Emil, oder
erziehung
Jean-Jacques
Rousseau
Librairie .
. GENI^VE- \
/ Cc
HARVARD COLLEGE LIBRARY
IN MEMORIAM
ARTHUR STURGIS DIXEY
1880 4" 1905
HARVARD COLLEGE I9O2
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Schulausgaben pädagogischer Klassiker.
Uetauä^cgeben von
Dr. Theodor Tupetz.
Heft 6. *
J, J. Rousseau,
Emil oder Uber die Erziehung
.HerauBg0geben von
Dr. Theodor Tupetz,
k. k. Laudesschulinspektor.
Mit 1 Titelbild.
2. idsdruck der 1. Auflage in neuer Kechtechreibung.
Wien. Leipzij^.
F. T e la p 8 k y. G. F r e y t a g.
1005.
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Inhalt.
Seite
I. J. J. Rousseau; sein Leben und Wirken 5
II. Emil oder Über die Erziehung.
Aus der Vorrede 10
Erstes Buch 12
Zweites Bueh . . . 42
Drittes Buch 86
Viertes Bueli 98
Fünftes Bucli 106
Druck von Rudolf M. Rohrer in Brünn.
1.
J. J. Rousseau; sein Leben und Wirken.^)
Als unter der Regierung des sittenlosen und yerschwen-
. derischen Königs Ludwig XV. sich jene allgemeine Tnzu-
frietk'iiheit mit dem Bestehenden unter dem französischen
Volke verbreitete, welche schließlich zu der furchtbaren Revo-
lution von 1789 führte, trat in Frankreich ein Schriftsteller
auf, der auch auf dem Gebiete der Erziehung eine Revo-
lution herbeiführen, sie von Grund aus umgestalten
wollte. Dieser Schriftsteller, der auch sonst mit Reeht als ein
Vorläufer der Revolution betrachtet wird, hieß Jean
Jacques Rousseau (sprich : Schan Schak Russoh).
Rousseau wurde im Jahre 1712 geboren; seine Vater-
stadt war Genf. Wie die meisten Einwohner dieser Stadt,
bekannten sich auch die Eltern Rousseaus zur Lehre
Calvins. Rousseaus Vater war einer der schon damals durch
ihre Geschicklichkeit berühmten Genfer Uhrmacher; seine
Mutter, eine durch Geist und Schönheit ausgezeichnete Frau,
starb, als Rousseau geboren "svurde. „Meine Geburt war mein
erstes Unglück," sagt darum Rousseau in der von ihm selbst
verfaßten Geschichte seines Lebens.
Die Erziehung, welche Rousseau von seinem Vater erhielt,
war in mancher Hinsicht eine verkehrte; so gestattete ihm
sein Vater, der selbst leidenschaftlich gern Romane las, schon
im fünften und sechsten Lebensjahre gleichfalls solche zu lesen.
Vater und Sohn lasen ganze Xiichtc miteinander, und wenn
am Morgen das Zwitschern der Schwalben sie nufsehreckte, so
sagte der Vater zuweilen beschämt: „Wir müssen zu Bette
gehen, ich bin ein größeres Kind als du,"
Diese frühe Bekanntschaft mit Romanen bewirkte, daß der junge
Knii<^sonti, wio er selbst gesteht, ganz sonderbare und überschwengliche
Nach TupetK, Geschichte der Erjuehung und des Unterrichtes,
2. Auflage; Prag, Tempsky 1896.
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Vor8tellun«?eti vom inenschlielifTi Loben erhielt, von welclien wfdci' Er-
fahrung? noch rV)erl(?guno: iliii üfanz wieder heilen koniitrn. Eine Folrrp da\-on
war, daß er sicli zeitlebens, seUist als er selioii l)eriilnnt ö^eworden war,
für einen nng-lückliehen, ungerecht verfolpften Men.sclieii hielt; auch
seine Unzufriedenheit mit allem Bestellenden in Staat und Kirche war
nicht bloß eine Fditjfe der damals wirklich vorhandenen Ubelstände,
sondern zum croßeu Teile der TTnfähipflvcit Rousseaus. sich in die Menschen
und die Verhältnisse, wie sie eluMi sind und waren, zu schicken. Die
abgröttisehe Liebe, wehdie Rousseaus Vater seinem Sohne gegenüber
zeigte, der Umstand, daß ihm alle seine Wünsche erfüllt wurden, so
daß ihm „gar Tiieht war, als ob er Wünsche hätte", scheint ebenfalls
ungünstig auf (ieti Knaben eingewirkt zu haben.
Im achten Jahre verlor Eousseau auch die Fürsorge seines
Vaters; dieser sollte nämlich infolge eines Rauf Handels in das
Gefängnis gebracht werden, zog es aber vor, Genf für immer zu
verlassen. Der junge Eousseau kam nun in die Obhut eines
Predigers, der in einem Dorfe bei Genf wohnte und bei
dem er Latein lernen sollte.
Jfic wurde von demselben im gaiusen gut behandelt; doch hatte
er einmal das Unglück, wegen eines an sieh unhedeutendeu Vergehens,
das er noch dasu nicht einmal wirklich begangen hatte, eine harte
körperliche Züchtigung zu erleiden. Dies machte auf ihn ein^ solchen
Eindruck, daß er, wie er selbst erzäblt, von da an die Heiterkeit seines
kindlichen Lebens verlor.
Nach Genf zurückgekehrt, sollte er endlich einen Beruf
wählen und kam, da er nicht wohlhabend .ffenug war, um an
einer Universität zn studieren, zuerst als Schreibor zu einem
Rechtsanwalt, dann als Lehrling zu einem K u p f e r s t e c Ii e r.
I>ie Entbehrungen, die er hier zu erdulden hatte, die harte Be-
handlung, die er erfuhr, standen zu seinem früheren, sorgenlosen Leben
in grelh III Gegensatze; unfähig, sich in die neue Lage zu finden, wurde
er faul, verlegte sich auf das Lügen und zuletzt auf das Stehlen.
Für seine kleinen, aber immer sich wiederholenden Diebe-
reien und andere schlechte Streiche von seinem Lehrherrn hart
gezüchtigt^ faßte er endlich den Entschluß, zu f 1 i e h e n. Nach
den Homanen, die er gelesen hatte> zweifelte er nicht daran, es
werde ihm draußen in der großen Welt ein leichtes sein, auf
irgendeine wunderbare Weise sein Glück zu machen. Natürlich
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sah er sich bald enttäuscht. Von Ort zu Ort wandernd, mußte
er, um seinen Lebensunterhalt zu finden, die verschiedensten
Stellungen annehmen; bald war er Bedienter^ bald Musiklehrer^
bald Feldmesser, dann wieder Schreiber nnd Reisebegleiter.
In Turin trat er zum katholischen Glauben über, in der — wie
sich bald seigte — irrigen Hoffiiung, durch die Unterstützung vornehmer
katholiBcher Würdenträger ein besseres Fortkommen zu finden. Als
Mann kehrte er, um das Bürgerrecht von Genf, das er durch seinen
Übertritt verloren hatte, wieder zu erhalten, zur calvinischen Lehre
zurück.
Auch als Erzieher versuchte sich Rousseau, und zwar
zu Lyon, aber ebenfalls mit geringem Erfolge, weil er die aller-
verkehrtesten Glitte! anwoiidetü.
Bald snchtt' er, wie er selbst erzählt, seine Zöpfliiigfe tliirrh Ver-
Huuftrrr'dTi(l(' zu leiten, welclie sie bei ihrem jugendlichen Alter noch
g&v nicht verstehen konnten: ein aTidermal wollte er sie rühren, indem
er sich an ihr Gefühl wen<lete, und wurde dabei so Avpicbmütj<r. daß er
beinahe selbst weinte. Wenn alles nichts half, geriet er in Wut; daini
aber hatte der Zöjrling erat recht den Sief»- über ihn davongctra^'^en.
denn, wie er selbst sagt, „nun war er der Verständige und ich das
Kind^'.
Nach längeren Irrfahrten nahm endlich Kousseau seinen
Wohnsitz in 1* a r i s.
Hier überreichte er der franzosischen Akademie (einer von
Bichelieu gegründeten Gesellschaft von berühmten Gelehrten nnd Dichtem
weiche die Aufgabe hat, den Fortschritt der Wissenschaften und Künste
zu fördern) einen Plan, nach welchem die Töne der Musik nicht mehr
mit Noten, sondern mit Ziffern bezeichnet werden sollten, fand aber
nicht den gehofften Anklang. Auch die Opern, welche er komponierte,
die Lustspiele, welche er verfaßte, hatten keinen durchschlagenden
Erfolg; doch gelang es ihm immerhin, durch seine Talente die Auf-
merksamkeit hochgestellter Personen auf sich zu lenken und, von ihnen
unterstutzt, ein Hauswesen zu gründen. Sein Dasein war freilich auch
in dieser Zeit noch so wenig gesichert, daß er großenteils durch Noten-
abschreiben seinen Lebensunterhalt verdienen mußte und die fünf Kinder,
welche ihm nach und nach geboren wurden, samtlich in das Ftndelhaus
gab, damit sie, wie er sagte, „lieber Bauern und Bürger würden statt
Abenteurer und Glücksritter^ gleich ihrem Vater*
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Als ßouöseau nahezu 40 Jahre ait war, qmg endlich sein
sehnlichster Wunsch, 1j c r ü h m t zu werden, in Erfüllung,
Er hatte in einer Zeitung gelesen, daß eine Gesellschaft von
Gelehrten in D i j o n ^) einen Preis ausgeschrieben habe für
die beste Beantwortung der Frage : „H aben die Eort-
sc Ii ritte der Wissenschaften und Künste zur
Keinigung der Sitten beigetragen?^' Er bewarb
sich um diesen Preis^ indem er in seiner Abhandlung die Be-
hauptung aufstellte, daß die Menschen durch die Wissenschaften
und Künste keineswegs besser, sondern schlechter
würden. Trotzdem erhielt er den Preis, weil er die Gabe besaß,
durch den Glanz seiner [Darstellung selbst unrichtigen An-
sichten den Schein der Wahrheit zu verleihen.
Einig'e Jahre später schrieb Rousseau eine zweite Abhandlung
„Über <lio Ursaelie der I' n gl ei chh c i t unter den Mensehen";
auch in dieser empfahl er die Rückkehr zum „Naturzustände", das
ist zu jenem Ziistande, in welchem sich die rohesten Völker betinden,
denen Kunst und Wissenscliaft noch völlig unbekannt sind. Der be-
rühmte französische Schriftsteller Voltaire (sprich: AVoltähr). obwohl
sonst in mancher Beziehung ein Gesinnungsg(!nosso Rousseaus, iH^n i kto
spöttisch, als er das Buch gelesen hatte: „Noch nie ist so viel Geist
aufgewi ndet worden, um uns womöqrlieh zu Vieh zu machen. Liest man
Ihr Buch, so bekommt man Lust, auf allen Vieren zu laufen." Rousseau
befolgte teilweise selbst die Lehren, die er in diesem Buelie gab, indem
er seine Uhr, seinen Degen, seine seidenen Strümpfe usw. ablegte, grobe
Wäsche und unansehnliche Kleidung trug und die .Jahresgehalte, die
ihm augeboten wurden, nicht annahm, sondern trotz seines Ruhmes sich
auch fernerhin vom Xotenabschreiben nährte.
Von den übrigen Schriften Rousseaus ist der „Gesellschaf ts-
vertrag" darum anzuführen, weil darin die I>ehre verkündet wird, daß
ein Volk, welches schlecht regiert wird, das Hecht habe, sich gegen
seinen Herrscher zu empören. lUese ebenso falsche als gefährliche Lehre
wurde später von den Jak(d;inern und Schreckensmännern, von Dantüii|
Marat, Robespierre usw. in blutige Taten umgesetzt.
Sein letztes grülieres Werk gab Koussoau 1762, also im
Alter von 50 Jahren heraus; es ist dasjenige, durch welches
^) Sprich: Dischohn; in Burgund^ nördlich von Lyon, südöstlich
yon Paris.
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Rousseau seinen Ruf als pädagrocrischor Schriftsteller begründete,
und führt den Titel : ,,E m i 1*' oder „Ü her die E r-
ziehung^^ Das Buch ist keine eigentliche Erziehungslehre,
sondern eine Art H o m a n, in welchem aber die Erziehung
eines Knahen (eben des Emil, von dem das Buch den Kamen
hat) bis zu seiner Verheiratung dargestellt wird.
Der „Emil^^ zog Bousseau, vornehmlich wegen der darin
ausgesprochenen religiösen Ansichten, manche Verfolgungen
zu. Er mußte Paris verlassen, um der Verhaftung zu entgehen,
und lebte von da einige Zeit als Flüchtliiifj: an verschiedenen
Orten der Schweiz und in England. Zuletzt kehrte er aber doch
wied(^r nacli Frankreich zurück; er starb in der Nähe von Paris
im Jahre 1778.
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IL
Emil oder Über die Erziehung.
Aus der Vorrede.
über die Wichtigkeit einer guten Erziohiuig werde ich
wenig sagen; ich werde aiirli nicht Jnnge beweisen, daß die her-
kömmliche Erziehungsart eine schlechte ist: das haben tausend
andere vor mir getan, und ich mag mein Buch nicht mit Dingen
füllen, die jedermann weiß. Ich bemerke bloß, daß es seit un-
denklichen Zeiten nur eine Stimme gibt gegen die herrschende
Praxis, ohne daß jemand daran geht, eine bessere in Vorschlag
zu bringen.') Literatur und Gelehrsamkeit sind in unserem
Jahrhundert viel mehr darauf gerichtet, einzureißen als auf-
zubauen. Man kritisiert alles von oben herab; um Vorschläge
zu machen, Ii raucht man aber einen anderen Ton, in dem sich
iin><'ro liolio l?hilos(>])hit' ") weniger gefällt. Ungeaolitet sovieler
Bücher, die, wie man behau jitet, nur don öffentlichen Tvntzon im
Auge haben, ist das Nützlichste, die Kunst, Monsehen zu bilden,
immer noch vergessen geblieben. Meine Aufgabe war auch nach
dem I^iu'h von Lock e ^) eine ganz neue und ich fürchte sehr,
sie dürfte es auch nach dem meinigen noch sein.
Die Kindheit ist uns «ine ganz unbekannte Sache; bei den
verkehrten Ansichten, die wir darüber haben, müssen wir mehr
und mehr in die Irre geraten. Die Weisesten fassen die Wichtig-
*) Das Streben, die Erziehung, wie sie aus dem Mittelalter ererbt
worden war, zu verbessern, geht bis nnf (^as Refonnationsalter zurück.
-) Die damaligen „Aufklärer^', z. B. Voltaire, nannten sich mit
Vorliebe Philosophen.
^) John Locke (1632 — 1704), der bekannte enrrH''"cbe Philosoph,
schrieb unter anderem „Gedanken über Erziehung"; di( >;(-- zu l^ou^'^oaus
Zeit vielfiTflp'^pnf' "Werk enthält schon vieles, was auch im ,,Emir', nup
weiter ausgeführt, sich fi^deti
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keit einer gewissen Masse van Kenutnissen ins Auge, ohne zu
erwägen, was die Kinder zu lernen imstande sind. Sie suchen
im Kinde immer den Mann, ohne an das zu denken, was e&
zuvor ist.^) Dies letztere^) ist nun das besondere Ziel meiner
Nachforschungen gewesen, damit man, wäre meine Methode
auch eine eingebildete und verkehrte, aus meinen Beobachtungen
immerhin Nutzen ziehen könnte. Meine Maßnahmen mögen
sehr unrichtig sein; das Ziel, auf das wir hinarbeiten müssen,
glaube ich riehti,": erkannt zu hahon. Beginne also deinen Zög-
Y\n^ hes^^er zu (erforschen, denn du kennst ihn ganz Ijcsiinimt
nicht, und wenn du dann in Hinsieht darauf mein Buch liesest,
so dürfte es dir einigen Nutzen gewähren.
Hinsichtlich des Teils, den man den systematischen nennen
wird, der aber bei mir mit dem Gange der Natur zusammen-
fällt, wird der Leser sich am meisten befremdet fühlen; hier
wird man mich auch ohne Zweifel bekämpfen, und vielleicht
nicht mit Unrecht. Man wird weniger eine Abhandlung über
Erziehung zu lesen glauben als die Träumereien eines Phau-
tast(Mi über Sachen der Erziehung.") Was soll ich tun? Ich
schreibe nicht nach den Gedanken anderer, sondern nach meinen
eigenen. Ich sehe die Dinge nicht wie andere Menschen; das hat
man mir lange genug vorgeworfen. Kann ich mir denn aber
andere Augen geben, kann ich fremde Gedanken in mir ent-
stehen lassen? — Nein ! Nur das vermag ich, daß ich nicht ganz
in meiner Meinung aufgehe, daß ich nicht für mich allein weiser
zu sein glaube als die ganze Welt, daß ich zwar nicht ohne
weiteres meine Meinung andere, aber doch meine Bedenken
ihr gegenüber hege; das ist alles, was ich tun 1 .niiu und ich tue
es auch. Wenn ich nun manchmal in entscliK tliMiem Tone
spreche, so will ich dem Leser nichts mit (rowalt einrtMlcn, ich
will eben nur zu ihm sprechen, wie ich denke. Warum soll ich
ihm als zweifelhaft vortragen, worüber ich meinerseits keinen
^) behandeln die Kinder, als ob es Männer wären.
2) Die Erforschung^ der Kindesnatnr.
^) Pest^Ioszi naniite wirklich den «Smü^ ein „Traumbuch"^
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Zweifel habe? Ich wül genau wiedergeben, was in meinem
Geiste vorgeht/)
Erstes Baeh,
Alles ist gut^ wie es aus den Händen des Schöpfers hervor-
geht; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt
ein Land^ die Erzeugnisse eines andern hervorzubringen, einen
Baum, die Früchte eines andern zu tragen; er vermischt und
verwirrt Klimate, Elemente, Jahreszeiten; er verstüiuinelt seinen
Hund, sein Pferd, seinen Sklaven, alles stellt er auf den Kopf,
alles entstellt er; er liebt die Mißbildung, das Tlnofeheuerliche;
nichts will er so haben, wie es die Natur gemacht hat, nicht
einmal den Menschen; er will ihn zugerichtet haben wie ein
Keitj^ferl, zugestutzt nach der Mode wie einen Baum in seinem
Garten.^)
Ohne das würde alles noch schlimmer gehen, und unsere
Art will nicht nur halb zugrunde gerichtet sein. Wie die Dinge
in der Folge sich zu gestalten pflegen^ würde ein von Geburt an
mitten unter den anderen sich selbst überlassener Mensch der
^) Bous 88 au erwartet also selbst nicht, daß man seine Ansichten
kritiklos annimmt.
^ Es ist nicht schwer, die Übertreibung zu erkennen, die in allen
diesen SStzen liegt. Wenn der erste Satz richtig wäre, müßten auch
blutdürstige Tiger, giftige Schlangen, lastiges Ungeziefer als gut be-
zeichnet werden; wenn die folgenden richtig wären, so müßte ein ver-
edelter Obstbaum, der schmackhafte Früchte tragt, schlechter sein als der
Holzapfelbaum, dessen Früchte sauer und ungenießbar sind, dürre Wüsten
und Steppen hätten den Vorzug vor wohlangebauten Feldern, Wein-
bergen und Gemüsegarten, wilde Tiere den Vorzug vor zahmen usw.
usw. Bousseau hätte also höchstens sagen dürfen: „Manche Dinge
sind besser, wie sie von Natur sind, und entarten erst unter den Hunden
der Menschen*'; dieser bescheidene Ausspruch hätte aber freilich kein
solches Aufsehen hervorgerufen wie die starken Behauptungen, welche
oben angeführt sind, und hätten auch Rousseau unmöglich gemacht,
solche Folgerungen daraus abzuleiten, wie er sie aus jenen tatsächlich
ableitete*
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entstellteste von allen sein. Vorurteil, Beeiniiussung, Zwang,
Beispiel^ alle die gesellschaftlichen Einnchtuiigen^ die uns über-
fluten^ würden die Katnr in ihm ersticken und nichts an ihrer
Stelle zurücklassen.^) Es würde ihm gehen wie einem Banmchen^
das der Zufall mitten auf der LandstralSe hervorwachsen laßt
und das die Vorübergehenden, die rechts und links daran
stoßen und es nach allen Richtungen umbiegen, bald verderben.
An dich wende ich mich daher, zärtliche und vorsorgliche
Mutter,-) der es gelungen, von der breiten Heerstraße fern
^) Wenn nicht der Ersieher selbst die Kinder verdirbt, wie ea
die Welt Terlangt, so tut es, und zwar in noch hSherem Grade, die
sonstige Umgebung^ des Kindes*
^) Hierzu macht Rousseau selbst folgende Anmerkung: Die
erste Eniebung ist die wichtigste und diese gehört unbestreitbar den
Frauen. Deshalb spreche man in Ersiehuugs werken immer vonugsweise
SU den Frauen; denn außerdem, daß sie imstande sind, die Erziehung
grauer zu überwachen als die Minner und immer einen größeren Ein-
fluß auf dieselbe ausüben, sind sie auch an ihrem Erfolge mehr be>
teil igt, weil die meisten Witwen auf die Ghiade ihrer Kinder angewiesen
sind, die ihnen dann die Wirkung ihrer Erziehung im Guten oder
Schlimmen sehr deutlich zu fühlen geben. Die Gesetze, die sich immer
so viel mit den Gütern (Sachen) und so wenig mit den Personen zu
schaffen machen, weil sie den Frieden (die bloße Verhütung des Streites)
zum Zweck haben und nicht die Tugend, gestatten den Müttern nicht
genug Einfluß. Dennoch ist ihre Lage eine viel sicherere als die der
Väter; ihre Pflichten sind mühevoller; ihre Sorg< trägt mehr zur
guten Ordnung in dea FMinUien bei; im allgemeinen haben sie mehr
Zuneigung für die Kinder. Es gibt Fälle, wo man einen Sohn, der
seinem Vater die gehörige Achtung versagt, irgendwie entschuldigen
kann; aber wenn in irgendwelchem Falle ein Kind entartet genug wäre,
sich achtungswidrig gegen seine Mutter zu benehmen, die es in ihrem
Schöße getragen, die es an ihrer Brust ernährt hat, die Jahre hindurch
sich selbst vergessen, um sich nur ihm zu widmen, so müßte man dieses
elende Geschöpf je eher je lieber vertilgen wie ein Ungeheuer, das die
Sonne zu sehen nicht wardig ist. Man sagt, die Mütter verziehen die
Kinder. Darin haben sie ganz sicher Unrecht, doch vielleicht weniger
als ihr, die ihr sie herabwürdigt. Die Mutter will, daß ihr Kind glücklich
sei, und zwar sogleich. Darin hat sie recht und wenn sie sich in den
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u
zu bleiben und das lu ranwachsende Bänmchen vor dem Sturme
der menBchliehen Meinungen zu wahren. Pflege, begieße die
junge Pflanze, bevor sie dahinsiecht; ihre Früchte werden einst
deine Wonne sein! Ziehe frühzeitig eine Schutzwehr um die
Seele deines Kindes; ein anderer mag das Gebiet nach auJkn ab-
grenzen, aber du allein hast die Sehranke zu setzen.*)
Den Plianzen gibt man eine bestinimto Fonn durch die
Art des Anbaues, den Menschen durch die Erziehung. Käme
der Mensch groß und stark zur Welt, seine Größe und Stärke
wäre ihm unnütz bis zu dt m Augenblicke, wo er golornt, sich
ihrer zu bedienen; sie wäre sogar bedenklich Xür ihn, weil sie
andere verhindern würde, ihm behilflich zu sein; sich selbst
überlassen, würde er im Elend umkommen, bevor er nur seine
Bedürfnisse kennen gelernt hätte. Der Zustand der Kindheit
(ihre Hilflosigkeit) scheint beklagenswert; aber man denkt
nicht daran, daß das Menschengeschlecht schon zugrunde ge-
gangen wäre, wenn der Mensch seine Existenz nicht als Kind
begonnen hätte.
Rousseau bespricht mm dio „drei Arten von Lelirern", die auf
(las Kind ciiiwiikt ii. „die Natur", welche der Erzieher gar nicht nadi
st iiu'iu Willi'u Iniki'ii küniie, „die Dinge", das ist die von dem Zöglinge
selbst gewoinit'iic Erfahrung, auf die der Eiutluß des Erziehers nur
gering sei, cudlii li ..die Menschen", über welche allein die Erziehung
einige (it wult habt . Da die Erziehung nur gelingen k<"iuiie. wenn diese
drei Erziehungsfaktoren in gleicher Kichtung wirken, der Erzieher aber
die Natur und die Dinge nicht rxlcr nur wenig beeiuliusseii kann, so
niuli sich nach Rousseau die Erziehung durcli die Menschen der durch
die Natur und liurch die Dinge anpassen. Als Beispiel, wio die Natur
doch schließlieli Sieoerin blei})t, führt Rousseau rilunzen an. die mau
am Antwärtswach?jeu hindern will und die immer wieder nach oben
treilieu.
Mittehl vergreift, so muß man sie aufklaren. Ehrsucht, Geiz, Bedr&ckiing,
die mißTerstandene Vorsorge der YSter, ihre Nachlässigkeit, ihre rauhe
Gefühllosigkeit sind für die Kinder hundertmal verhingnisToUer als die
blinde Za'rtlichkeit der Hütter.
^) AVie und wo die Schntzwehr anzubringen sei, kann ein anderer
raten, z. B. Rousseau selbst; die Ausführung aber ist Sache der Mutter
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Die staatlichen Einrichtungen sind aber mit dem Nnfiirzustande,
wie ihn Rousseau sich denkt, in Widerspruch, und zwar nicht bloß die
staatlichen Einrichttmgen im damalijoren Frankreich, die freilich mang^el-
haft genug waren, sondern alle, selbst die sonst bewunderten der Spar^
taner und Römer. Als Beweis, daß am Ii die «spartanische und römische
Erziehung widernatürlich gewesen sei, führt er unter anderem die spar-
tanische Mutter an, die frohlockt, weil das spartanische Heer gesiegt
hatte, obgleich ihre fünf Söhne im Kampfe gefallen waren, und Regulas,
der sich dem qualvollsten Tode preisgab, um Rom zu retten. Rousseau
sagt daher geradezu: man müsse sich entscheiden, ob man die Natur
oder die gesellschaftlichen Einrichtungen bekämpfen, einen Menschen
oder einen Bürger bilden woUe; denn beides zugleich sei nicht
möglich.
An einer andern Stelle sagt er sogar: Die Worte „Vaterland"
und ..Bürgfpr' sollten aus den modernen Sprachen getilgt w^erden. So
ist der \atmnien««ch, den Rousseau heranbilden will, ein Mensch ohne
Vaterland, ohno rechte'^ Hpimatgefühl, ein Mensch, für den es gleich-
gültig ist, wo er geboren und erzogen worden ist.
Rousseau wirti die Frage auf:
Was haben wir nun zu tuo, um diesen soltonen Menschen
zu bilden? Viel ohne Zweifel: — zu verhüten, daß etwas getan
werde.^) Wenn es sich nur darum handelt, gegen den Wind zu
segeln, so laviert man;*) geht aber die See hoch und man will
auf der Stelle bleiben, so muß man die Anker auswerfen.') Sei
auf der Hut, junger Schiifsmann, daß dein Tau nicht schleppe
oder dein Anker den Gnmd (bloß) furche und daß nicht das
Schiff forttreibe,*) bevor du es iiier
In der (jetzt bestehenden) gesellschaftlichen Ordnung, wo
alle Stellen vorher bestimmt sind, muß jedor für die soinigc
erzogen werden. Wenn ein einzelner eine Stelle, für die er ge-
bildet ist, verläßt, so i^t r für nichts mehr geeignet. Pie 1>-
Ziehung ist für das Kind nur insoweit von Nutzen, als das
') Also nichts zu tun? Soll die Erziehung darin bestehen, daß
der Zögling aufwächst wie der Baum im Walde? Rousseau will wohl
nur sagen, daß nichts Naturwidriges geschehen dürfe.
^ Sucht auf Umwegen sein Ziel zu erreichen.
^) Maßregeln treffen, um naturwidrige Einflüsse femxubalten.
In das Weltgetriebe bineingeTiasen werde.
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Schicksal mit der Bestimmung der Eltern übereinstimmt; in
jedem andern Falle ist sie dem Zöglinge schädlich» wäre es auch
nur der Vorurteile wegen» die sie ihm beigebracht hat. In
Ägypten» wo der Sohn den Beruf des Vaters ergreifen mußte,
hatte die Erziehung doch ihr sicheres Ziel; aber bei uns» wo nur
die Stellen bleiben und die Menschen fortwährend wechseln,
weiß niemand, ob er nicht gegen seinen Sohn arbeitet, wenn er
ihn für seinen Stand erzieht.
In der natürlchcii Ordnung, wo die Menschen alle gleich
sind, ist ihr gemeinsamer Beruf der des Menschen, und wer nur
immer für diesen gut erzogen ist, muß jeden andern» der damit
in Beziehung steht» recht ausfüllen können. Meinetwegen mag
man meinen Zögling zum Kriegs-» zum Kirchen- oder Gerichts-
dienst bestimmen. Vor der Bestimmung der Eltern hat die
Natur ihn für ein menschliches Leben bestimmt. Leben ist das
Handwerk» das ich ihn lehren will. Wenn er aus meinen Händen
hervorgeht, wird er freilich weder Beamter noch Soldat noch
rriester sein, er wird in erster Linie .Mensch sein: alles was ein
Mensch sein muß, wiid er, wenn es nötig ist, ebensogut sein wie
irgentl jemand, und mag ihn auch das Schicksal von einer Stelle
au die andere t r e i b e n, er wird immer an s e i n e r Stelle sein.
Wir müssen also in unserem Zögling den Menschen au
sich betrachten» ausgesetzt allen Zufällen des menschlichen
Lebens. Wenn die Geburt den ^lensilien an den Boden eines
Landes bände» wenn die nämliche Jahreszeit das ganze Jahr
hindurch dauerte» wenn jeder Mensch unTerrückbar an eine
bestimmte Lebenslage geheftet wäre» so wäre die herrschende
Praxis in mancher Hinsicht richtig; das Kind würde dann für
seinen Stand erzogen, und da es diesen nie verlassen könnte,
wäre es den TTnzulra^lichkeiten eines andern nicht ausgesetzt.
Kann man al)er angesii-lits der Wandelbarkeit der menschliclien
Dinge, angesichts des unruhigen und rastlosen Geistes dieses
Jahrhunderts, das in jeder Generation (in jedem Menschen-
alter) wieder alles umstürzt» was die vorige geschalten hat»^)
^) Schon hier ist eine prophetische Andevtimg der großen Revo-
lution, die im Jahre 1789 wirklich eingetreten ist.
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sich eine imsinnigere Methode denken als die, ein Kind so zu
erziehen, als dürfte es ni(^ sein Zimmer verlassen, als müßte
es imni^T in der Mitte der Seini^rfri ))leil)en? Wenn sich der
(Jagiückliche einen cinzifjen Schritt hinauswagt, wenn er eine
einzige Stufe hinabsteigt, so ist er verloren. So lehrt man
nicht Ungemach ertragen, sondern nnr es noch stärker fühlen.
Man denkt nur darauf, sein Kind zu erhalten; das ist aber
nicht genug, man muß es lehren, wie es als Erwachsener sich
selbst erhalte, wie es die Schläge des Schicksals ertrage, dem
Überfluß und dem Mangel trotze, wie es, wenn es sein muß,
auf den Eisfeldern Islands oder auf den glühenden Felsen von
Maiia leben könne. Ma.irst du auch deine Vorkehrungen treffen,
daß es nicht umkomme, sterben muß es dennoch, und wenn sein
Tod auch nicht die Folge deiner Sorgfalt w*äre. so wäre diese
(die Sor^^falt) dennoch verkehrt. Es handelt sich weni^^er darum^
das Kind vor dem Sterben zu hüten, als darum, ihm ein rechtes
Leben zu geben. Leben ist nicht Atmen, Leben ist Handeln,
Leben heißt seine Orgahe gebrauchen, seine Sinne, Fähigkeiten,
alle Teüe seines Wesens, die uns das Gefühl unseres Daseins
geben. Nicht derjenige Mensch hat am meisten gelebt, der die
meisten Jahre zahlt, sondern derjenige, der am meisten sein Leben
empfunden hat. Manchen hat man in seinem hundertsten Jahre
begraben, der im Augenblick seiner Geburt gestorben ist. Es
wäre ihm besser ergangen, wenn er jung gestorben wäre; er hätte
wenigstens bis zu jener Zeit gelebt.
All unsere Weisheit besteht in knechtischen Vorurteilen;
alle unsere Gebräuche ^) sind nichts als Sklaverei, Druck und
Zwang. Der bürgerliche Mensch^) kommt als Sklave zur Welt,
er lebt und stirbt als Sklave; nach seiner Geburt schnürt man
ihn in ein Wickelband; nach seinem Tode nagelt man ihn in
einen Sarg ein; solange er seine menschliche Gestalt bewahrt,
ist er durch unsere Einrichtungen gebunden.
Man sagt, manche Hebammen wollen den Köpfen der
Neugehorenen durch Drücken eine anständigere Form geben,
^) Soll heißen: eini<^e unserer Gebraache«
^) Der für die Welt, wie sie ist, ersogene Mensch.
Sobitlaasgalieii pädayogiaciier Klassiker. Heft 6. 2
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und das duldet man! Unsere Köpfe waren also ungeschlacht,
wie sie der Urheber der Dinge geformt hat; wir müssen sie erst
formen, von aulJen durch die Hebamme, im Innern dnrch die
Philosophen. 1) Da sind doch die Karaiiben um die Hälfte glück-
licher als wir.*)
Kaum ist das Kind geboren^ kaum geniei^t es die Freiheit,
seine Glieder zu bewegen und auszustrecken, so legt man es
schon in neue Bande. Man wickelt es ein und legt e? hin mit
festgebundenem Kopf und ausgestreckten Beinen^ die beiden
Arme hart am Leibe; man umgibt es mit Binden und Bändern
aller Art^ die ihm nicht gestatten, seine Lage zu Terändem.
Ein Glück, wenn man ihm nicht den Atem dabei geraubt und
wenigstens die Vorsicht gebraucht hat, es auf die Seite zu legen,
damit die Flüssigkeit, die es durch den ^Fiind von sich geben
jnuß, von selbst abfließen kann! Denn es hätte nicht so viel
Freiheit, den Kopf auf die Seite zu wenden, daß sie leichter
ausfließen könne.
