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Full text of "Emil, oder Über die erziehung;"

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Emil, oder 





erziehung 




Jean-Jacques 
Rousseau 




Librairie . 

. GENI^VE- \ 




/ Cc 



HARVARD COLLEGE LIBRARY 




IN MEMORIAM 

ARTHUR STURGIS DIXEY 
1880 4" 1905 
HARVARD COLLEGE I9O2 



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Schulausgaben pädagogischer Klassiker. 

Uetauä^cgeben von 

Dr. Theodor Tupetz. 
Heft 6. * 



J, J. Rousseau, 

Emil oder Uber die Erziehung 

.HerauBg0geben von 

Dr. Theodor Tupetz, 

k. k. Laudesschulinspektor. 

Mit 1 Titelbild. 
2. idsdruck der 1. Auflage in neuer Kechtechreibung. 



Wien. Leipzij^. 

F. T e la p 8 k y. G. F r e y t a g. 

1005. 



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Inhalt. 



Seite 

I. J. J. Rousseau; sein Leben und Wirken 5 

II. Emil oder Über die Erziehung. 

Aus der Vorrede 10 

Erstes Buch 12 

Zweites Bueh . . . 42 

Drittes Buch 86 

Viertes Bueli 98 

Fünftes Bucli 106 



Druck von Rudolf M. Rohrer in Brünn. 



1. 

J. J. Rousseau; sein Leben und Wirken.^) 

Als unter der Regierung des sittenlosen und yerschwen- 
. derischen Königs Ludwig XV. sich jene allgemeine Tnzu- 
frietk'iiheit mit dem Bestehenden unter dem französischen 
Volke verbreitete, welche schließlich zu der furchtbaren Revo- 
lution von 1789 führte, trat in Frankreich ein Schriftsteller 
auf, der auch auf dem Gebiete der Erziehung eine Revo- 
lution herbeiführen, sie von Grund aus umgestalten 
wollte. Dieser Schriftsteller, der auch sonst mit Reeht als ein 
Vorläufer der Revolution betrachtet wird, hieß Jean 
Jacques Rousseau (sprich : Schan Schak Russoh). 

Rousseau wurde im Jahre 1712 geboren; seine Vater- 
stadt war Genf. Wie die meisten Einwohner dieser Stadt, 
bekannten sich auch die Eltern Rousseaus zur Lehre 
Calvins. Rousseaus Vater war einer der schon damals durch 
ihre Geschicklichkeit berühmten Genfer Uhrmacher; seine 
Mutter, eine durch Geist und Schönheit ausgezeichnete Frau, 
starb, als Rousseau geboren "svurde. „Meine Geburt war mein 
erstes Unglück," sagt darum Rousseau in der von ihm selbst 
verfaßten Geschichte seines Lebens. 

Die Erziehung, welche Rousseau von seinem Vater erhielt, 
war in mancher Hinsicht eine verkehrte; so gestattete ihm 
sein Vater, der selbst leidenschaftlich gern Romane las, schon 
im fünften und sechsten Lebensjahre gleichfalls solche zu lesen. 
Vater und Sohn lasen ganze Xiichtc miteinander, und wenn 
am Morgen das Zwitschern der Schwalben sie nufsehreckte, so 
sagte der Vater zuweilen beschämt: „Wir müssen zu Bette 
gehen, ich bin ein größeres Kind als du," 

Diese frühe Bekanntschaft mit Romanen bewirkte, daß der junge 
Knii<^sonti, wio er selbst gesteht, ganz sonderbare und überschwengliche 

Nach TupetK, Geschichte der Erjuehung und des Unterrichtes, 
2. Auflage; Prag, Tempsky 1896. 



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Vor8tellun«?eti vom inenschlielifTi Loben erhielt, von welclien wfdci' Er- 
fahrung? noch rV)erl(?guno: iliii üfanz wieder heilen koniitrn. Eine Folrrp da\-on 
war, daß er sicli zeitlebens, seUist als er selioii l)eriilnnt ö^eworden war, 
für einen nng-lückliehen, ungerecht verfolpften Men.sclieii hielt; auch 
seine Unzufriedenheit mit allem Bestellenden in Staat und Kirche war 
nicht bloß eine Fditjfe der damals wirklich vorhandenen Ubelstände, 
sondern zum croßeu Teile der TTnfähipflvcit Rousseaus. sich in die Menschen 
und die Verhältnisse, wie sie eluMi sind und waren, zu schicken. Die 
abgröttisehe Liebe, wehdie Rousseaus Vater seinem Sohne gegenüber 
zeigte, der Umstand, daß ihm alle seine Wünsche erfüllt wurden, so 
daß ihm „gar Tiieht war, als ob er Wünsche hätte", scheint ebenfalls 
ungünstig auf (ieti Knaben eingewirkt zu haben. 

Im achten Jahre verlor Eousseau auch die Fürsorge seines 
Vaters; dieser sollte nämlich infolge eines Rauf Handels in das 
Gefängnis gebracht werden, zog es aber vor, Genf für immer zu 
verlassen. Der junge Eousseau kam nun in die Obhut eines 
Predigers, der in einem Dorfe bei Genf wohnte und bei 
dem er Latein lernen sollte. 

Jfic wurde von demselben im gaiusen gut behandelt; doch hatte 
er einmal das Unglück, wegen eines an sieh unhedeutendeu Vergehens, 
das er noch dasu nicht einmal wirklich begangen hatte, eine harte 
körperliche Züchtigung zu erleiden. Dies machte auf ihn ein^ solchen 
Eindruck, daß er, wie er selbst erzäblt, von da an die Heiterkeit seines 
kindlichen Lebens verlor. 

Nach Genf zurückgekehrt, sollte er endlich einen Beruf 
wählen und kam, da er nicht wohlhabend .ffenug war, um an 
einer Universität zn studieren, zuerst als Schreibor zu einem 
Rechtsanwalt, dann als Lehrling zu einem K u p f e r s t e c Ii e r. 

I>ie Entbehrungen, die er hier zu erdulden hatte, die harte Be- 
handlung, die er erfuhr, standen zu seinem früheren, sorgenlosen Leben 
in grelh III Gegensatze; unfähig, sich in die neue Lage zu finden, wurde 
er faul, verlegte sich auf das Lügen und zuletzt auf das Stehlen. 

Für seine kleinen, aber immer sich wiederholenden Diebe- 
reien und andere schlechte Streiche von seinem Lehrherrn hart 
gezüchtigt^ faßte er endlich den Entschluß, zu f 1 i e h e n. Nach 
den Homanen, die er gelesen hatte> zweifelte er nicht daran, es 
werde ihm draußen in der großen Welt ein leichtes sein, auf 
irgendeine wunderbare Weise sein Glück zu machen. Natürlich 



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sah er sich bald enttäuscht. Von Ort zu Ort wandernd, mußte 
er, um seinen Lebensunterhalt zu finden, die verschiedensten 
Stellungen annehmen; bald war er Bedienter^ bald Musiklehrer^ 
bald Feldmesser, dann wieder Schreiber nnd Reisebegleiter. 

In Turin trat er zum katholischen Glauben über, in der — wie 
sich bald seigte — irrigen Hoffiiung, durch die Unterstützung vornehmer 
katholiBcher Würdenträger ein besseres Fortkommen zu finden. Als 
Mann kehrte er, um das Bürgerrecht von Genf, das er durch seinen 
Übertritt verloren hatte, wieder zu erhalten, zur calvinischen Lehre 
zurück. 

Auch als Erzieher versuchte sich Rousseau, und zwar 

zu Lyon, aber ebenfalls mit geringem Erfolge, weil er die aller- 
verkehrtesten Glitte! anwoiidetü. 

Bald snchtt' er, wie er selbst erzählt, seine Zöpfliiigfe tliirrh Ver- 
Huuftrrr'dTi(l(' zu leiten, welclie sie bei ihrem jugendlichen Alter noch 
g&v nicht verstehen konnten: ein aTidermal wollte er sie rühren, indem 
er sich an ihr Gefühl wen<lete, und wurde dabei so Avpicbmütj<r. daß er 
beinahe selbst weinte. Wenn alles nichts half, geriet er in Wut; daini 
aber hatte der Zöjrling erat recht den Sief»- über ihn davongctra^'^en. 
denn, wie er selbst sagt, „nun war er der Verständige und ich das 
Kind^'. 

Nach längeren Irrfahrten nahm endlich Kousseau seinen 
Wohnsitz in 1* a r i s. 

Hier überreichte er der franzosischen Akademie (einer von 
Bichelieu gegründeten Gesellschaft von berühmten Gelehrten nnd Dichtem 
weiche die Aufgabe hat, den Fortschritt der Wissenschaften und Künste 
zu fördern) einen Plan, nach welchem die Töne der Musik nicht mehr 
mit Noten, sondern mit Ziffern bezeichnet werden sollten, fand aber 
nicht den gehofften Anklang. Auch die Opern, welche er komponierte, 
die Lustspiele, welche er verfaßte, hatten keinen durchschlagenden 
Erfolg; doch gelang es ihm immerhin, durch seine Talente die Auf- 
merksamkeit hochgestellter Personen auf sich zu lenken und, von ihnen 
unterstutzt, ein Hauswesen zu gründen. Sein Dasein war freilich auch 
in dieser Zeit noch so wenig gesichert, daß er großenteils durch Noten- 
abschreiben seinen Lebensunterhalt verdienen mußte und die fünf Kinder, 
welche ihm nach und nach geboren wurden, samtlich in das Ftndelhaus 
gab, damit sie, wie er sagte, „lieber Bauern und Bürger würden statt 
Abenteurer und Glücksritter^ gleich ihrem Vater* 



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Als ßouöseau nahezu 40 Jahre ait war, qmg endlich sein 
sehnlichster Wunsch, 1j c r ü h m t zu werden, in Erfüllung, 
Er hatte in einer Zeitung gelesen, daß eine Gesellschaft von 
Gelehrten in D i j o n ^) einen Preis ausgeschrieben habe für 
die beste Beantwortung der Frage : „H aben die Eort- 
sc Ii ritte der Wissenschaften und Künste zur 
Keinigung der Sitten beigetragen?^' Er bewarb 
sich um diesen Preis^ indem er in seiner Abhandlung die Be- 
hauptung aufstellte, daß die Menschen durch die Wissenschaften 
und Künste keineswegs besser, sondern schlechter 
würden. Trotzdem erhielt er den Preis, weil er die Gabe besaß, 
durch den Glanz seiner [Darstellung selbst unrichtigen An- 
sichten den Schein der Wahrheit zu verleihen. 

Einig'e Jahre später schrieb Rousseau eine zweite Abhandlung 
„Über <lio Ursaelie der I' n gl ei chh c i t unter den Mensehen"; 
auch in dieser empfahl er die Rückkehr zum „Naturzustände", das 
ist zu jenem Ziistande, in welchem sich die rohesten Völker betinden, 
denen Kunst und Wissenscliaft noch völlig unbekannt sind. Der be- 
rühmte französische Schriftsteller Voltaire (sprich: AVoltähr). obwohl 
sonst in mancher Beziehung ein Gesinnungsg(!nosso Rousseaus, iH^n i kto 
spöttisch, als er das Buch gelesen hatte: „Noch nie ist so viel Geist 
aufgewi ndet worden, um uns womöqrlieh zu Vieh zu machen. Liest man 
Ihr Buch, so bekommt man Lust, auf allen Vieren zu laufen." Rousseau 
befolgte teilweise selbst die Lehren, die er in diesem Buelie gab, indem 
er seine Uhr, seinen Degen, seine seidenen Strümpfe usw. ablegte, grobe 
Wäsche und unansehnliche Kleidung trug und die .Jahresgehalte, die 
ihm augeboten wurden, nicht annahm, sondern trotz seines Ruhmes sich 
auch fernerhin vom Xotenabschreiben nährte. 

Von den übrigen Schriften Rousseaus ist der „Gesellschaf ts- 
vertrag" darum anzuführen, weil darin die I>ehre verkündet wird, daß 
ein Volk, welches schlecht regiert wird, das Hecht habe, sich gegen 
seinen Herrscher zu empören. lUese ebenso falsche als gefährliche Lehre 
wurde später von den Jak(d;inern und Schreckensmännern, von Dantüii| 
Marat, Robespierre usw. in blutige Taten umgesetzt. 

Sein letztes grülieres Werk gab Koussoau 1762, also im 
Alter von 50 Jahren heraus; es ist dasjenige, durch welches 

^) Sprich: Dischohn; in Burgund^ nördlich von Lyon, südöstlich 
yon Paris. 



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Rousseau seinen Ruf als pädagrocrischor Schriftsteller begründete, 
und führt den Titel : ,,E m i 1*' oder „Ü her die E r- 
ziehung^^ Das Buch ist keine eigentliche Erziehungslehre, 
sondern eine Art H o m a n, in welchem aber die Erziehung 
eines Knahen (eben des Emil, von dem das Buch den Kamen 
hat) bis zu seiner Verheiratung dargestellt wird. 

Der „Emil^^ zog Bousseau, vornehmlich wegen der darin 
ausgesprochenen religiösen Ansichten, manche Verfolgungen 
zu. Er mußte Paris verlassen, um der Verhaftung zu entgehen, 
und lebte von da einige Zeit als Flüchtliiifj: an verschiedenen 
Orten der Schweiz und in England. Zuletzt kehrte er aber doch 
wied(^r nacli Frankreich zurück; er starb in der Nähe von Paris 
im Jahre 1778. 



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IL 

Emil oder Über die Erziehung. 
Aus der Vorrede. 

über die Wichtigkeit einer guten Erziohiuig werde ich 
wenig sagen; ich werde aiirli nicht Jnnge beweisen, daß die her- 
kömmliche Erziehungsart eine schlechte ist: das haben tausend 
andere vor mir getan, und ich mag mein Buch nicht mit Dingen 
füllen, die jedermann weiß. Ich bemerke bloß, daß es seit un- 
denklichen Zeiten nur eine Stimme gibt gegen die herrschende 
Praxis, ohne daß jemand daran geht, eine bessere in Vorschlag 
zu bringen.') Literatur und Gelehrsamkeit sind in unserem 
Jahrhundert viel mehr darauf gerichtet, einzureißen als auf- 
zubauen. Man kritisiert alles von oben herab; um Vorschläge 
zu machen, Ii raucht man aber einen anderen Ton, in dem sich 
iin><'ro liolio l?hilos(>])hit' ") weniger gefällt. Ungeaolitet sovieler 
Bücher, die, wie man behau jitet, nur don öffentlichen Tvntzon im 
Auge haben, ist das Nützlichste, die Kunst, Monsehen zu bilden, 
immer noch vergessen geblieben. Meine Aufgabe war auch nach 
dem I^iu'h von Lock e ^) eine ganz neue und ich fürchte sehr, 
sie dürfte es auch nach dem meinigen noch sein. 

Die Kindheit ist uns «ine ganz unbekannte Sache; bei den 
verkehrten Ansichten, die wir darüber haben, müssen wir mehr 
und mehr in die Irre geraten. Die Weisesten fassen die Wichtig- 

*) Das Streben, die Erziehung, wie sie aus dem Mittelalter ererbt 
worden war, zu verbessern, geht bis nnf (^as Refonnationsalter zurück. 

-) Die damaligen „Aufklärer^', z. B. Voltaire, nannten sich mit 
Vorliebe Philosophen. 

^) John Locke (1632 — 1704), der bekannte enrrH''"cbe Philosoph, 
schrieb unter anderem „Gedanken über Erziehung"; di( >;(-- zu l^ou^'^oaus 
Zeit vielfiTflp'^pnf' "Werk enthält schon vieles, was auch im ,,Emir', nup 
weiter ausgeführt, sich fi^deti 



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keit einer gewissen Masse van Kenutnissen ins Auge, ohne zu 
erwägen, was die Kinder zu lernen imstande sind. Sie suchen 
im Kinde immer den Mann, ohne an das zu denken, was e& 
zuvor ist.^) Dies letztere^) ist nun das besondere Ziel meiner 
Nachforschungen gewesen, damit man, wäre meine Methode 
auch eine eingebildete und verkehrte, aus meinen Beobachtungen 
immerhin Nutzen ziehen könnte. Meine Maßnahmen mögen 
sehr unrichtig sein; das Ziel, auf das wir hinarbeiten müssen, 
glaube ich riehti,": erkannt zu hahon. Beginne also deinen Zög- 
Y\n^ hes^^er zu (erforschen, denn du kennst ihn ganz Ijcsiinimt 
nicht, und wenn du dann in Hinsieht darauf mein Buch liesest, 
so dürfte es dir einigen Nutzen gewähren. 

Hinsichtlich des Teils, den man den systematischen nennen 
wird, der aber bei mir mit dem Gange der Natur zusammen- 
fällt, wird der Leser sich am meisten befremdet fühlen; hier 

wird man mich auch ohne Zweifel bekämpfen, und vielleicht 
nicht mit Unrecht. Man wird weniger eine Abhandlung über 
Erziehung zu lesen glauben als die Träumereien eines Phau- 
tast(Mi über Sachen der Erziehung.") Was soll ich tun? Ich 
schreibe nicht nach den Gedanken anderer, sondern nach meinen 
eigenen. Ich sehe die Dinge nicht wie andere Menschen; das hat 
man mir lange genug vorgeworfen. Kann ich mir denn aber 
andere Augen geben, kann ich fremde Gedanken in mir ent- 
stehen lassen? — Nein ! Nur das vermag ich, daß ich nicht ganz 
in meiner Meinung aufgehe, daß ich nicht für mich allein weiser 
zu sein glaube als die ganze Welt, daß ich zwar nicht ohne 
weiteres meine Meinung andere, aber doch meine Bedenken 
ihr gegenüber hege; das ist alles, was ich tun 1 .niiu und ich tue 
es auch. Wenn ich nun manchmal in entscliK tliMiem Tone 
spreche, so will ich dem Leser nichts mit (rowalt einrtMlcn, ich 
will eben nur zu ihm sprechen, wie ich denke. Warum soll ich 
ihm als zweifelhaft vortragen, worüber ich meinerseits keinen 



^) behandeln die Kinder, als ob es Männer wären. 

2) Die Erforschung^ der Kindesnatnr. 

^) Pest^Ioszi naniite wirklich den «Smü^ ein „Traumbuch"^ 



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Zweifel habe? Ich wül genau wiedergeben, was in meinem 
Geiste vorgeht/) 

Erstes Baeh, 

Alles ist gut^ wie es aus den Händen des Schöpfers hervor- 
geht; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt 
ein Land^ die Erzeugnisse eines andern hervorzubringen, einen 
Baum, die Früchte eines andern zu tragen; er vermischt und 

verwirrt Klimate, Elemente, Jahreszeiten; er verstüiuinelt seinen 
Hund, sein Pferd, seinen Sklaven, alles stellt er auf den Kopf, 
alles entstellt er; er liebt die Mißbildung, das Tlnofeheuerliche; 
nichts will er so haben, wie es die Natur gemacht hat, nicht 
einmal den Menschen; er will ihn zugerichtet haben wie ein 
Keitj^ferl, zugestutzt nach der Mode wie einen Baum in seinem 
Garten.^) 

Ohne das würde alles noch schlimmer gehen, und unsere 
Art will nicht nur halb zugrunde gerichtet sein. Wie die Dinge 
in der Folge sich zu gestalten pflegen^ würde ein von Geburt an 
mitten unter den anderen sich selbst überlassener Mensch der 



^) Bous 88 au erwartet also selbst nicht, daß man seine Ansichten 
kritiklos annimmt. 

^ Es ist nicht schwer, die Übertreibung zu erkennen, die in allen 
diesen SStzen liegt. Wenn der erste Satz richtig wäre, müßten auch 
blutdürstige Tiger, giftige Schlangen, lastiges Ungeziefer als gut be- 
zeichnet werden; wenn die folgenden richtig wären, so müßte ein ver- 
edelter Obstbaum, der schmackhafte Früchte tragt, schlechter sein als der 
Holzapfelbaum, dessen Früchte sauer und ungenießbar sind, dürre Wüsten 
und Steppen hätten den Vorzug vor wohlangebauten Feldern, Wein- 
bergen und Gemüsegarten, wilde Tiere den Vorzug vor zahmen usw. 
usw. Bousseau hätte also höchstens sagen dürfen: „Manche Dinge 
sind besser, wie sie von Natur sind, und entarten erst unter den Hunden 
der Menschen*'; dieser bescheidene Ausspruch hätte aber freilich kein 
solches Aufsehen hervorgerufen wie die starken Behauptungen, welche 
oben angeführt sind, und hätten auch Rousseau unmöglich gemacht, 
solche Folgerungen daraus abzuleiten, wie er sie aus jenen tatsächlich 
ableitete* 



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entstellteste von allen sein. Vorurteil, Beeiniiussung, Zwang, 
Beispiel^ alle die gesellschaftlichen Einnchtuiigen^ die uns über- 
fluten^ würden die Katnr in ihm ersticken und nichts an ihrer 
Stelle zurücklassen.^) Es würde ihm gehen wie einem Banmchen^ 
das der Zufall mitten auf der LandstralSe hervorwachsen laßt 
und das die Vorübergehenden, die rechts und links daran 
stoßen und es nach allen Richtungen umbiegen, bald verderben. 

An dich wende ich mich daher, zärtliche und vorsorgliche 
Mutter,-) der es gelungen, von der breiten Heerstraße fern 

^) Wenn nicht der Ersieher selbst die Kinder verdirbt, wie ea 
die Welt Terlangt, so tut es, und zwar in noch hSherem Grade, die 
sonstige Umgebung^ des Kindes* 

^) Hierzu macht Rousseau selbst folgende Anmerkung: Die 
erste Eniebung ist die wichtigste und diese gehört unbestreitbar den 
Frauen. Deshalb spreche man in Ersiehuugs werken immer vonugsweise 
SU den Frauen; denn außerdem, daß sie imstande sind, die Erziehung 
grauer zu überwachen als die Minner und immer einen größeren Ein- 
fluß auf dieselbe ausüben, sind sie auch an ihrem Erfolge mehr be> 
teil igt, weil die meisten Witwen auf die Ghiade ihrer Kinder angewiesen 
sind, die ihnen dann die Wirkung ihrer Erziehung im Guten oder 
Schlimmen sehr deutlich zu fühlen geben. Die Gesetze, die sich immer 
so viel mit den Gütern (Sachen) und so wenig mit den Personen zu 
schaffen machen, weil sie den Frieden (die bloße Verhütung des Streites) 
zum Zweck haben und nicht die Tugend, gestatten den Müttern nicht 
genug Einfluß. Dennoch ist ihre Lage eine viel sicherere als die der 
Väter; ihre Pflichten sind mühevoller; ihre Sorg&lt trägt mehr zur 
guten Ordnung in dea FMinUien bei; im allgemeinen haben sie mehr 
Zuneigung für die Kinder. Es gibt Fälle, wo man einen Sohn, der 
seinem Vater die gehörige Achtung versagt, irgendwie entschuldigen 
kann; aber wenn in irgendwelchem Falle ein Kind entartet genug wäre, 
sich achtungswidrig gegen seine Mutter zu benehmen, die es in ihrem 
Schöße getragen, die es an ihrer Brust ernährt hat, die Jahre hindurch 
sich selbst vergessen, um sich nur ihm zu widmen, so müßte man dieses 
elende Geschöpf je eher je lieber vertilgen wie ein Ungeheuer, das die 
Sonne zu sehen nicht wardig ist. Man sagt, die Mütter verziehen die 
Kinder. Darin haben sie ganz sicher Unrecht, doch vielleicht weniger 
als ihr, die ihr sie herabwürdigt. Die Mutter will, daß ihr Kind glücklich 
sei, und zwar sogleich. Darin hat sie recht und wenn sie sich in den 



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u 



zu bleiben und das lu ranwachsende Bänmchen vor dem Sturme 
der menBchliehen Meinungen zu wahren. Pflege, begieße die 
junge Pflanze, bevor sie dahinsiecht; ihre Früchte werden einst 
deine Wonne sein! Ziehe frühzeitig eine Schutzwehr um die 
Seele deines Kindes; ein anderer mag das Gebiet nach auJkn ab- 
grenzen, aber du allein hast die Sehranke zu setzen.*) 

Den Plianzen gibt man eine bestinimto Fonn durch die 
Art des Anbaues, den Menschen durch die Erziehung. Käme 
der Mensch groß und stark zur Welt, seine Größe und Stärke 
wäre ihm unnütz bis zu dt m Augenblicke, wo er golornt, sich 
ihrer zu bedienen; sie wäre sogar bedenklich Xür ihn, weil sie 
andere verhindern würde, ihm behilflich zu sein; sich selbst 
überlassen, würde er im Elend umkommen, bevor er nur seine 
Bedürfnisse kennen gelernt hätte. Der Zustand der Kindheit 
(ihre Hilflosigkeit) scheint beklagenswert; aber man denkt 
nicht daran, daß das Menschengeschlecht schon zugrunde ge- 
gangen wäre, wenn der Mensch seine Existenz nicht als Kind 
begonnen hätte. 

Rousseau bespricht mm dio „drei Arten von Lelirern", die auf 
(las Kind ciiiwiikt ii. „die Natur", welche der Erzieher gar nicht nadi 
st iiu'iu Willi'u Iniki'ii küniie, „die Dinge", das ist die von dem Zöglinge 
selbst gewoinit'iic Erfahrung, auf die der Eiutluß des Erziehers nur 
gering sei, cudlii li ..die Menschen", über welche allein die Erziehung 
einige (it wult habt . Da die Erziehung nur gelingen k<"iuiie. wenn diese 
drei Erziehungsfaktoren in gleicher Kichtung wirken, der Erzieher aber 
die Natur und die Dinge nicht rxlcr nur wenig beeiuliusseii kann, so 
niuli sich nach Rousseau die Erziehung durcli die Menschen der durch 
die Natur und liurch die Dinge anpassen. Als Beispiel, wio die Natur 
doch schließlieli Sieoerin blei})t, führt Rousseau rilunzen an. die mau 
am Antwärtswach?jeu hindern will und die immer wieder nach oben 
treilieu. 

Mittehl vergreift, so muß man sie aufklaren. Ehrsucht, Geiz, Bedr&ckiing, 
die mißTerstandene Vorsorge der YSter, ihre Nachlässigkeit, ihre rauhe 
Gefühllosigkeit sind für die Kinder hundertmal verhingnisToUer als die 
blinde Za'rtlichkeit der Hütter. 

^) AVie und wo die Schntzwehr anzubringen sei, kann ein anderer 
raten, z. B. Rousseau selbst; die Ausführung aber ist Sache der Mutter 



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Die staatlichen Einrichtungen sind aber mit dem Nnfiirzustande, 
wie ihn Rousseau sich denkt, in Widerspruch, und zwar nicht bloß die 
staatlichen Einrichttmgen im damalijoren Frankreich, die freilich mang^el- 
haft genug waren, sondern alle, selbst die sonst bewunderten der Spar^ 
taner und Römer. Als Beweis, daß am Ii die «spartanische und römische 
Erziehung widernatürlich gewesen sei, führt er unter anderem die spar- 
tanische Mutter an, die frohlockt, weil das spartanische Heer gesiegt 
hatte, obgleich ihre fünf Söhne im Kampfe gefallen waren, und Regulas, 
der sich dem qualvollsten Tode preisgab, um Rom zu retten. Rousseau 
sagt daher geradezu: man müsse sich entscheiden, ob man die Natur 
oder die gesellschaftlichen Einrichtungen bekämpfen, einen Menschen 
oder einen Bürger bilden woUe; denn beides zugleich sei nicht 
möglich. 

An einer andern Stelle sagt er sogar: Die Worte „Vaterland" 
und ..Bürgfpr' sollten aus den modernen Sprachen getilgt w^erden. So 
ist der \atmnien««ch, den Rousseau heranbilden will, ein Mensch ohne 
Vaterland, ohno rechte'^ Hpimatgefühl, ein Mensch, für den es gleich- 
gültig ist, wo er geboren und erzogen worden ist. 
Rousseau wirti die Frage auf: 

Was haben wir nun zu tuo, um diesen soltonen Menschen 
zu bilden? Viel ohne Zweifel: — zu verhüten, daß etwas getan 
werde.^) Wenn es sich nur darum handelt, gegen den Wind zu 
segeln, so laviert man;*) geht aber die See hoch und man will 
auf der Stelle bleiben, so muß man die Anker auswerfen.') Sei 
auf der Hut, junger Schiifsmann, daß dein Tau nicht schleppe 
oder dein Anker den Gnmd (bloß) furche und daß nicht das 
Schiff forttreibe,*) bevor du es iiier 

In der (jetzt bestehenden) gesellschaftlichen Ordnung, wo 
alle Stellen vorher bestimmt sind, muß jedor für die soinigc 
erzogen werden. Wenn ein einzelner eine Stelle, für die er ge- 
bildet ist, verläßt, so i^t r für nichts mehr geeignet. Pie 1>- 
Ziehung ist für das Kind nur insoweit von Nutzen, als das 

') Also nichts zu tun? Soll die Erziehung darin bestehen, daß 
der Zögling aufwächst wie der Baum im Walde? Rousseau will wohl 
nur sagen, daß nichts Naturwidriges geschehen dürfe. 

^ Sucht auf Umwegen sein Ziel zu erreichen. 

^) Maßregeln treffen, um naturwidrige Einflüsse femxubalten. 
In das Weltgetriebe bineingeTiasen werde. 



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Schicksal mit der Bestimmung der Eltern übereinstimmt; in 
jedem andern Falle ist sie dem Zöglinge schädlich» wäre es auch 
nur der Vorurteile wegen» die sie ihm beigebracht hat. In 
Ägypten» wo der Sohn den Beruf des Vaters ergreifen mußte, 
hatte die Erziehung doch ihr sicheres Ziel; aber bei uns» wo nur 
die Stellen bleiben und die Menschen fortwährend wechseln, 
weiß niemand, ob er nicht gegen seinen Sohn arbeitet, wenn er 
ihn für seinen Stand erzieht. 

In der natürlchcii Ordnung, wo die Menschen alle gleich 
sind, ist ihr gemeinsamer Beruf der des Menschen, und wer nur 
immer für diesen gut erzogen ist, muß jeden andern» der damit 
in Beziehung steht» recht ausfüllen können. Meinetwegen mag 
man meinen Zögling zum Kriegs-» zum Kirchen- oder Gerichts- 
dienst bestimmen. Vor der Bestimmung der Eltern hat die 
Natur ihn für ein menschliches Leben bestimmt. Leben ist das 
Handwerk» das ich ihn lehren will. Wenn er aus meinen Händen 
hervorgeht, wird er freilich weder Beamter noch Soldat noch 
rriester sein, er wird in erster Linie .Mensch sein: alles was ein 
Mensch sein muß, wiid er, wenn es nötig ist, ebensogut sein wie 
irgentl jemand, und mag ihn auch das Schicksal von einer Stelle 
au die andere t r e i b e n, er wird immer an s e i n e r Stelle sein. 

Wir müssen also in unserem Zögling den Menschen au 
sich betrachten» ausgesetzt allen Zufällen des menschlichen 
Lebens. Wenn die Geburt den ^lensilien an den Boden eines 
Landes bände» wenn die nämliche Jahreszeit das ganze Jahr 
hindurch dauerte» wenn jeder Mensch unTerrückbar an eine 
bestimmte Lebenslage geheftet wäre» so wäre die herrschende 
Praxis in mancher Hinsicht richtig; das Kind würde dann für 
seinen Stand erzogen, und da es diesen nie verlassen könnte, 
wäre es den TTnzulra^lichkeiten eines andern nicht ausgesetzt. 
Kann man al)er angesii-lits der Wandelbarkeit der menschliclien 
Dinge, angesichts des unruhigen und rastlosen Geistes dieses 
Jahrhunderts, das in jeder Generation (in jedem Menschen- 
alter) wieder alles umstürzt» was die vorige geschalten hat»^) 

^) Schon hier ist eine prophetische Andevtimg der großen Revo- 
lution, die im Jahre 1789 wirklich eingetreten ist. 



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sich eine imsinnigere Methode denken als die, ein Kind so zu 
erziehen, als dürfte es ni(^ sein Zimmer verlassen, als müßte 
es imni^T in der Mitte der Seini^rfri ))leil)en? Wenn sich der 
(Jagiückliche einen cinzifjen Schritt hinauswagt, wenn er eine 
einzige Stufe hinabsteigt, so ist er verloren. So lehrt man 
nicht Ungemach ertragen, sondern nnr es noch stärker fühlen. 

Man denkt nur darauf, sein Kind zu erhalten; das ist aber 
nicht genug, man muß es lehren, wie es als Erwachsener sich 
selbst erhalte, wie es die Schläge des Schicksals ertrage, dem 
Überfluß und dem Mangel trotze, wie es, wenn es sein muß, 
auf den Eisfeldern Islands oder auf den glühenden Felsen von 
Maiia leben könne. Ma.irst du auch deine Vorkehrungen treffen, 
daß es nicht umkomme, sterben muß es dennoch, und wenn sein 
Tod auch nicht die Folge deiner Sorgfalt w*äre. so wäre diese 
(die Sor^^falt) dennoch verkehrt. Es handelt sich weni^^er darum^ 
das Kind vor dem Sterben zu hüten, als darum, ihm ein rechtes 
Leben zu geben. Leben ist nicht Atmen, Leben ist Handeln, 
Leben heißt seine Orgahe gebrauchen, seine Sinne, Fähigkeiten, 
alle Teüe seines Wesens, die uns das Gefühl unseres Daseins 
geben. Nicht derjenige Mensch hat am meisten gelebt, der die 
meisten Jahre zahlt, sondern derjenige, der am meisten sein Leben 
empfunden hat. Manchen hat man in seinem hundertsten Jahre 
begraben, der im Augenblick seiner Geburt gestorben ist. Es 
wäre ihm besser ergangen, wenn er jung gestorben wäre; er hätte 
wenigstens bis zu jener Zeit gelebt. 

All unsere Weisheit besteht in knechtischen Vorurteilen; 
alle unsere Gebräuche ^) sind nichts als Sklaverei, Druck und 
Zwang. Der bürgerliche Mensch^) kommt als Sklave zur Welt, 
er lebt und stirbt als Sklave; nach seiner Geburt schnürt man 
ihn in ein Wickelband; nach seinem Tode nagelt man ihn in 
einen Sarg ein; solange er seine menschliche Gestalt bewahrt, 
ist er durch unsere Einrichtungen gebunden. 

Man sagt, manche Hebammen wollen den Köpfen der 
Neugehorenen durch Drücken eine anständigere Form geben, 

^) Soll heißen: eini<^e unserer Gebraache« 
^) Der für die Welt, wie sie ist, ersogene Mensch. 
Sobitlaasgalieii pädayogiaciier Klassiker. Heft 6. 2 



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und das duldet man! Unsere Köpfe waren also ungeschlacht, 

wie sie der Urheber der Dinge geformt hat; wir müssen sie erst 
formen, von aulJen durch die Hebamme, im Innern dnrch die 
Philosophen. 1) Da sind doch die Karaiiben um die Hälfte glück- 
licher als wir.*) 

Kaum ist das Kind geboren^ kaum geniei^t es die Freiheit, 
seine Glieder zu bewegen und auszustrecken, so legt man es 
schon in neue Bande. Man wickelt es ein und legt e? hin mit 
festgebundenem Kopf und ausgestreckten Beinen^ die beiden 
Arme hart am Leibe; man umgibt es mit Binden und Bändern 
aller Art^ die ihm nicht gestatten, seine Lage zu Terändem. 
Ein Glück, wenn man ihm nicht den Atem dabei geraubt und 
wenigstens die Vorsicht gebraucht hat, es auf die Seite zu legen, 
damit die Flüssigkeit, die es durch den ^Fiind von sich geben 
jnuß, von selbst abfließen kann! Denn es hätte nicht so viel 
Freiheit, den Kopf auf die Seite zu wenden, daß sie leichter 
ausfließen könne. 

