contrapunftifche Kunft reizt das fundige Ohr, ohne es zu ver: 
wirren oder zu ermüden; farbenreiche Gegenfäße endlich, wie 
die weiche Zärtlichkeit der »Airs« und die drollige Beweglich— 
feit der Tanzftüde, heben wechielfeitig ihre Wirkung. Kein 
Wunder, daß auch im »philharmonifchen Concert« der Erfolg 
der D-Suite ein vollftändiger war. Die urfprüngliche Inſtrumen— 


254 1861. 


tirung blieb unverändert, bis auf zwei Clarinetien, welche Herr 
Deſſoff Hinzufügte, weil der hodjliegende Sog der Trompeten 
im Original heutzutage ſchwer ausführbar ift. 

Schumann’s B-dur-Symphonie (Nr. 2) kennen wir aus 
wiederholten Aufführungen. Die jüngfte, unter Deſſoff, war 
davon weitaus die befte, jene erjte nicht ausgenommen, mit 
welder Schumann im Sänner 1847 ſelbſt Hier Ddebutirte. 
Warum war ed dem früh und troftlos dahingegangenen Meifter 
nicht bejchieden, die rafche und umverlierbare Popularität zu 
erleben, die ſeine Muſik feit jener Aufführung hier gewonnen 
hat! Entzüdt lauſchte man Sonntagd diefem duftenden Strom 
von Geiſt und Empfindung, der, immer flar und immer neı, 
ein leibhaftig Stück Mai in unfern Winter hineinzauberte. Nach 
einer mündlichen Mittheilung des Componiften hat er das 
Werk urfprünglid »Frühlingd- Symphonie«e nennen wollen. 
Die Mufif Hätte den Titel nicht Lügen geſtraft. Schumann 
aber war zu Stolz, um von einer Aufjchrift zu erbetteln, was 
nicht ohnehin in der Mufik Tag. 

Gerne hörten wir das Larghetto aus Spohr’s dritter 
Symphonie. Die Regel, daß man den Zufammenhang einer 
Symphonie nicht zeritören darf, kann man ded angeborenen 
Rechtes auf Ausnahmsfälle wohl nicht berauben. Spohr wird 
eine ſolche Ausnahme Hin und wieder rechtfertigen, denn feine 
Symphonien enthalten jehr jchöne erſte Säge und Adagio’, 
während die Scherzo'3 meiſtens recht unglüdlich, die Finales 
größtentheild unbedeutend find. Nicht jeder Componift läßt 
die vier Zweige feiner Symphonien aus fo fraftvoll einheit- 
lihem Stamm emporwachſen, wie Beethoven. 

Rihard Wagner's »Fauft«-Oupverture wurde vor 
mehreren Jahren in einem Wohlthätigkeitö-Concert gefpielt.*) 
ALS uns das Werk damald mißfiel, fannten wir freilich noch 
nicht die ganze Größe unſeres Verbrechens. Herr v. Bülow 
hatte noch nicht jeine Broſchüre über die »Fauſt«-Ouverture 
geichrieben, worin er Wagner als »legitimen Erben Beethoven's« 
proclamirt und, unter reichlichen Grobheiten gegen Anders: 





*) Nergleihe S. 97. 


R. Wagner » Fauft-Dupderture.« 255 


denfende, Beethoven’3 neunte Symphonie zum -Ausgangs— 
punkt« der Wagner’ihen »Fauſt«-Ouverture herabgejegt. Nad) 
Bülow hält Schumann’ Duperture zu »Manfred« mit dem 
MWagnerihen Opus nicht den entfernteften Vergleich aus, ein 
Satz, deſſen vollftändige Umkehrung wir gern unterfchreiben. 
Ja, wüßten wir nicht, daß Wagner die »Fauft«-Duverture be— 
reit3 während feines erften Pariſer Aufenthalts (1840) jfizzirt 
hat, wir fönnten fie für eine farrifirte Nahahmung der »Man— 
fred«-Duverture halten. Die »Fauſt«Ouverture imponirt durch 
ihren ſehr confequenten Charakter nnd einen für Wagner merf- 
würdig einheitlihen Bau. Was aber diefen Bau ausfüllt, 
ift eine Impotenz, die troß ihres prahleriihen Gebahrens 
Mitleid erwed. Wenn gleih zu Anfang die Baßtuba 
mit einem fomijcheerhabenen Thema »mit Macht angeblajen« 
fommt, wie der Stier von Uri, jo müſſen wir eher an eine 
gelungene Traveltie des »Fauft« denfen, al® an Goethe's 
Gedicht. Im Allegro geftaltet fich dies Motiv viel beſſer, und 
wird, wie gejagt, mit einer eifernen Conſequenz behandelt. 
Wenn nur dieſe Einheit der Stimmung nit in jo roh 
materiellem Sinne dadurch erhalten würde, daß eine begleitende 
Biolafigur, (ähnlich dem erjten Coriolan-Motiv) unabläffig in 
allen Lagen und Inftrumenten, in allen Halbtönen Wagner’icher 
Chromatik und verfolgt. Gegen Ende der Ouverture erjchien 
und bereit jeder Zuftand glüdlih und ehrenvol, in welchem 
man diefe Violafigur. nicht zu hören braudt. Wir begreifen 
es nöthigenfalld, wenn felbit die ſchwächſte Oper MWagner’3 
ein enthuſiaſtiſches Publicum und einige vergötternde Fritifer 
findet; allein wie man es fertig bringt, Wagner als ſympho— 
niihen Gomponiften zu bewundern, und über die »Fauſt«— 
Dupverture eine ganze interpretirende Abhandlung zu jchreiben, 
das verftehen wir nimmermehr. Der reichlihe Anlaß zu derlei 
Interpretationen iſt allerdings das Klügfte an der Ouverture, 
denn jo lange es muſikaliſche Naturen gibt, die an jolchen 
Hineinz und Herauögeheimniffen ihr vornehmites Vergnügen 
finden, wird es der »Faufte-Duverture fowenig an PBublicum 
fehlen, wie den Liſzt'ſchen Symphonien. Die Yauftfage Hat 
in der Mufif, vom alten Eberwein bis auf Liizt und 


256 1861. 


Wagner herab, anfehnliches Unheil angeftiftet. Sie hat zur 
Verbreitung der Thorheit beigetragen, daß die höchſten und 
ichwierigften Probleme des menschlichen Geiſtes auch für die 
natürlichhte Aufgabe der Mufit angejehen werden. Der Erfolg 
der »FFaufte-Duverture ſchwankte in einem 1unentichiedenen 
Kampf zwiichen Applaus und Ziichen. 


Sefellfchaftsconcerte. 


Haydn’s »Schöpfung« und »Tahreszeiten«. 


In einem Alter, welchem fonft im beften Fall nur eine 
Nachleje vergönnt ist, ſchuf Haydn feine zwei größten Werfe, 
diejenigen, welche ihn in Deutichland am populärften gemacht 
haben. Die Aehnlichfeit mit dem Lebensgange Händel’s drängt 
fih auf: auch diefer gab fein Beltes, feine Oratorien, ala 
ein Siebenzigjähriger. Der Einfluß Englands, jo maßgebend 
für Händel’3 Oratorien, blieb auch hier nicht ganz unthätig. 
Bon England bradte Haydn den (urfprünglid für Händel 
beftimmten) Tert zur »Schöpfung« mit; nad) Thomfon’s be= 
rühmtem Gedicht: »The seasons«e entftanden feine »Jahres— 
zeiten«. Rührend ift die naive Vejcheidenheit, mit welcher der 
hochberühmte Meifter von feinen Oratorien fprah. An Breit: 
fopf ſchrieb er bei MUeberiendung der »Schöpfunge am 
12. Juni 1799: »O Gott, wie viel tft noch zu thun in dieſer 
herrlichen Kunft! Die Welt madt mir zwar täglich viele Com— 
plimente auch über das Feuer meiner legten Arbeiten; aber 
niemand will mir glauben, mit welcher Mühe und Anftrengung 
ih dasſelbe hervorſuchen muß. Nur wäünſche ich und hoffe 
auch, id alter Mann, daß die Herren Necenfenten meine 
»Schöpfung« nicht allzuftreng anfaffen und ihr dabei zu wehe 
thun mögen.«e Die »Herren Necenfenten« werben fich mohl 
hüten. Man müßte fih mit Leib und Seele der MWeimar’ichen 
Mufil-Inquifition verfchrieben haben, um den unverwüſtlich 
friihen Kern dieſer Oratorien leugnen zu wollen. Trogdem 
darf man fich geitehen, daß manches daraus im Lauf der Jahre 
abgeblaßt hat. In den »Jahreszeiten« ift es auffallend, wie 


Haydn's »Jahreszeiten«. 257 


die in der Natur wärmeren (Frühling und Sommer) in 
Haydn's Muſik die kühleren und unbelebteren ſind. Es iſt, 
als ſei die Empfindung von Lenz und Sommer dem Gemüth 
des greiſen Tondichters fremder geworden, gleichſam in die 
Ferne gerückt, als habe er ſie mehr aus der Erinnnerung, 
als lebendig anſchauend geſchildert. Der Text trägt daran 
große Schuld. Haydn ſelbſt hat die Hemmung, die in dieſer 
moraliſirenden Tendenz, in dieſer Häufung erbaulicher Reflexionen 
liegt, mit Verdruß empfunden. So äußerte er über den Chor: 
»O Fleiß, o edler Fleiß!« »er ſei nun ſein Lebelang fleißig 
geweſen, aber noch ſei es ihm nicht eingefallen, den Fleiß in 
Noten zu ſetzen« In der That wird bei Haydn über den 
Frühling und Sommer mehr geiprocdhen, moralifirt, Gott dafür 
gedankt u. dgl., als daß das volle, jugendichöne Leben der Natur 
fih Selbit ergieße. Der Charakter der Mufit wird dadurd 
nothiwendig oft nüchtern und philiftrös. Die langfamen Tempi 
herrfchen ungebührlich vor und machen im Verein mit der lange 
feftgehaltenen etwas weichlichen Empfindung und Moderne hin 
und wieder etwas ungeduldig. In den zwei Iegten Abtheilungen 
hingegen bricht ein fräftiger Realismus herein. Wie werden 
im »Herbſt« die Auen und Wälder, von welchen früher fo viel 
erzählt wurde, nun wirklich voller Leben! Aus den fingenden 
Abftractionen »Hannhen« und »Lucad« werden nun wirkliche 
Menſchen mit Fleifh und Blut, mit Laune und Liebe. Von 
ihrem reizenden Duette an wird der Ton des Ganzen wärmer 
und individueller, ja die Erfindung reicher und bedeutender. 
Dann die prächtige Jagd, das jubelnde Winzerfeft! Welche 
Lebendigkeit, Steigerung, Gipfelung! Wie köſtlich ift (im Winzer: 
feft) der Muth des alten Herrn, friſch zu Triangeln und großer 
Trommel zu greifen, ohne zu fragen, ob dieſe Lärm-Inſtru— 
mente im Oratorium hoffähig jeien oder nicht. Diejes Winzer: 
feſt lingt ung immer wie ein impojantes, großes Opernfinale. 
Es ift vieleicht das Wirkſamſte, dabei ohne Frage das Modernfte, 
was Haydn geſchrieben. Mozart's Einwirkung ift hier nicht 
zu berfennen. 

Im dritten Gejellihaftsconcerte machte den friſcheſten Ein- 
drud Haydn’ Symphonie in C. Die ftürmijch begehrte 


Hanslick. Aus dem Goncertiaal, 2. Aufl. 17 


258 1861. 


Wiederholung von zwei Sägen zählt wohl unter den nachge— 
borenen Triumphen des alten Herrn obenan. a, der rührige, 
nette, zum Küſſen liebenswürdige Großpapa wird bei uns völlig 
Mode. Ein großes Verdienft an dem mwiedergewonnenen Sinn 
für Haydn hat die Zufunftsmufif, Wir fagen das ohne bos— 
haften Hinterhalt. Hat man dur längere Zeit das blos 
»Intereſſante« einfeitig auf die höchſte Spite treiben ſehen, fo 
beginnt man wieder an der einfahen Anmuth, die man früher 
faft »unintereffante gefunden, fich herzlich zu erfreuen. Nach 
langen aufreibenden Scheingefehten glänzender Sophiſtik thut 
jelbft die einfach gefunde Logik wohl. Jene faule Genügjam- 
feit, die über Haydn und Mozart noch) zu einer Zeit nicht hinaus 
wollte, wo aus neuen Richtungen längſt das dringendfte »Hört 
hört«! eriholl —, fie ift weit verſchieden von dem geflärten 
und bereicherten Bewußtjein, mit dem wir heute zum Genuffe- 
Haydn's rüdkehren. Daß unjere Verehrung für Haydn noch 
völlig in der abergläubiihen Pietät aufgehe, welche in jedem 
Pralltriller und jeden Uebergang von C nad G unerreihbare 
Bollendung fand, daS wollte man und freilich nicht zumuthen. 
Die wärmfte Verehrung verträgt fih vollflommen mit jenem 
höheren ironifhen Blid, der die Schwächen des Genius erkennt, 
ohne ihn darım weniger zu lieben. Nach den neueften Er- 
fahrungen hat es Haydn offenbar nicht geichadet, daß unfere 
Zeit mit etwas freierem Sinn ihm gegenüber fteht. 

Philipp Emanuel Bad, der zweitgeborne Sohn Sebaftian’s, 
war bisher dem heutigen Concertpublicum fo gut wie unbe: 
fannt geblieben. Die erfolgreihe Bemühung der letzten De: 
cennien, uns dem großen Vater näher zu befreunden, ja den 
beinahe Berlorengegangenen als ein unverlierbare® Clement 
in unſer modernes Mufikleben einzufügen — fie mußte endlich 
auch feinen Söhnen zugute fommen. Die Leipziger Gewand: 
haus-Concerte haben Emanuel Bach zuerſt aus dem hiftorischen 
Staube hervorgezogen, indem fie vor einem Jahr deffen D-dur- 
Symphonie zu Gehör braten, diefelbe, die wir am verfloffenen 
Sonntag im großen Redoutenfaal hörten. In der That, Emanuel 
Bad verdient ed im hohen Grade, daß man ſich mit ihm felbit 
befannt made, denn fein Geift wie fein Verdienft ftehen auf 


Ph. Em. Bad. 259 


eigenen Füßen, find weit mehr als ein Abglanz des väter: 
lihen Namend. Gmanuel war von den mufifaliichen Söhnen 
Sebaltian’3 der gebildetfte und folideite. Zwar jein Talent 
beiaß nicht die intenfive, geniale Cigenthümlichfeit feines un— 
glüdlihen Bruder? Friedemann, noch konnten ſich Emanuel's 
äußere Erfolge mit den ephemeren Operntriumphen feines jüngeren, 
galanten Bruders Chriſtian meſſen. Allein für die Entwicklung 
der Kunſt ift von allen Brüdern Emanuel weitaus der wichtigfte 
geworden. Denn er war's, der, im Gegenjag zu dem wejent: 
ih polyphonen und contrapunktifhen Styl feiner Vorgänger, 
den »freien Styl« in der Inftrumentalmufit begründete, inden 
er, Statt mehrere jelbitftändige, jomit wechjeljeitig abhängige 
Tonreihen übereinander zu bauen, es vorzog, eine Tonreihe 
ſo jpielvoll, jo gefangvoll als möglich zu machen und die übrigen 
ihr unterzuordnen. Haydn’ befanntes Wort, »daß er fein 
Beites den Werken Emanuel Bach's verdanfe«, trat und aus 
den Klängen diefer D-Symphonie als Iebendige Wahrheit vor 
Augen. Das find weit weniger Nachblüthen von Sebaſtian's 
Styl, als Keime, und jehr ausgeprägte Keime der jpäteren 
Haydn’ihen Symphonie. Wer nur einiges hiftorifche Intereffe 
hinzubringt, wird dieſer (im Jahre 1776 componirten) Muſik 
mit großer Befriedigung laufchen. Unſerer Zeit, die bei dem 
Namen Symphonie gleich an Beethoven denkt, mag dies kurze, 
dreifägige Ding allerdings dürftig und etwas troden vorkommen, 
fie verlangt Bedeutenderes, Wichtigered, und überall Mehr! 
Allein wer es vermag, einige 80 Jahre rajch zn vergeflen, der 
wird fih an diefem Product eines gefunden und geiftreichen 
mufifalifhen Denker herzlich erbauen. Cine fräftige, herbe 
Frifche durchweht namentlich den eriten Sat, den auögeführ- 
tejten von Allen. Das kurze Largo (es jchien uns gar zu 
langſam genommen) ergeht fi in empfindfamer, ceremoniöfer 
Gelaffenheit jo recht, wie wir heutzutage »zopfig« nennen. Mit 
einer mufifaliihen lUngenirtheit ohnegleichen übergeht der Com— 
ponilt aus dieſem Es-dur-Largo in dag D-dur des Iuftigen 
Finalfages, ungefähr wie jemand mit einem tüchtigen Sat 
über einen Bad) Hinüberipringt, um ſich den Brücdenjteig zu 
eriparen. 
17* 


260 1861. 


Es folgte Ferdinand Hiller’3 »Loreley«, eine jener 
dramatifirten Concertballaden für Soloſtimmen, Chor und Or: 
heiter, welde Shumann in Schwang gebradt. Das Gedicht 
(von W. Müller von Königswinter) gehört in die Claſſe der 
eleganten Goldichnitt-Lyrif, melde die Romantik für den Salon 
zurehtmadt. Dinge wie die piychologiihe Motivirung der 
Loreley, die reflectirten Empfindungen der Niren, die Perſonifi— 
cation von »Rebengeiftern« u. dgl., erreichen nimmermehr die 
tiefe Wirkung der einfahen Sage oder des Heine'ſchen Gedichte. 
Der mufifaliihen Phantafie bietet das Gedicht allerdings 
günftige Situationen, welche denn auch Hiller wohl zu ver: 
werthen verftand. In einem weſentlichen Punkt trifft feine 
Compofition leider mit Müller’3 Gedicht zufammen: aus beiden 
fpricht nicht die Stimme echter Poefie, nicht der Ton ureigener, 
tiefquellender Empfindung. Die Bildung hat mehr dazu gethan, 
als die Schöpferfraft. Als geiftvoller hochgebildeter Componift, 
als Meifter der Technik hat fih Hiller immerhin auch in der 
»Loreley« bewährt; das Werk, weder großartig ald Ganzes, 
noch unmittelbar hinreißend im Einzelnen, wirft doch über: 
twiegend intereffant und anziehend. Den unmiderftehlichen Ge— 
fang der »Loreley« leibhaftig zu componiren, iſt ein bedenk— 
liches Unternehmen, faft jo bedenklich wie die Gompofition eines 
Orpheus oder Arion. Die einfachiten Mittel find hier meift 
die beiten. Aber damit ſchafft man feine Concertballade mit 
Chören, Soli und Ordefter. Hiller durfte für feinen Zweck 
die mannigfachften Mittel der Klangfärbung, des Rhythmus und 
der Tonmalerei nicht verſchmähen, welche die poetifche Stimmung 
fefthalten und fteigern fonnten. Das Refultat diefer Bemühung 
wurde ein geiftreiches modernes Gebilde, das in der Muſik 
ungefähr eine Stelle einnimmt, wie in der Poefie die Gedichte 
von Dingelftedt. 

Rubinſtein's Vocalhor »Gondelfahrt«e jcheint und ein 
arger Mißgriff. Dad Gedicht (von Anaftafius Grün) iſt To 
reflectirt, daß es Mufif beinahe abftößt. Für das malende 
Beimwerf, dad allenfalls zu einer charafteriftiihen Inftrumental- 
Begleitung loden könnte, hat der reine Vocalja jo gut wie 
feine Mitte. Rubinſtein's Mufit bleibt Hinter dem hier 


»Preciofa« von C. M. Weber. 261 


Grreihbaren zurüd, ja entfernt fich eher nad entgegengejegter 
Richtung. Wenn eine »Mondnaht in Venedige jo außfieht, 
wie fie Aubinftein uns vormuficirt, dann wollen wir ruhig zu 
Haufe bleiben. Man könnte feine Compofition ebenio gut 
»Novembertag in Smolensk« überfchreiben. Mendelsſohn's 
Chor »O, Thäler weit« (von Eichendorff) wirkt nad dem Ru— 
binftein’schen noch einmal jo wohlthätig. 

Den Schluß des Goncertes bildet die vollitändige Mufif 
zur »Precioſa« von C. M. v. Weber Eine Concert:Auf- 
führung dieſer reizenden Muſik erfhien ſchon deshalb jehr 
wünſchenswerth, weil das Schaufpiel ſelbſt von den Bühnen 
verſchwunden ift. Dies Schidjal war fein unverdientes. Wolff's 
»Precioja« beweiſt, wie mißlich es ſei, ausgezeichnete Er: 
zählungen dramatiſch zu behandeln. Die »Gitana« von Cer— 
pantes, welche der »Preciofa« zu Grunde liegt, ift eine der 
herrlichiten Novellen, und Precioſa ift ein lahmes Drama, in 
dem nicht? anzuerkennen it, als der gut getroffene Localton 
und die an das ſpaniſche Auftipiel erinnernde Führung des 
Dialogs. Allein für Weber Muſik ift dad Stück eine ums 
ihätbare Staffage und durch fein Auskunftsmittel zu erjeßgen. 
Wir wüßten faum eine ziweite ſceniſche Muſik, welche, losge— 
rifien von dem theatralifchen Boden, jo viel einbüßen wiirde, 
als Meber’3 »Precioja«. An und für fich ift fchon jedes »ver— 
bindende Gedichte ein Unglück für dramatiihe Muſik. ES erzählt 
und, der leidigen VBollitändigfeit halber, jtet3 eine Menge Dinge, 
die und im Goncertfaal nicht im mindejten kümmern. lleber: 
flüffiges enthält jo ein »Gediht« immer, dad Nothiwendige 
niemal3. Denn dies Nothwendige ift eben jene Geſammt— 
ftimmung, die nur das lebendig angefhaute Drama jelbit 
erzeugt. Wir wollen die Perfonen, das ſceniſche Bild jehen; 
ftatt deffen geht jedes »verbindende Gedichte von der Täufchung 
aus, es fei und um die Kenntniß des Factiichen zu thun. 
Sp erhalten wir für das PVerftändniß der Muſik immer zu 
viel und zu wenig, von der Beeinträchtigung des Genuſſes gar 
nicht zu reden. 


262 1861. 


Hammermufiß. 


Das neue Streihquartett von Robert Volkmann 
(Nr. 4, E-moll) ift Fein blendendes Werk, aber ein gehalt: 
volles, jinniges, daS namentlich in den beiden äußeren Süßen 
die Hand eined Meiſters verräth. Scherzo und Adagio jchienen 
und ärmer an eigenthümlicher Erfindung, fie wirken zum Theil 
durch Aeußerlichkeiten, wozu wir dort das rapide Tempo, hier 
die umunterbrochene Anwendung der Sordinen zählen. Im 
Finale hätten wir nur die Fuge Hinzugewünfcht, die das Bor: 
hergegangene nicht mehr zu fteigern vermag, und deshalb ein 
troden pflidtmäßiges Gefiht madt. Die ſchlichte Einfachheit 
in Stimmung und Ausführung dieſes Quartetts hat uns bei 
Volkmann faſt überrafcht und in der Ueberzeugung beftärkt, 
daß die mufifalifchen Anſchauungen des geſchätzten Componiſten 
fih zu einer enticheidenden Wandlung durdhgefämpft haben. 
Offenbar it in Volkmann’: Styl eine Klärung eingetreten, 
ein Abjchütteln der capriciöfen Wunderlichfeiten und Genies 
fchladen, die und manches jeiner früheren Werke trübten. Wer 
3. 8. da3 B-moll-Trio mit Volkmann's neueren Compofitionen, 
3. B. mit dem vortrefflihden Glapierconcert vergleicht, wird 
unferer Anficht beipflichten, daB Volkmann aus Sturm und 
Drang eine Phaſe der Klärung angetreten habe, etwa mie fie 
mit reiheren Mitteln Shumann nach feiner zweiten Sonate 
vollzog. Die zweite Nummer war NRubinftein’® befanntes 
Clavier-Trio in B-dur. Wie die fchönen, charafteriftiichen 
Anfänge fi immer jobald in wüſtes Toben verlieren oder 
ermüdend verfiegen! Oft (3. B. im Adagio) ift ARubinftein der 
pollendeten Schönheit nahe, ganz nahe, aber wie er fie faſſen 
und feithalten will, entflieht fie feiner unfanften Fauft. 


Joachim. 


Das wichtigſte Greigniß der abgelaufenen Woche war das 
Auftreten Joſeph Joachim's. Vor fo und fo viel Jahren hatten 
ihn zwar die Wiener ald Wunderkind gehört, der Wundermann 


Joachim. 263 


war uns jedoch fremd geblieben. Wien, die Vaterſtadt, wenn 
auch nicht Joachim's ſelbſt, doch ſeiner Bildung und ſeines 
Ruhms, Hatte bereits einigen Grund, ſich ob der anhaltenden 
Burüdjegung von Seiten des vielgereijten Künſtlers zu beflagen. 
Soahim, fo jung er ift, gilt feit beinahe zehn Jahren für 
den erſten lebenden Violinfpieler, und wenn ihm bie und da 
VBieurtemp3 an die Seite geitellt wurde, fo beweiſt jchon 
diefer Maßſtab, welch ungewöhnlicher Größe man fich gegen- 
über fühlte. Es war dem Künſtler nicht leicht gemacht, jo hoch» 
geipannten und langgenährten Erwartungen bei einem erfahrenen 
Bublicum, wie das unfere, zu entiprehen. Soahim hat es 
jedoch in glänzenditer Weile vollbradt. Er begann mit Beet: 
hoven's Concert. Nah dem eriten Sate ſchon mußte es 
jedermann flar fein, daß man e3 hier nicht blos mit einem 
großen PVirtuofen, jondern mit einer bedeutenden und eigen 
thümlichen Perfünlichkeit zu thun habe. Joachim ift mit all 
jeiner Bravour jo ganz in dem mufifaliichen Ideal aufgelöft, 
daß man ihn eigentlich bezeichnen möchte als einen durch die 
glänzendite Virtuofität hHindurchgegangenen vollendeten Muſiker. 
Sein Spiel iſt groß, edel, frei. Nicht der Eleinfte Mordent 
klingt nah Virtuoſenthum; was irgend im Soloipiel an Eitelkeit 
oder Gefalljucht mahnen kann, ift hier ſpurlos getilgt. Dieſer 
Adel künftleriiher Heberzeugung tritt bei Joachim mit jolcher 
Macht auf, daß man erjt hinterher au die Würdigung jeiner 
großartigen Technik denkt. Welche Kraftfülle in dem Ton, dei 
Joachim's großer, ficherer Bogen dem Inſtrumente abzwingt! 
Es ſchien uns das erſtemal, daß ſelbſt bei nahdrüdlichiter 
Behandlung der tieferer Violinlagen feine Spur jenes eigen— 
thümlich materiellen Scharren3 und Schlürfens der Saite mit: 
flang, welches wir auch bei den berühmteften Geigern ftellen- 
weiſe vernahmen. Unvergleihlih an Reinheit und Egalität iſt 
Joachim's Triller; fein mehrjtimmiges Spiel jo verbunden 
zugleih und ſcharf gefondert, daß man oft zwei Spieler zu 
vernehmen glaubt. Im Verlauf feiner Goncerte wird und Joachim 
mit den Eigenthümlichfeiten feiner Technik noch näher vertraut 
machen. Nach dem erften Eoncerte Joahim’s möchten wir aller: 
dings annehmen, daß der Ausdruf des Großen, Edlen, 


264 1861. 


Pathetiihen der feiner Natur homogenfte jei. Ob das leichte 
Spiel der Anmuth, der flüchtige Wiß, der friihe Humor ihm 
ebenfo überzeugend zu Gebote ftehen, wird er in anderen Com— 
pofitionen zeigen müſſen. Das Beethoven'ſche Concert, 
namentlid der faſt improvijatoriich freie, tiefbeiwegte Vortrag 
des Adagio, bewies die entſchiedenſte Selbitftändigfeit der Auf- 
faffung. Unter Vieuxtemps' Bogen Hang dies Concert 
glänzender, lebendiger, Joachim holte es mehr aus der Tiefe, 
und übertraf durch eine wahrhaft ethiiche Kraft die Wirkung, 
die Vieuxtemps' Spiel dur) hinreißendes Temperament 
erzielt hat. 

Die zweite Nummer war ein Spohr'ſches Adagio, deſſen 
Einförmigfeit in der markigen, dabei mannigfaltigen Spielweife 
Joachim's ale Schwere verlor. Am überrafhenditen erichien 
un? Joachim in dem Vortrag der »Teufeldfonate« von Tar— 
tini. Wir glauben der Zuftimmung der Violinfpieler gewiß zu 
jein, wenn wir diefe Aufgebot einer coloffalen und zugleich 
clafftiih geläuterten Technik bisher unerreiht nennen. Die 
ſchwierigſten Bravouren dieſes Stücdes, mit deren anſtandsloſer 
Bewältigung man fich ſonſt zufrieden zu geben pflegt, producirte 
Joachim nicht blos mit ficherer Leichtigkeit, e& gelang ihm 
überdies, in dies braufende Tongewirr zahlreiche bedeutfame 
Accente zu vertheilen, »Lichter aufzufegen«, welche dem Ganzen 
einen neuen, ausdrucksvollen Charakter geben. Im Ganzen ift 
uns faum ein zweiter Virtuoſe vorgefommen, deifen Leiftungen 
jo vollftändig aus Einem Guffe, dadurd fo rein und harmoniſch 
in ihrer Wirkung geweſen wären. 

Aus Joachim's »Goncert in ungarifher Weije« 
dürfen wir wohl nur mit Vorfiht einen Schluß auf den Um— 
fang und die Art feiner ſchöpferiſchen Begabung ziehen. Nicht 
nur ift e8 die erite Compofition Joachim's, die uns bekannt 
wurde, ſie ift überdies zu umfangreich, dabei durd ihr ftarf 
hervortretendes virtuofes Clement zu blendend, um im ein— 
maligem Hören vollflommen erfaßt zu werden. Sebenfalls 
intereifirt und beichäftigt fie den Hörer auf das Iebhaftefte. 
Ihre Bedeutung liegt mehr in der Energie, womit der Com: 
ponijt die Stimmung unerbittlich feithält, und nur deren Um— 


Joachim. 265 


gebung geiſtreich wechſelt und combinirt, als in eigentlich reicher 
melodiſcher Erfindung. Auf den erſten Blick erſcheint zwar die 
freiſtehende Benützung von Volksweiſen eine ungemeine Er— 
leichterung für den Componiſten zu ſein. Durch die ungariſchen 
Nationallieder mag ſich aber ein Tondichter ebenſoſehr ein— 
geengt fühlen, denn ſie ſind unter einander ebenſo monoton, 
als fie ausdrucksvoll und leidenſchaftlich ſind. In ihrem zwei: 
theiligen Bau (langſame und ſchnelle Bewegung), ihrem ?/ «Takt 
mit vorwiegend dreitaftiger Beriodenftellung, ihren eigenthümlich 
hinfenden Rhythmus bleiben die magyarifchen Volksweiſen bei- 
nahe ftereotyp. Schubert Hat troß feinem lebhaften Zug zur 
ungariihen Nationalmufif in größeren Gompofitionen, wie die 
C-Symphonie u. a., nur einzelne Anklänge daran gewagt. Ein 
ganzes Concert »in ungariicher Weiſe« zu fchreiben, iſt jelbit 
für einen erfindungsreichen Tondichter feine Kleinigkeit. Joachim 
hat die nationale Treue, das muſikaliſche Intereſſe und das 
Vorrecht des Virtuoſen hier in geiftreicher Weije zu vereinigen 
getradhtet. Der erſte Sag de3 Concertes, der am breiteften und 
reichiten ausgeführte, imponirt durch den feitgehaltenen Ton 
einer ftolzen und faſt verbiffenen Leidenjchaftlichkeit; in zügel- 
Iojer Freiheit der Bewegung nimmt er bisweilen den Charafter 
der Nhapfodie oder des Präludiums an. Weniger reich in der 
Combination, hat uns der zweite Sag mit feiner tiefmelandholiichen 
Klage noh harmoniſcher angeſprochen und befriedigt. Auf die 
Elegie diefes Adagios — gleihjam der -Laſſaͤ« dieſes Stüdes 
— ftürzt im dritten Saß die tolle Luftigfeit der »Friska« 
herbei. Hier jehen wir ung in den wilden, alle® mit fich fort: 
reißenden Tumult einer Zigeunermuftf gezogen. Bei aller Be: 
weglichkeit diefer bizarren Tonfiguren, die auf fortwährender 
Flucht begriffen jcheinen, Liegt doch ein drüdender Bann auf 
dem Ganzen. Wer Hat nicht an heißen Sommerabenden dem 
Müdentanz zugeifhaut? Gerade wie diefe Myriaden von 
Thierchen, jo wirbeln hier die Töne in grenzenlojer Schnelligkeit 
auf und nieder, ohne daß die ganze tanzende Säule vom Fled 
füme. In technischer Hinficht ift das ungariihe »Concert« eine 
eritaunliche Leiftung! Alle erdenklihen Schwierigkeiten des 
Violinipiels find in blendender und charafteriftiiher Weije ver: 


266 1861. 


wendet, ja im eriten Sag ſchienen ſogar halbe Unmöglichkeiten 
aufzutauchen, deren reine Durchführung felbft Joachim ſchwer fiel. 

Die weiteren Vorträge Joachim’, wahre Niefenleiftungen 
einer virtuoſen und doc ſtets ſich unterordnenden Technik, 
waren einige Süße aus Seb. Bach's »Piolinfonaten« und 
eine »Phantafie mit Orcefter«e von Schumann (op. 131). 
Da Joahim feine PBirtuofen:Eitelfeit befitt, fo mochte es 
zumeift Pietät fein, was ihn dies ebenjo jchwierige als un— 
erfreuliche Stüd fpielen ließ. Shumann hat e8 an der Neige 
jeiner lichten Tage geichrieben und Joachim gewidmet. Es ift 
ein dunkler Abgrund, über dem zwei große Künftler fich die 
Hände reihen. Martervoll, düfter und eigenfinnig ringt fich die 
»Phantafie« mit fehr geringem melodifhen Gehalt in fort: 
währendem Figuriren weiter. Nur höchſt jelten wird das Er— 
müdende dieſer Erfindung durch eine geiftreihe Harmonie oder 
Ordeftration unterbrohen. Beethoven's Romanze in F-Dur 
(op. 50), erinnern wir md nicht, früher öffentlih gehört zu 
haben. Beethoven hat befanntlich zwei Romanzen für Violine 
(mit Octettbegleitung) gejchrieben; die erite in G-dur fpielte 
Bazzini in feinen Wiener Goncerten. Beide Stüde tragen zwar 
den unverfennbaren Stempel Beethoven'ſcher Erfindung, ftammen 
aber offenbar nicht allein au8 dem inneren Schaffensdrang des 
Meiiterd. Sie haben einen Gelegenheitöbeigefhmad. Beethoven's 
eigenthümlichiter fraftvolliter Zeit angehörend, mahnen fie doch 
durh manchen conventionellen, veralteten Zug an die »erite 
Periode.«e Joachim fpielte die Romanze wunderbar groß und 
ruhig. Die Melodie geigte er einfach auf der hellen E-Saite, 
während wohl fein anderer Violin-Virtuoſe ſich verjagt hätte, 
fie fünftli in ein tieferes Helldunfel zu ziehen. Dieſe ſchlichte, 
ihmudloje Größe fcheint und der hervorragendfte Zug in 
Soahim’3 Spiel. Daß er fih damit mancher feineren, uns 
mittelbar rührenderen Wirfung begibt, verhehlen wir und nicht. 
Der große, pathetiihe Styl wird das Publicum immer früher 
zur Bewunderung als zur Liebe bewegen, er beugt ung den 
Nacken und kann darum nicht ſo ſchnell in unſer Herz ſich 
ſtehlen. Wie in dem perſönlichen Charakter der Menſchen, ſehen 
wir in den künſtleriſchen Individualitäten gewiſſe Anlagen faſt 


Die Harfenipielerin Mösner. 267 


regelmäßig ſich ausfchließen und fo gejondert große Claſſen 
von Vorzügen und Mängeln begründen. Mehr als eine Stelle 
von Beethoven hätte Hellmeöberger’3 feines, reizbares Naturelf 
und unmittelbarer ing Herz geipielt, als Joachim's unbeug— 
famer, römiſcher Ernft. Die Vortragsweiſe der Beiden verhält ſich 
beinahe wie Weibliches und Männliches, oder um ein muſikaliſches 
Bild zu gebrauchen, wie chromatijches und diatonijches Klang: 
geſchlecht. 


Virtuoſenconcerte. 


Die Harfenſpielerin Fräulein Mösner gab ein Concert 
mit beitem Erfolg. Die Thatſache, daß der Beifall des Pu— 
blicum3 falt ausichließlih ihrer Wirtuofität gilt, ericheint 
ihmeichelhafter für die Künftlerin, ala Iodend für den Mufiker. 
Dem es iſt in der That ein recht undankfbares Inftrument, 
worauf Fräulein Mösner jo viel Kunſt verwendet. Der gloden- 
reine, aber furze, gerifjene Ton der Harfe hat etwas Saltes, 
ſeelenlos Elementariſches. Man kann dieſe rafch abflingenden 
Töne nicht ſchwellen, nicht ſchwächen, nicht zu breiter, ſchöner 
Cantilene verbinden. In ihrer charakteriſtiſchen Wirkſamkeit auf 
Arpeggien und ſchnelle Läufe geſtellt, hat die Harfe als ſelbſt— 
ſtändiges Inſtrument ein ſehr kleines Gebiet. Dazu kommt, daß 
der romantiſche Nimbus, womit die Geſchichte und Poeſie dies 
ehrwürdige Organ verklären, von unſerer modernen Tracht und 
der proſaiſchen Concert-Umgebung die Flucht ergreift. Bon 
ihöner Klangwirkung als Begleiterin des Gejanges oder im 
Verein mit anderen Snftrumenten behält die Harfe in Solo: 
jtüden allzeit etwas Steifes, Dürftiges. Ueberdies iſt ihre 
Literatur ſehr arm; die Gompofitionen ihres beiten neueren 
Bertreterd, Pariſh-Alvars, können wir faum mehr goutiren, 
feiner Vorgänger Bochſa u. ſ. mw. nicht zu gedenken. Es beweift 
Fräulein Mösnerd Einfiht und Gefchidlichfeit, daß ſie Durd) 
eigene Transferiptionen das Repertoire der Harfe zu bereichern 
ſucht, nur würden wir ihr zu andern als Lilzt:Thalberg’ichen 
Dpern-Phantafien und jedenfall3 zu der Beiziehung eines be— 
gleitenden Inſtrumentes rathen. 


268 1861. 


Ein volljtändiger Bericht darf des Herrn Nagy Jakab und 
feines Concert? im Theater an der Wien nicht vergeffen. Ein . 
herfuliicher Mann in ungariſcher Tracht mit gefchligten bligenden 
Augen, Starken Backenknochen und gemwaltigem Schwarzen Boll: 
bart. In der Hand hält er fein Goncert-Inftrument (»Tilinkö«), 
die ungariiche Hirtenflöte, die man bei den Pusztaähirten noch 
häufig im Gebrauch findet. Dies Kleine Pfeifchen wird, wie die 
Flöten im 16. Jahrhundert oder die uralte »Schwegel«, beim 
Andblajen gerade in den Mund gehalten. Es ift ein armielig 
rohe Naturproduct; der Ton, wechjelnd zwifchen jchrillem Gepfeife 
und unreinem Gezwiticher, entbehrt auch des geringften finnlichen 
Reizes und bleibt jeder Spur von Ausdrud unzugänglid. Die Be: 
hendigfeit, mit der unſer Goncerthirte auf diefem Qamentirholz 
ji herumtummelt, erregt mehr Heiterkeit ald Bewunderung. Man 
glaubt einen toll gewordenen Zeifig zu hören. Wie aber die 
Neigungen des Publicums unberehenbar find, — es erſcholl 
anſtatt des erwarteten Gelächter großer Beifall und lebhafter, 
mit einigen »Eljen« gemifchter Herborruf. Der muſikaliſche 
Geſchmack Steht wirklich oft ganz jenſeits des Gemwohnten und 
der Leitha. Für einen Hirten, der volle ſechs Tage in der 
Woche allein mit jeinen Schafen auf der Puszta Hinträumt, 
mag jo ein Tilinkö die Eöftlichite mufifalifche Unterhaltung ab: 
geben; aber weiter ind Land würden wir und damit nicht 
wagen, höchſtens noch bis ins Wirthöhaus zum »Komlo— 
Kertben« in Veit, wo dergleihen Beiträge zu der Czardasmuſik 
der Zigeuner auf ungetheilte Berherrlihung zählen dürfen. Wir 
aber, die wir fogar den Meiftern der modernen, veredelten 
Flöte nicht ohne WVerlegenheit begegnen, fönnen dem würdigen 
Miſſionär des »Tilinkö« nur zurufen: »Meide deine Lämmer, 
weide deine Schafe!« 


1862. 
Die Matthäus: YPalfion von Heb. Bad). 


Die »Sing-Akademie« gab Bach's Paſſionsmuſik 
nah dem Evangelium Matthäi. ES war für Wien die 
erste Aufführung diefes Werkes, das an religidjer Er: 
habenheit, wie am fünftlerifcher Vollendung in der gejammten 
Mufit kaum jeinesgleihen hat. Marx durfte es wagen, die 
Bach'ſche Matthäus-Paſſion dag »fünfte Evangelium« zu nennen. 
Der Eindrud, welchen wir durd die unmittelbare Kraft diejer 
Mufit erfahren, läutert und befeftigt fich vollends, wenn wir 
die uralt ehrwiürdigen Wurzeln derjelben in's Auge faſſen. 
Bach's Muſik ift die letzte reichite Blüthe eines durch Jahr: 
hunderte fich dDurchziehenden religiöfen Kunſtzweiges. Die Paſſions— 
mufifen, gegenwärtig als unbeftrittener Beſitz des proteftantijchen 
Cultus angejehen, verdanken ihren Urfprung und erite Aus— 
bildung der fatholifhen Kirche. Bis in's 12. Kahrhundert 
läßt fich der Gebrauch der katholiſchen Kirche verfolgen, Die 
Leiden Chriſti in epiich-dramatifcher Form während der Charwoche 
in der Kirche mufikalifch aufzuführen. Längſt vor Baleftrina’3 Zeiten 
wurde in der Sitxtiniſchen Capelle die Paſſionsgeſchichte ſo 
aufgeführt, daß ein Sänger die Worte des Cvangeliften, ein 
zweiter die Reden Ehrifti fang, ein dritter endlich alle übrigen 
redend eingeführten Perſonen repräjentirte. Dazwiſchen trat 
jtellenweife da® Wolf (turba) in mehritimmigem Chor auf. Die 
lateiniichen Bibelworte wurden nad) von der Kirche normirten, 
pſalmodiſchen Weiſen abgefungen, welche »Mecente« hießen. Die 
evangeliihe Kirche übertrug die Sitte diefer Paſſions-Auffüh— 


270 1862, 


rungen in ihre Liturgie. Auf Luther’3 Anordnung wurde an 
jedem Charfreitag Vormittags die Leidensgeihichte des Herrn, 
jährlih abwechjelnd aus einem der Evangeliften von dem 
Geiftlihen am Altare, und zwar deutfch abgejungen, in ein— 
töniger, von feinem Chor unterbrocddener Pſalmodie. Allmälig 
gegen das Ende des 16. Jahrhundert® begann fi) der muſi— 
faliihe Theil diefer kirchlichen Feier zu erweitern und auszu— 
bilden. Es kann hier nicht ausgeführt werden, wie durch immer 
reicheren Chorjag, durh Einfügung von Arien und Duetten, 
durch genauere Charakteriftit der bibliichen PBerfönlichkeiten fich 
diefe Gattung in Deutichland zu ihrem erften Höhepunkt, den 
»Vier Paſſionsmuſiken- von Heinrich Schüt (1665) erhob, 
dur den Königsberger Sebaftiani eine noch fünftlichere Aus: 
bildung (3. B. durchgängige Inftrumental:Begleitung) erfuhr. 
Eine neue Wendung nahm Form und Charakter der Paſſions— 
mufifen zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Hamburg. Den 
(meift nicht mehr bibelgetreuen) Worten des Epangeliften wurden 
nebit den Sirchenliedern der Gemeinde freigedichtete, Fromme 
Betrahtungen und Nutanmendungen gegenüber gejtellt. Der 
berühmtefte Verſuch in der Reihe diejer poetifch fläglichen, von 
pietiftiicher Anfchauung bejtimmten Paffionsgedihte war »Der 
für die Sinde der Welt gemarterte und fterbende Jeſus« von 
dem Hamburger Rathöherru Brodes. R. Kaijer, Matthes 
jon, TZelemann, Händel u. U. haben ihn componirt. Die 
poetifchen und religiöfen Anſchauungen dieſer Kreife find der 
Boden, aus welchem die wunderbare Paſſionsblume Sebaftian 
Bach's erblühte. 

Bach's Paſſionsmuſiken find natürlich für die Kirche be— 
rechnet, indem die ganze Gattung einen liturgifchen Beitandtheil 
des proteftantiichen Gottesdienjtes bildet. Doch murzeln Die 
Paſſionsmuſiken durhaus nicht jo feit in dem kirchlichen Boden, 
wie die fatholiihe Mefje; mehr von dem allgemeinen Charafter 
eined Oratorium, find fie viel leichter aus dem liturgischen 
Vorgang loszulöſen. In Bach's »Paſſion« erzählt der Evan 
gelift (Tenor) mit den Worten der Bibel die Leidensgeſchichte; 
Chriſtus (Baß), Petrus, Judas, Pilatus, das jüdijche Volk zc., 
treten im Verlauf der Erzählung redend auf und verleihen ihr 


Die Matthäus⸗Paſſion von Seb. Bad. 271 


dramatijches Leben. An alle die Empfindung oder Betrahtung 
beſonders erregenden Momente fnüpfen fi Arien, Chöre und 
Kirchenlieder, theils der wirklichen, theilß einer idealen Gemeinde. 
Große Chöre, in welchen fi) die Gemeinde frommen Betrad)- 
tungen hingibt, eröffnen und bejchließen das Werk. Man fieht, 
daß zu dem lyriſchen Elemente, das in diefem Oratorium den 
Grundton bildet, und auch äußerlich vorherricht, noch das epifche 
und dramatiiche ſehr wefentlich Hinzutreten. Won jeder diejer drei 
Ausdrudsformen gibt die »Matthäus-PBaffion« unvergleichliche 
Muſter. Wenn hier die Erzählung fich zur tiefempfundenen Arie 
ausbreitet, dort gewaltig dramatiihe Chöre wie Blige ein: 
ichlagen, um ſich bald wieder in lang aushallendem Choral zu 
beruhigen und zu vertiefen, jo fällt es ſchwer, dem einen oder 
dem anderen den Vorzug zu geben. Dennoch gehört wohl das 
Bedeutendfte den Iyrifchen Bartien an, welche dem innerlich arbeiten: 
den Empfindungsleben Bach's gewiß aud) am nächiten ftanden. 
Gleich die erfte Nummer, vielleicht die vollendetite des Ganzen, 
ift ein polyphones® Wunderwerk, deffen durchgeiftigte Kunit wir 
bewundern, ohne davon erdrücdt zu werden. Es ift ein Doppel- 
chor der »Töchter Ziond« und der Gläubigen, auf welchen weit: 
hin die Silberflänge eines dritten, höher poftirten Chors 
(Knabenftimmen) ſich niederjenken. Kein majeftätiicheres Portal 
läßt fi zu dem gothiichen Dom denfen, mit dem man jo oft 
mit Recht die »Matthäus-Paffion« verglihen Hat. Unter den 
Arien find die bedeutenditen jene, welche der Soloſtimme die 
gewaltigen feitgefügten Schichten des Chores unterbreiten, wie 
die Tenor: Arie in C-moll (Nr. 26), die Alt:Arie »Ach nun ift 
mein Jeſus hin«, u. a. Diejen ftehen die Kleinen Arien, zwar 
minder impojant und funfireih, doch nicht weniger tief und 
finnig zur Seite. Es würde bei der großen Anzahl derjelben 
fat ebenjo ſchwer fallen, wie bei den Chören, die bejten nam— 
haft zu machen. Allerdings ift gerade der Genuß der Arien 
für ein größeres Publicum durch ihre veraltete Form und Die 
ungewohnt dürftige Inftrumentirung erfchwert. Häufig begleiten 
nur Oboe und PVioloncell, oder Flöten und Bäße die Sing: 
ftimme, zu welcher dieſe zwei oder brei Inſtrumente, jedes fich 
unabhängig fortbewegend, meift in ftreng gemeſſene contra= 


272 1862. 


punktiſche Beziehung treten. Die dünne Begleitung (namentlich 
wo, wie bei der Wiener Aufführung, die füllende Orgel weg— 
bleibt), das Fehlen aller Blechinftrumente, verleiht diefen Arien 
einen ungemein feufchen, ernten, aber auch fremdartigen Aus: 
drud. Nah dem langen, und ungewohnten Vorherrſchen figu— 
rirender Oboen und Flöten Eingt es ſchon wahrhaft erfriichend, 
wenn eine Violine die ſchöne Alt:Arie im zweiten Theil be— 
gleitet. Kleinere Arienfäge von köſtlicher Einfalt und Reinheit, 
wie: »Du lieber Heiland, Du«, »Golgatha« mit den zwei tiefen 
Oboen (hier Clarinetten) 2c. befitt die »Matthäus-Paflion« in 
ftattliher Zahl. Untergeordneter, doch von hohem Intereſſe 
find die epiſchen Partien des Werkes. Die Recitative des 
Evangeliften haben eine Lebendigkeit und Schärfe der Decla— 
mation, die mitunter auch das Gewaltfame, Edige nicht ſcheut. 
Der erzählende Fluß der claffiichen italienifhen Recitative fteht 
unferm Meifter fern, deſſen Eigenart es mit fich bringt, Die 
harakteriftiihe Bedentiamkeit überall, auch auf often der 
Schönheit, voranzuftellen. Bedenklich für unjere Zeit ericheint 
die hohe Tenorlage, in welcher Bad den Evangeliſten reci- 
tiren läßt; die tiefere Orchefterftimmung feiner Zeit reicht hier 
zur Erklärung nit aus. Bach muß für den Evangeliften einen 
Sänger zur Verfügung gehabt haben, der mit ganz ungewöhn— 
licher Leichtigkeit in der höchſten Tenorlage deutlich recitirte; 
eine Art Haut-contre, wie die Franzoſen jene, jeßt ausgeſtorbene 
Gattung hoher, fih dem Alt nähernder Tenore nannten. Wen 
wäre der fhöne Zug nicht aufgefallen, daß alle Reden Chrifti 
von langaußhaltenden Geigentönen, wie von verflärendem Licht 
umfloffen find, während die Recitative des Evangeliften, Der 
Apoftel u. ſ. w. nur von kurzen Baßnoten geftügt werden. Das 
dramatiſche Element macht fi ſchon in den Reden und Gegen: 
reden der handelnden Perfonen geltend; mit entjcheidender, be— 
wußter Kraft tritt e8 jedoch in den kurzen Chorfägen der Juden 
im zweiten Theil auf. Welch’ mächtige, dabei ungefuchte Wir: 
fung! Sie ift um fo bemerfenswerther, ald die Kraft und Ver: 
feinerung des dramatiihen Ausdruds unbeftritten dasjenige 
Element in der Muſik ift, welches eine fpätere Kunftepoche am 
glüdlichiten weitergeführt hat. Wie tief Mendelsſohn's 


Die Matthäus-Pafſion von Seb. Bach. 273 


wirkſamſte Chöre dieſen Vorbildern Bach's verpflichtet ſind, 
wird niemand entgangen ſein. 

Als Ganzes macht die »Matthäus-Paſſion« einen tiefen, 
ganz und gar eigenthümlichen Eindruck, einen mächtigeren Ein— 
druck, als wir nach dem Studium der Partitur ſelbſt prophezeit 
hätten. In der Gewalt und Eigenart dieſes Total-Eindruckes 
verſchwindet alles Einzelne, was den Hörer im Verlauf etwa 
fremdartig, ungenügend, ſelbſt widerwillig berühren mochte. In 
ihrer höchſten Offenbarung ſehen wir eine Kunſtrichtung vor 
uns auferſtehen, die wir als erhaben verehren, obgleich ſie 
nicht mehr die unſrige iſt. Hier verſteht man Zelter's Wort: 
»Bach ſei eine Welt für ſich«; man fühlt, dies Werk iſt einzig, 
wie fein Schöpfer einzig war. Eben deshalb bleibt dem Hörer 
auch die Verjuchung ferne, Vergleiche anzuftellen. Ohne viel Nuten 
würde er Damit nur fich und das Werk beeinträchtigen. In Parallelen 
zwifchen der »Matthäus-Paſſion« und der im Ohr des Bublicums 
noch nachklingenden D-Mefje von Beethoven mag die jubjective 
Vorliebe, das individuelle Verhalten des Hörers fein Recht 
wahren; ein objectiver Maßitab der Werthihägung wird ſich 
nicht finden laffen. Die religiöjen Anſchauungen Bach’s find 
von jenen Beethoven's jo weit verjchieden, wie die Richtungen 
ihrer mufifaliihen PBhantafie außeinandergehen. Daß Beet: 
hoven’3 MWerf eine größere Zahl von Hörern unmittelbar 
erfaßt und mit fich fortreißt, können wir weder bezweifeln noch 
bedauern, iſt es doch muſikaliſch und kirchlich aus modernem 
Geiſt geboren. Man kann auf Beethoven übertragen, was 
von Shakeſpeare geſagt wurde, daß er nämlich überall und 
doch nirgends religiös iſt. Von Bach darf die erſte Hälfte des 
Sabes gelten. Niemand wird ihn mit Shakeſpeare ver— 
gleichen, aber an den ihm an Genie allerdingd untergeordneten 
Milton erinnert uns der fromme Thomad-Cantor häufig. 
Wie Milton’3 Poeſie direct aus dem engliichen Buritanerthum, 
jo mündet Bach's Kirchenmuſik aus der großen pietiftiichen 
Bewegung des 17. Jahrhunderts. Das Wort nicht im tadelnden 
Sinn genommen, fondern im hiſtoriſch charakterifirenden. Den 
Zufammenhang Bach's mit dem deutichen Pietismus zu über: 
jehen, bedarf es wirffich eines verichleierten Auge. Man be— 

Hanslid. Aus dem Goncertiaale. 2. Aufl. 18 


274 1862. 


tradhte die Terte feiner Cantaten Motetten Paſſionen und Die 
liebevolle Verjenfung, den allerdingS verflärenden, aber doc 
innerlihft damit zufammenftimmenden Ausdrud feiner Mufik. 
Das den Pietismus dharakterifirende Hereinziehen alle Gegebenen 
in die Sinnerlichkeit, und zugleih das fortwährende emfige 
Herausholen und Anschauen des Empfundenen finden wir analog 
in Bach's Mufit wieder. Das ift jedenfalls etwas bon der 
bloßen Frömmigkeit ſich Unterfcheidendes. Tiefe Religiofität 
ſpricht doch auch aus Beethoven's D-Meffe; allein fie ift 
modificirt, bereichert durch tauſend Bildungs-Elemente, die 
Beethoven in ſich aufgenommen, und die er auch im kirch— 
lichen Schaffen weit entfernt iſt, von ſich abzuwehren. Wir 
brauchen übrigens, um dieſes Unterſchiedes inne zu werden, gar 
nicht den entfernten Beethoven, wir dürfen nur Bach's 
großen Zeitgenoſſen Händel herbeiziehen, deſſen »Meſſias« 
denſelben Inhalt wie die Paſſionsmuſik behandelt. Im »Meſſias 
athmet auch jeder Ton echte Frömmigkeit, dabei iſt aber alles 
freier, heller, muthiger. Die tröſtenden, ſich aufſchwingenden, 
das Gemüth befreienden Momente finden ſich bei Händel 
ungleich zahlreicher, und er verweilt viel länger und nach— 
drücklicher bei ihnen, während über der ganzen »Matthäus-— 
Paſſion« eine ergreifend tiefe, aber faſt ununterbrochen düſtere, 
unfreie, von der Betrachtung der eigenen Sündhaftigkeit nicht 
losfommende Frömmigkeit wie ſchwerer Trauerflor laſtet. Daß 
es Bach ohne ängſtliche Bemühung gelang, alle ſinnlich-welt— 
lichen Elemente fernzuhalten, und dennoch auf einem ſo rigoros 
begrenzten Gebiet menſchlichen Empfindens den Hörer unaus— 
gelegt zu beihäftigen und zu erheben, ift das höchſte Zeugniß 
für die Kraft feines Genies und feiner Empfindung. 

Es freute uns zu beobachten, daß das überaus zahlreiche 
Publicum Bach's ernitem und anftrengendem Meifterwerf mit 
ungefhmwächter Theilnahme folgte. Der Bollgenuß eines ſolchen 
Werkes kann freili nur demjenigen werben, der wohl vor: 
bereitet herantritt, und auch in die faft umergründliche Tiefe 
der künſtleriſchen Technik zu tauchen verfteht. Diefe Freiheit 
und Kunſt der Behandlung des polyphonen Satzes ift für das 
arbeitende Studium eine Goldgrube muſikaliſcher Erkenntniß. 


Händel’3 »Meffiad« u. das Aubifäunt der »Bejellich. d. Mufitfreunde«. 275 


Außer einiger techniiher Einfiht verlangt die Würdigung dieſes 
Werkes auch Hiftorifhen Sinn. Nur dur feine Vermittlung 
vermag man die Bedeutung ded Ganzen völlig zu erfaflen und 
unbeirrt von fremdartigen. Einzelheiten es zu genießen. Diejen 
biftorifhen Sinn, den fchönften Erwerb unferer Zeit, fcheint 
dad Bublicum in der That auch in mufifaliichen Dingen fich 
mit jedem Jahr ficherer anzueignen; es veriteht moderne An: 
fhauungen, individuelle Neigung und Gewohnheit von den 
Denkmälern einer großen Vergangenheit fernzuhalten, und ſtößt 
es ſich auch hie und da mit den Fühlhörnern, jo zieht es fie 
doch nie zurück. 


Händel's „Melfias“ und das Jubiläum 
der „&efellfchaft der Mufikfreunde“. 


Fünfzig Jahre find es, daß die »Gejellihaft der öſter— 
reihifhen Muſikfreunde« fih in Wien conftituirt und ihre 
Gründung mit der Aufführung eines Händel’jchen Oratorium 
gefeiert hat. Ein Halb Jahrhundert treuen Zufammenhaltens, 
Streben und Wirkens, — fann es einen erfreulicheren, jolideren 
Anlaß zu feitlihem Grinnern geben? Die mufifaliihe Feier 
diejer goldenen Hochzeit mit Apollo bejtand in der Aufführung 
von Händel’ »Meſſias«. Es fah dabei recht feitlih aus. 
Der große gedrängt volle Redoutenſaal, von zahlreichen Luftern 
beleuchtet, die fingenden Damen im weißen Kleid, und die Herren 
wenigſtens jo feftlich al3 überhaupt ein Herr heutzutage aus— 
ſehen fann, und vor ihnen, gleihjam als Schußheilige, die 
Büften von Glud, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert 
und dem unvergeßlichen Erzherzog Rudolph, der » Gejellichaft« 
erſtem und werkthätigitem Schirmherrn. Ein jchmetternder Tuſch 
von Trompeten und Pauken — der Kaiſer und die Kaiſerin, 
umgeben von zahlreichen Gliedern des Herrſcherhauſes, erſcheinen 
unter jubelndem Zuruf in der großen Loge. Da tritt Anſchütz 
vor und ſpricht einen Prolog von Joſeph Weilen. Noch immer 
derſelbe Wohllaut, dieſelbe Wärme und Ueberzeugungskraft, die 
dieſem ehrwürdigen Künſtler ſo wunderbar treu bleibt. Herbeck 
klopft and Pult, die weißen und die ſchwarzen Heerſchaaren 

18* 


276 1862. 


raufhen auf, und die feierlihen Harmonien der »Meifiade« 
ertönen. Die Wahl des Oratoriums fonnte feine befjere fein. 
Gerade der »Meſſias«, Händel’3 berühmteftes und wohl auch 
pollendetites Werk, tft in Wien jeit einer langen Reihe von 
Jahren nicht aufgeführt morden. 

Händel hat fih in feinem »Meſſias« ein Denkmal, nicht 
blos als Tondichter, jondern zugleich als frommer, bibelfeiter 
Chrift gejeßt. Denn der Tert ift von ihm felbft aus den 
Stellen der Heiligen Schrift zufammengeftellt. »Glauben denn 
Eure Lordihafte, fagte Händel in feiner derben Biederfeit 
einem hochgeftellten Mann, der ihm antrug, er wolle zum 
»Meſſias« den Tert Schreiben, »ich Fenne nicht Gottes Wort, 
oder daß Eure Lordichaft Beſſeres fchreiben werden, als die 
Apostel und Propheten?« Händel wollte feine eigentliche 
»Paſſionsmuſik« geben; er faßte jeine Aufgabe in freier, großer 
Weiſe, dergeftalt, daß er einen Blid über die ganze Geidhichte 
wirft von den VBerheißungen durch die Propheten an bis zum 
Erſcheinen und Leiden des Heiland und die noch fortwirfen- 
den Folgen jeines Opfertodeg. Er befingt im erften Theile die 
Verheißung des Meſſias, die Sehnſucht nad ihm, fein Erjcheinen 
al Lehrer und Helfer; im zweiten Theil das Erlöfungswert, 
Leiden und Tod, Veibreitung der neuen Lehre, trotziges Auf— 
Sehnen gegen fie, endliher Triumph »des Herrn und feines 
Chrift, der da herriht von nun an auf ewige; im dritten 
Theil gläubige Zuverfiht und Erwartungen der Segnungen, 
welhe das Chriftenthum für die Zukunft verheißt. Die mufi- 
faliihe Darſtellungsweiſe ift vorwiegend lyriſch; das epifche, 
erzählende Element tritt dagegen zurüd; das dramatijche bleibt, 
mit der einzigen Ausnahme des Chors: »Er trauete Gott«, 
vollftändig aus dem Spiele. Dadurch gewinnt das Werk eine 
Größe und Einheit, eine gleichjan feitgewurzelte Ruhe und 
SInnigfeit, wie fein zweites, denfelben Stoff behandelndes Werf. 
Alle Keinen, genrehaften Züge find vermieden, jelbit die Perſon 
Chrifti ift nicht fingend eingeführt, eine Klippe, an der fogar 
Beethoven ſcheiterte. Die überwiegend Iprifche, reflectirte 
Stimmung des »Meffiad« konnte übrigen? in folder Einheit 
nicht ohne jeden Nachtheil feitgehalten werden. Es fehlen dieſem 


Händel's »Meifias« u. das Jubiläum ber »Geielich. d. Mufitfreunde. 277 


Dratorium die gewaltigen dramatiihen Schlagichatten, nnd da— 
mit die Kraft harakteriftiicher Gegeniäße, weldhe und im » Judas 
Maccabäus«, »Simfon«, »Beljazar«e hinreißen. Die Phantafie 
des Hörer3 findet geringere Anregung im »Meffiad«, der eben 
die fubjective Andacht, die Stetigfeit der Empfindung nicht 
durd Schilderungen äußeren Gejchehen® unterbrechen will. Die 
Mehrzahl der Händel’ihen Oratorien find eigentlich biblifche 
Dramen, nur ohne fcenifhe Daritellung; fie wirfen mit der 
vollen Anfhaulichkeit dramatiſchen Lebens. Indem der »Meſſias« 
auf diefe Wirkung verzichtet, muß er, gegen den Ausgang Hin, 
in eine Monotonie des Ausdruds verfallen, der ungeſchwächt 
Stand zu halten feine geringe Aufgabe ift. Abgefehen von 
diejer Einförmigfeit, welche in einem jo engbegrenzten Kreis 
von Empfindungen nicht ganz ausbleiben fan, ift der Eindrud 
des »Meſſias« auf jeden Hörer ein gewaltiger, tiefgreifender. 
Die Frömmigkeit erfcheint Hier in folcher Kraft und geiftiger 
Geſundheit, e8 ift alles fo echt, groß und ganz, daß man be: 
wundernd fühlt, einem unvergänglihen Werfe der Kunit und 
der Andacht gegenüber zu ftehen. Das Hauptgewicht der Wir: 
fung liegt natürlic in jener Form, deren großartige Behandlung 
Händel als unerreicht in der Geichichte der Tonkunſt hinſtellt, 
in den Chören. »Da jchlägt er ein, wie der Donner«, jagt 
Mozart. Mer kennt nicht die gewaltigite aller Hymnen, das 
Alleluja, mit feiner padenden Rhythmik, feiner bei aller Kunſt 
jo durchſichtigen Volhphonie, feiner impofant anwachſenden 
Steigerung! Dies Alleluja fteht an Volfsthümlichkeit und blen- 
dender Pracht einzig da; an großartigen Seitenjtüden fehlt es 
übrigen? im »Meſſias« nit. Wie erfchütternd fällt nach der 
lagenden Arie des Altes der erhabene Trauergefang ein: » Wahr: 
lid, er trug unjere Sünden!« Welche Charafteriftif in dem 
Chor »Wie Schafe gehen«, welche Feierlichkeit in dem » Wunder: 
bare! des eriten Theild. Nach diejer Richtung würden wir 
mit Beifpielen de3 Großen und Kraftvollen kaum fertig werden. 
In den Arien diefes Oratoriums erhebt fih Händel vielfach 
über fich ſelbſt. Die Mehrzahl derjelben fteht nämlih an 
Wärme und Innigkeit der Empfindung, an Freiheit der con 
ventionellen Feſſeln, über dem Durcfchnitt defien, was Händel 


278 1862, 


in der Arienform zu bieten pflegt. Wer nicht auf einen großen 
Namen Hin in Bausch und Bogen bewundern will (wodurd) 
doch eigentlih immer dad wahrhaft Bewunderungsmwiürdige des: 
ſelben zu kurz fommt), der muß allerdings auch zwiſchen den 
Arien im ⸗Meſſias« unterfcheiden. Ein, Theil derjelben gehört 
zu jenen reinen formaliſtiſch erdacdhten, bei welchen der Tert 
dem Meifter nur als die Gelegenheit gilt, Muſik anzubringen. 
Meiſt mit einem fräftigen Motto beginnend (wie 3. B. die Arie: 
»Alle Thale«), jegen fie fich in jener typifchen, coloraturbehängten 
Steifheit fort, welche um die einzelnen Worte jih nicht viel 
fümmert. Wir möchten in diejfe Claſſe fo ziemlich alle Arien 
des eriten Theile reihen, mit Ausnahme der legten: »Er 
weidet jeine Heerde«. Wir find durch die großen Nachfolger 
Händel’3 an eine viel individualifirtere, anjchmiegendere Bes 
handlung des Sologejanged, an eine freiere und wärmere 
Melodie gewöhnt, um uns für dieſe Ausdrucksweiſe aufrichtig 
zu begeiftern. Selbſt Autoritäten wie Chryjander und Ger: 
pinus*) werden ung nicht dahin bringen. Im Gegenjage zu 
diefer Claſſe von Arien weiſt aber gerade der »Meſſias« eine 
Reihe von Sologeſängen auf, in denen Wort und Ton völlig 
Ein getworden, jede Note von Bedeutung, jede Wendung tief 
empfunden iſt. Goloratur fehlt darin entweder ganz, oder jie 
iſt doch höchſt charaktervoll, wie die rauhen Gorgeggi des Baſſes 
in der gewaltigen Arie: »Warum toben die Heiden«. Die 
Arie: »Ich weiß, daß mein Erlöfer lebet«; »Er weidet jeine 
Heerde«; » Das Volk, das im Dunkeln wandelt«; die Alt-Arie: 


— 





*) Profeſſor Gervinus, der neuerer Zeit als Vehmrichter gegen 
jede vermeintliche Händel-Verletzung umhergeht, findet als unbedingter 
Bewunderer der Händel'ſchen Arien auch, »daß Händel die feinſten, 
zarteſten, leiſeſten, dem gemeinen Gehör unvernehmbaren Aeußerungen 
der geheimſten, verborgenſten Seelenregungen abzuhören verſtand«. Wir 
möchten ihn beſcheidentlich erinnern, daß Händel ſelbſt den individuellen 
Ausdruck ſeiner Geſänge mitunter ſehr gering anſchlug, indem er z. B. 
für manche der ſchönſten Nummern aus dem »Meſſias« Melodien 
aus seinen italieniſchen Liebesliedern (Madrigale von Mauro 
DO rtenito) unverändert, mitunter in derjelben Tonart, verwendete. Das 
Nähere fiche in Winterfeld'3 »Gpangeliihem Kirchengejange«, 
III. Band.) 


Richard Wagner's Concert. 279 


»Er ward verachtet« (beſonders von dem Zwiſchenſatz in C-moll 
an) gehören hieher, — bemunderungswerthe Gejänge, wie fie 
fein zweites Oratorium. des Meifterd aufzuweiſen hat. Director 
Herbed hatte im mwohlveritandenen Intereffe des Werkes (das 
jelbft in England nicht vollftändig gegeben wird), mehrere 
Nummern weggelafien. Leider war unter diejen Nummern. aud) 
der Chor: »Er trauete Gott«, deſſen unvergleihlihe drama: 
tiihe Energie wir um feinen Preis vermiffen wollten. Für das 
Recht eines Dirigenten (der das Publicum zu Händel heran- 
ziehen, und nicht etwa von ihm abjchreden will), Kürzungen 
vorzunehmen, brauchen wir wohl nicht erit aufzutreten. 

Gegen Profeſſor Gervinus, der in der Weglaffung jeder 
Arie mufikalifhe Tempelihändung fieht, führen wir ein Wort 
des alten Thibaut in Heidelberg an. Einer der größten Händel- 
Verehrer und ftrengiten Buriften (Haydn und Mozart waren 
ihm ſchon unbequem), plaidirt Thibaut in feiner »Reinheit 
der Tonkunſt« für die Kürzungen, indem er Händel’: Oratorien 
mit »einer Schadtel, worin Edelfteine in Baumwolle einge- 
widelt liegen«, vergleicht, und »diejenigen bedauert, welche ſich 
zur unbedingten Pfliht machen, ein Händel'ſches Oratorium 
ganz zu geben, als ob fie damit recht etwas Wunderſames 
zu Stande gebradt hätten«. 


Wichard Wagner’s Concert. 


Im Theater an der Wien gab Richard Wagner eine 
große »Muſikaufführung«, welche aus Bruchſtücken feiner un— 
vollendeten Werke: »Die Meifterfinger«e und »der Ring 
der Nibelungen« beitand. Es dünkt und auffallend, wie 
gerade Wagner ein ſolches Potpourri außer Zufammenhang 
und ohne fcenifche Zurüftung aus Werfen veranftalten konnte, 
deren Inhalt dem PBublicum faum oberflächlich bekannt ift. 
Hat doch Wagner unzähligemal ausgeſprochen, daß in der 
Oper die Muſik für fich nichts ift, nichts fein darf, fondern ihre 
Bedeutung lediglich aus dem Zufammenhang der ganzen Hands 
lung, der Worte, der Mimik, der Scenerie erhält. Auch die 


280 1862. 


einzelne Scene darf nad feiner Theorie aus dem mufifalifch- 
dramatiichen Organismus, deſſen Iebendigen Theil fie bildet, 
nicht losgetrennt werden fünnen. Der Verfaffer von »Oper 
und Drama« hat mit feiner Concertaufführung unftreitig eine 
Inconſequenz gegen fi jelbit begangen. Sie ihm verdenten 
zu wollen, fällt ung nit ein. Gin Künftlergemüth hat noch 
andere Bebürfniffe, als das, confequent zu fein. 

MWagner, der in Wien eine große Zahl enthuftaftiicher 
Anhänger zählt, mochte das Bedürfniß empfinden, fih ihnen 
noch vor dem bedenklich zögernden Erjcheinen feines »Triftan« 
ins Gedähtnig zu rufen, feinen Wiener WVerehrern gleichiam 
ein glänzendes muſikaliſches Lever zu geben. Auch wir ver: 
danten Wagner »Mufifaufführung« die reichhaltigfte Anz 
regung und Anſpannung, zwar feinen reinen, aber doch einen 
größeren Genuß, ald die GCompofition irgend einer foliden 
ſchulgerechten Mittelmäßigfeit uns zu gewähren vermöchte. Die 
eigenthümlihe Zufammenfegung des Programms legt der Kritik 
eine große Neferve auf. Sie muß fich jehr bedenken, über 
complicirte, zum Theil ſchwer faßlihe Fragmente zu urtheilen, 
die aus dem Zufammenhang noch unverdffentlichter Werke 
herausgerifjen find. Der Goncertgeber Wagner hat, wie wir 
Eingangs conftatiren mußten, gegen jeine eigenen Geſetze ver— 
ftoßen; für und beſtehen diefe Geſetze noch, und wir möchten 
nieht gegen fie veritoßen. Wagner’: Muſik wurzelt wirklich 
vollſtändig in feinen dramatiichen Intentionen, fie ift wirklich 
untrennbar verwachfen mit der Action, mit dem fcenijchen Bilde 
mit allem WVorhergehenden und Nachfolgenden. Die jchildernde, 
malende Tendenz, die dramatiiche Abhängigkeit der Mufif er: 
Scheint überdies in Wagner’3 neueften Opern noch ungleich 
größer, ald im »Tannhäufere oder »LXohengrin«e. Aus diefen 
Opern haben unfere, unter dem Namen Leierfaften bekannten 
muſikaliſchen Straßenräuber wenigitens den Pilgerchor, den 
Einzugsmarſch, das Brautlied herausgefriegt; »Siegfried« und 
die »Walküren« können vor ihren Angriffen ruhig fein. Die 
von Wagner aufgeführten Fragmente fünnen als ſolche nad 
ihrem Werth und Bedeuten unmöglich abgeſchätzt werden. Selbſt 
nad ihrer rein muſikaliſchen Wirkung müflen fie im Zufammen: 


Niharb Wagner's Goncert. 281 


bang des Ganzen ſich anders darftellen; fie find gewiß beſſer 
oder ſchlechter, als fie im Concert einzeln uns vorkommen. 
Beiler: wenn alles Vorhergehende in der Oper weile darauf 
borbereitet, wenn es Höhenpunkte find, vor welden und nad) 
welhen die Nerven des Hörers Ruhe finden. Scledter: 
wenn ihr Styl der der ganzen Oper iſt, und zum täglichen 
Brode machen will, was nur als jeltenes Neizmittel dient. 
Was und im Concert dur fünf biß zehn Minuten als geilt- 
reiches blendendes Experiment« intereſſirte, müßte, auf einen 
Theaterabend ausgedehnt, zur unaushaltbaren Nerveufolter 
werden. Wer fönnte den glänzenden theatraliichen Effect des 
»Malfürenrittes«, des »Feuerzaubers« 2c. leugnen? Wer aber, 
fragen wir weiter, vermöchte diefen Sturm des Außerſichſeins 
auch nur eine Viertelftunde länger zu ertragen? Wagner’ 
Verehrern kann es nicht entgangen jein, wie müde und abge- 
ipannt ſelbſt das enthufiaftiiche Bublicum »an der Wien« nad 
der ledten Nummer war. Als weſentliche Theile eines großen, 
dramatifhen Organismus entziehen ſich die vorgeführten Frag: 
mente jeder nicht ganz oberflächlichen Beurtheilung. Sie auf 
ihren mufifalifhen Werth allein anzufehen, würde der Com: 
poniſt gewiß noch umftatthafter finden. Als fpecifiihen Muſiker 
vermochten wir Wagner niemals hoch zu ftellen. Die neueften 
Proben haben hierin unſere Meinung nicht geändert. Der 
eigentliche Kern ihrer mufifalifchen Erfindung erſchien ung dürftig, 
ja dürftiger als in MWagner’3 früheren Opern. In den 
»Nibelungen« ift das rein muſikaliſche Erfinden und Entwideln 
fo gut wie aufgegeben, was fie ung bieten, iſt potenzirte 
Declamation oder muſikaliſche Decorationd-Dtalerei. Im der 
Technik diefer ſtets meifterhaft gehandhabten Decorations-Malerei 
hat Wagner noch entfchiedene Fortichritte gemacht. Die effect: 
vollen Orchefterbilder im »Tannhäufer«e und »Lohengrin« er— 
blafien gegen die Farbengluth der vorgeführten Nibelungen: 
Scenen. Der »MWalfürenritt« mit feinen Peitichenhieben, Pferde: 
gepolter und Sturmesfaufen überjchreitet die Grenzen des 
Charatteriftiih-Schönen, aber er ift mit einer genialen Sed- 
heit gemacht, die den Zuhörer förmlich niederwirft. In dem 
»Feuerzauber Wodan's« überfluthet uns ein. Meer von fremd: 


282 1862. 


artigen Klängen. In das fieberhafte Tremoliren der Geigen 
tönt das Rauschen und PBizzifiren dreier Harfen, brüllen Po— 
faunen und Ophhykleiden, klirren die hellen Rufe geftimmter 
Glöckchen. | 

Sn jedem der Wagner’ichen Fragmente jchlagen eigen- 
thümliche, mitunter blendende Ordeiter-Effecte an daS betroffen 
laujchende Ohr des Hörers. Freilich führt Wagner zu dieſem 
Zweck fortwährend einen unermeßlichen Haushalt: dag ganze 
(namhaft verftärkte) Orcheſter in fortwährender, fluthender Be: 
wegung, Streicher und Bläſer in den fremdartigiten Combina— 
tionen, Poſaunen und Bombardond, Baufenwirbel, große 
Trommel, Beden, Triangel, Glöckchen. In dem Raffinement 
ungewöhnlicher Klangmiſchungen, wie in der Wucht des mate- 
riellen Lärm jcheint und Wagner an dem Punkt angelangt, 
wo .er nicht mehr weiter kann. Wenn wir aus Ddiejen Frag: 
menten und Wagner’3 gegenwärtigen Standpunft abftrahiren 
dürfen, fo fteht die betrübende Wahrheit feit, daß diejer Com— 
ponift nicht mehr auders als mit den coloffaljten Mitteln zu 
wirfen vermag. Am auffallenditen zeigt dies das »Vorſpiel« 
zu den »Meifterfingern«. & ſchließt mit einem Inſtrumenten— 
lärm, der jedenfall! mehr VBerwandtihaft mit dem Untergang 
von Pompeji hat, als mit der ehrſamen Nürnberger Sänger: 
zunft. Die Vereinigung der drei Themen. der Ouverture mag 
auf dem Papier recht ſtattlich ausfehen, in Wirklichkeit ilt fie 
ein betäubende® Durcheinander: Das gleihe Kunftitüd in 
Meyerbeer's »Norditern« fteht wie ein Meiſterwerk dagegen. 
Den reinften Eindrud hat und Pogner’3 Anrede aus den 
»Meifterfingern« gemadt. Das Declamatorifhe fügt fih darin 
jehr hübfch dem Melodiſchen, der Gefang athmet Innigkeit, die 
Begleitung hält fi, bei großer Wirkjamkeit doch mäßig. So 
weit wie in den Geſang Bogner’ wagt fi in den übrigen 
Stüden die Melodie felten hervor. Wagner legt fie bekannt: 
ih als eine »unendliche⸗ ins Orchefter, wo fie als jehr end- 
liche, vorübergehende, allerdings von reizendem Effect fein kann. 
Mit dem Vorwurf der Melodien-Armuth darf man Wagner 
wohl nicht mehr kommen, feit er in den »Meifterfingern« fo 
beißenden Spott darüber ausgegoſſen. Es fommt eben nur 


NRihard Wagner's Concert. 283 


auf den Begriff von Melodie an. Nach unferer einfältigen 
Meinung ift die Melodie verihieden von Eifenfeilipänen und 
unjer Ohr fein Magnet. 

Ueber den Inhalt von Wagner’3 für vier Theaterabende 
berechneten »Nibelungen-Ring« gibt und eine eben erichienene 
»Studie« von Franz Müller in Weimar erwinjchte Auf: 
ihlüffe. Das raſche Erſcheinen dieſer apologetiihen Schrift 
hat und nicht erftaunt. Die Compofitionen Liſzt's und 
Wagner's wirken wie Armeebefehle. Es braucht ein Werk 
eines dieſer beiden Herren nur zu erfcheinen, und eine Kleine 
Literatur von erflärenden Artikeln, Brojchüren, Ueberſetzungen ꝛc. 
folgt auf dem Fuß. Herrn Franz Müller’ Frühgeburt hat 
nicht einmal fo lange warten können: die Mufif zu Wagner’ 
»Nibelungens ift noch nicht fertig, das Tertbuch noch nicht 
veröffentliht, und jchon Halten wir diefe 118 Seiten jtarfe 
»Einführung in die Dichtung Rihard Wagner’3« in Händen. 
Sie beijchäftigt fih Iediglih mit dem Texte; die Muſik wird, 
der Vorrede zu Folge, ein zweiter Band von »fundigerer Hand« 
beleuchten. Das Buch ſelbſt ift geiftlos und bombaftiih. Das 
iſt ſchlimm; aber noch jchlimmer, daß dad Bud nothwendig 
iſt. Wer nit die ganze nordiihe Mythologie mit allen 
Helden= und Götterfagen wohlgeordnet im Kopfe hat, verjtcht 
von Wagner’3 viertägiger Rieſen-Oper jo gut wie nicht. Und 
doch ſoll dies »Bühnenjpiel« ein Felt für das deutihe Volk 
fein. Welch' fchwerer Irrthum, es jeien jene Götterfagen fort: 
lebend im deutihen Wolf, weil defjen Urahnen fie erdadt! 
Wagner kann in den gebildeten reifen Wiend leicht die 
Probe machen, wie viel von den Erzählungen der »Edda« 
jeinen Verehrern und Verehrerinnen bekannt jei. Und vollends das 
»Volk«! Angenommen nun, dieſes hole jich die vollſtändige Kennt: 
niß diefer Sagen (aus Büchern, woher denn jonft?), jo fehlt 
doch der innere lebendige Zufammenhang der Nation mit jenen 
alten Göttergeftalten. Wir halten diefe Gebilde einer mächtigen 
naiven Volkspoeſie Hoch: im Epos. Auf der Bühne aber wollen 
wir Menfchen vor uns jehen, lebendiges Fühlen, Denken und 
Handeln, dad wir verftehen, und das uns im Innerften bewegt. 
In Wagner’3 »Lohengrine ift das Mythiſche des Helden jchon 


284 1862. 


bebenflih; feine Zwitternatur vermiſcht und verfälicht in den 
entjeheidenden Augenbliden jedesmal die Motive feines Handelns. 
Sm »Nibelungenring« find die wenigen handelnden Menſchen 
lauter Zohengrine, nicht Gott, niht Menih. Im »Rheingold« 
treten nur Götter und Halbgötter auf. Die Handlung fpielt 
abwechjelnd in den Fluthen des Nheins und in ber Götterburg 
Walhalla; alfo unter dem Waſſer und über den Wolfen. Auch 
in den folgenden Theilen iſt das unmittelbare Eingreifen der 
Götter in die Handlung und ihre directe Verbindung mit den 
Hauptperfonen jo vorherrfhend, daß Siegfried, Brunnhild, 
Hagen fi) weit mehr als überirdifche, denn als menfchliche 
Weſen geben. 

Die modernen Dramatiker, welche den Muth hatten, die 
Siegfried-Sage auf die Bühne zu bringen, waren vor allem 
bedacht, fie und durch rein menſchliche Motivirung näher zu 
rüden; fie hielten jich deshalb an das Nibelungenlied, welches 
im Vergleich zu den älteren Sagen und SHeldenliedern die 
Charaktere und Begebenheiten Schon überwiegend in dramatiſche 
Bewegung jeßt. Wenn Wagner im Gegenfaß dazu aus der 
»Edda« ſchöpft, jo heißt dies, das Rad zurüddrehen. Mit 
Vorliebe auf rein epiihen Motiven vermweilend, geht Wagner 
den Nibelungenhelden bis in das tiefite Dunkel ihres Urſprungs 
nad. Siegfried’3 Thaten füllen das dritte und vierte Stüd; 
im zweiten handeln Siegfried’3 Eltern, im erjten die Götter, 
von denen fie abitammen. Dan muß froh fein, daß Wagner 
den göttlihen Stammbaum nicht noch weiter biß zu der Kuh 
Andhumbla verfolgt hat, welche durch Beleden falziger Eis: 
blöde den Ahnherrn des Götterffeeblattes Odin, Wilt und We 
hervorrief. 

Wir würden hier mit dem Bedauern fchließen müſſen, 
daß eine jo glänzende dramatifche Kraft fi durch das Streben 
nah dem Ingeheuerften und Außerordentlichiten in jo unfrucht— 
baren Streifen feithalten läßt. Zum Glüd eröffnet und Wagner 
jelbjt gleichzeitig eine neue Ausficht, die und nad) der qualmenden 
Gluth der »Nibelungen« wie eine freundliche Landichaft ent- 
gegenlächelt. Wir meinen die »Meifterjinger«, eine dreiaftige 
Oper, deren Tert wir in dem Haufe eined der liebensmwürdigiten 


oh. Brahms. 285 


Kunitfreunde Wien! von Wagner ſelbſt vorlejen hörten. Was 
man auch im Cinzelnen dagegen einwenden muß (— die 
Diction iſt ſchauderhaft —), das Ganze bleibt doch ein an 
iprechendes, bald heiteres, bald rührendes Sittenbild aus dem 
deutihen Städteleben, auf einfahen Werhältniffen ruhend, 
bewegt von Leid und Freud jchlichter Menjchen. Mit den leicht 
faßlihen und leicht zu fcenirenden »Meifterfingern« wird 
Wagner dem deutichen Theater zuverfichtlih einen größeren 
Dienit leiften, ald mit den »Nibelungen«; während diefe einer 
geträumten Zukunft Harren, wartet auf jene die danfbare, 
opernlofe Gegenwart. Wagner hat fich gleichzeitig Zwei ent: 
gegengelegte Wege geöffnet. Der deutichen Kunſt kann es nicht 
glei gelten, welchen von beiden Wagner in Zukunft erwählen, 
und ob er es vorziehen wird, feiner Nation ein Meeifterfänger 
zu jein, oder ein Nibelung. 


Job. Braknıs. 


Sohannes Brahms Hat fih nunmehr in einem eigenen 
Goncerte dem Publicum als Tondichter und PVirtuofe vorge: 
führt. Die Compofitionen Brahms’ gehören nicht zu jenen 
unmittelbar einleuchtenden und ergreifenden, die im Fluge mit 
fih fortreißen. Ihre eroterifche, jeder populären Wirkung por: 
nehm ausweichende Haltung Hat, vereint mit ihren großen, 
tehnifchen Schwierigkeiten, diefe Tondihtungen weit langjamer 
durchdringen laſſen, als nach der entzüdten Prophezeiung, die 
Schumann feinem Liebling als Wanderſegen mitgab, zu ver: 
muthen war. Bon Brahms' größeren Compofitionen war in 
Wien bisher feine einzige, von feinen fleineren Sachen nur 
eine Reihe (ungedrudter) »ungarifher Tänze durd Clara 
Schumann aufgeführt. So trat denn in der blonden, feinen 
SFohanneögeftalt des Gomponiften dem Wiener Bublicum in der 
That eine fremde Ericheinung entgegen. 

Es gehört derzeit noch zu den bedenklihen Unternehmen, 
Brahms’ Talent und Wirkſamkeit abzuihägen. Auch Solden, 
die feine Werke vollftändiger fich eigen gemacht, als und möglich 


286 1863 


war, fällt es keineswegs leicht, fih in Brahms zweifellos zu 
orientiren. Nicht als ob dieſer Componift noch in Brauſen der 
erften Gährung triebe. Auf feine beiten Jugendwerke, deren 
wilde Genialität jo unwiderſtehlich abſchreckend anzog, find 
Yängft reifere Schöpfungen gefolgt. Won den überfhäumenden 
zwei Clavierfonaten zu den Fis-moll-Bariationen, und feither 
wieder zu den beiden Glavier-Quartetten, den Händel-Variationen 
u. a, welcher Fortichritt in der freieren  ficheren Be— 
herrſchung der Technik, welcher Gewinn an Mäßigung und 
formeller Marheit! Bon einer Anfängerfchaft kann da Feine 
Rede fein. Allein gerade in Brahms' jüngiten Werfen tauchen 
ung Fragezeichen und NRäthielbilder auf, die eine Löſung erit 
in der nächſten Periode feines Schaffens finden werden. Dieje 
Löſung wird entjcheidend fein. Werden Urjprünglichfeit der 
Erfindung und melodijche Kraft in Brahms gleihen Schritt 
halten mit der hohen Ausbildung feiner harmoniſchen und 
contrapumktiichen Kunſt? Wird die natürliche Friſche und Jugend— 
fraft feiner erften Werke in dem foftbaren Gefäß, dad Brahms 
ihr jeßt geichaffen, unbefümmert fortblühen, ja nod) ſchöner und 
freier fich entfalten? Sit jener Nebelflor grübelnder Reflexion, 
der feine neueſten Schöpfungen jo häufig trübt, der Vorbote 
durhichlagenden Sonnenlichts oder noch dichterer, unmirthlicher 
Dämmerung? Die Zukunft, die nächte Zukunft muß es lehren. 
Eine bedeutende Erſcheinung, ja der intereffanteiten eine, ift 
Brahms gegenwärtig ſchon. In Form und Charakter feiner 
Mufit mahnt er zunädft an Schumann. Allerdings mehr im 
Sinne einer inneren Verwandtichaft, als formeller Nachbildung. 
Eine Individualität wie Brahms fonnte fih dem Einfluß des 
Schumann'ſchen Geiftes, wie er umleugbar gegenwärtig Die 
mufifaliihe Atmofphäre beftimmend durchdringt, am jchweriten 
entziehen*. Mit Schumann theilt Brahms’ Mufif vor allem 








*) Ein prophetifhes Wort Shumann’d möge hier feine Stelle 
finden. Er fchrieb im Jahre 1840 an einen Freund, er finde es kleinlich 
von Fink, daß defien Mufilzeitung alle feine Compofitionen ſeit Jahren 
conjequent ignorire. »Nicht meines Namend Willen ärgert es mich,« 
fügte er bei, »ſondern der Richtung halber, von der ich weiß, daß fie 
die der fpätern Mufif überhaupt fein wird.« 


oh. Brahms. 287 


die Keufchheit, den inneren Adel. Nichts von Gefallfucht oder 
‚ beipiegeluder Affection, alles redlih und wahr. Mit Schumann 
theilt fie aber auch die bis zum Gigenfinn jouveräne Sub: 
jectivität, das Grübeln, die Abkehr von der Außenwelt, das 
Snfihhineinhordhen. An Fülle und Schönheit der melodijchen 
Erfindung von Shumann Hoc überragt, erreicht ihn Brahms 
häufig im Reichtum rein figuraler Geftaltung. Hier Liegt 
Brahms’ größte Stärke; die geiltvolle Modernifirung des 
Canons, der Fuge, hat er von Schumann. Die gemeinjchaft: 
liche Quelle, an der beide fchöpften, ift Sebaftian Bad. Schon 
in den erften Variationen von Brahms (über ein Shumann’iches 
Thenta) arbeitet eine ungewöhnliche formenbildende Kraft; Die 
folgenden über ein Original-Thema und die über eine ungariiche 
Melodie blieben ungefähr auf gleiher Höhe. Sie hat 
Brahms gegenwärtig mit den »25 Variationen über ein Thema 
von Händel« übertroffen. In der Variationen-Form hat fi 
Brahms’ Talent bisher am glüdlichiten geltend gemacht: fie 
erheifcht vor allem Reichthum figuraler Geftaltung und Einheit 
der Stimmung, alio gerade Brahms’ entichiedenfte Vorzüge. 
Die Händel-VBarationen (ih kann mir nicht verfagen, an die 
zweite und zwanzigſte, zwei Mufterftücde geiftvoller Harmonik, 
zu erinnern) erregten in Brahms’ Concert den Iebhafteiten 
Beifall. Nicht jo günstig wirkte das Clavierguartett in A-dur. 
Fürs erfte find die Themen nicht fehr bedeutend. Brahms 
liebt es bei der Wahl feiner Themen, deren contrapunktiſche 
Berwendbarfeit höher als ihren jelbititändigen, inneren Gehalt 
zu jchägen. Die Themen des Quartetts Elingen troden und 
nüchtern. Es werden ihnen im Verlaufe allerdings eine Fülle 
geijtvoller Beziehungen abgewonnen; allein eine Wirkung im 
Großen ift ohne bedeutende Themen unmöglich. Sodann ver: 
miffen wir den großen fortftrömenden Zug der Entwidlung. 
Mir betrachten ein fortwährendes Anknüpfen und Abreißen, ein 
Vorbereiten ohne Endziel, ein Verheißen ohne Erfüllung. In 
jedem Sat finden wir feine Epifoden-Motive, aber feines, das 
im Stande wäre, ein ganzes Stüd zu tragen. Mit dem Quartett, 
nur von einmaligem Hören befannt, vermögen mir natürlich 
nur den eriten Eindrud, nicht das Werk felbft zu jchildden. 


288 1862. 


Ohne Zweifel würde ein genauere® Studium Hier wie bei 
Brahms überhaupt viele Vorzüge des Werkes and Licht 
bringen. Für die lebendige Wirkung wäre damit faum viel 
gewonnen. Dieje verlangt plaftifches Hervortreten der Melodien, 
große, nad) einem Ziel treibende Steigerung und Entwidlung. 
Das Glavierguartett und andere neuere Saden von Brahms 
mahnen uns ein wenig an Schumann’3 legte Periode, gerade 
wie und Brahms' Anfänge an Schumann's erſte Periode 
erinnern. Nur zu der goldflaren, reifen Mittelzeit des echten Schu- 
mann bietet uns jein Lieblingsſchüler bisher noch fein Seitenftüd. 

Brahms’ Glavierjpiel jteht in engem Zufammenhang und 
ſchönſtem Verhältniß zu feiner künſtleriſchen Individualität 
überhaupt. Er will nur dem Geilt der Gompofition dienen 
und vermeidet beinahe jhüchtern jeden Schein jelbititändigen 
Prunkes. Brahms verfügt über eine hoch ausgebildete Technik, 
welcher nur der letzte glänzende Schliff, das letzte energifche 
Selbitgefühl mangelt, um Virtuofität zu heißen. Mit einer Art 
Nadläffigkeit behandelt Brahms den eigentlih glänzenden 
Theil des Spieles, wenn er 3. B. Octavengänge gern aus 
freiem Handgelent fo abjchüttelt, daß die Taften ſeitwärts ge— 
ftreift, anftatt von oben getroffen werden. Es mag Brahms 
immerhin als ein Lob erjcheinen, daß er mehr wie ein Com— 
ponijt als wie ein Virtuoſe fpielt, aber ganz unbedenklich ift 
die Lob denn doch nicht. Geleitet von dem Beſtreben, nur die 
Compoſition für fich ſelbſt Sprechen zu Iaffen, verabjäumt Brahms 
— namentlich beim Vortrag feiner eigenen Stüde — mandes, 
was der Spieler für den Componiften zu thun verpflichtet tft. 
Sein Spiel ’gleicht der herben Cordelia, die ihr beites Gefühl 
lieber verfchweigt, ald den Leuten preisgibt. Gewaltſames, Ver- 
zerrtes ift deshalb auch rein unmöglich in Brahms’ Spiel, 
deſſen finnige Weichheit fich vielmehr nicht einmal gern ent- 
Ichließt, den ganzen vollen Ton aus dem Clavier zu ziehen. 
Ebenjowenig wie diefe Heine Schwächen an Eoncertjpieler wollen 
wir verſchweigen, wie machtlos fie und gegen die unwider— 
ftehlihen feelifchen Neize feines Spiels erſchienen. Am tiefiten 
befriedigte uns diejelbe in Shumann’s C-dur-Bhantafie op. 17. 
Der phantaftiihe Zauber diefes Tonbildes, eine der merk— 


“ 


Joh. Brahms. 289 


würdigften aus Schumann's Sturm: und Drangperiode, wurde 
in Wien noch von Niemand beichworen. Lifzt, dem es ge 
widmet, hat e3 nie öffentlich vorgetragen; ein Theil jener 
großen Schuld an Schumann, von der man Lilzt nicht los— 
fprechen kann und die er mit würdiger Offenheit fpäter aner- 
fannt und bereut hat. Schumann hatte mit der »Phantafie« - 
uriprünglich einen Beitrag zu dem Beethoven-Denkmal in Bonn 
im Sinne, und beabfichtigte die drei Säße derjelben »Ruinen«, 
»Triumphbogen« und »Sternenkranz« zu überichreiben. Indem 
er dieſen Gedanken wieder aufgab, hat er feinen Adepten ein 
wahres Kirchweihfeit der Auslegefunft verdorben. Wie unfehlbar 
hätten die Gedanfenmufifer Beethoven’3 ganze Biographie aus 
demfelben Stück herausgehört, das gegenwärtig ohne Titel 
vor derlei Experimenten fo ziemlih Ruhe hat. Höchſt charak— 
teriftiich ift hingegen dad Motto (von Fr. Schlegel), welches 
Schumann feiner »MPhantafie« beigefügt hat, denn es weilt 
unabſichtlich auf einen mufifaliihen Grundzug des 
Stüdes hin: / 


»Durh alle Töne tönet im bunten Erdentraum 
Ein leifer Ton gezogen, für den, der heimlich Laufchet.« 


Dieſer »Tone ift eim leidenfhaftlihes Motiv, das über 
ſeltſamem Schwirren und Saufen des Bafjes den eriten Eat 
durdftürmt, im zweiten bis auf wenige Anklänge verjtummt, 
um im dritten, langfam von Harfenflängen getragen, in fanfter 
Verklärung wieder aufzutauchen. 

Wir können und feine echtere, tiefere Wirkung dieſes merk— 
würdigen Stüdes denken, als die e8 unter Brahms’ Händen 
hervorbrachte. Wie gerne laufhen wir Brahms’ Spiel! Sobald 
er die Taften berührt, durditrömt ung die Empfindung: da 
fpielt ein wahrer, aufrichtiger Künftler, ein Mann von Geiſt 
und Gemüth und anſpruchsloſem Selbftgefühl. Brahms ſchien 
ganz befonder3 gut disponirt. Damit will keineswegs auch gelagt 
fein, daß jede Paſſage jpiegelhell blinkte, und jeder Sprung 
haariharf traf. Seine Technik iſt wie ein fräftiger, hoch— 
gewachſener Mann, der aber etwas fehlendernd und nachläflig 
gekleidet einhergeht. Er hat eben wichtigere Dinge im Kopf 

Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 19 


290 1862. 


und Herzen, als daß er unabläſſig auf fein Aeußeres achten 
fönnte. Brahms’ Spiel ift immer herzgewinnend und über: 
zeugend. Wie fräftig und fein zugleih gab er Bach's »chro— 
matiihe Phantafie« und Beethoven's Variationen Op. 35, 
über jenes Es-dur-Thema aus » PBrometheus«, das der Componift 
ipäter in die »Groica«e aufnahm! Etwas ftiefmütterlich be: 
handelte Brahms auch diesmal fich felbit. Seine F-moll- 
Sonate, als Gompofition Schon jo wunderlih »in fich hinein- 
geiungen«, wurde von ihm auch mehr »in fich hinein« gejpielt, 
als flar und jcharf herausgearbeitet. Die beiden äußeren Säge 
find mit all ihren jchönen Einzelnheiten doch zu formlos, um 
entichieden zu wirken; im Scherzo beirrt dem Hörer die auf: 
fallende Reminiscenz aus Mendelsſohn's C-moll-Trio; das 
Andante Hingegen gehört zu dem Innigſten, was mir Der 
neueren Glaviermufif verdanten. Bon höchitem Intereffe war 
Brahms’ Vortrag der F-moll-Sonate (Op. 14) von Schumann. 
Es dürfte die erite öffentliche Aufführung dieſes Werkes fein, 
das zu den leidenichaftlichiten, eigenthümlichiten, mitunter wohl 
auch eigenfinnigiten Phantaſien aus Schumann’ erjter Periode 
gehört. E3 ift uriprünglich, einer Laune des Verlegers zufolge, 
unter dem Titel »Concert sans orchestre« erjchienen, welcher 
weder das Weſen, noch die Form des Stückes richtig bezeichnet. 
Uriprünglih als Sonate gedacht, hat dasſelbe in zweiter Auf: 
lage auch wieder den Titel »Sonate« und damit zugleih das 
frühere verdrängte »Scherzo« aufgenommen. 


Orchefter: und Ehborconcerfe. 


In Brahms’ »Serenade für großes Orcheſter« 
(D-dur) lernten wir eined der anmuthigiten Orcheſterwerke der 
neueften Zeit kennen, Das Zurüdgreifen nach alten, halbver— 
Ihollenen Formen der Mufif wiederholt fih in jüngfter Zeit. 
Lachner und Raff ichreiben » Suitene, Brahms »Serenaden«. 
Die Serenaden (aud) »Gaffationen«, »Notturnod«, »Diverti- 
mentic) gehören zur mufifaliichen Charafteriftif des vorigen 


D-dur-Serenabe von Brahms. 291 


Sahrhunderts. Da Hatte jeder Fürft und jeder reichere Edel: 
mann jeine kleine Diufifcapelle, die danı an Sommerabenden 
Muſik im Park machen mußte. Auch in den Städten ward noch 
gemüthlicher; zu Haydn’ und Mozart’s Zeit erflangen Nachts 
die Straßen und Plätze in Wien von janften Huldigungs— 
Mufifen, welche dad morgige Namensfeit der Hochverehrten 
oder, wenn der Liebhaber Raifon veritand, ihrer gejtrengen 
Frau Mama feierten. Mozart hat viele ſolcher Serenaden 
geichrieben, theild für Harmoniemuſik, theils für ganzes Orcheſter. 
Es waren dies wirkliche Gelegenheit3:Mufifen, und die beiondere 
Beranlaffung wirkte beitimmend auf Form und Charakter des 
Stüdes, Zufammenfegung des Orcheiters u. |. w. Die » Serenade« 
zählte ſechs bis acht Sätze, worunter zwei bis drei Menuetts. 
Spohr's Notturnos für Harmoniemuſik dürften der letzte Aus— 
klang einer Kunſtgattung geweſen ſein, welche ſo menſchlich 
ſchön den Herzens-Angelegenheiten unſerer Großväter zur Seite 
ſtand. Was Brahms zur »Serenade« zurückgeführt, war gewiß 
nicht ſowohl der archäologiſche Kitzel, eine alte Form zu 
reſtauriren, als die wahlverwandte Hinneigung zu deren poetiſchem 
Inhalt. Weht doch aus dieſen vergilbten Serenaden ein Duft 
wie von getrockneten Blumen, und zaubert uns in längſtver— 
floſſene ſchöne Zeit. Brahms' Serenaden — ich laſſe mir 
nicht nehmen, daß er ſie in poetiſcher Umgebung, in weicher, 
glücklicher Stimmung gedichtet hat — retten die ſüße Be— 
deutung der alten Nachtmuſiken in die tiefere Geſtaltung der 
modernen Muſik. Die »Serenade« enthält ſechs Sätze, ihre 
äußeren Dimenſionen gehen ſomit über die der Symphonie 
hinaus. Dieſe Erweiterung beruht aber nicht etwa auf einem 
zu großartigen Inhalt, der die übliche Symphonienform ſprengen 
und den Componiſten nöthigen würde, noch über die fünfſfätzige 
Symphonie eines Berlioz hinauszugreifen. Die Serenade reiht 
mehr Sätze aneinander, als die Symphonie; allein fie find 
nicht blos fürzer, jondern von Haus aus anipruchslofer, ein= 
färbiger, bürgerliher möchten wir jagen. In diefer Eigenſchaft 
liegt vorzug&weife die Berechtigung der »Serenade« für Gegen: 
wart und Zukunft. Wir find durch Beethoven gewöhnt worden, 
an den Inhalt der Symphonie den höchſten Mapitab zu legen. 
19* 


292 1882. 


Das Leidenihaftlihite Kämpfen, das erhabenite Pathos joll 
fie erfüllen. Als ein Rahmen für beicheidenere Bilder, ald ein 
Aſyl freundlicher, von den Kämpfen der Leidenfchaft nur ge: 
ftreifter, nicht aufgewühlter Zuftände, ift uns die Symphonie 
jeit Beethoven verloren gegangen. Wer fich heutzutage nicht als 
Fauft und Hamlet in Einer Berfon fühlt, und muſikaliſch ange— 
faßt von »der Menfchheit ganzem Jammer«, der läßt ſich auf 
eine Symphonie lieber gar nit ein. Saum dag Schumann 
mit feiner vierten Symphonie und der beabfichtigten »Sinfonetta« 
auf die Nothwendigfeit hinwies, neben der großen, pathetifchen 
doc auch wieder ihres freundlichen Seitenftüds, der »kleinen 
Symphonie«, zu gedenken: Die »Serenade« num, deren Bau 
die mannigfachſten Veränderungen erfahren mag, dünft uns To 
recht der Spielplatz idylliicher Träume, verliebter Plane, leicht: 
bewegten Frohfinns. Sie ift die Symphonie des Friedens. So 
hat Brahms fie aufgefaßt und auf das liebenswürdigite Durch: 
geführt. Eine befriedigte, abendliche Ruhe liegt janft über dem 
Ganzen, nur leicht bewegt zu freudigen Hoffen oder ſüßer 
Sehnſucht. Die Empfindung ift nicht einfam grübelnd, fondern 
gleihlam ſchon in Verſe gebracht, und mit einer gewiſſen 
Seltlichfeit dargereiht der Dame des Herzend. 

Die ſechs Süße in Brahms’ Serenade find nit von 
gleihen Werth. Von den Themen des eriten Satzes ilt das 
erste mehr verwendbar, als originell oder bedeutend; eigen: 
thümlicher wirft das zweite. Das Ganze hat Frifche, leider 
auch (im Durchführungsſatz) viel Gekünfteltes, Abfichtlihes, das 
exit der poetifch ausklingende Schluß wieder gutmadt. Durchweg 
portrefflich ift das folgende Scherzo jammt Trio; in janftem 
ununterbrochenem Fluß ftrömt die Muſik, zauberifch beleuchtet 
von den farbigen Lichtern der Inftrumentirung. Weiche träu: 
merifhe Empfindung bewegt das Adagio, das allerdings lang 
ausgeſponnen, doch das jchöne Maß nicht einbüßt. Der erite 
Menuett (der zweite vertritt eigentlih das Trio, nach welchem 
Nr. 1 wiederholt wird) gilt uns als die Perle des Ganzen 
und vielleicht al8 das Hübfchefte, was Brahms gejchrieben 
bat. Das warme Colorit (blos Flöte, Clarinett, Yagotte und 
pizzifivende Violoncelle) und die naive Anmuth der Melodie 


Lachner's »Sturmesmpiher, — F. David's »Wüſte«. 293 


verleihen dieſem Sag vor allen übrigen das charakteriſtiſche 
Gepräge der Nachtmuſik. Eine wahre Garten-Serenade, voll 
Mondlicht und Fliederduft. Das zweite Scherzo iſt minder 
bedeutend und hat mehr als die nöthige Aehnlichkeit mit dem 
Scherzo aus Beethoven's zweiter Symphonie Wir gehören 
nicht zu jenen entjeglichen NeminiscenzensJägern, die bei jedem 
D-moll-Hccord ausrufen: Ha, »Don Juan!« Nicht einmal die 
Anklänge an Beethoven’3 »Scene am Bache« im Adagio der 
Serenade haben wir Brahms verübelt; allein die Unſelbſt— 
ftändigfeit diejes zweiten Scherzo würde uns bedenklich genug 
dünken, um den Sat lieber ganz zu ftreihen. In lebhaft 
markirtem Rhythmus, nur ohne die rechte Steigerung führt ein 
fröhliches Rondo die Serenade zu Ende. 

Lachner's jeinerzeit ſtark auspojaunte » Sturmesmpthe« 
erichien uns auch diesmal nur bemerfenäwerth durd ihre ge- 
ſchickte Mache; troß ihres heroifhen Aufpußes ift dieſe Muſik 
ärmlich, eine große Kleinigkeit. Am begierigiten waren wir auf 
die Wiederaufnahme von FFelicien David’3 »Wüſte«, melde 
jeit den Tagen ihres eriten Glanzes nicht wieder gegeben war. 
Dies Werk befigt des Anziehenden und Liebenswürdigen genug, 
um einer freundlichen Aufnahme auch jest gewiß zu fein, nach— 
dem der überjchägende Enthufiagmus von ehedem längſt ver: 
flogen. Die »Wüſte« ift das Werk eines feinen, aber im Grunde 
dürftigen Talents. Durch den enormen Erfolg der »Wüſte- iſt 
dies Talent noch mehr verarmt. Denn jahrelang nad) jenem 
Erſtlingswerk hat Felicien David geichwiegen, aus Furdt, 
fich jelbft nicht mehr einholen zu fünnen. Die Furcht war 
allerdings nicht unbegründet; denn als der Componift fich der 
Production wieder zumwendete, fand er nur fühle Hörer, bis 
endlich, zwanzig Jahre ipäter, eine anſpruchsloſe komische Oper: 
»Lalla Roufh«, feine Popularität, in Frankreich wenigſtens, 
erneuert hat. Die »Wüſte« — der Componilt bezeichnet fie als 
»Symphonie-Ode« — gehört nicht jener Gombination von 
Symphonie und Bocaldor an, die von Berlioz in dramatifcher, 
von Mendelsjohı in Cantaten-Form eingeführt wurde: fie 
iit vielmehr eine Cantate ſchlechtweg; eine Cantate jchildernder 
Gattung, erweitert durch geiprochene Strophen. Die eigentliche 


294 1862. 


Tonmalerei iſt nicht vorwaltend, entichieden geltend macht fie 
ih blos in der einleitenden Schilderung der Wüfte, jpäter des 
Samums und des Sonnenaufgangs. Jin übrigen herrſcht das 
Element menſchlicher Empfindung vor, das auch die vor: 
fommenden Naturjchilderungen theils belebt, theils unterbricht. 
In der innigen Verfchmelzung diefer beiden Momente liegt Die 
Driginalität der David’shen »Wüſte« mehr, als in den formellen 
Eigenheiten derjelben. Die »Wüſte« erreicht felbit im ihren 
erniten Partien feine fonderlihe Tiefe des Ausdruds; aber 
Friſche und Anmuth find ihr nicht abzufprechen. Eine romantifche 
Dämmerung, ein erotifcher Reiz ruht über dem ganzen Bilde, 
das mit leichter, ficherer Hand entworfen, mit feiner Empfindung 
ausgeführt tft. Die Weglaffung der »erläuternden Declamation« 
dürfte die Wirkung des Ganzen mwefentlic heben; wir vermögen 
die Miſchung des geiprochenen und gelungenen Wortes immer 
nur als eine Störung zu empfinden, die den Faden des Fünit- 
leriihen Zufammenhanges vielmehr abreißt als anfnüpft. Der 
Nothbehelf eines »verbindenden Gedichtes«, wie ihn Concert: 
Aufführungen dramatiſcher Mufifen erheiichen, ift überflüffig 
bei einer muſikaliſchen Bilderreihe, deren einzelne Aufichriften 
»Sonnenaufgange, »Marſch der Karawanen« u. j. mw. deutlich 
genug bezeichnen, was der Dichter durch redfelige Paraphraſen 
nur räumlich auseinanderzieht. 

Sm Philharmoniſchen oncerte erntete den wärmſten 
Beifall Fräulein Bettelheim für den ſchönen Vortrag zweier 
Arien von Händel und Bergolefe. Die Nebeneinanderftellung 
beider Arien war una Schon darum intereflant, weil fie uns in 
der Anficht bekräftigte, daß Händel in feinen Opernarien den 
melodiichen Reiz und Mohllaut der beiten feiner italienischen 
Zeitgenofjen nicht erreicht habe. Die Händel'ſche Arie (aus 
»Rodelinde«) ftand fteif und trocden neben der im ihrer Ur— 
Iprünglichkeit und Anmuth bezaubernden Siciliana von Pergoleſe. 
Welch’ blühende Inbefangenheit charafterifirt die Geſänge des 
»göttlihen« früh verftorbenen Sängers von Jeſi! Ueberall die 
gleiche edle Plaſtik der Melodie, diejelbe Süßigkeit und forglofe 
Schwermuth! Unfere mufifaliihen Geichihtsichreiber behaupten, 
wenn fie gerecht fein wollen, Händel und Gluck feten in 


Arie von Händel. — Symphonie von Echubert. 295 


ihren italienischen Opern von den gefeiertiten Stalienern jener 
Zeit nicht übertroffen. Darin liegt, wie wir glouben, eine Un— 
gerechtigfeit gegen jene Italiener. Wer die Gelänge von Aleffandro 
Ccarlatti, Leo da Vinci, Pergoleſe ſelbſt angejehen und unbe- 
fangen angejehen hat, dem fann troß der unfreien, ſtereotypen 
Form derjelben nicht entgangen fein, daß das Beite daraus 
eine Urfprünglichkeit, Wärme und Fülle melodiöjer Erfindung 
athmet, welche von den italienifchen Arien Händel’ und 
Gluck's felten erreicht werden. Es handelt fich Hier nicht um 
die Höhe der Meilterfchaft, ſondern um die urfprüngliche Be— 
gabung. Jeder Componift, der fich erſt fünftlih einer fremden 
Nationalität affimilirt, muß nothwendig im Nachtheil bleiben, 
denn gerade das kann er nicht erarbeiten, was einem Wolfe 
als freies Geſchenk der Gottheit in die Wiege gelegt ward. 
Die Größe und Bedeutung der beiden deutichen Herven liegt 
ganz wo anders, für Händel ruht fie unangefochten im Ora— 
torium, für Glud im dramatiihen Styl der großen Oper. 
Beide wurden das, was fie uns jegt find und immerdar bleiben, 
erit von dem Augenblide an, wo fie aufhörten für Italiener 
und italienifch zu fchreiben. Es jollte darum deutichen Geſchichts— 
Tchreibern doch nicht gar jo ſchwer fallen,d en Fünftlich gezogenen 
Sugendwerfen Händel’ und Gluück's das irrthümliche Ueber— 
gewicht in Vorzügen abzufprechen, welche die Natur jo enge mit 
dem italienifchen Kunftgenius verknüpft hat. 

Den Schluß des Goncertes bildete Schubert's C-dur- 
Symphonie. Dieje geniale Tondihtung, deren etwas mufivijche, 
ungleihe Zufammenjegung und breit auseinanderfallende Form 
hundertfah aufgewogen wird durch die blühendite Fülle von 
Erfindung, bat ſeltſamerweiſe in Wien niemald recht einge- 
ſchlagen. Es ift dies die vierte Aufführung diefer Symphonie, 
die und, jedesmal mit dem gleichen mäßigen Erfolge, in Er: 
innerung ift. Mag dies an der großen Länge der Süße, oder 
ihrer vorwiegenden Homophonie, oder endlih an der Inſtru— 
mentirung liegen, die wir ſeit Beethoven jorgfältiger, feiner 
gewohnt find, Thatſache bleibt es, daß unfer für Schubert 
fonft jo warmes Publicum fih davon niemal® unmittelbar 
ergriffen fühlte. 


296 1862. 


Virtuoſen. 


Herrn Tauſig's Concert im Muſikvereinsſaale hat unſere 
Meinung von ſeinem erſten Auftreten her nicht umzuſtimmen 
vermocht. Wir bedauern dies um ſo aufrichtiger, als die 
Leiſtungen des Concertgebers von einer nicht gewöhnlichen Be— 
gabung und einem außerordentlichen Fleiße zeigen. Seine 
Bravour, Kraft und Ausdauer find erſtaunlich, man würde fie 
dem zartgebauten Süngling nimmermehr zutrauen. Gleichfalls 
erftaunlich ift fein Gedächtniß, das ihm geftattet, eine lange 
Reihe der verſchiedenartigſten Gompofitionen mit größter Sicher: 
heit unmittelbar hintereinander vorzutragen. Auch Geift ift dem 
Spiele Taufig’3 nicht abzufprehen, wenngleich er fih une 
motivirt und fofett in der einjeitigen Form des Witzes geltend 
macht, den Heine ein »bloßes Niejen des Verjtandes« nennt. 
Keine einzige Vortragdnummer des Herrn Taufig hat uns 
mit einem reinen, befriedigenden oder gar tiefen Gindrud ent— 
faffen. Peinlich berührt die Abfichtlichkeit, mit welcher Herr 
Taufig die häßlichite aller möglichen Anſchlagsarten cultivirt: 
das Stehen in die Taften. Nicht nur in eigentlihen Bravour— 
ftellen, auch in Gantilenen, die weich und gebunden erklingen 
jollen, liebt es Tauſig, geftredten Finger® auf einzelne 
Töne mit einer Gewalt niederzuftechen, die das Clavier förm— 
fi) wimmern madt. Gin andermal arbeitet er wieder, als 
gälte es, eingefrore Töne aus dem Eis loszuhacken. Was 
follen wir von dem Gehör eines Künſtlers halten, der das 
heulende Dietallgeraffel der aljo mighandelten Saiten nicht vernimmt 
oder den es nicht ſtört? Wenn Herr Taufig vollends die ganze 
Meute feiner Bravour ausläßt, welch’ ein Würgen und Quet- 
ihen, welch’ ein Erdroijeln der Töne! Könnten wir in diejer 
Kampfluft das Ueberſchäumen einer unbändigen Jugendkraft 
erblicfen, wir würden auch mit ihren Maßlofigfeiten uns ver: 
tragen lernen. Allein nicht Ueberkraft, jondern im Gegentheil 
Blafirtheit ift der Grunddharatter von Taujig’s Spiel. Mit 
jenen aufgeregten Megeleien wechſeln lange Perioden nach— 
läffigiter Gleichgiltigfeit; find die Tajten eine Weile gejtochen 


Karl Tauiig. 297 


und geichlagen, jo werden fie dann wieder in faum vernehm: 
lichen Pianiſſimo blos gejtreift, getippt, gefegt. Die eigentliche 
geſunde Mitte, der ruhig fingende Anichlag, fehlt. Es taucht 
zwar mande Stelle auf, die nah Tonſchönheit, ja nad Em: 
pfindung Elingt, allein es währt niemal3 lange: eine einzige 
dröhnend herausgeftochene Note — und der Schöne Zuſammen— 
bang ift wieder vernichtet. Sehr ſchön begann Herr Tauſig 
das »Andante spinato« von Chopin; wir erkannten Die ſüße 
Stimme de3 Gomponiften, diejes Ariel des modernen Claviers; 
jdoh die Furcht, die fürdhtende Gewißheit, in einem der 
nächſten Takte plößlih aus der Stimmung geworfen zu werden, 
ließ uns auch hier mit einer Anfpannung folgen, die jedes 
wahre, fichere Genießen ausſchließt. Es iſt der Fluch des 
Raffinements, daß man ed auch dort noch heraushört, wo es 
vielleicht thatjächlich Ichweigt, daß man mit Einem Worte auch den 
tugendhaften Regungen nicht mehr glaubt. 