Das neugeborene Kind hat das Bedürfnis, seine Glieder
auszustrecken und zu bewegen, um ihnen die Starrheit zu be-
nehmen. "Nim streckt man sie allerdings aus, aber man gestattet
ihnen die freie Bewegung nicht; sogar den Kopf zwängt man
ein durch Kopfbänder; man hat, wie es scheint, die Befürchtung,
das Kind könnte aussehen, als lebte es wirklich.
So findet der Trieb der inneren Teile eines nach Wachstum
strebenden Körpers unübersteigliche Hindernisse für die Be-
wegungen, die er von demselben verlangt. Das Kind müht sich
ab mit nut/Iost n Anstrengungen, die seine Kraft erschöpfen
und deren l'ntwicklung verzögern.
Die Untätigkeit nnd der Zwang, worin man die Glieder
eines Kindes gefangen hält, müssen unbedingt den Lauf des
Blutes und der Säfte hindorn: sie machen es dem Kinde un-
möglich, sich zu kräftigen und zu ¥rachsen und schädigen seine
Körperanlage. In den Gegenden, wo man von diesen über-
^) Die Aufklärer. fTpupn Rnupsean kpinppwpofs o-anz ziistiTTimte.
2) Sie v(;runstalt< n nämlich die Köpfe ihrer Kinder wenigstens
nur von auüeu, nicht von innen.
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triebenen Vorsichtsmaßregeln nichts weiß, sind die Menschen
alle groß, stark und gut gewachsen. Die I^nder^ wo man die
Kinder wickelt, wimmeln von Buckligen, Hinkenden, Krumm-
beinigen, Krüppeln, Bhachitischen und Verwachsenen jeder
Art. Aus Furcht, der Leib möchte durch freie Bewegung miß-
gestaltet werden, entstellt man ihn lieber gleich durch Ein-
schniiiLii. ^laii iiiöchte ihn gern bewegungslos machen, damit
er nicht verkrüppeln könne.
Sollte ein so herzloser Zwang nicht auf die Gemüts-
slininiung dor Kinder Einfluß haben wie auf ihre Leibes-
beschalfenheiti^ Ihr erstes Gefühl ist Schmerz und Qual; bei
allen Bewegungen, die sie machen müssen, finden sie ein Hin-
dernis; unglücklicher als ein gefesselter Sträfling, mühen sie
sich nutzlos ab, brechen in Zorn und Weinen aus. Tränen,
sagt man, sind ihr erster Laut; ich glaube es wohl: von ihrer
Geburt an bedrangt man sie; das erste Geschenk, das sie von
uns erhalten, sind Fesseln, die erste Behandlung, die sie erfahren,
sind Qualen. Nur die Stimme läßt man ihnen noch frei; warum
sollten sie sich ilirer nicht bedieneUj um sich zu beklagen?
Sie sclireien über das Übel, das man ilinen zufügt; wärest du
geknebelt wie sie, du würdest noch mehr schreien.
Woher kommt dieser unvernünftipre Gebrauch? — Von
einer naturwidrigen Gewohnheit. Seitdem die Mütter, ihrer
ersten Pflicht vergessend, ihre Kinder nicht mehr selbst auf-
ziehen wollen, hat num sie gemieteten Weibern anvertrauen
müssen, welche nun, als Mütter fremder Kinder, für die die
Natur ihnen kein Gefühl eingeflößt hat, nichts Angelegent-
licheres zu tun haben, als sich das Geschäft leicht zu machen.')
Bin Kind in voller Freiheit würde einer fortwährenden Über-
wachung bedurft haben; aber wenn es gut eingebunden ist,
wirft niiiii es in einen Winkel und kümmert sich nicht um
sein Geschrei. Wenn man keine Beweise von der Nachlässigkeit
der PÜegemutter hat, wenn der Pflegling keinen Arm oder kein
An Knochenerweichung Leidenden.
*) BouBseau .betrachtet, wie ersehen, als Begel, was Eum
Glücke jetst vielleicht seibat in Frankreich nur Ausnahme ist.
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Bein briclu, was liegt dann wciu r ihirau. ub er verkomme oder
sein ganzes Leben hindurch schwächlich bleibt? Man erhält
seine Glieder auf Kosten seines Leibes, und die Amme ist
entschuldigt, mag da kommen, was wolle.
Wissen diese süBen Mütter, die, nnbelästigt von ihren
Kindern, sieh fröhlich den Freuden des Stadtlebens hingeben,
wissen sie denn, welche Behandlung das Kind in seinem Wickel-
kissen auf dem Dorfe erfährt? Bei der geringsten zufälligen
Störung hängt man es wie ein Bündel Wäsche an einen Nagel,
und während die Amme, ohne sich zu übereilen, ihren Geschäften
nacligeht, bleibt das unglückliche Wesen so gekreuzigt hängen.
Alle, die man in dieser Lasre anLrctrofTon hat, waren blaurot
im Gesichte; die aewnltsjaui zusaiüuion;^ej)roßio Brust ließ das
Blut nicht mehr zirkulieren, so daß es in den Xvopf stieg, und
man hielt das arme Wesen für sehr ruhig, weil es nicht mehr
schreien konnte. Ich weiß nicht, wie viele Stunden- ein Kind
ohne Lebensgefahr in diesem Zustande verharren kann; aber
ich zweifle, ob es das sehr lange aushält. Das ist, wie es scheint,
einer der größten Vorteile des Wickelkissens.
Man behauptet, die Kinder könnten bei gänzlicher Freiheit
gefährliche Lagen annehmen und Bewegungen machen, die für
die gute Ausbildung ihrer Glieder srhiidlich worden könnten.
Das ist eine von den leeren Verniini loli icn unserer falschen
Weishoit, denen die Erfahrung nie recht ,i:(\u"('l)eu hat. Von all
den viidcn Kindern, welche hei vermin i'tigen Völkern im un-
beschrankten Gebrauche ihrer Glieder aufgezogen werden, sieht
man keines, das sich verwundete oder beschädigte; sie können
ihren Bewegungen die Kraft nicht geben, die sie gefährlich
machen könnte, und wenn sie eine gewaltsame Lage annehmen,
so erinnert sie der Schmerz bald daran, sie zu ändern.
Es ist uns noch nicht eingefallen, die jungen Hunde und
Katzen ins Wickelkissen zu legen: hat man irgendwelche
schädlichen Folgen dieser Vernachlässigung bei ihnen bemerkt?
Die Kinilc!' sind schwerer: freilich; aber sie sind auch um so
viel seliuächer. Sie kr>nnen sich kaum bewegen; wie sollten
sie sich da beschädigen? Wenn man sie der Länge nach auf
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I
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deu liüeken legte, würden sie iu dieser Lage sterben wie die
Schildkröte^ ohne sich je umdrehen zu können.
Rousseau besprielit sodann die Unsitte, die Kinder Ammen zu.
abergeben, statt sie selbst zu nähren, wodurch die Mutter den besten
Teil ihrer Rechte an eine Fremde verliere, und f&hrt dann fort:
Von dieser ersten Verderbnis kommt der Reihe nach alles
andere her; die ganze sittliche Ordnung verschiebt sich; die
jiaUirliihen licguiigen des Herzeus ersterben; das Leben in
den Häusern wird weniger belebt; es fohlt das rührende Schau-
spiel einer heranwachsenden Familie, das den Gatten an sein
Haus fesselt und den Fremden Achtung auferlegt; eine Mutter,
von der man keine Kinder sieht, achtet man weniger; die
Familien bieten keine bleibende Stätte mehr; die Gewöhnung
befestigt nicht mehr die Bande des Blutes; es gibt weder Väter
inehr noch Mütter noch Kinder noch Geschwister; man kennt
sich kaum; warum sollte man sich da lieben?^) Jeder denkt
nur noch an sich. Und wenn das Hans nur noch, eine traurige
Einöde ist, so muß man das Vergnügen auswärts suchen.
Wo es keine Mütter mehr gibt, gibt es auch keine iviiider.
Ihre Pflichten sind wechselseitig: werden sie von der einen
Seite nicht recht erfüllt, so werden sie auch von der andern
vernachlässigt. Das Kind muß seine Mutter lieben, bevor es
weiß, daß dies seine Pflicht ist. Wenn die Stimme des Blutes
nicht durch Gewohnheit und liebevolle Pflege unterstützt wird,
so verstnmrat sie in den ersten Jahren, und das Gefühl stirbt^
wenn ich so sagen darf^ bevor es geboren wird. So stehen wir
schon von den ersten Schritten an außerhalb der Natur.
Aber man verläßt sie auch noch auf einem entgegen-
gesetzten Wege, wenn eine Frau ihre Mutterpflichten nicht
etwa vernachlässigt, sondern sie übertreibt, wenn sie aus dem
Kinde ihren Abgott iiiacht, wenn sie siMnc Siliwäche steigert
und nährt, damit es sie selbst nicht fühlen soll, und wenn sie,
in der Hoflnung, es den Gesetzen der Xatur zu entzieheji, jeden
^) Rousseau setzt aucb hier voraus, daß die Kinder, w'w es zu
seiner Zeit in Frankreich üblicb war, außerhalb des Eltf>rnhaus« s
von Fremden (z. B. von Landleuten oder iu Pensionen) erzogen werden.
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2,2
Anlaß zum Schmerze von ihm fernhält, oliiie daran zu denken,
daSi sie, um einiger Unbequemlichkeiten willen, vor denen sie
es für den Augenblick bewahrt, Unfälle und Gefahren für die
Zukunft auf sein Haupt lädt, und daß es eine unmenschliche
Vorsicht^) ist, die Schwäche des Kindesalters noch bis in die
müheyoUe Zeit des Mannesalters hinein zu verlängern. Thetis
tauchte, wie die Fabel erzählt, ihren Sohn (Achilles), um ihn
unverwundbar zu machen, in die Fluten des Styz. Diese Allegorie
ist hübsch und deutlich.^) Die herzlosen Mütter, von denen ich
spreche^ machen es anders; sie tauchen ihre Kinder so sehr
in die Weichlichkeit ein, daß sie dieselben förmlich zum Leiden
vor])ereiten; sie öffnen ihre Poren für Übel aller Art, denen
jene als Erwachsene ganz sicher znr Bente fallen werden.
Beobachte die Natur und folge dem Wege, den sie dir vor-
zeichnet. Sie übt die Kinder unablässig; sie härtet ihren Leib
durch Proben jeder Art; sie lehrt sie frühzeitig, was Beschwerden
und Schmerz sind. Das Durchbrechen der Zahne veranlaßt
ihnen Fieber; heftige Leibschmerzen machen ihnen Krämpfe;
anhaltender Husten bringt sie zum Ersticken; die Würmer
plagen sie; Vollsäftigkeit verdirbt ihr Blut; allerhand Säuren
gären darin und rufen gefährliche Ausschläge hervor. Fast das
ganze erste Lebensjahr ist KraiikiiciL und Gefahr; die Hälfte
der Kinder, die zur Welt kommen, stirbt vor dem achten Jahre.
Sind diese Pro])en aber bestanden, so hat das Kind an Kräften
gewonnen, und die Grundlagen seines Lebens werden, sobald
es dasselbe gebrauchen kann, sicherer.
Das iht die Regel der Natur. Warum handelst du ihr
entgegen? Siehst du nicht, daB du ihr Werk, indem du es zu
verbessern meinst, zugrunde richtest und die Wirkung ihrer
Sorge aufhebst? Du glaubst, die Gefahr zu verdoppeln, wenn
du das von außen tust, was sie von innen tut^^^ während sie
*) Es ist scheinbar vorsichtig, in AVirklichkeit umnenscblicb.
^ Thetis hat ihren Sohn bacbstiihlich ,,abgehärtet''| ihn mit einer
harten, nnduri-hdringlichen Haut versehen.
3) Die Natur härtet von innen ab, der Erzieher soll es von
außen tun.
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dadurch vielmehr abgeh?nkt und vermindert wird. Die Erfahrung
lehrt, daB von den verzärtelten Kindern noch mehr sterben als
von den anderen. Wenn man nur das Maß ihrer Kräfte nicht
überschreitet, läuft man weniger Gefahr, wenn man sie in
Tätigkeit setzt, als wenn man sie schont. Bereitet sie also Tor
für die schmerzlichen Fälle, die sie einst werden ertragen müssen.
Härtet ihre Leiber ab ^^gen die Unbilden der Witterung, des
Klimas, der Elemente, gegen Ihmger, Durst und Ermüdung;
tanclu't sie ein in die Wasser des Stvx.i) Bevor der Leib sieh
seine (Jewohniieit reihst irebildet hat. yibt )nan ihm ohne (iefahr
diejenige, die man ilim beibringen will; liat er al)cr einmal seine
bleibende Art angenommen, so wird ihm jede Störung gefährlich.
Ein Kind kann Arten des Wechsels ertragen, die ein Erwachsener
nicht ertragen würde; die weichen und biegsamen Gewebe des
ersteren lassen sich ohne Mühe gewöhnen, wie man will; die
schon hart gewordenen des Mannes lassen sich nur durch
(Gewalt in eine andere Verfassnng bringen. Man kann demnach
ein Kinä kräftig machen, ohne sein Leben und seine Gresundheit
aufs Spiel zu setzen, und wenn auch irgendeine Gefahr dabei
wäre, so dürfte man innner noch keinen Anstand nehnitni. Da
dies ( J(>i"alircn sind, die mit dem nifiischljehen Leben untrtMinbar
verbunden sind, ist es doch gewiß heiser, sie auf diejenige
Lebenszeit zu veriegen, wo sie am unschädlichsten sind.
Ein Kind, das eben geboren wird, schreit; seine erste
Kindheit Tergeht mit Weinen. Bald schaukelt und liebkost
man es, um es zur Buhe zu bringen; bald droht man ihm und
schlägt es, um es zum Schweigen zu nötigen. Entweder tun
wir, was ihm gefällt, oder wir verlangen von ihm, was uns
gefällt; entweder unterwerfen wir uns seinen Launen, oder wir
unterwerfen es den unsrigen; nirgends ein Mittelweg, es muß
Befehle gibcn oder annehmen. So sind seine ersten Eindrücke
die der HerrBchai't und der Unterweiiunfif. ]>evor es reden
kann, bcficldt es; bevor es handeln kann, gi'borclit t\s; und
manchmal ziielitigt man es, bevor es seine Fehler einsehen
oder selbst nur einen solchen begehen kann. So flößt man
^) Härtet sie ab wie Thetis ihren Sohn Achillofi!
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frühzeitig diejenigen Leidenschaften in sein Herz^ die man
nachher der Natur zur Last legt, nnd nachdem man allos darauf
angelegt hat^ es böse zu machen^ beklagt man sich^ daß es so
geworden ist.
Dieser Schilderung von Verkehrtheiten, die zn allen Zeiten nnd
bei allen Völkern vorkommen, folgt ein Bild des Familienlebens im
damahgeu Frankreich, das allerdings traurig genug ist:
Die Kinder werden, fern vom Hause, zerstreut in Pensionen,
Klöstern und Kollegien, ihre Liebe irgendwo anders hintragen
oder, um es richtiger zu sagen, sie werden die Gewohnheit nach
Hause zurückbringen, an nichts sich herzlich anzuschließen.
Dil? Gesell wister kennen sich kaum. Wenn sie alle einmal bei
feierlicher Gelegenheit versammelt sind, so können sie wohl
sehr höflich gegeneinander sein; aber sie behandeln sich als
Fremde. Sobald das vertrauliche Verhältnis zwischen den
Eltern aufhört, sobald das häusliche Zusammenleben nicht den
B.eiz des Ijebens ausmacht, so muß man sich wohl durch ein
ungeordnetes Leben schadlos halten. Wer wäre €0 unvernünftig,
den Zusammenhang in allem diesem nicht einzusehen?
Wer seine Vaterpfliehten nicht erfüllen kann, hat kein
Becht, Vater zu werden. Weder Armut noch Arbeit noch
Rücksicht auf die Menscheu können ihn davon lossprechen,
daÜ er seine Kinder ernähre und selbst erziehe. Höre au£ jnieh,
o Leser: ich sage es jedem voraus, der Gefühl hnt und so heilige
Pflichten vernachlässigt, — bittere Tränen wird er lange Zeit
über seine Fehler vergießen und nie darüber getröstet werden.^)
Da Rousseau einen Vater yoraussetzt, dtx seine Erzieberpflichten
nicht selbst erfüllen kuin, so läßt er ihn einen Enieher suchen. Dieser
soll nicht für Geld zu haben sein, sondern aus Freundschaft für den
Vater das Amt äbemehmen« Dabei streift Rousseau die Frage, ob
,er selbst etwa zu einem solchen Freundschaftsdienste geneigt und ge-
eignet wäre, beantwortet sie aber mit folgenden Worten:
Rousseau bemerkt zu dieser Stelle in seiner von ihm selbst
verfaßten Lel)ensbeschreibung: „Als ich meine ,,Abhandlung über die
Erziehung" entwarf, fühlte ich, daß ich Pflichten verletzt habe, von
denen nichts mich lossprechen konnte. Dieser Vorwurf drückte mich
so schwer, daß er mir beinahe das dffentliche Geständnis meines Fehlers
im Anfange des „Emil** auspreßte.**
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Ich glaube, nach der Lektüre dieses Buches werden wenige
Menschen versucht sein, mir ein derartiges Anerbieten zu
machen, und ich bitte diejenigen, die sich etwa dazu versucht
fühlen sollten, sich die unnütze Mühe fortan zu sparen. Ich
habe mich ehedem in diesem Berufe hinreichend versucht, um
versichert zu sein, daß ich dazu nicht sjeeiuRet bin, und mein
Zustand würde mich davon cntbiudcn, wenn mich meine An-
lagen auch dazu fähig orsdieinen ließen.
Außorstande, diese niiLzlichste Aufgabe zu erliillen, will
ich wenigstens den Vorsnch mit der leichteren machen und,
wie sovielo andere, die Pland nicht ans Werk, sondern an
die Feder legen; anstatt das J^ötige zu tun, will ich mich be-
mühen, es zu 8 a g e n.
Ich weiß, daß die Urheber derartiger Unternehmungen sich
mit Leichtigkeit in Systemen bewegen, deren praktische An>
Wendung man nicht von ihnen verlangt, daß sie ohne Mühe
viele schöne Vorschriften geben, die niemand befolgen kann,
und d;iß, beim leiden von Einzelheiten und Beispielen, aiu h
ihre ausführbaren Vorschläge nicht zur Ausliihrung koiiiirien,
wenn sie ilire .Miwi'iulung nicht gezeigt haben.
So ]ial)e ich mich denn entschlossen, mir einen Zögling
einzubilden, sein Alter, seine Gesundheit, seine Kenntnisse und
seine Anlagen so anzunehmen, wie sie für das Werk seiner Er-
ziehung passend sind,^) ihn von dem Augenblicke seiner Geburt
bis zu demjenigen zu leiten, wo er als ausgebildeter Mann keinen
anderen Führer mehr nötig hat als sich selbst. Diese Art scheint
mir zweckmäßig, um einen Verfasser, der sich selbst nicht ganz
traut, vor der Gefahr zu hüten, sich ins Nebelhafte zu verlieren ;
denn sobald er sich von dem gewöhnlichen Verfahren entfernt,
braucht er nur das seinige an seinem Zögling /u erproljen; er
wird bald merken, oder der Leser wird es für ihn merken, ob
er der Entwicklung der Kindheit und dem natürüchen Gange
des menschlichen Herzens folgt.^)
^) D. i. einen ganz normalen Zögling, bei dem keine außerordent-
liche Schwierigkeit zu überwinden ist.
*) Dieses Mittel wäre bis zu einem gewissen Qrade ziiverläs!iig, wenn
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Rousseau bemerkt hierauf, daß er beim Erzieher alle Eigen-
schaften voraussetze, die zum Gelingen nötig sind; insbesondere hebt
er hervor, daß der Altersunterschied zwischen Erzieher und Zögling
nicht zu groß sein und der Erzieher zugleich auch der Lehrer des
Zöglings sein müsse. Beim Zöglinge setzt Rousseau nur mittelmäßif^-o
Geistesgahen voraus, dann, daß er einem Lande mit gemäßigtem Klima
entstamme; seine Vermögensumstände betreffend, bemerkt er:
Der Anne In-aucht keine (besondere) Erziehung; die seines
Standes ist durch die Gewalt der Umstände bestimmt; eine
andere kann er nicht bekommen; die Erziehung hingegen, welche
der Beiche durch seinen Stand erhält, ist (gewöhnlich) die für
ihn und seine Gesellschaft am wenigsten passende. Übrigens muß
die natürliche Erziehung einen Menschen für alle menschlichen
Lagen geeignet machen; nun ist es weniger zweckmäßig, einen
Armen für den Keichtum zu erziehen, als einen Reichen für die
Armut; denn im Verhältnis zu der Kupizahl in beiden Stünden
gibt es mehr Heruntergekommene als Emporkömmlinge. Wählen
wir also einen Kelchen; wir können wenigstens sicher sein, die
Welt um einen Menschen zu vermehren/) während ein Armer
aus eigener Kraft ein Mensch werden kann.
Aus dem nämlichen Grunde habe ich auch nichts dagegen,
daß Emil von Stand ^) sei. Ich entreiße damit immerhin dem
Vorurteil wieder ein Opfer.*)
Emil ist Waise. Er braucht seinen Vater und seine Mutter
nicht. Ich hahe ihre Pflichten übernommen und so trete ich
es flieh um einen wirklichen, nicht bloß nm einen Meingebildeten**
Zögling handelte. Rousseau schildert seine Eniehungsmaßregeln und
malt auch die Erfolge aus, die sie nach seiner Meinung haben wSrden;
aber ob im Emstfalle gerade diese Erfolge eintreten würden, ist min*
destens fraglich,
^) Der Beiche wird durch die herkömmliche Ersiehung ganz gewiß
ein schlechter Mensch; durch Bous se aus Eraiehung wird er gerettet.
Der Arme dagegen kann auch ohne Bousseau ein tüchtiger Mensch
werden.
Von Adel.
*) Weil Bousseaus Zdgling den Vorurteilen des Adels fem«
bleiben wird.
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auch in alle ihre Bechte ein. Er soll seine Eltern ehren; ge-
horchen soll er aber nur mir. Dies ist meine erste oder vielmehr
meine einzige Bedingung.
Nur eine, die aus dieser hervorgeht^ muB ich noch hin-
zufügen: man soll uns nur mit unserer Zustimmung voneinander
trennen. Dieser Vorbehalt ist wesentlich und ich möchte sogar
verlangen, daß Zögling und Erzieher sich für so untrennbar
hielten, daß ihr Lebenslos eine gemeinsame Angelegenheit für
sie beide wäre. Sobald sie auf eine zukünftifire Trennung rechnen,
sobald sie den Augenblick voraussehen, d( r sn^ einander fremd
machen soll, so sind sie es bereits: jeder richtet sich für sich
allein ein, und im Hinblick auf die Zeit, wo sie nicht mehr
beieinander sein werden, sind sie es auch jetzt nur mit Wider-
willen. Der Schüler betrachtet den Lehrer nur als das Zeichen
und die Geißel seiner Kindheit; der Lehrer betrachtet den
Schüler nur als eine schwere Bürde, deren er sich nicht schnell
genug entledigen kann; sie sehnen sich gleichermaßen nach
dem Augenblicke, der den einen Teil von dem andern befreit,
und da zwischen ihnen keine wahre Anhänglichkeit besteht,
so muß der eine wenig Wachsamkeit, der andere wenig Lenk-
samkeit haben.')
Rousseau bemerkt sodann, daß er eitien krirpfrlich vollkommen
gesunden Zögling voraunsetze, weil sonst der Erzieher zum „Kranken-
wärter" wcrdp. Er sag't hieriibor:
Der Leib braucht Kraft, um der Seele zu gehorchen: ein
guter Diener mui^ kräftig sein. Ich weiß, daß Gefräßigkeit die
Leidenschaften aufregt; sie schwächt auch den Leib auf die
Länge: aber Kasteiungen und Fasten bringen durch eine ent-
gegengesetzte Ursache oft die gleiche Wirkung hervor. Je
schwächer der Leib ist^ desto mehr befiehlt er, je stärker, desto
mehr gehorcht er. Alle sinnlichen Leidenschaften wohnen in
^) Diese Erwägungen zeigen bereitfl, wie die vimatarlicbe Annahme
Rousseau 8 auf alles Folgende einwirkt. Bei Vater und Mutter brauchte
nicht erst ausgesproohen zn werden, daB ihrVerhSltnis zu den Kindern
kein VerbSltnts auf Kündigung ist, nach dessen Losung sich beide Teile
sehnen; da ist die TTntrennbarkeit selbstversÜlndlich.
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weibischßn i^eibem^ und diese werden durch sie um so mehr
aufgeregt, je weniger sie dieselben befriedigen können.
Bin kraftloser Leib macht auch die Seele schwach. Daher
die Herrschaft der HeilkunsV) die für die Menschen viel ge-
fährlicher ist als alle Übel^ die sie zu heilen vorgibt; Ich
meinesteils weiß nichts von welcher Krankheit uns die Ärzte
Iieilen;*) aber ich weiß, daß sie uns sehr beklagenswerte Krank-
heiten zuziehen — Feigheit, Kleinmütigkeit, Leichtgläubigkeit,
Todesfurcht; während sie den Leib heilen, toten sie den Mut.
Was nützt es tins, daß sie Leichname wieder auf die Beine
bringen? Wir branchen Männer; aber Männer gehen nicht aus
ihren Händen hervor.
Das Modiziniercn i.^t bei uns Modc>;ir1ie, nnd mit Tvrelit.
Es ist der Zeitvertreib müßiger und unbeschäftigter Leute, die
nicht wissen^ was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen^ und sie
deshalb mit der Pflege ihres Leibes hinbringen. Wären sie so
unglücklich, Unsterblichkeit mit auf die Welt gebracht zu
haben, sie wären die elendesten Geschöpfe. Ein Leben, dessen
Verlust sie nicht zu befürchten hätten, wäre für sie ohne Wert.
Solehe Tiente müssen Arzte haben, die ihnen Angst machen, um
ihnen angenehm zu sein, und ihnen Tag für Tag die einzige
Befriedigung- vcischaü'en, deren sie fähig sind, die nämlich, noch
nicht gestorben zu sein.
Sein Ui'toil iUx'r die Arzneikuiulo faßt KoiT^^oau in den AVorton
zusammen: Ich ])estr(Mt<' nicht, daß die Arznoikimjst einigen. Menschen,
'^nützlich sei, aber i'üt- das MensckeDgeschiecht ist- sie sicher anbeiivoll
Housseau fährt daher fort:
^fan gehe mir daher einen Zögling, der alle diese Leute
nicht nötig hat, oder ich weise ihn zurück. Ich will nichts daß
andere mein Werk verpfuschen; ich will ihn allein erziehen
oder gar nicht. Der verständige Locke, der einen Teü seines
Jjebens mit dem Studium der Medizin zugebracht hat, empfiehlt
eindringlich, den Kindern nie aus Vorsorge oder um kleiner
Vorliebe für Ärzte.
Roasseau hielt die Ärzte für überflassi^^ weil er auf die
Heilkraft der Natur vertraute.
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Unpäßlichkeiten willon ÄTzneien zu geben. Ich gehe weiter und
erkhäre, daß, wie ich für mich nie einen Arzt ruf»'. ic}i auch für
meinen Emil nie einen beiziehen werde, wenn nicht etwa sein
Lehen in augenscheinlicher Gefahr ist; denn dann kann er im
schlimmsten Falle anch nichts tun als ihn töten.
Ich weiß wohl, daß der Arzt diesen Verzug sich zunutze
machen wird. Wenn das Kind stirbt, hat man ihn 7ai spät ge-
rufen; wenn es davonkommt, so hat er es gerettet. Meinol\v{\üjcn
intiiro der Arzt triumphieren; doch rufe man ihn nur im äußersten
Falle.
Der einzige brauchbare Teil der TTeilkunst ist die rtn?imd-
heitspflege; aber auch sie ist weniger eine Wissenschaft als eine
Tugend. Mäßigkeit und Arbeit sind die beiden wahren Arzneien
des Menschen; die Arbeit erhöht seine Eßlnst, und die Mäßigkeit
verhindert ihn, sie zu mißbrauchen.
• Im folgenden spricht Rousseau von der Wahl der Amme, die
bei ihm die Mutter ersetzen muß wie der Erzieher den Vater und betont
dabei) daß jeder Wechsel in den Personen, weldie das Kind erziehen,
nachteilig; sei, weil das Kind dann Vergleicbe anstelle, unter denen das
Ansehen der Erzieher leide; er sagt darüber:
Ein Kind soll niemanden über sich kennen als seinen
Vater und seine Mutter oder, in Ermanglvnig derselben, seine
Auiiiie uTul seinen Erzieher/) ja, auch da ist schon eines zu
viel: aber diese Teilung ist iinvernieidlich, und alles, was hier
zur Abhilfe geschehen kann, ist, daß die Personen aus beiden
Geschlechtern, die es erziehen, in Bozielumg auf dnssdbe sich
so vollstimdig ver-^teben, daß beide für dasselbe nur ».'ins sind.'"')
Das Folgende haudelt von der Lebensweise, weiche die Amme
führen soll.
Hier tritt die Unnatur der von Rousseau angenommenen Ver-
hältnisse besonders grell hervor: statt Vater und Mutter — Erzieher
und Amme!
^) Was aber unter den Verhältnissen, wie Rousseau sie annimmt,
nahezu unmöglich ist; zwei Personen, die einander und dem Kinde, das
sie erziehen sollen, von Haus aus völlig fremd sind, können wohl kaum
so eines' Sinnes sein, daß sie für das Kind gleichsam nur eine
Person sind.
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In eleu ersten Jahren de^ Kindes hat die Luft ganz be-
sonders Einfluß auf die Xatur desselben. Bei einer weichen und
zarten Haut dringt sie leicht durch alle Poren ein, sie wirkt
mächtig auf die im Entstehen begriffenen Körper und laßt
Spuren an ihnen zurück, die sich nicht wieder verwischen lassen.
Deshalb wäre ich nicht der Meinung, ^laß man eine Bäuerin
vom Lande herbeihole, um sie in der Stadt in ein Zimmer ein-
zuschließen und das Kind im väterlichen Hause aufziehen zu
lassen. Lieber soll es die ^te Landluft als sie die schlechte Stadt-
luft atmen. Es wird in den Stand seiner neuen Mutter ein-
treten und ihr ländliches Haus bewohnen, und sein Erzieher wird
ihm dahin folgen.
Die Menschen sind nicht dazu gemacht, sich wie in einem
Ameisenbär zu häufen, sondern über die Erde, welche sie be-
bauen sollen, zerstreut zu wohnen. Je mehr sie sich zusammen-
scharen, desto verdorbener werden sie. Gebrechen des Leibes
sowie Laster der Seele sind die unvermeidliche Wirkung dieser
massenhaften Anhäufung. Der Mensch ist von allen Geschöpfen
dasjenige, welches am wenigsten herdenweise leben kann.^)
Menschen, die man wie Schafe zusammendrängte, wurden alle
in sehr kurzer Zeit dahinsiechen. Der Atem des Menschen ist
seinesgleichen tödlich;-) das trifft im eigentlichen Sinne nicht
weniger zu als im bildlichen.^)
Die Stiidte rfiiid das Verderben des menschlichen Ge-
schlechtes. Xaoh Verhulf einiger Menschenalter gehen die Ge-
schlechter zugrunde oder sie verkommen; sie müssen wieder auf-
gefrischt werden, und dazu liefert immer das Land den Stoü.
*) Der Mensch ist im Gegenteil von Natur gesellig wie manche
Tiere, z. B. die Bienen, ebenfalls; dagegen lebt z. B. der L5we nicht
in Herdfii, tbensowenigf der Adler usw.
-) Weil die Kohlensäure» die der Mensch ausatmet, eingeatmet
schädlich wirkt.
*) Boussnau, selbst menschenscheu, sucht auch Emil von anderen
Menschrn inögrlichst fernzulialten, weil er nur an die sittlichen Gefahren
denkt, die diesem von den Mitmenschen drohen, nicht aber an die För-
derung, die er von ihnen erfahren kann.
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So lasset doch, wenn irli sn sngen darf, eure Kinder sich selbst
anffn'j^chcn, lasset sie draußen in Feld und Wiese die Kraft
wiedergewinnen, die man in der ungesunden Luft übervölkerter
Orte verliert !
Das Folgende handelt vom Baden der Kinder und bekämpft die
Ansicht, daß die ersten Bader warm sein müdten; mindestens sei die
WSrme von Bad zu Bad an vermindern.
Wenn der Gebrauch der Bäder einmal eingeführt ist^ so
soll man ihn nicht mehr außer Übung setzen, und es ist von
Wichtigkeit, daß man ihn sein ganzes Leben beibehalte. Ich
betraclito ihn nicht bloß von der Seite der Reinliclikoii und der
augenblicklichen Gesundheit, sondern sehe ihn als eine heilsame
Vorsorge an, um das Bin dc^rt' webe ^^eschnuMdii^cr zu machen,
damit es ohne Anstrengung und Gefahr den verschiedenen
Wärme- und Kältegraden nachgeben könne. Dazu würde ich vor-
schlagen, daß man in der Zeit des ITeranwachsens sich nach und
nach daran gewöhnte, sich manchmal im warmen Wasser in allen
erträglichen Graden zu baden und oft im kalten Wasser in allen
möglichen Graden. Wenn man sich so gewöhnt hätte, die ver-
schiedenen Wärmestufen des Wassers zu ertragen, das als eine
dichtere Flüssigkeit uns an mehr Punkten berührt und empfind-
licher auf uns einwirkt, so würde man für die Wärmegrade der
Luft beinahe unemf)findlich werden.
Wenn das Kind, von seinen Hüllen befreit, einmal auf-
atmet, so gebe man nicht zu, daß ihm andere um^r^^lepTt werden,
die es noch mehr einengen. Weg mit den Hauben, I^ändcrn,
Wickelkissen; gebt ihm weite und große Windeln, welche all
seinen Gliedern freie Bewegung lassen und weder so schwer
sind, daß sie seine Bewegungen hindern, noch so warm, daß
es die Einwirkung der Luft nicht mehr spüren kann. Legt es in
eine weite, gut ausgepolsterte Wiege,^) wo es sich nach Bequem-
lichkeit und ohne Gefahr bewegen kann. Wenn es einmal stärker
wird, laßt es durch das Zimmer kriechen und seine kleinen
Rousseau nennt hier die Wiege nur, weil sie damals noch
allgemein im Gebrauch war; er war der Ansicht, daß es nicht not-
wendig, ja sogar schädlich sei, die Kinder jsa wiegen.