Das neugeborene Kind hat das Bedürfnis, seine Glieder 
auszustrecken und zu bewegen, um ihnen die Starrheit zu be- 
nehmen. "Nim streckt man sie allerdings aus, aber man gestattet 
ihnen die freie Bewegung nicht; sogar den Kopf zwängt man 
ein durch Kopfbänder; man hat, wie es scheint, die Befürchtung, 
das Kind könnte aussehen, als lebte es wirklich. 

So findet der Trieb der inneren Teile eines nach Wachstum 
strebenden Körpers unübersteigliche Hindernisse für die Be- 
wegungen, die er von demselben verlangt. Das Kind müht sich 
ab mit nut/Iost n Anstrengungen, die seine Kraft erschöpfen 
und deren l'ntwicklung verzögern. 

Die Untätigkeit nnd der Zwang, worin man die Glieder 
eines Kindes gefangen hält, müssen unbedingt den Lauf des 
Blutes und der Säfte hindorn: sie machen es dem Kinde un- 
möglich, sich zu kräftigen und zu ¥rachsen und schädigen seine 
Körperanlage. In den Gegenden, wo man von diesen über- 

^) Die Aufklärer. fTpupn Rnupsean kpinppwpofs o-anz ziistiTTimte. 
2) Sie v(;runstalt< n nämlich die Köpfe ihrer Kinder wenigstens 
nur von auüeu, nicht von innen. 



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19 



triebenen Vorsichtsmaßregeln nichts weiß, sind die Menschen 
alle groß, stark und gut gewachsen. Die I^nder^ wo man die 
Kinder wickelt, wimmeln von Buckligen, Hinkenden, Krumm- 
beinigen, Krüppeln, Bhachitischen und Verwachsenen jeder 
Art. Aus Furcht, der Leib möchte durch freie Bewegung miß- 
gestaltet werden, entstellt man ihn lieber gleich durch Ein- 
schniiiLii. ^laii iiiöchte ihn gern bewegungslos machen, damit 
er nicht verkrüppeln könne. 

Sollte ein so herzloser Zwang nicht auf die Gemüts- 
slininiung dor Kinder Einfluß haben wie auf ihre Leibes- 
beschalfenheiti^ Ihr erstes Gefühl ist Schmerz und Qual; bei 
allen Bewegungen, die sie machen müssen, finden sie ein Hin- 
dernis; unglücklicher als ein gefesselter Sträfling, mühen sie 
sich nutzlos ab, brechen in Zorn und Weinen aus. Tränen, 
sagt man, sind ihr erster Laut; ich glaube es wohl: von ihrer 
Geburt an bedrangt man sie; das erste Geschenk, das sie von 
uns erhalten, sind Fesseln, die erste Behandlung, die sie erfahren, 
sind Qualen. Nur die Stimme läßt man ihnen noch frei; warum 
sollten sie sich ilirer nicht bedieneUj um sich zu beklagen? 
Sie sclireien über das Übel, das man ilinen zufügt; wärest du 
geknebelt wie sie, du würdest noch mehr schreien. 

Woher kommt dieser unvernünftipre Gebrauch? — Von 
einer naturwidrigen Gewohnheit. Seitdem die Mütter, ihrer 
ersten Pflicht vergessend, ihre Kinder nicht mehr selbst auf- 
ziehen wollen, hat num sie gemieteten Weibern anvertrauen 
müssen, welche nun, als Mütter fremder Kinder, für die die 
Natur ihnen kein Gefühl eingeflößt hat, nichts Angelegent- 
licheres zu tun haben, als sich das Geschäft leicht zu machen.') 
Bin Kind in voller Freiheit würde einer fortwährenden Über- 
wachung bedurft haben; aber wenn es gut eingebunden ist, 
wirft niiiii es in einen Winkel und kümmert sich nicht um 
sein Geschrei. Wenn man keine Beweise von der Nachlässigkeit 
der PÜegemutter hat, wenn der Pflegling keinen Arm oder kein 

An Knochenerweichung Leidenden. 
*) BouBseau .betrachtet, wie ersehen, als Begel, was Eum 
Glücke jetst vielleicht seibat in Frankreich nur Ausnahme ist. 

2* 



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20 



Bein briclu, was liegt dann wciu r ihirau. ub er verkomme oder 
sein ganzes Leben hindurch schwächlich bleibt? Man erhält 
seine Glieder auf Kosten seines Leibes, und die Amme ist 
entschuldigt, mag da kommen, was wolle. 

Wissen diese süBen Mütter, die, nnbelästigt von ihren 
Kindern, sieh fröhlich den Freuden des Stadtlebens hingeben, 
wissen sie denn, welche Behandlung das Kind in seinem Wickel- 
kissen auf dem Dorfe erfährt? Bei der geringsten zufälligen 
Störung hängt man es wie ein Bündel Wäsche an einen Nagel, 
und während die Amme, ohne sich zu übereilen, ihren Geschäften 
nacligeht, bleibt das unglückliche Wesen so gekreuzigt hängen. 
Alle, die man in dieser Lasre anLrctrofTon hat, waren blaurot 
im Gesichte; die aewnltsjaui zusaiüuion;^ej)roßio Brust ließ das 
Blut nicht mehr zirkulieren, so daß es in den Xvopf stieg, und 
man hielt das arme Wesen für sehr ruhig, weil es nicht mehr 
schreien konnte. Ich weiß nicht, wie viele Stunden- ein Kind 
ohne Lebensgefahr in diesem Zustande verharren kann; aber 
ich zweifle, ob es das sehr lange aushält. Das ist, wie es scheint, 
einer der größten Vorteile des Wickelkissens. 

Man behauptet, die Kinder könnten bei gänzlicher Freiheit 
gefährliche Lagen annehmen und Bewegungen machen, die für 
die gute Ausbildung ihrer Glieder srhiidlich worden könnten. 
Das ist eine von den leeren Verniini loli icn unserer falschen 
Weishoit, denen die Erfahrung nie recht ,i:(\u"('l)eu hat. Von all 
den viidcn Kindern, welche hei vermin i'tigen Völkern im un- 
beschrankten Gebrauche ihrer Glieder aufgezogen werden, sieht 
man keines, das sich verwundete oder beschädigte; sie können 
ihren Bewegungen die Kraft nicht geben, die sie gefährlich 
machen könnte, und wenn sie eine gewaltsame Lage annehmen, 
so erinnert sie der Schmerz bald daran, sie zu ändern. 

Es ist uns noch nicht eingefallen, die jungen Hunde und 
Katzen ins Wickelkissen zu legen: hat man irgendwelche 
schädlichen Folgen dieser Vernachlässigung bei ihnen bemerkt? 
Die Kinilc!' sind schwerer: freilich; aber sie sind auch um so 
viel seliuächer. Sie kr>nnen sich kaum bewegen; wie sollten 
sie sich da beschädigen? Wenn man sie der Länge nach auf 



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I 



21 



deu liüeken legte, würden sie iu dieser Lage sterben wie die 
Schildkröte^ ohne sich je umdrehen zu können. 

Rousseau besprielit sodann die Unsitte, die Kinder Ammen zu. 
abergeben, statt sie selbst zu nähren, wodurch die Mutter den besten 
Teil ihrer Rechte an eine Fremde verliere, und f&hrt dann fort: 

Von dieser ersten Verderbnis kommt der Reihe nach alles 

andere her; die ganze sittliche Ordnung verschiebt sich; die 
jiaUirliihen licguiigen des Herzeus ersterben; das Leben in 
den Häusern wird weniger belebt; es fohlt das rührende Schau- 
spiel einer heranwachsenden Familie, das den Gatten an sein 
Haus fesselt und den Fremden Achtung auferlegt; eine Mutter, 
von der man keine Kinder sieht, achtet man weniger; die 
Familien bieten keine bleibende Stätte mehr; die Gewöhnung 
befestigt nicht mehr die Bande des Blutes; es gibt weder Väter 
inehr noch Mütter noch Kinder noch Geschwister; man kennt 
sich kaum; warum sollte man sich da lieben?^) Jeder denkt 
nur noch an sich. Und wenn das Hans nur noch, eine traurige 
Einöde ist, so muß man das Vergnügen auswärts suchen. 

Wo es keine Mütter mehr gibt, gibt es auch keine iviiider. 
Ihre Pflichten sind wechselseitig: werden sie von der einen 
Seite nicht recht erfüllt, so werden sie auch von der andern 
vernachlässigt. Das Kind muß seine Mutter lieben, bevor es 
weiß, daß dies seine Pflicht ist. Wenn die Stimme des Blutes 
nicht durch Gewohnheit und liebevolle Pflege unterstützt wird, 
so verstnmrat sie in den ersten Jahren, und das Gefühl stirbt^ 
wenn ich so sagen darf^ bevor es geboren wird. So stehen wir 
schon von den ersten Schritten an außerhalb der Natur. 

Aber man verläßt sie auch noch auf einem entgegen- 
gesetzten Wege, wenn eine Frau ihre Mutterpflichten nicht 
etwa vernachlässigt, sondern sie übertreibt, wenn sie aus dem 
Kinde ihren Abgott iiiacht, wenn sie siMnc Siliwäche steigert 
und nährt, damit es sie selbst nicht fühlen soll, und wenn sie, 
in der Hoflnung, es den Gesetzen der Xatur zu entzieheji, jeden 

^) Rousseau setzt aucb hier voraus, daß die Kinder, w'w es zu 
seiner Zeit in Frankreich üblicb war, außerhalb des Eltf>rnhaus« s 
von Fremden (z. B. von Landleuten oder iu Pensionen) erzogen werden. 



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2,2 

Anlaß zum Schmerze von ihm fernhält, oliiie daran zu denken, 
daSi sie, um einiger Unbequemlichkeiten willen, vor denen sie 
es für den Augenblick bewahrt, Unfälle und Gefahren für die 
Zukunft auf sein Haupt lädt, und daß es eine unmenschliche 
Vorsicht^) ist, die Schwäche des Kindesalters noch bis in die 
müheyoUe Zeit des Mannesalters hinein zu verlängern. Thetis 
tauchte, wie die Fabel erzählt, ihren Sohn (Achilles), um ihn 
unverwundbar zu machen, in die Fluten des Styz. Diese Allegorie 
ist hübsch und deutlich.^) Die herzlosen Mütter, von denen ich 
spreche^ machen es anders; sie tauchen ihre Kinder so sehr 
in die Weichlichkeit ein, daß sie dieselben förmlich zum Leiden 
vor])ereiten; sie öffnen ihre Poren für Übel aller Art, denen 
jene als Erwachsene ganz sicher znr Bente fallen werden. 

Beobachte die Natur und folge dem Wege, den sie dir vor- 
zeichnet. Sie übt die Kinder unablässig; sie härtet ihren Leib 
durch Proben jeder Art; sie lehrt sie frühzeitig, was Beschwerden 
und Schmerz sind. Das Durchbrechen der Zahne veranlaßt 
ihnen Fieber; heftige Leibschmerzen machen ihnen Krämpfe; 
anhaltender Husten bringt sie zum Ersticken; die Würmer 
plagen sie; Vollsäftigkeit verdirbt ihr Blut; allerhand Säuren 
gären darin und rufen gefährliche Ausschläge hervor. Fast das 
ganze erste Lebensjahr ist KraiikiiciL und Gefahr; die Hälfte 
der Kinder, die zur Welt kommen, stirbt vor dem achten Jahre. 
Sind diese Pro])en aber bestanden, so hat das Kind an Kräften 
gewonnen, und die Grundlagen seines Lebens werden, sobald 
es dasselbe gebrauchen kann, sicherer. 

Das iht die Regel der Natur. Warum handelst du ihr 
entgegen? Siehst du nicht, daB du ihr Werk, indem du es zu 
verbessern meinst, zugrunde richtest und die Wirkung ihrer 
Sorge aufhebst? Du glaubst, die Gefahr zu verdoppeln, wenn 
du das von außen tust, was sie von innen tut^^^ während sie 

*) Es ist scheinbar vorsichtig, in AVirklichkeit umnenscblicb. 

^ Thetis hat ihren Sohn bacbstiihlich ,,abgehärtet''| ihn mit einer 
harten, nnduri-hdringlichen Haut versehen. 

3) Die Natur härtet von innen ab, der Erzieher soll es von 
außen tun. 



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dadurch vielmehr abgeh?nkt und vermindert wird. Die Erfahrung 
lehrt, daB von den verzärtelten Kindern noch mehr sterben als 
von den anderen. Wenn man nur das Maß ihrer Kräfte nicht 
überschreitet, läuft man weniger Gefahr, wenn man sie in 
Tätigkeit setzt, als wenn man sie schont. Bereitet sie also Tor 
für die schmerzlichen Fälle, die sie einst werden ertragen müssen. 
Härtet ihre Leiber ab ^^gen die Unbilden der Witterung, des 
Klimas, der Elemente, gegen Ihmger, Durst und Ermüdung; 
tanclu't sie ein in die Wasser des Stvx.i) Bevor der Leib sieh 
seine (Jewohniieit reihst irebildet hat. yibt )nan ihm ohne (iefahr 
diejenige, die man ilim beibringen will; liat er al)cr einmal seine 
bleibende Art angenommen, so wird ihm jede Störung gefährlich. 
Ein Kind kann Arten des Wechsels ertragen, die ein Erwachsener 
nicht ertragen würde; die weichen und biegsamen Gewebe des 
ersteren lassen sich ohne Mühe gewöhnen, wie man will; die 
schon hart gewordenen des Mannes lassen sich nur durch 
(Gewalt in eine andere Verfassnng bringen. Man kann demnach 
ein Kinä kräftig machen, ohne sein Leben und seine Gresundheit 
aufs Spiel zu setzen, und wenn auch irgendeine Gefahr dabei 
wäre, so dürfte man innner noch keinen Anstand nehnitni. Da 
dies ( J(>i"alircn sind, die mit dem nifiischljehen Leben untrtMinbar 
verbunden sind, ist es doch gewiß heiser, sie auf diejenige 
Lebenszeit zu veriegen, wo sie am unschädlichsten sind. 

Ein Kind, das eben geboren wird, schreit; seine erste 
Kindheit Tergeht mit Weinen. Bald schaukelt und liebkost 
man es, um es zur Buhe zu bringen; bald droht man ihm und 
schlägt es, um es zum Schweigen zu nötigen. Entweder tun 
wir, was ihm gefällt, oder wir verlangen von ihm, was uns 
gefällt; entweder unterwerfen wir uns seinen Launen, oder wir 
unterwerfen es den unsrigen; nirgends ein Mittelweg, es muß 
Befehle gibcn oder annehmen. So sind seine ersten Eindrücke 
die der HerrBchai't und der Unterweiiunfif. ]>evor es reden 
kann, bcficldt es; bevor es handeln kann, gi'borclit t\s; und 
manchmal ziielitigt man es, bevor es seine Fehler einsehen 
oder selbst nur einen solchen begehen kann. So flößt man 

^) Härtet sie ab wie Thetis ihren Sohn Achillofi! 



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frühzeitig diejenigen Leidenschaften in sein Herz^ die man 
nachher der Natur zur Last legt, nnd nachdem man allos darauf 
angelegt hat^ es böse zu machen^ beklagt man sich^ daß es so 
geworden ist. 

Dieser Schilderung von Verkehrtheiten, die zn allen Zeiten nnd 
bei allen Völkern vorkommen, folgt ein Bild des Familienlebens im 
damahgeu Frankreich, das allerdings traurig genug ist: 

Die Kinder werden, fern vom Hause, zerstreut in Pensionen, 

Klöstern und Kollegien, ihre Liebe irgendwo anders hintragen 
oder, um es richtiger zu sagen, sie werden die Gewohnheit nach 
Hause zurückbringen, an nichts sich herzlich anzuschließen. 
Dil? Gesell wister kennen sich kaum. Wenn sie alle einmal bei 
feierlicher Gelegenheit versammelt sind, so können sie wohl 
sehr höflich gegeneinander sein; aber sie behandeln sich als 
Fremde. Sobald das vertrauliche Verhältnis zwischen den 
Eltern aufhört, sobald das häusliche Zusammenleben nicht den 
B.eiz des Ijebens ausmacht, so muß man sich wohl durch ein 
ungeordnetes Leben schadlos halten. Wer wäre €0 unvernünftig, 
den Zusammenhang in allem diesem nicht einzusehen? 

Wer seine Vaterpfliehten nicht erfüllen kann, hat kein 
Becht, Vater zu werden. Weder Armut noch Arbeit noch 
Rücksicht auf die Menscheu können ihn davon lossprechen, 
daÜ er seine Kinder ernähre und selbst erziehe. Höre au£ jnieh, 
o Leser: ich sage es jedem voraus, der Gefühl hnt und so heilige 
Pflichten vernachlässigt, — bittere Tränen wird er lange Zeit 
über seine Fehler vergießen und nie darüber getröstet werden.^) 

Da Rousseau einen Vater yoraussetzt, dtx seine Erzieberpflichten 
nicht selbst erfüllen kuin, so läßt er ihn einen Enieher suchen. Dieser 
soll nicht für Geld zu haben sein, sondern aus Freundschaft für den 
Vater das Amt äbemehmen« Dabei streift Rousseau die Frage, ob 
,er selbst etwa zu einem solchen Freundschaftsdienste geneigt und ge- 
eignet wäre, beantwortet sie aber mit folgenden Worten: 

Rousseau bemerkt zu dieser Stelle in seiner von ihm selbst 
verfaßten Lel)ensbeschreibung: „Als ich meine ,,Abhandlung über die 
Erziehung" entwarf, fühlte ich, daß ich Pflichten verletzt habe, von 
denen nichts mich lossprechen konnte. Dieser Vorwurf drückte mich 
so schwer, daß er mir beinahe das dffentliche Geständnis meines Fehlers 
im Anfange des „Emil** auspreßte.** 



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25 



Ich glaube, nach der Lektüre dieses Buches werden wenige 
Menschen versucht sein, mir ein derartiges Anerbieten zu 
machen, und ich bitte diejenigen, die sich etwa dazu versucht 
fühlen sollten, sich die unnütze Mühe fortan zu sparen. Ich 
habe mich ehedem in diesem Berufe hinreichend versucht, um 
versichert zu sein, daß ich dazu nicht sjeeiuRet bin, und mein 
Zustand würde mich davon cntbiudcn, wenn mich meine An- 
lagen auch dazu fähig orsdieinen ließen. 

Außorstande, diese niiLzlichste Aufgabe zu erliillen, will 
ich wenigstens den Vorsnch mit der leichteren machen und, 
wie sovielo andere, die Pland nicht ans Werk, sondern an 
die Feder legen; anstatt das J^ötige zu tun, will ich mich be- 
mühen, es zu 8 a g e n. 

Ich weiß, daß die Urheber derartiger Unternehmungen sich 
mit Leichtigkeit in Systemen bewegen, deren praktische An> 
Wendung man nicht von ihnen verlangt, daß sie ohne Mühe 
viele schöne Vorschriften geben, die niemand befolgen kann, 
und d;iß, beim leiden von Einzelheiten und Beispielen, aiu h 
ihre ausführbaren Vorschläge nicht zur Ausliihrung koiiiirien, 
wenn sie ilire .Miwi'iulung nicht gezeigt haben. 

So ]ial)e ich mich denn entschlossen, mir einen Zögling 
einzubilden, sein Alter, seine Gesundheit, seine Kenntnisse und 
seine Anlagen so anzunehmen, wie sie für das Werk seiner Er- 
ziehung passend sind,^) ihn von dem Augenblicke seiner Geburt 
bis zu demjenigen zu leiten, wo er als ausgebildeter Mann keinen 
anderen Führer mehr nötig hat als sich selbst. Diese Art scheint 
mir zweckmäßig, um einen Verfasser, der sich selbst nicht ganz 
traut, vor der Gefahr zu hüten, sich ins Nebelhafte zu verlieren ; 
denn sobald er sich von dem gewöhnlichen Verfahren entfernt, 
braucht er nur das seinige an seinem Zögling /u erproljen; er 
wird bald merken, oder der Leser wird es für ihn merken, ob 
er der Entwicklung der Kindheit und dem natürüchen Gange 
des menschlichen Herzens folgt.^) 

^) D. i. einen ganz normalen Zögling, bei dem keine außerordent- 
liche Schwierigkeit zu überwinden ist. 

*) Dieses Mittel wäre bis zu einem gewissen Qrade ziiverläs!iig, wenn 



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26 

Rousseau bemerkt hierauf, daß er beim Erzieher alle Eigen- 
schaften voraussetze, die zum Gelingen nötig sind; insbesondere hebt 
er hervor, daß der Altersunterschied zwischen Erzieher und Zögling 
nicht zu groß sein und der Erzieher zugleich auch der Lehrer des 
Zöglings sein müsse. Beim Zöglinge setzt Rousseau nur mittelmäßif^-o 
Geistesgahen voraus, dann, daß er einem Lande mit gemäßigtem Klima 
entstamme; seine Vermögensumstände betreffend, bemerkt er: 

Der Anne In-aucht keine (besondere) Erziehung; die seines 
Standes ist durch die Gewalt der Umstände bestimmt; eine 
andere kann er nicht bekommen; die Erziehung hingegen, welche 
der Beiche durch seinen Stand erhält, ist (gewöhnlich) die für 
ihn und seine Gesellschaft am wenigsten passende. Übrigens muß 
die natürliche Erziehung einen Menschen für alle menschlichen 
Lagen geeignet machen; nun ist es weniger zweckmäßig, einen 
Armen für den Keichtum zu erziehen, als einen Reichen für die 
Armut; denn im Verhältnis zu der Kupizahl in beiden Stünden 
gibt es mehr Heruntergekommene als Emporkömmlinge. Wählen 
wir also einen Kelchen; wir können wenigstens sicher sein, die 
Welt um einen Menschen zu vermehren/) während ein Armer 
aus eigener Kraft ein Mensch werden kann. 

Aus dem nämlichen Grunde habe ich auch nichts dagegen, 
daß Emil von Stand ^) sei. Ich entreiße damit immerhin dem 
Vorurteil wieder ein Opfer.*) 

Emil ist Waise. Er braucht seinen Vater und seine Mutter 
nicht. Ich hahe ihre Pflichten übernommen und so trete ich 



es flieh um einen wirklichen, nicht bloß nm einen Meingebildeten** 
Zögling handelte. Rousseau schildert seine Eniehungsmaßregeln und 
malt auch die Erfolge aus, die sie nach seiner Meinung haben wSrden; 
aber ob im Emstfalle gerade diese Erfolge eintreten würden, ist min* 
destens fraglich, 

^) Der Beiche wird durch die herkömmliche Ersiehung ganz gewiß 
ein schlechter Mensch; durch Bous se aus Eraiehung wird er gerettet. 
Der Arme dagegen kann auch ohne Bousseau ein tüchtiger Mensch 
werden. 

Von Adel. 

*) Weil Bousseaus Zdgling den Vorurteilen des Adels fem« 
bleiben wird. 



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auch in alle ihre Bechte ein. Er soll seine Eltern ehren; ge- 
horchen soll er aber nur mir. Dies ist meine erste oder vielmehr 
meine einzige Bedingung. 

Nur eine, die aus dieser hervorgeht^ muB ich noch hin- 
zufügen: man soll uns nur mit unserer Zustimmung voneinander 
trennen. Dieser Vorbehalt ist wesentlich und ich möchte sogar 
verlangen, daß Zögling und Erzieher sich für so untrennbar 
hielten, daß ihr Lebenslos eine gemeinsame Angelegenheit für 
sie beide wäre. Sobald sie auf eine zukünftifire Trennung rechnen, 
sobald sie den Augenblick voraussehen, d( r sn^ einander fremd 
machen soll, so sind sie es bereits: jeder richtet sich für sich 
allein ein, und im Hinblick auf die Zeit, wo sie nicht mehr 
beieinander sein werden, sind sie es auch jetzt nur mit Wider- 
willen. Der Schüler betrachtet den Lehrer nur als das Zeichen 
und die Geißel seiner Kindheit; der Lehrer betrachtet den 
Schüler nur als eine schwere Bürde, deren er sich nicht schnell 
genug entledigen kann; sie sehnen sich gleichermaßen nach 
dem Augenblicke, der den einen Teil von dem andern befreit, 
und da zwischen ihnen keine wahre Anhänglichkeit besteht, 
so muß der eine wenig Wachsamkeit, der andere wenig Lenk- 
samkeit haben.') 

Rousseau bemerkt sodann, daß er eitien krirpfrlich vollkommen 
gesunden Zögling voraunsetze, weil sonst der Erzieher zum „Kranken- 
wärter" wcrdp. Er sag't hieriibor: 

Der Leib braucht Kraft, um der Seele zu gehorchen: ein 
guter Diener mui^ kräftig sein. Ich weiß, daß Gefräßigkeit die 
Leidenschaften aufregt; sie schwächt auch den Leib auf die 
Länge: aber Kasteiungen und Fasten bringen durch eine ent- 
gegengesetzte Ursache oft die gleiche Wirkung hervor. Je 
schwächer der Leib ist^ desto mehr befiehlt er, je stärker, desto 
mehr gehorcht er. Alle sinnlichen Leidenschaften wohnen in 

^) Diese Erwägungen zeigen bereitfl, wie die vimatarlicbe Annahme 
Rousseau 8 auf alles Folgende einwirkt. Bei Vater und Mutter brauchte 
nicht erst ausgesproohen zn werden, daB ihrVerhSltnis zu den Kindern 
kein VerbSltnts auf Kündigung ist, nach dessen Losung sich beide Teile 
sehnen; da ist die TTntrennbarkeit selbstversÜlndlich. 



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28 



weibischßn i^eibem^ und diese werden durch sie um so mehr 
aufgeregt, je weniger sie dieselben befriedigen können. 

Bin kraftloser Leib macht auch die Seele schwach. Daher 
die Herrschaft der HeilkunsV) die für die Menschen viel ge- 
fährlicher ist als alle Übel^ die sie zu heilen vorgibt; Ich 
meinesteils weiß nichts von welcher Krankheit uns die Ärzte 
Iieilen;*) aber ich weiß, daß sie uns sehr beklagenswerte Krank- 
heiten zuziehen — Feigheit, Kleinmütigkeit, Leichtgläubigkeit, 
Todesfurcht; während sie den Leib heilen, toten sie den Mut. 
Was nützt es tins, daß sie Leichname wieder auf die Beine 
bringen? Wir branchen Männer; aber Männer gehen nicht aus 
ihren Händen hervor. 

Das Modiziniercn i.^t bei uns Modc>;ir1ie, nnd mit Tvrelit. 
Es ist der Zeitvertreib müßiger und unbeschäftigter Leute, die 
nicht wissen^ was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen^ und sie 
deshalb mit der Pflege ihres Leibes hinbringen. Wären sie so 
unglücklich, Unsterblichkeit mit auf die Welt gebracht zu 
haben, sie wären die elendesten Geschöpfe. Ein Leben, dessen 
Verlust sie nicht zu befürchten hätten, wäre für sie ohne Wert. 
Solehe Tiente müssen Arzte haben, die ihnen Angst machen, um 
ihnen angenehm zu sein, und ihnen Tag für Tag die einzige 
Befriedigung- vcischaü'en, deren sie fähig sind, die nämlich, noch 
nicht gestorben zu sein. 

Sein Ui'toil iUx'r die Arzneikuiulo faßt KoiT^^oau in den AVorton 
zusammen: Ich ])estr(Mt<' nicht, daß die Arznoikimjst einigen. Menschen, 
'^nützlich sei, aber i'üt- das MensckeDgeschiecht ist- sie sicher anbeiivoll 
Housseau fährt daher fort: 

^fan gehe mir daher einen Zögling, der alle diese Leute 
nicht nötig hat, oder ich weise ihn zurück. Ich will nichts daß 
andere mein Werk verpfuschen; ich will ihn allein erziehen 
oder gar nicht. Der verständige Locke, der einen Teü seines 
Jjebens mit dem Studium der Medizin zugebracht hat, empfiehlt 
eindringlich, den Kindern nie aus Vorsorge oder um kleiner 

Vorliebe für Ärzte. 

Roasseau hielt die Ärzte für überflassi^^ weil er auf die 
Heilkraft der Natur vertraute. 



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29 



Unpäßlichkeiten willon ÄTzneien zu geben. Ich gehe weiter und 
erkhäre, daß, wie ich für mich nie einen Arzt ruf»'. ic}i auch für 
meinen Emil nie einen beiziehen werde, wenn nicht etwa sein 
Lehen in augenscheinlicher Gefahr ist; denn dann kann er im 
schlimmsten Falle anch nichts tun als ihn töten. 

Ich weiß wohl, daß der Arzt diesen Verzug sich zunutze 
machen wird. Wenn das Kind stirbt, hat man ihn 7ai spät ge- 
rufen; wenn es davonkommt, so hat er es gerettet. Meinol\v{\üjcn 
intiiro der Arzt triumphieren; doch rufe man ihn nur im äußersten 
Falle. 

Der einzige brauchbare Teil der TTeilkunst ist die rtn?imd- 
heitspflege; aber auch sie ist weniger eine Wissenschaft als eine 
Tugend. Mäßigkeit und Arbeit sind die beiden wahren Arzneien 
des Menschen; die Arbeit erhöht seine Eßlnst, und die Mäßigkeit 
verhindert ihn, sie zu mißbrauchen. 

• Im folgenden spricht Rousseau von der Wahl der Amme, die 
bei ihm die Mutter ersetzen muß wie der Erzieher den Vater und betont 
dabei) daß jeder Wechsel in den Personen, weldie das Kind erziehen, 
nachteilig; sei, weil das Kind dann Vergleicbe anstelle, unter denen das 
Ansehen der Erzieher leide; er sagt darüber: 

Ein Kind soll niemanden über sich kennen als seinen 
Vater und seine Mutter oder, in Ermanglvnig derselben, seine 
Auiiiie uTul seinen Erzieher/) ja, auch da ist schon eines zu 
viel: aber diese Teilung ist iinvernieidlich, und alles, was hier 
zur Abhilfe geschehen kann, ist, daß die Personen aus beiden 
Geschlechtern, die es erziehen, in Bozielumg auf dnssdbe sich 
so vollstimdig ver-^teben, daß beide für dasselbe nur ».'ins sind.'"') 

Das Folgende haudelt von der Lebensweise, weiche die Amme 
führen soll. 

Hier tritt die Unnatur der von Rousseau angenommenen Ver- 
hältnisse besonders grell hervor: statt Vater und Mutter — Erzieher 
und Amme! 

^) Was aber unter den Verhältnissen, wie Rousseau sie annimmt, 
nahezu unmöglich ist; zwei Personen, die einander und dem Kinde, das 
sie erziehen sollen, von Haus aus völlig fremd sind, können wohl kaum 
so eines' Sinnes sein, daß sie für das Kind gleichsam nur eine 
Person sind. 



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30 



In eleu ersten Jahren de^ Kindes hat die Luft ganz be- 
sonders Einfluß auf die Xatur desselben. Bei einer weichen und 
zarten Haut dringt sie leicht durch alle Poren ein, sie wirkt 
mächtig auf die im Entstehen begriffenen Körper und laßt 
Spuren an ihnen zurück, die sich nicht wieder verwischen lassen. 
Deshalb wäre ich nicht der Meinung, ^laß man eine Bäuerin 
vom Lande herbeihole, um sie in der Stadt in ein Zimmer ein- 
zuschließen und das Kind im väterlichen Hause aufziehen zu 
lassen. Lieber soll es die ^te Landluft als sie die schlechte Stadt- 
luft atmen. Es wird in den Stand seiner neuen Mutter ein- 
treten und ihr ländliches Haus bewohnen, und sein Erzieher wird 
ihm dahin folgen. 

Die Menschen sind nicht dazu gemacht, sich wie in einem 
Ameisenbär zu häufen, sondern über die Erde, welche sie be- 
bauen sollen, zerstreut zu wohnen. Je mehr sie sich zusammen- 
scharen, desto verdorbener werden sie. Gebrechen des Leibes 
sowie Laster der Seele sind die unvermeidliche Wirkung dieser 
massenhaften Anhäufung. Der Mensch ist von allen Geschöpfen 
dasjenige, welches am wenigsten herdenweise leben kann.^) 
Menschen, die man wie Schafe zusammendrängte, wurden alle 
in sehr kurzer Zeit dahinsiechen. Der Atem des Menschen ist 
seinesgleichen tödlich;-) das trifft im eigentlichen Sinne nicht 
weniger zu als im bildlichen.^) 

Die Stiidte rfiiid das Verderben des menschlichen Ge- 
schlechtes. Xaoh Verhulf einiger Menschenalter gehen die Ge- 
schlechter zugrunde oder sie verkommen; sie müssen wieder auf- 
gefrischt werden, und dazu liefert immer das Land den Stoü. 

*) Der Mensch ist im Gegenteil von Natur gesellig wie manche 
Tiere, z. B. die Bienen, ebenfalls; dagegen lebt z. B. der L5we nicht 
in Herdfii, tbensowenigf der Adler usw. 

-) Weil die Kohlensäure» die der Mensch ausatmet, eingeatmet 
schädlich wirkt. 

*) Boussnau, selbst menschenscheu, sucht auch Emil von anderen 
Menschrn inögrlichst fernzulialten, weil er nur an die sittlichen Gefahren 
denkt, die diesem von den Mitmenschen drohen, nicht aber an die För- 
derung, die er von ihnen erfahren kann. 



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31 

So lasset doch, wenn irli sn sngen darf, eure Kinder sich selbst 
anffn'j^chcn, lasset sie draußen in Feld und Wiese die Kraft 
wiedergewinnen, die man in der ungesunden Luft übervölkerter 
Orte verliert ! 

Das Folgende handelt vom Baden der Kinder und bekämpft die 
Ansicht, daß die ersten Bader warm sein müdten; mindestens sei die 
WSrme von Bad zu Bad an vermindern. 

Wenn der Gebrauch der Bäder einmal eingeführt ist^ so 
soll man ihn nicht mehr außer Übung setzen, und es ist von 
Wichtigkeit, daß man ihn sein ganzes Leben beibehalte. Ich 
betraclito ihn nicht bloß von der Seite der Reinliclikoii und der 
augenblicklichen Gesundheit, sondern sehe ihn als eine heilsame 
Vorsorge an, um das Bin dc^rt' webe ^^eschnuMdii^cr zu machen, 
damit es ohne Anstrengung und Gefahr den verschiedenen 
Wärme- und Kältegraden nachgeben könne. Dazu würde ich vor- 
schlagen, daß man in der Zeit des ITeranwachsens sich nach und 
nach daran gewöhnte, sich manchmal im warmen Wasser in allen 
erträglichen Graden zu baden und oft im kalten Wasser in allen 
möglichen Graden. Wenn man sich so gewöhnt hätte, die ver- 
schiedenen Wärmestufen des Wassers zu ertragen, das als eine 
dichtere Flüssigkeit uns an mehr Punkten berührt und empfind- 
licher auf uns einwirkt, so würde man für die Wärmegrade der 
Luft beinahe unemf)findlich werden. 

Wenn das Kind, von seinen Hüllen befreit, einmal auf- 
atmet, so gebe man nicht zu, daß ihm andere um^r^^lepTt werden, 
die es noch mehr einengen. Weg mit den Hauben, I^ändcrn, 
Wickelkissen; gebt ihm weite und große Windeln, welche all 
seinen Gliedern freie Bewegung lassen und weder so schwer 
sind, daß sie seine Bewegungen hindern, noch so warm, daß 
es die Einwirkung der Luft nicht mehr spüren kann. Legt es in 
eine weite, gut ausgepolsterte Wiege,^) wo es sich nach Bequem- 
lichkeit und ohne Gefahr bewegen kann. Wenn es einmal stärker 
wird, laßt es durch das Zimmer kriechen und seine kleinen 

Rousseau nennt hier die Wiege nur, weil sie damals noch 
allgemein im Gebrauch war; er war der Ansicht, daß es nicht not- 
wendig, ja sogar schädlich sei, die Kinder jsa wiegen. 