Herr Tauſig Hatte ein interefjantes Programm zujamnten: 
geießt. Beethoven's Sonate Op. 109 in E-dur gehört zu den 
jeltenft gejpielten. Schon deshalb muß fie uns mwillfommen 
fein. Jedes Werk dieſes Meiiterd, gehöre es auch nicht zu 
feinen bedeutenderen, übt eine magiiche Anziehungskraft. Im 
Ihlimmiten Fall gilt e8 ung als ein denfwürdiged Blatt aus 
Beethoven’: Biographie. Das vorliegende — e3 ſtammt ans 
dem Sahre 1821 — erzählte nicht von glüdlihen Tagen. 
Melodien voll fühnen Aufihwungs und edler Anmuth, rhap— 
fodiich unterbrochen von böjen Launen und ermattenden Flügel: 
jenfen. Lenz, der Beethoven-Anbeter par excellence, nennt den 
erften Sat der E-dur-Sonate »faible, diffus, et maigre dans 
sa diffusione. Gewiß ift, daß diejed zweimal von einem Adagio 
unterbrocdhene Allegro feinen eigentlihen Mittelpunft hat und 
mehr einer freien Jmprovilation al3 einem Sonatenfaß gleicht. 
Auf den eriten Sat folgt ein furzes, glänzend aufitürmendes 
Preftiffimo und ein Andante mit Variationen; jchliht und innig 
das Thema, prachtvoll die erite Variation, die folgenden etwas 
berichneit in einem Flodenmeer von Noten. — Ein Nocturno 
von Field wirkte auf die Gemitterlandfhaft Beethoven's wie 
ein anmuthig zierlihes Schäferbild von Watteau, wahre 


298 1382. 


muſikaliſche Paftellmalerei. Auf eine »Suitee von Händel 
(G-moll) und eine Bolonaife von Chopin folgte die bunte, 
reizende Scenerie, welche unter dem Titel »Garneval« eine 
der liebenswürdigſten Stellen in Schumann’: Claviermuſik 
einnimmt. Sagen wir es offen, daß wir nicht ohne Schmerz 
dies zarte Stück unter den Händen Taufig’3 bluten gejehen. 
Mer die Compofition fennt und im Concert zugegen war, den 
brauchen wir nur an das athemloje Herabhegen des eriten und 
legten Satzes, an dad rohe Anpaden der Grazien »Chiarina« 
und »Eſtrella«, an daS anmuthloje Gepolter des »deutſchen« 
und des »vornehmen Walzerd« zu erinnern, um unſer Bekennt— 
niß zu rechtfertigen. Ungleich beſſer jpielte Herr Taufig Liſzt's 
Tranzjeription des »Spinnerliedes« aus dem »Fliegenden 
Holländer«, ein Bravourftücd voll der reizenditen Clavier-Effecte, 
dem er noch zwei Liſzt'ſche Transfcriptionen (Venezia e Napoli) 
folgen ließ. Das Concert war gut bejucht und an Beifall fein 
Mangel. 

Alexander Dreyſchock gab fein viertes und letztes Concert. 
Ein Künftler, der in Wien jo oft gehört und befprochen wurde, 
wie Dreyſchock, bietet der Kritif nur mehr geringen Stoff. 
Wir wiſſen längft, daß Dreyfhod die geſammte Technik feines 
Inſtrumentes, und zwar nad) allen Richtungen hin zur Bravour 
geiteigert, nahezu unfehlbar beherrfht. Wir haben zu viel 
Reipect vor der Höhe des gegenwärtigen Clavierſpiels, um aud) 
nur die rein technifche Virtuofität, wenn fie in einer Ausbildung 
wie bei Dreyichod vorfommt, ala etwas Geringfügiges zu be- 
handeln. In dem Vortrag dieſes Künſtlers haben wir über: 
dies mehr als die blos äußere Fraft, nämlih auch eine 
innere geihägt, die fih als gejunde Friiche, ala jugendlich 
feurige Kampfluft kundgibt und der Folie einer gründlicheren 
mufitalifchen Bildung nicht entbehrt. Weber die Grenzen von 
Dreyihod’3 Darſtellungsvermögen konnten wir ung nicht täufchen. 
Hinreißend haben wir ihn nirgends gefunden, als wo ed Kraft 
und Bravour zu entwideln gab, two eine glänzende Technik 
wejentlih war. Dahin zählen nicht blos »Virtuoſenſtücke«, 
fondern auch die Concert:Allegros von Beethoven, Weber, 
Mendelsjohn Allein ſchon die Adagios dieſer Concerte 


Alerauder Dreyichod. 299 


fügen ſich nur widerjtrebend dem realiftiichen, ſtrotzenden Spiel 
Dreyſchock's; noch größer wird der innere Zwieſpalt zwiſchen 
diefem und dem träumeriichen, innigen Klängen Chopin’ und 
Schumann’. Derlei jpielt Dreyſchock nicht nur fühl, fondern, 
was noch ſchlimmer it, mit dem allzu fichtlichen Streben, ja 
nicht fühl zu Scheinen. Es Elingt geradezu komiſch, wenn 
Mohldiener Dreyſchock's aus dem Umſtand, daß diefer gegen- 
wärtig auch Schumann’ihe Sachen vorträgt, eine ganz neue 
»Phaſe« seiner Eünftleriichen Entwidlung folgern, eine innere 
»MWandlunge nad überwundenem Virtuoſenthum. Als wenn 
Dreyihod, mit feinem fejtgenieteten, fertigen, praftiichen Weſen, 
die Natur wäre, alle fieben Jahre eine pſychiſche Häutung vor— 
zunehmen! Dreyihod, der feine Kunftreifen 1838 begann, hat 
Schumann’ Clavier-Compofitionen etwa zwanzig Jahre lang 
vollftändig ignorirt, obwohl ſchon die techniſche Aufgabe ihn 
hätte reizen und ihm zu dem Ruhm hätte- verhelfen können, fie 
zuerft in die Melt einzuführen. Mir find weit entfernt, Drey- 
ihod dieje vieljährige Interlaffung vorzuwerfen; aber ein groß 
Weien muß man nicht daraus machen, wenn er je&t, wo 
Schumann theil® Bedürfniß, theild Mode, alio jedenfalld un 
ausweichlich geworden ift, defien Namen auch aufs Programm 
jegt. Das mag eine große That für Leute fein, die jogar 
über einige falſche Accorde Drevihod’3 aufjubeln, indem fie 
darin einen Beweis jeiner überquellenden Empfindung und 
Begeilterung finden! — Dreoyihof war ſchon vor fünfzehn 
Fahren und länger eine vollkommen abgeſchloſſene Kunfterichei- 
nung. Die Fortichritte, die der unermüdliche Künftler bei jedem 
neuen Bejuche an den Tag legte, lagen nad) der Seite feiner 
innmer ftaunenswerther ausgearbeiteten Bravour. Wo dieſe das 
MWort führt, hat er uns im Verlauf ſeines Wirkens mit Be- 
wunderung erfüllt, — gerührt hingegen, in tieffter Seele be: 
wegt, hat er im Jahre 1862 wohl ebenfo wenige Hörer, als 
zehn und zwanzig Jahre zuvor. Wir denfen, eine jo eminente 
Specialität wie Dreyihod bedarf nicht irreführender Schmei— 
chelei. Wer innerhalb feiner Grenzen fo unumfchränkt herricht, der 
wird durch die dankbare Anerkennung dieſer Herrſchaft befier 
geehrt, al3 durch die Verficherung, er ſei auch König beider Indien. 


300 1862. 


An den Eoncerten des Bianiften Wilhelm Treiber war 
durchweg das banfenöwerthe Streben bemerkbar, neben allbe- 
fanntem Glaffiihen und Modernen auch halbvergeflene Come 
pofitionen guter Meifter vorzuführen. Allein der Concertgeber 
traf weder eine glückliche Wahl mit Hummel’ ermüdend ipiel- 
jeliger Fis-moll-Sonate, no mit Mendelsſohn's jugendlichen 
Sonatenverfuhe op. 6, noch endlich mit einem Glaviertrio von 
Marichner, der fich befanntlich mit der Kammermufif nur jehr 
nebenbei und oberflählih einließ. Weit dankbarer find wir 
Herrn Treiber, daß er Moſcheles' G-moll-Eoncert aus langem 
Schlafe erwedte. Wir begreifen vollfommen die Strömung der 
Zeit, die, geichwellt von den neuen Klängen Chopin’, Mendels— 
Sohn’: und Schumann’, den älteren Meiſter ſchnell beileite 
drängte, allein wir fönnen feinen Namen nicht ohne danfbare 
Pietät nennen. In einer entjeglich fterilen Epoche der Clavier— 
Sompofition hat Mofchele8 deren Glanz und Würde verhält: 
nißmäßig hoch aufrechtgehalten. Wäre feiner gediegenen Schulung, 
dem rnit feines Willens und Wollens eine gleiche Kraft der 
Phantafie zur Seite geftanden, wir müßten ihn zu den eriten 
Meiftern der modernen Glaviermufit zählen. Seine beiten 
MWerfe, dad G-moll-Eoncert, die Etüden umd andere, verdienten 
noch immer gefpielt zu werden. Es jind dies die Kompofitionen 
ſeiner zweiten Periode, in welcher Moſcheles nach überwundener 
Oberflächlichkeit des Virtuoſenthums feine volle Kraft zu größeren 
Zielen zufammenfaßte. Später hat er, offenbar gefangen durd) 
den jugendlihen, fremdartigen Zauber der Mendelsſohn'ſchen 
und Schumann’ichen Klänge, feinen früher klar abgeſchloſſenen 
Erfindungen eine romantiiche Tiefe und Bedeutiamfeit zu geben 
veriucht, welche er aus eigenen Mitteln doch nur jehr unvoll: 
fommen zu beitreiten vermochte. Das G-moll-Goncert imponirt 
beute noch durch breite Anlage, gediegene und eigenthünliche 
Grfindung, durd Glanz und Zartheit des Details. Was hin 
und wieder an Paſſagewerk oder fleinen Mtelodienzügen ver: 
altet ericheint, verichwindet gegen die Tüchtigfeit des ganzen 
Werkes, dad ih im Adagio (von dem breit anjchwellenden 
Tremolo der Streih:Inftrumente) zur Höhe echter Poefie erhebt. 
Ein Zug, der und in manden Vorträgen dieſes tüchtigen 


Wilhelm Treiber. 301 


Pianiſten ftört, und der ihm leicht gefährlich werden könnte, ift 
die Neigung zu weicher, Shwärmender Sentimentalität. Sie 
verführt ihn nicht blos, das Weiche und Zärtliche noch weicher 
und zärtlicher zu machen, d. h. die feiten Formen zu lodern 
und zu verwiſchen, fondern auch an ungehörigem Ort einzelne 
Töne oder Tonreihen durch empfindelndes Hervorheben aus dem 
Zujammenhang oder doch aus dem Charakter zu reißen. Herr 
Treiber liebt es, — vielleiht ohne es zu willen — den ganzen 
Entwidlungsgang feiner überfchwenglihen Empfindung während 
de3 Spiel zugleich mimiſch darzuitellen. Nun fennen wir nichts 
Störendered, ald wenn ein Pianiſt bei jeder Tyermate die Augen 
gen Himmel erhebt, zu jedem Moll-Accord das Haupt jchmerz- 
li) verneinend jchüttelt, und bei einer Figur von ſechs accen- 
tuirten Noten ſechsmal mit dem Haupte nidt, Iſt dies alles, 
wie wir gerne glauben, bei Herrn Treiber unmillfürlicher 
Ausbruch des Gefühl, dann muß er dieſer Ausbrüche um jeden 
Preis Herr werden. Es ift durchaus nicht gleichgiltig, wie ein 
Spieler während des Spielend fich geberdet. Wahre Empfin- 
dung ftrömt dur die Töne allein ficher und unmittelbar in 
dad Gemüth der Hörer; für das, was der Spieler mit Augen, 
Kopf und Achfeln ausdrüdt, gibt ihm Niemand einen Grofchen. 
Ein großer und berühmter Bianift (Dreyihod), der gegenwärtig 
auf die Ausbildung Treiber’ freundlichen Einfluß nimmt, 
hatte bei feiner erſten Kunſtreiſe, als er nocd mit der unge— 
brochenen Luſt und Kühnheit eines jungen Herkules die Taften 
fnebelte, erfahren müfjen, wie man an jeinem erftaunlichen 
Spiel den Mangel an Seele bedauert. So au feiner Em: 
pfindung angezweifelt, glaubte er fortan diefe am Clavier äußerlich 
legitimiren zu müſſen, und jo fam es, daß er häufig mit dem 
Ausdruck eines fterbenden Laokoon gegen den Plafond blickte 
während feine Finger an einer harmlojen Romanze tändelten. 
Der berühmte VBirtuofe iſt diefer Untugend fjpäterhin bis auf 
einen kleinen Reſt wieder losgeworden, allein es wird ihn 
Mühe genug gefojtet haben. Herr Treiber jhloß feine Bor: 
träge mit Mendelsſohn's G-moll-Concert unter allgemeinem 
Beifall. Eine mit hübſchen Mitteln ausgeitattete Sängerin 
fang mehrere Lieder, d. 5. fie nahm einen Mundvoll Stimme 


302 . 1868. 


und gab ihm vermifcht mit beliebigen Noten und Worten, den 
Hörern von Takt zu Takt heraus. 

Der Name des PViolin-Pirtuofen Remenhi iſt erft jeit 
einigen Sahren in weiteren Streifen genannt. Man lad zwar 
von jeinen glänzenden Erfolgen in England, Nordamerifa und 
Ungarn, ohne daß Nemenyi deshalb unter die großen europätichen 
Künstler gerechnet wurde, Nun haben wir diefe intereflante Er: 
jheinung auf deutſchem Boden fennen gelernt, nicht ohne ihr 
manch’ eigenthümliche und glänzende Seite abzugemwinnen. Wir 
halten Remenyi im Grunde für eine echte Kinftlernatur; Die 
tiefe Empfindung, mit der er einfache Volkslieder vorträgt, das 
elementariihe Feuer, dad ihn im Allegro fortreißt, jagen uns, 
unterftüßt von der ganzen Art feines Auftretens, fofort, daß 
hier feine künſtlich aufgeſtutzte Specialität vor uns fteht. 
Allein zu dem mwahrhaften Beſitz der Kunft, in dem Sinne 
der großen Culturvölker, Eönnen wir Nemenyi dennoch nicht 
zählen, dazu fteckt feine muſikaliſche Anihauung zu feſt in dem 
Erdreich jeiner nationalen Traditionen. Um ein großer Künſtler 
ichlehtweg zu heißen, iſt Remenyi in jeinem Horizont zu be— 
grenzt und unfrei; aber als den pirtuofelten und wahrjcheinlich 
gebildetften Interpreten ungariſcher Muſik müſſen wir ihn 
vielleicht gelten laffen. Liſzt hat in feinem Buche »Des Bo- 
hemiens et de leur Musique en Hongrie«e Remenpyi ein 
eigenes Capitelchen (p. 329) gewidmet. Bei aller Auszeichnung, 
die Lilzt, in Ausdrüden und liebengwürdiger Herzlichkeit, dem 
jungen Geiger erweiſt, betrachtet er ihn doch nur als den 
begabteften, ja einzigen Erben des muſikaliſchen Zigeunergeiſtes. 
Er beitimmt ihm nur »une place toute sp&ciale dans la 
galerie des hommes, qui ont releve quelque branche deperis- 
sante de l’arte. Dieſer abiterbende Kunftzweig ift eben die 
Zigeunermuſik. NRemenhgi allein hat in Liſzt die Erinnerung 
an den großen Bihary wieder Icbendig, denn er hat das 
»ideal bohemien« zu dem jeinigen gemacht. Lijzt lobt den 
Eifer, mit welchen Remenyi auch claſſiſche Biolin-Sompofitionen, 
Bad, Spohr und Mendelssohn, ftudire; allein nad) joldhen 
Productionen fehre er »mit verdoppeltem Aufſchwung zu feinen 
Lassan und Friska’s zurüd, als wollte er ftillfchweigend dem 


E. NRemenpi. 303 


PBublicum jagen: Seht wie viel Ichöner als dies Alles doch 
die Mufik it, die wir Zigeuner mahen!«e Liſzt's Urteil ift 
hierin jo gut wie maßgebend. Mir fanden es infofern ganz 
beitätigt, ald ung Remenpi nur im Vortrag von ungariichen 
Volksweiſen originell und muſikaliſch erfüllt erſchien. Dennod 
dürfte er gegen die Zufammenftelung mit den Zigeunern in= 
fofern proteftiren, al3 er in ihnen weit mehr die Verderber alö 
die Pfleger der ungariihen Muſik erblickt. Remenyi's erites 
Concert joll jehr bejucht gemweien fein; das zweite war jchütter 
bejegt, kaum dichter als Herrn Treiber’ letzte Production. 
Allein da konnte man den Unterſchied zwijchen einem rein 
deutichen und einem maghariſch-gemiſchten Publicum wahrnehmen 
und was ſolch ein weftsöftliher Divan werth ift. Nach den 
ungarischen Liedern« vollführte der halbgefüllte Saal einen Bei: 
fallsorkan, daß man meinte, es wimmle von jauchzenden Zu— 
hörern die ganzen Treppen und bis in den Hof hinab, 


1863. 
Schumann’s Muſik zu Goethe's „Jauſt“. 


Die Geſellſchaft der Muſikfreunde hat in einem 
»außerordentlihen Concert Schumann's Scenenreihe aus 
Goethe's »Fauſt« zum erſtenmal in ihrer Vollſtändigkeit 
gegeben. Dieſe Vorführung eines merkwürdigen Ganzen ver— 
dient ebenſo ungetheilte Billigung, als die weiſe Vorſicht, mit 
welcher die »Geſellſchaft« im vorigen Jahre das Publicum zuerſt 
mit dem dritten Theil allein — dem ſchönſten und faßlichiten 
des Werkes — befannt gemacht, und dadurd für den nicht To 
ungetrübten Gindrud der beiden übrigen Theile gewonnen Hat. 
Ueber jene dritte Abtheilung, die »Verflärung Fauſt's«, Habe 
ih jeinerzeit ausführlich berichtet*) und zwar unter dem be- 
jeligenden Gindrud eines Entzückens, wie ich es im ganzen 
Bereich der Kunft nur wenigen Gricheinungen verdanfte. Nach 
der geitrigen Aufführung könnte ich nur meiner Bewunderung 
noch gelteigerten Ausdrud geben, denn mit jedem Wieder: 
erſcheinen ergreift die8 Wunderbild reiner und gewaltiger das 
Gemüth. Schumann hat diejfe dritte Abtheilung zuerft, und 
zwar in den beiten Stunden feiner beiten Periode gefchrieben. 
Grit ſechs und fieben Jahre fpäter fügte er die zweite, dann 
die erjte Abtheilung Hinzu: Schöpfungen, die genau nach Diejer 
Ordnung auch in ihrem Werthe aufeinander folgen. Ouverture 
und die Scenen des eriten Theils ſtammen aus Schumann’s 
legter Thätigkeit, aus jener trüben Düfjeldorfer Epoche, die 
des Meiſters phyfiihe und geiltige Gejundheit ſchon wankend 


*) Vergleihe ©. 195. 


Schumann’ Mufit zu Goethe's »Fauſt«. 305 


ſah. Goethe dichtete den eriten Theil feines »Fauſt« auf der 
Sonnenhöhe feiner poetiichen Kraft; den zweiten jchrieb er als 
Greis, und vollendete ihn furz vor feinem letzten Geburtstag, 
im Auguft 1831. Trennt jomit die beiden »Fauſt«-Theile bei 
Schumann feine jo lange Zeititrede, wie die Goethe’ichen, fo 
liegen dafür in Shumann’s rajcher und ftürmifcher ſich ver: 
zehrendem Leben die Wandlungen, die fünftleriihen Stufen: 
jahre viel näher an einander. Ich habe im vorigen Jahre auf 
dieſe merkwürdige Analogie hingewielen: Schumann's »Faujt« 
reproducirt das Verhältniß der beiden Theile von 
Goethe's Dihtung, nur in umpgefehrter Ordnung. 
Einige treffende Ausfprühe Viſcher's über Goethe’ »Fauft« 
fönnten in der genannten Umkehrung beinahe von Schunann’s 
Compoſition gelten: »Ein allegorifches Machwerk«, jagt Viſcher 
vom zweiten Theil, »drängt ſich hier als Fortſetzung an die 
Seite ſeines herrlichen poetiſchen Products. Wenn im erſten 
Theil die Sprache wie ein Strom daähinrauſcht, fo hören wir 
bier jene Biſam- und Moſchusſprache, jenes jelbitgefällig ordent- 
liche, glatte, limitirende Reden, daß der Menichheit Schnigel 
fräujelt. Die Mängel, welche im eriten Theil mit den Schön: 
heiten des Gedichts unmittelbar zufammenhängen, find im zweiten 
zu Schreienden Fehlern angeſchwollen, oder vielmehr fie ſchwollen 
jo hoch an, weil feine Kraft mehr da war, Schönes zu pro- 
durciren.e Man wird nicht fehl gehen mit der Annahme, daß 
auh bei Schumann, als er die Scenen des eriten Theils 
ichrieb, »feine Kraft mehr da war, Schönes zu produciren.« 
Die Ouverture — D-moll — hat unleugbar einen gemiljen 
Fauſt'ſchen Zug, ein fataliftiiche® Grollen und Refigniren, — 
muſikaliſch iſt fie ziemlich Ihwach erfunden, die Themen nicht 
bedeutend, der Rhythmus jchwerfällig, der triumphirend beab— 
fihtigte Schluß in D-dur ohne innerliche Kraft. Die erite Nummer, 
da3 Geſpräch Fauſt's mit Gretchen im Garten, erreicht muſikaliſch 
in feinem Ton die blühende, friiche Innigfeit des Gedichts. Im 
Gegentheil ift dieſe zu einer eigenthümlich matten, ſchwammigen 
Sentimentalität herabgeftimmt, wie man fie in ſchwächern 
Spohr’ihen Gejängen findet. Won dieſem weichlichen Grund 
fteigt der Gefang mitunter zu einem falichen, ungehörigen 
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 20 


306 1863. 


Pathos auf, 3. B. in Gretchens Worten: »Geht, ihr lacht mich 
aus!« noch mehr in dem Blumenfpiel »Er liebt mich, liebt 
mich nicht.“ Der Gefang iſt mehr declamatoriſch als muſikaliſch 
gedacht. Trotzdem charakteriſirt ihn nicht ſowohl die diſtincte, 
das Wort ſcharf zeichnende Klarheit des echten Recitativs, als 
vielmehr die Unbeſtimmtheit einer ruhelos modulirenden, wogen— 
den und deßhalb in ihren Umriſſen undeutlichen Melodie. Es 
folgt Gretchens Monolog vor dem Bild der Mater dolorosa, 
ein der Dichtung getreu folgendes düſteres Stimmungsbild. 
Die Singſtimme ganz dramatiſch (der grelle Aufſchrei: »Hilf 
mir!«), gleichſam zerpflückt, wird von dem Wogen der charakte— 
riſtiſchen Begleitung mitgeriſſen. Die ganze Nummer verſchwindet 
gegen die kurze, innige Geſangſtelle mit der dieſelben Worte 
»Neige, neige, du Schmerzenreiche« in der dritten Abtheilung 
auftauchen. Auch die folgende Domſcene wirkt mehr äußerlich, 
durch den Choreintritt, durch die brauſende Begleitung, endlich 
durch die unvertilgbare Gewalt des Vorgangs ſelbſt, als durch 
die ſubſtantielle Kraft der muſikaliſchen Erſindung, die ſtockend 
und angeſtrengt, nicht frei dahinſtrömt. Dieſe drei Scenen ſind 
die einzigen, die Schumann aus Goethe's erſtem Theil com— 
ponirt hat. Ganz dramatiſch componirt, bedürfen ſie geradezu 
der ſceniſchen Darſtellung; die Oratorienform drückt durch den 
Mangel an Anſchaulichkeit peinlich auf den Hörer. Erreicht 
Schumann's Muſik (ſelbſt eine theatraliſche Aufführung ange— 
nommen) nicht entfernt die Dichtung, ſo erſcheint ſie in Concert— 
einkleidung völlig als ein matter Abzug derſelben. 

Die zweite Abtheilung nimmt ihren Stoff bereits aus 
dem zweiten Theil des Goethe'ſchen »Fauſt«. Sie ſteht muſi— 
kaliſch höher als die erſte, aſſimilirt ſich auch inniger dem Ge— 
dichte; unter der dritten bleibt ſie tief zurück Will man Schu— 
mann's »Fauft«, analog dem Goethe'ſchen, in zwei Hälften 
theilen — und der fritifer muß es wohl — io bilden die 
erste und zweite Abtheilung, nah Styl und Entftehung zu: 
ſammengehörend, die eine, und die Verklärung (dritte Ab: 
theilung) die andere Hälfte. Dieſe fteht eigentlich als mufi- 
faliihes Kunſtwerk für fi allein, wie bei Goethe der erite 
Theil des »Fauſt«. Die Scenen, die Schumann für feine zweite 


Schumann's Muff zu Goethe's »Faufte. 307 


Abtheilung zufammenftellte, erregen von vornherein zwei weſent— 
liche Bedenken. Für’ erite entziehen fie fich, bis auf wenige 
Momente, der eigentlihen Miſſion der Muſik. Dieje theils 
projaiihen Vorgänge, theils ergrübelten Allegorien find noch 
weniger muſikaliſch als fie poetiich find. Wenn »Fauſt« feine 
legte Reinigung« in politiihen und national-öfonomiichen 
Unternehmungen findet, wenn er mit den herrlichen Worten aus 
dem erſten Theil: »Zum Augenblicke dürft’ ich jagen: Verweile 
doch, du biſt jo Schöne nunmehr eine gelungene Sumpfaus— 
trodnung begrüßt — was joll da die Muſik Rechtes thun? 
Sodann it der Sinn und Zuſammenhang dieſer herausge- 
rifienen Scenen für ein größeres Publicum abjolut unverftänd- 
lich. Bekanntlich ift der zweite Theil des Goethe'ſchen Gedichts 
nur in einer dünnen Schicht unferer Gebildeten wirklich heimiſch; 
eine Aufführung von Fragmenten daraus macht VBorausfegungen 
bezüglich des Zuhörer’3, denen die Wirklichkeit nirgends ent- 
ſpricht. Um einem Publicum von Mufikfreunden Ear zu machen, 
was der Dichter und der Componiſt damit wollen, müßte man 
jenen nicht nur das ganze Gedicht, fondern überdies noch einen 
vollftändigen Gommentar deöfelben in die Hand geben. Etwas 
der Allgemeinheit Unverftändlihes und Unerquickliches wird 
dieje Scenenreihe, troß ihrer Schönen Einzelheiten, immer bleiben. 
Was ihren mufifaliihen Ausdruck betrifft, fo iſt er der eigen: 
thümlich unfinnliche, raſtlos grübelnde der ‚legten Schumann: 
Ihen Periode. Der Mufifer wird fi an zahlreichen geiſt— 
vollen Zügen der Rhythmik und Harmonifirung, ſowie der In— 
ftrumentation erfreuen, den nicht technifch Intereſſirten dürften 
nur einzelne Momente mit unmittelbarer Wärme ergreifen; das 
Ganze wird ihm den Eindrud einer erniten, edel und groß are 
gelegten, aber erzwungenen rhapjodiihen Tondidhtung machen. 
Die Abtheilung beginnt mit einer überaus zarten Inſtrumental— 
Einleitung zu Ariel's Geſang. Diefe breiten, weihen Harfen- 
Arpeggien, die feinen, lichten Geigenftrahlen, die darauf fallen, 
der ſüße Frieden der Melodie Elingen Schön aus Schumann's 
befferen Tagen herüber. Die Tenor-Arie jelbit (Ariel) iſt ge: 
zwungen und geſangwidrig, melodiſches Brödelwerkf; überdies 
(wie feltfamerweife Manches in diefer vorwiegend declamirenden 
20* 


308 1863. 


Musik) durch auffallende Declamationd: Fehler entitellt. Feſter 
gefügt tritt der Chor ein mit einem Motiv von abfteigenden 
Piertelnoten, das wie ein matter Abglanz von dem Chor »bei 
der Liebe« aus dem dritten Theil ericheint. Mit dem rafchen, 
an Weber erinnernden 8-Takt »Thäler grünen« belebt ſich 
der Chor in anmuthigem Aufihwung. Seßt beginnen mitunter 
ſchon die unpoetiichen und unmufifaliihen Terte: »Auge blinzt 
und Ohr eritaunt, Umerhörtes hört fi niht« u. dgl. Die Ge: 
fänge Fault’3 in diefen und in den folgenden Scenen der 
2. Abtheilung find überwiegend declamatoriichen Charakters, 
ernit und würdig, aber auch monoton und in ihrer breiten 
Ausführung ermüdend. Der Tert zwingt hier den Fauſt mit: 
unter geradezu zu dociren (»Ihm finne nad) und Du begreifit 
genauer« 2C.). Die Neigung zu gelangmwidrigem Sa, ſowie 
zu gehäufter Anwendung von Synkopen macht ſich in dieſer 
Partie ftark bemerkbar. Von lebendiger, phantaftiicher Färbung 
ilt der Eintritt der vier »grauen Meibere: ein hüpfender 
6/ «Takt. So wirkſam der Sat muſikaliſch iſt, jo zweifellos 
fcheint uns andererſeits, daB die »Noth«, die »Sorge«, die 
» Schuld« und der »Mangel« bleiche, Tchleichende Geftalten find, 
die nicht hüpfen und jpringen wie Elfen. Fauſt's Antwort an 
die »Sorge« (Des-dur */,:Takt) mit ihrem declamatorifchen 
Pathos hat eine frappante Aehnlichkeit mit den Sängerfcenen 
in Wagner’3 »Tannhäufere. Fauſt's Erblindung und faft 
alles Folgende bleibt ohne ſceniſche Darftelung unverftänd: 
lid. In der langen Schlußicene der 2. Abtbeilung, Fauſt's 
Tod, bringt der Chor der Lemuren (namentlich von den Worten 
an: »Mie jung id) war«) erwünſchtes rhythmiiches und melo- 
diſches Leben in die biöherige mufitaliihe Dürre. Der Lemuren— 
gelang iſt ein abgerundetes Muſikſtück mit einheitliher Haupt: 
tonart (D-moll), gegen welche Mephiſto's Solo in A-moll 
gleihlam den Mittelfaß bildet; durch dieſe formelle Rundung 
und Geſchloſſenheit nicht weniger als durch fein frifches, charafte- 
riftiiches Golorit wird der Lemurenchor zur mufifaliichen Date 
in der zweiten Abtheilung. In dem Part Mephifto’3 vermochten 
wir ein diabolifches Element auch nicht entfernt wahrzunehmen; 
der treuefte alte Diener könnte faum anders fingen. Ein kurzer 


Schumann's Muſik zu Goethe's »Fauſte. 309 


Chorſatz: »Es iſt vollbracht!« ſchließt die Sterbeſcene, und 
damit die zweite Abtheilung in frommer, abgeklärter Stimmung. 

Es folgt als dritte und letzte Abtheilung »Fauſt's 
Verklärung«. Wie mit einem Ruck ſind wir aus nebeligem 
Thal emporgehoben und zu der entzückendſten, ſonnigen Aus— 
ſicht. Wir begreifen vollkommen, daß manche geachtete Stim— 
men die beiden erſten Theile weit höher ſtellen, als dieſe uns 
erſcheinen, und möglicherweiſe ſind ſie im Recht, wir im Un— 
recht. Aber das begreifen wir nicht, wie das Entzücken der— 
jenigen über den dritten Theil wahrhaft gefühlt ſein kann, welche 
ſchon von der erſten und zweiten Abtheilung entzäückt find. 
Hören fie nicht den fundamentalen Unterſchied zwijchen dieſen 
zwei ungleichen Hälften? Fühlen fie nicht, daß Schumann gleid) 
mit den eriten Taften der dritten Abtheilung (»Waldung, fie 
Ihwanft heran«) ein ganz anderer Menih it? Die Schu— 
mann'ſche Fauſt-Verklärung gleicht einer Rafael’ihen Madonna, 
die, von lächelnden Engelöföpfen umringt, zum Himmel auf: 
ſchwebt. 

Die Aufführung der Fauſt-Muſik entſprach allen Wünſchen. 
Stockhauſen als lang entbehrten, vielverehrten Gaſt müſſen 
wir zuerſt nennen. Er ſang die Partie des Fauſt in den beiden 
erſten, den Doctor Marianus in der dritten Abtheilung mit 
höchſter Vollendung. Die edle Tonbildung, die Reinheit der 
Intonation, die Kunſt des Athmens, die unübertroffene Deut— 
lichkeit der Ausſprache würden ausreichen, Stockhauſen zum 
wahrhaften Meiſter des Geſanges zu ſtempeln. Zu dieſen tech— 
niſchen Vorzügen treten aber noch hinzu eine hohe Intelligenz 
und warme poetiſche Empfindung, und als Product dieſer Fac— 
toren ein künſtleriſcher Vortrag, der edler und verſtändnißtiefer 
kaum gedacht werden kann. Wenigſtens in der vorliegenden Auf— 
gabe, die zu den ſchwierigſten und nicht zugleich zu den dank— 
barſten gehört. Der Glanzpunkt von Stockhauſen's Leiſtung 
(wenn man bei einem ſo einheitlichen Kunſtwerk von Glanz— 
punkten ſprechen darf) lag in der dritten Abtheilung. Sein 
Doctor Marianus klang in der That wie eine Stimme aus 
anderer Welt, fein »Erdenreit« laſtete mehr auf ihr. Herrn 
Stocdhaujen ftand Frau Duftmann in der fleineren aber nicht 


310 1863. 


minder jchwierigen Partie des Gretchen würdig zur Seite. Mit 
der warmen, leidenichaftlihen Empfindung und der dramatiichen 
Anihanlichkeit, welche die Leiftungen dieſer Künftlerin aus: 
zeichnet, fang fie die Scenen Gretchens, die, faft unmwillfürlich 
zur Mimik und Action fortreißend, gerade einer fo trefflichen 
Darſtellerin dieſes Charakters feine fleine Ueberwindung auf: 
erlegt haben mögen. 


Die Preisipmpbonien. 


Sp wäre denn der ſeit Jahresfriſt erwartete ſymphoniſtiſche 
MWettfampf endlich vor fich gegangen! Sonntag Mittags wurden 
vor den ziemlich ichütter bejeßten Bänfen des Muſikvereinsſaales 
die beiden Symphonien aufgeführt, welche in Folge der von 
der »Gejellichaft der Mufikfreunde« verfündeten Preisausſchrei— 
bung für die beiten unter zweiunddreißig Concurrenten erklärt 
find. Das Interefle am eigentlihen Kampf war ſomit bereits 
vorüber, diejer hatte in den Arbeitszimmern von fünf unglüd- 
lichen Preisrichtern fih mit qualvoller Zähigkeit abgeipielt. Das 
Publicum jollte fi blos an den glänzenden Einzug der beiden 
Sieger erfreuen. Dieſe gefrönten Kämpen, welche volle dreißig 
Gegner niedergeitredt, erichienen uns feineswegs von ungewöhn— 
liher Kraft oder Schönheit. Der Eine ift, ein wohlanftändiges 
Männchen unter Mittelgröße, von fanft gutmüthigem aber 
bürgerlichen: Ausdrud; der andere eine hagere, redenhafte Figur, 
mit bedeutenden, aber etwas verzerrten Zügen und renommifti: 
ihem Gebaren. Weit jeltiamer al3 jeder für fih, ift das Zu— 
fammenfinden gerade diejer jo grundverjchiedenen Gejellen; als 
fie Sonntags jo feierlich nebeneinander durch die Triumph: 
bogen der Unfterblichkeit ritten, fiel uns einmal, zu unjerer 
eigenen Beltürzung Don Quirotte und Sancho Panfa ein. 

Mag nun der eine Mufiker die beiden Symphonien etwas 
höher, der andere fie etwas tiefer ftellen, darin werben alle 
Spruchfähigen einig fein, daß das Nejultat der Preisausichrei- 
bung fein glänzendes iſt. Wir hatten uns die ahnungsvolle 
Freiheit genommen, dies vorherzufagen. Preisausſchreibungen 


Die Preitigmphonien. 3 il 


haben weit mehr die Wirkung, bedeutende Kräfte von der Eon: 
currenz abzuschreden als fie zu gewinnen, Wenn ein Einft- 
leriſcher Landſturm aufgeboten wird, hält fih die Ariftofratie 
de3 Schönen gerne mit einer gewiſſen ftolzen Scheu zurüd. 
Bewährte Ritter, deren Wappen bereit3 ein Lorbeerreis ziert, 
mögen dasſelbe nicht ohne Noth gegen unbekannte Gegner aufs 
Spiel jegen, welchen der Zufall oft jeltiam günftig fein fann. 

Im vorliegenden Fal mußten Componiften wie Hiller, 
NReinede, Volkmann, Liſzt, fih ſchon als Preisrichter der 
Bewerbung enthalten. Raff dürfte nach dem Endurtheil der 
Richter ohne Zweifel nicht blos der bedeutenſte, ſondern auch 
der namhafteſte Concurrent geweſen fein. Ein Componiſt von 
dem geachteten Namen Raff's bedurfte aber ſicherlich keiner 
Concurrenz, um eine neue Symphonie zur Aufführung anzu— 
zubringen, und um die Ehre einer Aufführung handelte es ſich 
bier ganz allein, denn der ſymphoniſtiſche Landſturm der »Mufik- 
freunde« ijt merkwürdigerweiſe eine Preisauzjchreibung ohne 
Preid. Damit war dem Unternehmen noch die lette Spike 
abgebroden: die Aufmunterung und Belohnung dur materiellen 
Gewinn. Die »Gejellihaft der öfterreihiihen Mufikfreunde« 
bat zu viele und erheblihe Beweile von dem Ernft und dem 
Eifer ihres Kunftitrebend geliefert, al® daß man nicht auch 
in diefem Fall ihre redliche Abficht rühmend anerkennen follte. 
Sie hat fih mit der Ausftellung ſymphoniſcher Producte frei: 
willig viel Mühe und Koften aufgelafte. Allein wir glauben, 
die Schöne Abfiht war nicht richtig ausgeführt. Indem die 
»Geſellſchaft« eine Preisausichreibung ohne Preiſe veranftaltete 
und erklärte, fie wolle von einer unbeftimmten Anzahl einlan- 
gender Symphonien die zwei beften aufführen, hat fie doch 
offenbar nur dey Wunsch geäußert, zivei neue brauchbare Sym— 
phonien für ihr Concert:Repertoire zu gewinnen. Wollte fie 
diefe durchaus im Wege der Concurrenz erlangen, jo mußte ſie 
die Auswahl Tediglih als eine res interna betrachten und 
ruhig im Schoß der Direction, allenfall3 mit Beziehung einiger 
Wiener Fahmänner, vornehmen. Bei dem Nichtvorhandenfein 
von Preifen mußte auch von den »Preißrichtern«e Umgang ge: 
nommen werden. Vielbeihäftigte, von eigenem Schaffen jo jehr 


312 1868. 


erfüllte Männer mie Hiller, Liſzt, Volkmann, Ambros, Reinede, 
von dem Täftigen und undankdaren Geſchäft diefer Prüfung 
verfhont zu laſſen, scheint und eine Pflicht Fünftleriicher 
Humanität. Allein die »Gefellihaft« konnte ohne alle Concurs— 
ausichreibung ihr Ziel weit leichter und ficherer erreichen. Wer 
die Männer find, von denen in unferer an großen inftrumentalen 
Schöpfungen fo umergiebigen Epigonenzeit relativ noch das 
Werthvollite zu erwarten ilt, kann niemand ein Geheimniß jein. 
Menn die »Gejelihaft«e diefe Männer um eine neue Sym— 
phonie direct angeht, die (dem Gomponiften als Eigenthum 
verbleibend) mit der größten Sorgfalt hier in die Welt einge: 
führt werden fol, dann wird wohl jeder diefer Gomponiiten 
jo ehrenvoller Einladung gern folgen. Die ganze Mühe und 
Aufregung eines mufifaliihen Stiergefeht3 wäre erjpart. 
Wenden wir uns zu den beiden Preisſymphonien jelbit. 
Da wir weder den Proben beimohnen, no Einblid in Die 
Partituren erhalten fonnten, können wir nur den erften, uns 
mittelbaren Eindrud ſprechen laflen. Die erfte Symphonie 
bietet jo wenig Ungewöhnliches, daß diejer einmalige, erfte 
Eindruf gar nicht irreführen kann. Das Werk, von Albert 
Beder in Berlin, führt al3 Motto die Lenau’ichen Verſe: 


»Trotz allem Freundeswort und Mitgefühls:Geberden, 
Bleibt wahrer Schmerz ein Eremit auf Erden«. 


Aus den Tönen felbit fpriht manch waderes » Freundes 
wort«, manch zarte »Mitgefühla:Geberde«, allein von »wahrem 
Schmerz« haben wir darin fo wenig herausgefühlt, als von 
wahrer Freude. Es fehlt der Compofition an Urfprünglichkeit, 
an ichöpferiicher Kraft und auögejprochener Perſönlichkeit. Eine 
edlere, dem Gemeinen fich abwendende Nichtung, ziemlich ge— 
wandte Verwendung der Kunjtmitiel und eine bis zur Aengſt— 
lichkeit jaubere Ausarbeitung des Details bilden die löblichen 
Seiten dieſes MWerfes. Gerne loben wir fie, aber begnügen 
fönnen wir und damit nicht. Nach der wichtigen Behandlung 
bon Kleinigkeiten und gewiſſen Spielereien in der Inftrumentirung 
zu ichließen, dann nad dem Starken Anlehnen an Beethoven, 
mitunter auch Mendelsfohn (Scerzo und Anfang des Finale 


Die Preie ſymphonien. 313 


putzen ſich ſogar mit Meyerbeer'ſchen Schwefelblitzen), iſt der 
Compouiſt ein junger Mann. Es iſt daher gewiß weit Beſſeres 
von ihm noch zu erwarten. Seiner Lenau-Symphonie dürfte 
die erlangte Auszeichnung, ſo fürchten wir, eher zum Nachtheil 
als zur Stütze gereichen. Das Aushängſchild »Preisſymphonie« 
wird hohe Erwartungen erregen und unerfüllt laſſen, während 
die »Symphonie« ſchlechtweg ſchon durch ihre Anſpruchsloſigkeit 
einer freundlichen Aufnahme überall gewiß ſein konnte. 

Ein Werk von ganz anderem Kaliber iſt die mit dem 
Motto: »An das Vaterland« verſehene Preisſymphonie von 
Joachim Raff. Höchſte Intentionen, unabſehbarer Umfang, 
modernſte Schule. Dabei die (ohne Wortſpiel) raffinirte 
Hand eines erfahrenen Praktikers. Der Componiſt hat ſeinem 
Werfe folgendes Programm ausdrüdlich beigegeben: 


Erſter Sag: D-dur. Allegro. Bild des deutichen Charakters: 
»Aufſchwungsfähigkeit; Hang zur Neflerion; Milde und Tapfer: 
feit als Contraſte, die ſich mannigfach berühren, durchdringen; 
überwiegender Hang zum Gedankenhaften«. 

Zweiter Sag: D-moll. Allegro molto vivace, Im Freien; zum 
deutichen Wald mit Hörnerihall, zur Flur mit den Klängen 
des Volksliedes. 

Dritter Satz: D-dur Larghetto. Einkehr zu dem durch die Muſen 
und die Liebe verklärten häuslichen Herd. 

Vierter Sag: G-moll. Allegro drammatico. Vereiteltes Streben, 
die Einigkeit des Baterlandes zu begründen. 

Fünfter Sat: D-moll. Larghetto. — D-Dur. Allegro trionfale, 
Klage, neuer Aufſchwung. 


Es koſtet gewiß einige Selbitüberwindung, ſich durch dieje 
poetiich:politiihe Gebrauhsanmeilung nit von vornherein 
gegen die Mufif einnehmen zu laſſen. Man iſt heutzutage nicht 
mehr io phililtrös, dem Componiften jede poetiſche Anregung 
oder Anjpielung zu verübeln; allein man ift doc, gottlob, 
bereit3 hinaus über eine Mufifdeutelei von jolcher Genauigfeit. 
Wem da3 Motto (an da PVaterland«) oder die einfache 
Aufichrift: »Deutichland« nicht genügt, dem müßt es auch nichts, 
wenn Herr Raff die complete Allgemeine Zeitung von Jahre 
1848 »zum beſſern Verftändniß« austheilen läßt. Einen directen 
Bezug zu dem politiihen Programm Hat im der ganzen 


314 1863. 


Symphonie auch nur die Melodie vom »Deutſchen Vaterland «, 
deren Auftauchen, Anichwellen, Unterdrüdtiverden und Verlöſchen 
eine allerdings handgreiflide Symbolik enthält. Jeder von den 
fünf Sägen enthält geiftreiche, feſſelnde Züge, poetiihe Momente, 
originelle tehniiche Experimente. 

Mit reiner Befriedigung vermochten wir aber feinen dieſer 
Süße zu hören, da das Gefünftelte, Bizarre und lleberladene 
fih immer wieder geltend macht. Eine feurige, geiltreiche, ſehr 
felbitbewußte aber wenig productive Natur arbeitet bier mit 
größter Anstrengung, über Beethoven Hinauszulommen. Wenn 
nicht enden fünnende Redſeligkeit wirklih ein Charakterzug der 
Deutichen ift, dann hat Raff feine Landsleute allerdingd von 
dieſer Seite treffend porträtirt. Allein ſchwerlich wird das 
deutiche Volk, das fih gern in dem idealen Spiegel der 
Beethoven’ihen Symphonien wiedererfennt, fih in Raff's 
eritem Saß gejfchmeichelt finden. Zu einer eingehenderen und 
hoffentlich günftigeren Beurtheilung werden wir ohne Zweifel 
bald Anlaß finden, da die Raffihe Symphonie, aud abge: 
jehen von ihrer Preisfrönung, allen Anſpruch bat, auch einem 
größeren Publicum vorgeführt zu werden. Das erfte Anhören 
dieſes unermeßlich langen Werkes — es verlangt die ange: 
ſtrengteſte Mitthätigkeit des Hörers — hat uns zu ſehr ermüdet, 
als daß wir auf intereſſante Einzelnheiten, die uns im guten 
und ſchlimmen Sinn aufgefallen ſind, diesmal einzugehen wagen. 
Raff's Symphonie iſt die längſte, die wir kennen. Schumann 
hat mit feinem Lobe der »himmliſchen Länge« von Schübert's 
C-Symphonie manches Unglück angerichtet, denn nicht jeder 
jeiner Anhänger war fo einſichtsvoll wie Shumann felbft, 
diefe »himmliſche Länge« unnahgeahmt zu laffen, wenn nicht 
zugleich der hinmlifch Iange Faden Schubert'ſcher Melodie dazu 
vorhanden war. Jedenfalls bleibt man nah Raff's an: und 
aufregender Symphonie begierig, diejelbe wieder einmal (am 
liebiten freilich ftüdhweis) zu hören, ein Wunſch, der und rüd- 
fihtlih der erſten Becker'ſchen Breisigmphonie gänzlich 
fremd blieb. 


Gantate vd. S. Bach. Opferlied v. Beethopen. 315 


Soncert der Singakademie. 


Sebaltian Bach's (hier noch nicht aufgeführte) Kantate: 
»Ich hatte viel Bekümmerniß« ift unftreitig eine der jchönften, 
vielleicht die ſchwungvollſte aus der langen Reihe der Bach'ſchen 
Gantaten. Der ehriwürdige Gantor hat fie ſämmtlich zu praktiſchem 
Zweck, für den mufifaliichsfirhlichen Localbedarf von Leipzig, 
geichrieben: nicht weniger als fünf volljtändige Jahrgänge, 
deren jeder wenigſtens 60 Gantaten — für jeden Sonn: 
und Feiertag eine — enthielt. Hievon iſt freilich blos die Hälfte 
überhaupt erhalten, und von diefer wieder nur ein fleiner Theil 
durch die rühmliche Thätigkeit der »Bach-Geſellſchaft« publicirt. 
Sn der Geftaltung diefer von Bach mit jo großer Vorliebe 
enltivirten Gattung hielt er, wie in feinen Paſſions-Muſiken, 
feft an den proteftantiihen Eultusformen. Jede feiner Gantaten 
ichließt fih genau an das Evangelium des betreffenden Feiertags 
an, und ſucht mit poetifchen und muſikaliſchen Mitteln den 
Hauptgedanfen desjelben zur Daritellung zu bringen. Der Inhalt 
der vorliegenden Gantate iſt mit der prägnanten Kürze einer 
Theſis in den Worten des eriten Chors ausgeſprochen: »Ich 
hatte viel Bekiimmerniß, aber deine Tröftungen erquicen meine 
Geele.«e Aus diefem mit der Einfachheit einer ſchlichten Er: 
zählung vorgebradten Thema entwidelt Bach ein ergreifendes 
Seelengemälde, eine Art geiltlicher Tragödie. Das Ringen des 
geängitigten Gemüthes, hier zum Verzweiflungsiturm aufbraufend, 
dort zum Sceintod der Refignation bejänftigt, klärt fich immter 
mehr in der Zuperfiht auf Gottes Hilfe, und erhebt fi 
ſchließlich zu triumphirendem Aufihmwung. Die Gantate befteht 
aus einer furzen Orceiter-Einleitung (»Sinfonia«) und act 
Bocaljägen. Von den Sologelängen gebührt die Palme unftreitig 
der eriten von einer Solo-Oboe umranften Sopran:Arie in 
C-moll, deren pietiftifches Waſſer Bah in dem echteiten Mein 
der Poeſie zu verwandeln wußte. Die Arie hat eine Süßigfeit, 
wir möchten jagen Sugendlichkeit der Melodie, wie wir fie bei 
Bad) felten antreffen; wir möchten, jo unerheblich jonft bei 
Bach die Jahresringe find, der frühen Entitehung diefer Com: 


316 1868. 


pofition (1714) etwas von diejem Reiz zufchreiben. Von den 
beiden Tenor-Arien wurde die zweite in F-dur nicht ohne Grund 
fortgelaffen; die erite, in F-moll, mit ihrem wunderbar har- 
monilirten, pathetiih auf Schumann hinmweifenden Ritornell 
ift ein echt Bach'ſches Meifterftüd. Ungleich geringeren Eindruck 
macht das breit außgeiponnene, in mancher Beziehung veraltete 
Duett zwifchen Sopran und Bag. Die allegorifche Figur der 
»gläubigen Seele«, befanntlih eine jtereotype Erſcheinung in 
der älteren proteftantiihen Kirchenmuſik, tritt hier in unmittel— 
bare Beziehung zum Heiland. Won den Chören glaubt man 
bald diejen bald jenen mehr bewundern zu müfjen, je länger 
man ji) abwechſelnd darin vertieft. Bereitet der Eingangschor 
mit würdiger Einfachheit der Stimmung den rechten Boden, jo 
erhebt jih auf demjelben der Chor: »Was betrübft du dich, 
meine Seelee zu riefiger Höhe, ftarrend im Reichthum polyphoner 
Kunft, und unerfhöpflih in immer neuen Wendungen. Men— 
delsſohn's Compofition derjelben Worte fteht in ihrer janften 
Modernität wie ein Kind daneben. Auch der folgende Chor: 
»Sei nun zufrieden, meine Seele«, mit feinem Cantus firmus 
(⸗Was helfen uns die jchweren Sorgen«) umifpielenden Solo= 
terzett zeigt una die Polyphonie in ihrem eigentlichen Element, 
dabei in einer nur Bach erreichbaren Freiheit der Bewegung. 
Die weithin jtrahlende Krone des Ganzen iſt der Schlußchor: 
» Das Lamnt, das erwürgt ilt«. Mit einer bei Bach auffallenden, 
deitomehr an Händel mahnenden Sonnenflarheit intonirt der 
Chor unter dem Gejchmetter von Trompeten und Poſaunen ein 
auf den Intervallen des C-dur-Dreiflangs machtvoll aufjteigendes 
Thema, das im Verlauf den Schmud reichiter YFiguration 
fiegreich durchdringt. Wie löjt fi hier alle Miſere des Lebens 
zur freudigiten Siegeögewißheit auf! 

Das Programm der Singafademie war zwedmäßig ges 
ordnet: auf die Cantate folgte, gleihiam als Ruheplätzchen 
und Grenzitation zwiſchen geiftlicher und weltlicher Mufik, 
Beethoven’ »Opferlied« (Op. 121) für eine Sopranjtimme 
mit Orcheiterbegleitung. Bon Beethoven iſt dieſe Mufif allerdings, 
aber jehr wenig beethoveniich; fie ſcheint auch dem Meiiter, 
wie die Mehrzahl feiner Gejänge, mehr ein Ruheplätzchen nad) 


Concert de3 Componiften Dr. Otto Bach. 317 


gewaltigen fymphoniftiihen Anftrengungen gewejen zu fein, als 
eine jchöpferiiche Anftrengung jelbft. Es folgten drei wunder- 
ſchöne deutiche Volkslieder, vierftimmig gefeßt, die Harmonifirung . 
aus dem jechzehnten und fiebenzehnten Jahrhundert; ein viertes, 
nicht minder ſchönes, etwas modernerer Factur, twurde nad 
ſtürmiſchem Applaus hinzugefügt. Liebensmwürdigeres, Innigeres 
in diefer Enappen, jchlichten Form haben wir jelten gehört. Auf 
der Höhe dieier Stimmung konnte die Schlußnummer, Schu: 
mann's »Nequiem für Mignon«, die Verfammlung nicht 
erhalten. Edel und janft im Ausdrud, aber auch weich und 
ſchwungvoll, ericheint uns dieſe Compofition ſchon als ein 
Borbote jener Müdigkeit und grübelnden Verſenkung, welche 
ipäter Schumann’: Schaffen fo eigen zu feſſeln begann. 


&oncert des Componiſten Pr. Otto Bach 
im großen Fiedoutenfaal. 


Mer die bisher erjchienenen Compofitionen Herrn Bach's 
und feinen muſikaliſchen Entwidlungsgang fennt, mochte den 
Saal nit ohne einiges Bangen betreten haben. Herr Bad 
hat vor einigen Jahren‘ mit Kammermufit und Clapierfachen 
debutirt, welche, in fait reactionärer Einfachheit an Haydn 
lehnend, eine äußerft dürftige Begabung mit Auftand vorführten. 
Hierauf ift Herr Bach echt hegeliſch »in jein Gegentheil umge: 
Ihlagen« und avancirtejter Zukunftsmuſiker geworden. Er hat 
einen Beweis mehr geliefert, daß eine ideenarme, von heftigem 
Schaffensdrang gequälte Phantaſie fih noch am leichteiten mit 
dem prätenfiöjen Nebel der Zufunftämufif amalgamire, daß dad 
allzu Einfache zu dem allzu Ungeheuerlichen den kürzeſten Weg 
habe: die Schlange, die fich felbit in den Schwanz beißt. Die 
DOrcefter-Eompofitionen Herrn Bach's haben uns einen geradezu 
troftlofen Eindruck gemadt. Gnticheidend für denjelben ift der 
Mangel jegliher Schöpfungstraft und aller Individualität. 
Schon in Herrn Bach's Eleineren Compoſitionen hat diefes Ab- 
handenfein einer Perſönlichkeit und am ımangenehmiten 


318 1863. 


berührt. Bald wird diefem, bald jenem Vorbild nachgejagt, in 
demfelben Stück oft drei bi vieren, nur aus dem eigenen 
Innern iſt nichts geichöpft. Man jehe fich die jüngst erfchienenen 
drei Liederhefte von O. Bad (op. 9) an: die kleinſten lyriſchen 
Gedichte werden da zu einem Univerfum von dramatiihen und 
jonftigen «Intentionen« aufgebläht. Welcher Ausverkauf von 
fühnen Modulationen, opernhaften Effecten u. dgl.! Jede Seite 
zeigt, daß der Gomponiit fein eigenes Empfinden ausfpricht, daß 
er nicht mit fih im Reinen iſt. Das große Concert Herrn 
Bach's mußten wir, die wir alles bisherige gern al3 unreife 
Hebergang3-Producte angefehen hätten, wohl als Manifeit be- 
traten, Herr Bad jei nunmehr mit fih im Reinen. Es 
waren lauter umfangreihe Tonmwerfe eigener Compofition, die 
Herr Bad vorführte. Zuerft eine Symphonie von riefiger 
Dauer, offenbar mit verfchwiegenem » Programme. Diejed Thau— 
wetter von Schwulft, Lärm und Reminiscenzen analyfiren zu 
wollen, wäre vergeblihe Arbeit. Die trodenfte Nüchternheit 
feiert hier mit wüſter Phantaftik ein anmuthlojes Hochzeitäfeit. 
Ein große® Orcheſter mit zwei Harfen, Ophifleide, großer 
Trommel und Beden ift in fortwährendem Tumult; aber alle 
Lärminftrumente de3 türkiſchen Reich vermögen dieſe Gedanken— 
armuth nicht zu maßfiren. Von den Plagiaten aller Xrt, 
namentlich den jehr ungenirten aus »Tannhäufer« und »Lohen— 
grin«, wollen wir gar nicht reden, wäre nur einige Ruhe und 
Klarheit, nur ein Hauch wirklichen Empfinden? in den Saden. 
Es war und zu Muth wie Einem, der vor dem Schlafengehen 
alle Wagner’ichen Opern und einige Liſzt'ſche Symphonien dazu 
gehört hätte, und nun in wirrem Durcheinander davon träumt. 
Bon einer fünftleriihen Form ift da faum zu reden; drei bis 
viermal in jedem Stüd glaubt man den Schluß gefommen, und 
— täuſcht ih. Nach ungebürlicher Länge ſäuſelt ein Sa unter 
Harfenflängen und leiſen Geigentremolo8 jeinem Ende zu, — 
da ertönt der grelle Pfiff eines Piccolo, der Zuſammenſchlag 
der Beden, und mit einem Ruck fahren wir aus dem Ber: 
Härungshimmel direct in die Wolfsihludt. Diefe übergeht 
wieder in etwas Anderes, 3. B. in ein fteifes Fugato, das 
mehrmals anfegt, und nie vom Fled fommt, und fo geht es 


Goncert bed Gomponiften Dr. Otio Pad. 319 


in rein äußerlihem Nebeneinander fort, daß man jchließlich 
wirklich erftaunt ift, wenn das Stüd dennod ein Ende erreicht 
hat. Die Inftrumentirung ift von erichredender Rohheit, die 
Poſaunen, Trompeten, Ophifleiden fommen nicht zu Athem — 
eine Panzerfregatte auf dem Stadtparfteih. — Die Ouverture 
zu Hebbel's »Nibelungen« beginnt mit phantaſtiſch auffteigen: 
den Gängen der Bälle (ungefähr wie die »Lear-Ouperture« von 
Berlioz), breitet fih dann in einem langjamen Sa mit vielem 
Lärm aus, und geräth jchließlich in ein barbarijches alla-breve- 
Motiv, dad an die Menfchenfreifer-Ballette auf kleinen Bühnen 
erinnert. Mit dem Geift von Hebbel's tieffinnigem Drama hat 
dieje Ouverture nicht3 gemein; eher paßt fie zu Glasbrenner’s 
boshafter Parodie desjelben, in welcher die Reden jede ihrer 
unfinnig prahleriihen Reden mit dem Ausruf: »Hei! Hei!« 
beginnen. Wie und das einfachſte Lied von Abt oder Küden 
höher fteht, ald Otto Bach's früher erwähnte Geſänge, fo ziehen 
wir jeiner banaufiihen Nibelungen:Mufif auch ohne weiters die 
beicheidenen Entreaft vor, welche Emil Titl zu dieſer Tragödie 
ſchrieb — fie find mit einem Worte mufitaliicher. 

Zwei große Scenen mit Chor und Soli zu dem Drama 
»Spartafus« machten und feinen günjtigeren Eindrud. Unter 
betäubendem PBaufenwirbel und müthendem Blajen von allem 
was Blech heißt, feuchen die Singftimmen fi an einer »Melo— 
die« ab, die noch mehr als »unendlih« if. Daß mit den 
Pauken- und Blecheffecten Harfenarpeggien, lange Tremolos der 
gedämpften »Violini divisie u. dgl. wechſeln, veriteht ih. Es 
ift merfwirdig, wie Orcheiter-Effecte, welche Berlioz, Wagner 
und Liſzt mit Geift erdaht nnd verwendet haben, nunmehr be: 
reit3 zum platteften Handwerfsapparat geworden find und 
mechaniſch zufammengefügt werden. Al die wunderbaren und 
wunderlichen Orcheſter-Combinationen jener raffinirten, aber 
geiftreihen Gomponiften, liegen für Herrn Bad fertig neben 
einander auf dem Nrbeitstiih; er langt beliebig jet nad) 
diejem, dann nad) jenem und fügt fie ein, ohne zu fragen, ob 
die mindeite muſikaliſche Motivirung dafür vorhanden jet. Für 
Heine, unfichere Talente hat diefe Richtung die größte An— 
ziehungäfraft, aber auch die tüdifcheften Folgen: nichts Wider: 


320 1863. 


wärtigeres gibt es, al3 die Redeweiſe Liſzt's, Berlioz’, Wagner's, 
ohne den Geiſt dieſer Männer. 

Sämmtliche Nummern des Herrn Bach wurden von dem 
freundlich geſinnten Publicum beifällig hingenommen. Von 
Herzen gönnen wir dem Componiſten dieſen angenehmen Ein— 
druck; für das wahre Intereſſe ſeiner Zukunft wäre vielleicht 
ein redliches Fiasko heilſamer geweſen. Wir würden, offen ge— 
ſtanden, denjenigen für Herrn Bach's beſten Freund halten, 
der ihn von einer roſen- und lorbeerarmen Laufbahn zu der 
juriſtiſchen Carrière zurückführte, der er, durch Geburt und 
Bildung angehörig, noch vor kurzem gehuldigt hat. 


RBhilharmoniſche Concerte. 


Wenn irgend einer von den jüngeren Tondichtern der Neu— 
zeit ein Recht darauf hat, nicht ignorirt zu werden, ſo iſt 
es Johannes Brahms. Er hat ſich durch ſeine bisher er— 
ſchienenen Compoſitionen als eine ſelbſtſtändige, eigenthümliche 
Individualität, als eine fein organifirte, echt muſikaliſche Natur, 
als einen mit unermüdlichen:, bewußtem Streben der Meilter- 
ichaft entgegenreifenden Künftler documentirt. Seine » Serenade 
in A-dur« (Op. 18) iſt die jüngere, zartere Schweiter der von 
der »Gejellichaft der Mufikfreunde« kürzlich vorgeführten Sere— 
nade in D. Es herrſcht in ihr im weſentlichen diejelbe ruhig 
genießende, träumerifche Gartenftimmung; nur flingt alles noch 
gedämpfter, innerliher. Die D-Serenade, von Anfang bis zu 
Ende reicher, blühender, ſteht an Kraft und Originalität der 
der Erfindung unſeres Erachtens unbedingt über der Hleineren in 
A-dur. Daß fi) mitunter auch Stimmen mit Vorliebe für die 
letztere ausſprechen, kann dem Autor nur lieb fein. Wir haben 
von der Serenade in D einen tiefern Eindrud empfangen, und 
er lag nicht blo3 in der üppigeren Klangwirkung. In der für 
kleines Orchejter gejchriebenen A-dur-Serenade hat der Com: 
ponift nicht allein auf Trompeten und Poſaunen, er hat jelt- 
ſamerweiſe auch auf die Violinen verzichtet, und begnügt fich 
mit den drei tieferen Arten des Geigengejchlechtes. Unſeres 


Brahms’ A-dursSerenabe. — Berlioz »Romeo und Julie«. 321 


Wiſſens hat dies Grperiment zuerſt Mehul in feiner Oper 
»Uthal« vorgenommen, und die Bratjchen an die Stelle der 
Biolinen treten lajjen, um eine dem Localton des Dramas 
entiprechende, Dumflere, dämmerige Beleuchtung zu erzielen. 
Solche Klangharakteriitif, welche auf eine ganze Oper einen 
empfindlichen Druck ausübt, findet in einem kürzeren Orchefter: 
ſtücke allerdingd eine paflendere Stelle, beionder8 wenn die 
Inſtrumental-Farben mit jo feiner, fundiger Hand wie hier ge— 
mifcht werden. Dennoch wird bei einer Concertaufführung in 
großem Raum der zarte, Shüchterne Klang der A-dur-Serenade 
ihre Wirkung etwas beeinträchtigen. Das Stüd beiteht aus 
fünf ſelbſtſtändigen Süßen: 1. Allegro moderato, A-dur (So: 
natenform, ohne Wiederholung de3 eriten Theil) mit einem 
etwas jchattenhaften eriten, und einem ganz reizenden zweiten 
Thema, beide überaus geiftreich durchgeführt. 2. Scherzo in 
C-dur mit einem Trio in F-dur; in feiner fräftig fröhlichen 
Rhythmik etwas an das Finale von Beethoven’s 8. Symphonie 
erinnernd. 3. Adagio in A-moll, 1?/, Takt; diejer von inniger, 
dabei eigenthümlich vornehmer Empfindung bejeelte Saß leidet 
nur duch allzulanges Ausjpinnen bei jehr geringem rhythmijchen 
Wechſel. 4. Menuett in D-dur mit Trio in Fis-moll; die Berle 
der ganzen Suite, von entzücender Liebensmwürdigfeit. 5. Rondo, 
Allegro in A-dur, ein Iujtiges SKirmeßtreiben, dem zu voller 
Wirkung nur ein rascherer Abſchluß fehlt. — Die Serenade 
erfuhr eine äußerft günftige Aufnahme. Der jedem Sat folgende 
lebhafte Beifall wurde am Schluß in dem Maße größer, als 
der bejcheidene Componiſt auf feinem Galleriejige immer Eleiner 
wurde. Brahms ımd Soahim, die beiden Herzensfreunde, 
jtanden diesmal wie im Leben, jo auf dem Goncertprogranm 
Hand in Hand. Joachim's »ungariiches Goncert« wieder zu 
hören, war und ein wahres Labſal. Diefe Tondichtung voll Geiſt 
und Gemüth, voll Energie und Zartheit fihert Joahim einen 
hervorragenden Pla unter den modernen Componijten. Man 
möchte jeinen Virtuojen-Siegen gram werden, weldhe wohl allein 
Schuld daran find, daß dieje Kraft jo felten zu einem größeren 
Werke fich zufammenfaßt. Wie Joachim da3 »ungarifche Eoncert« 
ipielt, wer erinnert fich deijen nicht? Nun, wenn Einer es ih 
Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 21 


322 1863. 


nachſpielen darf und kann, jo iſt es Laub. Diefer kleine, blaſſe 
Geiger mit dem kühnen Bogenſchwung und der eiſernen Ruhe 
iſt uns niemals heldenmäßiger erſchienen, als in dem Finale 
des Joachim'ſchen Concerts. Er ſpielte dieſe idealiſirte Zigeuner— 
muſik wie ein idealer Zigeuner. 

Zwei Sätze aus Berlioz' dramatiſcher Symphonie 
»Romeo und Julie«: das Adagio (Scène d'amour), und das 
Scherzo (la fee Mab), die effectvollſten und abgeſchloſſenſten 
der Symphonie, werden ihrer Wirkung überall viel ficherer jein, 
als das zujammenhängende, jehr ungleiche Ganze, dem jie ent- 
nommen find. Troßdem möchten wir bedauern, daß die Romeo— 
Symphonie, welde in ihrer Vollitändigfeit hier noch unbekannt 
ift, nicht ganz gegeben wurde. Iſt einmal diefe Pflicht der 
Pietät gegen einen namhaften Gomponiften geübt, und das 
Bublicum in deſſen Intentionen eingeweiht, jo mag man jpäter 
immerhin fi an den wirfungspolleren Bruchſtücken genügen laſſen. 
Daß dad Programm der Philharmoniker unter anderen auch 
das »Andante« aus Liſzt's Hier noch unbekannter Fauſt— 
Symphonie anfündigt, bedauern wir aus gleichen Gründen. 
Anhänger der Liſzt'ſchen Muſe find wir befanntlicy nicht; allein 
wir werden zum Anwalt jedes Gomponiften, defjen zuſammen— 
bängendes Werk man ohne Noth zerftüdt. 

Die »dramatiihe Symphoniee — wie mand ähnlicher 
Berfuh durh Beethoven's »Neunte« veranlaft — iſt eine 
unglüdlihe Miſchgattung, die feine Zukunft Hat. Die Orcheſter— 
nummern ragen aus dem Ganzen hoch hervor, wie denn Berlioz’ 
Phantafie eine rein inftrumentale, und feine Technik ebenjo 
glänzend im Orcheſter ift, als tyranniich ungeſchickt im Vocal— 
jat. Schon der erite größere Inftrumentaliag, aus Andante und 
Allegro beitehend (Romeo allein, Schwermuthjcene, großes Felt 
bei Gapulet, Concert und Ball), hebt jich zu blendender Wir— 
fung; er hätte fich leicht den beiden anderen anfügen laſſen. 
Das Adagio »Liebeöjcene« iſt wohl die füßefte, innigfte Mufi, 
die Berlioz je geichrieben. Wie rein und gleihmäßig, Scheinbar 
uferlos, fließt dies Adagio dahin, mit Schwermuth getränft, 
wie in Töne zerflofiene Thränen. Es läßt fih, obwohl es im 
Grunde auch nur ein gefteigerte® Thema ift, rein mufifalifch 


Rubinftein »Ocean⸗Symphonie«. 323 


genießen; einige Kleine, ſceniſche Zwiſchenwürfe ftören nicht 
nahhaltig.e Das Scerzo »Fee Maab« tit unferem Bublicum 
bereit3 befannt und befreundet. ine Fülle glänzender, mit: 
unter höchſt gewagter Einfälle, erjcheint hier von einem phan— 
taltiihen Gedanken zufammengehalten. Dan könnte als Motto 
Calderon's Verſe darüberjchreiben: 


»Was iſt Leben? Hohler Schaum, 
Ein Gedicht, ein Schatten kaum! 
Wenig kann das Glück uns geben, 
Denn ein Traum iſt unſer Leben 
Und die Träume ſelbſt ſind Traum.« 


Das dritte Philharmoniſche Concert ſchloß mit einer 
Novität: der »Ocean-Symphonie« von Rubinſtein*). Die 
Erfahrung, die wir an allen Werken dieſes ſehr begabten, aber 
etwas ſchleuderiſchen Tonſetzers gemacht, wiederholte ſich auch 
hier. Rubinſtein beginnt friſch, vielverſprechend, oft mit 
genialer Erfindungskraft, um dann ſtufenweiſe abwärts zu fallen. 
Von ſeinen beiden Opern angefangen bis zu den Trios und 
Sonaten herab kennen wir keine Compoſition Rubinſtein's, die 
ſich in ihrem Verlauf auf gleicher Höhe erhielte oder gar 
ſteigerte. Es iſt, als ob die erſte Begeiſterung ſchnell verraucht, 
das Beſte raſch ausgegeben wäre, und dann dem Componiſten 
die Luſt und die Selbſtkritik ſchwänden. Der erſte Satz der 
Symphonie iſt wahrhaft grandios, die Motive ſchön und eigen— 
thümlich, die Form bei aller Breite feſtgefügt, das Ganze bei 
allem Jugenddrang doch klar und durchaus muſikaliſch. Mit 
dieſem erſten Satz ſcheint ſich aber der Componiſt ausgegeben, 
ſeinen Stoff poetiſch wie muſikaliſch verzehrt zu haben. Das 
Adagio hat nicht mehr die gleiche Urſprünglichkeit, es redet mit 
Mendelsſohn'ſchen Zungen, immerhin Edles und Verſtändiges. 
In dem geiſtvoll behandelten Orcheſter gewinnt die malende 
Tendenz ſchon Oberhand, auch manches Claviermäßige macht 
ſich bemerkbar. Eine Stufe tiefer ſteht wieder das Scherzo, 
ein raſcher Zweivierteltakt, deſſen derbe Fröhlichkeit eine eigen— 


*) Rubinſtein hat in ſpäteren Jahren noch zwei Süße hinzu: 
componirt, jo daß feine Ocean-Symphonie jehslägig geworden it. 
21* 


324 1883, 


thümlih erzwungene Phyſiognomie und jtarfen Zug zum Tri: 
vialen hat. Das Finale endlich, der am breiteften und luxu— 
riöfeften ausgeführte Satz, tft geradezu Hohl, erfindungslos, 
dabei von ermüdender Schallwirfung und NRedfeligfeit. Der von 
jämmtlichen Bläfern (darunter 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Po— 
jaunen und Baßtuba) fortilfimo geblafene, von den Geigern 
umſchwirrte Choral dünft ung ein pompöſer Nothbehelf, ein 
dramatiiches Anlehen für das erichöpfte mufifaliihe Capital. 
Außer der Ueberſchrift »Dcean« ift der Symphonie fein poetiicher 
Megmweijer mitgegeben. Der Componift denkt liberal genug, 
unferer Phantafie volle Freiheit zu laffen. Der Stoff hat ihm, 
namentlich im erften Sat, großartige Anregungen geboten, auf 
dem Ganzen drüdt er mitunter läſtig; das monotone Rauschen 
de3 ewigen Meeres, niemals ermüdend in der Natur, wird es 
doch in der furzen Dauer einer Symphonie. 


ÖOrcheflercompolitionen von Lilzt und 
Wagner. Goncert von Taufig. 


Nah der Weihnahtspaufe jchien ein günftiger Stern für 
die Zukunftsmuſik aufzugehen; in zwei aufeinanderfolgenden 
Soncerten hörten wir drei größere Gompofitionen von Liizt 
und vier dramatische Fragmente von Rihard Wagner. Das 
vierte »Philharmonifhe Concert« bradte das Adagio aus 
Liſzt's »Fauft«-Symphonie Died Adagio, »Grethen« über— 
ichrieben, ilt der zweite von den drei Süßen einer (Hector 
Berlioz) gewidmeten Symphonie, deren erſter Sat »Fauſt« 
und deren dritter (Scherzo und Finale) »Mephiftopheles« heißt. 
Ein Vocalhor über die legten acht Verje aus Goethe’3 zweiten 
Theil (»Alles Vergängliche ift nur ein Gleichniß) jchließt fich 
unmittelbar an. 

Bon Liſzt's Symphonien ift dieſe jedenfall® die höchſt 
intentionirte und umfangreichite; den Adepten gilt fie überhaupt 
al3 der Gipfelpunft von Liſzt's Schaffen. Der General-Agent 
der Zufunftsmufit in Leipzig, Herr Brendel, verfichert, Liſzt's 
frühere inmphonifche Dichtungen, neun an der Zahl, »bezeichnen 


Liſzt »Fauſt-Symphonie«. 325 


den Moment des Heranbewegens« zur »Fault«-Symphonie, 
womit »Lijzt, ganz wie Mozart«, einen »univerfalen Höhe— 
punkt erreiht hat«.. Es wäre unter ſolchen Umſtänden von 
hohem Snterejje geweſen, die Symphonie, deren einzelne Süße 
überdie8 durch die Wiederfehr derjelben Motive zur Einheit 
verichmolzen werden, vollitändig zu hören. Als Gutachten einer 
Eleinen Minorität, welche die Muſik nicht ausjchlieglih vom 
Standpunkte ded unmittelbaren Vergnügen auffucht, war Dieler 
Wunſch begründet; praftiicher dachte jedenfalls der Dirigent der 
Philharmonie-Concerte, indem er blos das Adagio vorführte. 
Konnte diefer Sag, weitaus der ſchönſte der Symphonie, nur 
eine getheilte Gunft beim PBublicum finden, jo hätte das Ganze 
auch nicht einmal fo viel erreicht. Wielmehr war mit hoher 
Wahrfcheinlichkeit darauf zu zählen, der dritte Sat »Mephiſto«, 
welcher nichts Geringeres. als die »Negation« darſtellt und Die 
Themen »Fauft3« und »Gretchend« verhöhnt, verzerrt, ver: 
ftümmelt, werde das philharmoniiche Publicum auf dag Em: 
pfindlichite verftimmen, und zur »Negation« jelbit des mäßigen 
Beifall3 Hinreißen, dem es dem »Gretchen«-Adagio fpendete. 
Letzteres ift nicht nur unter den Süßen der »Fauſt«-Symphonie, 
Jondern jo ziemlich unter allen uns befannten Orchefterftüden 
von Liſzt das mufifalifch befriedigendfte, einfachite und be— 
jeeltejte. Nach einigen einleitenden Taften der Flöten und Cla— 
rinette, ertönt — blos von einer Oboe und einer Viola gejpielt 
— da3 Hauptthema, dejien einfache Innigkeit manchen Hörer 
überraiht haben wird. Unmillfürlich fiel und Berlioz' Bezeich— 
nung des Hauptthema feiner »Symphonie phantastique« ein: 
»Simple et timide, mais d’un caractere noble et passionnee, 
eine Charafteriftif, an welche Liſzt's Gretchen-Motiv ebenjojehr 
erinnert, wie der ganze Sak an Berlioz'ſche Adagios. Auch 
als zweites Thema erjcheint, vom Streichquartett in diefer Lage ‘ 
gefpielt, eine ſüße, von zartefter Empfindung geſchwellte Melodie. 
Im weiteren Verlauf beginnt allerdings immer mehr die Phrase 
zu herrſchen, ein abftractes Pathos, deſſen geringen muſikaliſchen 
Suhalt neue, zum Theil blendende Orcheiter-Effecte beichönigen 
müſſen. So 3.2. die gleihjam als Mittelfag ericheinende Die: 
Iodie der Violoncelle, über welche leiſe die gedämpften VBiolinen 


326 1863. 


tremoliren und drei Flöten triolenweis in Dreiflängen auf: 
und niederfchweben. Daß es an reihlihen Harfen-Arpeggien 
nicht fehlt, a leiſen Beckenſchlägen, an häufigem Taftwechiel 
u. dgl., muß ſich bei Lilzt wohl von ſelbſt verjtehen. Die Be- 
mühnng des Gomponiften, gerade diefen Sat jo zart und ein- 
heitlich als möglich zu geftalten, iſt unleugbar; man wird 
nirgends geradezu verlegt und aus der Stimmung gerifjen. 
Eine einzige Stelle möchten wir ausnehmen, es ilt daß Die 
Melodie plößlich unterbrechende, unmotivirte Reifen und Rupfen 
der Geigen (S. 142 der Partitur), das wir für eine höhniſche 
Necderei des über den Gartenzaun hereingrinjfenden Mephiſto 
hielten, bi3 wir durch bevollmächtigte Adepten erfuhren, es ſei 
damit Gretchen® Blumen-Orakel: »Er liebt mich, liebt mich 
nicht«, gemeint. So ſüß und jangbar die Themen, jo edel bei- 
nahe die ganze Haltung des Stüdes, jo glänzend endlid Die 
Snftrumentirung desſelben — volle fünftlerifche Befriedigung 
gewährt es nicht. Nirgends begegnet und wahrhaft jchöpferiiche 
Kraft, große, urfprüngliche Erfindung: man halte da3 einfachite 
Stück von Beethoven dagegen. Daß Berlioz durchweg als 
Unterlage durchichimmert, haben wir erwähnt. Die jeltfam ge— 
mifhte Empfindung, mit welcher wir jederzeit Liſzt'ſche Sym— 
phonien hörten, fam uns diesmal fräftiger als je zum Be— 
wußtlein: die erhöhten Vorzüge des Gretchen-Adagio vor allen 
andern Lilzt’ihen Symphonien erhöhen auch das Bedauern, 
»troß alledem und alledem« einer im Kern unproductiven 
Natur gegemüberzuftehen. E& hat etwas Tragijches, einen Mann 
von blendendem Geift, von zarter und lebhafter Empfindung, 
von ungewöhnlihem Kunftgeihid, gleichlam an der Schwelle 
des Tempeld umherirren zu jehen, dem Eingang nahe und 
näher fommend, und doch unfähig, und jemals in daS Innere 
jelbit einzuführen. 

Wenn übrigens irgend etwas geeignet war, und die Schön- 
heiten »Gretchens« heller und ihre Fehler verzeihlicher ericheinen 
aut laffen, jo war dies die Aufführung einiger Wagner'ſchen 
Orcheſterſtücke am folgenden Tag. Mit all feiner mufiviichen 
und verſchwimmenden Form, feinem ariofen, nicht fymphoniftifchen 
Verlauf, mit all feinen gefünftelten Weußerlichfeiten klingt 


Eompofitionen von R. Wagner. 327 


Liſzt's »Gretchen- noch wie ein Mozart’iches Werk neben den 
Entreactes aus »Triltan und Siolde« und der Duverture zu 
den »Meifterfängern«. Dieſe Compofitionen R. Wagner's, nebft 
jeinem »Schuiterlied des Hand Sachs«, wurden unter Leitung 
des Componiſten in einem großen Concert aufgeführt, das der 
Pianiſt Herr Karl Taufig im Nedoutenjaale gab. Weber’ 
‚Freifhüß«=Duverture eröffnete das Concert, und mit ihr 
bite der Dirigent Wagner den Gomponiften Wagner einzu— 
füßren. Und ein treffliher Dirigent ift der Mann, ein 
Dirigent voll Geift und ‘Feuer, der bei den Proben mit 
Stimme, Händen und Füßen wie ein fühner DOfficier feine 
Compagnie mit fich fortreißt, und richtig auch die Schanze 
eritürmt. Wir möchten nicht behaupten, daß all die Schönheits- 
mittel, welche Wagner zur Berjüngung eines innerlich jo jugend- 
lichen und ferngefunden Tonſtückes anwendete, nothwendig ſeien; 
allein mwohlthuend war e8 doch, die meift in gleihmäßigem 
Schlendrian herabgeipielte »Freiſchütze-Ouverture einmal mit 
neuem Schwung und überaus feiner Nuancirung vortragen zu 
hören. Das allmälige Anjchwellen und Abnehmen des Horn: 
jaged in der Einleitung, das etwas zurüdgehaltene Zeitmaß 
der Gejangitelle im Allegro, das breite Ausklingen der beiden 
Fermaten vor dem Schlußſatz (nicht Dürftigered als zu furze 
Fermaten!) waren von ſchönſter Wirkung. Nun folgten von 
Wagner's Compofitionen das »Vorſpiel« und der »Schlußſatz« 
zu »Triftan und Iſolde« — eine troftlofe Muſik, wenn über: 
haupt eine. Im Vorjpiel wird ein mwinfelnde® Motiv von fünf 
Noten in »unendlichem« Verlauf fortgeiegt, d. h. bald Höher, 
bald tiefer, bald von Diefem, bald von jenem Snftrument 
wiederholt, ohne irgend einen Gegenſatz oder Ruhepunft. Dies 
chromatiſche Gewimmer mit feinen unaufhörlihen verminderten 
Septimen:Mccorden und dem überreizten Sinnenkitzel feiner 
Inftrumentirung bereitete und eine ungemeine Nervenpein. 
Vermag man ed, von dieſem Eindrud zu abjtrahiren und ruhig 
zu prüfen, jo findet man dad Stüd einfach langweilig. Das— 
jelbe gilt von dem raufchenderen, aber muſikaliſch ebenjo ver: 
armten Schlußſatz (»Berklärungs). Wir fanden darin die treue 
Mufifelleberfegung des poetiichen Bombaites, welhen Wagner 


328 1863. 


den beiden Liebeöleuten in den Mund legt, und der in folgenden 
Schlußworten gipfelt: 

»Liebe, heiligite® Beben, 

Wonneshehrites Weben 

Nie-Wieder-Erwahens wahnlos 

Hold bewußter Wunſch«! 

Es folgte (auß den »Meilterfängern«) das »Lied des 
Hans Sachs bei der Arbeit«. Wir hatten nach den Orcheiter: 
Fragmenten mit einiger Sehnjucht auf dies Lied gewartet, — 
ilt doc) in der Mufit Wagner’ das Wort ein unentbehrlicher 
Führer, und war doch von einem Liedchen, dad der Hand: 
werfsmann bei jeiner Arbeit fingt, etwas anſpruchslos Gemüth— 
liches zu hoffen. Arge Täufhung! Unfer guter Scufter be: 
ginnt mit einem Aufjchrei über dröhnenden Poſaunen-Accorden 
— ein Kannibale, der fih an einem zu heißgefottenen Std 
Menſchenfleiſch das Maul verbrannt hat, könnte nicht anders 
componirt werden. Wir bedauerten Herrn Madyerhofer, der 
diefe melodiihen Brocken durch einen Wuſt läftiger Inftru: 
mentirung unverfehrt durdhzutragen hatte. Daß Wagner feinen 
Humor hat, jhien ung von einem Componijten von vornherein 
wahricheinlich, als deſſen Lebenselement wir bisher das Pathos 
und meilt das trodenite Pathos fannten. Das »Schufterlied« 
und die Dupderture zu den »Meifterfängern« läßt über dieſen 
Mangel kaum mehr einen Zweifel übrig. 

Der Eoncertgeber, Herr Taufig, Stand neben R. Wagner 
natürlih etwad® im Hintergrund; uns war jein Erjcheinen 
jedesmal ein Labſal. Die Virtuofität dieſes jungen Pianiſten 
dürfte gegenwärtig faum irgendwo ihreögleichen haben, fie ift 
nach jeder Richtung hin ftaunenswürdig. Das Ueberreizte und 
unſchön Heftige des Vortraged, das uns früher Taufig’s 
Virtuofität verleidet hat, Scheint fich jekt wohlthuend gemildert 
zu haben. Wir wirden uns herzlich freuen, wenn dies unge: 
wöhnlihe Talent wirklih in das Stadium der Abklärung und 
Ihönen Neife getreten wäre Die Compofitionen, Die Herr 
Taufig vortrug, waren Liſzt's Es-dur-Eoncert Nr. 1 und 
deifen Gapriccio über »die Auinen von Athen«, Stücde, in denen 
bei unläugbarer Bizarrerie und Aeußerlichkeit doch viel Geift 


Hammermufit von Schubert und Em. Bad. 329 


jtect. Wenn nichts auders, fo bleiben fie merkwürdige Monu— 
mente für die Höhe der Claviervirtuofität in unferer Zeit. 

Nah den Wagner'ſchen Stüden genofien wir mit 
doppelter Freude eine neue GCompofition von Brahms, melde 
am jelben Tage in Hellmeöberger'3 Quartett:Soiree vorgeführt 
wurde. Es iſt dies ein Sertett für zwei Violinen, zwei Bratjchen 
und zwei Violoncelld (B-dur. op. 18). Wir zählen diefe Com— 
pofition nicht nur zu den beiten von Brahms, fondern über: 
haupt zu dem Schöniten, was die neuere Kammermuſik hervor: 
gebracht hat. Namentlich der erite Sag iſt von urſprünglichſter 
Srifhe der Erfindung, von Anfang bis zu Ende melodiös, 
durhfichtig, meifterhaft in Form und Ausführung. Das ganze 
Sertett iſt einfah und anmuthig gehalten, in jener E£laren, 
leihtbewegten, innerlih glüdlihen Stimmung, welche jo ge- 
winnend aus Brahms’ D-dur-Serenade klingt. Soldhe Com: 
pofitionen find in ihrer liebenswürdigen Schönheit eigentlich 
die befte Kritit und Replik auf die Großthaten der Zukunfts— 
mufif, Brahms iſt eben durch und durch Mufiter, während 
man von Wagner oder Liſzt jagen könnte, was Plutard) 
von Damon, dem Mufiflehrer des Perikles, berichtet: »Er 
war ein Sophiit eriten Rangs, und jcheint ſich hinter den 
Namen der Muſik veritedt zu haben«. 


Kammermufiß. 


Die mufifaliihe Woche glih einem blühenden Mai der 
Kammermufif. Da gab es vorerit eine neue Blume aus den 
überquellend üppigen Beeten Franz Schubert’3; ein Quartett 
in G-moll. Es ſtammt aus früher Jünglingszeit, ein Wert 
weder tief noch allzu reich, aber liebenswürdig durch feine 
Friſche und unbedingte Luft an der Muſik. Aus Ginem Guß 
jtrömt e& dahin, und muß dad wohl, denn vor dem eriten 
Takt der Driginal-:Bartitur leſen wir von Schubert’3 Hand das 
Datum: 25. März 1815, und nad) dem legten, als Tag der 
Beendigung: 1. April 1815. 

Das Duartett liegt noch beträchtlih weit ab von der 
»kryſtallenen Wundergrotte- der Romantik, die Schubert uns 


330 1863. 


ipäter aufichloß. Nichts von märcdenhaften Dämmerichein, oder 
tiefverfchwiegener Nacht; Fein wildraufchender Tannenwald, fein 
majeltätiicher Fels, über den filbern das Mondlicht fließt. Das 
G-moll-Quartett gleicht einem Kleinen Hausgärtchen, in welchem 
eintge gute Freunde behaglich Iuftwandeln und — von Haydn 
ſprechen. Denn Vater Haydn ftect jedenfalld darin: fein ift 
die ungetrübte Stlarheit der Stimmung, fein bie reinliche 
Führung und die fnappe, tadelloje Symmetrie. Keine der bier 
Hauptthemen, dad nicht von Haydn jein fünnte Im Verlauf 
freilich zudt manches Licht auf, dad und den jpätern Schubert 
gleihjam von ferne zeigt; jo das anhaltende Tremolo der drei 
tieferen Geigen, womit der zweite Theil des erften Sabes an: 
hebt, ein hübfcher, fait dramatifcher Effect, den freilich die 
Wächter des ftrengen Duartettityld nicht für Hoffähig aner— 
fernen dürften. Zu tieferem rnit faßt ſich die Mufif nirgends 
zufammen, fein Zweifel, fein Schmerz, feine Sehnſucht wird 
laut, es geht alles in Einer unbarmherzigen Heiterkeit fort. 

Noch eine andere Neuigfeit aus vergangener Zeit: eine 
Sonate für Geige und Klavier von Phil. Emanuel Bad. 
Hellmeöberger jpielte fie überaus reizend mit Brahms, der 
das Stüd nebjt anderen Manuferipten Emanuel® in deſſen 
legter Rejidenz, Hamburg, aufgefunden hat. Jedes neue Werk 
Emanuels Bach’3 jpricht mit neuer Beredfamfeit deſſen cultur- 
hiftoriihe Stellung aus: fein Styl war der Eiöftoß in der 
Geihihte der neueren Mufit. Von den majeftätifchen, aber 
Itarren Gebilden Sebaftian Bach's führt er leicht und rajch zu 
dem Frühling Haydn's. Merkwürdig ift troßdem der eigen 
thümlihe Zug in Gmanuel Bach’ Mufit, der manchmal in 
weiten Bogen über Haydn und Mozart hinaus auf Beet: 
hoven deutet. Diejer Zug, der allerdings bei feinem genialeren 
Bruder Friedemann noch bedeutender hervortritt, wird dem 
aufmerfjamen Hörer vornehmlih in dem zarten, geiftreichen 
Adagio der »Sonate« aufgefallen fein. 


Virtuoſenconcerte. 
Der Violinſpieler Laub und der Pianiſt Jaell gaben 
gemeinſchaftlich ihr erſtes Concert im Muſikvereinsſaale. Ge— 


Ferdinand Laub, Alfred Jaell. 331 


meinfame Goncertreifen zweier ebenbürtiger Künftler find 
eine Idee aus neueſter Zeit, und tie uns däucht, eine 
recht zwedmäßige Der zwiichen beide Künftler »getheilte« 
Erfolg iſt zwar fein »Doppelter«, aber die getheilten Auslagen 
find jedenfall® halbe. Praktiich empfiehlt fi die Erwägung, 
daß ein concertmüdes Publicum zahlreiher und häufiger zu 
jolhen gemeinfanen PBroductionen fich einfindet, ald zu Solo— 
Eoncerten eine Virtuofen. Auch der künſtleriſche Gehalt jolcher 
Goncerte wird in der Negel ſchwerer wiegen. An die Stelle 
der gewöhnlich wahllos zufanımengerafften » Zwifchennummern« 
treten vollwichtigere Productionen, und das mohlvorbereitete 
Zufammenjpiel beider Kinftler gibt ihren Leiftungen neuen 
Reiz, ihrem Repertoire erwünſchte Bereicherung. Diesmal hatte 
jeder der beiden Künſtler noch vollauf mit fich jelbit zu thun. 
Ferdinand Laub nimmt unter den Biolin-Virtuofen der Gegenwart 
eine der allererjten Stellen ein. Sein Ton dürfte an marfiger 
Kraft und Energie jenen Joachim's noch übertreffen. Sein 
Vortrag kann kaum ficherer, correcter, feuriger gedacht werden, 
wenn auch oft feiner, poetifcher. So erreichte er in dem Adagio 
des Beethoven'ſchen Concertes nicht den aus unserer Grin: 
nerung unauslöjchlihen Vortrag Joachim's. Trefflich war das 
Finale, auch der erite Sag ließ nichts zu wünſchen übrig, 
außer etwa eine etwas anspruch3lofere und das mehritimmige 
Spiel weniger auf die Spige treibende Cadenz. MWahrhaft 
blendende Birtuojität entwidelte Laub in feinem »Rondo 
giocoso«, Diefer ganz unvergleihliche Triller, dieſe Sicherheit 
und Reinheit im Staccato und den Arpeggien, im Flageolet 
und mehrftimmigen Spiel, waren, einzeln betrachtet, ebenfo be- 
wunderungswürdig, als die ungeihwäht ausdauernde Straft, 
niit der Raub dad ganze Stück zu Ende führte. Das zweite 
geiangvolle Thema des Rondo ſpielte Laub einmal in Octaven 
jo rein und ficher, wie auf dem Elavier. Die Compoſition jelbit 
tt ein wirkſames Bravourftüd, nicht ohne intereffante Einzeln- 
heiten und gut inftrumentirt. Laub's Erfolg war ein vollitändiger. 
Herr Alfred Jaell wurde von dem PBublicum nicht minder 
ausgezeichnet. Wir fennen bereit3 die einschmeichelnden Vorzüge 
dieſes Pirtuofen. Vor allem iſt er Salonipieler im beiten, 


332 1863. 


nämlich) jenem Sinne des Wortes, der die mufifaliihe Bildung 
und das Verſtändniß höherer künſtleriſcher Sphären nicht aus— 
ihließt. Soweit man mit dem Geſchmack ausreicht, weiß Jaell 
auch claſſiſchen Compofitionen gerecht zu werden. Allein feine 
Natur gehört zu jenen weiblich anjichmiegenden, die fich gerne 
in fleinen Formen, im Kreiſe des Zierlihen und Anmuthigen 
bewegen, dem Großen, Leidenjchaftlichen lieber aus dem Wege 
bleibend. 

Jaell fpielte Schumann's Fis-moll-Sonate (op. 11), ein 
Stück Jugendleben des Componiften, voll füßer Träumerei, 
ftürmifcher Leidenichaft und keckem, lebensfrohem Humor. Auch 
die Verehrer Jaell's willen, daß feine Vorzüge nicht nad) der 
Richtung graditiren, in welcher Schumann’ Muſik fi) bewegt. 
Insbeſondere find e3 die Jugendwerke Schumann’s, die in 
ihrer genialen, launenvollen Subjectivität, ihrem iprunghaften 
Wechſel von fchmerzlicher Empfindung und fedem Humor, nur 
von einer geiftesverwandten Natur unabgefhwäht reproducirt 
werden fönnen. Etwas vom Schumann'ſchen Dämon, ſei's aud) 
nur don feinem guten, muß im Spieler jteden. Herrn Jaell's 
gefälliges, heiteres, elaftiiches Naturell it dem Schumann’ichen 
beinahe entgegengejeßt; unser Birtuofe hat zu lange in den 
Salons geglänzt, um allzugern dem fchweigfamen Schumann 
über Klippen und Abgründe nachzuftürzen. So hat und denn 
die Fis-moll-Sonate — fie ift und aus Augendtagen jehr an? 
Herz gewachſen — diesmal ziemlich unbewegt gelaſſen; es 
flang alles jo begütigt und abgewaſchen. Herr Jaell war nicht 
leichtfertig an die Aufgabe gegangen, man hörte jedem Taft 
die jorgjamfte Vorbereitung an. Allein in ſolchen Regionen 
wird eben allzu fühlbar, was in niedrigeren nicht ftört, daß 
dem Spiele des Vortragenden die Tiefe fehlt. Selbſt Aeußer— 
lichkeiten wirken da ganz eigenthümlich; fieht man Herrn Jaell 
über einzelnen Tönen der Melodie — er trennt fie gern, wie 
die italieniihen Sänger — feine rundlihe Hand jo zierlich 
jih bäumen und wiegen, jo glaubt man ihm noch weniger, 
was er von leidenichaftlihen Dingen fpielt. 

Herr Laub brachte noch eineReihe glänzender Leiftungen, deren 
bedentendfte der Vortrag der Bach'ſchen »Chaconne« war. Die 


Zunge Bianiftinnen. 333 


fichere Entjchiedenheit im mehritimmigen Spiel, dad Mark des 
Tone, die Behendigkeit der linken Hand und die Kraft der 
rechten wirkten hier zu mächtigſtem Effect zufammen. Laub's 
Bogen griff aus wie ein Gemitterfturm und ließ Paffagen und 
Triller niederregnen. Unfere erfte Wahrnehmung, daß das Kräftige, 
Energijche, das kühne Auflodern der Bravour Laub's glänzendite 
Seite bilden, neben welcher das Einfahrührende, Shwärmeriich- 
Innige etwas abfällt, beftätigie da& lebte Goncert. Der Vortrag 
der Glegie von Ernst ließ Kalt; der Aufwand an >»großem 
Tone konnte nicht eriegen, was der Empfindung an Feinheit, 
Beweglichkeit und Wärme abging. 

Wer fih an den Goncertgebereien der legten Woche ganz be— 
ſonders betheiligt hat, war das ſchöne Geichlecht. An Fleiß und 
anfpruch3lofem Streben ftehen unfere Bianiftinnen (namentlich die 
dem Publicum bereits vortheilhaft befannten) hinter ihren 
bärtigen Collegen gewiß nicht zurüd, dennoch verjegen uns 
»Mädchenconcerte« meist in einige Verlegenheit. Nicht etwa Die 
Galanterie, fondern geradezu die Gerechtigkeit erheifcht hier ein 
anderes, milderes Maß der Beurtheilung. Die moderne Clavier— 
mufif verlangt einen Grad von phHfiicher Kraft und Ausdauer, 
der einem jungen, zartgebauten Mädchen nur äußerſt felten 
eigen. Die Kritik wird fich daher mteiften® zufrieden geben 
müffen, wenn jolche knoſpende Pirtuofinnen die Wucht der 
Goncertftüde »ihren Kräften entiprehend« bewältigen. Ein 
Mibgriff Hingegen, den man imputiren kann, iſt es, wenn 
Mädchen in der Wahl ihrer Vorträge auf ihre zartere Natur 
und geringere Kraft gar feine Rüdficht nehmen. Seit es Mode 
geworden — das ift das rechte Wort — in allen Goncerten 
Bad und Schumann zu fpielen, glaubt jedes halbwichfige 
Mädchen, das allenfalls den kleinern Sahen Mendelsſohn's 
und Chopin’3 oder einer leichteren Thalberg’ihen Phantafie 
gewachien ift, e8 müffe fi) mit dem Schwierigften aus Bad 
und Schumann produciren. Reicht ſchon die phyfiihe Kraft 
unferer concertirenden Roſenknoſpen für diefe Gompofitionen 
jelten aus, die geiftige erweist fich meiſt noch unzulänglicher. 
Wer im Leben und in der Runft nicht jchon Einiges erfahren, 
mit Schmerz und Mühe erfahren hat, weifen Denken und Fühlen 


334 1868. 


noch harmlos wie ein Haydn'ſches Rondo fih in kleinſten 
Kreifen dreht, der wird Schumann am beiten noch einige 
Sahre ruhen laſſen. Die künſtleriſche, feinverzweigte Complication 
des Schumann'ſchen Clavierſtyls und die tiefaufgeregte nur 
im jchmerzlich lächelnden Humor gemilderte Leidenfchaft feiner 
Muſik jollten allzu kleine Händchen von ſelbſt abichreden. Und 
doch pflegen unfere jungen Mädchen ihren Austritt aus der 
Schule und Eintritt in die Deffentlichfeit mit diefen Wagſtücken 
zu feiern. Nachdem kürzlich eine junge, ſchwache Pianiſtin 
Beethoven's Es-dur-Eoncert, Liſzt's Nhapjodien u. dgl. für 
ihr erſtes Concert gewählt hatte, folgte ihr jüngft ein ebenſo 
zartes Schweſterchen mit Schumann’3 »Sreißleriana«, Beet— 
hoven's Es-dur- und Chopin’ F-moll-Goncert (op. 21), einer 
der allerichwierigiten Compofitionen der modernen Klavier: 
literatur. Ein blutjunges Mädchen mit den Anfängen einer ganz 
unausgebildeten Stimme debutirte dabei mit — Schumann’s 
»Stiller Liebe« (au op. 35), einem Lied, daS bekanntlich Die 
niancirtefte Declamation und die tiefjte Innigkeit erfordert. 
Wir müßten mitunter nicht, wen wir mehr bedauern follten, 
die Componiſten oder ihre zarten Mörderinnen? Möchten leßtere 
doch bedenken, daß wir fie nicht zur Selbitverleugnung, ſondern 
im Gegentheil zum lohnendften Egoismus auffordern, indem 
wir wünjchen, fie möchten nur vortragen, was ihnen wirklich 
veritändlih und jympathiich ift, und was fie vollfommen gut 
jpielen fönnen. Ihre wahrhaften Vorzüge: Zierlichkeit, Ge— 
läufigfeit, leichte Anmuth, können junge Pianiftinnen in Ton 
werfen wie die genannten entweder gar nicht oder nur in falſcher 
Anwendung geltend machen, d. 5. indem fie Größe und Leiden 
Ihaft ind Niedliche kräuſeln. »Sie verzupft Alles,« ſchrieb 
Mozart über die Wiener PBianiftin Fräulein Auern— 
hammer. Der Ausdrud ift treffend und charafterifirt eine 
lange pianiftiiche Nachkommenſchaft der jeligen Auernhammer. 

Eine neue Erjcheinung auf dem Podium des Mufifvereins- 
faales war der Bianift Guſtav Satter. 

Herr Satter hat fich befanntlich durch feine Erfolge in 
Amerika einen Namen gemadt. Daß er ein bedeutender Birtuoje 
jei, bewies er num auch jattfam vor feinen Zandsleuten. Aus: 


Guſtav Satter. 335 


giebige Kraft und zartes Geflülter ftehen feinem jaftigen Anz: 
Ichlag gleihmäßig zu Gebot; in feinem Vortrag fanden wir 
zwar nur ſchwache Spuren von Empfindung, aber ein gewifjes 
Feuer, dag muthig ind Zeug geht. In dem lebhaft rhyth— 
mifirten, gefälligen und gefallfüchtigen Vortrag feiner eigenen 
Bravourfahen, namentlich des Walzerd, erinnerte und Herr 
Satter an Leopold v. Meyer. Nur war fich diejer vielgereifte 
Liebling der Salons in feinem Ziel und Gebahren weit Elarer; 
er jpielte feine Beethoven'ſchen Eoncerte und componirte feine 
Duverturen zu deutfchen Sagen. Herr Satter macht uns Die 
Sade ſchon ſchwieriger, er trägt, vorne claffiih, rüdwärts 
modern, das muſikaliſche Janusgeficht, mit dem unfere Birtuojen 
jo gerne fi oder Andere täuſchen. Wir halten, nah Satter’s 
eritem Concert zu fchließen, nicht den ftruppigen Beethovenkopf, 
fondern die damenbezwingende Leopoldsmiene fir die echte 
Geite. Ob fie von Anfang an jeine wahre, urwüchſige oder 
dur die Tangjährige amerifanifhe Campagne ihm angebildet 
jei, das müſſen wir unentſchieden laſſen. Satter wäre nicht 
das erite hübjche Talent, das dur den Humbug der neuen 
Welt feiner befferen Natur entfremdet ward. Das Clapier ilt 
für den amerifanifchen Reijevirtuofen eben nur ein Ding, aus 
dem man Gold jchlägt. Die Schnelligkeit, womit dies in 
Amerifa möglich, und die Marftichreierei, welche dazu noth- 
wendig ilt, pflegen tiefe Spuren in dem künſtleriſchen Charakter 
jolcher Goldipieler zurückzulaſſen. Vermochten wir Herrn Satter, 
den PBianiften, nur auf dem Felde des Bravourſtücks zu rühmen, 
jo fällt unſere Anerkennung des Componiſten Satter noch 
weit bedingter aus. Ein intenfives, eigenthümliches oder auch 
nur tüchtig gejchulte® Talent ſprach aus feiner einzigen von 
Satter’3 Compofitionen. Seine Ouverture zur »Lorley« ift 
mufivifh, formlos, ſchwer belaftet mit Reminiscenzen, dabei 
mit anſpruchsvoller Roheit inftrumentirt. Nicht eine fingende 
Tee, ſondern eine preußtiche Jägermufit muß, nad Satter’s 
Shilderung, den armen Schiffer gegen die Felöwand gelodt 
haben. 

Herr Satter ift bis zu einem vierten Concert vorgerüdt. 
Sedesmal, während Herr Satter noch im Muſikvereinsſaal 


336 1863. 


pianifirt, werden draußen im Gorridor bereit Zettel mit der 
Nachricht angeichlagen, daß für fein nächites Concert ſämmtliche 
Cercleſitze (jegt auch ſchon »die Galeriefige«) vergriffen 
jind! Wer die hiefigen Concertverhältniffe aus jahrelanger 
Beobachtung fennt, den muß diefer plögliche Heißhunger unferes 
Publicums nad Glavierconcerten in bemunderndes Gritaunen 
verjegen. Ein durch den Titel: »Adieu, absence et retour« gerade— 
wegs zur Vergleihung mit Beethoven herausforderndes Trio 
von Satter, dann ein ſtark an Charlatanerie ftreifendes » Quintett 
in einem Sat über ein Thema von ſechs Noten« wurden jelbit 
von dem freundlichen Publicum, welches fih an jämmtlichen 
Serclefigen de3 Herrn Satter »vergreift«, bedenklich fühl auf: 
genommen. An Galopaden aber und Walzern, mögen fie auch 
mit der ftürmijfchen Bravour Herrn Satter’3 gejpielt werden, 
hat man fi) bald jatt gehört. 


1864. 


Die „Johannäiſche Palfionsmufik“ und 
das „Weibnachtsoratorium“ von Heb. 
Bad. 


Macs Johannäiſche Paſſionsmuſik ift der (unſerem 
Publicum durch wiederholte Aufführungen bekannten) Matthäus— 
Paſſion nah Inhalt, Dispofition und Behandlungsweiſe voll— 
ftändig analog. Im gleihen Wechſel epifcher, Inrifcher und 
dramatiiher Montente wird die Leidensgeichichte Jeſu vom 
Evangeliften erzählt, von den biblifchen Perſonen handelnd dar: 
geitellt, von der idealen Gemeinde theilnahmsvoll betrachtet. 
Die vielfach verbreitete Anficht, welche Bach's Johannes-Paſſion 
im Vergleich mit der Mathätfchen ein ſchwächeres Werk nennt, 
vermögen wir nicht zu theilen. Die Johannes-Paſſion bewegt 
fih nicht in fo grandiofen Dimenfionen, arbeitet nicht mit fo 
gewaltigen Mitteln wie die Matthäifche, allein an innerer Kraft 
und Uriprünglichkeit, an Reichthum der mufifaliihen Phantafie, 
an Tiefe der religiöfen Empfindung, felbit an dramatifcher 
Lebendigkeit fteht fie ihr um feines Haare Breite nah. Man 
kann zugeitehen, daß polyphone Pracht- und Riefenbauten wie 
die dreichörige Einleitung der Matthäus-Paſſion und ihr Chor 
»Sind Donner und Blitze« feine gleich gewaltigen Seitenftüde 
in der Johannes: Baffion finden; dafür fcheint und durch Die 
Johannes-Paſſion ein eigenthümlicher Zug von Milde, Weichheit 
und echt menichliher Schönheit zu gehen, der an die Geftalt 
des Lieblingsjüngere Chrifti mahnt. Die nad größter Be— 
ftimmtheit ringenden, biß zur Unruhe ausdrudsvollen Recita- 

Hanslid. Aus dem Concertfaal. 2. Aufl. 22 


338 1864. 


tive find jenen der Matthäus-Paſſion ganz homogen; einige 
Mendungen, welche dies Streben bis zum Wagſtück jteigern, 
verſöhnen durch die rührende Naivetät der Eingebung, wie Die 
Stelle des Evangelijten »Er ging hinaus und weinte«, und die 
andere (ſchon leife an den Barockſtyl jtreifende) »und geißelte 
ihn«e. Die Chorale mit ihrem tiefen, gejättigten Ausdruck 
ſchlichter Frömmigkeit bilden einen wunderbar wirffamen Gegen: 
ja zu den furzen, dramatiihen Chören, welde hier wie in 
der Matthäus-Paſſion die zündenditen Momente der ganzen 
Compofition find. Wie ungejucht und fchlagend ift dieſe Dra— 
matit in den Rufen des Volkes: »Jeſum von Nazareth!« 
»Biſt Du nicht der Jünger Einer?« »Weg, mit dem!« u. a. 
Die größeren ausgeführten Chöre athmen theils erhabene Pracht, 
wie der Einleitungschor in G-moll, theild rührendfte Trauer, 
wie der Klaggejang »Ruhet wohl!« 

Die Arien, im großen und ganzen genommen, jtehen in- 
fofern hinter den Recitativen und Chören zurüd, als fih in 
ihnen fürs erſte manches Topifch-Conventionelle eines Muſik— 
ſtyls fühlbar macht, der nicht mehr der unſrige iſt, fürs zweite 
das Fremdartige der Bach'ſchen Inſtrumentirung ſich eben nur 
in den Arien uns aufdrängt. Die (wenn wir nicht irren, 
Moſevius gehörige) Feine Bemerkung, daß Bach's Inſtru— 
mentation eigentlich nur eine aufs Orcheſter übertragene Orgel: 
Regiſtrirung jei, tritt dem Hörer in ihrer ganzen Wahrheit ent— 
gegen. Die Begleitung der Arien, in der Farbe bi zur Dürftig- 
feit einfach, in der Zeichnung bis zur Weberladung verziert, 
ericheint mitunter für unfere mufilalifchen Gewöhnungen jonder: 
bar genug. Die meiſten diejer Arien find eigentlich Terzette, 
in welchen der Singitimme und den Injtrumenten ein gleiches 
Theil an dem contrapımftiichen Gewebe zugemeijen ift; unter 
der Singitimme bewegt fich unabhängig der Gontrabaß, über 
der Singftimme ebenſo unabhängig eine Flöte, Oboe oder 
Violine. So mögen dem mit Bach noch unvertrauten Hörer die 
Sopran:Arie in B: »Ich folge dir!« oder die Tenor-Arie in 
Es den Eindrud eines Flötene oder PViolin-Präludiumd mit 
unterlegter Menjchenftimme machen. Nah etwas vertrauterem 
Umgang findet man den eigenthümlichen Reiz, theil® den fein- 


Bach's »Weihnachtsoratoriume. 339 


finnlihen des langes, theild den geiftigen einer zwar typiich 
gefeilelten, aber doch wahrhaft naiven Empfindung heraus. 
Auhiger und voller in der Begleitung, dabei von entzückender 
Innigkeit des Ausdruds, ift die Baß-Arie: »Betrachte, meine 
Seele« (mit obfigater Zaute), das recitativifch ſchildernde Tenor: 
Arioſo: »Mein Herze, endlid die mit einem Choral zu im— 
pojantem Bau zufammengefügte Baß-Arie in D: »Mein theurer 
Heiland«. 

Die Aufführung des Bach'ſchen Weihnachts-Oratoriums 
geihah durch die Wiener Sing: Akademie, unter der Leitung 
von Joh. Brahms. Gegen die Gejellichaft der Mufikfreunde 
ftand fie Schon durch die Wahl der Compojition etwas im 
Nachtheil. So reih auch das »Meihnaht3-Dratorium« an 
mufifaliichen Schönheiten vom erften Nang ift, den einheitlichen, 
unmittelbar zündenden Eindrud der Johannes: oder Matthäus: 
Paifion vermag es nicht hervorzubringen. Das fjogenannte 
»Meihnahts-Oratorium« (1734 componirt und jeit Bach's Tod 
zum erftenmal wieder aufgeführt in Breslau 1844) ift eine 
Folge von ſechs Gantaten, deren jede einem bejtimmten Yeier- 
- tag, von Weihnachten bis zum heiligen Dreifönig-Tag gewidmet 
iſt. Wenn W. Nuft in feiner Vorrede zur Ausgabe der »Badj- 
Gefellfhaft« dies Herameron ein »geiftlich-Inriiheg Drama 
im wirklichen Sinne des Wortes« nennt, jo hat er nur injofern 
recht, als die in Necitativen vorgetragene, verbindende Handlung 
(nad) den Evangeliften Lucas, eap. 2. V. 1—21 und Matthäus, 
eap. 2. V. 1—12) erft im 6. Theil zum völligen Abſchluß 
kommt. Der ftoffliche Zufammenhang der ſechs Cantaten it 
aber ein fo Ioderer, daß bei der hiefigen Aufführung, wie auch 
anderwärts, zwei davon ohne Nachtheil für das Verſtändniß 
ganz wmweggelaffen wurden, ein Beweis, daß der Begriff des 
Dramas, wie er noch auf die Paſſions-Muſiken paßt, bier 
nicht mehr Anwendung findet. Wichtiger noch it der Umſtand, 
daß im »Weihnachts-Oratorium« das dramatiſche Element gegen 
das epiſche und lyriſche geradezu verſchwindet. Es fehlen hier 
die leidenſchaftbewegten, dramatiſchen Chöre, welche dort wie 
tiefe Schlagſchatten wirken; das Weihnachts-Oratorium bietet 


uns zu viel Licht ohne Schatten. Die Einheit der Stimmung 
22% 


340 1864. 


ift allerdingd durch alle ſechs Cantaten durch den Stoff ge- 
geben und in der Muſik feitgebalten; diefe Stimmung ift mit 
Einem Wort: MWeihnahtsfreude — die geiftliche, natürlich, er: 
löjungsfroher Seelen, nicht die weltliche rothwangiger Kinder. 
In einzelnen von den Arien und Duetten, noch mehr in den 
Chören iſt diefe Stimmung ſchwungvoll und freudig ausgedrückt, 
wie ſchon die drei Trompeten, welche die wichtigften Chöre 
jchmetternd einleiten und figurirend begleiten, dem Ganzen eine 
feftliche Färbung geben. Im Verlaufe wird dies Feltfigen auf 
einem jo engbegrenzten Iyriihen Felde etiwad® monoton. Dazı 
fommt nod, daß durch den füßlich pietiftiichen Text etwas 
Meiches und Spieljeliges in die ganze Betradhtung fommt, das 
unſerm Gefühle mwiderftrebt. Dies ewige Seufzen und Schmachten 
nah dem »himmliſchen Bräutigame«, dies Tiebäugelnde Häticheln 
des »ſüßen Schaßed« von Anfang bis zu Ende macht es etwas 
fauer, und der Mufif mit ganzer lebhafter Empfindung hinzu: 
geben.*) Der Heiland hatte damals in Deutichland einen er- 





*) Wir greifen beifpieläweije folgende Terte heraus: 


Soprans-Arie: »Nun wird mein liebiter Bräutigam, zum Troſt, 
zum Heil der Erden, Einmal geboren werden. Be— 
reite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönften 
den Liebiten bald bei dir zu ſeh'n!« 


Chor: »Ach, mein herzliches Jeſulein! Mac dir ein janftes 
Beitelein, Zu ruhen in meines Herzend Screin!« 
Arie: »Immanuel, o jüßes Wort; Mein Sejus heißt mein 


Biel, Mein Jeſus Heißt mein Leben, Mein Jeſus 
hat ſich mir ergeben, Mein Jeſus fol mir immer: 
fort, Vor meinen Augen fchweben; Mein Jeſus 
heißet meine Luft, Mein Jeſus Iabet Herz und Brurft. 
Jeſu du mein liebites Leben, Meiner Seele Bräuti- 
ganı, Der du dic für mich gegeben, an den bittern 
Kreuzesſtamm!« 


Recitativ: »Genug, mein Schatz geht nicht von mir, Er bleibet 
da bei mir. Ich will ihn auch nicht von mir laſſen; 
Sein Arm wird mich aus Lieb’, mit ſanftmuthvollem 
Trieb, Mit größter Zärtlichkeit umfaffen; Er joll 
mein Bräutigam verbleiben, Ich will ihm Herz und 
Bruft verfchreiben! u. ſ. w. u. ſ. w.« 


Bach's »Weihnachtsoratorium«. 341 


bärmlichen poetiſchen Hofſtaat. So unermeßlich hoch ſich Bach's 
Muſik über ſeinen Text auch ſtellt, ſo übte dieſer doch inſofern einen 
Einfluß auf jene, daß Bach rein geiſtliche Dinge und religiöſe 
Empfindungen mitunter in zierlichen und fröhlichen Weiſen be— 
ſingt, die unſere angeblich ſo frivole Zeit als dem Gegenſtand 
nicht ganz angemeſſen empfindet. Daß aus den Arien und 
Duetten, ſogar aus einem und dem andern Chore des Weih— 
nachts-Oratoriums nicht jene geſammelte tiefe Empfindung 
ſpricht, wie aus den zwei Paſſions-Muſiken, daß mitunter etwas 
Aeußerliches, »àa-Modiſches«, wie man damals ſagte, ſich 
fühlbar macht, dürfte der unbefangene Hörer ohneweiters ge— 
wahr werden; eine merkwürdige hiſtoriſche Entdeckung gibt uns 
überdies einigen Aufſchluß dazu. Es iſt nämlich nachgewieſen, 
daß der größte Theil des Weihnachts-Oratoriums (außer den 
Choralen und Recitativen faſt Alles) aus weltlichen Gelegen— 
heits-Muſiken von Bach ſtammt, und von ihm ſpäter dem geiſt— 
lichen Text entweder ganz unverändert, oder mit unweſentlichen 
Aenderungen, 3. B. der Tonart, angepaßt worden iſt. (Ber: 
gleiche Bach's Werke. Leipziger Bach-Geſellſchaft, 5. Jahrgang, 
2. Lieferung.) Nicht weniger als 16 Nummern des Weihnachts— 
Oratorium find theil® dem »Dramma per musica«, Das 
Bah 1733 »der Königin zu Ehren« componirte, theil® dem 
Drama »Die Wahl des Herfules« (zu Ehren des Erbprinzen 
von Sadien, 1733), theild einer »Gratulations-Cantate zur 
Ankunft des Königs« entnommen. Die beiden erjtgenannten 
weltlichen Gelegenheit3-Gantaten find beinahe vollftändig in dem 
»Meihnadht3-Dratoriums aufgegangen. Diefer Vorgang fcheint 
ehr geeignet, zwei Wahrheiten, welche von der apologetijchen 
Kritif gern ignorirt werden, in helleres Licht zu ſetzen. Einmal, 
daß der muſikaliſche Ausdrud, die »pſychologiſche« Fähigkeit 
und Ausbildung der Mufif, zu Bach’ Zeit auf einer verhält: 
nißmäßig tiefen Stufe der Entwicklung ſtand, weil jo ohne: 
weiters Liebeslieder der Omphale, und Huldigungschöre der 


Wie wohlthnend wirkt nach folchen Verien jedesmal das Ächlichte, 
finnvolle Bibelwort, die Erzählung des Evangeliften! Es iſt, als liche 
man friihe Morgenluft in eine dumpfe überheizte Stube dringen. 