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Glieder sich eiitwickolu uiitl aiusdchiioa; ihr werdet sehen, wie
es von Tmi^ zu Tao: kräfliirer wird. Verirlcicht es mit
(Miiem recht eii\ueschniiri(ui Kind d^'ssclljcn Alters und ihr
werdet über die Verschiedenheit in ihren Fortschritten erstaunt
sein*
Im folgenden handelt Kousseau von den ersten geistigen Re-
gungen des Kindes; er malt insbesondere aus, wie unbeholfen das Kind
seihst dann wäre, wenn es mit der (irößi» und Kraft eines Erwachsenen
zur Welt käme, weil es seine Kraft ja nicht gebrauchen kfumfo. Von
(Tcbiirt an aber h^rne das Kiud^ und zwar durch die Erfahrung.
Äousseau sagt hiervon:
Ich wiederhole: die Erziehung des Menschen beginnt bei
seiner Geburt; bevor er siebt, und hört> wird er schon unter*
richtet. Die Erfahrung kommt vor der Lehre; sol^ald er nur
seine Ämme erkennt, hat er sich schon viel angeeignet. Man
würde staunen über die Kenntnisse des ungebildetsten Menschen,
wenn man -eine i'ortschiitte vom Augenblick seiner Geburt an
bis zu demjenigen, zu dem er gelangt ist, verfolgte. Wenn man
alles menschliche Wissen in zwei Teile teilte, wovon einer allen
Menschen cremeinsam. der andere aber nur den (Jclohrten 2:e-
hörte, so würde der letztere sehr gering sein im Vergleich zum
ersten; aber wir beachten das allgemein Angeeignete kaum,
weil es erworben w ird, ohne daß man daran denkt, und schon
vor dem Alter der Vernunft, weil femer das Wissen nur durch
seine Abstufungen sich bemerklich macht und, wie bei den
algeljraischen Gleichungen, gleiche Größen auf beiden Seiten
für nichts zählen.*)
E hisscuu spricht hierauf von den ersten GeW(sbnLciten, die deti
Kintlcru auerzogeti werden, der Gewohnheit, bei Licht zu schlafen und
zu bcstinnufcn Stunden ilire INIahlzciten zu bekommen. Beide Gewohn-
lieiten hält Rousseau für schädlich, Kinder müßten im Gegenteil an
Dunkelheit gewöhnt werden, damit sie nicht schi-eieu, wenn es um sie
finster ist. Er sagt hiervon:
T>ie einzige Gewohnheit, die man bei dem Kinde auf-
konunen lassen darf, ist die, daß es keine Gewohnheit an-
Man beachtet nur, was einer mehr weiß als andere, also nur
höhere Stufen des Wissens; was alle wissen, wird für nichts geachtet.
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nebme;^) man boU es nicht mehr auf einem Arme tragen als an!
dem andern; man soll es nicht «rowöhnen, daß es gerade nur die
eine Haiul darbiete oder sich Ilm r öfter bediene, daß es zu der-
selben Stunde zu essen, zu scblafon odor was immer vorzunclinn ii
vorlanire. daß es Tas^ und Nacht iiip allein l)]eibon könne. Bei-eito
frühzeitig die Oberherrschaft seiner Freiheit und den Oebrauch
seiner Kräfte vor, indem du seinem Leibe die natürliche Art
erhältst und ihn instand setzest, immer Herr über sich zu sein
und in allen Dingen seinen Willen zu tun^ sobald er einen hat.
In Befolgung dieser GrondsfitEe will Rousseau seinen Zögling
an häßliche, ekelhafte und nngewohnliche Tiere, an Masken und ab-
schreckende Gesichtszüge, an den Knall von Schußwaffen, endlich auch
an Blitz und Donner gewöhnen, so daß nichts davon ihm Furcht einflöße.
Im folgende bespricht Eousseau das Verlangen der Kinder, die
Dinge, die sie sehen, auch betasten zu können; er sagt darüber:
Nur wenn wir uns bewegen, erfahren wir, daß es Dinge
gibt, welche nicht wir selbst sind^ nur durch unsere eigene
Bewegimg bekommen wir den Begriff der Ausdehnung. Da nun
das Kind diesen Begriff nicht hat, so greift es geradeso nach
einem Gegenstand, der ihm nahe, Avie iiacli einem, der hundert
Sehlitte von ihm eatiernt ist. Die Anstrengung, die es macht,
^•(•iieint dir ein Wink, ein Befehl zn sein, daß der (ie2:e]istand
sich nähere, oder dali du ihm denselben herbeibriii,i2:>t; aber mit
Unrecht: es sieht nur die Gegenstände, die es zuerst in seinem
Gehirn und dann in seinen Äugen gesehen hat, jetzt am Ende
seiner Arme*) und kann sich keine and.ere Entfernung vor-
stellen, als die, die ihm erreichbar ist. Sorge also dafür, daß
es fleißig umhergetragen, von einem Orte zum andern gebracht
und daß ihm die Veränderung dos Ortes fühlbar gemacht
^) Rousseau fordert hier etwas Unmöglicbes, ja sojLfar Schä<ilichcs,
da vernünftig' geleitete Gewöhnung eines der wichtigsten Erziehuiij^s-
mittel ist; das Folgende zeigt freilich, daß er nur meint, man solle dem
Kinde keine unnötigen Bedürfnisse angewöhnen. Ordnung im Essen
und Schlafen <>:ehört aber nicht zu den unnötigen Angewöhnungen, wie
Rousseau meint*
Stellt sich vor, daß sie em Ende seiner Arme seien.
äcüulaufigabeu pädagogiecher Klassiker. Ilel't 6. 3
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werde, damit es die Entrerniingeii l)eurtcilen lerne. Wenn es sie
eiimial zu erkennen beginnt, mußt du einen andern Weg ein-
schlagen nnd es nur noch nach deinom Gutdünken, nicht nach
dem seinigen herumtragen; denn sobald es nicht mehr durch
seine Sinne irregeführt wird,^) erhalten seine Bemühungen
eine andere Ursache. Diese Veränderung ist bemerkenswert und
bedarf der Erklärung.
Das unbehagliche Gefühl der Bedürfnisse spricht sich
durch Zeichen aus, wenn die Hilfe anderer notwendig ist, um
sie zu befriedigen. Daher das Weinoii äor Kinder. Sie weinen
viel, und das muß so sein. Da alle ihre Eiuj)fiiHlun,ireii (Icl'ülils-
eiiulriicko sind,- ) so gcniehcii sie dieselben sl i lisch vvcigend, w(!im
sie angenehm sind; sind sie dagegen schmerzlich, so sagen sie es
in ihrer Sprache und verlangen Erleichterung. Solange sie also
wach sind, können sie kaum je in einem Znstand der ünerregt-
heit sein: sie schlafen oder sie sind sinnlich angeregt.
Alle unsere Sprachen sind Erzeugnisse der Kunst. Man
hat sich lange gefragt, ob es eine natürliche, allen Menschen
gemeinsame Sprache gebe: ohne Zweifel gibt es eine solche —
die Sprache der Kinder, bevor sie reden können. Diese Sprache
ist nicht artikuliert ( formenreich): aher sie ist betont, klangvoll,
verständlich. Der (Jehrauch unserer Sprachen hat sie so sehr
verdiiiiiLrt, daß wir sie ganz und gar vergessen haben. Stndieren
wir die Kinder, nnd wir werden sie im Umgange mit ihnen bald
wieder lernen. In dieser Sprache sind die Ammen unsere Lehr-
meisterinnen; sie verstehen alles, was ihre Pfleglinge sagen, sie
antworten ihnen und halten mit ihnen vollkommen zusammen-
hängende Gespräche; sie sprechen zwar Worte aus, doch sind
diese Worte ganz unnötig, denn jene hören nicht auf den Sinn
des Wortes, sondern nur auf den Ton, mit dem es ausgesprochen
wird.
Zur Sprache der Stimme tritt die nicht minder ausdrucks-
volle (lehärdensprache. Die Gebärde spricht sich nicht durch
die schwachen Hände der Kinder, sondern auf ihrem Gesichte
Wenn es die wahren EntfernimgetL kennt.
^ Von (sinnlichen) Gefühlen begleitet sind.
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aus. Es ist rrstannlich, wieviel Ausdruck diese so unvollkommen
ausgebildeten Physiognomien schon haben; ihre Züge wechseln
von einem Augenblick zum andern mit unglaublicher Bäsch-
heit. Läch^ln^ Verlangen, Schreck kommen und vergehen da wie
Blitze; man glaubt jedesmal ein anderes Gesicht m sehen. Sicher
sind ihre Oesichtsmuskeln beweglicher als die unsrigen. Dafür
sind ihre nuitten Angen fast ausdruckslos. So muß auch die
Zeichensprache in einem Alter, wo man nur leibliche Bedürf-
nisse kennt, beschaffen sein; Em pfin düngen sprechen sich in
Verzerrungen des Gesichtes ans. Gefühle in den Blickend)
Pas Folgende bezieht sirli auf das Schreien der Kmd(»r und die
nnzweekmäßigen Mittel, die dagegen dann angewendet werden, wenn
die Erwachsenen die Ursache des Sclireiens nicht erkennen nnd daher
auch nicht zu beseitigen vermög-en : Liebkosungen, Einwiegen, Vorsingen
und Schläge. Von leteteren sagt JElousseau:
Nie werde ich vergessen, wie ich einst einen dieser lästigen
Schreier sah, den seine Amme auf solche Weise geschlagen
hatte. Augenhlicklich war er stille: ich glaubte^ er sei ein-
geschüchtert worden. Ich sagte mir: das wird einmal eine
knechtische Seele geben, bei der man nur durch Strenge etwas
durchsetzen kann. Aber ich täuschte mich; der Unglückliche
war am Ersticken vor Zorn nnd außer Atem gekommen; ich
sah, wie er blutrot wurde. Einen Augenblick darauf brach ein
durchdringendes Geschrei los: alle Zeichen der Entrüstung,
der Wut und Yo rzw» 'in im dieses Alters waren iti seinem Ge-
schrei wahrzunehmen. Ich fürchtete, er werde dieser Aufregung
unterliegen. Hatte ich daran gezweifelt, daß das Gefühl des
Hechts und des Fn rechts dem menschlichen Herzen eingehoren
sei, dieses Beispiel allein hätte mich zu einer anderen Meinung
gebracht. Ich bin versichert, wäre ein Feuerbrand durch Zufall
auf die Hand des Kindes gefallen, es wäre ihm weniger emp-
findlich gewesen als dieser ziemlich leichte Schlag, der ihm aber
in der oifenbaren Absicht, es zu kränken, gegeben worden war.
Rousseau bemerkt sodann, wie schädlich es sei, Kinder zu necken
*) Weil die Kinder noch keine Gefühle, sondern nur leibliche Be-
dürfnisse nnd sinnliche Empfindungen haben, ist ihr Blick ausdruckslos.
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und dadurch zum Zorne zu reizen. lJuch (liirtt; man den Kindern aucli
uicbt allzusehr willfährig sein; Huusseau saj^t hierüber:
Die ersten Tränen der Kinder sind Bitten; wenn man sich
nicht vorsieht, werden sie bald Befehle; znorst lassen sie sich
helfen^ am Ende lassen sie sich bedienen. Entsprang aus ihrer
eigenen Schwäche zuerst das Gefühl ihrer Abhängigkeit, so
bilde t sich auf diese Weise später die Vorstellung des Befehlens
und Herrschens; aber da diese Vorstellung weniger durch ihre
Bedürfnisse erregt wird als durch unsere Hilfeleistungen, so
beginnen hier moralische Wirkungen sich fühlbar zu machen,
deren unmittelbare Ursache nicht in der Natur liegt, und man
sieht, warum es schon hier, auf dieser frühesten Altersstufe,
so wichtig ist, die geheime zVbsicht zu linden, weiche der Gebärde
oder dem Gest-hrei zugrunde liegt.
Wenn das Kind mit Anstreiigaiig »eine Hand aussLroL-kt,
ohne (la])ei etwas zu sagen, so glaubt es den Gegenstand greifen
zu können, weil es seine Entfernung nicht schätzt: es hat sich
also geirrt; aber wenn es mit dem Ausstrecken der Hand weint
und schreit, dann liegt kein Irrtum über die Entfernung vor,
sondern es verlangt von dem Gegenstände, daß er näher komme,
oder von dir, daß du ihn herbringest.^) Im ersteren Falle bringe
es langsam und mit kleinen Schritten zu dem Gegenstände hin;
im zweiten tue nicht einmal so, als hättest du es gehört: je mehr
es dann schreit, desto weniger mußt du darauf hören. Es ist von
Wichtigkeit, daß es frühzeitig daran gewöhnt werde, weder den
Mensclien zu befehlen, denn es ist nicht ihr Meister, noeh den
Hingen, denn sie vci-stchon es nicht. Wenn deshalb ein Kind
irgend etwas verlangt, was es sieht und was man ihm geben \vill,
ist es besser, das Kind zu dem Gegenstande hinzubringen als
umgekehrt: es zieht aus diesem Verfahren einen seinem Alter
angemessenen Schluß,^) und es gibt kein anderes Mittel, ihm
denselben nahe zu legen.
Rousseau bemerkt hierauf, daß von eigentlicher Sittlichkeit beim
Dies sind die ,,geheiinen Absichton", von denen vorher die
Bede war.
^) D. i., daß es sich selbst helfen muß.
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Kinde nicht (hv }{p(]q soiji kanu, weil es noch nicht weili, was gut oder
böse ist. Kr sagt hierüber:
Ein Kind will alles, was es sieht, aus seiner Ordnung
bringen^ es zerbricht und zerstört alles, was es erreichen kann;
es greift einen Vogel an, wie es einen Stein angreifen würde,
es erwürgt ihn^ ohne zu wissen, was es tut.
Fnd warum? Die Philosophie sucht sogleich die Begrün-
dung lu uugeborenen Lastern, Stolz, Herrschsucht. Kigenliebe,
Bosheit des Meiieclien: das Gefühl seiner Seliwäclie, könnte sie
beifügen, bringt <leni Kinde die Sucht bei, gewalttätige Hand-
lungen zu begehen und sieli selbst den Beweis der eigenen Kraft
zu liefern. Man sehe aber doch jenen hinfälligen, gebrochenen
Greis, den der Kreislauf des menschlichen Lebens zur Schwäche
der Kindheit zurückgeführt hat; er bleibt nicht nur selbst fried-
sam und ruhig, er will auch, daB alles um ihn herum so bleibe;
die geringste Veränderung verwirrt und beunruhigt ihn, all-
gemeine Stille wäre ihm am liebsten. Wie sollte die nämliche
Ohnmacht bei den nämlichen Leidenschaften in den beiden
Lebensaltern so verschiedene Wirkungen hervorbringen, wenn
nicht (lio erste Ursache eine verschiedene wäre? Und wo kann
lUiiu diese X'erschiedcnheit der I'rsachen suchen anOer in dem
physischen Znstnnde der beiden Menschen? Der Tätigkeitstrieb,
der beiden gemeinsam ist, entfaltet sich in dem einen, erlischt in
dem anderen; der eine entsteht, der andere vergeht; der eine
geht dem Leben, der andere dem Tode entgegen. Die abnehmende
Tatkraft des Greises zieht sich in sein Herz zurück: in dem
Herzen des Kindes überquillt sie und drängt nach außen; es
fühlt sozusagen Leben genug in sich, seine ganze Umgebung
damit zu erfüllen. Bauen oder niederreißen gilt ihm gleich, wenn
CS nur die Dinge in eine andere Lage bringen kann, und jede
Veränderung ist eine Tätigkeit. Wenn es demnach einen gröi3eron
TFnng zum Zerstören zu haben seheint, so ist das nicht Bosheit;
es erklärt sich vielmehr daraus, dal3 die Tätigkeit, welche bildet.
^) Richtiger: manche Gelehrte; Rou8seau ist mit der Bezeich-
nung f^Fhilosoph** ziemlich freigebig«
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immer langsam ist und deshalb die Tätigkeit des Zerstörens
als die scliiieUere seiner Lebhaftigkeit nie In zusagt.
' flousscau stellt hiernach folgcude Grundsätze auf:
Weil i'Di IV'int;, überflüssige Kräfte zu besitzen, haben die
Kinder nicht einmal iiinreichende für alleB, was die Natur von
ihnen verlangt; man muß ihnen also den Gebrauch aller der-
jenigen, die sie ihnen gibt und die sie nicht mißbrauchen können,
zugestehen. — Erster Grundsatz.
Man muß sie unterstützen und ihrem Mangel an Einsicht
(kKt an Krai't in alleni^ was zum leiblichen Bedürfnis gehört,
/u Hilfe kommen. — Zweiter Grundsatz.
Man mulj sich bei diuser iiilfeleistung lediglich auf den
wirklichen Nutzen beschränken, ohne der Laune oder dem un-
vernünftigen Verlangen etwas zuzugestehen; denn die Laune
wird sie nicht quälen, wenn man sie nicht in ihnen geweckt hat,
da sie ja nicht aus der Natur entspringt. — Dritter
Grundsatz.
Man muß ihre Sprache und ihre Zeichen sorgfältig
studieren, um in diesem Alter, wo sie nicht heucheln können,
bei ihren Wünschen zu unterscheiden, was unmittelbar aus der
Natur entspringt und was aus der Einbildung herrührt.
— Vierter i} r u n d ? a t z.
Im folgenden kommt Kousseau noclnnals auf das Schreien der
Kinder aus Eigensinn zu sprechen; er sagt darüber:
Das einzige Mittel, diese Gewohnheiten zu heilen oder zu
verhüten, ist, nicht darauf zu achten. Niemand will sich un-
nütze Mühe geben, selbst nicht die Kinder. Sie sind eigen-
sinnig in ihren Versuchen; aber wenn du mehr Beharrlichkeit
hast als sie Eigensinn, so lassen sie ab und kommen nie mehr
darauf zurück. Auf diese Weise erspart man ihnen Tränen und
gewöhnt sie, nur zu weinen, wenn der Schmerz sie dazu zwingt.
Wenn sie übrigens aus Laune oder Eigensinn weinen, so
ist ein sicheres Mitel, sie davon abzubringen, daß man sie durch
irgendeinen angenehmen und aui'tiilligen Gegenstand zerstreut,
über den sie vergessen, daß sie weinen woll1(>n. Die meisten
Ammen verstehen diese Kunst ausgezeichnet, und richtig an-
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gewnnfit ist sje auch sehr nützlich; aber es kommt sehr viel
darauf an, daß das Kiud die Absicht, es zu zerstreuen, nicht
merke, und daß es sich unterhalte, ohne zu wissen^ daß mau es
wünscht: hierin sind nun aber alle Ammen ungeschickt.
Rousseftu epriclit Bodann Tom Entwöhnen der Kinder nnd dem
Hervorkommen der Zahne; um letzteres zu erleichtem, rät er statt
harter Gegenstände (Metall oder Elfenbein), wie sie damals üblich
wai^n, weichere Stoffe, Holz, Leder n. dgl. zum Kauen zu gehen.
Von dem ersten Spielzeug bemerkt er:
In nichts kann man mehr einfach sein, nicht einmal bei
Kindern. Schelkn von Silber, Gold und Korallen, geschliffenes
Krifltall, Klappern in allen Preisen und Arten; wieviel unnützes
und gefährliches Gerät! Weg damit! Wog mit Sehellen und
Klappern; ivurzc Zweite mit ihren Früchten und i^lüttern, ein
Molinkopf, in dem man die Körper klappern hört, eine Stange
Süßholz, zum Saugen und Kauen werden ihm eljunsoviel \^er-
gniigen machen als all der prächtige Flitterkram, ohne den
Nachteil, es von Jugend auf an den Luxus zu gewöhnen.
«
Das Folgende handelt von der ersten Nahrung der Kinder nach
ilirer Entwöhnung, dann von ihren ersten Sprechvcrsnclien. In letzterer
Hinsicht bekämpft Honsseau das vielo und für die Kinder unver-
ständliche Vorsprechen, das Streben, die Kinder mrigliehst bald zum
Sprechen zu bringen, endlich die Duldung allzu leisen und undeutlichen
Sprechens der Kinder, das besonders in Städten vorkommei weil man
da viel zu sehr auf jeden Jjaut achte, den die Kinder von sich geben.
Auf dem Lande ist dies ganz anders. Eine Bäuerin ist
nicht unaufhörlich um ihr Kind; es ist daher gezwungen^ ganz
deutlich und ganz laut sprechen zu lernen^ was die Mutter ver-
stehen soll. Auf dem Felde, wo die Kinder sich zerstreuen
und von Vater, Mutter und den anderen Kindern sich entfernen,
lernen sie, sich mil' ImiI fcnning verständlich zu inachon und
die Stärke ihrer SUmini' nach dem Zwisclicnrauniü abzuincsscn,
der sie von denjenimMi trennt, von denen sie geliört werden
wollen. So lernt man zweckmäßig die richtige Aussprache,
nicht aber, indem man etliche T.ante in das Ohr einer auf-
merksamen Erzieherin stammelt. Wenn man ein Bauernkind
fragt, so kann wohl die Scham es verhindern zu antworten;
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was es aber sagt, sagt es deutlich^ wahrend in der Stadt die
Kin^sfrau dem Kinde als Dolmetscherin dienen muß; denn
sonst versteht man nichts von allem, was es in die Zähne
murmelt.
Heranwachsend müssen sich die Knaben in den Gymnasien,
die Müdclien in den Klöstern von diesem Fehler frei machen;
in der Tat sprechen auch diese im aligemeinen deutlicher als
diejenigen, welche immer im väterlichen Hause erzogen worden
sind. Was sie aber verhindert, je eine so deutliche Aussprache
wie die Landleute sich anzueignen, ist der Zwang, vieles aus-
wendig zu lernen und das Gelernte laut herzusagen; denn beim
Einlernen gewöhnen sie sich ans Hudeln, an eine nachlässige
und schlechte Aussprache. Beim Aufsagen ist es noch schlimmer:
sie suchen mühsam ihre Worte zusammen und ziehen imd
dehnen die Silben; es ist nicht möglich, daß die Zunge, wenn
das Gedächtnis strauchelt, nicht auch stammle. So werden die
Aussprachefehler hervorgerui'en und fortgepflanzt. Es wird
sieli später]) in zeigen, daß mein Emil diese Fehler nicht an sich
hat oder daü er sie nicht auf diese Weise bekommen hat.
Boussoau betrachtet es auch als einen großen Nachteil, daß die
Kinder die Worte der Erwachsenen zwar zu verstehen scheinen, sie aber
falsch verstehen^ weil sie ihnen einen anderen Sinn als die Erwachsenen
unterlegen. Er empfiehlt daher:
Schränke al^o den Wortvorrat des Kindes auf das not-
wendigste ein. Es ist sehr müilich^ wenn es mehr Worte als
Vorstellungen hat und wenn es mehr sagen als denken kann.
Ich glaube» daß einer der Gründe» warum die Landleute meistens
ein gesünderes Verständnis haben als die Stadtbewohner» der
ist, daß ihr Wortsehatz weniger ausgedehnt ist. Sie haben wenig
Vorstellungen, aber sie setzen sie sehr gut in Beziehung
zueinander.
Mit dios<'n AnweisuiiL^iMi s( Jiließt das erste Buch, das also die
früheste Ei-ziehung des Kindes bis zur Erlernung der Sprache behandelt.
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Zweites Buch.
Dieses Bucli schUdert zunächst die Vorteile, woldjc der erlangte
Besitz der Sprache für die weitere Erziehtm^f bietet; Kousseau sagt
darüber:
Wenn die Kinder zu sprechen beginnen, weinen sie weniger.
Dies ist ein natürlicher Fortschritt: eine Sprache ist an Stelle
der andern getreten. Warnm sollten sie auch, wenn sie einmal
mit Worten sagen können» daß ihnen etwas weh tnt, es durch
Schreien äußern, wenn nicht etwa der Schmerz zu groß ist, als
daß das Wort ihn ausdrücken könnte? Wenn sie dann noch fort-
t'ahreu zu weinen, so ist es die; Schuld der T'miii'bung. W'i im Emil
einmal gesa^rt. hat: ,,es tut mir weh/* luuUte er schon sehr
heltigi' Si lnncr/i'ii habpii, um noch zu weinen.
W(Miu das Kind fällt, wenn es sieh eine Jkule am Kopf
zuzieht, wenn es aus der Nase blutet, wenn es sich in den
Finger schneidet, so bemühe ich mich nicht mit aufgeregter
Miene um dasselbe, sondern bleibe ruliig, wenigstens für kurze
Zeit. Das Übel ist da, die Notwendigkeit gebietet, daß es er-
tragen werde; meine ganze Bemühung würde also nur dazu
dienen, das Kind noch mehr zu erschrecken und seine Empfind-
lichkeit zu steigern. Im Grunde quält auch uns, wenn wir uns
verlützl haben, der Schlag nicht so .sehr als die Angst. Ich
werde ihm also wenigstens jenes (lIxMi^inl;! von Beängstigung
ersparen; denn wird über soiiKMi l iii'all ganz sicher so
urteilen, wie es mich urteilen sieht: sieht es mich besorot herbei-
eilen imd es trösten und beklagen, so wird es sich für verloren
halten; sieht es, daß ich kalt bleibe, wird es bald selbst wieder
kaltes Blut bekommen und das Übel für geheilt halten, wenn
es dasselbe nicht mehr empfindet. In diesem Alter macht man
die erste Schule der Beherztheit durch und, indem man leichte
Schmerzen gelassen duldet, lernt man allmählich die großen
ertragen.
Ich würde dureliaiis nicht ängstlich darül)er wachen, daß
I jiiil sich nicht beschädige, nein, os wäre mir sogjir sehr imliel),
wenn er sicli nie verletzte und heranwüclise, ohne den Schmerz
kennen zu lernen. Die erste Sache, die er lernen muß und am
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notwendigsten wird kennen müssen, ißt — leiden. Es scheint,
daß die Kinder nur deswegen klein und .schwach sind, um diese
wichtige iSehule ohne (Jefahr durchzumachen. Wenn das Kind
nur so hoch, als es st lost ist, fällt, T;\ird es kein Bein brechen;
wenn es sich mit einem Stocke schlägt, wird es sich den Arm
nicht zerschlagen; wenn es ein schneidendes Werkzeug in die
Hand nimmt, wird es nicht fest zugreifen und sich nicht tief
hineinschneiden. ^) Man wird schwerhch ein sich selbst über-
lassenes Kind sich töten oder verstümmehi oder nur auf be-
trächtliche Weise sich verletzen sehen, wenn man es nicht
unbedachtsam auf hohen Orten oder allein am Feuer der Gefahr
ausgesetzt oder gefährliche Werkzeuge auf Handweite in seiner
Nähe gelassen hat. Was soll man von diesen liüstkammern von
Maschinen sagen, die man um ein Kind herum ansammelt, um
es hieb- und stichfest <regen jeden SchjmMz zu machen,^) bis
es als erwachsener Mensch, ohne Mut und Erfahrung sich selbst
anheimgegeben, bei jedem Stich sich tödlich verwundet glaubt
und beim ersten Blutstropfen in Ohnmacht fällt.
Unsere schulmeisterliche Lehrsucht will die Kinder immer
das lehren, was sie von sich selbst viel besser lernen würden,
und vergißt dabei, was wir allein ihnen hätten beibringen
können. Gibt es etwas Einfältigeres als die Mühe, die man
sich gibt, sie gehen zu lehren, als hätte man gesehen, daß einmal
ein erwachsener Mensch infolge von Vernachlässigung]: durch
seine Amme nicht gehen konnte? Wieviele Ijeute sieht man
im Gegenteil ihr ganzes T.e])en hindurch schiecht gehen, weil
man sie es schlecht gelehrt hat!
Emil wird weder Fallhauben noch Gehkörbe noch Geh-
wägelchen noch Gängelband haben, oder man wird ihn wenig-
stens, sobald er einmal einen Fuß vor den andern setzen kann,
nur auf gepflasterten Stellen unterstützen und über dieselben
^) Daß Kinder bei alledem sich mitunter sehr gefährlich verletzen,
ist zur Genüge bekannt und wird im folgenden auch von Rousseau
zugestanden.
^ Von den künstlichen Yeranstaltungen, um Kinder vor Schmerz
zu bewahren.
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eiüg hinwegfälireji. Anstatt ihn in der verdorbenen Luft eines
Zimmers verkommen zu lassen^ wird man ihn täglich mitten in
eine Wiese hinausführen. Da mag er laufen, sich tummeln
und hundertmal des Tages fallen; um so besser^ er lernt dann
um so früher wieder aufstehen. Das wohlige Gefühl der Freiheit
macht Tiele Verletzungen wieder gut. Mein Zögling wird yiele
Quetschungen bekommen; dafür wird er aber immer lustig sein:
wenn die eurigen sie weniger haben, so sind sie dafür immer
gcliemnit, unirei und trübselig. Ich zweille, ob sie dabei ge-
wonnen haben.
Am Tut.'isri'n ist das Leben in seinem Aii fange becirolit; je
weniger man gelebt hat, desto weniger Hoffnung soll man auf
das Leben setzen.^ Höchstens die Hälfte von allen Kindern,
die zur Welt rniTion, gelangen zum erwachsenen Alter, und
es ist wahrscheinlich, daiS auch dein Zögling das Mannesalter
nicht erreichen wird.
Was soll man also von jener barbarischen Erziehung denken,
welche die Gegenwart einer ungewissen Zukunft aufopfert, die
ein Kind mit Ketten jeder Art belastet und es von vornherein
('K'ntl ]na('ht, \un ihm für später, ich weiß nicht welches ver-
meintliche Glück zu sichern, dessen es vermutlich nie teilhaftig
werden wird? Weim ich diese Erziehung in ihren Zielen auch
für vernünftig halten konnie, wie soll man ohne ('''nwillen die
armen Unglücklichen ansehen, die einem unerträglichen Joche
unterworfen und wie Ca](?erensträflinge zu fortwährender
Zwangsarbeit verurteilt sind, ohne versichert zu sein, daß so viele
Mühen ihnen je etwas nützen werden ? Das Alter der Fröhlich-
keit geht hin in Tränen, Züchtigungen, Drohungen und Skla-
verei. Man quält den Unglücklichen um seiner Wohlfahrt willen,
man sieht den Tod nicht, den man herbeiruft*) und der ihn
mitten in dieser traurigen Vorbereitung ergreifen wird. Wer
^) Je jünger man iBt, desto weniger kann man daranf rechnen,
noch lange ssu leben, weil die Sterblichkeit in den ersten Lebensjahren
am größten» ein Inüdiger Tod daher am wahrscheinlichsten ist.
^) Man ahnt nicht, daß das Kind bald sterben wird, ja befördert
vielleicht selbst seinen Tod, ohne es zu wollen*
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weiß, wie viele Kinder als Opfer der wahnwitzigen Klugheit,
eines Vaters ndov oiües Lehrers sterben? Glücklich, seiner Härle
zu entrinnen, ziehen sie ans all den Übeln, die er ihnen ver-
ursacht, den einzigen Vorteil, ohne Bedauern aus dem Leben
zu gehen, das ihnen nur seine Qualen gezeigt hat.')
Menschen^ seid menschlich, das ist eure erste Pflicht: seid
es für alle Lebensstande und Lebensalter, für alles, was dem
Menschen nicht fremd ist. Welche Weisheit habt ihr denn noch
außer der Mensclilichkeit? Liebet die Kindheit, begünstigt ihre
Spiele, ihre Brgötzungen, ihre liebenswürdige Katur.*)
Den (letlankt'ii, daß die lierkfimmlicrhe Er?;ieliinif>: das Glück der
Kiiulln it vernichte, in der trügerischen HufVimnir. in der Zukunft das
Kind desto «rlücklicher zu machen, wiederholt aiu li diis Folgende. Hier-
auf bc'uiif WDi tet 1k () 11 sü f au diu Fi apfe, was Glück sei, indem er sagt, es
bestehe nur in di in orrinorsten Mali von Übeln, die wir erleiden.
Worin Ix'sh'lit alöO die menschliche Weisheit oder der Weg
des wahren (ilückes? Niclit uurade in der Beschränkimg unserer
Wünsche; denn wenn sie unter unserem Vermögen wären,
bliebe ein Teil unserer Fähigkeiten untätige und wir wären
nicht im vollen Genüsse unseres Seins: aber auch nicht in der
Steigerang über unsere Fähigkeiten; denn wenn unsere Wünsche
plötzlich eine verhältnismäßig zu große Ausdehnung annehmen
würden, würden wir nur um so elender werden: sondern in der
Unterdrückung der über unsere Fähigkeiten hinausgehenden
Wünsche und in der vollkommenen Ausgleichung des Könnens
und AVollcns. Dann erst wird, wenn auch alle Kräfte in Tätig-
keit sind, die Sache deuiiuch ruhig bleiben und der Mensch sich
in richtiger Verfassung befinden.
Rousseau schildert sodann, wie unsere Einbildungskraft uns
unglücklich macht, indem sie HnftnuDg^en erregt, die sich dann als
unerfüllbar herausstellen; daher niüsse rnari vor allem die JBiubildimgs-
kraft iti Schranken halten, um glücklicb zu sein.
') Die Übertreibungen in dieser Darstellung des herkömmlichen
Erziehnngswesens sind in die Augen springend, wenn auch die darin
Hegende Warnung immerhin Beachtung verdient.
^) Diese Worte enthalten den Hauptgrundsatz des Fhüanthropinismus.
3) Wenn wir wehiger wünschen^ als wir zu erreichen vermögen.
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Die wirkliche Welt hat iliro Schranken, die Welt unserer
Einbiidungskraft ist imondli« Ii : können wir die eine nicht er-
weitern^ so wollen wir die andere einschränken: denn nur ans
dem Abstände zwischen beiden entsteht alles Weh, das uns
wahrhaft nnglücklieh macht. Nimm Kraft, Gesundheit nnd die
gute Meinung von nns selbst weg, so sind alle Güter dieses
Lebens nnr getraumte; nimm körperliche Schmerzen und
Gewissensbisse hinwog, so sind alle unsere Übel nur eingebildete.
Bas ist ein alltnsrlicher Grundsatz, sagt, man; freilich wohl: aber
seine praktisflio Anwondnng ist nicht alltäglich, und darum
handelt es sich hier eben ganz allein.
Der Gedanke, daß nur im Entsann und Entlx'hreii daa wlJire
Glück liege, kehrt auch im folgenden wieder. „Mit allem unserem
Müll i n lind Kingen, un^ar Glück /u vermehren, sagt Rousseau, „ver-
wanileiu wir es nur in rnglück."