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32 



Glieder sich eiitwickolu uiitl aiusdchiioa; ihr werdet sehen, wie 
es von Tmi^ zu Tao: kräfliirer wird. Verirlcicht es mit 
(Miiem recht eii\ueschniiri(ui Kind d^'ssclljcn Alters und ihr 
werdet über die Verschiedenheit in ihren Fortschritten erstaunt 
sein* 

Im folgenden handelt Kousseau von den ersten geistigen Re- 
gungen des Kindes; er malt insbesondere aus, wie unbeholfen das Kind 
seihst dann wäre, wenn es mit der (irößi» und Kraft eines Erwachsenen 
zur Welt käme, weil es seine Kraft ja nicht gebrauchen kfumfo. Von 
(Tcbiirt an aber h^rne das Kiud^ und zwar durch die Erfahrung. 
Äousseau sagt hiervon: 

Ich wiederhole: die Erziehung des Menschen beginnt bei 
seiner Geburt; bevor er siebt, und hört> wird er schon unter* 
richtet. Die Erfahrung kommt vor der Lehre; sol^ald er nur 
seine Ämme erkennt, hat er sich schon viel angeeignet. Man 
würde staunen über die Kenntnisse des ungebildetsten Menschen, 
wenn man -eine i'ortschiitte vom Augenblick seiner Geburt an 
bis zu demjenigen, zu dem er gelangt ist, verfolgte. Wenn man 
alles menschliche Wissen in zwei Teile teilte, wovon einer allen 
Menschen cremeinsam. der andere aber nur den (Jclohrten 2:e- 
hörte, so würde der letztere sehr gering sein im Vergleich zum 
ersten; aber wir beachten das allgemein Angeeignete kaum, 
weil es erworben w ird, ohne daß man daran denkt, und schon 
vor dem Alter der Vernunft, weil femer das Wissen nur durch 
seine Abstufungen sich bemerklich macht und, wie bei den 
algeljraischen Gleichungen, gleiche Größen auf beiden Seiten 
für nichts zählen.*) 

E hisscuu spricht hierauf von den ersten GeW(sbnLciten, die deti 
Kintlcru auerzogeti werden, der Gewohnheit, bei Licht zu schlafen und 
zu bcstinnufcn Stunden ilire INIahlzciten zu bekommen. Beide Gewohn- 
lieiten hält Rousseau für schädlich, Kinder müßten im Gegenteil an 
Dunkelheit gewöhnt werden, damit sie nicht schi-eieu, wenn es um sie 
finster ist. Er sagt hiervon: 

T>ie einzige Gewohnheit, die man bei dem Kinde auf- 
konunen lassen darf, ist die, daß es keine Gewohnheit an- 

Man beachtet nur, was einer mehr weiß als andere, also nur 
höhere Stufen des Wissens; was alle wissen, wird für nichts geachtet. 



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33 



nebme;^) man boU es nicht mehr auf einem Arme tragen als an! 
dem andern; man soll es nicht «rowöhnen, daß es gerade nur die 

eine Haiul darbiete oder sich Ilm r öfter bediene, daß es zu der- 
selben Stunde zu essen, zu scblafon odor was immer vorzunclinn ii 
vorlanire. daß es Tas^ und Nacht iiip allein l)]eibon könne. Bei-eito 
frühzeitig die Oberherrschaft seiner Freiheit und den Oebrauch 
seiner Kräfte vor, indem du seinem Leibe die natürliche Art 
erhältst und ihn instand setzest, immer Herr über sich zu sein 
und in allen Dingen seinen Willen zu tun^ sobald er einen hat. 

In Befolgung dieser GrondsfitEe will Rousseau seinen Zögling 
an häßliche, ekelhafte und nngewohnliche Tiere, an Masken und ab- 
schreckende Gesichtszüge, an den Knall von Schußwaffen, endlich auch 
an Blitz und Donner gewöhnen, so daß nichts davon ihm Furcht einflöße. 

Im folgende bespricht Eousseau das Verlangen der Kinder, die 
Dinge, die sie sehen, auch betasten zu können; er sagt darüber: 

Nur wenn wir uns bewegen, erfahren wir, daß es Dinge 
gibt, welche nicht wir selbst sind^ nur durch unsere eigene 
Bewegimg bekommen wir den Begriff der Ausdehnung. Da nun 
das Kind diesen Begriff nicht hat, so greift es geradeso nach 
einem Gegenstand, der ihm nahe, Avie iiacli einem, der hundert 
Sehlitte von ihm eatiernt ist. Die Anstrengung, die es macht, 
^•(•iieint dir ein Wink, ein Befehl zn sein, daß der (ie2:e]istand 
sich nähere, oder dali du ihm denselben herbeibriii,i2:>t; aber mit 
Unrecht: es sieht nur die Gegenstände, die es zuerst in seinem 
Gehirn und dann in seinen Äugen gesehen hat, jetzt am Ende 
seiner Arme*) und kann sich keine and.ere Entfernung vor- 
stellen, als die, die ihm erreichbar ist. Sorge also dafür, daß 
es fleißig umhergetragen, von einem Orte zum andern gebracht 
und daß ihm die Veränderung dos Ortes fühlbar gemacht 



^) Rousseau fordert hier etwas Unmöglicbes, ja sojLfar Schä<ilichcs, 
da vernünftig' geleitete Gewöhnung eines der wichtigsten Erziehuiij^s- 
mittel ist; das Folgende zeigt freilich, daß er nur meint, man solle dem 
Kinde keine unnötigen Bedürfnisse angewöhnen. Ordnung im Essen 
und Schlafen <>:ehört aber nicht zu den unnötigen Angewöhnungen, wie 
Rousseau meint* 

Stellt sich vor, daß sie em Ende seiner Arme seien. 

äcüulaufigabeu pädagogiecher Klassiker. Ilel't 6. 3 



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34 



werde, damit es die Entrerniingeii l)eurtcilen lerne. Wenn es sie 
eiimial zu erkennen beginnt, mußt du einen andern Weg ein- 
schlagen nnd es nur noch nach deinom Gutdünken, nicht nach 
dem seinigen herumtragen; denn sobald es nicht mehr durch 
seine Sinne irregeführt wird,^) erhalten seine Bemühungen 
eine andere Ursache. Diese Veränderung ist bemerkenswert und 
bedarf der Erklärung. 

Das unbehagliche Gefühl der Bedürfnisse spricht sich 
durch Zeichen aus, wenn die Hilfe anderer notwendig ist, um 
sie zu befriedigen. Daher das Weinoii äor Kinder. Sie weinen 
viel, und das muß so sein. Da alle ihre Eiuj)fiiHlun,ireii (Icl'ülils- 
eiiulriicko sind,- ) so gcniehcii sie dieselben sl i lisch vvcigend, w(!im 
sie angenehm sind; sind sie dagegen schmerzlich, so sagen sie es 
in ihrer Sprache und verlangen Erleichterung. Solange sie also 
wach sind, können sie kaum je in einem Znstand der ünerregt- 
heit sein: sie schlafen oder sie sind sinnlich angeregt. 

Alle unsere Sprachen sind Erzeugnisse der Kunst. Man 
hat sich lange gefragt, ob es eine natürliche, allen Menschen 
gemeinsame Sprache gebe: ohne Zweifel gibt es eine solche — 
die Sprache der Kinder, bevor sie reden können. Diese Sprache 
ist nicht artikuliert ( formenreich): aher sie ist betont, klangvoll, 
verständlich. Der (Jehrauch unserer Sprachen hat sie so sehr 
verdiiiiiLrt, daß wir sie ganz und gar vergessen haben. Stndieren 
wir die Kinder, nnd wir werden sie im Umgange mit ihnen bald 
wieder lernen. In dieser Sprache sind die Ammen unsere Lehr- 
meisterinnen; sie verstehen alles, was ihre Pfleglinge sagen, sie 
antworten ihnen und halten mit ihnen vollkommen zusammen- 
hängende Gespräche; sie sprechen zwar Worte aus, doch sind 
diese Worte ganz unnötig, denn jene hören nicht auf den Sinn 
des Wortes, sondern nur auf den Ton, mit dem es ausgesprochen 
wird. 

Zur Sprache der Stimme tritt die nicht minder ausdrucks- 
volle (lehärdensprache. Die Gebärde spricht sich nicht durch 
die schwachen Hände der Kinder, sondern auf ihrem Gesichte 

Wenn es die wahren EntfernimgetL kennt. 
^ Von (sinnlichen) Gefühlen begleitet sind. 



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35 



aus. Es ist rrstannlich, wieviel Ausdruck diese so unvollkommen 
ausgebildeten Physiognomien schon haben; ihre Züge wechseln 
von einem Augenblick zum andern mit unglaublicher Bäsch- 
heit. Läch^ln^ Verlangen, Schreck kommen und vergehen da wie 
Blitze; man glaubt jedesmal ein anderes Gesicht m sehen. Sicher 
sind ihre Oesichtsmuskeln beweglicher als die unsrigen. Dafür 
sind ihre nuitten Angen fast ausdruckslos. So muß auch die 
Zeichensprache in einem Alter, wo man nur leibliche Bedürf- 
nisse kennt, beschaffen sein; Em pfin düngen sprechen sich in 
Verzerrungen des Gesichtes ans. Gefühle in den Blickend) 

Pas Folgende bezieht sirli auf das Schreien der Kmd(»r und die 
nnzweekmäßigen Mittel, die dagegen dann angewendet werden, wenn 
die Erwachsenen die Ursache des Sclireiens nicht erkennen nnd daher 
auch nicht zu beseitigen vermög-en : Liebkosungen, Einwiegen, Vorsingen 
und Schläge. Von leteteren sagt JElousseau: 

Nie werde ich vergessen, wie ich einst einen dieser lästigen 
Schreier sah, den seine Amme auf solche Weise geschlagen 
hatte. Augenhlicklich war er stille: ich glaubte^ er sei ein- 
geschüchtert worden. Ich sagte mir: das wird einmal eine 
knechtische Seele geben, bei der man nur durch Strenge etwas 
durchsetzen kann. Aber ich täuschte mich; der Unglückliche 
war am Ersticken vor Zorn nnd außer Atem gekommen; ich 
sah, wie er blutrot wurde. Einen Augenblick darauf brach ein 
durchdringendes Geschrei los: alle Zeichen der Entrüstung, 
der Wut und Yo rzw» 'in im dieses Alters waren iti seinem Ge- 
schrei wahrzunehmen. Ich fürchtete, er werde dieser Aufregung 
unterliegen. Hatte ich daran gezweifelt, daß das Gefühl des 
Hechts und des Fn rechts dem menschlichen Herzen eingehoren 
sei, dieses Beispiel allein hätte mich zu einer anderen Meinung 
gebracht. Ich bin versichert, wäre ein Feuerbrand durch Zufall 
auf die Hand des Kindes gefallen, es wäre ihm weniger emp- 
findlich gewesen als dieser ziemlich leichte Schlag, der ihm aber 
in der oifenbaren Absicht, es zu kränken, gegeben worden war. 

Rousseau bemerkt sodann, wie schädlich es sei, Kinder zu necken 

*) Weil die Kinder noch keine Gefühle, sondern nur leibliche Be- 
dürfnisse nnd sinnliche Empfindungen haben, ist ihr Blick ausdruckslos. 

3* 



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36 



und dadurch zum Zorne zu reizen. lJuch (liirtt; man den Kindern aucli 
uicbt allzusehr willfährig sein; Huusseau saj^t hierüber: 

Die ersten Tränen der Kinder sind Bitten; wenn man sich 
nicht vorsieht, werden sie bald Befehle; znorst lassen sie sich 
helfen^ am Ende lassen sie sich bedienen. Entsprang aus ihrer 
eigenen Schwäche zuerst das Gefühl ihrer Abhängigkeit, so 
bilde t sich auf diese Weise später die Vorstellung des Befehlens 
und Herrschens; aber da diese Vorstellung weniger durch ihre 
Bedürfnisse erregt wird als durch unsere Hilfeleistungen, so 
beginnen hier moralische Wirkungen sich fühlbar zu machen, 
deren unmittelbare Ursache nicht in der Natur liegt, und man 
sieht, warum es schon hier, auf dieser frühesten Altersstufe, 
so wichtig ist, die geheime zVbsicht zu linden, weiche der Gebärde 
oder dem Gest-hrei zugrunde liegt. 

Wenn das Kind mit Anstreiigaiig »eine Hand aussLroL-kt, 
ohne (la])ei etwas zu sagen, so glaubt es den Gegenstand greifen 
zu können, weil es seine Entfernung nicht schätzt: es hat sich 
also geirrt; aber wenn es mit dem Ausstrecken der Hand weint 
und schreit, dann liegt kein Irrtum über die Entfernung vor, 
sondern es verlangt von dem Gegenstände, daß er näher komme, 
oder von dir, daß du ihn herbringest.^) Im ersteren Falle bringe 
es langsam und mit kleinen Schritten zu dem Gegenstände hin; 
im zweiten tue nicht einmal so, als hättest du es gehört: je mehr 
es dann schreit, desto weniger mußt du darauf hören. Es ist von 
Wichtigkeit, daß es frühzeitig daran gewöhnt werde, weder den 
Mensclien zu befehlen, denn es ist nicht ihr Meister, noeh den 
Hingen, denn sie vci-stchon es nicht. Wenn deshalb ein Kind 
irgend etwas verlangt, was es sieht und was man ihm geben \vill, 
ist es besser, das Kind zu dem Gegenstande hinzubringen als 
umgekehrt: es zieht aus diesem Verfahren einen seinem Alter 
angemessenen Schluß,^) und es gibt kein anderes Mittel, ihm 
denselben nahe zu legen. 

Rousseau bemerkt hierauf, daß von eigentlicher Sittlichkeit beim 

Dies sind die ,,geheiinen Absichton", von denen vorher die 
Bede war. 

^) D. i., daß es sich selbst helfen muß. 



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37 



Kinde nicht (hv }{p(]q soiji kanu, weil es noch nicht weili, was gut oder 
böse ist. Kr sagt hierüber: 

Ein Kind will alles, was es sieht, aus seiner Ordnung 
bringen^ es zerbricht und zerstört alles, was es erreichen kann; 
es greift einen Vogel an, wie es einen Stein angreifen würde, 
es erwürgt ihn^ ohne zu wissen, was es tut. 

Fnd warum? Die Philosophie sucht sogleich die Begrün- 
dung lu uugeborenen Lastern, Stolz, Herrschsucht. Kigenliebe, 
Bosheit des Meiieclien: das Gefühl seiner Seliwäclie, könnte sie 
beifügen, bringt <leni Kinde die Sucht bei, gewalttätige Hand- 
lungen zu begehen und sieli selbst den Beweis der eigenen Kraft 
zu liefern. Man sehe aber doch jenen hinfälligen, gebrochenen 
Greis, den der Kreislauf des menschlichen Lebens zur Schwäche 
der Kindheit zurückgeführt hat; er bleibt nicht nur selbst fried- 
sam und ruhig, er will auch, daB alles um ihn herum so bleibe; 
die geringste Veränderung verwirrt und beunruhigt ihn, all- 
gemeine Stille wäre ihm am liebsten. Wie sollte die nämliche 
Ohnmacht bei den nämlichen Leidenschaften in den beiden 
Lebensaltern so verschiedene Wirkungen hervorbringen, wenn 
nicht (lio erste Ursache eine verschiedene wäre? Und wo kann 
lUiiu diese X'erschiedcnheit der I'rsachen suchen anOer in dem 
physischen Znstnnde der beiden Menschen? Der Tätigkeitstrieb, 
der beiden gemeinsam ist, entfaltet sich in dem einen, erlischt in 
dem anderen; der eine entsteht, der andere vergeht; der eine 
geht dem Leben, der andere dem Tode entgegen. Die abnehmende 
Tatkraft des Greises zieht sich in sein Herz zurück: in dem 
Herzen des Kindes überquillt sie und drängt nach außen; es 
fühlt sozusagen Leben genug in sich, seine ganze Umgebung 
damit zu erfüllen. Bauen oder niederreißen gilt ihm gleich, wenn 
CS nur die Dinge in eine andere Lage bringen kann, und jede 
Veränderung ist eine Tätigkeit. Wenn es demnach einen gröi3eron 
TFnng zum Zerstören zu haben seheint, so ist das nicht Bosheit; 
es erklärt sich vielmehr daraus, dal3 die Tätigkeit, welche bildet. 



^) Richtiger: manche Gelehrte; Rou8seau ist mit der Bezeich- 
nung f^Fhilosoph** ziemlich freigebig« 



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88 



immer langsam ist und deshalb die Tätigkeit des Zerstörens 
als die scliiieUere seiner Lebhaftigkeit nie In zusagt. 
' flousscau stellt hiernach folgcude Grundsätze auf: 

Weil i'Di IV'int;, überflüssige Kräfte zu besitzen, haben die 
Kinder nicht einmal iiinreichende für alleB, was die Natur von 
ihnen verlangt; man muß ihnen also den Gebrauch aller der- 
jenigen, die sie ihnen gibt und die sie nicht mißbrauchen können, 
zugestehen. — Erster Grundsatz. 

Man muß sie unterstützen und ihrem Mangel an Einsicht 
(kKt an Krai't in alleni^ was zum leiblichen Bedürfnis gehört, 
/u Hilfe kommen. — Zweiter Grundsatz. 

Man mulj sich bei diuser iiilfeleistung lediglich auf den 
wirklichen Nutzen beschränken, ohne der Laune oder dem un- 
vernünftigen Verlangen etwas zuzugestehen; denn die Laune 
wird sie nicht quälen, wenn man sie nicht in ihnen geweckt hat, 
da sie ja nicht aus der Natur entspringt. — Dritter 
Grundsatz. 

Man muß ihre Sprache und ihre Zeichen sorgfältig 
studieren, um in diesem Alter, wo sie nicht heucheln können, 
bei ihren Wünschen zu unterscheiden, was unmittelbar aus der 
Natur entspringt und was aus der Einbildung herrührt. 
— Vierter i} r u n d ? a t z. 

Im folgenden kommt Kousseau noclnnals auf das Schreien der 
Kinder aus Eigensinn zu sprechen; er sagt darüber: 

Das einzige Mittel, diese Gewohnheiten zu heilen oder zu 
verhüten, ist, nicht darauf zu achten. Niemand will sich un- 
nütze Mühe geben, selbst nicht die Kinder. Sie sind eigen- 
sinnig in ihren Versuchen; aber wenn du mehr Beharrlichkeit 
hast als sie Eigensinn, so lassen sie ab und kommen nie mehr 
darauf zurück. Auf diese Weise erspart man ihnen Tränen und 
gewöhnt sie, nur zu weinen, wenn der Schmerz sie dazu zwingt. 

Wenn sie übrigens aus Laune oder Eigensinn weinen, so 
ist ein sicheres Mitel, sie davon abzubringen, daß man sie durch 
irgendeinen angenehmen und aui'tiilligen Gegenstand zerstreut, 
über den sie vergessen, daß sie weinen woll1(>n. Die meisten 
Ammen verstehen diese Kunst ausgezeichnet, und richtig an- 



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39 



gewnnfit ist sje auch sehr nützlich; aber es kommt sehr viel 
darauf an, daß das Kiud die Absicht, es zu zerstreuen, nicht 
merke, und daß es sich unterhalte, ohne zu wissen^ daß mau es 
wünscht: hierin sind nun aber alle Ammen ungeschickt. 

Rousseftu epriclit Bodann Tom Entwöhnen der Kinder nnd dem 
Hervorkommen der Zahne; um letzteres zu erleichtem, rät er statt 
harter Gegenstände (Metall oder Elfenbein), wie sie damals üblich 
wai^n, weichere Stoffe, Holz, Leder n. dgl. zum Kauen zu gehen. 

Von dem ersten Spielzeug bemerkt er: 

In nichts kann man mehr einfach sein, nicht einmal bei 
Kindern. Schelkn von Silber, Gold und Korallen, geschliffenes 
Krifltall, Klappern in allen Preisen und Arten; wieviel unnützes 
und gefährliches Gerät! Weg damit! Wog mit Sehellen und 
Klappern; ivurzc Zweite mit ihren Früchten und i^lüttern, ein 
Molinkopf, in dem man die Körper klappern hört, eine Stange 
Süßholz, zum Saugen und Kauen werden ihm eljunsoviel \^er- 
gniigen machen als all der prächtige Flitterkram, ohne den 
Nachteil, es von Jugend auf an den Luxus zu gewöhnen. 

« 

Das Folgende handelt von der ersten Nahrung der Kinder nach 
ilirer Entwöhnung, dann von ihren ersten Sprechvcrsnclien. In letzterer 
Hinsicht bekämpft Honsseau das vielo und für die Kinder unver- 
ständliche Vorsprechen, das Streben, die Kinder mrigliehst bald zum 
Sprechen zu bringen, endlich die Duldung allzu leisen und undeutlichen 
Sprechens der Kinder, das besonders in Städten vorkommei weil man 
da viel zu sehr auf jeden Jjaut achte, den die Kinder von sich geben. 

Auf dem Lande ist dies ganz anders. Eine Bäuerin ist 
nicht unaufhörlich um ihr Kind; es ist daher gezwungen^ ganz 
deutlich und ganz laut sprechen zu lernen^ was die Mutter ver- 
stehen soll. Auf dem Felde, wo die Kinder sich zerstreuen 
und von Vater, Mutter und den anderen Kindern sich entfernen, 
lernen sie, sich mil' ImiI fcnning verständlich zu inachon und 
die Stärke ihrer SUmini' nach dem Zwisclicnrauniü abzuincsscn, 
der sie von denjenimMi trennt, von denen sie geliört werden 
wollen. So lernt man zweckmäßig die richtige Aussprache, 
nicht aber, indem man etliche T.ante in das Ohr einer auf- 
merksamen Erzieherin stammelt. Wenn man ein Bauernkind 
fragt, so kann wohl die Scham es verhindern zu antworten; 



40 



was es aber sagt, sagt es deutlich^ wahrend in der Stadt die 
Kin^sfrau dem Kinde als Dolmetscherin dienen muß; denn 
sonst versteht man nichts von allem, was es in die Zähne 
murmelt. 

Heranwachsend müssen sich die Knaben in den Gymnasien, 
die Müdclien in den Klöstern von diesem Fehler frei machen; 
in der Tat sprechen auch diese im aligemeinen deutlicher als 
diejenigen, welche immer im väterlichen Hause erzogen worden 
sind. Was sie aber verhindert, je eine so deutliche Aussprache 
wie die Landleute sich anzueignen, ist der Zwang, vieles aus- 
wendig zu lernen und das Gelernte laut herzusagen; denn beim 
Einlernen gewöhnen sie sich ans Hudeln, an eine nachlässige 
und schlechte Aussprache. Beim Aufsagen ist es noch schlimmer: 
sie suchen mühsam ihre Worte zusammen und ziehen imd 
dehnen die Silben; es ist nicht möglich, daß die Zunge, wenn 
das Gedächtnis strauchelt, nicht auch stammle. So werden die 
Aussprachefehler hervorgerui'en und fortgepflanzt. Es wird 
sieli später]) in zeigen, daß mein Emil diese Fehler nicht an sich 
hat oder daü er sie nicht auf diese Weise bekommen hat. 

Boussoau betrachtet es auch als einen großen Nachteil, daß die 
Kinder die Worte der Erwachsenen zwar zu verstehen scheinen, sie aber 
falsch verstehen^ weil sie ihnen einen anderen Sinn als die Erwachsenen 
unterlegen. Er empfiehlt daher: 

Schränke al^o den Wortvorrat des Kindes auf das not- 
wendigste ein. Es ist sehr müilich^ wenn es mehr Worte als 
Vorstellungen hat und wenn es mehr sagen als denken kann. 
Ich glaube» daß einer der Gründe» warum die Landleute meistens 
ein gesünderes Verständnis haben als die Stadtbewohner» der 
ist, daß ihr Wortsehatz weniger ausgedehnt ist. Sie haben wenig 
Vorstellungen, aber sie setzen sie sehr gut in Beziehung 
zueinander. 

Mit dios<'n AnweisuiiL^iMi s( Jiließt das erste Buch, das also die 
früheste Ei-ziehung des Kindes bis zur Erlernung der Sprache behandelt. 



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41 



Zweites Buch. 

Dieses Bucli schUdert zunächst die Vorteile, woldjc der erlangte 
Besitz der Sprache für die weitere Erziehtm^f bietet; Kousseau sagt 
darüber: 

Wenn die Kinder zu sprechen beginnen, weinen sie weniger. 
Dies ist ein natürlicher Fortschritt: eine Sprache ist an Stelle 
der andern getreten. Warnm sollten sie auch, wenn sie einmal 
mit Worten sagen können» daß ihnen etwas weh tnt, es durch 
Schreien äußern, wenn nicht etwa der Schmerz zu groß ist, als 
daß das Wort ihn ausdrücken könnte? Wenn sie dann noch fort- 
t'ahreu zu weinen, so ist es die; Schuld der T'miii'bung. W'i im Emil 
einmal gesa^rt. hat: ,,es tut mir weh/* luuUte er schon sehr 
heltigi' Si lnncr/i'ii habpii, um noch zu weinen. 

W(Miu das Kind fällt, wenn es sieh eine Jkule am Kopf 
zuzieht, wenn es aus der Nase blutet, wenn es sich in den 
Finger schneidet, so bemühe ich mich nicht mit aufgeregter 
Miene um dasselbe, sondern bleibe ruliig, wenigstens für kurze 
Zeit. Das Übel ist da, die Notwendigkeit gebietet, daß es er- 
tragen werde; meine ganze Bemühung würde also nur dazu 
dienen, das Kind noch mehr zu erschrecken und seine Empfind- 
lichkeit zu steigern. Im Grunde quält auch uns, wenn wir uns 
verlützl haben, der Schlag nicht so .sehr als die Angst. Ich 
werde ihm also wenigstens jenes (lIxMi^inl;! von Beängstigung 
ersparen; denn wird über soiiKMi l iii'all ganz sicher so 
urteilen, wie es mich urteilen sieht: sieht es mich besorot herbei- 
eilen imd es trösten und beklagen, so wird es sich für verloren 
halten; sieht es, daß ich kalt bleibe, wird es bald selbst wieder 
kaltes Blut bekommen und das Übel für geheilt halten, wenn 
es dasselbe nicht mehr empfindet. In diesem Alter macht man 
die erste Schule der Beherztheit durch und, indem man leichte 
Schmerzen gelassen duldet, lernt man allmählich die großen 
ertragen. 

Ich würde dureliaiis nicht ängstlich darül)er wachen, daß 
I jiiil sich nicht beschädige, nein, os wäre mir sogjir sehr imliel), 
wenn er sicli nie verletzte und heranwüclise, ohne den Schmerz 
kennen zu lernen. Die erste Sache, die er lernen muß und am 



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42 



notwendigsten wird kennen müssen, ißt — leiden. Es scheint, 

daß die Kinder nur deswegen klein und .schwach sind, um diese 
wichtige iSehule ohne (Jefahr durchzumachen. Wenn das Kind 
nur so hoch, als es st lost ist, fällt, T;\ird es kein Bein brechen; 
wenn es sich mit einem Stocke schlägt, wird es sich den Arm 
nicht zerschlagen; wenn es ein schneidendes Werkzeug in die 
Hand nimmt, wird es nicht fest zugreifen und sich nicht tief 
hineinschneiden. ^) Man wird schwerhch ein sich selbst über- 
lassenes Kind sich töten oder verstümmehi oder nur auf be- 
trächtliche Weise sich verletzen sehen, wenn man es nicht 
unbedachtsam auf hohen Orten oder allein am Feuer der Gefahr 
ausgesetzt oder gefährliche Werkzeuge auf Handweite in seiner 
Nähe gelassen hat. Was soll man von diesen liüstkammern von 
Maschinen sagen, die man um ein Kind herum ansammelt, um 
es hieb- und stichfest <regen jeden SchjmMz zu machen,^) bis 
es als erwachsener Mensch, ohne Mut und Erfahrung sich selbst 
anheimgegeben, bei jedem Stich sich tödlich verwundet glaubt 
und beim ersten Blutstropfen in Ohnmacht fällt. 

Unsere schulmeisterliche Lehrsucht will die Kinder immer 
das lehren, was sie von sich selbst viel besser lernen würden, 
und vergißt dabei, was wir allein ihnen hätten beibringen 
können. Gibt es etwas Einfältigeres als die Mühe, die man 
sich gibt, sie gehen zu lehren, als hätte man gesehen, daß einmal 
ein erwachsener Mensch infolge von Vernachlässigung]: durch 
seine Amme nicht gehen konnte? Wieviele Ijeute sieht man 
im Gegenteil ihr ganzes T.e])en hindurch schiecht gehen, weil 
man sie es schlecht gelehrt hat! 

Emil wird weder Fallhauben noch Gehkörbe noch Geh- 
wägelchen noch Gängelband haben, oder man wird ihn wenig- 
stens, sobald er einmal einen Fuß vor den andern setzen kann, 
nur auf gepflasterten Stellen unterstützen und über dieselben 

^) Daß Kinder bei alledem sich mitunter sehr gefährlich verletzen, 
ist zur Genüge bekannt und wird im folgenden auch von Rousseau 
zugestanden. 

^ Von den künstlichen Yeranstaltungen, um Kinder vor Schmerz 
zu bewahren. 



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eiüg hinwegfälireji. Anstatt ihn in der verdorbenen Luft eines 
Zimmers verkommen zu lassen^ wird man ihn täglich mitten in 
eine Wiese hinausführen. Da mag er laufen, sich tummeln 
und hundertmal des Tages fallen; um so besser^ er lernt dann 
um so früher wieder aufstehen. Das wohlige Gefühl der Freiheit 
macht Tiele Verletzungen wieder gut. Mein Zögling wird yiele 
Quetschungen bekommen; dafür wird er aber immer lustig sein: 
wenn die eurigen sie weniger haben, so sind sie dafür immer 
gcliemnit, unirei und trübselig. Ich zweille, ob sie dabei ge- 
wonnen haben. 

Am Tut.'isri'n ist das Leben in seinem Aii fange becirolit; je 
weniger man gelebt hat, desto weniger Hoffnung soll man auf 
das Leben setzen.^ Höchstens die Hälfte von allen Kindern, 
die zur Welt rniTion, gelangen zum erwachsenen Alter, und 
es ist wahrscheinlich, daiS auch dein Zögling das Mannesalter 
nicht erreichen wird. 

Was soll man also von jener barbarischen Erziehung denken, 
welche die Gegenwart einer ungewissen Zukunft aufopfert, die 
ein Kind mit Ketten jeder Art belastet und es von vornherein 
('K'ntl ]na('ht, \un ihm für später, ich weiß nicht welches ver- 
meintliche Glück zu sichern, dessen es vermutlich nie teilhaftig 
werden wird? Weim ich diese Erziehung in ihren Zielen auch 
für vernünftig halten konnie, wie soll man ohne ('''nwillen die 
armen Unglücklichen ansehen, die einem unerträglichen Joche 
unterworfen und wie Ca](?erensträflinge zu fortwährender 
Zwangsarbeit verurteilt sind, ohne versichert zu sein, daß so viele 
Mühen ihnen je etwas nützen werden ? Das Alter der Fröhlich- 
keit geht hin in Tränen, Züchtigungen, Drohungen und Skla- 
verei. Man quält den Unglücklichen um seiner Wohlfahrt willen, 
man sieht den Tod nicht, den man herbeiruft*) und der ihn 
mitten in dieser traurigen Vorbereitung ergreifen wird. Wer 

^) Je jünger man iBt, desto weniger kann man daranf rechnen, 
noch lange ssu leben, weil die Sterblichkeit in den ersten Lebensjahren 
am größten» ein Inüdiger Tod daher am wahrscheinlichsten ist. 

^) Man ahnt nicht, daß das Kind bald sterben wird, ja befördert 
vielleicht selbst seinen Tod, ohne es zu wollen* 



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weiß, wie viele Kinder als Opfer der wahnwitzigen Klugheit, 
eines Vaters ndov oiües Lehrers sterben? Glücklich, seiner Härle 
zu entrinnen, ziehen sie ans all den Übeln, die er ihnen ver- 
ursacht, den einzigen Vorteil, ohne Bedauern aus dem Leben 
zu gehen, das ihnen nur seine Qualen gezeigt hat.') 

Menschen^ seid menschlich, das ist eure erste Pflicht: seid 
es für alle Lebensstande und Lebensalter, für alles, was dem 
Menschen nicht fremd ist. Welche Weisheit habt ihr denn noch 
außer der Mensclilichkeit? Liebet die Kindheit, begünstigt ihre 
Spiele, ihre Brgötzungen, ihre liebenswürdige Katur.*) 

Den (letlankt'ii, daß die lierkfimmlicrhe Er?;ieliinif>: das Glück der 
Kiiulln it vernichte, in der trügerischen HufVimnir. in der Zukunft das 
Kind desto «rlücklicher zu machen, wiederholt aiu li diis Folgende. Hier- 
auf bc'uiif WDi tet 1k () 11 sü f au diu Fi apfe, was Glück sei, indem er sagt, es 
bestehe nur in di in orrinorsten Mali von Übeln, die wir erleiden. 

Worin Ix'sh'lit alöO die menschliche Weisheit oder der Weg 
des wahren (ilückes? Niclit uurade in der Beschränkimg unserer 
Wünsche; denn wenn sie unter unserem Vermögen wären, 
bliebe ein Teil unserer Fähigkeiten untätige und wir wären 
nicht im vollen Genüsse unseres Seins: aber auch nicht in der 
Steigerang über unsere Fähigkeiten; denn wenn unsere Wünsche 
plötzlich eine verhältnismäßig zu große Ausdehnung annehmen 
würden, würden wir nur um so elender werden: sondern in der 
Unterdrückung der über unsere Fähigkeiten hinausgehenden 
Wünsche und in der vollkommenen Ausgleichung des Könnens 
und AVollcns. Dann erst wird, wenn auch alle Kräfte in Tätig- 
keit sind, die Sache deuiiuch ruhig bleiben und der Mensch sich 
in richtiger Verfassung befinden. 

Rousseau schildert sodann, wie unsere Einbildungskraft uns 
unglücklich macht, indem sie HnftnuDg^en erregt, die sich dann als 
unerfüllbar herausstellen; daher niüsse rnari vor allem die JBiubildimgs- 
kraft iti Schranken halten, um glücklicb zu sein. 

') Die Übertreibungen in dieser Darstellung des herkömmlichen 
Erziehnngswesens sind in die Augen springend, wenn auch die darin 
Hegende Warnung immerhin Beachtung verdient. 

^) Diese Worte enthalten den Hauptgrundsatz des Fhüanthropinismus. 

3) Wenn wir wehiger wünschen^ als wir zu erreichen vermögen. 



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Die wirkliche Welt hat iliro Schranken, die Welt unserer 
Einbiidungskraft ist imondli« Ii : können wir die eine nicht er- 
weitern^ so wollen wir die andere einschränken: denn nur ans 
dem Abstände zwischen beiden entsteht alles Weh, das uns 
wahrhaft nnglücklieh macht. Nimm Kraft, Gesundheit nnd die 
gute Meinung von nns selbst weg, so sind alle Güter dieses 
Lebens nnr getraumte; nimm körperliche Schmerzen und 
Gewissensbisse hinwog, so sind alle unsere Übel nur eingebildete. 
Bas ist ein alltnsrlicher Grundsatz, sagt, man; freilich wohl: aber 
seine praktisflio Anwondnng ist nicht alltäglich, und darum 
handelt es sich hier eben ganz allein. 

Der Gedanke, daß nur im Entsann und Entlx'hreii daa wlJire 
Glück liege, kehrt auch im folgenden wieder. „Mit allem unserem 
Müll i n lind Kingen, un^ar Glück /u vermehren, sagt Rousseau, „ver- 
wanileiu wir es nur in rnglück." 