342 1884. 


artigen ſächſiſchen Unterthanen fih in geiftlihen Werfen unter: 
bringen ließen; ſodann, daß in Bach der praftifche Mufifer Doch 
nicht völlig von dem ftrenggläubigen Ehriften verfchlungen war, 
vielmehr jener fih aus Unterjhiebungen weltlicher Muſiken 
unter geiftlihe Texte fein Gewiſſen machte, wenn ihm deren 
allgemeiner Charakter dazu pafjend erichien, und ihm um eine 
muſikaliſch werthvolle Gelegenheit3-Compofition leid war. Bach 
hat derlei Entlehnungen und Uebertragungen allerdingd nicht 
jo häufig und fo rücjichtö[loS vorgenommen, wie Händel; allein 
vorgenommen hat er fie doch, und in unferm »Weihnachts— 
Oratorium« ſogar in großem Styl. 


Mendelsſohn's Mufik zu „Antigone“. 


Der afademifhe Gejangverein führte Sonntag im 
Redoutenſaal die Mendelsſohn'ſchen Chöre zur »Antigone« 
des Sophofles auf — eine Aufgabe, die nicht blos durch 
ihren fünftleriichen Gehalt, jondern ganz vorzüglich auch durch ihren 
philologiichen alten Adel fih für einen Univerfitätshor ſpecifiſch 
eignet. In der Gompofition der Sophoffeifchen Choritrophen 
hat Mendelsiohn ein Unicum geliefert, das mit dem Gehalt des 
vollwichtigen Kunftwerfs den Charakter eines Kunſtſtücks 
vereinigt. Als der verftorbene König von Preußen in feiner 
Balfion für äjthetifche Leckerbiſſen Sophokles' »Antigone« und 
»Oedipus« aufs Theater gebracht, und die Chöre im Geifte 
der griechiſchen Kunſtanſchauung und der griechiſchen Bühne 
componirt haben wollte, da war offenbar in der ganzen mufi- 
faliichen Welt fein Componift ald Mendelsfohn, an den man 
denfen fonnte. Kein zweiter verband mit einer glänzenden mufi- 
falifchen Begabung die claſſiſche Bildung, ja die philologifche 
Kenntniß, die hiezu erforderlich ſchien. In dem feinen, geift- 
reihen Anfchmiegen an einen gegebenen Stoff Stand Mendels— 
john ftetS obenan, und wenn er die römischen und griechiichen 
Dichter in der Urſprache las, werden ihm wenige Componiſten 
Geſellſchaft geleiftet haben. Bei Mendelsfohn ftand die har: 
moniſche, alljeitig reihe Bildung im Gleichgewicht mit feinem 


Mendelsſohn's Mufik zu »Antigonee. 343 


mufifaliihen Schaffen: feine ſpecielle Kunft, die Muſik, war 
gleihlam nur die Spige, die feinjte Blüthe einer umfafjenden 
und durchgebildeten Natur. So offenbart fie fih am entjchie- 
densten in den griehiichen Chören. Die Berliner Bühne machte 
eben (zu Anfang der Bierzigerjahre) den Berfuch, den Haide- 
boden, auf dem Hirſemenzel-Raupach unbeſchränkt herrichte, zu 
einem poetiihen Park umzufchaffen. Sie flüchtete in die weſen— 
loſe Phantaftit Tieck'ſcher Märchen, und griff endlid Jahr: 
hunderte weit zu Racine’3 »Mthalie«, ja fogar zu Aeſchylus 
und Sophofles zurüd. Während man die hiftorifche Tragödie 
— die einzige Richtung, nach der fich das höhere Drama weiter 
entwiceln kann und wirklich fich zu entwideln ftrebte — durd) 
die kleinlichſten Rüdfichten verrammelte, wollte man ein Tängft 
Hiftorifchgewordenes wieder zum Leben erweden. Anregend und 
genußreich für einen Eleinen, auserwählten Kreis von Gebildeten 
fonnte für die Gejammtheit jene Erwedung doch nur ein kurzes 
Sceinleben führen. Als merkwürdigites und bleibendes Re— 
fultat jener Berliner Aufführungen des »Oedipus« und der 
» Antigone« müffenwir Mendelsſohn's Kompofition der Chöre 
anjehen. Uriprünglich für die wirkfihe Bühnenaufführung com: 
ponirt, hatte Mendelsſohn's Muſik nur eine nebenfächlihe Be— 
deutung; jo follte in ımgefährer Anlehnung an altgriechiiche 
Traditionen die theatraliicher Wiederbelebung des Sophokles 
möglih machen. Dies Verhältniß der Chöre zur Tragödie hat 
fih gegenwärtig umgekehrt. Von der Mißlichkeit der Auf: 
führung antiker Tragddien auf unſeren Bühnen überzeugt, ſucht 
man nunmehr den mufikaliihen Genuß der Mendelsſohn'ſchen 
Chöre daraus zu retten. Dieſe werden jeßt Telbititändig und 
als Hauptſache aufgeführt, während ein »verbindendes Gedicht« 
an die Stelle der Tragödie tritt, dad Verſtändniß nothdürftig 
zufammenzubhalten. 

Mendeliohn’3 Chöre zu den Tragödien des Sophofles 
find vielleicht das leuchtendſte Beilpiel, was für Aufgaben ein 
durch Tiefe und allieitige Bildung befruchteter muſikaliſcher 
Geiſt vollbringen fünne. Allein der Charafter der Aufgabe 
des Problems (im Gegenfag zu vollftändig freier, aus dem 
Innerften ftrömender Schöpfung) war daraus nicht zu tilgen. 


344 1864, 


Wo immer der Componift feine Aufgabe erfaßte, ftieß er auf 
einen MWiederftreit zwiichen den Bedingungen des antiken Dramas 
und der modernen Muſik. Dieje wirft nur in felbititändiger, 
freier Entfaltung; jenes erheiſcht ein ſklaviſches Unterordnen 
der Muſik unter die Declamation. Sollen die Worte des Chor 
in ihrer vollen Gedanfenwucht wirken, ja überhaupt von der 
Bühne herab deutlich vernommen werden, jo muß die Mufik, 
auf die Schönheit ihrer eigenen Architeftonif und Farbe ver- 
zichtend, langjam, eintönig und äußerſt ſchwach begleitet (Flöten 
und Harfen nach antifem Vorbild) einherjchreiten. Damit würde 
die muſikaliſche Bedeutung der Chöre auf Null herabjinfen. 
Solde Verleugnung kann man der modernen Muſik, kann 
man einem ihrer größten Meifter faum auferlegen; ein fort- 
währendes fünftliches, ja fünftelndes Vermitteln und Nachgeben 
wird demnach zur Norm. Mendelsjohn hat durch bewunderungs— 
würdige Mäßigung des mufifaliihen Clement? und geiftvolle 
Anempfindung griehiicher Kumftweije dies ungewöhnliche Problem 
gelöſt. Die Schwierigkeit, der antifen Chorftrophe mit ihrem 
wecjelvollen, complicirten Versmaß und ihrem beiwörterthür= 
menden Satbau ein mufifaliiches Kleid anzupafien, ſtreift im 
der »Antigone« wie im »Dedipus« mitunter and Unüberwind- 
lie. Der Accent des muſikaliſchen Abſchnitts zerreißt oft den 
grammatiich und logiſch zufammengehörigen Saß in zwei gegen= 
jägliche Hälften, und umgekehrt. Beinahe jeder der Chöre bietet 
Beilpiele diejes Kampfes zwifchen declamatorifher und muſi— 
faliicher Rhythmik. Mit diefer äußern, ſprachlichen Schwierig: 
feit verbindet fich die innere, die in dem überwiegend reflec- 
tirenden, Mäßigung und Weisheit lehrenden Inhalt der Chöre 
liegt. Wo der Chor fih ausnahmsweiſe zu großartigerer leiden- 
Ichaftliher Bewegung erhebt, da fteigert ſich auch Mendelsſohn's 
Muſik zu jelbitftändiger Wirkſamkeit, zu voller Pradt. So vor 
Allem in dem Bachuschor, deſſen muſikaliſcher Haupteffect 
allerdingd in dem von Mendelsſohn eigenmächtig wiederholten 
Aufruf: »Hör' und!« liegt, nebenbei eine merkwürdige Voraus: 
nahme des »Hör’ uns!« der Baalöprieiter im »Eliad«. 

Dat man eine Compofition wie diefe »Antigone« contre- 
eoeur blos auf Allerhöchſten Befehl schaften könne, wäre 


Mendelsſohn's Mufif zu »Antigone«. 345 


eine lächerlihe Anfiht. Wer die tiefe, innere Betheiligung, ja 
Begeilterung Mendelsjohn’3 an diefer Arbeit nit aus ihr 
jelbit erkennt, den werden deſſen nachgelafjene Briefe belehren. 
Die Idee ging allerdings vom König aus; Mendelsſohn wollte 
fih »anfänglich auf die Sache gar nicht einlaffen; aber (fo 
Ichreibt er an F. David) das Stüd mit feiner außerordentlichen 
Schönheit und Herrlichkeit trieb mir alle8 Andere aus dem 
Kopfe. An den jpäteren »Dedipos auf Kolonos« fcheint er 
Ihon mit geringerer Wärme gegangen zu fein; und als der 
König gar ein drittes Werk diefer Art, die Compofition der 
Eumeniden des Aeſchylos, von Mendelsfohn verlangte, lehnte 
diejer entichieden ab. Daß dieje Ablehnung ihren Grund wirklich 
nur in der »jehr ſchweren, vielleicht unausführbaren« mufifalifchen 
Behandlung diejer Chöre hatte, Fällt uns zu glauben ſchwer; wir 
fönnen in den hochdramatiſchen Strophen des Aeſchylos für den 
Mann feine übermäßige Schwierigkeit erbliden, der die »Antigone« 
und den »Dedipod« bewältigte. Wahrjcheinlicher bedünkt uns, 
daß Diendeldjohn, nachdem er zwei griehiiche Probleme jo 
glänzend gelöft Hatte, eben den Zug des Problematifchen in 
jolhen Wiederbelebungen deutlicher empfand und das Unfrucht— 
bare einer Liebhaberei einſah, welche fi darauf fteifte, ein 
geiftvolled anregendes Experiment zu einer confequenten Richtung 
auszudehnen. Er mochte fühlen, daß dieſe griehiichen »Er— 
wedungen«e doch nur den Genuß einer fleinen poetifchen und 
philologischen Ariftofratie, aber niemals das echte, verftändniß- 
innige Entzüden ded ganzen Volkes bilden fönnen.*) Und für 


*) Wir möchten wiſſen, ob die Verfechter der gegentheiligen 
Meinung aufrichtig glauben, daß ein großes Publicum, oder auch nur 
eine Hälfte desjelben, bei Verſen wie folgende (wir wählen fie auf’ 
Gerathewohl und auß der berühmten Donner’ichen Ueberſetzung) etwas 
fih zu denken oder etwas zu empfinden vermag: 

An der fyanischen Fluth des verichwiiterten Meeres hin 

Dehnt ſich Bosporos Strand und der ihrafiiche 

Salmydeſſos, wo Ares, im Land waltend als Gott an Phineus’ 
zwei Söhnen 

Schaute die graufe Wunde, 

Nachdem die ruchloje Göttin blendend 

Der Augen Sterne beiden — nicht mit dem Speere, nein 


346 1864. 


legtere8 hatte Mendeldfohn noch vollauf zu jchaffen. Er war 
es fatt, den mufifaliichen Hofgriehen des geiltreihen Königs 
abzugeben, und ſchrieb — den »Elias«. 


Concert des Wiener Männergelang: 
»Dereins. 


ALS eines der gewichtigften Verdienite Herrn Herbed’s be— 
trachten wir feinen Einfluß auf das Repertoire des mehritimmigen 
Männergelangd. Dieje Gattung, fiegreid) durch die üppige, 
wenngleich monotone Schönheit des finnlichen Klanges, ift ihrer 
Natur nah auf ein kleines Gebiet beichränft, ein Gebiet über: 
dies, das nicht auf der Hochebene der Kunft, fondern am Ab— 
hang derjelben fich ausdehnt, wo die Iuftigen Brüder wohnen. 
Sp lange der Männergefang irgendwo im Glanz der Neuheit 
auftritt, übt er — ganz abgejehen von feiner gejelligen An— 
ziehungskraft — auch auf das eigentliche Eoncert:Bublicum 
einen eigenthümlichen Zauber. Man glaubt, fih an dem reinen, 
Iharfen Zufammenflang friiher Männerftimmen nicht fatthören 
zu fönnen, und gibt fih mit der Dußenwaare von Liebes-, 
Trink-, Vaterlands- und Scherzliedern gern zufrieden. So war 
es in Wien in den PVierzigerjahren und darüber hinaus. 
Später madte fih allmälig das Enge und Dürftige diejes 
Genres noch fühlbarer, als man anfangd glauben mochte, 
und jelbit die virtuoſeſte Ausführung will nicht mehr recht 
über die Spärlichfeit des geiftigen Gehalts hinmeghelfen. Nach 
einer Periode allgemeiner Schwärmerei tritt diefe Ernüchterung 





Ergrimmt ausſtach mit blut’gen Händen, 

Mit ihres Webſchiffes icharfen Spigen. 

Und es vergingen im Leiden die Elenden über ihr Elend, 
Meinend, entiproffen dem Unglücksbund 

Der Mutter, die doch an dem uralten Geblüt 

Des Erechteus Theil hatte; 

Und bei den väterlichen Sturmwinden aufwuchs in fernen Grotten 
Die Roß' ereilende Boread' auf ſteilen Höh'n, 

Ein Gottkind. Doch auch fie beitürmte die Macht. 

Der uralten Moira, Tochter! u. ſ. w. 


Concert des Wiener Männergelang-Bereins. 347 


allenthalben zu Tage, und der NRüdichlag trifft mitunter fo 
weit, daß ftrengere Kunftrichter es an der Zeit halten, den 
vierftimmigen Männergefang aus den Concertiälen allmältg 
wieder in den Burgfrieden der Gejelligfeit und des Vereins— 
weſens zurückzuweiſen. In folcher Zeit vermag nur eines Die 
günstige Poſition des Männergefangd im öffentlichen Concert: 
leben zu retten: die Bereicherung und Veredlung ſeines Pro— 
gramms. Mer die beicheidene Literatur dieſes Kunſtzweiges 
fennt, wird einräumen, daß ein ſolches Begehren leichter geitellt 
als erfüllt ift. Im diefer Beziehung num hat Herbed, als 
Chormeifter des Miener Männergeſang-Vereins, mehr geleiitet, 
als irgendwo zu irgend einer Zeit geleiftet worden tit. or 
feinem Eintritt waren Productionen des Wereind mit vollem 
Orcelter eine feltene Ausnahme und Mendelsſohn's Dedip- 
und Antigone-Mufif jo ziemlich das Einzige, womit der Verein 
eine höhere Kunftregion betrat. Herbed hat die großen Orcheſter— 
Eoncerte zur Regel gemadt, und im Auffinden intereffanter Novi— 
täten und Antiquitäten ift ihm der Faden noch nicht ausgegangen. 
Mit Ausnahme von Schubert's »Nachtigall« waren alle vor: 
geführten Stüde Novitäten, und drei davon umfangreiche 
Eompofitionen mit ganzem Orceiter, von Shumann, Ber: 
lioz und Wagner. Daß feine davon ein Meiſterwerk und im 
Stande war, die Hörer wahrhaft zu begeiftern, müffen mir 
hinterher einräumen; immerhin bleiben es Werke, welche, durch 
ihre Eigenart wie durch den Ruhm ihrer Verfaſſer, der Vor— 
führung würdig erfchienen und jeden Muſikfreund lebhaft inter: 
eifiren mußten. Man begann mit R. Shumann’® »Glüd von 
Edenhall«e (op. 143, componirt in Düfleldorf 1853). Die 
Uhland’ihe Ballade iſt für die Zwecke des Componiſten von 
Dr. Hafenclever mit großer Diöcretion dramatifirt, fo daß 
das DOriginalgediht beinahe nur »mit vertheilten Rollen« ge: 
lefen wird. Mit dem Chor der Gälte wechſeln Soli des über: 
müthigen Laros und feines greifen Schenken; nad der Kata— 
ftrophe betritt der Anführer der ftürmenden Feinde und 
der GChoren die Scene. Die Gompofition vermochte uns 
nicht zu erwärmen; in ihrem eigenthümlich unfebendigen, theils 
gequälten, theil® nüchtern declamatoriichen Charakter trägt fie 


348 1864. 


volftändig die Kennzeihen des Schumann’schen Nachſommers. 
Hätte der Meifter die von ihm eingeführte Specialität der 
»Chorballaden« mit der vollen poetiihen Wärme und Erfin= 
dungsfraft feiner früheren Jahre erfüllen können, daS neue 
Genre hätte fih — weniger aus äfthetiichen als aus praftifchen 
Gründen — mwahrjcheinlich bewährt und erhalten. Wirkſamer 
und fließender behandelt als der gleichzeitig erjchienene » Königs 
johne, steht das »Glück von Edenhall« doch jchon bedeutend 
unter der Mufif zu »Page und Königstochter«, welche wenigitens 
in den märchenhaften Bartien noch wunderbare Töne anjhlägt. 
Was dem »Glüd von Edenhall«e nicht abzujprechen ift, find 
die Vorzüge der Form, der Declamation, des ſtets würdigen 
und gebildeten Ausdrucks — ſie find mehr ald ausreichend, 
um die Aufführung des Werkes zu rechtfertigen ; weniger als aus— 
reihend, um demjelben zu durchagreifender Wirkung zu verhelfen. 

Sffectvoller und lebendiger, bei allerdingd weit größerem 
Raffinement, ift der Studenten: und Soldatendhor aus Berlioz' 
dramatiicher Legende: »La damnation de Faust« Der 
Componiſt hat hier Goethe’3 »Fauſt« in ähnlicher Meile mie 
Shafejpeare’3 »Romeo und Julie« für fein eigenthünliches, halb— 
dramatiiches, muſikaliſch-malendes Talent ausgebeutet. Die 
Scene, die una der MännergefangsVerein vorführte, bildet das 
Finale der zweiten Abtheilung. Fauft und Mephifto umjchleichen 
nächtlicherweile Gretchen's Haus. Sie hören luſtigen Chorgejang 
von weitem. »Des etudiants voici la joyeuse cohorte, Qui va 
passer devant sa porte«, alfo der Gounod’she »Siebel« en 
masse. Zuvor ericheinen Soldaten und fingen in populärer, 
hübſch rhythmiſirter Melodie den »Goethe'ſchen Chor: » Burgen 
mit hohen Mauern und Zinnen«; der Geſang geht aus B-dur, 
/ Takt, ein Iuftiger Terzenlauf der Glarinetten fteigt jauchzend 
ziwiichen je ziwei Verſen auf. Nun rüden von der andern Seite 
die Studenten heran, ein lateiniiches Burfchenlied (D-moll, 
2/ Takt) in ungeihladhtem Uniſono fingend, wozu die Violinen 
mit pizzilirten Terzen accompagniren. Die beiden Chöre er— 
tönen jchließlih zufanımen, ein Witz, der mehr Schweiß ge— 
foftet hat, als ſich lohnte. Obwohl beide Parteien durch das 
Orcheſter möglichſt auseinandergehalten jind (die Holzbläjer 


Wagner »Liebesmahl der Apoftele. 349 


gehen mit den Soldaten, das Blech mit den Studenten, die 
Violinen pizzifiren neutral zwiichen beiden), fo ilt der Total: 
eindrucd doch wirr und überladen. Der Studentenhor verliert 
mit dem D-moll-Charafter vollitändig feine Phyſiognomie, kurz, 
jedes der beiden Chorlieder war für fich allein weit hübſcher. 
Das Eleine, äußerit ftimmungspolle Orcheiter-Ritornell, das die 
Scene eingeleitet, Tchließt fie wieder und läßt das Ganze Teile 
wie im Abendduft verſchwimmen. 

Die dritte große Nummer war Richard Wagner's 
»Liebesmahl der Apoſtel«. Diefe »bibliihe Scene für 
Männerhor und Orcdelter«e — lang vor dem »Tannhäuſer« 
componirt und vor mehr als zwanzig Jahren im Drud er- 
Ichienen — ift wenig befannt und vom Gomponiften jelbit nicht 
als vollwichtig anerfannt. Die ganze umfangreihe Compofition 
ward offenbar einem einzigen Orchelter-Effecte zuliebe entworfen 
und ausgeführt, der allerdings erquifitelter Art ift. Gute zwei 
Dritttheile des Werkes füllt nämlich bloßer Männerchor, ohne 
alle Begleitung: die Jünger und Apoftel find nah Chriſti 
Tod in andäcdhtiger Heimlichkeit verfammelt; Zucht und Zagen 
erfüllt ihr Herz. Plötzlich horchen fie auf: »Welch' Braufen 
erfüllt die Luft? Du Heiliger Geift, dich fühlen wir das Haupt 
ummehen!« Hier erit fällt das Orcheſter ein, ein überrajchender 
Effect, der mit größter technifcher Meiſterſchaft in Scene gejeßt 
it. Geigen, Bratfchen und Gelli, vierfach getheilt, beginnen 
leile ein zauberhaftes Schwirren, über welchem gehalteıte 
Accorde der Flöten und Glarinetten und Fagotte wie jchwacer 
Lichtſchimmer glänzen; das Schwirren wächſt immer braufender 
an, das Licht wird immer intenfiver, zwei Pauken wirbeln leiſe, 
beide auf C, zwei andere Schlagen in Biertelnoten, dann heftiger 
in Achteln dazu; nun fallen im Fortiffimo auch vier Trompeten, 
vier Hörner, drei Poſaunen, ein Tuba und ein Serpent 
Ichmetternd ein, Chor und Orcheiter entladen fich in mächtigen 
Donnerichlägen. Es veriteht fih, daß ein folcher Effect, nachdem 
das Ohr eine Stunde in trodenem Vocalſatz geihmadtet, fo 
fiher ift wie bares Geld. Er iſt an diejer Stelle auch äfthetiich 
“berechtigt. Und dennoch gewannen wir von dem Ganzen feinen 
tieferen Eindrud, feine Erregung, die über die rein finnliche 


350 1864. 


diejes effectvollen Contraſtes hinaugreihte. Der lange rein 
pocale Theil bereitet dem Componiſten allerdingd den Boden 
für jene Wirkung, aber er verräth auch dejjen ganze Blöße 
im polyphonen Satz, feine Unfähigkeit, den Ausdruck religiöjer 
Würde und Einfachheit feitzuhalten. Der Gejang der Apoitel 
(zwölf Baſſiſten) iſt declamatoriſch trodener, meiſt unifoner 
Sprechgeſang, muſikaliſche St. Nicolo-Mummerei; was die 
Jünger (erſt allein, dann mit den Apoſteln) vortragen, klingt 
jo unbibliſch modern, jo jentimental weltlih, daß wir nicht 
da3 erite Pfingſtfeſt, ſondern einen Apoſtelgeſangs-Verein 
»Biederjinn«e vor una zu haben glauben. Dieſe Ihmachtenden 
Septimen: und Nonen:Accorde, dieſe VBorhälte und Modulationen 
führen und weit weg von den ehrwürdigen Ambositätten des 
Chriſtenthums, fie führen uns direct nad Wagner's romantischer 
Wartburg, vor welcher der Baritonift Wolfram von Eichenbach 
jeine liebegwunde Seele ausfingt. Die Ausführung des überaus 
ſchwierigen Werkes war eine Feuerprobe für den Chor, und er 
beitand fie redlich. Nur wären die Sänger, welche die » Stimmen 
bon Oben« repräfentiren, beſſer auf die Eitrade poftirt geweſen, 
unten fonnten fie eine »himmliihe« Wirkung unmöglich er— 
zielen. 

Schubert's »Nadhtigalle (Chor mit Clavierbegleitung) 
wurde ſtürmiſch zur Wiederholung begehrt, eine Ehrenbezeugung, 
die wir für unfern Theil mehr der Ausführung als der Com: 
pofition zollen. Sp lange dieſe in Vierpierteltaft geht, ſchmeichelt 
fie, ohne tieferen Eindrud, mwenigitend® durch melodidje Anmuth ; 
mit dem trivialen Dreivierteltaft der Schlußftrophe und deren 
unbegreiflichen Walzer-Accompagnement find wir aber geradezu 
ind Wirthshaus verjegt. Bei feinem Tonmeiſter der Neuzeit 
muß man jo vorfichtig in der Unterfcheidung des Einzelnen 
jein, wie bei Schubert, denn fein Zweiter hat jo wie er, 
im Bollgefühl seiner Kraft und feines Reichthums, jo flüchtig 
ungleich producirt. Diefe ftrogende Gejundheit und fröhliche 
Naivetät loden ihn oft bedenklih an die Grenze des Trivialen, 
wie wir das mantentlih in feinen Finalſätzen wahrnehmen , 
können. Jene Gößendiener, welche auf den glorreihen Namen 
hin alles Schubertihe gleihmäßig preifen umd bewundern, 


Lachner's »Drchefter-Suiten«. 351 


verfallen nur zu leicht in die Schon von Shafejpeare getadelte 
Thorheit »tho make the service greater than the God«. 


Orcheſter-Concerte. 


Franz Lachner war von München eigens hiehergekommen, 
um ſeine »zweite Orcheſter-Suite in E-moll« zu dirigiren. Mit 
lang anhaltenden Beifall begrüßte das Publicum fein Erſcheinen. 
Diefer Willlomm — Lachner hätte ihn überall verdient und 
gefunden — Hatte in Wien doch noch eine intimere Färbung 
und Bedeutung. Nicht allzu viele von den Zuhörern mochten 
aus eigener Erinnerung der Zeit gedenken, wo Lachner in Wien 
thätig war, aber der Beifall Klang, als wüßten ſie's Alle und 
fühlten es lebhaft durch. 

Bor AO Jahren war Lachner als junger Mufifer, unbe: 
mittelt und unbefonnt, aus Baiern nad) Wien gewandert. Ein 
günjtiger Stern hat ihn geleitet, und in Lachner's fchneller 
Garriere und Doc endlich wieder einmal jehen laſſen, »wie fich 
Verdienit und Glück verfetten«. Nicht lange nach feiner Ein- 
wanderung ward Lachner Gapellmeifter am Kärntnerthor: 
Theater (1826), daS er erit 1834 verließ, um einem Auf nad) 
Mannheim und bald darauf nah München zu folgen. Was 
Lachner seither in München für die Pflege claifiicher Muſik 
gewirft hat, durch jeine eminente Dirigenten-Thätigfeit mie 
durh das Anjehen feines Namens, iſt befannt. Seine eigene 
Schöpferfraft jedoch jchien verfiegt, wenigſtens lag fie in jahre: 
langem feiten Schlummer. Da jehen wir fie plöglich im neuer, 
ungeahnter Frifche fich erheben und die Welt mit einer Nach— 
blüthe überrafchen, welche die Ernte feiner jüngeren Jahre in 
Schatten jtellt. Dieſe Nachblüthe find Lachner’3 zwei Ordeiter- 
Suiten, die ganz Deutſchland mit aufrichtiger Freude begrüßt 
hat. Wenn man erwägt, wie viel jchwieriger, begehrlicher und 
verwöhnter das mufifalifche Bublicum jeit 30 Jahren geworden 
ift, jo darf man die Aufnahme der zwei Lachner’fhen Suiten 
wohl als den bedeutenditen Erfolg bezeichnen, welchen der 
Componiſt überhaupt errungen. 


352 1864, 


Die neue »Suite« in E-moll ift der eriten in D-moll 
(die im vorigen Jahre Deffoff zur Aufführung brachte) fehr 
nahe verwandt. An Kraft und Originalität der Erfindung, an 
Schwung der Durchführung erreicht fie, unjeres Grachtens, ihre 
Borgängerin nicht, an Wohlgeitalt der Form und glänzender 
Technik ift fie ihr ebenbürtig. Der erite von den finf Süßen 
bringt nach einer bebeutfam vorbereitenden, Yanglamen »In— 
troduction« eine Fuge, und zwar eine Doppelfuge, deren erites 
Thema erit für fih durchgeführt wird, worauf das zweite 
Thema auftritt und das erfte als Gegenthema mit durchführt. 
Der mwuchtige Charakter der Themen und die conjequente contras 
punktiſche Ausführung des ganzen Satzes erinnert (abgejehen 
von der modernen Verwendung der Chromatif) an die typiichen 
Vorbilder aus älterer Zeit. Diefem erſten Saß, der uns der 
werthoollite von allen dünft, folgt als zweiter ein romanzen- 
artiges Andante in E-dur, edel und gejangvoll, wenn auch nicht 
gerade bedeutend. »Menuet« Tautet die nicht ganz zutreffende 
Veberfchrift des dritten Saßed in H-moll, deſſen Rhythmus 
und Tempo ihn eigentlih unjerer »Polka-Mazur« vindiciren. 
Menn der Componift fih ded Namens fchämte, der Sache hat 
er fih nicht zu ſchämen. Die Erfüllung der alten Suitenform 
mit modernem Inhalt ift ‚ja das enticheidende WVerdienft der 
beiden Lachner'ſchen Orchefterftüde. Wenn Bach's und Händel's 
Suiten die Tanzformen ihrer Zeit (MAllemande, Sarabande, 
Gavotte 2c.) in reineren, idealifirten Linien vorführten, warum 
foll ein Componift von heute nit das Gleiche thun, wenn er 
es eben mit feinem Schönheitäfinn vermag? Schon Beethoven 
fonnte die alte Menuetform, wie fie Haydn benüßte, nicht 
mehr brauchen; Lachner geht in der Modernifirung derfelben 
noch einen ftarfen Schritt weiter. Der Satz ilt ſchlank gebaut, 
bon anmuthiger, etwas tändelnder Melodie. Dad »Intermezzo« 
it ein Alla Mareia mit gefälligem, intereffant harmonifirtem 
Hauptmotiv und einem Trio in C-dur, deſſen theatralifches 
Marſchthema unter den fortlaufenden Trilferfetten der Geigen 
von unfehlbarem, populärem Effect ift. Der lette Sat lenkt 
wieder in ftrengere Bahnen ein; an dem gedrungenen, poly: 
phonen Styl des eriten Satzes anfnüpfend, wirft er ſehr günſtig 


Berlioz' »Benvenuto Cellini.« 353 


durch jeine rhythmiſche Lebendigkeit. Das ganze Werk offen: 
bart, zumal in der contrapunftiichen Arbeit, die feite und 
leichte Hand des Meiſters; die Inſtrumentirung glänzt durch 
Wohlklang, Schattirung und unübertrefflihe Durchſichtigkeit, 
man hört jedes Inftrument heraus. So empfangen wir in 
Lachner's Suite einen anmuthigen Inhalt in meifterhaft gefügter 
Form, geziert mit allen Reizen moderner und doch jolider 
Orcheſtertechnik. Das Werk rührt nicht an die Tiefen der Mufif, 
nicht am ihre legten dämonischen Kräfte, es entzündet weder 
unfere Leidenjchaften, noch verklärt und jänftigt es deren heiß— 
glimmende Aſche. Was Lachner’3 Suiten und bieten, ift ein 
freundliches, wechjelvolles Bild reiner Muſik, einer Muſik, die, 
gegen jede poetijche und philoſophiſche »Bedeutung« proteitirend, 
in anſpruchsloſem Behagen fich jelbit zuzuhören fcheint. 

Dann hörten wir Berlioz' Ouverture zu »Benvenuto 
Gellini«, jener Jugendoper, die fait zwanzig Jahre nad 
einem ſchlimmen Durchfall in Paris, vom Componiften neu 
überarbeitet und in Weimar, dem mufifaliichen Zukunfts— 
Mekka, aufgeführt wurde. Wir hätten lieber die Oper jelbft 
ohne Duverture gehört, als umgekehrt. Aeußerſt empfänglich 
für den blendenden, wenngleich gemijchten Reiz aller Berlioz'ſchen 
Orcheſterwerke, haben wir der eriten Aufführung auch diejer 
Sompofition erwartung3voll entgegengejehen. Wir fanden un? 
bitter getäufcht: nicht nur die ſchwächſte, jtyllojeite Arbeit von 
Berlioz trat und entgegen, fondern eine dieſes geiltvollen Com: 
poniften fait unwürdige. Man halte nur die »Lear«-Ouverture 
oder den »Römiſchen Gardinal« dagegen. Ja fogar die »Vehm— 
richter« und »Waverley«, zwei Duverturen aus Berlioz’ früheiter 
Zeit, ftehen in unferer Erinnerung muſikaliſch gehaltvoller und 
einheitlicher da. Ein ſeltſames Intervallen-Stolpern und Schwanken 
vertritt hier die Melodie. Die Reize der Inftrumentirung wirken 
diesmal nicht, wie bei Berlioz' beiten Sachen, nad Einem Ziel 
hin, in Einem ftarfen jtrömenden Zug; fie find vielmehr 
machtlos verfplittert, wie verlorene Poſten auf unentſcheidende 
Punkte geworfen. Manche Streden diefer Ouverture langen 
und mehr wie ein bloße8 Probiren von Inſtrumenten und 
Inſtrumental-Effecten, als mie eine organiihe Entwicklung 

Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 23 


354 1864. 


muftfalifcher Gedanken. Die »Gellinie-Duverture machte, troß 
der äußerſt lobenswerthen Aufführung, auf das Publicum fehr 
geringen Eindrud. 

Neu war und Bargiel’8 »Duverture zu einem Trauer— 
ſpiel«. Der Componift, ein geiftiger Stiefbruder Robert Schu— 
mann’s und ein leibliher Clara’, verleugnet fein Vorbild 
in feinem Takte. Die »Ouverture« ift von würdigem Ausdrud 
und einheitlicher Haltung, formell unanfehtbar (bi auf den 
unndthig angehängten Iang Hinfiehenden Schluß), im Detail 
fein und anziehend, verlegend nirgends, wenn man allenfalls 
von den unmotivirten Molfeihluchtsharmonien im Durd: 
führungsiag abfieht. Im Ganzen ein fehr achtbares Werk, aber 
mit größeren SIntentionen angelegt, als der Componift zu ver: 
wirklichen vermochte. Bargiel hat feither zwei neue Ouverturen 
geichrieben, die bedeutender ſein jollen; fein echtes und redlich 
firebende® Talent verdient, in jeiner Weiterentwidlung nicht 
ignorirt zu werden. — Haydn’s B-dur-Symphonie mit ihrer 
liebenswürdigen FYriihe und Anmuth machte und das auf: 
richtigfte Vergnügen; fie erfcheint im eriten Sag und Andante 
ohne Zopf und Puder, mit Rojen in dem wallend blonden 
Haar. Die philharmonifhe Hörerſchaft wurde troßdem erit 
warm — und das bis zum Enthufiaamus — bei Mendelö- 
john’? A-moll-Symphonie. Deſſoff und fein Ordeiter feierten 
bier einen Triumph, den wir durch die beicheidene Bemerkung 
feineswegs ftören wollen, daß fünftig die unmittelbare Aufein- 
auderfolge von zwei Symphonien befjer unterbleiben würde. 

Schumann’ »Lied beim Abſchied zu fingen« (Es 
ilt beftimmt in Gottes Nath«, op. 74) hat in Mendelsſohn's 
einfacherer, innigerer Compofition desjelben Gedichtes einen 
Rivalen, den es aus dem Herzen des deutichen. Volkes auch 
nicht für einen Augenblik verdrängen wird. Warmes Empfinden 
durchdringt zwar auch den Schumann’shen Chor, allein für 
die Einfachheit der ganzen muſikaliſchen Erfindung ſcheinen uns 
der verwendeten Mittel immer noch zu viele und zuſammen— 
geießte. Das Herauötreten eines Soloſoprans auf die Worte 
»Scheiden, ſcheiden«, das aufdiinglide Genäfel der Oboen in 
der begleitenden Harmoniemuſik und Mehnliches erfälten Die 


Beethoven's Achte Symphonie. 355 


ohnehin ziemlich temperirte Stimmung der Compoſition. Durch 
reizende Klangwirkung beſticht das ſchwediſche Volkslied: »Der 
Hirt«, das übrigens von der fünften Zeile an ganz den 
Charakter des modernen, Jogar vom Opernityl angehauchten 
Kunftliedes trägt. Beethovens achte Symphonie zündete 
ungleich) weniger als bei früheren Aufführungen. Im Jahre 
1818 hatte ein Rritifer der Allgemeinen Muſikaliſchen Zeitung 
prophezeit, das Allegretto der ahten Symphonie werde immer 
da capo verlangt werden. Im letzten Geſellſchaftsconcert geſchah 
es unſeres Wiſſens zum eritenmal, daß dieje Prophezeiung nicht 
eintraf. Das Tempo wurde allgemein zu raſch gefunden; auch 
una erichien es fo. Director Herbed Hatte fhon im Jahre 
1859, in dem eriten von ihm dirigirten »Gejellichafts- 
concerte, dad Mllegretto etwas rajcher genommen als ge: 
wöhnlih, ein WVerjuh, mit dem man fih noch befreunden 
fonnte, da das traditionelle langiamere Tempo, an dem die 
nambhafteften Dirigenten, Mendelsſohn an der Spige, ſtreng 
feitgehalten hatten, anfing, allenthalben übertrieben zu werden. 
Diesmal verfuhte Herr Herbed noch um einen Schritt weiter 
zu gehen, ein jehr Kleiner Schritt vielleicht, aber er war ent- 
fcheidend. Dies reizende Tonſtück — bei welchem jelbit der 
Großmeiſter aller Bellimiften, Schopenhauer, auszurufen 
pflegte, es mache vergellen, daß die ganze Welt nur Elend 
trage — hatte diesmal jeine eigenthümlich vornehme, aus— 
drudspolle Grazie eingebüßt. 

Es ift übrigens Sehr erfreulih, daß die achte Sym: 
phonie, die lange Zeit eine beharrlihe Zurüdiegung erfahren 
mußte, endlich häufiger auf den Concert-Programm erfcheint. 
Thatfählih Hat Dulibiheff vollitändig Recht, wenn er die 
achte Symphonie »la moins goütee« unter den neun Schweftern 
nennt. Sie wurde fo jehr ignorirt, daß mir in den Wiener 
Eoncert-Programmen der Dreigiger- und auch noch der Vier— 
zigerjahre die Baltoral- Symphonie faſt durchweg nur als 
» Symphonie in F-dur von Beethoven« angeführt finden, gerade 
als wenn Beethoven feine andere Symphonie in F-dur gefchrieben 
hätte. Die achte Symphonie ſchien durch ihre eigenthümliche 
Stellung PBublicum und Kritik mitunter zu verwirren. Ihrem 

23* 


356 1864. 


bejcheidenen Umfang nah an die zwei eriten Symphonien 
lehnend, ragt fie mit zahlreihen Charafterzügen (namentiich 
des legten Satzes) in den Styl der dritten Periode. Es beein= 
trähtigt fie die Nahbarihaft zur Linken, die fiebente Sym— 
phonie mit ihrer überquellenden Blüthenfülle, und die Nachbar— 
schaft zur Rechten, die gigantiihe »Neunte«. Obendrein bot fie 
in ihrer rein mufifalifchen Objectivität, den bereits bilderſüchtig 
verwöhnten Auslegern jo wenig Anhaltöpuntte zu poetiicher 
Deutung — eine von ihren Wehnlichfeiten mit der vierten 
Symphonie. Was für heterogene Erklärungen mußte fich dieſe 
ipröde »Achte« gefallen laſſen! Lenz fieht darin lauter »Mili— 
täriiched«, dad Finale ift ihm ein »mit höchſter Poeſie ge- 
ichaffener Zapfenftreihe. Sein Landsmann Oulibicheff 
leistet wieder in Auslegung des reizenden »Allegretto« das Un— 
glaubliche, indem er es vollen Ernftes für eine beabfichtigte 
Satyre auf Roſſini's Mufit hält, über welche Beethoven ſich 
mufifaliich Iuftig machen wollte! Minder fühne Ausleger fuchten 
frampfhaft in Beethoven’: Ausiprühen und Lebensumjtänden 
nach einem poetiihem Sclüffel zu dem verſchloſſenen Sinn 
der achten Symphonie, und ernenerten ihr Wehklagen darüber, 
daß Beethoven fein angeblich gegen Schindler geäußertes Pro— 
ject, durch Ueberichriften und furze Andeutungen die »poetiiche 
Idee« jeiner Compofitionen zu bezeichnen, nicht ausgeführt habe. 
Ich erlaubte mir einmal, das Nichtzuftandelommen diejes Planes 
als ein wahres Glüd für die Muſik zu bezeichnen, — eine Steßerei, 
für welche ich damals Mancherlei zu erdulden befam. Mit 
wahrer Freude hat es mich erfüllt, in einer trefflihden Kritik 
von Otto Jahn über die neue Beethoven-Ausgabe dieſelbe 
Ueberzeugung ausführlich dargelegt zu finden. Jahn beleuchtet 
dad Mißliche jenes (in Beethoven gewiß nur flüchtig aufge: 
tauchten) Vorhabens, und erinnert an mehrere Beiſpiele. Sp 
habe Beethoven einmal, von Schindler über die Bedeutung 
der Sonaten in D-moll und F-moll befragt, geantwortet: »Leſen 
Sie nur Shafeipeares Sturme. Jahn bemerkt hierüber, 
» DaB gerade diejes Drama Beethoven zu ſolchen Schöpfungen 
anregen fonnte, ijt freilich nicht ohne Intereſſe zu erfahren, 
aber aus dem Shafeipeare das Verſtändniß derielben herholen 


Beethoven’3 Achte Symphonie. 357 


wollen, hieße nur die Unfähigkeit der mufifaliihen Auffaſſung 
bezeugen.«e Auch wenn Beethoven einmal genauer citirt, wird 
das Verſtändniß Dadurch nicht gefördert. Sein veriranter Freund 
Amenda erzählte, daß Beethoven ihm gejagt habe, bei den 
Adagio im F-dur-Quartett (op. 18, 1) habe ihm die Grabes— 
jcene aus »Romeo und Julie« vorgeſchwebt; wer nun etwa 
diele in jeinem Shakeſpeare aufmerkſam nadliejt, und dann beim 
Anhören des Adagios fich zu vergegenwärtigen fucht, wird der 
fih den wahren Genuß des Mufikitüces erhöhen oder ftören? 
Man will willen, daß Beethoven ein borübergaloppirender 
Reiter das Thema zum legten Sag der D-moll-Sonate, — das 
ungeduldige Stlopfen eines in fpäter Nacht vergeblih Einlaß 
Begehrenden dag Motiv im eriten Sag ded Biolin-Eoncertes 
eingegeben habe. Möglich, daß ein prägnanter, finnlicher Ein— 
druck im günftigen Moment bligartig ein charakteriftiiches Motiv 
hervorrief; aber mit der künſtleriſchen Entwidlung dieſes Keims, 
mit der jchöpferiihen Organifation des Kunftwerfs hat dieſe 
äußere Anregung nicht? mehr zu thun; Die Thätigfeit des 
Künstler bewegt fi) in ganz anderen Regionen, und wer da 
glaubt, von dem zufälligen äußeren Anlafje aus laſſe fi) das 
Kunſtwerk conjtruiren, der hat feine Ahnung vom künſtleriſchen 
Schaffen. Sollte 3. B. Semand auf den Einfall kommen, den 
eritten Sat des PBiolinconcerte® nah jeiner piychologiichen 
Entwidlung und äußerlichen Gliederung aus jener Situation des 
nächtlichen Klopfens abzuleiten und zu erklären, jo möge man 
ihn in Gottes Namen klopfen laffen: die Thür des rechten 
Verſtändniſſes wird ihm nicht aufgethan werden. »lleberichriften 
und Notizen, auch authentiiche, von Beethoven ſelbſt herrührende, 
würden das Eindringen in Sinn und Bedeutung des Kunſt— 
werks nicht weſentlich gefördert haben; es ift vielmehr zu 
fürdten, daß fie ebeniowohl Mißperftändniife und 
Berfehrtheiten hervorrufen würden, wie die, melde 
Beethoven veröffentlicht hate. »Darum fünnen wir zufrieden 
jein, daß auch Beethoven feine Worte nicht ausgeſprochen hat, 
die nur zu viele zu dem Irrthum verleitet haben würden, wer 
die Ueberſchrift verftehe, der verſtehe auch das Kunſtwerk. Seine 
Muſik jagt alles, was er jagen wollte, fie ift und bleibt der 


358 1864. 


lautere Quell, aus dem Jeder Ichöpfen kann, der empfänglich 
iſt«. Solche Worte können nicht oft genug wiederholt, nicht 
weit genug verbreitet werden. 

Die in Wien noch nicht gehörte »Duperture zu 
Shafipeares Julius Cäſar« (op. 128) ift eine von den 
vier jelbitftändigen Duverturen, die wir von Schumann 
befigen, und die er jämmtlih in den lebten Jahren jeiner 
Thätigfeit zu BDüffeldorf ſchrieb (1851 — 1853). Die 
»Julius-Cäſar«-Ouverture lehnt fih nicht jo eng, wie Beet- 
hoven’3 »Coriolan«, an ihren dramatiihen Stoff; faum mehr 
al3 der eherne Schritt des Hauptthemas und eine allgemeine 
friegeriiche Färbung weiſt auf die große römische Tragödie hin. 
Allerdings hat ein Freund Schumann's in den dreizehn jcharf 
innfopirten Schlägen, die (Takt 109 bis 112) raſch zu dem 
breit verhallenden Paukenwirbel auf © hinabfteigen, die dreizehn 
Dolchſtiche in Cäſar's Bruft wiedererfaunt, und vielleicht zeigt 
una auch nocd Jemand den Ausruf: »Et tu Brute«! in einem 
fleinen veritedten Motiv. Die Ouverture jelbit fordert zu 
feinerlei Icharfjinniger Deutung heraus; fie ift muſikaliſch Elar 
und einheitlich, faßlicher al3 die Mehrzahl der größeren Or— 
cheiterfjahen von Schumann. An Eigenart und NReihthum der 
Erfindung fteht fie nicht in der eriten, faum in der zweiten Reihe 
Schumann'ſcher Tondihtungen. Die Kraft, mit welcher Die 
»Cäſar«-Ouverture einherjchreitet, ift mehr die beabfichtigte, 
mitunter angeftrengte der dramatiichen Charafteriftif, al3 die 
urfprünglihe des muſikaliſchen Gedanfenjtroms; eigenthümlich 
weich wehen aus den fanften Nebenmotiven Ankflänge aus 
»Manfred« und ⸗»Genovefa« herüber. Merfwürdig iſt die Auf: 
faffung, Die aus der Schlußwendung ſpricht. Der Componiit 
inmboltfirt den Untergang Cäſar's nicht durch eine Klage, jeine 
Muſik jtirbt nicht mit ihrem Helden dahin, wie die jchmerzlich 
verathmende Coriolan-Duverture: fie erhebt fih im Gegentheil 
aus dem düſteren F-moll in daS helle F-dur und fchließt voll 
Muth und Siegesfreude. ES iſt alfo ganz eigentlich eine re 
publifaniihe Duverture, die den Sturz des gewaltigen Unter: 
drückers al3 glücklich errungenen Sieg der Volföfreiheit feiert. 
Die Duverture machte feinen lebhaften Eindruck auf das Publi- 


Ouverture von R. Schumann. 359 


cum; der Maßſtab, den wir aus den beiten Werfen Schumann’3 
uns gebildet haben, it für Compofitionen, wie die »Cäſar«— 
Ouverture, zu groß geworden. Was der Ouverture mwejentlich 
fchadet, ift ihre derbe, undurchſichtige Initrumentirung, die mit 
Blechmaſſen das Ohr betäubt und manch feinen Zug eritict. 
Bon einem Meifter wie Schumann ift jedes größere Merk der 
öffentlihen Kenntnignahme würdig; jelbit Compofitionen von 
geringerem fpecifiichen Gewicht find uns hochwichtig als Mark— 
jteine in Schumann’3 Entwidlungsgang. Weberdies find wir an 
neuen Orcdefteritüden nicht jo reich, ald daß wir Compoſitionen, 
wie dieſe »Cäſar«-Ouverture, ohne Nachtheil könnten  beijeite 
liegen lajjen. Aus diefem doppelten Gefihtspunft, nämlich der 
vollftändigen Kenntnig Schumann’3 und der Bereicherung unseres 
Orceiter-Repertoires, möchten wir auch die Vorführung der 
drei anderen Duverturen angelegentlich befürworten. Es find 
die zuerit die Dupderture zu Schiller’3 »Braut von Meifina« 
(op. 100), die bedeutendite und ſchwungvollſte von allen, das 
tragiihe Seitenftüf zum »Julius Cäfare. Danı die beiden 
mit bellerer, heiterer Farbe gemalten Bilder »Hermann und 
Dorotheae und »FFeit-Duverture«e. Die Duperture zu »Her— 
mann und Dorothea« (op. 136, »ſeiner lieben Clara zuges 
eignet«) ſchrieb Schumann »mit großer Liebe in wenig Stunden«. 
Man fieht dem flüchtigen Werke allerdings die » wenigen Stunden« 
an, aber auch die »Liebe« des Tondichters zu dem Goethe- 
ſchen Idyll, welches er als vollitändiges Singipiel für die 
Bühne componiren wollte Die »Feit-Duperture«, op. 123, 
iit über da3 bekannte Rheinmweinlied: »Bekränzt mit Laub« 
componirt; das Thema wird von den Trompeten wie eine 
Thefis aufgeftellt, vom Orcheiter durchgeführt, am Schluß fingt 
e3 der volle Chor, wie ein »quod erat demonstrandume«e. Die 
»Feſt-Ouverture« iſt ein Gelegenheitsitüd, eine muſikaliſche 
Huldigung, die Schumann beim Antritt jeiner neuen Stellung 
dem Rheinlande brachte. Erfindung und Arbeit find unbedeutend, 
doh hört fih das Ganze immerhin recht feitlih an. Möge 
Herr Deſſoff dieſe drei Ouverturen gelegentlich hervorſuchen, 
und nicht müde werden, uns neben dem Bewährten, für alle 
Zeit Claſſiſchen, das der Grundſtock der Philharmonie-Concerte 


360 1864. 


bleiben muß, auch das Intereflantefte der neueren Orcheftermufif 
vorzuführen. Unter Nicolai und Edert beharrten die »Phil— 
harmoniſchen Goncerte« in einer allzu erclufiven Stellung; in— 
dem fie das coniervative Clement, die Stabilität geradezu 
betonten, bildeten ſie eine Art muſikaliſcher Pairskammer in 
Wien, weldher die »Gejellihaftö-Eoncerte« mit ihrem flüffigeren 
reformatoriihen Zug als mufifaliiches Abgeordnetenhaus gegen= 
überftanden. Herr Deſſoff erfannte ganz richtig die nadtheilige 
Stellung, in welde ein jo ftarres Feithalten die Philharmonie— 
Goncerte allmälig bringen mußte; wir glauben mit ihm, daß 
die Pairs einen ſehr geicheiten Einfall haben, wenn fie mit- 
unter an Liberalität mit den Abgeordneten concurriren. 

Die zweite Nummer des Philharmoniſchen Concerts war 
Beethoven's Tripelconcert in C-dur, für Clavier, Violine und 
Gello. Der erfte Sat beginnt mit einem wahrhaft monumentalen 
Thema, und führt es breit und behaglich, mitunter großartig 
duch. Im Berlauf wird der mufifaliihe Auffhwung immer 
empfindlicher durch die unbequeme, an zahllofe Aeußerlichkeiten 
gefnüpfte Form eines ſolchen Dreiconcert3 herabgedrüdt. Das 
Finale hat nur noch einzelne ſchwungvolle Stellen, wie das 
Bolero-Motiv (»⸗Ich verſprach Dir einmal fpanifch zu fommen«); 
das Meifte darin ift »A la mode-Mufif«, jehr umständlich, 
redſelig und reichlich behängt mit veraltetem Flitter. Die gleiche 
Entſtehungszeit und unmittelbare Nachbarſchaft dieſes jehr um: 
erheblichen Concerts (op. 56) mit Beethoven's großartigiten 
Schöpfungen, der Eroica, der Sonata appassionata und der 
Razumomwösfy’fhen Duartetten- Trilogie erjcheint mwunderlich 
genug. 


Virtuoſen. 


Wir hatten bereits oft Gelegenheit, die Virtuoſität Karl 
Tauſig's anzuerkennen. Daß wir noch im verfloffenen Jahre 
diefe Wunder der Technik mit äfthetiichen Barbareien aller Art 
gemengt hinnehmen mußten, zwiſchen Bewunderung und Abjcheu 
gleihlam hin- und hergeworfen, wurde nicht verſchwiegen. Herrn 
Taufig’3 jüngftes Concert im Redoutenſaal machte und jchon 


Karl Tauiig. 361 


eine DBerfeinerung und Abklärung feines Vortrags un: 
zweifelhaft. Diele von uns mit aufrichtiger Freude begrüßte 
Wahrnehmung fand eine noch weitere Betätigung in Herrn 
Tauſig's jüngiter Production. Es haben nicht nur die grellen 
Heußerlichkeiten feines Spield fi ſehr gemildert, aud) jene 
jouveräne Genialität, die mit dem Kunſtwerke blafirt und vor: 
nehm jpielt, es der eigenen Laune beliebig anpafjend, ift einer 
erniteren Auffaffung gewichen. Daß fih Herr Taufig von dieſen 
zum Theil an der Schule haftenden Ercentricitäten vollftändig 
freigemacht, ift weder zu behaupten, noch war es zu hoffen. 
Geltener als im verfloffenen Jahre, aber doch noch zu häufig 
drängten zwei Gewohnheiten Tanfig’3 fih vor: der zu häufige 
Pedalgebrauh und das gewaltjame Herausftechen einzelner 
Töne. Er eröffnete jein Concert mit Chopin's jelten gehörter 
B-moll-Sonate op. 4. Kann man diejfe Koppelung von vier 
verichiedenen Clavierpiecen faum al& Sonate anerfennen, io 
gehört fie doch zu Chopin's eigenthümlichiten und intereflanteften 
Stüden. Nicht zu feinen beiten, denn dieſe bewegen fich aus— 
ichlieglih in den knappen Formen der Mazurka, des Notturno, 
der Etude. In den weiten Hallen der Concert: und Sonaten— 
form (Chopin jchrieb zwei Concerte, vier Sonaten, ein Trio) 
fühlt ih Chopin nicht heimiſch, es geht ihm darin ähnlich wie 
jeinem Ascendenten Field und den Descendenten Stephan 
Heller und Henjelt. Aus der B-moll-Sonate hat nur der 
Trauermarfch Verbreitung gefunden, deſſen Klänge auch Chopin’s 
Leiche nah) Pere Lachaiſe geleiteten. 

Tauſig jpielte die Sonate fehr virtuos, aber ungleid im 
Ausdrud, am beiten das Scerzo; im Trauermarſch ftörte das 
conjequente Nachichlagen der Melodie nah den Baßnoten, mit 
denen jie zufammenfallen fol. Das unglaublich Schwierige Finale 
jpielte Herr Taufig in denkbar rafcheftem Tempo, mit einer 
Gleichheit und Genauigkeit, als wenn Eine Hand es durch— 
führte. Dies dämoniſche Stüd, mit feiner and Irre ftreifenden 
Lebhaftigfeit, konnte faum einen anderen Gindrud als den der 
Befremdung machen; ein leichtes Markiren der eriten Note, 
von zwei zu drei, wenigſtens von vier zu vier Taften, hätte 
immerhin einiges Licht in dies fluthende Dunkel gebracht. Fr 


362 1864. 


die Wahl der Chopin’ihen Sonate und der »Symphonifcden 
Etudene von Schumann find wir Herrn Taufig aufrichtig 
dankbar; es ift doch die eigentliche, wahre Aufgabe einer aus— 
nahmsweiſen Virtuoſität, und bedeutende Compofitionen zum 
Verſtändniß zu bringen, deren große Schwierigkeiten dem ge— 
wöhnlichen »guten Spieler« unbezwinglich entgegenstehen. Die 
»Etudes symphoniques«e (op. 13) heißen gegenwärtig in der 
zweiten Auflage »Etudes en forme de Variations«; wir lieben 
fie mehr unter dem alten als unter dem neuen Titel. Die 
Etuden gehören zu den originelliten, geiltvollften Schöpfungen 
Schumann’, und zu dem Bedeutenditen, was unter Beethoven's 
Einfluß für die Erweiterung und Befeelung der Variationenform 
geichehen ift. Das eigentlich Etudenmäßige, die Durchführung 
einer ſchwierigen Figur, tritt nur bei wenigen in den Vorder— 
grund, jo in der reizenden dritten Nummer, in dem Canon 
(Nr. 4). Im Ganzen hat und Taufig’3 Vortrag der Schumann 
ihen Etuden weniger befriedigt, als feine übrigen Productionen; 
etwas Ungemüthliches, verftändig Kalte Tiegt überhaupt in 
Taufig’3 Spiel; in Schumann’fhen Compofitionen tritt e8 am 
empfindlichiten hervor. Wir Haben die »Symphoniſchen Etuden« 
von Clara Schumann und Brahms weniger virtuos, aber 
viel poetiicher und eindringlicher vortragen hören. Ganz ums 
vergleichlich jpielt Taufig dafür die eigentlichen Bravourſtücke: 
zwei »Balljcenen« von Rubinftein, eine zweite Nummer feiner 
eigenen »Nouvelles Soirees de Vienne« (nad Strauß’ichen 
MWalzern), endlih Liſzt's vierte »Ungariihe Nhapfodie«. Für 
Liſzt's ungariihe Rhapſodien hatte ich ftet3 eine heimliche 
Schwäche. Sie find zwar, dreizehn an der Zahl, jehr ungleich 
im Werth, manche Höchtt bizarr und Außerlih. Allein in jeder 
einzelnen ſteckt ein Stück reizend wilder Naturpvefie, und im 
Zujammenhang betrachtet, bilden fie ein merfwürdiges Ganzes, 
in welchem die Gigenthümlichfeit der nationellen Zigeuner: 
Melodien mit Liſzt's glänzenditen laviereinfällen mitunter 
wunderbar verwächſt. Liſzt Iegte in dieſe Reihe feiner Rhap— 
jodien die dee eines »Zigeuner-Epos«, wie e3 die Volf, 
da3 in all feinem Thun einer ungewohnten, ungebräudhlichen 
Weiſe folgt, in einer ungewohnten, ungebräuhliden Sprade 


Taufig. Liſzt. 363 


und Form gejungen hat«. Liſzt's Buch »Des Boh@miens et de 
leur musique en Hongrie« iſt befanntlih nur eine in Worten 
breit ausgeführte Erklärung und Trandfeription de3 Inhalts 
feiner »Rhapjodien«. 

Liſzt's »Concert-Solo« entfeflelte alle Mächte der 
Taufig’ihen PBirtuofität, gute und böje Dämonen. Diefe Com: 
pofition ijt ein wahres Muſeum der jeltenften Schwierigfeiten 
aller Art; Herr Taufig befiegte fie ſämmtlich mit erjtaunlicher 
Sicherheit und Kraft. Das Stück intereffirt durch einzelne geiſt— 
reihe Züge und Gombinationen, die aber gegen die Unergquid- 
lichkeit des Ganzen nicht auffommen fönnen. Unichönes und 
Dizarres drängt ſich jo dicht in dieſem Concertjolo, daß man 
mitunter auf den Verdacht fommen könnte, der Spieler wolle 
ſich vielleiht doch nur einen Spaß machen. Wir ziehen die 
fleinite Transfeription von Liſzt diefer jelbititändigen Unmufit 
vor. Herr Taufig zeigt ung übrigens feinen Meifter auch von 
dejien liebenswürdigiter Seite, durh den Vortrag von Nr. 6 
der »Soiréé de Vienne«e,. Die Gapricciod, welche Lilzt unter 
diejem Gejammttitel über Schubert’ihe Walzerthemen jchrieb, 
gehören zu dem Anmuthigiten und Glänzenditen unjerer con= 
certanten Glaviermufif. Die reizenden Melodien Schubert’s mit 
ihrem weichen, herzlihen Ton und Liſzt's reiche, gligernde 
Ornamentif vereinigen fich hier zu eigenthümlichen, anmuthigen 
Bildern aus dem Balljaal, deren aufgeregte Sinnlichkeit allen= 
fall3 auch einiges muſikaliſche Cancaniren verträgt, Liſzt's Be: 
arbeitungen der Schubert’ihen Tänze haben Herrn Tauſig 
angeregt, in ähnlicher Weile einige Walzer von Johann Strauß 
zu illuftriven. Wir finden die Idee dieſer » Nouvelles Soirde de 
Vienne« (e3 find deren drei Hefte bei Karl Hadlinger er: 
ſchienen) jehr glüdlih. Die Walzerthemen jelbit find uns liebe 
alte Bekannte, und Tauſig's Bearbeitung läßt an glänzendem 
Effect nichts zu wünſchen übrig. Das Vorbild Liſzt's, dem ſie 
auch gewidmet find, blidt aus den Trandicriptionen unver: 
fennbar; Tauſig jcheint von feinem Meifter den feinen Sinn 
für den Clavier:Effect geerbt zu haben, zugleich) allerdings auch 
deſſen Vorliebe für Gewaltſames und Bizarre. Es ijt mit: 
unter wunderlid, was für Baradora er aus Strauß’ lieblich 


364 1864. 


einfachen Themen deducirt; ordentlich zuſchauen kann man, wie er 
dem theuern Meiiter Johann hier und dort die »Milch der 
frommen Denkungsart in gährend Dradengift verwandelt«. 
Immerhin nehmen Taufig’3 » Strauß-Soireen« unter den neuejten 
Bravourftüden einen vorzüglihen Plaß ein, und mer fie zu 
bewältigen vermag wie Herr Taufig, kann der gleihen Wirkung 
fiher jein. — Befonderd dankbar waren wir dem Concertgeber 
für die Öffentlich fo felten gehörte Sonate von Beethoven 
»Les adieux, l’absence et le retvur« (op. 81), deren ungemeine 
Schönheiten (inöbejondere der beiden erjten Süße) wir ohne 
die zwingende Heberfchrift vielleicht noch reiner genießen würden. 
Der dritte Sag ift eine der glänzendften Aufgaben für den 
Virtuofen, und ob diefer mehr als blos Birtuofe jet, fann er 
in den beiden erften Stüden vollftändig darthun. Herr Taufig 
fpielte die Sonate mit männlicher Energie und großem rhyth— 
miihen Zug; daß fein Spiel mehr glänzt als erwärmt und 
rührt, erfuhren wir demungeachtet auch hier. Die berühmte Stelle 
im erſten Sab, wo Beethoven (um den Abſchied zweier Ber: 
onen anzudeuten) viermal nad) einander Dominante und Tonica 
zugleich anjchlägt, hat Herr Taufig im Vortrag gemildert, nicht 
geihärft, was und eine angenehme Ueberraſchung war. Für 
den Schlußeffect hatte der Concertgeber ſich eine Clavier— 
Trandfcription des »Walfüren-Rittes« von Rihard Wagner 
aufgeipart, auf welchen auserwählten Leckerbiſſen die Anſchlag— 
zettel auch ganz beſonders aufmerkſam gemacht hatten. Die 
wahrhaft demagogiihe Gewalt, mit welcher die glänzend in- 
ftrumentirte Orcefterftüd die Maffen padt, geht in der Clavier— 
bearbeitung gänzlich verloren. Man hört nichts als die dröhnend 
aus der Tiefe herausgeftochenen Noten des Themas und ein 
wildes Charivari darüber her. Das Publicum, das die vorher: 
gehenden Nummern mit außerordentlichem Beifall aufgenommen 
hatte, fhien an dem »Walküren-Ritt« fein Gefallen zu finden. 
65 war falt betroffen. Daß das Unternehmen diefer Trans- 
jeription felbft einem Virtuoſen wie Taufig mißlingen mußte, 
war vorauszufehen. Was er geleitet hat, grenzte allerdings ans 
Unmögliche; wir hätten gewünfcht, e$ wäre ganz unmöglich ge= 
tvefen. Fräulein Deftinn fang zwei Lieder von Lijzt, (Lieder 


Ernft Bauer. 365 


von Liſzt Elingt Schon wie ein Widerſpruch), dramatiſche Aus: 
renfungen einfacher Heine'ſcher Gedichte, arm an Erfindung, 
reih an Declamationsfehlern ärgfter Art. 

Als eine der liebenswürdigften Erfcheinungen der dies: 
jährigen Concertſaiſon dürfen wir den Pianiſten Herrn Ernit 
Bauer bezeihnen. Wie Pauer als Juror bei der Londoner 
Weltausstellung die Tonkunſt in ihren materiellen Werkzeugen 
ihügte, jo hat er lange zuvor für deren ideale Ziele geitrebt 
und gearbeitet. Durch Anleitung und Beiſpiel, ald Lehrer und 
Virtuoſe, hat Pauer ſeit zwölf Jahren in England die jegend- 
reihiten Keime deutihen Mufiffinnes gepflanzt. Man weiſt ung 
Deutihen mit Recht die geiltige Miſſion zu, »Cultur nad 
Diten zu tragene, — der deutihe Mufifer muß auch noch für 
ein gutes Stüd Weſten forgen. In England liegen wichtige 
Streden muſikaliſcher Bildung noch hinreichend unbebaut, um 
deutſchen Miffionären vollauf zu thun zu geben. Pauer tft 
ein ſolcher Miſſionär befter Sorte: erfter Baftor der deuticher Ton: 
funft in London, hat er unzählige Ladies und Gentlemen muſi— 
faliih getauft und confirmirt. Für die deutſche Muſik in London 
war es von heilfamiter Wirkung, daß Pauer durch feine Kennt- 
niſſe, feine Thätigfeit und feinen Charakter fih raſch allgemeine 
Autorität erwarb, denn der Engländer iſt autoritätsgläubig. 
Auf die Autorität von Pauer's »Hiftorifchen Concerten« bin 
haben fih nicht wenige Dilettanten in London mit Bach, Beet: 
hoven, Schumann befreundet. An dies Alles dürfen und müffen 
wir hier füglich erinnern, denn an die8 Alles dachte wohl 
der Schöne Kreis von Zuhörern, als Sonntag Mittag? 
die Schlanke Grenadiergeftalt mit dem treuherzigen Bli und 
dem freundlichen Lächeln vortrat, die vor fo und fo viel Jahren 
als »Ernftl Pauer« von hier in die weite Welt gezogen war. 
Mir haben feinerzeit Pauer’3 Leiftungen gewürdigt und fünnen 
nur hinzufügen, daß fih fein Spiel noch mehr confolidirt, ges 
glättet und verfeinert hat. »Geflärt« kann man nicht jagen, 
denn Pauer gehört zu jenen glüclichen Naturen, deren Anlagen 
und Triebe von Haus aus in harmoniihem Ebenmaß ftehen, 
deren Entwidlung ohne vulfaniiche Proceſſe, ohme verwirrende 
Trübung vor fih geht. Klar, reinlich, überzeugend, nicht mit 


366 1864. 


hinreißender Gewalt, aber mit gemwinnenditer Anmuth ſpricht 
fein Spiel zum Hörer. Es ift ftet® in maßvolle Empfindung 
getaucht, die zwar den höchſten Aufflug nicht wagt, aber für 
das Kräftige wie für das Liebliche den rechten Ausdrud hat. 
Ueber allem, was Bauer unternimmt, ſchwebt der Geift ficheren 
Gelingens, die Feſtigkeit erprobter Kunftanfchauung, der Froh— 
finn eines mwohlbeitellten Gemüths. 

Bon Herrn Julius Epftein hörten wir drei große ſym— 
phonifche Eoncert:Gompofitionen von Seb. Bad, Mozart und 
Schumann Seb. Bad’ von Streich-nftrunenten be— 
gleitete® Concert in D-dur gehört zu den anmuthigiten und 
ſinnreichſten Glavier-Gompofitionen des großen Meifters. Die 
ideenreihen Tonipiele des erften Saßes, die ganze eigenthüm— 
lich weiche, gegen den Schluß geradezu romantiihe Färbung 
des Andante, die lebensvolle fnappe Rhythmik des Finale 
wirken, jedes für ſich und als beziehungspolle Theile eines 
organiihen Ganzen, entzüdend. Es iſt nicht zu leugnen, daß 
nah diefem Badh’ihen Concert das Mozart'ſche in F-dur 
eine erſchwerte Stellung hatte, fo jehr diefem der Klangreichthum 
des ganzen Orcheſters und der melodiöſe, überwiegend homo— 
phone Fluß des neueren Inſtrumentalſtyls zu ftatten fam. In 
vielen Momenten reizend durch feinen Blüthenſchmuck, erichien 
es doch in andern neben dem viel älteren Bach — veraltet. 
Dad Concert ift 1784 in Mien componirt und wurde bon 
Mozart bei den Krönungsfeftlichkeiten Leopolds II. in Frankfurt 
gejpielt. Der erite Satz, deſſen marfirtes Hauptthema mit einer 
Art Humoriftiiher Würde fih aus dem einfahen Aufiprung von 
der Tonica in die Dominante aufbaut, benüßt dies Motiv jehr 
glüklih und ift troß einiger Längen von feitlihem, Tebhaften 
Eindrud. Die beiden folgenden Süße halten fich nit auf gleicher 
Höhe. Das »Mllegretto« (ed wurde viel langjamer genommen 
als dieje Bezeichnung vermuthen ließ) ift echt Mozart'ſcher 
blauer Himmel, aber fo gänzlich unbewölft und unbewegt, daß 
er und fat langweilig wird. Wir Kinder einer unruhigeren und 
nachdenklicheren Zeit, für welde Beethoven den Baum der 
Erkenntniß geplündert hat, fühlen uns von der langen Dauer 
einer jo füßen, einförmigen Zufriedenheit beängitigt; unſer Ohr 


Epftein. Derffel. Bendel. 367 


wird undankbar wie Heine's Tannhäuſer und »jchmachtet nach 
Bitternifien«. 

Schumann’ Eoncertitiid (op. 52) » Introduction et Allegro 
appassionato« obwohl nicht in der vorderſten Reihe von Schumann's 
Merken ftehend, wirft überaus anziehend, häufig feſſelnd durch das 
eigenthümlich ſchöne Halbdunfel der Stimmung, überall an 
regend durch geiſtvolle Wendungen und Einfälle Die langſame 
»Introduction« (G-dur) hindurd bewegt fih das Klavier fort- 
während in breiten Arpeggien, über welchen in langgezogenen 
Tönen abwechſelnd das Horn, die Klarinette, die Trompete 
(pianissimo) die Melodie anftimmen. Das »Allegro«, E-moll, 
ichließt jich mit einem fräftigen Thema an, defjen zweiten Theil 
eine jener leidenfchaftlih aufraufchenden Clavierpafiagen bildet, 
die Shumann fo eigenthümlich find. Das Ganze ift wirkungs— 
voll, aus Einem Guß, mitunter allerdings etwas an Mendels- 
ſohn's H-moll-Gapriccio und G-moll-Eoncert erinnernd. 

Herr Derffel jpielte unter anderm E.M.Weber’3 Clavier— 
Quartett, dad allerdings auch für jeden andern Concertgeber 
feine glüdlihe Wahl geweſen wäre. Nicht bald iſt uns eine 
größere Inftrumental-Compolition auß neuerer Zeit und von 
fo vornehmer Herkunft in ſolchem Grad veraltet und über: 
wunden vorgelommen.. Wenn jemand das Quartett zum erſten— 
mal gehört hätte, er würde fi nur ſchwer überredet haben, 
eine Compofition, und zwar eine ſehr gefeierte, desjelben 
Meiſters vor fich zu haben, deifen wahrhaft geniale Opern in 
ungebrochener Jugendfrifche noch heute auf allen Bühnen leben. 

Ungleih geringere Befriedigung als Die Concerte 
Epftein’3 und Derffel’d gab uns die Production eines 
dritten Pianiften, der gleihwohl die beiden erjtgenannten an 
virtuofer Technik entichieden überragte. Herr Bendel gab 
ein viertes Concert mit der Tendenz, fih als Tondidter, 
und zwar vorzüglih in größeren Formen, vorzuführen; wir 
hörten den ganzen Abend Hindurh nur Bendel’ihe Com: 
pofitionen. Schon in Herrn Bendel's eritem Concert gab 
und die »Sonate mit Biolinbegleitunge Anlaß, an feiner 
ichöpferiihen Begabung zu zweifeln Wir anerkannten 
zwar den lobenswerthen Ernſt der Richtung und die Ver: 


368 1884. 


meidung alles blos Virtuoſenhaften, vermißten aber die eigen— 
thümliche, individuelle Phyſiognomie, welche durh die jtarf 
hervortretende Anftrengung, bedeutend zu jein, keineswegs erreicht 
oder erſetzt erichien. Die von Herrn Bendel vorgeführten 
größeren Gompofitionen haben uns in dieſer lleberzeugung voll— 
ſtändig befräftigt; was fie neues hinzufügten, fällt nur belajtend 
in die Wagichale der Negation. Wir hörten von Herrn Bendel’s 
Compoſitionen (außer drei Xiedern) ein »Coneert symphonique« 
für Glavier und Ordefter, das Kyrie aus einer »Missa 
solennis«, endlich einen Felt: und Huldigungsmarſch »Kümitler- 
weihe«e. Den in fih unklaren, wideripruchevollen Styl aller 
diefer Werke erflären wir uns dadurch, daß hier eine mittel- 
mäßige Begabung fih frampfhaft an dem Wagen Lijzt’3 und 
Magner’3 feitzuhalten und hinaufzuſchwingen ſucht. Manches 
Motiv, namentlich aus dem Concert, Elingt recht hübſch und 
war nicht übel zu einem Eleinern, anſpruchsloſen Clavierſtück 
zu verwenden; allein der Componiſt will durchaus größer 
icheinen, als er gewachſen ilt. Das macht nun den peinlichen 
Eindrud eines fortwährenden Redens und Dehnens; alle Inner— 
fihfeit und Sammlung geht darüber verloren. Das »Sym— 
phoniiche Goncert«e bewegt fih anfangs ganz im dem une 
muſikaliſch rhetoriichen, bedeutungsvoll zerhadten Styl Wagner’s 
und Liſzt's; an das Adagio Ichließt ſich nichtsdeſtoweniger ein 
reiner Bravourwalzer. Das Finale beginnt als Mari, hetzt 
dann dämoniſche und idylliiche Elemente wunderlich gegen ein- 
ander und ſchließt in rein äußerlichem Polkaglanz. Die 
effectvolle Behandlung des Glavierpartes verleiht übrigens 
diefem Goncert ein unleugbared, wenngleih nebenjächliches 
Interefie, da8 den beiden anderen großen Gompofitionen 
mangelt. In dem »Kyrie« der Meile wechieln fortwährend 
Stellen, die nah einfah kirchlichem Ausdrud ftreben, mit 
Modulations:Erperimenten und Inftrumental-Effecten, welche 
unverändert im »Tannhäufer« oder »Lohengrin- jtehen könnten, 
vielleicht auch wirklich dort ftehen. Verhielt fih dad Publicum 
zu diefen Tondichtungen ziemlich kalt, jo schien es von der 
Schlußnummer, dem »Feſt- und Huldigungsmarich«, fait abge: 
ftoßen. In der That war dies die bedenflihhite Gabe aus dem 


Harfenconcerte. 369 


mufiftaliihen Fülhorn Herrn Bendel's, und ein jchlimmes 
Dmen wäre es, wenn der Gomponilt in dieſem rohen Effectitüd, 
daß die Faßlichkeit einer Wachtparade mit der Prätenjion eines 
erhabenen Myſteriums verbindet, wirklich erbliden jollte, was 
er in der Ueberſchrift außipriht: eine »Künſtlerweihe«! 
MWir zählen gewiß nicht zu den Verehrern des Tondichters 
Liſzt; wenn aber ein hieſiges Blatt behauptet, Herr Bendel 
habe alle Vorzüge Liſzt's, ohne defjen Fehler, jo mußten wir 
feierlichit gegen eine folche Abihägung Liſzt's proteitiren. 
Dasjelbe Blatt erzählt uns, daß Liſzt beim Anhören des 
Bendel’ihen »Huldigungsmariches« (zu Liſzt's 50. Geburtöfeft 
componirt) ſich darin wie in einem »muſikaliſchen Porträt« erfannt 
und laut ausgerufen habe: »Ja wohl, das bin ih!« Diele 
eritaunliche Begebenheit ift von folder Bedeutung, daß wir fie 
nur noch durch die genaue Angabe vervollitändigt wünjchten, 
nad dem wievielten Toaſt Liſzt diefen Ausfpruch gethan, 
und ob er ih auch am folgenden Morgen noch in demjelben 
Spiegel erkannt habe. 

Zwei Harfenconcerte fanden jüngit in einer Mode ftatt. 
Unwilltürlich fiel uns die Bibelitelle ein: »Ich haffe eure Feite, 
das Spiel eurer Harfen mag ich nicht hören«. (Amos 5, 21.) 
Die beiden Rivalen, Herr Jamara und Herr Dubeg, find 
zwar anerfannte Virtuoſen auf ihrem Inftrumente, aber das 
Inſtrument jelbit iſt fein rechter VBirtuofe. Die wahre Miſſion 
diefes altehrwiürdigen Organes bleibt denn doch immer bie 
Begleitung des Gelanged, außerdem gebührt ihm im Orcheiter 
eine charakteriitiihe Stelle, deren Wirkſamkeit in neuerer Zeit 
Berlioz gleihjam neu entdedt hat. Getrennt vom Gejang und 
von der ftügenden Grundlage des Orcheſters oder eines anderen 
begleitenden Inſtruments, allein auf ihre eigenen Tpärlichen 
Mittel gewiefen, wird die Harfe immer auf ein engites Feld 
muſikaliſchen Ausdruds gebannt jein. Will fie dieſes Feld über: 
fchreiten, in dem Gebiet anderer Inſtrumente colonijiren — 
wie das zu Goncertzweden gar nicht zu vermeiden iſt, — jo 
tritt ihre Unzulänglichkeit nur um jo greller hervor. Töne, die 
nur duch Nupfen und Reißen von Saiten erzeugt werden, 
geitatten feinen gebundenen Gejang. Immer wieder auf ihre 

Hanslid, Aus den Goncertiaale. 2. Aufl. 24 


370 1864. 


urjprünglihde Domäne, die Arpeggien, zurücdgedrängt, wirft Die 
Harfe ald Solo-Inſtrument jehr bald monoton; ihr glänzen 
der, rauichender Ton kann die feelenlofe, kalte Phyſiognomie 
nicht verleugnen. Auch Herr Dubetz, der ohne alle Begleitung 
jpielte, machte dieje Erfahrung. Das von ihm vorgetragene 
Mendelsſohn'ſche »Lied ohne Worte« heftet an die Spike 
arpeggirender Accorde eine gebundene fingende Melodie; Die 
Harfe gab die Arpeggien prächtig wieder, verjagte aber den 
Gejang. Den türfiihen Marſch aus den »Ruinen von Athen« 
beeinträchtigte ein anderer Punkt, an dem die Harfe fterblich 
it: die Schwäche und Unflarheit der tiefen Baßjaiten; die ftaf- 
firte Melodie fiel wie in luſtig gligernden Tropfen herab, allein 
der Baß wankte und ſchwankte darunter, wie es marjchirenden 
Soldaten, und ſeien es jelbit Türken, nicht geziemt. Den beiten 
Effect machte jedenfall der befannte »Sylphentanz« von God e= 
froi, ein für die Harfe gedachtes und geichriebene® Bra= 
vourſtück. 


Alois Ander (F 12. December 1864). 


Der Trauerglodenton, der in dieſem Augenblid die Be— 
erdigung Ander's verfündigt, widerhallt tief und jchmerzlich in 
jeder Bruft. Man darf kühn behaupten, daß daS Leidweſen um 
den vortrefflichen Künftler und liebenswerthen Menſchen in Wien 
ein allgemeines ſei. Nicht einmal Staudigl’3, des Vielver— 
ehrten, Heimgang traf in ſolchem Grad Ichmerzlich und beftürzend; 
der Tod hatte ihn mit Stumpfer Senje langſam zu Ende ge= 
bradt, nachdem er der Kunjt und dem Leben längft verloren 
war. Ander Hingegen, den viel jüngeren Mann, hörten wir 
noh dor wenig Wochen in feiner Lieblingsrolle und jahen ihn 
guten Vertrauens die Neife nach dem heilkräftigen Warten: 
berg antreten. Die Nachricht von jeinem Tod fonnte nicht 
unerwarteter fein. Die perfönliche, faſt familienhaft herzliche Zus 
neigung, die das Wiener Bublicum von jeher für feine Theater: 
Lieblinge hegt — ein traditioneller Charafterzug — war Ander 
in einem ganz befonderem Grade zugewendet, in einer Allgemein: 


Alois Ander +. 371 


heit und Wärme, wie fi deren nur die größten, mit Wien 
am längiten verwachjenen Kimftler des Burgtheater rühmen 
fönnen. Ander hatte in Wien jeine Garriere begonnen, feinen 
Ruhm begründet, die Wiener hatten ihn gleichſam -entdedt und 
erfunden, fie haben ihn ununterbrochen und ausſchließlich be— 
jeilen, ald einen der Ihrigen großgezogen, geliebt und ver— 
hätichelt. 

Den Freunden des Kärntnerthor-Theater ift der Abend 
de3 22. October 1845 noch wohl erinnerlih, an welchem Ander 
zum eritenmal die Bühne betrat. Ander’3 jchöner Tenor war 
in Eleineren Gejellichaftöfreifen und im »Männergefangverein« 
befannt geworden; Stimme, Intelligenz und eine ſehr ein— 
nehmende Erjcheinung wiejen ihm den Weg zur Bühne Dem 
energiichen und gewichtigen Einfluß des Ober-Regiſſeurs Franz 
Wild gelang es, Auder zum Debut zu verhelfen. Die leifen 
Befürchtungen einiger Freunde, wie das Wagſtück des noch un- 
geſchulten, incorrect außiprechenden, gänzlich theaterfremden Ander 
ausfallen werde, ihlug Wild mit dem Ausruf nieder: »Ich 
jage euch, daß, jeit Wild aufgehört hat zu fingen (fich felber 
jegte er bekanntlich immer an die Spige), Wien zum eritenmal 
in Ander wieder einen großen dramatifhen Tenor befommt«. 
Ander’3 Debut ald »Stradella« war ein Greigniß, mie es 
jelten in den Annalen eines Hoftheaterd vorfommt. Ein jchüd)- 
terner, junger Dann, der fih noch auf feiner Bühne verfucht 
hatte, der weder von weit her kam, noch daheim auf der Leiter 
fleiner Nebenrollen emporgeflettert war — er eridien auf dem 
f. £. Hofoperntheater gleih in einer Hauptrolle ald Träger 
einer neuen Oper. Der günftige Erfolg des Abends war ein 
enticheidender und Ander jeither — dur 20 Jahre — der 
Liebling des Wiener Publicums. Seine nächſten Aufgaben 
bildeten gleichfalls Iyrifche Partien der deutſchen Oper, ein 
Gebiet, auf welchem unjer Sänger ſtets feine liebenswürdigiten 
Vorzüge entfaltet hat: Konrad in »Hans Heiling«e, Hugo in 
Spohr's »Fauft«, Nadori in Seffonda«, Jvanhoe in » Templer 
und Jüdin« u. f. w. Schon dieſe eriten Bühnenichöpfungen 
Ander’3 machten den wohlthuendſten Eindriud, Seine Stimme 


blendete nicht durch) Energie oder Größe, gewann aber um jo 
24% 


372 1864. 


fiherer durh Schmelz und jugendliche Weichheit. Diejes blühend 
Ihöne Organ, dem allerdings noch die methodiihe Schulung 
mangelte und das einen leifen Nafalbeillang nie ganz verlor, 
behandelte .der junge Sänger damald ſchon mit eritanmlicher 
Leichtigkeit und Freiheit. Dabei Leuchtete jein dramatiſches Talent, 
das fih in den folgenden Jahren nod zu ungleicd) größerer 
Bedeutung entwidelte, bereitS in jenen eriten Rollen unverkenn— 
bar durch. Mit der Höhe feiner Erfolge ftieg auch Ander’s Fleiß 
und Kunſtſtreben. Als jeine eigentlichen, jedenfall bedeutenditen 
Lehrer dürfen wir wohl die Haſſelt und Wild anfehen, 
welche ihm beim Ginftudiren der Partien ummittelbar an die 
Hand gingen. Mit gleichem Eifer arbeitete Ander an feiner 
ziemlich dirftigen allgemeinen Bildung. Er erzählte ſelbſt in 
ipäteren Jahren lächelnd, wie er damals anitatt aller anderen 
Hülfsbücher ein Converſations-Lexikon faufte und es von An— 
fang an durchzuleien begann. Sn feine vollite, reichite Blüthe 
trat Ander mit Meyerbeer's »Prophetene. Er Hatte die ans 
ftrengende, aus den widerftrebenditen Glementen zufammen: 
gejeßte Rolle mit poetiihem Geiſt geitaltet, in Spiel und Ges 
fang meifterhaft durchgeführt. Sie war es, die ihm auch auf 
auswärtigen Bühnen große Erfolge und das unbeftrittene An— 
jehen eines der eriten deutichen Sänger erwarb. Die Jahre 1850 
bis 1853 bilden Höhepunft in Ander’3 Laufbahn. Jugend und 
Talent, Ruhm, Gold, Frauengunſt — Alles fein Eigen! Sein 
Leben glich einer Blume, die ſich auseinanderfaltet. 

Ander’3 Stimme hatte noch nichts von ihrem jugendlichen 
Schmelz und Wohllaut eingebüßt und war an Kraft und Aus: 
dauer gewachſen. Der Zug edler, ritterlicher Männlichkeit bildete 
fich immer jchöner und beitimmter aus; jelbit in den zarteften 
Iyriichen Bartien, wie Nadori, Tamino, Gennaro, Arthur ver: 
fiel er nicht in fpielende Weichlichkeit. Seine poetiihen Schöpfungen 
breiteten fih num in reichem Kranz um den »Propheten« aus: 
Raoul in den »Hugenotten«, Arnold im »Tell«, Edgar in 
der »Lucia von Lammermoor«, Adolar in »Euryanthe«. Sie 
zählen zu unseren fchöniten Erinnerungen. Der ganze Zauber 
von Ander’s PVerfönlichkeit war darüber gebreitet und nahm 
jeden Hörer willenlo8 gefangen. Zum eritenmal erlebten wir 


Alois Ander F. 373 


in den gedachten Rollen mehr als eine blos mufifaliihe Aus: 
füllung der Partie; Gejtalten von hinreißender Lebenswahrheit 
itanden vor und, mir liebten und haften, verzweifelten und 
jubelten mit ihnen. Dan denfe an Raoul's Eintreten bei Valen— 
tine und das erichütternde Liebesdueit, an die geheimnißtrunfene 
jüße Beklommenheit Nadori’s, an Edgar’ Fluh und vor 
Allem an das große Terzett in »Wilhelm Tell«. Noch nie 
haben wir fo unmittelbar das tieffte Gefühl der Seele aus: 
jingen hören. Der Ton war bier unendlich mehr, als das 
funstreiche, wohlgeichulte Inftrument des Mufifers, er war der 
durhlichtige Xeib der edeliten Empfindung. Wir haben in dieſen 
Rollen fiegreichere Organe und gejchultere Geſangskünſtler ge— 
hört, aber einer jo freien, harmonischen, aus ſich jelbit hervor: 
blühenden Leiftung begegnen wir faum wieder. 

Es lag etwas Näthielhaftes in Ander’3 Gewalt über das 
Rublicum. Weder feine Stimme, noch weniger deren technijche 
Ausbildung waren von ungewöhnlihem Glanz; e3 fangen neben 
ihm deutiche und italieniihe Sänger, die ihn in beiden Stüden 
entichieden überragten. Und dennoch wußte Ander in einer Weile 
zu rühren und zu fefleln, wie es feinem jeiner Rivalen in Wien 
gelang. Das Seelenhafte im Klang feiner Stimme, ſtets 
ausitrömend in edlem, jchönem Ausdruck und überall getragen 
von echt dramatiichen, lebenswahrem Spiel, erklärt dieie Ge— 
walt. Ander's jchaufpieleriiche Begabung verlieh ihm ein außer: 
ordentliche Webergewicht über die meilten feiner Rivalen und 
Gollegen. Er war als Dariteller jo wenig wie al® Sänger 
der Dann der überrafchenden Effecte, der auögeflügelten 
Pointen, der raffinirten Contrafte; jein Spiel lebte, ohne zu 
falicher Selbitjtändigfeit fi vorzudrängen, in charafterpoller, 
harmonijcher Einheit mit und in dem Gejang. Stets war es 
ein wirklicher Charakter, den er mit fiherem Blick erfaßte und 
in fein gezeichnetem Fortichritt entwidelte. Ander nahm es jehr 
ernit mit dem dramatiihen Theil jeiner Aufgaben; über die 
Seihichte Johann's von Leyden und anderer Bühnenhelden war 
er informirt wie der beite Hiftorifer. Das Enticheidende in 
Ander’3 Leiitungen blieb aber ſtets das Harmoniiche, Edle des 
Gejammteindruds, die quellende Gmpfindung und Liebens- 


374 1864. 


würdigfeit, die ihn nie und nirgends verließ, die jede Vor— 
ftellung, in der er mitgewirkt, fofort adelte und ihn ganz 
eigentlih al® den Poeten unter unferen Sängern hingeftellt 
hat. ALS Goncertfänger wählte Ander am liebiten Beethoven's 
»Adelaide«, die er mit ſchwärmeriſcher Empfindung fang. 

Im Jahre 1853 traf Ander’s Gefundheit der erfte Stoß: 
ein durch allzugroße Anitrengung herborgerufener Blutſturz. 
Eine berühmte mediciniihe Autorität in Wien, deren Todes- 
urtheile zum Glüd nicht immer tödtlid find, machte für alle 
Zukunft das Kreuz über Ander’s Stimme. Demungeachtet trat 
Ander nah mehrmonatlicher Krankheit unter unendlichem Kubel 
als Lyonel in der »Martha« wieder auf. Der »Markt zu Rich— 
monde war vom Publicum in einen förmlihen Blumenmarft 
verwandelt, und das Tiichhen, an dem Ander mit Staudigl 
aß, bog fih unter der Laft von Kränzen und Blumenfträußen. 
Anders Stimme hatte in der mittleren und tiefen Lage faum 
gelitten, nur die Höhe zeigte nicht mehr ganz die frühere Kraft 
und Leichtigkeit, eine Einbuße, die im Laufe der folgenden Jahre 
noch merfliher hervortrat. Die zweite Hälfte der Fünfziger 
Fahre zierte noch eine Reihe der ſchönſten Gaben Ander’s. 
Ja eine feiner berühmteiten und bedeutenditen Gejtalten fällt 
in diefe Zeit: Wagner's »Lohengrin«, eine Leiltung, die für Die 
glänzende Aufnahme der Oper enticheidend war und in gewiſſem 
Sinn Under’3 »Propheten«-Ruhm in einer Schönen Nachblüthe 
wiederholte. Bon da an wurden leider die Unterbrechungen 
von Ander’3 Thätigkeit häufiger und länger. In den le&ten 
Fahren bradte Ander noch an neuen Rollen: »Tannhäuiere, 
den Herzog in »Nigoletto« (1860), Janko, in den »Sindern 
der Haide« (1861), »Fauſt« von Gounod (1862), endlich den 
Franz Baldung in Offenbach's »NRhein-Niren« (1864), die 
legte und wohl undankbarſte feiner Rollen. Zu Anfang 
diefes Jahres ſchien Ander leidlih gefräftigt; nad Ablauf 
der Sommerferien fühlte er fich aber unfähig, zu fingen, und 
mußte feinen Urlaub immer von neuem verlängern lafjen. Seine 
Stimme war ihm nicht mehr zu Willen und fein Nervenleben 
fo aufgeregt, daß ihn vor jedem Auftreten ein heftiges Fieber 
fhüttelte. Mehrmals geichah es, daß Ander, völlig angekleidet, 


Alois Under F. 375 


im enticheidenden Moment nicht vor die Lampen treten wollte 
und der Regiſſeur ihn fürmlih auf die Scene hinausführen 
mußte. Sein Zuftand beichäftigte ihn auf das peinlichite, jede 
Viertelftunde trat er and Clavier und probirte feine Stimme. 
Oft ſuchte er fich jelbittäufchend Muth zu machen, und wir 
hörten ihn in der legten Zeit gar häufig verfichern, er fühle 
fich beiler bei Stimme alö je zuvor. Die böfe, nicht ruhende 
Heberzeugung vom Gegentheil fam dann nur um fo heftiger 
in ihm zu Worte Daß er aber nicht leben könne, ohne zu 
fingen, fühlte Ander Mar und äußerte e8 mehr als einmal. Es 
war vorauszuſehen, Dies Gefäß werde zerfpringen, wenn es nicht 
mehr Elingt. Die tiefe Verftimmung, die Ander’3 nähere Freunde 
jeit zweit Jahren an ihm bemerften, war nicht blos durch phy— 
fiihe Störungen veranlaßt, fondern ebenfofehr durch anhaltende 
Gemüthsaufregungen, welde mit der Kunst nichts zu ſchaffen 
hatten. In dieſen legten zwei Jahren feines Lebens hat Ander 
fein Buch mehr gelejen und fein Bild mehr gemalt — Be: 
ihäftigungen, welche früher einen großen Theil feiner Zeit in 
Anipruch genommen. Die Wände jeiner Zimmer hingen voll 
von jeinen Delgemälden, meiſt Zandichaften, welche bei ziemlich 
incorrecter Zeichnung doch ein ſehr glüdliches Auge für Farben— 
Effect verriethen. 

Ander’3 trauriger Ausgang ift ung in nur zu lebhafter Er— 
innerung. Nach feinem unglüdlichen legten Auftreten als Arnold, 
auf welchem er mit Gewalt bejtand, wurde Ander nad) der Waijer: 
beilanitalt Wartenberg in Böhmen gebradt. Sein Zuftand 
erwies fich bald als hoffnungslos; grauenhafte Nacht ſenkte ſich 
auf fein Bewußtfein und der raſche Tod hat ihn wenigjtens vor 
dem traurigeren Los bewahrt, das Scidjal feines Freundes 
Staudigl zu theilen. Ander's beicheidenen, wohlwollenden Cha= 
after ımd feine, gebildete Sitte brauchen wir faum ausdrüdlic 
zu rühmen — feine Liebenswürdigfeit war jprihwörtlid. Die 
Menſchen alle, die heute die jchneebededten Straßen entlang zu 
Ander's Leichenbegängniß eilen, ihm im Herzen zahlloje Stunden 
der Freude, Rührung und Erhebung dankend, werden aus Einem 
Munde ihm jene Nachrede mweihen, die am Ende der lebte, 
ehrendite Erfolg unserer größten Rolle tft. 





1865. 
Philbarmonifche Concerte. 


Das Orcheſter des Hofoperntheaters gab unter Deſſoff's 
Leitung ein eigenes »Philharmoniſches Concert« für die Er— 
richtung des Schubert-Monuments. Drei von den Orcheſter— 
ſtücken waren den Hörern ſo gut wie neu: zwei Zwiſchenakt— 
Muſiken zu »Roſamunde« und die Ouverture zur 
Oper »Alfons und Eſtrella«. Roſamunde war ein vier— 
aktiges Drama der Frau Hermine v. Chezh, in welchem vieh— 
hütende Prinzeffinnen, fühne Prinzen, gräßlide Tyhrannen, 
Räuber, vergiftete Briefe 2c. vom Zufall weiblich durcheinander: 
gehegt, einen romantischen Unfinn vollführen, den heutzutage 
wohl kaum Jemand verdauen würde Und was veranlaßte 
Franz Schubert zur Gompofition der Chöre, Tänze und 
Zwiſchenakt-Muſiken in diefem Schauerdrama? Ein äußerer zu— 
fälliger Anlaß, Diejelbe » Göttin Gelegenheit«, die ihm zeit- 
lebens die koſtbarſten Schäße entlodte, um damit nur zu oft 
hölzerne Puppen zu ſchmücken. »NRojamunde« war für das 
Theater an der Wien, und zwar zum Benefice der Demoijelle 
M. Neumann (fpäter verehelichten Lukas) beftimmt. Für die 
hübſche Beneftciantin intereffirte fich gar zärtlih Herr Kuppel: 
wiejer, Schubert’S Freund. Er vermittelte, daß Schubert 
die mufifaliihe Ausftattung der »NRojamunde« übernahm und 
in feiner wunderbar raſchen Vroductivität binnen fünf Tagen 
vollendete. Bei der Aufführung im Wiedner Theater (am 
20. December 1823) gefiel die Mufif jehr, ohne jedoch dem 
langweiligen Schauspiel aufhelfen zu fönnen. »Roſamunde« 


Schubert's »Roſamunde«. 377 


wurde nach zwei Vorſtellungen für immer zurückgelegt. Auch 
um die Muſik kümmerte man ſich nicht weiter, bis ſie jetzt, 
alſo nach 42 Jahren, durch Capellmeiſter Deſſoff wieder 
ans Licht gezogen wurde. Die Entreakts zu »Roſamunde« 
gehören zu den intereſſanteſten und liebenswürdigſten Bekannt— 
ichaften, die wir jeit langer Zeit im Concertſaal gemacht haben. 
Nicht der (mitunter mißbrauchten) Pietät für Schubert’3 großen 
Namen bedarf e8 zum Preiſe dieſer ZTonftüde, ſie über 
jtrömen von der reizenden Melodienfülle, dem feurigen und doch 
jo lieblihen Erguß feines Gemüthölebens. Namentlich der erfie 
Entreakt iſt ein echter Schubert und, wie ums dünkt, der 
werthvollſten einer. Ein marſchähnlicher Sag übergeht in einen 
freien, dramatiſch Tchildernden Mitteliaß, der von dem tre— 
molirenden Fis-moll-Accord an alle Reize der Schub ert’fchen 
Romantik enthüllt. Die Anlehnung an einen bejtimmten Moment 
de3 Dramas ift augenscheinlich, ohne daß fie jedoch den mit 
dem Schaufpiel unbekannten Hörer in jeinem muſikaliſchen 
Genuß verkürzt. 

Das eigenthümliche, tief leidenſchaftliche Stüd jagt ung, 
welh bedeutende dramatiihe Wirkungen Schubert Mufif 
erreicht hätte, wäre ihr jemals eine halbwegd ebenbürtige 
Dichtung entgegengefommen. Poetiſche Klöße, wie »Rojamunde«, 
»die Zauberharfe«, »Alfonjo« und »Fierrabrad« mußten mit 
ihrem Centnergewicht ſelbſt Schubert 3 Muſik rettungslos 
zu Boden ziehen. Der Strom der Zeit ging darüber hinweg. 
In unferen Tagen wagen fich rüjtige Taucher hinab, löſen den 
funfelnden muſikaliſchen Schmuck von den verfunfenen Klögen 
und retten ihn zur allgemeinen Freude wieder ans Tageslicht. 
Minder energiih und bedeutend, dafür von einjchmeichelnder 
Zärtlichkeit ift der zweite Entreaft, ein liedmäßiger Sag mit 
zwei Trios, deren eines dem reizendften Wechjelgejang zwiichen 
GSlarinette und Oboe bildet. Das Thema jcheint Schubert 
beionders lieb gewejen zu fein, er hat es in das Andante jeines 
A-moll-QuartettsS herübergenommen. Während Schubert in 
dem erſten Entreaft ſich vollkommen frei gehen läßt, in der 
Fülle jeiner reichbewegten Gedanfenwelt ſich nit an die 
Grenzen einer Zwiſchenakt-Muſik bindend, behält er in der 


378 1865. 


Duverture zu »Alfonio und »Eſtrella« ftreng die fnappen 
Formen der damaligen Duverturen. Nicht von hervorragender 
Eigenthümlichkeit oder Größe, mit andern Schubert’ichen 
Instrumental Werfen verglihen, macht doch ihr klarer lebhafter 
Melodienfluß, mit dem effectvoll und glänzend aufftürmenden 
Schluß, einen gemwinnenden Gindruf und eignet dad Stüd 
ganz beſonders zur Einleitungsmufif. 

Beethoven's Felt-Dupderture op. 124 (»MWeihe des 
Hauſes«), eine der ſchwierigſten Orcheiter-Aufgaben und dadurch 
zu des Meiſters Lebzeiten eine jeiner härteften Prüfungen, 
wurde mit vollendeter Virtuoſität ausgeführt. Die Barifer, 
welche mit fo viel Stolz auf den »premier coup d’archet« 
ihrer Conſervatoires-Concerte laufchen, hätten vor diejen blit- 
artig einichlagenden Eröffnungs-Accorden gehörigen Reſpect 
befommen. Was die Ouverture jelbit betrifft, jo konnte das 
Joſefſtädter Theater (zu deſſen Gröffnung im Jahre 1822 fie 
befanntlich gejchrieben tft) in erlauchterer Weile gewiß nicht 
eingeweiht werden. Ihre Sroßartigfeit in Styl und Dimenfionen 
läßt faum vermuthen, daß es fi dabei um eine £leine Vor: 
ſtadtbühne handelte, und das komiſche Mißverſtändniß Fétis', 
der »die Weihe des Haujed« mit »dédicace du temple« über: 
jegte, ericheint in dieſer Hinfiht jo ganz unvernünftig nicht. 
Bei all ihrer grandiofen Haltung hat übrigens die »Feſt— 
Duperture« meitaus nicht die frei und üppig dahinſtrömende 
Sdeenfülle der Ouverturen zu »&gmont«, »Coriolan«, »Fidelio« 
und ⸗Leonore«; vielmehr beitätigt fie jammt ihrer Fleineren 
Vorläuferin (»Namenöfeier« op. 115), daß Beethoven in 
allen Gelegenheits-Compoſitionen einen gedrüdteren, müh— 
jameren Flug nimmt, wie gemwöhnlid. — Mit herzlihem Be— 
bagen ließen mir hierauf Schubert’3 jugendlich romantiiche 
»Duperture zu Fierabrad«e an und vorüberziehen. Sie war es 
nicht, die ihn unfterblich gemacht, aber es tft doch ein Unſterb— 
licher, der aus ihr ſpricht. 

In dem vierten »Philharmoniſchen Concert« wurde eine 
Duverture, »Safuntalae, von Karl Goldmarf zum eriten- 
male aufgeführt und beifällig aufgenommen. Wir halten dieie 
Gompofition für das -Beite, was der begabte und energiich 


Goldmartk's »Sakuntalae. Rubinſtein's »Nixre«. 379 


vorwärtsſtrebende Componiſt bisher geliefert hat. Friſch und 
charakteriſtiſch in der Erfindung, von überſichtlicher Anlage und 
feinem Detail, zeigt die Ouverture eine entſchiedene Klärung des 
früher etwas mirren und wühlenden Talentes Goldmarf’s. 
Nur wenige Stellen erinnern an feine ehemalige Dijjonanzen: 
Liebe und pathetiiche Unklarheit. Die wirkſame, charakteriftiiche 
Inftrumentation verdient umſomehr Anerkennung, al® Herr 
Goldmark bisher wohl kaum in der Lage war, feine Orcheiter: 
ſachen felbit zu hören. Was das Verhältniß der Compofition 
zu dem berühmten indiihen Drama »Gafuntala« betrifft, jo 
iſt es fein abhängige® in dem mißverftändlihen Sinne der 
deicriptiven Muſik. Als Mufititüf an und für fi vollfommen 
verftändlich und felbftitändig, nimmt fie von dem Gegenstand nur 
die poetifche Anregung, die allgemeine Stimmung und Zocalfarbe 
allenfalls die einfachiten Grundzüge der dramatiichen Peripetie. 


Das letzte »philharmonifhe Concert« neigte ftarf zum 
Cultus der Naturgeifter; es begann mit Niren und endigte mit 
Elfen. Legtere jpendete Mendel3john mitfammt dem ganzen 
»Sommernadhtötraume, die erfteren famen aus Rußland von 
Anton Rubinftein. Ein Gediht von Lermontoff, »bdie 
Nire«, hatte diefem Gomponiften Anregung und Stoff zu 
einer Art dramatifirter Ballade für Altfolo, Frauenhor und 
DOrchefter gegeben, welche dem Wiener Concertpublicum bisher 
unbekannt war. Eine fchöne liebestolle Nire, welche, von Fluthen 
umraufht, vom Mondlicht übergofien, die Leiche eines Helden— 
jünglings zum Leben zurückzuküſſen fi) bemüht — dies gäbe 
ein Bild (die Düffeldorfer Haben derlei gerne gemalt), das uns 
den Inhalt der Nubinftein’fhen Tondichtung deutlicher und 
vollftändiger erklärt, ald e8 Lermontoff's Gedicht thut. In der 
deutfchen Ueberſetzung flingt das Gedicht, welches einen, viel- 
verbrauchten Heine’fchen Stoff mit froftiger, fünftelnder Pracht 
augeinander legt, hart und unbeholfen. Wenn die Nire folgende 
Verſe immer und immer verwundert wiederholt: 

»Dies brünftige Koſen, ich weiß nicht warum, 

E3 läßt ihn fo falt und fo ſtumm; 

Er ichläft, jein Haupt auf die Brut mir gelehnt, 
Und im Schlaf er nicht athuret, nicht ftöhnt!e 


380 1865. 


jo mödhte man etwas ungeduldig ihr endlich zurufen, daß der 
Mann aus dem einfachen Grunde »nicht athmet, nicht ftöhnt,« 
weil er eben, wie die meijten Grtrunfenen, maustodt ift. Rus 
binjtein hat aus dem Gedicht eine wohlflingende, abgerundete, 
aber in feiner Weiſe hervorragende Compofition gemacht. Die 
Muſik, die fih ungefähr in Tenıpo und Stimmung der Mendels— 
john’ichen Melufina bewegt, anfangs jogar mit ftarfem Anklang 
an das Hauptmotiv, entbehrt der Originalität. Sie ericheint 
al? verjpäteter Nachzügler der mufifalifchen Loreley: und Niren- 
Literatur, die Mendelsjohn, Schumann, Gade und Hiller ſchufen. 
Mit Schumann’: zanberhaftem Nirenhor in »Page und 
‚Königstochter«e erlaubt das Rubinſtein'ſche Stüf nit den 
entfernteiten Wergleih. Rubinſtein's Niren drücken fih in 
diejer conventionell gewordenen Loreleyiprache fein und gebildet 
aus, ohne darin irgend etwas Eigenthümliches oder Bedeutendes 
zu jagen; ebenjo iſt die umgebende Waſſer- und Mondſchein— 
Decoration mit SHarfenarpeggien, Hornklängen, sordinirten 
Violinen äußerjt jauber, aber nad) befannten Vorbildern ge: 
malt. In formeller Hinfiht könnte man die Nopität für einen 
Fortichritt des Componiſten anjehen, jo ruhig und mwohlflingend 
fließt fie in mäßig geiteigertem, durch feine Crudität unter: 
drochenen Verlauf dahin. Schade, daß diefer formelle Vorzug 
bier ganz deö bedeutenden, eigenthümlichen Inhaltes entbehrt, 
nicht3 von dem originellen erfinderifchen Geift verräth, welcher 
die früheren Werke Rubinſtein's, wenn nicht gleihmäßig 
erfüllt, doc ſporadiſch dDurhbligt. Wir hätten beim Anhören 
der »Niren« nimmermehr auf Rubinftein gerathen, eher auf 
Hiller, Gade, Neinede. Ob Rubinftein doch noch die Hoffnungen 
erfüllen werde, die man jeit zehn Jahren auf jein Talent jegt ? 
Er müßte fich beeilen, oder befjer, er müßte die Eile aufgeben, 
mit der er jorglos, kritiklos in den Tag hineinproducirt, fich 
fopfüber aus einer Gompofition in die andere ftürzt, feinem 
Gedanken Zeit gönnt, außzureifen, feinem Werk die Mühe, 
gefeilt und vollendet zu werden. Aubinftein hat noch immer 
feine Tochdichtung geliefert, die in allen Theilen fih nur 
einigermaßen auf gleiher Höhe erhielte, in ihrer Totalität be= 
friedigte, den Stempel des Fertigen, Meifterhaften, Claſſiſchen 


Duverture von Mehul. 381 


(in des Mortes Jiberaliter Bedeutung) trüge. Noh immer 
wechſeln Säge voll Schwung und Leidenfchaft mit matten all: 
täglichen, — lebenftrogende Melodien mit verwajchenen, flachen 
Phrafen, noch immer führen von einem glänzenden Einfalle 
zum andern die miferabeljten Brüden, noch immer fchließt 
unluftig, Schwach und banal, was friich und jchöpferiich be- 
gonnen. Weder Rubinftein’® Opern (in ihnen ruhen die ſchim— 
mernditen Juwelen feines Talentes), noch fein Oratorium ver: 
mochten irgendwo feiten Fuß zu fallen, feine Orcheſter-, 
Clavier- und Kammermufifen, überall mit lebhaftem Beifalle 
begrüßt, behaupten (vielleicht mit ganz geringen Ausnahmen) 
feine bleibende Stelle in den Repertoire; kurz, auf die viel- 
verheißende üppige Blüthe diejes Talente will noch immer 
die Frucht nicht folgen. Die »Niren« jchienen dad Publicum 
ziemlich falt zu laffer. 

Auf die Rubinſtein'ſche Novität folgte ein ehrwürdiges 
Rococcoſtück, das durch fünfzigjähriges Liegen wieder zur No— 
vität geworden iſt: Méhul's Ouvertüre »La chasse du 
jeune Henri.« Sie ilt die noch heutzutage in ganz Frankreich) 
populäre Einleitung zu einer Oper, die nicht ausgeſpielt wurde. 
Es war im Jahre 1797, als Mehul’3 Oper unter dem ge— 
dachten Titel in der Opera comique gegeben und die Duverture 
mit jolhem Enthufiasnus aufgenommen wurde, daß jie zweimal 
hinter einander geipielt merden mußte. Die Oper jelbit hatte 
eine Epifode aus der Jugend Heinrich's IV. von Frankreich 
zum Gegenftand. Was immer in jenen Revolutions-Jahren auf 
einen König Bezug hatte, gerieth in die bedenklichſte Stellung 
und wurde fofort Barteifache. Auch diesmal hofften die Royaliiten 
einen Erfolg der Oper, während die Ptepublifaner, entrüftet, 
daß man einen »Tyrannen« auf die Bühne bringe (feine 
Tyrannei war befanntlich, Frankreich glüdlih zu machen), die 
Dver von der eriten Scene an ununterbrochen auspfiffen, jo 
daß der Vorhang lange vor dem Scluffe fiel. Um jedoch den 
Eomponiften durch einen Beweis der allgemeinen Achtung zu 
entichädigen, verlangte das Publicum fchließlich die Ouverture 
zum drittenmal. Dies dürfte der erfte umd einzige Fall in der 
Theater-Gefchichte fein, wo Ludwig Tieck's abitrule Idee, es 


382 1865. 


follten die Duverturen, da fie ja por dem Stück gar nicht 
veritändlih jeien, ſtetts nach Ddemielben gegeben werden, 
thatſächlich zur Ausführung kam. Seit jener erften Aufführung, 
alio fait 70 Jahre Yang, hat fih Méhul's Jagd-Ouverture 
ala Zwiſchenakt-Muſik in der Opera comique und als Lieblings— 
nummer in den Concertprogrammen erhalten. Auch in Deutich- 
(and wurde fie häufig geipielt und tet gern gehört. Wien 
hörte fie zum erftenmal im jenem denfwürdigen Concert des 
Hornilten Punto, das im Jahre 1800 im Burgtheater umter 
Beethovens Mitwirkung ftattfand. Punto hatte Mehul’s 
»Fagd-Symphonie« aus Paris mitgebraht und Ddirigirte fie, 
jeine Zuhörer damit mehr verblüffend als erfreuend. »Kein 
einziger Mufikverftändiger oder auch nur überhaupt gebildeter 
Zuhörer fonnte fi) damit ausſöhnen«, berichtet ein Kritiker 
jenes Goncertes und fährt fort: »Mehul ift nicht nur ein 
Mann von Genie, ſondern auch von vieler Wiſſenſchaft, — 
wie vermochte er es aber über fich jelbit, in dieſe jehr lange 
Jagd-Symphonie außer dem jchredlichen, verworrenen Getöje 
alle Arten gemeiner Jägermelodien, ja auch ganz Eleinlihe und 
widerliche Malereien anzubringen?« Man war eben damals 
gegen den Realismus in der Muſik und vor Allem gegen grelle 
Snftrumentirung empfindlicher, als in fpäteren Zeiten. Heut— 
zutage fönnen wir in der »Jagd-Ouverture« zwar feine geniale 
Schöpfung erbliden — die Erfindung hat ganz die trodene, 
verftandesmäßige Phyfiognomie der älteren franzöfifhen Muſik 
— aber das einfache, idylliſche Andante ſpricht und recht artig 
an, und dem Gffect des Lebendigen Jagdallegros mit dem Ge— 
ſchmetter von fieben Waldhörnern kann wohl nur ein äfthetifcher 
Griesgram fi) ganz verichließen. An zweiter Stelle ftand die unter 
Mozart’3 Namen cireulivende Baß-Arie: »To ti laseio, 
eara, addio«, die nad den vorhandenen Zeugniffen ohne 
Zweifel von Mozart’ Freund Gottfried von Jacquin com: 
ponirt und in Köchel's Katalog ald Nr. 245 umter den 
»unterfchobenen Gompofitionen« verzeichnet ift. Der Streit über 
die Autorfchaft hat übrigen hier nur hiſtoriſche Bedeutung. 
Mozart könnte in ſchwächerer Stunde die Arie ebeniogut com= 
ponirt haben, als Jacquin in einer guten. Wenn Otto Jahn darin 


»Ruy Blade von Mendelsiohn. 383 


wohl Mozart'ihe Wendungen, aber feinen charafteriftiichen 
Zug ſeines Geiftes« findet, fo ftimmen wir vollfommen bei, 
doch nicht ohne zu erinnern, wie viele echte Mozart’ihe Arien 
(theatraliihe aus früherer Zeit, Concert: und Gelegenheits— 
gejänge) wir befiten, in denen gleichfalE Mozart’ Geift nur 
die allgemein reipectirte Bilitfarte »Mozart’iher Wendungen « 
abgegeben hat. Die Hauptſache in bejagter Arie bleibt, daß 
jie in ihrer breiten, Schönen Sangbarkeit dem Organ und Bor: 
trag des Sängers ein günftiges Feld eröffnet. An Beethoven's 
erite Symphonie wurden wir in diefem philharmonijchen 
Eoncert gern erinnert. Wir find zwar durch Beethoven's fpätere 
Symphonien jehr nachhaltig verwöhnt, trogdem jehen wir »von 
Zeit zu Zeit« die alten gern. Melch’ bedeutende geichichtliche 
Grinnerungen, welch’ fruchtbare Betradtungen über den Um— 
ſchwung der mufifalifchen Anfichten knüpfen fich für jeden Hörer 
daran! Oder gibt ed etwas Anziehenderes, als fi im Geilte 
in die Zeit zurückzuverſetzen, da e8 noch feine »Eroica« gab? 

Mendelsſohn's Duverture zu »Ruy Blade iſt ein 
Gröffnungsftüd par excellenee. Als muſikaliſches Kunſtwerk 
feine der »&oncert-Ouverturene Mendelsſohn's erreihend, hat 
»Ruy Blad« in feinem jugendlichen Fortftürmen, jeiner glänzen: 
den Nitterlichfeit doch einen Zug für fich, welchen weder der 
märcenhaft vergeiftigte und vergeifterte » Sommernadtätraume, 
noch die mondicheingebadete »Melufina«, noch endlich die düftere 
Landihaft der »Hebriden« aufweiſt. Daß die Ruy Blas-Ouver— 
ture äußerlicher, daß fie im eminenten Sinne theatraliſch iit, 
nimmt ihr die Ebenbürtigfeit mit dieſen Concert-Duverturen, 
wahrt ihr aber eine gewiſſe realijtifche Selbititändigfeit neben 
diefen. Wir befennen uns zu einer Eleinen Schwäche für die 
jugendliche chevaleresfe Energie im »Ruy Blas« gegenüber der 
allzu weichen Sentimentalität mancher jpäteren, viel funitvolleren 
Compoſition Mendelsfohn's; von »Jugendwerken« im gewöhn— 
fihen Sinne ift ohnehin feine Nede bei einem Tondichter, der 
mit zwanzig Jahren den »Sommernadtötraum« und die »Wal- 
purgisnadht« geichrieben. Etwas abgeblaßt nahm ſich daneben 
Cherubini's »Lodoiska--Ouverture aus, die wir troß ihres 
großen dramatijchen Ernftes und des überaus feinen zweiten 


3814 1865. 


Themas den beiten Duverturen des Meiſters (Faniska« nament- 
lich) nicht gleidhitellen können. Ueber die Mitte ihrer Entwick— 
lung, an dem Punkte angelangt, wo man eine energiihe Steige- 
rung und Erhebung erwartet, nidt die Ouverture geradezu ein 
und fchläft einen längeren, paftoralen Schlummer, aus dem fie 
endlich, wie von derber Hand gerüttelt, auffährt und in zwei 
Sätzen zur Thür hinaus ift. 