Alles, alles ist Torheit und Widerspruch in den mensch-
lichen Einrichtungen. Je mehr unser Leben an Wert verliert,
desto mehr beunruhigen wir uns um dasselbe. Die Greise
grämen eich noch mehr darum als junge Leute; sie wollen die
Vorbereitungen nicht verlieren, die sie gemacht, um es zu
genießen, und es ist sehr hart zu sterben, bevor man zu leben
begonnen hat. Man nimmt an, daß der Mensch einen lebhaften
Tn'el) (lor SelhstcrhaUunir IüiIh«, und er hat ihn in der Tat; aber
iiinn sieht Tiiclit. daß rlioscr Trieb in der Stärke wif» wir ihn
fühlen, zum großen Teile das Werk der Menschen ist.^) A^on
Katur ist der Mensch nur so weit um seine Erhaltung besorgt,
als ihm Mittel dafür zur Verfügung stehen; sobald diese ihm
mangeln, beruhigt er sich und stirbt, ohne «ich unnütz zu quälen.
Das Gesetz der Entsagung gibt uns zuerst die Natur. Die
Wilden wie die Tiere sträuben sich sehr wenig gegen den Tod
und erdulden ihn fast ohne Klage. Tst dieses Gesetz hinfällig
geworden, so bildet sich ein anderes, das von der Vernunft
ausgeht,^) aber wenige wissen es ihr abzugewinnen, ujid diese
*) Weil man den Kindern Todesfurcht einflößt.
*) Der Philosoph erkennt durch Vemunftgründe, daß der Tod
kein Übel ist nnd stirbt daher mit Ergebung und ohne Sträuben.
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künstliche Entsagung ist nie so voll und ausnahmslos wie
die erste.
Die Vorsorge! Ja, die Vorsorge, die uns fortwährend aus
iinB hinausdrängt und uns oft dorthin weist^ wo wir nie hin-
kommen werden^ sie ist die wahre Quelle alles unseres Elends.
Welcher Wahnsinn für ein so yergängliches Wesen, wie es der
Mensch ist^ immer in eine ferne Zukunft zu sehen, welche so
selten kommt, und die Gegenwart, die ihm sicher ist, zu ver-
nachlässigen! ■ — Dieser Wahn ist um so verhängnisvoller, als
er mit dem Alter immer zunimmt imd die alten Leute, die
allzeit mißtrauisch, vorsorglich und geizig sind, sich lieber heute
das Notwendige versagen als das Überflüssige in hundert Jahren
entbehren wollen. So hängen und klammern wir uns an alles^
an Zeiten, Orte, Menschen und Dinge; alles, was ist und was
sein wird, ist jedem yon uns wichtig: unser eigenes Wesen ist
uns nur noch der geringste Teil Ton uns seihst. Jeder dehnt
sich sozusagen üher die ganze Erde hin aus und nimmt Ein-
drücke aus dem ganzen Erdraum auf. Ist es da zu verwundern,
daB unsere Leiden sich mit all den Punkten, wo man uns ver-
letzen kann, vervielfachen? Wie viele Fürsten grämen sich ura
den Verlust eines Landes, das sie nie gesehen haben! Wie viele
Kaufleute brauchen nur in Indien angerührt zu werden, um
in Paris aufzuschreien!
Als Beweis für seine Ausiditen führt Rousseau unter anderem
das Beispiel eines Kaufmannes an, der sieh glficklich fühlt, tiher plötzlich
einen Brief erhSlt, der ihm Verluste mddet, die ihn in Vensweiflung
stürzen; Rousseau fragt, was sich in dem Zustande dieses Kaufmannes
geändert habe? Wie, wenn der Brief verloren gegangen wäre? Dies
beweise, (laß unser Glück nicht in den äußeren Dinj'-en, sondern in
unserer Denkart hcf^e, darin, daß wir wenij^ BorlUrfnisse haben. Je
großer unsere Bedürfnisse Si ion. depfo schwächer seien wir. Ycrmehi't
aber wurdffli unsere Bedürfnisse durch die gesellschafthchen Fanrich-
tungeu, in denen wir Mun. Rousseau kommt damit auf einen Ge-
danken zurück, den er schon im ersten Bncli ^) ausgesprochen hat; doch
hält er eine Staatsform für möglich| die diesen l'ehler nicht hätte. Er
sagt darüber:
») S, o. S. 12. bis 16.
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47
Es gibt zwei Arten von Abhängigkeit: die Abhängigkeit
von den Dingen, die von der Natur ausgeht, und die Ab-
hängigkeit von den Menschen, die von der Gesellschaft herrührt.
Die Abhängigkeit von den Dingen beeinträchtigt, da sie keinerlei
sittliche Bedeutung hatJ) unsere Freiheit nicht und erzeugt
keine Laster; die Abhängigkeit von den Menschen dagegen ist
ordnimf^swidrig 2) und erzengt alle Laster; chircli sie entsittlichen
Herr uikI Sklave ge.jjenseitig. Wenn es irgc^ndoin Mittel gegen
dieses ttbel in der Gescllseliaft gibt, so besieht es darin, daß
an Stelle eines Menschen (des Monarchen) das Gesetz auf-
gerichtet und der allgemeine Wille ^) mit einer tatsächlichen
Kraft ausgerüstet wird, die der Wirksamkeit jedes Einzel willens
überlegen ist. Wenn den Gesetzen der Völker, wie denen der
Natur, eine Unbeugsamkeit zustünde, die keine Menschenkraft
zu brechen imstande wäre, so würde die Abhängigkeit von den
Menschen wieder der Abhängigkeit von den Dingen gleichen;
man würde im Freistaate alle Vorteile des Naturzustandes mit
d(Mn»n des gesellschaftlicln n (staatlichen) Zustandes verbinden,
man wüi-de zu der Frcilieit. die den Menschen frei von Lastern
hält, noch die Sittlichkeit fügen, die ihn znr Tugend tnnporliebt.
Erlmlte denn das Kind in der bloßen Abhäni^iiikcit von
den Dingen: dann folgst du im Fortschritte seiner Erziehung
der Ordnuno: der N'atur. Setze seinen unvernünftigen Wünschen
nur natürliche Hemmnisse oder solche Strafen entgegen, welche
aus den Handlungen entspringen und an die es sich bei Ge-
legenheit erinnern kann: es genügt, es vom übeltun abzuhalten,
selbst ohne eigentliches Verbot. Erfahrung und Ohnmacht
' müssen allein bei ihm an die Stelle des Gesetzes treten. Gestatte
seinen Wünschen nichts darum, weil es danach verlangt, sondern
nur, weil es ein Bediirt'nis danadi hat. Es soll nicht wissen,
wi nii ('S selbst etwas tut, was Gehorsam ist, und nicht, was
Befehlen heißt, wenn man ihm etwas tut. *) Es soll seine Freiheit
1) Keine Beziehung auf unsere Sittlichkeit hat.
^ Hier kommt der Grundlrrtnm RouBseaus wieder zum Vor«chein.
') Der im Staate verkörperte Wille aller Staatsbürger.
*) Das Kind soll nicht glauben, der Erzieher gehorche seinen
Befehlen, wenn er seinen Wünschen entgegenkommt.
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48
gleichermaßen in seinen und deinen Uandlungen fühlen. Hilf
seiner mqnf^elnden Kraft gerade so weit nach, als nötig ist,
damit es frei und nicht herrisch sei: deine Dienste soll es mit
einer Art Demütigung annehmen, damit es den Augenblick
herbeisehne, wo es ihrer entbehren und die Ehre genießen kann^
sich selbst zu bedienen.
Hüte dich besonders, dem Kinde leere Höflichkeitsformeln
einzuprägen, mit denen es unter Umstanden seine iTcinzo Um-
gehung wie mit Zaul)orworten seinem Willen unterwerfen und
augenblicklich, was es will, bekommen kann. In der fratzen-
haften Erziehung der Ivoiehen verfehlt man nie, ihnen eine
höfliche Herrschsucht beizubringen, indem man ihnen die Aus-
drücke vorschreibt, deren sie sich bedienen müssen, damit
niemand ihnen zu widerstehen wage; ihre Kinder haben nichts
Bittendes, weder im Ton noch in der Art sich zu benehmen;
wenn sie bitten, sind sie ebenso anmaßend, ja noch anmaßender,
als wenn sie befehlen, als wären sie in diesem Falle des Ge-
horsams noch viel sicherer. Man sieht sofort, daß in ihrem
Munde „wollen Sie mir gefälligst geben" so viel ist als ,,du
niuiit mir's geben" und daß „ich bitte" bei ihnen heißt „ich
befehle". Eine prächtige TTöfliehkeit, die auf nichts anderes
hinausläuft, als «laß den Worten ein anderer Sinn gesrelien
wird uml daß sie nie anders reden können als im Tone des
Befehls!') Ich für meinen Teil fürchte für Emil die ünfeinheit
weniger als die T^nverschämtheit, und so ist es mir lieber, daß
er „tue das" in bittendem Tone sage als „ich bitte" in be-
fehlendem. Mir kommt es nicht auf den Ausdruck an, den er
gebraucht, sondern auf den Sinn, den er damit verbindet.
Roasseau wehrt sich sodann gegen den Vorwurf, daß er das
Crlück der Kinder doch auch vermindere, indem er sie Beschwerden
aussetze; für alles entschädige die Freiheit, die er ihnen lasse. Er sagt
hierüber nntcr an dorm:
Ich sehe kleine "RansfOTi im Schnee spielen, blaurot und
slarr vor Kälte; sie könucii kaum die Finsrer rühren. Es hängt
nur von ihnen ab, sich wieder zn erwäniien, aber sie tun es
0 Weil sio oben nur scheinbar bitten, das wirkliche Bitten
daher gar nicht lernen.
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49
nicht ; wenn man sie dazu nötigte, würden sie die Härte des
Zwanges hundertmal mehr fühlen als die der Kälte.
Weißt du, welches das sicherste Mittel ist, dein Kind elend
2U machen ? Lediglich die Gewöhnung^ alles zu bekommen; denn
da «eine Begierden mit der Leichtigkeit^ sie zu befriedigen^
fortwährend wachsen^ wird die Unmöglichkeit dich früh oder
spät dazu bringen, sein Verlangen wohl oder übel abzuschlagen,
und diese ungewohnte Verweigerung wird ihm peinlicher sein
als selbst die Entbehrung des Verlangten. Zuerst verlangt es
nur den Stock, den du in der liand hast; bald will es aber
deine Uhr, dann einen Vogel in der Luft, einen Stern, den es
glänzen sieht, ja, alles, was es wahrnimmt: wie willst du es
befriedigen, wenn du kein Gott bist?
Wie wäre zu begreifen, daß ein vom Zorne beherrschtes
und von den heftigsten Leidenschaften verzehrtes Kind je
glücklich wäre ? Es glücklich ! nein> ein Despot wäre es und der
niedrigste Sklave zugleich, das elendeste aller Geschöpfe. Ich
habe derartig erzogene Kinder gesehen, die verlangten, man
soll das Haus mit einem Ruck auf den Kopf stellen, man solle
ihnen den Hahn von einem Kirchturme herabholen, man solle
ein Kegiinent mitten im klarsehe anlialten, daß sie die Trommler
länger hören konnten, und sobald man zögerte, ihnen willfährig
zu sein, ein durchdringendes Geschrei ausstießen und auf
niemand hören wollten. Man beeilte sich vergeblich von allen
Seiten, ihnen gefallig zu sein; ihre Begierden waren durch
die allzu leichte Befriedigung gereizt, sie steiften sich auf un-
mögliche Dinge und sahen überall nur Widerspruch, Hindemisse,
Widerwärtigkeiten und Schmerzen. Immer murrend, immer auf-
gebracht, immer in Wut, verbrachten sie ihre Tage mit Weinen
und Klagen; waren das wirklich glückliche Wesen? Schwäche
und Herrschsucht im Bunde erzeugen nur Wahnsinn und Elend.
Ein verzogenes K ind !=:chlägt den Tisch, das andere läßt das Meer
peitschen !M pio werden lange zu peitschen und zu schlagen
haben, bevor sie zufrieden leben werden.
^) Anspielung^ auf Xerxes» der das Meer peitschen lie0, als es die
Bracken weggerissen hatte.
Sehnlftttsgab«!! pMagogTBcber Klassiker. Heft 6. 4
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Ich kohrc zur Praxis zurück. — Ich habe schon goj^agt,
daß dein Kind nichts ans dem Grunde erhalten soll, weil es
die Sache verlangt^ sondern weil es sie nötig hat^ ferner^ daß
es nichts ans Gehorsam, sondern alles ans Notwendigkeit tun
soll. Die Worte Gehorchen und Befehlen werden somit aus
seinem Wörterbuch gestriclien sein, und mehr noch die der
Pflicht und deir Verbindlichkeit; aber Gewalt und Notwendigkeit,
OhnTYiacht und Zwang müssen darin einen großen Raum eiu-
nehmcnJ)
Rousseau sucht hierauf zu beweisen, daß Veriuuiftsgründe bei
dem Kinde nicht veifanjjfcn, was (mindestens für die früheste Kindheit)
unzweifelhaft richtig ist. Er führt zu diesem Zwecke ein Gespräch
zwischen Jiclirer und Kind vor, in welchem das Kind von seinem
Standpunkte trotz aller Grunde des Lehrers äieger bleibt.
Die Natur will, daß die Kinder Kinder seien, bevor sie
Männer sind. Wenn wir diese Ordnung umzukehren belieben,
werden wir nur frühreife Früchte hervorbringen, die nicht
zeitig und nicht schmackhaft sind und alsbald verderben: wir
%ver(lon junge Golohrto und alte Kinder bekommen. Die Kind-
heit hat ihre eigene Art zu sehen, zu denken und zu eniprindcii;
nichts ist uuverniinftiirer hIs unsere Art au deren Stelle zu
setzen; ich könnte ebensogut verlangen, daß ein Kind fünf
Fuß hoch gewachsen sei, als daß es im zelmten Jahre richtiges
TTrtcil besitze. Wozu sollte ihm aber auch in diesem Alter die
Vernunft dienen? Die Vernunft soll ein Zügel für die Kraft
sein; das Kind bedarf dieses Zügels nicht.*)
*) Emil weiß nicht, was Gehorchen nnd Befehlen heißt, ebenso-
wenig, was Pflicht ist; aber daß es Gewalten gibt, die stärker sind als
er selbst, und denen er sich daher unterwerfen muß, hat er allerdings
erfahren. Daß ein Kind aus Liebe zu Vater und Mutter, aus Ehrfurcht
und Dankbarkeit gegen dieselben etwas tun oder lassen könnte, erscheint
also Rousseau undenkbar oder wenigstens nicht berücksichttgungswert.
^) Weil es zu schwach ist, noch gar nicht die Kraft hat, Böses
zu tun. Daran ist freilich nur richtig, daß das Kind noch nicht viel
Böses tun kann; boshafter Gesinnung ist es aber doch schon bis zu
einem gewissen Grade fähig.
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Rousseau sucht hierauf darzutun, daß, wenn man von den Kindern
Gehorsam fordere, diese geradezu angeleitet wUrden, ihre Erzieher zu
hintergehen, zu lägen und zu heucheln.
Befiehl ihm (dem Zöglinge) vom ersten Anfange an nichts,
durchaus nichts, was es auch sei. Laß nicht einmal den Ge-
danken in ihm aufkommen, daß du irgendeine Gewalt über
ihn ausüben wolltest. Er soll bloß wissen, daß er schwach ist
und du stark bist, daß er durch seine Lage und die deinige dir
notwendigerweise preisgegeben ist^); das poU er wissen, er-
fahren und fühlen; frühzeitig soll er auf seinem hochfahrenden
Kopie das harte Joch fühlen, das die Xatur dem Menschen
auferlegt, das schwere Joch der Notwendigkeit, unter welches
jedes endliche Wesen sich beugen muß; er soll dio>o Xotwendig-
keit in den Dingen erblicken, nie in der Laune der Menschen;^)
der Zügel, der ihn zurückhält, sei die überlegene Gewalt, nicht
menschliches Ansehen. Wenn er sich einer Sache enthalten soll,
verbiete sie ihm nicht; verhindere ihn, sie zu tun, ohne Aus-
einandersetzungen und Erörterungen; willst du ihm etwas
gestatten, gestatte es auf sein erstes Wort, ohne Bitten und
Betteln, besonders aber ohne Bedingungen. Erteile deine Ein-
willigung mit Vergnügen, deine Weigerung nur mit Wider-
streljen;^) doch muß dein Verweigern unwiderruflich sein; kein
Wie hart, wie lif'hclecr ist das hier geschilderte Vcrliiütiiis
zwischen Erzieher und Zögling!
Daß der Erzieher den Zöf^ling nicht von seinen Laim« ii a}>-
häugig machen darf, ist richtig; falsch ist es aber, wenn TJoiisscan
erlaubt, der Zöfirlinc müsse in jcdfin Gebote und Verbote d» s Ei zicln rs
eine blotie Laune erl)]ickt;ii. Wenn der ErzicluM" nur kunsciiuiMit in
seinen Anforderungen ist und das eifre!)e Verhalten des Erzieliers mit
ihnen übereinstimmt, so mcikt der Zr)üliii^ bald, daß dir ihm erteilten
({e])ote und \'( rlMift niclit aus persönlicher Willkür hervorgehen, soudern
»acblicli begründet sind.
AVenn Rousseau hier empfiehlt, beim BewilHiien drii .Scin in
au/uiiclnncn, als ub der Erzieher selbst sieh trt ute, einwilligen /u könutiu,
80 ist dage<rtMi nicht viel einzuwenden, desto mehr aber dairetren, daii
er (scheinbar) nur widerstrebend etwas verweigern snll. I)as Kind würde
aus eiueiu Buichcii V'^riiaiten nur die Holliiung schöpien, die Wcis"<*rung
4*
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Bestürmen darf dich erschüttern; dein Nein sei eine eherne
Mauer^ an der das Kind fünf- oder sechsmal seine Kräfte er-
schöpfen magy um es nie wieder zu versuchen^ sie umzustürzen.^)
Auf diese Weise wirst du ihm Geduld, Gleichmut, Ent-
sagung und Zufriedenheit beibringen, wenn es auch das Gre-
wünschte nicht erhalten hat; denn es liegt in der Natur des
Menschen, das Unabänderliche geduldig zu ertragen, nicht aber
den bösen Willen anderer. Oegen die Antwort: csistnichts
ni ehr da, hat sich nie ein Kind aufgelehnt, es müßte denn
glauben, daß man es belogen habe.
Gib deinem Zögling kcinorloi Iiehre in Worten: er soll
seine Lehren nur durch die Erfahrung^) erhalten; verhänge
keinerlei Strafe über ihn: denn er hat das Bewußtsein der
Straf fälligkcit noch nicht; laß ihn nie um Verzeihimg bitten:
denn er kann dich ja nicht beleidigen.*) Da seinen Handlungen
jeder sittliche Charakter fehlt,*) kann er nichts sittlich Böses
tun, was Züchtigung oder Zurechtweisung verdiente.
Den luiheliügeiulcii (icdankeu, daß bei solcher Behandlung die
Kinder gründhch v< rdoilx n werden wüiden, sucht Rousseau dnrdi die
Behauptung zu widerlegen, von deu echou verdorbeneu Kindern, wie
doch noch crschüttf.'ni zu k^nincn. Die Wt-jn'crnntj midi violTnehr vom
Anfang an entschieden als etwas Ausgemachtes und Reibst verständliches
auftreten.
^) Dies und diis Folcjende ist selbstverständlich liclitig.
-) Kiclifi^MM- wärt': wo luiiplich durch Erfahrung, Ucher durch
Erfaliruriij; als durch LloUt; Worte, weil diese Lehre wirksamer ist.
3) Wenn das Kind bestraft wird, ohne daß es sich seiner Straf-
fälligkeit bewulit ist, wenn es angtli alten wird, um Verzeiliuiifr zu
bitten, obwohl es keinen Drang dazu fühlt, so ist dies allerdingfs ver-
kehrt. Aber es ist ein Iritum zu behaupten, ein Kind könne gar nicht
das Bewußtsein haben, duli es etwas .Sfraf])aie8 getan und dadurch seine
Eltern betrübt liabe. Rousseau verfällt diesem Irrtum, weil er von
der Liehe, die zwisclicn Kitct-ii imd Kin<b'rn inüur^^cniäli waltet, ganz
absieht. .Jedes Kin<l. da*: ii u s cinriHin Antriebe sagt: „Liebe Mutter,
sei wieder ^ni; ich wiU's iiii lit niehr tun", ist eine tatsächliche Wider-
legung der Ansieht Rousseaus.
*) hl sittlicher Hinsicht gleichgültig, weder gut noch böse.
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aie aus (It'f bisherigen Erziehuny^ lici vor^infren, sei allerdings das
Scbiinimste zu erwarten, aber niclit von seinem Mu^ster?:Ö!rlinpr Emil.
Als unbestreitbaren Grundsatz müssen wir feststellen, daß
die ersten Eegungen der Natur immer die rechten sind:^) es
gibt keine ursprüngliche Verkehrtheit im menschlichen Herzen.
Es findet sich kein einziges Laster in ihm» von dem man nicht
nachweisen könnte, wie und auf welchem Wege es hinein-
gekommen sei. Die einzige dem Menschen natürliche Neigung
ist die Liebe zu sich selbst oder die Eigenliebe in weiterem
Sinne. Diese Eigenliebe ist an sich, in Hinsicht anf uns selbst,
gnt und nützlich, und, da sie keine notwendige Beziehung
auf andere hal,^) ist sie insofern von Natur (sittlich) gleich-
gültig: nur durch die Anwendnng, die man davon macht, und
die Beziehungen, die man ihr gibt, wird sie gut oder schlecht.
Bis nun die Lenkerin der Eigenliebe» d. i. die Vernunft» sich
bilden kann» ist es von Wichtigkeit» daß ein Kind nichts tue»
weil es gesehen oder gehört wird,^) mit einem Worte» nichts
mit Bücksicht auf die anderen» sondern bloß, was die Natur
von ihm verlangt; dann wird es immer nur recht tun.
Ich verstehe darunter nicht, dnlj er, nie Schaden anrichten,
sich nicht verletzen, nicht vielleicht ein wertvolles CTcrät zer-
hr(H']i(>n werde, wenn es ihm unter die Tlände kommt. Es könnte
viel Übles anstellen, ohne übel zu tun, weil die böse Handlung
die Absicht zu schaden zur Voraussetzung hat» die bei ihm nie
Dieser Sats stebt in Widerspruch mit der christliolieii Lehre
von der Erbsünde» aber aucb mit Rousaeaus eigener Behauptung, daß
den „Handlungen der Kinder jeder sittliche Charakter fehle^; dagegen
ist er allerdings eine folgerichtige Anwendung der Sütse, mit denen
das Buch beginnt, wonach alle Werke der Natur gut, alle Menschen-
werke schlecht sind.
Db man deswegen, weil man sich selbst liebt, andere noch
nicht zu hassen braucht.
*) Hierin liegt eben die Unnatur» daß selbst die Meinung des Er-
ziehers dem Kinde nach Rousseaus Ansicht gleichgültig sein soll. Es wäre
nicht einmal möglich» selbst wenn man zugeben wollte, daß es wünschens-
wert sei.
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vorliniiilcn ist.^) ]läito es sie oin einziges Mal, so wäre schon
alles verloren; es wäre böse, fast ohne Rettung.
Manches ist in den Angen des Geizes schlimm, was es in
den Augen der Vernunft nicht ist. Man lasse die Kinder un-
gehindert ihre Streiche ausüben; aber dann ist es freilich
geboten, alles von ihnen fem zu halten, wodurch diese zu kosi>
spielig werden könnten, und nichts Zerbrechliches und Kost'
bares in ihrer Nähe zu lassen. Ihr Zimmer sei mit derben
nnd haltbaren Geräten versehen, ohne Spiegel, Porzellan und
Luxussachen. Mein Emil wenigstens, den ich auf dem Lande
aufziehe, soll in seinem Zimmer nichts haben, wodurch es sich
von einer üaueijistnbe unterschiede. Wozu soll es mit so viel
Aufwand geziert werden, da er doch nur so kurze Zeit darin
bleiben soll? Doch nein, er wird es selbst ausschmücken, und
wir werden bald sehen, womit.-)
Wenn nun trotz -deiner Vorkehrungen das Kind irgend-
welche Unordnung anrichtet oder ein nützliches Gerät zerbricht,
so strafe es nicht für deine Nachlässigkeit^) und zanke nicht;
es soll kein einziges Wort des Vorwurfs hören, laß es nicht
einmal merken, daß es dir Ärger verursacht habe; tue ganz so,
als ob das Gerät von selbst zerbrochen wäre,^) sage dir selbst,
daß du viel getan, wenn du es über dich bringst, nichts zu tun.
Auch das ist zuviel <resagt. Zaerat zerstören die Kinder aller-
dings nur, um Bich zu beschäftigen, \un ihre Neugierd' i ])efriedigen
usw.; al)( r wenn man sie gewähren läßt, bekommen sie Lust daran,
weil sie dadurch ihre Kraft zeigen können, sie richten Schaden an, obwohl
sie wissen, daß es Schaden ist, und von da ist der Ubergang zu wirklich
boahaften Bes<>liiidigungen bald gefunden. Man muß daher ßeschädi«
gungen w«*rtvoller Dinge durch die Kinder verhüten, nicht bloß um des
ciorcnen Nutzens, sondern aucli um der Kinder willen, auch deshalb,
damit sie den Wert der Dinge kennen und darauf achten lernen.
^ Hieruber handelt S. 79.
3) Für das , was du selbst durch Nachlässigkeit verschuldet hast.
*) Eine solche Behandlung könnte natürlich nur zur Folge haben,
daß das Kind alle Gegenstande für wertlos halt und seinem Zerstorungs-
triebe nicht den geringsten Zwang auferlegt. Die Dinge haben aber
nun einmal in den Augen der Menschen Wert, und zwar die einen mehr,
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Soll ich uun noch die größte, wichtigste und nützlichste
Eegei der ganzen Erziehung darlegen, die nämlich, daß man
nicht Zeit gewinnen, sondern Zeit verlieren soll?*) Der ge-
wöhnliche Leser möge mir meine Paradoxa') verzeihen; man
muß solche aufstellen, wenn man zum Nachdenken anregen
Hill, und ich will, was man auch darüber sage, lieber ein Mann
der Paradoxa als ein Mann der Vorurteile •) sein.
Solche Paradoxa sind denn auch in den nun folgenden Aus-
sprüchen enthalten.
Die erstf Erziehung muß also eine rein negative sein. Ihre
Aiiffr;il)e \>l nicht, Tnireiid oder Wahrheit zu lelircn, sondern
das Herz vor Laster und den Geist vor Irrtum zu bewahren.
Wenn es dir möglich wäre, nichts zu tun und nichts geschehen
zu lassen, wenn du deinen Zögling gesund und kräftig bis in
sein zwölftes Jahr bringen könntest, ohne daß er seine rechte
Hand von der linken zu unterscheiden wüßte, so würden sich
die Augen seines Geistes gleich bei deinem ersten Unterrichte
der Vernunft öffnen; er hätte weder Vorurteile noch Gewohn-
heiton, und so wäre nichts in ihm, was die Wirkung deiner
BemiUiuiigen bceinträchtigca könnte. Bald würde er unter
deinen Händen der vernünftigste Mensch werden, und du
\vii] <li st ein Wunder der Erziehung getan haben, wenn du damit
autingest, nichts zu tun.
die anderen weniu^ei, und es ht nielit einzosehen^ warum die Kinder
nicht erfahren sollen, daß es so ist* Rousseau hetracbtete freilich
selbst vieles als wertlos, was sonst als wertvoll gilt und 8(» konnte er
leichter auf den Gedanken kommen, es verschlaju^e nichts, wenn die
Kinder überhaupt nichts von dem verschiedenen Werte der Dinge erfahren.
*) Rousseau ist ein Ge^er der ^Treibhauserziehung*^, aus
welcher ,,\Vunderkinder^ hervorgehen; er will die Entwicklung der
Kinder eher verlangsamen als beschleunigen und hat hierin ohne
Zweifel recht.
*) Seltsame Behauptungen, die dem, was allgemein für richtig
gehalten wird, widersprechen.
^) Rousseau betrachtete vieles als Vorurteil, was durch die Über-
lieferung von «Jahrhunderten geheiligt ist; anderseits ist das Geständnis
bemerkenswert, daß er geflissentlich paradoxe Behauptungen aufstellte.
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5G
Ein noch stärkeres Paradoxon enthält der Ausspruch: Tue das
Gcg-enleil von dem, was herkömmlich ist und du wirst fast immer das
Hechte tun.
Kons so au Iveschäftigt sich dann mit dem Einwände, daß man
Bclilechtf Jn ispit 1(; von dem Zöglinge doch nicht ganz fernhalten könne.
Rousseau gibt dies zu, meint aber vieles dadurch verhüten zu können,
daß er sich bei seiner Umgebung' helieltt zu machen sucht, um m von
ihr Unterstützung für seine erziehlichen MaÜnahmen zu erhalten. Er
sagt hierüber:
Es gibt Beweise der Teilnahme und des Wohlwollens, die
mehr Wirkuag haben und in der Tat nützlicher sind als alle
Geschenke; wie viele Elende und Kranke bedürfen mehr des
Trostes als des Almosens^ wie vielen Unterdrückten ist Be-
schützung notwendiger als Geldl Versöhne die Entzweiten^
verhüte die Prozesse; leite die Kinder zur Pflicht, die Väter
zur Nachsicht; hegünstige glückliche Ehen; steuere den Be-
drückungen; gebrauche in vollem Maße den Einfluß der Eltern
deines Zöglings zugunsten des Schwachen, dem man Gerechtig-
keit versagt, und den der Mächtige zu Boden drückt.*) Erkläre
dich vor aller Welt als Beschützor der TTnglüeklichen. Sei
gerecht, menschlich, wohltätig! Wirke nicht bloß durch Al-
mosen, sondern durch christliche Liebe; die Werke der Barm-
herzigkeit lindern mehr Elend als das Geld; liebe die Neben-
menschen und sie werden dich lieben; diene ihnen, und sie
werden dir dienen; sei ihr Bruder, und sie werden deine
Brüder sein.
Es ist dies ein fernerer Grund, warum ich Emil auf dem
Lande erziehen will, fern von dem Gezücht der Bedienten, der
verworfensten Menschen nächst ihren Herren, fern von den
schlimmen Sitten der Stadt, die der Firnis, mit dem man sie
überdeckt, verführerisch und ansteckend für die Jugend macht,
während die b\'hler der Landleute, unverhüllt und in all ihrer
Roheit, mehr dazu angetan sind, zurückzustoßen als zu ver-
^) Hier ist an die Bedrückungen zu denken, die sich der fran-
zösische Adel zu Rousseau 8 Zeit gegen das Landvolk erlaubte und
die einer der Gründe waren, die zn der großen Revolution von 1789
fahrten.
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führen, wenn man keine besondere VeranlasBung dasu hat, sie
nachzuahmen.
RooBsean bekämpft hierauf das übliche Moralisieren als ver-
geblich und sogar schädlich. Vm schlechte Beispiele, wenn sie doch
vorkommen sollten, namentlich das des Zornes, nnschSdlich zn machen,
empfiehlt er, den Zornigen als krank hinzustellen. Wdrde das Kind
selbst zornig, so soll es als krank zu Bette geschickt werden. Auch
wenn der Erzieher selbst zornig würde, soll er sagen: Kind, du hast
mich krank gemacht.
Rousseau hält es aber auch für notwendig, dem Kinde den
Begriff des Eigentums beizubringen, und zwar dadurch, daß es selbst
etwas zu eigen erhält, am besten ein Beet im Garten, dafi es be-
bauen kann. Dies soll aber nach Rousseau so geschehen, daß zu-
nächst ein schon angepflanzter, einem Gärtner gehöriger Platz vom
Kinde bearbeitet wird, was sich der Gärtner natfirlich nicht gefallen läßt.
So sollen die Kinder auch in anderen Fällen nur durch die natür-
lichen Folgen ihrer Handlungen belehrt werden. Wenn 8. B. ein Kind
ein Fenster zerbricht, solle man den Wind Tag und Nacht ins Zimmer
blasen lassen, auf die Ge&hr hin, daß sich das Kind erkälte*
Daß sein Zögling lügen lernt, fürchtet Rousseau nicht, weil er
ihn ja weder tadle noch strafe noch etwas von ihm verlange, ihm also
keinen Grund zur Lüge gebe. Rousseau will aber auch nicht, daß
das Kind für die Zukunft verspreche, so oder so handeln zu wollen.
Ein Kind könne sich die Zukunft nicht vorstellen und lüge daher bei
einem solchen Versprechen, ohne es zu wollen. ^Könnte es der Rute
entgehen oder eine Düte Zuckerwerk erhalten, indem es verspricht, sich
morgen zum Fenster hinauszustürzen, so wird es das Versprechen auf
der Stelle geben.^
Hierauf kommt Rousseau auf die Art zu sprechen, wie man bis
dahin den Kindern Nächstenliebe habe beibringen wollen; er sagt;
Um ihnen Nächstenliebe einzuflößen, läßt man sie Almosen
geben, als hielte mau es für erniedri^fcnd, es selbst zu geben.
j^^ein, niclit das Kind soll es geben, sondern der Lehrer: mag
er seinen Zögling noch so lie])liaben, diese Ehre muß er itim
streitig machen: er muß ihm die Überlegung nahe bringen, daß
er derselben noch nicht würdig ist. Das Almosen steht dem
Manne zu, der den Wert seiner Gabe und das Bedürfnis seines
Mitmen sehen kennt. Das Kind, das davon nichts weiß^ kann
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beim Geben kein Verdienst haben; seiner Gabe fehlt das Er-
barmen^ der Wohltätigkeitssinn: es schämt sich fast zu geben,
wenn es an seinem und eurem Beispiel sieht, daß nur die Kinder
geben und daß Erwachsene kein Almosen mehr reichen.^)
Man bemerke noch, daß man das Kind immer nur Dinge
geben läßt, deren Wert ihm unbekannt ist, Stücke Metall, die
es in der Tasche hat*) und die ihm sonst zu nichts nutz sind.
Ein Kind gäbe lieber hundert Dukaten als einen Kuchen.
Bringe aber einmal diesen verschwenderischen Geber dazu, tlaß
er Dinge gibt, die ilnii wert sind, Spii^lsachen. Zueker\veri<. >v\ll
Vesperbrot, und dann wird es bald sichtbar werden, ob du ihn
wahrhaftig freigebig gemacht hast/')
Rousseau will, anstatt dem Zöglinge Gelegenheit zur Mildtätigkeit
zu geben, lieber selbst in seiner Gegenwart anderen Mensehen Gutes
tun, und zwar in einer Art, die der Zögling nicht nachahmen kann,
^da eine solche £hre seinem Alter noch nicht zukommt.^ Rousseau
hält überhaupt nichts von nachgeahmten Tugenden, „Affentugenden",
wie er sie nennt. Er warnt auch davor, was die Kinder in Nachahmung
anderer Schönes sagen, zu überschätzen. „Die glänzendsten Gedanken
können in ein Kinderhirn kommen oder vielmehr die besten Worte in
den Mund der Kinder, wie Diamanten in ihre Hand gelangen können,
ohne daß darum Gedanken und Diamanten ihnen gehören.* Kinder, die
für besonders begabt gehalten wurden, hätten oft später die Erwartungen
vollständig getäuscht und umgekehrt, solche, die für geistesschwach
gegolten, seien nachher große llänner geworden, wofür Rousseau das
Beispiel Gatos anführt.