Alles, alles ist Torheit und Widerspruch in den mensch- 
lichen Einrichtungen. Je mehr unser Leben an Wert verliert, 
desto mehr beunruhigen wir uns um dasselbe. Die Greise 
grämen eich noch mehr darum als junge Leute; sie wollen die 
Vorbereitungen nicht verlieren, die sie gemacht, um es zu 
genießen, und es ist sehr hart zu sterben, bevor man zu leben 
begonnen hat. Man nimmt an, daß der Mensch einen lebhaften 
Tn'el) (lor SelhstcrhaUunir IüiIh«, und er hat ihn in der Tat; aber 
iiinn sieht Tiiclit. daß rlioscr Trieb in der Stärke wif» wir ihn 
fühlen, zum großen Teile das Werk der Menschen ist.^) A^on 
Katur ist der Mensch nur so weit um seine Erhaltung besorgt, 
als ihm Mittel dafür zur Verfügung stehen; sobald diese ihm 
mangeln, beruhigt er sich und stirbt, ohne «ich unnütz zu quälen. 
Das Gesetz der Entsagung gibt uns zuerst die Natur. Die 
Wilden wie die Tiere sträuben sich sehr wenig gegen den Tod 
und erdulden ihn fast ohne Klage. Tst dieses Gesetz hinfällig 
geworden, so bildet sich ein anderes, das von der Vernunft 
ausgeht,^) aber wenige wissen es ihr abzugewinnen, ujid diese 

*) Weil man den Kindern Todesfurcht einflößt. 
*) Der Philosoph erkennt durch Vemunftgründe, daß der Tod 
kein Übel ist nnd stirbt daher mit Ergebung und ohne Sträuben. 



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künstliche Entsagung ist nie so voll und ausnahmslos wie 
die erste. 

Die Vorsorge! Ja, die Vorsorge, die uns fortwährend aus 
iinB hinausdrängt und uns oft dorthin weist^ wo wir nie hin- 
kommen werden^ sie ist die wahre Quelle alles unseres Elends. 
Welcher Wahnsinn für ein so yergängliches Wesen, wie es der 
Mensch ist^ immer in eine ferne Zukunft zu sehen, welche so 
selten kommt, und die Gegenwart, die ihm sicher ist, zu ver- 
nachlässigen! ■ — Dieser Wahn ist um so verhängnisvoller, als 
er mit dem Alter immer zunimmt imd die alten Leute, die 
allzeit mißtrauisch, vorsorglich und geizig sind, sich lieber heute 
das Notwendige versagen als das Überflüssige in hundert Jahren 
entbehren wollen. So hängen und klammern wir uns an alles^ 
an Zeiten, Orte, Menschen und Dinge; alles, was ist und was 
sein wird, ist jedem yon uns wichtig: unser eigenes Wesen ist 
uns nur noch der geringste Teil Ton uns seihst. Jeder dehnt 
sich sozusagen üher die ganze Erde hin aus und nimmt Ein- 
drücke aus dem ganzen Erdraum auf. Ist es da zu verwundern, 
daB unsere Leiden sich mit all den Punkten, wo man uns ver- 
letzen kann, vervielfachen? Wie viele Fürsten grämen sich ura 
den Verlust eines Landes, das sie nie gesehen haben! Wie viele 
Kaufleute brauchen nur in Indien angerührt zu werden, um 
in Paris aufzuschreien! 

Als Beweis für seine Ausiditen führt Rousseau unter anderem 
das Beispiel eines Kaufmannes an, der sieh glficklich fühlt, tiher plötzlich 
einen Brief erhSlt, der ihm Verluste mddet, die ihn in Vensweiflung 
stürzen; Rousseau fragt, was sich in dem Zustande dieses Kaufmannes 
geändert habe? Wie, wenn der Brief verloren gegangen wäre? Dies 
beweise, (laß unser Glück nicht in den äußeren Dinj'-en, sondern in 
unserer Denkart hcf^e, darin, daß wir wenij^ BorlUrfnisse haben. Je 
großer unsere Bedürfnisse Si ion. depfo schwächer seien wir. Ycrmehi't 
aber wurdffli unsere Bedürfnisse durch die gesellschafthchen Fanrich- 
tungeu, in denen wir Mun. Rousseau kommt damit auf einen Ge- 
danken zurück, den er schon im ersten Bncli ^) ausgesprochen hat; doch 
hält er eine Staatsform für möglich| die diesen l'ehler nicht hätte. Er 
sagt darüber: 

») S, o. S. 12. bis 16. 



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Es gibt zwei Arten von Abhängigkeit: die Abhängigkeit 
von den Dingen, die von der Natur ausgeht, und die Ab- 
hängigkeit von den Menschen, die von der Gesellschaft herrührt. 
Die Abhängigkeit von den Dingen beeinträchtigt, da sie keinerlei 
sittliche Bedeutung hatJ) unsere Freiheit nicht und erzeugt 
keine Laster; die Abhängigkeit von den Menschen dagegen ist 
ordnimf^swidrig 2) und erzengt alle Laster; chircli sie entsittlichen 
Herr uikI Sklave ge.jjenseitig. Wenn es irgc^ndoin Mittel gegen 
dieses ttbel in der Gescllseliaft gibt, so besieht es darin, daß 
an Stelle eines Menschen (des Monarchen) das Gesetz auf- 
gerichtet und der allgemeine Wille ^) mit einer tatsächlichen 
Kraft ausgerüstet wird, die der Wirksamkeit jedes Einzel willens 
überlegen ist. Wenn den Gesetzen der Völker, wie denen der 
Natur, eine Unbeugsamkeit zustünde, die keine Menschenkraft 
zu brechen imstande wäre, so würde die Abhängigkeit von den 
Menschen wieder der Abhängigkeit von den Dingen gleichen; 
man würde im Freistaate alle Vorteile des Naturzustandes mit 
d(Mn»n des gesellschaftlicln n (staatlichen) Zustandes verbinden, 
man wüi-de zu der Frcilieit. die den Menschen frei von Lastern 
hält, noch die Sittlichkeit fügen, die ihn znr Tugend tnnporliebt. 

Erlmlte denn das Kind in der bloßen Abhäni^iiikcit von 
den Dingen: dann folgst du im Fortschritte seiner Erziehung 
der Ordnuno: der N'atur. Setze seinen unvernünftigen Wünschen 
nur natürliche Hemmnisse oder solche Strafen entgegen, welche 
aus den Handlungen entspringen und an die es sich bei Ge- 
legenheit erinnern kann: es genügt, es vom übeltun abzuhalten, 
selbst ohne eigentliches Verbot. Erfahrung und Ohnmacht 
' müssen allein bei ihm an die Stelle des Gesetzes treten. Gestatte 
seinen Wünschen nichts darum, weil es danach verlangt, sondern 
nur, weil es ein Bediirt'nis danadi hat. Es soll nicht wissen, 
wi nii ('S selbst etwas tut, was Gehorsam ist, und nicht, was 
Befehlen heißt, wenn man ihm etwas tut. *) Es soll seine Freiheit 

1) Keine Beziehung auf unsere Sittlichkeit hat. 
^ Hier kommt der Grundlrrtnm RouBseaus wieder zum Vor«chein. 
') Der im Staate verkörperte Wille aller Staatsbürger. 
*) Das Kind soll nicht glauben, der Erzieher gehorche seinen 
Befehlen, wenn er seinen Wünschen entgegenkommt. 



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gleichermaßen in seinen und deinen Uandlungen fühlen. Hilf 
seiner mqnf^elnden Kraft gerade so weit nach, als nötig ist, 
damit es frei und nicht herrisch sei: deine Dienste soll es mit 
einer Art Demütigung annehmen, damit es den Augenblick 
herbeisehne, wo es ihrer entbehren und die Ehre genießen kann^ 
sich selbst zu bedienen. 

Hüte dich besonders, dem Kinde leere Höflichkeitsformeln 
einzuprägen, mit denen es unter Umstanden seine iTcinzo Um- 
gehung wie mit Zaul)orworten seinem Willen unterwerfen und 
augenblicklich, was es will, bekommen kann. In der fratzen- 
haften Erziehung der Ivoiehen verfehlt man nie, ihnen eine 
höfliche Herrschsucht beizubringen, indem man ihnen die Aus- 
drücke vorschreibt, deren sie sich bedienen müssen, damit 
niemand ihnen zu widerstehen wage; ihre Kinder haben nichts 
Bittendes, weder im Ton noch in der Art sich zu benehmen; 
wenn sie bitten, sind sie ebenso anmaßend, ja noch anmaßender, 
als wenn sie befehlen, als wären sie in diesem Falle des Ge- 
horsams noch viel sicherer. Man sieht sofort, daß in ihrem 
Munde „wollen Sie mir gefälligst geben" so viel ist als ,,du 
niuiit mir's geben" und daß „ich bitte" bei ihnen heißt „ich 
befehle". Eine prächtige TTöfliehkeit, die auf nichts anderes 
hinausläuft, als «laß den Worten ein anderer Sinn gesrelien 
wird uml daß sie nie anders reden können als im Tone des 
Befehls!') Ich für meinen Teil fürchte für Emil die ünfeinheit 
weniger als die T^nverschämtheit, und so ist es mir lieber, daß 
er „tue das" in bittendem Tone sage als „ich bitte" in be- 
fehlendem. Mir kommt es nicht auf den Ausdruck an, den er 
gebraucht, sondern auf den Sinn, den er damit verbindet. 

Roasseau wehrt sich sodann gegen den Vorwurf, daß er das 
Crlück der Kinder doch auch vermindere, indem er sie Beschwerden 
aussetze; für alles entschädige die Freiheit, die er ihnen lasse. Er sagt 
hierüber nntcr an dorm: 

Ich sehe kleine "RansfOTi im Schnee spielen, blaurot und 
slarr vor Kälte; sie könucii kaum die Finsrer rühren. Es hängt 
nur von ihnen ab, sich wieder zn erwäniien, aber sie tun es 

0 Weil sio oben nur scheinbar bitten, das wirkliche Bitten 
daher gar nicht lernen. 



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nicht ; wenn man sie dazu nötigte, würden sie die Härte des 
Zwanges hundertmal mehr fühlen als die der Kälte. 

Weißt du, welches das sicherste Mittel ist, dein Kind elend 
2U machen ? Lediglich die Gewöhnung^ alles zu bekommen; denn 
da «eine Begierden mit der Leichtigkeit^ sie zu befriedigen^ 
fortwährend wachsen^ wird die Unmöglichkeit dich früh oder 
spät dazu bringen, sein Verlangen wohl oder übel abzuschlagen, 
und diese ungewohnte Verweigerung wird ihm peinlicher sein 
als selbst die Entbehrung des Verlangten. Zuerst verlangt es 
nur den Stock, den du in der liand hast; bald will es aber 
deine Uhr, dann einen Vogel in der Luft, einen Stern, den es 
glänzen sieht, ja, alles, was es wahrnimmt: wie willst du es 
befriedigen, wenn du kein Gott bist? 

Wie wäre zu begreifen, daß ein vom Zorne beherrschtes 
und von den heftigsten Leidenschaften verzehrtes Kind je 
glücklich wäre ? Es glücklich ! nein> ein Despot wäre es und der 
niedrigste Sklave zugleich, das elendeste aller Geschöpfe. Ich 
habe derartig erzogene Kinder gesehen, die verlangten, man 
soll das Haus mit einem Ruck auf den Kopf stellen, man solle 
ihnen den Hahn von einem Kirchturme herabholen, man solle 
ein Kegiinent mitten im klarsehe anlialten, daß sie die Trommler 
länger hören konnten, und sobald man zögerte, ihnen willfährig 
zu sein, ein durchdringendes Geschrei ausstießen und auf 
niemand hören wollten. Man beeilte sich vergeblich von allen 
Seiten, ihnen gefallig zu sein; ihre Begierden waren durch 
die allzu leichte Befriedigung gereizt, sie steiften sich auf un- 
mögliche Dinge und sahen überall nur Widerspruch, Hindemisse, 
Widerwärtigkeiten und Schmerzen. Immer murrend, immer auf- 
gebracht, immer in Wut, verbrachten sie ihre Tage mit Weinen 
und Klagen; waren das wirklich glückliche Wesen? Schwäche 
und Herrschsucht im Bunde erzeugen nur Wahnsinn und Elend. 
Ein verzogenes K ind !=:chlägt den Tisch, das andere läßt das Meer 
peitschen !M pio werden lange zu peitschen und zu schlagen 
haben, bevor sie zufrieden leben werden. 

^) Anspielung^ auf Xerxes» der das Meer peitschen lie0, als es die 
Bracken weggerissen hatte. 

Sehnlftttsgab«!! pMagogTBcber Klassiker. Heft 6. 4 



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Ich kohrc zur Praxis zurück. — Ich habe schon goj^agt, 
daß dein Kind nichts ans dem Grunde erhalten soll, weil es 
die Sache verlangt^ sondern weil es sie nötig hat^ ferner^ daß 
es nichts ans Gehorsam, sondern alles ans Notwendigkeit tun 
soll. Die Worte Gehorchen und Befehlen werden somit aus 
seinem Wörterbuch gestriclien sein, und mehr noch die der 
Pflicht und deir Verbindlichkeit; aber Gewalt und Notwendigkeit, 
OhnTYiacht und Zwang müssen darin einen großen Raum eiu- 
nehmcnJ) 

Rousseau sucht hierauf zu beweisen, daß Veriuuiftsgründe bei 
dem Kinde nicht veifanjjfcn, was (mindestens für die früheste Kindheit) 
unzweifelhaft richtig ist. Er führt zu diesem Zwecke ein Gespräch 
zwischen Jiclirer und Kind vor, in welchem das Kind von seinem 
Standpunkte trotz aller Grunde des Lehrers äieger bleibt. 

Die Natur will, daß die Kinder Kinder seien, bevor sie 
Männer sind. Wenn wir diese Ordnung umzukehren belieben, 
werden wir nur frühreife Früchte hervorbringen, die nicht 
zeitig und nicht schmackhaft sind und alsbald verderben: wir 

%ver(lon junge Golohrto und alte Kinder bekommen. Die Kind- 
heit hat ihre eigene Art zu sehen, zu denken und zu eniprindcii; 
nichts ist uuverniinftiirer hIs unsere Art au deren Stelle zu 
setzen; ich könnte ebensogut verlangen, daß ein Kind fünf 
Fuß hoch gewachsen sei, als daß es im zelmten Jahre richtiges 
TTrtcil besitze. Wozu sollte ihm aber auch in diesem Alter die 
Vernunft dienen? Die Vernunft soll ein Zügel für die Kraft 
sein; das Kind bedarf dieses Zügels nicht.*) 



*) Emil weiß nicht, was Gehorchen nnd Befehlen heißt, ebenso- 
wenig, was Pflicht ist; aber daß es Gewalten gibt, die stärker sind als 
er selbst, und denen er sich daher unterwerfen muß, hat er allerdings 
erfahren. Daß ein Kind aus Liebe zu Vater und Mutter, aus Ehrfurcht 
und Dankbarkeit gegen dieselben etwas tun oder lassen könnte, erscheint 
also Rousseau undenkbar oder wenigstens nicht berücksichttgungswert. 

^) Weil es zu schwach ist, noch gar nicht die Kraft hat, Böses 
zu tun. Daran ist freilich nur richtig, daß das Kind noch nicht viel 
Böses tun kann; boshafter Gesinnung ist es aber doch schon bis zu 
einem gewissen Grade fähig. 



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Rousseau sucht hierauf darzutun, daß, wenn man von den Kindern 
Gehorsam fordere, diese geradezu angeleitet wUrden, ihre Erzieher zu 
hintergehen, zu lägen und zu heucheln. 

Befiehl ihm (dem Zöglinge) vom ersten Anfange an nichts, 
durchaus nichts, was es auch sei. Laß nicht einmal den Ge- 
danken in ihm aufkommen, daß du irgendeine Gewalt über 
ihn ausüben wolltest. Er soll bloß wissen, daß er schwach ist 
und du stark bist, daß er durch seine Lage und die deinige dir 
notwendigerweise preisgegeben ist^); das poU er wissen, er- 
fahren und fühlen; frühzeitig soll er auf seinem hochfahrenden 
Kopie das harte Joch fühlen, das die Xatur dem Menschen 
auferlegt, das schwere Joch der Notwendigkeit, unter welches 
jedes endliche Wesen sich beugen muß; er soll dio>o Xotwendig- 
keit in den Dingen erblicken, nie in der Laune der Menschen;^) 
der Zügel, der ihn zurückhält, sei die überlegene Gewalt, nicht 
menschliches Ansehen. Wenn er sich einer Sache enthalten soll, 
verbiete sie ihm nicht; verhindere ihn, sie zu tun, ohne Aus- 
einandersetzungen und Erörterungen; willst du ihm etwas 
gestatten, gestatte es auf sein erstes Wort, ohne Bitten und 
Betteln, besonders aber ohne Bedingungen. Erteile deine Ein- 
willigung mit Vergnügen, deine Weigerung nur mit Wider- 
streljen;^) doch muß dein Verweigern unwiderruflich sein; kein 

Wie hart, wie lif'hclecr ist das hier geschilderte Vcrliiütiiis 
zwischen Erzieher und Zögling! 

Daß der Erzieher den Zöf^ling nicht von seinen Laim« ii a}>- 
häugig machen darf, ist richtig; falsch ist es aber, wenn TJoiisscan 
erlaubt, der Zöfirlinc müsse in jcdfin Gebote und Verbote d» s Ei zicln rs 
eine blotie Laune erl)]ickt;ii. Wenn der ErzicluM" nur kunsciiuiMit in 
seinen Anforderungen ist und das eifre!)e Verhalten des Erzieliers mit 
ihnen übereinstimmt, so mcikt der Zr)üliii^ bald, daß dir ihm erteilten 
({e])ote und \'( rlMift niclit aus persönlicher Willkür hervorgehen, soudern 
»acblicli begründet sind. 

AVenn Rousseau hier empfiehlt, beim BewilHiien drii .Scin in 
au/uiiclnncn, als ub der Erzieher selbst sieh trt ute, einwilligen /u könutiu, 
80 ist dage<rtMi nicht viel einzuwenden, desto mehr aber dairetren, daii 
er (scheinbar) nur widerstrebend etwas verweigern snll. I)as Kind würde 
aus eiueiu Buichcii V'^riiaiten nur die Holliiung schöpien, die Wcis"<*rung 

4* 



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Bestürmen darf dich erschüttern; dein Nein sei eine eherne 
Mauer^ an der das Kind fünf- oder sechsmal seine Kräfte er- 
schöpfen magy um es nie wieder zu versuchen^ sie umzustürzen.^) 

Auf diese Weise wirst du ihm Geduld, Gleichmut, Ent- 
sagung und Zufriedenheit beibringen, wenn es auch das Gre- 
wünschte nicht erhalten hat; denn es liegt in der Natur des 
Menschen, das Unabänderliche geduldig zu ertragen, nicht aber 
den bösen Willen anderer. Oegen die Antwort: csistnichts 
ni ehr da, hat sich nie ein Kind aufgelehnt, es müßte denn 
glauben, daß man es belogen habe. 

Gib deinem Zögling kcinorloi Iiehre in Worten: er soll 
seine Lehren nur durch die Erfahrung^) erhalten; verhänge 
keinerlei Strafe über ihn: denn er hat das Bewußtsein der 
Straf fälligkcit noch nicht; laß ihn nie um Verzeihimg bitten: 
denn er kann dich ja nicht beleidigen.*) Da seinen Handlungen 
jeder sittliche Charakter fehlt,*) kann er nichts sittlich Böses 
tun, was Züchtigung oder Zurechtweisung verdiente. 

Den luiheliügeiulcii (icdankeu, daß bei solcher Behandlung die 
Kinder gründhch v< rdoilx n werden wüiden, sucht Rousseau dnrdi die 
Behauptung zu widerlegen, von deu echou verdorbeneu Kindern, wie 

doch noch crschüttf.'ni zu k^nincn. Die Wt-jn'crnntj midi violTnehr vom 
Anfang an entschieden als etwas Ausgemachtes und Reibst verständliches 
auftreten. 

^) Dies und diis Folcjende ist selbstverständlich liclitig. 

-) Kiclifi^MM- wärt': wo luiiplich durch Erfahrung, Ucher durch 
Erfaliruriij; als durch LloUt; Worte, weil diese Lehre wirksamer ist. 

3) Wenn das Kind bestraft wird, ohne daß es sich seiner Straf- 
fälligkeit bewulit ist, wenn es angtli alten wird, um Verzeiliuiifr zu 
bitten, obwohl es keinen Drang dazu fühlt, so ist dies allerdingfs ver- 
kehrt. Aber es ist ein Iritum zu behaupten, ein Kind könne gar nicht 
das Bewußtsein haben, duli es etwas .Sfraf])aie8 getan und dadurch seine 
Eltern betrübt liabe. Rousseau verfällt diesem Irrtum, weil er von 
der Liehe, die zwisclicn Kitct-ii imd Kin<b'rn inüur^^cniäli waltet, ganz 
absieht. .Jedes Kin<l. da*: ii u s cinriHin Antriebe sagt: „Liebe Mutter, 
sei wieder ^ni; ich wiU's iiii lit niehr tun", ist eine tatsächliche Wider- 
legung der Ansieht Rousseaus. 

*) hl sittlicher Hinsicht gleichgültig, weder gut noch böse. 



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aie aus (It'f bisherigen Erziehuny^ lici vor^infren, sei allerdings das 
Scbiinimste zu erwarten, aber niclit von seinem Mu^ster?:Ö!rlinpr Emil. 

Als unbestreitbaren Grundsatz müssen wir feststellen, daß 
die ersten Eegungen der Natur immer die rechten sind:^) es 
gibt keine ursprüngliche Verkehrtheit im menschlichen Herzen. 
Es findet sich kein einziges Laster in ihm» von dem man nicht 
nachweisen könnte, wie und auf welchem Wege es hinein- 
gekommen sei. Die einzige dem Menschen natürliche Neigung 
ist die Liebe zu sich selbst oder die Eigenliebe in weiterem 
Sinne. Diese Eigenliebe ist an sich, in Hinsicht anf uns selbst, 
gnt und nützlich, und, da sie keine notwendige Beziehung 
auf andere hal,^) ist sie insofern von Natur (sittlich) gleich- 
gültig: nur durch die Anwendnng, die man davon macht, und 
die Beziehungen, die man ihr gibt, wird sie gut oder schlecht. 
Bis nun die Lenkerin der Eigenliebe» d. i. die Vernunft» sich 
bilden kann» ist es von Wichtigkeit» daß ein Kind nichts tue» 
weil es gesehen oder gehört wird,^) mit einem Worte» nichts 
mit Bücksicht auf die anderen» sondern bloß, was die Natur 
von ihm verlangt; dann wird es immer nur recht tun. 

Ich verstehe darunter nicht, dnlj er, nie Schaden anrichten, 
sich nicht verletzen, nicht vielleicht ein wertvolles CTcrät zer- 
hr(H']i(>n werde, wenn es ihm unter die Tlände kommt. Es könnte 
viel Übles anstellen, ohne übel zu tun, weil die böse Handlung 
die Absicht zu schaden zur Voraussetzung hat» die bei ihm nie 



Dieser Sats stebt in Widerspruch mit der christliolieii Lehre 
von der Erbsünde» aber aucb mit Rousaeaus eigener Behauptung, daß 
den „Handlungen der Kinder jeder sittliche Charakter fehle^; dagegen 
ist er allerdings eine folgerichtige Anwendung der Sütse, mit denen 
das Buch beginnt, wonach alle Werke der Natur gut, alle Menschen- 
werke schlecht sind. 

Db man deswegen, weil man sich selbst liebt, andere noch 
nicht zu hassen braucht. 

*) Hierin liegt eben die Unnatur» daß selbst die Meinung des Er- 
ziehers dem Kinde nach Rousseaus Ansicht gleichgültig sein soll. Es wäre 
nicht einmal möglich» selbst wenn man zugeben wollte, daß es wünschens- 
wert sei. 



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vorliniiilcn ist.^) ]läito es sie oin einziges Mal, so wäre schon 
alles verloren; es wäre böse, fast ohne Rettung. 

Manches ist in den Angen des Geizes schlimm, was es in 
den Augen der Vernunft nicht ist. Man lasse die Kinder un- 
gehindert ihre Streiche ausüben; aber dann ist es freilich 
geboten, alles von ihnen fem zu halten, wodurch diese zu kosi> 
spielig werden könnten, und nichts Zerbrechliches und Kost' 
bares in ihrer Nähe zu lassen. Ihr Zimmer sei mit derben 
nnd haltbaren Geräten versehen, ohne Spiegel, Porzellan und 
Luxussachen. Mein Emil wenigstens, den ich auf dem Lande 
aufziehe, soll in seinem Zimmer nichts haben, wodurch es sich 
von einer üaueijistnbe unterschiede. Wozu soll es mit so viel 
Aufwand geziert werden, da er doch nur so kurze Zeit darin 
bleiben soll? Doch nein, er wird es selbst ausschmücken, und 
wir werden bald sehen, womit.-) 

Wenn nun trotz -deiner Vorkehrungen das Kind irgend- 
welche Unordnung anrichtet oder ein nützliches Gerät zerbricht, 
so strafe es nicht für deine Nachlässigkeit^) und zanke nicht; 
es soll kein einziges Wort des Vorwurfs hören, laß es nicht 
einmal merken, daß es dir Ärger verursacht habe; tue ganz so, 
als ob das Gerät von selbst zerbrochen wäre,^) sage dir selbst, 
daß du viel getan, wenn du es über dich bringst, nichts zu tun. 

Auch das ist zuviel <resagt. Zaerat zerstören die Kinder aller- 
dings nur, um Bich zu beschäftigen, \un ihre Neugierd' i ])efriedigen 
usw.; al)( r wenn man sie gewähren läßt, bekommen sie Lust daran, 
weil sie dadurch ihre Kraft zeigen können, sie richten Schaden an, obwohl 
sie wissen, daß es Schaden ist, und von da ist der Ubergang zu wirklich 
boahaften Bes<>liiidigungen bald gefunden. Man muß daher ßeschädi« 
gungen w«*rtvoller Dinge durch die Kinder verhüten, nicht bloß um des 
ciorcnen Nutzens, sondern aucli um der Kinder willen, auch deshalb, 
damit sie den Wert der Dinge kennen und darauf achten lernen. 
^ Hieruber handelt S. 79. 

3) Für das , was du selbst durch Nachlässigkeit verschuldet hast. 

*) Eine solche Behandlung könnte natürlich nur zur Folge haben, 
daß das Kind alle Gegenstande für wertlos halt und seinem Zerstorungs- 
triebe nicht den geringsten Zwang auferlegt. Die Dinge haben aber 
nun einmal in den Augen der Menschen Wert, und zwar die einen mehr, 



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Soll ich uun noch die größte, wichtigste und nützlichste 
Eegei der ganzen Erziehung darlegen, die nämlich, daß man 
nicht Zeit gewinnen, sondern Zeit verlieren soll?*) Der ge- 
wöhnliche Leser möge mir meine Paradoxa') verzeihen; man 
muß solche aufstellen, wenn man zum Nachdenken anregen 
Hill, und ich will, was man auch darüber sage, lieber ein Mann 
der Paradoxa als ein Mann der Vorurteile •) sein. 

Solche Paradoxa sind denn auch in den nun folgenden Aus- 
sprüchen enthalten. 

Die erstf Erziehung muß also eine rein negative sein. Ihre 
Aiiffr;il)e \>l nicht, Tnireiid oder Wahrheit zu lelircn, sondern 
das Herz vor Laster und den Geist vor Irrtum zu bewahren. 
Wenn es dir möglich wäre, nichts zu tun und nichts geschehen 
zu lassen, wenn du deinen Zögling gesund und kräftig bis in 
sein zwölftes Jahr bringen könntest, ohne daß er seine rechte 
Hand von der linken zu unterscheiden wüßte, so würden sich 
die Augen seines Geistes gleich bei deinem ersten Unterrichte 
der Vernunft öffnen; er hätte weder Vorurteile noch Gewohn- 
heiton, und so wäre nichts in ihm, was die Wirkung deiner 
BemiUiuiigen bceinträchtigca könnte. Bald würde er unter 
deinen Händen der vernünftigste Mensch werden, und du 
\vii] <li st ein Wunder der Erziehung getan haben, wenn du damit 
autingest, nichts zu tun. 

die anderen weniu^ei, und es ht nielit einzosehen^ warum die Kinder 
nicht erfahren sollen, daß es so ist* Rousseau hetracbtete freilich 
selbst vieles als wertlos, was sonst als wertvoll gilt und 8(» konnte er 
leichter auf den Gedanken kommen, es verschlaju^e nichts, wenn die 
Kinder überhaupt nichts von dem verschiedenen Werte der Dinge erfahren. 

*) Rousseau ist ein Ge^er der ^Treibhauserziehung*^, aus 
welcher ,,\Vunderkinder^ hervorgehen; er will die Entwicklung der 
Kinder eher verlangsamen als beschleunigen und hat hierin ohne 
Zweifel recht. 

*) Seltsame Behauptungen, die dem, was allgemein für richtig 
gehalten wird, widersprechen. 

^) Rousseau betrachtete vieles als Vorurteil, was durch die Über- 
lieferung von «Jahrhunderten geheiligt ist; anderseits ist das Geständnis 
bemerkenswert, daß er geflissentlich paradoxe Behauptungen aufstellte. 



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Ein noch stärkeres Paradoxon enthält der Ausspruch: Tue das 
Gcg-enleil von dem, was herkömmlich ist und du wirst fast immer das 
Hechte tun. 

Kons so au Iveschäftigt sich dann mit dem Einwände, daß man 
Bclilechtf Jn ispit 1(; von dem Zöglinge doch nicht ganz fernhalten könne. 
Rousseau gibt dies zu, meint aber vieles dadurch verhüten zu können, 
daß er sich bei seiner Umgebung' helieltt zu machen sucht, um m von 
ihr Unterstützung für seine erziehlichen MaÜnahmen zu erhalten. Er 
sagt hierüber: 

Es gibt Beweise der Teilnahme und des Wohlwollens, die 
mehr Wirkuag haben und in der Tat nützlicher sind als alle 
Geschenke; wie viele Elende und Kranke bedürfen mehr des 
Trostes als des Almosens^ wie vielen Unterdrückten ist Be- 
schützung notwendiger als Geldl Versöhne die Entzweiten^ 
verhüte die Prozesse; leite die Kinder zur Pflicht, die Väter 
zur Nachsicht; hegünstige glückliche Ehen; steuere den Be- 
drückungen; gebrauche in vollem Maße den Einfluß der Eltern 
deines Zöglings zugunsten des Schwachen, dem man Gerechtig- 
keit versagt, und den der Mächtige zu Boden drückt.*) Erkläre 
dich vor aller Welt als Beschützor der TTnglüeklichen. Sei 
gerecht, menschlich, wohltätig! Wirke nicht bloß durch Al- 
mosen, sondern durch christliche Liebe; die Werke der Barm- 
herzigkeit lindern mehr Elend als das Geld; liebe die Neben- 
menschen und sie werden dich lieben; diene ihnen, und sie 
werden dir dienen; sei ihr Bruder, und sie werden deine 
Brüder sein. 

Es ist dies ein fernerer Grund, warum ich Emil auf dem 
Lande erziehen will, fern von dem Gezücht der Bedienten, der 

verworfensten Menschen nächst ihren Herren, fern von den 
schlimmen Sitten der Stadt, die der Firnis, mit dem man sie 
überdeckt, verführerisch und ansteckend für die Jugend macht, 
während die b\'hler der Landleute, unverhüllt und in all ihrer 
Roheit, mehr dazu angetan sind, zurückzustoßen als zu ver- 

^) Hier ist an die Bedrückungen zu denken, die sich der fran- 
zösische Adel zu Rousseau 8 Zeit gegen das Landvolk erlaubte und 
die einer der Gründe waren, die zn der großen Revolution von 1789 
fahrten. 



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führen, wenn man keine besondere VeranlasBung dasu hat, sie 
nachzuahmen. 

RooBsean bekämpft hierauf das übliche Moralisieren als ver- 
geblich und sogar schädlich. Vm schlechte Beispiele, wenn sie doch 
vorkommen sollten, namentlich das des Zornes, nnschSdlich zn machen, 
empfiehlt er, den Zornigen als krank hinzustellen. Wdrde das Kind 
selbst zornig, so soll es als krank zu Bette geschickt werden. Auch 
wenn der Erzieher selbst zornig würde, soll er sagen: Kind, du hast 
mich krank gemacht. 

Rousseau hält es aber auch für notwendig, dem Kinde den 
Begriff des Eigentums beizubringen, und zwar dadurch, daß es selbst 
etwas zu eigen erhält, am besten ein Beet im Garten, dafi es be- 
bauen kann. Dies soll aber nach Rousseau so geschehen, daß zu- 
nächst ein schon angepflanzter, einem Gärtner gehöriger Platz vom 
Kinde bearbeitet wird, was sich der Gärtner natfirlich nicht gefallen läßt. 

So sollen die Kinder auch in anderen Fällen nur durch die natür- 
lichen Folgen ihrer Handlungen belehrt werden. Wenn 8. B. ein Kind 
ein Fenster zerbricht, solle man den Wind Tag und Nacht ins Zimmer 
blasen lassen, auf die Ge&hr hin, daß sich das Kind erkälte* 

Daß sein Zögling lügen lernt, fürchtet Rousseau nicht, weil er 
ihn ja weder tadle noch strafe noch etwas von ihm verlange, ihm also 
keinen Grund zur Lüge gebe. Rousseau will aber auch nicht, daß 
das Kind für die Zukunft verspreche, so oder so handeln zu wollen. 
Ein Kind könne sich die Zukunft nicht vorstellen und lüge daher bei 
einem solchen Versprechen, ohne es zu wollen. ^Könnte es der Rute 
entgehen oder eine Düte Zuckerwerk erhalten, indem es verspricht, sich 
morgen zum Fenster hinauszustürzen, so wird es das Versprechen auf 
der Stelle geben.^ 

Hierauf kommt Rousseau auf die Art zu sprechen, wie man bis 
dahin den Kindern Nächstenliebe habe beibringen wollen; er sagt; 

Um ihnen Nächstenliebe einzuflößen, läßt man sie Almosen 
geben, als hielte mau es für erniedri^fcnd, es selbst zu geben. 
j^^ein, niclit das Kind soll es geben, sondern der Lehrer: mag 
er seinen Zögling noch so lie])liaben, diese Ehre muß er itim 
streitig machen: er muß ihm die Überlegung nahe bringen, daß 
er derselben noch nicht würdig ist. Das Almosen steht dem 
Manne zu, der den Wert seiner Gabe und das Bedürfnis seines 
Mitmen sehen kennt. Das Kind, das davon nichts weiß^ kann 



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beim Geben kein Verdienst haben; seiner Gabe fehlt das Er- 
barmen^ der Wohltätigkeitssinn: es schämt sich fast zu geben, 
wenn es an seinem und eurem Beispiel sieht, daß nur die Kinder 
geben und daß Erwachsene kein Almosen mehr reichen.^) 

Man bemerke noch, daß man das Kind immer nur Dinge 
geben läßt, deren Wert ihm unbekannt ist, Stücke Metall, die 
es in der Tasche hat*) und die ihm sonst zu nichts nutz sind. 
Ein Kind gäbe lieber hundert Dukaten als einen Kuchen. 
Bringe aber einmal diesen verschwenderischen Geber dazu, tlaß 
er Dinge gibt, die ilnii wert sind, Spii^lsachen. Zueker\veri<. >v\ll 
Vesperbrot, und dann wird es bald sichtbar werden, ob du ihn 
wahrhaftig freigebig gemacht hast/') 

Rousseau will, anstatt dem Zöglinge Gelegenheit zur Mildtätigkeit 
zu geben, lieber selbst in seiner Gegenwart anderen Mensehen Gutes 
tun, und zwar in einer Art, die der Zögling nicht nachahmen kann, 
^da eine solche £hre seinem Alter noch nicht zukommt.^ Rousseau 
hält überhaupt nichts von nachgeahmten Tugenden, „Affentugenden", 
wie er sie nennt. Er warnt auch davor, was die Kinder in Nachahmung 
anderer Schönes sagen, zu überschätzen. „Die glänzendsten Gedanken 
können in ein Kinderhirn kommen oder vielmehr die besten Worte in 
den Mund der Kinder, wie Diamanten in ihre Hand gelangen können, 
ohne daß darum Gedanken und Diamanten ihnen gehören.* Kinder, die 
für besonders begabt gehalten wurden, hätten oft später die Erwartungen 
vollständig getäuscht und umgekehrt, solche, die für geistesschwach 
gegolten, seien nachher große llänner geworden, wofür Rousseau das 
Beispiel Gatos anführt. 