Eine jehr anziehende Novität war Julius Grimm's vier: 
fäßige »Suite in Canonform« für Streidinftrumente. In— 
dem dieſe Compoſition (die wohl richtiger mit »Symphonie« be= 
zeichnet wäre) fich durchaus den Zwang der canonifchen Schreibart 
auflegt und überdies auf jede Mitwirkung von Bladinftrumenten 
verzichtet, Ichafft fie fich pofitive und negative Schwierigkeiten, 
die zu bemältigen nur ein entjchiedene® Talent und große Ge— 
wandtheit vermag. Beide Vorzüge muß man dem Componiften 
ohneweiters zugeitehen. Seit langer Zeit hat und fein Erſt— 
lingöwerf jo viel Achtung und Antheil abgezwungen. Die 
canoniſche Imitation iſt durch alle vier Süße und ununter- 
brochen durchgeführt (meift taftweile), aber mit jo viel Geihid 
und Grazie, daß der Hörer davon nur den Neiz diejer tönenden 
jeux d’esprit empfängt, das behagliche Vergnügen mufifaliichen 
Vor- und Nachdenfens, ohne von der Schwere und Starrheit 
der Regel irgendwie beläftigt zu werden. Grimm trägt feine 
canonifhen Bande mit ungewöhnlicher Freiheit und Eleganz. 
Er verwendet allerdings nur den Canon in der Octave, inner: 
halb diefer Form bietet er aber jo viel Abwechslung ala 
möglid. So führen im eriten Sag, einem in energifcher 
Triolenbewegung aufitürmenden Allegro, anfangs die Violinen 
den Canon mit den Bäſſen; fchon in dem gejangvollen zweiten 
Thema ift er aber zwiichen die erite Violine und das Cello 
verlegt, und zwar mit ſyncopirten Accenten, die an den pifanten 
Neiz eines leichten Hinkens erinnern. Der zweite Sag, ein 
reizended® Andante, ift für Soloquartett gejichrieben. Den 
Geſang der Violine verfolgt canonifch die Viola, beide getragen 
von Arpeggien des Bioloncell® und den einfachen Grundtönen 
des Gontrabaffee. Das Andante erinnert an die föftlichen 
»Ganons für den Bedalflügel«e von R. Schumann; ihm ge: 


Nequiem von Schumann, 385 


bührt eigentlich; das Verdienſt diefer ganz modernen Neugeftal- 
tung alten Materiald, welche man kurz den gejangvollen 
Canon nennen könnte und deren jchönjte Kunft es ift, die Kunft 
zu verbergen. Der dritte Sat der Grimm'ſchen Suite (ein 
Menuett), in welchem die erite Violine mit der zweiten den 
Canon führt, bewegt fich jehr gefällig, insbeſondere hebt fich 
das Trio in E-dur in fchöner Klangwirkung hervor. Stünde 
der vierte Sat auf der Höhe der früheren, die er von rechts— 
wegen jogar zu überflügeln hätte, jo ließe die Totalwirkung 
nicht zu wünſchen übrig. Leider ermattet die Erfindungäfraft 
de3 Componiften gerade hier, wo der ſchon etwas angeftrengte 
Hörer einen tüdhtigen Schwung nad oben braudte. Das 
Publicum blieb troßdem dem ganzen Werke günftig geftimmt; 
ein doppelt ehrenvoller Erfolg für eine Compofition, die durch 
ihre freiwillig angelegte muſikaliſche Rüftung fi förmlich gegen 
jeden populären Erfolg verjchangt. 


Singvereine. 


Unfer Intereffe concentrirte ſich hauptſächlich auf Schu: 
mann’ »Requiem«. Es ift in Tertauffaffung, Styl und tech— 
niſcher Behandlung ein ergänzendes Seitenftüd zu der Meile 
dieſes Tondichters, nur, wie und dünkt, in günftigerer Stunde 
geihaffen.. Schumann’: Muje hatte zu jener traurigen Zeit, 
da fie felbit der »ewigen Ruh'« bereit entgegenmwallte, der 
glüdlihen Schöpferftunden nur wenige. Die geniale Uriprüng- 
lichkeit, die gleichmäßige Lebenskraft, die feine früheren Ton: 
Dichtungen durchdringt, muß man in Schumann’s Requiem nicht 
erwarten. Dennoch fcheint e8 uns ein jehr merkfwürbiges Werk 
und mehr al3 dies, ein tiefempfundenes, edles und eigenthüm— 
lies. Die muthige, dabei von eitler Originalitätsfucht unbe: 
rührte Ueberzeugungdtreue, mit welder Shumann aud in 
der Rirchenmufif feinen eigenen Weg beibehält, fein eigenes 
Fühlen und Denken ausſpricht, umbefümmert um traditionelle 
Normen und Vorbilder, erfüllt und mit Verehrung und Freude. 
Mag man auch Vieles in dem Requiem modern nennen, wir 

Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 25 


386 1865. 


haben nichts Unmwürdiges, nichts Unwahres darin vernommen; 
Schumann zeigt, daß auch ein »moderner Menſch« würdevoll 
und herzlich mit feinem Gott jprechen fann. Man vergleiche ihn 
nicht mit Bach und Beethoven in ihren Kirchen-Gompofitionen, 
Schumann ftrebt diefe jchwindelnde Höhe nicht entfernt an, 
und eben weil er fih für die Kirche nicht größer ftredt, als er 
gewachſen ift, weil er auch im Gebete fein Anderer ala Er 
jelbft zu jein fih anjtrengt, fpricht fein »Nequiem« uns fo 
innig überzeugend und menſchlich Shön zu Gemüth. Shumann 
jucht die Wirkung feiner Kirchenmuſik weder in erftaunlichem 
polyphonen Aufbau, noch in dramatiiher Malerei und neuen 
Klangeffecten. Der Gejang, dem das Orcheiter fih durchwegs 
beicheiden unterordnet, fließt einfach und finnig dahin, mitunter 
freilih auch ſtockend oder jpärlih, dafür in anderen Momenten 
zu boller, eigenthümliher Schönheit fih aufichwingend. Der 
Ausdrud des Ganzen neigt mehr zu elegiiher Einkehr, zu 
janfter Wehmuth, als zur Strenge und Erhabenheit. Schumann’3 
Requiem iſt fein mufifaliiches Mauſoleum, deſſen fteinerne Züge 
- und die furdhtbare Majeftät des Todes vor Augen ftellen, es 
it ein NRosmarinftengel, aus deffen Duft Grabgedanfen mit 
der geheimnißvollen Macht jchmerzlicher Erinnerung zu uns auf: 
fteigen, vielleicht Niemanden an den falten- Triumph der Un— 
iterblichfeit erinnernd, aber Jeden an dad, was er felbft verlor. 

Der »Akademiſche Gejangverein« hatte die glückliche 
Idee, und nicht blos eine umfangreihe neue Compofition, fondern 
zugleich einen neuen Gomponiften leibhaftig vorzuführen. » Scenen 
aus der Frithjofsfage« heißt die Tondihtung und Mar Bruch 
der Componiſt. Als Jüngling mit dem Preis der Frankfurter 
»Mozart-Stiftung« gekrönt, wurde Bruch zur weiteren Aus— 
bildung Ferdinand Hiller in Köln anvertraut. Nachdem er 
fih mit einigen kleineren Compofitionen hervorgethan, glücdte 
e3 ihm, die Crlaubniß Em. Geibel’s zur Compofition der 
»Loreley« zu erhalten. Geibel, der diefen Operntert befannt: 
ih für Mendelsfohn-Bartholdy gedichtet und in großer Furdt 
vor ſchlechten Componiſten jorgjam gehütet hatte, gab dieſem 
jingiten Bewerber um feine Loreley Gehör. In den »Frith- 
jofsjcenen« für Soli, Männerhor und Orcheſter befamen wir 


Max Bruch »Frithiofsfage«. 387 


nun das neueſte und nach allgemeinem Urtheil beſte MWerf des 
jungen Componiſten ſelbſt zu hören. Es find ſechs Stüde aus 
Eſaias Tegner’3 befanntem Gedicht, die dramatifchen Haupt: 
momente der Erzählung. Die Compofition gehört jener Form 
und Ausdrucksweiſe an, die unter Mendelsfohn’shem Einfluß 
Schumann in feinen Chorballaden, Hiller in der »Loreley«, 
Gade in »Erlkönigs Tochter«e ausgebildet haben. Namentlich 
den beiden Leßteren iſt Bruch muſikaliſch nahe verwandt. 
Er hat ein feines Verftändniß für alle Wendungen feine Ge- 
Dicht und weiß für jede Situation harakteriftifche und wirkſame, 
wenn auch nicht immer eigenthümliche Klänge zu finden. Sein 
Ohr prüft wähleriih und ftößt fchlechterdings alles Rohe und 
Triviale von fi; feine Hand formt und feilt auf das Sorg- 
famfte. Der Charakter der Muſik ift durchwegs deutſch, nicht 
jowohl in dem urfräftigen Sinn Beethoven’3 als in dem zarteren, 
weichliheren der Mendelsſohn'ſchen Schule. Der durchaus 
twohlgefügte Bau neigt mehr zu bequemer Breite, als zu ftraffer 
Eoncentration. Ueberall zeigt fi große Formgewandtheit, 
Sicherheit und genaue Kenntniß des mufifalifchen Effects. Im 
Ganzen empfangen wir aus Bruch's Mufif mehr den Eindrud 
einer feinen und gründlichen Bildung, als den einer fräftigen, 
eigenthümlichen Individualität. Bruch behandelt den »Frithjof« 
in Form und Färbung durhaus dramatifch, jelbit in den rein 
lyriſchen Scenen wird der ruhige Fluß der Empfindung häufig 
unterbrochen. Dies Untertauchen der Lyrik im die Unruhe des 
Dramatifhen findet in den »Frithjofsicenen« ihren formalen 
Ausdruck, insbefondere in jener zwiſchen Recitativ und Arioſo 
ſchwankenden Melodienbildung, die wir au Schumann's Balladeıı 
und noch marfirter aus R. Wagner’3 Opern kennen. Wir geitehen, 
nur an einen jehr fparfamen Gebrauch diefer Miichform Gefallen 
zu finden; lange fortgejegt, verfällt fie unleidliher Monotonie 
und macht den Hörer, der nad abgeichloffenen Melodien, nad) 
wirklihen Themen verlangt, unruhig. Hierin liegt das einzige 
weientliche Bedenken, dad wir gegen Bruch's Gompofitionen 
auszusprechen haben. Wo diefer ſchwankende Gejangityl, dag 
uferlofe Melodiſiren ohne eigentliche Melodie, feiteren mufis 
kaliſchen Gebilden Pla macht, da bieten ung die »Frithjofs— 
25% 


388 1865. 


fcenen«e die meifte Befriedigung. Dahin gehört vor Allem 
Ingeborg's erſter Geſang auf dem harakterijtifchen Hintergrund 
des düftern Hochzeitömarjches, dann die ausdrucksvollen erjten 
Strophen von »Ingeborg's Hlagene. Der »Tempelbrand« iſt 
von einichlagendem Effect, werthooller jcheint und trogdem 
der kurze einleitende Priefterdor in Es-moll. Den Chorjag für 
Männerftimmen behandelt Bruch vortrefflich, mit großer Vorliebe 
verwendet er nach Mendelsjohn’s Vorbild in der »Antigone« das 
Unifono der Stimmen in vorwiegend recitativifhen Gängen. 
Lachner's »Sturmesmythe«, die wir bereits aus Den 
Concerten des Männergeſang-Vereines (1262) kennen, hat uns 
diesmal ebenſowenig als damals erbaut. Schon die Wahl des 
Lenau'ſchen Gedichts dünkt uns unglücklich; eine bildertriefende, 
unnatürlich reflectirende Perſonification der Wolken als weinende 
Töchter der eingeſchlummerten Mutter, des Meeres nämlich. 
Dazu nun eine höchſt anſpruchsvolle und dennoch ſehr dürftige 
Muſik. Nicht hervorragend, aber recht ſtimmungsvoll iſt C. M. 
Weber's »Schlummerlied« über Verſe von Caſtelli. Wir 
hoffen, daß nicht auf jedes fchlechte Gedicht verftorbener Poeten 
eine entjprechende Verlängerung des Fegefeuers gejegt ift. 
Die Feit-Liedertafel des Wiener Männergefang- 
Vereins bradte eine größere Compofition von Engelberg: 
»Moeten auf der Alm«. Wir fehen uns inmitten einer Geſellſchaft 
junger Freunde, die auf einer Alpenpartie ihrer poetilchen 
Begeifterung, je nad) Scene und Stimmung verjchieden gefärbt, 
in Gitaten deutjcher LieblingSdichter Luft machen. Einleitung und 
Schluß zu diefem kleinen Cyklus von Chören hat die ebenfo 
verögewandte als notenfundige Hand Engelöberg’3 abrundend 
hinzugefügt. Die Compofition ift die hübjchefte uns befannte 
Anwendung der Ländlerform auf Chorgefang; hier zu tieferer 
Empfindung fih ſammelnd, dort in heiterer Lebensluſt auf: 
ihäumend, klingt jie überall friih, gemüthvoll und wahr, nirgends 
in die Grtreme des Geſuchten oder des Trivialen verfallend. 
Engelöberg, der feinen eriten rafchen Erfolg auf dem Gebiet 
des mufifalifhen Scherzes errungen, hat bisher durch mehrere 
ernſte Chöre, insbeſondere den jüngst erfchienenen »Heini von 
Steyer« bewiejen, daß das Gebiet jeines Talents viel weiter 


Berlioz »Hönig Lear«. 389 


ausgeſteckt ſei. Die beneidenswerthe melodiöſe Ader, die Engels— 
berg's humoriſtiſchen Chören ſo ſchnelle Beliebtheit verſchaffte, 
ſtrömt auch in ſeinen ſentimentalen und zärtlichen Melodien. 
Die wanderfrohe, ſtudentiſch glückliche Stimmung in den 
»Poeten auf der Alm« erinnert uns unwillkürlich an Eichen— 
dorff's Jugendnovelle »Dichter und ihre Geſellen. In jedem 
diefer anſpruchsloſen Chöre ftedt ein Stück Jugend. 


Geſellſchafts-Concerte. 


Berlioz' Ouverture zu »König Lear« op. 4 (ſeit des 
Componiſten Anweſenheit in Wien nicht wieder gehört) feſſelt 
durch einen Zug von Großartigkeit und Pathos, welcher mit— 
unter an Beethoven erinnert. Leife rührende Klagen und grelle 
Verzweiflungsrufe fprechen hier mit ergreifender Wahrbeit zum 
Hörer. Das Ganze wirft troßdem mehr befremdend und beun- 
rubigend, als äfthetiich erfreulich und erhebend. Wie in den 
meijten, insbefondere den früheiten Werfen Berlioz’, liegt auch 
im »Lear« Erzwungenes, Leere und jelbit Triviales Dicht 
neben den gewaltigiten Impulſen; ein leidenichaftlich bewegte 
inneres Leben bringt e3 hier zu erjchütternden Ausrufen, aber 
zu feiner zufammenhängenden Sprache. 

Bon den drei Mufikitüden, welche dad Programm des 
erften Geſellſchafts-Concertes bilden, war fein einziges 
neu, jedes aber hatte eine Reihe von Jahren unberührt gelegen, 
nach deren Ablauf ein Merk gleichſam als Halbnopität wieder 
erwadt. So ift Gade's Goncert:Ballade »Erlkönigs Tochter« 
feit ihrer eriten Aufführung im Sahre 1856 nicht wieder ge 
geben worden, obwohl jie damals entjchieden gefiel. Andere 
Novitäten konnten jih in Wien gleihen oder noch größeren 
Erfolges rühmen und find trogdem ebenjomwenig tmiederholt 
worden. Concert-Novitäten haben ein ungleich härtere 203, 
ald die dramatiichen, Grringt eine Oper ihren anftändigen Er: 
folg, fo darf fie auf mehrere raſch aufeinanderfolgende Re— 
prifen zählen, deren jede den Hörern einige neue, früher über: 
ſehene Vorzüge entdeden hilft und im ungünftigiten Falle 


390 1865. 


wenigftend als gerechte Appellation von einem unvorbereiteten 
an ein »beijer informirte« Publicum auftritt. Fallen aber die 
Würfel gleih auf den eriten Wurf günftig, fo fiedelt fih eine 
Novität, wie Gounod’3 »Faufte u. dgl., vollitändig im Re— 
pertoire feſt und ift binnen Jahresfrift den Hörern Note für 
Note geläufig. Was gejchieht hingegen mit einer neuen Sym— 
phonie, Duverture oder Kammermuſik? Sie wird applaudirt 
und — ift nun für 10 biß 15 Jahre, vielleicht für immer todt. 
63 fallen uns zur Noth ein bis zwei lebende Gomponiiten ein, 
von denen größere Concertitüde mehr als einmal aufgeführt 
find. Manche Novität wird bei Hellmeöberger drei» und vier— 
mal probirt, ehe fie von den Spielern ganz gefaßt, anerkannt, 
ja lieb gewonnen wird. Und das Publicum, welches nit das 
feine Ohr, nicht die mufifaliihe Erfahrung diefer Herren befitt, 
jollte das Stück auf's erſte Hören gleich fo vollftändig auf: 
genommen und ausgefoftet haben, daß eine zweite Aufführung 
Thorheit wäre? Könnte man doch nur mit der zweiten Auf— 
führung anfangen! hörten .wir einen jungen Gomponiften 
ausrufen, und er hatte Recht. Das jus gladii des Publicums 
fechten wir nicht an, wohl aber die Uebung, eine wohlauf: 
genommene Novität blos deßhalb, weil fie num feine »Novität« 
mehr ift, zu den Todten zu legen. Unſere Concertprogramme 
bejtehen faſt ausschließlich aus zwei Claſſen von Compofitionen: 
claffifche, welche fortwährend, und neue, die niemals wieder: 
holt werden. Wir möchten eine dritte Kategorie hinzufügen: 
Wiederholung moderner Mufikftüce, die nicht an die claffiichen 
Ahnherren reihen und vielleicht auch nicht auf die Nachwelt; 
deren einfeitige, epigone Vorzüge aber für die Gegenwart 
immerhin ihren Reiz und ihre Bedeutung haben. Von neueren 
Somponiften iftt nur Schumann (nad) feinem Tode) durd 
häufigere Wiederholungen geehrt, welche jegt den Charakter 
der Negelmäßigfeit gewinnen. Und doch find aud von Schu: 
mann’ Gompofitionen viele nah der erften Aufführung mit 
Unrecht bejeitigt worden. Sollten »Page und Königstochter«, 
die »Meſſe«, das »Nequiem« u. a. feine Wiederholung ver: 
dienen? Was nicht an der erften Aufführung ftirbt, joll aud 
nicht nach derielben fterben. Auf diefe Betrachtungen führt ung 


Gantate von Bad. Symphonie von Echubert. 391 


»Erlkönigs Tochter«,“) mit deren Wiederaufnahme Herr 
Herbed recht that, obiwohl dad Stüd weder neu, noch von 
Beethoven ift. 

Sebaftian Bach's Bantate: »Gottes Zeit ift Die 
allerbeite Zeit« gehört zu den in Deutichland befannteften 
und populärften des großen Meiſters. Gedrängter und faß: 
liher al die Mehrzahl der Bach'ſchen Cantaten, ftrebt dieſe 
mehr nad rührendem Ausdrud, als nah Entfaltung reichſter 
muſikaliſcher Kunſt. Von dem etwas trodenen eriten Chor 
urtheilte Mendelsſohn, der begeijterte und trogdem nicht blinde 
Bach-Verehrer, man könne denjelben allenfall3 auch einem an: 
dern tüchtigen Gomponiften jener Zeit zutrauen. Die Bemerkung 
ilt ganz treffend und ließe fi) wohl auf eine und die andere 
Arie der Cantate ausdehnen. Dafür jchlägt das Unisono der 
Bälle: »Beitelle dein Haus« mit einer Donnergewalt ein, die 
nur in dem contraftirenden zarten Soprangejang: »Komm', 
Herr Jeſus« ein ebenbürtiges® Gegenftüd findet. Die Cantate: 
»Gottes Zeit« (von Bad jelbit »Actus tragieus« zubenannt) 
bildet in ihrer düſtern, verwejungsichiwelgenden Frömmigkeit 
ein volljtändiges Seitenftük zu den fürzlih hier aufgeführten, 
noch bedeutenderen Gantaten: »Ich Hatte viel Bekümmerniß« 
und »Liebiter Gott, wann werd' ich fterben?« Bach's Mufe 
gleiht einer prachtvollen Paſſionsblume, welche in zierlich ge: 
formtem Kelch die Kreuzigungswerkzeuge trägt. — 

(Schubert’3 unvollendete H-moll-Symphonie). Unter den 
fogenannten »Schubertfreunden« par excellence ftehen zwei 
harafteriftiihe Gruppen hervor: die Sorglojen und die Hart: 
nädigen, oder auch, phyſikaliſch geſprochen, die Gentrifugalen 
und die Gentripetalen. Die erfteren lafjen ruhig Schubert's 
Manuferipte nad allen Weltgegenden zerflattern; fie willen 
oder mußten genau von irgend einer noch vorhandenen Oper 
oder Symphonie (fie haben fie ja entjtehen fehen!), aber es 
ftört ihre Seelenruhe nicht im mindeiten, wenn dieſe Schäße 
um ein paar Gulden einem amerifanifchen Sammler, oder nod) 
billiger, einem Käſehändler zufallen. Die Hartnädigen hingegen 








*) Vergleide S. 9. 


392 1865. 


oder Gentripetalen haben zwei oder drei Perlen aus Schubert’3 
Nachlaß in's Trodene gebracht, Halten fie aber vor lauter 
Freundſchaft für den Weremwigten und lauter Verachtung der 
Lebenden in irgend einem Koffer verfchloffen, mit deffen Schlüffel 
fie fih zu Bette legen. Wir wollen Herrn Anfelm Hütten- 
brenner, den Freund Schubert’3, feit geftern nicht mehr zu 
der zweiten Claffe zählen, da er ja fchließlihh der Pelham'ſchen 
Beredtſamkeit und Artigkeit des Hofcapellmeifter8 Herbed nicht 
widerftand, der eigens nah Graz abgereift war, um eine 
Hüttenbrenner’ihe Partitur für die Geſellſchafts-Concerte zu 
acquiriren, und bei dieſer Gelegenheit — mie feltfam! — 
auch ein lang gejuchtes Schubert’ihes Manufeript mitbrachte. 
Wir können nicht enticheiden, welche von den beiden Compo— 
fitionen die Angel und welche der Fiſch war, genug, daß 
Schubert und Hüttenbrenner wie im Leben fo auf dem 
Programm des legten »Geſellſchafts-Concertes« einträchtig neben 
einander hergingen. Hüttenbrenner, der befanntlich zur Be— 
rühmtheit de8 Schubert’fchen Erlkönigs viel beigetragen hat, 
nämlich eine Bartie »Erlkönig-Walzer«, eröffnete dad Concert 
mit einer Ouverture in C-moll, weldder man ein gewifle Tüch— 
tigkeit der Arbeit nicht abjprehen kann. Nun folgte die Schu— 
bert’ihe Novität, die einen außerordentlihen Enthuſiasmus 
erregte. Es find Die beiden erſten Süße (Allegro moderato, 
H-moll und Andante, E-dur) einer Symphonie, welche, feit 
vierzig Jahren in Herrn Hüttenbrenner’3 Befig, für gänzlich 
verfchollen galt. Die und vorliegende Originalpartitur, ganz 
von Schubert’3 Hand, trägt die Jahreszahl 1822 und enthält 
nebit den zwei erſten Sätzen noch den Anfang (neun Takte) 
des dritten, eine® Scherzo in H-moll. Ob Schubert überhaupt 
weiter daran gearbeitet, ift nicht zu eruiren. Möglich, daß 
irgend Einer der »Sorgloſen« den Schlüffel zu diefem Räthſel 
fennt, oder ein »Hartnädiger« ihn gar unter dem Kopffiffen 
birgt. Wir müffen und mit den zwei Süßen zufrieden geben, die, 
von Herbed zu neuem Leben ermwedt, auch neues Leben in 
unfere Concertfäle bringen. Wenn nach den paar einleitenden 
Takten Glarinette und Oboe einftimmig ihren füßen Geſang 
über dem ruhigen Gemurmel der Geigen anjtimmen, da kennt 


Symphonien v. Echnbert und Gherubint. 393 


auch jedes Kind den Gomponiften, und der halbunterdrückte 
Ausruf »Schubert!« ſummt flüfternd durch den Saal. Er ift 
noch faum eingetreten, aber es ift, als fennte man ihn am 
Tritt, an feiner Art, die Thürkflinfe zu Öffnen. Grflingt nun 
gar auf jenen jehnfühtigen Mollgefang das contraftirende 
G-dur-Thema der Pioloncelle, ein reizender Liedfag von faft 
ländlerartiger Behaglichkeit, da jauchzt jede Bruft, als ftände 
Er nah langer Entfernung leibhaftig mitten unter uns. Diefer 
ganze Sag ilt ein ſüßer Melodienftrom, bei aller Kraft und 
Genialität kryſtallhell. Und überall diefelbe Märme, derſelbe 
goldene, blättertreibende Sonnenichein! Breiter und größer ent- 
faltet fih da8 Andante. Töne der lage oder des Zornes 
fallen nur vereinzelt in dieſen Geſang voll Innigkeit und 
ruhigen Glückes; mehr effectvolle, muſikaliſche Gewitterwolken, 
al gefährliche der Leidenſchaft. Als fönnte er fich nicht trennen 
von dem eigenen ſüßen Gejang, ichiebt der Componiſt den Ab- 
ſchluß des Adagios weit, ja allzumeit hinaus. Man kennt dieſe 
Eigenthümlichkeit Schubert’, die den ZTotaleindrud mander 
jeiner Tondichtungen abſchwächt. Auh am Schluſſe diefes An— 
dantes Scheint fein Flug fih in's Unabſehbare zu verlieren, 
aber man Hört doh noh immer das Naufchen feiner 
Flügel. 

Bezaubernd iſt die Klangſchönheit der beiden Sätze. Mit 
einigen Horngängen, hie und da einem kurzen Clarinett- oder 
Oboeſolo auf der einfachſten, natürlichſten Orcheſter-Grundlage 
gewinnt Schubert Klangwirkungen, die kein Raffinement der 
Wagner'ſchen Inſtrumentirung erreicht. Wir zählen das neu 
aufgefundene Symphonie-Fragment von Schubert zu ſeinen 
ſchönſten Inſtrumentalwerken und ſprechen dies hier um ſo 
freudiger aus, als wir gegen eine übereifrige Schubert-Pietät 
und Reliquien-Verehrung mehr als einmal ung ein warnendes 
Wort erlaubt haben. — 

Es gibt interefiante Goncertprogramme, die fi auf dem 
Anfchlagzettel ungleich effectvoller ausnehmen, als fie und nad) 
der Aufführung ericheinen. Dahin gehörte dad »zweite Ge- 
jellihaft3-G&oncert« mit feiner Cherubini’ihen Symphonie 
und Beethoven’: »Stephansmufife. 


394 | 1863. 


Eine große Symphonie italienischer Herkunft ift an fich 
ſchon etwas Seltenes, die Cherubini'ſche war obendrein bis 
heute in ein faft undurchdringliches Incognito gehüllt. Die 
»Muſeums-Geſellſchaft« in Frankfurt Hat das Manufcript von der 
Philharmonie Society in London erhalten und Herrn Herbed zum 
Behuf der Aufführung mitgetheilt. Die authentifhe Gejchichte 
jener philharmonifchen Gejelihaft (von ©. Hogarth) weiß 
gar nichts von einer Cherubinishen Symphonie, fondern 
nur don einigen Ouverturen und einer Cantate, welche Cheru- 
bini für die Gejellfihaft componirt hat. Aus anderen zweifel- 
lojen Daten läßt ſich übrigens faft mit Gewißheit folgern, daß 
die hier aufgeführte Symphonie in D-dur (wohl die einzige 
von GCherubini componirte) von ihm für die Philharmonie 
Society gefchrieben und im Frühling 1815 in London dirigirt 
worden ſei. Gedrudt ift fie niemald worden, doch Hat der 
Componiſt ihren mwejentlihen Inhalt noch einmal — wir willen 
nicht, ob früher oder jpäter — in einem Streichquartett ver: 
wendet. Wer mit großen Erwartungen an diefe Symphonie 
ging, wird eine anjehnlihe Enttäufchung erlebt haben. Es 
bedarf der ganzen Pietät für den Namen des großen Opern: 
Componiſten, um der Abwicklung dieſes zopfigen Gebildes 
theilnahmsvoll bis zu Ende zu folgen. Kunftooll geflochten, 
forgfältig gebunden, vornehm getragen — aber doch ein Zopf. 
Hoffe Niemand der Ideenfülle und ſchwungvollen Energie aus 
Cherubini’3 beften Opern hier zu begegnen. Er findet eine 
Haydn'ſche Symphonie mit künſtlich vergrößerten Gliedmaßen 
und vertrodneter Seele. Unſer Haydn, den Cherubini ſelbſt 
als feinen muſikaliſchen Water verehrte, hat aud zu biefer 
Symphonie einen fehr bedeutenden Alimentationd-Beitrag ge— 
zahlt. Aber fo ſehr der ganze Bau und unzählige melodijche 
Wendungen an Haydn erinnern, von feiner Friſche und feinem 
ichalfhaften Humor ift nichts geblieben. Der Ernit des allzeit 
pathetifchen Florentinerd wird hier, wo die Größe und Inge: 
wohntheit der Aufgabe ihm einen gemwiffen Zwang anlegten, 
zur Trodenheit und künftelnden Pedanterie. Unverkennbar iſt 
jeine Anftrengung, fih aus dem wirklichen und dem Adoptiv: 
Vaterland feiner Mufe, Italien und Fraufreih, zu deutſchem 


Beethoven's »KHönig Stephan«, 395 


Sthl herauszuarbeiten; die Spontaneität, die naive Urfprüng- 
lichkeit des Schaffens ging darüber verloren. Einzelne inter: 
ejlante Stellen laben den Hörer von Zeit zu Zeit, am Schluffe 
bat er troßdem ‚das Gefühl, beinahe verihmacdtet zu fein. 
Welche Erfrifhung breitete fih mit den erften Takten von 
Weber's »Concertftüd« über den Saal! Herr Taufig fpielte 
die reizvolle Compofition, und zwar — wie nicht anders zu 
erwarten — mit vollendeter Birtuofität. Er jpielte mit den 
Schwierigkeiten, aber auch ein wenig mit der Sade jelbit: 
der Vortrag, geiftreich und eigenthümlich, hatte mitunter etwas 
Zerriffenes, überlegen Blafirtes. 

Bon bejonderem Interefle war die Schlußnummer: Beet: 
hoven's Muſik zu dem Kogebue’ihen Feſtſpiel »König 
Stephan«, oder wie der urfprünglide Titel lautete: »Ungarns 
eriter MWohlthätere. Wir verdanfen Herrn Herbed die erite 
volftändige Goncertaufführung tiefes Werkes, von dem bisher 
nur einzelne Bruchſtücke aufgeführt und nur zwei Nummern 
(Duverture und Feſtmarſch) gedrudt waren. Erſt in der neuen 
Gefammt- Ausgabe Beethoven’3 (von Breitlopf & Härtel) hat 
nun auc dies Feitipiel feinen ihm gebührenden Platz gefunden. 
Die Veranlaffung dazu war befanntlid die Eröffnung des 
deutihen Theaters in Belt im Sahre 1812. Man Hatte 
Kotzebue mit der Abfafjung einer Trilogie aus der ungarifchen 
Geſchichte beauftragt und Beethoven mit der Compofition der 
Mufikitüde im Vor: und Nadipiel. Das einaftige Vorſpiel 
mit Chören, das die Feltvoritellung am 9. Februar 1812 
eröffnete, war »Ungarns erfter Wohlthäter« und ftellte 
König Stephan I. in den wichtigſten Momenten feiner Regie: 
rung dar. Das eigentlihe Drama, welches Kotebue unter dem 
Titel »Bela’3 Flucht« verfaßt hatte, konnte aus verichiedenen 
Nücfichten nicht gegeben werden; es wurde dafür »Die Er: 
hbebung von Beit zur königlichen Freiltadt« (auß der 
Geſchichte des Jahres 1244) jubftituirt. Hierauf folgte das - 
Nachſpiel mit Gefängen und Chören, »Die Auinen von 
Athene. Die Mufif zu Teßterem, durch häufige Goncertauf: 
führungen befannt, Steht nicht nur an äußerem Umfange, jon: 
dern auch an muſikaliſchem Werthe hoch über dem »König 


396 1865, 


Stephan«. Stüde von der hinreißenden Wirkung des Derwiſch— 
Chores oder des Türfenmariches aus den »Ruinen von Athen « 
wird man in »König Stephan« vergeblich ſuchen. Beethoven 
hat das Worfpiel ungleich flüchtiger behandelt, die Muſik mehr 
decorativ als jelbititändig verwendet; feine volle Kraft jparte 
er für die lohnenderen Aufgaben des Nachſpiels. Im »König 
Stephan« jehen wir nur die Tage ded mufifaliichen Löwen, 
im Nachipiel diefen felbft. Um Beethoven’: Mufif zu »König 
Stephan« gerecht zu beurtheilen, darf man feinen Augenblick 
auf deren beitimmten theatralifchen Zwed vergeffen. Die 
Mufit mußte fih Hier. in kleinen und möglihft populären 
Formen bewegen und hatte mehr die Beltimmung, eine Reihe 
raſch aufeinanderfolgender tableauartiger Scenen zu illuftriren, 
als eine eigentlich dramatiihe Entwidlung mit vollem Lebens— 
hauch zu erfüllen. Die abicheulichen Verſe Kotzebue's konnten 
den Gomponiften unmöglich begeiltern, und der Snhalt des 
König Stephan« war jo ausfchlieglih ungariih, daß Beet— 
hoven gar nicht hoffen durfte, es werde feine Arbeit über 
jenen Feitabend hinaus und vor dem nichtsungarifhen Bublicum 
Europas ihr Leben felbititändig fortfegen. Wir müfjen ung 
aljo beicheiden, eine raſch hingeworfene Gelegenheitämufif 
Beethoven’s zu hören, und das bleibt unter allen Umftänden 
ein micht zu verichmähender Schatz. Obendrein ftammt dieſe 
Gelegenheitsmufif aus der frifcheften, üppigiten Periode des 
Meifters (fechite und fiebente Symphonie). In der Ouperture 
pulfirt ein rajches, fühnes Blut; die wunderlich zerhadte Form 
läßt aber feine einheitlihe Wirkung auffommen. Einfach, wohl 
zu einfach treten die beiden erften Männerchöre auf, Eleinite 
Abichnigel von Beethoven’3 Purpur. Der Frauendhor hingegen 
mit feinen zierlihen Flöten-Guirlanden ift von bezaubernder 
Lieblichkeit. Der Feſtmarſch imponirt nicht durch Neuheit der 
Motive, aber durch eine gewiſſe großartige Popularität, wie 
fie neben Beethoven fein Zweiter in feiner Gewalt hatte. Der 
jehr furze »religiöfe Marſch« fällt daneben beträdtlid ab. 
Was in der Concertaufführung am unwirkſamſten bleibt, find 
die rein melodramatifchen Partien; an Ort und Stelle mußte 
die mufifaliihe Begleitung der »Bifion Stephan’s« fehr bes 


Quartett von Rubinſtein. 397 


deutend wirken. Der in charakteriitiihen Cſardas-Rhythmen 
aufjubelnde, beinahe ungariſch-deutſch declamirende Schlußchor 
mit feinen gellend hohen Soprantönen und raufchendem Or: 
cheſter Schlägt tüchtig ein; wir fönnen und den Enthufiasmus 
des magyarifchen Publicums von 1812 lebhaft vorftellen. Bei 
aller bewundernden Anerkennung der theatraliihen Zweck— 
mäßigfeit diejer Feſtmuſik wird man doc nicht leugnen können, 
daß fie im Goncertjaal nur geringen Eindrud madt. 


KHammermulik. 


Hellmesberger’3 dritte Quartett-Soiré bradte 
ein neues Clavier-Quartett von Rubinftein (C-dur, op. 66). 
Das Thema des erften Satzes iſt von hinreißender Schönheit. 
Sn der Ausführung macht der Componift beimweitem nicht 
daraus, was man erwarten durfte, troßdem bleibt der 
Total-Eindrud des Satzes, der nah mancherlei Stodungen 
und ımbebdeutenden Phrafen fih zum Schluſſe wieder auf: 
zuſchwingen mweiß, ein günftiger. Minder bedeutend, doch 
von rafhem Zug und pridelndem Eſprit ift das Scherzo. Von 
da geht es, wie gewöhnlich bei Aubinjtein, ftufen= und ter: 
raffenweije abwärts. Das Auditorium, daS die beiden erften 
Sätze lebhaft beflatichte, nahm die beiden leßten mit eifiger 
Kälte auf. Das langgeitredte Adagio gleicht einer Wüſte, in 
welder uns nur jelten und von fern der warme Ton einer 
menſchlichen Stimme grüßt. Doch iſt es immerhin noch von 
einer gewiſſen düfter-melandoliihen Stimmung angehaudt. In 
dem Finale aber finden wir gar nichts mehr, an was wir una 
flammern könnten, weder mufifalifche Erfindung, nach poetifche 
Stimmung, weder glüdlihe melodiſche Einfälle, noch kunſtvolle 
Arbeit. Das Ganze ift roh und reizlos, wie in verdrießlicher 
Eile hingeworfen, damit doch das Quartett in Gottes Namen 
einen Schluß habe. Mit diefem kurzen Bericht über Aubin- 
ftein’3 neueſtes Werk haben wir leider die Biographie faſt 
aller feiner mehrjägigen Gompofitionen gejchrieben. Wir kennen 
feine einzige die, durchaus auf gleihe Höhe ſchwebend, 


398 1865. 


al3 Ganzes ſchön und bedeutend heißen dürfte Rubinſtein's 
Erfindung gleicht einem raſch und glänzend auflodernden Feuer, 
da3 jchnell erliiht. Seine Kunſt und Ausdauer reihen niemals 
aus, dies Erlöfchen zu hindern, und feine Selbitkritif jagt ihm 
niemals, daß es längft nur glimmendes Gebälf oder todte 
Aſche ift, was er, unbefümmert fortichreibend, dem Anfangs 
entzücten Hörer bietet. Wie jchade, daß Rubinftein Alles immer 
nur dem »Genie« anheimitellt, dad er wild und unmwillfürlich 
umberjagen läßt. Das Genie muß das Kunſtwerk beginnen, 
aber nur die Arbeit vollendet e3. 


Die Allman'ſchen Soncerte und Gar- 
Lotta PRatti. 


So wären denn auch bei uns die berühmten Ullman’ichen 
Wanderconcerte ind Leben getreten. Außer ihrem Zeititern, 
Garlotta Patti, und den ihm folgenden heiligen drei Königen 
der Suftrumental-Virtwofität, Vieurtemps, Piatti und Jaell, 
interejjirt uns noch die ganze Form dieſer Unternehmung an 
ih. Sie iſt etwas durchaus Neues und Fremdartiges. Durch 
ihren eminent gejchäftlichen, alfo ungemüthlichen Charakter und 
das große Geräufh, mit dem fie allerorten einzieht, hat 
Ullman’3 Concertgeſellſchaft fih in Deutjchland zahlreiche 
Gegner gemadt. Auch bier hörten wir fie täglid mit ben 
Schlagworten »Schwindel«e und »Humbug« von vornherein 
und ungehört verdammen. Die Sade ift wohl werth, rubiger 
betrachtet zu werden. Wir glauben, daß man über Schwindel 
und Humbug nur dort flagen kann, wo eine Täufchung, eine 
Hebervortheilung des Publicums jtattfindet. Dann find Ullman’s 
Goncerte alles Andere eher, ald ein Schwindel. Sit und doch 
nirgends ein Concertunternehmen vorgefommen, dad dem Bus 
blicum für fo geringes Geld eine jolche Serie glänzender Namen 
und Leiftungen geboten hätte, An Einem Abend genießen wir 
die vereinten Kunftleiftungen von vier bis fünf Virtuofen euro— 
päiſchen Rufes, welche einzeln zu hören das Publicum fich ſonſt 


Die Ullman'ſchen Eoncerte und Carlotta Patti. 399 


glüklih genug ſchätzte; an ihrer Spike eine neue glänzende 
Berühmtheit, welche von Director Gye in London für eine ein: 
ige Concertfaifon die Kleinigkeit von 3000 Guineen erhält. 
Wenn Herr Ullman uns diefen Reiz und jene Trefflichkeit 
durch verdoppelte und verdreifahte Eintrittäpreife entgelten 
ließe, dann könnte man — noch immer nit von Schwindel 
ſprechen, höchſtens von einer Ausnügung des Publicums. Nun 
hört aber das Publicum bei Herrn Ullman die ganze illuſtre 
Künſtlergeſellſchaft um den gewöhnlichen, einfachen Preis, den auch 
der mittelmäßigſte Concertgeber für ſeine Perſon hier prätendirt. 
In dieſem Zuſammenwirken auserleſener Künſtler liegt aber noch 
ein eigener, höherer Reiz, als der blos finanzielle. So oft noch 
zwei berühmte Virtuoſen gleichzeitig in Wien concertirten, ver— 
nahm man auf Schritt und Tritt den Wunſch: Würden doch 
einmal Beide zuſammenſpielen! In den ſeltenen Fällen, daß 
dies ausnahmsweiſe geſchah, und Liſzt mit Ernſt, Clara Schu— 
mann mit Jenny Lind, Vieurtemps mit Dreyſchock aus Col— 
legialität oder zu wohlthätigen Zwecken einmal ein Duo aus— 
führten, wurde der Saal förmlich geſtürmt. Der Grund, 
weßhalb fich trotzdem niemals zwei Virtuofen zu gemeinfamen 
Eoncertreifen verbanden, war: ihr Stolz. Wer mochte Gold 
und Beifall mit einem Nebenbuhler theilen? Eine Frage diejer 
Solirung war, daß man bei jedem Concert eines berühmten 
Birtuofen ftet3 eine Anzahl jogenannter Zwiſchen- oder Ausfüll— 
nummern in den Kauf befam, welche durd; ihre Mittelmäßig- 
feit gehörig abftechen mußten. Diejes von den Goncertgebern 
fo ſchwer zu befchaffende und von den Hörern jo wenig geacdhtete 
Füllwerk ift in Ullman's Goncerten gänzlich bejeitigt, ba 
jede Nummer von einem audgezeihneten Künftler ausgeführt 
wird, fo daß wenigſtens die gleich vortreffliche Erequirung 
aller Mufikftücde eine gewiffe Harmonie über das etwas bumte 
Programm breitet. Die Affociation berühmter Birtuofen hat 
ihre Zukunft; die »Gejammtgaftipiele« namhafter Schaufpieler 
find eine anologe moderne Erſcheinung. 

Ein Umftand, der viele Mufikfreunde gegen die Ullman'ſche 
Unternehmung einnimmt, ift die eigenthümliche Haft des Erwerbes, 
das fchnelle Neijetempo, in dem die Geſellſchaft Deutichland 


400 1863. 


nah allen Richtungen überzieht, in einem Monat mehr Con— 
certe gebend, alö früher ein Virtuoſe in der ganzen Saiſon. 
Das hat allerdingd® wenig Gemüthliche® und möglicherweiſe 
viel Unangenehmes — für die Künftler. Bleiben wir aber 
beim PBublicum. Was verliert dieſes durch den Umstand, daß 
die Künftler, welche es heute entzüden, vor wenigen Tagen 
noch in Berlin oder München concertirt haben und bereits 
für die nächſte Woche in Graz ‚oder Belt angekündigt find? 
Das find heutzutage Spazierfahrten, vor wenig Decennien 
waren e3 Reifen. Wenn wir in der Jugendgejchichte, der pa= 
triarchaliichen eilenbahnlojen, des Virtuoſenthums blättern und 
die unaufhörliden weiten Reifen eine Lolli, Jarnopic, 
Steibelt, jpäter noch eines Hummel und Paganini be— 
denken, jo werben wir faum zweifelhaft fein, wer um des 
Concertirens willen mehr Retjeplagen erduldet habe, die Alten 
oder die Jungen. 
Aber die entjeglichen Reclamen dieſes Herrn Ullman!- 
Auch damit iſt's nicht jo arg. Wir haben bis jegt in den 
Miener Blättern zwar eine Unmaſſe Anzeigen und Inſerate des 
Herrn Ullman, aber feine einzige ımbejcheidene Anpreiſung 
jeiner Künftler getroffen. Herr Ullman braudt, um auch nur 
jeine Koſten zu deden, ein außerordentlid großes Publicum, 
und ein jolches läßt fih ohne zahlreihe und auffallende 
Annoncen nicht herbeiloden. Eine für Concertzwede bisher 
unerhörte Benügung der Wublicität iſt noch immer feine 
»Reclame« im tadelnden Sinn. Wir wollen dies gar nicht 
der Tugend des jchlauen Imprejario zugute jchreiben, offenbar 
fennt er Deutichland Hinlänglid, um zu wiffen, daß man mit 
engliihen und amerifaniihen Buff? die Meinung des Bublicums 
und der Kritik in Wien, Berlin, München nit gewinnt, vielmehr 
fih fie entfremdet. Bon Ullman’3 jogenannten Reclamen kennen 
wir blos eine in Berlin gedrudte Brojchüre von wenigen Seiten: 
eine fleine Sammlung von Recenfionen über Garlotta Patti, 
größtentheild aus der Feder bekannter und allgemein geachteter 
Kritiker. In einigen einleitenden Worten ſpricht Herr Ullman den 
Wunſch aus, der Hörer möge, um feine Erwartungen nicht 
getäufcht zu ſehen, von diefer Sängerin ja nicht Vorzüge 


Die Ulman’ihen Concerte und Carlotta Patti. 401 


erwarten, welche ihr verjagt find. »Leidenjchaftlicher Ausdrud« 
jei ihr fremd, fie fei »feine dramatiihe Sängerin« und 
habe ihren großen Auf »niht durch das, was die ftrenge 
Kritit veredelte Kunſt nennt, wie eine Sonntag oder 
Jenny Linde, jondern als eine Specialität erlangt. Das ift 
gewiß nichts weniger als Schönfärberei. In England und 
Amerifa, wo die öffentlihe Aufmerkſamkeit, gewohnt, mit 
Schüreiien und Thorbalfen gefigelt zu werden, die gröbſten 
Mittel der Reclame erwartet, wo jelbit der Gebildete den 
Champagner nit ohne Branntweinzufag mag, geſchweige den 
den Goncertzettel — dort verjteht Herr Ullman allerdings ſtär— 
fere Regifter aufzuziehen. In Amerika fand fein Erfindungsgeiit 
das richtige Terrain; was er dort alles aushedte, um Geld 
und Ruhm zu machen, ericheint und Kindern der alten Welt 
mitunter geradezu unglaubli. Al die berühmte Sonntag, 
welde von Ullman nad Amerika engagirt war, in New-York 
eintreffen jollte, beichlojjen die Mufifer diefer Stadt, ihr eine 
Serenade zu bringen. Ullman erbot ji) dem Comité Ddiejer 
Mufiker, die Serenade felbit zu leiten und die Koften tragen 
zu wollen. Er verfündigte fofort durch Inſerate und Placate 
an den Straßeneden, daß die von den Newyorker Mufikern 
zur Begrüßung der großen Sängerin vorbereitete Serenade 
um Mitternacht bei Fackelſchein mit einem Orcheiter von 400 
Mufifern und 1000 Sängern ftattfinden werde. Die Herren 
vom Comité eröffneten ganz erfchredt Herrn Ullman, daß man 
in ganz New: York kaum ein Ordefter von 150 Mann zu: 
jammenbringen fönne und daß feine Annonce fie Alle der 
LZächerlichfeit preisgebe. Ullman bejhwichtigte das Comité mit 
der Mittheilung, er habe die fämmtlichen Orcheſter von Bojfton, 
Baltimore und Philadelphia telegraphifh verfchrieben und 
jcheue für den gedachten Zweck gar feine Unkoſten. Das Rejultat 
diefe8 Manövers war, daß 200.000 Menſchen, begierig, dies 
Sratisconcert zu hören, zufammenliefen und alle Zugänge zum 
Unionplag, auf welhem die Sonntag wohnte, dermaßen ver— 
ftopften, daß nit einmal die SO wirklich engagirten Mufifer 
fih Hindurhdrängen fonnten. Es eniltand ein fFürchterliches 
Gefchrei und Gepfeife, aber Herr Ullman Hatte jeinen Zweck 


Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 26 


402 - 1865. 


erreicht: er Hatte 200.000 Menichen auf die Beine gebradt, 
die von der Sonntag redeten. Solde Späffe, in Amerika be- 
wundert, find bei uns gottlob unmöglich. 

Wie fommt es nur, wird man fragen, daß die als 
Dame und Künftlerin fo vornehme Sonntag, daß die auöge- 
zeichnetiten Virtuoſen nah ihr, fi gern diejem Unternehmer 
engagirten? Dieſe zweite Frage, das Berhältniß der concer- 
tirenden Künftler zu einem mit ihrem Talent jpeculirenden 
Unternehmer, iſt etwas bedenflicher, als die früher beleuchtete 
nach dem Intereſſe des Publicums. Wir geftehen unverholen, 
daß diefe Art künſtleriſcher Leibeigenſchaft uns ſtets einen un— 
angenehmen Gindrud gemacht hat, und daß wir dieje Jubjective 
Empfindung niemal® ganz verloren haben, noch verlieren wer— 
den. Gerade deshalb hielten wir es eben für Pflicht, die durch 
ihre Neuheit und frappirende und dadurd vielleicht ungerecht 
ftimmende Erſcheinung der modernen Aſſociations-Concerte mög— 
lichit unbefangen von beiden Seiten zu betrachten. Fragt man 
die engagirten Künstler jelbft, fo vernimmt man faſt durchaus, 
daß fie fi) dabei wohl und zufrieden befinden. Sie beziehen, 
unabhängig von den Tageseinnahmen, einen jehr namhaften 
firen Gehalt und den vollftändigen Erſatz der Reiſekoſten. In 
unferer Zeit, wo die Virtuoſen-Concerte längft eine undankbare 
und mißlihe Speculation geworden find, muß dem Künſtler 
ein fichere® Budget jehr willfommen jein. Es iſt für den ein- 
zelnen Birtuojen gar Eoftipielig, gegenwärtig Goncerte zu geben, 
e3 ift aber auch nebenbei jehr mühevoll, zeitraubend und ver— 
drießlih, al die nothmwendigen Vorbereitungen dazu ſelbſt zu 
treffen. »3ch würde mit Vergnügen jedes Concert dreimal hinter 
einander jpielen«, fo jagte uns mehr ala Gin Virtuoſe, »wäre 
ih dadurch der Mühen und Sorgen enthoben, die mir das 
Arrangement eines einzigen verurjachte. Diejen Wunf erfüllt 
die Ullman'ſche Unternehmung vollftändig; die Künftler ſpielen 
öfter als jonft, find aber aller Sorgen enthoben. Der Unter: 
nehmer ift ihr Reiſemarſchall, Secretär und Bantier. 

Die in engliſchem Geift und lakoniſcher Kürze abgefaßten 
Contracte fonımen uns Deutichen etwas jeltfam vor. »Herr 
Vieurtemps oder Herr Jaell verpflichtet fih für ſechs 


Die Ullman'ſchen Concerte und Garlotta Patti. 403 


Monate oder ein Jahr in Herrn Ullman's Concerten zu fpielen, 
wo und warn es dieſem zwedmäßig ericheint, gegen ein 
monatliches Honorar von fo umd fo viel taujend Francs und 
Vergütung der Reiſekoſten«. Fiele e8 Herrn Ullman ein, drei 
Goncerte an einem Tag zu geben, jo hätte Herr Vieurtemps 
oder Herr Jaell nicht das leiſeſte Recht, dagegen zu proteftiren. 
Hier muß das perjönlihe Vertrauen eintreten nnd ſich vor 
die gefährlihen Mündungen des Contractes Stellen. Der Kinftler 
weiß eben, daß dieſer nicht jo ſcharf geladen ift, und daß 
Herr Ullman unbillige Forderungen nicht ftellen wird. Er 
weiß überdies, daß, wenn er durd Krankheit verhindert würde, 
an einem oder an zehn und zwölf Eoncerten mitzuwirfen, feine 
Gage ungeichmälert fortläuft. Bor zwei Jahren hatte Herr 
Ulman einen berühmten deutjchen Gelliften (Kellermann) für 
drei Monate engagirt; nach den erjten 14 Tagen wurde Diejer 
dur einen Schlaganfall gelähmt, erhielt aber trogdem jeinen 
Gehalt für die ganze Zeit ausbezahlt. In Berlin jollen Herrn 
Ulman durch ein längeres Unmwohljein Carlotta Patti's Taufende 
von Gulden entgangen fein, der Sängerin entging fein Heller. 
Das find, meinen wir, für den reilenden Künftler Dinge von 
Werth und Wichtigkeit. 

Die Gewohnheit macht, daß wir im Bühnenweſen, ins— 
bejondere bei den italienischen Opern-Geſellſchaften, dasjenige 
faum mehr bemerfen, was uns an den Concert-Ajfociationen 
noch jo ſehr befremdet. Auch dort dasjelbe Princip des ge: 
meinjchaftlihen Reiſens und Producirend, der Herrſchaft des 
zahlenden Unternehmers über feine Künftler. In London ver: 
wendet der Director der italieniichen Oper von Her Majesty’s 
theatre jeine Opernfänger nah Belieben in den verichiedenften 
Städten Großbritanniens, auf der Bühne und im Concertiaal, 
und hat das Recht, ihnen jede Mitwirkung in öffentlichen oder 
Privat: Akademien zu unterfagen. Bon allen Kunftzweigen hat 
aber von jeher das mufitaliiche Virtuoſenthum die geichäftliche 
Seite, die Tendenz nah Geldgewinn, am wenigiten ver: 
leugnet. Schon der alte Forfel, der im Allgemeinen den 
Eoncerten eine große fünftleriihe Milton zugeiteht, definirt 
(1783) die Birtuofen-Concerte als folche, »die blos zum 

26* 


404 1008. 


Gelderwerb gegeben werden«e. Der Pirtuofe reift in der Negel, 
um Geld zu verdienen. 

Die muſikaliſchen Inftitute, bei welchen der tiefere künſt— 
lerifche Gehalt als Hauptfache, die echte Kunftpflege als Selbft- 
zwed erjcheint, find die ftehenden Orcefter:, Chor: und Sammer: 
Eoncerte. Die Virtuofen-Eoncerte als folhe waren es niemal3. 
Nur vereinzelte Virtuoſen gab es und wird es hoffentlich 
immer geben, welche die höchſten Ziele der Kunſt verfolgen, 
und dieſe werden auch künftig allein reifen. Die Ullman’ichen 
Concerte haben das leichte glänzende Genre, die Virtuofität 
par excellence, fomit die Unterhaltung eines größeren Bublicums 
im Auge Wenn fih jet mehr als früher die gefchäftliche 
Tendenz des Virtuoſenthums bemerkbar macht, jo Tiegt Dies 
theils in dem allgemeinen praktiſchen Zug der Gegenwart, theils 
in den ſtark gefunfenen Gurfen des ehemals florirenden Vir— 
tuoſenthums. Diefe Blüthenzeit (die Lilzt:Thalberg’ihe Epoche) 
währte nicht lange, noch weniger war fie bon Anbeginn da. 
Wenn wir in einer Wiener Correfpondenz der Leipziger Mufif- 
zeitung vom Sahre 1803 leſen: »Die Künftler haben Hier 
einen bitteren Kampf zu beftehen; oft hilft ein Theil des 
funftliebenden Publicums und das MWohlwollen einiger Fürften 
dem Bedrängten dur; Subfcription aus der Klemme«, jo iſt 
damit ein alter, langmwährender Zuftand bezeichnet, der das 
ältere Virtuoſenthum nicht in beneidenswerthem Lichte zeigt. 
Zu Anfang diefes und im Verlauf des vorigen Jahrhunderts 
mußten felbft große und berühmte Künftler fih dazu bequemen, 
wochenlang vor ihrem Auftreten in allen möglichen Soirden 
zu fpielen, um fi) dadurch Zuhörer für ihr eigene® Concert 
zu fihern. Dann gingen fie mit den Eintrittöfarten oder dem 
Subſcriptionsbogen in den Häufern der Adeligen und Reichen 
förmlich haufiren. Dies war die Gepflogenheit der »guten, 
alten Zeit« — mir finden fie mühjeliger und demüthigender, 
als die Stellung von Ullman's engagirten Künftlern, die nur 
an die Trefflichkeit ihrer Leiftungen zu denfen und fonft um 
nicht und um Niemanden fi zu kümmern haben. An Die 
Stelle der großmüthigen Mriftofraten und Bankiers iſt jetzt 
das große Publicum getreten, und alle geichäftlihe Thätigkeit 


Carlotta Patti. 405 


und Berehnung concentrirt fih in der Perſon des Inter: 
nehmer. Indem diejer, als Geihäftgmann von Fach, feine 
Aufgabe überdies mit mehr Geſchick und Erfolg löft, als der 
Kiünftler jelbit e& vermöchte, jo befördert er gleichzeitig das In— 
terejje feines Gejchäfts, der Virtuojen und des Publicums. 

Died wären etwa die Gefichtöpunfte, welche für die viel 
angefeindete Yorm der Aſſociations-Concerte ſprechen. Wir 
geben fie lediglich als Thatſachen und ohne einen ungebühr- 
lichen Nahdrud darauf zu legen; der Lejer möge fie nad 
Gefallen abwägen, allein erwägen muß fie, wer über das 
Ganze urtheilen will. Wir erbliden in dieſen Affociations- 
Goncerten eine neue, interefjante Culturerjcheinung, die aller: 
dings nur aus dem leidigen Gejchäftsgeift der Gegenwart ſich 
herausgebildet hat, aber auch erjt bei der jekigen Vervoll— 
fommnung des Weltverfehr8 und der impofanten Maſſe des 
modernen Publicums möglich ward. 


Das erfte „Yatti:&oncerf“. 


Was die gefeierte Carlotta Patti betrifft, fo will fie 
mit einem eigenen Maßitab gemefjen fein. Die abnorme Höhe 
ihrer Stimme und mehr nod die erftaunliche Leichtigkeit und 
Sicherheit, mit der fie ſich in jener dreigeftrichenen Schnee- 
region des Geſanges bewegt, in welcher ſelbſt einer Mali: 
bran und Catalani jeder Athemzug vergangen wäre, ftem- 
peln Carlotta Patti zu einer biöher nicht vorgefommenen 
Specialität. Sie erreiht Töne, wie daß dreigeftrichene d, e, f, 
nicht etwa in gemwagtem, bligartigem Sprung oder vorberei: 
tendem Anlauf, jondern ſetzt fie nah einer Paufe pianissimo 
oder mezzovoce frei, mit vollendeter Reinheit und Ruhe ein, 
ſchwellt ſie bis zum fortissimo und läßt fie allmälig wieder 
zum Hauch verflingen. In der Linda-Arie hörten wir Triller 
auf dem hohen des und es, im »Garneval von Venedig« ein 
lang und kraftroll ausgehaltene® e, in dem (nad) Es-dur 
transponirten) »Schattenwalzer« der Dinorah Echo-Effecte in 
den höchſten Lagen, einmal fogar in ſchönſtem Klang das 


406 1865. 


dreigeitrichene ges! Durch dieje wahrhaft außerordentliche Kehle 
und durch die Virtuofität in Allem, was auf jenem ihr allein 
gehörigen Höhengebiete jich bewegt, iſt Carlotta Patti uns 
ftreitig eine Erfcheinung ohnegleichen. Ihre Intonation ift ſtets 
haaricharf, ihre Virtuofität nach einigen Richtungen ſehr aus— 
gebildet, vor Allem im Staccato, das man nicht glänzender 
hervorbringen fann, al® fie es in den Sertenfprüngen Der 
Linda:Arie und am Schluß der »Ladjcouplet3« thut. Der 
Triller ift Leicht und flüffig, aber nicht immer von tadellofer 
Gleichheit; am wenigſten befriedigte die Verbindung der Töne 
im Legato, namentlich bei herabfteigender Scala. Als voll— 
endete Geſangskünſtlerin ericheint und demnad Carlotta Patti 
troß all ihrer blendenden Kunſtſtücke nicht, und wir können fie, 
auch von blos technischen Standpunkt, unmöglid in eine Reihe 
mit Adelina Patti oder Déſirée Artöt Stellen. Der 
Klang diefer phönomenalen Stimme ift nit ohne eigenthüme 
lihen Reiz — die Höhe filberglödchenartig — hat aber weder 
Größe noh Wärme. Sie it von einem falten Glanz, der im 
Paſſagenwerk an Sterngeflimmer, in ruhiger Ausbreitung auf 
den höchiten Noten an das weiße Licht des Magneſiums er— 
innert. Eine gewiſſe Samilienähnlichfeit herrſcht zwiſchen den 
Stimmen Carlotta's und ihrer jüngeren Schweiter, ungefähr 
wie zwiſchen ihren Gefichtszügen, doch ift Adelina's Organ 
voller, wärmer und vor Allem empfänglicher für alle Schat- 
tirungen des Ausdruds. Die mittleren und tieferen Töne 
Garlotta’3 haben wenig Körper und Rundung; wenn fie eine 
Gantilene im gewöhnlicher Gejangslage anhebt (wie gleich an— 
fang in der Linda-Arie), jo glaubt man faft eine Sinder- 
ftimme zu vernehmen und laufcht ihr mehr befremdet alö be- 
friedigt. Wir mußten den Timbre diefer Stimme erft förmlich 
gewöhnen, er jagte uns in der dritten Nummer beffer zu, als 
in der zweiten und erjten, und am beften in der legten. Und 
ihr Vortrag? Er gleiht frappant der Stimme. Strahlend, 
elegant, jogar grazids, läßt der Geſang Garlotta’3 die meite, 
reihe Welt des Gedanken: und der Empfindung völlig ab— 
jeitö; daS ewige Meer der Leidenschaft fräufelt er nicht mit 
Einer Welle, Er blendet den Sinn, entzüct ihn vielleicht, aber 


Tas erfte »Patti⸗Concert«. 407 


zum Herzen findet er feinen Weg. Aus diejen Tönen dringt 
nicht Blumenduft noch Frühlingswärme zu uns; fein Drud 
einer geliebten Hand, fein Blick eines jeelenvollen Auges — 
wir find allein unter gejchliffenen Kryſtallen und hellpolirtem 
Marmor. Der Hörer fommt aus dem Betwundern nicht heranz, 
der Fritifer nicht über die Bewunderung. Garlotta Patti 
it eine eminente Merfwürdigfeit, man muß fie gehört haben. 
Wie mähtig man fich hierauf gedrängt fühle, fie oft und 
wieder zu hören, dad mag die Empfindung jedes Einzelnen 
enticheiden. Am meiften erftaunt hat uns unter Garlotta’3 
Vorträgen der »Garneval von Venedig«, am aufıichtigiten er- 
freut die Couplet3 (l’celat de rire) von Auber. Diefer an— 
ſpruchsloſe Scherz ſchien und, jo wie er äußerlich die ſchönen 
ftatuarifhen Züge der Sängerin plößlich belebte, auch ihren 
Gefang ein eigenthümliches Leben einzuhauchen. Diejes Lied 
fingt Carlotta Patti nicht blos mit Bravour, fondern in der 
That mit Efprit und Tiebendwürdigem Humor. Das Publicum 
ſchien derjelben Anficht, es fteigerte den Beifall, den es ber 
Künftlerin nach jeder Nummer fo reichlich geipendet, nach den 
Lach-Couplets zum vollftändigen Sturm. Ueberdies wirft das 
gejungene Lachen anftedend; es war zu ergößlich, nicht als 
lähelnde und lachende Gefichter im ganzen Saale zu jehen. 
Herr Ullman hatte eigend aus Paris Roger fommen 
laſſen. Der berühmte Tenorijt, einſt die Zierde der Opera 
eomique und fpäter der großen Oper in Paris, ſang Schu: 
bert3 »Erlfönige und die befannten »Wögelein« von Gum— 
bert. Eine wunderliche Wahl, wenn fie auch vielleicht ein 
»Compliment an die deutſche Nation« vorjtellen ſollte Roger's 
Erlfönig ift die conjequenteite dramatiiche Ausführung und 
Zufpigung der an ſich Schon bedenklichen Intentionen Schubert’2. 
Sie ftreift an geiftreihe Carricatur und hat nur einen Kleinen 
Schritt zu dem vollitändigen Erperiment, den »Erlfönig« von 
3 verichiedenen Perfonen fingen zu laſſen. Roger's Vortrag 
accentuirt mehr die Echattenjeiten als die Vorzüge der Come 
pofition und producirt mehr den Schaufpieler ald den Sänger. 
Letterer trat in den Gumbert'ſchen Bänkelſang etwas deutlicher 
hervor; wir erfannten wieder, wie durch einen Schleier, Roger's 


408 1865. 


ehemals twundervolled Portamento, — aber was wurde ge— 
tragen? Gin troftlojes Lied und eine trojtlofe Stimme, E3 
jchmerzt, über daS gegenwärtige Singen des großen Künftlers 
iprechen zu müſſen, der uns einjt mehr als irgend ein Anderer 
das deal eined dramatiichen Sängers ahnen, mitunter auch 
vollfommen jchauen Tieß. Roger's Erjcheinung hat fih merk: 
würdig unverändert erhalten; dieſelbe glatte edle Stirne, der 
jugendlihe Mund, der ernite Blick voll Geift und Güte, Aber 
von der Stimme wollen wir jchweigen, und von dem Kampf 
de3 Sängers mit dieſem zertrümmerten Inſtrument. Roger 
macht allerding® auch jegt noch einen weit ebleren Eindrud, 
al fein zum Poſſenreißer herabgefonımener berühmter College 
Ronconi. Beide Künftler erfüllen aber hier diejelbe weh— 
müthige Miffion: ihren eigenen Nefrolog zu fingen. 

Jede neue Erfcheinung von großem Auf ift bei ihren: 
erften Auftreten verurtheilt, ungemefjenen und oft ſehr unbe- 
ftimmten Erwartungen gegenüberzuftehen. Vermißt der Hörer . 
einige geträumte Vorzüge, jo wird das Gefühl theilweijer Ent- 
taufhung ihn auch die wirklich vorhandenen leicht unterfhägen 
faffen. Erjt wenn der Eindrud des Neuen, Befremdenden über- 
wunden und man über das äjthetiihe Soll und Haben im: 
Klaren iſt, Hört man unbefangener und urtheilt geredter. 
Wir haben und mit der Stimme Carlotta Patti's viel mehr 
befreundet, fie in den fpäteren Concerten jchöner und voll: 
tönender gefunden, ald am erjten Abend. Hin und wieder, 3.8. 
in Gounod’3 »Ave Maria«, verrietd ein Ton bon über: 
rafchender Kraft, daß dieſe filbertönige Stimme auch nad) 
Seite des Volumens weniger ftiefmütterlich bedacht fei, als fie in 
der Regel jcheint. Diefe und ähnliche Wahrnehmungen flößten 
und Reſpect ein vor ihrem ftreng eingehaltenen Princip: Maß 
zu halten, die reine Schönheit des Tons niemald zu alteriren. 
Garlotta Patti vermeidet, auch nur der Grenze des Schreiens 
fi zu nähern, und wird, beiläufig gejagt, troß ihrer angejtrengten 
Thätigfeit ihre Stimme ohne Zweifel lange bewahren. Hierin 
ericheint fie als ein Zögling der beiten italienischen Schule. 
Stein Zweifel, daß ihre leidenſchaftsloſe Ruhe dieſes Maß— 
halten ſehr erleihtert, aber blos als »Kälte« können wir 


Daß erfte »Patti-Goncerte. 409 


nicht mehr betrachten, was fi und als ein confequentes — 
ſei es auch einfeitig auögebildetes — Schönheitprincip er: 
wiefen hat. Es iſt dasjelbe PBrincip des reinen MWohllauts, 
dad die Linien einer italienifchen Melodie in jchöner janfter 
Rundung zieht. Ebenſowenig als wir die Patti jchreien oder 
medern hörten, haben wir fie im Vortrag jemals übertrieben 
oder affectirt, in Haltıng und Miene grimaffirend gejehen. Bei 
Wagſtücken wie daS »Lachlied« oder der »Carneval von 
Venedig« will dies nicht wenig jagen. Der Birtuofität Carlotta 
PBatti’3 find wir bereitö gerecht geivorden, aber auch in ihrer 
Gantilene beobachteten wir im Laufe ter verſchiedenen Pro- 
ductionen das MWalten einer Technik, die hochzuſchätzen nament: 
lih wir Deutihe allen Grund haben. »Die Deutjchen fingen 
mit dem Kopf und mit dem Herzen, aber nicht mit dem Ohr«, 
fo jagte ung wörtlich vor einigen Jahren Jenny Lind. Diejer 
Ausspruch einer großen und dur ihre germanische Abkunft 
wohl unparteiifhen Sängerin jchien una damals zu hart — 
taufendmal iſt er und jeither eingefallen. Den Gejang der 
Garlotta Patti hat wohl Jedermann einen fräftigeren Herz- 
ihlag gewünſcht, aber gewiß nicht ein feinered, Maß und 
MWohllaut fchärfer überwacendes Gehör. Carlotta Patti fang 
in der Concordia. Akademie das Duett aus Roſſini's »Stabat 
mater« mit einer unjerer intelligenteften uud ftimmbegabteften 
Sängerinnen. Während Erftere die Melodie fehr ruhig, gleich- 
fam in Einem leichten, weiten Bogen aufbaute, verjah Letztere 
fast jede Note mit einem gefühlvollen Accent, jo daß derjelbe 
Gejang hier gleihfam aus einer Anzahl Kleiner Crescendos 
und Decrescendos fi) zufammenfegte. in höheres Drittes 
geben wir zu, können aber nicht leugnen, daß die klare, mono 
tone Himmelsbläue des italienischen Vortrags ung nicht blos 
mufifalifch Schöner, fondern immer noch ſeelenvoller däuchte, als 
jene heftige Licht: und Scattenjpiel. 

Stimme und Gefangsmanier weifen Carlotta Patti vor: 
zugsweiſe an den Sologefang; in den Spinnquartett aus 
»Martha« jang fie zu ſchwach, was allerdings nicht ganz ent: 
Ihuldigt, daß die anderen drei Stimmen zu ftark begleiteten. 
Fräulein Patti die Wahnfinn-Arie aus »Lucia« im Coſtüm 


410 1865. 


vorgetragen zu jehen, wirkte ohne Zweifel als ein Lod- und 
Reizmittel auf die Beſucher der Goncordia:-Afademie. Die 
Leiltung war intereflant genug, indem fie im Spiel der Künſt— 
lerin dasjelbe Princip verrieth, mit wenigen, plaſtiſch-ſchönen 
Bewegungen auszureihen, Der dramatiſche Ausdruck erhob fi 
nicht merflih über den Concertvortrag. Bedenft man indeh, 
daß Carlotta Patti ſeit ihren erften Anfängen, vor vier Jahren, 
die Bühne nicht betreten und in ihrem Gang ein phyſiſches 
Hindernig mühlam zu befämpfen hat, jo erfcheint der Verſuch 
immerhin rejpectabel. Da die Accente tiefer Leidenschaft ihrem 
Geſang verſagt find, glauben wir nicht, daß die tragiihe Bühne 
an Garlotta Patti viel verloren habe. Hingegen jcheint ein jehr 
artiged® Talent für die komische Oper in ihr zu jchlummern. 
Das fröhlich Schmetternde, fo gut wie das freundlich Behäbige 
ihres Geſangs müßte, vereint mit dem bezaubernden Lachen 
Garlotta’3, in der Opera buffa trefflich wirfen. Sie ift »Die 
Lerche, nicht die Nachtigalle. Man fche die dürren Noten des 
Auber’ihen Lachliedes und urtheile jelbit, ob hier der Vortrag 
der Patti nicht gerade zu productiv fei. Nicht bloß neue 
Noten bat fie Hinzugefügt, fondern neue Effecte, die in Noten 
gar nicht zu faſſen find. Es ift und bleibt ihr Meifterftüdchen. 
Großen Beifall erregte Roger’3 Vortrag der Arie »Ah, quel 
plaisir d’ötre soldat« von Boieldien. Wir haben den weh: 
müthigen Eindrud nicht verhehlt, den Roger's »Erlfönig« und 
»Liebe Vögelein« jüngſt hervorgebracht; um jo größer war 
unfere Freude, mit einer jchöneren Erinnerung bon dem ver— 
ehrten Künstler jcheiden zu fönnen. Stimmen, die im Nieder: 
gang oder Untergang begriffen find, haben befanntlih von 
Zeit zu Zeit ihren »beau jour« (man denfe an Wild); ein 
ſolcher Glüddtag war der 26. December für Roger. Er bot 
jeine ganze Kraft und Energie auf, und da e3 einer Arie galt, 
in welcher er auch ohne Stimme faum einen Rivalen hätte, 
jo war der Eindrud ein ungewöhnlider. In Frack und Glace- 
hbandihuhen fang und ſpielte Roger die ganze reichbewegte 
Schilderung des Soldatenlebend. Die hinreiende Beredtſamkeit 
des Ausdruds und eine Fülle charakteriitiiher Züge ließen die 
Schäden der Stimme vergeffen. Hier jah man, wie Geijt und 


Das Dante-Goncert der Italiener in Wien. 411 


Temperament eines reproducirenden Künſtlers jchöpferiich wirken 
fönnen. Im Fach der eleganten fomifchen Oper stehen die 
franzöfiiden Sänger einzig da; Roger hat neben den beiten 
Traditionen diejer Kunft eine geniale Perfönlichkeit, die jede 
Tradition überholt, und neben dem Geilt der Schule noch 
jeinen eigenen. 


Das Dante: Eorncert der Italiener in 
Wien. 


Die koloſſale Büfte, welche am 14. Mai vom Occheſter 
im Nedoutenjaal auf das Publicum niederblicte, hat wohl 
zum eritenmale einem &oncerte präfiditt. Es iſt Dante's 
hagerer, ausdrudsvoller Kopf mit einem friihen Lorbeerfranze 
über der traditionellen wunderlichen Haube. Der große Dichter 
und Batriot, deifen fechshundertites Geburtsfeſt Italien, ja 
Europa feierlich begeht, war Schukpatron und FFeitobject 
de Concertes, daß die in Wien wohnhaften Italiener zur 
Feier dieſes Jubiläums veranftaltet hatten. Das Unternehmen, 
Zeichen eines jchönen PBatriotismus auf fremdem Boden, ver: 
dient die wärmfte Anerkennung, zumal die lodende Maienzeit 
wenig Hoffnung auf zahlreichen Beſuch eines Sonntagsconcertes 
geitattete. Der große Redoutenſaal zeigte ſich indeffen, wenn 
auch nicht gefüllt, doch anftändig bejudht. Die Akademie war 
ausſchließlich muſikaliſchen Inhalts — nit mit Recht, wie 
wir glauben, da. zur Verherrlihung eine® Dichters jedenfalld 
auch dem geiprochenen Wort eine Stelle gebührte. Daß man 
nur an die Mufif dachte, erklärt ſich zunächſt wohl auß der 
allgemeinen natürlichen Miffion diejer Kunſt, Pathenftelle bei 
jeder eine große Gejfammtheit bewegenden Feier zu vertreten, 
ſodann aus dem günftigen Zufanımentreffen des Feſtes mit der 
ttalieniichen Operngejelihaft in Wien. Lebtere hat den größten 
und beiten Theil ihrer Kräfte geftellt. 

Mit Ausnahme zweier Compofitionen von Händel und 
Gounod waren ſämmtliche Nummern von italieniihen Ton— 
dichtern, zwei davon nahmen unmittelbar Bezug auf Dante 


412 1865. 


und feine »Göttlihe Komödier. Nah Cherubini’s geiftvoller 
»Medea«-Duverture eröffnete Herr Everardi die Reihe der 
Solovorträge mit Gounod’3 jogenannter »Meditation«e. Der 
Componiſt jegt darin befanntlih auf Bad’: C-dur-PBräludium 
eine eigene Melodie für die Violine, — mir waren nicht 
wenig erjtaunt, nun auch noch als drittes Stodwerf über 
diejen beiden ein Ave Maria für Bariton : aufgebaut zu fehen. 
Eine glüdlihe Wahl war dies keineswegs, der trefflihe Sänger 
hätte in irgend einer guten italienifhen Arie feine Vorzüge weit 
glänzender und eigenthümlicher entfaltet. Es fchien eben, als 
wollten die Italiener diesmal beſonders feierlihe Mienen 
zeigen; fie hatten nur Stüde langfamen Tempo’3, pathetijchen 
düfteren Charakters und theilweiſe Eirchlichen Inhalts gewählt. 
Dadurh Fam über die ganze Production ein unleugbar mono: 
toner Anſtrich, etwas Gezwungenes, Schwüled. So dankenswerth 
auch manche dieſer Gaben erſchien, man fühlte, daß eine 
weſentliche, glänzende Seite der italieniſchen Muſik und Geſangs— 
kunſt, wenn nicht gar ihr eigentliches Temperament, gewaltſam 
zurückgedrängt war. Herr Mongini ſang (etwas zu tief, wie 
die ganze Saiſon hindurch) die As-dur-Arie aus Roſſini's 
»Stabat« (cujus animam gementem); eine ſüße, wenngleich 
wenig kirchliche Melodie, worin leider der Geſang von der 
vollen Blechharmonie häufig verſchlungen wird. Graziani's 
edle, liebenswürdige Weichheit ſtimmte wohl zu den ſchmelzen— 
den Weiſen von Stradella's Kirchenarie. Es folgte »Il sogno« 
von Mercadante, eine lyriſche Seufzerallee, umwinſelt von 
kläglichen Cellopaſſagen. Die Herren Röver und Boccolini 
verſchwendeten vergebliche Mühe daran. Deéſirée Artöt hatte 
Händel's ſchöne Arie »Lascia ch'io pianga« gewählt. Wer 
dieſe große Geſangsvirtuoſin noch nicht von Seite ihrer ſeltenen 
muſikaliſchen Bildung im klaſſiſchen Gebiet kennen gelernt, der 
fand Gelegenheit dazu in ihrem wahrhaft ſtylvollen, ſchlichten 
Vortrag dieſes ſchmuckloſen Satzes. Die beiden auf Dante 
bezüglihen Nummern des Programmes waren »lIgolino« von 
Donizetti und Pacini's neue »Dante-Symphonie«. Die 
dichtende und bildende Kunft hat bis auf die neueſte Zeit 
nicht aufgehört, fi Stoffe und Anregungen aus Dante zu 


Das Dante:Concert ber Ztaliener in Wien. 413 


holen; für die Muſik jtrömt eine fichtbare Quelle weder in der 
Perfönlichkeit noch in dem Gedicht des großen Florentiners. Einige 
Ihmwungvolle, die Macht der Töne preifende Terzinen bezeugen 
wohl, daß Dante diefem Zauber nicht verfchloffen war, ein 
näheres fünftlerifche® Verhältniß zur Muſik ſcheint er nicht 
gehabt zu haben. Verſuchte doch die Tonkunft eben ihre unbe— 
holfenen erften Schritte, ald die moderne Poeſie bereit3 einen 
MWunderbau wie die Divina comedia aufgeführt Hatte. Die 
Tontunft war damals faum in den Beſitz der Notirung, der 
Menſur, der mothwendigften harmoniſchen Geſetze gelangt; noch 
waren die Niederländer, die 200 Jahre ſpäter den Contrapunkt 
und damit wirkliche muſikaliſche Kunſtübung nach Italien ver— 
pflanzten, nicht hervorgetreten, noch beſtand das ganze Muſik— 
leben in theoretiſcher Speculation und den ungeregelten Rhap— 
ſodien der Troubadours. Dritthalb Jahrhunderte liegen zwiſchen 
der Geburt Dante's und jener Paleſtrina's. Die » Göttliche 
Comödie« ſelbſt, mit ihrem theils concret=hiftoriichen, theils 
myſtiſch-ſpeculatien Inhalt, mit den rieſigen Dimenſionen 
ihres kaum überſehbaren und doch ſo feſt zuſammenhängenden 
Baues mußte jede Mitwirkung der Muſik eher abwehren als 
anlocken. Es darf als ein muſikaliſches Curioſum gelten, daß 
Donizetti die Erzählung Ugolino's aus dem 33. Geſang des 
»Inferno« für eine Baßſtimme mit Clavierbegleitung componirt 
hat. Die Compoſition (im Jahre 1835 entſtanden und 
Lablache gewidmet) wurde hier von Herrn Angelini mit 
würdevollem Ausdruck vorgetragen. Bedeutend in der Erfindung 
oder frappant durch glückliche Auffaſſung iſt nicht ein Takt 
dieſer langwierigen Monodie; aber ſie erhält ſich einfach, an— 
ſpruchslos, muſikaliſch in feinem Punkt verletzend. Donizetti 
iſt ſichtlich bemüht, ernſt und gemeſſen zu bleiben, ohne in 
Geſchraubtheit zu verfallen. Dies iſt ihm — in ſeiner Aus— 
drucksſphäre — gelungen, und kein Italiener dürfte es unge— 
rechtfertigt finden, daß beſagter »Ugolino« in Mailand an der 
Spike einer »Antologia elassiea musicale« erſchienen iſt. Als 
Arie des zärtlichen Water oder Gatten in einer Donizetti'ſchen 
Oper würden wir und dad Stück ganz gut gefallen laſſen. 
Hält man aber dieje janft abfliegende Mufif an das fchauder- 


414 1863. 


volle marferichütternde Nachtſtück, das fie vorftellen Toll, jo 
muß man über die Naivetät diefes Componiften eritaunen. 
Ugolino, vom Dichter in dem gräßlichiten Bilde vorgeführt, er— 
zählt diefem befanntlich die Qualen des erlittenen Hungertodes, 
wie er im Thurm feine drei Söhne nacheinander Hungers 
iterben fieht, und endlich erblindet über ihren Leichen herum 
tappt. Er ſchließt mit einem Fluch gegen feinen einiger 
Auggiero und die Stadt Piſa. ine jo haarfträubende Tra= 
gödie — ſelbſt die Ericheinung Satans im 34. Gefang iſt 
minder ſchrecklich — muß man anderd componiren, oder viel- 
mehr man muß fie gar nicht componiren. Die Mufif, die ver: 
jöhnende Kunſt des Wohllauts, weicht vor der Daritellung der 
nadten Gräßlichkeit jcheu zurüd. Sie wird zwar im Drama 
auh das Gräßlihe als vorübergehenden Moment beſchwichti— 
genden Schritte begleiten, niemals aber es zu jelbititändiger 
lyriſcher Darftellung heraudgreifen. 

Wenn irgend einem italienischen Componijten eine innere 
Berwandtichaft mit Dante und die Befähigung zugeiproden 
werden darf, fich diefem Dichter mufifalifch zu nähern, fo ift es 
deſſen großer Landsmann Cherubini. Cherubini, der muſikaliſche 
Stolz der Florentiner, wie Dante ihr poetiſcher, hat in feinem ernten, 
gedanfenjchweren, vornehmen Weſen ein Etwas, das (wie ſchon 
Schumann einmal bemerkte) an Dante erinnert. Wie Dante der 
ichmelzenden Süßigfeit der italienifhen Sprache durch lateiniſche 
Anklänge und Formen eine jo wunderbar herbe Kraft verleiht, jo 
durchſtrömt Cherubini's Muſik, unbeſchadet ihres echt italienischen 
Charakters, eine kräftige, eiſenhältige Ader, die nach deutſchen 
Schachten weiſt. Hätte er es unternommen, Dante mit Har— 
monien zu feiern, er wäre dem Dichter wenigſtens auf rich: 
tigem Pfade und als verwandter Geift entgegengetreten. Donizetti 
und Pacini fommen uns mit ihren Dante-Compofitionen vor, 
wie fleine halbflügge Schmetterlinge, die über die Peterskuppel 
feßen wollen. Indeſſen, man braudte eine Feſt-Symphonie 
oder Gantate fir die Dante-Feier in Stalien und Gerubini 
ruht längſt auf dem Pere Lachaiſe. Mit Recht wandte ſich das 
Comité zuerft an Roſſini und mit Recht entichlug fich diefer 
der Einladung in Erwägung ſeines hohen Alterd. Dann Tehnte 


Das Dante-Goncert der Italiener in Wien. 415 


Mercadante aus gleichem Grunde ab und that wohl daran. 
Hierauf fragte die Deputation, gleichfall® vergeblich, bei Verdi 
an; ih weiß nicht, welches Motiv er vorjhüßte, aber 
jedenfall war es jehr weile. Verdi, der einzige, alio größte 
aller activen Componiſten Staliens, fühlte jehr wohl, dag man 
an jeinen Namen Erwartungen fnüpfen würde, denen er in 
ſolchen Formen und für ſolchen Anlaß nicht gewachien jet. 
Was er in der That für ein trauriger Gelegenheitsmacher ift, 
haben wir in London an jeiner Weltausitellungs:Gantate er: 
fahren. Es blieb fomit nur noch als lette nationale Reputa- 
tion der greiie Bacini. 

Der Satan begab fih in Geſtalt eines Dante-Comités 
zu dem halbverftorbenen Componijten der »Saflo«, zeigte ihm 
ringsum ganze Lorbeerwälder von Ruhm und Anerkennung, und der 
alte Herr, anftatt »Apage Satanas«! zu rufen, wie die Andern, 
fiel richtig nieder und betete an. Mit unfägliher Mühe muß er 
die »Große Dante-Symphonie« componirt haben, die in ge= 
Itochener Partitur niedlichiten Formates vor mir liegt, mich 
an eine der heiterften Stationen meiner muſikaliſchen Lebens: 
reife erinnernd. Die Symphonie bejteht aus vier Säßen: die 
Hölle, daS Fegefeuer, dad Paradies und die triumphirende 
Rückkehr Dante’3 auf die Erde. »Die Hölle« iſt ein unabſeh— 
bared Agadio im Sechsachtel-Takt, das die Tempobezeihnung 
»Largo infernale« und mit föltlicher unbewußter Ironie die 
Extra-Aufſchrift »Tormenti senza speranza« führt. An einen 
wirklichen Symphoniejaß, an gegliederte Form und thematiſche 
Arbeit darf man dabei nicht denken, das Ganze jpinnt fi 
wie eine wüſte Melodram= oder Zwiſchenakts-Muſik in freiefter 
Phantafie ab. Ein Thema ift nirgend® zu endeden, nur ein 
kleines, lumpiges Motiv, an dem der Componiſt herumnagt wie 
Ugolino an dem Schädel des Erzbiichofs Nuggiero. In das düftere 
Gerumpel der Bäſſe fahren unabläſſig grelle Biccolopfiffe, Schreie 
verdammter Seelen, die zu ftarf gezwickt oder gebrannt werden. 
Dazu gefellt ſich ein wüthendes Kettengerafjel, jehr jinnreich 
hervorgebradht durch fortwährendes Bearbeiten eines Metall: 
bedend mit einem großen Holzichlägel. Der Schlägel jpielt 
Zweiunddreißigftel, ja förmliche Triller auf dem Becken und 


416 1865. 


beihämt die blecherne Donnermafhine im erften Akt der 
»ihönen Helena«. Poſaunen und Ophicleyden, große und feine 
Trommel, und was jonjt noch die »Hölle« mufifalifch heiß 
machen fann, treten emfig heizend Hinzu; das Alles ohne eine 
Spur von mufifaliihen Gedanken, ohne Melodie und Rhyth— 
mus und ſtets im langiamften »Largo infernale«. Der zweite 
Sag: »Il Purgatorio«, beginnt mit einer Art Polfa-Mazur. 
Einen Unterfhied zwiſchen Hölle und Fegefeuer wird es 
gewiß geben, aber gar jo human Hatten wir und Letzteres 
doch nicht vorgeftellt. Das ift ja recht tröftlich. Leider ift der 
Aufenthalt doch nicht ungetrübt, ein barbarifcher Lärm erhebt 
fi) wieder, die Piccoli fchreien, die Ketten rafjeln und der 
alte Maeftro fünitelt an Inftrumental-Effecten und Kleinen 
»purgatoriſchen« Gontrapunften herum, daß es eine Art Hat. 
Da fällt plöglih das Clavier (bisher unbeichäftigt) mit einem 
brillanten Solo von Baflagen und Trillerfetten in da erftaunte 
Orcheſter: wir find im »Paradies«. Selig find die Clavier— 
Birtuofen, denn ihrer ift das Himmelreih! Ob hier Bacint, 
prophetiih wie Dante, ſchon die heiligende Tonfur auf dem 
Haupte Liſzt's, des Clavierfönigd, geahnt Hat? Frage nicht, 
begeijterter Hörer, gieb den letzten Sparpfenning deines Er— 
ftaunens nicht aus, es find dir noch größere Dinge befchieden! 
Zu den Glaviertrillern und Harfen-Arpeggien gefellt fi) ein 
luſtiges Klingen vieler geftimmter Glöckchen: Dinorah's Ziege 
leibhaftig im Paradies! Nun geht es an ein alberned Fidel, 
Blaſen, Trillern, Klingen, Blöden — Thon beginnen wir, uns 
aus diefer namenlos findifchen und langweiligen »Seligfeit« 
nach dem Fegefeuer zurüdzufehnen, als, erjt leije, Daun immer 
ftärfer, endlih mit Hufarenmäßiger Gewalt ein Regiments— 
Triumphmarfch angeblafen fommt. Das iſt »Dante’3 Rückkehr 
auf die Erde«, der vierte und gottlob letzte Saß einer Sym— 
phonie, die gewiß Niemand der fie je gehört, vergefjen, noch 
weniger ein zweitesmal anhören wird. 

Es geht mir wirklich nahe, in diefem Tone von einem 
Werke Sprechen zu müſſen, dad, an die Pietät einer großen 
Nation zweifach appellivend, den Namen de3 größten italieni- 
ichen Dichter mit dem eines geachteten mufifalifchen Veteranen 


Muſikaliſche Leiden. 417 


vereinigt. Aber wenn der Gontrajt zwijchen diejer geift- und 
gemüthlojen, unmufifaliichen, dabei höchit prätentidjen Kinder: 
ſymphonie und der großartigen Gedankenwelt Dante's nicht 
komiſch ift, dann weiß ich nicht, wo noch ſonſt Komifches zu 
finden wäre. Entjchuldigend für den alten Maeſtro iſt allenfalls 
die faum überwindlihe Schwierigkeit, eine Riejenichöpfung wie 
die »Gödttliche Comödie« muſikaliſch nachzubilden. Bei einem 
Gedenkfeſte obendrein, daß den Dichter jelbit feiern und unferer 
Verehrung für ihn den höchſten Ausdrud leihen fol, fteigern 
ih unmwillfürlih die Anforderungen an jeden Künftler, der 
ſolches aus eigenen Mitteln zu leiſten fich erfühnt. Man ruft 
zu ſolchen Feiten die Anftrengung aller Künfte und vornehmlich 
der Mufif auf, ohne zu bedenken, daß nicht jede Nation zu 
jeder Zeit congeniale jchöpferiihe Naturen befigt, die fich, fei 
es auch nur in Huldigender Abficht, neben den gefeierten Heros 
ftellen fönnen. Wir Deutihen können mit den muſikaliſchen 
Refultaten unjerer Goethe und Sciller-Feier wahrlich 
aud nicht prahlen: Liſzt's Goethe-Compofition »Mehr Licht«, 
Meyerbeer’3 Sciller-Gantate und Aehnliches waren todt— 
geborene Kinder. Aber mit einer jo ungöttlihen Comödie wie 
Pacini's Dante- Symphonie hätte fi doch in Deutfchland der 
legte Cantor nicht dürfen ſehen laſſen. In Stalien wird die 
berrichende Feltitimmung ohne Zweifel auch Donizetti's 
»ligolino« und Pacini's »Symphonie« zur Höhe von claſ— 
jiihen Meifterwerfen hinaufjubeln. Falls aber (wie PBacini ans 
nimmt) Dante perfönlich zu dem Feite kommt, jo dürfte er 
jeine mufifaliihen Iluftratoren faum ander vereiwigen, als 
durch einige nachträglihe Verje zum »Inferno«. 


Muſikaliſche Leiden. 


(Leierfäften. Muſikaliſche Jungfrauen). Wir hätten 
feine Muſik im Sommer? Welche Täufhung! Allerdings feine 
Mufit, über die man jchreiben muß, feine »Afrifanerin« oder 
»Iſolde«, aber Muſik, die man hören muß, man mag mollen 


oder nicht. Sie wuchert im Sommer, wie giftige Unfraut in 
Hanslick. Aus dem Concertfaal. 2. Aufl. 27 


418 1863. 


Siüdamerifa. O Leierkaſten! Ihr priviligirten Peiniger des 
menſchlichen Gehörs, ihr geieglich befugten Quäler aller Ruhe: 
bedürftigen und Kranken, Aller, die da ftudiren und geiftig 
arbeiten — wie lange noch werdet ihr und vom Morgen bis 
zur Nacht mißhandeln dürfen? Zehn Jahre find es, feit wir, 
und Andere vor uns, das letzte Mal mit Spott und bitterem 
Ernſt gegen dieje, einer Reſidenzſtadt ſo unwürdige Stadtplage 
loszogen. Wir thaten es ziemlich hoffnungslos, denn, wie vor: 
herzuſehen, wehrten ſich die Ritter jedes duch Alter »ehr- 
würdige gewordenen Scandals für ihre lieben Drehorgeln, und 
ereiferten jich unjere Humanitätöbolde gegen die Abftellung einer 
Ohrenqual, welche mwenigitens zehn bis zwölf Familien zugleich 
peinigt, aber vier bis fünf Köchinnen amüſirt. Daß unjere 
lange zurückgedrängten Seufzer jeßt wieder Luft befommen, 
daran ift niemand Anderer Schuld, als der Statthalter von 
Böhmen. Diejer einficht3volle Menjchenfreund (»ein zweiter 
Daniel« !) ſoll nämlich bejchloffen haben, die Zahl der orgeln- 
den Gehörsmdrder in Prag zu vermindern und mit Schonung 
der beftehenden »Rechte« feine weiteren zu ertheilen. So fol 
diejes mittelalterliche Inititut allmälig einfrieren. . Böhmen, du 
Gonfervatorium von Europa, möge dein Beilpiel fruchtbar jein! 
Das Land, welches unjere Muſik und unjere Muſikantenſchaar 
jeit jeher jo reichlid vermehrte, würde fi um uns kaum 
weniger verdient machen, gübe es diesmal das Signal zur 
Verminderung unjerer muſikaliſchen Zwangsgenüſſe. Ich 
weiß nicht, ob die Quantität unjerer Wiener Drehorgeln ſich 
von Jahr zu Jahr vermehrt, ihre Qualität aber wird immer 
gefährlicher. Was waren jene ehemaligen Eleinen Flötenwerke, 
jene tragbaren Borrathöfältchen alter Lanner'ſcher Walzer gegen 
die jegigen mauererichütternden Drehkoloſſe, die auf vier Rädern 
in Begleitung eines Directord und mehrerer Regifjeure ihren 
nufitaliihen Großhandel treiben! Die vormärzlichen Leierkäften 
verhielten fih zu den »vervollkommten« von heute wie Stuben 
fliegen zu giftigen Scorpionen. Ein erjchütterndes Klagegeichrei 
dringt plöglih wie ein Schwert in mein Ohr. Es iſt der 
Sturm aus der Wilhelm:-Tell-Ouverture, den ein fehr »ver— 
volltommter« Leierfaften mit riefigem vollem Werk und ſechs 


Muſikaliſche Leiden. 419 


Trompeten im Leib vor meinem Fenſter andreht. Ich eile, das 
Fenfter zu fchließen — zweimal täglich ericheint dieje muſi— 
kaliſche Guillotine mit ihrem Tell-Sturm, ihrer Don-Juan— 
Duperture, ihrem Tannhäuſer-Marſch! Ich kenne das wüſte, 
alte Weib, dad mit gleichgiltiger Bulldoggmiene fortorgelt, 
während der »Director«, rechts und links die Kappe ziehend, 
nah allen Fenitern hinauf begehrende Büdlinge fchneidet ! 
Wenn, wie zu erwarten Steht, die Vervollkommnung dieſer 
Torturmwerkzeuge jo weit gediehen fein wird, daß fie und das 
Mozart'ſche Requiem und Beethoven’3 C-moll-Symphonie in’ 
Haus bringen, dann wird jeder Menſch von einigem Gehör 
und Ehrgefühl auswandern müfjen. 

Wil und kann man die Leierfäften nicht geradezu 
aufheben, jo möge man fie menigitend® in ber inneren 
Stadt verbieten. Hier bringt e8 die Enge der Straßen mit 
fih, daß man immer mehrere Drehorgeln, ein halb Dutzend 
Glaviere und verjchiedene Gejangsübungen zugleich hört. 
Es iſt thatfählich To weit gefommen, daß man in der in 
neren Stadt den Frühling und Sommer bei fejtverichlofjenen 
Fenftern zubringen muß. Leierfäften jollten im engeren Sinne 
des Wortes eine Landplage fein. Wie auf flahenm Lande 
dad Haufiren überhaupt einen Sim Hat, fo auch das 
Haufiren mit Muſik. Dorfbewohnern, die nur des Sonntags 
Mufit hören, mag 83 willkommen fein, wenn eine ver: 
ftimmte Pfeifenlade ihnen den feltenen Genuß einiger Opern- 
oder Walzermelodien in’3 Haus bringt. Da jubeln die Kinder, 
da tanzen die Mägde, und ich weiß nichts Wichtiges, was da- 
duch geftört würde. Ander® im Innern einer Refidenzitadt. 
Hier quillt ohnehin von Früh bis in die ſpäte Naht Mufit 
aus allen Thüren, allen Fenitern. Aus jeder Sneipe, jedem 
öffentlichen Garten ertönt Abends Geſang und Mufik, treffliche 
Militärbanden durchziehen die Stadt, die häuslihe Muſik— 
Conſumtion ift ins Ungeheuerlihe angewadhien. Und nun pris 
vilegirt man noch eine Unzahl ohrenmörderiicher Drehorgeln, 
die nach Belieben zu zweien und dreien ſich in einer engen 
Straße aufpflanzen und Hunderte von ruhig arbeitenden Menſchen— 
findern peinigen dürfen! Das Ginzige, was gegen den allge: 

27* 


420 1865. 


meinen Wunſch nad Abſtellung diefer Salamität immer wieder 
eingewendet wird, ift, daß diefe Mufifhaufirer ja Ermwerb- 
fteuer zahlen. Defto ſchlimmer. Bettler fertigt man mit einem 
Almofen ab, oder nimmt feine Notiz von ihnen, fall® man 
nicht will. Wer kann aber von dem aufdringenden Thun der 
»pervollfommten« Leiermänner feine Notiz nehmen? Das find 
bewaffnete Bettler. Würde man Leute gegen Erlag einer Er: 
merbfteuer etwa berechtigen, Jeden, der ihnen begegnet, zu 
figeln oder zu zwiden? Ich finde feinen erheblichen Unterjchied 
zwijchen diefem und dem wirklichen PBrivilegium der Leierzunft, 
einer ganzen NRefidenzbevölferung das (ohnehin fo lärm— 
gequälte) Gehör vollends zermartern zu Dürfen. 

Schreiber diejer Zeilen wohnt in einer Straße der inneren 
Stadt, welche als eine »ruhige und angenehme« gerühmt wird. 
Wohl wäre fie ruhig und angenehm, hätte nicht der Muſik— 
dämon fie zu einem jeiner beliebteiten Stationspläße erforen. 
Bon den Leierfälten will ich nicht mehr reden, die fich Hier 
regelmäßig ablöfen, oder auch gleichzeitig auf geringe Diltanz 
»werfeln«, der eine die Wilhelm-Tell-Dupverture mit Trompeten: 
Negifter, der andere den »Trovatore« mit fortwährendem 
»Tremolo«e, auch einer neuen, jauberen »Berbolllommung«. 
Bor ihnen ift feine Rettung, fie haben fein Gefühl! Aber mit 
den nicht jteuerpflichtigen, vornehmeren MWerfelmännern im 
eriten und zweiten Stod meiner unglüdlihen Gaffe möchte 
ih noch ein bejcheidened, freundnachbarliches Wort ſprechen. 
Eigentlich find es Werfelfräulein, mufttaliihe Satanella®, ohne 
Zweifel jung und hübſch, überaus gebildet, aber von fehr 
weiten mufifaliichen Gewiſſen, liberalftem Gehör und ftet ver- 
ftimmten Clavier. Während die Fräulein mir gegenüber den 
ganzen lieben Tag ale Offenbach'ſchen Operetten, Beethoven's 
»Sonate pathötique«, Strauß’ihe Walzer, den Bacio und Die 
Zampa-Duverture nacheinander abthun, biutet über ihnen 
ein junges Opfer mufifaliicher Dreifur unter langjamen Ton: 
leitern und Uebungen. Rechts von mir begrüßt ein Fräulein 
mit (leider audgiebiger) Sopranftimme den anbrechenden Morgen 
mit italieniichen Arien auß »Lucia« und »Lucrezia«. Es ſcheint 
ihr Appetit zum Frühſtück zu madhen, und Donizetti iſt ja 


Muſikaliſche Leiden. 4921 
ohnehin ſchon todt. Einige Häufer weiter wird dad Familien: 
fouper regelmäßig durch vierhändiges Abſchlachten von Ouver— 
turen eingeleitet. Iſt gerade Mondichein, jo ftöhnt auch eine 
Physharmonifa ihren Weltſchmerz in dies liebliche Enjemble. 
Da3 märe nun Alles recht und gut — bei gejchlofjenen 
Fenitern. Aber warum kommt folchen gebildeten und kunſt— 
finnigen Gemüthern niemal®, gar niemal® der Gedanke, es 
fönnten dieſe außerordentlichen Mufifproductionen andern Leuten 
in der Straße doch vielleicht nicht erwünſcht fein? Liegt 
nicht in dieſem unaufhörlihen Muficiren bei offenen Fen— 
ftern auch eine Art Barbarei, ähnlich jener der Drehorgel- 
männer? Muſikaliſches Fauftreht — im erften Stod oder vor 
dem Hausthor. Iſt die Nächftenliebe nicht ftarf genug, die 
Fenſter zu Schließen, fo follte e8 doch die Eitelkeit fein. Denn 
was fol man von der muſikaliſchen Empfindung und Bildung 
eines Pianiften halten, der bei offenem Fenfter im eriten Stod 
ein Adagio in C-moll fpielt, während unten eine Drehorgel 
von 20 Pferdefraft ihn mit einem H-moll Cſardas übertönt 
und vis-A-vis aus gleihfall3 weit geöffnetem Fenſter eine fräftige 
Sängerin ihr Verlangen nad) einem »Bacio« in Des-dur pro= 
clamirt! Meine mwerthen Fräulein, bedenken fie doch! 

Am verfloffenen Samftag Abend — es war obendrein 
ein prachtooller, warmer Abend — hörte ih ausnahmsweiſe 
feinen Ton in meiner Gaſſe. Das kam daher, weil ich mich 
im »Volfögarten« befand, vergnüglich pojtirt vor dem Strauß: 
fhen Orchefter. Allein auch die neuen Walzer von Johann 
Strauß vermodten mid für die außgeitandenen Plagen nicht 
wie fonft zu entihädigen; es fehlte ihnen der alte Melodien: 
duft von ehemald. Gereizt wie ich war, verfiel ich auf ein 
neues mufithiftorifches Apereu: Strauß Sohn hat fi offen- 
bar einen Act großartiger Hiftorifcher Vergeltung zum Ziele 
geſetzt. Als gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die Orcheiter- 
muſik durch ſyſtematiſche Verflahung des Haydn'ſchen Styles 
populär gemacht wurde, gingen die Herren Pleyel, Wra— 
nigfy, Hoffmeifter, Gyrowetz und Rojetti, alſo die von 
Niehl »vergötterten« Philifter jo weit, die fidelften Ländler zu 
Motiven ihrer Symphonien uud Duartette zu machen. Sohann 


422 1865. 


Strauß fcheint diefe Schmad feiner Wiener Vorfahrer durch 
Compenſation tilgen zu wollen und jchmüdt feine Walzer mit 
Motiven, deren Ehrenplag von rechtöwegen bie Symphonien 
neuejter Schule wären. Deßhalb contrapunktirt, fich ſelbſtver— 
leugnend, unfer Walzerkönig; deßhalb (um im Style der per- 
ſiſchen »Bapageienmärdhen« zu jprechen) ftreiht er mit Dem 
Bogen der Gelehrfamfeit die Saiten der Schwermuth. Ein 
Feuilletonift äußerte jüngft: Strauß fcheine feine neueſten 
Walzer mehr für den Mufenhof zu Weimar, als für Wien 
berechnet zu haben. In der That bemerkte auh ih in Strauß’ 
Nopvitäten jenen jcharf pridelnden Duft, den das Wildpret 
auzftrömt, wenn es nach Vergangenheit, und die Muſik, wenn 
fie nah Zukunft riecht. Diejenigen feiner Walzer, welche ohne 
hervoritehende Originalität wenigſtens friſch und natürlich 
fingen, find noch immer weit befjfere Tanzmufif, al3 jene ge— 
jpreizten Themen, deren eudloje Perioden fi mit der geſuch— 
teſten Harmonifirung verbinden, um Ohren und Füße in 2er- 
wirrung zu bringen. So ift der Anfang der neueſten Walzer: 
partie: »Die Ertravaganten« zwar eine altitraußifche Re— 
miniscenz, aber dur ihren glänzenden Schwung das Beſte 
aus dem ganzen Heft. Sogleich folgt aber ein Langgeftredter, 
diatoniſch auffteigender Cantus firmus und andere gelehrte 
Seltenheiten, welche mit Romeo lächelnd zu fagen fcheinen: 
»Wir meinen’ gut, da wir zum Balle gehen, doc ift es 
Unveritand«, 


1866. 
ÖOrchefter-Eorcerte. . 


Das Sröffnungsftüf der Philharmoniker, Spohr's 
Duverture zum »Berggeiit«, wurde ſehr fühl aufgenommen. 
Eine große fünftleriihe Bedeutung des Werkes fünnen mir 
allerdings nicht diefer Aufnahme anflagend entgegenhalten, doch 
hat dasjelbe ftet3 anziehend und harmoniſch auf und gemirft. 
Gewiß wäre dad gänzlihe Verſchwinden Spohr’iher Muſik 
aus den Goncerten als ein Verluft und Unrecht zu beklagen. 
Für unfer Theil wenigſtens befennen wir, daß wir gerade 
jeit dem Seltenwerden Spohr'ſcher Mufif uns jedesmal an 
genehm berührt fühlen, wenn diefe Entfremdung von Zeit 
zu Beit durch eine Gompofition feiner beileren Periode 
(vor 1846) unterbroden wird. Spohr ift nicht nur ein 
tüchtiger Meifter, ſondern eine wahrhaft liebenswürdige und 
eigentHümliche Individualität, freilich auch eine einfeitige, fich 
gern mwiederholende, weßhalb denn auch amı beiten genießt, 
wer fie mäßig genießt. Kaum zwei Decennien ift’3 her, daß 
man vor einem allzu eifrigen Spohr-Cultus warnen mußte, 
und jet bedarf es jchon einiger Anftrengung, um die Werke 
des Meifter vor dem Schidjale gänzlihen Vergeſſens zu 
retten! — Frau Marie Wilt jang mit entjchiedenem Erfolg 
die Arie mit Chor aus Mendelsſohn's unvollendeter Oper 
»Loreley«. Letzteres Stüd, zulekt im Jahre 1855 von Fräulein 
Tietjens hier gelungen, erjchien einem großen Theil des Pu— 
blicums als Novität. Bei aller Bewunderung techniicher Vor— 
züge konnten wir und doch für dieſe »Loreley« niemals erwär— 


424 1866. 


men. Dad Stüd ijt glänzend im Sinne des Beltechenden ; 
jeinem unleugbaren äußeren Effect Tiegt fein entiprechender 
jubitanzieller Gehalt zu Grunde. Speciell vom muſikaliſchen 
Standpunkt erfcheint die technifhe Meiſterſchaft in der über: 
fihtlihen Anordnung des Ganzen, wie in der glänzenden 
Darftellung alles Cinzelnen bewundernswerth, während Die 
eigentliche mufifaliihe Kerngeftalt, die melodifhe Erfindung, 
bon geringer Bedentung ift. Dramatifch angejehen, dünft uns 
das Phantaſtiſche allzufehr den Ausdrud des Gefühle zu 
überragen; die Leidenschaft mehr angeflogen, al® aus der 
Tiefe hervorbredend. Das märdenhafte Clement jteht hier 
gegen das menſchliche im entichiedenften Wortheil; neben den 
fühlen, aber blendenden Niren:Chören tönt die Klage des 
Mädchens nicht warm und tief genug. Man vergefje nicht, daß 
diefer Aufruf der MWaffergeilter den Höhepnnft in Leonorens 
Herzend-Tragödie bildet; das Aeußerſte ift an ihr gefrevelt 
worden, »der Menjchheit ganzer Sammer faßt fie an«. Dafür 
fehlen der Mendelsjohn’ihen Compofition die entſprechenden 
Töne. Die beiden wichtigften und für den Componijten ver- 
pflichtendften Stellen in Leonorens Klage waren vielleicht Die 
Verſe: »Für meine Liebe hat er mich zertreten; weil ich ihm 
Alles gab, däucht' ih ihm nichts« — dann der Auöruf: 
Nimm Hin zum Pfande, nimm Hin den Brautring!« Im 
Mendelsſohn's Compofition Hingen fie conventionell und ge= 
macht; Worte wie diefe mußten wie heiße Thränen in Die 
fühle Fluth fallen. Auch die beiden größeren Geſangsſätze 
Leonorend, dad Andante in Fis-moll und dad Schluß-Allegro 
in E-dur: »Es jeil« athmen mehr rhetoriiches Pathos als 
wahre Leidenihaft. Das Beſte bleibt jedenfalls der einleitende 
Chor der Wafjergeifter: von anmuthigem Scaufeln fortjchrei- 
tend bis zu wogendem Gebrauje, dad ganze Bild übergofien 
mit den effectvolliten Farben des Orcheſters. 

Bekanntlih hat Mendelsfohn von dem ganzen Gei- 
bel’ichen Libretto »Loreley« nur dieſe eine Scene vollendet. 
Es macht einen tragischen Eindrud, den Tondichter fein ganzes 
ruhmvolles Leben hindurh raſtlos und fruchtlos nad) einer 
Dper ringen zu jehen. Bon feinen dramatiichen Jugendarbeiten: 


Mendelsiohn's »Lorelehe. 425 


»Cammacho« und »Heimkehr aus der Fremde« hat die erftere 
im Theater gar fein Aſyl, die letztere nur ein fehr flüchtiges 
gefunden. Seitdem hatte Mendelsfohn nie aufgehört, nad 
einem würdigen Operngediht zu ftreben und darüber mit 
PBoeten wie Immermann, E. Devrient, Geibel u. A. auf's 
eifrigfte zu unterhandeln. Durch Zufall ftießen wir kürzlich auf 
einen neuen, noch nicht befannt gewordenen Beitrag zu dieſem 
Tantalus:Capitel in Mendelsſohn's Leben. ES ift ein eigen- 
händiger Brief Mendelsſohn's an den Dichter Bauernfeld, 
den er gleihfalld um einen DOperntert angegangen hatte. Das 
Schreiben (datirt Berlin, am 10 Juli 1838) bezieht fih auf 
ein nicht näher bezeichnetes Libretto, das ihm Bauernfeld zu: 
geihict, ohne den Componiften damit befriedigen zu können. 
»Ich wünſchte mir«, fchreibt Mendelsjohn, »zum Anfang feine 
Zauber-Oper, oder vielmehr, ich traue mir in dieſem Fade 
nicht genug Talent zu, während ich im rein ernften oder rein 
heiteren Styl mit mehr Zuverficht arbeiten würde. Schwebt 
Ihnen nun ein erniter, hiſtoriſcher oder ein intriguanter oder 
ganz heiterer menſchlicher Stoff vor, jo bitte ich, theilen Sie 
ihn mir mite. Das Bauernfeld’ihe Libretto hieß, wie und 
der Dichter freundlichit mittheilt: »Der Geijt der Liebe«, und 
war eine richtige Zauber-Dper in phantaftiicheorientalifchem 
Goftüme, mit Niren, Feen und Dämonen. 3 ijt bemerfend- 
werth, daß Mendelsjohn in jeinem Briefe an Bauernfeld 
(fowie einmal fpäter gegen Otto Prectler) gerade Die 
phantaftifch-märcdhenhaften Stoffe ablehnt, für welche ihn die 
allgemeine Stimme auf Grund feine herrliden » Sommer: 
nachtstraum« vorzüglich befähigt und eingenommen glaubte. 
Sm Grunde mag ihn weniger ein Mißtrauen in fein Talent, 
als die richtige Weberzeugung geleitet haben, daß die Zeit der 
Niren- und Elfendramen vorüber jei. War doch eben unter 
Anderem der früher erwähnte Spohr’iche »Berggeiit« mit 
feinen großen mufifaliihen Schönheiten an einem findijchen 
Geiftertert gefcheitert*). Und fiehe da, am Ende fpielt die jelt- 


*) Spohr’3 »Berggeiſt« ift eine Art verdoppelter »Hans 
Heilige, indem nicht blos der regierende Berggeift, ſondern zugleid) 


426 1866. 


ſame Sronie des Schidjal® Mendelsſohn doch wieder eine 
Niren:Oper, die »Loreley«, in die Hände. Müde des Suchens 
und Harrens, verjöhnt er fih damit, entjchließt fih zur Come 
pofition, beginnt dieſe gerade bei der Nirenjcene und ftirbt 
darüber. 

Raff's C-dur-Suite, op. 102, beiteht aus fünf Süßen. 
Der erſte bringt eine breite, pompöfe »Introduction« und darauf 
eine jehr trodene Fuge mit äußerft phyfiognomielofem Thema 
und unruhiger Durchführung. Es folgt ein »Menuett«, unbe- 
deutend. in den Themen, aber von graziöjer Haltung und fehr 
pifanten Detaild. Achnliches läßt fi von den beiden folgenden 
Süßen, den beiten der Suite, jagen, einem gejangvollen »Ada— 
. gietto«e und einem recht niedlichen, elfenartig plauternden 
»Scherzo«e. Der gegen das Frühere wieder abfallende Schluß: 
jag ijt ein ⸗Marſch« von nicht origineller Erfindung, aber jebr 
effectvoller Mache. Unter den Orcheſterwerken der neudentichen 
Schule uud unter den Raff'ſchen jpeciell nimmt die Suite 
eine beachtenöwerthe Stelle ein. Gegen die »Preis:Symphonie« 
desjelben Componiften gehalten, erſcheint und die »Suite« 
als erfreulicher Fortichritt, fie verzichtet auf die ermübdende 
Länge und Ueberfüllung, wie auf allzu ftarfe Harmonische und 
rhythmiſche Torturen. Naff hat in dieſer Suite fich größerer 
Klarheit und Einfachheit befliffen, alſo einen Weg eingeichlagen, 
zu welchem wir dem begabten Componiſten nur gratuliren 
fönnen. Das Werk hat und auf das anregendfte beichäftigt, Durch 
viele Schöne Einzelheiten erfreut nnd überrafcht; einen be— 
ftimmten, ſtarken und nachhaltigen Eindrud haben wir aber 
nicht mit fortgenommen. Es ift das ein Charafterzug dieſer 
ganzen modernen Schule, deren Princip wir »Emancipation 
des Detaild« nennen möchten. Sie bringt es über die geiftige 
Anregung und dad momentane Gefallen nicht hinaus biß zur 
vollen, nachhaltigen Befriedigung. Es fehlt ihrer Muſik bei 
allen Glanz und Ejprit an jener Nothiwendigkeit und überzeu: 


auch fein Kammerdiener »Droll« ſich nad) irdifcher Liebe fehnt. Wir 
jehen ſie jelbander zur Erde auffteigen, dafelbit ſchreckliches Unheil 
anrichten und fchließlih, mit irdischen Körben beglückt, jich wieder in 
ihre geologische Reihsanftalt zurückziehen. 


Suite von Eifer. Liederkreis bon Beethoven. 427 


genden logiſchen Gewalt, weldhe die Tondichtungen der Glaf- 
fifer, bejonder8 Beethoven’3, auszeichnet. Wir haben nicht ein 
natürliches Werden und Wachſen der Ideen vor und, jondern 
ein mufifaliiches Machen. Immerhin haben wir, wie gejagt, 
an Raff's »Suite« eine anziehende neue Bekanntſchaft getvonnen. 

Eine noch anziehendere an Eſſer's zweiter Orcheſter— 
Suite in A-moll, welche fih bei der Aufführung einer glän— 
zenden Aufnahme erfreute. Die Hand des Meifterd verläugnet 
jih darin in feinem Tal. E3 dürfte Heutzutage jehr wenig 
Componiften geben, welde die Kunft, polyphon zu fchreiben, 
mit jolcher Leichtigkeit, Correctheit und Eleganz handhaben, 
wie Ejjer. Tritt diefe Kunſt ehernen Scrittes, voll Kraft 
und Nahdrud im erften Satze auf (wohl dem bebeutenditen 
des Werkes), jo leidet ſie fich in den beiden folgenden in das 
anmuthigite, fließendite Gewand. Diefe mittleren Süße, ein in 
den mannigfachſten, reizendften Klangfarben jchillerndes Alle 
gretto und ein äußerft interejfant (mitunter etwas concertmäßig) 
bariirted® Andante wirfen mit unmittelbarem Reiz auf das 
große Publicum, während fie gleichzeitig dem Mufifer von 
Fach zu hören und zu denken geben. Das Finale, ein brillantes 
Allegro, ſchien ung gegen die früheren Säte abzufallen, fein 
Teuer ilt jedenfall® etwas Außerlicher Natur und die Inſtru— 
mentirung mitunter jtärfer als die Gedanken. Es ift eine 
überrafchend neue Seite, die Eſſer mit feinen zwei Orcheſter— 
Suiten jo plößlich hervorgefehrt hat, er, der biß jet faft nur 
durh eine große Zahl von Liedern befannt war, die "zum 
großen Theil anmuthig und dankbar, zum Theil aber aud 
ziemlich unbedeutend und phyfiognomielos find. Wir gratuliren 
dem trefflihen, als Künſtler wie als Menich gleich ver: 
ehrungsmwirdigen Mann bon ganzem Herzen zu dieſem neuen 
Aufſchwung. 

Für die Vorführung von Beethoven's Liederkreis »an 
die entfernte Geliebte« fonnte man Herrn Dr. Gunz und 
Herrn Gapellmeifter Deſſoſf nur dankbar jein. Das Werk 
gilt für den Höhenpunft von Beethoven's Lieder-Compofition 
und wurde jei zwanzig Jahren (wo Erl, von Liſzt accome 
pagnirt, e8 vortrug) bier nicht gehört; Beethoven, in allen 


428 1866. 


andern Runftformen feiner Zeit repolutionär vorauseilend, ver: 
hielt fi gerade im Liede ſehr confervativ, mitunter reactionär. 
Wir glauben oft Haydn und Mozart, ja Gyrowetz, Weigl 
und Winter zu vernehmen. Etwas lnfreies, Bürgerliches, 
mitunter ſogar Triviales ftedt in der Mehrzahl der Beethoven: 
chen Lieder. Bald an das ältejte, einfachſte Strophenlied an- 
lehnend, bald in italienifirende Opern-Gadenzen verfallend, ift 
Beethoven im Lied fat niemald ganz Er felbft. Nur einzelne 
Hccordfolgen, Rhythmen, Melodientheilchen verrathen ihn. Das 
Lied ift die einzige Kunftform, die erſt nach Beethoven einen 
ungeahnten Aufſchwung nahm. Schubert war es vorbehalten, 
unvergänglide Zaubergärten auf einem Gebiete zu pflanzen, 
über welches Beethoven faum feinen Schatten geworfen. Bon 
allen Liedern Beethoven's ift feinem Wolfe nur Eines ans 
Herz gewachlen: die »Adelaide«, die der Meilter verbreunen 
wollte. Beethoven's Zeitgenofien haben mit richtigem Inftinct 
diefe ſüßeſte, zärtlichite Melodie, zu der ihn jemals ein Ges 
dicht begeiftert hatte, unter ihren Schu genommen und mit 
einer beifpiellojen Popularität befränzt. »Adelaide« ift wohl 
dad einzige Lied von Beethoven, deſſen Verluft eine Lücke in 
dem Gemüthsleben unjerer Nation zurüdlaffen würde. 