Habe Scheu vor dem Kindesalter*) und sei nicht vorschnell,
^) Daß die Kinder, wenn sie von ihren Eltern zur Übermittlung
von Almosen benutzt werden, noch nicht seihst wohltätig werden, ist
richtig. Bittet indeß das Rind, vom Anblicke eines Armen gerührt,
die Eltern, demselben ein Almosen zu geben, und machen nun die Eltern
das mitleidige Rind zum Überbringer der Gabe, so ist der Vorgang
für die sittliche Bildung des Kindes doch nicht ganz gleichgültig.
1) Geld nämlich.
') Dies ist vollkommen richtig.
*) Ein lateinischer Spruch sagt: Die größte Scheu ist man der
Kindheit schuldig.
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darüber zu urteilen, im guten oder sclilimmen. T^aß die Aus-
nahmen sich lange bemerklich machen^ sich bewähren nnd be-
stätigen, bevor du fth* sie zu besonderen Maßnahmen greifst.
Laß die Natur lang ihre Wirksamkeit, ausüben, bevor du dich
unterfängst; an ihrer statt zu handeln, damit ihre Tätigkeit ja
nicht durchkreuzt werde. Du kennst den Wert der Zeit, sagst
du, und willst keine verlieren. Du siehst nicht, da Ii >ie viel
mehr verloren ist, wenn du sie sebleeht anwendest, als wenn
du niclits daraus machst, und daß ein verkehrt unterricliletes
Kind viel weiter von Weinheit entfernt ist als ein gar nicht
unterrichtetes. Du entsetzest dich über den Oedanken, daß es
seine ersten Jahre mit Nichtstun verbringt! Wie? Ist Glückiich-
sein nichts, ist den ganzen Tag Springen, Spielen, Laufen
nichts? Sein Leben lang wird es nie mehr so beschäftigt sein.
Plato in seiner Bepublik,^) die man für so streng hält, zieht
die Kinder nur in Pesten, Spielen, Gesängen und Belustigungen
auf; alles ist sozusagen bei ihm getan, indem er sie lehrt, sich zu
freuen; und Seneca sagt, wo er von der alten römischen Jugend
spricht: ,,Sie war immer auf den Beinen; man lelirte sie nichts,
was sie sitzend hätte lernen müssen." War si(^ daniin wt niger
wert, wenn sie zum Mannesalter gelangte? Dieser vermeintliche
Müßiggang darf dich also nicht so sehr erschrecken. Was
würdest du von einem Planne sagen, der, um Bein Leben ganz
auszunützen, nie schlafen wollte? Du würdest sagen: der
Mensch ist unsinnig; er genießt seine Zeit nicht, er nimmt sie
sich; um dem Schlafe zu entgehen, läuft er dem Tode in die
Arme. — Beherzige denn, daß wir hier im nämlichen Falle sind
und daß die Kindheit der Schlaf der Vernunft*) ist.
Im folt^onden lougnot Rousseau sof^ar, daß Kiiulor ein gutes
Gedächtnis haben. Er macht dabei freilich den Unterschied zwisclieu
Wort- und Sachgedächtnis; daß die Kinder Worte leicht merken, gibt
er zu, aber das beweist nach seiner Ansicht noch nichts.
Nämlicli: über die Anlagen eines Kindes.
^ In dem Dialoge yom Staate, in welf^bem er sein Ideal eines
Staates schildert.
^) Die Zeit, wo die Vernunft noch schlaft.
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Die Pädagogen^ die uns mit großem Gepränge das Lehr-
gebäude vorführen^ in das sie ihre Zöglinge einführen^ sprechen
anders; denn dafür werden sie bezahlt:^) doch sieht man au
ihrem eigenen Gebaren^ daß sie genau so denken wie ich; denn
was lehren sie denn? Worte, Worte und immer Worte. Unter
den verschiedenen Wissenschaften, die sie sich zu lehren rühmen,
wählen sie beileibe nicht diejenigen aus, die den Schülern
wahrhaft nützlich wären, denn das wären Wisscuxlialten von
Sachen und damit kämen me nicht zum Ziele, sondern solche,
die man zu verstehen scheint, wenn man ihre Ausdrücke kennt,
wie die Heraldik,*) die Geographie, die Chronologie/) die
Sprachen usw., lauter Studien, die dem Menschen und besonder»
dem Kinde so fem liegen^ daß es wunderbar zugehen muß,
wenn ihm je irgend etwas von diesem allem ein einziges Mal
in seinem Leben TOn T^utzen ist.^)
Man wird sich darüber wundern, dali ich das Studium der
Sprachen unter die nutzlosen Dinge in der Erzieh\mg rechne;
aber man wird sich erinnern, daß ich hier nur vom Ihiterriclite
in den ersten Jahren rede, und was man auch darüber sagen
mag, ich glaube nicht, daß vor dem zwölften oder fünfzehnten
Jahr je ein Kind — abgesehen von den Wunderkindern —
zwei Sprachen wirklich erlernt hat.
Ich räume ein, daß wenn das Sprachstudium sieb nur mit
den Worten befaßte, d. h. mit der Form oder dem Laute
Sie müssen vorgeben, daß ihr Unterricht Wert hat, weil sie
ja sonst ihr Geld umsonst erhalten würden.
^) Wappenkunde,
Lehre von der Zeitrechnung.
*) Heraldik und Chronoloia^ie spielten surZeit Rousseaus nament*
lieh in der adeligen Erziehung eine große Rolle; unter Geographie ist
hier politische Geographie, und «war besonders Topographie, zu verstehen,
die also wie Heraldik und Chronologie hauptsächlich das GedSchtnis
belastet, ohne dem Verstände Nahrung zu geben. Die GedSchtnisarbeit,
welche der geographische Unterrieht forderte, war damals um so größer,
Je buntscheckiger die damalige staatliche Gliederung war; man denke
nur f. B. an das damalige Deutsche Reich.
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dorselben, dieses Studium für die Kinder passend sein könnte;
aber indem die Sprachen die Zeichen ändern, ändern sie auch
die Begriffe^ die damit aufigedrückt werden.^) Die Geister bilden
sich nach den Sprachen^ die Gedanken nehmen das Gepräge der
einzelnen Sprachen an. Die Vernunft aliein ist gemeinsam,')
der Geist hat in jeder Sprache seine besondere Ponn,^) und
dieser Unterschied könnte zum Teil Ursache oder Wirkung der
Volkscharaktere sein; die Vermutung scheint dadurch bestätigt
zu werden, dali bei allen Xationeji ilcr Welt die Sprache dein
Wechsel der Sitten folgt und mit ihnen sich gleich bleibt oder
verändert.*)
Eine von diesen verschiedenen Formen ^) wird dem Kinde
durch den Gebrauch angeeignet; diese allein behält es dann
bis zum vernünftigen Alter. Um zwei zu haben^ müßte es
Begriffe miteinander vergleichen können; me sollte es sie aber
miteinander vergleichen^ da es kaum imstande ist^ sie zu fassen?
Jede Sache kann für dasselbe tausend verschiedene Zeichen
haben; jeder Begriff aber kann nur eine Form haben: das
Kind kann also nur eine Sprache erlernen. Und doch, be-
iiauptct man, lernt es mehrere; ich sage noch einmal — nein.
Icli iiabe solelie Wunderkinder gesehen, die fünf oder sechs
Sprachen yax sprechen glaubten. Ich habe sie nacheinander
deutsch in lateinischen^ französischen und italienischen Wen-
Verschiedene Sprachen haben nicht bloß verschiedene Wörter
für dieselbe Sache, sondern es ist mit dem anders klingenden Worte
der fremden Sprache fast immer auch ein etwas anderer Sinn verbunden,
so ds6 z. B. ein fransosisches Wort selten ganz genau durch ein ent-
sprechendes deutsches Wort wiedeigegeb^ werden kann.
^) Die menschliche Yernmift als solche ist bei allen Völkern
dieselbe.
Die Art| die Dinge aufzufassen und zu beieichnen, ist in jeder
Sprache anders.
*) In der Tat andern sich die l^rachen wie die Sitten» und zwar
wie diese bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten ver-
schieden schnell und verschieden stark.
^) Formen des Spiechens (eine von den verschiedenen Sprachen).
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düngen reden hören; sie bedienten sich in der Tat des Wort-
schatzes von fünf oder seclis Sprachen, aber sie sprachen immer
nur deutsch.^) Mit einem Worte: man gebe den Kindern so viele
Synonyma^) als man will, man ändert die Worte, aber nicht die
Sprache; immer werden sie nur eine einzige sprechen.
TJm ihre Unfähigkeit in dieser Beziehung zu verbergen,
übt man sie vorzugsweise an den toten Sprachen, bei denen
es keine dichter gibt, man nicht zurückweisen könnte. Da
diese Spradion im Umgänge seit langer Zeit außer Gebrauch
gekommen sind, begnügt man sich mit der Xaehahnmng dessen,
was man in den Büchern gelesen hat, und das nennt man „sie
sprechen". Wenn es mit dem Griechischen und Lateinischen
der Lehrer so aussieht, mag man sich ein Urteil über das der
Kinder bilden.
In der Meinung, die Erdbeschreibung zu lehren, lehrt man
das Kind nur Karten kennen: man lehrt es die Namen der
Städte, Länder und Müsse, von deren Dasein auBerhalb des
Papiers, wo man sie ihm zeigt, es keinen Begriff hat. Ich er-
innere micli, irgendwo ein Oeograj)hiebuch gesehen zu haben,
das so anfing: ,,Was ist die Welt? — Eine Kugel von Pappe."
— Das ist ganz genau die Oeographie der Kinder. Für mich ist
OS ausgemacht, daß naeli zweijalirigein TJnterrichto in der mathe-
matischen und astronomischen Geographie kein zelmjähriges
Kind nach den Begeln, die man ihm gegeben, imstande ist, den
Weg von Paris nneh Saint Denis zu finden. Es ist für mich
ausgemacht, daß kein einziges imstande ist, den Windungen der
Wege im Garten seines Vaters nach einem Plane nachzugehen,
ohne sich zu verirren. Das sind die gelehrten Herrchen, die auf
den Punkt zu sagen wissen, wo Peking, Ispahan, Mexiko und alle
Länder der WeH liegen.
Infolge einer noch liicherlicheren Verirrung läßt man sie
Geschichte studieren: man bildet sich ein, daß die Geschichte
^) Man druckt das, waa Kousseau memt, häufig auch so aus:
sie denken deutsch und sprechen fransosisch, d. h. kleiden das deutsch
Gedachte in französische Wörter.
^ Gleichbodeutende AVörter.
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ihre Fassungskraft nicht ühersteigo, da sie nur eine Zusummen-
stell nns^ von Tatsachen sei. Ahor was versteht man unter Tat-
sachen? Glaubt man, daß die Beziehungen, welche die histo-
rischen Tatsachen bestimmen, so leicht zu erfassen sind, daß
die Ideen derselben sfich ohne weiteres im Geiste der Kinder
bilden? Glaubt man^ daß die wahre Erkenntnis der Ereignisse
von der ihrer Ursachen und Wirkungen getrennt werden könne,
und daß Geschichte und Moral so wenig miteinander zu tun
haben, daß man die eine ohne die andere kennen lernen könne?
Wenn man in den Handlungen der Menschen nur äußerliche
und rein physische Bewegungen sieht, was lernt man denn in
der Oosehiehte? — ^ Ganz und gar nichts; und dieses ganz reiz-
lose Studium kann ebensowenig Vergnügen als Belehrung
bieten. Will man aber die Handlungen nach ihrer sittlichen
Seite hin würdigen, so versuche man einmal, diese Beziehungen
dem Zöglinge verständlich zu mächen, und man wird sehen, ob
die Geschichte seinem Alter angemessen ist.
Rousseau fahrt als Beleg für diese seine Ansichten folgenden
selbsterlebten Vorfall an:
Ich hatte etliche Tage auf dem Lande bei einer guten Haus-
mutter zugebracht, die auf ihre Kinder und auf die !>zielning
derselben große Sorgfalt verwandle. Eines Morgens nalim der
Erzieher in den ünterriehtsstunden des älteren Sohnes, den
er sehr gut in der alten Geschichte unterrichtet hatte, in meiner
Gegenwart die Geschichte Alexanders vor und kam dabei auf
die bekannte Geschichte vom Arzte I?hi1ippus zu sprechen^ die
man, wie sie es sicherlich wohl verdiente, im Gemälde dar*
gestellt hat.^) Der Erzieher, ein tüchtiger Mann, machte über
die Ünerschrockenheit Alexanders mehrere Beobachtungen, die
Alexander der Große erhielt^ als er krank war, ein Schreiben»
in welcliem sein Leibarzt Philippus beschuldigt wurde, daß er ihn ver-
giften wolle. Alexander glaubte jedoch der Anklage nicht; als ihm der
Arzt eine Arznei brachte, reichte er ihm zwar den Brief, trank aber
ohne Zögern, was der Arzt bereitet hatte. Das Vertrauen des Königs
wurde nicht ge1»,uscht; die Arznei wirkte gunstig, Alexander wurde
wieder gesund*
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mir durchaus nicht gefielen, die ich aber nicht angreifen wollte,
um seinem Ansehen bei seinem Zögling nicht zu schaden. Bei
Tische ließ man nach französischer Sitte den kleinen Menschen
viel plaudern. Die semem Alter natürliche Lebhaftigkeit und
die sichere Erwartung einer Belobung veranlaßten ilin 7m tausend
dummen Einfällen, unter welchen von Zeit zu Zeit einige glück-
liche Worte zum Vorschein kamen, die das übrige vergessen
ließen. Endlich kam auch die Geschichte vom Arzte Philippus:
er erzahlte sie sehr gut und recht artig. Nach den üblichen
Lobesspenden, die die Mutter verlangte und der Sohn er-
wartete, sprach man viel über seine Erzählung hin und her.
Die meisten tadelten die Tollkühnheit Alexanders; einige be-
wunderten, wie es der Erzieher getan, seine F( st igkeit und seinen
Mut: woraus ich denn scliloß, daß unter den Anwesenden
niemand begrilf, woriji eigentlich die Schönheit der Handlung
bestand. Für meinen Teii^, sagte ich zu ihnen, bin ich der An-
sicht, daß, wenn in der Handlungsweise Alexanders von Mut
oder Festigkeit nur im geringsten die Kede sein kann^ sie nichts
als ein ganz toller Einfall ist. Nun kamen alle überein und
sagten, das sei ein toller Einfall. Ich wollte antvorten und
geriet in Hitze, als eine Frau neben mir, die kein Wort ge-
sprochen hatte, mir leise ins Ohr flüsterte: Sei ruhig, Jean-
Jacques; man \ersteht dich doch üiciil. — ich sah ihr ins Ge-
sicht und schwieg betroffen.
Da ich nun nach mehreren Anzeichen vermutete, daß mein
kleiner Gelehrter von der Geschichte, die er so gut erzählt hatte,
durchaus nichts begriffen habe, nahm ich ihn nach dem Essen
nn der Hand und ging mit ihm im Park spazieren, und nachdem
ich ihn ganz ungestört ausgefragt hatte, fand ich, daß er mehr
als irgend jemand den so sehr gerühmten Hut Alexanders be-
wunderte: wiSt ihr aber, worin er diesen Mut erblickte? Einzig
darin, daß er ohne Zaudern, ohne den geringsten Widerwillen
zu zeigen, einen übelschmeckenden Trank auf einen Zug geleert
hatte. Das arme Kind, dem man keine zwei Wochen zuvor
Arznei eingegeben hatte, die es nur mit größter Überwindung
nahm, hatte noch den Nachgeschmack im Munde. Tod und Ver-
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giftuiig galten bei ilim mir als iinangenuhme Eniptindurigen, ein
anderes Gift als Sennesblätter gab es bei ihm nieht. Doch hatte,
allerdings die Festigkeit des Helden auf sein junges Herz einen
großen Eindruck gemacht^ und bei der nächsten Arznei» die es.
einnehmen müßte, hatte es sich fest vorgenommen ein Alc^
xander zu sein. Ohne mich aqf Erklärungen einzulassen» die
offenlMir über seine Fassungskraft waren» befestigte ich es in
seinem löblichen Vorsätze, und bei mir selbst über die hohe
Weisheit der Väter und Mütter lachend, die ihre Kinder Ge-
schichte zu lehren meinen, kehrte ich heim.
Wie jore^en das Studium der Gescbichte erklärt sich Rousseau
auch gegen die Lektüre der in der damaligen französischen Erziehung
(teilweise selbst noch in der heutigen) sehr beliebten Fabeln von La
Eontaine; er sagt hierüber:
Emil wird nie etwas auswendig lernen, nicht einmal Fabeln,
auch die von La Fontaine nicht, so kindlich und rei/f^nd sie
sind;^) denn die Worte der Fabeln sind ebensowenig die
Fabeln selbst, als die Worte der Geschichte Geschichte sind.
Wie kann man so kurzsichtig sein, die Fabeln als die Moral der
Kinder zu bezeichnen» ohne zu bedenken, daß dm Einkleidung
sie nicht nur unterhält» sondern auch täuscht» daß sie» durch.die
Dichtung verführt» die Wahrheit aus den Händen lassen und
so die Mittel, die man anwendet, um ihnen die Belehrung an-
genehm zu machen, sie zugleich verhindern, Nutzen daraus zu
ziehen? Die Fabeln können für Erwachsene belehrend sfin;
den Kindern aber muß man die Wahrheit sagen sobald
man sie mit einem Schleier verhüllt, geben sie sich nicht mehr
die Mühe, ihn zu heben.
Man läßt alle Kinder die Fabeln von La Fontaine
^) Die Fabeln La Fontaine« sind zwar unterhaltend, aber nicht
gerade kindlich; Rousseaa gesteht hier seinem berühmten Landsmaime
mehr zu, als er verdient.
^ Sobald sie sie verstehen und es auch .'^(»rrst timlicli ist, muß
man hinzufügten; im übrigen ist die BciiKi kuu^'- richtig, clali die Kinder
^ern an dem Äußerlichen hängen bleiben und die tiefer liegende Wahr-
heit gar nicht fassen.
Echttlaa8gab«n piftdagogisoUer Klassiker. KeU 6. 5
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lernen, und doch versteht sie kein einziges. Verstünden sie die-
selben, so wäre es noch schlimmer; denn ihre Moral ist so wenig
einfach, diesem Alter so wenig angemessen, daß sie es mehr
zum Laster als zur Tugend führen würde. 0 Schon wieder Para-
doxen^ wird man sagen; meinetwegen: sehen wir, ob es nicht
dennoch Wahrheiten sind!
Boussöau bespricht nun eingehend die bekannte Fabel von dem
Baben» der einen Käse gestohlen bat, und dem iFuchs, der ihm denselben
abschmeichelt, in der Fassung, die ihr La Fontaine gegeben hat und
schließt diese Besprechung mit folgenden Worten:
Ich frage, ob man sechsjährige Kinder lehren soU^ duß es
Menschen gibt^ die^ um ihres Vorteiles willen schmeicheln oder
lügen? Man dürfte sie höchstens lehren, daß es Spötter gibt,
welche die kleinen Jungen auslachen und liiniur lirrcm Rücken
sich über ihre dumme Eitelkeit lustig machen: aber der Käse
verdirbt alles; man lehrt sie nicht so sehr, den Käse nicht aus
ihrem Schnabel fallen zu lassen, als vielmehr, ihn anderen
aus dem Schnabel zu locken. Dies ist mein zweites Paradoxou,
und zwar nicht das bedeutungsloseste.
Beobachte einmal die Kinder^ wenn sie Fabeln lernen,
und du wirst sehen, daß sie fast immer, wenn sie überhaupt
imstande sind, eine Anwendung davon zu machen, auf eine den
Absichten des Verfassers entgegengesetzte geraten und, anstatt
sich hinsichtlich des Fehlers in acht tn nehmen, wovon man
sie heilen oder fernhalten will, sich auf die Seite des Lasters
stellen, das aus den Fehlern der anderen Nutzen zieht. In der
obigen Fabel machen sie sich über den Raben lustig, aber den
Fuchs gewinnen sie alle lieb. Der Mensch mag sich nicht er-
niedrigen; er wählt immer die bessere Rolle; so wählt die Eigen-
liebe und das ist eine sehr natürliche WahL
In allen Fabeln, in welchen der Löwe eine Rolle spielt,
ist er natürlich die glänzendste Person; das Kind will also
durchaus Löwe sein, und wenn es irgendeine Verteilung vor-
zunehmen hat, wird es, seinem Vorbilde getreu, dafür sorgen,
^) Hier widerspricht Housseau seihat der Ansichti daß La
Foutaines Fabeln kindlich seien.
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daß alles i Ii in zulallo. Aber wenn die Mücke den Löwen über-
wältigt, dann ist die Sache anders; dann ist das Kind nicht mehr
Löwe, sondern Mücke. Es lernt eines Tages diejenigen mit
Nadelstichen töten, die es nicht offen anzugreifen wagt.
Nachdem Koussean verBichert, daß er dem Kuhme La Fon-
taine s als Schriftsteller nicht sn nahe treten wolle und nur für Kinder
dessen Fabehi nicht empfehlenswert sind, fährt er fort:
Indem ich so Yon den Kindern alle Pflichten fernhalte^
entferne ich auch die Quellen ihrer gröBten Plage, die Bücher.
Das Lesen ist eine Geißel für die Kinder, und doch ist es fast
die einzige Beschäftigung, die man ihnen zu geben weiß. Emil
wird im zwölften Jahre kaum erfahren, was ein Buch ist. Aber,
wird man sagen, er wird doch wenigstens lesen lernen sollen.
Allerdings: er soll lesen lernen, wenn das Lesen ihm nützlich
sein wird; bis dahin dient es nur dazu, ihn verdrießlich zu
machen.
Wenn man von den Kindern nichts durch Gehorsam cr-
üwingt, eo ist die Folge, daß sie nichts lernen, vovon sie nicht
einen wirklichen und augenblicklichen Vorteil sehen, sei es
nun Vergnügen oder Nutzen; welcher Beweggrund sollte sie
sonst zum Lernen veranlassen ? t)ie Kunst, mit Abwesenden zu
sprechen und sie zu verstehen, die Kunst, ohne Vermittler
seine Gefühle, seinen Willen und seine Wünsche fernhin mit-
zuteilen, ist jedoch von einem Nutzen, der jedem Alter ver-
ständlich gemacht wcrtlon kann. Es mußte wunderbar genrnj
zugehen, daß diese so nützliche und angenebmo Knnst eine
Qual der Kinder geworden ist. Aber man zwingt sie eben, sich
wider Willen damit zu beschäftigen, und wendet das Lesen zu
Zwecken an, von welchen die Kinder nichts verstehen. Dem
Kinde wird sehr wenig daran gelegen sein, ein Werkzeug zu
yerroUkommnen, mit dem man es quält; man sorge aber dafür,
daß dieses Werkzeug zu seiner Ergötzung diene, und bald wird
es sich selbst gegen deinen Willen damit beschäftigen.
Man macht sich ein großes Geschäft daraus, die besten
Metboden für das Lesenlernen zu suchen; man erfindet Lese-
kasten und Karten und macht das Zimmer des Kindes zu einet
5'
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Buchdruckerwerkstätte. Lücke will, es solle mit Würfeln
lesen lernen, Ist das nicht eine herrliehe Erfindung? Wie schade
um sie! Ein si(3hereres Mittel als all diese, das man aber immer
wieder vcrgiiit, ist die Lust zu lernen. Flöße dem Kinde
dieses Verlangen ein und dann laß deine Kasten und Würfel
beiseite; denn dann wird jede Methode ihm recht sein.
Rousseau empfiehlt sodann, dem Zögling Briefe empfangen zu
lassen, die Einladungen vu dgl. enthalten; er kann sie nicht lesen,
erf Shrt daher den Inhalt zu spat und hat nun selbst den Wunsch lesen
SU lernen.
Knr ein Wort noch^ in dem ein wichtiger Grundsatz liegt,
nämlich» daß man gewöhnlich das, was man nicht mit zu großer
Hast erstrebt, sehr sicher und sehr bald erreicht. Ich nehme
es fast als gewiß an, daß Emil vor seinem zehnten Jahre voll-
kommen lesen und schreiben kann, gerade weil ich so wenig
Wert darauf leL'-e, daß er vor seinem fünfzehnten so weit sei;
aber ich möchte lieber, daß er nie lesen lernte, als wenn ich
dieses Wissen um den Preis alles dessen kaufen müßte, was ihm
das Leben nützlich macheu kann:^) wozu soll ihm das Lesen
nützen, wenn man es ihm für immer verleidet hat!
Je mehr ich auf meiner Methode der Untätigkeit bestehe,
desto mehr fühle ich die Einwürfe, die man dagegen erheben
wird. „Wenn dein Zögling von dir nichts lernt, wird er von
andern lernen. Wenn du nicht durch die Wahrheit dem Irrtum
zuvorkommst, wird er sich Lügen einprägen: die Vorurteile,
die du von ihm fernhalten willst, wird er aus seiner Umgebung
aufnehmen; durch alle seine Sinne werden sie in ihn eindringen;
sie werden entweder seine Vernunft Torderben, noch bevor sie
sich gebildet hat, oder sein durch lange T^ntätigkeit ein-
geschläferter N'crstaud wird sich in dem StolFlichcn verlieren.^)
Die Ungewohntheit des Denkens in der Kindheit nimmt die
Fähigkeit dazu für das ganze übrige Leben."
Rousseau halt es für überflüssig, diese Einwurfe zu beantworten.
Wenn er nicht (yv i n liest, nützt es ihm nichts, daß er lesen kann.
^) Der Zögling wird hlo& Stoff aufnehmen, ohne ihn denkend au
vorarbeiten.
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Dagegen beruft er sich hesuglich der von ilim empfohlenen, vorwiegend
körperlichem Erziehung auf die Wilden, die er wegen ihrer scharfen
Naturbeobachtung und ihrer körperlichen Qewand^eit als Vorbilder
Emils betrachtet, und auf die Spartaner, die ihre Kinder au Wildfangen
erzogen und sogar angeleitet hätten, ihr Mittagsbrot zu stehlen, um
ihren Scharfsinn zu üben. Diese Art der Erziehung hatte den Vorteil,
daß man den Zögling lenken könne, während er scheinbar yoUkommen
frei sei. Um aber zu zeigen, dafi selbst auf verzogene Kinder ein ähn-
liches Verfahren anwendbar sei, erzählt Rousseau folgendes eigene
Erlebnis:
Ich hatte einmal -eia paar Wochen hindurch einen Knaben
zu mir genommen^ der nicht bloß daran gewöhnt war^ seinen
eigenen Willen zu tun, sondern auch^ ihn bei jedermann durch-
zusetzen, und der infolgedessen voller Launen war.*) Um meine
Nachgiebigkeit auf die Probe zu stellen, wollte er gleich um
ersten Tage um Mitternacht aufstehen. Während ich am
festesten schlafe, si)riügt er aus dorn Bett, zieht sein Haus-
kleid an und ruft mich. Ich erhebe mich und mache Licht;
mehr wollte er nicht; nach Verlauf einer Viertelstunde über-
mannt ihn der Schlaf und er legt sich, mit dem Versuche zu-
frieden^ wieder zu Bette. Zwei Tage darauf wiederholt er ihn
mit dem nämlichen Erfolge und ohne das geringste Zeichen
der Ungeduld von meiner Seite. Als er mich beim Niederlegen
küßte, sagte ich ihm in sehr ernstem Tone : Mein junger Freund^
das ist ganz schön so; komme mir aber damit nicht wieder! —
Dieses Wort erregte seine Neugierde; gleich an andern Tage
wollte er sehen, ob ich mich unterstehen würde, ihm nicht will-
fähritj zu sein, und verfehlte daher nicht, zur selben Stunde
aufzustehen und mich zu rufen. Ich fragte ihn, was er wolle.
Er sagte mir, er könne nicht schlafen. Um so schlimmer, er-
wiederte ich und rührte mich nicht. Er bat mich, das Licht an-
zuzünden. „Wozu denn?" — und ich rührte mich noch immer
nicht. Dieser lakonische Ton setzte ihn nach und nach in Yer<
legenheit. Er schlich ia.uf den Zehen, den Feuerstein zu suchen,
und tat, als schlüge er Feuer; ich konnte mich nicht enthalten
zu lachen, als ich ihn auf seine eigenen Finger schlagen hörte.
2) Ea war der Soliii einer Frau Uupiu.
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Als er sioih endlich überzeugt hatte^ daß er damit nicht zustande
kommen werde, brachte er mir das Feuerzeug ans Bett; ich sagte
ihm, ich brauchte es nicht, und kehrte mich auf die andere
Seite. Da fing er an, wie wahiibinnig durchs Zimmer zu rennen,
7.\i schreien, zu singen, allerhand Lärm zu machen, an Tisch
und K^tühle zu stoiien^ Ireiüch mit groJier Behutsamkeit; doch
fing er darüber ein großes Geschrei an, in der Hoffnung, mich
doch in Unruhe zu versetzen. Alles das verfing nichts und ich
sah wohl^ daß er auf schöne Ermahnungen und Zornesausbrüche
rechnete^ auf diese Kaltblütigkeit aber durchaus nicht ge-
faßt war.
Da er indessen entschlossen war^ meine Geduld durch Hals-
starrigkeit zu besiegen, setzte er seinen Lärm so erfolgreich
fort, daii ich am Ende doch in Wut geriet, und da ich voraussah,
daß ich durch unzeitiges Ereifern alles verderben würde, legte
ich mir meinen Plan anders zurecht. Ohne ein Wort zu sagen,
stand ich auf und ging nach dem Feuerstein, den ich nicht fand;
ich frage ihn danach; er gibt ihn mir, außer sich vor Freude,
endlich über mich triumphiert zu haben. Ich schlage Feuer und
zünde Licht an, nehme den kleinen Kerl an der Hand und führe
ihn ruhig in ein anstoßendes Gelaß, dessen Läden gut geschlossen
sind und wo es nichts zu zerbrechen gibt; ich lasse ihn hier ohne
Licht, schließe hinter ihm die Türe mit dem Schlüssel ab und
lege mich wieder in mein Bett, ohne ihm ein einziges Wort ge-
sagt /u haben. 'Man braucht nicht zu fragen, ob nun ein Lärm
losbrach; ich hatte darauf gerechnet und ließ mich durchaus
nicht aus der Fassung bringen. Endlich legt sich der Lärm; ich
horche auf und höre, wie er sich zurechtlegt, und beruhige
mich. Am andern Morgen trete ich bei Tageslicht in das Gelaß
und finde den kleinen Trotzkopf auf einem Ruhebette in tiefem
Schlafe, den er nach so großer Anstrengung sehr nötig haben
mußte.
Damit war aber die Geschichte noch nicht zu Ende. Die
Mutter erfuhr, daß ihr Kind zwei Dritteile der Nacht außer
dem Bette zugebracht habe. Nun dachte man sofort an das
Schlimmste, das Kind war so gut wie tot. Der Junge fand die
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Gelegenheit günstige sich zu rächen; er stellte sich krank, ohne
zu ahnen, daß er dahei nichts gewinnen werde. Man rief den
Arzt. Zum Ud glück für die Mutter war der Arzt ein Spaßvogel,
der sich an ihrem Schrecken weidete und deshalb alles darauf
anlegte, ihn noch zu vermehren. Doch sagte er mir ins Ohr:
Lassen Sic mich nur machen; ich verspreche Ihnen, daß der
Jiin<re lur einige Zeit von der Laune krank zu sein, kuriert
werden soll. — In der Tat wurden Diät und Zuhausebleiben
verordnet und der Junge dem Apotheker ans Herz gelegt. Mir
tat es wehe, daß die ganze Umgebung mit der armen Mutter ihr
Spiel trieb, mich allein ausgenommen, doch auf mich war sie
nun erbost, eben weil ich sie nicht hinterging.
Boussean erzählt sodann, wie derselbe Junge allein, ohne seinen
Ersiehefi auszugehen versucht, weil dieser nicht Zeit und Lust hat, ihn
zu b^leiten, dabei aber infolge der von seinem Erzieher schon vorher
getroffenen Veranstaltungen solche Beschämungen erleideti daß ihm die
Lust zur Wiederholung benommen wird.
Rousseau spricht hierauf von der Kleidung seines Zöglings,
wobei er die damalige französische Kleidung als eng, unbequem und darum
ungesund bekämpft, von dem Trinken, besonders bei Erhitzung, das
nicht verwehrt werden dürfe, endlich vom Schlafe der Kinder. Hierüber
sagt er folgfflddes:
Kinder brauchen viel Schlaf, weil sie außerordentlich viel
Bewegung machen. Eines dient dem andern zur Ausgleichung;
auch sieht man, daß sie beider bedürfen. Die Zeit der Ruhe ist
die Nacht; das zcifjt die Natur selbst an. Es ist eine feststehende
Erfahrung, dali der Schlaf ruhiger und sanfter ist, wenn die
Sonne unter dem Horizont stellt, während die von den Sonnen-
strahlen erwärmte Luft unseren Sinnen keine so tiefe liuhe
gestattet. So ist es denn gewiß die wohltätigste Gewohnheit^ mit
der Sonne aufzustehen und mit ihr sich zur Huhe zu begeben.
Daraus folgte daß in unseren Himmelsstrichen der Mensch und
alle Tiere im allgemeinen im Winter eines längeren Schlafes
bedürfen als im Sommer. Aber das Leben in der bürgerlichen
Gesellschaft ist nicht so einfach^ so natürlich^ so frei von ge-
waltsamen Störungen und Zufällen, daß man den Menschen
au eine gleit hfürniigo Lcbensordnuiig gcwülinon düiftc, derart'.