Habe Scheu vor dem Kindesalter*) und sei nicht vorschnell, 

^) Daß die Kinder, wenn sie von ihren Eltern zur Übermittlung 
von Almosen benutzt werden, noch nicht seihst wohltätig werden, ist 
richtig. Bittet indeß das Rind, vom Anblicke eines Armen gerührt, 
die Eltern, demselben ein Almosen zu geben, und machen nun die Eltern 
das mitleidige Rind zum Überbringer der Gabe, so ist der Vorgang 
für die sittliche Bildung des Kindes doch nicht ganz gleichgültig. 

1) Geld nämlich. 

') Dies ist vollkommen richtig. 

*) Ein lateinischer Spruch sagt: Die größte Scheu ist man der 
Kindheit schuldig. 



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darüber zu urteilen, im guten oder sclilimmen. T^aß die Aus- 
nahmen sich lange bemerklich machen^ sich bewähren nnd be- 
stätigen, bevor du fth* sie zu besonderen Maßnahmen greifst. 
Laß die Natur lang ihre Wirksamkeit, ausüben, bevor du dich 
unterfängst; an ihrer statt zu handeln, damit ihre Tätigkeit ja 
nicht durchkreuzt werde. Du kennst den Wert der Zeit, sagst 
du, und willst keine verlieren. Du siehst nicht, da Ii >ie viel 
mehr verloren ist, wenn du sie sebleeht anwendest, als wenn 
du niclits daraus machst, und daß ein verkehrt unterricliletes 
Kind viel weiter von Weinheit entfernt ist als ein gar nicht 
unterrichtetes. Du entsetzest dich über den Oedanken, daß es 
seine ersten Jahre mit Nichtstun verbringt! Wie? Ist Glückiich- 
sein nichts, ist den ganzen Tag Springen, Spielen, Laufen 
nichts? Sein Leben lang wird es nie mehr so beschäftigt sein. 
Plato in seiner Bepublik,^) die man für so streng hält, zieht 
die Kinder nur in Pesten, Spielen, Gesängen und Belustigungen 
auf; alles ist sozusagen bei ihm getan, indem er sie lehrt, sich zu 
freuen; und Seneca sagt, wo er von der alten römischen Jugend 
spricht: ,,Sie war immer auf den Beinen; man lelirte sie nichts, 
was sie sitzend hätte lernen müssen." War si(^ daniin wt niger 
wert, wenn sie zum Mannesalter gelangte? Dieser vermeintliche 
Müßiggang darf dich also nicht so sehr erschrecken. Was 
würdest du von einem Planne sagen, der, um Bein Leben ganz 
auszunützen, nie schlafen wollte? Du würdest sagen: der 
Mensch ist unsinnig; er genießt seine Zeit nicht, er nimmt sie 
sich; um dem Schlafe zu entgehen, läuft er dem Tode in die 
Arme. — Beherzige denn, daß wir hier im nämlichen Falle sind 
und daß die Kindheit der Schlaf der Vernunft*) ist. 

Im folt^onden lougnot Rousseau sof^ar, daß Kiiulor ein gutes 
Gedächtnis haben. Er macht dabei freilich den Unterschied zwisclieu 
Wort- und Sachgedächtnis; daß die Kinder Worte leicht merken, gibt 
er zu, aber das beweist nach seiner Ansicht noch nichts. 

Nämlicli: über die Anlagen eines Kindes. 
^ In dem Dialoge yom Staate, in welf^bem er sein Ideal eines 
Staates schildert. 

^) Die Zeit, wo die Vernunft noch schlaft. 



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Die Pädagogen^ die uns mit großem Gepränge das Lehr- 
gebäude vorführen^ in das sie ihre Zöglinge einführen^ sprechen 
anders; denn dafür werden sie bezahlt:^) doch sieht man au 
ihrem eigenen Gebaren^ daß sie genau so denken wie ich; denn 
was lehren sie denn? Worte, Worte und immer Worte. Unter 
den verschiedenen Wissenschaften, die sie sich zu lehren rühmen, 
wählen sie beileibe nicht diejenigen aus, die den Schülern 
wahrhaft nützlich wären, denn das wären Wisscuxlialten von 
Sachen und damit kämen me nicht zum Ziele, sondern solche, 
die man zu verstehen scheint, wenn man ihre Ausdrücke kennt, 
wie die Heraldik,*) die Geographie, die Chronologie/) die 
Sprachen usw., lauter Studien, die dem Menschen und besonder» 
dem Kinde so fem liegen^ daß es wunderbar zugehen muß, 
wenn ihm je irgend etwas von diesem allem ein einziges Mal 
in seinem Leben TOn T^utzen ist.^) 

Man wird sich darüber wundern, dali ich das Studium der 
Sprachen unter die nutzlosen Dinge in der Erzieh\mg rechne; 
aber man wird sich erinnern, daß ich hier nur vom Ihiterriclite 
in den ersten Jahren rede, und was man auch darüber sagen 
mag, ich glaube nicht, daß vor dem zwölften oder fünfzehnten 
Jahr je ein Kind — abgesehen von den Wunderkindern — 
zwei Sprachen wirklich erlernt hat. 

Ich räume ein, daß wenn das Sprachstudium sieb nur mit 
den Worten befaßte, d. h. mit der Form oder dem Laute 

Sie müssen vorgeben, daß ihr Unterricht Wert hat, weil sie 
ja sonst ihr Geld umsonst erhalten würden. 

^) Wappenkunde, 

Lehre von der Zeitrechnung. 

*) Heraldik und Chronoloia^ie spielten surZeit Rousseaus nament* 
lieh in der adeligen Erziehung eine große Rolle; unter Geographie ist 
hier politische Geographie, und «war besonders Topographie, zu verstehen, 
die also wie Heraldik und Chronologie hauptsächlich das GedSchtnis 
belastet, ohne dem Verstände Nahrung zu geben. Die GedSchtnisarbeit, 
welche der geographische Unterrieht forderte, war damals um so größer, 
Je buntscheckiger die damalige staatliche Gliederung war; man denke 
nur f. B. an das damalige Deutsche Reich. 



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dorselben, dieses Studium für die Kinder passend sein könnte; 
aber indem die Sprachen die Zeichen ändern, ändern sie auch 
die Begriffe^ die damit aufigedrückt werden.^) Die Geister bilden 
sich nach den Sprachen^ die Gedanken nehmen das Gepräge der 
einzelnen Sprachen an. Die Vernunft aliein ist gemeinsam,') 
der Geist hat in jeder Sprache seine besondere Ponn,^) und 
dieser Unterschied könnte zum Teil Ursache oder Wirkung der 
Volkscharaktere sein; die Vermutung scheint dadurch bestätigt 
zu werden, dali bei allen Xationeji ilcr Welt die Sprache dein 
Wechsel der Sitten folgt und mit ihnen sich gleich bleibt oder 
verändert.*) 

Eine von diesen verschiedenen Formen ^) wird dem Kinde 
durch den Gebrauch angeeignet; diese allein behält es dann 
bis zum vernünftigen Alter. Um zwei zu haben^ müßte es 
Begriffe miteinander vergleichen können; me sollte es sie aber 
miteinander vergleichen^ da es kaum imstande ist^ sie zu fassen? 
Jede Sache kann für dasselbe tausend verschiedene Zeichen 
haben; jeder Begriff aber kann nur eine Form haben: das 
Kind kann also nur eine Sprache erlernen. Und doch, be- 
iiauptct man, lernt es mehrere; ich sage noch einmal — nein. 
Icli iiabe solelie Wunderkinder gesehen, die fünf oder sechs 
Sprachen yax sprechen glaubten. Ich habe sie nacheinander 
deutsch in lateinischen^ französischen und italienischen Wen- 



Verschiedene Sprachen haben nicht bloß verschiedene Wörter 
für dieselbe Sache, sondern es ist mit dem anders klingenden Worte 
der fremden Sprache fast immer auch ein etwas anderer Sinn verbunden, 
so ds6 z. B. ein fransosisches Wort selten ganz genau durch ein ent- 
sprechendes deutsches Wort wiedeigegeb^ werden kann. 

^) Die menschliche Yernmift als solche ist bei allen Völkern 
dieselbe. 

Die Art| die Dinge aufzufassen und zu beieichnen, ist in jeder 
Sprache anders. 

*) In der Tat andern sich die l^rachen wie die Sitten» und zwar 
wie diese bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten ver- 
schieden schnell und verschieden stark. 

^) Formen des Spiechens (eine von den verschiedenen Sprachen). 



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düngen reden hören; sie bedienten sich in der Tat des Wort- 
schatzes von fünf oder seclis Sprachen, aber sie sprachen immer 
nur deutsch.^) Mit einem Worte: man gebe den Kindern so viele 
Synonyma^) als man will, man ändert die Worte, aber nicht die 
Sprache; immer werden sie nur eine einzige sprechen. 

TJm ihre Unfähigkeit in dieser Beziehung zu verbergen, 
übt man sie vorzugsweise an den toten Sprachen, bei denen 
es keine dichter gibt, man nicht zurückweisen könnte. Da 
diese Spradion im Umgänge seit langer Zeit außer Gebrauch 
gekommen sind, begnügt man sich mit der Xaehahnmng dessen, 
was man in den Büchern gelesen hat, und das nennt man „sie 
sprechen". Wenn es mit dem Griechischen und Lateinischen 
der Lehrer so aussieht, mag man sich ein Urteil über das der 
Kinder bilden. 

In der Meinung, die Erdbeschreibung zu lehren, lehrt man 
das Kind nur Karten kennen: man lehrt es die Namen der 
Städte, Länder und Müsse, von deren Dasein auBerhalb des 

Papiers, wo man sie ihm zeigt, es keinen Begriff hat. Ich er- 
innere micli, irgendwo ein Oeograj)hiebuch gesehen zu haben, 
das so anfing: ,,Was ist die Welt? — Eine Kugel von Pappe." 
— Das ist ganz genau die Oeographie der Kinder. Für mich ist 
OS ausgemacht, daß naeli zweijalirigein TJnterrichto in der mathe- 
matischen und astronomischen Geographie kein zelmjähriges 
Kind nach den Begeln, die man ihm gegeben, imstande ist, den 
Weg von Paris nneh Saint Denis zu finden. Es ist für mich 
ausgemacht, daß kein einziges imstande ist, den Windungen der 
Wege im Garten seines Vaters nach einem Plane nachzugehen, 
ohne sich zu verirren. Das sind die gelehrten Herrchen, die auf 
den Punkt zu sagen wissen, wo Peking, Ispahan, Mexiko und alle 
Länder der WeH liegen. 

Infolge einer noch liicherlicheren Verirrung läßt man sie 
Geschichte studieren: man bildet sich ein, daß die Geschichte 

^) Man druckt das, waa Kousseau memt, häufig auch so aus: 
sie denken deutsch und sprechen fransosisch, d. h. kleiden das deutsch 
Gedachte in französische Wörter. 

^ Gleichbodeutende AVörter. 



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ihre Fassungskraft nicht ühersteigo, da sie nur eine Zusummen- 
stell nns^ von Tatsachen sei. Ahor was versteht man unter Tat- 
sachen? Glaubt man, daß die Beziehungen, welche die histo- 
rischen Tatsachen bestimmen, so leicht zu erfassen sind, daß 
die Ideen derselben sfich ohne weiteres im Geiste der Kinder 
bilden? Glaubt man^ daß die wahre Erkenntnis der Ereignisse 
von der ihrer Ursachen und Wirkungen getrennt werden könne, 
und daß Geschichte und Moral so wenig miteinander zu tun 
haben, daß man die eine ohne die andere kennen lernen könne? 
Wenn man in den Handlungen der Menschen nur äußerliche 
und rein physische Bewegungen sieht, was lernt man denn in 
der Oosehiehte? — ^ Ganz und gar nichts; und dieses ganz reiz- 
lose Studium kann ebensowenig Vergnügen als Belehrung 
bieten. Will man aber die Handlungen nach ihrer sittlichen 
Seite hin würdigen, so versuche man einmal, diese Beziehungen 
dem Zöglinge verständlich zu mächen, und man wird sehen, ob 
die Geschichte seinem Alter angemessen ist. 

Rousseau fahrt als Beleg für diese seine Ansichten folgenden 
selbsterlebten Vorfall an: 

Ich hatte etliche Tage auf dem Lande bei einer guten Haus- 
mutter zugebracht, die auf ihre Kinder und auf die !>zielning 
derselben große Sorgfalt verwandle. Eines Morgens nalim der 
Erzieher in den ünterriehtsstunden des älteren Sohnes, den 
er sehr gut in der alten Geschichte unterrichtet hatte, in meiner 
Gegenwart die Geschichte Alexanders vor und kam dabei auf 
die bekannte Geschichte vom Arzte I?hi1ippus zu sprechen^ die 
man, wie sie es sicherlich wohl verdiente, im Gemälde dar* 
gestellt hat.^) Der Erzieher, ein tüchtiger Mann, machte über 
die Ünerschrockenheit Alexanders mehrere Beobachtungen, die 

Alexander der Große erhielt^ als er krank war, ein Schreiben» 
in welcliem sein Leibarzt Philippus beschuldigt wurde, daß er ihn ver- 
giften wolle. Alexander glaubte jedoch der Anklage nicht; als ihm der 
Arzt eine Arznei brachte, reichte er ihm zwar den Brief, trank aber 
ohne Zögern, was der Arzt bereitet hatte. Das Vertrauen des Königs 
wurde nicht ge1»,uscht; die Arznei wirkte gunstig, Alexander wurde 
wieder gesund* 



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mir durchaus nicht gefielen, die ich aber nicht angreifen wollte, 
um seinem Ansehen bei seinem Zögling nicht zu schaden. Bei 
Tische ließ man nach französischer Sitte den kleinen Menschen 
viel plaudern. Die semem Alter natürliche Lebhaftigkeit und 
die sichere Erwartung einer Belobung veranlaßten ilin 7m tausend 
dummen Einfällen, unter welchen von Zeit zu Zeit einige glück- 
liche Worte zum Vorschein kamen, die das übrige vergessen 
ließen. Endlich kam auch die Geschichte vom Arzte Philippus: 
er erzahlte sie sehr gut und recht artig. Nach den üblichen 
Lobesspenden, die die Mutter verlangte und der Sohn er- 
wartete, sprach man viel über seine Erzählung hin und her. 
Die meisten tadelten die Tollkühnheit Alexanders; einige be- 
wunderten, wie es der Erzieher getan, seine F( st igkeit und seinen 
Mut: woraus ich denn scliloß, daß unter den Anwesenden 
niemand begrilf, woriji eigentlich die Schönheit der Handlung 
bestand. Für meinen Teii^, sagte ich zu ihnen, bin ich der An- 
sicht, daß, wenn in der Handlungsweise Alexanders von Mut 
oder Festigkeit nur im geringsten die Kede sein kann^ sie nichts 
als ein ganz toller Einfall ist. Nun kamen alle überein und 
sagten, das sei ein toller Einfall. Ich wollte antvorten und 
geriet in Hitze, als eine Frau neben mir, die kein Wort ge- 
sprochen hatte, mir leise ins Ohr flüsterte: Sei ruhig, Jean- 
Jacques; man \ersteht dich doch üiciil. — ich sah ihr ins Ge- 
sicht und schwieg betroffen. 

Da ich nun nach mehreren Anzeichen vermutete, daß mein 
kleiner Gelehrter von der Geschichte, die er so gut erzählt hatte, 
durchaus nichts begriffen habe, nahm ich ihn nach dem Essen 
nn der Hand und ging mit ihm im Park spazieren, und nachdem 
ich ihn ganz ungestört ausgefragt hatte, fand ich, daß er mehr 
als irgend jemand den so sehr gerühmten Hut Alexanders be- 
wunderte: wiSt ihr aber, worin er diesen Mut erblickte? Einzig 
darin, daß er ohne Zaudern, ohne den geringsten Widerwillen 
zu zeigen, einen übelschmeckenden Trank auf einen Zug geleert 
hatte. Das arme Kind, dem man keine zwei Wochen zuvor 
Arznei eingegeben hatte, die es nur mit größter Überwindung 
nahm, hatte noch den Nachgeschmack im Munde. Tod und Ver- 



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giftuiig galten bei ilim mir als iinangenuhme Eniptindurigen, ein 
anderes Gift als Sennesblätter gab es bei ihm nieht. Doch hatte, 
allerdings die Festigkeit des Helden auf sein junges Herz einen 
großen Eindruck gemacht^ und bei der nächsten Arznei» die es. 
einnehmen müßte, hatte es sich fest vorgenommen ein Alc^ 
xander zu sein. Ohne mich aqf Erklärungen einzulassen» die 
offenlMir über seine Fassungskraft waren» befestigte ich es in 
seinem löblichen Vorsätze, und bei mir selbst über die hohe 
Weisheit der Väter und Mütter lachend, die ihre Kinder Ge- 
schichte zu lehren meinen, kehrte ich heim. 

Wie jore^en das Studium der Gescbichte erklärt sich Rousseau 
auch gegen die Lektüre der in der damaligen französischen Erziehung 
(teilweise selbst noch in der heutigen) sehr beliebten Fabeln von La 
Eontaine; er sagt hierüber: 

Emil wird nie etwas auswendig lernen, nicht einmal Fabeln, 
auch die von La Fontaine nicht, so kindlich und rei/f^nd sie 
sind;^) denn die Worte der Fabeln sind ebensowenig die 
Fabeln selbst, als die Worte der Geschichte Geschichte sind. 
Wie kann man so kurzsichtig sein, die Fabeln als die Moral der 
Kinder zu bezeichnen» ohne zu bedenken, daß dm Einkleidung 
sie nicht nur unterhält» sondern auch täuscht» daß sie» durch.die 
Dichtung verführt» die Wahrheit aus den Händen lassen und 
so die Mittel, die man anwendet, um ihnen die Belehrung an- 
genehm zu machen, sie zugleich verhindern, Nutzen daraus zu 
ziehen? Die Fabeln können für Erwachsene belehrend sfin; 
den Kindern aber muß man die Wahrheit sagen sobald 
man sie mit einem Schleier verhüllt, geben sie sich nicht mehr 
die Mühe, ihn zu heben. 

Man läßt alle Kinder die Fabeln von La Fontaine 



^) Die Fabeln La Fontaine« sind zwar unterhaltend, aber nicht 
gerade kindlich; Rousseaa gesteht hier seinem berühmten Landsmaime 
mehr zu, als er verdient. 

^ Sobald sie sie verstehen und es auch .'^(»rrst timlicli ist, muß 
man hinzufügten; im übrigen ist die BciiKi kuu^'- richtig, clali die Kinder 
^ern an dem Äußerlichen hängen bleiben und die tiefer liegende Wahr- 
heit gar nicht fassen. 

Echttlaa8gab«n piftdagogisoUer Klassiker. KeU 6. 5 



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66 



lernen, und doch versteht sie kein einziges. Verstünden sie die- 
selben, so wäre es noch schlimmer; denn ihre Moral ist so wenig 
einfach, diesem Alter so wenig angemessen, daß sie es mehr 
zum Laster als zur Tugend führen würde. 0 Schon wieder Para- 
doxen^ wird man sagen; meinetwegen: sehen wir, ob es nicht 
dennoch Wahrheiten sind! 

Boussöau bespricht nun eingehend die bekannte Fabel von dem 
Baben» der einen Käse gestohlen bat, und dem iFuchs, der ihm denselben 
abschmeichelt, in der Fassung, die ihr La Fontaine gegeben hat und 
schließt diese Besprechung mit folgenden Worten: 

Ich frage, ob man sechsjährige Kinder lehren soU^ duß es 
Menschen gibt^ die^ um ihres Vorteiles willen schmeicheln oder 
lügen? Man dürfte sie höchstens lehren, daß es Spötter gibt, 
welche die kleinen Jungen auslachen und liiniur lirrcm Rücken 
sich über ihre dumme Eitelkeit lustig machen: aber der Käse 
verdirbt alles; man lehrt sie nicht so sehr, den Käse nicht aus 
ihrem Schnabel fallen zu lassen, als vielmehr, ihn anderen 
aus dem Schnabel zu locken. Dies ist mein zweites Paradoxou, 
und zwar nicht das bedeutungsloseste. 

Beobachte einmal die Kinder^ wenn sie Fabeln lernen, 
und du wirst sehen, daß sie fast immer, wenn sie überhaupt 
imstande sind, eine Anwendung davon zu machen, auf eine den 
Absichten des Verfassers entgegengesetzte geraten und, anstatt 
sich hinsichtlich des Fehlers in acht tn nehmen, wovon man 
sie heilen oder fernhalten will, sich auf die Seite des Lasters 
stellen, das aus den Fehlern der anderen Nutzen zieht. In der 
obigen Fabel machen sie sich über den Raben lustig, aber den 
Fuchs gewinnen sie alle lieb. Der Mensch mag sich nicht er- 
niedrigen; er wählt immer die bessere Rolle; so wählt die Eigen- 
liebe und das ist eine sehr natürliche WahL 

In allen Fabeln, in welchen der Löwe eine Rolle spielt, 
ist er natürlich die glänzendste Person; das Kind will also 
durchaus Löwe sein, und wenn es irgendeine Verteilung vor- 
zunehmen hat, wird es, seinem Vorbilde getreu, dafür sorgen, 

^) Hier widerspricht Housseau seihat der Ansichti daß La 
Foutaines Fabeln kindlich seien. 



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daß alles i Ii in zulallo. Aber wenn die Mücke den Löwen über- 
wältigt, dann ist die Sache anders; dann ist das Kind nicht mehr 
Löwe, sondern Mücke. Es lernt eines Tages diejenigen mit 
Nadelstichen töten, die es nicht offen anzugreifen wagt. 

Nachdem Koussean verBichert, daß er dem Kuhme La Fon- 
taine s als Schriftsteller nicht sn nahe treten wolle und nur für Kinder 
dessen Fabehi nicht empfehlenswert sind, fährt er fort: 

Indem ich so Yon den Kindern alle Pflichten fernhalte^ 
entferne ich auch die Quellen ihrer gröBten Plage, die Bücher. 
Das Lesen ist eine Geißel für die Kinder, und doch ist es fast 

die einzige Beschäftigung, die man ihnen zu geben weiß. Emil 
wird im zwölften Jahre kaum erfahren, was ein Buch ist. Aber, 
wird man sagen, er wird doch wenigstens lesen lernen sollen. 
Allerdings: er soll lesen lernen, wenn das Lesen ihm nützlich 
sein wird; bis dahin dient es nur dazu, ihn verdrießlich zu 
machen. 

Wenn man von den Kindern nichts durch Gehorsam cr- 
üwingt, eo ist die Folge, daß sie nichts lernen, vovon sie nicht 
einen wirklichen und augenblicklichen Vorteil sehen, sei es 
nun Vergnügen oder Nutzen; welcher Beweggrund sollte sie 
sonst zum Lernen veranlassen ? t)ie Kunst, mit Abwesenden zu 
sprechen und sie zu verstehen, die Kunst, ohne Vermittler 
seine Gefühle, seinen Willen und seine Wünsche fernhin mit- 
zuteilen, ist jedoch von einem Nutzen, der jedem Alter ver- 
ständlich gemacht wcrtlon kann. Es mußte wunderbar genrnj 
zugehen, daß diese so nützliche und angenebmo Knnst eine 
Qual der Kinder geworden ist. Aber man zwingt sie eben, sich 
wider Willen damit zu beschäftigen, und wendet das Lesen zu 
Zwecken an, von welchen die Kinder nichts verstehen. Dem 
Kinde wird sehr wenig daran gelegen sein, ein Werkzeug zu 
yerroUkommnen, mit dem man es quält; man sorge aber dafür, 
daß dieses Werkzeug zu seiner Ergötzung diene, und bald wird 
es sich selbst gegen deinen Willen damit beschäftigen. 

Man macht sich ein großes Geschäft daraus, die besten 
Metboden für das Lesenlernen zu suchen; man erfindet Lese- 
kasten und Karten und macht das Zimmer des Kindes zu einet 

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Buchdruckerwerkstätte. Lücke will, es solle mit Würfeln 
lesen lernen, Ist das nicht eine herrliehe Erfindung? Wie schade 
um sie! Ein si(3hereres Mittel als all diese, das man aber immer 
wieder vcrgiiit, ist die Lust zu lernen. Flöße dem Kinde 
dieses Verlangen ein und dann laß deine Kasten und Würfel 
beiseite; denn dann wird jede Methode ihm recht sein. 

Rousseau empfiehlt sodann, dem Zögling Briefe empfangen zu 
lassen, die Einladungen vu dgl. enthalten; er kann sie nicht lesen, 
erf Shrt daher den Inhalt zu spat und hat nun selbst den Wunsch lesen 
SU lernen. 

Knr ein Wort noch^ in dem ein wichtiger Grundsatz liegt, 
nämlich» daß man gewöhnlich das, was man nicht mit zu großer 
Hast erstrebt, sehr sicher und sehr bald erreicht. Ich nehme 

es fast als gewiß an, daß Emil vor seinem zehnten Jahre voll- 
kommen lesen und schreiben kann, gerade weil ich so wenig 
Wert darauf leL'-e, daß er vor seinem fünfzehnten so weit sei; 
aber ich möchte lieber, daß er nie lesen lernte, als wenn ich 
dieses Wissen um den Preis alles dessen kaufen müßte, was ihm 
das Leben nützlich macheu kann:^) wozu soll ihm das Lesen 
nützen, wenn man es ihm für immer verleidet hat! 

Je mehr ich auf meiner Methode der Untätigkeit bestehe, 
desto mehr fühle ich die Einwürfe, die man dagegen erheben 
wird. „Wenn dein Zögling von dir nichts lernt, wird er von 
andern lernen. Wenn du nicht durch die Wahrheit dem Irrtum 
zuvorkommst, wird er sich Lügen einprägen: die Vorurteile, 
die du von ihm fernhalten willst, wird er aus seiner Umgebung 
aufnehmen; durch alle seine Sinne werden sie in ihn eindringen; 
sie werden entweder seine Vernunft Torderben, noch bevor sie 
sich gebildet hat, oder sein durch lange T^ntätigkeit ein- 
geschläferter N'crstaud wird sich in dem StolFlichcn verlieren.^) 
Die Ungewohntheit des Denkens in der Kindheit nimmt die 
Fähigkeit dazu für das ganze übrige Leben." 

Rousseau halt es für überflüssig, diese Einwurfe zu beantworten. 

Wenn er nicht (yv i n liest, nützt es ihm nichts, daß er lesen kann. 
^) Der Zögling wird hlo& Stoff aufnehmen, ohne ihn denkend au 
vorarbeiten. 



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Dagegen beruft er sich hesuglich der von ilim empfohlenen, vorwiegend 
körperlichem Erziehung auf die Wilden, die er wegen ihrer scharfen 
Naturbeobachtung und ihrer körperlichen Qewand^eit als Vorbilder 
Emils betrachtet, und auf die Spartaner, die ihre Kinder au Wildfangen 
erzogen und sogar angeleitet hätten, ihr Mittagsbrot zu stehlen, um 
ihren Scharfsinn zu üben. Diese Art der Erziehung hatte den Vorteil, 
daß man den Zögling lenken könne, während er scheinbar yoUkommen 
frei sei. Um aber zu zeigen, dafi selbst auf verzogene Kinder ein ähn- 
liches Verfahren anwendbar sei, erzählt Rousseau folgendes eigene 
Erlebnis: 

Ich hatte einmal -eia paar Wochen hindurch einen Knaben 
zu mir genommen^ der nicht bloß daran gewöhnt war^ seinen 
eigenen Willen zu tun, sondern auch^ ihn bei jedermann durch- 
zusetzen, und der infolgedessen voller Launen war.*) Um meine 

Nachgiebigkeit auf die Probe zu stellen, wollte er gleich um 
ersten Tage um Mitternacht aufstehen. Während ich am 
festesten schlafe, si)riügt er aus dorn Bett, zieht sein Haus- 
kleid an und ruft mich. Ich erhebe mich und mache Licht; 
mehr wollte er nicht; nach Verlauf einer Viertelstunde über- 
mannt ihn der Schlaf und er legt sich, mit dem Versuche zu- 
frieden^ wieder zu Bette. Zwei Tage darauf wiederholt er ihn 
mit dem nämlichen Erfolge und ohne das geringste Zeichen 
der Ungeduld von meiner Seite. Als er mich beim Niederlegen 
küßte, sagte ich ihm in sehr ernstem Tone : Mein junger Freund^ 
das ist ganz schön so; komme mir aber damit nicht wieder! — 
Dieses Wort erregte seine Neugierde; gleich an andern Tage 
wollte er sehen, ob ich mich unterstehen würde, ihm nicht will- 
fähritj zu sein, und verfehlte daher nicht, zur selben Stunde 
aufzustehen und mich zu rufen. Ich fragte ihn, was er wolle. 
Er sagte mir, er könne nicht schlafen. Um so schlimmer, er- 
wiederte ich und rührte mich nicht. Er bat mich, das Licht an- 
zuzünden. „Wozu denn?" — und ich rührte mich noch immer 
nicht. Dieser lakonische Ton setzte ihn nach und nach in Yer< 
legenheit. Er schlich ia.uf den Zehen, den Feuerstein zu suchen, 
und tat, als schlüge er Feuer; ich konnte mich nicht enthalten 
zu lachen, als ich ihn auf seine eigenen Finger schlagen hörte. 

2) Ea war der Soliii einer Frau Uupiu. 



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Als er sioih endlich überzeugt hatte^ daß er damit nicht zustande 

kommen werde, brachte er mir das Feuerzeug ans Bett; ich sagte 
ihm, ich brauchte es nicht, und kehrte mich auf die andere 
Seite. Da fing er an, wie wahiibinnig durchs Zimmer zu rennen, 
7.\i schreien, zu singen, allerhand Lärm zu machen, an Tisch 
und K^tühle zu stoiien^ Ireiüch mit groJier Behutsamkeit; doch 
fing er darüber ein großes Geschrei an, in der Hoffnung, mich 
doch in Unruhe zu versetzen. Alles das verfing nichts und ich 
sah wohl^ daß er auf schöne Ermahnungen und Zornesausbrüche 
rechnete^ auf diese Kaltblütigkeit aber durchaus nicht ge- 
faßt war. 

Da er indessen entschlossen war^ meine Geduld durch Hals- 
starrigkeit zu besiegen, setzte er seinen Lärm so erfolgreich 
fort, daii ich am Ende doch in Wut geriet, und da ich voraussah, 
daß ich durch unzeitiges Ereifern alles verderben würde, legte 
ich mir meinen Plan anders zurecht. Ohne ein Wort zu sagen, 
stand ich auf und ging nach dem Feuerstein, den ich nicht fand; 
ich frage ihn danach; er gibt ihn mir, außer sich vor Freude, 
endlich über mich triumphiert zu haben. Ich schlage Feuer und 
zünde Licht an, nehme den kleinen Kerl an der Hand und führe 
ihn ruhig in ein anstoßendes Gelaß, dessen Läden gut geschlossen 
sind und wo es nichts zu zerbrechen gibt; ich lasse ihn hier ohne 
Licht, schließe hinter ihm die Türe mit dem Schlüssel ab und 
lege mich wieder in mein Bett, ohne ihm ein einziges Wort ge- 
sagt /u haben. 'Man braucht nicht zu fragen, ob nun ein Lärm 
losbrach; ich hatte darauf gerechnet und ließ mich durchaus 
nicht aus der Fassung bringen. Endlich legt sich der Lärm; ich 
horche auf und höre, wie er sich zurechtlegt, und beruhige 
mich. Am andern Morgen trete ich bei Tageslicht in das Gelaß 
und finde den kleinen Trotzkopf auf einem Ruhebette in tiefem 
Schlafe, den er nach so großer Anstrengung sehr nötig haben 
mußte. 

Damit war aber die Geschichte noch nicht zu Ende. Die 
Mutter erfuhr, daß ihr Kind zwei Dritteile der Nacht außer 
dem Bette zugebracht habe. Nun dachte man sofort an das 

Schlimmste, das Kind war so gut wie tot. Der Junge fand die 



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t 

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Gelegenheit günstige sich zu rächen; er stellte sich krank, ohne 
zu ahnen, daß er dahei nichts gewinnen werde. Man rief den 
Arzt. Zum Ud glück für die Mutter war der Arzt ein Spaßvogel, 

der sich an ihrem Schrecken weidete und deshalb alles darauf 

anlegte, ihn noch zu vermehren. Doch sagte er mir ins Ohr: 
Lassen Sic mich nur machen; ich verspreche Ihnen, daß der 
Jiin<re lur einige Zeit von der Laune krank zu sein, kuriert 
werden soll. — In der Tat wurden Diät und Zuhausebleiben 
verordnet und der Junge dem Apotheker ans Herz gelegt. Mir 
tat es wehe, daß die ganze Umgebung mit der armen Mutter ihr 
Spiel trieb, mich allein ausgenommen, doch auf mich war sie 
nun erbost, eben weil ich sie nicht hinterging. 

Boussean erzählt sodann, wie derselbe Junge allein, ohne seinen 
Ersiehefi auszugehen versucht, weil dieser nicht Zeit und Lust hat, ihn 
zu b^leiten, dabei aber infolge der von seinem Erzieher schon vorher 
getroffenen Veranstaltungen solche Beschämungen erleideti daß ihm die 
Lust zur Wiederholung benommen wird. 

Rousseau spricht hierauf von der Kleidung seines Zöglings, 
wobei er die damalige französische Kleidung als eng, unbequem und darum 
ungesund bekämpft, von dem Trinken, besonders bei Erhitzung, das 
nicht verwehrt werden dürfe, endlich vom Schlafe der Kinder. Hierüber 
sagt er folgfflddes: 

Kinder brauchen viel Schlaf, weil sie außerordentlich viel 
Bewegung machen. Eines dient dem andern zur Ausgleichung; 
auch sieht man, daß sie beider bedürfen. Die Zeit der Ruhe ist 
die Nacht; das zcifjt die Natur selbst an. Es ist eine feststehende 
Erfahrung, dali der Schlaf ruhiger und sanfter ist, wenn die 
Sonne unter dem Horizont stellt, während die von den Sonnen- 
strahlen erwärmte Luft unseren Sinnen keine so tiefe liuhe 
gestattet. So ist es denn gewiß die wohltätigste Gewohnheit^ mit 
der Sonne aufzustehen und mit ihr sich zur Huhe zu begeben. 
Daraus folgte daß in unseren Himmelsstrichen der Mensch und 
alle Tiere im allgemeinen im Winter eines längeren Schlafes 
bedürfen als im Sommer. Aber das Leben in der bürgerlichen 
Gesellschaft ist nicht so einfach^ so natürlich^ so frei von ge- 
waltsamen Störungen und Zufällen, daß man den Menschen 
au eine gleit hfürniigo Lcbensordnuiig gcwülinon düiftc, derart'. 