Der zweite Weihnachts-Feiertag brachte diesmal wie all- 
jährlih ein »Philharmonifches Concert«. Muſikaliſche Pſycho— 
logen oder Vhyfiologen mögen nad den Gründen forfchen, 
warum unfer font jo elaftiiches Concert-Publicum jedesmal an 
diefem Tage ganz eigenthümlih müde und zerftreut erjcheint. 
Die Thatſache felbit fteht uns feſt. Insbeſondere für Novitäten 
it der Stephandtag ein dies nefastus; Hiller’3 E-moll-Sym: 
phonie mußte die geftern erfahren. Wir glauben keineswegs, 
daß die Gompofition zu anderer Zeit ein enthufiaftiihes Publi— 
cum gefunden hätte; ein etwas theilnehmendere® aber hatten 
wir doc gehofft. Ferdinand Hiller fol nun einmal in Wien 
fein Glüd haben. Werke feiner Compofition, welche im übrigen 
Deutichland ſchöne und bleibende Erfolge errangen, gingen hier 
ſpurlos vorüber. Einen wirklichen Succeß hatte in Wien nur 
jein allerfleinfte® Stüd, da8 von Clara Schumann eingeführte 
Clavier-Impromptu: »Zur Guitarree. Für Hiller ift in Wien 


Symphonien von Hiller und Neinede. 429 


der rechte Zeitpunkt verpaßt worden; wir meinen die Periode 
de3 leidenjchaftlichen Mtendelsfohn-Eultus. Das verwandte, wenn 
auch ſchwächere Aroma der Hiller’ichen Mufit wäre damals auf 
geeignetere Sinne geitoßen. Daß Hiller’3 Mufif fein Trunk 
bon der Duelle iſt, da ſpürt Freund wie Feind ſchon am 
eriten Schlud. Der höher liegende Quell, der Hiller’3 Talent 
durch verborgene Ganäle jpeift, it Mendelsjohn Nun will 
und ſeit einiger Zeit dieje Quelle ſelbſt nicht mehr ſo friſch 
und jtärfend Dünfen, wie vordem — eine Wandlung, welche 
mit verdoppelter Schwere die abgeleiteten Talente, wie Hiller, 
Gade, Benett, Reinede, trifft. Mit kühler Anerkennung ſalu— 
tirt man jet Productionen und Eigenichaften dieſer Künitler. 
welche man vor 15 bis 20 Jahren ſympathiſch empfunden hätte. 

Das Wiener Bublicum hat von Natur, und ununterbrochen 
beeinflußt von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, einen 
entjchiedenen Zug zum Urfprünglichen, Erfinderifchen, namentlich 
zum Melodiih-Driginellen in der Mufif, ein Zug, den man nur 
beglückwünſchen kann, und der fih in hohen wie niedrigeren 
Kunftregionen (3. B. in der Vorliebe für die italienifche Oper) 
übereinjtimmend ausſpricht. Diefe Richtung trifft offenbar das 
Wahre, denn die jchöpferifche, originelle Kraft ift umd bleibt 
dad Erite in der Mufit; das Talent wiegt ſchwerer als die ge— 
bildete Technik. Demungeachtet darf man es bedauern, daß mit- 
unter Compofitionen bon geiftreicher, vornehmer Individualität 
und feinfter Durhbildung in Wien nit die Anerkennung 
fanden, welche ihnen anderwärt3 in Deutichland gezollt wurde, 
und die fie vom fünftlerifchen Standpunkte vollauf verdienen. 
Die Zahl der muſikaliſchen Original-Genies ift eine fehr Kleine, 
und wenn man conjequent die Arbeiten der feinen Bildung als 
ungenügend ablehnt, wird dem Goncert:Repertoire bald der 
nothiwendigfte Zufluß fehlen. Am ftrengiten verhält fich unfer 
Publicum gegen Nopvitäten ſymphoniſcher Gattung. Daß dabet 
unmwilltirlih immer an Beethoven gedacht wird, das ift unfer 
und der Componiſten Unglüd. Beethoven verdirbt jeder mo: 
dernen Symphonie dad Spiel, er hat factifh »alle Neun« 
gemadt. Ob wir wohl daran thun, diefen höchſten Maßſtab 
an alle Broductionen unferer Epigonenzeit zu legen, Icheint ung 


430 1866. 


jehr zweifelhaft. Es gibt wie in der jchönen Literatur jo auch 
in der Mufif neben den großen genialen Dichtern eine andere 
zahlreihere Gruppe, welche wir als die der angenehmen, liebens— 
würdigen Erzähler bezeihnen möchten. Es find Talente von 
geringer Naturfraft, aber feiner Bildung, die von oben herab 
zu behandeln das hörende Publicum noch weniger Urſache 
bat, als das viel reicher bedachte Iejende. Und doch ift letz— 
tereö ungleich toleranter und dankbarer. In der Mufik finden wir 
heutzutage Publicum und Kritif erſtaunlich ftreng geworben. 
Gritered bat das volle Recht, nur feinem unmittelbaren Impuls 
zu folgen. Die Kritik hingegen, jo meinen wir, follte zweierlei 
nicht vergefjen. Einmal, daß man überhaupt fih hüten muß, 
die künſtleriſche Production Igitematifch zu entmuthigen. Sodann, 
daß gerade im Fach der reinen Inſtrumental-Muſik wir aus— 
ihließlih auf Deutichland verwiejen find. Während uniere 
Dpernbühnen einen wejentlihen Succurd aus Franfreih und 
Stalien beiigen und an einem zeitweiligen Schmollen der 
deutichen Opern-&omponilten nicht zu Grunde geben werden, 
ruht die gefammte Production iymphoniiher Muſik in den 
Händen einiger weniger deutiher Tondichter. Gemwöhnt man 
fih, Lestere einfach an dem Feljen Beethoven zu zerfchellen und 
für Nopvitäten wie mande der jüngit gehörten nur Worte 
der äußerſten Geringihäßung zu haben, jo raubt man gleich: 
zeitig — bis nicht ein zweiter Beethoven ericheint — dem 
Publicum die Möglichkeit, Neues zu hören, und den Künft- 
lern die Luft, Neues zu Schaffen. 

Hiller’3 Symphonie (op. 67) trägt den Geibel’ichen 
Refrain: »Es muß doch Frühling werden!« ald Motto. Der 
poetifhe Kriegöplan des Ganzen, das allmälige Durdringen 
aus Froſt und Winterftürmen zu fröhlihem Sonnenſchein, zu 
Veilchen und Lerchen liegt in diefen Worten vorgezeichnet. Mit 
feinem und conjequentem Sinn hat ihn der Componiſt durch— 
geführt; jchade nur, daß er nah langem Wintermarih uns 
ſchließlich doch einen echt deutfchen Frühling bejcheert, dem man 
ohne Regenschirm und Ueberrock feinen Augenblid traut. Der 
erſte Sat, ein jtürmifches Allegro in E-moll, das ſchon durch 
den Stoff an die Einleitung zu Mendelsſohn's »Malpurgis: 


Symphonien von Hiller und Neinede. 431 


nachts erinnern muß, hat Spannung und energiihen Fluß, 
geiltreiche thematifche Verwendung aller Motive und Motivchen, 
ift aber etwa3 lang ausgeſponnen. Die beiden mittleren Sätze 
find Die gelungenften: ein zartes, fingendes Adagio (C-dur, ?/,) 
mit reizend außflingendem Schluß und ein lebhaft pridelndes 
Scherzo in fchnellem Zweivierteltaft, dad in Motiven und In— 
ftrumentirung allerdingd ftarf an Mendelsſohn's »Sommer:- 
nachtstraum« mahnt. »Befreit vom Eis find Strom und Bäche« 
— nun möchten wir im legten Sa den Frühling ungeltört 
mit voller Freudigfeit genießen. Aber das Finale (E-dur, ?/,) 
bringt es nicht zur vollen Blüthe, es will eben noch immer 
»Frühling werden«. Falt Alles hing bier von einem glück— 
lichem Thema ab, und daß gerade für den Finaljag Hiller 
fein frifcheres und bedeutenderes fand, wird verhängnißvoll für 
den Totaleindrud der ganzen Symphonie. Mußte Hiller’3 Sym: 
phonie fich mit einem Succès d’estime bejcheiden (nur Adagio 
und Scherzo janden lebhafteren Anklang), jo fünnen wir troß- 
dem die Mahl des Stüdes von Seiten der Philharmoniſchen 
Gejellihaft nicht anfechten. Ein Mann von dem Namen umd 
Verdienſte Hiller’3 hat den gegründetiten Anfpruch auf Be— 
achtung. Hiller ift als Mufifer wie als Schriftiteller und 
Dirigent eine Zierde feines Vaterlandes, und wer jemals feinen 
anregenden Umgang genoß, der wird auch die lebhafteiten 
Sympathien für den trefflichen, liebenswürdigen Menſchen 
gern befennen. 

Eine Symphonie von Karl Reinede (A-dur, op. 79) 
fand bier freundliche, aber keineswegs begeilterte Aufnahme. 
Die Aufführung konnte feiner und eleganter kaum gedacht werden; 
daß der Beifall feinen höheren Temperaturgrad erreichte, war 
fomit mur in dem Charakter des Werkes jelbit begründet. 
Reinecke's Phantafie reißt und nicht im Flug nach unbefannten 
Regionen empor, fie führt uns an fanfter Hand durch heimifche 
Fluren und Thäler. Nicht von genialer Gigenart oder Ueppig— 
feit, iſt Reinecke's Talent doch beachtenswerth. In unjerer 
Zeit der falfchen Genies (die im Gegenjaß zu den Pierres de 
Strass von den echten jehr Leicht zu unterfcheiden find), haben 
wir allen Grund, ſchon die negativen Vorzüge des Componiſten 


432 1866. 


hochzuſchätzen: ſeine Scheu vor allem Häßlichen und IUnwahren, 
vor jeder Rohheit und Affection. Auf diefem Boden erblühen 
bei Reinecke als pofitive Tugenden: anmuthigsmelodiöfer Ge— 
ang, feinfte Empfindung für Ebenmaß in Form und Stim- 
mung, und geichmadvolle Beherrihung aller Inſtrumental— 
mittel. Wir finden diefe Eigenichaften Reinecke's auch in 
jeiner neuen Symphonie wieder. Alle vier Sätze haben 
den Vorzug einer bejcheidenen Kürze; der Componift ver- 
ſchmäht es, fih größer zu ftreden, al3 er gewachſen. Einzelne 
Gedanfen erinnern an Schumann und Mendelsſohn; den Blick 
auf das Ganze gerichtet, kann man troßdem Reinede weder 
als Nahahmer des Einen, noch des Anderen, nod eines 
Dritten bezeichnen. An Beethoven muß man freilic” nicht 
denken, und daß wir dies bei jeder neuen Symphonie thun, iſt 
unjer und unferer Componiſten Unglüd. Wem aber zufällig die 
jüngit gehörte Cherubini’ihe Symphonie einfiel, der wird viel- 
leicht dem freimüthigen Geftändniß beiftimmen, daß wir Rei— 
necke's freundlich gepflegten Garten noch immer jenem hof— 
färtigen Porticus vorziehen, in deſſen Riten alle Eulen der 
Langeweile ihre Nefter bauen. 

»Waſſermuſik«, »Feuermufife — jeltfame Titel zweier 
ehemals gefeierter GCompofitionen von Händel! Ermwarte ja 
Niemand irgend eine ſymboliſche oder poetijche Beziehung diejer 
Elemente zu dem Inhalt der GCompofitionen, die überhaupt 
wenig Glementarifhes an ſich haben. Zwei Hoffeitlichkeiten: 
eine Wafferfahrt auf der Themſe (1716) und ein jolennes 
Feuerwerk aus Anlaß des Aachener Friedens, waren die Ge- 
legenheitsmacher und Taufpathen diefer Mufikftüde. Nach dem 
Vorgang auswärtiger Concert-Inftitute führten una die »Phil— 
harmonifer« am vorigen Sonntag einen großen Theil der 
Händel’ihen »Waſſermuſik.« vor. Das Original beiteht aus 
etwa zwanzig kurzen, nach Suiten-Art aneinandergereihten Stüden. 
Herr Gapellmeifter Deſſoff hat mit richtigem Takte die beiten 
und wirffanften Stüde (Duverture, Adagio, Bourree, Andante, 
Menuett, Allegro) aus dieſer obſoleten Maſſe herausgeſucht. 
Bei Anhören derſelben beſchränkte ſich unſer beſcheidenes Ver— 
gnügen auf das hiſtoriſches Intereſſe und einige angenehme 


Händel »Waffermufif«e. Lachner »Suitee. 433 


Nebengedanken moderniter Art, nämlich über den unermeßlichen 
Forticgritt an Leib und Seele, welchen die Inftrumentalmufif 
jeit jener gloriofen Wafjerfahrt gemadt Hat. Den Genius 
Händel’3, des Meiiters im Oratorium, lernt man aus feinen 
Snftrumental-Sompofitionen überhaupt nicht fennen; fie verrathen 
die unläugbare Starrheit und Schwerfälligfeit einer fich eben erſt 
entwidelnden Kunſt, ohne die gewaltige Eigenthümlichkeit Seb. 
Bach's auf diefem Gebiet zu erreichen. Weit eher nocd können 
wir und an den Händel’ichen Elavier-Suiten erfreuen, als an 
diefer »Celebrated Water-Musie«, deren größere Hälfte gerade- 
zu ungenießbar iſt. Ohne fich durch den großen Namen Händel 
im mindeften beirren zu laffen, nahm das Publicum die » Waffer- 
mufif« bis zur vorlegten Nummer (Menuett in G-moll) mit 
lautlofem Schweigen hin; hier erit, wo der dürre Stafetenzann 
einige Blüthen anfeßt, wurde die Verfammlung warm und ver: 
langte den Menuett jogar da capo. Dieje Ehre möchten wir 
dennoch zum größeren Theil der Aufführung zufchreiben, Die 
durch äußerſte Zartheit und glüdlihe Schattirungen der Ton- 
jtärfe dad Stüd zu individualifiren und zu beleben verjtand. 
Dem ganzen Werke fieht man feine Zeit an, nicht aber den 
Genius eines der Größten diefer Zeit. Die gefunde Kraft, welche 
die beiferen Inftrumentalftüde jener Epoche zu charakterifiren 
pflegt, erjcheint ums in der »Waffermufif« und Aehnlichem über: 
wiegend ald monotone Starrheit, Gebundenheit und Schwere. 
Die 33 Jahre fpäter componirte Feuermuſik (»Musie for the 
royal fireworks«) bewegt fich etwas lebendiger und freier — 
wir wollen fie darum den »Philharmoniſchen Concerten« noch 
feineswegs zur Aufführung empfohlen haben. Aus der grauen 
Allgemeinheit dieſes Wafferfpiegel3 erhob fi, wie die märchen— 
hafte Wunderftadt Vineta, mit zanberifhem Reiz Schubert’s 
Mufit zu »Rojfamunde«. 

Zum drittenmal und mit einer dritten »Suite« erſchien 
Franz Lachner, der jugendlich friiche Veteran in Wien, um 
jein der »Gejellihaft der Mufikfreunde« gewidmetes neueſtes 
Wert jelbit vorzuführen. Das Publicum begrüßte ihn bei feinem 
Eriheinen und nad jedem Sate der Compofition mit anhal- 
tendem Applaus. Die neue Suite in Es-dur, die vierte in der 

Hanslid. Aus dem Concertjaal. 2. Aufl. 28 


434 1866, 


Neihe (eine dritte in F-dur ift hier noch unaufgeführt) heilt 
die glänzenden technifchen und formellen Vorzüge ihrer in Wien 
fo beifällig aufgenommenen Worgängerinnen in D-moll und 
E-dur. In der Kunſt ftrenger und doch mwohlflingender Poly: 
phonie, reicher Figuration und Gontrapunftif, endlih in der 
Meifterfchaft der Inftrumentirung fteht die neue Lachner’iche 
Suite jenen beiden nicht nad. An Frifhe und Eigenart der 
Ideen bleibt fie hingegen zurüd. Die »Arbeit« herricht in 
manden Partien (befonder® dem erften und vierten Sag) allzu 
merflih vor und ftreift dann an Trodenheit; ruft der Com— 
ponijt hierauf als wirkſame Gegenfraft die Bopularität auf den 
Kampfplag, fo verfällt er mitunter dem Alltäglihen und Ba— 
nalen. Schöne Einzelheiten — gleihen Werthes vielleicht, wenn 
auch nicht gleicher Zahl — Hat das neue Werk auch gegen 
jeine beiden älteren Schweftern aufzumweilen; der Fluß des— 
jelben erjcheint aber diesmal doch etwas ftodend und un— 
gleih. So beginnt der erſte Sat jehr hübſch mit einem 
marſchartig einherjchreitenden Motiv voll anmuthiger Würde; 
nah 48 Taften macht dieſes auf Nimmerwiederjehen einem 
blechgerüfteten Fanfarentfum Pla, da8 an da Gloria einer 
Landmeſſe erinnert. Nur kurz vor einem gefälligen Gegen- 
motiv in B unterbrohen und jchließlih kunſtvoll damit ver— 
einigt, verläßt uns diefe pomphafte Alltäglichkeit nicht wieder; 
allerdings legt fie nacheinander die reichiten Gewänder an, 
welche die Fuge und der doppelte Contrapunkt, Augmentation und 
Engführung nur herbeifchaffen fünnen. Das tranermarjchartige 
Thema ded Andante tft nicht von bedeutender Erfindung, wird 
aber in freier Variationenform mit großem Geſchick verändert 
und verwendet; ein idylliſches Andantino in 9/,-Taft läßt den 
Sat anmuthig, wenngleih etwas weichlich außflingen. Der 
dritte Sat, »Sarabande«, nicht don hervorragender Eigen— 
thümlichfeit, wirft durh anmuthig melodiöſen Fluß und über: 
aus zierlihe Inftrumentirung. Das Thema der »Sarabande«, 
fowie dad vorangehende Andantino am Schluß de zweiten 
Sates erinnern ftart an Spohr. Der letzte Satz iſt »Gigue« 
überfchrieben, obwohl er mit dem Charakter diejer alten Tanz: 
form wenig gemein hat. Das Thema hat etwas redenhaft 


Suiten von Lacher und Eifer. 435 


Gewaltiges ; von den Contrabäffen angeitimmt und als vier: 
ftimmige Fuge pompös eingeführt, macht es bald freieren 
melodifchen Geftaltungen Platz (ein Wechfel, der zu den ſchönſten 
Kunſtfortſchritten unferer Zeit gehört), ſtürzt ſich abermals in 
den braufenden Wirbel der Contrapunktik, um endlich in fräf- 
tigem und beichleunigtem Aufſchwung zu Schließen. Eine contra= 
punktiſche Meifterarbeit voll anziehender Details, wirft dieſe 
»Gigue« fchließlih doch etwas ermüdend. Der lärmende Bei: 
fal am Schluß der Suite dürfte, jo weit wir dad Publicum 
beobadten fonnten, noch mehr der verehrten Perſönlichkeit des 
GComponiften, als dem Werfe jelbit gegolten haben — daß 
die zwei erjten Suiten ungleich aufrichtiger gefielen, ift zweifellos 
und mwohlbegründet. 

Wie Eſſer's jüngft gehörte Suite (wir ziehen fie der 
neuen Zachner’fchen vor), ift auch dieſe auf die Zahl von vier 
Süßen herabgegangen, nachdem früher beide Componiſten ihre 
Suiten fünf- und ſechsſätzig ſchrieben. Wie die Zahl der Sätze, 
ſo iſt auch deren urſprünglicher Tanzcharakter bei Lachner und 
Eſſer auf ein Minimum reducirt. Endlich erſcheint auch das dritte 
Geſetz der alten Suitenform, die Einheit der Tonart in ſämmt— 
lichen Sätzen, definitiv beſeitigt. Wir ſehen hierin ein ſehr 
beachtenswerthes Zeichen, daß die modernen Verſuche zur 
Wiedererweckung der alten »Suite« ihren ardaiftiihen Aus— 
gangspunft bereit vollitändig verlaffen und unter Beibehaltung 
des alten Namens fih der Symphonie wieder auf Eleinfte 
Diftanz genähert haben. Die großen, claffiihen Schöpfungen 
in der Symphonie und die daraus quellenden hohen An- 
ſprüche haben in neuelter Zeit zwei Umgeſtaltungsverſuche dieſer 
Form hervorgerufen: Liſzt's »Symphoniſche Dichtung«, welche 
den Inhalt der Symphonie in einen Sat zufammendrängt, 
und die ſymphoniſche »Suite«, die ihn in eine größere Zahl 
von Süßen außeinanderbreitet. Beide Verſuche fcheinen eine 
eingreifende, allgemeine Wirkung nicht zu üben, fie bleiben fait 
ohne Nachkommenſchaft. Die indirecte gute Folge dürften fie 
aber haben, daß die Symphonie fih nunmehr eine größere 
Freiheit in der Reihung und Geſtaltung der Süße erlauben 
wird, die ſchwer zu definirende, aber dennoch unentbehrliche 

28* 


436 1866. 


Einheit des Gefammtbildes ſtets vorausgeſetzt. Es iſt nicht 
einzufehen, warum Künftler wie Lachner und Eſſer fi unter 
folhen Bedingungen nicht zur Symphonie befennen follten — 
ihre letzten Orcefter-Suiten gehören der alten »Suite« gar 
nicht und der »Symphonie« jedenfall® mehr an, ald irgend 
einer anderen Runftform. 


Mendelsſohn's „Antigone“ und Meyer⸗ 
beer’s „Struenfee“. 


Als wir fürzlih in den Blättern die Notiz laſen, es 
werde eine vollftändige theatraliihe Aufführung der »Antigone« 
von Sophofles mit Mendelsſohn's Mufit vorbereitet, da ſagten 
mir von ganzem Herzen: Amen. Denn leider hat Wien noch 
niemal® Gelegenheit gehabt, den lebendigen dramatiihen Ein- 
drucd der griehiihen Tragödie an fich zu erfahren, während 
da3 Publicum in Berlin, München und Dresden die Aufführungen 
der »Antigone« zu feinen Kunftgenüffen zählt. Ein einzigesmal 
machte dad Theater an der Wien vor etwa 18 Jahren einen 
Verfuh: er war nur halb gewagt und ift ganz mißlungen. 
Diefe verihämte »Antigone«-Aufführung war nämlich nichts 
weiter als eine Lectüre mit vertheilten Rollen; die Schaufpieler 
faßen in Frack und Glacehandichuhen vor den Fußlampen 
und laſen ihren Bart aus dem Buche, die Sänger hinter ihnen 
aud den Noten. Das Publicum ſchien gleich nad den erften 
Scenen in der beiten Stimmung, fih das Eintrittögeld an 
der Kaſſa zurüdgeben zu laffen. Es hätte fih jeither längſt 
verlohnt, die ſceniſche Aufführung der »Antigone«e ind Merk 
zu ſetzen, da gerade Wien über theatraliihe und mufifaliiche 
Kräfte verfügt, wie feine zweite Stadt in Deutſchland. Sei es 
nun, daß der Plan einer vollftändigen Darftellung auch diesmal 
nicht ernitlich gefaßt oder daß er von Hinderniffen überwältigt 
wurde — die »Antigone«, weldhe und vorgeftern im großen 
Redoutenſaal erfhien, war eben nur der oftgehörte Mufik- 
Srtract mit »verbindender Declamation«. 


Mendels ſohn's »Antigone« und Meyerbeer's »Struenſec«. 437 


Das Abtrennen, Abzapfen der zu einen dramatiſchen 
Ganzen gehörigen Mufit bleibt an fich ſtets eim äfthetiicher 
Nothbehelf, mit dem wir je nach dem Charakter der Mufif und 
fchwerer oder leichter abfinden. Die Männergefang-Bereine 
handeln in vollem Necht, wenn fie ihr an größeren erniten 
Gompofitionen armes Repertoire dur die Mendelsiohn’ichen 
Chöre zu »Dedipus« und »Antigone« bereichern und diejelben, 
unbefümmert um deren theatraliihe Beltimmung, als Concert: 
muſik feithalten. Durch ihren abjoluten Muſikgehalt wie durd) 
ihre relativ größere Unabhängigkeit von der Scene find dieſe 
Chöre mehr als andere geeignet, ein jelbitjtändiges Concert- 
leben zu führen; ungleich mehr 3. 8. als die Meyerbeer'ſche 
»Struenjee«-Mufit, welche kurz vorher in einer Wohlthätig— 
feit3-Afademie mit jehr zweifelhaftem Erfolg vorgeführt wurde. 
Wir Hatten in Wien Gelegenheit, die Meyerbe er'ſche Mufif 
mit dem Drama »Struenjee« und ohne dasjelbe zu hören, 
im Theater und im Goncertfaal. Für eine begleitende 
Schaufpielmufif gibt fie viel zu viel, ihr melodramatijcher 
Epheu frieht in alle Riten des Gedichtes und verwiſcht die 
unentbehrlihen Grenzlinien zwiichen Drama und Oper. Al 
jelbitftändige Concertmufif hingegen gibt fie zu wenig und das 
Wenige zu formlos und unruhig. Uebrigens dürfte noch eher 
Mendelsjohn künftige Concert: Aufführungen der »Antigone« vor— 
bedacht haben, als Meyerbeer die Iſolirung feiner » Struenjee«= 
Muſik. Legtere jollte ja nur das Drama des geliebten Bruders 
Michel Beer auf den Bühnen flott machen und erhalten; der 
ftärfere Bruder wollte mit diefer Partitur den jchwächeren in 
die Uniterblichfeit einkaufen. Meyerbeer hat es damit nicht 
feiht genommen; wir zählen feine »Struenjee«-Mufit zu den 
größten Anftrengungen, die er gemacht hat. Mitunter glaubt 
man fürmlih den Schweiß diefes fünftleriichen Ringens zu 
jehen, und fürmwahr, viel unmilliger würde man fih davon 
abmenden, ſpräche nicht jeder Tropfen: Sch bin der Hüter 
meines Bruders. 

Gegen Meyerbeer's >» Struenjee«-Compofition, welche 
mit dem Drama ftirbt und ohne das Drama nicht leben fann, 
ſteht Mendelsſohn's »Antigone«-Muſik ungleich günftiger. Sie 


438 1866. 


verhält fich zur Tragödie des Sophofles ungefähr wie der 
antife Chor zu dem dramatiihen Ganzen überhaupt: eine Art 
Staat im Staate, nicht mithandelnd, jondern die Handlung 
nur mitdenfend und mitfühlend. Was bier zu näherem Ver— 
ſtändniß noch wünſchenswerth bleibt, fann durch ein jogenanntes 
»verbindendes Gedicht« Leicht beichafft werden. Wir geftehen 
unfere lebhafte Abneigung gegen diefe Art poetifcher Fremden: 
führer, die und aus der idealen Region der Muſik alle fünf 
Minuten wieder auf die platte Erde herabziehen. Mas wir 
lebendig vor una fehen follen, davon wird uns in fäuberlichen 
Verſen erzählt, daß es eben geichehen ſei oder fofort geichehen 
werde. Wir würden, wo es nur halbwegs möglich, alle ver: 
bindenden Declamationen entfernen und durch Ueberſchriften 
und furze Bemerkungen im Programm erjegen. Ueberdies find 
die meiften diejer erflärenden Gedichte durch ihre Breite und 
Redfeligfeit weit mehr geeignet, die Zuhörer zu zerftreuen und 
zu langweilen, als fie zu feſſeln. Mit Ausnahme des immer 
zündenden Bacchus-Chors jchien »Antigone« die Zuhörer wenig 
zu erwärmen. 


Kammermufik. 


Seltſamerweiſe als »neu« bezeichnet und wirklich in Wien 
noch nicht gehört war ein »Divertimento« von Mozart 
für Streichquartett und zwei Waldhörner in B-dur. Aus der 
großen Zahl Mozart’icher Divertimento’3, Serenaden, Caſſa— 
tionen und dergleichen, welche, flüchtig und meiſt auf Beitellung 
gearbeitet, den Stempel von Geſellſchaftsmuſik an der Stirn 
tragen, heben ſich zwei ala wahre Meifterwerte heraus: das 
eben genannte Divertimento in B (Nr. 287 bei Köchel) und 
ein zweites in D-dur (Nr. 334 bei Ködel) Das neue 
»Divertimento« hat und von Anfang bis zu Ende die größte 
Freude bereitet. Daß man die Mozart’ihen Sardinaltugenden: 
Klarheit, Wohllaut und Formichönheit, auch Hier nit ver— 
mißt, iſt ſelbſtverſtändlich. Allein es gibt unter den Jugend: 
und Gelegenheit3:Compofitionen Mozart’ gar mande, die 


Kammermufit. Divertimento von Mozart. 439 


troß jener nirgends fehlenden Vorzüge doch zu wenig Ideen— 
gehalt und Begeiſterung verrathen, um uns heute noch ent— 
zücken zu fönnen — genau jo wie es unter Haydn’ 
Werfen recht viele gibt, die -man unbedeutend und veraltet 
nennen jollte, während man hergebradterweife von »unver— 
welflicher Jugend« und dergleichen jpriht. Mit ſolchem, auf 
die bloße Firma hin gleihmäßig ertheiltem Lob jchadet man 
leider jenen Werfen der Meifter, welche wirklich aus einem 
Beet geringer oder halbwelfer Blümchen friid und reizend 
hervorragen. Dazu gehört das Mozart’ihe Sertett in B-dur. 
Man hört, der Meifter hat es mit Luft und Freude gefchrieben 
und diefe Luft und Freude überftrömt auch in die Herzen ber 
mühelos laufchenden Hörer. Großartiges Pathos, Leidenichaft 
und dramatiiche Blige möge freilich Niemand erwarten; das 
Divertimento verleugnet nirgends jeinen Charakter als Geiell: 
ihaftsmufif, als mufifalifche »Unterhaltung«e. Das contertante 
Herportreten der eriten Violine, welche nicht ohne Koketterie 
die pifantefte Gonverfation führt, der fnappe Zufchnitt der ſechs 
Sätze, endlich der gefällige Aufpug des — ganz quartettmäßig 
gejegten — Stüdes dur zwei tiefe MWaldhörner halten jene 
Phyſiognomie unverkennbar feit. Die beiden tiefen B-Hörner, 
auf die Naturtöne beichränft, greifen in daS Getriebe des 
muſikaliſchen Gedankens nicht felbft ein, aber fie verleihen dem 
Ganzen eine reizende Tonfüle und Färbung. Diejer friiche, 
gefättigte Klang der in den einfahiten Gängen ſich jo friedlich 
bewegenden Waldhörner gibt dem Bilde etwas eigenthümlich 
Idylliſches, Serenadenartiges. Wir denfen unwillfürlih an 
Gartenmuſik und ſchmucke Rococco-Pavillons mit erleuchteten 
Fenſtern, ımten im Barf jchöne, Teidenraufchende Damen mit 
gepudertem Haar und Herren mit feinen Gefichtern und bunter 
Tracht. Dies Alles in dem idealifirenden Reiz einer fremd: 
artigen und doch uns nahen Vergangenheit, ohne den Bei: 
geſchmack von Lächerlichkeit, den jeßt jene Lebensformen für uns 
ſo leicht annehmen. Auch auf jene bemalten Fächer und 
Spitzenmanſchetten find Thränen der Freude und des Kum— 
merö gefallen wie heute, und unter den hohen, goldgefticten 
Schnürleibhen des vorigen Jahrhunderts pochten die Herzen 


440 1866. 


in Haß umd Lieb, wie heute. Mozart’3 »Divertimento« zauberte 
ein Stüd vergangened Leben vor uns hin. 


Slara Schumann. 


63 war gegen Ende des Jahres 1846, als Robert 
und Clara Schumann nah ihrem eriten Concert im Muſik— 
vereindfaal von einigen wenigen Getreuen nad) Haufe geleitet 
wurden. Die Stimmung war allerjeit3 nicht die beſte. Weber 
den mäßigen Beſuch des Saales hatten wir erwartet, noch Die 
mäßige Zuftimmung, womit das Publicum Shumann’s B-dur- 
Symphonie (von ihm jelbit dirigirt) und fein A-moll-Goncert 
(von Clara geipielt) entgegennahm. Es waren dies die eriten 
in Wien aufgeführten Compofitionen von Schumann, befanntlich 
zwei jeiner größten und jchöniten Schumann war nad 
einer faſt zehnjährigen hHochbedeutenden Thätigfeit als Componiit 
und Schriftiteller und trog eines früheren Aufenthaltes in Wien, 
wo er mehrere Tondichtungen herausgegeben hatte, den Wienern 
ein unbefaunter Menſch geblieben. Es wollte faft jcheinen, als ſei 
Schumann auh noch im Jahre 1846 vergeblih in Wien ge- 
mejen. Allein das Samenforn war dennoch nicht im Winde 
verweht, es ruhte und wuchs im Herzen der Kleinen Davids- 
bündler-Gemeinde, die bier (der Sade, wenn auch nicht dem 
Namen nach) entitanden war, um nad den befruchtenden 
Stürmen von 1848 allmälig zu Aller Nuten und Freude 
fihtbar aufzugehen. Langjam genug geichah dies allerdings. *) 

Wenn Karl v. Lützow fürzlih in einem Aufſatz über 
die Wiener Baugeihichte den »veripäteten Charafter« derfelben 
betonte, jo können wir dieſen treffenden Ausdruck ganz analog 
auf das frühere Mufifleben Wiens anwenden. Wie Shumann, 
ſo a vor ihm Mendelsjohn, nah ihm Rihard Wagner 


*) Aus der Wiener Birtuofe Leopold von Meyer einmal 
interpellirt wurde, weßhalb er Schumann's Compofitionen ganz ignorire, 
ermwiderte der große Slavierpaufer: »Warum foll ih in meinen Con: 
certen Sachen von Schumann jpielen? Seine Frau fpielt auch nichts 
bon meinen Gompoittionen«. 


Clara Schumann. 441 


einen jehr veripäteten Einzug bei und gehalten; Wien nahm 
von diefen Männern erit Notiz, nachdem fie ein Jahrzehnt in 
ganz Deutjchland befannt und gefeiert waren. Dafür hat 
Wien feine muſikaliſche Veripätung jederzeit durch eine deito 
wärmere und anhaltendere Pflege des einmal Grfannten wieder 
gutgemacht, jo daß Clara Schumann das Wiener Publicum 
heute mit Recht alö das theilnehmendite und verjtändigite 
rühmen und ihm ſelbſt die jchwerfaßlichiten Compofitionen 
ihre Gatten mit voller Zuverficht vorführen darf. Bei ber 
qualitativ und quantitativ jo bedeutenden Ausbildung des 
mufifaliihen Dilettantismus und fpeciell des Clavierfpiels in 
Wien fonnte die Concertgeberin mit größerer Sicherheit als 
irgendivo ander® annehmen, daß ein anjehnlicher Theil ihrer 
Zuhörer auch mit den noch nicht öffentlich geipielten Com— 
pojitionen Schumann’ befannt jei. So hat Frau Schumann 
in ihrem legten Concert zum eritenmal die »Humoresfe« 
op. 20 vollftändig und mit glänzendem Erfolg vorgetragen. 
Dad Stück gehört der erften Periode Schumann’? an, in 
welcher die mwunderbarite Infpiration mit jugendlich wilder 
Gährung im Streite lag oder richtiger: zu unmiderftehlichem 
Zuſammenwirken fi) verband. Trotz ihres Singular-Titeld 
und der Abweſenheit beſtimmter Unter-Abtheilungen (mie fie 
die »Sreißleriana«e und »Davidsbündlertänze« haben) bildet 
die »Humoredfe« nicht eine untrennbare Einheit, jondern eine 
Reihe von ſechs (wenn man will fieben) Charafterjtüden, ver: 
Ihieden nad Tonart, Tempo und Ausdrud. Wahrſcheinlich bezog 
jie der Componiſt durch einen beitimmteren poetilchen oder 
piyhologiihen Zufammenhang näher aufeinander, als Deren 
rein mufifalifhe Verbindung uns jest errathen läßt. Die Fac— 
toren des Humors find darin mehr jelbititändig auseinander: 
gelegt, als verjchmolzen, und zwar waltet der jentimentale 
vor dem Jaunigen, das Idealmoment vor dem Realmoment 
vor. Gegenüber ſolchen höchſt jubjectiven Ergüſſen einer in 
ihrem Reichthum ſchwelgenden Phantafie verftummt das nad): 
Schildernde Wort — genug, daß wir innigere Herztöne, bligendere 
Geiftesfunten, beraujchendere Klänge faum in einer anderen Com— 
pofition Schumann’3 erlebten. Hat man dies merfwürdige Stüd 


442 18866. 


auch nur einmal gehört, ſo wird man, ſeltſam befremdet und 
bezaubert, den Eindruck ſchwerlich wieder loswerden. Beſchäftige 
man ſich aber jahrelang damit, und man wird immer neue 
Schönheiten und die alten jedesmal ſchöner finden. Wie ſchon 
der Titel »Humoreske« andeutet und der Inhalt vollauf beſtätigt, 
ftand der Gomponift damals unter der heftigiten Einwirkung eines 
Dichters, der auf Schumann’3 mufifaliihe Phantafie, jomie 
auf feinen literariihen Styl einen enticheidenden Einfluß ge- 
übt hat: wir meinen Jean Paul. Bon diefem Einfluß Hat 
ih Schumann’ Mufit allerdings befreit, als fie jpäter in 
jene Phaſe der Abklärung und Formſchönheit trat, die wir als 
feine zweite Periode bezeichnen. Aber an jeiner perjönlichen 
Begeilterung für Jean Paul ließ Schumann jelbft in jpäteren 
Jahren nicht mäkeln; der wortfarge, freundlich vor ſich hin 
fiimende Mann konnte in joldem Falle jehr heftig werden. 
Sp gaben einmal die Mufifer und SKunftfreunde Hamburgs 
dem ald Gaſt anweſenden Schumann ein Feitiouper. Nachdem 
der erite Toaſt auf daS gefeierte Künftlerpaar ausgebracht und 
in allgemeinen Jubel allmälig verhallt war, erhob ih Schu: 
mann, um etwas Nußerordentliches zu begehen, nämlich zu 
jprechen. Athemloje Stille. Der Redner pried das glückliche 
Zujammentreffen diefes Feltes mit einem Tage, welcher Deutjch- 
land zwei der größten Genies gejchenft habe: es ſei heute der 
21. März, der Geburtstag Sebaftian Bach's und Jean 
Paul's, diefer unfterblichen Beherrſcher der Mufif und der 
Poeſie! Er erhob jein Glas und die Gejellichaft that mit 
freudigem Zuruf Beicheid. Allein der Dämon der Fritif, der 
oft am nächſten, wenn die Begeifterung am höchften, war auch 
bei dieſem SKünftlermal gegenwärtig und erhob fi langen 
Haljes und funkelnden Blides in Geftalt des geiftreichen 
Grädener, damals Director der Hamburger Sing. 
Afademie. Den Ruhm Jean Paul’, jo jprad er, wolle 
er nicht antaften, noch irgendwelde Sympathien für diejen 
Dichter; allein dagegen müſſe in einem Kreiſe deutjcher Muſiker 
proteitirt fein, daß Jean Paul mit dem gewaltigen Sebaltian 
Bad in einem Athem genannt und als ein Ebenbürtiger vers 
ehrt werde. Grädener war eben im beften Zuge, diejen Ge- 


Glara Schumann. 443 


danfen weiter auszuführen, als Meiſter Robert jchon aufges 
fprungen und ohne ein Wort zu jagen zum Saal hinausgeftürzt 
war. Vergebens ſuchte man ihn, und der Reit des Abends 
verfloß in ſehr herabgemunterter Stimmung. Am folgenden 
Morgen eilte Grädener (au dejjen Munde wir die Ges 
Ihichte haben) mit einigen mufifalifhen Würdenträgern zu Schu: 
mann, den man mittelft aller erdenklichen Erklärungen endlich 
verföhnte. 

Die »Humoreske« kann, ganz abgejehen von ihrer enormen 
techniſchen Schwierigfeit, überhaupt nur von Jemandem geipielt 
werden, der fich, verwandten Geiſtes, vollitändig in Diele 
eigenthümliche Gedankenwelt hineingelebt hat. Wie jehr Frau 
Schumann’ Kunſt hier am rechten Plage und von ganz ein— 
iger Wirkung war, braucht faum erit gefagt zu werden. — 
Rudorff's »Wariationen für zwei Pianoforte« (von Frau 
Schumann mit Fräulein v. Aſten gejpielt) haben una troß 
mancher geiftreichen Figuration und manden finnigen melodiichen 
Zuges einen unerquidlichen Eindruck Hinterlaffen. Sie find eine 
directe Nachbildung Schumann’3, und die Nahahmer Schu: 
mann’? beginnen und im Lied wie in der Claviermuſik peinlich 
zu werden. Iſt es an fich fchon bedenklich, eine fo ganz ins 
dividnelle, bis zum Krankhaften jubjective Erjcheinung tie 
Schumann zu copiren, jo wirkt e8 vollends verftimmend, wenn 
jeine Nahahmer fi) mit conjequenter Beharrlichkeit gerade an 
jene Eigenheiten und Manieren ihres Worbildes feitflammern, 
welche an dieſem felbft mitunter fchon bedenflih find. Dahin 
gehört die Vorliebe für Synkopen und Vorhälte, Diffonanzen, 
rhythmifche und harmoniſche Härten. Rudorff ſcheint es bes 
ſonders auf die Synkopen und rhythmiſchen Verschiebungen 
aller Art abgejehen zu haben, und zwar mit ſolchem Grfolg, 
daB man mitunter nicht errathen fann, wohin der gute und 
ſchlechte Takttheil falle, ob man Perioden von vier zu vier 
oder bon drei zu drei Takten höre u. ſ. w. Wir erinnern beis 
jpielöweije gleih an das Thema mit feinen langſamen Triolen, 
an das ſynkopirte Hinfen der zweiten Variation und Aehn— 
lied. Den günftigen Gindrud der °/,-Takt:Allegrettog, das 
einen freundlichen, Tebhaften Abſchluß des Ganzen bilden 


444 1866. 


fönnte, erwürgt der Componift mit eigener Hand, indem er noch 
ein unerwartetes langathmiges Adagio Hinzufügt, was natürlich 
viel »Ddiftinguirter« ausfieht. 

Frau Clara Schumann Hat uns diesmal noch voll- 
ftändiger befriedigt, ald in früheren Jahren. Möglich, daß etwas 
pon dem fröhlihen Sonnenglanz, den die Jugend über Alles 
breitet, ihrem Spiel abgeftreift jet, aber daß e8 an Wärme und 
Tiefe des Ausdrucks noch gewonnen hat, ſcheint und zweifellos. Dan 
fann das furze Andante aus Beethoven's Es-dur-Sonate op. 27 
(es ift unter Anderm auch als »Kyrie« arrangirt), nicht inniger 
und ftylooller vortragen. Der phantaftiiche Flug der »Kreis— 
leriana«, das leichte Geflatter des Henfelt’ischen »Vögleins«, 
Hiller’3 verliebte Gonverfation »zur Guitarre«, Die £lare 
Grazie des Mendelsſohu'ſchen Capriccio — Alles gab Frau 
Schumann mit gleiher Wahrheit und Schönheit wieder. Daß 
es der verehrten Künftlerin, ſchon ihrem Geſchlechte gemäß, 
mitunter an der legen Gnergie, ſowie an fühnem, freiem 
Humor fehlt, kann Niemanden befremden, immerhin weiß fie 
auch dem Großen, Starfen, der bewegten Leidenschaft zu ge= 
nügen und die größten Formen mit ficherer Ueberfhau und 
zufammenhaltender Straft zu bewältigen. Bejonderen Danf zollen 
wir Fran Schumann für die Vorführung dreier »Album— 
plättere von der Gompofition des hier jehr wenig befannten 
Theodor Kirchner, eines der finnigiten und gemüthpolliten 
Tondider der Schumann’ihen Schule. Haupt: und Prachtſtücke 
der beiden legten Goncerte waren daS Quartett und Quintett 
(beide für Glavier und Streich-Inſtrumente) von Shumann, 
zwei Werke, welche mit deſſen Streichquartetten und Dem 
GSlavierconcert zu dem claſſiſchen Schag unjerer Inftrumental- 
Mufit zählen. Die »PBhantafieftüde«, op. 80, welche Frau 
Schumann mit den Herren Hellmeöberger und Röver vortrug, 
ftahhen dagegen betrübend ab. Dürftig in den Themen, gequält 
und widermwillig in der Ausführung, gleichen diefe Stüde wegge— 
worfenen Skizzen, die der Meiiter in jpäteren Jahren faut de mieux 
wieder aus dem Papierforb genommen, um frank und mißmuthig 
ihnen die früher verjagte Form zu geben. Der Gattin des 
theuren Mannes darf man e8 freilich nicht verübeln, wenn jie 


Clara Schumann. 445 


jedes jeiner Werke gern zur Anerkennung brädte, ja wenn ihr 
vielleiht alle »gleich liebe Kinder« find. Troßdem halten wir 
im Intereſſe Schumann’3 eine forgjame Wahl gegenwärtig noch 
für jehr wichtig. Das große Nublicum ift mit diefem Ton: 
dihter noch lange nicht jo vertraut und im Heinen, daß, 
ohne Nachtheil für diefen, feine Sahen mwahllos von Pir- 
tuofen und Sängern öffentlich producirt werden dürften. Dem 
entipricht die Pflicht des Kritiker, die mitunter ſehr ungleichen 
Werthe der Schumann’schen Thätigkeit jederzeit rückhaltlos 
zu conftatiren, eine Pflicht, die deſto größer wird, je zweifel: 
Iojer die Verehrung oder Vorliebe des Kritiferd gerade für 
Schumann feftiteht. Daß die zahlreichen Eleineren Gompofitionen 
(Slavierftücde, Lieder) aus Schumann's dritter Periode mit 
geringen Ausnahmen tief unter feinen früheren ftehen, ift 
nur zu gewiß, und deßhalb reihe man dem Publicum nicht 
brödelnde Reliquien, ehe es den lebendigen jchönen Leib voll: 
ſtändig fennt. 

Noch ſeltſamer wird mitunter in der Auswahl Schu: 
mann’jcher Lieder für den Goncertgebrauch vorgegangen. »So 
oft fie fam« iſt ein poetifcher Hauch, aber fein Lied, »Lehn’ 
deine Wang’ an meine Wang’« ein leidenfhaftliher Aufichrei, 
aber fein Lied. Für den Concertvortrag paßt fein Lied, welches 
aufgehört hat, nahdem es kaum anfing. Auch jene fubjectiv 
grübelnden Stimmungs- oder Verftimmungslieder, die mit einer 
Diffonanz anheben und fließen, taugen ſchlecht vor Die 
Deffentlichkeit. Eine gewiffe Plaſtik und klare Weberfichtlichkeit, 
eine gewiſſe unumgänglihe Ausdehnung muß ein Gelangftüd 
haben, das auf eine größere Verſammlung wirken jol. »Mein 
Herz ift ſchwer« (von Fräulein Bettelheim gefungen) jpannt 
bet aller fjubjectiven Wahrheit gleichſam jede Faler der Em— 
pfindung einzeln auf die Folter; die (von Frau Duftmann 
gewählten) »MWaldlieder«, op. 119, und »Jugendlieder«, op. 79, 
zeigen ein viel freundlicheres, aber defto unbedeutenderes Ge- 
fiht. Und dennoch liegen rechts und links davon im Schu: 
mann’schen Liederfatalog die föftlihen Perlen, die noch feine 
Hand berührte! Frau Schumann darf fih und und nach— 
rühmen, das ihre ernite, wahre Kunſt hier nicht blos anerkannt, 


446 1866. 


fondern geradezu Mode geworben. Durch frivole Gegenbilder von 
unverdienten Erfolgen, wie fie ja nie und nirgends fehlen, muB 
man fi nicht beirren laſſen. Paßt es doch vor Allem auf 
die Kunftzuftände einer großen Stadt, wenn Fr. NRüdert uns 
zuruft: 


»Das iſt zu viel von der Welt begehrt, 

Daß ihr das Gute allein ſei werth; 

Sie hat dem Guten ihr Recht gethan, 

Wenn fie'3 nimmt zugleih mit dem Schlehten an«! 


Dirtuofen. 


Dem neuen Harmonie-Theater gebührt das Werdienit, 
den MWienern einen der berühmteften Virtuofen der Gegenwart, 
Giovanni Bottefini, zuerſt vorgeführt zu haben. So jung 
Bottefini noch ift, er fieht feine Herrichaft iiber den Contrabaß 
unbeftritten und feine Virtuoſität von feinem Rivalen erreicht, 
weder in den modernen Concertfälen, noch in den alten Muſik— 
Lexikons. Allerdings und mit Recht ift die Baßgeige ein felten 
gewähltes Concert-Inſtrument. Seit dem alten Hindle, der in 
den Zwanziger: und Dreißiger:Sahren alljährlich fein regelmäßiges 
Gontrabaß-Eoncert in Wien gegeben, ift unſeres Wiſſens hier 
Niemand auf dem Orcefter-Clephanten geritten. Die Baßgeige 
verdankt ihre Wichtigkeit im Orcheiter Dem entfcheidenden Ernft und 
Nachdruck, womit fie die Converfation der übrigen Inftrumente 
ftüßt und approbirt; fie ſelbſt ift nicht zum Redner geboren. Wer 
die Baßgeige zum Solo-Inſtrument erheben will, ift genöthigt, 
gerade ihre charakteriitiichen Eigenfchaften möglichit abzuſchwächen: 
der Birtuofe nimmt ihr die derbe, rumpelnde Kraft, die 
erhabene Vierſchrötigkeit, und dreifirt fie zum Wioloncell. In 
der That kann man gefchlofienen Auges Botteſini längere 
Zeit mit der Illuſion anhören, einen trefflihen Gelliften zu 
vernehmen. Er trägt Gejangitellen in der Bariton und Tenor: 
lage mit weichem edlen Ton und fchmelzendem Ausdrud vor; 
die ſchnellſten, ſchwierigſten Paſſagen, Triller, chromatiſche und 
diatoniſche Terzenläufe, endlich alle Gaukeleien des Flageolets 


Virtuoſen. Botteſini. 447 


vollführt er mit größter Sicherheit und Eleganz. Eines nur 
hätten wir noch gewünſcht: daß Botteſini die hohe Lage 
nicht ſo unverhältnißmäßig bevorzugt, ſondern auch die ge— 
waltige Tiefe des Inſtrumentes häufiger producirt hätte. So 
kann man mitten in der Bewunderung über dieſes Violoncell— 
ipiel auf der Baßgeige den Gedanken nicht ganz abmwehren, 
warum der Mann nicht lieber glei zum Cello greife, wo das 
Alles viel Leichter von ftatten geht? »Eben weil es leichter 
wäree, würde der Birtuofe mwahrjcheinlih antworten, »und 
weil mein Erfolg darauf beruht, das Schwierigere zu voll— 
bringen«e. Wo ungewöhnlihde Kraft und Gewandtheit ihre 
volle Herrihaft über ein widerſpenſtiges Material produciren, 
da fann und wird der Zoll der Bewunderung nicht verjagt 
werden. Ein wideripenftigere® Material für die Bravour fann 
es aber kaum geben, ald den Gontrabaß, und einen voll 
fommeneren Bändiger desjelben aud nicht, als Bottefini. 
Glaubt Jemand dad Staunen über technijche Virtuofität verlernt zu 
haben, bei Bottejini’3 Productionen wird er es wieder lernen. 
Daß ein äjfthetiiher Eindrud, welcher hauptſächlich aus dem 
Erſtaunen rejultirt, fein nachhaltiger fei, bedarf freilich nicht 
erit des Beweiſes. Hingegen verdient Bottefini dad ausdrück— 
lihe Xob, daß er auch in der Bravour mit Gejhmad verfährt 
und jene bajazzoartigen Charlatanerien verſchmäht, mit denen 
auf derlei Ausnahms-nftrumenten fo gern geflunfert wird. 
Dahin gehören 3. 3. daß über Gebühr berühmte Kunſtſtückchen 
des Piemontefen Langlois, der die hohe Saite des Contra— 
baſſes, anftatt fie aufs Griffbrett zu brüden, zwiſchen dem 
Daumen und Zeigefinger feſtklemmte und fo mit umgekehrter 
Hand raſch bi an den Steg rutichte, eine heulende Here, die 
zum Schornitein hinausfährt. Much die Compofitionen Bottefini’3 
find in der gewöhnlichen Form virtuofer Opern-Potpourris, 
anftändig und nicht ohne muſikaliſches Geſchick gearbeitet. 
Botteſini's Contrabaß ift ein breifaitiger, wie ihn die meiften 
Solojpieler benügen und alle benützen follten. Der dreifaitige 
Contrabaß (Ouartenftimmung a, d, g) ilt nit mur leichter 
zu handhaben, jondern gewinnt auch durch den Wegfall der 
verworrenen polternden tiefiten Saite an Beltimmtheit und 


448 1866. 


Vollklang des Tones. Im Orceiter dürfte die Zukunft überall 
den vierfaitigen Baßgeigen gehören, wie fie in ganz Deutjchland 
und Frankreich üblich find, während man die dreijaitigen nur 
mehr in den DOpernhäufern Englands und Italiens antrifft. 
Obwohl Botteſini's Inftrument nit vom größtem Format 
ift, nimmt e8 doch eine gewaltige Körperfraft in Anſpruch. 
Eine Production auf der Baßgeige iſt fein »Spielen« mehr, 
fondern ein Ringen und Raufen, ein Anfallen und Nieder- 
zwingen des colofjalen Gegnerd. Wenn Bottefini, ein 
fräftiger, hochgewachiener Mann, ji tief über den Coloß 
beugend, mit der linfen den langen Weg vom Hald bis zum 
Steg unaufhörlich zurüdlegt, während die Rechte mit mächtigem 
Bogen die Saiten jäbelt, jo bewundert man den Athleten in 
ihm faum weniger, ols den Tonkünſtler. Im Preſto fam er 
und vor wie ein mufifaliiher von Aken, der eine mild- 
gewordene Beitie bändigt. — 

Drei jugendlihe, uns bisher unbefannte Birtuofen 
betraten fnapp nacheinander den Kampfplaß unter den Tuch 
lauben: der Geiger Lotto, der Glarinettift Orfi, der Clavier— 
ipieler Smietanjfy. Weitaus der Bedeutendite von ihnen ift 
Lotto, Pole von Geburt, alfo in Paris gebildet. Ein Virtuofe 
von allereritem Rang, aber im allerengiten Sinn. Selbit das 
blafirtefte Publicum der Sebtzeit wird Lotto's Herereien mit 
Gritaunen folgen, dad Mittelalter hätte ihm einen Ehren: und 
Srtra-Sceiterhaufen votirt. Cine ſolche Leichtigkeit und 
Ausdauer in der Bravour, jo eifernen Arm bei jo gefchmei- 
digem, loderitem Handgelent befommt man jelten zu jehen. 
Sobald aber die Bravour auch. nur acht Takte ruht, findet 
una 2otto’3 Spiel falt und ernüchtert, der Zauberkefjel wird 
zur ganz gewöhnlichen Geige ohne Größe und Adel des Tons, 
"ohne Gefühl und Leidenschaft. Bezeichnend ift, daß Herr Lotto 
mit Vorliebe Paganini'ſche Gompofitionen fpielt, deren Bedeu: 
tung faſt ausſchließlich in ihrer technifchen Schwierigkeit Liegt. 
Wenn die wahrhaft großen Künftler des modernen Biolinfpiels 
die Werke Baganini’s in der Negel vermeiden, fo thun fie 
dies Doch gewiß nicht blos aus Furcht vor deren technifcher 
Anforderung. Hätte nicht Paganini’3 Spiel fie in die Welt 


Birtuofen. Orfi. Emietansty. Mary Krebs. 449 


geführt, man wüßte wenig mehr von ihnen; die dämoniſche 
Laune, die gejpenitig feſſelnde Ericheinung des genialen Son: 
derlings hat jeinerzeit über dieſe Gompofitionen ein bengaliiches 
Liht don Geiſt und Genie audgeftrömt, das in den Noten: 
föpfen jelbit nicht ftedt. Es find treffliche Uebungsſtücke, die 
den jungen Virtuofen zur Verzweiflung und zur Meifterfchaft 
führen. Bon mander Paganini'ſchen Brapourftele müflen wir 
geradezu glauben, ihre vollfommene Ausführung hänge vom 
Zufall ab. So 3.8. die ausfchließlih im Flageolet ſich bewe— 
gende zweite Variation über »di tanti palpitie, welche ſelbſt 
Herr Lotto nur mit empfindlicher Unreinheit herausbrachte. 
Sein Meiſterſtückchen blieb jedenfalld der Vortrag des »Perpe- ' 
tuum mobile«; länger und fchneller wird faum ein Zweiter 
dieje Kraftprobe durchführen. 

Herrn Romeo DOrfi haben mir nicht felbft blajen, 
wohl aber ihn loben gehört. Seine Landaleute Hatten ein 
hiſtoriſches Privilegium der Pirtuofität auf den Holz-Blas— 
inftrumenten. Trotzdem oder auch deßhalb fließen wir ung 
dem Votum an: Geh’ in ein Orcheiter! Das ift der Pla, 
auf dem wir den Glarinett-, Flöte, Oboe- und Fagottpieler 
zu Ichägen milfen; über die Zeit, wo diefe Künftler fchaaren- 
weile gereift famen und Concerte auf ihrem langweiligen Einzel- 
rohr abbliefen, find wir hinüber. 

Herr Smietanskh, Pianift aus Herrn Pirkhert's Schule 
verfügt über eine jehr beachtenswerthe Technik. Sein Anfchlag 
iſt kraftvoll und elaftifh, nur noch zu einfärbig und wenig 
nuancirt, der Vortrag rein, ficher und virtuos. Blos die Be- 
feelung dieſes jchönen Material läßt noch viel zu wün— 
Then; mir vermißten Geift und Empfindung, ja felbit in der 
Behandlung des Techniichen mitunter den feineren Geihmad. 
Dad Publicum nahm Herrn Smietandfy fehr beifällig auf, 
deögleihen die mitwirfende Sängerin Fräulein Benza. In 
ihrer frifhen Stimme und jugendlih blühenden Perſönlichkeit 
befigt Fräulein Benza einen guten Empfehlungsbrief für Die 
Oper, nur müßte fie zubor eine ganze Bibliothef von Unarten 
und ſchlechten Gefangsmanieren über Bord werfen. Ein Duett 
aus dem »Liebeötranf« fang fie mit ihrem Water, »erftem 

Hanslid. Aus dem Toncertiaal. 2. Aufl. 29 


450 1866. 


Buffo am National-Theater in Peſt«. Eine jo wirkſame un: 
freiwillige Komik wie den Geſang dieſes Herrn haben mir 
felten genofjen. Eigentlih war es ein gejungenes, geiprochenes 
und gepfiffened Gefichterfchneiden. Da indeß Herr Benza über 
alle Bejchreibung zufrieden jhien, fo wollen wir es aud 
fein. — 

Die königlih ſächſiſche Kammervirtuoſin Fräulein Mary 
Kreb3 hat nun auch ein eigene® Concert gegeben. Daß ihrer 
erftaunlih ausgebildeten Technik feine ebenbürtige Entwicklung 
des geiltigen Ausdruds zur Seite fteht, blieb auch diesmal 
der Eindrud, den wir nah Haufe nahmen und den mir 
höchſtens neu paraphrafiren könnten. Chopin’s G-dur-Nocturno 
Hang weich und gejangvoll, wenngleich hier ſchon der eigen: 
thümlih Chopin’ihe Zug einer träumerifchen und reizbaren 
Subjectivität fehlte. Beethoven's C-moll-Sonate (mit Violine), 
tehnifh tadellos andgeführt, ließ fühl und gleichgiltig. Bei 
einem jo ansgefprochenen Talent wie Fräulein Krebs darf 
man auch in biefer Hinficht Viele8 von der Zukunft Hoffen. 
Noch ift fie Undine im eriten Gapitell. Wenn in dem 
poetiihen Reproductions-Vermögen junger Mädchen fi gleich: 
ſam Teere Stellen zeigen, fo ift uns das ungleich lieber, als 
die künſtliche Ausfüllung folder Lüden mit unmwahrem, 
affectirtem Gefühl. Für die legte Ausbildung der talentvollen 
Künftlerin würde fih vielleicht ein abichließender Curſus bei 
einem geiftvollen Virtuofen moderner Schule (Clara Schuman, 
Bülow, Brahmd, Taufig) als mwohlthätig empfehlen. Fräulein 
Krebs Hatte und Hat an ihrem verbienftoollen Vater einen 
porzüglichen Lehrer, aber gewiſſe Fefleln des Vortrags löſen 
ſich nicht Leicht, fo lange ein junger Künftler nur einen Meifter 
nahgeahmt, nur eine Stimme gehört hat. 


G&oncert von Joh. Herbeck. 


Herr Hof-Gapllmeifter Herbed gab im großen Rebouten- 
faal ein Concert, dad ausſchließlich Werke feiner eigenen Com: 
pofition zu Gehör bradte. Die Ausführenden waren: der 


Goncert von Job. Herbed. 451 


Wiener Männergefang=Berein, der Singverein und das 
Orcheſter ver Geſellſchafts-Concerte, aljo drei Corporationen, 
welche dem oncertgeber zwar nicht das Leben jcdhlechtweg, 
aber doch ein neues Leben verdanken und im ihrer jeßigen 
Tüchtigkeit als feine Schöpfung angejehen werben. Ueber 
Herbeck's jchöpferiiche Begabung fünnen wir nicht in jenem 
Tone unbedingter Anerkennung fprechen, in welchem wir feit 
Sahren jo oft daS eminente Dirigenten: und Organijations- 
Talent diejes Künſtlers hervorgehoben haben. Ein abſprechendes 
Verhalten fteht und derzeit ebenjo fern, denn Herbed, der ala 
Componift verhältnigmäßig ſpät und fparfam hervorgetreten 
ift, hat feine vollftändige Entfaltung faum ſchon vollzogen und 
gedentt wohl noch mehr als eine Schlangenhaut abzuftreifen. 
Aus dem Charakter feiner Compofitionen jelbft möchten mir 
ichließen, daß Herbed ſchwer und langjam producirt. Die 
Symphonie in C-dur (1862 gejchrieben) jcheint und das Werk 
eine durch Bildung und Routine anſehnlich gefteigerten 
Talente, nit aber einer genialen Begabung. Wahrhaft 
Ihöpferifhe Kraft und Originalität erkennen wir nicht darin, 
wohl aber Combinationd-Talent und eine geiftreiche Beherrichung 
des techniſchen Apparates. Die harmoniſche und contrapunktiſche 
Kunft überwuchert die melodifche, und die berechnende Klugheit 
überragt die natürlide Kraft der Phantafie und der Empfindung. 
Es tauchen einzelne ſchöne Melodien auf, wozu wir vor Allen 
das edle Thema des Adagio und das zweite gejangvolle 
Motiv des Finale zählen, aber meiltend verfiegen fie ſchnell 
oder werben als »unendliche« formlos fortgeiponnen. Sprühende 
Blige fliegen ab und zu über jede der vier Abtheilungen, aber 
feine Hinterläßt in uns ein bejtimmtes, klares Bild in ein- 
heitliher Beleuchtung. Wir empfangen von dem Ganzen. nicht 
den Eindrud eines organifchen Werdens und Blühens, fondern 
den einer zwar fehr geichicdten, aber dennoch mofaifartigen 
Zufammenfügung Das Werk hat übrigens nichts Kleinliches, 
bedeutungslos Spielendes, wie jo manche neuere Symphonie 
oder Suite, e8 geht vielmehr ein entjchiedener Zug von Energie 
und Größe durch das Ganze, das gleihlam Ströme von 
Kraft nah allen Dimenfionen entfefleln möchte. Es ift dies 
29* 


452 1866. 


eine Energie und Größe des MWollend, aber nicht des mufi- 
faliihen Vollbringend. Daher auch die frampfhafte Anſpannung 
aller Fibern, um fih fortwährend im WVollbefig de Pathos 
und auf der Höhe des Ungewöhnlichen zu erhalten. Herbed 
behandelt das Orchefter mit Meifterihaft, er fennt die ftärfiten 
Effecte des langes, wie deffen heimlichite Launen. Aber dieſe 
glänzende Hülle verbedt häufig den mufifaliichen Kern; das 
Ohr wird durch effectvolle Contrafte bis zur Ermüdung ge= 
blendet. Bezeichnend ift 3. B. die Verwendung der Harfe die 
ganze Symphonie hindurch, die wir und nicht erflären können, 
außer durch die Abficht, zu den vielen Klangeffecten und In— 
ftrumental-&ontraften noch einen neuen, ungewöhnlichen Hin- 
zuzufügen. 

Wir entfinnen und fehr weniger Orcheſterwerke, in welchen 
ein jo anhaltende® Arbeiten auf allen SInftrumenten, ein jo 
gemwaltige® Stürmen der Pauken und Blechinftrumente herrichte, 
wie in diefer Herbed’ishen Symphonie. Die Inftrumentation 
und die mandhmal mehr dramatiihe als ſymphoniſche Phra— 
firung erinnert nicht felten an Meyerbeer. Den reinften, be- 
friedigenditen Eindruck macht unter allen vier Sätzen das 
Adagio, und diefem zunächſt dad Scherzo, dem wir nur etwas 
mehr Temperament wünſchten. Im erften und letzten Sat 
müffen wir und an einzelne effectvolle, geiltreihe Momente 
halten. Werke, die und taftweife zur Bewunderung zwingen 
wollen, büßen dieß gewöhnlich an ihrer Totalität; über lauter 
Wirkungen veripielen fie jchließlich die wahre, die enticheidende 
Wirkung auf unfer Gemüth. Außer der Symphonie wurden in 
dem Goncerte ſechs Herbed’ihe Chöre aufgeführt. Der Com: 
poniſt behandelt die Klangwirkung der Singftimmen mit der- 
jelben Meiſterſchaft wie die Inftrumental-Effecte im Orcheiter. 
Wir hatten oft Gelegenheit, diefe frappante Klangſchönheit 
Herbed’icher Chorfäge zu rühmen; am reinften genofjen wir 
fie in den von SHerbed jo trefflih arrangirten altdeutfchen 
Liedern und den Volfömelodien au Kärnten. Auch in dieſem 
Fache fcheint ung — um in alter Terminologie zu ſprechen — 
die Kunft de Setzers in Herbed die ded Sängers zu über: 
treffen. Herbed'3 eigene Chor-Compofitionen haben, jo durch— 


Ealomon Sulger. 453 


dacht und effectvoll fie auch find, für unfere Empfindung etwas 
Gefünfteltes, Webertreibendes. Jedenfalls ift es für die Art 
von Herbed’3 Talent bezeichnend, daß er nicht blos in dem 
größten Inftrumentalformen, fondern auch im einfachen Chor: 
oder Strophenliede ein reflectirtes Zufpiken des Ausdrucks 
und die effectvolle Entwidlung der Klangmittel liebt. Wir er: 
innern an das »Morgenlied« von Eichendorff, das, für 
Wechſelchor und Orcheſter gejeßt, einen fo unpaffenden opern= 
mäßigen Prunk entfaltet, daß man darunter die ſüße Träumeret 
des Gedichtes faum wiedererfennt. Muh das Eihendorff’iche 
»Ständchen« jchien und (namentlich in den Schlußzeilen) nicht 
warm und natürlich genug für die Stimmung des kleinen Ge— 
dichtes. Ungleich Schöner und wahrer flingt der Chor: »Wohin 
mit der Freud?« — eine Gompofition, die von Herbeck's 
fruchtbarer Beihäftigung mit älteren Volksliedern Zeugniß gibt, 
und das in feiner anmuthigen Einfachheit wohlthuende »Wald- 
vöglein«. Das volltommenfte und wirfjamfte Stüd des Pro- 
gramm war jedoh der Männerhor: »Landöfnedht«. Das 
grelle Eolorit paßt trefflih zum Gegenftand; Trommelwirbel 
und Piccolo erjcheinen hier nicht als bloße Klangeffecte, ſon— 
dern als nothwendige und geiftvoll verwendete Mittel der 
Charakteriſtik Herbed’3 »Landsknecht« ift ein kleines Genre- 
bild voll Farbe und Leben, deffen Erfolg überall gewiß: ift. 


Salomon Sulzer. 


Während bereit? der legte Schnee des Concertwinters 
vor den Strahlen der Ofterfonne jchmilzt, geht dur die mufi- 
kaliſchen Kreiſe Wien? noch eine fröhliche Geichäftigfeit und 
Bewegung ganz eigener Art. Sie gilt dem in wenig Tagen 
Itattfindenden fünfzigjährigen Jubiläum des Ober-Cantord am 
ifraelitifihen Bethaufe, Salomon Sulzer. Die Kunſt des 
Jubilars wirkt, abjeit3 von weltlichen Erfolgen, nur für den 
jpeciellen Zwed des Gotteödienftes — einer Minoritätz-Religion 
obendrein — und dennoch darf man behaupten, daß ganz 
Wien fih in dem Augenblick für den Chrentag des »alten 


454 1866. 


Sulzer« intereffire. So hört man ihn am liebften und häu— 
figiten nennen, denn »der alte Sulzer« ift eine der populärften 
Perfönlichkeiten von Wien. Wer fennt ihn nicht, den merk: 
würdigen Charakterkopf mit dem graugelodten Haar, den runden, 
feurigen Augen und dem energifchen breiten Mund, über welchem 
die haltig gefrümmte Nafe das Inventar der orientalifchen 
Phyſiognomik vollendet und hier zu ſprechendſtem Ausdrud 
zufammenfaßt? Der Mann, welcher vor einem halben Jahr: 
hundert, kaum ftiebzehnjährig, die Gemeinde feiner Waterftabt 
(Hohenem? in Vorarlberg) als Gantor zum Gebet geführt, 
hierauf an 40 Jahre lang das mufifalifhe Wien durch Die 
Pradt feiner Stimme und die Gluth feines Vortrages entzückt 
hat, er wirft noch in ungebrochener Rüſtigkeit, weder feiner 
Stimme noch feines Jugendfeuers verluftig. Noch heute wie vor 
30 und 40 Jahren fcheidet faum ein fremder Tonfünftler von 
Wien, ohne dem berühmten Gantor einmal gelaufcht zu haben. 

Ih ſelbſt habe Sulzer nicht mehr in der Blüthezeit 
feiner Stimme gehört; trogdem machte mir fein noch immer 
flangreicher Bariton und feine ſchwungvolle Vortragsweiſe einen 
tiefen Eindrud. Diefer Vortrag, in weldem vom Teifeften 
Athemzuge bis zum mäcdhtigften Tonfturm jede Note — jede 
Pauſe möchte man falt jagen — tief aus dem Innerſten 
fam, den Reiz des Fremdartigen mit der Meberzeugungdfraft 
wahrer, glühender Andacht verbindend, er mußte Jedermann, 
weß Glaubens und WVaterlandes immer, unmiderftehlich feifeln 
und erregen. Dad war tönendes Feuer, etwas überlodernd und 
qualmend vielleiht — jedenfall der Iebendigfte Gegenſatz zu 
jenem mechaniſch gleihmäßigen Abfingen ritueller Formeln, das 
in anderen Gulten Styl und Vorfchrift geworden. Ein zer: 
fnirichtes Auffeufzen, ein begeiitertes Gmporjubeln zu Gott, 
jtet8 mit dem vollen Aufgebot der Empfindung und gleichſam 
gelpornt durch den Gedanken, mit der Wahrheit jede einzelnen 
Tones für die ganze Gemeinde, ja für ganz Sfrael einzuftehen. 
Sulzer hatte damald ein wunderbar ergänzende und erläu— 
terndes Seitenftüd an dem feither verftorbenen Prediger Mann: 
heimer. Der alte Mannheiner — noch ſehe ich feinen hageren, 
geiftvollen Kopf mit den flatternden Haaren — predigte, mie 


Salomon Eulzer. 455 


Sulzer jang. Diejelbe Gewalt über dad Material, dieſelbe 
fremdartige und doch Alles fortreigende Leidenjchaftlichkeit, 
dasielbe begeilternde Aufleuchten de Auges und der Stimme. 
Es war die glühendite Kanzelberedfamkeit, die ich erlebt, hier 
in Worten, dort in Tönen. 

Liſzt erzählt in feinem Buche »Des Bohemiens et de 
leur musique«, er habe bei Sulzer’3 Tempelgelang zum 
eriten und einzigen Mal den Eindrud von einer wirklichen 
nationalsfüdiihen Kunft empfangen, während alle anderen, felbit 
trefflichften Leitungen jüdiſcher Tondichter, Poeten und Maler 
doh nur ein Nachbilden und Wiederholen chriftlich-abend- 
ländifher Kunft jeien. Ich Habe den treffenden Ausspruch 
Liſzt's in feiner vollen Wahrheit empfunden, als ich Sulzer 
zum eriten Mal hörte. Die Wirkungen des Sängerd, wie alle 
höchftperfönlichen, erlöfchen mit dem Individuum; nur in der 
Erinnerung der Zeitgenoffen und den Beftrebungen der Schüler 
Ihlummern fie wie unter einem Schleier fort. Sulzer hat 
dafür geforgt, daß fein Name nicht zugleich mit feiner Stimme 
verflingen wird. Als Schöpfer und Verbreiter eines geregelten 
Spnagogen:Gefanges hat er fich ein bleibendes Verdienſt ge: 
Ihaffen, deſſen fichtbare8® Document, der »Schir-Zion«, vor 
mir aufgeichlagen liegt. Ueber den früheren jüdiſchen Synagogal— 
Gejang und die einfchlägigen Reformen Sulzer’3 zu urtheilen, 
fehlt mir die Berechtigung. Die literarifche Belehrung über den 
eriteren ift mehr als dürftig; dad Gewicht der Tegteren muß 
ih auf Treu’ und Glauben annehmen. Anerfannt fand id 
Sulzer’3 Verdienft von Freund und Feind. Sadhfundige bes 
zeugen, daß Sulzer der mufifalifhen Liturgie der Juden 
Ordnung, Würde und äfthetifche Form gegeben, daß er fie aus 
einem wüſten Zuftande der Willkür und Verwahrlofung geriffen. 
Es jei Sulzer’s Einfluß, wenn Gemeinden, in welchen man 
eheınal® Pſalmen auf profane Opern: und Liebermelodien 
bortragen und den Gantor das häßlichſte Schnörfelwerf im— 
propifiren hörte, fich gegenwärtig in mufifalifch würdigen, wohl- 
geregelten Formen bewegen. Für die rein muſikaliſche Seite 
diefer Reform Haben wir einen enticheidenden Anhaltspuntt 
an dem »Schir-Zione, der von Sulzer herausgegebenen 


456 1866. 


großen Sammlung von Gefängen für den gejammten jüdifchen 
Eultus. Bon diefem Werke ift vor furzem der zweite Theil 
erichienen, welcher wohl den erjten nicht fo jehr zu ergänzen 
als zu erfegen beabfihtigt. Er ift dem »erften Theil«, welcher 
fich überwiegend in deutſchem Muſikſtyl, theils Haydn-Mozartiſch, 
theils noch viel moderner bewegt, unvergleichlich überlegen. 
(Der erſte Theil enthielt unter Anderm viele Compoſitionen von 
Seyfried, Schubert, Fiſchhof, Würfel, Drechsler und 
Bolkert) Die Geſänge der neuen Sammlung klingen nicht 
nur fräftiger, origineller und firchlicher, fie tragen au — 
worauf ein großes Gewicht zu legen — ungleih mehr das 
Gepräge jüdiſch-orientaliſcher Muſik. »Schir-Zion« ift nicht 
etwa eine Compilation oder Bearbeitung älterer Gejänge, 
fondern durhaus eigene, freie Compofition Sulzer's. Nur in 
einigen wenigen Chören, ſowie in vielen der recitativartigen 
Ginzelgefänge des Cantors hat der Componiſt ältere, im jüdi- 
ichen Gottesdienft zu bejonderer Bedeutung gelangte Melodien 
zu Grunde gelegt.*) in hohes Alter nehmen übrigens jelbit 
diefe Reliquien nicht in Anſpruch; die älteften jüdiſchen Me— 
lodien reichen nicht über 400 Jahre. Bei dem hohen Alter 
und der ftrengen Zucht der jüdiſchen Traditionen, zumal im 
Gottesdienfte, wäre es gerade fein Wunder, wollten die Juden 
ihre älteften Melodien bis zu David, dem Gründer der 
hebräiſchen Tempelmuſik zurücgeführt wiſſen. Um jo rühmlicher 
und redlier handelt Sulzer, indem er jede derartige Träu— 
merei oder Fiction verihmäht, fogar gegen einige Gejang- 
weiſen ausdrüdlich polemifirend, »welche in ganz unberecdhtigter 
Weiſe den Schuß des Alterthums für fih in Anſpruch nehmen«. 








*) Bei einem der älteften Themen gibt und Sulzer eine An: 
ihauung der altjüdiſchen Notirungsweiſe (»Neginah«), die in Form 
von Keinen Häkchen, Punkten und Strichen über den Wörtern ange: 
bracht, die größte Verwandtichaft mit den altchriftlihen Neumen hat, 
Indem das Hebräifche zeilenweife von rechts nad links gelefen wird, 
fo ift es einer Notirung nad) unſerem Muſikſyſtem eigentlich unzu— 
gänglich. Im »Schir-Zion« find deßhalb nur die Heberichriften in 
hebräifchen, der ganze gelungene Tert hingegen in lateinifchen Bud; 
ftaben ausgeſetzt. 


Salomon Sulzer. 457 


Der zweite Theil der Sulzer’ihen »Schir-Zion«, obwohl 
natürlich) dem modernen Ton- und Modulationd-Syftem an— 
gehörig, läßt ein eigenthümliches orientalifch-füdifches Gepräge 
nirgends vermifjen. Mit voller Anſchaulichkeit tritt dasſelbe 
allerdings erft heraus, wenn die Note durch den charafteriitiichen 
nationalen Vortrag belebt und individualifirt wird. Aber auch 
die Note an fi trägt diefen Typus; wir finden ihn in dem 
Vorwiegen des Recitativiihen, dad im Munde eine Cantors 
wie Sulzer den Charakter begeifterten Improviſirens annimmt ; 
in gewiſſen rhythmiſchen, Harmonifchen, vorzüglichen aber melo— 
diihen Grundzügen, wiederkehrenden Gadenzen und Schluß: 
formeln. Ein namhafter neuerer Mufif-Hiftorifer geht offenbar 
zu weit, wenn er dem jüdiihen Synagogal-Geſang einen 
originalsjüdiihen Charakter aus dem Grunde abjpriht, weil 
die Juden feit ihrer Zerftreuung über den Occident überall 
dem modernen Adoptivlande fich ajlimiliren, jo daß die Muſik 
der ſpaniſchen Juden fpanifch, der deutichen deutich, der pol- 
nischen polniſch ſei Man braucht aber nur einmal dem Gottes: 
dienfte der deutichen, portugiefiihen und polnifhen Juden 
beizumohnen (in Wien hat man dad Alle ganz nahe), um 
durch alle Verjchiedenheiten hindurch da überwiegend Gemein 
jame in ihrem Gejange wahrzunehmen. Und Died gemeinjame 
iſt eben der ſpecifiſch orientaliide Typus, der weit mehr an 
arabiiche, türkiſche, perſiſche Weiſen erinnert, als an die Na: 
tionalmufit der Deutichen, Bortugiefen und Polen. *) Lebt doc 
im jüdifchen Volfe neben dem Charafterzug der Ajfimilirung 
der noch ftärfere eined zähen Feſthaltens an den nationalen 
Sitten und Traditionen. Am ftärkjten wirkt er in den unteren 
Volksclaſſen, und dieſe find überall die treue, alte Garde der 
Religiofität. So dürfen wir denn aud im »Schir-Zion«, dem 
Repräfentanten des modernen Synagogal-Geſanges, einen na: 





*) Wie jehr erinnert 3. B. das Klagelied Nr. 345 und Aehn— 
liches bei Sulzer an den Ruf des Muezzim bei den Türken! Die 
nahe Verwandtſchaft der jüdifchen mit der arabiichen Geſangsweiſe 
beftätigt uns (von älteren Sammlungen abgeiehen) ganz neuerdings 
das Werk von Alerander Chrijtianomwitjch »Esquisse historique de 
la Musique Arabe« (1853). 


458 1866. 


tionalen Grundton anerkennen. Die Gefänge find durchaus 
pocal, ohne Inftrumental-Begleitung, und werden vom Gantor 
theild allein, theil® gemeinfam mit dem Chor vorgetragen. 
Legterer ift ein gefchulter Sängerdhor von Männern und Knaben; 
die Nichtbetheiligung der Gemeinde, ſowie die Ausſchließung 
der Frauen vom Tempelgeſang fteht in ftrenger Weberein= 
ftimmung mit dem alten jalomonifchen Gottesdienft zu Jeru— 
falem. Bon jchöner, ergreifender Wirkung find die (an unjere 
fatholifhen Nefponforien mahnenden) MWechlelgefänge zwiichen 
dem Cantor und dem Chor; jener beginnt allein mit einem 
kräftigen Motiv — die häufigen Intonationen vom Grundton 
in die Quinte geben ihm den Charakter des Aufenden, Empor: 
ihmwingenden — der Chor erwidert in fürzeren oder längeren 
vierftimmigen Sätzen. Einige Chöre hat Sulzer mit Orgel- 
begleitung verjehen und damit thatſächlich gegen allzu orthodore 
Stimmen für dad Recht der Orgel in der Synagoge plaidirt. 
Sn großen Räumen ift dies Inftrument zur Unterftüßung und 
Ausfülung einer Vocalmuſik nahezu unentbehrlich; fein uni- 
verfal religiöfer Charakter eignet es für jeden monotheiftiichen 
Cultus. Hiltoriih dürfen die Juden überdies auf ihre »Ma- 
grepha« und »Mafchrofita« pochen, die, primitiv und bald 
überwunden, doch immerhin Orgeln waren. Dem dhriftlichen 
Abendlande verdankt die Orgel ihre Ausbildung, aber nicht 
ihre Herkunft. Das mufifalifche Verdienſt Sulzer's erjcheint in 
den Augen de Kenners geiteigert durch viele eigenthümliche, 
in der Sprade wie im Ritus begründete Schwierigkeiten. Die 
Melodie muß allezeit dominiren, die Stimme des Cantors dem 
Chor ſtets voraus und überlegen fein, fein Wort darf wieder: 
holt werden. Die Terte entbehren jeglicher Strophen-Architef- 
tonit und fügen fi jchwer dem mufifalifhen Takt und 
Periodenbau; dazu treten die ftrengften Anſprüche auf die Be- 
achtung der überaus ſchwierigen Proſodie des Hebräifchen. 
Der fi) immer weiter auöbreitende reformirende Einfluß 
dieſes Werkes (man benüßt es bereit3 in amerifanifchen Syna- 
gogen) verleiht ihm überdies eine culturhiftoriihe Bedeutung. 


Waffenruhe am Glavier. Walzer von Brahms. 459 


Baffenrube am Glavier. 
(Wien, im Auguft 1866.) 


Wir Freunde hatten den ganzen Spaziergang hindurch 
Politik getrieben, Vergangenes und Künftiges erwägend, er: 
duldend. An der Hausthüre angelangt, war e3 und, als fönnten 
wir nicht fo ſcheiden. Faſt ſchüchtern regte fi die Frage, ob 
wir nicht ein wenig Mufit machen jollten? Es lag ein Paket 
Novitäten auf meinen Klavier, uneröffnet, wie feit geraumer 
Zeit dieſes ſelbſt. Nicht ohne freudige Bewegung gingen wir 
an die fleinen MWorbereitungen; der Cine öffnete das Paket, 
der Andere dad Piano. Es verftand fih von jelbit, daß mit 
vierhändigem Spiel der Anfang gemacht werde. Sit e8 doch 
die intimfte, die bequemfte und in ihrer Begrenzung vollitändigfte 
Form häuslichen Muficirend. Sie ift jünger, als unfere Gene: 
ration mwähnt, und verdanft der rapiden Werbreitung des 
Glavierjpieles8, der Erweiterung und Vervollkommnung der 
Pianofortes ihren Aufſchwung. Dad Streichquartett, Trio oder 
Quintett, das fonft in feinem gut mufifalifhen Haus fehlte, iſt 
dadurch verdrängt; ein Verluft ohne Zweifel, doch fein Nach— 
theil für die beftmögliche Kenntniß der Orceiter-Literatur auf der 
eigenen Stube. Wenn man die Muſikalien-Kataloge aus Haydn's 
und Mozart’3 Zeit biß über die Mitte von Beethoven's Wirk— 
ſamkeit durchblättert, fo begegnet man faum einem vierhändigen 
Arrangement auf Dußende von Bearbeitungen für drei, vier 
und fünf verſchiedene Inſtrumente. Auch Beethoven’ erſte 
Symphonien waren längft für Streidhquartett arrangirt, ehe 
man fie vierhändig zu feßen begann. Heutzutage bringen 
unfere Concerte feine Ouverture, feine Symphonie, die man 
nicht jofort im vierhändigen Arrangement verfoften oder nad) 
genießen kann. Eine Quelle von Vergnügen und Belehrung 
fließt den Mufitfreunden aus diefem bejcheidenen Gebiete zır. 
— »Wer ift Ihr Vierhändiger?« fragte mic) einft ein paffionirter 
Dilettant. Seine fühne Wortbildung, fo ganz die Perſönlichkeit 
negirend und blos die muſikaliſche Nüslichkeit betonend, jchien 


460 1866. 


mir jo übel nicht. Ein rechter »Vierhändiger« ift ein Inbegriff 
von foliden Eigenfchaften. Er fteigt im Werthe, je weniger er 
zweihändige Prätenfionen macht. Nicht Jedermann kann eine 
Frau, eine Geliebte, einen Herzens: und Geifteöfreund fein 
nennen, aber »einen Vierhändigen« follte jeder Sterbliche be— 
figen, gleichſam als engagirten Tänzer für die mufifalifche 
Lebenszeit. 

Mein Vierhändiger alſo ergreift das Notenpaket, hebt 
ab wie im Kartenſpiel und lieſt überraſcht auf einem Hefte die 
Aufſchrift: »Walzer zu vier Händen von Johannes 
Brahms«, op. 39. Brahms und Walzer; die beiden Worte 
ſehen einander auf dem zierlichen Titelblatte förmlich erſtaunt 
an. Der ernfte, ſchweigſame Brahms, der echte Jünger 
Schumann’, norddeutſch, proteftantifh und unmeltlih mie 
diejer, fchreibt Walzer? Ein Wort löſt und das Räthſel, es 
heißt: Wien. Die Kaiferftadt hat Beethoven zwar nicht zum 
Tanzen, aber doch zum Tänzefchreiben gebracht, Shumann zu 
einem »Faſchingſchwank« verleitet, fie hätte vieleiht Bad 
jelber in eine ländleriihe Todfünde verftridt. Auch die Walzer 
von Brahms find eine Frucht jeines Wiener Aufenthaltes, 
und wahrlid von jüßefter Art. Nicht umfonft hat diejer feine 
Organismus fih Jahr und Tag der leichten, wohligen Luft 
Deiterreihd ausgelegt — feine »Walzer« wiſſen nachträglich 
davon zu erzählen. Fern von Wien müflen ihm doch die 
Strauß’ihen Walzer und Schubert? Ländler, unfere Gftanzel 
und Sobdler, jelbit Farkas' Zigeunermufit nachgeklungen haben, 
dazu die hübſchen Mädchen, der feurige Wein, die waldgrünen 
Höhen und was ſonſt nod. Wer Antheil nimmt an der Ent: 
widlung dieſes echten und tiefen, bisher vielleicht einfeitigen 
Talente, der wird die »Malzer« als glüdliches Zeichen 
einer verjüngten und erfriichten Empfänglichkeit begrüßen, ala 
eine Art Belehrung zu dem poetifchen Hafisglauben Haydn’s, 
Mozart’3 und Schubert’3. Welch reizende, liebenswürdige Klänge! 
Wirkliche Tanzmufif wird natürlich niemand erwarten: Walzer: 
Melodie und Rhythmus find in künſtleriſch freier Form be- 
handelt und dur vornehmen Ausdruck gleihjfam mobilifirt. 
Trogdem ſtört darin feinerlei fünftelnde Affectation, fein raf- 


Waffenruhe am Clavier. Walzer von Brahms 461 


finirte®, den ZTotaleindrud überqualmendes Detail — überall 
herricht eine schlichte Unbefangenheit, wie wir fie in dieſem 
Grade faum erwartet hätten. Die Walzer, fechzehn an der 
Zahl, wollen in feiner Weiſe großthun, fie find durchwegs 
furz und haben weder Einleitung noch Finale. Der Charafter 
der einzelnen Tänze nähert fich bald dem ſchwunghaften Wiener 
Walzer, häufiger dem behäbig wiegenden Ländler, mitunter tönt wie 
aus der Ferne ein Anklang an Schubert oder Schumann. Gegen 
Ende des Heftes Elingt e8 wie Sporengeflirr, erft leife und 
wie probirend, dann immer entjchiedener und feuriger — Mir 
find, ohne Frage, auf ungariihem Boden. Im vorlegten 
Walzer tritt die8 maghariſche Temperament mit braufender 
Energie auf; der Dreivierteltaft erjcheint faſt als eine Sfurzze 
des raſchen Allabreveichrittes im Cſardas; als Begleitung 
erdröhnt nicht der ruhige Grundbaß des Strauß’fhen Or: 
cheiter8, jondern das leidenjchaftliche Geflatter des Cymbals. 
Dhne Zweifel Hätte dies Stüd den effectvolliten Abſchluß ge: 
bildet, allein e3 liegt ganz in dem Weſen Brahms', den feineren 
und tieferen Eindruck dem raufchenden vorzuziehen. Er jchließt, 
zum öſterreichiſchen Zändlertone zurückkehrend, mit einem furzen 
Stüde von bezauberndem Liebreiz: ein anmuthig tiegender 
Geſang über einer außdrudsvollen Mitteljtimme, welche im 
zweiten Theile unverändert ala Oberftimme erfcheint, während 
dazu die frühere Hauptmelodie nun die Mittelftimme bildet. 
Das Ganze in feiner durchſichtigen Klarheit zählt zu jenen echten 
Runftitüden, die Keinem auffallen und Jedermann entzüden. 
Das Brahms'ſche Heft erläßt dem Spieler jedwede Bravour 
oder Anftregung, appellirt aber an ein feines mufifalifches Ge— 
fühl. Die einzelnen Walzer find ſehr verjchiedenen Tem: 
perament3, der Spieler erräth dasfelbe mehr aus ihrem muſi— 
faliihen Inhalte, al3® aus den fparfamen Tempo: und Vor— 
trag&bezeichnungen, 

Auch Schubert’3 »Ouverture im italieniichen Style« in 
C-dur (Partitur und vierhändiges Arrangement bei Spina) 
jpielten wir zum erjtenmale. Sie war nebft einer gleichbe- 
titelten zweiten (in D-dur) noch zu Lebzeiten des Componiften 
ein beliebtes Concertftüd in Wien, was befanntlich wenig 


462 1866. 


Schubert'ſche Compofitionen von fich rühmen konnten. Während 
wir jeßt die früher verfannten oder ganz ungelannten Werke 
Schubert’3 hervorſuchen und hochſchätzen, find feine »Italie— 
niſchen Ouverturen« falt ſpurlos verihollen. Schubert 
Ichrieb fie zur Zeit des epidemifchen Roſſini-Fiebers in Wien, 
theil3 mit ironiſcher Abficht, theil® wirklich getroffen von der 
glänzenden Neuheit diefer Erjcheinung. Der Roſſini'ſche Einfluß 
wirkte zu Anfang der Zwanziger-Jahre mit der Inwiderftehlich- 
feit einer Naturgewalt. Vielleicht der merfwürdigfte Beleg dafür 
ift, daß in den Werfen Spohr’3, Weber’ und Schubert's, 
diefer drei leidenſchaftlichen Roſſini-Gegner, ſich deutliche Spuren 
dieſes Einfluffes erkennen, und durch eigene Ausſprüche Diefer 
Meifter biographiſch conftatiren laſſen. Die »Italieniſche Ouver— 
ture in Ce, gefällig erfunden und effectvoll inſtrumentirt, gibt 
freilih weder den echten Schubert noch den echten Rojfint. 
Schubert mußte feine beſte Cigenthümlichfeit verleugnen, um 
jene Roſſini's — doch nicht zu erreichen. 

Unfere vier Fäufte Hatten die beiten Stollen des Noten: 
gebirges allmälig ausgefchürft, nur ein unheimlich glimmerndes 
Geftein lag noch unberührt: NRihard Wagner. Mit etwas 
ängftliher Neugierde jchlugen wir den neuen »Huldigungs— 
marſch« auf, den Richard Wagner dem jungen Könige von 
Baiern widmete. Der Marſch beginnt mit einer jentimental: 
pathetiihen Einleitung, in welcher da unvermeibliche chroma— 
tiiche Gemwinfel wenigiten® auf langjame Noten vertheilt ift. 
Ein Trompetenftoß unterbricht diefe Meditationen, und die 
Huldigung marihirt nun etwas ftrafferen Schrittes, aber mit 
äußerſt alltäglihen Ideen weiter. Wir zweifeln feinen Augen: 
blid, daß Wagner, als er fich behufs dieſer Inſpiration 
»das Berzeihniß feiner Sclafröde« reichen ließ, den roth- 
jammtenen mit Goldquaften und Türkiſenbeſatz gewählt Habe. 
Uber leider kommt diefer Farben und Juwelenglanz jelbft in 
dem begeiftertiten Clavierauszug nicht zu Tage und bleibt 
nur der einfache muſikaliſche Schnitt. Wir können nicht dafür, 
daß diefer Schnitt uns überaus gewöhnlich und bürgerlich vor— 
fommt. Der »Huldigungdmarich« erinnert in vielen Wendungen 
an die Feſtzüge im »Tannhäufer« und »Lohengrin«, ohne dieje 


Waffenruhe am Glavier. Schubert. R. Wagner. 463 


auch nur entfernt zu erreihen. Wir wiflen nicht, was Alles 
die Eingeweihten in diefe Mufif etwa Hineingeheimniffen, be— 
zweifeln aber, daß fie jemand Anderem als dem damit be- 
grüßten freigebigen Souverän bejonders theuer jein werde. Sit 
da Arrangement des »Huldigungsmarjched« eine neue Probe 
von Bülomw’3 Gewandtheit, jo grenzt das Unternehmen feines 
Freunde® Taufig, die Dupertüre zu den »Meifterfingern von 
Nürnberg« für vier Hände zu fegen, hart and Unmögliche. Der 
Huldigungsmarih ift doch noch jedenfall königlich baterifche 
Mufit, aber in dem Spectafel der »Nürnberger« Wolfsſchlucht 
hört jeder Gedanke an Mufif auf. Das Wiener Bublicum hat 
dies blutrünftige Vorſpiel zu einer »fomifchen Oper« vor zwei 
Fahren im Original genofjen und erinnert fi, was es damals 
hörend erlebte. Was aber vollends Menichenhände spielend 
dabei erdulden, weiß nur, wer es ſelbſt verfucht. Uns war zu 
Muthe, als bahnten wir und mit bloßen Armen einen endlojen 
Weg durch Neflelgebüfh und Dornenheden, um zu einem Ziele 
zu gelangen, das faſt noch jchlimmer als der Weg dahin. Zu 
erfhöpft waren wir von dem mörbderifchen Handgemenge, um 
weiterzufpielen, zu ärgerlid aufgeregt, um jo den Abend zu 
befchließen, den wir dem Frieden und der Harmonie zugedadt. 
»Dieſe Muſik ift ja ärger als Krieg und Bolitif!« rief ent- 
rüfteft mein mir an die linfe Hand getrauter Kamerad. Was 
num anfangen? Wie eine Leuchtfugel ftieg uns der Gedanke 
auf, daß heute Strauß im Volksgarten fpiele, und ſporn— 
ſtreichs eilten wir Hin, als folgte und die Zunft der 
Meifterfinger auf den Ferſen. Im Volksgarten jchimmerte 
es fröhlih von Lichtern und Klängen, Strauß begann eben 
mit ſchwungvollem Geigenftrih jeine Walzer: »Auf den 
Bergen«. Die Opfer des Nürnberger Meiſtergeſangs aber ſanken 
aufathmend auf eine Gartenbanf und waren glüdjelig wie — 
auf den Bergen. — 

Wir hatten am nächſten Abend nichts Neues zu vier Händen, 
fondern wechjelten einander einzeln am Glavier ab; ein Spieler, 
ein Hörer. Mehrere Clavier-Compofitionen aus Liſzt's neuefter 
geitlicher Periode erregten vorzugsweiſe unſer Intereſſe; kann 
doch Niemand, der je mit dem merfwürdigen Mann verkehrte, 


464 1866. 


jelbit dem nachwirkenden Zauber feiner Perſönlichkeit fich ent: 
winden. Und eben Ddiefe Perjönlichkeit beſchäftigte uns aud 
heute lebhafter als deren mufifaliide Spenden. Die Hefte 
durchblätternd, erinnerten wir und eines Briefes von Mlerander 
v. Humboldt an Barnhagen, worin Erfterer ungefähr aus— 
fpricht, er fei alt genug geworden, um jelbit über das Un— 
gereimtefte nicht mehr zu eritaunen. »Nur«, fo fchließt Der 
Brief, »nur der ungariihe Ehrenmönch bleibt mir räthjelhaft«. 
Gene von Humboldt angejpi:lte Chrenaufnahme Liſzt's in 
den Status eined ungariihen Klofterd, das fih ihm äußerft 
gaftfrei erwiejen hatte, war nicht viel mehr als ein Act der 
Höflichkeit von beiden Seiten, ohne bindende Confequenzen. 
Warum follte der phantafievolle Metamorphofenmann, der in 
Jena im deutfchen Studentenwamms, in Peſt im verichnürten 
Magyarenrod mit Säbel und Sporen, anderwo wieder anders 
auftrat, nicht auch einmal den poetifchen Contraft des Klofter- 
habit3 empfinden und fih für einen Tag zum Gapuziner 
träumen? Al jedoch Liſzt vor etwa einem Jahre in Nom 
wirklich die MWeihen empfing, machte es mit Recht einige Sen: 
jation, denn nad jeinem Lebenslauf und Temperament jchien 
der berühmte Pianift nicht eben vorzugsweiſe zum Geiftlichen 
prädeſtinirt. Indeß — mer vermödte in dad Innerſte eines 
Menichenherzend zu bliden! Mer wäre vermeffen genug, über 
einen Schritt zu urtheilen, der nur über einen Abgrund von 
Gemüthskämpfen hinweg denkbar ift und verläugnungdftarf ein 
Leben in zwei Hälften briht? Wir hatten ernftlich verjucht, 
uns diefen Schritt aus Liſzt's Weſen pſychologiſch zu erklären, 
und gelangten dahin, ihn auffallend zwar, aber nicht unbe: 
greiflich zu finden. Wäre e8 denn wirklich jo unnatürlih, daß 
ein leicht erregbarer, phantaftifher Menfch, der, feit feiner 
Kindheit von einem Triumph zum andern geworfen, in einem 
wildbewegten Leben alle Genüffe, Ehren und Aufregungen bis 
zum Uebermaß durchgefoftet hat, fih in jeinem 55. Jahre 
ſchmerzlich überfättigt und unbefriedigt fühle? Daß er von 
dem raufchendften MWeltgenuß in den Gegenſatz einer ascetiſchen 
Frömmigkeit verfale und den Blick von diefer ihm nur zu 
befannten Welt nach einer andern, ungefannten wende? Mir 


Waffenruhe am Klavier. Lilzt. 465 


glaubten in der That, Lilzt jehne fich, mit der weltlichen Tracht 
auch alles weltliche Trachten abzulegen, und werde, unbe- 
fiimmert um den Schmerzensjchrei der feinen Gejellihaft fortan 
in frommer Beichaulichkeit ausruhen. Was gejchah, war gerade 
das Umgefehrte. Liſzt, der fich vor feiner Priefterweihe eine 
zeitlang Hinter den Sixtiniſchen Weihrauchswolken verborgen 
gehalten, tritt raich und munter in die fündhafte Welt heraus. 
Er eilt von Rom nah Peſt ald König eines ihm vorbereiteten 
Mufikfeites, dirigirt dort im geiftlichen Kleid feine »Heilige 
Eliſabeth« und entzündet durch fein Clavierfpiel dag magyarijche 
Publicum. Hierauf ftürzt er fih in den fünftlerifchen Strudel 
von Paris, bringt jeine Feltmeffe niit großem Pomp zur Auf. 
führung und ſoll dort jogar — wie mißig ijt das Leben! 
— durch fein heilige® Clavierjpiel ein Frauenzimmer zur 
Tugend befehrt haben. Das Weltkind Liſzt Tpielte wunderbar, 
der Abbe jpielt Wunder. 

Liſzt hat ſeit jeiner Prieſterweihe ziemlich viel Clavier⸗ 
ſtücke publicirt; Transſeriptionen aus Mozart's Requiem und 
aus Pergoleſe's geiſtlichen Melodien, eine Humne an den 
Papſt, endlich zwei »Legenden« für Clavier, die uns beſonders 
charakteriſtiſch erſcheinen. Sie behandeln ein Wunder des heiligen 
Franz von Aſſiſi (»La predieation aux oiseaux«) und eines 
vom heiligen Franz de Paula (»St. Francois de Paule 
marchant sur les flots«). Wie uns das franzöfiihe Vorwort 
ausführlih erzählt, traf Franz von Aſſiſi einſt auf der Heer: 
ftraße eine Menge Vögel und hielt ihnen eine Predigt. Die 
Vögel hörten aufmerfjam zu und rührten ſich nicht vom Flecke, 
obgleich der Heilige, unter ihnen wandelnd, fie mit dem Talar 
ftreifte; erit nachdem er ihnen den Segen ertheilt, flogen die 
Vögel genau in Kreuzesform nach den vier MWeltgegenden da: 
von. Dem heiligen Franz de Paula verjagten einjt in Meſſina 
einige Schiffer die Aufnahme in ihr Boot; der Heilige achtete 
nicht darauf und ging trodenen Fußes über das Meer. Zur 
eriten Legende bemerkt Lilzt gar befcheiden, daß feine geringe 
Geſchicklichkeit und vielleicht die engen Grenzen des muſi— 
falifichen Ausdrudes im Clavier ihn gemöthigt hätten, Hinter 
der munbderbaren MHeberfülle der Wogelpredigt ſehr zurückzu— 

Hanslick. Aus dem Concertiaal. 2. Aufl. 30 


466 | 1866. 


bleiben, weßhalb er »le glorieux pauvret du Christe um Ber: 
gebung anfleht. 

Sieht man nah alledem die beiden Muſikſtücke ſelbſt 
an, fo findet man zwei gewöhnliche brillante Goncert-&tuden, 
deren eine als mufifaliiches Motiv dad WVogelgezwiticher, die 
andere dad Meeresbrauſen nachahmend fortipinnt. Die Stücke 
find dankbar für den Virtuofen und nicht ohne pifantes Dif- 
fonanzengewürz; natürlih forgt die Wogelpredigt für Die 
Bravour der rechten Hand, der MWogenfpaziergang für die Der 
Iinfen. Dieſe Compofitionen fönnen offenbar ebenjogut » Les 
amours des oiseaux« und »Souvenir des bains d’Östende« 
heißen und hätten vor zehn Jahren wahricheinlih auch jo ge- 
heißen. Wielleicht führt uns Lilzt nah und nah aud Die 
übrigen Heiligen in derjelben gefälligen Manier vor. Vorläufig 
müfjen wir befennen, daß dieſe Appretirung des Heiligenfcheins 
für den Concertſaal, diefe getrillerten und gehämmerten Mirafel 
und einen unfäglich Eindiichen Eindrud machen. 

Wir waren, wie gejagt, wirfli der Meinung, der Abbe 
Liſzt werde feine Weltentjagung ernithaft nehmen und den 
mufttaliihen Salonbeftrebungen von ganzem Herzen Adieu 
jagen. Haben wir darin geirrt, jo war noch ein zweiter Weg 
denkbar: die vollftändige Trennung des Künftler® vom Geiſt— 
lihen. Manche feiner Freunde äußerten wiederholt die Meinung, 
Liſzt habe durch die neue Standeswahl hauptſächlich eine voll: 
ftändige materielle Unabhängigkeit erreihen wollen. So wenig 
wir diefer Motivirung beifallen möchten, welche zu Liſzt's all 
zeit nobler, uneigennüßiger Denfart nicht wohl ftimmt, fo 
wenig hätten wir, falls fie wahr ift, ein Recht, ohnemweiters 
darüber abzuurtheilen. Mannigfahe uns unbekannte, vielleicht 
jehr erhebliche Umftände mögen hier zujammengemwirft haben, 
und Umftände find, nad) Rahel, die Minifter der Götter. In 
diefem zweiten Fall (daß nämlih nicht Glaubensbedürfnif, 
fondern triftige äußere Motive Liſzt dem geiftlichen Stande zu: 
führten), wäre es uns nur natürlich erfchienen, wenn er als 
Componiſt der Kunftwelt gegenüber feine Geiftlichfeit gar 
nicht betont, Sondern als eine rein innere, häusliche An: 
gelegenheit ignorirt hätte. Er wäre für den Batican der neue 


Waffenrube am Clavier. Liſzt. 467 


Abbe, für die Muſikwelt der alte Liſzt geblieben, derfelbe Liizt, 
welcher mit feinen Symphonien Shalfpeare, Goethe und Byron, 
mit feinen Clavierftücen lediglich die moderne Virtuofität gefeiert 
hat. Wir hätten ihm den Muth zugetraut, feine Mufif un— 
tonfurirt zu laſſen. Gerade diefe Verquidung geiftlicher Titel 
mit weltlihem Inhalt, dieſes Abbe-Spielen und Lilzt-Sein, 
oder Lilzt-Spielen und Abbe-Sein, iſt es, was und an der 
neueſten Phaſe des ausgezeichneten Mannes nicht recht behagen 
will. Die Salon:Bigotterie der »Legenden«, zufammengehalten 
mit der Halt des Gomponiften, fih dem ungariihen, fran— 
zöfiihen, deutihen Publicum im Abbemäntelhen vorzuführen, 
und fo mit einem neuen Reiz auögeftattet die Tanggemiedene 
Deffentlichfeit wieder aufzufuchen, mußte die Vertheidiger feines 
wahren geiftlihen Berufes befremden, MWenn nicht daS Weſen, 
jo ift doch der Anjchein vorhanden, als pfropfe Liſzt weltliche 
Reiſer auf geiftlihen Stamm. 

Sn dieſer jeltjamen Stellung und Thätigfeit hat Abbe 
Liſzt in der Mufitgefchichte einen Vorgänger bon frappanter 
Aehnlichkeit; den berühmten Abbe Vogler. Es nimmt uns 
Wunder, diefe Doppelgängerihaft noch nirgends hervorgehoben 
zu finden. Abbe Vogler (geboren 1749, F 1814) war ein 
Manı von umbeftreitbarer Genialität und glänzender Viel— 
jeitigfeit; eine Erjcheinung, mit der verglichen zu werden Liſzt 
ficher nicht zur Unehre gereicht. Berühmt als Schriftiteller und 
Componiſt, als Clavier- und Orgelvirtuofe, fpielte Vogler durch 
fein geiftreiches, originelles Weſen eine glänzende Rolle in der 
Geſellſchaft und übte auf feine Schüler und Verehrer eine Art 
Zauber. In der fchildernden, poetifirenden Tendenz feiner Muſik 
deutet er gewifjermaßen auf die Zufunftsmufif; er fpielte auf 
der Orgel den »Tod Herzogs Leopold’3 in den Fluthen«, die 
»Belagerung von Seriho« u. dgl. Seinen Verehrern war 
Vogler geradezu ein Wundermann, feinen Gegnern ein geift- 
reicher Charlatan. Vogler's Erfolge in Wien in den Jahren 
1803 und 1804 repräfentirten für jene Zeit ungefähr den 
Liſzt-Enthuſiasmus unferer Tage Ein gewiſſes Maß von 
Charlatanerie fonnte Abbe Vogler in feinem feiner Fächer 
entbehren, namentlich, wußte er feinen künſtleriſchen Nimbus 

30* 


468 1866. 


trefflich durch den geiltlichen zu erhöhen. Forkel's Almanach 
erzählt, wie Vogler, wenn er bei Jemandem fpielt, »zuvor fein 
Betbuch hinſchickt, und nachdem er eine Weile dageweſen ift, 
‚plöglih aufiteht, in ein anderes Zimmer geht, wo er feine 
Geele neben fich leidet, und dba aus jeinem Buche betet«. Zu 
ſolch eitlem Comödienſpiel wird Liſzt — unſeres Erachtens 
der aufrichtigere und bedeutendere Künſtler — ganz gewiß nie 
herabſinken. Aber die äußere Aehnlichkeit und die innere Ver— 
wandtſchaft zwiſchen dieſen zwei merveilleuſen Naturen iſt un— 
verkennbar, und jo leiſten und beide Abbés gleicherweiſe den 
Dienft, einer den andern zu erflären. 


1867. 
ÖOrchefter:Soncerte. 


Der Heißler’ihe Orcheſterverein, dieſer verſchämte 
Veilchenſtrauß, erfreut uns diesmal mit einer in Wien noch 
unbekannten Ouverture von Mendelsſohn-Bartholdy. Es 
iſt dies die C-dur-Duverture op. 24 für Harmoniemuſik, deren 
Vorführung wir unjeren größeren Concert-Inftituten bereitö 
vor Jahren vergebens vorgeichlagen haben. Hervorragende Be: 
deutung, etwa neben den bier Concert:Duperturen, fann man 
diefer Compofition freilich nicht beilegen, aber jollte ein hier 
noch unbekanntes Orchefterwerf von Meudeldfohn nicht jchon 
aus diefem Titel allein den Verſuch einer Aufführung ver: 
dienen? Hat auch Mendelsjohn die C-dur-Duverture nicht mit 
dem vollen Aufgebot jeiner Phantafie, dem ganzen Reichthum 
feines Kunſtvermögens geichaffen, jo waltet doch unverkennbar 
feine Meifterhand in dem klaren, ftattlihen Bau und dem feinen 
Schliff des Ganzen. Mendelsſohn gab nichts aus der Hand, 
was nicht in feiner Art fertig und volllommen daftand. Die 
Ouverture mit ihrem füßen, ruhigen Wohllaut im Andante 
und der fröhlichen Lebendigkeit im Allegro muß jeden Hörer 
frifh und liebenswürdig anmuthen. Dieje beicheidene und doch 
wirfjame Modulation, diefe Klarheit und gefunde Fröhlichkeit 
erinnert manchmal an Mozart, der befanntlich auch nicht immer 
»bedeutend« ſchrieb. Nur für Blas-Inſtrumente geſetzt, iſt Die 
Duperture ſchon dadurd eine Specialität unter Mendelsſohn's 
Werfen und erichiene als folche in der Urgeftalt am intereſſan— 
teften. Im Orchefterverein war daran natürlich nicht zu denfen, 


470 1867. 


er mußte fih mit einem von Heißler gearbeiteten Arrange- 
ment für ganzes Orcheſter behelfen. Dieje Bearbeitung ver- 
dient unbedingtes Lob, ja fie dürfte dem mufifaliihen Geſchmack 
des Concert-Publicums mehr zujagen, als das Original. Denn 
an fich verhält fih doch immer die Harmoniemufit zum vollen 
DOrcheiter wie das Fragment zum Ganzen, wie ein Behelf oder 
Arrangement zum reichen Original. Gewiß Klingen die rafchen 
Sechzehntel-Baflagen, die im Allegroſatz charafteriftiih vor: 
herrichen, edler und feiner in den Violinen, als von fchreienden 
F-Glarinetten vorgetragen, wie es das Original will. 

Gehen wir von dem maderen Dilettanten-Concert und 
jeinen mehr vom beiten Geilt als vom reinften Ton bejeelten 
Spielern zu den aufs Feinfte geglätteten Productionen unserer 
Philharmoniker über, die gleichfalls eine noch nicht gehörte 
Mendelsſohn'ſche Duverture zur Aufführung braten. 

Componiften, welche fih glüdlih auf eine anjehnliche 
Nuhmeshöhe Hinaufgearbeitet haben, pflegen dann außer dem 
Slanze ihrer Erfindung auch den mühelojeren ihres Namens 
zu nügen und ſchwächere Jugendwerke zu veröffentlichen, welche 
früher, ohne den Schuß einer berühmten Flagge, unbeachtet 
auf hoher See verjhollen wären. Das find Geiftesfinder, die 
nicht jowohl dem Namen ihres Erzeuger Ehre maden, als 
jelber durch diefen Namen zu Ehren fommen jollen. Selbit 
Beethoven, der doch zuerit der wahllojen PVieljchreiberei ein 
Ende gemacht, verichmähte es nicht, von feinem geficherten 
Throne herab zumeilen jugendliche Bagatellen (mit oder ohne 
diefen Titel) an bittende Verleger auszufolgen. In dieſem 
Punkte gab e8 faum ein fledenloferes Mufter von Selbitkritif 
und Selbitverleugnung, ala Felir Mendelsſohn. Früh ent- 
widelt und productiv wie er war, hatte Mendelsfohn viele 
größere Jugendarbeiten aufgeitapelt, um welche ihn jpäter bie 
Verleger beitürmten und deren günftige Aufnahme zu jener 
Zeit außer Zweifel ftand. Der Meifter widerftand aber heroiich; 
was jein künſtleriſches Gewiſſen nicht als reif uud vollgiltig 
erfannte, gab er nimmermehr an die Deffentlichkeitt. Die im 
zweiten Philharmonie-Concert zum eritenmale aufgeführte C-dur- 
Duverture ilt ein neuer Beleg für diefe Strenge Mendelsjohn’s 


Duverture bon Mendelsiohn. Concert von Händel. 471 


gegen ſich ſelbſt. Das Werk ſtammt aus Mendelsſohn's fieb- 
zehnten Lebensjahre und iſt erſt kürzlich von jeinen Erben 
unter der Opuszahl 101 veröffentliht worden. Die »Troms 
peten-Ouperture«e (aljo genannt nad dem dreimal aufrufenden 
C der Trompeten zu Anfang und im Verlaufe des Stiüdes) 
ijt ein intereffanter Beitrag zur Entwidlungsgeichichte Mendels— 
fohn’3 und eine freumdlich überrafchende Gabe für Jeden, der 
mit bejcheidenen Erwartungen berantritt. Neben der Klarheit 
und Logik des muſikaliſchen Gedankens, welche Mendelsſohn 
überall auszeichnen, weift die Duverture eine Beherrichung der 
Form und der Orcheltermittel auf, wie fie jo früh nur wenige 
Meiſter errungen haben. Sie raufht in einem ununterbrochenen 
Allegrozug ſchmuck und feitlih dahin. Was fie zu jagen hat, 
ift freilich nicht von bejonderer Neuheit oder Bedeutung, fie 
jagt es auch mit ziemlich vielen Morten. Mendelsſohn's 
harakteriftiihe Phyſiognomie findet fi hier noch nicht aus— 
geprägt, höchiten® daß der Anfang des Durhführungsiages 
it B-dur mit dem leifen Wogen der getheilten Violinen die 
Romantit der »Hebriden«e und der »Melufine« voraus: 
jpiegelt. Im Ganzen jcheint die ftarf von Mozart'ſchem Ein: 
fluffe zeugende Duverture mehr einer emfigen, ihr Wiflen und 
Können erprobenden Arbeit, ala dem Drange der Begeifterung 
zu entftammen; ja die contrapunftiichen Partien des Durd)- 
führungsfaßes mit ihrer matten Rhythmik und ihrem Roſalien— 
Veberfluffe haben etwas geradezu Trodened, Doctrinäres. An 
Friſche und Originalität der Erfindung ftehen die jugendliche 
»NRuy-Blad«-Duverture und jelbjt jene »für Harmonie-Mufif« 
entichieden höher. Immerhin gebührt Herrn Capellmeiiter Dej- 
joff aufrichtiger Dank für dieſe intereffante Neliquie, des— 
gleihen für eine noch viel ältere Novität, welche er unmittelbar 
darauf vorführte. Wir meinen Händel’3 G-moll-Concert für 
Streihordheiter mit zwei obligaten Violinen und einem Violon- 
cell. Inſoweit Händel's Inftrumentalwerfe und den in der 
Chor-Eompofition ungleih mächtigeren Meifter überhaupt zu 
repräjentiren vermögen, iſt das G-moll-Goncert ein echter und 
ganzer Händel. Ohne die Tiefe und den Combinations-Reichthum 
ähnlicher Suiten von Bach, beſitzt das Werk doch anmuthige 


472 1867. 


und fräftige Ideen in effectvoller Faſſung. Es iſt das ſechſte 
bon zwölf großen Goncerten, die Händel ſämmtlich im Laufe 
eines Monats (October 1737), alſo ſehr raſch, geichrieben Hat 
und die in England bald größte Beliebtheit erlangten. Dünkt 
es unserem ernithaften philharmoniichen Bublicum nicht jeltiam, 
daß diefe Concerte zu Händels Zeit als Lieblingsnummern in 
den öffentlichen Concerten von Baurhall und Marylebone 
figurirten? Der erfte Sag de8 G-moll-Goncertes iſt ein ſehr 
ernfte8 Largo von Schöner Breite und Fülle. Es führt zu 
einem vierjtimmigen fugirten Allegro, deſſen chromatiſch an- 
hebendes, dann in wunderliche Intervalle gerathendes Thema 
wohl vorzüglih durch feine Eigenart und Schwierigfeit den 
Componiiten reizte. Der dritte Sag (der einzige, der die Haupt: 
tonart verläßt) ift eine Chaconne in Es-dur, mit leierartig 
fortichnurrendem Baß (»musette«), ein überaus wirkſames, 
populäres Stück von altfränkiſch graziöfer Haltung. Nah Bur— 
ney's Erzählung war dieſer Saß bei dem Gomponiften mie 
beim Bublicum bejtändig und vorzüglih in Gunft und wurde 
von Händel oft zwiichen die zwei Theile feiner Oratorien 
eingeihoben. Dem Wiener Bublicum gefiel wieder Erwarten das 
furze darauffolgende Allegro im Drei-Achtel-Takt noch befler, 
das zur Miederholung fam. Es wirft mehr dur die feinen 
Vortrags-Effecte, als durch befonderen Ideengehalt. Das Con— 
cert ſchließt mit einem energiſch einſetzenden Allegro, das mi 
ſeiner geringen Modulation und ſtereotypen Phraſen nicht über 
eine gewiſſe conventionelle Stimmung hinauskommt. Das 
Finale iſt von Ferdinand David mit einer Cadenz verſehen, 
die mehr wie ein Ueberbein als wie ein natürlicher Schmuck 
herauswächſt und ſehr ſchwächlich »händelt«, wo fie von dem 
Recht des Lebenden guten Gebrauch hätte machen fünnen, 
Sollte ed noch Jemand wagen, die bluttriefende »Medea« 
als Oper zır bearbeiten, jo müßte er wohl auch eine Duverture 
dazu erfinnen. Sich jedoch gerade diejen gräßlichen Stoff für 
eine Concert:Ouverture auszuwählen, wie Bargiel thut, dünft 
und minder nothwendig. Unfere neuen Componiften jcheinen 
unerfättlihd am Tragiihen — wo fchreibt noch Jemand eine 
Duperture, iiber welche Frohfinn und Lebensfreude fih ſonnenhell 


Bargield »Mebea«. 473 


ergöffen? Unſere Vorfahren vermieden die düſterſten Schatten 
des Tragiſchen in der Mufik, jelbit wo der Gegenftand fie 
forderte: Gluck's Duperture zu »Orfeo«, die von Gimarofa 
zu den »SHoraziern und Guriaziern«e und Mehnliches könnte 
man füglid bor einer Opera buffa fpielen. Im Gegenfake 
dazu benügen wir die vollftändige ftoffliche Freiheit, welche 
die moderne Erfindung der Concert-Ouverture und dar: 
bietet, faft nımr für Nachtgemälde und Tragddien. Sollte wirklich 
das Heitere fich gar nicht mehr für den »biltinguirten« Ton: 
dichter ſchicken und nur den Tanzcomponilten überlaflen bleiben? 
Dann wird man allmälig Tanzmuſik in den Goncertiaal 
zichen und das Publicum wird jubeln, wie im le&ten Phil: 
harmonischen Goncerte, als nah Bargiel's foldifcher Kinder: 
mörderin Webers »Aufforderung zum Tanze« wiegenden 
Schrittes hereinfchwebte. Die Philharmoniker können dieſe 
Eompofition getroft in jedem Faſching wieder bringen — fie 
ift auch gar zu beftricend in dem feligen Rauſch ihrer jungen, 
unter dem Tanzen aufblühenden Liebe. Die Inftrumentation von 
Berlioz wirft am jchönften in ihren einfachiten Intentionen : 
dem Alterniren der Geiger mit den Bläfern, dem Gejang der 
Oboe und des Cello, in der Tieblihen Monotonie der taft: 
weile nachfchlagenden Hörner; was und jedesmal mikfällt, ift 
nur das pfeifend herabgleitende Uniſono der Flöten und 
Harfen — ein gemeiner Klang, wie von einer jener Miniatur: 
Drehorgelu, mit welchen man den Geſangsunterricht talentvoller 
Gimpel und Ganarienvögel zu unterftügen pflegt. Die Schluß- 
nummer großer Goncerte gilt als Ghrenplaß; die Philhar- 
monifer hatten ihm deßhalb Schumann’ »Sinfonetta« (Duper- 
ture, Scherzo und Finale) angewiejen. Trotzdem litt das 
poetiiche Helldunfel dieſes liebenswürdigen Bildchen unter der 
Nachwirkung der unjäglichen Helle, die Meber’3 »Aufforderung 
zum Tanze« verbreitet hatte. 