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daß sie ihm unentbehrlich würde. Man muß sich allerdings einer
Lebensardnnng unterwerfen; aber die oberste Begel ist^ daß
man sie ohne Gefahr muB übertreten können, wenn es die Um-
stände erfordern. Du darfst also deinen Zögling nicht im-
bedaehterweise an einen ruhigen, nie gestörten Schlaf gewöhnen,
der nie eine Unterbrechung fvliite. Überlasse ihn aiilaiig,< ohne
Ein.schränkung dem Gesetzü der Natur; aber vorgiß nicht, daß
er in unserer Gesellschaft über diesem Gesetze stehen muß, daß
er imstande sein nniß^ spät zu P)etto zu gehen, früh aufzustehen,
plötzlich aufzuwa(;hen und die Nächte auf den Beinen zuzu-
bringen, ohne ein Ungemach zu spüren. Beginnt man frühzeitig
damit und geht man unmerklich und stufenweise weiter, so be-
fähigt man den Körper für Dinge^ die ihm gefährlich werden,
wenn man ihn erst dann ihnen aussetzt^ nachdem er schon voll-
ständig ausgebildet ist.
Es ist von Wichtigkeit, daß man sich von vornherein an
schlechtes Lager hei Nacht gewöhne; dann wird man nie mehr
ein schlechtes I^ett finden. Ein abgehärtetes Leben, einmal zur
Gewohnheit geworden, vermehrt im allgemeinen die angenehmen
Empfindungen; ein weichliches Leben dagegen verschafft uns
eine sehr große Menge unangenehmer. Zu zart auferzogene
Leute können nur auf Flaumkissen in Schlaf kommen: Leute,
die gewohnt sind, auf Dielen zu schlafen, finden den Schlaf
überall: wer einschläft, sobald er sich niederlegt, findet kein
Bett hart.
Ro aase au empfiehlt sodann, die £inder an plötzliches Aufwecken,
ja nach dem Beispiele der Wilden selbst an Hunger, Schlfige, Brandl-
wunden u. dgl. EU gewöhnen und selbst an den Gedanken des Todes,
damit sie ihn mekt fürchten. Bezüglich der luipfung schwankt Bousseau,
ob er sie empfehlen oder widerraten solL Sehr wichtig scheint ihm» daß
Emil schwimmen lerne.
Hierauf geht er auf die Übung der Sinne über; er sagt hiervon:
Es gibt rein natürliche und mechanische Übungen, die
dazu dienen, den Körper kraitig zu machen, ohne aher der
Urteilskraft irpfendwie zu nül /.on. Scliwimmen, laufen, springen,
den Kreisel treiben und Steine werfen, das ist alles recht gut;
aber haben wir denn bloß Arme und Beine? haben wir nicht
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auch Aiigcn und Ohren ? und sind diese Organe zum Gebrauche
der ersteien (der Arme nnd Beine) etwa überflüssig? Man übe
also nicht bloß die Kräfte, sondern auch alle Sinne, welche
dabei in Bewegung treten; iiiau ziehe ans jedem den größt-
11101,^1 ie he n Vorteil, sodann wende man den einen zur Richtig-
stellung des anderen an. Man messe, zähle, wäge, ver^k^iehe.
Man wende Kraft erst an, nachdem man den Widerstand
gemessen: man richte es immer so ein, daß dem Gebrauche der
Mittel die Schätznng der Wirkung vorausgehe. Das Kind muß
Wert darauf legen, niemals ungenügende oder überflüssige
Anstrengungen zu machen.^) Gewöhnt man es so, die Wirkung
aller seiner Bewegungen vorauszusehen und seine Irrtümer
durch Erfahrung zu berichtigen, so ist es doch wohl klar, daß
es um so urteilsfähiger werden wird, je tätiger es ist.
Es iiandelt sich darum, eine Masse von der Stelle zu
bringen: nimmt es einen zu langen Hebel, so verbraucht es
zuviel Bewegung; nimmt es ihn zu kurz, so wird es nicht genug
Kraft haben. Die Erfahrung wird es lehren, gerade den Hebe-
baum zu nehmen, den es braucht. Diese Einsicht geht also nicht
über sein Alter. Es soll eine Last getragen werden : will es sie
so schwer nehmen, als es sie tragen kann, aber sich auch nicht
an mehr wagen, aU es etwa heben kann, wird es da nicht ge-
zwungen sein, mit dem Auge das Gewicht derselben zu schätzen ?
Kann es Massen vom selben Stoff, aber verschiedener Größe
vergleichen, so wähle es unter Massen von derselben Größe,
aber von verschiedenem Stoffe: dann wird es sich wohl bemühen
müssen, ihr Eigengewicht zu vergleiehen. Ich habe einen sehr
gut erzogenen jungen ^lenschen gesehen, der erst nach vor-
genommener Prol)e glauben wollte, dall em Eimer voll eichener
Hobelspäne weniger schwer sei als derselbe Eimer voll Wasser.
Nicht von allen unseren Sinnen ist der Gebrauch in
gleichem Maße in unsere Macht gegeben. Es gibt einen, nämlich
das Gefühl, desaen Tätigkeit im wachen Zustand niemals
^) Eh liegt in der Natur der Kinder, bfi allom, w:is «ie tun, eher
suvicl als s^uwpnig' Kraft anzuwenden. Die Spannanikcit in der Ver-
wendung der Kräfte, die Rousseau den Kindern zumutet, widerstrebt ihnen.
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aufhört; er ist über die ganze Oberftädie imseres Ijeibes aus-
gebreitet, wie eine ständige Wache, die ihm von allem, was ihn
beschädigen kann, Kenntnis gibt. Von ihm erlangen wir auch
durch jene beständige Übung, wohl oder übel, am frühesten
Erfahrung und für ihn brauchen wir deshalb weniger Pllcge.
Indessen bemerkt man doch, daij uic Blinden ein sicliereres
und feineres Gefühl haben als wir, weil sie, nicht geleitet durch
das Gesicht, not^aMlniiigon aus dem erst^;eminiiteii Sinn allein die
Urteile gewinnen müssen, welche uns der andere liefert. Warum
übt mStU uns denn nichts wie sie, ku Finstem zu gehen, die Körper
zu erkennen, die wir greifen können, über die Gegenstände zu
urteilen, die ims umgeben, mit einem Worte, bei Nacht und
ohne Licht alles zu verrichten, was sie bei Tage, aber ohne
Augenlicht verrichten? Solange die Sonne am Himmel ist,
haben wir über sie den Vorteil; in der Finsternis hingegen sind
sie unsere Führer. Die Hälfte unseres Lebens sind wir blind,
mit dem Unterschiede jedoch, daß die wahrhaft lilinden sich
immer zurechtzufinden wissen, während wir bei dunkler Nacht
keinen Schritt 711 tun wairen. Dafür hat man Licht, wird man
mir einwenden. Wie ? immer und immer künstliche Hilfsmittel ?
Wer steht euch dafür, daß sie euch immer nach Bedarf zur
Hand sein werden? Ich wenigstens will lieber, daß Emil seine
Augen in den Fingerspitzen habe als in einem Lichtzieherladen.
Rottsseau gibt nun eingebende Ratscbläge f ür dieae Übangen im
Finsteriii in denen er auch eine Schntzwehr gegen aberj^läabisdie Furcht
erbHckt; er seigt, wie hierbei das Gefühl (der Tastsinn) den Gesichtssiim
unterstütssen künne, und fUhrt fort:
Da ein ausgebildeter Tastsinn dem Gesichte zu Hilfe
kommt, warum sollte er nicht bis zu einem gewissen Punkte
auch das Gehör unterstützen, da die Töne in den klingenden
Körpern Erschütterungen hervorrufen, die dem Gefühle wahr-
nehmbar sind? Legt man die Hand auf den Leib eines Yiolon-
cells, so kann man ohne Hilfe der Augen und Ohren bloß nach
der Art, wie das Holz schwingt oder dröhnt, erkennen, ob der
Ton, den es gibt, tief oder hoch ist, ob er auf der Singsaite oder
auf der Baßsaite gestrichen wird. Übt man die Sinne in solchen
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Untersch ei düngen, so 5^\veiflo ich nicht, daß man mit der Zeit
so feinfühlig werden kann, daß man ein ganzes Stück mit den
ilngern zu hören vermag.
Um dem Tastsinn seine Feinheit xm erhalten, empfiehlt Kousseau
unter andern aaoh das Barfußlatifen; er sa^ hierüber:
Warom soll mein Zögling genötigt sein, unter den Füßen
immer eine Ochsenbant zu tragen? Was wäre Schlimmes dabei,
wenn im Notfall seine eigene als Sohle dienen könnte? Es ist
einleuchtend, daß an diesem Orte die Empfindlichkeit der Haut
nie zu etwas gut ist und manchmal bedeutend schaden kami.
Als die Grenfer mitten im Winter um Mitternacht durch den
Feind in ihrer IStadt aufgeschreckt wurden, fanden sie früher
die Gewehre als ihre Schuhe. Hätte keiner von ihnen barfaß
gehen können, wer weiß, ob Genf nicht eingenommen worden
wäre ? ^)
Laßt uns daher den Menschen gegen unvorhergesehene
Zufälle wappnen. Emil möge am Morgen zu jeder Jahreszeit
im Zimmer, auf der Treppe und im Garten barfuß umherlaufen;
ich werde ihn durchaus nicht etwa zurechtweisen, sondern ihn
nachahmen; nur werde ich dafür sorgen, daß kein Glas auf dem
Wege ist. Von den Arbeiten und Spielen für die Hand werde
ich bald reden. Übrigens soll er alle Schrittarten lernen, welche
die Bewegungen des Körpers erleichtern, er soll in allen
Stellungen sich leicht und sicher halten lernen; er soll in die
Weite und in die Höhe springen, einen Baum erklettern, eine
Mauer übersteigen können; immer soll er sein Gleichgewicht
linden; alle seine Bewegungen und Gebärden sollen nach den
Gesetzen des Schwerpunktes eingerichtet sein, lange bevor die
Statik ihm darüber Aufklärung bietet.^) An der Art, wie sein
Fuß auftritt und sein Leib auf den Beinen ruht, muß er
merken, ob er gut oder schlecht steht. Eine sichere Haltung
sieht immer gut aus, und die festeste Stellimg ist immer die
eleganteste. Wäre ich Tanzlehrer, so würde ich statt meinen
Zögling ewig mit Luftsprüugen zu beschältigen, ihn an den Fuß
*) Durch den Herzog von Savoyen im Jahre 1602.
Dies ist im Grunde bei jedermann der Fall.
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ein 08 FclAons fuhren. Hier würde ich ihm zeigen^ welche
Haltung' man annehmen^ wie man Leib und K.opf tragen,
welche Bewegung man machen, wie man jetzt den Fuß und
jetzt die Hand aufsetzen muß, um den abschüssigen, holperigen
und rauhen Pfaden mit Leichtigkeit zu folgen und sich von
Spitze zu Spitze zu schwingen, beim Aufsteigen sowohl als
beim Herabsteigen. Zum Vebenbiihler einer Gemse würde ich
ihn lieber machen als zum Ballettänzer.
So sehr der Tastsinn seine Wirksamkeit auf die nächste
Umgebung des Menschen beschränkt, ebensosehr erstreckt das
Gesicht die seinige über den Kreis desselben hinaus. Dadurch
wird aber diese trügerischer. Mit einem Blicke umfafit der
Mensch die Hälfte seines Gesichtskreises; wie sollte man bei
dieser Menge gleichzeitiger Sinneswahrnehmuugen und daraus
entspringender Urteile sich nicht da oder dort täuschen? So
ist denn das Gesieht von allen unseren Sinnen der an Irr-
tümern reichste, gerade weil er der wciireiciiendste ist und
weil seine Verrichtungen, mit denen er allen andern weit
vorauseilt, zu ra??ch und zu umfassend sind, um durch jene
berichtigt zu werden. Ja noch mehr; die Täuschungen der
Perspektive sind uns sogar notwendig, um zur Erkenntnis der
Ausdehnung und zur Yergleichung der einzelnen Teile zu
gelangen. Ohne Gesichtstäuschungen würden wir nichts als
fern erkennen; ohne die Abstufungen der GröBe und der Be-
leuchtung würden wir keine Entfernung schätzen können^ oder
es gäbe vielmehr keine für uns. Wenn von zwei Bäumen der
eine, weicher hundert Sehritte entfernt ist, uns ebenso groß
und ebenso deutlich erschiene wie einer, der nur zehn Schritte
entfernt ist, würden wir sie nebeneinander stellen. Wenn wir
alle Dimensionen der Gegenstände in ihrem wirklichen Maße
sähen, würden wir gar keinen liaum sehen und alles schiene
uns auf der Fläche unseres Auges zu stehen.
Um die Grüße der Gegenstände und ihre Entfernung zu
beurteilen^ hat der Gesichtssinn nur ein einziges Maß^ nämlich
die Oifnung (Größe) des Gesichtswinkels in unserem Auge/)
^) Dies ist nicht ganz richtig. Entfernte Gegenstände erscheinen
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und da diese ütinuiig die einfache Wirkung zweier zusammen-
wirkender Ursachen ist, so läßt das dadurch hervorgerufene
Urteil die einzelne Ursache unentschieden, oder es wird not-
wendig fehlerhaft. Denn wie soll man vom bloßen Sehen unter-
scheiden, ob der Winkel, unter welchem ich einen Gegenstand
sehe, und welcher kleiner ist als ein anderer, dadurch entstand,
daß der gesehene Gegenstand in der Tat kleiner oder dadurch,
daß er entfernter ist?
Hier ist also ein dem früheren entgegengesetzter Weg
einzuschlagen: anstatt die Siunesempfindung zu vereinfachen,
muß man sie mit einer anderen zusammenhalten und berieh-
tigen, das (lesichtsorgan dem Oefühlsorgan unterordnen nnd
sozusagen die Voreiligkeit des ersten Sinnes durch den schwer-
fälligen und abgemessenen Gang des zweiten einschränken.
Wenn wir uns nicht an dieses Verfahren binden wollen, sind
unsere Schätzungen nach dem Augenmaße sehr ungenau. Wir
haben keine Sicherheit im Blicke für das Schätzen der Höhen,
Längen, Tiefen und Entfernungen; der Beweis aber, daß dies
nicht von einem Fehler des Sinnes, sondern von der Anwendung
desselben herrührt, ist der Umstand, daß Ingenieure, Feld-
messer, Baumeister, Manrer und Maler in der Regel ein viel
sichereres Auge haben als wir und die Kaummaße mit größerer
Richtigkeit schätzen: da ihnen nämlich ihr Bernf darin Er-
fahrungen an die Hand gibt, die wir zu erwerben versäumen,
gleichen sie die Mehrdeutigkeit des Gesichtswinkels mit Hilfe
der begleitenden Erscheinungen^) aus, welche das Verhältnis
HUB nicht bloß kleiner, sondern auch anden, nSmlich im allgemeinen
schv^oher beleuchtet, nnd anders, nSmlich im allgemeinen lichter nnd
gleichmäßiger gefärbt. Infolge dieser Erscheinungi welche als Luft-
perspektive bekannt ist, erkennen wir von drei Bergen, die uns gleich
groß also unter demselben Gesichtswinkel encheinen, demjenigen, an
welchem noch dunkelgrüne Wälder von hchtgrünen Wiesen und gelben
Getreidefeldern unterschieden werden können, als den nächsten, den ein-
färbig dunkelblauen als entfernter, den lichtblauen, vielleicht sogar
weißlichblauen als den entferntesten.
1) Zumeist wohl eben mit Hilfe der in der vorhergehenden
Anmerkung erwähnten Luftpcrspcktive..
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der beiden Ursachen dieses Winkels für ihre Augen Tie! genauer
bestimmen.^)
Was den Leib zu einer zwanglosen Bewegung veranlaßt,
ist bei Kindern immer leicht durchzusetzen. Durch tausenderlei
Mittel kann man ihr Interesse am Messen, Erkennen und
Schätzen von Entiernungen anregen. Da ist ein sehr hoher
Kirschbaum: wie wollen wir es anfangen, um Kirschen zu
pflücken? Kann man wohl die Leiter aus der Scheune dazu
brauchen? Da ist ein sehr breiter Bach: wie wollen wir
hinüberkommen? Wird eines Ton diesen Brettern über beide
Ufer reichen? Wir möchten gerne von den Fenstern des
Schlosses aus in den Schloßgraben fischen: wie viele Elafter
lang muß unsere Leiter sein? Ich möchte zwischen zwei Bäumen
eine Schaukel machen: wird ein vSeil von zwei Klaltern lang
genug sein? Ich höre, daß unser Zimmer im anderen Hause
fünfundzwanzig Quadratfuß haben soll: wird es uns wohl recht
sein? Ist es größer als dieses? Wir sind sehr hungrig; dort sind
zwei Dörfer: in welchem von beiden können wir früher zum
Essen gelangen ? u. dgl. m.
Eouseeau e»Shlt sodann, wio Emil dnroh das Beispiel von
Dor^ungen Lust vom Wettlaufen bekommt. Hierbei wird ihm zuerst
der Si^ errleichtert, dann immer mehr erschwert. Im Anschluese hieran
M
bespricht Rousseau die Übungen im Messen und Schätasen von Ent-
fernungen.
Man kann die Ausdehnung und die Gröfie der Körper
nicht gut beurteilen, wenn man nicht auch ihre Gestalt erkennt
und selbst nachbilden lernt; denn im Grunde beruht diese
Kenntnis durchaus nur auf den Gesetzen der Perspektive, und
ohne irgendwelchen Begriff von diesen Gesetzen kann man,
was Ausdelmung hat, nicht nach der Erscheinung (danach, wie
es sich dem Auge darstellt) beurteilen. Die Kinder haben eine
große Neigung zur Nachahmung und versuchen alles zu zeichnen;
mein Zögling müßte mir diese Kunst jedenfalls pflegen^ nicht
gerade um der Kunst selbst willen, sondern um ein sicheres
') E.keunen lassen, ob der Gregeustand kleiu erscheiut, weil er
wirklich kleiu oder weil er fem ist.
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Auge und eine gewandte Hand zu bekommen; es liegt über-
haupt sehr wen ig daran, ob er diese oder jene Fertigkeit besitze,
wenn er nur die Scliiirfc der Sinne und die gute körperliche
Gewöhnung erhängt, die man durcli diese Übnng gewinnt. Ich
werde mich daher wohl hüten, ihm einen Zeichenlehrer zu
geben, der ihn nur N'achgebildetes nachbilden und nur nach
Zeichnungen zeichnen ließe: ich verlange, daß er keinen andern
Lehrer habe als die Natur^ keine andere Vorlage als die
Gegenstände selbst. Ich verlange, daB er das Original seihst
vor Augen habe, nicht das Papier, auf dem es dargestellt ist;
er soll ein Haus nach einem Hause, einen Baum nach einem
Baume, einen Menschen nach einem Menschen zeichnen, damit
er sich gewöhne, die ]\örper und die Art, wie sie sich dem
Auge darstellen, gut zu beobachten und nielit ial-* lie und her-
kömmlicho Xar-hbildungen für wirkliche "N'aeh>)il(]er zu lullten.
Ich werde ihn selbst davon abhalten, nach dem Gedächtnis
ohne Anschauung der Gegenstände zu zeichnen, bis durch
häufige Beobachtungen ihre genauen Umrisse sich fest in sein
YorstellungsTermögen eingepragt haben, damit er nicht der
wirklichen Gestalt der Dinge wunderliche und phantastische
Formen unterschiebe und die Kenntnis der Verhältnisse und
den Geschmack für die Schönheit der Natur verliere.
Ich weiß wohl, daß er auf diese Weise lange sudeln wird,
ohne etwas Erkennbares zustande zu bringen, daß er sich
gefällige Umrisse und die leichte Handführung der Zeichner
erst spät, den Sinn für die malerischen EfTekte aber und den
guten zeichnerischen Geschmack vielleicht niemals aneignen
wird; dafür wird er gewiB einen richtigeren Blick, eine sicherere
Hand, die Kenntnis der wahren Verhall uissc von Größe und
Gestalt zwischen Tieren, Pflanzen, Naturkörpem und einen
schnelleren Blick für die perspektivische Wirkung gewinnen.
An den Zeichenübungren Emils will KousaeAu selbst teilnehmen,
aber ohne mehr Gescbickliclikeit zn zeigen als dieser; ^ware ich selbst
ein ApcUes,'' sa^ er, „je'tsst bin ich nnr <»in Schmierer."
Wir waren um eine Ausschmückung unseres Zimmers in
.Verlegenheit; Jetzt fällt sie uns von selbst in die Hand. Ich
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lasse unsere Zeiehiiiingen einrahmen; ich las^e sie mit schönem
Ghis überdecken, damit man sie nicht mehr anrühre und damit
jeder, der sie so, wie wir sie fertig gebracht haben, aufbewahrt
sieht, ein Interesse daran gewinne, die seinigen sorgfältig zu
behandeln. Ich bringe sie an den Wänden der Beihe nach au,
jede Zeichnung in zwanzig- und dreißigfacher Wiederholung,
jedes Probeßtück als ein Zeugnis der Fortschritte des Zeichners
von dem Augenblick an^ wo das Haus nur ein fast unförmliches
Viereck ist, bis zu dem, wo Vorder- und Seitenansicht, Ver-
hältnisse tmd Beleuchtung in der genauesten Wahrheit vor uns
stehen. Dieser stufenmäßige Fortschritt kann nicht verfehlen,
uns fortwährend Bilder zu liefern, interessant für uns, wunder-
lich für andere, und er muJj unseren Wetteifer immer melir
anspornen. Bei den ersten und rohesten von unseren Zeich-
nungen bringe ich recht glänzende, stark vergoldete Kähmen
an, die sie hervorlieben; aber wenn die Nachbildung genauer
wird und die Zeichnung wirklich gut ist, dann gebe ich ihr
nur einen schwarzen, einfachen Kähmen; sie braucht keinen
andern Schmuck als sich selbst, und es wäre schade, wenn die
Einfassung die Aufmerksamkeit ahlenkte, die der Gegenstand
verdient. So trachtet jeder von uns nach der Ehre des ein-
fachen Bahmens, und wenn einer eine Zeichnung des andern
herabsetzen will, verurteilt er sie zum goldenen. Eines Tages
werden vielleiclit bei uns die goldenen Rahmen sprichwörtlich
werden, und wir werden uns wundern, wie häufig Menschen sich
richtig beurteilen, indem sie sich so einrahmen lassen.
Den Unterricht in der Geometrie will Kousseau ebenfalls um-
gestalten; er sagt hienron:
Man zeichne genaue Figuren, halte sie nebeneinander, lege
sie aufeinander und untersuche ihre gegenseitigen Verhältnisse,
und man wird, von einer Beobachtung zur andern fortschreitend,
die ganze Geometrie finden, ohne Definitionen, Lehrsätze oder
irgendeine andere Art des Beweises zu Hilfe zu ziehen als das
einfache AufLinanderlfgen der Figuren. Ich selbst niaiie uiir
auch gar nicht an, Emil die Oeometrie zu lehren, er wird sie
mich lehren; ich werde die Beziehungen' suchen, er wird
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sie finden; denn ich werde sie s o ffUehen> daß er sie ünden
kann. Um z. B. einen Kreis zu ziehen, werde ich mich nicht
eines Zirkels bedienen, ich werde ihn mit einer Spitze ziehen,-
die am Ende eines um den Mittelpunkt sieh drehenden i^'adens
befestigt ist.') Wenn ich später die Kadien miteinander ver-
gleichen will, wird Emil «ich über mich lustig machen und mir
zu verstehen geben, daß der nämliche i'aden, da er immer
gespannt war^ nicht ungleiche Abstände zeichnen konnte.
Wenn ich einen Winkel von sechzig Graden messen will,
beschreibe ich von der Spitze dieses Winkels aus nicht etwa
einen Bogen, -sondern einen ganzen Kreis; denn hei den Kindern
darf man keine stillschweigenden Voraussetzungen machen.
Ich iinde^ daß der Teil des Kreises zwischen den beiden
Schenkeln des Winkels der sechste Teil des ganzen Kreises ist.
Hierauf beschreibe ich vom nämlichen ^Scheitelpunkt aus einen
anderen (mit dem früheren Kreise konzentrischen)
Kreis und finde, daß der zweite Bogen ebenfalls der sechste Teil
seines Kreises ist. Ich beschreibe einen dritten konzentrischen
Kreis, an welchem ich die nämliche Probe mache, und
ich wiederhole sie an neuen Kreisen, bis Emil, über meine
Schwerfälligkeit verwundert, mich erinnert, daß zwischen den
Schenkeln des nämlichen Winkels jeder Bogen, groÜ oder klein,
immer der sechste Teil seines Kreises sein wird usf. So sind
wir denn gleich in den Gebrauch des Transporteurs (Winkel-
messers) eingeführt.
Um zu beweisen, daß Nebenwinkel gleich zwei Rechten
sind, beschreibt man einen Kreis; ich fange es im Gegenteil
so an. daß Emil diese Bemerkung zuerst am Kreise niadit und
dann sai^e ich yai ihm: weim man nun den Kreis we,uii;ihme
und nur die geraden Linien stehen ließe, würden wohl die
Winkel ihre Größe geändert halx'n? nsw.
Man vernachlässigt (gewöhnlich) die liiclitigkeit der
Figuren, man setzt sie als richtig voraus und macht sich
sogleich an den Beweis. Bei uns dagegen wird nie von einem
Beweise die Rede sein. Unsere wichtigste Sorge wird es seiji,
*) Dies trescbieht jetzt Iii jeder Volkf^schule, wie bekaiiiit.
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recht gerade^ richtige uad gleiche Linien zu ziehen, ein recht
vollkommenes Quadrat^ einen hübsch runden Kreis zu zeichnen.
Um die Richtigkeit der Figur bestätigt zu erhalten^ untersucheu
wir sie nach allen ihren wahrnehmbaren Eigentümlichkeiten.,
und dies gibt uns Veranlassung, jeden Tag neue zu entdecken.
Wir werden die beiden Halbkreise nach dem Durchmesser^ die
beiden Hälften des Quadrates nach der Diagonale zusammen-
falten; wir werden nnsere J-^iguren vergleichen, um diejenige
7A} finden, deren Ifänder am geuaucöteü sich decken und die
(leniiuieh die bestgezeiclinete ist; wir werden eine Erörterung
darüber anstellen, ob diese Gleichheit Hör Teile bei Parallelo-
grammen, Trapezen usw. immer staiUlmlen müsse. Manchmal
untersucht man auch, ob sich vielleicht das Ergebnis dos Ver-
suches Torausbestimmen lasse, man bemüht sich, die Gründe
davon zu finden usf.
Wenn ein Kind Federball spielt, übt es Auge und Arm
in der Genauigkeit; wenn es den Kreisel peitscht, so steigert
es seine Kraft durch Übung derselben, ohne jedoch etwas zu
lernen. Ich habe manchmal gefragt, warum man den Kindern
nicht zur Übung der dleschiekliehkeit die nämlichen Spiele gebe,
wie die Er\va('li>en('n sie haben: den Fangball; den Stoßball,
das liillard, den ]M>gen, den Windball, die musikalischen Instru-
mente. Man hat mir geantwortet , da Ii einige dieser Spiele über
ihre Kräfte hinausgehen und für andere ihre Glieder und
Organe noch nicht hinreichend ausgebildet seien. Ich finde
diese Gründe nicht stichhaltig: das Kind hat auch den Wuchs
des Mannes nicht und trägt dennoch Kleider wie dieser.^) Ich
meine nicht, daß es mit unseren Stöcken auf einem drei FuB
hohen Billard spielen soll; ich meine nicht, daß es im Ballhause
den Ball werfen, oder daß man den Schlägel des Ballmeisters
in seine kleine Hand legen soll; aber es soll in einem Saale
spielen, dessen Fenster man gut verwahrt hat, es soll anfangs
nur mit weichen l'iillrn spielen und seine Schlägel sollen zuerst
von Holz, dann von Tcrgament und endlich von gespannten
^) Heute ist die Eindertracht von der der Erwachsenen verschieden,
was nur zu billigen ist.
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Darmsaiten sein, je nach seinen Fortschritten. Man zieht den
Federball vor> weil er weniger ermüdet und gefahrlos ist. Man
irrt sich aber ans folgenden zwei Gründen. Der Federball ist
ein Franenspiel; aber man sieht nie, daB eine Frau dem
fliegenden Ball nicht aus dem Wege liefe. Ihre weiße Haut darf
nicht durch Beulen entstellt werden und ihr Gesicht ist für
etwas anderes nls Qnetschim2;e]i da. Wir aber sind bestimmt,
kräftig zu werden: soll das <;auz mühelos geschehen? Und wie
sollen wir iifis je zur Wehr setzen können, wenn wir nie
angegrilien werden? Spiele, bei denen man ohne Gefahr iin-
gesclii( kt sein kann, werden immer lau gespielt; ein fallender
Federball l^cschädigt niemanden; aber nichts macht die Arme
so beweglich, als wenn man seine Augen behüten muß. Von
einem Ende des Saales nach dem andern springen, den Flug
eines Balls noch in der Luft bemessen und ihn mit kräftiger
und sicherer Hand zurückschleudem: solche Spiele eignen sich
nicht bloß für Männer, sondern, was wichtiger ist, sie dienen
auch dazu, Männer zu bilden.
Rousseau spricht dauu über den Tanz und den L nterricht iii
der Musik.
Bezüglich des (ieM'liinack^^.siiiiH's verlatiut Kuusseau, daß der Zög-
ling au die natürli<'hsten, eintachsten »Speisen gewöhnt weide.
Dies scheint mir in jeder Beziehung richtig, aber am
meisten in bezug auf den eigentlichen Geschmack. Unsere erste
Nahrung ist die Milch; nur nach und nach gewöhnen wir uns
an scharfen Geschmack: anfangs widersteht er uns. Obst^
Gemüse, Kräuter und endlich etwas gebratenes Fleisch ohne
Zutat von Gewürz und Salz machten die Mahle der ersten
Menschen aus. Wenn ein Wilder ziim ersten ^fale Wein trinkt,
verzieht er das Gesicht und stölll ihn /uriidv. um! s()<rar Linter
uns kann der, welcher l)is zu sciiunn zwanzigslLui «iaiirr noch
nie gegorene Getränko oolu)?tot Imt, Bich nicht mehr daran
gewöhnen: wir wjircn lauter Miiiiigkeitsapostcl, wenn man uns
nicht in unseren jungen Jahren Wein gegeben hätte. Kurz, je
einfacher nnsor Geschmack ist, desto weniger heikel ist er;
Widerwillen hat man in den meisten Fällen nur gegen zusammen-
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gosetzli! (jiericlite. Hat man jo gesehen, dali jemand einen Ekel
vor Wasser oder Brot gehabt hätte? Das ist der Fingerzeig
der Natur, darum gilt für nns als Kegel: Man bewahre dem
]\inde so viel als möglich seinen ursprünglichen Geschmack;
seine Nahrung sei gewöhnlich und einfach; sein Gaumen soll
sich nicht an gewürzte Sachen gewöhnen und sich keinen au8>
schließlichen Geschmack aneignen.
Jcli untersiieho liier nicht, ob diese Lebensweise srosünder
ist oder nicht; mein ( icsielitspunkt ist ein ganz anderer. Um
sie vorzuziehen, genügt es mir, zu wissen, daß sie am meisten
der Natur gemäß ist und sich am leichtesten jeder andern
ai!bo(|uemen kann. Diejenigen, welche sagen, man müsse die
Kinder an die Kost gewöhnen, die sie als Erwachsene genießen
werden, schließen meines Erachtens nicht richtig. Warum soll
ihre Nahrung dieselbe sein, da doch ihre Lebensart anders ist?
Ein von Arbeit, Kummer und Mühsalen erschöpfter Mensch
hat kraftige Nahrung nötig, die sein Gehirn neu belebt; ein
Kind, das sieh eben ausgetobt hat und dessen Leib im Wachsen
begrifreu ist, braucht reichliche Nahrung, die ihm viel
Spri-csaft zuführt.') Überdies hat ein ausgcwachx'nor Mensch
sclion seinen Stand, Jieruf und Wohnsitz: wer aber kann mit
Sicherheit sagen, was das Schicksal dem Kinde vorbehält? In
nichts g(>bc man ihm eine ausgesprochene Kiclitung, die nach
Bedürfnis zu ändern ihm schwer werden würde. Wir wollen
nicht schuld sein, daß es in anderen Ländern Hungers sterbe,
wenn es nicht überall einen französischen Koch mit sich herum-
schleppt, auch nicht, daß es eines Tages sage, nur in Frankreich
wisse man zu essen. Beiläufig gesagt, ein wunderliches Lob!
Ich würde im Gegenteil sagen, daß die Franzosen nicht zu
essen verstehen, da es einer so besonderen Kunst bedarf, um
iliucn die Speisen schmackhaft zu machen.
THo KlMust ih'P Kinder häh Ro iiaseau für ziemlich uubedenkhch,
da sie sich bei fortschreitendem Alter von selbst vermindere und die
V) Di l ^laini braucht wenige aber krüftt^, das Kind viel, aber
minder kräftige Nahrung.
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Kiader von selbst sich nicht überesBeD, wenn man ihnen nur immer
genug gehe, m daß nicht zu hungern brauchen.
Pflanzenkost ist nach Rousseau der Floischkost vorzuziehen;
Tiere zu töten, um !<ie zu essen, erscheint ihm barbarisch, die es tun,
bezeichnet er als „Mörder**.
Zum Schhissf des zweiten Buches entwirft Rousseau das Bild
eines blühenden Knaben von 10 — 12 Jahren, schildert, wie es durch die
jfewöhnliche Erziehung verunstaltet werde und entwirft dann eine
Schilderung^ P^mils in diesem Alter, die folgendermaßen schließt:
Wollt ihr ihn durch Vergieichung beurteilen ? Bringet ihn
mit andern Kindern zusammen und überlasset ihn sich selbst.
Bald werdet ihr sehen^ wer am meisten wirkliche Ausbildung
zeigt, wer der Vollkommenheit, die diesem Alter erreichbar ist,
am nächsten kommt. Unter den Kindern aus der Stadt ist
keines anstelliger als er, er aber ist stärker als irgendein anderes.
Mit Bauernkindern verglichen, ist er ebenso stark, überliitri
sie aber an Gewandtheit. In allem, was für Kinder fal.'har ist,
zeii^t er besseres Urteil, bessere Einsiclifc und Voraiussiclit als
alle. Gilt es, zu handeln, zu laufen, zu springen, Gegenst.ände
vnm Platz zu rücken. Gewichte zu heben^ Entfernungen zu
schätzen, Spiele zu erfinden und Preise zu erringen, so könnte
man glauben, die N'atur sei ihm dienstbar, so leicht weiß er
alles seinem Willen unterwürfig zu machen. 'Er ist dazu berufen,
seine Gespielen zu führen und zu leiten: Fähigkeit imd Er-
fahrung begründen sein Recht und seine Befugnis. Man mag
ihm ein Kleid oder einen Kamen geben, wie man will: er wird
überall der erste, übürall das llanpt der andern soin; sie werden
immer seine Überlegenheit fübliMi. Ohne befehlen zu wollen,
wird er ihr Herr sein und sie werden gehorchen, ohne es auch
nur zu wissen.