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daß sie ihm unentbehrlich würde. Man muß sich allerdings einer 
Lebensardnnng unterwerfen; aber die oberste Begel ist^ daß 
man sie ohne Gefahr muB übertreten können, wenn es die Um- 
stände erfordern. Du darfst also deinen Zögling nicht im- 
bedaehterweise an einen ruhigen, nie gestörten Schlaf gewöhnen, 
der nie eine Unterbrechung fvliite. Überlasse ihn aiilaiig,< ohne 
Ein.schränkung dem Gesetzü der Natur; aber vorgiß nicht, daß 
er in unserer Gesellschaft über diesem Gesetze stehen muß, daß 
er imstande sein nniß^ spät zu P)etto zu gehen, früh aufzustehen, 
plötzlich aufzuwa(;hen und die Nächte auf den Beinen zuzu- 
bringen, ohne ein Ungemach zu spüren. Beginnt man frühzeitig 
damit und geht man unmerklich und stufenweise weiter, so be- 
fähigt man den Körper für Dinge^ die ihm gefährlich werden, 
wenn man ihn erst dann ihnen aussetzt^ nachdem er schon voll- 
ständig ausgebildet ist. 

Es ist von Wichtigkeit, daß man sich von vornherein an 
schlechtes Lager hei Nacht gewöhne; dann wird man nie mehr 
ein schlechtes I^ett finden. Ein abgehärtetes Leben, einmal zur 
Gewohnheit geworden, vermehrt im allgemeinen die angenehmen 
Empfindungen; ein weichliches Leben dagegen verschafft uns 
eine sehr große Menge unangenehmer. Zu zart auferzogene 
Leute können nur auf Flaumkissen in Schlaf kommen: Leute, 
die gewohnt sind, auf Dielen zu schlafen, finden den Schlaf 
überall: wer einschläft, sobald er sich niederlegt, findet kein 
Bett hart. 

Ro aase au empfiehlt sodann, die £inder an plötzliches Aufwecken, 
ja nach dem Beispiele der Wilden selbst an Hunger, Schlfige, Brandl- 
wunden u. dgl. EU gewöhnen und selbst an den Gedanken des Todes, 
damit sie ihn mekt fürchten. Bezüglich der luipfung schwankt Bousseau, 
ob er sie empfehlen oder widerraten solL Sehr wichtig scheint ihm» daß 
Emil schwimmen lerne. 

Hierauf geht er auf die Übung der Sinne über; er sagt hiervon: 
Es gibt rein natürliche und mechanische Übungen, die 
dazu dienen, den Körper kraitig zu machen, ohne aher der 
Urteilskraft irpfendwie zu nül /.on. Scliwimmen, laufen, springen, 
den Kreisel treiben und Steine werfen, das ist alles recht gut; 
aber haben wir denn bloß Arme und Beine? haben wir nicht 



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auch Aiigcn und Ohren ? und sind diese Organe zum Gebrauche 
der ersteien (der Arme nnd Beine) etwa überflüssig? Man übe 
also nicht bloß die Kräfte, sondern auch alle Sinne, welche 

dabei in Bewegung treten; iiiau ziehe ans jedem den größt- 
11101,^1 ie he n Vorteil, sodann wende man den einen zur Richtig- 
stellung des anderen an. Man messe, zähle, wäge, ver^k^iehe. 
Man wende Kraft erst an, nachdem man den Widerstand 
gemessen: man richte es immer so ein, daß dem Gebrauche der 
Mittel die Schätznng der Wirkung vorausgehe. Das Kind muß 
Wert darauf legen, niemals ungenügende oder überflüssige 
Anstrengungen zu machen.^) Gewöhnt man es so, die Wirkung 
aller seiner Bewegungen vorauszusehen und seine Irrtümer 
durch Erfahrung zu berichtigen, so ist es doch wohl klar, daß 
es um so urteilsfähiger werden wird, je tätiger es ist. 

Es iiandelt sich darum, eine Masse von der Stelle zu 
bringen: nimmt es einen zu langen Hebel, so verbraucht es 
zuviel Bewegung; nimmt es ihn zu kurz, so wird es nicht genug 
Kraft haben. Die Erfahrung wird es lehren, gerade den Hebe- 
baum zu nehmen, den es braucht. Diese Einsicht geht also nicht 
über sein Alter. Es soll eine Last getragen werden : will es sie 
so schwer nehmen, als es sie tragen kann, aber sich auch nicht 
an mehr wagen, aU es etwa heben kann, wird es da nicht ge- 
zwungen sein, mit dem Auge das Gewicht derselben zu schätzen ? 
Kann es Massen vom selben Stoff, aber verschiedener Größe 
vergleichen, so wähle es unter Massen von derselben Größe, 
aber von verschiedenem Stoffe: dann wird es sich wohl bemühen 
müssen, ihr Eigengewicht zu vergleiehen. Ich habe einen sehr 
gut erzogenen jungen ^lenschen gesehen, der erst nach vor- 
genommener Prol)e glauben wollte, dall em Eimer voll eichener 
Hobelspäne weniger schwer sei als derselbe Eimer voll Wasser. 

Nicht von allen unseren Sinnen ist der Gebrauch in 
gleichem Maße in unsere Macht gegeben. Es gibt einen, nämlich 
das Gefühl, desaen Tätigkeit im wachen Zustand niemals 

^) Eh liegt in der Natur der Kinder, bfi allom, w:is «ie tun, eher 
suvicl als s^uwpnig' Kraft anzuwenden. Die Spannanikcit in der Ver- 
wendung der Kräfte, die Rousseau den Kindern zumutet, widerstrebt ihnen. 



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* 



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aufhört; er ist über die ganze Oberftädie imseres Ijeibes aus- 
gebreitet, wie eine ständige Wache, die ihm von allem, was ihn 
beschädigen kann, Kenntnis gibt. Von ihm erlangen wir auch 
durch jene beständige Übung, wohl oder übel, am frühesten 

Erfahrung und für ihn brauchen wir deshalb weniger Pllcge. 
Indessen bemerkt man doch, daij uic Blinden ein sicliereres 
und feineres Gefühl haben als wir, weil sie, nicht geleitet durch 
das Gesicht, not^aMlniiigon aus dem erst^;eminiiteii Sinn allein die 
Urteile gewinnen müssen, welche uns der andere liefert. Warum 
übt mStU uns denn nichts wie sie, ku Finstem zu gehen, die Körper 
zu erkennen, die wir greifen können, über die Gegenstände zu 
urteilen, die ims umgeben, mit einem Worte, bei Nacht und 
ohne Licht alles zu verrichten, was sie bei Tage, aber ohne 
Augenlicht verrichten? Solange die Sonne am Himmel ist, 
haben wir über sie den Vorteil; in der Finsternis hingegen sind 
sie unsere Führer. Die Hälfte unseres Lebens sind wir blind, 
mit dem Unterschiede jedoch, daß die wahrhaft lilinden sich 
immer zurechtzufinden wissen, während wir bei dunkler Nacht 
keinen Schritt 711 tun wairen. Dafür hat man Licht, wird man 
mir einwenden. Wie ? immer und immer künstliche Hilfsmittel ? 
Wer steht euch dafür, daß sie euch immer nach Bedarf zur 
Hand sein werden? Ich wenigstens will lieber, daß Emil seine 
Augen in den Fingerspitzen habe als in einem Lichtzieherladen. 

Rottsseau gibt nun eingebende Ratscbläge f ür dieae Übangen im 
Finsteriii in denen er auch eine Schntzwehr gegen aberj^läabisdie Furcht 
erbHckt; er seigt, wie hierbei das Gefühl (der Tastsinn) den Gesichtssiim 
unterstütssen künne, und fUhrt fort: 

Da ein ausgebildeter Tastsinn dem Gesichte zu Hilfe 
kommt, warum sollte er nicht bis zu einem gewissen Punkte 
auch das Gehör unterstützen, da die Töne in den klingenden 
Körpern Erschütterungen hervorrufen, die dem Gefühle wahr- 
nehmbar sind? Legt man die Hand auf den Leib eines Yiolon- 
cells, so kann man ohne Hilfe der Augen und Ohren bloß nach 
der Art, wie das Holz schwingt oder dröhnt, erkennen, ob der 
Ton, den es gibt, tief oder hoch ist, ob er auf der Singsaite oder 
auf der Baßsaite gestrichen wird. Übt man die Sinne in solchen 



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Untersch ei düngen, so 5^\veiflo ich nicht, daß man mit der Zeit 
so feinfühlig werden kann, daß man ein ganzes Stück mit den 
ilngern zu hören vermag. 

Um dem Tastsinn seine Feinheit xm erhalten, empfiehlt Kousseau 
unter andern aaoh das Barfußlatifen; er sa^ hierüber: 

Warom soll mein Zögling genötigt sein, unter den Füßen 
immer eine Ochsenbant zu tragen? Was wäre Schlimmes dabei, 
wenn im Notfall seine eigene als Sohle dienen könnte? Es ist 
einleuchtend, daß an diesem Orte die Empfindlichkeit der Haut 
nie zu etwas gut ist und manchmal bedeutend schaden kami. 
Als die Grenfer mitten im Winter um Mitternacht durch den 
Feind in ihrer IStadt aufgeschreckt wurden, fanden sie früher 
die Gewehre als ihre Schuhe. Hätte keiner von ihnen barfaß 
gehen können, wer weiß, ob Genf nicht eingenommen worden 
wäre ? ^) 

Laßt uns daher den Menschen gegen unvorhergesehene 
Zufälle wappnen. Emil möge am Morgen zu jeder Jahreszeit 
im Zimmer, auf der Treppe und im Garten barfuß umherlaufen; 
ich werde ihn durchaus nicht etwa zurechtweisen, sondern ihn 
nachahmen; nur werde ich dafür sorgen, daß kein Glas auf dem 
Wege ist. Von den Arbeiten und Spielen für die Hand werde 
ich bald reden. Übrigens soll er alle Schrittarten lernen, welche 
die Bewegungen des Körpers erleichtern, er soll in allen 
Stellungen sich leicht und sicher halten lernen; er soll in die 
Weite und in die Höhe springen, einen Baum erklettern, eine 
Mauer übersteigen können; immer soll er sein Gleichgewicht 
linden; alle seine Bewegungen und Gebärden sollen nach den 
Gesetzen des Schwerpunktes eingerichtet sein, lange bevor die 
Statik ihm darüber Aufklärung bietet.^) An der Art, wie sein 
Fuß auftritt und sein Leib auf den Beinen ruht, muß er 
merken, ob er gut oder schlecht steht. Eine sichere Haltung 
sieht immer gut aus, und die festeste Stellimg ist immer die 
eleganteste. Wäre ich Tanzlehrer, so würde ich statt meinen 
Zögling ewig mit Luftsprüugen zu beschältigen, ihn an den Fuß 

*) Durch den Herzog von Savoyen im Jahre 1602. 
Dies ist im Grunde bei jedermann der Fall. 



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ein 08 FclAons fuhren. Hier würde ich ihm zeigen^ welche 
Haltung' man annehmen^ wie man Leib und K.opf tragen, 
welche Bewegung man machen, wie man jetzt den Fuß und 

jetzt die Hand aufsetzen muß, um den abschüssigen, holperigen 
und rauhen Pfaden mit Leichtigkeit zu folgen und sich von 
Spitze zu Spitze zu schwingen, beim Aufsteigen sowohl als 
beim Herabsteigen. Zum Vebenbiihler einer Gemse würde ich 
ihn lieber machen als zum Ballettänzer. 

So sehr der Tastsinn seine Wirksamkeit auf die nächste 
Umgebung des Menschen beschränkt, ebensosehr erstreckt das 
Gesicht die seinige über den Kreis desselben hinaus. Dadurch 
wird aber diese trügerischer. Mit einem Blicke umfafit der 
Mensch die Hälfte seines Gesichtskreises; wie sollte man bei 
dieser Menge gleichzeitiger Sinneswahrnehmuugen und daraus 
entspringender Urteile sich nicht da oder dort täuschen? So 
ist denn das Gesieht von allen unseren Sinnen der an Irr- 
tümern reichste, gerade weil er der wciireiciiendste ist und 
weil seine Verrichtungen, mit denen er allen andern weit 
vorauseilt, zu ra??ch und zu umfassend sind, um durch jene 
berichtigt zu werden. Ja noch mehr; die Täuschungen der 
Perspektive sind uns sogar notwendig, um zur Erkenntnis der 
Ausdehnung und zur Yergleichung der einzelnen Teile zu 
gelangen. Ohne Gesichtstäuschungen würden wir nichts als 
fern erkennen; ohne die Abstufungen der GröBe und der Be- 
leuchtung würden wir keine Entfernung schätzen können^ oder 
es gäbe vielmehr keine für uns. Wenn von zwei Bäumen der 
eine, weicher hundert Sehritte entfernt ist, uns ebenso groß 
und ebenso deutlich erschiene wie einer, der nur zehn Schritte 
entfernt ist, würden wir sie nebeneinander stellen. Wenn wir 
alle Dimensionen der Gegenstände in ihrem wirklichen Maße 
sähen, würden wir gar keinen liaum sehen und alles schiene 
uns auf der Fläche unseres Auges zu stehen. 

Um die Grüße der Gegenstände und ihre Entfernung zu 
beurteilen^ hat der Gesichtssinn nur ein einziges Maß^ nämlich 
die Oifnung (Größe) des Gesichtswinkels in unserem Auge/) 

^) Dies ist nicht ganz richtig. Entfernte Gegenstände erscheinen 



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und da diese ütinuiig die einfache Wirkung zweier zusammen- 
wirkender Ursachen ist, so läßt das dadurch hervorgerufene 
Urteil die einzelne Ursache unentschieden, oder es wird not- 
wendig fehlerhaft. Denn wie soll man vom bloßen Sehen unter- 
scheiden, ob der Winkel, unter welchem ich einen Gegenstand 
sehe, und welcher kleiner ist als ein anderer, dadurch entstand, 
daß der gesehene Gegenstand in der Tat kleiner oder dadurch, 
daß er entfernter ist? 

Hier ist also ein dem früheren entgegengesetzter Weg 
einzuschlagen: anstatt die Siunesempfindung zu vereinfachen, 
muß man sie mit einer anderen zusammenhalten und berieh- 
tigen, das (lesichtsorgan dem Oefühlsorgan unterordnen nnd 
sozusagen die Voreiligkeit des ersten Sinnes durch den schwer- 
fälligen und abgemessenen Gang des zweiten einschränken. 
Wenn wir uns nicht an dieses Verfahren binden wollen, sind 
unsere Schätzungen nach dem Augenmaße sehr ungenau. Wir 
haben keine Sicherheit im Blicke für das Schätzen der Höhen, 
Längen, Tiefen und Entfernungen; der Beweis aber, daß dies 
nicht von einem Fehler des Sinnes, sondern von der Anwendung 
desselben herrührt, ist der Umstand, daß Ingenieure, Feld- 
messer, Baumeister, Manrer und Maler in der Regel ein viel 
sichereres Auge haben als wir und die Kaummaße mit größerer 
Richtigkeit schätzen: da ihnen nämlich ihr Bernf darin Er- 
fahrungen an die Hand gibt, die wir zu erwerben versäumen, 
gleichen sie die Mehrdeutigkeit des Gesichtswinkels mit Hilfe 
der begleitenden Erscheinungen^) aus, welche das Verhältnis 

HUB nicht bloß kleiner, sondern auch anden, nSmlich im allgemeinen 
schv^oher beleuchtet, nnd anders, nSmlich im allgemeinen lichter nnd 
gleichmäßiger gefärbt. Infolge dieser Erscheinungi welche als Luft- 
perspektive bekannt ist, erkennen wir von drei Bergen, die uns gleich 
groß also unter demselben Gesichtswinkel encheinen, demjenigen, an 
welchem noch dunkelgrüne Wälder von hchtgrünen Wiesen und gelben 
Getreidefeldern unterschieden werden können, als den nächsten, den ein- 
färbig dunkelblauen als entfernter, den lichtblauen, vielleicht sogar 
weißlichblauen als den entferntesten. 

1) Zumeist wohl eben mit Hilfe der in der vorhergehenden 
Anmerkung erwähnten Luftpcrspcktive.. 



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der beiden Ursachen dieses Winkels für ihre Augen Tie! genauer 

bestimmen.^) 

Was den Leib zu einer zwanglosen Bewegung veranlaßt, 
ist bei Kindern immer leicht durchzusetzen. Durch tausenderlei 
Mittel kann man ihr Interesse am Messen, Erkennen und 
Schätzen von Entiernungen anregen. Da ist ein sehr hoher 
Kirschbaum: wie wollen wir es anfangen, um Kirschen zu 
pflücken? Kann man wohl die Leiter aus der Scheune dazu 
brauchen? Da ist ein sehr breiter Bach: wie wollen wir 
hinüberkommen? Wird eines Ton diesen Brettern über beide 
Ufer reichen? Wir möchten gerne von den Fenstern des 
Schlosses aus in den Schloßgraben fischen: wie viele Elafter 
lang muß unsere Leiter sein? Ich möchte zwischen zwei Bäumen 
eine Schaukel machen: wird ein vSeil von zwei Klaltern lang 
genug sein? Ich höre, daß unser Zimmer im anderen Hause 
fünfundzwanzig Quadratfuß haben soll: wird es uns wohl recht 
sein? Ist es größer als dieses? Wir sind sehr hungrig; dort sind 
zwei Dörfer: in welchem von beiden können wir früher zum 
Essen gelangen ? u. dgl. m. 

Eouseeau e»Shlt sodann, wio Emil dnroh das Beispiel von 
Dor^ungen Lust vom Wettlaufen bekommt. Hierbei wird ihm zuerst 
der Si^ errleichtert, dann immer mehr erschwert. Im Anschluese hieran 

M 

bespricht Rousseau die Übungen im Messen und Schätasen von Ent- 
fernungen. 

Man kann die Ausdehnung und die Gröfie der Körper 
nicht gut beurteilen, wenn man nicht auch ihre Gestalt erkennt 
und selbst nachbilden lernt; denn im Grunde beruht diese 

Kenntnis durchaus nur auf den Gesetzen der Perspektive, und 
ohne irgendwelchen Begriff von diesen Gesetzen kann man, 
was Ausdelmung hat, nicht nach der Erscheinung (danach, wie 
es sich dem Auge darstellt) beurteilen. Die Kinder haben eine 
große Neigung zur Nachahmung und versuchen alles zu zeichnen; 
mein Zögling müßte mir diese Kunst jedenfalls pflegen^ nicht 
gerade um der Kunst selbst willen, sondern um ein sicheres 

') E.keunen lassen, ob der Gregeustand kleiu erscheiut, weil er 
wirklich kleiu oder weil er fem ist. 



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79 



Auge und eine gewandte Hand zu bekommen; es liegt über- 
haupt sehr wen ig daran, ob er diese oder jene Fertigkeit besitze, 
wenn er nur die Scliiirfc der Sinne und die gute körperliche 
Gewöhnung erhängt, die man durcli diese Übnng gewinnt. Ich 
werde mich daher wohl hüten, ihm einen Zeichenlehrer zu 
geben, der ihn nur N'achgebildetes nachbilden und nur nach 
Zeichnungen zeichnen ließe: ich verlange, daß er keinen andern 
Lehrer habe als die Natur^ keine andere Vorlage als die 
Gegenstände selbst. Ich verlange, daB er das Original seihst 
vor Augen habe, nicht das Papier, auf dem es dargestellt ist; 
er soll ein Haus nach einem Hause, einen Baum nach einem 
Baume, einen Menschen nach einem Menschen zeichnen, damit 
er sich gewöhne, die ]\örper und die Art, wie sie sich dem 
Auge darstellen, gut zu beobachten und nielit ial-* lie und her- 
kömmlicho Xar-hbildungen für wirkliche "N'aeh>)il(]er zu lullten. 
Ich werde ihn selbst davon abhalten, nach dem Gedächtnis 
ohne Anschauung der Gegenstände zu zeichnen, bis durch 
häufige Beobachtungen ihre genauen Umrisse sich fest in sein 
YorstellungsTermögen eingepragt haben, damit er nicht der 
wirklichen Gestalt der Dinge wunderliche und phantastische 
Formen unterschiebe und die Kenntnis der Verhältnisse und 
den Geschmack für die Schönheit der Natur verliere. 

Ich weiß wohl, daß er auf diese Weise lange sudeln wird, 
ohne etwas Erkennbares zustande zu bringen, daß er sich 
gefällige Umrisse und die leichte Handführung der Zeichner 
erst spät, den Sinn für die malerischen EfTekte aber und den 
guten zeichnerischen Geschmack vielleicht niemals aneignen 
wird; dafür wird er gewiB einen richtigeren Blick, eine sicherere 
Hand, die Kenntnis der wahren Verhall uissc von Größe und 
Gestalt zwischen Tieren, Pflanzen, Naturkörpem und einen 
schnelleren Blick für die perspektivische Wirkung gewinnen. 

An den Zeichenübungren Emils will KousaeAu selbst teilnehmen, 
aber ohne mehr Gescbickliclikeit zn zeigen als dieser; ^ware ich selbst 
ein ApcUes,'' sa^ er, „je'tsst bin ich nnr <»in Schmierer." 

Wir waren um eine Ausschmückung unseres Zimmers in 
.Verlegenheit; Jetzt fällt sie uns von selbst in die Hand. Ich 



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80 



lasse unsere Zeiehiiiingen einrahmen; ich las^e sie mit schönem 
Ghis überdecken, damit man sie nicht mehr anrühre und damit 
jeder, der sie so, wie wir sie fertig gebracht haben, aufbewahrt 
sieht, ein Interesse daran gewinne, die seinigen sorgfältig zu 
behandeln. Ich bringe sie an den Wänden der Beihe nach au, 
jede Zeichnung in zwanzig- und dreißigfacher Wiederholung, 
jedes Probeßtück als ein Zeugnis der Fortschritte des Zeichners 
von dem Augenblick an^ wo das Haus nur ein fast unförmliches 
Viereck ist, bis zu dem, wo Vorder- und Seitenansicht, Ver- 
hältnisse tmd Beleuchtung in der genauesten Wahrheit vor uns 
stehen. Dieser stufenmäßige Fortschritt kann nicht verfehlen, 
uns fortwährend Bilder zu liefern, interessant für uns, wunder- 
lich für andere, und er muJj unseren Wetteifer immer melir 
anspornen. Bei den ersten und rohesten von unseren Zeich- 
nungen bringe ich recht glänzende, stark vergoldete Kähmen 
an, die sie hervorlieben; aber wenn die Nachbildung genauer 
wird und die Zeichnung wirklich gut ist, dann gebe ich ihr 
nur einen schwarzen, einfachen Kähmen; sie braucht keinen 
andern Schmuck als sich selbst, und es wäre schade, wenn die 
Einfassung die Aufmerksamkeit ahlenkte, die der Gegenstand 
verdient. So trachtet jeder von uns nach der Ehre des ein- 
fachen Bahmens, und wenn einer eine Zeichnung des andern 
herabsetzen will, verurteilt er sie zum goldenen. Eines Tages 
werden vielleiclit bei uns die goldenen Rahmen sprichwörtlich 
werden, und wir werden uns wundern, wie häufig Menschen sich 
richtig beurteilen, indem sie sich so einrahmen lassen. 

Den Unterricht in der Geometrie will Kousseau ebenfalls um- 
gestalten; er sagt hienron: 

Man zeichne genaue Figuren, halte sie nebeneinander, lege 
sie aufeinander und untersuche ihre gegenseitigen Verhältnisse, 
und man wird, von einer Beobachtung zur andern fortschreitend, 
die ganze Geometrie finden, ohne Definitionen, Lehrsätze oder 

irgendeine andere Art des Beweises zu Hilfe zu ziehen als das 

einfache AufLinanderlfgen der Figuren. Ich selbst niaiie uiir 
auch gar nicht an, Emil die Oeometrie zu lehren, er wird sie 
mich lehren; ich werde die Beziehungen' suchen, er wird 



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sie finden; denn ich werde sie s o ffUehen> daß er sie ünden 
kann. Um z. B. einen Kreis zu ziehen, werde ich mich nicht 

eines Zirkels bedienen, ich werde ihn mit einer Spitze ziehen,- 
die am Ende eines um den Mittelpunkt sieh drehenden i^'adens 
befestigt ist.') Wenn ich später die Kadien miteinander ver- 
gleichen will, wird Emil «ich über mich lustig machen und mir 
zu verstehen geben, daß der nämliche i'aden, da er immer 
gespannt war^ nicht ungleiche Abstände zeichnen konnte. 

Wenn ich einen Winkel von sechzig Graden messen will, 
beschreibe ich von der Spitze dieses Winkels aus nicht etwa 
einen Bogen, -sondern einen ganzen Kreis; denn hei den Kindern 
darf man keine stillschweigenden Voraussetzungen machen. 
Ich iinde^ daß der Teil des Kreises zwischen den beiden 
Schenkeln des Winkels der sechste Teil des ganzen Kreises ist. 
Hierauf beschreibe ich vom nämlichen ^Scheitelpunkt aus einen 
anderen (mit dem früheren Kreise konzentrischen) 
Kreis und finde, daß der zweite Bogen ebenfalls der sechste Teil 
seines Kreises ist. Ich beschreibe einen dritten konzentrischen 
Kreis, an welchem ich die nämliche Probe mache, und 
ich wiederhole sie an neuen Kreisen, bis Emil, über meine 
Schwerfälligkeit verwundert, mich erinnert, daß zwischen den 
Schenkeln des nämlichen Winkels jeder Bogen, groÜ oder klein, 
immer der sechste Teil seines Kreises sein wird usf. So sind 
wir denn gleich in den Gebrauch des Transporteurs (Winkel- 
messers) eingeführt. 

Um zu beweisen, daß Nebenwinkel gleich zwei Rechten 
sind, beschreibt man einen Kreis; ich fange es im Gegenteil 
so an. daß Emil diese Bemerkung zuerst am Kreise niadit und 
dann sai^e ich yai ihm: weim man nun den Kreis we,uii;ihme 
und nur die geraden Linien stehen ließe, würden wohl die 
Winkel ihre Größe geändert halx'n? nsw. 

Man vernachlässigt (gewöhnlich) die liiclitigkeit der 
Figuren, man setzt sie als richtig voraus und macht sich 
sogleich an den Beweis. Bei uns dagegen wird nie von einem 
Beweise die Rede sein. Unsere wichtigste Sorge wird es seiji, 

*) Dies trescbieht jetzt Iii jeder Volkf^schule, wie bekaiiiit. 



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recht gerade^ richtige uad gleiche Linien zu ziehen, ein recht 
vollkommenes Quadrat^ einen hübsch runden Kreis zu zeichnen. 
Um die Richtigkeit der Figur bestätigt zu erhalten^ untersucheu 
wir sie nach allen ihren wahrnehmbaren Eigentümlichkeiten., 
und dies gibt uns Veranlassung, jeden Tag neue zu entdecken. 
Wir werden die beiden Halbkreise nach dem Durchmesser^ die 
beiden Hälften des Quadrates nach der Diagonale zusammen- 
falten; wir werden nnsere J-^iguren vergleichen, um diejenige 
7A} finden, deren Ifänder am geuaucöteü sich decken und die 
(leniiuieh die bestgezeiclinete ist; wir werden eine Erörterung 
darüber anstellen, ob diese Gleichheit Hör Teile bei Parallelo- 
grammen, Trapezen usw. immer staiUlmlen müsse. Manchmal 
untersucht man auch, ob sich vielleicht das Ergebnis dos Ver- 
suches Torausbestimmen lasse, man bemüht sich, die Gründe 
davon zu finden usf. 

Wenn ein Kind Federball spielt, übt es Auge und Arm 
in der Genauigkeit; wenn es den Kreisel peitscht, so steigert 
es seine Kraft durch Übung derselben, ohne jedoch etwas zu 
lernen. Ich habe manchmal gefragt, warum man den Kindern 
nicht zur Übung der dleschiekliehkeit die nämlichen Spiele gebe, 
wie die Er\va('li>en('n sie haben: den Fangball; den Stoßball, 
das liillard, den ]M>gen, den Windball, die musikalischen Instru- 
mente. Man hat mir geantwortet , da Ii einige dieser Spiele über 
ihre Kräfte hinausgehen und für andere ihre Glieder und 
Organe noch nicht hinreichend ausgebildet seien. Ich finde 
diese Gründe nicht stichhaltig: das Kind hat auch den Wuchs 
des Mannes nicht und trägt dennoch Kleider wie dieser.^) Ich 
meine nicht, daß es mit unseren Stöcken auf einem drei FuB 
hohen Billard spielen soll; ich meine nicht, daß es im Ballhause 
den Ball werfen, oder daß man den Schlägel des Ballmeisters 
in seine kleine Hand legen soll; aber es soll in einem Saale 
spielen, dessen Fenster man gut verwahrt hat, es soll anfangs 
nur mit weichen l'iillrn spielen und seine Schlägel sollen zuerst 
von Holz, dann von Tcrgament und endlich von gespannten 

^) Heute ist die Eindertracht von der der Erwachsenen verschieden, 
was nur zu billigen ist. 



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Darmsaiten sein, je nach seinen Fortschritten. Man zieht den 
Federball vor> weil er weniger ermüdet und gefahrlos ist. Man 
irrt sich aber ans folgenden zwei Gründen. Der Federball ist 
ein Franenspiel; aber man sieht nie, daB eine Frau dem 
fliegenden Ball nicht aus dem Wege liefe. Ihre weiße Haut darf 
nicht durch Beulen entstellt werden und ihr Gesicht ist für 
etwas anderes nls Qnetschim2;e]i da. Wir aber sind bestimmt, 
kräftig zu werden: soll das <;auz mühelos geschehen? Und wie 
sollen wir iifis je zur Wehr setzen können, wenn wir nie 
angegrilien werden? Spiele, bei denen man ohne Gefahr iin- 
gesclii( kt sein kann, werden immer lau gespielt; ein fallender 
Federball l^cschädigt niemanden; aber nichts macht die Arme 
so beweglich, als wenn man seine Augen behüten muß. Von 
einem Ende des Saales nach dem andern springen, den Flug 
eines Balls noch in der Luft bemessen und ihn mit kräftiger 
und sicherer Hand zurückschleudem: solche Spiele eignen sich 
nicht bloß für Männer, sondern, was wichtiger ist, sie dienen 
auch dazu, Männer zu bilden. 

Rousseau spricht dauu über den Tanz und den L nterricht iii 
der Musik. 

Bezüglich des (ieM'liinack^^.siiiiH's verlatiut Kuusseau, daß der Zög- 
ling au die natürli<'hsten, eintachsten »Speisen gewöhnt weide. 

Dies scheint mir in jeder Beziehung richtig, aber am 
meisten in bezug auf den eigentlichen Geschmack. Unsere erste 
Nahrung ist die Milch; nur nach und nach gewöhnen wir uns 
an scharfen Geschmack: anfangs widersteht er uns. Obst^ 
Gemüse, Kräuter und endlich etwas gebratenes Fleisch ohne 
Zutat von Gewürz und Salz machten die Mahle der ersten 
Menschen aus. Wenn ein Wilder ziim ersten ^fale Wein trinkt, 
verzieht er das Gesicht und stölll ihn /uriidv. um! s()<rar Linter 
uns kann der, welcher l)is zu sciiunn zwanzigslLui «iaiirr noch 
nie gegorene Getränko oolu)?tot Imt, Bich nicht mehr daran 
gewöhnen: wir wjircn lauter Miiiiigkeitsapostcl, wenn man uns 
nicht in unseren jungen Jahren Wein gegeben hätte. Kurz, je 
einfacher nnsor Geschmack ist, desto weniger heikel ist er; 
Widerwillen hat man in den meisten Fällen nur gegen zusammen- 

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gosetzli! (jiericlite. Hat man jo gesehen, dali jemand einen Ekel 
vor Wasser oder Brot gehabt hätte? Das ist der Fingerzeig 
der Natur, darum gilt für nns als Kegel: Man bewahre dem 
]\inde so viel als möglich seinen ursprünglichen Geschmack; 
seine Nahrung sei gewöhnlich und einfach; sein Gaumen soll 
sich nicht an gewürzte Sachen gewöhnen und sich keinen au8> 
schließlichen Geschmack aneignen. 

Jcli untersiieho liier nicht, ob diese Lebensweise srosünder 
ist oder nicht; mein ( icsielitspunkt ist ein ganz anderer. Um 
sie vorzuziehen, genügt es mir, zu wissen, daß sie am meisten 
der Natur gemäß ist und sich am leichtesten jeder andern 
ai!bo(|uemen kann. Diejenigen, welche sagen, man müsse die 
Kinder an die Kost gewöhnen, die sie als Erwachsene genießen 
werden, schließen meines Erachtens nicht richtig. Warum soll 
ihre Nahrung dieselbe sein, da doch ihre Lebensart anders ist? 
Ein von Arbeit, Kummer und Mühsalen erschöpfter Mensch 
hat kraftige Nahrung nötig, die sein Gehirn neu belebt; ein 
Kind, das sieh eben ausgetobt hat und dessen Leib im Wachsen 
begrifreu ist, braucht reichliche Nahrung, die ihm viel 
Spri-csaft zuführt.') Überdies hat ein ausgcwachx'nor Mensch 
sclion seinen Stand, Jieruf und Wohnsitz: wer aber kann mit 
Sicherheit sagen, was das Schicksal dem Kinde vorbehält? In 
nichts g(>bc man ihm eine ausgesprochene Kiclitung, die nach 
Bedürfnis zu ändern ihm schwer werden würde. Wir wollen 
nicht schuld sein, daß es in anderen Ländern Hungers sterbe, 
wenn es nicht überall einen französischen Koch mit sich herum- 
schleppt, auch nicht, daß es eines Tages sage, nur in Frankreich 
wisse man zu essen. Beiläufig gesagt, ein wunderliches Lob! 
Ich würde im Gegenteil sagen, daß die Franzosen nicht zu 
essen verstehen, da es einer so besonderen Kunst bedarf, um 
iliucn die Speisen schmackhaft zu machen. 

THo KlMust ih'P Kinder häh Ro iiaseau für ziemlich uubedenkhch, 
da sie sich bei fortschreitendem Alter von selbst vermindere und die 



V) Di l ^laini braucht wenige aber krüftt^, das Kind viel, aber 
minder kräftige Nahrung. 



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Kiader von selbst sich nicht überesBeD, wenn man ihnen nur immer 
genug gehe, m daß nicht zu hungern brauchen. 

Pflanzenkost ist nach Rousseau der Floischkost vorzuziehen; 
Tiere zu töten, um !<ie zu essen, erscheint ihm barbarisch, die es tun, 

bezeichnet er als „Mörder**. 

Zum Schhissf des zweiten Buches entwirft Rousseau das Bild 
eines blühenden Knaben von 10 — 12 Jahren, schildert, wie es durch die 
jfewöhnliche Erziehung verunstaltet werde und entwirft dann eine 
Schilderung^ P^mils in diesem Alter, die folgendermaßen schließt: 

Wollt ihr ihn durch Vergieichung beurteilen ? Bringet ihn 
mit andern Kindern zusammen und überlasset ihn sich selbst. 
Bald werdet ihr sehen^ wer am meisten wirkliche Ausbildung 
zeigt, wer der Vollkommenheit, die diesem Alter erreichbar ist, 
am nächsten kommt. Unter den Kindern aus der Stadt ist 
keines anstelliger als er, er aber ist stärker als irgendein anderes. 
Mit Bauernkindern verglichen, ist er ebenso stark, überliitri 
sie aber an Gewandtheit. In allem, was für Kinder fal.'har ist, 
zeii^t er besseres Urteil, bessere Einsiclifc und Voraiussiclit als 
alle. Gilt es, zu handeln, zu laufen, zu springen, Gegenst.ände 
vnm Platz zu rücken. Gewichte zu heben^ Entfernungen zu 
schätzen, Spiele zu erfinden und Preise zu erringen, so könnte 
man glauben, die N'atur sei ihm dienstbar, so leicht weiß er 
alles seinem Willen unterwürfig zu machen. 'Er ist dazu berufen, 
seine Gespielen zu führen und zu leiten: Fähigkeit imd Er- 
fahrung begründen sein Recht und seine Befugnis. Man mag 
ihm ein Kleid oder einen Kamen geben, wie man will: er wird 
überall der erste, übürall das llanpt der andern soin; sie werden 
immer seine Überlegenheit fübliMi. Ohne befehlen zu wollen, 
wird er ihr Herr sein und sie werden gehorchen, ohne es auch 
nur zu wissen. 