63 folgte Mozart’ herrliche Clavierconcert in C-dur 
(Nr. 467 bei Köchel); Herr Epftein ilt der Einzige, welcher 
ſyſtematiſch durch eine Reihe von Jahren Mozart’iche Clavier— 
concerte zum öffentlichen Vortrag wählt und fie einer leider 
drohenden Vergeſſenheit entreißt. Won Mozart’3 Clavier-Com— 


474 1867. 


pofitionen find unzählige rettungslos und nicht unverdient vom 
Zeitftrom fortgeſchwemmt; höchſtens der Elavierlehrer ımd der 
Geihichtsforicher fünmern fi noch darum, dad Publicum 
nimmermehr. Anders verhält es ſich aber mit den (Miener) 
Eoncerten Mozart's; fie bezeichnen den Höhenpunft jeines 
Clavierſtyles und übertreffen weit jeine übrigen Soloſtücke, 
mit einziger Ausnahme der wunderbaren C-moll-Bhantafie, 
welche direct auf Beethoven nit nur hinweiſt, ſondern 
geradezu wie ein Wunder in deffen zweite Periode hineinragt. 
Mit gutem Recht fann Mozart der Schöpfer der modernen 
Slavierconcerte heißen, wie ja dad Fortepiano jelbft erſt unter 
ihm zum concertfähigen Inftrument wurde. 

Bollmann’3 neue B-dur-Symphonie, dad Eröffnungd- 
ftüd des dritten Philharmonie-Concertes, klingt wie eine Art 
mufifalifcher Ausgleich zwiichen Deutfchland und Ungarn. Der 
in Sachſen geborene Componift verleugnet ebenjomwenig fein 
deutjches Vaterland (oder gar die engere Landsmannſchaft Schu— 
mann’), als die maghariſche Luft, die er jeit einigen Jahren 
auf feiner teilen Refidenz in Ofen einathmet. Mit der größeren 
Verbreitung und Würdigung von Franz Schubert’3 Inſtru— 
mental-Gompofitionen bat fi auch deſſen Worliebe für uns 
gariihe National» Melodien verbreitet und jüngeren Compo— 
niften eingeprägt. Wir befiten ein ganzes »Ungariſches Con— 
cert« von Joachim, inmphonifhe und Kammermufifen von 
Liizt, Volkmann, Brahms, Herbed und Anderen, mworin 
magyariihe Rythmen und Melodien mit Entjchiedenheit auf: 
treten. Auch Robert Volkmann's B-dur-Symphonie (Nr. II, 
op. 35) iſt von ungarifchen Motiven durchzogen. Glüdlicher: 
weile hat der Componift von dieſen erotifchen Reizen feinen 
den Symphonie-Styl compromittirenden Gebrauch gemadt, er 
bleibt überall gemäßigt, ernft und deutfcher Form getreu. Am 
meilten verräth das energiihe Thema des erſten Sates (fünf: 
taftige Periode) ungarifches Blut; mit fanften, deutichen blauen 
Augen Stellt fi das zweite Thema bejänftigend dagegen. Es 
mahnt an Schumann, wie mander Zug im Verlauf der 
Symphonie. Was man dem eriteren Sag, ja mehr oder minder 
der ganzen Symphonie wünſchen möchte, ift eine größere 


Volkmann's B-Symphonie. Schubert's »Rojamunbe«. 475 


rhythmiſche Abwechsſslung. Diefe ungariſchen Synkopen haben die 
Eigenthümlichkeit, einen mit ihnen anbindenden Componiſten 
nicht ſobald wieder loszulaſſen. Volkmann hat mit vornehmer 
Zurückhaltung in der ganzen Symphonie keine Poſaunen ver— 
wendet; im erſten Satz vermißt man ihre dröhnende Kraft. 
Machte der erſte Satz auf die Verſammlung keinen tieferen 
Eindruck, ſo gefiel deſto mehr der zweite: ein Allegretto von 
gleichmäßiger graziöſer Bewegung, mit einem Stich ins Pikante. 
Das folgende Andantino im Sechsachteltakt beginnt wieder 
volksthümlich mit einem ärmlichen, klagenden Geſang der Oboe 
über monoton pizzikirten G-moll-Dreiklängen. Das Bild eines 
auf jeinem Schilfrohr blafenden, einſamen Bußtahirten ftellt 
fih bier von jelbft ein. Das Motiv wiederholt fich gegen den 
Schluß immer öfter und jchneller, im Unifono aller Streich» 
inftrumente anjchwellend, bis es £opfüber in das Finale ftürzt. 
Dieſes in punktirten Aditelnoten wie ein luſtiges Bergwaſſer 
herabfließende Allegro könnte »Tarantella« überfchrieben fein, - 
ließe nicht das Seitenmotiv mit feinem an den ſchlechten Taft: 
theil ſich klammernden Xccenten das Magyarenthbum jo ent: 
Ihieden durchleuchten. Der Sag iſt effeftvoll; für eine Sym— 
phonie in abstraeto mag jeine Sprache etwas befremdend 
fingen, zu dem Styl der Volkmannm'ſchen paßt fie vortrefflich. 
Die Symphonie fand lebhaften Beifall und verdient ihn durch 
ihre anziehende Eigenart, ihren rejoluten Ton und ihre von 
erfahrener Meiiterfchaft zeugende Arbeit. Epigonenwerk ift auch 
fie, wie jo vieles Andere, was unfere Zeit nicht entbehren kann 
und auch nicht entbehren möchte. 

Das zweite Geſellſchafts-Concert beitand aus 
zwei muſikaliſchen Cyklen fehr verfchiedenen Charafterd: dem 
»Deutihen NRequiem« von Johanne® Brahms und der voll: 
ftändigen »Rofamunde«-Mufift von Schubert. »NRofamunde« 
war befanntlih ein im Theater an der Wien durchgefallenes 
Ritterftüd von Frau Helmine v. Chezy, demfelben raftloien 
Blauitrumpf, der auch die »Euryanthe« verfertigt hat, und jo 
auf Flügeln des Gefanges von Schubert und C. M. Weber 
als Ueberfracht in die Unsterblichkeit jpedirt wurde. Schubert 
hatte dad Stück verfchiwenderiih mit einer Muſik geſchmückt, 


476 1867. 


welche jegt zum eritenmale vollftändig aufgeführt zu haben ein 
neues, Schönes Verdienſt des Hofcapellmeifterd Herbeck ift. 
Mehrere Nummern, die größeren und jelbititändigeren, waren 
bereit aus früheren Gejellichaft3:Eoncerten befannt. Bon den 
neuen gefiel am meilten eine marfchartige Balletmufif in G-dur, 
die man zu den liebenswürdigſten Genrebildern Schubert’3 
zählen darf. Das gligert und duftet wie ein glüdlicher Früh: 
Iingamorgen. Auffallend genug erinnert das mwudtig auf- 
ftampfende G-moll-Unifono der Contrabäffe an den Zigeuner: 
tanz in den »Hugenottene. Dad ungemein graziöß gejpielte 
Stück mußte wiederholt werden — wohl das erfte und einzige 
Beiſpiel einer Balletmuſik, welche ohne Mitwirkung der 
Scene und de8 Tanzes im Concertfaal ſolchen Erfolg errang! 
Auch die übrigen Nummern atmen in jedem Takte die Schu: 
bert eigenthHümliche anmuthige Romantik, doch bedürfen fie zu 
ihrer vollen Wirkung mehr oder minder des Theaters. 

Das Gejellihafts:-Concert bradte ferner (gleihfalls 
unter Herbed’3 Direction) ein noch ungedrudtes »Deutſches 
Requieme« von Joh. Brahms für Chor und Ordeiter. Es 
war nit die ganze, aus ſechs Sätzen beitehende Compofition, 
jondern nur deren erfte Hälfte, die aufgeführt wurde. Den Tert 
bilden Bibelftellen, welche die Vergänglichkeit des Irdiſchen 
und die Hoffnung auf ein Jenſeits ausſprechen; die Gompofition 
ift als eine großartige muſikaliſche Todtenfeier mehr noch für 
die Kirche als den Goncertfaal gedadt. Das »Deutſche Re— 
quiem« ift ein Werk von ungewöhnlicher Bedeutung und großer 
Meiſterſchaft. Es dünkt uns als eine der reifiten Früchte, 
welche aus dem Styl der legten Beethoven'ſchen Werke auf- 
dem Felde geistlicher Muſik hervorgewachſen. Seit den Todten: 
meſſen und Trauercantaten unferer Glaffifer hat faum eine 
Mufit die Schauer des Todes, den Ernit der Vergänglichkeit 
mit folcher Gewalt dargeftellt. Die harmonifhe und contra= 
punktiſche Kunſt, die Brahms in der Schule Sebaftian Bach's 
erwarb und mit dem lebendigen Athem unferer Zeit Durhhaudht, 
tritt für den Hörer ganz zurüd hinter dem von rührender 
Klage bis zum vernichtenden Todesgrauen fich fteigernden 
Ausdruck. Wie ergreifend erhebt fich der erfte Sat (» Selig, 


Brahm's »Deutfches Requiem«. 477 


die da Leid tragen«) auf ſeinen ruhigen und doch ſo über— 
raſchenden Harmonien, bald getragen von tiefem Violoncell- und 
Poſaunenklang, bald von leiſen Harfentönen wie von Geiſter— 
Erſcheinungen durchweht. Und doch iſt dies nur ein Vorſpiel 
zu der gewaltigen Tragödie des zweiten Satzes in B-moll 
(»denn alles Fleiſch ift wie Gras«), in welchem das Grauen 
der Verweſung nur von dem verflärten Lächeln eines brechenden 
Auges erhellt wird. Es iſt der bedeutenite bon den drei 
Süßen und würde und nod größer dünfen, wenn er mit der 
legten dröhnenden Wiederholung ded Hauptthema’z in B-moll 
ihlöfle; das angefügte B-dur-Allegro: »Die Grlöften des 
Herrn« ericheint mehr wie ein Außerlicher Anhang, als wie 
ein organifcher Abjchluß. An Größe der Conception fteht der 
dritte Sat den beiden eriten nicht nad, an contrapunftifcher 
Kunft übertrifft er fie. Dennoch wirft er nicht fo flar und 
harmonisch wie jene, er beitürmt den Hörer mit Eindrüden von 
mitunter ſehr gemwaltjamer Art, demen nad) der vorhergegan- 
genen Aufregung und Anjpannung Schwer Stand zu halten ift. 
Der Sat hebt mit einem Bariton-Solo an (»Herr, lehre mid) 
doch, daß es ein Ende mit mir haben muß«), welches vom 
Chore bald beantwortet, bald unterftüßt wird; Alles im Tone 
tieffter Trauer. Das D-moll-Andante geht ſchließlich in die Dur- 
Tonart über und bringt über dem Orgelpunkt der Tonica einen vier: 
ftimmigen fugirten Sag: »Der Gerechten Seelen find in Gottes 
Hand«. Diejer Orgelpunft hat die unbarmherzige Länge von 
72 Vierviertel-Takten (tempo moderato) und mwird von den 
(nad) D herabftinmmenden) Gontrabäffen, Hörnern, Poſaunen 
und einer ununterbrochen in Sertolen ſchlagenden (mit mir: 
belnden) Pauke ausgehalten. Der Componiſt hat diefe in der 
Partitur imponirende Stelle in ihrer äußeren Wirkung kaum 
richtig berechnet. Einmal verjchlingt der dröhnende Orgelpunkt 
das Geflechte der Singitimmen, welches man nicht mehr zu er- 
fennen vermag, ſodann verſetzt das unaufhörlihe Paukenge— 
hämmer auf Einem Ton den Zuhörer in eine nervöſe Aufregung, 
die jede äſthetiſche Aufnahme vereitelt. Jemand verglich die 
Wirkung dieſes Orgelpunktes mit der beängſtigenden Empfindung, 
die man beim Eiſenbahn-Fahren durch einen ſehr langen Tunnel 


478 1867, 


hat. Vom DOrgelpedal gehalten, würde die Stelle wahr: 
ſcheinlich dieſe alarmirende Wirkung verlieren, weldhe hier dem 
Erfolg des dritten Sabes fo ſehr jchadete, Während die beiden 
eriten Sätze des »Nequiem« troß ihre büfteren Ernites mit 
einhelligem Beifall aufgenommen wurden, war dad Schidjal des 
dritten Satzes ein fehr zweifelhaft. Brahms braucht fi 
darob nicht zu grämen, — er kann warten. Daß eine jo 
fchwerfaßlihe, nur in Todesgedanken webende Gompofition 
feinen populären Grfolg erwartet und viele Elemente eines 
großen Publicums unbefriebigt laſſen wird, ift begreiflich. Aber 
jelbit dem MWiderftreben, jo glaubten wir, müßte ſich eine 
Ahnung von der Größe und dem Ernite des Werkes bei- 
miichen und Reſpect auferlegen. Died jcheint nicht der Fall 
bei einem Halbdugend grauer Fanatifer alter Schule, welche 
die Unart begingen, die applaudirende Majorität und den vor— 
tretenden Gomponiften mit anhaltendem Ziichen zu begrüßen, — 
ein »Nequiem«e auf den Anftand und die gute Sitte in 
einem Wiener Concertfaale, da® und auf das bedauerlichite 
überraicht hat. — 


Kammermufik. 


Endlih in ihrer fiebenten Soirée brachte auch die Hell: 
mesberger'ſche QDuartettgejellihaft eine Nopität: ein 
GSertett für zwei Violinen, zwei Bratfhen und zwei Cellos 
(G-dur) von Sohanne® Brahms. Das Werk fand eine fehr 
ehrenvolle Aufnahme, wenn e3 gleich beimweitem nicht jo une 
mittelbar anſprach und erwärmte, wie Brahms’ älteres 
B-dur-Sertett, deſſen Klarheit und blühende Frifhe daß neue 
Werk verdunkelt. Lebteres beginnt mit einem überaus fchönen 
und für alle Metamorphofen der Durchführung Außerft verwend— 
baren Thema. Der ganze erite Satz (der bedeutendfte des Werkes, 
ganz wie im B-dur-Sertett) verdient den Namen einer genialen 
Arbeit in echt Beethoven'ſchem Geiſte. Edel, wahr und über: 
zeugend fließt dies Stüd, durchhaucht von ruhiger, aber tiefer 
Empfindung, in einem überfihtlihen Zuge dahin. Einige har: 


Sertett von Brahms. Sonate von Raff. 479 


moniſche Härten gegen den Schluß Hin können unjere Freude 
nicht ftören. Das Scherzo bewegt fi) anfangs ohne hervor: 
ragend originelle Melodie in jenem leicht monoton werdenden 
furzen Zweier-Rhythmus gleich langer Noten, welhen Schu: 
mann To häufig cultivirte, Ein raufchendes Trio in Walzer: 
tempo bringt aber zu rechter Zeit rhythmiſches Leben, Glanz 
und Heiterkeit in den Sag. Die beiden folgenden Säße Stehen 
als Producte geiftreicher, ja tieffinniger Combination hinter den 
früheren nicht zurüd; nur eine über alle Geheimniffe der Har- 
monie und alle Sunftgriffe des Contrapunftes verfügender 
Mufifer vermag Aehnliches mit ſolcher Sicherheit zu geftalten. 
Aber in ihrer unmittelbaren Wirkung auf den Hörer, der ſich 
faft nur auf den anfirengenden Genuß mufifaliihen Mit- und 
Nachdenkens gewieſen fieht, find beide Stüde etwas ermüdend und 
erfältend. In diefem Mangel an finnliher Schönheit, zunädhit - 
an rhythmiſchem Leben und melodiihem Schmelz, erinnert 
die Finale an manches recht unerquidlihe Stück aus Schu: 
mann's legter Epoche. Wir geben den erften Eindrud, mie wir 
ihn empfingen. Zu groß und aufrichtig iſt jedoch unſer Re— 
ipect vor Brahms, den wir für daS bebeutendite Talent 
der mufifalifchen Gegenwart halten, als daß wir dem erften 
Eindrud auch das letzte Wort zugeitehen jollten. Es iſt 
ſehr möglich, daß ein wiederholtes Hören und ein Einblick in 
die Partitur (wir konnten keine auftreiben) uns die beiden 
legten Sätze des G-dur-Sextetts in einem richtigeren und gün— 
ſtigeren Lichte zeigen würde. 

In der achten Quartett-Soirée der Herren Hell— 
mesberger, Dobyhal, Röver und Krancewits hörten 
wir eine neue Violin-Sonate in A-dur von J. Raff. Es 
wird uns eigenthümlich ſchwer, zu Raff's Muſik ein intimes 
VBerhältniß zu gewinnen. Alles, was wir von diefem gewanbten, 
fruchtbaren Gomponiften fennen gelernt, hat und mehr oder 
minder intereffirt, nichts davon vermochte und aber das 
Gefühl reiner Befriedigung und äfthetiichen Behagens zu ge 
währen. Genau jo erging ed uns wieder mit der neuen 
Sonate, die eine Art mufifalifcher Wüfte mit fleinen Dafen 
repräfentirt. alt alle vier Süße beginnen hübſch, der erfte 


480 1867. 


und vierte jogar mit einem Feuer, dad man für echt hinnähme, 
verlöjchte es nicht gar jo ſchnell. An interefjanten Einzelnheiten 
herricht fein Mangel: glüdlihe Anfänge, die nirgends hin— 
führen, effectvolle Schlüffe, die von nirgends herkommen, da— 
zwiichen eine Meute von Paſſagen, die raitlos wie Jagdhunde 
ihrem eigenen Schatten nachlaufen. Es fehlt dem ganzen die 
eigentliche Triebfraft. Das jchöpferiiche Unvermögen des Wiges 
kann über diefen Mangel nicht täufchen, geichweige denn hin 
weghelfen. 


Virtuoſen. 


Camillo Sivori hat nach länger als zwei Decennien 
Wien wieder beſucht und ſein Concert im Muſikvereinsſaal ge— 
geben. Als vollwichtiger Virtuoſe in beiden Welttheilen aner— 
kannt, genießt Sivori bekanntlich noch das beſondere Preſtige, 
von Paganini perſönlich unterrichtet zu ſein. Nur noch ein 
Violinſpieler, Apollinar von Kontski theilt es mit ihm. 
Obwohl eine von Paganini ganz verſchiedene Individualität, 
hat Sivori ſich doch vieles von der Technik ſeines Meiſters 
mit Erfolg angeeignet. Was Paganini eine ſo dämoniſche 
Gewalt über ſeine Zuhörer verlieh, das freilich läßt ſich nicht 
aneignen. »Der düſtere Mann in Märchen eingehüllt« (wie 
ihn Holtei einſt beſang), verſetzte überall, wo er hinkam, das 
Publicum in eine fieberhafte Aufregung. Es wird uns ſchwer, 
beim Anblick Sivori's an Paganini zu denken. Letzterer war 
eine geniale Perſönlichkeit mit einer ſtarken Beigabe von Char: 
latanerie. Herr Sivori treibt feine Charlatanerie, wir haben 
aber auch nichts Geniales an ihm entdedt. Er iſt durchaus 
Virtuoſe, zunächft italienischer Wirtuofe.. Die Schönheit des 
Tones, fodann die Schönheit der einzelnen Paſſage oder Phraie 
ift fein Hauptaugenmerf, Sivori's Ton ift in der That von 
einfhmeichelnder Süßigfeit und Rundung, ohne die impofante 
Größe Soahim’s oder Laub's zu erreihen. Sein Spiel ilt 
rein, nett und audgefeilt, die linfe Hand ungemein virtuos 
der rechte Arm von mäßiger Behendigfeit. Er fpielt an Bravour— 


Camillo Sivori. 481 


ſtücken die gar nicht melandholiiche, aber unfäglih fade »Dte- 
lancole« von Prume und Paganinifhe Pariationen für die 
G-Saite allein. Bei aller darauf verwendeten Runitfertigfeit 
machen derlei Compofitionen feine Wirkung mehr. Wie Paga— 
nini's Kunſtſtück, ſo bat die Paganiniſche Schule überhaupt 
fich bereit3 ausgelebt; zwei ihrer talentvollften Anhänger, Baz- 
zini und Dle Bull, mußten das fchlieklich an fich erfahren. 
Diefe Einfiht hat Herr Sivori wahrſcheinlich veranlagt, aud) 
zwei deutiche, claſſiſche Eompofitionen (ein Haydn’sches Duartett 
und Beethoven's Kreußer-Sonate) in jein Programm auf: 
zunehmen, die er mit Eleganz, aber ohne Wärme und Schwung 
borfrug. 

Savori’s zweites Concert hatte einen borherrichend 
italieniihen Charakter. Nicht nur ließ das Programm diesmal 
die Glaififer beifeite md erging fih in Sivori und Paga: 
nini, in »Qucia« und »Moie«, auch die Phyfiognomie des 
Bublicums, das dröhnende Klatihen und Rufen, vereint mit der 
unerträglichiten Hige im Saale, rüdten und um einige Breiten: 
grade ſüdlicher. Der Erfolg übertraf beiweitem jenen des 
eriten Concertes. Sivori bewegte fi ausſchließlich auf feinem 
eigenften Territorium, fpielte, was er jeit 25 Jahren mit 
Erfolg zu fpielen gewohnt it, was er am beiten und am 
fiebiten fpielt. Was und auch diesmal wieder volle mufi- 
faliiche Befriedigung gewährt hat, war Sivori’3 unjäglich ſüßer 
und weicher Ton im getragenen Gelang. Wunderbar ein 
jchmeichelnd floffen die einfahen Melodien Lucia's von jeiner 
Geige. Das war die reine Schönheit des Klanges, ohne jede 
ftörende Erinnerung an Roßhaar oder Darmjeiten. Won nod 
durchſchlagenderem Effect erwieſen fich freilich Sivori’3 Brabour— 
ftüicfe, unter welchem wir dem »Movimento perpetuo« den Bor: 
zug einräumen, einer in rafcheiten Sechzehnteln jcheinbar endlos 
hinftrömenden Etude, die troß des vorſchlagenden Bravour— 
zwedes doch muſikaliſch gedacht ift. Sivori bezwang die Auf: 
gabe mit unermüdlicher Ausdauer. Hingegen haben wir weder 
den Paganini-Stücden, welche die ernite G-Saite zum Turnplag 
halöbrecheriichen Unfugs machen, nod den Späfjen des »Car— 
neval von Venedig« einiges Vergnügen abzwingen fünnen. Das 

Hanslid, Aus dem Eoncertiaale. 2. Aufl. 31 


482 1867. 


ift nicht Virtuoſität im ftrengen oder gar im beiten Sinne, 
fondern £indiih und läppiſch gewordene Virtuoſität. Winſeln, 
Scharren, Brummen und Pfeifen, allerlei Thierlaute und 
Marionettengequief bildeten den Hauptinhalt dieſes ⸗Carnevals«, 
deſſen längſt fadenſcheiniger Stoff leider von Jahr zu Jahr grelleren 
Aufputz braucht. Derlei Geigentwige find älter als man glaubt 
und wurden in Deutichland ſchon 1780 von einem verjoffenen 
Genie, Scheller, colportirt, welcher die Deviſe: »ein Gott, 
ein Sceller« führte und dem die Zeitungen nahrühmten, »er 
ipiele über alles natürlich das alte Weib, wie es zanft und 
bor Zorn fingt; auch weine er ſehr natürlih« u. f. mw. Den 
»Garneval von Venedig« betrachten wir als unſeren perſön— 
fihen Todfeind. Bor 20 Jahren ſchon genügte der bloße An: 
fang des mit eingefnidten Knien herabftolpernden Themas, 
uns troſtlos zu machen, und wir hätten in den demofratiicheiten 
Tagen des Jahres 1848 jede Zwangsmaßregel mit Jubel 
begrüßt, die irgend eine abjolute Regierung gegen obgenannten 
Garneval uud feine Geichäftsreiienden verfügen mochte. Und 
jeither wie viele taufendmal hat die angebliche Iuftige Une 
geheuer ung in allen Geftalten gefoltert! Im Vergleich damit 
it e8 eine Erholung anzuhören, wie Paganini die Juden 
auf der G-Saite jäuberlich durchs Rothe Meer führt, und 
gleihjlam aus Freude über die erhörte »Preghiera« einige 
Inftige Variationen daran fügt, deren Kunftftücde dem Spieler 
und Hörer über den Kopf zufammenfchlagen. Um den natür: 
tihen Tonumfang der G-Saite zu erweitern, muß der Virtuoſe 
fortwährend zum Flageolet und den jogenannten harmonischen 
Tönen feine Zuflucht nehmen, welche, ganze Wariationen hin 
durch und in rafhem Tempo, jelbit dem beften Geiger nie 
mit vollfommener Sicherheit zu Gebote ftehen. Wir haben 
dieje Flautato-fünfte auf der G-Saite nie jo virtuos aus: 
führen gehört, und Sivori mag hierin vielleicht feinen Rivalen 
haben. Troßdem wird jeder muſikaliſche Zuhörer bezeugen, daß 
jelbft unter Sivori's Bogen mitunter Töne zum Vorſchein 
famen, die das Ohr maltraitirten, wie ed auch nicht anders 
möglih it, wenn man fi abmüht, auf der Geige Piccolo 
zu blafen und auf einer Saite mangelhaft herborzubringen, 


Virtuoiert. Sipori. Epftein. 483 


was vier Saiten leicht und vollfommen geben. Der Unnatur 
folgt die Strafe auf dem Fuße; mag der Birtuofe noch fo 
ehr auf feiner einen Saite glänzen, die drei andern glänzen 
daneben noch ftärfer — durch ihre Abweſenheit. 

Herr Epitein fpielte in feinem Concert ausschließlich 
Compoſitionen, die jehr felten gehört und dennoch jehr hörens- 
werth find. Welche Wohlthat für den Mufiker, den Eritifiren- 
den zumal, aus dem inerlei des gewöhnlichen Clavier— 
Nepertoireg herauszukommen! Da präientirte ſich gleih als 
Einleitung ein Clavier-Trio von Haydn. Nicht allzu Viele der 
Anmefenden dürften von der Exiſtenz Haydn'ſcher Clavier-Trios 
gewußt und jehr Wenige eines derjelben gehört haben, Und 
doch find allein bei Breitfopf 31 folder Trios erfchienen. Der 
Eindrud, den wir von dem E-dur-Trio (Nr. 4 der Breitfopf: 
Ihen Sammlung) empfingen, reicht über das blos hiſtoriſche 
Intereſſe entichieden hinaus. Auffallend ift zunächſt der ge: 
haltene, ernfte, ja pathetiiche Ausdrud, der da® Ganze durch— 
zteht und es troß aller Kürze der Form und aller Einfachheit 
der Motive bon den meiſten Quartetten und Sonaten Haydn's 
untericheidet. Der erite Sak erhält durch die bei Haydn feltene 
Verwendung der Chromatif einen Anflug edler Sentimentalität. 
Das Allegretto in E-moll fteht an der Stelle eines Andante; 
feine zierlih gekräuſelte Melodie ſtützt fi auf einen erniten 
Basso continuo, der jpäter in die redhte Hand über das 
Thema verlegt iſt. Menuett oder Scherzo fehlt gänzlich. Der 
legte Sag beginnt zwar heiter, in mäßigem Dreiviertel-Tatt, 
hält fi aber fern von der firchweihartigen Popularität der 
meilten Haydn'ſchen Finalfäge; der Mittelfag in Moll, ein kla— 
gender Gefang der Violine, nimmt jfogar einen ungewöhnlichen 
Raum ein. Die Vorführung des Haydn'ſchen Trio war ein 
danfenöwerther Einfall, fie zeigte uns den Meifter in einer uns 
neuen Form und mit neuen Nuancen feine Charakters. 

Das »Andante für Piano und Streichquartett« von 
Field ift eines feiner zarteiten, ftimmungsvolliten Notturnos. 
Sohn Field kannte nur ein fehr Eleines Feld mufifaliichen 
Ausdrucks, aber diejes beherichte er als wahrer Poet. Das von 
Epftein gewählte As-dur-Andante beitätigt dies. Die Stimmung 

31* 


484 | 1867. 


des Ganzen und mancher vereinzelte Klang mahnt ſchon un: 
verfennbar an Chopin, wie denn überhaupt Field im Der 
merkwürdigen llebergangöbrüde vom claffiichen zum romanti- 
ihen Clavierſtyl einen weientlihen Bogen daritellt. Ein drittes 
Stüf war Schubert’3 »Phantafie-Sonate« in G-dur (op. 78). 
MWarım verfällt jo felten ein Concertipieler auf dieſe Idylle in 
Tönen, über welcher ein blauer Himmel fait wolkenlos träumt, 
während unten fein Zug weder des Mißmuths noch der derben 
Luſtigkeit den Teligen Frieden trübt! Schumann preift fie 
unter allen Schubert'ſchen Sonaten als die »vollendetite in Form 
und Geiſt« — mit einiger Vorliebe vielleicht, denn die größere 
Meiiterihaft und Genialität der A-moll-Sonate düukt uns 
evident. Aber an innerer Harmonie der Stimmung und feinem 
Geſchmack mag die G-dur-Phantafie obenan stehen. Diejer 
Einheit zuliebe vermeidet es Schubert ſogar, die vier Säße in 
dem gewöhnlichen Kontraft gegen einander abzuheben, er mil: 
dert durch einen gemeinfamen Zug von fanfter Beichaulichkeit 
ihre Gegenfäße, jo daß dad Ganze in der That nur ein großes 
Stimmungsbild abgibt. Wenige Mufitftüde Schubert’3 drängen 
deſſen Verwandtichaft mit Beethoven jo ftarf an Licht und 
zugleich auch wieder die VBerjchiedenheit ihrer Naturen. Darüber 
iſt längit Treffendes gejagt worden, und Beſſeres als mir 
zu bringen vermöchten. Warum jollte man aber nicht auch ein- 
mal kurz jagen dürfen: Schubert ift Beethoven’? Frau? 

Noch ein viertes großes Stück bradte Herr Epftein als 
Schlußnummer: Beethoven's Quintett für Clavier und Blas— 
inftrumente (op. 16). Dad Quintett ift in feiner Klangichönheit 
und Abrundung eine freundlich anſprechende Compofition, aber 
in dem Lorbeerfranze Beethoven’d doch nur ein ſchwaches Reis. 
Wir find gewohnt, bei dem Namen Beethoven an ganz andere 
Muſik zu denken. Der junge Beethoven ftand damals noch im 
Schadte Haydn's und Mozart’3, ja er hatte für fein Quintett 
jogar eine beitimmte Compofition Mozart’3, deſſen föftliches 
Es-dur-Quintett, jichtlich zum WBorbilde genommen. Das Mo- 
zart'ſche Quintett ift zweifellos genialer und bedeutender, es 
jtect eben der vollfommene, der ganze Mozart darin, in der 
Nachbildung nur der beginnende Beethoven. Und doch jtanden 


Helene Magnus. 485 


beide Meilter genau im jelben Alter: Mozart fchrieb fein 
Duintett (1784) mit 28 Jahren, Beethoven das feinige (1798) 
ebenfald. Welchen enormen Unterfchied begründete aber die 
ungewöhnlich frühzeitige Entwidlung Mozart’! Der Componift 
des »Don Juan« Stand mit 28 Jahren auf der Höhe feiner 
Kunft und feines Genies, leider auch fchon tief am Abhange 
feines Lebens. Beethoven war als angehender Dreißiger 
noch nit einmal Er felbft. Später erit führte er auf eigenftem 
Grund und Boden jene MWunderbauten auf, die uns den 
wahren Maßitab für feinen Genius an die Hand gegeben. — 

Eine neue Eriheinung in Herrn Epſtein's Concert war 
die von Stockhausen gebildete Sängerin Fräulein Helene 
Magnus aus Hamburg. Der große Erfolg dieſer Künftlerin 
gereicht nicht bloß ihr, fondern au dem Publicum zur Ehre, 
welches hier weder durch den Reiz der Stimme, noch durd) 
irgend welche Bravour beitochen wurde. Als Fräulein Magnus 
zu dem eriten Lied: »Mignon« von Schubert, den Mund 
öffnete, erjchten ihre Stimme ald ein ſchwacher Silberfaden. 
Aber dieſer Silberfaden ſpann allmälig ein ergreifendes Seelen: 
gemälde und hielt bald die ganze Hörerſchaft umftridt. Fräu— 
fein Magnus befißt einen Me330-Sopran von geringem Körper 
und Umfang, die Tiefe und Mittellage find verjchleiert, etwa 
von D oder E an wird das Organ heller und fräftiger, findet 
aber bald feine Grenzen, wenigiten® verriethen das hohe G 
und As Schon einige Anftrengung. Materiell jomit wenig De: 
günftigt, übt diefe Stimme dennoch einen ummwiderftehlichen, 
faft umerffärbaren Zauber. Sie ſcheint eben alle grob Irdiſche 
abgeftreift zu haben und nur der legten, feiniten Verkörperung 
des Fühlen: und Denkens fi zu affimiliren. Klänge es nicht 
affectirt, wir möchten den Gefang der Magnus ein muſi— 
faliiches Athemholen der Seele nennen. Der Gindrud, den 
Fräulein Magnus mit dem erften Liede herborgebradit, be= 
feitigte und erhöhte fih noch durch die folgenden; Fräulein 
Magnus hatte Schon mehr Muth und Stimme gewonnen und 
fang die drei eriten Nummern aus Schumann’3 »Frauenliebe« 
mit jo tiefem Verſtändniß und fo zarter, inniger Empfindung, 
wie wir fie faum zuvor gehört. Mit den ficherften Anfchlagen 


486 1867. 


der Grunditimmung eines jeden Liedes ging die feinſte, durch 
trefflihe Ausiprahe unterjtüste Zeihnung des Detaild Hand 
in Hand. 


Nnton Rubinſtein. 


Wir Haben ihn im Laufe der letzten Tage dreimal ge 
hört: Wir finden denfelben Rubinftein wieder, der uns 1857 
verfaifen, und das will gewiß nicht wenig jagen. Rubinitein 
ward als Künſtler ſehr früh felbititändig ; fein kräftiges eigen: 
thümliche® Talent hatte fich bald formirt und eine gewiſſe an 
ſehnliche Höhe erreiht, von der es nicht weiter aufitieg und 
über die es im Großen und Ganzen fi auch jchwerlich mehr 
erheben wird. Seine Individualität ift noch lange nicht erichöpft, 
aber, wie uns dünkt, fertig und abgeſchloſſen. Am gewinnenditen 
erichten der Componift Rubinftein in dem Clavier-&oncerte 
(D-moll, op. 70), mit welchem er fi Sonntags hier einführte. 
Es it die gelungenite größere Compofition, die wir von 
Rubinitein fennen. Obwohl nicht ganz frei von Anklängen 
an Beethoven, Mendelsiohn und namentlich Schumann, iſt 
dad Concert , doh von überwiegend origineller, fräftiger 
Erfindung, meifterhaft gebaut und inftrumentirt, reih an geiit- 
vollen Cinzelnheiten. Durch den eriten Sat (er iſt uns Der 
liebite) geht ein ſtarker Zug von Pathos und männlicher 
Energie; Sehr wirkſam hebt fih davon das F-dur-Adagio mit 
jeinem nicht ſowohl tiefen als anmuthig-fentimentalen breiten 
Sejang ab. Der legte Sat, ein troßig wildes Allegro molto, 
iſt als Ganzes weniger abgerundet, hingegen am reidhiten an 
überraichenden, wirkſamen Cinfällen. Den Clavierpart hat Ru— 
binstein mit Bravour reich bedacht, jedoch nicht in ungebühr- 
lihem Mißverhältniß gegen das Orcelter. Das D-moll-Eoneert 
hat mehr innerer Zufammenhang und Einheit des Styls, als 
ähnliche mehrſätzige Compofitionen Rubinftein’s, und hält Ans 
fang, Mitte und Ende ziemlich auf gleicher Höhe der jchöpferi- 
fhen Kraft. Was den meilten größeren Werfen Rubinjtein’g 
fo, empfindlich zu Schaden pflegte, it ihre Ungleichheit in ſich 


A. Nubinftein. 487 


jelbit. In der Regel war der günstige Eindrud des eriten 
Sates im Verlaufe des legten jo gut wie vertilgt. Wir er: 
innern beiſpielsweiſe an die »DOcean-Symphonie« oder das 
Glavier-Quartett in C-dur (op. 66), das vor zwei Jahren Herr 
Dachs und jeßt der Componiſt jelbit vortrug. Das Quartett 
eine der neueften Arbeiten Rubinſtein's bricht mit einem präch— 
tigen Thema wie ein heller Morgen an. Der erite Sag, welcher 
auf diefem Hauptthema allerdings einen ungleich jtolzeren 
Bau führen konnte, bildet gleichwohl einen jehr jtattlichen, 
vielverheißenden Anfang. Es folgt ein leichtgeichürztes, ballet- 
mäßiges Scherzo, das nicht mehr recht zu den Früheren ftimmt, 
aber doch pifant und effectvoll heißen muß. Der folgende Saß, 
ein wüftenartig langgeſtrecktes ſonnen- und blüthenlofes Adagio, 
befremdet und veritimmt den Hörer, welcher jchließlich von dem 
rohen, bizarren Finale mit einem peinlichen Eindrud Tcheidet. 
Es freut und, von dem Clavier-Concert ein Gleiches nicht 
jagen zu müſſen. In leßterem, wie überhaupt in Rubinſtein's 
befieren Inſpirationen herrſcht eine gewiſſe finnliche Naturfraft 
und Frifche, eine energiihe Wirkfamfeit nach Außen, die in 
der nachbeethoven'ſchen Muſik jelten zu werden beginnt. Ohne 
Zweifel ift Aubinitein in diefem Punkte feinem ruffiichen Vater: 
lande verpflichtet. Wir fennen und anerfennen in der Kunſt— 
geihichte allerdings nur zwei große Völkerraçen: die germanijche 
und die romaniihe. Was von anderen Nationen fih in der. 
Tonfunft bemerkbar machte, Schloß ſich dieſen beiden an (tie 
Rubinftein der deutſchen Muſik), oder blieb als eine Art Natur: 
product an der Scholle des Wolfäliedes haften. Der Zukunft 
wollen wir nicht vorgreifen. Ganz abgejehen von den jpeciell 
nıufifaliichen Naturanlagen der Slaven, ſteckt in ihnen ein 
Sapital von unverbrauchter Lebenskraft und derber, noch nicht 
zu Tod cultivirter Sinnlichkeit. Etwas von dieſer Vollkraft 
und diefem WVolltroß der ſlaviſchen Natur wogt in Aubinftein’3 
Blut und fommt im feiner Compofition wie in feinen Spiel 
zu Tage. Man weiß, daß der deutiche Geiſt allen überlegen 
iſt, wo er fich den Tiefen des Lebens zumendet; daöfelbe an 
der Oberfläche ſchön und wirkſam zu geitalten, bleibt ihm defto 
häufiger verjagt. Rubinstein, dem beiten unferer muſikaliſchen 


488 1867. 


Zeitgenoffen (Brahms, Joahim, Rob. Franz, Kirchner) 
an Tiefe des Gedankens und Gefühles nicht ebenbürtig, fteht Doch 
bon Haus aus durch jene finnliche Kraft und Wirkfamkeit na Außen 
wieder im Vortheil. Dieje Eigenihaft hat uns längft zu Der 
Heberzeugung geleitet, daß die dramatiiche Compofition, Die 
Mufit auf dem Theater, das günftigfte Feld für NAubinftein 
abgeben müßte. Gr ift zwar and auf diefem Felde bei glän- 
zenden Anläufen ftehen geblieben, ohne einen bleibenden Cr: 
folg, aber diefe Anläufe reichen Hin, unſere Heberzeugung 
zu befeftigen. Die erſten Acte der »Kinder der Haide« (der 
legte führt wieder ſelbſt den Todesitreih) enthalten Scenen 
bon ungemeiner Energie und Farbenpracht, und wir müßten ge: 
genwärtig feinen deutichen Componiiten, der im Stande wäre, 
etwas Nehnliches für die Oper zu fchreiben, wie der erite Act 
von Rubinſtein's »Feramors«. 

Außer ſeinem Concert und Clavier-Quartett ſpielte Ru— 
binſtein noch eine Anzahl kleinerer Stücke eigener Compoſition. 
Unſere vor zehn Jahren gemachte Wahrnehmung, daß Rubin— 
ſtein in kleinen Formen leicht dem Flachen, Unbedeutenden, ja 
Trivialen verfällt, haben dieſe neuen Concert:Nummern nur 
beitätigt. »Nocturnee, »Scherzo«, »Barearole« find äußerlich 
und gemüthlos; die »Contredanse«, anfangs brillant angelegt, 
nähert fi gegen da8 Ende dem Niveau der Gartenınufif und 
geräth in ein von allen Grazien verlaffene® Toben. Die 
C-dur-Gtude, ein aus fühniten Sprüngen und Arpeggien 
geflochtene® Bravourftüd, erfüllt ihren Zweck als blendende 
Kraftprobe, die Schönheit hat nichts damit zu thun. Als 
Glavierspieler war Nubinftein bereit3 vor zehn und zwanzig 
Jahren mit Necht berühmt und bewundert. Ueber jeitte erſtaun— 
lihe PVirtuofität bleibt faum etwas Neues zu jagen übrig. Er 
hat die ganze jaftige Fülle feines unvergleihlichen Anſchlags 
beibehalten, die Titanenfraft im Forte neben der Zartheit 
- eined bis an die Grenze des Hörbaren ftreifenden Pianiſſimo. 
Ja in der Ausführung von Terzen- und Sertenfcalen (D-moll- 
Concert) und in den gewagteiten Sprüngen (C-dur-Etude) ent: 
widelte er jüngſt eine Meifterichaft, die unfere Erinnerung und 
Erwartung noch übertraf. In der »Etude« und »Condredanse« 


A. Rubinftein. 489 


producirt er ein ſolches Wogen von Tönen, ſolchen Umfang 
durhbraufend, daß den Zuhörer ein wahrer Schwindel des 
Gehörs erfaßt und das Auge nachhelfen muß, das Unerklärliche 
zu faſſen. Bei alledem bleibt die Haltung Rubinſtein's — 
worauf wir einigen Werth legen — immer ruhig, unaffectirt 
und männlid. Fremde Compofitionen gibt Nubinftein fehr 
verichieden, wie er denn auch als reprobucirender Kiünftler 
ungleihd und dem Einfluß der Laune unterworfen ift: in 
jeinem erften Concert fpielte er weit fchöner als im zweiten, 
in der eriten Abtheilung des »Gejellichafts-Concertes« viel 
bejier ald in den folgenden. Am fjchönften fpielt Rubinftein 
unſeres Erachtens die flare, zu feinen llebertreibungen ver: 
leitende Muſik Mendelsſohn's und Mozart’. Sein Bor: 
trag de8 Mozart’ihen D-moll-Eoncert® (das er mit zwei 
effectvollen, wenngleich etwas jelbitftändig hervortretenden Ca— 
denzen verfah) war meifterhaft. Daß Rubinftein die fchwierigiten 
Aufgaben von Beethoven, Schumann und Chopin tehnifch 
vollendet löft, bedarf feiner WVerficherung, doch läßt er in Auf: 
fajjung und Ausführung das virtuoſe Clement mitunter zu 
ftarf vorwalten. Wir hatten gehofft, die Jahre würden diefen 
Hauch auf dem reinen Spiegel der Kunft tilgen. Leider fanden 
wir au jegt no) den Hauptaccent auf die Bravour gelegt; 
bei aller äußerer Lebendigkeit war Rubinftein’® Vortrag der 
Beeth oven'ſchen C-moll-Sonate (op. 111) und der ⸗»Sym— 
phonifhen Etuden« von Schumann innerlih fühl, ja, was 
noch Schlimmer für einen Poeten, nüchtern. In den »Etuden« 
bon Schumann entfaltete Aubinftein eine außerordentliche 
Bravour, aber uns ftörte das Selbitiüchtige diefer Bravour, 
daS Webertreiben des Tempos und des SKraftaufwandes, der 
Mangel an fein nachfühlender Empfindung, an Liebe zum 
Gegenftand. Clara Schumann und Brahms (Gritere au 
Kraft, Letzterer an Schliff der Technik hinter Rubinftein zurück— 
ftehend) haben mit den »Symphonifchen Etuden« eine unver: 
gleichlich tiefere Wirkung erzielt, weil fie verwandten Geiftes 
fih in die GCompofition hineingelebt hatten und nur den Ton: 
dichter ſelbſt ſprechen ließen. Das pracdtvolle Finale fam durch 
die Meberftürzung des Tempos nicht nur völlig um den ihm 


490 1867. 


jo eigenthümlichen Feitglanz, e3 wurde beinahe zum unentwirr— 
baren Getöſe. Gleichfall® zu Schnell ſpielte Rubinftein Die 
Chopin’she Asdur-Polonaiſe; die Ichlanfe, ritterlihe Hal: 
tung, diefer Haupt-Charakterzug der Polonaiſe, war mit den 
vier eriten Taften unrettbar dahin. Wir hatten die Bravour 
Rubinſtein's auf Koften der Moejie Chopin’. Liſzt's 
»Don-Juan«-Phantaſie, ein Virtuojenftüd, aber ein geijtreiches, 
hofften wir von Rubinftein vollendet zu hören. Er begann e3 
ehr schön, gerieth aber bereit bei den Variationen (La ei 
darem la mano) in eine fliegende Haft und endigte mit einem 
jolchen Auf: und Niederraien über die Taiten, daß das Rein: 
jpielen aufhören mußte, geichtveige denn das Schönfpielen. In 
diejer Production war die Bravour jo empfindlic” mit Rohheit 
veriegt, daß jelbit das große Publicum ftugte und am Schluſſe 
deutliche Ziſchlaute fich in den Applaus einjchlichen. Bei reinen 
Virtuojenftüden mag ein Zuviel an Brapour immerhin noch 
am leichtejten Hinzunehmen ſein. Wenn fich aber dieje virtuoſe 
Ueberkraft auch in den edeliten Tondichtungen Beethoven’, 
Schumann’, Chopin’s nicht zu verleugnen weiß; wenn wir 
jo beneidenswerthe Kräfte für jo bedenkliche Wirkungen auf: 
geboten jehen; wenn wir fühlen, wie gerade Rubinſtein das 
Alles jo viel beiler und jchöner geben könnte, als er es gibt, 
dann mischt jich ein Gefühl der Trauer in unfere Bewunderung 
und wir möchten mit Corneille ausrufen: »0 ciel, que de 
vertus vous me faites hair !« 


Joachim und Börabnıs. 


Die Concertjaifon fliegt mit vollen Segeln und koſtbarer 
Ladung. Unmittelbar nah Rubinſtein Hat fie und Joachim 
und Brahms gebradt. Joſeph Joachim, dem jelbit der Neid 
den allereriten Platz unter den PViolinipielern nicht bejtreitet, 
iſt für ung die Verförperung der außerordentlichften und zu— 
gleich künſtleriſch verflärteften VBirtuofität. Techniſch kommt er 
der abfoluten Vollfommenheit jo nahe, daß unſer Auge dieſe 
legte, unmerflihe Diltanz nicht mehr wahrnimmt. Dabei tritt 


Joachim und Brahms. 491 


der Adel fünftlerifcher Weihe und Weberzeugung bei Joachim 
mit folder Macht auf, daß man erit hinterher an die Würdi— 
gung jeiner großartigen Technik dent. Wie jüß und mühelos 
genießt fi das Vollkommene; wie jchwer bejichreibt es ſich! 
Der entzüdendite Ton, der ſüßeſte und ftolzeite zugleich, der je 
einer Geige entjtrömte; eine wunderbare und doch niemals 
wunderfühtige Technik; ein Vortrag voll Adel, Geift und 
Empfindung — dad wären ungefähr die Grundzüge diefer muſi— 
faliihen Erfcheinung. Charakteriftiih für Joachim jcheint mir 
vor Allem der ausgeprägte Zug von ruhiger Größe, der jede 
jeiner Productionen durchzieht, die Strenge und Reinheit des 
Styls, welche die üppigen Reize der PVirtuofität eher zu ver— 
ſchleiern als vorzudrängen trachtet. Es iſt nicht möglich, Größeres 
einfacher hervorzubringen. In ſeinem erſten Concert ſpielte 
Joachim zwei Soli, die zu den höchſten Aufgaben der Violin— 
Virtuoſität gehören, die »Teufelsſonate« von Tartini und 
Sebaſtian Bach's E-moll-Suite. Das erſtere Stück glänzte zu— 
nächſt durch die Meiſterſchaft des Trillers, der Sprünge und 
des Staccato; das letztere durch eine bisher unerreichte Rein— 
heit und Gebundenheit des mehrſtimmigen Spieles. Ich bekenne 
gern meine geringe Neigung für längere Violin-Soli, ohne alle 
Begleitung, welche das Ohr nach einem ſtützenden und füllen— 
den Grundbaß ſchmachten laſſen. Die Geige iſt einmal ihrer 
Natur nach fein polyphones Inſtrument, und jo reizend fich 
in einem größeren Violin-Concert einzelne Terzen- und Serten: 
gänge herausheben (mie in dem zweiten Thema von Joahim’s 
»Ungarifhem Concert«, in Spohr’3 Geſangsſcene u. ſ. w.), To 
unbefriedigend wirkt ein anhaltend mehrfiimmiges Violinfpiel, 
das in dreis oder vierftimmigen Accorden fi) mit Arpeg— 
given behelfen muß. Wenn unter Joahimd Bogen derlei Soli 
ihre gewöhnliche ängftliche und gezwungene Phyſiognomie ver- 
lieren, jo danken wir dies eben der ganz unvergleichlichen 
Ausbildung feines polyphonen Spiele. Joachim gab dies 
erite Concert gemeinichaftlih mit Brahms, der mit ihm die 
Beethoven'ſche As-dur-Sonate und Schubert's lieblich blü- 
hende »Phantaſie in C-dur« ausführte. Kein dritter jtand 
neben oder zwifchen den beiden, durch Fünftleriiche Verwandt: 


492 1867. 


ſchaſt wie durch Langiährige, innigfte Freundſchaft verbundenen 
KRünftlern, welche Deutichland mit Freude zu feinen beiten 
Söhnen zählt. Leider präfentirte fi Brahms an diefen Abend 
nicht als Componift und ſchien als Spieler weniger gut dis— 
ponirt. Das eigenthümlih Beihaulide und Zurüdhaltende, 
das Nichtzanzdie-Oberflähemwollen feines Spieles machte fich 
ftärfer bemerkbar. Die Furdt vor dem »DBirtuojenhaften« 
icheint fich oft wie ein Schleier dämpfend zwiſchen jeine Finger 
und die Taften zu legen. Wir kennen Brahms Technik als 
eine enorme, aber es fehlte ihr an diefem Abend mehr als ſonſt 
der legte Schliff und Glanz, ſowie der volle, fingende Anichlag, 
der den ganzen Ton gleichſam mit der Wurzel auß dem In— 
ftrumente zieht. In diefem Punkte ift Rubinftein mujftergiltig 
und Brahms entichieden überlegen. Seine eigenthümlichen hohen 
Vorzüge entfaltete Brahms dafür in dem Vortrag der Schu: 
mann'ſchen Fis-moll-Sonate (op. 11), die unſeres Wiſſens 
noch nirgends öffentlich geipielt wurde. Kaum dürfte ein zweiter 
Künstler jie mit jo tiefem und feinem Verſtändniß interpretiren 
wie Brahms. Diefe Dichtung voll jugendliher Gluth und 
Gentalität, dabei auch von fchwärmerifcher Ercentricität und 
Ungebundenheit gehört zu den merfwürdigiten Dentmälern aus 
Schumann’ »Sturm und Drange. Bon dämonifher Ans 
ztehungöfraft für jeden damit näher PVertrauten wirft die 
Fis-moll-Sonate auf den unvorbereiteten Hörer allerdings 
etwas umnficher und befremdend. 

Bon Joachim hörten wir ein Violin-Concert von Viotti 
(A-moll Nr. 22), das in etwa veralteter Hülle einen tüchtigen 
mufifaliichen Kern und namentlih im Schlußſatz viel Geiit 
und Leben geltend macht. Johann Baptift Viotti (geboren 
1753 im Piemonteftichen) hat durch fein grandiofes Spiel wie 
dur feine epochemachenden Gompofitionen einen außerordent- 
lihen Einfluß auf die Entwidlung des Violinſpieles geübt. 
Es bot ein befonderes Intereffe, eines feiner Concerte gerade 
von Joachim vorgetragen zu hören, deflen Styl in gerader 
Descendenz von Viotti abitammt. Sit doch Joachim's 
Meiiter, der treffliche Joſef Böhm, ein Schüler Rode's, der 
jeinerzeit, von Viotti gebildet, der vornehmfte Apoſtel dieſer 


Joachim. 493 


Schule wurde. Viele der charakteriſtiſchen Vorzüge Viotti's, 
die Größe und Nobleſſe des Vortrags, die kühne Technik bei 
Vermeidung aller Eleinlihen Effecte, finden wir in Joachim 
auf modernerer Stufe wieder. Joachim's feelenvoller Vortrag 
eine Spohr'ſchen Adagio (aus deſſen neuntem Goncert) 
machte auf die Zuhörer den tiefiten Gindrud. Schöner und 
überzeugender als Joahim kann man nicht zeigen, daß wahre 
und tiefe Empfindung nicht des Affectirend und Kofettirens 
bedarf. Es verftieß leider gegen die muſikaliſche Deconomie, 
unmittelbar auf Spohr’3 Adagio einen zweiten langjamen 
Sat folgen zu laflen: das »Abendlied aus Schumann’ 
vierhändigen Clavierſtücken, op. 85. Dieſes gemüthvolle Lied 
ohne Worte, von Joachim fehr ftimmungsvoll inftrumentirt 
und feelenvoll vorgetragen, hätte in einer anderen Zus 
jammenftellung weit mehr Wirkung erzielt. Den Beihluß 
mahte Joachim's »Goncert in ungarischer Weile« das 
wir im Sabre 1861 vom Gomponiften und jpäter von 
Laub gehört Haben. Das Bublicum jcheint fich bei jeder 
Miederholung mehr mit diejer bedeutenden und glänzenden 
Eompofition zu befreunden. Der erite Sag iſt von wahrhaft 
Beethoven'ſchem Wuchs. Was Joachim's zweites (noch un— 
gedrucktes) Violin-Concert in G-dur betrifft, jo wäre es vor— 
Schnell, über die ernfte und reich ausgeftattete Werk nach dem 
eriten Hören zu urtheilen; fiher find wir aber des Total-Ein- 
drudes, daß es an Erfindungdfraft und Schwung das »Un— 
gariiche Concert« des Componiſten nicht erreicht. In Joachim's 
Schaffen iſt die Reflexion von Haus aus ſtark vorwaltend, 
jeine jchöpferifche Ader fließt weder rafch noch reich, feine Er— 
findung iſt ernft, vornehm, aber von geringer Sinnlichkeit und 
elementarer Kraft. In feinem »Ungarifchen Concert«, deſſen 
eriten Satz wir jehr hoch ftellen, jcheint er den Gipfel feiner 
Begabung erreicht zu haben. In dem G-dur-Goncert fteuert er 
mit noch ftrengerem Bemwußtjein zu noch höheren fünftlerifchen 
Sutentionen, aber das Schiff läuft nur mit haldgeipannten 
Segeln aus, Joachim's reformatoriiche Abficht: die frühere, mehr 
oder minder ftrenge Scheidung der Solo-Violine vom Orcheſter 
aufzuheben und beide zu einer jymphonifchen Einheit zu ver: 


494 1867, 


ihmelzen, liegt Elar vor Augen. Das Eraffeite der älteren 
Goncert:Schablone, deren Orceiter entweder nur unterthänigft 
begleitete oder in lärmendem »Tutti« das Signal zum Applaus 
gab, haben ſchon Beethoven, Mendelsfohn und Joachim ſelbſt 
(in feinem erften Goncerte) bejeitigt. Diesmal geht Joahim fo 
weit, daß im erſten Sat die Solo-Bioline nicht einmal jelbft= 
ftändig einſetzt und ſchließt, ſondern fich gleichſam unterwegs 
dem Geſang des Orcheſters anſchließt, ihn mit reihen Gängen 
umjpielt und unmerflich wieder verfiegt. Selbit die Cadenz 
(wenn der Name hier noch zutrifft) wird discret vom Orcheiter 
begleitet. Das ganze Werk ift echt muſikaliſch gedacht und voll 
geiftreicher Detaild; in der Verwendung der hohen und höchſten 
Lagen fowie der Doppelgriffe (jogar die Melodie erjcheint 
gerne in Octaven) dünft uns jedoch zu viel des Guten gethan. 
Am intereffanteften wirkt durch die Neuheit der Form (nicht 
der Gedanken) der erite Sag, am wohlthuendften das ſtimmungs— 
volle, edle Andante in Ö-moll. Der äußerlich brillantefte Satz, 
das Finale, dünft uns in feinem bdecimenfpringenden Thema 
etwas banal: auch die Durhführung hat mehr Geſchwindigkeit 
als wirkliches pulfirendes Leben. Die Aufnahme des Werkes 
fonnte nicht glänzender fein, und wenn wir fie zur guten Hälfte 
dem Spieler vindiciren, fo fommt Joachim dabei menigitens 
nicht zu kurz. 

Joachim fpielte mit Brahms das »Rondo brillant« in 
H-moll von Schubert, da& nad) einer fehr ftattlichen Ein- 
leitung ſich ziemlich ungleich Fortjeßt und uns weniger be: 
friedigt, ald das jüngft gehörte C-dur-Duo. Ferner Beethoven's 
G-dur-Sonate op. 96. Diele Tondihtung, von allen Biolin- 
Sonaten des Meifterö gewiß die tiefite und eigenthümlichite, 
hat den Beethoven-Auslegern viel zu jchaffen gemadt. Lenz, 
der daraus einen fabelhaften Staub aufwirbelt, legt den 
größten Nahdrud auf den »magyariſchen Charafter« des Finale. 
»Der große Hierophant des Humord« habe diefe Melodie 
wahricheinlih auf dem Schloffe der Gräfin Erdödy in Ungarn 
gehört u. f. w. ES wundert uns, noch in feinem. Winfel der 
labyrinthiihen Beethoven-Literatur die Bemerkung gefunden zu 
haben, daß dieſes Thema identifh ift mit dem Liede des 


Soahim und Brahms, 495 


Sobien: »Der Knieriem bleibt meiner Treu’« aus dem 
»Luftigen Schuiter«e von Adam Hiller. Wiffentlid hat es 
Beethoven hier faum verwendet, denn er ändert den ziveiten 
Theil vollitändig; aber unbewußt Hang in ihm die Erinnerung 
an jene Operette nach, die in feiner Jugendzeit ein Lieblings— 
ſtück aller deutichen Bühnen war. Es find den Ungarn bereits 
fo viele Eonceffionen gemacht, daß wir den »Luftigen Schufter« 
unmöglich noch dazu geben können. 

Wie herrlich jpielte Joachim hierauf »Barcarole und 
Scherzo« von Spohr und dad Abendlied von Schumann! 
Dad war ein Singen, tu deſſen reiner, vollendeter Schönheit 
man ſchwelgen konnte. Die von Teiler Wehmuth angehauchte, 
liebliche »Barcarole« von Spohr Klang unter JZoahim’s Bogen 
zauberhaft. Das »Scherzo« desſelben Meiſters bemegte ſich 
edler und natürlicher als bei andern Virtuoſeun, die mit ge— 
waltiamem Mohlwollen mehr Humor in das mwunderliche Ding 
bringen möchten, als darin ftedt und als der Gomponift über: 
haupt beſaß. Kaum hatte ein zweiter deuticher Componiſt fo 
wenig Anlage zu Scherz und Heiterkeit, wie Spohr. Seine 
Scherzos gleihen dem Hofnarren Nigoletto, der ſich zu 
Poſſen zwingt, während ihm jämmerlih zu Muthe ift. Das 
von Joachim geipielte Scherzo hat etwas noch realiltiicher 
Schneidendes, Leibſchneidendes. So quirlt die forcirte Luſtig— 
feit auf dem Antlitze eines Unglüdlichen, in deſſen Eingeweide 
der Teufel gerade eine Tartini'ſche Sonate unterm Steg jpielt. 
Nächſt der »WBarcarole» war e8 das Schumann'ſche Abend- 
lied (Joachim mußte es wiederholen), was den tiefiten Eindrud 
hervorbradte. Es waren die ſchönſten Vorträge Joachim's, ob- 
wohl die darauf folgenden »Gapricene von PBaganini 
hundertmal jchwerer find. Paganini hat und auf dem Pro— 
gramm Joachim's ein wenig überraicht, da Letzterer dieſen 
Schöpfer und Schußheiligen des ercentriichen Virtuoſenthums 
ſonſt nicht Öffentlich vorzuführen pflegt. Wem nicht die per: 
fönlide Grinnerung an Paganini's Spiel einen verflärenden 
Schimmer für deffen Compofitionen mitgibt, der fann darin 
nur das Extrem der abiolut gewordenen Brabour erbliden. 
Das Bedenklihe diefer und anderer PBaganini = Stücke Tiegt 


496 1867. 


darin, daß fie jelbft von größten Meiftern nur beiläufig be: 
wältigt, aber nimmermehr ganz vein, gejchweige denn wahrhaft 
ihön vorgetragen werden fünnen. Zu viel ift darin gegen den 
Charakter des Inftrumentes gelündigt, ald daß es nicht unter 
dem Bogen jeine® Bändigers winjeln und kreiſchen müßte. 
Die Bewunderung für den BVirtuofen und dad phyſiſche Un— 
behagen über die jchrillen Töne ftreiten im Hörer, jo daß 
diefer mandhmal mit den zum Slatichen erhobenen Händen 
unwillkürlich nach den Ohren fährt. Seine immenfe Technif 
bewährte Joachim am glänzenditen in der Pizzicato-Variation 
und in jener der Terzen- und Septenjcalen, die Niemand ihm 
nachſpielt. Die Hebjagd mit den dreis und vierjtimmigen Accor- 
den gegen den Schluß gehört zwar ohne Frage in den Bereich 
des MWunderbaren, aber vom Wunder verlangen wir, daß es 
unfehlbar jet. 


Das FPatti:Soncert im Garfltbeater. 


Nicht ohne Eritaunen gewahrten geftern (am 11. Sep- 
tember) die Bewohner Wiens eine verfrühte Kette mufifalijcher 
Zugvögel, welche jich an einem der wärmſten Septembertage 
plöglih in Aſcher's Mujentempel niederließ, um am folgenden 
Morgen mit Windedeile wieder fortzuziehen. Diefe Wander: 
und Wundervögel ericheinen dicht geihaart um einen Anführer 
von unfcheinbarem Gefieder und großer Weisheit, den fie 
Ullman rufen; fie jelbjt nennen fih Carlotta Patti, Ze: 
fort, Auer, Bopper und Willmers. 

Carlotta Patti, die jchmetternde Lerche der Gejellichaft, 
iſt hier aus einer langen Reihe von Concerten wohlbekannt. 
Sie hat ſich unverändert beibehalten, was dem Bublicum ficht- 
ih lieb war — weniger uns Recenjenten, die wir Neues 
über die vielbeiprochene Sängerin faum vorzutragen müßten. 
Wie vor zwei Jahren, jo erregte auch diesmal das Eleine 
Silberglödchen ihrer in jchwindelnder Höhe jo reinen und 
jiheren Stimme Bewunderung; wie damals glißerten ihre 
Triller, Staccatos und Paſſagen; wie damals, jo ſpricht auch 


Das Patti-Concert im Carltheater. 497 


jeßt ihr Gefang zum Ohr, nicht zum Herzen — recht eigentlich 
ein glänzend heiteres Spielwerf der Kunft. 

Bon den mitwirfenden Künftlern gebührt dem Pianiften 
Herrn Willmerd aus dem Titel der Anciennetät die Nennung an 
eriter Stelle. Als er vor eiwa 25 Jahren zuerft in Deiterreich er: 
jchienen war, umgab ein gewijjer xotiſcher Echimmer das blond 
umwallte Haupt des jungen Dänen, der mit feiner Transſcription: 
„Flieg', Vogel, flieg’!« und anderen Süßigkeiten viel Glück 
machte. Bei aller Anerfenung jeiner eleganten Technik, insbeſon— 
dere jeines berühmten Trillers, haben wir Willmer’3 Spiel 
damals ſchon nur in den mäßigiten Gaben vertragen fünnen. 
Es lag eine ungemeine Leere und Mattſeligkeit in diefem Spiel, 
wie in feinen einander auf's Haar ähnlichen Compoſitionen. Wie 
dürftig der muſikaliſche Gehalt diefer Productionen war, er: 
fannte man deutlich, ald Willmers nad) einigen Jahren wieder 
und wieder fam, in ſtets gleicher Weiſe trillerte und den 
»Vogel« zum Fliegen einlud. Als der Componift ſich eines 
Morgen? vergeblih nah einem Hahn umfchaute, der noch nad 
dieſem »Vogel« frähe, warf er ſich auf größere, ernitere Come 
pofitionen, ohne damit mehr zu reuffiren, als fein gleichmäßig 
vorangegangener College Evers. Es war jedenfall mohl- 
gethan, wieder zu den eleganten fleineren Salonformen zurück— 
zufehren, in welchen ſich Willmers freier und gewandter bewegt. 
Dffen geftanden, hätten wir aber feine alten Trillerſtückchen 
noch immer lieber gehört, ala die neue »Steieriihe Phantaſie« 
und »Ungariſche Epifode« (eine Art »Flieg’, Cſardas, flieg’!«), 
womit Herr Willmerd fih in dem Batti-Concerte produeirte. 
Men intereffiren noch derlei mit Paſſagen plump überladene, 
durh und durch veraltete Transfcriptionen ohne Geift und ohne 
Ende? Herrn Willmers’ Technik hat übrigend nicht von ihrer 
ehemaligen Geläufigfeit eingebüßt, und fo nahm denn das 
PBublicum den alten Bekannten mit großer Freundlichkeit auf. 

Ein zweiter von Herrn Ullman bier vorgeführter Künftler, 
der Sänger Jules Lefort aus Paris, bietet und wenig Stoff 
zum Erzählen. Er gehört zu jenen jtimmlofen Baritoniften, 
deren verftändig und geihmadvoll accentuirter Gefang — cine 
Art verichämtes Declamiren — in franzöfiichen Salons beliebt 

Hanalid. Aus dem Goncertfaal. 2. Aufl. 32 


498 1887. 


it. Seine Stimme entbehrt zu jehr der Fülle und des Wohl— 
flangd, um in größeren Räumen zu wirken; jein Vortrag, dem 
eine gejchictte Verwendung des Faljet3 und eine deutliche Aus— 
ſprache zu ftatten kommt, ift durchwegs anftändig. Die An: 
ftändigfeit ift aber befanntlich nicht? Zündended, am wenigſten 
in der Mufif. Ueberdies war Gounod's gedehnte und fraft: 
loſe Melodie »Le Vallon« feine glüdliche Wahl. 

Bon den gegenwärtig bei Ullman engagirten Künftlern 
find die zwei jüngften ohne Frage die bedeutendſten: Bopper 
und Auer. Grfterer, uns bereit3 als einer der tüchtigiten 
Gelliften befannt, hat jeinem Rufe dur) den virtuoſen Vor: 
trag eines (leider ſehr gehaltlofen) Goltermann’shen Con: 
certes neuerdings Ehre gemadt. Sein jchöner, gefangvoller 
Ton konnte fih am beiten in dem »Adagio« von Molique 
geltend machen, jeine Geläufigfeit und Ausdauer in einer Etude 
eigener GCompofition, welche »Le papillon« betitelt und in ihrer 
ununterbrochenen Sechzehntel-Bewegung dem » Perpetuum mobile« 
von Baganini nachgebildet ift. Leopold Auer, Concertmeifter 
in Düffeldorf, erfreut fi) bereit3 jeit mehreren Jahren der 
glänzenditen Erfolge in Deutfchland und England. Deutich- 
Ungar von Geburt, iſt er ein Landsmann Joachim's und 
war zulegt dejien Schüler. In dem Vortrage der befannten 
»Ballade und Bolonatjee von VBieurtemps, eine Spohr: 
ihen Andante und eine Gapricio von Paganini entfaltete 
Auer ebenſo jolide als glänzende Eigenfchaften: gefangreichen 
Ton und reine Intonation, bedeutende Bravour in allen Strich: 
arten und Lagen, ruhigen, edlen Ausdrud im Adagio, Kraft und 
Ausdauer im Allegro. 

Der wahrhaft überraihende Erfolg von Ullman’s 
Goncert, dad der jchönen Jahreszeit zum Troß dad Haus 
über und über füllte, hat die Geſchicklichkeit dieſes raftloien 
Goncertslinternehmer® neuerdingd bewährt. Die Concerte, die 
er unmittelbar zuvor in Linz, Salzburg, Laibach, Graz und 
Preßburg gegeben, jollen 40.000 Gulden eingetragen haben ; 
Brünn, Olmüß, Troppau, Krakau, Lemberg und Czernowitz, 
die nunmehr an die Reihe fommen, verjprehen ähnliche Er: 
folge. Nur eine jo geſchickte Combination und Adminiftration 


Das Patti-Concert im Garltheater. 499 


machen es möglich, mittleren und fleinen Städten, die fonft 
jahrelang feinen berühmten Birtuofen zu Gefiht befommen, 
dieſes Vergnügen reichlich und wohlfeil zu verjchaffen und den 
Künftlern jelbit im Laufe weniger Wochen beträchtliche, fichere 
Einnahmen zuzumenden. Dies geht freilih nur die induftrielle 
Seite der Kunſt an, nicht die Kunſt ſelbſt; aber einmal zuge: 
ftanden, daß das geichäftliche Intereife bei Virtuoſen-Reiſen 
mehr als je im WVordergrunde fteht, muß man die dee der 
Ullman'ſchen Aſſociations-Concerte modern und praftiich finden. 


32* 


1368. 
Orchefter-Eoncerte. 


Dom Eiſe befreit find Strom und Bäche durd des 
Frühlings Holden, belebenden Blid« — wem klingen fie nicht 
jegt im Ohr, die Worte Fauſt's, aus welchen die ganze Freu 
digkeit der Ofterftimmung quillt, wie Sonnenwärme und junges 
Grün? An fie darf nicht denken, wer Schubert'3 »Oſter— 
Cantate« (»Lazarıd«) hören geht. »Charfreitags-Cantate« 
wäre die treffende Bezeichnung für ein geiftlihes Drama, das 
zur Hälfte am Sterbebett Spielt, zur Hälfte am Begräbnißplage. 
Der erjte Theil ift eine fortgefegte Auflöfung des Lazarus, der 
jih freut, zu fterben. Der zweite bringt den Sadducäer Simon, 
der fih fürchtet, zu Iterben. Die Beltattung Lazarus' ſchließt fich 
an. Den dritten Theil des Niemaher'ſchen Gedichte, welcher 
mit der Erwedung des Lazarus triumphirend abſchließt, hat 
Schubert, bisherigen Nachforichungen zufolge, nit come 
ponirt. Gin ſchwerer Berluft; denn Schubert 5 Muſik, dem 
Leben befreundeter als dem Tode, hätte, ähnlich dem driftlichen 
Mythus, welcher in der Auferftehung des todten Lazarus die 
Auferstehung Aller am jüngiten Tage vorbildete, in der Wieder: 
belebung diejes Einzelnen das Leben jelbit und feine Herrlich: 
feit gefeiert. Dad »Lazarıae- Fragment, im Jahre 1863 durch 
das Verdienſt Herbeck's zum erjtenmale zu Gehör gebradt, 
erlebte nun feine zweite Aufführung am Chardienftag in dem 
»Außerordentlichen Goncert der Gefellichaft der Mufiffreunde«. 
Dieje reicher ausgeftattete und feiner ausgearbeitete Wiederholung 
ließ uns die hohen Schönheiten der Tondihtung noch viel 


Schubert’® Gantate »Lazarus«. 501 


tiefer fühlen. »Lazarus« bejigt die ganze Innigkeit der Empfin— 
dung, den melodifchen Reichthum und die dramatiiche Lebendig— 
feit, deren Vereinigung den Genius Schubert's charakterifirt. 
Mie rührend und fchönheitsverflärt ſchwebt die erite Arie der 
Maria empor, wie überirdifch Klingt die Erzählung Jemina’s 
von ihrer Auferwedung, wie leidenjchaftlich-dramatiih die Arie 
des verzweifelnden Simon! Gefänge, wie dieſe, gehören zu 
dem Schönften, was Schubert geichaffen hat. Es gehört die 
ganze innere Freudigfeit und Klarheit Schubert’iher Muſik 
dazu, um den Verweſungsgeruch, der diefe Dichtung durchzieht, 
fait alle® Beflemmende zu nehmen. »Faſt«, denn gänzlich ver: 
modte Schubert's Genius die unheilvolle Einförmigteit des 
Tertes nicht zu befiegen. Der Tondichter hätte zu feiner melo— 
didien Blüthenfülle auch noch Beethoven's einfchneidende Kraft 
und Bach’ contrapunftiiche Meiſterſchaft befigen müſſen, um 
der thränenfeligen Monotonie diefes Gegenitandes völlig Herr 
zu werben. Das ununterbrochene Feithalten derjelben Stim- 
mung, mufifaliih potenzirt durch dad ſtete Vorherrichen der 
langjamen Tempi im ?/,Taft, die langen ariofen Recitative, 
das Fehlen der Baß- und Altitimme im erjten Theil u. dal. 
wirt am Ende erfchlaffend. Am empfindlichiten vermißt 
man das Gegengewicht polyphon gearbeiteter, ja auch nur 
figurirter Säße und fräftiger Chöre. Der Chor iſt nur am 
Schluffe jeder Abtheilung, beidemal als langſamer Klagegefang, 
verwendet. Dieſe Eigenheiten geben dem Ganzen einen faft 
liederjpielartigen Charakter, der von dem ftrengeren Begriff 
des Oratorien-Styls (auch abgejehen von dem gänzlichen Ab— 
gang des epifchen Elements) feitab fteht. Zwiſchen ergreifend 
Ihönen Nummern dehnen fich im »Lazarus« bedeutende Streden, 
die nicht freizufprechen find von rhythmiſcher und harmonifcher 
Monotonie, von meichlicher, hie und da an ältere Opern- 
Componiſten erinnernder Empfindfamfeit. An jenen Wunder: 
blüthen des muſikaliſchen Todtenkfranzes wird fich der Hörer 
jeder Zeit erquiden; er wird ftaunen, bis zu welchem Grade 
Schubert es vermocht habe, Leben in died Sterben zu bringen. 
Aber der Total-Eindrud des ganzen Werkes wird niemals 
ein ungemiſchter, wahrhaft befreiender fein, jo lange nicht 


502 1888. 


eine kundige und vorurtheilsfreie Hand daran zu Fürzen ich 
entichließt. 

Was wir zu der ſchmerzerfüllten Schönheit des » Lazarıız« 
noch hinzuwünſchen mochten, das bradte am jelben Abende im 
reihen Maße das »Kyrie« aus Bach’ H-moll-Mefje: mann 
hafte Energie in der Klage und jene Gewalt der Polyphonie, 
welhe das mufifalifche Denken hinreichend beichäftigt, um die 
zeriegende Macht wehmüthigen Empfindend zu paralyfiren. Am 
jelben Tage des vorigen Jahres hatte Hofcapellmeifter Her: 
bed die »Hohe Meſſe« von Bah mit Ausnahme des »Fyrie« 
und »Gloria« aufgeführt. Aeußere Hinderniffe vereitelten dies— 
mal die Aufführung des »Gloriae, des einzigen Satzes, der 
uns jomit zur vollftändigen Bekanntſchaft diefer großen Ton: 
ihöpfung noch fehlt.) Aus diefem Grunde und wegen des 
impofanten Gegenfaßes, welchen gerade der trompetenjchmet- 
ternde Triumph des »Gloria«e gegen das düſtere »Syrie« 
bildet, bedauern wir den Ausfall diefes (allerdings jehr aus: 
gedehnten) Meßtheiles im legten Concert. »Kyrie« und 
»Sloria«e der Bah’ihen Meſſe gehören überdies auch nod 
hiftoriich zufammen, indem diefe beiden (im Jahre 1733 von 
Bah an Friedrih Auguft I. von Sachen jelbititändig über: 
ſchickten) Süße den urfprüngliden Kern des ganzen Werkes 
bilden, dem der Autor erſt jpäter und allmälig die anderen 
Theile, mit Benügung älterer Cantaten, hinzufügte. Was 
Sebaltian Bad, den eifrigen, ftrengen Proteſtanten, zur Com: 
pofition der ganzen katholiſchen Meſſe veranlaßt haben mag, 
hat man fih oft gefragt. Die einfadhite Erklärung dünkt uns, 
daß Bach von der Größe und dem Neichthume des Tateinifchen 
Mebtertes, welcher in kurzen Süßen die ganze firdliche Ge: 
danfen- und Empfindungswelt umfaßt und dem Componiften 
eine der bedeutenditen und dankbarſten Aufgaben bietet, ſich 
mächtig angezogen und aufgefordert fühlte ES fehlt feiner 
Gompofition die fatholiihe Färbung, der confeffionelle Accent, 
ja die praftiiche Eignung für den Gotteödienft, allein an Tiefe 
*) Eine vollitändige Aufführung von Bach's H-moll-Mefje fand 
in Wien erit im März 1885 ftatt. 


Bach's hohe Meife. »Wallenfteine v. Nheinberger. 503 


und Fülle der religiöjen Empfindung, an Größe des Gedanken? 
und der Kunftvollendung fteht fie mit der — unſerer modernen 
Anſchauung Iympathiicheren, aber faum großartigeren — Felt: 
mefje von Beethoven zu oberit aller muſikaliſchen Meſſen. 
Das »Kyrie«, welches wir im leßten Goncerte hörten, befteht 
aus drei Nummern: einem im größten Style fugirten Chor, 
dejien Thema zu den merfwürdigiten Erfindungen und deſſen 
Durhführung zu den großartigften Gontrapunfktirungen ſelbſt bei 
Bah gehört. Es folgt daS »Christe eleyson« al® Duett 
für zwei Sopranftimmen, blo8 von zwei Inftrumentalftimmen 
(erite und zweite Violine unisono und Grundbaß) begleitet, 
ein Tonftüd, in welchem der Bach'ſche Genius, wie jo manch— 
mal in Arien und Diuetten, fih zur Bah’ihen Manier, zum 
Formalismus verengt und deshalb eine tiefere Wirkung auf 
den Hörer nicht hervorbringt. Um fo gewaltiger erbrauft der 
folgende fürzere, ſtreng fugirte Alla-breve-Chor »Kyrie eleyson«, 
welcher dieſen Meßtheil in erhabener Weile abichliept. 

Mir hörten im Philharmoniſchen Concert als Novität ein 
ſymphoniſches Tongemälde »Wallenſteins« betitelt, von Joſef 
NRheinberger. Der Beifall, den diefe Compoſition in München 
und Xeipzig errang, bot hinreichenden Anlaß, fie auch dem 
Miener Publicum vorzuführen. Auf dem Gebiete der ſympho— 
niihen Muſik wird überdies jo wenig producirt, daß felbit das 
Halbgelungene Anfpruh auf Beachtung und freundliche Gr: 
munterung erheben darf. ES ilt kaum mwohlgethan, wenn die 
Kritit in ſolchem Falle durch allzu fchneidige Strenge zugleich 
den Producenten abichredt und die Goncert-Inftitute, welche ohne— 
hin meist die Tendenz zu claffiicher Verfteinerung haben. Rhein: 
berger ilt ein ernſt ftrebender, gebildeter Künftler und eine 
namentlih im Contrapunkt tüchtig gefchulte Kraft. Gar Vieles 
in feiner »Mallenfteine- Symphonie berechtigt zu jchönen Hoff: 
nungen für feine weitere Laufbahn. In diefer Symphonie leidet 
fein Talent zunächſt durch den unausbleiblichen Conflict zwijchen 
den ſelbſtſtändigen Formgeſetzen reiner Inftrumentalmufit und 
den Anforderungen der beitimmten poetiichen Aufgabe Der 
Muſiker, der fi mit einem poetiihen Programme einläßt, 
erfährt nur zu bald, daß es ihm mit der linfen Hand eben: 


504 1868, 


foviel entzieht, ald es ihm mit der rechten gegeben. Der Iodende 
Vortheil ift augenfällig: ein Stück von dem bunten, theatra- 
liichen Realismus des Nheinberger’ihen »Scherzo« würde man 
in einer Symphonie jchwerlich gelten laffen, in einem » Wallen- 
ftein-Gemälde« läßt man e3 nicht blos gelten, jondern zeichnet 
ed vorzugsweiſe aus, weil der Titel »Wallenſtein's Lager und 
Kapuzinerpredigt«e darüber fteht und uns zu ber lebhaften 
Muſik fertige, beitimmte Bilder entgegenbringt. Dieſer Satz iſt 
der gelungenfte der Symphonie, er hat friſche, prägnante 
Themen, lebhaften Zug und fügt durd die Einführung des 
alten Soldatenliedes »Wilhelm von Nuffau« zu der glüdlichen 
Localfärbung auch noch eine hiftoriiche. Minder günftig waren 
dem Gomponiften die drei anderen Sätze; hier ftellt fih ihm 
der Nachtheil des poetifchen Programmes entgegen. Säge mit 
der Ueberſchrift »Mallenftein«, »Thekla«, »Wallenftein’® Tod« 
bedingen eine gewiſſe mufitaliihe Allgemeinheit, welde den 
Hörer bald zu verdrießen beginnt, wenn er darin nicht Directe 
Anknüpfungspunfte an jene Schiller’ihen Charaktere vor: 
findet. Der Componijt müht ſich abwechſelnd, mufifaliih unab— 
bängig und danı wieder dramatisch illuftrirend zu fchreiben, 
und geräth dadurh in eine Unen.jchiedenheit und rhapſodiſche 
Unruhe, welche weder der » Symphonie«, nocd dem »Wallenſtein« 
gedeihlih werden kann. So treten und im Finale jtarfe, muſi— 
kaliſch unerflärbare Gegenjäge entgegen, eingeſchobene Sätze 
von contraftirender Ton- und Taktart, Rhythmik und Inſtru— 
mentirung. Was habe ich mir da zu denken? fragt der Hörer 
unwillkürlich. Was bedeutet das? Da ihm Niemand antwortet, 
verliert er die Stimmung. Abgejehen von dem Verhältniß zum 
Programme, trifft die Symphonie zumächit der Vorwurf einer 
zu großen Länge aller Sätze. Ferner find die Motive mehr 
moſaikartig zuſammengeſetzt, als organisch aus fich heraus ent- 
widelt. Eine Reihe von Motiven löſt fih ab, um zu verlöfchen, 
ehe fich eines davon im Hörer feſtgeſetzt hat; man vermißt 
den Eindruck des Nothwendigen, Logiſchen. Dies und die muſi— 
faliihe Schwähe mancher Themen find die Mängel der 
»Mallenftein«- Symphonie. Es Fehlt ihr an Bollendung des 
fiinftlerifchen Baues, wenn auch keineswegs au glüdlichen Ein: 


Chopin's F-moll-Goncert. 505 


füllen, und fein gearbeiteten trefflih contrapunftirten Partien. 
Wie die Symphonie vorliegt, halten wir für eigentlich lebens— 
fühig daran nur das Scerzo, daß fih auch iſolirt als wirk— 
jame Goncertnunmer empfiehlt. Für vielveriprechend Halten 
wir jedoh das Talent des Componiften, der auf richtigerem 
Wege auch zu ſchönerem Ziele gelangen wird. 

Die »Phildarmonifhe Gejellichaft« führte uns in 
ihrem legten Concerte zwei Gäſte guten Namens vor: Die 
Bianiftin Fräulein Mehlig aus Stuttgart und die Hanno 
ver’ihe Kammerjängerin Fräulein Ubrich. Fräulein Anna 
Mehlig fpielte Chopin’® F-moll-Eoncert (op. 21) mit jehr 
günftigem Erfolg. In der That befigt die junge Dame eine 
üußerft elegante, fein und ficher ausgebildete Technik, die 
namentlich in behenden Paſſagen, Trillern und Verzierungen 
an Sauberkeit nichts zu wünſchen läßt. Ihr Anfchlag ift zart 
und fingend, wenn er auch felten den ganzen, vollen Ton aus 
dent Inftrumente zieht oder durch ftirmiiche Kraft imponirt. 
Mer das Chopin'ſche Concert genauer kennt, wird Fräulein 
Mehlig’s Leiftung nur um jo höher ſchätzen, denn die Com: 
pofition bürdet dem Spieler eine Maffe von Schwierigkeiten 
auf, welche der Hörer mitunter kaum bemerkt, geichtweige denn 
auszeichnet. Nicht fo rühmenswerth wie die brillante technifche 
Durchführung ſchien uns die geiftige Auffaffung und Interpre— 
tation des Stüdes. Ein Concert, ſei's auch ein Chopin'ſches, 
will anders gejpielt fein, als ein Notturno. Schon die Größe 
der Form und der Kımftmittel verlangt einen größeren ob: 
jectiveren Styl des Vortrages. Anftatt den lojen Zufanımen: 
hang dieſes lyriſchen Monologes ftraffer zufammenzuziehen, 
foderte ihn Fräulein Mehlig durch alles erdenkliche jentimen: 
tale und gepugte Detail. Es ging dur) den ganzen Vortrag 
ein Dehnen und Schmadten, welches die jpärliden und der 
Nachhilfe bedürftigen Fräftigen Stellen der Compofition nod) 
abſchwächte. Das erfte Allegro (vom Orcheſter in richtigem 
Tempo indroducirt) nahm Fräulein Mehlig ſofort zögernd 
und zerfloffen auf; deögleichen Tieß fie die energiichen Anhalts— 
punkte, welche das Finale durch mazurfasartige Rhythmen bietet, 
völlig unbenügt. Fräulein Mehlig darf fich rühmen, daß jehr 


506 1868. 


wenig Frauen ihr das Chopin’she Concert nachſpielen werden, 
aber ein Mann würde es anders fpielen. Die Compofition 
jelbft, anregend durch zahlreihe feine Details, zündete an 
feiner Stelle. Intereffant ift fie und ſchon durch die Perſön— 
lichkeit des Autors, die freilih im ungleihen Kampfe mit 
großen, ſymphoniſchen Formen ihre beite Eigenthümlichkeit 
einbüßt. Chopin ift eine Aeolsharfe, welche, von einem Lüft- 
chen berührt, die wunderbarften Klänge aushaucht, aber niemals 
hat ein beftändiger Wind fie angeweht. Dieſe zauberijch ver- 
Elingenden Mccorde, fie fügen fich zu feinem ftolzen Bau; aus 
al dem duftigen Nocturnen und Mazurfad erwädit feine Sym- 
phonie, feine Sonate. Das E-dur-Eoncert und die B-moll- 
Sonate, an Gehalt und formeller Geſchloſſenheit entichieden 
über dem F-moll-Goncert ftehend, verrathen dennoch fchon 
deutlih die Schwäche des im Kleinen jo mächtigen, im Großen 
aber hilflofen Troubadours. Sntereflant iſt uns daß F-moll- 
Concert ferner, indem es ganz vorzugsweiſe den ftarfen Ein: 
fluß Chopin’ auf Schumann verräth. Wie Chopin jelbit, 
fein Ahnherr Field und feine Nahfommen Henjelt, Stephen 
Heller und Kirchner, jo ſchien auh Schumann Anfangs 
jein originelles® Talent in fleinen Formen ausgeben zu wollen. 
Aber er blieb nicht wie Jene in dem engen Sauberfreije ge: 
bannt; ein kräftiger Durchbruch, und Schumann war mit feinen 
Symphonien, feinen QDuartetten aus der Reihe der großen 
Talente in jene der großen Meifter aufgeftiegen. — Minder 
glücklich als ihre Eollegin am Glavier war dad zweite Mäd— 
chen ans der Fremde, Fräulein Ubrich, mit dem nicht un: 
romantiihen Vornamen Aſsminde. Fräulein Ubrih hat eine 
weiche, namentlich in der Mittellage klangvolle Stimme, die 
fih aber monoton, phlegmatiih, auch um einige Distoniren 
unbefümmert, fortbewegt. Bon Goloratur — nad ihrem Rollen: 
fahe zu schließen, Fräulein UÜbrich's Hauptitärfe — befamen 
wir blos einen hübſchen, gleichen Triller zu hören. Als Lieder: 
jängerin verrietb Fräulein Ubrih einen auffallenden Mangel 
an Wärme und poetiicher Individualifirung. Welch bequeme 
MWohlbeleibtheit des Vortrages, die ſich mitten im Liede auf 
irgend eine Note niederjegt, um da beliebig auszuruhen! In 


Asminde Ubrich. — Beethoven's C-dur-Goncert. 507 


allen Vorträgen Fräulein UÜbrich's herrichte Kälte, ja ſchlimmer 
als dies: Schläfrigkeit. Und Schubert, Mendelsſohn, Schu— 
mann — das find dod, follte man glauben, muſikaliſche Weder 
von ziemlicher Kraft. Eine Arie des gefrönten Schäfer? 
Aminta aus Mozart's Feſtoper: »Il re pastore« eignete 
fih jedenfalls viel beſſer für die friedliche Bolitif der hanno— 
ver’ishen Sängerin. Der neunzehnjährige Mozart componirte 
diejes Feſtſpiel befanntlih für ein Hoffeft in Salzburz (1775), 
alio zu einer Zeit und unter Verhältnifien, welche das Ge- 
leiftete relativ bedeutend erfcheinen laſſen. An und für fi 
fann una aber diefe Mifchung von phyfiognomielofer Idealität 
und veraltetem Schmucwerf unmöglich erwärmen, weder in 
der Partitur no in dem Vortrage Fräulein Ubrich's. Bon 
AU. W. Schlegel haben wir längit den Begriff der »gefrorenen 
Muſik«; nun fernen wir aus eigener Wahrnehmung auch den 
gejungenen Schnee. 

Die legte Production der »Geſellſchaft der Mufikfrennde« 
begann mit Beethoven's erftem Clapier-Eoncert in C-dur 
(op. 15), das man nach vielen Jahren mit Necht wieder ein- 
mal in Grinnerung brachte. Freilich erjcheint hier Beethoven 
noch in jehr homdopatiiher Verdünnung, und das Concert 
jelbjt jteht jo weit von den fpäteren ab, wie die erite Sym— 
phonie von ihren acht Nachfolgerinnen. Aber das Eoncert und 
diefe Symphonie, fie waren doch eben die »erften« einer un: 
jterblihen Reihe und bilden ſchon aus diefem Grunde ein 
Kunſtvermächtniß, das feine mufifaliiche Stadt der Vergeſſen— 
heit überliefern darf, am wenigſten die Hauptitadt Dejterreichs, 
in welcher und für welche der junge Beethoven diejes Concert 
gleihfan als feine mufifaliihe Promotions Mufit geichrieben 
bat. Er fpielte es am 29. März 1795 in der Akademie der 
»Miener Tonkfünftler-Societät«; die erfte befannte Aufführung 
eines Beethoven’schen Concertes. In dem füßen, feelenvollen 
und Doch nicht meichlichen Adagio Elinat unverkennbar ſchon 
Zon und Stimmung mander jpäteren Beethoven’shen Adagio 
an. Der erite und legte Satz berühren uns heute, 73 Jahre 
nad jener erſten Aufführung, freilich nur ſchwach und mehr 
in einzelnen, von uns durch hiſtoriſche Neflerion (bewußt oder 


508 1868. 


unbewußt) verwertheten Zügen, als in ihrem Total-Eindrude. 
Man kennt die Zartheit und Noblejfe, mit welcher Herr Ep— 
jtein Mozart'ſche Compofitionen fpielt, und Dies Beethoven'ſche 
Concert ift beinahe eine. 

Das zweite Finale aus Cherubini's »Medeas« ift eine 
jtol3 aufgebaute, charaktervolle Compofition. Dad Scenifche, 
das diefes Finale auf der Bühne mit großem und bedeutjamen 
Prunke umgibt, ſchien indeffen dem Auditorium doch mehr, 
als man vermuthete, abzugeben, fo daß die Nummer nicht 
die gehoffte Wirkung machte. Als zweite Nummer hörten 
wir ein Violoncell-Concert, componirt und gejpielt von Herrn 
Davidoff aus Petersburg. Sein Ton ift groß und edel, 
fein Vortrag, im Andante von fchöner Weichheit und Breite, 
glänzt im Allegro durch virtuofe Bewältigung fehwieriger Paſ— 
jagen, namentlich in Octaven, Terzen- und Sertengängen. Das 
Nublicum würdigte Herrn Davidoff's Kunft durch wieder 
holten Hervorruf, nur bedauernd, daß fie nicht eine gehalt- 
vollere, originellere Gompofition zum Gegenjtand hatte. Ueberdies 
beichäftigt dieſes herzlich unintereffante Concert die Bravour des 
Spielers zu oft und anhaltend in den höchſten Lagen, wo 
das Violoncell bekanntlich für den Virtuoſen wie für den Hörer 
leicht gefährlich wird. 


Der Roſe Pilgerfabrt von Robert 
Schumann. 


Es iſt Herren Herbeck's Verdienft, diefes in Wien biöher 
nur bei Glavierbegleitung aufgeführte Werk zum erftenmale 
mit ganzem Orcheiter gebracht zu haben. Ein wahres Verdienst 
um die Compofition ſelbſt, welche in dieſer reicheren Geftalt 
weit lebhafter anſprach als je zuvor. Es verfchlägt nichts, daß 
Schumann urfprünglic jelbit nur eine Clavierbegleitung be— 
abjichtigte, Hat er doch bald das Ungenügende derjelben gefühlt 
und die Inſtrumentirung veröffentlicht. Ganz abgejehen von 
dem kräftigeren Total-Eindrud, gewannen mande auf beftimmte 


ae u EEE nn 


Ter Roſe Pilgerfahrt von Rob. Schumann. 509 


Orcheſterfarben wie von ſelbſt hinweiſende Nummern jett erft 
ihren eigentlihen Charakter und vollen, durch Inftrumentale 
Gegenſätze bedingten Effect. Wie ganz anders winken jeßt die 
Elfenhöre inmitten des feinen, gligernden Gejpinnftes der 
Geigen, und die Friedhoföfcene, getragen von dem ſchwer— 
müthigen Klang der tiefen Bläfer! Mer Hat fie nicht biöher 
fchmerzlich vermißt, die vier Maldhörner in dem Chore: »Bilt 
du im Mald gewandelt«e, und Trompeten und Baufen bei 
dem ländlichen Hochzeitsfeite? Der beitechende Eindrud der 
Inftrumentirung hat uns trogßdem nicht von unſerer urjprüng: 
lichen Meinung über ein Werk abzubringen vermodt, das als 
Ganze® uns von ſchwächlicher Erfindung und bedenklicher 
Richtung eriheint. Wir geftehen unjere Antipathie gegen das 
Gedicht, dieſes »Märchen« im Geſchmacke der jentimentalen 
Putlitz-Redwitz'ſchen Goldſchnitt-Poeſie, welche, unfähig, die 
echte, eigene Sprade der Natur zu entfeffeln, Hinter jeden 
Baum und jede Blume einen redenden Automaten ftedt. Die 
Heldin des Gedihtes ift eine Roſe, welche »Jungfrau werden 
wille, dabei aber ſchon als Roſe, vor der Verwandlung, alle 
menſchlichen Begriffe und Empfindungen hat. Diele verjungferte 
Roſe, niht Menſch, nicht Pflanze, eine ind Botanifche überfeßte 
»Peri«, bildet nun den Mittelpunkt des Ganzen und foll unfere 
tieffte menfhlihe Theilnahme erweden. Wer für diefe Art 
Poeſie ſchwärmt, dem empfehlen wir dazu noch den Anblick der 
Titelvignette, wo eine wohlgenährte Bauerndirne im Unterrod 
jhwerfälig aus einer Rieſen-Centifolie (Röschen«) fteigt, 
während von links ein fleiner Cupido Haufen von Blättern 
oder Bienen ihr entgegenbläft. Die eigentliche Abficht des 
Dichters iſt freilich eine zugleich praftifche: er ſchickt die Roſe 
auf eine »PBilgerihaft« aus, um fie in alle erdenklichen mu— 
fifaliich-dankbaren Verhältniſſe zu bringen. Das Kaleidojkop, 
das num ziemlich raſch vor unferem Blick gedreht wird, reicht 
bon der Wiege bis zum Grabe, oder auch vom Begräbniß bis 
zur Wiege. Das Schlimmfte tft, daß dieſe unnatürliche, gezierte 
Poefie mit ihrer bis zur Blumenſprache jublimirten Senti- 
mentalitätt Schumann's bereit3 etwas fraufhaftes Gemüth 
vollftändig gefangen nahm und nothwendig auch den Charakter 


510 1868. 


feiner Muſik beftimmte. Wenn wir einige anmuthigsfrifche 
Nummern herausnehmen, jo befinden wir uns in einer trüben 
Dämmerung, in einer Atmofphäre von entnervender MWeichlich- 
feit und Schwüle. Lange Streden hindurch ſammeln fich die 
Töne zu feiner feften Zeichnung, zu feiner plaftiichen Geftalt; 
die Umriffe fließen unbeftimmt ineinander. Wie in der »Peri«, 
jo ift auch in der »Roſe« (ihrem blaffen Abbild) leider das 
Recitativ verbannt, Died trefflihe Mittel, blos erzählende 
Stellen von den geichlofjenen Iyrifchen und dramatiichen Formen 
zu jondern und dadurd Beides zu heben. Wo (wie in der 
»Roſe«) das Necitativ als Arioſo behandelt wird und Die 
Arie recitativifh, da verſchwimmt Teicht beides in eine graue 
Monotonie. Die Nummern von geichlofiener, ftrophiicher Form, 
die liedmäßigen Stüde (Jägerchor, Hochzeitächor, Duett »von 
der Mühle« u. f. mw.) bilden deßhalb auch die Lichtjeite des 
Werkes, während alles Erzählende und Dramatifhe der plafti- 
ſchen Feltigfeit ermangelt, heimatlo3 zwifchen Epos und Drama 
ſchwankend. In der erjten Abtheilung ragt die ſtimmungsvolle, 
tteffinnig concipirte Friedhofsjcene gewaltig aus allem Webrigen 
hervor; die Perlen des ganzen Werkes finden ſich aber im 
zweiten Theile, wo der Glfene und Blumen-Myſticismus 
einem blühenderen, realen Leben Pla macht. Der einzelnen 
Schönheiten gibt e8 in diefem zweiten Theile fo viele, daß fie 
das ganze Werf vor der Vergänglichfeit wohl zu retten im 
Stande find oder wenigſtens fich felbft als felbftändige Muſik— 
ftüde daraud erretten werden. 

Bon der Hochzeit ab geht ſowohl die Geihichte ala die 
Mufit einem traurigen Ende zu. »Wie ein Jahr verronnen ift, 
jein Snöjplein zart, Schön Nöslein küßte. Diejes Kind (das 
alſo von väterlicher Seite Förfter, von mütterlicher Seite 
Blume ijt) beſchließt Röschen jammt dem Gatten wohlgemuth 
zu verlaffen, und zu den »Schweitern zurüdzufehren«, weil fie 
ja genoffen »der Erde Seligfeit«. Die Elfenkönigin beſchließt 
aber, die Roſe zum Lohn für jo edle Gefinnung nicht unter 
die Elfen, fondern unter die Engel zu reihen, welche denn 
auch, dieſer wunderlichen Hierarchie fich fügend, Roſa zu 
»höherem Licht« aufnehmen! — Muſikaliſch ift dieſer legte 


Feftconcert und Jubiläum des Wiener Männergeſang-Vereines. 511 


Abſchnitt des zweiten Theiles durchaus unbedeutend. Der poe— 
tiſche und muſikaliſche Fall des Werkes zum Schluß mag 
Schuld ſein, daß der Beifall des Publicums, der während der 
Aufführung ſehr lebhaft war, nach derſelben beinahe ver— 
ſtummte. 

Einen großen und nachhaltigen Total-Eindruck dürfte der 
»Roſe Pilgerfahrt« nirgends hervorbringen; zu raſch wird 
uns die Reihe bunter Bilder vorgeführt, welche ſehr loſe und 
überdies nur durch eine höchſt abgeſchmackte Märchenerfindung zu— 
ſammenhängen. Hätte doch Schumann, ſo vertraut mit den 
reinſten Klängen des menſchlichen Herzens, ein rein menſch— 
liches Idyll daraus gemacht! Das Leben eines Landmädchens, 
ohne die Maſchinerie des Wunders, hätte uns tiefer gerührt, als 
dieſe Fata Morgana der Mädchenroſe, welche in ihrer Doppel— 
natur und ihrem Ausgang eine beinahe humoriſtiſche Ver— 
wandtſchaft mit »Lohengrin« hat. Wenn man nicht den hohen 
Mapitab an die »Roſe« legt, welhen Schumann jelbit in 
feinen beiten Werfen ung an die Hand gibt, jo wird man fich 
des vielen arten und Anmuthigen darin allzeit erfreuen, ja, 
mehr als eine Nummer mit Entzüden genießen. Darüber wird 
man zeitweije vergefjen fönnen, wie jelten dies Werk in feinem 
Berlauf und zu einer freien, fräftigenden Stimmung erhebt. Die 
Aufführung verdiente alles Lob. Fräulein Helene Magnus für 
zarte, poetifche Aufgaben, wie Schumann’3 »Roſe« wie geichaffen, 
wußte durch fein nitancirten Vortrag und vortrefflihe Decla- 
mation zu erjegen, was ihrer Stimme an Kraft und Metall 
abgeht. Ihre pilgernde ⸗»Roſe« wirkte wie der janfte vor: 
nehme Duft einer Rosa thea. — 


Steftconcert und Jubiläum des Wiener 
Männergelang: Vereines. 


Der Wiener Männergejang:Berein beging (October 1868) 
die eier ſeines 25jährigen Beſtehens. Dieſe Feier, drei Tage 
umfafjend, manifejtirte fich in dreifacher Eigenſchaft: als geiſt— 


512 1868. 


liche (Stiftungsmefje in der Auguftinerfirche), als künſtleriſche 
(Adendeoncert im Redoutenfaal) und als gejellige (in der Feſt— 
fiedertafel). Sie ſchloß überdied mit einem ſchönen Act künſt— 
leriicher Pietät, mit der Grundfteinlegung zu Schubert’ 
Denfmal. Fünfundzwanzig Jahre! Ein langer Zeitraum für 
die Thätigfeit des Einzelnen, ein faum merflicher für die der 
Kunſtgeſchichte Manchem dünkt Diefe Spanne Zeit zu kurz, um 
ein pomphaftes Jubiläum zu rechtfertigen. Sonft feierte man 
Jubiläen nah 100 Jahren, wie ed bald der Tonkünſtler— 
Societät »Haydn« gegönnt fein wird, oder doch nad) 50 Jahren, 
wie 1862 die »Gejellihaft der Mufikfreunde« that. Wir find, 
offen geitanden, auch nicht eingenommen für die Furzen Ju— 
biläumd-Termine; fie haben zur Folge, Daß bei der großen 
Zahl von Hunftvereinen alle Augenblide ein Jubiläum jtatt- 
findet und die Gewohnheit den weihevollen Ernſt der Feit- 
ftimmung abſchwächt und entwerthet. Werth und Würde eines 
Jubiläums wachen mit der Zahl feiner Sahresringe, und Feite, 
die man der eigenen Genugthung gibt, müffen vor Allem felten 
fein. Nichtsdeſtoweniger fpricht manch’ gewichtiger Umftand zu 
Gunſten der ſchon jetzt, nah 25 Jahren, anberaumten Jubel: 
feier des Männergeſang-Vereins. Lebt unfere Zeit doch raicher, 
verzehrt fie doch ihre Kräfte fchonungslofer, ala die gemäch— 
(icher arbeitende Vergangenheit. Bon den Mitgliedern, welche 
den Verein vor einem Vierteljahrhundert aus der Taufe hoben 
und feine erften Schritte leiteten, find gar mandhe ſchon hin— 
übergegangen, und den Weberlebenden bleiht fih das Haar. 
Wir wollen nicht weitere 25 Jahre warten, die Zeit hat Eile 
und — wie Lenau mahnt — »unfere Gräber find ſchon un— 
geduldig«. Eine kunftgefhichtlihe Erwägung tritt obendrein zu 
diefer rein menjchlichen. Die Kunftgattung, welche der Wiener 
Verein jo rühmlich repräfentirt, der mehrjtimmige Männergejang, 
ift jelbft noch jungen Datums, ift ein Kind unſeres Jahrhun— 
derts, und die Stiftung der Liedertafeln und Männergeiang- 
Vereine reicht nicht weit über ein Menjchenalter. 

An Kränzen und Medaillen reich it der Verein aus 
diejer anftrengenten Feſtwoche mit neuen Ehren hervorgegangen. 
Bor Allem gab das Concert im Redoutenſaal vollauf zu 


Feftconcert und Jubiläum des Wiener Männergejangs Vereines, 513 


ſehen und zu hören. In der Zufammenftellung des Brogramma 
hatte man ed vorzugsweiſe auf Novitäten abgelehen, auf große 
und ftarfe Stüde von modernen Componiſten. Jede dieſer 
Novitäten fand ehrenvollen Beifall, wie es nicht anders zu er: 
warten war bei Werfen von namhaften Tondichtern, welche 
überdied durch perſönliches Mitwirken den Abend verichönten. 
Daß troßdem die Stimmung des Publicums dabei mehr 
rejpectvoll als begeiftert fich Eundgab, fonnte Niemandem ent— 
gehen. Der Gedanfe wurde hie und da laut, ob es nicht doch 
zwecdmäßiger, die allgemeine Begeilterung fürdernder geweſen 
wäre, das Feitconcert blos aus den jchönften Perlen des Ne: 
pertoires zufammenzufeßen. 

Die Literatur des Männergelanges ift befanntlih eine 
jehr junge und keineswegs reichhaltige. Die nmerbittlichen 
natürlihen Grenzen dieſer Muſikgattung (Beichränttheit der 
Stimmenbewegung, Monotonie des langes u. ſ. w.) ftellen 
fih einer weiteren bedeutenden Entfaltung ihrer Literatur 
entgegen. Haydn, Mozart, Beethoven — defjen Gefangenen: 
Chor in »Fidelio«, eine der früheften und mächtigiten Com— 
pofitionen diefer Gattung, von der Bühne untrennbar iſt — 
eriftiren nicht für die Männergefangd:Eoncerte Mir müſſen 
von Weber, Marſchner und Spohr datiren, die zuerit 
den bieritimmigen Männerhor im modernen Sinne wirkſam 
behandelten, leider nur in allzu wenigen jelbitändigen Com— 
pojitionen. Selbit als die Liedertafeln zur mufifalifchen Macht 
wurden, haben die großen Meifter nur jelten ſich ihnen zuge— 
wendet, wie man aus den Katalogen von Mendelsſohn's und 
Schumann’: Werken entnehmen fann, in welchen die reinen 
Männerhöre als etwas Ausnahmsweiſes gegen ihre zahlreichen 
gemischten Chöre zurücditehen. Hingegen ergoſſen fich bald die 
Mittelmäßigkeit und der Dilettantigmus in breiten Fluthen 
über dieſes leichte ımd dankbare Gebiet, die Verlegenheit eines 
ftreng fünftleriich vorgehenden Goncertleiterd eher mehrend ala 
bejeitigend. Herbeck hat durch Herborfuchen älterer Com— 
pofitionen, Aufnahme von Opernfragmenten, treffliches Arran— 
gement von Volksliedern, endlih durch feine Entdeckungen 
vergrabener Schubert’icher Sumelen mit ungemeinem Eifer 

Hanzlid. Aus dem Goncertiaal. 2, Aufl. 33 


514 1868. 


dafür gewirkt, die Concerte des Männergeſang-Vereines über 
das Niveau des blos Gejelligen und Gefälligen zu erheben. 
Er hat das reichfte und werthvollſte Nepertoire zu Stande 
gebracht, deſſen fih irgend ein Männergefang:VBerein rühmen 
fann. Troßdem wird neben und nad all diefen Anftrengungen, 
den Männergefang zu höchſten Zielen und jelbitändiger Kunſt— 
bedeutung emporzuziehen, derſelbe dod immer wieder mit 
eigener Schwerkraft in jene harmlofere Region zurüdfallen, die 
ihm von Haus aus behaglicher und natürlicher ift. Ja, natür— 
liher — denn Wefen und Wirkung des mehritimmigen Männer 
gefanges wurzeln tiefer in den begrenzten Formen einer edleren 
Geſelligkeit, als in der Deffentlichfeit des großen Eoncertjaales. 
"Ein unvergleihliches Element, ja ein jelbjtändiger Organismus 
als fünftleriichegejellige Thätigfeit, bleibt der Männergefang 
al3 reine Runftgattung immer nur ein Nebenzweig und Theil 
eines größeren Ganzen. Mit und neben dem gemiſchten Chore 
und als Beitandtheil großer chkliſcher Tondichtungen findet er 
feine vollgiltige, rein fünftlerifche Verwendung. Die Stimmen der 
Publiciftif haben, wie dies anläßlich einer Feſtfeier begreiflich, 
faft ausnahmslos den Ton enthufiaftiiher Gratulation feit- 
gehalten. Eine nachträgliche, beruhigtere Kritif wird deßhalb 
nicht griegrämig heißen dürfen, wenn fie die Thatſache er: 
wähnt, daß die unerfättlihde Schwärmerei für Männergejang2- 
Productionen, wie fie in den Vierziger-Jahren allenthalben 
herrichte, fih auf ein vernünftigere® Maß befänftigt hat. Iener 
entzüdte Cultus erfchien begreiflih zu einer Zeit und in einer 
Stadt, welchen der jcharfe, ſüße Zufammenklang von Männer 
jtimmen neu war und welche überdied der ungleich höheritehenden 
Gattung de8 gemischten Chores noch feine Aufmerkjamfeit 
ſchenkten. Im Charakter der gegenwärtigen Runftperiode liegt es 
nicht, dem Männergefang eine noch höhere jelbftitändige Geltung 
im Goncertjaale zu vindiciren, fondern im Gegentheile ihn allmälig 
wieder mehr feiner Heimat, dem engeren Sreije einer poetifchen 
Sejelligkeit zu überlaffen und als ein Ganzes nicht zu über: 
Ihägen, was in echter Kunſt immer nur ein Theil fein fann. 

Herbed hat den feitlichen Anlaß nahdrüdlich für die 
Bereicherung ſeines Repertoirs benüßt, indem er nit blos 


Feftconcert und Jubiläum des Wiener Männergeſang-Vereines. 515 


nah neuen Gompofitionen fjuchte, ſondern folche pofitiv her: 
borrief. E3 wurden — weislich mit Ausſchließung jeder Breis- 
coneurrenz — Nopitäten bei verichiedenen namhaften Ton: 
dichtern eigens beitelt. Man Hat zunächſt von deutichen 
Meiftern F. Lachner, Eier, Wagner und Liſzt anges, 
gangen. Letzteren kann man gewiß ebenfo gut als Deutschen 
nehmen wie als Ungarn, Franzofen u. ſ. w. Liſzt ift von 
überall ber, ungefähr wie feine Muſik. Nicht To gefällig wie 
Liſzt Hat ſich Richard Wagner erwiejen, twelder in einem 
ſtark inftrumentirten Schreibebrief ablehnte und dieſe Ab- 
lehnung mit der feindieligen Stimmung der Wiener Kritif 
motivirte. Wie mag es ſich doch reimen, daß gerade Kiünfiler, 
die nur für die »Idee« und die »IUnfterblichkeit« arbeiten, fo 
empfindlich gegen den möglihen Widerſpruch einiger Kritiker 
find? Wagner Hat fih damit wahrfcheinlich jelbit um einen 
Erfolg gebracht, denn er ift ein Meijter des Effects und das 
Wiener Publicum befanntlich jehr eingenommen für feine Mufik. 
Daß die Wiener ihn »verftehen«e, hat der Meifter auch wieder— 
holt bier außgeiprochen, jedesmal wenn ihm eine Ovation 
gebracht wurde. Der Männergejang-Berein hat fih ferner aud) 
an Berlioz uud Gounod in Paris gewendet, welche jedoch 
danfend ſich entichuldigten. Wielleicht fühlten fie richtiger mit 
diefer Ablehnung, als der Verein, indem er fie zur Concurrenz 
aufforderte. Berlioz und Gounod find berühmte Namen und 
geiftvolle Componiſten, aber als franzöfiihe Componiften 
haben fie mil der eminent deutichen Gattung des mehritimmigen 
Männergefanges nichts zu Schaffen. Tondichter nichtdeuticher 
Zunge find bei einem deutichen Liedertafelfeft mufifalifch fremde 
Säfte. Ueberdies zählen Berlioz und Gounod, auch abgejehen 
von dem nationalen Moment, in der Literatur des Männer: 
gefangs überhaupt nicht mit, fie haben ihren Auf nicht durch 
Männerchöre erlangt, wenn fie auch Kleine Stücdchen davon in 
großen Werken ſporadiſch anbrachten, ungefähr wie man ein 
Geigenfolo in einer Oper anbringt, ohne deshalb zu den eigent- 
lihen Biolin-Componiften gezählt zu fein. Weit eher hätte von 
franzöfifhen Tondichtern Felicien David, der Gomponift der 
»Wüſte« Anjpruch auf die cehrenvolle Ginladung eines Männer: 
33% 


516 1868. 


chor-Vereines gehabt. Näher jedoch als irgend ein Franzoſe 
wären Hiller, ARubinftein, Brahms, Volkmann dem 
Vereine geftanden, von öſterreichiſchen Componiften älteren und 
jüngeren Namens nicht zu fprechen, welche ihr Talent in dieſem 
‚Sache bereit3 erprobt haben. 

Unter den Gomponilten, welche dem Vereine ein Feſt— 
angebinde fendeten, ift Liſzt mit feinem »18. Pfalm« am 
wenigften glüdlich gewejen. Die Anlage ded Stüdes ift jehr 
einfach, der Chor fingt die größere Hälfte der Compofition 
hindurch blos unisono. Der Charakter des Ganzen wird dadurch 
ein vorwiegend rhetorifcher, erit gegen dad Ende Hin nimmt 
er mufifaliihe Fülle und Hommenartigen Schwung an, aller: 
ding3 unter betäubenditer Mitwirkung von dröhnenden Bofaunen- 
und Baufenwirbel. Außer diefen materiellen ſoll der ſpiri— 
tualiftiihe Effect unvermittelter Dreiflangfolgen dem etwas 
mageren $deengehalte aufhelfen — als »Paleſtrina des 19. Jahr: 
hundert3« (wie Papſt Pius ihn gerne nannte) gefällt fih Lilzt 
natürlich in Dreiflang-Fortichreitungen, wie A-dur, G-dur, C-dur, 
B-dur; fogar Es-dur, F-dur, G-moll, A-dur, Des-dur in einer 
Reihe! Der »Pſalm« ift übrigen nicht lang und fchließt mit 
blendendem Pomp. Ungleih mehr Anklang fand der neue Chor 
von Franz Lachner: »Abendfriede«. Der verehrte Veteran, 
bei jeinem Erjcheinen mit ftürmifchen Beifall begrüßt, dirigirte 
die klar und maßvoll aufgebaute, ſchönklingende, mit techniſcher 
Meifterichaft ausgeführte Compofition, die in einem Satze un: 
unterbrochen dahinfließt. Die Wahl des Lenau'ſchen Gedichtes 
it, ganz abgejehen von dem jchwierigen Metrum, der Com: 
pofition nicht günftig. Zu kurz für einen außgedehnteren Chor, 
veranlaßt jie jehr viele Wortwiederholungen, welche (wie das 
oft repetirte: »lächelt die Holde«) ermüdend wirken. Die ge— 
fünftelte Empfindung des Gedichtes — es feiert den Abend 
al3 »ein jchlummernd Kind in Vater Armen, der voll Liebe 
zu ihm fich neigt«e — mag überdies etwas erfältend auf Die 
Stimmung des Componiften gewirkt haben. Auch Goethe’3 
tieffinniger »Gefang Mahomed’3«, den fih Eſſer zur Com: 
pofition gewählt, jcheint und — vielleiht verlodend für den 
eriten Augenblidt — im Grunde bedenklich für mufifalifche 


Fefteoncert und Jubiläum des Wiener Männergeſang-Vereines. 517 


Behandlung. Das Symboliſche, das dem Gedichte zu Grunde 
liegt, findet in der Mufik feinen Ausdrud; diefe muß fih an 
da Neußerlihe halten, an die Schilderung des Baches, der 
fh zum Fluß außbreitet, in welchen raufhend alle Quellen 
von den Höhen hinabjtürzen u. ſ. f. Eſſer hat diefe unaus— 
weihlihe Tonmaleri nicht nur mit glänzendem Effect, fondern 
in grandiofem, alles Stleinlihe verichmähenden Styl ausge— 
führt. Gin männliher Ernft und meifterhafte Bewältigung 
der Technik zeichnen die umfangreihe Compofition aus, der 
wir nur eine Jparfamere Verwendung der den Gefang Schonung? 
los überfluthenden Orcheftermittel gewünſcht hätten. Eſſers 
Chor iſt eine der fchwierigften und anftrengendften Aufgaben; 
unfer Männergeſang-Verein hat fie ruhmvoll beitanden. Der 
neue Chor, melden Herbed geipendet (»MWaldicene«), bewegt 
fih gleihfalla. in den breiteften Dimenfionen und nimmt alle 
Kräfte des Orcheſters in ausgedehntefter Weile zu Hilfe Man 
fönnte dieſe »Waldſcene« eine Miniatur-Oper nennen; ihr 
Vorſpiel wählt beinahe zur Ouvertüre, ihre Ritornell3 zu 
kleinen Zwifchenacten. Es waltet viel Romantik und ein un 
gewöhnlicher Klangzauber in diefer Compofition, namentlich in 
dem ftimmungsvollen Vorfpiel. Die Inftrumentirung, mit Ber: 
lioz'ſcher Runft, mitunter auh mit Berlioz'ſchem Kaffine- 
ment ausgeführt, entrollt einen Reichthum von Farben und 
Beleuchtungsarten, für die Wirkung des Ganzen wohl einen zu 
großen Reihthum. Wie alle jpeciell geiltreihen Componiften 
verweilt Herbed mit Vorliebe bei dem Detail, häuft einen cha= 
rafterifirenden feinen Zug auf den andern und malt die ⸗Stim— 
mung« jorgjam mit jo vielen und verichiedenartigen Mitteln aus, 
daß das Ganze unruhig wird und blendet, anftatt zu leuchten. 