Die große Mißlichkeit einer solchen ersten Erziehung
1)(\stf'lit darin, daß sie nur für klardenkende Köpfe einleuchtend
ist und daß gewöhnliche Augen in einem mit so vieler Sorgfalt
erzogenen Kinde nur einen Gassenjungen erblicken. Ein (ge-
wöhnlicher) Hauslehrer hat mehr seinen Vorteil im Auge als
den seines Zöglings; er richtet sein Augenmerk darauf, zu
beweisen^ da0 er s^ine Zeit nicht unbenutzt läßt und das Geld,
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das man ihm zahlte auf rechte Weise erwirbt; was er bietet^
soll sich leicht zur Schau stellen lassen, man soll es zeigen
können^ wenn man will; ob das^ was er lehrt, nützlich sei, ist
Nebensache, wenn es nur leicht in die Angen fällt; hunderterlei
Trödel häuft er ohne Wahl und ohne Unterscheidung im Ge-
dächtnis des Zöglings auf. Soll das Kind geprüft werden, so
läßt man es seinen Kram auspacken, es stellt ihn zur Schau,
niaii ist zufrieden; dann packt es wieder ein und geht. So reich
ist mein Zögliiijr nicht, er hat nichts auszukramen, nichts zu
'/eigen als sich selbst.
Drittes Buch,
Wenn Emil 10 — 12 Jahre alt ist, findet BouBseau die Zeit ge-
kommen, ihn in Wissenschaften einzuführen, zunächst in die Geographie,
aber selbstverständlich nicht in der (damals) gewöhnlichen Weise; ersauft:
Du willst dieses Kind Geographie lehren und holst ihm
Erd- und Himmelsgloben und Kiarten herl)ei: wie viele Zu-
rüstungen! Wozu all diese Nachbildungen? Warum fänirst du
nicht damit au, ihm den Gegenstand selbst zu zeigeu, damit
es wenigstens wisse, wovon du mit ihm sprichst?
Rousseau ei-zäliU uun, wie er mit Eiuil bei Nacht den Polar-
stern und and( re Sterne, bei Tage Aufj?ari<r nnd T^ntergan«»' der Sonne
heobHelitrt, (4lei< h/i itig mit dem gestiruttju Uimmel lerut Emil auch
eeiuc Heimat kennen.
Die beiden ersten Punkte in seiner Geographie werden
seine Vaterstadt und das Landhaus seines Vaters sein, dann
die cUizwischen liegenden Orte, hierauf die Flüsse der Timgegend,
endlich der Anblick der Sonne und die Art, wie man sich
orientiert. Hier trifft alles zusammen. Er soll sich selbst von
dem allem eine Karte anfertigen, eine ganz einfache Karte,
die zunächst nur zwei Gegenstände enthält, denen er nach und
nach die andern anreiht, sobald er ihre Entfernung und Lage
weiß oder schätzen Iv a im. ]\lan sieht sehon, welchen Vorteil wir
ihm von vornherein gesichert haben, indem wir seinen Augen
ein richtiges Maß gegeben haben.^)
*) Sehic Augen mesfjeu gelehrt, sein Augenmaß geübt xu haben.
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Trotzdem wird man ihn ohne Zweifel ein wenig leiten
müssen, aber sehr wenig und ohne daß es Ix inorkbar wird.
Täuscht er sich, so laß ihn nur und verbessere seine Irrtümer
nicht. Warte ruhig ab, bis er sie selbst erkennen und verbessern
kann^ oder führe höchstens bei günstiger Gelegenheit irgend-
eine Operation herbei, durch die er darauf kommen kann.
Täuschte er eich me, würde er nicht so sicher lernen. Im übrigen
handelt es sich nicht darum, daß er die Topographie seiner
Heimat genau kenne, sondern nur die Mittel, sich darüber zu
belehren; es liegt wenig daran, ob er Karten im Kopfe habe,
wenn er nur recht begreift, was sie vorstellen, und eine klare
Vorstellung von der Kunst besitzt, die zum Entwerfen derselben
iiütisr ist. Man sehe ?chon hier den Unterschied zwischen dem
(s('hoinbaron) Wissen eurer Zöglinge und der Unwissenheit des
meinigen (die ebenfalls nur Schein ist). Sie kennen die
Karten; er macht sie. Das gibt dann einen neuen Schmuck
für sein Zimmer.
Bonasean betont sodann neuerdings, daß es nicht darauf ankomme,
wievid und wie bald Emil lerne, wohl aber darauf, dafi er immer selbst
Verlangen habe zu lernen, daß seine Lemlast rege gehalten werde.
Dies ist auch die Zeit^ das Kind zu gewöhnen, dem nämlichen
Gegenstand eine fortgesetzte Aufmerksamkeit zuzuwenden; doch
darf diese Aufmerksamkeit nie durch Zwang, sondern immer
nur durch das Vergnügen oder das eigene Begehren h(jrvor-
gerufeii werden:^) man muß sorgfältig darauf bedacht sein,
daß sie dem Kinde nicht lästig werde und nicht bis zum
Überdruß nndaure. Man habe darauf immer ein wachf^ames
Auge und wie es auch komme, man lasse lieber alles, bevor
der t''l)f rdruß sich einstellt; denn das Lernen ist nie so wichtig
wie^ daß das Kind nichts widerwillig tut.
Fragt es dich selbst, so antworte so viel, als notwendig
ist, um seine ITeugier zu nähren, nicht aber sie zu sättigen.
Besonders wenn du siehst, daß es, anstatt zu fragen, um sich
zu belehren, im Blauen herumfährt und dich mit einföltigen
^) Rousseau erkennt also nur die unwillkürliche A^^erksamkeit
als bereobtigt an.
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Fragen quält, so halte augenblicklich inne: denn dann ist es
ihm ganz sicher nicht mehr um die Sache zu tun, es will dich
nur seinen Fragen dienstbar machen. Man muß weniger auf
die Worte achten» die es ausspricht, als auf den Beweggrund,
der es dabei leitet. Diese Warnung war bis jetzt weniger not-
wendig, sie wird aber äulierst wichtig, sobald das Kind logisch
zu denken beginnt.
Mit de»m Magnetismus wird Emil durch eine Spielerei, eine Ente
die von einom !NfnfrTirto artg-ezogen wird, bekannt. Ein Tascliengpielcr
führt dieses Kunststück vor. Emil will es nachmachen, es glückt einmal,
ein zwcitcsmal miligflückt es durch die von dorn Taschenspieler ^^etrof-
ff-ni't) CTCgouaiistallen. Emil wird beschämt uud durch die Beschämung
belehrt.
Rousseau schildert <fi(l;irm verschiedene pli ysikalisilie Vewuche,
die man ohne jeflen A|)]i;ira( uustiihren könne, und bemerkt:
Nach meinen Grundsätzen müssen wir alle diese Maschinen
selbst anfertigen und mit der Herstellung der Werkzeuge nicht
anfangen, ehe wir den Versuch gemacht haben; wir müssen
im Gegenteil, nachdem wir wie durch Zufall auf den Versuch
gekommen sind, den Apparat, durch den er bestätigt werden
soll, nach und nach erlinden. Lieber sollen unsere Apparate
nicht so vollkommen und richtig sein, wenn wir nur eine um so
klarere A'^orstellnnir davon haben, wie sie sein sollen, und
von den Wirkungen, die wir von ihnen erwarten. Für meine
erste Tjebrstnnde in der Statik ( ( i Icicl'trowichtslehre) hole ich
niclu etwa eine Wage, sondern idi Uue oinLn Stock quer über
eine Stuhllehne, messe die Länge der beiden Hälften des im
Gleichgewichte befindlichen Stockes, bringe auf der einen und
auf der andern Seite Gewichte an, bald gleiche, bald ungleiche,
dann rücke ich ihn her oder hin, soweit es nötig ist, und finde
endlich, daß das Gleichgewicht auf dem umgekehrten Verhältnis
zwischen der Größe der Gewichte und der lünge der Hebelarme
beruht. So ist mein kleiner Physiker schon imstande, Wagen
zu berichtigen, bevor er solche gesehen hat.
Unbestreitbar erhält man von den Dingen, die man auf
diese Weise aus eigenem lernt, klarere und sicherere Begriffe
als von denjenigen, die man durch Unterricht von andern sich
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aneignet, und außerdem, daß man seine Vernunft nicht daran
gewöhnt, sich dem Ansehen anderer skhivisch zu unterwerfen,
wird man viel fähiger, Beziehungen zu finden, Vorstelhmgen
m Nci'knüpfen, WcikzciiLic /n erfinden, nls wenn man alles auf-
nimmt, wie es uns geboten wird, und dadurch den Geist in
Untätigkeit erschlaffen läßt, wie es dem Leibe eines Menschen
ergeht, der, weil er immer durch seine Leute von Kopf bis zu
Fuß bekleidet und bedient und durch seine Pferde gezogen
wird, am Ende die Kraft und den Gebrauch seiner Gliedmaßen
verliert. Boileau rühmte sich, IRacine gelehrt zu haben^
schwierige Heime zu machen; bei so vielen wunderbaren An-
weisungen, das Studium der Wissenschaften zu kürzen, brauchten
wir wahrhaftig einen Mann, der uns eine Anweisung gäbe, wie
man sie mit Anstrengung erlernen kann.
Der augenseheinliche A^'orteil jener langsamon und müh-
samen Untertsncliuns'r'n ist. daß dor Zögling mitten unter syieku-
lativen Studien ^) den Leib in seiner Tätigkeit und die Glieder
in ihrer Geschmeidigkeit erhält und unausgesetzt die Hände
zur Arbeit und zu nützlichen Verrichtungen geschickt macht.
Diese Masse von Apparaten^ die man erfunden hat, um uns in
unseren Versuchen behilflich zu sein und den richtigen Ge-
brauch der Sinne zu unterstützen, führen zu einer Vernach-
lässigung derselben. Der Winkelmesser erspart uns das Ab-
schätzen der Winkel; das Auge, das mit Genau i.^]<öit Entfer-
nungpn mati. verläßt sich nun auf die Meßkot te, die für das-
selbe mißt; die Schmdlw age erläßt es mir, das Gewicht, wolobes
ich durch sie erfahre, durch die ITand zu schätzon. de sinn-
reicher unsere Werkzeuge sind, desto gröber und ungeschickter
werden unsere Organe (Sinne); mit all den Hilfsmitteln, die
wir um uns aufhäufen, finden wir in uns selbst keine mehr.
Aber wenn wir die Geschicklichkeit, die uns diese Hilfs-
mittel entbehrlich machen wollen, zur Anfertigung derselben
verwenden, wenn wir den Scharfsinn, dessen wir bedurften,
um sie zu entbehren, zu ihrer Herstellung gebrauchen, so ge-
^) Forschung, Nachdcukeii.
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Winnen wir, ohne etwas zn verlieren: wir fiiijen znr NTatiir flie
Kunst und werden erfinderischer, ohne darum weniger ge-
schickt zu werden. Wenn ich ein Kind, anstatt es an Bücher zu
fesseln, in einer Werkstätte beschäftige, arbeiten seine Hände
zum Nutzen seines Geistes: es wird weise und glaubt nur ein
Handarbeiter zu sein.
Als besonders wichtig" betraclitet Rousseau, daß der Zögling bei
allem, was er kennen lerne, sieh die Frage vorlege: Wozu ist das gut?
(Wozu ist es nütze?) Er erzählt, wie er mit Emii sicli [■ejli«5sentlich in
einem großen Walde verirrt, damit der ImnLjiige, weinende Knabe durch
eigene Erfubrung erkenne, ^vie niit?. lieb es ist, wenn man sich (mit
Hilfe des Schattens) im Eaiime zurecbtzufindeu weiß.
Den Wetteifer im Lernen, der namentlich in der Ei/iebuiig der
Jes^uiten eine große Rolle spielte, betrachtet dagegen Rousseau als
entbehrlich, ja schädlich: „hundertmal lie])er soll Emil nichts lernen, als
nur aus Eifersucht (auf Mitlemende) und aus Eitelkeit."
„Ich hasse die Bücher'^, erklärt Rousseau; aber eine Ausnahme
macht er doch. Er sagt:
Da wir durcliaiis Bücher liaben müssen — , eines existiert,
das meines Erachtens die glücklichste Darstellung einer natür-
lichen Erziehung gibt. Dies ist das erste Buch, das mein Emil
lesen soll; es wirdaUein lange Zeit hindurch seine ganze Biicher-
sammlung ausmachen und darin immer einen bevorzugten Platz
einnehmen. Es wird den Text bilden, zu dem alle unsere Unter-
haltungen über die Naturwissenschaften nichts als Erläu-
terungen sein werden. Es wird während unserer Fortschritte
als Maßstab für die Vervollkommnung unseres Urteils dienen,
und solange unser Geschmack nicht verdorben ist, werden wir
es immer mit Vergnügen lesen. Welches ist denn dieses wunder-
bare Buch? Etwa Aristoteles? oder Plinius? oder Buffon?*)
Nein, es ist Robinson Cruso^.
Rousseau führt luichcinander den hcriihmtesten naturwissen-
schaftlichen ScbriftsteUer der Griechen ( Ai istot^'les), der Rom* r (Plinius)
und der Franzosen (Buffbn) an. AristoteleSi am hernlnn testen als
Philosojdi, liat auch Pflanzen und Tiere gesammelt und ein Buch ge-
schrieben, dt)8 d^n Titei: nÜb^r die Natur^' führt; PU nius (der Ältere)
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HobinBon Crusoe auf seiner Insel, der ftllein, ohne Hilfe
von seinesgleichen^ ohne irgendein Werkzeug, dennoch für seine
Bxistenz und Unterhaltung zu sorgen weiB, ja sogar eine Art
von Wohlleben sich verschallt^ das ist ein für jedes Lehens-
alter interessanter Stoff, den man den Kindern auf die mannig-
faltigste Weise anziehend machen kann. So tritt die verlassene
Insel, M die mir zuerst zur Vergleichung diente, für uns in die
Wirklichkeit. Allordings ist das nicht die Lage des gesellschaft-
liclien Menschen, -) wahrscheinlich wird es auch Emils Lage
nicht sein; aber er soll nach diesem Zustande alle andern be-
urteilen. Das sicherste Mittel, sich über Vorurteile zu erheben
und sein Urteil nach dem wahren Verhältnisse der Dinge unter-
einander zu regeln, ist es, sich an die Stelle eines ganz ein-
samen Menschen zu versetzen und alles so zu heurteilen, wie
ein solcher Mensch mit Bücksicht auf seinen eigenen Eutzen
darüber urteilen würde.
Dieser Eonian, von allpm unnützen Beiwerk*) fi^esaubert,
mit Robinsons Schiffbrurii .in seiner Insel beginnend und mit
der Ankunft des Schiffes, das ihn wegführt, schließend, soll
während dieses Lehensabschnittes Emils Unterhaltung und Be-
lehrung zugleich l)iiden. Er muß den Kopf ganz voll davon
haben, unaufhörlich soll er sich mit seiner Burg, seinen Ziegen
und seinen Pflanzungen bescliäftigen; alles, was man in einem
ähnlichen Falle zu wissen nötig hätte, soll er genau lernen,
nicht nach Büchern, sondern an den Sachen selbst; er soll sich
selbst als Robinson denken; er «oll sich mit Fellen hekleidet
schrie]) eine ,,Naturgo!J(*lnchte", ebenso Buffou, der ein etwas älterer
Zeitgenosse Rousseaus war.
^) KonsscMU, der seinen Zög-ling von anderen Menschen mög-
licbst leniliiihtu, wie er an einer früheren Stelle sagt, am liebsten auf
einer einsamen Insel erziehen miiehte, findet in „Robinson" dieses Ideal
verwirklicht. Indem Emil den Kobinson liest, ist er wenigstens» im Geiste
auf einer solchen einsamen, menschenleeren Insel.
Des Menschen, der in Gesellschaft von seinesgleichen, in einem
Staate als Bürj^er desselben lebt.
Als solches betrHchtet Rousseau, wie d^s Jful^eudg 2eigt, alles
y(S^ b^i Pefüc dew Öchitfbrueh vorangeht,
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sehen, mit eiuem großen Hute, einem großen Säbel und der
ganzen abenteuerlichen Ausrüstung jener Gestalt, mit Ausnahme
des Sonnenschirmes, den er nicht nötig hat. Er soll nachdenken,
was erforderlich wäre, wenn dies oder jenes ihm fehlen sollte;
er soll das Benehmen seines Helden prüfen, suchen, ob er nichts
unterlassen hat, nichts hätte besser machen köimcn; aufmerk-
sam soll er seine Fehler beobachten und Kutzeii darnus ziehen,
um nicht selbst in ähnlichem Falle darein zu verfallen: denn es
ist nicht daran zu zwoifoln, daß er seihst den Plan zu einer ähn-
lichen Niederlassung entwerfen wird; das sind die wahrhaftigen
spanischen Schlösser (Luftschlösser) dieses glücklichen Lebens-
alters, wo man kein anderes Glück kennt als die Notdurft des
Lebens und die Freiheit.
Ein Einfall von unerschöpflicher Fruchtbarkeit für einen
ge^cliickten Mann, ausgesomicii, um iSutZvcn aus ihm zu zieluMiI
Das Kind i)emüht siclr. t ine VorratskaMuiKM- für seine Insel aii-
zulegen, und wird eifriger im Lerüon sein als sein ]>ehrer im
"Unterrichten. Alles, was nützlich ist, wird es wissen wollen, aber
außerdem niclits anderes: du brauchst es gar nicht mehr zu
leiten, du brauchst es bloß zurückzuhalten. Im übrigen wollen
wir es schleimig auf seiner Insel einrichten, solange es noch
sein Glück in ihren Grenzen sucht; denn der Tag naht, wo es
nicht allein leben will, wenn es überhaupt noch dort verbleihen
mag, und wo „Freitag", der ihm jetzt noch nicht sehr nahe geht,
ihm nicht mehr lange genügen wird.
Bousscau empfiehlt sodann. «1* n Zilgfliupr „von Werkstätte zu
Werkstätte*' zu fülircn, um ihn mit den Arbeiten der Handwerker bekannt
zu inarlion. Die Handwerke soll er aher anders !*eliätzen lemen als es
gewÖbnlieli ireschielit. am höchsten die notwendiVsten, deren Erzeupfnisse
auch der Arme hraucbt^ axn niedrij^-stcn künstliche und künstlerische
Arbeiten, die nur d«'r Reiche ))ezahlen kann. Eisen soll Emil höher
schützen ah (Jold, tUas liöher als Diamanten, demg'emäß Maurer und
Schuster höher als Juweliere. Bäcker höher als Gelehrte; selbst die
inirmncher werde Emil nicht besonders achten, weü er den Wert der
üeit noch nicht kenne.
Emil soll aber auch selbst eiu Handwerk erlernen, damit er in^staqdQ
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sei in allen Wi elisclfäUen, die ihn treffen können, sieh selbst KU erhalten;
KouRscau m^t darüber:
Sobald Emil weiß, was das Lieben ist, wird es meine erste
Sorge sein ihn zu lehren, wie er es erhalten soll. Bis jetzt habe
ich Stand, Bang und Glücksgüter nicht beachtet und ich werde
sie auch in der Folge nicht beachten, weil der Mensch
in allen Lebenslagen der nämliche ist, weil der Reiche
keinen größeren Magen hat als der Arme und nicht besser ver-
daut als er, well der Herr keine längeren oder stärkejen Arjne
hat als sein Sklave, weil ein erroUer Herr nicht größer ist als ein
Mann ans dem Volke, und endlich, weil die natürlichen Be-
dürfnisse üljenill dieselben sind und daher auch die Mittel, sie
zu befriedigen, überall gleich sein müssen. Man passe die Er-
ziehung des Menschen dem Menschen ^) an und nicht dem,
was nicht zu seinem Wesen gehört. vSiehst du nicht, daß du mit
deinem Bestreben, ihn ausschließlich für einen bestimmten
Stand zu bilden, ihn für jeden andern unbrauchbar machst und
daß du, wenn das Schicksal es so will, nur an seinem Unglück
gearbeitet hast? Was ist lächerlicher als ein herunter-
gekommener Edelmann, der in sein Elend die Vorurteile seines
Standes niiMumini? \\ gibt es veriicht lieberes als einen ver-
armten Keichen, der in der Erinnerung an die Veraehlung, die
er der Armut zollte, sich für den niedrigsten aller .Monschen
ansieht? Der eine kennt als einziges Rettungsmitiel das Hand-
werk eines offenbaren Schurken, der andere das eines kriechen dca
r^akaien, wobei sie sich mit der schönen liedensart entschul-
digen: „Ich muß doch leben."
Du verlassest dich auf den augenblicklichen Zustand der
Gesellschaft und bedenkst nicht, daß dieser Zustand unver-
meidlichen Umwälzungen ausgesetzt ist und daß du diejenige,
welche deine Kinder treffen kann, unmöglich voraussehen oder
verhüten kannst. Der Große kann klein, der Reiche arm, der
Fürst Ilnieriaii werden; sind die Schlüge des Schicksals so selten,
dal» (In darauf zählen ki)nntest, von ihnen versilumt zu werden?
Wir nähern uns einer entöclieidungs vollen Zeit, dem Zeitalter
^) Der Natur des Menschen.
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der Revolutionen.^) Wer steht dir dafür, was dann aus dir
werden wird? Was die Menschen gemacht haben, das können sie
auch zerstören, ifur die Natur schreibt in unauslöschlichen
Zügen; aber sie macht weder Fürsten noch Reiche noch große
Herren. Was soll denn jener Satrap» den ihr nur zur Größe
erzogen habt, in der Niedrigkeit machen ? Was soll jener Zöllner,
deT nur Tom Golde zu leben weiß^ in der Armut anfangen? Was
soll denn, von allem entblößt, ein eingebildeter Schwachkopf
machen, der mit sich selbst nichts anzufangen weiii und sein
ganzes Wesen nur in Dinge setzt, die ihm fremd sind? Glücklich
derjenige, der dann seinen Stand zu verlassen weiß, nachdem
dieser ihn verlnssen, und dorn Schicksale zum Trotz Mensch
bleiben kann! Mag man jenen besiegten König, der sich wütend
unter den Trümmern seines Thrones begraben wollte, preisen,
wie man will: ich verachte ihn; ich sehe, daß er sein Dasein nur
auf seine Krone gegründet hatte und daß er nichts war, wenn
er nicht König war; derjenige, der sie verliert und entbehren
kann, steht höher als sie.')
Yon allen Beschäftigungen nun, welche dem Menschen
den Lebensunterhalt liefern können, ist die Handarbeit die-
jenige, die ihn dem Naturzustande an nächsten brinprt,^) von
allen Lebenslagen ist die des Handwerkers dem Sehieksale und
den Menschen gegenüber die unabhängigste.*) Der Hand-
werker hängt nur von seiner Arbeit ab, er ist frei, in dem Maße
frei, wie der Landmann unfrei ist; denn dieser ist von seinem
Felde abhängig, dessen Erträgnis anderen preisgegeben ist. Der
Feind, der Herr des Landes, ein mächtiger Nachbar, ein Prozeß
^) Diese Worte waren prophetisch; freüicb haben gerade Bous seaas
Scbrifien nicht wenig dazu beigetragen, daß sie in Erfüllung gingi^.
^ Höher als die Krone, ist also mehr als ein anderer König.
Qnd doch treiben die Wilden gewöhnlich kein Handwerk,
sondern nur Jagd, Fischfang u. dgl.; das Aufblühen des Handwerkes
setzt schon eine höhere Stufe der £ultur voraus, vean auch allerdings
nicht die höchste.
*) Mit der Einschränkung freilich, wenn er Arbeit bezw. Käufer
für seine Erzeugnisse findet, was ja keineswegs immer der Fall ist.
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kann ihm sein Feld rauben;^) durch dieses Feld kann man ihn
auf tansenderlei Arten bedrücken: überall aber^ wo man den
Handwerker bedrücken will, ist sein Bündel bald geschnürt; er
nimmt seine Arme mit sich fort nnd geht. Dennoch ist der
Ackerbau der erste Beruf des Menschen, der ehrbarste und nütz-
lichste und folglich der edelste, den er ausüben kann. Ich sage
Jjiiil nicht: Fiderne den Acke^-bau; denn er versteht ihn schon.
Mit allen ländlichen Arbeiten ist er vertraut; er hat mit ihnen
angefangen und kommt fortwährend wieder anf sie zurück. So
sage ich ihm denn: Baue das Erbe deiner Vater! Aber wenn
du dieses Erbe verlierst oder überhaupt keines hast^ was dann?
— Für diesen Fall lerne ein Handwerk !
Mein Sohn ein Handwerk! mein Sohn ein Handwerkerl
Wohin denken Sie? Ich denke weiter als Sie^ gnädige Frau: Sie
wollen ihn dahin bringen, daß er nie etwas anderes sein kann
als Lord, Marquis, Fürst und eines Tages vielleicht weniger als
nichts; ich will ihm einen Hang geben, den er nicht verHeren
kann, einen liaug, der ihn zu allen Zeiten ehrt: ich will liiü zum
Stande eines Menschen emporliebeii und er wird, was Sie
auch sagen mögen, weniger seinesfrleit lien in dieser Eigenschaft
haben als in jeder anderen, die Sie ihm geben.
Rousseau bespricht nun uusführlich die Vorteile, welche die
Erlernung' eines Handwerke» mit sicli bringe, erörtert die Frage, welches
Handwerk da» beste für seinen Zögling sei, und entscheidet sicli für die
Tischlerei.
Sodann sueht er zn zeifj^en, wie man die Kinder anleiten könne,
richtig zu urteilen, sie vor Irrtum bewahren k(inne. Kr beiiützt hierm
nnter anderem den bekannton Versiieh mit einein Stabe, den man ins
Wasser steckt und der nun gebrochen scheint. Er hetont, daß das Kind,
wenn es auf die Frage: „Was siehst du?" antwfirtet: „Einen gebrochenen
Stab", noch nichts l-nrichtiges gesagt hat; denn einen gebrochenen Stab
sieht CS wirklich. Es irrt erst, wenn es auf die Frage: „Ist der Stab
wirklich gebrochen?" mit ,,.Iu''' antwortet.
Vor allem wird jedes nach der gewöhnlichen Art erzogene
^) Diese Worte enthalten ein Bild der Rechtsunsicherheit im
damaligen Frankreich, sind daher für andere Verhältnisse keineswegs
sutrefiend.
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Kind auf die zweite der beiden angenommenen Fragen nicht
verfehlen, bejahend zu antworten. Gewiß, wird es sagen, es ist
ein gebrochener Stab. Ich bezweifle sehr, daß Emil mir auch so
antworioii w erde. Für ihn besteht keine Notwendigkeit, gelehrt
zu sein oder zu seheinen;') er urteilt also nie zu eilig: er urteilt
niiT über den Augenschein und ist weit eiitreriit, ihn hei dieser
(jleh'genheit als wirklich anzuerkennen;^) denn er weiß ja, wie
sehr unsere Urteile über Erscheinungen an den Dingen der
Täuschung ausgesetzt sind, und yfäre es auch nur durch die
Perspektive.
Da er zudem weiß, daß auch die nur ganz leicht hin-
geworfenen Fragen von mir immer irgendein Ziel haben, das er
nicht sofort sielit, hat die Gewohnheit, ins Blaue hinein zu
antworten, bei ihm nicht aulkoiiinien können. Sie machen ihn
im Oegenteile nachdenklich, er sinnt darüber nach und prüft sie
sein- sorgsam, bevor er darauf antwortet. Er gibt mir nie eine
Antwort, die ihn nicht selbst zufrieden stellte und er ist
schwer zufrieden zu stellen. Endlich tun weder er noch ich, als
müßten wir auf jeden Fall den wirklichen Sachverhalt heraus-
bringen; nur wollen wir nicht blindlings in den Irrtum verfallen.
Es wäre für uns beschämender, wollten wir uns mit einem
Grunde abfinden, der nicht stichhaltig ist, als wenn wir über-
haupt gar keinen fänden. „Ich weiß nicht" — ist ein Wort, das
uns beiden so bequem ist und das wir so oft wiederholen, daß
es uns keinerlei Überwindung mehr kostet.-^) Sollte ihm nun
^) Da.s KiikI, «las so yfa-eilig" ist. den Stalt soglcicli l ir gebrucheu
zu rrklnrciK fut wohl auch niclit „inn o:<'lplirt, zu sclu-iiu ri" ; eher ist
Emil rill ( It'lflirtcr. iudera er mit philiisripliisclu'r Genauigkeit zwischen
den Dinjxen, wie sie sind und \\i>- sie ihm eischeiiieu, uutei'ächeidut,
was t incni liarinlosen Kinde gewil^ nieht einfällt.
"'I D. h. er bc^aiügt sich zu s,i<jfen : .3Iii" cisclirint der Stab ge-
brochen-, fetiilt; ,.\']v ist «^ebruchea/' was /.u\ i(d iresaLTt wäre.
Daß man sii h unter UnistHnd' u iii< lit schämen darf, seine
T'nwi.s.-scnheit fiu/uucstch. n. weil man niii- dann Itcsspre Belehrung" finden
kann, ist richiijj-; iv<Mis>cau hat üLriucus utiViibur das Vorbild des
Soki'ates vor Augen, der ebenfalls erklärte, niclitsj zu wissen, um die
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eine vorschnelle Antwort^) entFehlüpfen oder er ihr mit unserem
bequemen Wort: „Ich weiß nicht" aus dem Wege gehen, ich
erwidere ihm gleichermaßen; ,,Nun, wir wollen einmal genauer
zusehen/'
Der Stock, der zur Hälfte im Wasser steht, ist in senk-
rechter Stellung befestigt. Wie viele Dinge können wir tun,
bevor wir ihn aus dem Wasser ziehen oder mit der Hand be-
rühren, wenn wir wissen wollen, ob er gebrochen ist, wie er zu
sein scheint!
1. Zunäclisf frclieii wir rings um don Stock hcrnin iiiul be-
merken, daß der gcljrochone Teil sich mit uns herunnireht. Er
wird also bloß durch unser Auge verändert; Blicke aber bringen
die Körper nicht aus ihrer Lage.
2. Wir sehen von oben senkrecht auf das Stockende,^) das
außerhalb des Wassers ist; dann ist der Stock nicht mehr ge-
krümmt: das unserem Auge zunächst befindliche Stockende
verdeckt das andere Ende. Hat unser Auge den Stock wieder
gerade gemacht?
3. Wir setzen die Oberfläche des Wassers in Bewegung:
der Stock biegt sich mehrfach, bewegt sich im Zickzack und
folgt der Wellenbewegung des Wassers. Genügt die Bewegung,
die wir dem Wasser mitteilen, um den Stock auf solche Weise
zu zerbrechen^ ihn weich und Hüssig zu machen?
4. Wir lassen das Wasser abließen und sehen nun den Stor k-
allmählich wieder gerad werden, indem das Wasser fällt. Ist
das nicht mehr als genug, um die Tatsache aufzuhellen und auf
die Strahlenbrechung zu kommen? Es ist also nicht wahr, daß
das Qesicht uns tauscht, da wir sonst nichts nötig haben, um
die Irrtümer zu berichtigen, die wir ihm zuschreiben.
Nehmen wir an, das Kind sei nicht geweckt genug, das
Ergebnis dieser Versuche zu fassen;^) dann müssen wir den
Wahrheit) welche die andern voreilig bereits zu besitzen glaubten, erst
zn suchen.
^) Nämlich, daß der Stab gebrochen sei.
^) Genau in der Richtung des Stockes,
In der Tat sind die vorausgehenden Versuche zwar geistreich,
SeliulaoBgabpii pftdagopsclier Klftssiker. H^ft 6. 7
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Tastsinn znr Unterstützung des Gesichts herbeirufen. Auch
jetzt ziehe man den Stock nicht aus dem Wasser, sondern
lasse ihn in seiner Iiage^ und das Kind soll mit der Hand
von einem Ende zum andern herahgleiten; es wird keine Ecke
wahrnehmen: der Stock ist also nicht gehrochen.
Du sagst^ es liegen dahei nicht bloß Urteile» sondern förm-
liche Schlüsse vor. Allerdings; aber siehst du nicht» daß»
sobald der Geist bis zu Begriffen vorgeschritten ist» jedes Urteil
ein Schluß ist? Das Innewerden jeder Empfindung ist ein Satz,
ein Urteil. Sobald man nun eine Walirnuhiming mit einer andern
vergleicht, schließt man. Die Kunst zu urteilen und die Kunst
zu schließen sind genau das nämliche.*)
Der Schluß des dritten Buches enthält eine ähnliche Schilderung
des nun fast zum Manne horanwewnehRenen Zöglings wie der Schluß
des zweiten Buches eine Schilderung des 10 — 12jährigen.
Viertes Bncb«
Bas vierte Buch heginnt mit Befrachtmigen ftber die Entstehung
der Leidenschaften und des GefüblslebNis überhaupt. Nach Bonaseau
sind Kinder und Knaben streng genommen noch keines Gefühls tthig,
sondern erst der Jfingling; er sagt:
aber bei weitem nicht so verständlich wie das einfache Herausriehen des
Stockes; es seigt sich auch hier, wie Rousseau bei aller voiigeblichen
NaturgemSBbeit doch hlufig gerade das K&nstlicbe gegeatiber dem
NatürÜchen bevorzugt.
1) Diese Bemerkung klingt seltsam, ist aber im wesentllcben
richtig. In der Logik wird zuerst der Begriff, dann das Urteil und zu-
letzt der Schluß besprochen, was den Schein erwecken könnte, als
beschäftigte sich das Denken zuerst nur mit Begriffen, sfuiter auch mit
Urteilen, zuletzt erst mit Schlüssen. In Wirklichkeit gehen aber Begriffs*
bildung, Urteilen und Schließen Hand in Hand. Im obigen Beispiele ist
der Bogriff, der gewonnen \vird, der der Stralilenhrechung; um zu ihm
zu gelangen, muß das Urteil gefällt werden: »Der Stab ist nicht ge-
brochen, sondern scheint nur so,'' und zu diesem Urteile kommt man in
der Tat erst durch Schlüsse, so daß also hier der Schluß am Anfange,
der Begriff am Ende steht.