Die große Mißlichkeit einer solchen ersten Erziehung 
1)(\stf'lit darin, daß sie nur für klardenkende Köpfe einleuchtend 
ist und daß gewöhnliche Augen in einem mit so vieler Sorgfalt 
erzogenen Kinde nur einen Gassenjungen erblicken. Ein (ge- 
wöhnlicher) Hauslehrer hat mehr seinen Vorteil im Auge als 
den seines Zöglings; er richtet sein Augenmerk darauf, zu 
beweisen^ da0 er s^ine Zeit nicht unbenutzt läßt und das Geld, 



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das man ihm zahlte auf rechte Weise erwirbt; was er bietet^ 
soll sich leicht zur Schau stellen lassen, man soll es zeigen 
können^ wenn man will; ob das^ was er lehrt, nützlich sei, ist 
Nebensache, wenn es nur leicht in die Angen fällt; hunderterlei 
Trödel häuft er ohne Wahl und ohne Unterscheidung im Ge- 
dächtnis des Zöglings auf. Soll das Kind geprüft werden, so 
läßt man es seinen Kram auspacken, es stellt ihn zur Schau, 
niaii ist zufrieden; dann packt es wieder ein und geht. So reich 
ist mein Zögliiijr nicht, er hat nichts auszukramen, nichts zu 
'/eigen als sich selbst. 

Drittes Buch, 

Wenn Emil 10 — 12 Jahre alt ist, findet BouBseau die Zeit ge- 
kommen, ihn in Wissenschaften einzuführen, zunächst in die Geographie, 
aber selbstverständlich nicht in der (damals) gewöhnlichen Weise; ersauft: 

Du willst dieses Kind Geographie lehren und holst ihm 
Erd- und Himmelsgloben und Kiarten herl)ei: wie viele Zu- 
rüstungen! Wozu all diese Nachbildungen? Warum fänirst du 
nicht damit au, ihm den Gegenstand selbst zu zeigeu, damit 
es wenigstens wisse, wovon du mit ihm sprichst? 

Rousseau ei-zäliU uun, wie er mit Eiuil bei Nacht den Polar- 
stern und and( re Sterne, bei Tage Aufj?ari<r nnd T^ntergan«»' der Sonne 
heobHelitrt, (4lei< h/i itig mit dem gestiruttju Uimmel lerut Emil auch 
eeiuc Heimat kennen. 

Die beiden ersten Punkte in seiner Geographie werden 
seine Vaterstadt und das Landhaus seines Vaters sein, dann 
die cUizwischen liegenden Orte, hierauf die Flüsse der Timgegend, 
endlich der Anblick der Sonne und die Art, wie man sich 
orientiert. Hier trifft alles zusammen. Er soll sich selbst von 
dem allem eine Karte anfertigen, eine ganz einfache Karte, 
die zunächst nur zwei Gegenstände enthält, denen er nach und 
nach die andern anreiht, sobald er ihre Entfernung und Lage 
weiß oder schätzen Iv a im. ]\lan sieht sehon, welchen Vorteil wir 
ihm von vornherein gesichert haben, indem wir seinen Augen 
ein richtiges Maß gegeben haben.^) 

*) Sehic Augen mesfjeu gelehrt, sein Augenmaß geübt xu haben. 



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Trotzdem wird man ihn ohne Zweifel ein wenig leiten 
müssen, aber sehr wenig und ohne daß es Ix inorkbar wird. 
Täuscht er sich, so laß ihn nur und verbessere seine Irrtümer 
nicht. Warte ruhig ab, bis er sie selbst erkennen und verbessern 
kann^ oder führe höchstens bei günstiger Gelegenheit irgend- 
eine Operation herbei, durch die er darauf kommen kann. 
Täuschte er eich me, würde er nicht so sicher lernen. Im übrigen 
handelt es sich nicht darum, daß er die Topographie seiner 
Heimat genau kenne, sondern nur die Mittel, sich darüber zu 
belehren; es liegt wenig daran, ob er Karten im Kopfe habe, 
wenn er nur recht begreift, was sie vorstellen, und eine klare 
Vorstellung von der Kunst besitzt, die zum Entwerfen derselben 
iiütisr ist. Man sehe ?chon hier den Unterschied zwischen dem 
(s('hoinbaron) Wissen eurer Zöglinge und der Unwissenheit des 
meinigen (die ebenfalls nur Schein ist). Sie kennen die 
Karten; er macht sie. Das gibt dann einen neuen Schmuck 
für sein Zimmer. 

Bonasean betont sodann neuerdings, daß es nicht darauf ankomme, 
wievid und wie bald Emil lerne, wohl aber darauf, dafi er immer selbst 
Verlangen habe zu lernen, daß seine Lemlast rege gehalten werde. 

Dies ist auch die Zeit^ das Kind zu gewöhnen, dem nämlichen 
Gegenstand eine fortgesetzte Aufmerksamkeit zuzuwenden; doch 
darf diese Aufmerksamkeit nie durch Zwang, sondern immer 
nur durch das Vergnügen oder das eigene Begehren h(jrvor- 
gerufeii werden:^) man muß sorgfältig darauf bedacht sein, 
daß sie dem Kinde nicht lästig werde und nicht bis zum 
Überdruß nndaure. Man habe darauf immer ein wachf^ames 
Auge und wie es auch komme, man lasse lieber alles, bevor 
der t''l)f rdruß sich einstellt; denn das Lernen ist nie so wichtig 
wie^ daß das Kind nichts widerwillig tut. 

Fragt es dich selbst, so antworte so viel, als notwendig 
ist, um seine ITeugier zu nähren, nicht aber sie zu sättigen. 
Besonders wenn du siehst, daß es, anstatt zu fragen, um sich 
zu belehren, im Blauen herumfährt und dich mit einföltigen 

^) Rousseau erkennt also nur die unwillkürliche A^^erksamkeit 
als bereobtigt an. 



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Fragen quält, so halte augenblicklich inne: denn dann ist es 
ihm ganz sicher nicht mehr um die Sache zu tun, es will dich 
nur seinen Fragen dienstbar machen. Man muß weniger auf 
die Worte achten» die es ausspricht, als auf den Beweggrund, 

der es dabei leitet. Diese Warnung war bis jetzt weniger not- 
wendig, sie wird aber äulierst wichtig, sobald das Kind logisch 
zu denken beginnt. 

Mit de»m Magnetismus wird Emil durch eine Spielerei, eine Ente 
die von einom !NfnfrTirto artg-ezogen wird, bekannt. Ein Tascliengpielcr 
führt dieses Kunststück vor. Emil will es nachmachen, es glückt einmal, 
ein zwcitcsmal miligflückt es durch die von dorn Taschenspieler ^^etrof- 
ff-ni't) CTCgouaiistallen. Emil wird beschämt uud durch die Beschämung 
belehrt. 

Rousseau schildert <fi(l;irm verschiedene pli ysikalisilie Vewuche, 
die man ohne jeflen A|)]i;ira( uustiihren könne, und bemerkt: 

Nach meinen Grundsätzen müssen wir alle diese Maschinen 
selbst anfertigen und mit der Herstellung der Werkzeuge nicht 
anfangen, ehe wir den Versuch gemacht haben; wir müssen 
im Gegenteil, nachdem wir wie durch Zufall auf den Versuch 
gekommen sind, den Apparat, durch den er bestätigt werden 
soll, nach und nach erlinden. Lieber sollen unsere Apparate 
nicht so vollkommen und richtig sein, wenn wir nur eine um so 
klarere A'^orstellnnir davon haben, wie sie sein sollen, und 
von den Wirkungen, die wir von ihnen erwarten. Für meine 
erste Tjebrstnnde in der Statik ( ( i Icicl'trowichtslehre) hole ich 
niclu etwa eine Wage, sondern idi Uue oinLn Stock quer über 
eine Stuhllehne, messe die Länge der beiden Hälften des im 
Gleichgewichte befindlichen Stockes, bringe auf der einen und 
auf der andern Seite Gewichte an, bald gleiche, bald ungleiche, 
dann rücke ich ihn her oder hin, soweit es nötig ist, und finde 
endlich, daß das Gleichgewicht auf dem umgekehrten Verhältnis 
zwischen der Größe der Gewichte und der lünge der Hebelarme 
beruht. So ist mein kleiner Physiker schon imstande, Wagen 
zu berichtigen, bevor er solche gesehen hat. 

Unbestreitbar erhält man von den Dingen, die man auf 
diese Weise aus eigenem lernt, klarere und sicherere Begriffe 
als von denjenigen, die man durch Unterricht von andern sich 



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aneignet, und außerdem, daß man seine Vernunft nicht daran 
gewöhnt, sich dem Ansehen anderer skhivisch zu unterwerfen, 
wird man viel fähiger, Beziehungen zu finden, Vorstelhmgen 
m Nci'knüpfen, WcikzciiLic /n erfinden, nls wenn man alles auf- 
nimmt, wie es uns geboten wird, und dadurch den Geist in 
Untätigkeit erschlaffen läßt, wie es dem Leibe eines Menschen 
ergeht, der, weil er immer durch seine Leute von Kopf bis zu 
Fuß bekleidet und bedient und durch seine Pferde gezogen 
wird, am Ende die Kraft und den Gebrauch seiner Gliedmaßen 
verliert. Boileau rühmte sich, IRacine gelehrt zu haben^ 
schwierige Heime zu machen; bei so vielen wunderbaren An- 
weisungen, das Studium der Wissenschaften zu kürzen, brauchten 
wir wahrhaftig einen Mann, der uns eine Anweisung gäbe, wie 
man sie mit Anstrengung erlernen kann. 

Der augenseheinliche A^'orteil jener langsamon und müh- 
samen Untertsncliuns'r'n ist. daß dor Zögling mitten unter syieku- 
lativen Studien ^) den Leib in seiner Tätigkeit und die Glieder 
in ihrer Geschmeidigkeit erhält und unausgesetzt die Hände 
zur Arbeit und zu nützlichen Verrichtungen geschickt macht. 
Diese Masse von Apparaten^ die man erfunden hat, um uns in 
unseren Versuchen behilflich zu sein und den richtigen Ge- 
brauch der Sinne zu unterstützen, führen zu einer Vernach- 
lässigung derselben. Der Winkelmesser erspart uns das Ab- 
schätzen der Winkel; das Auge, das mit Genau i.^]<öit Entfer- 
nungpn mati. verläßt sich nun auf die Meßkot te, die für das- 
selbe mißt; die Schmdlw age erläßt es mir, das Gewicht, wolobes 
ich durch sie erfahre, durch die ITand zu schätzon. de sinn- 
reicher unsere Werkzeuge sind, desto gröber und ungeschickter 
werden unsere Organe (Sinne); mit all den Hilfsmitteln, die 
wir um uns aufhäufen, finden wir in uns selbst keine mehr. 

Aber wenn wir die Geschicklichkeit, die uns diese Hilfs- 
mittel entbehrlich machen wollen, zur Anfertigung derselben 
verwenden, wenn wir den Scharfsinn, dessen wir bedurften, 

um sie zu entbehren, zu ihrer Herstellung gebrauchen, so ge- 



^) Forschung, Nachdcukeii. 



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90 

Winnen wir, ohne etwas zn verlieren: wir fiiijen znr NTatiir flie 
Kunst und werden erfinderischer, ohne darum weniger ge- 
schickt zu werden. Wenn ich ein Kind, anstatt es an Bücher zu 
fesseln, in einer Werkstätte beschäftige, arbeiten seine Hände 
zum Nutzen seines Geistes: es wird weise und glaubt nur ein 
Handarbeiter zu sein. 

Als besonders wichtig" betraclitet Rousseau, daß der Zögling bei 
allem, was er kennen lerne, sieh die Frage vorlege: Wozu ist das gut? 
(Wozu ist es nütze?) Er erzählt, wie er mit Emii sicli [■ejli«5sentlich in 
einem großen Walde verirrt, damit der ImnLjiige, weinende Knabe durch 
eigene Erfubrung erkenne, ^vie niit?. lieb es ist, wenn man sich (mit 
Hilfe des Schattens) im Eaiime zurecbtzufindeu weiß. 

Den Wetteifer im Lernen, der namentlich in der Ei/iebuiig der 
Jes^uiten eine große Rolle spielte, betrachtet dagegen Rousseau als 
entbehrlich, ja schädlich: „hundertmal lie])er soll Emil nichts lernen, als 
nur aus Eifersucht (auf Mitlemende) und aus Eitelkeit." 

„Ich hasse die Bücher'^, erklärt Rousseau; aber eine Ausnahme 
macht er doch. Er sagt: 

Da wir durcliaiis Bücher liaben müssen — , eines existiert, 
das meines Erachtens die glücklichste Darstellung einer natür- 
lichen Erziehung gibt. Dies ist das erste Buch, das mein Emil 
lesen soll; es wirdaUein lange Zeit hindurch seine ganze Biicher- 
sammlung ausmachen und darin immer einen bevorzugten Platz 
einnehmen. Es wird den Text bilden, zu dem alle unsere Unter- 
haltungen über die Naturwissenschaften nichts als Erläu- 
terungen sein werden. Es wird während unserer Fortschritte 
als Maßstab für die Vervollkommnung unseres Urteils dienen, 
und solange unser Geschmack nicht verdorben ist, werden wir 
es immer mit Vergnügen lesen. Welches ist denn dieses wunder- 
bare Buch? Etwa Aristoteles? oder Plinius? oder Buffon?*) 
Nein, es ist Robinson Cruso^. 



Rousseau führt luichcinander den hcriihmtesten naturwissen- 
schaftlichen ScbriftsteUer der Griechen ( Ai istot^'les), der Rom* r (Plinius) 
und der Franzosen (Buffbn) an. AristoteleSi am hernlnn testen als 
Philosojdi, liat auch Pflanzen und Tiere gesammelt und ein Buch ge- 
schrieben, dt)8 d^n Titei: nÜb^r die Natur^' führt; PU nius (der Ältere) 



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HobinBon Crusoe auf seiner Insel, der ftllein, ohne Hilfe 
von seinesgleichen^ ohne irgendein Werkzeug, dennoch für seine 
Bxistenz und Unterhaltung zu sorgen weiB, ja sogar eine Art 
von Wohlleben sich verschallt^ das ist ein für jedes Lehens- 
alter interessanter Stoff, den man den Kindern auf die mannig- 
faltigste Weise anziehend machen kann. So tritt die verlassene 
Insel, M die mir zuerst zur Vergleichung diente, für uns in die 
Wirklichkeit. Allordings ist das nicht die Lage des gesellschaft- 
liclien Menschen, -) wahrscheinlich wird es auch Emils Lage 
nicht sein; aber er soll nach diesem Zustande alle andern be- 
urteilen. Das sicherste Mittel, sich über Vorurteile zu erheben 
und sein Urteil nach dem wahren Verhältnisse der Dinge unter- 
einander zu regeln, ist es, sich an die Stelle eines ganz ein- 
samen Menschen zu versetzen und alles so zu heurteilen, wie 
ein solcher Mensch mit Bücksicht auf seinen eigenen Eutzen 
darüber urteilen würde. 

Dieser Eonian, von allpm unnützen Beiwerk*) fi^esaubert, 
mit Robinsons Schiffbrurii .in seiner Insel beginnend und mit 
der Ankunft des Schiffes, das ihn wegführt, schließend, soll 
während dieses Lehensabschnittes Emils Unterhaltung und Be- 
lehrung zugleich l)iiden. Er muß den Kopf ganz voll davon 
haben, unaufhörlich soll er sich mit seiner Burg, seinen Ziegen 
und seinen Pflanzungen bescliäftigen; alles, was man in einem 
ähnlichen Falle zu wissen nötig hätte, soll er genau lernen, 
nicht nach Büchern, sondern an den Sachen selbst; er soll sich 
selbst als Robinson denken; er «oll sich mit Fellen hekleidet 

schrie]) eine ,,Naturgo!J(*lnchte", ebenso Buffou, der ein etwas älterer 
Zeitgenosse Rousseaus war. 

^) KonsscMU, der seinen Zög-ling von anderen Menschen mög- 
licbst leniliiihtu, wie er an einer früheren Stelle sagt, am liebsten auf 
einer einsamen Insel erziehen miiehte, findet in „Robinson" dieses Ideal 
verwirklicht. Indem Emil den Kobinson liest, ist er wenigstens» im Geiste 
auf einer solchen einsamen, menschenleeren Insel. 

Des Menschen, der in Gesellschaft von seinesgleichen, in einem 
Staate als Bürj^er desselben lebt. 

Als solches betrHchtet Rousseau, wie d^s Jful^eudg 2eigt, alles 
y(S^ b^i Pefüc dew Öchitfbrueh vorangeht, 



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92 



sehen, mit eiuem großen Hute, einem großen Säbel und der 
ganzen abenteuerlichen Ausrüstung jener Gestalt, mit Ausnahme 
des Sonnenschirmes, den er nicht nötig hat. Er soll nachdenken, 
was erforderlich wäre, wenn dies oder jenes ihm fehlen sollte; 
er soll das Benehmen seines Helden prüfen, suchen, ob er nichts 
unterlassen hat, nichts hätte besser machen köimcn; aufmerk- 
sam soll er seine Fehler beobachten und Kutzeii darnus ziehen, 
um nicht selbst in ähnlichem Falle darein zu verfallen: denn es 
ist nicht daran zu zwoifoln, daß er seihst den Plan zu einer ähn- 
lichen Niederlassung entwerfen wird; das sind die wahrhaftigen 
spanischen Schlösser (Luftschlösser) dieses glücklichen Lebens- 
alters, wo man kein anderes Glück kennt als die Notdurft des 
Lebens und die Freiheit. 

Ein Einfall von unerschöpflicher Fruchtbarkeit für einen 
ge^cliickten Mann, ausgesomicii, um iSutZvcn aus ihm zu zieluMiI 
Das Kind i)emüht siclr. t ine VorratskaMuiKM- für seine Insel aii- 
zulegen, und wird eifriger im Lerüon sein als sein ]>ehrer im 
"Unterrichten. Alles, was nützlich ist, wird es wissen wollen, aber 
außerdem niclits anderes: du brauchst es gar nicht mehr zu 
leiten, du brauchst es bloß zurückzuhalten. Im übrigen wollen 
wir es schleimig auf seiner Insel einrichten, solange es noch 
sein Glück in ihren Grenzen sucht; denn der Tag naht, wo es 
nicht allein leben will, wenn es überhaupt noch dort verbleihen 
mag, und wo „Freitag", der ihm jetzt noch nicht sehr nahe geht, 
ihm nicht mehr lange genügen wird. 

Bousscau empfiehlt sodann. «1* n Zilgfliupr „von Werkstätte zu 
Werkstätte*' zu fülircn, um ihn mit den Arbeiten der Handwerker bekannt 
zu inarlion. Die Handwerke soll er aher anders !*eliätzen lemen als es 
gewÖbnlieli ireschielit. am höchsten die notwendiVsten, deren Erzeupfnisse 
auch der Arme hraucbt^ axn niedrij^-stcn künstliche und künstlerische 
Arbeiten, die nur d«'r Reiche ))ezahlen kann. Eisen soll Emil höher 
schützen ah (Jold, tUas liöher als Diamanten, demg'emäß Maurer und 
Schuster höher als Juweliere. Bäcker höher als Gelehrte; selbst die 
inirmncher werde Emil nicht besonders achten, weü er den Wert der 
üeit noch nicht kenne. 

Emil soll aber auch selbst eiu Handwerk erlernen, damit er in^staqdQ 



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93 

sei in allen Wi elisclfäUen, die ihn treffen können, sieh selbst KU erhalten; 

KouRscau m^t darüber: 

Sobald Emil weiß, was das Lieben ist, wird es meine erste 
Sorge sein ihn zu lehren, wie er es erhalten soll. Bis jetzt habe 
ich Stand, Bang und Glücksgüter nicht beachtet und ich werde 
sie auch in der Folge nicht beachten, weil der Mensch 
in allen Lebenslagen der nämliche ist, weil der Reiche 
keinen größeren Magen hat als der Arme und nicht besser ver- 
daut als er, well der Herr keine längeren oder stärkejen Arjne 
hat als sein Sklave, weil ein erroUer Herr nicht größer ist als ein 
Mann ans dem Volke, und endlich, weil die natürlichen Be- 
dürfnisse üljenill dieselben sind und daher auch die Mittel, sie 
zu befriedigen, überall gleich sein müssen. Man passe die Er- 
ziehung des Menschen dem Menschen ^) an und nicht dem, 
was nicht zu seinem Wesen gehört. vSiehst du nicht, daß du mit 
deinem Bestreben, ihn ausschließlich für einen bestimmten 
Stand zu bilden, ihn für jeden andern unbrauchbar machst und 
daß du, wenn das Schicksal es so will, nur an seinem Unglück 
gearbeitet hast? Was ist lächerlicher als ein herunter- 
gekommener Edelmann, der in sein Elend die Vorurteile seines 
Standes niiMumini? \\ gibt es veriicht lieberes als einen ver- 
armten Keichen, der in der Erinnerung an die Veraehlung, die 
er der Armut zollte, sich für den niedrigsten aller .Monschen 
ansieht? Der eine kennt als einziges Rettungsmitiel das Hand- 
werk eines offenbaren Schurken, der andere das eines kriechen dca 
r^akaien, wobei sie sich mit der schönen liedensart entschul- 
digen: „Ich muß doch leben." 

Du verlassest dich auf den augenblicklichen Zustand der 
Gesellschaft und bedenkst nicht, daß dieser Zustand unver- 
meidlichen Umwälzungen ausgesetzt ist und daß du diejenige, 
welche deine Kinder treffen kann, unmöglich voraussehen oder 
verhüten kannst. Der Große kann klein, der Reiche arm, der 
Fürst Ilnieriaii werden; sind die Schlüge des Schicksals so selten, 
dal» (In darauf zählen ki)nntest, von ihnen versilumt zu werden? 
Wir nähern uns einer entöclieidungs vollen Zeit, dem Zeitalter 

^) Der Natur des Menschen. 



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94 



der Revolutionen.^) Wer steht dir dafür, was dann aus dir 
werden wird? Was die Menschen gemacht haben, das können sie 
auch zerstören, ifur die Natur schreibt in unauslöschlichen 
Zügen; aber sie macht weder Fürsten noch Reiche noch große 
Herren. Was soll denn jener Satrap» den ihr nur zur Größe 
erzogen habt, in der Niedrigkeit machen ? Was soll jener Zöllner, 
deT nur Tom Golde zu leben weiß^ in der Armut anfangen? Was 
soll denn, von allem entblößt, ein eingebildeter Schwachkopf 
machen, der mit sich selbst nichts anzufangen weiii und sein 
ganzes Wesen nur in Dinge setzt, die ihm fremd sind? Glücklich 
derjenige, der dann seinen Stand zu verlassen weiß, nachdem 
dieser ihn verlnssen, und dorn Schicksale zum Trotz Mensch 
bleiben kann! Mag man jenen besiegten König, der sich wütend 
unter den Trümmern seines Thrones begraben wollte, preisen, 
wie man will: ich verachte ihn; ich sehe, daß er sein Dasein nur 
auf seine Krone gegründet hatte und daß er nichts war, wenn 
er nicht König war; derjenige, der sie verliert und entbehren 
kann, steht höher als sie.') 

Yon allen Beschäftigungen nun, welche dem Menschen 
den Lebensunterhalt liefern können, ist die Handarbeit die- 
jenige, die ihn dem Naturzustande an nächsten brinprt,^) von 
allen Lebenslagen ist die des Handwerkers dem Sehieksale und 
den Menschen gegenüber die unabhängigste.*) Der Hand- 
werker hängt nur von seiner Arbeit ab, er ist frei, in dem Maße 
frei, wie der Landmann unfrei ist; denn dieser ist von seinem 
Felde abhängig, dessen Erträgnis anderen preisgegeben ist. Der 
Feind, der Herr des Landes, ein mächtiger Nachbar, ein Prozeß 

^) Diese Worte waren prophetisch; freüicb haben gerade Bous seaas 
Scbrifien nicht wenig dazu beigetragen, daß sie in Erfüllung gingi^. 

^ Höher als die Krone, ist also mehr als ein anderer König. 
Qnd doch treiben die Wilden gewöhnlich kein Handwerk, 
sondern nur Jagd, Fischfang u. dgl.; das Aufblühen des Handwerkes 
setzt schon eine höhere Stufe der £ultur voraus, vean auch allerdings 
nicht die höchste. 

*) Mit der Einschränkung freilich, wenn er Arbeit bezw. Käufer 
für seine Erzeugnisse findet, was ja keineswegs immer der Fall ist. 



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kann ihm sein Feld rauben;^) durch dieses Feld kann man ihn 
auf tansenderlei Arten bedrücken: überall aber^ wo man den 
Handwerker bedrücken will, ist sein Bündel bald geschnürt; er 
nimmt seine Arme mit sich fort nnd geht. Dennoch ist der 
Ackerbau der erste Beruf des Menschen, der ehrbarste und nütz- 
lichste und folglich der edelste, den er ausüben kann. Ich sage 
Jjiiil nicht: Fiderne den Acke^-bau; denn er versteht ihn schon. 
Mit allen ländlichen Arbeiten ist er vertraut; er hat mit ihnen 
angefangen und kommt fortwährend wieder anf sie zurück. So 
sage ich ihm denn: Baue das Erbe deiner Vater! Aber wenn 
du dieses Erbe verlierst oder überhaupt keines hast^ was dann? 
— Für diesen Fall lerne ein Handwerk ! 

Mein Sohn ein Handwerk! mein Sohn ein Handwerkerl 
Wohin denken Sie? Ich denke weiter als Sie^ gnädige Frau: Sie 
wollen ihn dahin bringen, daß er nie etwas anderes sein kann 
als Lord, Marquis, Fürst und eines Tages vielleicht weniger als 
nichts; ich will ihm einen Hang geben, den er nicht verHeren 
kann, einen liaug, der ihn zu allen Zeiten ehrt: ich will liiü zum 
Stande eines Menschen emporliebeii und er wird, was Sie 
auch sagen mögen, weniger seinesfrleit lien in dieser Eigenschaft 
haben als in jeder anderen, die Sie ihm geben. 

Rousseau bespricht nun uusführlich die Vorteile, welche die 
Erlernung' eines Handwerke» mit sicli bringe, erörtert die Frage, welches 
Handwerk da» beste für seinen Zögling sei, und entscheidet sicli für die 
Tischlerei. 

Sodann sueht er zn zeifj^en, wie man die Kinder anleiten könne, 
richtig zu urteilen, sie vor Irrtum bewahren k(inne. Kr beiiützt hierm 
nnter anderem den bekannton Versiieh mit einein Stabe, den man ins 
Wasser steckt und der nun gebrochen scheint. Er hetont, daß das Kind, 
wenn es auf die Frage: „Was siehst du?" antwfirtet: „Einen gebrochenen 
Stab", noch nichts l-nrichtiges gesagt hat; denn einen gebrochenen Stab 
sieht CS wirklich. Es irrt erst, wenn es auf die Frage: „Ist der Stab 
wirklich gebrochen?" mit ,,.Iu''' antwortet. 

Vor allem wird jedes nach der gewöhnlichen Art erzogene 

^) Diese Worte enthalten ein Bild der Rechtsunsicherheit im 
damaligen Frankreich, sind daher für andere Verhältnisse keineswegs 
sutrefiend. 



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Kind auf die zweite der beiden angenommenen Fragen nicht 
verfehlen, bejahend zu antworten. Gewiß, wird es sagen, es ist 
ein gebrochener Stab. Ich bezweifle sehr, daß Emil mir auch so 
antworioii w erde. Für ihn besteht keine Notwendigkeit, gelehrt 
zu sein oder zu seheinen;') er urteilt also nie zu eilig: er urteilt 
niiT über den Augenschein und ist weit eiitreriit, ihn hei dieser 
(jleh'genheit als wirklich anzuerkennen;^) denn er weiß ja, wie 
sehr unsere Urteile über Erscheinungen an den Dingen der 
Täuschung ausgesetzt sind, und yfäre es auch nur durch die 
Perspektive. 

Da er zudem weiß, daß auch die nur ganz leicht hin- 
geworfenen Fragen von mir immer irgendein Ziel haben, das er 

nicht sofort sielit, hat die Gewohnheit, ins Blaue hinein zu 
antworten, bei ihm nicht aulkoiiinien können. Sie machen ihn 
im Oegenteile nachdenklich, er sinnt darüber nach und prüft sie 
sein- sorgsam, bevor er darauf antwortet. Er gibt mir nie eine 
Antwort, die ihn nicht selbst zufrieden stellte und er ist 
schwer zufrieden zu stellen. Endlich tun weder er noch ich, als 
müßten wir auf jeden Fall den wirklichen Sachverhalt heraus- 
bringen; nur wollen wir nicht blindlings in den Irrtum verfallen. 
Es wäre für uns beschämender, wollten wir uns mit einem 
Grunde abfinden, der nicht stichhaltig ist, als wenn wir über- 
haupt gar keinen fänden. „Ich weiß nicht" — ist ein Wort, das 
uns beiden so bequem ist und das wir so oft wiederholen, daß 
es uns keinerlei Überwindung mehr kostet.-^) Sollte ihm nun 



^) Da.s KiikI, «las so yfa-eilig" ist. den Stalt soglcicli l ir gebrucheu 
zu rrklnrciK fut wohl auch niclit „inn o:<'lplirt, zu sclu-iiu ri" ; eher ist 
Emil rill ( It'lflirtcr. iudera er mit philiisripliisclu'r Genauigkeit zwischen 
den Dinjxen, wie sie sind und \\i>- sie ihm eischeiiieu, uutei'ächeidut, 
was t incni liarinlosen Kinde gewil^ nieht einfällt. 

"'I D. h. er bc^aiügt sich zu s,i<jfen : .3Iii" cisclirint der Stab ge- 
brochen-, fetiilt; ,.\']v ist «^ebruchea/' was /.u\ i(d iresaLTt wäre. 

Daß man sii h unter UnistHnd' u iii< lit schämen darf, seine 
T'nwi.s.-scnheit fiu/uucstch. n. weil man niii- dann Itcsspre Belehrung" finden 
kann, ist richiijj-; iv<Mis>cau hat üLriucus utiViibur das Vorbild des 
Soki'ates vor Augen, der ebenfalls erklärte, niclitsj zu wissen, um die 



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97 



eine vorschnelle Antwort^) entFehlüpfen oder er ihr mit unserem 
bequemen Wort: „Ich weiß nicht" aus dem Wege gehen, ich 
erwidere ihm gleichermaßen; ,,Nun, wir wollen einmal genauer 
zusehen/' 

Der Stock, der zur Hälfte im Wasser steht, ist in senk- 
rechter Stellung befestigt. Wie viele Dinge können wir tun, 
bevor wir ihn aus dem Wasser ziehen oder mit der Hand be- 
rühren, wenn wir wissen wollen, ob er gebrochen ist, wie er zu 
sein scheint! 

1. Zunäclisf frclieii wir rings um don Stock hcrnin iiiul be- 
merken, daß der gcljrochone Teil sich mit uns herunnireht. Er 
wird also bloß durch unser Auge verändert; Blicke aber bringen 
die Körper nicht aus ihrer Lage. 

2. Wir sehen von oben senkrecht auf das Stockende,^) das 
außerhalb des Wassers ist; dann ist der Stock nicht mehr ge- 
krümmt: das unserem Auge zunächst befindliche Stockende 
verdeckt das andere Ende. Hat unser Auge den Stock wieder 
gerade gemacht? 

3. Wir setzen die Oberfläche des Wassers in Bewegung: 
der Stock biegt sich mehrfach, bewegt sich im Zickzack und 
folgt der Wellenbewegung des Wassers. Genügt die Bewegung, 
die wir dem Wasser mitteilen, um den Stock auf solche Weise 
zu zerbrechen^ ihn weich und Hüssig zu machen? 

4. Wir lassen das Wasser abließen und sehen nun den Stor k- 
allmählich wieder gerad werden, indem das Wasser fällt. Ist 
das nicht mehr als genug, um die Tatsache aufzuhellen und auf 
die Strahlenbrechung zu kommen? Es ist also nicht wahr, daß 
das Qesicht uns tauscht, da wir sonst nichts nötig haben, um 
die Irrtümer zu berichtigen, die wir ihm zuschreiben. 

Nehmen wir an, das Kind sei nicht geweckt genug, das 
Ergebnis dieser Versuche zu fassen;^) dann müssen wir den 

Wahrheit) welche die andern voreilig bereits zu besitzen glaubten, erst 
zn suchen. 

^) Nämlich, daß der Stab gebrochen sei. 
^) Genau in der Richtung des Stockes, 

In der Tat sind die vorausgehenden Versuche zwar geistreich, 
SeliulaoBgabpii pftdagopsclier Klftssiker. H^ft 6. 7 



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98 



Tastsinn znr Unterstützung des Gesichts herbeirufen. Auch 
jetzt ziehe man den Stock nicht aus dem Wasser, sondern 
lasse ihn in seiner Iiage^ und das Kind soll mit der Hand 
von einem Ende zum andern herahgleiten; es wird keine Ecke 
wahrnehmen: der Stock ist also nicht gehrochen. 

Du sagst^ es liegen dahei nicht bloß Urteile» sondern förm- 
liche Schlüsse vor. Allerdings; aber siehst du nicht» daß» 
sobald der Geist bis zu Begriffen vorgeschritten ist» jedes Urteil 
ein Schluß ist? Das Innewerden jeder Empfindung ist ein Satz, 
ein Urteil. Sobald man nun eine Walirnuhiming mit einer andern 
vergleicht, schließt man. Die Kunst zu urteilen und die Kunst 
zu schließen sind genau das nämliche.*) 

Der Schluß des dritten Buches enthält eine ähnliche Schilderung 
des nun fast zum Manne horanwewnehRenen Zöglings wie der Schluß 
des zweiten Buches eine Schilderung des 10 — 12jährigen. 

Viertes Bncb« 

Bas vierte Buch heginnt mit Befrachtmigen ftber die Entstehung 
der Leidenschaften und des GefüblslebNis überhaupt. Nach Bonaseau 
sind Kinder und Knaben streng genommen noch keines Gefühls tthig, 
sondern erst der Jfingling; er sagt: 

aber bei weitem nicht so verständlich wie das einfache Herausriehen des 
Stockes; es seigt sich auch hier, wie Rousseau bei aller voiigeblichen 
NaturgemSBbeit doch hlufig gerade das K&nstlicbe gegeatiber dem 
NatürÜchen bevorzugt. 

1) Diese Bemerkung klingt seltsam, ist aber im wesentllcben 
richtig. In der Logik wird zuerst der Begriff, dann das Urteil und zu- 
letzt der Schluß besprochen, was den Schein erwecken könnte, als 
beschäftigte sich das Denken zuerst nur mit Begriffen, sfuiter auch mit 
Urteilen, zuletzt erst mit Schlüssen. In Wirklichkeit gehen aber Begriffs* 
bildung, Urteilen und Schließen Hand in Hand. Im obigen Beispiele ist 
der Bogriff, der gewonnen \vird, der der Stralilenhrechung; um zu ihm 
zu gelangen, muß das Urteil gefällt werden: »Der Stab ist nicht ge- 
brochen, sondern scheint nur so,'' und zu diesem Urteile kommt man in 
der Tat erst durch Schlüsse, so daß also hier der Schluß am Anfange, 
der Begriff am Ende steht. 