Alle bisher genannten GCompofitionen (am wenigſten noch 
die Lachner'ſche) ſuchten die Wirkung . des Männerchor in 
breiter, grandiofer Entfaltung bei anftrengender Mitwirkung 
des Orcheſters. Derlei große, complicirte Aufgaben erproben 
die Kunſt des Tondichters; die Wirkung des Männergejanges 
neigt fih aber gern mit bejonderer Gunſt zum Einfachen und 
Kleinen. Zum erſtenmal fam an diefem Abend ein » Winzer: 
hor« aus Mendelsſohn's unvollendeter Oper »Loreley« 


518 1868. 


zur Aufführung, der auf der Bühne jelbit jedenfalld noch beſſer 
wirfen mag. Ein einfaches Chorlied (zwei Strophen) mit ſchal— 
meiartig brummender Begleitung, friih und munter, in den 
Schlußacten furz und fräftig fih aufſchwingend. Noch eine 
andere unvollendete Oper fpendete ihren Beitrag zu dem Felt: 
concerte: »Der Graf von Gleidhen«e Schubert componirte 
fie im Sahre 1827 auf einen Text, welchem der geijtreiche 
Berfafler, Bauernfeld, feinen Ruhm gewiß nicht verdantt. 
Bon Schubert’3 Compofitionen ift ein Anzahl flüchtiger Skizzen, 
weldhe blos die Singitimmen, den Grundbaß und einige Be: 
gleitungöfiguren, aber feine Andeutung der Inſtrumentation 
enthalten, in Herbeck's Beſitz, alſo an den rechten Dann ge— 
fommen. Herbed hat zwei Nummern daraus inftrumtentirt 
und in dem Feitconcerte zur Aufführung gebradt. Es waren 
von allen vorgetragenen Gejangsftüden die einfachiten, ans 
ipruchlofeften, und doch die genialften, am unmittelbarften 
ergreifenden. Kann man mit den befcheideniten Mitteln in der 
fnappiten Form etwas Zarteres, Wärmeres hervorbringen, als 
diefe Ariette Suleifa’s, und vollends das Quintett Sulei- 
fa’3, ded Sultans und der drei Freier? Wir zählen Ießteres 
zu den jchönften Gejängen Schubert. Nur die jcenifche, alſo 
im Goncertiaale jchwerer faßliche Bedeutung dieſes auf einen 
größeren Zufammenhang hinweiſenden Stücdes, das obendrein 
mehr verklingt als eigentlich abichließt, mag e3 einigermaßen 
erklären, daß der Beifall des Publicums durchaus nicht im 
Berhältniß zu dem MWerthe diefer Muſik ftand. 

Auch die beiden Schubert’ihen Chöre: »Rüdiger's 
Heimkehr« und »Sehnfuht«e fand Hofcapellmeifter Herbed 
unter einem Wuſt unbeachteter Skizzen und Papierſchnitzel aus 
Schubert 3 Nachlaß. Mit dem Finden allein war die Arbeit 
aber keineswegs abgethan. Das und vorliegende Original: 
Manufeript von Schubert's »Rüdiger« (vom Jahre 1823) 
enthält 3. B. den Geſang vollitändig, die Inftrumentirung 
aber nur auf der eriten Seite, mit Ausnahme einiger ſpäter 
angedeuteten Eintritte der Bläfer; Herbed mußte demnach aus 
der Phyfiognomie diefer eriten Seite die ganze Orcheſterpartie 
gleichjam errathen und hHerausconftruiren. Nah Schubert’s 


Quärtettproditctionen. 519 


Ueberſchrift des Stüdes: »Introduction Nr. 1. Rüdiger, 
Ritter und Reiſige«, ſollte dasjelbe offenbar die Einleitungs- 
fcene einer Oper bilden. Welches Libretto ihm vorlag und ob 
er mehr davon componirt habe, können toir nicht einmal mit 
Bermuthungen beantworten. Der einleitende Männerchor: »Auf 
der Weichjel Silberwogen«, klingt friſch und tüchtig, wenn: 
gleich nicht bedeutend; meiterhin befommt der Weichſelchor 
einen Zopf, nämlich das in ziemlich verblichenem Theaterſtyl 
jich ergebende Tenorjolo, nad) welchem die Chorftrophe wieder 
fräftig abichließt. Der zweite Schubert:Chor (fünfſtimmig): 
Nur wer die Sehnſucht fennt«, beginnt mit einem warmen, 
ftimmung3vollen Thema, das nad einem weniger dharakterifti- 
ſchen Mittelfag wiederkehrt, jchließlih eiwas zu oft die Ans 
fangsworte wiederholend. 

Zwei Chöre von R. Schumann (au op. 33) waren 
bon geringer Bedeutung; um dieſe »Lotosblume« und den 
»Träumenden See« zu jchreiben, bedurfte es keines Schumann. 
Nah Dihtung und Mufit gehören beide Chöre überdies zu 
jener Gattung zitternder Senfitiven-Lyrif, die aus dem Mund 
von 160 bärtigen Männern ftet3 unnatürlich Klingt. Die drei 
umfangreicheren Chöre mit großem Orcheſter: »Der Morgen«, 
von Rubinftein, »Salamis«, von Mar Bruch, und »Wächter— 
lied«, von F. Gernsheim, kann man beinahe mit derjelben 
Charakteriſtik erledigen: breite Anlage, fleißiges Detail, größtes 
Aufgebot von Orcelter- und Stimm:Effecten und in alldem 
doch ein geringer mufifaliicher Kerı. Alle drei Componiſten — 
von denen Gernöheim an dritter Stelle jteht — breiten eine 
viel zır lange und reiche Dede über ihre furze Erfindung. Das 
Publicum, von diefen anſpruchsvollen Arbeiten innerlich unbe: 
rührt, verfagte ihnen übrigens nicht die äußeren Zeichen der 
»Achtung«. 


Quartettproöuctionen. 


Held des Tages iſt gegenwärtig der »Florentiner 
Duartettverein« beftehend aus den Herren Jean Beder, 
Maſi, Ehioftri ımd Hilpert. Florenz übt dad Recht der 


520 1868. 


Taufe eigentlih) nur al die Stätte der erften Vereinigung 
Diejer vier Muſiker. Das Weſentlichſte: höchſte und tiefite 
Stimme, alfjo Kopf und Fuß des Quartetts, iſt deutſch: 
Beder au Mannheim, Hilpert aus Nürnberg. Den beiden 
Stalienern in der Mitte gebührt daS nicht geringe Ver— 
dient vollftändiger Aſſimilirung. Am Morgen nah der 
eriten, ſchwach bejuchten Production des Beder’ihen Ouar— 
tett3 zeigte fih in allen Wiener Blättern eine jo erfreu= 
lihe Uebereinſtimmung bezüglih der MWortrefflichkeit dieſer 
Leiftungen, daß die zweite und dritte Soirée bei gedrängt 
vollem Saale ftattfanden. Und wahrlid, ein jo volllommener 
Mufifgenuß zählt zu den feltenen Feiten. Was da Floren= 
tiner Quartett auch immer vortrage, es iſt in den reinen. 
goldenen Strom der Schönheit getaudt. Zunächſt frappirt den 
Hörer der Zauber des MWohllautes, die »materielle«e Schönheit 
ded Tones möchten wir jagen, beitände fie nicht gerade in Dem 
gänzlichen Abftreifen alles Materiellen. Wir hören den reinen, 
abjolut ſchönen Ton, ohne an feinen Entjtehungsjammer durch 
Roßhaar, Holz und Darmfaiten gemahnt zu werden. »Klang— 
Schönheit! Iſt denn das gar fo viel? Verſteht ſich die nicht 
von jelbit ?« hören wir mitunter fragen. Dan follte es glauben, 
und Doch iſt diefer Vorzug bei einem Saitenquartett nicht viel 
häufiger, ald die VBollfommenheit der Stimme und Intonation 
beim Sänger. Vorerſt befigen die vier Künſtler wunderſchöne 
Stimmen, und zwar aus den geheimnißvollen Werkftätten von 
Joſeph Guarneri, Amati und Maggini; jodann veritehen 
fie aber auch zu fingen. Der Zuſammenklang diejer vier In— 
jtrumente, der im leijeften Geflüfter wie im Sturme des For— 
tiffimo wie aus einem Bogen quillt, hat etwas Zauberhaites. 
Man denke dabei nicht an irgend ein kokettes Raffinement; 
wir hören durchweg einen reifen, gefunden, männlichen Ton, 
einen reifen, gefunden, männlichen Vortrag. Die »Florentiner« 
liefern den beiten Beweis — und man hält ihn leider nod 
hie und da für nothwendig — daß man mit Geift und Em: 
pfindung vortragen fönne, ohne jemals zu jcharren oder zu 
winjeln. Wie für ihre Tonbildung das erite Princip Schön: 
heit ift, jo für ihren Vortrag Klarheit. Beethoven's legte 


Das Florentiner-Duartett. 521 


Duartette find und niemal® jo durdfichtig und verftändlich 
entgegengetreten wie in der Beder’ihen Ausführung. Das ver: 
wirrende Geflecht diefer Bolyphonie, das unbequeme Duntel 
diefer oft Jabyrinthifchen Weriodifirung und Rhythmik, bier 
ericheinen fie wie von mildem Sonnenlicht durchleuchtet. Durch 
ein Studium und Zufammenüben von wahrhaft aufopfernden 
Fleiße haben die vier Künstler fich dieſe jchwierigen Compofi- 
tionen jo vollfommen zu eigen gemacht, daß ftet3 an rechter 
Stelle diefe oder jene Stimme, ˖dieſes oder jened Motiv her: 
bortritt und das Zufammenfpiel Aller mit der Empfindlichkeit 
einer Goldwage arbeitet. Es verſteht fich, daß wir die demo: 
fratiiche Gleichberechtigung der vier Spieler, von denen feiner 
fih ungebührlih vordrängt oder fich demüthig verfriecht, ala 
Gardinaltugend ſchätzen. Am fchwerften mag fie dem Primgeiger, 
Herrn Beder, gefallen jein, welcher (ein Schüler von Alard und 
Ernſt und bedeutender Birtuofe) feine arriere als Eoncert- 
jpieler mit ſtarker Hinneigung zum Bravourfpiel begonnen 
hatte. Er hat es rühmlich erreicht, fi im ntereffe des Ganzen 
zu verleugnen, unterzuordnen. Trotz diefer Gleichheit liegt es 
in der Natur des Quartett, daß die erite Violine und das 
Gello fih am meilten geltend maden: Sean Beder und Hil- 
pert find auch die bedeutendften unter den vier Collegen. 

Am dritten Abend trugen drei Eleinere Nummern bei: 
nahe den Preis davon. Zuerft eine Serenade von Haydn, aus 
einem feiner früheiten Quartette (G-dur ?/,) gezogen, ein zärt- 
fiher Gejang der Violine, durchgehend von den drei tieferen 
Snftrumenten pizzicato begleitet. Died Pizzicato, dad mand): 
mal wie der leilefte Guitarrenton klang, war bewunderungs— 
würdig im Tone wie in der feinen Anjchmiegung an den 
Gejang. Das liebenswürdige, hier ganz unbefannte Stüd mußte 
wiederholt werden und darf in einer der nächſten Broductionen 
nicht fehlen. Es folgt ein Scherzo von Cherubini (au dem 
Es-dur-Quartett Nr. 2), worin der in feinen Quartetten an 
Haydn anknüpfende Altmeifter wahrhaft prophetiih auf Men: 
delsjfohn hHinübergreift. Endlih erregte eine Biolinjonate 
von Ruft, von Herrn Beder virtuos vorgetragen, großes 
Interreſſe. Friedrih Wilhelm Ruft (geboren 1739 in Wörlig, 


522 1868. 


+ 1796 in Deſſau) war als Biolinfpieler ein Schüler Franz 
Benda’s, ald Componift von mehr als vierzig Clavier- und 
ebenfoviel Biolin-Sonaten eine Art modernifirter, mitunter auch 
verzopfter Sebaltian Bad. Die von Beder vorgetragene 
(zweiägige) Sonate, ein ernites, tüchtiges Stüd, iſt merk— 
würdig durch ihre vorgejchrittene Violintechnik. Es kommen 
Tlageoletftellen und Bizzicato-Begleitungen mit der linken Hand 
vor, die wir bei S. Bad und manchem jeiner Nadhfolger noch 
nicht antreffen — faſt Ichöpften wir Zweifel, wüßten wir nicht, 
daß Beder die Sonate ohne Zuthat, genau nad) dem Origi— 
tale ipielt. Die Aufnahme des Florentiner Quartett? von Seite 
de3 Publicums war geradezu enthuftaftiih. Und nichts als 
2ob? wird mander Leſer fragen. Wo bleibt der Tadel, ohne 
welchen eine ordentliche Kritik fich nicht wohl ſehen laffen kann? 
Auf die Gefahr Hin, den Tadel auf uns jelbit zu lenken — 
wir haben feinen für das Beder’ihe Duartett. Daß wir ein 
Tempo um einen Gedanken fchneller oder langſamer gewünjcht, 
irgend einen Ginfag oder lebergang ein bischen anders uns 
gedacht haben — was will da3 jagen gegen den reinen, hohen 
Genuß, den die Kunitvollendung dieſes Quartett8 und Durch 
drei Abende gewährt hat? Wir wollen auch gerne einräumen, 
daß unter Joachim's Bogen mande Beethoven'ſche Stelle 
ergreifender, pathetiicher flang, bei Hellmesberger irgend 
welche elegante Phraſe noch zierlicher und verbindlicher lautete. 
Da3 Beder’ihe Quartett bleibt troßdem das vollfommenfte, 
da3 wir gehört, und das legte, dem wir entjagen möchten. 
Wenn dem Florentiner Quartett vielleicht eine äſthetiſche Ge: 
fahr droht, jo liegt fie in dem möglichen Webertreiben feines 
größten Vorzuges: der formalen Schönheit. In der Natur 
dieſes Princips liegt e8, daß es ſich leicht ijolirt, verengt und 
der Schönheit zuliebe die harakteriftiichen Gegenfäge abſchwächt, 
die Leidenſchaft zähmt, ja die koſtbarſten Diamantjpigen der 
Genialität abichleift. Bis jet bemerften wir höchitens leiſe 
Andeutungen dazu, die zu feinem Tadel berechtigen, aber 
vielleicht zu einem freundichaftlichen Yingerzeig. 

Indem dieſe vier Künftler fih ausichlieglih den Quarz: 
tettipiel widmen, feit einigen Jahren mit erftaunlichem Fleiß 


Quartett von Volkmann. 523 


tagtäglih zufammen jpielend, hat -ihr Vortrag eine technifche 
Sicherheit nnd ruhige Continuität erlangt, wie fie gewöhnlich 
nur älteren Künjtlern eigen ift. Anderſeits befigen fie aber 
al3 junge Leute jene Wärme und frifhe Sinnlichkeit, welche 
vor Pedanterie und Formalismus bewahrt. Wir haben Com— 
pofitionen der verfchiedeniten Meilter und von verjchiedeniter 
Stylgattung von ihnen gleich trefflich interpretiren hören. Wer 
das Bederihe Quartett mit andern vergleichen will, wird 
bilfigerweife die jchwierigeren Verhältniffe diefer andern Quar— 
tettipielevr hervorheben, welche durch regelmäßigen Theater-, 
Concert: und Kirchendienft angeftrengt, unmöglih mit jo 
fleißigen und frifchen Kräften täglich üben fünnen; er wird 
dergeftalt theilweije zu erklären juchen, warum fie die Meiſter— 
ſchaft des Becker'ſchen Quartett nicht erreihen. Wenn aber 
der Localpatriotismus jo weit geht, das leßtere Factum über: 
haupt zu leugnen und zu behaupten, wir hätten, was Beder 
und feine Genofjen Ieiften, längſt ebenjo gut und befjer zu 
Haufe, dann jchlägt die »Gerechtigfeit« für das Gute in crafie 
Ungerechtigkeit gegen da Beſſere und Belle über. Dad Wiener 
Publicum Hat bei aller Pietät für das Einheimiſche fi von 
joldem mufifaliihen Chauvinismus freigehalten, der wahrlich 
feinem Theil zum Nußen gedeiht. — 

In Herrn Hellmesberger’3 Quartett-Soirée fam ein 
neues Streichquartett von Volkmann in Es-dur zur Auffüh- 
rung. Wie alle Compofitionen dieſes Tondichterd, athmet das— 
ielbe einen erniten, felbitändigen Geift, welcher den Hörer in— 
terejfirt und zum Nachdenken zwingt. Was wir zumeift an ihm 
vermiffen, iſt finnliche Friiche und frei pulfirendes Leben. Er 
neigt zur Grübelei, zu einen gewiſſen grämlichen Myſticismus, 
für welchen das mufifalifche junge Deutfchland in dem jpäteren 
Beethoven nur zu viele Anfnüpfungspunkte fand. An Klarheit 
und Logik läßt dad neue Quartett kaum etwas zu winjchen, 
aber der Duell der Erfindung fließt etwas jpärlich und inter: 
mittirend. Der erite Sat hat bei durchaus männlicher Haltung 
nicht genug Schwerkraft der Themen; bei jo geringem Einſatze 
it im Spiel kaum viel zu gewinnen. Dasjelbe gilt von dem 
langen, Grau in Grau gemalten Adagio. Intereſſant iſt das 


524 1868. 


Scherzo, als die confequentefte und klarſte Durdhführung des 
Fünfvierteltaftes, die wir biöher fennen. Ein geiltreihes Er: 
periment, aber von zweifelhafter Wirkung; das Ohr des um: 
vorbereiteten Hörer3 wird nur zu oft ärgerlich nad dem ihm 
fehlenden ſechſten Achtel haſchen, anftatt befriedigt zu cone 
ftatiren, daß der Takt ſchon mit dem fünften abſchließt. Das 
Finale erreicht durch feine rafche Triolenfluht die meifte Le- 
bendigfeit. Volkmann's Duartett ſprach an, ohne jedod einen 
tieferen Eindruck zu Hinterlaffen. Wir hörten ferner Beet: 
hoven's Es-dur-Trio op. 3. Ein größerer Gegenjaß zu Der 
am jelben Tage vorgeführten Sonate op. 111 läßt ih faum 
denken. Wir haben nicht? gegen die Wahl des Trios zu be: 
merken, das lange nicht gehört und äußerſt geihmadvoll ge— 
jpielt wurde. Allein eigenthümlich harmlos klingt dies tonjelig 
mweitichweifige Stüd heutzutage doch ſchon. In feinem aus fechs 
Sätzen aufgeführten Bau an die ältere Serenadenform Iehnend, 
im Ausdruck faft völlig mit Haydn und Mozart identiich, Täßt 
dies Streichtrio faum begreifen, daß es nur durch drei bis 
bier Jahre von den Duartetten op. 18 geichieden it. Welch 
ein Rieſenſchritt liegt zwiſchen dieſen beiden, noch in dieſelbe 
Periode Beethoven’3 fallenden Werken; welch noch gewaltigerer 
Abſtand zwiſchen diefer und der zweiten, zwilchen der zweiten 
und dritten Periode! Man hat Sebaftian Bad häufig »eine 
Melt für fih« genannt, und mit Recht. In einem vielleicht 
noch größeren Sinn fann man dies Wort auf Beethoven ans 
wenden. Wenn Bach eine unermeßlid) reiche, aber feit be— 
grenzte, unmwandelbar fertige Welt des Beharrens daritellt, jo 
haben wir in Beethoven’ incommenfurablen und doch jo or— 
ganiſchen Entwidlungen und Neubildungen eine wahrhafte Welt 
des Werdens. 


Virtuoſenconcerte. 


Der feine, verſtändnißvolle Liedervortrag der Sängerin 
Helene Magnus errang großen Erfolg in einem Concerte, 
deſſen Programm eigenthümliche Schwierigkeiten darbot. Die 


Helene Magnus, Frl. Mehlig, Zarzycki. 525 


ganze »Dichterliebe« von Schumann durchzuſingen, ift ein 
verlodendes Erperiment; e8 war ein gelungenes, wie die Auf: 
nahme zeigte, dennoch möchten mir es nicht gerade gutheißen. 
Eigenartig, fein und geiftvoll, wie fie ift, webt die Muſik dieſes 
Liederfreijes doch in einem zu dämmerigen, gebrochenen Lichte, 
um nicht als Ganzes ſchließlich etwas abzuftumpfen. Seine 
Kothwendigkeit, nicht einmal eine ftarfe innere Nöthiqung 
zwingt uns aber, dieje 15 Lieder ala ein Ganzes aufzufaffen 
und vorzutragen. Sie hängen nicht durch den Faden erzählen: 
den oder piychologiichen Fortichreitens feſt aneinander, wie die 
»Schöne Müllerine oder »Die Winterreife«e von Schubert, 
»Frauenliebe und-Leben« von Shumann, EChflen, die Schon vom 
Dichter ald ein Ganzes, eine Einheit concipirt waren. Heine 
hat an einen angeblihen Cyklus »Dichterliebe« nicht gedadit; 
wa3 Schumann jo nennt, ift eine von ihm beliebig getroffene 
Auswahl aus dem »Buch der Lieder«e, welcher er den Ges 
jammttitel »Dichterliebe« gab, wie einer ähnlichen Lieber: 
jammlung (op. 25) den Namen »Myrthen«. Zwiſchen dei ein- 
zelmen Liedern der »Dichterliebe« herrſcht ein nothwendiger 
Zufammenhang weder poetifch noch muſikaliſch, wie denn der 
GComponift zwar manchmal zwei aufeinanderfolgende Lieder 
duch verwandte Tonarten einander nähert, aber noch öfter 
dur ganz entfernte fie von einander trennt (3. B. gleich an- 
fangs Nr. 2 und 3, 4 und 5, 5 und 6 u. ſ. w.). Selbit 
Cyklen wie die »Müllerliedere, welche den doppelten Wortheil 
eines ftrengeren Zuſammenhanges mit einer reicheren muſi— 
kaliſchen Abwechslung befigen, bilden trogdem jchon für zus 
jammenhängenden Vortrag eine jchwierige Aufgabe. Sie voll- 
ftändig zu löſen, wird nicht jedem trefflichen Liederlänger 
gelingen, jondern nur den wenigen daraus, die, wie Stod- 
haufen über einen reichen Wechſel von Stimmungs- und 
Ausdrudsfchattirung verfügen. Fräulein Dragnus hat einige jehr 
ausdrudsvolle, überzeugende Farben auf ihrer Palette, aber fie 
hat deren nur eine ſehr fleine Zahl. Da wird die Gefahr des 
Cyklusſingens ſchon größer. Nun fam aber noch dazu, daß 
Fräulein Magnus nah den 13 »Dichter-Liebesliedern« noch 
drei andere Lieder, abermal? von Schumann, jang und da- 


526 1868. 


zwiihen Herr Brüll Slavierftüde, ebenfalld von Schumann, 
vortrug. Das iſt etwas zu viel ded Guten und ſei es felbit 
vom Beiten. 

Screiten wir weiter in dem dichten, vor Bäumen faum 
mehr fichtbaren Mufitwald der letzten Woche. Von concertiren: 
den Birtuofen ift vornehmlich Fräulein Mehlig zu nennen. 
Die Künftlerin konnte die Achtung nur befeftigen, welche Pu— 
blicum und Kritik ihr ob der Gorrectheit, Sicherheit und Ele— 
ganz ihrer Technik bereit reichlich gezollt Haben. Einen be- 
deutenden Eindruck hat fie auch diesmal nicht hervorgebracht. 
Selbit vom einfeitig virtuofen Standpunkt vermiffen wir an 
der Bravour Fräulein Mehlig's jenen freien, fühnen Wurf, 
jene Siegeöfrende an techniichen Abenteuern, welche die Poefie 
des Virtuoſenthums bilden und und momentan für ein tieferes 
Gefühlsleben entihädigen mögen. Wir erinnern (um bei den 
Starken des ſchwachen Gejchlechtes zu bleiben) an Mary Krebs, 
welche in diefer Richtung weit über Fräulein Mehlig hinaus: 
flog. Der tiefere Zauber, welcher, feſſelnd und entfefjelnd, die 
Schleuſen unſeres Herzen? in der Hand hält, der ift Fräulein 
Mehlig vollends verfagt. Die Eleinen poetifchen Stüde bon 
Chopin und Schumann (die Concertgeberin fpielte fie wie 
alles Andere aus dem Notenheft, was den Eindrud des Un— 
freien noch) verftärft) entließen den Hörer nüchtern und nur der 
janberen Ausführung gedenfend. Am bejten gelang Fräulein 
Mehlig das ihrem Naturell wahricheinlich verwandtere C-moll- 
Trio von Mendelsfohn, welches fie ſehr hübſch fpielte, 
ohne und troßdem für das ftark außgefühlte Stück neu in: 
terefliren zu können. 

Kaum hatte Anton Rubinftein und verlafjen, als ſchon 
ein neuer Virtuoſe, der Pianift Zarzycki aus Warſchau, ans 
gerücdt fam. In Barid und London gut angejchrieben, hätte 
der junge Pole zu günftigerem Zeitpunfe vielleicht auch bier 
mehr durchgegriffen, als es jeßt der Fall war. Kann man es 
aber ımjerer Zeit und unserem Bublicum verdenfen, daß fie 
auf dem Felde der Virtuofität wirklich nır mehr dad Auge: 
zeichnetfte, das künſtleriſch Individuelle und zugleich techniſch 
Vollendete mit Wärme begrüßen und hegen? Herr Barzydi be— 


Helene Magnus, Frl, Mehlig, Zarzycki. 527 


ſitzt als Componiſt wie als Virtuoſe Talent, aber dies Talent 
ſteht nicht auf eigenen Füßen, überhaupt noch nicht auf feſten 
Füßen; es iſt ſchwankend, unfertig. Als Componiſt betreibt er 
ein fleißiges, reinliches Graſen auf aller Herren Wieſen; als 
Spieler gibt er Seb. Bach matt und marklos, Schumann wie 
Chopin haſtig und verſchwommen wieder. Und doch verfügt 
Herr Zarzycki über eine reſpectable Bravour, zu deren rechter 
Entfaltung nur die geklärte, künſtleriſche Perſönlichkeit noch 
zu fehlen ſcheint. 


Anhang. 


Il Muſikaliſches aus der Schweiz. (1857.) 


Fin freundliches Gegenitüd zu der »böjen Gorge«, 
welche hartnädig hinter dem Reifenden zu Pferde fitt, ift das 
Intereſſe an einer Lieblingskunft, das uns jelbft gegen Wiffen 
und Willen allüberall hin begleitet. Der Mufifer, der den 
Poftwagen befteigt, um in grüner Ferne Luft und Erholung 
zu ſuchen, thut e8 wohl jelten mit der Abficht, Muſik aufzu— 
juhen; — weit eher glaube ich, daß ihn die entgegengefeßte 
Empfindung treibe, Allein unvdermuthet, wenn in fernem Land 
irgendwo ein Lied erjchallt, oder ein Hornruf lodt, fühlt er 
fih wie von wohlbefannter warmer Hand angefaßt, er hält 
jeinen Schritt an und lauſcht jorgjam den fremden Klängen. 

Sp erging’® aud mir auf einer furzen Erholungsreije, 
welche nicht3 weniger als muſikaliſche Ziwede hatte Wer mit 
ſolchen die Schweiz beſuchen wollte, wäre aufrichtig zu be- 
dauern. Diefe Schatzkammer von Naturfchönheiten iſt im Ver: 
gleih zu ihren übrigen europätfhen Nachbarn ein jehr ton- 
arme Land. Schon der ganz auf's Praktiſche und Reelle 
gerichtete Charakter des Schweizerd erweiſt fih von vornherein 
als fein der Muſik beſonders günftiger. Dem ftrammen Alpen: 
john steht die Büchſe weit näher al3 die Leier. Naturell 
und Erziehung weijen ihn vor allem auf Arbeit und prak— 
tische Tüchtigkeit Hin, und verbannen frühzeitig jenes ſüße, 
träumerifhe Dämmerlicht, in welchem die Tonkunſt von jeher 
ihre liebiten Kinder hegte. Hand in Hand mit der praftifchen 


3. G. Nägeli. Gejangöfeite. j 529 


Sinnesrihtung des Schweizer? geht die ftaatlihe Einrichtung 
feines Landes. Die Republik ift befanntlich jelten ein Lieb— 
lingsaufenthalt der Mufen. Sie find zu üppig, und vor allem 
— zu theuer. Der Zuftand der Theater gibt jelbjt für den 
Touriften den augenfälligiten Beleg für die beicheideneren Anz 
forderungen eines republifaniichen Bublicung. Im Sommer find 
alle Theater, jelbit in den Städten erften Ranges, wie Zürich, 
Bern u. a., geichloffen. Höchftens daß hie und da ein winziges 
Sommertheater fein Kinderjpielzeug aufſchlägt (Falkenburg bei 
Züri), oder ein halb Dugend abgemwirthichafteter deutſcher 
Sänger die Tugenden der »Martha« verfündigen, wie e8 eben 
in Genf der Fall war. Auh im Winter jollen die Theater 
der Schweizer Städte fehr mittelmäßig fein, und Tamentlich 
die Opernporftellungen mehr den Charakter ſchüchterner Aus— 
nahmsverſuche tragen, als künſtleriſcher Leiftungen. Alles was in 
der Schweiz für die Pflege der Tonkunft gefchieht, fommt dem 
Gejang, und zwar dem Chorgefang, zugute, auf den mir 
gleich näher zu fprehen fommen. Die Inftrumentalmufit ift 
das Stieffind der Schweizer Mufif und befindet fi, ſowohl 
was die Virtuofität als was das Orcheiterfpiel betrifft, auf einer 
unbedeutenden Stufe. Am meiften jcheint fie no in den 
reihen Städten Baſel und Bern, namentlich der erjteren, 
gepflegt zu fein, wo die Programme der Orcefter-Eoncerte 
einen hervorftechend deutichen, claſſiſchen Geſchmack verrathen. 
Das Concert im Berner Münfter hingegen bei dem letzten 
großen Eidgenoffenfeit konnte in feinen inftrumentalen Theil 
felbit vor wohlwollenden Berichteritattern (mie dem der A. A. Ztg.) 
nicht beftehen. Nicht ein einziger namhafter Componift hat 
jeinen MWohnfig in der Schweiz, — der proviſoriſche und jehr 
unfreiwillige Aufenthalt Rihard Wagner’ in Zürih kann 
natürlich hier nicht in Betracht fommen. 

Die Schweiz, welche bekanntlich in der Entwidlung un— 
jerer NationalsLiteratur zu verjchiedenenmalen eine große und 
einflußreihe Rolle gejpielt hat, macht fih in der Geichichte der 
Muſik fo gut wie gar nicht bemerkbar. Es iſt höchſt be- 
zeichnend, daß der einzige Schweizer Tonfünftler, der in feinen 
Verdieniten und in dem Andenken feiner Landsleute noch fort: 

Hanslick. Aus dem Eoncertfaal. 2. Aufl. 34 


530 Mufitalifches aus der Schweiz (1857). 


lebt, nicht fowohl als Componiſt gefeiert ift, denn ala Pädagoge: 
wir meinen Hans Georg Nägeli*). Diefer tüchtige und geilt- 
reihe Mufifer knüpfte feine Thätigfeit unmittelbar an die große 
pädagogifhe Bewegung, welche die Schweizer Humaniften zu 
Ende des vorigen Jahrhunderts über Deutichland verbreiteten. 
Die neuen Segnungen der Peftalozzi’ihen Methode follten 
auch dem Mufikunterriht zu ftatten kommen: Nägeli gründete 
im Sinne derjelben eine Gejangfchule in Züri und veröffent- 
lichte 1812 feine »Gefangbildungslehre nah Peſtalozzi'ſchen 
Grundſätzen«. Durh die Gründung diejer erften großen Geſang— 
ſchule, die fich bald von zahlreihen Töchterfhulen im ganzen Lande 
umringt fah, hat Nägeli den ſegensreichſten Einfluß auf die Kunſt— 
bildung ſeines VBaterlandes genommen. Als thätiger Mufifalien- 
händler und Verleger, als theoretifcher Schriftiteller, endlich ala 
fruchtbarer Liedercomponift war er im Stande, feinem Ziel, 
der mufifalifhen Bildung der Schweizer, mit verdreifachten 
Kräften zuzuftreben. Von Nägeli's Gompofitionen, melde 
fh durch Sangbarkeit und Anmut auszeichneten, haben 
jih wenige erhalten; eine jedoch erflang und erklingt noch, 
fo weit europäiſche Gultur reicht, das Lied: »Freut euch Des 
Lebens!« Es mar zuerft 1794 in Zürich erfchienen, und 
iſt feither nicht nur in ganz Deufchland, fondern mit über- 
festem Tert auch in Frankreih, Italien, England, Schweden 
und Dänemark populär geworden. Sogar die Griechen fingen 
ihr Nationallied nad diefer Melodie. Indem Nägeli die mu— 
fitaliiche Bildung mit aller Macht auf jenen Punkt hindrängte, 
two die Kunſt mit dem Leben zufammengeht, die Gemeinjamteit 
fräftigt, die Arbeit belebt, den häuslichen Herd verichönt, zeigte 
er fih al® echter Schweizer. Als 1808 von Luzern aus ein 
Aufruf an alle Mufiffreunde der gefammten Schweiz erging, zu 
einem gemeinfamen Bunde zufammenzutreten, fand diejer in der 
energiihen Theilnahme Nägeli's die wirkſamſte Stüße. »Die 


*) Die muſikaliſche Thätigfeit des großen Genfers 3. 3. Rouſ— 
jeau hängt jo wenig mit Schweizer Boden zuſammen, und erjcheint 
den jchriftitelleriihen Schöpfungen desjelben jo dilettantiich nebenge- 
ordnet, daß fein Name in dDiefem Zujammenhang nicht wohl genannt 
werden konnte. 


3. ©. Nägeli. Gelangsfefte. 531 


ſchweizeriſche Muſikgeſellſchaft«, welche fi »die For: 
derung der Kunſt durch größeres, gemeinſames Wirken« zur 
Aufgabe ftellt, zählte bald nad Nägeli’3 Tod über 1000 Mit: 
glieder und begann jährlih mit ſtets vervollfommteren Mitteln 
bald in diefer, bald in jener großen Stadt ein Mufikfeft zu 
veranftalten. Faſt alles, was in der Schweiz fingen oder geigen 
fann, ift dabei thätig. Nachdem dieſer Verein einen der mäch— 
tigiten Einigungspunfte jchmweizeriiher Gefinnung und Ber: 
brüderung bildet, erkennt auch die Regierung jeine jtaatlihe Wich- 
tigkeit und forgt gern für fein VBeftehen und Aufblühen. In 
jedem Canton, ja in jeder Gemeinde haben fih Gefangdvereine 
gebildet, und diefen hat e8 die Schweiz zu danfen, wenn fie 
aus dem Volke verhältnigmäßig weit mehr gefchulte Sänger 
zu ftellen vermag, als irgend ein andere® Land. So trägt 
Nägeli's reblihe und mühevolle Arbeit jegt ihre goldenen 
Früchte Daß die Schweizer wohl wiſſen, wem vor allem fie 
dDiefe verdanken, zeigt und Nägeli’3 Denkmal auf der Züricher 
»Bromenade«. Diele herrliche, hochgelegene Anlage, von welcher 
man einen weiten Ausblid auf den See und feine belebten 
Ufer hat, ift mit einer jchön gearbeiteten Mtarmorbüfte geziert, 
unter welcher die ſchlichte Widmung Steht: »Ihrem Vater 
Nägeli die Schweizer Gejangvereine.« 

Leider war ed mir nicht gegönnt, die Leiftungen eines der 
Gejangvereine fennen zu lernen; nur das ſchöne gejellige Kleid 
ihre Zufammenmwirfend jollte mein Auge erfreuen. In Mün— 
fingen, einem fleinen Orte zwijchen Thun und Bern, war 
eben eines jener zahlreihen Gefangfeite im Anzug, zu welchen 
oft 15 big 20 kleinere Vereine aus der Umgebung zufammen: 
treten. Es war ein heller, Schöner Sonntagdmorgen. Die Häufer 
grüßten im Schmudf von Blumen, Bändern und Reiſig. Eine 
(uftige, geräumige Halle, raſch gezimmert, mit Laub und Reifig 
ausgekleidet, wies zwei lange Reihen von gededten Tiichen auf. 
An den Wänden hingen buntgemalte und vergoldete Schilder 
mit den Namen der einzelnen Wereine, denen damit zugleich 
ihre Pläße beim Male angewiefen waren. Die ungemeine 
Sauberkeit und Nettigkeit, welche den Neifenden in der Schweiz 
überall jo freundlich anblict, ſchien hier verdoppelt zu fein, 

34* 


532 Diufifalifches aus ber Schweiz (1857). 


und fand ihre ſchönſte Spiegelung in den vergnügten Gefihtern, 
welche eifrig, doch ohne Halt den Tiſch ordnend beftellten. Die 
Sänger, welche in buntgefjhmücdten offenen Wagen meiſt jchon 
Tags vorher angelangt waren, ordneten fih nun zum Feſtzug 
in die Kirche. Unter den gutgemeinten Klängen einer Kleinen 
Blehmufit, umweht von bunten Fahnen, feßte der Zug »3 Mann 
hoch.« — erit die Mädchen, dann die Männer — fi in Be— 
wegung. Es waren durhaus Leute aus dem Volke, wenn man 
in der Schweiz fi) diefer Unterfcheidung bedienen darf, Die 
Mädchen faft alle gleih in dem kleidſamen Berner Coſtüme, 
mit breiten, neubebänderten Strohhüten, die Sänger in den 
verſchiedenſten Modificationen unjerer philitröjeiten Männer 
tradt. Das Ganze hatte etwas ungemein Feſtliches, dabei aber 
Ungejuchtes, Zwanglofes, Heitered. Der erite Theil eines ſolchen 
Feſtes beiteht in der Negel aus geiftlichen, wenigſtens ernften 
Geſängen, welche in der Kirche gejungen werden. Dann folgt 
dad Mahl und die weltlichen Chöre im Freien. 

Obwohl e8 auch einzelne Männergelangvereine gibt, 
jo beiteht das Eigenthümliche der Schweizer Gejangfeite doch 
in der Zuziehung des weiblichen Geſchlechts. Daß Frauen und 
Mädchen fih an den Gejangübungen ernitlich betheiligen, daß 
fie beim Zug ordentlich in Reih und Glied mit aufmarjdhiren, 
das verleiht diefen Schweizer Selten nicht blos eine ganz eigen= 
thümlihe Phyſiognomie, es madht fie zu etwad wahrhaft All- 
gemeinem, Vollſtändigem, Nationalem! Der fünjtleriihe Gewinn, 
der durch die Erweiterung ded engen Männerquartett3S zum 
vollen »gemijchten« Chor erwächſt, dürfte nicht weniger ein 
leuchtend fein, als der ethiiche, fittigende, welcher durch die 
Theilmahme von Frauen den Männergefangvereinen zu Theil 
wird. Ohne die vortrefflihen Seiten der deutſchen Liedertafeln 
zu unterfchägen, muß man doc zugeftehen, daß fie zu der Ab- 
ſonderungs- und Poculirluft des ſtarken Geſchlechts wenigſtens 
redlich beittagen. Ob unter andern ſtaatlichen und ſocialen 
Verhältniſſen, als gerade den ſchweizeriſchen, eine ſolche Theil— 
nahme der Frauen an Geſangvereinen und Feſten überhaupt 
möglich wäre, müfjen wir freilich; unentſchieden laſſen. Ueber: 
die wären ſolche Schweizer Gejangfeite nicht ohne Gefahr, 


Ein Beſuch bei Roffini. 533 


wo man nicht zugleih auch der Schweizer Sittenftrenge 
gewiß: ift. 

Auf diefe Gefangfeite, welche im Sommer und Herbit ſehr 
häufig find, reducirt fi) jedoh das Muſikleben der Schweiz, 
jomeit es eigenthümlich und bemerfenöwerth heißen kann. Bon 
den mufifaliihen Naturftimmen Helvetiend war noch menig 
wach. Am Eingang des Lauterbrunner-Thales ftand ein Schäfer: 
bengel und blies in ein mit der Krümmung auf den Boden 
aufgeitemmtes etwa 6 Fuß hohes Alphorn. Die Töne, die er 
jehr mühſam und unrein (natürlich gegen ein Trinkgeld) hervor- 
bradte, mahnten in ihrer Sraft und Tiefe an die Poſaune. 
Singen hörte ich gar nicht, Sodeln auffallend wenig und nicht 
fo gut als in unferen Salzburger und Tiroler Alpen; da je 
doch die eigentliche Almenwirthſchaft noch nicht begonnen Hatte, 
fo ftanden wir noch außer der »Saiſon«. Die Glocden der 
zahlreichen Heerden, die wir auf Wiefen und Triften begeg- 
neten, waren zwar hell und jchön, aber nicht im Dreiflang ge— 
ftimmt, wie es in Thüringen üblich, wo dieſe Harmonie, be— 
fonder8 aus einiger Entfernung, den wunderbarſten Eindrud 
madt. Ich wüßte Fein civilifirtes Land, wo dem Reiſenden jo 
wenig Muſik entgegenklänge, als in der Schweiz, — aber 
wahrlih auch feines, wo er die Kunſt Leichter und froher 
entbehrt! 


II. Wufikalifche Erinnerungen aus 
„Paris. (1860.) 


Ein Beſuch bei Rofftni. 


Es war an einem warmen, fonnenhellen Septembermorgen, 
als ich den Weg nah Paſſy einichlug. Der freundliche Ort, 
deſſen grüne Pfade unmittelbar an das Boulogner Hölzchen 
führen, ift von der Stadt aus bald erreicht. Von jeher die bes 
borzugte »Sommerfrifhe« berühmter Gelehrten und Künftler, 
ihließt Baffy in dem Kranz feiner jchinmernden Villen nun: 
mehr auch Roſſini's Tusculum ein. Ein elegantes einftödiges 


534 Mufitalifhe Erinnerungen aus Paris (1860). 


Landhaus, mitten in wohlgepflegtem Garten, mit eifernen Stäben 
umfriedet. Ueber dem Gitterthor eine goldene Lyra — fie jagt 
mir, daß ich nicht weiter zu ſuchen brauche. 

Eigentlich hatte ich jeden Gedanken an mufifaliihe Studien 
und Belanntichaften zu Haufe gelajfen. Wer in einigen Wochen 
Paris fennen lernen will, muß darauf verzichten. Wann erichöpft 
man auch nur die eine und erite Merkfwürdigfeit in Paris — 
Paris ſelbſt, die Phyfiognomie der Stadt! Indeß, den Zus 
jammenhang mit einer Lieblingsfunft wird man nirgends los. 
Die Namen Rofjini und Auber fielen mir immer öfter und 
gewichtiger ein. Bewunderte ich die Beiden doch aufridtig als 
glänzende und maßgebende Gricheinungen in der Geſchichte der 
modernen Oper; jah ich fie doch alljährlih wachſen durch die 
Kleinheit ihrer Nahahmer, und endlid — der Gedanke Tieß 
fih nicht abwehren — ich wußte fie alt, jehr alt geworden. 
Halb Furcht, Halb Gemwiffensscrupel war ed, was mir zuflüfterte, 
daß vielleicht die nächſte Zukunft ſchon vergebens nach diejen 
befräuzten Häuptern bliden würde, und ich durch eigene Schuld 
fie niemal® jah. Offen geltanden waren Roſſini und Auber 
für mich weit größere Merkwürdigkeiten als das Hotel de Ville 
oder die Galerie im Lurembourg, ohne deren Befanntichaft fich 
doch Jedermann jhämen würde, Paris zu verlaffen. So zögerte 
ich denn nicht länger, die Briefe zu mir zu fteden, die mir bei 
beiden Meiftern freundliche Aufnahme ficherten. Rojfini fand 
ih in feinem fleinen Arbeitszimmer im eriten Stocdwerf jeiner 
Billa zu Paſſy. Eben mit Notenjchreiben beichäftigt, erhob er 
jih bei meinem Gintritt mit einiger Schwerfälligfeit, für welche 
das freundlihe Wohlwollen der Züge und die herzlich entgegen- 
geitredte Hand gleihjam um Entihuldigung baten. Roſſini's 
Kopf, jo wenig er jegt den befannten Bildniffen aus feiner 
Slanzperiode gleicht, macht noch immer den Eindrud des Be— 
deutenden und Anmuthigen. Unter der philiftröjen braunen 
Perrücke wölbt fi) noch immer eine heitere, klare Stirn; geiſt— 
voll und freundlich glänzen die braunen Augen; die etwas lange, 
aber jchön modellirte Naſe, der feine, finnlihe Mund, das runde 
Kinn ſprechen noch von der einstigen Schönheit des alten 
Stalienerd. Man ftellt ſich Roſſini nach deffen Porträts größer 


Ein Beſuch bei Roffint. 535 


vor, als er ift, und allerdings ließe fein mächtiger Kopf einen 
höheren Körperbau vermuthen. Durch Corpulenz und zunehmende 
MWideripänftigfeit der Füße etwas gehindert, ließ Roſſini es ſich 
trogdem nicht nehmen, mich in feinen Salon Hinabzuführen. Auf 
jeinen Stod geftügt, ging er langjam die Treppe hinab und 
machte mit fichtlicher Freude an feinem Befigthum die Honneurs. 
„In fünfzehn Monatene, jagte er, »iſt die ganze Villa gebaut 
und eingerichtet worden; vor anderthalb Jahren noch war alles 
ein leerer Fleck« Mände und Plafond des Salons find mit 
hübſchen Fresken geſchmückt, deren durchweg mufifalifhe Sujets 
Roſſini felbit angegeben und durch italienische Künitler hat 
ausführen lafjen. Da zeigt uns ein Bild, wie Kaiſer Jojeph I. 
nach der Vorftellung von »Figaro’3 Hoczeit« Mozart in die 
Hofloge fommen läßt; ein anderes bringt ung PBaleftrina im 
Kreiſe feiner Schüler u. dgl. Zwiſchen den größeren Bildern 
ruht das Auge auf Vorträtmedaillons von Haydn, Gimarofa, 
Bailiello, Weber und Boieldieu, »mon tres bon ami 
Boieldieu!« wie der Hausherr wiederholt auörief. Die Wand: 
gemälde gaben Roſſini den natürlichiten Anlaß, feine Bewunde— 
rung der älteren großen Meijter, in3bejondere der deutſchen, 
zu äußern. Seine begeifterte Verehrung für Mozart ift be— 
fannt. Sie ift durchaus wahr und ungefünftelt. Den »Barbier«, 
der doch an fprudelndem Muthwillen, an eigentlich luſtſpiel— 
mäßigen Temperament »Figaro's Hochzeit« übertrifft, mill 
Roffini neben Diefer nur als muſikaliſche Poſſe gelten laſſen. 
Mozart’ komiſche Opern, erklärt er, jeien wahre »dramme 
giocose«, während Alles, was er jelbit nach dem Vorgang der 
Neapolitaner componirt habe, im engiten Sinne »opera bufla« 
jei. Man kann nicht bejcheidener von feiner eigenen, nicht 
rühmender von Anderer Thätigfeit iprechen, ala Roſſini es thut. 

Der Maeftro war ungemein wohlgelaunt und geiprädig- 
Ih Fam gar nicht in die häßliche Verfuhung jo mancher Reifen: 
den, welche jeden berühmten Mann wie eine Citrone für ihren 
PBrivatgebraud) auspreifen. Die Erinnerung an Wien, daß er 
jeit 1822 nicht wiedergejehen, ſchien den greifen Maeitro freudig 
zu beleben; ausnahmsweiſe erwähnte er einer eigenen Oper, 
der »Zelmira«, die er damals für Wien gejchrieben. »In 


536 Mufitaliiche Erinnerungen aus Paris (1860). 


Wien,« rühmte Roffini, »hatte ich zum erjtenmal ein Bublicum 
gefunden, dad zuzuhören verftand. Diefer aufmerffame Antheil 
war mir etwa ganz Heberrajchendes, denn in Italien plaudert 
das Bublicum mwährend der Mufif und wird erft ruhig, wenn 
das Ballet anfängt.« 

Eine authentiihe Erklärung über Roſſini's Verhältniß zu 
jeinem begeifterten Biographen Stendhal (Henry Beyle) war 
mir zu wichtig, als daß ich eine bejcheidene Frage hätte ver— 
meiden follen. Roſſini ermwiderte, daß er diejen feinen ent- 
züdteften WVerehrer ein einzigesmal, und zwar in Stalien, bei 
der Sängerin Paſta gejehen, aber niemal® geiprocdhen habe. 
Man Hatte Roſſini (wahrfcheinlih in gehäſſig übertreibender 
Weife) gejagt, daß Stendhal ſich feiner genauen Bekanntſchaft 
rühme, und »von einem folchen Lügner wolle er nichts wiſſen«. 
Ich brauche faum zu fagen, daß diefer verfchmähte Liebhaber 
mich im Grabe dauerte, und ich eine wohlgemeinte »Rettung« 
desjelben nicht unverſucht ließ. 

Wir hatten und auf einen Divan gejeßt, der eine freund: 
liche Ausfiht auf die bunten, fonnbeglänzten Blumenbeete des 
Gartens freiließ. Vor ung ftand ein Tiſchchen, das mit Mufikalien 
bededt war. Es waren faſt durchaus neue Arrangement? aus 
der »Semiramid«, Potpourrig, Impromptus, Duadrillen und 
ähnliche Sudelfüche, welche die Verleger dem geplünderten Com: 
poniften artig zugefendet hatten. » Semiramid« war feit einigen 
Monaten in franzöfiider Bearbeitung an der Großen Oper 
aufgeführt und wieder Mode geworden. Ich hatte Tags zuvor 
die Oper gehört und rühmte deren pradtvolle Austattung. 
Etwas anderes hätte ich mit beitem Willen daran nicht [oben 
fönnen, denn die Sänger famen mir jo ungenügend, die Mufif 
jelbjt fam mir jo leer, langweilig und abgejtorben vor, daß 
ih mitten in der Vorftellung das Theater verließ. Roſſini 
jelbft wußte nur vom Hörenfagen davon. Seit ſechzehn Jahren 
hat er fein Theater bejucht, »und jo lange ift es zum mindeften 
here, fügte er bei, »daß man nit mehr zu fingen veriteht. 
Man jchreit, man heult, man bort!« — 

Mehr als die »Bretter, die die Welt bedeuten« ſchien ihn 
die Welt jelbit in ihrem neueſten politiihen Drama zu inter: 


Ein Beſuch bei Roffini. 537 


effiren. Bei allem bewundernden Vertrauen auf Garibaldi 
wollte Roffini der italienischen Bewegung fein günftiges Horoſkop 
ftellen. »Ich kenne meine Landsleute«, ſagte er kopfſchüttelnd, 
»fie wollen immer mehr und find niemals zufrieden.« »Stalien 
ift zu Klein für feine vielen großen .Städte, deren wechſelſeitige 
Eiferfuht niemals aufhören und freiwilliger Unterordnung plaß- 
machen mwird.« 

Während Roſſini fo in heiterer Mittheilfamfeit fortſprach, 
freute ich mich, das lebendige Mechielipiel von Intelligenz und 
Herzlichkeit in feinen Zügen zu betrachten. Aus Wort und Blicd 
drang jene Kindlichkeit und Naivetät, die wir — mehr oder 
minder — an genialen Menſchen immer wahrnehmen. Dem 
leiſen, gleihmäßigen Wellenfchlag einer geficherten Muße hin- 
gegeben, nicht alternd in der Freude an der Natur, Kunft und 
Gejelligkeit, feines Ehrgeizes fähig, lebt der alte Maeſtro feit 
dreißig Jahren das Leben eines epifuräifchen Weilen. Da er 
an feine eigene Kunſt nicht mehr denkt und die auch von 
niemand anderem erwartet, begreift man die gemüthliche 
Dbjectivität, auß welcher Roſſini die mufifalifche Bewegung der 
Gegenwart als unbetheiligter Zuichauer, ohne Neid, ohne Ver: 
bitterung, wenn auch nicht immer ohne Sronie betrachtet. 

Selten hat ein berühmter Kiünftler jo bald Feierabend 
gemacht, wie Roſſini. Mit 21 Jahren fchrieb er den »Tancred« 
(1813) und ‚war plößlich der gefetertfte Operncomponift in 
Europa; mit 37 Jahren (1829) jchloß der gefeierte Mann für 
immer feine Thätigfeit ab. Er that es mit einem Merfe, das 
ihn auf dem Höhepunkt feiner Schöpferfraft und jeiner Kunſt 
darstellte, mit »Wilhelm Telle. Wielleiht hat man ihn allzu 
jtreng getadelt ob diejes fchnellen Rückzugs vom Felde fünftle: 
riſcher Thaten. Die echt italienifche Arbeitsſcheu Roſſini's hat 
gewiß theilweiſe dieſen Entichluß herbeigeführt. Ganz und gar 
aber jchwerlid. Der einfiht3volle Mann, der jein Talent nie: 
mals überichäßte, mag gefühlt haben, daß er von der über: 
mäßigen Broductivität früh erfchöpft und nicht mehr im Stande 
jei, eine Reihe von Werfen wie »Tell«e zu jchaffen, oder dies 
eine je zu übertreffen. Der Umſchwung, der um das Jahr 1830 
auch in den äfthetiihen Anichauungen und Bedürfniſſen eintrat, 


538 Mufifaliihe Erinnerungen aus Paris (1860). 


fonnte Rojfini nicht verborgen bleiben, daß immer rajchere Ber: 
welfen feiner älteren italieniichen Opern ihm nicht entgangen 
jein. Hatte er jo großes Unrecht, ſich nad feinem beiten Werfe 
zu einer Zeit zurüdzuziehen, wo dies Verſtummen nod laut 
und allgemein beflagt wurde? Zehn Jahre fpäter hätte man 
wahrfcheinlich feine Schwach gewordenen Selbitcopien läftig ges 
funden und den Meiſter mit feinen früheren Lorbeeren gezüchtigt. 
Vielleiht ift Roſſini's frühzeitige Abdication nicht jo ganz 
ohne inneren Kampf vor ſich gegangen, al3 man annimmt, umd 
pon der heitern Stirne des Greiſes abzulejen glaubt. Seit den 
dreißig Jahren feiner behaglidhen Ruhe ift er freilich dahin ge— 
fommen, fih wie einen längſt Abgeſchiedenen anzujehen, ber 
aus Wolkenhöhen auf die vielen Mufifer herablädelt, die noch 
große Mühe haben, zu ftreben und zu arbeiten, 

Große mufifaliihe Streitfragen und Wendepunfte, wie 
3.3. die »Zufunftsmufif«, haben für den Componijten des 
»Barbier«e durchaus fein anderes Intereſſe ald das der Neugier. 
65 war vor einem Jahre, daß Roſſini die Bäder in Kiffingen 
gebrauchte. Sobald er in der Trinfhalle erichien, fpielte das 
Orcheſter Stile aus jeinen Opern. »Sie fönnen fih kaum 
vorftellen, wie langweilig mir dad war. Ich dankte dem Capell- 
meilter und bat ihn, doc lieber eiwas zu jpielen, was ich 
noch nicht kenne, 3. B. von Rihard Wagner.« Da hörte er 
denn den Feſtmarſch aus »Tannhäufer«e, der ihm recht wohl- 
gefiel, und noch ein anderes Stüd, das er nicht mehr zu nennen 
wußte; — jeine ganze Kenntnig Wagner's. Roſſini wünſchte 
etwas von dem Sujet des »Lohengrin« zu wiſſen. Nachdem 
ih jo furz und deutlich als möglich erzählt hatte, rief er jehr 
lebhaft mit drolligem Accent auß: »Ah, je eomprends! C'est 
un Garibaldi qui s’en va aux nues!« Rihard Wagner hatte 
den alten Herrn furz vorher bejucht, und war ihm »gar nicht 
wie ein Revolutionär« vorgefommen, was jedermann gern be— 
jtätigen wird, der dem kleinen, zierlichen, unermüdlich und geift- 
reich converfirenden Dann kennt. Wagner — fo erzählte Rojjini 
weiter — habe ſich ihm gleich mit der beruhigenden Verficherung 
vorgeitellt, er jei mweit entfernt, die bisherige Muſik umftürzen 
zu wollen, wie man ihm nachſage: »Beſter Herr«, unterbricht 


Ein Beſuch bei Auber. 539 


ihn Rojfini, »daran liegt ja gar niht3; wenn Sie mit dem 
Umfturz reuffiren, dann waren Sie im vollen Rechte; fallen Sie 
aber dur, dann haben Sie fih in jedem Fall verrechnet, mit 
oder ohne Umfturz.« — Bon dem boshaften Vergleid Wagner: 
iher Mufif mit »Fiſchſauce ohne Fiſch«, der eben in Paris 
cireulirte, wollte Roſſini durchaus nichts wiſſen, und ich glaubte 
ihm aufd Wort, hätte er nicht mit einer drolligen SFeierlichkeit 
beigefeßt: »Je ne dis jamais de telles choses.« Nun fennt man 
aber »de telles choses« von Roſſini in jolcher Zahl und von 
jo origineller Art, daß jeine Neigung zur Ironie über jedem 
Zweifel fteht. So ſoll er kürzlich nad der Durdficht einer 
Berlioz’ihen Partitur ausgerufen haben: »Welches Glüd, daß 
die feine Muſik iſt!« 

Der liebenswürdige Dann war jo unermüdlich im Sprechen 
und Hören, daß ich jelbjt daran denken mußte, ihn jeiner ruhigen 
Beichäftigung zurüdzugeben. So führte ich ihn denn wieder die 
Treppe hinauf in jein Arbeitszimmer, wo er im herzlichen Ton 
Abichied von mir nahm. Nicht unbewegten Herzend jeßte ich 
meinen Weg fort, war doch der berühmte Meifter mir als 
Menſch lieb und werth geworden. Die ftattlichen Alleen entlang 
an Shimmernden Landhäufern vorbei wanderte ich gegen St. Cloud. 
Aus einem geöffneten Fenſter quollen wie Roſendüfte die ſüßeſten 
Melodien aus »Wilhelm Tele. Unmwillfürlic griff ich an den 
Hut und grüßte gegen die Billa zurüd, deren vergoldete Leier 
nod wie ein kleiner Stern herüberglängzte. 


Ein Befud; bei Anber. 


Man kann ſich nicht leiht etwas Verſchiedenartigeres 
denfen, als es die beiden berühmteften Gomponiften von Paris 
in Griheinung, Stimmung und Lebensweiſe find. Während 
Roſſini nur ſchwer fih von feinen Blumen und Wiejen zu 
trennen bermag, bringt Auber auch den heißeiten Sommer 
mitten in Paris zu. Er liebt Paris über Alles und verläßt es 
niemald. Zu jeder Zeit finden wir ihn in feiner eleganten 
Wohnung, Rue St. Georges. Haus und Straße haben etwas 


540 Mufitalifhe Erinnerungen aus Paris (1860). 


ruhig Vornehmes, fie präludiren entiprechend der ariftofratifchen 
fühlen Eleganz, welche und im Innern erwartet. Wir finden 
den berühmten Tonjeßer im bequemen Sclafrod, zuſammen— 
gefauert auf einem niedrigen Fauteuil. Ein fchneeweißer Kopf 
erhebt fih von der Partitur; es grüßt und eine Eleine, dürre 
Geftalt. Das faltige Gefiht jcheint fait zu verfohlen unter der 
Gluth zweier tiefihwarzer, leidenihaftlicher Augen. Wie unftät 
und durhdringend hießen diefe Falfenaugen aus dem Verſteck 
der dichtbufchigen Brauen hervor! Auber's Kopf iſt nit? 
weniger als edel; mit feiner unfertigen Nafe, den vordrängenden 
Backenknochen, dem breiten Mund erinnert er an Scelling. 
Aber diefe merkwürdigen Augen geben ihm einen Ausdrud un— 
gewöhnlicher Intelligenz. Sie lächeln dich nicht groß und 
freundlih an, wie Roſſini's braune Sterne; bligichnell paden 
fie Did, Shen, meuchleriſch. So mußte der Mann außjehen, 
der die Verſchwörung der neapolitanifhen Fiſcher wieder 
lebendig machte. Den Sänger der heiterften, moufjirenditen 
Melodien von Paris hingegen wirde man in dem ernften 
Greife nicht vermuthen. Ich jah ihn nicht lächeln, defjen Mufit 
zu lächeln faum aufhört. 

Auber’3 Geipräch bewegte fih in feinen, knappen, etwas 
geihäftsmäßigen Formen, freigebig mit Höflichkeiten, ſparſam 
in allem Uebrigen. Er glich mehr einem Diplomaten oder 
Banguier, al3 einem Mufifer. Mir fiel ein, daß Auber ur: 
fprünglid für die faufmännifhe Garriere gebildet war. Die 
Umgebung ftimmt dazu. Das Arbeitszimmer athmet eleganten 
und geihmadvollen Comfort, aber nicht die laufchige Heim: 
lichkeit einer Poetenwerkitatt. An den Wänden zahlreiche Bilder: 
ihöne Frauenföpfe zwiſchen Eoftbaren Kupferftichen nad Le 
Brun’d »Alexanderſchlacht«. »Die Kunft ift Eind,« erklärte der 
Herr des Haufes, »und unverftändlich bleibt mir ein Künftler, 
der nicht zugleich die übrigen Künfte Tiebt.« Dabei jah er viel 
ihmwächer, abgejtorbener aus, ald er in Wirklichkeit ift. Eine 
beneidenswerthe Spannkraft ftedt noch dieſen jcheinbar ver: 
fallenen Leib. An den Falten Tagen des vorjährigen Herbftes 
fonnte man den alten Herrn in leichtem einfachen Rock über 
die Boulevard3 eilen fehen. Frühmorgend, während Paris nod 


Ein Befuch bei Auber. 541 


in den Betten liegt, reitet er fpazieren. Auber, der be- 
fanntlic feine friſcheſten Melodien zu Pferde erdacht, ift 
diefem jugendlihen Vergnügen noch nicht untreu geworden. 
Ja, als echter Franzoje jol er auch fein Herz merkwürdig 
conjervirt und noch keineswegs vergeflen haben, »was«, 
nah Spohr’3 Berfiherung, »den Waidmann in den Wald 
treibt«. 

Während der (faft ein Jahrzehnt jüngere) Roſſini ſeit 
30 Jahren einer unerjchütterlichen Ruhe pflegt, hat Auber feinen 
Augenblid aufgehört, mit Eifer und Ehrgeiz zu arbeiten. Die 
Notenblätter, über welche ich beim Eintreten das weiße Haupt 
gebeugt fand, gehörten zu Auber’3 neueiter Oper, deren Auf: 
führung noch in dieſer Saifon bevorfteht. »C’est une imprudence 
dans mon äge,« flüfierte der 77jährige Componift, indem er 
auf die Partitur deutete, Ich wünſche nichts fehnlicher, als daß 
der Erfolg diefer Winterfruht das Wort »imprudence« wo 
möglih in »miracle« umändere. Denn Auber’3 Berdienite um 
da3 franzöfifhe Theater find jo groß und glänzend, daß ein 
Mißerfolg des greifen Meifters fait einem National-Undant 
gleichfäme. Mit weit befferem Recht ſtände Auber’s Standbild 
im Atrium der Opera comique, als Roſſini's Statue im 
Treppenhaus der großen Oper fteht. Außer »Guillaume Tell« 
hat Rofiini für die Pariſer Oper jo gut wie nichts geichaffen; 
das Wenige, was fie fonit noch von ihm vorführt, find Be 
arbeitungen aus dem Stalienifchen. Die Verdienſte Roſſini's 
und jelbjt jene Meyerbeer's um die Pariſer Oper erjcheinen 
— aus dem Gefichtspunft franzöfiiher Kunft — von jenen 
Auber’3 überftrahlt. Wir legen hiebei nicht einmal bejonderen 
Nachdruck auf Auber's Arbeiten für die große Oper, obwohl 
darunter die epochemahende »Stumme von Bortici«, Die 
glänzende »Ballnadt« und ähnliches fich befindet. Auber's 
Bedeutung ruht in der fomifchen Oper, alſo in der echteiten, 
duftigften Blüthe der franzöfiihen Muſik. Von allem Anfang 
an, ſeit Philidor, Monfigny, Gretry die Gultur der 
fomifhen Oper begründeten, blieb jie dasjenige mufikalifche 
Genre, in welchem die franzöfiiche Nation fih am natürlichiten, 
feinsten und geiftreichiten bewegt. 


542 Muſikaliſche Erinnerungen aus Paris (1860). 


Die komiſche Oper repräſentirt alle anmuthigen, liebens— 
würdigen Seiten des franzöſiſchen National-Charakters, während 
die ⸗Große« deſſen Maßloſigkeiten und Grimaſſen im Hohl: 
ſpiegel zeigt. Allerdings find die Talente, welche für die Opera 
eomique jchreiben, an Zahl und Bedeutung ſehr gefunfen, allein 
noch immer behauptet dies Genre eine von andern Nationen 
zu beneidende Höhe, bei einer Stetigfeit der geichichtlichen Ent: 
widlung, wie fie faum eine zweite Theatergattung aufweilt. 
Zur Tebendigften Weberzeugung wird Einem dieſe Thatſache, 
wenn man die komischen Opern der Franzofen in Paris jelbit 
ipielen fieht. Ich müßte von allen Kunftgenüffen, die mir dort 
zu Theil wurden, feinen, der fo vollfommen, rein und lebhaft 
auf mich gewirkt hätte, als die Vorftellung des »Fra Diapolo« 
in der Opera eomique. Nachdem ich furz vorher an der Großen 
Dper die »Hugenotten«e nur mit Unbehagen, die »Semiramis« 
gar nicht zu Ende gehört, hätte ich hier nur Souverän zu fein 
gebraucht, um mir — wie Kaiſer Leopold in Wien den 
»Matrimonio segreto«e — in der Komifhen Oper den »FFra 
Diavolo« von Anfang bis zu Ende noch einmal vorfpielen zu 
laſſen. Großmüthig wünſchte ih mir alle die Landsleute zu 
Nachbarn, die im Paterland das große Talent Auber’3 mit jo 
nahlichtiger Protection abfertigen. Hier auf ihrer Geburtsftätte 
muß man dieje geiftreichen, feinen, lebensvollen Spiele fehen 
und hören, um ihren ganzen Neiz zu erkennen und zu be 
wundern. Die beiten deutichen Sänger find für das Eigenthüm- 
liche diejer Aufgaben größtentheild unbrauchbar. Die gegen: 
twärtigen Sünftler der Opera eomique wirfen mit ſehr beſcheidenen 
Mitteln; allein diefe Mittel find auf das feinjte ausgebildet, 
auf das intelligentefte verwendet. Nicht eine glänzende Stimme, 
nit eine beftechende Schönheit, aber in der anfchmiegenden 
Feinheit des Ausdrucks fcheinen alle Stimmen, in der Grazie 
der Bewegung alle Geitalten verichönt. 

Die komiſche Oper der Franzofen verhält ſich zur großen 
ungefähr wie ihre Zuitipiele zur Tragödie. Ich befenne, Na: 
cine’3 »Britannieus« im Theätre francais nit außgehalten zu 
haben, fo widernatürlich, prahleriih, hohl erfchien mir Spiel 
und Sprade dieſer Mlerandriner:Stentoren. Als aber un 


Gin Beſuch bei Auber. 543 


mittelbar darauf ein Scribe’iches Auftipiel folgte, waren in 
meinen Augen die Franzoſen die eriten Schauspieler der Welt. 
Ich bin weit entfernt, den Ruhm der Parifer Großen Oper 
geradezu unverdient zu nennen. Vortrefflih it an ihr alles 
Heußerliche. Das Decorationsweſen ift umübertrefflih, und nicht 
blos im Sinne leerer Pracht, ſondern wirklich künſtleriſcher, 
dramatischer Verwendung. Unterftüßt von einer beneidenswerthen 
Tiefe der Bühne, auf deren Vorder:, Mittel- und Hintergrund 
fih mafjenhafte Gruppen formiren und frei bewegen fünnen, 
erzielt diefe Decorationzkunft nahezu vollftändige Illuſion des 
Zuſchauers. Auh das Orcefter und die Chöre ließen — in 
den PVorftellungen, denen ich beimohnte — faum etwas zu 
wünschen übrig. Was Hingegen den Fremden enttäufcht, find 
die Solofänger, darunter großartig auspoſaunte und noch groß: 
artiger bezahlte Namen. Mit ganz wenigen Ausnahmen erjcheinen 
mir die Leiftungen diefer Sänger mit ihren enormen Gagen 
und mit der Weltftellung der Parijer Großen Oper jchwer zu 
reimen, und ich glaube, daß die eriten Kräfte unferer Opern 
bühne, falls es ihnen gelänge, ſich des Franzöfiichen voll: 
fommen zu bemädhtigen, in Paris glänzend durchdringen würden. 
— Mit der fomifchen Oper verhält es fich gerade umgefehrt. 
Die beiten deutichen Vorftellungen diefer Gattung werden im 
Total-Eindrudf die ſchwächſten der Pariſer Opera comique nicht 
erreichen. Wenn es hoch kommt, hat jede befjere deutiche Bühne 
zwei biß drei gute Mitglieder für die komiſche Oper, feine 
einzige aber eine Ahnung von einem vollendeten Enſemble. 
Notabilitäten der deutichen Oper fünnen von untergeordneten 
Künſtlern der Opera eomique lernen, wie man fpricht, jpielt, 
fih fleidet, ja wie man gerade im mufifaliichen Luftjpiel zu 
fingen hat. Da iſt niemand, der jchreit, jchleppt, ſich vordrängt; 
alle bewegt fich raſch, zwanglos und natürlich, und will auch 
mancher für fich nicht viel bedeuten, zufammen find fie Meiſter. 

Wir find nur Scheinbar von Auber abgefommen. Wenn 
man die Komiſche Oper rühmt, rühmt man Auber. Ohne ihn 
würde die gegenwärtige Opera eomique nur begetiren; er ift 
ihre Hauptjtüge, und ziert wöchentlih ein biß zweimal das 
Repertoire. Mit den beiten feiner Werke hat ſich Auber längft 


544 Muſikaliſche Erinnerungen aus Paris (1860), 


neben Iſouard und Boieldieu geitellt; mit feinen ſchwächſten 
überragt er wenigſtens noch immer die meilten feiner zahllojen 
Nahahmer. 

Auber gab mir in meinem Lobe der Opera comique nur 
theilweije Recht; lebt doch in feiner Erinnerung eine viel voll 
fonnmenere Blüthe diejes Inſtituts. Sowohl die Geſangskunſt 
als die Darftellung findet er gejunfen ſeit der Zeit, wo er den 
Schwarzen Domino« für die Ginti-Damoreau jchrieb. 
»C'etait une artistee wiederholte er, um den Gegenjag zu 
der gefeierten Ugalde und ihren Golleginnen zu bezeichnen, 
welche ihm blos als »geſchickte Sängerinnen« gelten. Hingegen 
jprah) er von Montaubry, dem würdigen Nachfolger Roger's 
und trefflichiten aller Fra Diavolos, mit großer Achtung. 

Ganz verſchieden von Roffini, blieb Auber im Sprechen 
farg und gemejjen, dabei in Miene nnd Haltung unbemweglid). 
Hingegen ſchien er mit Interejje zu hören, was ich ihm von 
deutschen Theaterzuftänden, namentlich in Bezug auf jeine Opern, 
mitzutheilen wußte. Er jelbft war, fonderbar genug, nie in 
Deufhland, nie in Stalien geweſen. Bon der neuen mufifalifchen 
Bewegung wußte er nur vom Hörenjagen. Sobald ih Wagner 
erwähnte, begann Auber von den Gonjervatoir-Eoncerten zu 
iprehen. Als ich mich empfahl, hatte ich die ganze Höflichkeit 
de3 berühmten Mannes noch nicht fennen gelernt. Er überrajchte 
mich am folgenden Tag mit der YZufendung eine liebens— 
würdigen Briefchens. Die Hand, welche den »Fra Diavolo« 
geichrieben, hatte es nicht verſchmäht, mir durch einige nie 
erwartete Schriftzüge ein werthvolles Erinnerungzeichen zu 


ſchaffen. 
Berlioz. 


Berlioz bringt alljährlich einen Theil des Sommers in 
Baden-Baden zu. Erſt am Tage vor meiner Abreiſe gelang es 
mir, den eben nad) Paris Zurücgefehrten begrüßen zu können. 
Berlioz war mir fein Fremder, ich hatte in lebhaften Verkehr 
mit ihm eine Spanne Zeit durchlebt, von der ic) wußte, er 
werde gern daran erinnert fein. Es war die Zeit feiner Prager 


Berlioz. 545 


Eoncerte im Jahre 1846. Ort und Zeit fonnten damals für 
Berlioz faum günftiger fein. Durch das Mufikfeben der Moldau: 
ſtadt mwehte ein friicher, jugendlicher Hauch, brach ein begeiftertes 
Streben, Empfangen und Erkennen. Der Bann eines engherzigen 
Claſſicismus Hatte anhaltend genug auf den Pragern ge— 
faftet, während ihr berühmteites und einflußreichites Muſik— 
Inftitut, dad Conſervatorium, unter der Leitung eines Mannes 
(Dionys Weber) geltanden, mwelder Beethoven nur bis 
zur dritten Symphonie gelten ließ. Die Prager Hatten ſich 
in Haydn, Mozart, Spohr und Onslomw feitgefaugt, und 
waren im Bewußtſein des Mozart’ihen Ritterſchlags (»die 
Prager verftehen mich«) beinahe adelöftolz und reactionär ge— 
worden. Mit der Hebernahme des Conjervatoriums durch den 
jungen, ftrebenden Kittl brad) dies Eis. Beethoven’ jpätefte 
Werke, Mendelsſohn's Orcdefter-Dichtungen zündeten im 
Publicum; von Gade und Hiller nahm man raſch Kenntniß, 
wagte es mit Schumann’3 »Peri« und jogar mit der »Lear«— 
Duverture von Berlioz. Einige junge Mufiffreunde hatten 
bereit8? Schumann’: »Neue Zeitjchrift« zu ihrem Brevier ge— 
macht und fich unter dem Vorſitz des geiftreihen Ambros zu 
einer bejcheidenen »Davidsbündlerihaft« vereinigt. Mit Be— 
geifterung fpielten wir Schumann und Berlioz zu einer Zeit, 
wo man in größeren Städten den erjteren nur als »Mann der 
Clara Wieck« fannte und leßteren mit Bériot verwechſelte. 
Schumann hatte einige $ahre zuvor auf den genialen Sonder- 
ling Berlioz enthufiaftiich hingemwiefen und ihn mit dem ſchönen 
Worte eingeführt: »Iſt feine Mufit ein flammendes Schwert, 
jo jei mein Wort die verwahrende Scheide!« Deutjchland be— 
gann das Unreht gutzumachen, das Frankreich gegen Berlioz 
verübte. Der große Unbekannte rüdte und endlich auch perjönlid) 
näher. Die zündende Wirkung feiner Eoncerte auf dad Wiener 
Publicum lief gleichfam auf den Schienen der Nordbahn elektriſch 
bi zu uns; die heftigen Scharmügel der Wiener Journaliftif er— 
höhten die Bedeutung des Streitobjectes, umfomehr als ja Die ge= 
wichtige Stimme des geiftreihen Becher für und den Ausſchlag gab. 
Alfo vorbereitet und aufgeregt traf Berlioz die Prager 
Mufitwelt im Jänner 1846. Ein glüdlicher Zufall a mich 


Hanslick. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 


546 Mufitalifche Erinnerungen aus Paris (1860). 


bald mit dem verehrten Manne in dauernden Verkehr. Die 
Mufit ift bekanntlich allgemeine Weltiprache, aber die fie treiben, 
beharren gerne um fo hartnädiger auf ihrem vaterländiſchen 
Idiom. Berlioz veritand feine Silbe Deutſch und Hatte dod 
viel Mufifaliiches mit Leuten zu bejprechen, von denen die 
Kenntniß des Franzöfiichen nicht zu fordern war. Indem id 
da häufig als Dolmetih fungirte, trat ich zu dem berühmten 
Gomponiften bald in eine Nähe, die mir fonft micht zu: 
geitanden hätte. 

Mas unfere Bewunderung für Berlioz noch befeltigte 
und vertiefte, war der Eindrud feiner liebenswürdigen, geiit: 
vollen, durch und durch Fünftleriichen Perſönlichkeit. Sein 
fünftlerifches Ideal erfüllte ihn ganz, die Verwirklihung deſſen, 
was er in glühendem, nie befriedigtem Drang als ſchön und 
groß empfunden, bildete jein einzig Ziel und Streben. In feiner 
Kunft, mag man fie nun abjihägen wie man wolle, lag eine 
großartige Nedlichkeit. Alles Eigennüßige, berechnend Praktiſche 
lag dem Manne mit dem Jupiterfopf fern. Dafür hatte er in 
der Perſon einer intereffanten Spanierin (feiner jegigen Frau) 
eine treffliche Ergänzung gefunden. Sefiora Mariquita beforgte 
die Eoncerte, prüfte die Rechnungen, ermäßigte unerbittlich den 
Preis von Triangel und Beden. Sie war eine Art weltlicher 
Vorjehung, die irdiſche Roſe im himmliſchen Leben, ein 
Glavierauszug aus Madame Vieurtemps. »Ein Glüd für 
Hector, daß ich feine Frau bin«, lilpelte fie nach mand heißem 
Rechnungsabſchluß — und mwahrlid, nicht mit Unrecht. Ohne 
diefen Shwarzaugigen Finanzminifter hätte >»Hector«, arglos und 
großmüthig wie ein geborener König, bald feine Barjchaft zu: 
gejegt und wäre vielleicht eine8 Morgen? ohne die nöthigen 
Kleidungsftüde als Bergſchotte auf der Probe erjchienen. 

Dieje kräftig aufrechte Geftalt, dies föniglihe Haupt, dies 
Goethe'ſche Auge — ich jollte fie jehr verändert wiederfinden. 
Berlioz ijt jo leidend, daß ihn das Niederfchreiben einiger 
Seiten oft tagelange Anftrengung koſtet. Schlafloſe Nädte 
theilen fich mit nervenquälenden Tagen in die Ruhe ded Meijters. 
Hand in Hand mit feinem förperlichen Leiden geht eine tiefe 
Berjtimmung ded Gemüths, eine immer zunehmende Verbitterung 


Berlioz. 547 


und Bereinfamung. Wie jehr diefe Verdüfterung jein phyſiſches 
Leiden vermehrt und umgekehrt, deffen ift ſich Berlioz nur zu 
deutlich bewußt. 

Für Berlioz’ Richtung und Streben ift Paris ein hoff: 
nungslofer Boden. Won jeinen Land3leuten war er ftetß un: 
verftanden und wird es bleiben. Die Achtung, mit welcher man 
in Paris jeinen Namen nennt, verdankt er ausſchließlich feinem 
glänzenden Wirken als Sritifer. Den Componiften Berlioz 
ignorirt man nod immer, ja man würde ihn wahrſcheinlich 
auslachen, hielte nicht fein journaliftiiher Ruhm und Einfluß 
die Leutchen im Zaume. Mit aller Mühe bringt er es nur jelten 
dahin, eines feiner Werke in Paris aufgeführt zu hören. Die 
Orcheſter fürchten feine Symphonien, die Theater feine Opern. 
Die koloſſale Partitur, die ich vor Berlioz aufgeſchlagen fand, 
ift fein lebte großes Wert — jein bedeutendftes, wie er meint 
— die Oper: »Die Trojaner.«e Seit mehr ald zwei Jahren 
vollendet, war dies Werk an der »Großer Oper« beinahe ſchon 
angenommen, zu Gunften anderer Novitäten aber wieder remittirt. 
Nun hofft Berlioz auf eine Annahme in dem neuen Iyrifchen 
Theater, das in der Nähe des Boulevard Sebaſtopol — erit 
gebaut mwird.*) 

Wenn Berlioz jeine Compofitionen aufführen will, muß 
er nach) Deutichland gehen. Da findet er Tiebevolles Entgegen: 
kommen, Verftändniß, Anerkennung. Deutichland ift das Adoptiv- 
Baterland feines Herzens, und welch’ anderes Land vermöchte 
das geiftige Aſyl eines Snftrumental-Componiften zu werden, 
der in rein ibealem Drang auf den Spuren Beethoven's 
weiter zu dringen verſuchte. Berlioz' Sommeraudflug nad) 
Baden-Baden hängt damit zufammen; er hat Benazet’s 
Engagement angenommen, dort in jeder Saiſon ein großes 
Concert zu dirigiren. Abgejehen von dem anjehnlichen firen 
Honorar, welches der wenig bemittelte Componiſt dafür bezieht, 
findet er hier die einzige Gelegenheit, jeine Werke einem großen 
gebildeteren Bublicum vorzuführen. Das Vorbereiten und Aus— 


*) »Le Trojens à Carthages in 5 Xcten fam in Paris 1863 
zur Aufführung. 
35* 


548 Muſikaliſche Erinnerungen aus Paris (1860). 


führen dieſes Monftreconcerts ift für Berlioz mit unfäglicher 
Mühe verbunden, aber leuchtenden Auges erzählt er, wie ber 
Ihöne Erfolg ihn jedesmal entſchädige und tröfte. Nach Paris 
zurüdgefehrt, fühlt er fi durch den Fünftlerifchen Gegenjat 
doppelt gedrüdt. Die Hoffnung aus früherer Zeit fcheint ihn 
verlaffen zu haben, er nimmt feinen Zuſpruch an, der an eine 
doch zu erwartende Veredlung und Vertiefung der franzöfifchen 
Muſik appellirt. »J’ai pris mon parti.e Dieſer Seufzer ſchmerz— 
lichfter Refignation haucht einen trüben Fleck auf den patriotifchen 
und fünftleriihen Ruhm der Franzoſen. Iſt doch Berlioz der 
einzige franzöftfche Inftrumental-Componift, von dem überhaupt 
in der Gefhichte der muſikaliſchen Entwidlung die Rede fein 
fan. Es bleibt höchſt charakteriftifch für die franzöſiſche Kunſt, 
daß ihre Anftrumental-Somponiften an Zahl und Bedeutung 
beinahe Null find. Der franzöfifhe Mufikgeift ift fo eng mit 
dem Wort verbunden, daß er abgetrennt davon nur kümmerlich 
nach Luft fchnappt, wie der Fiſch auf trodenem Lande. 

Der erjte und für lange hinaus einzige Symphonien— 
Dichter der Franzofen war Goffec (F 1829), dem feine Lands— 
leute fogar die Erfindung der Symphonien und die Priorität 
vor Haydn pindiciren wollen. Ganz abgefehen davon, daß fie mit 
diefem Anſpruch factiſch im Unrecht find, ftehen Goſſec's Sym— 
phonien neben denen Haydn's wie Armliche Dilettanten-Arbeiten 
und find für alle Zeit vergeffen. Seitdem hat erft in neuefter 
Zeit (1844) ein Franzofe im fymphoniihen Fach Aufiehen 
erregt, Felicien David, mit feiner »Wüſte«. Die exotilche 
Form, die frifhe Localfärbung verliehen dem Werke einen un: 
[eugbaren Reiz, ähnlih dem Eindrud mander Freiligrath’ichen 
Gedichte. Sobald der Schmelz der Neuheit von diefem einen 
Merfe David's abgeftreift war, fiel der ganze Componiſt jo 
ziemlich in Verichollenheit. Erwähnen wir noch einiger Eleinerer 
Snftrumentalfahen von Charles Gounod, fo haben wir bei- 
läufig die ganze armjelige Ausbeute der franzöſiſchen Orcheiter: 
muſik. Diefen Symphonifern, welche uns eher wie injtrumenti- 
rende Lieder: und Arienfänger vorfommen, fteht wie ein Rieſe 
Berlioz mit feiner befremdenden Eigenart und Großheit, mit 
feiner Bizarrerie und Romantik, mit feinen phantaftifh aus— 


Bon ber Londoner Auaftellung. 549 


gerecten Formen und vollendeter orcheitraler Meiſterſchaft gegen: 
über. Daß die neuejte mufifalifche Bewegung ihre wichtigfte 
Anregung durch Berlioz erhielt und ihre glänzenditen Effecte 
ihm verdantt, ift zweifellos. Wenn aber die » Zufunftämufifer « 
Berlioz ohneweiter® ald einen der Ihrigen dußen und ihr 
zweifelhafte® Gut mit jeiner Flagge deden, jo erlauben fie fich 
mehr, als ihnen zufteht. Ich kann verfichern, daß es Berlidz' 
größter Schmerz ift, mit den Fahnenträgern der »Zukunfts— 
mufif« zufammengemworfen und für deren Experimente verant- 
wortlich gemacht zu werden. Sein Urtheil über die namhafteſten 
diefer Componiſten erlaube ih mir nicht mitzutheilen, weil 
Berlioz vielleicht in freundſchaftlichen perfönlichen Beziehungen 
zu ihnen ftehen mag. Im Vergleich mit feinen diplomatifch ge- 
glätteten Urtheilen im Journal des Debats langen dieje mind- 
lihen Auslaffungen allerdingd fehr draftiih. Berlioz' Ber: 
bitterung über feine künſtleriſche Ohnmacht in Paris madt es 
begreiflich, daß er auch perjönlich mit den gefeierten Componiſten 
der Weltitadt feinen Verkehr pflegt. Roſſini hat er nie ge 
ſprochen. Der Einzige vielleicht, dem er mit herzlicher Achtung 
zugethan iſt und den er häufig aufiucht, ift der geiltreiche und 
liebenswürdige Componift Stephen Heller, der, jeit ziwanzig 
Jahren in Paris eingebürgert, dennoch fein echt deutſches Ge— 
müth und deutſches Talent fi) unverjehrt erhalten hat. Im 
Vaterlande zurücdgelegt und mißperftanden, lauſcht Berlioz 
doppelt begierig, wo ihm aus der Ferne ein Liebeszeichen 
herübertöne. Mit Sehnfucht denkt er an Wien und Prag, und 
die dort verlebten Tage dünken ihm ein goldener Traum.*) 


Wufikalifches aus LCondon. (1862.) 


Von der Ausftellung. 


Hätte Dante lange genug gelebt, um als italienijcher 
Ausſtellungs-Commiſſär im Induftriepalaft zu fungiren, feine 
»Hölle« wäre ohne Zweifel um ein ergreifendes Bild reicher 








*) Berlioz jtarb am 9. März 1869 zu Paris. 


550 Mufitaliiches aus London. (1862.) 


geworden. Er hätte und mit lebhafter Genugthuung gejchildert, 
wie moraliihe Ungeheuer in einem langen jenfeitigen Leben 
verurtheilt find, Inftrumente in einer Induſtrie-Ausſtellung zu 
prüfen, Die Phantafie der Alten Hatte für die Qual nie 
erreichten Strebend, ewig neu unterbrodenen Bemühen? 
fein grelleres® Bild gefunden, als Tantalus, SIrion und Die 
Danaiden. Falls diefe vornehmen Dulder Hinreihend muſi— 
kaliſch find, follte man fie ohneweiters als Berichterftatter 
hieherjenden; fie würden für die Dauer der Saiſon Leicht 
freiwillige Eriagmänner nad) dem Tartarus finden. Oder 
it es nicht eine Ixionsqual, fih zmwanzigmal an ein Piano 
zu jegen, um nad den erſten Noten ftet3 von den Ton: 
lawinen der großen Walker'ſchen Orgel überfchüttet zu mer: 
den? Der Organift — er fpielt natürlich den »Propheten«— 
Marih von Meyerbeer — iſt faum bei dem As-dur-Triv ans 
gelangt, als ihm auch ſchon eine Hull’ihe Orgel die grellen 
C-dur-Fanfaren von Mendelsſohn's Hochzeitsmarſch wie Heulen 
hinüberwirft. Du fuchft zu entfliehen ; kann man dem Zorn einer 
Drgel entfliehen? Da fiehft du dich eingefeilt in einen Menſchen— 
blod, der zwifchen den engliihen und den Zollvereind-Clavieren 
ftille fteht. Denn merfwürdigerweife braucht fih blos Jemand 
an ein Piano zu fegen, und darauf frech herumzutrommeln, 
fo hat er auch Thon ein kleines Publicum, das ihm andächtig 
laufcht. Dilettanten und Dilettantinnen, die natürlich niemals 
eitel find, produciren fih den ganzen Tag hindurch auf den 
verfchiedenen Pianos, jedesmal beim Aufſtehen äußerft über: 
rafcht, daß ihnen Leute zuhören. Eben jeßt hatten wir eine 
unvergeßlide Stunde. Ein ruppiger Süngling aderte einen 
Broadwood’ihen Flügel mit dem »Tannhäuſer«-Marſch; Dicht 
neben ihm auf‘ einem Pianino von Collard zimperte eine 
ſchmachtlockige Lady Schulhoff’3 »Chant du berger«, während 
ſchräg gegenüber ihre Gouvernante ein Poutpourri oder fo 
etwas Aehnliches außleerte. Ein zehnjähriges Mädchen befommt 
durch diejen Anblick den Muth, an einem billigen Pianino den 
»young countryman« zu jpielen, einen hier allerwärtö er— 
£lingenden Gaſſenhauer, auf den eine mufilfreundliche Regierung 
mindeftens fünf bis zehn Jahre ſchweren Kerkers ſetzen würde. 


Bon der Ausftellung. 551 


Da3 Charivari iſt allgemein und erftredt fich durch den ganzen 
Tranjept. Du drängft dich durch und eilft in ein Seitenſchiff, 
das dir als clavierfrei dunkel vorichwebt. Armer Flüchtling ! 
Du bilt in dem Bereich der franzöfiihen Blasinftrumente ge— 
rathen. Die Ausfteller jcheinen eben Käufer zu wittern, und 
langen ihre theuerften Stüde hervor. 

Ein blonder, badenbärtiger Gentleman ſpuckt in eine 
Flöte, ein zweiter ift bemüht, eine Clarinette auszujaugen, 
während drei rothrödige Leibgardiſten in Riefen-Ophifleiden 
ihre (hoffentlich unsterblichen) Seelen aushauchen. Es gelingt 
dir, aus diefer Blechfammer herauszufommen ; deine Leiden 
find aber darum nod nicht erſchöpft. Du biſt höchſtens den 
reißenden Thieren des Orcheſters, den Vierfüßlern und Schlangen, 
entfommen; aber die fleineren, bösartigen Inſecten harren noch 
dein; hörst du das Gewinſel der heimtückiſchen Physharmonikas 
und Melodicons? Fühlft du den Stih der Heinen Zithern, 
die eifige böje Zugluft aus den Bälgen der Harmonifas ? 
Genug, genug! Sit dir noch einige Kraft geblieben, jo ſchleppſt 
du dich nach der öſterreichiſchen Abtheilung und vergräbit 
dih in dem kleinen, traulichen Verſchlag unjeres »Office«. 
Die Wiener Blätter find wieder einmal alle vergriffen — was 
bleibt dir übrig, ald dich deinen Gedanken hinzugeben? 

Börne verglich einmal jeine Gedanfen mit Nudeln. Ich 
zehrte an folgenden vergifteten Nudeln, Wenn die oft beflagte 
Eigenfhaft der Muſik, zudringlid zu fein, irgendwo in ihrer 
raffinirteften Scheußlichfeit ſyſtematiſch gepflegt wird, jo ge: 
ichieht dies gewiß im Londoner Induftriepalaite. Das ift ein 
mufifaliiche® Babel, eine concertgewordene Arche Noe Eine 
jolhe Muſik paßt für Völker, die zum Frühftüd ihre Tanten 
auffreifen, und nicht für gebildete Beſucher der Globe-Reſtau— 
ration oder des »Thomas-Hotels«. Daß e3 noch nirgends eine 
Spur mufifalifcher Polizei gibt, und das menſchliche Ohr ruhig 
jedweder Dual und Verhöhnung preisgegeben wird, verräth 
eine barbariiche Züde in unferer Eultur. Wenn aber unmuſi— 
kaliſche Barbaren, nicht zufrieden, jolche Hexenküche zu beichügen, 
auch noch verlangen, man follte darin die Feinheiten der In— 
jtrumente foften ımd vergleichen, dann geht der Menſch zu 


552 Mufitaliiches aus London. (1862.) 


Ende. Könnte die feinfte Nafe über Wohlgerühe Recht fprechen 
mitten in einem chemijchen Laboratorium, wo Jod- und Chlor: 
dänıpfe ihr Weſen treiben? Oder in trübem Keller über da3 
Golorit von Bildern urtheilen? 

Etwas ſpät fam die Jury, wenigſtens theilmweije, zu 
ähnlichen Empfindungen. Die Blasinftrumente werden zu großem 
Theil, die Violinen durchaus in einem eigenen abgeichloffenen 
Local geprüft. E83 war died ein zum Auöftellungögebäude ge 
höriger hoher, weiter, leerer Saal. Er gab jeden erflingenden 
Ton mit lächerliher Großmuth viermal jo ftark zurüd. Traf 
man im Ausftellungsgebäude faum Ein Clavier, das gut flang, 
jo gab es im Gegentheil in diefen Saal feine Violine von 
ſchlechtem Ton. Die Geige ilt zwar ein ungleich einfacdheres 
Snftrument als dad Clavier; dennoch bietet die Prüfung der: 
jelben eigenthümlihe Schwierigkeiten. So bildet die Violine in 
einer jehr wichtigen Eigenschaft, der Dauerhaftigfeit nämlich), 
einen directen Gegenjag zum Glavier, Eine gute Violine wird 
mit der Zeit immer befjer, das beite Clavier raſch immer 
Ihlechter. Kein größeres Entzücden für den Geiger, als eine 
hundertjährige Cremonefer Violine; fein troftloferes Möbel, als 
ein zehnjähriges Clavier. Diefe Kurzlebigfeit des Klavier fteht 
in einem jo abnormen PVerhältniß zu der Größe der Arbeit 
und der Höhe des Preiſes, fie jeßt das Piaro in einer erheb: 
lihen Eigenſchaft fo tief unter die Streich» und Bladinftrumente, 
daß der erfinderiiche Geilt der Pianofortemacher nach dieſer 
Nihtung gewiß noch die glänzendfte und wichtigite Aufgabe 
vor fih hat. Ein Ideal von muſikaliſchem Juror ſollte eigent- 
lich in die Zufunft hören können. Manch brillante neues 
Piano würde durch ein trauriges Horoffop vielleicht die Hälfte 
jeined Werthes verlieren, während aus dem füßen, aber etwa? 
jungen, unreifen Ton einer guten Geige deren fpätere Voll: 
fommenheit fih herausfühlen ließe, wie aus dem Moſt der 
Wein. 

Der ausgeitellten Streih:Inftrumente waren nicht über: 
mäßig viele; allein e& gab fehr gute darımter. Von neuen Er: 
findungen in diefem Fach können wir höchften® die flachge- 
bauten Violinen des Amerikaner? Hulsfamp erwähnen, melde 


Bon ber Austellung. 553 


eine commtercielle Zukunft haben, da fie in großer Zahl fehr 
billig fabricirt werden fönnen. Im allgemeinen war die er: 
freulihe Wahrnehmung zu machen, daß die Geigenbauer das 
rihtige Princip: den alten Stalienern nachzufolgen, allmälig 
in einer vernünftigen Auffaffung anwenden. Noch der officielle 
Beriht Schebeck's von der Pariſer Weltausjtellung (1852) 
durfte über die Charlatanerie lagen, mit welcher Geigenmader 
durch Fünftlihe Austrodnung ded Holzes, Abſchabung des 
Lackes 2c. alte Cremoneſer Geigen, oder richtiger: das Alter 
der Gremonejer Geigen copirten. Das Streben eines tiihtigen 
Geigenbauers foll und kann doch immer nur dahin gehen, feine 
Snftrumente jo zu machen, wie Guarneri oder Straduarius 
fie zu ihrer Zeit gemadt haben, nicht aber neuen Geigen 
durch bedenkliche Kunſtgriffe dad Anjehen Hundertjährigen Alters 
und Gebrauchs zu geben. 

Die Ausstellung von Blasinftrumenten ift jehr reich, 
fie dürfte über 1000 Stüf in Metall, über 600 in Holz 
betragen. Die Franzojen haben ihre Inſtrumente in theils 
flachen, theils rondelartigen Glaskäſten am netteften ausgeſtellt. 
Der Eindrud, den wir vor den großen, hellpolirten Blech: 
Inftrumenten Beſſon's, Gautrot3 und Sax' empfingen, 
war bewunderndeg Grauen. Oder wie jonft fünnte man dieſe 
riefigen, vielfah gemwundenen, flappenbededten Ungeheuer an: 
fehen; diefe Armftrongfanonen der Tonkunft, die drohend ihre 
weite Mündung gegen uns richten? Zum Glüd findet ſich 
jelten ein Liebhaber, der fie auf der Ausjtellung probirte. Als 
wenn alle diefe Sprößlinge des Ophikleidengeſchlechts noch 
nicht für die zarten Bedürfniſſe einer Militärmuſik ausreichten 
und wenigftens die Phantafie da weiter fortjegen müßte, mo 
die praktiſche Möglichkeit endet, hat Sar eine Metalltuba ver: 
fertigt, die gar feine mufilalifche Verwendung zuläßt. Nur ein: 
zelne Töne vermöchte ein Nibelungen-Hornift aus dieſer De: 
tallihluhht hervorzuholen, in deren Innerem der gewaltige 
Bläfer zugleich fi) bequem verſtecken kann. Das Inſtrument 
von Sar hat für den Mufifer feine andere Bedeutung, als für 
den Raucher die unermeßliden Meerichaumföpfe haben, welche 
man hie und da in Auslagfäften paradiren ſieht. Die Fran— 


554 Mufifalifcher aus London. (1862. ) 


zoien würden beides »tours de force« nennen. Neun und höchſt 
intereffant ift die zum erftenmal verjuhte Verwendung des 
Aluminiums für Blasinftrument. Gin aus dieſem Metall 
verfertigtes Flügelhorn von Beſſon iſt ſo leicht wie Pappen— 
deckel. Vier ſolche Inſtrumente erreichen zuſammen erſt das 
Gewicht eines gewöhnlichen Blechflügelhorns von gleicher 
Größe und Dicke. Im Preiſe ſtellt ſich Aluminium dem Silber 
gleich, und dieſe Koſtſpieligkeit bildet natürlich das größte 
Hinderniß für die Verbreitung jenes Verſuches. Sollte man 
aber künftig dahin gelangen, Aluminium billiger zu erzeugen, 
jo wird deſſen Verwendung für Blasinſtrumente als größte 
Wohlthat für die blaſende Menſchheit eine enorme Ausdeh— 
nung gewinnen. 

Die Flöten von Meiſter Ziegler in Wien haben durch 
Schönheit und Solidität der Arbeit und ihre verhältnißmäßige 
Billigkeit verdientes Aufſehen erregt. Trotzdem kann man ſich 
nicht mehr darüber täuſchen, daß die ſogenannte »alte« Flöte, 
die gegenwärtig in Wien nach ausschließlich herricht, von dem 
neuen Syſtem des Münchner Theobald Böhm täglih mehr 
verdrängt wird. In allen engliihen und franzöſiſchen Orcheſtern 
berriht die Böhm'ſche Flöte, und wird fhon dur den einen 
Vorzug allein, daß fie die Lunge des Spielers fchont, überall: 
hin ihren Weg finden. Die Anhänger der einfacheren, billigeren, 
gemüthlihen Wiener Flöte mögen noch fo gereizt auf die 
neue Erfindung bliden, diefer allein gehört die Zukunft, ja 
zum großen Theil ſchon die Gegenwart. Die Anhänger der 
alten Flöte werden mit demjelben gerechten Herzeleid ihr Lieb: 
lingsinftrument verichtwinden ſehen, wie unfere Großeltern die 
gemüthlihe Poftkutihe vor den Dampfmalhinen einer nenen 
Zeit verſchwinden ſahen. Wir ehren den Schmerz um muſi— 
faliiche und fonftige Boftkutichen; allein nimmermehr möchten 
wir den Leuten abrathen, auf der Eifenbahn zu fahren. 

Wenn der Saal ruhig und die Zuft rein ift, hören wir 
jeltfame Scharfe, Tanggezogene Töne. Sie Klingen füß, unſäglich rein, 
dabei aber eigenthümlich durchichneidend, gläfern, wie mit geifter- 
haft jtieren Augen geradezu auf unjere Nerven losſchreitend. 
Die fremdartigen Klänge fommen aus einer Glasharmonifa, 


Bon ber Ausftellung. 555 


und der blonde, freundlide Mann, der fie dem Inſtrument 
entlodt, it Herr Bohl aus Wien. Die Glasharmonika ift mehr 
eine mufifalifche Guriofität, ald ein Inftrument. Auf ein meit 
engered Feld mufifaliicher Entfaltung beichränft, als die Phys— 
harmonika, überbietet fie dieſe noch an ätherifcher Reinheit und 
nıervenaufregender Schärfe des Tones. Es wird wohl zunädjit 
das Intereſſe des mufifaliihen Hiſtorikers, oder aber das 
Bedürfniß einer übermäßig geiteigerten Empfindſamkeit fein, 
was fich diefem Inftrumente inniger befreundet. Für unfere 
Empfindung hat die Glasharmonika etwas krankhaft Gereiztes, 
fie gehört zu den pathologiichen Ericheinungen, die hin und 
wieder in jeder Kunſt auftauchen, um bald wieder zu ver: 
Ihwinden. Das Beitridende diejes pathologiichen Neizes erklärt 
pollfommen, daß gewilje Stimmungen und Gemüthsrichtungen fich 
daran beraufchen, daß ein Jean Baul md F. D. Schubart 
dafür ſchwärmen fonnten. 

Ein anderer Theil des Publicums, der ftärfere Koſt liebt, 
umſteht fleißig die großen Spieluhren und Orcheſtrions, Die 
zu beitimmten Tageszeiten mit halber oder ganzer Orcheiter- 
fraft ihre Stüde aborgeln. Das größte und vollfommenite 
diejer Automaten ift eine Schwarzwälder Arbeit von Welte 
im GroßherzogthHum Baden. Es iſt um die Kleinigkeit von 
2000 Bid. St. käuſlich. Dies Orcheſtrion ift ein fürmlicher 
mufifaliiher Hochofen. Alle Stunden wird die eiſerne Thüre 
unten geöffnet, einige Mufitwalzen, wie große Blöde Holz, 
hineingeichoben. Nun fängt e8 an zu £niftern, die mufifalifche 
2ohe ſchlägt auf und prafjelt mächtig, bis die Feuerung auf: 
gezehrt ift und der Ofen mit einer neuen Duverture geheizt wird. 

Die Ausstellung im Induſtriepalaſt ift bekanntlich nicht 
nad) Gegenftänden, fondern nah Nationen geordnet. Wer 
daher die mufikaliichen Inftrumente nah ihren Hauptelaffen 
durchgehen und vergleihen will, muß fih auf lange Kreuz— 
und Querzüge, auf fortwährende Abitecher aus Franfreih nad 
Deutihland, aus England nah Nordamerifa u. ſ. f. gefaßt 
machen. 

Die Jury begann ihre Prüfungsarbeiten mit den Cla— 
vieren, den »MVornehmen«e und »Gebildeten« der tönenden 


556 Mufifaliiches aus Lonbon. (1862.) 


Gefelihaft. Die Franzoſen verdienen hier wie überall als 
jorgfältige Ausfteller Nacheiferung. Ihre Inſtrumente find 
zwedmäßig und gefällig geordnet und durchaus in guter 
Stimmung. Alle franzöfiihen Inftrumentenmaher haben für 
Virtuojen aller Gattung gejorgt, weldhe ihre Inftrumente in 
der Erhibition vorführen. Auch fanden wir in der Qualität 
ihrer auögeitellten Yabrifate ein gemilles Niveau der Ans 
jtändigfeit, unter welches jelbit die geringfügigften nicht ſanken. 
Bon den Glavieren Pleyel's und Herz’ biß zu dem legten 
franzöfiihen Piano der Ausftellung iſt feine fo große Kluft, 
wie zwiſchen dem Beiten und dem Schlechteſten der deutjchen 
Abtheilung oder der engliihen. In letzterer fteht die Firma 
Broadwood obenan. Ein fremder Herr öffnet ‚und zupor= 
fommend die Broadwood’ihen Flügel, zieht mit kräftiger Hand 
die Mechanik heraus und gibt und Aufichluß über jedes Detail 
der Fabrication. Seine Perſönlichkeit hat etwas TFeflelndes 
dur) die eigenthümliche Verſchmelzung von Intelligenz und 
Mohlwollen. Das leuchtende braune Auge, die jugendlich ela= 
tiihe Haltung contraftiren ſchön zu dem grauen Haar und 
der ernitgefurdhten Stirn. So, meint mein Nachbar, fünnte ein 
Premierminifter ausjehen. In Wirklichkeit ift e& der Clavier— 
fabrifant Henry Broadmwood. Mer verbindet nicht mit 
diefem Namen fogleih die Vorftellung einer impojanten Ge: 
werbs- und Handelsthätigkeit? Das Land ilt ftolz auf die 
Leitungen und den Ruhm der Firma; die Nation darf 
ftolz fein auf Männer wie Henry Broadwood. Der Mann, 
deſſen — Seither fehr vermehrte® — Vermögen ſchon zur Zeit 
der erſten Londoner Ausstellung über zwei Millionen Pfund 
betrug (alſo über 20 Millionen Silbergulden), fit um ſechs 
Uhr Morgens arbeitend an feinen Clavieren. Ein große Herr, 
wie nur irgend einer, iſt er doch ftolz darauf, Arbeiter zu fein. 
An feiner Fabrit — fie gleicht einer kleinen Stadt — kennt 
er jeden Gehilfen, jeden Winkel, jede Verrichtung. Mit einer 
Liberalität ohnegleihen macht Broadwood fremden lavier: 
madhern den Führer und Erklärer in feinem riefigen Inftitut, 
fern von der Kleinlichkeit auch nur des geringſten Geheimniſſes, 
der Hleinften Brahlerei. Ebenfo eifrig wie wir Broadiwood fanden, 


Bon ber Ausftelung. 557 


Andere zu belehren, ſahen wir ihn auch ſelbſt lernen und 
beobachten. Mit der gewiſſenhaften Aufmerkſamkeit eines Auf: 
ftrebenden prüfte er die Gigenthümlichkeiten der ausländifchen 
Snftrumente, und jelten hörte man neiblofere Anerkennung 
jedes fremden Verdienſtes. Sieht man vollends Broadwood 
als Haupt feiner Familie von einer trefflihen Frau und vier 
Ihönen Töchtern umgeben, in einem Haus, das, ohne allen 
prahleriſchen Flitter, von Aufgeräumtheit und Behagen glänzt, 
dann kann man fich die freudige Empfindung nicht verhehlen, 
ein ideales Bild engliihen Bürgerthums, engliihen Familien: 
leben geſchaut zu Haben. 

Der Deutiche kann die Bemerkung nicht unterbrücden, wie 
jehr derlei große engliiche Unternehmungen durch die riefigen 
Dimenfionen ihres Capitals, Verkehrs, ihrer Arbeitöfraft und 
Speculation vor ähnlihen Fabricationen des Continents be— 
günftigt find. Die Broadwood'ſche Fabrik beiteht eigentlich 
aus zwei großen Gtabliffements, deren eines fih in der Great 
Pultney Street, dad andere, größere, bei Weſtminſter befindet. 
Regtered bebedt einen Flächenraum von mehr als einer halben 
Meile im Umfang und befteht aus vier parallel laufenden 
Reihen von Gebäuden, welche drei große Höfe bilden. Die 
Gebäude, durchgehend Doppeltracte, find 300 Fuß lang und 
enthalten durch drei Stodwerfe eine Doppelte Reihe von Werk— 
ftätten, in denen an 400 Berfonen ſich mit der Ausführung 
aller jener Arbeiten beichäftigen, welche nothwendig find, um 
vom erften Sägeichnitt bis zum feinjten mechanischen Detail 
ein vollendetes Piano herzuftellen. Die jährlichen Auslagen 
der Broadwood’shen Fabrik betragen in runder Summte 
100.000 Pfd. St. oder eine Million Silbergulden. Jährlich 
liefert die Fabrik circa 2300 Claviere, alfo nicht viel weniger 
als alle Wiener Pianofortemacher zufammengenommen. Mit 
ſolchen Dimenfionen kann nun freilich der genialite Clavier— 
macher Deutfchlands nicht concurriren. Neben England iſt es 
vorzüglich Nordamerifa, wo derlei Fabricationen fich koloſſal 
entwickeln können, wo Talent und Arbeitöfraft den üppigiten 
Boden und felbit bei mangelndem Capital die Hilfe ausgiebigen 
Gredit3 finden. 


558 Mufifaliihes aus London. (1862.) 


Die Familie Steinway aus Braunſchweig jcheint für 
Amerika werden zu wollen, wad® Broadwood für England, 
Erard für Frankreich. Aljo in allen drei Fällen Deutihe von 
Abſtammung. Steinway’s Jnftrumente auf der Austellung 
— zwei Flügel und ein Zafelclavier — ftehen obenan unter 
den Glavieren, welche das meifte Auffehen erregt haben. Dieie 
Anftrumente beitechen durch ihren vollen, runden Ton, inter: 
ejfiren überdies durch finnreiche mechanifche Neuerungen. Es 
find darin (im gleichen Intereffe der Raumerjparnig wie der 
Tonfülle) die Baßfaiten überquer gejpannt; der Metallrahmen 
befteht aus einem einzigen Stüd gegofjenen Eiſens u. ſ. w. Bon 
allen mechaniſchen Verbeſſerungen ſchien uns die Methode Stein 
way’s, jo jung und wenig erprobt fie auch noch ſei, doch am 
meilten Gntwiclungsfähigfeit und Zukunft zu haben. 


Die Oper. 


Wenn von der »Dper in London« gejprocdhen wird, hat 
man immer an die italienijche zu denfen. Seit einigen Jahren 
ift zwar der Verſuch einer »engliihen National:Oper« wieder: 
holt gewagt worden, allein diefe ſchwächliche Schöpfung wird 
von den eigenen Landöleuten als Aichenbrödel behandelt und 
darf fih nur »hors de saison«, in den Wintermonaten bliden 
lafjen. Während der »Sailon« — ein Begriff, der in London 
mehr als irgendivo auch in künſtleriſchen Dingen enticheidet — 
gibt es nur eine italienijche Oper, und dieſe obendrein doppelt 
vertreten duch zwei rivalifirende Opern-Geſellſchaften im 
Gonventgarden und in Her Majelty’3 Theatre. Eine fo un— 
erhörte Ausdehnung italieniiher Opernmufit in fremdem Land 
muß heutzutage nicht wenig auffallen. Dies Feitfigen auf einem 
antiquirten Standpunkt charakteriſirt nicht nur die Hiftorijch ge: 
wordene Zähigkeit der Engländer auch in fünftleriichen Dingen, 
es beweilt eben jo ſehr ihre Verlegenheit, der Alleinherrichaft 
der wälfchen Oper eine ebenbürtige nationale Production ent— 
gegenzujegen. Seit den zweihundert Jahren, al3 die italienische 
Dper allmälig von Europa Belig zu nehmen begann, um ihn 


Die Oper. 559 


lange Zeit unbeftritten zu behaupten, hat fi in Deutichland 
und Frankreich längſt eine eigenthümliche nationale Kunſt ent: 
faltet und jene importirte wieder heraußgedrängt. In Paris be: 
fteht zwar noch die Gewohnheit einer furzen »italienischen 
Saiſon«, allein neben dieſer jegen rührig und umbeirrt zwei 
bis drei franzöfiihe Bühnen die Pflege der nationalen Oper 
fort. Weit entfernt, in der Saijon auf das Gaſtſpiel »aux 
Italiens« angewiejen zu jein, erbliden die Parijer faum mehr 
etwas anderes darin, al3 einen ariftofratiichen Lederbiffen. In 
Deutichland Haben nicht nur die ehemaligen Hauptfige der 
italienifchen Oper, Dresden, Minden, Berlin, die deutſche 
Dper längit vollſtändig an die Stelle der wälſchen treten laſſen, 
auch Wien hat den letten Nachklang derjelben, die dreimonat: 
liche Stagione im Kärntnerthor:Theater, als antiquirt aufgegeben. 
In London hingegen vertreten noch immer das gefammte große 
Kunitgebiet der dramatiihen Mufit — zwei italienifche Gefell- 
ichaften. Sie herrichen während der ganzen Zeit allein, wo in 
Rondon überhaupt von Theater und Mufit die Rede ift, denn 
die ärmliche Comöddie, die unter dem prunfenden Namen »new 
royal Operetta-Housa« ihr dunkles Weſen treibt, iſt in Wahr: 
heit nicht3 anderes als ein ſchlechtes Waudeville-Theater. 

Der künſtleriſche Einfluß der italienischen Oper in London 
ift im Vergleich zu ihrer Breite und Koftipieligkeit jehr gering. 
Wenn irgendwo die Oper den Kainsſtempel ihrer Entitehung, 
den Charakter höfiſcher leerer Grgöglichkeit noch aufweilt, jo 
ift dies der Fal in London. Dies Inſtitut, das fabelhafte 
Summen verihlingt, fteht mit der Nation nicht in dem leifeiten 
inneren Zujfammenhang. Es hat gar fein Verhältniß zu dem 
Boll. Nur die Geld- und Geburt3:Ariftofratie, verftärkt durch 
die neugierige Touriſtenſchaar, nimmt Antheil daran. Die ita- 
lienijche Oper zu bejuchen ift Mode, fie gehört zu den Saßungen 
des bon ton. Von dem innerlich erregten Antheil, mit welchen: 
in Deutſchland und Franfreih das Erfcheinen einer neuen oder 
die Wiederbelebung einer clafiiichen Dper aufgenommen wird, 
ilt hier feine Nede. Damit ſoll nicht etwa die Theilnahmölofig- 
feit des engliſchen Publicums denuncirt fein, ſondern zumächit 
die unausfüllbare natürliche Kluft zwijchen demjelben und der 


560 Muſikaliſches aus London. (1862.) 


italieniihen Oper. Kein Volk hat einen jo geringen fünftlerifchen 
Zufammenhang mit Stalien, dem Mutterland des Schönen, als 
das britiihe. Wenn wir heute eine italienische Oper in Wien 
organifiren wollten, wa® faum einem Wernünftigen mehr ein- 
fällt, jo Eönnten wir noch immer auf die künſtleriſche Bluts— 
verwandtihaft pochen. Unſer eriter Tondichter Mozart iſt ein 
Adoptivfohn Italiens, vor und neben ihm war es ber aller: 
größte Theil der »MWiener Schuler. Getränkt mit italienischen 
Kunftelementen, fteht Defterreich durch feinen italieniichen Länder: 
befig und das lebhafte finnliche Temperament des eigenen Volkes 
in fortwährendem räumlichen und geiftigen Zufammenhang mit 
dem Baterlande Cimaroja’s und Roſſini's. In den gebildeten 
Kreiſen Wiens ijt die Kenntniß der italienischen Sprache fo ver— 
breitet, daß das Publicum in der italienifhen Oper nichts 
weniger als ein mwildfremdes Idiom hört. In Paris herrſcht 
ein ähnliches Verhältniß. Die Franzojen, an fih ſchon den 
Ktalienern blutöverwandt, haben ihre nationale Oper auß der 
italienifchen herausgebildet, fie haben ihre beften Componiſten 
und alle beiferen Sänger in die Schule Italiens geſchickt. Aber 
England! Was hat England mit der italienifchen Oper zu 
Ihaffen? Außer einigen Gelehrten und Kaufleuten verfteht dort 
fein Menih Italieniſch. Es war in Her Majeity’3 Theatre, wo 
ic eines Abends den »Barbier von Sevilla« hörte. Ich war 
eritaunt, Zuchini, der in Wien als Doctor Bartolo von 
Laune förmlich überfprudelte, hier fo wirkungslos und unauf- 
gelegt zu finden. Ein Blid auf die fteinerne Miene des Publicums 
flärte mich raſch auf. Die Leute verftanden ja nicht eine Silbe 
vom Dialog und nahmen diejelben Späffe, die in Wien jhallendes 
Gelächter hervorrufen, fo feierlich ernfthaft auf, als ſpräche der 
fteinerne Gaft im »Don Juan«. Fremd, wie die Sprache, bleibt 
dem Engländer auh das Phantafier und Gemüthsleben des 
Italienerd. Jedermann weiß fich diefen Gegenjaß ſelbſt aus— 
zumalen. In feiner ganzen Wucht fühlt man ihn aber dennoch 
erft, wenn man London gefehen hat und feine ſchweigſam raſt— 
[ofen Bewohner, wie fie unter verdrießlich grauem Himmel und 
naßfalter Luft im »Geſchäft« des Lebens arbeiten. Man blide 
auf den Molo von Neapel und dann in irgend eine Cityſtraße 


Die Oper. 561 


von London, um zu millen, was eim äfthetiiches Volk und 
was ein praftiiches ift. 

Sp, dem Wefen der italienischen Kunft fremd, muſikaliſch 
nicht hinreichend empfänglich noch. geichult, um jelbft im zwei— 
deutigen Sinn Feinfchmeder zu fein, ſucht der Engländer in 
der Oper nichts als eine glänzende Zerftreuung. Er läßt für 
feinen mufifalifchen Appetit, ohne viel Wahl, anrichten, »was 
gut und theuer« iſt. Theuer, das muß man einräumen, find 
die zwei italienischen Opern-Gefelliehaften, und »gut« genug jeden- 
falls, um ein PBublicum, das von der Kunſt nur Abjpannung, 
nie Anitrengung der Geiftesthätigfeit erwartet, leidlich zu 
amüfiren. 