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99
Wenn man diesen Angenblick bei eueren (den auf ge-
wöhnliche Art erzogenen) Kindern nicht leicht bemerkt, woran
liegt die Schuld? Ihr lehret sie frühzeitig mit dem Gefühle
spielen, ihr lehret sie dessen Sprache so früh, daß sie gar
keinen anderen Ton kennen nnd, eure Lehre gegen cucli selbst
kehrend, üuch keine Möglichkeit lassen es zu erkennen, wenn sie
einmal nicht mehr lügen (nicht mehr bloß Gefühle heucheln),
sondern wirklich fühlen, was sie sagen. Sehet dagegen meinen
J^mil; in dem Alter, zu dem ich ihn jetzt herangezogen habe,
hat er noch nicht gefühlt *) und noch nicht geheuchelt. Bevor
er weiB, was Liebe ist,^) hat er zu niemandem gesagt: ich liebe
dich; man hat ihm noch nicht yorgeschrieben, wie er sich in der
Krankenstube seines Vaters, seiner Mutter oder seines Er-
zieheis benehmen soll;') man hat ihm die Kunst, Betrübnis zu
heucheln, die er nicht fühlt, noch nicht gezeigt. Er hat noch
bei keines Mensehen Tode Tränen erlogen; denn er weiß noch
nicht, was sterben ist.^) Die niimliclie Gefühllosigkeit, die er im
Herzen hat/) zeigt sich auch in seinem äußeren Benehmen.
Also auch keine Liebe zu Vater und Mutter, von (reschwistern
und anderen Vt rwandton nicht zu reden! Emil freilich erscheint vater-
und mutterlos; aber eben darum kann die Art, wie er erzogen wird,
kein Vorbild für andere Kinder sein.
2) Nämlich Liebe des Mannes zum Weibe, die einzige, die
Rousseau gelten läßt.
^) Wie trauri^^, wenn man derlei Kindern vorschreiben müßte!
Fast jedes Kind, das selbst schon krank gewesen ist, bemitleidet auch
die kranke Mutter. Es ist walir, daß das Mitleid der Kinder wie aUe
ihre GefUhle nielit sehr tief ist und nicht lange dauert; aber vorlianden
ist es doch, und es ist keineswegs Heuchelei, wenn das Kiud z. il be-
dauernd sagt: „xVune IMiitter!"
*) Ihn Tod l)egreifen die Kinder sj)ätor als körperliche Leiden;
es ist niüglich, dab sie neben einer Leicbe frühlich spielen. Aber wenn
sie weinen, weil z. B. die Mutter tot ist (wie sie freilich vielleicht auch
geweint hätten, wenn sie nur verreist wäre), so sind das denn doch keine
geheuchelten Tiänen.
*) Und die er bei einer solchen Erziehung wahrscheinlich immer
im Herzen behalten wird.
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100
UJcichgiütig gegen alles außer gogon sich selbst wie alle anderen
Kinder, nimmt er an niemandem Anteil; bei ihm ist nur der
Unterschied, daß er auch nicht für gefühlvoll gelten will und
nicht falßch ist wie jene.
Da Rousseau erst beim Jünglinge das Vorhandensem von Ge-
fühlen annimmt, so traut er auch erst diesem ein Verständnis der
Geschichte zu. Über das Studium dieses Gegenstandes sagt er unter anderem :
Leider hat dieses Studium in mehr als einer Hinsicht seine
Gefahren und Unzuträglichkeiten. Es ist schwer, sich auf einen
Standpunkt zu stellen, von dem aus man seine Mitmenschen
mit Billigkeit beurteilen kann. Einer der gr(iliu a Fehler der
Geschichte ist, daß sie die Mensehen mehr von ihren schlechten
Seiten als von ihren guten darstellt; da sie uns nur durch die
Umwälzungen und Katastrophen interessiert, sagt sie nichts
von einem Volke, das heranwächst und unter einer ruhigen
und friedlichen Begienmg gedeiht; erst dann spricht sie von
ihm, wenn es nicht mehr imstande, sich selbst zu genügen, sich
in die Angelegenheiten seiner Nachbarn einmischt oder diese an
den seinigen teilnehmen läßt. Sie verherrlicht es erst, wenn es
schon im Niedergange begriffen ist;, unsere Geschichte beginnt
da, wo sie aufhören sollte. Die Geschichte der Völker, die sich
zugrunde richten, kennen wir sehr genau; was uns fehlt, ist die
Geschichte der Völker, die fortschreiten. Aber diese sind viel
zu glücklich und verstand ig, so daß die Geschichte nichts von
ihnen zu sagen weiß, und wir sehen in der Tat auch heutzutage,
daß man von denjenigen liegierungen am wenigsten spricht, die
am weisesten geleitet werden. Wir erfahren also nur das
Schlimme; das Gute scheint kaum der Rede wert. Es gibt keine
Berühmtheiten als Bösewichte, die Guten werden vergessen oder
lächerlich gemacht und so verleumdet die Geschichte fort-
während das menschliche Geschlecht wie die Philosophie es
tut.^)
') Hier sind die „riiiln^ophen'' gemeint, die, wie Rousseau an
einer frühereu Steile ausgeluhrt hat, den Menschen als von Haus aus
zum Bösen ^enciLrt liinstellen, wülireiid ihn Rousseau als ursprünglich
gut hetrachtet. Dali ubipre Ausführungen über die (ieschichte stark über-
trieben sind, liegt übrigens auf der Hand.
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101
Tlo1l^<soau bespricht sodann die Gescliichtschreiber des Altertdtns'
bezüglich ilin r Eigiinn<r als Jugendlektüre; am höclisteit stellt er Thä-
kydidee; Po]y])ius, Sallnst» Lmas beseichnet er als ungeeignet» Hefödot
als nur teilweise brauchbar.
NtttElicher als die Lektüre von Geschichtswerken erscheint ihtti'
die von Lebensbeschreibungen;' er sagt:
Will man das Studium des menschlichen Herzens bcijinneii,
so lese man lieber Darstellungen des Privatlebens; mag sich da
der Mellich aiicli verstecken wollen, der ricschichtschreiber
verfol<^t ihn üherjillhin; er läßt ihn keinen Angenhiick in Kuhe,
er gönnt ihm keinen Sehlupfwinkel, wo er dem spähenden Auge
des Zuschauers entgehen könnte; ja gerade, wo er sich am besten
versteckt glaubt, zieht ihn der andere am sichersten ans Flieht.
;,Diejenigen/^ sagt Montaigne, ,,welche Lebensbeschrei-
bimgen verfassen, sind für mich am geeignetsten, und zwar
darum, weil sie sich mehr mit den Ansichten als mit den Er-
eignissen, mehr mit dem, was von innen kommt, als dem, was
draußen vorgeht, beschäftigen; deshalb ist auch in jeder Hin-
sicht IMüfareli mein Mann/'^)
■
Plutarchs Vorzug liegt gerade in solchen Einzelheiten,
auf welche wir nicht mehr einzugehen wageil. £r besitzt einer un- '
nachahmliche Anmut, wenn er groBe Menschen in kleinen:
Dingen malt, tind in der Wahl der einzelnen Züge ist er so*
glücklich, daß oft ein Wort, ein Lächeln, eine Gebärde ihm
genügt, seinen Helden zu charakterisieren. Mit einem Scherz
berulii^L Hann Iba 1 sein erschrecktes Heer und führt es
^) Der biographische Geachichtsunterricbt wird noch jetzt viel
empfohlen^ und es ist kein Zweifel, daß das Interesse der Schüler durch
Biographien ^ehr angeregt werden kann; anderseits ist aber doch zu
bedenken, da6 in Biographien gern das Anekdoteiihafte ühen^iichert
Die Franzosen haben «ehr viele und anziehend geschriebene Memoiren
(Lebensgestdik'liten). an die auch Rousseau liier gedacht haben mag;
aber <ferade sie enthalten aucli solir viel unvorhih i^ton Klatsch. Auch
mit der Glaubwürdigkeit der Anekdoten Plutarchs ist es nicht immer
snm besten bestellt.
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102
lachend in die S(!hlacht, die ihm Italien in die Hände lieferte;*)
wenn Agesil;iii>; (mit seinen Kindern) auf dem Stecken-
pferde reitet, so lernt man den Besieger des Großkönigs (nicht
nur bewundern, sondern auoh) lieben; wenn Cäsar ein kleines
Dorf durchzieht nnd mit seinen Freunden plaudert, wird der
Schelm entlarvt/) der angeblich nur dem Pompejus gleich sein
wollte; Alexander nimmt eine Arznei nnd sagt kein Wort
dazu; das ist der schönste Augenblick seines Lebens;
Aristides schreibt seinen eigenen Kamen auf ein Scherbchen
und rechtfertigt so seinen Beinamen;^) Philopömen*) legt
seinen Mantel ab und spaltet in der Küche seines Gastfreundes
Holz: das ist die wahre Kunst zu malen. Der Gesichtsausdruck
liegt nicht in großen Zügen, auch der Charakter nicht in großen
Handlungen; in Kleinigkeiten enthüllt sich das Wesen. Was
öffentlich vorgeht, ist entweder zu alltäglich oder erkünstelt,
und doch erlaubt die Würde unserer Tage den Schriftstellern
fast nur bei derartigen Dingen sich aufzuhalten.*^)
*) Einem gewissen Giskon kam die Zahl der Römer bedenklieb
groß vor. Hannibal entgegnete: „Eine??, was noch merkwürdiger ist, hast
du doch nicht bemerkt." „Was denn?" fragte jener. „Daß unter all
diesen kein einziger Giskon heißt." — So erzählt Plutarch im Lelm
des Fabius Maximus c. 15 und fügt bei, daß sich in Hannibaia Nähe
allgeiueiiK S Gelächter erhob und die Soldaten mit größter ZuTersioht in
den Kampf zogen. Es war die Schlacht bei Cannä.
^) Durch den Ausspruch, er wolle lieber in diesem Dorfe der £rste
als in Rom der Zweite sein.
^) Den Beinamen „der Gerechte". Ein Bürger, der nicht schreiben
konnte, soll beim Scherbengericht den Aristides, den er nicht kannte,
gebeten haben, den Namen jyAristides^ anf eine Scherbe su sehreiben
und Aristides tat es auch.
*) Griechischer Feldherr aus der Zeit, als die Römer den Griechen
nach der Schlacht bei Kynoskephalä die Freiheit wiedergesclicnkt hatten;
er kämpfte namentlich siegreich gegen die Spartaner, die dorn Bunde
der übrigen Griechen, dem sog. Achäischen Bunde, sich nicht anschließen
wollten.
^) Die Goschichtschreibung war zu Rousscaus Zeit im all-
£rcmeinen pedantisch schwerfällig und legte übermäßiges Gewicht auf
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103
Rousseau führt dann eine ähnliclic für Emil lehneiclie Anekdote
von Tu renne an. Wie Emil die Gescliichtc auiiassen soll, zeigt auch
folgendes :
Wenn C i n e a s, nachdem er die überschwcngliclieii Pläne
des Pyrrhus überdacht liat, ihn fragt, welches wirkliche Gut
die Eroberung der Welt ihm bringen werde, dessen er nicht
auch jetzt schon ohne so viele Qualen würde genießen können,
80 sehen wir darin nur ein flüchtiges Witzwort; aher Emil wird
darin einen sehr weisen Gedanken finden, auf den er selbst wohl
geraten wäre und der sich ihm unauslöschlich einprägen wird,
weil er in seinem Geiste auf kein entgegenstehendes Vorurteil
stößt, das den Eindruck desselben schwächen könnte. Wenn er
hierauf im Leben dieses Wahnwitzigen (des Pyrrhus) finden
wird, daß all seine großen Pliine damit endigten, daß er durch
die Hand eines Weibes «xetötet wurde, wird er dann diesen ver-
meintlichen Ileldensinn bewundern und nicht vielmehr in allen
Taten dieses großen Heerführers, in allen Ränken dieses großen
Staatsmannes nur den Weg zu jenem unglückseligen Ziegelstein
sehen, der durch einen entehrenden Tod seinem Leben und
seinen Plänen ein Ziel setzen sollte?^)
Eitelkeit, Buhmsucht sind überhaupt nach Bousseau so große
Übel, dafi er bei £mü die SuBersten Mittel anwenden will, um sie zu
bekämpfen; er will ihn nötigenfalls Schmeichlern und Betrügern preis-
geben, damit sie ibn überlisten und ausplündern und der Jüngling so
durch eigenen Schaden klug wird. Die Folgen will Bousseau mit ihm
tragen, sogar ohne ihm Vorwurfe zu machen; hofft, das werde noch
stärker wirken. Nun hält Bousseau auch die Zeit für gekommen, wo
Emil aus der Bekanntschaft mit Fabeln Nutsen aiehen kann. Boch
dürfe man der Fabel auch jetzt nicht die übliche Ldure folgen lassen;
diese müsse sich aus der Fabel von selbst ergeben.
Äußerlichkeiten; in Deut^clihuid schrieb die ersten, aucli für ein größeres
Publikum lesbaren Grescbiclitswerke Schiller (Geschichte des Abfalls
der Niederlande, Geschichte des Üreißi;^ jührigeu Kriege».)
*) Diese Beurteilung des Pyrrhus, der bei all seiner Bosfabnnof
doch nur ein Abenteurer und Uluck-sritti r war, ist nicht unrichtig, be-
weist aber nichts {j'ct^eu die Würdigung von Kriegstateu, ilic nicht bloll
der Befriedigung ))crsönlicher Huhmgier. sondern edleren Zwecken dienten,
wie z. B. die Heldentaten Zriuys, Hufers u. a.
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ÜbnTirrcn iu dor Hedekuust hält Eousseau für übertiüssig; er
sa^t hierüber:
Ich kann es nicht oft genug wiederholen: man gehe jungen
Leuten alle Unterweifiungen lieber in Handlungen als in Beden;
nichts sollen sie aus den Büchern lernen, was die Erfahrung sie
lehren kann. Welch kopfloses Vorhaben, sie im Reden zu üben^
ohne einen Gegenstand zu haben, über den sie reden sollen,
und zu glauben, man könne auf Schulbänken die mächtige
Sprache der Leidenschaft und die ganze Kraft der Überredungs-
kunst fühlen lassen, uhne daß man das Bedürfnis hat, irgend
jejuanden zu überreden! Alle Vorschriften der Khctorik (Kede-
kuust) sind müßiges Gcschwäiz für den, der ihre Anwendbarkeit
auf seinen eigenen Vorteil nicht einsieht. Was liegt einem
Schulknaben daran, zu wissen, wie es Hannibal anfing, um seine
Soldaten zum Übergange über die Alpen zu bestimmen? Sagtest
du ihm statt dieser hochtönenden Beden, wie er es anfangen
muß, um seinen Schulyorstand zur Bewilligung eines Ferien-
tages zu bewegen, sei versichert, er wäre auf deine Begeln viel
aufmerksamer.
Ati flicscr Stelle criniHTt sieh Koutsseau wieder, wie weit ^cinc
ludsclilMi^e sicli von dem Herkihimdiclien enttei-neii. „Seit langem selien
mich meine Jjescr,'' sa<^t er, „im Laiide der Träume; ich aber sehe sie
cbeusoiange im Lande der Vorurteile."
Zu Beginn dieses Werkes setzte ich nichts voraus^ was
nicht jedermann ebensogut wie ich sagen konnte^ weil es einen
Punkt gibt, nämlich die Geburt des Menschen, von dem wir
alle gleichermaßen ausgehen: je mehr wir aber vorwärts-
schreiten, ich, um die Natur zu fördern, ihr, um sie zu ver-
derben, um so mehr entfernen wir uns voneinander. Im sechsten
Jahre unterschied sich nu in Zoi^ling wenig von den eurigen,
die zu entstellen ihr noch keine Zeit ^rehabt hattet: jetzt haben
sie fast gar keine Ähnlichkeit mvhr mitciTiinidcr; das Mauues-
alter ab(!r, dem er sich nähert» muß ihn in einer durchaus
anderen Vcrfassiuiij^ zeigen, wenn ich nicht alle meine Mühe
verloren habe. Die '^^(•nge des Erworbenen ist vielleicht auf
beiden Seiten gleich; aber das Erworbene selbst gleicht sich
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durchaus nicht. Du wunderst dich^ bei dem einen (bei Emil)
erhabene Gefühle zu finden^ von denen die anderen nicht die
geringste Spur haben; erwäge aber auch, daß diese schon alle
Philosophen und Theologen sind,^) bevor Emil nur weiB, was
Philosophie ist, und bevor er überhaupt von Gott hat reden
hören.
Wenn man mir also sagte: Nichts von dem, was du da
aiHiiiumst, lindet sich in Wirklichkeit: die jungen Leute sind
nicht so lu'sehaffen, sie haben diese oder jene Leidenschaft, sie
tun dieses oder jenes: so ist das gerade, wie wenn jemand
leugnete, dnJ.) je ein Rirnl^auin ein großer liaum gewesen sei,
weil man in unseren Gärten nur Zwerge von Birnbäumen sieht.
Kouseeati erörtert nun auch die Entstehung religiöser Vor*
stelluiigon: er sagt darüber:
Ich sehe voraus, wie viele meiner Leser daran Anstoß
nehmen werden, daß ich meinen Zögling dieses ganze erste
Alter durchleben lasse, ohne ihm etwas von Religion zu sagen;
In seinem fünfzehnten Jahre wußte er noch nicht, daß er eine
Seele hat, vielleicht ist auch in seinem achtzehnten noch nicht
die rechte Zeit dazu: denn wenn er es früher lernt als nötig
ist, so läuft er Gefahr, es nie zu wiesen. ^)
Rousseau bespricht sodaiiii die Frage, in wt-lchci- Huligiori Emil
unt^rrichtpf werden soll. T)h" nächstliegende Antwort: „in dfr Krlip^ion
seiner Eltern" läßt er niciit |ü:t'lten: EttiiI soll vielmehr seine lieligion
selbst wählen. Roussi jiu deutet jedoch an, daß Knill voraussichtlich
zu denselben religiösen Anscliauunfi^en kommen w ird, welche sein Erzielter
hat; si(! sind in dem nun foljrenden „Glaubensbekenntnis des savoyiselieu
Landpfarrers** niederfr(;iegt. In iliesein sucht er vor allem dfi^ Dasein Gottes
zu beweisen, und zwar ho, daß er (ähulich wie der Philosoph Descartes),
von d'M- ErkeiHitnis unsei- selbst ausgrelit. Wir wissen von uns selbst
unwideiief^lii'li, daß svir «lenkende und tiititre Wesen sind; es sei dalier
undenkbar, daß außer uns nur untätiger, toter Stoff vf)rhanden sein
sollt«; namentlich sei undenkbar, daß die seelenlose Materie lebende
und empfindende Wesen hervorgebracht haben sollte.
^) Die frühe Bekanntschaft mit Philosophie und Theologie stumpft sie
ab; sie sind gegen das gleichgültig, was Emils Gefahle noch mächtig erregt,
^ Nie davon ühorscugt zu sein.
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106
Wie das Dasein Gottes, so verteidigt Rousseau auch die Stimme
des Gewissens, die unn sagt, wan gut und )»ösc ist, gegeu die Keligious-
spötter seiner Zeit. Diese Stimme, die bewirkt, daß der Gute sein Ver-
mögen, ja selbst sein Leben opfert, um der Gesamtheit zu nützen,
erscheint ihm als ein „göttlicher Trieb, eine unsterbliche, himmlische
Stimme, als der sichere Führer eines unwissenden und beschränkten,
daljei aber denkenden und freien Wesens", als das, was uns am meisten
Gott ähnlich macht. • ,
Aus dem Folgenden verdienen folgende Worte hervorgehoben zu
werden:
Ich gestehe dir auch, daß die Erhabenheit der heiligen
Schriften mich in Erstaunen setzt; die Heiligkeit des Kvan-
geliums spricht zu meinem Herzen. Siehe die Bücher der
Philosophen mit all ihrem Gepränge; wie klein sind sie neben
diesem! Kann ein zugleich so erhabenes und so einfaches Buch
das Werk der Menschen sein? Kann der, dessen Geschichte es
erzählt^ ein bloßer Mensch sein? Ist das der Ton eines Schwär-
mers oder eines engherzigen Sektenführers? Welche Sanftmut^
welche Beinheit in seinen Sitten t welch rührende Anmut in
seinen Lehren! welche Erhabenheit in seinen Grundsätzen!
welch tiefe Weisheit in seinen Beden ! welche (Geistesgegenwart,
welche Feinheit und Richtigkeit in seinen Antworten I welche
Herrschaft über seine Leidenschaften!
Im folgenden handelt Rousseau vouderEntsf ehungderGeschlechts-
Hehe; er wünscht, daß Emil Tivifrlichst spät von ihr ergriffen werde und
stellt dar. wie er es anlangen will, um dies zu erreichen. Dies bildet
den Übergang zu dem letzten Buche} das die Erziehung von Emils
künftiger Gattin, Sophie, schildert.
Fflnftes Btteh«
Aus diesem Buche genügt es, einige besonders wichtige oder
doch für Bouaseaus Denkweise bezeichnende Stellen anzuführen. Von
der Kleidung der Frauen sajjft er unterHinweis auf das Vorbild der Griechen:
Man weiß, daß die Bequemlichkeit der Kleidung, welche
den Körper nirgends beougte, viel dazu beitrug, ihm hei beiden
(J(\s('hlochtern jene schönen Verhältnisse zu bewahren, die man
au ihren Statuen bemerkt und die heute noch der Kunst zum
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107
Vorbilde dionen, seit die entstellte Xatiir ihr unter uns keine
mehr darbietet. Von allen jenen mittelalterlichen ^) Fesseln,
von jener Menge von Bändern, die unsere Glieder nach allen
Richtungen einschnfh-en, hatten sie kein einziges. Ihre Frauen,
kannten den Gebrauch jener Schnürleiher nicht, womit die
nnsrigen den Wuchs eher verunstalten als hervorheben. Ich
kann nicht annehmen, daß dieser MiBbranch, der in England
zu einer kaum denkharen Höhe gestiegen ist, nicht am Ende
das ganze Greschlecht zerrütten sollte; ich behaupte auch, daß
die Anmut, die man damit bezwecken will, einen schlechten
Geschmack verrät. Eine nach Art der Wespen in zwei Teile
geteilte weibliche (iestalt ist gar kein angenehmer Anblick; das
beleidigt das xVnge und ruft peinliche Vorstellungen hervor.
Die Zierlichkeit des Wuchses hat wie alles übrige ihre Ver-
hältnisse und ihr Maß, über welche hinaus sie ganz sicher zum
Fehler wird; dio<?pr Fehler wäre am nackten Leib auch für
das Auge auffallend: warum sollte er unter der Kleidung eine
Schönheit sein?
Zu den notwendigsten Eigenschaften eines Weibes reebnet Rons*
seau dessen religiöse Gesinnung. Obwohl er selbst viele Wahrheiten des
christlichen Glaubens leugnete, wendete ersieh doch gegen jene, die aller
Religion den Krieg erklaren wollten; er sagt:
Was mich aber und alle meine Mitmenschen kümmert,
das ist, das jeder wisse, daß es einen Lenker der menschlichen
Geschicke gibt, dessen Kinder wir alle sind, der uns allen
gebietet, gerecht, liebevoll, wobltiitig und barmherzig zu sein,
unsere Ver])flicbtnngen gegen jedermann, selbst gegen jseinc
und unsere Feinde zu erfüllen; daß das scheinbare Glück dieses
Lebens nichtig ist; daß es nach ihm ein anderes 'jibt, in
welchem das höchste Wesen die Guten belohnen, die Bosen
bestrafen wird. Diese und ähnliche Glaubenssätze der Jugend
einzuprägen und alle Bürger davon zu überzeugen, das ist eine
Sache von Wichtigkeit. Wer sie bekämpft, verdient unbedingt
^) An diesen Fesseln war in Wirklichkeit das „Mittelalter" ganz
unschuldig: Rousseau bezeichnet eben alles Unschöne und Unzweok«
mäßige als mittelalterlich*
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Strafe; denn er verwirrt die Ordnung und ist ein Feind der
Gesellst halt. Wer sie fallen läßt, um uns seiner Sondermeinung
zn unterwerfen, kommt auf dem entj^eij^eniresetzten Wege auf
den uämlidK n Punkt. ÜDi eine Ordnung nach, seinem Sinne
aufzurichten, stört er den Frieden; in seinem vermessenen
Dünkel macht er »ich zum Dolmetscher der Gottheit, in
ihrem Namen verlangt er Huldigungen und Ehrerbietung der
Menschen; er macht sich, soweit er es vermag, selbst zürn
Gott, so daß man ihn als Gottesräuber bestrafen müßte, wenn
man ihn nicht seiner Unduldsamkeit werfen strafte.
Auch die Hiiuslicbkiit suUendic Mädclien liebgewinnen; Kousscau
sagt darüber:
l'ni das niiiim', liünsliebe Leben iieb/Aigewiniien, nuiii man
es kennen; man muß von Kindheit an seinen Keiz empfunden
haben. Nur im väterliehen Hause lernt man einen eigenen Herd
schätzen, und eine Frau, die nicht von ihrer eigenen Mutter
erzogen worden ist, wird keine Freude an der Erziehung ihrer
Kinder haben. Leider gibt es in den großen Städten keine
E'amili^nerziehung mehr. Die Gesellschaft ist dort so aus-
gedehnt und gemischt, daß es für ein zurückgezogenes Leben
keine Zufluchtsstätte mehr gibt und man in seinen eigenen
Rfauern wie auf der Straße lebt. Man verkehrt derart mit
jedermann, daß man keine Familie mehr hat imd seine Ange-
hörigen kaum mehr kennt; man besucht sie wie Fremde und
die Einfalt der häusliehen Sitten vn^rschwindet samt der süßen
\^ertrauli(hk('it, die den "Reiz derselben ausmaehte. So saugt
man schon mit der Muttermileh die Neigung für die Ver-
gnügungen der Welt und für die Grundsätze ein, die man darin
herrschen sieht.
Über weibliche Handarbeiten u. dgl. sag^ Roassean;
Was Sophie am besten versteht und man sie am sorg-
fältigsten, hat lernen lassen, sind die weiblichen Handarbeiten,
selbst diejenigen, an welche man kaimi denkt, wie das Zu-
Behneiden und Xiilien der Kleider. Es gibt keine Xadelarhcit,
die sie nicht verstünde und mit Vergnügen übte; jeder änderten
aber zieht sie das Spitzcnklöppein vor, weil es keine gibt, die
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lOü
eine anziehendere Haltimg verliehe und bei der die Finger, «ich
anmutiger und leichter bewegten. Auch mit allen Einzelheiten
der Haushaltung hat sie sich befaßt. Sie versteht sich auf Küche
und \'orratskaiiiinor; sie weiß, was die Sachen kosten, und kennt
ihre JCigiiisclialten; sie kann vortrelilich die Kechnung führen
und dient ihrer Mutt( r als lTan6Jhälterin. Da sie dazu bestimmt
ist, eines Tages selbst Hausmutter zu sein, so lernt sie im väter-
lidioii Hanse ihr eigenes führen;^) sie kann alle Verrichtungen
der Dienstboten versehen und tut es immer sehr gerne. Was
man nicht selbst auszuführen versteht, kann man auch nicht
richtig anordnen: aus diesem Grunde hält ihre Mutter sie zu
solchen Beschäftigungen an; Sophie selbst denkt nicht so weit.
Ihre erste Pflicht ist die Kindespflicht; dies ist yorläufig auch
die einzige, die sie zu erfüllen trachtet. Ihr alleiniges Ziel ist,
ihrer Mutter zu dienen und sie in oinom Teile ihrer ObiicgLn-
heiten zu unterstützen. Dennoch muii man zugeben, daß sie
nicht alle mit gleichem Vergnügen ori'üUt. So hält sie zwar
auf feine Bi?<?en, liebt aber die Küche doch nielit; es widert
sie an, sich genauer mit derselben zu befassen; sie ündet nicht
genug Reinlichkeit darin. In dieser Beziehung ist sie außer-
ordentlich empfindlich; ja diese zum Übermaß gesteigerte
Empfindlichkeit ist bei ihr zur Untugend geworden: sie ließe
lieber da« ganze Essen ins Feuer fallen^ als daß sie ihre Hand-
krause beschmutzte. Aus dem nämlichen Grunde hat sie sich
auch nie mit der Überwachung des Gartens beschäftigen wollen.
Die Erde erscheint ihr unreinlich; wenn sie Dünger sieht,
glaubt sit! schon seinen Geruch zu spüren.
Diesen Fehler verdankt sie dem I'nterrichte ihrer Mnlicr.
Hicniach ist \mtev den weil>liclien PHichten die lieinlichkeit
eine der ersten; sie ist eine dem Geschlechte eigene, uner-
läßliche, durch die Xatur auferlegte Pflicht; es gibt auf der
Welt nichts Abstoßenderes als ein unreinliches Weib und
wenn der Mann vor ihm Ekel empfindet, hat er recht. Biese
Pflicht hat sie ihrer Tochter von ihrer Kindheit an so oft
gepredigt, sie hat so viel Reinlichkeit an ihrer Person» ihrer
^} Sie lernt, wie nie einst iiu* eigenes UaUvS zu lühreti haben wird.
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Wäsche, für ihr Zimmer, ihre Arheit und ihren Anzug gefordert,
daß die Aufmerksamkeit nach all diesen Richtungen ihr zur
Gewohnheit geworden ist, einen ziemlich großen Teil ihrer
Zeit in Anspruch nimmt und auch im übrigen immer sich <
geltend macht, so ^ialJ die riclitige Besorgung ihrer Geschäfte
erst in zweiter Keihe kommt, die reinliche immer in erster.
Ron«sf^'rni erzählt nun, wie Eriiil und Sophie sich kennen und
lieben lernen. Elie sie heiraten, muü jedoch Emil, um die Festigkeit
seiner Liebe zu prüfen, Reisen machen. Diese Elisen haben auch den
Zweck, ihn mit verseliiedeneii iStaatseinrichtungen bekannt zu machen.
Wie vorher zwischen den Keli<>^i()iifMi, so soll nun Emil auch zwischen
den Staaten wälilen, um den zu finden, in dem er am liebsten wohnen
möchte. Keligionsios und vatcrlandslojä, wie er aufgezoircn worden ist,
muß Emil sich erst als .l .nq^linfr eine Keliju:ioii und ein Vaterland suchen.
T^ber das Reisen .seil)st sagt Kousseau :
Ich habe gesagt^ was die Keisen für jedermann nutzlos .
macht. !Noch nutzloser aber macht sie für die jungen Leute die
Art^ in der man sie reisen läßt. Die Erzieher^ die es mehr
auf ihre eigene Unterhaltung als auf die Belehrung der.
Zöglinge abgesehen haben^ führen sie Yon Stadt zu Stadt, von
Palast zu Palast, von Gesellschaft zu Gesellschaft; oder, wenn
sie Gelehrte und Schriftsteller sind, lassen sie jene ihre Zeit
damit zubringen^ daß sie die Bibliotheken ablaufen, Antiquare
besuchen, alte Denkmäler durchstöbern und alte Inschriften
abschreiben. In jedem Lande beschäftigen sie" sich mit einem
anderen Jahrhundert, gerade als ob sie es mit einem anderen
Lande zu tun hätten; sie kommen daher, nachdem sie mit großen
Kosten Europa durchlaufen und sich immer mit Nichtigkeiten .
abgegeben oder gelangweilt haben, wieder nach Hause, ohne
etwas gesehen zu haben, was sie interessieren, und ohne etwas
gelernt zu haben, was ihnen nützlich sein kann.
Alle Hauptstädte gleichen einander, alle Völker vermengen
sich in ihnen, alle Sitten vermischen sich; in ihnen darf man
die Nationen nicht studieren. Paris und London sind in meinen
Augen nur dieselbe Stadt. Ihre Einwohner haben einige ver-
schiedene Vorurteile, aber sie haben beide doch ebensoviele,
und alle ihre praktischen Grundsätze sind die nämlichen. Man
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III
weiß, welche Sorte von Menschen sieh an den Höfen zuaammen-
findet. Man wefB, welche Sitten die Anfeinanderhaufnng des
Volkes nnd die Ungleichheit der Lebenslagen überall hervor-
bringen mnB. Sobald ich von einer Stadt von zweimalhundert-
tausend Seelen höre^ so 'weifi ich zxun voraus, wie man darin
lebt. Was ich weiterhin über die Orte erfahren könnte, lohnt
nicht die Mühe, es dort zu lernen.
Ruusseau empfiehlt daher, den ''Högling lieber mit den Sitten
des Landvolkes bekannt zu machen, namentlich aber mit ihm die Staats-
einrichtungen zu studieren; die Reisen sollen ihn praktisch in die
Staatswissenschaft einfiiferen. Hierbei ergibt sich, daß die vaterlandslose
Gesinnung Rosseaus zum Teile von den kläglichen staatlichen Zuständen
des damaligen Frankreich veranlaßt war; denn er sagt:
Wenn ich zu dir von Bürgerpflichten redete, würdest du
mich vielleicht fragen, w o daa' Vaterland ist, und du würdest
glauben, mich widerlegt zu haben. Es wäre dennoch ein Irrtum
von dir, lieber Emil ; denn wer kein Vaterland hat, hat
wenigstens eine Heimat. Es ist doch immer eine Iiegierung
und ein Schein von Gesetzen da, unter denen er rnhig geleljt hat.
bage also nicht: Was liegt mir daran, wo ich bin.'^ Es ist
von Wert für dich, da zu sein, wo du alle deine Pflichten er-
füllen kannst; und eine deiner Pflichten ist die Anhänglichkeit
an den Ort dUeiner Geburt. Deine Landesgenossen beschützten
dich, als du ein Kind warst; du muBt sie lieben, nun du Mann
bist. Du mußt in ihrer Mitte leben oder wenigstens da, wo du
ihnen nützlich sein kannst, soviel dir möglich ist, und wo sie
dich holen können, wenn sie dich je brauchen.
Xaclidem Koussoru so der Vaterlandsliebe doch einio^crmaßen
zu ihrem Rechte vcrhoiten hat, erzählt er, wie Emil nnd Sopliif sich
wiederschoTi und Mann und Frau werden. Bemerkenswert sind die Worte,
die Emil am Schlüsse des Werkes an seinen früheren Erzieher richtet
und die in gewisser Hinsicht alles Vorangegangene widcrlecfenj sie lauten:
Gott verhüte, daB ich dich auch meinen Sohn erziehen
ließe, nachdem du den Vater erzogen hast! Qott verhüte, daß
eine so heilige und süße Pflicht je von einem anderen erfüllt
würde als von mir, sollte ich auch für ihn ebenso gut wählen,
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wie man für v\üc\i solbsi gewählt hat: aber bleibe du der Lehrer
der jungen Erzieher. Rate uns, leite uns: wir werden gelehrig
sein; solange ich lebe, werde ich deiner bedürfen. Jetzt, wo
meine Mannespflichten beginnen, brauche ich dich mehr als je.
Dil hast die deinigen erfüllt: führe mich, daß ich dir nachahme,
und ruhe nun aus; es ist jetzt an der Zeit.
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