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Wenn man diesen Angenblick bei eueren (den auf ge- 
wöhnliche Art erzogenen) Kindern nicht leicht bemerkt, woran 
liegt die Schuld? Ihr lehret sie frühzeitig mit dem Gefühle 

spielen, ihr lehret sie dessen Sprache so früh, daß sie gar 
keinen anderen Ton kennen nnd, eure Lehre gegen cucli selbst 
kehrend, üuch keine Möglichkeit lassen es zu erkennen, wenn sie 
einmal nicht mehr lügen (nicht mehr bloß Gefühle heucheln), 
sondern wirklich fühlen, was sie sagen. Sehet dagegen meinen 
J^mil; in dem Alter, zu dem ich ihn jetzt herangezogen habe, 
hat er noch nicht gefühlt *) und noch nicht geheuchelt. Bevor 
er weiB, was Liebe ist,^) hat er zu niemandem gesagt: ich liebe 
dich; man hat ihm noch nicht yorgeschrieben, wie er sich in der 
Krankenstube seines Vaters, seiner Mutter oder seines Er- 
zieheis benehmen soll;') man hat ihm die Kunst, Betrübnis zu 
heucheln, die er nicht fühlt, noch nicht gezeigt. Er hat noch 
bei keines Mensehen Tode Tränen erlogen; denn er weiß noch 
nicht, was sterben ist.^) Die niimliclie Gefühllosigkeit, die er im 
Herzen hat/) zeigt sich auch in seinem äußeren Benehmen. 

Also auch keine Liebe zu Vater und Mutter, von (reschwistern 
und anderen Vt rwandton nicht zu reden! Emil freilich erscheint vater- 
und mutterlos; aber eben darum kann die Art, wie er erzogen wird, 
kein Vorbild für andere Kinder sein. 

2) Nämlich Liebe des Mannes zum Weibe, die einzige, die 
Rousseau gelten läßt. 

^) Wie trauri^^, wenn man derlei Kindern vorschreiben müßte! 
Fast jedes Kind, das selbst schon krank gewesen ist, bemitleidet auch 
die kranke Mutter. Es ist walir, daß das Mitleid der Kinder wie aUe 
ihre GefUhle nielit sehr tief ist und nicht lange dauert; aber vorlianden 
ist es doch, und es ist keineswegs Heuchelei, wenn das Kiud z. il be- 
dauernd sagt: „xVune IMiitter!" 

*) Ihn Tod l)egreifen die Kinder sj)ätor als körperliche Leiden; 
es ist niüglich, dab sie neben einer Leicbe frühlich spielen. Aber wenn 
sie weinen, weil z. B. die Mutter tot ist (wie sie freilich vielleicht auch 
geweint hätten, wenn sie nur verreist wäre), so sind das denn doch keine 
geheuchelten Tiänen. 

*) Und die er bei einer solchen Erziehung wahrscheinlich immer 
im Herzen behalten wird. 

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100 



UJcichgiütig gegen alles außer gogon sich selbst wie alle anderen 
Kinder, nimmt er an niemandem Anteil; bei ihm ist nur der 
Unterschied, daß er auch nicht für gefühlvoll gelten will und 
nicht falßch ist wie jene. 

Da Rousseau erst beim Jünglinge das Vorhandensem von Ge- 
fühlen annimmt, so traut er auch erst diesem ein Verständnis der 
Geschichte zu. Über das Studium dieses Gegenstandes sagt er unter anderem : 

Leider hat dieses Studium in mehr als einer Hinsicht seine 
Gefahren und Unzuträglichkeiten. Es ist schwer, sich auf einen 
Standpunkt zu stellen, von dem aus man seine Mitmenschen 
mit Billigkeit beurteilen kann. Einer der gr(iliu a Fehler der 
Geschichte ist, daß sie die Mensehen mehr von ihren schlechten 
Seiten als von ihren guten darstellt; da sie uns nur durch die 
Umwälzungen und Katastrophen interessiert, sagt sie nichts 
von einem Volke, das heranwächst und unter einer ruhigen 
und friedlichen Begienmg gedeiht; erst dann spricht sie von 
ihm, wenn es nicht mehr imstande, sich selbst zu genügen, sich 
in die Angelegenheiten seiner Nachbarn einmischt oder diese an 
den seinigen teilnehmen läßt. Sie verherrlicht es erst, wenn es 
schon im Niedergange begriffen ist;, unsere Geschichte beginnt 
da, wo sie aufhören sollte. Die Geschichte der Völker, die sich 
zugrunde richten, kennen wir sehr genau; was uns fehlt, ist die 
Geschichte der Völker, die fortschreiten. Aber diese sind viel 
zu glücklich und verstand ig, so daß die Geschichte nichts von 
ihnen zu sagen weiß, und wir sehen in der Tat auch heutzutage, 
daß man von denjenigen liegierungen am wenigsten spricht, die 
am weisesten geleitet werden. Wir erfahren also nur das 
Schlimme; das Gute scheint kaum der Rede wert. Es gibt keine 
Berühmtheiten als Bösewichte, die Guten werden vergessen oder 
lächerlich gemacht und so verleumdet die Geschichte fort- 
während das menschliche Geschlecht wie die Philosophie es 
tut.^) 

') Hier sind die „riiiln^ophen'' gemeint, die, wie Rousseau an 
einer frühereu Steile ausgeluhrt hat, den Menschen als von Haus aus 
zum Bösen ^enciLrt liinstellen, wülireiid ihn Rousseau als ursprünglich 
gut hetrachtet. Dali ubipre Ausführungen über die (ieschichte stark über- 
trieben sind, liegt übrigens auf der Hand. 



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101 



Tlo1l^<soau bespricht sodann die Gescliichtschreiber des Altertdtns' 
bezüglich ilin r Eigiinn<r als Jugendlektüre; am höclisteit stellt er Thä- 
kydidee; Po]y])ius, Sallnst» Lmas beseichnet er als ungeeignet» Hefödot 
als nur teilweise brauchbar. 

NtttElicher als die Lektüre von Geschichtswerken erscheint ihtti' 
die von Lebensbeschreibungen;' er sagt: 

Will man das Studium des menschlichen Herzens bcijinneii, 
so lese man lieber Darstellungen des Privatlebens; mag sich da 
der Mellich aiicli verstecken wollen, der ricschichtschreiber 
verfol<^t ihn üherjillhin; er läßt ihn keinen Angenhiick in Kuhe, 
er gönnt ihm keinen Sehlupfwinkel, wo er dem spähenden Auge 
des Zuschauers entgehen könnte; ja gerade, wo er sich am besten 
versteckt glaubt, zieht ihn der andere am sichersten ans Flieht. 
;,Diejenigen/^ sagt Montaigne, ,,welche Lebensbeschrei- 
bimgen verfassen, sind für mich am geeignetsten, und zwar 
darum, weil sie sich mehr mit den Ansichten als mit den Er- 
eignissen, mehr mit dem, was von innen kommt, als dem, was 
draußen vorgeht, beschäftigen; deshalb ist auch in jeder Hin- 
sicht IMüfareli mein Mann/'^) 

■ 

Plutarchs Vorzug liegt gerade in solchen Einzelheiten, 
auf welche wir nicht mehr einzugehen wageil. £r besitzt einer un- ' 
nachahmliche Anmut, wenn er groBe Menschen in kleinen: 
Dingen malt, tind in der Wahl der einzelnen Züge ist er so* 
glücklich, daß oft ein Wort, ein Lächeln, eine Gebärde ihm 
genügt, seinen Helden zu charakterisieren. Mit einem Scherz 
berulii^L Hann Iba 1 sein erschrecktes Heer und führt es 



^) Der biographische Geachichtsunterricbt wird noch jetzt viel 
empfohlen^ und es ist kein Zweifel, daß das Interesse der Schüler durch 
Biographien ^ehr angeregt werden kann; anderseits ist aber doch zu 
bedenken, da6 in Biographien gern das Anekdoteiihafte ühen^iichert 
Die Franzosen haben «ehr viele und anziehend geschriebene Memoiren 
(Lebensgestdik'liten). an die auch Rousseau liier gedacht haben mag; 
aber <ferade sie enthalten aucli solir viel unvorhih i^ton Klatsch. Auch 
mit der Glaubwürdigkeit der Anekdoten Plutarchs ist es nicht immer 
snm besten bestellt. 



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102 



lachend in die S(!hlacht, die ihm Italien in die Hände lieferte;*) 
wenn Agesil;iii>; (mit seinen Kindern) auf dem Stecken- 
pferde reitet, so lernt man den Besieger des Großkönigs (nicht 
nur bewundern, sondern auoh) lieben; wenn Cäsar ein kleines 
Dorf durchzieht nnd mit seinen Freunden plaudert, wird der 
Schelm entlarvt/) der angeblich nur dem Pompejus gleich sein 
wollte; Alexander nimmt eine Arznei nnd sagt kein Wort 
dazu; das ist der schönste Augenblick seines Lebens; 
Aristides schreibt seinen eigenen Kamen auf ein Scherbchen 
und rechtfertigt so seinen Beinamen;^) Philopömen*) legt 
seinen Mantel ab und spaltet in der Küche seines Gastfreundes 
Holz: das ist die wahre Kunst zu malen. Der Gesichtsausdruck 
liegt nicht in großen Zügen, auch der Charakter nicht in großen 
Handlungen; in Kleinigkeiten enthüllt sich das Wesen. Was 
öffentlich vorgeht, ist entweder zu alltäglich oder erkünstelt, 
und doch erlaubt die Würde unserer Tage den Schriftstellern 
fast nur bei derartigen Dingen sich aufzuhalten.*^) 

*) Einem gewissen Giskon kam die Zahl der Römer bedenklieb 
groß vor. Hannibal entgegnete: „Eine??, was noch merkwürdiger ist, hast 
du doch nicht bemerkt." „Was denn?" fragte jener. „Daß unter all 
diesen kein einziger Giskon heißt." — So erzählt Plutarch im Lelm 
des Fabius Maximus c. 15 und fügt bei, daß sich in Hannibaia Nähe 
allgeiueiiK S Gelächter erhob und die Soldaten mit größter ZuTersioht in 
den Kampf zogen. Es war die Schlacht bei Cannä. 

^) Durch den Ausspruch, er wolle lieber in diesem Dorfe der £rste 
als in Rom der Zweite sein. 

^) Den Beinamen „der Gerechte". Ein Bürger, der nicht schreiben 
konnte, soll beim Scherbengericht den Aristides, den er nicht kannte, 
gebeten haben, den Namen jyAristides^ anf eine Scherbe su sehreiben 
und Aristides tat es auch. 

*) Griechischer Feldherr aus der Zeit, als die Römer den Griechen 
nach der Schlacht bei Kynoskephalä die Freiheit wiedergesclicnkt hatten; 
er kämpfte namentlich siegreich gegen die Spartaner, die dorn Bunde 
der übrigen Griechen, dem sog. Achäischen Bunde, sich nicht anschließen 
wollten. 

^) Die Goschichtschreibung war zu Rousscaus Zeit im all- 
£rcmeinen pedantisch schwerfällig und legte übermäßiges Gewicht auf 



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103 



Rousseau führt dann eine ähnliclic für Emil lehneiclie Anekdote 
von Tu renne an. Wie Emil die Gescliichtc auiiassen soll, zeigt auch 
folgendes : 

Wenn C i n e a s, nachdem er die überschwcngliclieii Pläne 
des Pyrrhus überdacht liat, ihn fragt, welches wirkliche Gut 
die Eroberung der Welt ihm bringen werde, dessen er nicht 
auch jetzt schon ohne so viele Qualen würde genießen können, 
80 sehen wir darin nur ein flüchtiges Witzwort; aher Emil wird 
darin einen sehr weisen Gedanken finden, auf den er selbst wohl 
geraten wäre und der sich ihm unauslöschlich einprägen wird, 
weil er in seinem Geiste auf kein entgegenstehendes Vorurteil 
stößt, das den Eindruck desselben schwächen könnte. Wenn er 
hierauf im Leben dieses Wahnwitzigen (des Pyrrhus) finden 
wird, daß all seine großen Pliine damit endigten, daß er durch 
die Hand eines Weibes «xetötet wurde, wird er dann diesen ver- 
meintlichen Ileldensinn bewundern und nicht vielmehr in allen 
Taten dieses großen Heerführers, in allen Ränken dieses großen 
Staatsmannes nur den Weg zu jenem unglückseligen Ziegelstein 
sehen, der durch einen entehrenden Tod seinem Leben und 
seinen Plänen ein Ziel setzen sollte?^) 

Eitelkeit, Buhmsucht sind überhaupt nach Bousseau so große 
Übel, dafi er bei £mü die SuBersten Mittel anwenden will, um sie zu 
bekämpfen; er will ihn nötigenfalls Schmeichlern und Betrügern preis- 
geben, damit sie ibn überlisten und ausplündern und der Jüngling so 
durch eigenen Schaden klug wird. Die Folgen will Bousseau mit ihm 
tragen, sogar ohne ihm Vorwurfe zu machen; hofft, das werde noch 
stärker wirken. Nun hält Bousseau auch die Zeit für gekommen, wo 
Emil aus der Bekanntschaft mit Fabeln Nutsen aiehen kann. Boch 
dürfe man der Fabel auch jetzt nicht die übliche Ldure folgen lassen; 
diese müsse sich aus der Fabel von selbst ergeben. 

Äußerlichkeiten; in Deut^clihuid schrieb die ersten, aucli für ein größeres 
Publikum lesbaren Grescbiclitswerke Schiller (Geschichte des Abfalls 
der Niederlande, Geschichte des Üreißi;^ jührigeu Kriege».) 

*) Diese Beurteilung des Pyrrhus, der bei all seiner Bosfabnnof 
doch nur ein Abenteurer und Uluck-sritti r war, ist nicht unrichtig, be- 
weist aber nichts {j'ct^eu die Würdigung von Kriegstateu, ilic nicht bloll 
der Befriedigung ))crsönlicher Huhmgier. sondern edleren Zwecken dienten, 
wie z. B. die Heldentaten Zriuys, Hufers u. a. 



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104 



ÜbnTirrcn iu dor Hedekuust hält Eousseau für übertiüssig; er 
sa^t hierüber: 

Ich kann es nicht oft genug wiederholen: man gehe jungen 
Leuten alle Unterweifiungen lieber in Handlungen als in Beden; 
nichts sollen sie aus den Büchern lernen, was die Erfahrung sie 
lehren kann. Welch kopfloses Vorhaben, sie im Reden zu üben^ 
ohne einen Gegenstand zu haben, über den sie reden sollen, 
und zu glauben, man könne auf Schulbänken die mächtige 
Sprache der Leidenschaft und die ganze Kraft der Überredungs- 
kunst fühlen lassen, uhne daß man das Bedürfnis hat, irgend 
jejuanden zu überreden! Alle Vorschriften der Khctorik (Kede- 
kuust) sind müßiges Gcschwäiz für den, der ihre Anwendbarkeit 
auf seinen eigenen Vorteil nicht einsieht. Was liegt einem 
Schulknaben daran, zu wissen, wie es Hannibal anfing, um seine 
Soldaten zum Übergange über die Alpen zu bestimmen? Sagtest 
du ihm statt dieser hochtönenden Beden, wie er es anfangen 
muß, um seinen Schulyorstand zur Bewilligung eines Ferien- 
tages zu bewegen, sei versichert, er wäre auf deine Begeln viel 
aufmerksamer. 

Ati flicscr Stelle criniHTt sieh Koutsseau wieder, wie weit ^cinc 
ludsclilMi^e sicli von dem Herkihimdiclien enttei-neii. „Seit langem selien 
mich meine Jjescr,'' sa<^t er, „im Laiide der Träume; ich aber sehe sie 
cbeusoiange im Lande der Vorurteile." 

Zu Beginn dieses Werkes setzte ich nichts voraus^ was 
nicht jedermann ebensogut wie ich sagen konnte^ weil es einen 
Punkt gibt, nämlich die Geburt des Menschen, von dem wir 
alle gleichermaßen ausgehen: je mehr wir aber vorwärts- 
schreiten, ich, um die Natur zu fördern, ihr, um sie zu ver- 
derben, um so mehr entfernen wir uns voneinander. Im sechsten 
Jahre unterschied sich nu in Zoi^ling wenig von den eurigen, 
die zu entstellen ihr noch keine Zeit ^rehabt hattet: jetzt haben 
sie fast gar keine Ähnlichkeit mvhr mitciTiinidcr; das Mauues- 
alter ab(!r, dem er sich nähert» muß ihn in einer durchaus 
anderen Vcrfassiuiij^ zeigen, wenn ich nicht alle meine Mühe 
verloren habe. Die '^^(•nge des Erworbenen ist vielleicht auf 
beiden Seiten gleich; aber das Erworbene selbst gleicht sich 



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105 



durchaus nicht. Du wunderst dich^ bei dem einen (bei Emil) 
erhabene Gefühle zu finden^ von denen die anderen nicht die 
geringste Spur haben; erwäge aber auch, daß diese schon alle 
Philosophen und Theologen sind,^) bevor Emil nur weiB, was 
Philosophie ist, und bevor er überhaupt von Gott hat reden 
hören. 

Wenn man mir also sagte: Nichts von dem, was du da 

aiHiiiumst, lindet sich in Wirklichkeit: die jungen Leute sind 
nicht so lu'sehaffen, sie haben diese oder jene Leidenschaft, sie 
tun dieses oder jenes: so ist das gerade, wie wenn jemand 
leugnete, dnJ.) je ein Rirnl^auin ein großer liaum gewesen sei, 
weil man in unseren Gärten nur Zwerge von Birnbäumen sieht. 

Kouseeati erörtert nun auch die Entstehung religiöser Vor* 

stelluiigon: er sagt darüber: 

Ich sehe voraus, wie viele meiner Leser daran Anstoß 
nehmen werden, daß ich meinen Zögling dieses ganze erste 
Alter durchleben lasse, ohne ihm etwas von Religion zu sagen; 
In seinem fünfzehnten Jahre wußte er noch nicht, daß er eine 

Seele hat, vielleicht ist auch in seinem achtzehnten noch nicht 
die rechte Zeit dazu: denn wenn er es früher lernt als nötig 
ist, so läuft er Gefahr, es nie zu wiesen. ^) 

Rousseau bespricht sodaiiii die Frage, in wt-lchci- Huligiori Emil 
unt^rrichtpf werden soll. T)h" nächstliegende Antwort: „in dfr Krlip^ion 
seiner Eltern" läßt er niciit |ü:t'lten: EttiiI soll vielmehr seine lieligion 
selbst wählen. Roussi jiu deutet jedoch an, daß Knill voraussichtlich 
zu denselben religiösen Anscliauunfi^en kommen w ird, welche sein Erzielter 
hat; si(! sind in dem nun foljrenden „Glaubensbekenntnis des savoyiselieu 
Landpfarrers** niederfr(;iegt. In iliesein sucht er vor allem dfi^ Dasein Gottes 
zu beweisen, und zwar ho, daß er (ähulich wie der Philosoph Descartes), 
von d'M- ErkeiHitnis unsei- selbst ausgrelit. Wir wissen von uns selbst 
unwideiief^lii'li, daß svir «lenkende und tiititre Wesen sind; es sei dalier 
undenkbar, daß außer uns nur untätiger, toter Stoff vf)rhanden sein 
sollt«; namentlich sei undenkbar, daß die seelenlose Materie lebende 
und empfindende Wesen hervorgebracht haben sollte. 

^) Die frühe Bekanntschaft mit Philosophie und Theologie stumpft sie 
ab; sie sind gegen das gleichgültig, was Emils Gefahle noch mächtig erregt, 
^ Nie davon ühorscugt zu sein. 



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106 



Wie das Dasein Gottes, so verteidigt Rousseau auch die Stimme 
des Gewissens, die unn sagt, wan gut und )»ösc ist, gegeu die Keligious- 
spötter seiner Zeit. Diese Stimme, die bewirkt, daß der Gute sein Ver- 
mögen, ja selbst sein Leben opfert, um der Gesamtheit zu nützen, 
erscheint ihm als ein „göttlicher Trieb, eine unsterbliche, himmlische 
Stimme, als der sichere Führer eines unwissenden und beschränkten, 
daljei aber denkenden und freien Wesens", als das, was uns am meisten 
Gott ähnlich macht. • , 

Aus dem Folgenden verdienen folgende Worte hervorgehoben zu 
werden: 

Ich gestehe dir auch, daß die Erhabenheit der heiligen 
Schriften mich in Erstaunen setzt; die Heiligkeit des Kvan- 
geliums spricht zu meinem Herzen. Siehe die Bücher der 
Philosophen mit all ihrem Gepränge; wie klein sind sie neben 
diesem! Kann ein zugleich so erhabenes und so einfaches Buch 
das Werk der Menschen sein? Kann der, dessen Geschichte es 
erzählt^ ein bloßer Mensch sein? Ist das der Ton eines Schwär- 
mers oder eines engherzigen Sektenführers? Welche Sanftmut^ 
welche Beinheit in seinen Sitten t welch rührende Anmut in 
seinen Lehren! welche Erhabenheit in seinen Grundsätzen! 
welch tiefe Weisheit in seinen Beden ! welche (Geistesgegenwart, 
welche Feinheit und Richtigkeit in seinen Antworten I welche 
Herrschaft über seine Leidenschaften! 

Im folgenden handelt Rousseau vouderEntsf ehungderGeschlechts- 
Hehe; er wünscht, daß Emil Tivifrlichst spät von ihr ergriffen werde und 
stellt dar. wie er es anlangen will, um dies zu erreichen. Dies bildet 
den Übergang zu dem letzten Buche} das die Erziehung von Emils 
künftiger Gattin, Sophie, schildert. 

Fflnftes Btteh« 

Aus diesem Buche genügt es, einige besonders wichtige oder 
doch für Bouaseaus Denkweise bezeichnende Stellen anzuführen. Von 
der Kleidung der Frauen sajjft er unterHinweis auf das Vorbild der Griechen: 

Man weiß, daß die Bequemlichkeit der Kleidung, welche 
den Körper nirgends beougte, viel dazu beitrug, ihm hei beiden 
(J(\s('hlochtern jene schönen Verhältnisse zu bewahren, die man 
au ihren Statuen bemerkt und die heute noch der Kunst zum 



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107 

Vorbilde dionen, seit die entstellte Xatiir ihr unter uns keine 
mehr darbietet. Von allen jenen mittelalterlichen ^) Fesseln, 
von jener Menge von Bändern, die unsere Glieder nach allen 
Richtungen einschnfh-en, hatten sie kein einziges. Ihre Frauen, 
kannten den Gebrauch jener Schnürleiher nicht, womit die 
nnsrigen den Wuchs eher verunstalten als hervorheben. Ich 
kann nicht annehmen, daß dieser MiBbranch, der in England 
zu einer kaum denkharen Höhe gestiegen ist, nicht am Ende 
das ganze Greschlecht zerrütten sollte; ich behaupte auch, daß 
die Anmut, die man damit bezwecken will, einen schlechten 
Geschmack verrät. Eine nach Art der Wespen in zwei Teile 
geteilte weibliche (iestalt ist gar kein angenehmer Anblick; das 
beleidigt das xVnge und ruft peinliche Vorstellungen hervor. 
Die Zierlichkeit des Wuchses hat wie alles übrige ihre Ver- 
hältnisse und ihr Maß, über welche hinaus sie ganz sicher zum 
Fehler wird; dio<?pr Fehler wäre am nackten Leib auch für 
das Auge auffallend: warum sollte er unter der Kleidung eine 
Schönheit sein? 

Zu den notwendigsten Eigenschaften eines Weibes reebnet Rons* 
seau dessen religiöse Gesinnung. Obwohl er selbst viele Wahrheiten des 
christlichen Glaubens leugnete, wendete ersieh doch gegen jene, die aller 
Religion den Krieg erklaren wollten; er sagt: 

Was mich aber und alle meine Mitmenschen kümmert, 
das ist, das jeder wisse, daß es einen Lenker der menschlichen 
Geschicke gibt, dessen Kinder wir alle sind, der uns allen 
gebietet, gerecht, liebevoll, wobltiitig und barmherzig zu sein, 
unsere Ver])flicbtnngen gegen jedermann, selbst gegen jseinc 
und unsere Feinde zu erfüllen; daß das scheinbare Glück dieses 
Lebens nichtig ist; daß es nach ihm ein anderes 'jibt, in 
welchem das höchste Wesen die Guten belohnen, die Bosen 
bestrafen wird. Diese und ähnliche Glaubenssätze der Jugend 
einzuprägen und alle Bürger davon zu überzeugen, das ist eine 
Sache von Wichtigkeit. Wer sie bekämpft, verdient unbedingt 

^) An diesen Fesseln war in Wirklichkeit das „Mittelalter" ganz 
unschuldig: Rousseau bezeichnet eben alles Unschöne und Unzweok« 
mäßige als mittelalterlich* 



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108 



Strafe; denn er verwirrt die Ordnung und ist ein Feind der 
Gesellst halt. Wer sie fallen läßt, um uns seiner Sondermeinung 
zn unterwerfen, kommt auf dem entj^eij^eniresetzten Wege auf 
den uämlidK n Punkt. ÜDi eine Ordnung nach, seinem Sinne 
aufzurichten, stört er den Frieden; in seinem vermessenen 
Dünkel macht er »ich zum Dolmetscher der Gottheit, in 
ihrem Namen verlangt er Huldigungen und Ehrerbietung der 
Menschen; er macht sich, soweit er es vermag, selbst zürn 
Gott, so daß man ihn als Gottesräuber bestrafen müßte, wenn 
man ihn nicht seiner Unduldsamkeit werfen strafte. 

Auch die Hiiuslicbkiit suUendic Mädclien liebgewinnen; Kousscau 
sagt darüber: 

l'ni das niiiim', liünsliebe Leben iieb/Aigewiniien, nuiii man 
es kennen; man muß von Kindheit an seinen Keiz empfunden 
haben. Nur im väterliehen Hause lernt man einen eigenen Herd 
schätzen, und eine Frau, die nicht von ihrer eigenen Mutter 
erzogen worden ist, wird keine Freude an der Erziehung ihrer 
Kinder haben. Leider gibt es in den großen Städten keine 
E'amili^nerziehung mehr. Die Gesellschaft ist dort so aus- 
gedehnt und gemischt, daß es für ein zurückgezogenes Leben 
keine Zufluchtsstätte mehr gibt und man in seinen eigenen 
Rfauern wie auf der Straße lebt. Man verkehrt derart mit 
jedermann, daß man keine Familie mehr hat imd seine Ange- 
hörigen kaum mehr kennt; man besucht sie wie Fremde und 
die Einfalt der häusliehen Sitten vn^rschwindet samt der süßen 
\^ertrauli(hk('it, die den "Reiz derselben ausmaehte. So saugt 
man schon mit der Muttermileh die Neigung für die Ver- 
gnügungen der Welt und für die Grundsätze ein, die man darin 
herrschen sieht. 

Über weibliche Handarbeiten u. dgl. sag^ Roassean; 

Was Sophie am besten versteht und man sie am sorg- 
fältigsten, hat lernen lassen, sind die weiblichen Handarbeiten, 
selbst diejenigen, an welche man kaimi denkt, wie das Zu- 
Behneiden und Xiilien der Kleider. Es gibt keine Xadelarhcit, 
die sie nicht verstünde und mit Vergnügen übte; jeder änderten 
aber zieht sie das Spitzcnklöppein vor, weil es keine gibt, die 



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lOü 



eine anziehendere Haltimg verliehe und bei der die Finger, «ich 
anmutiger und leichter bewegten. Auch mit allen Einzelheiten 

der Haushaltung hat sie sich befaßt. Sie versteht sich auf Küche 
und \'orratskaiiiinor; sie weiß, was die Sachen kosten, und kennt 
ihre JCigiiisclialten; sie kann vortrelilich die Kechnung führen 
und dient ihrer Mutt( r als lTan6Jhälterin. Da sie dazu bestimmt 
ist, eines Tages selbst Hausmutter zu sein, so lernt sie im väter- 
lidioii Hanse ihr eigenes führen;^) sie kann alle Verrichtungen 
der Dienstboten versehen und tut es immer sehr gerne. Was 
man nicht selbst auszuführen versteht, kann man auch nicht 
richtig anordnen: aus diesem Grunde hält ihre Mutter sie zu 
solchen Beschäftigungen an; Sophie selbst denkt nicht so weit. 
Ihre erste Pflicht ist die Kindespflicht; dies ist yorläufig auch 
die einzige, die sie zu erfüllen trachtet. Ihr alleiniges Ziel ist, 
ihrer Mutter zu dienen und sie in oinom Teile ihrer ObiicgLn- 
heiten zu unterstützen. Dennoch muii man zugeben, daß sie 
nicht alle mit gleichem Vergnügen ori'üUt. So hält sie zwar 
auf feine Bi?<?en, liebt aber die Küche doch nielit; es widert 
sie an, sich genauer mit derselben zu befassen; sie ündet nicht 
genug Reinlichkeit darin. In dieser Beziehung ist sie außer- 
ordentlich empfindlich; ja diese zum Übermaß gesteigerte 
Empfindlichkeit ist bei ihr zur Untugend geworden: sie ließe 
lieber da« ganze Essen ins Feuer fallen^ als daß sie ihre Hand- 
krause beschmutzte. Aus dem nämlichen Grunde hat sie sich 
auch nie mit der Überwachung des Gartens beschäftigen wollen. 
Die Erde erscheint ihr unreinlich; wenn sie Dünger sieht, 
glaubt sit! schon seinen Geruch zu spüren. 

Diesen Fehler verdankt sie dem I'nterrichte ihrer Mnlicr. 
Hicniach ist \mtev den weil>liclien PHichten die lieinlichkeit 
eine der ersten; sie ist eine dem Geschlechte eigene, uner- 
läßliche, durch die Xatur auferlegte Pflicht; es gibt auf der 
Welt nichts Abstoßenderes als ein unreinliches Weib und 
wenn der Mann vor ihm Ekel empfindet, hat er recht. Biese 
Pflicht hat sie ihrer Tochter von ihrer Kindheit an so oft 
gepredigt, sie hat so viel Reinlichkeit an ihrer Person» ihrer 

^} Sie lernt, wie nie einst iiu* eigenes UaUvS zu lühreti haben wird. 



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110 



Wäsche, für ihr Zimmer, ihre Arheit und ihren Anzug gefordert, 
daß die Aufmerksamkeit nach all diesen Richtungen ihr zur 
Gewohnheit geworden ist, einen ziemlich großen Teil ihrer 
Zeit in Anspruch nimmt und auch im übrigen immer sich < 

geltend macht, so ^ialJ die riclitige Besorgung ihrer Geschäfte 
erst in zweiter Keihe kommt, die reinliche immer in erster. 

Ron«sf^'rni erzählt nun, wie Eriiil und Sophie sich kennen und 
lieben lernen. Elie sie heiraten, muü jedoch Emil, um die Festigkeit 
seiner Liebe zu prüfen, Reisen machen. Diese Elisen haben auch den 
Zweck, ihn mit verseliiedeneii iStaatseinrichtungen bekannt zu machen. 
Wie vorher zwischen den Keli<>^i()iifMi, so soll nun Emil auch zwischen 
den Staaten wälilen, um den zu finden, in dem er am liebsten wohnen 
möchte. Keligionsios und vatcrlandslojä, wie er aufgezoircn worden ist, 
muß Emil sich erst als .l .nq^linfr eine Keliju:ioii und ein Vaterland suchen. 

T^ber das Reisen .seil)st sagt Kousseau : 

Ich habe gesagt^ was die Keisen für jedermann nutzlos . 
macht. !Noch nutzloser aber macht sie für die jungen Leute die 
Art^ in der man sie reisen läßt. Die Erzieher^ die es mehr 
auf ihre eigene Unterhaltung als auf die Belehrung der. 
Zöglinge abgesehen haben^ führen sie Yon Stadt zu Stadt, von 
Palast zu Palast, von Gesellschaft zu Gesellschaft; oder, wenn 
sie Gelehrte und Schriftsteller sind, lassen sie jene ihre Zeit 
damit zubringen^ daß sie die Bibliotheken ablaufen, Antiquare 
besuchen, alte Denkmäler durchstöbern und alte Inschriften 
abschreiben. In jedem Lande beschäftigen sie" sich mit einem 
anderen Jahrhundert, gerade als ob sie es mit einem anderen 
Lande zu tun hätten; sie kommen daher, nachdem sie mit großen 
Kosten Europa durchlaufen und sich immer mit Nichtigkeiten . 
abgegeben oder gelangweilt haben, wieder nach Hause, ohne 
etwas gesehen zu haben, was sie interessieren, und ohne etwas 
gelernt zu haben, was ihnen nützlich sein kann. 

Alle Hauptstädte gleichen einander, alle Völker vermengen 
sich in ihnen, alle Sitten vermischen sich; in ihnen darf man 
die Nationen nicht studieren. Paris und London sind in meinen 
Augen nur dieselbe Stadt. Ihre Einwohner haben einige ver- 
schiedene Vorurteile, aber sie haben beide doch ebensoviele, 
und alle ihre praktischen Grundsätze sind die nämlichen. Man 



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III 



weiß, welche Sorte von Menschen sieh an den Höfen zuaammen- 
findet. Man wefB, welche Sitten die Anfeinanderhaufnng des 
Volkes nnd die Ungleichheit der Lebenslagen überall hervor- 
bringen mnB. Sobald ich von einer Stadt von zweimalhundert- 
tausend Seelen höre^ so 'weifi ich zxun voraus, wie man darin 
lebt. Was ich weiterhin über die Orte erfahren könnte, lohnt 
nicht die Mühe, es dort zu lernen. 

Ruusseau empfiehlt daher, den ''Högling lieber mit den Sitten 
des Landvolkes bekannt zu machen, namentlich aber mit ihm die Staats- 
einrichtungen zu studieren; die Reisen sollen ihn praktisch in die 
Staatswissenschaft einfiiferen. Hierbei ergibt sich, daß die vaterlandslose 
Gesinnung Rosseaus zum Teile von den kläglichen staatlichen Zuständen 
des damaligen Frankreich veranlaßt war; denn er sagt: 

Wenn ich zu dir von Bürgerpflichten redete, würdest du 
mich vielleicht fragen, w o daa' Vaterland ist, und du würdest 
glauben, mich widerlegt zu haben. Es wäre dennoch ein Irrtum 
von dir, lieber Emil ; denn wer kein Vaterland hat, hat 

wenigstens eine Heimat. Es ist doch immer eine Iiegierung 
und ein Schein von Gesetzen da, unter denen er rnhig geleljt hat. 

bage also nicht: Was liegt mir daran, wo ich bin.'^ Es ist 
von Wert für dich, da zu sein, wo du alle deine Pflichten er- 
füllen kannst; und eine deiner Pflichten ist die Anhänglichkeit 
an den Ort dUeiner Geburt. Deine Landesgenossen beschützten 
dich, als du ein Kind warst; du muBt sie lieben, nun du Mann 
bist. Du mußt in ihrer Mitte leben oder wenigstens da, wo du 
ihnen nützlich sein kannst, soviel dir möglich ist, und wo sie 
dich holen können, wenn sie dich je brauchen. 

Xaclidem Koussoru so der Vaterlandsliebe doch einio^crmaßen 
zu ihrem Rechte vcrhoiten hat, erzählt er, wie Emil nnd Sopliif sich 
wiederschoTi und Mann und Frau werden. Bemerkenswert sind die Worte, 
die Emil am Schlüsse des Werkes an seinen früheren Erzieher richtet 
und die in gewisser Hinsicht alles Vorangegangene widcrlecfenj sie lauten: 

Gott verhüte, daB ich dich auch meinen Sohn erziehen 
ließe, nachdem du den Vater erzogen hast! Qott verhüte, daß 
eine so heilige und süße Pflicht je von einem anderen erfüllt 
würde als von mir, sollte ich auch für ihn ebenso gut wählen, 



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112 

wie man für v\üc\i solbsi gewählt hat: aber bleibe du der Lehrer 
der jungen Erzieher. Rate uns, leite uns: wir werden gelehrig 
sein; solange ich lebe, werde ich deiner bedürfen. Jetzt, wo 
meine Mannespflichten beginnen, brauche ich dich mehr als je. 
Dil hast die deinigen erfüllt: führe mich, daß ich dir nachahme, 
und ruhe nun aus; es ist jetzt an der Zeit. 



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