Zwei italienifche Opern-Geſellſchaften ſcheinen uns ſelbſt 
für London zu viel, Nicht für die Größe der Stadt, aber für 
die Qualität ihres äfthetiihen Bedarfed. Troß des enormen 
Fremdenzudrangs zur Weltausstellung jahen wir die italienischen 
Dpernhäufer an mehr ald einem Abend recht jchütter bejegt. 
Bon Händel bis auf Lumley Haben fih in London Die 
Banferotte der Opernpäcdhter nur zu oft wiederholt, und auch 
unter dem Nachfolger des letzteren joll der Mechanismus des 
Gagenzahlens mitunter jchon bedenklich geitört fein. Wären 
nicht manche Verſuche bereitö gefcheitert, man müßte glauben, 
daß in London neben einer italienischen Opern-Geſellſchaft eine 
deutiche und eine franzöfiiche befier am Plage wären. Nicht 
blos mit Rüdficht auf die zahlreihen Fremden und die vielen 
in London anfäjfigen Deutihen und Franzojen, fondern weil 
auch dem Engländer fih damit der einzige Weg öffnete, das 
Beite der gejammten Opern-Literatur fennen zu lernen. Die 
italienifhe Oper iſt in ihrem Horizont befanntlich weitaus die 
engite, ſowie die deutſche die am meilten kosmopolitiſche 
iſt. Mit ihren zwei großen italienifchen Gejellichaften entbehren 
die Engländer dennoch die Kenntniß der meiften deutichen und 
franzöfiihen Opern. Ganze Stylrichtungen und Kunftgattungen 
wie die franzöfiihe Opera Comique find ihnen verichlofjen; 
von deutſchen Opern fennen fie in italienifcher Zurichtung 
»Fidelio«, dann »Freifhüg« und — »Martha«. Nur Meyer: 
beer haben ſich die Staliener begreiflichermweiie nn affi- 


Handlid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 


562 Mufifaliiches aus London. (1862.) 


milirt, er ift neben Verdi der eigentliche theatraliiche Regent 
in London. 

Die Unternehmer der beiden italienifchen Opern im Co— 
ventgarden und Her Majeſth's find natürlich vor allen befeelt 
von dem Gefühle — der Rivalität. Schade nur, daß fie dieſe 
Rivalität nicht dahin verftehen, fich jeder ein eigenes Repertoire, 
ein beſonderes Genre zu bilden, fondern im Gegentheil dahin, 
einander auf demjelben jchmalen Pfade fortwährend auf die 
Ferſe zu treten. Wenn Goventgarden anzeigt, e8 werde dieſe 
oder jene Novität in acht Tagen aufführen, jo fanı man Tags 
darauf mit Sicherheit die Annonce erwarten, Her Majeſty's 
Theatre werde die Ehre haben, diejelbe Oper jchon übermorgen 
zu geben. Während meines Aufenthaltes in London Hat jich 
dies buchftäblih mit den »Hugenotten«, »Don PBasquale« und 
»Robert der Teufel« zugetragen. Letztere Oper war in London 
jeit at Jahren nicht aufgeführt worden, aljo fo gut wie eine 
Nopität. Herr She kündigt fie für die nächſte Woche an, natür— 
(ih mit höchſt impojanter Bejeßung« und »beijpiellofer Voll— 
endung und Ausftattung«.*) Was thut fein Nival, Herr 
Mapplefon? Er jest die Oper auf übermorgen an und gibt 
fie mit zwei Proben. Die zweite Probe (am Tage vor der 
Aufführung) begann um 10 Uhr Vormittags und mwährte bis 
halb 3 Uhr Morgens. Zur Mittagszeit wurde dem Chor=, 
Ballet: und Orcheſter-Perſonale das Eſſen ind Theater gebracht 
— damit fih Niemand aus dem Haufe entferne — und nad 
einer furzen Raft die Probe bis zum Morgengrauen fortgefegt. 
Was lag an dem mangelhaften Enjemble einer todimüden 


*) Man weiß nicht, ob man die marktjchreieriihe Faflung oder 
den Sprachwirrwarr der engliihen Theaterzettel mehr bewundern joll. 
Her Majeſty's Theatre zeigt z. B. wörtlich an: 

»Thursday will be repeated (with unexampled completeness 
and effect) Meyerbeer’s chef-d’oeuvre Robert le Diable. With the 
following powerful cast: (folgt die Bejegung). Wir lefen in den 
Perjonen-Berzeichniffen u. A.: Signor Tamberlid, Madame PBenco, 
Mr. Faure, Herr Formes. Jeder Theaterzettel der beiden Herren ift 
ein Kauderwälſch aus drei Sprachen. Ja aus vieren jogar, denn iiber 
dem Perſonen-Verzeichniß heißt es in den fleineren Anzeigen noch mie 
zu Shafeipeare’3 Zeiten »Dramatis personaee«! 


Die Oper. 563 


Künftlerichaft; der Director hatte den »Robert« gegeben und 
wiederholt, ehe jein Rivale denjelben brachte, und ſomit — 
all right! 

Das Fünftleriihe Princip, wenn man es fo nennen mag, 
ift in beiden Theatern das jogenannte » Starfyitem«. Es werden 
nämlich einige »Sterne« (stars) als Mittelpuntt des Ganzen 
engagirt, um welche dann alles Mebrige in eiliger Mittelmäßig- 
feit gruppirt wird. Goventgarden, das in befjeren Gefchäften 
und in größerem Anfehen fteht, hat mehr Sterne und ein ge— 
ordneteres Planetenſyſtem; Her Majefty’3 wenig Sterne bei 
überdied dunflerem und unverläßlichem Himmel. 

Ihrer Majeftät Theater auf dem Haymarfet, die— 
ſelbe erinnerungsreihe Bühne, für welde Händel die meilten 
feiner Opern gefchrieben, ilt eines der größten Opernhäufer.*) 
Für die unäfthetifche, wenngleich praftiihe Hufeilenform des 
Zuſchanerraums und defjen ardhiteftonische Dürftigkeit entfchädigt 
die vortreffliche Akuftit des Bares. Die leiſeſte Geſangsver— 
zierung hört man vollftändig flar auf den entfernteften Pläßen 
dieſes Haufes. Aeußerſt ftörend ift Hingegen das unverhältniß— 
mäßig große Profcenium. Drei Logen auf jeder Seite befinden 
ſich vollftändig auf der Bühne, jo weit ragt dieje ins Publicum 
hinein. Die Einrichtung Tchreibt fih aus den Zeiten eines 
enthufiaftifchen Balletcultus Her, wo jie den humanen Zmed 
hatte, gewiſſen Menſchen Menjchliches näher zu bringen. Für 
die dramatiihe Illuſion ift eine ſolche Bühne das Allerverderb- 
lichfte. Der Sänger, der gehört werden will, tritt fortwährend 
aus dem Rahmen der Handlung heraus und jteht mitten im 
Publicum. Was nüßt die ſchönſte Kirhhof-Decoration im Hinter: 
grund, wenn die Sänger zur Rechten und Linken feine Leichen: 
fteine, fondern Logen voll gepußter Herren und Damen haben? 
Die Wirkung der trefflichſten Decorationen, der geſchickteſten 





*) Es iſt größer al3 Eoventgarden und gibt dem inneren Raum 
der Scala in Mailand nicht viel nach. Die Breite des Bühnenraumes 
beträgt beinahe 80, die Tiefe 62 Fuß. Die 5 Logenränge (210 Logen 
enthaltend), von denen die 3 eriten faft ausſchließlich im Befig der 
nobility find und für die Saiſon à 150-400 Guineen koſten, fafjen 
1000 Berjonen, Barterre (pit) und Galerie zuſammen an 1600. 

36* 


564 Mufitalifches aus London. (1862.) 


Scenirung geht an der Barbarei eines ſolchen Profceniums zu 
Grunde. Sie macht die große Tiefe der beiden Londoner Opern— 
bühnen zu einem Dritttheil illuſoriſch. Dieſe Tiefe der Bühne 
it unſchätzbar für die große Ausftattungsoper, Hingegen ein 
arges Hemmmiß für die komiſche und Gonverfation?-Oper. Im 
»Barbiere oder »Don Pasquale« wiſſen die drei bi vier 
fingenden Berfonen kaum, was in dem unheinlich weiten Raum 
anzufangen. Wenn Rofina vom Brofcenium an ihren Schreib: 
tiih oder gar zum Fenfter geht, jo Iegt fie eine fleine Reiſe 
zurüd. In Goventgarden, wo vor dem Brand (1856) der 
Vorderraum der Bühne noch größer war, fpielte man damals 
den »Barbier« vollftändig auf dem Profcenium, und ftellte un— 
mittelbar hinter die erite Goulifie den Hintergrund. Obwohl 
ein Nothbehelf, zeugte diefe Anordnung doch von der richtigen 
Einficht, daß alle Feinheit des Converſations-Stücks in fo weiten 
Räumen verloren geht. Das Beſte bleibt überall, die komiſche 
Oper, wie in Paris, in ein eigenes Eleinereg Haus zu retten. 


Geiſtliche Muſik. 


Wie die Oper der äußerlichſte Beſtandtheil des Muſik— 
lebens in England, ſo iſt deſſen echteſter und volksthümlichſter 
das Oratorium. Dieſe ſeltſame Seitenbildung der Oper hat 
ſich in England zum glänzenden Gegenpol derſelben aus— 
gearbeitet und eine Stellung errungen, die ſie in gar keinem 
anderen Lande einnimmt. Während in England die Oper als 
künſtlich gezogenes Gewächs ein gleißendes Scheinleben führt, 
der Nation fremd und gleichgiltig, ein Zeitvertreib den Reichen 
und den Fremden, blüht dort das Oratorium ſeit Händel's Zeiten 
in geſunder, zweigtreibender Kraft. Von allen größeren Kunſt— 
formen in der Muſik iſt das Oratorium die einzig populäre in 
England, die einzige, welche, mit den Anſchauungen und Ge— 
fühlen des Volkes tief verwächlen, eine ethiſche Macht über 
dasjelbe ausübt. In England ſelbſt wurde es uns erit recht 
ar, wie Händel gerade in diefem Land umd für diejes Volt 
ein Kunſtgenre ſchuf, das man die biblifche Concert-Oper nennen 


Geiftlihe Muiif. 565 


fönnte.*) Dem Geſchmack des Engländers entipricht darin 
ebenfofehr die Verkörperung biblifcher Geftalten, als muſikaliſch 
das ruhige, kräftige Pathos, der gleihmäßige, große Styl. Es 
ift gewiß nicht Lediglich das mufifalifhe Moment, was den 
Engländer in Händel’3 Oratorien die Vollendung aller Kunft, 
in Spohr's und Mendelsjohn’s Oratorien die Spiten der 
modernen Runft preifen läßt, der religiöſe Inhalt fpielt in dieſe 
Vorliebe mit hinein; doch nur ſchroffe Ungerechtigkeit vermöchte 
das größte und befte Theil der Händel:Verehrung in England 
auf das geiftlihe Fundament allein zurüdführen wollen. 

Händel ift in feinem Vaterland beiweitem nicht jo 
populär, wie in England. Dabei ift fein Humbug. Das englifche 
Volk, foweit es überhaupt der Muſik zugänglich ift, fennt den 
»Meffiad« jo genau, wie etwa ein deutſches Publicum den 
»Freifhüß« oder die »Zauberflöte«. Wie wäre es auch fonft 
möglich, daß die Taufende von Sängern (Dilettanten), welche 
aus ganz England zu dem Händelfeft zufammenftrömen, den 
»Meſſias«, »Iſrael« u. dgl. mit Einer Gefammtprobe fingen! 
Lichtenberg jchrieb einmal aus London an Boye, Shafe 
jpeare werde in England nicht wie ein großer Schriftiteller 
verehrt, jondern wie ein Heiliger. Dies gilt weit unbedingter 
von Händel. Der Händelcultus ift die eigentliche muſikaliſche 
Religion in England. Als oberites Conſiſtorium dieſes Cultus 
fungirt die Sacred harmonie soeiety Geſellſchaft für geift- 
fihe Mufit) in London. Dieſes berühmte Snjtitut — man darf 
e3 wohl die erſte muſikaliſche Gejellfhaft der Welt nennen — 
verdient etwas näher betrachtet zu werden. 

Es war in den legten Tagen des Jahres 1832, daß 
in London ein Kreis mufifliebender Dilettanten die Gründung 
einer Gejellihaft beihloß, welche ausichließlih der Pflege 
geiſtlicher Mufif gewidmet fein follte. Die ausübenden Mufik: 





*) Für den Schöpfer der modernen Oratorienform müffen wir 
Händel troß der vielen älteren »Oratorien« halten. Den erften 
äußeren Anitoß zu feinen Oratorien gab bekanntlich das von der eng: 
liſchen Geiitlichfeit erlaffene Verbot, eine biblifche Oper »Either« auf 
dem Theater aufzuführen, worauf fie dann Händel in der noch heute 
üblichen Concertform (in still life) vorführte. 


566 Muſikaliſches aus London. (1862.) 


freunde (»Amateurs practitioners of music«), welche diefe Ge— 
jellihaft bildeten, hatten anfangs weniger die Veranftaltung 
großer Goncerte, als die eigene Hebung und Erbauung im 
Auge. Sie verfammelten ſich wöchentlih einmal des Abends, 
und zwar anfangd in einer Gapelle in Lincoln’: Inns Field 
(Gate Street). Da hatten fie die Benügung der Localität und 
der Orgel unentgeltlih. Als ihr aber diefe Erlaubniß bald 
wieder entzogen wurde, war die junge »Sacred harmonie 
soeiety« in großer Lebensgefahr, denn es fehlte ihr an Geld. 
Dennoch ftanden die 31 Mitglieder, aus welchen damals Die 
Gejellihaft beftand, unerichroden zufammen, errangen ſich zus 
nächſt die Benügung einer Capelle in der Henriettenftraße, und 
mietheten endlich für ein halbes Jahr einen Saal in Ereter 
Hal. Nachdem fie im Jahre 1833 zwei Concerte gegeben, 
hatten fie Ende December — ein Deficit von 20 Pfund 
Sterling. Dies betrübende Endrejultat wiederholte fih nod 
bis ins Jahr 1836, ein Beweis, daß die Gejellihaft redlich 
zu fämpfen hatte. Sie verlor aber nicht den Muth, vermehrte 
1836 die Zahl ihrer Eoncerte auf acht und 1838 auf eilf. 
Ihr endlihes Aufblühen datirt von dem Zeitpunkt, wo Die 
berühmten geiftlihen Concerte in der MWeltminfterabtei jeltener 
wurden und endlich (1840) ganz eingingen. — Ihre Erbſchaft 
ward gleichjfam von der Sacred harmonie society angetreten, 
und zwar mit ungleich außgebildeteren Kunftmitteln. Im teten 
Wachsthum entwidelte ſich die Gefellichaft, bis fie durch Die 
Veranftaltung des großen »Hänbelfeites« im Jahre 1859 den 
Gipfel ihres Anfehens eritieg. Die eier des Hundertiten 
Zahrestages von Händel’ Geburt, in Deutſchland beinahe 
ignorirt, wurde damals befanntlih in London durch ein drei: 
tägiges impoſantes Mufiffeft gefeiert. Der immenfe Erfolg 
desſelben veranlaßte den Entſchluß der Gejellihaft, alle drei 
Sahre ein folches »Händelfeit« im Keryftallpalaft zu Sydenham 
unter Mitwirkung aller mufifaliichen Kräfte des ganzen Reiches 
abzuhalten. Bon dem NReinertrag des Händelfeftes 1859 hat 
die Sacred harmonie soeiety nicht weniger als taufend Pfund 
Sterling in ihren Unterſtützungsfonds eingelegt. Diejer 
Wohlthätigkeitsfonds ift eine trefflihe Einrichtung. Durch frei- 


Geiſtliche Muſit. 567 


willige Beiträge, dann durch die Ueberſchüſſe der Subſcriptions— 
gelder gegründet, gewährt dieſer, gegenwärtig ſchon ſehr an— 
ſehnliche Fonds jedem Künſtler oder Dilettanten, der 
irgend einmal mit der Gejellihaft in Verbindung 
ftand, den Anſpruch auf eine augenblidliche oder periodifche 
Unterftügung für den Fall der Hilflofigkeit. Diefer Fonds, 
welcher gegenwärtig bereits ein gefichertes jährliche Ein: 
fommen von 100 Pfund Sterling ausweiſt, unterftüßt manchen 
verarmten oder erfranften Mufifer, der vielleicht drei- oder 
viermal in den Goncerten der Gejellfihaft mitgewirkt Hatte; 
ja die Nechenichaftsberichte erzählen von regelmäßigen wöchent— 
Iihen Aushilfen, welhe an arme Witwen verftorbener Mit: 
glieder verabfolgt werden. Wie jchön bewährt fich hier die 
mild und mohlthätig ftimmende Macht der Mufit, und wie 
tüchtig hat der engliiche Affociationsgeift es verftanden, die edle 
Negung gleich praftifch zu organifiren ! 

Gleich dem Unterftügungsfonds der Gejellihaft ift auch 
deren werthvolle Bibliothek vorzüglich durch freiwillige Bei— 
träge und größere Schenfungen entjtanden. Dieje in Ereter 
Hall trefflih aufgeftellte Sammlung fann von den Mitgliedern 
an Ort und Stelle oder dur Entlehnung von Werfen benützt 
werden. Sie enthält 2324 Nummern, von höchſt werthoollen 
Antiquitäten bis zu den neueſten mufifaliichen Büchern und 
Gompofitionen herauf, an der Spige natürlich alle eriftirenden 
Händel-Ausgaben, Sammlungen und Arrangements. Dieje 
Bibliothek kann fich Freilich mit der zehnfach ftärferen unferer 
»Geſellſchaft der Mufikfreunde« nicht meſſen, noch weniger mit 
den mufilaliichen Schäßen der Wiener Hofbibliothef. Allein 
ein Buch befißt die engliiche Gefellichaft, um das die Wiener 
Bibliotheken fie bemeiden fünnen: einen gedrudten pollftändigen 
Katalog ihrer Werke. Die Mitglieder der Sacred harmonie 
society (gegenwärtig iiber 800) find meiſtens Dilettanten aus 
den arbeitenden Mittelclaffen Londons, Kaufleute, Beamte, 
- Handwerker mit ihren Frauen und Töchtern. Die zu den Gone 
certen beigezogenen Fachmufifer bilden einen verichwindend 
Heinen Theil. Aus der eigenthümlichen Zuſammenſetzung der 
Sejellichaft und ihrer Direction läßt ſich ſchon herausleſen, 


568 Muftfaliiches aus London. (1862.) 


daß das Inftitut vollitändig im Wolfe wurzelt und von wahrer 
Liebe zur Sache gehalten ift.*) Das find andere Namen als 
in »Her Majeſty's Theatre«e. Die Oper in London ift ariſto— 
frattich, ihr Befuh Modeſache; die Oratorien-Muſik ift demo— 
fratiich, und der Antheil daran Herzensſache. 

Ihre regelmäßigen Concerte gibt die Gejellihaft in Der 
impojanten Ereter Hall in der City, Im Sahre 1860 fanden 
vierzehn ſolche Concerte ftatt; neun Abende entfielen auf Hän— 
del’iche Oratorien, worunter dreimal der »Meſſias« Haydn’s 
»Schöpfung«“, Mendelsſohn's «Eliad« und »Lobgejang« 
theilten fi in den Reit. 

Ich hörte Haydn's »Schöpfung« in Ereter Hall. Es ge— 
hört zu den überrafchenditen Anbliden, wie fih vor dem 
Zufeher in fchroffer Steigung ein Gewirr von Notenpulten 
und Injtrumenten aufbaut, dahinter breite, weite Flächen, hier 
weiß, dort ſchwarz — die Sänger und Sängerinnen — und 
hinter alldem die blinfenden Pfeifen der gemaltigen Orgel! 
Der Saal — er faßt 3000 Menichen — erjcheint zwar wie 
ein Kinderjpiel gegen den Kryſtallpalaſt, allein er iſt doch 
gleihfall3 nur für Maffenwirkfungen geeignet, für die diden 
Pinjelftrihe gewaltiger Chor: und Orcheſterfresken. Die Eolo- 
ftimmen fämpfen fi) mühſam aus diefer Umgebung heraus. 
Frau Jenny Lind-Goldihmidt fang die Sopranpartie, Mir 
Alle haben einst für dieſe fingende Fee geihwärmt; warum 
ſoll ichs nicht vor Allen eingeitehen, daß ich mit Bewegung 
dem Moment entgegenfah, wo fie heraustreten follte! Sch 
erfenne die Stimme, wie man ein halbverwittertes Bild nad 





*) Die von der Geiellihaft gewählte, unentgeltlih fungirende 
Direction beiteht gegenwärtig aus folgenden Herren: Carmichael 
(Baumteijter), Ford (Commis), Hanhart (Buchdruder), Hill (Com: 
mis), Kitcat (Kaufmann), Milliar (Kaufmann), Beacod (Wedel: 
mäller), Puttik (Muctionär), Sherrarel (Schneider), Sims 
(Mechjelmäkler), Stewart (Schneider), Whitehorn (Commis), Will 
cocks (Commis), Withall (Mdvocat), Husk (ANdvocat), Taylor 
(Zinugießer), Brewer (Schullehrer), Bowley (Scuiter). Leßterem 
gebührt das große Verdienſt, die Händelfefte im Kryſtallpalaſt 
organtlirt Zu haben! Präſident der Geiellichaft iſt der Tabakhändler 
Harriſon. 


Geiftlide Muſit. 569 


Sahren wieder erkennt. Die Töne kommen ſchwach und ver— 
chleiert, in hohen fräftigen Stellen mit Anftrengung. Ich will 
e3 glauben, daß es im traulichen Familienzimmer noch immer 
entzüdend fei, fie Lieder fingen zu hören. Allein die unbarme 
berzigen Concertjäle Londons jollte unfere Nachtigall fliehen. 
An dem Beifall des Publicums wird fie freilich lange nicht 
gewahr werden, daß ihre Stimme am Anfang des Endes ift. 
Das engliiche Publicum ift beilpiellos in Sachen der Pietät, 
und in Jenny Lind Hat e3 die doppelte Virtuofität zu ehren: 
der Kunſt und der Mohlthätigkeit. 

Bei aller Großartigfeit der Concerte in Ereter Hall ver: 
halten ſich dieje Doch zu einem »Händelfeſt« im Kryftallpalaft 
wie ein Streichquartett zur großen Symphonie. Diefe Händel: 
feite (das erite fand im Sahre 1857, daS zweite im Jahre 
1859, das dritte im verfloffenen Juni ftatt) verdanken ihren 
Uriprung der »Sacred harmonie soeiety«, melde, den rein 
muſikaliſchen Theil bejorgend, fich wegen des übrigen Arran— 
gement3 mit der ⸗Kryſtallpalaſt-Compagnie« afjociirt. Dies 
oft geichilderte Mufikfeit bier abermals jchildern zu wollen — 
es wäre ein eitel Unternehmen. Wer diefen unermeßlichen Glas: 
palaft betritt, der glaubt, auch ohne jedes Mufikfeft, fich in 
ein koloſſales Feenmärchen verfegt. Nun füllen fich die gloriofen 
Räume ded Palaftes von Glas. »Man denke fiche, ruft ein 
älterer Berichterftatter aus, »diefen 40 Millionen Kubikfuß 
fonnigen, kunſt- und naturverflärten Raums einjfchließenden 
kryſtallnen Palaſt mit 30.000 Köpfen neben und in fünf 
(uftigen Galerien übereinander gefüllt. Dazwiſchen ragen Tau: 
jende von Statuen und Büſten, leuchtend zwiſchen Palmen und 
Platanen, Bannern und Orangen, riefigen Schlinggewächſen 
und hängenden Gärten, mit Hiftorifhen und industriellen Court, 
foloffalen Neiterftatuen, beichwingten Wictorien u. j. w. Bor 
uns viertaufend fingende, geigende und blajende Mufifer unter 
der großen Orgel verfammelt zu fehen, ringsumher das farben- 
bunte, umabfehbare Publicum, und überall die erftaunliche 
Arrangement, welches jedermann Leicht feinen Sit finden ließ 
und Allen geitattete, fih in den Pauſen beliebig im ganzen 
Palaft zu ergehen. — Das allein, ehe noch ein Ton Mufif 


570 Mufitaliiches aus London. (1862). 


erklang, war ein Gindrud von bezwingender Großartigfeit ! 
Kein Land der Welt vermöchte Aehnliches hervorzurufen.e Diele 
Neigung für das Koloffal-Große, zugleih aber das kühne 
Geſchick, es praftiich zu geitalten, charakteriſirt auf künſtleriſchem 
Felde den Engländer. *) 

Dem Sundigen braucht nicht erft verfichert zu werden, 
daß der eigentlich mufifalifhe Genuß dabei ein fehr bedingter 
und beſchränkter ift. Bon feiner Schattirung und Belebung 
fan bei einem ſolchen Tonförper feine Rede fein.**) Wo Die 
Mufit den Charakter impofanter Kraft und Feierlichkeit an: 
nimmt, da iſt die Wirkung unbeichreiblid. Niemand, der den 
»Meſſias« im Kryitallpalaft gehört, wird jemals den Ausruf: 
»Wonderful!« vergefjen, der in dem großartigen F-dur-Chor 
mit der höchiten Kraft des ganzen Chors und Orcheſters die 
Räume durchichmettert. Das ift ein Donnerſchlag in Harmonie 
gebracht. Derlei Mafjen-Effecte, unterftügt von den eigens für 
den Kryſtallpalaſt verfertigten Niefenpaufen und einer vor— 
weltlih großen Trommel, wirken ungeheuer. Alles Uebrige 
fällt dagegen ab, oder hat Mühe, fich überhaupt vernehmbar 
zu machen. Wenn einer der Solojänger fein Recitativ beginnt, 
jo iſt's als käme das fleine Stimmen von 50 Meilen weit 
ber. Das gleichzeitige, haarſcharfe Zufammentreffen der Chor: 
einfäge mit dem Taftirftab des Dirigenten ift bei einem ſolchen 
Körper nicht möglich; man fieht den Gapellmeiiter ſtets um 
etwa eine Achtelnote vorausſchlagen. Coſta dirigirt diefe Muſik— 





*) Einige Zahlen dürften die Dimenfionen dieſes Feſtes un— 
gefähr anschaulich mahen. Im Sahre 1859 war während der Haupt: 
probe und der drei Feſttage der Kryſtallpalaſt im ganzen beiudht von 
81.309 Berfonen. Die Brutto-Einnahme betrug 35.000 Pfund Sterling. 
Bon den NReinertrag (20.000 Pfund Sterling) erhielt ein Drittel die 
»Sacred harmonie society« und zwei Drittel die Actionäre des Kryſtall— 
palaſtes. 

**) Das Orcheſter beſtand aus 98 erſten, 96 zweiten Violinen, 
75 Violas, 75 Cellos, 75 Contrabäſſen, 86 Blas- und Schlag— 
Inſtrumenten: zuſammen 499 Spieler. Den Chor bildeten 810 So— 
prani, 810 Alti, 750 Tenöre, 750 Bäſſe: zuſammen 3120 Stimmen. 
Die Soloſänger, Dirigenten, Organiſten ꝛc. dazugezählt, gibt eine 
Summe von nahezu 4000 Perſonen. 


Geiſtliche Mufit. Händel-Feſte. 571 


ſchlacht mit der nöthigen Kraft und Kaltblütigkeit; manche 
Willkürlichkeiten, wie das häufige Verſtärken der Bäſſe durch 
Ophykleiden, wird ihm kaum ernſtlich verdenken, wer je »bei 
Sydenham« dabei war. 

Daß ein Feſt von ſolchen Dimenſionen nicht lediglich 
ein Ausbruch von Händel-Enthuſiasmus, ſondern gleicherweiſe 
Gegenſtand einer großen kaufmänniſchen Speculation iſt, ver— 
ſteht ſich. Mehr vielleicht als irgendwo klammern ſich in England 
mercantile Antereffen an f£inftlerifhe Unternehmungen, Wir 
haben hierüber manch wunderliche Thatſache in petto, die fein 
Künftler vom Kontinent vertheidigen wird. Allein gegenüber 
dem Händelfeft fcheint uns das einfeitige Betonen der Spe- 
culationen ungerecht. Es ift wahr, die Crystal Palace Company 
denft dabei nur an ihre Bilanz; fie macht ein Geihäft in 
»Hündel«. wie fie Tags darauf ein Geichäft in Kohlen mad. 
Allein die künſtleriſche Feier Teidet nicht darunter, daß das 
Gomite fih darauf verfteht, Taufende von Beſuchern anzu— 
Ioden. Zu Ehren eine großen Tondichters 10.000 Pfund 
riöfiren, damit das Dreifache gewinnen und am Ende Das 
impofantefte Mufikfejt des Jahrhunderts hergeitellt haben, das 
mag man bei uns »echt englifch« nennen, gewiß aber nur im 
rühmenden Sinne. Zeugniß für das ehrfurchtsvolle mufifaliiche 
Intereſſe der Hörerichaft geben dieſe drei, ausſchließlich Hän— 
del’ihe Mufif bringenden Feſttage. Sch ſah manch deutichen 
Händelfreund und Händelfenner dabei ungeduldig werden, den 
engliihen nicht. Sit es nicht die großartigite Huldigung für 
Händel, wenn fich bei den erften Tönen des gewaltigen »Halle- 
Iuja!« Alles von den Sißen erhebt! Diefer Ehor ift nebit 
der Volkshymne (God save the Queen) die einzige Mufik, die 
in England jederzeit ftehenden Fußes und mit entblößtem 
Haupt angehört wird. Ein merfwürdiges Zeichen von dem 
ernten und intimen Verhalten des engliſchen Publicums zu 
Händel find die billigen Ausgaben feiner Oratorien, Die um 
ein Spottgeld ausgeboten, und maſſenhaft bei jeder Aufführung 
gekauft werden. Im Kryftallpalaft wurde eine nee Ausgabe 
des »Meſſias« (volljtändige Geſangspartitur mit Clavierbeglei: 
tung) um den unglaublichen Preis von 16 Pence verkauft; 


572 Muſikaliſches aus London. (1862.) 


eine größere, ſchönere Ausgabe um zwei Scillinge! In dem: 
jelben bequemen Großoctavformat im netteften Typendruck hat 
der Verleger Novello nicht nur alle Händel’ichen, ſondern 
auh die Dratorien von Haydn, Mendelsjohn, Spohr, 
die Meflen von Beethoven und Mozart u. ſ. w. erfcheinen 
laſſen. Wie ungemein wird dadurch die Kenntniß der beiten 
Meiiterwwerfe verbreitet! Für eine Bagatelle, um wenige 
Prennige theurer als die Tertbücher im Opern-Theater, Fauft 
man in London am Gingang zum Concertfaal den »Clavier— 
auszug mit Tert« eines großen Oratoriums. Der größte Theil 
der Zuhörer hat auch denſelben während der Production zur 
Hand und Lielt aufmerkffam mit. Bedenkt man nun, daß bei 
jeder Aufführung in Ereter Hall Hunderte, und im Kryitallpalaft 
Tausende von Exemplaren des betreffenden Oratoriums ver- 
fauft find, welche nah dem Concert im Yamilienfreife durch 
genojfen, und für lange Zeit Gegenftand der Ergögung und 
des Stubiumd werden, jo muß man die Engländer um dieſe 
Seite ihres Mufiflebensd beneiden. Der Einwurf, daß Novello 
mit diefen billigen Ausgaben ohne Zweifel nur jeinen eigenen 
Nugen bezwede, berührt und natürlich auch hier nicht im ent: 
fernteften. Novello muß, wie wir auß guter Quelle erfuhren, 
etwa 30.000 Eremplare feiner billigen DOratorien verkaufen, 
um die Koften vollitändig gedeckt zu Sehen, dann erit beginnt 
jein Profit. Wir können ihm denſelben nicht Hoc genug 
wünſchen. Für den Vertrieb diefer Dratorien-Außgaben iſt aud) 
echt engliich gelorgt. Nicht nur colportiren in London Hunderte 
von Händen Diele Ausgaben und Hunderte von Kehlen rufen 
fie aus, auch auf aller Eifenbahn-Stationen im ganzen Reich 
werden fie wochenlang vor einer Aufführung feilgeboten. Uns 
würde es allerdings in namenlojes Staunen verjegen, wenn 
wir im Liefinger Bahnhof Beethoven’3 D-Mefje würden feil- 
bieten oder in Baden die Paſſagiere mit dem »Sirael in 
Egypten« in die Waggons fteigen ſähen. Es iſt dies einer 
jener englifchen Einfälle, die zwar nad) Geld ausgehen, aber 
auf dem langen Wege dahin fortwährend Gutes wirken. Mag 
immerhin Merkur ſäen, wenn nur Minerva miterntet. 


Vereine. Concerte. 573 


Vereine. — Concerte. 


Der Zug don Großartigfeit, welcher die gefammte Kunſt— 
pflege in England charakterifirt, Fehlt auch dem eigentlichen 
Goncertwejen nicht. Er äußert fi zunächſt in der Maſſen— 
haftigfeit des Gebotenen ; tiefer ruht er in der vielverichlungenen 
Affociation der Kräfte. Als merfwürdigftes Beiſpiel der letzteren 
fchilderten wir bereit3 die »Saered harmonie Society« und ihre 
Verbindung mit der Kryftallpalaft:-Compagnie zur Durchführung 
der Händelfeſte. Außerdem iſt die Zahl der muſikaliſchen Geſell— 
ihaften in England erftaunlih. Ein interefjfanter Wegweiſer 
darin ift der jährlich in London erjcheinende mufifaliiche Adrep- 
falender (»Musical Direetory«). Das Verzeichniß ſämmtlicher 
Mufilvereine und die Adreſſen aller engliihen Tonkünſtler, 
Muſiklehrer und Verleger bededt in diefem Kalender 112 eng— 
gedrudte, doppelipaltige Seiten. Indem wir den Jahrgang 1862 
durchblättern, zählen wir jehzig Mufifvereine in London und 
deren 170 außerhalb London. Davon entfallen auf Birming: 
ham 6, Ganterbury 4, Dublin 7, Mancheſter 8, u. ſ. w. Seit 
mehr als AO Jahren haben diefe Städte, dann Gloueeſter, 
Morceiter, Hereford, Norwich, Vork ꝛc. 2c., ihre periodiich 
twiederfehrenden Mufikfefte, meilt zur Zeit der jährlichen Gerichts: 
Sejjionen.*) Die mufifaliihe Centralijation in Zondon ijt dem: 
nach feine jo egoiſtiſche und ftraffe, daß fie das Land gleichſam 
mufifalifch veröden würde. Obendrein kommt der lleberfluß der 
Hauptftadt hier den Provinzftädten in regelmäßigen Sreislauf 
zugute. Gegen Ende ımd nad Ablauf der »Saiſon« in London 
veranstalten die eriten Künftler, einzeln oder zu Kleinen Gruppen 
vereinigt, Gaftreifen in die Provinz. Sie finden dort häufig 
mehr Theilmahme, äſthetiſche und finanzielle, als in der mufi- 
falifch erdrüdten Hauptitadt. Die Städte der vereinigten König: 
reiche erfreuen fich bedeutenden Wohlſtandes und bringen der 
Kunst gern ihren Zehent. 

*) Intereffant ift die »Mufikaliiche Gefellihafte in Cambridge, 
die (Chor und Orcheſter) ausichließlih aus Univerſitäts-Mit— 
gliedern beiteht. 





574 Muſitaliſches aus London. (1862.) 


Die Mufitvereine in den Städten beitehen größtentheils 
aus Dilettanten, die zu regelmäßigen Uebungen und Produc— 
tionen im Chorgefang oder Orcheiterjpiel fich vereinigen. Zu 
ihren größten Aufführungen, namentlih Oratorien, laſſen fie 
für die Solopartien berühmte Künftler aus London kommen. 
Dieſe künſtleriſche Hilfeleiltung iſt mechielfeitig, denn Die 
PBrovinzftädte find es, die wieder ihrerſeits dad Hauptcontingent 
zu den großen Händelfeften nach London jenden. Die Vor: 
bereitung dafür bildet das Jahr hindurch eine Hauptaufgabe 
der meilten Landvereinee In vorzügliher Achtung ftehen 
namentlich die Musical Soeiety in Mancheſter (mo deutiches 
Element ſtark einwirkt) und die Oratorien-Geſellſchaft von 
Liverpool. In Liverpool zahlen 400 überzählige Mitglieder 
eine halbe Guinee für das Vorrecht, Concertbillete in den 
jeltenen Fällen faufen zu Dürfen, wo durch Abweſenheit 
oder Erkrankung von Abonnenten ein Sit disponibel wird. 
Bon der »Provinze fpriht daher der engliihe Muſiker mit 
mehr Rejpect, als der deutsche oder franzöfiiche es thun dürfte. 

In London behauptet unter den Orchefter-Vereinen die 
»Philharmonie Soeciety« hiſtoriſch wie künſtleriſch den erſten 
Rang. Sie ift die oberfte Behörde für die Inftrumentalmufi, 
ungefähr wie die Sacred Soeiety für dad Oratorium. In der 
Bortrefflichfeit der Leitungen fteht fie allerdings unter ber 
legteren. Bon jeher Hatten die Engländer weniger Sinn für 
die Inftrumentalmufif, al3 für den Geſang. Die Bildung tücdh- 
tiger Orcefter und ftehender Vereine dafür hat fih darum in 
England verhältnigmäßig ſpät entwidelt. Die Philharmonie 
Soeiety tft genau fo alt wie unfere »Gejellihaft der Muſik— 
freunde«, und feiert demnächſt mit diejer zugleih ihr fünfzig: 
jährige® Jubiläum. Cine fleine Anzahl von Fahmufifern 
gründete die Gejellihaft, Hauptfählih, »um die Meiftermwerfe 
Haydn’3, Mozart’ und Beethoven's, bisher dad Eigenthum 
eine beſchränkten Kreiſes von Kennern, endlih dem großen 
Publicum bekannt und werth zu macen«.* Zwanzig Sahre 


*) »The philharmonice Society of London«e. By George Ho- 
garth. London 1862. 


Vereine. Goncerte. 575 


vorher hatten freilich Haydn’ Koncerte der Inſtrumental— 
muſik in London einen großen Aufihwung gegeben, allein er 
war nit nachhaltig. Die Unternehmung des trefflihen Salo— 
mon fand Feine Nahahmung, und Haydn’ Symphonien 
wurden nicht mehr gehört. Herr G. Hogarth conitatirt, daß- 
zur Zeit der Gründung der Philharmoniſchen Geſellſchaft nicht 
ein Orcheſter in London beſtand, das fähig oder geneigt 
gewejen wäre, reine Anftrumentalwerfe aufzuführen. Die 
Opern-Orcheſter beichränften ſich auf ihren Theaterdienft, und 
die »Ancients eoncerts« ſchloſſen ftatutenmäßig die Werke 
aller Componiften aus, die nicht feit wenigſtens dreißig 
Jahren veritorben waren. Da beſchloſſen die Gründer der 
Philharmoniſchen Gejellihaft, diefe Lücke durh Aufführung 
von Orcefter- und Kammermuſik zu füllen. Soloftüde und 
Duos follten ausgeſchloſſen, Geſang nur mit Orchefter-Beglei- 
tung zugelaflen ſein. Die Gejellihaft, beitehend aus 30 Mit: 
gliedern und einer unbeichräntten Zahl von Theilnehmern, 
machte feine geringen Anſprüche an deren Kunfteifer. Jedes 
Mitglied und jeder Theilnehmer hatte jährlih drei Guineen 
einzuzahlen, und erhielt nicht das mindeite Entgeld für feine 
Mitwirkung. Die Einnahmen wurden blos für die fünftlerifchen 
Zwecke der Gejellichaft verwendet. Das Orcheſter, gebildet aus 
den beiten Mufifern jener Zeit, wurde in den Concerten ganz 
eigenthümlich, nämlich wie das alte Rom von zwei Conjuln 
regiert. Der eine, der »Orcdefter-Director« (Salomon), mußte 
als erjter Geiger feinen Part jpielen und gleichzeitig dem 
Orcheſter die Tempi angeben. Der zweite (Clementi) jaß am 
Clavier, die Bartitur vor fih, und »überwachte« die Richtigkeit 
der Ausführung Es begreift fih, daß auf Diefe Weile 
feiner der beiden Dirigenten feine Aufgabe vollftändig löſen 
founte. Die eigenthümliche Zähigkeit der Engländer hielt indeß 
diejen Gebrauch feſt, bis Spohr nad) England fam und den Muth 
hatte, das Directiond:Clavier zu befeitigen, und jeine Sym— 
phonien aus der Partitur mit dem Taktſtock zu dirigiren. Zu— 
erft ſprachlos vor Entjegen, erfannten Hörer und Spieler 
dennoh bald das Zweckmäßige dieſer Ketzerei, und ſeither 
dirigiren die Engländer wie andere Menſchen. 


576 Mufitafiiches aus London. (1862.) 


Kammermuſik bildete anfangs einen weſentlichen Beſtand— 
theil der philharmonifhen Concerte, denn wo hätte das Pu: 
blicum Haydn’ und Mozart's Quartette fonft hören jollen? 
Erjt ala mit der Zeit eigene Duartettvereine fich bildeten, concen- 
trirte fih die Gejellichaft immer mehr auf ſymphoniſche Muſik. 
Ihr Concertfaal (urfprünglih Argyll-Rooms, jpäter der Opern: 
ſaal, endlich, feit 1833, die eleganten und geräumigen »Han— 
nover-Square-Rooms«) wurde der Boden, auf dem Alles, mas 
im Bereih der Inftrumentalmufit für England denfwürdig. ift, 
fi) zutrug. Hier dirigirte Cherubini feine Duverturen ; bier 
jpielten Gramer, Kalfbrenner, Hummel, Moſcheles ihre 
Goncerte; bier feierte Spohr (1820) fein erſtes Auftreten 
in England, um für alle Zukunft einer der gefeiertiten Lieb: 
linge des Landes zu bleiben. Die Philharmonifche Gejellichaft 
begründete die Popularität der Beethoven'ſchen Symphonien 
in England, gab ſchon im Fahre 1825 die Neunte Sym: 
phonie*), und fendete, ohne einen Moment des Befinnens, Dem 
fernen Meifter ein Geſchenk von 100 Guineen, als diejer frant 
und ſchwach genug war, es anzuſuchen. 

Als Dirigent in den philharmoniichen Concerten (1826) 
genoß Karl Maria Weber feinen eriten Triumph auf dem 
Boden, der ihm bald fo verhängnißvoll werden folltee Men— 
delsſohn's früher Ruhm als Birtuofe und Tondichter datirt 
nicht zum Hleinften Theile von feinen Auftreten in der Phil: 
harmonischen Gejellihaft. Hier geihah die erfte Aufführung 
der Duverture zum » Sommernadhtätraum« und der »Hebriden«. 
Die A-dur-Symphonie und vieles Andere von Mendels— 
John ift in Folge ausdrüdlicher Beitellung für die » Gefell- 
ſchaft« gefchrieben; ebenio Spohr’s fünfte und feine »hiſto— 
riſche Symphonie. Dieſe Thätigkeit der Philharmoniſchen 
Geſellſchaft, nämlich die unausgeſetzte Anregung ausgezeichneter 
Zeitgenoffen zu neuen, großen Orcheiterwerfen, kann man nit 

*) Im Concertprogramm war das Werk angeführt als: »Neue 
große, charakteriltiiche Symphonie mit Vocalfinale; Manuſcript, eigens 
für dieſe Gejellihaft componirte. Der Erfolg war freilih ein so 
zweifelhafter, daß die Gejellihaft zwölf Jahre vergehen ließ, ehe fie 
eine Wiederholung des Wertes wagte. 


Bereine. Concerte. 577 


riihmend genug anerkennen. Unter den Millionen eines mufi- 
faliihen Vereins gibt es vielleicht Feine ſchönere. Die Libe— 
ralität und noch mehr die würdige, den Genius ehrende Weife, 
in welcher die Philharmonie Society derlei »Beltellungen« 
machte, haben und oft mit Freude und zugleich mit Trauer 
darüber erfüllt, daß wir Mehnliches in unferem Vaterlande 
faum fennen. 

Bei Mendelsſohn's Werfen hat die Philharmonifche 
Sejellihaft Halt gemadt. Sie bilden neben Beethoven und 
Spohr das Hauptcapital diefer Concerte, die befanntlic) 
Mendelsſohn's Schüler und Stylverwandterr Sterndale 
Benett leitet. Schumann’ erſte Symphonie und feine »auf 
Jenny Lind's Befehl« gegebene »Peri« befremdeten und — 
verihmwanden. Berlioz erregte Unbehagen, Richard Wagner 
Abihen. ES dürfte eine Weile dauern, ehe das klaſſiſche 
Directorium der »Philharmonifer« fi wieder an Schumann 
wagt; Berlioz und Wagner dürften es überhaupt nicht 
erleben. Der Engländer ift in der Muſik conjervativ, wie 
überall. Er hegt mit Liebe und Pietät, was er alß trefflich 
überfommen und fich ajftmilirt hat. Allein äußerſt jelten ge— 
lingt es ihm, den Genius zu erkennen und zu begrüßen, fo 
lange diejer noch Incognito reift. Hat einmal die Zeit dem 
Genius: den Stempel der Clajfficität aufgebrüdt, dann wird 
er fih über das engliihe Publicum nicht zu beklagen haben. 

Was wir von Aufführungen der Philharmonie Society 
gehört, hat uns mäßig befriedigt. Es fehlte nicht an Kraft und 
Energie, wohl aber an Feinheit der Scattirung. Trefflic) 
wirken die grellen Lichter, die breiten Grescendos, der Sturm 
der Paſſagen; allein die zarten, halbverfchleierten Züge, aus 
denen des Dichter Seele am rührenditen fpridt — nur eben 
nicht zu jedermann — fie werden in diejer entjeglichen Deut- 
lichkeit und Solidität erdrüdt. Die Violinen find trefflich, die 
Bläſer etwas roh und nicht rein in der Stimmung. Mit den 
Aufführungen der »Gefellichaftöconcerte« oder der »Philhar— 
moniihen«e in Wien tft das Belte, was London in dieſem 
Fach bietet, nicht entfernt zu vergleihen. Das liebevolle, 
detaillirte, durch viele Proben fich verfeinernde Einjtudiren fennt 

Sanslid. Aus dem Goncertiaale. 2. Aufl. 37 


578 Mufitalifhes aus London. (1862.) 


der Engländer nicht. Die Philharmonie Soeiety macht zu jedem 
ihrer Concerte nur eine Probe. Ihr Dirigent, Benett, fommt 
lectionenmüde und gelangweilt an das Dirigirpult; Gründe 
genug für die Gefellihaft, um nicht ohne große Noth von dem 
alten bewährten Repertoire abzugehen. 

Ausſchließlich claſſiſche Concerte gerathen mit der Zeit 
in die Gefahr bequemen Schlendriand. Zu Anfang der Fünf: 
zigerjahre war die Philharmoniſche Geſellſchaft fo bedenklich 
im Sinfen, daß eine Partei von Unzufriedenen audtrat und 
eine »Neue Philharmoniſche Gefelihaft«e gleiher Tendenz 
ftiftete. Vielverſprechend unter ihrem erften Dirigenten, Ber: 
lioz, leiftet fie gegenwärtig, hinter ihrer älteren Rivalin 
zurüdbleibend, höchftens Anftändiges. Ihr Dirigent, Dr. Wylde, 
macht ebenfalls für jedes Concert nur eine Probe, und dieſe 
ift überdies öffentlih. Das Publicum hat zu halbem Preis 
uneingeſchränkten Zutritt. Wo aber die Probe wie ein Concert 
behandelt wird, da ift es fein Wunder, daß das Concert 
genau einer Probe ähnlich fieht. Sowohl die »alte« als die 
»neue« Philharmoniſche Gejelihaft verleihen ihren Pro— 
grammen durch die Mitwirkung der beiten in London an— 
weienden Birtuofen und Geſangskünſtler eine immer erneute 
Anziehungskraft. 

Noch einen dritten Orchefterverein müflen mir nennen, 
weniger feinen Leiftungen als feiner charakteriftiihen Tendenz 
wegen. Es ift die (1858 gegründete) »Musical society of 
Londone. @eleitet von dem apellmeifter der engliichen 
National:Oper, Herrn Alfred Mellon, ift diefe Gejellihaft 
vornehmlich im Intereſſe der englifhen Tondichter thätig. Die 
Programme beginnen allerdings mit Mozart oder Beethoven, 
allein nach dieſem »salvavi animam !« folgen die unfterblichen 
Meifterwerfe der Herren Wallace, Lindjay, Balfe, Macfarren, 
Davifon, Horsley, Frank: Mori u. ſ. w. — Gomponiften, deren 
Namen man nur zum Kleinsten Theil außerhalb Englands kennt, 
die aber daheim als »engliihe Componijten« nicht übel ge: 
feiert werden. Diefe Geiellichaft, die jährlid vier Orcheſter— 
Goncerte in S. James Hal gibt, und fich eines Beſtandes 
von 1000 Köpfen rühmt, bildet mit der »British society of 


Dereine. Concerte. 579 


Musieians« den Tummelplag der nationalen Partei (»nationals«) 
unter den engliihen Mufitern. Sie jchwören auf das von 
Sterndale Benett einmal in öffentlicher Vorlefung abgelegte 
Glaubensbekenntniß: daß die engliihe Mufit der deutichen, 
franzöfifchen, italienifchen ebenbürtig, daß fie groß, felbitändig 
und genial fei. Wie viele von den engliihen Mufikfreunden es 
mit der Zeit dahin bringen, diefen Irrthum wirklich zu glauben, 
ift unbefannt. Genug, daß man mittelft dieſes Stichwortes eine 
Partei bildet und jeine eigene fleine Perſönlichkeit in den 
Vordergrund ſchwingt. Es verhält fih mit dem Cultus eng- 
liſcher Componiſten ähnlih wie mit andern uns naheliegenden 
Nationalitäts-Beſtrebungen. Wer in Defterreich nicht die geiftigen 
Mittel hat, fi) vor einem PBublicum von Gulturvölfern zur 
Geltung zu bringen, der greift zu dem Coſtume irgend eines 
zurüdgebliebenen oder beifeitegedrängten Volksſtammes und darf 
num darauf zählen, als großer »nationaler« Künftler gefeiert zu 
werden. 

Die theueren Preiſe fait aller Concerte (eine Guinee der 
Sig) führten vor furzem zur Gründung der »Bopulären 
Montagd:Eoncerte« in London. Sie find gleihfam eine 
Schillinggausgabe der Philharmoniſchen. Der Gedanke, aud 
dem Minderbemittelten den Genuß guter Mufit zu verichaffen 
und damit den mufilalifchen Meifterwerfen ein neues, großes, 
empfängliches Publicum zuzuführen, ift ein erjprießlicher. Die 
engliihen Monday Popular Concerts haben freilich nicht jene 
große Ausdehnung und Bopularität, melde Padeloup’s 
Orcheſter-Concerte in Paris erreichten (wir haben in Wien 
nicht? Aehnliches); allein für einen Schilling den Abend hin- 
durh gute Mufit und gute Virtuofen zu hören, dad will in 
London Schon etwas jagen. Rühmliche Erwähnung verdienen 
die von Herrn Manns geleiteten Orcheiter-PBroductionen im 
Kryitallpalaft, da fie faſt das einzige Organ für die Werke 
neuerer deuticher Componiften, namentlich Schumann’, find. 

Zu den beiten, zugleich den faſhionabelſten Concerten 
gehören die der »Musical Union« ded Herrn Ella. Vor: 
zugsweiſe dem Streichquartett und Trio gewidmet, nehmen fie 
in London ungefähr die Stelle der Hellmesberger'ſchen Pro— 

37* 


580 Muſikaliſches aus London. (1862.) 


ductionen ein. Sie finden in Jameshall beinahe jeden Dienftag 
um halb 4 Uhr ftatt, find alſo Morgenconcerte. Nicht blos 
die Zuhörer, jondern ſehr vernünftigerweife auch die Spieler 
ericheinen in Morgentoilette. Der ſchwarze Frad und die weiße 
Halabinde wären bier ein ebenfo ſchweres Vergehen, ala 
4 Stunden fpäter der Gehrod und die bunte Cravatte.*) Bei 
diefen QUuartetten befinden fi) die Spieler nicht (mie bei 
Ordelter-Concerten) am oberen Ende des Saales, fondern 
inmitten desſelben, auf einem erhöhten Podium. Dadurch ift 
dad rings um die Spieler verfamntelte Publicum dem Zon 
allenthalben näher gerüdt. Joachim (etlihemale auch Laub) 
bildeten mit Ries, Blagrove und Piatti das Streichquartett; 
am Glaviere wechlelten Jaell, Halle, Stephen Heller u. U.; 
lauter treffliche Mufifer, die hier zu einem längſt vertrauten 
claffiichen Repertoire fich meiften® ohne vorhergegangene Probe 
zufammenfinden. Zu Proben braucht man Zeit, und das ift 
etwas ſehr Koitpieliges in London. Der glüdliche Director und 
unbedingte Beherrfher der »Musical Union« ift Herr Ella, 
ein eitler alter Herr, der in einer lächerlich bunten Xoilette 
umher geichäftelt, den Künftlern die Hände drüdt, den Damen 
zulächelt, im Nothfall am Klavier das Blatt wendet, und was 
folder Kunftleiftungen mehr find. Dafür bezieht er den reich: 
lihen Ertrag diefer Eoncerte. »Ella's Matinéen« find eben 
eine accrebitirte Firma, die in ihrem 18jährigen Beltand ein 
feites Publicum fich gebildet hat, und für Herrn Ella ein 
»Gigenthum« ift, wie irgend ein andere. Die berühmteiten 
Künstler Taffen fi gern dafür engagiren, und jüngere Talente 
Deutichlands und Frankreichs ſchätzen fih, auch ohne jedes 
Honorar, glücklich, fih vor diefem Kreiſe produeiren zu Dürfen, 
Sie werden an accreditirter Stelle befannt und überdied im 
Programm als neue Erjfcheinungen dem hohen Adel und ver- 
ehrlichen Publicum biographiich erplicirt. Da iſt natürlich jeder 
Fremde ein »in Deutichland ſehr gefeierter« Tonkünſtler, 


*) Wenn die blonde, dicke Louiſa Pyne in ſolchen Morgen: 
concerten ihre Lieder in Hut und Mantille abſingt, jo iſt der Anblick 
doch gar zu komiſch. 


Bereine. Goncerte. 581 


meiſtens auch intimer Freund Chopin’s, Lieblingsſchüler Men- 
delsſohn's u. dal. 

Joſeph Joachim, der herrliche deutihe Künftler, ift 
meine® Wiſſens der Einzige, der ſich bei Ella diefe biogra- 
phiſche Reclame vorhinein verbeten hatte, wie er auch der ein: 
zige Virtuoſe in London ift, welcher nicht bei hohen Herrichaften 
für Geld fpielt, fondern diefe zwingt, zu ihm zu fommen. Das 
einzige, was Joachim nicht abftellen kann, find die wandelnden 
Annoncen. Das find Männer, welche, vor- und rückwärts mit 
einer großen Tafel behängt, langſam, oft ſechs Mann hoch, 
durh die Straßen jchreiten, und im Volfamund recht mwißig 
»Sandwiches« heißen. Joachim ſchämte fi regelmäßig, wenn 
fein eigener Name in folofjalen Lettern ihm auf der Straße 
leibhaft entgegengewadelt fam, eine Empfindung, die ich jcherz- 
haft noch reizte, indem ich) vor den jpazierenden Joachim: 
Tafeln jedesmal ehrehrbietig den Hut zog. Es ift faum ein 
zweiter Kinftler in London, der das Publicum ausnahmslos 
zu jo warmem, herzlichem Beifall hinriffe, als Joachim. Un— 
wandelbar in feiner fünftlerifchen Strenge, beherricht er die 
Engländer, die ihn unter allen Umftänden lieben und ehren. 
Dem Bublicum Gonceffionen zu maden, fällt ihm nicht bei, 
wie denn überhaupt »Conceſſionen« meiſtens ſolche Gemein— 
heiten ſind, die jemand der eigenen Eitelkeit zulieb begeht, 
ohne es geſtehen zu wollen. Außer Joachim fand ich in London 
nur noch Thalberg, der ebenfalls in feiner Weiſe feine 
Conceſſionen madte: er heuchelte nämlich weder Bach noch 
Beethoven. Thalberg ſpielt unbeirrt feine alten Opern: 
Phantafien und Etuden, und ift weit entfernt, in dem, was 
er am beiten Ieiftet, bloße »Conceifionen« zu ſehen. Thalberg 
hat ſich nicht verändert; er ift, etwas verblüht, noch immer 
die »Comteſſ' mit der Männernaje«, wie ihn Schumanı nannte, 
und noch immer der erite Salonfpieler der Welt. Bei der 
Lectüre feiner Concertzettel glaubte ih unter Mumien gerathen 
zu fein; den Hörern wurden es blühende Roſen, und ihm 
ſelbſt ſchweres, jchweres Gold. — Die Stelle unferer Männer: 
geſang-Vereine und Liedertafeln vertreten in England, die jo- 
genannten »Cateh- and Glee-Clubs«e, welche gefellige Freuden 


582 Muſikaliſches aus London. (1862.) 


mit dem Vortrag Humoriftiiher Rundgefänge und Canons 
würzen. Wer an die bejjeren deutſchen Liedertafeln gewöhnt ift, 
dürfte dieſen Clubiften feine Zorbeeren winden. Mande ihrer 
Gejellichaftslieder reichen bi8 an Shafefpeare’3 Zeit, und 
der mufifalifhe Geihmad mitunter an Shakeſpeare's jungen 
Schäfer im »Wintermärchen«, der und verfidert: »Eine Ballade 
lieb’ ich über Alles, wenn e3 eine traurige Geihichte ift zu 
einer Iuftigen Melodie, oder ein recht fpaßhaftes Ding und 
fläglih abgejungen«. | 


Waturanlage. — Seltfamkeiten. — Speculation und Humbug. 


»Man hat im Norden wunderliche Bräuche, 
Denn wie die Berge wilder werden, wie 

Die munt’ren Eichen düft'ren Tannen weichen, 
So wird der Menſch auch finft’rer, biß er endlich 
Sich ganz verliert und nur das Thier noch hauſt. 
Erit fommt ein Volk, das nicht mehr fingen kann, 
An diejes grenzt ein and’res, das nicht lacht, 
Dann folgt ein ſtummes, und jo geht es fort«. 


Dies tieffinnige Wort aus Hebbel's »Nibelungen« 
fam mir in England oft in den Sinn. Noch häufiger, wenn 
ih auf deutichem Boden die Frage wiederholen hörte: Sind 
die Engländer muſikaliſch? Die Frage trifft einen zu großen 
und complicirten Organismus, al® daß man fie ohnemweiters 
mit Ja oder Nein löſen könnte, Der Engländer ift noch lange 
nicht der »finft’re«, der »ftunme« Menih, — allein auf dem 
langen Weg von dem blühenden Melodiengarten Stalien bis 
zu dem »Volk, dad nicht mehr fingen kann«, liegt England 
doc) bereitö jtarf vorgeneigt gegen das leßtere. Für die Muſik ift 
England ſchon eine llebergangszone: der Arbeiter jchafft noch 
eifrig, er jchäßt die Frucht, doch Erdreih und Sonne find 
jpröder gegen ihn. 

In England bethätigt ſich fo viel Eifer und Liebe zur 
Mufit, daß nur albernes Vorurtheil dies ganze Verhalten für 
falihden Schein und eitle DOftentation erklären fann. Es ge 
ichieht hier jo Vernünftiges, Andauerndes, Großes für die Ton: 


Naturanlage. 583 


funft, daß der Deutiche zur höchften Anerkennung mitunter den 
Neid fügen darf. Unſere früheren Deittheilungen haben dieſe 
Lichtjeiten im engliſchen Mufikleben hervorzukehren geſucht. Ob 
die Natur den Engländer zum Mufifer geichaffen, ob jeine 
Liebe zur Tonkunſt vollftändig erwidert wird, ift eine andere 
Frage. Wir werden vom Bofitiven hier unmerklich zur Negation 
hingedrängt. Daß England feine nationale Muſik befigt, ift 
Thatfahe. Es hat feine Componiſten hervorgebracht, die, mit 
den Genie anderer Völker verglichen, bedeutend und eigen: 
thümlich heißen dürften. Von feinen wenigen Componiften 
lehnen fih die älteren an Händel, die modernen an Mendels— 
john (Benett), an die franzöfiihe oder italienische Oper (Mal: 
face, Balfe). Die Sänger und Birtuojen Englands find an 
Zahl und Bedeutung faum nennenöwerth. Die engliiche Nation 
befigt einen jehr mäßigen mufifaliihen Schag in ihren Volks— 
liedern, und — was nicht minder entjcheidend ift — feinen 
eigentlichen Nationaltanz. Was von mufifalifchen Kräften ein- 
flußreich und bedeutend ift, gehört der Fremde an. Deutiche 
Componiſten, Virtuoſen und Lehrer, italieniihe Sänger, fran— 
zöſiſche Tänzer Herrichen in London. Die muſikaliſche Einfuhr 
in diefem Lande ift enorm, feine Ausfuhr Nul. Allein, von 
dem jchöpferifchen Vermögen ganz abgejehen, auh die Ems 
pfänglichkeit des Engländer macht ihn zu einem Stieffind der 
Muſik. Wir möchten die nächſte Erklärung diefer in ihrem 
Grunde freilih noch unerforſchten Erſcheinung, in körperlichen 
Bedingungen, in den feiniten Organismen der Phyſis juchen. 
Nur ein zart und reizbar organifirtes Nervenſyſtem empfindet 
muſikaliſch. Wenn e8 nicht vom leiſeſten Hauch erzittert, wie 
die NeolSharfe, ift es fein mufikalifches Inftrument. Daß nun 
der Engländer mufifaliichen Eindrücden gegenüber weit jchwer: 
lebiger, Iangjamer, allgemeiner ſich verhält, al8 wir, wird jedem 
länger Beobachtenden zur zweifellojen Thatſache. 

Dem Engländer fehlt zunächſt rhythmiſche Empfindung. 
Es fallt ihm jchwer, im Takt zu tanzen oder zu fingen: der 
Unterschied zwiſchen */, und ?/, pflegt ihm zu verichwinden. 
Das derbe Hervorheben der rhythmiichen Accente und erften 
Takttheile, das ung im Opern-Orcheſter auffiel, gefällt den 


584 Mufifalifhes aus London. (1862.) 


Engländern, während es ein feineres, ohne ſolche Krücken 
rhythmiſch Folgendes Ohr, als eine Aufdringlichkeit verleßt. 
Der Engländer verjegt die beiten Meifterwerfe mit Poſaunen 
und Bombardond, gerade wie er die beiten Weine mit Brannt- 
wein verjegt. Zunge und Ohr jcheinen hier derfelben Nachhilfe 
zu bedürfen. Im Falichlingen oder -Spielen muß fih ſchon 
ganz SKräftiges ereignen, jol es einem engliichen Publicum 
mißliebig auffallen. Bloße Zmweideutigfeiten verfangen nicht. 
Allein nicht blos das unmittelbare Organ des Hörend, Der 
ganze geiftige Proceß, Muſik aufzufaflen, arbeitet im Engländer 
jhwerfälliger und umficherer. Nur gemiffe Kategorien des 
Schönen ſprechen ihn jofort an. So hat der Engländer eine 
fehr einfeitige Neigung für das Bathetiihe. Man ftaunt, wie 
einfeitig das WBublicum daS Pathetiſche aus Shakſpeare's 
Stüden fih affimilirt und gegen die ftarfen Daritellungen 
irgend eines reinen Leidens die feinften, lieblichiten Partien 
follen läßt. Das grelle Pathos der italieniichen Oper bewegt 
den Engländer, während ihm für die feine Teichtgejchürzte 
Grazie des franzöfiihen Singſpiels jedes Organ fehlt. An 
claſſiſcher Muſik Tiebt er zumeiſt Entichiedenheit, Rundung 
und den Ausdrud einer gewiſſen großartigen Tüchtigfeit, wie 
bei Händel. Wir bemerfen jedoch bei den ehrfurdtspollen 
Zuhörern des »Meifiad« oder »Samfon« feine Unterfheidungs: 
fraft für das Schwächere und Schwache, wa3 in diefen Dra- 
torien mit dem Großartigen wechjelt. Zu der Inſtrumental— 
muſik bleiben wohl noch lange Haydn, der frühere Beet- 
boven und die formglatten Orcheiterwerfe Spohr’3 und 
Mendelsſohn's das Brevier der englifhen Concerte. Das 
unerbittliche Verlangen nad Klarheit und Weberfichtlichkeit ver: 
bindet fih in den Engländern mit ihrer confervativen Tendenz 
überhaupt, um Compofitionen, die von unferen Programmen 
fo gut wie verſchwunden find, als tägliche Koft zu genießen. 
Wir wollen Hummel und Ondlom nicht geringichägen, auch 
niht das Verdienſt Kalkbrenner's jchmälern (es bliebe da— 
bon gar zu wenig), allein räthielhaft bleibt doch die Andacht, 
womit die abgeftandenften Salonftüde diefer Componiften in 
London Öffentlich eingenommen werden. Der fichere, durch feine 


Naturanlage. Seltſamkeiten. 585 


Gontroverjen geftörte Befiß irgend eines überlebten Techniker 
it dem Engländer theuerer als das Erringen eined noch halb: 
wegs ftreitigen neuen Genied. AS heuer Shumann’s Glapier: 
Quintett bei Ella gegeben wurde, bemerkte das Programm, 
gleichſam rechtfertigend, daß die auf ausdrüdliches Verlangen 
des Herrn Jaell geſchehe. 

Werfen wir einen Blick auf ein engliihes Concert— 
Bublicum. Die Aufmerkjamkeit und Ruhe der Hörer ift mufter: 
haft. Sie wird durch die Lectüre £leiner Broſchüren unterftügt, 
in welchen Herren und Damen emfig nachleſen. Dies find die 
fritiichen Erläuterungen, die den Eintretenden mit der Unfehlbar— 
feit von Tanzordnungen höflich überreicht werden. Diefe muſi— 
kaliſchen Wegmweifer find unferes Wiſſens zuerft von Ella 
unter dem jchauderhaften Titel: »Synoptical Analysis« 
eingeführt worden, und enthalten neben biographiichen und 
hiſtoriſchen Notizen eine mit Notenbeifpielen audgeftattete Ber: 
gliederung der größeren vorzuführenden Werke. Bon der 
droligen Geſchwätzigkeit ſolcher »Führer« abgejehen (regelmäßig 
haben fie die Frechheit, Beethoven zu loben !), möchten wir doch 
die ganze Idee nicht verwerfen. Es ift ein treffender Aus— 
ſpruch von Baillot, den Ella’3 Brogramme als Motto an 
der Stirne tragen: »Il ne suffit pas que l’artiste soit bien 
prepar& pour le publie, il faut aussi que le publie le soit ä 
ce qu’on va lui faire entendre«e. Die Auffaffung ſchwerfaß— 
licher, no nicht Gemeingut gewordener Gompofitionen, wie Die 
jpäteren von Beethoven, Bad, Schumann, wird durch 
eine mit Notenbeiſpielen verjehene Zergliederung entichieden 
erleichtert und haftet tiefer im Gedächtniß. Gejchwellt von um: 
nügem Lobe, find die englifchen Programme doch frei von 
mufifalifcher Bilder: und Deutungsfucht. Weber eine poetifirende 
Erklärung, wie R. Wagners Brogramm zur »Neunten 
Symphonie«, würde der Engländer nicht mit Unrecht lächeln. 
Derlei hat noch feinem Publicum auch nur entfernt die Hilfe 
gebracht, die eine englifhe »Analysis« wirklich Teiftet. Der 
Deutjche bedarf freilich der Führerihaft nicht in dem Grade, wie 
der Engländer fie liebt, am wenigsten will er fich fein Urtheil 
vorſchreiben laſſen. Das ift Jenem gerade recht; umficher, wie 


586 Mufitalifches aus London, (1862.) 


er fih im äjfthetiihen Dingen einmal fühlt, liebt der Eng— 
länder directe Belehrung. Wie er die Rheingegenden nicht ohne 
feinen Murray, jo genießt er auch Beethoven nicht vollitändig 
ohne »Synoptical Analysis«. 

Kehren wir zu unferem PBublicum zurück. Das Stüd ift 
zu Ende Es wird applaudirt, wenngleich) fühler als bei uns. 
Nicht der laute Beifall, etwad Anderes, ſchwer zu Definirendes 
it es, war wir vermiffen: der ftille, inwendige Applaus der 
Hörer während des Stüdes. Bei einem genialen Mebergang, einer 
ergreifenden Melodie, welch bewegtes Murmeln des Verſtänd— 
niffes, welch leiſes MWetterleuchten der Empfindung in einem 
deutſchen Goncertfaal! In England nit davon. Wenn mir 
in den beſten englifchen Goncerten oft etwas abging, jo erklärte 
ich's mir damit, daß die Atmofphäre nicht die gewohnte Menge 
fünftlerifchen Sauerftoff3 enthielt. 

Für daS Verletzende, was in einer unichidlihen Zu: 
fammenftellung von Muſikſtücken Tiegt, fehlt den Engländern die 
fünftleriihe Empfindlichkeit. Sie finden e8 ganz in der Ord— 
nung, wenn nach der Fidelio-Duverture »Mädle rud, rud, 
rud« oder dad Papataci-Terzett von Roſſini gelungen wird, 
darauf ein Concert von Sebaftian Bach und ein Divertiffement 
von Henri Herz folgt. 

Was ic) von deutſchen Muſiklehrern in London über die 
mufitaliihe Jugend erfahren fonnte, ging übereinstimmend 
dahin, daß diefe oft mit dem correcteften Eifer über eine 
gewiffe natürlide Stumpfheit der mufifalifhen Empfindung 
niht hinauskomme.*) Ob an diejer, für die Muſik jo ent: 
jcheidenden Stumpfheit der Nerven der durch Generationen 
fortgejeßte, vor fünfzig Jahren noh ganz unmäßige Genuß 
geiftiger Getränke in allen Claffen der engliihen Gejellichaft 
mitſchuldig fei, wagen wir nicht zu beurtheilen. In England 
jelbit hörten wir von Künſtlern diefe Anficht vertheidigen. Der 


*) In dem föftlihen Sittenbild »Hanns Ibeles« erzählte 
Johanna Kinkel die tragisfomijchen Erfahrungen eines Clavierlehrers 
in England. Gottfried Kinkel verficherte mir, daß diefe Mittheilungen 
vollftändig aus den eigenen Erlebniffen jeiner verftorbenen Frau 
geihöpft und in feinem Zuge erfunden oder übertrieben find. 


Naturanlage, Speculation und Humbug. 587 


Mangel an feinem Zonfinn iſt nicht ohne Analogie auf an- 
deren Kunftgebieten. Neuere Unterfuhungen jollen dargethan 
haben, daß ein auffallend großes Percent der engliichen Bes 
pölferung »farbenblind« iſt, d. 5. gewiſſe Farben nicht von 
einander unterfcheide. Unglüdsfälle auf engliihen Eifenbahnen, 
dadurch) hervorgerufen, daß ſonſt achtſame Bahnwächter die 
rothen von den grünen Signalen nicht zu unterfcheiden ver: 
mochten, gaben Weranlaffung, dies Phänomen näher zu unter: 
juhen. Das Eijenbahnperjonal wird nunmehr darauf Hin ge- 
prüft, ob es nicht von Natur »farbenblind« je. Won dem 
Londoner Concertpublicum find immer einige Bänfe zuverläſſig 
tonblind. in gebildeter englifcher Gentleman verficherte einen 
meiner Freunde, daß es ihm unmöglich jei, die Melodien der 
beiden englischen Volkshymnen (»God save the Queen« und 
»Rule Britannia«) von einander zu untericheiden. Ein ähn— 
liches Bekenntniß legte vor einigen Sahren jehr unmillfürlich 
die Bevölkerung einer bedeutenden engliihen Fabriksſtadt ab. 
Man gab die dort noch wenig befannte C-moll-Symphonie 
von Beethoven. Bei dem glänzend feierlichen Hereinbrechen 
der drei C-dur-Xccorde im Finale erhoben fih einige Zuhörer 
in der Meinung, es fei der Anfang der Volkshymne, und fiehe 
da — das halbe Bublicum erhob fi ehrfurchtsvoll mit, und 
hörte den Saß ftehend zu Ende. 

Wie übel die englifhe Sprache mit ihren Zilchlauten 
und gequetichten Gaumenvocalen den Geſang unterjtüßt, be— 
darf faum der Auseinanderfegung. Der engliide Sänger Hat 
fortwährend nur die Wahl, ob er richtig, echt engliich aus— 
iprechen, oder ob er einen jchönen Ton bilden wolle. Eines 
von beiden muß jeden Augenblid geopfert werden. Der lyriſche 
Geſang findet obendrein in der englifchen Proſodie eine Schranfe, 
die unſeres Erachtens noch zu wenig Beadhtung fand: mir 
meinen den großen Mangel an weiblihen Endungen und 
namentlich weiblichen Reimen im Englifchen.*) Die jchöniten 


.,— — 





*) Das vielcomponirte Heine'ſche Gedicht: 
»Auf ihrem Grab da fteht eine Linde, 
Da pfeifen die Vögel im Abendwinde« 
lautet 3. B. in einer der getreueften Leberjegungen (von Julian Fane): 


588 Mufikaliiches aus London. (1862.) 


Lieder von. Shumann, Mendelsfohn, Robert Franz, 
fönnen ohne empfindliche Alterirung der Mufik nicht ins Eng— 
lifche übertragen werden, und fo dürfte auch dieſes poetiſche 
Gebiet der deutichen Kunſt den Briten ein unbekanntes bleiben. 

Außer der geringeren Naturbegabung für Muſik ift es 
aber noch ein zweiter künſtleriſcher Factor, der dem englifchen 
Mufikleben jo oft die echte Weihe nimmt. Das ift der faufmännifch 
praftiihe Geilt, der jih in England auch an die flüchtigen 
Sohlen der Kunſt Hefte. Von feiner großartigen Seite 
haben wir dies Zuſammenwirken mufilalifher und kaufmän— 
niſcher Anftrengung in den Händelfeften fennen gelernt. Das 
eigentliche Goncertwejen bringt Schon Bedenkliches. Da find 
zuerft die jogenannten Monftres&oncerte (eigentlich Benefice— 
Eoncerte), gegen die Mancher mit Necht loszieht, ohne deren 
wahren Grund zu fennen. Die Deonftre-Goncerte find mejentlich 
eine auf die Provinzbewohner berechnete Speculation. Die 
Abgeſchmacktheit, volle fünf Stunden lang das buntefte Durch— 
einander von Mufif zu machen, 25 bis 35 verfchiedene Num— 
mern und Namen, ift nicht etwa eine nothwendige Conceſſion 
an den Geihmad des Londoner Publicums (da allerdings 
eine derbe Tracht Muſik verträgt), jondern eine muſikaliſche 
Abfütterung von Provinzialiften, welche für ihre Guinee Alles 
beijammen haben wollen, was London. an mufifalifchen Nota— 
bilitäten bietet. Wenn der Pächter Smith aus MWorcefter oder 
der Fabrifant Black aus Mancheſter für zwei Tage mit Frau 
und Töchtern nad) London kommt, jo will er in Ginem 
Goncerte Joahim, Bauer, Piatti, Formes, Trebelli 2c., er 
will Orcheſter und Glavier, Glaffifches und Modernes in 
größten Portionen genießen. Der Mann hat unftreitig etwas 
vom Karaiben, mit dem Unterſchiede, daß er baar zahlt. Die 
Monjtre-Eoncerte oder Eoncerte für Ungeheuer, wie fie 3. 2. 
die Jubilar-Pianiftin Frau Anderfon oder der Componiſt 
J. Benedict alljährlih veranitaltet, werden mehrere Wochen 


»Above their grave a Linden grows, 
Birds sing, and through it the balm-breeze blo ws.« 
Sp werden von den weiblihen Endreimen mindeitens die Hälfte 
männlich durch die englijche Ueberfegung. 


Naturanlage, Epeculation und Humbug. 589 


zuvor in den Zeitungen annoncirt. Aber nicht etwa einmal in 
jedem Blatt, jondern meilten® in fünf bis ſechs Inſeraten 
hintereinander. Das erfte Inferat lautet 3. B.: »Mr. Bene: 
diet's Morgenconcert findet am fo und fo vielten unter Mit- 
wirkung von Joachim, Jaell, Trebelli, Tietjend 2c. ꝛc. ftatt«. 
Gleich darunter als zweites Inferat: »Herr Joachim wird in 
Benedict’3 Morgenconcert 2c. 2c.e Drittes Inferat: »Signora 
Trebelli wird in Benedict's Morgenconcert 2c. ꝛc.« Kurz es 
wird nichts verfäumt, daß man zu rechter Zeit den Kopf von Mt. 
Benedict’3 Morgenconcert gehörig voll habe. Für die Sänger 
find die Londoner Goncerte eine reihe Einnahmsquelle; Die 
fremden werden vom Goncertgeber, die einheimifchen außerdem 
von den Verlegern befoldet. Dies Berfahren ift ganz eigen: 
thümlid. Hat der Verleger N. N. eine neue Romanze ver- 
öffentlicht, jo ftellt er fie unter die Protection einer beliebten 
Eoncertfängerin. Diejer zahlt er nicht nur für den jedesmaligen 
öffentlihen Vortrag der Romanze ein beftimmtes Honorar, 
er gibt ihr auch gewiſſe Percente von jedem Eremplar, 
das er abjegt. Meift find es zwei Pence, die von jedem ver- 
fauften Eremplar für den Sänger oder die Sängerin abfallen. 
Miß Sainton-Dolby, welde jogar einen Sirpence erhält, 
joll im Laufe einer Saifon gegen 800 Pd. St. von den ver: 
Ihiedenen Berlegern eingenommen haben. Um noch mehr zum 
Ankauf zu locken, läßt der Verleger jedes Eremplar eines 
»Favourite song«e mit dem eigenhändigen Namendzug des 
Sänger? oder der Sängerin jchmüden, die es mufifaliich in 
die Koft genommen. Manche Sänger find von einem Verleger 
förmlich gemiethet, fie dürfen nur feine Verlagdartifel fingen 
und feine anderen. Der Künftler ift in diefem Fall der fingende 
Dienitmann feines Verlegers. 

Ich Habe Hallé's Beethoven-Matinéen erwähnt, denen 
ein echt künſtleriſches Beſtreben zu Grunde liegt. Allein Herr 
Halle hat nebenbei eine »revidirte Ausgabe« der Beethoven: 
ihen Sonaten publicirt, welcher nicht das geringfte eigene 
Berdienft zu ftatten fommt. In diefer Ausgabe werden num 
ſämmtliche von Halle vorzutragenden Sonaten an der Caſſe 
und im Concertjaal feilgeboten, und da Gelegenheit nicht blos 


590 Muſikaliſches aus London. (1862.) 


Diebe, fondern auch Kunftkenner macht, fo verfauft man eine 
Maſſe von Exemplaren. Ob nun Herr Halle oder fein Ver— 
leger der eigentlihe Weranftalter diefer Concerte jei: beide 
haben ein Doppeltes Geſchäft gemacht. Solde und viel 
ſchlimmere Mesalliancen zwiſchen Kunft und Schader find in 
England an der Tagesordnung und gelten nicht für anftößig. 
Wir wollen lieber nicht allzuviel davon erzählen. Da der Künftler 
in England ſchnell und reichlich verdienen kann, fo geräth er 
in eine Haft des Erwerbes, welche feine poetiſche Glorie traurig 
abſchwächt. Wo das Publicum der Muſik überwiegend äußerlich 
gegenüberjteht, da kann es auch nicht ausbleiben, daß der 
Virtuofe, der. Verleger, der Lehrer, ur Kunſt als Geihäft 
anſehen und betreiben. 

Ein geſuchter Clavierlehrer in — erhält in der 
Regel eine Guinee für die Lection, ein Einkommen, wovon 
ſeine Collegen in Deutſchland keine Ahnung haben. Dafür 
haben ſie auch kaum eine Vorſtellung von der Mühſal, die es 
koſtet, ſich in London ſo hoch emporzuſchwingen, und dann 
auf der Höhe zu erhalten. An einem Londoner Claviervirtuoſen 
kann man erfahren, was arbeiten heißt. Hat er feine acht bis 
zehn Lectionen im Tage gegeben, jo kann ihm wohl die Freude 
an der Mufif vergehen. Dennoch darf er fih zu Haufe nod 
feine Ruhe gönnen, denn will er nicht außer Mode kommen, 
muß er häufig in Öffentlihen Concerten auftreten. Durch melde 
Hererei dieſe Herren noch Zeit zum Ueben finden, wiſſen wir 
nicht; daß aber wiffen wir, daß jeder falhionable Künftler, 
der jahrelang in London weilt, in dem technifchen und wohl 
auch in dem beſſeren Theil feiner Kunſt zurüdgeht. Wir kennen 
einen ſehr gejuchten deutfchen Glavierlehrer in London, einen 
liebenswürdigen, gebildeten Mann, der und jelbit geftand, daß 
er nach einem zehnjährigen Aufenthalt in London noch nit 
dazır gefonmmen jei, die MWeftminfter-Abtei zu befuchen. Daß io 
etwas auch nur möglich ift, wirft ein jeltfam trübes Licht auf 
das Künjtlerleben in London. 

Ungern fchließe ich meine »engliſchen Suiten« mit einem 
Blide in den kranken Kern dieſes äußerlich jo großartigen 
Organismus. Allein England wäre eben nicht mehr England, 


Muftfaliihe Briefe aus Baris. 591 


hörte es in irgend einem Lebenzzweige auf, das Land der 
Widerſprüche und Gegenſätze zu fein. 


Wufikalifche Zöriefe aus Yaris (1867). 
Die mufikalifdre Fury. 


Paris, 4 Mai. 


Es war in den eriten Nachmittagdftunden, den belebteften 
und eleganteften der Ausstellung, als jüngit aus einem Seiten- 
gang der franzöfiichen Bildergalerie ein rajender Trommel: 
wirbel erfholl und die Beſucher des Ausitellungspalaftes 
weithin in Aufregung verjegte. Mit dem Rufe: »Was tft ge- 
ihehen? Was bedeutet das?« ftürzten die Maſſen dem Trommel: 
Shall entgegen, nad) der etwas verſteckt Tiegenden Zeitengallerie. 
Hier ſahen fih die erregten Gemüther plößlih durch zwei 
ausgeipannte Stride und zwei aufrechte Sergents de Pille 
von einer kleinen SHerrengejellihaft abgetrennt, welche, die 
Trommler vor fih umd die Notizbücher zur Hand, ruhig um 
ein Tiſchchen herumſaß. Es war unfere mufifalifhe Jury, vor 
welcher Trommel-Erfinder und Trommel:Verbefjerer ihre raj- 
jelnden Inftrumente producirten. Das Publicum aber ftand 
eritaunt dahinter und mochte entnehmen, wie der Kampf um 
eine Bronce-Medaille den Tambour genau fo heftig begeiftern 
fann, wie der Sturmlauf gegen eine Feltung. Es war ohne 
Zweifel der populärite Moment in dem öffentlichen Lebenslauf 
unjerer Jury. Allerdingd Hatten wir einiges Aufjehen und viele 
Theilnahme jchon an den vorhergehenden Tagen erregt, wo 
und jedesmal von 10 bis 4 Uhr nur Blech-Inſtrumente vor— 
geblafen wurden. Dean wollte bemerken, daß damals die Jury: 
Mitglieder noch lange nah Schluß der Sikung auffallend 
laut ſprachen; die Pofaunen hatten Jedem von md eine leichte 
Taubheit als Andenken hinterlaffen. Die Tage der Violinen 
und Guitarren trugen einen milderen, gebildeteren Charakter, 
welcher in der folgenden Periode der Flöten und Glarinetten 


592 Muſikaliſche Briefe aus Paris, (1867.) 


jogar einen Zug ländlicher Zufriedenheit und Lebensweisheit 
annahın. Namenloje Wehmuth bemädhtigte fich Hingegen unjeres 
Kreiies nah Anhörung von 40 bis 50 Harmoniumd; Die 
Gefühlvolleren von uns zerdrüdten beim Abjchied eine Thräne 
im Auge, die Anderen ballten frampfhaft die Fauſt in der 
Taſche. Es war vielleicht der fchlimmfte Tag. 

Kehren wir für einen Augenblid an das grüne Tifchchen 
zurüd, zu welchem uns die rebelliihen Trommeln gelodt, und 
betrachten wir ung die Perjönlichfeiten der Jury. Als Präfident 
fungirt der Senator und General der Nationalgarde, Mel— 
linet. Ein wahrer Charafterfopf, diefer 64jährige Haudegen 
mit dem Jugendfeuer in Blick und Bewegung, das der grauen 
Haare wie der tiefen Narben zu fpotten jcheint, die fein Ge— 
fiht entitellen. Der higige General, der bei Magenta fi) mit 
3000 Mann jtundenlang gegen den dreis bis vierfad über: 
legenen Feind behauptete und noch feinen Schritt wid, ala 
ihm bereits ziwei Pferde unter dem Leibe erichoffen waren, er 
ift im Umgang die Herzlichkeit, Güte und Beicheidenheit jelbft. 
Nom Friegerftand Hat er im Frieden nur die Geradheit und 
Energie beibehalten, nicht3 von jenem Uniformdünfel, der in 
anderen Staaten eine jo empfindlihe Scheidewand zwiſchen 
Militär und Civil aufrichtet. Was den General, der jeinen 
mufitaliihen Dilettantismus offen eingefteht, in die Jury 
brachte, find feine großen Berdienfte um die Organifirung der 
franzöfiihen Militärmufif; jeine Wahl zum Vorfigenden war 
vom Anfang her mit Rüdfiht auf feinen hohen Rang und 
jein großes perfönliches Anſehen beichloffen — mir hatten fie 
nie zu bereuen. 

Einen eigenthümlichen Gegenjat zu dem hageren, un: 
geftümen General bildet die unterjegte, behaglich gerumdete 
Figur und das fröhlich lächelnde Antlig de8 Dr. Georg 
KRaftner, Mitglied des Inſtitutes und zahllofer gelehrter Ge- 
jellichaften. Straßburger von Geburt, ift Kaftner doch Deutſcher 
von Ausfehen, Bildung und Temperament geblieben. Nur feine 
Bücher jchrieb er alle franzöfiih. Obwohl vorzugsweiſe Poly: 
biftor und muſikaliſcher Archöolog, iſt Kastner doch keineswegs 
der praftifchen Seite der Tonkunſt fern geblieben. Als Componift 


Die muſikaliſche Jury. 593 


und außübender Künstler früher jehr thätig, hat Kaſtner oben- 
drein für jedes eriftirende Orcheſter-Inſtrument eine Schule 
(Methode) geichrieben, jogar für die Baufen! Dies allein 
ftempelt den Mann zum gelehrten Original; wer ihn näher 
kennt, weiß überdies, daß dies Original nebſt den eritaunlichiten 
Kenntniffen auch das redlichite, wohlmwollendfte, uneigennüßigite 
Herz befigt.*) 

Die Künftlernatur par excellenee tft in unferer Jury 
durh den Gomponiften Ambroife Thomas vertreten. Cine 
poetifche, nervöſe Natur, meilt ernit und ſchweigſam, leicht ge: 
reizt, jchnell ermüdet, fein Freund der Gejelligkeit und Feind 
der Complimente, itt Thoma keineswegs, was man im 
Salon einen torzügliden Gejellihafter Heißt. Mit Unrecht 
nennen ihn Mande einen Mifanthropen, ihn, »der fich ohne 
Groll vor der Welt verfchließt«, nur feiner Kunft und wenigen 
Freunden lebend. Sein hageres, ausdrucksvolles Gefiht, von 
grauem Haar und Bart fräftig umrahmt, erzählt von über: 
ftandenem Leid und Kämpfen, es erzählt auch von einem 
liebebedürftigen und liebenswerthen Herzen, das nicht geichaffen 
war, einfam und hageſtolz zu vergrämen. Ambroife Thomas, 
längit ein Lieblingscomponiſt feiner Nation, hat eben jeinen 
größten Succeß mit feiner neuejten Oper »Mignon« errungen. 
Dies höchſt anmuthige Werk ift bereit? gegen actzigmal 
nacheinander gegeben, ohne daß der Andrang des Publicums 
nahläßt. Won »Mignone Hörte ih Thomas während 
der vier Wochen unſeres täglichen Verkehrs ebenfomwenig die 
leifefte Erwähnung machen, als von irgend einem anderen 
feiner Werke. Wie jehr unterfcheidet ſich diefe wahre Beſcheiden— 
heit von ihrer Stiefichweiter, jener unter Rünftlern und Ge: 
lehrten zumeift cultivirten eitlen Beſcheidenheit! 

Den größten Einfluß in der Jury hat Fetis, der 
gelehrte Mufikhiftorifer au Brüffel. Man kennt die zahlreichen 
Arbeiten diefes nun 84 Jahre alten Profeſſors; er ift damit 
noch niht am Ende. Cine »Geichichte der Mufit« in ſechs 
Bänden ift unter der Preſſe, Anderes in Vorbereitung. Das 


*) G. Kater ftarb leider noch im felben Jahre. 
Hanslick. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 38 





594 Muſikaliſche Briefe aus Paris. (1867.) 


hohe Alter und gelehrte Anfehen des vielerfahrenen, mitunter 
etwas eigenfinnigen und leider nicht unparteiifchen Mannes 
erflären das llebergewicht, das die übrigen Jurors, die frane 
zöfiichen namentlich, ihm in den Berathungen zugeftehen. 


Roſſini. 
Paris, 18. Juli 1867. 


Als ich vor ſieben Jahren in Paris mich von Roſſini 
und Auber verabſchiedete, that ich es mit der wehmüthigen 
Empfindung, die beiden Altmeiſter unſerer modernen Oper 
wahrſcheinlich zum letztenmal geſehen zu haben. Ragten ſie 
doch Beide ſchon in jene winterlichen Lebenshöhen, wo wir 
jedes weitere Jahr als ein Almoſen anzuſehen haben. Wie 
groß war daher meine Freude, beide Männer rüſtig und munter, 
ja gänzlich unverändert wiederzufinden! Die gewichtige Scala 
von fieben Jahren Hat ihnen wenig angehabt; faum unter- 
iheiden wir die Octave vom Grundton. 

Ein befonderd angenehmer Anlaß führte mich vor wenigen 
Tagen zu Roffini. Ich follte, ein muſikaliſcher Feuillet de 
Conches, einen fremden Gefandten an dem kleinen Muſenhof 
von Paſſh einführen. Hauptmann v. Arbter Hatte nämlich 
im Auftrage Schwind's für Roffini eine Photsgraphie des 
Freskobildes mitgebracht, welches eine der Liinetten im netten 
Wiener Opernhaufe zu Ehren Roſſini's ausfüllt. Ein berühmter 
Landamann und fpecieller Liebling Rofjini’s, Julius Schul: 
hoff, Hatte fih als Dritter unſerer Erpedition nad Paſſh 
angeichloffen. So ftand ich denn wieder vor der wohlbefannten 
goldenen Lyra an dem Gartenthor der gaftlihen Villa! Wie 
damals, jaß der freundliche alte Herr am Schreibtiih in 
feinem feinen Arbeit3zimmer, erhob fi) etwas jchwerfälligen 
Leibes, aber mit gewinnenditer Herzlichkeit, umd ftredte ung 
die Hand entgegen. Wir drüdten ihn bald wieder in den Zehn: 
ftuhl und breiteten dad Bild von Schwind vor ihm aus. Es 
gehört zu den anmuthigiten Gompofitionen unfere® phantaſie— 
vollen Meiſters. Das große Mittelfeld des Halbbogens enthält 


Roſſini. 595 


die drollige Rafiricene aus dem »Barbier von Sevilla«s: 
Figaro, den alten Bartolo einjeifend, hinter ihnen Almaviva 
mit Roſine am Clavier in verftohlener Umarmung, und feit- 
wärts als boshafter Beobachter der dürre Don Baſilio. Auf 
dem fleineren Felde zur Rechten diefes Hauptbildes, durch zierliche 
Arabesfen und Figuren davon getrennt, ſehen wir Aſchen— 
brödel, das mit rührender Demuth die zum Ball geichmücdkten 
Schweſtern betradtet. Das correfpondirende Linke Seitenbild 
gehört der Ftalienerin in Algier: die reizende Abenteurerin 
präludirt träumerifh auf der Laute, während der Türke mit 
andächtiger Lüfternheit an der halboffenen Thür laufcht. Die 
ihönfte Harmonie verbindet dieſe drei durch maßvollen Gegen: 
ja einander hebenden Bildchen. Der künſtleriſche Scharfblid 
Schwind's vermied weislich heroiſche und tragiihe Opern— 
icenen (»Dthello«, »Wilhelm Tell«), welche die Einheit der 
Stimmung geftört hätten. Das eigentlich pofienhafte Element, 
das der »DBarbier von Sevilla« im Mittelbilde voll über: 
müthigen Humors verfinnlicht, befänftigt fi) zu beiden Seiten 
in den halbidealen Figuren Cenerentola’3 ımd Iſabella's 
zu dem mezzo-carattere des feinen mufifalifchen Luſtſpiels. 
Ein Ton fchalkhafter Anmuth und Liebesluft Klingt aus dem 
Ganzen, das fi) wie Roſſini'ſche Mufit — beinahe anhört, 
möcht’ ich jagen. 

Zange und mit fichtlihen Vergnügen betrachtete der 
greife Maeftro das Bild; ſowohl dad Kunſtwerk felbit, als die 
ichmeichelhafte Aufmerkſamkeit Schwind's freuten ihn offenbar 
noch viel mehr, als er zeigte. Aber plöglich, als wollte er 
abjichtlih an Höheres erinnern, fragte er, ob denn Mozart's 
Dentmal in Wien fchon vollendet fei? Und Beethovens? 
Wir drei Defterreicher ſahen etwas verlegen drein. »Ich erinnere 
mich jehr genau an Beethoven«, fuhr Roffini nad einer 
Pauſe fort, »obwohl es bald ein halbes Jahrhundert her iſt. 
Bei meinem Aufenthalt in Wien babe ich mich beeilt, ihn 
aufzufuchen.e — »Und er hat Sie nicht vorgelaffen, wie 
Schindler und andere Biographen verfihern.«e — »Im 
Gegentheil«, corrigirte mich NRoffini, »ich ließ mid durch Gars 
pani, den italienischen Dichter, mit dem ich zuvor auch Salieri 

38* 


596 Muftaliiche Briefe aus Paris. (1867.) 


befucht, bei Beethoven einführen, und diefer empfing uns fofort 
und fehr artig. freilich währte der Beſuch nicht lange, denn 
die Converfation mit Beethoven war gerade zu peinlich. Cr hörte 
an dem Tage beionders fchleht und verftand mich nicht troß 
des Jauteften Sprechens; obendrein mag feine geringe Hebung 
im Stalienifhen ihm das Geſpräch noch erjchwert haben.« 
Ich befenne, daß dieſe Mittheilung Roſſini's, deren Treue durch 
mancherlei Detail noch zweifellofer hervortrat, mich wie ein 
unerwartete Gefchent erfreute. Stet3 Hatte mich diefer Zug 
in Beethoven’3 Biographie verdrofien und der mufifaliiche 
Jacobiner-Club dazu, welcher die brutale germanifche Tugend, 
einen Roffini von der Schwelle zu weiſen, verherrliht. Alſo 
die ganze Gefchichte nicht wahr. Wieder ein Beifpiel, mit welcher 
Sorglofigkeit falſche Thatfahen hingeſtellt und nachgeſchrieben 
werden, welche dann mit unglaublicher Schnelligfeit zur hiſto— 
riihen Wahrheit verhärten. Und dies Alles, während man 
noh mit leichter Mühe von den lebenden Hauptperfonen 
authentiihe Aufklärungen erlangen fonnte ! 

Gerne folgten wir Roffini’3 Einladung, una hinab in’s 
Erdgeſchoß zu führen Wir treten in den lichten, geräumigen 
Salon mit dem fresfengefhmüdten Plafond und den hohen 
Fenitern, zu welchen Rofenbüjche hereinniden. In der Mitte 
ded Salon? ein Pleyel’iher Flügel. Roffini hat bekanntlich 
in den letten Jahren mit Worliebe das Klavier cultivirt, 
und Dies veripätete Virtuoſenthum gibt ihm Stoff zu fort: 
währenden Scherzen (worunter viele ftereotype). Er begann 
glei zu lagen, daß Schulhoff ihn ald Pianiften nicht wolle 
auffommen laffen. »Freilich übe ich nicht täglich Scalen, wie 
ihre jungen Leute — denn wenn ich Tonleitern über das 
ganze Clavier mache, fo falle ich entweder rechts vom Seſſel 
herab oder links.« Auf Schulhoff's Bitten fpielte und Roſ— 
fini einen feiner Clavierſpäſſe, das »Offenbach-Capriccio«. Ein 
Staliener — fo lautet die Genefis diefes Stückes — äußerte 
einmal bei Roffini, Offenbach habe den böfen Blick, und 
man müſſe das Gettatore-Zeichen (Ausftreden des zweiten und 
fünften Fingers) vor ihm machen. »Alfo follte man vor Offen: 
bad) auch folgenderweiſe ſpielen,« ſcherzte Roffini und impro- 


Noffini. 597 


pifirte am Piano eine äußerſt nedifche Kleinigkeit, deren Melodie 
er mit gabelförmig ausgeftredten zwei Fingern der rechten Hand 
vortrefflih ausführt. Ich bemerkte einige feine, originelle 
Modulationen, worauf Roffini jo gefällig war, mir jeine Har- 
monifirung des alten Marlborough-Liedes vorzufpielen. Es ift 
eritaunlich, wie gerade Roffini, dem modulatoriſche Spikfindig- 
feiten ftet3 jo fern lagen, dies Volkslied mit einem Reichthum 
geiftreiher Harmonien und enharmoniicher Ueberraſchungen 
ausgeftattet hat. Auch in einigen anderen Geſangs- und Clavier— 
jtüden, die ich in einer feiner Soireen hörte, iſt mir die neue 
Borliebe Roffini’3 für diftinguirte Bäfje und Tebhaftere Modus 
lationen aufgefallen. Weit entfernt, diefem niedlichen Nach— 
funfeln einer im Grunde längſt erlofchenen Flamme ungebühr: 
lihen Werth beizulegen, fcheint es mir doch interefjant, daß 
der Styl des Tbjährigen Sänger? von Pejaro überhaupt noch 
einer neuen charakteriftiihen Wendung fähig war. 

Im Laufe des Winter gibt Roſſini ſechs bis adt 
mufitaliiche Soireen in jeiner Stadbtwohnung, Chauſſée d’Antin 
Nr. 2. Für einen Künftler von jo eminentem Scönheitsfinne 
in der Muſik ift die Ausihmüdung feiner Wohnung auffallend: 
jtyllos, mit einem Stid ins Barode. Neben einem Kupferftich 
der Madonna della Sedia hängt irgend ein Decolletirtes Pariſer 
deal, daneben deden die Wand entlang broncene Schüffeln mit 
Heiligengefchichten in getriebener Arbeit. Auf der Commode 
erhebt fich ein Crucifix auß einem Gewühl japanefiicher Figür- 
hen und chinefiicher Bilder, für welche Roſſini fehr einge- 
nommen scheint. Won Porträts bemerkte ih nur auf dem 
Kaminfims die fleinen Photographien des Königs von Por: 
tugal und der Adelina Batti. Von Lebterer ſpricht der 
Maeſtro mit bewundernder Hohihägung und nimmt fie immer 
aus, wenn er das gänzliche Ausfterben der großen Geſangs— 
fünftler beklagt. »Sehen fie da«, fagte er, nach) dem neuen 
Dpernhaufe zeigend, das fi gerüftumfleidet vor feinen 
Senitern erhebt, »wir merden bald ein neue Theater 
haben, aber Sänger haben wir jegt ſchon nicht mehr. Wird 
es Ihnen beifer ergehen, wenn einmal das neue Opernhaus 
in Wien fertig it ?« 


598 Muſitaliſche Briefe aus Paris. (1867.) 


Die Soireen des berühmten Maeftro find in Paris 
Gegenstand allgemeinen Ehrgeizes. Die ausgezeichnetiten Perſonen 
bemühen fih darım oft mehr, als um eine Einladung in die 
Tuilerien, und die Journale verfäumen nit, am folgenden 
Tage davon zu berichten. Ich habe dem letzten dieſer Muſik— 
abende noch beiwohnen fönnen. 

Das Programm des Eoncertes (faft ausſchließlich Roſ— 
ſini'ſche Mufik, wie begreiflich) bildeten italienische und franzöfiiche 
Geſangsſtücke, von den erjten Kräften der Oper: Mad. Sar, 
Mad. Battu, Faure und anderen vorgetragen. Zwei neue 
Roſſini'ſche Clavierſtücke (von einem jungen Virtuojen Diemer 
gejpielt) fielen weniger durch originellen Gehalt als durch 
ihre gehäuften Schwierigkeiten auf. Sie führten die ſeltſamen 
Titel: »Tiefer Schlaf und plögliches Aufwachen«, »Tatariſcher 
Bolero«. Die Gefangsftüde find ernithafter und ſchöner, nicht 
jelten originell, immer mufterhaft in der Behandlung der 
Stimme. Zwei feiner Geſangsſtücke begleitete der Hausherr 
jelbft am Glavier mit entzüdender Delicateffe.. Sonſt figt er 
an ſolchen Abenden meilt jchweigiam und ermüdet in dem 
fleinen Gintrittäzimmer mit feinem alten Collegen Garaffa 
oder irgend einem anderen Hausfreund und ift froh, wenn ihn 
die Vergdtterungömente ein Meilen in Ruhe Täßt. 

Ich bedauere, Roſſini's neue Meſſe nicht kennen gelernt 
zu haben; e& foll dies Werk (dad wie die übrigen vom Come 
ponijten gehütet und der Veröffentlihung entzogen ift) bebeu- 
tende Schönheiten enthalten. »Das ift feine Kirchenmuſik für 
euch Deutſche«, meinte Roffini ablehnend, »meine heiligite Muſik 
ift doch mur immer semi-seria.« Seine Napoleons-Hymne (für 
die Preisvertheilung am 1. Juli) nennt er »Sneipenmufife, 
feine Opern »veraltetes Zeuge. Es ilt überhaupt mit dem 
berühmten Maeftro nicht ernithaft zu reden; er fühlt fi nur 
behaglih in gemächlichem Scherz und leichten Nedereien, und 
wenn er über feine Compofitionen fpottet, jo bleibt e& immer 
zweifelhaft, ob er mehr fich oder die Anderen zum Beften habe. 
Man mag das Mebertriebene dieſer grotesfen Selbitverleug- 
nung tabeln, es liegt ihr aber unftreitig ein Motiv oder 
Gefühl zu Grunde, das man bei näherem Einblick in die Ver: 


Roffini. 599 


hältniffe anerkennen muß. Roſſini lebt nämlich inmitten einer 
ununterbrochenen Bergötterung und Verhätſchelung. Es gibt 
wenig Männer auf Erden, denen in folder Weile gehuldigt 
und nur gehuldigt wird. Sein Zimmer ift nie leer von Be— 
juhern; die höchſten Notabilitäten des Adels, des Reich— 
thumes, der Kunſt fommen und gehen. Er wird überhäuft 
mit koſtbaren Gejchenken und zarten Aufmerkjamfeiten; von 
100 Menſchen glauben 99 ihm Schmeicheleien jagen zu müfjen. 
Würde Roſſini alle diefe beivundernden Worte mit jenem 
geitreichelten, eitel-bejcheidenen Lächeln hinnehmen, das jo vielen 
Gelebritäten eigen ift, die gleichlam mit einer Hand abwehren, 
und mit der andern einfafliren, fo wäre in feinem Haufe nicht 
eine Biertelitunde lang zu eriltiren. Man müßte vor Weih- 
rauch erftiden. Ernſthaftes Mißbilligen oder Creifern liegt 
nicht in Roſſini's Charakter; er jchlägt alfo lieber mit einer 
gutmüthigen Selbitbefpöttelung dem Anbeter das Weih— 
rauchfaß aus der Hand und ergößt fih an deſſen Ber: 
legenheit. »Wie foll ih Sie nur nennene, hauchte ihn jüngft 
eine jchöne Dame an, »großer Meifter? oder Fürft der 
Tonkunſt? oder göttlihes Genie?« — »Am Tiebiten wäre 
mir«, erwiderte Roffint zutraulich ſchmunzelnd, »Sie nennten 
mid: mon petit lapin!« (»Mein Deauferl« auf gut 
MWienerifch.) 

Roſſini macht feine Beſuche, bringt feinen Abend außer 
Hauſe zu, war jeit zwanzig Jahren nicht im Theater und hat 
natürlich auch die Ausstellung nicht gejehen. Spazierenfahren, 
Bejuhe empfangen und ein wenig Mufif bilden feine ganze 
Beihäftigung Zum »Chrenpräfidenten« der großen muſi— 
faliihen Jury über die Preiscantaten md Friedenshymnen 
ließ er fih willig wählen, unter der außdrüdlichen Bedingung, 
daß er nie zu erjcheinen und nicht das Mindelte zu thun 
brauche. Er erklärte ſich fcherzend bereit, unter denjelben Be— 
dingungen auch noch in andere Comités gewählt zu werben. 
Ganz ernithaft nimmt der heitere Maeftro vielleicht gar nichts, 
als die Pflege feiner Geſundheit. Er ſchont ſich auf's Zärtlichite 
und hegte großen Abſcheu vor dem Sterben. Wehe, wenn 
ihm ein Beſucher feine Siefta oder ſonſt einen wichtigen 


600 Muſikaliſche Briefe aus Paris. (1867.) 


Leibesact verzögert! »Allez vous-en«, rief er jüngſt jo einem 
Unglüdlichen zu, »ma eelebritE m’embete!« 


Auber. 
Paris, 7. Auguſt. 


Die beiden mufifaliihen Großmeiiter von Paris machen 
einander in ihrer Lebensweife die vollftändigite Oppofition. 
Während Roſſini feine Tage durch olympiiches Ausruhen 
genießt, bedarf Auber fortwährende Thätigfeit. Der Eine 
vermeidet jede Anftrengung, als etwas da3 Uhrwerk jeines 
Lebens Abnütendes, der Andere jcheint im Gegentheil zu 
fürchten, e8 fönnte die Mafchine durch Unthätigfeit einroften 
und ftehen bleiben. Roſſini, ein heiteres Symbol des ita= 
lienifhen dolce far niente, hält fih die Welt vom Xeibe, 
ihre Geſchäfte wie ihre Genüffe, und über die Ruhe in der 
Stadt geht ihm mur die noch ruhigere auf feinem Landfik. 
Auber, die Verförperung franzöfiicher Rührigkeit, würde hin— 
gegen ohne den fteten Contact mit der Gefellihaft ver: 
fommen; jelbit in der Sommerhige iſt ihm das bewegte Baris 
inmpathifcher al& die monotone Idylle des Landlebens. Auber 
zählt 85 Jahre; es it faum anzunehmen, daß feine Thätigfeit 
derzeit der Kunſt noch großen Wortheil bringe, aber Dieje 
Thütigfeit jelbit ift ein Phänomen. Der greife Meifter legt 
fih um 1 Uhr Nachts zu Bett und fteht täglihd um 5 Uhr 
Morgens auf. Eine Taffe Thee zum Frühftüd muß als einzige 
Nahrung bis um 7 Uhr Abends vorhalten, wo er ein gediegenes 
und ausführliches Diner tapfer bewältigt. Um 9 Uhr Morgens 
leidet e8 ihn jelten mehr zu Haufe; da wird ins Conſer— 
vatorium gegangen, in den Senat oder ind Inftitut, auf den 
Boulevard3 flanirt, jpazieren gefahren. Im eigenen Haufe ift 
Auber nicht geiellig wie Roffini, obwohl jein glänzender Wohl— 
ftand ihm die Gaftfreundichaft leicht machte. Wielleiht weil 
er unverheiratet it? Es fehlt doch nicht an einer feinen, 
jtattlihen Dame, der man beinahe die Ehren einer Hausfrau 
erweilt. Der im Frauencultus großgewachiene und noch immer 


Auber. 601 


empfindſame Componiſt des »Fra Diavolo« würde es ohne 
weibliche Umgebung ja doch nicht aushalten. Auber empfängt 
ungleich weniger Beſuche als Roſſini. Es hat nicht Jedermann 
Luſt und Muth, einen berühmten Mann vor 8 Uhr Morgens 
zu beſuchen, obendrein wenn dieſer von ſeinem Hausgeſinde mit 
furchtbarem Eifer bewacht wird. Die Baſis dieſer Auber'ſchen 
Feſtungswerke bildet eine wüſte, alte Hausmeiſterin, welche 
ſeit 40 Jahren ſein Hausthor in der Aue St. Georges mit 
Mort und That vertheidigt. Diefer berühmte weibliche Dämon 
nimmt jeden ihrem Gebieter zugedachten Beſuch als eine per: 
jöhnliche Beleidigung auf und ift im Stande, fi mir aus: 
gebreiteten Armen dem erjchredten Fremdling in den Meg zu 
werfen. Glüdlicherweife hatte ich im Laufe diejer vier Monate 
reihlihe Gelegenheit, Auber ſowohl von feiner gejelligen Seite 
al3 in feinem fünftlerifhen und geichäftlihen Wirfen näher 
fernen zu lernen. 

Daß der 85jährige Mann es mehrmals in jeder Woche 
über jih bringt, um 10 Uhr Nachts dem bequemen Fauteuil 
zu entjagen, Toilette zu machen und fich dem Drangial einer 
großen Soirée zu überliefern — ich Habe ihn noch mehr darım 
bewundert, ald ob der »Stummen von Portici«. Die Journale 
mögen ihn deßhalb immerhin mit den ftereotypen Beinamen 
»unverwüſtlicher Jüngling«, »jugendlicher Greis« u. dgl. be— 
-ehren, nur muß der Leſer von dieſen Ausdrücken jeglichen. 
Beigeſchmack von Gedenhaftigfeit oder Gefalljucht ablöfen. Er 
würde ſonſt Schweres Unrecht thun. Man kann fih nicht ernit- 
bafter und einfacher benehmen, als Auber. Die Luft an Späffen, 
die ewig fcherzende Laune Roſſini's liegt ihm fern, nod 
ferner die Geziertheit und jungthuende Koketterie eines A. W. 
Schlegel. Auber’3 ernjthafte Miene enthält durch den fcharfen, 
unter dichten Augenbraunen wie aus dem Buſch hervorſchießen— 
den Blick jogar etwas Finfteres. Wie Roſſini offen und 
redfelig, jo ift Auber zugefnöpft, wortfarg, förmlich. Man 
wird ihn jelten lächeln jehen, vielleicht nur im Geſpräch mit 
Damen. Sein Geihmad für glänzende Gejfelligkeit fand in diejer 
Saijon ein ergiebiges Feld. Ich ſah Auber gleich unermüdlich 
in den prachtvollen Soiréen, welche der Kaijer, der Marſchall 


602 Mufitaliiche Briefe aus Paris. (1867.) 


Vaillant, die Minifter Rouher und Forcade gaben, dann 
bei der Preisvertheilung, endlich zu wiederholtenmalen in der 
Oper. Bei den Italienern fehlte er felten, wenn Adelina Patti 
jang, die er als die erſte lebende Opernfängerin ſchätzt. Man 
ſah ihn da vorn in der zweiten Sperrfigreihe ganz begeiftert 
applaudiren; für ihr Abſchieds-Benefice hatte er ein prachtvolles 
Bouquet aus Nizza fommen laſſen. Wenn eine feiner Opern 
gegeben wird, zeigt fih Auber niemals im Saale, fommt aber 
gern auf die Bühne. Ich traf ihn da mitten unter den Fifchern 
von Bortici, in einer unglücdjeligen Vorftellung der » Stummen«, 
die traurige Bergleiche in feiner Erinnerung erwedt haben muß. 
Aber auch er ſelbſt, der Componift diejer hinreißenden Oper, 
gab und Anlaß, die Verheerungen der Zeit zu beflagen: eine 
große Balletmufif, für die Markticene des dritten Actes von 
ihm neu componirt, war fo überaus ſchwach und banal, daß 
man fi fürmlic zwingen mußte, an die Autorfchaft Auber’s 
zu glauben. Ungleich hübſcher, wenngleich nicht hervorragend, 
ift ein Eleines einfaches Andante, dad Auber hier für die Patti 
componirt hat und das fie ald Einlage im »Barbier von Se: 
villa« vorzutragen pflegt. 

In der großen Jury über die Preis-Cantaten und 
Friedenshymnen war Auber unfer PBräfident — fein Bräfident 
auf dem Anichlagzettel, wie Roffini, fondern ein jehr wirklicher. 
Die erjte rohe Arbeit des Durchſpielens aller 200 Eantaten 
und 800 Hymnen machte er allerdingd nicht mit — der ent- 
menschtefte Barbar hätte ihm das nicht zugemuthet — aber 
den zwei langen letten Sigungen, in welchen die beiten der 
eingelaufenen Compofitionen gehört wurden, wohnte er aufmerf: 
jam bei. Leider betheiligte er fih an den Urtheilen und Bor: 
Ihlägen mit feiner Sylbe, fondern beichränkte fih darauf, Die 
Abftimmung in präciier Weife zu leiten und das Rejultat fund: 
zugeben. Unſere oben erwähnten Vorarbeiten fanden im Conſer— 
batorium neben dem Arbeitszimmer Auber’3 ftatt, in welches 
er nur durch unſeren Saal gelangte. So konnten wir ihn denn 
täglich in feiner vollen Thätigfeit beobachten. Bald kam er von 
den Prüfungen in der Geſangs- oder Declamationd-Clafje, um 
fih fofort zu jenen der Geiger oder Pianiften zu begeben; 


Auber. 603 


bald conferirte er mit Lehrern oder Beamten der Anjtalt — 
furz, er war unermüdlich. Nur wer dies große und complicirte 
Snftitut kennt, macht fi einen Begriff von der Thätigfeit, Die 
es dem Director, jei e8 auch nur in formeller Hinfiht, auf: 
erlegt. Zu einer der Glafjenprüfungen nahm mich Auber freund: 
ih mit; er ſaß da mit vier Profefforen am grünen Tifch, 
hörte ein Dutzend Schülerinnen ihre Stüde vorfpielen und 
zeichnete nach jeder Production feinen Calcül ind große Bud). 

Eine der wenigen Aeußerungen über Muſik, die ich von 
Auber vernahm, zeugte von feinem Studium und feiner Ver: 
ehrung der Gluck'ſchen Muſik. Gevaert hatte ihm eben mit: 
getheilt, daß er Gluck's »Armida« für die Große Oper vor: 
bereite. Auber lobte die Mahl dieſes Werkes, dad er der 
»Alceſte« vorzieht, und citirte gleich die herporragenditen Stüde 
daraus. »Aber«, fügte er lebhaft hinzu, »wie viel hat auch der 
Tertdichter dazu gethan! Welche Verſe, welche Situationen! 
Man muß Gluf um fo ein Libretto beneiden«. Iſt es nicht 
harakteriftiich für den franzöſiſchen Componiſten, dies Hochſtellen 
des Tertdichter *) und neidvolle Rühmen eines faſt 200jährigen 
Librettos? 

Welche Zeiten ſind über dies weiße Haupt hinweggezogen! 
Als Knabe hatte Auber noch oft Ludwig XVI. geſehen, deſſen 
Caroſſen ſein Vater bemalte und vergoldete. Die erſten Ro— 
manzen des zwölfjährigen Auber wurden von galanten Damen 
des Directoriums in den Salons von Barras geſungen. Vor 
62 Jahren ward feine erſte kleine Oper von einer Dilettanten— 
Gejellihaft bei Doyen in Paris gefpielt. Dann ging er als 
 »Handlungäbefliffener« in ein Bankierhaus nach London, fehrte, 
dieſes Berufes bald überdrüffig, nach Paris zurück und entſchloß 
fih, feine muſikaliſchen Studien bei Cherubini von Grumd 
aus neu zu beginnen. Seine zwei erjten Opern im Theätre 
Feydeau fielen durch. Adolphe Adam, der Componift des 
»Poſtillon«, bat ſich in ſpäteren Jahren die Partituren derjelben 
aus. »Was, um Himmelöwillen, wollen fie damit anfangen?« 
fragte Auber. »Es find milerable Verfuche.e — »Deſto befier«, 


V Oninault. ar End 


604 Muſikaliſche Briefe aus Paris. (1867.) 


entgegnete Adam, »ich will fie meinen Schülern zeigen, jo oft 
fie muthlo8 werden.« 

Mit Entzüden habe ih die »Stumme« und »Fra Diavolo« 
hier wieder gehört, die jeit vierzig Jahren nichts an Friſche 
und Glanz eingebüßt. Es ftimmte mid glüdlih, den Mann 
zu fehen, der dies einft gejchaffen und jegt in feinem hoben 
Alter mit ungebrochener Lebensluſt fortarbeite. Er fühlt fi 
eben innerlich jung, was kümmert ihn das Datum feines Tauf- 
ſcheins? »Der arme Garaffa! wie er alt wird«, flüfterte 
Auber, als jein jüngerer College in ber Juryfigung erſchien. 
Mir fiel unwillkürlich unfer Heldengreis Radetzky ein Und jein 
Bedenken gegen den »zu alten« Windiſchgrätz. Auber hängt 
feſt, aber ohne Aengſtlichkeit am Leben, mitunter fogar nicht 
ohne Humor. »Der Tod fcheint wirklich unter den alten Opern— 
Gomponiften aufräumen zu wollen«, jagte er, von Meyerbeer’s 
Zodtenfeier heimfehrend, zu einem Freunde — »jegt kommt 
die Reihe an Roſſini.«*) 

*) Die Prophezeiung traf unerwarteter Weife ein: Roffini 


(zehn Jahre jünger ala Auber) ftarb im folgenden Sahr, den 14. No— 
vember 1868, 


J 


1982 016 


— —— 


Mus 188.3 
Aus dem Concert-Saal Kritiken und 


44 041 053 182 








4 


— 
ai 
are 


BETT 


A o I 


u 


vr 


er a ee eh 
RT me 


— i nad u. 
—— Min 


Be — 1 rnteny, ao P —— 


ARE Tr ea 
2 wWwirhä Por 27 


alhe 
4 


eh 
ur 


— 

—* —*8 
BESTELLT de wor #7 
ee A N 

ee ei 


PER WIE EEE ZZ 
ia mr 


4 


BERN 
KR Ui 


ET 


iUmHlrmb 
I PITIE IE" 
ee 


ee Harn 4! 


ſ 
er 


we —— 


en 


PERS e 777 28 
Pe 


idea 
PATREIPTRTT TUE 


uk 
—— 
0 wi 
⸗* 
La — 
nis 

Kiignd 

er 
Wr 


je TERET 


u 
) 


—9 


er 
N 


h EAN 


ir 


>. 


en 


i 


— 
— 


x 


— dr 
—— 


— 


x 
* 


VELIEH ST 
IA — 
Reel